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Full text of "Bibliothek Der Gesammten Medicinischen Wissenschaften V. 5. Hygiene Und Gerichtliche Medicin. 1899"

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UNIVERSITY OF MICHIGAN 





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UMIVERS1TY MICHIGAN 



BIBLIOTHEK 

DER GESAMMTEN 

MEDICINISCHEN WISSENSCHAFTEN 

|FÜR 

PRAKTISCHE AERZTE UND SPECIALAERZTE. 


HERADSGEGEBEN 

VON 

HOFRATH PROF. DR. A. DRÄSCHE IN WIEN 

UNTER MITWIRKUNG DER HERREN 

Prof. Arnold, Dr. Asmus, Prof. Babes, Doc. Bach, Dr. Barnick, Doc. Baumert, Dr. Bbckh. 
Dr. Bergeat, Prof. Bergm bister, Doc. Bbrnheimbr, Prof. Beumbr, Prof. Biedert, Prof. 
Birnbachbr, weil. Prof. Birnbaum, Dr. Boas, Prof. Böke, Prof. Brandl, Prof. Brandt, 
Prof. Braun, Doc. v. Braun, Dr. M. Braun, Doc. Braunschweig, Redact. A. Brestowski, 
Dr. Brik, Prof. Brunner, Dr. Buchholz, Prof. v. Buchka, Prof. Bürkner, Prof. Büsing, 
Prof. Chiari, Prof. Claus, Doc. Cohn, Prof. Chvostek, Prof. Czermak, Prof. Dittrich, 
Prof. Döderlein, Dr. Draer, Prof. Drbser, Prof. Droysen, Prof. Düring, Prof. Dührssen, 
O.-A Dr. EiCHnoFF, Prof. Elischer, Doc. Elschnig, Prof. Emmert, Prof. Escherich, Prof. 
Finger, Prof. v. Fodor, Dr. E. Freund, Prim. v. Frisch, G. A. Frölich, Prof. Frommel, 
Prof. Gärtner, Doc. Geigel, Prof. Geppert, Prof. Goldschmiedt, Doc. Gomperz, Prof. 
Gottlieb, Prof. Gradenigo, Dr. Graefe, Prof. Grebff, Dr. Gutzmann, Doc. Hajek, Prof. 
Hammarsten,Prof. Harnack, Doc.Haug, Doc. Havas, Doc. Heinz, Doc Herrnheiser, Doc.Herz- 
feld, Dr. Heryng, Prof. Hess, Dr. Higier, Doc. Hilbert, Dr. Hirsch, Prof. Hochenegg, Prof. 
Hofmann, Doc. v. Hüttenbrenner, Prof. Jadassohn, Dr. Jaenner, Prof. Janowsky, Prof. Ja- 
quet, Prof. Jendrassik, Dr. Jessnbr, Doc. Joachimsthal, Prof. Ipsen, Prof. Jrsai, R. A. Dr. 
Kamen, Doc. Kaufmann, Prof. Kibn, Doc. Klein. Prof. Klug, Prof. Kohlschütter, Doc. 
Kopp, Dr. Kornauth, Prof. Kossel, Doc. Koväcs, Prof. Kratter, Prof. Kraus, Dr. Kreutz, 
Dr. Krüche, Prof. Kuhn, Dr. Kurz, Dr. Kwisda, Prof. Lang, Prof. Lassar - Cohn, Prof. 
Lesshaft, Prof. Lieeermann, Prof. v. Limbeck, Prof. Litten. Prof. Loos, Prof. Maydl, 
Doc. R. Meyer, Prof. Mosso, Prof. Mracek, Doc. Naumann, Dr. Neudörfer, Prim. Neu¬ 
gebauer, Hofr. Prof. Neumann, Hofr. Prof. Neusser, Prof. Nevinny, Prof. Obalinski, 
Dr. v. Oefele, Doc. Ortner, Doc. Pal, S. R. Pätz, Doc. Pawinski, S. R. Dr. Pelizabus, 
Prof. Penzoldt, Prof. Piskacek. Prof. Pohl, Dr. Polyak, Prof. Pott, O.-A. Dr. Prior, 
Prof. Proskauer, Doc. Redlich, Prof. Riffel, Dr. Ritsert, Prof. Röhmann, Dr. Rosenberg, 
Doc. Rosin, M. R. Roth, Dr. Saalfeld, Doc. Salzmann, S. R. Samelsohn, Zahnarzt Dr. 
Schaei-fkh-Stuckert, Gbr.-A. Dr. Schäffer, Prof. Schauta, Prof. Scheck, Dr. Scheier, 
Prof. Schimper, Prof. Schnabl, Doc. Schustler, Geh.-R. Prof. Schweninger, Doc. Seydbl, 
Dr. Siedler, Prof. Silex, Prof. Singer, Prof. v. Sobikranski, Prof. Sommer, Dr. Spira, 
Dr. Sperling, Prof. Steinbrügge, Prof. S. Stern, Prof. R Stern, Prof. Stricker, Prof. 
Tappeiner, Dr. Thimmweil, Prof. Trzebicky, Prof. Uffelmann, Dr. Vahlen, Doc. v. Vajda, 
Prof. H. Vierordt, Prof. v. Wagner, Doc. Jul. Weiss, Hofr. Prof. Wiesnbr, Doc. Winkler, 
Prof. Witzel, Prof. Wolters, Dr. Woltersdorf, Prof. Zander, Dr. Zarkiko, Prosect. Dr. 
Zemann, Dr. Zrrner, O.-A. Dr. Zum Busch, Prof. Zuntz. 

REDIGIRT VON 

DH. JUL WEISS UND A. BRESTOWSKI. 


WIEN 

I. Ktjmpfoasbr 7. 


KARL PROCHASKA 

K. DND K. HOF- & VERLAGSBUCHHANDLUNG 
TESCHEN IN SCHLESIEN. 


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1899 . 


LEIPZIG 

KÖNIÖBSTBASB* 9 11. 

Original fro-m 

UNIVERSETY OF MICHtGAN 



HYGIENE 

UND 

GERICHTLICHE MEDICIN. 


MIT BEITRÄGEN VON: 

Prof. Dr. Anacker, Bingerbrück. — Dr. Balser, Köppeldorf. — Prof. Dr. 
B eitmer, Greifswald. — Redact. A. Brestowski, Wien. — Dr. Herm. Buch¬ 
holz, Assistent am Institut für Infectionskrankheiten, Berlin. — Prof. 
Büsikg, Friedenau. — Dr. Heinr. Charas, Chefarzt und Leiter der Wiener 
Freiwilligen Rettungsgesellschaft, Wien. — Dr. Carl Däubler, Berlin. — 
Dr. F. Dornblüth, Rostock. — Dr. A. Dräer, I. Assistent am hygien. In¬ 
stitut, Königsberg in Pr. — Dr. M. Elsnrr, Berlin. — F. Entlicher, Director 
des Blindeninstitutks Purkersdorf. — Prof. Dr. C. Emmert, Bern. — Prof. 
Dr. J. von Fodor, Director des hygien. Instituts, Budapest. — Dr. 
E. Freund, Vorsteher des Chem. Laboratoriums im k. k. Rudolfspital, Wien. — 
Generalarzt Dr. H. Frölich, Leipzig. — Docent Dr. R. Heinz, München. 
— Prof. Dr. F. Hutyra, Budapest. — Prof. Dr. Carl Ipsen, Vorstand des 
Institutes für gerichtliche Medicin a. d. Universität Innsbruck. — Dr. 
S. Jessner, Königsberg i. Pr. — Reg.-Arzt Dr. L. Kamen, Czernowitz. — 
Dr. Knapp, Landesgerichtsarzt, Wien. — Prof. Dr. Kirn, Freiburg. — Dr. 
Kornauth, Vorstand des bakteriol. Laboratoriums an der k. k. landwirth- 
schaftlichen chem. Versuchsstation, Wien. — Prof. Dr. J. Kratter, Vor¬ 
stand des Institutes für Staatsarzneikunde, Graz. — Dr. Ad. Kreutz, 
Strassburg i. E. — Prof. Dr. J. Loos, Innsbruck. — Dr. Marx, Assistent 
am Institut für Infectionskrankheiten, Berlin. — Docent Dr. 0. Naumann, 
Leipzig. — Dr. Freiherr von Oefele, Bad Neuenahr. — Sanitätsrath Dr. 
Paetz, Director der Provincial-Irrenanstalt Alt-Soherbitz. — Sanitätsrath 
Dr. Pelizaeus, Suderode a./h. — Dr. A. Pfleidereb, Bondorf. — Prof. Dr. 
Piskacek, Director der Landesgebäranstalt Linz. — Prof. Dr. B. Proskauer, 
Berlin. — Dr. G. Puppe, Assistent am Institut für Staatsarzneikunde, 
Berlin. — Prof. Dr. A. Riffel, Karlsruhe. — Medicinalrath Dr. Roth, 
Bamberg. — Gerichtsarzt Dr. Emil Schäffer, Mainz. — Geh. Medicinal¬ 
rath Dr. Schwartz, Köln. — Marine-Stabsarzt Dr. Spiering, Charlotten- 
burg. — Dr. J. Stöhr, Chefarzt der k. k. Staatseisenbahngksellschaft, 
Wien. — Dr. G. Woltersdorf, Greifswald. 

REDIGIRT VON 

A. BRESTOWSKI. 

Mit 2 Farbentafeln und 13 Figuren im Text. 


KARL PROCHASKA 

WIEN K. UND K. HOF- & VERLAGSBUCHHANDLUNG LEIPZIG 


i. kumpfgasse>7. TESCHEN IN SCHLESIEN. 

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Abdeckereien. Die Abdeckereien sind für die prophylaktische Hygiene 
wichtige Anstalten, die zu derjenigen Gruppe von Abwehrmaassregeln gehören, 
welchen die Unschädlichmachung bezw. Beseitigung der Abfälle zukommt. 
Das Abdeckereiwesen bildet, wie R. Wehmer 1 ) ausführt, ein Glied, welches 
zwischen dem Leichenbestattungswesen einerseits und der Beseitigung mensch¬ 
licher und gewerblicher Abfallstoffe andererseits die Verbindung herstellt. 
Aufgabe der Abdeckereien ist es, die Leichen für die menschliche Nahrung 
untauglicher oder wegen infectiöser Erkrankungen getödteter Thiere unschäd¬ 
lich zu machen, bezw. zu Producten umzuwandeln, die für manche tech¬ 
nische und gewerbliche Zwecke brauchbar sind. Vielfach dienen Abdeckereien 
noch dazu, Thiere, welche verdächtig sind, an gewissen Infectionskrankheiten, 
wie Hundswuth, Rotz, zu leiden, bis zur Feststellung der Diagnose zu be¬ 
obachten. 

Die Abdeckereien müssen einer strengen gesundheitspolizeilichen Con- 
trole unterworfen werden, welche hauptsächlich auf drei Punkte ihr Augen¬ 
merk zu richten hat; nämlich: 

1. dass eine Verbreitung von Infectionskrankheiten auf Menschen oder 
Thiere von den Abdeckereien her vollständig ausgeschlossen ist, 

2. dass durch das Abdeckereigewerbe keine irgendwie erheblichen Ver¬ 
unreinigungen der Luft, des Wassers und des Bodens herbeigeführt werden; 

3. dass unter Berücksichtigung der vorstehend aufgeführten beiden 
Punkte unter Umständen eine Verwerthung der Materialien aus ökonomischen 
Gründen möglich ist. 

Diese Gesichtspunkte hat deshalb derjenige Theil der Gesetzgebung 
aller Länder berücksichtigt, welcher sich mit dem Abdeckereiwesen beschäftigt; 
wir finden nicht nur allgemeine Gesetze über Thierbeseitigung, sondern auch 
Sondergesetze dafür 2 ). Besonders hervorzuheben ist das Deutsche Reichs¬ 
gesetz über die Rinderpest vom 7. April 1869 und das Viehseuchen¬ 
gesetz vom 23. Juni 1880 mit den Ausführungsbestimmungen 
vom 21. Mai 1878 und 12. und 24. Februar 1881. Nach den letzteren 
müssen alle von der Rinderpest, Milzbrand, Wildseuche, Tollwuth und Rotz 
befallenen oder dieser Krankheit verdächtigen Thiere getödtet und nebst 
ihren Abgängen, sowie damit beschmutzten Gegenständen, ferner auch „die an 
diesen Seuchen umgestandenen Thiere unschädlich beseitigt werden.“ Thier- 
theile dürfen technisch nicht verwerthet werden. Die an Rinderpest ver¬ 
dächtigen oder erkrankten Thiere müssen nach ihrer Tödtung entfernt von 
Wegen und Gehöften in tiefen Gruben verscharrt und mit einer Schicht 
von 2 m Erde bedeckt werden. Diese Plätze sind zu umzäumen und später 
mit schnell wachsenden, tiefe Wurzeln treibenden Pflanzen zu bepflanzen. In 
grösseren Städten und auf den unter regelmässiger veterinärpolizeilicher 

*) R. Wehmer, Abdeckereiwesen, Handbuch der Hygiene von Weyl. 2 Bd. H. Abthlg. 

3. Lfg. 

2 ) Zusammenstellung von Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Bestimmungen über 
das Veterinärwesen, insbesondere die Veterinärpolizei, sowie über verwandte Gebiete, welche 
vom 30. Juni 1891 in Kraft waren im Jahresb über die Verbreitung von Thierseuchen, be¬ 
arbeitet im kais. Gesundheits-Amte in Berlin 5. Bd. S. 123. Jul. Springer Berlin 
1891. — B. Beyer, Viehseuchengesetze, Berlin 1886 Parey. — 


Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 

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ABDECKEREIEN. 


Controle stehenden Schlachthöfen kann die Verwerthung der Häute und des 
Fleisches von Thieren, welche bei der Untersuchung im lebenden und ge¬ 
schlachteten Zustande gesund befunden sind, gestattet werden. Die Häute 
müssen 3 Tage in Kalkmilch liegen bleiben, ehe sie freigegeben werden. — 
Beim Milzbrand und bei der Wildseuche müssen die enthäuteten 
Cadaver nach dem Uebergiessen mit Desinfectionsmitteln vergraben und die 
Häute zerschnitten werden. Die Verscharrung hat an solchen Stellen zu ge¬ 
schehen, welche von Pferden, Wiederkäuern und Schweinen nicht betreten 
werden, und „an denen Viehfutter weder geworben noch vorübergehend auf¬ 
bewahrt wird.“ Die Entfernung solcher Gräber soll von menschlichen Wohn¬ 
orten oder Ställen mindestens 30 m, von Wegen und Gewässern mindestens 
3 m entfernt sein; die Gruben sind so anzulegen, dass die Oberfläche der 
Cadaver wenigstens von einer 1 m starken Erdschicht überdeckt ist. — Für 
Tollwuth gelten die gleichen Bestimmungen, wie für Milzbrand, nur dürfen 
die von tollen Thieren gebissenen Schlachtthiere nach Ausschneidung der 
Bissstellen genossen werden; diese Theile, sowie die getödteten Hunde und 
Katzen müssen verscharrt werden. — Rotz (Wurm) der Pferde, Esel, Maul- 
thiere und Maulesel macht die sofortige Tödtung der Thiere erforderlich und 
zwar hat dies an abgelegenen, von der Polizei bestimmten Orten zu geschehen. 
Beim Transport ist die Berührung der kranken Thiere mit gesunden zu ver¬ 
meiden. Die Unschädlichmachung der Cadaver hat durch Hitze (Kochen bis 
zum Zerfall der Weichtheile, trockene Destillation, Verbrennen) oder durch 
chemische Mittel zu geschehen, eventuell sind die Häute durch Zerschneiden 
unbrauchbar zu machen und in Gruben so zu verscharren, dass sie mit einer 
ein Meter tiefen Erdschicht bedeckt sind. 

Für die hier in Rede stehende Frage kommen ferner noch die Bestim¬ 
mungen des Reichsgesetzes betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genuss¬ 
mitteln und Gebrauchsgegenständen vom 14. Mai 1879 und 29. Juni 1887 in 
Betracht. — Ferner regelt noch eine grosse Anzahl von speciellen deutschen 
Landesgesetzen das Abdeckereiwesen. 

Von besonderer Wichtigkeit hiefür ist der in Preussen unterm 14. April 1875 
veröffentlichte Ministerialerlass, enthaltend die Anleitung zur Wahrnehmung der 
den Kreisausschüssen hinsichtlich der Genehmigung gewerblicher Anlagen übertragenen 
Zuständigkeiten nach den Vorschlägen der technischen Deputation für Gewerbe. 3 ) Der für 
„Abdeckereien K bestimmte Abschnitt spricht von den Uebelständen, die in Folge der Ver¬ 
breitung übelriechender Dünste entstehen u. zwar beim Zerlegen der Cadaver, beim Trocknen 
der Felle, bei ungenügender Verscharrung der Cadaver oder Cadavertheile. „Da bisher 
keine zur Beseitigung dieser Misstände geeigneten Mittel existiren, so müssen Abdeckereien 
in möglichst entlegene Gegenden verwiesen werden. Bei der Beurtheilung der Zulässigkeit 
einer solchen Anlage kommt, es namentlich auf die Entfernung der nächsten Wohnhäuser 
und der in der Umgegend vorhandenen Wege an. Oeffentliche Verkehrsstrassen dürfen in 
nicht zu geringem Abstande vorhanden sein, weil die Passanten durch üble Gerüche be¬ 
lästigt werden, auch die Pferde leicht vor dem Aasgeruche scheuen. Ueber die einzuhalten¬ 
den Entfernungen lassen sich allgemeine Bestimmungen nicht vorschreiben, da hierbei 
vorwiegend die lokalen Verhältnisse, die Beschaffenheit des Terrains, die vorherrschenden 
Windrichtungen etc. in Betracht kommen und für die Zulässigkeit derartiger Anlagen ent¬ 
scheidend sind. Um den Arbeitsplatz möglichst abzugrenzen, auch die Betriebsoperationen 
den Augen der Passanten thunlichst zu entziehen, ist es zweckmässig, den Arbeitsplatz mit 
einer mindestens 2*5 m hohen, dichten Umfriedung (Wand- und Bretterzaun) zu umgeben; 
ausserdem empfiehlt sich eine Umpflanzung der letzteren mit einer Hecke.“ Unter gleichen 
Gesichtspunkten betrachtet der Erlass die Poudrette- und Düngerpulverfabriken, die häufig 
mit Abdeckereien verbunden sind. 

Von 0esterreichischen Gesetzen 3 ) seien hier erwähnt die §§ 399—402 des 
Österreich. Strafgesetzbuches, welche Strafbestimmungen bei Uebertretung der gegen Vieh¬ 
seuchen erlassenen Bestimmungen enthalten, und das Gesetz vom 29. Februer 1880, die 
Abwehr und Tilgung ansteckender Thierkrankheiten betreffend, deren Bestimmungen im 
Wesentlichen mit denjenigen des deutschen Viehseuchengesetzes übereinstimmen (s. o.) 


3 j Koch, Veterinärnormalien, betr. dass österr. Veterinärwresen. Perles, Wien 1893. 


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ABDECKEREIEN. 


3 


Der Betrieb des Abdeckereiwesens 1 ) erfolgt entweder durch die 
Viehbesitzer selbst, namentlich in kleinen Ortschaften und auf dem dachen 
Lande, oft noch heimlich und unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen. 
Aus diesem Grunde kommt es vielfach vor, dass krankes Vieh kurz vor dem 
V erenden abgeschlachtet („Kaltschlächter“,„Katzen- und Polkaschlächterei “) 
und das Fleisch desselben in den Handel gebracht wird. Durch das Fleisch 
„nothgeschlachteter“ Thiere sind vielfach Intoxicationen und Infectionen ver¬ 
ursacht worden (Wurstvergiftung, Botulismus, Fleischvergiftung, - intestinale 
Sepsis u. dgl. m.), die sogar zu umfangreichen Epidemieen geführt haben. 4 5 6 ) 
Abgesehen von der an einzelnen Orten (z. B. in den bayerischen Alpen), 
ausgeführten Verbrennung der Thiercadaver oder der Unschädlichmachung 
durch Kochen der letzteren, was häufig unter Zusatz von Schwefelsäure 
geschieht, hat die Abdeckerei durch die Viehbesitzer selbst den Nachtheil, 
dass das Verscharren der Leichname an beliebigen Stellen zu neuen Epidemieen 
führen kann. Diesem Uebelstande kann durch die Anlage von Wasen¬ 
plätzen (Schindanger, Schinderkuhlen) nur dann abgeholfen werden, wenn 
diese so beschaffen sind, dass eine Verschleppung der Infectionsstoffe aus 
ihnen unmöglich gemacht ist. Bolinger hält die Basenplätze immer für 
einen gesundheitlichen Missstand, wenn das Vergraben der Thierleichen 
ohne vorhergehende Zerstörung durch Chemikalien oder Hitze erfolgt. 

Die Unschädlichmachung der zur menschlichen Nahrung unbrauchbaren 
Thiere lässt sich in vielen Fällen mit einer Umwandlung derselben zu land¬ 
wirtschaftlich und technisch verwertbaren Producten verbinden. So hat man 
vielfach Düngemittel (Poudrette) aus Thiercadavern hergestellt. Die Ueber- 
führuug der Thierleichen in eine der Landwirtschaft oder den Gewerben zu 
Gute kommende Form geschieht entweder durch trockene Destillation, oder 
durch Dämpfe (Dampfsterilisatoren). Bei der ersteren Art gewinnt man unter 
Zusatz von Pottasche und Eisen gelbes Blutlaugensalz, oder ohne Zusätze 
Thierkohle. Besser scheint sich die zweite Art der Unschädlichmachung zu 
rentiren, indem sie ausser Fleischpulver und Knochenmehl als Düngemittel, 
auch noch Leim (Gelatine) und Fett (Talg) liefert. Gerade in neuester Zeit 
sind Apparate construirt worden, die sich für diese Zwecke als praktisch 
bewährt haben. Hierher gehören sogenannte Dampfsterilisatoren, auch 
Digestoren, Hochdruckdämpfer genannt, wie solche z. B. von der 
Dampfkunstdünger-Fabrik in Eutritsch-Leipzig, von der Berliner Abdeckerei, 
in Kaiser-Ebersdorf bei Wien und vielen anderen Orten eingeführt sind. Vor¬ 
nehmlich ist hier der von Dr. Kohrbeck in Berlin construirte Dampfkocher, 
der auf dem Berliner Schlachthof geprüft wurde und welcher sonst als un- 
geniessbar erachtetes Fleisch für den Genuss tauglich machen soll, zu nennen, 
sowie der von der Firma Rietschel und Henneberg construirte Kafildes- 
infector; letzterer gestattet in einer Operation Fleisch düngpulver, Leim¬ 
wasser und Fett aus den Cadavern zu gewinnen. Ferner muss des Systems 
Podewil zur Verarbeitung von Thierleichen gedacht werden. 

Schliesslich können die Thierleichen in Poudrettefabriken mittels der 
zur Müllverbrennung dienenden Destructoren vernichtet werden. 

Ueber die Anforderungen, welche an das Abdeckereiwesen zu stellen 
sind, hat sowohl der Deutsche Veterinärrath, als auch der Deutsche Land- 
wirthschaftsrath, sowie der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege 
eine Reihe von Leitsätzen aufgestellt, die in den citirten Wehmer’ sehen 
Abhandlungen eingesehen werden können. Eine Regelung des Abdeckerei- 


4 ) Rich. Wehmer, Ueber Abdecker und Abdeckereien. Vierteljahr Schrift, f. öffentl 

Gesundheitspflege 1887. Bd. 19. Heft 2. 

6 ) E. v. Esmarch, das Verhalten der Bacterien im todten Körper. Zeitschrift für 
Hygiene. Band 7. Heft 1. — Petri, Ueber das Verhalten der Bacterien des Milzbrandes, 
der Cholera etc.: in beerdigten Thierleichen. Arb. a. d. kais. Gesundh. Amt. Bd. 7. 1. 
Loesener. Ueber das Verhalten von pathogenen Bacterien in beerdigten Thiercadavern, ibid; 
Band 12. Heft 2. 1* 


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ABORTE. 


wesens wird sich nur dann in einer den Anforderungen der Hygiene ent¬ 
sprechenden Weise herbeiführen lassen, wenn ihr eine allgemeine obligatorische 
Fleischschau zur Seite steht. b. proskauer. 

Aborte. Die Aborte dienen zur unmittelbaren Aufnahme, beziehungs¬ 
weise als Sammelstelle für die menschlichen Entleerungen, von wo diese, 
je nach den vorhandenen Einrichtungen eines Ortes (Canalisation, Abfuhr), 
bald schneller, bald langsamer aus dem Bereich der menschlichen Wohnungen 
entfernt werden. Da die Entleerungen, von Personen, welche an einer sich 
im Darm abspielenden Infectionskrankheit (z. B. Typhus, Ruhr, Dyssenterie, 
Cholera) leiden, die die Krankheit verursachenden Infectionsstoffe enthalten, 
so müssen die Aborte derartig angelegt sein, dass eine Weiterverbreitung 
der Krankheitskeime von ihnen aus vollständig ausgeschlossen ist, vor allen 
Dingen muss eine Infection des benachbarten Bodens und des Grundwassers 
durch sie nicht zu befürchten sein. In zweiter Linie müssen die Aborte ge¬ 
ruchlos sein, es dürfen keine stinkenden Gase aus ihnen entweichen, welche 
womöglich den Aufenthaltsort der Menschen verpesten. Früher glaubte man, 
dass die üblen Gerüche direct inficirend wirken, Typhus, Ruhr, Cholera u. 
s. f. erzeugen. Diese Annahme ist durch die neueren Forschungen über das 
Entstehen und die Weiterverbreitung von Infectionskrankheiten widerlegt 
worden. Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch die Möglichkeit, dass 
durch das fortwährende Einathmen solcher übelriechenden Dünste bei empfind¬ 
lichen Menschen Ekel und dadurch eine Störung des allgemeinen Wohlbefin¬ 
dens erzeugt wird. Die Belästigung, die Menschen in einer durch Closet¬ 
dünste verunreinigten Atmosphäre empfinden, muss gleichfalls als ein hygi¬ 
enischer Uebelstand bezeichnet werden. 

Was die Giftigkeit der gasförmigen Producte betrifft, welche sich 
aus einem schlecht angelegten Abort entwickeln können, so wird deren Gefahr 
meist übertrieben. Bei freier Communication mit der Luft sind solche gif¬ 
tige Gase, wie Schwefelwasserstoff, Kohlensäure, Ammoniak, in der Regel 
so verdünnt, dass eine Intoxication ausgeschlossen ist. Dagegen können sich 
giftige Gase in geschlossenen Kothgruben reichlich ansammeln und auf die 
Menschen (Arbeiter), welche sich ohne Yorsichtsmaassnahmen in diese Behäl¬ 
ter hineinbegeben, giftig ein wirken. Aus diesen Gründen sind wirksame Ven¬ 
tilationseinrichtungen wichtige Erfordernisse für Abortanlagen, namentlich für 
Sammelgruben. 

Weitere Forderungen an eine Abortanlage sind noch folgende: Der Abort 
soll so gelegen und eingerichtet sein, dass Belästigungen der Benutzenden durch 
„Luftzug“ oder Witterungseinflüsse nicht vorhanden sind. Sie sollen gut be¬ 
leuchtet und in den Wänden, Decken, Fussböden so gehalten sein, dass der 
Sauberkeit möglichst Vorschub geleistet wird. Es ist wünschenswerth, dass 
jede Familie in einem sogenannten Miethshause über einen eigenen, verschliess- 
baren Closetraum verfüge. 

Was die Einrichtungen der Aborte anbetrifft, so soll derselbe mehr als 
1 qm Grundfläche und mindestens 2 - 5 m Höhe besitzen. Fussböden und Wände 
müssen abwaschbar, und leicht zu desinficiren, erstere ausserdem wasserdicht 
sein. Die Anlage von Aborten unter bewohnten Räumen ist möglichst zu ver¬ 
meiden. Für die Closetsitze eignet sich polirtes Holz, auf dem Verunreini¬ 
gungen leicht erkennbar sind und das leicht abwaschbar ist. In Wohnhäusern 
gibt man der Closetöffnung („Brille“) einen Deckel, der bei öffentlichen Closet¬ 
anlagen fehlen kann. Für Schulen, Fabriken, Kasernen sollen dieselben sich 
ausserhalb der Aufenthaltsräume befinden. Anlagen der letzteren Art wer¬ 
den zuweilen mit Sitzbrettern versehen, die Einrichtungen enthalten, um das 
Aufsteigen auf die Sitze zu verhüten. 


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ABORTE. 


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Den unter der Brille befindlichen erweiterten Theil des Abtrittes, den 
„Trichter,“ stellt man aus glasirtem Thon, manchmal leider auch aus Holz, 
meist wohl jetzt und mit Recht aus emaillirtem Gusseisen her; letzteres 
Material ist am besten rein und sauber zu erhalten und zugleich dauerhaft. 

In den Orten, die über eine centrale Wasserversorgung verfügen und 
mit Schwemmcanalisation versehen sind, trifft man gewöhnlich Wasser- 
closets an, die den Vorzug vor den anderen Aborten besitzen, geruchlos 
ausgeführt werden zu können und zugleich bei genügender Wasserverwendung 
und hinreichendem Wasserdruck den Trichter sauber zu erhalten. Man hat 
Vorrichtungen construirt, um die Spülung unabhängig von dem Willen des 
Benutzenden zu machen, indem man entweder die Thür mit dem Spülhahn 
derart in Verbindung setzt, dass beim Oeffnen oder Schliessen derselben das 
Wasserventil geöffnet wird oder indem man das Sitzbrett auf einem Hebel 
anbringt, der bei Be- oder Entlastung (Hinsetzen oder Aufstehen des das Closet 
Benutzenden) den Wasserverschluss öffnet und so für Spülung sorgt. 

Diese Vorrichtungen sollen nach dem Urtheile der Techniker mehr oder 
minder grosse Mängel besitzen. Mehr bevorzugt werden solche Spülvorrich¬ 
tungen, die selbstthätig eine zur Spülung genügende Menge Wassers unter 
Druck liefern. Das Spülwasser befindet sich bei diesen Einrichtungen in 
einem unter der Closetdecke des Closetraumes befindlichen Behälter, der sich 
von Zeit zu Zeit selbstthätig entleert und zugleich wieder füllt. Nöthigen- 
falls lässt sich dem Wasser in den Behältern ein Desinfectionsmittel zusetzen. 

Um das Aufsteigen von riechenden Gasen aus den Fäkalbehältern oder 
Hauscanalisationsleitungen in die Closeträume hinein und von da in die Wohn- 
räume unmöglich zu machen, stellt man zwischen Trichter und Fallrohr 
einen Verschluss durch eine Wassersäule her. Zu diesem Zwecke endet der 
Trichter nicht direct in das Fallrohr, sondern wird mit diesem durch ein 
«-förmiges Rohr verbunden. Derartige „Wasser- oder Kothverschlüsse“ sind 
in den mannigfachsten Constructionen vorhanden. — „Fallrohre“ aus Holz, 
die man vielfach noch antrifft, sind zu verwerfen; am besten eignet sich 
auch hiezu ein emaillirtes gusseisernes Rohr oder, da dieses sehr theuer ist, 
glasirtes Thonrohr. 

In Ortschaften, die noch keine Schwemmcanalisation haben, die es er¬ 
möglicht, in schnellster Weise die Fäkalien aus dem Bereiche der mensch¬ 
lichen Wohnungen fortzuschaffen, müssen die Fäkalien bis zu ihrer „Ab¬ 
fuhr“ aufgespeichert werden; es geschieht dies entweder in Gruben „Gruben¬ 
system“ — oder in beweglichen Behältern „Tonnen oder Fasssystem.“ 
— Im ersteren Falle werden die Excremente in Gruben aufgefangen, die 
unter allen Umständen ausserhalb der Häuser und mindestens, bei gut filtri- 
rendem Sandboden 10m vom nächsten Brunnen, womöglich aber noch weiter 
entfernt anzulegen sind. Diese Fäkalgruben müssen von den Häuserfundamenten 
durch undurchlässiges Material sicher isolirt und ferner wasserdicht sein. Dies 
wird nicht nur durch Verwendung von Baumaterialien bester Beschaffenheit 
anzustreben sein, sondern auch noch ausserdem dadurch, dass man die Gruben¬ 
wand mit einer Hinterfüllung aus fettem Thon von ca. 0 5 m Stärke versieht. 
Den Abschluss nach Oben hin erreicht man durch Anlage von Gewölben oder 
durch Eisendeckel, die man mit Erde überschüttet. 

Geradezu verwerflich ist es, die Fäkalgruben nach dem System der 
„Schwindgruben“ (Schling- oder Sickergruben) anzulegen. Diese 
Gruben werden nämlich absichtlich mit für Wasser durchlässigen Wandungen 
umgeben, so dass die Flüssigkeit in das umliegende Erdreich versickert und 
dieses verunreinigt. r 

Als dichte Vorrichtungen haben sich die Fäkalreservoirs' von Schleh 
erwiesen, die zudem noch eine Abführung der stinkenden Gase und Absorp¬ 
tionsvorrichtungen für diese besitzen. Bei dem Grubensystem und ebenso 


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6 


ABORTE. 


auch bei dem Tonnensystem macht sich das Bedürfnis für die Entfernung 
der genannten Gase in besonderem Maasse bemerkbar. Man führt die Gase 
am zweckmässigsten über das Dach des Hauses durch ein Rohr fort, welches 
von dem Fäkalbehälter, sei es Grube, sei es Tonne, luftdicht ausgeht und 
durch eine Flamme, oder besondere Feuerung, oder sonstige Wärmequelle 
(Nähe des Schornsteins) die nöthige Erwärmung und dadurch Luftbewegung 
erhält. Derartige Lüftungsvorrichtungen ventiliren zugleich das Closet selbst, 
indem durch die in dem Rohre aufwärts gerichtete Luftströmung eine Luft¬ 
verdünnung in dem Fäkalbehälter erzeugt wird, die wiederum einen, abwärts 
zu diesem letzteren gerichteten Luftstrom durch die Closetbrille hindurch 
zu Wege bringt. 

Die Entleerung der Gruben soll geruchlos und reinlich ge¬ 
schehen. Am besten haben sich zu diesem Zwecke die fahrbaren Eisentonnen 
bewährt, welche mittels einer durch Dampf getriebenen Pumpe den Gruben¬ 
inhalt aufsaugen. Hygienisch ist diese maschinelle Entleerung jeder anderen 
durch Handbetrieb bewirkten vorzuziehen. 

Beim „Tonnensystem“ (Fosses mobiles) mündet das Fallrohr der Closets 
in eine hölzerne oder eiserne Tonne. Hygienisch verlangt man von den 
Tonnen vollständige Undurchlässigkeit, angemessene Grösse, hermetischen 
Verschluss mit dem „Fallrohr“ und während der Abfuhr, die Möglichkeit, sie 
gründlich reinigen, womöglich desinficiren zu können. Den Tonnen hat man 
jede mögliche Gestalt gegeben; man hat sie ferner tragbar gemacht oder auf 
Wagen gestellt, oder so auf einem Gestelle angebracht, dass sie direct von 
diesem auf einen Wagen abgehoben werden können. — Beim Tonnensystem 
sollte für eine recht regelmässige, häufige Abfuhr und Auswechselung der Behäl¬ 
ter gesorgt werden; auch ist gerade hierbei die oben erwähnte Ventilation 
der Abtritte und der Fallrohre durch über Dach geführte Ventilationsröhren er¬ 
wünscht. Eiserne Tonnen sind den hölzernen vorzuziehen. Eines besonders 
guten Rufes erfreut sich das „Heidelberger Tonnensystem,“ bei dem 
die Tonnen aus starken Eisenblechcylindern von 86 cm Höhe und 46 cm Durch¬ 
messer bestehen und einen Ueberlauf besitzen, durch den bei unvorhergese¬ 
hener Ueberfüllung die Jauche in einen kleinen neben der Tonne stehenden 
Eimer abfliesst. 

Ist die Abfuhr gut eingerichtet, der Betrieb ein regelmässiger, dann 
lässt das Tonnensystem auch hygienisch nichts zu wünschen übrig und ist 
dem Grubensystem unbedingt vorzuziehen. 

Man hat die Aborte ferner so construirt, dass die festen Excremente 
von den flüssigen Antheilen getrennt werden, in der Absicht, dasVoium der 
abzuführenden Massen zu verringern. Die festen Massen werden dann ge¬ 
wöhnlich nur gesammelt und abgefahren, während man die flüssigen Massen 
in den Boden (Sickergruben) versickern lässt oder den Canälen übergibt. 
Um die Excremente in eine bequem abfahrbare Form zu bringen, und die¬ 
selben zu desodorisiren hat man sie mit desodorisirenden Stoffen (Erde, Torf, 
Torfstreu) vermengt (Moule’s Erd-, Streucloset, Torfstreucloset). 
Derartige Closets besitzen einen Mechanismus, der nach Gebrauch des Closets 
abgemessene Mengen des Desodorans auf die Fäkalmassen streut. Zu bemerken 
ist, dass weder in den Erd-, noch Torfstreuclosets durch die Erde oder den 
Torf eine Desinfection der Fäkalien herbeigeführt wird; um eine solche zu 
bewirken, ist es nothwendig, die Erde oder den Torf mit Säuren (Schwefel¬ 
säure), sauren Salzen (Superphosphaten) oder Carbolsäure, Kalkmilch u. dgl. 
m. zu imprägniren und den mit dem Desinfektionsmittel imprägnirten Torf 
öfter zu erneuern. 

Schliesslich sei noch erwähnt, dass man empfohlen hat, die flüssigen 
von den festen Massen zu trennen und diese durch Hitze zu zerstören (Feuer¬ 
closet). 


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ABWÄSSER. 


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Weiteres über Aborte findet sich noch in dem Artikel „Abwässer“. 

Für die „Pissoirs“ haben im Wesentlichen die gleichen Gesichts¬ 
punkte Geltung, wie für die Aborte. Hier ist namentlich reichliche Wasser¬ 
spülung geboten, oder Aufifangen des Urins in Torfmull u. dgl. m., um 
Fäulnis und Geruch zu vermeiden. Als Geruchsverschluss sind für Pissoirs 
sogenannte Oelsyphons angewendet worden. pboskauer. 

Abwässer. Die Abwässer, deren möglichst schnelle Entfernung aus 
dem Bereiche der Städte unumgänglich nothwendig ist, können enthalten: 
1. feste und flüssige Excremente der Menschen und Hausthiere, 2. die Haus¬ 
abwässer, bestehend aus den Abgängen der Küche, der Reinigung des Haus¬ 
wesens, aus Wasch- und Badewässern, 3. die Abgänge aus gewerblichen und 
industriellen Betrieben (Schlachthäusern, Fabriken); 4. das von Dächern, 
Strassen, Höfen sich sammelnde Regenwasser. Die Abwässer bilden einen 
wesentlichen Bestandteil der Abfallstoffe, welche letztere ausser den oben 
genannten Bestandtheilen auch noch die menschlichen Leichen, die Thier- 
cadaver, den Haus- und Strassenkehricht umfassen. 

Die Angaben über die Quantität der pro Tag entleerten Excremente 
schwanken sehr; man nimmt augenblicklich die von PETTENKOFEß'schen Zahlen 
als zu Recht bestehend an, denenzufolge auf den Kopf und Tag 90 g Faeces und 
1170^r Urin kommen. Nach Erisman scheidet der Durchschnittsmensch in 
einem Jahre in den festen Excrementen 0'4—0-65 kg Stickstoff und im Harn 
5—6 kg Stickstoff aus. Pro Mensch und Jahr sind nach Flügge ungefähr 
34 kg Koth, 430 kg Harn, 110 % feste Küchenabfälle und Kehricht, 36 000 kg 
Küchen- und Waschwasser zu rechnen. Die Gesammtmenge der thierischen 
Excremente beträgt in kleineren Städten mit viel Landwirtschaft ungefähr mehr 
als doppelt so viel wie die Ausscheidungen der Menschen, in grösseren Städten 
aber nur ca. 1 j i so viel. Die Menge der aus Küchen, Waschküchen und Bade¬ 
anstalten stammenden, sowie der gesammten Abwässer ist in den einzelnen 
Städten sehr verschieden; sie richtet sich nicht nur nach der Lebensweise 
der Bevölkerung, sondern hauptsächlich nach der Art der Wasserversorgung. 
Bei centraler Wasserversorgung sind in der Regel bedeutend grössere Quan¬ 
titäten Abwässer zu entfernen, als bei der Versorgung einer Stadt mit Pump¬ 
brunnen. In ersterem Falle können auf die Hausabwässer 100—150 1, ja sogar 
bis 200 1 pro Tag gerechnet werden, je nachdem der Wasserbedarf einer Stadt 
grösser oder geringer ist (100—150/ Gebrauchswasser pro Tag und Kopf). 

Die Abwässer aus gewerblichen und industriellen Anlagen wechseln je 
nach der Art des Betriebes in ihrer Beschaffenheit ganz ausserordentlich. Als 
besonders reich an gährungs- beziehungsweise fäulnisfähigen Stoffen gelten 
die Abwässer aus Schlachthäusern. Nach König enthielt z. B. das Abgangswasser 
des Erfurter Schlachthauses im Liter suspendirte organische Stoffe 1101*5 tng , 
darin Stickstoff 87*5 mg , gelöste organische Stoffe 1320 - 0 mg , organischgebun¬ 
denen Stickstoff 547 mg . Den Schlachthausabwässern reihen sich an die Abwässer 
aus Gerbereien, Bierbrauereien, Branntweinbrennereien (namentlich das soge¬ 
nannte Hefenwasser), Stärke- und Zuckerfabriken, Cellulose- und Papier¬ 
fabriken, Leimsiedereien, Färbereien u. dgl. m. So wurden gefunden im 
Abgangswasser einer Weizenstärkefabrik 3775 mg organische Stoffe, mit 
1468 mg Stickstoff, in demjenigen einer Strohpapierfabrik 2267 mg gelöste 
und 146 mg suspendirte organische Substanz mit 70 8 mg organischem Stickstoff 
pro Liter. Auch die bakteriologische Flora ist von der Herkunft des Ab¬ 
wassers abhängig. 

Das Regen-, Schneeschmelz- und Strassenwasser schwankt nicht nur je 
nach den meteorologischen Verhältnissen des betreffenden Ortes hinsichtlich 
seiner Menge, sondern auch je nach den localen Verhältnissen in seiner 


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ABWÄSSER. 


chemischen Beschaffenheit. Gegenden mit zahlreichen Industrien beeinflussen 
z. B. den Gehalt der atmosphärischen Wässer an suspendirten festen (Russ) 
und gelösten gasförmigen Bestandteilen ganz wesentlich. Gemeinsam allen 
derartigen Abwässern sind beigemengter Luftstaub, mitgeschwemmte Scbmutz- 
stoffe und Mikroorganismen. 

Hygienisch kommen bei den Abwässern hauptsächlich in Betracht: 

1. dielnfectionsstoffe. Diese können enthalten sein in allen aus den 
menschlichen Wohnungen oder deren Umgebung herrtihrenden Schmutz wässern, 
also nicht blos in den Fäcalien, sondern in allen im menschlichen Haushalte 
gebrauchten und aus demselben wieder zu entfernenden Wässern, sowie in 
in den Niederschlags- und Reinigungswässern von Höfen, Strassen und Plätzen. 
Von den Dachwässern gilt dies nur unter ganz exceptionellen Umständen. Zu 
den infektionsverdächtigen Abwässern gehören ferner die Abgänge von Schlacht¬ 
häusern und aus solchen Gewerbebetrieben, welche Lumpen, Felle, Haare oder 
thierische Abfälle (cfr. Abdeckereien) bearbeiten. 

2. Toxisch wirkende Stoffe. Solche kommen, und zwar nach den 
gegenwärtigen Erfahrungen, nur als mineralische Gifte (Arsenik, Blei) und in 
den gewerblichen Abwässern in Betracht. 

3. Fäulnisfähig eStoffe. Diese können nicht nur eine Luftverschlech¬ 
terung in den menschlichen Wohnräumen herbeiführen (vgl. Aborte) (1 m 3 
Abtrittsjauche vermag in 24 Stunden etwa 18 m 3 Gase zu liefern, nämlich: 10 m 8 
flüchtige Fettsäuren und Kohlenwasserstoffe, 5—6 m 3 Kohlensäure, 2—3 m 3 Am¬ 
moniak, 20 Liter Schwefelwasserstoff), sondern sie machen ebenso, wie die 
unter 1 und 2 aufgezählten Stoffe, wenn man die betreffenden Abwässer in 
öffentliche Wasserläufe einleitet, das Wasser der letzteren zum Trinken, Haus¬ 
gebrauch, für die Fischzucht u. dgl. mehr unbrauchbar. Von der Ver¬ 
unreinigung eines Wasserlaufes durch Infectionsstofte unterscheidet sich die¬ 
jenige mit fäulnisfähigen Stoffen in mehreren Punkten. Zunächst ist erstere 
in jeder Verdünnung, wenn auch in abnehmendem Grade gefährlich, lelztere 
dagegen hört bei einer gewissen Verdünnung auf, stinkende, d. h. belästigende 
Fäulnis hervorzurufen, auch wenn die verunreinigenden Stoffe zu den am 
leichtesten zersetzlichen und stinkende Fäulnis verursachenden gehören. Ferner 
ist das Zustandekommen der stinkenden Fäulnis zum grossen Theil von der 
Ablagerung zersetzungsfähiger Schlammmassen abhängig, welche wiederum durch 
die Strömungsgeschwindigkeit des betreffenden Wasserlaufes bedingt ist. Die 
Fäulnis erreicht ein Ende, wenn die fäulnisfähigen Stoffe vollständig zerlegt 
sind, was immer nach längerer oder kürzerer Zeit eintreten muss. Ein stin¬ 
kendes, trübes Wasser klärt sich daher allmälig und verliert den Fäulnis¬ 
geruch, eine Erscheinung, welche man als Selbstreinigung der Flüsse 
bezeichnet hat; dieselbe ist aber eigentlich weiter nichts, als ein vollständiger 
Verbrauch der zersetzungsfähigen Stoffe, also eine Art von Ausfaulen. Die 
lebenden Infectionsstoffe dagegen verhalten sich von dem todten fäulnisfähigen 
Material ganz verschieden. Erstere werden, wie verschiedene Typhusepidemien 
gezeigt haben, häufig weit stromabwärts getrieben; in der Regel wird aber 
nur die engere Umgebung desjenigen Theiles im Wasserlauf inficirt, wo die 
inficirten Abwässer in diesen eintreten. Die Choleraepidemien 1892—94 in 
Deutschland haben letzteres ebenfalls in unzweideutigster Weise gezeigt. Sogar 
ein Stromaufwärtsgelangen von Infectionsstoffen hat man sehr oft beobachtet; 
dieses wurde z. B. während der erwähnten Choleraepidemieen von der inficirten 
Schiffsbevölkerung besorgt. 

Auf Grund vorstehender Erörterungen wird eine zweckentsprechende 
Beseitigung der Abwässer Folgendes leisten müssen: 1. die Infections- 
keime müssen abgetödtet oder sonst wie unschädlich gemacht werden; es 
dürfen weder von den in der Wohnung oder in deren Umgebung vorhan¬ 
denen Abfallstoffen aus, noch auch durch Vermittelung der Bodenoberfläche, 


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des Brunnen- und Flusswassers Infectionen ausgehen; 2. die übelriechenden 
Gase müssen von den Wohnungen ferngehalten, 3. Grund- und Flusswasser 
dürfen durch Abwässer nicht so stark verunreinigt werden, dass dieselben, 
selbst nach ihrer Reinigung durch Filtriren, zum Genüsse, zu wirthschaftlichen, 
gewerblichen Zwecken, für die Fischerei ungeeignet sind; 4. die Verunreinigung 
des Bodens darf nicht so grosse Dimensionen annehmen, dass üble Gerüche 
entstehen; 5. die Beseitigung muss so billig als möglich sein, sie soll die 
Interessen der Landwirtschaft berücksichtigen, ohne dabei die hygienischen 
Forderungen zu umgehen. 

Die Systeme der Beseitigung der Abwässer sind zweierlei Art: 
1. solche, die ohne Wasserspülung arbeiten (Abfuhreinrichtungen), wozu ge¬ 
hören das Gruben-, Tonnensystem, die Abfuhr mit Präparation der Faecalien 
(Compostirung, Poudrettefabrication), die pneumatische Abführung der Faeca¬ 
lien durch ein unterirdisches Röhrennetz nach Centralstationen, wo die Tren¬ 
nung der festen von den flüssigen Anteilen bewirkt wird (Trennsysteme, Diffe- 
renzirsysteme) (LiEBNun’sches, SHONE’sches, BERUEii’sches, BüEiER’sches und 
NADEiN’sches System) — 2. Systeme, bei welchen sämmtliche Abwässer mit 
den Fäcalien durch reichliche Wasserspülung, mit oder ohne Regenwasser 
(aber ohne Haus- und Strassenkehricht), durch Canäle-fortgeschwemmt werden 
(Schwemmcanalisation). Die Spülcanalisation führt nur das Brauch- 
und event. Regenwasser, nicht aber die Fäcalien ab. 

Ueber die Abfuhrsysteme ist bereits Einiges im Capitel „Aborte“ 
gesagt worden. Hier sei noch hinzugefügt, dass man beim Tonnensystem 
bei 2mal wöchentlichem Wechsel der Tonnen für eine 10 Köpfe zählende 
Familie 50 Liter fassende Tonnen, bei einmaligem Wechsel in der Woche 
solche von 100 Liter Inhalt wählt. Soll auch Haushaltungswasser hinein¬ 
gelangen, so rechnet man bei wöchentlicher Entleerung 0 - 25 m 3 pro Kopf. 
Schulen, Kasernen u. dgl. verwenden vorteilhaft eiserne, auf Rädern ange¬ 
brachte Tonnen mit 500—2500 l Inhalt. 

Die Präparation der Fäcalien geschieht teilweise durch Trennung 
von Harn und Fäces, teilweise durch nachträgliches Verdampfen der flüssigen 
Theile, vornehmlich aber durch Zusatz von Chemikalien, welche zugleich 
desinficirend und desodorisirend wirken sollen. Man muss diese beiden Wir¬ 
kungen streng auseinanderhalten. Die Desinfection soll die Krankheits¬ 
keime vernichten, die Desodorisation entweder durch blosse Absorption 
oder durch Entwickelungshemmung der Fäulnissorganismen die Entstehung 
übler Gerüche verhindern; bei letzterer können demnach die Krankheits¬ 
keime noch am Leben bleiben und unter ungünstigen Umständen die 
Verbreitung von Krankheiten bewirken. Da in den Abwässern Infections- 
keime neben saprophytischen Keimen Vorkommen und man bei der Desinfection 
beide nicht isoliren und gesondert abtödten kann, so müsste man eigentlich 
an die gelungene Desinfection der Abwässer die Forderung stellen, dass diese 
durch das Desinfektionsmittel keimfrei werden. Jedoch gibt es eine Anzahl 
von unschädlichen Bakterien, welche Sporen bilden oder an und für sich 
bedeutend widerstandsfähiger sind als diejenigen Mikroorganismen, welche 
bei der Desinfection der Abwässer in Betracht kommen. Aus diesem 
Grunde wird sich bei Prüfung des Desinfectionseffectes durch die üblichen 
bacteriologischen Verfahren immer noch eine gewisse Anzahl von Keimen 
entwickeln, ohne dass unter letzteren pathogene sich zu befinden brauchen. 
Man wird demgemäss in diesem Falle weniger auf völlige Keimfreiheit zu 
sehen haben, als darauf, dass eine sehr starke Verminderung des Keimgehaltes 
stattgefunden hat. 

Man wird zu fordern haben, dass zur Desinfection der Abwässer 
solche Mengen eines Desinfectionsmittels angewendet werden, 
durch welche, zufolge der mit dem betreffenden Abwasser vorher 


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angestellten, experimentellen Versuche die sichere Vernich¬ 
tung sogar der widerstandsfähigeren Krankheitskeime darin 
gelingt. Diese Menge hängt ab von der Concentration der organischen 
Stoffe in den Abwässern, bezw. deren Gehalt an Fäcalien. Es ist eine 
festgestellte Thatsache, dass die Fäcal- und an organischen Stoffen sehr reichen 
Abwässer, grössere Mengen von Desinficientien erfordern, als Abwässer, die 
arm an den erwähnten Substanzen sind. Dies erklärt sich daraus, dass die 
organischen Stoffe, zum Theil auch einzelne der mineralischen Bestandteile 
der Abwässer einen Theil des Desinfectionsmittels binden und so der Wirkung 
auf die Bacterien entziehen. Man kann in zweiter Linie den Desinfections- 
effect auch noch danach bemessen, ob die in jedem Abwasser vorkommenden 
Keime von Bacterium coli am Leben geblieben sind oder nicht. (Platten- 
cultur, am besten unter Benützung der ELSNER’schen Kartoflfelsaft-Jodkalium- 
gelatine). Im ersteren Falle ist die Desinfection als eine ungenügende zu 
bezeichnen. Das hier als Index vorgeschlagene Bacterium coli besitzt eine 
etwas grössere Widerstandsfähigkeit gegen Desinfektionsmittel, als die Typhus¬ 
bacillen, und übertriflt an Besistenz die Cholerabacillen um ein Bedeutendes. 

Für die Desinfection des Grubeninhaltes und der Tonnen 
hat sich die Kalkmilch (hergestellt aus 1 Theil Kalk und 4 Theilen Wasser) 
am besten bewährt; in allen Fällen genügt ein Zusatz derselben bis zu einem 
Gehalte von 2% Kalk in der Fäcalmasse. In manchen Fällen wird auch 
schon 1% Kalk ausreichend sein. Jedenfalls muss die Reaction nach dem 
Zusatz der Kalkmilch stark alkalisch werden. Eine gute desinficirende Wirkung 
üben auch Schwefelsäure (roh) und Salzsäure (rohe) aus, die man bis zur stark 
sauren Reaction des Gruben- oder Tonneninhaltes unter Umrühren zusetzt. 
Chlorkalk ist dem Kalk zwar an desinficirender Wirkung überlegen, aber 
theurer als dieser und nicht indifferent gegen das Material, aus dem die Fäcal- 
behälter hergestellt sind. Die Desinfectionsmittel müssen ge¬ 
nügend lange einwirken. — Torf und Torfmull ist nur in Mischung 
mit Säuren oder stark sauer reagirenden Salzen als Desinfectionsmittel an* 
Zusehen. Zu erwähnen ist noch, dass man nur die Desinfection solchen Gruben- 
und Tonneninhaltes vornehmen wird, bei denen der Verdacht auf die Gegenwart 
infectiöser Abgänge vorliegt. 

Das Geruchlos machen oder Desodorisiren lässt sich durch 
entwickelungshemmende (nicht desinficirende) Salze, wie Eisenvitriol, Mangan- 
chlorür, übermangansaures Kalium, (das auch als Desinficiens bei reich¬ 
licher Anwendung gilt), ferner durch absorbirend wirkende Substanzen wie 
Torf, Asche, Holzkohle bewerkstelligen. Car boisäur e wirkt nicht desodorisirend 
und im vorliegenden Falle auch erst bei grossen Mengen desinficirend. — 
Saprol, eine Lösung von Kresolen in indifferenten Kohlenwasserstoffen, 
schwimmt auf dem Grubeninhalt und verhindert das Ausströmen von Miasmen; 
durch Abgabe der Kresole an den Grubeninhalt wirkt es auch nach und nach 
desinficirend. 

Die meisten Verfahren zur Präparation, Desinfection und Desodorisation 
der Fäcalien verwenden Kalkmilch. Am bekanntesten sind 1. das SüvEUN’sche 
Verfahren, welches auf 100 Theile Kalk, mit 300 Theilen Wasser gelöscht, 
8 Theile Theer und 33 Theile Magnesiumchlorid verwendet. Die Chemikalien 
bewirken einen Niederschlag, den man absetzen lässt und abfährt, während 
die Flüssigkeit ablaufen gelassen wird. — 2. Der A-B-C-Process, der in 
England häufig angewendet wird, besteht in der Verwendung einer Mischung 
von Alaun, Blut, Kohle und Magnesia beziehungsweise Dolomit (Alum, 
Blood, Cr.AY). — 3. Das FRiEDKiCH’sche Verfahren: Thonerdehydrat 3%, 
Eisenoxydhydrat 15%, Kalkhydrat 15% und Carbolsäure 12% sind in einem 
aus Drahtgewebe hergestellten Korb enthalten, dieser steht wieder in 
einem eisernen Kasten, der mit dem Closet verbunden ist. Die mit Sptil- 


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wasser vermengten Fäcalien laugen nach und nach die FniEDRicH’sche Masse 
aus und gelangen in Klärbassins, wo die Trennung der entstandenen Schlamm¬ 
massen von der Flüssigkeit erfolgt. — 4. Das W ilhelmy ’sche Verfahren ist 
dem vorigen ähnlich; die Mischung der Fäcalien mit der Fällungsmasse 
findet in einer Vorgrube statt. — 5. Das PETiu’sche Verfahren stützt sich 
auf Verwendung einer aus Torf und Gastheer hergestellten Mischung und auf 
die Verarbeitung der hiedurch gewonnenen Massen zu sogenannten „Fäcal- 
steinen“, die als Brennmaterial dienen sollen. 


Die Kosten der Abfuhrsysteme stellen sich nach Brix in Mark wie folgt: 

pro Kopf und Jahr pro m 3 

Grubensystem mit Abfuhrwagen 0’80—1‘70 1*60—3 - 50 

„ „ Torfstreuclosets T70—2 - 75 3 - 30—5 50 

Tonnensystem 1*30—2'20 2 60—440 

- mit Torfstreu 170—2 60 3 40—5 20 


Den Abfuhrsystemen schliessen sich unmittelbar an: 

1. Das pneumatische System nach Liernur. Hier geschieht die 
Entfernung der gesammten Abfallstoffe durch ein unterirdisches Canalnetz, 
während das Bodenwasser durch Drainage, das Meteorwasser oberflächlich beseitigt 
werden soll. Die Fäcalien werden aus den mit eigens für das System con- 
struirten Syphons (Kothverschlüssen) versehenen Closets in eiserne Strassen- 
röhren geleitet, welche sich in bestimmten Stadtbezirken in einem luftdicht 
schliessenden Eisenkasten vereinigen. Von einer Pumpstation her wird der 
Kasten luftleer gemacht, nachdem vorher die an den Strassenröhren an¬ 
gebrachten Hähne geschlossen worden waren. Werden nach Evacuirung des 
Eisenkastens die Hähne geöffnet, so wird der Rohrinhalt in den Kasten hinein¬ 
gesaugt. Von hier gelangen ebenfalls durch Aspiration die Massen nach der 
Pumpstation, wo ihre Verarbeitung zu Poudrette erfolgt. Das System hat 
viele Mängel, besonders ist es in der Anlage theuer und daher nur in ein¬ 
zelnen Ortschaften eingeführt. 

2. Das pneumatische System von Berlier hat mit dem vorigen 
das gemeinsam, dass ebenfalls nur die Excremente aufgenommen und diese 
durch Luftverdünnung fortgeschafft werden. 

3. Das SHONE’sche Trennsystem. Hiebei fliessen die Fäcalstoffe 
unterirdisch in Recipienten, die in einer grösseren Anzahl über die Stadt ver¬ 
breitet sind. Sobald in diesen Recipienten oder Ejectoren die Schmutzstoffe 
eine gewisse Höhe erreicht haben, wird ein an einem Schwimmer befestigter 
Hebel in Bewegung gesetzt, welcher einen Schieber öffnet, durch den von 
einer Maschinenanlage zugeführte comprimirte Luft in den Ejector hindurch¬ 
dringt. Diese Druckluft befördert die Massen aus dem Behälter in 
die Abführungsrohre. Hat der Ejector sich entleert, so wird die Druckluft 
durch Sinken des Schwimmers wieder von ihm abgesperrt, zugleich entweicht 
die überschüssige Pressluft und in dieser Weise füllt und entleert sich der 
Ejector automatisch. 

4. Das Trennsystem nach Waring beansprucht besondere Canäle 
für das Regenwasser, die oberirdisch liegen, und kleinere, tiefliegende Canäle 
für die Hausabwässer und Fäcalien. Die letzteren fliessen durch eigenes 
Gefälle ab. 

Vortheile bieten diese Differenzirsysteme wohl nur unter ganz besonderen 
Umständen, so z. B. an solchen Orten, wo man das Regenwasser und die 
anderen weniger stark verunreinigten Abwässer billig und leicht beseitigen kann. 

Bei der Schwemmcanalisation werden die gesammten Abwässer 
(Fäcalien, Haus-, Küchenwasser, Meteorwasser) in unterirdischen Canälen 
durch eigenes Gefälle schnell aus dem Bereich der Wohnungen fortgeführt. 
Der Canalinhalt wird entweder direct oder erst dann in einen öffentlichen 


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ABWÄSSER. 


Wasserlauf einfliessen gelassen, wenn seine Reinigung durch Berieselung 
oder seine Klärung auf mechanischem, oder mechanischem und 
zugleich chemischem Wege erfolgt ist. 

Der Untergrund der Stadt ist von einem Canalnetz durchzogen, in 
denen sich die Abwässer mit natürlichem Gelälle nach einem Sammelcanal 
hin bewegen, welcher schliesslich in einem Sammelbehälter mit Sandfang und 
Abfangvorrichtung für gröbere Schwimmstoffe endet. In die Canäle münden 
sowohl die Aborttrichter, als auch die Ausgüsse für Küche, sowie die das 
Regenwasser sammelnden Dachrinnen. Eine gut durchgeführte Canalisation 
bewirkt nicht nur eine rasche, sondern auch vollständige Entfernung 
der Abfallstofife. Daher ist ein gutes Gefälle, eine reichliche Wasserspülung, 
glatte Wandung und zweckmässige Gestaltung der Canäle in erster Linie 
erforderlich. Man soll es sich besonders zum Grundsatz machen, Canalisation 
und Wasserleitung neben einander zu projectiren. 

Eine Canalisation erfordert eine Masse von Vorarbeiten. So sind die 
Bodenverhältnisse festzustellen, ein Bodennivellement aufzunehmen, der 
tiefste zu entwässernde Punkt, ferner die Grundwasserverhältnisse, Boden¬ 
temperaturen (Frostgrenze), Vorfluthverhältnisse, die mittlere Regenmenge 
des Ortes, die Bevölkerungsdichte und -Zunahme, der Wasserverbrauch, die 
Abwassermenge und vieles andere mehr zu bestimmen. 

Die Anlage der Canäle wird entweder derart ausgefübrt, dass ein Haupt¬ 
canal (Sammelcanal, Stammsiel) die von kleineren Canälen zufliessenden 
Wassermassen aufnimmt (centrale Disposition, Abfangsystem), oder dass die 
Canäle in einem oder mehreren tiefstgelegenen Sammelbassins münden (Fächer¬ 
system), oder dass der Ort in Bezirke eingetheilt ist, in denen peripher 
gelegene Pumpstationen die Abwässer, welche vom Centrum her Zuströmen, 
aufnehmen und weiter befördern (Radialsysteme). 

Die Strassencanäle haben in den einzelnen Orten verschiedene Form 
und sind aus verschiedenem Material angefertigt. Man nimmt gewöhnlich 
glasirtes Steingut für die engeren Canäle, und mauert die weiteren aus Back¬ 
stein und Cement. Die Dichtung der ersteren geschieht durch getheerte Hanf¬ 
stricke oder mit Thon, oder durch Asphalt und Theer. Die gemauerten 
grösseren Siele haben vielfach eine eiförmige Gestalt, mit der Spitze nach 
unten, um eine möglichst hohe und wenig breite Wasserschicht zu erhalten 
und so das Sedimentiren von Schmutztheilen zu vermeiden. Das Sohlenstück 
der gemauerten Canäle muss absolut für Wasser undurchlässig hergestellt 
sein. Es ist gewöhnlich von kleinen kantigen, am Ende der Leitung offenen 
Canälen durchzogen, welche zur Drainage des Grundwassers dienen. Den 
gleichen Zweck hat eine neben den Canälen angebrachte Kiesschüttung, mit 
und ohne Drainröhren (Senkung des Grundwasserspiegels). 

Die Canäle sind ferner frostfrei zu legen und möglichst so tief, dass alle 
Keller entwässert werden können. Ihre Weite richtet sich nach den zu be¬ 
wältigenden Wassermassen, die besonders bei starken Regengüssen zu so 
ungeheuren Quantitäten anschwellen, dass sie die Canäle, welche nur auf 
Abführung mittlerer Regenmengen (wegen der hohen Kosten, welche zu weite 
Kanäle verursachen) berechnet sind, nicht zu fassen vermögen. In diesem 
Falle treten sogenannte Nothauslässe in Function, das sind breite flache 
Canäle, die aus dem oberen Theil der Strassensiele mit gutem Gefälle direct 
zum nächsten Wasserlauf führen und die das Canalwasser erst dann auf¬ 
nehmen, nachdem es im Canal eine bestimmte Höhe erreicht hat. Diese 
Nothauslässe führen also grosse Massen ungereinigten, obwohl stark verdünnten 
Canalinhaltes in den öffentlichen Wasserlauf ein. Ist die Wassermenge des 
letzteren und seine Stromgeschwindigkeit nur gering, so treten durch die 
Function der Nothauslässe zeitweise starke Flussverunreinigungen auf, die 
sich, wie in Berlin, durch massenhaftes Sterben der Fische dem Auge bereits 


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ABWÄSSER. 


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bemerkbar machen können. Die Nothauslässe sind deshalb noch ein Miss¬ 
stand der Canalisation, den man jedoch wegen der anderen grossen Vortheile 
der letzteren gern mit in den Kanf nimmt. Es wäre aber ernstlich za erwägen, 
ob man nicht das von den Dächern ablaufende Meteorwasser, welches am 
wenigsten bedenklich ist, von den Canälen abschliesst und dort, wo es mit 
geringen Kosten verbunden ist, direct in einen Wasserlauf einleitet oder 
sogenannten Sickergruben zuführt, aus denen es in den Erdboden eindringt. 
Auf diese Weise würden die Nothauslässe bedeutend entlastet, womöglich 
entbehrlich und die Flussverunreinigung durch sie auf ein Minimum beschränkt 
beziehungsweise ganz vermieden werden. 

Das Gefälle der Canäle und Siele macht man bei Hausleitungen 1:50, 
bei kleinen Strassenleitungen 1 : 200—250 und bei grösseren Sielen 1 : 500, bei 
Sammelcanälen sogar 1 : 1500—2000. Die Geschwindigkeit des Sielinhaltes 
beträgt 0 70—1*80 m in der Secunde. Die Durchquerung von Flüssen geschieht 
durch Düker, eine Art Syphons aus weiten eisernen Röhren, die im Flussbett 
liegen und durch kräftige Spülung vor Verstopfungen bewahrt werden müssen. 

Um bei langem Ausbleiben atmosphärischer Niederschläge oder bei grossen 
Massen mitgeführter Schlammtheile ein Absetzen der letzteren in den Sielen 
auszuschliessen, ist ein öfteres Auspülen derselben oder bei engeren Röhren 
das Durchziehen von Bürsten erforderlich. Für die Durchspülung sind mit¬ 
unter besondere Einrichtungen vorhanden, sogenannte Spülschieber mit Stau¬ 
vorrichtungen, die durch Anstauen von Wassermassen und plötzliches Hinein- 
fliessenlassen der letzteren in die Canäle wirken. Zu erwähnen ist noch, 
dass für die Aufnahme des Strassenwassers besondere Kästen (G ullies) 
vorhanden sind, das sind eiserne im Niveau des Pflasters endende Sinkgruben, 
in denen ein Absetzen der gröberen suspendirten Stoffe stattfinden kann. 
Diese Gullies besitzen ausserdem einen syphonartigen Wasserverschluss zur 
Verhütung des Austretens von stinkenden Gasen aus den Sielen. Zur Revision 
der Canäle dienen gemauerte Einsteigeschachte (Revisionsschachte), 
die in Entfernungen von ca. 100 m und so gross angelegt sind, dass ein 
Einsteigen der Arbeiter möglich ist. Da der Boden der Revisionsschachte 
tiefer als die Sielsohle liegt, so findet in den so gebildeten Bassins ebenfalls 
ein Absetzen von Schlammtheilen statt, die dann von Zeit zu Zeit mittels 
Eimer beseitigt werden. Die Revisionsschächte dienen auch zur Ventilation 
der Siele, besonders bei plötzlicher Füllung derselben durch Regenwasser. 
Die Ventilation wird zudem noch durch besondere Lufteinlass- bezw. Auslass¬ 
öffnungen, auch durch die über Dach verlängerten Fallrohre der Closets besorgt. 

Grosse Sorgfalt ist auf die Herstellung der Verbindungen der Haus¬ 
auslässe mit den Canälen zu verwenden. Die Hauscanalisationseinrichtungen 
sollen möglichst leicht zugänglich, vollkommen wasser- und luftdicht sein, 
sie sind ferner frostsicher anzulegen. Die von den Häusern kommenden Canäle 
münden entweder in spitzem Winkel oder flachem Bogen in die Strassensiele 
ein; sie bestehen aus Steingut- oder asphaltirten Eisenröhren von 15 cm 
Weite. Ihren Anfang nehmen sie von den Closets (vgl. Aborte), Küchenaus¬ 
güssen, Badewannen, Spülvorrichtungen etc. sie vereinigen sich in besonderen 
Gullies, wo sich Sand und andere gröbere Theile absetzen können, oder es 
liegt im Hausflur oder Keller ein „Revisionsschacht“ (eiserne Erweiterung 
des Canals), in dem einerseits das Fallrohr, andererseits das Verbindungsrohr 
des Strassensieles mündet. Um ein Eindringen von Canalluft oder Canal¬ 
flüssigkeit in die Hausleitung zu verhindern, enthält der Revisionsschacht 
eine Rückstauklappe. — Die Rinne, welche das auf die Dächer fallende 
Regenwasser sammelt, führt direct in das Strassensiel hinein. 

Man hat — besonders in England — viel Werth auf die Ableitung der 
Canal luft gelegt und letztere als die Ursache von Infectionskrankheiten ange¬ 
sehen. Diese Annahme ist mit unseren heutigen Kenntnissen vom Wesen 


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ABWÄSSER. 


der Krankheitserreger nicht vereinbar. Ein Austritt der letzteren aus dem 
Canalinhalt mit den Fäulnisgasen in die Luft ist, wie wir jetzt wissen, nicht 
möglich, weil die Keime durch diese Gase nicht mitgerissen werden, sondern 
in der Flüssigkeit und an den feuchten schlüpfrigen Sielwänden fest haften 
bleiben. Untersuchungen der Canalluft haben in der That ergeben, dass 
diese keimfrei ist oder nicht mehr an gewöhnlichen Saprophyten und Schim¬ 
melpilzen enthält, als die Aussenluft. Nur durch ein Verspritzen der Siel¬ 
flüssigkeit können Keime in die Canalluft gelangen. Die Wirkung der Canal¬ 
gase ist also keine andere, als diejenige der übelriechenden Gase überhaupt 
(siehe Aborte), aber die durch sie hervorgerufenen Belästigungen und Miss¬ 
stände machen es an und für sich schon nöthig, Vorkehrungen gegen ihr 
Eindringen in das Haus zu treffen. Die Maassnahmen dagegen sind im Vor¬ 
hergehenden bereits angeführt. 

Der endliche Verbleib der Abwässer ist ein sehr verschiedener; er 
ist auch von Fall zu Fall verschieden zu regeln. Ein allgemeines Schema lässt 
sich hierfür nicht aufstellen. Es gibt zwei Wege sich der Abwässer definitiv 
zu entledigen: 

a) man leitet sie direct in ein öffentliches Wasser (Fluss, See) ab, ohne 
sie vorher zu reinigen oder zu desinficiren, oder 

b) man reinigt und klärt sie vorher durch Filtration (Sandfilter, Boden¬ 
filtration, Berieselung) oder durch mechanische Klärung mit 
oder ohne Zusatz von Chemikalien (Klärverfahren.) 

Die Gefahren, welche die Einleitung städtischer und gewerblicher Ab¬ 
wässer in die Flüsse mit sich bringen, gehen aus den bereits oben ent¬ 
wickelten hygienischen Gesichtspunkten hervor. Demnach ist vor allen Dingen 
Sorge zu tragen, dass die Infectionsstoffe mit sich führenden Abwässer über¬ 
haupt nicht undesinficirt den öffentlichen Wasserläufen übergeben werden 
dürfen. Da die Haus- und Fäcalwässer, Abwässer aus Schlachthäusern und aus 
den thierische Abfälle bearbeitenden Betrieben stets inlectionsverdächtig sind, so 
werden dieselben jedenfalls vorher unschädlich zu machen sein. — Hinsicht¬ 
lich der fäulnissfähige Stoffe mit sich führenden Abwässer, die als infections- 
unverdächtig anzusehen sind, wie z. B. die Abwässer gewisser chemischer 
Industrieen, ist darauf zu achten, dass sie den öffentlichen Wasserläufen 
erst in völlig geklärtem Zustande zugeführt und durch das W T asser der 
letzteren soweit verdünnt werden, dass eine stinkende Fäulniss hinterher nicht 
eintreten kann. Strassenwässer sind ebenfalls demgemäss zu behandeln. 
Erwünscht ist die Feststellung von Grenzwerthen für den Gehalt der gereinigten 
Abwässer an fäulnissfähigen Stoffen verschiedener Art mit Rücksicht auf 
Temperatur und Bewegung des Flusswassers. Vorläufig soll man den zulässigen 
Grad der Verunreinigung darnach bemessen, dass unverkennbare Anzeichen 
stinkender Fäulnis (Fäulnissgeruch, Entwicklung von Gasblasen) auch bei 
niedrigem Stand des Flusswassers und bei höchster Sommertemperatur fehlen. 
Die getrennte Beseitigung der Fäcalien macht die Schmutzwässer nach obigen 
Darlegungen nur unwesentlich weniger fäulnissfähig. 

Was die toxisch wirkenden Stoffe anbetrifift. diein den ge werblichen Ab wässern 
in erster Reibe in Betracht kommen, so muss darauf Bedacht genommen werden, 
dass diese nach dem Einleiten in den Fluss eine so starke Verdünnung durch 
das Flusswasser erfahren, oder nur innerhalb einer solchen Grenze dem Wasser¬ 
laufe zugeführt werden, dass Gefahren völlig ausgeschlossen sind. Ab¬ 
wässer, welche den Gebrauch des Flusswassers zum Trinken, zum Haus¬ 
gebrauch, für die Landwirtschaft und Industrie beschränken oder die Fischzucht 
gefährden, stammen insbesondere von Färbereien, von Soda-, Gas- und anderen 
chemischen Fabriken, von Paraffin- und Petroleumfabriken, es gehören hierher 
ferner heisse Condensationswässer und Chemikalien, die zur Klärung und 
Desinfection von Abwässern gedient haben. Entscheidend für die Frage, ob 


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ABWÄSSER. 


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die Zulassung dieser Art Abwässer in die Flüsse mit Rücksicht auf so gear¬ 
tete Stoffe erst von einer vorhergehenden Reinigung abhängig zu machen sei, 
bleibt der Satz, dass das Flusswasser in seiner Klarheit, Farblosigkeit, 
an Geschmack, Geruch, Temperatur, Gehalt an gelösten Mineralstoffen, sowie 
Reaktion auf Lackmus nicht wesentlich verändert sein darf. 

Wenn nur irgend angängig, sollte man nur gestatten, vorher gereinigtes 
(geklärtes) Abwasser dem öffentlichen Wasserlauf zuzuführen. 

Die Erlaubnis, ungereinigte Abwässer fliessenden Wässern zuzuführen, 
soll stets abhängig gemacht werden, einmal von der Menge der zu beseitigen¬ 
den Sielwässer, dann von der Wassermenge des Flusses, von dessen Strom¬ 
geschwindigkeit, von der Ufergestaltung und dem Verlauf des Flusses, 
von der Bewohnung der stromabwärts gelegenen Ufer und schliesslich von 
der Benutzung des Flusswassers. Man verlege die Einlaufmündung des 
Canalwassers stets in die Mitte des Stromes, nicht oberhalb von Bade- und 
Waschanstalten und vermeide besonders hierzu die Nähe von Entnahmestellen 
der Wasserwerke. Was die Verdünnung der Jauche durch das Flusswasser 
anbetrifft, so hat man ein Verhältniss von 1 : 15 für ausreichend angenommen, 
dies gilt allerdings nur für die fäulnissfähigen Stoffe und Bestandtheile 
dieser Art; für Infectionsstoffe führende Abwässer kann dieser Grad der Verdün¬ 
nung durchaus nicht etwa als eine völlige Beseitigung der Infectionsgefahr 
angesehen werden. 

Für Abwässer aus gewerblichen Betrieben, die viel organische Stoffe 
enthalten, wird man strenge Vorschriften, jedenfalls aber vorherige Klärung 
vorschreiben. 

Von den Methoden der Reinigung der Abwässer hat sich die 
Filtration durch den Erdboden bewährt. Der Boden allein vermag, 
namentlich wenn er aus gut filtrirendem, feinkörnigem Sande in seiner 
natürlichen Lagerung besteht, zwar sehr gut die Mikroorganismen zurückzuhalten 
und die Abwässer chemisch derart zu verändern, dass man diese in so filtrirtem 
Zustande unbedenklich den Flüssen übergeben darf. Von intensiverer Wirkung 
jedoch ist die Mithilfe der Vegetation bei der Bodenfiltration. Die Pflanzen 
verhüten besonders die rasche Uebersättigung des Bodens mit fäulnissfähigen 
Stoffen, sie verändern die zersetzungsfähigen Stoffe so weit, dass sie nicht 
weiter fäulnissfähig sind. Zugleich gestattet diese Art der Filtration, Be¬ 
rieselung genannt, eine Verwerthung des Canalwassers für landwirt¬ 
schaftliche Zwecke. Man hat deshalb diesem Verfahren vor der blossen Boden¬ 
filtration den Vorzug gegeben. 

Eine absolute Sicherheit gegen das Verschleppen von Infectionsstoffen 
bietet das Berieselungsverfahren ebensowenig, wie das chemische Verfahren, 
da bei jenem das Schmutzwasser auf den ausgedehnten Flächen nicht ganz 
gleichmässig filtrirt wird und bei dem anderen eine gleichmässige Desinfection 
der bedeutenden Flüssigkeitsmengen wohl kaum zu erwarten ist. Jedoch kann 
man sich vorläufig mit den Erfolgen, die erzielt worden sind, beruhigen. 

Bei der Berieselung wird das Schmutzwasser zunächst in grosse Sammel¬ 
behälter geleitet, wo suspendirte Stoffe durch Gitter abgefangen und Senk¬ 
stoffe abgelagert werden (Sandfang); diese Substanzen werden herausgebaggert 
und fortgefahren. Das so von gröberen festen Bestandtheilen befreite Canal¬ 
wasser wird durch Pumpen auf das Rieselfeld gedrückt und hier von einem 
höher gelegenen Sammelpunkt aus durch eigenes Gefälle mittels Gräben auf 
die Oberfläche der einzelnen Felder vertheilt (Oberflächenberieselung). Die 
Felder sind aptirt, besitzen eine Neigung, so dass das Canalwasser sich 
möglichst gleichmässig auf ihnen vertheilt und keine Stauungen erleidet, ferner 
sind sie mit Drainröhren versehen, die das filtrirte Wasser aufnehmen und 
einem Hauptdrainrohr zuführen, von wo dasselbe in den Hauptentwässerungs¬ 
graben und von da in den Fluss abgeleitet wird. Im Winter gelangt das 


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ABWÄSSER. 


Canalwasser in sogenannte Staubassins, das sind grosse Flächen mit wenig- 
durchlässigem Boden und mit Erdumwallungen umgeben, so dass nur eine 
langsame Versickerung des Wassers stattfindet. 

Die Grösse des Kieselterrains ist je nach der Bodenbeschaffenheit eine 
verschieden grosse, im Durchschnitt nimmt man 1 ha auf 250 Einwohner, 
oder auf 10—50000 m i Wasser an. 

Vorbedingungen für die zuverlässige Wirkung des Rieselfeldes sind einmal 
die Bodenbeschaffenheit (am besten ist Sandboden oder der lehmige Sand, wenig 
geeignet fester Lehmboden oder fetter Humusboden), ferner die gute Aptirung 
und der rationelle Betrieb. Wo diese Bedingungen erfüllt sind, haben die 
Rieselfelder überall gute Resultate gegeben. Die suspendirten Stoße werden 
vollständig entfernt, ob dies auch für Bacterien gilt, ist noch nicht sicher 
festgestellt, wird aber angenommen; die gelösten organischen Substanzen werden 
bis 90°/o> die anorganischen bis 60 °/ 0 vom Boden zurückgehalten. 

Eine besondere Art der Berieselung ist die Untergrundberiese¬ 
lung, welche nur die flüssigen, abgeklärten Schmutzwässer beseitigt und für 
kleinere Mengen Abwasser geeignet ist. Das Princip derselben besteht in der 
Abführung der Abwässer in den Untergrund, im Gegensatz zur eben bespro¬ 
chenen Oberflächenberieselung, bei welcher die Wassermassen auf die Bodenober¬ 
fläche gelangen. 

Zu erwähnen ist an dieser Stelle das Verfahren von Proskowetz, das 
in der Zuckerfabrik Sokolnitz angewandt wird und nach Strohmer u. Anderen 
gute Resultate liefern soll. Dasselbe besteht darin, dass die an fäulnissfähigen 
Stoffen reichen Abwässer zunächst unter Beihilfe von Kalkmilch eine Vor¬ 
klärung durchmachen, darauf zweimal gerieselt werden, und nachdem hierdurch 
eine Mineralisirung der organischen Stoffe bewirkt worden ist, von den nun¬ 
mehr vorhandenen fällbaren Stoffen von Neuem durch Kalkzusatz befreit werden. 
Das resultirende Wasser soll so beschaffen sein, dass es ohne Bedenken 
wieder dem Betriebe zugeführt werden darf. Die erste Berieselung ist eine 
oberirdische und so eingerichtet, dass die Luft in die Drains eintreten kann; 
die zweite Berieselung geschieht auf einer Rieselwiese, welche durch vertikal 
untereinander angeordnete Drainröhren drainirt ist; diese Anordnung ermöglicht 
die Verwendung einer viel kleineren Rieselfläche, als das gewöhnliche Riesel¬ 
verfahren beansprucht. Es ist sehr anzuempfehlen, das Verfahren hinsichtlich 
seiner Verwendbarkeit für Abwässer anderer Industrieen und Gewerbe zu prüfen. 

Die zweite Methode der endgültigen Beseitigung der Abwässer ist die 
Klärung mit oder ohne Zusatz von Chemikalien, in ersterem Falle mecha¬ 
nische, in letzterem Falle chemische Klärung genannt. 

Nachdem man von den für die Reinigung des Oberflächenwassers be¬ 
nützten Sandfiltern in Erfahrung gebracht hatte, dass sie nur die suspendirten 
Stoffe entfernen, die gelösten aber bloss unbedeutend beeinflussen, in letzter 
Beziehung also nicht dasselbe leisten, was die Filtration durch den Boden leistet, 
kann man die Reinigung von Abwässern durch Sandfilter ebenfalls nur zu den 
mechanisch klärenden Systemen rechnen. Derartige Filter bestehen aus ge¬ 
mauerten Bassins, wie bei den Sandfiltern für die Wasserversorgung; sie sind 
auch in gleicher Weise wie diese beschickt, nur ist das Korn der obersten 
Sandschicht gewöhnlich etwas gröber. Die Filtrationsdauer ist eine geringere, d. h. 
die Filtrationsgeschwindigkeit eine grössere, wie für Trinkwasser. Man rechnet 
für 1 m 3 Abwasser 1—2m s Filterfläche, oder ein Hektar für 40—50000 Ein¬ 
wohner. Die Abwässer werden meist auf die Oberfläche des Filters geleitet, 
mitunter ist noch eine seitliche Filtration oder eine von unten rach oben 
gerichtete (aufsteigende Filtration) in Verwendung. Die gröberen susoendirten 
Stoffe werden hierbei vollkommen entfernt, die Bacterien aber ?iur zum 
Theil. Das Filtrat ist dabei immer noch fäulnisfähig, weil die gelös' en orga¬ 
nischen Stoffe vom Filter nicht zurückgehalten werden. 


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ABWÄSSER. 


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Zu der mechanischen Reinigung gehören in zweiter Linie die auf Sedimen- 
tirung beruhenden Methoden. Es werden Klärbecken (Klärbrunnen) angelegt, 
in welche das Abwasser eintritt, nachdem die gröberen schwimmenden Massen 
und die Stinkstoffe durch Gitter abgefangen und der Flüssigkeit alsdann even¬ 
tuell Zusätze gegeben sind, welche Niederschläge erzeugen. In diesen Klär¬ 
becken wird das Abwasser zu sehr langsamer Strömung oder gar zum Stag- 
niren gezwungen, so dass sich eine Sedimentation der suspendirten Substan¬ 
zen vollzieht. Das abgeklärte Wasser kann durch einen Ueberlauf abtiiessen. 
Die Zusätze sind gleicher Art, wie die zur Präparirung der Fäcalien bei den 
Abfuhrsystemen angewandten und dort aufgezählten (Kalk, Thonerdesulfat, 
Magnesiumsulfat, Kieserit, Phosphate u. dgl. m.). (Ueber die Beseitigung des 
Schlammes s. u.). — Ein anderer Betriebsmodus besteht darin, die Abwässer 
am Boden des Klärbassins einfliessen, darin langsam aufsteigen und oben ge¬ 
klärt austreten zu lassen. Während des Aufsteigens sinken die suspendirten 
Stoffe allmälig nieder, so dass das frisch eintretende Canalwasser die herab¬ 
sinkenden festen Massen passiren muss und dadurch eine Filtration (Schlamm¬ 
filter) erfährt. Dieses letztere System heisst auch Klärung durch „aufstei¬ 
gende Filtration.“ Ein Beispiel der Klärung erster Art ist die Anlage 
in Frankfurt a/M. und in Wiesbaden. 

Das Princip der „aufsteigenden Filtration“ ist u. a. bei dem Röckneu- 
RoTHE’schen Verfahren in sehr wirkungsvoller Weise durchgeführt. Die Ab¬ 
wässer werden in Schlamm- und Sandfängen von groben Sink- und Schwimm¬ 
stoffen befreit, dann mit Chemikalien versetzt, unter denen sich vorzugsweise 
Kalkmilch neben mechanisch klärenden Stoffen befindet, hierauf behufs inniger 
Vermischung der Chemikalien mit den Abwässern, und um den Kalk mit 
diesen längere Zeit in Berührung zu lassen, durch lange Rinnen in einen 
gemauerten Sammelbehälter (Tiefbrunnen) geleitet, über dem sich ein luft¬ 
leer gemachter eiserner Klärthurm befindet. In diesem steigen die 
Abwässer, durch den Atmosphärendruck getrieben, sehr langsam in die Höhe, 
passiren hierbei ein sog. Schlammfilter und fliessen völlig geklärt durch 
einen Ueberlauf ab. Der Schlamm sammelt sich in dem konisch nach unten 
verengten Boden des Tiefbrunnens und wird durch Schlammpumpen entfernt. 
Da bei diesem Verfahren die Abwässer längere Zeit mit dem Kalk in Be¬ 
rührung bleiben, weil ferner die Zufuhr desselben automatisch in der Weise 
geregelt ist, dass mit der Menge der Abwässer auch diejenige des Kalkes 
wächst, so wird neben einer ausgiebigen Klärung auch eine befriedigende 
Desinfection erzielt. Noch mehr Erfolg verspricht eine Combination des 
RöCKNEK-RoTHE’schen mit dem Degener ’schen Verfahren (Kohlebrei¬ 
verfahren). Bei letzterem geschieht die Klärung der Abwässer durch Zusatz 
von Braunkohlen- oder Torfbrei und Spuren von Eisenchlorid, Passiren des 
luftleergemachten RöCKNER-RoTHE’schen Thurmes und eventuelle Nachdesin- 
fection des geklärten Wassers durch Kalk. Der Reinigungseffect kann hier 
über 80°/o betragen, so dass höchstens 20% organische Stoffe im Klärwasser 
gelöst bleiben, ein Erfolg, welcher von den andern mechanisch-chemischen 
Systemen kaum erreicht wird. (Bei diesen beträgt die Entfernung der fäul- 
nissfähigen gelösten Substanz nur höchstens 40—60%). 

Andere Verfahren dieser Kategorie sind das NAHNSEN’sche Verfahren 
(Kalk, Alaminiumsulfat und lösliche Kieselsäure); das HuLWA’sche Verfahren 
(Eisen, Thonerde, Kalk und Magnesia nebst Zellfaser; in das geklärte Wasser 
wird Schornsteinluft, die Kohlenoxyd liefert, oder Schwefeldioxyd geleitet). 
Ausserdem liegen noch zahlreiche andere Systeme vor, die hier nicht weiter 
angeführt werden können. 

Von den Chemikalien, die man zur Desinfection und Klärung den 
Abwässern zusetzt, hat sich der Kalk bis jetzt in der Praxis am besten 
bewährt; er ist billig und leicht zu beschaffen. Nur diejenigen unter den jetzt 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 2 


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ABWÄSSER. 


üblichen Klärmethoden wirken sicher desinfiicrend, welche hinreichende Mengen 
von Aetzkalk verwenden und demselben Zeit genug lassen, um seine Wir¬ 
kung auszuüben. Bei den an Fäcalien reichen Abwässern wird man nicht un¬ 
ter 1 °/ 00 Kalkzusatz (als Kalkmilch) und einstündiger Einwirkungsdauer her¬ 
untergehen dürfen. Sind die Abwässer aber durch Regen-, Spülwässer u. s. 
w. stärker verdünnt, oder enthalten sie keine Fäcalien, so genügt 0'5°/ 00 Kalk 
bei gleicher Zeitdauer. Einen Nachtheil besitzt der letztere, nämlich, dass in 
den geklärten Wässern noch nachträglich Schlammbildung eintritt; diese lässt 
sich aber durch passende Einrichtungen vermeiden. Man kann z. B. für eine 
ausgiebige Lüftung der abfliessenden kalkhaltigen und stark alkalisch reagiren- 
den Wässer sorgen, sie vorher in Absitzgruben leiten u. dgl. m., wodurch 
der Kalk in unlösliches Carbonat übergeführt wird. Da die ursprünglich 
vorhandenen pathogenen Bacterien abgetödtet sind, falls die obigen Bedin¬ 
gungen eingehalten waren, so ist eine nachher wieder auftretende Bacterien- 
wucherung belanglos. 

Desinfectionsmittel aus der Carboisäurereihe sind theurer wie Kalk und 
können die Verwendung des Schlammes in Frage stellen. Säuren, Schwefel¬ 
säure und Salzsäure sind gleichfalls theurer wie Kalk, wirken aber sicher 
keimtödtend. Ueber die Verwendung des Ozons oder der Elektricität für 
die Reinigung und Desinfection der Abwässer sind die Acten noch nicht ab¬ 
geschlossen. 

Für die gewerblichen Abwässer kommen in der Regel Desinfectionsver- 
fahren nicht in Betracht (ausgenommen für die weiter oben angeführten wie 
Schlachthausabwässer u. dgl.); es genügt, durch Fällungsmittel die organischen 
Stoffe in ausgiebiger Weise nach den auch für andere Abwässer geltenden 
Methoden aus ihnen zu entfernen. 

Die Schlammniederschläge — 1 tn s Abwasser gibt je nach seinem Ge¬ 
halt an fällbaren Stoffen ca. 4—10 1 Schlamm, der bis 90% Wasser enthalten 
kann — werden durch Schlammpumpen gehoben und auf Hürden oder Sandfil¬ 
tern vom Wassergehalt möglichst befreit, oder, wie Röckner-Rothe es macht, 
durch Filterpressen getrocknet, so dass sie eine abstechbare und transportir- 
bare Form annehmen. Der so entwässeite Schlamm wird bald mit Strassen- 
kehricht, bald mit Torf, bald Wollabfällen gemischt, bisweilen auf heissen 
Walzen getrocknet, gepulvert und als Düngemittel verwendet Namentlich 
das mit Wollstaub gemischte Schlammpulver soll nach Vogel ein werthvolles 
Düngemittel abgeben. Vielfacher Verwendung fähig wird der nach dem Dege- 
NER’schen Kohlebrei verfahren gewonnene Schlamm sein; derselbe wird in ge¬ 
trocknetem Zustande nicht nur als Düngemittel und Heizmaterial zu verwen¬ 
den sein, sondern es werden sich auch die in ihm vorhandenen Fettstoffe leicht 
extrahiren und als Schmierfette verwerthen lassen. Nach Degener erscheint 
letzteres Vorgehen das lohnendere zu sein, wobei eine weitere Verwerthung 
der entfetteten Schlammrückstände für Dünge- und Heizzwecke nicht aus¬ 
geschlossen ist. 

Immerhin bereitet vorläufig noch an vielen Orten dieser Klärschlamm 
Schwierigkeiten und Verlegenheit, namentlich dort, wo ihn der Landmann 
nicht mag. Er sammelt sich dann in grossen Massen an, geht, nachdem der 
in ihm befindliche Kalk in Carbonat verwandelt ist, in Fäulnis über und führt 
zu grossen Belästigungen der Nachbarschaft. Aufgabe der betheiligten Kreise 
muss es daher sein, solche Verwerthungsweisen des Schlammes zu ersinnen, 
die nicht nur eine schnelle Beseitigung desselben im Gefolge haben, sondern 
auch, wie hoffentlich die DEGENER'sche, einen gewissen Gewinn versprechen. 
Es würden dann auch Ortschaften, die die ersten grossen Kosten des Beriese¬ 
lungssystems nicht erschwingen können, oder die geeignetes Rieselland nicht 
besitzen, Kläranlagen im Interesse ihrer hygienischen Verhältnisse einrichten. 


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AKKLIMATISATION. 


19 


Die jährlichen Kosten für Beseitigung der Abwässer durch die verschie¬ 
denen gebräuchlichen Systeme stellen sich nach Brix pro Kopf in Mark bei: 

Schweinmsystem mit Rieselfeldern 

„ „ „ und Pumpanlage 

„ „ Kläranlage 

„ und unmittelbare Einleitung in einen 

Wasser] auf 

Getrenntes System (Schmutz- und Regenwassernetz, Klär¬ 
anlage für Schmutzwässer) 

Desgl. ohne Regenwassernetz, mit Kläranlage für Schmutz- 


Spälc&n&lis&tion, gemeinschaftliche Canäle, mit chemischer 
Klärung und Abfuhr der Fäcalien 
Spülcanalisation, wie oben, aber Einleitung in Wasserlauf 

und Abfuhr der Fäcalien 
Spülcanalisation ohne Klärung, mit Einleitung in 


Min. 

Max. 

Mittel 

210 

5*60 

3*65 

310 

700 

4-90 

2-30 

625 

4*00 

200 

5-00 

330 

295 

7*25 

4*60 

1-65 

3-65 

250 

3*40 

815 

5*50 

3*40 

7-35 

5*20 

310 

690 

4*70 


Pkoskauer. 


Akklimatisation. Unter Akklimatisation verstehen wir die Angewöhnung 
(Anpassung) lebender Wesen, hier besonders des Menschen, und zwar sowohl 
des gesunden, als auch des kranken Menschen an ein Klima, das in irgend 
einer Weise anders ist, als das Klima, in dem das betreffende lebende Wesen, 
resp. der Mensch vorher gelebt hat. 

Bei dieser anderweitigen Beschaffenheit des Klimas des neuen Aufent¬ 
haltes, gegenüber dem altgewohnten Klima, kommen natürlich alle die Fac- 
toren in Betracht, die auch maassgebend sind für die Beurtheilung der Ein¬ 
wirkung eines Klimas auf gesunde und auf kranke Menschen, die also die 
Unterlage bilden für die therapeutischen Maassnahmen eines Klimawechsels, 
wie wir sie als „Klimatotherapie“ zusammenfassen, und wie sie in dem 
Artikel Klimatotherapie, näher bezeichnet und auf ihren Werth geprüft, zu 
finden sind. 

Die Werthe der einzelnen Factoren des Klimas, also 
der Beschaffenheit des Bodens, 
der Temperatur der Luft und ihrer Schwankungen, 
des Feuchtigkeitsgehaltes der Luft und seiner Schwankungen 
der Dichte der Luft und ihrer Schwankungen, 
der Elektricität in der Luft und ihrer Schwankungen, 
der Reinheit der Luft und ihrer Schwankungen, 
der Durchlässigkeit derLuftfürdie Sonnenstrahlen, das Licht, die 
Wärme und die chemischen Strahlen und deren Schwankungen, 

der Häufigkeit, Menge und zeitlichen Vertheilung der at¬ 
mosphärischen Niederschläge und 

des jeweiligen Zustandes der Luft, ob in Ruhe, oder Bewe¬ 
gung (Wind) und die Häufigkeit des einen oder des anderen Zustandes, 

richten sich bei der Frage nach der Akklimatisation ganz ebenso, wie 
das für die Klimatotherapie maassgebend ist, nach dem Unterschied eines 
jeden Factors in dem neuen, gegenüber dem alten Klima und nach dem Zu¬ 
sammenwirken der Differenzen der einzelnen Factoren. 

Diesen Unterschied empfindet der gesunde und der kranke menschliche 
Körper als angenehmen oder auch als unangenehmen Reiz, der jeweils nützlich 
oder auch schädlich sein kann. 

Dieser Reiz aber ist gerade das, was wir therapeutisch verwerthen, und 
dieser Reiz, der zur Angewöhnung, zur Anpassung an die neuen Verhältnisse 
führt, dauert so lange, bis die Akklimatisation, das heisst die Angewöhnung 
an das neue Klima vollzogen ist. 

2 * 


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AKKLIMATISATION. 


In diesem Werke ist ja hauptsächlich das, was den heilen wollenden 
Arzt interessirt, enthalten; es ist desshalb zweckmässig die Verhältnisse der 
Akklimatisation, wie sie ausserhalb der gewollten therapeutischen Maassnahmen, 
durch zufällige Entwicklung der äusseren Lage des betreffenden Menschen sich 
gestalten können, nur zu streifen. 

Bekannt ist, dass gleiche Anpassungsfähigkeit vorausgesetzt, derjenige 
wohl am ehesten sich akklimatisirt, der den Bewohnern seiner neuen Wohn¬ 
stätte, seines neuen Klimas also, am Besten abzulauschen versteht, wie sie 
leben, und der ihnen das nachmacht, was sie auf Grund langer Erfahrung zu 
thun pflegen, das heisst, der — natürlich mit den nothwendigen Aenderungen 
in Bezug auf durch die frühere Entwicklung bedingte Gewohnheiten und 
Gebräuche — sich in Vielem anpasst an die Lebensweise der Eingeborenen. 

Dass Europäer, die in tropische Gegenden gehen und denken, sie können 
leben wie in Europa, das nur allzu oft büssen müssen, ist eine bekannte 
Sache. Dass dagegen Andere, die sich in der angegebenen Weise anpassen 
können und wollen, ihre volle Leistungsfähigkeit auch in ungünstigem Klima 
für lange Jahre und zuweilen dauernd behalten können, ist wohl nicht zu 
bestreiten. 

Man sagt, dass die Menschen verschiedener Rasse sich verschieden leicht 
akklimatisiren, dass dieselben ein verschieden grosses Akklimatisations¬ 
vermögen haben. Am leichtesten akklimatisirt sich wohl der Europäer und 
für die Tropen und Subtropen leichter der Süd-Europäer als der Nord-Euro¬ 
päer, dann die gelbe Rasse und dann die Neger. Bei den Angehörigen an¬ 
derer Rassen hat man wenig Erfahrungen, da deren gewollte oder erzwungene 
Verbreitung über verschiedene Klimate zu gering ist. 

Unsere Erfahrungen über die Akklimatisation von Thieren und Pflanzen, 
der wir eine grosse Anzahl unserer Nutzthiere und Nutzpflanzen verdanken, 
lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass ähnliche Veränderungen, wie sie im 
Laufe langer Zeitfristen sich bei Thieren und Pflanzen entwickelt haben, sich 
auch an Theilen eines Volkes, die ein anderes Klima dauernd aufsuchen und 
bewohnen, entwickeln werden. 

Am einzelnen Individuum und in der Zeit eines Menschenlebens sind 
diese Veränderungen nicht gross und äussern sich meist in der grösseren 
Widerstandsfähigkeit gegen vordem ungewohnte Einflüsse des neuen Klimas 
und der in demselben endemischen Krankheiten. Diese Aenderungen be¬ 
zeichnen wir als Akklimatisationsveränderungen. Die häufigsten 
Akklimatisationsveränderungen sind wohl die Veränderungen in der Beschaffen¬ 
heit der Haut, die z. B. in den Tropen vielfach blutärmer, zuweilen auch, 
pigmentirter wird. Ob man wirklich sagen darf, dass der Europäer sich auch 
ohne Blutmischung in etwas den Eingeborenen des Landes in seiner anthro- 
pometrischen Beschaffenheit nähert, in sich selbst und seinen Nachkommen, 
wie das von den Nachkommen der Portugiesen in den Tropen in der Richtung 
auf die Eingeborenen und bezüglich der Einwanderer in Nordamerika in 
Richtung auf die Indianer behauptet wird, muss dahingestellt sein. 

Wir sprechen auch von Akklimatisationskrankheiten, die ent¬ 
stehen, wenn das Akklimatisationsvermögen zu gering ist. Man wirft aber 
hier oft Dinge zusammen, die nicht zu einander gehören. 

Vieles von dem, was als Akklimatisationskrankheit bezeichnet wird, ist 
die Erwerbung einer in der betreffenden Gegend häufigen Krankheit, als 
deren vornehmsten Vertreter ich die Malaria und ihre verschiedenen Formen 
nenne. Durch eine Menge neuer bezüglicher Forschungen, die besonders mit 
der Erwerbung deutscher Colonien, die auch bei deutschen Forschern ein mehr 
als vorher starkes Interesse an den subtropischen und tropischen Malaria¬ 
formen und anderen diesen Gegenden eigentümlichen Krankheiten erweckt 
haben, erscheint die tropische Malaria als ein Sammelbegriff für vielleicht 


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AKKLIMATISATION. 


21 


recht verschiedenartige Erkrankungen. Dann nenne ich gelbes Fieber, für das 
vielleicht Aehnliches gilt, Leber- und Darmkrankheiten, Cholera, Beri-Beri, 
Aussatz u. s. w. Das sind die wichtigsten der Krankheiten, die den in die 
Tropen verzogenen Europäer befallen, während die Tuberkulose es ist, die den 
iu das kältere Klima verzogenen Tropenbewohner häufig befällt. 

Bei all diesen Krankheiten handelt es sich aber meistens, um nicht zu 
sagen immer, um Infectionskrankheiten, deren Erwerb mit dem Klima im 
strengen physikalischen Sinne nichts zu thun hat, die unter Umständen auch 
in ganz anders geartetem Klima erworben werden können. 

Eine Störung, die man dagegen vielleicht als wirkliche Akklimatisations¬ 
krankheit, d. h. von den physikalischen Factoren des Klimas abhängige Krank¬ 
heit, bezeichnen darf, ist die Blutarmuth der Europäer im heissen Klima und 
die anders gestaltete Entwicklung der Kinder von Europäern in den Tro¬ 
pen, die dort ebenfalls leichter blutarm werden, zugleich rascher und 
schmäler wachsen und früher geschlechtsreif werden. Daraus hat sich die 
ganz verbreitete Sitte entwickelt, dass Europäer, die in den Tropen wohnen, 
ihre Kinder vor der eigentlichen Entwicklungszeit aus den Tropen in die 
Heimat schicken. 

Ausserdem wüsste ich kaum eine von den physikalischen Factoren des 
Klimas abhängige Akklimatisationskrankheit noch sicher anzuführen, wenn 
ich die scharf und eng begrenzte, früher gegebene Definition des Klimas 
beibehalten will. 

Wohl muss ich hier noch eingehen auf die „sogenannten“ Akklimati¬ 
sationskrankheiten, die zum grossen Theil, wenn nicht alle, endemische In¬ 
fectionskrankheiten sind, die auch, wie schon gesagt, in ganz anderen Klimaten 
erworben werden können und die desshalb, meiner Meinung nach, nicht als 
vom Klima allein abhängige Krankheiten angesehen sind. 

Die Beschaffenheit des Bodens und des Wassers spielt bei deren Ent¬ 
stehung eine grosse Rolle und dabei in erster Linie die Reinheit oder 
Unreinheit von Wasser und Boden. 

Wenn sich Jemand in einem Orte ansiedelt, der von Typhus abdominalis 
durchseucht ist und er erwirbt aus dem Boden oder aus dem Wasser oder 
sonst woher eine Typhusinfection, dann fällt es Niemanden ein, zu sagen, 
das sei eine Akklimatisationskrankheit. 

Ich wiederhole deshalb noch einmal, wir müssen unterscheiden lernen 
zwischen wirklichen Akklimatisationskrankheiten, die nur von den klima¬ 
tischen Factoren abhängig sind, auf die Schmutz und Unreinlichkeit in 
Wasser, Boden u. s. w. keinen Einfluss haben, und zwischen dem, was man 
heute oft Akklimatisationskrankheit nennt, was aber besser endemische 
Krankheit genannt wird, da sie vielfach durch Verunreinigung von Boden, 
Wasser und Luft und unter Mitwirkung mehrerer physikalischer klimatischer 
Factoren entsteht, oder entstehen kann. Wie schon gesagt, gehören hierher 
in erster Linie alle Malaria- und Gelbfieberformen. Den Streit kann ich 
nicht entscheiden ob z. B. das Schwarzwasserfieber der einen oder der anderen 
Gruppe einzureihen ist, auch kann man noch nicht bestimmen, wie viel 
parasitären Erregern und wie viel den Mängeln des Klimas (physikalisch 
genommen) jeweils zuzuschreiben ist. Gerade in den letzten Jahren sind eine 
Reihe verdienstvoller Arbeiten auf diesem Gebiete publicirt worden und es 
steht zu hoffen, dass der, der in einigen Jahren sich mit der vorliegenden 
Frage beschäftigt, ganz wesentlich weiter sein wird, als der Schreiber dieser 
Zeilen. 

Nächst Malaria und Gelbfieber sind es Dyssenterie, Beri-Beri, Aussatz, 
vielfach Magen-, Leber- und Darmkrankheiten, seltener Thyphus und Diphtherie, 
die den südwärts ziehenden Europäer befallen. 


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AKKLIMATISATION. 


Der Europäer, der südwärts und bis in die Tropen zieht und ebenso 
der Tropenbewohner, der nordwärts zieht, thun gut, sich, wie ich oben schon 
sagte, von den Bewohnern jenes neuen Klimas lehren zu lassen, was ihnen 
die Jahrhunderte lange Erfahrung für ihre Lebensgewohnheiten gelehrt hat, 
in Bezug auf Wohnung, Kleidung, Essen, Trinken, Schlafgewohnheiten 
u. s. w. 

Derjenige, der an einen Ort zieht, in dem erfahrungsgemäss Ankömm¬ 
linge krank werden, thut gut, sich Kenntnis zu verschaffen über die Krank¬ 
heiten, die an diesem Ort Vorkommen. Er mag sich dann mit einem Arzte 
berathen, wie er nach seiner Ankunft in der neuen Heimat, in dem neuen 
Klima, sich zunächst und später zu verhalten hat. Dabei kommt in erster 
Linie in Frage: Wohnung, Nahrung und Kleidung. 

Nahrung und Kleidung ist gewöhnlich gegeben durch das was Sitte, oder 
möglich ist, zum Theil auch in gleicher Weise die Wohnung. In Bezug auf 
die Wahl der Wohnung sollte Jeder, der gezwungen ist, sich zu akklimatisiren, 
den Rath eines erfahrenen, am neuen Wohnorte wohnenden Arztes und in 
Ermangelung desselben, erfahrene Freunde und sachverständige, vertrauens¬ 
würdige, ortsangesessene Europäer oder auch Eingeborene hören. Was für 
die Wohnung gilt, gilt im Grossen und Ganzen auch für das Wasser. Beides 
ist von sehr, sehr grosser Bedeutung für die Zukunft des neu Eingewanderten. 

Wenn dieselben vorsichtig sind und es nicht für nöthig oder angenehm 
halten, wie leider so viele Europäer in den Tropen, die allzu oft Whisky- 
Soda zu sich nehmen, und wenn sie das Vorhergesagte befolgen und sich 
keinen überflüssigen Schädlichkeiten aussetzen, dann glaube ich, dass die Ak¬ 
klimatisationsfähigkeit auch in den Tropen erheblich grösser sein würde, 
als die jetzigen Erfahrungen annehmen lassen. 

Wer genug Energie besitzt, um nur das zu thun, was er nach dem 
Rathe Erfahrener thun darf, der hat Aussicht, sich zu akklimatisiren und im 
fremden Klima so behaglich und vielleicht behaglicher zu leben, als in seiner 
Heimat. Für den in die Tropen ziehenden Europäer gilt das oft. Dass es 
schon früher so angesehen wurde, sagt der Ausspruch Linne’s: „Nur in den 
Tropen lebt der Mensch natürlich.“ 

Ob die Rasse sich dauernd und auf Jahrhunderte hinaus in dem fremden 
Klima erhalten kann, ohne Mischung mit den Eingeborenen, das ist eine noch 
ungelöste Frage. Die Verbreitung der Juden, der weissen, gelben und der 
schwarzen Rasse in denselben ursprünglich ungewohnten Klimaten spricht 
sehr für die „Möglichkeit“ einer solchen Anpassung, obwohl dieselbe auf 
Grund statistischer Mittheilungen vielfach bestritten wird. Die Frage nach 
der eventuell nothwendig wiederholten Auffrischung des Blutes durch Neu¬ 
einwanderung aus dem Ursprungslande ist ja ausserordentlich schwer zu 
entscheiden. Dass Einzelne sich auch in mindergünstigem Klima, so lange, 
als ihre Lebensfrist auch anderwärts gewesen wäre, erhalten, ist wohl nicht 
zu bestreiten. 

Wenn wir uns erst frei gemacht haben werden von der Vermengung 
der Krankheiten, die von den physikalischen Factoren des Klimas allein ab¬ 
hängig sind, mit den jeweiligen endemischen Krankheiten, an deren Ent¬ 
stehung naturgemäss die klimatischen Factoren mitwirkende Componenten 
sind, wenn wir erst sagen, das ist klimatisch bedingte und das ist durch in 
jenem Klima endemische Krankheit bedingte Veränderung, dann werden wir, 
wie ich hoffe, bald grössere Fortschritte in der Lösung der Frage der Akkli¬ 
matisation machen, auch im Rückblick auf die Erfahrungen vergangener 
Zeiten. balser. 


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APOTHEKENWESEN DND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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Apothekenwesen und Arzneimittelverkehr. Das Wort Apotheke 
ist griechischen Ursprungs. Apotheke (dxo&r'xTj von azo-iör^t hinstellen) nannten 
die Griechen jeden Ort, wo etwas aufgespeichert oder aufbewahrt wurde, 
speciell den oberen Theil des Hauses, der zur Aufbewahrung von Wein diente, 
und wir finden das ins classische Latein übertragene Wort apotheca bei den 
Römern in derselben Bedeutung z. B. apotheca librorum, Büchermagazin, 
Bücherei. Erst im Mittelalter wurde diese Bezeichnung nur mehr jenen 
Localitäten zutheil, in denen Arzneimittel vorräthig gehalten, zubereitet und 
verkauft wurden. Die Verwalter solcher Geschäfte nannte man Apothecarii. 

Diese Bezeichnungen sind schon frühzeitig auch in die germanischen 
und romanischen Sprachen in der ursprünglichen Bedeutung übergegangen, 
wie die Worte: Botica der Spanier, Bottega der Italiener und Boutique der 
Franzosen beweisen. In Frankreich sind nach der Revolution statt „Boutique 
d’apothicaire“ und „ Apothicaire “ die Namen Pharmacie und Pharmacien in 
Gebrauch gekommen, abgeleitet vom griechischen cpappaxov, Heilmittel. In der 
Bedeutung der Apothekerkunst als Wissenschaft ist das Wort Pharmacie 
auch in der deutschen Sprache üblich, im weiteren Sinne versteht man darunter 
das gesammte Apothekenwesen. Unter der letzteren Bezeichnung aber, fassen wir 
Alles zusammen was mit der Apotheke und dem Arzneimittelverkehr, soweit 
derselbe nicht dem freien Handelsverkehr überlassen ist, zusammenhängt. 

Nach der gegenwärtigen Anschauung ist die Apotheke als eine unter 
staatlicher Aufsicht stehende Anstalt zum Vorräthighalten und zur Abgabe 
von Arzneimitteln zu bezeichnen, welche von Personen verwaltet wird, die 
eine bestimmte, staatlich vorgeschriebene Ausbildung genossen haben und zur 
Ausübung ihres Berufes die staatliche Approbation (Diplom) erhalten. 

Geschichte. Die ersten Anfänge des Apothekenwesens verlieren sich 
im grauen Alterthum. Es ist wahrscheinlich, dass schon bei den alten 
Egyptern und Indiern neben den Aerzten bestimmte Personen sich mit dem 
Einsammeln von Heilgewächsen und mit dem Handel von zu Heilzwecken 
dienenden Substanzen befassten, in welchen wir also die Vorläufer der späteren 
Apotheker zu sehen hätten. 

Bei den Griechen und Römern bereiteten zumeist noch die Aerzte selbst 
die Arzneien, doch wird schon frühzeitig von Personen gesprochen, die sich 
neben den Aerzten gewerbsmässig mit der Herstellung von Arzneien und dem 
Einsammeln von Rohdrogen beschäftigten. Die Römer nannten diese Kräuter- 
und Wurzelsammler Herbarii, die Griechen Phizotomen. Schon vor der Zeit 
des Augustus gab es Arzneihändler, Pharmacopolae, die entweder mit ihren 
Arzneimitteln und Erzeugnissen umherzogen oder diese in eigenen Localen 
feilboten. Erstere nannte man Pharmacopolae circumforanei , Circulatores, 
Periodeuten, Agyrten oder Ochlagogen , letztere Sellularii, Seplasiarii. Die 
Pharmacopei oder Medicamentarii, Pharnmcotritae, von denen zur selben Zeit 
die Rede ist, beschäftigten sich mit der Herstellung von Arzneimitteln 
und Arzneimischungen, die sie feilboten, während die Pimentarii, die im 
IV. Jahrhundert n. Ch. in der Stadt und auf dem Lande zu finden waren, 
sich mit dem Mischen von Arzneien nach Angabe der Aerzte beschäftigten, 
sich jedoch, wie es scheint, keiner besonderen Achtung zu erfreuen hatten. 
Auch besondere Salbenköche ( Unguentarii) waren bei den Römern thätig, 
welche, wie es scheint, auch das Curpfuschen betrieben und den Aerzten 
Concurrenz machten. Eine stricte Trennung der Kunst der Arzneienbereitung 
von der Heilkunst wurde zuerst von den Arabern im VIII. Jahrhundert durch¬ 
geführt. Der Kalif El-Mansur (f 774) errichtete in Bagdad die erste öffent¬ 
liche Apotheke und sorgte für die Schaffung wissenschaftlicher Institute. Die 
eigentliche Apothekerkunst, die Pharmacie als Hilfswissenschaft der Heilkunde, 
verdanken wir also den um die Arzneimittellehre so hoch verdienten Arabern. 


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APHOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


Durch die Araber nun wurde die Institution auch in Italien und Spanien, wo 
sie Besitzungen gehabt, eingefiihrt und wurde so auch dem christlichen Abend¬ 
lande bekannt. Doch dauerte es immer noch einige Jahrhunderte, bis sie 
hier Wurzel fasste. In Neapel wurde im XII. Jahrhundert durch König Rogek 
die erste Apotheke errichtet. Dem genialen Hohenstaufen Kaiser Friedrich H. 
entstammen die ersten gesetzlichen Bestimmungen über die Regelung des 
Apothekenwesens. Im XII. Jahrhundert schon kam man so weit, dass der 
Apotheker an der medicinischen Schule sich ausbilden und vor Zulassung zur 
Ausübung seines Berufes seine Pflichttreue durch einen feierlichen Eid erhärten 
musste. Kaiser Friedrich’s H. Apothekergesetzgebung aus dem XHI. Jahr¬ 
hundert zeichnete in grossen Zügen dem Apotheker jene Bahnen vor, in denen 
er heute noch wandelt. Er bot den Apothekern in erhöhtem Maasse Schutz 
gegen Concurrenz, sorgte für eine zeitgemässe wissenschaftliche Ausbildung 
derselben und wollte weder einen Handwerker noch einen Krämer aus ihm 
machen. 

Nach den Bestimmungen dieses ersten in Italien erlassenen Apotheker¬ 
gesetzes war den Aerzten das Dispensiren von Arzneien und die Haltung 
eigener Apotheken (damals stationes genannt) untersagt, ebenso das Compag¬ 
niegeschäft mit den Apothekern ( Confedionarii ). Es wurde die Zahl der Apo¬ 
theken für eine bestimmte Volksmenge festgesetzt und dieselben unter die 
Aufsicht beeideter Revisoren gestellt, welche bei der Bereitung gewisser 
Latwergen u. dgl. zugegen sein mussten. Ausserdem wurde der Preisauf¬ 
schlag für die Arzneien festgesetzt und das „Antidotarium“ von Salerno als 
Richtschnur für die Arzneibereitung eingeführt. Wie man sieht, enthält diese 
Apothekengesetzgebung bereits das Wesentlichste aller späteren Pharmacie- 
gesetze. So viel urkundlich nachzuweisen, waren in Deutschland bereits im 
XIII. Jahrhundert zu Trier, Schweidnitz, Münster und Glogau (1281) Apo¬ 
theken vorhanden, im XIV. Jahrhundert in Prenzlau (1303), Hildesheim 
(1318, 1341), Prag (1342). Im XV. Jahrhundert findet man bereits an vielen 
grösseren Städten Apotheken, so in Leipzig (wo 1409 die erste Apotheke 
durch die von Prag ausgewanderten Universitätsangehörigen gegründet wurde), 
in Basel (1440), Stuttgart (1457), Frankfurt a/M (1476), Berlin (1488), Halle 
(1493) etc. Die Mehrzahl der Apotheken in Deutschland und Oesterreich 
stammen jedoch aus späteren Jahrhunderten. Schon im XIV. Jahrhundert und 
vielerorts auch noch bis in viel spätere Zeit wurden die Apotheken von der 
Geistlichkeit oder von Städten gegründet und erhalten. Die Apotheker da¬ 
gegen erhielten einen fixen Gehalt. In Nürnberg erscheint 1377 ein Apothe- 
carius als Beamter der Stadt. Später gingen die Apotheken allmälig in 
Privatbesitz über, doch haben sich derartige Verhältnisse an manchen Orten 
bis Ende des vorigen und sogar bis zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhun¬ 
derts erhalten. An vielen Orten wurden aber die Apotheken auch gleich an 
qualificirte Personen verliehen und dieselben durch ein mehr oder weniger 
umfassendes Privilegium geschützt. Diese Privilegirung ist leicht erklärlich, 
wenn man bedenkt, dass die Zahl der gelernten und geprüften Apotheker 
eine verschwindend kleine war, so dass denselben ganz besondere Vortheile 
geboten werden mussten um sie zu veranlassen sich an einem Orte dauernd 
niederzulassen. Später nahm die Zahl der Apotheker zu, während gleich¬ 
zeitig der Bedarf nach Apotheken allmälig im Verhältnisse sank, so dass die 
Verleihung besonderer Privilegien nicht mehr nöthig war. In den meisten 
Staaten, welche das System der Privilegien hatten, ging man daher bereits 
Ende des vorigen und Anfangs des jetzigen Jahrhunderts auf die Ertheilung 
von Concessionen über und seither werden keine Realprivilegien mehr (Real¬ 
rechte) verliehen. 

Ursprünglich waren die Apotheker durch besondere Privilegien allein 
berechtigt, Arzneiwaaren zu verkaufen, erst später, im XVII. Jahrhundert, 


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APHOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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tauchten die Arzneiwaarenhändler, „ Materialisten u und „Trochisten“ auf, welche 
als sogenannte Detail-Drogisten auch heute noch bestehen und den eigent¬ 
lichen Handel mit Arzneiwaaren betreiben, während die Apotheker immer 
mehr auf das Dispensiren der ärztlichen Verschreibungen und die Verabfol¬ 
gung zusammengesetzter Medicamente beschränkt werden. 

Die Entwicklung des Apothekenwesens in den einzelnen Staaten war 
wesentlich bedingt durch die Gesetzgebung, doch ist der Einfluss derselben 
auf die Pharmacie selbst kein grosser gewesen, da sich dieselbe in den civili- 
sirten Ländern ohne Rücksicht auf das vom Staate adoptirte System des 
Apothekenbetriebes ziemlich gleichmässig entwickelt hat. In Frankreich, wo 
die Apotheker eine mehr zunftmässige Verfassung hatten, hat sich die Phar¬ 
macie in denselben Bahnen bewegt, wie in Deutschland und Oesterreich, wo 
der Apotheker eine privilegirte Stellung einnahm. Die eigenthümliche Mittel¬ 
stellung des Apothekers zwischen den gelehrten Ständen und den Gewerbe¬ 
treibenden kam in den Ländern, wo der Apothekenbetrieb ein mehr oder 
weniger freies Gewebe bildet ganz ebenso zum Ausdruck, wie in den Staaten 
mit staatlicher Beschränkung. Es gab Zeiten, wo die Apotheke fast die ein¬ 
zige Pflegestätte der Naturwissenschaften war, insbesondere haben sich die 
Apotheker überall um die Entwicklung der Botanik und Chemie sehr verdient 
gemacht. Die Chemie verdankt bis auf die neuere Zeit ihre Hauptforderung 
Männern, welche aus der Pharmacie hervorgegangen sind. Anderseits wurde 
der Apothekenbetrieb immer mehr in commercielle Bahnen gelenkt, so dass 
die Apotheke der Gegenwart immer mehr zu einer einfachen Arzneiraittel- 
handlung herabsinkt. Inwieweit hiezu die enorme Entwicklung der chemischen 
Industrie und die Fortschritte auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit 
beigetragen haben, soll hier nicht weiter erörtert werden, es ergibt sich aber 
immer mehr die Nothwendigkeit, das Apothekenwesen einer den modernen 
Verhältnissen entsprechenden Umgestaltung zu unterziehen und den geänderten 
Productions- und Consumptionsverhältnissen anzupassen, damit es seinen Platz 
als wichtiger Factor des allgemeinen Sanitätswesens weiter behalte. 

Pharmakopoen. Das Wort „Pharmakopoe,“ aus dem Griechischen stam¬ 
mend, bedeutet „Vorschrift für die Arzneibereitung 4 ‘, ein Buch, welches eine 
Reihe von arzneilichen Rohstoffen, sowie von arzneilichen Zubereitungen der¬ 
selben, die in den Apotheken vorräthig gehalten werden sollen, meist in alpha¬ 
betischer Anordnung enthält. Dieser allgemeine Begriff ist gegenwärtig so weit 
umgrenzt, dass wir unter Pharmakopoe ein Arzneigesetzbuch verstehen, welches 
für einen bestimmten Bezirk — meist für ein ganzes Reich — Geltung besitzt 
und die Beschaffenheit der darin aufgenommenen (sogenannten „officinellen“) 
Arzneimittel vorschreibt, entweder indem bestimmte Merkmale, ein bestimmter 
Gehalt an gewissen Substanzen, ein bestimmtes Verhalten gegenüber gewissen 
Reagentien gefordert werden, oder indem eine genaue Vorschrift für die Her¬ 
stellung derselben gegeben wird, wodurch die gleichmässige Beschaffenheit der 
betreffenden Stoffe in allen Apotheken des Geltungsbezirkes der betreffenden 
Pharmacopoe erreicht werden soll. In fast allen civilisirten Ländern ist es 
die Staatsbehörde selbst, welche unter Mitwirkung einer aus hervorragenden 
Fachleuten bestehenden Commission, die Pharmakopoen herausgibt und selbe 
von Zeit zu Zeit, nach dem jeweiligen Stande der Heilkunde, neu bearbeiten 
lässt. Der Schwerpunkt der Pharmakopoen gipfelt gegenwärtig darin, dem 
Apotheker möglichst genaue Vorschrilten für die Erkennung und Prüfung der 
vorräthig zu haltenden Arzneistoffe zu geben, mögen es nun einfache oder 
zusammengesetzte Substanzen sein, da nach den in den meisten civilisirten 
Staaten geltenden gesetzlichen Bestimmungen der Apotheker für die durch 
die Pharmakopoe vorgeschriebenen Arzneistoffe verantwortlich gemacht ist. 
Den Bestimmungen der Pharmakopoen gemäss, sind dieselben meist kurz gefasst, 


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APOTHEKENWESEN ÜND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


entweder in der betreffenden Landessprache oder (gegenwärtig seltener) in 
lateinischer Sprache. Zur praktischen Erläuterung dienen dann die verschie¬ 
denen Commentare zu den Pharmakopoen, welche die pharmaceutische Lite¬ 
ratur aufzuweisen hat. Als Anhang zu den Pharmakopoen pflegen denselben 
gewöhnlich noch eine Reihe von Tabellen beigegeben zu werden, z. B. solche, 
welche die Maximaldosen für stark wirkende Arzneistoffe festsetzen, Tabellen 
über die Löslichkeit verschiedener Substanzen in Wasser und Alkohol, solche 
über das specitische Gewicht verschiedener Flüssigkeiten etc. 

Die Geschichte der Pharmakopoen ist eine Geschichte der Pharmacie, 
deren jeweiliger Zustand sich am deutlichsten in dem Inhalte der Pharma¬ 
kopoen des betreffenden Zeitabschnittes ausspricht. Von officiellen Pharma¬ 
kopoen in unserem heutigen Sinne kann allerdings erst ziemlich spät ge¬ 
sprochen werden, indessen gab es schon sehr früh Bücher, in welchen die 
Zubereitung und Heilkraft verschiedener Arzneimittel aus dem Thier- und 
Pflanzenreiche beschrieben wurden. Ein derartiges Buch ist das von Scbi- 
bonius Labgus zur Zeit des Kaisers Claudius verfasste Werk „Compositiones 
medicae“, in welchem eine ganze Anzahl von Arzneimittelvorschriften ver¬ 
einigt sind und das daher gewissermaassen als die erste Pharmakopoe angesehen 
werden kann, wenn man von den noch weit älteren Schriften aus der Zeit 
der alten Aegypter absieht. 

Die späteren Schriften römischer Aerzte, wie die von Cajus Plinius 
secundus, Galen u. A. kann man weniger als Pharmakopoen betrachten, da 
sie eher Arzneimittellehren vorstellen. IJeberhaupt hat die Entwicklung der Phar¬ 
macie, mit Ausnahme von Galen, nach dem noch heute eine ganze Reihe 
zusammengesetzter pharmaceutischer Präparate als „galenische Mittel“ be¬ 
zeichnet werden, unter den Römern keine wesentlichen Fortschritte gemacht, 
sondern bewegte sich im Ganzen in den von den Griechen beziehungsweise 
Aegyptern vorgewiesenen Bahnen. Mit dem Zusammensturz des römischen 
Reiches und den Verschiebungen, die der Einbruch der nordischen Völker¬ 
schaften in Europa zur Folge hatte, verfiel auch die Wissenschaft Europa’s 
und flüchtete zu den Arabern. Unter den kunstsinnigen und die Wissenschaften 
liebenden Kalifen des damals so mächtigen arabischen Reiches fand auch 
die Pharmacie, bis dahin die vernachlässigte Stiefschwester und Dienerin der 
Medicin, eine ausgezeichnete Pflegestätte, ja man kann überhaupt Bagdad als 
die Wiege der wissenschaftlichen Pharmacie bezeichnen. Die ersten Männer 
der Wissenschaft beschäftigten sich mit der Ausgestaltung der Pharmacie, 
so insbesondere Gebeb und Ebn Jahel, welcher eine Reihe von Arznei¬ 
bereitungsvorschriften in seinem Werke „Krabadin“ vereinigte, welche die 
Inhaber der Officinen gehalten waren zu beobachten. Dieses Werk erhielt 
damit einen amtlichen Charakter und ist daher als die erste Pharmakopoe in 
unserem Sinne aufzufassen. 

Um die Förderung des Arzneischatzes und der Pharmacie machte sich 
insbesondere auch Avicenna im 10. Jahrhundert, der berühmteste unter den 
arabischen Aerzten, sehr verdient. Er sowohl als Andere bemühten sich nicht 
nur neue heilkräftige Stoffe aufzufinden, sondern auch möglichst bequeme 
und angenehme Anwendungsformen für die Heilmittel zu ersinnen. Aus jener 
Zeit stammen denn auch eine ganze Menge Latwergen, Confecte, Sirupe und 
Conserven. Im 12. Jahrhundert gab Ebn Talmid, Leibarzt des Kalifen in 
Bagdad die 2. Pharmakopoe heraus, welche den arabischen Apothekern als 
Richtschnur zu dienen hatte. Daneben gab Kohen-Attab, Apotheker in 
Kairo, eine Art Handbuch der pharmaceutischen Praxis heraus. Später galt 
einige Zeit lang das Antidotarium von Nicolaus Mybepsus aus Alexandria 
als Gesetzbuch der Apotheker, ist somit als 3. Pharmakopoe anzusehen, wäh¬ 
rend ein noch später von Saladin von Ascolo verfasstes Handbuch für Apo¬ 
theker, in welchem eine Anleitung zur Sammlung und Zubereitung von Arznei¬ 
mitteln gegeben wird, keinen Pharmakopoe-Charakter besessen zu haben scheint. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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Im Abendlande beschränkte man sich anfangs darauf die durch die 
Araber erhaltene Wissenschaft zu pflegen, worauf durch die Alchymisten und 
Aerzte Albertus Magnus, Raimund Lull, Roger Baco u. A. eine Förderung 
der pharmacentischen Wissenschaft eintrat. Das von dem fränkischen Arzte 
Obtolf von Bayerland (Ortolf Megtenberger) 1477 herausgegebene 
„Arzneibuch“ in deutscher Sprache ist wohl das erste deutsche Apothekerbuch. 

Eine neue Epoche in der Ausgestaltung der wissenschaftlichen Pharmacie 
beginnt mit Paracelsus (1493—1541), der die Einführung chemischer 
Präparate in die Heilkunde versuchte. Bis dahin setzte sich der Arzneischatz 
hauptsächlich aus pflanzlichen und thierischen und einigen wenigen mine¬ 
ralischen Stoffen zusammen. War bis dahin die Pharmacie als wissenschaft¬ 
liche Drogenkunde zu bezeichnen, so beginnt mit Paracelsus die Schaffung 
einer neuen Disciplin, der pharmaceutischen Chemie, welche bald den ersten 
Rang unter den Hilfswissenschaften der Pharmacie einnahm. Das Wieder¬ 
erwachen der wissenschaftlichen Bestrebungen und ihre eifrige Förderung im 
16. Jahrhunderte brachte auch auf anderen Gebieten der Pharmacie, ins¬ 
besondere in der Botanik zahlreiche für die damalige Zeit werthvolle Werke 
hervor und führte endlich zur Herausgabe der ersten amtlichen Pharmakopoe 
in Deutschland. Es ist dies das vom Arzte Valerius Cordus im Aufträge des 
hohen Rathes zu Nürnberg 1535 verfasste und 1545 eingeführte „Dispen¬ 
satorium“ (Pharmacorum conficiendorum ratio, vulgo vocant dispensatorium), 
welches grosse Verbreitung auch ausserhalb Deutschlands fand. Diese 
Pharmakopoe enthält: Aromatische Mittel, Opiate (darunter die berühmten 
Latwergen Theriak und Mithridat), Confecte, Conserven, Abführmittel, Pillen, 
Sirupe, Lecksäfte, Trochiscen, Pflaster, Cerate, Salben und Oele, es fehlen 
also darin noch die Extracte und die chemischen Präparate. 

Dieser ersten deutschen Pharmakopoe folgte 1564 die zweite in Augsburg, 
es ist dies die von Adolf Ocuo verfasste erste Augsburgische Pharmakopoe. 
Diese zerfällt in 2 Hauptabschnitte, die Simplicia und die Composita. Unter 
den Simplicia sind 230Herbae, 106 Semina, 60 Flores, 108 Radices, 51 Fructus, 
16 Cortices, 36 Succi, eine Menge ganzer Thiere und thierischer Stoffe, ferner 
eine Reihe Metalle, Terrae, Lapides, Gemmae etc. angeführt. Die Composita 
zerfallen in Electuarien, Conserven, Confecte, Sirupe, Collyria, Decocta, 
Pulveres medicati, Unguenta, Emplastra, Cerata etc. — Im Jahre 1565 
erschien eine Kölner Pharmakopoe und 1567 das von florentiner Aerzten 
herausgegebene „Ricettario Fiorentino“, welches bald amtliche Geltung hatte 
und lange Zeit hindurch in Gebrauch blieb. 

Später haben sich Libavius, Minderer, Homberg um die Einführung 
chemischer Präparate in den Arzneischatz sehr verdient gemacht. Von ihren 
Wirken geben heute noch verschiedene nach ihnen benannte Präparate 
(Spiritus Libavii, Spiritus Mindereri, Sal sedativum Hombergii) Zeugnis. Bis 
in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein erstreckte sich der Kampf um die 
alten galenischen Mittel gegen die seit Paracelsus immer siegreicher auftretende 
Chemiatrie, deren Anhänger sich namentlich in Deutschland, England und in 
den Niederlanden befanden, während in den romanischen Ländern die Galenica 
noch in hohem Ansehen standen. Uebrigens haben sich diese Verhältnisse 
sogar bis heute noch erhalten, was am besten aus dem Vergleich der ein¬ 
schlägigen Pharmakopoen erhellt. Die Zahl der Arzneimittel überhaupt und 
speciell jene der pharmaceutischen Präparate ist z. B. in der französischen 
Pharmakopoe noch heute bedeutend grösser als im deutschen oder öster¬ 
reichischen Arzneibuche. Gegen das Ende des 17. Jahrhunderts entstand 
aus einer Verschmelzung beider Richtungen die Schule der Eklektiker, das 
18. Jahrhundert gehörte aber schon ganz der chemischen Richtung an. Es 
begann mit der von Stahl aufgestellten Phiogistontheorie und endete mit 
Lavoisier, der die Phiogistontheorie, die bis dahin Alles beherrschte, gänzlich 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


entthronte. Dazwischen fällt die Thätigkeit des schwedischen Apothekers 
Scheele, der eine ganze Reihe der bedeutendsten chemischen Entdeckungen 
machte. Er stellte zuerst Arsensäure, Blausäure, Oxalsäure, Milchsäure, 
Harnsäure, Salzsäure, Aepfelsäure, Glycerin etc. dar, ermittelte die Zusammen¬ 
setzung der Luft aus Stickstoff und Sauerstoff und stellte diesen letzteren rein 
dar. Baum£, Apotheker und Professor am College de Pharmacie in Paris, 
erfand das Aräometer und machte sich um das Studium des specifischen Ge¬ 
wichtes der Körper verdient. Durch Jüssieu und LinnE wurde die wissen- 
chaftliche Botanik ausgestaltet und dadurch das Studium der medicinisch- 
pharmaceutischen Botanik sehr gefördert. Auf die Entwicklung der pharma- 
ceutischen Chemie hatte dann der Stockholmer Arzt und Chemiker Berzelius 
grossen Einfluss. Vauquelin, der Entdecker des Cyans, Davy, der zuerst die 
Alkalimetalle darstellte, Sertürmer, der das erste Alkaloid (das Morphium) 
darstellte und andere Pharmaceuten arbeiteten eifrig mit. 

In dem Maasse als das Gebiet der pharmaceutischen Chemie und des 
pharmaceutischen Wissens überhaupt sich erweiterte, machte sich das Be¬ 
dürfnis nach wissenschaftlichem Unterricht immer mehr geltend. In Frankreich 
bestand schon lange ein College de Pharmacie, aus dem die „Ecole normale 
de Pharmacie“ in Paris hervorging, an die sich im Laufe der Zeit eine 
Anzahl pharmaceutischer Institute in verschiedenen Provinzstädten anreihte. 
In Deutschland wurden zunächst private Unterrichtsanstalten errichtet, so 1795 
von G. B. Trommsdorff in Erfurt, wo besonderer Nachdruck auf das Arbeiten 
im Laboratorium gelegt wurde. Nach und nach wurde dafür gesorgt, dass 
dem Bedürfnisse nach praktischer Arbeit auch an den Universitäten genügt 
werde und es wurden chemische Laboratorien für Pharmaceuten errichtet. 
Damit wurde der Schwerpunkt der pharmaceutischen Chemie aus den Apotheken¬ 
laboratorien, wo sie bis dahin neben den erwähnten Privatinstituten ihre 
einzige Pflegestätte hatte, an die Hochschulen verlangt. Männer wie Döber- 
reiner, Rose, Liebig, Wühler, zum Theil selbst Pharmaceuten, sorgten 
dafür, dass diese Disciplin sich rasch in ungeahnter Weise entwickelte. Unter 
der weiteren hervorragenden Mitwirkung von Männern wie Geiger, Büchner, 
Bunsen, Will, Fresenius, Gorup-Besanez und vieler Anderer haben sich 
die verschiedenen Disciplinen der Pharmacie, insbesondere aber die analytische 
und die allgemein pharmaceutische Chemie bis zu ihrer jetzigen Achtung 
gebietenden Höhe ausgebildet, wo wir an Männern wie E. Schmidt, F. A. 
Fückiger, Planchon, Holmes, Dragendorff, R. Robert, A. Vogl u. A. 
hervorragende Förderer der wissenschaftlichen Pharmacie aufzuweisen haben. 

Die Pharmakopoe-Literatur nahm inzwischen einen mächtigen Aufschwung. 
1618 erschien die erste Ausgabe der Londoner Pharmakopoe, 1636 der „Codex 
medicamentarius Parisiensis“ der Pariser Aerzte. 1622 erschien die „Pharma- 
copoea spagirica nova et inaudita“ von De la Poterie, 1641 Schröder’s 
„Pharmacopoea medicophysica“. Im Jahre 1677 erschien zu Genf eine 
„Pharmacopoea Helveticorum“ und schon früher in Kopenhagen, Haag, Ant¬ 
werpen, Utrecht etc. Dispensatorien, welche von den Aerzten der betreffenden 
Städte herausgegeben wurden. Im Jahre 1698 erschien die erste preussische 
Pharmakopoe unter den Titel „Dispensatorium Brandenburgicum seu norma, 
juxta quam in Provinciis Marchionatus Brandenburgici medicamenta officinis 
familiaria dispensanda ac praeparanda sunt“, welche nach unzähligen Um¬ 
arbeitungen und Neuausgaben erst in unseren Tagen durch die Pharmacopoea 
Germanica ersetzt wurde. Ab 1799 lautete der Titel dieser Pharmakopoe 
einfach „Pharmacopoea Borussica“. Ausser der preussischen waren in 
Deutschland noch eine ganze Anzahl anderer Pharmakopoen in Geltung. In 
Oesterreich erschien 1729 das „Dispensatorium Austriaco-Yienense“, aus dem 
die spätere „Pharmacopoea Austriaca“ entstand, deren 7. Ausgabe noch 
gegenwärtig in Geltung steht. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


29 


Im Jahre 1722 erschien die berühmte „Pharmacopoea Edinburgensis“, 
1771 die „Pharmacopoea Helvetica“, 1772 die erste dänische, 1773 eine 
sardinische, 1775 eine schwedische, 1778 eine rassische, 1794 einespanische 
Pharmakopoe. Es folgten dann 1805 Holland, 1807 Irland, 1818 Frankreich 
mit dem „Codex medicamentarius s. Pharmacopoea Gallica“ (bis dahin waren 
neben dem Codex Parasiensis noch verschiedene andere locale Pharmakopoen 
in Geltung). In Nordamerika erschien 1806 das erste „American Dispensatory“, 
jedoch ohne officiellen Charakter. Die noch heute in Geltung befindliche 
„Pharmakopoeia of the United States of America“ erschien erstmals im 
Jahre 1820. Pharmakopoen neueren Datums sind: Die ungarische, rumänische 
und japanische. Die jüngsten Pharmakopoen sind jene der Schweiz und 
Italiens. Bis zu deren erst kürzlich erfolgtem Erscheinen gab es in diesen 
Ländern keine das ganze Staatsgebiet umfassende obligatorische Pharmakopoe. 

Die Zahl der gegenwärtig als Arzneigesetzbücher in Kraft befindlichen 
Pharmakopoen auf der ganzen Erde beträgt 22 (wenn man die ganz veralteten 
Pharmakopoen von Serbien und Griechenland nicht dazu rechnet), von denen 3 
auf die neue Welt entfallen und 19 auf die alte; von diesen wiederum besitzt 
Europa allein 18, während die eine aussereuropäische die japanische ist. Die 
einzelnen Erdtheile betheiligen sich hieran wie folgt: Europa 18, Amerika 3, 
Asien 1, Afrika und Australien keine. Unter den europäischen Ländern ist 
Oesterreich-Ungarn mit drei Pharmakopoen bedacht; es besitzt nämlich 
die Pharmacopoea austriaca, deren siebente Auflage 1890 erschien, die Phar¬ 
macopoea hungarica, in zweiter Auflage, 1888 publicirt, und die damit identische 
Pharmacopoea croatico-slavonica. Am 1. Juli 1896 erschien ein Nachtrag zur 
Pharmacopoea hungarica. — Belgiens Pharmakopoe wurde zuletzt 1885 
gedruckt und erschien in französischer und lateinischer Sprache zugleich. — 
Die britische Pharmakopoe gilt gewissermassen als Norm für das ganze 
britische Reich, obwohl in Kanada die United States Pharmacopoeia gleich¬ 
falls Geltung besitzt und in Indien auch eine Pharmakopoe existirt hat, die 
jedoch längst obsolet geworden ist. Es besteht die Absicht eine „Imperial Phar¬ 
macopoeia“ für ganz Grossbritannien zu schaffen (also für England, Indien und die 
Colonien), doch ist es bis jetzt noch nicht dazu gekommen. — In Rumänien 
ist eine neue Pharmakopoe, die dritte von den bisher erschienenen (die erste 
in lateinischer und rumänischer Sprache erschien 1862, die zweite 1874, nur 
in rumänischer Sprache) 1894 erschienen und ist in rumänischer Sprache ver¬ 
fasst, nur die Aufschriften sind in rumänischer lateinischer, französischer 
und deutscher Sprache angeführt. — Bulgarien besitzt keine eigene Pharma¬ 
kopoe, sondern benützt die russische. — Griechenland, welches sich gleich¬ 
falls durch den Mangel eines Arzneigesetzbuches auszeichnet, besass vor etwa 
60 Jahren eine Pharmakopoe, welche von Bouros, Länderer, Sartorius u. A. 
herausgegeben worden war; dieselbe wurde 1868 unverändert wieder abge- 
drackt und mit einem Supplement von der Regierung anerkannt. Doch ist 
dieses griechische Arzneibuch schon längst obsolet und hat der Aufnahme der 
Normen aus dem deutschen und französischen Arzneibuch Platz gemacht. — 
Dänemark besitzt bereits seit 1772 eine officielle Pharmakopoe, deren letzte 
Auflage 1893 als 500 S. starker Band in dänischer Sprache erschien. — In 
Frankreich erschien erst 1818 als erste nationale Pharmakopoe der „Codex 
medicamentarius“ und seitdem erschienen vier Auflagen desselben, von denen 
die augenblicklich in Kraft befindliche zehn Jahre alt ist. Deutschland 
übernahm als Kaiserreich zuerst die Pharmacopoea borussica als Erbschaft, 
welche seit 1799 das bedeutendste Arzneibuch in den deutschen Bundesstaaten 
war. 1872 wurde die Pharmacopoea germanica zum ersten Male veröffent¬ 
licht, deren zweite Nachfolgerin seit 1890 den Titel „Arzneibuch für das 
Deutsche Reich“ trägt. Der Nachtrag zum D. A.-B. trat am 1. April 1S95 
in Kraft. — Das geeinigte Königreich Italien besitzt seine erste Phannakopoe 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR 


erst seit 1892. Dieselbe hat einen durchaus modernen Charakter, daher wir 
näher darauf eingehen wollen. Sie führt den Titel „Farmacopea ufficiale del 
Regno d’Italia“, bildet einen Oktavband von 443 Seiten, und ist in italie¬ 
nischer Sprache verfasst. Die Zahl der abgehandelten Artikel beträgt 597, 
welche dem Alphabet nach von Acetanilid bis Zucker (Zuchero) beschrieben 
sind. Die chemischen Producte sind fast durchgehends mit dem wissenschaft¬ 
lichen Namen als Hauptnamen angeführt und eine Ausnahme wurde nur dort 
gemacht, wo der wissenschaftliche Name zu lang ist. Weil das Arzneibuch 
italienisch geschrieben ist, so sind auch die Haupttitel italienisch und der 
lateinische Name, nebst den gebräuchlichsten Synonymen in zweite Reihe 
gestellt. Von den gleichen Gesichtspunkten wie bei den Chemikalien ging 
man bei der Bezeichnung der galenischen Präparate aus, für welche genaue 
Darstellungs-Verfahren angegeben sind. Desgleichen wird auch bei den 
meisten chemischen Präparaten das Darstellungs-Verfahren behandelt und bei 
den stark wirkenden Präparaten überall die höchsten Gaben am Schlüsse des 
Textes erwähnt. Die Vegetabilien führen als Haupttitel die einfache Be¬ 
nennung, während der Theil der Pflanze, welchem sie entstammen, aus der 
lateinischen Bezeichnung zu entnehmen ist. Von den 597 Artikeln sind 124 
mit einem Stern bezeichnet, was bedeutet, dass die so gekennzeichneten 
Artikel „in jeder Apotheke des Königreichs sich durchaus befinden müssen, 
weil sie in dringenden Fällen Anwendung finden, oder besonders wirksam sind, 
oder im Handel nicht leicht in der erforderlichen Reinheit zu haben sind“ 
wie die Vorrede sagt. Jene sind dann in der Tafel XXII nochmals als 
„obligate Arzneien“ namhaft gemacht. 33 von den Pharmakopoe-Artikeln 
sind unter besonderem Verschluss zu halten und in der Tafel XXHI wieder¬ 
holt namentlich angeführt. Der Text ist durch 23 Tafeln vervollständigt, 
welche über I Atomgewichte, H Chemische Formeln, Constitution und Mole- 
culargewicht, HI Den procentualen Alkaloidgehalt der entsprechenden Salze, 
IV Dichte und Siedepunkt der Flüssigkeiten, V—XVI Dichtigkeitszahlen und 
-grade, XVII Löslichkeitsverhältnisse der Salze, XVIII Feinheitsgrad der Pulver, 
XIX Reagentien, XX Apparate und Utensilien, XXI Höchste Gaben, XXH 
obligate Arzneien und XXIII Separanda handeln. Es folgen nun Verzeichnisse 
jener Einrichtungsgegenstände und Arzneien, welche für die zwei Arzneikästen 
bestimmt sind, die jede Gemeinde, welche zu entfernt von einer öffentlichen 
Apotheke liegt, zu führen hat, wovon der erste Kasten die heftiger, der 
zweite die mild wirkenden, im Ganzen 55 Arzneien zu enthalten hat. Diesem 
schliessen sich 2 weitere Verzeichnisse an und zwar o) von 85 Artikeln, 
welche in bestimmten Mindestmengen und unter Rücksichtnahme auf die Be¬ 
stimmungen des Giftgesetzes und b ) 126 Artikel, die ohne Vorbehalt Jeder¬ 
mann (also auch ein Nichtapotheker) verkaufen kann. Den Schluss bilden die 
wichtigsten Sanitäts-Verordnungen und die Inhalts-Verzeichnisse. — Die Nieder- 
lande erhielten erst 1851 eine nationale Pharmakopoe; seitdem sind zwei 
neue Auflagen derselben veröffentlicht worden, die letzte 1889. — Von den 
beiden Ländern Schweden und Norwegen besitzt jedes seine Pharmakopoe, 
aber sie sind einander ganz ähnlich; eine neue (die 3.) Ausgabe der norwe¬ 
gischen Pharmakopoe ist 1896 in norwegischer Sprache erschienen. Auch eine 
neue Ausgabe (die 8.) der schwedischen Pharmakopoe ist in Vorbereitung. 
Ein Ausschuss, bestehend aus dem Vorsteher der Medicinal-Verwaltung als 
Vorsitzenden, einem Medicinalrath, einem Professor der medicinischen Facultät, 
2 Professoren des pharmaceutischen Institutes und 2 praktischen Apothekern, 
ist zur Zeit damit beschäftigt. — Portugals letzte „Pharmakopea Portu- 
gueza“ wurde 1878 veröffentlicht und steht in bemerkenswerthera Gegensätze 
zum Arzneigesetzbuch Spaniens, der „Farmacopea Offizial Espaöola“, welche 
nahezu 1700 Arzneimittel enthält, unter denen die meisten für das moderne 
Europa einen sehr mittelalterlichen Geschmack besitzen. — Russland 


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hat seit 1866 vier Ausgaben seiner nationalen Pharmakopoe gesehen, die 
letzte 1891. — Serbien hat 1881 eine Pharmakopoe herausgegeben, welche 
aber kaum noch zählt. Dieselbe lehnt sich stark an die Pharmacopea austriaca 
VI. an und ist ganz veraltet. — Grösste Anerkennung verdient das Arzneigesetz¬ 
buch der Schweiz, die Pharmacopoea helvetica editio III, welche 1894 in 
3 Ausgaben (französisch, deutsch und italienisch) erschien. Dieselbe umfast 
398 Seiten und ist ganz modern gehalten. Dem eigentlichen Pharmakopoo- 
texte gehen „Allgemeine Bemerkungen“ voran, welche eine Anzahl Vor¬ 
schriften und Erläuterungen enthalten. Die Ueberschriften der einzelnen 
Artikel sind lateinisch. Die erste 1865 erschienene Ausgabe der Schweizer 
Pharmakopoe verdankte ihr Erscheinen dem Schweizer Apotheker-Verein und 
war mehr ein Dipensatorium, welches nur nach und nach von 9 Cantonen 
ofticiell anerkannt wurde. Die 1872 erschienene, ebenfalls vom Schweizer 
Apotheker-Verein herausgegebene zweite Ausgabe erlangte schon leichter die 
Anerkennung die Mehrzahl der Cantone, so dass, nachdem 1876 Ergänzungen 
dazu erschienen — im Jahre 1888 die Bundesregierung die Herausgabe 
der neuen 3. Auflage beschloss, welche von einer aus Aerzten, Apothekern, 
Thierärzten und Chemikern bestehende Commission bearbeitet wurde und durch¬ 
wegs auf der Höhe der Zeit steht. — Die Türkei besitzt keine Pharmakopoe. 
Von den Ländern Asiens ist mit Ausnahme von Japan kein Staat 
im Morgenlande, welcher eigene gesetzliche Normen für seine Arznei¬ 
mittel besässe, obwohl China, Indien und Persien, sowie andere Länder 
eine ihnen speciflsche Materia medica haben, die mehr oder weniger auf 
geschriebenen Traditionen beruht. In Japan erschien die „Pharmacopoea 
japonica“ 1892 in 2. Ausgabe. Bekanntlich ist die erste Ausgabe im J. 1886 
erschienen und im J. 1888 eine lOgliedrige Pharmakopoe-Commission ge¬ 
gründet worden, deren Arbeit die 2. Pharmakopoe ist. Sie umfasst an 440 
Artikel, wovon 100 in jeder japanischen Apotheke vorräthig zu halten, 
17 cautissime und 89 caute aufzubewahren sind. Die Pharmakopoe ist in 
lateinischer Sprache verfasst. Zur Grundlage dienten ihr die österreichische 
und deutsche Pharmakopoe, an welche sie sich in vielen Punkten anlehnt. 
- In der neuen Welt sind die Pharmakopoen Chiles, Mexikos und der Ver¬ 
einigten Staaten von Nordamerika die einzigen Arzneibücher von gesetzlicher 
Giltigkeit. Das Arzneibuch von Chile ist wesentlich französisch in seinem 
Charakter, obwohl die französischen, portugiesischen und spanischen Normen 
nahezu gleichmässig verbreitet und anerkannt sind in den südamerikanischen 
Staaten. — Die mexikanische Pharmakopoe wurde 1874 veröffentlicht und 
10 Jahre später erschien eine neue Ausgabe sowie ein Supplement. In den 
Vereinigten Staaten von Nordamerika sind eigene Pharmakopoen seit 
1820 in Gebrauch, in welchem Jahre die erste „United States Pharmacopoeia“ 
in Boston erschien. Sie war das Werk von Aerzten; Apotheker wurden erst 
im Jahre 1850 zur Theilnahme an der vierten Pharmakopöecommission ein¬ 
berufen. Seitdem sind in zehnjährigen Zwischenräumen Pharmakopöecommis- 
sionen zusammengetreten. Das Werk der letzten 1890er Commission wurde 
1893 ausgegeben. Die gegenwärtig in Geltung befindliche Pharmakopoe führt 
den Titel: „The Pharmacopoeia for the United States of America seventh 
decennial Revision.“ Sie ist seit 1894 in Kraft. — In Argentinien ist zur Aus¬ 
arbeitung einer Pharmakopoe mittelst Ministerial-Decret vom 30. März 1892 
ein Ausschuss ernannt worden, in welchem Dr. del Area den Vorsitz führt. 

Aus einer Prüfung dieser 22 Pharmakopoen, welche gegenwärtig in Kraft 
sind, lässt sich das Resume ziehen, dass die Mehrzahl unter ihnen ziemlich 
hohe Anforderungen an die Reinheit und Güte der Arzneimittel stellt und mit 
einer oder zwei Ausnahmen ist ihre Tendenz auf Beschränkung der Arznei¬ 
mittelzahl gerichtet. 

Die ersten Pharmakopoen waren vorwiegend Lehrbücher, sie enthielten 
Beschreibungen von Arzneimitteln und Angaben über das Einsammeln, Ge- 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


winnen und Zubereiten derselben. Lange Zeit hindurch bildeten sie die ein¬ 
zigen Werke, aus welchen die Kenntnis der Heilmittel zu schöpfen war. 
Später trat dieser Charakter immer mehr zurück und die Pharmakopoen 
beschränkten sich darauf die nothwendigen Angaben über die als officinell 
geltenden Arzneimittel zu machen. Die Wandlungen, die sich im Laufe der 
Jahrhunderte in der Heilkunde vollzogen, spiegeln sich getreulich in den 
Pharmakopöen wieder, namentlich ist die Zahl und die Art der darin aufge¬ 
nommenen Mittel kennzeichnend für die medicinischen Ansichten ihrer Geltungs¬ 
perioden. Selbst die neueste Richtung unserer heutigen Therapie wird bald 
in den Pharmakopöen ihren Ausdruck finden da z. B. die jetzt (1896) im Zuge 
befindliche Revision der österreichischen Pharmakopoe zweifellos zur Aufnahme 
der Serumpräparate führen wird. Doch hat von jeher auch in den Pharma¬ 
kopöen der verschiedenen Staaten grosse Verschiedenheit geherrscht. Während z. 
B. die finnische Pharmakopoe kaum 400, die deutsche nur ca. 600 Mittel enthält, 
weist die französische auch heute noch deren fast 2000 auf. Dieser auffallende 
Unterschied erklärt sich wohl dadurch, dass in den romanischen Ländern auch 
heute noch ein starkes Ueberwiegen der galenischen Präparate zu constatiren 
ist und dass in diesen Ländern thatsächlich von jeher viel mehr medicinirt 
wurde, als in anderen, speciell in den germanischen. 

Die Ausarbeitung der Pharmakopöen erfolgte ursprünglich durch ein¬ 
zelne, besonders angesehene Aerzte, meist im Aufträge irgend einer Behörde, 
später waren es die obersten Medicinalbehörden, welche sich damit befassten 
und gegenwärtig werden in den meisten civilisirten Ländern eigene, aus Medi- 
cinalbeamten, Klinikern, Pharmakologen, Chemikern und Apothekern beste¬ 
hende Commissionen zu diesem Zwecke eingesetzt, deren Aufgabe es ist die 
neu auftauchenden Heilmittel einer strengen Musterung hinsichtlich ihrer 
Aufnahmefähigkeit zu unterziehen, die alten Mittel, so weit sie nicht mehr 
oder wenig gebräuchlich sind, zu entfernen und insbesondere die Verbesserung 
der Prüfungsmethoden herbeizuführen, sowie eine Vereinfachung der Vor¬ 
schriften zusammengesetzter und nach Möglichkeit auch eine Uebereinstimmung 
der starkwirkenden Arzneimittel wenigstens mit den wichtigsten Nachbar- 
pharmakopöen zu erreichen. Die Ansichten über die in eine Pharmakopoe 
aufzunehmenden Mittel sind natürlich verschieden, doch ist ein zu weit gehen¬ 
der Puritanismus hier entschieden zu verwerfen. Die Pharmakopoe soll nicht nur 
jene Heilmittel enthalten, deren Zweckmässigkeit die medicinischen Autoritäten 
jener Zeitperiode anerkennen, sondern sie muss, ihrem Charakter als Gesetzbuch 
für ein ganzes Reich, entsprechend den auch thatsächlichen Verhältnissen 
Rechnung tragen. Durch die Pharmakopoe soll nicht, wie man noch vielfach irriger 
Weise annimmt, den einzelnen darin aufgenommenen Mitteln gewissermaassen 
der wissenschaftliche Stempel der Heilkräftigkeit aufgedrückt werden, sondern 
es sollen darin die wirklich in Gebrauch stehenden Mittel enthalten sein, 
damit für deren gleichmässige Beschaffenheit vorgesorgt ist. Selbstverständlich 
darf hierin nicht zu weit gegangen werden einerseits durch Aufnahme völlig 
werthloser Zubereitungen, wie sie sich stellenweise noch als Vermächtnis 
früherer Zeiten erhalten haben, anderseits durch Aufnahme jedes Volksmittels. 
Die richtige Mitte zu treffen, darin besteht eigentlich die Hauptaufgabe der 
mit der Auswahl der aufzunehmenden Mittel betrauten Pharmakopoe-Commis¬ 
sion. Es ist ein Irrthum zu glauben, dass durch die Pharmakopöen die zu 
gebrauchenden Mittel vorgeschrieben werden können. Für die Praxis ist es 
ganz gleichgiltig, ob ein Mittel in der Pharmakopoe enthalten ist oder nicht. 
Hat die Pharmakopoe es gestrichen, so ist es deshalb noch nicht ausser Curs 
gesetzt, wenn die Praxis daran festhält. Es entfallen dann nur die Garantien 
für die gleichmässige Beschaffenheit des Präparates. Anderseits macht auch 
die Aufnahme eines neuen Mittels in die Pharmakopoe dasselbe nicht lebens¬ 
fähig, wenn es in der Praxis nicht gebraucht wird. 


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Um dem unläugbaren Uebelstande, der daraus resultirt, dass viele 
Arzneimittel nur in einzelnen Gegenden gebräuchlich sind, zu begegnen, 
haben manche Pharmakopoen die Einrichtung getroffen, dass nur eine bestimmte 
Anzahl von Mitteln in allen Apotheken ihres Geltungsgebietes zu halten sind, 
während die Haltung der übrigen, nicht in dem betreffenden Verzeichnisse 
enthaltenen Mittel, dem Bedürfnisse des einzelnen Apothekers überlassen bleibt. 
Diese sogenannten Series medicaminum werden im deutschen Reiche von 
den einzelnen Bundesstaaten festgesetzt. Von den 597 Artikeln der 2. Ausgabe 
des deutschen Arzneibuches müssen in Preussen 266, in Bayern 439, in 
Sachsen 319, in Würtemberg 250, in Baden 385, in Hessen 321, in Braun¬ 
schweig 459 vorräthig gehalten werden. In Oesterreich bestimmen die Landes¬ 
chefs welche Arzneimittel der Pharmakopoe in den Landapotheken des betref¬ 
fenden Verwaltungsgebietes vorräthig zu halten sind, doch haben die meisten 
österreichischen Apotheker im Wege ihrer Gremien auf diese Beschränkung ver¬ 
zichtet, damit ihre Officinen nicht als Apotheken 2. Classe gelten, und führen 
alle in der Pharmakopoe enthaltenen Mittel. Das Richtigste wäre wohl nur eine 
bestimmte Anzahl der in der Pharmakopoe enthaltenen Mittel in geschickter 
Auswahl festzustellen, die in allen Apotheken unbedingt vorräthig zu halten 
wären, die Haltung aller übrigen aber gänzlich dem Bedürfnisse zu über¬ 
lassen, welchem in seinem eigenen Interesse jeder Apotheker Rechnung 
tragen wird. 

Die meisten Pharmakopoen waren früher in lateinischer Sprache verfasst, 
doch ist man hievon nach und nach fast allgemein abgegangen und bedient 
sich gegenwärtig immer mehr der betreffenden Landessprachen. Auch da, wo 
die lateinische Sprache als letzter Ueberrest ihrer früheren Geltung als 
Sprache der Wissenschaft noch beibehalten ist, wird daneben die Uebersetzung 
in der Landessprache beigegeben, so dass füglich von der ersteren ohne 
Schaden gänzlich abgesehen werden könnte. Nur in Ländern mit grossen 
sprachlichen Verschiedenheiten wie z. B. in Oesterreich ist die Beibehaltung 
des lateinischen Urtextes wohl gerechtfertigt. Die Beibehaltung der lateini¬ 
schen Nomenclatur ist selbstverständlich unter allen Umständen nöthig. 

Die Frage einer internationalen Pharmakopoe ist schon öfters, 
namentlich bei den internationalen medicinischen und pharmaceutischen Con- 
gressen erörtert worden. Es wurden auch verschiedene Entwürfe dazu aus¬ 
gearbeitet, die jedoch keinen Erfolg hatten, was bei der zum Theil noch 
ungemein grossen Verschiedenheit, die zwischen den einzelnen Pharmakopoen 
herrscht, ganz begreiflich erscheint. Thatsächlich sind ja auch die Bedürf¬ 
nisse, die ärztlichen Behandlungsmethoden etc. in den einzelnen Ländern 
noch viel zu gross um ein solches Project durchführen zu können. Bis auf 
die stark wirkenden Arzneistoffe ist die Verschiedenheit der Bereitungsweise 
der Medicamente auch ziemlich gleichgiltig. Bezüglich jener aber wäre eine 
internationale Vereinbarung mit Rücksicht auf den so enorm gestiegenen 
Verkehr dringend geboten. Diese hätte sich auf das Stärkeverhältnis bei der 
Bereitung galenischer Präparate (Extracte, Tincturen etc.) aus starkwirkenden 
Stoffen, sowie auf den Gehalt gewisser Präparate (wie Mineralsäuren u. a.) 
an wirksamer Substanz zu erstrecken. Eine solche Vereinbarung könnte, 
unbeschadet der übrigen Verschiedenheiten, die sich jeder Staat nach 
Herzenslust wahren mag, ohne Schwierigkeit getroffen werden und es ist nur 
zum Staunen, dass dies noch immer nicht geschehen ist. 

Dass das Bedürfnis nach einer internationalen, alles umfassenden 
Pharmakopoe übrigens schon lange vorhanden ist, das beweisen die ver¬ 
schiedenen Universal-Pharmakopöen und ähnliche Werke, die lange 
vor der bekannten Universal-Pharmakopoe von Hirsch erschienen. So 
erschien schon 1697 in Paris von Nie. Lemery eine „Pharmacopee universelle, 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Oer. Medicin. 3 


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APOTHEKENWESEN DND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


contenant toutes les compositions de Fharmacie tout en France que par toute 
l’Europe; leurs vertus, leurs doses; les maniäres d’operer les plus simples et 
les meilleurs“. Im Jahre 1764 gab D. W. Triller in Frankfurt a/M. ein 
ähnliches Werk unter dem Titel „Dispensatorium pharmaceuticum universale“ 
in 2 Bänden heraus. 1783 erschien von D. R. Spielmann in Strassburg eine 
„Pharmacopoea generalis“, 1835 Geiger’s Universal-Pharmakopoe. 

Die Prüfung und Werthbestimmung der Arzneimittel*) ist unstreitig 
die wichtigste Aufgabe des Apothekers, daher denselben in jeder Pharmakopoe 
die weitgehendste Beachtung gewidmet werden muss. Jede Pharmakopoe 
muss demnach, soll sie ihrem Zwecke entsprechen, die erforderlichen Angaben 
über die Feststellung der Identität, über die Erkennung der Beschaffenheit 
und Reinheit der in dieselbe aufgenommenen Heilmittel enthalten. Die vor¬ 
geschriebenen Methoden müssen selbstverständlich stets die neuesten und 
besten sein. Schon aus diesem Grunde soll einer Pharmakopoe niemals eine 
allzulange Lebensdauer gewährt werden, denn nicht allein die Prüfungs¬ 
methoden, auch die vorkommenden Verunreinigungen und Verfälschungen sind 
dem Wechsel der Zeit unterworfen. Damit nun eine Pharmakopoe stets auf 
der Höhe der Zeit und der Wissenschaft stehe, ist die Forderung nach 
ständigen Pharmakopoe-Commissionen gerechtfertigt. Die Aufgabe dieser 
Commissionen wäre, die Prüfungsmethoden fortwährend im Auge zu behalten, 
sie auf ihre Zulänglichkeit zu prüfen und im Falle der Unzulänglichkeit 
durch geeignete andere Methoden zu ersetzen. Am zweckentsprechendsten 
wäre es wohl, wenn diese ständige Pharmakopoe-Commission jährlich einen 
Bericht ausgeben würde, in welchem alle im Laufe des Jahres etwa noth- 
wendig gewordenen Aenderungen an den Bestimmungen der Pharmakopoe 
aufgezählt würden. Dieser Bericht wäre im Verordnungswege den Apothekern 
zur Darnachhaltung zu übergeben. Nach einem Zeiträume von längstens 
10 Jahren sollte stets eine Neuausgabe der Pharmakopoe vorgenommen werden, 
in welcher auch den sonstigen Fortschritten auf dem Gebiete der I’harmacie 
und der Medicin Rechnung getragen wird. Durch dieses einfache, gegen¬ 
wärtig aber leider noch nirgends geübte Verfahren würde die Pharmakopoe 
erst das werden, was sie sein soll, ein stets den Anforderungen der Wissen¬ 
schaften und der Praxis entsprechendes Gesetzbuch, dessen Vorschriften mit 
vollster Sicherheit eingehalten werden können. 

Die vorgeschriebenen Prüfungsmethoden und sonstigen Angaben bezüglich 
der Erkennung und Reinheit der Heilmittel der Pharmakopoe sollen bei aller 
Kürze und Knappheit des Ausdruckes stets präcis und deutlich sein. Ausserdem 
sollte auch stets angegeben sein, auf welche Unreinigkeiten, Verfälschungen 
und Verwechslungen zu prüfen ist und woher dieselben stammen, was die 
meisten Pharmakopoen gar nicht, einige wenige aber nur kurz und mangelhaft 
angeben. Daher hat sich das ständige Bedürfnis nach sogenannten Com men - 
taren zu den Pharmakopoen ausgebildet. Da die Pharmakopoe aber ein 
Gesetzbuch bildet und Gesetze möglichst klar und bestimmt stylisirt werden 
sollen, so sind genaue diesbezügliche Angaben entschieden zu fordern. Der 
Einwand, dass der Apotheker ohnehin in den meisten Fällen sofort weiss, um 
welche Substanzen es sich beim Gebrauche dieser oder jener Reaction handelt, 
oder zum mindesten bei einigem Nachdenken gleich erkennen muss 
wohinaus eine vorgeschriebene Prüfungsmethode zielt, ist nicht stichhältig, 
denn erstens wird die Pharmakopoe auch von den Aspiranten der 
Pharmacie zum Studium benutzt und zweitens sind auch viele Aerzte und 
Medicinalbeamte bemüssigt sich mit derselben zu befassen, welchen, als nicht 
geprüften Apothekern, keine derartigen Kenntnisse zugemuthet werden können. 
Aber auch dem geprüften Apotheker selbst wird bei der ungeheuren, fort¬ 
während zunehmenden Fülle des Materials sein Gedächtnis oft im Stiche 

*) Vergl. den Artikel „Prüfung der Arzneimittel“ im Band „Medicinische Chemie“. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


35 


lassen, so dass er den Commentar oder sonst ein Nachschlagewerk zu Hilfe 
nehmen muss, oder, was noch schlimmer ist, er kann leicht etwas verwechseln 
und dadurch in seinen Arbeiten Schaden erleiden. Genaue Angaben über 
die möglichen Verwechslungen, Verunreinigungen und Verfälschungen, über 
den Zweck jeder einzelnen Reaction oder Untersnchungsmethode sind daher 
unbedingt zu fordern. 

Ein beklagenswerther Umstand, der sofort ins Auge fällt, wenn man 
die Pharmakopoen verschiedener Länder durchsucht, ist die Verschiedenheit 
der Nomenclatur. Ganz abgesehen von den sprachlichen Verschiedenheiten, 
welche ja nicht zu umgehen sind, herrschen nämlich auch in den lateinischen 
Bezeichnungen der Arzneimittel, die noch in den meisten Pharmakopoen, auch 
wenn sie in der Landessprache verfasst sind, beibehalten sind, bedeutende 
Unterschiede. Die pharmaceutische Nomenclatur, die sich auf rein empirischem 
Wege ausgebildet hat und mit Vorliebe in Synonymen schwelgt, lässt da 
sehr zu wünschen übrig. Hier wären internationale Vereinbarungen zum 
Nutzen aller Betheiligten sehr am Platze, zum mindesten was die latei¬ 
nischen Bezeichnungen betrifft, deren Beibehaltung auch in jenen Pharma¬ 
kopoen, die ausschliesslich in der Landssprache verfasst sind, neben der Be¬ 
zeichnung in der betreffenden Sprache sehr wünschenswerth wäre. Besonders 
gross ist der Unterschied zwischen der lateinischen Nomenclatur der deutschen 
und österreichischen und der englischen Pharmakopoe. So sagen die deutsche 
und die österreichische Pharmakopoe: Ferrum sulfuricum, Natrium sulfuricum, 
die englische und andere dagegen: Ferri Sulphas, Sulphas Ferri, Sulphas 
ferrosus, Sulphas Sodae, Sulphas natricus etc. 

Die meisten Pharmakopoen, namentlich die neueren Datums, enthalten 
ausser den Angaben über die vorschriftsmässige Beschaffenheit der Arznei¬ 
mittel noch eine Reihe von Tabellen und einen Reagentienapparat 
(Apparatus reagentium), welcher die zur Prüfung der Identität und der Be¬ 
schaffenheit der Arzneikörper nothwendigen Reagentien und Utensilien vor¬ 
schreibt. Mit den Tabellen werden Bestimmungen bezüglich der stark¬ 
wirkenden Arzneistoffe getroffen und Angaben über das specifische Gewicht 
flüssiger Arzneistoffe gemacht. So enthält die österreichische Pharmakopoe 
vom Jahre 1889 (Pharmacopoea austriaca editio VII.) in Tabelle I jene 
Arzneimittel, die von den übrigen gesondert in einem versperrten 
Schranke zu halten sind; in Tabelle II jene Arzneistoffe, welche von den 
übrigen abgesondert zu halten sind (die sogenannten Separanda), in 
Tabelle HI die höchsten Arzneigaben für einen erwachsenen Menschen, 
welche der Arzt bei der Verschreibung für den innerlichen Gebrauch nicht 
überschreiten darf, ohne ein Ausrufungszeichen (!) beigesetzt zu haben 
(Maximaldosen-Tabelle). Tabelle IV verzeichnet jene Arzneimittel, 
deren Verabfolgung ohne ärztliche Verschreibung dem Apotheker 
verboten ist. Tabelle V verzeichnet die bei 15° C zu ermittelnden 
specifischen Gewichte der flüssigen Arzneipräparate. Als Anhang enhält 
diese Pharmakopoe noch folgende Tabellen, die für die pharmaceutische Praxis 
und die Zwecke der Pharmakopoe von Nutzen sind: Tabelle I a über die Be¬ 
ziehungen des specifischen Gewichtes zur Menge der Gewichtsprocente 
Alkohol, die in mit Wasser verdünntem Alkohol enthalten sind; Tabelle Ib 
über die Beziehungen des specifischen Gewichtes zu den Volumprocenten 
Alkohol, welche in mit Wasser verdünntem Weingeiste enthalten sind. 
Tabelle II zeigt die Beziehungen des specifischen Gewichtes zur Menge 
Essigsäure, welche in 100 Theilen der mit Wasser verdünnten Säure ent¬ 
halten ist. Tabelle DI zeigt die Beziehungen des specifischen Gewichtes zur 
Menge Chlorwasserstoff, welche in 100 Theilen der mit Wasser ver¬ 
dünnten Säure enthalten ist. Tabelle IV dasselbe bezüglich Salpetersäure, 
Tabelle V dasselbe bezüglich Phosphorsäure, Tabelle VI dasselbe be- 

3 * 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


züglich verdünnter Schwefelsäure, Tabelle VII dasselbe bezüglich 
Ammoniaklösung, Tabelle VIII bezüglich Kaliumhydroxyd, Tabelle IX 
bezüglich Natriumhydroxyd. Tabelle X gibt die ungefähre Menge der in 
Wasser löslichen chemischen Arzneipräparate an, die von 100 Theilen de- 
stillirten Wassers bei gewöhnlicher Temperatur gelöst wird. Tabelle XI gibt 
die Symbole und Atomgewichte der wichtigsten einfachen Stoffe an. Tabelle XII 
gibt die Moleculargewichte der in die Pharmakopoe aufgenommenen zusammen¬ 
gesetzten chemischen Verbindungen an. 

Das deutsche Arzneibuch II. Ausgabe enthält folgende Tabellen: Tabelle A) 
enthaltend die Maximaldosen für erwachsene Menschen, Tabelle B) enthaltend 
das Verzeichnis der Gifte, die unter Verschluss aufzubewahren sind und C) 
enthaltend die starkwirkenden Arzneistoffe, die von den übrigen getrennt und 
vorsichtig aufzubewahren sind (Separanda). Ferner ist enthalten eine Ueber- 
sichtstabelle über die zwischen -f- 12° und 25° eintretenden Veränderungen 
der bei den Revisionen der Apotheken festzustellenden specifischen Gewichte 
von Flüssigkeiten. 

Von besonderer Wichtigkeit sind die Maximaldosentabellen, welche 
stets mit grösster Sorgfalt auszuarbeiten wären. Da diese Maximaldosen sich 
in den meisten Pharmakopoen nur auf die per os verabreichten Medicamente 
beziehen, wäre die Aufnahme von Höchstgabentabellen für subcutan, per clysma 
und in Form von Suppositorien u. dgl. verabreichte Arzneimittel dringend 
nothwendig. Auch eigene Maximaldosentabellen für Kinder sind gewiss am Platze. 

Ausser den erwähnten Tabellen enthalten manche Pharmakopöen auch 
eine Reihe Vbn auf die Pharmakopoe und den Verkehr mit Arzneimitteln be¬ 
züglichen Bestimmungen, manche sogar eine vollständige Sammlung aller den 
Apothekenbetrieb betreffenden gesetzlichen Bestimmungen, was entschieden als 
sehr praktisch zu bezeichnen ist und überall so gehalten werden sollte. 

Arzneitaxen. Besondere Taxen für die Abgabe von Arzneien aus den 
Apotheken bestanden schon sehr frühe. Die amtlichen Arzneitaxen sind weit 
älter als die amtlichen Pharmakopöen. Schon Kaiser Friedrich II. hat eine 
solche eingeführt, Augsburg hatte bereits im Jahre 1512 eine Arzneitaxe, an 
die sich zu halten die Apotheker verpflichtet waren. Die erste Arzneitaxe 
für die churfürstlich Brandenburg’schen Staaten erschien 1564. Dass die 
Preise für die Arzneien damals festgesetzt wurden ist wohl begreiflich, nach¬ 
dem damals die Behörden für alle Waaren verkauf er und für alle Dienst¬ 
leistungen überhaupt bestimmte Taxen festsetzten. Später schwanden die 
Waarentaxen gänzlich und die Regelung der Preise wurde ganz der freien 
Vereinbarung überlassen. Nur mit den Apothekerwaaren macht man auch 
heute in jenen Staaten, wo das Apothekenwesen auf dem Concessionssystem 
beruht eine Ausnahme, während in den Ländern, wo der Apothekenbetrieb 
ein freies Gewerbe bildet, auch die Nothwendigkeit einer amtlichen Arznei¬ 
taxe nicht anerkannt wird. Es ist jedoch ein Irrthum zu glauben, das eins 
das andere bedingt. Das Concessionssystem ist ganz gut denkbar ohne amt¬ 
liche Arzneitaxe, während wieder der freie Apothekenbetrieb auch bei einer 
ofliciellen Arzneitaxe bestehen kann. 

Der Hauptzweck der amtlichen Arzneitaxe ist natürlich von jeher der 
gewesen, die Verteuerung der Arzneimittel und die Uebervortheilung des 
Publikums zu verhindern und dieser Zweck wird damit auch in der That 
erreicht, was am besten daraus hervorgeht, dass in den Ländern wo keine 
Arzneitaxe besteht, die Preise der Arzneien im Durchschnitt höher sind, als 
in jenen mit Taxe. Ein weiterer Zweck der Arzneitaxe ist der, eine mehr 
oder weniger schmutzige Concurrenz der Apotheker unter einander, unter 
welcher gewöhnlich nur die Güte der verabreichten Arzneien leidet, zu ver¬ 
hüten. Dieser an sich gewiss löbliche Zweck wird durch die amtliche Taxe 
allerdings erreicht, liesse sich aber auch auf dem Wege des privaten Ueber- 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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einkommens der Apotheker erzielen, wie dies ja auch jetzt bezüglich sehr 
vieler nicht officineller Arzneipräparate bei uns und bezüglich aller in manchen 
Ländern ohne Taxe geschieht. 

Die in Deutschland und Oesterreich, sowie in anderen Staaten einge- 
führten staatlichen Arzneitaxen sind Maximaltaxen, d. h. sie dürfen nicht 
überschritten werden. Eine Ermässigung oder vielmehr ein Nachlass von der 
Taxe ist jedoch gestattet und hat sich bei Arzneilieferungen für Rechnung 
von Krankenanstalten und öffentlichen Fonds sogar zur Regel ausgebildet. 
In der letzten Zeit ist die Nachlassfrage in Deutschland sowohl als in Oester¬ 
reich durch die immer steigende Begehrlichkeit der Krankenkassen und ähn¬ 
licher Vereinigungen zu einer wahren Calamität für die Apotheker geworden, 
da sich immer wieder solche darunter finden, die sich wenigstens im Nach¬ 
lasse unterbieten. Da aber bei der ohnehin niedrigen Taxe und der einfachen 
Verschreibweise der Kassenrecepte ein grösserer Nachlass überhaupt nicht 
gewährt werden kann, wenn die Arzneien gewissenhaft bereitet werden sollen, 
so wird in neuerer Zeit die gänzliche Abschaffung solcher Nachlässe verlangt. 

In den Ländern, die das Concessionssystem adoptirt haben, soll die Taxe 
zugleich auch eines der Schutzmittel des Staates für die Apotheken vorstellen, 
indem sie dem Apotheker eine auskömmliche Existenz sichern soll. Ob dieser 
Zweck erreicht wird, hängt wesentlich davon ab, nach welchen Grundsätzen 
bei der Abfassung der Taxe vorgegangen wird. Die amtlichen Apotheker¬ 
taxen der früheren Zeiten wurden lediglich nach kaufmännischen Gesichts¬ 
punkten festgesetzt, d. h. es wurde auf die Einkaufspreise der einzelnen 
Arzneistoffe ein bestimmter Zuschlag gemacht, der den Nutzen des Apothekers 
vorstellte. Da die Receptur in jener guten alten Zeit eine ganz andere war 
als heute, indem zu einem einzigen Recepte oft zwanzig und mehr Mittel 
verbraucht wurden, und da ferner auch ziemlich grosse Quantitäten von Arz¬ 
neien vertilgt wurden, so hatte der Apotheker jener Zeiten wohl immer seinen 
ausgibigen Nutzen dabei. Erst im Jahre 1815 erschien in Preussen eine 
Taxe, die nach bestimmten Grundsätzen ausgearbeitet war. Dieselbe ging von 
der Annahme aus, dass, wenn das Geschäft eines Apothekers = 10 ist, die 
Ausgaben für die Beschaffung der Drogen = 4 und sämmtliche Nebenaus¬ 
lagen einschliesslich des Verlustes ebenfalls = 4 sind, so dass dem Apotheker 
von den Gesammteinnahmen blos */ I0 als Reingewinn verbleiben. Der Ver¬ 
kaufspreis der Arzneistoffe wurde daher in der Taxe im Verhältnisse 4 :10 
festgesetzt, welches Verhältnis 1872 nach dem Maasstabe 4:8 bis 4:12 ge¬ 
ändert wurde und zwar wurde für billige Drogen die höhere, für theure die 
niedrigere Stufe angenommen. Nach ähnlichen Grundsätzen sind die Arznei¬ 
taxen in Bayern, Sachsen, Würtemberg und Hessen festgestellt, doch sind 
natürlich die Taxansätze aller dieser Taxen verschieden, so dass ein und das¬ 
selbe Recept nach den Taxen der verschiedenen Bundesstaaten berechnet, oft 
ganz verschiedene Preise ergibt. Daher ist schon ziemlich lange der Wunsch 
nach einer einheitlichen Arzneitaxe für das ganze deutsche Reich laut gewor¬ 
den. Die Einführung einer Reichsarzneitaxe scheiterte aber bisher an dem 
Hinweise darauf, dass die grosse Verschiedenheit der auf eine Apotheke 
entfallenden Einwohner in den verschiedenen Ländern die Nothwendigkeit 
verschiedener, diesen Verhältnissen angepasster Landestaxen erheischt. Nichts¬ 
destoweniger dürfte eine Reichsarzneitaxe doch bald zustande kommen. 

Die erwähnten Verschiedenheiten, die thatsächlich überall vorhanden 
sind, lassen das Princip, für ein grösseres Gebiet eine einheitliche Arzneitaxe 
festzustellen, in einem sehr ungünstigen Lichte erscheinen, besonders wenn 
man noch die grosse Verschiedenheit in den Vermögensverhältnissen der Be¬ 
wohner bedenkt, wie sie z. B. zwischen dem Publikum einer Grossstadt oder 
eines besuchten Curortes und dem eines armen Gebirgs- oder Küstenstriches 
thatsächlich besteht Diese Verschiedenheiten treten vielleicht nirgends so 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


sehr hervor als in Oesterreich, wo zwischen dem Publikum einer Apotheke 
in der Residenz oder in einem der böhmischen Bäder und jenem einer Land¬ 
apotheke in Dalmatien oder Galizien ein himmelweiter Unterschied besteht. 
Wenn man diese Verhältnisse bedenkt, so müsste man folgerichtig dazu ge¬ 
langen das Princip einer einheitlichen Reichstaxe aufzugeben und Landes¬ 
oder Bezirkstaxen einzuführen, was wieder die so erwünschte Einheitlichkeit 
vollständig vernichten würde. Ein Ausgleich der Unterschiede liesse sich 
zwar, ohne das Princip der Einheitlichkeit wesentlich zu berühren, dadurch 
erreichen, dass den Landapotheken ein gewisser Zuschlag für jedes Recept 
eingeräumt würde. Dies hätte aber zur Folge, dass das Publikum diesen 
Unterschied bald herausfinden und demgemäss noch mehr als dies schon jetzt 
der Fall ist, der Stadt Zuströmen würde, so dass sich diese Maassregel in 
praxi eher zum Schaden als zum Nutzen aer betreffenden Apotheker gestalten 
würde. So lange die Stellung des Apothekers die eines privaten Geschäfts¬ 
mannes ist, lassen sich diese Verhältnisse wohl kaum anders gestalten. 

In den Ländern, wo der Apothekenbetrieb keiner staatlichen Beschrän¬ 
kung unterliegt, also in Frankreich, England, in Belgien etc. hat man die 
Aufstellung amtlicher Arzneitaxen gänzlich aufgegeben und hat die Fest¬ 
stellung der Arzneipreise ganz dem freien Ermessen der Apotheker, bezie¬ 
hungsweise der natürlichen Regelung nach dem Verhältnisse von Nachfrage 
und Angebot überlassen. Auch hier haben sich in der Praxis ziemlich stabile 
Preise entwickelt, sei es in Folge privater Arzneitaxen, sei es in Folge der 
Gleichartigkeit der Verhältnisse. Im Allgemeinen ist aber hier in Folge der 
mangelnden Concurrenz bei den Apotheken auf dem Lande stets die Tendenz 
für höhere Preise gegenüber den Stadtapotheken vorhanden, wie denn über¬ 
haupt die Arzneipreise in diesen Ländern im Allgemeinen weit höher sind, 
als in den Ländern mit amtlicher Taxe, was am besten aus folgender Zu¬ 
sammenstellung ersichtlich ist, nach welcher der Preis von 6 bestimmten 
Recepten in verschiedenen Staaten wie folgt ermittelt wurde: 



Oester¬ 

reich 

Deutsch¬ 

land 

| 

Belgien Italien 

. 1 

Schweiz Holland 

; 

Eng- 

land 

Vene¬ 

zuela 

Russ¬ 

land 

Frank¬ 

reich 


Pf. | 

Pf. 

Pf. 

Pf. 

pf. 

Pf. 

Pf. 

Pf. 

Pf. 

Pf. 

1. 

55 

75 

60 

80 

90 

120 

150 

140 

126 

210 

2 . 

90 

125 

70 

80 

100 

160 

150 

123 

166 

210 

3. 

75 

115 

100 

120 

140 

165 

150 

140 

174 

250 

4. 

110 

90 

85 

80 

110 

100 

150 

160 

194 

170 

5. 

110 

165 

50 

100 

100 

140 

150 

120 

190 

185 

6. i 

160 

125 

175 

240 

210 

265 

250 

320 

212 

, 180 

Sum- 
j ma l 

630 

1 

695 

540 

j 700 

750 

j 

i 

950 

1000 , 

, j 

1000 

1062 

1 

' 

i 1 

1205 

i 1 


Diese Zusammmenstellung zeigt zwar das absolute Verhältnis in den 
betreffenden Fällen, gibt aber keinen weiteren Aufschluss über die sonstigen 
bestimmenden Verhältnisse, namentlich nicht über die Verschiedenheit des 
Geldwerthes und die Zahl der Einwohner, die auf eine Apotheke entfallen, 
welche Verhältnisse in den angeführten Staaten sehr verschieden sind, immer¬ 
hin ist daraus ersichtlich, dass durch die Freigebung des Apothekenbetriebes 
eine wesentliche Verbilligung der Arzneimittel nicht erreicht würde, vielmehr 
ist gerade das Gegentheil anzunehmen. 

Nach den in Europa und Nordamerika seitens des dänischen Apotheker- 
Vereins veranlassten Ermittelungen stellen sich die Ergebnisse, wenn man 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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den Preis der Arzneien in Dänemark mit 100 feststellt, wie folgt: Norwegen 
116, Oesterreich 117, Ungarn 125, Schweden 126, Belgien 141, Deutschland 
145, Holland 147, Schweiz 149, Portugal 163, Russland 197, Italien 242, 
Frankreich 247, England 259 und Nord-Amerika 350. Hieraus geht hervor, 
dass die Preise der Arzneien gerade in denjenigen Ländern am höchsten sind, 
in denen das Apothekenwesen ein freies Gewerbe ist. 

Bei der Feststellung einer Arzneitaxe spielen 2 Gesichtspunkte, die sich 
im vollkommenen Widerstreite befinden, eine Rolle. Einmal das gewiss be¬ 
rechtigte Bestreben des Staates die Beschaffung der Arzneien möglichst zu 
verbilligen, das andere Mal die Nothwendigkeit dem Apotheker durch die 
Taxe ein Aequivalent für die zur Erlernung seines Berufes aufgewandten Kosten 
und für die mit demselben verbundenen Einschränkungen und Opfer aller 
Art zu bieten. Bei diesem Widerstreite ist es natürlich, dass gewöhnlich der 
Apotheker den Kürzeren zieht, obwohl er vollkommen berechtigt ist zu ver¬ 
langen dass, wenn der Staat im Interesse seiner Bürger glaubt ihm eine dies¬ 
bezügliche Verpflichtung auferlegen zu müssen, diese seine Lebensinteressen nicht 
beeinträchtigen darf. Ohne den Bestand amtlicher Arzneitaxen würden sich die 
Arzneipreise in Oesterreich und Deutschland entschieden etwas höher stellen als 
jetzt, aber, wie aus obiger Zusammenstellung ersichtlich ist, nicht so hoch, 
dass über eine nennenswerthe Vertheuerung der Arzneimittel zu klagen wäre. 
Es würde sich ein natürlicher Ausgleich vollziehen, der jetzt durch die Taxe 
unterbunden ist. Der Staat könnte aber sehr leicht den berechtigten Anfor¬ 
derungen des Apothekers (Berücksichtigung der allgemeinen Vertheuerung 
der Lebensverhältnisse, des Anwachsens der Concurrenz, der Vereinfachung 
und Verbilligung der ärztlichen Verschreibweise, der Abnahme des Hand¬ 
verkaufes und der Receptur überhaupt infolge Zunehmens der sogenannten 
Naturheilverfahren etc.) entsprechen, ohne den Interessen der Bevölkerung zu 
nahe zu treten. Durch die Schaffung der zahlreichen Krankenkassen ist näm¬ 
lich ohnehin eine Sonderung der Bevölkerung in 2 Hauptclassen erfolgt: 
Kassenangehörige, also Minderbemittelte, und Nicht-Kassenangehörige d. h. 
Bemittelte und Wohlhabende. Der Staat kann nun, sei es durch eine eigene 
Taxe für Krankenkassen und ähnliche Anstalten, sei es durch Feststellung 
einer bestimmten Ordinations- und Expeditionsnorm, sei es endlich durch 
Feststellung eines diesen Anstalten zu gewährenden Mindestnachlasses auf 
die Taxpreise (mit gleichzeitiger Festsetzung eines Höchstausmaasses desselben) 
die Arzneien für diese minderbemittelte Bevölkerungsclasse wesentlich herab¬ 
setzen, dafür aber müsste er wieder die Preise der gewöhnlichen, für die 
bemittelteren Classen bestimmten Taxe in entsprechendem Verhältnisse erhöhen, 
Dadurch würde ein alle Betheiligten befriedigender Ausgleich erzielt, der 
durchaus nichts Ungeheuerliches an sich hat, wenn man bedenkt, dass in 
allen anderen Berufsclassen und Gewerbebetrieben auch ohne Taxe ähnliche 
Preisberechungen bestehen (z. B. bei den Aerzten, die sich doch auch ein und 
dieselbe Leistung anders von einem armen Bauer und anders von einem 
reichen Fabrikanten honoriren lassen und das mit vollstem Recht) und dass 
in den Staaten ohne Arzneitaxe die Berechnung des Preises der Arzneien eben¬ 
falls allgemein nach den Vermögensverhältnissen des Käufers erfolgt. In 
Deutschland und Oesterreich hat dieses unläugbar ganz rationelle Princip 
nur insoweit Berücksichtigung gefunden, als in der Taxe für Gefässe neben 
gewöhnlichen Gefässen auch Preise für Luxusgefässe vorhanden sind. 

Die meisten Arzneitaxen enthalten 1 . Ansätze für die Arzneiwaaren 
2 . für die Recepturarbeiten (Arbeitstaxe) 3. für die Gefässe. Ausserdem meist 
noch eine besondere Taxe für Thierheilmittel und für Verbandstoffe. Auch 
für homöopathische Arzneimittel bestehen in manchen Staaten eigene Taxen. 
Für die Arzneiwaaren bestehen meist mehrere Ansätze nach bestimmten 
Gewichtseinheiten z. B. für 10 < 7 , 100 y, 1000 < 7 , wobei die grösseren Mengen 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


stets im Verhältnis billiger angesetzt sind. Die Taxe für die Recepturarbeiten ist 
sehr verschieden gehalten und enthält eine ganze Anzahl von Preisansätzen für 
die verschiedenen Arbeiten. Dieser Theil der Taxe ist äusserst complicirt und 
häufig auch sehr unklar, so dass er in vielen Fällen verschiedene Deutung zu¬ 
lässt. Die Folge davon ist, dass sich hierüber oft genug Streitigkeiten mit den 
Consumenten ergeben. Die Krankenkassen und ähnliche Anstalten lassen daher 
durch eigene Retaxatoren die auf ihre Rechnung expedirten Recepte retaxiren, 
wobei sie die unklaren Bestimmungen natürlich in ihrem Sinne auslegen und 
oft willkürliche Streichungen vornehmen. Eine Vereinfachung der Arbeits¬ 
taxe wäre daher dringend geboten, die sich am zweckmässigsten dadurch er¬ 
zielen Hesse, dass die vorzunehmenden Recepturarbeiten in bestimmte Kate¬ 
gorien einzutheilen wären und dafür eine Grundtaxe festgesetzt würde. 
Diese Grundtaxe könnte in vier Classen zerfallen, und zwar würden sich hie¬ 
zu am besten folgende Preissätze empfehlen: 1. 10 kr. für die kleinen Ar¬ 
beiten (Lösungen, Wägungen u. dgl.). 2. 20 kr. für mittlere Arbeiten (Infusa, 
warme Lösungen, Pulvermischungen u. dgl.). 3. 30 kr. für längere Arbeiten 
(Pillen, Suppositorien, abgetheilte Pulver etc.). In die 4. Classe hätten alle 
aussergewohnlichen Arbeiten, die viel Zeit oder besondere Verrichtungen er¬ 
fordern, zu fallen, wie z. B. das Vergolden oder Ueberziehen von Pillen mit 
irgendwelcher Masse, die Bereitung von Bacillen etc. Für Thierheilmittel 
wären diese Preissätze, da es sich hier meist um grössere Massen handelt, 
mit welchen sich schlechter arbeiten lässt, zu verdoppeln. Gegenüber der 
jetzigen Berechnungsweise hätte die hier vorgeschlagene den grossen Vortheil 
der Einfachheit. Streitigkeiten wären da von Vorneherein ausgeschlossen. 

Die Taxe für Gefässe bringt Preisansätze für alle Gefässe, die zur Ex¬ 
pedition der Medicamente dienen. Aus der Zusammenziehung der Preise für 
die auf einem Recepte verschriebenen Arzneiwaaren, für die dabei vorzuneh¬ 
mende Arbeit und für die Gefässe ergibt sich der Gesammtpreis der Arznei, 
der auf dem Recepte mit deutlichen Ziffern zu bemerken ist. In Oesterreich 
und anderen Staaten müssen die einzelnen Preisansätze gesondert aufgeführt 
und summirt werden. 

Ueberschreitungen der Arzneitaxe (wozu auch die Berechnung theurerer 
Gefässe als der wirklich verabfolgten gehört) werden in Deutschland nach 
§ 148, 8 der Gewerbeordnung bestraft. 

Die pharmaceutische Ausbildung ist in den meisten Staaten verschieden, 
doch sind die zur Erreichung des Zweckes aufgewandten Unterrichtsmittel 
überall so ziemlich die gleichen. Das Endziel des pharmaceutischen Unter¬ 
richtes ist die Erlangung eines Diplomes oder einer Approbation, auf Grund 
welcher erst der Apothekerberuf selbständig ausgeübt werden kann. 

Die Verhältnisse bei der Ausbildung zum Apotheker liegen in den 
meisten Staaten wesentlich anders, als bei anderen wissenschaftlichen Berufs¬ 
arten. Während sonst die Ausbildung in der Weise erfolgt, dass nach dem 
Besuche allgemeiner Bildungsschulen die eigentlichen Fachkenntnisse an be¬ 
stimmten, diesem Zwecke dienenden höheren Unterrichtsanstalten, mögen es 
nun Hochschulen oder specielle Fachschulen sein, erworben werden, und erst 
nach oder während dieses theoretischen Unterrichtes die nöthigen praktischen 
Kenntnisse erlangt werden, ist der Unterricht des angehenden Apothekers 
vorerst ein praktischer und dann erst gesellt sich der theoretische Unterricht 
dazu. Ob dieser Bildungsgang gerade der richtige ist, soll hier nicht weiter 
untersucht werden, thatsäcblich entspricht der gegenwärtig noch geübte Aus¬ 
bildungsmodus den gesteigerten wissenschaftlichen Anforderungen, die an diesen 
Beruf gestellt werden, in vielen Staaten nicht mehr, daher gerade jetzt eine 
ziemlich allgemeine Bewegung herrscht, welche dahin zielt den pharmaceu¬ 
tischen Unterricht zu erweitern und zu vertiefen, wobei, aller Wahr- 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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scheinlichkeit nach, auch der Gang der theoretischen und praktischen Ausbildung 
eine Verschiebung erfahren dürfte. 

Die pharmaceutiachen Mitglieder der Commission zur Berathung der Grandzüge zur 
Regelung des Apothekenwesens, welche am 13. April 1896 in Berlin zusammentrat, haben 
eine Eingabe betreffs Erweiterung der Vorbildung und Vertiefung der Ausbildung der 
Apotheker dem Staatsminister v. Bötticher überreicht. In derselben wurden, mit Rück¬ 
sicht darauf, „dass die deutsche Pharmacie den an sie zu stellenden Anforderungen in der 
gegenwärtigen Verfassung nicht mehr genügen könne“, folgende Forderungen gestellt: 
1. Zum Eintritt in die Pharmacie berechtigt nur das Maturum eines Gymnasiums beziehungs¬ 
weise eines Realgymnasiums. 2. Die Lehrzeit dauert 2 Jahre und findet ihren Abschluss 
durch das Bestehen einer praktischen und wissenschaftlichen Prüfung. 3. Eine der Lehrzeit 
folgende einjährige Gehilfenzeit erscheint erforderlich, um die jungen Fachgenossen an ein 
selbstverantwörtliches Arbeiten zu gewöhnen. 4 . Das Universitätsstudium umfasst 6 Se¬ 
mester. Diese den neuzeitlichen Anforderungen entsprechend erweiterte wissenschaftliche 
Ausbildung findet ihren Abschluss durch das Bestehen der Prüfung als Apotheker. 5. Zur 
selbständigen Führung einer Apotheke sind nur diejenigen „Apotheker“ berechtigt, welche 
den Nachweis erbringen, dass sie noch fernere 3 Jahre im pharmaceutischen Berufe thätig 
gewesen sind. 

Der Ausbildungsgang des Apothekers in Deutschland und Oesterreich, sowie 
in einigen anderen Staaten ist im Wesentlichen folgender: nach Absolvirung 
einer bestimmten Reihe von Mittelschulclassen (in Oesterreich 6 Gymnasial- oder 
Realschulclassen, im letzteren Falle mit einer Ergänzungsprüfung aus latei¬ 
nischer Sprache, in Deutschland nach Erlangung des Schulzeugnisses für den 
einjährig-freiwilligen Militärdienst, d. i. der Reife für Obersecunda, was den¬ 
selben Classen entspricht) folgt die 3- oder 2-jährige (für Candidaten, welche das 
Reifezeugnis besitzen) Lehrzeit in einer öffentlichen Apotheke. Während 
dieser (in Oesterreich T iro cin i um genannten) Zeit hat der Lehrherr für die the¬ 
oretische und praktische Ausbildung des Apotheker-Lehrlings (in Oester¬ 
reich Tiro oder Apotheker-Praktikant; nach neuester amtlicher Be¬ 
zeichnung Aspirant der Pharmacie), nach bestem Wissen zu sorgen. Der 
angehende Apotheker muss während dieser Zeit ziemlich bedeutende Kennt¬ 
nisse in den Naturwissenschaften, speciell in Chemie und Botanik erwerben, 
was umso nothwendiger ist, als in den Mittelschulen mit ihrem den todten 
Sprachen so breiten Raum gewährenden Unterrichtsplane, die Naturwissen¬ 
schaften sehr stiefmütterlich behandelt werden. Schon dieser Ausbildungs¬ 
modus ist nicht einwandfrei, denn es ist dabei zu bedenken, dass nicht jedem 
Menschen die Fähigkeit zukommt Andere zu unterrichten. Der junge Aspirant 
wird also in vielen Fällen auf den Selbstunterricht angewiesen sein und kann 
froh sein, wenn ihn der Lehrherr oder dessen Gehilfen wenigstens so weit 
unterstützen, dass sie ihm die nöthigen Erläuterungen geben. Hinsichtlich 
der praktischen Ausbildung, namentlich was gewisse manuelle Fertigkeiten 
betrifft, ist die Lehrzeit jedenfalls sehr geeignet. 

Nach Beendigung der 3- oder 2jährigen Lehrzeit folgt die Gehilfen- 
prtifung (in Oesterreich Tirocinalprüfung), welche in Deutschland durch 
die Bekanntmachung betreff, die Prüfung des Apotheker¬ 
gehilfen vom 13. Nov. 1875 geregelt wird. Die wesentlichen Bestimmungen 
derselben lauten: 

Die Prüfungsbehörden für die Gehilfenprüfung bestehen aus einem höheren Medicinal- 
beamten als Vorsitzenden und zwei Apothekern, von denen mindestens Einer am Sitze der 
Behörde als Apothekenbesitzer ansässig sein muss 

Die Prüfungen werden in der zweiten Hälfte des Monates März, Juni, September und 
December jeden Jahres, an den von dem Vorsitzenden der im § 1 bezeichneten Aufsichts¬ 
behörde festzusetzenden Tagen abgebalten. 

Die Anträge auf Zulassung und Prüfung sind seitens des Lehrherm bei dem ge¬ 
dachten Vorsitzenden spätestens bis zum 15 des vorhergehenden Monats einzureichen. 

Der Meldung zur Prüfung sind beizufügen: 

1 Das Zeugnis über den in § 4 Nr. 1 der Bekanntmachung vom 5. März 1875 ge¬ 
forderten Nachweis der wissenschaftlichen Vorbildung; 

2. Das von dem nächstvorgesetzten Medicinalbeamten (Kreisphysikus, Kreisarzt u. s. w.) 
bestätigte Zeugnis des Lehrherrn über die Führung des Lehrlings, sowie darüber, dass der 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


letztere die vorschriftsmässige dreijährige — für den Inhaber eines znm Besuche der Uni¬ 
versität berechtigenden Zeugnisses der Reife, zweijährige — Lehrzeit zurückgelegt hat, 
oder doch spätestens mit dem Ablauf des betreffenden Prüfungsmonats zurückgelegt 
haben wird. 

3. Das Journal, welches jeder Lehrling während seiner Lehrzeit über die im Labo¬ 
ratorium unter Aufsicht des Lehrherm oder Gehilfen ausgeführten pharmaceutischen Ar¬ 
beiten fortgesetzt führen, und welches eine kurze Beschreibung der vorgenommenen Ope¬ 
rationen und der Theorie des betreffenden chemischen Processes enthalten muss (Labora¬ 
toriumsjournal) . 

Die Prüfung zerfällt in drei Abschnitte: 1. Die schriftliche Prüfung 2. die praktische 
Prüfung und 3. die mündliche Prüfung. 

Als Prüfungsgebühren sind 24 Mark zu entrichten. 

Für die gesammte Prüfung sind 2 Tage bestimmt. 

In der Regel dürfen nicht mehr als 4 Examinanden zu einer mündlichen Prüfung 
zugelas3en werden. 

Das Nichtbestehen der Prüfung hat die Verlängerung der Lehrzeit um 6—12 Monate 
zur Folge, nach welcher Frist die Prüfung wiederholt werden muss. Wer nach zweimaliger 
Wiederholung nicht besteht, wird zur weiteren Prüfung nicht zugelassen. 

Der Candidat hat 3 in Clausur und ohne Benutzung von Hilfsmitteln 
schriftlich zu bearbeitende Fragen und zwar je eine aus Physik, pharmaceuti- 
scher Chemie und Botanik oder Pharmakognisie zu bearbeiten. Er hat 
weiters 3 Recepte zu verschiedenen Arzneiformen zu lesen, lege artis anzu¬ 
fertigen und zu taxiren, dann ein leicht anzufertigendes galenisches und ein 
chemisch-pharmaceutisches Präparat der Pharmakopoe zu bereiten, zwei che¬ 
mische Präparate auf ihre Reinheit zu untersuchen, endlich in einer münd¬ 
lichen Prüfung, bei der er sein Herbarium vorzulegen hat. chemisch-phar- 
maceutische Präparate, rohe Drogen und getrocknete Pflanzen zu erkennen und 
zu erläutern, ferner seine Bekanntschaft mit der lateinischen Sprache, sowie 
mit den Grundlehren der Botanik, der pharmaceutischen Chemie und der 
Physik nachzuweisen. 

In Oesterreich wird die Ausbildung und Prüfung der Lehrlinge ge¬ 
regelt durch die Verordnung des Minist, d. Innern vom 9. Mai 1890. Danach 
sind in die Apothekerlehre nur solche Candidaten aufzunehmen, welche sich 
mit einem vom Amtsärzte ausgestellten Zeugnisse über ihre physische Eig¬ 
nung und mit einem staatsgiltigen Zeugnisse über die mit Erfolg abgelegte 
6 . Gymn. Classe oder einer Realschule (im letzteren Falle nebst separater 
Prüfung aus Latein) ausweisen. Die Lehrzeit ist mit 3 Jahren bemessen, für 
Candidaten mit Maturitätsprüfung auf 2 Jahre. Die Tirocinalprüfung ist so¬ 
fort nach Ablauf der vorgeschriebenen Lehrzeit abzulegen und das pharma- 
ceutische Universitätsstudium mit Beginn des Studienjahres, welches zunächst 
folgt, anzutreten. 

In Ungarn bestehen folgende Vorschriften, giltig vom 1. Jänner 1888. 
Dieselben sind hinsichtlich der Aufnahme und Lehrzeit dieselben wie in 
Oesterreich. Betreffs der abzulegenden Prüfung weichen sie jedoch erheblich 
ab. Die Prüfungen werden nämlich nur an den beiden Universitäten in 
Budapest und Klausenburg durch eigene, vom Unterrichtsminister ernannte 
Prüfungscommissionen vorgenommen. Die Commissionen bestehen aus je 
einem o. ö. oder a. o. Professor oder Privatdocenten der medicinischen und 
der philosophischen Facultät, die sich mit der Ausbildung der Pharmaceuten 
beschäftigen, und 2 auf Vorschlag des Landes-Apothekervereines vom Minister 
ernannten Apothekern. Die Mitglieder der Commission werden auf 3 Jahre 
ernannt. Die Prüfung besteht aus 2 Theilen, einem praktischen und einem 
mündlichen. Der Zweck der praktischen Prüfung ist, die Ueberzeugung zu 
verschaffen, ob der Lehrling eine gehörige Fertigkeit in der Bereitung von 
ärztlichen Recepten und in der Ausführung einfacherer chemischer Operationen 
besitzt. Die mündliche Prüfung dient zur Beurtheilung dessen, ob derselbe 
aus den vorgeschriebenen Studiumsgegenständen (Chemie, Botanik, Physik, 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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Pharmakopoe, Apothekenbuchführung) so viel Kenntnisse besitzt, als ein 
Apothekergehilfe zur Erfüllung seines Berufes und zur Fortsetzung seiner 
Universitätsstudien nothwendig hat. Die vorgeschriebene Gehilfenzeit beträgt 
2 Jahre und kann vor oder nach dem Universitätsstudium verbracht werden. 

Von diesen 3 Vorschriften über die Ausbildung und Prüfung der Aspi¬ 
ranten der Pharmacie ist diejenige Ungarns wohl die modernste und zweck¬ 
entsprechendste. Zu bemerken ist, dass in Oesterreich in den grösseren 
Städten (Wien, Prag, Lemberg) eigene, von den dortigen Apothekergremien 
erhaltene Fachschulen für die theoretische Ausbildung der Aspiranten be¬ 
stehen, welche sehr gute Erfolge haben. In Oesterreich und Ungarn schliesst 
sich unmittelbar an die Gehilfenprüfung (welche laut Ministerialverfügung dem 
Maturum gleich zu achten ist) das Hochschulstudium, während in Deutchland 
noch die veraltete, in Oesterreich-Ungarn bereits aufgehobene, Bestimmung 
besteht, dass der Apothekergehilfe zunächst eine mehrjährige Servirzeit 
(Conditionszeit) in öffentlichen Apotheken durchgemacht haben muss, 
bevor er zum Hochschulstudium zugelassen wird. Diese Bestimmung hatte in 
erster Linie wohl den Zweck dem angehenden Apotheker weitere praktische 
Kenntnisse zu verschaffen, aber auch den, den Apothekenbesitzern billige 
Arbeitskräfte zu ermöglichen. Durch diese lange Unterbrechung des Studiums 
wird jedoch erwiesenermaassen das bis dahin erworbene theoretische Wissen 
höchst ungünstig beeinflusst, so dass man in Oesterreich-Ungarn mit Recht 
davon abgekommen ist. Zweifellos wird auch Deutschland bald folgen. 

Das Hochschulstudium beträgt in Deutschland mindestens 3 Se¬ 
mester, in Oesterreich und Ungarn 4 Semester. Für die Approbation als 
Apotheker ist in Deutschland eine in 5 Abschnitte zerfallende Hauptprü¬ 
fung (Staatsexamen) abzulegen, bei welcher zunächst als Vorprüfung drei schrift¬ 
liche Clausurarbeiten über je eine Frage aus der anorganischen und orga¬ 
nischen Chemie, sowie aus Botanik und Pharmakognosie zu liefern sind. Dann 
werden in dem pharmaceutisch-technischen Prüfungsabschnitt zwei galenische 
und zwei chemisch-pharmaceutische Präparate angefertigt; sodann wird in dem 
analytisch-chemischen Prüfungsabschnitt eine qualitative, eine quantitative und 
eine Giftanalyse ausgeführt. In einem weiteren mündlichen pharmaceutisch- 
wissenschaftlichen Prüfungsabschnitt müssen 10 frische oder getrocknete offi- 
cinelle Pflanzen bestimmt und demonstrirt, sowie mindestens 10 rohe Drogen 
nach Abstammung, Verfälschung und pharmaceutischer Verwendung erläutert, 
endlich von vorgelegten Rohstoffen und chemisch-pharmaceutischen Präparaten 
Bestandteile, Darstellung und Verfälschung angegeben werden. Schliesslich 
wird in einer öffentlichen mündlichen Schlussprüfung ermittelt, ob der Can- 
didat in der Chemie, Physik und Botanik so gründlich ausgebildet ist, wie es 
sein Beruf erfordert, ferner ob er mit den das Apothekenwesen betreffenden 
gesetzlichen Bestimmungen gehörig vertraut ist. 

Die Approbationsbestimmungen in Deutschland sind nach der 
Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 5. März 1875 folgende: 

§ 4. Die Zulassung zur Prüfung ist bedingt durch den Nachweis: 

1. Der erforderlichen wissenschaftlichen Vorbildung. Der Nachweis ist zu fahren 
durch das von einer als berechtigt anerkannten Schule, auf welcher das Latein obliga¬ 
torischer Lehrgegenstand ist, ausgestellte wissenschaftliche Qualificationszeognis für den 
einjährig-freiwilligen Militärdienst. Ausserdem wird zur Prüfung nur zagelassen, wer auf 
einer anderen als berechtigt anerkannten Schule dies Zeugnis erhalten hat, wenn er 
bei einer der erstgedachten Anstalten sich noch einer Prüfung im Latein unterzogen hat 
und auf Grund derselben nachweist, dass er auch in diesem Gegenstände die Kenntnisse 
besitzt, welche behufs Erlangung der bezeichneten Qualification erfordert werden; 

2. der nach einer dreijährigen, für die Inhaber eines zum Besuche einer deutschen 
Universität berechtigenden Zeugnisses der Reife, zweijährigen Lehrzeit, vor einer deutschen 
Prüfungsbehörde abgelegten Gehilfenprüfung und einer dreijährigen Servirzeit, von 
welcher mindestens die Hälfte in einer deutschen Apotheke zugebracht sein muss; 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


3. eines durch ein Abgangszeugnis als vollständig bescheinigten Universitäts¬ 
studiums von mindestens drei Semestern. 

Dem Besuche einer Universität steht der Besuch der pharmaceutischen Fachschule 
bei der herzoglich braunschweigischen polytechnischen Schule (Collegium Carolinum), sowie 
der Besuch der polytechnischen Schulen zu Stuttgart, Karlsruhe und Darmstadt gleich. 

Oesterreich. Das Hochschulstudium der Pharmaceuten regelt die pharma- 
ceutische Studien- und Prüfungsordnung vom Jahre 1889 (Erlass des Ministers 
für Cultus und Unterricht vom 16. December 1889). Die Gegenstände, welche die Studiren- 
den der Pharmacie zu frequentiren haben, sind: im I. Jahre u. zw. im Wintersemester: 
Physik und specielle Botanik je ö Stunden, im Sommersemester allgem. Botanik wöchent¬ 
lich 3 Stunden, Uebungen im Bestimmen der Pflanzen wöchentlich 2 Stunden und Uebun- 
gen in der ehern. Analyse wöchentlich 15 Stunden; ferner allgemeine (anorganische und 
organische) Chemie in beiden Semestern wöchentlich 5 Stunden. — Im II. Jahre: Pharma¬ 
kognosie im Wintersemester wöchentlich 5 Stunden, pharmaceutische Chemie im Winter¬ 
semester wöchentlich 4 Stunden, oder im Sommersemester wöchentlich 5 Stunden, Uebun- 
gen in der ehern. Analyse im Wintersemester wöchentlich 15 Stunden, dann Uebungen in 
der Pharmakognosie mit Anwendung des Mikroskopes im Sommersemester wöchentlich 
10 Stunden, endlich Uebungen in der pharmaceutischen Chemie und in der angewandten 
ehern. Analyse im Sommersemester wöchentlich 15 Stunden. — Zur Erlangung des Diplo¬ 
mes haben die Candidaten 3 Vorprüfungen und 1 strenge Prüfung (Rigorosum) abzulegen. 
Die Vorprüfungen werden aus Physik, Botanik und allgemeiner Chemie abgelegt. Das 
Rigorosum besteht zunächst aus je einer praktischen Prüfung aus der analytischen und 
pharmaceutischen Chemie und aus Pharmakognosie mit Anwendung des Mikroskopes, 
dann aus einer theoretischen Gesammtprüfung. Gegenstände der letzteren sind: 1. allge¬ 
meine und pharmaceutische Chemie 2. Pharmakognosie. Dem bei dem Rigorosum appro- 
birten Candidaten wird das Diplom eines Magisters der Pharmacie überreicht. Jenen Ma¬ 
gistern der Pharmacie, welche den Doctorgrad der Philosophie rite erworben haben, ist 
es gestattet, den Titel „Doctor der Pharmacie“ zu führen. 

Ungarn, Die Universitätsausbildung dauert 2 Jahre. Die Lehrgegenstände sind 
folgende: I. Jahr im 1. Semester: wöchentlich je 5 Stunden Physik, Zoologie und Mine¬ 
ralogie; im 2. Semester: wöchentlich 15 Stunden Uebungen im chemischen Laboratorium; 
in beiden Semestern 5 Stunden allgemeine und Experimental-Chemie (anorganischer und 
organischer Theil) und 5 Stunden theoretische und praktische Botanik mit Pflanzenbestim¬ 
mungen und Uebungen in der Pflanzen-Anatomie (Gewebelehre). — II. Jahr, 1. Semester: 
wöchentlich je 5 Stunden Pharmakognosie und analytische Chemie, 3 Stunden Hygiene, 
15 Stunden analytische Chemie (Uebungen). 2 Semester: wöchentlich 6 Stunden pharma¬ 
ceutische Chemie, 15 Stunden pharmaceutisch-chemische Uebungen und 10 Stunden phar- 
makognostische Uebungen. Zur Erlangung des pharmaceutischen Magistergrades sind 
3 Vorprüfungen und 2 Rigorosen erforderlich. Die Vorprüfungen werden abgelegt aus: 
Physik (am Ende des 1.), aus Chemie und Botanik (am Ende des 2. Semesters des 1. Jahres). 
— Von den Rigorosen ist das 1. eine praktische, das 2. eine theoretische Prüfung. Das prak¬ 
tische Rigorosum wird am Ende des 4. Semesters abgelegt. Der Candidat hat eine qua¬ 
litative oder eine einfachere quantitative Analyse auszuführen, ferner ein chemisches oder 
pharmaceutisches Präparat nach der ungarischen Pharmakopoe zu bestimmen und auf 
Identität und Reinheit zu prüfen, endlich aus der Pharmakognosie eine oder mehrere 
Arzneiwaaren zu bestimmen, auf Reinheit zu prüfen und mikroskopisch zu untersuchen. 
Das Resultat der Untersuchung hat der Candidat in einer kurzen schriftlichen Abhandlung 
vorzulegen. — Die theoretische mündliche Prüfung umfasst die allgemeine und pharma¬ 
ceutische Chemie, die Pharmakognosie und die pharmaceutische Praxis. — Um das Doctorat 
der Pharmacie zu erlangen, muss der Candidat ein Maturitätszeugnis besitzen, den Grad 
eines Magisters der Pharmacie erlangt haben, hierauf noch 1 Jahr in den chemisch-phar- 
makognostischen und hygienischen Instituten arbeiten und eine Dissertation ausarbeiten. 

Die Vereidigung des Apothekers wird entweder (wie in Oesterreich 
und Ungarn) gleich nach beendigter Schlussprüfung, oder aber, wo sie 
überhaupt besteht, erst dann vorgenommen, wenn der Betreffende die selbst¬ 
ständige Leitung einer Apotheke übernimmt. 

In Oesterreich und Ungarn erlangt der Apotheker durch das 
Diplom als Magister der Pharmacie noch nicht die Berechtigung zur selbst¬ 
ständigen Leitung einer Apotheke, um diese zu erlangen muss vielmehr erst 
die vorgeschriebene Conditionszeit in öffentlichen Apotheken folgen, 
welche in Oesterreich 5 Jahre, in Ungarn 2 Jahre beträgt. 

Die wesentlichsten Bestimmungen über die pharmaceutische Ausbildung 
in den übrigen Staaten Europas sind folgende: 

England. Eine obligatorische Lehr- und Gehilfenzeit gab es bis vor 
kurzem in England nicht, ebensowenig ein obligates Hochschulstudium. Der 


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junge Mann, der sich der Pharmacie widmete, trat in eine Apotheke als Lehr¬ 
ling. Vorher hatte er gewöhnlich noch eine Vorprüfung (preliminary exami- 
nation) abzulegen, falls er sich nicht mit Schulzeugnissen ausweisen konnte, 
dass er namentlich Latein gelernt hat. Hierauf folgte die Minor- und die 
Major-Examination. 

Nach dem Prüfungsreglement, welches am 1. Jänner 1890 in Kraft trat, 
soll die bisherige kleine Prüfung (minor examination) in drei besondere Ab¬ 
schnitte oder Theile zerfallen, deren erster (Schulprüfung, umfassend Latein, 
Englisch, Rechnen) beim Eintritt in die Pharmacie, deren zweiter, eine schrift¬ 
liche Prüfung in Pharmacie, pharmaceutischer und allgemeiner Chemie und 
Uebersetzung von Recepten erst nach dem Nachweis der Absolvirung einer 
dreijährigen Lehrzeit, und deren dritter, eine mündliche und praktische Prüfung 
in Botanik, Materia medica, Chemie und Recepturkunde erst dann abgelegt 
werden darf, wenn der Candidat die Absolvirung je eines Universitätscurses 
in Botanik, Chemie, Materia medica und eine praktische Beschäftigung im 
Universitätslaboratorium nachgewiesen hat. Zwischen der Ablegung des 
zweiten und dritten Prüfungsabschnittes muss mindestens ein Zwischenraum 
von einem Jahre liegen. Die Ablegung der „minor examination“ berechtigt 
zur selbständigen Ausübung des pharmaceutischen Berufes, ausserdem ist 
aber noch eine „major examination“ eingeführt, eine ausgedehntere Prüfung 
in Botanik, materia medica, Physik und allgemeiner Chemie, deren Bestehung 
das Recht zur Führung des Titels als „Pharmaceutical Chemist“ verleiht. 

Schweiz. Ein einheitliches Prüfungsreglement für Medicinal- 
personen ist unterm 2. Juli 1870 erschienen, welches für Apotheker eine 
Gehilfen- und eine Fachprüfung einsetzt und die Zulassung zu ersterer von 
dem Nachweise des Abgangszeugnisses der zweiten Classe eines Obergym¬ 
nasiums, oder der obersten Classe einer höheren Realschule, sowie einer drei¬ 
jährigen Lehrzeit abhängig macht. Ausländern oder Schweizern, welche 
sich über eine in einem anderen Staate abgelegte entsprechende Prüfung aus- 
weisen, kann nach Art. 56 von den cantonalen Behörden die Licenz zur Be¬ 
kleidung einer Gehilfenstelle ertheilt werden, jedoch gibt diese Licenz keine 
Berechtigung zur Anmeldung zur Fachprüfung. Zur Zulassung zu letzterer 
berechtigt nach Art. 57 der Nachweis der bestandenen Gehilfenprüfung, einer 
einjährigen Conditionszeit und eines Universitätsstudiums von mindestens vier 
Semestern. 

Die pharmaceutische Fachprüfung ist eine praktische (Darstellung zweier 
chemisch-pharmaceutischer Präparate, qualitative und quantitative Analyse, 
mikroskopische Bestimmung einiger Substanzen, Ausführung einer schriftlichen 
, Arbeit) und eine mündliche (Botanik, Physik, Mineralogie, theoretische Chemie 
Chemie der officinellen Präparate, analytische und forensische Chemie, Hy¬ 
giene und Sanitätspolizei, Pharmakognosie, Pharmacie). 

Ausländer, welche in der Schweiz die Pharmacie selbständig ausüben, 
wollen, müssen den hiefür gestellten Anforderungen voll und ganz entsprechen, 
also die Schweizer Approbationsprüfung abgelegt haben. Nur im Canton Genf 
werden auch die Besitzer ausländischer Approbationen zugelassen. 

Holland. Das Gesetz vom 25. Dec. 1878 bestimmt über die pharma¬ 
ceutische Ausbildung Folgendes: 

§ 11. Der Titel als Apotheker verleiht die Befähigung zur Ausübung der Arznei¬ 
bereitungskunst und wird erworben durch die Ablegung eines praktischen Apothekerexa¬ 
mens. ln diesem Examen werden genügende Beweise praktischer Kenntnisse in der Arznei¬ 
bereitungskunst und der chemischen Analyse, in der Apotheke wie im Laboratorium ge¬ 
fordert. Vor der Zulassung zum Examen muss die Erklärung eines inländischen Apo¬ 
thekers beigebracht werden, dass der Candidat wenigstens 2 Jahre unter Leitung eines 
Apothekers die Arzneibereitungskunst ausgeübt hat. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


§ 12. Zar Ablegung des praktischen Apothekerexamens sind nar diejenigen betagt: 
a) die in Art. 96 des Gesetzes vom 28. April 1867 genannt sind, so weit dessen Bestim¬ 
mungen mit den vorliegenden übereinstimmen; b] die das im § 13 genannte theoretische 
Examen mit Erfolg abgelegt haben. 

§ 13. Das theoretische Apothekerexamen umfasst: Arzneibereitungskunst, Toxikologie 
und analytische Chemie. 

§ 14. Berechtigt zur Abnahme von theoretischen Prüfungen und zur Ertheilung von 
Approbationen an diejenigen, welche die Prüfung mit Erfolg bestanden haben, sind die 
naturwissenschaftlichen Facultäten der Landesuniversitäten. Vor der Ablegung der Prüfung 
wird an den Vorsitzenden die Summe von 50 fl. gezahlt. 

§ 15. Berechtigt zur Ablegung der theoretischen Prüfung sollen nur diejenigen sein, 
die mit Erfolg das im § 4 genannte erste naturwissenschaftliche Examen abgelegt, oder 
sonst Beweise ihrer naturwissenschaftlichen Kenntnisse gegeben haben. 

(Das erste naturwissenschaftliche Examen umfasst: Naturkunde, Chemie und Bo¬ 
tanik. Zur Ablegung desselben sind nur berechtigt: a) die auf einem Gymnasium mit 
sechsjährigem Cursus die Uebergangsprüfung von der vierten und fünften Classe mit Er¬ 
folg abgelegt, oder den Unterricht der höchsten Classe eines Progymnasiums mit Erfolg 
genossen haben b) die Abgangsprüfung von einer höheren Bürgerschule bestanden haben, 
c)die auf andere noch näher zu bestimmende Weise ihre Berechtigung zur Zulassung zu 
dem naturwissenschaftlichen Examen nachgewiesen haben.) 

§ 17. Als Apothekerbedienstete mit gleichen gesetzlichen Rechten und Pflichten als 
die der Apothekergehilfen können diejenigen zugelassen werden, die nach beendetem 18. 
Lebensjahre mit gutem Erfolge eine Prüfung abgelegt haben, in der genügende Beweise 
der zur Anfertigung von Recepten erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten gefordert 
werden. 

Um das Doctorat der Pharmacie zu erwerben, muss der Candidat das Gym¬ 
nasium absolvirt haben und eine Vorprüfung (die „Candidatur“) aus Physik, Chemie, Bo¬ 
tanik, Geologie und Mineralogie ablegen. Die Hauptprüfong, das Doctorat besteht aus 2 
Prüfungen: 1. pharm. Chemie, pharm. Naturwissenschaften (Botanik, Zoologie etc.), Toxi¬ 
kologie und analytische Chemie. 2. Bestimmung vorgelegter Objecte. Ausserdem muss der 
Candidat eine Dissertation verfassen, hierauf kann er promoviren. Um das Recht zur Aus¬ 
übung der Pharmacie zu erlangen, muss jedoch auch der Doctor der Pharmacie das vor¬ 
geschriebene Staatsexamen für Apotheker (die oben erwähnte theoretische und praktische 
Prüfung) ablegen. 

Frankreich. Es gibt 2 Classen von Apothekern, solche 1. Classe und 
solche 2. Classe. Ausserdem gibt es noch „Pharmaciens superieurs“ (höhere 
Pharmaceuten), welche den Doctoren der Pharmacie anderer Staaten gleich¬ 
kommen. 

Die Apotheker erster Classe müssen das ganze Gymnasium absolvirt und 
Matura gemacht haben, die Apotheker zweiter Classe haben eine geringere 
Vorbildung (entsprechend dem Untergymnasium). Die Lehrzeit in einer 
Apotheke beträgt 3 Jahre, worauf eine Gehilfenprüfuug abgelegt wird. Die 
„Ecole de pharmacie“ ist hierauf ebenfalls drei Jahre lang zu hören; das 
Examen kann nicht vor vollendetem fünfundzwanzigsten Lebensjahre gemacht 
werden. 

Um den Titel Apotheker 2. Classe zu erlangen muss der Candidat 3 Prü¬ 
fungen über folgende Gegenstände ablegen: 1. Physik, Chemie, Toxikologie, * 
Pharmacie, 2. Botanik, Zoologie, Naturgeschichte der einfachen Drogen, Hy¬ 
drologie und Naturgeschichte der Mineralien 3. Eine praktische Arbeit, zwei 
mündliche Vorträge. — Um Apotheker 1. Classe zu werden macht der Can¬ 
didat dieselben Studien, muss jedoch das Baccalaureat haben und unbedingt 
die Studien an einer Hochschule (ecole superieur de pharmacie in Montpellier, 
Nancy und Paris) oder an einer gemischten Facultät für Medicin und Phar¬ 
macie machen. — Um den Grad eines pharmacien superieur zu erlangen muss 
man Apotheker 1. Classe und „licence en Sciences physiques ou naturelles“ 
(in Naturwissenschaften diplomirt) sein oder an einer pharm. Hochschule oder 
einer gemischten Facultät ein 4. Jahr frequentiren und eine Prüfung aus 
Physik und Naturwissenschaften ablegen. 

Belgien. Der pharm. Unterricht wird an den Universitäten ertheilt 
u. zw. an eigenen Abtheilungen der medicinischen Facultäten. An der Uni¬ 
versität in Brüssel trägt diese Abtheilung den Titel „ecole de pharmacie.“ 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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Das Studium dauert im Allgemeinen 4 Jahre u. zw. wird nach den ersten 
2 Jahren eine Prüfung für die „Candidatur der Pharmacie“ abgelegt aus fol¬ 
genden Gegenständen: Botanik, Chemie, Physik, Mineralogie und Geologie, 
ferner aus praktischer Chemie. Zum Apotheker-Examen wird man zugelassen 
nach Vorweisung des Diploms als Candidat der Pharmacie oder als Candidat 
der Naturwissenschaften (bei diesen wird über Naturwissenschaften etwas ein¬ 
gehender geprüft). Das Examen besteht aus einer theoretischen (Pharma¬ 
kognosie, Verfälschungen und Maximaldosen, Elemente der analytischen 
Chemie und Toxikologie, pharm. Technik und theoretische Pharmacie) und 
einer praktischen (Darstellung von 2 Präparaten, Nachweis von 2 Verfälschungen 
in Lebensmitteln, eine toxikolog. Analyse und eine mikroskopische Unter¬ 
suchung) Prüfung. Das Doctorat der pharmaceutischen Wissenschaften wird 
von den medicinischen Facultäten der Staats-Universitäten an Jene verliehen, 
die sich dem pharmaceutischen Unterrichte widmen wollen. Zur Erlangung 
dieses Doctorates muss man 2 Jahre diplomirter Apotheker sein und eine 
Inauguraldissertation ausarbeiten, sowie eine Prüfung aus den pharmaceut. 
naturwissenschaftlichen Fächern ablegen. 

Italien. Der pharmaceutische Unterricht dauert 3 Jahre, worauf die Lehr¬ 
zeit von einem Jahre in einer vom Rector der betreffenden Universität be¬ 
stimmten Apotheke folgt. Der pharmaceutische Unterricht wird an eigenen 
Abtheilungeu (pharmaceutische Schulen genannt) der Universitäten ertheilt. 
Das I. Examen (Licenza) wird in 2 Abtheilungen abgelegt: 1. Physik, allge¬ 
meine Chemie, 2. Botanik, Mineralogie, Geologie und Zoologie. Ein Jahr nach Er¬ 
halt der „Licenza“folgt das II. Examen (Promotion) über pharmceutische Chemie, 
Materia medica, Toxikologie, hierauf praktische Arbeiten. Um das Doctorat 
der Pharmacie zu erlangen, müssen die Candidaten als Vorbildung die „Li¬ 
cenza liceale“ (eine Art Matura), hierauf die 3 Studienjahre und die beiden 
Examina zur Erlangung des Apothekerdiploms aufweiseu und dann nach 
2 weiteren Studienjahren eine praktische und mündliche Schlussprüfung able¬ 
gen. Ausserdem muss eine Dissertation ausgearbeitet werden. 

Ein Entwurf, welcher der Depntirtenkammer unlängst vorgelegt wurde, bezweckt eine 
Neuregelung der Bestimmungen über die pharm. Ausbildung und die Ausübung der Phar- 
macie. Nach demselben sollen zwei Classen von Apothekern gebildet werden: 1. Land¬ 
apotheker, welche das Diplom auf Grund eines Staatsexamens erhalten haben, 2. Apothe- 
kerdoctoren (dottori-farmacisti), welche die Doctorwürde in Chemie und Pharmacie an einer 
Universität des Staates erlangt haben. Die Landapotheker sollen das Gewerbe nur in den¬ 
jenigen Landgemeinden ausüben dürfen, welche vom Ministerium des Innern für diesen 
Zweck bezeichnet sind. Der Aspirant auf diese Prüfung muss das 21. Jahr vollendet, ein 
Gymnasium oder eine Realschule absolvirt nnd eine Lehrzeit von einem Jahr in einer der 
vom Präfecten für die betreffende Provinz bezeichneten Apotheken durchgemacht haben. 
Die jetzigen sogenannten „assistenti-farmacisti“ können zu der Staatsprüfung zugelassen 
werden, anch wenn sie nicht die vorgeschriebene Schulbildung besitzen, falls sie sich einer 
wissenschaftlichen Prüfung unterziehen. 

Spanien. Der pharmaceutische Unterricht wird an eigenen pharmaceuti¬ 
schen Facultäten an den Universitäten ertheilt. Zur Erlangung des Diplomes 
muss der Pharmaceut mindestens 4 Jahre (meistens 5 bis 6 Jahre) lang die 
Universität hören, zu deren Besuch man aber ohne Mittelschulstudium berech¬ 
tigt ist, man hat nur eine Aufnahmsprüfung zu machen. Während der ersten 
2 Jahre des Universitätsstudiums erlernt der Candidat die Pharmacie auch 
praktisch in einer Apotheke. Zur Erlangung des Doctorates der Pharmacie 
ist noch ein weiteres Universitätsjahr nöthig, in welchem u. A. auch die 
Geschichte der Pharmacie studirt werden muss. 

Das Doctorat kann nur an der Madrider Universität erlangt werden. 

Norwegen. Die Pharmaceuten haben zwei Prüfungen abzulegen. Die 
Gehilfenprüfung nach drei Jahren Lehrzeit und das Apothekerexamen nach 
einem Jahr Servirzeit und einem willkürlichen Universitätsstudium. In einigen 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


Jahren soll eine pharm aceutische Hochschule in Christiania errichtet werden 
und zu dem Zwecke werden alle persönlich concessionirten Apotheker ver¬ 
pflichtet, eine Unterrichtssteuer von 40 bis 400 Kronen jährlich zu zahlen. 

Bevor examinirte Apotheker entweder als Provisoren angestellt werden 
können oder ein Realprivilegium ankaufen dürfen, müssen sie noch zwei Jahre 
nach absolvirter Staatsprüfung serviren. 

Sowohl die Gehilfenprüfungs- als die Apothekerexamens-Commission haben 
ihren Sitz in Christiania. 

Griechenland. Zur Ausbildung von Pharmaceuten sind nebst 3 Jahren 
Vorschule, 4 Jahrgänge des Gymnasiums vorgeschrieben, worauf eine ein¬ 
jährige Praxis und dann — nach bestandener Aufnahmsprüfung — ein drei¬ 
jähriger Universitätsbesuch folgt, welcher auch die chemischen und pharma- 
ceutischen praktischen Uebungen in sich schliesst. Nach absolvirten Univer¬ 
sitätsstudien und bestandenem Examen erhält man das Diplom als Apotheker; 
sechs Monate später hat man noch ein zweites, theoretisch-praktisches Examen 
zu machen, worauf man erst die Erlaubnis zur Ausübung der Pharmacie erhält. 

Russland. Um in die Lehre in eine Apotheke eintreten zu dürfen, muss 
die betreffende Person 4 Classen eines lateinischen Gymnasiums besucht hahen 
oder ein Zeugnis eines abgelegten Externalexamens vorlegen. Diese For¬ 
derungen sind für Tironen weiblichen und männlichen Geschlechtes gleich. 
In einer Apotheke muss der Discipel 3 Jahre prakticiren. Dabei wird nur 
die volle 6monatliche Praxis in einer und derselben Apotheke angerechnet. 
Nach Ablauf dieses 3jährigen Dienstes kann sich der Discipel einem Examen 
in einer der medicinischen Facultäten irgend einer Universität oder an der 
St. Petersburger medicinischen Academie unterwerfen. Die Prüfung ist theore¬ 
tisch (in der Chemie, Pharmacie, Pharmakognosie, Botanik u. s. w.) und prak¬ 
tisch, wozu unter Anderem einige chemisch-pharmaceutische Präparate ver¬ 
fertigt werden müssen. Hat der Tiro das Examen bestanden, dann bekommt 
er ein Diplom eines Apothekergehilfen und wird, falls er nicht adelig ist, 
Ehrenbürger. Als Gehilfe muss der junge Mann 3 Jahre in einer normalen 
Apotheke prakticiren, oder er kann eine Filialapotheke verwalten, die Ver¬ 
waltung einer Dorfapotheke wird ihm nicht gerechnet. Nach Ablauf dieser 
Zeitperiode kann er auf eine Universität gehen, wo er 2 Jahre (in Dorpat 
(Jurjew) waren bis vor Kurzem nur l l /a Jahren nöthig) als Hörer studirt. 
Wir entnehmen dem Programm der Moskauer Universität die zum Provisor¬ 
examen gehörenden Disciplinen: Zoologie, gerichtliche Chemie, Mineralogie, 
organische Chemie, Physik, Pharmakologie und Toxikologie, unorganische 
Chemie, Pharmakognosie, Pharmacie und Botanik, ausserdem muss der Provi- 
sorant auch im Laboratorium der Universität thätig sein und zum Examen 
mehrere praktische Prüfungen bestehen. Provisoren, die das Examen gut be¬ 
standen haben, erhalten nach einer nochmaligen Prüfung (theoretisch und 
praktisch) und nach Vertheidigung einer Dissertation den Grad eines Ma¬ 
gisters der Pharmacie, der höchste auf diesem Gebiete in Russland. Um eine 
Apotheke zu verwalten, muss der Magister respective Provisor 25 Jahre alt 
sein. Nur der Minister des Innern kann einem jüngem Pharmaceuten eine 
Apotheke zu verwalten gestatten. 

Das oben angeführte bezieht sich nur auf die männlichen Pharmaceuten, 
die weiblichen können nur den Grad eines Gehilfen erreichen, da sie zur 
Universität nicht zugelassen werden, was zum Provisorexamen durchaus noth- 
wendig ist. Es ist zu erwarten, dass mit der Eröffnung des weiblichen medi¬ 
cinischen Instituts in Petersburg im Jahre 1897 die weiblichen Gehilfen das 
Recht erhalten werden, das Provisorexamen abzulegen. Ausserdem ist noch 
zu erwähnen, dass mit den Frauen noch eine Ausnahme gemacht wird: sie 
dürfen in der Apotheke nur den Tag über beschäftigt sein, wogegen den 
Nachtdienst nur die Männer halten dürfen. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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Apotheken-Gesetzgebung. 

Errichtung, Betrieb und Controle der Apotheken. Die gesetzlichen 
Bestimmungen, die das Apothekenwesen regeln, sind in den einzelnen Staaten 
Europas sehr verschieden. Während in manchen Staaten der Betrieb der 
Apotheken an bestimmte Privilegien und Concessionen gebunden ist, die der 
approbirte (diplomirte) Apotheker erst erwerben muss, ist er in anderen wieder 
ganz frei gegeben, so dass das Apothekenwesen ein freies Gewerbe bildet, 
dessen Ausübung jedoch nur durch gelernte Apotheker erfolgen kann, die die 
vorgeschriebenen Prüfungen abgelegt haben. Welches System für den richtigen 
Betrieb der Apotheken besser ist, welches grössere Garantieen für die Er¬ 
reichung des sanitären Zweckes, dem die Apotheken dienen: jederzeit und 
für jedermann stets Arzneien in tadelloser Beschaffenheit vorräthig zu halten 
und kunstgerecht abzugeben, bietet, ist äusserst schwer zu sagen. Anscheinend 
würde wohl der staatliche Schutz der Apotheke nebst entsprechender wissen¬ 
schaftlicher Ausbildung die grösste Gewähr dafür bieten, aber unter diesem 
Schutze haben sich Verhältnisse herausgebildet, welche in den meisten 
Staaten, die das Privilegien- und Concessionssystem haben, einfach unhaltbar 
geworden sind und von Tag zu Tag dringender Abhilfe verlangen. Andererseits 
ist es ganz gut denkbar und durch die Erfahrung erwiesen, dass bei strengen 
Anforderungen in Bezug auf die wissenschaftliche Ausbildung auch die Nieder¬ 
lassungsfreiheit mit einem allen Anforderungen entsprechenden Apotheken¬ 
betriebe vereinbar ist. Auch die wissenschaftliche Stufe der Pharmacie ist 
in jenen Ländern, wo ihre Ausübung frei gegeben ist, im Ganzen keineswegs 
eine niedrigere, als in den Ländern mit staatlicher Beschränkung, wenn auch 
zugegeben werden muss, dass die Durchschnittsapotheke in den Staaten mit 
freier Pharmacie heute immer mehr zu einer einfachen Handlung mit Arznei- 
waaren und Patentmedicinen herabgesunken ist. 

In den meisten Staaten Europas unterliegen die Apotheken einer staat¬ 
lichen Beaufsichtigung, mit welcher eine zeitweilige Revision derselben ver¬ 
bunden ist. Die Apotheken-Revision hat den Zweck die richtige Ein¬ 
richtung und Ausstattung der Apotheken und ihre vorschriftsmässige Führung 
durch Organe des Staates zu controliren. Sie erstreckt sich demgemäss auf 
die Gesammteinrichtung der Apotheke, auf die Officin und die dazu gehörigen 
Räume (Laboratorium, Materialkammer, Kräuterboden, Keller), welche be¬ 
stimmten Anforderungen entsprechen müssen, auf die Beschaffenheit und 
richtige Aufbewahrung der vorräthig gehaltenen Arzneien, welche den An¬ 
forderungen der Pharmakopoe entsprechen müssen, auf die allgemeine Rein¬ 
lichkeit und Sauberkeit, auf die richtige Führung der Bücher, auf die richtige 
Taxirung der Recepte nach der Arzneitaxe (wo eine solche besteht), auf die 
Einhaltung der Vorschriften hinsichtlich der Aufbewahrung der Gifte und 
starkwirkenden Stoffe, sowie auf die vorschriftsmässige Beschaffenheit der 
Waagen und Gewichte; endlich auf das in den Apotheken zur Verwendung 
gelangende Hilfspersonale. 

Die Apotheken-Visitation gehört meist zu den Agenden der Amtsärzte. 
In grösseren (Universitäts-) Städten bestehen auch eigene Commissionen dafür. 
Diesen sowohl als den einzelnen Amtsärzten sind meist Apotheker als Sachver¬ 
ständige beigegeben. Richtiger und zweckentsprechender wäre es wohl, wenn die 
Visitationen von eigens dazu angestellten „Apotheken-Inspectoren“ (Apothekern), 
wie solche seit einiger Zeit in Belgien fungiren, ausgeführt würden, da der 
Arzt doch niemals ein solches Verständnis für die Einzelheiten des Apotheken¬ 
betriebes haben kann, wie es im Interesse einer strengen und gerechten 
Controle wünschenswerth wäre. Die Institution derartiger Apothekeninspectoren, 
die unmittelbar der betreffenden Medicinalbehörde untergestellt sein müssten, der 
das Apotheken wesen untersteht, wäre gewiss geeignet das Apotheken wesen 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Medicin. 4 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


zu fördern, ebenso wie die in neuerer Zeit geltend gemachte Forderung der 
pharmaceutischen Kreise, dass bei den Centralbehörden, denen das Apotheken¬ 
wesen untersteht, Vertreter des Apothekerstandes anzustellen sind. Der 
Anfang wurde kürzlich in Preussen gemacht mit einem Apotheker-Beirath, 
der dem Ministerium für Cultus- und Medicinalangelegenheiten beigegeben 
wurde. Dieser Apothekerrath, wie seine officielle Bezeichnung lautet, 
erhielt folgende Geschäftsordnung: 

§ 1. Der Apothekerrath ist eine berathende Behörde. Er hat die Aufgabe, der 
Med.-Verwaltung in Organisation- und Verwaltungsfragen, welche das Apothekerwesen be¬ 
treffen, als Beirath zu dienen und Gutachten zu erstatten. Demgemäss hat der Apotheker¬ 
rath: 1. über alle ihm von dem Minister der Med.-Angelegenheiten vorgelegten Verhand¬ 
lungen, Vorschläge oder Fragen sich gutachtlich zu äussem. 2. Aus eigenem Antriebe dem 
Minister Vorschläge zur Abstellung von Mängeln in Bezug auf das Apothekerwesen zu 
machen, auch neue Maassnahmen in Anregung zu bringen, welche ihm geeignet erscheinen, 
das Apothekerwesen zu fördern. — § 2. Der Apothekerrath besteht: 1. Aus dem Director 
der Med. Abtheilung des Ministeriums der geistlichen etc. Angelegenheiten als Director; 
2. aus den technischen Vortragenden Räthen der Medicinalabtheilung; 3. aus vier Apo¬ 
thekenbesitzern; 4. aus vier approbirten, nichtbesitzenden Apothekern als Mitgliedern. Der 
Director wird vom König, die Mitglieder werden vom Minister der Med.-Angelegenheiten 
ernannt, und zwar diejenigen aus dem Apothekerstande auf die Dauer von fünf Jahren. 
Der Director und die Mitglieder werden bei ihrer Einführung mit Verweisung auf die sonst 
etwa geleisteten Amtseide durch Handschlag auf die Erfüllung ihrer Amtspflichten, ins¬ 
besondere auf die Pflicht der Amtsverschwiegenheit, verpflichtet. — § 3. Der Director 
und die in Berlin wohnhaften Mitglieder erhalten keine Besoldung oder Entschädigung, die 
auswärtigen Mitglieder dagegen Tagegelder und Reisekosten nach den diesbezüglich bestehen¬ 
den Verordnungen. — § 4. Der Apothekerrath wird von dem Minister der Med .-Angelegen¬ 
heiten in der Regel jährlich einmal berufen. Der Director erlässt die erforderlichen Ein¬ 
ladungen zu den Sitzungen. Das Nichterscheinen eines Mitgliedes bedarf einer Entschul¬ 
digung mit Angabe des Behinderungsgrundes. — § 6. Der Apothekerrath ist beschlussfähig, 
wenn ausser dem Director oder seinem Stellvertreter und einem der technischen Vortragen¬ 
den Räthe mindestens vier der Mitglieder aus dem Apothekerstande anwesend sind. — 
§ 6. Die Beschlüsse des Apothekerrathes werden durch Stimmenmehrheit gefasst. Bei 
Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Directors. — § 7. Der Director regelt den 
Geschäftsgang des Apothekerrathes. Er hat dabei die von dem Minister der Med.-Ange¬ 
legenheiten getroffenen Bestimmungen genau zu beachten. In Behinderungsfällen wird er 
durch den anwesenden dienstältesten technischen Vortragenden Rath vertreten, sofern 
seitens des Ministers nicht anderweitige Verfügung getroffen wird. Alle Anträge auf Er¬ 
stattung von Gutachten oder auf Aeusserung über zweifelhafte Fragen, welche von Privat¬ 
personen an den Apothekerrath oder den Director gelangen, sind dem Minister zur Ver¬ 
tilgung vorzulegen. — § 8. Die Aufträge, welche der Minister der Med.-Angelegenheiten dem 
Apothekerrathe ertheilt, werden an den Director abgegeben. Der Director überträgt die 
schriftliche Bearbeitung je zwei Mitgliedern als Referenten und Correferenten und sorgt 
für die Erledigung. Die von dem Minister dem Apothekerrathe zur Berathung überwie¬ 
senen Vorlagen werden nebst den Referaten vervielfältigt und den Mitgliedern vor der 
Sitzung zugestellt. In der Sitzung trägt der Referent das von ihm verfasste Referat vor, 
der Correferent nur die von ihm etwa zu machenden Aenderungsvorschläge. Keine Sache 
darf ohne Vortrag erledigt werden. § 9. Ueber die Verhandlungen in den Sitzungen des 
Apothekerrathes ist ein Protokoll zu führen. Dasselbe muss den wesentlichen Inhalt der 
Berathungen und die gefassten Beschlüsse nach ihrem Wortlaute enthalten. Das Protokoll 
ist nach Abschluss der Verhandlungen von einer Commission zu redigiren und zu unter¬ 
schreiben; diese Commission besteht aus dem Director, dem Protokollführer und einem von 
dem Director zu bestimmenden Mitgliede des Apothekerrathes. Einwendungen gegen das 
Protokoll können bei dem Director angebracht werden. — § 10. Nach Abschluss der Ver¬ 
handlungen des Apothekerrathes überreicht der Director mittelst Berichtes dem Minister 
der Med.-Angelegenheiten die beschlossenen Gutachten und Anträge nebst den Protokollen. 
Diese und die sonstigen Schriftstücke werden in der Registratur der Med.-Abtheilung des 
Ministeriums aufbewahrt, 

Deutschland. Das Apotheken wesen untersteht in Preussen dem Minister 
für Cultus- und Medicinalangelegenheiten. In gewerblicher Beziehung ist die 
Gewerbeordnung, in medicinalpolizeilicher Hinsicht sind die Medicinal- oder 
Apothekerordnungen für den Apothekenbetrieb maassgebend. Die Reichs¬ 
gesetzgebung hat bisher nur das pharmaceutische Prüfungswesen (siehe Aus¬ 
bildung), den Verkehr mit Arzneimitteln (siehe Arzneimittel verkehr) und die 
Darstellung, Prüfung und Aufbewahrung der Arzneien (siehe Pharmakopoen) 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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geregelt. Alle übrigen für den Apothekenbetrieb geltenden Vorschriften sind 
in den einzelnen Staaten durch eigene Medicinal- oder Apothekerordnungen 
enthalten. 

Die älteren Apotheken (in Preussen die bis zum Jahre 1810 verliehenen) 
beruhen auf landesherrlichen Privilegien, welche zum Theil das Recht der 
Ausschliessung haben. Diese Apothekerprivilegien sind veräusserlich und 
vererbbar (dingliche Apothekenrechte sind unbedingt vererblich und verkäuflich, 
sogenannte Realconcessionen sind verkäuflich) und können als selbständige 
(Real-) Gerechtsame in die Grund- respective Hypothekenbücher eingetragen 
werden. In Preussen unterliegen dieselben beim Uebergange auf einen neuen 
Erwerber dem Immobiliarwerthstempel. Ausser diesen privilegirten 
Apotheken (Realprivilegien) gibt es in den deutschen Staaten con- 
cessionirte Apotheken (Personalprivilegien), d. h. Apotheken, 
welche auf einem Personalrecht beruhen. Ursprünglich hatten nur die Real¬ 
privilegien das Recht der Veräusserlichkeit und Vererbung, nach und nach 
haben sich aber in den meisten Staaten auch bezüglich der concessionirten 
Apotheken ähnliche Verhältnisse ausgebildet. Erst in neuerer Zeit wurde in 
Preussen mittelst Ministerial-Erlass vom 21 . Juli 1886 die Bestimmung ge¬ 
troffen, dass neu errichtete Apotheken ohne besondere Genehmigung der Be¬ 
hörde erst 10 Jahre nach ihrer Errichtung verkauft werden dürfen. Gegen¬ 
wärtig wird eine reichsgesetzliche Regelung des Apothekenwesens geplant, 
zu deren Grundlage die reine Personalconcession genommen wurde. Die dies¬ 
bezüglich ausgearbeiteten „Grundzüge“ enthalten über die Berechtigung 
zum Apothekenbetriebe folgende Bestimmungen: 

1. Wer eine Apotheke betreiben will, bedarf hierzu unbeschadet der Bestimmungen 
im § 29 der Gewerbeordnung der Erlaubnis der zuständigen Behörde. — 2. Die Zahl der für 
einen Gemeindebezirk oder für einen räumlich abgegrenzten Theil eines solchen Bezirkes 
zuzulassenden Apothekenbetriebe wird nach Maassgabe des örtlichen Bedürfnisses durch die 
höhere Verwaltungsbehörde festgesetzt. — 3. Wenn die Erlaubnis zum Betriebe einer Apo¬ 
theke ertheilt werden soll, so lässt die Behörde eine öffentliche Aufforderung zur Bewerbung 
ergehen und entscheidet nach Ablauf der Bewerbungsfrist über die Ermächtigung zum 
Apothekenbetriebe. — 4. Die Erlaubnis muss versagt werden, wenn der Nachsucnende 

a) sich nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befindet, b) infolge gerichtlicher An¬ 
ordnung in der Verfügung über sein Vermögen beschränkt ist, c) sich im Besitze einer 
dinglichen Apothekenberechtigung oder einer veräusserlichen Apothekenconcession befunden 
hat oder befindet, sofern er nicht auf seine hieraus entspringende Befugnis zum Apotheken¬ 
betrieb unentgeltlich verzichtet hat oder verzichtet. 5. Die Erlaubnis kann ausserdem ver¬ 
sagt werden a) wenn der Nachsuchende wegen eines Verbrechens oder Vergehens, bei 
welchem auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann, oder eines Verstosses 
gegen die Berufspflichten eines Apothekers rechtskräftig verurtheilt worden ist; 

b) wenn der Nachsuchende durch wiederholte Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften 
über den Betrieb von Apotheken seine Unzuverlässigkeit in Bezug auf die Ausübung des 
Apothekerberufes dargethan hat. — 6. Sind mehrere Bewerber aufeetreten, so ist die Er¬ 
laubnis Demjenigen zu ertheilen, welcher die Approbation früher als aie übrigen Mitbewerber 
erhalten hat. Unter mehreren an demselben Tage approbirten Bewerbern wählt die Behörde 
nach eigenem Ermessen. Bei Berechnung des Alters der Approbation wird diejenige Zeit, 
während welcher der Bewerber nicht im Inlande im Apothekerberufe thätig gewesen ist, in 
Abzug gebracht. — 7. Bei Ertheilung der Erlaubnis ist der örtliche Bezirk, in welchem die 
Apotheke betrieben werden soll, zu bezeichnen und die Frist, binnen welcher der Betrieb 
begonnen werden muss, zu bestimmen. — 8. An andere als die gesetzlich zugelassenen 
Verpflichtungen, Bedingungen oder Beschränkungen darf die Erlaubnis nicht geknüpft 
werden. Insbesondere ist eine Genehmigung des Apothekenbetriebes auf Zeit oder Wider¬ 
ruf nicht zulässig. — 9. Wenn die Erlaubnis an Stelle einer nach Maassgabe des Gesetzes 
erloschenen und entzogenen Betriebserlaubnis ertheilt wird, so darf dem Bewerber bei der 
Ertheilung die Verpflichtung auferlegt werden, von seinem Vorgänger oder dessen Erben 
die zur Einrichtung und zum Betriebe der Apotheke gehörigen, in gutem Zustande befind¬ 
lichen Vorrichtungen, Geräthschaften und Waaren vorrät he gegen Entschädigung zu über¬ 
nehmen. Die Entschädigung ist im Streitfälle oder falls der zwischen den Betheiligten ver¬ 
einbarte Preis nach pflichtmässigem Ermessen der zuständigen Behörde den wahren Werth 
übersteigt, von einem Schiedsgerichte festzustellen, welches aus Sachverständigen besteht und 
dessen Vorsitzender ein höherer Medicinalbeamter ist. — 10. Wenn der Berechtigte den 
Betrieb der Apotheke binnen der festgesetzten Frist nicht beginnt, so kann die Erlaubnis 
zurückgenommen und auf Grund der früheren Ausschreibung nach Maassgabe der Grund- 

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sätze in Ziffer 4 bis 6 einem anderen Bewerber ertheilt oder eine neue Aufforderung zur 
Bewerbung erlassen werden. — 11. Der Berechtigte ist zum Betriebe der Apotheke verpflichtet; 
will er denselben einstellen, so hat er hiervon mindestens drei Monate zuvor der zuständigen 
Behörde Anzeige zu erstatten. — 12. Der Bundesrath erlässt die näheren Bestimmungen 
darüber, inwieweit der Berechtigte die Befugnis hat, in Behinderungsfällen den Betrieb der 
Apotheke zeitweise durch Stellvertreter wahrnehmen zu lassen. — 13. Die Erlaubnis zum 
Betriebe der Apotheke erlischt: a) wenn die Approbation der Berechtigten zurückgenommen 
wird, b) wenn dem Berechtigten die Erlaubnis zum Betriebe einer anderen Apotheke 
ertheilt wird, c ) wenn der Berechtigte durch gerichtliche Anordnung in der Verfügung über 
sein Vermögen beschränkt wird, d) mit dem Tode des Berechtigten. In dem unter lit. d) 
bezeichneten Falle ist jedoch den Erben auf Antrag zu gestatten, dass der Betrieb der 
Apotheke noch höchstens ein Jahr lang nach dem Tode des Berechtigten, falls sich aber 
unter den Erben eine Witwe oder ein minderjähriges eheliches Kind des Berechtigten be¬ 
findet, bis zur Wiederverheiratung der Witwe, beziehungsweise bis zur Grossjährigkeit des 
hinterlassenen Kindes auf ihre Rechnung durch einen approbirten Apotheker fortgesetzt 
wird. — 14. Die Erlaubnis zum Betriebe der Apotheke kann entzogen werden, a) wenn der 
Berechtigte wegen eines Verbrechens oder Vergehens, bei welchem auf Verlust der bürger¬ 
lichen Ehrenrechte erkannt werden kann oder ein Verstoss gegen die Berufspflichten eines 
Apothekers vorliegt, rechtskräftig verurtheilt worden ist, b ) wenn der Berechtigte durch 
wiederholte Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über den Betrieb von Apotheken 
seine Unzuverlässigkeit in Bezug auf die Ausübung des Apothekerberufes dargethan hat, 
c) wenn die Unrichtigkeit der Nachweise dargethan wird, auf Grund deren die Erlaubnis 
ertheilt worden ist, d) wenn der Berechtigte unbefugt den Betrieb der Apotheke eingestellt hat 
oder stellvertretungsweise wahrnehmen lässt, e) wenn der Berechtigte die Heilkunde ausübt. 
— 15. Wegen der Behörden, welche über die Ertheilung und Entziehung der Erlaubnis zum 
Apothekenbetriebe zu entscheiden haben, und wegen des zu beobachtenden Verfahrens gelten 
die Vorschriften der §§ 20 und 21 der Gewerbeordnung. 

Ob diese „Grundzüge“ gesetzliche Kraft erlangen werden, ist noch un¬ 
bestimmt. Wahrscheinlich dürften vorher einige Aenderungen an denselben 
vorgenommen werden. 

In einigen Staaten gibt es, wie in Süddeutschland, Apotheken, die über¬ 
haupt nicht verkauft werden können, sondern bei Besitzwechsel immer im 
Concurswege vergeben werden („reine Personal-Concession.“) 

Die Personal-Concession ist in Baden und Württemberg nicht über¬ 
tragbar und ruht blos auf der Person des Apothekers. Stirbt derselbe, so 
hat seine Witwe, so lange sie nicht weiter heirathet (jetzt noch) das Hecht, 
die Apotheke verwalten lassen zu dürfen, bis sie stirbt. Sind Kinder oder 
Schwiegersöhne als Apotheker vorhanden, kann die Concession im Gnadenwege 
auf sie übertragen werden. — In Bayern ist es wohl dem Gesetze nach 
ebenso wie in Baden und Württemberg. Der Praxis nach hat aber Bayern die Ueber- 
tragung von Concessionen auf den vom Vorgänger vorgeschlagenen Bewerber 
(Käufer) fast stets geduldet. —Das württemberg-badische System hat sich daselbst 
im Allgemeinen bewährt. Uebelstände liegen darin, dass etwa reiche Witwen, 
wie es in Stuttgart der Fall war, das Geschäft noch 30 Jahre nach dem Tode des 
Mannes für ihre reichen Erben ausnützen und so dem Nachwuchs den Zu¬ 
gang erschweren. Man wird das in Bälde abändern, auch die badische Be¬ 
stimmung des Aufrückens der Concessionäre in bessere Concessionen an¬ 
nehmen. Die Behauptung, dass persönliche Concessionen in Bezug auf Ein¬ 
richtung u. s. w. knapper, d. h. schlechter geführt werden, als verkäufliche, 
trifft für Württemberg und Baden nicht zu. Im Gegentheile, die Einrichtung 
ist meist neuer und reicher, weil die Besitzer nicht die Zinsen für das Real- 
recht (oft mehr als 50% der Kaufsumme) zu zahlen haben. 

Es gibt in Württemberg etwa 215 Realrechte und 55 Concessionen, in 
Baden ist das Verhältnis das gleiche, in Bayern etwa gleiche Theile. 

Die Vorschriften in Bezug auf die Errichtung und den Betrieb der 
Apotheken, auf die Befähigung des Apothekers und seines Hilfspersonales, die 
geeignete Einrichtung der Apotheken-Localitäten und die gewerbliche Ge¬ 
schäftsführung sind in den Apothekerordnungen enthalten. 

Die Errichtung einer neuen Apotheke erfolgt auf Grund einer 
vom Staate verliehenen Concession im nachzuweisenden Bedarfsfälle. Zur 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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Vergebung derselben wird ein Concurs ausgeschrieben. Die rechtliche Natur 
der verliehenen Concession ist derzeit noch in den verschiedenen Staaten 
verschieden. Die seit 1. Juli 1895 errichteten Apotheken dürfen jetzt auch 
in Preussen nicht mehr verkauft werden, sondern nur immer im Concurs- 
wege weiter vergeben werden. Auch die Errichtung von Filialapotheken und 
Dispensiranstalten in Krankenhäusern unterligt der staatlichen Genehmigung. 
Filialapotheken werden an Orten concessionirt, in denen wegen ihrer 
Entfernung von selbständigen Apotheken das Bedürfnis nach einer Dispensir- 
anstalt für Arzneien vorhanden ist, ohne dass die Bedingungen für die Er¬ 
richtung einer selbständigen Apotheke vorhanden wären. Die Errichtung 
pharmaceutischer Dispensiranstalten wird grösseren Krankenhäusern 
u. dergl. von Fall zu Fall gestattet, sie müssen aber von Pharmaceuten ver¬ 
waltet werden und die Abgabe von Arzneien ist auf die Insassen der be¬ 
treffenden Anstalt beschränkt. 

Die Vorschriften über Einrichtung und Ausstattung der Apo¬ 
theken stimmen darin überein, dass jede öffentliche, selbständige Apotheke 
folgende Räumlichkeiten enthalten muss: die Officin, ein Laboratorium, eine 
Materialkammer, einen Medicinalkeller und einen Kräuterboden. Jeder dieser 
Räume muss entsprechend gelegen und mit den nöthigen Geräthschaften in 
hinreichender Anzahl versehen sein. 

Die Vorschriften über den Geschäftsbetrieb der Apotheken legen 
dem Apotheker in den meisten Apothekerordnungen im Wesentlichen folgende 
Verpflichtungen auf: Sämmtliche in den Series des deutschen Arzneibuches be¬ 
zeichnten Arzneimittel, in der vom Arzneibuche vorgeschriebenen Beschaffenheit 
jederzeit vorräthig zu halten, ebenso auch sonst gebräuchliche Arzneimittel, 
sowie alle weiteren von einem Arzte geforderten Arzneimittel herzustellen oder zu 
beschaffen. — Jede Arznei nach ärztlicher Vorschrift ist sofort zuzubereiten 
und abzugeben, sofern der Fall ein dringlicher auch ohne Bezahlung. — Die 
Arzneimittel der Tabellen B und C des Arzneibuches nur auf Verordnung eines 
approbirten Arztes abzugeben. — Jede auf ärztliche Verordnung angefertigte 
Arznei ist mit der vom Arzte gegebenen Gebrauchsanweisung, dem Datum und 
der Firma der Apotheke (in Preussen auch mit den Namen des Anfertigers) 
zu versehen. — Bei der Feststellung der Arzneipreise die von der Landes¬ 
regierung erlassene Arzneitaxe einzuhalten bezw. nicht zu überschreiten. 

Revision. Die Bestimmungen über die Revision der Apotheken sind 
in den einzelnen Staaten verschieden. Als Grundlage für die Beurtbeilung 
und Prüfung der Arzneimittel gilt jedoch überall das deutsche Arzneibuch. 
Die Apotheken sind periodischen Revisionen zu unterziehen hinsichtlich des 
Zustandes der ganzen Apotheke, des Vorrathes und der Beschaffenheit der 
Arzneiwaaren, der Einrichtung und Verwaltung der Apotheken, des Hilfs- 
personales. Die Revision wird in einigen Staaten (Sachsen, Württemberg, 
Baden, Thüringen, Braunschweig, Hessen) von besonderen, staatlich ernannten 
Apothekenrevisoren, in anderen von Commissionen, bestehend aus einem 
Medicinalbeamten und einem Apotheker, ausgeführt. Ausserdem stehen die Apo¬ 
theken fortwährend unter der Aufsicht der betreffenden Amtsärzte (Physiker) 
und können auch ausserordentlichen Revisionen unterzogen werden. Ueber 
die Revision wird ein Protokoll aufgenommen. 

In Württemberg übt die Controle aus: 1. Der Oberamtsarzt Er 
hat das Recht die Apotheke zu diesem Zwecke so oft zu betreten als er will, 
nach der Legalität der Recepte zu fahnden, kurz den ganzen Betrieb zu über¬ 
wachen. In den allermeisten Fällen erledigt der Oberamtsarzt diese Aufgabe 
in 1 bis 3 jährlichen Durchgängen durch Apotheke, Nebenzimmer und Labo¬ 
ratorium. Die Untersuchung der Waaren auf Güte ist nicht eigentlich seine 
Aufgabe, das ist Sache des 2. Visitators. Das ist ein vereidigter Apothe¬ 
kenbesitzer, dem alle Jahre eine Anzahl Apotheken zur Visitation von dem 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


Medicinal-Collegium zugetheilt wird (etwa 10 bis 15 bei jetzt vorhandenen 
5 Visitatoren). Der Visitator kommt mit seinen Reagentien allein und braucht 
volle 2 Tage. Er ist an eine sehr strenge Visitationsordnung gebunden und 
ist die Sache durchaus keine blosse Form, sondern nach ihrer ganzen Hand¬ 
habung eine sehr ernste Sache. Am zweiten Visitationsnachmittage zieht der 
Visitator den Oberamtsarzt des Bezirkes bei, der dann die medicinalpolizeiliche 
Seite der Vorschriften erledigt. Beide sind coordinirt, der Apotheken-Visitator 
völlig selbständig. — In Baden visitiren zwei nicht mehr besitzende 
Apotheker je einen Tag, also kürzer als in Württemberg. — In Bayern visitirt 
der Bezirksarzt alljährlich nach einem bestimmten Schema (oft mit sehr 
wenig Verständnis). Alle 5 Jahre kommt der Regierungs-Medicinalrath mit 
einem Apotheker zu einer kurzen, höchstens halbtägigen Visitation. — In 
Hessen visitirt der pharmaceutische Sachverständige des Medicinal-Collegiums. 
— Aehnlich verhält es sich in den meisten anderen Staaten. 

Die strafgesetzlichen Bestimmungen, welche die Apotheken be¬ 
treffen, beziehen sich auf den Verkauf von Abortivmitteln (§219 des Reichs¬ 
strafgesetzes, mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren), auf die fahrlässige Tödtung 
oder Körperverletzung durch Arzneivergiftung (§ 222, fahrlässige Tödtung, 
Gefängnis bis zu 3 oder 5 Jahren, §§ 230 — 232 fahrlässige Körperverletzung, 
Geldstrafe bis 300 Thaler oder Gefängnis bis zu 2 oder 3 Jahren), die unbe¬ 
fugte Offenbarung von Privatgeheimnissen (§ 300, Geldstrafe bis 500 Thaler?- 
oder Gefängnis bis zu 3 Monaten), die Uebertretung der pharmaceutischen 
Berufspflichten (§ 367, Geldstrafe bis 150 M oder Haft). 

Oesterreich. Das Apothekenwesen in Oesterreich ist ein sanitäts¬ 
polizeiliches Gewerbe (Hofkd. 2. Mai 1810), welches der Gewerbe¬ 
ordnung nicht unterliegt, sondern nach den dafür bestehenden besonderen 
Vorschriften zu behandeln ist. Das Apothekenwesen untersteht dem Ministerium 
des Innern bezw. der Sanitätsabtheilung desselben, an dessen Spitze ein Me- 
diciner als Sanitätsreferent fungirt. Ein Vertreter des pharmaceutischen 
Standes befindet sich in dieser Centralbehörde nicht, dagegen sind im 
Obersten Sanitätsrathe, welcher dem Ministerium des Innern als be- 
rathendes Organ zur Seite steht, 2 Vertreter des Apothekerstandes als ausser¬ 
ordentliche Mitglieder zugezogen, welche jedoch nur von Fall zu Fall an den 
Sitzungen theilnehmen. Ebenso sind in den meisten Landessanitäts- 
räthen, welche als berathendes Organ der Landesverwaltungen fungiren, 
Apotheker als ausserordentliche Mitglieder beigezogen. Die Aufsicht über das 
Apothekenwesen steht dem Bezirksarzte bezw. dem Stadtphysikus zu. 

In Oesterreich gibt es 3 verschiedene Arten von Apotheken 1. Radicirte 
Real-Apothekergewerbe, 2. Freiverkäufliche Apothekergewerbe, 3. Personal¬ 
gewerbe. Radicirte Apothekergewerbe sind nach Hofkd. 9. Dec. 1824, 
Z. 35822 „solche, welche ausdrücklich in der Hausgewähr enthalten sind“ 
d. h. sie sind an ein bestimmtes Haus gebunden und müssen grundbücherlich 
eingetragen sein. Sie können verpfändet werden und im Grundbuche einer 
Schuldvormerkung unterzogen werden. Selbstverständlich können sie auch 
frei verkauft und vererbt werden. Frei verkäufliche Apothekerge¬ 
werbe sind nach demselben Hofkd. „solche, welche keinem Hause förmlich 
ankleben, doch aber von dem Eigenthümer an seine Kinder übertragen, ver¬ 
kauft, verschenkt, verpfändet werden können, sie müssen, um für solche zu 
gelten, schon vor dem Jahre 1774 bestanden haben. Personal-Apotheker- 
gewerbe sind nach demselben Hofkd. „solche, welche blos auf die Person 
des Bewerbers verliehen werden, sie sind, wofern er unverehelicht stirbt, mit 
dessen Tode sogleich erloschen, hinterlässt er aber eine Witwe, so ist zwar 
derselben, so lange sie nicht zu einer zweiten Ehe schreitet, keineswegs aber 
den Kindern gestattet das Gewerbe fortzuführen. Diesen letzteren darf nur 
dann, wenn sie die erforderlichen Eigenschaften besitzen, bei übrigens gleichen 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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Fähigkeiten und Verdiensten nach dem Tode oder der neuerlichen Verhei- 
rathung der Witwe der Vorzug vor anderen Mitbewerbern eingeräumt werden. 
Personalgewerbe sind demnach weder erblich noch verkäuflich, und ebenso¬ 
wenig einer Verpfändung und Schuld Vormerkung fähig.“ An diesen Bestim¬ 
mungen wurde jedoch durch die a. h. Entschl. vom 5. Jänner 1861, bekannt 
gemacht mittelst Min.-Verd. 11 . Jänner 1861 RGB. Nr. 8, welche für sämmt- 
liche ausserungarische Kronländer Geltung hat, in der Weise geändert, dass 
die §§ 58 und 59 (jetzt 55 und 56) der Gewerbe-Ordnung auch bei dem 
Apothekergewerbe in Anwendung kommen. Hiedurch ist die Uebertrag- 
barkeit der Personalconcessionen gestattet. 

Die Errichtung von Apotheken und Filialapotheken erfolgt, 
indem die betreffende Gemeinde oder Privatperson ein Gesuch an die Bezirks- 
hanptmannschaft bezw. den Magistrat richtet und die Nothwendigkeit der 
Apotheken entsprechend begründet. Die Bezirkshauptmannschaft leitet die er¬ 
forderlichen Erhebungen ein und leitet die Angelegenheit an die Landes¬ 
behörde, welche auf Grund des Gutachtens des Landessanitätsrathes die Apo¬ 
theke bewilligt. Nach dem Hofkd. 25. Aug. 1824, Z. 21930 und 10 . Aug. 
1835, Z. 26066 ist im Allgemeinen eine Bevölkerung von 3—4000 Seelen und 
eine Entfernung von 2 Meilen von der nächsten öffentlichen Apotheke als 
zureichend für die Errichtung einer öffentlichen Apotheke anzunehmen. Die 
Verleihung des Apothekenpersonalbefugnisses steht dem Bezirksamte bezw. 
dem Magistrate zu. Die Verleihung hat im Wege des Concurses zu ge¬ 
schehen „damit für dieselbe das würdigste Individuum aufgefunden werde.“ 
Diesbezüglich hat die Behörde ein Gutachten des zuständigen Apotheker¬ 
gremiums abzuverlangen. Ueber die Errichtung und den Standort einer öffent¬ 
lichen Apotheke, ebenso über den für die Verleihung „Würdigsten“ ent¬ 
scheiden die Administrativbehörden nach freiem Ermessen. 

Zwei Apothekergewerbe können von derselben Person selbst an ver¬ 
schiedenen Orten nicht betrieben werden. 

Die Apotheker-Instruction, die mittelst Hofkd. 3. Nov. 1808, 
Z. 16135 erlassen wurde und welche eine der Zeit angepasste Wiedergabe 
der mit kais. Patent v. 8 . Mai 1644 für Wien und Oesterreich erlassenen 
Apotheker-Ordnung ist, gilt, trotz ihrer vielfach veralteten und durch 
spätere Verordnungen aufgehobenen Bestimmungen auch heute noch. Die 
wichtigsten, noch in Kraft befindlichen Punkte derselben sind: 

§ 1. Die Apotheker auf dem Lande sind dem Kreisamte, in den Städten auch dem 
Magistrate unmittelbar untergeordnet. 

§ 2. Niemand kann zu dem Besitze einer Apotheke gelangen um derselben selbst¬ 
ständig vorzustehen, oder als Provisor eine Apotheke dirigiren, der sich nicht mit einem 
von einer österr. Universität erhaltenen Diplome entweder als Doctor oder als Magister der 
Ph&rmacie ausweist. 

§ 3. Die Pharmakopoe bestimmt die einfachen Arzneikörper, die bereiteten und 
zusammengesetzten Arzneimittel, welche in einer Apotheke vorräthig sein müssen. 

§ 5. Aller Vorrath muss in guter Qualität und in solcher Menge vorhanden sein, 
das « der ordentliche Absatz gedekt ist. 

§ 6. Gefasse, Utensilien, Behältnisse und die Aufbewahrungsorte müssen von der Art 
sein, dass die Arzneien weder davon schädliche Eigenschaften annehmen und Veränderungen 
erleiden können, noch derselben Verderbnis durch erstere befördert wird. 

§ 7. Allenthalben muss die grösste Ordnung, Genauigkeit und Reinlichkeit beobachtet 
werden. 

§ 8. Die Aufschriften an den Gefässen und Behältnissen, in welchen Arzneien auf¬ 
bewahrt werden, müssen mit Buchstaben deutlich und verständlich geschrieben sein. 

§ 10. Giftig wirkende, giftartige Arzneien werden sowohl in der Officin nebst den 
dazu gehörigen Utensilien, als auch in der Materialkammer und auf dem Kräuterboden zu¬ 
sammen in einem abgesonderten Orte, in einem versperrten Kasten aufbewahrt, wozu der 
Schlüssel unter Tags in der Apotheke sich befindet, bei der Nacht von dem Patron oder 
Provisor selbst oder von dem die Nachtwache habenden Gehilfen verwahrt wird. 

§15. Arzneien müssen für Jedermann Tag und Nacht, mit Bereitwilligkeit, Red¬ 
lichkeit, ohne unnothigen Verzug und mit gehöriger Signatur bezeichnet, verabreicht werden. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


§ 16. Gelinde wirkende, unschädliche Arzneimittel dürfen im Handverkäufe aus der 
Apotheke abgegeben werden. 

§ 18. Nur ärztliche Vorschriften fRecepte), welche von dazu berechtigten Aerzten 
und Wundärzten unterzeichnet sind, dürren in den Apotheken verfertigt werden. 

8 20. Es ist dem Apotheker strenge verboten geheime Einverständnisse mit Aerzten 
oder Wundärzten zum Nachtheile der Kranken und kaufenden Personen zu unterhalten. 

§ 21. Bei Verfertigung der Arzneien wird sich der Apotheker immer genau und ge¬ 
wissenhaft nach der Vorschrift des Arztes richten. Es ist ihm daher nie erlaubt von der 
Vorschrift desselben im geringsten abzuweichen oder von Arzneikörpern, die ihm gleich¬ 
wirkend scheinen, einen oder den andern nach Willkür zu substituiren. 

§ 22. Vermuthet er in der Vorschrift des Arztes einen Irrthum, der dem Leben des 
Kranken nachtheilig werden könnte, so nat er seine Meinung vor der Verfertigung des 
Receptes dem verordnenden Arzte allein in Freundschaft zu eröffnen. Wäre dieses aber 
wegen zu grosser Entfernung oder Abwesenheit des Arztes für jetzt unmöglich, und hat 
der Apotheker die Ueberzeugung, dass in der Vorschrift des Arztes ein Irrthum unterlaufen 
sei, der dem Leben des Kranken nachtheilig sein könne und kann er sich nicht mehr mit 
dem verordnenden Arzte berathen, so muss er sich noch vorerst, wenn es möglich ist, mit 
einem anderen Arzte hierüber berathen; wäre aber auch dies unmöglich, so ist es ihm er¬ 
laubt, ja es ist Pflicht, das Recept so abzuändern, dass es den gewöhnlichen Verordnungen 
vernünftiger Aerzte entspreche. Der Apotheker wird aber dieses, sobald es nur möglich 
ist, dem Arzte, von dem die Verordnung herrührte, auf eine geziemende Art und ohne 
Aufsehen zu erregen, bekannt machen. 

§ 24. Lehrlingen soll die Verfertigung heftiger Arzneimittel nie überlassen werden. 

§ 25. Bei der vorschriftsmässigen Untersuchung der Apotheken wird der Apotheker 
mit Anstand sich benehmen und den Anordnungen der Visitatoren Folge leisten. Glaubt er 
sich gekränkt, so ist der zweifelhafte Arzneikörper unter zweifaches Siegel zu legen und an 
die mediein. Facultät der Provinz zur Untersuchung zu schicken. 

§ 27. Curen innerlicher oder äusserlicher Gebrechen zu unternehmen ist dem Apo¬ 
theker nie und nimmer, unter keinem Vorwände erlaubt. 

§ 28. Ein musterhafter Zustand der Apotheke, richtige, genaue und gewissenhafte 
Bedienung der Parteien soll das einzige Mittel des Apothekers sein, seiner Apotheke Ruf 
und Zuspruch zu verschaffen. 

§ 29. Der Apotheker oder Provisor ist für die Verrichtungen seiner Gehilfen und 
Lehrlinge verantwortlich, er wird daher über dieselben genaue Aufsicht führen. 

Die Apotheker der meisten Kronländer in Oesterreich bilden eigene 
Apotheker-Gremien, welchen die Wahrung der Staatsinteressen zusteht. 
Eine Gremial-Ordnung bestimmt den Wirkungskreis der Apothekergremien 
und deren Pflichten und Rechte. 'Diese ziemlich veralteten Bestimmungen 
sollen jetzt durch modernere Gremialordnungen ersetzt werden. 

Revision. Ueber die Apothekenvisitation bestehen eine ganze 
Anzahl alter Hofkanzleidecrete und Verordnungen. Dieselbe hat alljährlich in 
der Periode von Mitte Juli bis Ende October in Gegenwart eines politischen 
Commissärs (Gemeindevorsteher, Bürgermeister etc.) durch den Bezirksarzt 
(in einer Hauptstadt, wo eine Universität ist, durch eine Commission, be¬ 
stehend aus den Professoren der Chemie und der Pharmakologie, den Gremial- 
vorstehem, dem Stadtphysikus und landesfürstlicben Commissär) stattzufinden 
(gegenwärtig nimmt in der Provinz fast überall der Bezirksarzt allein die 
Revision vor). Das hierüber aufgenommene Protokoll ist der Statthalterei 
vorzulegen. Bei diesen Visitationen hat man sich namentlich zu überzeugen, 
ob in Allem und Jedem vorschriftsmässig vorgegangen wird, ob die Arznei¬ 
körper rein, in hinreichender Quantität vorhanden, ob die gerade vorfindlichen 
Recepte gehörig geordnet, taxirt sind u. s. w. Es ist dann 1. in der Officin 
eine genaue Revision über die Arzneikörper, ihre Aufbewahrungsgefässe, deren 
Aufstellung, ihre zweckmässige Signatur, über Wagen, Gewichte u. s. w. vor¬ 
zunehmen. Ebenso ist 2. das Laboratorium zu inspiciren, die Oefen, die 
Dampfapparate, Retorten, Kolben, Flaschen, Aerometer u. s. w. in Augen¬ 
schein zu nehmen, um darüber genauen Bericht erstatten zu können. Sodann 
kommt 3. die Vorrathskammer an die Reihe u. zw. die Kräuterkästen, die 
Gefässe mit den Extracten, den Pulvern, den Chemikalien, wobei zu sehen, 
ob Verschluss, Signatur, gehörige Sonderung der Substanzen und die übrigen 
Vorsichten obwalten. 4. In dem Medicinalkeller ist auch den einzelnen 
Drogen, ihrer Aufbewahrung, ihren Signaturen sowie 5. in der Stosskammer 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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den Mörsern, Schneidebrettem, Sieben u. a. Apparaten, endlich 6. in den 
Trockenböden den gerade vorhandenen Pflanzen und Pflanzentheilen die Auf¬ 
merksamkeit zuzuwenden. Alle diese Locale müssen behufs ihrer Eignung 
besonders beurtheilt werden. Wird eine Substanz verdorben oder schlecht 
befunden, so ist sie sofort zu vertilgen. Glaubt sich der Apotheker gekränkt, 
so ist nach § 25 der Apothekerinstruction (s. d.) vorzugehen. Die Revision 
erstreckt sich auch auf die Documente des Apothekers sowie auf das Per¬ 
sonale der Apotheke. Das Ergebnis der Visitation wird dem Apotheker durch 
Vermittlung des Gremiums von der Statthalterei mitgetheilt. Zu aussorordent- 
lichen Untersuchungen und Superrevisionen, wenn solche erforderlich sind, 
wird von der Länderstelle der Protomedicus oder Kreisarzt abgeordnet. Für 
die Visitation ist eine Taxe von 6 Ducaten in Wien und von 3 Ducaten in 
der Provinz zu entrichten. Die Abschaffung dieser Taxe ist von den Apo¬ 
thekern wiederholt versucht worden, da doch die Visitation nicht in ihrem 
Interesse, sondern einzig und allein im Interesse des Staates unternommen 
wird, bisher jedoch vergebens. — Die Revision lässt im Allgemeinen zu 
wünschen übrig. Die Revisions-Commissionen der Universitäts-Städte func- 
tioniren ja ganz gut, dagegen lassen die Revisionen in der Provinz Manches 
zu wünschen übrig, indem die Bezirksärzte einerseits anderweitig sehr in An¬ 
spruch genommen sind, und anderseits auch nicht genügende Fachmänner sind, 
um die Function eines Apotheken-Revisors mit allem Verständnis erfüllen 
zu können; hiezu eignen sich eben nur Pharmaceuten. 

Strafgesetzliche Bestimmungen. Das österr. Strafgesetz vom 
27. Mai 1852 enthält folgendeaut das Apothekenwesen bezügliche Bestimmungen: 

Die §§ 346—348 bestrafen den widerrechtlichen Verkauf von Arzneimitteln sowohl 
an dem Eigenthümer der Apotheke, als an dem Provisor und Gehilfen. Der Eigenthümer 
wird, falls er von dem Verkaufe nichts gewusst hat mit 25—50 fl. Geldbusse, bei dem 
2. Falle mit 50—150 fl. bestraft. Beim 3. Uebertretungsfalle wird ihm die Führung der 
Apotheke genommen und 1 Provisor bestellt. Falls er davon gewusst hat, wird er im 
1. Untersuchungsfalle mit 50—100 fl. im 2. mit 100—200 Geldbusse bestraft und falls durch das 
gegebene Arzneimittel jemand zu Schaden gekommen mit strengem Arrest von 1—6 Monaten. 
Den Provisor trifft eine Arrest-Strafe von 3 Tagen bis zu 1 Monat das erstemal, das zweite¬ 
mal wird er seines Dienstes enthoben falls er nichts von der Sache gewusst hat, hatte er 
aber von dem Verkaufe der verbotenen Arznei Kenntnis, so wird er mit strengem Arrest 
von 1—6 Monaten bestraft und für unfähig erklärt ferner in einer Apotheke zu dienen. 
Der Gehilfe wird mit Arrest von 1—6 Monaten bestraft und verliert im 2. Uebertretungs¬ 
falle überdies die Befugnis als Gehilfe in Apotheken verwendet zu werden. 

Die §§ 349—352 setzen Strafen für unrichtige Anfertigung von Arzneien bezw. die 
Verwendung von verdorbenen Stoffen zur Anfertigung von Arzneien fest. § 353 bestraft 
die Verwechslung oder unrichtige Ausgabe von Arzneien mit Arrest von einer Woche, bei 
grösserer oder oftmaliger Unaufmerksamkeit bis zu 3 Wochen. § 354 und 356 bestraft den 
unbefugten Verkauf von Heilmitteln in Bezug auf deren Verabfolgung besondere beschrän¬ 
kende Anordnungen bestehen ausserhalb .der Apotheken. § 499 bestraft die Offenbarung 
von Privatgeheimnissen. 

Die gegenwärtig in Oesterreich in Kraft befindliche Pharmakopoe ist die 
7. Ansgabe der Pharmacopoea austriaca und gilt seit 1890. — Die Arzneitaxe 
wird alljährlich durch eine eigene Taxcommission neu bearbeitet. 

Ungarn. In Ungarn untersteht das Apothekenwesen dem Ministerium des 
Innern u. zw. der VI. Section desselben, welche in 2 Fachabtheilungen zerfällt: 
a) für Sanitätsverwaltung b) für Krankenanstalten und Apothekenwesen. Die 
Apotheken sind gesetzlich anerkannte Sanitätsanstalten. Dem ungarischen 
Landessanitätsrath, welcher als berathendes Organ dem Ministerium des Innern 
in Sanitätsangelegenheiten zur Seite steht, gehören ein oder 2 Apotheker der 
Hauptstadt als ausserordentliche Mitglieder an. 

Die Bestimmungen über das Apothekenwesen sind im Sanitätsgesetze 
vom Jahre 1876 enthalten. Danach gibt es in Ungarn Apotheken mit Real¬ 
recht und solche mit Personalrecht. Gegenwärtig werden nur Personalrechte 
verliehen. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


Die Errichtung der Apotheken erfolgt auf Grund einer Bewilligung 
des Ministers des Innern. Auch für die Uebertragung eines Personalrechts 
ist die Bewilligung des Ministers erforderlich. Das Personalrecht der conces- 
sionirten Apotheken erlischt mit dem Tode des Concessionärs, doch hat dessen 
Witwe bis zu ihrer Wiederverehelichung oder ihrem Tode die Nutzniessung. 
Stirbt oder verehelicht sich die Witwe während der Minderjährigkeit der 
Kinder, so geht die Nutzniessung auf die Kinder über. Der Concessionsinhaber 
kann das Personalrecht jederzeit an eine andere qualificirte Person übertragen. 
An Orten, wo eine selbständige öffentliche Apotheke nicht bestehen kann, 
kann eine Filialapotheke seitens eines der nächsten Apotheker mit Bewilligung 
des Ministers des Innern errichtet werden. 

Die Revision der Apotheken erfolgt alljährlich durch den Comitats- 
physikus und erstreckt sich auf die gewöhnlichen Erfordernisse. Für die 
amtliche Revision ist seitens des Apothekers keinerlei Gebühr zu entrichten. 
Ausser der gewöhnlichen Visitation können im Bedarfsfälle auch ausserordent¬ 
liche Visitationen stattfinden. 

Die gegenwärtig in Kraft befindliche Pharmakopoe ist die Pharmacopoea 
hungarica editio II mit Nachtrag vom Jahre 1896. Die Arzneitaxe wird in 
Zwischenräumen von mehreren Jahren neu ausgegeben. Dieselbe wird vom 
Landessanitätsrath unter Zuziehung einiger hauptstädtischer Apotheker be¬ 
arbeitet. 

Croatien. Die Bestimmungen über das Apothekenwesen, welche früher 
auf einer Vorschrift der einstigen k. k. Statthalterei vom 2. Februar 1858 
fussten, werden jetzt durch ein neues, 1894 vom Landtage genehmigtes Gesetz 
geregelt. Zu diesem Gesetze hat die Regierung noch eine Reihe von Durch¬ 
führungsbestimmungen erlassen, welche Alles genau präcisiren. 

In Croatien bestehen wie in Oesterreich und Ungarn Realapotheken und 
Personalapotheken. Die Realapotheken können wie bisher frei verkauft und 
abgetreten werden. Die Apotheken mit Personalrecht, welche vor dem Inkraft¬ 
treten des Gesetzes bestanden, können auch weiterhin übertragen werden, die 
seither errichteten dürfen aber erst 5 Jahre nach Uebernahme der Concession 
weiter übertragen werden. Nach dem Tode des Concessionärs steht der Witwe 
(bis zu ihrer Wiederverehelichung oder bis zu ihrem Tode) oder den minder¬ 
jährigen Kinder (bis zu ihrer Grossjährigkeit) das Nutzniessungsrecht zu. — 
Für jede Uebertragung eines Apothekerrechtes wird eine Taxe von 100—500 fl. 
für die Concession gezahlt, aus welchen Beträgen ein Fond zur Expromission 
von Realrechten gebildet wird. Die Termine und die Art der Expromission 
der Realrechte wird durch ein specielles Gesetz geregelt werden. 

Schweiz. In der Schweiz besitzen alle diplomirten Apotheker das Recht 
der freien Niederlassung. Das Apothekergewerbe ist aber nur im Canton 
Glarus direct freigegeben, indem daselbst die Verfassung bestimmt: die 
medicinische Praxis in allen ihren Branchen ist freigegeben. Die französischen 
Cantone hatten nach dem Codex fran^ais seit jeher kein beschränktes 
Concessionssystem, sondern Jeder, der den Befähigungsnachweis lieferte, musste 
eine Concession erhalten. 

Genf als cosmopolitische Stadt lies und lässt heute noch auf Genehmigung 
der pharmaceutischen Commission auch ausländisch diplomirte Apotheker zu. 

Alle anderen Cantone hatten bis 1874 ähnliche Concessionsverhältnisse 
wie in Oesterreich und Deutschland. Erst durch die Bundesverfassung von 
1874 wurde das beschränkte Concessionssystem für die ganze Schweiz auf¬ 
gehoben und Jedem, der sich mit einem eidgenössischen Diplom ausweist, 
steht die Leitung einer Apotheke frei. Die Concession zum Betriebe einer 
Apotheke kann allerdings (wenigstens in Bern) auch ein Nichtpharmaceut, 
beispielsweise der Hausherr, nehmen. Er muss dann einen legalen Leiter der 
Apotheke der Sanitätsbehörde präsentiren. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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Für die Errichtung von neuen Apotheken gibt es genaue Bauvor¬ 
schriften, z. B. gewölbter, feuersicherer Keller mit eiserner oder eisenbeschla¬ 
gener Thüre, im Laboratorium ein Gas- oder Dampfabzug, welcher mit keinem 
für den Haushalt bestimmten Kamin in Verbindung stehen darf, etc. Zur 
Einhaltung der Vorschriften findet eine Begehung durch die Baucommission 
statt. Ferner durch eine Commission von Seite der Sanitätsbehörde. Ihr 
liegt ein gedrucktes Formular vor, welches sehr zahlreiche Punkte enthält 
und als Protokoll ausgefüllt wird. Dasselbe fordert separirte Stosskammer, 
separirten Giitkeller, luftige Bodenräumlichkeiten, Abstand der Regale von der 
"Wand, Aufzählung aller Utensilien mit Stückanzahl etc. Auch wird die Prüfung 
einiger galenischer und chemischer Präparate, der specifischen Gewichte und 
Drogen vorgenommen. Erst auf Grundlage der Berichte beider Commissionen, 
eventuell bei Beanstandungen nach einer neuerlichen Commissionsbegehung, 
ertheilt die Sanitätsbehörde die Concession zur Inbetriebsetzung der Apotheke, 
was von der Stunde des Herablangens der schriftlichen Mittheilung an geschieht. 
In Ortschaften, wo mehrere Apotheken bestehen, kann die zeitweilige Schlies¬ 
sung eines Theiles der Apotheken an Sonn- und Feiertagen bewilligt werden. 
Aerztliche Recepte dürfen ohne neue Verordnung repetirt werden, wenn 1. der 
Arzt nicht ausdrücklich durch Beifügung der Worte „ne repetatur“ die Wieder¬ 
holung verbietet; 2. wenn die Arznei, zum innerlichen Gebrauch bestimmt, 
keine Stoffe enthält, die in Tabelle A und B aufgeführt sind, oder diese nur 
in solchen Mengen, welche die Maximaldosen (Tab. C) nicht erreichen. 
Arzneien zum äusserlichen Gebrauch unterliegen dieser Beschränkung nicht; 
Auflösungen von Atropin, Cocain und Morphium zu subcutanen Injectionen, 
sowie Ordinationen von Chloroform, Chloralhydrat und Digitalis-Präparaten 
dürfen unter keinen Umständen ohne ärztliche Bewilligung repetirt werden. 
Diese Einschränkungen finden nicht Anwendung, sofern der Arzt auf dem 
Recepte ausdrücklich die Repetition gestattet. 

Revision. Die Reihenfolge der Visitationen ist so einzurichten, dass in 
der Regel jede Apotheke wenigstens alle 6 Jahre einmal visitirt wird. Visi¬ 
tationen können jederzeit ohne vorherige Anzeige angeordnet werden. Die 
Revisions-Commissionen bestehen in der Regel aus Amtsärzten und einem 
chemischen oder pharmaceutischen Experten. In den einzelnen Cantonen sind 
eigene Vorschriften über die Visitation in Geltung oder in den betreffenden 
Medicinalordnungen enthalten. Geschehen seitens der Gehilfen strafbare 
Fehler und Vergehen, so sind die Gehilfen auch persönlich dafür haftbar. 

Frankreich. In Frankreich gemessen die approbirten Apotheker das Recht 
der freien Niederlassung. Die diesbezüglichen Bestimmungen enthält das Decret 
vom 25. Juli 1885. Es werden danach 2 Classen von Apothekern ausgebildet: 
Pharmacien 1. und Pharmacien 2. Classe. Um Apotheker 1. Classe zu werden 
müssen die Candidaten das Baccalaureat (Maturum) haben, was für Apotheker 
2 . Classe nicht gefordert wird. Hierauf folgt eine 3-jährige Lehrzeit und eine 
Gehilfenprüfung. Das Universitätsstudium ist auf 3 Jahre festgesetzt, worauf 
die Schlussprüfung erfolgt. Die Apotheker 1. Classe haben das Recht sich 
überall im ganzen Lande niederzulassen, jene 2. Classe nur in der Provinz 
u. zw. nur im Bezirke derjenigen Pharmacieschule, von der sie approbirt 
wurden. Diese Bestimmung wird jedoch nicht sehr strenge eingehalten. Das 
Diplom wird erst nach zurückgelegtem 25. Lebensjahr (nach erreichter Mün¬ 
digkeit) ausgefolgt. Durch den Gesetzentwurf vom Jahre 1894 werden bezügl. 
der Ausübung des Apothekergewerbes neue Bestimmungen getroffen, durch 
welche die Apotheker 2. Classe in Hinkunft aufhören und nur mehr Diplome 
als Apotheker 1. Classe verliehen werden sollen. 

Die Errichtung der Apotheken ist unbeschränkt und an keinerlei 
besondere Bestimmungen gebunden. Eine Apotheke kann nur ein diplomirter 
Apotheker besitzen und verwalten. Der Apotheker trägt selbst die Ver- 


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APOTHEKENWESEN UND ABZNEIMITTELVERKEHR. 


antwortung für alles, was in der Apotheke abgegeben wird. Bei Krankheit 
oder längerer Abwesenheit darf der Apotheker einen Verwalter (Garant) 
anmelden, der die Prüfung bestanden hat (pharmacien regu); dieser trägt 
dann die Verantwortung. Witwen oder sonstige Erben haben das Recht die 
Apotheke von einem diplomirten Pharmaceuten verwalten zu lassen, jedoch nur 
für 1 Jahr; die Apotheke, welche nach dieser Frist noch nicht veräussert ist, 
wird in öffentlicher Auction versteigert. — Die Revision der Apotheken erfolgt 
jährlich durch eigens dazu ernannte Apothekeninspectoren. In Paris und 
jenen Provinzstädten, welche Pharmacieschulen besitzen, werden dieselben aus 
dem Lehrkörper dieser Anstalten entnommen, in den übrigen Provinzorten 
werden sie den hygienischen Commissionen entnommen u. zw. 2 Pharma¬ 
ceuten und 1 Mediciner, denen 1 Polizeibeamter beigegeben ist. Diese 
Bestimmungen werden durch das neue Apothekergesetz theilweise abgeändert. 
Für jedes Departement wird nach demselben ein Pharmacie-Inspector ernannt; 
derselbe muss Äpothekenbesitzer gewesen sein; die Inspectoren haben ihr 
ganzes Inspections-Departement zu visitiren. Durch ein noch zu publicirendes 
Reglement werden die Attribute dieser Inspection festgesetzt werden. 

Eine amtliche Arzneitaxe gibt es in Frankreich nicht. Die in Kraft 
befindliche Pharmacopoe ist der Codex medicamentarius. 

Holland. Die approbirten Apotheker haben das Recht der freien Nieder¬ 
lassung. Auch Nicht-Apotheker können im Besitze einer Apotheke sein, 
müssen dieselbe jedoch durch einen diplomirten Apotheker verwalten lassen. 

Trotzdem sind die Apotheken in den Städten mehr angehäuft als auf 
dem Lande, weil es den Aerzten erlaubt ist, dort, wo keine Apotheke besteht, 
Arzneimittel zu dispensiren und der Arzt dieses Recht auch dann behält, 
wenn im selben Orte eine öffentliche Apotheke von einem Apotheker er¬ 
richtet wird. 

Revision. Die Beaufsichtigung der Apotheken ist den Medicinalcollegien 
(Geneeskundige Raden) überlassen. Es bestehen 7 derartige Collegien, welche 
gewöhnlich aus 6 Medicinem und 4 Apothekern unter dem Vorsitz des Inspec¬ 
tors zusammengesetzt sind. Der Inspector ist durch das Gesetz verpflichtet, 
das Collegium wenigstens zweimal im Jahre zusammenzurufen. In den Sitzun¬ 
gen kommen neben den Besprechungen der hygienischen Verhältnisse in dem 
Bezirke des Collegiums, den Massnahmen des Inspectors, Anträgen des Mini¬ 
steriums, auch die Apothekenangelegenheiten zur Sprache. Aus den Mitglie¬ 
dern und stellvertretenden Mitgliedern werden vom Inspector Commissionen 
von je 2 Personen (einem Arzt und einem Apotheker) zusammengestellt, welche 
eine Anzahl Apotheken im Bezirke zu revidiren haben. Die Revision erstrekt 
sich natürlich auch auf die Apotheken der selbstdispensirenden Aerzte, und 
kehrt für jede Apotheke mindestens jedes 2. oder 3. Jahr wieder. Die 
Controle hat aber keine grosse Bedeutung. Die alljährliche Visitation besteht 
nämlich meistens nur in einem momentanem Herumsehen, nicht aber in einer 
tüchtigen Revision, Prüfung und Gehaltsbestimmung einiger Arzneien. Der 
Besuch dauert einige Minuten. Muss eine Re-Visitation stattfinden, so geschieht 
diese von zwei Apothekern und einem Arzte, Mitgliedern des Sanitätsrathes 
jener Provinz, wo der Apotheker wohnt. 

Eine amtliche Arzneitaxe besteht nicht. 

Belgien. Die Ausübung der Pharmacie ist den approbirten Apothekern 
freigegeben. Eine amtliche Arzneitaxe besteht nicht. Die Revision der 
Apotheken erfolgt durch eigene Apotheken-Inspectoren, welche mit dem 
Erlasse vom 11. Dec. 1893 crei'rt wurden und welchen es obliegt, Apotheken 
und alle diejenigen Locale, in welchen Arzneien und Drogen verkauft werden, 
zu inspiciren, die Einhaltung der gegebenen Gesetze und Verordnungen zu 
controliren, die Verfälschungen von Arzneien zu verhüten, den Handel und 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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Verkauf nur guter Arzneien und Drogen zu sichern und den Handel mit 
Geheimmitteln zu überwachen. Sie sind zur Beschlagnahme schlechter, ver¬ 
dorbener oder nicht vorschriftsmässig hergestellter Präparate, wie auch zur 
Entnahme von Proben verdächtiger berechtigt und ihre Anzeigen haben 
insolange volle Beweiskraft, als sie nicht durch Gegenbeweise entkräftet sind. 

England. Der Handel mit Arzneiwaaren und die Anfertigung von 
Arzneimitteln ist vollständig frei. 

Es gibt für die Apotheken weder Limitation (numerus clausus) noch 
eine Revision. Die Pharmacie ist frei. Das einzige, was man von einem 
Apotheker verlangt, wenn er Gifte verkaufen oder giftige Stoffe enthaltende 
Arzneien zubereiten will, ist, dass er „registered pharmacist“ oder „registered 
chemist und druggist“ sein muss, was er nur auf Grund eines vor der 
„Pharmaceutical society“ gemachten Examens wird. 

Arzneimittel, die keine Gifte enthalten, kann Jeder machen und ver¬ 
kaufen und thatsächlich gibt es auch zahllose Geschäfte, die sich von den 
eigentlichen englischen Apotheken fast durch nichts unterscheiden, alle mög¬ 
lichen Recepte anfertigen und sogar die Aufschrift „prescriptions dispensed“ 
tragen, aber nicht von Apothekern, sondern von ungeprüften Leuten geführt 
werden, die sich „druggist“ nennen. Auch die Aerzte dispensiren selbst 
Arzneien, wofür sich die Apotheker wieder durch ärztliche Curpfuscherei 
(„prescribing“) revanchiren. Der „Pharmaceutical chemist“ und der „chemist 
and druggist“ haben so ziemlich dieselben Rechte, nur ist ersterer von den 
Jurydiensten befreit und rechnet die Arzneien gewöhnlich theurer. 

Zur Erlangung der Titel registered „pharmaceutical chemist“ und 
„chemist and druggist“ sind seit 1868 bestimmte Studien, ein „minor examen“ 
für letztere und ein „major examen“ für erstere vorgeschrieben. Von der 
Zeit vor 1868 her gibt es auch noch ungeprüfte Apotheker. Die Prüfungen 
büssen dadurch an Werth ein, dass Jedermann (ohne Examen) eine Apotheke 
besitzen kann, wenn er sich einen geprüften Pharmaceuten hält. 

In Schweden bestehen Apotheken, Filialapotheken und Medicamenten- 
Depöts. Die Apotheken sind sämmtlich privilegirt und zwar gibt es Real- 
und persönliche Privilegien, welche jedoch jetzt durch ein eigenes Ver¬ 
fahren in reine Personalrechte umgewandelt werden. Der Unterschied zwischen 
Filialen und Medicamenten-Depöts, von denen die der ersteren Kategorie alle 
älteren Datums sind, vielfach auch nebst den Stammapotheken von dem Amor- 
tisirungsfond eingelöst werden, ist der, dass die Filialen als den Apotheken 
zugehörig und im Privilegium inbegriffen zu betrachten sind und nur durch 
allerhöchste Verfügung in selbständige Apotheken verwandelt werden können, 
in welchem Falle dieselben mitunter einen Theil der Amortisirung zu tragen 
haben. Die Medicamenten-Depöts dagegen, die namentlich in den nördlichsten 
Provinzen bestehen und überwiegend aus neuerer Zeit stammen, werden nur 
als Uebergang zu selbständigen Apotheken errichtet und nach der Con- 
currenz-Ausschreibung Apothekenbesitzern für bestimmte Zeit (gewöhnlich 
fünf Jahre) zugetheilt, um nach dieser Zeit, falls es angebracht erscheint, in 
selbständige Apotheken verwandelt zu werden. 

Die Privilegien werden für alle nach 1830 errichteten Apotheken nur 
als rein persönliche ertheilt, ebenso für die von dem älteren Amortisirungs- 
fond von 1873 eingelösten 94 Ap. und die von dem neueren Amortisirungs- 
fond von 1893 eingelösten 13 Apotheken. Niemals wird — wie dies mehr¬ 
mals im Gnadenwege angestrebt wurde — das Recht zum Weiterbetriebe der 
Apotheke zu Gurfsten der Witwe oder Waisen bewilligt. 

Als verkäufliche Apotheken bestehen jetzt noch 12 Privilegien. Mit 
dem Jahre 1920, in welchem die Amortisirung vollendet ist, werden auch 
diese, und zwar ohne jede Entschädigung, in persönliche Apotheken verwandelt. 


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APOTHEKENWESEN DND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


Zur Errichtung neuer Apotheken geben im Allgemeinen die Behörden, 
civile oder communale — (vielfach auch Privatleute) des betreffenden Platzes 
den Anstoss durch Einreichung an die Medicinalverwaltung. (In seltenen 
Fällen wird wohl auch von der betreffenden Commune einer neuen Apotheke 
ein „Miethsbeitrag“ zugesichert, jedoch nur für die ersten fünf Jahre). Von 
der Medicinal-Verwaltung wird, nachdem Aeusserungen der Aerzte, der Bezirks¬ 
und Provinz-Behörden und der nächsten ansässigen Apotheker eingefordert 
sind, der Vorschlag zur Neuerrichtung an die Regierung eingereicht, die zu¬ 
stimmenden Falles die Medicinal-Verwaltung zu der Ooncessions-Ausschrei- 
bung ermächtigt, wobei auch die näheren Bestimmungen (über Zeit der Er¬ 
öffnung, Beitragshöhe zum Pensionsfond u. s. f.), angegeben werden. 

Als erste Bedingung für eine Neuerrichtung gilt, dass auf dem betreffenden 
Platze ein Arzt ansässig ist und zwar muss eine etatsmässige Aerztestelle 
daselbst eingerichtet sein — womit die Existenzfähigkeit einer neuen Apo¬ 
theke nach Möglichkeit gesichert erscheint. Berücksichtigung finden weiter: 
Entfernung von der nächsten Apotheke und eventuelle Schädigung derselben, 
Einwohnerzahl, Berechnung des Kundenkreises u. s. f. 

Revision. Revidirt werden die Apotheken in Schweden 1. durch jähr¬ 
liche Visitationen, 2. durch in unbestimmten Zwischenräumen stattfin¬ 
dende Inspectionen und 3. durch die hei jeder Neuerrichtung sowie Besitz¬ 
wechsel erfolgenden Besichtigungen. 

Die ersteren werden in Stockholm von einem von der Medicinal-Ver¬ 
waltung ernannten Visitator (jetzt der Professor der Chemie an dem Pharma- 
ceutischen Institute), in der Provinz von dem ersten Provincial-Physikus oder 
Arzt (Schweden ist der administrativen Landeseintheilung entsprechend in 24 
erste Provincialärzte-Districte getheilt) unter Zuziehung des Stadt- oder Bezirks¬ 
arztes vorgenommen. Diese Visitationen werden im Sommer und gleichzeitig 
mit der Inspection der Krankenhäuser, des allgemeinen Gesundheitswesens etc. 
vorgenommen. — Die ausserordentlichen Visitationen, „Inspectionen“ genannt, 
werden von ein oder zwei dazu besonders beorderten Personen, gewöhnlich 
dem Professor der Chemie, an den Universitäten oder pharmaceutischen In¬ 
stituten ausgeführt. 

Die Visitation erstreckt sich auf die Prüfung der Legitimationspapiere 
(Urkunden) des Apothekenvorstandes und des Personales, auf die Einrichtung 
und die Räume der Apotheke, die Geräthe und Utensilien, die Beschaffenheit 
der Arzneimittel etc. Ueber das Ergebnis wird ein Protokoll aufgenommen. 

Auch werden bei den Visitationen bisweilen nach Angabe der Medicinal- 
Verwaltung einige chemische sowie galenische Präparate zur besonderen ver¬ 
gleichenden Prüfung aus sämmtlichen Apotheken entgegengenommen und zur 
Medicinal-Verwaltung eingesandt. 

Norwegen. Die Concessionen zur Führung von Apotheken sind theils 
verkäufliche (Realprivilegien), theils persönliche. Neu errichtete Apotheken 
mit persönlicher Concession dürfen gemäss einer kgl. Resolution vom Jahre 1850 
nicht mehr veräussert werden und müssen sich die Inhaber derselben allen 
bei Erlassung neuer Vorschriften ein tretenden Aenderungen in ihrer Stellung 
und ihren Gerechtsamen von vorneherein unterwerfen. Mit dem Gesetze vom 
25. Februar 1860 wurde das den Apothekerwitwen früher auf die Zeit, als 
sie eine zweite Ehe nicht eingingen, zugestandene Recht der Weiterführung 
der Apotheken aufgehoben und auf einen durch besonderen königlichen Gna¬ 
denact auf zehn Jahre von der Begründung, von fünf Jahren von der Ueber- 
nahme des Betriebes zu bewilligenden Zeitraum eingeschränkt. Ein Apotheker, 
welcher in Zukunft eine persönliche Gerechtsame erhält, muss seiner Frau 
nach den für Staatsbeamte geltenden Vorschriften durch Eintritt in die all¬ 
gemeine Pensionscassa eine Witwenpension sichern. Die Erben eines Apo¬ 
thekers, welcher eine persönliche Gerechtsame innehatte, müssen die Apotheke 


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APOTHEKENWESEN DND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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mindestens sechs Monate nach dem Tode desselben bis zum Antritte seines 
Nachfolgers durch einen approbirten Provisor fortführen, dieser Zeitraum darf 
aber über ein Jahr, von der Ertheilung der Concession an gerechnet, nicht 
ausgedehnt werden. Der Nachfolger ist gehalten, das Inventar und die Lager¬ 
bestände, soweit selbe im brauchbaren Zustande sind und über den angemes¬ 
senen Bedarf nicht hinausgehen, zu erwerben, und wenn eine Einigung über 
den Preis sowie über die Verkaufsbedingungen nicht zu Stande kommt, sich 
dem Ausspruche von drei Schiedsmännern, von denen jede Partei einen, der 
König oder die von diesem betraute Stelle den dritten ernennen, zu unter¬ 
werfen. Seit dem Jahre 1891 ist Jeder, der eine persönliche Apotheken- 
concession erhält, verpflichtet, sich darin zu schicken, wenn seine Concession 
in Folge einer gesetzlichen Aenderung des Apothekenwesens verfallen sollte, 
wobei Inventar und Vorräthe unter gewissen Bedingungen übernommen werden 
und ihm eine Anstellung als Apothekenleiter Vorbehalten bleibt, ferner mit 
Schluss eines jeden Jahres der Medicinalbehörde über den Umsatz im ver¬ 
flossenen Jahre einen Auszug aus den Rechnungen vorzulegen. 

Die Verwaltung des Apothekenwesens liegt in den Händen eines 
Medicinaldirectors, der Arzt ist. Die Apotheker haben in der Administration 
keinen Vertreter aus ihrer eigenen Mitte. 

Die Arzneitaxe wird vom Könige, beziehungsweise dem Medicinaldirector 
festgestellt und alljährlich revidirt. Durchschnittlich sind die Arzneipreise 
im Verhältnisse niedriger als in anderen Staaten. 

Die Initiative zur Errichtung neuer Apotheken liegt in den 
Händen der Regierung. Bestimmte Regeln dafür existiren nicht. Unter den 
Bewerbern sucht die Regierung die tüchtigsten oder ältesten aus, oder viel¬ 
mehr drei, von welchen der König den einen ernennt. Dies gilt jedoch nur 
von den persönlichen Concessionen; mit den realprivilegirten Apothekern hat 
der König nichts zu thun; diese werden von der Regierung autorisirt. 

Revision. Durch ein Gesetz vom Jahre 1672 ist bestimmt, dass 
die Physici (Stadt- oder Kreisphysici) die Apotheken einmal jährlich visitiren 
sollen. Diese Visitation ist jedoch nur ein formeller Act, da diesen Aerzten 
die nöthigen Vorbedingungen fehlen, um eine Apotheke ordentlich revidiren 
zu können. Im Jahre 1894 wurde dem Medicinalrathe ein examinirter Apo¬ 
theker beigegeben, welcher die Revision der Apotheken besorgen soll und 
auch als Revisor der öffentlichen Arzneirechnungen fungirt. 

Die Revision erstreckt sich auf die gewöhnlichen Erfordernisse. Von 
dem Ausfall derselben wird ein Protokoll aufgenommen. 

Dänemark hat mit einer Bevölkerung von ca. 2 Millionen Einwohnern 
166 Apotheken. Diese sind in Beziehung auf die Concession in zwei Kate¬ 
gorien getheilt. Alle Privilegien, welche vor dem Jahre 1842 ertheilt wurden, 
werden als Realrechte betrachtet, das heisst, sie können frei verkauft werden 
(an Pharmaceuten, welche das Staatsexamen gemacht haben und mindestens 
25 Jahre alt sind). Alle Concessionen, welche nach 1842 ertheilt wurden, 
sind persönliche und erlöschen nach dem Tode des Besitzers. Die Personal¬ 
rechte dürfen unter keinen Umständen verkauft werden. Stirbt ein „Personal “- 
Apotheker, so wird die Concession im Concurswege ausgeschrieben und 
nach der Anciennität in der später zu erörternden Weise verliehen. Bis jetzt 
war es den Witwen gestattet, das Privilegium nach dem Tode des Mannes 
bis zum eigenen Ableben fortzuführen. Im April 1894 ist aber ein neues 
Gesetz erschienen, nach welchem die Witwen die Apotheke nur eine bestimmte 
kurze Zeit behalten dürfen und derjenige, welcher die Apotheke verwalten 
soll, vom Justizminister bestätigt werden und mindestens 10 Jahre lang Can- 
didatus pharmaciae sein muss. Fernerhin sollen alle persönlichen Apotheken 
in Zukunft, wenn der Umsatz mehr als 10.000 Kronen beträgt, eine be- 


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APOTHEKENWESEN UND ABZNEIMITTELVEBKEHB. 


stimmte Abgabe an den Staat zahlen. Diese Abgabe soll percentisch nach 
dem Umsätze berechnet werden. Jedes Jahr soll in Zukunft ein jeder Apo¬ 
theker (sowohl des Personal- als des Realrechtes) dem Justizministerium 
Rechenschaft ablegen, wie gross sein Umsatz gewesen ist im Receptur- und 
im Handverkaufe. Die Abgaben, welche die Personalapotheker an den Staat 
zu leisten haben, verbleiben als ein eigener Fond unter der Verwaltung des 
Justizministeriums und der Minister kann nicht darüber verfügen ohne die 
Bewilligung des Reichsrathes. Man hofft, dass dieser Fond in erster Linie 
zur Pensionirung von Apothekerswitwen verwendet werden soll, fernerhin zur 
Subventionirung kleinerer Apothekergeschäfte, welche ohne diese Hilfe nicht 
bestehen können. 

Das Gesetz hat folgenden Wortlaut: 

„ § 1. Bei der Zulassung zur Betreibung persönlicher Apotheken, die bereits früher 
als solche verliehen waren, kann dem neuen Concessionar, insoweit dazu nach der Grösse 
des Umsatzes der betreffenden Apotheke Grund vorhanden zu sein scheint, die Verpflichtung 
einer jährlichen Abgabe auferlegt werden. Bei weiterer Errichtung neuer persönlicher 
Apotheken wird Vorbehalten, entweder sofort oder später Demjenigen, welchem die Er¬ 
laubnis zur Anlage ertheilt ist, die Entrichtung einer jährlichen Abgabe aufzuerlegen, wenn 
der Umsatz der betreffenden Apotheke eine solche Höhe erreicht hat, dass dazu Grund 
vorhanden ist. — § 2. Inwieweit und in welchem Betrage in den betreffenden Fällen die 
in § 1 erwähnte Abgabe entrichtet werden soll, wird für jeden einzelnen Fall vorläufig vom 
Justizminister bestimmt. In der Versammlung des Reichstages von 1894/95 ist dieses Gesetz 
zur Revision vorzulegen, und insofern dann eine gesetzliche Taxe für die in dem vorlie¬ 
genden Gesetze behandelte Abgabe durch ein Gesetz festgestellt werden wird, werden die 
Apotheker, für welche die entsprechende Abgabe in Uebereinstimmung mit diesem Para- 

r aphen vorläufig vom Justizminister bestimmt wird, dieser Taxe unterworfen werden. — 
3 Jeder, dem die Zulassung zur Betreibung einer Apotheke ertheilt ist, ist verpflichtet, 
autorisirte Rechnungsbacher so zu führen, dass daraus die Höhe des Umsatzes klar her¬ 
vorgeht und soll jährlich Ende Februar an das Justizministerium eine auf Treu und 
Glauben abgefasste Angabe der Bruttoeinnahme im abgelaufenen Kalenderjahre einsenden. 
Diese Declaration hat nach einem vom Justizministerium ausgefertigten Schema zu erfolgen. 
Die Einsendung der Declaration kann durch Geldbussen, welche der Justizminister fest¬ 
setzt. erzwungen werden. Die Apotheker, denen die Entrichtung einer Abgabe nach § 1 
des Gesetzes obliegt, sind verpflichtet, der Obrigkeit Einsicht der von ihnen geführten 
Rechnungsbücher zu gestatten. Die Unterlassung der Führung von Handelsbüchern und 
die unordentliche Führung dieser, ebenso unrichtige Angabe der Einkünfte und die Weige¬ 
rung, der Obrigkeit die Rechnungsbücher vorzulegen, kann die Zurücknahme der Zu¬ 
lassung zur Betreibung der Apotheke nach dem Ermessen des Justizministers nach sich 
ziehen. — § 4. Die in § 1 erwähnte Abgabe bildet unter Verwaltung des Justizministeriums 
einen eigenen Fonds, über welchen durch Finanzgesetz Rechnung abgelegt wird und über 
den nicht ohne Genehmigung des Reichstages verfügt werden darf.“ 

Die Errichtung der Apotheken geschieht in folgender Weise: 
Das Sanitätscollegium schlägt dem Justizministerium vor, wo eine Apotheke 
errichtet werden soll und das Ministerium trifft dann die endgiltige Bestim¬ 
mung darüber. Die Bewerber müssen dann binnen sechs Wochen ihre Ge¬ 
suche beim Sanitätscollegium einreichen und diese Autorität schlägt drei 
Candidaten vor. Von diesen drei Candidaten wählt das Ministerium Einen 
zum Apotheker und der König bestätigt die Wahl endgiltig. Ein jeder Apo¬ 
theker in der Hauptstadt Kopenhagen muss beim Staatsexamen den ersten 
Grad erhalten haben. 

Die Revision der Apotheken war früher so eingerichtet, dass die 
Revision einmal jährlich geschehen sollte und zwar in der Hauptstadt durch 
den Präses des königlichen Sanitätscollegiums, den Stadtarzt in Kopenhagen 
und noch ein Mitglied des Sanitätscollegiums. Ausserhalb der Hauptstadt 
wurde die Revision ebenfalls alljährlich durch den Physikus, den Districtsarzt 
und den Polizeimeister ausgeführt. In der Regel wurde die Revision dem 
Apotheker einige Tage vorher angemeldet. Diese Verhältnisse sind jetzt ge¬ 
ändert. Im Jahre 1892 hat der Justizminister dem Reichstage ein Gesetz 
vorgelegt, wodurch das königl. Sanitätscollegium aufgehoben werden und statt 
dessen ein Medicinaldirector mit Beihilfe von drei Aerzten und zwei pharma- 


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APOTHEKENWESEN DND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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ceutischen Mitgliedern die oberste Leitung des Sanitätswesens erhalten sollte. 
Ein Visitator sollte alle Apotheken allein revidiren. Der Visitator sollte ein 
examinirter Pharmaceut sein. Das Gesetz wurde nicht angenommen, ein Vi¬ 
sitator (pharmaceutischer Candidat) ist aber vorläufig angestellt und er unter¬ 
sucht nun in Verbindung mit dem genannten Arzte die Apotheken. Nach 
dem Plane soll jede Apotheke jedes dritte Jahr untersucht werden. Der 
Visitator kommt unangemeldet und die Revision dauert ein bis zwei Tage. 
Chemikalien und galenische Präparate, welche genauer untersucht werden 
sollen, nimmt der Visitator mit sich und untersucht sie im eigenen Labora¬ 
torium, während er dem Apotheher für eventuelle Reclamationen ein ver¬ 
siegeltes Packet mit einem ähnlichen Quantum der zur Untersuchung mitge¬ 
nommenen Probe zurücklässt. Ein Protokoll über die ganzen Visitationen 
wird abgefasst und unterschrieben, um dem Obersten Sanitätsrathe übergeben 
zu werden. Im Falle die Revision zeigt, dass eine Apotheke nicht zweck¬ 
mässig eingerichtet ist, oder die Waare nicht mit den Vorschriften der Phar- 
macopoe stimmt, muss die Revision der Apotheke nach kurzer Zeit wiederholt 
werden. 

In Rngsland gibt es zwei Arten von Apotheken die aber wesent¬ 
lich von den Apotheken in anderen Ländern abweichen, es sind dies 
die gewöhnlichen privilegirten (concessionirten) Normalapotheken und 
die Dorfapotheken. 

Die ersteren, die sogenannten freien Apotheken werden mit Er¬ 
laubnis des Medicinal-Departements des Ministeriums der inneren Angelegen¬ 
heiten errichtet (Art. 238, Band XIII der Gesetzsammlung vom Jahre 1857). 
Dieselben dürfen errichtet und unterhalten werden in den Residenzen und den 
übrigen Städten und Orten des Reiches von Jedem, der solches wünscht, nur 
unter der Bedingung, dass der Errichter oder Besitzer, oder im entgegen¬ 
gesetzten Falle der von ihnen erwählte Verwalter den Grad eines Provisors 
habe und nicht jünger als fünfundzwanzig Jahre sein darf. Eine Ausnahme 
von letzterer Regel ist nur mit Erlaubnis des Ministers der inneren Ange¬ 
legenheiten zulässig. 

Der Besitzer einer freien Apotheke kann über dieselbe nach seinem 
Gutdünken verfügen, kann sie verschenken, vererben, verkaufen, in Arrende 
abgeben oder vernichten, er muss nur zur Zeit darüber der Medicinalbehörde 
Mittheilung erstatten, damit diese ihre Maassregeln treffen kann. 

Als Norm für die Errichtung von Residenz-Apotheken gilt eine Nummer¬ 
zahl von 30.000 Ordinationen und eine Einwohnerzahl von 14.000 pro Apotheke 
(St. Petersburg und Moskau). Für Apotheken in Gouvernementsstädten ist die 
Norm auf 12.000 Ordinationen bei 7000 Einwohner pro Apotheke festgesetzt. Für 
Normal-Apotheken in kleinen Orten gilt eine Entfernung von 15 Werst (ca. 
15 Kilometer) je einer Normal-Apotheke von der anderen. Fernergibt es sogenannte 
Dorfapotheken, d. h. solche, die kein Recht haben, Lehrlinge auszubilden, 
kein Laboratorium zu besitzen brauchen und von Gehilfen im Alter von mehr 
als 25 Jahren verwaltet werden können, für diese gilt eine Entfernung von 
7 Werst von der nächsten Normal- oder Dorf-Apotheke. 

Die sogenannten „Landschafts-Apotheken,“ welche von den Land¬ 
schaftsverwaltungen (den sogenannten „Semstwo“) angelegt werden, sind Spi¬ 
talsapotheken, die an den Landschaftshospitälern errichtet werden und unent¬ 
geltlich Arzneien abgeben. Aus all dem geht hervor, dass die Apothekencon- 
cessionen eigentlich nur dem Namen nach bestehen, in Wirklichkeit ist der 
Apothekenbetrieb sehr wenig beschränkt. 

Wer eine Apotheke zu errichten wünscht, reicht darüber eine Bittschrift 
ein: Für St. Petersburg im Physikat (jetzt Residenz-MedicinalVerwaltung ge¬ 
nannt), in Moskau im dortigen Medicinalcomptoir (jetzt Medicinalverwaltung 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 5 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


genannt), und in den übrigen Gouvernements in den örtlichen Gouvernements- 
Medicinalverwaltungen unter Beilage eines Zeugnisses über den pharmaceu- 
tischen Grad. Die örtliche Medicinalbehörde wendet sich nach Berathung 
mit der Gouvernements-Behörde mit ihrem Beschluss an das Medicinal-Depar- 
tement des Ministeriums der inneren Angelegenheiten, nachdem sie Erkun¬ 
digungen eingezogen über: 1. Die wirkliche Nothwendigkeit der Errichtung 
einer neuen Apotheke im Verhältnisse zur Bevölkerungszahl und zur Zahl 
der am Orte bereits befindlichen Apotheken und 2. wird von den am Orte 
ansässigen Apothekern ein schriftliches Einverständnis abverlangt, ob eine 
neue Apotheke zulässig und, wenn nicht, mit Angabe des Grundes, warum 
selbe nicht zulässig ist. Die Errichtung einer neuen Apotheke wird auch 
ohne Einverständnis des örtlichen Apothekers erlaubt, wenn der Minister des 
Innern die Errichtung für nothwendig und die Gegengründe des Apothekers 
für nicht wichtig hält. 

Nachdem die Medicinalbehörde den Consens des Departements erhalten, 
gibt sie die Erlaubnis zur Errichtung, die im Laufe eines Jahres erfolgen 
muss, widrigenfalls der Bittsteller das Recht zur Eröffnung der Apotheke ver¬ 
liert. Die Apotheke darf nicht früher eröffnet werden, als bis sie von der 
Medicinalbehörde auf Einrichtung und Materialien etc. revidirt worden ist. 

Dieselbe Ordnung wird beobachtet beim Umzug einer Apotheke von 
einer Stadt in die andere oder von einem Haus ins andere an ein und dem¬ 
selben Orte, nur mit dem Unterschiede, dass in letzterem Falle nur der Con¬ 
sens der örtlichen Behörde nachzusuchen ist. 

Bei Vertheilung der Apotheken auf einen Ort, wird darauf gesehen, dass 
sie in gehöriger Entfernung von einander sich befinden. 

Wer in einer Stadt schon eine Apotheke besitzt, kann nicht in der¬ 
selben Stadt eine zweite Apotheke errichten. Ausnahmen sind nur mit Er¬ 
laubnis des Ministers des Innern zulässig. Wenn an einem Orte sich zwei 
oder mehrere Apotheken befinden und eine von ihnen einen so geringen 
Umsatz macht, dass die Regiekosten nicht bestritten werden können, so 
können die übrigen Apotheker solche Apotheken mit Erlaubnis der Medicinal¬ 
behörde ankaufen und vernichten. 

Ueber Einrichtung und Betrieb der Apotheken bestehen fol¬ 
gende Vorschriften: 

Jede Apotheke muss derart eingerichtet sein (Art. 245, Bd. XIH), dass sie die n6- 
thigen Räumlichkeiten sowohl zur Aufbewahrung als auch zur Anfertigung und zum Ablass 
der fertigen Arzneien besitzt. Deswegen muss jede Apotheke haben: 

1. Ein Recepturzimmer (Officin); 2. eine Materialkammer, die derart eingerichtet sein 
muss, dass weder Feuchtigkeit noch allzu grosse Hitze die in ihr aufbewahrten Medicamente 
verändern können; 3. ein Coctorium und ein Laboratorium, zu welchen Zwecken übrigens 
auch ein Raum genügen kann; 4. einen Eiskeller; ö. einen trockenen Keller; 6. eine 
Trockenkammer für Kräuter, nebst einem trockenen Raum cur Aufbewahrung von Kräutern, 
ßlüthen, Rinden etc. 

Eine Apotheke muss haben: 1. Eine genügende Quantität von frischen und guten 
Medicamenten und Materialien, sowohl solche, die in der Pharmacopoe aufgenommen, als 
auch solche, die oft wegen ihrer Güte verschrieben werden. 2. Die zur Aufbewahrung und 
zum Ablass der Arzneien nöthigen Gefässe. 3. Waagen, Gewichte, pharmaceutisch-che- 
mische und physikalische Instrumente und Apparate. 4. Eine Apothekenverordnung, Arznei¬ 
taxe, Aerzte verzeichn iss, russische Pharmacopoe, russische Militärpharmacopoe, Pharmacopoe» 
Germanica und einige bessere Specialwerke über Chemie und Physik. 5. Schnurbücher: 
n) zum Einschreiben der Recepte, b) Handverkaufsbuch, c) Giftbuch. 6. Sammlung ge¬ 
trockneter, in Russland wildwachsender Medicinalpflanzen (Herbarium siccum pharma- 
ceuticum). 

Gifte müssen sowohl in der Apotheke als auch in den übrigen Räumen in beson¬ 
deren Schränken und unter Verschluss aufbewahrt werden. Zum Abwägen derselben dienen 
besondere Waagschalen. 

Ausser dem Verwalter sind bei der Apotheke noch Gehilfen und Lehrlinge angestellt; 
ihre Zahl muss dem Umsätze der Apotheke entsprechen. 

Das Engagement und die Entlassung von Conditionirenden hängt ab vom Besitzer 
öder Verwalter der Apotheke unter der Bedingung, dass über jeden solchen Fall der ört- 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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liehen Medicinalbehörde Mittheilnng gemacht und am Schlüsse des Jahres eine Jahres¬ 
abrechnung über Ein- und Ausgetretene vorgelegt werde. — Die Bereitung der Arzneien 
liegt dem Besitzer der Apotheke oder dem Verwalter ob, welcher auch beim Ablass der 
Arznei anwesend sein muss; im Falle ihrer Abwesenheit werden sie von Apothekergehilfen 
vertreten. Zur Nachtzeit muss wenigstens ein Pharmaceut vorhanden sein. 

Arzneien werden verabfolgt: 1. Nach ärztlichen Verordnungen: 2. nach Copien von 
Recepten: 3. nach Signaturen und nach mündlichen und schriftlichen Forderungen von 
Privatpersonen. 

Die ärztlichen Verordnungen müssen zu jeder Zeit ohne Aufenthalt und der Reihen¬ 
folge nach befriedigt werden. Statim- (cito-) Recepte werden ausser der Reihe (sofort) ver¬ 
abfolgt. Die Recepte müssen täglich in ein besonderes Buch eingetragen werden und 
wenigstens drei Jahre aufbewahrt werden, die Receptbücher zehn Jahre. 

Die Arznei muss gut verkorkt, verbunden und versiegelt sein. Die beigegebene 
Signatur muss die Benennung der Apotheke, Namen des Besitzers, des ordinirenden Arztes, 
die Ordination, Preis, Datum und auf der Rückseite die Copie des Receptes tragen. Aeusser- 
liche Arzneien erhalten Signaturen von gelber Farbe. Der Taxpreis der Arznei darf nicht 
überschritten werden. 

Revision. Die Medicinalbehörden haben nach den Bestimmungen des Regle¬ 
ments vom Jahre 1864 die Controle über die Apotheken zu führen. Die Revisionen 
werden mindestens einmal im Jahre plötzlich vollführt, wobei das Hauptaugen¬ 
merk auf den Ablass und die Güte der Arzneien gerichtet wird, worüber ein 
Protokoll aufgesetzt wird, welches dem Medicinaldepartement zu übermitteln 
ist. Die Revision wird ausschliesslich von Aerzten vorgenommen, nur in 
St. Petersburg wird derselben ein Deputirter der Apothekenbesitzer beigezogen. 
Die Kosten der Revision trägt die Staatscasse. 

Arzneitaxe. Dieselbe wird nur zeitweilig ausgeben, die letzte 1892. 

Die Berechnung der Arzneistoffe ist in derselben nach einem neuen Prin¬ 
cipe durchgeführt worden und zwar nach dem der progressiven Steigerung 
bei verringerter Menge. Es werden jetzt aufgeschlagen: auf den Pfundpreis 
(pond. med.) — 50, auf ein halbes Pfund — 75, auf eine Unze — 100, auf 
den Drachmenpreis — 125, auf den Granpreis — 200 pCt wobei vom neuesten 
Preis-Courant der nächsten Gross-Drogisten als Grundlage ausgegangen wird. 
Die Taxe berücksichtigt weiter nicht nur die in der Pharmakopoe aufgenom¬ 
menen, sondern wohl so ziemlich alle anderen, in der Medicin gebräuchlichen 
Mittel; es finden sich im Ganzen mit Einschluss der gebräuchlichsten Synonyme 
über 3100 Preisansätze in der Taxe vor. Die in der Landespharmakopoe nicht 
berücksichtigten Arzneistoffe sind durch besonderen Druck kenntlich gemacht 
worden; verpflichtet sie auf Lager zu haben ist der Apotheker natürlich nicht. 
Die in der Taxe nicht aufgenommenen galenischen Präparate sind analog den 
aufgenommenen galenischen Präparate zu berechnen. Bei nicht aufgeführtem 
Preise für die grössere Gewichtseinheit wird der Granpreis mit 40, der 
Drachmenpreis mit 20, der Unzenpreis mit 10 multiplicirt. Im Falle eines 
Preisnachlasses seitens des Apothekers sind beide Preise, der nach der Taxe 
und der ermässigte auf der Signatur oder Copie zu vermerken. Bei Dispen- 
sirung vergrösserter oder verringerter Arzneimengen, als wie vom Arzt ordinirt 
wurden, ist der Preis für die Arzneistoffe sowie für die Anfertigung und den 
Ablass entsprechend umzurechnen. Von einiger praktischen Bedeutung ist die 
Bestimmung, wonach der Apotheker, wenn er ein galenisches Präparat von 
anderer Zusammensetzung, als wie in dem der Taxe beigegebenem Manual 
aufgenommenen ablässt, er die Vorschrift auf der Signatur genau anzugeben 
oder auf die entsprechende Pharmakopoe hinzuweisen hat. Das der Taxe 
beigegebene Manual enthält nicht ganz 500 Vorschriften solcher galenischer 
Präparate, die in der Pharmac. Ross. ed. IV nicht aufgenommen sind. 

Italien. In Italien herrschen zur Zeit noch ziemlich verworrene Bestim¬ 
mungen über die Ausübung des Apothekergewerbes. Während in den meisten 
Provinzen des geeinigten Königreiches die Pharmacie seit jeher ein freies 
Gewerbe bildete, ist sie in anderen an eine Concession gebunden, über welche 
ebenfalls ganz verschiedene Bestimmungen existiren, in manchen Provinzen 

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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


(so namentlich in den früheren österr. Provinzen Venezien und Lombardei) 
existiren sogar noch Realgewerbe. Mittelst Gesetz vom Jahre 1888 wurde 
nun in diese verschiedenartigen Verhältnisse insoferne Ordnung gebracht, als 
damit die allgemeine Einführung der Niederlassungsfreiheit decretirt wurde. 
Ursprünglich sollte dieselbe bereits 1893 in Kraft treten, wird aber nun durch 
ein neues vom italienischen Parlamente genehmigtes Gesetz bis zum Jahre 
1906 verschoben. Dieser Aufschub war nothwendig geworden, weil einmal 
nur schwierig die Entschädigung zu ermitteln war, die den Inhabern von 
Privilegien und gewissen Concessionen nach dem genannten Gesetz zustand, 
weil weiterhin aber auch die financielle Lage des italienischen Staates eine 
solche Entschädigung unausführbar machte. Die betreffenden Rechte werden 
nun ohne jede Entschädigung erlöschen. Das betreffende Gesetz lautet: 

1. All© im Gesetz vom 22. December 1888, § 68, erwähnten Privilegien und gegen 
Abgaben an den Staat erworbenen Concessionen gelten mit dem 81. December 1906 als 
aufgehoben. Mit diesem Aufschub erlischt jedes Recht auf die in dem Gesetz bestimmte 
Entschädigung. 2. In denjenigen Orten, in welchen bis zu jenem Zeitpunkt privilegirte 
oder gegen Abgaben an den Staat concessionirte Apotheken bestehen, können inzwischen 
neue Apotheken eröffnet werden gegen Zahlung einer Entschädidungssumme zu Gunsten 
der geschädigten Apotheken. 3. Können sich die Parteien über die zu zahlende Entschä¬ 
digung nicht einigen, so wird diese von einer aus richterlichen, Verwaltungs- und Sanitäts¬ 
beamten zusammengesetzten Provinzial-Commission festgestellt. Die Commission kann, 
während das Verfahren noch schwebt, die sofortige Eröffnung einer Apotheke verfügen, 
sofern der Antragsteller eine Caution in Höhe der voraussichtlich zu zahlenden Entschä¬ 
digungssumme hinterlegt. Die Bestimmungen dieses und der vorhergehenden Artikel finden 
auch Anwendung auf die seit Erlass des Gesetzes vom 22. December 1888 bereits eröffneten 
Apotheken. 4. Gegen die Entscheidung der Commission ist Berufung zulässig. Wird die 
Berufung anerkannt, so wird die Sache zur erneuten Entscheidung einer benachbarten 
Provinzial-Commission überwiesen. 

Zar Ausübung der Pharmacie sind aber jetzt sehr Lohe Studien 
(Gymnasial-Matura und 3 Jahre Universität) vorgeschrieben, so dass nicht 
genügend Nachwuchs vorhanden ist und viele Apotheken auf dem Lande eingehen. 
Man hat sich inzwischen damit geholfen, ausser den ordnungsmässig diplo- 
mirten Apothekern noch alte, unstudirte Pharmaceuten („vecchii practicanti“, 
d. i. „alte Praktikanten“ genannt) zur Ausübung der Pharmacie zuzulassen 
und verlangt man von den letzteren nur eine kleine Prüfung, wonach sie 
Landapotheken auch selbständig fuhren können. Ausserdem wurden in den 
kleinen Orten Gemeinde-Arzneikästen eingeführt. 

Eine regelmässige Revision der Apotheken fand bisher nicht statt. 
Solche wurden in der Regel nur bei Besitzwechsel oder aus besonderen 
Gründen vorgenommen und zwar verfügen dieselben die Präfecten der Pro¬ 
vinzen, zumeist auf Antrag des Provinzial Sanitätsrathes. Die Visitation 
erstreckt sich auf die Prüfung des Diploms des Apothekenvorstandes, auf den 
allgemeinen Zustand der Apotheke, auf die Reinheit einiger wichtiger Arznei¬ 
mittel und auf den Giftverkauf, über den ein besonderes Buch zu führen ist. 
Ende 1892 ordnete die Regierung eine Revision der Apotheken durch Polizei¬ 
beamte und in deren Ermangelung durch Gendarmerie an, um zu controliren, 
ob überall die neue Pharmakopoe vorhanden und ob die betreffenden Apotheker 
die behördliche Licenz zur Ausübung der Pharmacie besitzen. Mit vollem 
Rechte waren die Apotheker über diese Art der Revision durch Gendarme 
empört und beschwerten sich hierüber. 

Nach einer Bestimmung der Pharmakopoe sind die sämmtlichen 
Apotheken des Königreiches Italien alle 2 Jahre zu revidiren. 

Seit Kurzem besteht in Italien eine amtliche, für das ganze Königreich 
geltende Pharmakopoe und ebenso eine amtliche Arzneitaxe. Letztere erschien 
1892 und ist wesentlich höher als andere Arzneitaxea, hat aber nur Preise 
für die Arzneiwaren und eine Arbeitstaxe, während eine Taxe für Gefässe fehlt. 

Spanien. In Spanien herrscht, wie in allen romanischen Ländern das 
System der Niederlassungsfreiheit. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZN EIMITTEL VERKEHR. 


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Die Errichtung neuer, bezw. Uebernahme bestehender Apotheken 
steht jedem examinirten Apotheker frei. Er hat nur dem Alcalden (Bürger¬ 
meister) des Ortes unter Beilage folgender Documente hievon Mittheilung zu 
machen: 1. Approbations- Diplom, 2. Plan der Localitäten, 3. Liste der vorhan¬ 
denen Arzneiwaaren, Apparate, Instrumente, Einrichtungsstücke und Utensilien. 

Revision. Die Controle der Apotheken führen die „Subdelegados de 
farmacia“, der „Juntas provinciales y municipales“ (Landes-, bezw. städt. 
Sanitätsräthe), in welchen nebst dem Gouverneur und Deputirten der Provinz, 
dem Bürgermeister und in Seestädten dem Hafencapitän, noch 1 Architekt, 
2 Aerzte, 2 Apotheker, 1 Wundarzt und 1 Thierarzt Sitz und Stimme haben. 
Einer dieser 2 Apotheker ist der „Subdelegado de farmacia“ und hat den 
Titel und die Zeugnisse der Apotheker zu prüfen, darüber Listen zu führen 
und zu achten, dass kein Unbefugter die Pharmacie ausübe. Er besorgt die 
Inspection über alle Apotheken, Droguerien, Fabriken von Gift und Arznei¬ 
waaren etc. und hat alle neueröffneten und wiedereröffneten „Boticas“ zu 
visitiren, aber nur über Aufforderung der politischen Behörde und im Beisein 
des Bürgermeisters und einer oder zweier Aerzte als Zeugen. 

Rumänien. Die Apotheken bilden ein vom Staate concessionirtes Ge¬ 
werbe. Die Concessionen werden vom Ministerium des Innern ertheilt. Die 
Regelung des Apothekenwesens fusst auf dem Sanitätsgesetze vom 
14. Juni 1894, das in der Abtheilung V über die Ausübung der Pharmacie 
bestimmt. 

Das Ansuchen um Errichtung neuer Apotheken kann durch die 
Localbehörden, sowie auch durch Phannaceuten gestellt werden. Das Mini¬ 
sterium des Innern prüft die Stichhältigkeit der vorgebrachten Begründung 
durch seine Organe, als da sind: der Oberste Sanitätsrath, die pharmaceutische 
Commission, die Gesundheitscommissionen (Conseils d’hygiene) der Districte und 
Städte, und veröffentlicht den Concurs (§ 122). 

Die Zulassung zu diesem Wettbewerbe ist genau bestimmt und zwar 
muss der Candidat nach weisen: 

1. Den Besitz eines Diplomes als Licentiat (Magister) der Pharmacie der Bukarester 
pharmaceutischen Fachschule oder eines durch vorhergegangene Admissionsprüfung aner¬ 
kannten Diplomes einer ausländischen Fachschule. — 2. Den Besitz des rumänischen 
Staatsbürgerrechts, d. h. der Candidat muss Rumäne oder in aller Form naturalisirt sein. 
— 3. Ein als Licentiat abgelegtes Militärdienstjahr. — 4. Zwei Jahre Praxis als Licentiat 
(Magister), worin das Militärjahr nicht inbegriffen ist. — ö. Seine Unbescholtenheit. — Nach¬ 
weis des Vermögens wird nicht gefordert. 

Der Wettbewerb ist ein wissenschaftlicher und umfasst 4 Prüfüngen: 
a) Eine schriftliche aus der Pharmakognosie, wofür dem Candidaten unter 
Aufsicht 3 Stunden bewilligt sind; — b) eine mündliche aus der allgemeinen 
pharmaceutischen Chemie, wofür dem Candidaten 10 Minuten Ueberlegungs- 
zeit und weitere 10 Minuten zur Beantwortung der Frage zugestanden wer¬ 
den; — c) eine praktische, bestehend in der Anfertigung eines chemisch- 
pharmaceutischen Präparates, in der Dauer von acht Tagen; — d) Erkennung 
von Drogen. Handelt es sich um Ertheilung mehrerer Concessionen, so er¬ 
folgt dieselbe in der Reihenfolge der Qualificationen. 

Die Frist bis zur Eröffnung einer neu concessionirten Apotheke ist auf 
neun Monate bemessen, nach welcher Zeit dieselbe für den Concessionär er¬ 
lischt, wenn die Verzögerung nicht durch ganz besondere, triftige Gründe 
gerechtfertigt ist. 

Der Concessionär muss seine Apotheke selbst eröffnen und durch zehn 
Jahre persönlich leiten; erst nach dieser Frist kann er sie verkaufen, ver¬ 
pachten, oder verwalten lassen. Ausnahmen hievon können in besonderen 
Fällen von der obersten Sanitätsbehörde bewilligt werden. Der Concessionär, 
der seine Apotheke verkauft, kann zu einem neuen Concurse nicht zugelassen 
werden, dagegen kann der Inhaber einer Concession bei einem neuen Wett- 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


bewerbe mitconcurriren und falls er reussirt, sich eine bessere Station erwer¬ 
ben. In diesem Falle verzichtet er selbstverständlichauf sein erstes Recht, 
welches einem anderen Wettbewerber verliehen wird. 

Hausapotheken können von Aerzten und Thierärzten in Orten, wo 
keine Apotheke und die nächste mindestens 5 Kilometer weit entfernt ist, 
geführt werden und ist für dieselben die gesetzliche Arzneitaxe bindend. 

Revision. Die Controle über das Apothekenwesen wird vom Mini¬ 
sterium des Innern durch den Obersten Sanitätsrath, und dessen untergeord¬ 
nete Behörden geführt. Ausser der Pharmaceutischen Commission, welche in 
Bukarest ihren Sitz hat und dem Obersten Sanitätsrathe berathend aber nicht 
bestimmend zur Seite steht, fungiren in jedem Districte und in den grösseren 
Städten Sanitätsräthe (Conseils d’bygiene), bestehend aus dem Präfecten, den 
angestellten Aerzten des Districtes und dessen Spitälern, einem Apotheker, 
dem Bezirksthierarzt, einem Architekten, und einem Ingenieur. — Die acht 
grössten Städte des Landes: Bukarest, Jassy, Craiova, Ploiesci, Braila, Galatz 
Focsani und Botosani haben für sich je einen Conseil d’hygiene, dieselben 
bestehen aus dem Bürgermeister, einem Communalrath, allen angestelten 
Communal- und Spitalsärzten, dem Stadtthierarzt, einem Apotheker, einem 
Architekten und einem Ingenieur. Die Thätigkeit dieses Conseil d’hygiene 
beschränkt sich auf die Controle des Sanitätswesens der betreifenden Stadt, 
während die Districtssanitätsräthe die Aufsicht über das Sanitätswesen des 
ganzen Districtes haben. Diese Conseils d’hygiene sind die directen Vor¬ 
gesetzten Behörden des Localsanitätswesens, mithin auch der Apotheker. 
Sie beaufsichtigen den richtigen Gang der Apotheke, überwachen das Einhalten 
der pharmaceutischen Gesetze, der Taxe, müssen über alle Veränderungen 
im Besitze, der Leitung, des Localwechsels, über den Wechsel des Personals 
ete. im Laufenden erhalten und deren Genehmigung eingeholt werden. 
Sie halten regelmässig, zweimal des Jahres Apothekenrevision und haben über 
Alles dem Obersten Sanitätsrathe Bericht zu erstatten und dessen Bestätigung 
einzuholen. Ausserdem können und werden Apothekenrevisionen zeitweilig 
gehalten von Delegirten des Obersten Sanitätsrathes (Sanitätsinspectoren), 
von der Pharmaceutischen Commission etc. Alle Revisionen sind unentgeltlich. 

Die Revisionen erstrecken sich wie überall auf den Zustand der Apo¬ 
theke, die Beschaffenheit der Arzneiwaaren, den Giftverkehr, die Documente 
des Apothekenverwalters etc. 

Bezüglich des Personals wird die Controle sehr strenge gehandhabt. 
Es können nur Rumänen oder naturalisirte Fremde Leiter einer Apotheke 
sein. Fremde Magister können wohl conditioniren, doch müssen sie ihr Diplom 
durch eine Admissions-Prüfung bestätigen, welche mit einer Taxe von 
Frcs. 300 verbunden ist. Diese, sowie der Umstand, dass die Prüfung in 
rumänischer Sprache abgelegt werden muss, die Erlandung der Naturalisation 
mehrere Jahre erfordert, bilden starke Hemnisse für fremde Pharmaceuten. 
Assistenten können nur mit dem Zeugnisse der Bukarester pharmaceutischen 
Hochschule fungiren (§ 132). Eleven müssen womöglich Rumänen sein, Fremde 
können nur in solchen Apotheken Aufnahme finden, wo schon ein oder 
mehrere rumänische Eleven aufgenommen sind. 

An Apotheken hat Rumänien gegenwärtig 172 definitive und 15 Filialen. 

Serbien. Das Apothekenwesen in Serbien ist nach österreichischem 
Muster eingerichtet. Die Apotheken bilden concessionirte Gewerbe, die sämmtlich 
verkäuflich sind. Die Ausbildung erfolgt ähnlich wie in Oesterreich. Zum 
Eintritt in die Pharmacie sind wie in Oesterreich 6 Gymnasialclassen er¬ 
forderlich. Nach 3jähriger Lehrzeit wird (gewöhnlich bei einem öster¬ 
reichischen Apothergremium, nachdem in Serbien keine Universität existirt 
und die serbischen Pharmaceuten daher angewiesen sind die österreichischen 
Universitäten zu besuchen) die Tirocinalprüfung abgelegt. Der Besuch der 


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Universität erfolgt in Wien oder Graz. Nur die Diplome dieser beiden öster¬ 
reichischen und der Pariser Pharmacieschule berechtigen zur Ausübung der 
Pharmacie in Serbien. Statt der gegenwärtig in Oesterreich eingeführten 
5jährigen Conditionszeit ist in Serbien noch die 2jährige Conditionszeit, die 
auch nach erlangtem Diplom abgelegt werden kann, vorgeschrieben. Die ser¬ 
bische Pharmakopoe datirt aus dem Jahre 1881 und lehnt sich stark an die 
6. Ausgabe der österreichischen Pharmakopoe an. Die Arzneitaxe ist ebenfalls 
nach österreichischem Muster bearbeitet und ganz veraltet. Die serbischen 
Apotheker bilden einen Verein, der gewöhnlich einmal im Jahre zu einer 
Generalversammlung Zusammentritt und die Interessen des Standes vertritt. 

Die Errichtung neuer Apotheken kommt in Serbien verhältnismässig 
selten vor, da die meisten Orte, wo überhaupt eine Apotheke bestehen könnte, 
damit versehen sind. 

Die Apotheken erleiden durch die Detaildrogisten ziemlichen Schaden. 
Letztere erfreuen sich der grössten Freiheit, während der Apothekenbetrieb 
auch hier in vieler Beziehung beschränkt ist. Im Jahre 1891 beschloss die 
Skuptschina die Abänderung einiger Bestimmungen des § 24 des Sanitäts¬ 
gesetzes, betreffend die Errichtung, Führung und Erblichkeit der 
Apotheken. Die wichtigsten Neuerungen sind: 

Eine neue Apotheke kann von hiezu qualificirten Personen errichtet werden in 
Orten, wo noch keine Apotheke besteht, wenn sie auch nur 2000 oder unter Umständen 
auch weniger Einwohner zählen. Besteht eine öffentliche Apotheke bereits im Orte, so 
kann eine zweite errichtet werden, wenn die Einwohnerzahl 6000 erreicht, eine dritte 
kommt auf weitere 4000, jede weitere auf je 5000 Einwohner. (Diese Normalzahlen be¬ 
deuten eine wichtige Neuerung. Früher durfte in Orten unter 4000 Einwohnern keine 
Apotheke errichtet werden. Bestand eine Apotheke bereits im Orte, so war für jede Neu¬ 
errichtung eine Einwohnerzahl von je 5000 Seelen erforderlich, so dass in Orten von 
15.000 Seelen nur 3 Apotheken bewilligt werden konnten.) Bei Verleihung im öffentlichen 
Concurswege sind in erster Linie die Söhne des Landes, in zweiter Linie ausländische 
Serben zu berücksichtigen. In Ermangelung solcher Bewerber können auch Ausländer die 
Concession erhalten. Die Concession ist übertragbar und verkäuflich, jedoch nur mit Zu¬ 
stimmung des Ministers des Innern. Nach dem Ableben eines Apothekenbesitzers wird ein 
Administrator eingesetzt, der serbischer Unterthan sein muss. Hinterlässt ein Apotheken¬ 
besitzer keine Erben, dann muss die Apotheke binnen sechs Monaten an jenen verkauft 
werden, welcher die Einwilligung des Ministers zur käuflichen Uebernahme erhalten hat. 
Hinterlässt der Apotheker eine Witwe, dann darf die Apotheke noch drei Jahre weiter¬ 
geführt werden, hinterbleiben minderjährige Kinder, dann darf die Führung der Apotheke 
einem Administrator durch längstens fünf Jahre unter dem alten Namen ertheilt werden. 
Bleiben aber grossjährige männliche oder versorgte weibliche Kinder zurück, oder tritt 
dieser Fall innerhalb drei Jahren ein, dann muss die Apotheke in längstens sechs Monaten 
an einen vom Minister des Innern bevollmächtigten Käufer abgegeben werden. Eine Aus¬ 
nahme tritt nur dann ein, wenn ein Sohn des verstorbenen Besitzers sich der Pharmacie 
gewidmet hat; dieser ist dann nach Erlangung des Diploms und der Qualification berechtigt, 
die väterliche Apotheke im eigenen Namen weiterzuführen. 

Revision. Die Apothekenvisitationen finden gewöhnlich in ziemlich 
langen Zwischenräumen statt, etwa einmal in 4—5 Jahren; dieselben werden 
von einem Staatschemiker in Gegenwart des Kreisarztes und Kreishaupt¬ 
mannes vorgenommen und dauert so eine Visitation 8—10 Tage. Während 
dieser Zeit wird Alles durch gestöbert und ausser qualitativen, werden bei 
wichtigeren chemischen Präparaten auch quantitative Analysen vorgenommen. 
Die Kosten der Visitation trägt der betreffende Apotheker, was ihm ver¬ 
hältnismässig sehr hoch za stehen kommt. 

Bulgarien. Die Pharmacie bildet ein concessionirtes Gewebe. Die Be¬ 
stimmungen über das Apothekenwesen sind im Sanitätsgesetz vom Jahre 1889, 
Capitel XXV, enthalten. Die wichtigsten derselben sind: 

Art. 155. Niemand kann ohne Bewilligung des Obersten Sanitätsrathes und der Be¬ 
stätigung des Ministeriums für innere Angelegenheiten eine Apotheke eröffnen. 

Art. 156. Die Bewilligung zur Errichtung und Führung einer Apotheke wird nur 
solchen Personen ertheilt, welche ein Diplom als Magister oder Doctor der Pharmacie be¬ 
sitzen und die Erlaubnis der freien Praxis für Bulgarien erlangt, ferner das 23. Lebens- 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


jahr überschritten haben und eines moralischen, sittlichen Lebenswandels sicn befleissen. 
Niemand kann mehr als eine Apotheke besitzen. 

(Jeder, der die pharm. Praxis ausüben will muss sich nach Art. 153 
des Sanitätsgesetzes Capitel XXIV beim Obersten Sanitätsrathe einem Collo¬ 
quium unterziehen und dafür die Taxe (100 fl. ö. W.) zahlen. Mit den er¬ 
haltenen Documenten muss er sich dann bei der betreffenden Sanitätsbehörde 
ausweisen und anmelden.) 

Art 157. In grösseren Städten wird auf 8000 Einwohner eine Apotheke bewilligt. 
In kleineren Städten bis 4000 Einwohner ist letztere Zahl genügend. 

Art. 158. In Städten und Ortschaften, wo sich keine Apotheke befindet und noch 
Niemand um die Errichtung einer solchen nachgesucht hat, ist es dem Apotheker einer 
nächBtgelegenen Stadt erlaubt, eine Filiale zu eröffnen. 

a) Diese Filiale kann auch von einem Apotheker-Assistenten geleitet werden, verant¬ 
wortlich aber bleibt der Apothekenbesitzer. 

b) Wo kein Arzt ansässig ist, wird auch keine Apotheke bewilligt. 

e) Wo keine Apotheke oder Filiale sich befindet, ist es dem Arzte erlaubt, zum Tax¬ 
preise Medicamente abzugeben. 

Art. 159. Bei Bewerbung um die Errichtung einer neuen Apotheke ist bei mehreren 
Competenten derjenige zu berücksichtigen, welcher bulgarischer Unterthan ist, oder eine 
höhere pharmaceutische Bildung oder längere Praxis nachweist; Ausländer müssen die 
Erklärung abgeben, dass sie sich den Landesgesetzen in Apothekenangelegenheiten unter¬ 
werfen und dürfen in solchen unter keiner Bedingung den Schutz ihrer Consulate anrufen. 

Art. 160. Wer die Erlaubnis zur Errichtung einer neuen Apotheke erhält und diese 
nach 10 Monaten nicht dem Verkehr übergibt, verliert das Recht und muss um eine neue 
Erlaubnis nachsucben. 

Art. 161. Für die Uebertragung einer Apotheke von einer Stadt in die andere, muss 
um die Erlaubnis, wie zur Errichtung einer neuen Apotheke nachgesucht werden. 

Art. 162. Von einer Apotheke bis zur anderen muss eine Entfernung von mindestens 
250»» nach allen Richtungen der Strassen vorhanden sein. 

Art 163. Jeder Apothekenbesitzer oder seine Erben können, wenn sie bulgarische 
Unterthanen, ihre Apotheken einem andern Apotheker verkaufen oder durch einen befähig¬ 
ten Magister leiten lassen. 

Apothekenbesitzer, die keine Apotheker sind, aber vor dem Erscheinen dieses Ge¬ 
setzes Apotheken besassen, so wie ihre Familien haben dieselben Rechte, wenn sie bul¬ 
garische Unterthanen sind. 

Art. 164 Für die innere Einrichtung und Qualität der Medicamente ist die Staats¬ 
pharmakopoe obligat. (Bis zur Herausgabe einer bulgarischen Pharmakopoe ist die jeweüige 
neueste russische Pharmakopoe obligat.) 

Art. 165. Bei Abgabe von Medicamenten halten sich die Apotheker an eine eigene 
Taxe, welche vom Obersten Sanitätsrathe ausgearbeitet und allerhöchsten Orts sanctio- 
nirt wird. 

Der Oberste Sanitätsrath arbeitet alle drei Jahre eine neue Taxe nach Maassgabe des 
Steigens oder Fallens der Medicamentenpreise aus und dienen als Maassstab die Preis¬ 
courante der angesehensten europäischen Drogenhäuser. 

Die Taxe für Thierarzneien ist um 25°/ 0 billiger. 

Ueber die Apotheken-Revisionen sagt das bulgarische Apotheken¬ 
gesetz vom Jahre 1890. Capitel VIII: 

Art. 36—42. Der Oberste Sanitätsrath inspicirt alle Apotheker des Fürstenthums 
durch den Vorstand der Abtheilung für Apothekerangelegenheiten jährlich einmal. Die 
Zeit der Inspection wird vom Sanitäts-Director bestimmt. — Ausser vorstehend erwähnter 
Revision finden noch periodische und ausserordentliche Revisionen statt: 1. wenn eine neue 
Apotheke eröffnet wird, 2. wenn eine Apotheke den Standort wechselt, 3. wenn ein Besitz¬ 
wechsel stattfindet. Diese Revisionen werden vom Bezirks-, Gemeinde- oder Stadtarzte 
vorgenommen. — Bei den Revisionen überzeugen sich die Revisoren, ob die bestehenden 
Vorschriften genau beobachtet werden. — Ueber jede Revision wird ein Protokoll auf¬ 
genommen, in welches alles Bemerkte verzeichnet wird. — Bei den Revisionen prüft der 
Revisor einzelne einfache wie auch zusammengesetzte Arzneimittel. Das Resultat wird dem 
Protokolle einverleibt. — Das Protokoll wird in zwei Exemplaren verfasst und vom Revisor 
und Apotheker gefertigt; ein Exemplar bleibt in der revidirten Apotheke, das zweite wird 
der Obersten Sanitätsdirection eingesendet. Bei der stattfindenden Revision sind die Apothe¬ 
ker verbunden, das Protokoll der vorhergegangenen Revision vorzuzeigen. 

Ueber die Befähigung zur Leitung einer Apotheke sagt das 
Capitel XXIV des Sanitätsgesetzes vom Jahre 1889: 

Art 151. Die Ausübung der Praxis wird Medicinern, Pharm&ceuten, Veterinären, 
Hebammen, Zahnärzten, welche den erforderlichen Befähigungsnachweis beibringen, ge- 


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stattet, sobald sie beim Obersten Sanitätsrath ein Colloquium mit Erfolg abgelegt haben. 
Die Taxe für dieses Colloquium beträgt 100 fl., nur im Falle Candidat reprobirt wird, 
erhält er die halbe Taxe zurück. 

Art. 152. Die Praxis als Mediciner schliesst die Praxis als Apotheker aus. 

Griechenland. Die Ausübung der Pharmacie ist an die Erlangung 
eines Diploms und an eine Bewilligung der Sanitätsbehörde gebunden d. h. 
der Apotheker muss vom Sanitätsrathe die Bewilligung zum Prakticiren 
erlangt haben. Der Apothekenbetrieb ist nicht ganz frei, sondern limitirt 
und zwar kommen im Allgemeinen circa 3—4000 Einwohner auf eine Apotheke. 

Während es in den Städten viele Apotheken gibt, fehlen dieselben am 
Lande, wo — auch nur in den grösseren Orten — Aerzte Hausapotheken 
halten. 

Alle Apotheken in Griechenland stehen unter der Leitung wissen¬ 
schaftlich gebildeter Apotheker, mit Ausnahme einiger Apotheken in Thes¬ 
salien und auf den Jonischen Inseln, wo das Fortbestehen solcher Apotheken 
durch ein Specialgesetz gestattet wurde, seit diese Länder griechische Pro¬ 
vinzen geworden sind, aber auch bei dieser Ausnahme wird von diesen privi- 
legirten Apothekern eine praktische Prüfung vor dem Sanitätsrathe gefordert. 
Nach dem Tode des Leiters einer Apotheke wird dieselbe nur an wissen¬ 
schaftlich gebildete Apotheker, welche das Recht zu Prakticiren haben, über¬ 
tragen — so weit das Recht der Uebertragung vorhanden ist. 

Die Errichtung von Apotheken ist in Orten gestattet, wo die Be¬ 
völkerung nicht weniger als 1000 Personen beträgt, ln Orten, wo die Be¬ 
völkerung zwischen 3000 und 6000 Personen schwankt, dürfen zwei Apotheken 
neben einander existiren. Wenn die Bevölkerungszahl einer Oertlichkeit 
6—30 Tausend Einwohner beträgt, so kommt eine Apotheke auf je 3000 Ein¬ 
wohner, wenn die Bevölkerung höher ist als 30.000 Einwohner, so kommt 
auf je 4000 Einwohner eine Apotheke. — Melden sich mehrere Bewerber mit 
gleichem Prüfungscalcül zur Errichtung einer Apotheke, so bekommt derjenige 
den Vorzug, welcher die Erlaubnis zum Prakticiren früher bekommen hatte. 

Revision. Eine gesetzlich vorgeschriebene Controle der Apotheken 
besteht nicht. Da keine Pharmakopoe vorhanden ist (es erschien 1837 eine 
Pharmakopoe, seither nicht mehr) fehlt auch die Grundlage für eine ordent¬ 
liche Revision der Apotheken. Eine neue Arzneitaxe erschien 1894. 

Türkei. In der Türkei war die Ausübung der Pharmacie (i. e. europäisch 
geführter Apotheken) früher an eine besondere Concession gebunden und die Zahl 
der Apotheken limitirt (in Constantinopel gab es damals kaum 50 Apotheken, 
während deren jetzt an 300 auf weniger als 1 Million Einwohner bestehen). 
Diese Bestimmungen wurden aber aufgehoben, worauf sich die Zahl der Apo¬ 
theken stark vermehrte und die Qualität derselben erheblich abnahm. Die 
entstandenen Unzukömmlichkeiten veranlassten die Regierung endlich mit 
Gesetz vom 29. November 1862 die Pharmacie gründlich zu regeln und ist 
dieses ganz gute aber leider nicht streng durchgeführte Gesetz heute noch in 
Kraft. Nach Artikel 1 dieses „Reglement“ soll Niemand eine Apotheke er¬ 
öffnen, besitzen oder leiten, Medicamente darstellen und verkaufen, der nicht 
an der kaiserlichen medicinischen Schule in Constantinopel den Grad eines 
Magisters der Pharmacie erlangt oder — falls er diesen Grad schon an einer 
europäischen Universität erlangte — von der genannten Schule anerkannt 
wurde. 

Seit einem Jahrzehnt soll diese Bestimmung auch auf die Provinzen An¬ 
wendung finden, es gibt aber noch immer genug Leute, die sich derselben zu 
entziehen wissen. Die Diplomtaxe beträgt 500 Piaster (5 türkische Pfund), 
die Prüfungstaxe 2 türkische Pfund (200 Piaster); doch kommt das Diplom 
die Provinzapotheker oft auf das Zehnfache zu stehen und ziehen sie es daher 
vor, sich gar keines zu holen. 


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APOTHEKENWESEN DND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


Zur Erlangung des Magistergrades der Pharmacie wird keine allgemeine 
Vorbildung varlangt. Der Eleve muss beim Eintritte in die Praxis, welche 
6 Jahre dauert, an der Ecole de medecine eingeschrieben werden und nach 
dreijähriger Praxis eine kleine Prüfung machen, die aus dem Lesen türkischer 
Zeitungen, etwas Arithmetik und Französisch besteht. Während des zweiten 
Theiles der Praxis hat er drei Jahre lang den pharmaceutischen Curs an der 
medicinischen Schule zu hören, der aber fast nur in theoretischem Unter¬ 
richte besteht, und erhält nach Ablauf dieser Zeit und Ablegung einer Schluss¬ 
prüfung das Diplom zur Ausübung der Pharmacie im ganzen türkischen 
Reiche. 

Wenn ein im Auslande approbirter Apotheker in Constantinopel die 
Pharmacie ausüben will, so hat derselbe an die Direction der medicinischen 
Civil-Angelegenheiten ein diesbezügliches Gesuch unter Beilage seiner Docu- 
mente zu richten und um Zulassung zu dem vorgeschriebenen Colloquium 
anzusuchen. Die Direction übermittelt das Gesuch an den Medicinalrath, 
welcher das Gutachten der pharmaceutischen Delegirten des Medicinalrathes 
anhört, worauf in der Sache mit Stimmenmehrheit entschieden wird. Dem 
Gesuchsteller wird der Tag bestimmt, an welchem das Colloquium abge¬ 
halten wird, wofür er fünf türkische Pfund als Taxe zu entrichten hat. Das 
Colloquium kann in französischer Sprache abgelegt werden und dürfte einem 
europäisch ausgebildeten Apotheker kaum irgend welche Schwierigkeiten be¬ 
reiten. Sobald dasselbe bestanden ist, erhält der Candidat einen Erlaubnis¬ 
schein, welcher ihn berechtigt, im ganzen türkischen Reiche die Pharmacie 
auszuüben. 

Will nun der approbirte Apotheker eine neue Apotheke errichten oder 
eine bereits bestehende übernehmen, so hat er dies der Direction des Medi¬ 
cinalrathes anzuzeigen. Der Medicinalrath hört die pharmaceutischen Dele¬ 
girten an, welche bei Neuerrichtungen den Local-Augenschein vornehmen; 
wenn nichts dagegen vorliegt, erhält der Gesuchsteller alsbald von der Di¬ 
rection die Bewilligung. Bei der Neuerrichtung einer Apotheke muss dem 
Gesuche an die Direction auch eine Abschrift des Mieth-Contractes für die 
Apotheke vorgelegt werden, welche zurückbehalten wird. Beim Verkaufe einer 
Apotheke muss ebenfalls der Contract an die Direction eingeschickt werden. 
Verreist ein Apotheken-Besitzer auf längere Zeit (2 bis 4 Wochen und länger), 
so muss er dies ebenfalls der Direction anzeigen und zugleich einen appro- 
birten Stellvertreter namhaft machen, der während seiner Abwesenheit die 
Leitung der Apotheke übernimmt. Für jeden Contract oder jede Bewilligung 
in Bezug auf die Ausübung der Pharmacie ist eine Taxe von 25 Piastern zu 
entrichten. 

Revision. Das Reglement bestimmt, dass jährlich zweimal, und zwar 
alle 6 Monate eine Inspection sämmtlicher Apotheken vorzunehmen ist. Für 
jede dieser Visitationen hat der Apotheker V* türk. Pfund zu zahlen. Die 
Commission besteht aus drei von der Direction entsandten Commissären und 
einem Municipal- oder Polizei-Beamten. Ausser diesen regelmässigen Inspec- 
tionen können auch ausserordentliche stattfinden, dieselben sind unentgeltlich 
und kommen vermuthlich deshalb so gut wie gar nicht vor. 

Das Reglement enthält auch die Bestimmung, dass kein Eleve, welcher 
die Approbation erhalten hat, eine Apotheke errichten oder übernehmen darf, 
welche nicht mindestens 1001 „Pick“ von jener oder jenen Apotheken entfernt 
ist, in welchen er beschäftigt war, ausser im Einverständnisse mit dem oder 
den interessirten Apothekern. Diese Bestimmung hört nach drei Jahren auf, 
bindend zu sein. Dasselbe gilt von Eleven, welche aus einer Apotheke aus¬ 
treten: sie dürfen ohne Zustimmung ihres bisherigen Chefs nicht in eine 
Nachbar-Apotheke eintreten, welche weniger als 1001 Pick entfernt ist. 


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Seit einigen Jahren besteht die Bestimmung, dass jedes, ärztliche und 
pharmaceutische Diplom nach dem Tode des Inhabers an die Ecole impdriale 
zurückzustellen ist. Diese Maassregel war nothwendig, da mit solchen alten 
Diplomen grosser Unfug und ein förmlicher Handel getrieben wurde. — Eine 
Arzneitaxe gibt es in der Türkei nicht. Die maaslose Concurrenz bedingt 
ausserordentlich billige Preise, die dem Apotheker sehr wenig Nutzen lassen, 
was namentlich bei der ungeheuren Anzahl von Specialitäten in fühlbarer 
Weise hervortritt In manchen Theilen der Türkei, besonders in Palästina, 
erschwert auch die unentgeltliche Abgabe von Arzneien in den zahlreichen 
Klöstern die Existenz der öffentlichen Apotheken. Da überdies in der ganzen 
Türkei die Cupfurschererei sehr verbreitet ist, sind die Verhältnisse der 
Pharmacie in diesem Lande nichts weniger als günstig. 

Vereinigte Staaten. In den Vereinigten Staaten in Nordamerika ist die 
Ausübung des Apothekergewerbes vollkommen frei. Auch hinsichtlich der 
Qualification derjenigen Personen, die dieses Gewerbe bezw. diesen Handel 
mit Arzneiwaaren und Drogen (sowie zahlreichen anderen Artikeln) betreiben, 
bestehen noch nicht überall bestimmte Anforderungen. 

Im Laufe der neueren Zeit sind zwar (nach Mittheilungen von Dr. 
Hoflmann in New-York), meistens auf Betreiben der pharmaceutischen Vereine, 
in der Mehrzahl der Unionstaaten Bestimmungen zur Kegulirung der Phar¬ 
macie und des Gifthandels getroffen worden. Dieselben bestehen aber wesent¬ 
lich nur in dem Nachweis einer gewissen Qualification derer, welche einen 
„drug-store“ kaufen oder einen aufmachen, sowie der Gehilfen. Würden diese 
Gesetze consequent ausgeführt und wären sie von Bestand, so würden die¬ 
selben einigermaassen Abhilfe schaffen. Die Handhabung derselben liegt aber 
in jedem Staate in der Hand und Willkür einer etwa alle vier Jahre von dem 
Gouverneur neu zu wählenden Commission von vier Apothekern und wird im 
Allgemeinen nicht besonders ernst genommen. Diese Gesetze verlangen ein 
gewisses Maass theoretischer Kenntnisse, gleichviel wie und wo sie erworben, 
die meisten nehmen bisher dafür die Diplome der von Privaten oder Vereinen 
unterhaltenen pharmaceutischen, aber auch der ärztlichen Fachschulen als 
Beweis an. Die letztere Anomalie hat aber so weitgehende Eingriffe und den 
Eintritt von halb- oder noch weniger geschulten Aerzten in die Pharmacie 
herbeigeführt, dass die pharmaceutischen Vereine seit einigen Jahren eine 
Abänderung der Pharmaciegesetze insoferne anstreben und in manchen Staaten 
auch erreicht haben, dass Diplome ärztlicher, wie auch pharmaceutischer Fach¬ 
schulen nicht mehr gelten sollen, sondern dass die Pharmacie-Commissionen 
sich durch Prüfung von der genügenden Qualification der Candidaten über¬ 
zeugen sollen. Man hofft dadurch den Eintritt und die Concurrenz incom- 
petenter Mediciner in die Pharmacie, sowie auch die Zunahme schlechter 
Pharmacieschulen, zu vermeiden. Aber auch hier hängt der Erfolg oder 
Misserfolg nicht nur von den Gesetzen, sondern von deren richtiger und 
wirklicher Vollstreckung und daher wesentlich von dem Caliber der „Phar- 
macie-Commission“ („Boards of Pharmacy“) ab. Das vorhin Gesagte gilt daher 
auch für die Prüfungen der Pharmacie-Commissionen. Die Anforderungen bei 
den Prüfungen der Fachschulen, wie der Pharmacie-Commissionen sind sehr 
ungleich, meistens aber nothwendigerweise recht geringe. Je nach deren 
Qualification ist daher im Allgemeinen auch die der von ihnen Licenzirten. 

Wer aber die Licenz als „Apotheker-Drogist“ erhalten hat, kann in dem 
betreffenden Staate, meistens auch in anderen, zu jeder Zeit, ohne jede weitere 
Formalität und ohne Bttcksicht auf die Zahl der schon vorhandenen „Drug¬ 
stores“ eine oder mehrere solcher neu etabliren. In dieser Hinsicht, sowie 
für die Art des Betriebes dieser Geschäfte besteht nirgends eine Controle, 
ausser der erforderlichen jährlichen Zahlung für die Licenz zum Schnaps- und 
Cigarrenhandel, welche in nur zu vielen „Drug-stores“ das Hauptgeschäft aus¬ 
machen. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIM1TTELVEBKEHR. 


Arzneimittel verkehr. Die Apotheke war von jeher die mehr oder weniger 
ausschliessliche Stätte für den Verkauf von Arzneiwaaren und für die Be¬ 
reitung von Arzneien. Aber schon sehr frühe begegnen wir Bestrebungen 
von Handeltreibenden aller Art, welche dahin zielen den Apothekern einen 
Theil ihrer Rechte zu entziehen und Apothekerwaaren zu führen. Schon 
Kaiser Friedrich H. Apothekengesetzgebung begrenzte die Rechte der 
Apotheker. Im Anfang des 17. Jahrhunderts wird schon von den „Ma¬ 
terialisten und Trochisten“ erzählt, die in die Rechte der Apotheker ein- 
griffen. Die richtige Abgrenzung der Verkaufsrechte der Kaufleute und der 
Apotheker bildete von jeher eine wichtige Aufgabe der Sanitätspolizei, welche 
von dieser selten mit Glück gelöst wurde. Diese Abgrenzung kann nur in 
dem Sinne erfolgen, dass das Interesse der Apotheker dabei in erster Linie 
berücksichtigt wird, denn bei den vielen und ziemlich schweren Verpflichtungen, 
die der Staat denselben auferlegt, ist es nur ein Gebot der Gerechtigkeit, 
den Apotheker in seinen Einnahmen zu schützen. Ausserdemkann sich der in die 
Gebote der Pharmakopoe, der Arzneitaxe und verschiedener gesetzlicher Be¬ 
stimmungen eingezwängte Apotheker nicht so frei bewegen wie der Kaufmann, 
daher der Staat, der ihm diese Beschränkungen auferlegt, ihn auch durch 
erhöhten Schutz entschädigen muss. Von den meisten Staatsverwaltungen 
ist deshalb auch das Princip anerkannt worden, dass die ausschliesslich zu Heil¬ 
zwecken dienenden Arzneistoffe, ferner alle zubereiteten Arzneien nur durch 
die Apotheken verkauft werden dürfen, während solche Stoffe, welche auch 
zu technischen Zwecken dienen, dem freien Verkehre überlassen sind. 

In der letzten Zeit haben die sogenannten Detaildroguerien in einer 
Weise zugenommen, die eine wirkliche Gefahr für die Apotheken bildet. 
Anlass dazu bot der geringe Schutz, der den Apotheken gewährt wurde. 
Diese Kleindrogisten, deren Läden man nicht mit Unrecht „Winkelapotheken“ 
nennt, trachten fortwährend die Befugnisse der Apotheker zu schmälern und 
den ganzen Arzneimittelverkehr an sich zu reissen. Leider gibt es auch 
Aerzte, welche diesen Unfug unterstützen, indem sie ihre Patienten für den 
Bezug einfacher Artikel häufig an den Drogisten verweisen, ohne dabei zu 
bedenken, dass der Drogist keinerlei Gewähr weder für die Reinheit noch 
für die richtige Qualität eines Medicamentes liefert. Die anscheinend billigeren 
Preise des Drogisten werden reichlich dadurch aufgewogen, dass seine Waare 
an Güte und Reinheit sich mit der des Apothekers nicht messen kann. Wenn 
irgendwo, so gilt aber gerade mit Bezug auf Arzneien der Satz, dass „das 
beste gerade gut genug ist“. Ein bedeutender Nachtheil bei der Zunahme 
der Kleindrogisten ist auch der Umstand, dass durch dieselben Vergiftungen 
durch Verwechslungen der Abgabe starkwirkender Stoffe ziemlich häufig 
herbeigeführt werden, ebenso durch andere Kaufleute, die unberechtigter 
Weise Arzneistoffe verkaufen, während derartige Vergiftungen durch Schuld 
des Apothekers äusserst selten sind. Dies allein weist schon auf die sanitäts¬ 
polizeiliche Nothwendigkeit hin, den Handel mit Arzneiwaaren und Giften in 
erster Linie den Apotheken zu reserviren, es sollten daher nur für einzelne 
Artikel Ausnahmen zugelassen werden. 

Der Arzneimittelverkehr d. i. der Handel mit Arzneiwaaren und Gift¬ 
stoffen ist in den verschiedenen Staaten sehr verschieden geregelt, doch be¬ 
gegnen wir selbst in jenen Ländern, in welchen der Apothekenbetrieb mehr 
oder weniger vollständig freigegeben ist, dem Bestreben, den Handel mit 
Arzneiwaaren gesetzlichen Beschränkungen zu unterwerfen, zum mindesten 
aber den Gifthandel nur unter ganz bestimmten strengen Vorschriften zu 
genehmigen. Vom sanitätspolizeilichen Standpunkte aus, muss in jedem ge¬ 
ordneten Culturstaate die überaus wichtige Angelegenheit des Arzneimittel¬ 
verkehrs durch strenge Bestimmungen geregelt werden. Dabei unterscheidet 
man einen Arzneimittel- beziehungsweise Giftverkehr in den Apotheken und 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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einen solchen ausserhalb der Apotheken. Die Apotheken gelten im Principe 
überall als die eigentlichen Stätten des Arzneimittelverkehrs, der ausser durch 
allgemeine, in der Regel auch noch durch besondere Vorschriften in denselben 
geregelt wird. 

In Deutschland wird der Arzneimittelverkehr theils durch reichsgesetz¬ 
liche Bestimmungen, theils durch Vorschriften der einzelnen Bundesstaaten 
geregelt. In neuester Zeit sind vom Bundesrath eigene Vorschriften für die 
Abgabe stark wirkender Arzmeimittel erlassen worden, welche vom 1. Oktober 
1896 in Kraft treten. 

Nach diesen dürfen eine ganze Reihe von (in einem besonderen Verzeichnisse ange¬ 
führter) Arzneimittel nnr anf schriftliche, mit Datnm und Unterschrift versehene An¬ 
weisung (Recept) eines Arztes, Zahnarztes oder Thierarztes abgegeben werden. Die wieder¬ 
holte Abgabe von Arzneien znm inneren Gebrauch, welche Drogen und Präparate der 
bezeichneten Art enthalten, ist nnr gestattet, insoweit die Wiederholung in der ursprüng¬ 
lichen Anweisung für zulässig erklärt wird oder wenn die Einzelgabe aus der Anweisung 
ersichtlich ist und die Gewichtsmenge derselben die in dem beigegebenen Verzeichnisse 
für das betreffende Mittel angegebene Menge nicht übersteigt. Die wiederholte Abgabe 
von Chloralhvdrat, Chloralformamid, Morphin, Cocain oder deren Salze, Aethylenpräparaten, 
Amylenhydrat, Paraldehyd, Sulfonal, Trional oder Urethan darf nur auf jedesmal erneute 
schriftliche, mit Datum und Unterschrift versehene Anweisung des Arztes erfolgen. Die 
wiederholte Abgabe von Morphin oder dessen Salzen ist jedoch auch ohne erneute An¬ 
weisung gestattet, wenn diese Mittel blos als Zusatz zu anderen Mitteln verschrieben sind 
und deren Gesammtgehalt 0,08 g nicht übersteigt. Die flüssigen Arzneien zum inneren 
Gebrauche dürfen nur in runden Gläsern mit Zetteln von weisser Grundfarbe, die flüssigen 
Arzneien zum äusseren Gebrauche nur in 6eckigen Gläsern, an welchen 3 neben einander 
liegende Flächen glatt und die übrigen mit Längsrippen versehen sind, mit Zetteln von 
rother Grundfarbe abgegeben werden. Die Standgefässe, welche keine stark wirkende 
Stoffe enthalten, sind mit schwarzer Schrift auf weissem Grunde, jene für die in der Tabelle 
B des deutschen Arzneibuches angeführten Mittel mit weisser Schrift auf schwarzem 
Grunde und jene für Mittel der Tabelle C mit rother Schrift auf weissem Grunde zu be¬ 
zeichnen. Arzneien, welche zu Augenwässern, Einathmungen, Einspritzungen unter die 
Haut, Klystieren oder Suppositorien dienen werden den Arzneien zum inneren Gebrauche 
im Sinne dieser Vorschriften gleichgestellt. 

Die in Deutschland sehr in den Vordergrund getretene Drogisten¬ 
frage regelt ein kürzlich in dritter Lesung im deutschen Reichstage mit 116 
gegen 115 Stimmen angenommener Antrag, durch welchen der Handel mit 
Drogen und chemischen Präparaten in den § 35 der Gewerbe-Ordnung ein¬ 
gefügt wird. Der betreffende Absatz lautet: „Der Handel mit Drogen und 
chemischen Präparaten, welche zu Heilzwecken dienen, ist zu untersagen, 
wenn die Handhabung des Gewerbebetriebes Leben und Gesundheit von 
Menschen gefährdet.“ — Die Concurrenz des Detaildrogisten ist dem deutschen 
Apotheker seit etwa 20 Jahren entstanden. Im Jahre 1875 wurde durch eine 
Verordnung eine grössere Anzahl von Arzneimitteln, deren Verkauf bis dahin den 
Apotheken Vorbehalten war, dem freien Verkehr überlassen, und dadurch der 
Stand der Detaildrogisten geschaffen. Durch Verordnung vom 27. Januar 1890 
und eine ergänzende Verordnung vom 25. November 1895 wurden den Dro¬ 
gisten weitere Befugnisse hinsichtlich des Handels mit Arzneimitteln einge¬ 
räumt. Nicht nur in den Kreisen der Apotheker, denen durch die Detail¬ 
drogenhandlungen ein empfindlicherer Schaden erwuchs, sondern auch bei er¬ 
fahrenen Medicinalbeamten wurde die neue Concurrenz der Apotheker als eine 
Einrichtung angesehen, die für das Gemeinwohl nicht als segensreich auf¬ 
gefasst werden konnte. Dass manche Drogen und Präparate dem Publicum 
etwas billiger zugänglicher wurden, ist ja nicht zu bestreiten, aber ebenso 
wenig ist in Abrede zu stellen, dass die Güte der freigegebenen Mittel und 
die Sicherheit der Abgabe, die in der Apotheke durch die strengen 
Anforderungen, welche der Staat an die Ausbildung des Apothekers, an seine 
Waaren und an seine Betriebsvorrichtungen stellt, gewährleistet waren, in den 
Drogenhandlungen mindestens fraglich sind. Der Drogist wurde nicht ver¬ 
pflichtet, Pharmakopoewaaren zu führen, es wurde von ihm keinerlei Vor¬ 
bildung verlangt, er wurde nicht verpflichtet, bestimmte Betriebsvorrichtungen 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


zu schaffen. Es ist klar, dass der Drogist dem Apotheker gegenüber im 
Vortheil war und ist. Und von diesem Vortheil hat man fleissig Gebrauch 
gemacht. Denn die Zahl der Detaildrogisten, oder doch der Geschäfte, in 
denen auch Medicinaldrogen verkauft werden, dürfte fast doppelt so gross 
sein, als die Zahl der vorhandenen Apotheken. Durch die Einfügung des 
Drogenhandels in den § 35 der Gewerbe-Ordnung ist nun den Regierungen 
auch die Möglichkeit gegeben worden, den Geschäftsbetrieb unter Umständen 
zu untersagen. 

Zur Revision der Drogenhandlungen bestehen seit Kurzem eigene Vor¬ 
schriften, denen zufolge dieselbe in der Regel alljährlich einmal unvermuthet 
durch die Ortspolizei unter Beiziehung eines approbirten Apothekers und 
soweit thunlich des zuständigen Physikus stattzufinden hat. 

Oesterreich. In Oesterreich bestehen verschiedene neue Verordnungen, 
welche den Arzneimittelverkehr in den Apotheken sowohl als auch ausserhalb 
derselben regeln. Die wichtigsten derselben sind: Die Verord. d. Min. d. 
Inn. v. 14. März 1884, die Erläuterung dazu vom 1. Aug. 1884 und die 
Verord. v. 17. Dec. 1894, mit welcher Bestimmungen über den Handverkauf 
in Apotheken, sowie über die Herstellung und den Vertrieb der als pharma- 
ceutische Specialitäten sich darstellenden arzneilichen Erzeugnisse getroffen 
werden. 

Zur Abgrenzung der Verkaufsrechte zwischen Apothekern und Kaufleuten 
bestehen folgende Bestimmungen: Die Minist. Verordnung vom 17. Septbr. 
1883 u. die Verord. vom 17. Juni 1886 nebst ergänzenden Bestimmungen zu 
der letzteren vom 8. December 1885. 

Durch die in der Arzneitaxe pro 1895 und seither enthaltene Classification 
der officinellen Arzneikörper in der Beziehung ob dieselben nur in Apotheken 
oder auch in Materialwaarenhandlungen und anderen Geschäften verkauft werden 
dürfen, erfahren die Bestimmungen der MinisterialVerordnungen vom 17. Sept. 
1883 RGBl. Nr. 152 und vom 17. Juni 1886, RGB. Nr. 97 eine wesentliche 
Erläuterung, wodurch den politischen Behörden eine sichere Handhabe bei 
Ueberwachung des Arzneimittelverkehres ausserhalb der Apotheken gegeben 
ist und welche daher denselben künftighin zur Richtschnur zu dienen hat. 

Von den in der Arzneitaxe aufgeführten 625 Arzneiartikeln sind 243 
Arzneizubereitungen und pharm, oder pharm.-chemische Präparate, ferner 157 
chemische Präparate und Drogen, zusammen 400 Artikel den Apothekern im 
Kleinverschleisse Vorbehalten, von den übrigen 225 Arzneiartikeln dürfen 45 
nur in den zum Verschleisse von Arzneiartikeln concessionirten Drogenhand¬ 
lungen oder in Handelsgeschäften, welche hiezu die besondere Bewilligung 
erworben haben, im Kleinverschleisse abgegeben, 2 nur auf Grund von Gift- 
concessionen, die übrigen 178 Arzneiartikel in allen Material waarenhandlungen, 
davon jedoch 25 als gesundheitsgefährliche Artikel nur unter den durch die 
Giftverschleissverordnung vom 21. April 1876, RGBl. Nr. 60, vorgezeichneten 
Vorsichten hintangegeben werden. 

Die Eintheilung geschah in 6 Rubriken, und zwar: 

1. Rubr ik: Zn Arz neiz wecken benützte, den Apothekern — unbeschadet 
des Grosshandlungsverkehres zwischen Fabrikanten, Grosshandlungen 
und Apothekern — zum Verkaufe vorbehaltene officinelle Arzneizuberei¬ 
tungen, pharmaceutische und pharmaceutisch-chemische Präparate: 

Acetum aromaticum, Scillae. Acidum carbolic. liqnef. *), hydrochloricum dilntum *), 
nitricum dilntum*), sulfuricum dilutum*). Alumen ustum. Aluminium aceticum solutum. 
Ammonium aceticum solutum. Antidotum Arsenici albi. Aqua Amygdal. amar. conc., 
Amygdal. amar. dilut., aromatica spirituosa, Calcis, carbolisata, carminativa, Chamomillae, 
Chlori, Cinnamomi simplex, Cinnamomi spirituosa, Foeniculi, Goulardi, Melissae, Menthae 
piper., plumbica, Rosae*), Rubi Idaei, Salviae. Argentum nitric. fusum, nitric. cum Kalio 
nitric. Axungia Porci benzoata. Bismuthum subnitneum. Calcium oxysulfurat. solut., phos- 
phoricum. Ceratum Cetacei, fuscum. Chininum ferro-citricum, tannicum. Collodium elasticum. 

*) Bezieht sich nur aut das nach Vorschrift der Pharmacopoe hergestellte Präparat. 


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Collyrium adstringens luteum. Decoct. Sarsaparill. compos. fort., SarsaparilL compos. 
mitius. Elaeosacchara. Electuarium aromaticum, lenitivum. Emplastr. adhaesivum, Angli- 
canum, Cantharidum, Cantharidum perpetuum, Cerussae, Conii, Diachylon. composit., 
Diachylon. simplex, Hydrargyri, Hydrargyri extensum, Meliloti, Minii, oxycroceum, saponatum, 
aaponatum extensum. Emulsiones. Extract. Aconiti rad., Aloes, Belladonnae fol., Calami 
aromat., Calumbae, Cannabis. Indic., Centaurii minoris. Chinae, Colocynthidis, Conii herbae, 
Cubebae, Filicis maris. Gentianae, Graminis, Granati, Hydrastidis fluidum, Hyoscyami fol., 
Liquiritiae. Malatis Ferri, Opii, Quassiae, Quebracho fluidum, Ratanhiae, Rhamni Pursh. 
fluid., Rhei, Scillae, Secalis cornuti, Strychni, Taraxaci, Trifolii fibrini. Ferrum carbon. 
sacchar., sesquichlor. crystall, sesquichlor. solutum. Gelatina Liquirit. pellucida. Globuli 
martiales. Hydrarg. bichlor. ammoniat, bijodatum rubr., chlorat. mite praecip. par., jodatum 
flavum, oxydat. flavum. Hydromel Infantum. Infusum Sennae cum Manna. Kalium aceticum 
ßolut., carbonic. solut., sulfuratum, sulfuratum pro balneo. Linimentum ammoniatum, sa- 
ponato-camphor. Liquor acidus Halleri, Ammoniae anisat., Magnesium citricum, citricum 
effervescens, oxydatum. Massa Pilul. Ruffi. Mel depuratum*), rosatum. Mixtura gummosa, 
oleosa-balsamica. Mucilago Cydoniae, Gummi Acaciae, Oleum, camphoratum, Hyoscyami fol. 
coct Oxymel Scillae, simplex. Pasta gummosa, Liquiritiae flava. Pastilli e Natrio hydrocarb. 
Pilulae laxantes. Plumbum aceticum basic. sol. Potio Magnes. citric. effervesc. Pulpa Cassia 
Fistulae, Prunorum, Tamarind. depur. Pulv. aeropborus, aerophorus Seidlitzensis, dentifric. 
albus, dentifric. niger, gummosus, Ipecacuanh. opiatus, Liquirit. compos. Resina Jalapae. 
Roob Juniperi, Sambuci. Rotulae Menthae piper.*) Sapo medicinalis pulv. Serum Lactis.*) 
Solutio arsenicalis Fowleri. Species Althaeae, amaricantes, aromaticae, aromaticae pro 
cataplas., emollient., emollient. pro cataplas., laxantes St. Germain, Lignorum, pectorales. 
Spiritus Aetheris, Anisi*), aromaticus, camphoratus, Carvi*), Fern sesquichlor. aeth., Juni¬ 
peri*), Lavandulae, Menthae piper., Rosmarini, saponatus, Saponis Kalini, Sinapis. Stibium 
sulfurat. aurant. Succus Liquirit. depur. pulv. Sulfur depur, praecipit. Syrupus Althaeae, 
amygdalinus, Aurantii cortic., Capilli Veneris, Cinnamomi, Citri, Ferri jodati, Ipecacuanhae, 
Menthae, Mororum, Papaveris, Rhei, Ribium *), Rubi Idaei *), Senegae, Sennae cum Manna. 
Tinctura Absynthii compos., Aconiti radicis, amara, Arnicae, Aurantii corticis, Belladonnae 
fol., Benzoes, Calami aromat., Cantharidum, Cascariilae, Castorei, Catechu, Chamomillae, 
Chinae compos., Cinnamomi, Colchici seminis, Digitalis, Gallarum, Guajaci, Ipecacuanhae, 
Jodi, Lobeliae, Malatis Ferri, Myrrhae, Opii crocata, Opii simplex, Ratanhiae, Rhei aquosa, 
Rhei vinosa Darelli, Spilanthis compos., Strophantin, Strychni, Valerianae, Vanillae. 
Trochisci Ipecacuanhae, Santonini. Unguentum aromaticum, Cerussae, Diachylon, emolliens, 
Glycerini, Hydrargyri, Juniperi, Plumbi acetici, rosatum, Sabadillae, simplex, sulfuratum, 
Zinci oxydatum. Vinum Chinae, Colchici seminis, Stibii Kalio-tartar. Zincum oxydatum *). 

2. Rubrik: Zu Arzneizwecken benützte, den Apothekern — unbe¬ 
schadet des Grosshandlungsverkehres zwischen Fabrikanten, Gross¬ 
handlungen und Apothekern — zum Verkaufe vorbehaltene chemische 
Präparate und Drogen: 

Acidum benzoicum, phosphoricum, salicylicum. Aether aceticus. Aloe pulv. Ammo- 
niacum pulv. Ammonium bromatum. Amylium nitrosum. Antifebrinum, Antipyrinum. Apo- 
morphinum hydrochl. Aqua Aurantii flor., Laurocerasi. Araroba depurata. Atropinum sul- 
fnric. Bulbus Scillae sicc. pulv. Cantharides pulv. Castoreum pulv. Caules Dulcamar. sciss. 
Chininum bisulfuric,, hydrochloric., sulfuricum. Chloralum hydratum. Chloroformium. Coca- 
ioum hydrochlor. Coffeinum. Cortex Cascariilae rud. tus., Cascariilae pulv., Chinae rud. tus , 
Chinae pulv., Condurango rud. tus., Frangulae sciss., Granati rud. tus., Granati pulv., 
Quebracho rud. tus., Rhamni Pursh. rud. tus. Euphorbium pulv. Ferrum citricum ammon., 
hydro-oxydat. dialys. liquid., lacticum et Natr. pyrophosphoric., reductum. Flores Arnicae 
sciss., Chamomillae Roman., Chamomillae vulgaris rud. tus., Chamomillae vulgaris pulv. 
Cinae. Cinae pulv., Koso sciss., Koso pulv. Folia Belladonnae sciss., Belladonnae pulv., 
Coca sciss., Coca pulv. Digitalis sciss., Digitalis pulv., Hyoscyami sciss., Hyoscyami rud. 
tus., Menthae piper. pulv., Salviae pulv., Sennae Alexandr. sciss., Sennae Alexandr. pulv., 
Sennae de Tinnevelly sciss. Sennae de Tinnevelly pulv., Sennae de Tinnevelly sine resina, 
Stramonii sciss. Taraxaci sciss., Trifol. fibrini pulv., Uvae ursi. Fructus Anisi stellati rud. 
tus., Anisi stellati pulv., Anisi vulgaris pulv., Carvi pulv., Colocynthid. pulv., Cubebae pulv., 
Foeniculi pulv., Papaveris rud. tus. Galbanum pulv. Glandulae Lupuli, Guarana pulv. Herba 
Absynthii pulv., Cannab. Indic. sciss., Chenopodii sciss., Conii rud. tus., Conii pulv., Galeop- 
sidis sciss., Herniariae sciss.. Lobeliae sciss., Meliloti pulv., Sabinae sciss., Sabinae pulv., 
Spilanthis sciss. Hirudo. Hydrargyrum chlorat. mite subl. par., tannicum oxydulat. Jodo- 
fonnium cryst. et pulv. Kalium bromatum pulv., jodatum, jodatum pulv. Kamala. Lactu- 
carium. Lignum Quassiae pulv., Lithium carbonicum. Morphinum hydrochloric. ß-Naphtolum. 
Natrium bromatum, jodatum, phosphoricum, phosphoricum siccuin. pulv., salicylicum, 
Oleum Crotonis, Myristicae express., Santali, Sinapis aether., Valerianae. Opium pulv. Pep- 
sinum. Physostigminum salicylic. Pilocarpinum hydrochloric. Radix Althaeae pulv., Ange- 
licae pulv., Bardanae sciss., Belladonnae pulv., Calami aromat. pulv., Calumbae sciss. Calum¬ 
bae pulv., Filicis maris pulv., Gentianae pulv., Hydrastidis rud. tus., Ipecacuanhae rud. 
tus., Ipecacuanhae pulv., Jalapae pulv., Liquiritiae mund. pulv., Pyrethri sciss., Ratanhiae 
sciss., Ratanhiae pulv. r Rhei rud. tus., Rhei pulv., Salep rud. tus., Salep pulv., Sarsaparillae 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


sciss., Sassafras sciss., Senegae sciss., Valerianae pulv., Zedoariae pulv., Santoninum. Secale 
cornutum rnd. tus., S. cornutum pulv., Semen Sabadillae pulv., Strychni pulv., Stibium Kalio- 
tartar. pulv., Strychninum nitric. Styrax liquidus. Thymolum. Veratrinum. 

3. Rubrik: Zu Arzneizwecken benützte, mit Concession zum Medici- 
na 1 w aaren hand el (oder mit besonderer Bewilligung) auch ausserhalb 
der Apotheken verkäufliche chemische Präparate und Drogen. 

Asa foetida pnlv., Flores Chamomillae pulv., Malvae, Rhoeados sciss., Rosae sciss., 
Sambuci, Tiliae sciss., Verbasci. Folia Althaeae sciss., Aurantii sciss., Melissa sciss. Menthae 
crispae sciss., Menthae piperit. sciss., Rosmarini sciss., Trifolii fibrini sciss. Fructus Cassiae 
Fistulae sciss., Tamarindi; Herba Absynthii sciss., Capilli Veneris sciss., Centaurii minoris 
sciss., Meliloti sciss., Millefolii scis., Origani sciss., Serpylli sciss., Violae tricolor. sciss., 
Lichen islandicus sciss., Lignum Qnassiae. Lycopodium. Manna cannelata, communis, electa. 
Mentholum. Oleum Jecoris Aselli, Ol. Lauri. Radix Althaeae sciss.. Angelicae sciss., Arnicae 
sciss., Calami aromat. sciss.. Gentianae sciss., Graminis sciss., Liquintae sciss., Ononidis 
sciss., Rhei, Rh ei rud. tus., Taraxaci sciss., Valerianae sciss. 

4. Rubrik: Auch zu technisch-ökonomisch-diätetischen Zwecken 
benützte, mit Concession zum Gifthandel auch ausserhalb der Apotheken 
verkäufliche chemische Präparate und Drogen: 

Acidum arsenicosum pulv., Hydrarg. bichlorat. corrosiv. pulv. 

ö. Rubrik: Auch zu technisch-ökonomisch-diätetischen Zwecken 
benützte, unter den Beschränkungen der Verordnung über den Gift¬ 
verkehr auch ausserhalb der Apotheken verkäufliche chemische Präpa¬ 
rate und Drogen: 

Acidum acetic. concentr., carbolicum, chromicum, hydrochloric. concentr., nitro-nitro- 
sum, nitricum concentr., sulfuric. concentr. Aether. Ammonia. Argentum nitricum crystall. 
Cuprum sulfuricum. Hydrargyrum. Jodum. Kalium chloric., chloric. pulv., hydro-oxydatum. 
Kreosotum. Plumbum aceticum., aceticum. sicc. pulv., carbonic. pulv., hyperoxydat. rubr. 
pulv., oxydatum pulv. Zincum chloratum, sulfuricum, sulfuricum pulv. 

6. Rubrik: Auch zu technisch-ökonomisch-diätetisehen Zwecken 
benützte, unbeschränkt auch ausserhalb der Apotheken verkäufliche 
chemische Präparate und Drogen: 

Acetum. Acidum aceticum dilutum, boricum, boricum pulv., citricum, citricum pulv., 
lacticum, pyrogallicum, tannicum, tartaricum, tartaricum pulv. Alumen pulv., Aluminium 
sulfuric. Ammonium carbonic., chloratum. Amygdalae amarae, dulces, dulces decortic. 
Amylum Maranthae pulv., Tritici pulv. Aqua destillata. Axungia Porci. Baisamum Copaivae, 
Peruvianum, Tolutanum. Benzoe pulv. Bolus alba pulv. Calcium carbonic. nativ, pulv., 
carbonic. praecipit., carbonic. purum, hypochlorosum, oxydatum pulv., sulfuricum ustum. 
Camphora. Carbo Ligni depur. Carrageen sciss. Caryophylli pulv. Catechu pulv. Cera alba, 
flava. Cetaceum. Collodium. Cortex Cinnamomi rud. tus., Cinnamomi pulv., Fruct. Aurantii 
sciss., Fruct. Citri sciss., Quercus sciss., Quercus pulv., Salicis sciss. Crocus, pulv. Elemi. 
Ferrum pulveratum, sulfuricum, sulfuricum siccum pulv. Flores Lavandulae. Folia Salviae, 
Theae. Fructus Anisi vulgaris, Cardamomi rud. tus., Carvi, Coriandri, Foeniculi, Juniperi 
rud. tus., Lauri. Vanillae. Fungus igniarius. Gallae rud. tus. Gelatina animalis. Glycerinum. 
Gummi Acaciae, Acaciae pulv. Ichthyocolla. Kalium carbonicum crudum, carbonicum purum, 
hydro-tartar. pulv., hypermanganic., natrio-tartaric., natrio-tartaric. pulv., nitricum, nitricum 
pulv. Lanolinum. Lignum Guajaci sciss., Haematoxyli sciss., Juniperi sciss., Santali rubr. 
sciss. Macis. Magnes. carbon. pulv., sulfuric., sulfuric. sicc. pulv. Maltum. Mastiche pulv. 
Myrrha pulv. Naphtalinum. Natrium boracicum pulv., carbonicum, carbonicum sicc. pulv., 
hydrocarbon. pulv., silicicum, sulfuric. cryst., sulfuric. sicc. pulv. Oleum Amygdalarum, 
Anisi, Aurantii corticis, Aurantii florum, Bergamottae, Cacao, Cadinum, Carvi, Caryophyllo- 
rum, Cinnamomi, Citri, Foeniculi, Juniperi, Lavandulae, Lini, Macidis, Menthae piperit., 
Olivae, Pini Pumilionis, Ricini, Rosae, Rosmarini, Terebinthinae, Terebinthinae rectific. 
Olibanum pulv. Paleae haemost. Pix liquida. Placenta sem. Lini. Radix Iridis pulv., Zin- 
giberis pulv. Resina Guajaci. Saccharum pulv., Lactis pulv. Sapo kalinus, venetus pulv. 
Semen Cydoniae, Lini, Lini pulv., Myristicae pulv., Quercus tostum pulverat, Sinapis pulv. 
Spiritus Vini concentr., Yim dilutus, Vini Cognac. Stibium sulfurat. nigr. pulv. Syrupus 
simplex. Talcum pulv. Terebinthina veneta. Vaselin um. Vinum Malagense. 

* 

* * 

Die Revision der Drogen- und Materialwaarenhandlungen 
ebenso der Gifthandlungen wird von den Amtsärzten vorgenommen und 
bestehen dafür in den verschiedenen Provinzen Vorschriften. Diese Revision 
erstreckt sich im Allgemeinen auf Folgendes: 

Directiven für die Revision der Materialwaarenhandlungen etc.: 1. Ob der Verkauf von 
pharm. Präparaten, ferner von Drogen und chemischen Präparaten, welche ausschliesslich 
nur zu Heilzwecken Verwendung finden, nur im Grossen (nach § 5 der Min.-Vdg, vom 
17. Sep. 1883, RGBl. Nr. 152) und nicht auch unberechtigter Weise im Detailhandel statt¬ 
findet. — 2. Ob der Verschleiss von Giften ohne eine diesbezügliche Concession stattfindet. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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— 3. Ob ©in Handel mit chirurgischen Verbandstoffen in dem betreffenden Geschäfte be¬ 
steht, und welche Wahrnehmungen bezüglich der Provenienz dieser Artikel und bezüglich 
der Aufbewahrung derselben gemacht wurden. — 4. Ob Gifte von den hiezu berechtigten 
Kaufleuten auch an Aerzte mit oder ohne Berechtigung zur Haltung von Hausapotheken 
abgegeben werden. — 5. Ob von Materialwaarenhändlern die im § 3 der Min.-Vdg. vom 
17. Juni 1886, RGBl. Nr. 97 nur zu Heilzwecken verwendeten Artikel, deren Verkauf auch 
ausserhalb der Apotheken unter Umständen gestattet ist, feilgehalten werden, und ob die 
im § 5 der citirten Verordnung erwähnte Ermächtigung der politischen Behörde hiefür er¬ 
wirkt worden ist. — 6. Ob und welche zubereiteten Arzneien mit Einschluss der soge¬ 
nannten Specialitäten, deren Verkauf den Drogisten, Materialisten u. s. w. auch im Grossen 
nicht gestattet ist, feügehalten werden. — 7. Ob Geheimmittel verkauft werden. u 

Zur Verhütung von Arzneiverwechslungen hat das Ministerium 
des Innern untenn 2. October 1895, Z. 29882 folgenden Erlass heraus¬ 
gegeben: 

Das k. k. Ministerium des Innern hat aus Anlass der tödtlichen Vergiftung zweier 
Personen, wahrscheinlich in Folge einer Verwechslung von Brechnussextract anstatt Gra- 
natrindenextract, seitens der Bezugsquelle angeordnet, diesen Vorfall den Apothekern und 
Hausapotheken führenden Aerzten und Wundärzten unter Hinweis auf die eventuellen 
strafrechtlichen Folgen von Arzneiverwechslungen mit der eindringlichen Erinnerung zur 
Kenntnis zu bringen, dass die Apotheker nach den bestehenden Verordnungen für die Iden¬ 
tität und Qualität der in ihren Apotheken vorräthig gehaltenen Drogen und pharmaceu- 
tischen Präparate verantwortlich sind. Insbesondere werden die Apotheker aufmerksam 
gemacht, dass sie sich in dieser Beziehung nicht auf die Fabriken oder die Drogenhand- 
fungen verlassen dürfen, aus welchen sie chemische oder pharmaceutische Präparate be¬ 
ziehen, und dass sie sich von der Identität und Beschaffenheit derselben jedesmal durch 
gründliche Prüfung zu überzeugen haben. Um allfälligen Verwechslungen bei Arzneiliefe¬ 
rungen möglichst vorzubeugen, ist darauf zu dringen, dass sowohl in chemischen und 
pharmaceutischen Fabriken als in Drogenhandlungen, öffentlichen und Hausapotheken die 
Bezeichnung (Signatur) der zur Aufbewahrung stark wirkender Mittel bestimmten Stand- 
und Abgabsgefässe in dauerhafter Schritt, eventuell eingebrannt, auf der Gefässwand selbst 
angebracht sei, und dass diese Gefässe ausserdem durch eine besondere Form kenntlich 
gemacht seien. Der Gebrauch von Papieretiquetten für derartige stark wirkende Mittel 
enthaltende Gefässe ist unstatthaft und streng zu untersagen.“ — Hierzu bemerkte die Re¬ 
daction des „Oesterreichischen Sanitätswesens“ wörtlich: „Papieretiquetten sind Aufschriften 
auf Papier, welches lediglich durch ein Klebemittel auf dem Gefasse befestigt wird. Wird 
die Schrift am Papiere durch entsprechende Imprägnirungs- oder Ueberzugsmittel un¬ 
trennbar und unverlöschlich auf der Gefässwand fixirt, so handelt es sich nicht mehr um 
blosse Papieretiquetten.“ Nach dieser Auffassung sind also Papiersignaturen, wenn sie auf 
den Gefassen, z. B. mit Collodium überzogen und lackirt werden, zulässig. 

Den Giftverkehr ausserhalb der Apotheken regelt die Min.-Verord. 
vom 21. April 1876 (RGBl. Nr. 60), deren wichtigste Bestimmungen folgende 
sind: 

Rücksichtlich des Verkehrs mit Giften, gifthaltigen Droguen und gesundheitsgefahr- 
lichen chemischen Präparaten werden nachstehende Bestimmungen erlassen: 

§ 1. Als Gifte werden erklärt: 1. Das Arsen und alle arsenhaltigen Verbindungen; 
2. die chlor- und die sauerstoffhaltigen Verbindungen des Antimon; 3. die Oxyde und Salze 
(einschliesslich der Chlor-, Brom- und Jodverbindungen) des Quecksilbers; 4. der gewöhn¬ 
liche Phosphor; 5. das Brom. 6. Die Blausäure und die blausäurehältigen Präparate, 
sowie alle Cyanmetalle nur jene ausgenommen, welche 'Eisen als Bestandteile enthalten. 
7. Die aus giftigen Pflanzen und Thieren entnommenen oder einzig auf dem Wepe der 
Kunst dargestellten heftig wirkenden Präparate wie die Alkaloide, das Curare, das Cantha- 
ridin u. s. w. 

§. 3. Gift darf nur an die zum Absätze von Giften berechtigten Gewerbsleute, an 
wissenschaftliche Institute und öffentliche Lehranstalten und an solche Personen, die sich 
mit der amtlichen noch gütigen Bewilligung zum Giftbezuge ausweisen, abgegeben werden. 

§ 4. Die Bewilligungzum Bezüge von Gift ertheilt diejenige politische Bezirksbehörde, 
in deren Amtsbezirke der Bewerber wohnt. 

§. 9. Die zum Gift verkaufe berechtigten Gewerbsleute haben ein eigenes Vor¬ 
merkbuch zu führen, in welchem die Person an welche, der Zeitpunkt, wenn ein Gift ver¬ 
abfolgt wurde, dann die Benennung und Menge desselben, in Fällen, in welchen Gift nur 
gegen amtliche Bewilligung (Bezugsschein oder Bezugslicenz) bezogen wird, unter Anfüh¬ 
rung des Datums und der bewüligenden Behörde ersichtlich zu machen ist. 

§ 10. Die Gewerbsleute, welche mit Gift verkehren, haben, sowie Jedermann, der 
im Besitze von Gift ist, dafür zu sorgen, dass dabei jede Gefahr für Gesundheit und Leben 
Anderer hintangehalten, und dass die Gifte insbesondere von allen Genuss- und Heilmitteln 
ferngehalten werden. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Med. 6 


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82 


APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


§ 11. Bei Gewerben, welche mit Gift Handel treiben, hat derjenige, welcher dei 
Handlang vorsteht, für die gehörige Verwahrung nnd Absonderung der Giftwaaren von 
den übrigen sowie für die entsprechende Bezeichnung und Verschliessung der Gift ent¬ 
haltenden Gefässe Sorge zu tragen. 

Beim Detailverkaufe von Gift, sowie bei jenen Gewerben, welche Gebrauch von Gift 
machen, sind die Behälter und Standgefässe, in welchen Gifte vorräthig gehalten werden, 
mit der in Augen fallenden Bezeichnung „Gift“, oder mit der üblichen Todtenkopf- 
bezeichnung zu versehen, und abgesondert unter Verschluss zu verwahren. Bei Gewerben 
der letzterwähnten Art ist der Gewerbsinhaber oder Betriebsleiter schuldig, die Giftvorräthe 
unter seiner eigenen Verwahrung zu halten. 

§ 16. Die in der jeweiligen österreichischen Pharmakopoe mit einem Kreuze (f) be¬ 
zeichnten, im § 1 dieser Verordnung nicht angeführten Artikel dürfen von den betreffenden 
Gewerbetreibenden nur an Personen, die zum Handel mit denselben oder zur Führung 
einer Apotheke berechtigt sind, an gewerbsmässige Erzeuger. von Chemikalien oder an 
wissenschaftliche Institute und öffentliche Lehranstalten verkauft werden. 

In Ungarn hat der Minister des Innern unter Z. 111,005/1894 neue 
Vorschriften über den Verkehr mit Arzneiwaaren und Giften erlassen, durch 
welche die bisherigen Bestimmungen, welche vor etwa 20 Jahren erlassen 
wurden, ausser Kraft gesetzt werden. Die Vorschriften sind vom 1. Februar 1895 
an in Wirksamkeit getreten. Durch dieselben werden alle diese Mittel in 5 
Tabellen eingetheilt. Die 1. Tabelle erhält diejenigen Mittel, welche aus¬ 
schliesslich zu Heilzwecken dienen und nur in Apotheken abgegeben 
werden dürfen; Tabelle 2 enthält diejenigen Arzneiwaaren, die ausser den 
Apotheken nur von Drogisten, von letzteren aber nicht unter den vorgeschriebenen 
Mengen abgegeben dürfen; Tabelle 3 diejenigen Stoffe, die auch durch Kauf¬ 
leute verkauft werden dürfen; Tabelle 4 diejenigen stärker wirkenden Stoffe, 
die auch von Kaufleuten, aber nicht unter den vorgeschriebenen Gewichts¬ 
mengen abgegeben werden dürfen; Tabelle 5 die eigentlichen Gifte, welche 
von Drogisten und Kaufleuten nur auf Grund behördlicher Bewilligung ab¬ 
gegeben werden dürfen. 

Apothekenstatistik. Allgemeine Verhältnisse. 

Die Zahl der Apotheken ist in den einzelnen Ländern ganz erheblich 
verschieden. Naturgemäss ist sie in den Ländern, welche das Concessions- 
system haben kleiner, als in den Ländern, wo der Apothekenbetrieb frei ist. 

In Deutschland ist die Zahl und Verbreitung der Apotheken nach 
einer Zusammenstellung aus dem Jahre 1892 folgende: (s. 1. Tabelle Seite 83). 

Nach der Berufzählung vom 14. Juni 1895 gab es in Preussen bei 
31,490.315 Gesammtbevölkerung 3093 selbständige Apotheker und 5851 
Apothekergehilfen und sonstige Arbeiter in Apotheken. 

In Bayern gab es 1895 654 öffentliche Apotheken (darunter 257 Real¬ 
apotheken), 18 Dispensiranstalten und 217 ärztliche Handapotheken. An 
Hilfspersonale waren in den Apotheken vorhanden: 299 approbirte, 158 nicht 
approbirte Gehilfen und 243 Lehrlinge, zusammen 700. — In Württemberg 
gab es 1887: 265 Apotheken, wovon 197 Real-, 48 Personal-, 48 Hof- und 
standesherrliche und 16 Filial-Apotheken. Die Zahl der in ganz Deutschland 
approbirten Pharmaceuten betrug 1892 610 und zeigt noch immer eine 
steigende Tendenz. 

Oesterreich. Die Statistik der Apotheken und des pharmaceutischen 
Personales im Jahre 1893 ergibt folgende Daten: Die Zahl der öffentlichen 
Apotheken hat sich im Jahre 1893 um 29 vermehrt, nämlich von 1333 am 
Schlüsse des Jahres 1892 auf 1362. In diesen Apotheken waren 1251 diplo- 
mirte und 275 nicht diplomirte, zusammen 1526 Assistenten gegen 1534 im 
Vorjahre in Verwendung. Die Zahl der Assistenten ist daher um 8, jene der 
nicht diplomirten um 38 gesunken, die der diplomirten hat sich um 30 ver¬ 
mehrt. Die Zahl der Lehrlinge, welche sich am Ende des Jahres 1892 auf 

275 belief, ist 297 oder um 22 gestiegen. — Hausapotheken zählte man 1741, 
um 48 mehr als am Ende 1892. Von den Hausapotheken wurden 868 von 

Aerzten, 821 von Wundärzten gehalten, 52 befanden sich in Klöstern oder 


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Original fro-m 

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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


83 


Staat 

1 Zahl der Apotheken am j 

gegen 

1887 

1. i 

1876 

^Pril 1 

1887 1 

1. Oct. 

1892 

Preussen. 

2363 

2532 

2758 


[-226 

Bayern. 

605 

627 

645 

- 

- 

18 

Sachsen. 

332 

262 

288 

- 

- 

26 

Württemberg. 

255 

265 

272 

- 

- 

7 

Baden. 

183 

193 

202 

- 

- 

9 

Hessen. 

107 

108 

109 

- 

- 

1 

Mecklenburg-Schwerin . 

65 

68 

68 


— 


Sachsen-Weimar .... 

40 

41 

43 

+ 

2 

Mecklenburg-Strelitz . . 

14 

14 

14 


— 


Oldenburg. 

47 

47 

49 

+ 

2 

Braunschweig. 

42 

43 

51 

+ 

8 

S.-Meiningen. 

28 

29 

28 

- 

- 

1 

S.-Altenburg. 

15 

16 

16 


— 


S.-Koburg-Üotha .... 

26 

26 

28 

+ 

2 

Anhalt. 

34 

32 

33 

4- 

1 

Schw.-Sondershausen . . 

15 

14 

13 

- 

_ 

i 

Schw.-Rudolstadt . . . 

16 

15 

16 

+ 

1 

Waldeck . 

10 

11 

10 

- 

- 

1 

Reuss ä. L . 

4 

4 

4 


— 


Reuss j. L . 

9 

12 

13 


j 

-1 

Schaumb.-Lippe .... 

4 

5 

6 


- 

i 

-1 

Lippe . 

16 

16 

17 


- 

-1 

Lübeck . 

7 

8 

11 


- 

-3 

Bremen .. 

13 

15 

18 


- 

-3 

Hamburg . 

56 

56 

58 


- 

_2 

Els.-Lothringen .... 

210 

| 22] 

228 

+ 

7 

Helgoland . 

— 

— 

1 

1 

— 





4999 | 

| +318 


Spitälern. — Die öffentlichen Apotheken vertheilten sich auf 994, die von 
Aerzten und Wundärzten geführten Hausapotheken auf 1553 Gemeinden. 

Eine von den statistischen Central-Commission zusammengestellte Tabelle, 
welche auf den Zahlen von 1891 fusst, weist folgende Daten auf: 



Apotheker, Vorstände, 
Assistenten 

Lehrlinge ! 

Hausapotheken 
werden gehalten 
von 

Ge 8 am nit¬ 
zahl der 
Apothen 

Bevölkerungs- 

zahlen 

mit Realgewerbe 

mit Personalgew. 

Zusammen 

mit Diplom 

ohne Diplom 

Zusammen 

geistl. Corporation. 

Doctoren d. Medic. 

Wundärzten 

Zusammen 

Oeffentliche 
und Hausapotheken 
zusammen 

Absolute 

Auf 1 Apotheke 
entfällt 

N.-Österreich. . 

i 

44144 

188 

232 

94 

326 

47 

2 

88 

208 

298 

486 

2,661.799 

5.476 

O.-Österreich. . 

27 

33 

69 

38 

15 

53 

6 

3 

31 

143 

17? 

236 

785.831 

3.300 

Salzburg . . . 

5 

6 

11 

14 

3 

17 

4 

5 

8 

45 

58 

69 

173.510 

2.514 

Steiermark. . . 

25 

34 

59 

85 

25 

210 

7 

3 

86 

125 

214{ 

273 

1,282.708 

4.698 

Kärnten «... 

7 

10 

17 

18 

7 

25 

9 

3 

24 

27 

54 

71 

361.008 

5.084 

Kram. 

5 

14 

19 

10 

4 

14 

7 

2 

9 

16 

27 

46 

498.958 10.846 

Triest mit Geb. 

12 

13 

25 

26 

22 

48j 

12 

— 

— 


— 

25 

157.466 

6.298 

Görz u. Gradisca 

7 

16 

23 

10 

6 

16 

6 

1 

2 

1 

4 

27 

229.308 

8.159 

Istrien .... 

15 

18 

33 

7 

5 

12^ 

Öl 

— 

4 

2 

6 

39 

317.610 

8.143 

Tirol. 

37 

62 

99 

54 

12 

66 

15 

4 

68 

48 

120 

219 

812.696 

3.710 

Vorarlberg. . . 

2 

5 

7 

6 

2 


— 

— 

22 

9 

31 

38 

116.073 

3.054 

Böhmen .... 

124 

216 

340 

234 

96 

330 

128 

3 

251125 

379 

719 

5,843.094 

8.126 

Mähren .... 

24 

94 

118 

83 

25 

108 

47 

4 

77137 

218i 

336 

2,276.870 

6.776 

Schlesien . . . 

8 

29 

37 

27 

10 

37 

14 

5 

11 

18 

34 

71 

605.650 

8.530 

Galizien .... 

92 

156 

248 

195 

38 

2331 

86 

9 

12 

3 

24 

272 

6,607.815 

24.293 

Bukowina . . . 

3 

19 

22 

13 

6 

19 

131 

— 

5 

1 

6 

28 

646.591 23.092 

Dalmatien . . • 

— 

42 

42 

8 

7 

15; 

9 

4 

25 

2 

31 

73 

527.4261 

7.225 


| j436|911|134711060|377,1437jj41ö]j 48 


^^lOjieSlj! 


3028 ||23,895.413' 7.891 


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84 


APOTHEKENWESEN DND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


Bei dieser Zusammenstellung sind zur Berechnung des Verhältnisses der 
Bevölkerung zu den Apotheken die Hausapotheken und die öffentlichen 
Apotheken zusammen gerechnet worden. Eine Zusammenstellung in der Bro¬ 
schüre „Die Regelung des österreichischen Apothekenwesens“ (her. v. allg. österr. 
Apotheker-Assistenten-Verein) aus dem Jahre 1894 weist folgende Daten auf: 


Kronland 

Heutiges 
Verhältnis 
d. Apotheken 
zur 

Einwohnerz. 

Vermehrung 

der 

Einwohner 
seit 1879 

Ver¬ 
mehrung 
der Apo¬ 
theken 
seit 1879 

Somit entfall, 
auf jede neue 
Apotheke von 
der Vermehr, 
der Bevölker. 

Galizien. 

26.300 

1 

1,164.100 

32 

36.300 

Bukowina. 

24.800 

1 

133.500 

9 

14.800 

Krain. 

23,700 

1 

32.600 

1 

32.600 

Steiermark .... 

21.000 

1 

145.300 

3 

48.400 

Kärnten. 

21.200 

1 

23.300 

1 

23.300 

Mähren. 

19.200 

1 

246.200 

11 

22.400 

Böhmen. 

16.700 

1 

702.900 

87 

18.900 

Vorarlberg. 

16.600 

1 


2 


Schlesien. 

15.900 

1 

92.700 

4 

23.100 

Salzburg. 

15.800 

1 

20.800 

1 

20.800 

Niederösterreich . . 

n.700 

1 

271.300 

19 

14.200 

Oberösterreich . . . 

13.300 

1 

49.400 

1 

49.400 

Dalmatien. 

12.500 

1 


10 


Görz und Gradisca . 

10.000 

1 

16.300 

1 

16.300 

Istrien. 

9.100 

1 

63.500 

5 

12.700 

Tirol. 

8.100 

1 

—72.400 

2 


Triest. 

6.500 

1 

53.000 

4 

13.200 


Kronland 

Heutiges 
Verhältniss 
von Apothe¬ 
ken zu 
Einwohnern 

Vermehrung 

der 

Einwohner 
seit 1879 

Ver¬ 
mehrung 
der Apo¬ 
theken 
seit 1879 

Somit entfall, 
auf jede neue 
Apotheke von 
der Vermehr, 
der Bevölker. 

Ungarn. 

11.800 : 1 

1,720.000 

l 

790 

2.200 

Siebenbürgen . . . 

14.400 : 1 

131.600 

73 

1.800 

Croatien. 

19.600 : 1 

— 36.000 

21 

1.700 


Ungarn. Nach dem Jahresbericht über die Sanitätsverhältnisse im Jahre 
1895 betrug die Zahl der diplomirten Apotheker im Berichtsjahre 2132 gegen¬ 
über 2092 im Vorjahre, so dass sie um 40 zugenommen hat. — Die Gesammt- 
zahl der Apotheken betrug im Berichtsjahre 1755, hat somit gegenüber dem 
Voijahre um 64 zugenommen. Es gab Apotheken: 

Real- Personalrechtliche 

1894 410 908 

1895 409 942 

Zu- bezw. Abnahme —1 -j-34 

Filialen Hans- Handapotheken 

35 33 305 

38 38 328 

—j—3 —J—5 —(—23 

Die Zahl der Realapotheken hat sich demnach um 1 vermindert, da eine 
bisher als Reale geltende Apotheke als Personalrecht erklärt wurde. Die Zahl 
der Personalapotheken stieg um 34, die der Filialen um 3, der Hausapotheken 
um 5, der Handapotheken um 23. Gesammtzunahme 64 Apotheken. Von 
diesen Apotheken entfielen auf die Comitate: 178 öffentliche, 351 Haus- und 
Handapotheken, zusammen 1529 (um 55 mehr als im Vorjahre); auf die 
Städte entfielen 211 öffentliche, 15 Haus- und Handapotheken, zusammen 226 
(um 9 mehr als im Vorjahre). Von den öffentlichen Apotheken entfielen: , 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELYERKEHB. 


85 


1893 auf 11.522 Einw. u. 216-6 □ km 1 Apotheke 

1894 „ 11.207 „ „ 206-78 „ 1 „ 

1895 „ 10.916 „ „ 201-42 „ 1 

Schweiz. Die Schweiz zählte am Ende des Jahres 1892 501 Apotheken, 

welche Zahl im Laufe des Jahres um 2 stieg. Auf je 10.000 Einwohner ent¬ 
fallen in der ganzen Schweiz 1-7 Apotheken. Canton Genf, in welchem auch 
fremdländische Diplome gelten, weist auf 10.000 Einwohner, 4-5 Apotheken, 
Tessin 3-9, Schaffhausen 3-2, Waadt 3-1, Neuenburg 2-9, Basel (Stadt) 2 6, 
Aargau 1*8, Wallis 1-7, Freiburg T5, Zürich 1-4, Uri 1-2, Bern, Luzern, 
Thurgau, St. Gallen an 1, alle übrigen Cantone unter 1. Basel (Land) weist 
die wenigsten (0 3) Apotheken auf. 

Schweden. Im Jahre 1894 gab es 295 Arzneiversorgungsanstalten u. 
zw. 237 Stammapotheken, 9 Filialen und 49 Medikamenten-Depots. 

Die Hauptstadt, mit 250.000 Einw., hat auf je 13.000 Einw. eine Apo¬ 
theke. Von den übrigen Städten gibt es einige, die mit einer Einwohnerzahl 
von circa 5—7000 Einw. zwei Apotheken besitzen, andere dagegen mit 
10—15.000 nur eine. Ebenso sind auf dem Lande die Apotheken sehr 
ungleichmässig vertheilt, in einigen Regierungsbezirken, deren es 24 gibt, 
kommt eine Apotheke auf rund 3—600 km* und 22—27.000 Einw. (Städte 
und Stadtapotheken mitgerechnet), in einer Provinz sogar auf 2487 km 2 und 
40.000 Einw. nur eine, in einer anderen der mittleren Provinzen eine Apo¬ 
theke auf 450 km* und 10.000 Einw. In den nördlichen Bezirken (Norbotten 
und Westerbotten), wo es nur einen bis zwei Menschen per Quadratkilometer 
gibt, hat jede Apotheke einen Rayon von 9000, resp. 5000 iw 2 mit 9000, 
resp. 11.000 Menschen. (Mit „Apotheke“ ist hier stets jede Art von Arznei- 
Versorgungsanstalt, ohne Rücksicht auf die Namen derselben, gemeint.) Als 
Mittel ergibt sich für ganz Schweden ein Arznei-Versorgungsamt für etwa 
17.000 Einw., oder eine selbständige (Stamm-) Apotheke für 21.000 Einw. 

Zur Umwandlung der bestehenden Apotheken in reine Personal conces- 
sionen und Ablösung der darin investirten Werthe, ist in Schweden eine 
Selbstablösung der Apotheken im Zuge, die auf folgenden Principien 
beruht und bis zum Jahre 1920 durchgeführt sein wird: Von den verkäuf¬ 
lichen Apotheken Schwedens, deren Zahl im Ganzen 119 betrug, betheiligten 
sich im Jahre 1873 an der Ablösung 84 mit einem Betrage von 5,851.000 
Kronen, nach einer ungefähren Berechnung des Umsatzes auf 2 1 /» Millionen 
Kronen jährlich. Die Gesammtherabsetzungen an den verlangten Ablösungs¬ 
summen stellen sich nach einer Durchnittsrechnung für alle eingelösten Privi¬ 
legien auf ungefähr 7 pCt. Für die Einlösung der Privilegien wurde 1874 
eine Obligationsanleihe zu einem Zinsfuss von 5 1 /» pCt. gemacht, wodurch 
die Jahresabgaben zum Fonds für Zinsen und Amortisation sich auf 6V a pCt 
stellen, welche jedoch später etwas herabgesetzt werden können. Diese An¬ 
leihe wurde 1890 zum Parikurs auf 4 pCt convertirt, und es beträgt die Ein¬ 
zahlung der Theilnehmer zum Fonds gegenwärtig 5-1 pCt. An neuen Apo¬ 
theken, welche sich an der Ablösung betheiligten, wurden seit der Gründung 
des Fonds 16 eingerichtet; an reinen, nicht einmal an die Witwe übertrag¬ 
baren Personalconcessionen 110, ausser ungefähr 60 Arzneivorrathsanstalten 
und Filialapotheken. Auf Ansuchen der 25 Apotheken, welche bei der Fonds- 
gründung nicht beigetreten waren, hat der König im Jahre 1892 gestattet, 
dass für diese ein selbständiger Amortisationsfonds gebildet wurde unter 
der Bedingung, dass die bisher auf die Privilegien des älteren Fonds ge¬ 
leisteten Annuitäten oder ungefähr 16 pCt von der früheren Schätzung der 
Ablösungssummen abgerechnet werden, sowie dass der neue Fonds Apotheken¬ 
privilegien zum festgestellten Werthe von mindestens 750-000 Kronen um¬ 
fasst, dieser neue Fonds ist bereits mit 8 eingelösten Privilegien zu einem 


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86 


APOTHEKENWESEN UND ARNZEIMIT TEL VERKEHR. 


Gesammtbetrage von 792 000 Kronen in Wirksamkeit getreten. Das erforder¬ 
liche Capital wurde durch 4pCtige Obligationen beschafft. Die verkäuflichen 
Apotheken, welche mit Ablauf des Jahres 1893 sich nicht zum Eintritt in 
den neuen Fonds gemeldet haben, müssen ihre Privilegien natürlich selbst 
amortisiren. 

Da die Reform des Apothekenwesens nach schwedischem Muster auch 
in anderen Ländern gegenwärtig viel erörtert wird und einige Aussicht hat 
durchgesetzt zu werden, so dürfte folgende Schilderung der Apothekenverhält¬ 
nisse Schwedens (der Apotheker-Ztg. in Berlin) von Interesse sein: 

Zur Ausübung des Apothekerberufes bedarf es in Schweden eines königlichen Privi¬ 
legiums. Ursprünglich waren alle diese Privilegien reale, d. h. sie konnten von dem In¬ 
haber verkauft, testirt oder wegen Schuld verschrieben werden ganz so, wie jeder andere 
Besitz. Wenn also ein Apotheker sein Privilegium einem Pharmaceuten überliess, so 
brauchte der neue Besitzer nur die Kaufsurkunde vorzuzeigen und seine Competenz zur 
Leitung einer Apotheke nachznweisen oder, mit anderen Worten, den Nachweis zu liefern, 
dass er das Apothekerexamen abgelegt hatte, um von der kgl. Regierung das Privilegium 
auf sich überlassen zu erhalten. Ungefähr in der Mitte dieses Jahrhunderts begann man 
indessen dem Grundsätze zu folgen, für den, welcher die Erlaubnis erhielt, auf einem von 
der Regierung ausersehenen Platze eine neue Apotheke anzulegen, nur ein persönliches 
Privilegium auszuiertigen. Yon der Zeit an gab es also zweierlei Apotheken: realprivilegirte 
(die alten) und persönlich privilegirte (die neuen). Neue Apotheken wurden jedoch nur 
selten eingerichtet, obwohl die Anzahl der Pharmaceuten im Verhältnis zu der der Apo¬ 
theken unaufhörlich wuchs. Es konnten daher nur wenige Pharmaceuten zu selbstän¬ 
diger Ausübung ihres Berufes kommen, wenn sie sich bei der Regierung unter Angabe 
ihrer Meriten um die Concession zu einer neuen Apotheke oder um eine vakante persön¬ 
lich privilegirte Apotheke bewarben. Am gewöhnlichsten war es, dass ein Pharmaceut, 
welcher selbständig zu werden wünschte, eine schon bestehende Apotheke mit Realprivi¬ 
legium kaufte. Diese Privilegien aber hatten im Laufe der Zeit hohen Werth erreicht, 
und die allermeisten Pharmaceuten waren unbemittelt und konnten die nöthigen Summen 
oder Sicherheiten nicht anschaffen; es waren also nicht die Verdienste im Berufe, welche 
hier entscheidend waren. Es erhoben sich daher immer mehr Klagen — auch ausserhalb 
des Kreises der angestellten Pharmaceuten — über die Schwierigkeit für unbemittelte Phar¬ 
maceuten, in Besitz von Apotheken zu kommen. Die Frage, wie sich eine Verbesserung 
in dieser Beziehung erzielen lasse, wurde sowohl innerhalb der Regierung wie des Reichs¬ 
tages Gegenstand der Berathungen und es wurden mancherlei Vorschläge gemacht, dar¬ 
unter auch der, dass der Staat ganz einfach durch ein Gesetz die älteren Apotheken ohne 
jegliche Entschädigung ihrer Realprivilegien berauben solle, was von den Besonneneren 
jedoch als rechtswidrig und des Staates unwürdig bezeichnet wurde. Indessen erkannte 
die „Apothekersocietät“, die Hindernisse und Schwierigkeiten für eine ruhige Fortentwicke¬ 
lung der Pharmacie, welche durch die freie Veräusserlichkeit der Apothekerprivilegien ent¬ 
standen war, und beschloss, den Handel mit Apothekenprivilegien selbst abzuschaffen und 
durch eine Obligationsanleihe ihre eingekauften Privilegien unter gewissen Garantien von 
Seiten des Staates, aber ohne Kosten für denselben zu amortisiren. Und darauf erfolgt© 
die Bildung des Amortisationsfonds für Apothekenprivilegien, w r odurch die allermeisten 
Realprivilegien auf einmal zu persönlichen umgewandelt wurden, alle aber unbedingt im 
Jahre 1920. Es war für keinen Apotheker Zwang, sein Privilegium zu amortisiren oder 
als Theilhaber dem Fonds beizutreten, indessen waren es nur wenige, blos 25 Inhaber von 
Apotheken, welche dies nicht thaten. 13 von diesen verlangten und erhielten vor einigen 
Jahren die Genehmigung der Regierung, einen neuen Amortisationsfonds auf im Ganzen 
derselben Grundlage, wie der alte war, zu bilden, so dass jetzt nur noch 12 Apotheken 
Real Privilegien haben und bis zum Jahre 1920 verkäuflich sind. Augenblicklich existiren 
in Schweden — ausser 72 Annexapothehen (Filialapotheken, Medicamentsvorräthen und 
Brunnenapotheken) — 244 privilegirte Apotheken, davon 232 mit persönlichen und 12 mit 
noch für eine Zeit verkäuflichen Privilegien. Von den 232 persönlich privilegirten Apo¬ 
theken sind 126 ursprünglich realprivilegirte, aber vom Amortisationsfond eingekaufte und 
dadurch zu persönlich privilegirten umgewandelte, welche zu Annuitäten an den Amorti¬ 
sationsfonds verpflichtet sind; die übrigen 106 sind ursprünglich persönlich privilegirte, 
also nicht annuitätenpflichtige. Von diesen müssen indessen 38 jährliche Abgaben an den 
Unterstützungsfond der Leibrenten- und Pensionscasse des Apotheker-Vereins entrichten, 
während die übrigen bis auf Weiteres auf Grund ihres geringen Umsatzes davon befreit 
sind. Die Bildung des Amortisationsfonds (1873 kgl. Vdg. 3. Sept. 1873), wodurch die 
meisten Privilegien, und gerade die der grösseren, einträglicheren Apotheken, von realen 
(veräusserlichen) in persönliche (unveräusserliche) verwandelt wurden, geschah ohne eigent¬ 
liche Schwierigkeiten, und die Befürchtungen, welche yon den Gegnern der Reformbestre¬ 
bung ausgesprochen wurden, besonders dass die künftigen neuen Inhaber voraussichtlich 
weniger Interesse für locale Anordnungen und Verbesserungen in den Apotheken wie für 
deren Pflege im allgemeinen haben würden, haben sich als vollständig grundlos erwiesen. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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Das Interesse für die Leitung der Apotheken ist im Gegentheil ein Tegeres geworden, uild 
das ist auch ganz natürlich, weil ein gut unterhaltenes Lager und Inventarium von einem 
möglichen Nachfolger zum vollen Betrage gekauft werden soll, und weil eine sorgfältige, 
verdienstvolle Leitung einer kleineren Apotheke leicht eine Beförderung zu einer einträg¬ 
licheren zur Folge haben kann. Gerade diese Hoffnung war es, welche dazu beitrug, dass 
die Bildung des Amortisationsfonds möglich wurde. Allerdings waren es die Apotheken¬ 
inhaber selbst, welche durch allmälige Amortisation die Lösesumme, welche sie bei Ueber- 
lassung ihrer Privilegien an den Amortisationsfond erhalten hatten, zurückzahlen sollten, 
doch wurde das geringe Opfer der verhältnismässig niedrigen halbjährlichen Abgabe für 
die Amortisation des Capitais von dem ihnen während der Amortisationszeit zugosicherten 
Schutze gegen jegliche grössere Veränderung der bestehenden Verhältnisse reichlich auf¬ 
gewogen. Apothekenconcessionen als Handelswaare mit stets steigenden Preisen sind auf 
diese Weise vom Markte verschwunden. Der Apotheker verbleibt dagegen für immer in 
seinem Berufe und erhält durch diesen sein Auskommen, welches freilich zuweilen nur 
ein sehr bescheidenes, dafür aber für das ganze Leben sicheres ist. Bei Abgang eines 
Apothekers, d. h. in der Regel bei seinem Tode, soll der von der kgl. Regierung nach 
gehöriger Bewerbung und auf Grund nachgewiesener grösserer Meriten vor den Mitbewer¬ 
bern ernannte Nachfolger das Lager und Inventar der Apotheke nach dem Werthe, welchen 
sie in den Localen der Apotheke haben, bar einlösen und die restirenden Verpflichtungen 
gegen den Amortisationsfond übernehmen. Sollte der abgegangene Apotheker kein Ver¬ 
mögen haben sparen können, so ist er doch während der Zeit, dass er Inhaber der Apo¬ 
theke gewesen ist, gezwungen gewesen, mit oder wider Willen durch Quartalszahlungen 
an die Leibrenten- und Pensionscasse des Apothekercorps (kgl. Vdg. 11. Febr. 1887) seiner 
hinterbliebenen Frau oder Kindern eine wenn auch bescheidene Pension zu sichern. Auch 
diese Pensionseinrichtung ist eine glückliche Frucht der neuen Verhältnisse, welche die 
Amortisation der Realprivilegien getragen hat. 

Norwegen. Am Schlüsse des Jahres 1895 bestanden in Norwegen 
113 selbständige Apotheken, davon 33 mit verkäuflicher, 80 mit persönlicher 
Concession, ausserdem 7 Filialapotheken. 

Die Selbstablösungsfrage nach schwedischem Muster steht auch in Nor¬ 
wegen auf der Tagesordnung und die Inhaber der Realprivilegien sind zu¬ 
sammengetreten, um diese Sache zu überlegen. 

Eine Commission von Aerzten und Apothekern ist auch mit der Frage 
beschäftigt, ob Staats- oder Communal-Apotheken vor der bestehenden Ordnung 
vorzuziehen wären. Es liegen nämlich von Aerzten eingereichte Vorschläge 
vor, alle Apotheken in Staatsapotheken umzuwandeln. 

Dänemark. Die Zahl der Apotheken betrug 1892 169, davon 88 Real¬ 
apotheken (darunter 1 Filiale) und 81 Personalapotheken (darunter 1 Hilfs¬ 
apotheke). 

Russland. Die Zahl sämmtlicher Pharmaceuten im Reiche (Finnland 
ausgeschlossen) am 1. Nov. 1891 war: 6478, darunter Civil-Pharmaceuten 
6260 (96 7 pCt), Militärpharmaceuten 209 (3 1 pCt), Marinepharmaceuten 9 
(0 - l pCt). — Von den Civil-Pharmaceuten waren 5069 (78-3 pCt) in freien 
Apotheken beschäftigt, 96 (1*5 pCt) in städtischen, Hospital-, Regierungs- und 
Communalapotheken, 118 (P8) pCt), in den Apotheken der Semstwo, 311 
(4*8 pCt) in Apothekermagazinen, 568 (8‘7 pCt) waren zeitweilig nicht beim 
Fache, 36 (0'6 pCt) hatten sich einem anderen Berufszweige gewidmet, 46 
Pharmaceuten waren Assesoren bei den Medicinal-Verwaltungen, 4 waren 
Chemiker-Experten beim Zoll, 7 waren an chemischen, Parfümerie- und Seifen¬ 
fabriken thätig, 3 an chemisch-sanitären Stationen. Besitzer von Apotheken 
waren 1817, Arrendatoren 274, Verwalter 812, Conditionirende 2166, in 
Summa: 5069. Die Zahl der im Besitze von Pharmaceuten befindlichen Apo¬ 
theken einschliesslich der Filialapotheken betrug 1935 oder 67'1 pCt aller 
Apotheken. Die Zahl sämmtlicher Apotheken beträgt 2884, es befinden sich 
somit 949 Apotheken in Händen von Nichtpharmaceuten. Von diesen ge¬ 
hören Krankenhäusern der Regierung 10, städtischen Communalverwaltungen 
7, städtischen Communen und der Semstwo 106, Gesellschaften der Aerzte 3, 
Fabriken 5, jüdischen Gemeinden 3, Privatheilanstalten 1, Consumvereinen 2 
und Wohlthätigkeitsanstalten 8, somit als Regierungs- undCommunalinstitutionen 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHß. 


145 Apotheken. In Händen von Privatpersonen, die einen pharmaceutischen 
Grad nicht besitzen, befinden sich somit 804 Apotheken eingeschlossen jene, die 
Frauen von praktischen Apothekern sowie Erben verstorbener Pharmaceuten 
gehören. — Von den ausschliesslich in Apothekermagazinen (= unseren Dro- 
guerien) beschäftigten 311 Pharmaceuten waren 218 Besitzer und 93 
Conditionirende. Ausserdem besassen 93 Apothekenbesitzer und Arrendatoren 
Apothekermagazine, in welchen 20 Conditionirende theilweise beschäftigt 
wurden. Besitzer von Apothekermagazinen waren somit 311 Pharmaceuten, 
in Summa also 424 Pharmaceuten. Im Jahre 1888 wurden 695 Apotheker- 
raagazine gezählt, es waren somit etwa 40 pCt (316) aller Apothekermagazine 
im Besitze von Pharmaceuten. Mineralwasseranstalten, die im Besitze von Phar¬ 
maceuten waren, sind 20 angegeben; diese Zahl ist aber ofienbar nicht richtig, sie 
wird mit den bei den Apotheken bestehenden Anstalten 100 überschreiten. — 
Vergleicht man die Zahl sämmtlicher 6478 Pharmaceuten Russlands (richtiger: 
Personen, die eine pharmaceutische Ausbildung genossen haben) mit der Zahl 
der Einwohner 116.000.000, so kommt auf je 17906 Einwohner 1 Pharma- 
ceut oder für das gesammte Reich auf 100000 Einwohner 6 2 Pharmaceuten. 
Im europäischen Russland entfällt 1 Apotheke auf je 35000 Einwohner. Das 
Verhältnis von Arzt zu Pharmaceut ist 1 Pharmaceut auf 1*9 Aerzte. Das 
Verhältnis von annähernd 1 Pharmaceut: 2 Aerzten begegnen wir nicht nur 
in den Gouvernementsstädten, sondern auch auf dem Lande. In den Gou¬ 
vernementsstädten des Reiches finden sich 2834 Pharmaceuten und 6054 Aerzte, 
in den Kreisstädten 1724 Pharmaceuten und 3368 Aerzte, in den Kreisen 
1916 Pharmaceuten und 3060 Aerzte. Vom pharmaceutischen Nachwuchs 
entfielen auf 100 diplomirte Pharmaceuten 37 - 7 Lehrlinge. Auf je 1 Apo¬ 
theke entfallen 1‘8 Personen incl. pharmaceutische Besitzer. Ueber den Arznei¬ 
mittelverbrauch liegen für das Jahr 1888 amtliche Ermittelungen vor. Den 
stärksten Arzneimittelverbrauch weisen die Ostseeprovinzen und die Weichsel¬ 
gouvernements auf: 22 Cop. pro Kopf. In den Gouvernements mit Land¬ 
schaftsinstitutionen beträgt er pro Kopf 16 Cop., in denen ohne Landschafts¬ 
institutionen 10 Cop., im Kaukasus 9 Cop., im Gebiete des Don’schen Heeres 
7 Cop., in Sibirien 5 Cop., in den mittelasiatischen Gebieten 2 Cop. 

Belgien. Die Zahl der Apotheken betrug zu Anfang des Jahres 1895 
1828. Die Zahl der Studirenden der Pharmacie hat indess nach Erhöhung 
der Ansprüche bezw. Verlängerung der Studienzeit neuerdings erheblich nach¬ 
gelassen. Ueber das Drogistenunwesen klagen die belgischen Apotheker sehr. 
Die meisten Drogisten in grösseren Städten prakticiren wie die Apotheker, 
firmiren sogar als solche, wenn sie einen approbirten Apotheker als Stroh¬ 
mann finden. Auf dem Lande soll die Concurrenz der Drogisten besonders 
fühlbar sein. Die belgischen Apotheker streben die Einführung einer offi- 
ciellen Arzneitaxe an, nach welcher die Arzneiwaaren zu engros-Preisen mit 
geringem Zuschlag für Wäge Verluste abgegeben werden sollen und nur für die 
Anfertigung der Recepte ein Honorartarif festgesetzt wird. Die Beseitigung 
der Gewerbefreiheit wird in Belgien schon lange angestrebt. In einem dahin 
zielenden Entwurf wird Folgendes vorgeschlagen: Belgien wird in 1750 phar¬ 
maceutische Bezirke eingetheilt (so dass auf je 3500—4000 Einwohner eine 
Apotheke käme; also ungefähr das jetzige Verhältnis). Die Errichtung einer 
neuen Apotheke darf nur gestattet werden, wenn die Bevölkerung eines Bezirks 
über 3500 —j— 1750 —)— 1 (oder 4000 -f- 2000 4-1) steigt. Eine Apotheke darf 
nicht errichtet werden, wo sich nicht im Umkreis von 2 km ein Arzt befindet. 
Jeder etablirte Apotheker darf seine Stelle verlassen, um eine andere zu über¬ 
nehmen, wenn sein Gesuch die Priorität hat. Die Stelle gehört dem ersten 
Besitzergreifenden; die Besitzergreifung erfolgt durch eine Erklärung, die 
mittels eingeschriebenen Briefes der „Commission medicale“ des Bezirkes über¬ 
reicht wird. Kommen zwei Erklärungen an einem Tage an, so hat derjenige 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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mit älterer Approbation das Vorrecht; bei gleichem Approbationsalter und 
wenn beide noch nicht etablirt waren, entscheidet das Lebensalter; war einer 
etablirt, hat er den Vorzug u. s. w. Wenn eine neue Apotheke eröffnet ist, 
verlieren die Aerzte auf 4 km in der Runde das Recht des Selbstdispensirens 
(das sie bekanntlich in Belgien haben und fleissig ausüben), der Apotheker 
muss jedoch ihnen ihre Vorräthe abkaufen und jedem Arzte, wenn es meh¬ 
rere sind, eine Entschädigung von 1000 Francs, wenn es nur einer ist, von 
2000 Francs zahlen. Wird die Apotheke durch Todesfall oder Rücktritt frei, 
dann hat der Nachfolger für die Kundschaft 5000 Francs zu zahlen. Die 
Witwe, und die Kinder haben das Recht, während eines Jahres die Apotheke 
verwalten zu lassen. 

In Italien gab es 1890 10024 Apotheken bei 30,947.316 Einwohner, 
es entfiel somit 1 Apotheke auf 3087 Seelen. Die Zahl der diplomirten Apo¬ 
theker betrug 10554, die der undiplomirten Assistenten 1773. Im Jahre 1892 
gab es 10941 Apotheken, wovon 2375 in Hauptstädten und 8566 in den 
übrigen Gemeinden. Die Zahl der Assistenten betrug 1392. 

In Rumänien gab es 1893 181 Apotheken (darunter 11 Filialen), 
ferner 71 Droguerien. In den Apotheken waren 433 diplomirte Assistenten 
beschäftigt. 

In Holland gab es 1890 599 Apotheken. Die Zahl derselben ist in 
fortwährender Abnahme begriffen (1888 gab es noch 611 Apotheken). Assi¬ 
stenten gab es: geprüfte 21, ungeprüfte (Gehilfen 2. Classe) 494 (darunter 
248 weibliche), ferner 63 Praktikanten (darunter 19 weibliche). Die Apo¬ 
theken sind nicht gleichmässig vertheilt, so dass sich einmal eine Apotheke 
auf 3000 Seelen, dann wieder eine auf 7000 vorfindet. Diese Ungleich- 
mässigkeit wird hauptsächlich durch die grossen Städte bedingt. Dazu kommen 
noch die Apotheken der selbst dispensirenden Aerzte. In Gemeinden, wo es 
keine Apotheken gibt, hat jeder Arzt das Recht eine Apotheke zu eröffnen. 
Die Arzneimittel dürfen aber nicht abgegeben werden in Gemeinden, wo Apo¬ 
theker wohnen. Die Zahl derartig dispensirender Aerzte kommt derjenigen 
der Apotheker ziemlich gleich. Das Hilfspersonal besteht aus männlichen 
oder weiblichen Gehilfen, welche fast niemals das Apothekerexamen bestanden 
haben. Es gibt nämlich ein Gehilfenexamen, welchem sich jeder unterwerfen 
kann, der das 18. Lebensjahr zurückgelegt hat. Bei dieser Prüfung werden 
gefordert: Beweise für genügende Ausbildung auf den niederen Schulen; Grund¬ 
begriffe der Chemie und Physik; Anfänge der lateinischen Sprache, so weit 
sie zum Lesen und Verstehen der Recepte erforderlich sind; pharmaceutische 
Waarenkunde und theoretische und praktische Receptur. Verschiedene Phar- 
macieschulen beschäftigten sich mit der Ausbildung zur Gehilfenprüfung, 
während die Lehrlinge zu gleicher Zeit in einer Apotheke beschäftigt werden. 
Da aber die Zahl der Gehilfen sich in den letzten Jahren so stark vermehrt 
hat, dass das Gehalt eine fast nie gekannte Herunterdrückung erfahren hat, 
sind verschiedene dieser Schulen aufgehoben worden oder haben sie ihre An¬ 
forderungen so erhöht, dass die Anzahl der Lehrlinge erheblich geringer ge¬ 
worden ist. Das weibliche Hilfspersonal hat sich in den Apotheken ein¬ 
gebürgert. Dessenungeachtet ist das ihnen gewährte Gehalt kleiner als 
das der männlichen Gehilfen. 

Frankreich. Die französische Republik zählt gegenwärtig 8442 Apo¬ 
theken, was auf die 38 Millionen Einwohner vertheilt, ungefähr 4552 Seelen 
auf eine Apotheke ergibt. Nimmt man Paris für sich, so sind die Verhält¬ 
nisse ganz anders. Die Einwohnerzahl von Paris 2,450.000 ergibt, da Paris 
über 1200 Apotheken hat, 2000 Einwohner auf eine Apotheke. 

Um diese grosse Concurrenz zu vermeiden, wurde durch ein im vorigen 
Jahre eingebrachtes Gesetz beschlossen, die Anzahl der Apotheker durch die 


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APOTHEKENWESEN OND ABZNEIMITTELVERKEHR. 


Abschaffung der Apotheker 2. Classe zu beschränken, jedoch erst nach Ver¬ 
lauf von 17 Jahren, so dass man nach dem Jahre 1911 nicht mehr „phar- 
macien de seconde classe“ werden kann. Da bis dahin noch verschiedene 
Apotheker 2. Classe ausgebildet werden können und überdies das Gesetz noch 
manchmal abgeändert werden kann, bevor es in Kraft tritt, hat diese Be¬ 
stimmung vorläufig noch eine ziemlich illusorische Bedeutung. Dass die vielen 
Apotheken in Frankreich bestehen können, liegt z. Th. daran, dass es dort 
fast gar keine Drogisten gibt. Es gibt allerdings eine besondere Art Dro¬ 
gisten welche „herboristes“ heissen und welche bei einer pharmaceutischen 
Lehranstalt eine Prüfung bestehen dürfen. Je nach ihren Kenntnissen werden 
sie dort „herboristes de premiöre classe“ oder „herboristes de seconde classe“. 
Die Anzahl der Herboristen ist indess eine sehr geringe und sie spielen in 
der Concurrenz keine sonderliche Bolle, besonders da sie nur mit Kräutern 
und in der Hegel mit Bandagen, Schwämmen, Parfümerien u. s. w. handeln. 

In England trifft man gleiche Verhältnisse wie in Frankreich; die 
Anzahl der Apotheken ist aber, namentlich in London, verhältnismässig be¬ 
deutend grösser und die Concurrenz infolge dessen noch mehr zugespitzt. Im 
Ganzen gab es in England 1891 14660 registrirte Apotheker. Die Zahl der¬ 
selben ist seit 10 Jahren nicht gestiegen. Auch hier gibt es zwei Classen 
von Apothekern: „pharmaceutical chemists“ und „chemists und druggists“; 
aber die eine Classe hat keine Rechte vor der anderen voraus. Der einzige 
Unterschied, der sichtbar zwischen den beiden Classen besteht, ist der, dass 
der „Pharmaceutical chemist“ höhere Preise für seine Waaren nimmt. Neben- 
dem ist die Befreiung von allen Jurydiensten, welche die „Pharmaceutical 
chemist“ geniessen, in England nicht so ganz bedeutungslos, als es einem 
Fremden zunächst erscheint. Das Apothekergewerbe ist in England frei im 
weitesten Sinne des Wortes; das einzige, was den geprüften Pharmaceuten 
Vorbehalten bleibt, ist der Handel mit giftigen Stoffen. Natürlich hat ein 
ungeprüfter Mann nicht das Recht, sich „chemist“ zu nennen, aber er darf 
frei mit allen möglichen Arzneien handeln, ja auch Recepte anfertigen, 
wenn diese nur nicht eines der in einem besonderen Verzeichnisse aufgeführten 
Gifte enthält, und es gibt viele unexaminirte Leute, welche Geschäfte als 
„druggist“ betreiben. Diese Geschäfte unterscheiden sich sehr wenig von 
den eigentlichen Apotheken. Auch die Aerzte dispensiren sehr häufig selbst 
Arzneien. Seit 1868 besteht ein obligatorisches Examen für Apotheker. Es 
gibt aber noch einige alte Apotheker in London, welche nie ein Examen 
gemacht haben, und doch mit voller Berechtigung das Gewerbe betreiben, 
da sie es vor 1868 begonnen haben. Diese Prüfung hat indessen in den 
letzten Jahren sehr an Bedeutung verloren, da es nicht gelungen ist, 
den Grundsatz zu behaupten, dass jeder Pharmaceut, der eine Apotheke be¬ 
treibt, gleichzeitig Eigenthümer derselben sein muss. Es kann daher jeder 
Apothekenbesitzer werden, ohne ein Examen bestanden zu haben, wenn er 
sich nur einen examinirten Pharmaceuten hält. Actiengesellschaften und 
Compagnien sind auch in der pharmaceutischen Welt Englands sehr häufig. 
Das geht sogar soweit, dass die bekannten „Stores“, Geschäfte, welche mit 
allem möglichen — Kleidern, Esswaaren, Luxusgegenstäuden, Weinen, Cigarren 
u. s. w. — handeln, besondere Abtheilungen für den Arzneihandel haben. 

* * 

* 

Wie aus der bisherigen Darstellung zu ersehen ist, begegnen wir fast 
überall in den letzten Jahren dem Bestreben, den Apothekenbetrieb neu zu 
regeln und der Pharmacie neue Grundlagen zu schaffen. Insbesondere finden 
wir, dass fast überall eine erhöhte wissenschaftliche Ausbildung angestrebt 
wird, welche auch in der That erforderlich ist, falls das Apothekenwesen sich 
behaupten und den geänderten Verhältnissen anpassen soll. Der Arzt hat. 


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APOTHEKENWESEN DND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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ein bedeutendes Interesse daran, derartige Bestrebungen mit Sympathie zu 
begleiten und nach Möglichkeit zu fördern. Die immer mehr in hygienischer 
Richtung sich vertiefende Therapie stellt heute an den Arzt ganz andere Anfor¬ 
derungen, als früher. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Apotheker 
davon nicht unberührt bleiben kann. Er muss mit dem Mikroskop in der 
Hand den Arzt durch Vornahme bakteriologischer und mikrochemischer Unter¬ 
suchungen, durch Harnanalysen etc. unterstützen. So wird der wissenschaft¬ 
lich gebildete Apotheker auch weiterhin ein gewissenhafter Helfer und Be- 
rather des Arztes sein, der im Dienste des öffentlichen Gesundheitswesens dem 
Gemeinwohle erspriessliche Dienste leisten kann. Wir sehen, dass die Auf¬ 
gaben der wissenschaftlichen Pharmacie heute schon andere sind, als sie es 
noch vor einigen Jahrzehnten waren und dass sie in Hinkunft immer grösser 
und bedeutender sein werden. Denn neben den mikroskopisch-chemischen 
Untersuchungen im Dienste der Therapie, fällt auch die Untersuchung und 
Controle der Lebensmittel in ihr Gebiet, abgesehen davon, dass auch die 
Prüfung und Werthbestimmung der Arzneimittel ein immer höhere Anfor¬ 
derungen stellendes Feld der pharmaceutischen Thätigkeit darstellt. Die 
Zukunft der Pharmacie kann nur in dieser Richtung liegen, das haben die 
einsichtsvollen Männer des Faches schon längst eingesehen und bemühen 
sich auch in dieser Richtung Reformen anzubahnen. Damit die Pharmacie 
ihren künftigen Aufgaben gerecht werden könne, ist es jedoch erforderlich 
nicht nur ihre wissenschaftliche Grundlage durch entsprechend höhere Aus¬ 
bildung, sondern auch ihre materielle Basis einer den modernen Verhältnissen 
entsprechenden Umgestaltung zu unterziehen. Die Sonderstellung, die heute 
noch das Apothekenwesen in vielen Staaten einnimmt, muss aufhören. Ent¬ 
weder die Apotheke sinkt zur einfachen Arzneimittelhandlung herab, wozu sie 
jetzt schon auf dem besten Wege ist, nachdem die Darstellung der meisten 
Präparate, selbst rein pharmaceutischer, immer mehr den Grossbetrieb in 
Fabriken anheimfällt, oder sie wird eine auf wissenschaftlicher Grundlage ein¬ 
gerichtete Sanitätsanstalt, die dem Staate und der Bevölkerung wichtige 
Dienste zu leisten vermag. 

Unserer Meinung nach ist die erste Grundbedingung der Neuregelung 
des Apothekenwesens das Festhalten an dem Standpunkte, dass die Apotheke 
eine dem Wohle der Bevölkerung dienende Sanitätsanstalt sei, nicht aber ein 
Speculationsobject. Zweite Grundbedingung ist, dass dem Apotheker als 
öffentlichen Sanitätsbeamten, der namentlich auf dem Lande sehr viel 
zum Wohle der Bevölkerung leisten kann, eine gesicherte Existenz geboten 
werde. Dritte Grundbedingung ist die Erweiterung und Vertiefung der phar¬ 
maceutischen Ausbildung durch Einführung der Matura als Vorbildung und 
entsprechende Erweiterung des pharmaceutischen Hochschulstudiums. 

Sind diese Grundbedingungen erfüllt, dann kann die Neuregelung des 
Apothekenbetriebes in verschiedener Weise erfolgen. Wie die Verhält¬ 
nisse liegen kommen in Betracht: 1. Die Verstaatlichung des gesammten 
Apotheken- und Sanitätswesens, welche auch unter den Aerzten viele Anhän¬ 
ger zählt. Gegen diese Lösung wäre im Allgemeinen nicht viel einzuwenden, 
sie erscheint aber vorderhand aus mancherlei Gründen unausführbar, abge¬ 
sehen davon, dass die Gefahr besteht, es könne die ganze Action lediglich 
zu einem neuen Staatsmonopol führen. 2. Die Niederlassungsfreiheit 
in bedingter Form, für welche in neuester Zeit auch die pharmaceutischen 
Kreise theilweise eingenommen sind (besonders in Deutschland). Eine an 
bestimmte gesetzliche Erfordernisse geknüpfte Niederlassungsfreiheit hat Man¬ 
ches für sich. Grundbedingung derselben wäre die Erhöhung der Anfor¬ 
derungen hinsichtlich der pharmaceutischen Ausbildung, also Einführung des 
Maturums als Vorbildung sowie Erweiterung und Vertiefung des Hochscbul- 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


Stadiums. Eine 2. Hauptbedingung wäre die Feststellung einer Bevölkerungs¬ 
ziffer, welche für die Errichtung von Apotheken in den Städten und auf dem 
Lande maassgebend sein soll, in der Weise, dass die betreffende Behörde die 
Errichtung weiterer Apotheken, wenn dieselbe mit dem Erfordernis nicht im 
Einklang steht, verbieten kann. Eine solche Beschränkung wäre unbedingt 
nothwendig, um einer zügellosen Concurrenz vorzubeugen. Endlich müssten 
nach wie vor die Arzneipreise durch amtliche Arzneitaxe festgesetzt werden 
und der Apothekenbetrieb auch weiterhin der staatlichen Controle unterliegen. 
3. Die Einführung der reinen unveräusserlichen Personalconcession. 
Diese hätte in der Weise zu erfolgen, dass innerhalb eines bestimmten Zeit¬ 
raumes von beispielsweise 30 Jahren alle bestehenden verkäuflichen Real¬ 
apotheken und übertragbaren Personalapotheken in unveräusserliche und 
unübertragbare reine Personalconcessionen umgewandelt werden, bezw. dem 
Staate anheimfallen. Die in den Apotheken angehäuften Werthe sind während 
dieses Zeitraumes unter staatlicher Mithilfe nach schwedischen Muster abzu¬ 
lösen. Alle von dem Zeitpunkte der Einführung dieser Bestimmungen neu 
errichteten Apotheken werden selbstverständlich von vornherein als unver¬ 
äusserliche Personalconcessionen vergeben. Jede Concession, sei es eine neu 
geschaffene, sei es eine durch Tod oder Verzichtleistung erledigte, wird im 
Wege des öffentlichen Concurses an den geeignetsten Bewerber verliehen, 
wobei die genauesten Bedingungen bezüglich der Verleihung vorzuschreiben 
sind und einerseits die Dienstjahre, andererseits besondere Fähigkeiten und 
Verdienste auf wissenschaftlichen, fachliterarischen und anderen Gebieten 
(z. B. des öffentlichen Gesundheitswesens) zu berücksichtigen wären. Die 
Concession wird ad personam verliehen und der Bewerber mittelst amtlichen 
Decretes zum öffentlichen (Bezirks-, Kreis-, Stadtapotheker) ernannt. Sein 
Wirkungskreis ist der eines öffentlichen Sanitätsbeamten, seine Stellung nach 
Art der Notariate eine halbamtliche. Die Möglichkeit des progressiven Vor- 
rückens muss gewahrt sein. Die Schaffung eines obligatorischen Pensions¬ 
fonds für Witwen und Waisen ist selbstverständlich eine Grundbedingung. 
Eine Hauptbedingung dieser Reform ist auch die ausgiebige Vermehrung der 
Apotheken, selbstverständlich in der Art, dass die bestehenden dadurch nicht 
gefährdet werden. 

Hausapotheken, Nothapparate und Arzneikästen. Seit dem Bestände 
einer Apothekengesetzgebung (also seit Kaiser Friedrich II. diesbezüglicher Gesetz¬ 
gebung) ist das Selbstdispensiren der Aerzte überall sehr eingeschränkt wor¬ 
den und das mit vollstem Rechte, da dasselbe nur Missstände der verschie¬ 
densten Art zeitigte. In manchen Fällen kann jedoch von demselben auch 
heute noch nicht abgegangen werden. So wird in vielen Staaten das Selbst¬ 
dispensirrecht den Aerzten eingeräumt an Orten, wo keine öffentliche selbst¬ 
ständige Apotheke oder Filialapotheke besteht u. zw. zu dem Zwecke um der 
Bevölkerung den Bezug von Arzneimitteln zu erleichtern, keinesfalls aber um 
etwa dem betreff. Arzte damit eine Mehreinnahme zu gewähren, wie dies 
merkwürdigerweise von Seite der Aerzte mitunter noch angenommen wird. 
Es wird also den Aerzten in solchen Fällen gestattet Arznei-Dispensir- 
stellen oder Haus apotheken (Handapotheken) zu halten und aus den¬ 
selben Arzneien zu diespensiren. Für diese ärztlichen Hausapotheken gelten 
in den meisten Staaten im Allgemeinen dieselben Bestimmungen, wie für die 
öffentlichen Apotheken, auch für dieselben sind die betreffende Pharmakopoe 
und Arzneitaxe, sowie die sonstigen auf den Apothekenbetrieb bezüglichen 
Vorschriften maassgebend, ebenso sind sie einer ähnlichen Revision unter¬ 
worfen. Mit der Errichtung einer öffentlichen Apotheke, an einem Orte, wo 
bis dahin eine Hausapotheke bestand, erlischt selbe. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


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Ueber die Hausapotheken und Nothapparate bestehen in Oesterreich 
folgende Bestimmungen: 

Instruction für Aerzte und Wundärzte, welche in den k. k. Erbstaaten die 
Praxis ausüben wollen und keine Kreisärzte sind. 

(Hofkd. 3. Nov. 1808). 

§ 13. Befindet sich in dem Aufenthaltsorte eines Arztes oder sehr nahe an selbem 
eine Apotheke, so ist es dem Arzte nicht erlaubt selbst Arzneien auszugeben. Ist aber 
weder an dem Orte selbst, noch im Umkreise einer Stunde eine Apotheke befindlich, so 
ist es dem Arzte erlaubt eine Hausapotheke zu halten und aus selber die Arzneien nach 
der Pharmakopoe an Kranke abzugeben. 

§ 14. Befindet sich in dem Aufenthaltsorte des Wundarztes oder sehr nahe an selbem 
eine Apotheke, so ist es ihm nicht erlaubt, selbst Arzneien auszugeben. Ist aber im Um¬ 
kreise von einer Stunde keine Apotheke vorhanden, so kann der Wundarzt eine Haus¬ 
apotheke halten nnd aus selber die Arzneien nach der Pharmakopoe an Kranke abgeben. 

§ 15. Die aus diesen Apotheken hinausgegebenen Arzneien sind nie über die be¬ 
stehende Apothekertaxe zu taxiren. 

§ 16. Einfache, ihm wohlbekannte, in seiner Gegend wachsende Arzneimittel, als 
Blumen, Kräuter, Wurzeln, Samen, ist dem Wundarzte erlaubt, sich selbst zu sammeln. 

§ 17. Es ist ihm aber, wenn er auch die Eigenschaft besitzt, eine Hausapotheke zu 
führen, verboten, zubereitete und zusammengesetzte Arzneien (präparata et composita), 
welche zum innerlichen Gebrauche gehören, selbst zu verfertigen, sondern er muss selbe 
von einen ordentlichen Apotheker kaufen und sich jederzeit darüber mit einem von diesem 
gefertigten Verzeichnisse, worin der Name und das Gewicht der Arzneien und die Zeit des 
Kaufes bestimmt sein muss, ausweisen können. 

Verordnung des Ministeriums des Innern vom 26. Dec. r 1882 betreffend 
die Hausapotheken und Nothapparate der Aerzte und Wundärzte 

(RGB. Nr. 182.) 

A. In Betreff der Hausapotheken. 

1. Die Berechtigung zur Haltung einer Hausapotheke bemisst sich nach den bis¬ 
herigen hierauf bezüglichen gesetzlichen Vorschriften. 

2. Jeder Arzt oder Wundarzt, der für sich die Berechtigung zur Haltung einer Haus¬ 
apotheke beansprucht, hat hierzu die Ermächtigung bei der politischen Bezirksbehörde zu 
erwirken. 

3. Die Hausapotheke hat die Bestimmung, dem auf dem Lande die Praxis ausüben¬ 
den Arzte oder Wundarzte die Verabreichung von Medicamenten an die sich seiner Behand¬ 
lung an vertrauen den Kranken ohne grossen Verzug zu ermöglichen. Der Besitz einer 
Hausapotheke berechtigt jedoch den Arzt nicht zum Verschleisse von Arzneien oder Arznei- 
stoffen überhaupt, auch nicht zur Verabfolgung von Medicamenten aus derselben an Kranke, 
die im Standorte einer öffentlichen Apotheke von dem eine Hausapotheke haltenden Arzte 
behandelt werden. 

4. Die Auswahl der Arzneimittel und die Menge derselben, welche in der Haus¬ 
apotheke vorräthig gehalten werden, bleibt dem betreffenden Arzte oder Wundarzte über¬ 
lassen, der übrigens für die Erhaltung der qualitätmässigen Beschaffenheit jedes in der 
Hausapotheke vorhandenen Arzneistoffes verantwortlich ist. 

Die Arzneimittel des Nothapparates 6 B, Punkt 1. und 2. müssen jedoch in jeder 
Hausapotheke vorräthig sein. 

5. Die Verabfolgung eines Medicamentes aus dem Arzneimittelvorrathe einer Haus¬ 
apotheke darf nicht verweigert werden, wenn dieselbe von einem auswärtigen, zur ärzt¬ 
lichen Hilfeleistung herbeigerufenen Arzt verordnet, als dringend nothwendig bezeichnet 
wird und die Beschaffung des Medicamentes aus einer Apotheke nicht rechtzeitig zu be¬ 
wirken wäre. 

6. In jeder Hausapotheke müssen die zur correcten Dispensirung von Arzneien erfor¬ 
derlichen Behelfe: Waagen, Gewichte, Maasse und sonstige Geräthe im vorschriftsmässigen 
Zustande vorhanden, die Arzneivorräthe in einer, jeden Missbrauch, jede Vermengung oder 
Verwechslung ausschliessenden Weise verwahrt sein. 

7. Rücksichtlich des Bezuges der Arzneistoffe und Präparate für die Hausapotheken 
bleiben die bestehenden Vorschriften in Wirksamkeit. 

Nebst dem Bezugsbuche hat der zur Haltung einer Hausapotheke berechtigte Arzt 
oder Wundarzt auch ein Vormerkbuch zu führen, in welches unter Namhaftmachung der 
Kranken die an sie verabfolgten Arzneien in Receptform einzutragen sind. 

Den ausgefolgten Arzneien ist stets auch das betreffende Recept beizugeben und der 
Taxpreis in gleicher Weise, wie es für die Apotheker vorgeschrieben ist, beizusetzen. 

8. Die Dispensirung der Arzneien aus der Hausapotheke darf nur durch den Arzt 
oder Wundarzt oder einem von ihm hiefür bestellten Pharmaceuten besorgt werden. Für 
die richtige Gebarung ist der Hausapothekenbesitzer verantwortlich. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


B. In Betreff der Nothapparate. 

1. Damit bei plötzlich eingetretenen, lebensgefährdenden .Zufällen and Erkrankungen 
der herbeigerufene Arzt zugleich auch die allerdringlichsten und unentbehrlichen, als be¬ 
währt befundenen, gewöhnlich nur in Apotheken vorhandenen Mittel für die erste Hilfe¬ 
leistung zur sofortigen Verabreichung verfügbar habe, hat ein Nothapparat zu dienen, in 
welchem nachstehende Arzneimittel m der vorgeschriebenen Menge und Dosirung vorhan¬ 
den sein müssen. 

a) Acidum tannicum, Doses Nr. 10 k 1*00 Gramm (qua stypticum et antidotum). — 
Z>) Chloroformium 100 00 Gramm. — c) Cuprum sulfuricum in pulvere, doses Nr. 10 k 1*00 
Gramm (qua emeticum et antidotum). — d) Ferrum sesquichloratum solutum 100*00 Gramm. 
— e) Radix Ipecacuanhae in pulvere, doses Nr. 10 k 1*00 Gramm (qua emeticum). — 
j) Morphium hydrochloricum (zur subcutanen Injection): Morphii hydrochlorici 0*10 Gramm; 
Aquae destillatae 5*00 Gramm. — g) Tinctura opii simplex 20 00 Gramm. 

2. Den politischen Landesbehörden bleibt es Vorbehalten, nebst den vorstehenden 
Mitteln noch ein oder das andere zur Aufnahme in den Nothapparat zu bestimmen, wenn 
hiefür unter Berücksichtigung maassgebender Verhältnisse sich ein Bedürfnis herausstellt. 

3. Zur Haltung der in den Nothapparat aufgenommenen Arzneien ist jeder Arzt 
verpflichtet, der in einem Orte wohnt, in welchem sich keine öffentliche Apotheke befindet. 

4. In dem Standorte einer öffentlichen Apotheke domicilirenden Aerzte sind von der 
politischen Bezirksbehörde zur Haltung eines Nothapparates zu ermächtigen, wenn sie in 
Ausübung ihres Berufes ausserhalb ihres Wohnortes befindliche Kranke besuchen und die 
localen Communicationsverhältnisse derart sind, dass die Herbeischaffung der zur ersten 
Hilfeleistung erforderlichen Arzneimittel nicht rasch genug aus der Apotheke bewirkt 
werden kann. 

5. Die Arzneimittel des Nothapparates sind in der zur Verabreichung bereits vor¬ 
bereiteten Form aus einer der dem Arzte nächst gelegenen öffentlichen Apotheken zu be¬ 
ziehen. Der Arzt ist für die gute Instandhaltung, der Apotheker für die richtige Dosirung 
und Qualität der Arzneimittel des Nothapparates verantwortlich. 

6. Die Gefässe und Kapseln, in welchen die Arzneimittel des Nothapparates ver¬ 
wahrt werden, müssen mit genauen Signaturen, mit der Firma der Apotheke, aus welcher 
die Arzneimittel verabfolgt wurden und mit dem Datum der Expedition versehen sein. 

7. Die Aerzte sind verpflichtet, für die Complethaltung der Arzneimittel im Noth¬ 
apparate zu sorgen und ein eigenes Vormerkbuch über den Bezug und die Verabfolgung 
der Arzneimittel des Nothapparates zu führen. 

Die Hausapotheken sowohl, als die Nothapparate der Aerzte und Wundärzte unter¬ 
stehen der staatlichen Beaufsichtigung und haben die Bezirksärzte zeitweilig sich von dem 
entsprechenden Zustande derselben, sowie über das vorschriftsmässige Gebaren mit den¬ 
selben zu überzeugen. 

Für die Visitation der in Krankenanstalten bestehenden Dispensir- 
anstalten (Spitalsapotheken), ebenso für die ärztlichen Hausapotheken ist laut 
Min. Erlass vom 4. Januar 1895, Z. 32,832 ex 1894 keine Visitationstaxe 
zu entrichten. 

Arzneikasten der Seehandelsschiffe: Mittelst Erlass des Han¬ 
delsministeriums vom 15. Dec. 1875 RGB. Nr. 152 wurde auch den See¬ 
handelsschiffen aufgetragen einen Arzneikasten mitzuführen. Die noch jetzt in 
Kraft befindlichen Paragraphe dieser Verordnung lauten: 

§ 1. Die im Artikel H, § 18 des polit. Marine-Edictes vom 25. April 
1774 enthaltene Verpflichtung des Schiffers, einen Medicinalkasten an Bord 
zu führen, wird auf die Seehandelsschiffe der weiteren Fahrt und jene der 
grossen Küstenfahrt beschränkt. Die Anschaffung des Arzneikastens obliegt 
dem Rheder. Für das Vorhandensein desselben an Bord, für dessen Ver¬ 
wahrung und die entsprechende Obsorge ist der Schiffer verantwortlich; ist 
am Schiffe ein Arzt bestellt, so haftet dieser hiefür in erster Reihe. 

§ 2. Die an Bord der Seehandelsschiffe obiger Kategorien zu führenden 
Arzneikästen sind grosse, mittlere und kleine. Schiffe, welche bis zu 10 Per¬ 
sonen an Bord haben, müssen mit einen Kasten der kleinen, jene mit 11 bis 
20 Personen mit einen solchen mittlerer und jene mit mehr als 20 Personen 
mit dem der grossen Gattung versehen sein. 

§ 3. Jeder Kasten hat die in einer Anlage verzeichneten Arzneien und 
sonstigen Gegenstände in vollkommen guter Qualität, sowie im vorgeschrie¬ 
benen Ausmaasse zu enthalten. 

Später wurden mittels Verord. d. Handelsminist, vom 10. October 1894, 
RGBl. 195 einige ergänzende Bestimmungen erlassen. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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Die Orden sapotheken, d. h. die von geistlichen Orden (Klöstern) 
gehaltenen Apotheken sind Haus- bezw. Spitalsapotheken. Es ist denselben 
untersagt Arzneien öffentlich zu verkaufen. An jenen Orten, wo den Barm¬ 
herzigen Brüdern „aus besonderem Grunde“ gestattet ist, Arzneien öffentlich 
zu verkaufen, müssen dieselben ihre Apotheken durch einen geprüften Apo¬ 
theker (Provisor) führen. 

Nach dem Hofkd. 25. Mai 1770 ist es nur den Barmherzigen Brüdern und 
Elisabethinerinnen, nach einem n. ö. Reg.-Decr. 3. Mai 1832, Z. 22638 den 
Barmherzigen Schwestern, nach einem n. ö. Reg.-Decr. 13. Nov. 1834, Z. 61357 
den Elisabethinerinnen (wiederholt), Salesianerinnen und Ursulinerinnen gestattet 
„für die in ihren Häusern befindlichen Kranken Apotheken zu halten, ebenso 
erlaubt, ihre gehörig ausgestatteten Apotheken durch einen approbirten Pro¬ 
visor versehen zu lassen.“ Nach dem Hofkd. 14. Febr. 1822, Z. 3695 ist die 
Aufdingung und Freisprechung der Apothekergehilfen und Lehrlinge, wie sie 
in anderen Apotheken üblich bei den Barmherzigen Brüdern nicht zulässig, 
dagegen aber müssen die Individuen allen jenen Prüfungen unterzogen wer¬ 
den, welche die bestimmten Gesetze für die Apothekergehilfen und Lehrlinge 
vorschreiben. 

Homöopathie. Die grundliegenden Bestimmungen für die Ausübung 
der Homöopathie in Oesterreich bietet das Hofkdecr. vom 9. Dec. 1846, 
Z. 41201 (Pol. Ges. Samml. Bd. 74, Nr. 130), welches auf Grund der Allh. 
Entschl. vom 6. Febr. 1837 erschien und das bis dahin bestandene Verbot 
der Ausübung der homöopathischen Heilmethode in Oesterreich vom 21. Oct. 
1819 aufhob: 

Hofkanzleidecret von 9. December 1846 an sämmtliche Länderstellen. 

Die gegen unbefugte Ausübung der Arznei- und Wundarzneikunde, dann Cur- 
pfoschereien überhaupt bestehenden Vorschriften haben auch bei Voranstellung der homöo¬ 
pathischen Heilmethode ihre Anwendung zu finden. Die für diese Heilmethode erforder¬ 
lichen Stammtincturen und Präparate dürfen nur aus den Apotheken verschrieben werden; 
diese Arzneien können aber sodann von den der homöopathischen Heilmethode ergebenen 
Aerzten und Wundärzten verdünnt und verrieben und ihren Patienten, jedoch unentgeltlich, 
verabreicht werden, doch muss bei den letzteren immer ein Arzneizettel, auf welchem die 
verabreichte Arznei ^enau mit dem Grade ihrer Verdünnung und Verreibung angegeben 
und diese Angabe mit der Namensunterschrift des Arztes oaer Wundarztes bestätigt ist, 
hinterlegt werden. 

Da seinerzeit Zweifel darüber entstanden, ob die im § 354 *) des all¬ 
gemeinen Strafgesetzes vom 27. Mai 1852 enthaltenen Bestimmungen über 
den unberechtigten Verkauf innerer oder äusserlicher Heilmittel auch auf 
zubereitete homöopathische Arzneien anwendbar seien, wurde von dem Justizmi¬ 
nisterium im Einverständnisse mit dem Ministerium des Innern eine Erläuterung 
mittelst Erlass des k. k. Justizministeriums vom 9. August 1857, RGBl. 
Nr. 151, wirksam für alle Kronländer, gegeben, welche folgenden Wortlaut hat: 

„Aach der Verkauf zubereiteter homöopathischer Heilmittel ist ausser den öffentlichen 
Apotheken und Hausapotheken den beglaubigten Heil- und Wundärzten auf dem Lande 
ohne von der Behörde hierzu ertheilte besondere Bewilligung unter den im § 354 des 
Strafges. enthaltenen Bestimmungen verboten, die den Aerzten und Wundärzten, welche 
sich der homöopathischen Heilmethode bedienen, eingeräumte beschränkte Befugnis der 
unentgeltlichen Selbstdispensation nach dem Hofkdecret 9. Dec. 1876 erleidet durch die 
gegenwärtige Verordnung keine Veränderung*. 


*) Str. G. § 354. Ausser den Berechtigten, wie auch den Hausapotheken der be¬ 
glaubigten Heil- und Wundärzte auf dem Lande ist der Verkauf von innerlichen und 
äusserlichen Heilmitteln, in Beziehung auf deren Verabfolgung besondere beschränkende 
Anordnungen bestehen, ohne von der Behörde darüber ertheilte besondere Bewilligung 
verboten. Diese Uebertretung ist mit Arrest von einem bis zu drei Monaten, ist der Verkauf 
durch mehrere Monate fortgesetzt worden, mit Verschärfung des Arrestes, und zeigen sich 
in der Untersuchung von dem Verkaufe solcher Arzneien schädliche Folgen, mit strengem 
Arreste von einem bis zu sechs Monaten zu bestrafen. 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 


In einem speciellen Falle wurde mittelst Min. Entscheid, vom 26. April 
1881, Z. 3622, entschieden: 

„Durch das mit der Allh. Entschl. vom 5. Dec. 1846 (Hofk.-D. vom 9. Dec. 1846, 
Z. 41201) den homöopathischen Aerzten gemachte Zugeständnis, die aus den Apotheken 
verschriebenen Stammtincturen und Präparate selbst verdünnen, verreiben und ihren 
Patienten, jedoch unentgeltlich verabreichen zu dürfen, sind die weiteren auf das Medicinal- 
wesen Bezug nehmenden Verordnungen rücksichtlich der Dispensirung von Medicamenten 
seitens der Aerzte überhaupt, durchaus nicht berührt worden. 

Demnach sind die homöopathischen Aerzte, gleichwie die allopathischen verpflichtet, 
die für ihre Hausapotheken und Nothapparate benöthigten Arzneien aus den öffentlichen 
Apotheken des Inlandes zu beziehen, da nur diese unter staatlicher Aufsicht und Controle 
stehen; 

weiters ist durch die obbezogene Allh. Ent. den homöopathischen Aerzten nicht ge¬ 
stattet, in den Apotheken hergestellte Verdünnungen und Verreibungen der homöopathischen 
Medicamente selbst zu dispensiren, sie sind vielmehr, wenn sie von dem ihnen gemachten 
Zugeständnisse der Selbstdarstellung dieser Verdünnungen und Verreibungen keinen 
Gebrauch machen, verpflichtet, gerade so wie die allopathischen Aerzte, die homöopathischen 
Medicamente aus öffentlichen inländischen Apotheken zu verordnen. 

Weiters ist maassgebend folgende Verordnung des Ministeriums des 
Innern aus dem Jahre 1887: 

Verordnung des Ministerium des Innern von 27. Mai 1887, betreffend die 
Verabreichung von homöopathischen Arznei Verdünnungen "an Kranke 
durch der homöopathischen Heilmethode ergebene Aerzte und Wundärzte. 

(RGBL Nr. 67.) 

Mit der allerhöchsten Entschliessung vom 6. December 1845 (Politische Gesetzes¬ 
sammlung, Band LXXIV, Nr. 130) wurde „den der homöopathischen Heilmethode ergebenen 
Aerzten und Wundärzten“ gestattet, die nach dieser Heilmethode erforderlichen und aus 
den Apotheken zu verschreibenden Stammtincturen und Präparate verdünnt und verrieben 
ihren Patienten unentgeltlich zu verabreichen. 

Um den Missbrauchen zu begegnen, welche in Folge einer irrthümlichen Inter¬ 
pretation der angeführten und gesetzlichen Bestimmung insbesondere dadurch sich ergeben, 
dass Aerzte und Wundärzte, auch wenn sie zur Arzneidispensation nicht berechtigt sind, 
unter dem Vorwände der Anwendung der homöopathischen Heilmethode Arzneien irgend 
welcher Art an Kranke verabreichen, wird auf Grund eines Gutachtens, des obersten 
Sanitätsrathes hiermit erklärt, dass die aus der eingangs citirten allerhöchsten Ent- 
schliessung fliessende Berechtigung zur Selbstdispensation homöopathischer Arzneiver¬ 
dünnungen nur jenen Aerzten und Wundärzten zukommt, welche der homöopathischen 
Heilmethode „ergeben“ sind, d. h. welche sich bei Behandlung ihrer Kranken ausschliesslich 
der homöopathischen Heilmethode bedienen und sich hinsichtlich der Arzneidispensation 

f enau an die ursprünglichen strengen Grundsätze der potenzirten homöopathischen Ver- 
ünnung halten. 

Die nach dem vorstehenden Grundsätze zur Selbstdispensation homöopathischer Arznei¬ 
verdünnungen berechtigten Aerzte und Wundärzte sind bei den politischen Behörden mittelst 
besonderer Verzeichnisse in Evidenz zu führen. Sie sind verpflichtet, die für ihre homöo¬ 
pathischen Hausapotheken erforderlichen Stammtincturen und Präparate ausschliesslich nur 
aus inländischen Apotheken zu beziehen und bei der Verabreichung ihrer homöopathischen 
Arzneiverdünnungen an Kranke einen mit ihrer Namensunterschrift bestätigten Arzneizettel, 
auf welchem die verabreichte Arznei genau mit den Grade ihrer Verdünnung oder Ver¬ 
reibung angegeben zu sein hat, zu hinterlegen. 

Ihre homöopathischen Hausapotheken unterliegen der amtsärztlichen Revision nach 
den hinsichtlich der Revision der Hausapotheken der Aerzte und Wundärzte überhaupt 
giftigen Bestimmungen. 

Weiters eine Minist. Verfügung, welche als Erlass der k. k. Statthalterei 
in Böhmen vom 12. October 1895, Z. 154.615, allen unterstehenden poli¬ 
tischen Behörden, betreffend die bei dem Bezüge und bei Abgabe homöo¬ 
pathischer Arzneien zu beobachtenden Vorschriften, wie folgt kundgemacht 
wurde: 

„Das h. k. k. Ministerium des Innern hat anlässlich der Beschwerden zweier 
homöopathischer Aerzte, betreffend die Berechtigung derselben zur Führung sowohl allo¬ 
pathischer als auch homöopathischer Arzneien in ihren Hausapotheken, Folgendes bekannt 
gegeben. 

Nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere der Hofk.-D. vom 
3. Nov. 1808 und vom 24. April 1827 sind die an einer inländischen Facultät promoyirten 
Aerzte mit Vorwissen der politischen Behörde und nach erfolgter Legitimirung bei der- 


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APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 


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selben durch Vorlage des Diplomes berechtigt, die ärztliche Praxis ausznüben, ohne dass 
in diesen Vorschriften das Recht der Praxis-Ausübung an die Bedingung des therapeutischen 
Vorgehens nach einer bestimmten, nicht durch ein ausdrückliches Verbot ausgeschlossenen 
Heil-Methode geknüpft wird. 

Hingegen ist in Gemässheit der Bestimmungen der Allerh. Entschl. vom 5. Dec. 1846 
(P. G.-S. Band LXXIV. Nr. 130). beziehungsweise der Verordnung vom 27. Mai 1887 
RGBl. Nr. 67, nur den ausschliesslich der homöopathischen Heilmethode ergebenen Aerzten 
die Berechtigung zur Selbstdispensation homöopathische Arznei-Verdünnungen — insoferne 
dieselben nicht ohnehin das Selbstdispensationsrecht in Folge der Berechtigung zur Haltung 
einer Hausapotheke besitzen —, daher auch an solchen Orten zugestanden, an denen 
öffentliche Apotheken bestehen, oder an denen sie zur Haltung von Hausapotheken nicht 
berechtigt wären. 

„ Jene Aerzte, welche ohnehin zur Haltung einer Hausapotheke und sonach zur 
Dispensation von im Heilmittelverkehre zulässigen Arzneimitteln unter Beobachtung der 
Bestimmungen der Vdg. des Min. Inn. vom 26. Dec. 1882. RGBl. Nr. 182, über Haus¬ 
apotheken, berechtigt sind, sind nicht gehindert, Arzneien nach homöopathischer Methode 
aus ihren Hausapotheken zu dispensiren, für welche denselben die Auswahl der Arznei¬ 
mittel nach Punkt 4 der bezogenen Ministerial-Verordnung freisteht. 

Es haben daher die zur Haltung von Hausapotheken berechtigten Aerzte, sohin auch 
die Recurrenten, nach den bestehenden Vorschriften die zur Einrichtung und Ergänzung 
ihrer Hausapotheken erforderlichen chemischen und pharmaceutischen Präparate, sowie 
sonstige arzneiliche Zubereitungen, soweit sie aus einer der nächstgelegenen Apotheken 
erhältlich sind, aus diesen zu beziehen, sie haben nebst dem Fassungsbuche auch ein Vor¬ 
merkbuch zu führen, in welches unter Namhaftmachung der Kranken die an sie verab¬ 
folgten Arzneien in Receptform einzutragen sind. Den ausgefolgten Arzneien ist stets 
auch das betreffende Recept beizugeben und ist der Taxpreis bei allopathischer Ver¬ 
schreibungsweise nach demselben Taxansatze, wie es für Apotheker vorgeschrieben ist, bei¬ 
zusetzen, bei homöopathischer Dispensationsweise ist jedoch — in Gemässheit der aus¬ 
drücklichen Bestimmungen des Hofk.-D. vom 9. Dec. 1846 nichts zu berechnen. 

Der politischen Behörde obliegt, die Einhaltung der sanitätspolizeilichen Vorschriften 
über Hausapotheken und Arznei-Dispensation genau und wirksam zu überwachen.« 

Endlich der Min.-Erl. vom 30. September 1895, Z. 21909: 

Was die Vorräthighaltung von Salben, Pflastern, Arznei-Collodium in den Haus¬ 
apotheken solcher homöopathischer Aerzte anbelangt, welche nicht kraft der Entfernung 
ihres Wohnsitzes vom Standorte der nächsten öffentlichen Apotheke die behördliche Be¬ 
willigung zur uneingeschränkten Führung einer Hausapotheke überhaupt erwirkt haben, 
ist dieselbe in Gemässheit der Bestimmungen des Hofk.-D. vom 9. Dec. 1846 unstatthaft, 
weil diese Arznei-Bereitungen als Stammpräparate, die zur homöopathischen Verdünnung 
dienen, nicht angesehen werden können. 

Vielmehr hat der homöopathische Arzt bei Ausübung der ärztlichen Praxis in Fällen, 
in welchen die homöopathische Dispensation durch Verabreichung homöopathischer Ver¬ 
dünnungen nicht stattfindet, die erforderlichen Arzneien aus der Apotheke zu verschreiben. 

Falls zur homöopathischen Verordnung bestimmte pharmaceutische Präparate oder 
Stammtincturen von diesem homöopathischen Arzte direct aus dem Auslande bezogen 
werden, ist dieser Bezug gleichfalls unstatthaft, weil Aerzte als Privatpersonen überhaupt 
nicht berechtigt sind, ohne besondere Statthalterei-Bewilligung Arzneien aus dem Auslande 
zu beziehen, und weil diese Präparate ausnahmslos nur aus inländischen Apotheken ver¬ 
schrieben oder durch diese besorgt werden dürfen, wie das gedachte Hofkd. ausdrücklich 
festsetzt und mit dem Min.-Erl. vom 27. Mai 1887, Z. 3690, kundgemacht mit dem Statth.- 
Erlasse vom 12. Juni 1887, Z. 46.660, näher ausgeführt wurde. 

Was die Vorräthighaltung von Vaselin, Carboilösungen, Verbandstoffen anbelangt, 
können t iese als äusserliche Hilfsmittel der Therapie nicht Bestandtheile einer homöo¬ 
pathischen Hausapotheke sein, jedoch insofern sie den Parteien vom Arzte nicht geschäfts- 
raässig geliefert werden, als ärztliche Bedürfnisse bei Ausübung der ärztlichen, namentlich 
chirurgischen Thätigkeit, gleich den Gegenständen des Nothapparates, vorräthig gehalten 

werden.“ A. BRESTOWSKI. 

Atteste (Aerztliche Zeugnisse). Die Aerzte kommen sehr häufig in 
den Fall Atteste, d. h. Zeugnisse auszustellen über irgend ein Verhältnis, zu 
dessen richtiger Beurtheilung medicinische Kenntnisse nothwendig sind. Solche 
Zeugnisse können nur von patentirten Medicinalpersonen ausgestellt werden, 
unter welchen die häufigsten Aerzte sind. Unter Umständen können aber auch 
Apotheker und Hebammen zu einem Atteste in Anspruch genommen werden, 
insoweit die Kenntnisse derselben laut ihrer durch ein Patent bewiesenen Staats¬ 
prüfung hiezu ausreichen. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Medicin. 7 


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98 


ATTESTE. 


Diese ärztlichen Zeugnisse reihen sich den grösseren gerichtsärztlichen 
Berichten an, welche einerseits aus Untersuchungsberichten z. B. den Ob- 
ductionsprotokollen, andererseits aus Gutachten bestehen, welche zusammen 
einen vollständigen gerichtlich-medicinischen Bericht ausmachen. Dieselben 
Regeln, welche bei der Abfassung dieser Berichte Geltung haben, sind auch 
auf diese kürzeren sogenannten ärztlichen Zeugnisse zu beziehen, deren 
Inhalt jenen grösseren Berichten ähnlich ist. 

Die Aufforderungen zur Abgabe solcher Zeugnisse gehen indessen nicht 
immer von einem Richter aus, sondern auch von Privaten oder von Versicherungs¬ 
gesellschaften, was jedoch für die Art der Abfassung dieser Atteste keine 
weitere Bedeutung hat, nur muss selbstverständlich zu Anfang des Zeug¬ 
nisses immer angegeben werden, von wem die Aufforderung oder das Ansuchen 
zur Ausstellung des Attestes ausgegangen ist. 

Ferner ist in demselben auch anzugeben, zu welchem Zwecke das Zeug¬ 
nis ausgestellt werden sollte und durch welche Art der Untersuchung diesem 
Zwecke entsprochen wurde, mit weiterer Angabe und Begründung der Schluss¬ 
folgerungen, welche sich aus dem Resultate der gemachten Untersuchung 
ergeben. 

Die Gegenstände der Untersuchung, welche hier in Betracht kommen, 
sind in der Regel lebende Personen, bei welchen VerletzungsVerhältnisse, 
Arbeitsfähigkeit, Haftfähigkeit, Fähigkeit zum Antritt und Erdulden einer 
verhängten Strafe, Fähigkeit zu Transporten u. s. w. in Frage stehen. 

Zu den Attesten, welche in das Gebiet der gerichtlichen Medicin ge¬ 
hören, sind eigentlich nur diejenigen zu zählen, welche in gerichtlich-medi¬ 
cinischen Fällen meistens von dem zuständigen Richter und nur ausnahmsweise 
auch von Privaten verlangt werden, während die von Versicherungsgesell¬ 
schaften, seien es Lebens- oder Unfallsversicherungen, verlangten, einen anderen 
Standpunkt haben, aber gleichwohl gewissen allgemeinen Bestimmungen in 
Bezug auf ärztliche Atteste unterworfen sind. 

Bei allen diesen Zeugnisausstellungen, mögen sie von dieser oder jener 
Seite her verlangt werden, sind gewisse Grundsätze zu beachten und dahin 
gehören: 

1. Dass das Zeugnis auf thatsächliche Erhebungen, durch eigene 
Untersuchung gewonnen, sich stützt und nicht etwa blos auf Angaben der 
betreffenden Persönlichkeit, denen verschiedene Motive, auch Simulation zu 
Grunde liegen können. Die Schlüsse des Zeugnisses müssen thatsächlich be¬ 
gründet sein. 

2. Dass diesen Schlussfolgerungen keine anderen Motive zu Grunde 
liegen dürfen, als diejenigen, welche auf den Thatbestand der gemachten 
Untersuchung sich stützen. Es dürfen keine persönlichen Rücksichten dem 
Untersuchten gegenüber bei den Schlüssen Einfluss haben. 

Unrichtige Angaben, sei es bezüglich der Untersuchung oder der 
Schlussfolgerungen, sind strafbar. 

Deutsches Strafgesetzbuch § 278. Aerzte und andere approbirte Medicinal- 
personen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum 
Gebrauche bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen 
ausstellen, werden mit Gefängnis von einem Monate bis zu zwei Jahren bestraft. 

§ 277. Wer unter der ihm nicht zustehenden Bezeichnung als Arzt oder als eine 
andere approbirte Medicinalperson oder unberechtigt unter den Namen solcher Personen 
ein Zeugnis über seinen oder eines Anderen Gesundheitszustand ausstellt, oder ein derartiges 
echtes Zeugnis verfälscht und davon zur Täuschung von Behörden oder Versicherungs¬ 
gesellschaften Gebrauch macht, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft. 

Oesterreichischer Strafgesetz-Entwurf. § 301. Aerzte und andere approbirte 
Medicinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand einee 
Menschen zum Gebrauche bei einer Behörde oder versicherungsunternehmen wider besseres 
Wissen ausstellen, werden mit Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren oder an Geld 
von 100 bis 600 fl. bestraft. 


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ATTESTE. 


99 


Mit Grund motivirt Casper 1 ) die fatale Nothwendigkeit derartiger 
Strafbestimmungen mit der falschen Humanität vieler Medicinalpersonen und 
fügt mehrere belehrende Fälle von unrichtig abgegebenen ärztlichen Attesten 
bei, worüber ich mich an einem anderen Orte auch noch aussprechen werde. 

Namentlich geben Körperverletzungen den Aerzten öfters Anlass zur 
Abgabe ärztlicher Zeugnisse, die von den Verletzten resp. Misshandelten ver¬ 
langt werden, da die sogenannten leichten Körperverletzungen nur auf Antrag 
gerichtlich verfolgt werden. 

Deutsches Strafgesetzbuch § 272. Die Verfolgung leichter vorsätzlicher 
sowie aller durch Fahrlässigkeit verursachten Körperverletzungen tritt nur auf Antrag 
ein, insofern u. s. w. 

Um aber einen solchen Antrag stellen zu können, muss der Betreffende 
zuerst ein ärztliches Zeugnis beibringen, welches das Vorhandensein körper¬ 
licher Verletzungen constatirt. In diesen Attesten sind dann die verschiedenen 
Verletzungszustände anzugeben, welche der Betreffende zu der und der Zeit 
durch Misshandlung erhalten haben soll und welche als leichte zu betrachten 
sind. Handelt es sich dagegen um schwerere Verletzungen, so greift der Richter, 
sobald er Kenntnis davon erhält, initiativ ein. 

Werden von Privaten ärztliche Zeugnisse über andere abnorme körper¬ 
liche Zustände zu diesem oder jenem Zwecke verlangt, die Behörden vor¬ 
gelegt werden sollen, so sind dieselben immer einer sachverständigen Kritik 
ausgesetzt und daher stets mit grösster Sorgfalt und Sachkenntnis auszu¬ 
stellen, wenn sie anerkannt werden sollen. Wo möglich vermeidet man aber 
die Abgabe solcher von Privaten verlangten Atteste, welche Behörden zuge¬ 
stellt werden sollen und erwartet von diesen selbst die Aufforderung. 

Damit nun aber solche Zeugnisse, mögen sie nun kurze oder längere 
Gutachten sein, eine grössere Zuverlässigkeit erhalten, sind für die preussi- 
schen Medicinalbeamten in einer Circularverfügung des Ministeriums der 
Medicinalangelegenheiten vom 20. Jan. 1853 und am 3. Febr. 1853 vom 
Justizministerium zur Kenntnis gebracht, folgende Bestimmungen für die Ab¬ 
fassung amtlicher Atteste und Gutachten gemacht worden. 

1. Die bestimmte Angabe der Veranlassung zur Ausstellung des Attestes, des Zweckes 
zu welchem dasselbe gebraucht, und der Behörde, welcher es vorgelegt werden soll; 

2. Die etwaigen Angaben des Kranken oder der Angehörigen über seinen Zustand; 

3. Bestimmt gesondert von den Angaben zu 2 die eigenen thatsächlichen Wahr¬ 
nehmungen der Beamten über den Zustand des Kranken; 

4. Die aufgefundenen wirklichen Krankheitserscheinungen; 

5. Das thatsächliche und wissenschaftlich motivirte Urtheil über die Krankheit, über 
die Zulässigkeit eines Transportes oder einer Haft, oder über die sonst gestellten Fragen; 

6. Die diensteidliche Versicherung, dass die Mittheilungen des Kranken oder seiner 
Angehörigen (ad. 2) richtig in das Attest aufgenommen sind, dass die eigenen Wahrneh¬ 
mungen des Ausstellers (ad. 3 und 4) überall der Wahrheit gemäss sind und dass das Gut¬ 
achten auf Grund der eigenen Wahrnehmungen des Ausstellers nach dessen bestem Wissen 
abgegeben ist. 

Sind Zeugnisse nach Anforderungen eines Gerichtsbeamten auszustellen, 
so werden gewöhnlich gewisse Fragen gestellt, z. B. sehr häufig über Statt¬ 
haftigkeit der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, und hat der ärztliche Be¬ 
richt eigentlich nicht mehr den Charakter eines ärztlichen Zeugnisses, sondern 
eines gerichtlich-medicinischen Gutachtens, das sich auf eine vorausgegangene 
einlässliche Untersuchung des Falles zu stützen hat und hier nicht näher zu 
erörtern ist. 

Was die ärztlichen Zeugnisse für Versicherungsanstalten betrifft, so 
werden solche mitunter gegen Honorar über frühere Gesundheits- und Krank¬ 
heitszustände des zu Versichernden von Aerzten, welche denselben in früheren 
Zeiten behandelt haben, verlangt, was ohne Vorwissen und Einwilligung der 


•) Handb. der gerichtl. Medicin. B. 1. 1881. S. 41. 


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AUGENSCHEINBEFUND. 


Betreffenden unstatthaft ist und gegen die gesetzlich vorgeschriebene Wahrung 
des ärztlichen Geheimnisses verstösst. Wir lassen uns daher immer, wenn 
ein solches Attest gewünscht wird, das in manchen Fällen dem zu Versichern¬ 
den dienen kann, zuerst das schriftliche Einverständnis von diesem zustellen. 
Der hieher zu beziehende Gesetzesartikel lautet: 

Deutsches Strafgesetz § 300 Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Vertheidiger 
in Strafsachen, Aerzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker, sowie die Gehilfen 
dieser Personen, werden, wenn sie nnbefngt Privatgeheimnisse offenbaren, die ihnen kraft 
ihres Amtes, Standes oder Gewerbes anvertraut sind, mit Geldstrafe bis zu Eintausendfünf¬ 
hundert Mark, oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. 

Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. C. EMMERT. 

Augenscheinbefund. Ein Augenschein wird stets nur in wichtigeren 
Fällen angeordnet, „wenn dies zur Aufklärung eines für die Untersuchung 
erheblichen Umstandes nothwendig erscheint“ (§116 österr. Str.-Pr.-O.) und 
wird in vielen Fällen nur vom Richter vorgenommen. Sind in concreten 
Fällen specielle Kenntnisse auf irgend einem dem Richter fernstehenden Ge¬ 
biete erforderlich, so werden unter vorgeschriebenen Modalitäten Sachverstän¬ 
dige beigezogen (§ 118), deren Wahl dem Richter überlassen bleibt (§ 119). 
In allen Fällen, in denen ärztliche Kenntnisse erforderlich sind, werden sonach 
Aerzte als Sachverständige verwendet. 

Die Qualification des Arztes als gerichtlicher Sachverständiger ist keines¬ 
wegs durch seine medicinische Ausbildung im Allgemeinen gegeben; es bedarf 
vielmehr einer gediegenen praktischen Erfahrung des Arztes auf gerichtlich- 
medicinischem Gebiete, wenn er den an ihn als gerichtlichen Sachverständigen 
ergehenden Anforderungen entsprechen soll. Leider gehen die Gerichtshöfe 
bei der Wahl der Sachverständigen nicht immer hinlänglich rigoros vor, wo¬ 
durch dann in Folge unzureichender Leistungen seitens der letzteren einer¬ 
seits die Achtung des Richters vor dem ärztlichen speciell gerichtsärztlichen 
Stande herabgesetzt wird, andererseits aber indirect auch das Ansehen eines 
Gerichtshofes in den Augen der Allgemeinheit an Höhe einbüssen kann. 

Dem tüchtigen Gerichtsarzte ist bei der Augenscheinaufnahme das wei¬ 
teste Feld für seine Thätigkeit eingeräumt, welche dem Rechte die Wege 
ebnet. Diese Thätigkeit ist ausserordentlich vielseitig und verschieden je nach 
den einzelnen Fällen, in denen die Hilfe des Gerichtsarztes in Anspruch ge¬ 
nommen wird. 

Allerdings fällt dem Untersuchungsrichter in allen Fällen, also auch bei 
gerichtsärztlichen Untersuchungen, die Leitung des Augenscheines und die 
specielle Fragestellung zu (§ 123); diese Leitung ist aber dort, wo der Richter 
das Bewusstsein hat, über tüchtige und verlässliche Sachverständige zu ver¬ 
fügen, wohl nur eine Formalität, denn ein einsichtsvoller und kluger Richter 
wird eben auf Gebieten, welche ausserhalb seines Berufes stehen, nicht Uber, 
sondern neben den Sachverständigen thätig sein und auf diese Weise 
durch die gemeinsame Thätigkeit und das Einverständnis mit den Sach¬ 
verständigen den Zwecken der Justiz wesentlichen Nutzen bringen. Dies 
ist auch aus dem Grunde von besonderer Wichtigkeit, weil dem Richter als 
medicinischem Laien natürlich die Hauptsachen, auf welche es im speciellen 
Falle ankommt und deren Wesen grossen Schwankungen unterliegt, nicht in 
der Weise einleuchten können, als dem geschulten Gerichtsarzte, welcher die 
Situation in einschlägigen Fällen leichter und rascher übersehen und daher 
auch eher erkennen wird, worauf er sein besonderes Augenmerk zu richten 
und in welcher Weise er den Gang seiner Untersuchung einzuleiten hat. 

Es wird auf die individuellen Eigenschaften des Arztes ankommen, ob 
er sich bei dem Gerichte, bei welchem er in Verwendung steht, beziehungs¬ 
weise bei dem Untersuchungsrichter das nöthige Ansehen und Vertrauen zu 
verschaffen im Stande sein wird oder nicht. Es kommt ausser auf seine 
Kenntnisse wesentlich auch auf seine persönlichen Eigenschaften an. 


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AUGENSCHEINBEFUND. 


101 


Die Aufgaben, welche den ärztlichen Sachverständigen bei der Aufnahme 
eines gerichtlichen Augenscheines zufallen, sind folgende: 

1. Die Vornahme der Untersuchung, von deren Genauigkeit und 
Vollständigkeit das Resultat und daher auch die Richtschnur für den weiteren 
Gang der Behandlung eines Falles abhängt. Bei dem stetigen Fortschritte 
der medicinischen Wissenschaften und ihrer einzelnen Zweige ist es ganz 
natürlich, dass ein ärztlicher Sachverständiger gegenwärtig nicht mehr in 
allen Fällen in gleicher Weise erspriesslich wirken kann. Keiner muthe sich 
zu viel zu! Denn es wird für die Rechtspflege besser sein, wenn der Sach¬ 
verständige von vorneherein zugibt, dass ihm für specielle Untersuchungen 
die Eignung und die Kenntnisse mangeln. Leider Anden wir meistens das 
Gegentheil. Sachverständige, welche überhaupt mangelhafte Kenntnisse be¬ 
sitzen, nehmen Untersuchungen vor, welche weit über ihr Wissen hinaus¬ 
gehen und beeinflussen dadurch die Justizpflege in der nachtheiligsten Weise. 
Gesteht aber ein Sachverständiger seine Unfähigkeit zur einwandfreien Vor¬ 
nahme bestimmter gerichtsärztlicher Untersuchungen ein, so verdient sein 
Eingeständnis gewiss ungetheilte Anerkennung und es wird Niemand daran 
zweifeln, dass ein Sachverständiger, welcher vielleicht auf irgend welchem 
Specialgebiet nicht in dem für forensische Zwecke erforderlichen Maasse aus¬ 
gebildet ist, trotzdem in anderen Fällen als Gerichtsarzt sehr erspriesslich 
wirken kann. Dabei ist vollkommen abgesehen von Untersuchungen von Blut¬ 
spuren, Haaren u. dergl., die fortwährender Uebung und vollkommener Be¬ 
herrschung der Untersuchungsmethoden bedürfen und ihrer Tragweite wegen 
eigentlich am besten nur in hiefür eingerichteten Universitätsinstituten von 
Fachmännern vorgenommen werden sollten. 

Bei dem Localaugenscheine an dem Orte, wo irgend eine verbrecherische 
That, z. B. ein Mord oder ein Todtschlag verübt wurde, kommt nicht so sehr 
das medicinische Wissen als vielmehr die Ruhe und der Scharfblick des Arztes 
in Betracht, da es doch dabei in erster Linie darauf ankommt, sich für etwaige 
weitere Untersuchungen und für das abzugebende Gutachten das nöthige 
Material zu sammeln, wobei durch die Erhebungen zu ermitteln ist, ob und 
inwieferne am Thatorte irgend welche Aenderungen vor dem Eintreffen der 
Gerichtscommission vorgenommen wurden. Es wäre nothwendig, dass, was 
allerdings leider seitens der Gerichtshöfe oft nicht hinlänglich beachtet wird, 
auch behufs Aufnahme des Localaugenscheins am Thatorte nach Möglichkeit 
stets geschulte Gerichtsärzte, am besten jene, denen etwaige weitere Unter¬ 
suchungen in demselben Falle übertragen werden, beigezogen würden. 

Von grösster Wichtigkeit ist es auch, dass gerichtsärztliche Untersuchun¬ 
gen überhaupt möglichst bald, nachdem sich deren Nothwendigkeit heraus¬ 
gestellt hat, vorgenommen werden; ganz besonders gilt dies jedoch z. B. für 
die Untersuchung Verletzter, für die Untersuchung auf vorangegangene 
Geburt, bei geschlechtlichen Attentaten, bei Leichenuntersuchungen, da eine 
Verzögerung solcher Untersuchungen die Brauchbarkeit des Untersuchungs¬ 
resultates in nachtheiligster Weise beeinflussen kann. Da nun zuweilen bei 
Richtern, allerdings in wenigen Fällen, hinsichtlich der Einleitung und An¬ 
ordnung gerichtsärztlicher Untersuchungen eine unbegreifliche Lauheit besteht, 
sollte der Gerichtsarzt gegebenenfalls durch persönliche Intervention beim Gerichte 
auf eine Beschleunigung in dieser Richtung hinwirken. 

Eine grosse und schwerwiegende Aufgabe erwächst dem Gerichtsarzte 
aus der ihm zufallenden Vornahme gerichtlicher Obductionen. Jeder einzelne 
wird nach jener Methode vorgehen können, welche ihm von früher her aus 
seinen Studien geläufig ist. Nach welcher typischen Sectionsmethode unter¬ 
sucht wird, ist füglich nebensächlich, wenn nur correct, genau und nach 
einem bestimmten Systeme obducirt wird. Dies reicht jedoch für gerichts¬ 
ärztliche Bedürfnisse nicht immer aus, da sich nur zu oft Verhältnisse erge- 


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102 


AÜGENSCHEINBEFDND. 


ben, welche eine Abweichung von der regulären Obductionsmethode erheischen. 
Es wird dann von der Erfahrung und Gewandtheit des Einzelnen abhängen, 
wie er sich in derartigen Fällen mit speciellen Befunden an der Leiche zurecht 
findet, um sich ein brauchbares Sectionsbild zu verschaffen. Dieser Mangel 
in der Sectionstechnik und dem dieselbe begleitenden Verständnisse für der¬ 
artige Untersuchungen ist nicht selten die Ursache, dass der Zusammenhang 
von Befunden, die eine geschlossene Kette bilden, nicht nachgewiesen er¬ 
scheint. 

Vielfach wird zwischen gerichtlicher Leichenbeschau und Leichenöffnung 
kein Unterschied gemacht, so im § 38 unserer Todtenbeschauordnung vom 
Jahre 1855, wo es heisst, dass sich die gerichtliche Beschau nur dann auf 
die äussere Besichtigung beschränken dürfe, wenn der hohe Grad der Fäulnis 
kein erhebliches weiteres Ergebnis aus der inneren Untersuchung gewärtigen 
lässt, und bei solchen Fällen kein Verdacht einer Vergiftung mit mineralischen 
Stoffen oder einer Knochenverletzung vorhanden ist. 

Die Fäulnis einer Leiche sollte niemals als Hindernis für die Vornahme 
einer Obduction gelten. Denn abgesehen davon, dass die Fäulniserscheinun¬ 
gen der inneren Organe keineswegs immer gleichen Schritt mit den äusseren 
Fäulniserscheinungen halten, können wir auch noch an faulen Leichen ein für 
forensische Zwecke oft ausreichendes Resultat erzielen. Findet sich daher 
nur ein Verdacht, dass möglicherweise fremdes Verschulden vorliegt, so sollte 
das Gericht in allen Fällen die Obduction (Leichenöffnung) vornehmen lassen. 

Dass in der blossen äusseren Leichenbesichtigung ein Mangel erblickt 
werden muss, geht schon daraus hervor, dass bei uns nach § 127 der Str.-Pr.-O. 
jedesmal die Section der Leiche verlangt wird. 

Trotzdem verlangt das Gericht zuweilen, selbst wenn es sich nicht um 
faule Leichen handelt, offenbar aus Ersparungsrücksichten, blos die äussere 
Besichtigung der Leichen. So sollten wir einmal gelegentlich des Einsturzes 
eines Neubaues, wobei mehrere Arbeiter umgekommen waren, nachdem einige 
Leichen obducirt worden waren, auf Grund der äusseren Besichtigung allein 
uns auch über die Todesursache anderer verunglückter Arbeiter aussprechen, 
thaten dies jedoch nicht, weil es uns nicht opportun erschien, ohne Aufnahme 
des äusseren und inneren objectiven Befundes an der Leiche ein diesbe¬ 
zügliches Gutachten abzugeben. 

Erachtet es das Gericht bei Massenunglücksfällen für ausreichend, die 
Todesursache bei einzelnen Individuen durch die Obduction klarstellen zu 
lassen, dann bedarf es auch nicht der äusseren Besichtigung der Leichen 
anderer Individuen durch ärztliche Sachverständige; will es aber in jedem 
einzelnen Falle Aufschluss über die Todesursache und andere etwa aus der 
Obduction sich ergebende Momente erlangen, dann muss auch die Leichen- 
obduction vorgenommen werden. Der Gerichtsarzt lasse sich hier niemals 
verleiten, Schlüsse zu ziehen, falls er dieselben nicht durch objective Wahr¬ 
nehmung begründen kann. 

Ebensowenig soll der Gerichtsarzt auf Grund einer blos partiellen Leichen- 
obduction ein Gutachten abgeben. 

Die Art und Weise, wie gerichtliche Obductionen vorgenommen werden 
sollen, ist durch die österreichische Vorschrift für die Vornahme der gericht¬ 
lichen Todtenbeschau vom Jahre 1855 normirt. 

2. Die Abfassung des Protokolls. Es wäre weniger daran gelegen, 
wenn etwa das Protokoll nicht in allen Fällen gerade hinsichtlich der Form 
genau den beispielsweise für gerichtliche Obductionen in der Todtenbeschau¬ 
ordnung vom Jahr 1855 enthaltenen Bestimmungen entspräche. Leider finden 
sich aber in den von ärztlichen Sachverständigen abgefassten beziehungsweise 
dictirten Protokollen häufig so schwerwiegende sachliche Mängel, dass es ganz 
unmöglich ist, sich aus dem Wortlaute des Protokolls den objectiven Befund 
zu construiren. 


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AUGENSCHEINBEFUND. 


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Wie oft rächt sich dies in Fällen, in denen von anderen Sachverstän¬ 
digen oder von einer medicinischen Facultät ein Obergutachten abverlangt 
wird. Die Justizpflege leidet darunter sehr, da in solchen Fällen auch die 
höhere Instanz auf Grund der Akten oft nur ein ganz unbestimmtes Gut¬ 
achten abgeben kann, welches den Tendenzen und Zwecken der Rechtspflege 
nicht im Mindesten entspricht. 

Die Fehler, welche bei der Abfassung von Protokollen seitens der ärzt¬ 
lichen Sachverständigen sehr häufig begangen werden, sind Incorrectheit und 
Unvollständigkeit. Der Grund für beide liegt einerseits in mangelnden Kennt¬ 
nissen, andererseits in -einer unverzeihlichen Leichtfertigkeit; nicht minder 
zeigt sich aber selbst bei ausreichenden Kenntnissen eine auffallende Unbe- 
holfenheit insofeme, als Befunde, welche vom Beobachter richtig wahrgenom¬ 
men werden, in höchst mangelhafter und undeutlicher Form im Protokolle 
wiedergegeben sind. 

Die Hauptbedingung für ein brauchbares Protokoll ist die Ausführ¬ 
lichkeit, welche bei richtiger Beobachtung der Sachverständigen einzig und 
allein eine etwaige erfolgreiche nachträgliche Ueberprüfung des Gutachtens 
ermöglicht. Erfahrene Gerichtsärzte werden in jedem einzelnen Falle bald 
erkennen, auf welche Momente sie zu forensischen Zwecken bei Untersuchungen 
hauptsächlich Rücksicht zu nehmen haben und daher auch den entsprechenden 
Theil des Protokolls mit der nöthigen Ausführlichkeit und Gründlichkeit 
bearbeiten. 

Auch die Hervorhebung gegen die Erwartung negativer Befunde ist von 
Bedeutung, da man dadurch die Ueberzeugung gewinnt, dass von den Sach¬ 
verständigen alle Momente in erwünschter Weise berücksichtigt worden sind. 

Einen bedeutenden praktischen Werth haben oft einfache Skizzen oder 
Photographien, welch letztere gegenwärtig leicht zu beschaffen sind und den 
Protokollen beigelegt werden können. 

Auch das Aufbewahren von Präparaten, wie man sich sie namentlich 
bei Obductionen leicht verschaffen kann, ist oft äusserst zweckmässig und hat 
deren Demonstration bei Hauptverhandlungen bereits oft gute Dienste geleistet. 

Eine Revision der abgefassten Protokolle durch den Sachverständigen ist 
unter allen Umständen nothwendig und sind etwaige Correcturen und Zusätze 
entsprechend den im § 16 der österreichischen Todtenbeschauordnung ange¬ 
führten Modalitäten anzubringen. 

3. Die Abgabe des Gutachtens ist in jedem Falle für die Zwecke 
des Gerichtes das wichtigste Moment. Das Gutachten baut sich auf Grund 
der Untersuchung im Zusammenhalt mit den näheren Umständen des Falles 
auf und wird daher bei logischer Schlussfolgerung der Qualität der Unter¬ 
suchung conform ausfallen. Es zeigt sich, dass in der Regel Sachverständige, 
welche schlecht beobachten und schlechte Protokolle abfassen, auch schlechte 
Gutachten abgeben, insbesondere auch solche, welche man keineswegs auf 
Grund des im Protokolle wiedergegebenen Befundes vertreten kann. In der¬ 
artigen Fällen wird auch eine höhere Instanz wegen der mangelhaften Be¬ 
fundaufnahme und Protokollirung oft nur ein ganz unbestimmtes, den foren¬ 
sischen Zwecken kaum dienendes Gutachten abgeben können, wenn eine Wieder¬ 
holung des Augenscheins wegen Mangels an Material nicht möglich ist oder 
wegen der durch die erste Untersuchung geänderten Verhältnisse kein Resultat 
ergibt. Allerdings schreibt der § 122 der österr. Str.-Pr.-O. vor, dass, wenn 
von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder Veränderung 
eines von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten steht, ein Theil 
des letzteren, so ferne dies thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung 
behalten werden soll. In vielen Fällen ist dies aber eben nicht möglich. Es 
kann und zwar auch sehr tüchtigen Gerichtsärzten passiren, dass sie, trotz¬ 
dem der Befund sehr genau und correct aufgenommen und protokollirt 


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BÄDER. 


wurde, irrthümlich falsche Schlussfolgerungen ziehen. Diese letzteren sind 
jedoch verbesserungsfähig, sei es durch andere Sachverständige, sei es durch 
eine medicinische Facultät. Es sind dies Fälle, in denen oft die etwaigen 
Trugschlüsse dem Richter auffallen und daher auch die entsprechende, ge¬ 
setzlich zugestandene Revision und Controlle nicht verabsäumt wird, Fälle 
demnach, welche der Justizpflege sehr zu Statten kommen. Besser ein falsches 
Gutachten als eine ungenaue und flüchtige Aufnahme und Protokollirung des 
Befundes, da ersteres bei richtiger Befundaufnahme unschwer corrigirt 
werden kann. 

Unvollständigkeit des Gutachtens findet man häufig insoferne, als in dem 
Gutachten nicht alle schon gesetzlich für die einzelnen Fälle vorgeschriebenen 
Fragen von vornherein Berücksichtigung finden, weshalb der Richter oft selbst 
noch nachträglich die Beantwortung specieller Fragen fordern muss. 

Das Gutachten kann nach dem österreichischen Gesetze entweder sofort 
mit dem Protokolle oder nachträglich abgegeben werden. Dass nur für abge¬ 
sonderte Gutachten eine specielle Honorirung derselben erfolgt, ist eine der 
wesentlichsten Mängel des in Oesterreich für gerichtsärztliche Verrichtungen 
geltenden Gebührentarifs. 

Die bis zu dem Momente der Untersuchung gepflogenen Erhebungen 
sollen den Gerichtsärzten, sobald diese deren Kenntnis fordern, stets bekannt 
gegeben werden, da durch die Erhebungen dem Untersuchenden eine Richt¬ 
schnur für sein Vorgehen gegeben werden kann. 

Die Befürchtung, dass beispielsweise durch Einsichtnahme in die Akten 
das Urtheil der Gerichtsärzte irgend wie von vornherein beeinflusst 
werden könnte, ist für den Fall, als letztere ihr Amt gut versehen, unbe¬ 
gründet. DITTB1CH. 

Bäder. Unter Bad verstehen wir das Eintauchen und mehr oder we¬ 
niger langes Verweilen des Körpers oder einzelner Theile desselben in einem 
flüssigen, festen (Sandbad) oder gasförmigen Medium. 

Zunächst war es der Naturtrieb, welcher die Menschen schon in ältester 
Zeit zu dem Gebrauch der Bäder führte; sehr bald erkannte man aber auch den 
hohen hygienischen Werth derselben und die alten Egypter und Indier haben 
besonders auch die Heilkraft der Seebäder gekannt und sie curgemäss an¬ 
gewandt, wie denn die Bäder überhaupt zu den hervorragendsten Mitteln 
ihrer Hygiene gehört hatten; sie wurden als eine heilige Sache betrachtet, und 
es waren auch die Incubationen in den Tempeln mit dem Gebrauch von 
Bädern verbunden. 

Das Gleiche geschah, zugleich mit methodischen Abreibungen, behufs 
Kräftigung des Körpers und Erhaltung der Gesundheit in den Kampfschulen 
der alten Griechen, bei welchen öffentliche Badeanstalten errichtet wurden. 
Bald wurden aber die Bäder überhaupt als Heilmittel auch ausserhalb der 
Kampfschulen von den Aerzten benutzt, ebenso auch Heilquellen (von Kenchreae, 
Lemae, Koronae). Im alten Rom war es besonders Asclepiades aus 
Prussa in Bithyn (90 v. Chr.), welcher der Cultur der Bäder einen grossen 
Aufschwung gab und die Einrichtung öffentlicher Badeanstalten beförderte; 
noch mehr geschah dies durch Antonius Musa, nachdem er den Kaiser 
Augustus durch kalte Bäder von einer lebensgefährlichen Krankheit gerettet 
hatte. 

Unsere Vorfahren badeten nach Caesar und Tacitus nur in kalten 
Flüssen und die Anwohner des Rheins tauchten selbst die neugeborenen 
Kinder in den Fluss. Die warmen Bäder aber und dergleichen Badeanstalten 
kamen vornehmlich erst durch Karl den Grossen in Aufschwung und bür¬ 
gerten sich seitdem immer mehr ein. Wunderbar muss es jedoch erscheinen, 
dass die Seebäder zu einer dauernden allgemeineren Verwendung erst in den 


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BÄDER. 


105 


letzten Jahrhunderten gelangt sind. Obgleich bereits im hohen Alterthum, 
wie erwähnt, zur Heilung von Krankheiten benutzt und dann vor Allem von 
Hippocrates, dann von Celsus, Dioscorides u. A. empfohlen, wurde ihr 
Gebrauch doch erst in den ersten Jahrhunderten n. Chr. allgemeiner, aber 
auch da nur vorübergehend. 

Erst im 18. Jahrhundert wurde ihnen wieder — und zwar von Eng¬ 
land aus (R. Rüssel, Buchan, Wright u. A.) — ein erneutes, und dauerndes 
Interesse zugewendet und es nahm jetzt die Zahl der Seebadeorte in stei¬ 
gendem Maasse zu. In Deutschland war es zu jener Zeit der Göttinger G. C. 
Liciitenberg welcher, nachdem er in den 70er Jahren des v. J. die eng¬ 
lischen Seebäder besucht und deren hohe Bedeutung erkannt, die erste An¬ 
regung zur Errichtung von dergleichen Curorten gegeben hatte. 

Süsswasserbäder. 

Wir haben hier hauptsächlich über den Werth, welchen die Bäder als 
hygienische Mittel besitzen, über ihre Bedeutung für das Volkswohl, ihre 
physiologische Wirkung und rationelle Anwendung zu sprechen, desgleichen 
über die See- bez. Soolbäder. 

Vorerst ist es oft nur die Pflege der Haut durch Reinigung von den sie 
bedeckenden, die Poren theilweise verstopfenden und die Hautathmung hin¬ 
dernden Excreten, oder auch die Entfernung von aussen auf sie gebrachter 
schädlicher Stofte, was wir durch das Bad bezwecken: ein Zweck welcher durch 
das warme Bad, zumal wenn es mit Abseifung verbunden ist, am vollkommen¬ 
sten erreicht wird. Schon hierdurch wird die Thätigkeit der Haut in gün¬ 
stigster Weise befördert und werden oft die Ursachen zur Entstehung von 
Krankheiten durch von aussen auf die Haut wirkende Schädlichkeiten be¬ 
seitigt. Denn die Haut ist ein so wichtiges Ausscheidungsorgan für aller¬ 
hand schädliche Stoffe, die zurückgehalten als Toxine wirken, dass schon ein 
gesunder Körper, wenn diese Ausscheidungen in Folge von Unreinliohkeit 
oder sonstiger ungünstiger Verhältnisse stocken, arge Störungen erleiden kann. 

Von grösster Wichtigkeit ist aber auch der hygienische Gebrauch der 
Bäder wegen der wohlthätigen Allgemeinwirkung, welche sie auf den Körper 
ausüben — Wirkungen, welche zumeist um so stärker hervortreten, je grösser 
der thermische Reiz, d. h. der Unterschied zwischen der Temperatur des 
Bademediums und derjenigen der Körperhaut ist, und welche sich je nach 
der Stärke dieses Reizes auf die verschiedenartigste Weise kundgeben, z. B. 
durch das Gefühl der Beruhigung und wohlthätigen Ermüdung oder auch An¬ 
regung, aber auch in entgegengesetzter Weise durch Ueberreizung und Er¬ 
schöpfung. Diese Wirkungen geschehen, wenn wir vorläufig von dem rein 
physikalischen Einfluss der Erwärmung und Abkühlung absehen, nur auf reflec- 
torischem Wege durch die Centrainervenorgane, sie offenbaren sich be¬ 
sonders in einer der Stärke des Hautreizes entsprechenden Veränderung des 
Herz- und gesammten Gefässtonus und können so stark sein, dass sie unter 
Umständen allein, oder fast allein den beabsichtigten Erfolg bedingen. Da 
das Gesagte nicht nur für die Süsswasser-, sondern auch für die See- und 
Soolbäder, ja vielleicht für alle Mineralbäder gilt, so werden wir bei Bespre¬ 
chung der Seebäder auf diesen Gegenstand näher zurückkommen. 

Bleiben wir jetzt bei den Süsswasserbädern stehen, so sehen wir als 
nächste Wirkung eine Beförderung der Hautthätigkeit, des Turgors der Haut 
durch erhöhtes Zuströmen von Blut, sei es, wie bei den wärmeren Bädern, 
noch während des Bades, sei es, wie bei den kalten, unmittelbar nach dem 
nicht zu lange genommenen Bad im Reactionsstadium; die weiteren Wirkungen 
sind jedoch, nach der Temperirung des Bades, so verschiedenartig, dass wir 
genöthigt sind, sie hiernach einigermaassen zu unterscheiden und gesondert 
zu besprechen; und wir halten es für das zweckmässigste, die Bäder ein- 
zutheilen in solche, welche oberhalb und solche welche unterhalb derjenigen 


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BÄDEB. 


Temperatur liegen, bei welcher das Bad den Stoffwechsel ganz oder wenig¬ 
stens annähernd unberührt lässt. Als diese Temperatur wird gewöhnlich die 
von 34—35°C angesehen, die jedoch eben nur ein mittleres Maass feststellt. 
Bäder unterhalb dieser Grenze bis etwa 30°C würden wir als laue Bäder 
unter 30°C als kalte bezeichnen, dagegen solche Uber 35° bis höchstens 
37 V 2 —38° als warme, noch wärmere als heisse. 

a) Kalte Bäder (unter 30°C): 

Das plötzliche Eintauchen des ganzen Körpers in kaltes Wasser ruft 
zunächst ausser einer allgemeinen Contraction der Hautmuskeln, der so¬ 
genannten Gänsehaut, den bekannten Badeschreck (Shock) hervor, der sich, 
weil der Kältereiz gleichzeitig auf das Athmungscentrum reflectirt wird, be¬ 
sonders in einem momentanen Versagen des Athems und einer Art dyspnoi- 
schen Zustandes äussert. Diese von der gesammten Körperoberfläche reflec- 
tirte Nervenerregung ist umso stärker, je kälter das Wasser ist und kann so 
stark sein, das eine allgemeine Nervenlähmung, sogenannter Nervenschlag, 
oder, durch Reflex auf die Hirngefässe, Apoplexie durch Bluterguss erfolgt; 
es ist daher stets gerathen, besonders aber bei stärkeren Kältegraden, den 
Körper durch Benetzung einzelner empfindlichen Stellen, besonders des Ge¬ 
sichtes, vor dem Eintauchen etwas abzuschrecken. 

Das kalte Bad vermag die Körperwärme nach anfänglicher Erhöhung 
(Liebermeister) bei längerer Dauer um l j % — 2° herabzusetzen; sogleich beim 
Eintritt in das Bad erblasst die Haut in Folge von Contraction der Haut¬ 
muskeln, verliert ihren Turgor und es entsteht Frösteln; Puls- und 
Athemfrequenz werden zunächst vermehrt, bald aber verlangsamt; nach 
kürzerer oder längerer Zeit kehrt in Folge vermehrten Zuströmens von Blut 
der Turgor der Haut zurück, man bekommt das Gefühl relativer Erwärmung 
und wohlthätiger Erregung. 

Diese Reaction, welche sich in einer allgemeinen activen Röthung 
der Haut kundgibt, tritt umso rascher und vollkommener ein, je kälter das 
Bad genommen wurde, und die sie begleitenden Gefühle des Wohlbehagens 
dauern umso länger an, je mehr der Blutlauf durch körperliche Bewegung, 
Schwimmen etc. befördert wird. Diese Wirkungen treten aber am meisten 
unmittelbar nach dem Bad hervor, vorausgesetzt, dass dasselbe rechtzeitig ab¬ 
gebrochen wurde. 

Auch die Wärmebildung wird durch das kalte Bad in bedeutungsvoller 
Weise beeinflusst: während der Körper an der Peripherie grosse Verluste an 
Wärme erleidet, findet im Inneren eine reflectorische Steigerung des Ver- 
brennungsprocesses (Liebermeister) und der Kohlensäureausscheidung statt 
und zwar — natürlich bis zu einer gewissen Grenze — umso mehr, je 
grösser der Kältereiz war. Diese Erhöhung des Verbrennungsprocesses, in 
Folge deren die Temperatur öfters um 1 — 2° steigt, findet nach Röhrig’s 
Versuchen an curarisirten Thieren hauptsächlich innerhalb der Muskeln statt, 
und Röhrig’s Ergebnissen entsprechend, müssen wir die nach zu langem 
Baden eintretenden Schüttelfröste oder vielmehr -Krämpfe als eine drastische 
Selbsthilfe der Natur ansehen, die grossen Wärmeverluste baldigst zu er¬ 
setzen, wie dies die Badenden oft schon instinctiv durch starke Körper¬ 
bewegung thun. 

Besagter compensirender Wärme-, beziehungsweise StofFwechselsteigerung 
haben wir es allein zu verdanken, dass wir in einem kalten Bad längere 
Zeit schadlos verweilen können, da sich die Temperatur trotz der grossen 
Wärmeverluste bei einem gesunden Menschen und massiger Dauer des 
Bades um nicht mehr als 1—1 1 / s 0 abkühlt. Die Dauer dieser inneren 
Wärmesteigerung wird verschieden angegeben und ist sicherlich auch ver¬ 
schieden nach den jedesmaligen Verhältnissen und der Individualität; nach 
den Gesetzen der Reflexreizwirkung kann diese Steigerung erst dann ein 


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BÄDER. 


107 


Ende haben, wenn die thermischen und sonstigen Verhältnisse, wie sie vor 
dem Bade bestanden hatten, wieder eingetreten sind. Jedenfalls dauert die 
bei längerem Verweilen schon im Bad gewonnene Abkühlung auch längere 
Zeit nach demselben fort und mit ihr eine wohlthätige Erfrischung. 

Das methodische kalte Baden, in richtiger Weise gebraucht, ist ein 
mächtiges hygienisches Mittel zur Beförderung und Erhaltung der Gesundheit 
und wirkt durch Anregung des Stoffwechsels (es findet in ihnen besonders 
eine vermehrte Zersetzung der N.-freien Stoffe statt, allgemein kräftigend, ins¬ 
besondere ist es Menschen zu empfehlen, welchen es an der nöthigen körper¬ 
lichen Bewegung und Anstrengung fehlt und die dabei ein üppiges Leben 
führen. Solche Bäder wirken zugleich abhärtend, indem sie durch Beförderung 
der Hautthätigkeit die Reflexreizbarkeit abstumpfen und diese so häufige 
Ursache der Erkältungskrankheiten beseitigen, dem Menschen durch Besserung 
des Nährbodens eine grössere Widerstandskraft gegen Krankheiten überhaupt 
geben, wie sich dies besonders auffällig bei Choleraepidemien gezeigt hat, 
während welcher die Kaltbader in ganz auffälliger Weise von der Krankheit 
verschont geblieben sind. Dennoch gibt es genug Menschen welche kalte 
Bäder, wir meinen hier nur solche bis herab zu etwa 18° C, nicht vertragen 
oder nicht zu vertragen glauben, weil sie, statt gestärkt zu werden, eher in 
einen Zustand von Erschöpfung gerathen; es sind dies in der Regel solche 
Naturen, denen die Kraft fehlt, die durch den erhöhten Stoffwechsel herbei- 
geftihrten Verluste rechtzeitig zu ersetzen. Hierher gehören besonders schwäch¬ 
liche Kinder, Greise und anämische, beziehungsweise chlorotische oder sonst 
herabgekommene Personen, für welche wärmere, höchstens mässig kalte 
Bäder vortheilhafter sind. 

Aber auch dieser Art von Leuten würden kältere Bäder oft noch sehr 
nützlich sein, w r enn sie sie nur in zweckmässiger Weise gebrauchen wollten; 
dies geschieht jedoch sehr häufig nicht, besonders nicht von den Frauen. 
Nachdem der Badeschreck überwunden ist, wird im Uebermass fort gebadet, 
oft bis zum Eintritt des zweiten Frostes, statt zur Zeit der allein stärkenden 
Reaction das Bad sofort zu verlassen, und die Folgen sind dann natürlich 
Missbehagen, Uebermüdung, ja Erschöpfungszustände. Solche Personen haben 
aeu Aufenthalt im kalten Bad nicht nach Minuten, sondern, besonders 
chlorotische und anämische, nach Secunden zu bemessen, und dies umso mehr, 
je kälter das Bad ist, und sie haben das Bad nicht der Abkühlung wegen zu 
nehmen, sondern nur behufs Erzielung eines möglichst kräftigen Hautreizes 
und einer hierdurch bewirkten reflectorischen Erhöhung und Verbesserung 
des Stoffwechsels. Die Erfüllung socher Bedingungen vorausgesetzt, hat das 
methodische kalte Baden auch für besagte Naturen oft sehr wohlthätige, unter 
Umständen heilende Wirkung, die von vielen Seiten noch gar nicht genug 
gew ürdigt wird. Solchen Leuten ist aber dringend zu rathen, sofort nach dem 
Auskleiden, bei noch warmer Haut ins Bad zu gehen, damit ein möglichst 
kräftiger thermischer Reiz bewirkt werde, auch sollten sie nie ganz nüchtern 
baden und am besten ein warmes leichtes Getränk vorher zu sich nehmen. 

Die Dauer des Bades ist überhaupt zu bemessen nach der Individualität, 
nach der Kälte des Wassers und nach den besonderen Zwecken, welche man damit 
verbindet. Robusten Personen, die den erhöhten Stoff verbrauch, der umso 
grösser ist, je kälter und länger gebadet wird, rasch ersetzen können, ver¬ 
tragen das Baden auch länger, als schwächliche Naturen, ja sie müssen es 
länger brauchen, wenn sie den Genuss einer längeren Abkühlung haben 
wollen; excessive Abkühlung aber durch zu langes Baden, welches sich durch 
ein collabirtes Ansehen, den bekannten zweiten Frost, Blässe des Gesichtes 
und fleckige livide Färbung der Haut ankündigt, hebt für jeden Menschen 
den Nutzen des kalten Bades auf. 

Sehr kalte Bäder, bis herab zu 10° C und gar noch tiefer, sind, w r enn 
nicht besondere Anzeichen dafür vorliegen (Entfettungscur), nur mit Vorsicht 


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BÄDER. 


methodisch zu gebrauchen und dürfen nur von kurzer Dauer sein. Wohl 
fördern sie mächtig den Verbrennungsprocess, führen aber auch leicht zu 
Ueberreizung und deren Folgen. 

Wellen- und Sturzbäder: sie wirken, dank des hinzukommenden 
starken mechanischen Reizes und des raschen Wechsels des den Körper um¬ 
spülenden Wassers kräftiger erregend auf die Hautnerven und auf den Stoff¬ 
wechsel, als das gewöhnliche Bad, wirken zugleich auf die äussere Muskulatur 
und beschleunigen den Blutlauf, in Folge dessen erscheinen sie wärmer als 
c. p. ein gewöhnliches Bad, obgleich die Wärmeentziehung in ihnen wegen 
des raschen Wasserwechsels um etwa ein Drittel grösser ist. Die Nach¬ 
wirkung besteht in einer dauernderen Abkühlung und Erfrischung, der jedoch 
schliesslich leicht eine grössere Ermüdung folgt. Die Sturzbäder werden fast 
nur therapeutisch verwendet. 

Fallbäder (Regenbad, Brause, Douche) reihen wir hier an, weil 
sie gleichfalls Bäder mit bewegtem Wasser darstellen. Es sind dies Vor¬ 
richtungen mittelst deren das Wasser den Körper nur in Tropfen oder ein¬ 
zelnen Strahlen trifft; auch bei ihnen kommt der mechanische Reiz zur Mit¬ 
wirkung und tritt umso mehr hervor und wirkt umso stärker erregend, je 
grösser die Fallhöhe oder* die (Druck-) Kraft überhaupt ist, mit welcher das 
Wasser den Körper trifft. Ihrer Wirkung nach nähern sich diese Bäder im 
letzteren Fall dem Sturzbad, zumal wenn das Wasser die Haut in stärkeren 
Strahlen trifft. Dergleichen stärkere Fallbäder (eigentliche Douchen) befördern 
wegen der starken Reibung, die sie ausüben, in hohem Grad die Hautthätigkeit 
und wirken stark rellectorisch auf die inneren Organe beziehungsweise den Stoff¬ 
wechsel und sind — umso rascher abgebrochen, je kälter sie sind — besonders 
für anämische, beziehungsweise chlorotische Personen (hier kalt und von kürzester 
Dauer) oft von noch grösserem Vortheil als das Vollbad; am kräftigsten 
wirkt wegen Verstärkung und öfterer Erneuerung des thermischen Reizes die 
abwechselnd kalte und warme (schottische) Douche. Die Douchen gehören 
zu den kräftigsten Mitteln der Hydrotherapie (vgl. hier die einzelnen Arten). 

Wir möchten hier noch daran erinnern, dass das Douchen des Kopfes, 
zumal bei extremen Temperaturen des Wassers, mindestens für die meisten 
Menschen nicht rathsam ist wegen der damit verbundenen starken Reizung 
der Kopfnerven und des Sensoriums (wenden wir doch gerade zu solchem 
Zweck die Sturzbäder auch auf den Kopf therapeutisch als Belebungsmittel an!); 
instinctiv bedienen sich daher viele Badende zur Abschwächung des Reizes 
wenigstens einer Taffentkappe. 

b) Laue (kühle) Bäder (zwischen etwa 34—30° C.). Diese Bäder üben, 
bei der geringen Erregung der Hautnerven welche in ihnen stattfindet, gleich 
von Anfang an eine eher beruhigende Wirkung aus, denn bei solch’ geringem 
Hautreiz fallen auch alle stärkeren Reflexwirkungen auf die inneren Organe, 
durch welche sich die kalten Bäder auszeichnen, hinweg. Die lauen Bäder 
eignen sich daher vorzüglich für solche Menschen, welche wegen zu geringer 
Reactionskraft die durch kalte herbeigeführten Wärmeverluste nicht rasch 
genug würden ersetzen können und die dennoch einer Abkühlung und zu¬ 
gleich Erfrischung bedürfen. Da erstere nur ganz allmälig eintritt, der Ver¬ 
brennungsprocess aber auch bei den hier fraglichen Wärmegraden noch ge¬ 
steigert und rechtzeitiger Wärmeersatz in hinreichender Weise geliefert wird, 
so kann man weit länger in solchen Bädern ohne Schaden aushalten, als in 
kalten, zumal bei massiger Bewegung. Die beruhigende und zugleich stär¬ 
kende Wirkung, welche laue Bäder auf Personen ged. Qualification, wie 
auch bei vorhandenen Erschöpfungszuständen oder nervöser Erregung aus¬ 
üben, macht sich besonders während der heissen Jahreszeit geltend. Auch in 
diesen Bädern findet noch eine Herabsetzung der Pulsfrequenz und, bei län¬ 
gerer Dauer, der Temperatur statt. 


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BÄDER. 


109 


c) Indifferente Bäder (etwa 35° C.), d. h. Bäder, in welchen der 
Stoffwechsel annähernd im Gleichgewicht bleibt. Die Temperatur dieser Bäder 
liegt immer noch unterhalb der normalen Körperwärme und muss darunter 
liegen, wenn nicht eine Ueberwärinung stattfinden soll; diese aber würde 
bereits in blutwarmem Wasser eintreten, weil in demselben die normalen durch 
die Hautverdampfung bewirkten Wärmeverluste wegfallen; es würde dann eben 
eine Wärmestauung stattfinden. 

In so temperirten Bädern, von 35° C., in welchen keinerlei erhöhte Kraft¬ 
leistungen des Körpers gefordert werden, kann man ohne Schaden Stundenlang 
mit Behagen verweilen, wie die sonst vielfach gebrauchten prolongirten Bäder 
Hebras bewiesen haben, sie sind ein wahres Erholungs- und Beruhigungs¬ 
mittel besonders für ältere und für herabgekommene Leute; in ihnen kommt 
das Blut durch massiges Zuströmen zu der für gewöhnlich kälteren Haut zu 
einer gleichmässigeren Vertheilung und es werden hiedurch die inneren 
Organe, besonders das Gehirn, in wohlthätiger Weise entspannt. Eine noch 
grössere Entspannung wird aber wahrscheinlich durch eine allmälig erfolgende 
Imbibition der Haut, insbesondere durch eine Quellung der Nervenendapparate 
bewirkt, durch welch letztere eine Herabsetzung der Empfindung eintritt. 

Das Wasser des Harns wird in solchen Bädern vermehrt, weil die nor¬ 
male Verdunstung durch die Haut hinwegfällt. 

d) Warme Bäder über 35° C. bis 37 1 l a —38 steigern bereits die Eigen¬ 
wärme theils durch erhöhte Wärmezufuhr, theils durch Behinderung der Haut¬ 
verdampfung (während im Innern die Wärmeerzeugung selbst und dementspre¬ 
chend die Kohlensäurebildung und der 0- Verbrauch nach Röhkig sogar unter 
die Norm herabgesetzt werden) und beschleunigen den Puls (der bei Kernig 
in einem Bad bei einer Zunahme der Temperatur von 37’1 auf 38 - l von 80 
auf 96 stieg, aber nach kalter Brause rasch auf 76 bis 72 sank. Da bei 
diesen Bädern mangels eines stärkeren äusseren Reizes auch jede stärkere 
Reflexwirkung auf die inneren Organe hinwegfällt, und das Blut, dank der 
starken, das Bad oft mehrere Stunden überdauernden Erweiterung der Haut- 
gefässe, in reichlichem Maasse nach der Peripherie strömt, so wirken sie stark 
derivatorisch und deshalb auch noch beruhigend; sie erweichen zugleich die 
Haut und wirken wegen ihrer bedeutenden Förderung des Blutlaufes und der 
Hautthätigkeit auch stark resorbirend; die Harnstoffausscheidung wird in ihnen 
gesteigert, zu lange fortgesetzter Gebrauch solcher Bäder setzt aber die Wider¬ 
standsfähigkeit des Körpers herab und verweichlicht. 

e) Heisse Bäder: Das Heisswasserbad (38—42 ja 45°) kommt in un¬ 
serem Klima selten zu hygienischem Gebrauch und es sollte auch nie, wenig¬ 
stens nicht in seinen extremsten Graden ohne ärztliche Erlaubnis angewen¬ 
det werden wegen der unter Umständen damit verbundenen Gefahren. Es 
wirkt in seinen höheren Graden als kräftigstes Reizmittel und Analepticum, 
bei schon kürzester Dauer, durch mächtige reflectorische Erregung des Gefäss- 
und Nervensystems; der Puls wird stark erregt, voll und frequent, es tritt 
Hirnhyperämie, Schwindel und Bangigkeit ein, und die Körperwärme kann 
auf 40° und noch höher steigen. Solche Bäder werden, natürlich abgesehen 
von ihrer medicinischen Verwendung, nur ausnahmsweise bei anscheinendem 
Beginn einer Erkältungskrankheit als Vorbereitungsmittel zu einer Schwitzkur 
gebraucht, gewohnheitsmässig dagegen und in ausgedehntester Weise nach 
Bälz von den Japanesen; sie wirken auf diese durchaus nicht schwächend oder 
verzärtelnd, und eine Erkältung danach ist deshalb ausgeschlossen, weil die 
durch die starke Hitze hervorgebrachte, das Bad längere Zeit überdauernde 
Lähmung der Hautgefässe eine Contraction durch Kältereiz gar nicht aufkom- 
men lässt, daher die Japaner nach solchem Bad häufig nackt, selbst im Win¬ 
ter, ohne Schaden zu nehmen, herumlaufen. 


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BÄDER. 


Uebrigens ist auch bei dem heissen Bad im Moment des Eintrittes, 
gerade so wie im kalten, Erblassen der Haut (Gänsehaut) und Verlangsamung 
des Pulses (als sehr rasch vorübergehende Erscheinung) zu beobachten. 

An diese heissen Bäder reihen wir an: das Dampfbad, das irisch-römische 
Bad und das Sandbad. 

Dampfbad (russisches): Fest geschlossener Baderaum mit terassen- 
förmig angebrachten Bänken, auf welchen die Badenden liegen und in deren 
Gegend der, gewöhnlich Dampfkesseln entnommene, Dampf (von 40—45, selten 
bis 55° C.) natürlich umso heisser ist, je höher die Bänke sich befinden; der 
Aufenthalt in einem solchen Bad beträgt gewöhnlich 20—25 Minuten. Das 
Dampfbad macht anfangs Beklommenheit und oft Schwindel, die aber umso 
rascher schwinden, je rascher die Haut in Hyperämie kommt und hiedurch 
die inneren Organe vom Blut entlastet werden. Die Badenden werden zur 
Erzielung eines kräftigen Reflexes zeitweise mit Birkenreisern geschlagen und 
haben sich in einem mässig temperirten Nebenraum öfters kalt zu douchen, 
oder ein kaltes Bad zu nehmen, oder sich kalt übergiessen zu lassen; dergL 
geschieht, nachdem es wiederholt vorgenommen, jedenfalls zuletzt, um eine 
sonst zurückbleibende Wärmestauung zu beseitigen. Unter Umständen wird 
auch ein Nachschwitzen vorgenommen. 

Der Puls wird im Dampfbad bald frequent, bis 110 und noch mehr, 
wobei unter Erhöhung der Dicrotität die Stärke herabgesetzt wird, sofort aber 
wieder steigt nach kalten Begiessungen. Die Eigenwärme steigt rasch, binnen 
10 — 12 Minuten oft über 39°, das Körpergewicht fällt oft um mehrere Pfund 
und das Blut wird nach Tarchanoyv durch das Schwitzen wirklich verdickt 
(doch kehrte die Normalität nach Trinken von 1—2 Glas Wasser bald zurück; 
der Ham wird specifisch schwerer und bleibt es auch nach dem Bad noch 
längere Zeit. Die Tast- und hautelektrische Empfindlichkeit wird nach Kostürin 
verfeinert in Folge des grösseren Blutgehaltes der Haut und der Entfernung 
von Oberhautschichten, dagegen sinkt die Muskelkraft entsprechend der Höhe 
der Temperatur. 

Das Dampfbad wirkt mächtig anregend auf den Stoffwechsel und ver¬ 
mehrt die N.-Ausscheidung durch den Harn, ist aber für Leute, die nichts 
zuzusetzen haben, für häufigeren Gebrauch nicht geeignet; als Volksmittel wird 
es zumeist benutzt bei Erkältungskrankheiten und chronischem Rheumatismus; 
es ist ein mächtiges therapeutisches Mittel, wo es gilt, die Hautthätigkeit zu 
befördern und Exsudate zur Aufsaugung zu bringen oder Ausscheidungen zu 
befördern, so besonders noch bei chronischen Hautkrankheiten, Gicht, rheuma¬ 
tischen Zuständen, alten Lähmungen. In solchen Fällen sind aber die Kasten¬ 
bäder (auch für heisse Luft) das Richtigste, in welchen man auch eine 
grössere Hitze, bis 55° C, noch leidlich erträgt. Ein natürliches Dampf¬ 
bad (von 29—35° C) stellt die durch Wundercuren bekannte Grotte von Mon- 
summano in Oberitalien dar. 

Zu vermeiden sind die Dampfbäder bei Herzkrankheiten, Atheromatose, 
Neigung zu Himcongestionen und bei Erschöpfungszuständen, desgl. bei Rücken¬ 
markskrankheiten . 

Irisch-römisches Bad, Luftschwitzbad, in welchem trockene heisse 
Luft zur Einwirkung auf den Körper kommt. Der völlig Entkleidete tritt 
zunächst aus einem erwärmten Vorraum in das auf 33 bis 40° C, meist durch 
Heisswasser(röhren)leitung geheizten Tepidarium und nach längerem Auf¬ 
enthalt daselbst, (10—15 Min.), während dessen zumeist schon Schweiss- 
bildung erfolgt, mit Sandalen versehen in das Sudatorium, das eigentliche 
auf 45 bis etwa 55° C temperirte Schwitzzimmer und wird während des (etwa 
3 /i Stunden dauernden) Luftbades wiederholt zur Beförderung der Hautthätig¬ 
keit geknetet und mit Tüchern abgerieben, das Bad endlich durch eine laue 
Douche beendet. Hieran schliesst sich öfters noch ein Calidarium mit 


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BÄDER. 


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einer Hitze von 65—90° C, welches jedoch selten benutzt wird. Diese hohen 
Hitzegrade kann man nur ertragen, sogar besser als in dem niederer tempe- 
rirten Dampfbad, weil in der umgebenden trockenen Luft die Verdunstung 
eine bei weitem stärkere, daher auch die Abkühlung eine entsprechend grössere 
ist. Das heisse Luftbad wirkt trotz der stärkeren Hitzegrade aus eben ge¬ 
sagten Gründen auf Puls und Körperwärme massiger ein, als das Dampfbad. 
Ersteres wird in ähnlicher Weise benützt wie das Dampfbad, ganz besonders 
aber bei dyscratischen Zuständen, wo es gilt die Ausscheidungen möglichst zu 
befördern; solches geschieht aber im heissen Luftbad am meisten. Aber auch 
hier sind die Kastenbäder vorzuziehen. 

Theilbäder: Fuss- Hand- Sitzbäder etc. werden nur therapeutisch be¬ 
nutzt und haben schon in d. A. Hydrotherapie*) Erwähnung gefunden. 

Sandbäder (mit je nach der Individualität verschiedener, allmälig auf¬ 
steigender Wärme von 46—50° C) werden bei uns ebenfalls fast nur thera¬ 
peutisch — gegen Gicht, Rheumatismen, Scrophulose — benutzt und wurden 
dies schon im Alterthum, besonders von den arabischen und griechischen 
Aerzten, bei ähnlichen Krankheiten. Die Erwärmung des Bades geschieht am 
besten künstlich, der Badende kommt in eine Holzwanne, in welcher er, auf 
heissem Sand sitzend, mit solchem noch mehr oder weniger hoch, oft bis an 
die Schultern bedeckt wird. Die Haut wird bald geröthet und bald danach 
bricht ein Schweiss aus, den man jedoch, weil er rasch aufgesogen wird, nicht 
unangenehm empfindet; der Wasserverlust beträgt in solchem Bade 1 / i bis 
1 kg, ja noch mehr. Das Sandbad wirkt ähnlich wie ein irisch-römisches; 
auch in ihm wird die Eigenwärme um mehr als 1° erhöht und der Puls be¬ 
schleunigt ; die Badenden verweilen darin gewöhnlich 30—45 Minuten. Sand¬ 
badeanstalten gibt es u. a. in Barmbeck bei Hamburg, Berka a. d. Ilm, 
Köstritz in Thüring und Neuhausen bei München. In den südlichen Ländern 
werden die Sandbäder, und zwar an den Seebadeorten, weit häufiger ge¬ 
braucht als bei uns; man scharrt hier die Menschen am Strand nackt in den 
heissen Sand oder lässt sie sich selbst hineinwühlen; zuletzt nehmen sie ein 
Bad oder begiessen sich mit Seewasser. 

Seebäder, Seeaufenthalt, Wirkung der Mineralbäder im 

Allgemeinen. 

Die Seebäder sind wegen ihres hohen Gehaltes an Salzen als Mineral¬ 
bäder und zwar wegen des hier fast allein in Betracht kommenden Kochsalzes 
als Soolbäder zu betrachten, deren Wirkung jedoch durch die gleichzeitig ein¬ 
wirkende starke mechanische Gewalt mächtig verstärkt wirkt (1 Lit. Nord¬ 
seewasser enthält allein an Kochsalz gegen 25 g und nur etwas über 7‘/ s g 
andere Salze, hauptsächlich Chlormagnesium und schwefelsaure Magnesia). Das 
Ostseewasser mit seinen nur wenig über 1 ■ 7 °/ 0 betragenden festen Stoffen 
stellt freilich ein nur schwaches Soolbad dar. 

Für den Gebrauch des Seebades ist nicht nur das Wasser, sondern auch 
das Klima in Rücksicht zu ziehen und ist dieses oft allein schon auf viele 
Menschen heilwirkend. 

Die Temperatur der Seeluft, besonders auf den Inseln, ist in den 
Sommermonaten wegen der beständigen Wasserverdunstung niedriger und 
dabei gleichmässiger als auf dem Lande, die Luft ist dabei feucht, sauer¬ 
stoffreicher, stets bewegt und wenigstens bei Wellenschlag salzhaltig; sie ent¬ 
zieht daher dem Körper weit mehr Wärme als die Landluft, und es zeigte 
sich insbesondere nach Beneke auf Höhen von 3—6000 Fuss, bei derselben 
Temperatur und Stärke der Luftströmung, der Wärmeverlust weit geringer 
als am Meeresstrande. 

Vermöge dieser Eigenschaften regt die Seeluft schon an sich den Körper 
zur Erhöhung der Wärmeerzeugung, d. i. des Stoffwechsels an (die Seeluft 

*) Band Interne Medicin. 


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112 


BADER. 


zehrt, sagt richtig das Sprüchwort), was sich bald in Steigerung des Appetites 
und Vermehrung des Körpergewichtes kundgibt; sie wirkt besonders günstig 
auf im Zustand der Reizung befindliche Athmungsorgane. Aus besagten 
Gründen bringt der Seeaufenthalt oft schon allein vielen schwächlichen, anä¬ 
mischen und herabgekommenen Menschen, bei Chlorose, chronischen Bron- 
chiten, Asthma und nach Erschöpfungskrankheiten, besonders auch Tuber- 
culösen in den ersten Stadien Heilung oder Besserung, wenn sie noch einiger- 
massen Reactionskraft besitzen; für noch mehr Heruntergekommene aber, 
wo letzteres nicht mehr der Fall ist, ist das Seeklima nicht geeignet, ja 
schädlich. Es gilt dies besonders für Tuberculöse, bei welchen sich bereits 
colliquative Schweisse eingestellt haben, und wohl mit Recht sieht A. 
Winkleb den Grund, wesshalb die Beneke’ sehen Seeheilstätten (Norderney) zur 
Zeit den erwarteten Erfolg nicht entsprochen haben, darin, dass man zuweit 
vorgeschrittene Fälle von Tuberculöse dorthingeschickt habe. Für dergl. Fälle 
passt weit besser ein Höhenklima. 

Das Meerwasser ist je nach der Meeresgegend in seinem Gehalt ver¬ 
schieden, und es nimmt letzterer mit der Entfernung von der Küste etwas 
zu; er beträgt in der Ostsee (Westseite) etwa 1*77, in der Nordsee bei Helgo¬ 
land 3 05, im atlantischen und stillen Ocean 3 47, im mittelländischen Meer 
bei Marseille 3 69 proc. Die Temperatur schwankt in der Ostsee im Juli und 
August zwischen 12—16° R, in der Nordsee zwischen 12—14-5, im atlan¬ 
tischen Ocean zwischen 14'5—20, im mittelländischen Meer zwischen 15—22° R. 
Zumeist wird zur Zeit der höchsten Fluth gebadet, in Madeira das ganze Jahr 
hindurch; man soll warm gekleidet sein und mit warmer Haut, aber natürlich 
erst nach längerer Ruhe und nicht ganz nüchtern ins Bad gehen. Nach dem 
Bad soll man sich rasch abtrocknen, wieder warm ankleiden und mässige Be¬ 
wegung machen; in manchen Badeorten ist es Sitte, sogleich beim Heraus¬ 
gehen die Fässe einige Secunden in heisses Wasser zu tauchen, um einem Blut¬ 
andrang nach dem Kopf zuvorzukommen. Der einmal indicirte Gebrauch des 
Seebades sollte mindestens 1 Monat, besser 2 Monate fortgesetzt werden. 
Kinder und Schwächliche sollen das erste Mal nur nach Secunden, dann nicht 
länger als 2 Minuten baden; in der Regel badet man 5—6 Minuten; während 
der Menses ist auszusetzen. 

Das Seebad hat zunächst die Wirkung des Süsswasserbades und zwar 
des bewegten, nur ungleich stärker wegen der mächtigen auf den Körper ein¬ 
wirkenden mechanischen Gewalt und des, wie schon erwähnt, chemischen 
Reizes; auch hier tritt anfangs das Gefühl der Beklommenheit mit Beschleu¬ 
nigung des Pulses und Athmens ein; die Athmung bleibt indess, wohl haupt¬ 
sächlich in Folge des Arbeitens gegen die mechanische Erschütterung, weit 
länger frequent als im Süsswasserbad und wird erst nach längerer Einwirkung 
der Kälte verlangsamt; die Verlangsamung des anfangs verstärkten Pulses 
dagegen tritt unter Abnahme der Energie bald ein und hält bei kälterem und 
längerem Baden auch nachher oft noch stundenlang an, während die Athmung 
wieder rasch normal wird. Die Reaction erfolgt im Seebad, dank der starken 
Hautreizung äusserst rasch und das Blut strömt mit Macht in die Hautgefässe, 
daher auch das Wasser wärmer erscheint, als das eines gleich kalten Süss¬ 
wasserbades; erst nach langem Bestand erlischt diese durch das fortwährende 
Wellenpeitschen stets von Neuem angefachte Reaction und tritt der zweite 
Frost ein. In Folge des im Seebad viel länger andauernden Wohlbefindens 
aber verliert der Badende, da er die grossen Wärme Verluste, die er erleidet, 
weit weniger fühlt, auch das Zeitgefühl für eine richtige Dauer, und wird er 
gar vom zweiten Frost überrascht, so folgt eine lang anhaltende Erschöpfung. 
Der Körper, durch den gewaltigen Hautreiz und Wärmeverlust zu einer weit 
mehr als im Süsswasserbad erhöhten Wärmeerzeugung angetrieben, hat sich 
dann eben überarbeitet; es ist daher geboten, lediglich nach der Zeit, nicht 
nach dem Wohlbefinden zu baden. 


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BÄDER. 


113 


Aber auch hoch andere schwere Störungen kann ein zu lange fort¬ 
gesetztes Bad, besonders bei kälterer Temperatur, dadurch machen, dass in 
solchem Fall das Blut leicht im Uebermaass nach den innern Organen gedrängt 
und hierdurch Stauung, selbst Entzündung und Blutungen veranlasst werden. . 
Die oft heftigen Kopfschmerzen, von welchen viele Badende ergriffen werden, 
werden nach A. Winckler lediglich durch das die Kopfnerven überreizende 
Untertauchen oder durch Benetzen des behaarten Kopfes mit Seewasser bewirkt, 
welches man deshalb, zumal es gänzlich zwecklos sei und dabei auch den 
Haarwuchs schwer benachtheiligen (die Haare zum Ausfallen bringen) könne, 
gänzlich unterlassen solle. 

Im Vorstehenden haben wir die Gesammtwirkung geschildert, welche 
das Seebad durch seinen thermischen, mechanischen und chemischen Reiz auf 
den Menschen ausübt, wenn er in offenem Meer badet; dass es sich hierbei 
nicht blos um die Wirkung stark bewegten Wassers handelt und daher das 
Seebad nicht durch ein Süsswasserbad ersetzt werden kann, zeigt sich aufs 
deutlichste, wenn man den Wellenschlag ausschaltet und ersteres als Wannen¬ 
bad nehmen lässt, wozu man oft genöthigt wird. In solchem Fall ist nämlich 
die physiologische und therapeutische Wirkung des Seebades derjenigen eines 
gleichstarken Soolbades völlig entsprechend, und die Frage mit welcher wir 
uns zu beschäftigen haben ist nur die: wie kommt diese Wirkung zu Stande, 
etwa durch Aufsaugung von Seewasser bezw. Soole durch die Haut, wie man 
bis vor Kurzem in Ermangelung besserer Erklärungsweise gemeinhin annahm ? 
Nach zuverlässigsten Beobachtern auf diesem Gebiete lässt sich diese An¬ 
schauung wenigstens für die Soolbäder — ja wahrscheinlich für die meisten, 
wenn nicht alle Mineralbäder, sie müssten denn dunstförmig oder in zer¬ 
stäubter Form auf die Haut wirken, — nicht mehr aufrecht erhalten, denn es 
hat sich fast übereinstimmend gezeigt, dass die betreffenden Salze bei gesun¬ 
der Haut entweder gar nicht, oder, wenn überhaupt, in so kleinen Mengen 
aufgesogen werden, dass sie für vorliegende Frage völlig ausser Betracht 
liegen, ja selbst die mehrfach behauptete Aufnahme von gewöhnlichem Wasser 
ist höchstwahrscheinlich nur eine Imbibition der Haut. Beneke fand es 
daher schon im Jahre 1859, nachdem auch er zu fast negativen Ergebnissen 
bei dergleichen Versuchen gekommen war, ganz unabweisbar, den Soolbädem 
eine rein dynamische Wirkung, wie man sich damals auszudrücken pflegte, 
zuzuschreiben, und nachdem Verfasser dieses Artikels in den Jahren 1863/67 
an Fröschen, Fledermäusen und Menschen nachgewiesen hatte, dass Hautreize 
aller Art, resp. thermische Reize, wie Eingangs erwähnt, den Tonus des 
Herzens und sämmtlicher Gefässe in deutlich sichtbarer Weise lediglich auf 
dem W r ege des Reflexes verändern und auch die Eigenwärme, d. i. den 
Stoffwechsel nachweisbar beeinflussen, so erhalten jene dynamischen Wirkungen 
Benekes eine physiologische Begründung und Erklärung, und es ist wohl 
unzweifelhaft, dass genannte Reflexwirkungen es sind, welche die therapeu¬ 
tischen Wirkungen des Soolbades, ja vielleicht aller Bäder mit den erwähn¬ 
ten Ausnahmen, bedingen. Zunächst sind es allerdings nur quantitativ, d. h. 
je nach der Stärke des vorhandenen Hautreizes verschiedene Veränderungen, 
welche man — und zwar an den Gefässen — wahrnimmt*) (vgl. Hydrotheraphie); 
sie sind aber wenigstens für Soolbäder vollständig genügend, um in Fällen, 


*) Auf diese quantitativ verschiedenen Reizwirkungen allein den therapeutischen 
Erfolg der Mineralbäder zurückführen und damit eine identische Wirkung aller Hautreize 
annehmen, heisst allerdings den einzelnen Bädern, Eisenbädem etc. eine specifische Wirkung 
so gut wie absprechen und ihren Werth nicht nach der Beschaffenheit der in ihnen 
enthaltenen Stoffe, sondern nach der Stärke des Reizes bemessen, den diese Stoffe 
auf die Haut ausüben. Die Richtigkeit solcher Anschauung lassen wir indess, abgesehen 
vielleicht von den Soolbädern, als zur Zeit noch nicht bewiesen umso mehr dahingestellt, als 
die Möglichkeit durchaus nicht ausgeschlossen erscheint, dass, ausser den erwähnten (zunächst 
allein sichtbaren) quantitativ verschiedenen, auch qualitativ verschiedene Wirkungen der 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. $ 


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114 


BÄDER. 


wo man diese überhaupt anwendet, eine Zurückführung des krankhaft ver¬ 
änderten Stoffwechsels zum normalen resp. eine entsprechende Erhöhung des 
Stoffwechsels und dadurch eine Regeneration des Nährbodens, eine Genesung 
.zu erklären, mag die vorliegende Krankheit eine Ursache haben, welche sie 
wolle, urd mit Recht betrachtete es Beneke als die Hauptkunst des Arztes, 
dem Soolbad eine den individuellen Verhältnissen entsprechende Stärke zu 
geben. 

Die Soolbäder ändern den Stoffwechsel in eingreifender Weise und von 
besonderer Bedeutung ist hierbei, dass, wie bereits Beneke und C. Wimmer, 
dann Keller u. A. landen, die für die Aneignung so wichtige Phosphorsäure 
— und zwar fast ausschliesslich die an Kalk gebundene — weit stärker im Körper 
zurückgehalten wird, als schon im Süsswasserbad; es wird aber auch eine grössere 
reflectorische Steigerung der Harnstoffausscheidung unter gleichzeitiger Ver¬ 
minderung der Harnsäure, also ein vermehrter Umsatz der Albuminate, und 
dementsprechend, nach Röiirig-Zuntz, eine stärkere Kohlensäureausscheidung 
und grösserer Sauerstoffverbrauch durch das Soolbad bewirkt, als durch das 
Süsswasserbad (weniger festgestellt ist eine vermehrte Ausscheidung von 
Chloriden durch das Soolbad, ja nach Jacob (Virch. Arch. XC1II) wirken die 
Soolbäder und Moorbäder überhaupt nicht anders als gewöhnliche Wasserbäder). 

Auch im Soolbad, beziehungsweise lauwarmen Seebad wird der Puls 
nach kurzer Beschleunigung sehr rasch verlangsamt, wie dies auch bei 
anderen Hautreizen von entsprechender Stärke der Fall ist, und es erscheint 
das Wasser um 2—3° wärmer als ein gleich temperirtes Süss wasserbad; die 
Reaction, die Röthung der Haut ist stärker und anhaltender. Nach dem 
Gesagten stellt also ein Nordseebad mit seinem Salzgehalt von über 3%, in 
der Wanne genommen, lediglich ein Soolbad dar und ist nach den für letzteres 


Reflexreize, welche nur von bestimmten in dem Badewasser aufgelösten Substanzen ausgeübt 
werden, hier in Betracht kommen. Denn die allgemeinen Erregungsmittel (Elektncität, 
thermische, mechanische oder chemische Reize), welche in den sensiblen so gut wie in den 
motorischen Nerven (in letzteren höchstwahrscheinlich nur durch beigemengte sensibele 
Fasern) das Gemeingefühl des Schmerzes erzeugen, üben bei einer gewissen Stärke auf 
diese sensibeln Nerven oder vielmehr auf deren uns freilich nur theilweise bekannten, hier 
hauptsächlich in Betracht kommenden Endorgane noch einen besonderen, ihnen eigen- 
thümlichen Reiz aus: das Veratrin macht z. B. das bekannte Spinnewebsgefühl, ja schon 
einzelne Säuren — Schwefelsäure, Salpetersäure, Essigsäure — wirken oft in einer sie von 
einander unterscheidenden Weise auf die unverletzte Haut ein, und wie Basch für die 
kohlensäurehaltigen und Beneke und Santlus für die Soolbäder nachgewiesen, zeigt 
sich in diesen Bädern das Tastgefühl selbst da noch erhöht, wo ein subjectiver Reizeindruck 
zum Gehirn nicht mehr fortgepflanzt wird. Wir brauchen also die specifischen Wirkungen, 
welche gewisse Stoffe auf die Haut ausüben, gar nicht zu empfinden, trotzdem sie nach¬ 
weislich vorhanden sind, und es könnte daher auch eine specitische Rückwirkung solcher 
selbst in geringer Menge im Badewasser gelöster Stoffe auf die der Ernährung vorstehenden 
Nerven nach den Gesetzen der summirten Reizwirkung immerhin noch möglich sein, weil 
eben das ganze Hautorgan vom Beiz getroffen wird. Will man an einer specifischen 
Wirkung der Mineralbäder, für welche ja die Erfahrung von Jahrhunderten ins Feld 
geführt wird, überhaupt fest halten, so kann dies kaum anders geschehen, als in der 
Annahme, dass die fraglichen Mineralstoffe, je nach ihrer Beschaffenheit, abgesehen von 
den besprochenen quantitativ verschiedenen, auch qualitativ verschiedene Reflexwirkungen 
auszuüben vermögen, welche letztere hauptsächlich durch die Ganglien (bezw. trophischen 
Nerven ?) vermittelt werden. Denn über die Resorptionstheorie ist bezüglich der Erklärung 
der Badewirkung der Stab so gut wie gebrochen und auch eine specitische Wirkung durch 
Elektricität, welcher wir buchstäblich auf jedem Schritt und Tritt mehr als in irgend einem 
Bad begegnen, kann als ausgeschlossen betrachtet werden. Es würden also, um einen 
Vergleich zu brauchen, die Mineralbäder oder einzelne derselben durch verschiedenartige 
Erregung der Hautnerven auf die Ernährungsorgane in ähnlicher Weise wirken wie die 
Geruchstoffe durch verschiedenartige Erregung der Nasenschleimhaut auf das Gehirn. 
Auch die Ergebnisse der Metalltherapie (nach Burqg und Charcot), so wenig sie auch 
bis jetzt einen praktischen Werth gehabt haben, würde man zur Erklärung der specifischen 
Wirkung der Mineralbäder heranziehen können. Darnach würden Metalle, welche, auf die 
Haut gebracht, differente Empfindungen hervorrufen, auch innerlich — in Auflösung ge¬ 
nommen — jenen Empfindungen entsprechende Wirkungen auszuüben vermögen. 


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BÄDER. 


115 


gütigen Indicationen zu gebrauchen, doch hat es vor dem gewöhnlichen 
Soolbad den Vortheil voraus, dass es in seiner Heilwirkung durch das See- 
klinia mächtig unterstützt wird. Daher sind denn auch in fast allen Seebade¬ 
orten die zum curgemässen Gebrauch von Wannenbädern nöthigen Ein¬ 
richtungen mit eventueller Verstärkung des Salzgehaltes zu finden. 

Dieses Plus von Hautreiz durch den Salzgehalt des Seewassers ist dem 
im offenen Meer durch den Wellenschlag erzeugten Reiz hinzuzufügen, so 
dass hier thermischer, chemischer und mechanischer Reiz Zusammenwirken, 
die dem Seebad den Charakter des kräftigsten Mineralbades geben. 

Auf relativ gesunde Menschen wirken die Seebäder daher weit mehr 
abhärtend, tonisirend, Geist und Körper erfrischend, als Süsswasserbäder, 
indem sie durch den vermehrten Verbrennungsprocess den ganzen Körper zu 
erhöhter Thätigkeit anspornen und den Appetit und die Assimilirung fördern, 
(was sich bald durch Steigerung des Körpergewichts kund gibt), insbesondere 
auch die Thätigkeit und Ernährung der Haut steigern und, bei vernünftigem 
Gebrauch* eine etwa vorhandene übergrosse Reizbarkeit abstumpfen und 
dadurch die Neigung zu Erkältungen vermindern; sie sind daher vorzüglich 
geeignet für alle schwächeren, aber noch im Bereich der Gesundheit befindlichen 
Personen, besonders für dergleichen Kinder mit scrophulöser oder rhachitischer 
Anlage, wenn nicht im offenen Meer, so doch zunächst im mässig erwärmten 
Wannenbad, ferner für Personen mit schwacher Verdauung, für neurasthenische 
und hypochondrische Naturen, bei nervöser Abspannung und Schwäche. Doch 
wir haben es hier nicht mit den eigentlichen Heilindicationen zu thun und 
wollen nur erwähnen, dass die Seebäder, wie eben angedeutet, ein Haupt¬ 
mittel gegen Scrophulose und Rhachitis und gegen auf mangelhafter Inner¬ 
vation beruhende Dyspepsien, chronische Diarrhoen und habituelle Ver¬ 
stopfung sind. 

Zu vermeiden sind die Seebäder bei Krankheiten des Herzens und der 
Gefässe (Atheromatose), bei Nierenkrankheit, Gicht, Epilepsie und Neigung zu 
Ohnmacht und Schwindel, bei Rückenmarkskrankheit, bei Himcongestionen 
und Neigung zu Blutungen, bei starker Fettsucht, bei Ohren- und Augen¬ 
leiden, besonders inneren Hyperämien (für schwache Augen ist schon der 
blendende Strand meist sehr belästigend), endlich bei Schwangerschaft und im 
Greisenalter. 

Künstliche, der natürlichen Stärke entsprechende Seebäder kann man 
sich leicht darstellen durch Auflösen von Seesalz in Wasser im Verhältnis 
von 3—4:100. 

Wir führen von den bekannten Seebädern hier an: 


Ostsee: 

Cranz (Ost-Preussen), Marienlyst bei Kopenhagen; Kolberg (zugleich mit 
natürlichen Soolbädem), Dievenow, Misdroy, Heringsdorf, Ahlbeck, Swinemünde 
(Pommern); Sassnitz, Lohme, Putbus (Rügen); Warnemünde, Doberan (Mecklen¬ 
burg), Düsternbrook (Holstein). 

Nordsee: 

Sylt, Amrum, Wyk, Büsum, Helgoland (Schleswig-Holstein), Norderney, 
Borkum (ostfriesische Inseln); Scheveningen, Vliessingen (Holland) Blanken- 
berghe, Ostende (Belgien). 

Atlantischer Ocean: Madeira. 

Mittelländisches und adriatisches Meer: Marseille, Cannes, Nizza, 
Spezia u. A. o. naumann. 

8 * 


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BAKTERIEN. 


Bakterien. Die Kenntnis der Bakterien fällt bereits in das siebzehnte 
Jahrhundert. Der holländische Naturforscher Leuwenhöck veröffentlichte im 
Jahre 1680 eine Arbeit, in welcher er mehrere Bakterienarten beschrieb, 
und schon damals die Vermuthung aussprach, dass diese Mikroorganismen 
eine wichtige Rolle bei der Fäulnis spielen dürften. Die physikalischen Hilfs¬ 
mittel, mit welchen er seine Entdeckungen gemacht hatte, kleine einfache 
Sammellinsen, waren so primitiv, dass die damit erzielte Leistung höchst 
staunenswerth ist, wenn auch eine Erweiterung seiner Befunde mit denselben 
unthunlich war. Erst mit der Construction und Einführung der zusammen¬ 
gesetzten Mikroskope beginnt die eigentliche bakteriologische Forschung, welche 
von Otto Friedrich Müller (1774) begründet, von Lamarck, Ehrenberg u. A. 
weiter entwickelt und schliesslich durch Pasteur und Koch auf die Höhe 
einer exacten Wissenschaft gestellt wurde, auf welcher sie zunächst eine Um¬ 
wälzung in der Forschung über die Krankheitsursachen, zuletzt aber auch in 
der modernen Therapie, diese auf einen ganz und gar naturalistischen Stand¬ 
punkt stellend, hervorrief. 

Die Bakterien werden zu den niedrigsten Organismen des Pflanzenreiches 
gezählt, obzwar auch noch heute eine Einigung über den Bau und die Zu¬ 
sammensetzung der Bakterienzelle nicht erzielt wurde. Im Allgemeinen neigt 
sich die Mehrzahl der Forscher der Meinung hin, dass die Bakterienzelle von 
einem Kern und einer protoplasmatischen Hülle desselben gebildet wird, wenn 
auch die letztere von A. Fischer für ein durch Plasmolyse bewirktes Kunst- 
product erklärt wird. Ebenso getheilt sind die Ansichten über den Ursprung 
der Bewegungsorgane der Bakterien, der Geissein. Während Bütschli die 
Ansicht verficht, dass diese mit einer die Protoplasmaschichte begrenzenden 
Hülle, Membran, in Zusammenhang stehen, spricht neuestens Löwit die Ver¬ 
muthung aus, dass die Geissein nur als Fortsätze der den Kern umgebenden 
Protoplasma-(Rinden-)schichte anzusehen sind. Ebensowenig entschieden, wie 
die hier erwähnten Streitfragen ist die engere Stellung der Bakterien im 
Pflanzenreiche. Während sie einerseits (Van Tieghem u. A.) unter die Algen 
als eine den Oscillarien und Nostocaceen verwandte, chlorophylllose Reihe 
von Pflanzenorganismen eingereiht werden, sieht man sich andererseits (Nä- 
geli, du Bart etc.) durch den (allerdings nicht ganz durchgreifenden) Chloro¬ 
phyllmangel bewogen, sie den Pilzen zuzuzählen. Es empfiehlt sich daher, 
so lange durch weitere genaue Untersuchungen alle diese Zweifel nicht be¬ 
hoben werden, die Bakterien als eine eigene Gruppe niedrig entwickelter 
Pflanzenorganismen zu betrachten, welche Stellung ihnen auch schon mit Rück¬ 
sicht auf ihr eigenartiges Wirken in der lebenden und leblosen Natur gebührt. 
Der eben besprochene nicht gerade einfachste Bau der Bakterien lässt aber 
Yermuthen, dass dieselben nicht auf der niedrigsten Stufe der Entwickelung 
stehen, dass sie nicht als der Uebergang von der leblosen zur lebenden Natur 
anzusehen sind und dass demnach die zur Erklärung der Entstehung der 
ersten Lebewesen auf unserem Erdtheile nothgedrungen heranzuziehende Hypo¬ 
these der Generatio aequivoca nicht auf die Bakterien zu beziehen ist. 

Die bis jetzt übliche allgemeine Eintheilung der Bakterien ist 
jene nach ihren Formen, in welchen sie entweder ausschliesslich, oder vor¬ 
wiegend auftreten. Dieses Princip erweist sich aber heute, nachdem es in 
den letzten Jahren gelungen ist, einen tieferen Einblick in die vegetativen 
Vorgänge der Bakterienzellen zu thun, als unzulänglich und es sind daher 
bereits mehrere Versuche gemacht worden, das manchmal hinfällige Formen- 
princip ganz zu verlassen und es durch ein anderes zu ersetzen. So versuchte 
A. Fischer eine Eintheilung der Bakterien nach der Form, Zahl und Locali- 


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BAKTERIEN. 


117 


sation der Geissein, ein Versuch, welcher bei dem Umstande, als bei sehr 
vielen Bakterien der Nachweis dieser Bewegungsorgane noch nicht erbracht' 
ist, als ein verfrühter bezeichnet werden muss, ganz abgesehen von dessen 
allzugrosser Einseitigkeit. Für die rationellste, weil dem botanischen Stand¬ 
punkte am nächsten, muss daher die vom Hueppe vertretene Ansicht erklärt 
werden, welcher in seiner neuestens getroffenen Eintheilung der Bakterien 
nicht nur die Formen derselben, sondern auch die Anordnung der Zellen und 
Zellverbände sowie die Art der Vermehrung berücksichtigt. Diese drei Mo¬ 
mente mögen nun noch vor der Mittheilung des HüEPPE’schen Bakterien¬ 
systems hier besprochen worden. 

Man unterscheidet drei Hauptformen der Bakterienzellen: 

o) kugelige und ellipsoide Zellen: Coccen. 

b) in einer Richtung deutlich gestreckte Zellen: Stäbchen (Kurz- oder 
Langstäbchen), Bacillen; 

c) schraubig gedrehte Einzelstäbchen, oft in unvollkommen entwickelten, 
commaartigen Formen auftretend. 

Die Bakterienzellen können nun theils einzeln vegetiren, theils kommt 
es dadurch, dass die durch Theilung entstehenden Tochterzellen sich nicht 
von einander loslösen, zur Bildung von Verbänden, welche je nach dem 
Umstande, ob die Theilung nur in einer Richtung, in zw r ei Richtungen oder 
in der Fläche und schliesslich im Raume oder in drei Richtungen stattfindet, 
verschiedene Formen annehmen. 

Bei Theilung in einer Richtung entstehen Ketten, Scheinfäden, 
welch’ letztere gerade, gebogen oder schraubenförmig gewunden sein können. 
Die Zusammensetzung der Ketten aus einzelnen Gliedern ist immer, diejenige 
der Fäden mehr oder minder deutlich ausgeprägt. 

Geschieht die Theilung in zwei in einer Ebene zu einander 
senkrecht stehenden Richtungen, kommt es zur Bildung von Tetraden, 
(Meristaform). 

Bei Theilung dem Raume nach bilden sich schliesslich waaren- 
ballenähnliche Conglomerate (Sarcinaform). 

Die Gruppirung der Bakterienzellen kann endlich in einer Art statt¬ 
finden, welche keine Gesetzmässigkeit erkennen lässt, und es kommt in diesem 
Falle zur Bildung von Haufen verschiedener Gestalt, von Zoogloeen in 
Form von Häuten. Flocken, verzweigten Bildungen u. a. 

Die Vermehrung der Bakterien geschieht entweder durch Theilung 
oder Sporenbildung. 

Bei der Theilung zerfällt ein Individuum in zwei Tochterzellen, 
welche sich entweder von einander trennen, oder aber in Zusammenhang 
bleiben und sodann zur Bildung von Zellverbänden Anlass geben. 

Die Fructification oder Sporenbildung besteht darin, dass in 
der Mutterzelle eine oder mehrere neue Zellen entstehen, welche von der 
ersteren morphologisch verschieden, in der Regel gegen äussere Schädlich¬ 
keiten widerstandsfähiger (Dauersporen) sind und aus denen die Artzellen 
erst durch Keimung sich entwickeln. Die Bildung der Sporen kann nun in 
verschiedener Weise stattfinden. 

Einmal in der Art, dass das Zellprotoplasma sich contrahirt und rasch 
mit einer derben Membran (Sporenmembran) umgibt. Diese Art der Sporen 
nennt man endogene Sporen oder Endosporen und unterscheidet sie je 
nach ihrer Lage als mittel- oder endständige Sporen. 

Die zweite Art von Fructification ist die Bildung von Glieder- oder 
Arthrosporen, welche bei fadenförmigen Bakterien in der Weise zustande 
kommt, dass einzelne Glieder des fadenförmigen Verbandes die Eigenschaften 
der Sporen annehmen. 


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BAKTERIEN. 


Auch die Bildung von Chlamydosporen, wo die Sporen zumeist eine grössere Dicke 
besitzen als die vegetativen Zellen und durch entleerte, verdünnte Myceltheile mit einander 
verbunden sind, wodurch die Fäden ein rosenkranzartiges Aussehen bekommen, dürfte in 
der Bakterien weit und zwar beim Tuberkelbacillus Vorkommen; allerdings ist durch diesen 
Umstand die Stellung dieses Mikroorganismus als Bakterie erschüttert und dessen Einreibung 
zu den Fadenpilzen nothwendig gemacht w T orden. Ja, es fragt sich, ob es mit der Zeit 
nicht gelingen wird analoge Verhältnisse auch bei anderen Bakterienarten zu constatiren, 
und ob sich vielleicht nicht einmal herausstellt, dass die Spaltpilze keine selbständige 
Gruppe von Organismen sind, sondern nur „Entwicklungsstadien darsteUen in der Lebens¬ 
geschichte mehr complexer Formen. u (A. Cofpen Jones). 

Der Versuch, die Form der Bakterien allein als Grundlage der Ein- 
theilung derselben in Gattungen aufzugeben, erscheint daher durchaus gerecht¬ 
fertigt und es möge demnach hier das natürliche System Hueppe’s Platz finden: 

I. Coccaceen, bilden im vegetativen Stadium Coccenformen: 

1. Gattung: Micrococcus, charakterisirt durch unregelmässige Anordnung 
der Zellen und Zellverbände; Endosporen bis jetzt unbekannt. 

2. Gattung: Sarcina, bildet Tetraden und waarenballenähnliche Packete 
der Zellen; Endosporen sicher beobachtet. 

3. Gattung: Streptococcus, bildet Ketten; Arthrosporen sicher beobachtet, 
Endosporen beobachtet; 

II. Bakteriaceen bilden im vegetativen Stadium Stäbchenformen, 
welche sich zu Ketten oder Scheinfäden anordnen: 

1. Gattung: Arthrobakterium s. Bakterium s. str bildet keine Endo¬ 
sporen respective bildet Arthrosporen; 

2. Gattung: Bacillus, bildet Endosporen; 

Untergattungen: a) Bacillus s. str. hat gerade Stäbchen, 

b) Clostridium hat Spindelstäbchen. 

c) Pledridium hat Trommelschlägelstäbchen. 

III. Spirobakteriaceen, bilden im vegetativen Stadium kurze 
Schraubenstäbchen (Commaform, S-form), welche zu schraubigen Scheinfäden 
auswachsen können: 

1. Gattung: Spirochaeta, ohne Endosporen respective mit Arthrosporen; 

2. Gattung: Vibrio, mit Endosporen; die Schraube ändert ihre Form 
bei der Sporenbildung; 

3. Gattung: Spirillum, mit Endosporen; die Schraube ändert die Form nicht. 

IV. Leptotricheen bilden im vegetativen Stadium Stäbchen, welche 
sich zu Fäden vereinigen: 

1 . Gattung: Leptothrix , unterscheidet sich von den Scheinfäden der 
arthrosporen Bakteriaceen dadurch, dass die Fäden einen Gegensatz von 
Basis und Spitze zeigen; 

2. Gattung: Beggiatoa\ die Fäden ohne Scheide; die Zellen enthalten 
Schwefelkörner. 

3. Gattung: Phragmidiothrix ; die Fäden sind in niedrige Cylinderscheiben 
gegliedert, welche in Halbscheiben, Quadranten und schliesslich in Kugeln 
zerfallen; 

4. Gattung: Crenothrix ; die Fäden zeigen Scheiden, meist mit Eisen¬ 
ablagerungen; 

V. Cladotricheen; die vegetativen Zellen gehören der Stäbchenform 
an; die Stäbchen bilden Scheiden mit Verzweigung. 

Gattung: Cladothrix. 

Eine wesentlich grössere Bedeutung als die botanische Stellung und 
Eintheilung der Bakterien besitzen für den Arzt jene Wirkungen, welche diese 
kleinen Lebewesen bei der Berührung mit der organischen und zum gerin¬ 
geren Theile auch anorganischen Materie auslösen. 


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BAKTERIEN. 


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In dieser Beziehung theilt man die Bakterien in Saprophyten, das 
heisst solche, welche auf leblosem organischen und anorganischen Material 
fortkommen, und in Parasiten, welche sich auf Kosten des lebenden mensch¬ 
lichen und thierischen Organismus erhalten. Aber selbst hier ist die Tren¬ 
nung bei den meisten Arten keine strenge insoferne, als wir nur wenige 
Mikroorganismen kennen, welche ausschliesslich auf diesen letzteren Mate¬ 
rialien vorgefunden und deshalb als strenge, obligate Parasiten be¬ 
zeichnet werden, der grössere Theil hingegen sich gelegentlich auch sapro- 
phytisch erhalten kann; so stellen die auf künstlichen Nährböden gewonnenen 
Reinculturen der pathogener. Bakterien ein saprophytisches Stadium derselben 
dar. Dasselbe Verhältnis kommt vice versa bei den Saprophyten vor, welche 
man demnach in strenge, obligate Saprophyten und gelegentliche, 
facultative Parasiten eintheilen kann. 

Von den parasitisch auftretenden Bakterien sind für uns die krankheits¬ 
erregenden, pathogenen Arten von der grössten Bedeutung. 

Es ist hier nicht der Ort, um auf die sich neuestens wieder bemerkbar 
machende Strömung, die specifische Wirkung der Bakterien und deren ur¬ 
sächliches Verhältnis zu den verschiedenen Krankheiten in Frage zu stellen, 
näher einzugehen. Es mag nur darauf hingewiesen werden, dass die Bakte¬ 
riologie so viel Licht in manche vorher dunkle Processe gebracht und so viel 
eminente praktische Erfolge aufzuweisen hat, dass dieser Umstand allein ihr 
und den von ihr vertheidigten Lehren volle Berechtigung verleiht. Allerdings 
muss zugegeben werden, dass die letzteren im Laufe der Zeit und mit der 
fortschreitenden besseren Erkenntnis der Dinge manche Aenderung, manche 
Correctur erfuhren. 

Die Begeisterung, welche namentlich durch die epochemachenden Unter¬ 
suchungen Robert Koch’s entfesselt wurde, führte zu der Anschauung, dass 
es zur Entstehung eines Krankheitsprocesses nur des specifischen Bakteriums 
bedarf. 

Heute wissen wir, dass hiezu auch noch eine Menge zum grössten Theil 
in ihrem Wesen unbekannter Nebenmomente nothwendig ist, welche man in 
den Begriffen der individuellen, der zeitlichen und örtlichen Disposition zu¬ 
sammenfasst. Ja es fehlt nicht an Versuchen, die selbst aus dem Lager der 
KocH’schen Schule ausgehen, (Hueppe) die specifische Erregung von Krank¬ 
heiten durch Bakterien als fraglich hinzustellen und die Entstehung bestimmter 
Krankheitsformen auf eine bestimmte Reaction der Körperzellen auf den 
bakteriellen Reiz zurückzuführen. Es fällt aber nicht gerade schwer, dieser 
Ansicht eine mindestens ebenso plausible entgegenzustellen. Wir wissen auf 
Grund experimenteller Thatsachen sehr gut, dass die Energie der Bakterien 
leicht durch äussere Einflüsse geändert werden kann. Zu diesen Einflüssen 
sind die Bedingungen, unter welchen die Krankheitserreger ihr saprophytisches 
Dasein führen und der mehr oder minder energische Widerstand der thie¬ 
rischen Zellen zu zählen. Wir wissen, dass man mit vollvirulenten Bakterien 
bei hiezu empfänglichen Thieren typische Krankheitsbilder erzeugen kann, 
während sich die Wirkung spontan oder künstlich (z. B. durch Erwärmung) 
abgeschwächter Culturen bei denselben empfänglichen Thierspecies auf die 
Bildung localer Krankheitserscheinungen (Abscesse, Phlegmonen, Oedeme) 
beschränkt. Die Erzeugung verschiedener Krankheitsprocesse muss demnach 
nicht als ein Beweis gegen die specifische Wirkung der Bakterien, sondern 
als die Aeusserung verschiedener Energiegrade der specifischen Bakterien 
aufgefasst werden, welche auch von der Reactionsfähigkeit der thierischen 
Zellen abhängig ist. Um das kurz an einem Beispiele zu erläutern, hat man 
sich die Sache so vorzustellen, dass unter günstigen Verhältnissen d. h. bei 
voller Virulenz der Bakterienart und voller Disposition der befallenen thie¬ 
rischen Körper, die Tuberkelbacillen stets Tuberculose, Typhusbacillen den 


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BAKTEREIEN. 


Typhus u. s. w. erzeugen werden, während es bei entgegentretenden Hinder¬ 
nissen nur zur Erzeugung von Abortivformen der Krankheiten, zu localen 
Erscheinungen u. s. w. kommen wird. 

Diese jedenfalls viel ungezwungenere Anschauung wird umso plausibler, 
wenn man das verschiedenartige Wesen der Wirkung der Bakterien berück¬ 
sichtigt. Wir wissen, dass die letzteren nicht nur dadurch krankheitserregend 
auf den lebenden thierischen Organismus einwirken, dass sie in denselben 
eindringen und sich hier auf Kosten der Zellen des Wirthes vermehren, 
wuchern und ihnen wichtige Nahrungsstoffe entziehen, sondern auch dass sie 
theils in sich, theils aus den Eiweisstoffen der Wirthszellen giftige Stoffe ab - 
spalten und diese dem Wirthsorganismus einverleiben. 

Wir haben es also mit zweierlei Wirkung, einmal mit einem echten 
Parasitismus, mit Wucherung auf Kosten des Wirthes, das andere mal mit 
Giftbildung zu thun, welche doppelte Wirkung man im ersten Falle als In- 
fection, im zweiten als Intoxication zu bezeichnen pflegt. In wie vielfältiger 
Weise können sich nun diese Wirkungen bei einem und demselben Bakterium, 
in einem und demselben Individuum combiniren! Die Diptheriebacillen siedeln 
sich an den Tonsillen an und erzeugen hier zunächst einen localen Entzün¬ 
dungsherd. Sie entwickeln sich hier und produciren aus den getödteten 
Körperzellen eine giftige Substanz, welche in geringerem Maasse resorbirt, die 
bekannten allgemeinen Erscheinungen, wie Fieber, erzeugt. Bei heftigerer 
Production und ausgibiger Resorption des Giftes kann auch das Nerven¬ 
system in Mitleidenschaft gezogen werden und es kommt dann zu Lähmungen, 
die auch experimentell als Wirkung des diphtheritischen Toxins, Giftes, er¬ 
wiesen wurden. Die Tuberkelbacillen können eine locale Affection, Knochen- 
caries, Fungus erzeugen; nach einem operativen Eingrife sieht man nicht 
selten allgemeine Miliartuberculose entstehen, was auf nichts anderem beruht, 
als dass die Tuberkelbacillen durch die durch den operativen Eingriff ge 
öffneten Eintrittspforten (Capillaren, Lymphgefässe) in die Blutbahn gelangen 
und von da aus den ganzen Organismus überschwemmen. 

Für die specifische Wirkung der betreffenden Bakterien spricht ferner 
der klinisch wohl charakterisirte Verlauf der bakteriellen Erkrankungen und 
sind die einzelnen Krankheitsprocesse noch lange zuvor auf Grund genauer 
physikalischer Untersuchungsmethoden auseinander gehalten worden, noch 
bevor wir durch die Bakteriologie darüber belehrt wurden, dass diesen von 
einander klinisch unterscheidbaren Krankheitsformen auch specifische Krank¬ 
heitserreger zu Grunde liegen. 

Es empfiehlt sich daher unbedingt, wenigstens insolange an der Speci- 
ficität der Bakterien festzuhalten, als keine triftigeren Beweise, als die bisher 
aufgebrachten, mehr hypothetischen, dagegen ins Treffen geführt werden können. 

Die Specificität der Bakterien muss überdies als Grundlage der Schutz¬ 
impfungen und der modernen Serumtherapie angesehen werden. Um nun 
diese entsprechend beleuchten zu können, muss noch einmal auf die Fähigkeit 
der Bakterien, gewisse chemische Substanzen von verschiedener Wirkung zu 
bilden, näher eingegangen werden. 

Brieger verdanken wir eine genaue Kenntnis dessen, dass in faulenden 
organischen Substanzen Stoffe gebildet werden, welche ausserordentlich giftig 
sind, anfänglich für organische Basen, Ptomai'ne, gehalten wurden, welche 
aber sich später als Eiweiss- oder diesem wenigstens nahe Substanzen erwiesen, 
deren chemische Zusammensetzung noch nicht genau bekannt ist. Mit 
Rücksicht auf ihre Giftigkeit wurden sie Toxine benannt und diese sind es, 
welche für die schweren im Verlaufe der Infectionskrankheiten auftretenden 
Erscheinungen verantwortlich zu machen sind. Diese Toxine sind in dem 
Nährsubstrate enthalten, was aus dem Umstande ersichtlich ist, das man die 
specifischen Krankheitserscheinungen nicht nur durch Einverleibung vollgiftiger 


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BAKTERIEN. 


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Culturen, sondern auch der flüssigen durch eine Thonkerze filtrirten Nähr¬ 
substrate, welche keine zelligen Elemente enthalten, erzeugen kann. Solche 
specifische Gifte sind bereits bei den Typhus-, Tetanus- und Choleraerregern 
nachgewiesen worden. Impft man Thiere mit kleinen nicht tödtlichen Gaben 
solcher Gifte beginnend und allmälig ansteigend, so gelingt es dieselben gegen 
die Infection mit selbst hohen Dosen giftiger Culturen immun, giftfest zu 
machen. Wir kennen aber noch eine und zwar die eigentliche Art der Im- 
munisirung, welche nicht auf Giftfestigung, sondern darauf beruht, dass dem 
thierischen Körper Stofle ein verleibt werden, welche ihn gegen die betreflenden 
Bakterien in der Weise schützen, dass die letzteren sich in ihm nicht ent¬ 
wickeln können, zerstört werden und daher auch nicht ihre specifischen Gifte 
bilden können. Solche Schutzstoffe, Alexine, sind in dem Protoplasma 
der Bakterienzellen enthalten, was daraus hervorgeht, dass man mit entgif¬ 
teten, das heisst, solchen Bakterienculturen, in welchen die Toxine durch Er¬ 
hitzung auf 55°—65° C unwirksam gemacht wurden, Impfschutz erzielen kann. 
Diese Schutzstoffe vertragen höhere Temperaturen als die Toxine, bis 100° C, 
filtriren schwerer durch Thonfilter und scheinen einen höheren Phosphor¬ 
gehalt zu besitzen. 

Zu dieser zweiten Art von Immunisirung tritt noch eine weitere und 
zwar die mittelst des Blutserums gegen eine Infectionskrankheit immun ge¬ 
machten Thiere, welche Art der Immunisirung zum Ausgangspunkte der in 
der neuesten Zeit aufgekommenen Serumtherapie geworden ist. 

Versetzt man eine bestimmte Quantität Serum eines Thieres, welches 
gegen eine bestimmte bakterielle Erkrankung künstlich, theils durch Impfung 
mit steigenden Mengen virulenter Culturen, oder Toxine oder endlich mit 
ungiftigen oder wenig giftigen Culturen immun gemacht wurde, mit einer 
empirisch zu ermittelnden Menge von giftigen Culturen und injicirt dieses 
Gemisch den zum Experimente geeigneten Thieren, so findet man, dass die gleich¬ 
zeitig mit dem Immunserum einverleibten Bakterien in der kürzesten Zeit zu 
Grunde gehen und aus dem thierischen Organismus spurlos verschwinden. Je 
werthiger ein Serum ist, desto geringere Mengen genügen um die Bakterien¬ 
wirkung zu paralysiren. 

Der lm muni si r un gs werth eines Serums kann auf verschiedene Weise, 
allerdings nur annähernd gemessen werden. Als Grundlage dieser Berechnung 
dient jene minimale Dosis Gift, welche noch geeignet ist, ein Thier von be¬ 
stimmtem Körpergewichte zu tödten. Behring und Ehrlich nennen ein 
Normalserum jenes Serum, von dem 0‘1 cm 3 genügt, um die Wirkung des 
Zehnfachen der tödtlichen Minimaldosis aufzuheben. Ein Kubikcentimeter 
dieses Normalserums heisst „Immunisirungseinheit.“ 

Boux, Tizzoni und Andere berechnen den Immunisirungswerth nach dem 
Körpergewichte des Thieres, welches durch gleichzeitige Injection einer be¬ 
stimmten Quantität Serum gegen die Wirkung der minimalen tödtlichen Gift¬ 
dosis geschützt erscheint. Es möge dies an einem Beispiele erläutert werden. 
Ein Meerschweinchen von 500 g Körpergewicht, welches durch eine bestimmte 
minimale Dosis Gift getödtet wird, bleibt unversehrt bei gleichzeitiger In¬ 
jection von 0‘1 cm 3 Serum. Ein Kubikcentimeter des Serums schützt demnach 
5000 g Meerschweinchen und es wird der Immunisirungswerth des Serums 
mit dem Verhältnisse 1:5000 ausgedrückt. 

Die Wirkungsweise des Immunserums ist unbedingt eine biochemische, 
das heisst, sie ist nur so zu deuten, dass die die thierischen Zellen consti- 
tuirenden Stoffe eine derartige Umwandlung erfahren, dass der Körper auf¬ 
hört, ein geeigneter Boden für die Vermehrung der Bakterien und die damit 
verbundene Giftbildung derselben zu sein. Ob diese Wirkung in Bildung von 
Schutzstoffen, welche das Gift zerstören, oder in Erhöhung der Widerstands¬ 
fähigkeit der Körperzellen besteht, ist noch eine offene Frage. 


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BAKTERIEN. 


Zu den weiteren wichtigen biologischen Eigenschaften der Bakterien 
gehört ihr Verhalten gegenüber äusseren Einflüssen. Von diesen kommen 
praktisch in Betracht die Temperatur, das Licht, die Elektricität und che¬ 
mische, theils flüssige, theils gasförmige Agentien. 

Das Leben der Bakterien spielt sich nur innerhalb gewisser Temperatur¬ 
grenzen ab. 

Als oberste Grenze, bei welcher sich die Bakterien noch vermehren 
können, ist für die meisten Arten 45* C anzusehen mit Ausnahme jener 
wenigen von Globig aus der Erde gezüchteten Arten, welche nur bei 54° 
bis 64° C wachsen; doch ist diese Eigenschaft kaum als etwas anderes als 
eine allmälig gewonnene Anpassung der Bakterien an die Insolation des 
Bodens zu deuten. 

Die unterste Temperaturgrenze steht bei circa -f- 5° C, bei welcher die 
vegetativen Vorgänge der Bakterien aufhören, ohne dass jedoch dieselben ab¬ 
sterben müssen; sie werden nur kältestarr und verbleiben in diesem Zu¬ 
stande selbst bei weiterem Sinken der Temperatur. In der durch diese 
Grenzen abgesteckten Temperaturzone hat jedes Bakterium sein Temperatur¬ 
optimum, bei welchem es am besten gedeiht und welches für die krankheits¬ 
erregenden Arten zum grössten Theile bei Körpertemperatur (37° C) liegt. 
Excessive, darüber hinausreichende Temperaturen über -j- 100° C, ob nun 
durch trockene Luft oder Wasserdampf auf die Bakterien applicirt, tödten 
dieselben in kürzerer oder längerer Zeit, — letzterer jedoch wesentlich 
schneller, als die heisse Luft. 

Das Sonnenlicht übt eine verhältnismässig rasche, tödtende Wirkung 
auf die Bakterien aus, während das diffuse Tageslicht diese Wirkung ver¬ 
missen lässt. 

Auch bei Austrocknung gehen die meisten Bakterien mehr oder 
minder rasch zu Grunde. Schliesslich besitzen wir in den vielen Desinfections- 
mitteln Substanzen, welche sich als mehr oder weniger rasch wirkende Gifte 
für die Bakterien erwiesen haben. Bei allen diesen schädlichen auf die 
Bakterien einwirkenden Einflüssen erweisen sich die Sporen als wesentlich 
widerstandsfähiger, als die vegetativen Formen, was auch bei der Einwirkung 
gasförmiger Substanzen (Chlor, Brom, schweflige Säure, Chloroformdämpfe) 
beobachtet wird. 

Die Elektricität erweist sich nur in Form des constanten Stromes von 
Wirkung, während der Inductionsstrom eine solche vermissen lässt. 

Zum Schlüsse dieses Abschnittes sei noch der Phosphorescenz und der 
Anaerobiose sowie der Pigmentbildung Erwähnung gethan. 

Die Phosphorescenz mancher Bakterien ist so stark, dass man sie 
nach Fischer’s Vorgang in der Weise mit Hilfe des von diesen Mikro¬ 
organismen erzeugten Lichtes photographiren kann, dass man die colonien- 
haltigen Gelatineplatten auf lichtempfindliche Platten oder Papier auflegt. 
Die Eigenschaft der Phosphorescenz, welche auch zur Differenzialdiagnose 
zwischen Cholera- und anderen, harmlosen Wasservibrionen herangezogen 
wurde, sich aber bald als ein sehr inconstantes und unverlässliches Merkmal 
erwies, geht insbesondere den Laboratoriumculturen bald verloren. 

Die Anaerobiose, d. h. Wachsthum bei Sauerstoff-Abschluss ist keine 
typische Eigenschaft einzelner Bakterienarten, wofür sie früher gehalten wurde. 
So galten früher die Tetanus-, Rauschbrandbacillen für obligate Anaeroben, 
während die neuesten Untersuchungen ergeben haben, dass es ganz gut 
gelingt, diese Arten aerob, d. h. bei Luftzutritt zu züchten. Ebenso kann 
man vice versa vermeintliche reine Aeroben wie Cholera, Influenzabacillen u. A. 
bei Luftabschluss züchten und ist in der Regel in der Lage zu beobachten, 
dass sowohl die Lebensdauer als auch Giftigkeit so gezüchteter Culturen eine 
wesentlich grössere ist als bei aerober Züchtung. Wenn wir daher noch 


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BAKTERIEN. 


123 


immer an der Eintheilnng der Bakterien in obligat aerobe, obligat anaerobe, 
facultativ anaerobe, facultativ aerobe festhalten, geschieht es nur aus praktischen 
Gründen insoferne, als die Züchtung einzelner Arten am leichtesten bei 
bestimmter (aerober oder anaerober) Anordnung gelingt. 

Nicht unerwähnt möge noch bleiben die Pigmentbildung der Bak¬ 
terien, wenn auch dieselbe vorläufig keine hervorragende Bedeutung für die 
Medicin besitzt. 

Die Bakterienpigmente weisen die verschiedensten Farben auf und sind 
auch von ganz verschiedener chemischer Constitution. Während die eine 
Gruppe aus Spaltungsproducten der Eiweisstoffe, Farbptomai'nen, besteht, sind 
andere den Anilinfarbstoffen verwandt; eine dritte Gruppe gehört den Fett¬ 
farbstoffen oder Lipochromen an. Die Fähigkeit den Farbstoff zu produciren 
ist nicht immer, wie man früher fälschlich angenommen hat, an die Gegen¬ 
wart von Sauerstoff gebunden. In den meisten Fällen dürfte es sich um die 
Bildung eines farblosen Chromogens handeln, welches durch Hinzutritt einer 
Säure in ein Pigment in dem Maasse umgewandelt wird, in welchem diese 
beiden Bestandteile erzeugt werden, wozu das Vorhandensein von Sauerstoff 
nicht immer unbedingt nothwendig ist. 

Auch die Pigmentbildung ist keine absolut constante Eigenschaft der 
Bakterien und ist ebenso wie andere biologische Eigenschaften dieser Lebe¬ 
wesen Schwankungen sowohl in Bezug auf das Vorhandensein, als auch den 
Grad der Intensität unterworfen. 

Die medicinisch wichtigsten Bakterien sind jene, welche eine 
krankheitserregende Wirkung auf Menschen und Thiere äussern, beziehungs¬ 
weise vermuthen lassen. 

Zu den Bakterien, bei welchen der Nachweis für den ursächlichen Zu¬ 
sammenhang mit den bezüglichen Infectionskrankheiten sicher erbracht wurde, 
gehören: 

Bacillus anthracis (Milzbrand), 

„ ödematis maligni, 

n des Rauschbrandes, 

„ tetani, 

„ diphtheriae , 

„ typhi abdominalis , 

„ mallti, (Rotz), 

„ (?) tuberculosis, 

„ der Bubonen-Pest , 

„ typh. murium , (Mäusetyphus), 

„ influenzae, 

„ Friedländer (manche Formen von Pneumonie), 

„ des Rhinoscleroms, 

_ pyoceaneus, 

„ des Schweinerothlaufs und der Mäusesepticaemie, 

„ der Kaninchen-Septicaemie (Hühner-Cholera, Wild- und Rinder- 

Seuche, der deutschen Schweineseuche), 
der Schweinepest , 

„ der Fettchenseuche, 

Bacterium coli commune, 

Fneumococcus Frankel, 

Gonococcus , 

Staphylococcus pyogenes, 

Streptococcus pyogenes s. Erysipelatis , 

Spirochaeta cholerae asiaticae , 

„ Obermeieri (Recurrens), 

Aciinomycespilz. 


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124 


BAKTERIEN. 


Eine specifische Bedeutung dürften besitzen die folgenden Mieroorga- 
nismen: 

Bacillus leprae, 
v syphilidis , 

Diplococcus iutraeellularis Weichselljaum (epidemische Genickstarre). 

Spirochaeta Finkler-Prior (bei manchen Fällen von Cholera nostras). 

Bacillus Proteus (Proteus vulgaris Uausa) (bei dysenterieähnlichen Ente¬ 
ritiden). 

Unter diesen Bakterien zeichnen sich einzelne durch ihre vorwiegend 
toxische Wirkung aus. Es sind dies: der Tetanus-, Diphtheriebacillus, Spiro¬ 
chaeta chol. asiat. und der Proteus. 

Einige von den pathogenen Microorganismen finden sich auch unter 
normalen Verhältnissen in einzelnen, mit der Aussenwelt communicirenden 
Organen, wohin sie theils mit der aspirirten Luft, theils mit den Nahrungs¬ 
mitteln gelangen (die oberen Luftwege, der Verdauungstract), ohne irgend 
welche pathogenen Erscheinungen hervorzurufen, sei es, dass sie sich in 
einem ungiftigen Zustande befinden, oder dass der Organismus zur Zeit gegen 
ihre Wirkung immun beziehungsweise dass die zur Entstehung der Krank¬ 
heit nöthige Disposition nicht vorhanden ist. 

Tritt jedoch einmal eine Steigerung der Virulenz dieser „Wohnparasiten“ 
(Hueppe) oder aber die nothwendige Disposition ein, dann können diese 
Mikroorganismen an verschiedenen Stellen in andere Organe eindringen und 
daselbst krankhafte Processe erzeugen. In diesem Falle spricht man von einer 
Autoinfection, im Gegensätze zur Autointoxication, welche dann eintritt, wenn 
der Organismus durch Absorption der hauptsächlich im Darmcanale gebilde¬ 
ten bacteriellen Gifte einen Schaden nimmt. 

Zu diesen „Wohnparasiten“ gehören insbesondere: der Pneumococcus 
(Speichel), die Staphylo- und Streptococcen (cariöse Zähne), das Bacterium 
coli commune und der Proteus (Darmcanal). 

Ausser diesen relativ wenigen Bakterienarten, von denen pathogene 
Eigenschaften bekannt geworden sind, gibt es eine grosse und sozusagen 
täglich sich mehrende Anzahl harmloser, unschädlicher Arten, welche theils 
die Oberfläche des menschlichen und thierischen Körpers, theils dessen Um¬ 
gebung, die Luft, Erde, Wasser bewohnen und daselbst bestimmte chemische 
Processe wie Fäulnis, Gährungen u. A. bewirken können. Von besonderer 
Wichtigkeit sind die Fäulniserreger, welche durch Bildung äusserst giftiger 
Stoffe aus den vorhandenen Eiweisverbindungen, wie Collidin, Cadaverin, 
Methyl-Guanidin, Cholin, Neurin, Muscarin etc., zu schweren ja oft lebens¬ 
gefährlichen und tödtlichen Vergiftungen Veranlassung geben können. 

Doch auch die harmlosen Arten hatten seinerzeit ein grosses Interesse 
für sich in Anspruch genommen insoferne als man ihr reichliches oder spär¬ 
liches Vorhandensein im Wasser der hygienischen Beurtheilung desselben zu 
Grunde legte. 

Heute wissen wir jedoch, dass auch die Zahl der Bakterienkeime im 
Wasser kein absolutes Hilfsmittel zur Beurtheilung desselben ist, da auch 
spärliche pathogene Keime ein Wasser zu einem ungesunden stempeln, wäh¬ 
rend selbst ausserordentlich zahlreiche harmlose. Artindividuen, denen schon 
das Wasser allein als Nahrungsstoff genügt, (Wasserbakterien), die Genies- 
barkeit des letzteren nicht beeinträchtigen. Wohl ist aber die Keimzahl ge¬ 
eignet, uns über den jeweiligen Zustand eines und desselben Wassers Auf¬ 
schluss zu geben, wenn es in verschiedenen Zeiträumen untersucht wird. 

Und so muss denn wohl, Alles in Allem, zugegeben werden, dass die 
Lehren der Bakteriologie im Laufe von wenigen Jahren wesentliche Abände¬ 
rungen erfahren haben, Manches noch zu entdecken, unklar, vag und in 
die richtige Bahn zu lenken ist; aber es bleibt ein unbestrittenes Verdienst 


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BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN. 


125 


dieser noch jungen Doctrin, dass sie der naturwissenschaftlichen und speciell 
medicinischen Forschung neue Gebiete erschlossen, neue Gesichtspunkte ge¬ 
schaffen hat, was von einem unschätzbaren Werthe für die weitere Entwicke¬ 
lung sowohl der Pathologie und Therapie als auch der Hygiene und mithin 
anderen epochalen Fortschritten gleichwerthig ist. ludwig kamen. 

Bakteriologische Untersuchungsmethoden. Um die Bakterien dem 
Auge sichtbar zu machen, genügt in der Regel nicht die einfache mikro¬ 
skopische Besichtigung, weil die meisten Bakterien sich in Folge ihrer Klein¬ 
heit und ihres von dem der Einschlussflüssigkeit wenig verschiedenen Licht¬ 
brechungsvermögens der Beobachtung auch durch die stärksten Immersions¬ 
systeme entziehen. Man muss daher die Bakterien durch die Färbung 
dem Auge sichtbar zu machen suchen. Aber in jenen Fällen, wo 
Bakteriengemenge vorliegen, reicht auch die Färbung allein nicht aus, sondern 
es müssen durch eine Reihe von vorbereitenden Operationen die einzelnen 
Bakterien von einander getrennt und rein gezüchtet werden, um mit diesen 
Reinzuchten, den sogenannten Reinculturen, die näheren Untersuchungen 
anstellen zu können. 

Färbung der Bakterien: Obzwar sowohl dem thierischen als pflanz¬ 
lichen todten Plasma die Fähigkeit zukommt, Farbstoffe, namentlich Anilin¬ 
farbstoffe zu binden, ist diese Eigenschaft doch bei dem thierischen und 
pflanzlichen Plasma, aber auch zwischen einzelnen Bakterienplasmen recht 
verschieden ausgebildet und gestattet in manchen Fällen schon aus dem Färbe¬ 
vermögen allein auf die Natur des vorliegenden Organismus Schlüsse zu ziehen. 
Man verwendet in der bakteriologischen Technik nahezu ausschliesslich Anilin¬ 
farben, denn diese werden von dem Pflanzenplasma hartnäckiger festgehalten 
als von dem thierischen. Ob diese Bindung des Farbstoffes ein chemischer 
oder ein physikalicher Process ist, darüber sind die Ansichten der Fachkreise 
noch auseinandergehend; die neueren Forschungen scheinen für die erstere 
Ansicht zu sprechen. 

Zur Färbung der Bakterien werden, je nachdem man einen bestimmten 
Zweck verfolgt, sauere und basische Anilinfarbstoffe verwendet. Zu den 
ersteren gehören Eosin, Tropäolin, Fluoresceln, Safranin etc., zu den basischen 
Farbstoffen zählen: Fuchsin, Gentianaviolett, Methylenblau, Methylviolett, 
Bismarkbraun, Vesuvin etc. 

Mit diesen, gewöhnlich in wässerigen Lösungen verwendeten Farbstoffen, 
färben sich die Bakterien nicht gleich gut, und es ist immer Sache des 
Untersuchenden, sowohl die beste Farblösung für ein bestimmtes Bakterium 
empirisch auszuproben, als auch seinen Zweck eventuell durch Combination 
mehrerer Farbstoffe zu erreichen zu suchen. Ein Ueberschuss an Farbstoff 
wird den Bakterien durch Behandeln mit Wasser, Alkohol oder schwachen 
Säuren entzogen. In dieser Hinsicht verhalten sich die Bakterien recht ver¬ 
schieden; während einzelne die einmal anfgenommenen Farbstoffe an die er¬ 
wähnten Lösungsmittel nur sehr schwer abgeben, werden andere rasch, 
manchmal momentan entfärbt. Die Aufnahmsfähigkeit der Bakterien für 
Farbstoffe wird wesentlich erhöht, wenn den Farbstoffen gewisse beizend 
wirkende Stoffe, als Kali oder Natronlauge, Phenol, Anilinöl etc. zugesetzt 
werden. Ebenso wirkt erwärmte Farbstofflösung intensiver als kalte. Ver¬ 
dünnte Farbstofflösungen sind concentrirten beim Färben in allen Fällen 
vorzuziehen, wenngleich die zu färbenden Objecte mit der verdünnteren Farb¬ 
lösung länger in Berührung belassen werden müssen. Aus den concentrirten 
Farblösungen setzt sich leicht auf das Präparat ein feinkörniger Niederschlag 
ab, der schon zu manchen unliebsamen Verwechslungen Anlass geboten hat. 
Dasselbe gilt auch beim Entfärben. Schwache Entfärbungsmittel aber längere 
Zeit einwirken gelassen, geben schönere Bilder als starke. 


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I)AKTEJ,JIOLOötSC.tli} ÜT'iXEIlSCGHUiilöSMETIIOi'iKK, 


•Hafer <Ic-q Eotförbüa^stftltM» ninuat eine besondere Stelle die CrRAM-sche 
KtaisigkeUv eine Jodkuliuudbsusg eift, Durch dieselbe werden die mit 
GentiÄbbfioleft (auch Manchen anderen violetten Aailinlarben) |jef2rbten thieii-?- 
‘geben Elemente geerbte» Bakterien geben eibg ganze Reibe 

ihren Farbstoff ab., andere nicht, *ro Umstand der dieü kam 'Flüssigkeit 
für diffexeotialdiHguostMChe Zwecke sehr werMmdt uMcbi • ■ Durch die vt<r- 
acitiedcsc Auftohnts* und Abgatietittvigkettdef Rakteabn gegenüber Barbsfoften 
lasseörieh huf denselben P»Ap»»BVy«it#hicden gelhrhte BakUuäen ?dtf Anscbdii- 
ung bringen (sogenannte uhblt die 

der Sporen, bür -Heb»*: ich wer an Ebsimp- 

invtteJ abzngebe«. eine gute Phtfermjriroag von Sporen und Bakterien /ziiiäsri. 
rSeiisula werden öaet» yorheHpui Beizet»' mit Talmin: ode»; Efeeutannat gelärbt. 

Technik dei v FMn»»»»- 'Clie Färbcfl^jglt^t^•.wetdeb' tn ebnc.t!«||3?hsst. 
alkoholischen Löstwpu anfhewahrt (Fig. \) nud anmittelbar vor dem Gebrauch mit 
reinen», ^eimtrefen,destiniftpß Wassere^ verdünnt, Zur 

und Autbewabruög des. keimfreien Wcyssen» dient 4er hhgebjldete kleine Apparat, 
dessen Eiöribbtnng aas der. ZekhUUng (iöiniftidbjir hemorgehf (Big. 2 ), Nach 
einstUndigetn. Kneifen des ÜesrilHrtefi Wassern bei . ge.schlos&enein Olieiselihalm 


-:::nü 


.. . —-'t-.-, .—■" ■ 

TV Bljiivfc zur Aufbewahrung 4&r Ffirhe- itfe ;£ Acr*»»^ «W T'yjihfHjwt* vpn TBjgtiöni 

t'i* \ fc Bissigkeiten.. :.-' *Tityf>)rivm 'Wtffofar, 

wird der Watteversc-Wuss aufgesetzt. Nach dem i'irkalteo des Wassers, iü 
welchem nun alle vorhandenen Keime abgotbdUü rimE ■kv»».en durch Pressen 
des Ballons ünd:0ef&en des ^»etschhahnos beriehip Mengen Wassers abge- 
agjiritzt wgiMenk/nlY^^-ri; / ,' ? y* *• ’ ■•. • ' -- ,' 

IMe vei'«idGöfB.n werden vor der Verwendung durch 

glattes dirjitea KibrirpapiiMf üitmi. liie .Deekgjäsehe'ö liegen vor dem Gebrauch 
in einer Mischung; voti starkeni Alkohol önd Acdgannttöwiäk und werden ■ mit. 
einem.: weichen «i‘t. gewaschemin : ^ippreturfreWn) Lölnetilappen gereinigt! 
Fettig dürfen:' Deckglaschen absolut iiieltt sein. 1» den 

uhdsieu i '-llhr« • ersveisi es sich als' ibUliweiidig auf deui lies'kgjäsclign. fiiß 
Probe, in wekher d'fe Bivkfejriep gghUbr werden sollen mit Wasser x« ver* 
dünnen,’ Es wird esu Tröpfchen Wasser auf das von, einer Uya^nGcheri 
rineeHe gbhaTten.e lieckgläschmi gebrnfht, darin die mit «inem vorher -eiK- 
geglühten Blatiiuiraht, oder einer 1*1 ati»löse -entnommene-, 1‘rnbfe itmig. verrührt 
und über die ganxö E'läfche des Dec%(libchdos |$eiChm&ssig Veritniutßh. Aiu. 
Cil&kchriyi littfte-tiG© werden. Föto sie sich nWht ygrrü&ierj lassehv' 

Eine ttfidhre,' aber bös für ihrikcWiare ;Atethirde tsE 

auf dmtf bestriclieue Biecbglarizhed uui andm'S reine,* zu legga, nud die; heideu 
Deckglüschen Mriter; schwachem Brack. seitlich' vors einander abzu/äeliöü. IMe 
füiöno SeUicbte auf den»; 1 '»eckgtasrhen.. riw'kmH rn^lv ein mit! »u»ch. dem 
vbHlgen Trocknen wird das Xieckgläschen mit <lei* boriricliwH-’U Seite muh 
oben ojchroials dnxeli die Fhunnie oines Buitsenbrenneri oder einer ripiritus- 
laifipo gezogen, — Dadurch werden die Bakiftrien gbfhiftüt und hafteu an .dhro 
Beckglüsehen fest an. fbeser Operatioi» mus.v liexondere Aufmerksamkeit 
geschenkt worden, denn bei zu schwachem Erhitzen iSdimoren) dw Präparate 



BAKTERIOLOGISCHE UNTERS CCHUNGSMETHODEN. 


127 


werden die Bakterien nicht genügend an dem Deckglase festgeklebt und lösen 
sich bei der weiteren Behandlung ab. Bei zu starkem Erhitzen verändern 
sich die Membranen und das Plasma zum Nachtheile der folgenden Färbung. 
Diesen Uebelständen kann durch Benützung des KASPAREK’schen Apparates (Fig. 3) 
abgeholfen werden. Dieser Apparat gestattet eine schonende Trocknung der 
bestrichenen Deckgläschen und ersetzt das „Schmoren“ 
durch die Ueberleitung eines heissen Luftstromes auf 
das Präparat. 

Das auf irgend eine Art fixirte Präparat wird mit 
der wässerigen Anilinlösung in Berührung gebracht, 
entweder indem auf das von einer CoRNET’schen Pincette 
gehaltene Deckgläschen ein grosser Tropfen Farblösung 
tiltrirt wird, oder so dass das Deckgläschen mit der be¬ 
strichenen Seite nach unten auf der Farblösung schwimmt. 

Die Einwirkung der Farblösung dauert verschieden lang, 

1—3 Min.; gleichzeitiges Erwärmen kürzt die Dauer 
der Einwirkung ab. Aus der Farblösung kommt das 
Präparat direct in destillirtes Wasser und wird darin 
so lange unter Erneuern des Wassers ausgeschwenkt, 
als noch Farbstoff abgegeben wird. Bleibt das Wasch¬ 
wasser klar, kann das Präparat durch einen mässig 
wannen Luftstrom oder durch Abtupfen zwischen glattem, 
dichtem Filtrirpapier vom Wasser befreit und unter dem ' Tro^kn«” a« A n“ 1 



Mikroskope beobachtet werden*). 


Präparate. 


Sind Bakterien mit Kapseln zu färben, gelingt dies (nach Johne) am 
besten, wenn das aufgetrocknete Präparat auf einer in einem Glasschälchen 
befindlichen Farbflüssigkeit schwimmen gelassen wird. Die Farblösung wird 
vorsichtig bis zur beginnenden Dampfentwicklung erwärmt, das Präparat aus 
dem Färbebad entnommen und sehr gut abgespült; hierauf wird das Präparat 
einige Secunden in 2%iger Essigsäure geschwenkt und rasch wieder mit 
destillirtem Wasser ausgewaschen. 

Geissein sollen nur an Bakterien aus jungen (circa 48 Stunden alten), 
gut gewachsenen Agarculturen gefärbt werden. Die Bakterien müssen in den 
Ausstrichpräparate recht isolirt liegen, was dadurch erreicht wird, dass nur 
eine Spur der Bakteriencultur mit einer Nadelspitze entnommen und in dem 
Wassertropfen sehr gut verrührt und verstrichen wird. Die gut angetrockneten 
Bakterien kommen vor der Behandlung mit Farblösung in eine Beizflüssigkeit 
(siehe Anhang), werden darin, wie oben, bis zur beginnenden Dampfent¬ 
wickelung erwärmt, mit Wasser gut ausgewaschen und schliesslich noch mit 
Alkohol die Reste der Beize entfernt. Das trockene Deckgläschen kommt dann 
(nach Löffler) in Anilinwasserfarbstofflösung, welche sich durch vorsichti¬ 
gen Zusatz von Natronlauge in Schwebefällung befindet und wird bis zur 
Dampfbildung erwärmt, oder (nach Bunge) in Carboifuchsin oder Carbol- 
gentianaviolett unter schwachem Erwärmen. Nach 1 Minute langem Verweilen 
in der Farblösung wird gut ausgewaschen und getrocknet. 

Zur Differenzirung (Differenzfärbung) vieler Bakterien eignet sich 
vorzüglich die GRAM’sche Methode. Um nach Gram zu färben, werden die 
Deckglaspräparate in EHRLiCH’scher Lösung (siehe Anhang) längere Zeit 
(3—5 Minuten) gefärbt, kommen nach gutem Abspülen mit Wasser auf circa 
1 Minute in Jodjodkaliumlösung, dann direct in absoluten Alkohol, bis die 
Farbe auf dem Präparat nicht mehr erkennbar ist. 

Die Färbung der Dauerformen (Sporen) verlangt eine von der gewöhn¬ 
lichen Bakterienfärbung etwas abweichende Arbeitsweise. Gewöhnlich sollen 


*) Offene Blende. Oelimmersion. 


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128 


BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN. 


nicht allein die Sporen gefärbt werden, sondern auch die vegetativen Formen 
aus denen sie entstanden sind. 

Hiezu wendet man die Contrastfärbung an, bei welcher Sporen und 
Bakterien, jedes in einer anderen Farbe gefärbt werden. Eine allgemein 
geeignete Methode rührt von Hauser her: 

„Der Ausstrich des zu färbenden Materiales wird energischer erhitzt und 
mit Carboifuchsin (ZiEHL’sche Lösung) längere Zeit (circa 2 Minuten) bis zum 
Aufwallen, unter Ergänzung des verdampfenden Wassers, erwärmt. Das Deck¬ 
glas wird dann in saurem Alkohol so lange umgeschwenkt bis das Präparat 
nahezu farblos erscheint. Nach dem Verdunsten des Alkohols wird das Prä¬ 
parat noch einige Secunden in einer wässerigen Lösung von Methylenblau 
nachgefärbt.“ Das mikroskopische Bild zeigt dann die Sporen roth, die 
Bakterien blau. 

Eine ähnliche Behandlung verlangen auch die Tuberkelbacillen, welche 
ebenfalls den Farbstoff schwer aufnehmen, aber auch sehr schwer wieder ab¬ 
geben. Hier kann Entfärbung und Nachfärbung auf einmal vorgenommen 
werden. 

Die wie bei der Sporenfärbung behandelten, nur weniger stark erhitzten 
Präparate werden nach der Färbung mit ZiEHL’schem Carboifuchsin in Wasser 
gut ausgewaschen und kommen dann, je nach der Dicke der zu färbenden 
Schichte, auf 1—2 Minuten in die GAUBET’sche Lösung*). Nach dem Aus¬ 
waschen mit Wasser erscheinen die Tuberkelbacillen (und nur höchstselten 
eine oder die andere Bakterienart) roth, die anderen Bakterien sowie etwa 
vorhandene thierische Elemente blau. 

Die auf irgend eine Art gefärbten Präparate werden nach dem Trocknen 
zur mikroskopischen Untersuchung in Canadabalsam conservirt. Bios Geissel- 
präparate geben in Wasser liegend schönere Bilder. Der Ueberschuss des 
angewendeten Canadabalsams und das bei homogenen Immersionen verwendete 
Cedernöl kann durch Xylol leicht gelöst und entfernt werden. 

Das Färben erfordert Geduld und sauberes Arbeiten, stets frisch und 
klar filtrirte Farb-Lösungen und junge, wo möglich Agarculturen. 

Die Färbung der Bakterien in Schnittpräparaten ist schwieriger und 
wird im Wesentlichen, je nach Art der Bakterien nur mit wässerigen Anilin¬ 
farben oder nach Gram vorgenommen. 

Im ersteren Falle kommen die Schnitte (bei Alkohol- oder Celloidin- 
gehärteten Objecten) aus dem Alkohol in Wasser, und nach dem Auswaschen 
des Alkohols auf 1—2 Minuten in die wässerige Farblösung. Der über¬ 
schüssige Farbstoff wird durch ca. l°l 00 -ige Essigsäure entfernt und die Schnitte 
zuerst in 80°/ 0 -igen, dann in absolutem Alkohol gut ausgewaschen. Aus 
dem Alkohol gelangen sie nach gutem Abtupfen in Nelkenöl, bis sie durch¬ 
scheinend sind, und nach dem Abtupfen des überschüssigen Nelkenöles in 
einem Tropfen Canadabalsam auf dem Objectträger. 

Nach Gram gelangen die Schnitte aus dem Alkohol in Anilinwasser- 
gentianaviolett, von da nach dem Ablaufenlassen des überschüssigen Farb¬ 
stoffes auf 2 Minuten in die Jodkaliumlösung. Nachher wird Minute in 
Alkohol ausgewaschen und auf ca. 10 Secunden in starken Alkohol mit Zusatz 
von 1% Salzsäure eingelegt. Die Schnitte werden hierauf sofort in reinem 
absoluten Alkohol gründlich ausgewaschen und weiter wie vorhin behandelt. 

Liegen Paraffinschnitte vor, so werden diese auf einem mit Nelkenöl- 
Collodium (ää p.) bestrichenen Deckgläschen oder Objectträger aufgeklebt, die 
Hauptmenge des Paraffins durch vorsichtiges Erwärmen und Abtropfenlassen 
entfernt, dann die Reste des Paraffins durch Einlegen in Xylol beseitigt. Die 


*) In 100 g einer 5°/ 0 Carboisäurelösung und 10 g Alkohol verden 1—2 g Methylen¬ 
blau gelöst. 


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BAKTERIOLOGISCHE üKTEIlSECÜHSGSMETHOßES. 


Sch»it!te ; kommen dann in Alkohol von steigeßder Cönr.entraüön und werden 
seklkss.fob wie vorhin erwähnt'gefärbt, ' '■.\ v 7V; : . 

{?»»•:!' h\m die .Bakterien in i ihkrisehen Geweben zu färben. Muse dem 
UnerihCh*'» Gewebe eine Contrastfarbe nnzidarbe», so werden die SGmitte nach 
der Färhffng direct s« eine tvrdümit& Losung von kohlensaurein Kalt i.|bev- 
tr^gen. daTCh welche dem fhtorisdien Gewebe der Farbstoff enüogftti wird. 

Reiueuitai*’ fföfl MasseimiUur. Hat die Untersuchung des Färheprä- 
pacAtes die Aowv>seiuheit Von Bakterie« ergeben, müssen Tür die Artctoralc- 
lefisitung RenicuHui'e« angelegt imd mH. diesen, wo angängig Infecuoitsver- 
saehe angestelft iveidem Die Beiakncbts dek Bakter'jen. kawi auf Hössigen uffd 
festen Bubst fateö, den JJährbMen, ddrehgetuhrt Ferden: «tgaehmaT lttssen sich 
beide Arbeitsmethoden vereinigen. 

Gegenwärtig werden die Bakterien mir in wenigen bestimmten Füllen in 
ttüsTvigen SiibTbödvn iBolirt, ganz ' allgemein gesebisht die\Tteößü% der ein¬ 
zelnen iui j^dbedbjpt vorhandenen Bakterien »atb dem von B. Koch erdachte», 
seither vielfach t»ödtficirte*B Plattenvt riahtetn 

Das Friticip des rlaMcnveitabrems liegt darin, dass eine geringe Menge 
des bakO't'ieflBaltigen Materiales .mit elfter grossen .Menge (2 - :'j-^ ‘o€c) eines 
verflüssigten, über 2()'‘C wieder erstarrenden, Nährbodens innig gemischt wird, 
and das Geinkdfc durch ÄulgtVs^ea twjf 
eine kalte Olasplatte in einer düniien 
Schicht« jdützlicb kam Erstarren gebracht 
wird. Die Kfeimn, welche ilurcb dasMsc.hßa 
and Sehütteihi 




von einander getrennt | ' 

worden sind, bleiben auch in der erstarrten ' 

XährlMKleoscblebte räumlich getrennt und > *• 

wachsen zy iscdfrteB Masseur nlfuren (den ' SHHIgfi 

Die Züs,'itm»ens(dztj«g der Nährböden 'M f 
ist...- von. grossem Fmtiuss «m’ 4i>- dm in ||| >Ji 

wachsend«.-'!* Golemen uitd es lassen ' «18 

IdentHäGjtrobeii fraglicher IMtcnVn mir \ •^,i 1 

.dui'Ch.Xibdifefi auf ähgaltit^lpfclkit Nähr- (•■'• s,' * | 

böde« »lnr«libibren. Schon geringfügige ;§§:f 'I 

Abweichungen in der y.aeiimmcr.soGung J lf ' . ' : * I 

felVshrbfldeu können die mbrphblbgisctien ■ üffLA f 1 I 

und .biologischen Kigenthtiinliebkcitou der jr~~~--:—| | 

Bakterien fötal verändern und da« Anlass : BSL'-S I 

zu ganz unrichtigen; Folgerungen bieten, t WSM V§ 

..Die flüssigen Nithrböden gestatttu f 

die leichte Herstellung von .Massenc.ulturen 
und der von • ihnen' mengten' Stoffwechsel * . 

producte (Toxine etc.), ferner die Beobach- - ;■ : | BEpjg;-'-* v 

tung einer' eventuelle« fId utchc-f»Di»d ' : 

ermöglichen in vitden Fälleo. die Zählung . • • ■ | 

der Anzahl der ßakterienkeime, veräudem 

aber oft die Form ..«ml Kigenkchaftmi der ■ i' ■■Hk'' ',g-\ 

in ihnen wachsenden Bakterien. |j V 

Die flüssigen Nährböden kdnheiuhmfi 

Zasatz geltdiRirettder Snbstöüren io feste t«*. 3 1 >. Brutka»^ mit «„ieuon^hom Therme.. 
Kfihrbödeu omgewänfleB werden- Als 

gelatinirende Substanzenvdiane« in erster Liiiio Gelatine und Agar-Agar. 
Im Anhänge finden sinh einige Bocopte, nach welchen flüssige und feste Tvahr- 
boden bereitet werden ,(si^. Uö), 



130 


BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN. 


Die Gelatine-Nährböden verflüssigen bei ca. 25° C und sind daher zur 
Zucht von Bakterien, die nur bei Bruttemperatur (37—38° C) wachsen, nicht 
geeignet. Sie sind aber vollkommen durchsichtig, lassen sich leicht tiltriren, 
differenziren die Formen mancher Massencultureu sehr gut und gestatten eine 
leichte Unterscheidung der fest wachsenden von den verflüssigenden (pepto- 
nisirenden) Colonien. 

Die Agarnährböden, welche von keinem bekannten Mikroorganismus ver¬ 
flüssigt werden, und auch bei Bruttemperatur fest bleiben, sind zur Zucht aller 
Bakterien geeignet. Gewisse Bakterien verlangen aber specifische Zusätze, 
ohne welche sie auch bei Brutteraperatur nicht gedeihen. Carraghcen, Kar¬ 
toffeln, Rübenscheiben, Oblaten sind vorzuziehen bei Herstellung von Dauer- 
culturen und der Beobachtung der Sporenbildung. Milch, Reis, Most, Harn, Blut, 
Pülpe etc. können gleichfalls gelegentlich zur Anlage von Culturen dienen. 

Das Konische Plattenverfahren wird wie folgt ausgeführt: Eine 
Platinöse des zu untersuchenden Materiales wird in C>—i() ccm verflüssigten 


Nährbodens (bei 30—40° C) unter 
aseptischen Cautelen innig ver¬ 
mischt, dann von dieser Mischung 
3 Oesen successive in 3 oder 4 
Nährböden gleicher Zusammen¬ 
setzung fractionirt vertheilt, so 
dass auf die 3. und 4. Eprouvette 
nur noch eine relativ geringe 
Menge Keime treffen. 



Während des lmpfens stehen 


I die Eprouvetten in einem auf ca. 
[i '36° C erwärmten Wasserbad. Ist 
| die letzte Verdünnung gemacht, 
| wird der Inhalt der Eprouvetten 
? nach vorherigem gutem Um- 
I schütteln und Abbrennen (Flarn- 
| biren) des BaumwolIpfropfens und 
I Eprouvetteuhalses auf eine sterile 


Glasplatte ausgegossen und der 
erstarrende Nährboden mit der 


I Eprouvettemnündung in eine 
p möglichst quadratische Form ge- 


(••k*. 4 . k och Heu.r i L. -. .r,i bracht. Die sich auf den Platten 

bei Lichtabschluss entwickelnden 
je einem Keim entsprechenden Reinculturen (Colonien) werden dann weiter 
untersucht. 

Von dem alten Original verfahren ist an den meisten Arbeitsstätten ab¬ 
gegangen worden, weil es mannigfache Uebelstände mit sich bringt. Die 
ständige Prüfung der herunwachsenden Colonien unter dem Mikroskope ist 


erschwert, wegen des Ausfallens von Luft- 
keimen während der Beobachtung, ferner 
rutschen namentlich die Agarplatten leicht 
von ihrer Unterlage ab, und auf Gelatinplatten 
verderben etwa vorhandene verflüssigende 
Colonien leicht die ganze Platte. Auch da- 
Giessen der Platten erfordert nach dem Ori- 
giualverfahren eine ziemliche Uebung und 
eine geschickte Hand. Müncke in Berlin stellt 



Glasplatten mit aufgebranntem Emailring her, welche wenigstens das 
Abrutschen der Agarschichte verhindern. Beliebt sind die sogenannten 


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TAFEL I 


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Entnommen dem Atlas und Grundriss der Bacteriologie etc. von Prof. Dr. K» B. Lehmann 
und Dr. R. Neumann. Mönchen. J. F. Lehmann. 


1. Micrococcus pyogenes & aureus. Rosenbach. Ag&rstrichcultur 5 Tage bei 22° C. 

2. Micrococcus tetragenus. Koch. Gaffky. Agarstichcultur 6 Tage bei 37° C. 

3. Streptococcus pyogenes. Rosenbaqh. Gelatine Stichcultur 6 Tage bei 22° C. (Kräftig 

gewachsen.) 

4. Sarcina pulmonum. Virchow. Hauser. Agarstrichcultur 20 Tage bei 22° C. 

5. Baoterium coli commune. Escherich. Agarstrichcultur 4 Tage bei 22° C. 

6. Bacterium typhi. Ebereh., Gaffky. Agarstrichcultur 4 Tage bei 22° C. 

7. Bacterium mallei. Löfflfr. Kartoffelcultur 2 Tage bei 37° C. 

8. Bacterium prodigiosum. Ehrenberg. Gelatine Stichcultur 1 Tag bei 22° C. 

9. Bacterium fluorescenz. Flügge. Gelatine Stichcultur 8 Tage bei 22° C. 

10. Bacterium pneumoniae. Friedländer. Gelatine Stichcultur 10 Tage bei 22° C. 

11. Corynebacterium diphtheriae (syn. Bac. diphth.) Löffler. Glycerinagar Stichcultur 20 

Tage bei 22° C. 

12. Bacillus subtilis. F. Cohn. Gelatine Stichcultur 8 Tage bei 22° C. 

13. Bacillus anthracis. F. Cohn & R. Koch. Gelatinstichcnltur 3 Tage bei 22° C. 

14. Bacillus oedematis maligni. Koch. Zuckeragerstichcultur 8 Tage bei 37° C 

15. Bacillus tetani. Nicolaier. Zuckeragarstichcultur 3 Tage bei 37° C. 

16. Vibrio cholerae. Koch. Büchner. Gelatine Stichcultur 7 Tage bei 22° C. 

17. Vibrio danubicus. Heider. Gelatine Stichcultur 3 Tage bei 22° C. 

18. Vibrio proteus (Vibrio Finkler) Büchner. Gelatine Sti chcultur 4 Tage bei 22® C. 

19. Mycobacterium tuberculosis (syn. Bac. tuberc.) Koch. Glycerinagarstrichcultur 40 Tage 

bei 37® C. 

20. Oospora bovis (syn. Actinomyces) Harz. Agarstrichcultur 6 Tage bei 37° C. 


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. • ” Origftwrfifcfm 
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Tafel 1 Zn dom Artikel „Bakteriologische Untersuchungss-Möthoden“. 































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BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHÜNGSMETHODEN. 


131 


Petrischalen (Fig. 5), 2 kleine, niedere, flache, entweder übergreifende oder 
anfeinandergeschliffene Glasschalen (ähnlich den bekannten Krystallisirschäl- 
chen), in deren eine der inficirte Nährboden gegossen wird, während die andere 
als Schutz gegen Wasserverdunstung und einfallende Luftkeime dient. Unter 
das Mikroskop kommt die Culturschale mit dem Boden nach oben, so dass auch 
eine Verunreinigung der Platten während der mikroskopischen Beobachtung 
vermieden ist. Die Petrischalen machen ein genaues Nivelliren, wie es bei 
dem alten Plattenverfahren nothwendig war, überflüssig, und gestatten ein 
ungemein rasches und sicheres Arbeiten. Bedingung ist nur, dass die Petri¬ 
schalen dünn und der Boden vollständig eben ist. Ein Nachtheil derselben 
ist, dass die meist charakteristischen oberflächlich wachsenden Colonien der 
mikroskopischen Beobachtung wenig zugänglich sind. 

Die Wichmann’ sehen Culturschalen sind Petrischalen von grossem 
(17—18 cm) Durchmesser. 

Vielfach werden auch EsMAKCH’sche Rollplatten angelegt, zu welchem 
Zwecke der in einer breiten dünnen Eprouvette verflüssigte und inficirte Nähr¬ 
boden durch rasches Drehen der schief gelegten Eprouvette in kaltem Wasser 
auf der Innenwand in dünner Schicht erstarrt. Ihr Vortheil liegt darin, dass 
wegen des dicht schliessenden Baumwollpfropfens eine Verunreinigung durch 
Luftkeime ganz ausgeschlossen ist, und die dünne Wandung der Eprouvetten 
einer mikroskopischen Untersuchung der heranwachsenden Colonien sehr för¬ 
derlich ist. Uebelstände sind die schwierige Herstellung der Rollplatten, das 
sehr schwierige Abimpfen der entwickelten Colonien, die Unmöglichkeit das 
Ablaufen des verflüssigten Nährbodens beim Vorhandensein von peptonisiren- 
den Keimen zu verhindern. Anwendung finden die Rollculturen meist nur bei 
Gelatinenährböden. 

Sehr keimreiches Untersuchungsmaterial wird vor dem Plattengiessen 
noch mit gewissen sterilen Flüssigkeiten u. zw. Wasser, Bouillon, Serum, etc. 
auf ein bestimmtes Volumen gebracht und erst von dieser Mischung Platten 


gegossen. 

Manche Bakterien verlangen zu ihrem Wachsthum die Abwesenheit von 
Sauerstoff resp. atmosphärischer Luft (Anaerobien). Solche Bakterien werden 
bei dem Plattenverfahren nach dem Giessen in den BoTKiN’schen Apparat 
(Fig. 6) gebracht. Dieser Apparat besteht aus einer grösseren Glasglocke, die durch 
eine Glasschale mit einer gasab- 

sperrenden Flüssigkeit abgedichtet jeg||g» c 

ist. In der Glasglocke befindet j 
sich ein Ständer aus Eisenblech 

zur Aufnahme der gegossenen jMs. JüL j| 

Platten oder Petrischalen und 2 u | cf=|||!^ g |j 

in den Innenraum reichende Glas- r !| I !J 

röhren vermitteln den Zutritt und WrW? I i g ~a 

Abfluss des gewünschten indiffe- 

renten Gases. Gewöhnlich wird 'e 

'als solches Wasserstoff gewählt Fig. 6. Botldn’s Apparat zum Züchten von Anaerobien. 


1—2 Tage nach dem Plattengiessen haben die meisten Colonien schon 
eine so ansehnliche Grösse erreicht, dass an die Abimpfung geschritten wer¬ 
den kann. Kommen auf der Platte festwachsende und verflüssigende Colonien 
vor, so werden die letzteren nach dem Abimpfen mit einem Tropfen Kalium 
permanganatum abgetödtet. 

Das Abimpfen geschieht mit oder ohne Zuhilfename einer schwach 
(10—20 mal) vergrössemden Loupe durch seichtes Einsenken eines dünnen 
sterilisirten Platindrahtes in die Mitte der Colonie. Die abzuimpfenden Colo¬ 
nien müssen ganz isolirt liegen und unter dem Mikroskope eine gleichförmige 
Beschaffenheit zeigen. 


9 * 


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Die «hgeimpften llaUem «erde« ,«och-«öigft Zeit unter Abtödtung der 
üppigwachsendenCoäoskn äurüf-Aahrt. weil manche Bakterien Jüngere Zeit 
betiöthtgeß, ins sie eia deutliches .Wachsthum aufweisers. 

•Maneiu!«.;.} erscheint es wünscheus werth sich von der Art des Eindrin¬ 
gens der Ootoi»«* tß die Geiatinenälirböden oder von der Form der tiefer 
gefegenen Cotbriien näher zu unterrichten. In diesem Falle übeigiesst man 
die Harte out einer 1 — 1 'j^-igen' Lösung von Kaliümbicbrornat oder legt 
sie io eiue solche Lösung eia, Ntwli 3—4 Tagen sied die ßelatiaplatteii 


gut nadigehärtet und es 'können dann die eioxelii«»mit dem Korkbohrer aus- 
gestochench ColonieM wie Schnitte behamteU werden. 

Mit dem Sn die Colonio getauchten Fbiiindraht werde« verschiedene Cul- 
türen angelegt; 

Stiehcti.Uur«« in Oelatine- und AgarepronveUeu indem die Kprtrtm-h** 
.#iif. • 4«r;-sät# unten jteif. upd nach dem AbbrPütien (Fjamfriretii 
des Bautnwoliplroplens ei« rascher centraler .Stich i« den Nährboden ange¬ 
führt wird. Yortheilhaft ist «s in ein shderes Röhrchen auch 

wandstandige Stiche auvmbriügen. ... 

Stricheulturen. bei welchen Uber die schräg erstarrte Fläche dev 
Nährbodens ein sanfter Strich geführt Wird. ;• ; 1 

Iv Sri« ft« I f ui t vtre n. Bet dies«« wird der Inhalt der äbgeiöipften Pkt- 
linöse über die Kai'toft‘elöbert{äci»e stark verrieben. 

BouiilojivuU.uren, welche durch einfache«' EhföeaketJ der inficirten 
Flatiiblse in NährtmuüTori zu Stande komme«, und endlich di« liäpfwhg io 

lUUmHigskölbchen: fliese haben entweder die Form der in der 
niediriiiisdieo Praxis gebräuchlichen Zuckprgährüagskolbeheo oder bestehen 
einfach aus einem omgebogenen an einem Endta zuä^rhfijo&crnea fl Insrohr. 
I« döü iö dem GährhBgsbhilxheii beßndlich#« düssi^lit Nährböde;« wird eine 
Spur der itn|jt(]i«9D'• ^hediä’'?:'id^Br , elÜL: 

und einen dichten Bauiiiwollenpiropf das. mtehrriigiiehe Einfälle« von Luft- 
kehnen verhindert. 

Abgeimpfte Culfurea vonA«aerobien werden m besonderen Oefässeu 
geimpft. Entweder wählt man die BorKiN sehe Glocke, 
in welche diesmal statt der l'ßtriseFtalejj die EprourettPn. 
eingestellt werden, «dfer hiätt % eigeneÖlilasähäii. 
die ähnlich eingerichtet sied wie Spritztia sehen und 
sowohl das Studium der aeroben als auch der auaeroben 
\ Bakterie« gestatten. Billig und sehr praktisch sind die 
' Anaerobcnzuchtgiäsch'en von &,4St-Aici-K/> 

In vielen Fällen köüuen Aivaörobten ätsch dadurch 
zum Fntwickelir ,gelu'i».chf. werden, däsS ei« itapfsüch in 
höchgei'iillte. bvcnimdl mit Zucker btter retiucireaden 
Substanz« versetzte. Nährböden «ngebraeht wird. 

Die Foniv . und Beweglichkeit der - afegeimpffeo •'• 
j.,... -i:>. a w .«»i >.« Bakterien Wird durch die Beobachtung derselben Im 

A.'kyg«i *y|' r.n-B.iiu NvOjj ] 1U ngonden Tropfes* coitsfatirt i Zu dtesejn Zwecke eignet 
«Ä sicIt ' dev F - LP S<.:«vt;rzk>;.*he ribjenträger, i>A dessen 
^ Mau* Aiui( ; pif;ioa eiü Tropifen alkalisohw* Pyrogunn-s- 

säure- cmgc-iüliri ..wird, welch* r eine raschti Uesorptio« 
do« in vier Kammer eiugeri'hiossvmew LuftsäuerstoÜvs bewirkt. 

*) Vexi<&rt»yjgi_ ' VVteiiy I.. K4i rjultrci e; 


Co gle 


j,* 




HIGAN 


BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN. 


133 


Die Untersuchung der auf die angegebene Weise überimpften Bakterien 
erstreckt sieb auf ff. Punkte: 

c) Trübung oder Klarlassen der Bouillon. Bildung eines Häutchens oder 
eines Bodensatzes. Auftreten eines besonderen Geruches, Säurebildung, Beweg¬ 
lichkeit, Ausscheidung besonderer Stoffe, als Indol, salpetrige Säure, Enzyme etc. 

Von Wichtigkeit ist die Häutchen- und Sedimentbildung. Die Säure 
wird durch Titration mit 1 / i0 Normal-Natronlauge (enthaltend 4 - l g Natrium¬ 
hydrat im L.) unter Benützung von Phenolphtaleln als Indicator bestimmt 
Dunkle Nährböden werden durch Tüpfelung auf empfindlichem Lakmuspapier 
auf ihre Säure geprüft. Ist dem betreffenden Mikroorganismus die von ihm 
producirte Säure schädlich, erhalten die Nährböden einen Zusatz von kohlen¬ 
saurem Kalk. Die Alkalibildung wird umgekehrt durch Titration mit V 10 
Normal-Schwefelsäure (enthaltend 4 g Schwefelsäureanhydrid im L.) bestimmt. 
Die Beweglichkeit ist im hängenden Tropfen zu beobachten. Wenn die zu 
prüfenden Bakterien Brutwärme verlangen, muss die Untersuchung mit Hilfe 
des heizbaren Objecttisches oder in der Weise vorgenommen werden, dass 
das ganze Mikroskop in einen passenden Brutkasten gestellt wird*). Auf Indol 
dürfen nur ältere Culturen aus zuckerfreiem Nährboden geprüft werden: „Man 
versetzt die Cultur (in der Eprouvette) mit dem halben Volumen 80%-iger 
Schwefelsäure und erwärmt auf 80° C., wird die Mischung sogleich rosaroth, 
so war bei der Reaction auch ein Nitrit zugegen (Choleraroth, Nitro- 
soindolreaction.) Tritt keine rothe Färbung ein, so wird ein Krystall 
Kaliumnitrit zugegeben. Bei Gegenwart von Indol entsteht eine rothe Fär¬ 
bung von Flüssigkeit“. 

6) Verflüssigung der Gelatine-Nährböden oder Festwachsen der Colonien. 
Farbstoffbildung. Auftreten von Gasen. Form der Colonien in Platten-, 
Stich- und Strichculturen. 

Die Baumwollepfropfen müssen fest eingedreht sein, denn die Gela¬ 
tine trocknet leicht aus und ist sehr zum Schimmeln geneigt. Manchmal 
empfiehlt sich direct ein Zusatz von Lakmus bei der Bereitung des Gelatine¬ 
nährbodens um die Säure- oder Alkalibildung beim Wachsthum der Bak¬ 
terien ohne Weiteres beobachten zu können. 

c) Verhalten gegen Agamährboden. Gasbildung, Form der Colonien in 
Platten-, Stich- und Strichculturen. 

Die Gasbildung beobachtet man am besten in Traubenzucker-Agar. Auch 
andere Zucker (Rohrzucker, Milchzucker) können zu speciellen Zwecken dienen. 

d ) Wachsthum auf Kartoffeln. Die Kartoffeln müssen wegen des stören¬ 
den Auftretens des Kartoffelbacillus sehr energisch gewaschen und sterilisirt 
werden. Das Uebergiessen der Schnittfläche mit Sodalösung und die dadurch 
erfolgende Alkalinisirung der sauer reagirenden Kartoffel ist in vielen Fällen 
von grossem diagnostischen Werth. 

e) Temperaturoptimum. Sporenbildung' Die Sporenbildung wird gewöhn¬ 
lich durch Züchtung auf Kartoffeln hervorgerufen. 

f) Verhalten gegen sterile Milch. Fällung oder Peptonisirung des 
Caseins. 

g) Wachsthum und Gasbildung in reducirenden Nährböden. 

h) Thierversuche. 

Für diagnostische Zwecke ist der Thierversuch in den meisten Fällen 
unentbehrlich. Die Infection eines empfänglichen Thieres mit einem Krank¬ 
heitserreger und das Hervorrufen bestimmter pathologischer Processe am 
Thiere soll, wo es möglich ist, immer durchgeführt werden. 

Gewöhnlich dienen Kaninchen, Meerschweinchen, Ratten, Mäuse, Tauben 
und Hühner, in selteneren Fällen Katzen, Hunde, Frösche und Affen als Ver- 

*) Solche Brutkasten verfertigen: Rohrbeck-Berlin, Reichert-Wien etc. 


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134 


BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN. 


suchsthiere. Dass die inficirten Tiere isolirt gehalten und bei Arbeiten mit 
denselben die peinlichste Vorsicht obwalten muss, braucht wohl nicht beson¬ 
ders hervorgehoben zu werden. 

Die Uebertragung der Bakterien, oder des zu untersuchenden Materiales 
auf das Thier kann auf verschiedene Weise vorgenommen werden: 

1. Durch percutane oder subcutane Infection. Im ersteren Falle wird 
das Infectionsmaterial in die Haut (ev. Schleimhaut) gut eingerieben, im 
letzteren Fall mit einer flachen Scheere eine Hauttasche geschnitten, in die 
Oeffnung mit der Platinöse das Untersuchungsmaterial eingeführt und die 
Wunde, je nach der Grösse derselben durch Ueberkleben mit Collodium, oder 
Zubrennen oder eine Naht geschlossen. Grössere Mengen von Untersuchungs¬ 
material können den Thieren durch Injectionsspritzen unter die Haut gebracht 
werden; manchmal wird die Cultur oder das bakterienhaltige Material in die 
Hornhaut eingeführt. 

2. Infection durch Inhalation: Es wird entweder das mit indifferenten 
sterilen Substanzen wie Kohle, Lycopodiumstaub etc. fein verriebene Unter¬ 
suchungsmaterial (z. B. Sputum) dem Thiere mittelst eines Handgebläses einge¬ 
blasen oder in Aufschwemmung mittels eines Zerstäubers beigebracht. Soll 
der die Infection hindernde Einfluss der Nasen und Mundschleimhaut aus¬ 
geschaltet werden, kann direct eine Einspritzung in die Luftröhre vorgenom¬ 
men werden. 

3. Einspritzung in die Brust und Bauchhöhle. In letzterem Falle wird 
dem Thiere die Spritze links von der Mittellinie eingestochen. Die Spritzen¬ 
nadel muss sich leicht nach allen Bichtungen bewegen lassen und beim Auf¬ 
zug des Spritzenkolbens dürfen keine Fäcalmassen in die Spritze aufsteigen. 

4. Einspritzung in die Blutbahn. Es wird eine Vene (beim Kaninchen 
die Ohrvene) zum Anschwellen gebracht, mit der Spritzennadel der Vene ent¬ 
lang eingestochen und in der Richtung des Blutlaufes injicirt. 

5. Infection durch Magen und Dann. Am einfachsten bei Bakterien, 
welche das Austrocknen vertragen nach der sogenannten Cakesmethode. Sonst 
durch die Einführung des flüssigen oder aufgeschwemmten Untersuchungs¬ 
materiales mittels der Magensonde, oder in den Darm durch vorsichtiges Frei¬ 
legen derselben. Die sauere Reaction des Magensaftes kann durch eine der 
Infection vorhergehende Ausspülung des Magens mit alkalischen Flüssigkeiten 
(Soda) aufgehoben werden. In manchen Fällen müssen auch Injectionen in 
die Harnblase oder die vordere Augenkammer vorgenommen werden. Nach 
vollzogener Infection wird das Versuchsthier genau beobachtet und mehrmals 
des Tages die Körpertemperatur geprüft. Bei der Section werden die Aus¬ 
striche von Peritoneum, Milz, Leber und Blut nach dem praktischen Vorschlag 
Heims in Form eines P, M, L und B auf die Deckgläschen gezogen. 

Specielle bakteriologische Untersuchungen. 

Luft: Zur Probenahme wird eine bestimmte Menge Luft mittels eines 
Aspirators durch Bouillon oder verflüssigte Nährböden gesogen, und mit 
den so inficirten Nährböden Platten gegossen. 

Wasser: 01—1 ccm Wasser, je nach dem Keimgehalt desselben, werden 
mit verflüssigten Nährböden gemischt und die Platten mit dieser Mischung 
gegossen. Die Aussaaten sollen womöglich an Ort und Stelle vorgenommen 
werden; wenn dies nicht möglich ist, wird das Wasser in sterilen Gefässen 
aufgefangen und in Eis verpackt an die Arbeitsstätte abgesendet*). Die directe 
mikroskopische Untersuchung der Wasserbakterien gibt in der Regel kein 


*) Es existiren auch eigene Apparate, mit welchen Jedermann die Wasserproben 
steril entnehmen kann; so z. B. an der k. k. landw. chem. Versuchsstation in Wien und 
der Versuchsstation für Brauerei in Wien. 


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BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN. 


135 


Resultat, blos die Züchtung auf den verschiedenen Nährböden. In- 
jection verdächtigen Wassers bei Versuchsthieren ist besonders da von Werth, 
wo Infectionsheerde (Milzbrand, Schweineseuche, Cholera etc.) vorhanden sind, 
und deren Verbreitung durch das Wasser wahrscheinlich ist. 

Boden: Die Probeentnahme erfolgt mittels eines eigenen Bohrers (nach 
C. Frankel) oder indem mit sterilen Instrumenten ein Loch ausgegraben 
wird, und aus dem Loche mit einem sterilen Eisenlöffel von bekanntem 
Fassungsraum, Proben mit den verschiedenen Nährböden gemischt werden. 
Besser schüttelt man die Bodenproben kräftig mit Bouillon und legt hievon 
Platten an. Thierversuche mit Boden sind nothwendig bei Milzbrand, Tetanus etc. 

Milch: Hier handelt es sich hauptsächlich um die Auffindung von Eiter¬ 
erregern und Tuberkelbacillen. Im ersteren Falle wird einfach eine dünne 
Schicht Milch aufgetrocknet, das Fett mit Aether entfernt und mit alkalischem 
Methylenblau gefärbt. Sind Staphylococcen oder Streptococcen vorhanden; 
ist eine gemessene Menge Milch (0-5 ccm) mit den Nährboden zu mischen und 
auf Platten zu giessen. Sehr rasch entwickeln sich die Fäden von Oidium 
lactis, diese müssen mit Kaliumpermanganat abgetödtet werden. Zur Auffindung 
von Tuberkelbacillen eignet sich sehr die Methode von Ilkewitsch: 

„20 ccm entrahmte Milch werden mit verdünnter Citronensäure zum Gerin¬ 
nen gebracht. Abfiltrirung der Molken “ 

„Auflösung des Casei'nrückstandes in mit phosphorsaurem Natron ver¬ 
setztem Wasser.“ 

„Zugabe von 6 ccm wasserhaltigem Aether, dann 10—15 Min. schütteln.“ 

„Einfüllung in einen Scheidetrichter behufs Ablagerung des Fettes an 
der Oberfläche.“ 

„Ablassung der untenstehenden Flüssigkeit.“ 

„Versetzen mit verdünnter Essigsäure bis die ersten Anzeichen der Ge¬ 
rinnungsichtbarwerden. 10—15 Min. centrifugiren (ev. absitzen lassen). Den 
Niederschlag prüft man nach einer der Methoden zur Färbung von Tuberkel¬ 
bacillen.“ 

Sind in der Milch Tuberkelbacillen gefunden worden, werden behufs 
der Constatirung ihrer Virulenz Meerschweine intraperitoneal injicirt. 

Blut: Die Probeentnahme erfolgt an einer vorher mit Sublimat, Alkohol 
und Aether (eventuell nach dem Rasiren der Haare) gut sterilisirten Stelle eines 
flachliegenden Blutgefässes. Der erste nach dem Einstich entnommene Tropfen 
wird abgeschleudert oder mit sterilem Fliesspapier abgesogen, von der Ober¬ 
fläche der nachfolgenden Tropfen werden mit einer Platinöse die Proben ent¬ 
nommen, und feine Ausstriche auf schiefgelegtem Blutagar und auf Deckgläs¬ 
chen vorgenommen, und eine Probe mit physiologischer Kochsalzlösung (0'5 0 /«) 
gemischt im hängenden Tropfen untersucht Das mitunter beim Färben stö¬ 
rende Blutplasma kann durch Abspülen des trockenen Präparates mit 3%iger 
Essigsäure oder Behandlung mit Pepsin vom Hämoglobin befreit werden. 

Sputum: Das Sputum wird am häufigsten auf Tuberkelbacillen und In¬ 
fluenzabacillen, gelegentlich auch auf Eitererreger, Kapselcoccen und Acti- 
nomyces untersucht. 

Der Untersuchung auf Tuberkelbacillen, deren Eigenschaften in Bezug 
auf die Färbung schon früher erwähnt worden sind, müssen in vielen Fällen 
vorbereitende Operationen vorhergehen, weil viele Sputa nur wenige Tuberkel¬ 
bacillen neben einer Unzahl anderer Microorganismen enthalten. 

Es wird das Sputum mit verdünnter Natron- oder Kalilauge gekocht, 
oder in der Kälte mit Borax oder Carboisäurelösung geschüttelt; hiedurch 
homogenisirt und verflüssigt sich der grösste Theil des Sputums unter Ab¬ 
scheidung eines Bodensatzes. (Beschleunigung des Absetzens durch Centri¬ 
fugiren.) 


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136 


BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN. 


Vom Sediment werden Ausstriche angelegt. Bei zur Untersuchung vor¬ 
liegenden grösseren Massen Sputum genügt es dasselbe im Dampftopf zu 
sterilisiren und das Sediment zu untersuchen. 

Die Ausstriche müssen sehr dünn angefertigt werden. 

Von den zahlreichen anderen Methoden der Sputumfärbung seien nur 
ff. 2 angegeben: 

Methode Kaufmann (schnelle Methode). Die gefärbten Präparate werden 
in siedendem Wasser durch mehrmaliges Eintauchen entfärbt. Es darf sich 
auf dem Präparate nur eben noch ein farbiger Schimmer zeigen). Die Bacillen 
erscheinen lärbig auf grauem Grunde. 

Methode Czaplevvsky: Nach der Färbung mit erwärmter Carbolfuchsin- 
lösung und dem Abtropfen des Farbstoffes wird das Präparat ohne Wasser¬ 
spülung in Fluorescel'n-Methylenblau 6—10 mal eingetaucht und dann in conc. 
alkohol. Methylenblaulösung 10—20 mal umgeschwenkt. Nach dem Abspülen 
mit Wasser erscheinen die Tuberkelbacillen roth auf blauem Grunde. 

Wenn von den im Sputum befindlichen, der Lunge entstammenden Ballen 
Schnitte gemacht werden sollen, werden diese Ballen in steigend concentrirtem 
Alkohol gehärtet und dann behufs Anlegung von Schnitten in Paraffin oder 
Celloidin eingebettet. 

Die Reinzüchtung der Tuberkelbacillen aus dem Sputum ist in der 
Regel durch die charakteristische Färbungsreaction überflüssig. Soll dennoch 
eine Reinzucht durchgeführt werden, ist ein Meerschweinchen mit dem Sputum 
intraperitoneal zu injiciren und die dem Thiere frisch entnommenen Tuberkel¬ 
knötchen zu zerdrücken und auf schiefgelegtem Glycerinagar auszustreichen. 
Züchtung bei 38° C. 

Wenn die anderen, den Tuberkelbacillus öfter begleitenden Microorga- 
nismen, namentlich Staphylococcen, Streptococcen, Tetragonus etc. rein ge¬ 
züchtet werden sollen, ist nach dem gewöhnlichen Plattenverfahren vorzu¬ 
gehen. 

Influenzabacillen gedeihen blos auf mit Blut oder Haematogen bestri¬ 
chenem Agar; durch Ausstriche auf so präparirtem und gewöhnlichem Agar 
lassen sich die Influenzabacillen leicht erkennen. Zu diesem Zwecke wird das 
Sputum mit sterilem Wasser fein verrieben und die Mischung mittels einer 
sterilen Federfahne oder eines Sprayapparates auf die Platten gebracht. 

Actinomyces ist im Auswurf leicht zu erkennen. Für die Reinzucht 
müssen Thierversuche und nachheriges Impfen auf schiefgelegtes Agar oder 
Kartoffeln durchgeführt werden. 

Stöhle: In denselben sind ungeheuere Mengen von Bakterien enthalten. 
Von wesentlicherem Interesse sind blos Cholera, Typhus und Milzbrand¬ 
bacillen. 

Die vorläufige Trennung der Kothbestandtheile erfolgt durch die Centri- 
fuge, wonach sich in dem specifisch leichtesten oberen Theil des Inhaltes 
des Proberöhrchens die Hauptmasse der Bakterien befindet. Auf Gelatine¬ 
platten entwickeln sich die Typhusbacillen ziemlich charakteristisch und die 
gewachsenen Colonien können dann weiter auf ihre besonderen Eigenschaften 
geprüft werden. (Unterschied von Typhusbacillen und Typhus ähnlichen 
Bakterien siehe Tabelle Seite 140, 141.) 

Bei Cholerastühlen werden die charakteristischen Schleimflöckchen heraus¬ 
gefischt und davon Culturen in Peptongelatine und Peptonwasser angelegt; 
es sammeln sich die Choleravibrionen an der Oberfläche an und können durch 
fortgesetzte Impfung in Peptonwasser rein gezüchtet werden. 

Zur Züchtung der Milzbrandbacillen dient am besten der Thierversuch. 
(Impfung von Mäusen an der Schwanzwurzel.) 

Schweiss: Eine Stelle der Stirne wird mit Sublimat, Alkohol und Aether 
gut sterilisirt, nachdem der zu Untersuchende ein schweisstreibendes Mittel 


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BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHÜNGSMETHODEN. 


137 


eingenommen hat. Von dem vorquellenden Schweiss werden mit der Platin¬ 
öse Proben entnommen und Platten angelegt. 

Abgeschwächte Culturen und Sera für Schutzimpfungen. 

Die abgeschwächten Culturen werden nach dem Plattenverfahren auf 
ihre Reinheit geprüft, durch Thierversuche auf den Grad ihrer Abschwächung. 

Die Sera dürfen keine Bacterien enthalten, was nach den Färbemethoden 
allein schon nachgewiesen werden kann. 

Bereitung der Nährböden, Sterilisation der Instrumente etc. 

Die bei den bakteriologischen Arbeiten in Anwendung kommenden Nähr¬ 
böden und Apparate müssen keimfrei (mindestens frei von Entwicklungs¬ 
fähigen Microorganismen sein), und dieser Zweck kann auf mehrerlei Art er¬ 
reicht werden, 

o) durch trockene Hitze, 

b) durch Wasserdampf mit und ohne Spannung, 

c) durch chemische Agentien. 

Im ersteren Falle werden alle jene Geräthschaften, deren Natur dies 
zulässt, in der Gas- oder Spiritusflamme ausgeglüht: so z. B. Glasstäbe, Platin¬ 
draht etc., oder mehrmals durch die Flamme gezogen, so z. B. Baumwoll- 
pfropfen, Deckgläschen, Instrumente etc. Schonender wird die Sterilisation 
durch trockene Hitze in einem eigenen sogenannten Trockenkasten vorgenom¬ 
men, d. i. in einem doppelwandigen eisernen oder kupfernen Kasten, dessen 
Wärmevorrichtung eine Temperatur von wenigstens 160° C im Kastenraume 
ermöglicht. Bei dieser Temperatur sind nach 3—4 Stunden auch die wider¬ 
standsfähigsten Keime abgetödtet. In diesen Kasten kommen die mit einem 
dicht passenden Baumwollenpfropf versehenen Eprouvetten, die Petrischalen, 
Instrumente etc. Weil Kautschuk bei dieser Temperatur schmilzt und sich 
zersetzt, dürfen Kautschukgegenstände nicht in den Trockenkasten kommen. 
Eine höhere Temperatur als 160° schadet auch den Baumwollpfropfen. Diese 
bräunen sich, destilliren trocken, verunreinigen die Gefässe und werden brüchig, 
endlich verkohlt. 

Die Sterilisation durch feuchte Hitze erfolgt in, nach dem Principe des 
Wasserbades von R. Koch construirten Kasten, mit der Abänderung, dass die 
von einer Wärmevorrichtung entwickelten Wasser¬ 
dämpfe in einem geschlossenen Raum, dem Mantel, 
circuliren und in den Kasten eingelegte Gegenstände 
nmsptilen resp. durchdringen können. 

In diesen Dampftöpfen werden namentlich die 
nicht sehr empfindlichen Nährböden (Fleischwasser, 

Gelatine, Agar etc.) sterilisirt u. zw. in der Weise, 
dass an 3 aufeinanderfolgenden Tagen der Dampfstrom 
je */ 4 —7s h ein wirken gelassen wird. Die widerstands¬ 
fähigen Sporen haben in den Zwischenzeiten aus¬ 
gekeimt und die vegetativen Formen werden durch 
den Dampf vernichtet. Empfindlichere Nährböden, 
wie Blutserum, Milch etc. werden nach Tyndall 
discontinuirlich bei ca. 60° C sterilisirt. 

Wo es angängig ist werden mit Vortheil ^ ^ 

Autoclaven verwendet. Während in den KocH’schen Fig 8 Koch . acher Dampftopf . 
Dampftöpfen (Fig. 8) der Dampf eine Temperatur von 

höchstens 105° C erreicht, gestatten die Autoclaven (Fig. 9) eine Dampftem¬ 
peratur von 170° C, entsprechend ca. 6 at. Es muss aber bei den Auto¬ 
claven darauf geachtet werden, dass der Dampf luftfrei und gesättigt ist. In 
den Autoclaven sind auch die mit den widerstandsfähigsten Keimen inficirten 



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ßÄKTßUIf)U>aiSCH^ >NTEKSÜCB 13 NOSMßXÖÖDEN, 


OegeastHiidn io >jp sicher steriiigiri. In den Autodave#- werden;die wenig em¬ 
pfind!reben und koimreichen Nährboden wie Kärtoßeb; -'Ueisbrei, Brodhrei, 
Oblaten, sowie Instrumente etc. steniisirt 


Instrumente. 

Anf $iemi*cheni Wegrö körnen m*r solche Apparate steriBsiit werden, 

denen die verwendeten Pesiinficiea nicht 
schaden. So z, B, Han^ehukgegen- 
^ stände, Glaswaarer* etc. in Sublimat* 

Ääi ** e ^ oder 5%igem Tura&lin, Gewrthniteb 
wirken 4to Desiafections^nittel erwärmt 
oder itempifönnig besser als kalt- 
fiössig. Die ßesmfieieätia müssen aber 
nachher, sehr gut mit Sterilem Wasser 
ausgewaschen sverdeß, weil sich sonst 
r\ ihre desinfieirehde Wirkung noch nach- 

V: trägiicU in hherwßösehter- Weise t»e- 

merkhö v inachen würde. 

Beredt nng der willigsten Nährböden*) 

v) Eiweiß» ftfjti iV Jf ft 1* ö d en 

Iflaoh C. FhaS&ri< aod .‘foOBii.) 

KoclteaJi .Kwtr«k& käTiflicli^p $fia> 
tmfttp6o«;i>hät: hs&tmni&k 

6 ay. äspftragm -> y, Weiden ol HiOO / Wasacr 
gvio&t Man kam* 1Ö% 6elatmt> hd»r Ä gar 

%n»5i?tx(?a. A&cb’ Äudfeer. ■ 

«ach. I^friEK t Vit $3? 
fehi^htiokia» . wird öjii 11 

dÄsfe-‘\#iij9rkir' einem kali&Q 

öri si^liÄXi . füui dfttiri durch cio 

; ■^hch ta Wö*serhajs' oder 

^ AV * Kov;ü*tfchtffc. nüd filtriert; 

hierauf man . : iÖ;^‘..^d<3Ä^hi.^ Pepton und 
5 ^ Üodi^b ru, kocht und sötxfc dünn 
v.ö# önor Ka triufne*tbuoivtlösong so 

X lange yt»rsic*n, hi» lothcs «lue- 

jP . X$$hte' BiahfUrhung- zfeigE wenn<ri?acii das blaue *><& 
(P^höcdi::ctWa«.t'^thet: Dautrv/ird I-gekocht tue »I^h 
V .Üie/..nah>3li'c:h8ü Ei'wei^ioÄe v&a d*r vollkommen 
klaren Plh^igkvit abgeschieden bah^n. Nach dem 
Erkalten wird durch ein Pftiteüülter 

filtrirt nnd so eine «vaaserlißlle;k&un* gvftrbte. schwach 
alkrjtlisühe Bouillon erhalten, dio ^ich heim n^öh- 
herigon Sterili^lren nicht mehr trüben darf; eventuell 
nochmalige* Filtmen 

Milch: Frische Milch wird 


IH? h«4|# 


Flg. Q. Auiociar* 


IRHHIPPI.PP.|JP...|PP , r: . I....P,;din b<dröilfendeht 

tnit, Wattepfropf versehern*ji <^fas$© oder Öoppek 
j»chÄlclxöii eingefuilt und vduan entweder fiel 1^50° € 
in gespanntenj^^Darnpf lin^laMin.^stcocaetideni 
Bampfe bei .100 a C an Ä- h litemidideri'digenden Tag«*® 
je 20—30 Miu.' ,; . ' /• 

&i Fe t u Kü h r b PkU n! 

iO?« ipe Flcwh}rf&&rpijtfQwieJ(at i h nach Kots 
a3öd---l4Öi?>x ; Ri;;- 2u 1 1 Fioikvdibmhe (wie vorher bö- 
reitöt) werden tÖO «? fielatine sugesetit, umge^chbttidt 
und vorsichtig atu Wfurserbade tjis 2 um Sehte&lxen 
der Gelatmfi erwrhrrat. Hi^ranf J»^ntrahsnfh;m vvih 
l^ei der Bouillon, Kochen irol^t^pftripf durch Va^ had 
lieis^e» Piltrireu durch ein Fuhvnn jtei (im llcisst<it<Ä^>r> 
trichfer jFig, 1UJ oder iin DampftOpf).v i><t ge- 

') Irri Woscrvtriclien fn>rh Er^f^YHi.nr. 


■frtg.. tO; il CAW»'ÖJS 5 ?l*.ntj . 






BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHQBEN. 


139 


wonnene Gelatine muss schwach alkalisch reagiren,*) wasserhell und klar bleiben. Falls 
eine etwaige Trübung nicht von falscher Reaction oder zn kurzem Kochen herrührt wird 
mit Eiweiss oder Blutserum geklärt. 

Würzegelatine : Bierwürze wird mit 10% Gelatine versetzt, verflüssigt und das Ganze 
einige Zeit im Dampftopfe gekocht. Hierauf filtriren ohne zu sterilisiren. 

Milchserumgelatine nach Raskfne : 1 1 unabgerahmte Milch wird auf 60—70° C er¬ 
wärmt und dann 70—100 g Gelatine zugefügt. Nach dem Auflösen der letzteren wird einige 
Minuten gekocht, wobei das Casein ausfällt, welches durch Coliren entfernt wird. Die 

trübe Flüssigkeit wird etwa 20 Min. bei Bruttemperatur ge¬ 
halten, um das Fett an der Oberfläche sich sammeln zu 
lassen, dann lässt man sie erkalten und entfernt die Rahm¬ 
schicht. 

2 °U-iges fleischwasserpeptonagar nach Koch. Zu einem 
l Fleischbrühe werden 10 g Pepton und 5 g Kochsalz in einem 
Kolben zugesetzt, im Dampftopf eine Stunde gekocht, dann 
filtrirt und das Filtrat mit 20 g kleingeschnittenem Agar, das 
durch 24h mit Wasser aufgequellt und von letzterem durch 
ein Tuch abgepresst wurde, versetzt, hierauf nentralisirt, wozu 
man nur einige Tropfen conc. Natriumcarbonatlösung braucht. 
Hierauf muss die Flüssigkeit entweder über freiem Feuer im 
Sandbade, wobei öfters umgeschüttelt wird und das verdam¬ 
pfende Wasser nachgegossen werden muss, oder im Dampf¬ 
apparate stundenlang gekocht werden, bis eine vollständige 
Absetzung der zusammengeballten Eiweisskörper von der klaren 
Lösung stattfindet, was schneller durch Eiweisszusatz am 
Schlüsse erreicht wird; dann gelingt das Filtriren sogar ohne 
* Heisswassertrichter, während bei ungenügenderem Absetzen 
das Filtriren auch im Dampfapparate sehr schlecht und langsam 
vor sich geht. Dann sterilisiren. Das fertige Agar ist im 
flüssigen Zustande klar und wasserhell, im festen erscheint 
es etwas opak. 

Glycerin - Agar (Gelose-Glycerine) nach Nocard und 
Roüx. Zu dem fertigen Agar werden 6—8 % Glycerin zugefügt. 

Blutserum nach Löffler: Zu Fleischinfus werden 1% 
Pepton, 1% Traubenzucker und 05% Kochsalz hinzugefügt, 
mit Natriumcarbonat neutralisirt, auf dem Wasserbade bis 
zur völligen Ausfällung der Albuminate gekocht und filtrirt. 
Diese Bouillon wird im Dampfapparate sterilisirt und nach 
dem Abkühlen mit flüssigem Blutserum im Verhältnis von 
1:3 vermischt, hierauf wird event. discontinuirlich sterilisirt 
und bis zum Erstarren (bei 68° C) erwärmt. 

Rg. 11. Apparat »um Abmeesen . Blutserumgelatine: Steriliairtes Blutserum (durch discont. 
und Einfällen der Nährböden. Erwärmen auf 58° G durch 5—6 Tage je % h ) wird mit der 

gleichen Menge einer doppelt so conc. fertigen Gelatinelösung 
als man die fertige Blutserum-Gelatine haben will unter Erwärmung auf 37° C versetzt. 
" ---- - * ' ~ ... i_ 2 h auf r — 



Nach dem Mischen kann man einige Tage nach einander 


52° C. erwärmen. 


Festes Alkalialhuminat. Hühnereier werden 14 Tage mit ihrer Schale in 5—10% 
Lösung von Kalihydrat gelegt, wodurch das Eiweiss gelatineartig fest wird und einen Stich 
ins Gelbliche erhält, dabei aber durchsichtig bleibt. Dasselbe wird dann in feine Lamellen 
zerschnitten und nach Art der Kartoffelscheiben behandelt. Sterilisation im Dampftopf. 

Beducirende Nährböden (für Anaerobien) nach Kitasato-Weyl: Durch Zusatz von 
0*3—0'5% ameisensaurem Natrium zum fertigen Agar und folgender Sterilisation. 

Ungeschälte Kaiioffelhälften nach Koch: Die noch mit der Schale versehenen Kar¬ 
toffeln werden durch Bürsten gründlich vom groben Schmutz befreit, dann in 1% 0 Subli- 
matlösung abgewaschen und % h —l h in 1 % 0 Sublimatlösung liegen gelassen, hierauf mit 
Wasser gründlich abgespült und im Dampfapparat %— lh gekocht (im Autoclaven bei ca. 
130° = % h ). Die mit sterilisirten Händen und frisch ausgeglühtem Messer in 2 Hälften ge- 
theilten Kartoffeln werden dann in feuchten Kammern aufbewahrt. Feuchte Kammern sind 
übereinandergreifende flache Glasglocken, die am Boden und Deckel mit l%o sublimat¬ 
getränktem Papier an gefeuchtet sind. 

Geschälte Kartoffelcylinder nach Balton. Aus geschälten Kartoffeln werden mit 
einem Apfelstecher oder Korkbohrer, dessen Durchmesser etwas kleiner sein muss als der 
des Proberöhrchens, cylindrische Stücke ausgeschnitten und zur Ermöglichung einer grossen 


*) Nach dem praktischen Vorschlag K. B. Lehmann’s wäre es angezeigter neutrale 
Nährböden zu verwenden resp. den Säure- und Alkalitätsgrad von solchen Nährböden aus¬ 
gehend zu verleihen. Die neutralen Nährböden werden unter Verwendung von Phenol¬ 
phthalein als Indicator mittels Zusatzes von Natronlauge hergestellt (statt Soda). 


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BAKTEKIÖl-b0ISCHß UNTEHSCGHÜNGSMETHODEN, 


einiger «1er kv id»t%»lcn Bakterien • Arten.*} 

der Uebot^clmtr hez^ckvtsUn EigcMischafteri Ein fcetes Feld bedeutet fehlende Beobachtung* 
Verüfi&sign^g sek? iau^am srotnft. , ' : : . v _ - ■*' • 

j'ation dv-r. Mi leb. eMViintt bald an$i>Mht 
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142 


BELEUCHTUNG. 


Oberfläche diese Cylinder schief abgeschnitten, resp. durch einen schrägen Längsschnitt in 
2 gleiche Segmente zerlegt, die Material für 2 Reagenzgläser bieten. Sterilisation in den 
Reagenzgläsern an 3 aufeinanderfolgenden Tagen im Dampfapparat. 

Oblaten nach Schild : Oblaten werden mit einer Nährlösung gut befeuchtet, in einer 
Glasdose sterilisirt und bieten dann ein gutes Nährmaterial, besonders für chromogene 
Bakterien, die sich von der blendend weissen Unterlage gut abheben. 

Färbeflttssigkeiten: *) 

a) Farbstofflösungen: 

1. Wässerig-alkoholische Fuchsin- und Methylenblaulösung. Man bereitet sich eine 
conc. Stammlösung indem man in Flaschen die gepulverten Farbstoffe (Fuchsin, Mehylen- 
blau) mit absolutem Alkohol übergiesst, unter Umschütteln einige Stunden stehen lässt und 
filtrirt. Von dieser gesättigten Lösung wird 1 Theil mit 4 Theilen destill. Wassers gemischt 
und eventuell vor dem Gebrauche filtrirt. Um gute Präparate zu erhalten färbt man lieber 
längere Zeit mit schwächeren, als kurze Zeit mit starken Farblösungen. 

2. Ziehl'sche Lösung (Carboifuchsin): 


Fuchsin 1*0^ 

Acid. carbolic. liq. 5 0^ 
Alkohol 10*0 g 

Aq. dest. 90 0 g 


3. Anilinfuchsin : 4*0 Anilinöl werden mit 100^ Aq. dest. mehrere Minuten gut um* 
geschüttelt, hierauf wird filtrirt, bis alles Wasser klar abgelaufen ist. ln diesem Anilin- 
wasser werden 4 0 g Fuchsin gelöst und das Ganze nochmals filtrirt. 

4. Ehrlich'sehe Lösung (Anilin-Gentianaviolett): Zu 10*0 ccm Anilinwasser werden 
11*0 ccm einer alkohol. conc. Gentianaviolettlösung zugesetzt. Diese Lösung ist nicht lange 
haltbar. 

5. Löfflers Methylenblau: Zu 100 ccm Wasser, welches 1 ccm l°/ 0 -ige Kalilauge enthält, 
setzt man 30 ccm conc. alkohol. Methylenblaulösung. Die Färbekraft wird durch den Alkali¬ 
zusatz erhöht. 

6. Bismarckbraun . Herstellung wie Nr. 1 (färbt Gewebe gut, Bakterien schlecht.) 

7. Alauncarmin. In 100 ccm einer 5°/ 0 Alaunlösung gibt man 2 g Carmin, kocht eine 
Stunde lang und filtrirt. 

b) Differenzirungsmittel: 

1. Destill. Wasser 

2. Absoluter Alkohol 

3. Jodjodkaliumlösung nach Gram: 

Jod. pur. 10 

Kal. jodat. 2*0 

Aq. destill. 3000 

4. Schwefelsäure 25% 

5. Essigsäure 3% 

6. Saurer Alkohol: 

Alkohol. (90% 100 ccm 
Aq. destill. 200 ccm 
Reine Salzsäure 20 ccm 

c) Beizen zur Geisselfärbung. 

1. Löffler'sehe Beize : 

10 ccm alkohol. Fuchsinlösung. 

50 ccm kalt gesätig. Ferrosulfatlösung. 

100 ccm 20%-ige Tanninlösung. 

d) Aufhellungs- und Einschlussmittel. 

1. Xylol. 

2. Canadabalsam. 

3. Damarlack. K. KORXAUTH. 

Beleuchtung. Der Einfluss des Lichtes auf den menschlichen Orga¬ 
nismus ist ein sehr vielfacher; neben der physiologischen Einwirkung ist auch 
seine hygienische von grosser Bedeutung für das Wohlbefinden des Menschen. 
In erster Linie kommt hier die Beeinträchtigung unseres Sehorganes durch 


*) Nach Prof. H. B. Lehmahn „Atlas und Grundriss der Bakteriologie. 4 


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TAFEL II. 



A. Ausstrichpräparat von Streptoeoccen-Eitor. Färbung mit Methylviolett 

B. Aussti ichpräparat von Tripper-Eiter. Färbung mit Fuchsin 

€. Ausstrichpräparat von tuberculosem Sputum. Bakterienfärbung mit Carbolfuchsin. Gegen- 
färbnng mit Methylenblau. 

D. Ausstrich präparat von Influenza Sputum. Bacterienfärbung mit Carbolfuchsin. Gegen- 
färbnng mit Bismarkbraun. 

£. Ausstrichpräparat einer Cholerareincultar. Färbung mit Fuchsin. 

F Ausstrichpräparat einer Typhusoultur, Färbung mit Methylenblau. 

G. Gewebssaftausstrich von Milzbrand. Färbung mit Methylenblau. 

H, Ausstrich einer Diphtheriemembran nach Injection von Diphtheriesermu. Färbung mit 

Methylenblau. 

J. Ausstrichpraparat einer Tetaiiuscuitur. Färbung mit Carbolfuchsin. 

K. Recurrenzspirillen im Blut. Färbung mit Fuchsin. 


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Tafel II, Zu dem Artikel „Bakteriologische Untersuchungs-Methoden“. 















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BELEUCHTUNG. 


14B 


Mangel an Licht in Betracht, der nicht nur in den Wohnräumen, sondern 
auch in Schulen, Fabriken u. dgl. häufig noch immer zu finden ist. 

Man unterscheidet zwischen Tageslicht oder „natürlicher Beleuchtung“ 
und der „künstlichen Beleuchtung“. 

Die Helligkeit eines Raumes, bezw. die Intensität der Belichtung 
eines Platzes wird gewöhnlich photometrisch bestimmt, durch Vergleich mit 
der Intensität einer Normalkerze, deren Leuchtkraft man als Einheit annimmt. 
Diese Lichteinheit (NK) ist in den verschiedenen Ländern nicht gleich. In 
Deutschland wird als Lichteinheit die sogenannte Vereinskerze (VK) den 
Lichtmessungen zu Grunde gelegt. Hierunter ist eine Paraffinkerze (Paraffin 
vom Schmelzpunkt 55° C) von 20 mm Durchmesser und 50 mm Flammenhöhe, 
die stündlich 7 g Paraffin verbrennt, zu verstehen. Die Helligkeit wird in 
Meterkerzen (MK) ausgedrückt, d. h. diejenige Helligkeit, welche durch 
eine Normalkerze auf einer, 1 m entfernten weissen Fläche hervorgerufen wird. — 
Ausser der Normalkerze wird bei den neuerdings in Aufnahme gekommenen 
Beleuchtungsarten, die ein intensives Licht liefern, wie das Gasglühlicht, das 
elektrische Licht, die Hefnerkerze (HK), das ist das Licht einer Amylacetat- 
lampe von 8 mm Lichtweite und 40 mm Flammenhöhe, benutzt. 1 HK = 
1.162 VK. — In England misst man mit einer Wallrathkerze von 45 m»» 
Flammenhöhe (= 1107 VK) und in Frankreich mittelst der Carcel-Oellampe 
von 45 mm Flammenhöhe (= 0‘133 VK). 

Das zum Messen der Lichtintensität gebräuchliche Instrument ist das 
Photometer, von denen in neuerer Zeit das WEBER’sche Photometer 
sehr bevorzugt wird. Das letztere ist so construirt, dass in dem einen Rohr 
desselben die Normalkerze angebracht ist, deren Höhe nach einer neben einem 
Spiegel angebrachten Skala eingestellt wird. Das Licht dieser Normalkerze 
erleuchtet eine Milchglasplatte, die durch eine Schraube gegen die Flamme 
hin verschoben werden kann, oder umgekehrt von dieser sich entfernen 
lässt; der auf der der Flamme abgewandten Seite erzeugte Helligkeitsgrad 
wird zum Vergleich benützt. Die Entfernung der Normalkerze von der Milch¬ 
glasscheibe kann an einer aussen angebrachten Calibrirung abgelesen werden. 
So lange die Helligkeit der Flamme die gleiche bleibt, verändert sich die 
Entfernung zwischen dieser und der Platte nicht; bei 100cm beträgt die 
Helligkeit 1 MK; Je intensiver eine Beleuchtung ist, desto grösser muss die 
Entfernung von der Platte werden, um den gleichen Helligkeitsgrad zu er¬ 
halten, wie ihn die Normalkerze bewirkt. Die Helligkeit ergibt sich nach der 
X* 

Formel I = — 2 - C, worin I die gesuchte Intensität, X die Entfernung, bei 

der die Helligkeitseinheit besteht (also 100 cm), r die thatsächlich abge¬ 
lesene Entfernung der Lichtquelle und C eine Constante bedeutet, die für 
jedes WEBER’sche Instrument besonders zu bestimmen ist. 

Mit dieser beliebig abstufbaren, aber stets zahlenmässig ausdriickbaren 
Helligkeit vergleicht man die auf ihre Helligkeit zu untersuchende Lichtquelle 
oder den Grad der Belichtung einer Fläche, z. B. eines Schreibpultes. Für 
den letzteren Fall legt man ein weisses Blatt Papier auf die Fläche des Tisches 
und richtet das untere Rohr des Photometers. In diesem erscheint das Gesichts¬ 
feld durch eine Scheidewand getheilt und man sieht auf der einen Seite die 
von der Normalkerze beleuchtete Milchglashälfte, auf der anderen den von der 
zu untersuchenden Fläche erzeugten Beleuchtungsgrad der Milchglasplatte. 
Man schiebt letztere dann so lange hin und her bis beide Theile gleiche 
Helligkeit besitzen. Aus den Ablesungen berechnet man dann die Intensität 
der Beleuchtung nach NK. 

Mit Hilfe derartiger Bestimmungen ist nun ermittelt worden, dass das 
Lesen einer Probetafel von Menschen mit normalem Auge bei 5 MK in 
48—73 Secunden mit vielen Fehlern, bei 10 MK in 30—60 Secunden mit 


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144 


BELEUCHTUNG. 


einzelnen Fehlern, bei 20 MK in 22—26 Secunden und bei 50 MK in 
17—25 Secunden ohne Fehler möglich war. Daraus hat man gefolgert, dass 
zum deutlichen Erkennen gewöhnlicher Schrift, zum Lesen, Schreiben Hand¬ 
arbeiten und dgl. mindestens 10 MK erforderlich sind. 

Eine solche Helligkeit wird aber nur an solchen Arbeitsplätzen erreicht, 
die entweder directe Belichtung vom Himmelsgewölbe oder wenigstens reflec- 
tirtes Licht von den gegenüberliegenden Häusern erhalten. Die Helligkeit 
ist hierbei abhängig von der Grösse des betreffenden Stückes des Himmels¬ 
gewölbes, der vom Arbeitsplatz aus sichtbar ist, und vom Sinus des Einfalls¬ 
winkels der von diesem Stück kommenden Strahlen. Diese beiden die Hellig¬ 
keit eines Platzes beeinflussenden Componenten werden mittels des „Raum¬ 
winkelmessers“ von Webek bestimmt, der aus einer quadrirten Scheibe 
und einer vor dieser verschiebbaren Linse besteht. Der Apparat wird auf 
dem auf seine Helligkeit zu messenden Platze so aufgestellt, dass die Linse 
in richtiger Brennweite von der Papierscheibe sich befindet und auf letztere 
die den Platz beleuchtende Himmelsfläche im verkleinerten Bilde projicirt. 
Die Zahl der von dem Bilde bedeckten Quadrate der Papierscheibe gibt die 
Zahl für den Raumwinkel des betreffenden Platzes an, bezw. die Grösse der 
Himmelsfläche, von der dieser sein Licht bezieht. Der Einfallswinkel der 
Strahlen lässt sich durch Neigung der Papierscheibe, bis das Bild des Himmels¬ 
gewölbes gleichmässig sich um ihren Mittelpunkt vertheilt, feststellen. 

Durch Versuche ist festgestellt worden, dass obige für die normale Be¬ 
lichtung eines Platzes nothwendigen 10 MK. mindestens 50 Quadraten des 
Raumwinkelmessers entsprechen. Dieses Maass ist daher zu fordern, um auch 
an trüben Tagen das zum Lesen, Schreiben etc. nothwendige Licht zu haben. 

Die natürliche Beleuchtung unserer Aufenthaltsräume ist abhängig: 
1. Von der Grösse der Fensterfläche, die in bewohnten Räumen wenigstens 
Vi« der Bodenfläche des Zimmers, in Schulen, Zeichensälen und dgl. nicht 
unter % der Bodenfläche betragen soll. — 2. Von der Grösse des Oeffnungs- 
winkels oder freien Himmelsstückes, welches den Raum beleuchtet und dem 
Einfallswinkel der Lichtstrahlen (s. oben Raumwinkel). Je steiler der Winkel, 
um so heller wird der Raum. Da dafür gerade der obere Theil der Fenster 
sehr wichtig ist, so soll man diese bis möglichst dicht an die Decke erwei¬ 
tern. Fehlerhafter Beleuchtung eines Raumes lässt sich daher sehr häufig 
durch sog. „Tageslichtreflectoren“ abhelfen. — 3. Von der Entfernung 
der belichteten Fläche vom Fenster. Aus diesem Grunde soll die Zimmertiefe 
bei einseitiger Belichtung höchstens 1 so gross sein, als die Entfernung 
des oberen Fensterrandes vom Fussboden beträgt. 

Von Belang sind ferner noch die Beschaffenheit des Glases der Fenster 
(Färbung, Dicke und Güte), und der Anstrich der Wände, Decken, Thüren, 
Oefen. Räume, wo viel Licht gebraucht wird, sollen nur helle Umfassungs¬ 
flächen besitzen, womöglich mit gelblichen oder gelblichrothen Tönen. Wie 
wichtig dieser letztere Punkt ist, geht daraus hervor, dass gelbe Tapeten von 
dem auf sie fallenden Lichte 40% reflectiren, blaue nur 25%, dunkelbraune 
13%, schwarzbraune 4%, schwarzes Tuch 1*2% und helles Tannenholz 
40—50%. 

Wir sind nicht in der Lage, zu jeder Zeit über natürliches Licht ver¬ 
fügen zu können, sondern ein grosser Theil des Tages erfordert eine künst¬ 
liche Beleuchtung. Wie an die natürliche Beleuchtung, haben wir auch 
an die künstliche hygienische Forderungen zu stellen, unter denen die 
genügende Helligkeit den ersten Platz einnimmt. Diese ist wie bei der natür¬ 
lichen Beleuchtung auf mindestens 10 M K zu normiren, sie soll keine Inten¬ 
sitätsschwankungen zeigen und der Farbe des Lichtes bei der natürlichen 
Beleuchtung möglichst nahe kommen. Eine Abweichung von letzterer muss 
unbedingt durch farbige Cylinder corrigirt werden. Weiter ist zu verlangen, 


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BELEUCHTUNG. 


145 


dass keine Belästigung durch strahlende Wärme stattfinde und die Wärme- 
production die Temperatur des Baumes nicht zu sehr steigere. Schliesslich 
dürfen die Leuchtmaterialien keine gesundheitsschädigenden Verunreinigungen 
an die Luft des Wohnraumes abgeben, nicht explosions- oder feuergefähr¬ 
lich sein. 

Was im Speciellen die einzelnen Forderungen anbetrifft, so ist über 
die erste derselben, die Helligkeit, bereits Einiges bei der natürlichen Be¬ 
leuchtung gesagt worden. Die Helligkeit eines Raumes wird nicht nur ab¬ 
hängig sein von der Art der Beleuchtung und ihrer Lichtstärke, sondern 
auch von der Vertheilung der leuchtenden Körper. Wenn ein Raum die nor¬ 
male Helligkeit von 10 MK besitzen soll, so werden, vorausgesetzt, dass seine 
Umfassungsflächen hell gehalten sind, für je 30—40 m 3 Inhalt 16 NK Licht¬ 
intensität mindestens erforderlich sein. Handelt es sich um die Beleuchtung 
einzelner Arbeitsplätze, so soll jeder derselben seine besondere Lichtquelle und 
zwar vorne links angebracht, erhalten. Schulräume, Zeichensäle werden durch 
an die Decke befestigte Beleuchtungsgegenstände, die zweckmässig vertheilt 
sind, erhellt. Wegen der strahlenden Wärme soll man offene Flammen 
möglichst vermeiden und, wo dies nicht thunlich ist, von den Köpfen der 
Menschen wenigstens 1 m weit, Argandbrenner, die keine Glasunterschalen 
besitzen, 150 m, mit solchen wenigstens 0.75 m entfernt anbringen. 

Offene Flammen besitzen zudem den Nachtheil, dass sie stark flackern. 
Sehr empfehlenswerth sind Vorrichtungen zur indirecten Beleuchtung durch 
hohes Anbringen der Beleuchtungsgegenstände und unter den Flammen be¬ 
findliche Reflectoren, da diese eine gleichmässige Vertheilung des Lichtes ge¬ 
statten, keine lästigen Schatten, kein Blenden beim Hereinsehen und keine 
strahlende Wärme verursachen. 

Ueber die Leuchtkraft der einzelnen Beleuchtungsmaterialien gibt die 
weiter unten von F. Fischer und Esmarch zusammengestellte Tabelle eine 
Uebersicht. 

Hinsichtlich der Beeinflussung des Lichtes durch Gläser und Schirme 
ist zu bemerken, dass nach einer Zusammenstellung von Esmarch’s der Licht¬ 
verlust bei senkrecht durchfallendem Licht beträgt bei: 

Einfachem Fensterglas 4 °/ 0 , Spiegelglas 8 mm dick 6—10%, doppeltem 
und Glockenglas 9'13%, mattgeschliffenem Glas 30—60%, Milchglas 30 
bis 75%. 

Durch Reflection von Scheinwerfern können verloren gehen: 

2— 5% bei polirtem Weissmetall, 7—15% bei weiss emaillirtem Blech, 

3— 7% bei belegtem Spiegelglas, 10—17% bei weisslackirtem Blech. 

Umgekehrt lässt sich durch passende Form des Schirmes in bestimmter 

Richtung hin eine Lichtverstärkung herbeiführen, die nach Esmarch ver¬ 
glichen mit der Flamme ohne Schirm betragen kann: 

Durch einen lakirten Blechschirm ca. das 9 fache 
» » polirten „ „ „ 64 „ 

„ „ Milchglasschirm „ „ 30 „ 

„ „ Papierschirm mit Glimmer ca. das 23 fache 

„ „ Halbkugelscheinwerfer ca. das 260 fache. 

Im Tageslicht finden sich 50% blaue, 18% gelbe und 32% rothe Strahlen; fast 
alle künstlichen Lichtquellen enthalten dagegen mehr gelbe und rothe und wenig 
violette Strahlen; letztere sind aber im elektrischen Bogenlicht in grosser 
Menge vorhanden. Unser Auge ist bei gewissen Helligkeitsgraden für den 
gelben Theil des Spectrums weitaus am empfindlichsten. Das Vorwiegen der 
gelben Strahlen in unseren Lichtquellen lässt sich durch blaue Glascylinder 
abschwächen. Dem Gaslicht kann man durch „Carburiren,“ d. h. Ira- 
prägniren mit kohlenstoffreichen flüchtigen Substanzen, wie Benzin, Ligroin, 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Med. 10 


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146 


BELEUCHTUNG. 


eine weisse Farbe geben. Auf Carburation beruhen auch die Albocarbon- 
b renn er, in denen das Leuchtgas mit Naphtalindämpfeu gemischt zur Ver¬ 
brennung gelangt. Ein sehr weisses Licht liefern ferner die Regenerativ¬ 
brenner, das Gasglühlicht, Spiritusglühlicht und das elektrische Licht. 

Ueber die Eigenschaften der einzelnen Lichtspender gibt zunächst nach¬ 
folgende, von F. Fischer und Rubner zusammengestellte Tabelle Auskunft: 



Lampen 

Berechnet auf 

100 Kerzenstunden 

.«•-<73 

ssj 

i=‘l 


© 

© U 

•o 3 

ll 

K £ 

0 

3 

m 

o 

M 

Verbrauch 

a 

ü 

ec 

C 

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X 

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73 

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B 

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*3 ^ £ 

2 o ß 

- 

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©.So 

l S» 

■5 g 0 

71 X 



Pf. 


Pf. 

K 

K 

w 

w 


Cal. 

) Stearin 

1 

1*3 

920 g 

130 

118 

104 

8100 

— 


87 

i Kerzen } ^ ^ 

1 ) Paraffin 

1 

1 2 

770 „ 

120 

1-22 

0-99 

7980 

1080 

045 

82 

) Flachbrenner 

4 

06 

600 , 

132 

0 95 

0 80 

6240 


— 

10 8 

Erdöl [ 

J Rundbrenner 

25 

1-9 

330 , 

,3 

053 | 044 

3432 

1080 

— 

| 10 6 

Spiritusglühlicht 

3G 

3-3 

270c/w 3 i (8*0) 

0 38 

025 

1247 

— 

— 

(12) 




220 ff) 

91 







1 Schnittbrenner 

12 

2*9 

16 w 3 

25*6 

0 91 

1*71 

! 8480 

820 

035 

62 

Leuchtgas . Argandbrenner 

25 

48 

1-2 

19 2 

0-68 

1-28 

6360 

700 

— 

61 

1 Glühlicht , 

46 

22 

025, 

4-5 

012 

021 

1060 

140 

0 75 

1 0 

| Elektrisches Glühlicht , 

j i 

1 ^ 

41 

— 

27 3 

0 

0 

400 

250 

7*14 

2 2 


B e i 100 VK Helligkeit erzeugen 


| 

| Wasser 1 

1 in kg C0 2 kg 

Cal. | 

Petroleum : 

Wasaer 

kg 

"cor 

h 

Cal. 

Elektrisches Bogenlicht , 

0 

Spur 

57 

gross. Rundbrenner 

0 25 

0 62 

2073 

Elektrisches Gl ülilicht j 

0 

0 

200 

, Flachbrenner 

0 76 

1*88 

6220 

Gas, Siemensbrenner 

! 0 3 

0 39 

1843 

Oellampe 

0*85 

200 

6800 

„ Glühlicht 

0 64 

070 

3700 

Paraffinkerze 

0-91 

223 

7615 

„ Argandbrenner 

069 

0 88 

4213 

Stearinkerze 

0-94 

2 44 

7881 

„ Zweilochbrenner | 

, 2-14 

2-28 

12150 

| Talgkerze 

1 

0 94 

1 

2 68 

8111 


Die Wärmestrahlung beträgt nach anderer Berechnung auf 1 cm* in 
37'5 cm Abstand von der Lampe in 1 Minute in Mikrocalorien (1 mg Wasser) 
bei der elektrischen Glühlampe 2‘38, beim Argandbrenner 8‘0, Petroleum¬ 
lampe 13 - 22 und AuER’schem Glühlicht l - 83, und die ungefähren Kosten für 
16 NK. Lichtstärke pro Brennstunde sind durchschnittlich: bei elektrischem 
Glühlicht 3 Pfg., Gasglühlicht 0 7 Pf., Spiritusglühlicht, 2‘5 Pf., Argand¬ 
brenner 2*5 Pfg. und Petroleumlampe 2 Pfg. 

Die Lichtintensität der Kerzen wird zu 0'7—3 VK. gerechnet, das Licht 
flackert, producirt viel Wärme und ist theuer. 

Oellampen, die eine Helligkeit von 3—4 VK. liefern, geben eine 
starke Wärmeentwickelung; das Gleiche gilt für Petroleum, das aber billiger 
ist wie die beiden vorhergehenden. 

Das Petroleum, Erdöl oder Mineralöl, findet sich in der Natur (in 
Nordamerika, am kaspischen Meer u. a. 0. m.) vor, und muss, da das Roh- 


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BELEUCHTUNG. 


147 


material sehr leicht flüchtige Bestandteile enthält, daher feuergefährlich und 
mit Luft gemischt explosionsfähig ist, für Brennzwecke gereinigt werden. Es 
geschieht dies durch fractionirte Destillation des Rohöles, wobei die bei 
150 bis ca 300° C (spec. Gewicht 0*8) siedenden Anteile als „Brennöl“ be¬ 
nützt werden. Dasselbe wird von Verunreinigungen durch Schütteln mit conc. 
Schwefelsäure und Soda oder Natronlauge und schliesslich mit Wasser befreit. 
Die leichter siedenden Anteile des Rohöles kommen als Naphta, Benzin, 
Ligroin, Petroläter und unter anderen Bezeichnungen für verschiedene Zwecke 
in den Handel. 

Das Petroleum ist ein Gemenge von Kohlenwasserstoffen, die brennbar 
sind; da häufig Petroleum in den Handel gebracht wurde, welches die niedrig¬ 
siedenden Anteile des Rohöles enthielt und deshalb explosiv war, so hat 
man behördlicherseits die Beschaffenheit des Brennpetroleums in vielen Staaten 
durch gewisse Vorschriften zu fixiren gesucht. So schreibt das deutsche 
Reichsgesetz vom 14. Mai 1879 vor, dass Petroleum, welches bei 21° C und 
760 mm Barometerdruck entflammbare Dämpfe entwickelt, die Aufschrift 
„Feuergefährlich“ erhalten muss. Die Prüfung geschieht in einem besonders 
vorgeschriebenen und von der kais. Normalaichungscommission geprüften 
Apparate, der eine Modification des in England gebräuchlichen „ABEL’schen 
Petroleumprüfers“ vorstellt. 

Bei kleineren Petroleumlampen schwankt die Lichtstärke zwischen 
7—10 VK., bei grösseren zwischen 10—60 und noch mehr VK. 

Das Leuchtgas (Steinkohlengas) wird durch trockene Destillation 
der Steinkohlen (auch aus anderen fossilen Kohlenarten) in besonderen 
Fabriken hergestellt. Das rohe Gas wird daselbst von seinen Verunreinigungen 
wie Wasserdämpfen, Schwefelverbindungen, Ammoniaksalzen, Kohlensäure, 
Theer gereinigt und stellt dann ein farbloses Gas von charakteristischem 
Geruch vor, das in seiner Zusammensetzung sehr schwankt. Es enthält 
Schwere Kohlenwasserstoffe 3—6'5% 

Sumpfgas (Methan) und leichte Kohlenwasserstoffe 38—60 „ 
Kohlenoxyd 4— 9 „ 

Stickstoff 2'5— 4 „ 

Kohlensäure 0 4—3 5 „ 

Wasserstoff 44— 48 „ 

Schwefelwasserstoff mitunter in Spuren. 

Hygienisch ist besonders der Gehalt an dem stark giftigen Kohlenoxyd 
wichtig, der häufig zu Vergiftungen geführt hat, theils durch directes Aus¬ 
strömen des Gases aus den Leitungen innerhalb des Wohnraumes, theils auch 
dadurch, dass Strassenleitungen undicht wurden und das Gas durch den Erd¬ 
boden hindurch namentlich wenn dieser gefroren war, in die Wohnräume 
drang. Pettenkofer hat mehrere derartige Unglücksfälle beschrieben. 
Während das im ersten Falle ausströmende Gas sich durch seinen Geruch 
bemerkbar macht, verliert das Gas beim Passiren des Bodens meist seinen Geruch 
und wird dadurch gefährlicher, weil die Bewohner nicht auf die Gefahr auf¬ 
merksam werden. 

Bei der Verbrennung des Leuchtgases wird das Kohlenoxyd in Kohlen¬ 
säure uragewandelt. Die Verbrennungsproducte der schwefelhaltigen Beimen¬ 
gungen des Leuchtgases, bestehend aus schwefeliger Säure, schädigen die im 
Zimmer befindlichen Pflanzen und Gegenstände. 

Die leichten Kohlenwasserstoffe sind mit Luft gemengt explosiv. Die 
Explosion erfogt, wenn auf 1 Vol. Leuchtgas 6—10 Vol. Luft kommen. Die 
Stärke der Luftverunreinigung durch die Verbrennungsproducte des Gases 
geht aus obigen Tabellen hervor. 

Bei der Gasbeleuchtung kommt es vor allen Dingen auf die richtige 
Zufuhr der Luft an. Bei zu viel Luft leuchtet in Folge der vollkommenen 

io* 


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148 


BELEUCHTUNG. 


Verbrennung die Flamme nicht (Bunsenbrenner), bei zu wenig Luft ist die 
Verbrennung eine zu unvollkommene und die Leuchtkraft, da dieselbe 
abhängig ist von dem Grade der Weissgluth, in der sich die 
in der Flamme ausgeschiedenen oder absichtlich in dieselbe 
hineingebrachten festen Körper befinden, deshalb eine sehr geringe. 

Die Leuchtkraft hängt in zweiter Linie auch von der Güte des Gases 
ab; besonders sind es das Benzol, Aethylen, Acetylen, Propylen und Butylen, 
welche die Leuchtkraft des Gases bedingen. Desshalb muss das in Gas¬ 
anstalten dargestellte Leuchtgas photometrisch untersucht werden und zwar 
geschieht dies gewöhnlich unter Verwendung eines von Elster in Berlin con- 
struirten Argandbrenner, in dem 1 m 8 Gas durchschnittlich 100 VK. Licht 
(1 VK. = 10 Liter Gas) geben soll. Auch der Druck des Gases ist für die 
Helligkeit der Flamme von Belang. 

Um bei wenig Gasverbrauch eine möglichste Helligkeit zu erzielen, hat 
man den Brennern verschiedene Construction gegeben. Die primitivste Ein¬ 
richtung bilden der Einlochbrenner, Zweiloch- und Schnittbrenner, 
die eine freie flackernde Flamme von geringer Leuchtkraft liefern. Letztere 
entspricht bei 30—250 / stündlichem Gasverbrauch einer Helligkeit von 
8—15 VK. Vollkommener sind die Rundbrenner, Argandbrenner, die 
eine cylindrische Form mit feinem Schlitz oder einer Reihe kleiner Oeffnungen 
besitzen, und bei denen der Luftzutritt durch einen Cylinder von innen und 
von aussen zu beiden Seiten des Flammenkegels regulirt wird. Ihr Gas¬ 
verbrauch beträgt 120—240/ per Stunde, die Helligkeit 15—20 VK. 

Da, wie oben erwähnt wurde, die Leuchtkraft abhängig von der Weiss¬ 
gluth der in der Flamme ausgeschiedenen festen Partikelchen (bei unseren 
Leuchtmaterialien werden diese von Kohlenstoff oder Russ gebildet) und das 
Weissglühen wiederum durch die Temperatur der Flamme bedingt ist, so lag 
es nahe, vorgewärmte Luft dem vorgewärmten Leuchtgase zuzuführen und 
auf diese Weise die Verbrennungstemperatur und damit das Leuchten zu 
steigern. Zugleich muss bei den nach diesem Princip eingerichteten Lampen 
eine Gaserspamis eintreten. Derartige Gaslampen sind die Butzke-, Wenham- 
lampe und vor allen Dingen der diesen als Vorbild gewesene SiEMEN.s’sche 
invertirte Brenner (Regenerativbrenner). Das Gas tritt bei diesen 
Brennern an dem unteren Rande eines Porcellancylinders aus einem Brenner¬ 
kranze aus und brennt von aussen nach innen um den Kranz herum, worauf 
die heissen Verbrennungsgase durch einen central über dem Brenner befind¬ 
lichen Abzug entweichen. Die zutretende Luft wird durch besondere Canäle, 
die von den heissen Verbrennungsgasen erwärmt sind und ihre Wärme an 
diesen Luftstrom abgeben, der Flamme zugeleitet. Vielfach hat man diese 
Lampen zugleich zum Ventiliren von Räumen benutzt. Wegen der inten¬ 
siven Lichtstärke lassen sie sich unmittelbar unter der Decke eines Raumes 
anbringen. Die Leuchtkraft der invertirten Brenner schwankt je nach ihrer Con¬ 
struction und Grösse bedeutend. Der SiEMENs’sche z. B. gibt bei 320—1240 l 
Gasverbrauch pro Stunde Lichtstrahlen (unter 45° gemessen) von 70—360 NK., 
die Meteorlampe bei 230—1050/ Gasverbrauch pro Stunde 60—335 NK., 
die BuTZKE’sche mit 455—1250/ Gasconsum ca. 160—452 NK. 

Ein bedeutender Fortschritt in der Beleuchtungstechnik ist durch die 
Erfindung des Gasglühlichtes gemacht worden. Dasselbeberuht auf dem 
Princip in nicht leuchtende Flammen von hoher Temperatur (Bunsenflammen) 
feste, nicht flüchtige Körper, die beim Weissglühen ein intensives Licht aus¬ 
strömen, wie die Oxyde des Thoriums, Cers, Didyms, Zirkons, einzuführen. 
Ein Vorläufer dieses Gasglühlichtes war das ÜRüMOND’sche Kalklicht, bei 
welchem ein Kalkcylinder in der Wasserstoffflamme in intensive Weissgluth ver¬ 
setzt wurde. Ritter Auer von Welsbach gebührt das Verdienst, diesen Ge¬ 
danken in praktisch verwerthbare Form gebracht zu haben. Die sogenannten 


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BELEUCHTUNG. 


149 


Glühkörper bestehen aus einem feinmaschigen Asbestgewebe, das mit sehr 
geringen Mengen der genannten Oxyde, .namentlich demjenigen des Thoriums, 
imprägnirt und mittels eines Metallstiftes über einer Bunsenflamme befestigt 
ist. Vorzüge des Gasglühlichtes sind einmal die enorme Gaserspasnis (28— 
50%) gegenüber anderen Brennern, geringere Verunreinigung der Luft durch 
Verbrennungsproducte, Erhöhung der Leuchtkraft fast mehr als um das doppelte 
beim Argandbrenner, gleichmässige Lichtverthoilung. Ein Nachtheil ist noch 
der hohe Preis der Brenner und die öftere Erneuerung derselben (nach ca. 
800 Brenn stunden.) Die Helligkeit des Gasglühlichtes schwankt zwischen 
30—60 VK. bei einem stündlichen Gasverbrauch. 

Mehr untergeordnete Bedeutung hat das aus Petroleumrückständen oder 
Abfallfetten bereitete Fettgas; es eignet sich wegen seiner Leuchtkraft und 
geringeren Wärmeproduction für kleinere Betriebe (Eisenbahnbeleuchtung, 
Krankenhäuser etc.). Das Russen seiner Flammen ist aber jedenfalls noch 
ein grosser Nachtheil. 

Wassergas, durch Ueberleiten von Wasserdämpfen über glühende 
Kohlen bereitet, besteht im Wesentlichen aus einer Mischung von Wasserstoff 
mit Kohlenoxyd (bis 50%) und brennt deshalb mit nicht leuchtender Flamme. 
Um es für die Beleuchtung zu verwenden, muss es carburirt (s. oben), oder 
durch einen Glühkörper zum Leuchten gebracht werden. Die grosse Giftig¬ 
keit des Gases hat bisher seine Einführung in die Beleuchtungspraxis ver¬ 
hindert. 

In neuerer Zeit hat man nach dem Princip des Gasglühlichtes auch 
Spiritus- und Petroleumlampen mit Glühkörpern versehen (Spiritusglüh¬ 
licht und Petroleumglühlicht). Diese scheinen sich zu bewähren und 
besitzen manche Vorzüge. Der Spiritusverbrauch ist ein geringer (stündlich 
70—80^), die Lichtstärke bis 70 HL. 

Das aus Calciumcarbid hergestellte Acetylenlicht hat trotz seiner 
Helligkeit (34 bis 52 HK.) noch wenig oder gar keine praktische Verwendung 
gefunden. 

Von hoher hygienischer Bedeutung ist das elektrische Licht. Auf die 
Einrichtungen der Anlagen für Erzeugung elektrischer Ströme hier einzugehen, 
muss sich Referent versagen und bezüglich derselben auf die elektrotech¬ 
nischen Handbücher verweisen. Hier möge nur erwähnt werden, dass elek¬ 
trische Wechselströme bei Berührung in der Stärke von 100 Volt (Spannung) eine 
merkbare, von 200 Volt eine unangenehme, 500 Volt eine schmerzhafte Em¬ 
pfindung hervorrufen und 1000 Volt lebensgefährlich werden können. Gleich¬ 
ströme sind weit ungefährlicher, weil sie niemals so hohe Spannung besitzen. 
Man unterscheidet zwischen Glüh- und Bogenlicht. Das erstere ist in 
Farbe und Zusammensetzung dem gewöhnlichen Gaslicht sehr ähnlich, strahlt 
im Vergleich zu anderen Beleuchtungsmaterialien sehr wenig Wärme 
aus, bietet nur geringe Gefahren, keine Luftverschlechterung, nur der 
in der luftleergemachten Birne befindliche Platinfaden oder der mittels 
galvanoplastischen Verfahrens verkupferte Kohlefaden liefert beim Glühen 
einen so hohen Glanz (Flächenhelligkeit), dass eine Blendung durch 
grösseren Abstand der Lampen vom Auge oder Benutzung von lichtzerstreuen¬ 
den Glassorten angebracht werden muss. Die Glühlampen besitzen gewöhnlich 
eine Leuchtkraft von 16—32 NK., jedoch werden auch solche von 8—500 NK. 
angefertigt. Ihre Brenndauer beträgt 800—1000 Stunden. — Das Bogenlicht, 
hervorgebracht durch den Lichtbogen zwischen zwei mit den Polen der Ma¬ 
schine verbundenen Kohlenstäben, ist sehr grell; es muss deshalb stark ab¬ 
geblendet werden und eignet sich vornehmlich zur Beleuchtung sehr grosser 
Räume und freier Plätze. Die Helligkeit der meistgebräuchlichen Lampen 
schwankt sehr, je nach ihrer Construction (zwischen 250—3000 NK.), doch 
kann man die absolute Intensität bis auf 20000 Kerzen und darüber treiben. 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


Das Bogenlicht erreicht aber nur in seltenen Fällen bei ausgezeichneten 
Regulatoren die ruhige Gleichmässigkeit des elektrischen Glühlichtes. 

Nach L. Weber steht — wenn wir die Vorzüge der einzelnen Beleuch¬ 
tungsarten vergleichen — hinsichtlich der Lichtfarbe in erster Linie das 
Bogenlicht, es folgen der Reihe nach das Gasglühlicht, Albocarbongas, die 
Regenerativ- oder invertirten Brenner, elektrische Glühlampen, grosse Petro¬ 
leumbrenner, Gaslicht, gewöhnliche Petroleumlampe und zuletzt Oellampen 
und Kerzen. Was die Helligkeit anbetrifit, so lässt sich aus obigen Tabellen 
das Nöthige entnehmen. Das Zucken ist am geringsten bei elektrischen 
Glühlampen, Petroleum-, Oellampen, Auerlicht und Siemensbrenner, dann 
kommen Argandbrenner. Gar keine Luftverschlechterung durch Verbrennungs¬ 
gase geben nur die elektrischen Glühlampen und ihnen folgen die Siemens- 
schen Regenerativbrenner; sehr gering ist sie auch bei Auerlicht. Geringe 
Wärmestrahlung ist vorhanden bei den Glühlampen, Gasglühlicht und Bogen¬ 
licht, am gefahrlosesten im Betriebe sind Oellampen, Kerzen und elektrische 
Glühlampen. Eine unbedingte Empfehlung einer Beleuchtungsart als beste 
unter allen und für alle Verhältnisse passend ist nicht möglich. Als hygie¬ 
nisch beste ist aber unzweifelhaft die elektrische Beleuchtung anzuseben und 
zwar für kleinere Räume Glühlicht, für grössere zweckmässig abgeblendetes 
Bogenlieht. Für Privaträume, Arbeitsplätze, kurz Räume ohne Ventilations¬ 
einrichtungen, werden nächst dem elektrischen Licht das Gasglühlicht und die 
besseren Petroleumlampen in Betracht kommen. b. proskauer. 

Blinden-Anstalten. Nur wenige Blindenanstalten verfolgen den Zweck, 
ihren Pfleglingen durch augenärztliche Hilfe, das verlorene, geschwächte oder 
gefährdete Sehvermögen wieder zu geben. In Oesterreich-Ungarn bestehen 
nur an dem Prager Privat-Blinden-Erziehungs-Institute Einrichtungen für 
Augenoperationszwecke, und alljährlich werden daselbst durch einen hervor¬ 
ragenden ärztlichen Fachmann Augenoperationen an einer namhaften Zahl 
von blinden Kindern vorgenommen, wodurch sich diese Anstalt zu einer Art 
Augenklinik qualificirt. In der Regel haben die Blinden-Anstalten, deren 
es in sämmtlichen Culturstaaten des Erdballs gegen 200 gibt, die Aufgabe, 
unheilbar Erblindeten eine entsprechende Bildung und Fürsorge angedeihen 
zu lassen. Bildungsfähige Blindgeborene oder frühzeitig d. h. zu einer Zeit 
Erblindete, wo das Erinnerungsvermögen etwa empfangene Seheindrücke nicht 
zu reproduciren vermag und daher einen Unterschied zwischen diesen und 
den Blindgeborenen nicht bemerken lässt, werden Blindenbildungs¬ 
anstalten zugewiesen. 

Blinde Kinder vorschulpflichtigen Alters, also bis zum 7. Lebensjahre, 
erhalten in Asylen für blinde Kinder, wie in Wien, Hernals, oder soge¬ 
nannten Vorschulen für blinde Kinder, wie Moritzburg bei Dresden, Bennekom 
bei Amsterdam u. a. eine dem fehlenden Sinnesorgan angepasste Kinder¬ 
gartenerziehung und werden so für die Aufnahme in die Blinden-Erziehungs- 
Anstalten entsprechend vorbereitet. 

Bei der vielfach verfehlten, von missverstandener Liebe oder von 
drückender Armuth ungünstig beeinflussten Erziehung der im zarten Jugend¬ 
alter stehenden blinden Kinder ist es eine Hauptaufgabe der Blindenvorschule 
zunächst dem leiblichen Elende der Zöglinge abzuhelfen, ihrer Unbeholfenheit 
und Unsicherheit im Gebrauche der Leibesglieder entgegenzusteuern, sie von 
üblen Angewöhnungen zu befreien und durch entsprechende Uebung der übrig¬ 
gebliebenen Sinne, insbesondere des Gehörs und des Tastsinnes so weit zu 
entwickeln, dass sie für den späteren Anstaltsunterricht befähigt werden. 
Uebungen im An- und Auskleiden, Waschen und Kämmen, im Knoten- und 
Schleifenbinden, entsprechende Auswahl FRöBEL’scher Kindergartenbeschäfti¬ 
gungen und Spiele, Formen in Wachs und Thon, leichte Turnübungen be- 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


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sonders das Hand- nnd Fingerturnen müssen in der Blinden-Vorschule mit 
dem auf die übriggebliebenen Sinne basirenden Anschauungsunterricht 
zweckmässig abwechseln, den Thätigkeitstrieb der blinden Kinder wecken 
und beleben, so den Elementarunterricht anbahnen und die Grundlage für 
die spätere Anstaltserziehung schaffen. 

Die eigentlichen Blinden-Erziehungs-Institute, welche Zöglinge 
schulpflichtigen Alters, also vom 6. bis 14. Lebensjahre aufnehmen und in der 
Regel bis zum 20. Lebensjahre behalten, haben die Aufgabe, ihre Zöglinge 
körperlich, geistig und moralisch zu bilden und dieselben durch Anleitung zu 
einem geeigneten Lebenserwerb zu nützlichen und möglichst selbständigen 
Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen. Der Unterricht gliedert 
sich in einen literarischen, musikalischen und industriellen. 

Die allgemeine Bildung, welche sich in den meisten Blinden-Erzie- 
hungs-Anstalten im Rahmen der Volks- und Bürgerschule bewegt, bezweckt die 
Entwicklung aller körperlichen und geistigen Anlagen der blinden Schüler, 
um sie hiedurch zu sittlich-religiösen, für alles Gute und Edle empfänglichen 
und nützlichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu machen. Ohne 
diese allgemeine Bildung würden sie, wie die Erfahrung lehrt, in Stumpfsinn 
und Müssiggang verfallen und zu lebenslänglicher Passivität verurtheilt sein. 
Die Blinderi-Erziehungsanstalt muss daher bestrebt sein, alle Gebiete des 
Wissens und Könnens, wie sie durch die allgemeine Volksschule vermittelt 
werden, zu pflegen; denn die Bildung ist es, welche dem Blinden eine neue 
innere Welt der Vorstellungen, Gedanken und Gefühle erschliesst und ihm 
Ersatz bieten soll für die ihm verschlossene Aussenwelt. Die Summe der auf 
den verschiedenen Gebieten erworbenen Kenntnisse belehrt ihn über das 
höchste Wesen und die Welt, sie senkt trostreiche Hoffnungen in sein um- 
nachtetes Herz und lässt ihn des Lebens Finsternis leichter ertragen; sie 
zeigt ihm, wie alles Irdische unvollkommen ist und das wahre Glück nicht 
im äusseren Glanze, im Besitz und Genuss, sondern in der inneren Seelen¬ 
zufriedenheit besteht, die auch jeder Blinde erreichen kann, wenn er seine 
Wünsche und Bedürfnisse mit seinen äusseren Verhältnissen in Einklang zu 
bringen versteht. Auch die Achtung seiner selbst und das beglückende Be¬ 
wusstsein, dass auch der Blinde nach Maassgabe seiner Anlagen und Kräfte 
seinen Wirkungskreis in der menschlichen Gesellschaft auszufüllen vermöge, 
ist eine kostbare Frucht dieser allgemeinen Schulbildung. Aus diesem durch 
die gewonnene Bildung geweckten Selbstgefühl, wächst auch der Lebensmuth 
des Blinden, sowie seine Arbeitslust, welche ihm zum Born der edelsten 
Freuden wird. 

Der literatische Unterricht in den Blindenschulen bewegt sich wie 
bemerkt, zumeist innerhalb des Lehrziels einer allgemeinen Volks- und Bürger¬ 
schule und umfasst folgende Gegenstände: Religion, biblische Geschichte und 
Kirchengeschichte, Muttersprache, Sinnes- und Verstandesübungen, Lesen und 
Schreiben erhabener Schrift, BßAiLLE’sche Punktschrift, Kurzschrift, Kopf- und 
Zifferrechnen, Geometrie, Naturgeschichte, Technologie, Naturlehre, Geographie, 
Geschichte, Zeichnen und Formen (Modelliren). Wenn auch das Lehrziel der 
Blindenschule mit jenem der allgemeinen Volks- und Bürgerschule im Wesent¬ 
lichen zusammenfällt, so ist doch naheliegend, dass die Blindenunter¬ 
richtsmethode den Eigenthümlichkeiten der lichtberaubten Schüler Rech¬ 
nung tragen, besondere Wege einschlagen muss und specielle Lehrbehelfe 
nicht entbehren kann. Eine Hauptaufgabe der Blindenpädagogik wird es sein, 
die dem Blinden übrig gebliebenen Sinne, insbesondere Gehör und Gefühl 
derart auszubilden und zu schärfen, dass dieselben vielfach den fehlenden Sinn 
zu ersetzen und so den Abgang des edelsten Sinnesorganes weniger fühlbar zu 
machen vermögen. Die Gehörsübungen, welche schon im zartesten Kindes¬ 
alter angebahnt werden sollen durch ein am Kinderkorbe befestigtes Glöckchen, 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


nach welchem der blinde Säugling seine zarten Händchen streckt und 
dessen Klange er gern lauscht, zärtliche Kose- und Schlummerlieder der Mutter, 
später allerlei tonnendes Spielzeug, wecken die Gehörsthätigkeit des blinden 
Kindes; auf einer höheren Stufe wird die Natur als vorzüglichste Lehr¬ 
meisterin für Gehör der blinden Kinder auftreten. Kein Geräusch, kein 
Laut, keine Schallempfindung ist zu geringfügig, dass sie nicht in den Dienst 
der Blinden-Pädagogik gezogen werden sollte. Die Thierstimmen in ihren 
überreichen Variationen, die vom Gehör wahrnehmbaren Schalleindrücke be¬ 
wegter Luft, des fliessenden Wassers, des plätschernden Regens, des Donners, des 
prasselnden Feuers u. dgl., müssen dem blinden Kinde zum Bewusstsein gebracht 
werden. Selbstverständlich dürfen auch die Schalleindrücke, welche aus der 
Thätigkeit der Menschen, Thiere, Pflanzen oder Mineralien hervorgehen, nicht 
unbeachtet bleiben. Die verschiedenen Gehörseindrücke beim Fallen, Zer¬ 
schneiden, Zersägen, Zerreissen oder Zerknittern, beim Biegen oder Brechen 
verschiedener Körper, beim Rollen, Aufwerfen derselben müssen dem blinden 
Kinde bekannt gemacht werden. 

Auf diese Weise wird der Gehörsinn für die auf der Oberstufe vorzu¬ 
nehmenden Uebungen im Erkennen der verschiedensten Münzen nach ihrem 
Klange, in der Beurtheilung der Tonhöhe und Tonstärke, in der Annäherung oder 
Entfernung der Schalleindrücke bei einem rollenden Wagen oder einem Eisen¬ 
bahnzug, in der Beurtheilung des Raumes nach dem Schalle des gesprochenen 
Wortes, ob derselbe gewölbt, hoch oder niedrig, gross oder klein sei, in der Beur¬ 
theilung der Richtung des fliessenden Wassers u. a. geschärft Schlüsse auf das Alter 
und Geschlecht, die Grösse und Stärke der sprechenden Person nach dem Klange 
der gesprochenen Worte und ähnliche Uebungen, wie sie sich aus dem 
menschlichen Verkehrsleben von selbst ergeben, müssen in den Dienst der 
Blindenpädagogik herangezogen werden und befähigen den Blinden bei fort¬ 
gesetzter und systematischer Uebung zu solchen Gehörsleistungen, welche so 
oft unsere Bewunderung erregen, wie etwa die sichere Bestimmung eines jeden 
am Clavier angeschlagenen Tones, die Beurtheilung der Entfernung des Schalles 
aus dem allmäligen Stärker- beziehungsweise Schwächerwerden desselben oder 
Wahrnehmungen so zarter Gehörseindrücke, welche ein normales Gehörorgan 
eines Vollsinnigen nicht mehr zu verfolgen vermag. Niemand ist daher 
schwerer zu täuschen als ein gebildeter Blinder. 

Das Gefühl des Blinden, sowohl sein allgemeines d. h. über den 
ganzen Organismus verbreitetes Gefühlsvermögen, auch Vitalsinn genannt, wie 
auch der hauptsächlich in den Fingerspitzen, Lippen und Zunge vorhandene 
Tastsinn, spielen im Sinnesleben des Blinden eine führende Rolle. Durch das 
allgemeine Gefühl, den sogenannten sechsten Sinn, unterscheidet der Blinde 
den Druck der Luft, den Wärmegrad verschiedener Gegenstände, die Schwere 
derselben und andere Umstände, durch deren richtige Erkenntnis und Aus¬ 
nützung er einen hohen Grad von Sicherheit und Selbständigkeit erlangt. 

Der vornehmlich an die Hand gebundene Tastsinn ist am meisten ge¬ 
eignet, den Blinden mit dem äusseren Wesen der Dinge, ihrer Grösse, Form 
und sonstiger Beschaffenheit vertraut zu machen. Mit Recht nennt der Blin¬ 
denvater Klein die Finger die zehn Augen des Blinden, denn der Blinde ist 
gezwungen, die meisten Vorstellungen durch diesen Sinn oder mindestens 
durch die Verbindung desselben mit einem oder mehreren anderen Sinnen zu 
gewinnen. Daher wird auch mit Recht der Uebung dieses Sinnes in den 
Blindenschulen eine besondere Pflege und Uebung zugewendet. Wenn auch 
die Erwerbung richtiger Vorstellungen auf dem synthetischen Wege des Tastens 
eine langsame und mühselige ist, so lohnt sie doch durch ihre Dauerhaftigkeit 
und Gründlichkeit. Was der Blinde einmal mit seinen Tastorganen ange¬ 
schaut, das ist sein geistiges Eigenthum geworden. Wie oft sehen Voll- 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


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sinnige alltägliche Dinge, ohne sie je angeschaut, d. h. in ihren Theilen er¬ 
kannt zu haben; davor ist der tastende Blinde bewahrt. 

Auch der Geruchs- und der Geschmackssinn verdienen bei der 
Blindenerziehung vollste Beachtung. Oft sind es diese Sinne, welche den Blinden 
in die Lage setzen, einen Gegenstand auch dann noch zu erkennen, wenn man 
dies nicht begreifen kann. Hier möge ein drastischer Fall aus meiner 
Praxis ein Plätzchen finden. Als ich eines Abends still in das Aufenthalts¬ 
zimmer unserer weiblichen Zöglinge trat und von einem den sich fröhlich 
tummelnden blinden Mädchen nicht leicht zugänglichen Platze das übermüthige 
Treiben derselben ruhig beobachtete, bemerkte dies ein etwa 3 m entfernt 
stehendes total blindes 17-jähriges Mädchen und ermahnte ihre Schicksals¬ 
genossinnen zur Ruhe, indem sie rief: „Kinder, seid ruhig! der Herr Director 
ist da.“ Die Ermahnung wurde ungläubig in Abrede gestellt, worauf dasselbe 
Mädchen ihre warnenden Worte eindringlich wiederholte hinzufügend: „Ich 
weiss es ganz gewiss!“ Ich sprach dann die fröhliche Schar an und befragte, 
verblüfft über die soeben gemachte Beobachtung, das betreffende Mädchen, woran 
sie mich erkannt hätte, da ich doch ganz still und unbemerkt in’s Zimmer 
gekommen war. „Nach dem Gerüche“ lautete die Antwort, u. zw. angeblich an 
dem Geruch der Seife, welche ich zu benützen pflege. Da dies eine geruch¬ 
lose Reismehlseife ist, ich auch an diesem Tage nicht geraucht, weder Bart 
noch Haare pomadisirt hatte, die Beobachtung zur Winterszeit geschah, wo 
auch der Schweissgeruch kaum in Betracht kommt, ist die Geruchsschärfe 
dieses blinden Mädchens gewiss eine ausserordentliche zu nennen. 

Da das Leben reichlich Gelegenheit bietet, Geruchs- und Geschmacks¬ 
wahrnehmungen zu machen, so wird ihrer Pflege in der Blinden-Pädagogik volle 
Aufmerksamkeit zu theil, obgleich denselben als Erkenntnissinn durch die 
Empfänglichkeit der beiden Organe eine Grenze gezogen erscheint, indem 
unvermittelt auf einander folgende starke Geruchs- oder Geschmackseindrücke 
durch die Reizwirkung die betreffenden Organe für die folgenden Eindrücke 
weniger empfänglich machen. 

Als wichtigstes Lehrmittel für die in Blindenschulen betriebenen Sinnes¬ 
und damit verbundenen Verstandesübungen wird das sogenannte „Allerlei“ 
benützt, eine Sammlung der verschiedensten Natur- und Kunstgegenstände, 
welche durch einen oder auch mehrere dem Blinden übriggebliebene Sinne 
erkannt werden können. Durch das „Allerlei“ wird das blinde Kind sozu¬ 
sagen erst in die Welt eingeführt, sein Gesichtskreis erweitert, seine Theil- 
nahme für die es umgebenden Dinge geweckt, seine Sinne geschärft, seine 
Urtheilskraft geweckt und seine geistige Selbstthätigkeit angebahnt. „Es ist,“ 
wie treffend der grosse Blinden-Pädagog Dr. Georgi sagt, „das Gehenlernen 
des Geistes.“ (Ausführliches hierüber in Entlicheu’s: „Das blinde Kind im 
Kreise seiner Familie und in der Schule des Wohnortes“. Wien. Pichler’s 
Witwe & Sohn). 

Blind endruck schrift. Da der Blinde nur tastbare Buchstaben und 
Zeichen zu lesen vermag, war man seit der am Ende des achtzehnten Jahr- 
hundertes von Paris durch den Menschenfreund Valentin Haüy angeregten 
Blindenbildungsfrage bemüht, den Blinden das Lesen und Schreiben zugänglich 
zu machen. 

Neben den römischen Relief-Uncialen, welche beim Elementarunterrichte der 
Blinden Verwendung finden und in ausgezeichneter Ausführung von der Wiener 
k. k. Staatsdruckerei hergestellt werden, ist es in neuester Zeit die von dem ge¬ 
nialen französischen Blindenlehrer Louis Braille erfundene und systematisch 
durchgeführte, nach dem Erfinder benannte Punktschrift, welche sich einen 
Ehrenplatz in den Blindenbildungsanstalten errungen hat. Die BRAiLLE’sche 
Punktschrift, deren Buchstaben aus einem bis höchstens 6 Punkten u. zw. nach 
dem Princip, dass die am häufigsten vorkoramenden Laute, durch die wenig- 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


sten Punkte bezeichnet werden sollen, bestehen, wurde auch als Notenschrift 
ausgestaltet und durch die Blindenlehrer Krohn und Moiir auch als Kurz¬ 
schrift in die Blindenwelt eingeführt. 

Die so angebahnte Blindenliteratur hat in neuester Zeit einen 
ungeahnten Aufschwung genommen, und der im Jahre 1895 erschiene Katalog 
des Museums für Blindenunterricht in Steglitz bei Berlin weist 173 Nummern 
verschiedenster Hochdruckschriften auf, darunter 24 verschiedene Reliefschrift¬ 
systeme und Druckproben. Auch die in demselben Katalog angeführten 
Schriften über Blindenbildung erreichten die stattliche Zahl von 237, die 
meisten hievon in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache. 

Die Blindenschrift, d. i. die von Blinden geschriebene Schulschrift 
ist nach den Beschlüssen des Dresdner Blindenlehrer-Congresses 1876 theils 
eine für die Correspondenz mit Sehenden bestimmte sogenannte HEBOLD’sche 
Flachschrift, nach weiland dem Director Hebold der Blindenanstalt in Barby 
benannt, theils eine für den eigenen Gebrauch bestimmte BRAiLLE’sche Punkt¬ 
schrift, denen sich ergänzend die nach dem genialen Wiener Blindenvater 
Johann Wilhelm Klein benannte Stachelschrift anschliesst. Vielfach werden 
auch von bemittelten intelligenten Blinden Schreibmaschinen verschiedener 
Systeme verwendet, deren manche sowohl für die gewöhnliche von jedem 
des Lesens Kundigen zu lesende Correspondenzschrift, wie auch für die vom 
Blinden leicht tastbare Punktschrift eingerichtet sind, aber einer Vervoll¬ 
kommnung fähig sind. Sehr zweckmässig sind auch die für den Gebrauch 
der Blinden eingerichteten Taschenschreibapparate oder Notizapparate, wie sie 
von den Blindenanstalten in Purkersdorf bei Wien, Steglitz bei Berlin, lllzach 
im Eisass, Dresden etc. bezogen werden können. 

Auch für das schriftliche Rechnen der Blinden bestehen manche recht 
gut verwendbare Hilfsmittel, so die russische Rechenmaschine, die nach dem 
berühmten blinden Mathematiker Nicolaus Sounderson, Professor an der 
Universität in Cambridge, benannte und von dem Blinden, Christian Riesen, 
bequemer eingerichtete SouNDERSON’sche Rechentafel, die LACHMANN'sche 
Blindentafel und der von Director Entlicher eingerichtete Rechenapparat, 
welcher auch für algebraische Aufgaben benützt werden kann. 

Die für den Gebrauch der Blinden eingerichteten Globen, Pläne und Land¬ 
karten sind alle in Relief ausgeführt und setzen den Blinden in die Lage, den 
geographischen Unterricht mit Erfolg zu betreiben. Die vom Verein zur För¬ 
derung der Blindenbildung in Steglitz bei Berlin herausgegebenen Reliefkarten, 
welche zu einem sehr billigen Preise käuflich sind (10 Pfennige), haben zur 
Verallgemeinerung des geographischen Unterrichtes wesentlich beigetragen. 

Auch für alle übrigen Unterrichtsdisciplinen bestehen sinnreich erdachte 
und zweckmässig eingerichtete Lehrbehelfe, welche auch auf den allgemeinen 
Volksunterricht nicht ohne Einfluss geblieben sind, so dass die „allgemeine 
Pädagogik“ auf vielen Gebieten von ihrer Tochter, der „Blinden-Pädagogik“ 
überflügelt worden ist. 

Der Musik-Unterricht für Blinde, welcher durch den Gesang an¬ 
gebahnt wird und sich auf alle gebräuchlichen Musik-Instrumente erstreckt, 
hat neben der praktischen Anleitung und Uebung eine gründliche theoretische 
Unterweisung und Einführung in die Gesetze des Tonbaues der Tondichtungen 
zu vermitteln. Das für den Dienst des Musikunterrichtes ausgestaltete 
BRAiLLE’sche Punktnotensystem, wird als ein werthvolles Hilfsmittel geschätzt, 
welches eine in diesem System ausgeführte ansehnliche Musik-Literatur für 
Blinde ermöglicht hat. 

Neben ihrer ästhetischen Bedeutung als bewährteste Veredlungsquelle 
des menschlichen Gemüthes wird in den Blindenschulen die Musik auch als Mittel 
des künftigen Lebenserwerbes betrachtet und daher wird auch in den Blinden¬ 
anstalten die Ausbildung tüchtiger Organisten, Musiklehrer und praktischer 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


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Berufsmusiker angestrebt. Hiezu besonders geeignete Blinde lernen auch das 
Clavierstimmen und die Behebung kleinerer Mängel der Claviermechanik. 
Die Erfahrung hat die vorzügliche Eignung der Blinden für diesen Erwerbs¬ 
zweig vielfach dargethan und die Verwendung blinder Clavierstimmer bricht 
sich allgemeine Bahn. 

Der technische Unterricht der Blinden ist der mühsamste 
Theil der Blindenbildung, da in keiner Beziehung der Verlust des edlen 
Augenlichtes schwerer und schmerzlicher ist, als in Bezug auf die beschränkte 
Actionsfreiheit und die hiedurch bedingte Hilfsbedürftigkeit. Während der 
Vollsinnige durch Absehen oft mit einem Blick die Verbindung und den Zweck 
der einzelnen Handgriffe, durch welche ein mechanisches Object zu Stande 
kommt, beobachten kann, bleibt dem Blinden jedes, auch das allereinfachste 
Geschäft fremd und für ihn unausführbar, wenn ihm die einzelnen Handgriffe 
nicht theoretisch erläutert, ihre Aufeinanderfolge nicht genau bestimmt wird 
und er durch zweckmässige Hilfsmittel und lange Uebung endlich dahin ge¬ 
bracht wird, den abgängigen Gesichtssinn durch ein gesteigertes und verfei¬ 
nertes Tastgefühl zu ersetzen. 

Ohne eine ausreichende technische Bildung erscheint die Schulbildung 
der Blinden für sich allein nichtig und hinfällig, ja mitunter sogar in Frage 
gestellt; denn was soll der Lehrer mit der schwachen, sozusagen muskellosen 
Hand eines blinden Schülers beginnen, die zu den allereinfachsten Verrichtun¬ 
gen zu schwach ist. Vor allem thut eine ausgiebige Kräftigung und Uebung 
der schwachen Muskeln noth. Einfache, jedoch gut zubereitete kräftige Nah¬ 
rung, strenge Ordnung, Reinlichkeit, viel Bewegung im Freien, gesunde Luft 
kommen dem Erzieher zu Hilfe. Das An- und Auskleiden, das Binden, das 
Auf- und Zuknöpfen, das Knüpfen von Knoten, die sichere Führung von Löffel, 
Messer und Gabel, das Selbstwaschen und Kämmen, das Flechten von Zöpfen 
u. dgl. machen dem blinden Kinde mehr Mühe, als man ahnt. Mit Geduld 
und Ausdauer wird es aber über alle Schwierigkeiten glücklich hinüberkommen 
und einen solchen Grad von manueller Geschicklichkeit erlangen, dass es auch 
verschiedene kleinere Gegenstände in Wachs, Thon oder Kitt nachbilden, 
ebenso Versuche im Schneiden, Bohren, Sägen, Hämmern u. dgl. unter An¬ 
leitung des Erziehers mit Erfolg anstellen kann. Auf diese Weise gewinnt 
die Hand des blinden Kindes nach und nach jene Kraft und Gewandtheit, 
welche zum Erlernen eines den späteren Lebenserwerb sichernden Handwerks 
unerlässlich sind. 

Obgleich es kaum ein Gebiet der menschlichen Thätigkeit gibt, auf 
welchem sich einzelne Blinde nicht mit Erfolg versucht hätten, so gibt es doch 
im Allgemeinen nur einige wenige Erwerbszweige, welche dem Blinden voll¬ 
kommen zugänglich sind und auf deren Gebiete er der grossen Concurrenz 
mit Erfolg entgegen treten kann. Hieher gehören die Erzeugung von Bürsten 
aller Art, das Korb- und Sesselflechten, das Flechten von Stroh- und Hanfmatten, 
die Erzeugung von Strohhülsen, die Seilerei, die Erzeugung von Matratzen, 
Teppichen, Netzen, die Schuhmacherei und die Böttcherei. Es ist interessant, 
blinde Kinder lesen und schreiben zu sehen, ebenso interessant, Musikvor¬ 
träge eines Blinden-Orchesters anzuhören, ungleich interessanter und erheben¬ 
der ist aber der Anblick blinder Knaben und Mädchen, welche mit naivster 
Freudigkeit der manuellen Arbeit obliegen. „Arbeit ist die Würze des Lebens,“ 
sagt ein Sprichwort; für den Blinden ist aber Arbeit ein Balsam, welcher am 
besten die schwere Wunde zu heilen vermag, die ihm ein trauriges Geschick 
geschlagen hat. Ein ehemaliger Zögling der n. ö. Landes-Blindenanstalt, wel¬ 
cher in seinem 15. Lebensjahre in Folge von Gehirnerschütterung erblindete 
und während der Erholungsstunden in der Werkstätte weilte und sich mit 
Handarbeit beschäftigte, gab um den Grund befragt zur Antwort: „Bei der 
Arbeit vergesse ich auf meinen Zustand und fühle mich am glücklichsten.“ 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


In diesen wenigen Worten liegt sozusagen das ganze Princip der Blinden 
bildungsanstalten, und nur diejenigen Anstalten werden zum wahren Wohle 
ihrer Zöglinge führen, wo Schulunterricht, Musik und Handarbeit ineinander 
greifen und wo auch selbst die nöthigen Erholungsstunden durch entsprechende 
Bewegung im Freien und nützliche Spiele ausgefüllt werden, so dass der 
Dämon Langweile aus der Anstalt ganz verbannt ist. Möchte doch der all¬ 
gemein erziehliche und speciell der heilpädagogische Werth der Arbeit all¬ 
gemein erkannt und gewürdigt werden und in der Hausordnung der ver¬ 
schiedensten Bildungs- und Heilanstalten zur verdienten Geltung kommen! 
Das Blinden-Turnen, theils Freiturnen, theils Gerätheturnen, umfasst 
nahezu alle Uebungen, die in den Schulen der Sehenden gebräuchlich sind. 
Besonderer Pflege erfreut sich das Fingerturnen behufs Kräftigung der Finger¬ 
muskeln, Uebungen mit Hanteln behufs Kräftigung der Hand- und Arm¬ 
muskeln, Stabübungen, bei Mädchen Reigenübungen und Tänze und specielle 
Uebungen der Heilgymnastik; jede Turnstunde wird mit Tiefathmungen ein¬ 
geleitet und beschlossen. Diese LuDgengymnastik, unterstützt durch verschie¬ 
dene Bewegungsspiele, Douchen, Wannen- und Fussbäder, ermüdende Spazier¬ 
gänge u. dgl. lohnt in sanitärer und technischer Beziehung reichlich die 
Mühe und Zeit, welche mit derselben verbunden ist. 

Ausser den Bildungsanstalten für jugendliche Blinde gibt es noch solche 
für Spätererblindete; hieher gehören die Arbeitswerkstätten und Be¬ 
schäftigungsanstalten für erwachsene Blinde. In diesen, wie auch 
in den sogenannten Blindenheimen finden Spätererblindete Gelegenheit, 
sich nebst der Kenntnis des Reliefdrucks und der Blindenschrift noch ein 
Handwerk anzueignen, um so in nützlicher und beglückender Thätigkeit die 
Last der finsteren Lebenstage leichter zu vergessen. Erwerbsunfähige Blinde 
finden in Blindenversorgungsanstalten oder Asylen Aufnahme. 

Mit den Blindenbildungsanstalten steht die Fürsorge für die in den¬ 
selben ausgebildeten Zöglinge nach ihrer Entlassung aus der Anstalt in innigem 
Zusammenhänge. Es braucht kaum bewiesen zu werden, dass eine Blinden- 
Bildungsanstalt ihre Aufgabe nicht erfüllt, wenn sie sich begnügt, ihren 
Zöglingen ein gewisses Quantum von Kenntnissen und Fertigkeiten beizu¬ 
bringen, sie gut zu verpflegen und nach vollendeter Bildungszeit ohne wei¬ 
tere Fürsorge ihrem eigenen Schicksal anheimzustellen. Die Fürsorge für 
die Entlassenen erweist sich als ein unabweisbares Bedürfnis. Da die Er¬ 
fahrungen der Blindenanstalten deutlich lehren, dass eine auf lebenslängliche 
Versorgung hinzielende Unterstützung weder von den Blinden gewünscht wird, 
noch ihnen zu wahrem und dauerndem Glücke gereicht, so halten die meisten 
Blindenanstalten an dem Principe fest, dass der ausgebildete Blinde dem öffent¬ 
lichen Leben zurückzugeben sei, und dass es daher Aufgabe der Erziehungs¬ 
anstalt sein muss, den Blinden möglichst selbständig und erwerbsfähig zu 
machen, dass er aber auch nach seiner Entlassung moralisch und, wenn 
nöthig, auch materiell von der Anstalt unterstützt werden muss, damit er 
im Kampfe des Lebens nicht Schiflbruch leide. Zu diesem Zwecke bestehen 
bei den meisten Blindenbildungsanstalten Unterstützungsfonds, aus denen die 
austretenden Zöglinge Werkzeuge und Material und anderweitige Ausstattung 
erhalten, um das in der Anstalt erlernte Gewerbe in der Heimat fortzusetzen 
und aus welchen sie im Falle besonderer Bedürftigkeit und Würdigkeit ma¬ 
terielle Unterstützungen erhalten. Die meisten Blindenanstalten vermitteln 
auch den Verschleiss der von den entlassenen Zöglingen angefertigten Waare, 
wenn der Blinde nicht selbst genügenden Absatz für dieselben findet. Da 
manche aus den Anstalten entlassene Zöglinge, welche keine Angehörigen 
besitzen, mit zu grossen Existenzschwierigkeiten zu kämpfen haben, denen 
sich besonders bei Mädchen, noch moralische Gefahren zugesellen, ist man 
bemüht, durch die Gründung von Blindenheimen für aus den Bildungs- 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


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anstalten entlassene Zöglinge Abhilfe zu schaffen. Solche Blindenheime 
stehen in Verbindung mit den Blindenbildungsanstalten in Steglitz, Düren, 
Kiel, München, Kopenhagen, Lausanne, Glasgow, Boston, New-York, Linz, 
Brünn, Graz u. a. Für die aus der n.-ö. Landes-Blindenanstalt in Purkersdorf 
entlassenen Zöglinge wurde die Errichtung eines Blindenheimes in Melk ange¬ 
regt, für welchen Zweck auch schon ein namhafter Fond gesammelt wurde. 

Die mit der allgemeinen Statistik stetig fortschreitende Blinden-Statistik 
zeigt in den Verhältnissen zwischen der Zahl der Blinden und jener der 
Sehenden eine grosse Mannigfaltigkeit, welche sich zwischen den Verhältnissen 
1:307 (Finnland) und 1:2499 (Vereinigte Staaten Nordamerikas) bewegt und 
auf den ersten Blick Staunen erregt, aber in den örtlichen, klimatischen und 
Lebenszuständen der Bewohner ihre Erklärung findet. 

Nach Zeüne nimmt die Blindheit von den Wendekreisen nach den 
Polen hin ab: 1:100 in Egypten, 1:800 im mittleren Europa, 1:1000 in Nor¬ 
wegen. Die dunklen Menschenstämme, also die Neger und die kupferbraunen 
Südamerikaner sollen nach Alex. v. Humboldt weniger der Blindheit unter¬ 
worfen sein als die hellen. 

In Oesterreich diesseits der Leitha ist das Verhältnis 1:1785 (Nied-Oest. 
1:1879, Dalmatien 1:1027), in Ungarn 1:855, in Preussen 1:1111, in Sach¬ 
sen 1:1635, in Baiern 1:1923, in Dänemark 1:1644, in Frankreich 1:1191, 
in England 1:1037, in Schweden 1:1418. Die Gesaramtzahl der blinden 
Erdbewohner wird auf P/a Millionen geschätzt. 

Von 190 in die n.-ö. Landesblindenschule in Purkersdorf aufgenommenen Zöglingen 
waren :*) 

blind geboren: 39 = 20.52°/ o ** ***) ) 


erblindet infolge von:***) 


Blennorrhoea neonat.. . 

. 41 = 21-65% 

Fraisen:. 

. 10 = 

5 - 26% 

Trachom. 

. 2 = 105% 

Wasserkopf: .... 

. 6 = 

3-15% 

Masern. 

. 9 = 473% 

Gehirnhautentzündung:. 

. 4 = 

2-10% 

Scharlach: 

. 11 = 5*78°/ 0 

Meningitis: 

. 1 = 

0-52% 

Pocken: . 

. 27 = 14-21% 

Gelbsucht: .... 

. 1 = 

0-52% 

Vierzigern: 

. 8 = 4-21% 

Scrophulose: ... 

. 1 = 

0-52% 

Sehnerv-Atrophie 

. 14 = 7-36 % 

Scorbut: .... 

. 1 = 

0-52% 

Progr. Myopie: . 

. 2 = 1-05% 

Hornhautentzündung: . 

. 1 = 

0-52% 

Verletzungen: 

. 10 = 562% 

Unbek. Ursachen: 

. 2 = 

1-05% 


Die älteste Blindenanstalt wurde im Jahre 1260 von Ludwig dem Heiligen in Paris 
gestiftet und Höpital des Quipze-Vingts benannt. In dieser bis auf den heutigen Tag 
segensreich wirkenden Anstalt fanden 300 auf dem ersten Kreuzzuge Ludwigs in Egypten 
erblindete Krieger Aufnahme. Das Höpital hat noch fort einen Stand von 300 erwachsenen 
Blinden aller Classen und gewährt auch an ausserhalb der Anstalt wohnende Blinde lebens¬ 
längliche Leibrenten. Die zweite, auch im 13. Jahrhundert gegründete Blindenanstalt in 
Chartres gelangte zu keiner günstigen Entwicklung. Beide Institute hatten nur die Ver¬ 
pflegung ihrer Insassen zum Zwecke. 

Während die antike Welt, die den vom Blitze getroffenen Baum, den vom 
Wahnsinn umfangenen Menschen als heilig hielt, auch den Blinden, dem sie Propheten¬ 
gabe zuschrieb, verehrte, das Mittelalter denselben ernährte, blieb der Neuzeit 
Vorbehalten, den Blinden zu belehren. Eine durch allgemeine Büdung und musi¬ 
kalische Kenntnisse, besonders als Organistin viel bewunderte blinde Wienerin, Fräulein 
Therese von Paradies, erregte auf ihrer Kunstreise überall grosses Aufsehen. In 
Paris lernte sie der edle Menschenfreund Valentin Haüy, ein Bruder des berühmten 
Mineralogen kennen, und erstaunt über ihre tiefe Bildung und die sinnigen Hilfsmittel, 
deren sie sich bediente, ward er 1784 Gründer des ersten Blinden-Erziehungs-Institutes in 
Paris. Durch den Anblick harlekinartig gekleideter, vor einem Cafe possenreissenden Blin¬ 
den ward V. Haüy derart erschüttert, dass er den festen Vorsatz fasste, die armen Blinden 
durch geeigneten Unterricht zum Bewusstsein ihrer Menschenwürde zu bringen und ihnen 
ein besseres Los zu bereiten. Der erste Versuch mit einem blinden Knaben gelang, die 
von Fri. v. Paradies empfohlenen Hilfsmittel bewährten sich, die damals in Paris ins Leben 
getretene philantropische Gesellschaft sorgte für die nöthigen materiellen Mittel, so dass 


*) (Vergleiche „Erblindung“ Statistik von Osbome.) 

**) davon 3 aus Ehen unter nahen Blutsverwandten hervorgegangen, mithin 7 , 69°/ ü ; 

***) hievon nur 4, angeblich mit Erfolg geimpft, mithin 85*19°/ 0 nicht geimpft. 


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BL1NDEN-ANSTALTEN. 


Haüy bald 11 andere blinde Kinder aufnehmen konnte und die erste Anstalt entstand, in 
welcher die Zöglinge nicht nur in angemessenen Handarbeiten, sondern auch in der Musik, 
im Lesen, Schreiben, Rechnen und anderen Wissenschaften unterrichtet wurden. Zum Lesen 
gebrauchte Valentin Haüy erhabene Metallbuchstaben, welche auch zum Drucken auf 
Papier benutzt werden konnten; zum Schreiben einen Rahmen mit Drähten zur Trennung 
der Zeilen, welcher auf das zu beschreibende Papier gelegt wurde. Die für den geographi¬ 
schen Unterricht bestimmten Landkarten waren nach den Angaben des Frl. v. Paradies 
verschieden gestickt, so dass Gebirge, Flüsse, Städte und Landesgrenzen leicht von ein¬ 
ander unterschieden werden konnten. Im Jahre 1791 wurde die Anstalt zu einer könig¬ 
lichen erhoben und mit der Taubstummenanstalt in das Cölestinerkloster verlegt. Vier 
Jahre später wurden diese Anstalten wieder getrennt. Bonaparte vereinigte Haüys Anstalt 
mit dem Höpital des Quinze-Vingts; der schädliche Einfluss der erwachsenen Blinden auf 
die Moral der jungen Zöglinge veranlasste Haüy, sich von der Leitung der Anstalt zurück¬ 
zuziehen und eine Privatanstalt zu gründen. Einer Einladung des Kaisers Alexander I. 
Folge leistend, begab sich IIaüy im Jahre 1806 über Berlin, w r o über seine Anregung und 
königliche Unterstützung eine Blindenanstalt ins Leben gerufen und dem um die Verbesse¬ 
rung der Blindenunterrichtsmittel hoch verdienten Zeune zur Leitung übergeben wurde, 
nach St. Petersburg, w r o im Jahre 1807 ein öffentliches Blinden-Institut. errichtet wurde. 

Im Jahre 1802 machte es sich der als Philantrop hochverehrte Wiener Magistrats- 
Secretär Franz von Paula Gaheis zur Aufgabe, ein Institut für blinde Kinder zu gründen 
und gab einen Entwurf zu einem solchen Institute heraus. Während er einzelne Blinde 
durch milde Beiträge unterstützte, die er von allen Seiten der Monarchie zu sammeln 
bemüht war, verfolgte er immer die Ausführung dieses Planes. Er setzte sich mit dem 
Grafen von Wallis, der ein solches Institut in Paris gesehen hatte, und dem berühmten 
Oculisten Dr. Schmidt ins Einvernehmen und überreichte seine Vorschläge an die höheren 
Behörden; fand aber überall so viele Hindernisse, dass er sich mit dem Bewusstsein zu¬ 
frieden stellen musste, den ersten Samen dieser Wohlthat in seinem Vaterlande ausgestreut 
zu haben. Dadurch, dass er seinen Wunsch dem damaligen Armendirector Joh. Wilh. Klein 
bekannt machte, diesem den in Bruck a. d. Leitha autgefundenen blinden Knaben Jacob 
Braun zur Ausbildung überliess, die eingegangenen Beiträge an Klein abführte, sah Magi¬ 
strats-Secretär Gaheis seine Bemühungen gekrönt und ßeine Hoffnung, dass dieser Keim 
zum astreichen Baume emporwachsen werde, ist nicht enttäuscht worden. 

Joh. Wilh. Klein, am 11. April 1765 in Allerheim in Baiern geboren, seit 1799 städt. 
Armen-Bezirksdirector in Wien, eine durch und durch edle Natur, war nicht nur ein über¬ 
aus gefühlvoller Mensch, dessen Augen sich beim Anblicke eines blinden Kindes mit Thränen 
füllten, sondern auch ein origineller und wissenschaftlich tief gebildeter Pädagog, welcher 
seinen blinden Schüler Jacob Braun nach einer selbst ausgedachten Lehrweise in den 
gewöhnlichen Schulgegenständen und einigen leichten Handarbeiten mit bestem Erfolg 
unterrichtete; bald auch mit mehreren anderen blinden Kindern im Aufträge des Kaisers 
Franz I. vor einer Prüfungs-Commission eine öffentliche Prüfung hielt, deren Resultat die 
im Jahre 1808 erfolgte Gründung einer Privatanstalt für blinde Kinder inWien war, welche durch 
die Gnade des gütigen Kaisers Franz 1. im Jahre 1816 zur Staatsanstalt erhoben wurde und 
in der Person ihres Gründers auch ihren ersten Director erhielt. Klein hat sich durch Ver¬ 
besserung der Blinden-Unterrichtsmethode, sowie durch seine typhlopädagogisehen Schriften, 
unter denen sein unübertroffenes Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden hervorragt, blei¬ 
benden Ruhm erworben. Sein grösstes Verdienst w T ar aber, dass er sein Augenmerk auf 
die Fürsorge der Blinden von der Wiege bis zum Grabe richtete und so der Bahnbrecher 
der jetzt allgemeinen Fürsorge für die Blinden geworden ist. Diesem edlen Streben ver¬ 
dankt auch die Wiener Versorgungs- und Beschäftigungsanstalt für er¬ 
wachsene Blinde ihre Entstehung im Jahre 1834-. Die Commune Wien, welche dem 
Österreich. Blindenvater ein Ehrengrab auf dem Centralfriedhofe widmete, in welchem der 
im Jahre 1848 Verewigte am 12. Juni 1896 im Beisein von Vertretern aller niederösterr. 
Blindenanstalten feierlich beigesetzt wurde, hat eine alte Ehrenschuld an den grossen österr. 
Philantropen abgetragen. 

In Prag trat im Jahre 1807 durch den Gubernialrath Ritter von Platzer 
eine Privat-Blinden-Erziehungsanstalt in's Leben, mit welcher auch eine Augen¬ 
heilanstalt in Verbindung steht. Die im Jahre 1834 in Prag gegründete 
Versorgungs- und Beschäftigungsanstalt für erwachsene Blinde ist eine Schöpfung 
des um das Blindenwesen hoch verdienten Prof. Dr. Alois Klar und wurde 
durch den Enkel desselben, k. k. Bezirkshauptmann Ritter Rudolf M. Klar, 
welcher die Anstalt gegenwärtig leitet, zu einer Musteranstalt erhoben. Die 
von der böhmischen Sparcasse in Prag gegründete Blindenanstalt Francisco- 
Josephinum ist ein Asyl für erwerbsunfähige Blinde. 

In Wien Hohe-Warte besteht noch seit dem Jahre 1872 eine aus der 
Initiative des menschenfreundlichen Dichters Dr. Ludwig August Frankl, 
Ritters von Hochwart hervorgegangene Blindenanstalt für Israeliten, welche 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


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von Direetor S. Heller geleitet wird. In Hernals, Hauptstrasse 63, besteht 
seit 1885 ein von dem Vereine von Kinder- und Jugendfreunden erhaltenes 
Asyl für blinde Kinder vorschulpttichtigen Alters, dann in Neu¬ 
lerchenfeld Hoferplatz seit 1884 eine mit der öffentlichen Communal-Volksschule 
in Verbindung stehende Blindenabtheilung und in Purkersdorf bei Wien 
die nied.-österr. Landes-Blindenschule. Die letztgenannte Anstalt, bisher die 
einzige Landes-Anstalt für blinde Kinder, wurde im Jahre 1873 vom nied.- 
österr. Landtage über Anregung des damaligen Landes-Ausschuss-Referenten 
Prof. Dr. Eduard Suess in Ober-Döbling begründet und für 30 Zöglinge 
eingerichtet. Schon im Jahre 1879 wurde dieselbe nach Purkersdorf verlegt 
und auf 50 Zöglinge erweitert, im Jahre 1893 unter dem Landes-Ausschuss- 
Referenten Prof. Dr. Lustkandl durch einen entsprechenden Zubau für 120 
Zöglinge eingerichtet. Mit der Einrichtung und Leitung der Anstalt' wurde der 
gewesene Hauptlehrer des Wiener k. k. Blinden-Erziehungs-Instituts Friedrich 
Ertlicher betraut. 

Die Errichtung eines Blindenheimes in Melk und eines Asyls für Später¬ 
erblindete, welche jedoch noch bildungsfähig sind, ist im Zuge. 

Das mähriseh-schles. Blinden-Institut in Brünn, aus wohlthätigen, 
Stiftungen im Jahre 1846 hervorgegangen und unter den Curatoren Graf 
Mittrowsky und Alois Edler v. Janeczek zu einer Musteranstalt für 120 
Zöglinge eingerichtet, steht unter der Leitung des Directors Franz Pawlik. 

Das im Jahre 1824 durch den Pfarrer 0. Joseph Engelmann mit Hilfe 
der Privatwohlthätigkeit in’s Leben gerufene und von Direetor Helletsgruber 
erweiterte Blinden-Institut in L i n z, so auch die von einem Vereine im Jahre 
1881 errichtete und erhaltene, von Direetor Zeyringer geleitete Odilien-Blinden- 
Anstalt in Graz stehen mit Beschäftigungsanstalten für erwachsene Blinde in 
Verbindung. 

Das galizische Blinden-Institut in Lemberg ist aus einer Stiftung des 
Gutsbesitzers Skrzynski und einer Widmung des Grafen Miezcynski hervor¬ 
gegangen und wurde im Jahre 1851 eröffnet. 

Das königliche Blinden-Institut in Budapest verdankt seine Entstehung 
im Jahre 1827 dem ungar. Reichspalatinus Erzh. Joseph. Im Jahre 1873 
wurde dasselbe gesetzlich zur Landesanstalt erhoben und steht unter der 
Leitung des ungar. Unterrichtsministeriums. Die Errichtung von Blinden- 
Erziehungsa'nstalten in Klagenfurt, Laibach, Innsbruck und Agram ist im Zuge. 

ln Deutschland bestehen 32 Blindenanstalten, und zwar: Barby an der 
Elbe, Provinzial-Blindenanstalt, gegründet 1858; Berlin, städtische Blinden¬ 
schule, verbunden mit einer Fortbildungsschule für Blinde, gegründet 1878, 
das einzige Externat für Blinde in Deutschland; Berlin, Wilhelmstrasse 4, 
Vereinsanstalt für erwachsene Blinde; Braunschweig, Staatsanstalt, gegründet 
1884; Breslau, schlesischeBlinden-Unterrichtsanstalt, Privatanstalt, gegründet 
1818; Brom b erg, Privat-Blindenanstalt, gegründet 1853 in Wollstein, im Jahre 
1872 nach Bromberg verlegt; Dresden, königliche Landes-Blinden-Anstalt, 
gegründet im Jahre 1809 durch Flemming, mit dieser Hauptanstalt stehen 
unter der Oberleitung des Directors Hofrathes Büttner im Zusammenhänge: 
die Vorschule und die Hilfsanstalt für im späteren Alter blind gewordene 
Männer in Moritzburg und das Asyl für erwerbsunfähig gewordene Blinde in 
Königswartha; Düren, rheinische Privatblindenanstalt, gegründet 1845 mit 
einer Blindenwerkstätte in Köln; Frankfurt a/M., Privat-Blinden-Anstalt, 
gegründet 1837 von der polytechnischen Gesellschaft; Freiburg (Baden), 
Asyl für Blinde, gegründet 1846; Friedberg in Hessen, grossherzog. Blinden¬ 
anstalt, gegründet 1850; Gmünd in Würtemberg, gegründet 1832; Hamburg, 
gegründet 1830; Hannover, Prov-Blinden-Anstalt, gegründet 1843; Hei¬ 
ligenbronn, Privatanstalt für Taubstumme und Blinde, gegründet 1860, 
daselbst auch eine Versorgungsanstalt für ältere Blinde; Illzach bei Mühl- 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


hausen, gegründet 1857; Ilvesheim, Grossherzogthum Baden, gegründet 
1828; Kiel, Prov.-Blinden-Anstalt, gegründet 1862, in Verbindung mit der¬ 
selben stehen ein Blindenheim für Mädchen in Kiel, ein Blindenheim für 
Männer in Apenrode und ein Blindenheim für Familien in Eiderstede; 
Königsberg, eine Privat-Provinzial-Blinden-Anstalt, gegründet 1846; 
Königsthal, Provinzial-Blinden-Anstalt für Westpreussen, gegründet 1879; 
Leipzig, BiENER’sche Blindenanstalt, gegründet 1865; München, königliches 
Central-Blinden-Institut, gegründet 1826; Neukloster in Meklenburg, 
grossherzogliche Blinden-Anstalt, gegründet 1864; Neu-Torney bei Stettin, 
Provinzial-Blinden-Anstalt, gegründet 1850; Nürnberg, Privat-Blinden- 
Anstalt,gestiftet 1854; Paderborn, von VmcKE’scheProvinzial-Blinden-Anstalt, 
gegründet 1847; Soest, v. ViNCKE’sche Privat-Blinden-Anstalt, gegründet 
1847; Steglitz bei Berlin, königliche Blinden-Anstalt, 1806 von Professor Dr. 
Zeune gestiftet, 1877 von Berlin nach Steglitz verlegt, mit einer Vorschule 
und ein Blindenheim; Stuttgart. Nicolauspflege für blinde Kinder, ge¬ 
stiftet K.56; Weimar, grossherzogliche Blindenanstalt, gegründet 1858; 
Wiesbaden, Blindenschule mit Arbeitsanstalt, gegründet 1861; Würzburg, 
Kreis-Blinden-Anstalt für Unterfranken und Aschaffenburg, gegründet 1853. 

Die Schweiz zählt 3 Blindenanstalten: Bern, Privatstiftung, gegründet 
1836; Lausanne, Privatanstalt, gegründet 1843, in Verbindung stehen eine 
,f Werkstätte für männliche erwachsene Blinde und eine Heilanstalt für Augen- 

. n kranke; Zürich, Privat-Blindenanstalt, in Verbindung mit der Taubstummen¬ 
anstalt. 

Dänemark besitzt seit 1811 eine ausgezeichnete königliche Blindenanstalt 
s j Kopenhagen, ein Asyl für blinde Kinder ebenda, errichtet'1861 von der 
Gesellschaft „Kette“, und eine Beschäftigungs- und Versorgungsanstalt in 
Kopenhagen, Privatanstalt, errichtet 1825. 

Schweden und Norwegen besitzen Blindenanstalten in Stock¬ 
holm, eine Staatsanstalt seit 1808 und eine Beschäftigungsanstalt für blinde 
Männer seit 1870, 2 in Christiania, Drontheim, Kristinehausen, 

■ Upsala, Handarbeitsschule für weibliche Blinde, und Vexiö, königliche 
Blindenanstalt, gegründet 1884. 

In Russland hat die Blindenbildung in den letzten Jahren, besonders 
durch die Thätigkeit des Marien-Vereins für Blinde bewunderungswürdige 
Fortschritte gemacht. In St. Petersburg bestehen: ein Erziehungs-Institut 
für Knaben, gegründet 1807 von Valentin Haüy, ein Erziehungs-Institut für 
Mädchen, 1 Asyl für erwachsene Mädchen, die Dr. BLESSiG’sche Arbeitsanstalt, 
eine Unterrichtsanstalt und eine Beschäftigunganstalt für erwachsene Blinde, 
beide vom Marien-Verein gegründet. Ferner sind Blindenanstalten in Kiew, 
Kamenetz, Podolsk, Reval, Kasan, Kostroma, Riga, 2 in Moskau, 
Warschau, Helsingfors, Kuopio, Charkow, Woronesch, Odessa 
und Ufa. 

Holland zählt 7 Blindenanstalten: Amsterdam mit einer Vorschule 
in Bennekom, eine Beschäftigungsanstalt für hilfsbedürftige Blinde in Amster¬ 
dam, Heeringrault, Grawe, S’Gravenhage, Middelburg, Utrecht 
und Rotterdam. 

Belgien hat Blindenanstalten in Brüssel, Brügge, Ghlin Mons, ge¬ 
gründet 1876 durch den blinden Director Simonon in Namur. 

England besitzt 40 Anstalten für Blinde, darunter 11 in London, 
5 in Liverpool, je 3 in Glasgow und Dublin, je 2 in Aberdun, 
Bath, Beifort, Bristol, Cork, Leeds, Manchester, Newcastle- 
on-Tyne, Sheffield, Swansea und York. 

Frankreich zählt 23 Blindenanstalten, darunter 6 in Paris, je 2 in 
Bordeaux und Lille, je eine in Allen^on, Arras, Clermont- 


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BLINDEN-ANSTALTEN. 


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Ferrand, Laon, Larnay, Lyon, Marseille, Montpellier, Nancy, 
St. Medardus, Loissous, Saintes, Toulouse und Marseille. 

Italien zählt Blinden-Institute in Mailand, Schule, Asyl und Werk¬ 
stätte, Turin, Genua, Padua, Florenz, Rom 2 und Neapel 3. Kleine 
Blindenschulen befinden sich noch in: Bologna, Reggio d’Emilia, Palermo, 
Como, Pavia, Assisi. 

Spanien hat 12 Anstalten: 2 zu Madrid, 2 zu Barcelona, je eine 
in Bnrgos, Cordova, Santiago, Solmanea, Sevilla, Tarragona, Alicante, Saragossa. 

Portugal hat eine Blindenanstalt in Lissabon. 

Griechenland: eine zu Corfu. 

Türkei: eine in Constantinopel und mehrere Blindenschulen in 
Syrien. 

Egypten: eine Blindenanstalt in Kairo. 

Nord-Amerika: besitzt 31, Central-Amerika und Südamerika 
je 1 Blinden-Anstalt. 

Australien zählt 5 Blinden-Institute. 

i 

Merkwürdig ist die auserordentliche wissenschaftliche uni technische Ausbildung, die 
manche Blinde erlangt haben, besonders durch ihre Sinnesschärfe, vorzügliches Gedächtnis 
und manuelle Geschicklichkeit. Wir wollen aus der grossen Zahl hier nur einige heraus¬ 
heben: 

Didimus von Alexandrien, welcher im 5. Lebensjahre erblindete, erwarb sich so grosse 
Kenntnisse, dass er als Lehrer der Theologie den hl. Hieronymus und mehrere be ühmte 
Männer seiner Zeit zu seinen Schülern zählte. 

Nicolaus Sounderson, im ersten Lebensjahre infolge von Blattern erblindet, wurue im 
Jahre 1711 wirklicher öffentlicher Professor der Mathematik an der Universität zu Cam¬ 
bridge; er war auch Mitglied der Akademie der Wissenschaften in London. 

Gottlieb Conrad Pfeffel, im 15. Lebensjahre erblindet, ist bekannt als her orragender 
deutscher Dichter. 

Maria Theresia v. Paradies, geboren in Wien 1759 als Tochter «.fce. Regierungs¬ 
rath es, im 3. Lebensjahre erblindet, war eine viel gefeierte Musikkünstierin, deren Be¬ 
rührung mit dem menschenfreundlichen V. Haüy zu einem bedeutungsvollen Wendepunkt 
in der Geschichte der Blindenbildung wurde. 

N. Weissenburg, als Sohn eines churfürstlichen Kammerdieners in Mannheim 1760 
geboren, ist einer der merkwürdigsten Blinden, weil er, obgleich seit seinem 7. Lebensjahre 
an Blattern erblindet, eine so hervorragende wissenschaftliche Bildung erreichte und so 
zweckmässige Hilfsmittel erfand, dass Valentin Haüy in seiner Schrift über den Unterricht 
der Blinden neben Maria Theresia v. Paradies den Namen Weissenburg mit besonderer 
Verehr nng nennt. 

Johann KXferle, 1760 in Waiblingen im Würtemberg’sehen als Sohn eines Müllers 
geboren, verlor mit 14 Tagen das eine Auge und als 4-jähriger Knabe durch einen Bolzen¬ 
schuss das zweite, zeigte ein besonderes Talent für Musik und Mechanik. Schon als Kind 
war er Meister auf der Violine und Zither. Im 10. Lebensjahre erregte die Drehbank seines 
Vaters das Interesse des kleinen Knaben, bald war ein Kegelspiel, später eine Mostpresse 
die Frucht dieses Interesses, später ein grosser, doppelbläsiger von Wasser getriebener 
Blasebalg für die Schmiede des Ortes, der in der ganzen Gegend bewundert wurde. Im 
31. Jahre machte der blinde KXferle eine vollständige Dreh- und Hobelbank sammt allen 
dazn gehörigen Werkzeugen, verfertigte Möbel aller Art, Mühlräder, Fallen für Ratten, 
Marder und Vögel. Zum Abdrehen der grossen Bäume für die Mühlräder erfand er eine 
grosse Maschine, die von Wasser getrieben, mit einem Fusstritt sehr leicht zum Stehen 
gebracht werden konnte und die das Erstaunen aller Fachmänner, die sie sahen, erregte. 
Nun waren dem jungen blinden KXferle keine Unternehmungen mehr zu gross oder zu 
schwierig. Er errichtete eine künstliche Wasserleitung zur Bewässerung eines entfernten 
Gartens seines Vaters, indem er in dem benachbarten Neckarflusse ein Pump- und Druck¬ 
werk eigener Erfindung anbrachte. In späteren Jahren machte er auch Uhren, wozu er, 
um die Räder recht genau zu erhalten, eine sehr sinnreiche Theilungsmaschine erfand. 
Nach einer missglückten Augenoperation, welche ihm den letzten Lichtschein raubte, ver¬ 
legte sich KX.ferle auf die Anfertigung musikalischer Instrumente. Den Anfang machte er 
mit Violinen und Zithern, später verlegte er sich ausschliesslich auf Klaviere, übersiedelte 
nach Lndwigsbnrg, erhielt dort das Bürgerrecht, und starb auch daselbst hochbetagt als 
wohlhabender Mann. 

Ludwig von Baczko, im 21. Lebensjahre erblindet, war Professor an der Artillerie- 
Akademie in Königsberg. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 1 1 


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BLÜTSPUREN. 


Jacob Knie, im 10. Jahre durch Blattern erblindet, besuchte 3 Jahre die Universität 
in Breslau, trieb Mathematik, Geschichte und Geographie, bereiste ohne Führer ganz 
Mitteleuropa, gründete einen Verein zur Errichtung einer Blindenenstalt in Breslau und 
wurde deren Vorsteher. 

Josef Kleinhanns, ein im 5. Lebensjahre erblindeter Tiroler, verfertigte kunstvolle 
Crucifixe und Heiligenbilder, welche nicht nur richtige Verhältnisse zeigen, sondern auch 
in den Gesichtern Schmerz und Leidenschaft ausdrücken und dem Museum in Innsbruck 
zur Zierde gereichen. 

Daniel Heyder, Blindenlehrer am Blinden-Institute in Linz, war ein berühmter 
Mnemotechniker, Zakries ein renomirter Kapellmeister, der in Wien lebende J. Labor, 
königl. hannov. Kammer-Virtuos, ist einer der grössten Organisten der Gegenwart; bewun¬ 
derungswürdig in ihren Leistungen ist die taubblinde und geruchlose Laüra Bridgman. 

Durch die periodisch jedes 3. Jahr stattfindenden Blind enlehrer- 
Congresse, deren erster im Jahre 1873 in Wienabgehalten wurde, erstand 
der Blindenfürsorge eine neue Aera des Fortschrittes und die typhlopädagogischen 
Errungenschaften der früher allein arbeitenden Blindenanstalten sind nun zum 
Gemeingute geworden und verbreiten reichen Segen zum Wohle der leidenden 
Menschheit In dem Vereine zur Förderung der Blindenbildung 
in Deutschland und Oesterreich, dessen Vorstand in Steglitz bei Berlin 
seinen Sitz hat, besitzen die Congresse ein Executivorgan, welches in ausge¬ 
zeichneter Weise die Intentionen der Congresse zur praktischen Geltung bringt. 

Wenn auch durch die prophylaktischen Anregungen der Blindenlehrer- 
Congresse die Verheerungen der Blennorrhoea neonatorum mit sichtlichem 
Erfolg entgegen getreten wird und durch den Impfzwang die pockennarbigen 
Gesichter in den Blindenanstalten immer seltener werden, auch die prophi- 
laktischen Erfolge der Antiseptik und Aseptik die Erblindungsfälle vielfach 
reduciren, scheint leider nach den von Fachmännern neuestens gemachten 
Wahrnehmungen unsere nervöse Zeit mit ihren auch das Sehvermögen schädi¬ 
genden Erscheinungen dafür sorgen zu wollen, dass die Blindenanstalten auch 
fernerhin ein Bedürfnis der Völker bleiben werden. 

Vergl. Entlicher, „Das blinde Kind,“ Wien 1872; Scherer, „Die Zukunft der Blinden;“ 
Berlin 186o. J. W. Klein, „Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden.“ Wien 1819; Pablasek, 
„Fürsorge für die Blinden von der Wiege bis zum Grabe“ Wien 1867; Merle, „Das Blinden- 
Idioten- und Taubstummen-Bildungswesen. 4 * Bericht über den Blindenlehrer-Congress, 
Wien 1873, Dresden 1876, Berlin 1879, Frankfurt a/M. 1882, Amsterdam 1885, Köln 1888, 
Kiel 1891, München 1895. Wulff, Katalog des Museums für Blindenunterricht in 
Steglitz 1895. F. ENTLICHER. 

Blutspuren (forensisch). Blutspuren kommt in der forensischen Praxis 
in vielen Fällen eine hohe Bedeutung zu, so dass der Gerichtsarzt häufig 
genug in die Lage kommt, Blutspuren seine besondere Aufmerksamkeit zu¬ 
wenden zu müssen. Von Fall zu Fall sind die Detailfragen, auf welche es 
ganz besonders ankommt, verschieden und darnach wird auch der Gang der 
Untersuchung der Blutspuren je nach den zu beantwortenden Fragen ver¬ 
schieden sein. 

Zunächst kann schon eine sorgfältige Beachtung von Blut beim Local¬ 
augenschein an dem Orte, wo eine Blutthat verübt wurde, wichtige Auf¬ 
schlüsse geben. In solchen Fällen wird zunächst zu berücksichtigen sein, ob 
an der Situation am Thatorte Veränderungen vorgenommen wurden und welcher 
Art dieselben sind. Die Vertheil ung des Blutes in der Umgebung einer Leiche, 
die Menge desselben ist zu beurtheilen ; dabei sind nicht nur die nächste Umgebung 
sondern auch die weitere Peripherie, zuweilen von der Leiche entferntere 
Orte zu untersuchen und es wird, wenn auch in etwas grösserer Entfernung 
sich Blut vorfindet, der Nachweis eines eventuellen räumlichen Zusammen¬ 
hanges der einzelnen Blutspuren zu erbringen sein. Je nach der Intensität 
der Blutung nach aussen können beispielsweise beim Transporte einer Leiche 
von einem Orte zum anderen die Blutspuren am Boden mit verschiedener 
Deutlichkeit ausgeprägt sein und sich bald als mehr weniger continuirlich 
zusammenhängende blutige Streifen, bald als von Strecke zu Strecke auftre- 


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BLÜTSPÜREN. 


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tende Blutflecke oder Bluttropfen zu erkennen geben. In solchen Fällen wird 
besonders bei grösseren Mengen und frischen Blutes die Erkennung von Blut 
als solchem oft schon mit freiem Auge gelingen. 

Auf diese Weise wird es unter Umständen möglich sein, aus den Blut¬ 
spuren, insbesondere aus der Yertheilung derselben zu bestimmen, ob und 
welche Manipulationen etwa mit einer Leiche vorgenommen worden sind. 
Dabei ist allerdings nicht zu vergessen, dass ein Mensch irgendwo eine schwere, 
vielleicht lebensgefährliche Verletzung bekommen, sich dann selbst von diesem 
Orte noch eine mehr weniger grosse Strecke weit fortschleppen und an einem 
anderen Orte Zusammenstürzen oder liegen bleiben kann; denn es kann Vor¬ 
kommen, dass sich unter solchen Verhältnissen ebenfalls Blutspuren von dem 
Orte, wo die Verletzung zugefügt wurde, bis zu der Stelle an welcher die 
Leiche gefunden wird, verfolgen lassen. 

Auch die Menge des in unmittelbarer Nachbarschaft einer Leiche, an 
welcher sich äussere Wunden vorfinden, befindlichen Blutes beziehungsweise 
die Grösse von Blutlachen kann in dieser Richtung Aufklärung bringen, in¬ 
dem im Allgemeinen bei grösserer Zahl von äusseren Wunden, bei grösserer 
Ausdehnung und Tiefe der letzteren auch die Blutung nach Aussen im Ver¬ 
hältnisse grösser sein wird. Findet sich daher in der nächsten Nähe einer 
Leiche mit vielen oder ausgebreiteten äusseren Verletzungen sehr wenig oder 
kein Blut, so wird dadurch unter Umständen der Verdacht rege werden, dass 
das betreffende Individuum nicht an jener Stelle gestorben beziehungsweise 
seinen Wunden erlegen ist, an welcher es als Leiche gefunden wurde. Die 
Obduction kann dann einen derartigen Verdacht je nach dem Grade der 
etwaigen inneren Blutung und je nach dem Grade der Blutfülle oder Blutleere 
der inneren Organe entweder stützen oder abschwächen. 

Von besonderer Wichtigkeit sind unter Umständen Abdrücke blutiger 
Fiisse am Fussboden, Spuren, welche gelegentlich zur Eruirung des Thäters 
beitragen können und deren man sich daher für nachträgliche vergleichsweise 
Untersuchungen vergewissern muss. Dies geschieht auf die Weise, dass man 
entweder, wo es thunlich erscheint, die Blutspuren selbst aufbewahrt, oder 
aber dieselben copirt oder durch „Netzzeichnen“ die Form und Grösse der 
betreffenden Blutspuren, nicht minder aber auch deren Lage genau proto¬ 
kollarisch aufnimmt und eventuell durch Skizzen und Zeichnungen ergänzt. 

Auch Abdrücke blutiger Hände, wie sie sich zuweilen an Wänden, Thüren, 
Geräthschaften u. dergl. finden, sind zuweilen von hoher forensicher Bedeutung 
und in gleicher Weise zu behandeln wie Abdrücke blutiger Füsse. Natürlich 
ist in allen solchen Fällen zu erwägen, ob derartige Abdrücke, namentlich blu¬ 
tiger Füsse, nicht etwa von später zu einer Leiche hinzugekommenen Personen 
herrühren können. 

Die Form von Blutspritzern kann zuweilen Aufschluss darüber 
geben, aus welcher Richtung das Blut gekommen ist. Dieselben haben, falls 
sie eine Ebene in schiefer Richtung treffen, oft die Gestalt von mehr oder 
weniger in die Länge gezogenen Tropfen, deren dickeres abgerundetes Ende 
derjenigen Stelle entspricht, wo der Bluttropfen zuerzt die Wand berührte, 
die Spitze der Richtung, in welcher der Bluttropfen fortgeschleudert wurde. 
Diese Gestalt von Bluttropfen kann jedoch zuweilen dadurch verwischt werden, 
dass das Blut, so lange es flüssig ist, längs einer schiefen oder verticalen 
"Wand herablauft. 

Auch Blutspuren an der Leiche haben oft eine hohe Bedeutung. 
Dies gilt insbesondere von Blutspuren, wolche von äusseren Wunden herrühren, 
sowie von Abdrücken blutiger Hände, welche zuweilen für die Entscheidung 
der Frage, ob Selbstmord oder Tödtung durch fremde Hand vorliegt, von 
Wichtigkeit sind. Auch hier kommt einerseits die Menge, andererseits die 
Yertheilung des Blutes an der Leiche und an der Bekleidung derselben in 

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BLÜTSPÜEEN. 


Betracht. In wichtigen Fällen, in denen nicht etwa schon die Erhebungen den 
Selbstmord ausser Frage stellen, ist eine genaue protokollarische Aufnahme 
der an einer Leiche vorfindlichen Blutspuren nothwendig. Sehr lehrreich ist 
in dieser Richtung ein von Taylob beobachteter Fall, in welchem am Rücken 
der linken Hand eines Individuums mit einer tödtlichen Halsschnittwunde 
der Abdruck einer blutigen linken Hand constatirt wurde, welcher natürlich 
von einem anderen Individuum herrühren musste. 

Nicht selten finden sich auch wirkliche oder vermeintliche Blutspuren 
an einem einer That verdächtigen Individuum, an seiner Beklei¬ 
dung, an Werkzeugen und dergl. Die Natur derartiger blutverdäcbtiger Flecke 
tritt nicht immer sofort klar zu Tage; denn einerseits sind die Flecke oft 
sehr unbedeutend, zuweilen überhaupt mit freiem Auge kaum zu erkennen, 
andererseits ändert sich aber mit der Zeit ihr Aussehen in solcher Weise, 
dass ohne specielle Untersuchungen Blutflecke als solche häufig gar nicht ge¬ 
deutet werden können. Handelt es sich sonach insbesondere um unbedeutende 
und in Folge chemischer Processe veränderte Blutflecken, so genügt zur rich¬ 
tigen Diagnose die makroskopische Untersuchung für sich allein keineswegs; 
es müssen vielmehr in solchen Fällen besondere Untersuchungsmethoden an¬ 
gewendet werden, um zu entscheiden, ob blutverdächtige Flecke thatsächlich 
von Blut herrühren, oder nicht. 

Diese Methoden bestehen einerseits in dem mikroskopischen Nach- 
weise von rothen Blutkörperchen, andererseits in dem spektrosko¬ 
pischen und chemischen Nachweise irgend eines Blutfarb¬ 
stoffes. 

Der mikroskopische Nachweis von rothen Blutkörperchen 
wird zunächst nur dann gelingen können, wenn der Blutfarbstoff nicht in 
Lösung übergegangen, d. h. insbesondere nicht etwa mit Wasser in Berührung 
gekommen ist. Zuweilen kommt aber gerade auch Wasser zur Untersuchung, 
in welchem ein Thäter sein blutiges Mordwerkzeug, seine blutigen Hände, 
Wäsche- oder Kleidungsstücke u. dergl. gewaschen hat. In solchen Fällen 
wird es natürlich von vornherein aussichtslos sein, etwa nach rothen Blut¬ 
körperchen zu suchen. 

Anders verhält sich die Sache allerdings dann, wenn es sich um blos 
eingetrocknete Blutspuren ohne irgend welche besondere äussere Einflüsse 
handelt; in solchen Blutspuren wird der Nachweis von rothen Blutkörperchen im 
Allgemeinen um so leichter gelingen, je frischer die Spuren sind. Man wird also 
zunächst eine Spur des blutverdächtigen Fleckes auf einen Objectträger bringen 
und nach Zusatz eines Tropfens einer Flüssigkeit, in welcher sich der Blut¬ 
farbstoff nicht löst, am besten physiologischer Kochsalzlösung, unter dem 
Mikroskope untersuchen. Wasser dürfte nur dann verwendet werden, wenn 
der Blutfarbstoff sich bereits in ein in Wasser unlösliches Derivat — Haematin 
— verwandelt hat, also bei sehr alten Blutspuren. 

In eingetrockneten älteren Blutspuren sieht man zunächst häufig wie 
netzförmig gezeichnete röthliche, bräunliche oder gelbliche Schollen, von 
welchen sich unter günstigen Verhältnissen und bei hinlänglich lange währen¬ 
dem Contact mit einem geeigneten flüssigen Medium, namentlich an der 
Peripherie einzelne Blutkörperchen ablösen. Hiezu ist aber, falls es sich um 
alte Blutspuren handelt, eine oft stunden- bis tagelange Maceration eines 
Theils des Blutfleckes, beispielsweise mit 30%-iger Kalilauge oder mit der von 
v. Hofmann modificirten PACiNi’schen Flüssigkeit (300 Theile Wasser, 100 
Theile Glycerin, 2 Theile Kochsalz, 1 Theil Sublimat) nothwendig. Selbst 
dann gelingt es aber häufig nicht, rothe Blutkörperchen, namentlich, wenn 
sie sehr stark geschrumpft waren, als solche zu erkennen. 

Es ist natürlich etwas ganz anderes, ob man etwa eine Spur, von der 
man weiss, dass sie von Blut herrührt, zu Demonstrationszwecken in der 


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BLÜTSPUREN. 


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erwähnten Richtung untersucht, oder ob man blutverdächtige Flecken, die 
sich an rostigen Metallinstrumenten, an hölzernen Gegenständen, wie Stöcken, 
Knütteln u. dergl. finden, zu untersuchen hat. In letzteren Fällen kann man 
leicht Theile von Rostflecken, von Bast mit auf den Objectträger bekommen, 
somit Objecte, deren einzelne Bestandteile zuweilen Aehnlichkeit mit Blut¬ 
körperchen haben und demnach den Nachweis der letzteren wesentlich er¬ 
schweren oder zu folgenschweren Irrthümem Anlass geben können. Dasselbe 
gilt von Fetttröpfchen und manchen Pilzsporen. 

Aus diesem Grunde darf man sich, falls es sich um den etwaigen Nach¬ 
weis von Blut in blutverdächtigen Flecken handelt, niemals auf die mikro¬ 
skopische Untersuchung allein beschränken. 

Der Nachweis von Blutfarbstoff in blutverdächtigen Flecken kann 
zunächst durch spektroskopische Untersuchung gelingen. Die Art 
und Weise, wie man zu diesem Zwecke Blutspuren behandeln muss, sowie der 
spektrale Befund richtet sich nach dem Grade der Löslichkeit und nach dem 
Alter derselben, kann aber auch durch anderweitige äussere Einflüsse, welche 
auf die Blutspur einwirken, bestimmt werden. 

Zunächst kann der Fall eintreten, dass man blutiges Wasser zu unter¬ 
suchen hat. In diesem Falle bringt man einfach einen Theil der Flüssigkeit 
in ein Glasgefäss (Eprouvette, plan-paralleles Gläschen u. dergl.) und unter¬ 
sucht die Flüssigkeit direct ohne jeglichen weiteren Zusatz mit dem Spektro¬ 
skope. Bei allzustarker Verdunkelung des Gesichtsfeldes wird man die Flüssig¬ 
keit allmälig so weit verdünnen, bis man ein Spectrum erhält, welches etwa 
demjenigen eines in Wasser löslichen Blutfarbstoffes (Oxyhämoglobin, Methä- 
moglobin) entspricht. 

Ist das für die spectrale Untersuchung disponible Material sehr gering, 
so muss die Untersuchung mittelst des Mikrospektroskopes vorgenommen 
werden. 

Der Umstand, dass eine Flüssigkeit von Wasser sich makroskopisch 
nicht unterscheidet, schliesst noch keineswegs aus, dass dieselbe Blutfarbstoff 
in Lösung enthält; denn es kann ja der Concentrationsgrad der Blutfarbstoff¬ 
lösung so gering sein, dass die letztere sich als solche nicht durch eine besonders 
auffällige Farbennuance, verräth. In einem solchen Fall muss man entweder 
die Dicke der Flüssigkeitsschichte vor dem Spektralapparate erhöhen oder aber, 
falls man auch auf diese Weise zu keinem positiven Resultate gelangt, durch 
allmäliges Verdampfenlassen der Flüssigkeit in der Wärme die Erreichung 
eines höheren Concentrationsgrades der etwaigen Blutfarbstofflösung anstreben. 
Es sei jedoch bemerkt, dass man selbst bei sehr stark verdünnten Lösungen 
von Blutfarbstoff, speciell von Oxyhämoglobin, die Absorptionsstreifen des¬ 
selben noch deutlich wahrnehmen kann. 

Handelt es sich um reines Blut oder um eingetrocknete Blutflecken, so 
muss man die spektroskopisch zu untersuchenden Spuren zunächst auflösen. 
Die Lösung erfolgt, falls die Blutspuren nicht gar zu alt sind, die Blutflecke 
noch einen röthlichen oder bräunlichen Farbenton aufweisen, in Wasser. Doch 
erfolgt die Lösung in Wasser nur so lange, als die Blutspuren noch Oxy¬ 
hämoglobin oder Methämoglobin enthalten. Trübe Lösungen können durch 
Zusatz einer Spur Ammoniak geklärt werden. 

Es empfiehlt sich nach Einstellung der Scala, bevor man die Unter¬ 
suchung von Blutfarbstofflösungen mittelst des Spektroskopes vornimmt, für 
jedes Instrument und vor jedesmaligem Gebrauche die D-Linie (Natronlinie) 
zu bestimmen. 

Das Spectrum des Oxyhämoglobins ist charakterisirt durch zwei 
Absorptionsstreifen zwischen den Linien D und E. Der erste, unmittelbar 
bei D beginnende, gegen das violette Ende des Spectrums sich erstreckende 
Streifen ist scharf begrenzt; der zweite Absorptionsstreifen ist breiter, heller, 


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BLUTSPÜREN. 


weniger scharf begrenzt und reicht bis an die Linie E heran. Je nach der 
Concentration der Blutfarbstofflösungen weist die Ausdehnung der Absorp¬ 
tionsstreifen anscheinend Schwankungen auf.*) 

Setzt man zu einer Oxyhämoglobinlösung eine reducirende Substanz 
(Schwefelammonium) hinzu, so tritt statt des Oxyhämoglobinspectrums nach 
kurzer Zeit das Spectrum des reducirten Hämoglobins auf; dasselbe 
zeigt ein breites, helleres Absorptionsbacd, welches einerseits gegen das vio¬ 
lette Ende hin bis nahe an E heranreicht, andererseits sich in continuo über 
D hinaus erstreckt. 

Schüttelt man eine Lösung von reducirtem Hämoglobin hinlänglich mit 
Luft, so entwickelt sich wiederum Oxyhämoglobin. 

Je nach den äusseren Einflüssen kann sich Oxyhämoglobin nach ver¬ 
schieden langer Zeit spontan zunächst in Methämoglobin umwandeln, einen 
Blutfarbstoff, welcher sich dem geübten Untersucher oft bereits makroskopisch 
durch den röthlichbraunen oder braunen Farben ton zu erkennen gibt. Der 
für Methämoglobin charakteristische Absorptionsstreifen liegt im 
rothen Felde des Spectrums und ist deutlich nur bei einer ziemlich concent- 
rirten Lösung des Blutfarbstoffes zu sehen, bei welcher die Oxyhämoglobinbänder 
in der Begel noch nicht getrennt sind, vielmehr an ihrer Stelle sich eine mehr 
oder weniger breite Verdunkelung vorfindet. Bei weiterer Verdünnung treten 
die Oxyhämoglobinstreifen, falls, wie es oft der Fall ist, eine Blutspur neben 
Methämoglobin noch Oxyhämoglobin enthält, immer deutlicher hervor, während 
der Methämoglobinstreifen im Roth allmälig verschwindet. Auch nach Zusatz 
reducirender Substanzen verschwindet der Methämoglobinstreifen. 

Geht der in einer blutverdächtigen Spur enthaltene Farbstoff in Wasser 
nicht in Lösung über, so muss man auf die etwaige Anwesenheit von Hä¬ 
matin Rücksicht nehmen, welches ein weiteres UmWandlungsproduct des 
Oxyhämoglobins bildet und in Wasser unlöslich ist; dagegen löst es sich in 
anderen Flüssigkeiten, so u. a. insbesondere in concentrirter Cyankalium¬ 
lösung (v. Hofmann), mit welcher man die betreffende Blutspur macerirt. Die 
dadurch erhaltene Hämatinlösung gibt ein dem reducirten Hämoglobin ähn¬ 
liches Spectrum. Nach Zusatz von Schwefelammonium treten rasch zwei Streifen 
auf, welche Aehnlichkeit mit den Streifen des Oxyhämoglobins haben, jedoch 
weiter gegen das violette Ende des Spectrums hin gelegen sind. 

Insbesondere durch abnorm hohe Hitzegrade (z. B. durch heisses Bügeln) 
kann auch eine frische Blutspur in Wasser unlöslich werden. Bei lange an¬ 
dauernder Einwirkung sehr hoher Hitzegrade bis zur Verkohlung von Blut¬ 
spuren erhält sich nach Kratter und Hammerl die Löslichkeit in concen¬ 
trirter Schwefelsäure. Hiernach lässt sich aus verkohltem Blute, welches sonst 
keine Reaction mehr gibt, nach Lösung der betreffenden Blutspuren in con¬ 
centrirter Schwefelsäure noch das Spectrum des Hämatoporphyrins dar¬ 
stellen. Dasselbe ist ähnlich dem Spectrum des Oxyhämoglobins, nur dass 
die beiden Absorptionsstreifen gegenüber den Oxyhämoglobinstreifen weiter 
gegen das rothe Feld des Spectrums hin gelagert sind. Verdünnt man nun 
das in concentrirter Schwefelsäure gelöste Hämatoporphyrin mit der 10 bis 
20fachen Menge Wasser, so fällt es in Form von rothbraunen Flocken aus, 
welche gewaschen und mit Alkalien gelöst das Spectrum des alkalischen 
Hämatoporphyrins geben, welches aus vier abwechselnd schmalen und 
breiten Absorptionsstreifen besteht. 

Die Darstellung der TEiCHMANN’schen Blutkrystalle (Krystalle 
des Hämins oder des salzsauren Hämatins) wird in der Weise vorgenommen, 
dass man ein kleines Partikelchen der zu untersuchenden Spur unter Zusatz 
einer Spur Kochsalz in kochendem Eisessig löst und die Lösung eindampft; 
je langsamer letzteres geschieht, um so deutlicher und grösser fallen die 

*) Vergl. Abbildung im Bd. Medicin. Chemie S. 418. 


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BLUTSPUREN. 


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Krystalle aus. Gelingt die Darstellung der Krystalle nicht gleich beim ersten 
Male, so muss die Procedur eventuell ein zweites und drittes Mal wiederholt 
werden. Bei mikroskopischer Untersuchung sieht man dann rhombische 
oder elliptische dunkelbraune Krystalle, welche oft im Gesichtsfelde ungleich- 
mässig vertheilt, stellenweise sehr spärlich, stellenweise in grosser Zahl vor¬ 
handen sind.*) Dieselben sind in Kalilauge und in englischer Schwefelsäure 
leicht löslich. 

Hat man die Darstellung auf einem Glasschälchen vorgenommen, so kann 
man dieses entweder direct unter das Mikroskop bringen oder aber einen 
Theil des trockenen Rückstandes abkratzen und, da die Krystalle in Wasser 
unlöslich sind, mit einem Tropfen Wasser auf einen Objectträger bringen, 
hierauf mit einem Deckgläschen bedecken und nunmehr mikroskopisch un¬ 
tersuchen. 

Durch Beimengung von Fett, Anwesenheit von Rost kann die Dar¬ 
stellung der TEiCHMANN’schen Krystalle ungünstig beeinflusst werden. 

Ist es nun durch die angeführten Untersuchungsmethoden, von denen 
insbesondere der Nachweis von Blutkörperchen zuweilen nicht positiv ausfällt, ' 
gelungen, zu beweisen, dass dieser oder jener blutverdächtige Fleck thatsächlich 
Blut enthält, so werfen sich oft noch andere Detailfragen auf, deren Beant¬ 
wortung für viele specielle Fälle von der grössten forensischen Bedeutung 
sein kann. 

Zunächst kommt die Frage in Betracht, ob eine Blutspur vom 
Menschen oder von einem Thiere herrührt? 

In dieser Beziehung ist zu bemerken, dass, wenn überhaupt noch erhal¬ 
tene Blutkörperchen vorhanden sind, die Unterscheidung der Säugethierblut¬ 
körperchen von Blutkörperchen anderer Thiere durch die morphologischen 
Eigenschaften relativ leicht möglich ist. Während die Blutkörperchen von 
Mensch und Säugethier kreisrunde, kernlose Scheiben darstellen, sind die 
Blutkörperchen der anderen Thierclassen, wie Vögel, Amphibien, Fische, oval 
und kernhaltig. 

Ueberaus schwierig ist die Entscheidung der Frage, ob bestimmte in 
Blutspuren constatirte Blutkörperchen von einem Menschen oder Säugethier 
herrühren. Selbst wenn die diesbezüglichen in mikroskopischen Messungen 
bestehenden Untersuchungen mit grösster Sorgfalt und Peinlichkeit vorge¬ 
nommen werden, und es sich um frische Blutspuren handelt, können nur 
approximative Schlussfolgerungen aus derartigen Messungen gezogen werden. 
Der Grund dessen liegt darin, dass einerseits schon die Grösse der Blut¬ 
körperchen bei einem und demselben Individuum innerhalb gewisser Grenzen 
schwankt, andererseits auch die Grössenunterschiede zwischen menschlichen 
und verschiedenartigen Säugethierblutkörperchen nur sehr minimal sind. 

Die durchschnittliche Grösse der rothen Blutkörperchen vom Menschen beträgt 
0*007 mm (0*0074—0*0080), vom Hunde 0*0070 mm (0*0060 —0*0074), vom Schweine 
0*0062 mm , vom Rinde 0 0058 mm, vom Pferde 0*0057 mm, von der Katze 0*0056 mm, vom 
gchaf 0*0045 mm. 

Es wird daher eine sehr grosse Zahl von Blutkörperchen gemessen und 
aus den Massen das arithmetische Mittel gezogen werden müssen. 

Noch vorsichtiger wird man sich in der genannten Richtung aus¬ 
sprechen müssen, wenn es sich um Blutkörperchenmessungen in alten, ein¬ 
getrockneten Blutspuren handelt, da unter solchen Verhältnissen die rothen 
Blutkörperchen stark, jedoch nicht gleicbmässig schrumpfen und man sich 
daher, falls dieselben in entsprechenden flüssigen Medien aufgeweicht auf¬ 
quellen, über die ursprüngliche Grösse der Blutkörperchen noch weniger ein 
richtiges Urtheil bilden kann als wenn es sich um frischere Blutflecke handelt. 


*) Vergl, Abbildung im B<L Medicin. Chemie S. 419. 


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BODEN. 


Das Alter von Blutspuren, welchem zuweilen ebenfalls eine hohe 
forensische Bedeutung zukommt, kann, wenn überhaupt, meistens selbst 
innerhalb weiterer Grenzen nur approximativ bestimmt werden. Zur Be- 
urtheilung des etwaigen Alters von Blutspuren hat man einerseits die Farbe 
andererseits den Grad der Löslichkeit in Betracht zu ziehen. Frische Blut¬ 
spuren sind deutlich roth, werden jedoch schon durch blosses Eintrocknen 
braun, später graubraun und grau. Diese Farbenänderung steht mit der 
Umwandlung des Oxyhämoglobins in Methaemoglobin und Hämatin in Zusammen¬ 
hang. Die Schnelligkeit, mit welcher diese Umwandlung des Oxyhämoglobins 
vor sich geht, variirt je nach äusseren Einflüssen und wird durch den 
Zutritt von Luft und Licht, insbesondere durch directes Sonnenlicht gefördert. 
Blutspuren, welche den letztgenannten Einflüssen nicht ausgesetzt sind, können 
die braune Farbe monate-, selbst jahrelang behalten. 

Dieselben Momente vermindern allmälig die Löslichkeit der Blutspuren 
in Wasser. 

. Sowohl die Farbenveränderung wie auch die Verminderung der Löslich¬ 
keit von Blutspuren schreitet von der Oberfläche nach der Tiefe zu fort und 
erfolgt, namentlich, wenn die Blutspuren dicker sind, langsam. 

Die correcte Vornahme von Blutuntersuchungen zu forensischen Zwecken 
erfordert grosse Uebung und Vertrautheit mit den einschlägigen Untersuchungs¬ 
methoden, sollte daher immer nur durch gewiegte Fachmänner erfolgen. 

DITTRICH. 

Boden (Bodenhygiene). Der Einfluss des Bodens auf das Wohl¬ 
befinden und die Gesundheit der Menschen äussert sich auf die mannig¬ 
faltigste Weise. Wir bemerken, dass unser Boden die Wände unserer Häuser 
feucht, unsere Wohnungen selbst dumpf und unbequem macht; in unreinem 
Boden ist das Wasser unserer Brunnen ungeniessbar, süss; bei hohem Grund¬ 
wasser steht Wasser in den Kellern u. s. w. Insbesondere erfahren wir jedoch, 
dass gewisse Krankheiten an manchen Orten und zu gewissen Zeiten in 
auffallender Weise vorherrschen, während dieselben an anderen Orten viel 
milder oder gar nicht auftreten, oder aber zu gewissen Zeiten verschwinden. 

Aeltere Autoren, wie Hippokkates, Galen, dann J. P. Fbank, Lancisi, 
Sydenham u. A. kannten wohl und lehrten auch recht eindringlich, dass der 
Boden einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit der auf denselben 
Wohnenden ausübt, insbesondere aber auch auf das Auftreten und Vorherr¬ 
schen gewisser epi- und endemischer Krankheiten von Einfluss ist. Eindringlicher 
wurde jedoch die Frage erst seit dem Auftreten der Cholera untersucht. 
Eckstein, Steinheim, Heilbronn, Boubee, Fourcault legten bei der Ver¬ 
breitung der Cholera das Gewicht auf die geologische Beschaffenheit des 
Bodens, während Pettenkofer, seit 1855, die Aufmerksamkeit vielmehr auf 
das Verhalten des Bodens gegenüber der Luft, Feuchtigkeit und des Schmutzes 
an gewissen Orten, und auf die Schwankungen dieser Factoren im Boden 
zu gewissen Zeiten hinlenkte, und damit die ersten Grundlagen einer 
exacten epidemiologischen Forschung legte. Sodann wurde, mit Hilfe der 
KocH’schen Methoden, die Existenz, ja das üppige Wachsthum verschiedener, 
selbst pathogener, Bacterien auf und in dem Boden nachgewiesen, und hie- 
mit der Weg zur Erforschung der Rolle des Bodens bei dem Entstehen und 
der Verbreitung gewisser epi- und endemischer Krankheiten geöffnet.*) 


*) Eingehendere Behandlung der Bodenhygiene, nebst Literatur-Angaben siehe bei: 
Fodor, Hygienische Untersuchungen über Luft, Boden und Wasser; Viewbg und S., Braun¬ 
schweig, 1881 — 1882, II. B. —- Vergl. ferner: Soyka, Der Boden, im Ziemssrn-Pettek- 
kofer 'sehen Handbuch d. Hygiene und d. Gewerbekrankheiten; Fodor, Hygiene des Bo¬ 
dens, in Weyl’s Handb. d. Hygiene; Fischer, Jena, 1893. 


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BODEN. 


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Die Structur des Bodens. Nicht nur die Böden einzelner Städte, 
sondern sogar die einzelner Häuser, differiren oft ganz entschieden von ein¬ 
ander, sowohl in Bezug auf ihre geologische resp. petrographische Formation, 
wie auch insbesondere bezüglich ihrer physikalischen Structur, womit 
das Verhalten der Bodenschichten gegenüber dem Eindringen von Luft, 
Wasser und Schmutz wie auch gegenüber biologischer, bacteriologischer Pro- 
cesse eng zusammenhängt. 

Nur selten, und nur an eng begrenzten Stellen, findet sich ganz com¬ 
pacter, für Luft, Wasser und Schmutz undurchdringlicher Untergrund vor, 
so z. B. Granit-, Porphyr-, Trachyt-, Basaltboden, Gneiss- und Schieferböden, 
Böden aus gewissen Kalk-, Dolomitgesteinen. Bei weitem häufiger besteht der 
Untergrund aus klastischen Schichtgesteinen, und zwar sowohl aus verkitteten 
(hauptsächlich Grauwacke, Sandsteine u. A.), wie insbesondere aus nicht ver¬ 
kitteten Trümmergesteinen (Schotter, Gerolle, Sand, Thon, Mergel, Löss) mit 
mehr weniger vermengten organischen Stoffen (Dammerde, Humus, Schütt¬ 
boden), welche dem Eindringen von Luft, Wasser und Schmutzstoffen wenig 
Hindernisse in den Weg legen. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass auch 
manche nicht verkittete Trümmergesteine, wenn befeuchtet, sich ziemlich 
impermeabel verhalten (Thon, Mergel), während Böden von Massengesteinen 
stellenweise recht permeable Partien aufweisen, indem die Gesteine oft zer¬ 
klüftet, und die Klufträume mit Gerolle, Schutt u. s. w. aufgefüllt sind. 

Die Grundluft. Im nicht compacten Boden bilden sich Hohlräume 
neben und um die einzelnen Partikelchen des den Boden bildenden Gesteins, 
welche mit Luft, die Grundluft, ausgefüllt sind. Die Summe jener Hohl¬ 
räume ist das Porenvolum, welches z. B. im trockenen Kies-, Sandboden 
35—40 Vol. °/ 0 des Bodens, im Thon, Mergel, Lehm-, Torfböden sogar 45—80 
und mehr Vol. % erreichen kann. Die Grundluft kann durch Wasser aus 
den Hohlräumen theilweise oder auch gänzlich weggedrängt werden, wo dann 
der Boden arm an Grundluft, resp. luftlos erscheint. 

Die Grundluft ist in den Boden eingedrungene atmosphärische Luft, und 
bleibt auch gewöhnlich in reger Beziehung mit dieser letzteren. Sie strömt 
zu gewissen Zeiten in die atmosphärische Luft heraus; sie tauscht, mittelst 
Diffusion, ihre Gase mit jenen der atmosphärischen Luft aus. Die Lebhaftig¬ 
keit dieser Processe hängt weniger von der Summe, als vielmehr von der 
Weite der Bodenhohlräume, von der Luftdurchlässigkeit (= Permea¬ 
bilität) des Bodens ab. Die erfahrungsgemässe Permeabilität eines Kiesbodens 
zu 100 gesetzt, finden wir die Permeabilität im grobkörnigen Sandboden gleich 
61, im feinkörnigen Sandboden 38, im lehmigen Boden 1, ira Thonboden 0'5, 
u. s. w. Feuchtigkeit vermindert die Permeabilität des Bodens beträchtlich, 
ja sie hebt dieselbe — in feinkörnigen Böden — vollständig auf. 

Die in den Boden eingedrungene Luft gibt ihren Sauerstoff zu den oxy- 
direnden Processen im Boden ab, und nimmt im Tausche dafür, annähernd 
zu gleichem Volumen, durch Oxydation im Boden gebildete Kohlensäure auf. 
In sehr verunreinigten, in lebhafter Zersetzung befindlichen Böden, ferner in 
den tieferen Schichten, wo der Austausch mit der atmosphärischen Luft er¬ 
schwert ist, mag der Sauerstoff in der Grundluft zum grössten Theil, ja sogar 
vollständig verschwunden, und durch annähernd gleiches Volumen Kohlen¬ 
säure ersetzt sein. 

Die im Boden frei strömende Grundluft tritt an gewissen Orten, zu ge¬ 
wissen Zeiten, unter der Einwirkung physikalischer Kräfte (Temperatur- 
differenz der atmosphärischen und der Bodenluft, Winde, u. s. w.), auf die 
Bodenoberfläche, wo sie dann den Kohlensäuregehalt der darüber liegenden 
Luftschichten zu erhöhen vermag. Ein solches Emporströmen der Grundluft 
wird hauptsächlich über verunreinigtem, porösem Boden, im Herbst, am Abend 
und des Nachts beobachtet. — Die kalte, und in Folge dessen schwere atmo- 


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BODEN. 


sphärische Luft, treibt im Herbste und im Winter die wärmere Grundluft 
auch den Gebäuden zu, wo sie in die Kellerräume, in die Parterre-Wohnun¬ 
gen einströmt. Mit an Sauerstoff armer Grundluft gefüllte Kellerräume, 
Brunnen, Gruben, können asphyktisch wirken. In Budapest stiegen fünf 
Arbeiter, einer nach dem andern, in einen früher geschlossen gewesenen 
Brunnenschacht und fanden daselbst ihren Erstickungstod. Der Brunnen war 
mit, von dem umgebenden unreinen Boden stammender Grundluft gefüllt. 

Bodenfeuchtigkeit und Grundwasser. Nach allgemeiner Schä¬ 
tzung pflegt von dem auf den Boden fallenden Regenwasser ein Dritttheil 
oberflächlich abzufliessen; ein zweites Drittel verdunstet; das letzte Drittel des 
Wassers endlich dringt in den Boden ein, und trägt zu dessen Befeuch¬ 
tung, wie auch zur Bildung des Gr und wassers bei. Von erhöht liegen¬ 
den, abhängigen Orten, mit compactem, naktem Boden, fliesst mehr Wasser 
ab, während flache, insbesondere muldenförmige, poröse, bewachsene Boden¬ 
flächen mehr Wasser ansammeln und in den Boden eindringen lassen. Jene 
besitzen gewöhnlich einen trockenen, diese aber einen feuchten Untergrund. 

Die Feuchtigkeit des Bodens wird aber auch durch gewisse physikalische 
Eigenschaften der verschiedenen Bodenarten beherrscht, — so von der Durch¬ 
lässigkeit des Bodens für Wasser (Quarzsandboden verhält sich za 
Lehm-, resp. zu Thonboden wie 5760 zu 1674, resp. zu 0‘7), — von der 
wasserbindenden Kraft des Bodens (100 Raumtheile Quarzsand binden 
50 Raumtheile Wasser, Lehm 68, Torfboden 90 und mehr Raumtheile), 
von der Capillarität desselben u. s. w. Kies-, Sandböden sind in Folge 
dessen im Allgemeinen trocken, während lehmige, humöse, torfige Böden 
gewöhnlich feucht und zu Wasseransammlungen, zur Pfützenbildung u. Ae. 
geeignet sind. 

Das in den Boden einsickernde Regenwasser wird auf seinem Wege durch 
minder durchlässige Schichten aufgehalten und sammelt sich an. Dasselbe 
verdrängt die Luft aus den Porenräumen und füllt die letzteren aus. Dies 
die Bildung des Grund wassers. 

Das Wasser erfüllt die Porenräume bald bis nahe zur Oberfläche des 
Bodens (weniger als 5 m von der Oberfläche entfernt heisst es oberflächliches 
Grundwasser), bald nur bis in von der Oberfläche entfernteren Schichten 
(20 und mehr m von der Oberfläche entfernt, ist es tiefes Grundwasser). 
Uebersteigt das angesammelte Grundwasser, an einzelnen Stellen, selbst die 
Bodenoberfläche, so ist dies frei zu Tage liegendes Grundwasser. 

An manchen Stellen findet sich überhaupt kein Grundwasser vor, weil 
die undurchlässige Schicht eine Neige bildet, oder zerklüftet ist, und das 
zusickernde Wasser tiefer liegenden Stellen zuführt. Wenn dieses Wasser 
hier zu Tage tritt, so ist dies eine Quelle. Durchlässige und minder durch¬ 
lässige Schichten lagern sich oft abwechselnd und mehrfach über einander. 
Dann trifft man Grundwasser in mehreren Lagen, und in verschiedener Menge. 
Zwischen zwei oder mehr muldenartig übereinander gelagerten undurchlässi¬ 
gen Schichten angesammeltes Wasser steigt, wenn die obere undurchlässige 
Schichte durchgebohrt wird, in die Höhe empor. Dies ist die Bildungsweise 
der meisten Artesischen Quellen. 

Regnerisches und trockenes Wetter beherrschen die Grund wasser- 
Schwankungen. Bei jenem, also gewöhnlich im Frühjahr, nähert sich das 
Grundwasser der Bodenoberfläche, bei diesem, im Herbst entfernt es sich da¬ 
von. Der Unterschied zwischen dem höchsten und niedrigsten Wasserstande 
(= Amplitude der Grundwasser-Schwankung) beträgt höchstens (in 
Mitteleuropa) 0 5—l'O m. Derselbe kann jedoch an manchen (in der Thalsohle, 
muldenförmig liegenden) Orten viel bedeutender sein, weil da dem Grund¬ 
wasser von der Umgebung zusammengesickertes W T asser, Drainage wasser, 
zugeführt wird. Regnerische, resp. trockene Jahrescyclen nähern, bezw. 
entfernen den Grundwasserspiegel noch erheblicher von der Bodenoberfläche. 


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•BODEN. 


171 


Selten bildet das Grundwasser einen ruhig liegenden, unterirdischen 
Teich (so eventuell über einer muldenförmigen, undurchlässigen Untergrund¬ 
schichte),— vielmehr fliesst, strömt dasselbe in irgend einer Richtung, der 
Neige der undurchlässigen Schicht folgend, ab. Meistens sind es Flussbette, 
Thalsohlen u. Ae., denen das Grundwasser zuströmt. Eventuell sickert jedoch 
das Wasser eines Flusses (insbesondere bei Hochwasser) dem Boden seiner 
Umgebung zu, und liefert, wenigstens zeitweise, dessen Grundwasser. 

Regen und Trockenheit, sowie die Grundwasserschwankungen beeinflussen 
den Feuchtigkeitszustand der verschiedenen Bodenschichten. Das Zu¬ 
sammenwirken dieser wie auch anderer Factoren (so z. B. der physikalischen 
Eigenschaften des Bodens) machen den Gang der Bodenfeuchtigkeit an 
verschiedenen Orten, und zu verschiedenen Zeiten, sowie auch in den ver¬ 
schiedenen Bodenschichten, äusserst unregelmässig und schwer erkenntlich. 

Bodenverunreinigung. Die ausgiebigste Quelle der Boden Verunrei¬ 
nigung liefern die menschliche Haushaltung und die Excremente der Menschen 
und der Hausthiere. Ein einziger Einwohner führt durch diese mehr Fäul- 
nissstofle dem Boden seiner Umgebung zu, als 300—600 Einwohner mit den 
Leichen ihrer Verstorbenen. Dies erklärt wohl die relative Reinheit der 
Brunnenwässer in den Friedhöfen, gegenüber den Brunnen im Inneren der 
Städte. 

Die auf die Bodenoberfläche gelangenden Schmutzstoffe — insoferne die¬ 
selben nicht wieder entfernt werden — zerstäuben, sickern in den Boden, 
werden in denselben hineingedrängt, hinein getreten, und verunreinigen auf 
diese Weise die Luft und den Boden. 

Flüssige Schmutzstoffe werden vor Allem filtrirt, wobei infolge der 
Bindekraft des Bodens auch gelöste Stoffe (organische und anorganische, 
von den letzteren insbesondere Ammoniak, viel weniger chlor- und salpeter- 
saure Salze) an der Stelle der Bodenverunreinigung zurückgehalten werden. 
Bei allzu reichlicher Zufuhr jener Stoffe erschöpft sich die Bindekraft des 
Bodens, und nun sickern auch die organischen Stoffe, sowie Ammoniak etc. 
den tieferen Bodenschichten, eventuell dem Grundwasser zu. 

Gewöhnlich ist der Boden an seiner Oberfläche, sowie unterhalb von 
Jauchegruben, Canälen u. dgl. am meisten verunreinigt. 

Der in den Boden eingedrungene Schmutz wird, unter Mitwirkung von 
Mikroorganismen und der Grundluft, zersetzt, namentlich werden kleinere 
Mengen Schmutzstoffe bei genügender Bodenlüftung oxydirt (Bildung von 
Salpetersäure), hingegen neigt eine grössere Menge von Schmutz bei unge¬ 
nügender Lüftung (in den tieferen Bodenschichten, im Städteboden, in dichtem 
Boden) zur Fäulnis (Bildung von Ammoniak, Schwefelwasserstoff, salpetriger 
Säure). Organische Stoffe, Ammoniak, salpetrige Säure im Brunnenwasser 
weisen demnach auf einen durch und durch mit Schmutzstoffen infiltrirten, 
faulenden Boden hin. 

Oxydirender Boden reinigt sich selbst — wenn er von erneuerten Schmutz¬ 
infiltrationen bewahrt bleibt — ziemlich schnell, faulender Boden hingegen 
viel langsamer. Aus porösem, oxydirendem Boden verschwinden selbst die 
organischen Stoffe ganzer menschlicher Leichen nach 3—4 Jahren. 

Die Zersetzungsstoffe im Boden werden auch von der Bodenfeuchtigkeit 
beherrscht. Im trockenen Boden (mit weniger als 2 Vol.% Wasser) ist die 
Zersetzung eine ziemlich begrenzte, sie hebt sich mit zunehmender Befeuch¬ 
tung (Regen, Grundwasser-Erhöhung) sehr schnell, sprungweise. 

Die Temperatur des Bodens. Auch die Temperatur des Bodens 
wirkt auf die Zersetzungsvorgänge in demselben wesentlich ein. 

Der Erwärmungsgrad der Erdrinde ist zunächst abhängig von der Inten¬ 
sität und der Quantität der Sonnen-Bestrahlung, welche ihrerseits von 
der Sonnenhöhe und der Tageslänge abhängt. — An der Oberfläche des 


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BODEN. 


Bodens beobachtet man einen ähnlichen Wechsel der Temperatur, wie in 
der über derselben lagernden Luftschichte, — mit dem Unterschiede jedoch, 
dass der Boden bedeutend höhere Maximaltemperaturen aufweist (in Mittel¬ 
europa 60° C und mehr, — in Aequatorialgegenden 70° C und auch mehr), 
und nach Sonnenuntergang sich schnell und ausgiebiger abkühlt, als die 
Atmosphäre. Inden tieferen Bodenschichten dringt die Sonnenwärme 
nur äusserst langsam vor, auch kühlen sich diese nur allmälig ab. Die 
Tagesvariation der Bodenerwärmung ist in 05 m Tiefe kaum mehr 
bemerkbar. Auch ist diese oberflächliche (bis 0 5 m reichende) Bodenschichte 
Abends und in der Nacht wärmer, als Morgens und tagsüber. Der Tempe¬ 
raturwechsel der Jahreszeiten dringt 15, höchstens 30 m tief vor. 
Die Maximaltemperatur in 2 m Tiefe wird (in Budapest) im September, in 
4 m Tiefe aber Ende October beobachtet, während die Minima im März, resp. 
Ende April sind. Die beobachteten Maximal-, resp. Minimaltemperaturen sind 
in 2 m Tiefe: 15*74° und 4 32° C, — im 4 m Tiefe: 14*28° und 9 49° (Luft: 
20*82° C im Juli und 2*30° im December). 

In 15—30 m Bodentiefe ist die Temperatur constant, und entspricht 
annähernd der mittleren Jahres-Lufttemperatur der Beobachtungssorte. Noch 
tiefer nimmt die Bodentemperatur allmälig, und zwar auf circa je 30—35 m 
mit 1° C zu. 

Mit Hilfe dieser Daten sind wir imstande, die jeweilige Temperatur des 
Bodens in den verschiedenen Schichten, zu verschiedenen Jahreszeiten an¬ 
nähernd anzugeben; ebenso ermöglichen uns jene Daten die zu erhoffende 
Kühle der Keller, der Brunnenwässer approximativ zu schätzen, wie auch die 
Tiefe zu bestimmen, von welcher aus Quellen das Wasser hervordringt. 

Der hohen Temperatur der oberflächlichen Bodenschichten und dem 
starken Wechsel dieser Temperatur in den verschiedenen Jahreszeiten ent¬ 
sprechend, finden wir daselbst die lebhaftesten Zersetzungsprocesse, sowie auch 
die grösste Verschiedenartigkeit, während die tieferen Schichten, etwa unter¬ 
halb 2—4 m, mit ihrer constanten und massigen Wärme sehr wenig zu biolo¬ 
gischen Vorgängen disponiren. 

Bakterien im Boden. Der Boden beherbergt und ernährt eine Un¬ 
zahl von Bakterien der verschiedensten Arten. Die meisten wirken wohl bei 
der Umwandlung organischer Stoße in unorganische, bei der Oxydation 
und der Fäulnis des Bodenschmutzes mit. Es wurden aber auch pathogene 
Bakterien im Boden nachgewiesen, ferner geht aus diesbezüglichen Ver¬ 
suchen hervor, dass die Bakterien gewisser specifischer Krank¬ 
heiten auf und in Bodenproben fortvegetiren, ja selbst sich vermehren 
können. Die meisten Bakterien finden sich an der Oberfläche und in den 
oberflächlichen Schichten des Bodens, in 0*5—1*0 m Tiefe vor, (mehrere 
Hunderttausende, ja Millionen in 1 cm 3 Bodenprobe). Ihre Zahl, sowie die 
Verschiedenheit der Arten, vermindert sich äusserst schnell mit der Tiefe, so 
dass unterhalb 2 tn, die nicht aufgewühlten, von Abortgruben, Canälen her 
nicht inficirten Bodenschichten, gewöhnlich steril erscheinen. 

Milzbrand-Bacillen vermehren sich sehr lebhaft in und auf warmem, 
feuchtem Boden, und bilden schnell Sporen. In tieferen Schichten, wo die 
Temperatur unter 15° C bleibt, vermehren sie sich nicht mehr, auch bilden 
sie keine Sporen mehr. Die Sporen können im Boden ihre Virulenz — 
obgleich etwas abgeschwächt — jahrelang beibehalten. 

Die Bacillen des malignen Oedems verhalten sich im Boden ähnlich, 
wie die Milzbrandbacillen. 

Der Bacillus Typhi abd. gedeiht in und auf Bodenproben. Bis zu 
0*6 m Tiefe in den Boden hinunter geschwemmt, wurden Typhusbacillen, selbst 
nach 5 7* Monaten und in Gemeinschaft mit anderen Bakterien, lebend vor¬ 
gefunden. In noch tieferen Schichten und bei Temperaturen unterhalb 9—10° C, 


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BODEN. 


173 


scheinen die Typhusbakterien nicht mehr gedeihen zu können, obzwar ihr 
längeres Fortvegetiren daselbst nicht ausgeschlossen erscheint. 

Der Cholera-Bacillus reproducirt sich und verbreitet sich schnell 
in wannen, feuchten Bodenproben. In tieferen Bodenschichten scheint der¬ 
selbe kaum reproductionsfähig zu sein, ja sogar schnell zu Grunde zu gehen. 
Austrocknen des Bodens, sowie Besonnung (Insolation) desselben, zerstören die 
Cholerabacillen. 

Die Tetanus-Bacillen kommen im unreinen Schutt- und Städteboden 
häufig vor. In begrabenen Tetanus-Leichen wurden Tetanusmikroben (Sporen) 
selbst nach Jahren, und im vollvirulentem Zustande nachgewiesen. 

Die Bakterien septischer Infectionen scheinen im verunreinigten 
Boden überall zu vegetiren. In tieferen, reinen Bodenschichten, fehlen die¬ 
selben. 

Malaria-Organismen konnten bisher im Boden nicht isolirt werden, 
ebenso wenig die Organismen einiger anderer, augenscheinlich infectiöser 
Krankheiten (der Ruhr, der Sommer-Diarrhoe etc.). 

Auch höhere, Krankheit erregende Parasiten erwählen oft den Boden als 
Aufenthalts- resp. Vegetationsmedium, so z. B. das Anchylostomum 
duodenale. 

Es ist wohl anzunehmen, dass in unreinem, faulendem Boden sich 
Ptomal'ne, Toxine bilden, die ihren Weg selbst in das Grundwasser, resp. 
Brunnenwasser finden mögen. Der positive Nachweis dieser Stoffe im Boden 
hat bis jetzt noch nicht stattgefunden. 

Die auf und in dem Boden lebenden Bakterien, Parasiten u. Ae. können 
auf verschiedene Weise in den menschlichen Körper gelangen. Am häufigsten 
werden sie wohl durch Winde von der Bodenoberfläche aufgewirbelt, 
gelangen so in die Atmosphäre, in unsere Wohnungen, in die Brunnen, 
in das Trinkwasser, in die Speisen und finden so den Zutritt in unseren 
Körper, eventuell nachdem dieselben — im Trinkwasser, in den Speisen — 
eine vielfache Vermehrung erreicht haben; auch Communication, Kleider, 
Schuhsohlen verschleppen zahllose Boden-Organismen in unsere Wohnungen. 

Dann können jene Organismen durch den Boden geschwemmt, durch¬ 
gewuchert ins Grundwasser und sodann in das Brunnenwasser ge¬ 
langen. In Anbetracht dessen, dass Bakterien nur äusserst langsam im Boden 
weitergeschwemmt werden, so dass — wie oben angegeben — schon in 2 m 
Tiefe der Boden gewöhnlich sehr arm an Bakterien ist, ja oft steril vorge¬ 
funden wird, scheint sich diese Art von Wasserinfection eigentlich recht selten 
(bei hochliegendem Grundwasser, äusserst porösem Boden, und wo die Ver¬ 
unreinigungsquelle des Bodens ganz nahe zu dem Brunnen liegt) zu ereignen. 
Viel häufiger mag Bodenschmutz von oben her, durch Regen, in die Brunnen 
hineingewaschen, oder durch unterirdische Gänge von Ratten u. Ae. ins Wasser 
geleitet werden. 

Wo unreine Bodenschichten (Abortgruben etc.) den Gebäuden anliegen, 
können Schmutzstoffe und Bakterien auch durch die Wände hindurch sickern, 
und im Inneren der Gebäude zum Vorschein treten, wo dieselben allmälig ein¬ 
trocknen, zerstäuben, und so die Wohnung inficiren. 

Bakterien und ähnliche Organismen mögen endlich durch die Bodenluft 
vom Boden emporgehoben und so den Menschen zugeführt werden (siehe: 
Malaria). 

Einwirkung der Bodenverhältnisse auf die Gesundheit. 
Die allerwichtigste Einwirkung der Bodenverhältnisse auf die Gesundheit 
äussert sich in dem Einfluss auf gewisse en- und epidemische Krankheiten. 
Diese Krankheiten weisen nämlich, sowohl in ihrer örtlichen Verbreitung, 
wie auch bezüglich ihres zeitlichen Vorherrschens, eine mehr minder her¬ 
vortretende Abhängigkeit von gewissen örtlichen und zeitlichen Ver- 


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174 


BODEN. 


hältnissen des Bodens auf, namentlich von solchen Verhältnissen, welche — 
wie die NieveauVerhältnisse, die Feuchtigkeit des Untergrundes, das Ver¬ 
halten des Grundwassers, die Permeabilität, Temperatur, Verunreinigung des 
Bodens u. Ae. — auf die Zersetzungsprocesse, sowie auf die biologischen Ver¬ 
hältnisse der Mikroorganismen im Boden Einfluss zu nehmen geeignet er¬ 
scheinen. 

Der Einfluss des Bodens auf en- und epidemische Krankheiten mag 
theils ein directer sein, indem unter günstigen örtlichen und zeitlichen 
Bodenverhältnissen die specifischen, pathologischen Mikroorganismen in oder 
auf dem Boden gezüchtet werden (= ektogene Infectionsstofte, Miasma, im 
Gegensatz zu den im Körper gezüchteten Infectionsstoffen, das C o n t agi um), 
oder wenigstens längere Zeit hindurch in oder auf dem Boden lebend er¬ 
halten, conservirt werden, — theils mag jene Einwirkung eine in di recte 
sein, indem der Boden an gewissen Orten und zu gewissen Zeiten Stoffe er¬ 
zeugt, welche dem menschlichen Körper (durch den Luftstaub, durch Getränke, 
Speisen etc.) einverleibt, diesen zu schwächen, seine Resistenz gegen specifi- 
sche Krankheitsstoffe, Infectionsorganismen zu vermindern geeignet sind, 
so z. B. Fäulnisorganismen, Zersetzungsstoffe, welche Diarrhoe hervorrufen. 

Am evidentesten erscheint der Einfluss des Bodens auf das Malaria- 
Fieber. Die Krankheit ist endemisch an Orte gebunden, welche ihrerseits 
durch niedrige Lage, feuchten Untergrund, durch stagnirendes Grundwasser, 
mit pflanzlichen Ueberresten beladenen Boden etc. charakterisirt sind, — auch 
wird dieselbe zeitlich von den warmen Jahreszeiten beherrscht, sowie von 
gewissen zeitlichen Schwankungen der Bodenfeuchtigkeit (Durchfeuchtung nach 
anhaltender Trockenheit, beginnende Austrocknung überschwemmter Flächen etc.). 
Endlich kann der Endemie durch Boden-Amelioration ein Ziel gesetzt werden, 
welche jene örtlich und zeitlich disponirenden Eigenschaften des Bodens ver¬ 
ändern oder gar aufheben, so z. B. durch Bodenanschüttung, Colmatage, durch 
Wasserableitung des Bodens u. s. w. 

Der Malaria-Kranke inficirt weder Menschen, mit denen er in Berührung 
steht (ausser vielleicht bei directer Ueberimpfung von Kranken in Gesunde), 
noch den Boden, auf welchen derselbe sich niederlässt. Der Infectionsstoff 
der Malaria ist folglich ein rein ektogener Virus, ein Miasma. 

Das Malaria-Miasma, der Malaria-Organismus konnte bisher ausserhalb 
des menschlichen Körpers, im Boden, im Wasser nicht nachgewiesen werden. 
Allem Anscheine nach lebt dieser Organismus nahe an der Oberfläche des 
Bodens, weil an Malaria-Orten insbesondere das Aufgraben, Aufwühlen der 
Bodenoberfläche zu heftigen Krankheits-Ausbrüchen führt. Von dem sich 
trocknenden Boden scheint der Malariaorganismus mit Hilfe der ausströmenden 
Bodenluft sich zu erheben, weil die Malariainfection hauptsächlich in der 
Abendluft und in der Nachtluft sich auf die Oberfläche des Bodens emporzu¬ 
heben pflegt. 

Das Gelbe Fieber ist ebenfalls offenbar eine durch die Bodenverhält¬ 
nisse maassgebend beeinflusste Krankheit. Das örtlich disponirte (endemische) 
Gebiet ist eng und scharf begrenzt (Golf von Mexico); der Einfluss zeitlicher 
Verhältnisse wird durch das Abhängen der Epidemien von der heissen Jahres¬ 
zeit klar demonstrirt. Das Aufwühlen des Bodens an endemischen Orten, zu 
kritischen Zeiten, steigert die Gefahr der Infection. 

Der Krankheits-Organismus ist derzeit weder im Körper noch im Boden 
näher bekannt. Derselbe scheint sowohl durch den Kranken, wie auch durch 
leblose Gegenstände verschleppbar zu sein. Seine Reproduction findet jedoch 
nur an örtlich und zeitlich disponirten Orten statt. Das Miasma des gelben 
Fiebers ist verschleppbar. Es ist fraglich, ob der Krankheitskeim auch 
im Körper, in zur Infection geeignetem Zustande fertig entwickelt werden 
kann, — ob die Krankheit ausser dem ektogenen Infectionsstoff (Miasma) 
auch einen entogenen (Contagium) besitzt. 


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BODEN. 


175 


Nach Pettenkofer ist auch die Cholera eine verschleppbare, mias¬ 
matische Krankheit, zu deren epidemischer Verbreitung gewisse Zustände und 
eine Mitwirkung des Bodens als unerlässliche Bedingungen gehören. 
Neuere Untersuchungen lassen jedoch kaum einen Zweifel darüber, dass die 
Cholera auch ohne jegliche Mitwirkung des Bodens Erkrankungen, ja Epidemien 
verursachen kann. Der Cholerakeim (der KocH’sche Bacillus) wird auch im 
Darme, in einem zur Virulenz geeigneten Zustand reproducirt (Contagium der 
Cholera), und kann derselbe — durch Trinkwasser, Speisen etc. in den 
Körper gelangt — Infection, ja (z. B. bei Contamination von Leitungswasser) 
ausgebreitete Epidemien hervorrufen. 

Nichtsdestoweniger weisen sowohl das örtliche, als noch mehr das 
zeitliche Verhalten der meisten Choleraepidemien auf eine thatsächliche 
Mitwirkung der Bodenverhältnisse hin. 

Vor Allem ist die örtliche Beschränkung, das endemische Vorherr¬ 
schen hervorzuheben. Und wieder sind es — wie bei dem Gelb-Fieber — 
tropische Klimata, feuchte Küsten- und Flussgebiete, wo die Cholera ihre 
eigentliche Heimat hat: Ost-Indien. Ferner kann constatirt werden, dass auch 
ausserhalb Indiens einzelne Länder, Gegenden, Städte und Stadttheile von der 
Cholera überhaupt mehr angegriffen werden, als andere, — und zwar sind es 
eben gewisse Bodenverhältnisse, wie tiefe, feuchte Lage, Unreinlichkeit in und 
auf dem Boden, welche mit jener grösseren Verbreitung coincidiren. 

Noch evidenter erscheint die Beeinflussung der Cholera durch zeitliche 
Verhältnisse, namentlich durch die Jahreszeiten. Nach Pettenkofer ent¬ 
fallen von 188 924 Choleratodesfällen in Preussen, Sachsen und Bayern in 
den Epidemiejahren von 1836 bis 1874, 143*269 auf die drei Monate August 
bis October, während die übrigen neun Monate blos 45*665, namentlich die 
drei Monate März, Mai, Juni blos 892 Todesfälle aufweisen. Diese Erfahrung, 
welche auch in anderen Ländern bestätigt wird, kann durch eine regere Ver¬ 
mehrung der Cholerakeime im Inneren des menschlichen Körpers, sowie etwa 
deren lebhaftere Verbreitung in August— October mittelst Communication u. Ae., 
nicht erklärt werden, vielmehr deutet dieselbe klar an, dass die epidemische 
Ausbreitung der Cholera von Stoffen abhängt, deren Reproduction der Ein¬ 
wirkung anhaltender äusserer Wärme resp. Kälte untergeordnet ist, welche — 
an geeigneten Orten, zu geeigneten Zeiten — ausserhalb des menschlichen 
Körpers entwickelt werden. 

Und wenn wir nun gezwungen sind die Einwirkung ektogener Stoffe bei 
der epidemischen Verbreitung der Cholera zu acceptiren, so ist das Natür¬ 
lichste, wenn wir annehmen, dass die Cholerakeime selbst an den disponirten 
Orten und zur geeigneten Zeit auf feuchtem, mit organischen Stoffen durch¬ 
setztem Boden sich entwickeln, umsomehr als wir wissen, dass die KocH’schen 
Bacillen auf feuchter Erde, bei geeigneter Temperatur sich schnell vermehren 
und auf der Oberfläche ausbreiten. Es kann wohl kaum in Frage gestellt 
werden, dass die Cholerakeime ausser auf dem Boden, auch im Wasser, und 
auf der Oberfläche oder im Innern anderer Gegenstände (in Speisen, auf der 
Wäsche u. s. w.) sich entwickeln und vermehren können. 

Allem Anscheine nach besitzt sonach die Cholera, ausser dem im Innern 
der Kranken (im Darme u. s. w.) sich bildenden entogenen Infections- 
stoffe (Choleracontagium), auch einen ektogenen (Choleramiasma), welcher 
sich an dazu disponirten Orten, zu geeigneten Zeiten, ausserhalb des mensch¬ 
lichen Körpers reproducirt, und bei den meisten, und eben bei den ausge- 
breitetsten Epidemien, die entscheidende Rolle spielt. 

Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass eine örtliche und zeitliche 
Einwirkung auf die Cholera auch in der Weise sich gestalten kann, dass an 
jenen disponirten Orten und zu geeigneten Zeiten nicht die Cholerakeime 
selbst auf dem Boden, im Wasser etc. reproducirt werden, sondern eventuell 


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176 


BODEN. 


anderweitige Stoffe und Keime (z. B. Zersetzungsstoffe, Fäulnisorganismen 
u. Ae.), welche in den Körper gelangt, denselben den Cholerakeimen gegenüber 
schwächen, zur schweren Erkrankung disponiren. 

Wie dem auch sei, so viel ist klar, dass niedriger, feuchter, verunrei¬ 
nigter Boden (ebenso auch verunreinigtes Wasser, unreine Wohnungen etc.) 
der epidemischen Ausbreitung der Cholera, insbesondere den Herbstepidemien, 
wesentlich Vorschub leistet, und dementsprechend kann uns jene erfreuliche 
Erfahrung, dass mit dem Vorschreiten der öffentlichen Reinlichkeit 
Choleraepidemien in allen Welttheilen immer seltener werden, nur als na¬ 
türlich erscheinen. 

Beziehungen des Bodens zum Abdominaltyphus. Vielfache 
Erfahrungen weisen darauf hin, dass auch der Abdominaltyphus von ört¬ 
lichen, namentlich von Boden-Verhältnissen beeinflusst wird, dass der¬ 
selbe sich zähe an gewisse eng umschriebene Orte, Stadttheile, zuweilen an 
einzelne Gebäudecomplexe hält, und zwar hauptsächlich an solche von tiefer 
Lage, von feuchtem, mit animalischen Excrementen verunreinigtem Unter¬ 
grund. 

Buhl und Pettenkofer wie auch deren Schüler bemühten sich auch 
zeitliche Dispositions-Momente nachzuweisen. Die Behauptung, dass auch 
der Typhus eine Herbstkrankheit sei — wie die Cholera, Malaria — konnte 
jedoch nicht aufrecht erhalten werden, da auf mehrere Winter-, ja Frühjahrs¬ 
epidemien hingewiesen wurde. Unbestritten, aber auch derzeit unerklärlich, 
verbleiben jedoch die Beobachtungen in München, Berlin, Frankfurt a./M. 
u. a. a. 0., welche für diese Städte als Erfahrungsgesetz feststellen, dass „der 
Rhythmus des Abdominaltyphus im Allgemeinen der umgekehrte Rhythmus der 
Grundwasserschwankungen ist“ (Soyka). Die Tragweite dieser Beobachtungen 
wird durch jene anderen, nach welchen an einzelnen Orten der Rhytraus der 
Grundwasserschwankungen und der epidemischen Ausbrüche des Typhus sich 
parallel verhielten (z. B. in Budapest), kaum entkräftet, ja sogar noch unter¬ 
stützt. Die beiden Beobachtungen ergänzen einander, und demonstriren, dass 
zwischen den Grundwasserschwankungen und Typhusepidemien thatsächlich ein 
zeitlicher Zusammenhang besteht, woraus wohl auch auf einen causalen 
Zusammenhang geschlossen werden kann. 

Pettenkofer selbst vermied eine nähere Erklärung dieses Zusammen¬ 
hanges; seine Schüler hingegen suchten denselben klar zu stellen, und nahmen 
an, dass die Grundwasserschwankungen auf die Zersetzungsprocesse des Bodens 
und in gleicher Weise auch auf die biologischen Processe der Typhusbacillen 
einen Einfluss ausüben, eine Annahme, welche näher nicht klargelegt werden 
konnte, und umso mangelhafter ist, als dieselbe mit den Winter-, insbesondere 
aber mit den Frühjahrsepidemien in gewissem Grade im Widerspruche steht. 

Nach alldem kann die Auffassung, als stünde der Typhus unter aus¬ 
schliesslicher oder auch blos maassgebender Einwirkung der Bodenverhältnisse, 
nicht als bewiesen angenommen werden, umsoweniger da es kaum mehr be¬ 
zweifelt werden kann, dass mit den Excrementen Typhöser (mit T y p h u s-C on t a- 
gium) verunreinigtes Trinkwasser heftige Infection, selbst epidemische Aus¬ 
brüche (bei Verunreinigung von Wasserleitungen) verursachen kann (Epidemie 
von Fünfkirchen in Ungarn, 1890—1891.) Auf diese und ähnliche Art mögen 
mehrere Thypusepidemien entstanden sein. 

Nichtsdestoweniger kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass eine 
andere Gruppe von Epidemien, namentlich die schleichend ansteigenden, 
längere Zeit hindurch anhaltenden, dann allmälig zurückgehenden, jedoch zu 
gewissen Zeiten wieder zurückkehrenden, von unter örtlich und zeitlich ge¬ 
eigneten Verhältnissen ausserhalb des menschlichen Körpers entstehenden 
Infectionsstoffen (Typhus-Miasma) hervorgerufen werden. Darauf weisen 
auch die biologischen Eigenschaften des Typhus-Bacillus hin. (S. oben.) 


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BODEN. 


177 


Es darf jedoch abermals nicht unerwähnt bleiben, dass die örtlichen 
Verhältnisse, welche dem Typhus günstig erscheinen (wie tiefe Lage, feuchter, 
verunreinigter Boden und Untergrund) möglicherweise auch derart auf die 
Ausbreitung der Krankheit Einfluss nehmen, dass unter ihrer Mitwirkung 
etwa Stoffe (Fäulnisstoffe, Fäulnisorganismen) gebildet werden, welche den 
Organismus des Menschen den Typhusbacillen gegenüber schwächen. 

Die Erfahrung, dass in neuerer Zeit so wie die Cholera, auch der 
Typhus in seiner epidemischen Ausdehnung auffallend nachgelassen hat, mag 
ihre Erklärung nicht nur in der verbesserten Wasserversorgung, sondern 
auch — vielleicht in erhöhtem Maasse — in den Fortschritten der öffentlichen 
Reinlichkeit finden, welche dem ektogenen Entstehen der Typhuskeime, oder 
wenigstens der zum Typhus disponirenden Infectionsstoffe erfolgreich ent¬ 
gegenwirkt. 

Die Sommerdiarrhoe (Enterie, Cholera infantum) weist auch nahe 
Beziehungen mit feuchtem, verunreinigtem Boden, und mit der warmen Jahres¬ 
zeit auf. Weniger ist dies bezüglich der Diphtherie nachzuweisen, ob¬ 
gleich manche Anzeichen dafür sprechen, dass dieselbe durch feuchten, ver¬ 
unreinigten Boden, sowie feuchte, schmutzige Wohnungen begünstigt wird. 
Zuweilen deutet die Diphtherie ein auffallend zähes Anhaften an gewisse 
Wohnungen an. Es ist nicht auszuschliessen, dass in solchen Fällen der Diphtherie¬ 
bacillus ein Züchtungsterrain auf jenem nassen Boden, resp. in den feuchten 
Wohnungen gefunden, obzwar der Diphtheriebacillus, ausserhalb des menschlichen 
Körpers, viel schwieriger zu züchten ist, als z. B. der Cholera-, oder Typhus¬ 
bacillus. Andererseits ist es jedoch auch möglich, dass der Diphtheriekeim an 
jenen feuchten Flächen blos conservirt, nicht aber neu entwickelt wird. 

Noch schwieriger sind die Beziehungen des Bodens zur Tuberculose, 
zum Kropf und Cretinismus, zu der Ruhr und noch anderen Krankheiten 
klar zu stellen, welche insgesammt einen mehr-minder augenfälligen Paralellis- 
mus mit gewissen örtlichen und zeitlichen Verhältnissen des Bodens aufweisen. 

Andere Wirkungen der Bodenverhältnisse auf die Gesund¬ 
heit. Erhöhte Lage erleichtert eine zweckentsprechende Canalisation, be¬ 
günstigt die öffentliche Reinlichkeit; hält die Wohngebäude trocken, warm, 
angenehm, unterstützt die freiere Bewegung der Luft, dieselbe befördert mit 
einem Wort im allgemeinen die Gesundheit. Eine niedrige Lage hin¬ 
gegen, eine muldenförmige Bodenformation ist meistens ungesund, weil sich 
hier Grundwasser und Unreinlichkeiten leicht ansammeln, weil das Trink¬ 
wasser in der Regel schlecht ist, die Luft stagnirt, die Canalisation Schwie¬ 
rigkeiten begegnet, u. s. w. 

Auch die Structur des Bodens ist beachtenswerth. Undurchlässiger 
Boden sammelt Wasser, Pfützen an; stark wasserbindender Boden gibt feuchten 
Untergrund, feuchte, kühle, dumpfe Keller und Parterrewohnungen; ein Boden 
mit energischer Capillarität ist ebenfalls meistens feucht, u. s. w., während 
ein poröser Boden einen trockenen und leicht trocknenden Baugrund bietet. 

Besonders nachtheilig wirkt oberflächliches, stark schwankendes Grund¬ 
wasser, weil dasselbe den Untergrund und die Wände der Gebäude feucht 
erhält, Holztheile schimmelig macht, Keller und andere unterirdische Locali- 
täten und Einrichtungen überfluthet. Hochstehendes und stark schwankendes, 
ebenso stagnirendes Grundwasser liefert ungesundes Trinkwasser, weil da die 
oberflächlichen, meistens verunreinigten Bodenschichten ausgelaugt werden, 
dem ähnlich ist es mit den unter Abortgruben, Canälen lagernden Boden¬ 
partien. Hochstehendes Grundwasser gibt ausserdem im Sommer warmes, sich 
leicht zersetzendes Brunnenwasser ab. 

Ein verunreinigter Boden ist ungesund, weil derselbe durch Zer¬ 
stäubung seiner Oberfläche, durch das in die Tiefe sickern seiner Zersetzungs¬ 
stoffe und Organismen, durch Imprägniren der Fundamente der Gebäude, 

Bihl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 12 


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178 


BODEN. 


die Luft, das Trinkwasser, das Innere der Wohnungen mit Fäulnis- und 
Krankheitsstoffen und Organismen inficirt. 

Die Temperatur des Bodens regulirt die Temperatur des Trinkwassers 
und hält es angenehm kühl oder erwärmt dasselbe (bei ungenügend tief ge¬ 
legten Wasserleitungsröhren, bei oberflächlich liegenden Brunnen) den Sommer 
hindurch unleidlich. Auch die Temperatur und Brauchbarkeit der Keller 
hängt vornehmlich von der Bodentemperatur ab. 

As sanirung desBodens. Die wichtigste Aufgabe der Bodenassanirung 
ist der Schutz gegen Feuchtigkeit und Schmutz. 

Wohnungen, Spitäler, Kasernen u. s. w. sollten womöglich auf erhöhtem 
Terrain, auf porösem, in Bezug auf Reinlichkeit und Grundwasserverhältnisse 
genau controllirtem Boden gebaut werden. Flache, ja muldenförmige Gründe 
sollten vor dem Bau erhöht, aufgeschüttet werden. Stehende Wässer sind 
durch Gräben und Canäle abzuleiten, die zurückbleibenden Bodensenkungen 
aufzufüllen. 

Besonders wichtig erscheint das Ankämpfen gegen oberflächliches Grund¬ 
wasser. Canalisation mag schon auf den Stand des Grundwassers günstig 
einwirken, noch erfolgreicher wirkt hier die Drainage. Oberflächliches, stag- 
nirendes Grundwasser ist oft durch Schwindbrunnen zu entfernen. Die ober¬ 
flächliche, impermeable, wassersammelnde Bodenschichte wird mit brunnen¬ 
artigen Gruben durchgebohrt und die Grube mit Steintrümmern verschüttet. 
Das oberflächliche Wasser sickert hier zu den tieferen Bodenschichten hinab. 

Bei zur Feuchtigkeit neigenden Bodenverhältnissen ist auf wasser¬ 
dichte Bauart der Häuser Gewicht zu legen, und eine solche Bauführung von 
Seite der Behörde anzustreben. 

Regenwasser soll, mittelst angemessener Pflasterung prompt abgeführt 
werden. 

In Bezug auf die Unreinigkeit des Bodens ist das wichtigste der in den 
Aborten, Höfen, auf den Strassen sich ansammelnde Schmutz, namentlich Fäcal-, 
Dungstoffe, Gewerbeabfälle u. Ae. Diese müssen nicht nur sorgfältigst ab¬ 
geführt werden, nicht nur sollten die Höfe, die Strassen gefegt, gegen Staub¬ 
bildung zweckmässig gepflastert und begossen werden: die Bodenoberfläche 
sollte vielmehr auch gründlich aufgewaschen werden. Alle jene Gruben, 
Canäle, Behälter, welche in und um unsere Wohnungen faulende Stoffe auf¬ 
zunehmen bestimmt sind, sollten impermeabel, wasser- und schmutzdicht 
construirt sein. 

Bei Fundirung der Gebäude sind verunreinigte, insbesondere faulende 
Bodenschichten abzutragen und mit reiner, poröser Aufschüttung zu ersetzen. 

Durch energische Handhabung der öffentlichen Reinlichkeit ist jede 
weitere Verunreinigung des Bodens wohl hintanzuhalten, ja es ist sogar zu 
erwarten, dass der früher im Boden sich angesammelte Schmutz allmälig ver¬ 
schwindet und so eine wirkliche Asepsie des Städtebodens erreicht 
wird, welche eine Grundbedingung der Gesundheit und der Wohnlichkeit der 
bewohnten Orte bildet. 

Hygienische Untersuchung des Bodens. Nach dem oben Dar¬ 
gestellten erscheint es wohl als selbstverständlich, dass die Hygiene derzeit 
weniger aui die Systeme und Classificationen der Geologie, auf die geologischen 
Formationen, als auf die physikalischen und chemischen Eigen¬ 
schaften des Bodens Gewicht legt, namentlich auf das Verhalten des¬ 
selben gegenüber der Feuchtigkeit, der Luft, der Temperatur, der den Boden 
verunreinigenden Schmutzstoffe, wozu neuestens die wichtige Frage über das 
Verhalten der Bakterien in und auf dem Boden sich anschüesst. 

Untersuchung der physikalischen Eigenschaften des 
Bodens. Die Feststellung der Niveauverhältnisse des Bodens erfolgt 
nach den Regeln der Vermessungskunde. Die Feststellung der den Unter- 


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BODEN. 


179 


grund bildenden Bodenschichten fällt in das Fachgebiet der Geologen. 
Einen orientirenden Einblick in die hygienisch wichtigsten oberflächlichen 
Bodenschichten gewinnt man oft bei Fundamentaashebungen, sowie bei Cana- 
lisation, Legung von Wasserleitungs-, Gasröhren und ähnlichen Arbeiten. 

Die oberflächlichen Bodenschichten können aber auch mittelst Boden¬ 
bohrungen aufgedeckt werden. Hiezu dienen Tellerbohrer, mit 2—4 und 
mehr Meter langen Stangen, und Tellerartigen, schraubenförmig angesetzten 
Bohrern, von 10—15 und mehr cm Durchmesser. Es ist wichtig wenigstens 
jene Bodenschichten aufzudecken, in welche die Fundamente der Gebäude etc. 
eingelagert werden, — ferner jene Schichten, welche das Grundwasser ent¬ 
halten. 

Der Bohrer holt von den verschiedenen Schichten Bodenproben empor, 
welche nun untersucht werden können auf: 

Korngrösse (mittelst Blechsieben, mit Löchern von 3—1 und weniger 
mm Weite, ferner mittelst Schlamm-, Sedimentir- und Spiilapparaten, oder 
aber, gewöhnlich, mittelst einfacher Inspection), auf Lu ft geh alt, resp. 
Porenvolumen, ferner auf Porengrösse, auf Perm eabilität des Bodens 
für Luft etc. 

Zur Untersuchung der Grundluft werden eiserne oder bleierne Röhren 
in den Boden, bis zu verschiedenen Tiefen eingesenkt, und durch dieselbe, 
mittelst Aspiration, die Grundluft angesogen und — zur Bestimmung des 
Kohlensäuregehaltes — durch titrirtes Baryt-, Kalk- oder Strontianwasser 
geleitet. 

Die Feuchtigkeitsverhältnisse des Bodens werden oft schon durch 
die äussere Gestaltung der Bodenoberfläche, ferner durch die Pflanzenvegeta¬ 
tion, sowie etwa durch vorhandene Wasseransammlungen, Sümpfe, Teiche, 
Flüsse etc. angedeutet. Die vom Bohrer hervorgehobenen Bodenproben lassen 
eine annähernd exacte Bestimmung des physikalischen Verhaltens des Bodens 
gegen Feuchtigkeit zu; namentlich können daran festgestellt werden: 

Die actuelle Feuchtigkeit des Bodens (eine gewogene Menge der 
Probe wird scharf getrocknet und der Gewichtsverlust bestimmt), die Durch¬ 
lässigkeit des Bodens für Wasser, die Wassercapacität, die wasser¬ 
bindende Kraft, resp. capillare Bindekraft und die capillare 
Leitung des Bodens etc. 

Der Stand und die Schwankungen des Grundwassers werden 
gewöhnlich an Brunnen beobachtet, welche bis in das Grundwasser hinein 
geführt wurden. 

Die Entfernung des Grundwassers von der Bodenoberfläche kann man 
mit beliebigem Messapparat abmessen. Zu fortlaufenden Grundwasserbeobach¬ 
tungen eignen sich stabile Messbänder, welche unten, im Wasser, eine 
Schwimmkugel führen, an der Bodenfläche aber, im geschlossenen Häuschen, 
über eine Rolle geführt werden und mit Gegengewicht versehen sind, dessen 
Bewegungen — in umgekehrter Richtung — die Erhebungen und Senkungen 
des Grundwassers verzeichnen. 

Die Richtung der Strömung des Grundwassers kann — wenigstens 
annähernd — von der äusserlichen Configuration des Terrains gefolgert werden; 
genauer wird dieselbe mittelst Nivellirung des Grundwasserspiegels an mehreren 
Brunnen oder Bohrlöchern bestimmt. 

Zur Messung der Bodentemperatur dienen langschenklige Thermo¬ 
meter, deren Kugel bis zur gewünschten Tiefe im Boden hinabreicht, während 
die Skala sich oberhalb der Bodenoberfläche, in einem geschlossenen Häus¬ 
chen, befindet. Es können aber auch kurze, unempfindlich gemachte Thermo¬ 
meter angewendet werden, welche in Zinkröhren, die bis zur gewünschten 
Tiefe versenkt sind, mittels einer Leitschnur hinabgelassen, und nach An- 

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180 


BODEN. 


nähme der unten herrschenden Temperatur schnell emporgehoben und ab- 
gelesen werden. 

Chemische Untersuchung des Bodens. Hiezu können die bei 
der Fundamentausgrabung hervorgeholten oder aber mittelst des Löffelbohrers 
emporgehobenen Bodenproben verwendet werden. 

Die mineralischen Bestandtheile des Bodens werden nach den 
Kegeln der analytischen Chemie bestimmt. 

Die organische Verunreinigung des Bodens erkennt man oft 
schon durch blosse Besichtigung (z. B. Kehricht, gewerbliche Abfallpro- 
ducte etc.). Dunkle Farbe des Bodens weist gewöhnlich auf organische 
Verunreinigung hin. Der Geruch des Bodens verräth z. B. modernde Pflan¬ 
zenüberreste, oder faulende Sickerstoffe aus den Canälen u. Ae. 

Das Rösten einer trockenen Bodenprobe in der Eprouvette verräth durch 
Geruch selbst geringfügigere Verunreinigung des Bodens. 

Zur Erkennung animalischer Schmutzstoffe bestimmt man den 
Nitrogengehalt der Bodenprobe (nach Kjeldahl). Fäulnis dieser Stoffe 
im Boden wird durch dessen Ammoniakgehalt verrathen. Eine Probe (etwa 
50 g ) wird im Kochkolben mit verdünnter, ammonfreier Natroncarbonatlösung 
überschüttet und gekocht; über die Oeffnung des Kölbchens legt man ange¬ 
feuchtetes Curcuma-Papier: reiner, nicht faulender Boden verursacht höchstens 
eine ganz schwache Bräunung des Reagenz-Papiers, welche beim Trocknen 
des Papiers rasch verschwindet, — unreine und faulende Böden verursachen 
eine eben solche, jedoch viel intensivere Bräunung des Curcuma-Papiers. Ge¬ 
nauere Analysen werden nach den allgemeinen Regeln der analytischen Chemie 
ausgeführt. 

Oxydirte animalische Schmutzstoffe werden durch den Salpetersäure¬ 
gehalt (resp. Salpetrigsäuregehalt) des Bodens angedeutet. (Eine gewogene 
Bodenprobe wird mit destillirtem Wasser extrahirt und im aliquoten Theile 
des Wassers die Salpeter- resp. Salpetrigsäure bestimmt.) 

Pflanzliche Ueberreste im Boden werden mittelst organischer 
Kohlenstoffanalyse ermittelt. 

Bakteriologische Untersuchung des Bodens. Dieselbe wird 
im Allgemeinen nach den Regeln dieser Disciplin ausgeführt (vergl. „ Bakte¬ 
riologische Untersuchungen “). Insbesondere ist die Probeentnahme rasch und 
die Verimpfung vorsichtig auszuführen. 

Die Probe kann mittelst des Löffelbohrers oder mittelst des Fränkel’- 
schen Bohrers von der Tiefe geholt werden. Letzterer besitzt an dem unteren 
Ende einen etwa 12m langen und 2 cm tiefen Ausschnitt, welcher zur Auf¬ 
nahme der Bodenprobe dient und mittelst einer Hülse verschlossen ist. Bei 
der Einbohrung des sterilisirten Bohrers in die Erde (Linksbohrung) bleibt 
die Hülse und der Ausschnitt verschlossen. Zur gewünschten Tiefe angelangt 
wird zuerst rechts gebohrt, wobei sich die Hülse öffnet und der Ausschnitt 
mit Bodenprobe sich füllt, dann wird abermals links gebohrt — die Hülse 
verschliesst den Ausschnitt und der Bohrer sammt Bodenprobe wird empor¬ 
gehoben. 

Zur Aussaat der Bodenprobe gibt es zahlreiche Methoden, welche alle 
eine möglichst genaue Abmessung (nach Raum oder Gewicht) kleinster Pröb¬ 
chen, und deren feinste Vertheilung in den Nährstoffen bezwecken. Frankel 
u. A. führen die Bodenprobe direct in Nährgelatine; Beumer u. A. vertheilen 
das Pröbchen in sterilisirtem Wasser, schütteln gut durch und nehmen vom 
Wasser aliquote Theile zur Anlegung von Plattenculturen. 

J. v. FODOR. 


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COR-ANSTALTEN. 


181 


Cur-Anstalten (Sanatorien) sind Heilstätten, in denen neben den auch 
in den Krankenhäusern angewendeten Heilmitteln und Methoden diejenigen Heil- 
factoren, wie der Genuss frischer, besonders gesunder und reiner See-, Wald¬ 
oder Gebirgsluft neben den verschiedenen baineologischen oder sonstigen 
physikalischen Heilmitteln besonders gepflegt werden, die erfahrungsgemäss 
einen besonders stärkenden Einfluss auf den Organismus haben. Zur Be¬ 
handlung in den Cur-Anstalten oder Sanatorien geeignet sind daher weniger 
die acuten als die subacuten und chronischen Störungen der Gesundheit. Im 
weitesten Sinne sollten zwar auch die Krankenhäuser diese Aufgaben zu er¬ 
füllen im Stande sein, aber schon das erste und wichtigste Heilmittel aller 
Cur-Anstalten, die reine frische Luft, fehlt in den meisten Krankenhäuser, die 
im Dunstkreis grosser Städte und Industriebezirke ihren Sitz haben müssen. 
Daher liegen die Cur-Anstalten weit ab von diesen, wenn möglich am Walde, 
im Gebirge oder an der See. Es liegt auf der Hand, dass die Anforderungen, 
die man in hygienischer und gesundheitstechnischer Beziehung an die Cur- 
Anstalten stellen muss, verschieden sein werden nach den Aufgaben, die diese 
Anstalten sich stellen. Dieselben ergeben sich am besten, wenn man die Cur- 
Anstalten in einzelne Categorien sondert, mit besonderer Berücksichtigung 
dessen, was sie für dss Volkswohl im Allgemeinen, vorzugsweise aber für die 
unbemittelten Classen, von deren Gesundheit in erster Linie das Wohl des 
Staates abhängt, leisten sollen. An eine Anzahl kleinerer Cur-Anstalten für 
besondere Specialzwecke, wie Morphium-, Alkohol-, Cocain-Entziehung, an 
solche für Magenkranke, Nervenleidende und Reconvalescenten, wie sie so 
zahlreich in allen Ländern der Welt für ein vermögendes Privatpublicum 
existiren, sind kaum andere Anforderungen zu stellen, als an ein comfortabeles 
bürgerliches Wohnhaus oder ein gutes Hotel. Diesen Anforderungen in Bezug 
auf Wasserversorgung, eine zweckentsprechende, den localen Verhältnissen 
angemessene Entfernung der Fäkalien, Heizung und Ventilation zu genügen, 
fordert das eigene Interesse des Besitzers. 

Anders werden die hygienischen Forderungen, wenn die Anstalten einen 
grösseren Umfang erreichen, wenn sie zur Aufnahme von Kranken eingerichtet, 
werden, die unter Umständeu eine Gefahr für ihre Umgebung bieten könnten. 

Man kann die Cur-Anstalten, soweit sie für das allgemeine Volks wohl 
in Betracht kommen, in vier Categorien eintheilen. 

Erstens: die für Reconvalescenten — Reconvalescentenhäuser. 

Zweitens: die Cur-Anstalten für scrophulöse und tuberculöse Kinder, die 
Seehospize und die Heilstätten für Kinder in den Soolbädern. 

Drittens: die Heilanstalten für Lungenkranke, und 

Viertens: die Volksheilstätten für Nervenkranke, Unfallkranke und für 
solche chronische Leiden, die nicht in die 3 ersten Categorien fallen. 

Wenn auch in mancher Beziehung die Aufgaben aller dieser Anstalten 
sich decken, haben doch schon theoretische Erwägungen und praktische Gründe 
frühzeitig zur Trennung geführt. Dass dieselben aber für das allgemeine 
Volkswohl nothwendig und für die Kräftigung und Erhaltung unserer Gene¬ 
ration von grösster Bedeutung sind, wird am besten durch die Bewegung zu 
Gunsten dieser Heilanstalten, die zur Zeit alle civilisirten Länder durchzieht, 
bewiesen, während andererseits die Invaliditäts- und Altersversicherungs- 
Anstalten sich der Errichtung eigener Heilstätten, in denen sich die Genesung 
und Kräftigung der versicherten Mitglieder sicherer und schneller als in den 
Krankenhäusern erreichen lässt, nicht mehr entziehen können. 

Was zunächst die Reconvalescentenheime, also Curanstaltenanlangt, 
die die Aufgabe haben, ihre Insassen nach überstandenen schweren acuten Erkran¬ 
kungen und Verletzungen noch weiter für die Anstrengungen des Erwerbslebens 
zu kräftigen und stärken, so sind derartige Anstalten in England auf Grund 
einer reichen und grossherzigen Privatwohlthätigkeit schon lange und zwar 


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182 


CUR-ANSTALTEN. 


mit vielen tausenden von Betten in Betrieb, während die romanischen und übrigen 
germanischen Staaten erst in neuerer Zeit anfangen diesbez. einiges zu leisten. 
Die Anforderungen, die man in hygienischer Beziehung an die Reconvales- 
centenheime stellen muss, wären in erster Linie ruhige, gänzlich staubfreie 
Lage, ausgedehnte Gärten- oder Park-Anlagen mit sonnigen und schattigen, 
ruhigen Sitz- und Liege-Plätzen, während die Gebäulichkeiten zerstreut und 
möglichst luftig sein müssten. Unentbehrlich sind grössere confortable Tage¬ 
räume, in denen die Genesenden sich bei schlechter Witterung tagüber auf¬ 
halten können. Man hat mit einigem Recht betont, dass Reconvalescenten- 
heime nicht allzuweit von grossen Städten resp. den Krankenhäusern, zu deren 
Ergänzung und Entlastung sie dienen sollen, entfernt liegen dürfen, damit die 
Ueberführung der Kranken leicht zu bewerkstelligen und eine Controle von 
Seiten der Krankenhausärzte leicht ausführbar ist. Diese Forderung nach 
einem innigen Connex mit den Krankenhäusern und dem Verlangen nach 
einer möglichst gesunden und ruhigen Lage mit einander zu vereinigen, wird 
in einzelnen Fällen schwer, in anderen leichter zu erreichen sein, wobei noch 
auf die Abneigung Genesender sich weit von ihren Angehörigen zu entfernen 
Rücksicht genommen werden muss. Dass es wünschenswerth ist, die Recon- 
valescentenheime nach Art der grossen städtischen Krankenhäuser mit einer 
modernen Wasserleitung, Canalasition und Heizung zu versorgen, liegt auf 
der Hand, doch werden in dieser Beziehung häutig die verfügbaren Mittel 
den Ausschlag geben müssen, was sich erreichen lässt, wenigstens solange 
Staat und Commune die Verpflichtung zur Errichtung von Reconvalescenten- 
anstalten nicht anerkennen. Je grösser der Umfang der einzelnen Anstalten 
ist, desto strenger wird man in dieser Beziehung sein, während man bei 
kleinern Anstalten auf manches verzichten kann und muss. 

Unbedingt aber sind Isolirräume für ansteckende Erkrankungen erfor¬ 
derlich, sowohl bei Recidiven überstandener als beim Auftreten neuer Infections- 
krankheiten, ferner Desinfectionsapparate und je nach der Grösse der Anstalten 
mehr oder weniger ausgedehnte Bade-Einrichtungen. Ob ein eigener Anstalts¬ 
arzt nothwendig sein wird oder die Ueberwachung der Kranken im Neben¬ 
amt von einem Krankenhaus- oder Privat-Arzt ausgeübt wird, wird von der 
Grösse der einzelnen Anstalten abhängen. 

Aelter als die Reconvalescentenheime sind, wenigstens auf dem Cotinent 
die Heilstätten für Kinder in den Sool- und Seebädern (Seehospize). 
Nachdem auch hierin England und Frankreich mit gutem Beispiel vorangegangen 
waren, entstand zunächst an der Nordsee auf Beneke’s Anregung das grosse 
Seehospiz in Norderney, dem bald andere an der Nord- und Ostsee folgten. Etwas 
später fand die Gründung ähnlicher Anstalten am mittelländischen Meere statt, 
während die Kinderheilanstalten in den verschiedensten Soolbädern sich aus 
localen kleinern Anfängen allmählich immer weiter entwickelt haben. Die 
grosse hygienische Bedeutung aller dieser Kinderheilstätten liegt darin, dass 
es bei Kindern leichter als bei Erwachsenen durch Anwendung der hygienisch 
diätetischen Heilfactoren gelingt, sowohl vorhandene Erkrankungen zu heilen, 
als auch die Anlage zu Scrophulose und Tuberculose zu tilgen. Licht, Luft, 
gute Ernährung und ein vorsichtiger Gebrauch der Bäder sind die Heilmittel, 
die besonders in den Seehospizen in so ausgezeichneter Weise zur Verfügung 
stehen und damit sind auch die hygienischen Anforderungen an derartige 
Heilstätten gegeben. Nicht zu grosse Baulichkeiten, weite Bauplätze, Schutz 
vor zu heftigen Winden, dagegen ein guter Strand und die Möglichkeit, die 
salzreiche Ozonluft des Meeres einzuathmen, das sind die Anforderungen, die 
man an ein Seehospiz stellen muss. Besondere Aufmerksamkeit erfordert die 
Wasserversorgung an denjenigen Küsten, die wie die Nord- und Ostsee ein 
flaches Gestade und ein flaches Hinterland haben, während die Entwässerung 
und Fortschaffung der Fäkalien ebensowenig wie bei den heutigen Fortschritten 


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CDR-ANSTALTEN. 


183 


der Technik die Desinfection und die Isolirung bei ansteckenden Erkr ankung en 
irgend welche Schwierigkeiten bietet. Grössere Seehospize werden, be¬ 
sonders wenn, wie in den französischen und englischen und auch in Norderney, 
diesem ersten und grössten deutschen Sanatorium an der See, eine Wintercur 
ins Auge gefasst wird, einer Centralheizung kaum entbehren können. Für 
diese und Lüftungsanlagen werden dieselben Einrichtungen wie in den Kran¬ 
kenhäusern genügen. 

Von derselben Bedeutung wie die Seehospize und Soolbäder für die 
Jugend sind die Heilanstalten für Lungenkranke für das höhere 
Alter, besonders wenn dieselben im ausgedehnten Maasse den untern Volks- 
classen und Mitgliedern der Krankencassen leicht zugänglich gemacht werden. 

In allen Staaten Europas ist jetzt eine lebhafte, schon von bedeutendem 
Erfolg gekrönte diesbezügliche Agitation im Gange. 

Die Heilstätten für Lungenkranke müssen aber Sanatorien im eigentlichen 
Sinne des Wortes bleiben und es hiesse den Werth derselben in Frage stellen, 
wenn man aus denselben, ähnlich wie in England Schwindsuchtshospitäler machte, 
in denen neben heilbaren auch unheilbare Lungenkranke Aufnahme finden 
können. Letztere müssen absolut ausgeschlossen werden. Die Frage, unter 
welchen klimatischen Verhältnissen sich die besten Resultate bei der 
Behandlung chronischer Lungenschwindsucht erzielen lassen, ist eine Zeit lang 
viel umstritten gewesen. Vor allem nahm man an, es gäbe eine schwindsuchts¬ 
freie Zone, in denen Phthisis pulmonum überhaupt nicht vorkomme und in 
derselben seien auch die Aussichten auf eine Heilung besonders günstig. 
Beide Annahmen haben sich nicht als richtig erwiesen und, wenn es sich 
auch nicht leugnen lässt, dass in höher gelegenen Orten, insbesondere in 
den windgeschützten Hochthälern der Alpen die Resultate der Phthisistherapie 
besser sind als an anderen Orten, so sind in dieser Beziehung doch noch 
eine Menge anderer Factoren neben dem verminderten Luftdruck zu berück¬ 
sichtigen. Sicherlich sind die Resultate in Falkenstein 300 Meter und 
Hohenhonnef 200 Meter über dem Meere nicht schlechter als die in Görbersdorf, 
welches 600 Meter in angeblich immuner Zone liegt. In den deutschen 
Mittelgebirgen, Harz, Thüringer Wald und dem Erzgebirge wird man unter 
Berücksichtigung der klimatischen Verhältnisse nicht so hoch hinaufgehen 
können als im Schwarzwald oder gar in den Alpen. Jedenfalls aber muss 
bei der Errichtung solcher Anstalten in erster Linie auf eine windgeschützte 
sonnige Lage gesehen werden, in denen eine ausgiebige Anwendung der 
Freilichtcur, des Liegens und Sitzens im Freien möglich ist. Eine gut ein¬ 
gerichtete Heilanstalt für Lungenkranke muss mit der besten Einrichtung 
für Heizung und Ventilation versehen sein, welche auch in der Nacht das 
Schlafen bei offenem Fenster ermöglicht. Die einzelnen Krankensäle sollen 
nicht zu gross sein, damit die Kranken einander nicht stören, die Zwischen¬ 
decken und Wände so stark, dass die einzelnen Räume möglichst schalldicht 
von einander getrennt sind. Zur Verhinderung von Ablagerung grösserer 
Mengen von Tuberkelbacillen hat man neben der Aufstellung von Speigefässen 
mit Sublimatlösung Anstrich der Wände mit Oelfarbe und Belegen des Fuss- 
bodens mit Linoleum auf einer Gyps- oder Cement-Unterlage empfohlen. Un- 
nöthige Teppiche sind zu vermeiden. Corridore und Treppen sollen hoch 
und geräumig, im Winter heizbar sein. Desinfectionsapparate sind ein uner¬ 
lässliches aber leicht zu erfüllendes Postulat. Die Beseitigung der Fäkalien 
wird bei isolirt gelegenen Anstalten und den mit denselben verbundenen 
kleineren oder grösseren landwirthschaftlichen Betrieben keine Schwierig¬ 
keiten bieten. Heilanstalten für Lungenkranke erfordern bei dem notorischen 
Leichtsinn und der Neigung zu Excessen, die bei den meisten Phthisikern 
Vorhanden ist, eine energische und umsichtige ärztliche Leitung, die sich 
neben der Ernährung und ärztlichen Behandlung mit Bädern, Abreibungen 


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184 


DESINFECTION. 


und den nothwendigen Medicamenten, auf die ganze Lebenshaltung der 
Kranken erstrecken muss. Ob der Einfluss der Seeluft in den verschiedenen 
Klimaten ein gleich günstiger wie der der Gebirgsluft ist, müssen genauere 
Beobachtungen erst lehren. Da aber neben einer guten Ernährung der 
reichliche Genuss freier Luft die Hauptsache ist, ist dieses wahrscheinlich. 
Immer aber werden die localen Verhältnisse bei Auswahl geeigneter Plätze 
eine grosse Rolle spielen und Norddeutschland beispielsweise auf die See¬ 
küsten und Mittelgebirge angewiesen sein, während man in Süddeutschland, 
Bayern, der Schweiz und Oesterreich leicht geeignete Orte im Hochgebirge 
wird Anden können. 

In den letzten Jahrzehnten ist in Folge der Krankenkassengesetzgebung, 
der Invaliditäts- und Altersversicherung die Errichtung besonderer Heil¬ 
stätten für Unfallverletzte, Nervenkranke und andererweit chro¬ 
nisch Leidende eine immer dringendere geworden, da die genannten Kassen ein 
ganz besonders leicht ziffermässig zu berechnendes Interesse daran haben, die 
Kranken schnell zu heilen und den Eintritt der Invalidität möglichst lange 
hintan zu halten. Zum Theil haben derartige Curanstalten dieselben Aufgaben 
wie die Reconvalescentenheime, jedoch wird durch die grosse Anzahl ver¬ 
schiedenartiger Erkrankungen die Aufgabe derselben eine verwickeltere. Es 
wird neben einer reichlichen Ernährung, guter Luft, der Gelegenheit zu stär¬ 
kenden Spaziergängen auch darauf gesehen werden müssen, dass es möglich 
ist, die Kranken zu beschäftigen. Es wird nicht immer leicht sein, diese For¬ 
derung zu erfüllen und oft wird es nothwendig sein neben einer Beschäf¬ 
tigung in landwirtschaftlicher oder Gartenarbeit zu den Uebungen an heilgym¬ 
nastischen Apparaten zu greifen um die Kranken zu beschäftigen. Die 
hygienischen Einrichtungen werden nach denselben Principien wie bei den 
Lungenheilanstalten zu erledigen sein, wenn auch die Sorge um die Besei¬ 
tigung der Spuke und sonstigen infectiösen Secrete geringer sein wird. 

In allen Volksheilstätten, Reconvalescentenheimen, Lungenheilanstalten 
u. s. w. ist eine Trennung der Geschlechter durchzuführen und wenn mög¬ 
lich solche nur für männliche und nur für weibliche Kranke zu errichten, 
wie das auch bei den bis jetzt errichteten Curanstalten für Unbemittelte ge¬ 
schehen ist. PELIZAEUS. 

Desinfection. Allgemeines. Eine der wichtigsten Maassnahmen zur 
Bekämpfung der Infectionskrankheiten ist die Desinfection, d. h. die Ver¬ 
nichtung der von denKranken producirten und auf dieGegen- 
stände ihrer Umgebung übertragenen Infectionsstoffe, welche 
nach den Forschungen der Neuzeit ihre Ansteckungsfähigkeit bestimmten 
Mikroorganismen, den theils schon bekannten, theils noch unbekannten Er¬ 
regern der verschiedenen Krankheiten verdanken. Diese Infectionskeime zu 
vernichten, oder vielmehr richtiger gesagt, die mit Krankheitserregern infi- 
cirten Gegenstände von diesen zu befreien, zu desinficiren, das ist eine 
der vornehmsten Aufgaben der praktischen Hygiene. 

Seitdem man als die Erreger einer grossen Zahl der verschiedensten 
und gerade der gefährlichsten und verheerendsten Krankheiten, wie Milz¬ 
brand, Tuberculose, Diphtherie, Typhus, Cholera, Tetanus, 
Pyämie, Rotz, Rothlauf u. s. w. bestimmte niedere, zu den Spaltpilzen 
gehörende Mikroorganismen erkannt hat, ist die Möglichkeit gegeben, durch 
Bekämpfung und möglichst ausgedehnte Vernichtung dieser Spaltpilze mit 
mehr oder weniger Erfolg der Ausbreitung der betreffenden Krankheiten ent¬ 
gegenzuarbeiten. 

Nach Hüppe kann man vier Stufen von ungünstiger Beeinflussung von 
Mikroorganismen unterscheiden, nämlich: 

1. Das Wachsthum der Bakterien wird nicht gestört, aber die patho¬ 
genen Eigenschaften derselben werden abgeschwächt = Abschwächung. 


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DESINFECTION. 


185 


2. Die Vermehrung der Organismen wird verhindert, ohne dass sie selbst 
vernichtet werden = Asepsis. 

3. Die vegetativen Formen der Mikroorganismen werden vernichtet, es 
bleiben jedoch die Dauerformen (Sporen) am Leben = Antisepsis. 

4. Sowohl die vegetativen als auch die Dauerformen werden vernichtet = 
Desinfection oder Sterilisation. 

Es hat also die Desinfection mit der Heilung der Krankheiten direct 
nichts zu thun, sondern sie hat nur die Aufgabe, die vorhandene Krankheit 
auf eine möglichst geringe Zahl von Individuen zu beschränken, und zwar 
dadurch, dass — wie schon erwähnt — die infectiösen Absonderungen der 
Kranken desinficirt werden. Es ist nun nicht nöthig, dass durch die Desin¬ 
fection die mit Krankheitserregern durchsetzen Ausleerungen, wie Faeces und 
Sputa, die ja enorme Mengen harmloser Saprophyten enthalten, vollständig 
keimfrei gemacht werden; sondern es genügt, wenn zum Zweck der Unschäd¬ 
lichmachung dieser Auswurfstoffe, dieselben nur ihrer pathogenen Bewohner 
beraubt werden. Es ist dieser Umstand insofern von grosser Wichtigkeit, als 
für den letzteren Desinfectionsmodus in den meisten Fällen eine viel geringere 
Desinfectionskraft des Desinfectionsmittels, und auch eine viel kürzere Ein¬ 
wirkungsdauer desselben nöthig ist, als zur vollständigen Vernichtung sämmt- 
licher Keime, auch der harmlosen, ständigen Insassen normaler, nicht infec- 
tiöser Ausleerungen. Jedoch müssen wir von einer Desinfection, wenn sie gut 
sein, d. h. vollständigen Schutz gegen die Weiterverbreitung der Infections- 
keime gewährleisten soll, verlangen, dass durch sie die vollständige Vernich¬ 
tung, d. h. vollkommene Aufhebung der Entwicklungsfähigkeit, nicht nur der 
Krankheitserreger selbst, d. h. der vegetativen Formen, sondern auch der 
viel resistenteren Dauerformen, der Sporen in möglichst kurzer Zeit der¬ 
art erzielt werde, dass sie nach der Einwirkung des Desinfectionsmittels, selbst 
unter den günstigsten Lebensbedingungen sich nicht weiter zu entwickeln 
vermögen. Eine nicht zu unterschätzende Unterstützung der praktischen 
Desinfection liegt einmal in der Verhütung der Ansammlung von 
Krankheitserregern in kleinerem Raume und sodann in der Ver¬ 
nichtung alles dessen, was dazu dienen kann den pathogenen 
Keimen geeignete Lebensbedingungen zu schaffen. 

Die Uebertragung der Infectionskrankheiten geschieht in den meisten 
Fällen dadurch, dass die Infectionserreger in die Luft gelangen und mit der 
Luft in den Körper neuer Individuen, wo sie sich, falls sie geeignete Lebens¬ 
bedingungen vorfinden, mit grösster Geschwindigkeit vermehren. In je grösserer 
Zahl nun die Mikroorganismen in einer bestimmten Luftmenge enthalten 
sind, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit einer Uebertragung auf die 
Individuen, welche sich in dem mit dieser Luft erfüllten Raume aufhalten. 
Dieser Uebertragung arbeitet man am wirksamsten entgegen durch möglichst 
kräftige V entilation, d. h. durch möglichst umfangreiche Zuführung frischer 
reiner Luft und Abführung der inficirten Luft. Mit jedem Raumtheil Luft, 
das wir z. B. aus dem Zimmer eines Tuberculösen oder Diphtheriekranken 
u. s. w. herausschaffen, entfernen wir ungeahnte Mengen von Krankheitserre¬ 
gern, die nicht nur der Umgebung des Kranken gefährlich werden können, 
sondern auch dem Kranken selbst schaden durch Wiedereinverleibung in den 
schon geschwächten Organismus und so mindestens zur Verzögerung der Ge¬ 
nesung beitragen. 

Diese Unterstützung der Desinfection ist aber nicht nur für Kranken¬ 
zimmer anwendbar, sondern auch für Räume, in welchen, wie z. B in Schulen, 
eine grosse Zahl von Menschen zusammenkommt, die hier bei dem über 
mehrere Stunden sich hinziehenden Aufenthalt in verhältnismässig kleinem 
Raume mit stagnirender Atmosphäre nur zu leicht durch Infectionserreger 


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inficirt werden können, welche unter Umständen ein einzelnes Individuum an 
seinem Körper oder an den Kleidern mit sich, führt. 

Was nun die zweite Art der Unterstützung der eigentlichen Desinfection 
betrifft, nämlich die Vernichtung alles dessen, was geeignet ist den Krank¬ 
heitserregern günstige Existenzbedingungen zu schaffen, so ist darüber kurz 
Folgendes zu sagen: 

Die Vermehrung der pathogenen Keime ausserhalb des menschlichen 
resp. thierischen Körpers erfolgt nur bei Gegenwart leicht zersetzbarer orga¬ 
nischer Substanz, genügender Feuchtigkeit und Wärme. Wenn wir diesen 
Umstand berücksichtigen und auf gründliche Austrocknung neuer Wohnungen 
halten, das Bewohnen feuchter Kellerwohnungen verbieten und schliesslich in 
keinem Theile der Wohnung das Ansammeln von leicht zersetzbarer orga¬ 
nischer Substanz dulden, so arbeiten wir der eigentlichen Desinfection ganz 
bedeutend in die Hände. 

Man kann wohl behaupten, dass im allgemeinen die Gesundheit einer 
Wohnung direct proportional der in ihr herrschenden Reinlichkeit ist. 

Was nun die eigentliche Vernichtung der Krankheitserreger betrifft, so 
bedienen wir uns dabei verschiedener ganz bestimmter 

Desinfectionsmethoden. Wir unterscheiden: 

I. Eine Desinfection durch Einwirkung rein physikalischer Ein¬ 
flüsse, und 

II. eine solche durch Einwirkung chemischer Agentien. 

I. Unter den Desinfectionsmethoden erster Art nimmt bei weitem die 
wichtigste Stellung ein 

a) die Anwendung hoher Temperaturen, und zwar können wir 
die Hitze in verschiedener Form anwenden. 

1. Kochen der Gegenstände in Wasser; natürlich nur für be¬ 
stimmte Objecte (besonders Wäsche) verwerthbar. Man hat gefunden, dass 
v, stündiges Kochen in Wasser alle Krankheitskeime vernichtet, und zwar 
werden — um einige specielle Beispiele anzuführen: 

Tuberkelbacillen in 20 Min. 

Typhusbacillen in 10 Min. 

Cholera- und Diphtheriebacillen durch einmaliges Aufkochen 
getödtet. 

2. Verwendung gesättigten Wasserdampfes, und zwar ent¬ 
weder als strömenden ungespannten Wasserdampf von 100° C, welcher 
hinreicht, um in 15—30 Min. Infectionskeime zu vernichten, oder als ge¬ 
spannten Wasserdampf von 110—125° C, welcher diesen Zweck in 5 
bis 15 Min. erreicht. Die Anwendung des Wasserdampfes, besonders des ge¬ 
spannten, ist nur mit Hilfe besonderer Apparate zu ermöglichen. 

Die hohe Desinfectionskraft des Wasserdampfes ist dadurch zu erklären, 
dass durch die Feuchtigkeit desselben einmal die Mikroorganismen feucht 
erhalten werden, wodurch die Eiweissstoffe leichter coagulabel, die Mikroor¬ 
ganismen also leichter vernichtbar werden, und sodann dass durch dieselbe 
die Wärmeleitung durch grössere Objecte hindurch wesentlich erhöht wird. 

Durch das Strömen des Dampfes wird ferner die specifisch schwe¬ 
rere Luft aus den Porenräumen der Objecte verdrängt, wodurch das Ein¬ 
dringen der feuchten Wärme in dieselben wesentlich begünstigt wird. 

3. Trockene Hitze. Sie beginnt erst bei einer Temperatur von 150° 
an aufwärts wirksam zu werden, dringt sehr langsam in dickere Objecte ein, 
schädigt die meisten Gegenstände und ist daher überhaupt nur im Nothfall 
zu gebrauchen. Angewandt können ausser besonderen, speciell hierfür her¬ 
gestellten Apparaten auch Brat- und Backöfen werden. 


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4. Verbrennen. Dies ist streng genommen eigentlich keine Desinfec- 
tion, da die Desinfectionsobjecte auch zugleich mit den Infectionskeimen 
vernichtet werden, wogegen eine ideale Desinfection das Desinfectionsobject 
in keiner Weise schädigen soll. 

Das Verbrennen ist daher auch nur bei werthlosen Gegenständen an¬ 
wendbar. Allenfalls könnte diese Desinfectionsmethode in Kriegszeiten, oder 
überhaupt ini Militärleben bei der radicalen Sicherheit derselben eventuell in 
Frage kommen, zumal ihr in Anbetracht der geringen Habe des Soldaten 
nach der pecuniären Richtung hin kein wesentliches Hindernis entgegentreten 
dürfte. 

Die zweite Art der Desinfection durch physikalische Einflüsse ist 

b ) die mechanische Entfernung der Infectionskeime aus 
den Desinfectionsobjecten (eventuell mit nachfolgender Vernichtung der In- 
fectionserreger). Diese Art der Desinfection ist mit wenigen Ausnahmen sehr 
unvollkommen. In Betracht kämen dabei: 

1. Festes Abwischen der inficirten Gegenstände. Dies entfernt aber 
nur — lind auch da nicht einmal sicher — von glatten Flächen z. B. polirten 
Möbeln trockene Krankheitskeime. 

2. Ab scheuern resp. Abbürsten der Gegenstände mit Wasser. 
Diese Desinfectionsmethode leistet namentlich bei Zuhilfenahme von Seife, 
welcher nach neuen Untersuchungen eine erhebliche Desinfectionskraft zukommt, 
schon erheblich mehr, als die vorige, zumal bei häufiger Anwendung und 
reichlichem Wasserverbrauch. 

3. Abreiben mit frischem Brot, speciell ebener Wandflächen, mögen 
sie nun mit einem Anstrich oder mit Tapeten versehen sein. Es ist durch 
v. Esmabch der Beweis erbracht, dass durch eine gründliche Anwendung 
dieser Methode eine vollkommene Entfernung aller an der Fläche haftender 
Krankheitserreger bewirkt werden kann, die dann an den herabfallenden 
Brodkrumen haftend, mit diesen gesammelt und durch Verbrennen vernichtet 
werden können. 

Eine dritte noch zu erwähnende Art physikalischer Desinfection ist 

c) Die Desinfection durch Besonnung, welche namentlich aut 
dem Lande für Kleider und Betten von Infectionskranken noch vielfach ange¬ 
wendet wird, eventuell in Verbindung mit mechanischer Reinigung durch 
Klopfen, aber vollkommen werthlos ist (v. Esmarch). 

II. Die Desinfection mit Hilfe chemischer Agentien erfreut 
sich einer grösseren Mannigfaltigkeit, bedingt durch die ausserordentlich zahl¬ 
reichen chemischen Desinfectionsmittel, für welche Behring folgende Ein- 
theilung empfohlen hat: 

1. Metallsalze. 

2. Säuren und Alkalien. 

3. Verbindungen aus der aromatischen Reihe der orga¬ 
nischen Chemie. 

4. Flüssige, im Wasser lösliche oder schwerlösliche Des- 
inficientien. 

5. Mittel, die im festen Zustande wirken. 

6. Mittel, die gasförmig wirksam sind. 

7. Stoffwechselproducte von Mikroorganismen. 

8. Bacterientödtende Körper des menschlichen oder thie- 
rischen Organismus. 

Die Desinfection bedient sich der chemischen Desinfectionsmittel in ver¬ 
schiedener Form, als gasförmige, flüssige und trockene pulver¬ 
förmige, wobei indessen die flüssigen Desinfectionsmittel bei weitem die 
wichtigste Rolle spielen, die gasförmigen und trockenen aber von unter¬ 
geordneterer Bedeutung sind, wegen ihrer unsicheren Wirkung. 


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Desinfectionsmittel. Die gebräuchlichsten, resp. die am meisten ange¬ 
wandten Desinfectionsmittel — abgesehen von den uns hier nicht interessi- 
renden Desinfectionsmitteln für die Chirurgie oder für den internen Gebrauch 
— sind folgende zur Desinfection von Wäsche, Kleidern, Wohnräumen und 
infectiösen Excreten benutzten: 

a) Gasförmige Desinfectionsmittel. 

1. Schweflige Säure, durch Verbrennen von Schwefel erzeugt, besonders 
früher und leider vielfach auch jetzt noch zur Desinfection von Kleidern, 
Möbeln, Wohnräumen benutzt, ist sehr unwirksam und beschädigt oft die 
Desinfectionsobjecte. 

2. Chlorgas, durch Vermischen reiner Salzsäure mit Chlorkalk erzeugt, 
ist ebenso unwirksam wie die schweflige Säure, und wird auch jetzt nicht 
mehr so häufig wie früher zur Desinfection von Wohnräumen und Kleidern 
benutzt. 

3. Ammoniakdämpfe, zur Desinfection von Wohnräumen empfohlen, sind 
noch nicht genügend auf ihre diesbezügliche Wirksamkeit hin geprüft. 

4. Formaldehyd, neuerdings vielfach zur Desinfection von Kleidern und 
Wohnräumen empfohlen, ist in seiner Wirkung als Gas auch noch nicht als 
ganz sicher anzusehen. Neuerdings werden gespannte Formalindämpfe zur 
Desinfection von Wohnräumen empfohlen (Trillat), ob mit Recht, kann erst 
nach zahlreicheren eingehenderen Untersuchungen entschieden werden. 

b) Flüssige, oder in flüssiger Form angewandte Desinfec¬ 
tionsmittel. 

1. Sublimat (HgCl s ). Es ist dies wohl bisher das beste, oder wenigstens 
am energischesten wirkende Desinficiens, da es in Vergleich mit anderen in 
stärkster Verdünnung und in kürzester Frist die Krankheitserreger vernichtet. 
Gegen eine ausgedehnte Verwendung in den Händen des Publicums spricht 
aber seine hohe Giftigkeit. Mit eiweisshaltigen Flüssigkeiten z. B. Fäkalien 
zusammengebracht, bildet es Quecksilberalbuminate und verliert dadurch seine 
desinficirenden Eigenschaften; ebenso verlieren längere Zeit aufbewahrte wässe¬ 
rige Lösungen ihre Wirksamkeit, weil sich aus ihnen ein Oxychlorid ab¬ 
scheidet. 

Beides, nämlich die Bildung von Quecksilberalbuminaten, sowie die Zer¬ 
setzung in wässriger Lösung lässt sich jedoch vermeiden, sobald man Sublimat 
in Verbindung mit Kochsalz verwendet, eine Verbindung, die im Grossen in 
Form von Sublimatpastillen in den Handel gebracht wird. 

Auch der Zusatz von Salzsäure macht die Sublimatlösungen für die 
Grossdesinfection (z. B. für eiweissreiche thierische Abfallstoffe etc.) geeigneter. 

2. Carbolsäure C s H 6 OH, ein wirksames Desinficiens, dessen Geruch nur 
unangenehm ist, und dessen hoher Preis einer ausgedehnteren Verwendung, 
zumal in der Grossdesinfection entgegentritt. 

Die rohe Carbolsäure ist zwar billig, dafür aber in Wasser nicht 
löslich. Lösungen der rohen Carbolsäure können hergestellt werden durch 
Zusatz von Schwefelsäure (Frankel) oder Seifenlösung (Nocht). 

Rohe Carbolsäure und rohe Schwefelsäure, unter Abkühlen 
zusammengerührt, geben eine Mischung, von welcher man mit Wasser 
2— 3 %-ige Lösungen machen kann, die man zur Desinfection von Fäkalien, 
Gruben, Rinnsteinen etc. verwenden kann und die etwa denselben Desinfec- 
tionswerth besitzt wie gleichprocentige reine Carbollösung. 

Carbolseifenlösnng, welche einen ähnlichen Desinfectionswerth besitzt, wird folgen- 
dermaassen hergestellt. Es werden 3 Theile sogenannter grüner oder schwarzer Schmier¬ 
seife in 100 Theilen warmen Wassers gelöst, worauf für je 20 Theile der noch warmen 
Seifenlösung 1 Theil rohe Carbolsäure zugesetzt wird. Die dabei entstandende Emulsion 
ist lange haltbar und gut verwendbar zur Desinfection inficirter Wäsche, zum Reinigen von 
Fassböden, Wänden, Ledersachen u. s. w. 


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3. Lysol, eine Theeröl-Seifenlösung ebenso wie 

4. Creolin. Ersteres von ähnlicher Wirkung wie Carbolsäure und auch 
zur Desinfection von Excreten Kranker empfohlen; letzteres'gut desodorisirend, 
aber ungleich in Zusammensetzung und Wirkung, besonders in eiweisshal¬ 
tigen Flüssigkeiten. 

5. Solutol, eins der neuerdings mehr in Gebrauch gekommenen Kresole 
für die Grossdesinfection, ist von ähnlicher Wirkung wie Lysol. 

6. Saprol, eine vorzüglich desodorisirend und durch Abgabe ausgelaugter 
Kresole auch desinficirend wirkende ölige Substauz, die zur Desinfection von 
Abortgruben, Jauchegruben etc. dient, wo sie auf dem Inhalt als ölige Schicht 
schwimmt. 

7. Sodalösung, in 2°/ 0 -iger Lösung besonders für Wäsche anzuwenden, 
aber nur bei längerer Einwirkung desinficirend. 

8. Schmierseifenlösung, ca. 10%ig desinficirt, auf 70—80° erwärmt, recht 
schnell, ist also ein sehr vortheilhaftes Desinfectionsmittel für Wäsche; kalte 
Lösungen müssen, um desinficirende Eigenschaften zu entfalten, mindestens 
24 Stunden hindurch auf die Desinfectionsobjecte einwirken. 

9. Rohe Salzsäure und Rohe Schwefelsäure werden mitunter für thie- 
rische*Abfallstoffe als Desinfectionsmittel gebraucht; wegen ihrer stark ätzen¬ 
den, Metall, Holz, Cement etc. angreifenden Wirkung sind sie aber in dem 
Gebrauch stark eingeschränkt. 

Als flüssige, aber mitunter auch als trockene pulverförmige Desinfections¬ 
mittel werden ferner noch folgende Substanzen angewandt: 

10. Aetzkalk als Kalkmilch oder auch — aber nur selten — als Kalk¬ 
pulver. 

Kalkmilch wird in folgender Weise hergestellt: Etwa 100 Volumtheile gebrannten 
Kalkes werden mit 60 Theilen Wasser gelöscht, wobei CaO in Ca(OH) a verwandelt wird. 
Der Aetzkalk zerfallt dabei unter beträchtlicher Wärmeentwicklung zu lockerem Pulver 
von Kalkhydrat. Von diesem Pulver wird 1 Volum mit 4 Volum Wasser verrührt, wo¬ 
durch man eine 20°/ 0 -ige Kalkmilch erhält, welche als vorzügliches Desinficiens für 
Latrineninhalt anzusehen ist. 

11. Chlorkalk, ein sehr wirksames Desinfectionsmittel, welches sowohl 
als Pulver, als Chlorkalkbrei und als Chlorkalklösung zur Desinfection 
von Fäkalien, leeren Abortgruben, Rinnsteinen u. s. w. benutzt wird (Nissen). 

Chlorkalkbrei besteht aus 1 Theil Chlorkalk und 5 Theilen Wasser. 
Chlorkalklösung aus 2 Theilen Chlorkalk und 100 Theilen Wasser, von wel¬ 
cher Mischung die klare Lösung vom Bodensatz abgegossen und benutzt wird. 

c) Trockene pulverförmige Desinfectionsmittel: 

1. Eisen- und Kupfersulfat sind gut desodorisirende, aber unsicherer 
desinficirende Mittel, als die Kalkpräparate und dabei bedeutend theurer. 
Ihre Verwendung ist daher auch keine besonders umfangreiche. 

2. Carbolkalk, Mischung aus frisch gelöschtem Kalk und roher Carbol¬ 
säure, ist vielfach in Gebrauch, aber sehr unzweckmässig, da er ungleich in 
Zusammensetzung und Wirkung ist (Dräer). 

.3. Torfmull wirkt gut Feuchtigkeit aufsaugend, ist aber von sehr un¬ 
sicherer Desinfectionswirkung (Frankel, Klipstein, Gärtner u. A.). Ebenso 

4. Phosphattorf, d. h. Torfmull mit 10% Phosphorsäure versetzt, der 
aber in einigen Stunden wenigstens Cholera und Typhusbacillen abtödtet. 

5. Erde wirkt ähnlich wie Torfmull und bei Zusatz von 4—8% frisch 
bereitetem Kalkpulver auch desinficirend auf infectiöse Stuhlgänge. (Sinnhuber.) 

Prüfung der Desinfectionsmittel. Um den Grad der Desinfectionskratt 
der verschiedenen Desinfectionsmittel, seien es nun physikalisch oder chemisch 
wirkende, festzustellen, werden bestimmte Methoden angewandt. 

Entweder man bringt die Krankheitserreger (meistens an Seidenfäden, 
dünnen Glasplättchen oder Glasschlingen angetrocknet), deren Widerstands- 


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DESINFECTION. 


kraft gegen ein bestimmtes Desinfectionsmittel man prüfen will, für längere 
oder kürzere Zeit in das betreffende Desinfectionsmittel — sei es nun ein 
physikalisch wirkendes, wie der strömende Dampf, oder ein chemisches — hinein, 
um es darauf in einen dem betreffenden Krankheitserreger gut zusagenden 
Nährboden zu übertragen, woselbst das Auswachsen der benutzten Keime 
oder das Ausbleiben desselben beobachtet wird; oder man setzt zu voll ent¬ 
wickelten Culturen verschiedener pathogener Keime gewisse Mengen der 
chemischen Desinfectionsmittel hinzu, um nach verschiedenen Zeiten Proben 
von diesen der Einwirkung des Desinfectionsmittels ausgesetzten Culturen zu 
entnehmen und in neue Nährböden zu übertragen, woselbst nur das eventuell 
auftretende oder ausbleibende weitere Wachsthum der benutzten Keime con- 
trolirt wird; oder schliesslich man versetzt die anzuwendenden Nährböden vor 
der Impfung mit den zu prüfenden Desinficientien in bestimmtem Procentsatz 
und wartet ab, ob die übertragenen Keime in diesen Nährböden zur Entwick¬ 
lung kommen oder in derselben gehindert werden, aber lebensfähig bleiben, 
oder ob gar die übertragenen Keime eingehen. 

Es besteht nun ein grosser Unterschied zwischen den vegetativen Formen 
der verschiedenen Mikroorganismen, d. h. den ausgewachsenen Bacterien und 
den Dauerformen derselben, den Sporen. 

Die letzteren sind bedeutend widerstandsfähiger als die ersteren, es ist 
daher bei allen Prüfungsversuchen neuer Desinfectionsmittel auf diesen Um¬ 
stand Rücksicht zn nehmen, und zweckmässig der Desinfectionsversuch speciell 
mit den widerstandsfähigen Sporen vorzunehmen, da man ja in praxi nur dann 
von einer sicheren Desinfection sprechen kann, wenn dieselbe so ausgeführt 
wurde, dass eben auch die Dauerforraen der Krankheitserreger sicher ver¬ 
nichtet werden. 

Man verwendet daher im Allgemeinen als Testobjecte für derartige Des¬ 
infections versuche stets Milzbrandsporen, da diese die widerstandsfähigste 
Form unter den verschiedenen pathogenen Keimen darstellen. Aber selbst 
bei Anwendung der Milzbrandsporen ist bei Verwendung der erhaltenen Resul¬ 
tate mit einem neuen Desinfectionsmittel zum Vergleich mit Ergebnissen älterer 
Versuche mit anderen Desinfectionsmitteln stets daran zu denken, dass auch 
die Milzbrandsporen verschiedener Culturen verschiedene Widerstandskraft 
gegen schädigende Einflüsse haben (v. Esmarch); man sollte also bei jedem 
Desinfectionsversuch augeben, wie lange Zeit die benutzten Milzbrandsporen 
sich in strömendem gesättigtem Wasserdampf oder in 5°/ 0 Carbolsäure lebens- 
und entwicklungsfähig gehalten haben. 

Zur Ausführung der Desinfection bedienen wir uns besonderer 

Desinfectionsapparate. Wir unterscheiden: 

1. Apparate, welche mit strömendem Dampfe von 100° C 
arbeiten. Diese sind verhältnismässig billig, leicht zu bedienen, unterliegen 
keiner Beschränkung in der Aufstellung und genügen vollständig, namentlich 
für einzelne Krankenanstalten, wo es sich nicht darum handelt, den Apparat 
beständig in Betrieb zu halten, wie bei öffentlichen Desinfectionsanstalten 
grosser Städte. Für letztere sind empfehlenswerther 

2. Apparate, welche mit gespanntem Dampf arbeiten. Diese 
Apparate desinficiren schneller, sind aber auch theurer, sie sind complicirter 
in der Bedienung und können unter Umständen nicht überall aufgestellt 
werden. 

Die Desinfectionszeit für Apparate der ersten Art beträgt im Allgemeinen 
hei ziemlich fester Packung der Desinfectionsobjecte eine Stunde; für Apparate 
der zweiten Art etwa die Hälfte dieser Zeit. 

(Apparate einer älteren Construction, die neuerdings nicht mehr an¬ 
gefertigt werden, weil sie ganz unsicher in ihrer Wirkung sind und viel 
mangelhafter arbeiten, als die ad 1 genannten Apparate, nämlich Apparate, 


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welche mit überhitztem Dampf arbeiten, wollen wir als jetzt vollständig ver¬ 
lassen hier übergehen.) 

Was non die Construction der Desinfectionsapparate im Allgemeinen 
betrifft, so ist darüber Folgendes zu sagen: 

Als Material dient im Allgemeinen Eisenblech von mindestens 3 mm 
Dicke. Sämmtliche Eisentheile im Innern der Apparate sind durch Verzinken 
vor Rost zu schützen und ausserdem mit Leinwand sorgfältig zu umwickeln. 
Die Form der Apparate kann verschieden gewählt werden; für kleinere 
Apparate eine runde, für grössere eine ovale oder kastenförmige. Die 
Thüren sind bei allen grösseren, namentlich bei den stationären Apparaten 
an den beiden Stirnseiten anzubringen; bei kleineren, und besonders bei 
transportablen Apparaten, bei denen nur eine Thüre vorhanden ist, ist streng 
darauf zu achten, dass die desinficirten Gegenstände beim Herausnehmen aus 
dem Apparate nicht wieder inficirt werden. Es sind daher bei derartigen 
Apparaten die zu desinficirenden Gegenstände vor der Einführung in den 
Apparat in Leinentücher einzuhüllen. Der Dampfeintritt ist zweckmässig 
an der Decke des Apparates anzubringen, der Dampfaustritt an der 
tiefsten Stelle des Apparates, woselbst auch eine Vorrichtung zum Anbringen 
eines Controlthermometers nicht zu vergessen ist. Als Schutz gegen das 
Betropfen der Desinfectionsobjecte mit Condenswasser sind folgende Vor¬ 
kehrungen zu treffen: Entweder man bringt in dem Apparat Heizkörper mit 
grosser Metalloberfläche, sog. Rippenrohre an, durchweiche die Luft vor¬ 
gewärmt eine Condensation des einströmenden Wasserdampfes also vermieden 
wird, oder man versucht denselben Effect — die Vorwärmung dadurch zu 
erzielen, dass man das den Dampf entwickelnde Wassergefäss mantelartig 
am den Desinfectionsraum legt. 

Recht zweckmässig ist es auch, wenn der Apparat so eingerichtet ist, 
dass nach erfolgter Desinfection durch strömenden gesättigten Wasserdampf 
eine Nachtrocknung durch Zufuhr trockener warmer Luft erreicht werden 
kann, wenngleich diese Nachtrocknung nicht absolut nothwendig ist, da die 
meisten Objecte, sobald sie nicht in allzu dicken Schichten und allzu fest 
verpackt in den Desinfectionsraum gebracht werden, bei ihrer Herausnahme 
aus dem Apparat sogleich trocknen, wenn sie sofort auseinandergenommen 
werden. 

Der Dampfentwickler soll so construirt sein, dass in nicht zu langer 
Zeit eine genügende Menge Dampf entwickelt werden kann, um den Apparat 
vollkommen zu füllen. Auch soll soviel Wasser vorhanden sein, dass 
wenigstens eine Stunde lang ohne Unterbrechung Dampf entwickelt werden 
kann 

Was die Grösse der Desinfectionsapparate betrifft, so sind für 
die öffentlichen Desinfectionsanstalten grösserer Städte Apparate von 4—5 m 3 
Inhalt empfehlenswert!), eventuell sogar mehrere derartige. 

Für Mittelstädte, grosse Krankenhäuser, Quarantänestationen etc. dürfte 
ein Apparat von circa 3 m 3 Inhalt genügen; für kleine Städte, ländliche 
Kreise, kleine Krankenhäuser wäre ein gleicher Apparat von 2 m s Inhalt zu 
empfehlen, wenn derselbe in einer Desinfectionsanstalt aufgestellt werden 
kann; sind die Mittel dazu nicht vorhanden, so ist ein kleinerer Apparat von 
circa 1 m 3 Inhalt vorzuziehen, (v. Esmarch.) 

Für ausgedehnte ländliche Kreise sind übrigens transportable, fahrbare 
Apparate empfehlenswerth, wenn die Wege für derartige Apparate passirbar sind. 

Einige der bekanntesten Desinfectionsapparate sind die von Schimmel & Co. 
in Chemnitz, Budenberg & Co. in Dortmund, Lautenschläger in Berlin 
u. s. w. 

Improvisiren eines Desinfectionsapparates. An Orten, in welchen bei 
plötzlich ausbrechenden Infectionskrankheiten ein Desinfectionsapparat für 


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strömenden Dampf nicht vorhanden ist, kann man einen solchen recht gnt 
arbeitenden leicht nnd rasch improvisiren, indem man über einen möglichst 
grossen Waschkessel eine Tonne stülpt, welcher beide Böden ausgeschlagen 
sind. Oben wird an die Tonne ein gut schliessender Deckel derart befestigt, 
dass er nicht durch den strömenden Dampf gehoben werden kann. Im 
Deckel befinden sich zwei Löcher, eines central, als Darapfabzugsöffnung und 
ein zweites daneben zur Aufnahme eines Thermometers. An der Innenseite 
des Deckels befinden sich Haken zum Anhängen von Kleidungsstücken und 
Fächer für Wäsche etc. Eventuell kann man auch Wäschepackete und sogar 
Betten und Matratzen auf einem in der Tonne angebrachten hölzernen Rost 
zur Desinfection auflegen. 

Hat man einen Dampfentwickler (Locomotive, Locomobile) zur Ver¬ 
fügung, so kann man von diesem den Dampf mittelst eines Gasrohres durch 
ein in der Nähe des Bodens der Tonne angebrachtes Loch in dieselbe hinein¬ 
leiten. Derartige improvisirte Desinfectionsapparate sind ein sehr guter Noth- 
behelf, es ist nur darauf zu achten, dass die Dampferzeugung noch eine 
Stunde hindurch stattfinden muss, nachdem der Thermometer 100° C anzeigte. 

Controlinstrumente für Dampfdesinfectionsapparate. Zum Zwecke der 
Prüfung eines Desinfectionsapparates auf seine Leistungsfähigkeit bedienen 
wir uns bestimmter Instrumente. Es handelt sich bei dieser Prüfung darum 
1. die Dauer des Anheizens festzustellen, d. h. die Zeit, welche ver¬ 
streicht zwischen dem Anzünden des Feuers und der Entwicklung strömenden 
Wasserdampfes von 100° C. 2. Festzustellen, ob eine genügende Dampf¬ 
menge entwickelt wird, welche den Apparat vollkommen anfüllen kann und 
zwar mindestens für die Dauer einer Desinfection. 3. Ob, und in welcher 
Zeit der Dampf in das Innere von Desinfectionsobjecten eindringt. — Es 
muss also nach vollkommener Füllung des Apparates mit Dampf, die von 
oben nach unten fortschreitet, ein am Auslassrohr für den Dampf angebrachtes 
Thermometer dauernd 100° C zeigen. Ferner wird die vollständige Füllung 
des Apparates mit Dampf dadurch bewiesen, dass an verschiedenen Stellen 
im Innern des Apparates angebrachte Maximalthermometer nach Beendigung 
der Desinfection alle 100° C anzeigen müssen. 

Das Eindringen des Dampfes in die Desinfectionsobjecte kann auch durch 
eingelegte Maximalthermometer nachgewiesen werden. Viel sicherer und 
zweckmässiger jedoch ist für diese Prüfung die Verwendung sogenannter 
Pyrometer, d. h. Wärmemesser, bei welchen durch das Schmelzen einer 
bei 100° C schmelzbaren Legirung ein Contact zwischen den beiden Polen 
eines elektrischen Stromes mit Läutewerk hergestellt wird, so dass die Glocke 
ertönt. Noch einfacher sind die gewöhnlichen Contactthermometer, bei 
denen bei 100° C der aufsteigende Quecksilberfaden den Contact und damit 
das Glockensignal vermittelt. Der Dampffeuchtigkeitsmesser von 
Dunker, welcher gleichzeitig die Temperatur von 100° C und die Sättigung 
des strömenden Dampfes anzeigen soll, ist ein ganz unsicheres Instrument 
(Dräer). 

Sehr zweckmässig, aber nicht unbedingt nöthig ist eine Prüfung der 
Wirksamkeit des Desinfectionsapparates durch Bacterientestobjecte. 

Als solche werden am besten — wie schon früher erwähnt — Milz¬ 
brandsporen von bestimmter Widerstandsfähigkeit verwendet. 

Desinfectionsanstalten sind besondere, mit Desinfectionsapparaten und 
allem für die Desinfection im Grossen nöthigen Inventar ausgerüstete Gebäude 
von ganz bestimmter Anlage. 

Eine selbstständige Desinfectionsanstalt soll der Hauptsache nach 2 Räume 
enthalten, einen für inficirte Gegenstände, den Beladungsraum und einen 
für desinficirte Gegenstände, den Entladungsraum. Beide Räume sind 
durch eine feste Wand getrennt, welche vom Desinfectionsapparat durch- 


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brochen wird, so dass die eine Thüre des Apparates vom Beladnngsraum, die 
andere vom Entladungsranm aus geöffnet werden kann. Diese Anordnung 
ist zu treffen, um eine Reinfection der desinficirten Gegenstände zu verhüten. 

Ausserdem ist noch ein Raum für die chemische Desinfection, eine 
Badezelle für den Desinfector und ein Raum für den Transportwagen der 
Anstalt einzurichten. 

Die beiden Haupträume sind möglichst geräumig, mit Ventilations¬ 
vorrichtung, abwaschbaren Wänden und undurchlässigem Fussboden (Cement, 
Asphalt) herzustellen. 

Hat der Dampferzeuger keinen besonderen Raum für sich allein, so ist 
er in der Abtheilung für inficirte Gegenstände unterzubringen. 

Das Inventar einer Desinfectionsanstalt ist im Grossen und Ganzen 
folgendes: 

1. Abwaschbare Holzregale in beiden Haupträumen zum Aufstapeln der Objecte. 

2. Chemikalienschrank im Raum für die chemische Desinfection. 

3. Verschiedene Wäschekörbe — bei grossen Apparaten eiserne Wägen — zum Ein¬ 
bringen der Desinfectionsobjecte in den Apparat. 

4. Transportwagen für die aus den Wohnungen abznholenden inficirten Gegenstände. 
Eventuell an Stelle desselben verschieden grosse, mit Blech ausgeschlagene Kasten. Für 
grössere Anstalten ein zweiter Wagen für den Rücktransport der desinficirten Gegenstände. 

ö. Anzüge für die Desinfectoren (Mütze, Rock, Hose, Schuhe, Mundschwamm.) 

6. Eine Anzahl leinener Beutel für die Verpackung von Wäsche, Kleidern etc. auf 
dem Transport von der Wohnung nach der Anstalt. 

7. Eine Reihe besonderer, als Ausrüstung der Desinfectoren zur Wohnungsdesinfection 
gebrauchter Gegenstände (citirt nach v. Esmarch: Hygienisches Taschenbuch): 

1 Koffer aus verbleitem Eisenblech zum Verpacken der übrigen Sachen. 

1 Haarbesen, zum Abfegen der Decke und des Fussbodens. 

1 Handfeger, zum Entfernen des Staubes unter und hinter den Möbeln, Oefen etc. 

1 Schrubber, zur Reinigung und Desinfection des Fussbodens. 

1 Handbürste, zur Desinfection der nicht polirten Möbeltheile und Thüren. 

1 Fensterbürste, zur Desinfection der Fensterrahmen und der schwer zugänglichen 
Winkel und Ecken. 

2 Möbelbürsten, spitz und rund. 

1 Spritzpinsel, zum Abspritzen der Wände mit desinficirenden Flüssigkeiten, sehr 
wichtiges Instrument. 

1 kleiner Pinsel, zum Reinigen von Metallgegenständen, Bilderrahmen u. dergl. 

1 Kamm von verbleitem Eisenblech, zur Reinigung der Bürsten. 

1 Brodmesser mit langer Klinge in Tasche. 

1 Holzbrett zum Zerschneiden des Brodes. 

1 Brett aus verbleitem Eisenblech* Untersatz für die Carboiflaschen. 

2 Flaschen aus verbleitem Eisenblech zu 2 oder 1 kg Carbolsäure. 

1 Seifenbüchse aus verbleitem Eisenblech für l'ö kg Seife. 

1 Litermaas aus verbleitem Eisenblech zur Herstellung der verdünnten Carbolsäure. 

1 Maassgefass aus verbleitem Eisenblech für 100 gr. 

1 Maassgefass aus verbleitem Eisenblech für 40 gr. 

1 Dtz. Staubtücher. 

1 Dtz. Scheuertücher, für Fussboden und nicht polirte Möbel. 

1 zweitheilige eiserne Leiter, leicht zu desinficiren und transportiren. 

1 paar Gummischuhe für die Leiter, zum Schonen des Fussbodens. 

1 kurzes Eisenrohr, zum Verlängern des Handfegers. 

1 langes Eisenrohr, zum Verlängern des Haarbesens und Schrubbers. 

4 Eimer aus verbleitem Eisenblech in einander passend. 

1 Dtz. Scheuertücher zum Bedecken der Schränke und Möbel während der Zimmer- 
desinfection. 

2 Tragegurte zum Aufheben und Rücken schwerer Möbel. 

3 Lederlappen zum Fensterputzen. 

Verschiedenes Handwerkszeug, wie Zange, Hammer, Spachtel zum Reinigen der Fuss- 
bodenritzen, Schraubenzieher, Schrauben, Nagelbürste, Handtücher. 

Das ist die specielle Ausrüstung der Desinfectoren, d. h. der zur Aus¬ 
führung von Desinfectionen speciell ausgebildeten und angestellten Leute. 
Für ständig betriebene Desinfectionsanstalten sind deren mindestens 4 nöthig. 
Für Zeiten heftiger Epidemieen sind mehr Mannschaften auszubilden, die sich 
aus den Feuerwehrleuten, Strassenreinigern, Nachtwächtern, Polizeimann- 

Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Med. 13 


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DESINFECTION. 


schäften recrntiren. Die Desinfectoren arbeiten nach genan festgestellten 
Dienstinstructionen, die in den einzelnen Anstalten in kleinen Pui&ten von 
einander abweichen, im Ganzen aber folgenden Gang haben: 

Wenn dem Polizei-Districts-Commissar der Ablauf einer Infectionskrank- 
heit gemeldet wird, ordnet er zunächst Schluss der Fenster und Thiiren des 
betreffenden Zimmers an und requirirt 2—4 Mann der Desinfectionscolonne, 
die sich so bald als möglich mit dem Transportwagen und den nöthigen, 
vorher aufgezählten Utensilien nach der inficirten Wohnung begeben. 

Vor dem Betreten der Wohnung werden die Desinfectionsfliissigkeiten 
bereitet (Sublimat-Kochsalzlös. 1:2000 und Carbolsäure 5:100) und legen 
dann die Arbeiter ihren Arbeitsanzug an. Nun erst betreten sie das Zimmer 
und nehmen die Desinfection in folgender Reihenfolge vor: 

1. Anfeuchtung des Fussbodens mittelst eines mit einem Scheuertuch 
umwickelten und wiederholt in Sublimatlösung getauchten Schrubbers. 

2. Einhiillen der Kleider, Wäsche, Betten, Teppiche, Vorhänge, Polster 
etc. zunächst in trockene Säcke und darauf in mit Sublimatlösung befeuch¬ 
tete Säcke. Diese sorgfältig verschnürten Säcke werden aus dem Zimmer 
herausgestellt und später auf den Transportwagen geschafft. Ebenso werden 
Strohsäcke und andere werthlose Gegenstände behandelt, soweit sie nicht 
direct im Ofen des Krankenzimmers verbrannt werden können. Ueber alle 
forttransportirten Gegenstände wird eine genau Liste angefertigt, welche dem 
Eigenthümer ausgehändigt wird. 

3. Möbel, Fenster, Thüren, Oefen werden mittelst Schwämmen und 
Bürsten mit Sublimatlösung gründlich abgerieben; ein Gleiches geschieht mit 
Ledersachen und Pelzwerk. Polirte Möbel werden nur mit einem trockenen 
Tuch scharf abgerieben und dies nachher in Sublimatlösung desinficirt. 

4. Mit Tapeten bekleidete Wände werden mit Brod abgerieben, die auf 
den feuchten Fussboden herabfallenden Brodkrumen werden zusammengefegt 
und verbrannt, oder mit Carboisäurelösung übergossen. 

Mit Oelfarbe gestrichene Wände werden mit 5%-iger Carbolsäure ab¬ 
gewaschen. 

Mit Kalk gestrichene Wände werden mit Kalkmilch getüncht. 

5. Nochmalige Befeuchtung des Fussbodens mit Sublimat. 

6. Die Desinfectoren legen ihre Arbeitskleidung ab und binden sie in 
einen dazu bestimmten Sack. Sodann waschen sie sich Gesicht, Bart und 
Hände mit Sublimatlösung und verlassen das Zimmer. 

7. Eine etwa erforderliche Desinfection des Aborts wird mit Kalkmilch 
ausgeführt. Bei Wasserclosets wird Sitz und Trichter mit 5%-iger Carbol¬ 
säure abgebürstet. 

8. Die von den Desinfectoren nach der Desinfectionsanstalt transpor- 
tirten Gegenstände werden dort desinficirt und dann zurücktransportirt, oder 
von den Eigenthümem abgeholt. Mit dieser Beschreibung der Thätigkeit der 
Desinfecteure ist zugleich die Beschreibung eines Theiles des folgenden Ab¬ 
schnittes gegeben, nämlich der 

Anwendung der Desinfection für specielle Zwecke. 

Desinfection des ganzen Körpers infectionsverdächtiger 
Personen (Kranke, Aerzte, Wärter, Desinfecteure, verdächtige Reisende) 
durch warme Seifenbäder mit möglichst energischer mechanischer Reinigung 
durch Bürsten. Nach dem Bad Anlegen reiner Wäsche und Kleider. 

Desinfection der Hände durch Waschen und Bürsten mit Carbol-, 
Lysol-, Sublimat-, Chlorkalklösungen, die zweckmässig erwärmt sind. 

Desinfection des Badewassers infectiös Kranker (Typhus, Cho¬ 
lera, Ruhr) durch 7 s -stündiges Einleiten heissen Wasserdampfes bis zur Er- 


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DES1NFECTI0N. 


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wärmung des Badewassers auf 80—90° C; oder Zusatz von Sublimat, Carbol- 
seifenlösung oder Kalkmilch. 

Desinfection der Absonderungen von Infectionskranken. 
Urin und Fäces werden am besten zusammen direct in den Steckbecken 
mit Kalkmilch versetzt und zwar mit soviel, dass man eine deutlich alka¬ 
lische Reaction des Gemisches enthält, welche man dann eine Stunde stehen 
lässt (Pfuhl), hat man nicht so viel Zeit, so giesse man den Inhalt nach 
15 Min. fort und spüle das Steckbecken mit Kalkmilch nochmals aus. 

An Stelle der Kalkmilch ist auch Chlorkalk verwendbar. 

Auswurf von Tuberculösen, ausserdem aber auch von an Lungenent¬ 
zündung, Diphtherie, Influenza, Scharlach, Keuchhusten erkrankten Personen 
wird in besonderen Speigläsern aufgefangen und dort entweder mit Des- 
infectionsmitteln (3% Carbolsäure, Carbolseifenlösung, Lysollösung, Kalkmilch) 
übergossen und ihrer Einwirkung für eine Stunde überlassen; oder mit den 
Speigläsern in einem besonderen Apparat (zweckmässig ist der von Kibchnek 
für Krankenhäuser construirte) durch strömenden Wasserdampf desinficirt. 

Als Spucknäpfe für bettlägerige Kranke empfehlen sich am besten leichte, 
mit einem Henkel versehene Gefässe aus Glas- oder emaillirtem Eisenblech. 
Spucknäpfe zum Aufstellen in Zimmern, Corridoren u. s. w. sind am besten 
aus dickem Glas oder emaillirtem Eisen, schalenförmig und mit einem ab¬ 
nehmbaren, nicht zu flachen Einsatz-Trichter versehen, dessen Oeffnung min¬ 
destens 6 —Sem im Durchmesser haben muss. 

Als Füllung kann einfaches Wasser genommen werden, welches dann 
mit dem Auswurf in die Aborte entleert wird, worauf allerdings eine che¬ 
mische Desinfection des Spucknapfes zu erfolgen hat. 

Für Spucknäpfe, deren Inhalt leicht verschüttet werden kann, ist zweck¬ 
mässig eine Füllung durch Holzwolleinlagen, die mit dem Auswurf verbrannt 
werden. 

Die Desinfection der Wäsche von Infectionskranken ge¬ 
schieht am besten durch Einlegen in 3% Carbollösung oder Carbolseifen¬ 
lösung für eine Stunde oder in warme Schmierseifenlösung für 24 Stunden. 
Dampfdesinfection ist hier nicht so empfehlenswerth, da etwa vorhandene 
Flecke dabei leicht fest einbrennen. 

Desinfection von Kleidern, Matratzen, Teppichen, Vor¬ 
hängen, Möbeln durch gesättigten strömenden Wasserdampf. Dauer der 
Desinfection mindestens 15—20 Min. — Pelzwaaren, Ledersachen, metallene 
Gegenstände, geleimte und fournirte Möbel, überhaupt polirte Möbel, Gummi- 
waaren, Bilder etc. leiden durch Dampfdesinfection, sind daher zu desinficiren 
durch Abreiben resp. Bürsten mit Carbollösung. 

Desinfection von 

Büchern, Briefen, Zeitschriften eventuell durch Formalin, am 
besten aber zu verbrennen, ebenso wie Speisen, Verbandstücke, alte 
Spielsachen etc. 

Ess- und Trinkgeräth ist in kochendem Sodawasser zu reinigen. 

Desinfection der Wohnräume (Beschreibung unter dem Abschnitt 
„Desinfectoren“). 

Desinfection von Abortgruben und Tonnen durch Kalkmilch, 
der Sitzbretter und Thürgriffe der Aborte durch Carbolseifenlösung. 

Rinnsteine werden am besten durch Kalkmilch oder Chlorkalk des¬ 
inficirt. 

Desinfection öffentlicher Fuhrwerke: Die Polster wenn an¬ 
gängig im strömenden Dampf, oder durch Bürsten mit Carboisäurelösung. 
Die Wagen im übrigen, d. h. Wände innen und aussen etc. durch Waschen 
mit heisser Seifenlösung. 

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DESINFECTION. 


Viehwagen, ebenso Viehställe werden am besten durch Waschen 
mit Carbolseifenlösung desinficirt. 

Lumpendesinfection durch Dampf. Die so sehr gebräuchliche 
Schwefelung ist nutzlos. 

Infectiöse Leichen sind in Carbol- oder Sublimattücher einzuhüllen. 

Desinfection von Schiffen ist sehr schwer in idealer Weise aus- 
zuführen. Es kommt der Hauptsache nach darauf an, das Bilgewasser 
noch auf hoher See auszupumpen und den Bilgeraum im Hafen mit Kalk¬ 
milch anzufüllen, welche 12—24 Stunden darin bleibt. Die Wohnräume des 
Schiffes mit ihren Utensilien sind ebenso zu desinficiren wie Wohnräume auf 
dem Lande. 

Desinfection von Brunnen. 

a) Röhrenbrunnen, wenn nöthig durch Carbolschwefelsäure oder 
durch eingeleiteten Dampf. 

b) Kesselbrunnen durch Einleiten von Wasserdampf in das Wasser, 
bis dieses auf 90° C gebracht ist, und Bestreichen der Brunnenwände mit dem 
Dampfstrahl. (Neisser.) 

c) Wasserleitungen: Anfüllen des Leitungsnetzes für mehrere Stunden 
mit einer 2%o Lösung einer 60 grädigen Schwefelsäure (Stützer). 

Eine gesetzliche Ordnung des Desinfectionswesens ist einheitlich für 
alle Länder noch nicht vorhanden, und es sind alle dahin gerichteten Bestre¬ 
bungen bisher vergeblich gewesen. Somit bleibt als einziger Ausweg vor¬ 
läufig nur die locale Ordnung des Desinfectionswesens übrig, 
welche sich nach den Ansprüchen richtet, wie sie an die betreffenden Ge¬ 
meinde- oder Stadtverwaltungen erhoben werden können. Bei dieser Ein¬ 
richtung wird es wohl vorläufig bleiben, bis wir in den ganzen Ländern 
überall sachkundiges Personal und überall genügende öffentliche Desinfections- 
anstalten haben und bis alle Desinfectionen für jedermann — gleichviel ob 
arm oder reich — vollkommen kostenlos ausgeführt werden. — Ein ähnlicher 
Vorgang wie die Desinfection ist die 

Sterilisation, doch sind die Endziele beider im Allgemeinen verschieden, 
denn Sterilisation bezeichnet das vollkommene Freimachen eines 
Gegenstandes von allen in ihm vorhandenen oder ihm irgend 
wie anhaftenden Keimen; im Gegensatz zu der Desinfection, die ja 
in vielen Fällen dasselbe Endziel hat, sich aber meistens damit begnügt, die 
zu desinficirenden Gegenstände von den Infectionserregern zu befreien, die 
nicht pathogenen Keime dabei vollkommen unberücksichtigt lassend. Wenn 
wir uns an einem Beispiel den Unterschied zwischen beiden Vorgängen klar 
machen wollen, so ist z. B. die Ausleerung eines Cholerakranken desinficirt, 
wenn die in ihr vorhandenen Choleravibrionen vernichtet sind, was bei der 
Empfindlichkeit derselben verhältnismässig leicht ist; sie ist aber erst dann 
als sterilisirt zu betrachten, wenn sämmtliche in der Ausleerung vor¬ 
handenen Keime vernichtet sind, was natürlich bedeutend energischere Ein¬ 
wirkung von Desinfectionsmitteln erfordert, da in derartigen Ausleerungen 
neben den leicht zu vernichtenden Choleravibrionen noch eine grosse Menge 
anderer, auch in jedem normalen Stuhlabgang vorkommender Bacterien vor¬ 
handen ist, welche eine bedeutend grössere Widerstandskraft gegenüber den 
Desinfectionsmitteln besitzen. 

Wir bedienen uns daher der Sterilisation auch nur in ganz beson¬ 
deren Fällen. Eine Hauptrolle spielt die Sterilisation in der Wissenschaft, 
die sich damit beschäftigt die Eigenschaften, Lebensbedingungen u. s. w. der 
uns umgebenden Mikroorganismen zu erkennen und zu beschreiben, in der 
Bacteriologie. Es wäre ein Arbeiten auf diesem Gebiete undenkbar ohne 
die Sterilisation. Alle Instrumente, alle Nährböden, deren wir uns bei bac- 


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DES1NFECTI0N. 


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teriologischen Arbeiten bedienen, müssen absolut steril, d. h. keimfrei sein, 
■wenn wir zu sicheren Resultaten gelangen wollen. 

Es kommt dabei nur ein physikalisch bacterienvernichtendes Mittel in 
Betracht, das ist die Hitze in ihren verschiedenen Anwendungen als offene 
Flamme, trockene heisse Luft, strömender Wasserdampf oder 
kochendes Wasser; weil chemisch wirkende Mittel die zu benutzenden 
Gegenstände und Nährböden unbrauchbar für Culturzwecke machen würden. 

Metallische Instrumente werden am zweckmässigsten durch Aus¬ 
glühen in der Flamme sterilisirt. Glasgegenstände, wie Schalen, 
Kolben, Reagensgläser u. s. w. werden nach gründlicher mechanischen Rei¬ 
nigung und Trocknung mit Deckel oder Wattepfropf verschlossen durch 
trockene Hitze sterilisirt. Zu dem Zwecke werden die genannten Gegen¬ 
stände in sog. Trockenschränken einer Hitze von 150—160° C für etwa 
Vs Stunde ausgesetzt, welche hinreicht um alle Keime, selbst die resistenten 
Dauerformen zu vernichten. 

Die Trockenschränke sind doppelwandige, vom mit einer Thüre 
versehene Kästen aus Eisenblech, welche von unten vermittels eines starken 
Gasbrenners erhitzt werden. Im Dach ist ein Thermometer angebracht, an 
welchem man die Innentemperatur ablesen kann. Diese steigt schon etwa 
10 Minuten nach dem Anheizen auf 150—160° und hält sich dann auf 
dieser Höhe. 

Eine solche Einwirkung trockener Hitze vertragen nun wohl Glas- und 
Metallgegenstände, nicht aber die Nährlösungen für Bacterien, deren 
Sterilisation gerade von so ausserordentlicher Bedeutung ist. Flüssigkeiten, 
oder Substanzen, welche sich bei der Erhitzung verflüssigen, dürfen wir für 
längere Zeit einer so hohen Temperatur nicht aussetzen, da sie durch die¬ 
selbe erheblich angegriffen, ja sogar vollständig zerstört werden können. 

Wir bedienen uns daher zur Sterilisation von Flüssigkeiten und über¬ 
haupt von Nährböden für Bacterien der Erhitzung auf 100° C durch 
strömenden Dampf, indem wir uns dabei den Umstand zu Nutze machen, 
dass die Hitze in Flüssigkeiten sehr viel kräftiger und rascher ihre ver¬ 
nichtende Wirkung geltend zu machen weiss, als im trockenen Zustande, also 
bei Anwendung heisser Luft, da z. B. Sporen, die einer trockenen Hitze von 
150° C 1 / a Stunde lang zu trotzen vermögen, in siedendem Wasser oder in 
gesättigtem Wasserdampf von 100° C ihre Entwicklungsfähigkeit in wenigen 
Minuten verlieren. 

Wir wenden nun zwecks Sterilisirung im strömenden Wasserdampf 
besondere Apparate, sog. Dampfkochtöpfe an, als deren ältestes und auch 
jetzt noch gebräuchlichstes Modell der KocH’sche Dampfkochtopf anzusehen 
ist. Es ist dies ein etwa 9 l t m hoher, 30 cm im Durchmesser haltender Cy- 
linder aus Weissblech oder Kupferblech, welcher aussen zum Schutz gegen 
Wärmeverluste mit einem dichten Mantel von Filz oder Asbest umkleidet ist. 
Oben trägt derselbe einen gleichfalls mit Filz bedeckten Deckel, den sog. 
Helm, welcher den Cylinder nicht luftdicht abschliessen darf und in seiner 
Mitte eine Oeffhung zur Aufnahme eines Thermometers hat. Im Innern des 
Apparates befindet sich an der Grenze des unteren Drittels ein Rost; der 
Raum zwischen diesem und dem Boden wird zum grössten Theil mit Wasser 
angefüllt, dessen Stand an einem seitlichen Rohre jederzeit abgelesen werden 
kann und das durch eine unter dem Boden befindliche Gasflamme zum Sieden 
gebracht wird. Der Rost theilt also den Cylinder in einen unteren Wasser- 
und oberen Dampfraum (Abbildung s. S. 137). 

Bringen wir nun ein Gefäss mit einer zu sterilisirenden Flüssigkeit auf 
den Rost des Dampfkochtopfes und heizen denselben an, so können wir über¬ 
zeugt sein, dass in der Regel ein halb- bis einstündiger Aufenthalt der Flüs¬ 
sigkeit in dem Kochtopf, von dem Augenblick der vollen Dampfentwieklung 
an gerechnet, genügt, um dieselbe sicher zu sterilisiren. 


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DESINFECTION. 


Substanzen, welche durch längeres ununterbrochenes Kochen verändert 
werden, wie z. B. die Nährgelatine, welche dabei ihre Erstarrungsfähigkeit 
verliert, können durch wiederholtes kurzes Kochen (an 3 auf einander 
folgenden Tagen für je 10 Minuten) ebenfalls sterilisirt werden. 

Bei gewissen Substanzen können wir aber auch die Sterilisirung durch 
strömenden Wasserdampf von 100° nicht anwenden; z. B. bei stark ei¬ 
weisshaltigen Flüssigkeiten, bei denen durch Erhitzung auf 100° das 
Albumen zur Gerinnung gebracht, die Lösungen also wesentlich in ihren 
Eigenschaften und ihrer Zusammensetzung verändert werden. Für diese Fälle 
bedienen wir uns eines Verfahrens, welches von Tyndall eingeführt und 
„discontinuirliche“ oder „fractionirte Sterilisation“ genannt 
wurde. 

Wir wissen, dass die meisten Bacterien in ihren vegetativen Formen 
eine Temperatur von 60° C nicht lange vertragen, während die Dauerformen 
hierdurch in keiner Weise beeinflusst werden. Erwärmen wir also eine Nähr¬ 
flüssigkeit längere Zeit auf 60°, so bleiben nur die Sporen am Leben. Lassen 
wir nun mit der Einwirkung der hohen Temperatur für einige Zeit nach, so 
beginnen die Sporen auszukeimen, sich in die weniger widerstandsfähigen ve¬ 
getativen Formen umzuwandeln. Eine wiederholte Erhitzung auf 60° tödtet 
die neuen Bacillen, eine weitere Abkühlung bringt mehr Sporen zur Aus¬ 
keimung s. u. w. Wiederholt man dies mehrere Tage hindurch, so kann man 
auch durch diese Methode eine Flüssigkeit sterilisiren. 

Die Erfahrung hat nun gezeigt, dass es sich empfiehlt, die Lösungen 
etwa eine Woche hindurch täglich 4—5 Stunden auf 56—58® C zu 
erwärmen. 

Des kochenden Wassers, als Sterilisationsmittels bedient man sich 
in Fällen, in denen strömender Wasserdarapf nicht zur Verfügung steht, und 
zwar kann man mit Hilfe desselben in Form eines Wasserbades sowohl me¬ 
tallene Gegenstände, als auch Glassachen und schliesslich auch Nährflüssig¬ 
keiten sterilisiren. 

Ein weiteres wichtiges Gebiet für die Sterilisation gibt die Chirurgie, 
auch hier kommt es darauf an, dass Instrumente und Hände des Ope¬ 
rateurs, Spülflüssigkeiten und Verbandstoffe steril, d. h. voll¬ 
kommen keimfrei sind. 

Die Instrumente werden am besten sterilisirt, indem sie entweder 
V* Stunde in Wasser mit etwas Sodazusatz gekocht werden, oder indem sie 
mit Wasser und Seife gründlich gebürstet und darauf für einige Minuten in 
eine desinficirende Flüssigkeit (Carbolsäure oder Lysollösung u. s. w.) 
gelegt werden. 

Schwierig ist die gründliche Sterilisation der Hände, und fast jeder 
Operateur bedient sich dabei einer besonderen Methode. Ein bestimmtes 
Schema hierfür aufzustellen ist zwecklos, da eine jede Methode gut sein kann, 
sofern sie sorgfältig und gründlich angewandt wird. Wenn wir eine einfache, 
wenig complicirte Methode nennen wollen, so ist das Folgende: Die Hände 
werden mit Seife und warmem Wasser mehrere Minuten hindurch gründ¬ 
lich gebürstet und darauf in gleicher Weise mit einer 5°/ 0 Carbollösung oder 
besser noch l°/oo Sublimatlösung behandelt. 

Als Spülflüssigkeiten für Wunden, soweit dieselben heut noch angewandt 
werden, dienen schwache Lösungen chemischer Desinfectionsmittel, die mit 
gekochtem Wasser hergestellt sein sollen, oder zweckmässiger: steriles, d. h. 
längere Zeit (ca. 1 Stunde) in einem Dampfkochtopf gekochtes Wasser. 

Als Sterilisationsmittel für Verbandstoffe — soweit dieselben nicht mit 
chemischen Desinfectionsmitteln imprägnirt sind — dient auch der strömende 
Dampf, der in Dampfkochtöpfen erzeugt wird. 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


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Aach gewisse Medicamente, nämlich Injectionsflüssigkeiten 
müssen sterilisirt werden, soweit sie nicht Lösungen von an sich desinficirend 
wirkenden chemischen Stoffen sind. Es geschieht die Sterilisirung entweder 
anch durch Kochen der Lösungen oder durch Zusatz geringer Mengen eines 
chemischen Desinfectionsmittels, meistens des Phenols oder des Sublimats. 

A. DRÄER. 

Eisenbahn-Hygiene. Die hygienischen Maassnahmen in Bezug auf 
die Eisenbahnstrecke, die Stationsanlagen, sowie das daselbst beschäftigte und 
wohnhafte Personale, sammt dessen Hausstand, sind die gleichen wie in den 
angrenzenden Gebieten. Sie unterstehen den für die Allgemeinheit angeord¬ 
neten Vorschriften. Nur insoferne die Eisenbahn als Transportanstalt in 
Action tritt, sind besondere Maassregeln nothwendig, um den durch die Be¬ 
förderung von Menschen und Thieren und Thierproducten gegebenen Gefahren 
der Einschleppung und Weiterverbreitung von Epidemien und Seuchen wirk¬ 
sam zu begegnen. Eine Contumacirung des reisenden Publicums hat sich bei 
der Lebhaftigkeit des Verkehres, und der aus dessen, wenn auch nur zeit¬ 
weiligen Unterbrechung folgenden Nachtheile, sowie auch bezüglich der, der 
intendirten Wirkung geradezu entgegengesetzten Einflussnahme auf die Salu- 
brität der Contumacirten und deren Umgebung, als nicht erspriesslich erwiesen; 
und ist nunmehr, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr in Uebung. 
Desgleichen sind Viehtransporte auch zu Zeiten von Thierseuchen, schon aus 
Approvisionirungs-Rücksichten nicht gänzlich einzustellen. 

Um so genauer und strenger müssen daher behördliche Maassnahmen 
platzgreifen, um eine Verschleppung einer Epidemie oder Seuche möglichst 
zu hindern und die Tilgung einer bestehenden zu erleichtern. Um diesem 
Zwecke zu entsprechen, sind vor Allem die, eine Seuche oder Epidemie unter¬ 
haltenden und nährenden Zuflüsse nach Möglichkeit zu unterbinden. 

I. Seuchen. 

Der Transport von Thieren und Thierproducten aus verseuchten 
Gegenden, ist theils gänzlich verboten, theils an Bedingungen gebunden, 
welche geeignet sind, die Wege einer Seuche zu unterbrechen und deren 
Ausläufer genau zu verfolgen. Es sind im Wege der Gesetzgebung Anord¬ 
nungen getroffen, durch welche bei jeder einzelnen der ansteckenden Thier¬ 
krankheiten, die zur Verfrachtung zugelassenen Thiere, Theile des Thieres 
und Thierproducte, wie die Art und Weise der Zubereitung der Sendung, sowie 
auch die Eisenbahn-Ein- und Ausladestationen vorgeschrieben werden, so 
das« nach Möglichkeit eine Gewähr für die Sicherung des Gesundheitszustandes 
des Viehstandes und Bewahrung der Gesundheit des den Transport beglei¬ 
tenden Personales, als auch des consumirenden Publicums gegeben ist. Für 
die wirksame Desinficirung der Transportmittel, der Stationen, der zum Ver¬ 
laden benützten Rampen und Treppen, der Verpackungsmittel, sowie des be¬ 
dienenden Personales sind behördliche Anordnungen getroffen. 

Die Bahnverwaltungen werden von dem amtlich constatirten Ausbruche 
einer Seuche, dem Seuchenbezirke und dessen Umfang unverzüglich verstän¬ 
digt, auf dass sie in die Lage kommen, den getroffenen Anordnungen zu ent¬ 
sprechen. Dem Bahnverkehre werden selbstverständlich nur solche Beschrän¬ 
kungen auferlegt, welche in den Bestimmungen und dem Geiste der bezüg¬ 
lichen Gesetze begründet sind. 

In Oesterreich ist in Bezug auf die ansteckenden Thierkrankheiten, zn deren Abwehr 
und Tilgung das Gesetz vom 29. Februar 1880 (Nr. 35 R. G. B.) in Wirksamkeit. Mit den 
Nachbarreichen sind specielle Uebereinkommen bezüglich der Zul&ssigkeit von Thiertrans¬ 
porten getroffen. 


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200 


EISENBAHN-HYGIENE. 


Das obbenannte österreichische Gesetz betrifft den Schatz des inländischen Vieh¬ 
standes gegen Viehseuchen überhaupt und insbesonders die Abwehr und Tilgung der: 

a) Maul- und Klauenseuche der Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine, 

b\ des Milzbrandes (Anthrax) der landwirtschaftlichen Hausthiere, 

c) der Lungenseuche der Rinder, 

d) der Rotz- (Wurm-) Krankheit der Pferde, Esel und M&ulthiere, 

e) der Pocken- oder Blatternseuche der Schweine, 

f) der Beschäl- (Chancre) Seuche der Zuchtpferde und des Bläschenausschlages an 
den Geschlechtsteilen der Pferde und Rinder, 

g) der Räude (Krätze) der Pferde und Schafe, 

h) der Wuthkrankheit der Hunde und übrigen Haustiere. 

Auch hat das Gesetz und dessen Durchführungsvorschriften Anwendung auf den 
Rauschbrand der Rinder, Rothlauf der Schweine und die Schweinepest. 

Ein besonderes Gesetz (vom 29. Februar 1880, R. G. B. Nr. 37) behandelt die Ab¬ 
wehr und Tilgung der Rinderpest 

Die Einfuhr aus dem Auslande betreffend, werden Hausthiere, 
welche den verzeichneten Krankheiten unterliegen, nur gegen Vorweisung 
von Viehpässen zum Transporte zugelassen; in den Viehpässen muss der 
unverdächtige Zustand beim Abgänge der Thiere von dem ständigen Aufent¬ 
haltsorte bestätigt sein. Die Viehpässe enthalten die Angabe der Stückzahl 
der Thiere, die nähere Bezeichnung derselben, und etwaige besondere Merk¬ 
male der Viehstücke; dann die Bestätigung, dass die Thiere beim Abgänge 
gesund waren, und dass sie aus einem Standorte kommen, in welchem und 
dessen Umgebung zur Zeit des Abganges der Thiere, eine auf diese Thier¬ 
gattung übertragbare Krankheit nicht herrscht. Sind die Thiere durch vor- 
schriftsmässige Viehpässe nicht gedeckt, so ist der Transport von der Zoll¬ 
behörde zurückzuweisen. 

Ist in einem Nachbarlande eine ansteckende Thierkrankheit in einem 
für den inländischen Viehstand bedrohlichem Umfange ausgebrochen und 
ihre Verschleppung in das diesseitige Gebiet zu besorgen, so kann von der 
politischen Landesbehörde die Einfuhr lebender oder todter Thiere, durch 
welche die Verschleppung der Ansteckungsstoffe möglich ist, aus dem ver¬ 
seuchten Gebiete: 

1. entweder entlang der Grenze des ganzen Verwaltungsgebietes oder 
für bestimmte Grenzstrecken verboten, oder 

2. nur über bestimmte Eintrittsorte und unter Beschränkungen ge¬ 
stattet werden, welche die Gefahr einer Einschleppung ausschliessen. 

Die Verkehrsbeschränkungen können nach Erfordernis auch auf die 
Einfuhr von rohem Fleisch und sonstigen thierischen Rohstoffen, Dünger, 
Rauhfutter, Streumaterialien und von allen Gegenständen, welche Träger des 
Ansteckungsstoffes sein können, ausgedehnt werden. 

Nach Massgabe der Umstände kann die Absperrung der Grenze nöthigen- 
falls mit militärischen Kräften verfügt werden. 

Die diesbezüglichen Verkehrsbeschränkungen werden den betreffenden 
Eisenbahnverwaltungen zur Kenntnis gebracht. 

An den bestimmten Eintrittsorten ist für die Dauer des Bedarfs ein 
Thierarzt aufgestellt. 

Gewinnt die Seuche im Nachbarlande innerhalb einer Entfernung von 20 Küometem 
von der Grenze entfernt eine bedrohliche Ausdehnung, so kann von der politischen 
Landesbehörde, für die betheiligten diesseitigen Grenzbezirke eine Revision des vorhandenen 
Viehstandes und die Evidenzhaltung des Gesundheitszustandes, sowie Zuwachses und Ab¬ 
ganges der durch die Seuche gefährdeten Thiergattungen angeordnet werden (Viehcataster). 

Beim inländischen Verkehre sind Viehpässe beizubringen: 

a) für Wiederkäuer, Pferde, Schweine, welche auf Thierschauen gebracht werden. 

b) für Rindvieh jeden Alters, welches auf Viehmärkte oder Auctionen gebracht, 
oder für Rindvieh (ausgenommen zum Schlachten gebrachte Kälber unter 6 Monaten), 
welches aus Anlass des Wechsels des Standortes in emer anderen, über 10 Kilometer ent- 
• ernten Art abgetrieben wird, 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


201 


c) für Herden von Wiederkäuern und Schweinen, welche über grössere Länder- 
strecken getrieben werden, 

d) für Wiederkäuer und Schweine, welche mittelst Eisenbahn und Schiffen befördert 
werden. 

Die Viehpässe haben eine Giltigkeit von 16 Tagen (können dann verlängert werden). 

Auf Viebmärkten ist das Vieh aus Ländern, welche nicht zum Geltungs¬ 
gebiete des allgemeinen Thierseuchengesetzes gehören, unbedingt auf einer 
ganz abgesonderten Marktabtheilung aufzustellen. 

Beim Herrschen von Rinderpest ist die Abhaltung von Vieh- und 
anderen Märkten im Seuchenbezirke verboten. Diese dürfen nur in grösseren 
Städten, zu Approvisionirungszwecken, mit besonderer behördlicher Bewilligung 
unter der Bedingung abgehalten werden, dass alle auf den Markt gebrachten 
Wiederkäuer diesen nur verlassen können, um unmittelbar zur Schlachtbank 
desselben Ortes geführt zu werden. 

Bezüglich der Beförderung von Wiederkäuern auf Eisen¬ 
bahnen und Schiffen ist folgendes vorgeschrieben: 

1. Die Transporte sind beim Ein- und Ausladen an den hiezu bestimmten Stationen 
von Thierärzten oder sonstigen Sachverständigen zu untersuchen. 

2. Die Ausladung der Thiere darf — Nothfälle ausgenommen — nur am Be¬ 
stimmungsorte erfolgen. 

3. Schlachtvien darf nicht gemeinschaftlich mit Zucht- oder Nutzvieh zur Versendung 
gebracht und auch nicht in demselben Eisenbahnwagen oder auf demselben Schiffe ver¬ 
laden werden. 

4. Aus einem fremden Lande eingeführtes Schlachtvieh darf nicht mit einheimischen 
Wiederkäuern in demselben Zuge oder auf demselben Schiffe verladen werden. (Die Ein- 
und Ausladestationen für Transporte von Wiederkäuern und Schweinen werden amtlich 
bestimmt. Die zur Untersuchung der Thiere berufenen Organe werden von der politischen 
Landesbehörde bestellt.) Die Aufnahme einzelner mit ordnungsmässigen Viehpässen ge¬ 
deckter Thiere, behufs deren Beförderung, und die Ausladung solcher Thiere ist an be¬ 
stimmte Stationen nicht gebunden. 

Die Weiterbeförderung der Viehtransporte von den Ein- und Ausladestationen darf 
nur erfolgen, wenn rucksichtlich der Viehpässe und rücksichtlich des Gesundheitszustandes 
der Thiere kein Anstand obwaltet. Trifft das Letztere zu, so ist der Viehpass von dem 
bestellten Sachverständigen behufs des Weitertransportes mit der Bemerkung „unbedenklich 
befunden“ unter Beifügung der Beschauprotocolls-Nummer, des Datums und der Unter¬ 
schrift des Sachverständigen zu versehen. 

Das Beschauprotocoll ist nach der hiefür erlassenen Instruction zu führen. Es ist 
durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass auf den Ein- und Abladeplätzen 
während der Vornahme der Sachverständigen-Beschau, sowie bei etwa nöthigen Umladungen 
und auf den Haltestellen das Zusammenkommen des Transportviehes und dessen Ver¬ 
mischung mit anderen Thieren derselben Gattung hintangehalten bleibt. Kommt unter 
den mit der Eisenbahn beförderten Wiederkäuern ein Erkrankungs- oder Todesfall vor, 
der nicht zweifellos auf eine äussere Einwirkung zurückzuführen ist, so ist diejenige 
Eisenbahnstation, von welcher die Intervention einer politischen Bezirksbehörde im 
kürzesten Wege zu erreichen ist, behufs Inanspruchnahme dieser Intervention telegraphisch 
zu benachrichtigen. 

Die politische Bezirksbehörde hat sogleich wegen der sachverständigen Untersuchung 
das Nöthige einzuleiten und hängt von dem Befunde ab, ob die Weiterbeförderung des 
Transportes an den Bestimmungsort gänzlich oder theilweise aufzuhalten und was überhaupt 
aus veterinärpolizeilichen Rücksichten vorzukehren ist. Im Falle der zulässig befundenen 
gänzlichen oder theilweisen Weiterbeförderung des Transportes ist die Behörde des Be¬ 
stimmungsortes von dem Vorkommnisse und dem Befunde, behufs Einleitung der ent¬ 
sprechenden veterinärpolizeilichen Vorkehrungen telegraphisch zu verständigen. 

Die weitergehenden Vorsichtsmassregeln mit Rücksicht auf Rinderpest sind in dem 
betreffenden Gesetze und der Vollzugsvorschrift zu demselben enthalten. 

Für den Handel nnd Marktverkehr bestimmte Sendungen von Fleisch 
oder geschlachteten Hausthieren werden zur Beförderung mittelst 
Eisenbahn nur dann zugelassen, wenn sie mit Certificat über die am Schlacht¬ 
orte ordnungsmässig vorgenommene Beschau gedeckt sind. (Für Provenienzen 
ans Seuchenbezirken stellt das Certificat die Seuchen-Commission aus.) 

Diese Bestimmung hat keine Anwendung auf geräuchertes oder gepöckeltes 
Fleisch, auf Würste und überhaupt auf Fleisch, welches auf irgend eine durch¬ 
greifende Weise zubereitet ist, und sich nicht mehr in rohem Zustande befindet 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


Fleischsendungen, welche an private Personen versendet werden, sind 
von der Beibringung eines Certificates befreit. Zum Eisenbahntransporte darf 
nicht zugelassen werden: 

a) das Fleisch von schlecht genährten Thieren, 

b) von nothgeschlachteten Thieren, 

c) von nicht ganz reifen Kälbern, 

d) von finnigen Schweinen, 

e) aufgeblasenes Fleisch und derlei Lungen, 

f) überhaupt jedes Fleisch, welches der Beschauer für ungeniessbar er¬ 
klärt. 

Beim Ausladen findet neuerlich eine Beschau statt. 

Bei einer Seuchengefahr finden folgende Schatzmaassregeln statt: 

Einstellung des Weitertriebes, 

Stallsperre, 

Weidesperre, ferner Orts- und Flursperre; auch Gegenstände, welche geeignet sind, 
die Krankheit zu verschleppen, wie: Haare, Häute, Klauen, Futter, Dünger etc. dürfen 
nicht transportirt werden. Gefallene Thiere müssen auf thermischem oder chemischem 
Wege unschädlich gemacht oder verscharrt werden. Transportmittel sind zu desinficiren. 

Wenn Cadaver behufs der Beseitigung weiter verführt werden müssen, 
sind sie vorher mit Kalkbrei oder Carboisäurelösung zu übergiessen, und 
während des Transportes bedeckt zu erhalten. 

Die bei den einzelnen im Thierseuchengesetze benannten Krankheiten 
festgesetzten Verbote für Transportirung von Thieren, Thier- 
theilen, thierischen ßohproducten, sowie die bezüglich der Behand¬ 
lung der Sendungen erflossenen behördlichen Anordnungen sind im Folgenden 
auszugsweise wiedergegeben: 

Bei Maul- und Klauenseuche darf Schlachtvieh unter gewissen Cauteln aus 
verseuchten Gegenden eingeführt werden; nicht aber Melkkühe als Nutzvieh, Milch von 
kranken Thieren in ungekochtem Zustande, Dünger, Rauhfutter. Häute erst nach erfolgter 
Desinficirung. 

Bei Milzbrand dürfen Thiere, welche als krank oder verdächtig erklärt werden, 
zum Zwecke des Fleischgenusses und der Verwerthung nicht geschlachtet werden. Der 
Verkauf einzelner Theile des Thieres, der Milch oder sonstiger Producte der Thiere ist ver¬ 
boten. Das Cadaver darf nicht abgeledert werden. Wegen leichter Uebertragbarkeit auf 
den Menschen, sind Personen mit Verletzungen an den Händen oder anderen bloss getra¬ 
genen Körpertheilen, zur Wartung oder Schlachtung der Thiere nicht zu verwenden. 
Cadaver gefallener oder getödteter Thiere, wobei die Haut kreuzweise eingeschnitten wird, 
sind mit Aetzkalk oder Asche zu bestreuen, dann zu verscharren. Strengste Desinfection. 

Bei Lungenseuche des Rindviehes ist der Abtrieb von gesunden Thieren zu ge¬ 
statten. Fleisch von gesund befundenen frei zu verwerthen (ausgenommen die Lungen); 
kranke Thiere zum Genüsse nicht geeignet. 

Häute dürfen in desinficirtem Zustande transportirt werden. Rauhfutter und Streu- 
materiale nicht. 

Bei grösserer Ausdehnung der Seuche: Verbot der Rindviehmärkte. Während des 
Transportes ist das kranke Vieh vom Gesunden abzusondem. üeber das Fleisch ist ein 
Certificat über den Umstand, dass das Thier beim Schlachten gesund befunden wurde, 
beizugeben. 

Transport auf Eisenbahnen bis zu einem Orte, an welchem die Thiere geschlachtet 
werden sollen, kann gegen amtliche Bewilligung gestattet werden. 

Genesene Thiere dürfen erst nach 6 Monaten frei transportirt werden. 

Bei Rotzkrankheit sind kranke Thiere sofort zu tödten. Verdächtige abzusondern. 
Cadaver mit Haut und Haar unschädlich zu vertilgen (wie bei Milzbrand); leichte Ueber¬ 
tragbarkeit auf Menschen. Warte personale muss sich die Hände mit Carboisäurelösung 
desmficiren; auch die Kleider sind zu desinficiren. 

Bei Pocken der Schafe kann der Dünger auf Feldern verwendet werden. Rauh¬ 
futter und Streumateriale darf nicht ausgeführt werden. Schafwolle nur nach stattgehabter 
Desinfection, in Säcken verpackt. Bei ausgesprochener Ortssperre (wegen grosser Ausbrei¬ 
tung der Seuche) ist die Aus-. Ein- und Durchfuhr im Seuchenorte verboten. Cadaver sind 
zu vertilgen. Abgenommene Häute zu desinficiren, und erst in vollkommen trockenem 
Zustande transportabel. 

Bei B eschälseuche dürfen kranke Pferde ohne behördliche Zustimmung den Stand¬ 
ort nicht verlassen. Häute nach Desinfection und Trocknung verfrachtbar. 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


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Bei Bände der Pferde und Schafe sind die Gesunden von den Kranken abzuson¬ 
dern. Fleisch von geschlachteten Thieren, nach behördlicher Genehmigang verwendbar. 
Häute sind unmittelbar in Gerbereien abzugeben oder wenn zum Transporte bestimmt, 
vorher zu desinficiren und zu trocknen. Räudekranke Schafe dürfen aus dem Seuchenorte 
nur über behördliche Genehmigung unter Einhaltung der entsprechenden Vorsichten und 
nur zum Zwecke der Schlachtung verfrachtet werden. Wolle nur in festen Säcken ver¬ 
packt zu transportiren. Personen und Kleider zu desinficiren. Das Gleiche gilt von räude- 
kranken Ziegen. 

Bei Wuthkrankheit der Hausthiere sind Verdächtige oder von solchen Verwun¬ 
dete abzusondem. Kranke zu tödten und zu beschauen. Cadaver dürfen nicht abgehäutet 
werden. (Mit Haut und Haar zu vertilgen — wie bei Milzbrand.) Desinfection auf das Ge¬ 
naueste; hölzerne Gegenstände und Stroh zu verbrennen; eiserne Geräthe auszuglühen. 

Die gleichen Vorsichtsmassregeln bei Rauschbrand der Rinder, Rothlauf der 
Schweine und Schweinepest. 

Unwahre Angaben bei Ausstellung der Viehpässe und Ursprungsbescheinigungen sind 
mit Geld oder Arrest zu bestrafen. Bei Umgehung des Einfuhrverbotes kann die Straf¬ 
behörde Thiere und thierische Rohproducte für verfallen erklären. 

Bei Rinderpest dürfen aus verseuchten Gegenden nicht eingeführt werden: Rinder 
und andere Wiederkäuer im lebenden oder todten Zustande; alle von diesen abstammenden 
thierischen Theile, Abfälle, Rohstoffe in frischem oder getrocknetem Zustande (mit Ausnahme 
von Molkenproducten, Milch, ausgeschmolzenem Talg, dann Schafwolle, welche gewaschen 
oder calcinirt wurde und in Säcken oder Ballen verpackt ist. Das Verpackungsmaterial, 
Heu und Stroh ist zu verbrennen); Rauhfutter, Stroh und anderes Streumaterial, Dünger, 

f ebrauchte Stallgeräthe und Anspanngeschirre, sowie für den Handel bestimmte getragene 
leider, Schuhwerk, Hadern etc. 

Die politischen Landesbehörden haben von dem Ausbruche einer Seuche 
an der Grenze den Eisenbahnverwaltungen die nöthigen Mittheilungen zu 
machen, insbesonders in Bezug auf die Verkehrsbeschränkungen. Aus nicht 
verseuchten Gegenden verseuchter Länder ist der Verkehr gestattet bei Bei¬ 
bringung amtsthierärztlicher Gesundheits-Atteste, mit Bestätigung des Um¬ 
standes, dass der Transport durch seuchenfreie Gegenden stattfand, sowie der 
Zeitdauer des Aufenthaltes in seuchenfreien Orten. 

Die Einbruchsstationen für den Transport werden behördlich bestimmt. 

Beim Verkehre zwischen Oesterreich und Ungarn können nachweislich fabriksmässig 
oder chemisch gewaschene Wollsendungen frei und keiner veterinär-polizeilichen Procedur 
unterliegend eingeführt werden, und sind keine Ursprungs- und Gesundheitscertificate bei- 
zubringen. 

Grenzsperre. Tritt die Rinderpest in Orten, die nicht über 40 Kilo¬ 
meter von der Grenze entfernt sind, oder überhaupt in bedrohlicher Weise 
auf, so ist von der politischen Landesbehörde des angrenzenden hierseitigen 
Verwaltungsgebietes die Ein- und Durchfuhr von im § 1 bezeichneten Thieren 
und Gegenständen über die Grenze überhaupt zu verbieten und die Absper¬ 
rung derselben (Grenzsperre), nach Erfordernis auch mittelst eines militärischen 
Cordons zu verfügen. Die Grenzsperre wird kundgemacht und sind die 
Eintrittsorte für den zulässigen Verkehr zu bestimmen. Doch kann die Landes¬ 
behörde auch im Falle der Grenzsperre den Transport aus nicht verseuchten 
Gegenden des verseuchten Gebietes zulassen: 

o) für Schlachtvieh nach solchen Orten, wo öffentliche Schlachthäuser 

sind, 

b) für vollkommen trockene Häute, Knochen, Hörner, Hornspitzen und 
Klauen, gesalzene und getrocknete Rinderdärme, Saitlinge, ungeschmolzenen 
Talg in Fässern und Wannen, Kuhhaare, Schweinsborsten, Schafwolle und 
Ziegenhaare, insoferne letztere Gegenstände in Säcken oder Ballen verpackt sind. 

Diese Transporte dürfen nur auf Eisenbahnen und Schiffen und unter 
Beobachtung besonderer Beschränkungen und Vorsichten stattfinden. 

Rücksichtlich der unter a) bezeichneten Transporte muss das Schlacht¬ 
haus in unmittelbarer Verbindung mit dem Schienenwege oder dem Landungs T 
platze der Schiffe stehen. 

Der für die Einbruchsstation bestellte Thierarzt hat die Localbehörde 
des Bestimmungsortes von dem Abgänge eines Schlachtviehtransportes tele- 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


graphisch zu verständigen. Die Ortsbehörde des Bestimmungsortes hat da¬ 
rüber zu wachen, dass von der Ankunft der Thiere bis zu deren Schlachtung 
und bei letzterer Alles vermieden werde, wodurch die etwa vorhandene Krank¬ 
heit verschleppt werden könnte. Die Schlachtung muss unter thierärztlicher 
Aufsicht stattfinden. 

Personen, die beim Transporte, dem Auf- und Abladen beschäftigt waren, 
haben sich der Desinfection zu unterziehen. 

Der nach dem Gesetze erforderliche Zustand der Rohstoffe ist von dem 
bestellten Thierarzte an dem Eintrittsorte zu controliren. Besteht dieser Zu¬ 
stand, wenn auch nur bei einzelnen Stücken, nicht, so ist die ganze Fracht 
zurückzuweisen. 

Beim nothwendigen Umladen und Wegbringen von den Ausladeplätzen 
dürfen Rindviehbespannungen nicht benützt werden. 

Nach verfügter Grenzsperre haben sich Personen, von denen bekannt 
oder anzunehmen ist, dass sie in verseuchten Orten gewesen sind, oder mit 
den im § 1 unter a) b) c) d) genannten Thieren oder Gegenständen in Berüh¬ 
rung waren, vor ihrer Zulassung in das Geltungsgebiet des Gesetzes, einer 
Desinfection zu unterziehen. Der Desinfection sind auch die Effecten solcher 
Personen und die von denselben benutzten Fuhrwerke (wenn sie auf Land¬ 
wegen übertreten) zu unterziehen. 

Zxun Zwecke der Desinfection dieser Personen, ihrer Effecten und der Fuhrwerke 
ist in jedem der kundgemachten Eintrittsorte ein entsprechendes Desinfectionslocale zu be¬ 
schaffen. Für dieses Locale, welches mit den nöthigen Desinfectionsmitteln und Geräthen 
zu versehen sein wird, ist ein besonderer Wärter zu bestellen, welcher über die Art der 
Anwendung des Desinfectionsmaterials zu belehren ist. 

Es hat eine gründliche Reinigung und Desinfection der Kleider, hauptsächlich aber 
des Schuhwerkes stattzufinden; desgleichen ist der Körper gründlich zu reinigen. 

Beim Herannahen der Seuche, auf weniger als 20 Kilometer Entfernung 
von der Grenze, haben in den Ortschaften der bedrohten Grenzbezirke die 
Vorschriften wie für einen Seuchenbezirk in Anwendung zu kommen. (Vieh¬ 
kataster.) 

Strenge Maassregeln sind auch gegenüber ständig oder häufig verseuchten 
Ländern (im Verordnungswege werden als solche dermalen Russland und 
Rumänien bezeichnet) in Uebung, indem die Ein- und Durchfuhr von Rindern 
aus diesen Ländern wegen der in besonderer Weise drohenden Einschleppungs¬ 
gefahr gänzlich verboten ist. Schafe und Ziegen können mit behördlicher 
Erlaubnis ein- und durchgeführt werden, solange die Seuche nicht innerhalb 
80 Kilometer Entfernung von der diesseitigen Grenze herrscht. Thierische 
Theile in frischem Zustande sind von der Ein- und Durchfuhr ausgeschlossen. 
Hingegen kann gestattet werden der Transport von Häuten, Hörnern, Kno¬ 
chen etc. in vollkommen getrocknetem Zustande, ungeschmolzener Talg in 
Fässern und Wannen, Haare in Säcken oder Ballen verpackt, wobei dann 
Desinfection an der Grenze vorgeschrieben werden kann. Dieser Transport 
darf ausschlieslich nur per Eisenbahn oder auf dem Wasserwege erfolgen. Gewa¬ 
schene oder calcinirte Wolle, Molkereiproducte und ausgeschmolzener Talg 
unterliegen rücksichtlich ihrer Ein- und Durchfuhr keiner Beschränkung. 

Gegenüber diesen Ländern besteht beständig eine verschärfte Grenzüberwachnng 
zur Verhinderung des Schmuggels mit Rindvieh. In dem an diese Länder grenzenden 
diesseitigen Gebiete ist innerhalb einer Strecke von 30 Kilometern ein Kataster des Rind¬ 
viehstandes anzulegen. Innerhalb dieses Grenzgebietes dürfen die Eisenbahnverwaltungen 
Wiederkäuer zur Weiterbeförderung nur auf bestimmten Bahnstationen und auf Grund 
vorschriftsmässig ausgestellter Viehpässe übernehmen. 

Bei Ausbruch der Rinderpest in einer Ortschaft des Geltungsgebietes 
des Gesetzes haben die strengsten Massregeln zur Verhinderung der Weiter¬ 
verbreitung und zur Tilgung der Seuche Platz zu greifen. Es wird eine 
Seuchen-Commission bestellt, welche die nöthig erscheinenden Anordnungen 
trifft und deren exacte Durchführung überwacht. Die Seuchen-Commission 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


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ist ermächtigt, in Ermangelung eines verendeten Thieres, zum Zwecke der 
Feststellung der Kinderpest, ein krankes, der Pest verdächtiges Thier behufs 
Vornahme der Section tödten zu lassen. Nach amtlicher Feststellung der 
Krankheitsart als Rinderpest, sind alle pestkranken oder mit diesen in Be¬ 
rührung gestandenen Kinder unverzüglich zu tödten. Cadaver unschädlich 
zu vertilgen. Strengste Desinfection von Räumlichkeiten, Geräthschaften, 
Personen. Der Seuchenort ist für Jedermann kenntlich zu machen. Im Falle 
der Seuchenort der Stationsort einer Eisenbahn wäre, ist das Betreten dieses 
letzteren durch die Ortsbewohner auf die Fälle der unbedingten Nothwendig- 
keit zu beschränken, und ist — ausgenommen das zur Verproviantirung des 
Ortes unter Einhaltung der behördlichen Vorschriften eingebrachte Schlacht¬ 
vieh — das Auf- und Abladen von Wiederkäuern für die Seuchendauer un¬ 
bedingt verboten. Wenn Rinderpest auf einem Eisenbahntransporte constatirt 
wird, so sind alle Thiere, die kranken sowohl als die gesuuden, so schleunig 
als möglich der Tödtung zuzuführen. 

Das Fleisch von Rindern, welche wegen Seuchenverdacht getödtet wurden, 
nach der Schlachtung aber vom Thierarzte als frei auch von den geringsten 
Merkmalen dieser Krankheit, und zum Genüsse zulässig befunden wurde, darf 
unter angemessener Vorsicht im Seuchenorte selbst verbraucht, oder in grössere 
Verbrauchsorte behufs Verwerthung verführt werden. Die Häute solcher 
Thiere sind unverzüglich durch Einlegen in Kalklauge zu desinficiren und 
dann in Gerbereien abzugeben. 

Alle anderen Theile des Thieres sind unschädlich zu beseitigen. Das 
Fleisch muss, bevor es zur Verwerthung oder Versendung zugelassen wird, 
vollkommen erkaltet sein. Zur Versendung ist die Zustimmung der Local¬ 
behörde erforderlich. 

Auf weitere Entfernung als 30 Kilometer vom Schlachtorte zum Ver¬ 
kaufsorte darf zur Transportirung nur Eisenbahn oder Schiff benutzt werden. 

Die zum Fleischtransporte benutzten Einsenbahnwaggons müssen, wenn 
sie nicht für den Fleischtransport besonders eingerichtet sind, unter Plomben¬ 
verschluss gesetzt werden. Polizeiliche Begleitung der Fleischsendung bis 
an den Bestimmmungsort. 

Die Seuchen-Commission verständigt die Local-Behörde des Bestimmungs¬ 
ortes von dem Transporte. Letztere hat für Desinficirung von Fuhrwerk und 
Verpakungsmittel zu sorgen. 

Die Einfuhr von Rindern, Schafen und Ziegen in den Seuche-Ort zur 
Verproviantirung unter genauer Beobachtung der Vorschriften statthaft. 

Bei Ausbruch einer Seuche ist hievon an solche Gemeinden, nach welchen 
eine Verschleppung des Ansteckungsstoffes möglicherweise stattgefunden haben 
konnte und, insoferne der verseuchte Ort nicht über 75 Kilometer von der 
Reichsgrenze entfernt liegt, auch an die zuständige Behörde des benachbarten 
Staatsgebietes, Mittheilung zu machen. 

Kommt die Rinderpest in grosseren Städten oder ausgedehnten Ortschaften nur au 
einzelnen Punkten zum Ausbruche, so kann die Seuchen-Commission nach Massgabe der 
Örtlichen Verhältnisse die Aufnahme des Viehstandes, sowie die Absperrungs- und Siche- 
rungsmassregeln auf einzelne Theile der Stadt oder der betreffenden Ortschaft oder auf 
den Seuchenhof oder selbst auf den verseuchten Stall beschränken. Jedoch nur in Ort¬ 
schaften, wo eine eigentliche Viehzucht nicht betrieben wird und der Bestand an Rindern 
hauptsächlich aus Nutzvieh besteht. 

Bestehen in einem Lande nur in einer Gegend wenige vereinzelte 
Seuchenorte, so unterliegt der Verkehr der nicht in Seuchenbezirke fallenden 
Theile der Länder untereinander, und mit den anderen Ländern keiner weite¬ 
ren Beschränkung. 

Bei Pest der Schafe und Ziegen kommen dieselben Maassregeln, wie bei Rinder¬ 
pest, sinngemäss in Anwendung. 

Bei Rauschbrand der Rinder dürfen die Thiere zum Zwecke des Fleischgenusses 
nicht geschlachtet werden. Cadaver der gefallenen Thiere dürfen abgehäutet werden. 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


Häute mit Aetzkalk zu desinficiren. Die Nutzverwerthung und der Verkauf anderer Theile 
und Produkte der rauschbrandkranken Thiere ist verboten. 

Bei Rothlauf der Schweine darf das Fleisch von Schweinen, welche im ersten 
Beginne der Krankheit geschlachtet wurden, wenn es bei der Beschau als zum Genüsse 
zulässig befunden wurde, ausschliesslich im Seuchenorte verwendet werden. Es muss so¬ 
gleich nach der Schlachtung der Siedehitze ausgesetzt und der Pöckelung unterzogen 
werden. 

Bei Schweinepest sind die kranken Thiere von den Gesunden abzusondem. Sperre 
für Ein- und Ausfuhr. Kranke Thiere dürfen nicht geschlachtet werden. Cadaver mit 
Kalklauge beschüttet zu vergraben. Nur wo ein behördlich genehmigter thermo-che- 
mischer Apparat zur Verarbeitung von Aesern im Betrieb ist, dürfen an der Pest verendete 
Thiere, ohne Entfernung irgend eines Theiles, mittelst dieses Apparates zur Gewinnung 
von Fett für technische Zwecke, von Knochen und Fleischmehl verwendet werden. 

Bezüglich des gegenseitigen Verhaltens bei Viehseuchen hat Oesterreich 
mit den Nachbarreichen specielle Uebereinkommen getroffen. So mit dem 
Deutschen Reiche, das Uebereinkommen vom 6. December 1891 (Das österr. 
Sanitätswesen 1892 Nr. 8). Die mit anderen Nachbarstaaten getroffenen 
Uebereinkommen können im Anhänge der „MANz’schen Gesetzessammlung 
Band XX“ eingesehen werden. 

Die Vorschriften bezüglich der Desinfection bei Viehtransporten auf 
Eisenbahnen und Schiffen (Gesetz v. 19. Juli 1879 Nr. 108 R. G. B. lauten: 

Vorschriften bezüglich der Desinfection bei Viehtransporten auf Eisenbahnen und Schiffen. 

§ 1. Die Eisenbahnverwaltungen sind verpflichtet, jeden Eisenbahnwagen, in welchem 
Wiederkäuer, Schweine, Pferde, Esel und Maulthiere befördert worden sind, einem Des- 
infectionsverfahren zu unterziehen, das nach jedesmaligem Gebrauche sofort anzuwenden 
und geeignet ist, die dem Wagen etwa anhaftenden Ansteckungsstoffe unwirksam zu machen. 
Vor bewirkter Desinfection dürfen solche Wagen zu keinerlei Verfrachtung benützt werden. 

Ebenso sind nach jedesmaligem Gebrauche die bei der Beförderung der Thiere zum 
Füttern, Tränken, Befestigen oder zu sonstigen Zwecken benützten Gerätschaften zu des¬ 
inficiren. 

Beim Herrschen ansteckender Thierkrankheiten sind die Eisenbahnverwaltungen 
von der politischen Landesbehörde zu verpflichten, auch die Desinfection der beim Ein- 
und Ausladen von Thieren betretenen Treppen, sowie auch der Rampen, Ein- und Aus¬ 
lade- und Viehauftriebsplätze der Eisenbahnen nach jedesmaliger Benützung vorzunehmen. 

DurchführungsVorschrift (D. V.l vom 7. August 1879 Nr. 109 R. G. B. 

Die Desinfection muss längstens innerhalb 48 Stunden nach der Entladung been¬ 
digt sein. — Bei Ueberführung der zu desinficirenden Wagen in eine Desinfectionsstation ist der 
Vorstand der letzteren von dem Eintreffen derselben rechtzeitig zu verständigen. 

Die Beförderung solcher Wagen in die Desinfectionsstation darf nicht mit Eisenb&hn- 
zügen, mit denen ausschliesslich Vieh transportirt wird, stattfinden. Bei Beförderung solcher 
Wagen mit anderen Zügen sind dieselben am Ende des Zuges und nicht unmittelbar an 
mit Vieh beladene Wagen anzureihen. 

Die zur Desinfection bestimmten Wagen sind sorgfältig geschlossen zu halten und 
in der Abladestation bis zur Abführung in die Desinfectionsstation, in letzterer aber bis 
zur Vornahme der Desinfection derart abseits aufzustellen, dass eine Verschleppung des 
Ansteckungsstoffes nicht erfolgen kann. 

§ 2. Der Dünger und die Streumaterialien, die auf den Wagen, Treppen, Standorten 
sich vorfinden, sind zu sammeln und sogleich zu desinficiren, wenn nicht in Anwendung 
der Thierseuchengesetze deren Vernichtung stattzufinden hat 

Zur Fortschaffung des desinficirten oder des zur Vertilgung bestimmten Düngers und 
Streumaterials dürfen lÜnderbespannungen nicht verwendet werden. 

D. V. Der bei der Reinigung der Wagen, Treppen, Rampen, Stand- und Verladeplätze, 
Triebwege u. s. w. gesammelte Dünger, Kehricht und die Streumaterialien aus den Wagen 
sind an besonderen, entsprechend isolirten Stellen zu sammeln und mit Kalkmilch oder 
mit verdünnter Schwefelsäure (1 Theil Schwefelsäure auf 20 Theile Wasser) zu übergiessen. 

Bei Transporten von Wiederkäuern, welche aus seuchenfreien Gegenden durch mit 
Rinderpest verseuchte Länder kommen, sowie in Fällen, in welchen unter den ausgeladenen 
Thieren Erscheinungen beobachtet werden, die einzelne derselben als mit Rinderpest, Rotz 
oder Milzbrand behaftet oder dieser Krankheit verdächtig erkennen lassen, ist der Dünger, 
Kehricht und das Streumateriale an geeigneten Stellen durch Verbrennen oder Vergraben 
zu vernichten. 

Die politische Behörde hat darüber zu wachen, dass bei Auswahl der gedachten 
Stellen in sanitärer Beziehung kein Anstand obwalte. 

§ 3. Die Verpflichtung zur Vornahme der Desinfection der Eisenbahnwagen und 
sonstiger Geräthe und Gegenstände obliegt derjenigen Eisenbahnverwaltung, in deren 
Bereich das Ausladen der Wagen stattfindet. 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


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Erfolgt letztere im Anslande, so ist nach Rückkehr der Wagen jene Eisenbahnver¬ 
waltung zur Desinfection verpflichtet, deren Bahn im Geltungsbezirke dieses Gesetzes zuerst 
berührt wird, ausgenommen der Fall, dass bereits im Auslande die vorschriftsmässige Des¬ 
infection vorgenommen wurde und hierüber vertrauenswürdige Nachweise vorliegen. 

Die Desinfection, beziehungsweise Vertilgung des Düngers und der Streumaterialien 
ist ven jener Eisenbahn Verwaltung zu bewirken, in deren Bereiche sie Vorkommen. 

§ 4. Zur Vornahme der Desinfection der benutzten Eisenbahnwagen werden von dem 
Handelsministerium nach Vernehmen der Bahnverwaltungen Stationen bestimmt, nach 
welchen die Wagen von jenen Ausladungsorten, wo die Desinfection nicht durchgeführt 
werden kann, ohne Verzug zu bringen und dem vorgeschriebenen Verfahren zu unter¬ 
ziehen sind. 

D. V. Die Eisenbahnstationen, welche zu Desinfectionsanstalten bestimmt werden, 
müssen mit all 1 den Einrichtungen in genügendem Masse versehen sein, welche die Durch¬ 
führung der Desinfection in einer allen Anforderungen entsprechenden Weise ermöglichen, 
und es sind auch diese Einrichtungen fortwährend in verwendungsfähigem Zustande zu 
erhalten. 

Die Bahnverwaltungen sind verpflichtet, die Einrichtungen solcher Desinfections¬ 
anstalten der politischen Bezirks-Behörde bekannt zu geben. Letztere hat sich von der 
Zweckmässigkeit derselben mit Rücksicht auf die in dieser Verordnung zu § 16 des Ge¬ 
setzes gegebenen Vorschriften zu überzeugen. 

§ 5. Die Eisenbahnverwaltungen sind berechtigt, für die mit der Ausführung der 
Desinfection, beziehungsweise Vertilgung verbundenen Kosten eine Gebühr zu erheben, 
deren Höhe von dem Handelsministerium nach Vernehmen der Eisenbahn Verwaltungen von 
Zeit zu Zeit bestimmt und bekannt gemacht wird. 

§ 6. Die Eisenbahnverwaltungen sind verpflichtet, den Versendern der im § 1 ge¬ 
nannten Thiere zu gestatten, die bereits von der Eisenbahnverwaltung desinflcirten Wagen 
auf eigene Kosten einer nochmaligen vorschriftsmässigen Desinfection zu unterziehen. 

Eine solche Desinfection muss jedoch innerhalb der von der Eisenbahnverwaltung 
bestimmten Zeit ausgeführt werden. 

Die Kosten, welche aus dem hiedurch verursachten längeren Aufenthalte der Wagen 
erwachsen, fallen dem Versender zur Last. 

§ 7. Die Bestimmungen der §§ 1, 2 dieses Gesetzes haben auch für Transporte 
mittels Schiffen rücksichtlich jener Räume, welche zur Unterkunft der Thiere benützt oder 
von denselben betreten werden, analoge Anwendung zu finden. Die Desinfection der Schiffe 
und der im § 1 angeführten Geräthschaften hat sogleich nach Löschung der Fracht zu 
geschehen. 

Eine im Auslande vorgenommene Desinfection kann nur dann die für’s Inland vor¬ 
geschriebene ersetzen, wenn glaubwürdige Nachweisungen vorliegen, dass dieselbe vor- 
schriftsmässig bewirkt wurde. 

Die Verpflichtung zur Vornahme der Desinfection obliegt dem Schiffsführer, be¬ 
ziehungsweise der Transportunternehmung. 

D. V. Fahrzeuge der Binnenschiffahrt, welche zum Transport der im 6 1 des Ge¬ 
setzes bezeichneten Thierarten eigens bestimmt sind, müssen an einer, vom Verkehr ab¬ 
seits gelegenen Stelle der Reinigung und Desinfection unterzogen werden. 

Rücksichtlich der Seeschiffe haben die Organe der Hafen- und Seesanitätsverwaltung 
zu sorgen, dass im Verkehre mit den zu reinigenden und zu desinfleirenden Schiffen, be¬ 
ziehungsweise Schiffsräumen mit jener Vorsicht vorgegangen und die Reinigung und Des¬ 
infection derart vorgenommen werde, dass die Verschleppung der Ansteckungsstoffe ver¬ 
mieden werde. 

Rücksichtlich der Reinigung der Schiffsräume, der bei der Ausladung der Thiere von 
denselben betretenen Landungsbrücken und Landungsplätze, der Beseitigung des Düngers, 
Kehrichts, Streumaterials, sowie der Desinfection dieser Objecte, haben die in dieser Ver¬ 
ordnung zu den §§ 1, 2 und 10 des Gesetzes enthaltenen Vorschriften analoge Anwendung 
zu finden. 

Die Desinfection der beim Viehtransporte benutzten Schiffsräume und Geräthe muss 
nach Löschung der Fracht bei Fahrzeugen der Binnenschiffahrt längstens innerhalb 
48 Stunden, bei Seeschiffen aber mit Vermeidung eines jeden unnöthigen Aufschubes 
beendigt sein. 

§ 8. Die Desinfection der zum Transporte thierischer Rohproducte benutzten Eisen¬ 
bahnwagen und Schiffe hat einzutreten nach jedesmaliger Beförderung von 

a) trockenen oder nur einer vorläufigen Bearbeitung unterzogenen thierischen, ins¬ 
besondere von Wiederkäuern stammenden Rohproducten aus seuchenfreien Gegenden eines 
von der Rinderpest verseuchten Landes; 

b) von Fleisch und Häuten, eventuell von anderen thierischen Theilen aus Schlacht¬ 
häusern an der Grenze; 

c) von Fleisch und Häuten 9 welche von Rindern, Schafen, Ziegen herrühren, die 
wegen Rinderpest oder Lungenseuchenverdachts getödtet und gesund befunden, oder die, 
ohne rinderpestverdächtig zu sein, in einem verseuchten Orte oder in einem Seuchen¬ 
bezirke gescnlachtet worden sind. 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


Die Art des der Transportunternehmung zu liefernden Nachweises der unter d) b) c ) 
bezeichnten Umstände wird im Yerordnungswege bestimmt. Auch wird im Verordnungs- 
wege festgesetzt, inwiefern Verpackungsmittel zu desinficiren oder zu vernichten sind. 

D. V. Behufs des im § 8 des Gesetzes geforderten Nachweises rücksichtlich der sub 
d) b) c) bezeichneten Rohstoffe sind der Transportunternehmung Ursprungscertificate bei¬ 
zubringen, welche für die sub a) angeführten Objecte der Gemeindevorsteher, für die sub b) 
bezeichneten Stoffe der landesfürstliche Thierarzt, dem die Aufsicht eines solchen Schlacht¬ 
hauses übertragen wird, für die sub c) genannten thierischen Theile, sowie für das zum 
menschlichen Genüsse geeignete Fleisch geschlachteter lungenseuchekranker Rinder (Gesetz 
vom 14. August 1886 Nr. 171 R. G. B.), die Seuchen-Commission ausznstellen hat. 

Die politischen Landesbehörden haben sowohl von dem ersten Ausbruche, als auch 
von dem Erlöschen der Rinderpest im Lande, alle Eisenbahngesellschaften und Dampf¬ 
schifffahrtsunternehmungen ungesäumt zu verständigen. 

Ebenso hat jede politische Landesbehörde von dem zu ihrer Kenntnis gelangten 
ersten Ausbruche oder dem Erlöschen der Rinderpest im benachbarten Auslande, den ge¬ 
dachten Yerkehrsanstalten sofort Mittheilung zu machen. 

Mit Rücksicht auf die Bestimmung des § 8 a) des Gesetzes muss bei Transporten 
thierischer Producte, welche über Contumazanstalten eingebracht werden, die Desinfection 
der Transportmittel jedesmal stattfinden. Diese Art der Provenienz ist durch die contumaz- 
ämtliche Bescheinigung nachzuweisen. 

Bei Beförderung gesalzener Häute ist eine Desinfection nicht nothwendig^ 

§ 9. Die Werkzeuge und Geräthe, welche behufs der Durchführung der Desinfection 
benützt werden, sind gleichfalls zu desinficiren. 

Ebenso haben sich die hiebei verwendeten Personen einer Reinigung zu unterziehen. 

D. Y. Die Personen, welche zur Reinigung und Desinfection verwendet werden, haben 
sich hiebei eigener Ueberkleider zu bedienen, welche nach vollzogener Arbeit in Wasser 
zu waschen und darnach einer ausgiebigen Lüftung zu unterziehen sind. Das Gleiche hat 
mit der Fussbekleidung zu geschehen. 

Diese Personen haben sich die Hände, und wenn sie sich einer Fussbekleidung nicht 
bedienen, auch die Füsse mit 2°/ 0 iger Carboisäurelösung zu reinigen. Während der Arbeit 
und vor vollzogener Reinigung müssen diese Personen den Verkehr mit Leuten, die mit Vieh 
zu thun haben, jedes Nahekommen mit letzterem, sowie das Betreten der gereinigten oder 
desinficirten Viehstandplätze etc. meiden. 

8 10. Die Desinfection ist unter sachverständiger Aufsicht vorzunehmen und be¬ 
hördlich zu überwachen. Das Desinfectionsverfahren wird im Yerordnungswege bestimmt. 

D. V. Die Desinfection der Wagen muss bewirkt werden entweder: 

1. Durch heisse Wasserdämpfe, die unter einer Spannung von mindestens zwei 
Atmosphären auf alle Theile im Innenraume des Wagens geleitet werden, oder 

2. durch heisses Wasser von mindestens 70° Celsius, dem ein halbes Percent cal- 
cinirter Soda oder Pottasche zugesetzt ist, womit alle Theile des Wagens bis zum voll¬ 
ständigen Verschwinden des thienschen Geruches zu waschen sind, oder 

3. durch Ausspritzen mit (bei Frost heissem) Wasser und nachheriges Auspinseln 
des Fussbodens und aller Seitentheile mit einer wässerigen Lösung, die 2% Carbolsäure 
und 5°/ 0 Eisenvitriol oder statt letzterem 3°/ 0 Chlorzink enthält. 

Wagen, deren Einrichtung eine Behandlung mit Wasser nicht zulässt, sind nach 
gründlichem Abwaschen des Fussbodens und der Decke mit alkalischer Lauge, einer Aus¬ 
räucherung zu unterziehen, die entweder durch Einstellen von auf Holz- oder Thontassen 
ausgebreitetem Chlorkalk oder durch Entwickelung von Chlor aus einer Mischung von 

1 Theil Chlorkalk und 2 Theilen gewöhnlicher Stüzsäure oder von 6 Theilen Kochsalz, 

2 Theilen gepulvertem Braunstein und 4 Theilen Wasser, der 4 Theile concentrirtes 
Vitriolöl zugesetzt werden, zu bewirken ist. 

Bei Anwendung von Chlorkalk allein muss die Räucherung mindestens 8, während 
der kälteren Jahreszeit 12 Stunden lang bei vollkommen geschlossenem Wagen unterhalten 
werden. Bei Anwendung chlorentwickelnder Mischungen genügt eine 6stündige Ein¬ 
wirkung. Während der Winterszeit ist jedoch die aus Kochsalz, Braunstein und wässeriger 
Schwefelsäure bereitete Mischung nicht verwendbar, weil bei niederer Temperatur die 
Chlorentwickelung aus diesem Gemische zu gering ist. 

In allen Fällen müssen die Wagenräume vor ihrer Wiederbenutzung so lange durch¬ 
lüftet werden, als sie deutlich nach Chlor riechen. 

Die Geräthschaften, welche während der Beförderung der Thiere zum Tränken und 
Füttern benützt werden, sind ausschliesslich entweder durch Abbrühen mit heissem 
Wasserdampf oder mit heisser Lauge zu desinficiren. 

Bezüglich der übrigen Geräthe kann eine der zur Desinfection der Wagen zu¬ 
lässigen Verfahrungsweisen in Anwendung kommen. 

Die Vieh-Ein- und Ausladeplätze, Viehhöfe, Triebwege, Treppen und Rampen sind 
in den Fällen, in welchen nebst der Reinigung auch die Desinfection derselben stattzufinden 
hat, entweder durch Begiessen mit einer 2°/ t igen Carboisäurelösung oder durch Bestreuen 
mit carbolsaurem (phenylsaurem) Kalk zu desinficiren. 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


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Die bei der Reinigung dieser Objecte verwendeten Geräthe sind nach jedesmaliger 
Benützung selbst einer gründlichen Säuberung durch Abwaschen mit Wasser zu unter¬ 
ziehen, und falls die Desmfection dieser Objecte stattzufinden hat, gleichfalls mittelst der 
Carbolsäurelösung zu desinficiren. 

§ 11. Im Falle die vorgeschriebene Desinfection nicht gehörig ausgeführt, unter¬ 
lassen oder die Vornahme verweigert wird, ist dieselbe auf Kosten und Gefahr der 
Transportunternehmnng von Amtswegen zu bewirken. 

Das k. k. Handels-Ministerium stellt mit Erlass vom 7. Februar 1889, Z. 27251 der 
Eisenbahn-Verwaltungen anheim, die Desinfection der zum Viehtransporte benützten Wagen, 
mit heissem Wasserdampf, der unter einer Spannung von mindestens 2 Atmosphären auf 
alle Theile im Innenraume des Wagens einzuwirken hat, unter Ausschluss aller Chemi¬ 
kalien, vornehmen zu lassen. Sie habe sich unter den bekannten und zulässigen Metho¬ 
den als die Zweckmässigste und Sicherste erwiesen, und vermeidet auch den oft beklag¬ 
ten üebelstand der Carboldesinfection, nämlich den Verderb gewisser Güter (z. B. Mehl), 
welche bei Verladung in selbst schon vor mehreren Tagen desinficirten Wagen, den Car- 
bolgeruch anziehen. 

II. Epidemien. 

Zur Verhinderung der Verschleppung contagiöser Krankheiten auf dem 
Wege des Eisenbahnverkehrs durch das reisende Publicum, sowie die von 
diesem benutzten Transportmittel, sind behördlicherseits Anordnungen ge¬ 
troffen, durch welche es ermöglicht wird, den Fährten des einzelnen Krank¬ 
heitsfalles nachzugehen, um denselben für die Umgebung unschädlich zu 
machen, sowie den zur Beförderung benützten Waggon von der allfällig er¬ 
folgten Verunreinigung durch Ansteckungsstoffe wieder frei zu machen. Das 
reisende Publicum ist rücksichtlich des Verdachtes auf contagiöse Krankheiten 
durch das Zugbegleitungs-Personale überwacht und nach dem Verlassen der 
Eisenbahn der Anzeigepflicht der Aerzte überantwortet. In Epidemiezeiten 
wird dieser Ueberwachungsvorgang noch erweitert durch die allfällige 
Activirung einer sanitären Visitation an gewissen Einbruchsstationen. 

Die contagiösen Krankheiten, wegen welcher die Behörde in Oesterreich 
eine Desinfection vorschreibt, sind: 

1. Asiatische Cholera, 

2. Pocken, 

3. Diphtheritis, 

4. Fleck- und Rückfalltyphus, 

5. Darmtyphus, 

6. Epidemische Ruhr, 

7. Scharlach, 

8. Masern und Rötheln, 

9. Rothlauf und accidentelle Wundkrankheiten, 

10. Milzbrand und Rotzkrankheit, 

11. Wochenbettkrankheiten, 

12. Contagiöse Augenentzündung, 

13. Lungenschwindsucht und Keuchhusten. 

Aus diesem Krankheitsverzeichnisse werden: 

Cholera, Pocken, Dyphtherie, Scharlach und Flecktyphus wohl in den 
meisten Fällen des stattgehabten Eisenbahn-Transportes, insbesondere bei 
augenfälliger Schwere des Krankheitsfalles oder dessen allfälligem letalen 
Ausgange während des Transportes, zur behördlichen Kenntnis gebracht, 
worauf die Ausmittelung und Desinfection des benutzten Waggons, der be¬ 
treffenden Bahnverwaltung aufgetragen wird. 

Wochenbetterkrankungen dürften nur in seltenen Fällen zur Transpor¬ 
tirung gelangen, auch gelangen die Ansteckungsstoffe dieser Krankheit nicht 
leicht in Berührung mit Einrichtungsgegenständen des Waggons, wogegen 
die Aborte ohnedies regelmässig gereinigt werden müssen. Bei Ruhr, be¬ 
ginnendem Darmtyphus, Masern können sich die Passagiere der ärztlichen 
Controle leicht entziehen. 

Bei den anderen Krankheiten der Gruppe haften die Ansteckungsstoffe 
gewöhnlich nur an den unmittelbar benützten Gegenständen, daher eine 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 14 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


allgemeine Desinfection der Waggons nicht erforderlich erscheint Gegen 
Tnberculose, und namentlich die den Ansteckungsstoff bergenden Sputa ist 
blos die regelmässige feuchte Reinigung der Fussböden in Uebung. Eine, in 
jüngster Zeit von einer deutschen Eisenbahnverwaltung gebrachte Anregung — 
zur Anbringung von entsprechend eingerichteten Spucknäpfen, behufs isolirtem 
Auffangen der Auswurfstoffe, scheitert wohl an der technischen Schwierigkeit 
der Anbringungs- und Dislocirungsart solcher Behälter. 

Der Eingangs erwähnte Vorgang der erst über behördliche Anordnung 
einzuleitenden Recherchirung nach einem durch Infectionsstoffe verunreinigten 
Waggon, steht wohl von einem idealen Zustande noch weit ab; denn in¬ 
zwischen verstreichen immer mehrere Tage, während welcher der Wagen frei 
benutzt wird; auch gelingt die Ausmittelung des Wagens häufig nicht. 
Gelangt das Zugbegleitungs-Personale noch während der Fahrt zur Kenntnis 
eines mitfahrenden Infections-Krankheitsfalles, steht die Sache natürlich viel 
besser, da die Weiterbenützung des Coupe nicht mehr gestattet wird und 
über Anzeige an den Dienstesvorstand, sogleich die Desinficirung des Wagens 
eingeleitet werden kann. Ebenso ist in Bezug auf Choleraerkrankungen, wo 
zur Zeit einer Epidemie nicht nur eine verschärfte ärztliche Observanz 
eingreift, sondern auch die, wegen ihrer Provenienz krankheitsverdächtigen 
Passagiere von vorneherein in bestimmten Waggons untergebracht werden, 
und somit einer verschärften Beobachtung unterstellt sind, ein befriedigenderer 
Vorgang statuirt. 

Ueber das Desinfectionsverfahren bei ansteckenden Krank¬ 
heiten erfolgte nach den Anträgen des Obersten Sanitätsrathes, mit Erlass 
des k. k. Ministeriums des Innern vom 16. August 1887, Z. 20662 ex 1886 
eine Anleitung, welche den österreichischen Bahnverwaltungen bekannt¬ 
gegeben wurde. 

Ueber die Desinficirung von Personenwagen und Schiffs¬ 
räumen, welche von mit Infectionskrankheiten behafteten Personen benützt 
wurden, lautet die Vorschrift: 


Vorschrift 

über die 

Desinficirung von Personenwagen und Schiffsräumen, welche 
von mit Infectionskrankheiten behafteten Personen benützt 

wurden. 

(Vom k. k. Handelsministerium mit Erlass Z. 33514 ex 1888 genehmigt.) 

Wenn die Dienstvorstände durch die Anzeigen der Bahn-Aerzte oder auf irgend eine 
andere Art davon Kenntnis erhalten, dass mittelst der Eisenbahn Personen befördert 
wurden, welche mit einer der unten genannten Infectionskrankheiten behaftet sind, so sind 
nach beendeter Fahrt der Kranken die von ihnen benutzten Wagen abzusperren, zu plom- 
biren, und in der Regel möglichst bald in die hiezu bestimmten Werkstätten oder Heiz¬ 
häuser zu überführen, wo sie behufs Vornahme der Desinfection an einem vom Verkehre 
möglichst abseits gelegenen Orte abzustellen sind. 

A. Wenn die Kranken mit asiatischer Cholera, Blattern, Dyphtherie, Fleck- oder 
Rückfall-Typhus oder Scharlach behaftet sind, so müssen alle in jenen Räumen, in welchen 
sich die Kranken aufgehalten haben (Coupös, Gänge, Aborte u. dgl.) befindlichen Gegen¬ 
stände in folgender Weise desinficirt werden: 

1. Vor Allem 6ind etwa vorhandene Auswurfsstoffe der Kranken, wo immer sich 
dieselben vorfinden mögen, mit einer 5%igen Lösung reiner krystallisirter Carbolsäure 
sorgfältig wegzuwaschen. Diese Lösung wird in der Weise bereitet, dass vorerst die 
Flasche mit krystallisirter Carbolsäure so lange in heisses Wasser gestellt wird, bis diese 
flüssig wird, sodann wird ein Theil Carbolsäure in 19 Theilen warmen Wassers oder 250 g 
in 4*/ 4 Liter Wasser durch längeres Umrühren aufgelöst. 

Hiebei ist die Berührung der concentrirten Carbolsäure mit Theilen des mensch¬ 
lichen Körpers sorgfältig zu vermeiden, weil dieselbe ätzend wirkt. 

Die 6°/ 0 ige Lösung hat auf die Haut keine nachtheilige Wirkung. 

2. Alle in dem betreffenden Coupe oder Wagen befindlichen waschbaren Gegenstände 
(Schutztücher, Bettwäsche der Schlafwagen, eventuell vom Kranken stammende Wäsche etc.) 
sind innerhalb des Wagens in 5 c / 0 ige Carbolsäurelösung einzulegen, in dieser Lösung aus 


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dem Wagen zn schaffen, durch 12 Stunden in derselben liegen zu lassen, sodann auszu¬ 
kochen und auszuwaschen, wie es in der „Anleitung zum Desinfections-Verfahren bei an¬ 
steckenden Krankheiten“ vorgeschrieben ist. 

3. Alle Bestandtheile von Holz und Metall im Innern des Wagens, also die Sitze 
und Wände in den Wägen III. Classe, ferner in den Wägen I. und H. Classe, und in den 
Salonwagen alle Holzbestandtheile der Thüren, Fenster, Verkleidungen und Möbel, die 
Sitzbretter und Verkleidungen der Aborte, sowie auch Wachsleinwand, Wachstuch und 
Leder, womit die Wände, Lehnen und Sitze überzogen sind, müssen mit in ö°/ 0 ige Carbol- 
säure getauchten Lappen oder Schwämmen abgerieben, dann mit in Wasser genetzten und 
schliesslich mit trockenen Tüchern abgewischt werden. Die Abort-Trichter sind mit ö°/ 0 
Carbolsäurelösung wiederholt durchzuspülen. 

4. Sammt, Seide und Wollstoffe, womit die Wände, Lehnen, Sitze, Polster, Matratzen 
und Decken überzogen sind, oder welche als Vorhänge, oder für irgend welche andere 
Zwecke im Innern des Wagens sich befinden, sowie auch die Teppiche, sind, falls diese 
Gegenstände durch Auswurfsstoffe oder Krankheitsproducte nicht verunreinigt wurden, bei 
geschlossenen Thüren und Fenstern durch 3 aufeinanderfolgende Tage täglich einmal dem 
C&rbolspray auszusetzen. 

Der Carbolnebel wird aus 5°/ 0 Carbolsäurelösung, welche sowohl in den Kessel des 
Apparates, als auch in das vorgehängte Gefäas einzufüllen ist, erzeugt, und ist dessen 
Strahl auf die genannten Stoffe direct zu richten, so dass nach und nach alle Stellen der¬ 
selben dem Carbolnebel so lange ausgesetzt werden, bis auf den Stoffen die zerstäubte 
Lösung in Form kleiner Tröpfchen sichtbar wird. Am Schlüsse sind diese Stoffe mit tro¬ 
ckenen Wolllappen abzuwischen. 

ö. Wenn die sub 4 genannten Gegenstände durch Auswurfstoffe oder Krankheits¬ 
producte verunreinigt wurden, so sind dieselben, wenn sie aus dem Wagen entfernt 
werden können, unter den in der „Cholera-Instruction“ und in der „Anleitung zum Des¬ 
infections-Verfahren“ vorgeschriebenen Vorsichtsmassregeln aus dem Wagen zu schaffen 
und ausserhalb desselben in einem verlässlichen Dampf-Desinfectionakasten zu desinficiren. 

Verunreinigte Stoffe, die an den Wänden oder festgemachten gepolsterten Lehnen 
oder an mit Federn versehenen Sitzpölstern angebracht sind, müssen abgetrennt und eben¬ 
falls mit Wasserdampf desinficirt werden. 

Die darunter befindliche, im Wagen zurackbleibende Polsterung ist (wie sub 4) dem 
Carbolspray auszusetzen. Zeigt auch diese Spuren von Verunreinigung, so ist sie ebenfalls 
zu entfernen und das Polsterungs-Material mit Dampf zu desinficiren, oder, falls dieses 
werthlos ist, unter Aufsicht zu verbrennen. Wurden Pölster verunreinigt, welche theils mit 
Leder, theils mit anderen Stoffen überzogen sind, so sind sie zu zertrennen und die ein¬ 
zelnen Bestandtheile gesondert zu desinficiren, wie es sub 3 und 5 angegeben ist. 

6. Die Fussböden oder die auf denselben festgemachte Wachsleinwand sind mit 
5°/#ig er Carbolsäure gründlich aufzuwaschen. 

7. Zum Abreiben der Sitze und Wände in den Wägen III. Classe ist ebenfalls 6%ige 
Carbolsäurelösung zu verwenden. 

8. Die zur Uebertragung von mit Infectionskrankheiten behafteten Personen benütz¬ 
ten Tragbahren sind stets auf die bisher beschriebene Weise zu desinficiren. 

9. Die Personen, welche die Desinfection vorzunehmen haben, sind auf die, rück¬ 
sichtlich ihrer eigenen Person erforderlichen Vorsichtsmassregeln aufmerksam zu machen, 
welche in der „Anleitung zum Desinfections-Verfahren“ für die Krankenwärter angegeben 
sind, und müssen dieselben zu dieser Arbeit mit eigens für diesen Zweck bestimmten 
Ueberkleidem, u. zw. je einem langen Ueberrocke mit Kapuze mit doppelter Reihe von 
Knöpfen und langen Beinkleidern aus dicht gewebtem, waschbarem Stoffe versehen werden, 
welche nach beendeter Arbeit t mit 5°/ 0 igen Carbolsäurelösung oder mit Wasserdampf zu 
desinficiren und sodann auszuwaschen sind. Die zur Desinfection und Reinigung verwen¬ 
deten Lappen und Schwämme sind zu verbrennen. 

B. Wenn Kranke auf der Bahn befördert wurden, welche mit Masern, Keuchhusten, 
Danntyphus, epidemischer Ruhr, Rothlauf, ansteckenden Wundkrankheiten, Wochenbett- 
Krankheiten, contagiöser Augenentzündung, Milzbrand, Rotzkrankheit oder Tollwuth be¬ 
haftet sind, so sind unter allen Umständen alle jene Gegenstände in der oben angegebenen 
Weise zu desinficiren, welche mit dem Kranken in directer Berührung standen, und ins¬ 
besondere jene, welche von den Ausscheidungen desselben verunreinigt wurden, mithin 
einzelne von dem Kranken benützte oder beschmutzte Sitze, Pölster, Lehnen, Schutztücher, 
Teppiche und der betreffende Theil des Fussbodens. Ob in solchen Fällen auch alle übri¬ 
gen, in den benützten Räumen befindlichen Gegenstände zu desinficiren seien, hat von Fall 
zu Fall der Bahnarzt unter Berücksichtigung der speciellen Umstände und der bestehenden 
Desinfections-Vorschriften zu entscheiden. 

Die Aborte und benutzten Tragbahren sind auch bei den zuletzt genannten Krank¬ 
heiten stets zu desinficiren. 

Nachdem auf obige Weise die Desinfection der betreffenden Wägen oder einzelner 
Bäume derselben beendet ist, sind diese Wägen einer mehrtägigen Lüftung an einem vom 
Verkehre abgeschlossenen, luftigen Orte zu unterziehen, und dürfen bei den sub A ge- 

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nannten Krankheiten erst nach Verlauf von 8 Tagen, und bei sub B genannten Krankheiten 
nach 48stündiger Lüftung wieder verwendet werden. 

C. Die Besinfection solcher Wagen geschieht in den hiefür bestimmten Werkstätten 
oder Heizhäusern, in welchen folgende hiezu erforderlichen Gegenstände stets bereit zu 
halten sind: 

a) ein nach der vom k. k. Handelsministerium empfohlenen Type construirter Dampf- 
Desinfectionskasten sammt dazu gehörigem Thermometer; 

b) ein grosser Dampf-Spray-Apparat mit drehbarem Zerst&ubungs-Ansätze; 

c) eine entsprechende Anzahl der sub 9 erwähnten Ueberkleider, u. zw. 2 Anzüge 
für die in den Wägen beschäftigten, und 2 für die den Dampf-Desinfections-Kasten bedie¬ 
nenden Personen; 

d) Schwämme und Lappen zur Reinigung der Wagenbestandtheile und der Fuss- 
bekleidung der mit den Desinfections-Arbeiten beschäftigten Personen; 

e) ein genügender Vorrath von vorgeschriebenen Desinfectionsmitteln. 

Das Personal, welches zu dieser Arbeit verwendet werden soll, ist von den Dienst¬ 
vorständen über den Zweck und die in dieser Vorschrift enthaltenen Details des Desinfec- 
tions-Verfahrens genau zu unterrichten. 

Die Stationen, beziehungsweise Werkstätten oder Heizhäuser, in welchen die Des- 
infection solcher Wägen vorzunehmen ist, und der Bereich, aus welchem dieselben zu 
diesem Zwecke in die betreffenden Stationen zu dirigiren sind, werden jeweilig von der 
Bahnverwaltung bekannt gegeben. 

Mit dem Erlasse vom 7. März 1889, Z. 4271 an die Eisenbahnver¬ 
waltungen, betreffend die Desinfection der Einrichtungs-Gegenstände der 
Personenwägen mittelst eines Dampf-Desinfections-Apparates empfiehlt das 
k. k. Handelsministerium, im Anschlüsse an die *chon früher bekanntgegebene 
„Anleitung zum Desinfectionsverfahren bei ansteckenden Krankheiten“ die 
Verwendung eines Dampf-Desinfections-Kastens zur Vornahme der Desinfection 
der Teppiche, Vorhänge, sowie der zu den Ueberzügen der Polsterungen, 
Wände etc. verwendeten Stoffe. Mit diesem Apparate können auch die 
inficirten Effecten von Bahnbediensteten und ihrer Angehörigen desinficirt 
werden, da derselbe leicht zu transportiren ist. 

Die Vorschrift für die Handhabung des Apparates hat folgenden 
Wortlaut: 

Vorschrift 

für die 

Handhabung des Apparates zur Desinfection von Gegenständen 
aus den Personenwägen, von Kleidern, Papieren etc. mittelst 
Wasserdampfes, welcher einer Locomotive entnommen wird. 

§ 1. Der Dampf-Desinfectionskasten, dessen Anschaffung und Verwendung zur Des¬ 
infection von Einrichtungsgegenständen der Personenwagen, sowie für inficirte Effecten der 
Reisenden, der Bahnbediensteten und ihrer Angehörigen vom k. k. Handelsministerium mit 
dem Erlasse vom 7. März 1889, Z. 4271, den Bahn Verwaltungen empfohlen wurde, hat 
einen Fassungsraum von einem Cubikmeter, ist aus Holzwänden construirt, deren Innen¬ 
flächen mit Zinkblech luftdicht ausgekleidet sind, und besitzt zur Beschickung eine seitlich 
angebrachte Oeffnung, welche durch eine mit Chamieren befestigte Thüre oder durch einen 
abnehmbaren Deckel geschlossen werden kann. Im Innern des Kastens sind drei Gitter 
aus dreikantigen Holzstäben in gleichen Abständen übereinander angebracht, von welchen 
je nach dem Umfange der zu desinficirenden Gegenstände eines oder zwei entfernt werden 
können. 

An der der Öffnung gegenüberliegenden Wand ist aussen das Dampfeinleitungsrohr 
angebracht, an dessen oberem Ende der Verbindungsschlauch befestigt wird. Das untere 
Ende dieses Rohres mündet innen am Boden des Kastens mit mehreren Oeffnungen. In 
der Mitte der oberen Wand befindet sich eine kleine Oeffnung für den ausströmenden Dampf, 
und am Boden eine soche, um das Condensationswasser abfliessen zu lassen. 

Der Kasten ist mit vier beweglichen eisernen Handhaben versehen, mittelst welchen 
derselbe von vier Personen beliebig übertragen werden kann. 

§ 2. Die Ueberführung oder Uebertragung der inficirten Gegenstände zum Desinfec- 
tionskasten hat stets unter den Vorsichtsmassregeln zu geschehen, wie sie in der mit dem 
Erlasse des k. k. Ministeriums des Innern vom 16. August 1887, Z. 20662 ex 1886, be¬ 
kanntgegebenen Anleitung zum Desinfectionsverfahren bei ansteckenden Krankheiten, Punkt 
12 lit. c, 3. Absatz vorgeschrieben sind. 

§ 3. Behufs Vornahme der Desinfection der hiezu bestimmten Gegenstände wird der 
Kasten neben oder hinter eine geheitzte Locomotive so aufgestellt, dass die Beschickungs- 


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Öffnung frei zugänglich ist und mittelst eines elastischen Schlauches mit dem hiezu be¬ 
stimmten Dampfhanne der Locomotive verbunden. Hierauf werden die zu desinficirenden 
Gegenstände in den Kasten eingelegt, und zwar sind Vorhänge, von den Polsterungen ab¬ 
getrennte Stoffe, Kleider, Wäsche und andere kleinere Gegenstände in mehreren Abhei¬ 
lungen lose zusammen zu rollen oder in Bündel zu binden, und diese so in die Fächer 
neben und übereinander hineinzuschieben, dass die ganze Fläche der Holzgitter gleich- 
massig bedeckt ist, und der Dampf nicht durch grössere Räume zwischen und neben den 
Gegenständen hindurch streichen kann, ohne diese selbst zu durchdringen. Papiere, wie 
z. B. Acten, Documente, Werthpapiere etc. sind, wenn deren Desinficirung nothwendig er¬ 
scheint, lose geordnet oder leicht zusammengelegt, in ein eigenes zu diesem Zwecke dem 
Kasten beigegebenes kleines Holzgestell so einzulegen, dass die Papierflächen parallel zu 
den Seitenwänden des Kastens, also senkrecht auf dessen Bodenfläche zu stehen kommen, 
wodurch das Eindringen des Dampfes zwischen die Blätter erleichtert wird. Dieselben 
können allein oder auch gleichzeitig mit anderen Gegenständen desinficirt werden. 

§ 4. Papiere, werthvollere Stoffe und andere Gegenstände, welche durch Nasswerden 
Schaden leiden, sind stets in der Mitte des Kastens oder doch so unterzubringen, dass sie 
die Seiten wände und die obere Wand des Kastens nicht berühren, während die hiefür nicht 
empfindlichen Gegenstände, wenn solche gleichzeitig mit obigen desinficirt werden, längs 
der Seiten wände einzulegen und zum Zudecken der empfindlichen Gegenstände zu ver¬ 
wenden sind. 

Hiedurch werden letztere vor der Durchfeuchtung durch das. wenn auch in sehr 
kleiner Menge, an den Blechflächen sich bildende Condensationswasser bewahrt und kommen 
nach beendeter Desinfectfon in fast trockenem Zustande aus dem Kasten. Auch eine Be¬ 
schädigung der Papiere ist auf diese Weise nicht zu befürchten. 

§ 5. Wenn grössere Polster, Matratzen oder Teppiche desinficirt werden sollen, so 
ist das oberste und wenn nöthig, auch das mittlere Holzgitter heraus zu nehmen, und 
werden sodann diese Gegenstände so in den Kasten eingeschoben, dass sie dessen Raum 
möglichst gleichmässig ausfüllen. Das unterste Holzgitter, unter welchem behufs gleich- 
massiger Vertheilang des einströmenden Dampfes ein leerer Raum bleibt, darf nicht her¬ 
ausgenommen werden. 

§ 6. Sobald die zu desinficirenden Gegenstände in der beschriebenen Weise im Kasten 
untergebracht sind, wird behufs dichter Verschliessung der seitlichen Oeffnung die Thüre 
oder der Deckel mittelst der zu diesem Zwecke angebrachten Vorrichtungen fest an die 
Ränder der Oeffnung angepresst und hierauf mit der Dampfeinströmung unter einem Drucke 
von einer Atmosphäre begonnen. Die Temperatur des aus der Oeffnung in der oberen 
Wand des Kastens ausströmenden Dampfes muss sofort gemessen werden, indem das un¬ 
tere Ende eines in 120—130° Cels. eingetheilten Thermometers, wie sie in chemischen La¬ 
boratorien gebräuchlich sind, einige Centimeter tief in diese Oeffnung eingesenkt und mit 
der Hand oder einer Klemme in dieser Sellung so lange festgehalten wird, bis der aus¬ 
strömende Dampf eine Temperatur von 100° Cels. erreicht hat. Von diesem Augenblicke 
an gerechnet, muss das Einströmen des Dampfes in den Kasten noch durch 30 Minuten 
fortdauern. 

§ 7. Nach Ablauf dieser Zeit wird die Einströmung des Dampfes unterbrochen, der 
Kasten geöffnet und sind die Gegenstände, nachdem sie sich soweit abgekühlt haben, dass 
man sie angreifen kann, ohne sich zu verbrühen, aus demselben zu entfernen und behufs 
Trocknung an der Luft auszubreiten oder aufzuhängen. Dabei ist strenge darauf zu achten, 
dass die aesinficirten Gegenstände nicht mit solchen in Berührung kommen, welche noch 
nicht desinficirt wurden und nicht auf Flächen ausgebreitet werden, auf welchen vorher 
die inficirten Gegenstände lagen. Solche Flächen sind sofort nach Entfernung der inficirten 
Gegenstände von denselben mit 5°/ 0 iger Carbolsäurelösung zu übergiessen. Wenn nicht 
alle zu desinficirenden Gegenstände auf einmal im Dampfkasten untergebracht werden können, 
so ist dieser Vorgang nach Bedarf zu wiederholen. Mit der letzten Partie sind auch die Ueber- 
kleider der mit dieser Manipulation betrauten Leute in den Dampfkasten zu legen, und 
haben diese ihre Fassbekleidung sogleich mit 5°/ 0 iger Carbolsäurelösung abzuwaschen. 
Auch haben sich diese jedesmal, bevor sie die Gegenstände aus dem Dampfkasten nehmen, 
die Hände mit 5%iger Carbolsäurelösung zu reinigen. Schliesslich ist das am Boden des 
Kastens angesammelte Condensationswasser durch die daselbst angebrachte Oeffnung zu ent¬ 
leeren und der Kasten so lange offen stehen zu lassen, bis in seinem Innern alle Bestand- 
theile getrocknet sind. 

§ 8. Die ganze Procedur muss von einem vollständig verlässlichen Organe geleitet 
und überwacht werden, welches mit allen in dieser Instruction erwähnten Manipulationen, 
mit dem Inhalte der Vorschrift über die Desinficirung von Personenwagen, zu deren Hin¬ 
ausgabe die Bahnverwaltungen vom k. k. Handelsministerium mit dem Erlasse vom 19. 
Apnl 1889, Z. 33514 ex 1888, aufgefordert wurden, so wie auch mit der vom k. k. Mini¬ 
sterium des Innern bekannt gegebenen „ Anleitung zum Desinfectionsverf&hren bei anstecken¬ 
den Krankheiten“ vollkommen vertraut ist. 

Der am 11. December 1888 vom Vorstande des hygienischen Institutes der k. k. 
Universität Wien, Herrn Ober-Sanitätsrath Prof. Dr. Max Grub er mit dem Dampf- 
Desinfections-Apparate an Sporen des Milzbrand-Bacillus als den als widerstandsfähigsten 


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EISENBAHN-HYGIENE, 


unter den bekannten pathogenen Organismen geltenden, gemachte Versuch hatte einen 
vollen positiven Erfolg. Die Sporen waren an kurzen Seidenfädchen angetrocknet, je 
3—4 solcher Fädchen m Kapseln aus sterilisirten Filtrirpapier eingeschlossen. Durch be¬ 
sonderen Controlversuch wurde sichergestellt, dass die Sporen noch volle Keimfähigkeit 
und Virulenz besassen. 

Derartige Kapseln mit Sporenfäden wurden nun an verschiedenen Stellen des Des- 
infectionskastens untergebracht, darunter eine in 10 auf einander gelegte Coupö-Vorhänge 
sorgfältig eingerollt. 

Eine andere in das Innere einer Rolle gelagert, welche aus einer Anzahl von Fnss- 
teppichen, circa 60 cm lang und 20 cm dick gebildet war. Die in den verschiedenen Con- 
voluten angebrachten Signalpyrometer gaben nach 5 und der letzte nach 11 Minuten der 
Dampfeinströmung auf dem mit ihnen in Verbindung gestellten elektrischen Läutewerk das 
Zeichen, dass die Gegenstände im Desinfectionskasten auf 100° C erwärmt seien. 

Die Controlproben, in peptonisirte Fleichbrtihe ausgesäet, wurden am selben Nach¬ 
mittage begonnen und bei einer Aufbewahrung der Proben bei einer Temperatur von 36—37° 
durch 10 Tage fortgesetzt. Es kam in keiner von den 23 Proben zur Entwickelung von 
Milzbrandbacillen. Es ergibt sich somit, dass in allen Theilen des Apparates die erforder¬ 
liche Abtödtungs-Temperatur, somit das Ziel der Desinfection erreicht wurde; dass somit 
das ^ständige Einleiten von Dampf in allen Fällen, auch bei grösseren Objecten, voUe 
Desinfection verbürgt. 

Von allen epidemischen Krankheiten fordert in erster Linie die Cho¬ 
lera die umfassendsten Vorkehrungen. Denn während bei den anderen In- 
fections-Krankheiten der Befallene sich in der Regel zu sehr krank fühlt, um 
eine Reise anzutreten und diese allenfalls nur unternimmt, um Spitalspflege 
aufzusuchen, ist zu Zeiten einer Cholera-Epidemie gerade das Eintreten der 
ersten Anzeichen eines Unwohlseins erst das Motiv zum fluchtartigen Ent¬ 
weichen vor der Epidemie, zu einer Zeit wo der Fliehende eben selbst schon 
Infectionsträger geworden. 

Ferner ist es die grosse Zahl der Erkrankungen, die leichte und durch 
die mannigfaltigsten Zwischenträger erfolgende Uebertragbarkeit, das grosse 
Mortalitätspercent und die tief in die wirthschaftlichen Verhältnisse eingrei¬ 
fende Wirkung, welche diese Krankheit auszeichnet. Das k. k. Ministerium 
des Innern hat in Ansehung des Umstandes, dass zur Verhütung der Ein¬ 
schleppung, namentlich aber der Weiterverbreitung dieses gefürchteten Gastes, 
das, wenn auch tadellose Functioniren einer bestellten Sanitäts-Commission 
allein nicht hinreichend ist, befunden dass der Mithilfe des grossen Publicums 
nicht zu entrathen ist. 

Mittelst einer im Jahre 1892 in ihrem Aufträge verfassten Brochure 
ertheilt sie eine gemeinverständliche Belehrung über Cholera und Cholera¬ 
massnahmen. 

Gegen die Einschleppung von Auswärts, namentlich durch Hadern, ge¬ 
brauchte Leib- und Bettwäsche, alte Kleider, Obst, Gemüse und gewisse 
Nahrungs- und Genussmittel ist der Transport aus Choleragegenden verboten. 
An den Grenzstationen wird eine sanitäre Grenzrevision der Rei¬ 
senden etablirt. Durch diese kann allerdings die Weiterfahrt von Passagieren, 
die bei Abgang verdächtiger Krankheitserscheinungen, dennoch schon inficirt 
sein können, nicht behindert werden. Auch die in früherer Zeit geübte Er¬ 
richtung von Contumazanstalten an den Grenzen, in welchen Reisende längere 
Zeit beobachtet wurden, haben nicht nur nicht den Zweck erfüllt, sondern 
durch die künstliche Anhäufung der Menschen, welche unter unzulänglichen, 
ungewohnten Verhältnissen verweilen mussten, war gerade Gelegenheit zum 
Ausbruche der Epidemie gegeben. Man ist daher von Contumazanstalten ab¬ 
gegangen. 

Die Massregel der sanitären Grenzrevision wird jetzt durch die strenge 
Anordnung der Fremdenpolizei ergänzt. Ankömmlinge aus Cholera¬ 
gegenden müssen von den sie Beherbergenden sofort angemeldet werden, und 
werden durch 5 Tage unter ärztliche Ueberwachung ihres Gesundheits-Zu¬ 
standes gestellt, während welcher Zeit jedes verdächtige Unwohlsein sofort 
anzuzeigen ist. Die Reinhaltung und Desinfection der Aborte auf Bahnhöfen, 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


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in Hotels und Fremdenherbergen, sowie die Abgabe von schmutziger Wäsche 
werden strengstens überwacht. Zu diesen Massnahmen ist die einsichtsvolle, 
gewissenhafte Mitwirkung der Bevölkerung, in Bezug auf Anmeldung und 
Beobachtung der Fremden, von Erkrankungen etc. unerlässlich nothwendig. 

Auf der rechtzeitigen Anzeige des ersten Falles oder der ersten Fälle, 
auf der sofortigen Durchführung der zweckdienlichen Isolir- und Desinfections- 
Massregeln basirt die Möglichkeit der Hintanhaltung der Verbreitung der 
Epidemie. 

Rechtzeitige Anzeigen jedes Cholerafalles, sofortige Isolirung der infi- 
cirten Ubicationen, durchgreifende Desinfection aller inficirten Objecte, um¬ 
fassen die ganze Summe unmittelbarer Hilfsmittel, welche Epidemien ver¬ 
hindern lassen. Nahrungs- und Genuss-Mittel, gebrauchte Kleider und Wäsche, 
Hadern und Abfälle dürfen aus der inficirten Localität nicht frei nach aussen 
gelangen. 

Der Flucht vor der Cholera, welche das schimmste Mittel zur Cholera¬ 
verbreitung ist, und oft zu Erkrankungen der Flüchtlinge auf der Reise, unter 
den ungünstigsten Verhältnissen führt, ist durch entsprechende moralische 
Einwirkung und gewissenhafte Handhabung eines exacten Sanitätsdienstes, der 
das meiste Vertrauen einflösst, entgegenzuwirken. 

Sehr wichtig und zur Verhinderung der Epidemie unerlässlich ist die 
allgemeine Herstellung sanitätsgemässer Verhältnisse in den Gemeinden und 
eine richtige Lebensführung des Einzelnen. 

Den politischen Landesbehörden zur Damachachtung wurde die über 
Veranlassung des k. k. Ministerium des Innern durch den Obersten Sanitäts¬ 
rath verfasste Cholera-Instruction vom 5. August 1886, Z. 14067 bekannt ge¬ 
geben. Diese wurde auch den Eisenbahnverwaltungen mitgetheilt. 

Nach einer Einleitung über Wesen und Uebertragbarkeit der Krankheit 
folgen die „Vorkehrungen gegen die Einschleppung der Cholera zu Lande 
über die Reichsgrenze“ (Separat-Beilage zum „Das österreichische Sanitäts¬ 
wesen“ von 1890, Nr. 29). 

Ueber das Verhalten der Eisenbahn-Verwaltungen beim Vor¬ 
kommen von Cholera-Erkrankungs- und Todesfällen hat das k. k. Handels- 
Ministerium mit Erlass vom 2. August 1886, Nr. 28856 bestimmte Normen 
statuirt. Sie sind in dem Erlasse desselben Ministerium Z. 48967 vom 
19. September 1893 mit enthalten. Dieser letztere Erlass führt den Titel 
„Grundsätze für die Einrichtung des Eisenbahnverkehrs in Cholera-Zeiten,“ 
und enthält in erschöpfender Weise alle Directiven für die Bahnverwaltungen 
und das Zugbegleitungs-Personale. 

Es werden die Stationen, in denen Cholerakranke oder dieser Erkrankung verdäch¬ 
tige Reisende auswaggonirt und in die Spitalspflege ubergeben werden können, mit Ge¬ 
nehmigung des Ministeriums des Innern von den politischen Landesbehörden festgesetzt und 
im Wege des k. k. Handelsministerium den Eisenbahnverwaltungen mitgetheilt. 

In diesen als s Krankenabgabsstationen“ bezeichneten Stationen ist von der Eisenbahn- 
Verwaltung für die Bereitstellung der erforderlichen Räumlichkeiten zur vorläufigen 
isolirten Unterbringung von auf der Eisenbahn Erkrankten, bis zu ihrer Aufnahme 
in eine Krankenanstalt vorzusorgen. Zur Isolirung solcher Kranken dürfen Loyalitäten in 
den Verkehrsräumen der Personen-Aufhahmsgebäude der Eisenbahnstationen nicht heran¬ 
gezogen werden. 

Fehlt es an einem besonderen Isolirlocale, ist ein Sanitätswagen, bezw. ein als solcher 
eingerichteter, im Winter beheizbarer Güterwagen bereit zu halten. Im Nothfalle ist der 
Kranke bis zur Abholung in dem auszurangirenden, auf ein Nebengeleise zu stellenden 
Wagen, in welchem er befördert worden ist, zu belassen. 

Ausser den Krankenabgabsstationen werden den Eisenbahn-Verwaltungen auch jene 
Stationen bekannt gegeben, auf welchen Aerzte sofort erreichbar und zur Verfügung sind. 
Die Berufung dieser Aerzte hat schon von einer früheren Station aus rechtzeitig zu 
erfolgen. 

Bei Annäherung der Cholera an die Reichsgrenze werden auf bestimmten Zollrevi¬ 
sions-Stationen Aerzte bei der Ankunft der Züge ständig anwesend sein, um die aus dem 
inficirten Lande ankommenden Reisenden hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes zu über- 


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EISENBAHN-HYGIENE. 


wachen. Diese Aerzte treffen die Eni Scheidung über die allfällige Nothwendigkeit der 
Desinfection schmutziger Wäsche, getragener Kleidungsstücke and anderer beschmatzter 
Gegenstände. 

Nach Nothwendigkeit wird von der obersten Sanitätsbehörde aach im Innern des 
Landes in gewissen Eisenbahnstationen diese sanitäre Revision angeordnet, worüber den 
Eisenbahnverwaltungen besondere Mittheilnng zugeht. 

Die Conducteure haben während der Fahrt dem Gesundheitszustände der Reisenden, 
namentlich der aus Cholaragegenden kommenden, besondere Aufmerksamkeit zu widmen, 
und dem Zugsführer von etwaigen Verdacht erweckenden Wahrnehmungen Meldung zu 
machen. Der Erkrankte ist sofort zu isoliren. 

Sollte dies während der Fahrt nicht anders möglich sein, so ist der Zug zum Still¬ 
stehen zu bringen, um die Mitreisenden aus dem betreffenden Coupe, eventuell Waggon 
entfernen zu können. Der Kranke selbst sammt seinen Effecten ist in der nächsten Kran¬ 
kenabgabsstation abzusetzen und dem Stationsvorstande zu übergeben. Die zur sanitäts- 

E olizeilichen Intervention berufene Gemeindebehörde wird schleunigst in Kenntnis gesetzt. 

•er Kranke ist im Isolirlocale so lange zurückzubehalten, bis dessen Untersuchung durch 
den Arzt erfolgt ist. Von dem Ausspruche des Arztes hängt es ab, ob der Kranke in das 
Choleraspital zu überführen ist, oder ob demselben die Fortsetzung der Reise in einem 
separaten Coupe gestattet werden kann. Im letzteren Falle ist die Zielstation des Passagiers, 
welche die sanitätspolizeiliche Intervention der Gemeindebehörde anzurufen bat, telegra¬ 
phisch zu avisiren. 

Bei der Ankunft auf der Krankenabgabsstation sind diejenigen Personen, welche 
sich mit dem Kranken in derselben Wagenabtheilung befanden haben, sowie das Zugbe¬ 
gleitungspersonale, welches mit dem Kranken in Berührung war, der sanitätspolizeilichen 
Untersuchung und Desinfection zu unterziehen, und ist wegen der weiteren fünftägigen 
Observation das Erforderliche zu veranlassen. 

Der Wagen, in welchem sich ein Cholerakranker befanden hat, ist sofort ausser 
Dienst zu stellen, und der nächsten geeigneten Station zur Desinfection zu übergeben. Der 
Boden zwischen den Geleisen ist bei erfolgter Verunreinigung durch wiederholtes Ueber- 
giessen mit Kalkmilch zu desinficiren. Peinlichste Reinhaltung aller Bedürfnisanstalten. 

Die in Punkt 1 dieser „Grundsätze“ ins Auge gefasste Festsetzung der 
Eisenbahnstationen, in denen Cholerakranke oder dieser Erkrankung verdäch¬ 
tige Reisende auswaggonirt, und in die Spitalspflege übergeben werden können,“ 
erfolgte mit separatem Verzeichnisse, geordnet nach den einzelnen Bahnver¬ 
waltungen, mit Angabe der Gattung des Spitals, dessen Bettenanzahl, der Anzahl 
der zur Verfügung stehenden Aerzte, Apotheken und Desinfectionsapparate. 

Die massgebenden Gesichtspunkte waren, dass ein Cholerakranker oder 
verdächtiger Reisender so rasch als möglich von den Mitreisenden abgesondert 
werde, dass anderenteils für die entsprechende Pflege des Erkrankten die 
nöthigen Bedingungen vorfindlich seien. Im Heimatsgesetze ist wohl für alle 
Gemeinden die Verpflichtung begründet, Reisende, welche wegen Cholera¬ 
erkrankung von der Fortsetzung der Fahrt ausgeschlossen werden müssen, 
zur weiteren Pflege zu übernehmen; und hat auch über behördliche Erinnerung 
eine Reihe von Gemeinden theils isolirte Abtheilungen bestehender Spitäler 
zur Aufnahme von Cholerakranken eingerichtet, theils eigene Nothlocalitäten 
für diesen Zweck hergestellt. 

In der Praxis stellte sich jedoch heraus, dass nicht jede Gemeinde, in 
deren Gebiet sich eine Eisenbahnstation befindet, zur Abgabe von cholera¬ 
kranken Eisenbahnreisenden geeignet ist, sei es, weil das Isolirlocale derselben 
von der Eisenbahnstation allzu weit abliegt, und aus dem hiedurch bedingten 
langen Transporte des Kranken, Gefahren für diesen oder Gefahren für Ver¬ 
breitung der Ansteckungs-Stoffe hervorgerufen werden; sei es, dass in der 
betreffenden Gemeinde ärztliche Hilfe zu schwer zu beschaffen ist, sei es, 
dass andere Gründe die Gemeinde als Krankenabgabsstation ungeeignet er¬ 
scheinen lassen. 

Es wurden daher unter Berücksichtigung dieser Umstände nur gewisse 
Eisenbahnstationen für die Abgabe von Cholerakranken in Spitalspflege in 
Aussicht genommen, und zwar solche, in denen die nothwendigen Voraus¬ 
setzungen vorhanden waren. Es wurde auch auf eine, den gegebenen Ver¬ 
hältnissen entsprechende Vertheilung dieser Abgabestationen Rücksicht ge¬ 
nommen. jos. STÖHR. 


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ERBLICHKEIT. 


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Erblichkeit. Mit Erblichkeit oder Vererbung bezeichnen wir 
die Fähigkeit lebender Wesen auf ihre Nachkommenschaft nicht nur den 
allgemeinen Typus ihrer Art und Rasse, sondern neben diesem auch ganz 
specielle individuelle Eigenthiimlichkeiten zu übertragen, zu „vererben.“ 

Diese für die Erhaltung des Individuums und seiner Art so äusserst 
zweckmässige Thatsache wurde zuerst von Charles Darwin richtig aufgefasst 
und auf ein Naturgesetz, das Gesetz der Vererbung zurückgeführt, nach 
welchem in der Nachkommenschaft alle Eigenschaften des Erzeugers sich bis 
in die kleinsten Details, jedoch mit einer gewissen quantitativen Schwan¬ 
kungsbreite wiederholen. Jede durch diese Schwankungen zufällig bei einem 
Individuum hervorgerufene Variation der Körperform oder der Arbeitsleistung 
gibt gewissermassen einen neuen Mittelpunkt für die Schwankungsbreite der 
Nachkommenschaft dieses Individuums. In jeder neuen Generation werden 
nun gewisse Eigenschaften ihren Besitzern Vortheile für die Erhaltung oder 
Fortpflanzung der Art, andere wieder Nachtheile bringen, so dass jede vor- 
theilhafte Variation mehr Aussicht hat auf eine grosse Zahl von Individuen 
vererbt zu werden, und nach dem gleichen Princip sich durch die Verschie¬ 
bung des Schwankungsmittelpunktes weiter zu entwickeln. 

Wir müssen zwei Arten von Erblichkeit unterscheiden, die erhaltende 
oder conservative Erblichkeit und die fortschreitende oder 
progressive Erblichkeit. 

Die erstere haben wir vor uns, wenn ein Organismus auf seine Nach¬ 
kommen die selbst ererbten, die letztere, wenn ein Organismus die 
selbständig erworbenen Eigenschaften vererbt. Wenn nur die erste 
Art der Erblichkeit bestände und immer bestanden hätte, so müsste ein Or¬ 
ganismus vollkommen jedem anderen gleichen; aber diese alles gleichmachende 
Art der Erblichkeit wird modificirt durch die Wirkung der progressiven Erb¬ 
lichkeit, welche im Laufe der Zeiten zu der jetzt bestehenden Mannigfaltigkeit 
der Lebewesen geführt hat. Vermöge der erhaltenden Erblichkeit vererben 
die Organismen ihre Eigenschaften entweder sofort auf die nächste Generation, 
also auf ihre Kinder, wir sprechen dann von einer ununterbrochenen 
Vererbung, oder erst nach Ueberspringung einer oder mehrerer Generationen 
auf spätere Nachkommen, und zwar entweder in gesetzmässigem Wechsel bei 
bestimmten Generationen auftretend, oder nur gelegentlich in scheinbar will • 
kührlicher Weise bald bei einem, bald bei mehreren Nachkommen der einen 
oder anderen Generation auftauchend, eine Art der conservativen Erblichkeit, 
die wir unterbrochen oder latent nennen. Wir bezeichnen diesen Rück¬ 
schlag eines Individuum auf seine Vorfahren als Atavismus und können 
denselben z. B. sehr oft bei Hausthieren beobachten, die in den Zustand der 
Verwilderung übergetreten sind. Sie gehen dann wieder in die ursprüngliche 
wilde Stammform Uber, aus welcher sie im Verlaufe vieler Generationen in 
den verschiedensten Varietäten zu Hausthieren gezüchtet waren. 

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Wesen der Erblichkeit zu 
erklären, eine Beantwortung der Frage zu geben »wie wird vererbt?“ Alle 
Erklärungen aber, die hierüber abgegeben sind, beruhen nicht auf Thatsachen, 
sondern auf subjectiven Urtheilen, sind nur Hypothesen, die zum grössten 
Theil auf recht schwachen Füssen stehen. Einer wirklichen Kenntnis der 
physiologischen Gesetze, nach welchen die Vererbung vor sich geht, kann sich 
bisher noch niemand rühmen. 

Leichter lässt sich die Frage beantworten „wer vererbt“, nämlich 
dahin, dass beide Eltern wohl in gleicher Weise die Fähigkeit haben, phy¬ 
siologische oder pathologische Eigenschaften auf die Nachkommen zu über¬ 
tragen. Ob Vater oder Mutter leichter z. B. Krankheiten vererben, ist voll¬ 
kommen unentschieden. Erhöht ist die Möglichkeit für die Nachkommen, 
irgend eine Krankheit von den Eltern zu erben, natürlich in bedeutendem 


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ERBLICHKEIT. 


Masse dann, wenn beide Eltern an dieser Krankheit, oder an derselben Dis¬ 
position zu einer Krankheit leiden. Hierin liegt auch die Hauptgefährlichkeit 
consanguiner Ehen, weil bei Gatten aus derselben Familie die Möglichkeit 
leichter gegeben ist, dass eine in dieser Familie herrschende Krankheits¬ 
disposition sich bei beiden Gatten vorfindet, und infolge dessen beim Sprössling 
eine Steigerung der krankhaften Disposition eintritt. 

Wer also eine erbliche Anlage zu einer Krankheit besitzt, sollte unter 
keinen Umständen eine Person heirathen, die dieselbe Anlage besitzt, sondern 
eine solche, die von möglichst entgegengesetzter Constitution ist. Es kann 
dann bei der Bildung des Embryo durch das Uebergewicht von einer Seite 
her der Einfluss der anderen aulgehoben werden. 

Aus diesem Grunde ist eine vernünftige geschlechtliche Auslese und 
Kreuzung verschiedener Stämme das beste Mittel, um einer Entartung der 
Geschlechter vorzubeugen, wie sie sich bei fortgesetzter Inzucht in der Form 
von bis zum Extrem ausgebildeten Familienzügen oder Familienübeln, Familien¬ 
krankheiten zeigen. Bekannt ist ja der durch fortgesetzte Inzucht beförderte 
Kretinismus und die Idiotie. 

Die praktisch wichtigste und auch am leichtesten zu beantwortende 
Frage ist die „was wird vererbt?“ Hierauf ist zu antworten: 1. physiolo¬ 
gische Eigenschaften und zwar sowohl auf körperlichem, als auch 
auf geistigem Gebiet, und 2. pathologische Eigenschaften auf 
körperlichem und geistigem Gebiet. 

So vererben sich gewisse Eigentümlichkeiten des Körpers, wie Grösse 
und Form einzelner Körperteile, Farbe der Haare, der Augen; es vererben 
sich auf geistigem Gebiet gewisse Fähigkeiten und Talente, oft eine besimmte 
Vorliebe für Künste und Wissenschaften, oder speciell für irgend eine Kunst, 
irgend eine bestimmte Wissenschaft u. s. w. 

Am wichtigsten und interessantesten für Aerzte ist aber die Erblich¬ 
keit pathologischer Eigenschaften, d. h. die Erblichkeit von 
Krankheiten, seien sie nun körperlicher oder geistiger Natur. 

Handelt es sich dabei um eine Vererbung der Krankheiten selbst, 
oder um die Vererbung der Disposition zur Krankheit, d. h. einer 
besonderen Empfänglichkeit für dieselbe? 

Beides ist der Fall. Von der grossen Zahl der erblichen Krankheiten, 
•wie Tuberculose, Syphilis, Gicht, Diabetes, Haemophilie, Carcinom, Fettlei¬ 
bigkeit, Epilepsie, Hysterie, Hypochondrie, Kretinismus, Geisteskrankheiten 
u. s. w. können wir manche als Beispiele für die directe Vererbung der 
Krankheit selbst anführen, andere wieder als Beispiele für die Vererbung 
einer gewissen Disposition für diese Krankheit; eine Mittelstellung nimmt dabei 
wohl die Tuberculose ein. 

Als Beispiel für die erste Art der Vererbung ist die Syphilis zu 
nennen, die entweder am neugeborenen Sprössling schon vorhanden, oder 
auch vorläufig latent sein kann, um erst später manifest zu werden, ferner 
die Haemophilie, Epilepsie, Kretinismus. Es wird hier die Krank¬ 
heit selbst als solche von den Eltern auf die Kinder übertragen, vererbt. Als 
Beispiele für die zweite Art der Vererbung sind zu nennen Diabetes, Fett¬ 
leibigkeit, Carcinom, Hysterie, Geisteskrankheiten u. s. w. 
Hier wird das Kind nicht krank geboren, sondern es bringt nur eine beson¬ 
dere Empfänglichkeit für die Krankheit, die Disposition zu der¬ 
selben mit. Es ist dann das betreffende Organ als ein locus minoris 
resistentiae anzusehen, welcher den Anforderungen, die an ein normales 
Organ gestellt werden, nicht voll entspricht und den Angriffen und Schädlich¬ 
keiten, denen alle unsere Organe im Leben mehr oder weniger ausgesetzt 
sind, nicht widerstehen kann. Es erkrankt dann das jahrelang anscheinend 
gesunde Kind nach gewisser Zeit, und zwar oft in dem Alter, in welchem 
Vater oder Mutter von der Krankheit befallen wurde. 


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ERNÄHRUNG. 


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Die Tuberculose nimmt — wie schon gesagt — eine vermittelnde 
Stellung ein. Bei dieser Krankheit können wir beide Arten der Vererbung 
beobachten. .* 

Es kann das Kind tnberculöser Eltern mit den Erscheinungen dieser 
Krankheit behaftet geboren werden, oder dieselben wenigstens bald nach der 
Geburt aufweisen, es kann dasselbe aber auch jahrelang gesund bleiben und 
nach geraumer Zeit erst erkranken. 

Unter Umständen können zu einer Krankheit disponirte, erblich belastete 
Kinder von der betreffenden Krankheit befreit bleiben, wenn von vornherein 
gegen diese Disposition in zweckmässiger Weise angekämpft wird. 

Als Disposition bezeichnet man im Allgemeinen eine Eigenthüm- 
lichkeit des menschlichen Organismus, vermöge deren er zu gewissen Er¬ 
krankungen mehr geneigt ist, eine grössere Empfänglichkeit für dieselben 
besitzt. Man kann also gewissennassen die Disposition zu einer Krankheit 
die entferntere Ursache derselben nennen, wozu nun noch, um einen 
Krankheitsausbruch zu bewirken, die eigentliche veranlassende Ursache 
kommen muss. Man kann von einer allgemeinen Krankheitsdisposi- 
tion sprechen, wenn eine Neigung des Körpers überhaupt zu Erkrankungen 
vorhanden ist, wenn schädigende Einflüsse leichter als bei anderen Menschen 
eine Krankheit veranlassen; und von einer speciellen Krankheitsdispo¬ 
sition, wenn bei im Allgemeinen kräftigen widerstandsfähigen Menschen eine 
besondere Anlage, eine besondere Empfindlichkeit gewissen bestimmten Krank¬ 
heiten gegenüber besteht. 

Das Wesen der Disposition genau anzugeben ist in den meisten Fällen 
nicht möglich, abgesehen von den Fällen, in denen sich — wie bei der Phthisis 
pulmonum — der Disponirte schon äusserlich durch seinen Körperbau ver- 
räth. Die Disposition kann übrigens, z. B. wie die eben genannte zur Lungen- 
tuberculose, ererbt, oder erworben durch schädliche Gewohnheiten und 
ungünstige Lebensverhältnisse sein. 

In beiden Fällen lässt sich aber die Disposition — wie schon oben er¬ 
wähnt — durch geeignete diätetische Massregeln und durch eine abhärtende 
Lebensweise zum Verschwinden bringen, und so der Ausbruch einer Krankheit 
verhüten. 

Die Hauptmittel der Abhärtung, d. h. der Gewöhnung des Menschen an 
äussere, für den schwachen Organismus schädliche Einwirkungen, Anstrengungen 
und Entbehrungen sind auf geistigem Gebiet Erziehung resp. Selbsterziehung 
des Menschen zu Charakterstärke, Standhaftigkeit in misslichen Lagen und 
Beherrschung der Leidenschaften ; auf körperlichem Gebiet kalte, frische, reine 
Luft, besonders Morgenluft und Winterluft, kaltes Wasser, als kalte Waschun¬ 
gen, Douchen, Fluss- und Seebäder, leichte Kleidung, kühles und hartes Nacht¬ 
lager, einfache Kost und tüchtige Körperbewegung. 

Durch alle diese Massnahmen kann man den Körper erblich belasteter 
Individuen so kräftigen und widerstandsfähig machen, dass die in ihm vor¬ 
handene Disposition zu gewissen Krankheiten erlischt, und der Organismus 
den Angriffen der eigentlichen veranlassenden Krankheitsursache nicht 
unterliegt. a. dräer. 

Ernährung. Ernährung ist die Erhaltung des Körpers und seiner 
Functionen durch ständige regelmässige Zufuhr von Nahrungsmitteln, 
welche einen Ersatz für die von dem Körper stetig verbrauchten Stoffe, aus 
denen er selbst aufgebaut ist, liefern sollen. Die Stoffe, aus denen der Körper 
aufgebaut ist, und welche einem ständigen gesetzmässigen Verbrauch unter¬ 
liegen, sind EiweissStoffe, Fette, Kohlehydrate, Wasser und Salze. 
Diese Stoffe müssen daher in jeder ausreichenden Nahrung enthalten sein. 
Dazu kommen noch sog. Genussmittel, wie die Gewürze, Thee, Kaffee, 


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ERNÄHRUNG. 


Alkoholica, Tabak u. s. w., deren Bedentnng darin liegt, dass sie einmal durch 
ihren angenehmen Geschmack zur Aufnahme der Nahrung anregen, da eine 
geschmacklose Nahrung gar nicht, oder nur mit Widerwillen genommen wird; 
dass sie ferner durch gewisse reizende Eigenschaften besonders geeignet sind, 
reflectorisch die Absonderung der Verdauungssäfte anzuregen; und dass sie 
schliesslich als Reizmittel eine die Nerven belebende und die Energie stei¬ 
gernde Wirkung auf den Organismus ausüben und auch gelegentlich die Em¬ 
pfindung ungenügender Ernährung verdecken. (Vergl. Artikel „Genussmittel“). 

Ueber die Bedeutung der einzelnen Nahrungsstoffe ist kurz folgendes 
zu sagen. 

1. Die Eiweisstoffe: Fleischfresser lassen sich durch blosse Eiweiss- 
zufubr, z. B. ausgelaugtes Fleischpulver mit Wasser, am Leben erhalten und 
zwar ist die Stickstoffausscheidung um so grösser, je grösser die täglich zu- 
geführte Eiweissmenge ist; der Eiweissverbrauch ist also von der Eiweiss¬ 
zufuhr abhängig. Wird eine bestimmte Eiweisskost längere Zeit unterhalten, 
so setzt sich der Organismus nach einiger Zeit mit derselben ins Gleich¬ 
gewicht, so dass Einnahme und Ausgabe von Stickstoff sich gleich sind. Nur 
durch besondere, die Zerlegung des Eiweiss beeinflussende Momente, z. B. 
Fieber, psychische Erregung etc. kommt es zu rascherem und stärkerem Ei¬ 
weissverlust. 

Das im Körper zerstörte Eiweiss muss in voller Menge wieder durch 
Eiweiss ersetzt werden, da nur bei normalem Eiweissgehalt der Organe die 
Functionen derselben sich in richtigen Grenzen halten. Eine Bildung von 
Eiweiss aus andeien Nahrungsstoffen vermag der Körper nicht zu leisten, 
doch sind die verschiedenen Eiweisskörper, gleichviel ob sie sich in thierischen 
oder pflanzlichen Nahrungsmitteln finden, gleichmässig im Stande das im Körper 
verbrauchte Eiweiss zu ersetzen. 

Ausser den echten Eiweissstoffen kommen in der Nahrung noch ver¬ 
schiedene stickstoffhaltige Stoffe vor, welche den Eiweissstoffen gegenüber nicht 
vollwerthig sind, also auch keinen vollen Ersatz für verbrauchtes Eiweiss 
geben können und doch einen gewissen Werth bei der Ernährung beanspruchen. 
Es sind das die leimgebenden Stoffe, wie Glutin, Collagen, Chondrin 
u. s. w. Dieselben können zwar nicht das Eiweiss voll ersetzen, üben aber 
eine eiweisssparende Wirkung aus, und zwar so, dass nach Vorr etwa 100 p 
Leim ca 36 p Eiweiss vor dem Zerfall schützen. 

2. Die Fette: Die Leistungen des Fettes bei seiner Zerlegung im Or¬ 
ganismus sind Wärmeerzeugung und Verringerung des Eiweiss¬ 
zerfalles. Die letztere Eiweiss ersparende Wirkung tritt allerdings nur dann 
ein, wenn neben der Fettzufuhr ausreichende Eiweisszufuhr vorhanden ist. 
Es schützt also auch reichliche Fettzufuhr neben Kohlehydraten ohne Eiweiss¬ 
zufuhr nicht vor dem Verhungern. Das Fett wird im Körper relativ schwer, 
und nur in geringen Mengen zerlegt, bei grösserer Zufuhr wird der Ueber- 
schuss an bestimmten Orten abgelagert. Eine vermehrte Fettzufuhr hat also 
keinen den Umsatz fördernden Einfluss. Dagegen wird bei Muskelarbeit be¬ 
deutend mehr Fett zerstört, als in der Ruhe. 

Von Wichtigkeit ist die schon erwähnte Eigenschaft des Fettes, den 
Eiweisszerfall zu verringern, in Fällen, wo die Nahrungszufuhr zum Körper 
wegen Krankheit stark vermindert ist, oder ganz unterbleibt. Hier wird, wie 
überhaupt beim Hungern das abgelagerte Fett angegriffen, allmählig verbraucht 
und so der Zersetzung der Eiweissstoffe des Körpers bedeutend entgegen¬ 
gearbeitet. 

Der Ersatz des im Körper verbrauchten Fettes findet in der Regel auch 
wieder durch Fette der thierischen oder pflanzlichen Nahrungsmittel statt; 
doch kann unter gewissen Umständen im Körper auch Fett aus Eiweiss resp. 
aus Kohlehydraten gebildet werden, und zwar in beiden Fällen dann, wenn 
sehr reichliche Mengen von Kohlehydraten im Körper vorhanden sind. 


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ERNÄHRUNG. 


221 


Alles dem Körper zugeführte Fett muss, um verdaulich zu sein und in 
den Säftestrom übergeführt werden zu können, seinen Schmelzpunkt unter 
40° C liegen haben. 

3. Die Kohlehydrate: Die Kohlehydrate, die in der Kegel in grosser 
Menge in den Körper eingeführt werden, zerfallen hier vollständig und liefern 
als Endproducte ihrer Verbrennung Kohlensäure und Wasser. 

Daher finden wir im Körper die Kohlehydrate auch nur in Spuren vor¬ 
handen, nämlich in den kleinen Mengen von Glycogen, welche im Blute, in 
der Leber und im Muskel sich vorfinden. 

Sie werden also nie zu bleibender Körpersubstanz umgewandelt, aus¬ 
genommen den einzigen, schon bei Besprechung der Fette erwähnten Fall, 
dass sie bei sehr reichlicher Zufuhr theilweise zur Fettbildung verwandt werden 
können. 

Ihre Hauptbedeutung liegt auch vielmehr darin, dass sie bei ihrer Ver¬ 
brennung grosse Mengen Wärme bilden; dass sie ferner noch vollkommener, 
als die Fette dies thun, den Eiweisszerfall vermindern und darin, dass sie 
schliesslich auch eine geringere Zerstörung des im Körper circulirenden Fettes 
und unter Umständen sogar eine Ablagerung desselben im Körper bewirken. 

Der Ersatz der verbrauchten Kohlehydrate erfolgt hauptsächlich durch 
Zufuhr von Stärke, die im Körper in Zucker übergeht, und durch Zufuhr von 
Rohr- und Milchzucker. 

4. Das Wasser: Das dem Körper zugeführte Wasser geht nicht einfach 
durch denselben hindurch, sondern übt auch gewisse Einflüsse auf den Stoff¬ 
wechsel aus, indem es im Körper eine Reihe sehr wichtiger Functionen hat. 
Wasser bildet nämlich den Hauptbestandtheil — wenigstens der Menge nach 
— aller Organe, es ist Lösungs- und Transportmittel der gelösten Substanzen 
und spielt bei der Wärmeregulirung des Körpers eine wichtige Rolle. Daher 
ist auch stets ein voller Ersatz der ausgeschiedenen Wassermenge durch neue 
Wasserzufuhr erforderlich, welche dem Körper grösstentheils mit den Speisen 
einverleibt wird. 

Vermehrte Wasserzufuhr steigert die Harnstoffausscheidung, die nach 
Voit von einer Steigerung des Eiweisszerfalls im Körper herrührt, nach an¬ 
deren Autoren auf Ausspülung angesammelter Excrete beruht. Jedenfalls hat 
anhaltende abnorm starke Wasserzufuhr verschiedene Nachtheile im Gefolge, 
z. B. eine starke Verdünnung der Verdauungssäfte mit Ueberbürdung des 
Pfortaderkreislaufes und dadurch eintretenden Störungen in den circulatorischen 
Apparaten. 

Eine Steigerung des Wassergehaltes des Körpers kann nach Voit’s 
Untersuchungen durch ungenügende Eiweisszufuhr resp. durch Hunger erzielt 
werden. 

Es ist also daraus zu schliessen, dass das Gewicht eines Menschen sehr 
trügen kann; denn ein Mann kann schwer sein und sich durch stattliche 
Leibesfülle auszeichnen, ohne dass sein Ernährungszustand ein besonders 
guter ist. 

Eine vollkommene Entziehung des Wassers, auch des in den festen 
Nahrungsmitteln enthaltenen, wirkt wie Hunger, da bald auch feste Nahrungs¬ 
mittel nicht genommen werden können. 

5. Die Salze: Die Zufuhr der die Asche der Gewebe und auch der 
Excrete bildenden Salze ist fast ebenso unentbehrlich, wie die Wasserzufuhr. 
Werden die ausgeschiedenen Salze des Körpers nicht genügend ersetzt, z. B. 
bei Fütterung eines Thieres mit ausgelaugten Nahrungsmitteln, so gibt der 
Körper eine kurze Zeit hindurch Salze aus seinem Bestände her; in wenigen 
Wochen gehen aber derartig gefütterte Thiere an Salzhunger unter den Er¬ 
scheinungen von Schwäche und Lähmung zu Grunde. Diese Erscheinungen 
kann man jedoch nur bei Fütterung mit künstlich salzfreigemachten Nah- 


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222 


ERNÄHRUNG. 


rungsmittein beobachten, da in der normalen Nahrung sowie im Wasser Salze 
in genügender Menge vorhanden sind, um die täglich ausgeschiedenen Salz¬ 
mengen zu ersetzen. 

Nur einzelne Salze werden bisweilen in unzureichender Menge eingeführt 
und erzeugen durch ihren Mangel krankhafte Erscheinungen. So erzeugt 
mangelhafte Kalkzufuhr Knochenbrüchigkeit und bei jugendlichen Individuen 
Khachitis, mangelnde Eisenzufuhr Hämoglobinmangel, Blässe u. s. w. Bei 
ausschliesslicher Pflanzenkost entsteht ferner ein Kochsalzdeficit, indem die 
Kalisalze der Pflanzen mit dem Kochsalz des Körpers Verbindungen eingehen 
und so eine fortschreitende Verarmung des Körpers an NaCl hervorrufen. 

Der sogenannten Genussmittel ist schon eingangs genügend Erwäh¬ 
nung gethan, es sei hier nur noch darauf hingewiesen, dass, wenn dieselben 
unleugbar auch eine grosse Bedeutung für die Ernährung haben, so doch ein 
mässiger Gebrauch derselben dringend angezeigt ist, da viele dieser Mittel 
in grösserer Menge und häufiger angewandt, die Verdauung in schwerer Weise 
schädigen, andere durch Gewöhnung an immer grössere Mengen derselben 
den Körper und ganz besonders das Nervensystem allmälig in seinen Func¬ 
tionen stören. 

Ueber den Stofftunsatz im Körper lassen sich Schlüsse ziehen aus der 
Vergleichung der Einnahmen und Ausgaben eines Körpers. Derartige ver¬ 
gleichende Untersuchungen sind in grosser Menge ausgeführt und haben er¬ 
geben, dass der im Körper verbrauchte Kohlenstoff zum grössten Theil in 
der exspirirten Kohlensäure, der verbrauchte Stickstoff fast ganz im Ham, 
und zwar in dessen Harnstoff, vollständig aber im Harn und Koth wieder 
erscheint. Kohlensäure und Harnstoff sind also die wichtigsten Maasse des 
Stoffverbrauches, und zwar kann die Kohlensäure als Maass des Verbrauchs 
organischer (kohlenstoffhaltiger) Substanzen überhaupt, Harnstoff als das Maass 
des Verbrauchs stickstoffhaltiger Substanzen, besonders als Maass des Eiweiss- 
consums im Organismus betrachtet werden; genauer gilt als solches der ge- 
sammte Stickstoffgehalt im Harn und Koth. Berechnet man aus letzterem 
das zersetzte Eiweiss, und erscheint in den Excreten mehr Kohlenstoff, als 
dem zersetzten Eiweiss entspricht, so muss noch eine andere kohlenstoffhaltige 
Substanz zersetzt sein, welche in der Hauptmasse nur Fett sein kann; umgekehrt 
schliesst man, wenn die Excrete weniger Kohlenstoff enthalten, als dem Ei¬ 
weissverbrauch entspricht, auf einen Fettansatz. (Voit, citirt nach Hermann.) 

Als Beispiel für derartige Untersuchungen und Berechnungen diene fol¬ 
gende Tabelle über den Stoffumsatz eines kräftigen Mannes innerhalb 24 Stun¬ 
den nach Pettenkofer und Voit: 


Kräftiger Mann. Anfangsgewicht 69*290, Endgewicht 69*550 hg. 


Gramm in 24 Standen 


Was¬ 

ser 

C. 

H. 

N. 

0. 

Asche 

Einnahmen: 

Fleisch. 

139*7 

79-5 

31-3 

43 

8*50 

12 9 

3*2 

Eiweiss. 

41*5 

32*2 

50 

0-7 

1-35 

20 

0*3 

Brod. 

4500 

208*6 

109*6 

156 

5*77 

100-5 

99 

Milch. 

500*0 

435*4 

35*2 

56 

315 

17*0 

3-6 

Bier. 

1025*0 

961-2 

25*6 

43 

0-67 

30*6 

2*7 

Schmalz. 

70*0 

— 

53 5 

83 

— 

81 

— 

Butter. 

30*0 

21 

22*0 

31 

0*03 

2-8 

— 

Stärke. 

70*0 

11-0 

261 

3-9 

— 

290 

— 

Zucker. 

17*0 

— 

7*2 

11 

— 

8-7 

— 

Salz. 

42 

— 

— 

— 

— 

— 

4-2 

Wasser. 

286*3 

286*3 

— 

— 

— 

— 

_ 

Inspirirter Sauerstoff. 

709*0 

— 

— 

— 

— 

709 0 

— 



2016-3- 

— 

— 

— 

1792-3 

— 

Summa der Einnahmen . . . . 

3342*7 


315*5 

2709 19-47 2712-9 

239 


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ERNÄHRUNG. 


223 


Gramm in 24 Stunden Was¬ 

ser 

c. 

H. 

N. 

0 . 

Asche 

Ausgaben: 

Harn. 13431 

Koth.114-5 

Exspiration. 1739*7 

1278*6 
82 9 
8280 
2189-5- 

12*60 

14*50 

24860 

2-75 

217 

243 30 

17*35 

2*12 

13-71 

7-19 

663-10 

1946-20 

H 

Summa der Ansgaben.3197*3 


275-70 

248*22 

19-47 

2630 20 


Differenz: Einn. minus Ausgabe -f* l^ö*3 

! 

+ 39-8 

+ 22-7 

0 

+ 82-7 

-0-1 


Allgemein giltige Zahlen für die nothwendige tägliche Menge der ein¬ 
zelnen Nahmngsstoffe für den Menschen lassen sich nicht aufstellen, weil 
diese Zahlen durch den Einfluss verschiedener Momente erheblichen Schwan¬ 
kungen unterliegen; denn 

1. kann sich der Organismus innerhalb gewisser Grenzen mit den ver¬ 
schiedensten Kostmaassen ins Gleichgewicht setzen; 

2. hängt die zur Erhaltung eines gewissen Gleichgewichtszustandes er¬ 
forderliche Nahrungsmenge von der Mischung der Nahrungsstoffe ab; 

3. wird der Nahrungsbedarf sehr wesentlich beeinflusst durch die Con¬ 
stitution, da im Allgemeinen bei grösseren, kräftigeren Individuen auch 
höhere Zahlen beobachtet werden, als bei kleineren und schwächeren; durch 
die Arbeitsleistung des Individuums, da bei erhöhter Arbeitsleistung z. B. 
die Fettzerspaltung bedeutend gesteigert wird; durch Temperament, indem 
leicht erregbare Naturen grösserer Nahrungszufuhr bedürfen als träge Naturen; 
ferner durch das Lebensalter, da mit zunehmendem Alter der Stoffumsatz 
abzunehmen pflegt; durch das Geschlecht, indem Frauen im Allgemeinen einen 
geringeren Nährstofibedarf haben als Männer, ausgenommen die Zeit der Gra¬ 
vidität und der Lactation; und schliesslich durch Temperatur und Klima, da 
z. B. Kälte eine bedeutende Steigerung des Fettzerfalls bewirkt, und wir 
daher im Winter und in kalten Klimaten für reichliche Fettzufuhr sorgen 
müssen, was im Sommer und in heissen Gegenden gerade zu vermeiden ist, 
da hier jede grössere Fettzufuhr zum Körper die Entwärmung desselben er¬ 
schwert, und daher mehr Werth auf die Zufuhr von Kohlenhydraten und Ei- 
weiss zu legen ist. 

Man kann also — wie schon gesagt — allgemein giltige Zahlen für die 
Menge der täglich gebrauchten Nährstoffe nicht aufstellen, sondern nur 
Mittelwerthe geben, an die man sich annähernd halten kann, und die man 
aus einer grossen Zahl von Einzelbeobachtungen gewinnt. 

Einige solcher Einzelbeobachtungen, aus denen wir einen Mittelwerth 
herausrechnen könnten, sind z. B. folgende (citirt nach Flügge): 


Individuum 

Ei- 

weiss 

Fett 

Kohle- 

hy- 

drate 

N 

c. 

Autor 

28 j&hr. Arbeiter . . . 

137 

72 

352 

19-6 

283 

Pettenkofer u. Yoit 

Derselbe arbeitend . . 

137 

173 

352 

19-5 

356 

n » 

36 jähr. Dienstmann 

133 

95 

422 

21 

331 

Förster 

Junger Arzt. 

127 

89 

362 

20 

297 

» 

Mann b. mittlerer Arbeit 

130 

40 

550 

20 

325 

Moleschott 

Derselbe. 

120 

35 

540 

19 

331 

Wolff 

Soldat, leichter Dienst . 

117 

35 

447 

18 

288 

Hildesheim 

B im Felde . . . 

147 

44 

504 

23 

336 



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224 


ERNÄHRUNG. 


Die Anforderungen, die wir vom hygienischen Stand¬ 
punkte aus an die tägliche Kost stellen müssen, sind abgesehen 
davon, dass dieselbe die nöthigen, soeben besprochenen Nährstoffe enthält 
und dass sie mit Hilfe der Genussmittel genügend wohlschmeckend gemacht 
ist, folgende: 

1. Die Nahrung muss gut ausnutzbar und leicht verdaulich 
sein, d. h. es muss möglichst viel von ihr resorbirbar sein, und die Resorp¬ 
tion muss schnell und ohne Verdauungsbeschwerden vor sich gehen. 

Die früher giltige Ansicht, dass die Abschätzung des Nährwerthes der 
einzelnen Nahrungsmittel direct aus den Resultaten der chemischen Analyse 
möglich sei, hat man jetzt fallen gelassen, da man gefunden hat, dass niemals 
dieselben Mengen von Nahrungsstoffen in unseren Körper zur Resorption ge¬ 
langen, welche demselben einverleibt wurden. Es muss also nunmehr erst 
für jedes Nahrungsmittel festgestellt werden, wie viel resorptionsfähigen 
Nahrungsstoff es enthält. 

Aus derartigen Untersuchungen hat sich ergeben, dass animalische 
Nahrung im Ganzen eine bessere Ausnutzung gestattet, als vegetabilische. 

Die Ausnutzung der Nahrung ist ausserdem individuell verschieden und 
ferner auch von der Beschaffenheit derselben abhängig; so setzt z. B. die 
Beimengung unverdaulicher Cellulose die Resorption sämmtlicher Nährstoffe 
bedeutend herab, dasselbe geschieht durch grosse Fettmengen und durch 
ein Uebermaass von Kohlehydraten, welche letztere durch abnorme Gäh- 
rungen die Darmschleimhaut reizen und die Verdauung stören. 

Leicht verdaulich nennen wir ein Nahrungsmittel, wenn es selbst 
in grösserer Menge genossen rasch resorbirt wird und auch bei empfindlichen 
Menschen keinerlei Verdauungsbeschwerden verursacht. Käse ist z. B. ein 
gut ausnutzbares, aber schwer verdauliches Nahrungsmittel. Als leicht ver¬ 
daulich sind gut zerkleinerte, für die Verdauungssäfte leicht durchdringliche, 
fett- und cellulosefreie Nahrungsmittel zu bezeichnen. Schwer verdaulich 
sind compacte, für die Verdauungssäfte schwer durchdringliche, fette oder 
cellulosehaltige Nahrungsmittel, wie Käse, harte Eier, fettes süsses Back¬ 
werk, hartes wenig zerkleinertes Fleisch, Pumpernickel u. s. w. 

2. Die Zubereitung der Nahrungsmittel und die Conser- 
virung derselben muss derart sein, dass sie einmal verdaulicher und 
schmackhafter werden, und dass sie ausserdem keine schädlichen Stoffe, wie 
Infectionserreger, Fäulnisgifte, metallische Gifte u. dergl. aufnehmen. 

Die Zubereitung der Nahrungsmittel, welche wie schon gesagt 
nothwendig ist, um die Speisen schmackhafter, ausnutzbarer und leichter ver¬ 
daulich zu machen, besteht in Abtrennen der Abfälle, z. B. der Hüllen 
der Gemüse, Sehnen und Fascien des Fleisches u. s. w.; in mechanischem 
Bearbeiten, wie Zerkleinern und Zermahlen der vegetabilischen Nahrungs¬ 
mittel, besonders der Getreidearten, Klopfen des Fleisches etc.; in Kochen 
mit Wasser oder Wasserdampf, Backen, Braten; und schliesslich in gewissen 
Gährungsprocessen z. B. Säuern des Brodteiges zum Zweck der Auf¬ 
lockerung, Einlegen von hartem Fleisch in saure Milch, um es mürbe zu 
machen ? Gährung des Sauerkohls u. s. w. 

Die Conservirung der Nahrungsmittel zum Zweck längerer Auf¬ 
bewahrung derselben geschieht durch Kälte in Kellern und Eisschränken, 
durch Kochen, besonders Kochen in Gefässen, die sofort nach dem Kochen 
hermetisch verschlossen werden, durch Trocknen und Räuchern. Alle 
diese Mittel dienen dazu, die Saprophyten zu vernichten, oder wenigstens in 
ihrer Entwicklung zu hemmen, die ohne diese Conservirungsmethoden schnell 
zu einer Zersetzung, zur Fäulniss der Nahrungsmittel führen. 

Beim Kochen und Aufbewahren der Nahrungsmittel ist grosse Vorsicht 
bezüglich der Wahl der Gefässe zu beobachten, da aus denselben nur zu 


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ERNÄHRUNG. 


225 


leicht bei längerer Berührung mit Speisen Gifte in letztere übergehen, die zu 
Vergiftungen Veranlassung geben können. So sind Kupfer- und Messing- 
geffisse möglichst ganz zu vermeiden, da bei Verwendung derselben nur zu 
leicht giftiges Kupferoxyd in die Speisen übergehen kann. Schlecht glasirte 
resp. emaillirte irdene oder eiserne Gefässe können besonders bei saurer 
Reaction der Speisen leicht lösliche giftige Bleiverbindungen an die Speisen 
abgeben. Das gleiche ist von schlechten, d. h. stark bleihaltigen Zinngefässen 
zu sagen, die vielfach zur längeren Aufbewahrung von Conserven dienen. 

3. Das Volum der Nahrung muss ein zur Sättigung aus¬ 
reichendes, jedoch auch wieder kein zu grosses sein. 

Eine an Nährstoffen ausreichende, aber nicht genügend voluminöse Nahrung 
würde an dem Fehler leiden, dass sie kein Sättigungsgefühl hervorruft. Die Menge, 
die durchschnittlich zur Sättigung eines Erwachsenen hinreicht, beträgt 1800 g, 
doch kommen von dieser Zahl natürlich viele individuelle Abweichungen 
vor und namentlich ist das Volum bei mehr von Vegetabilien lebenden 
Menschen ein grösseres als bei mehr animalischer Kost. Eine Volumvermehrung 
ist durch Vermehrnng des Wassergehaltes der Speise leicht zu erzielen. 

Ein zu grosses Volum der Nahrung wirkt direct schädlich, indem es die 
Resorption herabsetzt, und ausserdem allmälig zu Magenerweiterung führt. 
Die Folge derselben ist ständiges Hungergefühl, sobald nicht Nahrung in 
abnormer Menge zugeführt wird, welche ihrerseits den Magen wieder schädigt 
durch stagnirende nicht resorbirbare Nahrungsreste, so dass ein circulus vitiosus 
entsteht, unter dessen Einflüssen der Verdauungsapparat schwer zu leiden hat. 

4. Die Speisen müssen richtig temperirt genossen werden. 

Als normal ist nach Flügge für den Säugling eine Nahrungstemperatur 

zwischen 4- 35° und -(- 40° C, für den Erwachsenen zwischen -f- 7° und 
-f- 55° C zu bezeichnen. 

Niedriger temperirte Speisen und Getränke verursachen leicht Verdauungs¬ 
störungen, höher temperirte haben denselben Nachtheil und können ausserdem 
auch Verbrennungen oder wenigstens Hyperämien und Epithelverletzungen 
der Schleimhäute des Mundes, der Speiseröhre und des Magens herbeiführen. 

Von grosser Wichtigkeit ist die Zusammensetzung einer Kost, 
d. h. ihre Mischung aus vegetabilischen und animalischen Nahrungsmitteln. 
Vergleichen wir die hauptsächlichsten animalischen und vegetabilischen Nah¬ 
rungsmittel bezüglich ihrer chemischen Zusammensetzung miteinander, so 
sehen wir, dass den grössten Eiweissgehalt die animalischen Nahrungsmittel 
repräsentiren, während die Kohlehydrate ausschliesslich in den Vegetabilien 
enthalten sind. (Yergl. folgende im Auszug nach Flügge dtirte Tabelle.) 


Chemische Zusammensetzung einiger Nahrungsmittel. 
Animalische Nahrungsmittel. 














226 


ERNÄHRUNG. 


Vegetabilische Nahrungsmittel. 



Wasser 

7. 

Eiweiss 

°/o 

Fett •/„ 

Zttcker 

°/o 

Sonstige 
N-freie Extr.- 
Stoffe 0 / o 

Holzfaser 

Ol 

Io 

Asche 

7« 

Weizen. 

1356 

12-42 

170 

1-44 

66-45 

266 

1-77 

Roggen. .... 

16-26 

11-43 

1-71 

0-96 

66-86 

201 

1*77 

Weizenmehl (fein). 

14-86 

8-91 

111 

2-32 

71-86 

0-33 

0-61 

Roggen mehl. 

14-24 

10-97 

1-95 

3-88 

65-86 

162 

1-48 

Weizenbrod (fein). 

3815 

6-82 

077 

2-37 

40-97 

038 

118 

Roggenbrod (Irisch). 

4402 

602 

0-48 

2*54 

45-33 

0-30 

1-31 

Pumpernickel. 

43-42 

7-69 

1-51 

325 

41-87 

0-94 

142 

Reis. 

13-23 

7-81 

069 

— 

76-40 

0-78 

109 

Bohnen. 

13-60 

23-32 

2 28 

— 

53-63 

3-84 

353 

Erbsen. 

14-31 

24-81 

1-85 

— 

54-78 

3-85 

2-47 

Steinpilze. 

1281 

3612 

1-72 

— 

37-26 

6-71 

6-38 

Kartoffeln. 

7577 

1-79 

016 

— 

20-56 

0-75 

0-97 

Möhren. 

87-05 

104 

0-21 

6*74 

2-66 

1-40 

090 

Rothkraut. 

9006 

1-83 

019 

1-74 

412 

1-29 

077 

Gurken. 

95-60 

1-02 

009 

0-95 

1-33 

0-62 

0 39 

Aepfel. 

83-58 

0-39 

— 

7-73 

601 

1-98 

0-31 

Weintrauben. 

7817 

059 

- 

14-36 

2-75 

3-60 

053 


Es erhellt daraus, dass wir bei unserem bedeutenden Bedarf an Kohle* 
hydraten auf eine verhältnismässig grosse Menge von Vegetabilien angewiesen 
sind. Indem wir mit den Vegetabilien unseren Bedarf an Kohlehydraten 
decken, führen wir mit denselben dem Körper auch gleichzeitig eine gewisse 
Menge Eiweiss und einen kleinen Theil Fette zu. Es kommt nun darauf an, 
auch die noch fehlende Menge dieser Nährstoffe in geeigneter Weise dem 
Körper zuzuführen. 

Nach Voit braucht der Erwachsene in seiner Normalkost 118 g Eiweiss, 
56 g Fett und 500 g Kohlehydrate, vorausgesetzt, dass keine zu starke Ar¬ 
beitsleistung von ihm verlangt wird. Von diesem Eiweiss soll nun, wenn 
irgend möglich 1 / 3 als animalisches Eiweiss, 2 / 3 als vegetabilisches aufgenommen 
werden; nicht aus dem Grunde, dass etwa animalisches Eiweiss vom Körper 
anders verwerthet wird, als vegetabilisches, aber es wird besser ausgenützt, 
macht die Nahrung weniger voluminös und ist meist mit Genussmitteln verbunden. 
Vorübergehend kann der Eiweissgehalt der Nahrung auch weiter herabgedrückt 
werden, etwa bis auf 50 g Eiweiss, dass diese Menge aber auf die Dauer 
genüge, ist als höchst unwahrscheinlich anzusehen. 

Von gewissem Vortheil ist es, das Fett in der Nahrung auf Kosten der 
Kohlehydrate zu vermehren und z. B. 90 g Fett und ca. 410—420 g Kohle¬ 
hydrate statt der 56 g Fett und 500 g Kohlehydrate zu geben. Da die 
üblichen Vegetabilien nur ca. 20—25 g Fett zuführen, so sind, um Voit’s 
Forderung zu erfüllen, im Minium noch ca. 35—40 g Fett aus Milch, fettem 
Käse oder besser noch direct als Butter, Speck u. s. w. hinzuzufügen. 

Einen gewissen Einfluss auf die Zusammensetzung der Nahrungsmittel 
hat von jeher, und wird auch weiter stets der Preis derselben ausüben, und 
zwar so, dass man immer geneigt sein wird, das relativ theure animalische 
Eiweiss und Fett durch billiges vegetabilisches zu ersetzen, bestochen durch 
die für denselben Preis grössere Menge der vegetabilischen Nahrungsmittel. — 
Wir wollen nun nach diesen allgemeinen Erwägungen zur Beantwortung der 
Frage nach der Ernährung einzelner Individuen und vor allem grosser Massen 
übergeben. Es kommt dabei natürlich hauptsächlich darauf an, diese Frage spe- 
ciell für die weniger bemittelten Classen zu beantworten, da der Bemittelte eine 
grössere Auswahl treffen kann, ohne zu sehr auf den Preis der einzelnen 
Nahrungsmittel achten zu müssen. 


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ERNÄHRUNG. 


227 


Hirt spricht sich in seiner „Gesundheitslehre für die arbei¬ 
tenden Classen“ folgendennassen aus. Der Arbeiter lebt nicht von dem, 
was er isst, sondern von dem, was er verdaut; es muss daher bei der Be¬ 
reitung der Speisen auf die Verdaulichkeit Rücksicht genommen werden. 
Wasser und Milch sind unter den flüssigen Nahrungsmitteln die wichtigsten, 
sie dürfen aber nur abgekocht genossen weiden. Fleisch ist auf die Dauer 
durch kein anderes Nahrungsmittel zu ersetzen; mindestens zweimal wöchent¬ 
lich muss zum Genüsse desselben Gelegenheit geboten werden. — Krankes 
und nicht ganz frisches Fleisch ist, auch wenn es genügend durchgekocht und 
gewürzt wird, vom Genuss auszuschliessen. Rohes und nicht völlig durch¬ 
gekochtes Schweinefleisch darf nur nach amtlicher Untersuchung auf Trichinen, 
finniges weder roh noch gekocht, auch nicht in Wurst gehackt genossen 
werden. — Mehlsuppen dürfen nie den Hauptbestandteil der täglichen 
Nahrung ausmachen. Dasselbe gilt von Kartoffeln und dem aus Surrogaten 
hergestellten sog. „Kaffee.“ Alkohol darf stark angestrengten Arbeitern, 
besonders wenn sie bei niederer Temperatur und in Nässe beschäftigt sind, 
in angemessener Menge, d. h. etwa */»— 1 U Liter pro Tag gestattet werden. — 
Es sind das Forderungen, die man im Allgemeinen wohl unterschreiben kann. 

Die eigentliche Nahrung eines körperlich arbeitenden Menschen kann 
man ungeiähr folgendennassen zusammensetzen und berechnen: 



Eiweiss 

Fett 

Kohlehyd. 

Preis 

550 g Schwarzbrod . . 

1360 „ roh = 1000 g geschälte Kartoffeln . 
250 „ roh = 200 „ rein Salzhäring . . . 

200 «Wurst. 

50 „ Magerkäse. 

34 g 
13*5 ,, 

20 „ 

22 „ 

16 „ 

6 9 

u , : 

24 „ 

4 „ 

350 g 
200 „ 

164 Pfg. 

7 „ 

10 „ 

16 „ 

2 5 ,. 

105 5 g 

48 g 

550 g 

52 Pfg. 


Die Nahrang eines geistig arbeitenden Menschen müsste mehr Fett and Eiweiss, aber 
weniger Kohlehydrate enthalten and würde sich etwa so zusammenstellen lassen: 



Eiweiss 

Fett 

Kohlehyd. 

Preis 

300 g Weissbrod. 

530 „ roh = 400 g geschälte Kartoffeln . . 

100 „ Reis zu Milchreis. 

500 ccm Milch zu Milchreis. 

100 g (— 110 roh) Ei. 

250 „ (— 317 roh) Fleisch. 

60 „ Butter. 

17 0 g 
5-4 „ 
5-8 „ 
200 „ 
12-5 „ 

50 0 „ 

4 g 

20 „ 

12 „ 

50 „ 

135 g 

80 „ 

76 „ 

20 „ 

10 Pfg. 

3 „ 

5 „ 

r: 

43 „ 

15 „ 

110-7 g 

86 g 

311 g 

90-5 Pfg. 


Für Fett zur Zubereitung, Gewürze und sonstige Genassmittel müsste man hierzu 
in beiden Fällen noch 20—30 Pfg. hinzurechnen. 


Es käme also immer, selbst wenn auch an einzelnen Tagen, die Nahrung 
dnrch Einschaltung von Leguminosen sich billiger stellen würde, dieselbe für 
einen Arbeiter pro Tag auf ca. 60 Pf. zu stehen, was für den verheiratheten 
Arbeiter — die Famijie als aus zwei Erwachsenen und 2—3 Kindern be¬ 
stehend gerechnet — eine zu hohe Summe ausmacht. 

Man ist daher — und damit kämen wir zu einem neuen wichtigen Ab¬ 
schnitt unserer Betrachtung — dahin gekommen, die Kost für die unbemittelte 
Gasse dadurch billiger zu gestalten, dass man, ähnlich wie es bei den Massen¬ 
ernährungen in öffentlichen Anstalten (z. B. Waisenhäusern, Gefängnissen) und 
beim Militär geschieht, nicht Markt- sondern Engrospreise für die Nahrungs¬ 
mittel bezahlt, indem die Einkäufe in grossem Maasse gemacht werden. An 
vielen Orten ist durch diese Einrichtung, z. B. durch die Volksküchen, die 

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ERNÄHRUNG. 


eine schmackhafte und ausreichende Mahlzeit für ausserordentlich billigen 
Preis liefern, schon viel genützt worden. 

Sehr wichtig ist ausserdem für den Arbeiter die möglichst umfangreiche 
Verwendung gewisser billiger und sehr nahrhafter und gut ausnutzbarer 
Molkereiproducte, wie abgerahmte Milch und Magerkäse. 

Was nun die Massenernährnng betrifft, wie sie beim Militär und in 
öffentlichen Anstalten üblich ist, so stellt sich hier der Preis der Nahrung 
wegen des schon erwähnten billigeren Einkaufes wesentlich billiger, als bei 
der Einzelernährung. 

Es werden z. B. für die Ernährung eines Soldaten pro Kopf und Tag 
nur 30—35 Pf. verausgabt. Es erhält der Soldat: 

a) in der Garnison: 

750 g Brod, 25 g Salz, 150 g Fleisch, 90 g Reis, 

oder 120 „ Graupen, Grütze, 
oder 280 „ Hülsen früchte 
oder 1500 „ Kartoffeln; 

b) im Manöver: 

750 g Brod, 25 g Salz, 250 g Fleisch, 120 g Reis, 

oder 150 „ Graupen, Grütze, 
oder 300 „ Hü Isen früchte, 
oder 2000 „ Kartoffeln 

und 15 g gebrannten Kaffee, 

c) im Kriege: 

750 ^ Brod, 25^ Salz, 375 g Fleisch, 125 g Reis, 

oder 500 g Zwieback, oder 250 „ Rauchfleisch, oder. 125 „ Graupen, Grütze, 
oder 170 „ Speck, oder 250 „ Hülsenfrüchte, 

oder 250 „ Mehl, 
oder 1500 „ Kartoffeln 

und 26 g gebrannten Kaffee. 

Meinert rechnet aus diesen Kostsätzen folgenden Nährstoffgehalt heraus: 

a) 107 g Eiweiss, 22 g Fett, 489 g Kohlehydrate, 

b) 135 „ * 27 „ „ 533 „ 

c) 130 „ „ 81 „ B 512 „ 

Voit verlangte aber für die tägliche Nahrung folgenden Nährstoffgehalt: 

d) 120 g Eiweiss, 56 g Fett, 500 g Kohlehydrate, 

b) 135 „ „ 80 „ „ 500 „ 

c) 135 „ „ 100 „ „ 500 „ # 

Das in der wirklichen Kost fehlende Fett müssen die Soldaten durch 
aus eigener Tasche zugekaufte Butter, Schmalz etc. ersetzen. 

Aber auch die letzte für den Kriegsfall angesetzte Ration ist für an¬ 
strengende Kriegsleistungen noch zu gering bemessen, es muss in solchen 
Fällen der Eiweiss- und Fettgehalt der Nahrung bedeutend erhöht werden. 
Zu dem Zweck ist man schon seit langer Zeit, und auch jetzt noch damit 
beschäftigt, Fleisch- und Fleischgemüse- resp. Fleischmehlcon- 
serven herzustellen, da frische Nahrungsmittel in hinreichender Menge im 
Felde nicht immer zu haben sind. Ein Product dieser Bemühungen ist z. B. 
ausser den gewöhnlichen Conserven der aus Mehl und Fleisch bestehende 
Fleischzwieback. Ein älteres, im Kriege 1870/71 viel gebrauchtes Pro¬ 
duct war die Erbswurst, die aus einem Gemenge von Erbsenmehl mit Speck, 
Salz, Zwiebeln und Gewürz bestand. Zur Bereitung wurde entweder reiner, 
oder mit Muskelfleisch durchwachsener Speck benutzt. Das Erbsenmehl wurde 
gewonnen durch Zermahlen reifer, gelber, entschalter und vorher gedörrter 
Erbsen, und durch ein besonderes Verfahren am Sauerwerden verhindert. 

Von grosser Wichtigkeit ist auch die Ernährung der Gefangenen, 
für welche pro Kopf und Tag auch nur der geringe Preis von 28—36 Pf. 


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ERNÄHRUNG. 


229 


verausgabt wird. Die tägliche Kost in den Gefängnissen enthält (nach Flügge) : 
in den preussischen Strafanstalten, alter Etat: 

110 g Eiweiss, 25 g Fett, 677 g Kohlehydrate, 
in den preussischen Strafanstalten, neuer Etat: 

100 g Eiweiss, 50 g Fett, 553 g Kohlehydrate, 
im Gefängniss Plötzensee: 

117 g Eiweiss, 32 g Fett, 597 g Kohlehydrate. 

Die Nahrungsstoffe werden verabreicht in der Form von 625—650 g 
Brod, 30—43 g Fleisch; im übrigen Kartoffeln, Leguminosen, abgerahmte 
Milch, Häring etc. 

Voit verlangt für arbeitende Gefangene täglich 

118 g Eiweiss, 56 g Fett und 500 g Kohlehydrate. 

Diese Forderung wird durch den neuen Kostsatz in den preussischen 
Strafanstalten nahezu erfüllt; jedenfalls bedeutet der neue Kostsatz einen 
grossen Fortschritt gegenüber dem alten, bei dem zu wenig Fett und zu viel 
Kohlehydrate gereicht wurden. Die Nahrung war einmal dadurch, dass sie 
der Hauptsache nach aus Vegetabilien und zwar aus Leguminosen bestand, 
zu voluminös, andererseits wurde durch die stets breiige Form der Speisen 
bald bei den Gefangenen Ekel vor denselben erregt. 

In den letzten Jahren ist aber die gesammte Körperpflege und als 
Wesentlichstes derselben die Ernährung eine viel bessere geworden, denn 
man sah allmälig ein, dass die ohnehin in Folge ihrer Lebensweise zu Er¬ 
krankungen neigenden Gefangenen gerade einer besonderen Körperpflege, 
einer zweckmässigen Ernährung bedürfen. Dieselbe muss derart sein, dass 
sie nicht auf die Dauer eine besondere Lebens- oder Gesundheitsbeeinträch¬ 
tigung für den Gefangenen zur Folge hat. Allerdings wird dabei aber wieder 
vom wirthschaftlichen Standpunkte und im Interesse des Strafvollzuges die 
grösste Billigkeit und Einfachheit gefordert. 

So ist man denn, hauptsächlich auf Anregung Voit’s, etwa seit Mitte 
des vorigen Decenniums von dem alten Regime abgekommen und hat neue 
Kostsätze und auch eine gewisse Aenderung in der Zubereitung der Speisen 
eingeführt, indem die Breiform weniger zur Anwendung kommt. 

Was die einzelnen Nahrungsmittel betrifft, so sind solche Stoffe, die 
leicht in saure Gährung im Darmkanal übergehen und viel Koth erzeugen, 
wie Schwarzbrod, Kartoffeln und Rüben unzweckmässig, und thunlichst durch 
Reis, Mais und Leguminosen zu ersetzen. 

-Als eiweisshaltiges Nahrungsmittel ist natürlich das frische Fleisch 
am empfehlenswerthesten, aber auch am theuersten. Billige Eiweissträger 
sind Magermilch, Magerkäse, Häringe, Fleischmehl, Stockfisch, geräucherte 
oder getrocknete Fische, ganz besonders aber frische billige Seefische, wie 
Schellfisch und Kabeljau. 

Als Fette sind Talg, Speck, eventuell Schmalz und Margarine zu nennen. 

Sehr wichtig ist die Zubereitung. Es ist dabei zu beachten, dass 
die Speisen durch billige Zuthaten, wie Grünzeug, Salz, Zwiebeln, Pfeffer, 
Essig, Majoran, Kümmel, Anis, Lorbeerblätter etc. schmackhaft gemacht 
werden; dass ferner eine gewisse Abwechslung zu herrschen hat, indem ein¬ 
mal die einzelnen Stoffe gemischt, einmal getrennt gegeben werden; und dass 
schliesslich die Speisen nicht immer die gleiche Form haben, besonders nicht 
die breiige, welche sonst das bei Gefangenen so leicht eintretende Abge¬ 
gessensein mit Uebelkeit und Magencatarrhen bewirkt. 

Es sind deshalb bei Zubereitung der Speisen Gemüse, Suppe, Fleisch 
thunlichst getrennt zu halten. 


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FABRIKHYGIENE. 


Bezüglich der Ernährung der Gefangenen in den einzelnen Staaten 
ist nach Webnich und Wehmer kurz Folgendes zu sagen: 

Den Ernähnrngsmodus in Prenssen haben wir bereits oben besprochen, es ist nur 
noch zu erwähnen, dass die Gefangenen sich von ihrem Arbeitsöberverdienst wöchentlich 
bis für 60Pf. Extra-Nahrungs- und Genussmittel beschaffen können; dazu gehören 
auch Schnupf- und Kau-Tabak und Cigarren. 

Ein zweckmässiges, unschuldiges und in einzelnen Strafanstalten auch schon ein- 
ge führte 8 billiges Anregungsmittel ist übrigens der Kaffee. 

In Bayern ist in den Zuchthäusern die Normalkost für schwer arbeitende Gefan¬ 
gene von folgender Zusammensetzung: 104 g Ei weis s, 47 g Fett, 541 g Kohlehydrate. Dabei 
werden dreimal wöchentlich je 132 g Fleisch gegeben; ferner sind die Kostformen von 12 
auf 46 vermehrt und mehr feste eingeführt. 

In Baden erhalten die Insassen der Central Strafanstalten täglich Fleischbrühe; 
Schwerarbeitende und Leute mit langer Strafdauer jeden zweiten, die anderen Gefangenen 
jeden dritten Tag 107 g Fleisch. Suppe und Zuspeise wird getrennt gegeben, Breie selten. 

England gibt täglich 180 g Fleisch. 

Frankreich gibt nur zweimal in der Woche 135 g Fleisch, gestattet aber sehr 
reichliche Selbstverpflegung von den hoch bemessenen Arbeitsprämien. 

Belgien gibt viermal in der Woche 100 g Fleisch, also durchschnittlich 12 1 /* g 
animalisches Eiweiss täglich, ausserdem noch ca. 97 g vegetabilisches Eiweiss, 602 g Kohle¬ 
hydrate, aber nur 28*49 Fette. 

Oesterreich gewährt im Allgemeinen 108 g Eiweiss, 50*8 g Fett und 606*5 g 
Kohlehydrate. 

Russland gibt täglich 92*25 g Eiweiss und 19*73 ^ Fett. Darunter sind ömal je 
204*74 g Fleisch in der Woche einbegriffen. 

Norwegen gibt sehr viel Milch, also mit derselben schon viel Eiweiss und Fett 

Die Insassen der Gemeinschaftsgefängnisse erhalten täglich dreimal je 0*5 Liter Voll¬ 
milch, daneben noch täglich 20 g Butter oder Fett, je zweimal wöchentlich 125 g Häring, 
95 g Fleisch und einmal 65 g Speck. 

Die Insassen der Zellengefängnisse erhalten täglich s / 4 Liter Milch und zweimal 
wöchentlich je 100 g Häring, 95 g Fleisch und einmal 65 g Speck. 

Schweden gewährt reichlich Fleisch, theils frisch, theils in gesalzenem Zustande. 

Die Schweiz gibt ihren Gefangenen einmal in der Woche 200 g Fleisch, einmal 
80 g Fisch, einmal 60 g Rindsleber, einmal 40 g Käse; dazu Speck, Butter, Oel und Schmalz, 
so dass sich dabei das animalische Eiweiss auf täglich ca. 12 g } das vegetabilische auf ca. 
75 g stellt, das Fett auf 35 g } die Kohlehydrate auf 430 g. A. DRÄER. 

Fabrikhygiene. Die Fabrikhygiene bildet eines jener Capitel der Ge- 
sammtgesundheitspflege, über welches weitgehende statistische Erhebungen 
vorliegen, welches zu verschiedenen zweckmässigen und unzweckmässigen 
Gesetzen, Verordnungen und Einrichtungen Veranlassung gab. Alles zum 
Schutze der arbeitenden Bevölkerung, um die es sich bei der Fabrikhygiene 
vorzugsweise handelt. 

Ich betrachte es nun nicht als meine Aufgabe hier auf all diese Dinge 
einzugehen und so zu sagen einen Auszug oder kurzen Abriss der Fabrik¬ 
hygiene zu geben, wie sie in besonderen Schriften über diesen Gegenstand 
niedergelegt ist. Ich beschränke mich vielmehr auf das Nothwendigste d. h. 
auf diejenigen Dinge, welche in hervorragender Weise geeignet sind, Gesund¬ 
heit und Leben, der bei Gewerben und Industrie beschäftigten Arbeiter und 
Arbeiterinnen zu gefährden. 

Die Gefahren, auf welche hier aufmerksam gemacht werden soll, trenne 
ich in solche, welche die arbeitende Bevölkerung bei ihrer Beschäftigung, und 
in solche, welche sie in ihren Wohnungen und in ihrer häuslichen Lebens¬ 
führung vielfach zu treffen pflegen. 

Was die ersteren betrifft, so werden hiebei Luft, Licht und Temperatur 
Berücksichtigung finden müssen, wie sie oft in den Arbeitsräumen bei den 
verschiedenen Betrieben gefunden werden, dann wird auf die Folgen der kör¬ 
perlichen Ueberanstrengung, auf die Art der Beschäftigung einzugehen sein. 

In Bezug auf letztere spielen die Wohnung, Ernährung, Erziehung, 
Sitten und Gewohnheiten offenbar eine bedeutende Bolle. 


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FABRIKHYGIENE. 


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Die gewöhnliche atmosphärische Luft, wie wir sie im Freien einathmen, 
besteht in runden Zahlen ausgedrückt aus 80°/ 0 Stickstoff und 20°/ 0 Sauer¬ 
stoff, denen constant etwa 0 04°/ 0 Kohlensäure beigemischt ist. Wird dieses 
Verhältnis nach einer oder der anderen Richtung hin bedeutend gestört, so 
kann diese Luft an sich schon Gesundheit und Leben gefährden. Beispiele, 
wo durch das Zusammenpferchen von Thieren und Menschen in zu engen 
Räumen schwere Krankheitserscheinungen und sogar der Tod hervorgerufen 
wurden, liegen genug vor. Erklärlich wird dies durch die Erfahrungstat¬ 
sache und das Experiment, dass einesteils der Sauerstoffgehalt der Luft 
nicht bedeutend vermindert und dass anderntheils die durch den Athmungs- 
oder andere Processe erzeugte Kohlensäure nicht in zu grossen Mengen und 
nicht zu lange in der Luft vorhanden sein darf, ohne dass Nachteile für die 
Gesundheit entstehen. 

Im Uebrigen sind alle Gase, rein eingeathmet irrespirabel, d. h. sie ver¬ 
ursachen alsbald Tod und Verderben für alles Organische, das der atmo¬ 
sphärischen Luft bedarf. 

Bei Gasinhalationskrankheiten, wie sie gelegentlich oder bei einzelnen 
Industriezweigen und Gewerben Vorkommen, handelt es sich daher immer um 
Gase, welche der atmosphärischen Luft beigemengt sind, wie denn über¬ 
haupt alle Beimengungen zur atmosphärischen Luft, seien sie gas- oder 
dampfförmiger, oder seien sie fester Natur einen nachtheiligen Einfluss auf 
die Gesundheit ausüben und zuweilen früher oder später den Tod verursachen. 

In dem Folgenden mögen nun diejenigen gas- und dampfförmigen, sowie 
die Körper Berücksichtigung finden, welche in Staubform der Luft beigemengt, 
bei den verschiedenen Industrien und Gewerbebetrieben am häufigsten Vor¬ 
kommen. 

1. Kohlenoxydgas. 

Als Betriebe, bei welchen sich vorzugsweise Kohlenoxydgas der Luft 
beimischt, wären zu nennen: die Gasfabrication, die Anlagen, welche zur Her¬ 
stellung des Roheisens nothwendig sind und die Anlagen zur Coaksbereitung. 
Auch bei der Ueberführung des Holzes in Holzkohlen entwickeln sich bedeu¬ 
tende Mengen Kohlenoxydgas und endlich entwickelt sich in Oefen, in denen 
bei mangelhaftem Zuge das Brennmaterial nicht vollständig verbrennt, Kohlen¬ 
oxydgas. Zu den Vergiftungen mit Kohlenoxyd sei ausdrücklich bemerkt, 
dass die Krankheitserscheinungen, welche dabei entstehen, kaum in einem 
Falle auf die Wirkungen dieses Gases zurückzuführen sein dürften, denn bei 
den genannten Arbeiten und Processen entwickeln sich neben Kohlenoxyd 
immer auch mehr oder weniger Kohlensäuren, Kohlenwasserstoffe und viel¬ 
leicht auch noch andere Gase. Es wäre daher vielleicht besser, wenn man 
bei den in den genannten Betrieben vorkommenden Vergiftungen einfach von 
Kohlendunstvergiftungen reden wollte. 

Die Symptome, welche bei dieser Art von Vergiftungen Vorkommen, 
näher zu beschreiben, ist schwer, weil sie individuell oft sehr verschieden sind 
und weil nicht wenig auch von der Temperatur und Feuchtigkeit der betref¬ 
fenden Luft dabei abhängt. Im Allgemeinen kann nur so viel gesagt werden, 
dass es vorzugsweise Störungen des centralen Nervensystems mit ihren Folgen 
sind, die besonders in Erscheinung treten: Kopfweh, Schwindel, Flimmern 
vor den Augen, Bewusstlosigkeit und wenn die Einwirkung zu lange dauert, 
der Tod der betroffenen Individuen. 

Was die Vorkehrungen für die Prophylaxe betrifft, so dürften dieselben, 
um Wiederholungen zu vermeiden, einen passenden Platz weiter unten finden. 

2. Kohlensäure. 

Die Kohlensäure ist bekanntlich ein Gas, welches durch Athmungs-, 
Gährungs- und Verbrennungsprocesse nicht selten in beträchtlichen Mengen 


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FABRIKHYGIENE. 


erzeugt wird. Gelegenheit zur Vergiftung mit gedachtem Gase ergibt sich 
daher überall, wo diese Processe vor sich gehen und wären in erster Reihe 
die Räume zu erwähnen, wo sich viele Mensche, Thiere oder Pflanzen be¬ 
finden. 

Um lediglich bei Gewerbe und Industrie zu bleiben sei hier erwähnt, 
dass Locale, welche für die zu fassende Menge von Menschen zu klein oder 
zu schlecht ventilirt sind, durch die Anhäufung der Exspirationskohlensäure 
gesundheitsschädlich wirken können. Dass die auf diese Weise entstehende 
und sich ansammelnde Kohlensäure Schädigungen der schwersten Art hervor- 
rufen kann, beweist die Erfahrung, dass auf vollgepropften Sclavenschiffen, 
die einer Betriebsart der schlimmsten Sorte dienen, schon zahlreiche Todes¬ 
fälle durch Kohlensäurevergiftung vorgekommen sind. Experimentell lässt sich 
dies, wie bekannt, mit Thieren nachweisen. Hier wären, wenn auch nicht zu 
den Betriebsarten gerechnet, auch noch Kasernen, Gefängnisse, Schulen u. s. w. 
zu erwähnen. Ferner seien erwähnt die Erstickungen in Pflanzenhäusern, 
wobei unter anderen (Kohlenoxyd) die von den Pflanzen exhalirte Kohlensäure 
offenbar eine Hauptrolle spielt. 

Von den Gährungsprocessen kommen hier in Betracht die Gährung von 
Pflanzensäften, sowie von pflanzlichen Stoffen überhaupt. Es sind daher vor¬ 
zugsweise Leute, die mit der Wein-, Bier- und Presshefenbereitung beschäf¬ 
tigt sind, deren Gesundheit durch die übermässige Ansammlung von Kohlen¬ 
säure gefährdet ist. 

Unter besonders ungünstigen Verhältnissen können auch Todtengräber, 
Brunnenmacher, Cloaken- und Grubenarbeiter Gefahr laufen, durch Kohlen¬ 
säure vergiftet zu werden. 

Im Uebrigen scheinen viel grössere Mengen Kohlensäure ohne merkliche 
Störungen des Allgemeinbefindens ertragen zu werden, als man gewöhnlich 
anzunehmen pflegt. Ich wenigstens habe mich mit zwei Knaben von 10 und 
12 Jahren versuchsweise mehrere Tage hinter einander jeweils 8 Stunden 
täglich in einem Zimmer aufgehalten, wo der Kohlensäuregehalt der Luft 
durch künstliche Entwickelung auf 5,10 und 12°/ 0 gehalten wurde, ohne dass 
wir auch nur im Geringsten belästigt worden wären. 

Die Symptome, welche bei Kohlensäurevergiftungen auftreten, werden 
sehr verschieden geschildert. Kopfweh, Schwindel, Ohrensausen, Erbrechen 
werden als solche genannt. Wahrscheinlich hängt auch hierbei sehr viel von 
der Individualität, von der Menge, von der Zeit und vielleicht auch noch von 
anderen Umständen ab, unter denen die Kohlensäure mit der Luft eingeathmet 
wird. Bei allzugrossen Mengen oder bei der Einathmung von reiner Kohlen¬ 
säure kann natürlich, wie bei allen irrespirablen Gasen auch Betäubung und 
Tod sofort eintreten. 

3. Schwefelwasserstoff. 

Vergiftungen durch Schwefelwasserstoffgas kommen im grossen Ganzen 
bei Gewerben und Fabrikationsbetrieb selten vor. Es sind fast ausschliesslich 
die Cloakenreiniger und Canalarbeiter, welche den schädlichen Wirkungen 
dieses Gases ausgesetzt sind. Aber auch hier scheint die Individualität eine 
grosse Rolle zu spielen. Ich habe schon Leute kennen lernen, die nach kur¬ 
zem Aufenthalte in einem Raume, wo Schwefelwasserstoff entwickelt wurde, 
Kopfweh und Uebelkeit empfanden und anderntheils habe ich schon 
Patienten behandelt, welche aus eigenem Antriebe Schwefelwasserstoffgas, wie 
es dem bekannten Apparate entströmt, direct und in grossen Mengen ein- 
athmeten, weil ihnen dasselbe als gutes Mittel gegen ihren chronischen 
Katarrh empfohlen worden war, Vergiftungserscheinungen haben dieselben 
aber auch nach mehrtägigem Gebrauche dieser Cur nicht gezeigt. Angesichts 
einer grossen Zahl von Abortreinigern und Canalarbeitern, die ich lange Zeit 


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FABRIKHYGIENE. 


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beobachtete, will es mir scheinen, dass die bekannten Vergiftungserscheinun- 
gen nur eintreten, wenn Schwefelwasserstoff rein und längere Zeit in grossen 
Mengen eingeathmet wird, d. h. in Mengen, wie sie die gewöhnlichen Ver¬ 
hältnisse nicht bieten. 

4. Schwefelkohlenstoff. 

Schwefelkohlenstoff ist ein Gas, das nur in Gummifabriken Verwendung 
findet und eingeathmet wird. Als Vergiftungserscheinungen werden Kopfweh, 
Ameisenkriechen, Gliederschmerzen, Hautjucken und ein lästiger Husten ohne 
charakteristische Sputa angegeben. Ausserdem sollen psychische Exaltations¬ 
zustände und erhöhter Geschlechtstrieb entstehen, die bald einem gewissen 
Stumpfsinne, einer starken Abspannung, Muthlosigkeit und Traurigkeit weichen, 
doch sollen diese Zustände nicht bei allen Arbeitern in gleichmässiger Weise 
auftreten. 

5. Chlor-, Brom-, Jodgas oder Dämpfe. 

Das Gemeinsame dieser bei verschiedenen Betrieben sich entwickelnden 
Gase und Dämpfe liegt darin, dass sie die Schleimhäute reizen. Sie ver¬ 
ursachen daher Husten und Schnupfen. Am stärksten wirkt das Chlor. Es 
gibt Individuen, die schon anfangen zu husten, wenn sie in eine Atmospäre 
kommen, wo Chlor zur Desinfection entwickelt wird, wie dies in öffentlichen 
Aborten zur Zeit drohender Epidemien zu geschehen pflegt. In grösseren 
Mengen eingeathmet, kann Chlor sogar Blutungen der Schleimhäute ver¬ 
ursachen. Jod wirkt weniger intensiv. Längere Zeit eingeathmet oder dem 
Körper auf andere Weise zugeführt, erzeugt es aber den sogenannten „Jod¬ 
schnupfen“ und schliesslich einen kachektischen Zustand, den man „Jodismus“ 
nennt. Dass bei längerer Incorporirung von Jod Drüsen und Geschwülste 
atrophiren, ist bekannt und hat ihm dies seinen Platz in unserem Arzneischatze 
gesichert. Brom wirkt nur unter ganz besonderen Umständen schädlich, so 
dass Brom Vergiftungen unter gewöhnlichen Verhältnissen sehr selten Vorkom¬ 
men dürften. 

6. Arsenwasserstoff. 

Das Arsenwasserstoffgas ist offenbar eines der giftigsten Gase. Nach 
dem Experiment soll schon V 4 0 / 0 dieses Gases, der Luft beigemengt, imstande 
sein, Hunde, Katzen, Kaninchen und andere kleine Thiere zu tödten. 

Beim Industriebetriebe dürften jedoch Vergiftungen durch Arsen Wasser¬ 
stoffe höchst selten Vorkommen. Vorkommen mögen sie aber immerhin. Ich 
selbst wenigstens hatte seinerzeit Gelegenheit, zwei Fälle von Arsenvergiftungen 
zu beobachten, die sich auf die Entstehung und Einathmung von Arsen¬ 
wasserstoff zurückführen liessen. Es handelte sich dabei um zwei mit Metall¬ 
modeln und arsenhaltigen Anilinfarben arbeitende Handdrucker, von denen der 
eine an Arsenkachexie starb, während der andere, noch weniger lang beschäf¬ 
tigte, sich nach Einstellung der Arbeit nach und nach wieder erholte. Der 
Urin beziehungsweise die Eingeweide dieser beiden Männer ergaben, mit dem 
MARSH’schen Apparate untersucht, deutliche Arsenspiegel. 

7. Phosphorwasserstoff. 

Dass auch Phosphorwasserstoff ein sehr giftiges Gas ist, kann keinem 
Zweifel unterliegen. Ob bei Gewerben und Industrie Gelegenheit zu Ver¬ 
giftungen mit diesem Gase gegeben ist, ist mir wenigstens nicht bekannnt. 
Bei den Fortschritten, welche die Industrie täglich macht, darf übrigens 
schon darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Einathmen von Phosphor¬ 
wasserstoffgas sehr schlimme Folgen haben kann. — 

Von den Dämpfen und Dünsten, die beim Betriebe von Gewerben und 
Industrie schädlich auf die Arbeiter einwirken können, wären in erster Reihe 


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FABRIKHYGIENE. 


zu erwähnen die Dämpfe der verschiedenen Säuren, wie Salzsäure, Schwefel¬ 
säure, schwefelige Säure, Salpetersäure, Königswasser u. s. w.; ferner die 
Dämpfe von Chlor, Brom, Jod. Auch der häufig und in grossen Mengen ein- 
geathmete Dunst von Oel, Terpentin und ähnlichen Dingen kann gewiss einen 
schädlichen Einfluss auf die Gesundheit ausüben. Schon der Reiz, den all 
diese Dinge auf die Respirationsorgane ausiiben, lässt auf ihre Schädlichkeit 
schliessen. 

Dass all die bisher genannten Körper in festem Zustande oder mit 
Flüssigkeiten gemischt je nach ihrer Menge als scharfe Gifte wirken und 
dieselben Krankheitserscheinungen hervorrufen oder directe Gewebsverletzun¬ 
gen (Aetzung, Verbrennung) bewirken können, ist zu bekannt und kommen 
dieselben zu wenig in Folge gewerblicher und industrieller Betriebe vor, als 
dass dieselben hier besonders aufgeführt werden müssten. 

Dagegen muss hier der Vergiftungen besonders gedacht werden, von 
denen nicht genügend bekannt ist, wie sie entstehen oder von denen man 
annehmen kann, dass sie theils durch die Einathmung von Dämpfen, theils 
durch die Einverleibung von festen Partikeln oder durch beides zugleich ent¬ 
stehen. Dahin sind unter andern vorzugsweise zu rechnen die Vergiftungen 
durch Blei, Zink, Quecksilber, Arsen und Phosphor. 

Bleivergiftungen kommen in allen Betrieben vor, in denen mit Blei 
und dessen Präparaten hantirt wird. Doch kann im grossen Ganzen gesagt 
werden, dass diejenigen Menschen, welche mit der Gewinnung und Herstellung 
metallischen Bleies beschäftigt sind, weniger an Bleivergiftung erkranken, 
als diejenigen, welche das Blei zu technischen Zwecken verarbeiten. So sind 
es namentlich die Schriftgiesser, Schriftsetzer und Anstreicher, bei welchen 
die Bleivergiftung (Bleikolik, Bleizittern, Bleilähmung u. s. w.) in ihren ver¬ 
schiedenen Formen auftritt. 

Ueber die Art und Weise, wie und warum diese verschiedenen Erschei¬ 
nungen der Bleivergiftung zu Stande kommen, scheinen die Gelehrten noch 
lange nicht einig zu sein. Sicher ist nur, dass jeder Gefahr läuft mit der 
Zeit irgend welche Erscheinungen von Bleivergiftung an sich zu erfahren, bei 
dem Blei durch den Respirations- oder Verdauungsapparat oder durch die 
Haut in den Körper gelangt, und darnach sind dann auch die verschiedenen 
prophylaktischen Massnahmen zu treffen. 

Quecksilbervergiftungen. Aehnlich, wie bei der Bleivergiftung, verhält 
es sich mit den Vergiftungen durch Quecksilber. Auch hier sind es weniger 
diejenigen, welche mit der Gewinnung der Erze beschäftigt sind, als die¬ 
jenigen, welche mit den Dünsten des Quecksilbers iu längere Berührung 
kommen, die solchen Vergiftungen ausgesetzt sind. Es sind daher vorzugs¬ 
weise zu nennen: die Hüttenarbeiter, die Arbeiter in Spiegelfabriken, die 
Hersteller von physikalischen Instrumenten, bei denen Quecksilber benützt 
wird, und endlich die Arbeiter einzelner Betriebszweige, bei denen Quecksilber¬ 
salze verwendet werden, wie beim sogenannten Kyanisiren des Holzes und 
beim Präpariren von Haaren zur Herstellung von Hüten. 

Der Vergiftungserscheinungen, wie sie nicht selten beim medikamen¬ 
tösen Gebrauch von Quecksilberpräparaten entstehen, sei hier nur insoferne 
gedacht, als sie den Beweis von der Giftigkeit des Quecksilbers uud seiner 
Salze liefern. Vom hygienischen Standpunkte aus, ist die Vorsicht beim 
Hantiren mit Quecksilber und seinen Präparaten um so mehr zu empfehlen, 
als das einmal in den Körper gelangte Quecksilber sehr schwer wieder aus 
demselben zu bringen ist und durch seinen Verbleib eine Menge von oft 
schweren und langwierigen Krankheitserscheinungen hervorgerufen werden, 
auf die jedoch hier nicht näher eingegangen werden kann. 


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FABRIKHYGIENE. 


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Aehnliche Krankheitserscheinungen, wie durch Blei und Quecksilber 
können auch durch Silber (Argyrisinus), durch Kupfer (Cuprismus), Antimon 
(Stibismus, Antimonialismus) und durch Zink hervorgerufen werden. 

Arsenvergiftnngen. Wenn hier noch einmal von Arsenvergiftung die 
Rede ist, so geschieht dies nur, um auf den das Arsen betreffenden gewerb¬ 
lichen Betrieb im Ganzen einzugehen. Im Uebrigen mag es als Ergänzung zu 
dem bereits oben Gesagten betrachtet werden. 

Bei der Gewinnung und Verarbeitung des metallischen Arsens erkranken, 
von juckenden Ekzemen abgesehen, wenige Menschen. Auch der Umgang mit 
trockenen Arsensalzen und arsenhaltigen Farben scheint keinen schädigenden 
Einfluss auf die Arbeiter auszuüben. So habe ich beobachten können, dass 
von all den Arbeitern, welche mit den oben erwähnten, trockenen arsenhaltigen 
Arsenfarben beschäftigt waren, auch nicht einer erkrankte, trotzdem Kleider, 
Haut, Bart und Kopfhaare immer die betreffende intensive Färbung hatten. 
Ganz gleich scheint es sich bei dem bekannten, vielverwendeten Schwein¬ 
furter Grün zu verhalten. Auch bei der Hantirung mit dieser Farbe erkran¬ 
ken verhältnismässig wenige Menschen an Arsenvergiftung. Wenn nun aber 
trotzdem zahlreiche Fälle von Vergiftungen durch Schweinfurter Grün und 
durch damit gefärbte Stoffe Vorkommen, so kann es nur in der Umsetzung 
und Verdunstung des Arsens und seiner zu technischen Zwecken verwen¬ 
deten Salzen liegen, die einzig wirksame Prophylaxe der gedachten Farbe 
gegenüber wäre daher das directe Verbot derselben und der mit ihr gefärbten 
Stoffe, es müsste denn nur das Arsen bei ihrer Bereitung überflüssig werden, 
wie dies bei den Anilinfarben längst der Fall ist. 

Phosphorvergiftung. Vergiftungen durch Phosphor mit ihren schweren 
Folgen (Nekrose von Knochen), kommen bei der Fabrikation von Phosphor¬ 
zündhölzern öfter, vielleicht ausschliesslich vor. Ob es der Phosphor selbst 
oder ob es seine Oxydationsproducte sind, welche diese Krankheit hervorrufen, 
ist noch nicht sicher festgestellt. Das letztere erscheint jedoch wahrschein¬ 
licher als das erstere. 

Im Uebrigen wird die Herstellung von Phosphorzündhölzem durch 
anderweitige Herstellung von Zündhölzern immer mehr in den Hintergrund 
gedrängt und werden damit auch die Vergiftungen durch Phosphor in der 
Industrie an Zahl abnehmen, vielleicht gar nicht mehr Vorkommen. 

Des Weiteren müssen hier besprochen werden diejenigen Dinge, welche 
in Form von Staub die Luft verschlechtern und so Veranlassung, namentlich 
zu Erkrankungen der Respirationsorgane geben. 

Der Staub ist je nach seiner Herkunft verschiedener Natur. Es lässt 
sich derselbe in anorganischen und organischen eintheilen. Bei ersterem 
unterscheidet man mineralischen und metallischen, bei letzterem vegetabilischen 
und animalischen Staub. 

Rein wird der Staub nur in einzelnen Fällen und bei besonderen Gele¬ 
genheiten eingeathmet. Meist erweist sich der eingeathmete Staub als ein 
Gemisch von verschiedenen Staubsorten. Der leichteren Uebersicht halber mag 
aber hier an der gedachten Eintheilung festgehalten und mögen auch die 
Schädigungen, welche Staubinhalationen verursachen, darnach aufgeführt werden. 

1. Der Mineral- und Metallstaub. 

Die gefährlichsten Staubarten sind offenbar der Mineral- und Metall¬ 
staub, wie sie sich bei der feineren Bearbeitung von Steinen und Metallen 
entwickeln. Es Sind daher besonders die Steinhauer, Feilenhauer, Metall¬ 
schleifer und ähnlich beschäftigte Menschen, die sich durch diese Beschäftigung 


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FABRIKHYGIENE. 


die verschiedensten Erkrankungen der Athmungsorgane, vom einfachsten Ca- 
tarrh bis zur tödtlichen Lungenschwindsucht, zuziehen. 

Das Gefährliche der Steinhauerarbeit und das häufige Dahinsterben der 
damit beschäftigten Arbeiter an Lungenschwindsucht ist hinlänglich bekannt 
und statistisch nachgewiesen. 

2. Vegetabilischer Staub. 

Weniger gefährlich als der Mineral- und Metallstaub ist der vegetabi¬ 
lische Staub, wenngleich, laut statistischen Berichten, die Zahl der durch 
diese Staubsorte Erkrankten höher angegeben wird, als die der durch Mineral- 
und Metallstaub Erkrankten. Die durch vegetabilischen Staub hervorgerufenen 
Krankheiten, wie wir sie bei Dreschern, Müllern, Bäckern, Kohlen- und Russ- 
arbeitern, Spinnern, Webern, Cigarrenmachern h. s. w. antreffen, sind im grossen 
Ganzen doch seltener und leichterer Natur, trotzdem der Staub oft in un¬ 
glaublichen Mengen eingeathmet wird. Das Sputum der Drescher z. B. bildet 
oft einen förmlichen Teig von vegetabilischem und mineralischem, von der 
Ackererde herrührendem Staub, der nicht selten durch die Brandpilze des 
Getreides ganz schwarz gefärbt ist. Nichtsdestoweniger habe ich von hun¬ 
derten von Dreschern, die ich im Verlaufe der Zeit unter Augen hielt, nicht 
einen einzigen gefunden, dessen chronischen Catarrh, Emphysem, Lungen¬ 
entzündung oder Schwindsucht ich anstandslos hätte auf seine Beschäftigung 
zurückführen können. Die chronischen Catarrhe und das Emphysem der 
Müller und Bäcker dagegen lässt sich viel leichter auf den Mehlstaub zurück¬ 
führen. Allerdings fällt hier in Betracht, dass diese Leute dem gedachten 
Staube viel länger, so zu sagen Jahre lang ausgesetzt sind, bis die erwähnten 
Krankheiten sich ausbilden, während das Dreschen mit seinem gemischten 
Staube verhältnismässig nur kurze Zeit dauert. Ganz ähnlich verhält es sich 
auch mit den Spinnern, Webern und Cigarrenarbeitern. 

3. Animalischer Staub. 

Unter dem Einflüsse animalischen Staubes stehen verhältnismässig die 
wenigsten Arbeiter und dürfte derselbe auch der am wenigsten massenhaft 
sich entwickelnde und der am wenigsten schädliche sein, es müssten denn 
nur — und diese Möglichkeit liegt nahe — specifisch wirkende, pathogene 
Pilze mit demselben eingeathmen werden. Bürstenbinder, Kürschner, Sattler, 
Tuchscheerer, Schuhmacher, Hut- und Knopfmacher sind vorzugsweise durch 
animalischen Staub bedroht. 

Was nun die Prophylaxe gegen die der Luft beigemischten gas-, dampf- 
und staubförmigen Körper betrifft, so wird das Hauptgewicht dabei auf eine 
sorgfältige Lüftung der Arbeitsräume, auf möglichste Beschränkung der Ar¬ 
beitszeit und auf die Verwendung von sogenannten Respiratoren zu legen sein, 
Dinge, die man leider nur zu oft vernachlässigt findet. Namentlich bequemen 
sich die Leute sehr schwer Respiratoren zu tragen, die sich gerade bei den 
gefährlichsten Beschäftigungen sicherlich bewähren würden. Ich habe aber 
in zahlreichen Steinbrüchen z. B. bei hunderten dort beschäftigten Steinhauern 
auch nie einen einzigen Respirator gesehen. 

Licht Dass das Licht einen mächtigen Einfluss auf alles organische 
Leben ausübt, sehen wir ganz deutlich bei Pflanzen, die im Dunkeln gehalten 
werden. Aber auch Menschen, die lange Zeit des Tageslichtes entbehren, 
leiden unter diesem Mangel. Sie sehen nicht nur blass aus, sondern es leidet 
offenbar auch der ganze Haushalt des Körpers darunter Noth. 

Dass unter dem Einflüsse von zu viel und zu wenig Licht das Sehver¬ 
mögen leidet, sei hier nur gelegentlich erwähnt. 

Temperatur. Der Einfluss der Temperatur, wie sie bei industriellen Be¬ 
trieben vorkommt, ist individuell sehr verschieden. Es gibt Menschen, welche 


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FABRIKHYGIENE. 


237 


hohe and niedere Temperaturen und bedeutende Schwankungen derselben ohne 
jeglichen Nachtheil ertragen, während andere sehr empfindlich sind, weich 
und widerstandslos werden und sich alle möglichen Krankheiten dadurch 
zuziehen. 

Feuchtigkeit Der längere Aufenthalt in feuchter Luft oder bei Be¬ 
schäftigungen, wo die Kleider durchnässt werden, ist geeignet, die Gesundheit 
in verschiedener Weise zu schädigen, indem sie die Hautthätigkeit und die 
Lungenausdilnstung alteriren und so auch den Betrieb in inneren Organen 
stören oder die Haut in übermässiger Weise reizen. 

Dass das Beziehen von feuchten Wohnungen rheumatische Erkrankungen 
verursacht, ist volksthümlich bekannt. Ich habe aber auch viele Menschen 
beobachtet, die sich, meines Erachtens wenigstens, ihre Brightische Nieren¬ 
krankheit durch ihre Beschäftigung in feuchter Luft zugezogen haben. Das 
„Wie“ muss ich dahingestellt sein lassen. Es muss aber auffallen, wenn man 
in verhältnismässig kurzer Zeit mehrere Menschen aus demselben Betriebe 
an Bright’scher Nierenkrankheit zur Behandlung bekommt und bei genauerer 
Nachforschung die Entdeckung macht, dass dieser Betrieb ein feuchter ist. 

Auch hartnäckige Ekzeme habe ich bei Arbeitern entstehen sehen, deren 
Kleider bei der Beschäftigung häufig oder regelmässig durchfeuchtet wurden, 
Ekzeme, bei denen man, wenn sie lange Zeit schon bestanden und man ihre 
Heilung versuchte, deutlich den Antagonismus beobachten konnte, der zwischen 
äusserer Haut und inneren Organen existirt. Es mögen hier nur zwei Fälle 
bei Arbeitern erwähnt sein. Bei dem einen entwickelte sich sofort ein be¬ 
denklicher Lungencatarrh, sobald man daran ging, sein am Unter- und Ober¬ 
schenkel befindliches, durch Reiben der feuchten Kleider entstandenes Ekzem 
zum Verschwinden zu bringen. Der Mann starb später an Schwindsucht, war 
aber erblich in dieser Beziehung belastet. Der andere bekam regelmässig 
Diarrhoe, auch wenn das Ekzem durch Aussetzen der Arbeit von selbst anfing 
zu heilen. Später war der Mann anderweitig beschäftigt und verlor auch nach 
und nach seinen Darmcatarrh. 

Nahrung. Eine der wichtigsten Rollen spielt, wie bei allen Menschen, 
so auch bei der arbeitenden Bevölkerung die Ernährung. Bei den Fabrik¬ 
arbeitern tritt nun nicht selten der Fall ein, dass ihre Ernährung eine zu 
mangelhafte oder unzweckmässige oder schlecht zubereitete ist. 

Man muss gesehen und versucht haben, was die Leute oft essen und 
was sie trinken und man muss gesehen haben, wie sie essen und trinken, um 
zu verstehen, dass eine solche Ernährung dem Gedeihen und der Erhaltung 
eines Organismus nicht förderlich sein kann. Es würde zu weit führen, wenn 
ich hier auf all die Einzelnheiten, wie ich sie viele Jahre beobachtet habe, 
eingehen wollte. Es mag daher genügen, wenn ich im Allgemeinen anführe, 
dass die Nahrung vieler, sehr vieler Arbeiter in Bezug auf ihren Nährwerth 
zu geringe und dazu meist auch noch eine schlecht zubereitete ist, wie das 
in der Natur der Verhältnisse liegt. Die Leute sind arm, denn wer sonst 
sein Auskommen findet, geht nicht in eine Fabrik. Zudem sind sie meist 
auch schlecht unterrichtet. Man trifft nicht selten Hausfrauen bei der Fabrik¬ 
bevölkerung, die in häuslichen Dingen ausserordentlich schlecht bewandert 
sind. Wo und wie sollten sie sich auch die hierin nöthigen Kenntnisse er¬ 
worben haben, wenn sie selbst von frühester Jugend an in die Fabrik gingen 
nnd kaum Zeit fanden, sich auch nur einen Strumpf zu stricken oder eine 
Schürze zu flicken! 

So kommt es, dass die zur Verfügung stehenden geringen Nahrungs¬ 
mittel oft auch noch recht schlecht zubereitet sind. Ich habe den Kaffee, 
den sie mit in die Fabrik nehmen und im Gondensationswasser warm zu 
halten suchen, oft versucht, ich habe das Gemüse, das sie sich bereiten, ge- 


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FABRIKHYGIENE. 


kostet — von Fleisch oder sonstiger besserer Nahrung ist oft die ganze 
Woche kaum die Rede — und ich habe das meist schlecht gefunden, obwohl 
ich in dieser Beziehung gar nicht verwöhnt bin. Das allein genügte schon, 
um Leute, die nicht selten auch noch in verdorbener Luft leben, blass und 
schlecht genährt aussehen zu lassen. Das ist aber das Schlimmste noch 
nicht. In manchen Betrieben ist die Unsitte des Bier-, Wein- und Schnaps¬ 
trinkens eingerissen. Viele Arbeiter gehen einfach nüchtern zur Arbeit und 
es benützen dann nicht etwa nur Männer, sondern auch Frauen und halb¬ 
wüchsige Knaben und Mädchen die sogenannte Frühstückspause, um sich an 
geistigen Getränken zu laben und zu stärken, wie sie meinen. Es ist das 
eine Unsitte, die sich schwer rächt. 

Ueber die Kleidung ist, soferne sie den nöthigen Schutz gewährt, wenig 
zu sagen. Die Reinlichkeit wäre das einzige, was oft viel zu wünschen 
übrig lässt. 

Ueber die Wohnungen der Fabrikarbeiter dagegen liessen sich Bücher 
schreiben. Meist sind sie zu klein, dunkel, oft feucht, mit den schlechtesten 
Lagerstätten, die man sich denken kann, ausgerüstet und zu alledem oft 
noch recht unreinlich. Natürlich, die Leute haben die Mittel nicht, um sich 
bessere Wohnungen zu miethen und sie begnügen sich oft, so zu sagen, mit 
jedem Loch, um ihr ärmliches Mobiliar unterzubringen und wenigstens vor 
den Unbilden des Wetters geschützt zu sein. In einer solchen Wohnung wird 
dann noch gekocht, gewaschen, Holz getrocknet und noch so manches ge¬ 
trieben, wozu andere Menschen andere Räumlichkeiten haben. 

Wen sein Beruf zu jeder Stunde des Tages und der Nacht in solche 
Räumlichkeiten führt, dem wird es klar, warum so viele Kinder in denselben 
sterben und warum die Ueberlebenden schlecht aussehen, so oft krank sind 
und überhaupt nicht gedeihen wollen. 

Ich habe die Luft in vielen derartigen Wohnungen untersucht und ab¬ 
gesehen von dem penetranten und eckelhaften Gerüche derselben nicht selten 
2 und mehr Procente Kohlensäure darin gefunden. Nicht verschwiegen darf 
im Uebrigen werden, dass in neuerer Zeit durch die Einrichtung von Arbeiter¬ 
wohnungen sich in dieser Beziehung vieles zum Bessern gestaltet hat. 

Was endlich die Erziehung im weitesten Sinne, die Sitten und Ge¬ 
wohnheiten der Fabrikbevölkerung betrifft, so dürften dieselben, meines Er¬ 
achtens wenigstens, am meisten zu der allmäligen Degeneration derselben bei¬ 
tragen. Es ist das auch kaum anders möglich. Kinder, die oft schon von decre- 
piden Eltern erzeugt sind, im Elende geboren, schlecht genährt und wegen 
Mangel an Zeit schlecht gepflegt und erzogen werden, kann man um dessen 
Willen schon kaum eine gute Zukunft prophezeien. Sie geniessen zwar später 
die Wohlthaten der Schule, vielfach werden sie aber schon während des schul¬ 
pflichtigen Alters zu leichteren Arbeiten benützt und kommen so in die Ge¬ 
sellschaft und den Verkehr mit erwachsenen Personen, die in ihren Reden 
und Handeln oft nicht besonders vorsichtig sind. So hören und sehen sie oft 
Dinge, die für Kinder am allerwenigsten passen. 

Sobald sie der Schule entwachsen sind, rangiren sie als Arbeiter und 
Arbeiterinen und verkehren ohne Unterschied des Alters. Männer und Frauen, 
junge Burschen und Mädchen gehen mit einander zur und von der Arbeit, 
nicht selten des Nachts und grosse Strecken Weges. Dass all dies bei jungen 
Leuten mit mangelhafter oder ganz ohne Erziehung die Sittlichkeit nicht 
fördert, ist nicht schwer einzusehen. Näher lässt sich das schwer schildern. 
Thatsache ist aber, dass halbwüchsige Bürschchen und Mädchen viel zu früh¬ 
zeitig in den geschlechtlichen Verkehr mit all seinen Nachtheilen treten, zu frühe 
heirathen und Kinder erzeugen, ehe sie ausgewachsen sind, und den nöthigen 
Verstand besitzen, der zur Gründung einer Familie gehört. Die Folgen davon 
lassen sich statistisch nach weisen und es ist gar nicht zum Verwundern, wenn 


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FARBEN. 


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die Recrutirungscommissionen in Fabrikbezirken die erwartete Anzahl taug¬ 
licher Mannschaften selten finden. Ich habe es mir angelegen sein lassen, 
nachzuforschen, was aus Leuten wird, die vom Lande weg in Fabriken ver¬ 
ziehen und so konnte ich feststellen, dass von 6 Familien, die im Jahre 1844 
etwa 40 Köpfe stark in eine Spinnerei und Weberei verzogen, heute — von 
einigen Personen, die frühzeitig nach Amerika auswanderten abgesehen — 
nur noch 8 Nachkommen übrig sind und diese sind zum Theil nicht gesund. 
Es liegt also hiemit ein Beispiel vor, dass ursprünglich zahlreiche Familien 
innerhalb 50—60 Jahren unter dem Einflüsse der bisher geschilderten Dinge 
aussterben können. Es kommt dies zwar sonst auch oft in kürzerer Zeit bei 
manchen Familien vor, aber dass der Hygiene in Bezug auf Gewerbe und 
Industrie ein grosses und wichtiges Wirkungsfeld offen steht, ist nicht zu 
bezweifeln. Zu bezweifeln ist aber auch nicht, dass das, was bis jetzt durch 
Verordnungen und Gesetze zum Schutze der arbeitenden Bevölkerung geschehen 
ist, bei weitem nicht ausreicht, um die Züchtung eines Proletariats zu ver¬ 
hindern, das thatsächlich der übrigen Gesellschaft über den Kopf zu wachsen 
droht. Und dieses drohende Gespenst dürfte allem Anscheine nach so lange 
nicht verschwinden, als nicht der einzelne Familienvater im Stande ist, den 
Unterhalt für seine Familie zu verdienen und seinen Kindern eine anständige 
Erziehung zu geben. So lange Vater und Mutter von frühe morgens bis spät 
abends arbeiten müssen, um sich und ihren Kindern einen kärglichen Lebens¬ 
unterhalt zn verschaffen und dabei doch riskiren, dass ihre Söhne und Töchter 
physisch und moralisch verkommen, werden Gewerbe und Industrie das nicht 
leisten, was sie leisten sollten und vielleicht auch könnten. Das Hauptsäch¬ 
lichste der Prophylaxe auf gewerblichem und industriellem Gebiete wird also 
weniger in der Reinhaltung der Luft, in der Errichtung von Arbeiterwohnungen, 
Krankencassen, Consumvereinen, Volksküchen und wie die anderen Surrogate 
alle heissen, sondern es wird mehr in Dingen zu suchen sein, die auf die 
Kräftigung des jugendlichen Körpers, auf die Veredlung des Charakters hin¬ 
wirken, denn Armuth und Elend verkümmern Leib und Seele und machen 
den Menschen schliesslich zu allen Schandthaten und Lastern fähig. 

A. RIFFEL. 

Farben. Farben werden in ausgedehntestem Maasse angewendet zur 
Auskleidung und Ausschmückung unserer Wohnräume, zur Färbung 
unserer mannigfachen Bekleidungsstoffe, zur Herstellung von Kunst- und 
kunstgewerblichen Gegenständen, zum Verschönern und Hervorheben zahl¬ 
reicher Nahrungs- und Genussmittel. An der Benützung der Farbstoffe hat 
daher die Wohnungs-, Bekleidungs-, wie Nahrungsmittel-Hygiene ein 
lebhaftes Interesse. Indem nicht selten schädliche und giftige Farben zur 
Verwendung kommen, hat die gerichtliche Medicin Anlass, mit denselben 
sich zu beschäftigen, und sind gesetzliche Bestimmungen über Zulässigkeit 
und Unzulässigkeit gewisser Farben für bestimmte Zwecke erlassen worden. 

Man hat die Farbstoffe eingetheilt einmal nach ihrer Farbe, andrerseits 
nach ihrer Verwendung (als Baumwollen-, Leder-, Papier-Farbstoffe etc.), 
oder auch nach ihrem Vorkommen, als natürliche oder künstlich hergestellte. 
Da.aber die grossartigen Fortschritte der neueren Chemie gelehrt haben, 
einerseits die wichtigsten natürlichen Farbstoffe, wie z. B. Indigo und Alizarin, 
künstlich darzustellen, andrerseits eine Unzahl neuer prächtiger Farbstoffe 
synthetisch zu bereiten, von denen viele durch geringe Variationen in der 
Darstellung ganz verschiedene Farben ergeben, so erscheint es allein zweck¬ 
mässig, eine Eintheilung nach chemischen Gesichtspunkten vorzunehmen. 

Es sind zunächst zu unterscheiden anorganische und organische 
Farbstoffe. 


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FARBEN. 


I. Anorganische Farbstoffe. 

1. Kalkfarben: Schlemmkreide (Marmorweiss), billige Wasser- 
Anstrichfarbe; ungiftig. 

2. Barytfarben: Gefälltes Baryumsulfat (Permanentweiss); Wasser- 
Anstrichfarbe, angiftig. 

3. Chromfarben, sämmtlich giftig: Chromoxyd (Chromgrün); neutrales 
Bleichromat (Chromgelb); basisches Bleichromat (Chromzinnober); Gemisch 
von basischem und neutralem Bleichromat (Chromorange). — Färbung von 
fabrikmässig dargestellten Nudeln mit Chromgelb führte in Amerika zu einer 
Massenvergiftung. — Zwei Kinder, die einige, an einen sogenannten Bienen¬ 
korb befestigte, mit Chromgelb gefärbte Birnen gegessen hatten, gingen an 
Chromblei-Vergiftung zu Grunde. 

Weyl fand Bleichromat in Garnen; Lehmann ebenfalls in Nähgarn, 
Strickgarn, Baumwollzeug, ferner im gelben Wagenlack, im gelben Lack für 
Milcheimer, in gelb bemalten Federhaltern, Spielsachen u. s. w. Streng zu 
verurtheilen ist die Verwendung von Chromgelb zur Färbung künstlicher 
Butter, oder an Stelle von Eigelb. 

4. Arsenfarben, sämmtlich giftig: Schweinfurter Grün (Doppelsatz von 
essigsaurem und arsenigsaurem Kupfer.) Zum Färben von Papier, Tapeten, 
Teppichen, Kleiderstoffen benützt. — Scheele’s Grün (arsenigsaures Kupfer). 

5. Antimonfarben, giftig: Antimonsulfid (Goldschwefel), zum Vul- 
canisiren des Kautschuk gebraucht. 

6. Zinnfarben, giftig: Schwefelzinn (Musivgold), zur unechten Ver¬ 
goldung von Puppen, Galanteriewaaren etc. 

7. Zinkfarben, nicht giftig: Zinkoxyd (Zinkweiss), Oel-Anstrichfarbe. 

Basisches Zinkchromat (Zinkgelb), giftig als Chrom Verbindung. 

8. Manganfarben, nicht giftig: Umbra, ein Gemenge von Mangan, 
Thonerde und Eisenhydroxyden; braune Malerfarbe. 

Bister oder Manganbraun, zum Färben, Drucken, Malen. 

9. Cadmiumfarben, giftig: Schwefelcadmium (Cadmiumgelb), Maler¬ 
farbe. 

10. Uranfarben, sämmtlich giftig: Uransaares Natrium (Urangelb), 
zum Färben von Porzellan, Email, Glasflüssen, — in der Malerei als Oelfarbe 
benutzt. 

11. Eisenfarben: Eisenoxyd (gelber oder brauner Ocker, Röthel, 
Neapelroth.) Billige Anstrichfarbe für Holz und Eisen. Nicht giftig. 

12. Bleifarben, sämmtlich giftig: Bleioxyd (Bleiglätte) — Bleioxydul 
(Mennige), beide gelb, als Wasser- und Oelfarbe benutzt. 

Basisches Bleicarbonat (Bleiweiss), Malerfarbe. 

13. Quecksilberfarben, sämmtlich giftig: Quecksilbersulfid (Zinnober), 
als Malerfarbe oder zum Färben von Siegellack unbedenklich; zum Färben 
von Nahrungsmitteln verboten. 

14. Kupferfarben: Bremerblau oder Bremergrün (besteht hauptsäch¬ 
lich aus Kupferoxydhydrat), als Wasser- oder Leimfarbe hellblau, als Oelfarbe 
anfangs blau, später durch Verbindungen mit Oelsäuren, grün werdend. 

Kupferlasur und Malachit (Verbindungen von Kupfercarbonat mit Kupfer¬ 
oxydhydrat). — Oelblau (eine Verreibung von Schwefelkupfer in Oel und 
Firnissen). — Grünspan (essigsaures Kupfer). 

Kupfer ist — als Metall, wie in seinen Verbindungen — sehr weit ver¬ 
breitet, und gelangt häufig, durch die Art der Zubereitung oder Aufbewah¬ 
rung, in menschliche Nahrungsmittel. In kupfernen Gefässen gekochte Speisen 


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FARBEN. 


241 


lösen kleine Mengen Kupfer auf (vermöge ihres Gehaltes an Säuren, an 
Fetten, an Kochsalz). Den Gemiiseconserven, die durch das Erhitzen in Wasser- 
dampf ihre Farbe verloren haben, wird zur Wiedererlangung der grünen Fär¬ 
bung Kupfer künstlich zugesetzt („Reverdissage“). — Ueber die Giftigkeit des 
Kupfers gehen die Meinungen weit auseinander. Jedenfalls ist Kupfer von 
einer gewissen Menge ab, und bei häufig wiederholter Aufnahme, giftig; 
andererseits wird aber die Gefahr der Kupfervergiftung meist weit überschätzt. 
Die freie Vereinigung bayerischer Chemiker fasste 1892 zu Regensburg die 
Resolution, dass 25 mg Kupfer in 1 kg Conserven als der Gesundheit nicht 
schädlich zu erachten sei. 

In Deutschland ist seit 1887, in Oesterreich seit 1886, beziehungsweise 
1888, die Anwendung des Kupfers zum Färben von Nahrungsmitteln verboten. 

II. Organische Farbstoffe. 

Die organischen Farbstoffe werden zum weitaus grössten Theile künst¬ 
lich, und zwar aus Steinkohlentheer hergestellt („Theerfarbstoffe“). Die Farb¬ 
stoffe färben die Gewebe entweder direct: „substantive Farbstoffe,“ oder nach 
vorheriger „Beizung“: „adjective Farbstoffe.“ Die Beizung besteht in einer 
Präparation der Gewebe mit Aluminiumsulfat oder Eisenoxydulsulfat, Blei¬ 
acetat, chromsauren Salzen, Natriumarsenat, Brechweinstein etc. Manche dieser 
Beizen sind giftig; sie werden jedoch aus den gefärbten Geweben sorgfältig 
wieder ausgewaschen, so dass nur ein kleinster Theil zurückbleibt. 

Die verschiedenen organischen Farbstoffe sind charakterisirt nach ge¬ 
wissen Chromophoren Gruppen. Die Theerfarbstoffe färben entweder direct als 
solche, oder in Form ihrer carbonsauren oder sulfosauren Salze. 

1. Nitrosofarbstoffe: Chromophore Gruppe: —NO. 

Vertreter: Naphtolgrün. Ungiftig. 

2. Nitrofarbstoffe: Salze nitrirter Phenole. Zum Theil stark giftig. 

Pikrinsäure (Trinitrophenol), gelb, sehr giftig. 

Dinitrokresol, gelb, giftig; als Safransurrogat zum Färben von Butter, 
Bäckerwaaren etc. vielfach benutzt. 

Martiusgelb (Dinitro-a-Naphtol), giftig. Dient zum Färben der Maccaroni. 

Naphtolgelb (Dinitro-a-Naphtolsulfosäure), ungiftig. 

Aurantia (Hexanitrodiphenylamin), gelb; anscheinend giftig. 

3. Azofarbstoffe: Chromophore Gruppe —N=N—. Zahlreiche Farb¬ 
stoffe, anscheinend ungiftig. Die wichtigsten leiten sich ab von dem soge¬ 
nannten Congofarbstoffe. 

4. Triphenylmethan- oder Rosanilinfarbstoffe, sogenannte 
„Anilinfarben“, weil durch Oxydation von Anilin entstehend. Chromophore 

Gruppe C\R—N. Enthalten die wichtigsten und längst bekannten Farbstoffe, 

| _ ! 

wie Fuchsin, Dahlia, Malachitgrün u. s. w. — Anscheinend sämmtlich ungiftig. 
Die angeblichen Fuchsin- etc. Vergiftungen beruhen wohl mit Sicherheit auf 
Verunreinigungen mit Arsen, das den Farbstoffen von ihrer Darstellung her 
(Oxydation des Anilin mittelst Arsensäure) anhing. 

5. Rosolsäurefarbstoffe oder Aurine: Chromophore Gruppe 

/ 

^ R—0; ungiftig. 

_i 

Rosolsäure, Korallin, Paeonin. 

6. Phtaleine, Chromophore Gruppe j“\R—CO; ungiftig. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Oer. Medicin. 16 


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FARBEN. 


Hierzu gehört das Eosin. Eosin ist resorptiv ungiftig, scheint aber 
unter Umständen local reizen zu können. 

CO 

yc 

7. Anthrachinonfarben, Chromophore Gruppe 



Wichtige Farbstoffgruppe, enthält u. A. das Alizarin. Alizarin ist giftig. 
(1 ccm gesättigte Lösung Alizarinblau S tödtet Kaninchen in V« Stunde). 


8. Methylenblaugruppe, Chromophore Gruppe 


n( r >s 

X R 

i 

“N 


Hierher gehört das Methylenblau. Dasselbe besitzt intensive physio¬ 
logische Wirkungen, ist aber verhältnismässig wenig giftig. 

9. A z i n e, Chromophore Gruppe ^N- 7 • 


Hierher gehört das Safranin, ausser zur Färbung von Baumwolle zu¬ 
weilen auch zum Färben von Liqueuren benützt. Giftig (0 05 p kg subcutan 
wirken auf den Hund stark toxisch). 

10. Indigo, Indigblau C 6 H 4 <^>C=C<^>C 6 H 4 . Resorptiv ungiftig, 
aber local zuweilen reizend. 

11. Organische Farbstoffe unbekannter Constitution: Weinfarbstoff, 
Heidelheerfarbstoff, Cochenille etc. Ungiftig. 

In den meisten civilisirten Ländern hat die Verwendung von gesund¬ 
heitsschädlichen Farben eine gesetzliche Regelung erfahren. Die hierauf be- v 
züglichen Bestimmungen Oesterreich-Ungarns und Deutschlands sind unge¬ 
fähr identisch. Es genüge daher, das deutsche Reichs-Gesetz vom 5. Juli 1887 
über die Verwendung gesundheitsschädlicher Farben aufzuführen. 

§ 1. ,, Gesundheitsschädliche Farben dürfen zur Herstellung von Nahrungs- und 
Genussmitteln, welche zum Verkauf bestimmt sind, nicht verwendet werden. — Gesundheits¬ 
schädliche Farben im Sinne dieser Bestimmung sind diejenigen Färbstoffe und Farbzube- 
reitungen, welche: Antimon, Arsen, Baryum, Chrom, Kupfer, Quecksilber, Uran, Zinn, Zink, 
Gummigutti, Korallin, Pikrinsäure enthalten* “ 

In dieser Liste sind von organischen Farbstoffen äusserst wenige ent¬ 
halten. Es ist auch unmöglich, bei der Unzahl der vorhandenen und täglich 
neu dargestellten Farbstoffe eine Entscheidung über die Schädlichkeit der 
einzelnen Substanzen zu treffen. Von den aufgeführten, verbotenen Farb¬ 
stoffen ist das Korallin kaum als giftig zu bezeichnen. Dagegen sollten als 
giftig verboten werden Dinitrokresol, Safranin, Martiusgelb, Aurantia. Anstatt 
einzelne organische Farbstoffe als schädlich zu verbieten, dürfte es geeigneter 
sein, eine Liste von nachgewiesenermassen ungiftigen Farben aufzustellen, die 
allein zum Färben von Nahrungs- und Genussmitteln angewandt werden 
dürften. 

§ 2. „Zar Aufbewahrung und Verpackung von NahrungB- und Genussmitteln dürfen 
Gefässe, Umhüllungen und Schutzdecken, zu deren Herstellung Farben der in § 1 be- 
zeichneten Art verwendet sind, nicht benutzt werden. 

Auf die Verwendung von schwefelsaurem Baryt, Barytfarben, welche von kohlen¬ 
saurem Baryum frei sind, Chromoxyd, Kupfer, Zinn, Zink und deren Legirungen als 
Metallfarben, Zinnober, Zinnoxyd, Sehwefelzinn als Musivgold, sowie aller in Glasmassen, 
Glasuren oder Emaille eingebrannten Farben und auf den äusseren Anstrich von Gefassen 
aus wasserdichten Stoffen finden diese Bestimmungen nicht Anwendung.“ 

Das zur Verpackung von Nahrungs- und Genussmitteln häufig ange¬ 
wandte bunte Papier enthält nicht selten giftige Bestandtheile, namentlich 


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FARBEN. 


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Arsen (Schweinfurter und Scheele’s Grün), Pergamentpapier enthält oft ge¬ 
sundheitsschädliche Mengen Blei. 

§ 3. „Zur Herstellung von kosmetischen Mitteln dürfen die in § 1 bezeichnten 
Stoffe nicht verwendet werden. — Auf schwefelsaures Baryum, Schwefelcadmium, Chrom¬ 
oxyd, Zinnober, Zinnoxyd, Zinkoxyd, Schwefelzink, sowie auf Kupfer, Zinn, Zink und 
deren Legirungen in Form von Puder finden diese Bestimmungen nicht Anwendung.“ 

Unter diesen § fallen die Seifen, Pomaden, Haaröle, Schönheitswässer, 
Goldcream, Schminken, Lippenpomaden, Puder, Zahnpulver, Zahnseifen, Mund¬ 
wässer etc. Alle die Präparate enthalten nicht selten gesundheitsschädliche 
Stoffe; französisches Puder enthält 40—90% Bleiweiss; — französische Kopf¬ 
wässer und Haarfärbemittel enthalten Silber, Blei, Quecksilber, Zink, Wismuth, 
Schwefel und Aehnl.; — Schminken sind oft bleihaltig u. s. f. 

§ 4. „Zur Herstellung von Spielwaaren (incl. Bilderbogen, Bilderbücher, Tuschfarben), 
Blumentopfgittern, künstlichen Christbäumen dürfen die in § 1 bezeichneten Farben nicht 
verwendet werden. — Auf die in § 2, Absatz 2, bezeichneten Stoffe, sowie auf Schwefel¬ 
antimon und Schwefelkadmium als Färbemittel der Gummimasse, Bleioxyd in Firniss, 
auf Bleiweiss als Bestandtheil des sog. Wachsgusses (jedoch höchstens zu 1% der Masse), 
chromsaures Blei als Oel- oder Lackfarbe, oder mit Lack- oder Firnissüberzug, auf in Wasser 
unlösliche Zinnverbindungen (bei Gummispielwaaren jedoch nur, soweit sie als Färbemittel 
der Gummimasse, als Oel- oder Lackfarben oder mit Lack- oder Firnissüberzug verwendet 
werden), findet diese Bestimmung nicht Anwendung.“ 

Das Gesetz gestattet demnach die Anwendung giftiger Farben als Oel- 
oder Lackfarben. Dass diese jedoch durchaus nicht ungiftig sind, dafür 
sprechen Vergiftungen von Arbeitern beim Hantiren mit Chrombleilack, 
bezw. beim Mennigeanstrich, — sowie von Kühen, die an einem (noch 
feuchten) Mennigeanstrich geleckt hatten. 

§ 5. „Zur Herstellung von Buch- und Steindruck auf den in den §§ 2, 3 und 4 be¬ 
zeichneten Gegenständen dürfen nur solche Farben nicht verwendet werden, welche Arsen 
enthalten.“ 

Arsenvergiftungen sind beim Hantiren mit Banknoten mit grünem Auf¬ 
druck, Vergiftung mit Blei bei Herstellung grüner Briefmarken be¬ 
obachtet worden. Es sollte ausser Arsen die allgemeine Anwendung giftiger 
Farben für Drucksachen untersagt werden. 

§ 6. „Tuschfarben jeder Art dürfen als frei von gesundheitsschädlichen Stoffen, bezw. 
giftfrei, nicht verkauft oder feilgehalten werden, wenn sie den Vorschriften in § 4, Abs. 1 
und 2. nicht entsprechen.“ 

§ 7. „Zur Herstellung von Tapeten, Möbelstoffen, Teppichen, Stoffen zu Vorhängen 
oder Bekleidungsgegenständen, Masken, Kerzen, sowie künstlichen Blättern, Blumen und 
Früchten, dürfen Farben, welche Arsen enthalten, nicht verwendet werden. 

Auf die Verwendung arsenhaltiger Beizen oder Fixirungsmittel findet diese Be¬ 
stimmung nicht Anwendung. Doch dürfen derartig bearbeitete Gespinnste oder Gewebe 
nicht verwendet werden, wenn sie das Arsen in wasserlöslicher Form oder in solcher Menge 
enthalten, dass sich in 100 dgm mehr als 2 gm Arsen vorfinden.“ 

§ 8. „Die Vorschriften des § 7 finden auf die Herstellung von Schreibmaterialien, 
Lampen- und Lichtschirmen, sowie Lichtmanschetten Anwendung. 

Die Herstellung von Oblaten unterliegt den Bestimmungen in § 1, jedoch sofern sie 
nicht zum Genüsse bestimmt sind, mit der Massgabe, dass die Verwendung von schwefel¬ 
saurem Baryt, Chromoxyd und Zinnober gestattet ist.“ 

§ 9. „Arsenhaltige Wasser- oder Leimfarben dürfen zur Herstellung des Anstrichs von 
Fussboden, Decken, Wänden, Thüren, Fenstern der Wohn- und Geschäftsräume, von Roll-, 
Zug- oder Klappläden oder Vorhängen, von Möbeln und sonstigen häuslichen Gebrauchs¬ 
gegenständen nicht verwendet werden.“ 

Vergiftungen durch arsenhaltige Farben haben von jeher eine grosse 
Bolle gespielt. Chronische Vergiftung durch arsenhaltige Tapeten kommt 
wahrscheinlich durch Abstauben des arsenhaltigen Staubes zu Stande, in 
manchen Fällen wahrscheinlich auch dadurch, dass auf den Tapeten schma¬ 
rotzende Schimmelpilze aus der Arsensäure eine flüchtige Arsenverbindung 
bilden. In London waren von 100 Tapetenproben nur 20 frei von Arsen; 
24 enthielten Arsen in Spuren, 56 enthielten pro qm 1—600 mg arsenige Säure. 
— In Stockholm wurden von 9632 Proben von Tapeten, Geweben, Farben etc. 
41% arsenhaltig gefunden. — Mit Schweinfurter*Grün gefärbte Ballkleider 

16 * 


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FERIEN COLONIEN. 


haben schon mehrfach Vergiftungen hervorgerufen. — Die bisher als Anilin- 
farben-Vergiftungen aufgeführten Fälle sind wohl sämmtlich Arsenvergiftungen 
gewesen, herrührend von dem den Farben von ihrer Herstellung (durch Oxy¬ 
dation des Anilin mittels Arsensäure) her anhaftenden Arsen. Jetzt ersetzt 
man die Oxydation mittels Arsensäure durch ein anderes, das sog. „Coupir- 
Verfahren“, nämlich durch Oxydation mittels Nitrobenzol in schwefelsaurer 
Lösung. Das Nitrobenzol ist zwar ebenfalls giftig, es lässt sich aber, da es 
flüchtig ist, aus dem Endproduct vollständig entfernen. 

Unter den Beizen sind namentlich die Arsen- und Antimonbeizen als 
giftig hervorzuheben. Für die letzteren bestehen keine gesetzlichen Bestim¬ 
mungen, wiewohl sie zweifellos schädlich wirken können. Ein baumwollener 
Hosenstoff, der an den Schenkeln starke Ekzeme hervorgerufen hatte, enthielt 
pro qdm 0 085 g Antimon. Ein Paar baumwollene Strümpfe von 60—70 g 
Gewicht enthielt bis 0 25 g Antimon. Die freie Vereinigung bayerischer 
Chemiker schlägt vor, dass Gewebe nicht mehr als 2 mg Antimon pro qdm ent¬ 
halten dürfen. 

§ 10. ,Auf die Verwendung von Farben, welche die in § 1 bezeichneten Stoffe nicht 
alu constitnirende Bestandtheile, sondern nur als Verunreinigungen, und zwar höchstens in 
einer Menge enthalten, welche sich bei den in der Technik gebräuchlichen Darstellungs¬ 
verfahren nicht vermeiden lässt, finden die Bestimmungen der §§ 2 bis 9 nicht Anwendung. 1 

Dieser § ist eine Concession an die chemische Grossindustrie. Es ist 
der Technik unmöglich, ohne die Herstellungskosten enorm zu steigern, che¬ 
misch reine Kohstoffe anzuwenden. Des ferneren ist es äusserst schwierig, 
Niederschläge im Grossen so auszuwaschen, dass die in ihnen enthaltenen 
gelösten Stoffe vollständig entfernt werden. Das Gesetz gestattet daher einen 
solchen Gehalt an diesen fremden Bestandteilen, wie er sich bei den besten 
technischen Methoden als notwendig herausstellt. n. heinz. 

Feriencolonien Um wenigstens einen Theil der für die Gesundheit der 
Schulkinder durch den Schulbesuch erwachsenden Schäden gut zu machen, 
haben sich Institutionen gebildet, die sich dieser Aufgabe unterziehen. Diese 
Schädigungen zeigen sich am deutlichsten bei den unter schlechten Verhält¬ 
nissen lebenden Kindern des Proletariats der Grossstädte. Es steht fest, dass 
schon die Ferien allein, ohne sonstige Aenderung der Verhältnisse, auf die 
Kinder von günstigem Einflüsse sind, der sich unter anderem in einer wäh¬ 
rend dieser Zeit stärkeren Zunahme des Gewichtes äussert (Schmidt-Mon- 
nard). Diesen guten Einfluss der schulfreien Wochen des Jahres noch weit 
deutlicher zu machen, haben sich in den verschiedenen Städten Feriencolonien* 
vereine gebildet, deren Hauptaufgabe darin besteht, den die Volksschule be¬ 
suchenden Kindern einen zuträglichen Aufenthalt in Gegenden zu ermöglichen, 
die, entrückt der Atmosphäre der Grossstädte, eine Kräftigung des jugend¬ 
lichen Organismus bei entsprechenden hygienischen und Ernährungsverhält¬ 
nissen herbeizuführen im Stande sind. Ueberdies ist ein derartiger Aufent¬ 
halt zweifellos geeignet, auch auf die geistige und moralische Entwickelung 
der Kinder von dem besten Einflüsse zu sein. 

Die Feriencolonien verdanken ihre Entstehung einer Anregung des 
Pfarrers Bion aus Zürich, der im Jahre 1876 eine Anzahl Kinder in den 
Ferien zur Kräftigung aufs Land entsandte. Diese Idee fand Nachahmung und 
ist heute in ausgedehntem Masse in vielen Staaten verbreitet (Schweiz, Deutsch¬ 
land, Oesterreich, Italien, Russland, England, Amerika etc.). Die Zahl der in 
Feriencolonien verschickten Kinder ist in stetiger Zunahme begriffen. — Man 
sieht dies am besten an Deutschland, wo im Jahre 1876 eine Stadt 7 Kinder 
in Colonien sandte, 1885 bereits aus 76 Städten 9999 Kinder verpflegt wurden, 
und während der Ferien 1893 11178 Kinder diese Wohlthat genossen. 

Schobst in Hamburg kam im selben Jahre wie Bion auf denselben Ge¬ 
danken, der übrigens in ähnlicher Form schon seit 25 Jahren vor beiden in 
Kopenhagen ausgeführt worden war. 


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FERIENCOLONIEN. 


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Was den Ort der Feriencolonie betrifft, so soll er sich in gesundheit¬ 
licher und landschaftlicher Beziehung vortheilhaft von dem gewöhnlichen Auf¬ 
enthalte der Kinder unterscheiden. Die Möglichkeit ausgiebigsten Aufent¬ 
haltes in freier, gesunder Luft soll gewährleistet sein. Locale Verhältnisse 
spielen hier eine grosse Rolle. Auf entsprechende Unterkunft der Kinder ist 
stets Bedacht zu nehmen. Sehr wünschenswerth ist die Erwerbung oder Her¬ 
stellung eigener Ferienheime. Ferner ist für die Möglichkeit leichter Versor¬ 
gung der Colonisten mit hinreichenden und frischen Nahrungsmitteln, vor 
allem mit Milch, die selbstredend nicht in rohem Zustande genossen werden 
soll, frischem Fleisch etc. Obsorge zu treffen. Auch an die Erreichbarkeit 
ärztlicher Hilfe für den Nothfall ist nicht zu vergessen. 

Hat das Comitö die Mittel zur Erfüllung dieser Bedingungen aufgebracht, 
so entsendet es in der Regel unter der Leitung eines Lehrers oder einer 
Lehrerin, oder eines Lehrers und einer Lehrerin eine Anzahl Kinder in die 
Stätte des Ferienaufenthaltes. 

Die Leiter der Colonien müssen Lust und Liebe zu dieser Sache haben, 
ihre rein pädagogischen Eigenschaften während dieser Zeit vergessen können, 
mit den Kindern während dieser Zeit in entsprechender Weise wie in einer 
Familie umzugehen verstehen, da diese Tage der Erholung, nicht der Arbeit 
gewidmet sein sollen. 

Dort, wo Selbstverköstigung der Kinder der Colonie möglich ist, 
strebt man darnach, sie einzuführen. Es wird dadurch der Feriencolonie der 
Charakter der Familie gegeben, es wird weiter damit für manche Kinder, 
grösseren Mädchen z. B., die mit sind, eine leichte, zweckmässige Beschäftigung 
verschafft. Das Essen selbst soll einfach, aber gut und nahrhaft sein. 

Mehr als 20—30 Kinder soll man einem Colonieführer nicht übergeben, 
Beaufsichtigung und Beschäftigung könnten sonst leicht auf Schwierigkeiten 
stossen. Bei der Auswahl der Kinder soll man sich von gewissen Grund¬ 
sätzen leiten lassen. Eigentlich sollte sie, wie dies auch an sehr vielen Orten 
schon geschieht, stets unter ärztlicher Beihilfe geschehen. Kinder mit offenen 
scrophulösen Affektionen, Kinder mit chronischen Lungenleiden (Tuberculose), 
Kinder mit sonst schweren organischen Krankheiten (Herzfehler) und manchen 
anderen Leiden, z. B. Herpes tonsurans, Ekzemen etc., sollten Colonien mit 
sonst Gesunden principiell nicht theilen dürfen — für diese ist, in An¬ 
betracht der vollkommen anderen Bedürfnisse, in anderer Weise zu sorgen. 
Ausserdem bilden sie zum Theile eine Gefahr für die Gesunden. Auch darauf 
soll man achten, ob die Kinder nicht mit Ungeziefer behaftet sind. Leichte 
Grade von Blutarmuth, allgemeine Schwächlichkeit und Zurückgebliebenheit, 
schlechte materielle Verhältnisse der Angehörigen, das sollen die Hauptbeweg- 
griinde für das Verschicken in die Colonie bilden. Besonders unmoralische 
und verderbte Individuen fern zu halten, ist Sache der betreffenden Schule. 

Am geeignetsten für den Landaufenthalt sind die Kinder im 8.—14. 
Jahre, im schulpflichtigen Alter. Es kann nur gebilligt werden, wenn manche 
Vereine ein besonderes Augenmerk auf die älteren Kinder richten, die dem 
Ende des Volksschulunterrichtes nahe stehen, und denen der harte Kampf 
mit dem Dasein unmittelbar bevorsteht. 

Die Dauer des Aufenthaltes auf dem Lande ist nicht gleich; sie wechselt 
zwischen 2—6 Wochen. Je länger, desto besser. Es ist das sicher nicht zu 
viel für 1 Jahr Schulzimmeraufenthalt. Die Wirkungen des Aufenthaltes in 
der Colonie zeigen sich, soweit sie sich auf die körperlichen Zustände be¬ 
ziehen, in Zunahme des Körpergewichtes, des Brustumfanges, der Capacität 
der Lungen, dem frischeren Aussehen der Kinder, der Zunahme des Hämo¬ 
globingehaltes. Das alles ist durch Messungen und Wägungen und Unter¬ 
suchungen an zahlreichen Kindern festgestellt werden. Oft soll es geschehen, 
dass durch einen mehrwöchentlichen Landaufenthalt ein Kind im Stande ist, 


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JilNDELWESEN (FINDELPFLEGE). 


ein Jahr körperlicher Entwickelung nachzuholen — respective unter gleich 
schlechten Verhältnissen zurückgebliebenen um so viel vorauszukommen. Mag 
auch die Wirkung nicht stets sich ganz genau in Mass und Zahlen aus- 
drücken lassen, jedenfalls trägt ein durch eine Feriencolonie ermöglichter 
Landaufenthalt wesentlich zur Hebung der allgemeinen Constitution bei. Durch 
Belehrungen, die man den Eltern ertheilt, sucht man das in der Feriencolonie 
Erreichte für später noch nach Möglichkeit zu festigen. 

In Orten, wo es nicht möglich ist, eine grössere Zahl von Kindern ver¬ 
eint zu pflegen, sucht man sie einzeln oder in kleinen Gruppen bei Familien 
auf dem Lande für einige Wochen unterzubringen. Dies geschieht entweder gegen 
Entlohnung oder ohne Entgelt. Dieses System ist aber im Allgemeinen nicht 
so zu empfehlen, wie das erst geschilderte, und besonders in Fällen, wo keine 
Bezahlung für die Kinder entrichtet wird, nur mit Vorsicht aufzunehmen. 

Neben den Feriencolonien entwickelt sich an manchen Orten das System 
der Stadt- oder Halbcolonien. Hier vereinigen sich die Kinder inner¬ 
halb ihres gewöhnlichen Aufenthaltsortes an gewissen Sammelstätten, werden 
dort mit Brod und Milch betheiligt und machen unter Führung und Leitung 
der Lehrer Ausflüge, Spaziergänge, unternehmen Spiele im Freien etc. Man 
nennt solche Colonien auch Milchcolonien. Das System der Feriencolo¬ 
nien ist soweit verbreitet, dass jährlich Congresse in dieser Angelegenheit 
abgehalten werden. 

Die Kosten für die Verpflegung der Kinder werden von den Vereinen 
getragen. Sie schwanken je nach dem Orte zwischen 0*47—2 03 Mk. pro 
Tag und Kind (Neumann). Manche Eltern tragen etwas zu diesen Kosten 
bei, falls sie dies im Stande sind. Doch darf hiedurch dem betreffenden 
Kinde nichts zahlenden gegenüber keinerlei Vortheil erwachsen. Kinder, die 
nicht ganz gesund sind, besonders schwächliche, Scrophulöse etc., werden durch 
einen derartigen Landaufenthalt nicht wesentlich gefördert und erheischen 
Pflege und Behandlung in einem Soolbade, Seebade oder Höhenklima, wohin 
sie theils durch Spitäler, theils durch Private, theils durch Staats- und Ge¬ 
meindeeinrichtungen gesendet werden können. Dies sind jedoch Angelegen¬ 
heiten, die dem Wirkungskreise der Feriencolonievereine im engeren Sinne 
ferne liegen. J. loos. 

Findelwesen (Findelpflege). Im Alterthume war es nicht nur ge¬ 
stattet, Kinder zu tödten, sondern es war dies bei Griechen und ßömern 
unter gewissen Umständen selbst geboten. Nur die Juden bildeten in dieser 
Beziehung eine bemerkenswerthe Ausnahme. Wurden dem Untergange ge¬ 
weihte, ausgesetzte Kinder doch von Jemandem aufgenommen und gross¬ 
gezogen, dann wurden aus ihnen Sklaven. 

Das erste Findelhaus für verlassene, eheliche Kinder wurde unter Trajan errichtet. 
Constantin erliess im Jahre 318 ein Gesetz, nach welchem Kindes- und Elternmord in 

f leicher Weise bestraft werden sollte, und des weiteren ein Gesetz, dass die Gemeinde die 
'flicht habe, für verlassene Kinder die Obsorge zu übernehmen. Sollte sie dies zu thun 
nicht im Stande sein, dann musste der Staat für die nöthigen Mittel aufkommen. Durch 
die katholische Kirche angeordnet, tritt schon im 5. Jahrhunderte an die Stelle privater 
die öffentliche Fürsorge für Findelkinder. Solche wurden damals in der Regel zuerst 
Pflegeeltern übergeben und später in eigenen Anstalten (Brephotrophien) untergebracht. Noch 
im 9. Jahrhunderte findet man in vielen Kirchen Marmorbecken, in die man die Kinder 
niederlegte. Das waren die eigentlichen Findlinge. Von dort wurden sie aufgenommen 
und in geistliche Pflege übergeben. 

Bischof Dartheus von Mailand errichtete 787 die erste geschlossene Findel-Anstalt 
Nach dieser wurden viele andere errichtet, so z. B. in Montpellier, Marseille, in vielen an¬ 
deren Städten und Staaten, auch in Deutschland. Eine der grössten, die Annunciata 
in Neapel, verdankt ihr Dasein der Königin Sancia, der Gemahlin Roberts von Anjou, 
und entstand 1343. Napoleon gab 1811 die Anordnung zur Errichtung von Findelanstalten 
in sämmtlichen Arrondissements von Frankreich, Josef II. gründete 1/84 die Wiener Findel¬ 
anstalt. In Deutschland wurden zur Zeit der Reformation die meisten Findelanstalten wegen 
der schlechten Resultate, die sie erzielten, wieder aafgelassen, und an ihrer Stelle die ver- 


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FINDELWESEN (FINDELPFLEGE). 


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Iassenen Kinder in anderer Weise verpflegt (germanisches System, im Gegensätze zn 
dem romanischen). Auch in Russland wurde im Jahre 1808 die Anlage von Findel¬ 
anstalten aufgelassen, und die Findlingscolonien an deren Stelle gesetzt. Die entsprechen¬ 
den Kinder werden in den Colonien verheirateten Handwerkern zur Pflege übergeben und 
sp&ter selbst in verschiedenen Colonien angesiedelt. 

Gewöhnliche Verhältnisse vorausgesetzt, erhalten und erziehen die eigenen 
Eltern ihre Kinder. Wo dies nicht der Fall ist und sein kann, da hat die 
menschliche Gesellschaft zu anderen Mitteln die Zuflucht genommen, um die 
hilflosen Geschöpfe nicht verkommen und zu Grunde gehen zu lassen. Unter 
den Veranstaltungen, die sich mit der Pflege derartiger Wesen befassen, 
nehmen die Findelanstalten eine wichtige Rolle ein. Sie sind ein Bestand¬ 
teil der allgemeinen Kinderpflege. Sie sind in der Weise, wie sie früher 
reichlicher noch bestanden haben und heute noch bestehen, eine Frucht des 
Christenthums, wie sie in dieser Form andere Religionen nicht aufzuweisen 
haben. 

In Oesterreich sind die Findelanstalten staatliche Institute (Prag, Wien). 
Sie stehen mit Gebäranstalten in innigem Contacte. Sie sind heute nichts 
anderes als Durchgangsstationen für ihre Pfleglinge, da es sich im Laufe der 
Zeit und in Folge der gemachten Erfahrungen herausgestellt hat, dass die 
Pflege und Erziehung grösserer Mengen von Neugebornen und Säuglingen 
in geschlossenen Anstalten auf nicht zu überwindende Schwierigkeiten stösst. 
Dagegen dienen sie zum Aufenthalte und zur Pflege kranker Säuglinge, 
denen hier ein sonst nicht zu beschaffender Vortheil in Folge der Einrichtung 
and der Statuten solcher Anstalten gewährt werden kann, ein Hauptmittel 
zur Genesung, die Ernährung durch die Mutterbrust. Einzelne Findelanstalten 
nehmen deshalb auch bloss kranke Säuglinge auf, nicht eigentlich Findlinge 
(Brüssel). Dies ist wohl auch der Hauptvorzug des romanischen Systemes, 
gegenüber dem in Deutschland gebräuchlichen germanischen, wo die Kinder 
alle in derselben Weise versorgt werden wie die Waisenkinder, denen man 
in Bedarfsfälle die Brust der Amme nicht verschaffen kann. Im Gefühle 
dieses Mangels offenbar hat man deshalb in manchen deutschen Städten, z. B. 
in Breslau, Asyle gegründet, bestimmt für legitime und illegitime Mütter, 
die ihre Kinder selbst nähren und augenblicklich erwerbslos sind. In diesen 
Asylen können sie bis 6 Wochen zum Behufe des Säugens ihrer Kinder auf¬ 
genommen und erhalten werden. Dieses nur in grossen Städten durchführ¬ 
bare Princip ist unserer Meinung nach nur ein schwacher Ersatz der früher 
viel verbreiteten und jetzt noch anderswo bestehenden Art der Verpflegung 
nnd Versorgung der Findlinge. 

Findelanstalten sind in den meisten Staaten vorhanden: in Italien, Frank¬ 
reich, Oesterreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Russland, Nord-Amerika. 
Die meisten sind in Italien, wo sich fast jede grosse Stadt des Besitzes einer 
solchen erfreut, so Rom, Neapel, Mailand, Florenz, Bologna etc. 

Ursprünglich geschah die Aufnahme der Kinder in diese Anstalten 
durch die sogenannte Drehlade (la tour, la ruöta), d. h. Einrichtungen, 
die es ermöglichten, das entsprechende Kind der Anstalt zu übergeben, ohne 
mit den Bewohnern derselben in Berührung zu kommen, so dass die Herkunft 
des Kindes thatsächlich unbekannt blieb. So aufgenommene Kinder, deren 
Alter oft ungefähr geschätzt werden musste, bekamen eine mit einer Plombe 
versehene Marke mit den nöthigen Daten, und dann wurde für sie in ent¬ 
sprechender Weise weiter gesorgt. Dieses Aufhahmssystem mittels der 
Drehlade besteht noch in Spanien, Brasilien, Argentinien, zum Theile in 
Italien und im Seine-Departement in Frankreich. In den übrigen Findel¬ 
anstalten ist es beseitigt worden, und ein anderer Modus der Aufnahme der 
Kinder ist an seine Stelle getreten. Abgesehen von anderen Gründen, 
musste man mit dieser Aufnahmsart schon deshalb brechen, weil man sehr 
oft todte Kinder in der Drehlade vorfand, so in Italien in der Zeit zwischen 


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FINDELWESEN (FINDELPFLEGE). 


1890—1892 noch 742. Es sank z. B. in Orleans allein durch die Ab¬ 
schaffung der Drehlade 1855—56 die Mortalität um 13%. Es hatte das 
System der absoluten Verheimlichung der Geburt noch viele andere Nach¬ 
theile. Es fehlten dem Kinde und der Mutter alle Vortheile, die eine ge¬ 
ordnete Geburts- und Wochenbettmöglichkeit beiden selbstverständlich gewährt. 
Auf diese Weise konnte einer der Hauptzwecke der Anstalten: Verhütung 
und Beschränkung des Kindesmordes und des Aussetzens der Kinder sicher 
nicht erreicht werden. Dazu kam noch der Einfluss des Transportes auf die 
im zartesten Alter stehenden Kinder, die oft bei jeder Witterung und Jahres¬ 
zeit, unter den denkbar schlechtesten Verhältnissen dem ersten besten für 
die Abgabe in die Anstalt mitgegeben wurden. So kamen sie mitunter 
thatsächlich erfroren in derselben an (Moskau). Es sprechen alle mensch¬ 
lichen Gefühle für das Brechen mit diesem System. 

Das heutige Findelbaus nimmt also in der Regel nicht mehr eigentliche 
Findlinge auf, sondern ist in allererster Linie für die unehelichen Kinder 
bestimmt. Die Aufnahme geschieht nicht überall unter den gleichen Be¬ 
dingungen und Modalitäten. Wer sich über die Einzelheiten dieser in den 
verschiedenen Anstalten unterrichten will, dem bleibt nichts übrig, als diese 
in den Statuten derselben, die selbstverständlich nicht überall mit einander 
übereinstimmen, nachzusehen. Hier ist es unmöglich, die Details alle anzu¬ 
führen, wir müssen uns auf principielle und allgemeine Vorschriften be¬ 
schränken. 

Die Findelanstalten bezwecken vornehmlich die in einer mit ihr in Ver¬ 
bindung stehenden Gebäranstalt geborenen unehelichen Kinder in ge¬ 
eignete Familien unterzubringen. Diese Familien erhalten hiefür monatlich 
eine entweder aus dem Landesfonde oder aus anderer Quelle zu bestreitende 
Entlohnung. So erwirbt jede ledige Frauensperson, deren Namen, Orts¬ 
zugehörigkeit, Armuth amtlich nachgewiesen ist, die sich auf eine Klinik der 
Gebäranstalt aufnehmen und zum Unterrichte daselbst verwenden lässt, 
die sich nach Austritt aus der Klinik durch 4 Monate zu Ammendiensten in 
der Findelanstalt verpflichtet, den Anspruch auf 6jährige Versorgung ihres 
Kindes auf öffentliche Kosten (Prag). Ist oder wird die Mutter zur Zeit der 
Geburt krank, kommt das Kind allein in die Anstalt. 

Das Findelhaus nimmt jedoch nicht nur uneheliche Kinder auf, sondern 
unter Umständen selbst eheliche, falls diese die Eltern verloren haben, oder 
wenn selbe Gefängnisstrafe verbüssen müssen, manchmal auch, wenn die 
Mutter nach der Entbindung im Gebärhause nicht im Stande ist, zu stillen. 

Da man mit der künstlichen Ernährung der Säuglinge sehr schlechte 
Erfahrungen gemacht hat, werden die Kinder in den Findelanstalten an der 
Brust behalten. In Folge der Verpflichtung der Mütter zum Säugen, ist dies 
leicht möglich. Nur für den Fall des Todes des eigenen Kindes erlischt diese 
Verpflichtung, sich als Amme in der Anstalt verwenden zu lassen, für die 
Mutter. In der Regel sucht man es zu erreichen, dass jede Amme bloss ein 
Kind stillt. Bei Ammenmangel erhält sie noch ein zweites. Die Mortalität 
in den Anstalten steigt sofort, sobald man gezwungen ist, einer Amme mehr 
als ein Kind an die Brust zu legen und betrug in Folge dieser Umstände 
in Moskau gelegentlich trotz Ammenernährung unter den Säuglingen bis 60%. 
Ausserdem müssen sich in manchen Anstalten die Ammen auch noch zu 
leichten häuslichen Arbeiten verwenden lassen. 

Die kranken Säuglinge werden selbstverständlich in der Anstalt so 
lange als nothwendig behalten. Die gesunden trachtet man in der Regel 
sobald als möglich in die Aussenpflege zu geben, d. h. passende Pflege¬ 
eltern für sie zu finden. — Man trachtet, für Säuglinge Leute zu finden, die 
die Kinder wiederum an die Brust nehmen. In erster Linie kommt hier in 
Betracht die eigene Mutter, die natürlich zumeist stets das Recht hat, das 


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FINDELWESEN (FINDELPFLEGE). 


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Kind als eigen zu reclamiren und es aus dem Verbände der Anstalt zu 
nehmen. Dann kommen in Betracht die Verwandten, weiter von der Mutter 
zu bezeichnende Pflegeparteien, wobei unter sonst gleichen Umständen Brust¬ 
parteien den Vorzug erhalten, schliesslich ganz Fremde nach dem Gutachten 
des Vorstandes der Anstalt. 

Man gibt auch mehr als ein Kind einer Partei zur Pflege, dann ver¬ 
schiedenen Alters und Geschlechtes zur Vermeidung von Verwechselungen. 

Die Dauer der Aussenpflege ist bei den verschiedenen Anstalten 
ungleich. Sie beträgt 6 Jahre in der böhmischen, 10 in der nieder¬ 
österreichischen Findelanstalt. Dann muss das Kind von der Mutter oder 
Heimatsgemeinde zurückgenommen werden und mit diesem Zeitpunkte hört 
auch die Geheimhaltung der Mutterschaft auf, es sei denn in anderer Weise 
für das Kind Vorsorge getroffen worden. — Immer hat jedoch auch während 
dieser Zeit die Mutter das Recht, ihr Kind an sich zu nehmen. — In der 
Zwischenzeit hat der Anstaltsdirector die Vormunds- und elterlichen Rechte 
über das Findelkind. Die Pflegepartei kann das Kind gegen Kündigung 
zurückstellen, es kann amtlich bei Reclamirung seitens der Mutter, bei 
schlechter Pflege seitens der Anstalt zurückverlangt werden. 

In Mailand bleiben die Kinder bis zum 15. Jahre in der Aussenpflece und kehren dann 
in die Anstalt zurück. Mädchen können dann bis zum 25. Jahre in derselben verbleiben, 
werden in Arbeitsschulen beschäftigt, können zu Hebammen ausgebildet werden etc. In 
den romanischen Ländern kann die Mutter überhaupt nur unter erschwerenden Umständen 
ihr einmal der Anstalt übergebenes Kind zurückerhalten. 

In Frankreich bleiben die Kinder bis zum 18. Jahre bei den Pflegeeltern, verdingen 
sich dann als Arbeiter. 

In Russland kommen sie nach 6wöchentlichem Anstaltsaufenthalte in die Pflege, 
in der sie in der Regel bis zur Majorennität verharren. — Wieder andere Satzungen gelten 
für das Foundlings Asylum in London, für die Anstalten in New-York u. s. w. 

Nicht auf die Dauer wie die unehelichen Kinder, sondern nur für eine 
gewisse Zeit werden wirkliche Findlinge, d. h. weggelegte Kinder, verpflegt, 
ferner Kinder, die man von anderen Orten als von den Gebärkliniken erhält, 
Kinder, deren Eltern im Strafhause oder in Untersuchungshaft sich befinden, 
sich in ganz besonderer Noth befinden. 

Die Controle über die in Aussenpflege befindlichen Kinder ist in 
allererster Linie Pflicht der Anstalt. Sie muss von jedem Todesfälle ver¬ 
ständigt werden, sie fordert in manchen Fällen das Kind zurück, falls bei 
Brustparteien dieser übernommenen Verpflichtung nicht nachgekommen wird, 
bei schlechter Erziehung, Anleitung zur Unmoralität, Vagabondage, Bettelei etc., 
falls das Kind bei anderen als den Parteien angetroffen wird, denen es über¬ 
geben worden war. Unterstützt wird die Findelanstalt bei dieser Beauf¬ 
sichtigung theils von der öffentlichen Behörde, theils von den Seelsorgern. 

In manchen Gemeinden gibt es eigene Findelväter, Findelkindererzieherinnen, die 
wiederum dem Pfarrer Bericht erstatten. Mitunter werden die Kinder selbst regelmässig 
ärztlich untersucht, z. B. seitens der Annunciata jährlich zweimal. In Frankreich, wo 
nach dem 12. Jahre keine Pension mehr gezahlt wird, controlirt die Findelhausdirection 
das Kind bis zur Grossjährigkeit. ln Moskau verliert jede Mutter, die sich durch 3 Jahre 
um ihr Kind nicht gekümmert hat, vollkommen das Recht, es je zurückzufordern. 

In die Annunciata kommen jährlich etwa 2000 neue Kinder. Dies nur einige 
Beispiele. 

Die Sterblichkeit in den Findelanstalten war in den früheren Jahren 
eine sehr grosse — eine so grosse, dass dieser Umstand als ein Hauptgrund 
zur Aufhebung der Anstalten benützt wurde. — Es hiess nicht ganz mit 
Unrecht, in den Findelanstalten sterbe jedes zweite Kind. Ja, in Irkutsk 
betrug während zweier Jahre die Mortalität 100%, so dass kein Kind in 
dieser Zeit dortselbst 1 Jahr alt wurde. Nebst nicht ganz tadellosen 
hygienischen Verhältnissen trugen noch manche andere Umstände Schuld 
an der hohen Mortalität, die vornehmlich Kinder des ersten Lebensjahres 
betrifft. Zu den am meisten unter diesen verbreiteten Krankheiten zählen: 


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FINDEL WESEN (FINDELPFLEGE). 


Soor, Diphtherie, angeborene Syphilis, Dermatitis, Skierödem, Blenorrhoea 
neonat., Darmkatarrhe, septische Erkrankungen. Ein grosser Theil der 
Kinder betritt schon krank die Anstalt. Dazu kommt, dass ein Theil der 
Kinder, schwächlich, nicht mit dem Normalgewichte ausgestattet, das Licht 
der Welt erblickt, dass die Entwicklungsbedingungen dieser Kinder in der 
Regel sehr schlechte waren, da es sich zumeist um uneheliche handelt und 
ausserdem noch um solche aus den allerschlechtesten Verhältnissen. Auch 
der Umstand, dass mitunter mehr als ein Kind einer Amme an die Brust 
gegeben werden musste, trug zur Vergrösserung der Sterbeziffer bei. In 
Folge Erkenntnis all dieser Umstände, in Folge Besserung der Verhältnisse 
der Anstalten und auch der mit ihnen vereinigten Gebärkliniken ist es jetzt 
wohl überall besser geworden. 

In Italien beträgt die Mortalität jetzt circa 21 — 35 °/ 0 . Die absolute 1886 in Prag 
9 ‘ 7 °/ o , 1894 — 14 ' 22 ' 0 , während zn derselben Zeit die Sterblichkeit der Findlinge im 
1 . Lebensjahre 3717°/ 0 war. Dabei sind in derselben Anstalt in diesem Jahre 3057 Kinder 
neu anfgenommen worden und erstreckte sich die Pflege im Ganzen auf 10.249 Kinder. 

Die niederösterreichische Findelanstalt verpflegte im Jahre 1895 insgesammt 26.986 
Kinder, bei 6.986 Neuaufnahmen in diesem Jahre. Die allgemeine Mortalität war 127%, 
die der Kinder im ersten Lebensjahre 40'8°/ 0 . — Nähere Auskünfte über diese Verhältnisse 
erhält man aus den jährlich in den einzelnen Anstalten erscheinenden Berichten. Hier 
mögen diese Beispiele genügen. 

Die hygienischen Anforderungen, welche an die Findelhäuser selbst 
gestellt werden, decken sich mit denen, die man im Allgemeinen heute an 
Spitäler zu stellen gewohnt ist. In der Pariser Anstalt kommt jedes Kind 
zuerst in Quarantaine zur Feststellung allenfallsiger Erkrankungen. Syphi¬ 
litische werden auf besondere Abtheilungen aufgenommen und erhalten wo¬ 
möglich eine syphilitische Amme. — Alle Kinder trachtet man rasch aufs 
Land zu geben, um sie im Erkrankungsfalle wieder in die Anstalt zu nehmen. 
Kränkliche, schwächliche und syphilitische Kinder pflegt man überhaupt in 
der Anstalt zu behalten und nicht vor ihrer Genesung in Aussenpflege zu 
übergeben. 

Auch die Entlohnung für die in Aussenpflege befindlichen Kinder ist nach An¬ 
stalten und Ländern eine ungleiche. — Für besonders gute Pflege zahlen manche An¬ 
stalten eigene Prämien (Mailand). Wird das Kind Eltern oder Grosseltern zur Pflege über- 

f eben, pflegt die Entlohnung in der Hegel eine geringere zu sein, als bei ganz fremden 
ieuten, meist nur */ 8 des gewöhnlichen Pflegegeldes zu betragen. Doch ist durchaus nicht 
immer die eigene Mutter die beste Pflegerin des Kindes. In Frankreich versucht man die 
Mütter durch Angebot eigener Unterstützungen zur Eigenpflege zu bewegen (secours aux 
Alles möres, bon de nourrice, secours d’orphelins). 

In Neapel erhalten die Pflegeeltern mitunter keine Entschädigung, mitunter die 
ersten 18 Monate 5 Lire. Ammen erhalten JO—12 Lire pro Monat Ein Prager Findelkind 
kostet im ersten Lebensjahr circa 78 fl., später circa 48 fl. pro Jahr; für ein Rostocker 
Armenkind pflegt etwa 120 Mark pro Jahr gerechnet zu werden (Uffelmann). Kommt ein 
Findelkind später in den Besitz von Vermögen, dann kann dieses zum Ersatz der Findel¬ 
kosten eventuell herangezogen werden. 

Die Zahl der in Findelanstalten verpflegten Kinder ist eine ziemlich 
grosse — 1888 kamen in Russland etwa 7$ aller Gebomen in Findelpflege. — 
In Böhmen soll es durchschnittlich x / 10 sein. In Prag wurden in der Zeit 
von 1880—1884 13.780 Kinder von der Findelanstalt aufgenommen. Wie 
statistische Untersuchungen erwiesen haben, ist der Vorwurf, den man den 
Findelanstalten gemacht hat, die Zahl der illegitimen Geburten zu vermehren, 
nicht stichhältig. Es hat sich gezeigt, dass deren Ziffer von manchen anderen 
Factoren, nicht jedoch von dem Bestände der Findelanstalt im Lande ab¬ 
hängig ist. Dass jedoch bei grosser Zahl illegitimer Kinder durch die 
Findelanstalt Kindesmord und Verwahrlosung der Kinder verhütet werden 
kann, das ist sicher. Auch hat es sich gezeigt, dass, wo keine entsprechende 
Fürsorge getroffen wird, das System der Engelmacherinnen blüht, die zahl¬ 
reiche Kinder einem langsamen, aber um so sichereren Elende, Siechthum 
und Untergange entgegenführen. Es controlirt sie ja Niemand. Dass die 
Erhaltung von Findelanstalten viel Geld kostet, das lässt sich nicht leugnen, 
ist aber kaum als Vorwurf aufzufassen. Es wird doch zweckmässig verwendet. 


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FLEISCHBESCHAU. 


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Dagegen ist es nicht ganz unberechtigt, zu behaupten, dass die Ein¬ 
richtung der Findelanstalten die natürlichen Bande der Blutsverwandtschaft 
und Familienzusammengehörigkeit zerreisse. Doch ist auch dieser Nachtheil 
in Anbetracht der Rettung, Erhaltung und Erziehung so zahlreicher, sonst 
leicht dem Verkommen preisgegebener Geschöpfe nicht allzu ernst zu nehmen. 

— Und dies um so weniger, als mit dem System der geheimen Aufnahme 
und des Geheimhaltens der Eltern für immer doch im Allgemeinen und mit 
Recht gebrochen ist. Gänzlich ist dieselbe noch nicht aufgehoben. In 
Russland, wo ebenfalls nur gegen Beibringung eines Geburtszeugnisses 
Kinder in Findelanstalten aufgenommen werden, ist bei Erlag von 25 Rubeln 
die Möglichkeit geboten, dieses in einem geschlossenen Couvert zu übergeben. 

— Dass man das Geheimnis der unehelichen Mutter, so weit dies statthaft 
ist, durch die Satzungen der Anstalt zu wahren sucht, finden wir für recht 
und billig. (Näheres im Statut der niederösterreichischen Landes-Gebär- 
und Findelanstalt § 13, 14, 31 etc.). 

Die Findelanstalten waren und sind ausserdem Stätten des Studiums 
für viele physiologische und pathologische Verhältnisse des Kindesalters, 
denen wir sehr viele diesbezügliche Kenntnisse verdanken. Manche sind mit 
Gebärkliniken verbunden, einige noch mit anderen (Annunciata mit vier). 
Dass sie nebstbei das Publicum mit ärztlich geprüften Ammen versorgen, 
nur nebenbei. Betrachtet man die Findelanstalten als Durchgangsstationen 
für gesunde Säuglinge, als Pflegestätten für kranke, als Controlstätten für 
die in Aussenpflege sich befindlichen Kinder, so ist, die besten hygienischen 
Einrichtungen vorausgesetzt, in Anbetracht des meist traurigen Geschickes 
der unbeaufsichtigten zahlreichen Kost- und Haltekinder, zumal in Verbindung 
mit ebenso zweckmässig eingerichteten Gebäranstalten, im Interesse der Nach¬ 
kommenschaft deren Vermehrung und Verbreitung zu wünschen, j. loos. 

Fleischbeschau. Das Fleisch steht mit seinem grossen Nährwerthe, 
den es infolge seines hohen Protein- und angemessenen Fettgehaltes besitzt, 
sowie mit der Eigenschaft, unter den verschiedensten Formen zubereitet und 
genossen werden zu können, mit Recht obenan unter den animalischen Nah¬ 
rungsmitteln, namentlich der besser situirten Volksclassen. Es bildet dem¬ 
entsprechend sowohl als solches, als auch in Form verschiedener Fleisch- 
waaren und Conserven, einen sehr wichtigen Handelsartikel, bei dessen Ver- 
werthung nicht selten getrachtet wird, minderwerthige oder werthlose, ja sogar 
schädliche Waare unerlaubter Weise in den Verkehr zu bringen. 

Solche Regelwidrigkeiten hintanzuhalten, das Fleisch consumirende 
Publicum vor Uebervortheilungen und noch mehr vor Beschädigungen seiner 
Gesundheit zu schützen, ist Aufgabe einer nach wissenschaftlichen Principien 
functionirenden Fleischbeschau. Die Regelung derselben ist auf Grund der 
modernen medicinischen Anschauungen theils bereits erfolgt, theils erst im Zuge, 
und ist derzeit in den meisten Ländern ein besonders hiezu angestelltes 
Sanitäts-Personale mit deren Durchführung beschäftigt. 

Die Fleischbeschau bildet derzeit schon eine besondere medicinische 
Disciplin, die in ihren Einzelheiten im Rahmen dieses Artikels nicht erschöp¬ 
fend dargestellt werden kann, wozu aber hier auch keine Nothwendigkeit vor¬ 
liegt, nachdem der Arzt sowohl als solcher, als auch als Sanitätsbeamter nur 
mit einem Theile derselben in Berührung zu kommen pflegt. 

Die Fleischbeschau zerfällt nämlich in ihrer praktischen Durchführung 
in zwei, scharf getrennte Theile. Nachdem der Werth und die Beschaffenheit 
des Fleisches in erster Reihe von der Gattung, dem Ernährungs- und Gesund¬ 
heitszustände des betreffenden Thieres abhängt, müssen diese Momente in 
einem jeden einzelnen Falle nothwendigerweise strenge berücksichtigt und 
auf ihren Einfluss eingehend geprüft werden. Dies hat unmittelbar vor und 


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FLEISCHBESCHAU. 


nach der Schlachtung za geschehen and dieser Theil der Fleischbeschau ist 
jedenfalls der wichtigere, denn wo derselbe strenge durchgeführt wird, kann 
zum Detailverkauf nur solches Fleisch gelangen, dessen entsprechender Werth 
und Unschädlichkeit vorher, auf der Schlachtbank, bereits constatirt wurde. 
Diese Aufgabe, zu deren Erfüllung ganz specielle Kenntnisse der Anatomie 
und der Pathologie der Schlachtthiere nöthig sind, ist derzeit fast überall 
Thierärzten oder hiezu besonders geschulten empirischen Fleischbeschauern 
übertragen. 

Die Controle des Fleischverkehres seitens der Aerzte beginnt gewöhnlich 
mit dem Momente, wo das Fleisch den Schlachthof oder die Schlachtbank 
verlässt, beziehungsweise als fertige Waare dem consumirenden Publicum 
feilgeboten wird. Abgesehen von den kleinen Thieren, die auch im Ganzen, 
jedoch auch da gewöhnlich ohne die wichtigsten inneren Organe, verkauft 
werden, handelt es sich in der Regel nur um mehr-minder grosse Fleisch- 
stücke, die bloss nach den ihnen anhaftenden Eigenschaften, ohne Kenntnis 
der Beschaffenheit der wichtigeren inneren Organe des betreffenden Thieres, 
beurtheilt werden müssen. Eine eingehende Untersuchung des Fleisches 
selbst ist, trotz der vorangegangenen thierärztlichen Untersuchung, umsomehr 
geboten, als Fleisch auch postmortale Veränderungen erleiden kann, die die 
ursprünglich gesunde Waare eventuell zu einem schädlichen Nahrungsmittel 
gestalten. Ausserdem wird aber die Untersuchung auf der Schlachtbank, 
besonders auf dem Lande, nicht immer von gehörig geschulten Organen und 
auch nicht immer in einwandsfreier Weise durchgeführt, wo dann eine Nach¬ 
prüfung jedenfalls wünschenswerth erscheint. Endlich unterliegt von Aussen 
zugeführtes Fleisch, sowie das Geflügel und das Wildpret, das vorher über¬ 
haupt keiner Untersuchung unterzogen wurde, nothwendigerweise der sanitäts¬ 
polizeilichen Controlle. 

Die Gesichtspunkte, die für die Durchführung dieser Letzteren mass¬ 
gebend sind, wollen wir, mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Arztes, im 
Nachstehenden in Kürze erörtern.*) 

Merkmale des Fleisches nach den Thiergattungen. 

Die Gattung des Thieres bestimmt in erster Reihe den Marktwerth des 
Fleisches. Dieser hängt namentlich vom Verhältnisse der Protei'nsubstanzen, 
der Fette und des Wassers zu einander ab, und dieses Verhältnis variirt 
innerhalb weiter Grenzen je nach der Gattung der Schlachtthiere. Wird nun 
hiebei auch die Schmackhaftigkeit der einzelnen Fleischarten, sowie die Vor¬ 
liebe der Consumenten für gewisse Sorten, beziehungsweise ihre Abneigung 
gegen einzelne derselben, in Betracht gezogen, so ergibt sich ohneweiters 
die Nothwendigkeit, dass der Verkäufer stets die gewünschte, dem Markt- 
werthe entsprechende Fleischsorte an die Abnehmer zu verabreichen habe 
und ist es klar, dass die Unterschiebung nicht gewünschter Sorten eine Be- 
nachtheiligung des consumirenden Publicums bedeutet, die auch im sanitäts¬ 
polizeilichen Interesse hintangehalten werden soll. 

Das Fleisch zeigt nun Verschiedenheiten, je nach der Thiergattung, die 
zumeist auch dem minder geübten recht auffällig sind. Es gilt dies besonders 
von der Farbe des Fleisches, die durch den sehr verschiedenen Hämo¬ 
globingehalt der Muskelsubstanz bedingt ist, welch’ letzterer jedoch auch mit 
dem Alter und der Art der Ernährung zusammenhängt, derart, dass der¬ 
selbe bei neugeborenen und bei ausschliesslich mit Milch genährten Thieren 

*) Weitere Orientirung bieten die Handbücher der Fleischbeschau, wie: 

Ostertag, Handbach der Fleischbeschau. Stuttgart 1892. 

Schmidt-Mülheim, Handbuch der Fleischkunde. Leipzig 1884. 

Baranski, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau. Wien und Leipzig 1887. 

Villain et Bascou, Manuel de l’inspecteur des viandes. Paris-Bruxelles 1886* 
Complement hiezu v. J. 1888. 


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sehr gering ist, später aber, bei Trockenfütterung, stufenweise ansteigt. 
Weiterhin ist die Beschaffenheit des Fettes zuberticksichtigen, indem 
dessen Farbe und Oleingehalt, somit die Consistenz und der Schmelzpunkt, 
sehr verschieden sein kann. Endlich müssen die mit dem Fleische zusammen¬ 
hängenden Skeletttheile in Augenschein genommen werden, und in zweifel¬ 
haften Fällen können die anatomischen Unterschiede im Baue der einzelnen 
Knochen ausschlaggebend sein. Diesbezüglich muss hier lediglich auf die 
anatomischen Handbücher, sowie auf eine eigens zu Zwecken der Fleischbeschau 
zusammengestellte Studie P. Martin’s in der Zeitschrift für Fleisch- und 
Milchhygiene (Bd. I., H. 5—11) verwiesen werden, während die sonstigen 
Merkmale der hier in Betracht kommenden Fleischarten nachfolgend kurz 
angeführt werden sollen. 

1. Rindfleisch. Die Farbe variirt zwischen blassroth und dunkelroth; 
Rinder mittleren Alters, sowie auch Kühe, haben ein schön bräunlichrothes, 
derbfaseriges, elastisches Fleisch von gleichmässigem Glanze, während solches 
von Bullen oder von alten Kühen stärker dunkelroth und zähe ist. Das je 
nach dem Mastzustande in verschiedener Menge vorhandene Fett ist z. Theil 
zwischen die Muskelfaserbündeln eingelagert, wodurch die Querschnittfläche 
der Muskeln ein marmorirtes Aussehen erhält (bessere Sorte), oder es hat sich 
nur im Unterhautbindegewebe, sowie unter den serösen Häuten in dickeren 
Schichten angesammelt. Es hat eine weisse oder gelbliche Farbe (letztere 
besonders bei älteren Thieren), ziemlich feste Consistenz und schmilzt bei 
41—50° C (ca. 32% Olein). 

Büffel haben ein ganz ähnliches Fleisch, nur ist das Fett oft von dunkler gelber 
Färbung, und kann zuweilen am Fleische ein eigenartiger Moschusgeruch wahrgenommen 
werden. 

2. Kalbfleisch. Das Fleisch von über zwei Wochen alten Kälbern ist 
zart rosaroth, elastisch, sehr fettarm; nur bei Mastkälbern hat sich stellenweise, 
jedoch nicht zwischen die Muskelfaserbündel, Fett angesetzt. Letzteres ist 
weiss, weicher als Rinderfett, erstarrt jedoch ebenfalls bei Zimmertemperatur. 

3. Schaf-(Hammel-)Fleisch. Es ist gewöhnlich hellroth, eventuell bei 
älteren Thieren mehr dunkelroth, von mässig fester Consistenz. Fett ist 
zwischen den Muskelbündeln entweder gar nicht, oder nur spärlich vorhanden, 
hingegen unter der Haut und in der Bauchhöhle bei gemästeten Thieren in 
erheblicher Menge angesammelt; es ist weiss, fest und schmilzt bei 41—52° C 
(ca. 30% Olein). 

4. Ziegenfleisch. Im Allgemeinen dem Hammelfleisch sehr ähnlich, 
jedoch sehr fettarm und enthält auch das Unterhautbindegewebe nur sehr 
wenig Fett, wohingegen die Nierenkapsel fast immer in ein dickes Fettlager 
eingeschlossen ist. Das Fett ist rein weiss und noch fester, als jenes von 
Schafen. 

Sowohl dem Schaf- als dem Ziegenfleisch haftet, namentlich bei Böcken, ein speci- 
flscher Geruch an, der für sich allein für die betreffende Thiergattung bezeichnend ist. 

5. Schweinefleisch. Ist im Aussehen dem Kalbfleische ähnlich, jedoch 
mit Fett stark durchwachsen, und ausserdem bildet letzteres mächtige Schichten 
unter der Haut (Speck) und in der Bauchhöhle; es ist weiss oder schwach 
gelblich gefärbt und schmilzt bei 40 5—48° C, das Nierenfett bei 30° C 
(ca. 62% Olein). 

Das bedeutend minderwerthige Fleisch von Ebern ist dunkelbraunroth and hat einen 
eigenartigen Ebergeruch. 

6. Pferdefleisch. Es ist grobfaserig, von dunkelbraunrother Farbe, die 
an der Luft noch stark nachdunkelt und einen bläulichen Schimmer erhält, 
Consistenz wenig fest, so dass kleine Fleischstückchen zwischen den Fingern 
zerrieben werden können. Das Fett, das gewöhnlich nur unter der Haut (am 
Bauche) und um die Bauchorgane abgelagert ist, während die Muskeln selbst 


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FLEISCHBESCHAU. 


fettarm sind, ist entschieden gelb, weich, ölig, schmierig und schmilzt schon 
bei 30—32° C (96% Olein). 

Pferdefett hat ein hohes Jodabsorptions-Vermögen; seine Jodzahl ist 
79.71—85.57 (gegenüber 49.74—58.45 bei Ochsenfleischfett). Es gilt dies auch für das 
intramusculäre Fett, das mit Petroläther aus der Trockensubstanz isolirt werden kann. 

Dem Pferdefleische entströmt, namentlich im frischen Zustande, ein eigentümlicher 
Pferdestallgeruch, der nach Zündel bei Zusatz von concentrirter Schwefelsäure noch 
mehr hervortreten soll (Leyskking und Bascou erhielten jedoch hiemit nicht immer zu¬ 
treffende Resultate). 

Endlich enthalten Pferdemuskeln relativ viel Glykogen, welcher Umstand dessen 
Nachweis auch in gehacktem Fleische ermöglicht. Hierauf soll weiter unten bei Besprechung 
der Fälschungen näher eingegangen werden. 

7. Hundefleisch. Ist dunkelbraunroth, mässig fest, etwas klebrig; das Fett, 
besonders im Unterhautbindegewebe und in der Bauchwand in dickerer Schichte 
angesetzt, weiss oder gelblich, von widerlichem Geruch, auffallend weich und 
schmierig; schmilzt bereits bei 22.5° C. 

8. Wildpret. Das Fleisch der im Freien wild lebenden Thiere ist ge¬ 
wöhnlich dunkelbraunroth, wenig ausgeblutet und fettarm. Unterschiebungen 
pflegen nur in der Richtung vorzukommen, dass Fleisch von gewöhnlichen 
Schlachtthieren als Wildpret verwendet wird. Die wichtigsten Anhaltspunkte 
bieten, ausser den anatomischen Differenzen, der höhere Blutgehalt und der 
für die betreffende Thierart oft specifische Geruch des Fleisches. 

Beschaffenheit des Fleisches nach dem Alter der Thiere. 

Sowohl von gar zu jungen, als auch von sehr alten Thieren stammen¬ 
des Fleisch ist als minderwerthig zu betrachten. Jenes von kaum einige 
Tage alten Thieren hat vermöge seines hohen Gehaltes an Wasser und an 
leimgebenden Substanzen einen sehr geringen Nährwerth, ausserdem ist es 
aber nicht selten Träger schädlicher Substanzen wegen der im frühen Alter 
nicht seltenen septischen Erkrankungen. Alte Thiere hingegen haben ein 
sehr zähes, fettarmes, schwer verdauliches Fleisch. 

Es sollten Kälber vor der dritten oder höchstens zweiten Woche, Lämmer, 
Zicken und Ferkel vor Ablauf der ersten Woche überhaupt vom Consume 
ausgeschlossen werden. Hingegen darf das Fleisch von alten, aber sonst ge¬ 
sunden Thieren unter Declaration verkauft werden. 

Nachdem junge Thiere gewöhnlich im Ganzen in den Fleischer-, bezie¬ 
hungsweise Selcherläden gehalten werden, ist es möglich, auch hier das Alter 
wenigstens annähernd zu bestimmen. Hauptsächlichste Zeichen der Un¬ 
reife sind: An der Bauchwand noch hängender Nabelstumpf, beziehungsweise 
noch klaffende Nabel wunde; offene Nabelgefässe und darin frische, der Gefäss- 
wand nicht adhärirende Blutgerinnsel; lebhaft geröthetes Zahnfleisch; lebhaft 
rothes Knochenmark. Das Fleisch selbst ist kaum etwas geröthet, feucht, 
schlaff, schlitzig, fettlos und lässt sich mit dem Finger leicht durchstossen. 
Der die Nieren umgebende Fettpolster ist gelblich oder schwach geröthet und 
durchfeuchtet. 

Jedesmal sollen die Nabelgefässe an der Bauch wand, sowie die Gelenke 
behufs Constatirung einer eventuell vorhandenen pyämischen Erkrankung 
eingehend untersucht werden (s. unten unter „Septikämie“ und „Pyämie“). 

Geruch des Fleisches. 

Gewisse Fleischarten haben einen eigenthümlichen Geruch, der von dem 
gewöhnlichen, angenehmen Fleischgeruch differirt und • für die betreffenden 
Thierarten charakteristisch ist. Die Beschaffenheit dieser besonderen Gerüche 
lässt sich näher kaum definiren, und ist deren Erkennen jedenfalls nur durch 
persönliche Uebung möglich. 

Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass schon das Schaf-(Hammel-) 
Fleisch und noch mehr der Talg dieser Thiere, eigenthümlich riecht; ein 


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ähnlicher, jedoch schon widerwärtiger Geruch haftet aber dem Fleische der 
Widder und noch mehr jenem der Ziegenböcke an, u. zw. in so hohem Grade, 
dass solches Fleisch einzig aus diesem Grunde nicht als vollwerthig betrachtet 
werden kann. Verschieden und für die betreffende Thierart ebenfalls speci- 
fisch ist der Geruch des Fleisches von alten Ebern und von Spitzebern 
(zuweilen gemahnt derselbe an Urin). Endlich entströmt dem Pferdefleische 
und noch mehr dem Hunde fleische ein eigenartiger Geruch, der beim 
letzteren süsslich-eklich ist und in noch verstärktem Masse am Hundefette 
wahrgenommen werden kann. 

Ausser diesen, eigentlich normalen Geröchen, kann das Fleisch, unabhängig von der 
Thiergattang, abnorme Gerüche erhalten, die es widerwärtig, ekelhaft and darum für den 
Consum an brauchbar machen können. So kann Fleisch nach verschiedenen Arzneien, 
wie Karbolsäure, Theer, Kampher, Aether, Asa foetida, Terpentin etc. riechen, wenn die 
Thiere mit solchen Mitteln innerlich behandelt oder in stark riechenden Räumen (z, B. stark 
desinficirten Waggons oder Stallungen) gehalten worden sind, oder weil das Fleisch selbst 
diese Gerüche während der Aufbewahrung an sich gezogenhat. Weiterhin soll Fleisch von 
Schafen, denen innerlich Schwefel verabreicht wurde, nach Schwefelwasserstoff riechen. 

Die Fütterungsweise kann dem Fleische ebenfalls einen abnormen 
Geruch verleihen. So hat Fleisch von Schweinen, die mit Fischen gefüttert 
wurden, namentlich nach dem Kochen einen eigenthümlichen Fischgeruch, 
während das Fett beim Ausschmelzen zuweilen nach Thran riecht. Anhal¬ 
tende Fütterung mit Spülicht kann dem Schweinefleische einen süsslich faden 
Geruch verleihen. In südlichen Gegenden (Italien, Frankreich) hat man nach 
Verbitterung des Bockshornes (Trigonelia foenum graecum) einen höchst 
unangenehmen, an Schweinemist erinnernden Geruch am Fleische wahrgenom¬ 
men (Morot). 

Mangelhaft ausgeblutetes Fleisch. 

Fleisch kommt, mit Ausnahme des Wildpretes, stets in möglichst aus¬ 
geblutetem Zustande in den Verkehr (die sogenannte englische Patent-Schlacht¬ 
methode ohne Verblutung ist nur in einigen englischen Städten üblich). Blut¬ 
leere des Fleisches kann wohl als zuverlässiger Beweis gelten dafür, dass im 
betreffenden Thiere im Momente der Schlachtung die Nerven- und Herzaction 
noch kräftig war. Hiemit im Gegensätze kann aus einem ungewöhnlich hohen 
Blutgehalte des Fleisches darauf geschlossen werden, dass dem Thiere erst in 
der Agonie oder sogar erst nach dem natürlichen Tode die Adern geöffnet 
worden sind. 

Nachdem am ausgeschroteten Fleische der Grund des zu späten Abste- 
chens nur höchst selten nachgewiesen werden kann, und somit gefährliche 
Krankheiten als Ursachen der Nothschlachtung stets zu gewärtigen sind, muss 
nicht gehörig ausgeblutetes Fleisch stets als verdorbenes Nahrungsmittel be¬ 
frachtet und als solches dem Consume entzogen werden. Es gilt dies natür¬ 
lich in noch höherem Masse vom Fleische von umgestandenen Thieren. 

Mangelhaft ausgeblutetes Fleisch hat eine dunklere Farbe und sind die 
Adern im intermuskulären Bindegewebe mit Blut gefüllt; aus dem Fleische 
lässt sich eine grössere Menge dunkelrothen Blutes auspressen. Dabei sind 
die Aponeurosen, sowie die serösen Häute, oft von einem zarten Netze stark 
injicirter Kapillargefässe durchsetzt, das denselben eine von Weitem gleich- 
mässig röthliche Färbung verleiht. Noch mehr tritt der hohe Blutgehalt an 
den inneren Organen (Lungen, Leber, Herzvorhöfe) hervor, ausserdem in 
grösseren Venenstämmen, von denen besonders die Achselvenen besichtigt zu 
werden verdienen. 

Infolge des Blutreichthums geht das Fleisch rasch in Fäulniss (s. u.) über, 
und nachdem das Blut, von dem die Zersetzung ausgeht, in den Fleischstücken 
ziemlich gleichmässig vertheilt ist, tritt die charakteristische Verfärbung in 
allen Theilen fast gleichzeitig auf, zu allererst aber am Rande der Schnitt¬ 
flächen als ein Saum von trüber erdiger Farbe (Villain), sowie in den Brust- 
und Psoasmuskeln (Mandel). 


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FLEISCHBESCHAU. 


Ab und za wird versucht, das Blat aas dem Fleische durch Einlegen in messendes 
Wasser za entfernen. Es gelingt dies wohl mehr-weniger, jedoch ändert sich hiedarch auch 
die Farbe der Mnskolatnr, indem dieselbe verblasst and zugleich die Fleischstücke ein 
wässeriges Aussehen erhalten. 

Fälschungen. 

Im Fleischhandel finden Uebervortheilungen vor Allem in der Weise 
statt, dass infolge ihres geringen Nährwerthes oder aus einem anderen Grunde 
minderwerthige Fleischarten statt der gewünschten, höher bezahlten Sorten 
dem Käufer angeboten werden. Namentlich wird getrachtet, Pferdefleisch als 
Bindfleisch, seltener Ziegenfleisch als Hammelfleisch, und nur ausnahmsweise 
Hundefleisch als Schweinefleisch zu verwerthen. Die Hintanhaltung solcher 
unredlicher Manipulationen gelingt auf Grund der oben angeführten Merkmale 
zumeist ohne Schwierigkeit. 

Bedeutend schwieriger gestaltet sich die Unterscheidung des Fleisches 
nach Körperregionen, wenn demselben die Knochentheile nicht mehr an- 
hängen. Hiezu sind ganz eingehende praktische Kenntnisse der Muskelfor¬ 
mationen nach Begionen, sowie des Skelettes nöthig, die wohl nur bei pro- 
fessionsmässigen Fleischhauern, Selchern und Fleischbeschauem vorausgesetzt 
werden können. Strittige Fälle werden sich daher nur unter Zuziehung solcher 
Special-Experten lösen lassen. 

Praktisch wichtiger ist die Beurtheilung der Fälschungen von Wurst- 
fabrikaten, wobei zu denselben einestheils ungewohnte Fleischarten, anderer¬ 
seits statt des Fleisches fremde Substanzen beigemischt werden. Es ist 
namentlich das Pferdefleisch, das infolge seines niedrigen Preises statt 
Schweine-, Kind- oder Kalbfleisch verwendet wird, wobei die Täuschung umso 
leichter gelingt, als solche Beimischungen sich weder durch den Geschmack, 
noch durch den Geruch bemerkbar machen. In Verdachtsfällen gelingt jedoch 
der Nachweis von namhafteren Pferdefleischmengen in Fleischgemischen durch 
die Feststellung des Glykogengehaltes derselben. 

Schon früher hatte Lim*richt Dextrin*), 0. Nasse Glykogen ans Muskeln verschie¬ 
dener Thiere dargestellt, jüngstens aber hat Niebel nachgewiesen, dass letztere Substanz 
in Pferdemuskeln in bedeutend grösserer Menge vorhanden ist, als im Fleische der übrigen 
Schlachtthiere. Seine Untersuchungen zeigten nämlich, dass, während der Glykogengehalt 
des Rindfleisches zwischen 0 und 0-204% variirt, im Hammel- und Schweinefleische aber 
kaum Spuren desselben nachzuweisen sind, Pferdefleisch 0*373 bis 1‘072% Glykogen enthält 
Die kleinsten im Pferdefleische gefundenen Werthe übersteigen daher die höchsten bei den 
anderen Fleischarten erhaltenen Werthe, und ein Glykogengehalt von nahezu l°/o 
oder darüber spricht entschieden für Pferdefleisch. Die diesbezüglich be¬ 
stehenden erheblichen Differenzen **) ermöglichen demnach namhaftere Mensen von Pferde¬ 
fleisch auch in Fleischgemischen nachzuweisen, mit Sicherheit jedoch nur dann, wenn die 
Waare in noch ziemlich frischem Zustande zur Untersuchung gelangt, denn später wandelt 
sich das Glykogen in Dextrin um. 

Zur Reindarstellung, bez. quantitativen Bestimmung des Glykogen 
dient gewöhnlich das von Brücke angegebene und von Kulz modificirte Verfahren. 

Das zu untersuchende Material — 50 g — wird mit 3—4°/ 0 Aetzkali und dem 4 fachen 
Wasservolumen auf dem Wasserbade 6—8 Stunden erhitzt, bis dasselbe vollständig zerkocht 
ist. Nachdem die Flüssigkeit bis auf die Hälfte eingedampft und erkaltet ist, werden die 
N-haltigen Substanzen durch abwechselnden Zusatz von Salzsäure und Quecksilberjodid- 
Jodkaliumlösung (Brücke’s Reagens) gefällt. Alsdann wird der Niederschlag auf ein Filter 
gebracht, das Filtrat nochmals durch Zusatz von Salzsäure und Quecksilber-Jodkalium- 
lösung geprüft, ob auch sämmtliche N-haltigen Bestandtheile ausgefüllt sind, der Rückstand 
in einer Reibschale unter Zusatz von Salzsäure, Quecksilber-Jodkaliumlösung und Wasser 
verrieben und wieder filtrirt. Letztere Operation wird so oft wiederholt, bis das Filtrat auf 
Zusatz von Alkohol keine Trübung mehr erkennen lässt. Das Filtrat bildet alsdann ge¬ 
wöhnlich eine klare und bei Anwesenheit von Glykogen opalescirende Flüssigkeit. Zeit¬ 
weilig, speciell im Sommer, erscheint die Flüssigkeit etwas getrübt. Um dies zu ver¬ 
meiden, setzt man, wenn die Flüssigkeit nach Zusatz von Salzsäure und Quecksilberjodid- 


*) Niebel hat es nie nach weisen können, auch Limpricht nur in 3 Fällen. 

**) Nur im Fleische von Kaninchen, Hunden und Katzen erreicht der Glykogengehalt 
bis 0*9% (Nasse); relativ viel Glykogen, nach M. Donnell bis 50% der Trockensubstanz, 
enthält ausserdem fötales (nüchternes) Kalbfleisch. 


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Jodkaliumlösung sich nicht klar abgesetzt hat, soviel Natron zn, dass die Mischung schwach 
sauer reagirt, säuert darauf mit Salzsäure wieder etwas mehr an und filtrirt; alsdann ist 
das Filtrat stets schön klar. 

Zur Abscheidung des Glykogens wird das Filtrat unter Umrühren mit dem 2 1 /a-fachen 
Volumen 90%-igen Alkohols versetzt und, nachdem das Glykogen sich abgesetzt hat, filtrirt. 
Das Glykogen wird darauf mit 60, dann mit 90%-igem, schliesslich mit absolutem Alkohol, 
mit Aether und wieder mit absolutem Alkohol gewaschen und nach dem Trocknen bei 
110° C gewogen. So dargestellt, ist das Glykogen in der Regel frei von Stickstoff und 
Asche, doch ist es nothwendig, sich davon jedesmal zu überzeugen. 

Bedeutend weniger sicher ist der Nachweis des Pferdefleisches durch die Bestimmung 
der vorhandenen Zuck er menge, bez. der reducir enden Substanz überhaupt, ob¬ 
zwar hohe Werthe, ca. 1 % der entfetteten Trockensubstanz diesbezüglich ebenfalls begrün¬ 
deten Verdacht erregen (auch bei gepökeltem, gebratenem oder geräuchertem Fleisch). Neben 
dem Gehalt an Glykogen, bez. an reducirenden Substanzen muss unbedingt auch die braun- 
rothe Farbe des Objectes nachgewiesen werden, um den Einwand, dass der Gehalt an 
Kohlehydraten durch (nüchternes) Kalbfleisch bedingt sein könne, auszuschliessen. Anderer¬ 
seits genügt bei Vorhandensein der braunrothen Farbe auch schon der qualitative Nach¬ 
weis von Glykogen zum Nachweise des Pferdefleisches (Niebel). 

Zur Bestimmung des Zuckergehaltes werden 100 g des feingehackten 
Fleisches, bez. Fleichgemisches mit der öfachen Menge Wasser 2 Minuten gekocht und 
kolirt, der Rückstand mit Wasser gut verrieben, abgepresst und diese Operation noch 
zweimal wiederholt. Die Flüssigkeit wird auf weniger als 100 ccm eingeengt, filtrirt und 
das Filtrat, nachdem man es etwas alkalisch gemacht hat, auf 150 ccm gebracht. Zur 
Titrirung erhitzt man 1 ccm FEHLiNG’scher Lösung mit 4 ccm Wasser und lässt von dem 
Fleischauszuge bis zur Entfärbung zulaufen (Niebel). 

Bräutigam und Edelmann behaupten, das Fleischwaare, deren Abkochung auf 
Zusatz von Jodwasser eine Rothfärbung erfährt, im begründeten Verdachte stehe, Pferde¬ 
fleisch zu enthalten. Die Zuverlässigkeit ihrer Methode, die vermöge ihrer Einfachheit in der 
Praxis sehr werthvoll wäre, ist aber von Niebel in Abrede gestellt worden. 

Beimischungen von Stärke- und Kartoffelmehl zu Würsten 
sind ebenfalls als Fälschungen zu betrachten, jedoch nur dann, wenn ihre 
Menge 2% der Wurstmasse übersteigt. Geringere Mengen werden nämlich 
jetzt schon fast allgemein als Bindemittel verwendet bei der Herstellung ge¬ 
wisser Wurstarten (sogen. Koch- oder Bratwürsten), um die Fähigkeit des 
Fleisches, Wasser zu binden, zu erhöhen. 

Die Anwesenheit von Stärke überhaupt lässt sich mit Leichtigkeit feststellen, einer¬ 
seits durch die Jodreaction (die Schnittfläche wird mit LuGOL’scher Lösung betupft, 
worauf blaue Färbung entsteht), anderseits u. z. sicherer durch den mikroskopischen Nach¬ 
weis der Amylumkörner (concentrisch geschichtete Körperchen mit excentrisch gela¬ 
gertem Kerne). 

Dieser Nachweis genügt jedoch an sich nicht zur Feststellung des objectiven That- 
bestandes der Fälschung, sondern es ist hiezu die quantitative Bestimmung der Stärke¬ 
menge, bez. des durch Kochen mit Säuren aus der Stärke gebildeten, invertirten Zuckers 
erforderlich. Bezüglich der hiezu geeigneten Methode muss hier auf die chemischen Hand¬ 
bücher Tiingewiesen werden. 

Das Färben des Fleisches und der Fleischwaaren, besonders 
der Würste und des Hackfleisches, involvirt ebenfalls den Thatbestand der 
Fälschung. Zumeist wird zwar hiebei nur der Zweck verfolgt, sonst weniger 
entsprechendes Aussehen gefälliger zu gestalten, — was übrigens auch nicht 
zu billigen ist, weil hiedurch der Marktwerth unbegründeter Weise gehoben 
wird, — hie und da wird aber auch bereits verdorbene und darum allenfalls 
schädliche Waare durch das Färben marktfähig gemacht. Die Unterscheidung, 
bez. Erkennung des letzteren Umstandes ist aber im gegebenen Falle eben 
durch diese künstliche Färbung unmöglich gemacht. 

Als Färbemittel werden gewöhnlich schon in hochgradiger Verdünnung stark 
rothfarbende Substanzen, namentlich Anilinroth oder Fuchsin, sowie Cochenüle, bez. Karmin 
(im Handel „Kamit“) benützt. Nachdem Fuchsin im Aethyl- oder Amylalkohol, Karmin 
aber in Glycerin (Klinger und Bujard), sowie auch in Ammoniak enthaltendem Alkohol 
(Petsch) leicht löslich ist, lassen sich die genannten Farbstoffe leicht nachweisen. In der 
Praxis dürfen Fleisch- und Wurstwaaren, die mit Alkohol, bez. Glycerin oder ammoniak- 
halti gern Alkohol behandelt, diese roth färben, getrost beanstandet und der weiteren che¬ 
mischen Untersuchung überwiesen werden. 

Das Aufblasen des Fleisches durch Einpressen von Luft in die 
Maschen und Lymphräume des subcutanen und intermuskulären Bindegewebes.. 

Bibi. med. Wissen schaffen. Hygiene n. Ger. Medicin. 17 


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FLEISCHBESCHAU. 


verfolgt den Zweck, fettarmer Waare das Aussehen gemästeter Waare zu ver¬ 
leihen, indem die weiss schimmernden Luftbläschen den Eindruck von Fett¬ 
klümpchen machen und gleichzeitig die Waare voluminöser erscheint. Es 
handelt sich somit um eine Benachteiligung des Käufers, indem ihm für 
einen höheren Preis in Wirklichkeit minderwertiges Fleisch als gemästetes 
und daher vollwertiges abgegeben wird. Aufgeblasenes Fleisch ist aber auch 
aus dem Grunde im Fleischerladen zu beanstanden, weil die Untersuchung 
der Fleischwaare nicht festzustellen vermag, ob die Luft aus einem reinen 
oder unreinen Blasebalge oder aber aus dem Munde und den Athmungsorganen 
eines, möglicherweise kranken, Menschen herstammt. 

Aufgeblasenes Fleisch ist als solches unschwer zu erkennen. Die schil¬ 
lernde, glänzende Schnittfläche des Bindegewebes ist schon geeignet, den Ver¬ 
dacht diesbezüglich zu erwecken, ausserdem aber lässt sich das hier schwam¬ 
mige Gewebe, durch Verdrängen der Luftblasen, leicht zusammenpressen, 
wobei oft auch ein leises Knistern zu fühlen ist. 

Postmortale Veränderungen des Fleisches. 

Unter den Veränderungen, die das Fleisch während des Aufbewahrens 
erleiden kann, ist die Fäulniss ohne Zweifel die wichtigste. Das Fleisch 
bietet vermöge seiner chemischen Zusammensetzung einen überaus günstigen 
Boden für die Ansiedelung von Spalt- und Schimmelpilzen, die dann, bei 
günstiger Temperatur und Feuchtigkeit, Zersetzungsprocesse hervorrufen, die 
unter dem Sammelnamen „Fäulniss“ zusammengefasst werden. 

Nachdem das Fleisch während der Ausschrotung in verhältnismässig 
hoch temperirten Bäumen aulbewahrt wird, so geht dasselbe, bei nicht ge¬ 
nügend raschem Absätze, leicht in Fäulnis über und kommt daher der Sanitäts¬ 
beamte gar nicht selten in die Lage, dieselbe an Fleischwaaren constatiren zu 
können. Eine richtige Erkennung der Fäulniss ist aber aus dem Grunde von 
hoher Wichtigkeit, weil unter den chemischen Fäulnissproducten einige giftiger 
Natur sind und der Genuss zersetzten Fleisches die unter den Namen Allan- 
tiasis und Botulismus bekannten schweren Erkrankungen zur Folge haben 
kann. 

Das Fleisch erleidet nun in Folge der Fäulniss Veränderungen, die zum 
Theil auch in objectiver Weise festgestellt werden können. Die hauptsäch¬ 
lichsten Merkmale der Fäulniss sind: 

1. Der eigenthümliche, anfangs süssliche oder säuerliche, später »ashaft 
stinkende Geruch, der auch bei geringer Uebung als solcher zu erkennen 
ist. Derselbe macht sich bereits im Anfangsstadium der Fäulniss bemerkbar, 
wo das Fleisch noch ein vollkommen entsprechendes Aussehen haben kann. 
Es trifft dies besonders für grössere Fleischstücke zu, die auch Knochen ent¬ 
halten, nachdem die Fäulniss oft eben vom bluthaltigen Knochenmarke aus¬ 
gehend, in den tieferen, dem Knochen unmittelbar anliegenden Schichten 
zu beginnen pflegt. 

2. Die Verfärbung und Erweichung des Fleisches ist gewöhnlich 
nur im bereits etwas vorgeschrittenen Stadium der Fäulniss bemerkbar. Mit 
der Zersetzung der Muskelsubstanz erhält nämlich deren mehr-weniger ge¬ 
sättigte rothe Farbe einen Stich in’s Graue, bez. Grünliche (die grüne Färbung 
ist besonders charakteristisch); ausserdem verliert die Muskulatur zugleich 
den gleichmässigen Glanz und hat überhaupt ein schmutziges Aussehen. Die 
schmutziggraue, bez. grüne Färbung tritt vielleicht noch mehr am Binde¬ 
gewebe und namentlich dort hervor, wo dieses die markhaltigen Knochen um¬ 
fasst. Mit Rücksicht auf den letzteren Umstand müssen in Verdachtsfällen 
recht tiefe, bis an den Knochen heranreichende Einschnitte gemacht, allenfalls 
auch die Knochen gespalten werden. 


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FLEISCHBESCHAU. 


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Gleichzeitig verlieren die Muskeln ihre Elasticität, werden schlaff, weich, 
später schmierig; zwischen den Fingern gedrückt, sickert eine schmutzig 
braune, klebrige Flüssigkeit hervor, die bei vorgeschrittener Fäulniss auch 
Gasblasen enthält. 

Das Fett erhält ebenfalls eine schmutziggraue oder gelbe, event. grün¬ 
liche Färbung, wird weicher und lässt sich mit den Fingern leicht ver¬ 
schmieren, was namentlich bei jenen Fleischarten auffällt, deren Fett sonst fest 
und starr zu sein pflegt; auch verbreitet fauliges Fett einen eigenthümlich 
ranzigen Geruch. 

Ist die Fäulniss bereits sehr vorgeschritten, so hat sich dessen Ober¬ 
fläche mit einer schlickrigen, klebrigen Schichte bedeckt, in der sich auch 
Schimmelpilze und im Sommer oft auch Fliegenmaden anzusiedeln pflegen 
(die Anwesenheit der Letzteren beweist jedoch für sich allein noch nicht die 
Fäulniss). 

Weichheit und Schlaffheit, neben nnangenehmem Geruch und widerlichem Geschmack, 
sind auch beim Speck Zeichen eines ungesunden Zustandes. 

3. Alkalische Reaction der Muskelsubstanz. Während das 
Fleisch in der Todtenstarre und auch später, so lange es frisch ist, eine 
saure Reaction besitzt (Milchsäure!), schlägt dieselbe, infolge Auftretens von 
Ammoniak als Fäulnissproduct, in die alkalische um. Die Alkalescenz, die 
durch Aufdrücken eines Streifens Lackmuspapier auf die Schnittfläche des 
Fleisches leicht nachgewiesen werden kann, ist somit ein sehr werthvolles, 
objectiv festzustellendes Merkmal der Fäulniss, es gelingt jedoch deren Nach¬ 
weis nur in bereits vorgeschritteneren Stadien der fauSgen Zersetzung. (Es 
handelt sich hier natürlich um die Reaction der nicht geräucherten und nicht 
gepökelten Muskelsubstanz). 

4. Auftreten von freiem Ammoniak im Fleische (Eiweiss) ist, im 
Falle dessen Nachweis gelingt, an und für sich entscheidend für die Consta- 
tirung der Fäulniss. W. Eber hat hiezu folgende praktische Methode em¬ 
pfohlen: 

In ein gewöhliches Reagensglas oder ein cylindrisches Glasgefäss überhaupt wird von 
der Reagensflüssigkeit soviel geschüttet, dass der Boden bis zu einer Höhe von ca 1 cm 
bedeckt wird. Das Reagens selbst besteht aus je 1 T. conc. Salzsäure und Aether sulf., 
und 3 T. Alkohol. Nachdem das mit dieser Flüssigkeit beschickte Glas einmal umge¬ 
schüttelt und dadurch die Wandungen angefeuchtet wurden, wird ein kleines Stückchen 
des zu untersuchenden Fleisches (oder Wurstmateriales) au das Ende eines Glasstabes ge¬ 
klebt, rasch und ohne Berührung der Wand in das Glas so eingeführt, dass dessen unteres 
Ende ca 1 cm von dem Flüssigkeitsspiegel entfernt bleibt. 

Die aus der Reagensflüssigkeit aufsteigenden Chlorwasserstoff-Alkohol-Aether- 
Dämpfe bilden bei Anwesenheit von Ammoniak einen mehr-weniger dichten Nebel, der die 
Probe umhüllt, allmählig den Glascylinder erfüllt und später sich an der Wand desselben 
als weisser Belag niederschlägt. Die Probe muss in einem ammoniakfreien Raume aus¬ 
geführt werden und soll die Temperatur des Untersuchnngsobjectes, des Reagensglases und 
des Glasstabes möglichst gleichförmig sein. 

Der Eintritt der Fäulniss hängt natürch von der Temperatur und 
der Feuchtigkeit des Raumes ab, in welchem das Fleisch aufbewahrt wird; zu 
warme, schlecht ventilirte und unreine Localitäten eignen sich darum nicht 
zu diesem Zwecke. 

Das Fleisch selbst geht desto früher in Fäulniss über, je weniger con- 
sistent und je blutreicher es ist. Aus diesem Grunde verdirbt verhältnis¬ 
mässig rasch das Fleisch von umgestandenen oder nothgeschlachteten und 
nicht gehörig ausgebluteten Thieren; ausserdem Hammelfleisch und Schweine¬ 
fleisch, namentlich in den Partieen um das Becken und die Nieren herum, 
während das Fleisch der grösseren Schlachtthiere länger der Fäulniss 
widersteht. 

Noch rascher als im Fleische tritt die Fäulniss in den stets mehr Blut 
enthaltenden parenchymatösen Organen ein. Die Leber, die Nieren 

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FLEISCHBESCHAU. 


und das Gehirn haben ganz besonders eine geringe Haltbarkeit. Die ersteren 
werden dabei brüchig und erhalten eine verschwommene braunrothe oder 
schmutzig grünliche Färbung, die die normale Zeichnung der Schnittfläche 
verdeckt. Die Gehirnmasse erscheint schmutzig röthlich, wie blutig durch¬ 
tränkt, wird sehr weich, breiartig und verbreitet einen* äusserst widerlichen 
Geruch. 

Die mikro b kopische Un tersuchung der Fleischwa&ren bat bei der Constatirong 
der Fäulniss weniger Bedeutung. Za derselben eignet sich besonders der aas den ver¬ 
dächtigen Fleischstücken ausgepresste, hier schmutzigröthliche Muskelsaft, der von ver¬ 
schieden geformten Bakterien geradezu wimmelt und ausserdem feine Detrituskorner und 
Fetttröpfchen enthält. Aehnlich ist der Befand in der erweichten Muskelsubstanz, wobei 
in den Muskelfasern die Querstreifung vollkommen geschwunden oder nur mehr stellen¬ 
weise erhalten ist. 

Hinsichtlich des Bakterienbefundes ist zu berücksichtigen, dass die bei der Fäulniss 
vorkommenden Bakterien (die häufigsten sind Proteus-Arten) zum grössten Theile an sich 
nicht pathogen sind. Kraus hat im Beginne der Fäulniss, bei noch frischem Aussehen 
des Fleisches, fünf Bakterienarten aus den tiefergelegenen Schichten ausgezüchtet, von 
denen sich keine als pathogen erwiesen hat Von den pathogenen Spaltpilzen sind zu 
nennen: der GÄRTNER’sche Bacillus und die GAFFKY-PAAK’schen Wurstbacilfen. 

Unter Umständen lassen sich an der Oberfläche, ja selbst im Innern des Fleisches, 
auch Schimmelpilze nachweisen. 

Wurstwaaren gehen, vermöge ihres höheren Wassergehaltes und ihres 
lockereren Gefüges, unter nur halbwegs günstigen Umständen rasch in Fäul¬ 
niss über. Namentlich gilt dies für die gekochten Würste, die nicht immer 
gehörig durchgewärmt und später oft nicht genügend abgekühlt werden. 

Durch die Fäulniss wird die Consistenz der Würste stets weicher, oft 
schmierig, zuweilen an der Oberfläche schimmelig; unter der Haut und an 
der Oberfläche bilden sich oft Blasen; die Schnittfläche ist missfärbig, 
schmutzig röthlich, die der betreffenden Wurstart eigentümliche Zeichnung 
verschwommen; eingelagerte Speckstücke erhalten eine grünlichgelbe Färbung; 
endlich riechen faulige Würste stets sehr widerlich. 

Fauliges Fleisch und noch mehr faulige Würste verursachen vermöge 
der in ihnen während der Fäulniss gebildeten chemischen Gifte (Ptomal'ne) 
sehr leicht schwere Vergiftungen; schon die geringsten Grade der Fäulniss 
motiviren daher den Ausschluss der Waare vom Consume. 

Das häufige Grauwerden der Würste kann durch zu hohen Wassergehalt, durch 
Fehler beim Austrocknen oder Räuchern oder durch Verwendung schlechter Gewürze (ver¬ 
ändertes Pfefferöl) verursacht sein (Falk und Oppermann), wobei allenfalls auch eine 
Bacillen-Infection (Bac. mesentericus) im Spiele sein kann (Serafini). 

Weitere postmortale Veränderungen des Fleisches sind: 

Verfärbungen der Oberfläche, durch Ansiedlung verschiedener 
farbstoflproducirender Bacterien bedingt. Am häufigsten kommen rothe 
Flecken zur Beobachtung, die Culturen des Bac. prodigiosus darstellen; 
seltener sind blaue Flecken, durch den Bacillus der blauen Milch verursacht. 

Leuchtendes Fleisch erhält diese Eigenschaft ebenfalls von der 
Ansiedlung gewisser Spaltpilze. Das Leuchten tritt an in feuchten dumpfen 
Localitäten aufbewahrten Fleisch- oder Wurstwaaren nur im Dunkeln hervor, 
wobei das Fleisch selbst, abgesehen von der etwas schlickrigen Oberfläche, 
noch ganz gesund erscheinen kann, ja es verschwindet das Leuchten stets 
mit dem Eintritte der Fäulniss. 

Obzwar weder von den färbigen, noch von den leuchtenden Bacterien 
irgendwelche schädliche Eigenschaften bekannt sind, muss damit behaftetes 
Fleisch, wenigstens in den oberflächlichen Schichten, als ein verdorbenes 
Nahrungsmittel betrachtet werden. 

Gefrorenes Fleisch ist daran zu erkennen, dass es an der nur 
halbwegs feuchten Aussenluft eine feuchte, schmierige Oberfläche erhält und 
dass die durch Abschaben der Oberfläche gewonnenen rothen Blutkörperchen 
entfärbt und deformirt sind. Ausserdem erhält das gewöhnlich schwach 


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FLEISCHBESCHAU. 


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grünlich gefärbte Serum unregelmässige gelblich-braune Hämoglobin-Krystalle, 
die häufig schon mit blossem Auge, sicherer aber bei einfacher mikroskopischer 
Untersuchung sichtbar sind (Maljean). 

Endlich kann Fleisch und innere Organe während der Schlachtung durch 
den Inhalt des Magens oder der Gedärme besudelt werden. Dies ist 
aus den anhaftenden Futter- oder Kothpartikelchen zu erkennen, wobei auch 
der eigenthümliche Geruch dieser Stoffe dem Untersuchenden zu Statten 
kommt. Halbverdaute Futterstoffe sind zuweilen in den Bronchien der Lungen 
Enthalten, wohin sie während des rituellen Schächtens hinein zu gelangen 
pflegen. 

Wildpret unterliegt derselben Auffassung wie sonstiges Fleisch, d. h. es stellt in 
fauligem Zustande ein verdorbenes Nahrungsmittel dar. (Haut-goüt ist nicht so sehr 
ein Kesnltat der gewöhnlichen Fäulniss, als vielmehr einer Art sauren Gährung [Eber]). 

Krankheiten des Fleisches. 

Von den mannigfachen Erkrankungen der Schlachtthiere, die das Fleisch 
derselben zum menschlichen Genüsse ungeeignet machen oder dessen Markt¬ 
werth herabsetzen, sind es verhältnissmässig nur wenige, die durch die Unter¬ 
suchung des Fleisches selbst erkannt werden können. Eben die gefährlichsten 
Krankheiten, die verschiedenen Formen der Septikämie und die septischen 
Intoxicationen, bewirken gar keine oder nur wenig auffällige Erkrankungen 
in der Muskelsubstanz. 

Doch kann auch eine gewissenhafte Controlle des Fleischverkehrs in den 
Fleischläden und auf den Marktplätzen Vieles beitragen zum Schutze des 
fleischconsumirenden Publikums, namentlich dort, wo die Beschau der Schlacht¬ 
thiere nicht Fachmännern, sondern Empirikern anvertraut ist. Die wichtigsten 
Erkrankungen des Fleisches sollen im Nachstehenden angeführt werden. 

A) Thierische Parasiten. 

Finnen. Es kommen hier besonders zwei Arten in Betracht, u. z. der 
Blasenwurm der Taenia mediocannelata , der Cysticercus inermis im Rindfleische 
und jener der Taenia solium, der Cysticercus cellulosae, im Schweinefleische. 

Beide Blasenwürmer sind rundliche oder längliche, grau durchscheinende Bläschen 
bis zur Grösse einer Erbse, die im Fleische zwischen den Muskelfasern, im interstitiellen 
Bindegewebe, eingebettet sind. Sie lassen sich gewöhnlich leicht mit der Messerspitze aus¬ 
heben und werden sie dann zwischen den Fingern gedrückt, so tritt aus der Blase der 
darin eingestülpt gewesene Scolex mit dem feinen Halse hervor. 

Wird nun die Blase zwischen dem Objectträger und Deckgläschen oder zwischen 
zwei Objectträgern massig gedrückt und das Präparat unter das Mikroskop gebracht, so 
kann die Diagnose durch den Nachweis des Scolex und des zartgerippten Halses vollends 
gesichert werden. Der Scolex ist bei beiden Finnen mit vier kreisrunden Saugnäpfen ver¬ 
sehen und jener der Schweinefinne trägt hinter dessen Spitze einen gut sichtbaren, doppelten 
Hakenkranz von je 12—14 Haken. 

Die Zahl der Finnen wechselt, besonders beim Schweine, innerhalb sehr 
weiter Grenzen. Während in schweren Fällen das Fleisch von den Blasen 
wie durchsäet erscheint, gelingt es vereinzelte Finnen nur durch Anschneiden 
und sehr sorgfältige Prüfung der Muskeln nachzuweisen. Lieblingssitze der 
Rinderfinne sind die Kaumuskeln und der Herzmuskel; solche der Schweine¬ 
finne: die Bauchmuskeln, die muskulösen Theile des Zwerchfelles, die Zunge, 
das Herz, die Kau-, Zwischenrippen- und Nackenmuskeln, die Einwärtszieher 
der Hinterschenkel und die Brustbeinmuskeln, so ziemlich in der angeführten 
Reihenfolge (Ostertag); viel seltener sind sie in den inneren Organen und 
in den serösen Körperhöhlen anzutreffen. 

Bedeutend schwieriger gestaltet sich der Nachweis der Finnen in zer¬ 
kleinertem Fleische und in Würsten. Es gelingt zwar ab und zu in der 
durchmusterten Waare schon mit freiem Auge einzelne Finnen zu erblicken, 
die dann noch mikroskopisch untersucht werden können, doch erheischt eine 
solche Untersuchung, wenn ein glücklicher Zufall nicht an die Hand geht, 


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FLEISCHBESCHAU. 


viel Zeit und Geduld und ist ein negatives Resultat nur wenig beruhigend. 
Mehr Erfolg verspricht das von Schmidt-Mülheim vorgeschlagene nach¬ 
folgende Verfahren: 

Eine kleine Fleischprobe wird mit künstlichem Magensaft (0'5°/ 0 ige Salzsäure mit 
etwas Pepsin-Glycerin vermischt) mehrere Standen hindnrch bei häufigem Umrühren bei 
40° C. digerirt. Es werden nun die Fleischtheile und die Blasen der etwa vorhandenen 
Finnen verdaut, während die Ammen und die Haken auf den Boden des Gefässes her&b- 
ainken, das Fett aber sich auf der Oberfläche der Flüssigkeit ansammelt. Die Ammen, 
die schon mit freiem Auge als reiskorngrosse weisse Körper kenntlich sind, können dann 
nach dem Abgiessen der Flüssigkeit hervorgeholt und unter das Mikroskop gebracht werden. 

Finniges Fleisch darf in rohem Zustande höchstens unter Declaration 
verkauft werden; zweckmässiger ist es, dasselbe vorher im Wasserbade bis zu 
70° C. durchzuwärmen und in gekochtem Zustande zu veräussern. Von sehr 
zahlreichen Finnen durchsetztes Fleisch sollte, da dann auch die Muskulatur 
öderaatös zu sein pflegt, überhaupt nicht zum Consum zugelassen werden. 

Trichinen. Im Fleische der Schweine, überaus selten bei den übrigen 
Schlachtthieren, kommt die jugendliche Form (Muskeltrichine) der im Darme 
derselben Thiergattung lebenden Trichina spiralis (Darmtrichine) vor. 

Die Muskeltrichine ist ein sehr feiner, 06—1*0 mm langer Rund wurm, mit vorderem 
spitzen und hinterem etwas dickerem und abgerundetem Ende; in der vorderen Körper¬ 
hafte befindet sich der von einer Reihe rundlicher Zellen, dem sogenannten Zellkörper 
umgebene, zarte Schlund. 

Die Muskeltrichinen sind anfangs in dem interstitiellen Bindegewebe der Muskeln 
oder im Innern der Sarkolemmaschläuche einzelner Muskelfasern, zumeist in mehr weniger 
gestreckter Lagerung anzutreffen; die contractile Substanz der ergriffenen Fasern geht 
schon frühzeitig durch Entartung und Schwund zu Grunde. Später, circa 3—4 Wochen 
nach der Ansteckung, haben sie sich in dem entsprechend ausgebuchteten Sarkolemma- 
schlauche spiralig zusammengerollt und noch später hat sich um dieselben eine ge¬ 
schlossene Kapsel gebildet, in die sich im weiteren Verlaufe Kalksalze ablagern. 

Im Schweinefleische werden in den weitaus meisten Fällen solche ein¬ 
gekapselte Trichinen angetroffen. Sie sind an der charakteristischen, citronen- 
förmigen, an den beiden verjüngten Polen abgerundeten Kapsel, die die be¬ 
nachbarten Muskelfasern auseinandergedrängt hat, unter dem Mikroskope 
leicht zu erkennen. Bis zu circa einem V» — 7* Jahre nach der Einwanderung 
lässt sich in der Kapsel auch die spiralig zusammengerollte junge Trichine 
wahrnehmen, während dieselbe später durch die Kalkschichte mehr-weniger 
verdeckt wird. 

Verkalkte Trichinenkapseln sind zwar auch schon mit freiem Auge als 
äusserst feine, weisse, im durchfallenden Lichte dunkle Pünktchen kenntlich, 
jedoch kann ihr eigentliches Wesen ausschliesslich mit Hilfe des Mikroskopes 
festgestellt werden. Letzteres ist umso weniger zu entbehren, als in geringer 
Zahl vorhandene Kapseln sich überhaupt dem freien Auge entziehen. 

Zur mikroskopischen Untersuchung sind etwa bohnengrosse Probestückchen 
von dem zu untersuchenden Fleische mit einer gebogenen Scheere zu entnehmen. Liegt 
ein ganzes oder ein halbes Schwein vor, so ist es rathsam, hiezu besonders die Zwerchfell¬ 
pfeiler, den Zwerchfellmuskel, die Zwischenrippenmuskeln, die Bauchmuskeln, die Kehlkopf¬ 
muskeln und die Zungenmuskeln zu wählen. Handelt es sich um die Untersuchung 
einzelner Fleischstücke, Schinken, Würste etc., so sind die Proben stets von mehreren 
Stellen auszuschneiden. 

Aus den Proben werden hanfkorngrosse Stückchen, unter Zusatz eines Tropfens 
Wasser, zwischen zwei Objectträgern plattgedrückt und so auf den Objecttisch eines 
Mikroskopes gebracht (circa öOfache Vergrösserung genügt). Besonders eignen sich hiezu 
die sogenannten Compressorien von Naake, Oelttasch oder Wächter, die aus zw r ei auf 
einander passenden Glasplatten bestehen, die mittelst zweier Schrauben aneinander genähert 
werden können; es können zwischen diese Platten auf einmal 24, beziehungsweise 36 Präparate 
eingelegt werden. 

Handelt es sich um bereits älteres, trockenes Fleisch, so ist ein Zusatz von l°/ 0 iger 
Essigsäure, bei geräuchertem Fleisch oder Würsten aber ein solcher von 10%iger Kalilauge 
zweckmässig. Im Falle die Kapseln, weil verkalkt, im durchfallenden Lichte schwer er¬ 
scheinen, können die Salze durch Essigsäure gelöst und so die umhüllten Trichinen 
sichtbar gemacht werden. 


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FLEISCHBESCHAU. 


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Trichinöses Fleisch wird, wegen der Schwere der Infection für den 
Menschen, allerwärts stets vom Consume bedingungslos ausgeschlossen, 
obgleich ein Erwärmen auf 70° C. oder das Durchkochen die Trichinen ganz 
sicher abtödtet. 

Psorospermien. Die auch unter dem Namen MiESCHEß’sche Schläuche 
oder Bainet’ sc he Körperchen bekannten Psorospermien-Gruppen, die in 
Muskeln von Schweinen, Bindern und Schafen, besonders in jenen des 
Schlundes, des Kehlkopfes und des Zwerchfelles gar nicht so selten Vor¬ 
kommen, haben wegen ihrer Unschädlichkeit eine nur sehr geringe Bedeutung. 

Es sind dies längliche, zuweilen ovale oder auch rundliche Körper, die aus einer 
zarten Umhüllungsmembran und darin eingeschlossenen kipfel- oder nierenförmigen, kleinen 
Körperchen, den eigentlichen Psorospermien bestehen. Die Schläuche sind innerhalb des 
Sarkolemmas, in der contractilen Substanz der Muskelfasern eingebettet und letztere ist 
noch als ein feiner quergestreifter Saum beiderseits zu erkennen. Die abweichende Form, 
der körnige Inhalt bei schwacher Yergrösserung und das normale Aussehen des un¬ 
mittelbar angrenzenden Muskelplasmas, unterscheidet diese Schläuche von den Trichinen¬ 
kapseln. 

Blasenwftrmer. Wenig Bedeutung kommt hier den sonstigen Blasenwürmern zu, 
als welche zu nennen sind: 

Cysticercus tenuicollis , der Blasenwurm der im Hunde lebenden Taenia marginata , 
kann die Grösse eines Apfels erreichen; der hervorgestülpte Kopf hat einen langen zarten 
Hals. Kommt nur im losen Bindegewebe unter dem vorgewölbten Bauchfelle und dem 
Brustfelle der Wiederkäuer vor und kann, besonders dem Netze und dem Gekröse an¬ 
haftend, zuweilen auch in der Fleischbank gefunden werden. 

Cysticercus pisiformis , der Blasenwurm der T. serrata des Hundes, ist der Schweine¬ 
finne sehr ähnlich, nur an einem Pole etwas zugespitzt. Kommt am Bauchfelle von Hasen 
und Kaninchen vor. 

Coenurus cerebralis , der Blasenwurm der T. coenurus des Hundes, bildet bis apfel- 
grosse Blasen, deren Wand innen mit zahlreichen Kopfanlagen besetzt ist. Kommt im 
Gehirne von Schafen, zuweilen aber auch im Rückenmarke vor. 

Echinococcenblasen. Diese Blasenwürmer (Echinococcus polymorphus) der im 
Hunde lebenden T. Echinococcus , kommen im Fleische nur ausnahmsweise und in geringer 
Grösse vor, während sie in inneren Organen, namentlich aber in der Leber und aen 
Lungen, bei den Schlachtthieren einen überaus häufigen Befund bilden und hier einen sehr 
ansehnlichen Umfang erreichen können. Sie bestehen aus einer doppelten, nach aussen 
bindegewebigen, nach innen chitinösen gallertigen Wand, welch’ letztere sich leicht ablösen 
lässt und hiebei sich zusammenrollt, unter dem Mikroskope aber einen feingeschichteten, 
lamellösen Bau zeigt. Zuweilen sind an ihrer Innenfläche stecknadelkopfgrosse Taenien¬ 
kapseln zu sehen, oder sie schwimmen frei in der von der Blasenwand eingeschlossenen, 
wässerigen, gelblichen Flüssigkeit herum. In der Entwicklung stehen gebliebene Blasen 
wandeln sich nach theilweiser Resorption der Flüssigkeit in käsige oder mörtelige Knoten 
um, in deren Masse noch Theile der Blasenwand mit streifiger Schichtung und Haken 
mit dem Mikroskope nachgewiesen werden können. 

Fleisch mit Echinococcusblasen ist für den Menschen nicht schädlich, es genügt, sie 
mit8ammt der nächsten Umgebung auszuschneiden und zu vernichten; mit solchen Blasen 
besetzte innere Organe werden am besten im Ganzen verworfen. 

Distomen. Trematoden in der Muskulatur, beziehungsweise im Fleische, 
bilden überhaupt sehr seltene Vorkommnisse, während zwei Arten derselben: 
dasDistomumhepaticum und das Distomum lanceolatum, sehr häufig 
in der Leber und nicht selten auch in den Lungen der Schlachtthiere anzu¬ 
treffen sind. Das erstere hat eine blattähnliche Form und ist circa 16—40 mm 
lang, 6—12 mm breit. Das letztere, seltenere, ist einer Lanzette ähnlich 
und hat eine Länge von nur 4—8 «, eine Breite von nur l'O—2 - 5 mm; 
für beide sind ausser der Form noch die zwei Saugnäpfe am vorderen 
Leibesende charakteristisch. 

Nach Entfernung der Egel mitsammt der nächsten Umgebung kann das 
Fleisch freigegeben werden, während mit solchen behaftete innere Organe, 
sobald an ihnen entzündliche Veränderungen wahrzunehmen sind, vom Con¬ 
sume ausgeschlossen werden sollen. 

Ausser den genannten kommt noch, in sehr seltenen Fällen, das sogenannte 
Mnskeldistomum im Schweinefleische, namentlich in den Zwerchfellpfeilem und den 


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FLEISCHBESCHAU. 


Kehlkopfmuskeln, yor. Es ist auf den ersten Blick einer eingekapselten Trichine nicht 
unähnlich und hat auch so ziemlich dieselbe Grösse; es liegt jedoch zwischen den Muskel¬ 
fasern, lässt im Inneren die halbmondförmigen Magenschläuche leicht erkennen und kann 
im frischen Zustande auch eine wurmförmige Bewegung an demselben wahrgenommen 
werden. 

Oestruslarven. Dieselben, von glasheller oder gelblicher Farbe, 
5—10 mm lang, 2—3 mm breit, kommen besonders in der Zeit vom December 
bis März, zuweilen in grösserer Zahl im Wirbelcanal von Rindern vor, sind 
aber hier, inmitten des Fettgewebes nur bei genauem Nachsehen zu finden. 
Eine Bedeutung kommt dem Befunde nur in jenen seltenen Fällen zu, wo 
das Fettgewebe und das Bindegewebe des Rückgrates in der Umgebung 
wässerig durchtränkt ist und das Fleisch infolge dessen ein unappetitliches 
Aussehen hat. 

B) Pflanzliche Parasiten. 

Spaltpilze. Die grösste Bedeutung kommt den Spaltpilzen zu, nachdem 
durch gewisse Arten derselben, beziehungsweise durch ihre chemischen Stoff- 
wechselproducte, die schwersten Erkrankungen beim Menschen im Wege des 
Fleischgenusses verursacht werden können. Ganz frisches gesundes Fleisch 
enthält im Innern, sowie auch das in den tiefer gelegenen Adern etwa vor¬ 
handene wenige Blut, keine Spaltpilze. Ihr Vorhandensein daselbst spricht 
daher dafür, dass sie entweder schon bei Lebzeiten des Thieres in dessen 
Körpersäften enthalten waren oder dass sie nachträglich hinein gelangt sind 
und sich dort vermehrt haben. Wenn nun auch Bacterien im Fleische bereits 
vor dem Auftreten der sonstigen Fäulnisserscheinungen auftreten können, 
so ist ein namhafterer Bacteriengehalt in den tieferen Schichten stets ein 
Befund, der hinsichtlich der Geniessbarkeit des Fleisches begründeten Verdacht 
zu erregen vermag. Hingegen kann aus dem Nachweise von Spaltpilzen 
überhaupt auf der Oberfläche der Fleischwaaren, ohne Feststellung ihrer 
pathogenen Specificität, in keiner Richtung irgendwelcher Schluss hinsichtlich 
der Beschaffenheit des Fleisches gezogen werden. Zur mikroskopischen Unter¬ 
suchung, die im Anfertigen von frischen, sowie von getrockneten und ge¬ 
färbten Deckgläschenpräparaten besteht, müssen daher stets Gewebstheile 
oder Saftproben aus den tiefen Schichten der Waare gewählt werden. 

Diese Untersuchung ist stets geboten, wenn am Fleische, an den 
Muskelfasern selbst oder am Bindegewebe, Veränderungen wahrgenommen 
werden, die durch die Einwirkung von Bakterien oder ihrer Stoffwechsel- 
producte entstanden sein können. Als solche sind zu nennen: punktförmige 
Blutaustritte oder grössere Blutergüsse, Eiter- oder Jaucheherde zwischen 
den Muskeln oder den Muskelfaserbündeln, ödematöse Durchtränkung des 
peri- und intermusculären oder interfibrillären Bindegewebes, graue oder 
gelbe Verfärbung der Muskelsubstanz (homogene oder körnige Structur des 
Plasma unter dem Mikroskope), Ecchymosen in den serösen Häuten, sowie 
überhaupt stets, wenn das Fleisch nicht gehörig ausgeblutet ist, namentlich 
aber in Fällen von Nothschlachtungen. 

Basknau ist der Ansicht, dass das Verfahren mit dem Fleische nothgeschlachteter 
Thiere von dem Ansfalle der bakteriologischen Untersuchung abhängig zu machen sei. 
Vorhandensein von Mikroorganismen in Ausstrichpräparaten, die mit aus der Tiefe des 
Fleisches gewonnenem Materiale angefertigt wurden, motivire den Ausschluss des Fleisches 
vom Consume. Ist das Resultat negativ, so wären mit dem Materiale auch Platten zu 
giessen. (Letzteres Verfahren ist, wegen der hiezu nöthigen längeren Zeit, wohl nur selten 
in der Praxis durchführbar). 

Gemische von verschieden geformten Bakterien in den Präparaten sind 
in allen Fällen von Fäulniss anzutreffen, gleichviel ob das Fleisch ursprünglich 
gesund oder aber krank war. Hingegen erweckt das Vorhandensein einer 
einzigen Bakterienart stets begründeten Verdacht auf eine specinsche infectiöse 
Erkrankung des betreffenden Thieres, besonders dann, wenn das Fleisch sonst 
noch ein ziemlich frisches Aussehen hat. Auf Grund solcher Befunde kann zu- 


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FLEISCHBESCHAU. 


265 


weilen die Art der Erkrankung mit Bestimmtheit festgestellt werden, oft ist 
aber die Form der Bakterien allein nicht genügend charakteristisch und sind 
zur endgiltigen Entscheidung der Frage auch Cultur- und Impfversuche an¬ 
zustellen. Stets muss aber beachtet werden, dass ein negativer Bakterienfund 
eine septikaemische Erkrankung, namentlich aber septische Intoxication, 
durchaus nicht ausschliesst. 

Die wichtigsten infectiösen Krankheiten, die hierin Betracht kommen, sind: 

Beptikaemie und Pyaemie. Makroskopisch sind oft, jedoch nicht immer, graue 
oder gelbliche Verfärbung der Muskelsubstanz, Oedem des Bindegewebes, eventuell auch 
Blnt&ustritte in demselben wahrzunehmen, während mikroskopisch im Fleischsafte zuweilen 
die Bakterien der Eiterung, namentlich Streptococcen nachgewiesen werden können. 
Ausserdem sind Eiterherde im interstitiellen Bindegewebe ein werthvoller Befund bei Pyaemie. 

Pyo-septikaemische Processe sind besonders bei sehr jungen, wenige Tage alten 
Thieren häutig und können dieselben mit Sicherheit angenommen werden, wenn neben 
oder ohne die bereits genannten Veränderungen, in den Nabelgefässen schmutzig verfärbte 
oder erweichte Gerinnsel, in den Gelenken aber graue oder eiterige Flüssigkeit vor¬ 
handen sind. 

Milzbrand. Neben stellenweiser ödematöser Durchtränkung des Bindegewebes und 
schwarzrothen Blutaustritten, sind im Blute oder auch im Bindegewebssafte die verhältnis- 
mässig grossen, unbeweglichen, zu Ketten aneinander gereihten Milzbrandbacillen vor¬ 
handen, die auch in ungefärbten frischen Präparaten zu erkennen sind. 

Rauschbrand. Die ergriffene Muskelpartie ist schmutzig verfärbt, dunkel rothbraun 
oder schwarzroth; sie enthält, sowie auch das umgebende, ödematös durchtränkte Binde¬ 
gewebe, Gasblasen, die einen eigentümlichen, süsslich-faden Geruch verbreiten. Im Ge- 
webssafte der kranken Theile und der nächsten Umgebung können in gefärbten Präparaten 
die mittel grossen, schmalen Rauschbrandbacillen nachgewiesen werden, die zum Theile 
Sporen enthalten und dann Trommelschlägeln ähnlich sind. 

Malignes Oedem. Hochgradiges Oedem des subcutanen und interstitiellen Binde¬ 
gewebes, mit oder ohne Gasbildung, bei wenig hervortretender Veränderung der Muskel¬ 
substanz. Die Oedemflüssigkeit enthält die gestreckten Bacillen des malignen Oedems und 
daneben lange, wellenförmig gebogene Fäden, die auch Sporen enthalten können, (ln 
fauligem Fleische kommen dieselben Bakterien häutig vor). 

Rothlauf der Schweine. Im Blutsafte der sonst normal aussehenden Muskelstücke 
können durch Färben die äusserst feinen, bis 1 5 ja langen, geraden Rothlaufbacillen nach¬ 
gewiesen werden. 

Septicaemia haemorrhagica. Bei den unter diesen Sammelbegriff gehörenden 
Krankheiten (Bollinger’s Rinderseuche, Schweineseuche und Schweinecholera, Geflügel¬ 
cholera) enthält das Blut sehr kleine, verhältnissmässig kurze Bacillen, die sich nur an den 
Polen färben und darum für gewöhnlich den Eindruck von Diplococcen machen. Das inter¬ 
stitielle Bindegewebe ist zuweilen ödematös oder blutig durchtränkt und kann auch kleine 
oder grössere Hämorrhagien enthalten. 

Tuberculose. Ist durch die Untersuchung des Fleisches nur dann zu constatiren, 
wenn sich im Bindegewebe der Muskeln oder in den ihnen anhängenden Lymphknoten 
gelbe, trockene, käsige oder mörtelartige Herde befinden, in denen sich dann allenfalls 
auch die Tuberkel-Bacillen mit Hilfe der bekannten Färbungsmethoden nachweisen lassen. 
Besonders sollen diesbezüglich die Leisten-, Kniefalten-, Bug- und Achseldrüsen, sowie auch 
der seröse Ueberzug der Rippen einer eingehenden Besichtigung unterzogen werden, indem 
das Rippenfell, besonders bei Rindern, nicht selten mit kleinen, ziemlich derben, an der 
Schnittfläche faserigen, zuweilen verkästen oder auch bereits verkalkten Prominenzen 
(Perlknoten) besäet ist. ln der Umgebung der erkrankten Lymphknoten sind zuweilen im 
benachbarten Bindegewebe secundäre Tuberkeleruptionen anzutreffen (MouLä). Tuberculose 
Herde können ausserdem im Innern der Knochen enthalten sein (besonders bei Schweinen). 

Actinomykose. Kommt im Fleische, zwischen den Muskeln, mit Ausnahme der 
Zunge, sehr selten vor, während sie im Unterhautbindegewebe des Halses und noch mehr 
in den Gesichtsknoten ziemlich häufig ist, bei generalisirter Actinomykose aber auch an¬ 
dere Knochen (Wirbel, Rippen) actinomykotische Herde enthalten können. Dieselben sind 
den tuberculösen derart ähnlich, dass die richtige Differential-Diagnose, ohne Kenntniss 
des Befundes in den inneren Organen, nur mit Hilfe des Mikroskopes gestellt werden 
kann. Jedenfalls erregen diesbezüglich begründeten Verdacht in den Herden (bei Schweinen 
in der eiterigen Masse), und in der nächsten Umgebung eingebettete gelbliche, sandkorn¬ 
grosse, runde Körperchen, die sich leicht herausheben lassen. Die Actinomycesdrnsen sind 
dann im frischen Ausstrichpräparate auch ohne Färbung an der charakteristischen Brom¬ 
beerform und den kolbigen Anschwellungen der radiären Pilzfäden leicht zu erkennen. 

Botryomykose. Kommt im Fleische nur ganz ausnahmsweise vor, doch können 
beim Schweine grosse Fleischpartien in speckige, aerbe Massen umgewandelt sein, die zahl- 


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FLEISCHBESCHAU. 


reiche mörtelartige Herde enthalten (Wildtbrandt). In denselben können mit dem Mikros¬ 
kope die zoogloeartigen Mikrococcenhaufen leicht nachgewiesen und von Actinomycesdrusen 
unterschieden werden. 

Muskelactinomykose. In den Muskeln der Schweine, ausnahmsweise auch bei 
Schafen, besonders in den Zwerchfellpfeilern, den Bauchmuskeln und den Zwischenrippen¬ 
muskeln (Hkrtwig), kommen zuweilen Rasen des DuxCKER’schen Actinomyces musculorum 
suis vor, der dem vorher genannten Strahlenpilze nach Form und Anordnung der Pilz¬ 
faden ähnlich sieht, nur dass die kolbigen Anschwellungen der letzteren weniger aus¬ 
gesprochen ist. Auf das Vorhandensein dieser Pilze wird man Verdacht schöpfen, wenn 
Schweinefleisch grau verfärbt, erweicht und wässerig durchtränkt erscheint. 

Rotzkrankheit. Werden im Pferdefleische, im intermuskulären Bingegewebe, Herde 
von röthlichgrauem, viscösem Eiter vorgefunden, so liegt begründeter Verdacht auf diese 
Krankheit vor. Durch die bakteriologische Untersuchung (starke einfache Färbung oder 
noch besser nach Löfflkr’s Methode mit alkalischem Methylenblau), können die stets in 
spärlicher Zahl vorhandenen Rotzbacillen nachgewiesen werden. Aber auch ohne einen 
solchen positiven Befund darf in solchen Fällen eine gefährliche pyämische Erkrankung 
angenommen werden. 

Die Beurtheilung des Fleisches in den hier angeführten Krank¬ 
heitsfällen richtet sich naturgemäss nach der Art der Erkrankung, doch ist 
hier stets ein strengeres Verfahren am Platze, als wenn manche dieser Krank¬ 
heiten nur in einzelnen inneren Organen vorgefunden worden sind, nachdem 
dort stets eine Infection auch des Fleisches selbst angenommen werden muss. 
Zeichen von Septikaemie und Pyaemie, Milzbrand, Kauschbrand, malignem 
Oedem oder Rotzkrankheit, sowie tuberkulöse Herde im Fleische, in den 
Fleischlymphknoten oder in den Knochen, motiviren stets eine unbedingte 
Saisirung des Fleisches, während in Fällen von Schweinerothlauf und Acti- 
nomykose das Fleisch, insofome es sonst ein gesundes Aussehen hat, in durch- 
kochtem Zustande, eventuell unter Declaration, noch zum Verkaufe zugelassen 
werden darf. 


C) Sonstige Veränderungen des Fleisches. 

Blutungen. Dieselben können die Folge einer septischen Infection 
oder Intoxication oder aber durch traumatische Einwirkungen entstanden sein. 
Im ersteren Falle sind fast stets auch sonstige Veränderungen, wie trübe, 
blassgraue Färbung der Muskel, seröse Infiltration des Bindegewebes, Eiter¬ 
herde, kleine Blutaustritte in den serösen Häuten etc. vorhanden, während 
bei frischen Blutungen traumatischen Ursprunges (bei Schweinen auch als 
Folge von Muskelzerrungen [Ostertag]), die unmittelbar benachbarte Musku¬ 
latur, ausser der blutigen Infiltration, ein gesundes Aussehen hat. Aber auch 
in solchen Fällen kann sich später zur Hämorrhagie ein entzündliches Oedem 
hinzugesellen, das dann eine ernstere Beurtheilung des Fleisches motivirt. 
Eine mikroskopische Untersuchung des ausgetretenen Blutes ist in zweifel¬ 
haften Fällen jedenfalls erwünscht. 

Wässerige Durchtränkung, als Folge von chronischen kachek- 
tischen Krankheitszuständen, bez. von chronischer Anämie und Hydrämie, 
kommt besonders bei Schafen, seltener bei Kindern vor. Neben Fehlen von 
acuten entzündlichen Veränderungen, ist das Fleisch überhaupt weicher, matsch, 
sehr fettarm, wie ausgewaschen, die Muskelbäuche schmächtig. Auf Druck 
fliesst viel farblose wässerige Flüssigkeit aus dem Fleischstücke. 

Fettige Entartung. Ausser der trüben Schwellung und der fettigen 
Degeneration bei den verschiedenen septischen Erkrankungen, wobei das Fleisch 
ein glanzloses, trüb graues, wie gekochtes Aussehen erhält, kommt bei jungen 
Thieren, namentlich bei Kälbern, eine ausgedehnte fettige Entartung der Mus¬ 
kulatur vor, wobei die Muskelfibrillen gequollen, undurchsichtig und gelblich 
oder grau verfärbt erscheinen. Die Schnittfläche ist faulem Holze ähnlich und 
geht solches Fleisch rasch in Verwesung über (Repiquet). 

Noch seltener ist eine wachsartige Degeneration der Muskulatur junger Thiere, die 
dann dem Fischtleische ähnlich aussieht. 


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FRUCHTABTREIBUNG. 


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Bei Pferden, selten bei Rindern, kommt ansgebreitete parenchymatöse und fettige 
Degeneration, besonders ausgesprochen in den Psoasmuskeln, im Verlaufe der rheumatischen 
Hämoglobinämie (schwarzen Harn winde) vor. 

Geschwülste. Metastatische Neubildungen, wie Melanome, Sarkome, 
Carcinome, kommen im Fleische im Allgemeinen selten vor und sind gewöhn¬ 
lich schon mit freiem Auge unschwer zu diagnosticiren. 

In Fällen von frischen traumatischen Blutungen kann das Fleisch, mit 
Ausnahme der betroffenen Theile, zum Consum frei zugelassen werden, in 
den übrigen Fällen stellt das in seinem Aussehen veränderte Fleisch ein ver¬ 
dorbenes Nahrungsmittel dar. F. HUTYRA. 

Fruchtabtreibung (Crimineller Abortus). 

Unter Abortus versteht man eine Geburt, die so frühzeitig erfolgt, 
dass das Kind noch nicht körperlich soweit entwickelt ist, dass es selbst¬ 
ständig fortzuleben vermag, also, wie man zu sagen pflegt, noch nicht lebens¬ 
fähig ist. Eine solche Geburt ist zu unterscheiden von einer Frühgeburt 
(partus praematurus), die zu einer Zeit erfolgt, wo das Kind zwar lebens¬ 
fähig, aber noch nicht reif und ausgetragen ist. 

Eine bestimmte Zeitgrenze zwischen Abortus und Frühgeburt gibt es 
nicht. Man nimmt gewöhnlich an, dass in der Mehrzahl der Fälle die Lebens¬ 
fähigkeit erst mit der 28. Woche beginnt, also nach Ablauf des siebenten 
Monats, und innerhalb dieser Zeit erfolgende Geburten Fehlgeburten 
sind, während man Geburten zwischen der 28. und 38. Woche als Früh¬ 
geburten bezeichnet. 

Ein Abortus tritt häufig spontan ein in Folge von Krankheitszuständen 
oder zufälligen Einwirkungen auf den mütterlichen Körper. Es gibt Frauen, 
die besondere Dispositionen zu Abortus haben, so dass mitunter eine eigentliche 
Impotentia gestandi besteht, während andere gegen eine grössere Zahl von 
sogenannten Abortivmitteln gleichsam immun sind. 

In seltenen Fällen wird der Abortus auch künstlich eingeleitet von 
Seiten der Kunst, wenn das Leben der Mutter in Gefahr steht bei längerer 
Dauer der Schwangerschaft, z. B. bei unstillbarem Erbrechen, bei Ein¬ 
klemmung des schwängern retroflectirten Uterus, auch bei Nephritiden, bei 
pemiciöser Anämie u. s. w. Ueberhaupt werden in der neuesten Zeit die 
Indicationen für den künstlichen Abortus ergiebiger gestellt als früher. Wenn 
eine solche Eile, dass man den Eintritt der Lebensfähigkeit nicht abwarten 
kann, als lebensrettend nicht absolut nothwendig ist, wendet man sich an die 
künstliche Einleitung einer Frühgeburt. 

Criminell dagegen ist der Abortus, wenn er aus anderen Gründen 
nur zur Aufhebung einer Schwangerschaft herbeigeführt wird und nennt man 
das dann Fruchtabtreibung, welche in der Gegenwart bei den Cultur- 
völkem strafrechtlich als Verbrechen behandelt und peinlich bestraft wird. 
Die Strafe kommt derjenigen für Kindesmord einigermaassen nahe, indem die 
Leibesfrucht bei der Fruchtabtreibung natürlich zu Grunde geht. Da dieses 
Verbrechen häufig unter Mithilfe noch anderer Personen geschieht, so beziehen 
sich die strafrechtlichen Bestimmungen auch auf diese, wie sich aus nach¬ 
stehenden Strafartikeln des österreichischen und deutschen Strafgesetzes ergibt. 

Oesterreichisches Strafgesetz. §. 144. Eine Frauensperson, welche ab¬ 
sichtlich was immer für eine Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibes¬ 
frucht verursacht oder ihre Entbindung auf solche Art, dass das Kind todt zur Welt 
kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig. 

§. 145. Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die Strafe auf 
Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen, die zu Stande gebrachte 
Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem und fünf Jahren bestraft werden. 

§. 146. Zu eben dieser Strafe, jedoch mit Verschärfung, ist der Vater des abgetriebenen 
Kindes zu verurtheilen, wenn er mit an dem Verbrechen Schuld trägt. 


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FRUCHTABTREIBUNG. 


§. 147. Dieses Verbrechens macht sich auch derjenige schuldig, der aus was immer 
für einer Absicht wider Wissen und Willen der Mutter die Abtreibung ihrer Leibesfrucht 
bewirkt oder zu bewirken versucht. 

§. 148. Ein solches Verbrechen soll mit schwerem Kerker zwischen ein und fünf 
Jahren, und wenn zugleich der Mutter durch das Verbrechen Gefahr am Leben oder 
Nachtheil an der Gesundheit zugezogen worden ist, zwischen fünf und zehn Jahren bestraft 
werden. 

Kürzer und dem deutschen Strafgesetz ähnlich drückt sich der österreichische 
Strafgesetz-Entwurf aus: 

§. 229. Eine Schwangere, welche ihre Frucht abtreibt, oder im Mutterleibe tödtet 
oder dies durch eineiT Anderen thun lässt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit 
Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft. 

§. 230. Dieselbe Strafe trifft denjenigen, welcher mit Einwilligung der Schwangeren 
ihre Frucht abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, hat er dieses gegen Entgelt gethan, so ist 
auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren zu erkennen. 

§. 231. Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren Wissen und Willen 
abtreibt oder tödtet wird mit Zuchthaus von zwei bis fünfzehn Jahren bestraft. Ist durch 
die Handlung der Tod der Schwangeren verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht 
unter zehn Jahren ein. 

Deutsches Strafgesetz. §. 218. Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich 
abtreibt, oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft 
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten 
ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung 
der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tödtung bei ihr angewendet oder ihr 
beigebracht hat. 

§. 219. Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer einer Schwangeren, 
welche ihre Frucht abgetrieben oder getödtet hat, gegen Entgelt die Mittel hiezu verschafft, 
bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat. 

§. 220. Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren Wissen und Willen 
vorsätzlich abtreibt oder tödtet, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft 

Ist durch die Handlung der Tod der Schwangeren verursacht worden, so tritt 
Zuchthausstrafe nicht unter zehn Jahren oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein. 

Aus diesen gesetzlichen Bestimmungen ergeben sich die gerichtlich- 
medicinischen Aufgaben, ohne deren Lösung eine richterliche Behandlung 
einer Fruchtabtreibung gar nicht möglich ist. Zu diesen Aufgaben gehören: 

1. die Bestimmung oder der Nachweis, dass ein Abortus stattgefunden 
hat, oder wenigstens ein Versuch dazu gemacht worden ist. Da im §. 145 
des österreichischen Strafgesetzes ausdrücklich auch der Versuch zu einer 
Fruchtabtreibung mit Strafe bedroht ist; 

2. die Aufklärung darüber, ob der stattgefundene Abortus ein spontaner 
oder ein durch angewandte Mittel provocirter war, und im letzteren Falle 

3. ob der durch Mittel provocirte Abortus für die betreffende Person 
nachtheilige Folgen oder gar den Tod nach sich gezogen hat. 

1. Diagnose des Abortus. 

Die Diagnose eines stattgehabten Abortus ergibt sich einerseits aus 
der Untersuchung der abgegangenen Leibesfrucht oder wenigstens aus Ab¬ 
gängen von der betreffenden Person, anderseits aus der Untersuchung dieser 
selbst. Diese Untersuchungen bleiben sehr häufig mangelhaft, indem beide 
Untersuchungsgegenstände nicht immer erhältlich sind, bald hat man eine 
Leibesfrucht, respective einen Fötus zur Untersuchung, aber nicht die be¬ 
treffende Person, von welcher das abgegangene Kind stammt, bald hat man 
die letztere zur Untersuchung, aber nicht die abgegangene Leibesfrucht. 
Daraus erklärt es sich, warum gerichtlich-medicinische Untersuchungen über 
criminellen Abortus oft gar nicht stattfinden können oder wenigstens nicht 
zu bestimmten Resultaten führen. Gerade beim criminellen Abortus kommt 
es häufig vor, dass derselbe unter Mitwirkung von Personen stattfindet, die 
gewerbsmässig diese Mitwirkung betreiben, und dann auch dafür sorgen, dass 
die Abgänge beim Abortus in einer Weise beseitigt werden, dass sie nicht 
leicht auffindbar sind. Es sind daher meistens ganz besondere Zufälligkeiten, 
welche zu Indicien einer stattgehabten Fruchtabtreibung führen. 


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FRUCHTABTREIBUNG. 


269 


Die abgegangene Leibesfrucht. Nach statistischen Erhebungen 
(Tabdieü) erfolgt der criminelle Abortus meistens in den ersten sechs 
Monaten der Schwangerschaft und zwar am häufigsten zwischen dem vierten 
und sechsten Monat, was sich sehr natürlich daraus erklärt, dass Versuche 
zur Fruchtabtreibung gewöhnlich erst dann vorgenommen werden, wenn eine 
Schwangerschaft sehr wahrscheinlich ist, denn das Ausbleiben der Menstruation 
ein- oder zweimal gibt in dieser Beziehung noch keine grosse Wahrschein¬ 
lichkeit. Daraus folgt weiterhin, dass schon in den ersten Schwangerschafts¬ 
monaten abgetriebene Leibesfrüchte in den seltensten Fällen zur Untersuchung 
kommen, und dass meistens die vorzunehmenden Untersuchungen Leibes¬ 
früchte betreffen, welche schon mehrere Monate Lebensalter haben. 

Die Untersuchung solcher Leibesfrüchte muss dann nach mehreren 
Richtungen hin geschehen, nämlich einerseits in Bezug auf das Alter der 
Leibesfrucht, aus welchem sich selbstverständlich weiterhin ein Schluss ziehen 
lässt, auf den Schwangerschaftsmonat, in welchem der Abortus stattgefunden 
hat, anderseits auf allfällig vorhandene Bildungsfehler, oder fötale Krank¬ 
heiten, welche ein frühzeitiges Absterben der Leibesfrucht hätten bedingen 
nnd dadurch zum Eintritt eines Abortus führen können. Endlich ist die 
Leibesfrucht auch noch genau auf das Vorhandensein von Verletzungen zu 
untersuchen, welche vielleicht auf eine mechanische Abtreibung der Leibes¬ 
frucht schliessen Hessen. 

Obschon nun, wie gesagt, Untersuchungen von Leibesfrüchten in den 
ersten Lebensmonaten, namentlich im ersten und zweiten Monat, höchst selten 
Vorkommen, müssen wir der Vollständigkeit wegen die anatomischen Charaktere 
auch solcher Leibesfrüchte berücksichtigen, und beginnen wir daher mit dem 
ersten Monat. In diesem Monat abgegangene Leibesfrüchte sind noch 
in den Eihäuten enthalten und gehen gewöhnlich in Blutgerinnseln verloren. 
Wenn man daher in verdächtigen Fällen derartige Abgänge erhält, was aber 
selten zutrifft, so muss man solche Blutgerinnsel genau untersuchen, ob 
dieselben nicht das Ei enthalten, d. h. den Embryo mit den Eihäuten, denn 
ein solcher Fund würde einen stattgehabten Abortus sofort beweisen. In spä¬ 
teren Monaten geht das Ei gewöhnlich nicht mehr vollständig ab, sondern 
die Eihäute zerreissen und die Frucht geht gesondert ab. Eihäute und Nach¬ 
geburt werden später ausgestossen. Werden nun nur noch häutige Gebilde 
gefunden, so ist eine genaue, makroskopische eventuell mikroskopische Unter¬ 
suchung nothwendig, um die gefundenen Membranen als Amnion und Chorion 
und daher als Eihäute zu unterscheiden gegenüber anderen häutigen Gebilden, 
die bei der Menstruation mitunter ausgestossen werden, als sogenannte De- 
cidua menstrualis oder als Folge eine Endometritis exfoliativa. Freilich hat 
die grösste Bedeutung der aufgefundene Embryo selbst, welcher am Ende 
des ersten Monates eine Länge von 1cm hat. Das ganze Ei gleicht an 
Grösse einem Taubenei, ist 2 cm lang und das Chorion an seiner ganzen 
Oberfläche zottig. Der Embryo ist stark gekrümmt, der Nabelstrang kurz, 
das Amnion liegt dem Embryo nicht mehr dicht an. Am Halse jederseits 
4 Kiemenspalten, von den Extremitäten sind erst Stümpfe vorhanden u. s. w. 

Am Ende des zweiten Monates ist das Ei hühnereigross, der Embryo 
hat eine Länge von 2 */*—3 cm, ein Gewicht von fast 4 g, die Kiemenspalten 
geschlossen, Mund- und Nasenhöhle getrennt, die Extremitäten bereits in ihre 
drei Theile geschieden, in verschiedenen Knochen (Wirbelkörper, Rippen, 
Schlüsselbeine u. s. w.) Ossificationspunkte. 

Am Ende des dritten Monates, das Ei gänseeigross, der Embryo 7— 
9 cm lang, Gewicht 5— 2Qg, Finger und Zehen mit den Nägeln deutlich zu 
unterscheiden, in den meisten Knochen Ossificationspunkte, die äusseren 
Genitalien beginnen sich zu differenziren, durchschnittlich die Nabelschnur 
7 cm lang und die Placenta 36 g schwer. 


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FRUCHTA.BTREIBUNG. 


Am Ende des vierten Monates der Fötus 10—17 cm lang, wiegt 
bis zu 120 g, das Geschlecht deutlich unterscheidbar, durchschnittlich die 
Nabelschnur 19 cm lang und die Placenta 80 g schwer. 

Am Ende des fünften Monates: Länge des Fötus 18—27 cm, Gewicht 
durchschnittlich 284^, die Haut hellrötblich und dünn, Kopfhaare, Lanugo 
und Vernix caseosa treten auf, Länge der Nabelschnur 31 cm, Gewicht der 
Placenta 178^. 

Am Ende des sechsten Monates: Länge des Fötus 28 bis 34 cm, 
Durchschnittsgewicht 634 Kopf im Verhältnis zum Rumpfe noch gross, Pu¬ 
pille durch die Pupillarmembrane verschlossen, Hoden noch in der Bauch¬ 
höhle, die kleinen Schamlippen von den grossen noch unbedeckt, die Insertion 
der Nabelschnur im mittleren Drittel zwischen Schamfuge und Schwertfortsatz, 
sie selbst im Mittel 37 cm lang, die Placenta 273 g schwer. 

Am Ende des siebenten Monates der Fötus 35—38cm lang, das 
Mittelgewicht desselben 1218, die Länge der Nabelschnur 42 cm, das Mittel¬ 
gewicht der Placenta 374^, die Hoden im Leistencanal, in der Pupülarmem- 
brane häufig beginnender centraler Schwund, Haut noch röthlich und ohne 
Fettpolster, mit Wollhaaren dicht bedeckt. 

Diese anatomischen Charaktere abgegangener und zur Untersuchung 
gelangter Leibesfrüchte ermöglichen die Bestimmung des Alters der Frucht 
und damit auch der Zeit, zu welcher der Abortus stattgefunden hat. Da 
unter solchen Verhältnissen immer die Vermuthung nahe liegt, dass es sich um 
einen criminellen Abortus handelt, obschon auch häufig genug spontan ab¬ 
gegangene Leibesfrüchte in Flüssen, Aborten und der Nähe von Strassen 
u. s. w. gefunden werden, so ist es immer geboten, den Fötus nicht bloss auf 
seine Altersverhältnisse, sondern auch noch auf allfällige Verletzungen zu 
untersuchen, die etwa mit einer mechanischen Abtreibung der Leibesfrucht 
in Verbindung stehen könnten. Solche Verletzungen sind hin und wieder, 
jedoch im Ganzen selten gefunden werden. Meistens bestanden sie in Stich- 
verletzungen, wir kommen bei der mechanischen Fruchtabtreibung darauf noch 
einmal zurück. Wir haben eine grössere Zahl mehrmonatlicher Leibesfrüchte, 
worunter indess auch einzelne spontan abgegangene sich befunden haben 
mögen, zu untersuchen Gelegenheit gehabt, aber niemals derartige Verletzungen 
gefunden, so dass wir das Vorkommen derselben für selten halten müssen. 
Zudem sind auch bei älteren Leibesfrüchten, die in Aborte gelangt und aus 
diesen herausgefischt worden sind, wenn an ihnen Verletzungen gefunden 
wurden, diese öfters erst postmortal entstanden, was ich mehrmals consta- 
tiren konnte. 

Sehr häufig kommt es vor, dass nach Auffindung nicht lebensfähiger 
Leibesfrüchte angehobene gerichtliche Untersuchungen mit der Untersuchung 
dieser abschliessen müssen, indem die Mutter fehlt, so dass der Richter 
durch Vermittlung der Sachverständigen nicht mehr erfährt, als dass ein 
Abortus in diesem oder jenem Schwangerschaftsmonat stattgefunden hat. 

Anders verhält es sich in solchen viel selteneren Fällen, wenn eine der 
Fruchtabtreibung verdächtige Person in Untersuchung gelangt, und fällt dann 
dem Gerichtsarzte die Untersuchung der betreffenden Person in Bezug auf 
stattgehabten Abortus zu. Hiebei kann es sich um zwei verschiedene Unter¬ 
suchungsobjecte handeln, nämlich um Untersuchung einer lebenden Person 
oder einer Leiche. 

Untersuchung einer lebenden Person. Die Persönlichkeiten, 
welche hier in Betracht kommen, sind meistens jüngere ledige Personen, viel 
seltener verheirathete Frauen. Die Indicien, welche den Verdacht eines statt¬ 
gefundenen Abortus begründen können, wenn keine abgegangene Leibesfrucht 
gefunden worden ist, bestehen theils in gemachten verdächtigenden Anzeigen, 


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FRDCHTABTREIBDNG. 


271 


theils in starken Blutungen, oder auch in Erhebungen über gebrauchte Arznei¬ 
mittel, oder im Bestand besonderer Zufälle von Unwohlsein u. s. w. Die 
Untersuchungen unter solchen Verhältnissen sind selbstverständlich viel 
schwieriger als in denjenigen Fällen, wo eine Leibesfrucht gefunden wurde, 
die muthmaasslich von der betreffenden Person herrühren soll, indem dadurch 
auch schon der Zeitraum der Schwangerschaft bestimmt wird, vorausgesetzt 
natürlich, dass die gefundene Leibesfrucht der in Untersuchung befindlichen 
Person angehört, was sich aus dem Zusammenstimmen des Fruchtalters und 
den Untersuchungsergebnissen bei der betreffenden Person schliessen liesse. 

Die Erscheinungen, welche man an solchen Personen findet, sind ver¬ 
schieden nach dem Zeiträume der Schwangerschaft, in welchem der Abortus 
stattgefunden hat, und nach der Zeit, in welcher man nach dem Fruchtabgange 
zur Untersuchung gelangt. 

Hat der Abortus in den ersten zwei bis drei Schwangerschaftsmonaten 
stattgefunden und kann man die betreffende Person schon in den ersten paar 
Tagen untersuchen, so wird man nicht viel anderes finden, als ausser den 
Erscheinungen der Defloration, welche natürlich nur für einen stattgehabten 
coitus sprechen, mehr oder weniger starke Blutung mit periodisch auftreten¬ 
den Schmerzen. Da aber solche Erscheinungen auch bei der gewöhnlichen 
Menstruation sich einstellen können, wird man daraus auf einen stattgehabten 
Abortus noch nicht schliessen können. Nur etwa die längere Dauer der 
Blutung gegenüber früheren Menstruationsperioden könnte Verdacht auf Abort 
erregen und dann unter Umständen die Beschaffenheit der Abgänge, welche 
nicht den Charakter von menstrualen Bildungen haben. Doch wird man in 
solchen Fällen nicht wohl im Stande sein, sich mit Bestimmtheit für einen 
stattgehabten Abortus auszusprechen, und kann die Untersuchung erst später 
stattfinden, wenn die Blutungen schon aufgehört haben, so wird die bestehende 
Defloration das einzige sichere Ergebnis der Untersuchung sein. 

Handelt es sich aber um Abgang einer älteren Leibesfrucht, so hat der 
Vorgang schon mehr Aehnlichkeit mit einer rechtzeitigen Geburt und zwar 
um so mehr, je älter der Fötus ist. Hier zeigen sich schon Vergrösserung 
des Gebärmutterkörpers, Veränderungen der Vaginalportion nach Stellung und 
Consistenz, mehr oder weniger geöffneter Muttermund, stärkere Pigmentirung 
der Brustwarzen und der Warzenhöfe, dunklere Färbung der linea alba, 
Schwellung der Milchdrüsen u. s w. Verletzungen am Muttermund, resp. Ein¬ 
risse, und an den äusseren Genitalien zeigen sich meistens nur bei Geburten 
grösserer, der Lebensfähigkeit bereits nahestehender Leibesfrüchte. Nach Unter¬ 
suchungen, welche derartige Ergebnisse liefern, lässt sich allerdings auch 
ohne dass man die abgegangene Leibesfrucht gefunden hat, eine Diagnose 
auf stattgehabten Abortus stellen. 

Bei Untersuchungen aber, die in späteren Zeiträumen nach einem Abor¬ 
tus, stattfinden, wird die Diagnose desselben, wenn es sich um Leibesfrüchte 
handelt, die noch nicht den sechsten Monat überschritten haben, kaum mit 
Sicherheit zu stellen sein. 

UntersuchungeinerLeiche. Gerichtliche Leichenuntersuchungen 
von Personen, die in Folge eines Abortus gestorben sind, kommen eigentlich 
nur bei criminellem Abortus vor, und handelt es sich dann in solchen Fällen 
nicht bloss um die Constatirung eines stattgehabten Abortus, sondern wesent¬ 
lich auch um Feststellung der Todesursachen in Folge stattgehabter Versuche 
zur Fruchtabtreibung, wovon später die Bede sein wird. 

Was die Constatirung eines stattgehabten Abortus betrifft, so 
kommen hier wie bei der Untersuchung an Lebenden dieselben Verhältnisse 
in Bezug auf Dauer der Schwangerschaft und Zeit der Untersuchung nach 
dem Abgang der Leibesfrucht in Betracht. In den ersten Monaten beziehen 
sich die Erscheinungen hauptsächlich auf die bekannten bei der Schwanger- 


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FRUCHTABTREIBUNG. 


schaft ein tretenden Veränderungen der Uterinschleimhaut, welche mikrosko¬ 
pisch festzustellen sind, und auch auf diejenigen in dem einen oder anderen 
Eierstocke, nämlich auf die Gegenwart eines corpus luteum verum, welches 
in den meisten Fällen wenigstens von einem corpus luteum falsum, das bei 
jeder Menstruation entsteht, durch eine bedeutendere Grösse sich unter¬ 
scheidet. 

Auf diese letztere Erscheinung wird man bei Untersuchungen über stattgehabten 
Abortus immerhin Rücksicht zu nehmen haben, obschon derselben an und für sich eine 
grössere diagnostische Bedeutung nicht beigemessen werden kann, da auch ohne Eintritt 
von Schwangerschaft grössere corpora lutea sich bilden können. *) 

Spätere Untersuchungen über Abortus in diesem Stadium können zu 
keinen aufklärenden Resultaten mehr führen. 

Wird die Section an Personen gemacht, die schon ältere Leibesfrüchte 
geboren haben, und ist nur kürzere Zeit seit der Geburt verflossen, so wird 
man zunächst die schon bei der Untersuchung an lebenden Personen angege¬ 
benen Verletzungszustände an den äusseren Genitalien constatiren, und dann 
weiterhin die Veränderungen an der Gebärmutter, als die Vergrösserung des 
Uteruskörpers, die Veränderungen an der Vaginalportion, die Einrisse am 
Muttermund, ferner die Beschaffenheit der Uterinschleimhaut, die Insertions¬ 
stelle der Placenta, allfällige Blutcoagula und Eihautreste. Zur Bestimmung der 
veränderten Grössenverhältnisse hält man sich an die bekannten Normal¬ 
maasse. 

Die Höhe des jungfräulichen Uterus beträgt 6—8 cm. Der transversale Durchmesser 
des Fundus 4—5 cm , der grösste sagittale 2—3 cm (Henle). 

Findet die Untersuchung erst längere Zeit nach dem stattgehabten 
Abortus statt, so wird man nach der Geburt älterer Leibesfrüchte ausser einer 
gewissen Vergrösserung des Uterus, der nach mehrmonatlichen Schwanger¬ 
schaften niemals auf seine ursprünglichen Grössenverhältnisse reducirt wird, 
auch noch ausser der narbigen Beschaffenheit des Hymen, Narben am orificium 
uteri, und an der hinteren Commissur oder am Damme finden, wenn hier 
Zerreissungen stattgefunden haben. 

2. Spontaner oder provocirter Abortus. 

Ist durch die bisherigen Untersuchungen das Stattgehabthaben eines 
Abortus ermittelt, so kommt die Erörterung der zweiten Frage, in welcher Weise 
der Abortus herbeigeführt wurde, ob es sich um einen spontan entstandenen 
oder um einen durch Anwendung fruchtabtreibender Mittel herbeige¬ 
führten Abortus handelt. 

Spontan entstandene Fehlgeburten geben zwar selten zu gerichtlichen 
Untersuchungen über Fruchtabtreibung Anlass, weil meistens alle Indicien 
hiefür fehlen, gleichwohl ist es für die richtige Beurtheilung der zur Frucht¬ 
abtreibung angewandten Mittel nothwendig, auf die Ursachen des spontan ent¬ 
stehenden Abortus Rücksicht zu nehmen, da dieser ausserordentlich häufig 
vorkommt, und die veranlassenden Ursachen sehr mannigfaltig und theilweise 
auch solche sind, welche beim criminellen Abortus ebenfalls in Betracht 
kommen. 

Bezüglich der Schwangerschaftsperioden, in welchen der spontane Abortus 
am häufigsten vorkommt, sind der Erfahrung zufolge hauptsächlich zwei 
Perioden hervorzuheben, nämlich einerseits die erste Zeit der eingetretenen 
Schwangerschaft. Hegar **) schätzt die Frequenz der Aborte in den ersten 
Schwangerschaftsmonaten gleich 1 auf 8—10 rechtzeitige Geburten, eine zweite 
Periode ist diejenige des sechsten und siebenten Schwangerschaftsmonates, also 


*) Leopold: Archiv f. Gynäkol. XI. 110. 1877. — Hofmann, Lehrb. d. serichtl. Me- 
dicin. 1884. S. 213. 

**) Mag. f. Geburtsk. Bd. 21. 1863. 


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FRUCHTABTREIBUNG. 


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die Periode, in welcher die Leibesfrucht die Lebensfähigkeit erlangt. Es ist 
eine bekannte Sache, dass einzelne Frauen keine lebenden Kinder erlangen, 
weil dieselben immer zu früh, namentlich schon im siebenten Monate geboren 
werden, und Hofmann*) macht hiefilr die von ihm gemachte Erfahrung 
geltend, dass die grösste Zahl der faultodt geborenen Früchte dem Ende des 
sechsten und noch häufiger dem siebenten Monate angehörten. 

Nach Whitchrad kamen von 602 Aborten auf die 9. bis 16. Woche 422. 

Ungezählte Aborte kommen aber in den ersten Wochen der Schwangerschaft vor. 
Die Menstruation bleibt ein, zwei bis drei Wochen ans, stellt sich dann in ungewöhnlicher 
Stärke wieder ein, was aber gewöhnlich nicht als Abortiren aufgefasst und nicht weiter 
berücksichtigt wird. 

Die Ursachen des spontanen Abortus sind sehr mannigfaltig und 
theils in abnormen Zuständen der Frucht, theils in solchen der Mutter be¬ 
gründet, theils liegen sie in der Einwirkung äusserer Vorgänge. 

Was die abnormen Zustände der Frucht betrifft, so bestehen diese mit¬ 
unter in Bildungsfehlern, die als solche dann erkannt werden können, oder 
es sind Ernährungs- und Circulationsstörungen, welche den Tod der Frucht 
bedingen und dieser führt dann zur Ausstossung der Frucht, d. h. zum Abortus. 
Die Veranlassung zu solchen Ernährungs- und Circulationsstörungen gibt vor 
Allem die Syphilis sowohl der Mutter als der Frucht und gehört dahin be¬ 
sonders die Hypertrophie des Chorions und die Placentarsyphilis, ferner Tor¬ 
sionen der Nabelschnur, Apoplexien der Placenta u. s. w. 

Von Seiten der Mutter kommen erhebliche Blutungen, gesteigerter Blut¬ 
druck und Wärmeströmung durch acute fieberhafte Krankheiten mit hohen 
Temperaturen, ferner locale Krankheiten, zumal Endometritis, acute Neph¬ 
ritis, Lage- und Stellungsveränderungen des Uterus (namentlich Retro- und 
Antroflexion) u. s. w. in Betracht. 

Von äusseren Einwirkungen sind besonders Quetschungen und Erschütte¬ 
rungen zu erwähnen, sei es, dass dieselben vorzüglich den Unterleib oder den 
ganzen Körper betreffen, indem dieselben zu Blutungen zwischen die Eihäute 
führen. 

Bei dem spontanen Abortus ist entweder die Frucht schon vorher ab¬ 
gestorben und wird nur die todte Frucht ausgestossen, oder der Tod der¬ 
selben tritt erst in Folge der Austreibung ein. Nicht unwichtig ist die Er¬ 
fahrung, dass abgestorbene Früchte oft längere Zeit innerhalb der Gebär¬ 
mutter nicht bloss Tage, sondern selbst Wochen lang verbleiben können, und 
auch die Austreibung ist nicht selten eine prolongirte, selbst Pausen 
machende. 

Provocirter crimineller Abortus. Spontaner und provocirter 
Abortus und künstliche Frühgeburt concurriren zusammen. Nach den vielen 
Veranlassungen und nach dem häufigen Vorkommen des spontanen Abortus 
sollte man glauben, es sei nichts leichter, als einen Abortus zu bewirken, 
was jedoch keineswegs zutrifft, und gibt es eine Unmasse von Mitteln, welche 
zu diesem Zwecke empfohlen und angewandt worden sind. Hiebei sind jedoch 
zwei Arten von Mitteln zu unterscheiden, nämlich die inneren medicini- 
schen und äusseren mechanischen Mittel. Die angeführten Gesetz¬ 
gebungen bezeichnen die angewandten Mittel nicht näher und fassen nur die 
Handlung der Abtreibung auf. Andere Gesetzgebungen dagegen verlangen, 
dass zu dem Zwecke der Fruchtabtreibung hiezu geeignete Mittel in 
Anwendung kommen, wie z. B. 

Das Beanischb Strafgesetz Art. 136. Eine schwangere Weibsperson, welche in 
der rechtswidrigen Absicht eine Fehlgeburt oder den Tod der Fracht im Matterleibe za 
bewirken, hiezu geeignete Mittel angewendet hat u. s. w. 


*) Lehrbuch d. ger. Med. S. 225. 1884. 

Bibi. med. Wia®enBchmften. Hygiene u. Oer. Med. 


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FRUCHTABTREIBUNG. 


Für die forensische Behandlung des Falles hat das insofern einige Be¬ 
deutung, als aus der Anwendung zur Fruchtabtreibung geeigneter Mittel 
sich natürlich die Absicht einer solchen Handlung ergibt und hat eine hier¬ 
auf bezügliche Frage auch insofern eine Berechtigung, als es allerdings zur 
Fruchtabtreibung geeignete Mittel gibt, wozu namentlich manche der mecha¬ 
nisch wirkenden gehören, während freilich in vielen anderen Fällen nur aus 
der Thatsache des erfolgten Abortus sich ergibt, dass das zur Bewirkung 
desselben angewandte Mittel ein geeignetes war. 

Die vorzeitige Unterbrechung einer Schwangerschaft kann auf doppelte 
Weise geschehen, einerseits dadurch, dass Contractionen des Uterus herbei¬ 
geführt werden, welche zur Ausstossung der Frucht führen, andererseits da¬ 
durch, dass ein Absterben derselben veranlasst wird, welches dann den Abortus 
bedingt. Mittel, welche diese Vorgänge herbeizuführen vermögen, werden als 
Abortivmittel bezeichnet. Da nun vorkommenden Falls, wenn ein Abortus 
stattgefunden hat, und dazu angeblich oder erwiesenemaassen Mittel ange¬ 
wandt worden sind, von Seiten der Sachverständigen nachgewiesen werden 
soll, dass der Abortus durch diese oder jene Mittel herbeigeführt oder wenig¬ 
stens versucht wurde, ist es nothwendig, diese Mittel bezüglich ihrer Wirkung 
etwas näher ins Auge zu fassen. 

Was zuerst die inneren Fruchtabtreibungsmittel betrifft, so ist 
die Thatsache festzustellen, dass wir zur Zeit keine Mittel kennen, welche 
mit nur einiger Sicherheit in nicht vergiftenden Gaben den Tod der Frucht 
bewirken und dadurch den Abgang derselben veranlassen könnten und dass 
wir ebensowenig im Stande sind, solche Contractionen des Uterus hervor¬ 
zurufen, dass dadurch Abortus herbeigeführt würde. Uebrigens stehen beide 
Vorgänge meistens so in Verbindung, dass sie nicht von einander getrennt 
werden können. 

Dass toxische Substanzen durch Vermittlung des Placentarkreislaufes in die Frucht 
übergehen können, ist experimentell ausser Zweifel gesetzt und gehören dahin z. B. Chloro¬ 
form, Salicylsäure, Jodkalium, Bromkalium u. s. w., während andere Substanzen z. B. 
Strychnin, Ergotin, Curare u. s. w. nach Thierversuchen nicht nachgewiesen werden 
konnten. Dass grössere Gaben von Jodkalium zu Abortus führen sollen, ist zwar behauptet 
(Tardieu), aber durch weitere Erfahrungen noch nicht erwiesen worden. 

Die Hervorrufung von Uteruscontractionen durch Reizung der Uterin¬ 
nerven ist mehrfältig nachgewiesen worden. Die Gebärmutter enthält theils 
eigene automatische Nervencentren, theils sind solche in verschiedenen Partien 
des Rückenmarks (Lendenmark, Brustmark) vorhanden und können durch directe 
und reflectorische Reizungen dieser Nervencentren-Contractionen des Uterus 
ausgelöst werden. Als Reizmittel wurden so versucht an Thieren: Strychnin, 
Nicotin, Carbolsäure u. s. w. Als besonders wirksam erwies sich Oleum 
Sabinae. Am häufigsten jedoch wird diese Reizung reflektorisch vermittelt, 
ganz besonders durch Reizzustände der Schleimhaut des Magens und weiter¬ 
hin der Gedärme. Diese Reizungen der Uterinnerven haben aber nicht bloss 
myomotorische sondern auch angiomotorische Effecte zur Folge, wodurch 
wesentliche Störungen in der Blutcirculalion und daher auch im Placentar- 
gebiete hervorgerufen werden, die einen Blutmangel und einen Blutüberfluss, 
selbst Blutung in der Frucht und ihren Umhüllungen hervorbringen und 
dadurch das Absterben der Frucht bedingen können. 

Die Wirkung der Abortivmittel hängt aber nicht bloss von der gereichten Menge 
derselben ab, sondern auch von der Empfindlichkeit des betreffenden Inaividnnms, deren 
grosse Verschiedenheit es bedingt, dass gleiche Ursachen mitunter die verschiedensten 
Wirkungen hervorbringen. Auch ist darauf aufmerksam zu machen, dass eine grosse Ver¬ 
schiedenheit in der Reizbarkeit der Uterinnerven und daher auch in der Wirkung ange¬ 
wandter Reizmittel davon abhängig ist, ob der Uterus im Zustande höherer Grade der 
Gravidität sich befindet, oder erst in den Anfängen derselben. So wirkt z. B. das Secale 
cornutum ganz anders, wenn es bei Geburten als Wehen treibendes Mittel gegeben wird, 
als wenn es in den ersten Monaten der Schwangerschaft zur Bewirkung von Uteruscon¬ 
tractionen gegeben wird. 


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FRÜCHTABTREIBUNG. 


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Nach dem Gesagten wird es verständlich, dass drastisch wirkende Abführ¬ 
mittel, namentlich bei empfindlichen Personen zu Abortus führen können, 
sowie auch mehrfach gereichte Brechmittel, wobei noch die Erschütterung des 
Körpers in Betracht kommt, und dass eigentlich alle sogenannten Emmenagoga 
auch als Abortivmittel zu betrachten sind. 


Dass nun aber hauptsächlich solche Mittel reflectorisch zu Uterus- 
contractionen und weiterhin durch Bewirkung schwerer Circulationsstörungen, 
auch zum Tode der Frucht führen können, welche heftige Reizung und 
Entzündung der Magen-Darmschleimhaut hervorzubringen vermögen, wenn sie 
in stärkerer und dann meistens vergiftender Gabe gereicht werden, ist leicht 
einzusehen, und zu dieser Kategorie von Mitteln gehören vor allem diejenigen, 
welche ganz besonders im Rufe von Abortivmitteln stehen, wie in erster 
Linie die verschiedenen Juniperusarten, als J. sabina (wovon das Oleum 
Sabinae), J. virginiana (wovon das Cedernöl), dann verschiedene Thuja¬ 
arten,*) Th. occidentalis, ferner Taxus baccata, dann auch Ruta 
graveolens, Tanacetum vulgare u. s. w. Diese Pflanzen enthalten ins- 
gesammt scharfe Oele, durch welche sie reizend und giftig wirken. Ihnen 
schliessen sich noch andere Oele an wie das Absinthöl, das Terpentin¬ 
öl u. s. w. 

Hin und wieder werden auch noch andero reizende und giftig wirkende Substanzen 
in Anwendung gebracht, wie Canthariden, Phosphor, namentlich von Phosphorzünd¬ 
hölzchen, welche gleichfalls bedeutende Reizerscheinungen im Darmcanal und überhaupt 
schwere Vergiftungserscheinungen hervorbringen und dadurch abortiv wirken können. 

Es hat keine weitere Bedeutung, jedes einzelne Mittel, welches je einmal 
als Abortivmittel in Gebrauch gezogen wurde, aufzuführen, denn in der Gerichts¬ 
praxis wird es sich bei der Beurtheilung der Wirkung eines zu Fruchtabtrei¬ 
bungszwecken angewandten Mittels doch immer darum handeln, ob das be¬ 
treffende Mittel, sei es nun ein als Abortivmittel bekanntes oder als solches 
nicht bekanntes, Wirkungen geäussert hat, die zu einem Abortus hätten führen 
können oder zu einem solchen geführt haben. 

Nach meinen Erfahrungen über Fälle von Fruchtabtreibung habe ich von Secale 
comutum, in der ersten Hälfte der Schwangerschaft angewandt, auch wenn grössere Gaben 
genommen wurden, niemals einen abortiven Effect kennen gelernt, und auch von Ex- 
tracten und Oelen verschiedener Juniperusarten in Pillenform oder von Aufgüssen und 
Abkochungen der Pflanzentheile habe ich keinen Abortus entstehen gesehen, so lange die 
letzteren oder das Oel nicht in vergiftender Gabe genommen wurden, in welchen Fällen 
dann eher der Tod als ein Abortus eintrat. In einem Falle z. B. wurde von der betreffenden 
Person mehrere Monate hindurch eine Masse von Pillen mit Juniperusextract genommen, 
welche durch [Vermittlung des Liebhabers aus verschiedenen Apotheken beschafft wurden, 
aber ganz ohne Erfolg bis zum sechsten Monat, erst dann wandte man mechanische Mittel 
an und durch diese gelang dann der Abortus. Auf der Anklagebank sassen in diesem 
Falle neben der Betreffenden der Liebhaber und der Arzt, welcher die Operation aus- 
fuhrte. — Die Anwendung von Absinth ist mir in zwei Fällen vorgekommen. Die Be¬ 
treffenden wurden betrunken, auch trat bei der einen ziemlich heftiges Erbrechen ein, 
allein Abortus erfolgte nicht. Es konnte daher auch nur der Versuch bestraft werden. 

Die forensische Beurtheilung, resp. Diagnose von Fruchtabtreibungs¬ 
fällen durch innere Mittel ist immer eine sehr schwierige Sache. Es kommen 
hiebei verschiedene Verhältnisse in Betracht. 


Bald soll festgestellt werden, ob gewisse Mittel, welche die der Frucht¬ 
abtreibung verdächtige Person angewandt haben soll, wirklich geeignete 
Mittel hiezu waren, oder wenigstens, da das Prädicat „geeignete 41 nicht immer 
verlangt wird, einen Abortus hätten hervorbringen können. Die Beurtheilung 
eines solchen Falles setzt natürlich Kenntnis und Untersuchung des fraglichen 
Mittels voraus, sowie auch der Art der Anwendung. Ergibt sich nun, dass 
das betreffende Mittel in die Kategorie der Abortiva gehört, so wird na- 


*) Tschirch, Ist Thuja ein Abortivum? Zeitschr. 
Vereins 1893. Nr. 6 und 7. 


des allgem. österr. Apotheker- 


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FRUCHTABTREIBUNG. 


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türlich dadurch der Verdacht einer beabsichtigten Frachtabtreibung gestützt, 
zumal wenn noch nachgewiesen werden kann, dass die betreflende Person das 
Mittel längere Zeit in Anwendung gebracht hat. Ist hingegen das Mittel 
nicht als ein solches bekannt, so sind seine Wirkungen gleichwohl nach me- 
dicinischer Erfahrung näher zu bezeichnen und darauf gestützt die Fragen zu 
beantworten, ob das Mittel in gewissen Gaben hätte Krankheitszustände her¬ 
vorbringen können, in deren Gefolge Abortus hätte eintreten können, oder 
ob in dieser Beziehung das Mittel als ein ganz indifferentes anzusehen ist. 
Im ersten Falle könnte immer nur ein Versuch zur Fruchtabtreibung ange¬ 
nommen werden. 

Handelt es sich dagegen um einen wirklich stattgehabten Abortus und 
besteht Verdacht, dass derselbe auf künstliche Weise herbeigeführt wurde, so 
müsste namentlich in Fällen, wo keine verdächtigen Arzneimittel vorliegen, 
zuerst wohl untersucht werden, ob der Abortus vielleicht nicht spontan ein¬ 
getreten ist, und wäre hiezu wesentlich in Betracht zu ziehen, ob nicht Ein¬ 
wirkungen irgend welcher Art stattgefunden haben, welche bei der Indivi¬ 
dualität der Betreffenden zu einer Fehlgeburt hätten führen können, ferner ob 
der Abortus nicht unter Erscheinungen aufgetreten ist und einen Verlauf ge¬ 
nommen hat, welche als Folgen der Wirkungen eines der genannten Abor¬ 
tivmittel anzusehen wären. Allein aus der Art und Weise, wie die Frucht 
abgegangen ist, ob das ganze Ei auf einmal, oder nach Zerreissung der Ei¬ 
häute der Embryo oder Fötus für sich allein, lässt sich kein Schluss auf spon¬ 
tanen oder provocirten Abortus ziehen. 

Sind keine der oben angeführten Verhältnisse auffindbar, die für einen 
spontanen Abortus sprechen könnten, so ist derselbe unwahrscheinlich und 
ein provocirter Abortus um so wahrscheinlicher, wenn bei der betreffenden 
Person Mittel behändigt worden sind, welche von derselben gebraucht wurden 
und den Charakter von Abortivmitteln haben. Die Untersuchung würde in 
diesem Falle hauptsächlich darauf zu richten sein, ob die dem gebrauchten 
Arzneimittel entsprechenden Erscheinungen z. B. einer Gastroenteritis vor¬ 
handen waren und ob im Anschluss an diese die Fehlgeburt erfolgte. Da diese 
Beweise in manchen Fällen nicht immer in zuverlässiger Weise beigebracht 
werden können, so dürfen auch die gerichtlich- medicinisehen Schlüsse nicht 
allzu bestimmte sein, und muss die Beurtheilung der äusseren Um¬ 
stände, welche hier eine wichtige Rolle spielen, dem urtheilenden Richter 
überlassen bleiben, inwieweit dieselben für einen provocirten Abortus sprechen. 
Hat die Fruchtabtreibung zu einem tödtlichen Ende geführt, und ist man über die 
angewandten Mittel einigermaassen im Unklaren, so müsste die Leichenunter¬ 
suchung mit einer chemischen Expertise zur Aufklärung verbunden werden. 

Mechanische Fruchtabtreibungsmittel. Man könnte eigentlich 
auch noch eine Abtheilung von thermischen Fruchtabtreibungsmitteln unter¬ 
scheiden, indem es mitunter vorkommt, dass Schwangere zum Zwecke des 
Wiedereintrittes der Menstruation sich dämpfen und sich hiezu auf mit heissem 
Wasser oder mit Absuden verschiedener Art gefüllte Gefässe setzen, oder, 
was mir auch vorgekommen ist, dass sie über einem Gefäss, in welchem Wein¬ 
geist angezündet ist, mit gespreizten Beinen stehen. In einem solchen Falle 
musste ich begutachten, ob dieses Vorgehen ein geeignetes Mittel sei zur 
Bewirkung eines Abortus, was ich verneinte. 

Hieran reihen sich die leicht ausführbaren warmen Scheidendouchen, die 
auch von Geburtshelfern zur Einleitung einer künstlichen Frühgeburt mehr- 
fältig in Gebrauch gezogen worden sind. Es ist thatsächlich, dass durch 
solche wiederholte Douchen ein Abortus bewirkt werden konnte, *) aber dieses 
Mittel wirkt immerhin unzuverlässig. 

*) Hierauf bezügliche Falle s. bei Säxinger, Schwangerscb. u. Geburt, im Handb. d. 
ger. Med. von Maschka, III. S. 273. 1882. 


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FRÜCHTABTREIBUNG. 


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Von den nur mechanisch wirkenden Mitteln sind in erster Linie auf¬ 
zufahren äussere Gewaltseinwirkungen auf den Körper überhaupt oder speciell 
auf den Unterleib und den Uterus. Dahin gehören Körpererschütterungen 
durch Sprung oder Fall von einer gewissen Höhe herab, auch Fahren auf 
holprigen Wegen mit Fuhrwerken ohne Federn, anhaltendes Tanzen u. dgl. 
Speciell auf den Unterleib und den Uterus wirken Stösse gegen denselben, 
auch Massiren desselben, namentlich des fundus uteri. Dass derartige Vor¬ 
gänge, zumal solche der ersten Art Abortus bedingen können, ist keinem Zweifel 
unterworfen. 

Erst kürzlich war ich bei einem Falle betheiligt, wo eine im siebenten Monate be¬ 
findliche schwangere Frau von einer Laube, deren Boden einbrach, mehrere Meter hoch 
herunter stürzte und besonders stark mit der linken Beckenseite auffiel, woselbst sich 
erhebliche Qnetscherscheinungen zeigten. Der Vorfall fand am &. Oct. 1895 statt und am 
7. gleichen Monats trat die Geburt eines der Reife noch nicht nahe stehenden Kindes ein, 
welches schon nach anderthalb Stunden unter Erscheinungen von Lebensschwäche starb. 
Ich hatte zu constatiren, dass der Fall Ursache der zu früh eingetretenen Geburt war und 
dass diese den Tod des Kindes zur Folge hatte. Die Klage lautete auf fahrlässige Tödtung 
wegen Schadhaftigkeit der Laube. 

Der Eintritt eines Abortus nach solchen Vorgängen ist meistens eine 
Zufälligkeit, wenn auch eine absichtlich herbeigeführte, was namentlich an- 
zunehmen wäre, wenn durch Massage des Uterus ein Abort bewirkt worden 
wäre, wovon uns indessen kein Fall bekannt ist. 

Schwere Eingriffe zur Bewirkung eines Abortus sind solche, welche sich 
auf die Gebärmutter selbst beziehen und im Einbringen von Fremdkörpern 
in dieselbe, in Einspritzungen und in Perforation oder Zerreissung der Ei¬ 
häute bestehen. Diese Eingriffe setzen fast immer Mithilfe noch anderer Per¬ 
sonen voraus, welche theils in Aerzten, besonders aber in Hebammen, selten 
in Laien bestehen. Durch solche Eingriffe ist allerdings die Bewirkung eines 
Abortus ziemlich sicher. 

Bei den Einspritzungen, zu welchen das Spritzenrohr durch den Cervix 
eingebracht wird, kommt es sehr auf die Gewalt an, mit welcher die Ein¬ 
spritzung gemacht wird. Durch solche Einspritzungen kann die Flüssigkeit 
durch die Tuben in die Bauchhöhle gelangen, wie ich einen Fall der Art 
beobachtet habe. 

Ein Landarzt batte bei einer im vierten Monat Schwangeren Einspritzungen in den 
Uterns gemacht mit Bleiwasser und zwar, wie es scheint, mit ziemlicher Gewalt. Es folgten 
darauf Brennende Schmerzen im Unterleib und traten Wehen ein, durch welche die Frucht 
ausgestossen wurde, aber zugleich traten Erscheinungen einer heftigen Peritonitis auf, an 
welcher die Person schon in den nächsten vierundzwanzig Standen starb. Ich kam in 
den Fall die Section zu machen, welche keine gerichtliche war, und fand den Uterus leer, 
aber die Erscheinungen einer heftigen diffusen Peritonitis und einer rechtsseitigen Salpin¬ 
gitis. Von dem iujicirten Bleiwasser konnten keine Spuren entdeckt werden. 

Durch solche Injectionen kann Ablösung und Zerreissung der Eihäute 
herbeigeführt, und dadurch der Abortus veranlasst werden. 

Sehr häufig kommt das Einlegen von Bougies oder anderen ähnlichen 
Gegenständen in die Vaginalportion vor, welche längere Zeit liegen gelassen 
und zu wiederholten Malen eingeführt werden. Dadurch können allerdings 
Uteruscontractionen ausgelöst werden, die zu Abortus führen, zumal wenn die 
eingelegten Fremdkörper aus quellenden Substanzen, aus Pressschwamm, Lami- 
naria u. dgl. bestehen. Werden derartige Gegenstände tiefer eingeführt, 
was bei ungeschickten Händen sehr leicht geschieht, so beruht deren Wirkung 
nicht bloss auf diktatorischer Reizung des Cervix, sondern es kommt auch 
Ablösung und Zerreissung der Eihäute vor. 

Am sichersten wird der Abortus durch Perforation der Eihäute bewirkt, 
wobei das Fruchtwasser gewöhnlich ganz abfliesst, und die Wehenthätigkeit 
nach verschiedener Zeit, jedoch meist bald *) eintritt. Die Gegenstände, welche 

*) Tardieu, Etüde m6d. leg. snr avortement. Paris 1863. — Id. Avortement, Paris 
1804 — Gallard, Avortement, Paris, 1879. 


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FRüCHTABTREIBüNG. 


hiezu gebraucht werden, sind verschiedener Art, jedoch meistens Stricknadeln 
und da die Betreffenden diese Gegenstände nicht leicht selbst einbringen 
können, wird die Einführung dieser Gegenstände von Anderen, meist He¬ 
bammen vorgenommen. Werden solche stechende Gegenstände von ungeschick¬ 
ten Händen eingebracht, so können dadurch Perforationen des Scheidengewölbes, 
des Cervix und des Gebärmutterkörpers, namentlich der hinteren Wand des¬ 
selben herbeigeführt werden. 

Ansser diesen Manipulationen kommen noch manche andere vor, wie sie gerade der 
Unverstand, Sitten und Gebräuche verschiedener Orte, Aberglauben u. dgl. hervorbringen. 
So werden nicht selten Blutegel an den Oberschenkeln und am Mittelfleisch gesetzt, Ader¬ 
lässe gemacht, reizende irritirende Gegenstände in Scheide und Mastdarm gebracht 
n. 8. w., worauf daher bei Untersuchungen zu achten ist. 

Die Diagnose einer Fruchtabtreibung durch mechanische Mittel 
ist meistens leichter als diejenige durch innere, weil nicht selten in verdäch¬ 
tigen Fällen bei den betreffenden Personen Gegenstände gefunden werden, 
als Ansatzrohre von Spritzen, Stricknadeln, Stücke von Bougies u. s. w., 
welche auf einen Abtreibungsvorgang schliessen lassen, und ist ein Abortus 
nacbgewiesen, so findet man mitunter irgend welche Verletzungsspuren, je 
nach den ausgeführten Manipulationen, was freilich bei lebenden Personen 
nur in beschränkter Weise geschehen kann. Ist noch eine Leibesfrucht vor¬ 
handen, so wird man diese in Bezug auf allfällige Verletzungen zu unter¬ 
suchen haben. Dieselben sind indessen selten und die wenigen bekannt ge¬ 
wordenen Fälle betrafen stets den Kopf. 

Der Verlauf eines criminellen Abortus ist meistens schwerer als der¬ 
jenige eines spontanen. Bald folgt der Abgang der Frucht schon rasch nach 
der mechanischen Insultation, wenn diese wirksameren Methoden entspricht, 
schon nach wenigen Stunden, bald erst nach mehreren Tagen, am 2., 3., 4., 
auch 5. Tage. Der spätere Abgang der Leibesfrucht kann durchaus nicht 
als ein Beweis gegen den causalen Zusammenhang des Abortus mit der me¬ 
chanischen Einwirkung angesehen werden, auch können bei diesem Vorgänge 
Pausen eintreten, indem die Wehenthätigkeit zeitweise aussetzt. 

3. Schwere Folgen des criminellen Abort us. 

Erfahrungssache ist, dass viele Fälle von Fruchtabtreibung ohne weitere 
nachtheilige Folgen verlaufen, und daher gar nicht zu einer gerichtlichen Unter¬ 
suchung Anlass, geben. 

Dagegen kommt es in Ausnahmsfällen auch vor, dass Aborte zu schweren 
Nachkrankheiten und selbst zum Tode führen, so dass, wenn bei der Frucht¬ 
abtreibung noch andere Personen betheiligt waren, dadurch Anlass zu richter¬ 
lichen Untersuchungen gegeben wird. 

Solche schwere Folgen können begründet sein in dem Abgänge der 
Frucht selbst, oder in den hiezu angewandten Mitteln, wobei die Verschie¬ 
denheit dieser als innere und mechanische Mittel wesentlich zu berücksich¬ 
tigen ist. 

Von Seiten des abortiven Vorganges können namentlich Blutungen 
Gefahr bringen. Jeder Abort ist immer mit mehr oder weniger starker 
Blutung verbunden und hängt die Stärke und Dauer derselben wesentlich von 
der rascheren oder langsameren Ausstossung der Frucht und der Eihäute ab. 
Nun sind Fälle bekannt, in welchen die Blutung, wenn keine Kunsthilfe in 
Anwendung kommt, zu einem hochgradigen, selbst tödtlichen Blutverlust führte. 
Dieser und die Ursache desselben wird in den meisten Fällen durch eine 
Section sich ohne Schwierigkeiten nachweisen lassen. 

Sind nur innere Mittel angewandt worden, so kommt es mitunter vor, 
dass die betreffenden Personen in Folge unsinnigen Gebrauches irritirender 
narkotischer Abortivmittel in einen Zustand von fieberhafter Aufregung und 
Bewusstlosigkeit gerathen, dabei Blut aus den Genitalien verlieren und 


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FRUCHTABTREIBUNG. 


279 


schliesslich zu Grunde gehen, ohne zum Bewusstsein gekommen zu sein, so 
dass von ihnen über das Vorgefallene keine Auskunft mehr zu erlangen ist. 
Da in solchen Fällen gewöhnlich keine Section gemacht wird, bleibt es zwei¬ 
felhaft, ob der Vorfall auf einen Versuch zur Fruchtabtreibung zu beziehen 
ist, obschon nach den vorhandenen Intoxicationserscheinungen begründeter 
Verdacht dafür besteht. Aufklärung hierüber erhält man in solchen Fällen 
bisweilen durch Auffindung von Ueberresten gebrauchter Abortivmittel. Fo¬ 
rensisch haben derartige Fälle keine weitere Bedeutung, zeigen aber, in welcher 
Weise Fruchtabtreibungsversuche durch innere Mittel zuweilen verlaufen. 
Derartige Fälle habe ich mehrmals zu beobachten Gelegenheit gehabt. 

Die schwersten Folgen haben mitunter Fruchtabtreibungsversuche durch 
mechanische Mittel. Dass durch Anwendung solcher Mittel die Geburt 
künstlich eingeleitet werden kann ohne weitere nachtheilige Folgen, beweisen 
die vielfach vorgekommenen Fälle von künstlich eingeleiteter Frühgeburt ohne 
Nachtheile für Kind und Mutter. Auch ist die Zahl von Fruchtabtreibungen 
ohne üble Folgen für die Mutter, wenn jene mit Vorsicht und Sachkenntnis 
ausgeführt werden, wie das von Hebammen bekannt ist, die mitunter ein Ge¬ 
werbe daraus machen, gar nicht unerheblich. Aber auch die Casuistik von 
Fruchtabtreibungsfällen, wo in ungeschickter und roher Weise verfahren wurde, 
und Todesfälle dadurch herbeigeführt wurden, ist sehr reichhaltig. Der Tod 
ist in solchen Fällen meistens zurückzuführen auf eine Infection und auf 
die weiteren Folgen von Verletzungszuständen. 

Dass eine Infection stattgefunden, ergibt sich aus dem Auftreten und 
der septischen Erkrankung kurze Zeit nach der Ausführung derartiger Manipu¬ 
lationen, die meistens auf Perforation der Eihäute abzielten. Es tritt eine 
septische, puerperale Endometritis und Peritonitis auf mit ent¬ 
sprechender fieberhafter Aufregung, welchem Zustand die Betreffenden er¬ 
liegen. Wenn man bedenkt, in wie vorsichtiger Weise man gegenwärtig einer 
Infection gegenüber bei gynäkologischen Operationen verfährt und verfahren 
muss, um gegen jene gesichert zu sein, so ist leicht ersichtlich, dass eine 
Nichtbeachtung aller dieser Cautelen, indem mit unreinen Händen, unreinen 
Instrumenten oder anderen Gegenständen gearbeitet wird, zu einer infectiösen 
Entzündung der verletzten Geburtstheile führen muss. Wir pflichten daher 
vollkommen der Ansicht Liman’s*) bei, dass das Auftreten eines septischen 
Zustandes kurze Zeit nach einem stattgehabten Abortus den Verdacht erwecken 
muss, dass zur Bewirkung desselben irgend welche mechanische Eingriffe statt¬ 
gefunden haben. 

Sollte die Infection erst später nach Abgang der Frucht eintreten, so 
könnte an eine Nachinfection gedacht werden, was übrigens forensisch doch 
keine weitere Bedeutung hätte, da der wunde Zustand der inneren Fläche der 
Geburtstheile in Folge der Fruchtabtreibung doch immer als das wesent¬ 
lichste disponirende Moment für eine Infection von aussen her angenommen 
werden müsste. 

Sehr beachtenswert!} ist die von Dr. Boxers, gewesener Arzt am grossen städtischen 
Krankenbans, gemachte Erfahrung, welche Liman **) anführt: „Unter einer grossen Reihe 
von Aborten, die mit mehr oder weniger ausgesprochenen puerperalen Erkrankungen in 
meine Behandlung kamen, hat keiner den Beweis der spontanen Eostehung erbringen 
können. Von den Fällen dagegen, die wegen nachweislich spontan begonnenem Abort von 
mir behandelt wurden, ist kein einziger puerperal erkrankt gewesen, oder während der 
Behandlung an Wochenbettfieber erkrankt.“ 

Die Verletzungszustände sind verschiedener Art. Da sie meistens 
zum Zweck der Perforation der Eihäute gemacht werden, so bestehen sie am 


*) L. c. I. 260. 

**) L. c. S. 250. 


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280 


GEBÄRANSTAIiTEN UND GEBÜBTEN-STATISTIK. 


häufigsten in Stichverletzungen, die mitunter nicht bloss die Eihäute, sondern 
beim Einbringen der Instrumente auch das Scheidengewölbe, den Cervix und 
weiterhin die Gebärmutter, namentlieh die hintere Wand oder den Grund 
derselben betreffen Mitunter dringen diese Gegenstände nach Perforation 
der Gebärmutter noch in andere benachbarte Gebilde. So fand Tabdieu die 
arteria iliaca dextra verletzt. Die Perforationen der Gebärmutter haben meist 
Peritonitis zur Folge. Zerreissungen der Scheide und des Uterus sind selten, 
und kommen in Folge der Einführung grösserer Instrumente oder einzelner 
Finger oder selbst der ganzen Hand vor. Namentlich wird der innere Mutter¬ 
mund bei Einführung grösserer Instrumente leicht verletzt, weil der Cer- 
vicalcanal hier am engsten ist. Spontane Zerreissungen des Uterus in Folge 
des Abortus kommen hier nicht leicht vor. Als seltene Vorkommnisse sind 
auch noch zu erwähnen, dass in die Gebärmutter eingeführte Gegenstände 
wie Sonden, elastische Bougies u. s. w. nicht mehr entfernt werden konnten 
und dann erst später an anderen Stellen zum Vorschein kamen und extra- 
hirbar wurden. Ein grösserer Theil derartiger Verletzungszustände ist na¬ 
türlich nur, wenn Sectionen gemacht werden, zu constatiren. 

C. EMMERT. 


Gebäranstalten und Geburten-Statistik. 

A. Gebäranstalten. 

Gebäranstalten haben die Bestimmung, insbesondere armen Schwangeren 
und Gebärenden Aufnahme behufs Niederkunft zu gewähren. Aber auch Be¬ 
mittelte suchen in diesen Zuflucht, wenn sie eine Complication bei der Geburt 
befürchten, oder wenn sociale Rücksichten die Geheimhaltung der Nieder¬ 
kunft erheischen. 

Zweck der meisten Gebäranstalten ist ferner, angehende Aerzte und 
Hebammen im Geburtsfache auszubilden, so wie auch jeweilig einer be¬ 
schränkten Anzahl von schon fertigen Aerzten Gelegenheit zur specialistischen 
Ausbildung in der Geburtshilfe zu ermöglichen. Schliesslich ist es Aufgabe 
der Gebäranstalten, die wissenschaftliche Seite der Geburtshilfe zu pflegen. 

Man wird nicht fehlgehen, wenn man an nimmt, dass Herbergen zur Aufnahme von 
Schwangeren und Gebärenden, als Vorläufer der Gebäranstalten, schon zu einer Zeit in 
Europa bestanden haben, bevor die erste beglaubigte Gebäranstalt gegründet wurde. 

Als solche wird seit dem Anfänge des 13. Jahrhundertes das Hotel- oder Maison- 
Dieu in Paris genannt, woselbst eine Special-Abtheilung für Gebärende eingerichtet war. 
Doch war auch diese im Anfänge nur eine Herberge, da von einem sachgemässen Beistände 
nirgends eine Erwähnung geschieht. Eine der ersten Gebäranstalten muss auch jene in 
Krakau sein, denn es heisst von ihr, dass sie im Jahre 1220 gegründet wurde. Erst in 
das Jahr 1378 fällt die Anstellung der ersten Hebamme, namens Juliette, im Hötel-Dieu. 
Von da an hat an dieser Gebäranstalt durch nahezu 400 Jahre ein Hebammenregiment 

f eherrscht, welches einerseits für die Ausbildung des Faches so viel wie nichts geleistet 
at, andererseits durchzusetzen wusste, dass Aerzten der Zutritt behufs Ausbildung in der 
Geburtshilfe verwehrt werde. Denn obzwar seit 1660 auch ärztliche Hilfe beansprucht 
wurde, waren Männer wie Peu, Mauriceau, Portal, Levret und de la Motte nur Chirur- 
giens externes und hatten sonst im Hötel-Dieu keinen Einfluss. 

Im Jahre 1771 wurde die Gebäranstalt des Hötel-Dieu in das neugegründete s Ho- 
spice da la Maternitä“ verlegt und Madame Duges als Sage-femme en chef zur alleinigen 
Leiterin ernannt, in welcher Stellung sie bis 1801 verblieb. In die letzten Jahre ihrer 
Amtswirksamheit fällt auch schon der Beginn eines geburtshilflichen Unterrichtes für Aerzte. 

Das Jahr 1802 brachte zu Gunsten der Maternitö und des ganzen Faches durch¬ 
greifende Reformen. Baudelocque wurde zum Leiter der Anstalt und Geburtshelfer an der¬ 
selben ernannt und ihm ein Internist, dann ein Oberchirurg (Auvity), ein chirurgischer 
Eleve (Petit) und eine Oberhebamme, die nachmals so berühmt gewordene Madame 
Lachapelle zur Seite gestellt. Auch fällt in dieses Jahr die officielle Eröffnung der ecole 
de la maternite. Gegenwärtig verfügt Frankreich über 24 Gebäranstalten. 

Die erste Gebäranstalt auf deutschem Boden ist, wie Anselm Martin geschichtlich 
nachgewiesen hat, zweifelsohne jene in München. Denn schon im Jahre 1589 beßt&nd 


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GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK. 


281 


hier, wie aus alten Vorgefundenen Rechnungen ermittelt werden konnte, im ehemaligen 
„Hospitale zum heiligen Geist“ eine Abtheilung, in welche arme Mädchen schon vor 
der Niederkunft unentgeltliche Aufnahme gefunden haben und hier das Wochenbett durch¬ 
machen konnten. Im Jahre 1800 wurde die Gebäranstalt in das Waisenhaus, im Jahre 1819 
ins Krankenhaus verlegt und im Jahre 1832 in einem eigenem Hause untergebracht. Seit 
1783 besteht der Unterricht für Aerzte, nachdem schon lange früher Hebammen an der 
Münchener Gebäranstalt herangebildet wurden. 

In das Jahr 1728 fällt die Errichtung der Gebäranstalt und der geburtshilflichen 
Schule in Strassburg durch den Prätor Franz Josef von Klinglin. Die Leitung erhielt 
Joh. Jac. Fried. 

Nach dem Muster der Strassburger Anstalt wurde unter Röderer jene in Götti ngen 
im Jahre 1751 errichtet. In demselben Jahre erhielt auch Berlin eine Gebäranstalt in der 
Charite. Hierauf kamen im vorigen Jahrhunderte inDeutschland: 1763 Cassel (seit 1792 
nach Marburg verlegt), 1774 Dresden (seit 1784 als öffentliche Anstalt), 1778 Würz¬ 
burg und 1779 Jena an die Reihe. In rascher Aufeinanderfolge fällt zu Beginn dieses 
Jahrhunderts die Errichtung zahlreicher Gebäranstalten in Deutschland, welches trotz 
nachträglicher Anfhebung einzelner, gegenwärtig 42 öffentliche, dem Unterrichte dienende 
Gebäranstalten besitzt 

In Oesterreich war im ehemaligen St. Marxer-Spital in Wien, wahrscheinlich 
seit seiner Gründung eine Gebärabtheilung. Den an dieser neugegründeten Lehrstuhl für 
Geburtshilfe erhielt 1754 J. Nbp. Crantz, welchen vier Jahre früher van Swieten nach 
Paris und London reisen liess, um sich dort in der Geburtshilfe auszubilden. 

Im Jahre 1784 wurde diese Gebärabtheilung in das von Kaiser Josef n. neugegrün¬ 
dete allgemeine Gebärhaus, ins allgemeine Krankenhaus verlegt. In dem denkwürdigen 
Gründungsdecrete heisst es: „Es sey hiemit ein Zufluchtsort eröffnet, in welchem alle jene, 
die ihrer Entbindung aus welchen Rücksichten immer mit Furcht und Bangigkeit entgegen¬ 
sahen — indem sie hier vor aller Nachforschung und Entdeckung, vor allen Kränkungen 
und Verfolgungen gesichert., die sorgfältigste Pflege und Wartung erhalten — mit ruhigem 
Gemüthe ihr Geburtsgeschäft vollenden, und falls sie es für nöthig halten, die Frucht 
ihres Fehltrittes für immer vor der Welt unter dem Schutze öffentlicher Autorität ver¬ 
bergen können.“ 

An dieser Gebäranstalt wurde im Jahre 1789 Lugas Johann Boer, durch Kaiser 
Josef die Professur der praktischen Geburtshilfe und die Leitung der Gratisabtheilung 
übertragen. 

Die Lehren, welche Boer bis zu seinem 1822 erfolgten Rücktritte von hier aus ver¬ 
breitet hat, bleiben unvergänglich. Der Grundgedanke derselben war, dass die Geburt als ein 
natürlicher Vorgang, sofern keine pathologischen Störungen vorhanden sind, den Natur¬ 
kräften zu überlassen ist. 

Der Wiener Schule gebührt auch der Ruhm, in Ignaz Philipp Semmelweis einen 
Schüler gehabt zu haben, der im Jahre 1847 das Wesen und die Ursache des Kindbett¬ 
fiebers in scharfsinniger Weise erkannt und auch die Mittel zur Verhütung desselben an¬ 
gegeben hat. 

Zu den hervorragenden Vertretern der Geburtshilfe gehörten ferner in Wien Carl 
von Braun-Fernwald, Ludwig Bandl und Josef Späth. 

In Prag wurde im Jahre 1737 eine Privatentbindungsanstalt gegründet. Seit 1789 
besteht die öffentliche Gebäranstalt. Auch die Prager Schule hat sich besonders hervor- 
geth&n, als deren Hauptvertreter aus früheren Zeiten, Kiwisch von Rotterau, Seifert, 
Streng und A. Breisky genannt werden müssen. Im Ganzen besitzt gegenwärtig Oester¬ 
reich 18 Gebäranstalten, wovon 15 theils dem Unterrichte für Aerzte, thens für Hebammen 
oder für beide Zwecke dienen. 

Ungarn, einschliesslich Croatien hat 6 Gebäranstalten, wovon jene von Budapest 
und Klausenburg mit der Universität verbunden sind. 

Von den übrigen europäischen Staaten seien noch erwähnt Belgien mit 4, Däne¬ 
mark mit 1, England mit 28, Griechenland mit 1, Italien mit 19, die Nieder¬ 
lande mit 4, Portugal mit 3, Russland mit 10, Spanien mit 9 und die Schweiz 
mit 5 Gebäranstalten. 

Organisation der Gebäranstalten in Oesterreich. Die öster¬ 
reichischen Gebäranstalten waren früher alle Staatsanstalten und wurden in 
den 50iger Jahren in die Verwaltung der Länder übergeben. 

Bis zu Ende der 60iger Jahre, in einzelnen Kronländern noch länger, waren mit 
den Gebäranstalten auch Fmdelanstalten verbunden. Um Ersparungen zu erzielen und 
angeblich auch um die Moralität zu heben, erfolgte mit Ausnahme von Niederösterreich, 
Böhmen und Dalmatien in allen übrigen Kronländern, da wo solche bestanden haben, die 
Aufhebung der Findelanstalten. Der erwartete Nutzen stellte sich aber nicht ein. Denn 
jene Länder, welche die Findelanstalten aufgehoben haben, müssen jetzt an auswärtige 


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282 


GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-ST ATISTIK. 


Findelanstalten namhafte Summen an Verpflejgskosten für Gebärende und Findelkinder 
entrichten. Für Oberösterreich z. B. beträgt diese Summe gegenwärtig ungefähr jährlich 
70.000 Gulden, während das Land vor der Aufhebung der Findelanstalt nur wenige Hundert 
Gulden zahlen musste. Aber auch der Unterricht ist durch diese Verfügung für die be¬ 
treffenden Länder sehr geschädigt worden, da die Geburtenanzahl tief herabgegangen ist. 
Zur Verbesserung der Moralität hat aber die Aufhebung der Findelanstalten nicht, im Ge¬ 
ringsten beigetragen. Wohl aber sind die Kindsmorde seit dieser Zeit häutiger geworden 
und das Elend bei den mittellosen, ledigen Müttern grösser. Besonders hart betroffen sind 
von dieser Verfügung die nach Mähren zuständigen Mütter, indem deren Kinder auch in 
fremden Findelanstalten keine Aufnahme finden. 

In einzelnen Kronländern regt sich wieder das Bestreben, den Gebäranstalten neuer¬ 
dings Findelanstalten anzugliedern und es wären wahre Acte der Humanität, wenn es dazu 
käme. Tirol ist damit mit gutem Beispiele einigermassen vorangegangen, indem jene Mütter, 
deren Kinder in der Innsbrucker Gebäranstalt geboren wurden, durch zwei Jahre monat¬ 
lich einen Beitrag aus Landesmitteln erhalten. Thatsächlich ist auch an der Innsbrucker 
Gebäranstalt seit dieser Zeit die Geburtenanzahl bedeutend gestiegen, welcher Umstand 
zur Förderung des geburtshilflichen Unterrichtes wesentlich beiträgt. 

In die österreichischen Gebflranstalten werden die Aufhahmesuchenden 
entweder unentgeltlich, oder gegen vorherige Bezahlung ausgenommen. Für 
die ersteren bestreitet entweder das Land die ganzen Verpflegskosten, wie 
dies bei den Unbemittelten in Oberösterreich der Fall ist, oder die Kosten 
müssen durch die Zuständigkeits-Gemeinde der Verpflegten dem Lande ersetzt 
werden. Die in die sogenannte Gratisabtheilung Aufgenommenen müssen sich 
beim Unterrichte verwenden lassen. Die Verpflegsdauer einer einzelnen darf 
aber an den meisten Gebäranstalten statutarisch ohne Begründung 8 Wochen 
nicht übersteigen. 

Für die Zahlenden gibt es an den verschiedenen Gebäranstalten ver¬ 
schiedene Classen. Wenn auch für diese die Geheimhaltung im früheren Sinne 
aufgehoben wurde, wird sie doch insoweit eingehalten, als die betreffenden 
Frauen nur gegenüber der Direction, bezw. der Verwaltung verpflichtet sind, 
das Nationale anzugeben, während dasselbe im Protokolle nicht aufzu¬ 
scheinen hat. 

Im Gegensätze zu Deutschland, woselbst der die ärztlichen Agenden besorgende 
Arzt fast überall auch der Director der Gebäranstalt, bezw. der Frauenklinik in admini¬ 
strativer und ökonomischer Beziehung ist, sind die Verhältnisse an den österreichischen Ge¬ 
bäranstalten etwas complicirter. So bestehen an der Wiener und Prager Gebäranstalt 
ärztliche Directoren, welchen nur die Administration und ökonomische Gebahrung der Ge¬ 
bäranstalt obliegt und welche ausserdem als Directoren der Findelanstalt deren ärztliche 
Agenden zu besorgen haben. Da, wo die Gebäranstalt als eine Abtheilung des Landes¬ 
krankenhauses besteht, besorgt die administrativen und ökonomischen Agenden auch ein 
ärztlicher Director, während dem Primarärzte der Gebärabtheilung nur der ärztliche TheÜ 
obliegt. Von einem Arzte setzt man voraus, dass er für die ärztlichen Bedürfnisse einer 
Gebär-Abtheilung, innerhalb der Grenzen des präliminirten Budgets, das richtige Einsehen 
hat und in dieser Beziehung ist die Stellung des Abtheilungsvorstandes gegenüber dem 
ärztlichen Director eine annehmbare. 

Viel schlimmer steht es aber um jene Gebäranstalten, die keinen ärztlichen Director 
haben, sondern wo der Primararzt die ärztlichen und der Verwalter in coordinirter Stellung 
die administrativen und ökonomischen Agenden zu besorgen hat. Competenzstreitigkeiten 
sind hier an der Tagesordnung, da die ärztlichen Agenden mit jenen des Verwalters innig 
verquickt sind, letzterer aber für die ärztlichen Bedürfnisse der Anstalt meist kein Verständnis 
hat und deshalb oft Anschaffungen, die unumgänglich nöthig sind, in kleinlicher Weise 
verweigert und damit den Dienst schädigt. Competenzüberschreitungen der Verwaltung 
auch anderer Art gehören bei solchen Verhältnissen nicht zu den Seltenheiten. Deshalb 
wäre es recht und billig, wenn sämmtliche ärztlichen Vorstände an den österreichischen 
Gebäranstalten im Interesse des Dienstes zu Gebäranstaltsdirectoren beziehungsweise zu 
Directoren der Gebärkliniken ernannt werden möchten. Für jene Landesgebäranstalten, 
welchen vom Staate erhaltene gynäkologische Kliniken angegliedert sind, möchten sich in 
der Administration wieder neue Schwierigkeiten ergeben, die nur dann beseitigt werden 
könnten, wenn die Gebäranstalten neuerdings verstaatlicht würden. Die Länder wären 
auch gewiss mit einer solchen Transaction einverstanden, doch schwerlich wird sich die 
Staatsverwaltung in absehbarer Zeit zu einem solchen, die Staatsfinanzen so eng be¬ 
rührenden Schritte, entschliessen. 


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GEBÄRANSTALTEN UND GEBÜRTEN-STATISTDL 


283 


Die Verpflegsdauer der Mütter an den österreichischen Gebäranstalten, 
so wie die Ausgaben für dieselben im Jahre 1894 sind im Nachstehenden 
zusammengestellt: 




Summe 

Durchschnitt- 

Summe aller 

Kosten 




der Yer- 

liehe Verpflege- 
daner einer 

Ausgaben 

perMutter 

Anmerkung 



pflegstage 

Matter in Tagen 

in Gulden 

und Tag 


j Wien . . . 


150.956 

14-00 

209300 00* 

1-385 

* laut Präliminare 

Linz .... 


10.415 

2500 

13672-45 

1-30 


Salzburg . . 


3.495 

960 

3514-44* 

1005 

* davon für die Apo¬ 
theke 514 fl. 64 kr. 

| Graz .... 


11.085 

19*20 

17896-84 

1-61 


| Klagenfurt . . 


10.053 

2900 

6985-00 

0-69 


Laibach . . . 


3.044 

17-00 

4444 08* 

1*74 

* unbedecktes 
Kostenerfordernis 

j Triest . . . 


4.719 

13-60 

5255-205 

1-113 


Innsbruck . . 


18.448 

26*30 

1661980 

1-448 


! Prag .... 


75.514 

20-30 

106566-62 

1-41 


Brünn . . . 


17.048 

23 00 

42969-305 

1-84 


Olmütz . . . 


6.878 

31-26 

12027-505 

1-76 


Lemberg . . 


13.976 

11-92 

13438-74 

0-961 


Krakau . . . 


11.750 

18-89 

1444610 

0-707 


Czernowitz. . 


2.706 

19-83 

4951-73 

1-82 


Zara .... 


1.846 

2700 

131066 

0-71 


Bagusa . . . 


878 

38 00 

735-52 

084 


1 Sebenico . . 


930 

30 00 

520-80* 

0-56 

* approximativ 

Spatalo . . . 


637 

29-00 

287-924 

0-452 


Summe . . 

■ 

344.368 

2236 

474,822-722 

1-186 



Es betrug demnach bei 18.253 Geburten der Kostenaufwand 474.822 fl. 
72 kr. 

Wenn man bedenkt, wie viel Elend damit gelindert und wie viel 
Unglück verhütet wurde und dazu berücksichtigt, dass um diesen Betrag das 
Materiale für sämmliche geburtshilflichen Universitätskliniken und Hebammen- 
schulen, im Ganzen für 22 geburtshilfliche Lehrstätten der im Reichsrathe 
vertretenen Königreiche und Länder für das Jahr 1894 beigestellt worden 
ist, dann kann getrost ausgesprochen werden, dass der angestrebte Zweck 
um einen billigen Preis erreicht wurde. 

Die an einzelnen Gebäranstalten auffallend geringen ErhaltuDgskosten 
erklären sich einerseits aus dem Umstande, dass in den betreffenden Ländern, 
beziehungsweise Städten die Marktpreise billiger, andererseits dadurch, dass 


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284 


GEBÄRANSTALTEN UND GEBÜRTEN-STATISTIK. 


in Anstalten, die als eine Abtheilung des Krankenhauses bestehen, die 
Administrationsauslagen geringer sind. 

Salzburg hat überhaupt keine Auslagen für die Administration, da dort 
nur eine Poliklinik eingerichtet ist. Durchwegs grössere Ausgaben haben hin¬ 
gegen jene Gebäranstalten, in welchen Universitätskliniken untergebracht sind. 

Von den 18 österreichischen Gebäranstalten dienen 15 dem geburts¬ 
hilflichen Unterrichte. In Ragusa, Sebenico und Spalato bilden die Gebär¬ 
anstalten kleine Abtheilungen der Krankenhäuser und wird an diesen kein 
Unterricht ertheilt. Im Ganzen sind mit den 15 dem Unterrichte die¬ 
nenden Gebäranstalten 7 Universitätskliniken für Aerzte und Studirende 
und 15 Hebammenschulen verbunden. Von den letzteren besteht jene in 
Wien noch als eine selbständige Universitätsklinik für Hebammen, in Graz 
und Innsbruck sind die Hebammenschulen den Universitätskliniken für Aerzte 
und Studirende angegliedert, in Krakau (.besteht für die Hebammenschule 
zwar eine eigene Abtheilung in der Gebäranstalt, doch gehört der Professor 
als Ordinarius dem medicinischen Professoren-Collegium an, während die 
übrigen 11 eine eigene Categorie von selbständigen, staatlichen Hebammen- 
Lehranstalten bilden. 

Als Unterrichtsstätten nehmen die Gebäranstalten einen hohen Platz in 
der Hygiene ein und die wissenschaftliche Ausbildung der Geburtshilfe ist 
nur eine Errungenschaft der Gebäranstalten. An letzteren sind die Grund¬ 
sätze, nach welchen die Geburt zu leiten ist, zur Reife gelangt, die Ursachen 
der puerperalen Infectionskrankheiten wurden in einer Gebäranstalt erkannt, 
sowie die richtigen Wege zur Verhütung der Puerperalprocesse angebahnt 
und jene Heilspersonen, welche bei normalen und pathologischen Geburts¬ 
fällen interveniren müssen, haben zum Mindesten die Grundlage für ihre 
segensreiche Thätigkeit an Gebäranstalten erlangt. 

Hoffentlich sind jene Zeiten für immer vorbei, wo aus falsch aufgefasstem 
Sparsamkeitsbegriffe und in missverstandener Absicht, die Moralität zu bessern, 
die Aufhebung der Gebäranstalten angestrebt wurde. 

Für solche, welchen das Wohl der Menschheit aufrichtig am Herzen liegt, 
sind die Gebäranstalten auch kein „nothwendiges Uebel,“ sondern eine Staats- 
nothwendigkeit. 

B. Geburten-Statistik. 

Zur Darstellung der Geburtenstatistik wurden insbesondere die darauf 
bezüglichen Vorkommnisse vom Jahre 1894 der im österreichischen Reichs- 
rathe vertretenen Königreiche und Länder, gewählt. 

Im Ganzen fanden in diesem Jahre statt: 

in Niederösterreich .... 

„ Oberösterreich. 

„ Salzburg. 

„ Steiermark. 

„ Kärnten.. 

„ Kram . 

„ Triest sammt Gebiet . . . 

„ Görz und Gradiska . . . 

„ Istrien. 

» Tirol . 

„ Vorarlberg. 

„ Böhmen. 

„ Mähren. 

„ Schlesien. 

„ Galizien. 

„ der Bukowina. 

„ Dalmatien. 

Summe 


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95*552 Geburten 
25*328 
6*623 
41*354 
11*588 
17*530 
6*327 
8*269 
12 396 
24 132 
3*304 
218*923 
85*338 
25*501 
297*260 
28*962 

22*362_ „ 

928*739 Geburten 


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GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK. 


285 


In welchem Masse die Geburtenfrequenz im Decennium 1885 bis 1894 
za- oder abgenommen hat, ist aus folgender Zusammenstellung ersichtlich: 



■ . . - ■ ■ . ■ i ■ ■ — . F 

Geburten 

+ oder — 
gegen das Vorj 

1885 

885.201 


1886 

901.003 

+ 5.802 

1887 

915.555 

+ 14.552 

1888 

915.702 

+ 147 

1889 

924.690 

-f 8 988 

1890 

894.356 

- 30.334 

1891 

947.017 

+ 52.661 

1892 

897.290 

— 49.727 

1893 

951.015 

+ 53.725 

1894 

928.739 

- 22.276 


Es waren daher die Schwankungen sehr gross, und insbesondere fällt 
der Umstand auf, dass in den Jahren 1890, 1892 und 1894 die Geburten¬ 
frequenz gegen die Vorjahre bedeutend abgenommen hat. Dem gegenüber 
muss für die Jahre 1891 und 1892 ein bedeutender Anstieg verzeichnet 
werden, so dass schliesslich ein Ausgleich zu Gunsten einer Zunahme er¬ 
folgt ist 

In Hinsicht auf den Stand der Mütter hat das Jahr 1894 folgende Er¬ 
gebnisse geliefert: 



Ehelich 

% 

Unehelich 

°/o 

Niederösterreich. 

69.937 

7319 

25.615 

26-81 

Oberösterreich. 

20.462 

79*91 

4.866 

2109 

Salzburg. 

4.069 

7200 

1.554 

28.00 

Steiermark 

31.370 

75-85 

9.984 

24-15 

Kärnten. 

6.674 

57-59 

4.914 

42-41 

Kram. 

16.281 

92-87 

1.249 

713 

Triest und Gebiet. 

4.379 

82-20 

928 

17‘SO 

Görz und Gradisca .... 

8.016 

9704 

243 

2-96 

Istrien. 

12.042 

9713 

354 

2-87 

Tirol. 

22.313 

92 46 

1.819 

7-54 

Vorarlberg. 

3.106 

94 00 

198 

600 

Böhmen. 

187.264 

85-53 

J 

31.659 

14-47 

Mähren. 

75.867 

88-90 

9.471 

1110 

Schlesien. 

22.599 

87-83 

2-902 

12-17 

Galizien. 

258.606 

86-99 

38.654 

1301 

Bukowina. 

25.533 

8816 

3.429 

11-84 

Dalmatien. 

21.648 

96-80 

714 

320 


Es waren daher im Verhältnisse die wenigsten unehelichen Gebur¬ 
ten in Istrien (2*87 %)> die meisten in Kärnten (42 41 °/ 0 ). In diesem 


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286 


GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK. 


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Kronlande stellte das grösste Contingent die Stadt Klagenfort and betrag 
hier im Jahre 1894 die Zahl der anehelichen Geburten 70°/ 0 (563 von 798). 

Zur Charakteristik der Kärtner Bevölkerung muss hier aber lobend bei¬ 
gefügt werden, dass die meisteil ledigen Mütter nach der ersten Niederkunft 
heirathen. 


ln Betreff des Geschlechtes der Neugeborenen stellt sich das Verhältnis 
wie folgt: 



Knaben 

Mädchen 

+ an Knaben 

Niederösterreich. 

49.228 

46.324 

2.904 

Oberösterreich. 

13.155 

12.173 

982 

Salzburg .. 

2.953 

2.670 

283 

Steiermark. 

21.369 

19.985 

1.384 

Kärnten. 

5.979 

5.609 

370 

Krain. 

9.067 

8.463 

604 

Triest und Gebiet. 

2.773 

2.554 

219 

Görz und Gradisca .... 

4.287 

3.972 

315 

Istrien. 

6.324 

6.072 

252 

Tirol. 

12.549 

11.583 

966 

Vorarlberg. 

1.712 

1.592 

120 

Böhmen. 

113.210 

105713 

7.497 

Mähren. 

43.974 

41.364 

2.610 

Schlesien. 

13.059 

12.442 

617 

Galizien. 

153.170 

144090 

9.080 

Bukowina. 

14.702 

14260 

442 

Dalmatien. 

11.435 

10.927 

508 

Summe . . . 

Von diesen waren lebend 

478.946 

geboren: 

449.793 

29.153 


Knaben 

Mädchen 

-f- an Knaben 

Niederösterreich. 

46.726 

44.626 

2.100 

Oberösterreich. 

12.639 

11.763 

876 

Salzburg. 

2.870 

2.595 

275 

Steiermark. 

20.508 

19.322 

1.186 

Kärnten. 

5.810 

5.460 

350 

Krain. 

8.900 

8318 

582 

Triest und Gebiet. 

2.563 

2417 

146 

Görz und Gradisca .... 

4.176 

3.902 

274 

Istrien. 

6.186 

6.977 

209 

Tirol. 

12.290 

11.414 

876 

Vorarlberg. 

1.683 

1.571 

112 

Böhmen. 

109.054 

102.595 

6.459 

Mähren. 

42.730 

40.357 

2.373 

Schlesien. 

12.658 

12.105 

553 

Galizien. 

148.880 

140.792 

8.088 

Bukowina. 

14.338 

13.998 

340 

Dalmatien. 

11.324 

10.851 

473 

Summe . . . 

463.335 

438.063 

26.272 


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Original fro-m 

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GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK. 


287 


Todtgeboren;: 



Knaben 

Mädchen 

+ an Knaben 

Niederösterreich. 

2.502 

1.698 

804 

Oberösterreich. 

516 

410 

106 

Salzburg. 

83 

75 

8 

Steiermark. 

861 

663 

198 

Kärnten. 

169 

149 

20 

Kram. 

167 

14 > 

22 

Triest und Gebiet. 

210 

137 

73 

Görz und Gradisca .... 

in 

70 

41 

Istrien. 

138 

95 

43 

Tirol . 

259 

169 

90 

Vorarlberg. 

29 

21 

8 

Böhmen. 

4.156 

3.118 

1.038 

Mähren. 

1.244 

1.007 

237 

Schlesien. 

401 

337 

64 

Galizien. 

4.290 

3.298 

992 

Bukowina. 

364 

262 

102 

Dalmatien. 

111 

76 

35 

Summe .... 

15.611 

11.730 

3.881 


Es ergab sich daher im Jahre 1894 eia Plus von 25.272 lebend gebo¬ 
renen Knaben. 

Dass aber dennoch in der Bevölkerung die Mädchen über die Knaben 
überwiegen, erklärt sich aus der grösseren Sterblichkeit der Knaben in den 
ersten Lebensjahren. 

So starben von den im Jahre 1894 lebend geborenen Kindern, 125.464 
Knaben und 100.994 Mädchen, was ein Plus von 24.472 an Todesfällen für 
Knaben im ersten Lebensjahre ergibt. Und in einem gewissen Verhältnisse 
sterben auch in den nächsten Jahren mehr Knaben als Mädchen, so dass 
daraus ein Ueberschuss an letzteren resultirt. 


An Mehrlingsgeburten kamen im Jahre 1894 vor: 



Zwillings¬ 

geburten 

Drillings¬ 

geburten 

Vierlings¬ 

geburten 

Niederösterreich. 

i 

886 

11 


Oberösterreich. 

288 

1 

— 

Salzburg. 

91 

— 

— 

Steiermark. 

578 

1 

— 

Kärnten. 

145 

1 

— 

Krain. 

202 

1 

— 

Triest und Gebiet. 

47 

2 

— 

Görz und Gradisca .... 

94 

— 

— 

Istrien. 

103 

! 3 

1 

Tirol. 

285 

5 

— 

Vorarlberg. 

36 

1 

— 

Böhmen. 

2392 

28 

— 

Mähren. 

949 

4 

— 

Schlesien. 

249 

! i 

— 

Galizien. 

3051 

34 

— 

Bukowina . 

334 

7 

— 

Dalmatien. 

153 

2 

— 

Summe .... 

9883 

102 

1 


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288 


GEBÄRANSTALTEN UND GEBORTEN-STATISTIK. 


Nach G. Veit verhält sich die Frequenz der Zwillingsschwangerschaft 
wie 1:89, jene der Drillingsschwangerschaft wie 1:7910 und die der Vier¬ 
lingsschwangerschaft wie 1:371.126. 

Auf unsere Zahlen angewendet, betrug die Frequenz der Mehrlings¬ 
geburten, und zwar 

für die Zwillinge 1:93*97 
„ - „ Drillinge 1:9105*28 und 
„ „ Vierlinge 1:928*739. 

Dies soll durchaus nicht für die Feststellung der richtigen Relation 
massgebend sein, da für diese eine noch grössere Zahlenreihe nothwendig ist. 

Die Gebäranstalten der im österreichischen Reichsrathe vertretenen 
Königreiche und Länder ergaben im Jahre 1894 folgende Statistik: 


1 



Geburt 

e n 



Todesfälle, 
alle zusammen 

darunter unent» 
bunden gestorben 

l 


Gebäranstalt in 

einfache 

Zwillinge 

Drillinge 

Zusammen 

höchste 

niederste 

durch¬ 

schnittliche 

Anzahl 


Wien. 

9407 

101 


9508 

41 

12 

2602 

55 

5 


Linz. 

300 

6 

— 

306 

4 

— 

' 083 

2 

1 


Salzburg (Poliklinik) 

341 

8 

— 

349 

5 

— 

0-93 

i 

— 


Graz. 

518 

7 

— 

525 

6 

— 

143 

5 

1 


Klagenfurt .... 

335 

4 

— 

339 

4 

— 

G92 

1 

-; 


Laibach. 

146 

3 

— 

149 

3 

— 

0-40 

1 

— 


Triest. 

304 

6 

— 

310 

6 

— 

0-84 

3 

_ 


Innsbruck .... 

626 

5 

— 

631 

7 

— 

1-73 

— 



Prag. 

3321 

35 

1 

3357 

23 

2 

9-19 

21 

1 


Brünn . 

652, 

6 

— 

658 

7 

1 

1-77 

10 

_ 


Olmütz. 

183 

0 

— 

183 

4 

— 

0-50 

2 

_ 


Lemberg. 

1084 

23 

— 

1107 

8 

— 

311 

8 

1 


Krakau. 

568 

9 

— 

577 

6 

— 

1-58 

6 

— 


Czernowitz .... 

115 

2 

— 

117 

2 

— 

026 

4 

1 


Zara. 

60 

2 

— 

62 

2 

— 

017 

1 

— 


Ragusa. 

22 

0 

— 

22 

1 

— 

006 


— 


Sebenico. 

30 

1 

— 

31 

1 

— 

00-8 

— 

— 


Spalato. 

22 

0 

— 

22 

1 

— 

006 

— 

— 


Summe. . . 

! 

18034 

218 

1 

jl8253 

132 

15 

49 88 

100 

10 


An der Geburtenfrequenz der einzelnen Kronländer sind demnach die 
Gebäranstalten im folgenden Verhältnisse betheiligt: 


Wien . . 
Linz . . 
Salzburg . 
Graz . . 
Klagenfurt 
Laibach . 
Triest . . 
Innsbruck 
Prag . . 
Brünn 
Olmütz 
Lemberg . 
Krakan . 
Czernowitz 
Zara . . 
Ragusa 
Sebenico . 
Spalato . 


9-96*/ 0 
l-20°/ o 
6*20°/ 0 
l-26°/ 0 
2*92°/ 0 
0*8ö°/ 0 
5*81 °/ 0 
261 °/ 0 
l'53°/ 0 
O'77 0 / 0 
0-21»/, 
0-37°/, 
Ö19°/„ 
0'40°/ 0 : 
0-287,1 
0 * 10 */. 
oin 
0-107, 


0-98®/, 

0-56»/, 


0627 , 


Durchschnitt 1937 o 


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Original fro-rn 

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GEBURTSVERHÄLTNISSE. 


289 


Eine grössere Geburtenanzahl, als dem Durchschnitte entsprechen würde, 
haben daher Wien, Salzburg, Klagenfurt, Triest und Innsbruck. Für eine 
jede dieser Gebäranstalten sind hiefür Erklärungsgründe vorhanden, ln Wien 
der grosse Zuzug der arbeitenden und dienenden Classe aus der ganzen 
Monarchie und insbesondere der Umstand, dass hier eine Findelanstalt besteht, 
ln Salzburg ist die grössere Geburtenfrequenz durch die poliklinische Ein¬ 
richtung begründet, wonach eine jede Gebärende, wenn sie die Beistand¬ 
leistung der Hebammenschule anruft, 8 fl. 40 kr. und wenn es sich um 
eine Zwillingsgeburt gehandelt hat, 16 fl. 80 kr. aus dem Gebärhausfonde als 
Vergütung auch dann noch erhält, wenn die Geburt dem Ende entgegen geht 
oder nur noch die Placentarperiode abgewartet werden muss. Wohl gibt es 
auch von der Schule zur Geburt vorgemerkte Schwangere, die für den Unter¬ 
richt zur Verfügung stehen. Diese Einführung ist aber mit vielen Umständ¬ 
lichkeiten verbunden und keineswegs einwandfrei. 

Dass die Gebäranstalt in Klagenfurt eine den Durchschnitt übersteigende 
Geburtenfrequenz hat, ist aus der grossen Anzahl der unehelichen Geburten 
des Kronlandes Kärnten und insbesondere der Stadt Klagenfurt erklärlich. 

Für Triest ist die Hafenstadt und die Grösse der letzteren massgebend; 
denn von Görz, Gradisca und Istrien kommt kein Zuzug, nachdem diese 
Gebiete gerade die geringste Anzahl unehelicher Geburten Oesterreichs auf¬ 
weisen. 

In Innsbruck datirt der Aufschwung in der Geburtenfrequenz seit 1870, 
in welchem Jahre die zweite Landesanstalt, Alle Laste in Südtirol, aufgehoben 
wurde. Nach der Aufhebung der Findelanstalt im Jahre 1881 ging die 
Geburtenanzahl bedeutend zurück, um neuerdings anzusteigen, nachdem den 
in der Innsbrucker Anstalt niedergekommenen Müttern, wie schon erwähnt, für 
deren Kinder durch zwei Jahre monatliche Unterstützungen gewährt wurden. 

Für Innsbruck kommt auch die comfortable Einrichtung der neuen 
Klinik, sowie der Umstand in Betracht, dass aus Vorarlberg ein Zuzug von 
Schwangeren erfolgt. 

Weit unter dem Durchschnitte blieben, trotz der bestehenden Findel¬ 
anstalten, die dalmatinischen Gebäranstalten; der Grund hiefür liegt in der 
Yertheilung des Materials an vier Orten und in der geringen Anzahl 
unehelicher Geburten in Dalmatien. l. piskacek. 


GeburtSVerhältniS86. Geburten haben in mehrfacher Hinsicht ge¬ 
richtlich medicinisches Interesse, und geben namentlich häufig in Kindes¬ 
mordfällen zu mancherlei Erörterungen Anlass, bald schon im Anfänge einer 
gerichtlichen Untersuchung über Kindesmord, bald erst in den Schwurgerichts¬ 
verhandlungen. Wir werden in Nachstehendem die wichtigsten hier in Be¬ 
tracht kommenden Verhältnisse etwas näher berücksichtigen. 

1. Diagnose einer Uberstandenen Geburt. 

Von der Diagnose eines stattgehabten Abortus war schon im Artikel 
„Fruchtabtreibung“ die Rede. Hier handelt es sich um Geburten von reifen 
oder wenigstens der Reife nahestehenden Kindern, und es ist am häufigsten 
zu constatiren, das Stattgehabthaben einer erst kürzlich überstandenen 
Geburt bei Personen, welche im Verdachte stehen, kürzlich geboren und das 
Kind bei Seite geschafft zu haben, und angeben, dass der anfänglich noch vor¬ 
handene Blutabgang von der Menstruation herrühre. Dass der richterliche 
Beamte unter solchen Verhältnissen ohne vorgängige sachverständige Unter¬ 
suchung der betreffenden Person nicht weiter den Fall criminell behandeln 
kann, ist leicht einzusehen, und werden wir so in Anspruch genommen, den 
Angaben der verdächtigen Person gegenüber zu constatiren, ob dieselbe vor 
Kurzem, d. h. vor einigen Tagen oder wenigen Wochen geboren hat. 

19 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



290 


GEBURTSVERHÄLTNISSE. 


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Die Erscheinungen sind natürlich verschieden je nach der seit der 
Geburt verflossenen Zeit, und wird die Untersuchung um so leichter Auf¬ 
klärung verschaffen, je kürzer dieselbe ist, denn wenn erst längere Zeit nach 
der Geburt die Untersuchung gemacht werden könnte, wäre nur noch zu con- 
statiren, dass die betreffende Person überhaupt geboren hat, aber nicht mehr, 
ob das seinerzeit aufgefundene und bereits untersuchte Kind auf dieselbe zu 
beziehen ist. 

Kurze Zeit, d. h. in den ersten Tagen nach der Geburt, denn in gericht¬ 
lichen Fällen kommt man höchst selten unmittelbar nach der Geburt zur 
Untersuchung, sind folgende Erscheinungen wabrzunehmen, die wir gewöhn¬ 
lich in folgender Ordnung erheben: 

Die Personen sind in der Regel blass, haben ein angegriffenes Aussehen, 
die Temperatur ist etwas erhöht, anfänglich bis 39°, später 38° und darunter. 
An den unteren Extremitäten werden zuweilen erweiterte Venen wahr¬ 
genommen. 

Die Brüste sind geschwellt, die Brustdrüse lässt sich deutlich als 
scheibenförmiger, etwas höckeriger Körper durchfühlen. Sind die Brüste gross, 
so bemerkt man an denselben öfters ähnliche Hautveränderungen (striae), wie 
an dem unteren Bauchumfang. Brustwarzen und Warzenhof erscheinen stärker 
pigmentirt, und bei Compression der Brustdrüse in der Richtung von der 
Peripherie gegen die Brustwarze hin, wo die Ausgänge der Milchgänge sich 
befinden, dringen Milchtröpfchen aus, die den Charakter von Colostrum haben, 
indem sich in denselben Colostrumkörperchen (grosse, rundliche, einen Kern 
und zahlreiche Fetttröpfchen enthaltende Zellen) neben wenig zahlreichen 
Milchkügelchen nachweisen lassen. 

Mitunter kommt es vor, dass Personen, die schon einmal in Untersuchung waren, 
wenn ihnen Verhaftung droht, durch irdene Pfeifchen, deren Köpfe sie auf die Brustwarze 
setzen, die Milch aus den Brüsten saugen, so dass bei der Untersuchung keine Milch in 
denselben gefunden wird. Wir fragen daher immer, wenn die Betreffenden sich in Gefangen¬ 
schaft befinden, ob ihnen nicht ein derartiger Gegenstand abgenommen worden ist. In¬ 
dessen kann man auch in solchen Fällen nocn Milch erhalten, wenn zu wiederholten Malen, 
namentlich von der Achselgegend her die Milchgänge gegen die Brustwarze hin gestrichen 
werden. 

Nun geht man zur äusseren Untersuchung des Bauches über; da findet 
man zunächst die Bauchhaut schlaff, namentlich um den Nabel herum, und 
am unteren Bauchumfang in Folge der starken Dehnung der Bauchhaut 
röthliche Streifen, sogenannte Schwangerschaftsnarben. Drückt man zwischen 
Symphyse und Nabel die Finger etwas ein, so fühlt man den Gebärmutter¬ 
körper von rundlicher Form. Die weisse Linie ist mehr oder weniger pigmen¬ 
tirt (linea fusca). 

Schliesslich untersucht man die Geschlechts- und Geburtstheile selbst. 
Bei der frühen Untersuchung findet immer noch etwas Blutabgang statt, was 
die Betreffenden gewöhnlich als Menstruation bezeichnen. Der Scheidenein¬ 
gang ist weit, die grossen Labien sind noch etwas geschwollen. Handelt es 
sich um eine Erstgebärende, so sieht man noch frische Einrisse in der 
Scheidenklappe, ferner auch an der hinteren Commissur, und mehr oder 
weniger tief in den Damm gehend, seltener sind Einrisse der Schleimhaut in 
der Nähe der Clitoris. Die Schleimhaut der Scheide ist glatt ohne rugae, 
schlaff und von blauröthlicher Farbe. Am Cervix ist der Muttermund noch 
offen, so dass man einen Finger einführen kann, und sind frische Einrisse 
constatirbar. 

Von diesen Erscheinungen verlieren sich mehrere bald, andere per- 
sistiren länger und bleiben selbst für immer. 

In den ersten zwei bis drei Tagen ist der Ausfluss noch blutig, später 
wird er mehr fleischwasserähnlich, nach acht bis neun Tagen gelblich, dicker, 
eiterartig, noch später schleimig und verliert sich schliesslich in der dritten 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSETY OF MICHtGAN 



GEBURTSVERHÄLTNISSE. 


291 


Woche. Mikroskopisch enthalten die Lochien anfänglich viel Blutkörperchen, 
dann Flimmer-, Cylinder-, Pflasterepithelien, fettig entartet, Beste der decidua 
vera, später Eiter und zuletzt Schleimkörperchen. Der Geruch ist eigen¬ 
tümlich. Bei Frauen, welche stillen, ist der Ausfluss geringer als bei Nicht¬ 
stillenden. Wenn nicht gesäugt wird, nimmt die Milchsecretion schon nach 
wenigen Tagen ab, die Brüste fallen zusammen, und nach vier bis sechs 
Wochen ist nur noch wenig Milch vorhanden. Die Einrisse an den äusseren 
Genitalien und am Muttermund vernarben. Der Muttermund bleibt noch 
acht bis zehn Tage offen, so dass man den Finger einführen kann, der Cervix 
nimmt nach vier bis fünf Wochen wieder seine frühere Gestalt an, die voll¬ 
ständige Involution des Uterus bedarf jedoch einer Zeit von sechs bis acht 
Wochen. 

Wird nun die Untersuchung der betreffenden Person zu einer Zeit 
gemacht, wo noch der grösste Theil der angeführten Folgeerscheinungen der 
Geburt vorhanden sind, so hat die Stellung der Diagnose einer stattgehabten 
Geburt keine Schwierigkeiten, und wird man nach den angegebenen successiven 
Rückbildungszuständen auch im Stande sein, approximativ die Zeit anzugeben, 
welche seit der eingetretenen Geburt verflossen ist. Je später die Unter¬ 
suchung gemacht werden kann, desto vorsichtiger muss man in seinem Ur- 
theil sein und dieses nicht etwa nur auf eine einzelne Erscheinung stützen. 

Handelt es sich nicht um Feststellung einer erst kürzlich überstandenen 
Gebart, sondern darum, zu constatiren, ob eine Person überhaupt ge¬ 
boren hat, so ist auch die Beantwortung dieser Frage meistens mit grosser 
Sicherheit möglich, denn nach jeder Geburt eines reifen oder wenigstens der 
Reife nahestehenden Kindes bleiben einige Veränderungen, die sich niemals 
vollständig verlieren, und dahin gehören die sogenannten Schwangerschafts¬ 
narben, die früher ein röthliches, nunmehr aber ein weissliches, in der That 
mit Narben einige Aehnlichkeit habendes Aussehen haben und streifenförmig 
am unteren seitlichen Bauchumfang verlaufen. 

Sie beruhen auf Dehnung des cutanen Bindegewebes und sind umso 
hervortretender, je grösser die Ausdehnung des Bauches war, woraus sich 
erklärt, dass sie mitunter in geringen, fast unkenntlichen Graden bestehen 
und auch bei anderen Arten der Bauchausdehnung Vorkommen können. 

Diesen narbigen Veränderungen der Bauchhaut schliesst sich die freilich 
weniger auffällige, dunklere Färbung der weissen Linie an. Auf eine dunk¬ 
lere Färbung der Brustwarzen und des Warzenhofes ist kein grösseres Gewicht 
zu legen, da man ja keinen Vergleich mit der früheren Färbung hat. Von 
grösserer Wichtigkeit dagegen sind die narbigen Zustände der äusseren und 
inneren Genitalien in Folge stattgefundener Zerreissungen. So spricht die 
Gegenwart der Carunculae myrtiformes, da die Bildung dieser auf einer voll¬ 
ständigen Zerreissung des Hymens beruht, und diese nur durch eine Geburt 
herbeigeführt wird, sehr für eine überstandene Geburt, ebenso die Zerreissung 
der hinteren Commissur und eventuell auch des Dammes. Von ganz beson¬ 
derem diagnostischen Werthe sind die narbigen Einrisse, resp. Einkerbungen 
des Muttermundes, welche theils durch das Gefühl, theils durch das Gesicht 
zu erkennen sind. Eine zurückgebliebene Vergrösserung des Uteruskörpers 
lässt sich durch die Bauchdecke fühlen. 

Von einer irgend erfolgreichen Simulation einer überstandenen Geburt kann 
heutzutage keine Rede mehr sein, und verdienen ältere hierauf bezügliche Histörchen 
keine Erwähnung. 

Eine andere Frage, die bei zu stellenden Diagnosen über stattgehabte 
Geburten Berücksichtigung verdient, ist die, ob eine Person mehrmals 
geboren hat. Diese Frage lässt sich an lebenden Personen mit einiger 
Sicherheit nur dann beantworten, wenn es sich nach einer in früherer Zeit 
stattgehabten Geburt um eine erst kürzlich überstandene handelt, indem 
sich hier die älteren Zeichen, namentlich Narben, in Gemeinschaft mit frischen 

19* 


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Einrissen und anderen, eine kürzlich stattgehabte Geburt kennzeichnenden 
Merkmalen vorfinden. Hier können unter Umständen Irrungen Vorkommen, 
in der Art, dass von der früheren Geburt zurückgebliebene Zeichen als Beweis 
einer kürzlich überstandenen Geburt angesehen werden, wie folgender Fall 
beweist. 

Eine Frau in L., welche vor Jahresfrist geboren hatte, kam in den Verdacht, abermals 
schwanger gewesen zu sein, vor kürzerer Zeit geboren und das Kind beseitigt zu haben. Der 
Verdacht wurde sogar von einer Hebamme, welche die Frau kannte, ausgesprochen. Die 
Frau kam in Untersuchung und wurde von zwei Aerzten untersucht, welche Schlaffheit 
der Bauch haut, Schwangerschaftsnarben an derselben, Weite der Scheide, Schleimausfluss 
aus derselben u. s. w. und ausserdem Milch in den Brüsten fanden. Ihr Gutachten ging 
dahin, dass die Frau vor kürzerer Zeit geboren haben müsse, und bezog sich dabei 
hauptsächlich auf den Milchgehalt der Brüste. Die Frau stellte auf das Bestimmteste in 
Abrede, dass sie seit der letzten Geburt noch einmal geboren habe, und auch verschiedene 
Zeugenverhöre förderten keine Beweise für eine spätere Geburt zu Tage, so dass die Unter¬ 
suchung zu keinem Resultat führte. Die Acten wurden der ADklagekammer zu allfalliger 
weiterer Verfügung eingegeben. Diese ordnete eine nochmalige Untersuchung der betreffen¬ 
den Person an und dann Uebergabe der Acten zur Begutachtung an das Sanitätscolleginm. 
Nach mehr als sechs Wochen fanden die Aerzte bei dieser zweiten Untersuchung ganz die¬ 
selben Erscheinungen wieder und behaupteten abermals, die Frau, da sie Milch in den 
Brüsten habe, müsse vor kürzerer Zeit geboren haben. Vor dem Sanitätscollegium hatte ich 
über den Fall zu referiren, und da ergab sich aus den Acten, dass die Frau ihr bereits 
einjähriges Kind in der Nacht immer noch säugte, was sie absichtlich verschwieg. Anf 
die mangelhafte Begründung des ärztlichen Gutachtens will ich nicht näher eingehen. Die 
Untersuchung wurde natürlich aufgehoben, und die Frau für die ausgestandene Unter¬ 
suchungshaft entschädigt. 

Kommt man in den Fall, eine, überstandene Geburt durch eine Section 
constatiren zu können, so sind selbstverständlich die frischen und alten 
Zeichen einer Geburt, namentlich die inneren, in grösserem Umfange zu er¬ 
kennen, und sind es namentlich die Gebärmutter einerseits und die Ovarien 
andererseits, welche an Lebenden nicht so zugänglich sind. 

Der Uterus erscheint kürzere Zeit nach der Geburt noch ziemlich gross, 
auffallend weich und schlaff, enthält häufig noch Blutgerinnsel, Eihautreste 
und Ueberbleibsel der Decidua, ausserdem im Grunde die unebene Placentar- 
stelle. Später und auch nach vollendeter Involution sind die Dimensionen 
des Uterus grösser, und ist die ganze Form mehr abgerundet und der Grund 
kugelförmig. Hofmann *) fand bei zwei Personen, die beide vor einem Jahre 
geboren hatten, die Länge des Uterus 9 cm, den Tubenabstand in dem einen 
Falle 4*5, in dem anderen 5 cm, die Dicke der Uteruswand bei beiden in 
der Tubenhöhe 2, am Cervix VI cm, während die Breite des Cervix am 
äussem Muttermund gemessen in einem Falle 2 5, in dem anderen 2'7 e/ft 
betrug. 

Bezüglich der Veränderungen an den Ovarien ist schon im Artikel 
„Fruchtabtreibung“ auf die Gegenwart eines grösseren Corpus luteum auf¬ 
merksam gemacht worden. 

2. Frühgeburt und Spätgeburt. 

Die normale Dauer der Schwangerschaft wird gewöhnlich zu 280 Tagen 
oder 40 Wochen oder 10 Mondesmonaten, gleich 9 Kalendermonaten, ange¬ 
nommen. Die Geburt, welche nach dieser Schwangerschaftszeit eintritt, heisst 
eine rechtzeitige, tritt sie drei bis vier Wochen vor dieser Zeit ein, so 
nennt man sie Frühgeburt, tritt sie noch früher ein, und zwar vor dem 
achten Monate, also vor der 28. Woche, so wird die Geburt Fehlgeburt ge¬ 
nannt, weil zu dieser Zeit das Kind noch nicht oder kaum lebensfähig ist. Tritt 
die Geburt einige Wochen nach der angegebenen Normalzeit der Schwanges 
schaft ein, so nennt man sie Spätgeburt. In der gerichtlichen Medicin be¬ 
stimmt man die Schwangerschaftsdauer gewöhnlich nach dem Entwicklungsgrade 


*) Lehrbuch, 1884 S, 213. 


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des Kindes, und nennt ein am Ende des 10. Mondesmonats geborenes Kind 
ein reifes und ansgetragenes und abstrahirt davon die sogenannten 
Zeichen der Reife. 

Obige Zahlenangaben in Bezug auf die normale Dauer der Schwangerschaft sind 
übrigens nicht so genau zu nehmen, weil überhaupt eine genaue Berechnung der Dauer 
der Schwangerschaft gar nicht möglich ist, indem man ja den Tag, an welchem die Be¬ 
fruchtung des Eies stattgefunden hat, gar nicht kennt und auch nicht kennen kann. Dass 
in den meisten Fällen die Befruchtung des Eies in den nächsten Tagen nach dem Aufhören 
der zuletzt dagewesenen Menstruation eintreten soll, wird ziemlich allgemein angenommen, 
und stützt sich darauf die bekannte NÄGfcLE’sche Berechnung der Schwangerschaftsdauer, 
nach welcher man zum Anfangstage der letzten Menstruation sieben Tage beifügt und von 
da ab drei Kalendermonate zurückzählt. Jedenfalls kann es sich hier um Differenzen von 
einigen Wochen handeln, was auch mit den bei Thieren vorkommenden Verhältnissen über¬ 
einstimmt (Schrobder *). Gleich wohl besteht in einer grossen Zahl von Fällen eine gewisse 
Constanz bezüglich der Dauer der Schwangerschaft und des Geburtseintrittes. 

Nach Ahlfeld**) betrug die Durchschnittsdauer der einzelnen Schwangerschaft in 
€53 Fällen 271*44 Tage. Die grösste Zahl der Geburten fiel in die 39. Woche (27*56°/ 0 ), 
dann in die 40. Woche. (2619°/ 0 ). Man ersieht hieraus, dass in der grösseren Zahl von 
Fällen die Schwangerschaft nicht 280 Tage dauerte. 

Frühgeburt. Diese kann in mehrfacher Weise von Seiten der ge¬ 
richtlichen Medicin Beachtung erheischen. Einmal kommt bei Kindern, die im 
siebenten oder achten Monat geboren sind, die Lebensfähigkeit in Frage. Be¬ 
kanntlich tritt diese am Ende des siebenten oder Anfang des achten Monats ein, 
und kommen Kinder, zu dieser Zeit geboren, meistens sehr lebensschwach zur 
Welt und sterben häufig bald aus Lebensschwäche ab. In Kindsmordfällen 
muss dieser Erfahrung Rechnung getragen werden, da dieses frühe Absterben 
des Kindes zu ganz unberechtigter Annahme einer gewaltsamen Todesart des¬ 
selben führen könnte, wie mir derartige Fälle vorgekommen sind. 

Ferner kann es geschehen, dass eine bereits vor ihrer Verehelichung 
schwanger gewesene Frau schon sieben oder acht Monate nachher mit einem 
reifen Kinde niederkommt, und der Ehemann dasselbe nicht anerkennen will, 
da dasselbe schon vor der Verehelichung erzeugt worden sein müsse. In fol¬ 
gendem Falle führte ein solches Vorkommniss zu einem Kindsmord. 

Die betreffende Frau hatte dem Manne verheimlicht, dass sie bereits schwanger sei, 
und der Mann war daher sehr verwundert, dass die Frau schon sieben Monate nach der Ver¬ 
ehelichung ein Kind bekam und fragte daher die Hebamme, ob denn das Kind eigentlich auch 
ein reifes und ausgetragenes sei, was diese, keine Ahnung von den Motiven der Frage habend, 
sofort bejahte und bekräftigte, dass das Kind ein durchaus reifes und ausgetragenes sei. 
Der Mann gerieth nun ausser sich vor Wuth und wollte sich sofort von seiner Frau 
scheiden lassen. Am folgenden Morgen war das Kind todt. Die Autopsie ergab Erstickungs¬ 
tod durch Verschliessung der Eingangspforten der Luftwege, und weitere Erhebungen er¬ 
gaben, dass die Frau die Nacht über das Kind bei sich im Bette und im linken Arm hielt. 
Die Frau kam nun wegen Kindesmord in Criminaluntersuchung und zur Aburtheilung vor 
das Schwurgericht. Nachdem das Kind todt war, bereute der Mann sein Vorgehen. Die 
Fr&u wurde unter Annahme mildernder Umstände nur massig bestraft. Ich hatte den 
Fall als Repräsentant des Sanitätscollegiums vor dem Schwurgericht zu vertreten. 

In derartigen Fällen kann eine gerichtliche Untersuchung des Kindes 
in Bezug auf sein Alter nothwendig werden, ob dasselbe der Schwangerschafts¬ 
dauer seit der Verehelichung entspricht oder nicht, da in diesem Falle eine 
Üngiltigkeit der Ehe erklärt werden könnte. Im siebenten oder achten Monate 
werden keine reifen Kinder geboren, und hierauf bezügliche Angaben beruhen 
eben auf Irrthum. Die gesetzlichen Bestimmungen, welche solchen Unter¬ 
suchungen zu Grunde liegen, sind: 

Oesterr. bürgerl. Gesetzbuch §58. Wenn ein Ehemann seine Gattin nach 
der Ehelichung bereits von einem Anderen geschwängert findet, so kann er fordern, dass 
die Ehe als ungiltig erklärt werde. 

§ 156. Die rechtliche Vermuthung (einer nnehelichen Geburt) tritt bei einer frü¬ 
heren Geburt erst dann ein, wenn der Mann, dem vor der Verehelichung die Schwanger- 


*) Lehrbuch der Geburtshilfe. 7. Aufl. 1882. S. 83. 

**) Beobachtungen über die Dauer der Schwangerschaft, Monatsschrift für Geburts¬ 
kunde. Bd. 34. 


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schaft nicht bekannt war, längstens binnen drei Monaten nach erhaltener Nachricht von 
der Geburt des Kindes der Vaterschaft gerichtlich widerspricht. 

§ 157. Die von dem Manne innerhalb dieses Zeitraumes rechtlich widersprochene 
Rechtmässigkeit einer früheren oder späteren Geburt kann nur durch Kunstver¬ 
ständige, welche nach genauer Untersuchung der Beschaffenheit des Kindes und 
der Mutter die Ursache des ausserordentlichen Falles deutlich angeben, bewiesen werden. 

Spätgeburt. Als Spätgeburten (Partus serotini) werden alle diejenigen 
Geburten bezeichnet, welche nach 280 Tagen oder 40 Wochen eintreten. 
Dass die Geburt einige Tage nach diesem Termine eintreten kann, wird von 
keinem erfahrenen Geburtshelfer bestritten, doch sind im Allgemeinen Früh¬ 
geburten häufiger als Spätgeburten. 

Forensisch haben Spätgeburten wegen Patemitätsverhältnissen eine be¬ 
sondere Bedeutung, indem bei erst nach dem gewöhnlichen Termin geborenen 
Kindern Zweifel entstehen können, ob sie auch zu der der Schwangerschafts- 
dauer entsprechenden Zeit erzeugt worden sind oder erst später. 

Es ist leicht einzusehen, dass derartige Zweifel nur dann erhoben wer¬ 
den können, wenn es sich nicht blos um eine mehrtägige, sondern um eine mehr¬ 
wöchentliche Verspätung der Geburt handelt, und nur in diesem Fall kann 
man eigentlich von Spätgeburten reden, die aber doch nur innerhalb gewisser 
Grenzen Vorkommen und angenommen werden können. Es ist unglaublich, 
was in der älteren gerichtlichen Medicin von Seiten der einzelnen Aerzte und 
ganzer medicinischer Facultäten in Bezug auf Spätgeburten angenommen 
wurde, worüber ich auf die Mittheilungen von Casper und Liman *) ver¬ 
weise. Auch hat diese Unsicherheit in Betreff der zulässigen Schwanger¬ 
schaftsdauer zu zahlreichen Betrügereien Anlass gegeben, wovon die gericht¬ 
liche Medicin manche Beispiele aufzuführen hat. 

Das Schwierige in der Behandlung dieses Gegenstandes beruht aber 
darin, dass bezüglich der Dauer der Schwangerschaft allerdings Verschieden¬ 
heiten Vorkommen, deren Erklärung von Seiten der Medicin auch nicht immer 
möglich ist, so dass die Bestimmung eines Termines ad quem Schwierigkeiten 
hat, zumal auch Verhältnisse bestehen, welche die Feststellung eines Termines 
a quo erschweren, wodurch die Berechnung der Schwangerschaftsdauer eine 
mehr oder weniger unzuverlässige wird. 

Man berechnet gewöhnlich die Schwangerschaftsdauer nach dem ersten 
Ausbleiben der Menstruation bis zum Geburtseintritte, weiss aber nicht, zu 
welcher Zeit nach dem Ausbleiben der Menstruation die Befruchtung statt¬ 
gefunden hat, so dass hiedurch jedenfalls Differenzen begründet werden. Aber 
auch wenn man bei der Berechnung von der stattgefundenen Cohabitatiou 
auszugehen im Stande ist, was Elsässer und Andern möglich war, kann man 
keine sicheren Zahlen erhalten, da die Vorgänge der Cohabitation und der 
Befruchtung des Eies durchaus nicht immer zeitlich zusammenfallen, und 
diese Zeit überhaupt nicht näher bestimmt werden kann. Auch ist die Frage 
bezüglich des Menstruationstypus, ob derselbe immer ein 28tägiger oder 
mitunter auch ein längerer oder gar kürzerer ist, noch nicht entschieden, 
so dass die Annahme von Cederschjöld, Schüster u. A. mit den 10 indi¬ 
viduellen Menstruationsperioden für die Schwangerschaftsdauer nur hypo¬ 
thetisch ist. 

Unter diesen Verhältnissen bleibt wenigstens vorläufig nichts Anderes 
übrig, als sich an zuverlässige, der neueren Zeit angehörige statistische Zu¬ 
sammenstellungen zu halten,-um die Schwangerschaftsdauer in der Mehrzahl 
der Fälle kennen zu lernen, da in der gerichtlichen Medicin diese und nicht 
die Ausnahme geltend ist. Nach Ahlfeld’s Untersuchungen von 53 Geburts¬ 
fällen fiel die grösste Anzahl der Geburten in die 39. Woche (27 , 56%), io 
die 40. Woche 2619%- Kürzer ist die Schwangerschaftsdauer in Gebär- 


*) Handb. d. gerichtlichen Medicin. 7. Aufl. Bd. I. 1881. 


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häusern als in Privathänsern, bei Mehrgeschwängerten als bei Erstgeschwän¬ 
gerten, bei Unverheiratheten als bei Verheiratheten. Hohl*) fand nach einer 
grösseren Zahl von Schwangerschaftsfällen, die er zusammenstellte, als gewöhn¬ 
liche Dauer 275 bis 287 Tage. Nach Elsässer**) dauerte die Schwanger¬ 
schaft in 200 Fällen 71 Mal (= 27*3°/ 0 ) über 280 Tage, und zwar bei 23'8% 
bis zum 290. Tage, bei 1 * 1 °/ 0 bis zum 300. Tage und bei 2 - 3% bis zum 
306. Tage u. s. w. Auf Grundlage solcher Erfahrungen hat die Gesetzgebung 
als gerichtlich zulässige Daner der Schwangerschaft in Patemitätsfragen die 
Zeit von 300 bis 302 Tagen angenommen. 

Preass. allgem. Landrecht Thl. II. Tit. 2. § 19. Ein Kind, welches bis zum 
dreihnndertzweiten Tage nach dem Tode des Ehemannes geboren, wird für das ehe¬ 
liche Kind desselben gerechnet. 

§ 2. Gegen die gesetzliche Vermuthung der Vaterschaft in der Ehe geborener Kinder 
soll der Mann nur alsdann gehört werden, wenn er überzeugend nachweisen kann, dass 
er der Fran in dem Zwischenranme vom dreihundertundzweiten bis zweihandert- 
undzehnten Tage vor der Gebart des Kindes nicht ehelich beigewohnt habe. 

Weitaus in der Mehrzahl der Fälle wird diese Begrenzung der Spät¬ 
geburten das Richtige treffen, zumal es erfahrene Geburtshelfer gibt, wie 
z. B. Gusserow, die niemals Spätgeburten über 300 Tage gesehen haben. 
Allein diesen gegenüber gibt es andere, gleichfalls erfahrene Gynäkologen, 
welche dieser Ansicht nicht beitreten. So sagt z. B. Schroeder***): „Wie 
weit die Grenzen der Schwangerschaftsdauer gehen, ist nicht mit Sicherheit 
zu bestimmen. Ich selbst zweifle keinen Augenblick, dass ein reifes Kind 
etwa innerhalb 240 bis 320 Tagen nach der letzten Periode geboren werden 
kann.“ Besonders englische Geburtshelfer berichten von sehr späten Spät¬ 
geburten bis zu 332 und 333 Tagen. Natürlich sind bei der forensischen 
Beurtheilung von Spätgeburten alle Missbildungen des Kindes auszu- 
schliessen, welche eine aussergewöhnliche Verzögerung der Geburt be¬ 
dingen können. Nach den oben angegebenen zuverlässigen statistischen 
Zusammenstellungen von Geburtsfällen nach der Schwangerschaftsdauer ge¬ 
hören Spätgeburten über 302 Tage zu den Seltenheiten, allein sie kommen 
doch vor (nach Ahlfeld in 2% aller Geburtsfälle), und könnte von Seiten 
der Gesetzgebung diesem möglichen Vorkommniss dadurch Rechnung getragen 
werden, dass für derartige zweifelhafte Fälle eine Untersuchung durch Sach¬ 
verständige vorgeschrieben würde, welche übrigens unter solchen Verhältnissen 
wohl immer stattfinden wird, weil ja von Seiten Kunstverständiger in Streit¬ 
fällen der Thatbestand einer Spätgeburt festzustellen ist. 

Bei solchen Untersuchungen müsste immer einerseits die Schwanger¬ 
schaftsdauer, andererseits die Entwicklung des Kindes berücksich¬ 
tigt werden. 

Zunächst wäre der Tag der Geburt bestimmt zu ermitteln, und zwar 
namentlich der Eintritt derselben, da ja aus verschiedenen Gründen eine 
Verzögerung der eingetretenen Geburt herbeigeführt werden kann. Sollte 
man Gründe haben, an der Glaubwürdigkeit der gemachten Angaben zu 
zweifeln, da Spätgeburten nicht selten fälschlich angegeben werden, so hätte 
man zur Zeitbestimmung der eingetretenen Geburt die Frau in Bezug auf 
Zeichen einer kürzlich überstandenen Geburt zu untersuchen und auch die 
Entwicklungsverhältnisse des Kindes zu berücksichtigen. Weiterhin müsste 
man sich über den Menstruationstypus der betreffenden Frau zu orientiren 
suchen und zur Bestimmung des Terminus a quo nach dem Anfänge der 
zuletzt dagewesenen Menstruation und eventuell nach einem zu dieser Zeit 


*) Lehrbach der Gebartsh. Leipzig 1862. S. 172. 

**) Henke’b Zeitschr. Bd. 73. 1857. S. 394. 

***) Lehrbuch der Gebartsh. 7. Aufl. 1882. S. 83. 


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stattgefundenen Coitus sich erkundigen. Ausserdem wäre auch noch zu berück¬ 
sichtigen, unter welchen Verhältnissen die betreffende Person während der 
Dauer der Schwangerschaft sich befunden hat, ob diese den Ernährungsver¬ 
hältnissen des Kindes günstig oder ungünstig waren. 

Es ist leicht einzusehen, dass die Fingirang einer Spätgeburt sehr leicht zar Ver¬ 
deckung einer zu anderer Zeit stattgehabten Schwängerung benutzt werden kann, wovon 
Taylor*) eine Reihe von Fallen zusammengestellt hat. 

Bei der Untersuchung des Kindes wird man bei Spätgeburten voraus¬ 
setzen können, dass das Kind in Bezug auf Gewicht, Körperlänge, Kopfdurch¬ 
messer, Ossificationsverhältnisse u. s. w. alle Zeichen eines reifen ausgetra¬ 
genen Kindes darbieten wird, und zwar unter Umständen noch weiter gehende 
Entwicklungszustände, wie stärkerer Haarwuchs, Verknöcherung fötaler Nähte, 
der Fontanellen u. s. w. Indessen haben diese letzteren Veränderungen keinen 
grossen diagnostischen Werth, da auch bei gewöhnlicher Schwangerschafts¬ 
dauer derartige Entwicklungsverhältnisse Vorkommen. So dürfte auch nicht 
die Gegenwart einzelner Zähne in den Kiefern der Kinder als ein sicheres 
Zeichen einer Spätgeburt angesprochen werden, da dieses im Ganzen sehr 
seltene Vorkommniss (Dumub**) hat unter 17.578 Neugeborenen der Pariser 
Maternitö nur drei Kinder mit Zähnen gesehen) nicht als ein Zeichen der 
Ueberreife, sondern vielmehr als ein abnormes Entwicklungsverhältniss anzu¬ 
sehen ist. Jedenfalls aber würde eine mangelhafte Entwicklung des Kindes, 
welches nicht alle Zeichen der Reife darböte, gegen eine Spätgeburt sprechen. 

Bei derartigen Geburten, welche über 302 Tage gedauert haben sollen 
und bei welchen es sich um Paternitätsverhältnisse handelt, wäre auch 
noch die Frage zu berücksichtigen, ob der angebliche Schwangerer eigentlich 
auch zeugungsfähig war, indem Fälle bekannt sind,***) in welchen die 
Zeugungsfähigkeit des angeblichen Schwängerers durchaus zweifelhaft war, und 
dadurch der Betrug offenkundig wurde. 

3. Unbewusste Geburt. 

Wenn von unbewusster Geburt die Rede ist, so handelt es sich nicht 
um Abortusgeburten, sondern um Geburten älterer, lebensfähiger und gelebt¬ 
habender Kinder, und entsteht hiebei die Frage, ob solche Kinder geboren 
werden können, ohne dass die betreffende Person Kenntnis s davon hat. Es 
kommt nämlich nicht selten vor, dass Personen, welche auf Abtritten geboren 
haben, wobei das Kind in den Abtritt gefallen ist, angeben, sie hätten nicht 
gewusst, dass das von ihnen Abgegangene ein Kind gewesen sei. Man hat 
daher nicht selten vor dem Schwurgericht die Frage zu beantworten, ob es 
möglich oder nur wahrscheinlich sei, dass ein grösseres Kind aus den Geburts- 
theUen treten könne, ohne dass die Gebärende ein Gefühl davon habe. Mit 
der angeblichen Unbewusstheit von der stattgehabten Geburt soll entschuldigt 
werden, dass die betreffende Person von dem Vorgefallenen keine Mittheilung 
gemacht !habe, da sie eben nicht gewusst habe, dass es sich um ein Kind 
handelte, so dass jeder Rettungsversuch für das hinuntergefallene Kind 
unterblieb. 

In vielen Fällen wird das angebliche Vorkommniss einer unbewussten 
Geburt noch dadurch begründet, dass die Betreffenden angeben, gar nicht ge¬ 
wusst zu haben, dass sie schwanger seien, und ist daher noch weiterhin die 
Frage zu erörtern, ob eine Verkennung eines schwangeren Zustandes möglich 
ist, in welchem Falle die Unbewusstheit einer Geburt die Folge der Unbe- 
wusstheit einer Schwangerschaft wäre. 


*) Principles of medical jurispr. II. 1873. S. 269. 

**) Des dents dans les questiona medico-legales. Lyon, 1882. 

***) S. Taylor 1. c. 


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Dass eine Schwangerschaft in den ersten Monaten ihres Bestehens ver¬ 
kannt werden kann, ist kaum zu bestreiten, da die Erscheinungen anfänglich 
nicht sehr hervortretende und auffällige sind, doch reichen dieselben in man¬ 
chen Fällen hin, bei dem Bewusstsein, sich der Möglichkeit einer Schwän¬ 
gerung ausgesetzt zu haben, die Betreffenden bezüglich ihres Zustandes 
zweifelhaft zu machen, und werden auch gerade in dieser ersten Zeit Hebammen 
häufig zu Untersuchungen in Anspruch genommen, welche so oft die Ge¬ 
schwängerten irre führen. 

Uebrigens hat ausser dem vorausgegangenen geschlechtlichen Umgang 
und ausser dem Ausbleiben der Menstruation die Schwangerschaft in ihrem 
weiteren Verlaufe so charakteristische, von der Betreffenden nicht zu verken¬ 
nende Veränderungen und Erscheinungen zur Folge, wie das fortgesetzte Aus¬ 
bleiben der Menstruation, die stetige Zunahme des Unterleibes, so dass alle 
Kleider zu eng werden, die um die Mitte der Schwangerschaft eintretenden 
Kindsbewegungen, in der späteren Zeit die Schwellung der Brüste und der 
Milchgehalt derselben, mitunter durch spontanen Ausfluss der Milch indicirt, 
dass eine gänzliche Verkennung der Schwangerschaft bei einem normalen 
Verlaufe derselben von vornherein nicht wohl annehmbar ist, vorausgesetzt, 
dass es sich nicht um eine geistesschwache Person handelt. 

Nicht ohne Grand enthielt daher das frühere preussische Strafgesetz die Bestim¬ 
mung, dass nach der 30. Schwangerschaftswoche eine Verkennung der Schwangerschaft 
nicht mehr angenommen werden kann, eine Bestimmung, die heutzutage nicht mehr halt¬ 
bar wäre. 

Wenn daher eine unbewusste Schwangerschaft, welche thatsächlich mehr¬ 
mals und auch uns vorgekommen ist, für annehmbar oder wenigstens wahr¬ 
scheinlich gehalten werden soll, so müssen immerhin besondere Verhältnisse 
bestanden haben, von welchen wir folgende hervorheben. 

In den meisten Fällen war die Betreffende eine Erstschwangere, welche 
durch eigene Erfahrung mit den Schwangerschaftsverhältnissen noch nicht 
näher bekannt geworden ist, und daher einzelne Erscheinungen, wie nament¬ 
lich die Kindsbewegungen um die Mitte der Schwangerschaft nicht richtig zu 
deuten im Falle war. Einer Erstschwangeren gleichzustellen wäre natürlich 
auch eine Frau, welche längere Zeit in der Ehe kinderlos geblieben ist, an 
eine Schwängerung nicht mehr dachte und nun ganz unerwartet in einen 
solchen Zustand kam, wie der von Tanner *) mitgetheilte Fall beweist. 

Eine 24jährige Frau, seit 3 Jahren verheirathet, aber kinderlos, deren Menstruation 
seit 10 Monaten ausgeblieben war, klagte seit 11 Uhr der verflossenen Nacht über grosse 
Schmerzen im Unterleib. Der Assistent eines Arztes erklärte die Schmerzen als Folge von 
Blähungen und Entzündung, womit Frau und Mann einverstanden waren. Dr. Tanker fand 
die Frau kreissend und extrahirte kurz darauf ein ausgetragenes Kind. 

In anderen Fällen sind die Geschwängerten bezüglich des Vorganges bei 
der Schwängerung einigermassen im Unklaren gewesen, indem sie zu der 
betreffenden Zeit betrunken oder schlaftrunken, jedenfalls nicht bei klarem 
Bewusstsein waren und sich daher nicht mehr daran erinnerten, oder aber 
der stattgehabte Vorgang ist nach der Ansicht der Betreffenden nur in unvoll¬ 
ständiger Weise geschehen, so dass sie nicht an die Möglichkeit einer Schwän¬ 
gerung denken konnten. Sehr belehrend ist in dieser Beziehung der von 
Säxinger **) mitgetheilte Fall, der zugleich beweist, dass eine Schwängerung 
ohne vorgängige Defloration möglich war. 

Ein l8jähriges Mädchen hatte seit dem Eintritt der Periode im 14. Jahre dieselbe 
sehr unregelmässig gehabt, ausserdem litt sie an Bleichsucht und dyspeptischen Erschei¬ 
nungen. Der behandelnde Arzt gab verschiedene Mittel gegen diese Zufälle, nahm auch 
eine Untersuchung vor und stellte schliesslich die Diagnose auf Cystom des Ovariums. 


*) Monatsschr. für Geburtsk. 1863. Bd. 21. 

**) Schwangerschaft n. Geburt im Handb. d. gerichtl. Medicin von Maschka. Bd. 3. 
1882. S. 218. 


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Das M&dchen wurde nun zur Operation Säxingbr zugesandt, dieser fand Schwangerschaft 
in der 30. bis 32. Woche, dabei thatsftchlich jungfräuliche Beschaffenheit des mtroitus 
vaginae, der Hymen intact, liess nur mit Mühe den Finger eindringen. Am normalen Ende 
der Schwangerschaft trat die Gebart eines Knaben ein. Es wurde nun eine Cohabitation 
zagegeben and wurde nar als ein misslungener Versuch gedeutet. 

Besonders leicht za Täuschungen können Unregelmässigkeiten in der 
Menstruation führen, sei es, dass die Menstruation schon vor dem Eintritt 
der Schwangerschaft mehrmals ausgeblieben, oder dass dieselbe noch während 
der Schwangerschaft mehrmals eintrat, was öfters beobachtet worden ist. 

Elsässer *) hat 60 solcher Fälle gesammelt und gefunden, dass die Menstruation 
nach der Schwängerung sich einstellte: 

in 8 Fällen noch 1 Mal 



In allen mir vor dem Schwurgericht vorgekommenen Fällen jedoch, wo die Betref¬ 
fenden angaben, dass sie während der Schwangerschaft noch ihre Menstruation hatten, 
ergab sich auf weiteres Befragen, dass diese niemals in der regelmässigen Weise wie früher 
eingetreten war. 

Ausser den Unregelmässigkeiten in der Menstruation tragen zur Täu¬ 
schung der Betreffenden auch noch Untersuchungen von Hebammen oder 
behandelnden Aerzten bei, welche die Schwangerschaft verkannten, zur Be¬ 
kämpfung der verschiedenen dieselbe begleitenden Erscheinungen mancherlei 
Mittel in Anwendung brachten uud falsche Diagnosen stellten, z. B. ein 
Cystom des Ovariums, wie in dem oben von Säxinger mitgetheilten Falle, 
oder Wassersucht diagnosticirten, wie in dem folgenden Falle von 
Wald**): 

Ein Ladenmädchen war sehr nnregelmässig menstruirt und litt an allerlei Uebeln. 
Den Coitus hatte sie einmal zagelassen und schrieb die Erscheinungen der Schwanger¬ 
schaft ihrem früheren Leiden zu. Der behandelnde Arzt verordnete Landaufenthalt. In 
der letzten Zeit der Schwangerschaft consultirte sie wiederholt den Arzt wegen Zunahme 
des Bauchumfanges, und dieser stellte noch 8 Tage vor der Geburt die Diagnose auf 
Wassersucht. Im Geschäftslocal wurde die Betreffende von der Geburt überrascht, das 
Kind fiel auf den Boden. Als sie es aufhob, wickelte sie e3 in Tücher. Die Section ergab, 
dass das Kind gelebt hat und dass Erstickungserscheinungen vorhanden waren, so dass 
eigentlich ein Kindesmord vorlag. Die Betreffende entschuldigte sich wegen des Vorfalls 
damit, dass sie nicht gewusst habe, schwanger gewesen zu sein, eine Entschuldigung, die 
unter den obwaltenden Umständen nicht sehr glaubwürdig war, denn die Be¬ 
treffende war sich des stattgehabten Coitus bewusst, hat die Kindesbewegungen gefühlt 
und wegen ihrer Zweifel sich fortwährend vom Arzte untersuchen lassen, muss daher 
wenigstens an die Möglichkeit einer Schwangerschaft gedacht haben. 

Der mir vorgekommene Fall betraf eine grossgewachsene, 21 Jahre alte Person vom 
Lande, welche mich wegen angeblicher Wassersucht, wogegen sie schon verschiedene Mittel 
gebraucht hatte, consultiren wollte. Der Bauchumfang war allerdings bedeutend und einer 
hochschwangeren, im letzten Stadium der Schwangerschaft befindlichen Person entsprechend. 
Meine erste Frage war daher, ob sie nicht in schwangerem Zustande sich befinde, was sie 
jedoch sofort verneinte mit dem Bemerken, dass sie nicht wüsste woher, auch habe sie 
ihre Regeln eigentlich nie ganz verloren, sei auch beim Landarzt gewesen, der ihr Mittel 
gegen Wassersucht gegeben habe u. s. w. Ich musste bald die sichere Ueberzeugung ge¬ 
winnen, dass die Person an die Möglichkeit einer Schwangerschaft nicht im entferntesten 
dachte. Ich nahm nun eine genauere äussere und innere Untersuchung vor und konnte 
namentlich auch durch Fühlen des vorliegenden Kopfes und Hören der Herztöne aufs be¬ 
stimmteste constatiren, dass die Person in hochschwangerem Zustande sich befinde und der 
Geburt eines Kindes nahestehe. Ich theilte ihr das auf das Bestimmteste mit, verordnete 
natürlich keine Mittel und rieth ihr, sich für die in kürzester Zeit bevorstehende Geburt 
bereit zu halten. Sie verliess mich, immer noch behauptend, es könne nicht sein, bergab 
sich aber doch zu einer Bekannten in der Stadt, von der ich nach 8 Tagen die Nachricht 
erhielt, dass die Betreffende ein lebendes Kind bekommen habe. 


*) Henke’s Zeitschr. Bd. 73. S. 402 

**) Lehrbuch 2. S. 130. 


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Ans diesen Mittheilungen ergibt sieb, dass die Möglichkeit einer Ver¬ 
kennung der Schwangerschaft nicht bestritten werden kann, wenn gewisse 
Verhältnisse bestehen, wohin namentlich gänzliche Unerfahrenheit, Unklarheit 
bezüglich des stattgehabten Umganges, Unregelmässigkeit der Menstruation 
und unrichtige ärztliche Diagnose gehören. Allein im Allgemeinen ist die 
Combination solcher Verhältnisse doch eine Seltenheit, und sind daher auch 
weitaus in den meisten Fällen die Angaben der Betreffenden, von ihrem 
schwangeren Zustande nichts gewusst zu haben, unglaubwürdig und können 
nicht als Entschuldigung für eine ganz unerwartet unter ungünstigen Ver¬ 
hältnissen eingetretene Geburt angenommen werden. 

Und, was die Behauptung einer unbewussten Geburt betrifft, auch wenn 
die Betreffende ihre Schwangerschaft nicht abgeleugnet hat, indem sie angibt, 
wenn die Geburt auf einem Abtritt stattfand, gar nicht gefühlt zu haben, 
dass etwas wie ein Kind von ihr abgegangen sei, und deshalb auch alle 
Massnahmen zur Rettung desselben unterliess, so haben wir eine solche Be¬ 
hauptung niemals für glaubwürdig erklärt. Als mir einmal in einem der¬ 
artigen Falle ein Vertheidiger das Vorkommen solcher Fälle dadurch be¬ 
weisen wollte, dass er mich fragte, ob nicht in einzelnen Gebäranstalten unter 
den Abtrittsitzen Gitter angebracht seien, um allfällig unerwartet geborene 
Kinder aufzufangen, bejahte ich diese Frage, fügte aber bei, dass ein solcher 
Vorgang noch durchaus nicht beweise, dass die Betreffende den Abgang eines 
Kindes nicht gefühlt habe. 

4. Sturzgeburt. 

Unter Sturz gebürten werden gemeinhin solche Geburten verstanden, 
bei welchen das Kind aus den Geburtstheilen herausgetrieben, unmittelbar 
irgend wohin stürzt, sei es auf den Boden, wenn die betreffende Person steht, 
Stebgeburt, oder in einen Abtritt, wenn dort geboren wird, Sitzgeburt. Er¬ 
folgt die Geburt, indem die Betreffende auf dem Boden kauert oder kniet, 
so kann von einem Sturz des Kindes nicht wohl die Rede sein, und ebenso 
verhält es sich bei Geburten auf Kübeln oder Nachtgeschirren. Wohl aber findet 
bei Sitzgeburten auf Abtritten ein Sturz des Kindes von verschiedener Höhe statt. 

Forensisch haben derartige Geburten insofern Bedeutung, als bei tödt- 
lichen Folgen des Sturzes die Frage entsteht, inwieweit bei einem solchen 
Vorkommniss die Mutter betheiligt ist, sei es durch Unterlassungen oder 
Handlungen, worauf bei einzelnen Strafgesetzgebungen, wie z. B. bei der Berai- 
schen, Rücksicht genommen wird. 

Der Tod des Kindes kann bei Sturzgeburten auf verschiedene Weise 
herbeigeführt werden, bei Steh- und Kopfgeburten durch Verletzungen des 
Schädels, bei Sitzgeburten in Aborten auch durch Körperverletzungen, oder was 
noch häufiger ist, durch Erstickung in der Jauche. In Kindsmordfällen 
spielen diese Sturzgeburten eine grosse Rolle. 

Bezüglich der Veranlassungen zu Sturzgeburten sind zwei wesentlich 
verschiedene Vorgänge zu unterscheiden, von welchen die Art der Sturz¬ 
geburt abhängt. In dem einen Falle nämlich ist bei starken Wehen der 
Geburtsverlauf ein sehr stürmischer und rascher, partus praecipitatus, 
so dass die Betreffende von der Geburt überrascht und dadurch mitunter ge¬ 
zwungen wird, an einem ganz ungeeigneten Orte die Geburt zu überstehen. 
In anderen Fällen, und zwar den weitaus häufigsten* ist der Vorgang so, dass 
die Geburt ihren normalen Verlauf durchmacht. Die Eröffnungsperiode dauert 
nach V oit *) bei Erstgebärenden ungefähr 20, bei Mehrgebärenden etwa 12 
Stunden, die Äustreibungsperiode bei Erstgebärenden nicht ganz 2 Stunden, 
bei Mehrgebärenden nur 1 Stunde. Nun wird von der Betreffenden die erste 
Periode theils absichtlich, theils aus Unkenntniss ganz ausser Acht gelassen, 


*) Mag. f. Geburt8k. Bd. 5, S. 344 u. Bd. 6, S. 105. 


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300 


GEBURTSVERHÄLTNISSE. 


und erst wenn die heftigen Wehen zur Austreibung des Kindes eintreten, 
begeben sie sich auf Aborte oder werden an einem andern für die Geburt 
ungeeigneten Orte von dieser überrascht und sprechen dann von Sturzgeburt, 
und von der Unmöglichkeit, in diesem Zustande fähig gewesen zu sein, den 
Abtritt zu verlassen oder sich sonst an einen andern für das Geburtsgeschäft 
geeigneten Ort zu begeben. Das ist in Kindsmordsfällen der gewöhnliche 
Vorgang bei den sogenannten Sturzgeburten. 

Die Benennung Sturzgeburt verdienen eigentlich nur diejenigen Ge¬ 
burten, welche den Charakter von präcipitirten haben, das Kind von einer 
gewissen Höhe herabstürzt, so dass allfällig entstehende Verletzungen, zumeist 
Kopfverletzungen, Folgen dieses Sturzes sind, und dieser durch den ab¬ 
normen und ungewöhnlichen Geburtshergang herbeigeführt wird, für welchen 
die Betreffende natürlich nicht verantwortlich gemacht werden kann. In den 
zahlreichen anderen Fällen dagegen sind es keine Sturzgeburten, durch einen 
abnormen präcipitirten Geburtshergang bedingt, sondern der Sturz ist die 
Folge einer gewöhnlichen Geburt mit Vorhergang einer Eröffnungs- und Aus¬ 
treibungsperiode, wobei aber die Betreffende die erste Periode, sei es absicht¬ 
lich oder aus Unkenntniss, gar nicht beachtet und erst bei dem letzten Acte 
der Austreibungsperiode auf einen Abort sich begibt, oder irgendwo stehend 
von der Geburt überrascht wird. Hier trägt die Schuld am tödtlichen Sturze 
des Kindes, wenn es keine unbewusste Geburt gewesen ist, wovon im vorigen 
Artikel die Rede war, die Mutter. 

Nach diesen verschiedenen Verhältnissen ist leicht einzusehen, dass es 
für die medicinischen Experten schwierig sein kann, dem Richter die ent¬ 
sprechende Aufklärung über diese Verhältnisse zu geben, damit eine richtige 
Beurtheilung der Schuldfrage möglich ist, und sind hiezu auch noch die 
äusseren Umstände, unter welchen die Geburt stattgefunden hat, von Seiten 
des Richters sehr zu beachten. 

Dass eine Geburt im Stehen vor sich gehen kann, ist nicht mehr zu 
bezweifeln, doch wird der Act im Stehen immerhin so vor sich gehen, dass 
die Stehende mit den Händen irgend wo sich hält oder anstemmt; freistehend 
wird kaum je eine Person gebären können; sind keine Gegenstände zum An¬ 
stemmen da, so wird sie sich niederkauern. Stehgeburten kommen übrigens 
nicht bloss bei präcipitirten Geburten vor, sondern auch bei solchen, welchen 
eine Eröffnungsperiode vorhergegangen ist. Den Fall einer unter solchen 
Verhältnissen eingetretenen Stehgeburt habe ich erst kürzlich forensisch zu 
behandeln gehabt, welchen ich als Beispiel anführe: 

Eine 22jährige Person, welche schon einmal unehelich geboren hatte und als Köchin 
im Dienste stand, wurde zum zweitenmal unehelich schwanger; die Schwangerschaft nahm 
einen regelmässigen Verlauf, und auch die Geburt begann mit einer Vorbereitungs¬ 
periode in der zweiten Hälfte der Nacht. Als die Austreibungsperiode nach stattgebabtem 
Blasensprung einsetzte, begab sich die Betreffende in die Küche, brachte eine grössere 
Schüssel in die Nähe des Kochherdes nebst einem dicken Tuch, und während sie nun am 
Kochherd beschäftigt war und stehend einen schweren Kochtopf emporheben wollte, um 
ihn zu dislociren, traten heftige Wehen ein, und die Kreissende konnte nur noch stehend, 
mit den Händen auf den Topf gestützt, sich halten, als das Kind aus den Geburtstheilen 
herausgetrieben, einen Moment von der Nabelschnur gehalten wurde, die zerriss, und 
dann auf den Boden fiel. Sogleich brachte sie dasselbe in die Schüssel und bedeckte es 
mit dem dicken Tuche. Sie hatte die Geburt verheimlicht, bis man das Kind in der Küche 
fand. Die gerichtliche Untersuchung ergab, dass das Kind reif und lebensfähig war, dass 
es gelebt hat und an Erstickung starb. Von dem durch die Nabelschnur abgeschwächten 
Sturze hatte das Kind am Hinterkopfe eine rundliche röthliche Stelle von etwa 2 cm Durch¬ 
messer. Die Nabelschnur war nahe der Placenta abgerissen und hatte eine Länge von 
74 cm. Die Länge der unteren Extremitäten von den Hüften an gemessen betrug 85 cm. 
Der Damm war nicht eingerissen. 

Ob die Sturzgeburt eine präcipitirte oder eine bei einer gewöhnlichen 
Geburt, sei es mit Absicht, sei es aus Unkenntniss, herbeigeführte Sturzgeburt 
war, ergibt sich hauptsächlich aus dem Geburtsverlauf, der freilich nicht in 
allen Fällen sicher gekannt ist. 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


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Für eine präcipitirte Geburt spricht der Vorgang, dass mit dem Kinde 
zugleich auch die Nachgeburt abgeht, so dass der ganze Geburtsact in ver- 
hältnissmässig kurzer Zeit verläuft. Auch hat man schon beobachtet, dass 
in Folge der starken Wehen, wenn keine Unterstützung des Dammes stattfindet, 
dieser mitunter in grösserer Ausdehnung einreisst. Ferner setzt eine prä¬ 
cipitirte Geburt günstige Grössenverhältnisse des Kindskopfes und des Becken¬ 
durchmessers voraus. 

Selbstverständlich können dieselben Verhältnisse und Vorgänge auch 
bestehen und Vorkommen bei Sturzgeburten in Folge gewöhnlicher Geburten, 
wenn die Betreffende nur den letzten Act der Geburt beachtet und für diesen 
auf einen Abort sich begibt, oder von demselben stehend überrascht wird, 
wie in dem oben mitgetheilten Falle. 

In allen diesen Fällen wird eine Zerreissung der Nabelschnur statt¬ 
finden, und zwar in Folge des Gewichtes des aus den Geburtstheilen heraus¬ 
getriebenen Kindes. Diese so entstandene Zerreissung findet meistens dem 
einen oder anderen Nabelschnurende nahe statt und ist an den unregelmässigen, 
mehr oder weniger gezackten und schräg verlaufenden Trennungsrändern als 
Risswunde leicht zu erkennen, gegenüber einer Schnittwunde durch Scheere 
oder Messer. Ist die Nabelschnur mehr in der Mitte gerissen, so dass noch 
längere Reste am Kinde und an der Placenta sich befinden, so spricht das 
mehr für eine Zerreissung durch Hände, als für eine solche durch Sturz des 
Kindes, während die Trennung ganz nahe dem Kinde oder der Placenta die 
erstere mehr oder weniger ausschliesst. Scharfe Trennung der Nabelschnur 
spricht sozusagen immer gegen eine Sturzgeburt. 

Bei Sturzgeburten kommen dann noch besonders die Schädelverletzungen 
in Betracht, da ja bei Stehgeburten und bei den häufigen Kopfgeburten das 
stürzende Kind auf den Kopf fällt. Die Höhe des Falles wird, absehend von 
Abtrittsgeburten, bei welchen jene eine sehr verschiedene sein kann, der 
Länge der unteren Extremitäten der Gebärenden entsprechen und daher 
keine sehr bedeutende sein, doch wird hier die Beschaffenheit des Bodens 
wesentlich in Betracht kommen, ob Stein, Holz, Erde u. dgl. In den meisten 
Fällen fallen die Kinder mit dem einen oder anderen Scheitelbein auf, viel 
seltener mit dem Hinterhaupts- oder Stirnbein, und besteht die Verletzung theils 
in Quetschstellen der Beinhaut mit mehr oder weniger Blutaustritt, theils in 
Fissuren und Fracturen, welche den Ossificationsstrahlen der Knochen folgen 
und von dem Scheitelbeinhöcker ausgehend gegen die Sagittal-, Kranz- und 
Lamdanaht verlaufen. Bald ist nur eine Fissur vorhanden, bald sind deren 
mehrere miteinander in Zusammenhang stehende, welche auf eine momentane 
Compression des Schädelgewölbes von der Auffallsstelle aus hinweisen. 

Viel bedeutendere Verletzungen können bei Abtrittsgeburten Vorkommen, 
wo nicht blos die Auffallsstelle des Schädels fracturirt ist, sondern auch ein¬ 
zelne Seitentheile des Schädels von dem Aufschlagen derselben an die Wan¬ 
dungen der Abtrittsrohre Verletzungen zeigen. Bei Abtrittsgeburten kommen 
übrigens meistens noch andere Todesursachen in Betracht, als diejenigen durch 
Schädelverletzung. c. emmert. 

Gefängnisswesen. (Hygiene des Gefängnisswesens). 

Soweit wir in die Geschichte der menschlichen Gesellschaft znrückzablicken ver¬ 
mögen, hat sich dieselbe allezeit das Recht zugesprochen, Verstösse gegen die jeweilige 
gesellschaftliche Ordnung, gegen das jeweilig geltende Recht, an dem Thäter zu ahnden, 
zu strafen, und unter den zur Anwendung gelangenden Strafmitteln finden wir seit den 
ältesten Zeiten die Entziehung der Freiheit — das Gefängniss. 

Die ersten Gefängnisse dienen allerdings nur in den seltensten Fällen dem Vollzüge 
der Strafe, sie haben vielmehr hauptsächlich den Zweck der Sicherung des Verbrechers 
bis zur Vollstreckung des Urtheiles, das, den damaligen Rechtsanschauungen und dem 
Strafzwecke jener Zeit entsprechend, auf eine Vernichtung oder möglichst schwere Schädi- 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


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gang der leiblichen oder wirthschaftlichen Existenz des Verbrechers abzielt. Erst weit 
später, am Aasgange des Mittelalters hat das Gefängniss auch die Bestimmang, dem Straf¬ 
vollzüge za dienen, and da auch noch zu dieser Zeit die Strafe dem Verbrecher ein 
mögliuist grosses Uebel zufügen soll, entstehen jene entsetzlichen Gefängnisse, deren oft 
gegebene Schilderungen uns mit Grauen erfüllen. Erst am Ausgange des 17. und Beginn 
des IS. Jahrhunderts finden sich vereinzelt von höheren Gesichtspunkten ausgehende, 
human denkende und von der Ueberzeugung, dass die damaligen Gefängnisse nur zur 
Züchtung von Verbrechern dienten, durchdrungene Männer, von denen ein Versuch der 
Besserung dieser Zustände ausgeht (Rathsherr Peter Rentzl in Hamburg 1670; Papst 
Clemens XI. 1703). Sehr langsam, erst gegen das Ende des 18. Jahrhunderts kommt nun 
unter dem Einfluss der philantropischen Bestrebungen jener Zeit, insbesondere aber durch 
das Wirken des grossen Menschenfreundes John Howard in England (1726 — 1790) die 
Anschauung zum Durchbruche, dass das Verbrechen seinen Grund nicht ausschliesslich in 
der Individualität des Verbrechers, sondern auch in den socialen Zuständen habe, dass die 
Besserung des Verbrechers einen der Strafzwecke bilden müsse, dass die Freiheitsstrafe 
nicht zu einer langsam vollzogenen Todesstrafe, der Verbrecher während und durch die 
Haft nicht geistig und körperlich gebrochen werden dürfe. Insbesondere die Anerkennung 
des Grundsatzes: Besserung des Verbrechers ist einer der vornehmsten Strafzwecke, musste 
zur Ueberzeugung von der vollständigen Unzulänglichkeit und Untauglichkeit der be¬ 
stehenden Gefängnisseinrichtungen führen, und der Versuch, diesen Strafzweck durch be¬ 
stimmte, in den Strafvollzug eingreifende und denselben charakterisirende Massregeln zu 
erreichen, führte zur Aufstellung und Entwicklung der verschiedenen Haftsysteme, von 
denen noch späterhin ausführlicher gesprochen werden wird. Leben und Gesundheit der 
Sträflinge gewannen jetzt erst für den Staat und die Gesellschaft Interesse, man begann, 
sich mit den sanitären Zuständen der Gefängnisse zu beschäftigen, versuchte nach wissen¬ 
schaftlichen Grundsätzen dieselben zu verbessern, und so entwickelten sich die Anfänge 
einer Gefängnisshygiene. 

Gegenwärtig hat das Strafrecht fast aller europäischer und der meisten überseeischen 
Culturstaaten obige Anschauungen grundsätzlich acceptirt; allein die Durchführung einer 
auf diesen Grundsätzen beruhenden Reform des Gefängnisswesens wurde durch die grossen 

E olitischen Umwälzungen, welche dieses Jahrhundert mit sich brachte, vielfach unter¬ 
rochen und gelangte mit Rücksicht auf die grossen financiellen Opfer, welche sie er¬ 
heischt, in den meisten Staaten nur stufenweise zur Ausbildung. Dass bei der Durch¬ 
führung einer solchen Reform der Hygiene eine grosse Rolle zufällt, ist selbstverständlich 
und wurde auch allseitig anerkannt, wie überhaupt die grosse und weittragende sociale 
Bedeutung einer richtigen Lösung der Probleme des Gefängnisswesens und des Strafvoll¬ 
zuges von keinem Einsichtigen mehr geleugnet wird. Der aus der Haft körperlich ge¬ 
schwächte, krank, minder arbeitsfähig Entlassene wird selbst bei festem Willen zur Besse¬ 
rung, da ja für ihn der Kampf um das Dasein jetzt noch weit schwieriger geworden ist, 
leichter wieder dem Verbrechen verfallen, als der kräftig und gesund entlassene Ver¬ 
brecher; die Obsorge für die Gesundheit der Sträflinge ist somit nicht nur ein Postulat 
der Humanität, sondern liegt auch im Interesse der menschlichen Gesellschaft. 

Die sanitären Verhältnisse in den Gefängnissen besitzen in vielen 
Beziehungen eine grosse Wichtigkeit für die Gesellschaft. Das enge Zu¬ 
sammenwohnen so vieler Menschen in diesen Anstalten macht diese letzteren in 
hohem Grade geeignet, sich zu Seuchenherden zu entwickeln; und in der That 
wurde schon wiederholt das Uebergreifen einer in einem Gefängniss entstan¬ 
denen Epidemie auf die freie Bevölkerung beobachtet. Bekannt ist in dieser 
Beziehung die Katastrophe von Oxford im Jahre 1577, wo durch die aus dem 
Gefängnisse vorgeführten Verbrecher das Richter-Collegium und noch 300 an¬ 
dere Personen inficirt und binnen wenigen Tagen hinweggerafft wurden. 
Insbesondere der in den früheren Gefängnissen geradezu endemische Fleck¬ 
typhus hat, von einem Gefängnisse ausgehend, oft Verbreitung in der Bevöl¬ 
kerung gefunden. Die Justizpflege hat auch überall den wissenschaftlich be¬ 
gründeten Vorschlägen zur Besserung der sanitären Verhältnisse der Straf¬ 
häuser in weitestem Umfange Folge gegeben. Der Effect war eine sehr be¬ 
deutende Verminderung der Morbidität- und Mortalitätspercente in den Ge¬ 
fängnissen aller Länder. 

Trotzdem sind diese Percente selbstverständlich noch immer weit höher 
als in der freien Bevölkerung und werden es auch immer bleiben, einmal weil 
die hygienischen Bestrebungen bezüglich der Gefangenhäuser ihre Grenzen 
finden und auch finden müssen, in der Anerkennung des Grundsatzes, dass 
die Strafe für den Verbrecher immer ein empfindliches Uebel bleiben müsse, 


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weil weiters das Leben des Gefangenen ein so naturwidriges und so viele 
Gefahren für Leib und Seele in sich schliessendes ist, dass die schädlichen 
Wirkungen desselben nie ganz behoben werden können, und weil endlich die 
Verbrecher zum grössten Theile aus einer Bevölkerungsschichte s tamm en, 
welche theils schwer mit der Noth des Lebens zu kämpfen hat, theils einem 
höchst excessiven Leben ergeben ist und sonach in den Strafvollzug einen 
schon geschwächten und wenig widerstandsfähigen Organismus und den Keim 
zu zahlreichen Erkrankungen mitbringt. Was nun die Sterblichkeitspercente 
betrifft, so sind dieselben nach den Verschiedenheiten, die die einzelnen Straf¬ 
anstalten bezüglich der körperlichen Beschaffenheit der Eingelieferten (ob vor¬ 
wiegend Land- oder Stadtbewohner, industrielle Arbeiter etc.) oder der ört¬ 
lichen Verhältnisse darbieten, grossen Schwankungen unterworfen und variiren 
zwischen 0*9 und 9 0%- Speciell die österreichischen Anstalten hatten 
im Jahre 1892 im Durchschnitte 3 - 2% Sterblichkeit bei den Männer- und 
4*0% in den Weiberstrafanstalten; in der Einzelhaft sogar nur 0 - 9°/o- Wir 
werden auf die Bedeutung dieser letzten Ziffer noch bei der Besprechung der 
verschiedenen Strafsysteme zurückkommen. 

Ferner ist der durch die Statistik der Strafanstalten aller Staaten fest¬ 
gestellte Umstand von Bedeutung, dass die beiden ersten Haftjahre die 
grösste Sterblichkeit aufweisen. So fielen von den im Jahre 1892 in den 
österreichischen Strafanstalten vorgekommenen Todesfällen 49’3% auf die 
beiden ersten Haftjahre. Man wird wohl nicht fehl gehen, wenn man an- 
nimmt, diese Erscheinung habe ihren Grund darin, dass die schon kränklich 
oder schwächlich oder mit ausgesprochener Disposition zu schweren Erkran¬ 
kungen dem Strafvollzüge Zugeführten, schon in den ersten beiden Haftjahren 
dem schädigenden Einfluss der Haft erliegen und dadurch das Sterblichkeits¬ 
percent so hoch stellen. Auch in den nächsten beiden Haftjahren ist die 
Sterblichkeit noch sehr gross, nämlich 23'3% (in den österreichischen Straf¬ 
anstalten im Jahre 1892), so dass diese beiden Haftperioden zu den vorge¬ 
kommenen Todesfällen 72‘6% lieferten. Das 3. und 4. Haftjahr raffen eben 
von den Schwächlichen und Gebrechlichen hinweg, was sich in den beiden 
ersten Jahren noch erhalten hat. In ziemlicher Uebereinstimmung mit diesen 
Daten und den daraus gezogenen Schlüssen finden wir weiters bei der öster¬ 
reichischen Strafanstaltsbevölkerung des Jahres 1892, dass von den Verstor¬ 
benen 61‘4% bei ihrer Einlieferung als von mittelmässigem oder schlechtem 
Gesundheitszustand oder als gebrechlich bezeichnet wurden. Was das Alter 
der Verstorbenen betrifft, so befanden sich nahezu 53 °/ 0 derselben in der 
Altersclasse von 20 bis 40 Jahren, ein Percentsatz, welcher so ziemlich dem 
Percent entspricht, mit welchem diese Altersclasse in der Sträflingsbevölkerung 
vertreten ist: 65%- Die Strafanstalten beherbergen somit der überwiegenden 
Majorität nach Menschen aus dem besten und kräftigsten Lebensalter und 
selbstverständlich keine Kinder, deren hohe Sterblichkeit in der freien Be¬ 
völkerung das Sterblichkeitspercent so sehr beeinflusst; zwei Umstände, welche 
bei der Beurtheilung der Sterblichkeit in den Gefängnissen schwer ins Ge¬ 
wicht fallen. Ein Vergleich mit der Sterblichkeit derselben Altersstufe der 
freien, selbst unter schlechten hygienischen Verhältnissen lebenden Bevölkerung 
macht den verderblichen Einfluss der Haft noch deutlicher. 

So verglich Engel die Sterblichkeit in den preussischen Strafanstalten im Jahre 1861, 
welche 2*97% betrug, mit der gleichzeitigen Sterblichkeitsziffer der beim Berg- und Hütten¬ 
wesen beschäftigten Arbeiter, von denen nur 103% starben, und kommt sonach zu dem 
Schlüsse, „dass ungeachtet aller Sorgfalt und Pflege, die in den Strafanstalten den Kranken 

G ewidmet wird, die Gefangenschaft der Gesundheit fast doppelt so nachtheilig ist, als einer 
er gesundheitsge&hrlichsten Berufe und fast 3mal todbringender als derselbe.® 

Es ist eine seit langem bekannte Thatsache, dass es insbesondere die 
Tnberculose in allen ihren Formen ist, welche in den Gefängnissen am häu¬ 
figsten zur Todesursache wird. Wenn auch gewiss ein grosser Theil der an 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


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Tuberculose Verstorbenen schon erkrankt, oder wenigstens in hohem Grade 
disponirt, der Strafanstalt zagegangen ist, so mass doch zugegeben werden, 
dass die Möglichkeit einer Infection gerade in den Strafanstalten and insbe¬ 
sondere in der Gemeinschaftshaft eine sehr grosse ist und dass wohl ein 
grosser Theil der Verstorbenen erst in der Anstalt selbst erkrankte. 

Den günstigen Einfluss der Einzelhaft sehen wir auch hier wieder hervortreten, 
indem nach dem statistischen Berichte über die österreichischen Strafanstalten des 
Jahres 1892 die Zahl der Tuberculose-Todesfalle betrug: in der Gemeinschaft bei den 
Männern 288, bei den Weibern 46, bei den in der Einzelhaft befindlichen 8, oder in Per- 
centen ansgedrückt: in der Cumulativhaft entfielen 51*8°/ 0 der Todesfälle auf Tuberculoie 
bei den Männern und 62 2% bei den Weibern, dagegen nur 36 4% in der Einzelhaft 

Es steht zu hoffen, dass durch geeignete hygienische Massnahmen auch 
rücksichtlich der Tuberculose noch eine wesentliche Besserung erzielt werden 
wird. Unter den Krankheiten, welche besonders häufig in den Strafanstalten 
zur Beobachtung gelangen und die man deshalb nicht sehr glücklich Gefäng- 
nisskrankheiten genannt hat, wären ätiologisch 2 Gruppen zu unter¬ 
scheiden: solche, welche in vermehrter Zahl auftreten, weil sie durch die auf 
die Gefangenen gleichmässig ein wirkenden Schädlichkeiten bedingt sind — 
die Krankheiten der Gefangenen, und solche, an welchen die Gefange¬ 
nen bei ihrem Eintritt in die Anstalt bereits leiden, die ihre Frequenz den 
üblen Einflüssen verdanken, welchen ein grosser Theil der Verbrecher in der 
Freiheit ausgesetzt ist, oder sich aussetzt — die Krankheiten der Ver¬ 
brecher. Die Tuberculose ist wohl in beiden Gruppen vertreten. In die erste 
wären einzureihen die Inanitionskrankheiten, welche sich so häufig bei den 
Gefangenen als Folgen langer Haft und unzweckmässiger Ernährung einstellen 
und als Gefängniss-Kachexie bezeichnet werden. Eingeleitet von Ver¬ 
dauungsstörungen, welche ihrerseits wieder häufig eine Folge der langandauern¬ 
den psychischen Depression vieler Gefangenen sind, und von Durchfällen füh¬ 
ren diese Kachexien, namentlich bei Fortdauer der vegetabilischen Ernährung, 
unter fortschreitender Abmagerung zur Insufficienz des Herzens, zu Hydrop- 
sien, Lymphomen, Nephritis, chronischem Scorbut etc. 10—15% der Todes¬ 
fälle sind auf sie zurückzuführen. Als Typen der 2. Kategorie wären ins¬ 
besondere aufzuführen: die schweren Neurosen, Lues, chronischer Alkoholismus 
und psychische Störungen. Auffallend hoch ist die Zahl der Fälle von 
Hysterie bei den weiblichen Sträflingen und mit 25% des gesammten weib¬ 
lichen Sträflingsstandes gewiss eher zu niedrig als zu hoch bemessen; von 
einfacher hysterischer, psychischer Constitution bis zu schweren Lähmungen 
und Krampfzuständen finden sich hier alle Uebergänge. Aber auch Psychosen 
kommen in den Strafanstalten sehr häufig vor, betreffen meist hochgradig 
veranlagte Individuen und entstehen unter dem Einflüsse der Haft gewöhnlich 
in der ersten Zeit derselben. Es ist dies nicht eben verwunderlich, da ja 
Criminalität und Geistesstörung so häufig derselben Quelle entstammen. 

Nach ziemlich übereinstimmenden Angaben deutscher Gefangenhausäxzte erkranken 
nahezu 3°/ 0 der Gefangenen an Psychosen, ein Percentsatz, der angesichts des Umstandes, 
dass die Geisteskranken in der freien Bevölkerung Deutschlands nur 3 per mille betragen, 
als ein sehr hoher bezeichnet werden muss. In den österreichischen Strafanstalten wurden 
im Jahre 1892 auffallenderweise nur 0*34% der Gefangenen von Psychosen ergriffen. Diese 
grosse Differenz in der Häufigkeit der Geisteskrankheiten in den österreichischen und 
deutschen Strafanstalten kann jedenfalls nicht lediglich in der Verschiedenheit der Be¬ 
völkerung beider Staaten begründet sein, sie wird sich zum Theil aus dem verschieden 
strengen Massstabe, der bei der Beurtheilung zweifelhafter Geisteszustände angelegt 
wurde, erklären lassen. 

In vielen Staaten bestehen wegen dieser Häufigkeit der Psychosen bei 
den Strafanstalten eigene Irrenabtheilungen, die, obwohl räumlich gesondert 
und nicht unter der Hausordnung der Strafanstalt stehend, doch einen integri- 
renden Bestandteil derselben bilden. In neuerer Zeit wurden auch in 
Deutschland ähnliche Einrichtungen getroffen und scheinen sich dort sehr za 


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bewähren. Hervorzuheben wäre noch der rapide Verlauf, den Schwachsinns¬ 
zustände unter dem Einfluss der Haft oft zeigen — offenbar in Folge der 
ungeheuren Verarmung des Vorstellungsinhaltes in der Monotonie der Haft. 
Innerhalb weniger Monate sahen wir einen bei seiner Einlieferung raässig 
Imbecillen, der noch für zurechnungsfähig erklärt werden musste, zum Ko- 
prophagen herabsinken. 

Auch die in den Strafanstalten vorkommenden Selbstmorde und Selbst¬ 
mordversuche finden am besten hier ihre Besprechung, weil sie ja zweifellos 
in einem gewissen Connex zu den eben besprochenen Verhältnissen stehen. 
Ueber die Häufigkeit derselben, sowie über ihre Motive ist es allerdings sehr 
schwierig, verlässliche Daten zu erhalten. 

In den österreichischen Strafanstalten haben im Jahre 1892 nur 3 Gefangene durch 
Selbstmord geendet, so dass nnr 07% aller Todesfälle auf Selbstmord zurückzufiihren 
waren und nnr O018°/ 0 aller Sträflinge sich selbst den Tod gaben. Auch in den Straf¬ 
anstalten anderer Staaten haben, offenbar in Folge der Besserung aller Verhältnisse in den¬ 
selben und der humaneren Richtung in der Behandlung der Gefangenen die Selbstmorde 
eine wesentliche Abnahme erfahren. 

Es sind dem Gesagten zu Folge demnach die Gesundheitsverhält¬ 
nisse in den Strafanstalten, wenn sich dieselben auch gegen frühere Zeiten 
wesentlich gebessert haben, noch keineswegs besonders günstig zu nennen. 
Einige der Ursachen hiefür liegen im Wesen der Strafe und sind durch hy¬ 
gienische Massregeln nicht zu beseitigen, wie z. B. die tiefe psychische De¬ 
pression vieler Gefangenen, die erzwungene Abstinenz vom normalen sexu¬ 
ellen Verkehr etc. etc. Aufgabe der Gefängnisshygiene ist es aber, die übrigen 
auf die Gefangenen einwirkenden Schädlichkeiten, soweit dieselben nicht im 
Rahmen des gesetzlich normirten Strafvollzuges liegen, so viel als möglich 
zu beseitigen. Dieses kann nur durch die sorgfältige Befolgung aller durch 
die Hygiene im Allgemeinen aufgestellten Grundsätze geschehen. Die Gefan¬ 
genen sind von Haus aus keine anders organisirten Menschen, als die Freien, 
sie reagiren gerade so auf die ihre Constitution treffenden Schädlichkeiten, 
nur dass sich diese letzteren im Gefangenhause summiren. Die Bedingungen 
für das körperliche und geistige Gedeihen, ausgedrückt in der Beschaffenheit 
von Luft, Boden, Wasser, Wohnung, Ernährung, Kleidung, Beschäftigung etc., 
sind bei den Gefangenen im Grunde genommen dieselben, wie für die freie 
Bevölkerung, und die Hygiene hat nur diese Bedingungen dem Strafvollzüge 
soweit als thunlich anzupassen. 

Was zunächst die bauliche Anlage der Gefängnisse betrifit, so 
haben im Allgemeinen die Grundsätze der Bauhygiene auf dieselbe An¬ 
wendung. Grundsätzlich sollte die Unterbringung von Gefängnissen in nicht 
für diesen Zweck eigens hergestellten Gebäuden, alten Klöstern, Castellen, 
Festungen u. s. w., wie dies noch vielfach der Fall ist, ausgeschlossen sein. 
Für die Anlage einer neuen Anstalt sollte eine möglichst freie, hohe Lage 
auf durchlässigem, nicht morastigem Boden, nicht in unmittelbarer Nähe 
einer Stadt oder grösserer Ansiedlungen gewählt werden. Die Nähe eines 
grösseren Wasserlaufs ist erwünscht. Für einwandfreies Trinkwasser in 
ausreichender Menge ist vorzusorgen, und bei Berechnung des für die Anstalt 
überhaupt erforderlichen Wasserquantums auf die Möglichkeit einer aus¬ 
giebigen Spülung Bedacht zu nehmen. Das für die Anstalt in Aussicht ge¬ 
nommene Terrain ist gleich möglichst gross zu proponiren, um landwirt¬ 
schaftliche Betriebe auf dem Anstaltsgrund durch einen Theil der Sträflinge 
ausführen und die Nahrungsmittel für die Anstalt zum Theil selbst erzeugen 
zu können, eventuell ist die Anlage von Rieselfeldern in Betracht zu ziehen. 

Wichtig ist das Verhältniss der bebauten zur nicht bebauten Boden¬ 
fläche, es muss für grössere bepflanzte Höfe, womöglich für eine Gartenanlage 
Sorge getragen werden. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 20 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


Bezüglich der Grösse der Anlage sollte dieselbe für höchstens 500 und 
mindestens 200 Gefangene berechnet werden. Grössere Anlagen sind schwer 
za übersehen und der erziehliche Einfluss der Beamten auf die einzelnen 
Häftlinge und die so nothwendige Individualisirung in der Behandlung der¬ 
selben kaum mehr zu erreichen. Kleine Anstalten sind wegen der Kosten 
der Bauaulage zu vermeiden. Was die innere Einrichtung der Gefäng- 
nissräume betrifft, so richtet sich dieselbe zum Theile nach dem in Anwen¬ 
dung kommenden Strafsystem. Gegenwärtig haben die grösseren Strafanstalten 
gewöhnlich neben einer grösseren Anzahl von Einzelzellen Räume für die 
gemeinschaftliche Haft, nämlich Schlaf- und Arbeitssäle. Die Einzelzellen 
sind in Flügeln, welche radienartig in einer grossen Centralhalle zusammen- 
laufen, untergebracht. Sowohl die Centralhalle als die einzelnen Flügel sind 
in den einzelnen Stockwerken nicht untertheilt, sondern bilden ihrer ganzen 
Höhe nach einen Raum und haben Oberlicht. Der Zugang zu den einzelnen 
Zellen findet nur auf schmalen eisernen Gängen und Stiegen statt, welche 
auf der inneren Seite der Flügel angebracht sind. Es entsteht so in der 
Mitte der ganzen Anlage und in den Achsen der Flügel ein sehr grosser 
Luftraum, der durch Oberlicht gut beleuchtet ist und von der Centralhalle 
aus einen sehr guten Ueberblick über sämmtliche Zellen gestattet. Nach 
diesem System sind die meisten der neueren Strafanstalten gebaut. 

In jeder Anstalt sollte ein eigener, von den übrigen Bauten möglichst 
abgesonderter und baulich seinem Zwecke entsprechend angelegter Spitals- 
tract vorhanden sein, welchem die freieste und sonnigste Lage zuzuweisen 
wäre. Der Belagraum des Spitales sollte mindestens für 5°/o des gesammten 
täglichen Sträflingsstandes berechnet sein; abgesonderte Räume für Infections- 
krankheiten und für Geisteskranke sind unbedingt erforderlich, die Einrich¬ 
tung von 1 bis 2 Tobzellen sehr nothwendig. 

Von grösster Wichtigkeit sind die räumlichen Verhältnisse der Deten- 
tionsräume. Die Einzelzelle, in welcher die Gefangenen Tag und Nacht ver¬ 
bleiben, soll mindestens 25 kbm Luftcubus besitzen, und zwar bei einer Höhe 
von 3 Metern mindestens. 

Dieses Ausmass ist das geringste, unter welches bei der baulichen An¬ 
lage nicht mehr herunter gegangen werden sollte. Berücksichtigt man, wie 
viele Gegenstände, Arbeitsutensilien u. s. w. in der Einzelzelle untergebracht 
sind, so verringert sich der freie Raum ohnehin sehr beträchtlich. Die 
Ministerialverordnung für die österreichischen Strafanstalten vom 28. Juni 
1876 bestimmt für die Einzelzelle sogar 35 kbm Luftcubus. Für die Einzel¬ 
schlafzelle, in welcher der Gefangene nur die Nacht zubringt, während er 
tagsüber in Gemeinschaft arbeitet, wird ein niedrigeres Ausmass, 14 bis 16 kbm, 
zugestanden werden können. In der Gemeinschaftshaft sind für die Schlafsäle 
mindestens 16 kbm Luftcubus auf einen Gefangenen zu berechnen; für die 
Arbeitssäle sind allgemein gütige Masse schwer zu bestimmen, da sich die¬ 
selben zum Theil nach der Arbeit richten sollen, doch sollten 6 bis 8 kbm 
Luftcubus mindestens auf einen Arbeiter entfallen. 

Dass hiemit den Anforderungen für die Luftbeschaffenheit noch nicht 
genügt ist, sondern auch für entsprechende Lufterneuerung durch Ventilation 
Sorge zu tragen ist, ist selbstverständlich. In der Einzelzelle wird eine ent¬ 
sprechend grosse Fensteröffnung verlangt werden müssen; dieselbe soll 10 w 
betragen und mindestens 2 m über dem Boden angebracht sein; das Fenster 
soll nach oben und innen aufzuklappen sein. In der Einzelzelle wird diese 
Ventilation in den meisten Fällen genügen und eine centrale Ventilations¬ 
anlage überflüssig werden, doch ist diese, da auch Centralheizung eingeführt 
werden muss, unschwer herzustellen und mit der Heizung zu verbinden. In 
den Schlaf- und Arbeitssälen der Gemeinschaftshaft ist aber eine grössere 
Ventilationsanlage unerlässlich und auch hier am besten mit der Heizung 
in Verbindung zn setzen. 


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GEFÄUGNISSWESEN. 


307 


Die letztere wird in den grösseren Gefängnissen, insbesondere in den 
Zellengefängnissen, unbedingt durch eine centrale Anlage besorgt werden 
müssen, und sind die verschiedenen Systeme zulässig. Am meisten wird die 
Warmwasserheizung empfohlen, da dieselbe am gleichmässigsten die in den 
weiten Flügeln der Anstalt zerstreut liegenden Räume mit Wärme versorgt, 
während die Luftheizung häufig sehr ungleichmässig wirkt. Ueberdies bilden 
die Kanäle der Luftheizung eine ausgezeichnete Brutstätte für Ungeziefer, 
aus welcher dasselbe kaum auszurotten sein wird. 

Auch die Frage der künstlichen Beleuchtung, insbesondere der Arbeits¬ 
räume ist von Wichtigkeit, weil die Verschlechterung der Luft durch die 
Verbrennnngsproducte der Lichtquelle möglichst vermieden werden soll. Des¬ 
halb ist das Petroleumlicht, das diesen Fehler am meisten an sich träjgt, 
möglichst zu vermeiden. Für grössere Anstalten wird es meist leicht möglich 
sein, Gaslicht oder elektrisches Licht selbst zu erzeugen, und wäre dieser 
Beleuchtungsmodus dann allerdings der beste. 

Die Beseitigung und Unschädlichmachung der Abfall Stoffe und 
Spülwässer ist eine weitere hochwichtige sanitäre Massnahme. Das hiezu 
geeignete Verfahren wird sich auch hier nach den Einrichtungen des Ge¬ 
fangenhauses zu richten haben. In der Cumulativhaft sind Closete mit 
Wasserabschluss und reichlicher Spülung anzulegen, dieselben aber mög¬ 
lichst an einer mehr abgesonderten Stelle der Anstalt zu vereinigen. In den 
gemeinschaftlichen Schlafsälen wird zu ähnlichen Einrichtungen gegriffen 
werden müssen. In der Einzelhaft empfiehlt sich mehr ein portatives System, 
und scheinen die in vielen Strafanstalten, so auch in Stein, in Anwendung 
stehenden folgenden Einrichtungen ihrem Zwecke sehr gut zu entsprechen. 

In jeder Einzelzelle ist in der gegen den Gang gerichteten Wand eine Nische an¬ 
gebracht, die einen grösseren eisernen Topf enthält. Die Nische ist nach innen gut 
schliessbar, enthält ein Gef&ss mit einem Desinfectionsmittel und hat einen Ventilations¬ 
schlauch, der in den nächsten Kamin oder ins Freie mündet; sie ist aber auch von aussen, 
vom Gange aus zugänglich, und von hier aus wird jeden Morgen durch einen Sträfling der 
Topf entfernt und in der in jedem Stockwerk eines jeden Flügels befindlichen Spülzelle 
entleert und gereinigt Der Insasse der Zelle kann sonach jede einzelne Entleerung sofort 
selbst desinficiren, was bekanntlich die sicherste und beste Desinfection darstellt. Als 
Desinfectionsmittel wird hiebei vielfach Torfmull verwendet, welchem jedoch zwar eine 
grosse Desodorirungs-, aber nur eine schwache oder gar keine Desinfections-Wirkung zu¬ 
kommt. 

Betreff der weitereo Beseitigung der Abfallstoffe wird es wohl nur selten 
möglich sein, die Anstalt in ein bestehendes Canalisationssystem einzufügen. 
Wo es geschehen kann, ist dieser Modus zu wählen. Wo dies nicht möglich 
ist, wäre das Tonnensystem den anderen Methoden vorzuziehen. Dasselbe 
ist auch in den Zellengefängnissen, wo unter den Spülzellen je eines Flügels 
eine Tonne aufgestellt wird, leicht durchführbar. Der Inhalt der Tonnen 
kann zur Beschickung von Rieselfeldern, Bereitung von Kunstdünger u. s. w. 
verwendet werden und zwar zweckmässig durch die Anstalt selbst. 

Ferner ist in jeder Anstalt auf die Anlegung einer entsprechenden 
Badeeinrichtung Bedacht zu nehmen und soll dieselbe neben Wannen¬ 
bädern, kalten und warmen Douchen, womöglich ein Dampfbad enthalten. 

Neben diesen, die bauliche Anlage und Einrichtung der Strafanstalten 
betreffenden hygienischen Massnahmen, kommt die grösste Bedeutung für die 
Gesundheit der Gefangenen der Ernährung derselben zu. Sie bildet wie 
die wichtigste, so auch die schwierigste Aufgabe der Gefängnisshygiene. 

Die unzweckmässige, allen Gesetzen der Ernährung widersprechende, 
im besten Falle auf die Stillung des Hungergefühls ausgehende Verpflegung 
der Gefangenen in den früheren Gefängnissen war die Grundursache der un¬ 
günstigen Gesundheitsverhältnisse und der hohen Sterblichkeit in denselben. 
Freilich ist es überhaupt noch nicht allzu lange her, dass wir über die Ge¬ 
setze des Stoffwechsels im menschlichen Körper und über rationelle Ernäh- 

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GEFÄNGNISSWESEN. 


rung desselben auf wissenschaftlicher Forschung beruhende Kenntnisse be¬ 
sitzen. Erst die grundlegenden Arbeiten von Pettenkofer’s und von Voit’s, 
sowie Rubner’s Forschungen über die Ausnützung der Nahrungsmittel im 
menschlichen Körper haben uns in den Stand gesetzt, zweckentsprechende 
Vorschriften über eine Ernährung zu geben, welche, wie es bei den Gefan¬ 
genen geschehen soll, den Körper durch einfache und zugleich billige Nahrungs¬ 
mittel in einem stofflichen Gleichgewicht zu erhalten und ihn zu einer ent¬ 
sprechenden Arbeitsleistung zu befähigen vermag. Den insbesondere von 
v. Voit diesbezüglich gestellten Anforderungen über die Menge und Art der zu 
verabreichenden Nährstoffe ist auch seitens der Staatsverwaltung überall in 
liberalster Weise entsprochen worden, und die Menge der gereichten Nähr¬ 
stoffe muss heute fast überall als eine zureichende bezeichnet werden. Die 
Schwierigkeiten einer rationellen Gefängnisskostnorm bestehen aber noch 
immer in der richtigen Auswahl und Mischung jener Nahrungsmittel, welche 
dem geforderten Gehalt an Nährstoffen entsprechen. 

Voit hat bekanntlich als Norm aufgestellt: eine tägliche Zufuhr von 118 g Eiweiss, 
56 g Fett und 500 g Kohlenhydrate für einen arbeitenden, männlichen Gefangenen mittel- 
massiger Constitution, und 85 g Eiweiss, 30 g Fett und 300 g Kohlenhydrate für einen nicht 
arbeitenden Gefangenen. Aus financiellen Gründen ist die Gefängnisskost eine überwiegend 
vegetabilische und war es früher ausschliesslich. Die geforderte Menge von 500 g Kohlen¬ 
hydraten, die übrigens Voit selbst als das Maximum der Kohlenhydratzufuhr bezeichnet, 
sind jedoch in den verschiedenen vegetabilischen Nahrungsmittel in sehr verschiedener 
Menge derselben enthalten. Wählen wir beispielsweise als Vertreter der eigentlichen Amy- 
lacea das Weizenbrot und den Reis, als Vertreter der Leguminosen die Erbsen, weitere 
wegen ihrer ausgedehnten Anwendung als Nahrungsmittel die Kartoffel, endlich für die 
sogenannten grünen Gemüse die gelbe Rübe, so finden wir die geforderten 500 g Kohlen¬ 
hydrate in 934 g Weizenbrot mittelfeiner Sorte, in 640 g Reis, in 862 g Erbsen, aber erst 
in 2293 g Kartoffeln und erst in über 4000 g gelben Rüben enthalten. In den 934 g Weizen¬ 
brot wären auch 127 g Eiweiss und nahezu 50 g Fett enthalten; die 640 g Reis würden 
aber nur 60 g Eiweiss und gar kein Fett, die 862 g Erbsen wohl überschüssiges Eiweiss, 
nämlich 160 g 1 aber ebenfalls kein Fett, die ohnehin schon sehr grosse Menge Kartoffel 
aber nur 44 g Eiweiss ohne Fett und die 4000 g gelbe Rüben erst 60 g Eiweiss und eben¬ 
falls kein Fett ergeben. 

In ähnlicher Weise verhalten sich die meisten vegetabilischen Nahrungsmittel Mit 
Ausnahme des Weizenmehles enthält somit keines derselben die entsprechende Menge Ei¬ 
weiss und Fett. Da der fehlende Fettbedarf leicht hinzugefügt werden kann, so handelt es 
sich hauptsächlich um den Ersatz des fehlenden und hochwichtigen Eiweissquantums. 

Die vegetabilischen Nahrungsmittel haben aber ferner noch den Nachtheil, abgesehen 
von der ungenügenden Menge Eiweiss, die sie enthalten, dass selbst die erforderliche Menge 
Kohlenhydrate nur bei einem sehr grossen Volum der Kost gereicht werden kann; bei 
einigen derselben übersteigt dieses Volum zweifellos die Aufnahmsfähigkeit der mensch¬ 
lichen Verdauungsorgane und ist selbst bei den mindest voluminösen, dem Weizenbrot und 
Reis, ein nur von wenig Individuen bewältigbares. Kurz, „die Ertragbarkeit“ nach Rübker, 
der darunter die somatischen Empfindungen nach Aufnahme der Nahrung ohne Rücksicht 
auf die Resorbirbarkeit und Ausnützbarkeit versteht, ist bei der vegetabilischen Kost eine 
geringe. Hiezu kommt noch, dass durch die bei allzureichlicher Ernährung mit Amyl- 
acen im Darme entstehenden Gährungsprocesse auch eine vermehrte Peristaltik des 
Darmes hervorgerufen wird, welche die Ingesta noch rascher und mit noch grösseren 
Verlusten für die Resorption wieder aus dem Darme entfernt, und dass bei längerem 
Bestand dieser Gährungsprocesse Diarrhöen und Darmkatarrhe entstehen, welche bei dem 
gewöhnlich ohnehin geringen Körperbestand der Gefangenen von den bedenklichsten 
Folgen sind. 

Endlich besteht bei den vegetabilischen Nahrungsmitteln ein sehr grosser Nachtbeil 
in dem Umstande, dass von ihrem ohnehin geringen Eiweissgehalt ein grosser Theil nicht 
resorbirt wird und mit dem Kothe vollständig unausgenützt den Organismus wieder ver¬ 
lässt. Dieser Ehveissverlust durch mangelhafte Ausnützung ist bei vielen Vegetabilien ein 
sehr grosser und beträgt, um bei den früheren Beispielen zu bleiben, nach Rubner bei Brot 
der verschiedenen Sorten 20 bis 30%, bei Reis 20 4%, bei Erbsen 17*5%, bei Kartoffeln 32*2% 
und bei gelben Rüben sogar 39-0% des Eiweissgehaltes. 

Es ist somit klar, dass wir dem Organismus Ersatz für das in den Vegetabilien in 
unzureichender Menge vorhandene und für seine ungestörten Functionen so nothwendige Ei¬ 
weiss bieten müssen, dass wir der Nahrung einen sogenannten „Eiweissträger“ hinzufügen 
müssen. Der beste Eiweissträger ist das frische Fleisch, ausserdem Milch, Käse, Kleber etc. 

Es ist nun Sache einer rationellen Kostnorm, das Verhältnis zwischen vegetabilischem 
und animalischem Eiweiss herzustellen, das täglich in der Nahrung gereicht werden soll 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


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Bestimmte, überall gütige Speisenormen lassen sich aber mit Rücksicht auf die in den ver¬ 
schiedenen Gegenden leichter oder schwerer zugänglichen Arten vegetabilischer Nahrungs¬ 
mittel und mit Rücksicht auf die landesübliche Ernährungsweise, der auch die Gefangenen¬ 
kost möglichst nahe kommen soll, nicht aufstellen. Es wird aber je nach der zur Zeit 
gereichten vegetabilischen Kost das fehlende Eiweiss und Fett zu ergänzen sein. Das Maxi¬ 
mum von Brot, welches gegeben werden kann, soll nach Rubner nicht 750 g übersteigen. 
Aus der Brotration und den übrigen zur Zeit benützten Vegetabilien ist der Eiweissgehalt 
leicht zu berechnen und so auch die zur Completirung des Eiweissbedarfes nöthige Menge 
der Eiweissträger zu bestimmen. So wird man, wenn Leguminosen gegeben werden, den 
Eiweissträger nahezu ganz entbehren können, wird denselben aber in vermehrtem Masse 
der Kost zusetzen müssen, wenn überwiegend sogenannte grüne Gemüse gereicht werden. 

Heutzutage bekommen fast in allen Strafanstalten die Gefangenen 2- bis 3mal 
wöchentlich frisches Fleisch in einem allerdings sehr wechselnden, zwischen 100 und 200 g 
schwankenden Ausmasse. Aber insbesondere die Verwendung von Milch und Käse zu 
diesem Zwecke wäre in weit grösserem Umfange, als bisher üblich, empfehlenswerth; 
speciell der Käse, der ja überall billig zu beschaffen wäre und nach den neuesten Unter¬ 
suchungen auch die Ausnützung des vegetabilischen Eiweisses sehr fördert. Auch die in vielen 
Ländern sehr billigen minderwerthigen Fischsorten werden mit Vortheil angewendet werden 
können, wie es übrigens in mehreren Staaten schon geschieht. Voit empfiehlt, die dem 
Fleische beifallenden Knochen unter hohem Drucke auszusieden, wodurch sowohl eine 
Leim gebende Substanz, als auch reichlich Fett in die Brühe übergeht, welch letztere dann 
zur Bereitung anderer Speisen verwendet werden könnte. 

Mit der richtigen Auswahl der Nahrungsmittel ist aber die Frage der 
Ernährung der Gefangenen noch nicht gelöst. Ein sehr grosser Fehler der 
Gefängnisskost, wie sie heute üblich ist, liegt in ihrer Monotonie und Reiz¬ 
losigkeit. Es ist nicht immer ganz richtig, dass Hunger der beste Koch ist. 
ln Strafanstalten kann man es sehen, dass der Gefangene, trotzdem er hungrig 
ist, die Vorgesetzten Speisen nicht essen kann, weil er sich an ihnen „ab¬ 
gegessen“ hat, dass er trotz Hungers beim blossen Anblick der Kost und 
durch ihren Geruch Brechneigung, Würgen, selbst sogar Erbrechen (das so¬ 
genannte Erbrechen mit reiner Zunge) bekommt und absolut nicht im Stande 
ist, die Nahrung zu sich zu nehmen. Auch die fast ausschliessliche Breiform, 
in welcher die Kost gereicht wird, trägt zu dem Ekel und Widerwillen sehr 
viel bei und hat überdies den Nachtheil, dass in Folge der geringen Kau¬ 
bewegungen auch eine sehr geringe Einspeichelung der Speisen erfolgt, was 
namentlich bei stärkemehlhaltigen Nahrungsmitteln deren Verdauung und 
Ausnützung beeinträchtigt. 

Rubner äussert sich über die Folgen der Monotonie wie folgt: „Die Abneigung gegen 
monotone Kost hat ihre weitere Berechtigung noch darin, dass gleichmässige Kost — 
namentlich vegetabilische — häufig zu Darmbeschwerden Veranlassung gibt. Es büden 
sich Gährungsprocesse aus, welche immer lebhafter werden, insoferne, als jeder nach¬ 
folgende Darminhalt an den Wandungen bereits jene Keime vorfindet, welche unter den 
gegebenen Bedingungen am besten sich entwickeln. Dadurch werden die Gährungen immer 
lebhafter, bis es zur wirklichen Erkrankung des Darmes kommt/ 

Auch die vollständige Reizlosigkeit der Gefängnisskost, die fast aller 
Genussmittel entbehrt, ist ein schwerwiegender Uebelstand. Allerdings tragen 
die Genussmittel zur eigentlichen Ernährung nicht direct bei, wohl aber in- 
direct, indem sie die Aufnahme der Speisen erleichtern und überdies durch 
ihren Einfluss auf das Nervensystem die Verdauung derselben befördern. „Die 
Genussmittel machen die Nahrungsstoffe erst zu einer Nahrung“, sagt Voit. 

Endlich ist aber auch eine eingehende Individualisirung in der Kost 
der Gefangenen erforderlich. Es ist geradezu widersinnig, so vielen Menschen 
ohne Rücksicht auf ihre Constitution oder Grösse, ihr Alter, ihre Arbeits¬ 
leistung, ihre Muskelentwicklung u. s. w., kurz ohne Rücksicht auf ihr Nahrungs- 
erforderniss und eventuelle Gebrechen, die gleiche Nahrung in gleicher Form 
zu reichen. Hier sollte dem Arzte vollkommen freie Hand gelassen werden. 
Auch dieser Forderung wird in der Einzelhaft leichter entsprochen werden 
können. Daneben sollten periodische Wägungen der Gefangenen obligatorisch 
gemacht werden. Wenn auch bei dem gewöhnlich sehr grossen Wassergehalt 
der Gewebe der Gefangenen die Wage allein zur Bestimmung des Ernäh- 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


rungszustandes nicht ausreicht, so gestattet doch die Wägung in Verbindung 
mit den sonstigen Ergebnissen der ärztlichen Untersuchung ein richtiges 
Urtheil über eine eventuelle Verminderung des Ernährungszustandes der 
Gefangenen, und ist dann durch eine Erhöhung oder Verbesserung der Kost 
oder durch Verminderung der Arbeitsleistung Abhilfe möglich, bevor der 
Organismus zu sehr geschädigt ist. 

Neben diesen beiden Haupterfordernissen für die Gesundheit der Ge¬ 
fangenen, der richtigen Ernährung und der baulichen Anlage der Anstalten, 
kommt den übrigen Einrichtungen eine geringere Bedeutung zu. 

Die Kleidung, an deren Uniformität aus begreiflichen Gründen fest- 
gehalten wird, erfordert für den Gefangenen keine weiteren Eigenschaften 
als für einen anderen Arbeiter, nur ist auf das notorisch grosse Wärme- 
bedürfniss der Gefangenen Rücksicht zu nehmen, ebenso auf eventuelle frühere 
Gewohnheiten bezüglich wärmerer Unterkleider u. s. w., weil sich sonst leicht 
Rheumatismen entwickeln können. 

Bezüglich der Lagerstätten ist auf ein eigenes Bett für jeden Ge¬ 
fangenen unbedingt zu dringen. Die gemeinschaftlichen Schlafstellen, soge¬ 
nannte Pritschen, wie sie sich noch heute in einzelnen Strafanstalten, ja 
sogar in Untersuchungsgefängnissen finden, sind unbedingt zu beseitigen and 
zwar nicht nur aus hygienischen Gründen, sondern auch aus Gründen der 
Sittlichkeit. Es ist geradezu eine Verleitung zur Unzucht, wenn man junge 
Leute, denen der normale sexuelle Verkehr entzogen ist, halb entkleidet in 
so nahe Berührung mit einander bringt, wie es auf diesen „Pritschen“ ge¬ 
schieht. Auch gross und breit genug soll das Bett sein, denn der Gefangene, 
der tagsüber tüchtig gearbeitet hat, hat auch das Recht, seinen Körper Nachts 
in einer bequemen, nicht durch die Mängel der Lagerstätte erzwungenen Lage, 
ausruhen zu lassen. 

Dass auf die peinlichste Reinlichkeit nicht nur in der ganzen An¬ 
stalt, sondern auch bei den Gefangenen gesehen werden soll, ist selbstver¬ 
ständlich und bedarf keiner Begründung. Heutzutage findet man auch in 
vielen gut geleiteten Anstalten eine Sauberkeit und Nettigkeit, welche, so wie 
sie natürlich zur Erhaltung der Gesundheit beiträgt, auch einen nicht zu 
unterschätzenden erziehlichen Einfluss auf die Gefangenen ausübt. Behufs 
Pflege der körperlichen Reinlichkeit ist neben Sorge für Bäder — jeder Ge¬ 
fangene sollte im Winter mindestens lmal, im Sommer 2mal monatlich, ein 
Bad erhalten — den Gefangenen eine ausgiebige Waschung am Morgen vor 
der Arbeit und am Abend nach derselben, bei staubiger Arbeit auch vor dem 
Essen, zu ermöglichen. Die Waschapparate mit laufendem Wasser sind die 
vom hygienischen Standpunkte einzig zulässigen. 

Eine grössere Wichtigkeit kommt der Beschäftigung der Gefan¬ 
genen zu. Nach den modernen Gesetzen über den Strafvollzug ist die 
Zwangsarbeit der Gefangenen überall eingeführt und gewiss auch vom hygie¬ 
nischen Standpunkte nur zu billigen, da die durch die Arbeit hervorgerufene 
Muskelthätigkeit, so wie sie die Ausnützung der Kost fördert, auch dem 
allgemeinen körperlichen Zustande des Gefangenen dienlich ist. 

Einer Ueberanstrengung der Gefangenen sollte allerdings durch die 
ärztliche Controle der Arbeit vorgebeugt werden; ein Ausmass von 10 bis 11 
Stunden Arbeitszeit mit den entsprechenden Unterbrechungen (Mahlzeit, 
Spaziergang etc.) dürfte im Allgemeinen entsprechend sein. 

Was die verschiedenen Arbeitszweige anbelangt, so sollte das Bestreben 
zunächst dahin gehen, möglichst alle Erfordernisse der Anstalt durch die 
eigene Arbeit zu decken. Hiebei werden schon viele Gefangene im Freien 
bei landwirthschaftlichen Betrieben Verwendung finden können — eine Arbeit, 
die für die Gesundheit der Gefangenen von wohlthätigstem Einflüsse ist, der 
abwechselnd nach einem gewissen Turnus alle Gefangenen zuzuweisen wären 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


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and die von Kibn sehr passend als „die Badecur der Gefangenen“ bezeichnet 
wurde. Auszuschliessen wären nur jene Betriebe, welche durch mechanische 
oder chemische Verunreinigung der Luft von schädlichen Folgen für die Ge¬ 
fangenen sein könnte. Bei der Zuweisung der Gefangenen an die einzelnen 
Betriebe sollte auch die Stimme des Anstaltsarztes gehört werden. 

Im Allgemeinen bestimmt der Entwurf des Gesetzes über den Strafvollzug im 
deutschen Reiche, dass n auf die Kenntnisse, die Lebensgewohnheiten, billige Wünsche, das 
spätere Fortkommen und die Gesundheit der Gefangenen Rücksicht zu nehmen sei“. — 
In den letzten Jahren wurde in Oesterreich die Verwendung von Sträflingen zur Arbeit 
bei den Wildbach Verbauungen im Hochgebirge versuchsweise durchgeführt, und zwar mit 
sehr gutem Erfolge. Der Gesundheitszustand dieser Gefangenen war trotz sehr an¬ 
strengender Arbeit ein im Ganzen recht befriedigender, und die durch diese Massregel 
nebenbei erzielte theilweise Evacuirung der betreffenden Anstalten kam auch den in der 
Anstalt verbliebenen zu Gute. Bemerkenswerth ist, dass bei diesen Sträflings-Abtheilungen, 
von denen einige wochenlang in einem einsamen Hochthal arbeiteten, und wobei 60 bis 70 Ge¬ 
fangene nur von ö bis 7 Aufsehern überwacht wurden, die Disciplin durchwegs eine 
musterhafte war, die Gefangenen auch die schwersten Arbeiten bereitwillig ausführten, und 
die betreffenden Abtheilungen auch wiederholt bei Katastrophen, welche die freie Be¬ 
völkerung betrafen, in die Rettungsaction mit grösstem Eifer und Erfolg eingriffen. 

Zur Aufrechthaltung der Disciplin in den Gefangenhäusern sind ge¬ 
wisse, vom Leiter der betreffenden Anstalt zu verhängende Disciplinarstrafen 
leider unerlässlich. Die körperliche Züchtigung, früher in grossem Umfange 
geübt, ist jetzt fast überall aufgehoben, und so bestehen die Disciplinarmittel 
heutzutage in Ertheilung eines Verweises, Entziehung von Begünstigungen, 
bei dem progressiven Haftsystem in Rückverweisung in eine niedere Abtei¬ 
lung, Entziehung des Arbeitsverdienstes, Anhaltung in der Dunkel-Zelle bei 
hartem Lager und endlich in Kostschmälerungen. Gerade das letztere Straf¬ 
mittel hat aber in hygienischer Beziehung seine grossen Bedenken und wird 
von vielen Seiten, auch von Rubneb, als absolut unzulässig bezeichnet, „denn 
es gefährdet Leben und Gesundheit in nachhaltigster Weise“. 

Allein andererseits muss zugestanden werden, dass gerade dieses Dis¬ 
ciplinarmittel bei ganz depravirten, verrohten und verkommenen Verbrechern 
fast das einzige wirksame ist. Jedenfalls sollte aber auch hier dem Anstalts- 
arzte der weitgehendste Einfluss gewahrt bleiben. 

Im Übrigen wäre der Aassprach eines der aasgezeichnetsten and erfahrensten 
Gefangenhausärzte, Beer’s, zu beachteu: „Gefangene, die sich in der Anstalt viele Strafen 
zukommen lassen, sind für mich immer geistig verdächtig gewesen, weil Individuen mit 
normalem psychischen Vermögen die richtige Einsicht in ihre Lage haben und sich den 
gegebenen Verhältnissen bald zu accomodiren lernen.“ 

Ausser den in Vorstehendem erläuterten hygienischen Grundsätzen und 
Einrichtungen kommen noch die prophylactischen Massregeln zur 
Verhütung der Verbreitung von Infectionskrankheiten in Betracht. Sie sind 
selbstverständlich im Grossen und Ganzen keine anderen, als die von der 
Gesetzgebung aller modernen Staaten in Bezug auf diese Krankheiten in An¬ 
wendung gebrachten und auch vollkommen genügend, um bei exacter und 
genauer Handhabung den Ausbruch einer Epidemie in einer Strafanstalt hintan¬ 
zuhalten. Alle diesbezüglichen Vorschriften über Isolirung der Kranken, 
Desinfection der Kleider, Wäsche, Utensilien, Dejecte u. s. w., finden auch in 
den Strafanstalten ihre volle Anwendung und bedürfen daselbst nur einer noch 
strengeren Durchführung, weil die dichte Bevölkerung dieser Anstalten und 
die geringere Widerstandsfähigkeit, man könnte sagen, die leichtere Inficir- 
barkeit ihrer Insassen die Gefahr steigern. Ein grösserer moderner Des- 
infectionsapparat sollte demnach in keiner Strafanstalt fehlen. Von besonderen 
Massnahmen wären noch zu erwähnen: die Revaccination bei allen Sträflingen 
bei ihrem Eintritt in die Anstalt, welche in den meisten Staaten obligatorisch 
ist und auch in Oesterreich durch den Ministerialerlass vom 11. Dec. 1888 
ang eordnet ist. Bezüglich der ägyptischen Augenkrankheit besteht in Oester¬ 
reich die Verordnung, dass sämmtiiche Sträflinge vierteljährlich einer genauen 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


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Untersuchung in Bezug auf Trachom-Erkrankungen unterzogen werden müssen. 
Ueber die vorgenommene Untersuchung ist ein Protocoll zu führen und das¬ 
selbe dem landesfürstlichen Amtsärzte auf Verlangen vorzulegen. Nur mit 
Rücksicht auf die Tuberculose, welche, wie wir gesehen haben, eine so grosse 
Verbreitung in den Strafanstalten findet, wären noch strengere Massnahmen 
erwünscht, so insbesondere die schon in vielen Anstalten, aber noch nicht 
überall durchgeführte Verwendung von Spucknäpfen mit flüssiger Füllung 
(Carbolwasser, Kaliumpermanganat, auch gewöhnliches Wasser) zur Verhütung 
der Verstaubung des Auswurfes. Dabei ist es aber selbstverständlich noth- 
wendig, dass alle Geiangenen bei Vermeidung strenger Bestrafung angewiesen 
werden, diese Spucknäpfe auch wirklich zu benützen und niemals auf den 
Boden zu spucken. Ferner die gründliche Desinfection der Kleider und der 
Wäsche noch arbeitender Tuberculöser vor ihrer Verwendung bei anderen 
Gefangenen, endlich die räumliche Trennung solcher Sträflinge von den 
übrigen Gefangenen bezüglich der Arbeitsräume und Schlafsäle. 

Weiter sollte der für die Erstarkung der Körperconstitution und die 
Hebung der Widerstandsfähigkeit der Geiangenen so wichtigen körper¬ 
lichen Uebungen im Freien seitens der Anstaltsorgane volle Aufmerk¬ 
samkeit zugewendet werden. 

Zur Pflege der religiösen Gefühle der Gefangenen, sowie zum Unterricht 
derselben sind in den meisten modernen Strafanstalten die umfassendsten 
Einrichtungen getroffen, die jedoch in dieser Schrift, welche hauptsächlich die 
Hygiene des Gefängnisswesens behandeln soll, eine eingehendere Würdigung 
nicht finden können. 

Es erübrigt noch, die verschiedenen Haftsysteme einer Bespre¬ 
chung zu unterziehen. 

Das älteste und auch jetzt noch vielfach gebräuchliche ist die Cumu- 
lativhaft. Die Gefangenen arbeiten tagsüber in gemeinschaftlichen Arbeits¬ 
räumen und schlafen in grösseren gemeinschaftlichen Schlafsälen. Die früheren 
Gefängnisse machten gar keinen Unterschied zwischen den einzelnen Sträf¬ 
lingen, sie wurden ganz wahllos in den einzelnen Räumen zusammengepfercht, 
nicht einmal eine Trennung der Geschlechter war durchgeführt — und es ist 
geradezu unglaublich, was in dieser Beziehung von verlässlichen Gewährs¬ 
männern berichtet wird. Gegenwärtig, wo ja schon im Strafgesetze verschie¬ 
dene Kategorien von Gesetzesverletzungen und dementsprechend auch ver¬ 
schiedene Haftkategorien aufgestellt sind, ist es ja in dieser Beziehung besser 
geworden. Aber der schwere Vorwurf, der gegen dieses System, wenn hier 
überhaupt von einem „System“ die Rede sein kann, seit langem erhoben 
wurde, dass es eine Schule für Verbrecher bildet, hat auch heute noch seine 
volle Berechtigung. 

Für die alten, ganz depravirten Gewohnheitsverbrecher hat dieser Strafvollzag auch 
nichts abschreckendes mehr; hier finden sie unter Gleichgesinnten eine gewisse Anerkennung 
ihrer verbrecherischen Eigenschaften, der grösste Verbrecher geniesst den grössten Respect 
unter seinen Mitsträflingen, die Erzählungen begangener Verbrechen und die Verabredung 
neuer bilden den gewöhnlichen Gesprächsstoff, liier fühlen sie sich unter ihresgleichen 

f anz wohl. Bei den jüngeren, noch nicht ganz verderbten Verbrechern aber wird jede 
essere Regung durch den Spott und Hohn der anderen unterdrückt, die auch jetzt noch 
nicht ganz verloren gegangene Romantik einiger Arten von Verbrechen wirkt für sie in 
hohem Grade verlockend, ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt sich 
und leider gehen auch sie bald vollständig in dieser verbrecherischen Gemeinschaft nnter. 
Bezeichnend für dieses System ist der Ausspruch eines alten Berliner Verbrechers. „Wir 
sind Spitzbuben von Profession, Plötzensee ist unser Gymnasium, Sonnenberg unsere Hoch¬ 
schule.“ *) Eine individualisirende Behandlung der Gefangenen durch die Anstaltsbeamten 
ist natürlich unter solchen Umständen fast vollständig ausgeschlossen. Kurz, der Straf¬ 
zweck der Besserung ist hier absolut nicht zu erreichen. 


*) Plötzensee und Sonnenberg sind zwei grosse preussische Strafanstalten. 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


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Ebenso schlimm steht es mit den hygienischen Verhältnissen. Das enge 
Zusammenleben, die vielfache Berührung, in die die Gefangenen untereinander 
kommen, ist an und für sich ein gesundheitlicher Nachtheil und fördert die 
Verbreitung von ansteckenden Krankheiten in hohem Grade. 

Die Uebelstände dieser Art von Strafvollzug wurden auch schon am Ende des 
vorigen und Anfang des jetzigen Jahrhunderts allgemein anerkannt, und so gross war das 
Bedürfnis nach einer Besserung derselben, dass selbst das grausamste und abscheulichste 
Strafsystem, das Anburn’sche oder Schweigssy stem, in der Hoffnung, eine Besserung 
herbeizuführen, Anklang fand, in Amerika und Europa in vielen Staaten eingeführt, aber 
gottlob bald wieder aufgegeben wurde. In der Anstalt Anburn in Amerika (gegründet 1820) 
sachte man die verbrecherische Gemeinschaft durch ein absolutes Schweiggebot zu durch¬ 
brechen. Die Gefangenen wurden Nachts in kleinen Zellen isolirt gehalten, tagsüber 
arbeiteten sie gemeinschaftlich, doch waren sie zu absolutem Schweigen verpflichtet, und 
das Mittel, durch welches dieses Sprach verbot aufrecht erhalten werden sollte und auch 
wurde, war die Peitsche. Die Aufseher hatten die Pflicht, bei jeder Verletzung dieses 
Verbots sofort dreinzuschlagen. Wie oft sie einen Unschuldigen trafen, dass die Gefangenen 
vollständig schutzlos der Willkür eines Aufsehers preisgegeben waren, that nichts zur 
Sache. Einen Erfolg erzielte man allerdings nicht, denn die Verständigung unter den Ge¬ 
fangenen erfolgte doch, aber man zog eine solche Erbitterung, einen solchen Rachedurst 
und Hass der Gefangenen gegen die Anstaltsorgane gross, dass es wiederholt zu gewalt¬ 
tätigen Eruptionen kam. Von einer Besserung der Verbrecher war selbstverständlich 
nicht die Rede, das Gefühl der Zusammengehörigkeit angesichts der gemeinsamen Pein 
nur ein um so grösseres. Auch als man später in Frankreich die Peitsche durch den 
Hunger zu ersetzen suchte und für den Bruch des Schweiggebotes Kostentziehungen ein- 
führte, erreichte man nichts als ein so rasches und bedenkliches Ansteigen der Mortalität, 
dass man diesen Versuch bald aufgab. 

Vom hygienischen Standpunkt über dieses System ein Wort zu verlieren, ist wohl 
überflüssig. 

In England suchte man durch Einführung des Classensystems die Uebelstände 
der Gemeinschaftshaft zu beheben. Man theilte die Verbrecher nach ihren sittlichen 
Qualitäten, nach der Art der Verbrechen, nach Alter u. s. w. in Classen ein, deren An¬ 
gehörige wohl unter einander in Gemeinschaftshaft standen, aber mit den Gliedern der 
anderen Classen nicht in Contact kommen sollten. Hiebei stellte es sich heraus, dass, 
wollte man genau und gewissenhaft individualisiren, immer mehr Classen nothwendig 
wurden, zuletzt wurden schon 15 unterschieden und immer noch fanden die Anstaltsorgane 
nicht gleichartige Verbrecher in einer Classe beisammen. Endlich kam man auch hier 
zur Einsicht, dass „jeder Verbrecher eine eigene Classe bildet“, und gab das System auf. 
Auch in hygienischer Beziehung bot dieses System gegenüber der Cumulativhaft keine 
Vortheile. 

Schon früher (1790) kam man in dem amerikanischen Unionstaate Pennsylvanien 
zu dem Grundsätze, dass nur vollständige Isolirung des Verbrechers ihn bessern könne. 
Er sollte ganz auf sich selbst gewiesen sein, ohne jeden Verkehr, ohne jede Beschäfti¬ 
gung, ohne jede Ablenkung sollte er Einkehr in sich selbst halten, nur der Seelsorger sollte 
ihn in seiner sittlichen und religiösen Erhebung unterstützen. 

In der von den Quäkern geleiteten Anstalt in Pennsylvanien wurde dieses System 
auch durchgeführt, und so die erste Anstalt mit Einzelhaft gegründet. Allein diese 
vollständig unthätige Einsamkeit wirkte auf die Gefangenen höchst ungünstig ein. Für 
einen grossen Theil derselben war sie absolut unerträglich, Geisteskrankheiten traten 
immer häufiger auf, und der Vorwurf grosser Grausamkeit wurde gegen dieses System 
mit Recht erhoben. Bald darauf versuchte man in Philadelphia dieses System mit der 
Modificirung einzuführen, dass an die Stelle der Ünthätigkeit die Zwangsarbeit in der 
Zelle treten sollte. Die Arbeit sollte den Gefangenen die Einsamkeit erträglicher machen, 
ihn auch sittlich heben, er sollte an geregelte Thätigkeit gewöhnt werden, und der 
Arbeitszwang sollte ihm die Schwere der Strafe fühlbar machen. 

In dieser Form hat sich nun das Sy stem der Einzelhaft von Phila¬ 
delphia aus sowohl in Amerika als in Europa immer mehr Anhänger er¬ 
worben und besteht heutzutage in den meisten Staaten als gesetzlicher Straf¬ 
vollzug. Wohl werden auch jetzt noch von vielen Seiten gegen dieses System 
Bedenken geltend gemacht. Eigenthümlicher Weise sind es gerade zwei ganz 
entgegengesetzte Vorwürfe, die gegen dasselbe erhoben werden. Die Einen 
finden auch in dieser Form die Anhaltung in der Einzelhaft zu grausam, 
die Strafe zu schwer; die Anderen sehen in der Unterbringung in einer eigenen 
Zelle zuviel Behaglichkeit und finden daher die Strafe zu leicht. Die Wahr¬ 
heit ist, dass der verkommene, depravirte, wiederholt rückfällige Verbrecher 
die Einzelhaft allerdings als eine sehr schwere Strafe empfindet, hauptsächlich 


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GEFÄNGNISSWESEN. 


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darum, weil er die Gemeinschaft mit seinen verbrecherischen Genossen ver¬ 
misst, in der er sich so wohl gefühlt hat. Diese Sorte Verbrecher soll aber 
die Strafe schwer und empfindlich treffen, und selbst wenn dieses Verfahren 
inhuman wäre, so ist zu bedenken, dass vor Allem die psychische Infection 
noch nicht ganz verdorbener Verbrecher verhütet werden soll, und dass dem¬ 
nach die Isolirung des Infectionsträgers eine absolute Notwendigkeit ist, 
geradeso wie bei den körperlichen lnfectionskrankheiten eine Isolirung durch¬ 
geführt wird, obwohl hiebei leider auch oft gegen die Gebote der Humanität 
verstossen werden muss. Für den noch besserungsfähigen, den besser ver¬ 
anlagten Verbrecher aber ist seine Absonderung von der Gemeinheit und Roh¬ 
heit der Gewohnheitsverbrecher keine Verschärfung der Strafe, sie wird von 
ihm im Gegentheil geradezu als eine Wohlthat empfunden werden müssen. 
Auch ist der Vorwurf, dass die Vereinsamung, in die der Gefangene ver¬ 
setzt wird, allzu drückend sei, nicht ganz stichhältig, denn in gut geleiteten 
Anstalten steht der Einzelhäftling in einem regen Verkehr mit den Anstalts¬ 
organen, empfängt täglich Besuche seitens der Beamten, des Arztes oder des 
Seelsorgers, bekommt Bücher u. s. w. Allerdings werden durch dieses System 
an die Anstaltsbeamten grosse Anforderungen gestellt. Andererseits sorgt die 
strenge Arbeitszucht, die in der Anstalt herrschen muss, schon dafür, dass 
nicht zu viel „Behaglichkeit“ aufkommt. 

Schwerwiegender ist der gegen das System der Einzelhaft erhobene Vorwurf, dass 
dasselbe die Gefangenen psychisch schwerer schädige und häufiger zu Geisteskrankheiten 
führe, als die Cumulativhaft. In der That sind in den ersten Zeiten auffallend viele Psychosen 
in der Einzelhaft beobachtet worden, und man hat auch ein ganz bestimmtes Krankheits» 
bild dieser „Einzelhaftpsychosen“ entworfen. Eingeleitet von psychischer Depression, 
Angstzuständen, bei denen auffällig häufig Gehörshallucinationen eine grosse Rolle spielen, 
kommt es zu tobsuchtartigen Erregungszuständen, denen ein der einfachen Melancholie 
ziemlich analoger Symptomencomplex folgt. Allein seit man die schwer nervösen oder zn 
Psychosen disponirten Gefangenen von vornherein von der Einzelhaft ausschloss, auf die 
ersten Anzeichen einer psychischen Verstimmung mehr Aufmerksamkeit verwandte und in 
solchen Fällen die .Einzelhaft unterbrach, sind auch wirklich manifeste Geistesstörungen in 
der Einzelhaft weit seltener geworden und erreichen jetzt kaum einen höheren Percentsatz 
als in der Cumulativhaft. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass eine Psychose sich in 
der Einzelhaft leichter bemerkbar machen wird, als in der Gemeinschaftshaft, wo ruhigere 
Geisteskranke leicht übersehen werden können und gewiss auch oft übersehen werden. 
Gleichwohl soll im Allgemeinen nicht geleugnet werden, dass die Einzelhaft die psychische 
Constitution der Gefangenen tiefer beeinflusst, und daher eben nicht alle zur Anhaltung 
in Einzelhaft geeignet sind, wie dies auch der internationale Gefängniss-Congress von 
Stockholm 1878 ausgesprochen hat. Auffällig bleibt immerhin das ungewöhnlich hohe 
Heilungspercent, welches diese „Einzelhaftpsychosen“ aufweisen, nämlich 70—80% und 
die Raschheit mit welcher sich gewöhnlich die Heilung vollzieht. Eine Autorität ersten 
Ranges, Gkieslnger äussert sich über diese Frage folgendennassen: „ Es scheint sicher, dass 
die strenge Einzelhaft, ohne Unterschied eingeführt, die Zahl der psychischen Erkrankungen 
erhöht, dass manche Individuen sie gar nicht vertragen. Wo indess alle Massregeln für 
die leibliche und geistige Gesundheit der Sträflinge in völlig zweckentsprechender Weise 

f etroffen sind, die Zeit der Einzelhaft nicht zu lange fortgesetzt, reichliche Bewegung im 
’reien gewährt, Gemüth und Intelligenz der Gefangenen in geeigneter Weise angeregt und 
gehoben werden, wo man zugleich stets alle Achtsamkeit auf die Erscheinungen einer 
tieferen Gemüthsverstimmung und die ersten Zeichen der beginnenden Seelenstörnng ver¬ 
wendet und der Individualität der Gefangenen so weit als möglich Rechnung trägt, da 
dürfte die psychische Gefährdung durch die Einzelhaft doch nicht so bedeutend sein.“ 

Gegenüber diesen theils nur behaupteten, theils wohl, aber nur in ge¬ 
ringerem Grade vorhandenen Nachtheilen, hat die Einzelhaft sowohl vom cri¬ 
minellen, als auch vom hygienischen Standpunkte so viele Vortheile, dass jene 
kaum in Betracht kommen. Es ist in ersterer Beziehung gewiss, dass der 
Strafzweck der Besserung fast nur in der Einzelhaft erreicht werden kann, 
sowie dass nur diese eine individualisirende Behandlung der Gefangenen 
möglich macht; die hygienischen Vortheile der Einzelhaft sind aber so auf 
der Hand liegend, dass sie eine Specificirung nicht bedürfen und äussern sich 
auch in der geringeren Sterblichkeit der Einzelhäftlinge. Es ist schon darauf 
hingewiesen worden, dass beispielsweise in den österreichischen Strafanstalten 


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hn Jahre 1892 das Sterblichkeitspercent in der Cumulativhaft 3 2% bei den 
Männer- und 4‘0% in den Weiberstrafanstalten, in der Einzelhaft nur O - 9°/ 0 
betrug. 

Wenn auch zugegeben werden muss, dass diese grosse Differenz nicht 
allein auf Rechnung der Einzelhaft zu setzen ist, da ja schon durch die noth- 
wendige Auswahl der zur Einzelhaft geeigneten Gefangenen ein besseres, d. i. 
gesünderes Material der Einzelhaft zugeführt wird, und weil bei dem Auftreten 
gewisser Erkrankungsformen die Einzelhaft unterbrochen wird, so ist doch 
gewiss noch ein grosser Theil der Erfolge dem Systeme selbst, der Isolirung 
der Gefangenen zuzuschreiben, insbesondere wenn man bedenkt, dass die 
Einzelhaft fast ausschliesslich den Beginn einer längeren Freiheitsstrafe bildet, 
und wir gesehen haben, dass gerade die ersten Haftjahre die grösste Sterb¬ 
lichkeit aufweisen. 

Eine strenge und schwere Strafe bleibt die Einzelhaft immer, und des¬ 
halb haben fast alle Staaten die Dauer der Anhaltung in Einzelhaft zeitlich 
beschränkt; in Oesterreich und Deutschland darf sie drei Jahre nicht über¬ 
steigen — andere Staaten gehen sogar bis zehn Jahre. 

Alles für und wider gegen einander gehalten, wird zugestanden werden 
müssen, dass das System der Einzelhaft hoch über allen anderen bisher be¬ 
sprochenen Systemen steht und wem, wie es vorgekommen, die grösseren 
Kosten der Einzelhaft, insbesondere der baulichen Anlagen, Bedenken ein¬ 
flössen, dem möchten wir den Ausspruch Eduard Liwingston’s in Erinnerung 
bringen: „Das Verbrechen fügt dem Staate und der Gesellschaft so grossen 
materiellen Schaden zu, dass auch das kostspieligste Gefängnisssystem, wenn 
es nur das Verbrechen und die Verbrecher mindert, sparsam zu nennen ist, 
gegenüber den billigsten, welches das Verbrechen fördert und Verbrecher 
grosszieht.“ 

Einen weiteren Fortschritt in der Art des Strafvollzuges stellt das jüngste 
Strafsystem, das sogenannte irische oder Progressiv-System, dar, dessen 
Begründer, Sir Walter Crofton, Generalinspector der Gefängnisse in Irland, 
ist In Irland zuerst eingeführt, findet es in letzter Zeit immer mehr Freunde, 
wurde auch schon in mehreren Anstalten am Continente versuchsweise ein¬ 
geführt und soll nach übereinstimmenden Mittheilungen sehr günstige Erfolge 
aufweisen. 

Es basirt auf zwei im Strafvollzüge ganz neuen Gedanken. Erstens soll 
der Gefangene es durch seine Führung während der Haft in der Hand haben, 
sich seine Situation selbst zu verbessern, die Schwere der Strafe zu mildern; 
zweitens soll der Gefangene, nicht wie es bisher der Fall ist, aus der voll¬ 
kommenen Gebundenheit seines Willens während der Haft unvermittelt bei 
Beendigung seiner Strafe in volle Willensfreiheit versetzt und allen Gefahren 
und Versuchungen des Lebens plötzlich wieder gegenüber gestellt werden, 
sondern schon während der Haft seine Besserung, seine sittliche Erstarkung 
documentiren, kurz, seinen Willen bethätigen können. 

Das System hat demnach vier Haft stufen. In der ersten steht der Gefangene in 
strengster Einzelhaft, bei schwerer Arbeit und sogar bei minderer Ernährung. In dieser 
Stufe hat er neun Monate zu verbringen, bei besonders guter Führung kann ihm ein Monat 
erlassen werden. Dann steigt er in die 2. Stufe auf. Hier besteht gemeinschaftliche Arbeit 
und Isolirung bei Nacht. Diese Stufe ist wieder in 4 Rangsclassen eingetheilt, von denen 
jede höhere dem Gefangenen mehr Begünstigungen gewährt und die er je nach seiner 
Aufführung und seiner Arbeitsleistung in verschieden kurzer Zeit durchläuft. Bei schlechter 
Führung tritt Rückversetzung in eine mindere Classe ein — ein ausgezeichnetes und sehr 
wirksames Disciplinarmittel. — Bei fortgesetzt correctem Benehmen und nach Absolvirung 
einer bestimmten Arbeit tritt der Gefangene in die 3. Stufe ein, in die sogenannte Zwischen¬ 
anstalt (intermediat Prison). Hier legt er die Sträflingskleidung ab, arbeitet ohne Aufsicht, 
findet vollkommen unbehinderten Verkehr mit der freien Bevölkerung, darf Lohndienste 
für diese verrichten, Einkäufe besorgen u. s. w. Diese Stufe ist die eigentlich charak¬ 
teristische für das irische System; in ihr soll der Gefangene zeigen, wie weit sein Wille 
zum Guten und seine Widerstandsfähigkeit gegen äussere Einflüsse erstarkt ist; hat er 


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GENÜSSMITTEL. 


sich auch hier durch längere Zeit tadellos geführt, so tritt die 4. Stufe der Haft ein, d. i. 
Beurlaubung unter Polizeiaufsicht. 

Das Aufsteigen von einer Stufe in die andere tritt nach dem Urtheile 
und den Beschluss der Anstaltsbeamten ein. Es stellt demnach auch dieses 
System grosse Anforderungen an die ethische und intellectuelle Qualität der 
Gefängnissbeamten. Vom hygienischen Standpunkte bietet es gegenüber den 
anderen Systemen nur Vortheile. 

Wir können diesen Artikel nicht schliessen, ohne mit einigen Worten 
eine Frage zu berühren, die zwar nicht direct zum Gefängnisswesen gehört, 
aber doch in innigstem Zusammenhang mit demselben steht und von grösster 
Wichtigkeit ist. Wir meinen die Obsorge für die entlassenen Sträf¬ 
linge. Wer es einmal gesehen hat, mit welch’ ungeheuren Schwierigkeiten 
ein aus der Haft Entlassener, insbesondere, wenn er den intelligenteren Kreisen 
angehört, zu kämpfen hat, um sich wieder eine Existenz zu gründen, wer 
weiss, wie oft die Unmöglichkeit, sich wieder eine Stellung zu erringen und 
ein anständiges Brod zu finden, den Unglücklichen in den Tod oder neuer¬ 
dings in’s Zuchthaus geführt hat, wird von der Nothwendigkeit, hier Abhilfe 
zu schaffen, innerlichst überzeugt sein. Auch der entlassene Verbrecher hat 
„ein Recht auf Arbeit“. — Leider ist ein thätiges Eingreifen in dieser Hin¬ 
sicht überall der privaten Wohlthätigkeit überlassen geblieben und diese, bei 
aller Mühe, die sich edle Menschenfreunde geben, absolut unzureichend. Hier 
sollte auch der Staat helfend eingreifen. J. Knapp. 

Genussmittel. Um den Bestand unseres Organismus zu erhalten, 
müsste — theoretisch — eine aus reinem Eiweiss, Fett, Kohlehydraten, Salzen 
und Wasser zusammengesetzte Nahrung genügen. Und doch würde eine 
solche jedes Reiz- und Genussmittels baare Nahrung nicht ihrem Brennwerth 
entsprechend ausgenützt, vor Allem aber nur die kürzeste Zeit ertragen 
werden. Hunde weisen eine künstlich geschmacklos gemachte Kost hart¬ 
näckig und dauernd zurück, auch wenn ihnen keine andere Nahrung gereicht 
wird. Der Mensch ist noch weit empfindlicher als das Thier; eine reizlose 
Kost erscheint ihm unerträglich; die Gewürze sind für ihn nicht mehr ein 
Genussmittel allein, sondern ein dringendes Bedürfnis. Der Mensch verlangt 
nach einer fortwährenden Abwechselung der Geschmacksreize. Die ewig 
gleichmässige Kost in Gefängnissen, Arbeitshäusern und Aehnl., die an und 
für sich, nach Qualität und Quantität der Nahrungsstoffe hygienischen An¬ 
forderungen völlig zu genügen scheint, wird — nachdem anfangs gern 
gegessen — später hartnäckig verweigert, oder, wenn aus zwingendem Hunger 
doch genossen, schlecht ausgenützt. Daher das bleiche, anämische Aussehen 
vieler Gefängnissinsassen. Gewürze oder Genussmittel erreichen dadurch, dass 
sie eine sonst gleichförmige Nahrung dem Menschen annehmbar und gut 
ausnützbar machen, eine hohe hygienische Bedeutung. Zu der Hauptnahrung 
des ärmeren Volkes, der reizlosen Kartoffelkost, gehört nothwendig ein Reiz¬ 
mittel: der allgemein getrunkene Kaffee. — Die Genussmittel und Geschmacks¬ 
reize ermöglichen aber nicht nur dem Menschen die Aufnahme der 
Speisen, sie fördern auch — durch Anregung der Secretion der Verdauungs¬ 
säfte, der Bewegungen des Magens (durch Gewürze, Bitterstoffe, durch kleine 
Mengen Alkohol, Nicotin etc.) — die Verdauung und Resorption der 
Speisen. Die meisten Genussmittel haben des Weiteren eine ausgesprochene 
antiseptische Wirkung. Die ätherischen Oele sind starke Desinficientia 
(Senföl hemmt z. B. zu 1:33000 das Bakterienwachsthum). Es können somit 
Zersetzungen des Mageninhaltes verhindert werden. — Die Hauptbedeutung 
der gebräuchlichen Genussmittel liegt jedoch in ihrer theils leicht er¬ 
regenden, theils leicht narkotischen Wirkung. Die einzelnen 
Genussmittel wirken sehr verschieden, — bei den einen überwiegt mehr die 
Erregung (Kaffee, Thee), bei den anderen die betäubende Wirkung (Alkohol); 


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GENüSSMITTEL. 


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Tabak scheint in der Mitte zu stehen. Die Genussmittel wirken auch hier 
nicht allein, oder auch nur vorwiegend, als — überflüssige — Luxusmittel; sie 
sind von hoher Bedeutung zur Anfrischung zu geistiger wie körperlicher 
Arbeit (Thee, Kaffee), zum Ertragen von Entbehrungen, von Gefahren (Schnaps 
und Tabak für den Soldaten), zur Erwärmung und Anregung bei Nässe und 
Kälte (Branntwein). Im Uebermass genommen können alle Genussmittel 
schädliche Wirkungen entfalten. Es wäre aber unverständig und undurch¬ 
führbar, deshalb die Genussmittel einfach verbieten zu wollen. Die Hygiene 
hat nur dafür zu sorgen, dass für Herstellung der verschiedenen Genussmittel 
tadellose Stoffe zur Verwendung kommen, dass bei der fabrikmässigen Her¬ 
stellung das mit den Stoffen beschäftigte Arbeitspersonal keinen Schädlich¬ 
keiten ausgesetzt ist, dass der Gebrauch eines Genussmittels für Andere 
keine schlimmen Folgen habe, und dass die verschiedenen Genussmittel nicht 
mit minderwertigen oder gar schädlichen Substanzen verfälscht in den Handel 
gebracht werden. 

Die Genussmittel lassen sich in vier Gruppen eintheilen: 

1. Die Gewürze (inclusive Salze). 

2. Die Coffein (bezw. Thein oder Theobromin) enthaltenden Stoffe. 

3. Die Alcoholica. 

4. Gewisse Alkaloide und verwandte stark wirkende Körper, zu welchen 
noch der Tabak zu zählen ist. 

1. Gewürze. Die allgemeine Bedeutung der Gewürze ist in der Ein¬ 
leitung hervorgehoben. Speciellere Angaben finden sich im Bande „Chemie“ 
beim Artikel „Nahrungs- und Genussmittel“ S. 625. Es sei daher hier nur 
kurz die Bedeutung der Salze besprochen. 

Kochsalz ist sowohl Nahrungs- als Genussmittel und dem Organismus 
unentbehrlich. Der tägliche Bedarf eines erwachsenen Menschen an Kochsalz 
beträgt 12—20 g. Die in der Nahrung enthaltene Salzmenge genügt dem 
Menschen nicht, namentlich nicht bei Pflanzennahrung. In der letzteren sind 
nämlich unverhältnismässig viel Kalisalze enthalten; diese werden, als dem 
Organismus fremd, rasch wieder, namentlich durch die Nieren, ausgeschieden, 
erzeugen also gesteigerte Diurese. Durch diese wird aber nicht Wasser, 
sondern eine Na Cl-reiche Salzlösung dem Körper entführt: — daher der Salz¬ 
hunger der Herbivoren, das Kochsalzbedürfnis der von Pflanzen- oder ge¬ 
mischter Nahrung lebenden Menschen, während reine Jägervölker das Kochsalz 
eher entbehren können. Das Speisesalz wird gewonnen als Steinsalz in Berg¬ 
werken (Stassfurt, Wieliczka) oder als Soolsalz, in sogenannten Gradirwerken. 
Das Steinsalz ist das reinste Kochsalz. Es wird gemahlen als „feines Speise¬ 
oder Tafelsalz“ in Handel gebracht. Das durch Eindampfen der concentrirten 
Soole gewonnene Salinensalz ist ziemlich stark durch andere Salze, Chlor¬ 
magnesium, Chlorcalcium etc. verunreinigt. Diese Beimengungen geben dem 
Salz eine gewisse Schärfe: „es salzt stärker“; andererseits machen sie das 
Salz stärker hygroskopisch, leichter zusammenbackend, und dadurch unan¬ 
sehnlicher. 

2 Kaffee, Thee, Cacao und verwandte Stoffe. 

Die Coffein beziehungsweise verwandte Körper enthaltenden vegetabi¬ 
lischen Producte stellen die am weitesten und allgemeinsten verbreitete Gruppe 
von Genussmitteln dar. Hierher gehören: 

Der Kaffee; die gerösteten Samen des Kaffeebaums, Coffea arabica, 
Rubiacee; ursprünglich an der Ostküste Afrikas, südlich von Abessynien, wild 
wachsend; frühzeitig nach Arabien verpflanzt; gegenwärtig in sämmtlichen 
Ländern der tropischen Zone angebaut. 

Der Thee; die getrockneten Blätter des Theestrauches, Thea chinensis, 
Ternströmiacee, ursprünglich im oberen Indien heimisch; jetzt in ganz Ost¬ 
asien bis zum 40° nördlicher Breite cultivirt. 


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GENÜSSMITTEL. 


Cacao; die Samen des Cacaobaumes, Theobroma Cacao, Sterculiacee, 
in Mittel-Amerika heimisch; im tropischen Amerika, ferner auf Java, Manila, 
Bourbon, den Canarischen Inseln cnltivirL 

Matö oderParaguay thee, die Blätter von Ilex Paraguayensis, Aqui- 
foliacee, in Paraguay und Südbrasilien bis Rio de Janeiro und den boli¬ 
vianischen Anden wild wachsend. 

Die Guaranapaste, aus den gerösteten Samen von Pauttmia sorbilis, 
Sapindacee Nordbrasiliens, bereitet. 

GolanUsse; die Früchte von Cola acuminata, Sterculiacee, in Wi«t- 
und Centralafrika heimisch. 

Während Kaffee, Thee und Cacao universelle Benützung auf dem ganzen 
Erdkreis gefunden haben, sind die drei letzt aufgeführten Genussmittel anf 
ihre Heimat beschränkt geblieben. Der Paraguaythee, Jerva Matd (circa 0,4°/„ 
Coffein enthaltend) wird als Aufguss — in Südbrasilien, Paraguay und den 
benachbarten Ländern — anstatt Thee allgemein genossen. Der jährliche 
Verbrauch wird auf 4 Millionen kg geschätzt. — Die Guaranapaste (4% Cofiei'n 
enthaltend), geraspelt, und mit Wasser zu einem Getränk verrührt, ersetzt im 
Thale des Amazonas, in Bolivia wie in Centralbrasilien, den Kaffee. — Die 
Colanüsse (2°/o Coffein enthaltend) dienen den Negerstämmen Westafrikas 
von Senegambien bis Angola als Kaumittel. 

Von den drei universell angewandten Stoffen unserer Gruppe enthält 
Kaffee Coffein, Thee Thein, Cacao Theobromin. Das Thein ist wohl sicher 
mit dem Coffein identisch; beide stellen Trimethylxanthin dar, während 
Theobromin Dimethylxanthin ist. 

Das Coffein beziehungsweise Theobronin ist es aber nicht allein, das 
die Drogen dieser Gruppe zu Genussmitteln macht: Coffein ist nicht, —und 
wird nie Genussmittel werden; es sind vielmehr die Drogen mit ihrem Coffel'n- 
gehalt plus ihrem Aroma: wo dies von der Natur nicht mitgegeben, wird 
es künstlich — durch Rösten beim Kaffee — erzeugt. Der Coffei'ngehalt des 
Kaffees beträgt durchschnittlich 0‘75%. 

Kaffee. Die Güte einer Kaffeesorte hängt keineswegs ausschliesslich von ihrem Coffein¬ 
gehalt ab — ebensowenig wie die Qualität einer Cigarre von der in ihr enthaltenen Nicotin- 
menge; die feinsten Kaffeesorten haben vielmehr am wenigsten CoffeTn — wie die feinsten 
Cigarren am wenigsten Nicotin. Moccakaffee enthält z. B. 0*64% Coffein, während Jamaica 
l*43°/ 0 und Ceylon l*53°/ 0 enthalten. — Die Qualität des Kaffees wird beurtheüt nach dem 
Gewichte: je leichter der Kaffee, desto besser ist seine Qualität. 1 Deciliter Mocca wiegt 
z. B. 500 g , 1 Deciliter Zanzibar 606 g . 

Die Menge des in einem Jahre producirten Kaffees lässt sich zu 7 1 /* Mill. Meter- 
centner annehmen. Der Verbrauch an Kaffee hat in den letzten 50 Jahren in Frankreich 
um das Sechsfache, in Oesterreich-Ungarn um das Fünffache, in Deutschland um das 
Doppelte zugenommen. Den verhältnismässig grössten Verbrauch weisen die Niederlande 
auf, nämlich 714 kg jährlich per Kopf; — den geringsten Russland: 0*10 kg per Kopf. 

Belgien consumirt 4*24 kg jährlich pro Kopf, Norwegen 3*45, die Schweiz 301, 
Dänemark 2*45, Deutschland 2*38, Schweden 2*36, Frankreich 1*43, Oesterreich-Ungarn 0*84, 
Italien 0*47, Grossbritannien 0*45 kg. Europa verbraucht von der Gesammtproduction an 
Kaffee circa 60%; die übrigen 40% vertheilen sich auf die anderen Welttheile. 

Der Kaffee wird erst durch das Rösten zum Genussmittel, indem durch 
dasselbe das, das eigentümliche Kaffeearoma tragende, Caffeol entstellt. 
Auf der combinirten Wirkung des aromatischen Princips und des gelinde 
narcotisirenden Coffein’s beruht die Bedeutung des Kaffees (beziehungsweise 
Thees) als universelles Genussmittel. Einen Nährwerth besitzt Kaffee oder 
Thee nicht; die in den Kaffeebohnen enthaltenen Eiweisskörper werden durch 
das heisse Wasser nicht aufgenommen. Um die Proteinsubstanzen löslich zu 
machen und dadurch dem Kaffee einen Nährwerth zu geben, empfahl Liebig, 
den Kaffeeaufguss mit einer 1 °/ 00 Lösung von doppelkohlensaurem Natrium 
(1 Messerspitze auf 1 1 Wasser) zu bereiten. Dieses Verfahren hat sich jedoch 
nie eingebürgert. Abgesehen davon, dass man in dem Kaffee gar kein Nähr- 
sondem ein Genussmittel sehen will, wären die in Lösung gehenden Mengen 


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GENUSSMITTEL. 


äia 

Eiweiss nur sehr gering und vertiert der Kaffeeaufguss durch den Zusatz 
von Natrium bicarbonicum seine schöne, klare Farbe. Andererseits sind ge¬ 
wisse Orte, deren Brunnenwasser reich an doppelkohlensaurem Natrium ist, 
berühmt durch die Vorzüglichkeit des daselbst gebrannten Kaffees (Karlsbad, 
Vichy.) Bekannt ist, dass sich zur Bereitung eines guten Kaffees hartes, 
kalkreiches Wasser besser eignet als weiches; umgekehrt zieht die Hausfrau 
für die Theebereitung weiches Wasser dem harten vor. Der Rückstand des 
Kaffeeinfuses, der sogenannte Kaffeesatz, wird von dem Orientalen, der den 
Kaffee nicht durchseiht, sondern in der Schale absetzen lässt, zum Theile 
mitgenossen. Bei uns wird er im Allgemeinen als werthlos weggethan, 
beziehungsweise zum Düngen von Blumentöpfen, zum Reinigen von Stuben etc. 
verwandt. Der in grösseren Mengen (z. B. in Kaffeehäusern) gesammelte 
Rückstand wird neuerdings von Fabriken zur Beimischung zu Kaffeesurrogaten 
verarbeitet. Pavy räth, den Kaffeesatz mit heissem Wasser auszukochen und 
das so erhaltene Infus zur Bereitung von Kaffeeaufguss aus frischen Bohnen 
zu benützen. 

Enthält Kaffee (und Thee) auch kein Nährmittel, so sah man in ihm 
früher doch ein Sparmittel, das die Eiweissverbrennung im Körper herabsetze. 
Man kam zu dieser Ansicht durch die Beobachtung, dass Kaffee das Gefühl 
der Müdigkeit wie des Hungers zu unterdrücken vermag. Einzelne Forscher, 
wie Boeker und Lehmann, wollten in der That eine Verminderung der 
Harnstoffausscheidung infolge Kaffeegenusses beobachtet haben. Die exacten 
Versuche von Voit haben jedoch die Unrichtigkeit dieser Beobachtungen ge¬ 
zeigt: Kaffee beziehungsweise Thee hat auf den Stoffwechsel des Menschen 
keinerlei Einfluss. „Es können eben mannigfache Alterationen im Nerven¬ 
system, welche unsere gesammte Stimmung und unser ganzes Sein wesentlich 
berühren, vor sich gehen, ohne eine für uns erkennbare Spur in dem Stoff- 
Verbrauch zu hinterlassen“ (Voit). 

Die allgemeine hygienische Bedeutung des Kaffees (beziehungsweise Thees) 
liegt darin, dass er von allen Genussmitteln das am günstigsten wirkende 
und zugleich das unschädlichste ist. — Da die Menschheit einmal eines 
Genussmittels nicht entrathen kann, so wäre bei der Wahl eines die anderen 
ausschliessenden Genussmittels, unbedingt dem Kaffee oder Thee der Vorzug 
zu geben. Der Kaffee ist den übrigen Genussmitteln, den alkoholischen 
Getränken, dem Tabak etc. in dreifacher Beziehung überlegen: Erstens ist 
seine Wirkung eine rein anregende: die Reactionszeit nimmt ab, die Prompt¬ 
heit geistiger und körperlicher Bewegung nimmt also zu (bei Alkohol um¬ 
gekehrt), die Urtheilskraft ist nicht wie bei Alkohol geschwächt, sondern 
verschärft, concentrirt, die anregende Wirkung einer Dosis hält dabei über 
mehrere Stunden vor: dabei folgt dem Stadium der Anregung beim Kaffee 
nicht, wie bei den anderen Genussmitteln, ein Stadium der Depression. Daher 
ist Kaffee das beste Anregungsmittel bei langdauernder, angestrengter, nament¬ 
lich geistiger Thätigkeit. Zweitens ist der Kaffee das unschädlichste aller 
Genussmittel. Dies gestattet, dass wir ihn durch ein ganzes Leben ohne Schaden 
zu uns nehmen. Es kommen wohl auch durch Genuss zu starken Kaffees Schädi¬ 
gungen vor, bestehend in Nervosität und Herzpalpitationen, — allein dieselben 
sind verschwindend gering gegenüber den zahllosen Gesundheitsstörungen, 
die durch andere Genussmittel: Alkohol, Nicotin und andere Alkaloide ver¬ 
ursacht werden. Drittens liegt beim Kaffeegenuss die Gefahr des Uebermasses 
im Genuss und der fortdauernden Steigerung der Dosen nur im geringen 
Masse oder gar nicht vor. Kaffee oder Thee reizt eben nicht zur über¬ 
mässigen Fortsetzung des Genusses, wie das Bier, Wein und Schnaps thun, 
und bedingt keine Gewöhnung, die zur Anwendung immer kräftigerer Reize» 
immer grösserer Dosen, wie bei Nicotin oder Morphium hinreisst. 

Die Erkenntnis, dass Kaffee und Thee nicht nur bei andauernder geistiger Thätig¬ 
keit, sondern auch bei langer, anstrengender körperlicher Arbeit das beste Anregungsmittel, 


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GENÜSSMITTEL. 


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und dem Alkohol in jedem Falle vorzuziehen ist, hat sich in den letzten Jahren immer 
mehr Bahn gebrochen. — In den meisten Armeen ist nunmehr anstatt des Schnapses, Kaffee 
und Thee als Genussmittel beziehungsweise als Anregungsmittel bei Strapazen ein geführt 
worden, und in der That wird die Widerstandsfähigkeit durch Kaffee und Thee mehr ge¬ 
steigert als durch Alkohol. — Auch in Bergsteiger-Kreisen ist die Ansicht nunmehr durch¬ 
gedrungen, dass AlkoholgenuBS vor Erreichung des Zieles, beziehungsweise wenn m au noch 
reichlich schwierige, harte Arbeit vor sich hat, oft geradezu schädlich ist, während Kaffee 
oder Thee sich als vorzügliches Anregungsmittel bewährt haben. 

An Stelle von reinem Kaffee kommt häufig minderwerthiger oder ge¬ 
fälschter, mit fremden Zusätzen versehener Kaffee, sowie zahlreiche Surrogate 
des Kaffees zum Verkauf. Eine minderwerthige Waare ist die „Triage 4 
(Brennwaare): schlechte, aus gebrochenen schwarzen und oft mit Schalen ge¬ 
mischten Bohnen bestehende Sorte. — Noch schlechter ist der sogenannte 
havarirte oder marinirte Kaffee, in den auf der Ueberfahrt Seewasser 
eingedrungen ist. — Kaffee zieht sehr leicht fremde Gerüche an (Keffer, 
Ingwer, Stockfisch, Heringe etc.), wodurch seine Qualität natürlich ver¬ 
schlechtert wird. 

Verfälschungen: Die ungebrannten Bohnen werden zur Erzeugung einer be¬ 
stimmten grünlichen oder bräunlichen Färbung mit verschiedenen Mitteln: Indigo, Berliner- 
blau, Curcuma, Chromblei, Ocker, Eisensalzen, Gerbsäure, Graphit, Kohle aufgefarbt. — 
Die gröbste Fälschung ist die Herstellung künstlicher Kaffeebohnen mittelst besonderer 
Maschinen. — Der gebrannte Kaffee wird häufig durch Zucker- oder Sirupzusatz künstlich 
beschwert. Der gemahlene gebrannte Kaffee ist der Verfälschung durch die mannigfachsten 
Substanzen ausgesetzt: am häufigsten wird Kaffeesatz, Kafifeeschalen, geröstete Cichorien, 
Gerste, Eicheln, Lupinen, Mohnrüben, Feigen, Kastanien etc. ja selbst Erde und Torf zu¬ 
gesetzt. — In keinem geregelten Haushalte sollte gemahlener Kaffee gekauft werden. 

Kaffeesurrogate. — Es existiren eine Anzahl, meist aus Getreide- oder Fruchtarten 
hergestellte Kaffeesurrogate, gegen die sich, falls sie nur als solche deutlich gekennzeich¬ 
net werden und keine schädlichen Stoffe beziehungsweise Verunreinigungen enthalten, 
hygienischerseits nichts einwenden lässt. Sie sollen theils ein billigeres Ersatzmittel für 
den Kaffee darstellen, theils, durch ihren grösseren Gehalt an Nährstoffen (namentlich 
Kohlehydraten), als diätetisches Mittel dienen. 

Cichorienwurzel; das aus derselben bereitete Getränk besitzt keinerlei Nähr¬ 
werth und hat mit dem Kaffee nichts als die braune Farbe und den bitteren Geschmack 
gemein. Ursprünglich wendete man die Cichorie an, um dem Kaffee, der namentlich znr 
Zeit der Napoleonischen Continentalsperre sehr theuer war, den Schein der Stärke zu 
geben; aber der Geschmack gewöhnte sich so sehr an dasselbe, dass er vielen zum Be¬ 
dürfnis wurde. — Die Cichorienwurzel kommt, geröstet und gemahlen, als Pulver oder in 
Tafeln in den Handel; sie ist häufig verfälscht: mit Runkelrüben, Mohrrüben, Eicheln, 
Fett, brauner Melasse, Blut (um sie feucht zu erhalten), Lehm, Ziegelsteine, Ocker, Torf etc. 

Feigenkaffee: zum grössten Theil in Südtirol hergestellt; von grosser Verbreitung, 
namentlich in Süddeutschland. Er besteht aus gerösteten Feigen und stellt eine braune 
Masse mit vielen weissen Kernen dar. Verfälschungen kommen vor mit Johannisbrod, 
gedörrtem Obst und Aehnl. 

Eichelkaffee, 1784 von Mara empfohlen; aus gebrannten Eicheln dargestellt. Ent¬ 
hält Gerbsäure; durch diese und den bitteren Geschmack dem Kaffee ähnlich, dient mehr 
als diätetisches Gen assmittel. 

Kinderkaffee, aus gerösteten Getreidearten und Hülsenfrüchten bereitet; dient 
als Kindernährmittel. 

Schwedischer oder Continentalkaffee; besteht aus den gerösteten Samen 
von Astragalus baeticus; soll eines der besten Kaffeesurrogate sein. 

Kaffee wird schliesslich bereitet aus Dattelkernen, Weintrauben kernen, Hage¬ 
butten u. s. w. 

Der Thee hat ebenfalls die ausgedehnteste, wenn auch nicht so allge¬ 
meine Verbreitung wie der Kaffee gefunden. 

Als Volksgetränk dient der Thee vor allem den Chinesen und Japanesen, in Europa 
ist nur bei Engländern und Holländern der Theegenuss zur Volkssitte geworden; ausgedehn¬ 
ter Theeconsum findet auch in Russland statt; in den übrigen Ländern Europas beschränkt 


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GENÜ SSMITTEL. 


321 


sich die Sitte des Theetrinkens auf die Städte and die höheren Be völkerangs schichten. 
Der darchschnittliche Theeverbrauch in einem Jahre beträgt pro Kopf der Bevölkerung in 


Australischen Colonien 

3*47 kg 

Portugal 

0*05 kg 

Grossbritannien 

216 „ 

Schweiz 

0*05 „ 

Canada 

163 „ 

Norwegen 

0*04 „ 

Vereinigten Staaten 

0*59 , 

Deutschland 

003 , 

Niederlande 

0*48 , 

Schweden 

o oi , 

Dänemark 

0*17 „ 

Oesterreich 

ooi , 

Russland 

017 „ 

Belgien 

ooi „ 


China exportirte 1885 1,618404 Pikuls schwarzen Thee, 214 693 grünen Thee, 280*112 Ziegel- 
thee, 1*1505 Staabthee, im Ganzen 2,128*814 Pikais, gleich 128 8 Mill. leg, im Werthe von 
173 Mill. Mark. Die Production Chinas beträgt ungefähr das Dreifache der Ausfuhr. — 
Es exportirten ferner 1885 Britisch-Ostindien 31*2 Mill. kg, Japan cca. 16, Java und Madura 
circa 2 4, Ceylon und andere Gebiete 1*8 Mill. kg. Der Gesammtexport betrug im Jahre 
1885 190*1 Mill. kg. 

Sämmtliche Theesorten stammen von der einen Theepflanze, Thea 
chinensis L. Der Thee des Handels erlangt seinen Geruch und Geschmack 
erst durch die Präparation der geernteten Blätter. Man unterscheidet Grünen 
Thee, Schwarzen Thee, Ziegelthee und Staubthee. Der schwarze 
Thee ist einer Gährung unterzogen worden; beim grünen Thee wird diese 
Gährung vermieden. Zur Bereitung des letzteren werden die frischen Blätter 
in eisernen Pfannen unter tüchtigem Umrühren kurz erwärmt; die hierdurch 
weich gewordenen Blätter werden mit den Händen gerollt und dann wieder 
in die Wärmpfannen gebracht, in denen sie vollkommen getrocknet werden. 
Für den Export werden die Blätter mit einer Mischung von Indigo oder 
Berlinerblau, Curcuma und Thon oder Gyps bestäubt, um ihnen ein besseres 
Aussehen, beziehungsweise eine bestimmte Farbennuance zu geben. Diese 
Behandlung ist so allgemein, dass kaum ungefärbter grüner Thee in den 
Handel kommt; da die benützten Farbstoffe keine schädlichen sind, so ist 
auch dies Verfahren hygienischerseits nicht zu beanstanden. — Zur Bereitung 
des schwarzen Thees lässt man die Blätter erst eine Gährung durchmachen, 
indem man sie in grosse Haufen schichtet. Die weich gewordenen Blätter 
werden zu Ballen gerollt, und abwechselnd getrocknet und der Luft aus¬ 
gesetzt. Die fertig getrockneten Blätter sind schwarzbraun, unregelmässig 
gestaltet, dünn, blattstielartig. — Der grüne wie der schwarze Thee werden 
vor dem Versandt künstlich parfümirt, durch Zwischenlagen wohlriechender 
Blüthen von Jasmin, Orange, Rose, Olea fragrans u. s. w. — Ziegelthee 
ist chinesischer Thee, der durch Hebelpressen in Tafel- oder Ziegelform ge¬ 
bracht ist; er ist sehr hart und dicht, und besteht aus Blättern und Stengeln 
der Theepflanze. — Staubthee ist eine geringe, aus zerbrochenen Blättchen 
und Stengeln und sonstigem Abfall bestehende Theesorte. — Den besten Thee 
liefern die jungen an der Spitze fein behaarten Blättchen der ersten der 3—4 
Jahresernten („Pecco mit weissen Blüthen“); diese Blätter enthalten die ge¬ 
ringste Menge Holzsubstanz und das meiste Aroma. — Die specifischen 
Bestandteile des Thees sind das dem Thee seinen Geschmack und Geruch 
gebende flüchtige Theeöl und das — chemisch mit dem Coffein vollständig 
übereinstimmende — Thein. Aehnlich wie beim Kaffee ist Thelngehalt und 
Qualität des Thees nicht einander proportional, sondern enthalten gerade die 
besten Theesorten die geringste Menge Thel'n. Der grüne Thee enthält mehr 
ätherisches Theeöl (1%) a l s der schwarze Thee ( l /*°/o), wirkt daher aufregen¬ 
der. — Die Wirkung des Thees ist der des Kaffees durchaus ähnlich; von 
der hygienischen Bedeutung des Thees als Genussmittel gilt das über den 
Kaffee Gesagte. 

Verfälschungen des Thees kommen zunächst in der Richtung vor, dass bessere 
Sorten mit minder feinen vermischt werden, — oder dass bereits extrahirte Blätter dem 
Thee zugemischt werden: dieselben werden mit Gummi bestrichen, mit Gerbstoffen impägnirt, 

§ e rollt, grün oder schwarz gefärbt und parfümirt; nachgewiesen wird diese Fälschung durch 
en geringen Gehalt an Thein. — Ferner wird häufig durch Bestäuben mit Gyps, Talg, * 
Speckstein etc. der zarte Anflug der jungen Blätter der ersten Ernte („Blüthen - ) vor- 

Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 21 


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GENüSSMITTEL. 


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zutäuschen gesucht, wobei gleichzeitig eine Gewichtsvermehrung stattfindet. — Schliesslich 
werden dem Thee Blätter von anderen Pflanzen beigemengt: in China z. B. die Blätter 
von Camellia, in Russland von Epilobium, in Europa von Lithospermum, von Weide, Pappel, 
Buche, Ulme, Kirsche, Schlehe. Die Blätter werden eigens präparirt (gefärbt und par- 
fümirt); zuweilen kommen hierbei gesundheitsschädliche Stoffe (Kupfersalze, Bleichromat 
u. a.) zur Verwendung. 

Cacao, und die durch Mischung von Cacao mit Zucker und Vanille her¬ 
gestellte Chocolade, stellt nicht allein ein Genuss- und Anregungsmittel, 
sondern zugleich ein Nahrungsmittel dar. — Reiner Cacao, i. e. die von 
Keimen und Schalen befreiten, durch Rösten und Zusammenschmelzen präparirten, 
pulverisirten Cacaobohnen enthalten 16% Eiweiss, 30% Fett („Cacaobutter“), 
3—4% Asche, 1'5% Theobromin. Da der übermässige Fettgehalt für den 
Gebrauch unangenehm ist, wird gewöhnlich „entölter Cacao“ verwendet, der 
aber auch noch 25—30% Fett enthält. — Eine Tasse Cacao aus 15 g be¬ 
reitet, enthält circa 2 g Eiweiss, 4 g Fett und 4 g Kohlehydrate. Chocolade 
enthält im Mittel 1'5—2% Wasser, 9% Eiweiss, 0-6% Theobromin, 15% Fett, 
60% Zucker, 2% Asche. Eine Tasse Chocolade aus 15 p liefert 1 p Eiweiss, 
2 p Fett, 10 p Zucker. — Cacao und Chocolade enthalten also eine, wenn 
auch mässige, dafür aber leicht resorbirbare Menge Nährsubstanz, stellen 
daher ein bekömmliches Genuss- und Nahrungsmittel dar. Die geringe Menge 
Theobromin kommt bei der Wirkung kaum in Betracht. 

Verfälschungen von Cacao finden nicht selten statt durch Hinzufügen von Rinden- 
theilen, von Mehl, Dextrin, Zucker, durch künstliche Beschwerung mit Sand, Thon, Ocker. 
— Chocolade erhält häufig einen Zusatz von Mehl, Talg, Schweinefett; nicht selten ist 
sie — von der Bereitung durch die Maschinen her — mit Eisenoxyd verunreinigt; Choco¬ 
lade wird an feuchten Orten leicht dumpfig; ferner zieht sie gern Gerüche benachbarter 
Drogen an. (Vergl. über die Verfälschung von Kaffee, Thee, Cacao und Chocolade den Bd. 
„Med.-Chemie“ S. 622-624.) 

3. Alkoholische Genussmittel: Bier, Wein, Branntwein etc. 

Die universalste Verbreitung haben zu allen Zeiten die alkoholischen 
Genussmittel gehabt. Der Gebrauch des Alkohols ging nicht wie der des 
Kaffee’s oder Thee’s von einem Volk oder einem Lande aus: alle Völker, 
Culturvölker wie Wilde, haben sich — durch Gährung vegetabilischer Pro- 
ducte — alkoholische Getränke zu bereiten gewusst. Die alkoholischen Genuss- 
mittel der civilisirten Welt sind Wein, Bier und Branntwein; die verschie¬ 
denen spirituösen Getränke wilder Völkerschaften aufzuführen, würde hier zu 
weit führen. 

Die Bereitung von Wein, Bier und Branntwein, die Verfälschungen, welchen 
dieselben ausgesetzt sind, sowie die Erkennungsmethoden für letztere, sind 
in dem Bande „Chemie“ ausführlich geschildert worden; die physiologische 
Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organismus wurde in dem Bande 
„Pharmakologie“ S. 349 dargelegt; — hier soll nur die allgemeine hygie¬ 
nische Bedeutung der alkoholischen Genussmittel einer Betrachtung unter¬ 
zogen werden. — Die Grundwirkung der Alkoholica ist keine anregende, 
sondern von vornherein eine lähmende; die häufig beobachtete Vermehrung 
der Athmung und Pulsfrequenz rührt von der Reizung der sensiblen Nerven 
der Magenschleimhaut her; die scheinbare Erregung nach Alkoholgenuss ist 
durch frühzeitige Lähmung der centralen Hemmungsvorrichtungen zu erklären. 
„In vino veritas“ bedeutet nicht, dass die Wahrheitsliebe gesteigert, sondern 
dass die besonnene Zurückhaltung verringert ist; und wer traurigen und 
sorgenvollen Herzens, gedrückt und in seiner Lebensfreudigkeit gehemmt nach 
einer Flasche Wein heiterer ist, hat die Sorgen betäubt, aber nicht die philo¬ 
sophische Tragkraft seiner Seele vergrössert. — Die Reactionszeit, d. h. die 
Zeit, welche erforderlich ist, um auf einen Sinneseindruck, z. B. durch eine 
verabredete Signalbewegung zu reagiren, nimmt unter Alkohol zu, und trotz¬ 
dem glaubt der Betreffende ganz besonders prompt und schnell reagirt zu 
haben. Längere Zeiträume erscheinen dann also kürzer als die Norm: daher 


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GENUSSMITTEL. 


323 


die Kurzweil. — Die Entschlussfähigkeit, Todesverachtung u. dgl. m. nehmen 
unter Alkohol zu durch Fortfall von Bücksichten und sonstigen hemmenden 
Einflüssen. — Nur gewisse einzelne Seelenfunctionen nehmen thatsächüch 
durch Fortfall der Hemmungen nach Genuss alkoholischer Getränke zu. Ausser 
der „Freudigkeit“ (und auch Geschlechtslust) ist es namentlich die Phantasie, 
welche entzügelt und dadurch lebhafter wird: daher der Dichter und Künstler 
im Weine meist eine Hilfe hat, der Denker meistens nicht (Filehne). — 
Für die anregende Wirkung des Alkohol kommt nicht der Alkohol allein in 
Betracht, sondern auch die verschiedenen Geschmacks- und Biechstoffe, mit 
denen er in Form von Wein, Bier, Schnaps etc. verbunden ist. — Wein er¬ 
zeugt im Allgemeinen eine angeregte heitere Stimmung, Bier mehr ein still- 
beschauliches Behagen; Branntwein lässt am ehesten die rohen, thierischen 
Triebe des Menschen zum Durchbruch kommen. Jedoch ist bei der Beur- 
theilung der Wirkung der verschiedenen alkoholischen Getränke sehr die 
Individualität und Nationalität der Trinker zu berücksichtigen. Wein trinkt 
eben vor Allem der leichtlebige Franzose und Südländer, Bier der ernstere 
Deutsche (als Typus des Biertrinkers gilt der behäbige Baier); Schnaps ist 
hauptsächlich das Getränk der niederen Gesellschaftsclassen. — Kohlensäure¬ 
haltige Getränke (Most, Champagner etc.) wirken besonders erregend be¬ 
ziehungsweise berauschend, indem die Kohlensäure — durch Hyperämisirung 
der Magendarmschleiinhaut — die Besorption begünstigt. — Eine nützliche, 
anregende W T irkung kann Alkohol in concentrirter Form, als Branntwein, zur 
Erzeugung rascher Erwärmung bei kalter feuchter Umgebung haben. Hier 
leistet ein Schnaps besseres als kalter Kaffee oder Thee. Heisser Thee oder 
Kaffee wäre freilich vorzuziehen, ist aber gewöhnlich gerade in solchen Situa¬ 
tionen nicht zu beschaffen. 

Dem Alkohol, beziehungsweise den meisten alkoholischen Genussmitteln, 
ist eine hygienische Bedeutung als Nährmittel im Allgemeinen nicht zuzu¬ 
sprechen. Früher glaubte man, dass Alkohol den Eiweisszerfall hintanhalte, 
mass ihm also eine Bedeutung als Sparmittel bei. Neuere Versuche haben 
jedoch erwiesen, dass Alkohol (abgesehen von toxischen Mengen) ohne Ein¬ 
fluss auf den Eiweissumsatz ist, dass die Stickstoffausscheidung unter seiner 
Einwirkung nicht abnimmt. Dagegen vermag der Alkohol durch seine Ver¬ 
brennung im Organismus eine bedeutende Menge Wärme zu entwickeln und 
dadurch bis zu einem gewissen Grade Kohlehydrate oder Fett zu ersetzen. 
Der Alkohol wird im Organismus fast vollständig bis zu den Endproducten; 
Wasser und Kohlensäure oxydirt; nur äusserst geringe Mengen (weniger als 
3°/ 0 des eingeführten Alkohols) werden durch Lunge, Haut und Niere ab¬ 
geschieden (Binz). Alkohol hat die Verbrennungswärme 7*1, d. h. die Ver¬ 
brennung von 1 g Alkohol erzeugt soviel Wärme, dass dadurch 7 - l Liter 
Wasser um 1® C. erhöht werden können (liefert 71 „Calorien“). Der Mensch 
bedarf täglich circa 2200 Calorien, die durch Verbrennung seiner gemischten 
Nahrung geliefert werden. 1 Liter guten Bheinweins enthält circa 100# Al¬ 
kohol; diese liefern 710 Calorien. 4 Löffel Leberthran (ein Fettgemenge mit 
der Verbrennungswärme 9’1) entwickeln 455 Calorien, also nur 2 / s der obigen 
Menge. Dabei wird vorausgesetzt, dass sämmtlicher Leberthran resorbirt wird. 
Die Aufnahme von Leberthran wird nicht selten z. B. bei einem fiebernden 
Typhuskranken — schwierig sein, während demselben Kranken 1 Flasche 
Wein mit Leichtigkeit beigebracht wird. Gerade für Kranke, die eine andere 
Nahrung aufzunehmen nicht vermögen, insbesondere für Fieberkranke, ist 
der Alkohol von Werth als respiratorisches Nährmittel, das die Consumption 
des Organismus und den Kräfteverfall aufzuhalten geeignet ist. — Für Ge¬ 
sunde dagegen ist der Alkohol als Wärmequelle entbehrlich, um so mehr, je 
geringer die Anforderungen an die Wärmebildung des Organismus sind: daher 
die Bewohner südlicher Länder der Alkoholica leicht entrathen können, und 
der Branntweinconsum nach Norden zu immer mehr zunimmt. Bewohner 

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GENUSSMITTEL. 


kühlerer Gegenden, die nach dem Tropen übersiedeln und dort die heimische 
Sitte, regelmässig starke Alkoholica in grösserer Menge zu sich zu nehmen, 
weiterführen (namentlich Engländer), verfallen rasch den schädlichen Wir¬ 
kungen des Alkohols (Delirium, Leber- und Nierenerkrankungen etc.). 

Ueber die schädlichen Folgen des Alkoholmissbrauchs: die acate nnd chro¬ 
nische Alkoholvergiftung ist hier nicht der Ort zu reden. Dass der Alkoholismns die Menschheit 
schwer und nicht nur an ihrer Gesundheit schädigt, ist allgemein anerkannt. Zu aUen 
Zeiten hat ein Missbrauch geistiger Getränke stattgefunden. Im Alterthum und Mittel- 
alter waren es fast nur die wohlhabenden Classen, die ein Uebermass alkoholischer Ge¬ 
nussmittel zu sich nahmen; namentlich Bürger und Edle des Mittelalters scheinen Un- 

§ eheures im Vertilgen von Wein und Bier geleistet zu haben. Während in den gebildeten 
[reisen in dieser Beziehung eine Besserung stattgefunden zu haben scheint (nur die 
Studenten bleiben dem mittelalterlichen Brauche treu), hat in den niederen Bevölkerungs- 
classen der Branntweingenuss in erschreckender Weise überhand genommen. Die jährlich 
consumirten Mengen Schnaps sind ganz ungeheure: Brüning berechnet die Ausgaben für 
Schnaps in Preussen auf 261 Mill. Mark pro Jahr (71 Mill. Mark mehr als die sämmtlichen 
directen Staatssteuern betragen). England verausgabt jedes Jahr 1200 Mill. Mark für Al¬ 
kohol; Amerika versteuerte 1886/88 1,424,695.000 Liter spirituöser Getränke (d. i. 31*6 Liter 
pro Kopf) im Werthe von 2633 Mill. Mark (i. e. 56*30 Mark pro Kopf); die kleine Schweiz 
vorausgabt jährlich 120 Mill. Mark für Alkohol. Nach Bähr wurden in den 4 Jahren 
1872—1875 im Zollvereinsgebiet pro Jahr und Kopf 6 Liter Wein, 82 Liter Bier und 10 Liter 
Branntwein verbraucht. Es beträgt der Consum an Schnaps pro Kopf und Jahr für 


Norwegen 

3'4 Liter 

Oesterreich 

4*0 

9 

Frankreich 

4*25 

9 

Grossbritannien 

60 

71 

Schweiz 

7*5 

9 

Niederlande 

9*7 

9 

Belgien 

9*75 

9 

Deutschland 

100 

9 

Schweden 

160 

9 

Russland 

180 

1 t 


Deutschland steht somit an dritter Stelle. Schweden zeigt in den letzten Jahren eine 
Besserung, während in Frankreich der Alkoholgenuss bedrohlich zunimmt, und Russland 
in vollstem Niedergang begriffen ist. Rochard berechnet den ökonomischen Schaden, den 
das Schnapstrinken verursacht (durch Verlust an Arbeit, durch Verursachung von Un¬ 
fällen etc.) für Frankreich jährlich zu 1158 Mill. Mark; für Deutschland lässt sich dieser 
Verlust auf 1500 Mill. Mark veranschlagen; für England schätzt man den Gesammtschaden 
durch Schnapstrinken gleich 1 I 4 des Gesammteinkommens sämmtlicher Handarbeiter Gross¬ 
britanniens. Zu dem gesundheitlichen und wirtschaftlichen Ruin des Trinkers kommt 
noch die Gefahr der sittlichen Verkommenheit. Die Zunahme der Verbrechen, der Geistes¬ 
krankheiten, der Selbstmorde ist zum grossen Theile auf Rechnung der Trunksucht 
zu setzen. 

Den Alkoholismus wegen seiner schrecklichen Wirkungen zu bekämpfen, oder we¬ 
nigstens nach Möglichkeit einzudämmen, haben sich Staat wie Private zur Aufgabe ge¬ 
macht. Am weitesten ist man darin in den Vereinigten Staaten gegangen, wo in einzelnen 
Staaten das Feilhalten von Getränken gesetzlich verboten ist. Zu ähnlich weitgehenden 
Bestimmungen hat man sich in europäischen Staaten nicht entschliessen können. Eine 
Herabminderung des Schnapsgebrauches wäre anzustreben: durch Beschränkung der Ver¬ 
kaufsstellen für geistige Getränke, — durch Verteuerung des Branntweins und gleich¬ 
zeitige Verbilligung des weniger schädlichen Bieres und Weines, bezw. kostenloser Abgabe 
von Kaffee und Thee, — durch gerichtliche Bestrafung von Trunkenheit und Trunk¬ 
sucht, durch Ueberführung und unentgeltliche Behandlung in Trinkerasylen. In Deutschland 
hat man durch die Steuergesetzgebung im Jahre 1887 den gemeinsten Branntwein, den 
Spiritus um das Vierfache gegen früher verteuert. Der nicht zum Trinken bestimmte 
Spiritus ist von der Steuer ausgenommen, wird aber, um nicht doch als Schnaps verwendet 
zu werden, durch Beifügung von widerlich riechenden Pyridinderivaten ungeniessbar ge¬ 
macht, „denaturirt.“ — In Oesterreich, der Schweiz, Holland, Frankreich wird öffentliche 
Trunkenheit bestraft, beziehungsweise gilt sie bei Excessen etc. als Erschwerungsgrund. — 
Trinkerasyle sind zuerst in Amerika gegründet worden, in denen Trunksüchtige aller 
Stände untergebracht werden. In Deutschland gibt es Trinkerasyle, in denen aber nur 
Wohlhabende Verpflegung finden können. Gesetzlich geregelt ist die Unterbringung in 
Trinkerasylen nur im Canton St. Gallen in der Schweiz durch das Gesetz vom 21. Mai 1891: 

§ 1. Personen, welche sich gewohnheitsmässig dem Trünke ergeben, können in einer 
Trinkerheilanstalt versorgt werden. 

§ 3. Die Versetzung in eine Trinkerheilanstalt erfolgt: a) auf Grund freiwilliger An¬ 
meldung, b) durch Erkenntnis des Gemeinderathes der Wohngemeinde. 


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GENUSSMITTEL. 


325 


Bier. Die Bereitung und Eigenschaften, von Bier, Wein, Branntwein, 
sowie die Verfälschungen und deren Nachweise sind im Artikel „Nahrungs¬ 
und Genussmittel“*) eingehend besprochen worden. — Nach seiner hygie¬ 
nischen Bedeutung ist das Bier nicht nur ein relativ unschädliches und be¬ 
kömmliches Genussmittel, sondern auch in bestimmtem Grade ein Nährmittel. 
Bier enthält neben Wasser, Alkohol, Kohlensäure und Bitterstoffen Eiweiss¬ 
stoffe, Zucker und Dextrin, letztere drei allerdings in geringer Menge, aber 
dafür in gelöster, sehr leicht resorbirbarer Form. Bei dieser vollständigen 
Ausnutzbarkeit ist der Nährwerth des Bieres, wenn es in reichlichen Mengen 
genossen wird, nicht gering anzuschlagen. Den Beweis liefert die fast regel¬ 
mässig eintretende Corpulenz der habituellen Biertrinker. Ein gutes, wenig 
Alkohol und reichlich Extractivstoffe enthaltendes billiges Bier, wie z. B. das 
Münchener Bier, ist als vortreffliches Volksgetränk zu bezeichnen. 

Es enth&lt: 

Münchener Löwenbier 91'08% Wasser, 3% Alkohol, 5 92% Extract 

Dreher’sches Bier (Wien) 90 86% „ 3 6 % „ ö ö4% „ 

Berliner: Böhmisches Bränhans-Bier 90'60% „ 4 - ll% „ 5 - 29% „ 

Cnlmbacher Exportbier 86 31 % „ & - 29% „ 8 40% „ 

Die schweren süddeutschen Exportbiere werden namentlich in Nord¬ 
deutschland consumirt: man braut und trinkt also dort ein viel „schwereres“ 
d. h. alkoholhaltigeres Bier. Der Consum beträgt in Preussen pro Jahr und 
Kopf 40 Liter, in Baiern 220 Liter. 

Ein gutes Bier soll glanzhell, vollmundig, gut moussirend sein, der 
Alkoholgehalt soll 2 5—4*5%, der Extract mindestens 4°/ 0 betragen; auf 
1 Theil Alkohol sollen 1*2—1*6 Theile Extract kommen, am besten 1*6—1*8; 
Glycerin soll höchstens zu 0‘5% vorhanden sein. 

Fälschungen ist das Bier in deutschen Ländern selten ansgesetzt, häufiger in 
wmerdentschen europäischen Staaten (in englischen Bieren: Porter, Stont, wurde z. B. Pikro¬ 
toxin nachgewiesen); — ein geradezu unglaubliches Getränk wird aus Mais und Strychnin 
oder Belladonnawurzel etc. in manchen „Brauereien“ der Vereinigten Staaten bereitet. — 
Nach bayrischem Gesetz darf Bier nur aus Malz und Hopfen bereitet werden, und ist jeder 
Zusatz — z. B. auch von Salicylsäure— strafbar. Bei den Verfälschungen des Bieres ist zu 
unterscheiden zwischen solchen, die zwar keine Gesundheitsstörung nach sich ziehen (z. B. 
der Zusatz mässiger Mengen von Salicylsäure oder saurem schwefligsaurem Kalk zur Halt¬ 
barmachung, oder von kohlensaurem Alkali gegen die Säuerung), die aber die Minder- 
werthigkeit eines Bieres verdecken — und solchen, die direct schädlich wirken. Zu letzteren 
gehören Pikrinsäure, Pikrotoxin, Strychnin, Semina Colchici, Radix Belladonna« u a. Als 
billige Surrogate werden verwendet: Stärke oder Stärkezucker an Stelle von Gerste; Enzian, 
Wermuth, Quassia anstatt des Hopfens; Glycerin wird zugesetzt zur künstlichen HersteUung 
der Vollmundigkeit des Bieres, lieber die genannten Verfälschungen wie deren Nachweis 
s. Artikel „Nahrungsmittel“ des Bandes „Chemie.“ 

Wein. Unter „Wein“ verstehen die Weinproducenten den gewerbe¬ 
gerecht vergohrenen und geklärten Traubensaft, die Weinhändler ein aus 
Traubensaft nach den Regeln der Kunst bereitetes wohlschmeckendes Getränk. 
Diese beiden Definitionen decken sich durchaus nicht: nach der letzteren sind 
Zusätze fremder Stoffe: von Zucker, von Alkali etc., soweit sie allein zur 
Verbesserung des Geschmackes beitragen, erlaubt. Hygienischerseits ist gegen 
solche Manipulationen nichts einzuwenden, so lange durch dieselben nicht 
eine höherwertige Weinsorte vorgetäuscht werden soll, und die zugesetzten 
Stoffe zu keiner Gesundheitsstörung führen können. Jedoch ist die Grenze 
zwischen Erlaubtem und Schädlichem oft schwer zu ziehen, und sind die 
Meinungen über die Zulässigkeit gewisser Verfahren (z. B. über das Gypsen) 
getheilt. Eine ausführliche Schilderung der verschiedenen Verfahren und 
deren Beurtheilung findet sich in dem mehrfach erwähnten Artikel (Bd. „Chemie“ 
S. 595 ff.). — Reiner Naturwein enthält durchschnittlich 85—88°/ 0 Wasser, 
9—12°/ 0 Alkohol, circa 2% Extract, 0*1—0*8°/ 0 Zucker, bis 0’2% Färb- und 


*) Band „Med. Chemie“ S. 596—622. 


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GENUSSMITTEL. 


Gerbstoff; 0*2% Asche, ferner Essigsäure, Weinsäure, Aepfelsäure, Bernstein¬ 
säure, Glycerin, Oenanthäther (Caprin- und Caprylsäureester). Der Wein ist kein 
Nahrungs- sondern lediglich Reiz- und Genussmittel. 

Die durchschnittliche Jahresproduction von Wein beträgt in Hectolitern in 


Frankreich 

Italien 

Spanien 

Oesterreich-Ungam 

Portagal 

Deutschland 

Griechenland 

Russland 

Rumänien 

Schweiz 

Serbien 


36,689.000 

21,759.000 

20.519.000 

8,920.000 

4,000.000 

2,089.200 

2.000.000 

1,840.000 

1,000.000 

600.000 

500.000 


Europa 99,907.700 

Vereinigte Staaten 800.000 

Algerien 690.000 

Kapland 170.000 

Australien 72.000 

Aussereuropäische Gebiete 1,732.000 
Gesammtproduction 101,639.700 


Der mittlere Weinverbrauch pro Kopf und Jahr beträgt in 


Frankreich 

Spanien 

Portugal 

Italien 

Schweiz 

Oesterreich-U ngara 


1021 
794 
759 
70 7 
47*0 
211 


Liter 


Deutschland 4 8 Liter 

Holland 3 0 „ 

Grossbritannien 2*9 s 

Norwegen 09 „ 

Schweden 05 „ 


Obstweine werden aus Aepfeln, Birnen, Heidelbeeren, Johannisbeeren in ganz ana¬ 
loger Weise wie der Traubenwein — durch Selbstvergährung — dargestellt. Wegen des 
bedeutend geringeren Zuckergehaltes wird ihnen künstlich Zucker zugesetzt. — Die Obst¬ 
weine enthalten Alkohol, Zucker, Pectinstoffe, Gummi, Glycerin, Salze. Apfelweine Wein¬ 
säure (?), Essigsäure, Buttersäure, Gerbsäure, Bernsteinsäure, Oxalsäure, Milchsäure und 
Aethersäuren. Obstwein enthält im Allgemeinen die Hälfte mehr Extract und Asche als 
der Trauben wein. — Die Obstweine stellen wohlbekömmliche, reine und billige Anregungs¬ 
und diätetische Mittel dar. 


Branntwein. Ueber die verheerenden Einflüsse des Schnapstrinkens ist 
oben schon gesprochen worden. Die schädlichen Wirkungen des concentrirten 
Alkohols werden noch bedeutend dadurch erhöht, dass häufig einerseits un¬ 
reiner Alkohol zur Darstellung des Schnapses verwandt wird, andererseits 
direct schädliche Stoffe („zur Verschärfung des Geschmackes“) zugesetzt werden. 
In ersterer Beziehung ist es der Gehalt an Fuselöl, der so verderblich wirkt. 
Fuselöl stellt ein Gemenge der höher siedenden Alkohole, Propyl-, Amyl-, 
Butyl-Alkohol und Furfurol dar. In normalem Branntwein sollte höchstens 
1 p. m. Fuselöl enthalten sein. Der schon nach Amylalkohol riechende 
Kartoffelschnaps enthält — neben 30—40 °/ 0 Alkohol — 0'3°/ ? und mehr Fuselöl. 
Der sogenannte -Kornschnaps“ wird, wenn echt, aus Getreide hergestellt. Er 
wird jedoch vielfach aus Kartoffelschnaps unter Zusatz künstlicher „Nord¬ 
häuser Kornessenz“ hergestellt. In Ländern der kalt gemässigten Zone wird 
also am meisten der so schädliche Kartoffelschnaps consumirt. In südlicheren 
Ländern wird Branntwein aus Mais, Reis, Früchten, Wein etc. hergestellt. — 
In den Gebirgsländem des südlicheren Mitteleuropa wird aus zerstossenen 
Kirsch- und Pflaumenkernen „Kirsch-“ und „Zwetschkenbranntwein“ hergestellt; 
derselbe enthält 0 3—0'5% Blausäure; ein Gehalt über 01% sollte nicht zu¬ 
gelassen werden. — Die feineren Branntweinsorten stellen dar: Cognac aus 
Wein, — Arac aus Reis, — Rum aus Zuckerrohr gewonnen. Cognac enthält 
40—50%, Arac c. 50°/ 0 , Rum 65—70% Alkohol. Bei den hohen Eingangs¬ 
zöllen, der Beliebtheit und dem Massenconsum dieser Getränke, dem die Dar¬ 
stellung aus reinen Producten kaum genügen kann, findet eine weit verbrei¬ 
tete Nachahmung und Verfälschung statt. (Näheres Bd. „Chemie“ S. 618 ff.) 

Alkaloide als Genussmittel. Zu — in jedem Falle überflüssigen, ja 
schädlichen — Genussmitteln sind eine Anzahl stark wirkender Arzneimittel 
geworden. Manche Personen haben für gewisse Arzneimittel, deren heilende 
oder mildernde Wirkung sie zunächst erfahren, eine Art Ideosynkrasie, die 


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GENÜSSMITTEL. 


327 


allmählig zum Bedürfnis, und schliesslich zur Leidenschaft wird. So gibt es 
Personen, die sich regelmassig mit Chloroform-Aether oder Lustgas betäuben, 
andere, die habituell Digitalis, wieder andere, dieAntipyrin, Phenacetin, Sulfonal 
oder Aehnl. zu sich nehmen. Es sind aber immer nur vereinzelte Indi¬ 
viduen, die die aufgeführten Arzneimittel gewohnheitsmässig nehmen. Da¬ 
gegen gibt es eine Reihe stark wirkender, natürlicher (oder aus solchen dar¬ 
gestellter künstlicher) Producte, deren Genuss nicht von Einzelnen, sondern 
von Tausenden, ja von ganzen Völkerschaften betrieben wird. Es sind dies aus¬ 
schliesslich Alkaloide, bezw. Alkaloide enthaltende Naturproducte. Dieselben 
sollen im Folgenden kurz aufgeführt werden. 

Der Fliegenpilz, Amanita muscaria, wird in Nordrussland und 
Sibirien von Ostjaken, Samojeden, Kamtschadalen, Tanguten, Jakuten u. s. w. 
als berauschendes und erregendes Mittel (Berserkerwuth) genossen. Von welchem 
Bestandtheil des Pilzes diese erregende Wirkung abhängig ist — ob vom 
Muscarin oder einer anderen Substanz, — ferner ob der kamtschadalische 
Fliegenpilz sich von dem gewöhnlichen Fliegenpilz Mitteleuropas durch Vor¬ 
handensein besonderer (ev. auch Fehlen giftiger) Stoffe unterscheidet, ist noch 
unaufgeklärt. 

Haschisch, ein im Orient in ähnlicher Weise wie Opium allgemein be¬ 
nütztes Genuss- und Betäubungsmittel. — In Nordindien werden zu Beginn 
der Fruchtreife die Zweigspitzen und obersten Blättchen der weiblichen Hanf¬ 
pflanze (Cannabis sativa var. indica) gesammelt: „Bhang“; aus diesem wird 
eine salbenartige, gelbgrüne Masse hergestellt, die mit verschiedenen Pulvern, 
Gummi, Zucker, aromatischen Substanzen versetzt, den sogenannten Ha¬ 
schisch darstellt. Als Churrus wird der aus den vielen Drüsen der Stengel 
und Blätter schwitzende, die wirksamen Bestandtheile hauptsächlich enthal¬ 
tende Harzsaft bezeichnet. — Der Haschisch ist theils zum Rauchen, theils 
zum Kauen bestimmt; nicht selten ist ihm noch Nicotin, Opium, Canthariden 
und Aehnl. beigemengt. 

Die Anwendung des Haschisch ist sehr weit verbreitet; Millionen von Menschen ge¬ 
brauchen ihn habituell. Dem Haschischgenass wird namentlich in Nordafrica, Westasien 
und Ostindien gehuldigt; aber auch die Brasilianer ranchen Hanf gern; die Hottentotten 
cnltiviren den Hanf nnr, am ihn za raachen. 

Der Haschischrausch äussert sich in ausserordentlicher Erregung der 
Phantasie, Hallucinationen, heiterer, geräuschvoller Stimmung, Neigung zu 
Bewegungen, lärmender Ausgelassenheit, Gefühl des Schwindens der räum¬ 
lichen und zeitlichen Grenzen, der Aufhebung der Schwere, des Fliegens, des 
ungemessenen Hinausstreckens des eigenen Körpers u. s. f. Das Bewusstsein 
bleibt — besser als bei Opium — erhalten. — Den Reizerscheinungen folgt 
ein Depressionszustand; zuweilen tritt derselbe, mit trüber melancholischer 
Stimmung und entsprechenden Hallucinationen, von Anfang an auf, oder 
wechselt mit den Reizerscheinungen ab. 

Der Haschisch führt nicht zu Verdauungsstörungen und verstopft 
nicht, wie Opium; dagegen sollen Katalepsie und Manie häufige Folgezustände 
des habituellen Haschischgenusses sein. Schon im 12. Jahrhundert lehrte Ibn 
Beitae, dass derselbe Delirien, Tobsucht und dauernden Wahnsinn veran¬ 
lassen könne. In dem Irrenasyl in Bengalen wurde unter 232 Fällen 76mal 
Haschischgenuss als Grund des Irrsinns angegeben; 34 von den 76 Kranken 
fanden Heilung. 

Ueber die im indischen Hanf enthaltenen Bestandtheile sind unsere 
Kenntnisse noch sehr unbefriedigend. Gefunden wurden in demselben: ein 
flüchtiges Alkaloid Cannabinin; ein nicht flüchtiges Alkaloid, Tetanocannabin, 
wirkt strychninartig; ein Glykosid Cannabin, wirkt hypnotisch; ein flüssiger 
Kohlenwasserstoff Cannaben, wirkt toxisch; ein amorphes Harz Cannabinon, 
bewirkt Delirien, ja acute Manie. 


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GENüSSMITTEL. 


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Von Europäern scheint Haschisch wenig genommen zu werden. Die 
Wirkung soll für sie eine weniger angenehme sein, als für die Orientalen. 

Vergiftungen sind in Deutschland meist mit dem officinellen Extr&ctum Cannabis 
indicae vorgekommen, theils als medicinale Vergiftungen, theila, um sich einen Rausch zu 
verschaffen. 0 5—1 g sind (bei einem guten Präparat) schon stark wirksam. — Symptome 
der Vergiftung sind ausser den oben angeführten Reizerscheinungen, Anaesthesien und Pa- 
rästhesien, Ameisenkriechen, Kälte und Taubsein der Extremitäten; Pupillen erweitert und 
reactionslos, Puls stark beschleunigt. Zuweilen treten Convulsionen auf. Dem Stadium 
der Erregung folgt tiefste Depression, eventuell mit katalepsieartigem Zustand. Die ersten 
Symptome treten nach 1 / 8 bis 1 Stunde auf; Restitution erfolgt meist in 48 Stunden. 

Opium. Dem Opiumgenusse sind — wie dem des Haschisch — viele 
Millionen von Menschen ergeben; der Gebrauch des Opium ist sogar noch 
weit verbreiteter als der des Haschisch. 

In ganz Süd- und Ostasien wird dem Opiumgenuss gehuldigt. Der habituelle Ge¬ 
brauch desselben ist längst nicht mehr auf die Eingeborenen beschränkt. Die Anfmerk- 
samkeit Europas wurde zuerst durch einen Roman Dickens auf das Opiumrauchen gelenkt. 
Bis dahin war es Engländern und Amerikanern unbekannt. 1881 wurde bereits die Zahl 
der Opiumraucher in Nordamerika auf 3—5000 geschätzt. 1889 zählte man in Newyork 
allein 8—10*000 Opiumraucher, Auch nach Australien, wie in andere englische Colonien 
ist diese Unsitte gedrungen, ja, hat auch schon in Grossbritannien Fuss gefasst. Es wird 
nicht das rohe Opium als solches geraucht, sondern ein aus demselben dargestellter 
wässeriger Extract, Chan du genannt. 18—20 Pfund Opium geben ca. 10 Pfund Extract. 
Zum Parfumiren werden verschiedene wohlriechende pflanzliche Stoffe zugesetzt. Zum 
Gebrauche wird etwas von der Masse auf eine lange Stahlnadel gebracht und über die 
Flamme einer kleinen Lampe gehalten, bis es 8—lOmal ins Sieden gekommen ist. Dabei 
verändert das Cbandu seine Farbe (von Schwarz zu Braun oder Goldgelb) und seinen 
Geruch. Dann erst wird es in eine sehr kleine Pfeife gebracht und geraucht. Das zum Rauchen 
präparirte Opium soll relativ arm an Morphin sein. Bei der Darstellung soll ein beträcht¬ 
licher Theil des Morphin verloren gehen. Ein weiterer Theil wird beim Rauchen ver¬ 
brannt. Was sich etwa noch unzersetzt verflüchtigt, dürfte sich im Pfeifenrohr zum 
grössten Theile condensiren. Ein habitueller Opiumraucher rauchte morphinfreies Opium 
mit dem gleichem Genuss wie stark morphinhaltiges. Ein mässiger Opiumraucher in China 
verbraucht täglich ca. 6 g Opium; in einzelnen Fällen ist aber der Verbrauch bis 32 g 
gesteigert. 

Neben dem Opiumrauchen wird im Orient auch dem Opiumessen gefrohnt. 
Die Perser verachten den Opinmraucher, geniessen aber allgemein das Opium in Gestalt 
parfümirter Pillen. Die Anfangsdosis beträgt 0*03—0*12 g, sie steigert sich im Laufe der 
Jahre bis 8—10 g und mehr. Der durch seine * Bekenntnisse eines Opiumessers* zu einer 
gewissen Berühmtheit gelangte Thomas de Quingey fröhnte dem Opiumgenusse durch 
50 Jahre, und nahm schliesslich täglich 8000 Tropfen Opiumtinctur zu sich ! 

Der Opiumgenuss erzeugt einen Rauschzustand mit hochgesteigerter Phan¬ 
tasie und angeblich vermehrter Schärfe und Energie des Verstandes. Hallu- 
cinationen, wie sie die glühendste Phantasie sich nicht ausmalen kann, ent¬ 
heben den Opiophagen der Wirklichkeit und versetzen ihn in einen wollust¬ 
artigen Exaltationszustand. Diesem folgt nach einigen Stunden eine tiefe 
Depression, die den Opiophagen zu erneutem Opiumgenuss und zu immer 
gesteigerten Dosen treibt. 

Die Meinungen über die Gefährlichkeit des Opiumgenusses sind getheilt. 
Indische Aerzte behaupten, dass Menschen bei massigem Gebrauch Jahre und 
Jahrzente lang gesund erscheinen und ihre Obliegenheiten erfüllen. Gleich¬ 
wohl ist der Opiumgenuss in jedem Falle für schädlich zu erachten und zu 
verbieten. Die Hauptgefahr liegt in dem Uebergehen von einer massigen 
Dosis zu einer immer grösseren, das — sei es, dass die frühere Dosis nicht 
mehr genügt, sei es, dass körperliche oder psychische Unannehmlichkeiten 
dazu veranlassen — später oder früher doch mit Sicherheit eintritt. Die 
Folgen des lange fortgesetzten Opiumgenusses sind äusserst traurige. Die 
Gesichtsfarbe solcher „Theriaki“ ist fahl, das Gesicht eingefallen, die Augen 
tiefliegend, matt und ausdruckslos, der Gang schlotterig; es besteht äusserste 
Abmagerung in Folge von Verdauungsstörungen: hartnäckige Verstopfung 
wechselt ab mit dysenterischen Durchfällen; Gliederzittem, Schwindel, Blasen¬ 
schwäche, Impotenz kommen hinzu, der Kranke geht schliesslich an Lungen¬ 
ödem und Herzschwäche, oder an allgemeiner Paralyse zu Grunde. 


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GENÜSSMITTEL. 


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Missbrauch des Opiums bezw. von Mobnabkocbungen findet vielfach in Europa zur 
Beruhigung kleiner Kinder statt. Derselbe ist aufs Energischeste, sei es durch Belehrung 
der Mütter über die Schädlichkeit dieses Vorgehens, sei es durch Bestrafung von Kinder¬ 
mädchen, Kinderpflegerinnen etc., die dieses „Beruhigungsmittel“ gebrauchen, zu be¬ 
kämpfen. Namentlich in England soll mit Opium viel Unfug getrieben werden, um Kinder 
zur Buhe zu bringen. Die auf solche Weise chronisch mit Opium gefütterten Kinder (meist 
armer Leute), die sich schliesslich an relativ grosse Dosen gewöhnen, magern ausser- 
dentlich ab und erliegen früh meist dem Hydrocephalus. 

Morphin. Der Opiophagie des Orients entspricht der Morphinmissbrauch 
der Culturvölker des Occidents. Die Morphiophagie, das habituelle Mor¬ 
phiumeinspritzen (innerlich wird Morphium nur in sehr seltenen Fällen habi¬ 
tuell genommen), hat sich in den letzten Jahrzehnten in erschreckender Weise 
ausgebreitet. In den grossen Centren zählen die Morphinisten nach Tau¬ 
senden und Zehntausenden. Anlass zum chronischen Morphiumgebrauch gibt 
fast stets die medicinale Anwendung der Morphininjection gegen irgend welche 
Schmerzen. So glänzende curative Erfolge die durch A. Wood 1853 ein¬ 
geführte Subcutaninjection des Morphin gezeitigt hat, so verheerend hat sie 
andererseits auf Tausende und Tausende gewirkt. Es ist kein Zweifel, dass 
in sehr vielen Fällen der Arzt die Schuld trägt, dass seine Patienten dem 
Morphinismus verfallen. Zur Subcutaninjection des Morphin sollte nur 
in den dringendsten Fällen gegriffen werden; nie dürfte dem Patienten oder 
auch nur dessen Angehörigen die Morphiumspritze überlassen, sondern jede 
einzelnen Injection sollte vom Arzte selbst gemacht werden. Leider wird 
hiergegen in zahlreichen Fällen gesündigt. 

Neben der medicinalen Anwendung des Morphium als Subcutaninjection ist es 
häufig die Neugierde, die Wirkung des Morphins kennen zu lernen, der Leichtsinn, der 
die Folgen des Morphingebrauches nicht bedenkt, und der glaubt, jeden Augenblick aus 
freien Stücken mit den Einspritzungen aufhören zu können, die zum Morphinismus führen 
Es werden naturgemäss zu Morphinisten am leichtesten diejenigen, die mit Morphin viel 
hantiren bez., denen es jeden Augenblick frei zur Verfügung steht: vor Allem daher 
Aerzte, Apotheker und Chemiker. Die Zahl der dem Morphinismus ergebenen Aerzte ist 
leider eine erschreckend grosse. Die Schilderung des Morphinismus, seines Verlaufes und 
seiner Behandlung ist in dem Bande „Pharmakologie“ unter dem Artikel „Morphin“ gegeben. 
Hier interessiren die Massregeln, die zur Eindämmung dieser verderblichen Leidenschaft 
führen können. Morphin gehört als stark wirkendes Arzneimittel naturgemäss zu den in 
der Deutschen kaiserlichen Verordnung vom 27. Jänner 1890 § 1 Anlage B aufgeführten 
Arzneien, die nur in Apotheken feilgehalten oder verkauft werden dürfen. Hier zählt 
Morphin nicht zu den eigentlichen „Giften,“ sondern zu den „differenten Stoffen,“ deren 
Aufbewahrung und Abgabe besonderen Bestimmungen unterliegt. Die Abgabe erfolgt nur 
an Personen, die als zuverlässig bekannt oder legitimirt sind, bezw, nur auf ärztliches 
Becept. — Es dürfte, falls diese Vorschriften über das Morphin genau eingehalten werden, 
die Erlangung des Morphin in kleinen Mengen für den Laien erschwert, wenn auch nicht 
unmöglich gemacht werden. Nichts aber steht ihm im Wege, wenn er sich Morphin in 
beliebig grossen Mengen im Grosshandel, von einer chemischen Fabrik beschaffen will. § 3 
der Deutschen kaiserlichen Verordnung vom 27. Jänner 1890 lautet: „der Grosshandel, 
sowie der Verkauf an Apotheken oder an solche Staatsanstalten, welche Untersuchungs¬ 
oder Lehrzwecken dienen, unterliegen vorstehenden Bestimmungen (§ 1 s. o.) nicht“ 
Aehnliche Vorschritten bestehen auch in Oesterreich. Es müssen weit genauere und ein- 

f ehendere Bestimmungen über die Abgabe von Morphin seitens der Fabriken bezw. Gross- 
roguerien getroffen werden. Und zwar müssen diese Bestimmungen sich nicht nur auf 
daa betreffende Land beschränken: es müssen Vereinbarungen über den internationalen 
Giftverkehr getroffen werden, da sich sonst jeder z. B. aus England beliebige Mengen der 
stärksten Gifte verschaffen kann. 

Coca, Cocain. Die Cocablätter, von dem in Peru und Bolivien einhei¬ 
mischen, und dort seit alter Zeit, wie neuerdings auch in anderen Gegenden 
cultivirten Strauche Erythroxylon Coca, dienten und dienen noch einem grossen 
Theil der südamerikanischen Bevölkerung als unentbehrliches Genussmittel. 
Der Cocagebrauch wurde in Peru schon bei der Eroberung durch die Spanier 
angetroffen. Die Blätter werden, zum Theil unter Hinzufügung von Pflanzen¬ 
asche oder von Kalk, gekaut. Ein Eingeborener soll Durchschnittlich 28—42 g 
pro Tag verbrauchen. Das Cocakauen vermindert, nach übereinstimmenden 
Angaben der Eingeborenen, das Bedürfnis nach Nahrung und macht den 


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GENÜSSMITTEL. 


Körper gegen Strapazen widerstandsfähiger. Ohne Coca unternimmt kein Ein¬ 
geborener eine halbwegs grössere Leistung. In der That sind die Leistungen, 
namentlich im Zurücklegen weiter oder beschwerlicher Wegstrecken, ver¬ 
glichen mit der geringen Nahrungsaufnahme, erstaunlich. 

Mantegazza schildert die Wirkung des Cocakauens nach Selbstversuchen. Kleine 
Dosen (4—8 g) erzeugten Gefühl der Zunahme der Kräfte, der Beweglichkeit, grössere Leb¬ 
haftigkeit der Sprache, Aufgelegtheit zu jeder Art Arbeit. Nach grösseren Gaben: Zustand 
der lsolirung von der Aussenwelt, Gefühl von Wohlbehagen und Glückseligkeit. Nach 
sehr grossen Dosen: fieberhafter Zustand mit dem Gefühl angenehmer Trägheit, leichter 
Kopfschmerz, Zunahme der Pulsfrequenz, Hallucinationen und Delirien, ohne völligen Be¬ 
wusstseinsverlust, später Schlaf; keine Nachwehen. Mantegazza brachte unter dem Ein¬ 
fluss des Cocains 40 Stunden zu, ohne Nahrung zu sich zu nehmen und Schwäche zu fühlen. 

Die Wirkung der Cocablätter ist wohl hauptsächlich die des Cocains 
(s. den betreffenden Artikel im Band Pharmakologie); jedoch kommen vielleicht, 
namentlich bei den frischen Blättern noch andere Stoffe, ein aromatischer 
Riechstoff etc. in Betracht. — Aehnlich schlimme Folgen wie der Opium¬ 
genuss scheint das Cocakauen nicht zu haben. Dagegen ist höchst verderblich 
der in Europa in neuester Zeit aufgekommene habituelle Cocaingenuss. 
Zum Cocainismus führen dieselben Momente wie zum Morphinismus. 
Sehr häufig greifen Morphinisten in der Absicht, sich das Morphin durch 
Anwendung eines Ersatzmittels abzugewöhnen, zur Cocaineinspritzung. Hier¬ 
durch ist aber noch nie ein Morphinist des Morphins entwöhnt worden, viel¬ 
mehr verfällt er jetzt der gepaarten Leidenschaft, indem er Morphin mit 
Cocain neben einander nimmt. — Cocain ist deshalb so gefährlich, weil es 
gewöhnlich weit häufiger eingespritzt wird, da der Rausch rascher verfliegt, 
und weil mit den Dosen meist sehr rasch gestiegen wird. Für die mögliche 
Einschränkung des Cocaingebrauches gilt das bei Morphin Gesagte. 

Tabak. Die Blätter von Nicotiana Tabacum und verwandten Arten. Die 
reifen, getrockneten Blätter werden in Haufen geschichtet und einer Gährung 
überlassen. Durch diese wird Geschmack und Geruch der Blätter geändert. 
Stärke und Zucker verschwinden, die Eiweissstoffe werden theilweis in Amide 
verwandelt. Zur Herstellung von Kau-, Schnupf- oder Rauchtabak werden die 
Blätter verschieden lange Zeit in sogenannte Saucen gelegt, zu deren Her¬ 
stellung die mannigfachsten Stoffe: Salpeter, Alaun, Borax, Branntwein, Zucker, 
Zimmt u. s. w. Verwendung finden. 

Der Tabakverbrauch ist ein ganz ungeheurer. Crawford schätzt die durchschnitt¬ 
liche jährliche Tabaksconsumtion auf der ganzen Eide auf 4480 Millionen Pfund (wonach 
auf den Kopf über 4 Pf. Tabakverbrauch kämen). Zur Herstellung dieser Menge Tabak 
sind 9 Millionen Morgen guten Tabakbodens erforderlich. Der Tabakconsum ist pro Kopf 
und Jahr für Belgien 2'5, Niederlande 20; Schweiz 1*6; Oesterreich l'24ö; Deutsch¬ 
land 1205; Norwegen 1025; Dänemark 1003; Russland 0883; Frankreich 0803; Gross¬ 
britannien 0 616; Italien 0*571; Spanien 04',K) kg. 

Der Rauchtabak enthält ungefähr 20% Asche, 10% Feuchtigkeit, 
70% verbrennliche Stoffe. In der Asche herrschen Kalisalze vor. Häufig 
wird KN0 3 künstlich zugesetzt um die Verbrennlichkeit zu erhöhen. Anderer¬ 
seits soll die Tabakasche möglichst wenig Chlor (weniger als 0’4%) und 
Phosphorsäure enthalten. Der wichtigste, wirksame Bestandtheil des Tabaks 
ist das stark giftige Nicotin. Es ist in grünen Tabaksblättern zu 1 %—8% 
der Trockensubstanz, in präparirten zu 0—5% enthalten. Bessere Tabaks¬ 
sorten haben einen massigen Nicotingehalt; Havannatabak enthält weniger 
Nicotin als gewöhnliche Rauchtabake. 

Der beste Tabak wächst auf der Insel Caba (Havannatabak); fast gleich guter auf 
der Philippineninsel Lnzon (Manillacigarren), beide aus Nicotiana tabacum; der berühmte 
„Latakia“ in Syrien stammt von N. rustica; der „Schiras“ in Persien von N. persica. — 
Havanna, Portoriko, Latakia enthalten 0*6-1.2% Nicotin: „Badischer Unterländer,“ als 
schlechter Rauchtabak bekannt, 336°/ 0 Nicotin. Der sehr stark betäubende „syrische 
Tabak“ enthält gar kein Nicotin. 

Durch längeres Ablag;ern tritt bedeutender Nicotinverlust ein. Beim 
Rauchen einer Cigarre destillirt reichlich Nicotin vom brennenden Ende der 


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GENÜSSMITTEL. 


331 


Cigarre nach der Spitze hin, daher das letzte Ende das nicotinreichste and 
dämm giftigste ist. 

Zar quantitativen Bestimmung des Nicotins wird der getrocknete, gepulverte Tabak 
mehrmals mit ammoniakbaltigem Aether ausgezogen, der Auszug wird auf dem Wasserbade 
destillirt, wobei NH, und Aether übergeht, das Nicotin zurückbleibt. Das Nicotin be¬ 
stimmt man durch Titration mit Schwefelsäure: ein Aequivalent Nicotin (162) wird durch 
ein Aequivalent S0 3 (40) neutralisirt. 

Der Tabaksrauch enthält ausser Nicotin eine grosse Menge Bestandtheile: 
Kohlensäure, Kohlenoxyd, Wasser, Schwefelwasserstoff, Stickstoff, Essig-, 
Ameisen-, Butter-, Valeriansäure, Blausäure, kohlensaures und essigsaures 
Ammonium, Salmiak, Cyanammonium, Carbolsäure, Anilin, Pyridin, Picolin, 
Lutidin, empyreumatische Substanzen und Russ. Als giftig kommen von 
diesen Bestandteilen (ausser dem Nicotin) in Betracht: das Pyridin und 
seine Homologen, die, medicamentös angewendet, Uebelkeit, Gliederzittern, 
Schwindel, Kopfschmerz, Erbrechen erzeugen können; — das Kohlenoxyd, 
zn 5—10% im Tabakrauch enthalten; im Blut von Thieren, die sich in 
mit Tabaksrauch geschwängerten Räumen aufgehalten, war CO in nachweis¬ 
baren Mengen vorhanden; — der Ammoniak, vermöge seiner auf die Ath- 
mnngsorgane reizenden Wirkung; — die Russpartikelchen, die sich massenhaft 
im Lungenepithel ablagern. Dass der Tabaksrauch toxisch wirkt, haben zahlreiche 
Versuche an Thieren ergeben. Auch beim Menschen, namentlich bei empfind¬ 
lichen, daran nicht gewöhnten Individuen vermag der Tabaksrauch zweifellos 
toxische Symptome: Kopfschmerzen und Reizerscheinungen der Athemwege und 
des Magens hervorzurufen. Es sollte deshalb das Rauchen in allen öffentlichen, 
nicht ausdrücklich für Raucher bestimmten Räumen verboten werden. 

Die Bedeutung des Tabaks als Genussmittel besteht in einer leichten 
allgemeinen Erregung des Nervensystems, womit sich eine geringe angenehm¬ 
narkotische Wirkung (im Gegensatz zu Thee und Kaffe) verbindet. Wird man, 
um der Muskelermüdung zu steuern, oder um die geistige Thätigkeit auf- 
zufrischen, dem Thee und Kaffee den Vorzug geben, so empfindet man die 
Annehmlichkeit der Cigarre oder Pfeife besonders im Zustand der behaglichen 
Kühe nach gethaner Arbeit, oder in der Periode gesteigerter Darm- und ver¬ 
minderter Himthätigkeit nach einer reichlichen Mahlzeit. Es ist aber der 
Tabak nicht allein ein — anscheinend überflüssiges — Genussmittel: er ist 
von hoher Bedeutung für den gewöhnlichen Arbeiter, um ihm über die Mo¬ 
notonie der körperlichen Arbeit, oder für den Soldaten, um ihm über Hunger 
und Durst, den Mangel jeder Bequemlichkeit, über trübe Stimmung, Furcht 
und Gefahr hinwegzuhelfen. 

Der Tabak kann, wie jedes Genussmittel, durch übermässigen Gebrauch 
zu schwerer Schädigung des Organismus, insbesondere Herzaffectionen und 
Sehstörungen führen. Die Schilderung der acuten wie chronischen Nicotin¬ 
vergiftung finden wir in dem Bande „Phamakologie und Toxikologie" dieses 
Werkes, S. 671, ff. — Ausser durch Rauchen, Kauen, Schnupfen kann aber 
der Tabak noch in anderer Weise zu Vergiftungen führen. 

Früher waren medicinale Nicotinvergiftungen nicht selten, indem man 
Tabakabkochungen als Klystier oder Eingiessungen (bei Darmverschlingung etc.) 
gebrauchte. — Anwendung von Tabaksaft als Abortivum hat schon zum Tode 
von Kind und Mutter geführt. — Die Anwendung von Tabaksaft gegen Haut¬ 
krankheiten im Orient verursacht nicht selten resorptive Vergiftungen. — Ein 
Schmuggler, der sich Tabakblätter um den blossen Leib gebunden, erlitt eine 
schwere Tabakvergiftung. — Schliesslich ist reines Nicotin zu Selbstmord wie 
zu Mordzwecken angewendet worden. 

Verfälschungen des Tabaks finden statt durch sogenannte Tabak¬ 
surrogate: Blätter von Runkelrüben, Nussbaum, Huflattich etc. Orientalische 
Tabake sind nicht selten mit Blättern von Hyoscyamus niger, Datura stram- 


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332 


GERICHTLICHE MEDICIN. 


monium oder Atropa Belladonna gemengt; Cigaretten ans dem Orient ent¬ 
halten häufig einen Zusatz von Opium. 

Der Schnupftabak wird vielfach gefälscht. Um ihn zu beschweren wird 
Sand, Kalk, Ocker u. s. w. zugesetzt. Gesundheitsschädlich sind Verfäl¬ 
schungen mit Niesswurz. Zur Erkennung aller dieser Verfälschungen dient 
am besten die genaue mikroskopische Untersuchung. r. heinz. 

Gerichtliche Medicin. Die gerichtliche Medicin umfasst 
die Lehren Uber die Verwertung naturwissenschaftlicher and 
ärztlicher Kenntnisse für Zwecke der Rechtspflege. Dieselbe 
ist sohin eine angewandte Disciplin und als solche in Parallele zu 
setzen mit den übrigen Fächern der praktischen Medicin. Während diese 
dem Wohle des Einzelnen dient, ist es Aufgabe jener, im Interesse 
des Bestandes der Gesammtheit zur Aufrechthaltung der so¬ 
cialen Ordnung behilflich zu sein und dem Richter zur Erkennung 
und richtigen Deutung von Gebrechen verschiedenster Art Mittel und Wege 
zu zeigen. 

Ihre wesentlichste Anwendung finden die Lehren der ge¬ 
richtlichen Medicin in der Sachverständigen-Thätigkeit des 
Arztes bei Gericht, die sich entsprechend dem grossen Umfange der Dis¬ 
ciplin auf alle Fragen der civil- und strafrechtlichen Praxis, zu 
deren Entscheidung medicinische Kenntnisse erforderlich sind, erstrecken 
wird. Aber nicht allein das umfängliche Gebiet der Arzneikunde 
mit ihren verschiedenen Specialfächern, sondern der Gesammtinhalt der 
Naturwissenschaften überhaupt liefert dem Gerichtsarzte die 
Mittel zur Begutachtung von unaufgeklärten Rechtsfällen. 
Die umfassende und verantwortungsschwere Aufgabe des Arztes, welcher in 
der Eigenschaft eines Sachverständigen bei Gericht thätig zu sein berufen 
ist, macht es demselben zur vornehmsten Pflicht, sich immerfort auf der Höhe 
der stetig fortschreitenden und sich mehr und mehr ausgestaltenden Wissen¬ 
schaft zu halten, um den höchsten Forderungen der Rechtspflege jederzeit in 
hinreichender Weise entsprechen zu können. 

Nach dem Dargelegten kann es einem Zweifel nicht mehr unterliegen, 
dass eine umfängliche tiefe heilärztliche Durchbildung für den 
Sachverständigen bei Gericht zu einer erspriesslichen Thätigkeit un¬ 
umgänglich nothwendig ist; ebenso unzweifelhaft erscheint es jedoch, dass 
hiezu nebstdem noch die weitgehendste Kenntnis einer Summe 
specifisch gerichtlich-medicinischer Details erforderlich wird, 
durch deren zweckdienliche Verwertung für forense Fälle in erster Linie die 
Lehr- und Erfahrungssätze der praktischen Heilkunde den Intentionen des 
Richters zurecht gemacht werden. Zudem ergeben sich in gerechter Beur- 
theilung der hohen Ziele, denen unsere Disciplin zu dienen hat, für dieselbe 
noch eine Reihe eigenartigster Gesichtspunkte, die der sonstigen 
Richtung der praktischen Medicin vollkommen fern gelegen sind. Diese 
müssen daher in gleicher Weise wie die oben herangezogenen Fragen in dem 
Lehrgebäude der gerichtlichen Medicin ihre Stellung finden und eigens ge¬ 
lehrt werden. 

£s mag zur Beleuchtung des Gesagten der Hinweis darauf genügen, dass zu den 
Eigenschaften eines tüchtig geschulten Chirurgen die Kenntnis der Cha- 
rakteristica des Nahschusses nicht notig ist, ohne dass sein Ruf hiedurch irgend 
welchen Schaden nehmen könnte, während der Gerichtsarzt mit den Kriterien des¬ 
selben wohl vertraut sein muss; auch dürfte es kaum zu den Obliegenheiten eines selbst 
viel beschäftigten Geburt shelfers gezählt werden, sich Einblick in die Bedeutung 
der Lungenschwimmprobe zu verschaffen, während d er pro foro thätige Arzt 
desselben nicht entrathen kann. 

Das Gesammtgebiet der gerichtlichen Medicin lässt sich sach- 
gemäss in zwei grosse Abschnitte theilen, deren einer die Unter- 


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GERICHTLICHE MEDICIN. 


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suchungen lebloser Gegenstände — auch von Leichen — um¬ 
fasst, während der zweite Theil in seinem ausgedehnten Rahmen 
die Untersuchungen am Lebenden einschliesst. Für die erste 
Kategorie ist nächst einer umfassenden gerichtsärztlichen Durchbildung die 
Kenntnis der Lehren der descriptiven nnd pathologischen Anatomie, 
der Physiologie und allgemeinen Pathologie, Chemie und Bacterio- 
logie erforderlich, für diezweite Art von Untersuchungen kommen in erster 
Linie die Lehrsätze der gerichtlichen Medicin in Betracht, die 
naturgemäss das Gebiet der übrigen Disciplinen der medicinischen Wissenschaft, 
als Chirurgie, Gynäkologie, Psychiatrie, Toxikologie und Sy- 
philitologie, nach verschiedenen Richtungen hin streifen. 

Die Anwendung der Summe dieser Kenntnisse muss in jedem 
concreten Falle in formell bestimmter, für den Richter brauchbarer 
Weise erfolgen, wenn der letztere den angestrebten Nutzen aus dem Attest 
des Gerichtsarztes soll ableiten können. Das Ergebnis einer jeden gerichtsärzt¬ 
lichen Untersuchung ist daher in rein sachlicher Weise, ohne alle sub- 
jectiven Zuthaten von Seiten des Untersuchers, in einem schriftlichen 
Elaborat — Befundaufnahme — in übersichtlicher Aufeinanderfolge sorg¬ 
fältig geordnet, zusammenzufassen, so zwar, dass sämmtliche für die Klarstellung 
des Falles nötbigen Einzelheiten in gehöriger und sachgemässer Art zur Dar¬ 
stellung gelangen. Es sollte in jedem Befunde nur mit bestimmten Werten 
gerechnet und alle annäherungsweisen, daher leicht irreführenden Schätzungen 
grundsätzlich vermieden werden. Erst am Schlüsse der sachlichen Beschrei¬ 
bung des Wahrgenommenen hat man in einem getrennten Abschnitt eventuell 
auch den subjectiven Angaben des Untersuchten oder einzelner Mitglieder 
seiner Umgebung Raum zu geben. Eine objective und nach allen Seiten hin 
erschöpfende Befundaufnahme ist allerorts die alleinige und einzig verwert¬ 
bare Unterlage für die richtige Deutung zweifelhafter Straffälle und er¬ 
möglicht auch einzig und allein dem Begutachter in zweiter Instanz die Auf¬ 
klärung unliebsamer Missgriffe und grober Irrthümer oder schwerwiegender 
Widersprüche in der Auffassung der ersten Experten. Die Wichtigkeit einer 
genauen Befundaufnahme erhellt gerade in jenen Fällen, wo sogenannte Ober¬ 
gutachten von den Behörden eingeholt werden. Eine verwertbare Ent¬ 
scheidung ist nachgerade an eine sorgfältige Untersuchung und erschöpfende 
Beschreibung des Objectes durch die ersten Aerzte geknüpft. Die anscheinend 
geringfügigste Mangelhaftigkeit nach dieser Richtung hin erschwert oder 
verhindert überhaupt eine bestimmte Aussage des überprüfenden Sachver¬ 
ständigen. Eine Untersuchung, welche über der Description des in Frage 
stehenden Theiles des Objectes eine Darstellung der allgemeinen Beschaffen¬ 
heit desselben in unverantwortlicher Weise vergisst und damit wichtige 
Kriterien für die Beurtheilung der Sachlage aus den Händen gibt, kann 
keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es ist daher niemals ausser 
Acht zu lassen, dass die Gesammtheit, aber nicht einzelne Theile 
des Untersuchungs-Objectes die Unterlage für unsere Entschei¬ 
dungen pro foro liefern. 

Aus dem grossen Umfange der gerichtlichen Medicin sollen an dieser 
Stelle blos 1. die Narben und Tätowirungen, 2. Werkzeuge und 
Waffen und 3. die Fussspuren einer eingehenden sachlichen Würdigung 
unterzogen werden, während bezüglich der übrigen Capitel auf deren geson¬ 
derte Betrachtung an anderen Orten verwiesen wird. 

1. Narben und Tätowirungen. Unter Narbe im Allgemeinen ver¬ 
stehen wir im anatomischen Sinne den durch neugebildetes Granu¬ 
lationsgewebe gedeckten Ersatz eines Defectes in der Continuität 
von Geweben. 

Die Narbe ist eine ans embryonalem Gewebe anfgebante Neubildung, deren Ober¬ 
fläche anfänglich aus einer dünnen Lage zarten Epithels sich zusammensetzt. Eine reich- 


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GERICHTLICHE MEDICIN. 


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liehe Durchsetzung des Grundgewebes mit feinsten Blutgefässen gibt der jungen Narbe 
das für sie charakteristische rosafarbene Aussehen. Das Narbengewebe ist entweder in 
Form einer leistenförmigen Erhabenheit prominirend oder gegen die Umgebung 
nach Art einer Furche oder grubigen Vertiefung eingezogen. An der Ober¬ 
fläche fehlen die natürlichen Hautrinnen, die an verschiedenen Körperstellen die eigen¬ 
artigen Hautzeicbnungen veranlassen, so dass ein glattes, glänzendes Gefüge der Narben 
resultirt, deren Beschaffenheit durch Mangel an Pigment und Haarfollikeln sich überdies 
von der Nachbarschaft deutlich kennzeichnet. Später gelangen die neugebildeten Blut¬ 
gefässe durch Obliteration zum Verschwinden, das junge zarte Gewebe wird durch derbes, 
festes Fasergewebe ersetzt, und die Epithelschichte verdichtet sich augenscheinlich. Durch 
diese anatomische Umänderung erleidet auch das Aussehen der Narbe einen merklichen 
Wandel, der sich dem Auge als Weissfärbung und dem Gefühl als Verhärtung kundthui 
Es erscheint somit möglich, mit Zugrundelegung der eben gekennzeichneten Verhältnisse 
eine junge Narbe von einer älteren zu unterscheiden. 

Eine gerichtsärztliche Beurtbeilung erfahren die Narben in erster Linie 
in jenen Fällen, wo nach erfolgter Ausheilung von incriminirten Verletzungen 
an den Experten die Aufgabe herantritt, an der Hand des anatomischen Be¬ 
fundes sich über: a) Provenienz, b) Alter, c) Folgezustände und 
d) Heilverlauf der einer Narbe zu Grunde liegenden Wunde auszusprechen 
oder e) den Identitäts-Nachweis von Personen unbekannter Herkunft 
anzutreten. 

a) Herkunft von Narben. Bezüglich der Entscheidung über die Natur 
von Narben muss vor Allem daran erinnert werden, dass es streng charakte¬ 
ristische Narben sensu strictiori, deren Beschau allein schon unter allen 
Umständen die Feststellung der Diagnose über die Genese derselben ermöglicht, 
nicht gibt. Andererseits wäre es ein nicht genug tadelnswerther Irrthum, wollte 
man in Folge dieses, namentlich von Hebra scharf hervorgehobenen Erfahrungs¬ 
satzes zu dem extremen Standpunkt hinneigen, von vornherein alle auf die Be¬ 
stimmung der Natur von Narben hinzielenden Bestrebungen für überflüssig zu 
betrachten. Es verdient vielmehr betont zu werden, dass bei genauester Berück- 
sichtigung aller einschlägigen Verhältnisse, als Anordnung der 
Narben, deren Sitz, Lage und etwaige Mitbetheiligung der Umge¬ 
bung, im Zusammenhalte mit dem anatomischen Bilde und dem Er¬ 
gebnis der Erhebungen über Wundverlauf etc. in der grösseren 
Mehrzahl der Fälle mit einiger Wahrscheinlichkeit eine meist nach vielen 
Richtungen hin befriedigende Antwort betrefls der Entstehungsursache der 
Narbe zu gewärtigen ist. 

So wird die Entscheidung einer der cardinalsten Fragen, ob nämlich ein der 
zu untersuchenden Narbe zu Grunde liegender Process auf ein Trauma oder auf 
eine Erkrankung (hauptsächlich Syphilis, Tuberculose, ulcuscruris) zurück¬ 
zubeziehen ist, in den seltensten Fällen auf Schwierigkeiten stossen, nachdem die Locali- 
sation ad nates, an den Genitalien, in den Scnenkel- und Leistenbeugen, der 
Sitz über prominirenden Knochenleisten (z. B. an der Tibia und am Darm¬ 
bein kämm) oder an den seitlichen Halspartien mit gleichzeitiger Betheiligung der 
Knochen und verkäster Lymphdrüsen in den verschiedensten Körperregionen einen 
sicheren Wegweiser zur Bestimmung der Natur des Leidens liefert. Die Anwesenheit 
etwaiger Reste des die Vernarbung bedingenden Krankheitsprocesses wird die Differenzirong 
wesentlich erleichtern. 

Betreffs Beurtheilung der Frage über die Entstehung einer Narbe ans 
einer scharfrandigen oder unregelmässig gerissenen Wunde, diene als Richt¬ 
schnur, dass eine Schnittverletzung bei ungestörtem Heilverlauf in der 
Regel eine scharflinige, feine, röthliche und später abblassende 
Narbe zurücklässt, die je nach der Betheiligung des Untergrundes leicht 
verschieblich oder fixirt ist; während eine Quetsch-Risswunde ceteris 
paribus in Form einer Narbe ausheilt, die nach Zahl ihrer Lappen eine viel¬ 
fach unregelmässig unterbrochene Linie darstellt. Es darf hiebei 
jedoch nicht verschwiegen werden, dass mannigfache Uebergänge bestehen, 
und gegebenen Falls die aus einer Schnittwunde hervorgegangene Narbe, zu¬ 
mal wenn Eiterung hinzugetreten ist, die Charakteristica einer aus Riss- 


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wunden entstandenen Narbe bieten kann, und umgekehrt eine Continuitäts- 
Trennung mit gequetschten Rändern, die sich per primam geschlossen hat, 
unter Umständen einmal eine lineare Narbe aufweist. Ueberhaupt ist daran 
festzuhalten, dass die endliche Gestalt einer Narbe von mehrfach 
wechselnden Componenten — als Form und Localisation der 
Wunde, Spaltrichtung der befallenen Hautpartie und nicht zumindest von 
Heilverlauf und Menge der Granulationen —abhängig ist, so dass 
hierin die mannigfachen Variationen im Aussehen einer Narbe bei 
gleicher Entstehungsursache einer Verletzung ihre anatomische Er¬ 
klärung finden. Gleichwohl wird in vielen Fällen an der Hand der soeben ge¬ 
kennzeichneten Eigenschaften der Narben ein Rückschluss auf den Entstehungs¬ 
modus der fraglichen Wunde möglich sein, sobald allen in Betracht kom¬ 
menden Verhältnissen gebührend Rechnung getragen wird. Im Lauf der Zeit 
undeutlich gewordene Narben werden zufolge künstlicher Hyper- 
ämisirung ihrer Umgebung durch Massage wieder zum Vorschein ge¬ 
bracht; solche, die an die Unterlage fixirt waren, erhalten mit der Zeit eine 
weiter gehende Verschieblichkeit zurück! Ferner soll hervorgehoben werden, 
dass die Längsausdehnung der Narben in Folge Retractions- 
fähigkeit der Nachbarschaft hinter dem Längenmass der voraus¬ 
gegangenen Verletzung nicht unwesentlich zurückbleibt. 

Narben nach Schuss Verletzungen unterscheiden sich in Form und Aussehen 
zuweilen durch nichts von jenen nach Schnitt- und Risswunden. Spitzkugel-Wunden 
können nach Art einer Schnittverletzung ausheilen, wahrend manchmal auch ent¬ 
sprechend der Zahl der Lappen strahlige Narben resultiren. Die Einschussöff¬ 
nung lässt sich durch eingesprengte Pulverkörnchen noch lange nach Abschluss der 
Vernarbung als solche erkennen. Die Deutung der Narben nach Schrotschüssen wird 
in Folge der Multiplicität derselben kaum auf Schwierigkeiten stossen und selbst nach 
einer Reihe von Jahren noch möglich sein. 

Nach weitgehenden, die Cutis und die übrigen darunter gelegenen 
Weichtheile betreffenden Verbrennungen erhalten sich meist äusserst derbe, 
hochroth gefärbte, strahlige, hypertrophische Narben, die nur ausnahmsweise 
ein Analogon finden nach ausgebreiteten Risswunden mit grossen Substanz¬ 
verlusten. Verbrennungen, die sich nur auf die Oberhautgebilde beschränken, lassen 
überhaupt keine oder nur undeutliche Spuren zurück. Verbrühungs-Narben oder 
solche nach Verletzungen mit ätzenden Flüssigkeiten (Säuren, Laugen u. dgl.) 
sind schon an ihrer charakteristischen, durch das Herabfliessen der Flüssigkeiten 
bedingten Verlaufsrichtung zu erkennen. Narben nach Bisswunden können zu¬ 
weilen durch ihre Anordnung und Localisation charakterisirt sein. 

Schliesslich soll auch der sogenannten falschen Narben gedacht 
werden, die im Anschluss von hochgradiger Abmagerung, z. B. nach Typhus, 
sich einstellen oder durch ausgedehnte Lockerung der Cutis zu Stande 
kommen im Gefolge von Krankheiten mit schnell einsetzender Ausdehnung 
der Haut, in ähnlicher Weise wie am Abdomen von Schwangeren. 
Dieselben stellen sich ohne Prodromen ganz unvermittelt ein und zeigen sich 
in Gestalt mehr weniger stark glänzender, glatter, blasser Streifen, 
die beim Spannen der Haut an Deutlichkeit gewinnen. 

b) Die Altersbestimmung von Narben wird unter genauester 
Berücksichtigung aller, den Wund Verschluss beeinflussenden 
Factoren mit Zugrundelegung des oben skizzirten Vorganges der 
Narbenbildung zu erfolgen haben. Wenn auch der nach aussen durch 
Rothfärbung sich manifestirende Blutgefässreichthum einer jungen 
Narbe ein nicht zu unterschätzendes Kriterium für die Altersbestimmung 
liefert, so darf nicht ausser Acht gelassen werden, wie erfahrungsgemäss 
gerade die W undheilung von den mannigfachsten Bedingungen — Alter, 
Constitution und Ernährungszustand des Beschädigten, Ausdehnung, 
Localisation des Substanzverlustes und Heilverlaul — abhängig ist. 
Bei einem jugendlichen Individuum wird unter sonst gleichen Ver¬ 
hältnissen die Wundschliessung und Restitutio ad integrum viel 


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GERICHTLICHE MEDICIN. 


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rascher beendet sein, als bei einer alten, abgezehrten und maras- 
tischen Person. Daher erscheint es von vornherein unthunlich, bestimmte, 
allgemein gütige, zeitliche Grenzen für die Dauer der Ausheilung 
als Norm aufzustellen. Im allgemeinen benöthigt eine Wunde je nach dem 
Grade ihrer Ausdehnung unter der Voraussetzung einer ungestörten Heilung 
einen Zeitraum von einigen Tagen bis zu wenigen Wochen zur 
vollständigen Consolidation, während anderntheils bei grösseren 
Snbstanzverlusten selbst viele Monate zur Deckung des Defectes in 
toto nicht ausreichen. 

c) Folgezustände der Narben. Die Narben gewinnen ein be¬ 
sonderes gerichtsärztliches Interesse in erster Linie durch die 
aus ihnen erwachsenden Verunstaltungen und Functionsbehinderungen 
einzelner Körpertheile oder ganzer Complexe des Körpers, die je nach ihrem 
Grade und Sitz eine verschiedene Beurtheilung erfahren. 

Als beachtenswert wird hervorgehoben, dass jede Narbe, unbeschadet ihrer Lage, 
in Folge grösserer Vulnerabilität des Gewebes als locus minoris resistentiae 
auf die wechselvollsten äusseren Reize hin der Sitz immer wiederkehren der Entzündungen 
sein kann, welche bei der äusserst mangelhaften Vascularisation der alten Narbe 
nicht selten einen höchst langwierigen Verlauf nehmen und manchmal erst nach vielen 
Wochen zur Abheilung gelangen. Bei einschlägigen Beobachtungen wäre vor allem ein 
eventuelles Verschulden durch Vernachlässigung der Behandlung oder un¬ 
genügenden Schutz des Narbengewebes gegen äussere Schädlichkeiten besonders 
zu vermerken. Dieses Wiederauf brechen von bereits vernarbten Stellen kann nach pene- 
trirenden Wunden der Brust und des Unterleibes durch die Infectionsgefahr und 
Möglichkeit von Organ- und Gewebsvorfällen noch specielle Bedeutung gewinnen. 
Auch werden unter Umständen Narben älteren Datums durch fortgesetzten Zug oder an 
haltenden Druck atrophisch und verdünnen sich so weit, dass sie Anlass zu Brüchen 
verschiedenster Art (Hernien) geben. Etwaige Anästesien, Parästesien (Jucken, 
Kribbeln, Gefühl des Taubseins, Ameisenlaufen etc.) geringerer Intensität im Gebiete 
junger Narben sind meist unwesentliche Erscheinungen, die sich in der Regel 
in Kürzerer Zeit verlieren; dahingegen geben eingeheilte und gezerrte Nerven- 
stämmchen zu erheblichen Schmerzen Anlass, die in Form von Neuralgien, an 
bestimmte Nerven Verzweigungen gebunden, mit grösster Heftigkeit auftreten und bis zu 
paroxysmenartig einsetzenden Krampfanfällen (Trismus und Tetanus) sich 
steigern können. Aehnliche Zustände gelangen ebenso häufig zur Beobachtung bei zurück¬ 
gebliebenen und in der Narbe eingeschlossenen Fremdkörpern, nach deren Ent¬ 
fernung und Circumcision der Narbe sämmtliche Erscheinungen zum Schwinden 

G ebracht werden. Bei Beurtheilung bezüglicher Folgezustände von Narben ist somit auch 
ie Möglichkeit einer Behebung der Krankheitssymptome und eventuellen Ausheilung durch 
einen entsprechenden operativen Eingriff zu ventiliren. 

Unter dem Einflüsse einer noch unbekannten individuellen Praedisposition 
kann es in seltenen Fällen zu hypertrophirenden Granulationswucherungen 
und wulstartigen Auswüchsen im Gebiete des Narbengewebes (Bildung eines Narben¬ 
kel oids) kommen, die sich in Gestalt von Fortsetzen auch auf die nächste Umgebung 
erstrecken und netzförmige Stränge darstellen. Auch ganz flache Hautnarben können der 
Ausgangspunkt dieses Processes werden, der jeder Behandlung trotzt. Selbst die vollständige 
Exstirpation mit primärer Heilung der Wunde schützt nicht vor Recidiven. — Die Mög¬ 
lichkeit der Entwicklung von bösartigen Neubildungen, wie Krebs, auf Grund 
narbig veränderter Hautstellen bei hiezu nicht disponirten Individuen muss entschieden 
verneint werden. 

Die hin und wieder aus Narben erwachsenden Verunstaltungen 
und durch zurückbleibende Narbencontracturen der Gelenke bedingten 
Functionsbehinderungen sind für die forensische Beurtheilung von gleich weit¬ 
gehender Bedeutung und dürfen bei einschlägigen Beobachtungen nicht 
ohne Berücksichtiguüg bleiben. Die für die ersteren massgebenden Gesichts¬ 
punkte sind je nach Lebensstellung, Geschlecht und Alter des 
Individuums vielfach wechselnd und different. Während selbst strablige 
und gewulstete Narbenzüge im Gesichte eines jungen Akademikers oder 
Officiers als eine für Viele anstrebenswerte Zierde gelten, kann schon eine 
leichte, geradlinige Narbe die Gesichtszüge eines jugendfrischen Mädchens 
verunstalten. Danach wird auch das Urtheil des begutachtenden Arztes 
wesentlich verschieden ausfallen, je nachdem die Verletzte eine senile 


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und auf die Verwertung äusserlicher Reize nur mehr wenig Anspruch 
erhebende Person ist, oder ob die ungeschmälerte Anmuth des Weibes erst 
ihre Schuldigkeit betreffs Aeusserung auf das andere Geschlecht hätte thun 
sollen. In gleicher Weise ist auch der Sitz der Narbe für die Ent¬ 
scheidung des Sachverständigen bestimmend, wobei nicht ausser Acht gelassen 
werden darf, was von der verunstaltenden Narbe etwa auf Rechnung nicht 
sachgemässer Behandlung oder mangelnder Obsorge von Seite des Patienten 
zu setzen ist. In vielen Fällen lässt sich überdies noch durch einen nach¬ 
träglichen, geringfügigen operativen Eingriff Manches ausbessern (Abtragen 
von vorspringenden Leisten und Umschneiden der Narbe etc. bei En- und 
Ektropium der Lider, Lippen und Nasenflügel). 

Ausgedehnte Verwachsungen der Mundschleimhaut mit 
Ober- und Unterkiefer, der Lippen, Augenlider, Nasen¬ 
öffnungen und des äusseren Gehörganges nach tiefen ulcerirenden 
Verletzungen des Gesichtes werden, wenn sie sich als unoperabel erweisen, 
zu schweren Schädigungen der Sprache, Ernährung, des Ge¬ 
sichtes, Gehöres und Geruches führen. 

Der Grad der Verunstaltung bei Narben des Halses ist von der 
Localisation wesentlich abhängig und bei weniger ausgebreiteten Narben 
und an durch die Kleidungsstücke geschützten Stellen nicht beachtenswert. 
Andererseits können durch narbige Contracturen so hochgradige Ver¬ 
drehungen des Kopfes resultiren, dass die Bewegungen desselben voll¬ 
kommen behindert sind. 

In gleicher Weise bedingen ausgedehnte Narben des Brustkorbes 
Verkrümmungen und Verstellungen desselben, Narben der Ge- 
schlechtstheile beeinträchtigen das Begattungs-, Zeugungs- und 
Gebärvermögen durch narbige Stricturen des Gliedes oder Verwachsungen 
und Verengungen der Scheide; Narben am Mittelfleisch der Frau 
können ein wichtiges Gebärhindernis abgeben und bei beiden Geschlech¬ 
tern die Defäcation nicht unwesentlich störend beeinflussen. 

Bei Narben, die aus weitgehenden Zerstörungen der Haut der 
Gliedmassen nach Verbrennungen zweiten und dritten Grades er¬ 
wachsen, bleiben unter Umständen Functionsbehinderungen zurück, welche in 
extremen Fällen dem völligen Verlust des Gliedes gleichzusetzen 
sind. Nach Verwachsungen der Hinterflächen des Unter- und 
Oberschenkels, Verwachsungen der oberen Extremitäten mit der 
Brustwand, der Beugeflächen des Ober- und Unterarmes u. dgl. 
können zwar die geschädigten Glieder im Laufe der Zeit durch Dehnung des 
Narbengewebes an Beweglichkeit gewinnen, aber meist führen auch die Ein¬ 
griffe des Chirurgen behufs Lösung der Functionsbehinderung zu keinem be¬ 
friedigenden Resultat. Der Grad der Functionsstörung durch die über 
Gelenken sitzenden Narben wird für die Beurtheilung der nur vor¬ 
übergehenden oder immerwährenden Berufsunfähigkeit die Directive abgeben. 

Schliesslich sei erwähnt, dass bei jugendlichenlndividuen, deren 
Wachsthum noch nicht abgeschlossen ist, durch continuirlich wirkenden 
Narbenzug und Druck die Knochenentwicklung soweit behindert werden 
kann, dass höchst auffällige und entstellende Assymetrien, z. B. im Gesichte, 
resultiren; oder in Folge von Veränderungen der Gelenksenden 
und Atrophie der Knochen und Muskeln der Ausgang in Siechthum 
eintritt. 

Die Narben der Sehnen und Muskeln im Gefolge von tiefen, 
eiternden Wunden bei Quetschungen u. dgl. sind nach den gleichen Gesichts¬ 
punkten bezüglich der Functionsbehinderung zu beurtheilen, wie dies oben 
lür die Narben der Haut bereits ausgeführt wurde. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 22 


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d) Heil verlauf. Die durch mannigfache Abweichungen vom normalen Wundverlauf 
bedingte Verzögerung der Wandschliessung verursacht naturgemäss ein wechselndes Bild 
im Aussehen der Narbe, welches noch nachträglich verwertbare Anhaltspunkte für die 
Beurtheilung der Wundheilung bietet. Eine scharflinige Durchtrennung der Haut 
vereinigt sicn bei Ausschluss einer primären oder secundären Wundinfection und bei Vermei¬ 
dung von Malträtirungen anderer Art unter gewöhnlichen Verhältnissen in Gestalt einer 
schmalen, linearen Narbe; während nach sicher constatirter, ursprünglich scharf- 
randiger Verletzung der Ausgang der Verheilung in ein hochgradig gewulstetes, 
unregelmässig gegen die Umgebung abgegrenztes Narbengewebe mit Ver¬ 
dichtung, Röthung und Infiltrirung der Nachbarschaft darauf hindeutet, dass im phyBio¬ 
logisch en Ablauf desV ernarbungsprocesses irgend eine Störung, z. B. m Folge 
langwieriger Eiterung mit necrotischem Zerfall einzelner Gewebsreste eingetreten ist. Con- 
tinuitätstrennungen mit vielfach gequetschten und gerissenen Wundrändern 
führen meist zu unregelmässigen, starren und breiton Narben, selbst unter den 
denkbar günstigsten Bedingungen bei Verschluss per primam. Bei an der Unterlage mehr 
weniger unbeweglich fixirten Narben hat die Tiefe der Wunde bis zum bezüglichen 
befestigenden Grunde (Fascie, Periost und Knochen) gereicht. 

e) Identitäts-Nachweis. Die Anwesenheit verschiedenster Narben 
und Narbenzüge an den wechselndsten Körperstellen unbekannter Personen 
oder deren Leichen ist in manchen Criminalfällen von ausschlaggebender Be¬ 
deutung für die Feststellung der Identität geworden. Auch an der Leiche 
lassen sich diese anatomischen Merkmale einer vorausgegangenen Verletzung 
bei genauer Untersuchung am Glanze der vernarbten Stelle, an der 
Farbe, am Mangel oder an der abweichenden Anordnung der Faser¬ 
zeichnung der Haut noch nach vielen Jahren erkennen. Nur ganz ober¬ 
flächliche Narben geringerer Ausdehnung können durch Schrumpfung der 
Oberhautgebilde undeutlich werden. Als eine specifische, durch eingeheilten 
Farbstoff gekennzeichnete Art von Narben sind die Tätowirungs-Marken 
anzusprechen, die sich an den verschiedensten Stellen des Körpers bei Per¬ 
sonen beiderlei Geschlechtes vorfinden können. 

In unseren Breitegraden liefern den weitaus grössten Percentsatz der Tätowirten der 
Soldaten- und Matrosenstand und in Straf- und Besserungshäusern unter¬ 
gebrachte Personen; wie überhaupt Internirungen aUer Art die Beschäftigungslosenzu 
dieser Form der Körperbemalung anzuleiten scheinen. Während bei den europäisches 
Völkern mit Ausschluss der Mädchen in Bosnien und der Herzegowina, wo das 
Tätowiren landesüblich ist, diese Art der Körperverzierung nur ausnahmsweise beobachtet 
wird, ist dieselbe unter den halbcivilisirten Stämmen der Südsee als allgemeiner 
Volksbrauch eingeführt, dem sich alle Glieder der Gesellschaft ohne Unterschied zu 
einer bestimmten Zeit (meist zur Zeit der Geschlechtsreife) unterwerfen. 

Unter Tätowiren versteht man das Fixiren verschiedenartiger 
Zeichnungen auf der Körperoberfläche durch Einverleibung 
von Farbstoffen (Zinnober, Tusche, Berlinerblau, Waschblau, 
Tinte, Schiesspulver, gepulverte Kohle, Antimonoxyd u. dgl.) 
in kleinste Hautstichwunden und Einheilung derselben durch 
den Vernarbungsprocess. 

Ausgeführt wird diese Procedur mit eigens zu diesem Zwecke construirteu 
Instrumenten in Form von kleinsten Häkchen aus Knochen oder Muscheln 
(Neuseeland), oder in Gestalt mehrerer mit einander zu einem Bündel vereinigter 
Nadeln, deren in die Farblösungen getauchte Spitzen in die Haut hineingetrieben werden 
Die zur Tätowirung gewählten Ornamente sind meist bildliche Darstellungen, die auf 
die verschiedensten Wechselfalle aus dem Leben der betreffenden Personen Bezug haben 
und des Oefteren auch seelische Vorgänge aus gewissen Lebensepochen widerspiegeln. So 
findet man als Sinnbilder der Liebe: Initialen des Namens der oder des ueliebten, 
Angabe der Zeit der ersten Liebe, ein oder mehrere von Pfeilen durchbohrte Herzen, ver¬ 
schlungene Hände, Frauenfiguren, das Bildnis der Auserwählten, Liebesgedichte etc. Die 
Symbole des Krieges, vorwiegend beim Soldatenstand, erstrecken sich auf zeitliche An¬ 
gaben über den Eintritt beim Militär, Dauer der Dienstzeit, Jahreszahl einer denkwürdigen 
Schlacht und auf die Darstellung verschiedener Waffengattungen, als gekreuzte Flinten oder 
Bajonette bei der Infanterie; Dampfer, Barke, Anker bei Marine; Bombenmörser bei 
Festungsartillerie; Kanonen mit Granaten oder Kugelpyramide bei Feldartillerie u. dgl. 
Die religiösen Zeichen: Kreuz mit Kreis, Herz Jesu von Kerzen umgeben, Bild des 
Sacramentes, Crucifix, Schutzheilige, bildliche Darstellung der Kreuzigung Christi u. A. 
finden sich besonders als Ausdruck eines frommen Gemüthes bei der Landbevölkerung der 


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Alpengegenden häufig. Ausserdem beziehen sich die Zeichnungen nicht selten auf das 
Gewerbe, so dass sie die Beschäftigung der Tätowirten andeuten, oder es kommen Kraft 
and Stärke durch Thiere (Löwe) und die Verehrung für gewisse Personen, als Fürsten, Poli¬ 
tiker etc. durch deren Porträtirung zum Ausdruck. Das unbändige Gefühl der Rache 
bezeichnet die Darstellung des Todtenkopfes oder gespannter Schusswaffen und eines ge¬ 
zückten Dolches etc. 

Die forensische Bedeutung all dieser mannigfachen Zeichen für 
die Erkennung und Feststellung unbekannter Personen in Folge von sicht¬ 
lichen Anklängen in der bildlichen Figur an Stand und Gewerbe ist umso 
einleuchtender, als durch den Vernarbungsprocess der Farbstoff durch 
Jahrzehnte festgehalten wird und nur in den seltensten Fällen bei schon 
ursprünglich schwachen Marken oder nach Anwendung bezüglicher Hilfsmittel 
(Aetzung oder Auskratzen) ganz spurlos verschwindet. An abgebleichten und 
unkenntlich gewordenen Tätowirungszeichen kann der Nachweis von Farb¬ 
stoff in den regionären Lymphdrüsen die letzten Zweifel beheben. 
Die Bestrebungen der Schule Lombroso’s, in den Tätowirungsmarken un¬ 
trügliche Attribute des geborenen Verbrechers zu erblicken, 
haben vor einer unbefangenen Kritik deutschen Forschergeistes nicht Stand 
halten können. 


2. Werkzeuge und Waffen. Die Mannigfaltigkeit der Werk¬ 
zeuge, welche in einem Untersuchungsfalle gelegentlich zur Begutachtung 
dem Arzte vorgelegt werden können, ist eine derartig grosse, dass eine 
erschöpfende Aufzählung und Darstellung derselben unthunlich erscheint. Es 
genüge der Hinweis darauf, dass sämmtliche handlichen Gegen¬ 
stände der menschlichen Umgebung, zuweilen einzelne Körper¬ 
teile selbst (Füsse, Hände, Zähne) unter Umständen zur Verwendung ge¬ 
langen. Die Nothwendigkeit einer besonderen gerichtsärztlichen Beurtheilung 
von Werkzeugen und Waffen ergiebt sich aus der Forderung des Richters 
nach einer genauen Qualification des Instrumentes im Sinne 
des Strafgesetzes. Die hiefür in Betracht kommenden Fragen beziehen 
sich auf die Bestimmung der Art des die vorliegende Verletzung ver¬ 
anlassenden Werkzeuges, der Anwendung desselben bei Aus¬ 
führung der That, seiner Eignung, die nachgewiesene Wunde zu setzen, 
und schliesslich auf die Entscheidung, ob der Gebrauch des vorgezeigten 
Instrumentes gemeinhin Lebensgefahr einschliesse, und ob die Ver¬ 
letzung auf eine solche Art unternommen wurde, womit gemeiniglich 
Lebensgefahr verbunden ist (österreichisches Strafgesetz § 155 a). 

Häutig kann bei genauester Würdigung aller bezüglichen Momente Auf¬ 
klärung über den Hergang bei der Verletzung, über die zeitliche 
Aufeinanderfolge der einzelnen Verletzungen und bei mehreren Theil- 
habern über die Thäterschaft, beziehungsweise Zugehörigkeit dieser 
oder jener Verletzung zu den einzelnen, in Verwendung gestan¬ 
denen Instrumenten gegeben werden. Zur Erleichterung der Eintheilung 
und um den praktischen Bedürfnissen des Gerichtsarztes Rechnung zu tragen, 
empfiehlt sich, dem Vorgänge von Liman folgend, bei der ausserordentlichen 
Verschiedenheit der verletzenden Werkzeuge nach Grösse, Form 
und Schwere, die Classificirung derselben nach ihren Effecten, 
obwohl eine derartige Gruppirung einen Anspruch auf wissenschaftliche Be¬ 
rechtigung niemals erheben kann. 

Danach unterscheiden wir am besten scharfe, spitze, stumpfe 
und stumpfkantige Instrumente und Feuerwaffen; und die sie 
kennzeichnenden Verletzungen tragen in ihrem Aussehen im Allge¬ 
meinen die Eigenheiten und Merkmale von Schnitt-, Stich-, Riss- 
und Schusswunden, sodass mit Verwertung der Charakteristica der¬ 
selben die Bestimmung der Art des verletzenden Instrumentes meist keine 
Schwierigkeiten bietet. An gewissen Körperstellen, wo die Haut straff 

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GERICHTLICHE MEDICIN. 


über die knöcherne Unterlage gespannt ist (Schädel) oder über 
eine scharfe, vorspringende Knochenleiste zu liegen kommt (crista 
tibiae, linea semicircularis ossis occipitis externa etc.) können durch Auf¬ 
oder Anschlägen an stumpfe, selbst flache Gegenstände scharf- 
randige lineare Verletzungen der Haut in Folge Berstung der¬ 
selben entstehen, die nach der Beschaffenheit der Wundränder als völlige 
Schnittwunden imponiren würden. Die Beschau des Wundgrundes wird jedoch 
auch hier in den meisten Fällen allen Zweifel beheben lassen durch den Nach¬ 
weis von einzelnen Gewebsbrücken (Blutgefässe und Nervenstämmchen), die 
in Folge ihrer grösseren Resistenz die Wundränder noch verbinden; die Beur- 
theilung bezüglicher Narben wird den angedeuteten Verhältnissen Rechnung 
tragen müssen. In besonderen Fällen kann auch z. B. zur Beurtheilung von 
Waffen und elektrischen Anlagen die Zuziehung fachtechnischer Sachverstän¬ 
diger der Waffenkunde und der Elektrotechnik beantragt werden, wenn die 
ärztlichen Kenntnisse zur Klärung des Sachverhaltes nicht ausreichen. Jedes¬ 
mal muss aber der gutachtlichen Aeusserung eine gewissenhafte Beschrei¬ 
bung des Instrumentes in allen seinen Theilen nach Grösse, Form, 
Ausdehnung, Festigkeit, Schärfe und Schwere, und genaue Angabe 
über die Anwesenheit eventueller Gewebsreste in den Fugen, Ritzen und 
Unebenheiten seiner Bestandtheile vorausgehen. Ein vergleichsweises Zu¬ 
sammenhalten der Grössen Verhältnisse des Werkzeuges mit der 
Form und Ausdehnung der Verletzung wird die Entscheidung der Frage, ob 
das vorgewiesene Instrument die in Rede stehende Wunde etc. zu erzeugen 
geeignet war, mit Leichtigkeit gestatten, wenn auch zugegeben werden muss, 
dass nur bei Verletzungen des Knorpels und des Knochens die zurückblei¬ 
benden Eindrücke der Umrisse und Kanten des Werkzeuges die bestimmte 
Beantwortung gestatten. In manchen Fällen wird sogar eine Aeusserung 
im verneinenden Sinne von Bedeutung werden. Ob die Verletzung mit 
grosser Gewalt beigebracht wurde, ist aus dem überwundenen Widerstand 
durch schützende Kleiderlagen, Knöpfe, Riemen, Brieftasche, Uhr und dgl. 
zu ermessen. Aus der Localisation und Wundrichtung mit Berücksichtigung 
aller besonderen Umstände des Falles (Anordnung der Kleider, eventuelle 
Lage des Leichnams u. s. w.) sind mitunter höchst wertvolle Schlüsse auf 
die Stellung des Thäters möglich. Die Lage der Verletzung in der Herz¬ 
gegend oder am Unterleib und an den seitlichen Halspartien in der Um¬ 
gebung der grossen Halsgefässe im Vergleiche mit der Tiefe des Wundcanals 
gestattet das Urtheil, dass die Handhabung des Werkzeuges (Messer, Dolch 
u. dgl.) auf eine solche Weise erfolgte, mit der gemeiniglich Lebensgefahr 
verbunden ist. Aus der Anordnung und der Art bestimmter Verletzungen, 
die ein fachgemässes Führen des Instrumentes voraussetzen, lassen sich unter 
Umständen Anhaltspunkte für das Erkennen des Gewerbes des Thäters (Fleisch¬ 
hauer, Raseur u. dgl.) gewinnen. Das wechselnde anatomische Verhaltender 
Verletzungen begründet die Annahme der Verwendung von verschiedenen 
Werkzeugen bei Ausführung eines Verbrechens, wobei in der Deutung der 
Verhältnisse betreffs der Zahl der Thäter grosse Vorsicht geboten erscheint, 
nachdem die verschiedenartig gestalteten Verletzungen auch nur von einem 
Individuum gesetzt sein können. 

Die Frage nach der zeitlichen Aufeinanderfolge mehrerer Verletzungen 
lässt sich bei Anwesenheit von leichteren und einer schweren Verwundung, 
die den sofortigen Tod bedingen musste, ohne Schwierigkeiten dahin ent¬ 
scheiden, dass die ersteren voraussichtlich vor der letzten zugefügt wurden. 
Desgleichen werden Verletzungen, die als Zeichen geleisteten Widerstandes 
gedeutet werden müssen, vor einer tödlichen Verwundung beigebracht 
worden sein. 

Bezüglich der Beurtheilung der Folgen von Verletzungen im Sinne 
der Lebenswichtigkeit und des Ausfalles bestimmter Functionen, muss daran 


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GERICHTLICHE MEDICIN. 


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erinnert werden, dass Individuen mit Herzstichwunden und Ver¬ 
letzungen der grossen arteriellen und venösen Gefässe, mit 
Zertrümmerung des Schädels nebst ausgedehnten Hirnwunden zu 
gewissen Verrichtungen befähigt sind, Ortsveränderungen vornehmen 
können, schreien, laufen, sich zur Wehre setzen und dgl. Selbst 
complete Durchschneidung der Weichtheile des Halses mit Durch¬ 
trennung der Luftröhre bis an die Wirbelsäule schliesst den Gebrauch 
der Stimme für kürzere Zeit nicht gänzlich aus; sowie es auch der Erfahrung 
entspricht, dass mit Schenkelhals-Fractur behaftete Personen kleinere 
Strecken Weges zurückzulegen im Stande sind. 

3. Fassspuren. Wenn auch nicht geleugnet werden darf, dass die ge¬ 
naue Beobachtung und entsprechende Verwertung der an einem Thatorte des 
Verbrechens zurückgelassenen Fussspuren von folgenschwerer Bedeutung für 
die Aufklärung einer strafgerichtlichen Untersuchung werden kann, so darf 
andererseits auch nicht verschwiegen werden, dass zu einschlägigen, brauch¬ 
baren Beobachtungen selbst dem vielbeschäftigten Gerichtsarzte nur höchst 
selten Gelegenheit geboten wird, weil erfahrungsgemäss zum Theil infolge un¬ 
sachlichen Vorgehens bei einschlägigen Vorkommnissen durch die Hilfsorgane, 
znm Theil durch ungeschicktes Dazwischentreten unbetheiligter Neugieriger 
oder der Entdecker des Verbrechens, denen die Einsicht für den Wert der 
Verhältnisse fehlt, diese untrüglichen Zeichen von der Anwesenheit der Thäter 
bis zur völligen Unkenntlichkeit verwischt und vernichtet werden. 

Soll aus einschlägigen Beobachtungen auch der gehörige Nutzen ge¬ 
zogen werden, darf allerdings nicht ausser Acht gelassen werden, dass eine 
sorgfältige, scharfsinnige und exacte Beschreibung aller Details und 
Eigenheiten der Spuren um so nothwendiger geboten erscheint, je gering¬ 
fügiger dieselben bei der ersten Beschau in die Augen springen. Eine nur 
oberflächliche, mit wenigen Worten zusammenfassende, summarische Behand¬ 
lung der Besonderheiten der Spuren ist dem völligen Fehlen aller bezüglichen 
Anhaltspunkte gleichzusetzen; und man darf bestenfalls mit dem negativen 
Ergebnis sich vollkommen zufrieden geben, wenn daraus nicht zum Ueber- 
fluss noch nebst Zeitverlust Täuschungen gröbster Art erwachsen. 

Eine subtile, alle Einzelheiten der Spur gewissenhaft be¬ 
achtende Description ist somit unerlässliche Vorbedingung für die nütz¬ 
liche Verwendbarkeit derselben zur Aufhellung des Straffalles. 

Die sich dem Auge des sorgfältigen Beobachters darbietenden, an dem 
Orte eines Verbrechens zurückbleibenden Fussspuren sind zweierlei Art und 
präsentiren sich entweder als einfache Abdrücke der mit färbendem Ma¬ 
terial, Blut u. dgl. behafteten Füsse und des Schuhwerks; oder es bleiben 
directe Eindrücke, plastische Abformungen derselben in dem nach¬ 
giebigen und erweichten Boden (Lehm, Koth, Sand, Schnee u. dgl.) zurück. 
Zur Fixirung der ersten empfehlen sich genaue Zeichnungen oder die 
Photographie, welche entschieden die wahrheitsgetreueste Wiedergabe aller 
Verhältnisse ohne jede subjectiven Zuthaten der Verfertiger darbietet; und 
für die letztere eine plastische Nachformung des Eindruckes, von 
der einzig und allein die wahrheitsgemässe Darstellung aller Tiefenverhält¬ 
nisse zu erwarten ist. 

Mit Hilfe der von Chausse empfohlenen Methode des Netzzeichnens wird es auch 
für den weniger Geübten möglich, die Spur in brauchbarer Weise für spätere Ver¬ 
gleichszwecke wiederzageben. Dieselbe besteht darin, dass man die Spor mit einem Recht¬ 
eck umzeichnet und auf dessen Seiten gleiche, möglichst kleine Theile aufträgt. Durch Ver¬ 
bindung der Theilstriche der gegenüberliegenden Seiten erhält man ein System kleinster 
Quadrate in die Spur eingetragen, sodass auf einem entsprechend grossen Blatt Papier, 
auf dem die gleichen Quadrate aufgezeichnet sind, die Uebertragung statthaben kann. 

Zur plastischen Darstellung der Eindrücke auf einem Boden verwendet man 
am Besten Gyps, Gyps und Cement oder Gyps und Sand zu gleichen Theilen, 
welche in feinst gepulvertem Zustand nach gehöriger Austrocknung der Spur, z. B. mit 


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GESCHLECHTSLEBEN. 


Fliesspapier, mit einem Sieb in die Vertiefungen eingestäubt werden, bis die Masse die 
Bodenfläche etwas überragt. Durch Begiessen mit Wasser mittelst einer fein durchlöcherten 
Brause einer Giesskanne wird die ganze Masse, über die ein trockener Leinwandlappen 
ausgebreitet ist, vorsichtig durchfeuchtet und durch gehörige Zeit sich selbst zur Erstarrung 
überlassen. Nachdem dieser negative Abdruck der Spur ausgehoben worden ist, können 
nach Beölung seiner Flächen nach Bedarf viele positive Abklatschungen vorgenommen 
werden, die alle die thatsächlichen Verhältnisse der ursprünglichen Spur wiedergeben. Ge¬ 
pulverte Stearinsäure, die durch Erwärmen verflüssigt wird, und eine Combination 
von Stearinsäure und Gyps wird von Hugoulin und Jaumes mit angeblich bestem Er¬ 
folge in Anwendung gebracht. 

Die Anfertigung von Zeichnungen, Photographien und plastischen Abdrücken der 
Spuren empfiehlt sich behufs Vornahme von Vergleichungen in allen Fällen, wo die ur¬ 
sprünglichen Formen am Thatorte nicht aufgehoben werden können. Durch diese Dar¬ 
stellungen lassen sich noch nach Jahren Aufschlüsse über die Grössenverhältnisse der 
Fussspuren erhalten. 

Aus der Anordnung, der Zahl und der Gestalt der an dem Orte eines 
Verbrechens Vorgefundenen Fussspuren werden wichtige Anhaltspunkte über 
die Art des Angriffes, über die Ausführung der That und die Betheiligung 
von ein oder mehreren Personen gewonnen, ebenso kann man wertvolle Zeichen 
eines geleisteten Widerstandes u. dgl. mit Leichtigkeit entnehmen. 

Dass besondere anatomische Merkmale und Abweichungen des Fußes von 
der Norm oder Eigenthümlichkeiten in der Beschuhung sichere Fährten zur 
Eruirung des Thäters bieten können, ist selbstverständlich. 

Schliesslich muss noch daran erinnert werden, dass ungeschicktes Mani- 
puliren an der Spur oder gar Eintretenlassen und Einlegen von Füssen ver¬ 
dächtiger Personen in dieselbe, wodurch naturgemäss die häufig sehr schwachen 
Conturen des Eindruckes zerstört werden, einem günstigen Ergebnis ein¬ 
schlägiger Untersuchungen keinen Vorschub leisten. 

c. IPSEN. 

Geschlechtsleben. Unter dieser Collectivbezeichnung fassen wir eine 
Beihe von auf den geschlechtlichen Verkehr des Menschen Bezug habenden 
Capiteln zusammen, welche von forensischer und hygienischer Bedeutung sind. 
Weiteres ist im nächstfolgenden Artikel „ Geschlechtsverhältnisse “ enthalten. 

1. Beischlaf (als Einleitung; Begriff und Erklärung). 

Der Begriff „Beischlaf“ nimmt das Interesse des Gerichtsarztes in 
doppelter Hinsicht in Anspruch: erstens in civilrechtlicher Beziehung, wenn 
es sich um die strittige Fähigkeit zur Ausübung des Beischlafes handelt, und 
zweitens in strafrechtlichem Verhältnisse, wenn eine Ausführung desselben 
unter gesetzwidrigen Umständen in Frage steht. Der civilrechtlichen Seite 
dieses Themas sind in den Abschnitten „Begattungsunfähigkeit“, „Zeugungs¬ 
unfähigkeit“ und „Conceptionsunfähigkeit“ (s. „Geschlechtsverhältnisse“) besondere 
Besprechungen gewidmet; hier bleiben allein die strafrechtlichen Gesichts¬ 
punkte zu erörtern. 

Der Begriff „Beischlaf“ wird im forensischen Sprachgebrauche vielfach 
verschieden definirt. Alle gegebenen Begriffserklärungen bewegen sich in 
verschiedenen Variationen zwischen zwei Grenzpunkten. Die Vertreter des 
einen Extrems sprechen von Beischlaf bereits da, wo eine innige Berührung der 
Geschlechtstheile des einen mit dem Körper eines anderen Individuums stattfand, 
während die Wortführer des anderen erklären, dass man von einem wirklichen 
Beischlafe nur da reden dürfe, wo mit der immissio penis in vaginam auch 
eine immissio seminis zustande gekommen sei. Zu einer befriedigenden De¬ 
finition gelangen wir unseres Erachtens allein durch Basirung des forensischen 
Begriffes auf dem physiologischen. In der Physiologie bedeutet das Wort 
„Beischlaf“ diejenige Vereinigung der männlichen mit den weiblichen Ge- 
schlechtstheilen, welche den Zweck der Zeugung verfolgt. Diese physiolo¬ 
gische Vereinigung zieht gemeinhin als unmittelbare Folgen nach sich: 1. ge¬ 
wisse anatomische Veränderungen an den weiblichen Genitalien, die Entjung- 


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GESCHLECHTSLEBEN. 


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ferung oder Defloration, und 2. die Ablagerung männlichen Samens in die 
weibliche Scheide. In der Regel resultiren diese beiden Folgen gemeinsam 
aus der geschlechtlichen Vereinigung, es kann jedoch auch sehr wohl gele¬ 
gentlich die eine ohne die andere eintreten. Nun ist aber jede von ihnen 
ftir sich allein im Stande, die sociale Existenz des weiblichen Individuums in 
tief einschneidender Weise zu beeinflussen. Einerseits kann ein Mädchen mit 
den Zeichen der Defloration auch ohne erfolgte Schwängerung gesellschaftlich 
erheblich geschädigt werden, andererseits tritt die gleiche Consequenz durch 
eine erfolgte Befruchtung in erhöhtem Maasse auch dann ein, wenn die ana¬ 
tomischen Merkmale der Defloration nicht zur Ausbildung gelangten. Als 
Beischlaf im gerichtsärztlichen Sinne definiren wir demgemäss: „eine jede 
Vereinigung der männlichen mit den weiblichen Geschlechtstheilen, die derart 
beschallen ist, dass aus ihr entweder die Defloration oder die Ablagerung 
männlichen Samens in die weibliche Scheide oder beides zugleich erfolgt oder 
doch erfolgen kann.“ Aus dem Begriffe Beischlaf auszuschliessen und dem¬ 
jenigen der „Unzucht“ zu subsummiren ist demnach die wollüstige Ver¬ 
einigung zweier Körper gleichen Geschlechtes, sowie die Befriedigung der 
männlichen Lust in einer anderen Höhle oder an einer anderen Stelle des 
weiblichen Leibes als in der Scheide. 

2. Ehe. 

„Ehe“ ist die gesetzlich anerkannte Vereinigung zwischen Mann und 
Weib zu dauernder Gemeinschaft aller Lebensverhältnisse. Sie gewährt die 
edelste Form der Befriedigung des Geschlechtstriebes und ermöglicht in 
höchster und bester Weise die Erfüllung des von der Natur beabsichtigten 
Zweckes dieses neben dem Hunger mächtigsten und unwiderstehlichsten 
aller Naturtriebe: die Erhaltung und Fortpflanzung des Menschengeschlechtes. 
Sie bildet die Grundlage der Familie, in welcher allein in bestmöglicher 
Weise das leibliche und sittliche Wohl der Gatten sowohl wie der Nach¬ 
kommen zu gedeihen vermag. Da sich in den mittleren Lebensaltern beide 
Geschlechter constanterweise im numerischen Gleichgewichte befinden, so ist 
von der Natur die Möglichkeit geboten, dass jeder Mann eine Frau und jedes 
Weib einen Gatten bekommen kann. Sociale Missverhältnisse aber bedingen 
es, dass in allen Culturstaaten wegen der grossen äusseren Schwierigkeiten 
für die Gründung eines Hausstandes nur wenig mehr als die Hälfte aller 
Erwachsenen verehelicht sind. Statistische Erfahrungen haben es längst er¬ 
wiesen, dass das Wohl der Individuen sowohl wie das des ganzen Staates in 
directem Verhältnisse zur Zahl der geschlossenen Ehen steht. Dies gilt zu¬ 
nächst für das leibliche Wohl. Der Gesundheitszustand der Verheiratheten 
ist durchschnittlich günstiger als der der Ledigen, und das erreichte 
höchste Lebensalter ist bei den ersteren in beiden Geschlechtern höher als 
bei den Unverheiratheten; trotz der Gefahren des Wochenbettes ist die Sterb¬ 
lichkeit unter den Ehefrauen auch während der Zeit der Fruchtbarkeit, vom 
20. bis 45. Lebensjahre, nicht so gross wie die unter den gleichaltrigen 
ledigen Weibern. Gleicherweise wirkt die Ehe günstig auf das sittliche Wohl 
der Einzelnen wie der Gesammtheit. Erfahrungsgemäss liefern die Verhei¬ 
ratheten ein verhältnismässig geringes Contingent zum Verbrecherthum; 
letzteres rekrutirt sich vielmehr in weit überwiegender Anzahl aus der Menge 
der Ledigen; auch Verwitwete, namentlich aber Geschiedene gerathen viel 
leichter auf Abwege als Eheleute, und überall tritt unter den Verbrechern 
die Zahl derjenigen, welche unehelich geboren und aufgewachsen sind, ohne 
je den segnenden Einfluss elterlicher Liebe und fester Familienzucht kennen 
gelernt zu haben, auffallend hervor. Besonders deutlich machen sich diese 
Unterschiede des Civilstandes in der Statistik der Selbstmorde geltend. 


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GESCHLECHTSLEBEN. 


Die Zahl der geschlossenen Ehen ist in den verschiedenen Ländern and Völkern sehr 
verschieden; sie wird durch eine ganze Reihe von Momenten beeinflusst, unter denen der 
gesammte Volkscharakter, das Maass des Öffentlichen und privaten Wohlstandes, sowie die 
Eigenart der Erwerbsbeschäftigungen obenan stehen. In südlichen Ländern wird im all¬ 
gemeinen in früheren Lebensaltern geheirathet, und werden mehr Ehen geschlossen, als 
z. B. bei uns, weil einmal die Geschlechtsreife früher eintritt, zudem der Volkscharakter 
leidenschaftlicher, rascher und weniger nachdenklich und besonnen ist, und weil zweitens 
die materiellen Bedürfnisse geringer sind, und der nothwendige Lebensunterhalt für die 
Familie leichter zu erwerben ist. Durchgehends ist ferner die Beobachtung zu machen, 
dass die Zahl der Ehen in städtischer Bevölkerung grösser ist als auf dem Lande; von 
wesentlichem Einflüsse ist uaturgemäss auch die Stufe der allgemeinen Sittlichkeit; je 
mehr ein Volk den ausserehelichen Geschlechtsverkehr als unmoralisch verabscheut, um so 
grösser wird das Streben jedes Einzelnen nach der Heirath sein. 

Einen sehr wichtigen Factor für die gesunde Entwicklung eines Staats¬ 
wesens bilden die Fruchtbarkeitsverhältnisse der in ihm geschlossenen 
Ehen. Diese werden von einer ganzen Reihe von Momenten beeinflusst, 
welche uns wohl nur zum Theil bekannt sind. Leicht verständlich ist die 
Beobachtung, dass der allgemeine Gesundheitszustand einer Bevölkerung auf 
die Fruchtbarkeit einwirkt, indem alles, was die Gesundheit fördert und 
kräftigt, auch die letztere hebt. Von Wichtigkeit ist in dieser Hinsicht eine 
rationelle Volksernährung und die Schaffung hygienischer Einrichtungen, 
welche alle Schädlichkeiten, namentlich für eine vorwiegend im Fabrikbetriebe 
thätige Bevölkerung ausschaltet. Von Wichtigkeit ist sodann das Alter der 
Heirathenden, dessen Durchschnitt wiederum vom Volkscharakter und allgemeinen 
Wohlstand, von der Eigenart der Erwerbsthätigkeit, sowie von Brauch und Sitte 
abhängig ist. Fast überall steht die Mehrzahl sowohl der Männer wie der 
Frauen zur Zeit der Eheschliessung im dritten Lebensjahrzehnt, dabei sind 
die Frauen zumeist jünger, die Männer meist älter als 25 Jahre. Ehen, bei 
deren Schliessung der Mann unter 21, die Frau unter 16 Jahre alt ist (so¬ 
genannte „vorzeitige Ehen“) erzielen meist eine schwächliche Nachkommen¬ 
schaft oder bleiben gänzlich unfruchtbar. Desgleichen ist erfahrungsgemäss 
auf eine geringere Kinderzahl zu rechnen, je mehr der Mann die Mitte der 
dreissiger, die Frau die Mitte der zwanziger Jahre überschritten hat. Von 
Einfluss ist auch das gegenseitige Altersverhältnis der Ehegatten derart, dass 
diejenigen Ehen am meisten Aussicht auf reichen Kindersegen haben, in 
denen der Mann weder jünger, noch auch erheblich älter ist, als die Frau. 

In richtiger Würdigung der Thatsache, dass geordnete Eheverhältnisse einen der 
wichtigsten Factoren für die gesunde Entwicklung eines Volkes bilden, ist von jeher in 
allen Culturstaaten in der Gesetzgebung die Regelung der ersteren besonders berücksichtigt 
worden. Die modernen Gesetzbücher enthalten meist sehr eingehende Bestimmungen hin¬ 
sichtlich des Eherechtes, namentlich setzen sie das für die Eheschliessung erforderliche 
Mindestalter fest, verbieten durchgehends die Heirath zwischen Blutsverwandten (siehe 
Blutsverwandtschaft) und enthalten Bestimmungen über die Lösung bestehender Ehen. 

3. Blutsverwandtschaft 

Der Begriff der Blutsverwandtschaft war von altersher bis zum heutigen 
Tage vielfach der Gegenstand lebhafter Erörterungen bezüglich der Frage, 
ob eine Blutsverwandtschaft der Ehegatten schädigend auf ihre Nachkommen¬ 
schaft einwirke oder nicht. 

Bei manchen Völkern, auch bei solchen mit vorgeschrittener sittlicher Cultur, war 
noch in geschichtlicher Zeit das Heir&then unter den nächsten Blutsverwandten gang und 
gäbe, wie z. B. bei den Egyptern und Persern; auch aus der Geschichte unserer heidnisch- 
germanischen Vorfahren sind uns Ehen zwischen Brüdern und Schwestern bekannt. Von 
den heute noch existirenden Naturvölkern gestattet ein Theil die Blutsverwandten-Ehe. 
während sie bei anderen verpönt ist. Das Verbot blutsverwandter Heirathen, welches von 
jeher im jüdischen Volke, wie auch im alten Rom zu Recht bestanden hatte, verschaffte 
sich mit dem Vordringen des Christenthums in immer weiteren Völkerkreisen Geltung; 
gleicherweise untersagt auch der Muhamedanismus die Ehe zwischen Blutsverwandten biß 
zum vierten Grade. 

Ob in der That die Blutsverwandtschaft der Eltern unmittelbar auf die 
Nachkommenschaft degenerirend einwirke, ist noch keineswegs sicher ent- 


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GESCHLECHTSLEBEN. 


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schieden. Unter den wissenschaftlichen Vertretern der Anschauung von der 
Schädlichkeit der Verwandten-Ehe sind die Franzosen Devay *> und Boudin **) 
und der Engländer Bewis ***) die namhaftesten. Sie behaupten, dass allgemeine 
Körperschwäche, Unfruchtbarkeit, körperliche Missbildungen, angeborene Taub¬ 
stummheit und Anomalien der Augen bis zu völliger Blindheit, ganz besonders 
aber psychische Minderwertigkeiten der verschiedensten Grade bis zu tiefstem 
Blödsinn als oft beobachtete unmittelbare Folgen aus der Blutsverwandtschaft 
der Eltern resultire. Andere Forscher dagegen (Oesterlen, Reich, Voisin, 
Bourgeois, Pürier, G. Darwin u. A.) vertreten die Anschauung, dass die 
Blutsverwandtschaft an sich unschädlich sei, und dass die genannten Uebel- 
stände, wo sie constatirt seien, in ungünstigen socialen und hygienischen 
Verhältnissen begründet seien, die in den betreffenden Fällen durch Gene¬ 
rationen hindurch unablässig sich geltend gemacht hätten. 

Die Erfahrungen, welche bei der rationellen Thierzucht experimentell gewonnen 
worden sind, scheinen für die Richtigkeit der letzteren Anschauung zu sprechen. Durch 
die sogenannte Inzucht nämlich, d. h. die fortgesetzte Paarung zwischen den Gliedern 
derselben Familie, welche häufig bis zur sogenannten Incestzucht, Paarung zwischen Vater 
und Tochter, Mutter und Sohn, Bruder und Schwester, getrieben wird, gelingt es — bei 
umsichtiger Fernhaltung schädigender und Wahrung aller möglichen begünstigenden 
äusseren Einflüsse — besonders charakteristische Vorzüge des betreffenden Stammes bei 
den Nachkommen zu festigen und zu potenciren. Durch zielbewusste Nutzanwendung dieser 
Erfahrung hat man geradezu die Entstehung und eine staunenswerte Vervollkommnung 
neuer Nutzviehrassen erreicht, wie z. B. die des berühmten Shorthorn-Rindes in England. 

Andererseits aber werden gleicherweise auch Fehler oder Schwäche¬ 
zustände vererbt und potencirt, zumal wenn ungünstige äussere Einflüsse, 
hygienische Unzuträglichkeiten in Nahrung, Behausung u. dgl. durch Generationen 
hindurch dauernd ein wirken. Es erscheint sehr plausibel, dass dieser Umstand 
für die constatirten Minderwertigkeiten der Descendenten weit verhängnis¬ 
voller ist als die Blutsverwandtschaft an sich. ****) 

Das Oesterreichische Recht führt als Ehehinderungsgrund folgende Verwandtschafts¬ 
grade an: Zwischen Verwandten in auf- und absteigender Linie, zwischen voll-und halbbürtigen 
Geschwistern, zwischen Geschwisterkindern, wie auch mit den Geschwistern der Eltern, 
nämlich mit dem Oheim und der Muhme väterlicher und mütterlicher Seite, kann keine 
gütige Ehe geschlossen werden, es mag die Verwandtschaft aus ehelicher oder unehelicher 
Geburt entstehen. 

Für das Deutsche Reich nennt gleichermaassen der §. 33 des am 1. Januar 1876 in 
Kraft getretenen Gesetzes über die Beurkundung des Personenstandes und die Ehe- 
ßchliessung vom 6. Februar 1875: 1. Verwandte in auf- und absteigender Linie, 2. voll- 
oder halbbürtige Geschwister, 3. Stiefeltern und Stiefkinder, Schwiegereltern und 
Schwiegerkinder jeden Grades ohne Unterschied, ob das Verwandtschafts- oder Schwäger- 
ßchaftsverhältnis auf ehelicher oder ausserehelicher Geburt beruht und ob die Ehe, durch 
welche die Stief- oder Schwieger Verbindung begründet wird, noch besteht oder nicht. 

Der geschlechtliche Verkehr zwischen solchen Verwandten gilt als Blut¬ 
schande, Incest, und wird in Oesterreich durch §. 131 des Strafgesetzbuches, 
respective §§. 184 und 185 des Strafgesetz-Entwurfes, im Deutschen Reiche 
durch §. 173 des Deutschen Strafgesetzbuches mit harten Strafen bedroht. 

4. Diagnose des stattgehabten Beischlafs. 

Es ist die Vorsicht anzuerkennen, welche durchweg von den praktischen 
Aerzten bei der Beurtheilung gerichtsärztlicher Angelegenheiten angewendet 
wird. Um so auffälliger muss es erscheinen, wie diese gerechtfertigte Vor¬ 
sicht vielfach ausser Acht gelassen wird bei der in Rede stehenden Frage 
der „Diagnose des stattgehabten Beischlafs“. Ich habe Gelegenheit gehabt, 
wahrzunehmen, mit welcher Sicherheit, aber auch Oberflächlichkeit diese zu- 

*) Devay, Hygiene des familles. 2. Edit. 1858. 

„ Du danger des mariages consangnines. Paris 1862. 

**) Boüden, Annales d’Hygiöne publ. et de medecine legale. II. Ser. Tome XVIII. 

***) Bewis, North American med. chir. Review 1858. 

****) Vergl. Nathusius „Vorträge über Viehzucht und Rassenkenntnis“. Berlin 1872. 
Settegast „Thierzucht“, 4. Aufl. Breslau 1878. 


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GESCHLECHTSLEBEN. 


meist Schwierigkeiten bietende Frage beurtheilt wird. Ohne Zweifel trägt 
hieran die Annahme Schuld, dass die Diagnose des stattgefnndenen Beischlafs 
leicht zu stellen sei, obwohl dieses nicht immer zutrifft; vielmehr kann es 
sich hier um eine schwer zu entscheidende, genaue Sachkenntnis voraus¬ 
setzende Angelegenheit handeln, deren Entscheid mit schwerwiegenden Folgen 
für den Angeklagten verknüpft sein kann. 

Will man mit Sachkenntnis an die Beurtheilung der Diagnose des 
stattgehabten Beischlafs herantreten, so ist in erster Linie nothwendig eine 
genaue Kenntnis von der Beschaffenheit unverletzter, jungfräulicher Geschlechts¬ 
organe, denn möglich ist diese Diagnose überhaupt nur dann, wenn der Bei¬ 
schlaf vollführt ist an jungfräulichen Personen. Waren die Geschlechts- 
theile aber bereits nicht mehr intacte, hatten schon früher Cohabitationen 
stattgefunden, oder waren gar die Geschlechtsorgane verändert durch Ent¬ 
bindungen, dann wird es nur in den seltensten Fällen möglich sein, die Frage 
zu entscheiden. Gänzlich unmöglich aber ist die Entscheidung nicht, wenn 
eben nur die angeblich Verletzte früh genug zur Untersuchung gelangt. Der 
Nachweis von Samen in den Geschlechtstheilen würde den vor kurzem statt¬ 
gefundenen Beischlaf mit Sicherheit darthun. 

Derartige Ereignisse sind selten. Fast immer handelt es sich bei dieser 
Frage um die Untersuchung von gemissbrauchten Kindern, jungen Mädchen, 
bei denen unverletzte Geschlechtstheile vorhanden waren. Nun werden als 
Zeichen der Jungfräulichkeit verschiedene anatomische Verhältnisse angeführt, 
wie das Aneinanderliegen der grossen Labien, die zarte röthliche Farbe und 
Beschaffenheit der kleinen, ein ähnliches Verhalten des Scheideneinganges. 
Aber ausschlaggebend nach dieser Richtung hin ist einzig und allein das 
Verhalten des Hymen, denn die genannten Organe können durch mancherlei 
Umstände — Onanie, Krankheiten — verändert, ihr charakteristisches Aussehen 
kann geschwunden sein, ohne dass selbst Beischlafsversuche stattgefunden haben. 

Bei allen diesen Untersuchungen wendet sich daher die Aufmerksamkeit 
des Gerichtsarztes dem Hymen zu; seine Beschaffenheit, die an ihm möglicher¬ 
weise stattgehabten Veränderungen können eine Diagnose gestatten. Ich sage 
„können“, keineswegs aber „müssen“, denn trotz wiederholter Cohabitationen 
kann der Hymen völlig unverletzt sein, wie es auch den Geburtshelfern eine 
bekannte Thatsache ist, dass selbst der Hymen Erstgebärender eine intacte 
Beschaffenheit zeigen kann, wenn solches Vorkommnis auch gewiss zu den 
Seltenheiten gehören wird, ebenso wie der unverletzte Hymen einzelner Pro- 
stituirten. Eine absolute, eine ausschliessliche Beweiskraft ist durch die 
Intactheit des Hymen nicht gegeben. Es ist gut, wenn man diese Einschrän¬ 
kung, diese Herabsetzung des diagnostischen Wertes des intacten Hymen 
sich von vornherein bei den Untersuchungen festhält, dann wird man die¬ 
selben mit um so grösserer Sorgfalt vornehmen, da man sich der Schwierig¬ 
keiten, welche die Untersuchung bieten kann, bewusst ist. 

Dieser Gedankengang führt aber in erster Reihe zu der Frage: „Wie 
ist der unverletzte Hymen beschaffen ?“ Nun ist diese Frage nicht so einfach 
zu beantworten, da der Hymen sehr erhebliche Verschiedenheiten bieten kann. 
Man braucht keineswegs hier an die so mannigfachen Abweichungen und Ab¬ 
normitäten zu denken, wie solche zahlreich in den gerichtlich-medicinischen 
Handbüchern verzeichnet und abgebildet sind. Jeder, der sich für diese Dinge 
interessirt, wird an den genannten Stellen genaue Beschreibungen und Ab¬ 
bildungen finden können. Hier, für die Beantwortung der aufgeworfenen 
Frage sollen nur die häufiger vorkommenden Verhältnisse berührt werden. 

Durchweg stellt man sich unter dem Hymen eine Dnplicatnr, eine Schleimhautfalte 
im Introitns vaginae vor, die von allen Seiten sich mehr oder minder gleichmässig zur 
Mitte erhebt, hier mit scharfem dünnen Rande ein meist ex centrisch gelegenes Foramen 
hymenaenm nmschliesst. Diese Vorstellung von der Scheidenklappe ist eine durchweg rich¬ 
tige, der Mehrzahl der Fälle entsprechend. Hat bei solcher Beschaffenheit des Hymen ein 
Beischlaf stattgefunden, so muss durchgehende eine Zerstörung der Scheidenklappe statt- 


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finden, dieselbe zerreisst mehr oder minder tief. Es bedarf nicht der Erwähnung, dass 
sowohl alsbald nach der Zerstörung als auch in späterer Zeit die stattgehabte Defloration 
festziisteilen ist. In frischen Fällen ist die Aufgabe leicht. Die Röthung und Schwellung 
der Vulva, des Scheideneingangs, die Secretion dieser Theile, vor allem die Einrisse des 
Hymen, welche am freien Rande beginnend mehr oder minder tief bis zur Ansatzstelle sich 
erstrecken, sichern die Diagnose; dazu tritt diemeist leichte Blutung, sowie die sabjectiven 
Angaben der Verletzten. Findet die Untersuchung in späterer Zeit statt, wie dieses in gerichts- 
ärztlicher Thätigkeit sich fast stets ereignet, so sind alle vorgenannten Erscheinungen ver¬ 
schwunden, bis auf die Einrisse des Hymen, welche allerdings jetzt vernarbt sind Aber 
auch bei diesen späteren Untersuchungen würde die Aufgabe, die Feststellung des statt¬ 
gehabten Beischlafs, unschwer zu entscheiden sein, denn die vernarbten Einrisse, weniger 
die zarten Narben, sind ja sichtbar, wenn man nur sicher darüber wäre, dass vor der 
Defloration keine der gleich zu erwähnenden Abweichungen vorhanden gewesen wäre. Hier 
beginnt die Schwierigkeit der Aufgabe, die so erheblich sein kann, dass man zur grossen 
Verwunderung des Gerichtshofes aussagen muss, die Frage könne nicht mehr mit Sicher¬ 
heit entschieden werden. 

Diese Abweichungen, die keineswegs selten sind, betreffen die Gestalt der Scheiden¬ 
klappe, den freien Rand derselben, das Foramen hymenaeum. In ersterer Beziehung ist 
henrorzuheben der lippenförmige und der gelappte Hymen. Der lippenförmige Hymen, 
welcher gleichsam ein drittes Paar Schamlippen vorstellt, zeigt ein Foramen hymenaeum 
mit grossem senkrechten Durchmesser, die seitlichen Theile sind entwickelt, weniger, fast 
gar nicht der obere und untere Saum. Es ist klar, dass bei solcher Gestaltung eine er¬ 
hebliche Spannung der Theile beim Eindringen des männlichen Gliedes nicht stattzuflnden 
braucht, die Einrisse, welche allein bei späteren Untersuchungen die Diagnose stützen, er¬ 
folgen nicht oder in geringem Maasse, und um so eher wird dieses dre Fall sein können, wenn 
die Organe geschlechtsreife waren und die Structur der Scheidenklappe eine grosse Dehn¬ 
barkeit gestattet. Auch in dieser letzteren Beziehung liegen erhebliche Verschiedenheiten 
vor. Mit grosser Wahrscheinlichkeit unterbleiben Einrisse bei dem gelappten Hymen Hier 
sind schon von vornherein Einrisse vorhanden, der Hymen besteht eben aus mehreren 
Lappen, eine Spannung der Scheidenklappe findet bei der Defloration nicht statt, das 
männliche Glied schiebt einfach die Lappen zur Seite. 

Auch der freie, scharfe Saum des Hymen, der die Integrität der Theile so leicht 
beweist, kann Anomalien zeigen. Die eben erwähnten angeborenen Einrisse oder, wie sie 
gewöhnlich genannt werden, „Einkerbungen“ betreffen nicht immer allein den freien Rand 
aer Scheidenklappe, sie können die ganze Membran bis auf die Ansatzstelle durchgreifen 
und selbstredend bieten sie umso grössere Schwierigkeit bei der Diagnose, je tiefer sie sind, 
je mehr der Hymen ein wirklich gelappter ist. Es wird von diesen angeborenen Einker¬ 
bungen stets hervorgehoben, dass ihre Lage symmetrisch auf beiden Seiten sei, und dadurch 
sei ihre Unterscheidung von Deflorations-Einrissen leicht. Das ist im allgemeinen richtig, 
aber es ist auch zu bedenken, dass Deflorations-Einrisse symmetrisch liegen können, da 
eine Gesetzmässigkeit bei der Entstehung der letzteren keineswegs vorliegt. 

Die sonstigen Abweichungen am freien Rande, die feinen Zackungen desselben, die 
feinen Wimperhaare u. s. w. sind für unsere Betrachtungen ohne W T ert. 

Auch das Foramen hymenaeum kann von sehr verschiedener Grösse sein, umso 
grösser, wenn der Saum, die Wände der Scheiden klappe gering entwickelt sind. In letz¬ 
terem Fall kann die Oeffnung so gross sein, dass der untersuchende Finger, Specula von 
sehr geringem Durchmesser bei vorsichtiger Untersuchung die Oeffnung passiren können, 
ohne Einrisse hervorznrufen. Ist bei smcher Gestaltung der Hymenalwände noch eine 
grosse Schlaffheit in denselben, wie überhaupt in den Geschlechtstheilen bei geschlechts- 
reifen Personen vorhanden, so ist eine Defloration ohne Entstehung von Einrissen denkbar, 
da eben eine Spannung der Theile nicht stattfindet. 

Es ist aus diesen Erörterungen ersichtlich, dass Untersuchungen, welche 
längere Zeit nach angeblichen Beischlafsversuchen angestellt werden, auf er¬ 
hebliche Schwierigkeiten bezüglich der Diagnose stossen können. Um diese 
letztere nach Möglichkeit stellen zu können, hat man sich unter schwierigen 
Verhältnissen insbesondere nach Narben umzusehen, denn Einrisse hinter¬ 
lassen Narben; wenn solche auch wegen ihrer Feinheit oft nicht sichtbar 
gemacht werden können, so gelingt es doch bei tieferen Einrissen an der einen 
oder anderen Stelle Narben zu sehen, die selbstredend bei angeborenen Ein¬ 
rissen fehlen. Es ist ferner zu beachten, dass die angeborenen Einkerbungen 
beiderseits sich symmetrisch gegenüberliegen. Vorzugsweise aber wird zu 
einem Urtheil gelangt werden können, wenn man die ursprüngliche Form, 
die Gestalt der Scheidenklappe durch Zusammenschieben des Scheideneinganges 
sich wieder herzustellen versucht. Dann kann man sich eine Ansicht von 
der Grösse, der Gestalt der Hymenalöffnung, des Hymens selbst, der Enge 
des Introitus vaginae bilden. 


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Unter schwierigen Verhältnissen ist eine Diagnose nur aut solchem 
Wege möglich. Da aber vor Beginn der Untersuchung die Schwierigkeiten 
nicht vorauszusehen sind, so sollen die Untersuchungen überhaupt nur an¬ 
gestellt werden bei guter Beleuchtung und vor allem bei geeigneter Lagerung 
der Verletzten auf Untersuchungsstuhl oder Tisch. Der Richter, dem die 
vorstehenden Schwierigkeiten nicht bekannt sind, ersucht vielfach um Unter¬ 
suchungen, die in irgend einem Nebenraum des Sitzungszimmers angestellt 
werden sollen. Einem derartigen Ersuchen kann nicht gefolgt werden, da die 
Genauigkeit der Untersuchung darunter leiden würde. 

Wenngleich durch die vorstehenden Erörterungen die hauptsächlich inter- 
essirenden Fragen beantwortet sind, so verdienen dennoch folgende Punkte einer 
Erwähnung, da sie fast stets im gerichtlichen Verfahren zur Sprache gelangen. 

Da erscheint es dem Richter auffällig, dass trotz der Angaben der Ver¬ 
letzten, gewöhnlich eines zum Beischlaf benutzten Kindes, der objective Befund 
ein negativer ist, das Hymen ist unverletzt gefunden. Demgegenüber muss 
hervorgehoben werden, dass es als Regel anzusehen ist, dass eine Verletzung 
der Scheidenklappe bei Kindern sehr selten gefunden wird. Die Enge der 
kindlichen Geschlechtstheile, das räumliche Missverhältnis zwischen ihnen 
und dem männlichen Gliede bedingt es, dass der Beischlaf sich in der Vulva 
abspielt und natürlich muss es daher erscheinen, dass der Hymen unverletzt 
ist. Nur mehrfache Beischlafsversuche bei älteren Kindern erweitern die 
Geschlechtstheile derselben und führen dann auch zur Verletzung der Scheiden¬ 
klappe. Die Angaben des gemissbrauchten Kindes über das mehr oder minder 
tiefe Eindringen des männlichen Gliedes sind ohne Wert dem objectiven 
Befunde des unverletzten Hymen gegenüber. 

Seitens des Angeklagten wird gewöhnlich hervorgehoben, dass die am 
Hymen constatirten Verletzungen von onanistischen Versuchen der Verletzten 
herrühren, oder dass selbige hervorgerufen seien nicht durch das Eindringen 
des männlichen Gliedes, sondern des Fingers des Angeklagten. 

In letzterer Beziehung wird ärztlicherseits selten ein Entscheid zu geben 
sein, es kann nicht festgestellt werden, ob die Hymenverletzungen durch das 
erigirte Glied oder den Finger des Angeklagten bedingt wurden. Nur wenn 
erhebliche Verletzungen des Scheideneingangs, der hinteren Commissur, des 
Dammes vorhanden sind, so werden diese Complicationen eher für die An¬ 
wendung des Fingers, als des Gliedes sprechen. 

Hinfällig ist zumeist der andere Einwand, die Entstehung der Hymen- 
Verletzungen durch Onanie. 

Es ist sehr wohl bekannt, dass die Onanie anch bei Mädchen weit verbreitet ist 
Aber diese Art der Selbstbefleckung spielt sich an und in den äusseren Geschlechtstheilen, 
zwischen den Nymphen, dem Vorhof, an der Clitoris ab. Eine Durchbohrung des Hymen, 
ein Eindringen des Fingers seitens des onanirenden Kindes in die enge Vagina findet des 
lebhaften Schmerzes halber nicht statt. Die mehrfachen Untersuchungen der in Idioten- 
und Epileptischen-Bewahranstalten zahlreich onanirenden Kinder haben das gleiche Re¬ 
sultat ergeben. 

Anders allerdings liegen die Verhältnisse bei geschlechtsreifen Personen, insbesondere 
bei denen, welche schlaffe, nachgiebige Geschlechtstheile besitzen oder deren Scheidenklappe 
die früher erwähnten Verhältnisse zeigen, den lippenförmigen oder gelappten Hymen, das 
grosse Foramen hymenaeum. Unter diesen Verhältnissen kann es dann auch Vorkommen, 
dass bei stetiger Onanie voluminöse Körper in die Vagina eingeführt werden, immer aber 
ohne erhebliche Verletzung des Hymen. 

Diese Vorkommnisse beweisen nur den vorstehend oft genug betonten 
Satz, dass der unverletzte Hymen allein eine ausschliessliche Beweiskraft gegen 
•den vollzogenen Beischlaf nicht besitzt. 

5. Nachweis von Sperma. 

Es ist eine des häufigeren vorkommende Aufgabe in der gerichtsärzt¬ 
lichen Thätigkeit, Untersuchungen auf Samen vorzunehmen. In der Regel 


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sollen derartige Untersuchungen an Kleidungsstücken, insbesondere Hemden 
ausgeführt werden. Viel seltener wird es sich um den Nachweis von Samen 
am lebenden oder todten Körper handeln. 

Was zunächst diese Untersuchungen am lebenden Körper betrifft, so kommen die¬ 
selben in Frage bei Nothzuchtsattentaten, insbesondere solchen bei Kindern. Wenn auch 
derartige Attentate des häufigeren Vorkommen, so hat dennoch der Gerichtsarzt selten 
Gelegenheit, die Kinder daraufhin zu untersuchen, ob an oder in den Geschlechtstheilen 
derselben sich Samen nach weisen lässt. Zunächst führen die Eltern das Kind zu dem 
Arzte der Familie, und wenn diese Zuführung alsbald erfolgt, so wurde es seitens des 
Arztes unschwer sein, den Nachweis des Samens zu erbringen. Da aber derartige Unter¬ 
suchungen doch verhältnismässig sehr selten an den praktischen Arzt herantreten, so 
werden dieselben im gegebenen Falle gewöhnlich unterlassen. Gelangt die Sache zur 
Kenntnis der Gerichtsbehörden, so bringt, es der Gang der Untersuchung mit sich, dass 
erst nach längerer Zeit der Gerichtsarzt mit der Untersuchung des Kindes betraut wird. 
Dann aber ist nicht mehr darauf zu rechnen, den Nachweis von Samen an oder in den 
Geschlechtstheilen zu erbringen. In frischen Fällen ist wie gesagt der Nachweis leicht. 
Es bedarf nur des Aufstreichens des an oder in den Geschlechtstheilen sich befindenden 
Schleimes auf Deckgläser und der mikroskopischen Durchsicht desselben. Will der Arzt 
diese Untersuchungen nicht durchführen, so genügt es, etwas von dem Schleim zwischen 
zwei Objectträger einzubetten und letztere dem Untersuchungsrichter zur weiteren Be¬ 
förderung zu übergeben. 

Noch seltener wie am lebenden Körper sind die Untersuchungen an der Leiche. 
Nur die in der jüngsten Zeit des öfteren vorkommenden Lustmorde naben Veranlassung 
gegeben, an den Geschlechtstheilen der Ermordeten derartige Untersuchungen anzustellen. 

Der Nachweis des Samens in den Geschlechtstheilen würde stets ein sicherer Be¬ 
weis für den vollzogenen Beischlaf sein. 

Die weitaus häufigste Art der Untersuchung auf Samen wird an Klei¬ 
dungsstücken, Hemden, ausgeführt. Wer mehrfach diese Untersuchungen vor- 
genommen, der weiss, dass das äussere Ansehen der so mannigfach in der 
Wüsche vorkommenden Flecke — Secret der Scheide, Urin, Koth, Schmutz — 
niemals genügen kann, um Samenflecke zu erkennen. Für gewöhnlich handelt 
es sich um Wäsche von Kindern der niederen Volksclassen, und diese Wäsche, 
Tage oder Wochen lang getragen, zeigt naturgemäss eine Menge der ver¬ 
schiedensten Flecke. Immerhin aber kann die einfache Besichtigung zur 
Orientirung dafür dienen, welche Stellen zur Untersuchung auszuwählen sind, 
denn Samenflecken auf Leinwand steifen dieselbe, sie zeigen unregelmässige 
Begrenzung, graue Farbe mit leicht grünlichem Schimmer. Niemals aber 
können diese Zeichen, seien sie noch so deutlich vorhanden, befänden sie sich 
auf ganz reiner Wäsche, eine Beweiskraft beanspruchen für die Diagnose: 
.Samenfleck“. 

Dieser Beweis kann allein erbracht werden durch die mikroskopische 
Untersuchung der auf Samen verdächtigen Flecke, and zwar allein durch den 
Nachweis der Spermatozoen. Das Auffinden dieser charakteristische^ Gebilde 
lässt weiteren Zweifel nicht zu, während die sonst im Samen vorkommenden 
Bestandteile, wie Epithelien, lymphoide Zellen, Spermatinkrystalle u. s. w. 
irgend eine beweisende Kraft nicht besitzen, sie sind für die Untersuchung 
nur hinderlich, da sie die Durchsuchung der Präparate erschweren. Sperma¬ 
tozoen aber sind solche wohl cbarakterisirte Gebilde, dass Verwechslungen 
kaum möglich sein werden. Der bimförmige Kopf, der lange fadenförmige 
Schweif, die Grösse 0-035—0-050 mm , lassen sie alsbald erkennen. Die lebhaften 
Bewegungen, welche Samenfäden in frisch entleertem Secret zeigen, wird der 
Gerichtsarzt kaum jemals sehen, da Untersuchungen an frischem Samen 
sehr selten sind. 

Wenn auch die Untersuchung auf Samen an Kleidungsstücken zeit¬ 
raubender, schwieriger ist, wie am menschlichen Körper, so ist diese Unter¬ 
suchung eine mehr Erfolg versprechende, da die Haltbarkeit der Samenfäden 
auf den genannten Substraten noch nach Wochen und Monaten selbige nach- 
veigen lassen kann. Es kommt hier wesentlich darauf an, welche Behandlung 
die Wäsche, Kleidungsstücke erfahren haben in der Zeit, bis sie an den 


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untersuchenden Arzt gelangen. Bis dahin werden diese Gegenstände vielfach 
besehen, sie werden zusammengerollt, verpackt, durch die Post an die Unter¬ 
suchungsbehörde geschickt, endlich dem Arzt übergeben. Durch diese mehr¬ 
fachen Manipulationen werden die im eingetrockneten Samen so leicht zer¬ 
brechlichen Gebilde zerstört, im mikroskopischen Bilde sieht man dann so 
oft Köpfe ohne Schweife, und ist der Zusammenhang von Kopf und Schweif 
aufgehoben, so ist die Diagnose allein aus diesen Fragmenten nicht mehr 
möglich, denn zur sicheren Erkennung des Samens gehört wenigstens ein 
völlig erhaltener Samenfaden. 

Untersuchung von Samenflecken. Die Behandlung der verdächtigen Flecke 
auf Leinwand, Kleidungsstücken, Möbeln u. s. w. kann in verschiedener Weise erfolgen: 

Ist der Same, wie das nicht häufig vorkommt, in dicker Schicht aufgetragen, so 
kann von letzterer ein kleines Blättchen einfach mit dem Messer abgehoben und auf ein 
Deckglas gelegt werden. Häufiger ist der Same in die Leinwand eingezogen. Dann 
werden kleine Stückchen der verdächtigen Stellen ausgeschnitten, in eine kleine, stark 
vertiefte Uhrschale gegeben, mit einigen Tropfen destillirten Wassers befeuchtet, mit einem 
Glase bedeckt und nun 6—12 Stunden stehen gelassen. Am rathsamsten beschickt man 
4—6 Uhrschalen mit Leinwandstückchen am Abend. Am nächsten Morgen zieht man die 
Stückchen auf den Rand der Uhrschale mit einer Pincette. drückt dieselben hier aus, und 
es fliesst dann eine trübe, milchige Flüssigkeit in die Uhrschale, von welcher dann 1—2 
Tropfen auf Deckgläser gebracht werden. Oder aber man schneidet die verdächtigen Stellen 
aus und zieht aus dem Gewebe mehrere Fäden hervor, die nun auf Deckgläser gelegt 
werden. 

In früherer Zeit wurden nun diese Präparate sofort mit starken Vergrösserungen 
(300 und darüber) untersucht. Wegen Farblosigkeit der Spermatozoen war das Auffinden 
stets schwierig und die ganze Untersuchung eine ungemein zeitraubende. Eine wesent¬ 
liche Erleichterung hat die Aufgabe durch das Färben der Spermafäden erfahren, eine 
Färbung, wie sie in gleicher Weise ausgeführt wird bei den Bacterien. Nachdem das Prä¬ 
parat lufttrocken geworden, dreimal leicht durch die Flamme gezogen, wird es mit Farb- 
flüssigkeit benetzt, diese recht lange, bis zu mehreren Stunden, auf dem Präparat gelassen 
und dann erst abgespült. Es sind bestimmte Färbemethoden empfohlen (Ungar, Bräutigam), 
ich habe die gewöhnlichen Farbstoffe — Hämatoxilin, Fuchsin, Gentianaviolett u. s. w,— 
für hinreichend brauchbar gefunden, wenn ihre Einwirkung nur genügend lange gewesen 
war. Der Vorzug dieses Verfahrens besteht darin, dass nun mit geringen Vergrösserungen 
(100—150) die Objecte durchmustert werden können. Bei einiger Uebung erkennt man 
schon mit diesen geringen Vergrösserungen die Spermatozoen, auf verdächtige Stellen wird 
dann stärkere Vergrösserung eingestellt Wer dieses Verfahren einigemale geübt hat, wird 
gewiss nicht zu der alten Methode zurückkehren; auch bedarf es nicht mehr der Ein¬ 
trocknung der Präparate und späteren Durchsuchung, wie solches von Pinojs und Limas 
empfohlen war. Sind viele Epithelien aus den Samenwegen dem Präparate beigemischt, 
so empfiehlt es sich, solche durch Betupfung mit Kalilauge zu zerstören, letztere kann 
ebenso wie Säuren die Samenfäden nicht zerstören, wohl aber die die Durchmusterung be¬ 
hindernden Epithelien. 

Sind Spermatozoen gefunden, so ist der verdächtige Fleck als ein 
Samen £1 eck erwiesen. Werden trotz sorgfältigster Untersuchung, die sich 
auf mehrere verdächtige Flecke auszudehnen hat, keine Samenfäden gefunden, 
so ist die Vermuthung naheliegend, dass es sich nicht um Samenflecke han¬ 
delt, aber mit Sicherheit kann solches nicht behauptet werden. Bei nega¬ 
tivem Befunde ist stets zu bedenken, dass der Gehalt des Samens an Sper¬ 
matozoen verschieden, ja, dass durch Krankheiten, insbesondere Gonorrhoe 
und Epididymitis, Syphilis, Alter, vollständiger Mangel an Spermatozoen 
{Azoospermie) vorhanden sein kann. Wird bei negativem Befunde noch be¬ 
wiesen werden können, dass sich im Präparat andere Bestandteile gefunden 
haben, die fremder Herkunft sind — Koth, Schmutz, Vaginalsecret u. s. w. 
— so gewinnt die bis dahin vermutete Abwesenheit von Sperma sehr an 
Wahrscheinlichkeit. 

6. Nachweis venerischer Affectionen. 

Der Nachweis venerischer Affectionen hat eine doppelte gerichtsärztliche 
Bedeutung. Erstens ist er unter Umständen ein höchst wertvolles Glied in 
der Kette der Beweise für einen stattgehabten geschlechtlichen Angriff über- 


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hanpt. Zweitens aber kann eine derartige Infection für das betroffene Indi¬ 
viduum Gesundheitsschädigungen zur Folge haben, deren Vorhandensein fest¬ 
zustellen und deren Höhegrade abzumessen, die Aufgabe des Gerichtsarztes 
werden kann. 

Der Begriff der venerischen Affectionen umfasst drei verschiedene, wohl 
charakterisirte Krankheitsformen: 1. den weichen Schanker, Ulcus molle; 2. den 
Tripper, Gonorrhoea; und 3. die Syphilis, welche hier in Gestalt des syphili¬ 
tischen Primäraffectes, des sogenannten Ulcus durum oder harten Schankers, in 
Betracht kommt. Alle drei Affectionen sind in hohem Grade ansteckend, und 
jede von ihnen entsteht durch die Uebertragung je eines besonderen, „speci- 
fischen“ Krankheitsgiftes. Wenngleich es bisher allein für den Tripper gelungen 
ist, ein solches Krankheitsgift in Gestalt des im Jalire 1879 von Neisser ent¬ 
deckten Gonococcus thatsächlich und einwandsfrei nachzuweisen, so können wir 
doch auch hinsichtlich des weichen Schankers und der Syphilis nach dem klini¬ 
schen Verlaufe derselben und aus Analogieschlüssen nicht mehr zweifelhaft sein, 
dass auch sie durch je einen specifischen Mikroparasiten hervorgerufen werden. 
Für die Uebertragung des specifischen Krankheitserregers wird während des 
Beischlafes durch die innige Berührung eines Körpers, welcher das Gift be¬ 
herbergt und stellenweise nach aussen abscheidet, mit einem gesunden Indi¬ 
viduum die günstigste Gelegenheit geboten, und in der That gehören ander¬ 
weitige Ansteckungsmodi, als der durch einen Coitus, entschieden zu den Aus¬ 
nahmen. 

Für den Gerichtsarzt aber ist die Thatsache von der grössten Wichtig¬ 
keit, dass nicht alle krankhaften Erscheinungen, welche nach einem sexuellen 
Verkehre zwischen zwei Personen auftreten, auf der Infection mit einem der 
genannten drei Krankheitsgifte beruhen. Wurde nämlich an einem weiblichen 
Individuum der Beischlaf vollzogen oder zu vollziehen versucht, oder wurden 
die weiblichen Geschlechtstheile mit Händen oder anderen Gegenständen in- 
sultirt, oder endlich wurden gegen ein männliches Individuum päderastische 
Angriffe vollführt, so werden sehr häufig infolge mechanischer Einwirkungen 
entzündliche Reizzustände hervorgerufen. 

Je nach der Intensität des einwirkenden Reizes können die verschiedensten Höhe¬ 
grade entzündlicher Reaction, von der einfachen Hyperämie bis zur Absonderung seröser, 
hämorrhagischer nnd eitriger Secrete, ja bis zu Erosionen, Blutungen und Geschwürs- 
bildnngen zur Beobachtung gelangen. Derartige traumatische Affectionen haben mit viru¬ 
lenter Infection nichts zu thun und sind von ihr strenge zu unterscheiden. Freilich ist 
die Differentialdiagnose in der Praxis häufig durchaus nicht leicht. Zumeist handelt es 
sich naturgemäss um geschlechtliche Angriffe von Männern gegen — häufig noch sehr 
junge, ja noch kindliche — weibliche Individuen; doch können virulente Infectionen durch 
päderastischen Verkehr auch von einem männlichen Individuum auf ein anderes von glei¬ 
chem Geschlechte übertragen werden. 

ln allen Fällen, welche die Feststellung einer als venerisch erkannten 
oder verdächtigen Affection erfordern, hat der Gerichtsarzt nicht allein die 
inficirte Person, sondern ebenso auch das angeklagte Individuum zu unter¬ 
suchen und festzustellen, ob der Körper des Beschuldigten eine Erkrankung 
aufweist, deren Natur und Entwicklungszustand zu der bei der inficirten 
Person vorhandenen in einer solchen Uebereinstimmung steht, dass der Schluss 
auf einen ätiologischen Zusammenhang beider gerechtfertigt erscheint. 

Finden sich z. B. Vulva und Vagina eines Mädchens lebhaft geröthet, und zeigen 
diese Theile eine bedeutende Absonderung serös-eitrigen oder rein eitrigen Secretes, so hat 
der Gerichtsarzt die Differentialdiagnose, ob Vulvovaginitis traumatica (Catarrhus trauma- 
ticus) oder ob Gonorrhoe vorliegt, zu entscheiden. Von Wichtigkeit für die Entscheidung 
i*t, dass die Gonorrhoe ein mehrtägiges Incubations-Stadium einznhalten pflegt, während 
dessen wohl schon ein lästiges Jucken und Brennen der befallenen Theile, aber noch nicht 
eine Eitersecretion auftritt. Weiterhin ist die Intensität der Entzündungserscheinungen 
beun Tripper meist sehr heftig: hochgradige Röthung und Schwellung, bedeutende Schmerz¬ 
haftigkeit und profuse Eiterabsonderung, während sich alle diese Erscheinungen bei der 
nnr traumatischen Entzündung viel weniger hochgradig gestalten; von gewisser Bedeutung 
namentlich auch eine auftretende eitrige Urethritis, die ziemlich oft bei Gonorrhoe, fast 


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nie beim Catarrhns iraamaticns beobachtet wird. Endlich heilt die traumatische Entzün¬ 
dung unter einer geeigneten Behandlung (Fernhaltung aller weiteren Reizungen bei Beob¬ 
achtung grösster Sauberkeit) meist schnell und vollständig aus, während die Gonorrhoe 
eine ungleich längere Krankheitsdauer beansprucht und auch einer sachgemässen Therapie 
längere Zeit zu trotzen vermag. Die sichere Diagnose auf Gonorrhoe sollte in solchem 
Falle heute kein Gerichtsarzt mehr aussprechen, bevor er imstande ist, die NEissER’schen 
Gonococcen im gefärbten mikroskopischen Präparate zu demonstriren. Ist der des geschlecht¬ 
lichen Attentates Beschuldigte auf Tripper zu untersuchen, so wird die Diagnose bei einer 
acuten Gonorrhoe mit reichlichem Eiterfluss keinerlei Schwierigkeiten darbieten. Es ist 
aber wohl zu beachten, dass es einen Jahre und Jahrzehnte lang bestehenden chronischen 
Tripper giebt, der fast gänzlich Symptomen los verläuft, aber trotzdem noch ansteckungs¬ 
fähig ist; sehr oft weiss sogar der Träger selbst nichts von dem Fortbestehen seiner, wie 
er meint, längst gänzlich ausgeheilten Krankheit. In solchem Falle ist der Urin, nament¬ 
lich der zuerst morgens entleerte, sorgfältig auf die Anwesenheit von Eiterzellen und 
„Tripperfäden“ zu untersuchen. Nötigenfalls wird der Gerichtsarzt den Verdächtigen früh 
morgens, bevor er zum ersten Male urinirt hat, mit einer Untersuchung überraschen; dabei 
gelingt es manchmal, in der Harnröhre eine sehr geringe Menge serösen Secretes vorzu¬ 
finden. Die Tripperfäden kann man mit blossem Auge im Harn schwimmen sehen, aus 
dem sie mit einer feinen Pincette eingefangen und zur mikroskopischen Untersuchung auf 
ein Deckgläschen verbracht werden können. Lässt man den ersten Morgenharn einige 
Stunden in einem nach unten zu spitz werdenden Kelchglase (Sectglas) stehen, so kann 
man mit einer Pipette bequem die zu unterst stehenden Tropfen mit ihrem etwa vorhan¬ 
denen Bodensätze herausnehmen, um sie auf einem Deckgläschen eintrocknen zu lassen. 

Ebenso wird man auch das in der Harnröhre selbst Vorgefundene Secret — etwa 
mittels einer frisch ausgeglühten feinen Platinöse — auf ein Deckgläschen übertragen. 
Gelingt es mit Hilfe der geeigneten Färbemethoden in einem der so gewonnenen Deck- 
gläschen-Präparate zweifellos die Gonococcen nachzuweisen, so ist damit die Diagnose des 
bestehenden Trippers sicher erbracht. Besonders zu achten ist dabei auf die charakte¬ 
ristische Anordnung der Coccen zu je zweien (Diplococcen), sowie darauf, dass dieselben viel¬ 
fach innerhalb der Eiterzellen liegen. 

Fast noch schwieriger ist die Diagnose, wenn die bestehende Entzündung sich nicht allein 
in katarrhalischen Zuständen äussert, sondern bis zur Ausbildung von Ulcerationen vor¬ 
geschritten ist. Lautet doch dann die Frage noch complicirter so: ist das Geschwür nur 
ein einfaches „Ulcus traumaticum“ oder handelt es sich um eine virulente Affection? 
und wenn letzteres der Fall ist, haben wir hier einen weichen Schanker (Ulcus molle) oder 
haben wir ein syphilitisches Geschwür vor uns (harten Schanker, Ulcus durum, syphili¬ 
tischen Primäraffect) ? Von Wichtigkeit ist auch hier wieder der ganze Verlauf der Affection, 
ihre Dauer und ihr Verhalten gegenüber einer zweckmässigen Therapie. Das einfache 
Ulcus traumaticum hat grosse Neigung zu schneller Verheilung, sofern nur bei Beobachtung 
der nöthigen Sauberkeit neue Reizungen vermieden werden. Die virulenten Geschwüre 
kommen bei gleicher zuwartender Behandlung nicht so schnell zur Ausheilung. Das aus 
einer anfangs ganz kleinen Eiterpustel hervorgehende Ulcus molle zeichnet sich sogar, 
sofern es nicht therapeutisch beeinflusst wird, durch ein rasches Umsichgreifen aus. Das 
Ulcus traumaticum ist frei von infectiösen Eigenschaften und tritt zumeist nur vereinzelt 
auf. Das Ulcus molle dagegen sondert ein ansteckendes Secret ab, welches sehr häufig 
in der Umgebung des ersten eine ganze Anzahl secundärer Geschwüre hervorruft Diesen 
Unterschied kann man experimentell zur Sicherstellung der Diagnose verwerten. Erzeugt 
man — etwa auf dem Oberschenkel des zu Untersuchenden — eine kleine Haut Verletzung und 
impft in diese ein wenig von dem Secret des fraglichen Geschwüres, so wird, wenn letz¬ 
teres ein Ulcus molle war, auch an der Impfstelle ein solches entstehen können, während 
die Ueberimpfung von einer traumatischen (Jlceration folgenlos bleibt. Bei dem gleichen 
Experimente kann der syphilitische Schanker nur in der allerersten Zeit nach geschehener 
Infection ein neues Ulcus durum hervorrufen, da der Körper, sobald das luetische Gift den 
Organismus durchsetzt hat, gegen eine neue syphilitische Ansteckung immun wird. 

Die Differentialdiagnose zwischen weichem und hartem Schanker ist häufig recht 
schwierig und kann niemals allein nach der Beschaffenheit der Ulceration selbst entschieden 
werden; man muss vielmehr stets das klinische Gesammtbild berücksichtigen. Freilich 
bestehen gewisse Unterscheidungsmerkmale auch in der Beschaffenheit der Ulcera selbst; 
so ist das Ulcus durum meist flach, nicht tief ausgebohrt, sondern mehr schalenförmig, wie 
mit einem Hohlmeissei ausgeschnitten und hat scharf abgegrenzte Ränder, einen glatten, 
glänzenden, wie lackirt erscheinenden Grund und nur geringe Eitersecretion. Dagegen 
stellt der weiche Schanker einen tieferen Substanzverlust dar, mit unterminirten Rändern, 
missfarbigem, speckig belegten Grunde und lebhafterer Eitersecretion. Alle diese Unter¬ 
schiede jedoch sind nicht scharf gegeneinander abgegrenzt, sondern weisen vielfache Ueber- 
gänge auf. Namentlich aber sei betont, dass auch das Merkmal der Härte, der Induration 
des Grundes und der Ränder des Geschwüres, dessen Vorhandensein das Ulcus durum, 
dessen Fehlen das Ulcus molle charakterisiren soll, nur mit Vorsicht zu verwerten ist 
Die Ausbildung der Sclerose ist stets von der Localisation abhängig. Ein typischer Primär¬ 
affect kann an gewissen Stellen seine ganze Entwicklung durchlaufen, ohne je eine pal- 


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GESCHLECHTSVEBHÄLTNISSE, 


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pable Härte aufzn weisen, und die später folgenden Allgemeinerscheinnn^en beseitigen jeden 
Zweifel an der luetischen Natur der Affection. Andererseits kann ein Ulcus molle an 
Stellen, wo die oberen Partien der Haut straff an die unteren angeheftet sind, eine derbe 
Infiltration darbieten, welche von der „charakteristischen“ Härte des Ulcus durum nicht 
za unterscheiden ist. Die gleiche Induration bildet sich regelmässig aus, wenn ein Ulcus 
molle mit gewissen Aetzmitteln behandelt worden ist, namentlich mit Arg. nitr., Sublimat 
oder Cupr. sulf. Deshalb hat der Gerichtsarzt unter Umständen auch danach zu forschen, 
ob bereits eine ärztliche Behandlung stattgefunden und welcher Art dieselbe gewesen. 
Von Werth ist schliesslich das Verhalten der Lymphdrüsen. Sie können bei allen drei 
Formen der virulenten Infectionen sowohl, als auch bei den rein traumatischen Affectionen 
in Mitleidenschaft gezogen werden. Hinsichtlich ihrer Betheiligung am Krankheitsbilde 
aber unterscheidet sich die Syphilis wesentlich von den übrigen Affectionen. Während die 
Lymphdrüsenschwellungen (Bubonen) sonst durchweg mit mehr oder minder lebhaften 
anderweitigen Entzündungserscheinungen, mit Schmerzhaftigkeit, Röthung der bedeckenden 
Haut u. 8. w. bis zu ausgedehnter Abscessbildung verknüpft sind, dabei aber fast aus¬ 
schliesslich auf die dem primären Erkrankungsheerde zunächst gelegenen Lymphdrüsen 
beschränkt bleiben, ist der Mangel derartiger Entzündungserscheinungen, sowie die Aus¬ 
breitung der völlig schmerzlosen harten Schwellung auf entferntere Drüsengruppen, nament¬ 
lich auf die cervicalen, cubitalen und axillaren Lymphknoten, eines der sichersten und 
wichtigsten Zeichen der Syphilis. (Indolente Bubonen; Lymphangitis luetica universalis.) 

Endlich muss der Gerichtsarzt eingedenk sein, dass ausser den trauma¬ 
tischen Affectionen der Genitalien gelegentlich auch Herpesefflorescenzen, 
diphtheritische oder gangränöse Ulcerationen, sowie endlich das seltene Noma 
(Wasserkrebs) den virulenten Infectionen ähnliche Bilder erzeugen können. 

BEUMER-WOLTERSDORF. 

6eschiechtsverhältfli880. Diese werden unter den verschiedensten 
Verhältnissen Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung und Begutachtung 
und nehmen die forensische Thätigkeit sehr häufig in Anspruch. Diese 
Untersuchungen betreffen das Civil- und Straffecht, doch am häufigsten das 
letztere. Es kommen hiebei in Betracht: zweifelhaftes Geschlecht, zweifel¬ 
hafte Zeugungsfähigkeit, zweifelhafte Jungfrauschaft und die verschiedenen 
Geschlechtsdelicte. 

L Zweifelhaftes Geschlecht and Zwitterbildung. 

An den Geschlechtsorganen der Menschen kommen verschiedene Miss¬ 
bildungen vor, welche das Erkennen des Geschlechtes, ob männlich oder 
weiblich, erschweren können, wie z. B. das Fehlen der äusseren Genitalien, 
die Verwachsung des Gliedes mit dem Scrotum, der Defect der vorderen 
Blasenwand, die sogenannte vesica fissa u. s. w. Ausserdem kommen aber 
auch einer Zwitterbildung ähnliche Bildungen vor, bei welchen das 
wahre oder wenigstens prävalirende Geschlecht nach civilrechtlichen Be¬ 
stimmungen festzustellen ist, da nach diesen eine Kategorie von Zwittern nicht 
angenommen wird, wie aus nachstehenden Bestimmungen zu ersehen ist. 

Preuss. Landrecht. Tit. I. Theil 1. § 19. Wenn Zwitter geboren werden, so 
bestimmen die Eltern, zu welchem Geschlecht sie gehören sollen; 

§ 20. Jedoch Bteht einem solchen Menschen nach zurückgelegtem 18. Lebensjahr die 
Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten will; 

§ 21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurtheilt; 

§ 22. Sind aber die Rechte eines Dritten von dem Geschlechte eines vermeintlichen 
Zwitters abhängig, so kann Ersterer auf eine Untersuchung von Sachverständigen 
beantragen. 

§ 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet auch gegen die Wahl des 
Zwitters und seiner Eltern. 

Die Geltung des einen oder anderen Geschlechtes bei Zwittern ist also 
eventuell durch Sachverständige zu entscheiden, was ein Vertrauen in die 
diagnostische Kunst voraussetzt, welches zu rechtfertigen die heutige Medicin 
noch nicht im Stande ist, da nur an der Leiche sicherstellende Unter¬ 
suchungen vorgenommen werden können. Vielleicht, dass später durch Ver¬ 
wendung der elektrographischen Untersuchung an Lebenden weitere Auf¬ 
klärung zu erhalten sein wird. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Medicin.' 23 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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Bei der Zwitterbildung kommen einerseits die Geschlechtsdrüsen, Eier¬ 
stock und Hoden, andererseits die Geschlechtsgänge in Betracht, bei weib¬ 
lichen Individuen die Tuben, der Uterus und die Vagina, bei männlichen die 
vasa deferentia, die Samenbläschen, die ductus ejaculatorii und die Harn¬ 
röhre. Da die Geschlechtsdrüsen in Bezug auf die Geschlechtsbestimmung die 
massgebenden Organe sind, so nennt man die Individuen, bei welchen bei¬ 
derlei Drüsen zugleich vorhanden sind, wahre Zwitter, bezieht sich die Dupli- 
cität nur auf die Geschlechtsgänge, so spricht man von falschen Zwittern 
oder Scheinzwittern. Diese sind unendlich viel häufiger als die wahren 
Zwitter. 

Bei den wahren Zwittern hat man die Vertheilung der Keimdrüsen in 
verschiedener Weise gefunden. Die häufigste Form ist diejenige, wo auf 
einer Seite ein Hode, auf der anderen ein Eierstock sich befindet, der soge¬ 
nannte Hermaphrodismus verus lateralis. In den meisten Fällen ist hier 
nur die männliche Keimdrüse vollständig entwickelt und die andere blos 
rudimentär vorhanden. Derartige Fälle sind mehrere und mikroskopisch 
sichergestellte bekannt von J. Meter, Berthold, Barkow, Klotz u. s. w. 
Die Hoden mit vollständig entwickelten Nebenhoden befanden sich einmal im 
Leistencanal, dreimal in der einen Geschlechtsfalte in einem proc. vaginalis. 
Die Ovarien ohne Follikel, dem fötalen Zustande entsprechend, fanden sich 
dreimal an der gewöhnlichen Stelle und einmal in der rechten Geschlechts¬ 
falte. Viel seltener ist der Hermaphrodismus verus bilateralis, wo auf 
jeder Seite ein Eierstock und ein Hode sich befinden. Secirte Fälle sind von 
Schrell und Blastmann *) bekannt. Ein anderer hiehergehöriger mikrosko¬ 
pisch untersuchter Fall ist der von Hopfner**). Es fanden sich bei einem 
Kinde unter den Ovarien liegend die Hoden, wobei aber Nebenhoden, vasa 
deferentia, Samenbläschen und ductus ejaculalorii fehlten. Eine dritte Form 
des Hermaphrodismus verus als unilateralis scheint in der Weise vorzu¬ 
kommen, dass auf einer Seite Hode und Eierstock sich befinden, auf der 
anderen eine einfache Keimdrüse, wenigstens fand Bannon in einem Falle 
auf einer Seite beide Geschlechtsdrüsen, auf der anderen eine verkümmerte 
Keimdrüse. 

Das viel häufiger vorkommende Scheinzwitterthum bezieht sich auf 
männliche und weibliche Scheinzwitter, von welchen die ersteren häufiger 
als die letzteren sind. Eine weitere Verschiedenheit dieser Scheinzwitter 
beruht darauf, dass die Zwitterbildung bald nur die äusseren Geschlechtsgänge 
mit den äusseren Geschlechtstheilen betrifft oder nur die inneren, in Folge 
dessen man einen Pseudohermaphrodismus externus, internus und completus 
unterscheidet. Beim Pseudohermaphrodismus masculinus ist die häufigste Form 
der completus, beim weiblichen der Pseudohermaphrodismus externus. 

Zum Verständniss dieser hermaphroditischen Bildungen ist die Berück¬ 
sichtigung der Entwicklungsverhältnisse des Urogenitalsystems noth- 
wendig, welches eine eigenthümliche Combination der Harn- und Geschlechts¬ 
organe darstellt. Beide nehmen ihren Ursprung an derselben Stelle der 
epithelialen Auskleidung der Leibeshöhle und erleiden in morphologischer 
Hinsicht während des embryonalen Lebens bedeutende Umwandlungen, auf 
welchen eben die Möglichkeit einer Zwitterbildung beruht. 

Anfänglich haben die Geschlechtsdrüsen einen bisexuellen Charakter und 
sind auch die Ausführungsgänge beider Geschlechter gleichartig angelegt. ***) 
Die Geschlechtsdrüsen erhalten ihre specifischen Gewebsbestandtheile aus dem 
Keimepithel, während die ausführenden Gänge von der Urniere geliefert 


*) Klebs, Handb. d. path. Anat. 1876, I. S. 724. 

*») Arch. f. Anat. u. Phys. 1870. S. 679. 

***) Waldeykr, Eierstock und Ei. Leipzig 1870. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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werden. Erst im zweiten und dritten Monat tritt eine Differenzirung von 
Hoden und Eierstock ein. Der Urnierengang, WoLFF’scher Gang, führt in die 
Cloake des Enddarmes, welche später zum sinus urogenitalis wird. Gleich¬ 
zeitig mit der Entwicklung der Keimdrüsen bilden sich neben dem Urnieren¬ 
gang die Müller’ sehen Gänge *), welche anfänglich mit jenem verschmolzen 
sind, und münden in den sinus urogenitalis. Wird das Geschlecht männlich, 
so verschwinden aUmälig die MüLLER’schen Gänge, so dass nur noch ein 
Rudiment derselben als sogenannte Vesicula prostatica (Utriculus masculinus) 
übrig bleibt. Die Umierengänge werden zu Samenleitern und Samenbläschen. 
Bei weiblichen Individuen verschwinden die Umierengänge, und die MüLLER’schen 
Gänge werden schliesslich zu den Tuben, zum Uterus und zur Scheide. Bei 
dieser Differenzirung der beiden Geschlechter, welche auf tiefgreifenden 
Metamorphosen des ganzen Urogenitalapparates beruht, bilden sich einige 
Anlagen fast vollständig zurück, andere finden nur beim männlichen und 
wieder andere nur beim weiblichen Geschlecht Verwendung und gehen im 
entgegengesetzten Fall zu Grunde, so dass bei einem Fortbestand derselben 
ans was für Gründen immer Anlass zu einer Zwitterbildung gegeben ist. 

Auch die Entwicklung der äusseren Geschlechtstheile geht in 
einer Weise vor sich, dass anfänglich das Geschlecht noch indifferent ist. 
Zuerst bemerkt man an Stelle der Genitalien eine spaltförmig erscheinende 
Grube, die Cloakenmündung, diese wird später von einer ringförmigen Wulst, 
der Geschlechtswulst, umgeben, von deren vorderem Umfang ein nach aussen 
vorspringender Höcker, der Geschlechtshöcker, entsteht, an dessen unterer 
Fläche sich gleichzeitig eine Rinne bildet, die sich nach abwärts bis zur 
Cloake hinzieht. In den nächsten Wochen entwickelt sich der Höcker noch 
mehr nach aussen und gestaltet sich zu dem bei beiden Geschlechtern noch 
gleichen Geschlechtsgliede um. Dabei wird auch die Rinne an der unteren 
Fläche tiefer und seitlich von Hautfalten umgeben, den sogenannten Ge¬ 
schlechtsfalten. Dabei treten Veränderungen in der Cloake auf, welche in 
zwei hinter einander liegende Oeffnungen, den After und den sinus urogeni¬ 
talis, getrennt wird. Die Scheidewand wird später durch Verdickung zum 
Damm. 

Vom vierten Monat an treten nun die Geschlechtsverschiedenheiten auf. 
Wird das Geschlecht männlich, so verlängert sich der Geschlechtshöcker 
zum Penis. Der sinus urogenitalis wird durch Vferlängerung und Verwach- 
sungsprocesse zur Harnröhre. Durch Verdickung der Wandungen derselben 
wird die Bildung der Prostata eingeleitet. Die Geschlechtsfalten verwachsen 
in der Medianebene und bilden das Scrotum. Wird das Geschlecht weiblich, 
so wächst der Geschlechtshöcker zur Clitoris aus. Die Geschlechtsfalten, 
welche die Rinne unter dem Geschlechtshöcker begrenzt haben, werden zu 
den Nymphen. Die Geschlechtswülste, durch Fetteinlagerung voluminös ge¬ 
worden, bilden die grossen Labien. 

Finden in diesem Zeitraum Entwicklungsstörungen statt, so dass weder 
der eine noch der andere Geschlechtstypus sich vollständig entwickelt, so 
treten Missbildungen ein, die eben fälschlich als Zwitterbildungen auf¬ 
gefasst worden sind, indem die äusseren Genitalien weder dem männlichen 
noch dem weiblichen Geschlechtstypus vollständig gleichen. So bildet sich 
beim männlichen Geschlecht der Geschlechtshöcker nicht vollständig zum 
Penis aus, sondern bleibt verkümmert, einer Clitoris ähnlich, die Geschlechts- 
furche schliesst sich nur unvollkommen zur Harnröhre, es bleibt Hypospadie 
zurück, eine weitere Folge unterbliebener Verwachsungsprocesse ist das Aus¬ 
bleiben der Vereinigung der Geschlechtsfalten, so dass ein kurzer sinus uro¬ 
genitalis zurückbleibt, der eine Scheide Vortäuschen kann. Auch bleibt hiebei 


*) Joh. Müller, Bildungsgeschichte der Genitalien. Düsseldorf 1830. 

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QESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


mitunter der normale Descensus testiculorum aus, so dass Kryptorchismus 
besteht. Bei weiblichem Geschlecht kann der Geschlechtshöcker zu der 
Grösse eines Penis auswachsen, und mehr oder weniger Verwachsung der 
Geschlechtsfalten eintreten, so dass Atresie der Scheide entsteht. Auch kann 
eine abnorme Dislocation der Eierstöcke stattfinden in der Art, dass dieselben 
statt ins kleine Becken nach der Leistengegend hin sich dislociren und in die 
grossen Labien gelangen. 

Von inneren Missbildungen sind zu erwähnen bei männlichen Indi¬ 
viduen die Persistenz und weitere Ausbildung der MüLLER’schen, und bei 
weiblichen diejenige der WoLFP’schen Gänge, Obliterationen und abnorme 
Einsenkungen der Samenleiter, Fehlen der Samenbläschen u. s. w. 

Der Veranlassungen zu Untersuchungen über Zwitterbildungen gibt 
es mehrere. 

1. Die erste Veranlassung ergibt der Umstand, dass Personen, welche 
nach der Beschaffenheit ihrer äusseren Genitalien über die Natur ihres Ge¬ 
schlechtes Zweifel zulassen, im bürgerlichen Leben die Rolle bald von männ¬ 
lichen, bald von weiblichen Individuen spielten, sich um Geld untersuchen 
Hessen, vielen Aerzten, selbst medicinischen Facultäten sich vorstellten und 
auch mancherlei Abenteuer hatten. 

Ein älterer Fall eines solchen Zwitters ist derjenige der Marie Devrier,*) welche 
schliesslich als Carl Dnrge lebte, nnd vielfach von Aerzten untersucht worden ist, und bald 
für ein männliches, bald für ein weibliches Individuum gehalten wurde, und schliesslich 
bei der Section sich als ein wahrer Zwitter erwies **). Ein neueres ähnliches Beispiel ist der 
Fall Hohmann ***), den wir selbst zweimal zu untersuchen Gelegenheit hatten, das erste 
Mal als Catharina, das zweite Mal als Carl Hohmann. Der Nachweis durch die Obduction 
steht noch aus. Beide Zwitter nahmen schliesslich das männliche Geschlecht an, um civil- 
rechtlichen Conflicten zu entgehen. Gerade das nicht zu bezweifelnde, wenn auch seltene 
Vorkommen von wahren Zwittern beweist die Nothwendigkeit gewisser civilrechtlicher Be¬ 
stimmungen bezüglich der Geschlechtsbestimmung. 

Bei der Hohmann fanden sich einerseits weibliches Becken, weibliche Brüste, An¬ 
deutung von Nymphen, sicher constatirte periodische Blutungen, geschlechtlicher Verkehr 
mit Männern, andererseits männlicher Habitus, tiefe Stimme, Bartwuchs, 5 cm langes 
hypospadisches Glied, im rechten Hodensack ein Hoden mit Nebenhoden und Samenstrang, 
Ejaculation von spermatozoenhaltigem Sperma, Geschlechtsverkehr mit Weibern. 

2. Eine weitere Veranlassung zu Untersuchungen über Zwitterbildung 
geben Fälle, in welchen unrichtig geheirathet und wegen unmöglicher Coha- 
bitation Ehescheidung verlangt worden ist, wie z. B. in dem von Dohrn f) mit- 
getheilten Falle. 

Ein 28jähriges Individuum, als Mädchen getauft und erzogen, heirathet; wird nach einigen 
Tagen auf Antrag des Mannes untersucht, weil die Cohabitation unmöglich. Es fand sich 
die Clitoris in Form eines penis defantilis, nicht perforirt, von der unten tief eingekerbten 
Eichel bis nahe zur Harnröhrenmündung im vestibulum, in diesem eine obere kleinere 
Oeffnung, die Harnröhrenmündung, die untere in einen 2 cm tiefen Blindsack endend, in 
den Labien jederseits ein runder, weicher, empfindlicher, bohnengrosser Körper mit einer 
Nebenmasse und mehreren über das Schambein gehenden Strängen (atrophischer Hoden, 
Nebenhoden und Samenstrang) und Nymphen. Durch das rectum nichts von Uterus und 
Ovarien zu finden. Starker Knochenbau, weiblicher Gesichtsausdruck, undeutliche Bart¬ 
bildung und flache Brüste. Augenscheinlich handelte es sich hier um einen männlichen 
Scheinzwitter, der als weibliches Individuum geheirathet hatte. 

Einen ganz ähnlichen, sehr belehrenden Fall theilt Ettmüllkr ff) mit, welcher zugleich 
beweist, wie sehr die mit solchen Missbildungen Behafteten geneigt sind, dieselben geheim 
zu halten. Dahin gehört auch der von Tourtual ftt) mitgetheilte Fall. Manche hieher ge¬ 
hörige Fälle sind gewiss gar nicht bekannt geworden, indem man die Missbildung verkannte. 


*) Martens, Beschreibung und Abbildung von Maria Dorothea Devrier. Leipzig, 1802. 

**) Mayer, Caspers Wochenschr. 1835. 

***) Schültze, Der Hermaphrodit Catharina Hohmann, Virchows Archiv, 1868. XLIII. 
S. 329. — Friedrich, Der Hermaphrodit. Cath. Hohmann, Jb. 1869. XL. S. 1. 
f) Archiv für Gynäkologie, XI. 1877. S. 208. 

ft) Frau Caroline P. als Mann erkannt. Vierteljahrs ehr. XVI. 1872. S. 91. 
ftt) Ein als Weib verehelichter Androgynus vor dem kirchlichen Forum. Vierteljahrschr. 
X. 1856. S. 18. 


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GESCHLECHTS VERHÄLTNISSE. 


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die Publicit&t scheute und die Männer sich begnügten. Unfruchtbare und unglückliche 
Eben waren Folge davon. Steinmann*) berichtet ein Vorkommniss der Art: 

Die 20jährige Tochter eines Landmannes heir&thete den Sohn eines reichen west¬ 
fälischen Schulzen, bald nachher kränkelte sie, besuchte Bäder, consultirte klinische Au¬ 
toritäten, war geistig und körperlich gebrochen, starb nach etwa 10 Jahren, blieb kinderlos. 
Ihre Leiden wurden als hysterische Innervationsstörung bezeichnet. Es handelte sich höchst 
wahrscheinlich um einen männlichen Scheinzwitter, Die Hebamme theilte mit, dass bei der 
Geburt eine auffallende Missbildung der Geschlechtstheile bestand, und dass sie das Kind 
für einen Zwitter hielt Hinc illae lacrymae. 

3. Zuweilen haben Zwitter auch Geschlechtsdelicte begangen und sind 
deshalb in Untersuchung gekommen, durch welche sie erst als männliche 
Zwitter erkannt wurden, während sie im bürgerlichen Leben die Rolle weib¬ 
licher Individuen spielten. Einen illustrirenden Fall der Art hat Martini **) 
mitgetheilt. 

Eine Hebamme M., 47 Jahre alt, wurde angeschuldigt, mit der 19jährigen, im 8. Monat 
schwangeren H., unter dem Vorwände, es müsse eine Querlage eingerichtet werden, un¬ 
züchtige Handlungen vorgenommen zu haben. Dabei will die H. eine immissio penis ge¬ 
fühlt haben. Ferner soll sie, als gute Hebamme bekannt, noch mit anderen jungen Frauen 
und Mädchen unzüchtige Handlungen vorgenommen haben. Die Untersuchung der M. 
eigab weibliches Aussehen, breite Hüften, die Schamhaare bildeten einen nach oben ab¬ 
gegrenzten Kranz, im linken grossen Labium nach Reposition eines Leistenbruches ein 
Hode mit Nebenhoden fühlbar, im rechten Labium gleichfalls ein Hode, die Nymphön nur 
schwach angedeutet. Die Clitoris von der Grösse einer Vogelkirsche. Unter ihr die 
Mündung der Harnröhre und unter dieser ein enger, mit Schleimhaut überzogener 
Canal, der blind endigte. Die M. wurde für einen Mann mit verkümmerten äusseren Ge- 
schlechtstheilen erklärt, als Hebamme abgesetzt, mit einer Freiheitsstrafe belegt, vom König 
von Sachsen aber begnadigt. — Am 22. Juni 1894 wurde in Kopenhagen Wilhelm Möller 
zum Tode verurtheilt. Er hatte als „Vorsteherin“ eines Knabenasyls in Kopenhagen, Knaben, 
mit denen er Unzucht getrieben, ermordet. Erst im Laufe der Untersuchung hat sich 
herausgestellt, dass Möller ein Mann ist. 

4. Ein Beispiel, wo bei einem vermeintlichen Zwitter die Rechte eines 
Dritten in Frage kamen, ist der von Barry ***) mitgetheilte Fall, wo bei einem 
in Salisbury, Connecticut, stattgefundenen Wahlkampf im Jahre 1843 die 
Stimmberechtigung eines vermeintlichen Zwitters in Frage kam. 

Der Betreffende, Snydam, war ein Mensch von 23 Jahren. Barry fand einen mons ve- 
ueris mit gewöhnlichem Haarwuchs, einen unperforirten Penis von 2 l j 2 " Länge, Scrotum 
wenig entwickelt, in demselben rechterseits ein Hoden mit Samenstrang fühlbar, die Harn¬ 
rohrenmündung hinter der Wurzel des Gliedes. Gutachten: Snydam ist ein männliches In¬ 
dividuum. Neuer Wahltag, das Stimmrecht von Snydam abermals bestritten. Nochmalige 
Untersuchung von Barry mit zwei anderen Collegen, welche seiner Ansicht beitraten. Das 
Stimmrecht von Snydam nicht weiter beanstandet. — Wenige Tage nachher erfährt Barry, 
dass Snydam regelmässig menstruire. Bei der nun stattgefundenen dritten Untersuchung 
«fgab sich vorwiegend weiblicher Typus, wohlgebildete Brüste, aus der Harnröhrenmündung 
alle 4 Wochen blutiger Ausfluss. — Nun wird Snydam für einen weiblichen Zwitter erklärt, 
und der im Scrotum befindliche vermeintliche Hode für ein durch den Leistencanal herab¬ 
gestiegenes Ovarium gehalten. 

Die Diagnose der Geschlechtsverhältnisse bei Zwittern ist, wie schon 
ans den bereits angeführten Fällen zur Genüge hervorgeht, eine sehr miss¬ 
liche Sache, weil die Geschlechtsbestimmung an Lebenden, um welche es sich 
in forensischen Fällen allein handelt, immer nur auf unvollkommene Unter¬ 
suchungen sich stützen kann, und nur an Leichen durch Section das Ge¬ 
schlecht mit mehr oder weniger Sicherheit bestimmbar ist, weshalb solche 
bei vermeintlichen Zwittern nicht unterlassen werden sollte, wenn irgendwie 
rechtliche Verhältnisse in Frage stehen. 

Trotz dieser schwierigen Verhältnisse tritt aber den oben angeführten 
gesetzlichen Bestimmungen zu Folge mitunter die Nothwendigkeit ein, ein 
entscheidendes gutachtliches Urtheil über das anzunehmende Geschlecht ab¬ 
zugeben, was selbstverständlich nur der gerichtlichen Medicin zufallen kann. 

*) Hermaphroditen. Deutsche med. Wochenschr. 1882. Nr. 50. S. 682. 

**) Vierteljhrschr. XIX. 1861. S. 303. Ein männlicher Scheinzwitter. 

***) American Journ. of med. sc. 1847. Juli. 



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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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Man wird in solchen Fällen ausser einer möglichst genauen Localuntersuchung 
noch alle andern mit den Geschlechtsverhältnissen in Beziehung stehenden 
körperlichen und psychischen Zustände in Betracht zu ziehen haben, wobei 
aber erfahrungsgemäss gerade diese Zustände keineswegs immer dem beste¬ 
henden Geschlechte entsprechen, wodurch die Schwierigkeit der Beurthei- 
lung noch wesentlich erschwert wird. 

Bei allen Untersuchungen über Zwitterbildung kann es sich zunächst 
nur darum handeln, die Gegenwart der das Geschlecht bestimmenden Ge¬ 
schlechtsdrüsen zu constatiren, also die Gegenwart von Hoden oder Eier¬ 
stöcken, oder beider zugleich, worauf die Unterscheidung von wahren und 
falschen Zwittern beruht. Erstere sind viel seltener als letztere, so dass 
meistens nur die Geschlechtsbestimmung bei Scheinzwittern in Frage kommt, 
und unter diesen prävaliren die männlichen Scheinzwitter. 

Die Auffindung der Hoden hat keine Schwierigkeiten, wenn sie im 
Scrotum vorhanden sind, doch muss der hier fühlbare Körper noch eineu 
Nebenhoden erkennen lassen und weiterhin auch ein vas deferens im Samen¬ 
strange. Das trifft nun aber selbst bei männlichen Individuen keineswegs 
immer zu, indem der Hode verkümmert sein oder Kryptorchismus bestehen 
kann. Die Eierstöcke sind ihrer Lage wegen auch nur mit einiger Sicher¬ 
heit nicht zu erkennen, und kommen bei denselben Dislocationen nicht selten 
vor, so dass man sie schon in einer der Geschlechtsfalten gefunden hat 
Die Localuntersuchung gibt daher häufig nicht die gewünschte Auskunft. 

Da nun ein entscheidendes ärztliches Gutachten erst nach zurückgelegtem 
18. Lebensjahre, also nach eingetretener Geschlechtsreife abgegeben werden 
muss, so sind zur Geschlechtsbestimmung auch noch die specifischen Abson¬ 
derungen der verschiedenen Geschlechtsdrüsen zu berücksichtigen, also einer¬ 
seits die Absonderung von spermatozoenhaltigem Sperma, andererseits die 
periodischen menstrualen Blutungen. Und in der That, wenn bei äusserer 
Zwitterbildung die Absonderung von Sperma mit Gehalt an Spermatozoen 
constatirt werden kann, was jedoch auch noch eine ejaculatio seminis voraus¬ 
setzt, so kann an der Gegenwart wenigstens eines absondernden Hoden nicht 
gezweifelt werden und ist dadurch männliches Geschlecht indicirt. Die Un¬ 
möglichkeit der Constatirung einer solchen Absonderung ist jedoch noch 
durchaus kein Beweis der Nichtexistenz hodenartiger Gebilde, da die Hoden 
mangelhaft ausgebildet und verkümmert sein können, so dass die Hodenab¬ 
sonderung durch Bildungsfehler der Geschlechtsgänge, namentlich der vasa 
deferentia, welche mitunter ganz fehlten oder blind endigten oder an einem 
anderen Organe mündeten, nicht in die Harnröhre gelangen kann. Noch 
weniger diagnostische Bedeutung haben menstruale Blutungen, da solche bei 
mehreren entschieden weiblichen Individuen (Fälle von Crechio*) und 
Hofmann**) fehlten, und andererseits bei entschieden männlichen Zwittern 
als pseudomenstruale Blutungen vorkamen (Fälle von Dohrn, Leopold***) 
Tourtual u. A.). Die Absonderungen der Geschlechtsdrüsen sind daher, 
wenn sie auch bestünden, in manchen Fällen gar nicht constatirbar, oder, was 
die Blutungen anbetrifft, zum Beweise des Vorhandenseins von Eierstöcken 
nicht verwendbar. 

Da nun die ganze körperliche und psychische Entwicklung des Menschen 
mit den Geschlechtsverhältnissen in einem gewissen Zusammenhang steht, 
so hat man zur Geschlechtsbestimmung bei Zwitterbildung auch die dem 
männlichen und weiblichen Geschlecht zukömmlichen Eigenthümlichkeiten bei 
jener Entwicklung in Betracht gezogen und so den ganzen Habitus des 


*) Sopra un caso di apparenze virili in una donna. Napoli 1865. 

**) Wiener medic. Jahrb. III. 1877. S. 293. 

***) Arch. für Gynäkol. XI. 1877. S. 357. Ueber eine vollständige männliche Zwitter¬ 
bildung. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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Menschen, namentlich den Knochenbau, den Haarwuchs, die Beschaffenheit 
des Beckens und der Brüste, des Kehlkopfs und der Stimme, die sexualen 
Neigungen und Triebe ins Auge gefasst und gewisse Eigenthümlichkeiten 
hervorgehoben, welche aber insgesammt einen grösseren diagnostischen Werth 
nicht haben, weil alle die angeführten Eigenthümlichkeiten nicht ohne Aus¬ 
nahmen sind. 

So werden grobknochige weibliche Individuen, sogenannte Mannweiber, 
häufig genug angetroffen und diesen gegenüber zartgebaute schwächliche 
männliche Individuen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Bartwuchs. Als 
besonders charakteristisch für weibliche Individuen hat man die Behaarung 
der Genitalien angegeben, bei welchen die Schamhaare auf dem mons 
veneris einen Kranz bilden sollen, während bei männlichen Individuen der 
Haarwuchs nach aufwärts längs der weissen Linie sich erstrecke, was aber 
nach B. Schultze*) mancherlei Ausnahmen erleidet, indem bei 140 männ¬ 
lichen Individuen 34 Mal eine kreisförmige und bei 100 weiblichen 5 Mal 
eine aufsteigende Behaarung bestand. Was Grösse des Kehlkopfes und Tiefe 
der Stimme betrifft, so ist bekannt, dass mitunter weibliche Individuen einen 
grossen vorstehenden Kehlkopf mit tiefer rauher Stimme haben, während bei 
Männern eine Castratenstimme keine Seltenheit ist, und ebenso kommt es 
auch bei weiblichen und männlichen Zwittern umgekehrt vor, so dass darnach 
das Geschlecht nicht zu entscheiden ist. Ebensowenig lässt sich aus der 
Beckenenge und Beckenweite auf das Geschlecht bei Zwittern ein Schluss 
ziehen, da sich hier die widersprechendsten Verhältnisse zeigten, einerseits 
bei erwiesenen weiblichen Zwittern ein ausgesprochenes männliches Becken, 
wie in den von Crechio und Hofmann mitgetheilten Fällen, andererseits 
bei männlichen Zwittern ein weibliches Becken, wie in den von Dohbn, 
Martini, Leopold u. A. angeführten Fällen. Bezüglich der Brüste zeigten 
sich zwar bei mehreren weiblichen Zwittern jene weiblich ausgebüdet 
(Vibchow), in anderen Fällen dagegen nicht, und ist auch bei männlichen 
Zwittern weibliche Bildung der Brüste beobachtet worden. 

Was die psychischen Verhältnisse betrifft mit den sexuellen Neigungen 
und Trieben, so zeigen sich auch hier die grössten Verschiedenheiten, die 
keineswegs mit dem Bestände männlicher oder weiblicher oder doppelter 
Geschlechtsdrüsen in besondere Beziehung zu bringen sind. Es kommen 
hiebei mehrere Umstände in Betracht. Namentlich ist die bei der Zwitter¬ 
bildung so gewöhnlich bestehende mangelhafte Ausbildung der Geschlechts¬ 
drüsen, zumal wenn es doppelte sind, von Bedeutung, so dass der geschlecht¬ 
liche Einfluss dieser auf Charakter und sexuelle Neigungen bei den Zwittern 
kein dem Geschlecht entsprechender und determinirender ist, und daher aus 
Charaktereigenschaften und sexuellen Neigungen durchaus nicht auf ein be¬ 
stimmtes Geschlecht geschlossen werden kann. Ferner ist zu berücksichtigen, 
dass die so häufig vorkommenden unrichtigen Geschlechtsannahmen bei 
Zwittern nach der Geburt, wobei aus leicht ersichtlichen Gründen meistens 
weibliches Geschlecht angenommen wird, zu einer ganz verkehrten, dem wirk¬ 
lichen Geschlecht nicht entsprechenden, aber für das Individuum gleichwohl 
massgebenden Erziehung führen, so dass dasselbe auch nach zurückgelegtem 
18. Altersjahr trotz der Berechtigung hiezu die unrichtige Geschlechtsannahme 
nicht ändert,, was dann schliesslich zu irrigen Heirathen führt. Ausserdem 
ist auch noch mit einem perversen Geschlcchtstrieb zu rechnen, der um 'so eher 
möglich sein wird, da die Geschlechtsdrüsen so mancherlei Aberrationen von 
normalen Verhältnissen darbieten. 

Von unrichtigen Heirathen haben wir bereits oben die Fälle von Dohrn and Toür- 
tual angeführt, denen sich auch noch der Fall der Marie Arsanr**) anreiht, die, 84 Jahre 


*) JsNAi’sche Zeitschr. IV. S. 312. 

**) Tardieu, Annal. d’hygiene p. T. 38. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


alt, lange Jahre verheirathet war and bei der Obdaction erst als Mann erkannt wurde. 
Der weibliche Kammerdiener von Crechio hatte wiederholt mit Weibern Umgang gehabt 
und sich so zweimal einen Tripper acquirirt. Der weibliche Kätscher von Hofmann hat 
ebenfalls mehrmals mit Weibern Umgang gehabt. Die bekannte Rosine Göttlich*), eia 
männlicher Zwitter, übte häufig den Coitus bald als Mann, bald als Weib aus u. s. w. 

Aus den sexuellen Neigungen und Trieben ist also das Geschlecht auch 
nicht mit nur irgend welcher Sicherheit zu erkennen, und wird man daher bei 
den eben angegebenen Veranlassungen zu richterlichen Entscheidungen mit 
der grössten Vorsicht sich auszusprechen haben, und berücksichtigen, dass an 
Lebenden nur in dem Falle männliches Geschlecht mit Sicherheit zu erkennen 
ist, wenn Spuren von Absonderung einer spermatozoenhaltigen Flüssigkeit 
aufgefunden werden können, wobei es aber dann noch zweifelhaft bleibt, ob 
es sich um einen wahren oder männlichen Scheinzwitter handelt. In allen 
anderen Fällen ist ein bestimmter Ausspruch abzulehnen, und sind nur Wahr¬ 
scheinlichkeitsschlüsse möglich, mit welchen sich der Richter abzufinden hat. 
Uebrigens genügt es in einzelnen Fällen bei unrichtigen Heirathen, zu con- 
statiren, das aus Mangel einer Scheide der Coitus nicht in entsprechender 
Weise ausgeführt werden kann. Von weiteren Störungen der Zeugungs¬ 
fähigkeit bei Zwittern wird später die Rede sein. Hier handelt es sich nur 
um die Geschlechtsbestimmung. 

2. Zweifelhafte Zeugungsfähigkeit 

Das Wort „zeugen“ wird im gerichtsärztlichen Sprachgebrauche in drei 
verchiedenen Bedeutungen gebraucht, welche zur Gewinnung klarer Begriffe 
zunächst scharf gegen einander abzugrenzen sind. Als Zeugung im ersten, 
weitesten Sinne des Wortes verstehen wir die Ausübung der natürlicherweise 
die Erzielung von Nachkommen bezweckenden geschlechtlichen Functionen. 
Zur Erzielung von Nachkommen ist erforderlich: die geschlechtliche Ver¬ 
einigung von Mann und Weib, Cohabitatio s. Coitus, und bei diesem Acte 
die Einbringung befruchtungsfähigen männlichen Samens in die weibliche 
Scheide, weiterhin die Möglichkeit, dass der Same in den weiblichen Fort¬ 
pflanzungsorganen mit einem entwicklungsfähigen Eichen, Ovulum Zusammen¬ 
treffen und dieses befruchten könne, sowie endlich, dass das befruchtete Ei 
sich im Mutterleibe zu entwickeln vermöge, bis die Frucht imstande ist, 
ausserhalb desselben weiter zu gedeihen. Die Reihe dieser nothwendigen 
Vorbedingungen kann in mannigfacher Weise sowohl beim Manne wie beim 
Weibe gestört sein. Wir unterscheiden demgemäss eine männliche und eine 
weibliche Zeugungsunfähigkeit. Zunächst können bei beiden Geschlechtern Hin¬ 
dernisse für das Zustandekommen der geschlechtlichen Vereinigung überhaupt 
vorhanden sein; in diesem Falle besteht eine Begattungsunfähigkeit, 
impotentia coeundi. Oder aber es kann zwar die potentia coeundi 
uneingeschränkt bestehen, dennoch aber die Erzielung von Nachkommen un¬ 
möglich sein. In solchem Falle haben wir es mit einer Zeugungsunfähigkeit 
im zweiten, engeren Sinne zu thun. Liegt dieses Unvermögen auf Seiten 
des Weibes, so sprechen wir von einer Conceptionsunfähigkeit, Impo¬ 
tentia concipiendi, wenn es nicht zur Befruchtung eines Eichens durch einen 
Samenfaden kommen kann; von einen Unvermögen zum Austragen der Frucht, 
Impotentia gestandi, wenn zwar die Befruchtung eines Ovulums zustande kommt, 
nicht aber die Ausbildung der Frucht bis zur normalen Entwicklungsstufe 
vorschreitet, und von einer Gebär Unfähigkeit, Impotentia parturiendi, 
wenn die normale Ausstossung des reifen Kindes aus dem mütterlichen Orga¬ 
nismus unmöglich wird. Beruht das Ausbleiben der Befruchtung auf einem 
Fehler des Mannes, so nennen wir dies impotentia generandi oder Zeugungs¬ 
unfähigkeit im dritten, engsten Sinne des Wortes, insofern der Ausdruck 
„Zeugen“ speciell für den wesentlichen Antheil des Mannes am Fortpflanzungs¬ 
acte, für die Befruchtung gebraucht wird. 

*) Casper, Liman, Handb. I. 1881. S. 66. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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Die Yeranla ssungen zu Untersuchungen über zweifelhafte Zeugungs¬ 
fähigkeit sind mehrfältig und im Wesentlichen folgende: 

1. Wenn als Grund zur Ehescheidung Zeugungsunfähigkeit des einen 
oder anderen Ehegatten angegeben wird, indem die meisten Gesetzgebungen 
hierin einen Grund zu jener finden, vorausgesetzt, dass die Zeugungsunfähigkeit 
nachgewiesen ist. 

Preussisches allgemeines Landrecht. Titel H. Theil 2. §. 696. Ein auch 
während der Ehe entstandenes gänzliches oder unheilbares Unvermögen zur Leistung der 
ehelichen Pflicht begründet ebenfalls Scheidung. 

§. 697. Ein gleiches gilt von unheilbaren körperlichen Gebrechen, welche Ekel und 
Abscheu erregen, oder die Erfüllung des Zweckes des Ehestandes gänzlich hindern. 

Oesterreichisches bürgerliches Gesetzbuch. §. 60. Das immerwährende 
Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten, ist ein Ehehindernis, wenn es schon zur Zeit 
des geschlossenen Ehevertrages vorhanden war. Ein blos zeitliches oder ein erst während 
der Ehe zugestossenes, selbst unheilbares Unvermögen kann das Band der Ehe nicht 
aofiösen. 

§. 99. Die Vermuthung ist immer für die Giltigkeit der Ehe. Das angeführte Ehe¬ 
hindernis muss also vollständig bewiesen werden, und weder das übereinstimmende Ge¬ 
ständnis beider Ehegatten hat hier die Kraft eines Beweises, noch kann darüber einem 
Eide der Ehegatten stattgegeben werden. 

§. 100. Insbesondere ist in dem Falle, dass ein vorhergegangenes und immer¬ 
währendes Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten, behauptet wird, der Beweis durch 
Sachverständige, unter Umständen auch durch Hebammen zu führen. 

§. 101, Lässt sich mit Zuverlässigkeit nicht bestimmen, ob das Unvermögen ein 
immerwährendes oder blos zeitliches sei, so sind die Ehegatten noch durch ein Jahr zu- 
sammenzuwohnen verbunden, und hat das Unvermögen diese Zeit hindurch angehalten, so 
ist die Ehe für ungiltig zu erklären. 

2. Wenn die rechtliche Abstammung eines Kindes wegen an¬ 
geblicher Zeugungsunfähigkeit des einen oder anderen Ehegatten an- 
gezweifelt wird. 

Oesterreichisches bürgerliches Gesetzbuch. §. 158. Wenn ein Mann be¬ 
hauptet, dass ein von seiner Gattin innerhalb des gesetzlichen Zeitraumes geborenes Kind 
nicht das seinige sei, so muss er die eheliche Geburt des Kindes längstens binnen drei 
Monaten bestreiten, und gegen den zur Verteidigung der ehelichen Geburt aufzustellenden 
Cnrator die Unmöglichkeit der von ihm erfolgten Zeugung beweisen. 

§. 159. Stirbt der Mann vor dem ihm zur Bestreitung der ehelichen Geburt be¬ 
willigten Zeitraum, so können auch die Erben, denen ein Abbruch an ihren Rechten 
geschähe, innerhalb drei Monaten nach dem Tode des Mannes aus dem angeführten Grunde 
die eheliche Geburt eines solchen Kindes bestreiten. 

3. Wenn jüngere als 50jährige Personen Kinder adoptiren wollen. 

Preussisches allgemeines Landrecht. Tit. II. Theil 2. §. 669. Anch jüngeren 

(als 50jährigen) Personen kann es, aber nnr unter besonderer landesherrlicher Erlaubnis, 
gestattet werden, Kinder zu adoptiren, wenn nach ihrem körperlichen oder Gesundheits¬ 
zustände die Erzeugung natürlicher Kinder von ihnen nicht zu vermnthen ist. 

4. Wenn als Folge von Verletzungen, respective Misshandlungen die 
Zengungsfähigkeit verloren gegangen ist, indem unter den Verletzungsfolgen, 
welche mit Zuchthaus bedroht sind, Verlust der Zeugungsfähigkeit an¬ 
geführt ist. *) 

5. Wenn bei Schwangerschaftsklagen Zeugungsunfähigkeit besteht, oder 
zur Abweisung der Klage vorgeschützt wird. 

6. Wenn bei Sittlichkeitsdelicten Zeugungsunfähigkeit als Gegenbeweis 
angeführt wird. 

Die Veranlassung zu derartigen Untersuchungen geht theils von den 
Betreffenden selbst, theils von den Gerichtsbehörden aus. Bei denselben muss 
mit grosser Umsicht verfahren werden, um nicht getäuscht zu werden, auch 
darf dabei der Anstand nicht verletzt werden. 

Zur Beurtheilung der Zeugungsunfähigkeit kommen im Einzelnen in 
Betracht: 

1. Die Unfähigkeit zur Begattung, impotentia coeundi, Beischlafs¬ 
oder Begattungsunfähigkeit; 

*) Deutsches Strafgesetz. §. 224. —- Oesterreichisches Strafgesetz. §. 156 a. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


2. die Unfähigkeit zur Zeugung, impotentia generandi, Zeugungs¬ 
unfähigkeit im engeren Sinne des Wortes; 

3. die Unfähigkeit zur Empfängnis, impotentia concipiendi, Conceptions- 
unfähigkeit, Unfruchtbarkeit, Sterilität; 

4. Die Unfähigkeit, eine Schwangerschaft durchzumachen, impotentia 
gestandi. 

1. Beischlafsunfähigkeit, Begattungsunfähigkeit, Impo¬ 
tentia coeundi. 

Der Act der Begattung besteht in der Hin- und Herbewegung des in 
die Scheide des Weibes eingeführten männlichen Gliedes bis zur erfolgten 
Ausspritzung der Samenflüssigkeit. 

Selbstverständlich ist zur Ausführung dieses Actes, ganz abgesehen von 
den Verhältnissen am Genitalapparate, eine gewisse allgemeine körperliche 
Rüstigkeit erforderlich, welcher ein Individuum dauernd oder vorübergehend 
ermangeln kann. So wird einem an einer schweren acuten Krankheit leiden¬ 
den oder durch langes Siechthum geschwächten Körper die zur Vollziehung 
der Begattung erforderliche Muskelkraft fehlen können. Dieser Umstand kann 
von bedeutendem forensischen Werte sein, wenn es sich darum handelt, fest¬ 
zustellen, ob ein nach Auflösung einer Ehe durch Tod oder Scheidung ge¬ 
borenes Kind, als von dem Ehemanne gezeugt anzusehen ist. 

Im übrigen ist zur Ausführung einer normalen Begattung in erster Linie 
die Möglichkeit der Immissio penis in vaginam erforderlich. Da die hierzu 
nöthigen Vorbedingungen sowohl beim Manne als auch beim Weibe fehlen 
können, so müssen wir eine männliche und eine weibliche Begattungsunfähig¬ 
keit unterscheiden. 

a) Männliche Begattungsunfähigkeit. 

Die Impotentia coeundi bei männlichen Individuen kann 
auf functionellen und anatomischen oder mechanischen Abnor¬ 
mitäten des Gliedes beruhen. 

Die functionelle Abnormität besteht in mangelnder Erectionsfähigkeit 
des Gliedes, indem bei solcher die Ausführung eines Coitus unmöglich ist 
Diese Erectionsfähigkeit besteht lange vorher, ehe das Individuum geschlechtsreif 
und damit zeugungsfähig geworden ist. Der Verlust derselben kann ver¬ 
schiedene Ursachen haben. 

Die Haupterfordemisse für die Möglichkeit der Einführung des Penis 
in die Scheide sind: 

1. die Erectionsfähigkeit des Gliedes, 

2. eine zweckentsprechende Form desselben, 

3. eine die Immissio penis zulassende Gestaltung der benachbarten 
Körpertheile. 

Das Wesen der Erection besteht in einer durch erhöhten Blutgehalt 
ihrer Schwellkörper bedingten Volumszunahme, Aufrechtsstellung und Steifang 
der Ruthe. Diese Veränderung beruht auf einem Reflexvorgange, welcher einen 
von den sensiblen Penisnerven ausgehenden Reiz zu dem im Lendentheile des 
Rückenmarkes gelegenen „ Erectionscentrum “ fortleitet und in diesem auf 
vasodilatatorische Fasern, die sogenannten „Nervi erigentes“, überträgt, durch 
deren Vermittlung die gefässerweiternde Wirkung auf die Penisgefässe aus¬ 
gelöst wird. Wie alle gefässerweiternden Apparate, so ist auch das Erections¬ 
centrum dem dominirenden Vasodilatatoren-Centrum in der Medulla oblongata 
untergeordnet, von welchem aus abwärts durch das Rückenmark Verbindungs¬ 
fasern zu jenem hinziehen. Die den Erectionsreflex anregende Reizung der 
sensiblen Penisnerven kann mechanischer, z. B. masturbatorischer Natur sein. 
Unter normalen Verhältnissen aber geht sie von der Psyche des Mannes aus, 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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in welcher zufolge des von einem Weibe empfangenen Eindruckes das Ver¬ 
langen nach der geschlechtlichen Vereinigung wach gerufen wird. Dann be¬ 
wirkt die Hinlenkung der Vorstellung auf die Geschlechtssphäre die erfor¬ 
derliche Reizung der Gefiihlsnerven des Gliedes. Somit ist die normale Erec- 
tion ein complicirter Reflex mit einer sehr langen Leitungsbahn. Sein Ablauf 
kann nun an den verschiedensten Stellen dieser Bahn Störungen erleiden. 

Erstens kann die Anregung des ganzen Reflexes überhaupt unterbleiben, 
wenn von dem betreffenden Weibe kein hinreichend starker Reiz zu geschlecht¬ 
lichem Verlangen auf die Psyche des Mannes ausgeht. Besonders wird das 
zutreffen können, wenn das Weib an „körperlichen Gebrechen leidet, welche 
Ekel und Abscheu erregen“, ein Fall, den auch das preuss. allg. Landrecht 
in seinem § 697 als Ehescheidungsgrund gelten lässt, sofern das betreffende 
Gebrechen unheilbar ist. Erfahrungsgemäss aber müssen in der gerichts¬ 
ärztlichen Praxis dahingehende Behauptungen stets mit grosser Vorsicht auf¬ 
genommen werden, da es einerseits sehr bequem ist, zwecks Lösung einer 
lästig gewordenen Ehe diesen Grund vorzuschützen, und da andererseits bei 
vielen Männern der Geschlechtstrieb nicht selten selbst durch alte und häss¬ 
liche Weiber sogar bis zur Verübung von Nothzuchtsattentatcn aufgeregt zu 
werden vermag. 

Zweitens können Störungen im Nervensystem des Mannes die Ursache 
für das Ausbleiben der Erection abgeben. In vielen Fällen liegen solche 
Störungen zweifellos in den höchst organisirten Theilen des Nervensystems 
und sind demgemäss als vorwiegend psychische aufzufassen. 

Nur selten beobachtet man gänzliches Fehlen oder ein auffallendes Mindermaass 
geschlechtlicher Erregbarkeit bei übrigens körperlich wie geistig völlig normal erscheinen¬ 
den Individuen (kalte Naturen, naturae frigidae); häufig dagegen sieht man es als Theil- 
erscheinung einer auch sonst hervortretenden psychischen Minderwertigkeit bei gewissen 
Formen des Blödsinns und Schwachsinns, sowie bei sonstigen Psycho- und Neuropathien 
verschiedener Art. Die hierhergehörenden psychischen Störungen sind zum grossen Theile 
angeboren; ein anderer Theil aber ist sicher erst später erworben, wobei gelegentlich wohl 
alle in der Psychopathie überhaupt in Betracht kommenden ätiologischen Momente, nament¬ 
lich Alter, erbliche Belastung, allgemeine schwächende Einflüsse, wie überstandene schwere 
Erkrankungen, Ueberanstrengungen u. s. w. eine Rolle spielen können. Für den Gerichts¬ 
arzt wichtig ist die Thatsache, dass in manchen Fällen die psychische Störung vorüber¬ 
gehend ist; Schüchternheit, Scham, schlechtes Gewissen nach getriebener Onanie und ähn¬ 
liche psychische Momente können zeitweise infolge sogenannter „psychischer Reflexhemmung“ 
das Zustandekommen der Erection verhindern. In diesen Fällen von „psychischer Impo¬ 
tenz“ kehrt meist bald unter dem Einflüsse der Gewöhnung der normale Zustand zurück. 
— Besonders merkwürdig ist die Erscheinung der sogenannten „conträren Sexualempfin¬ 
dung*, einer nicht selten bei hochentwickelter Intelligenz beobachteten partiellen Psychose, 
hei welcher geschlechtliche Erregbarkeit zwar besteht, jedoch nur durch die Zuneigung zu 
Individuen gleichen Geschlechtes geweckt wird, während von einem Weibe ausgehende 
sexuelle Reize den Mann entweder kalt lassen oder sogar mit Widerwillen und Ekel erfüllen. 

In einer anderen Reihe von Fällen besteht die Ursache für den Mangel 
der Erectionsfähigkeit in pathologischen Affectionen tiefer gelegener Abschnitte 
der den Reflexbogen bildenden Theile des Nervensystems; denn es liegt auf 
der Hand, dass sich der prompte Ablauf des Reflexes nicht vollziehen kann, 
wenn seine Bahn an irgend einer Stelle durch functionsuntüchtige Partien 
unterbrochen ist. In Betracht kommen hier demgemäss pathologische Pro- 
cesse im Gebiete des Hauptvasodilatatoren-Centrums, in der Medulla oblongata 
und im Bereiche des Erectionscentrums, sowie in der ganzen Bahn der die 
Verbindung aller betheiligten Centren vermittelnden Leitungsfasern. 

Endlich kann die fehlende oder mangelhaft ausgebildete Erection auch 
in krankhaften Veränderungen des Penis selbst, namentlich in Narbenbildungen 
und der Ablagerung entzündlicher Exsudate in die corpora cavernosa be¬ 
gründet sein. 

Mitunter kommt es auch vor, dass die impotentia coeundi trotz be¬ 
stehender Erectionsfähigkeit darauf beruht, dass Erections- und Ejaculations- 


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. GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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Mechanismus so rasch aufeinander folgen, dass die ejaculatio seminis schon 
früher erfolgt, noch ehe das Glied in die Scheide gebracht werden kann. 

Die Constatirung dieser abnormen Zustände hat ihre besonderen Schwie¬ 
rigkeiten. Um die mangelnde Erectionsfähigkeit festzustellen, hat die ältere 
gerichtliche Medicin verschiedene Mittel empfohlen, unter welchen auch 
die sogenannten Ehestandsproben eine Bolle spielten, die aber heutzutage 
gänzlich verlassen sind. Den bei solchen Untersuchungen einzunehmenden 
Standpunkt hat Casper ein für allemal richtig bezeichnet, man kann sich 
lediglich darauf beschränken, das Individuum nach allen hier in Betracht 
kommenden Verhältnissen zu untersuchen, und, wenn in keiner Weise Abnor¬ 
mitäten gefunden werden, welche eine Erectionsunfähigkeit begründen könnten, 
in mehr negativer Weise sich dahin gutachtlich auszusprechen, dass keine 
Umstände aufgefunden werden konnten, welche die Annahme einer solchen 
Impotenz mit Sicherheit oder mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit 
begründen könnten. Die Untersuchung wird in solchen Fällen einerseits auf 
die anatomische Beschaffenheit der Genitalien, andererseits auf die allgemeinen 
körperlichen und psychischen Zustände zu richten sein, wobei auch noch zu 
berücksichtigen ist, ob diese letzteren nur als transitorische, oder mit mehr 
oder weniger Sicherheit als bleibende anzusehen sind, da nur im letzteren Falle 
diese Impotenz rechtlich zu begründen wäre. 

In Ehescheidungsprocessen kommt es zuweilen vor, dass die Klägerin 
zum Beweise der Impotenz ihres Mannes auf ihre noch bestehende Jungfrau¬ 
schaft sich beruft, was zu einer Untersuchung nach dieser Richtung hin führen 
kann. Hiebei ist darauf zu achten, dass man sich vor der Untersuchung über 
die Identität des Untersuchungsobjectes sicher zu stellen sucht. Durch den 
Ehescheidungsprocess der Gräfin Essex wird der ältere Standpunkt der gericht¬ 
lichen Medicin hinreichend illustrirt.*) 

Die mechanischen Zustände, welche das Einbringen des Gliedes in 
die Scheide und die Ejaculation des Samens in dieselbe verhindern, selbst 
unmöglich machen können, bestehen theils in Missbildungen, theils in Krank¬ 
heiten und Verletzungsfolgen. Zu den ersteren gehören Hypo- und Epi- 
spadie, Verwachsung des Gliedes mit dem Scrotum, zu den letzteren grössere 
oder kleinere Defecte des Gliedes, Krümmungen des erigirten Gliedes, Ge¬ 
schwülste desselben, auch grosse Scrotalbrüche u. s. w. Dass diese verschie¬ 
denen Zustände nicht schlechtweg an und für sich die fragliche Impotenz 
begründen können, ist leicht einzusehen, und sind bei der Beurtheilnng jener 
in Bezug auf letztere Grad und Formen der Missbildungen, Krankheits- und 
Verletzungsfolgen wohl zu erwägen, auch ist auf allfällige Simulation Rück¬ 
sicht zu nehmen. 

Die am häufigsten vorkommende Missbildung) zu bedeutende Länge der Vorhaut mit 
enger Oeffnung derselben, Phimosis, ist erfahrungsgemäss kein Begattungshindernis und 
kann zudem leicht operativ beseitigt werden. Die auffälligeren Missbildungen aber, wie 
congenitale Verwachsung der Penishaut mit dem Hodensack, höhergradige Hypo- und 
Epispadien und verschiedene Formen des Hermaphrodismus können wesentliche Begat¬ 
tungshindernisse abgeben. Das Vorkommen einer die Einführung in die Scheide ver¬ 
eitelnden exorbitanten Grösse des Penis ist bisher nicht einwandsfrei beobachtet worden; 
dagegen kommt, wenngleich selten, ungenügende Grössenentwicklung des Gliedes in sehr 
verschiedenen Graden bis zu gänzlichem Fehlen desselben vor. Die Begattungsfahigkeit 
ist in solchen Fällen, sowie auch da, wo die Grösse der Penis durch Verletzungen, ulceröse 
oder gangränöse Processe und dgl. mehr oder weniger reducirt ist, von dem Grade des 
Fehlers und besonders davon abhängig, ob die Erection das Glied bis zu ausreichendem 
Maasse vergrössert. Das Fehlen der Eichel bedingt erfahrungsmässig bei sonst erhaltener 
genügender Grösse des Gliedrestes nicht Begattungsunfähigkeit. 

Die Hypospadie ist in geringeren Graden ausserordentlich häufig, 
behindert aber in diesen die potentia coeundi nicht im geringsten, so dass 
man niemals nur Hypospadie als Grund einer derartigen Impotenz annehmen 


*) Casper-Liman, Handb. I. 1881. S. 54. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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könnte. Nur die höchsten Grade dieser Missbildung, bei welchen an einem 
verkümmerten Gliede die HamröhrenmUndung an der Basis desselben zwischen 
den Scrotalhälften sich befindet, können eine ejaculatio seminis in vaginam un¬ 
möglich machen und dadurch Zeugungsunfähigkeit begründet werden. Uebrigens 
ist hiebei immer zu berücksichtigen, dass zu einer Befruchtung gar nicht ein 
tieferes Einbringen des Sperma nothwendig ist, es genügt, wenn die Flüssig¬ 
keit nur an den Eingang der Scheide gebracht wird, indem durch Flimmer¬ 
bewegungen eine Weiterbeförderung derselben möglich ist. 

Aehnlich verhält es sich mit der viel selteneren Epispadie, die auch 
in verschiedenen Graden Vorkommen kann. Bei den höchsten Graden befindet 
sich die Harnröhrenmündung unter der Symphyse, und ist die Missbildung 
auch mit Spaltung der Bauchhaut und der vorderen Blasenwand (Fissura 
vesicae *) verbunden. Diese Missbildung ist öfters mit Zwitterbildung ver¬ 
wechselt worden (Fall Blumhardt). Bei den höchsten Graden der Epispadie 
ist eine ejaculatio seminis nicht wohl möglich, und daher Zeugungsunfähigkeit. 

Bergh beschreibt einen Epispadiacns, bei dem die Urethralrinne 1 cm von der Spitze 
der Eichel begann, bis an die Abdominalwand ging and anter der Symphyse sich fort¬ 
setzte. Der Penis war dick and karz. Der Coitas wurde häufig ausgeübt, jedoch ohne 
Schwängerung. 

Den verkümmerten Gliedern bei Hypo- und Epispadie reihen sich grössere 
oder geringere Verluste des Gliedes durch Krankheitszustände oder Ver¬ 
letzungen an. Namentlich gangränöse und geschwürige Zustände können zu 
solchen Defecten führen, welche mitunter auch Folge von Amputationen sind, 
ln Bezug auf Cohabitationsfähigkeit kommt selbstverständlich die Grösse des 
Defectes in Betracht, und ist zu berücksichtigen, dass auch verhältnismässig 
kleinere Ueberreste des Gliedes durch Schwellung desselben bei der Erectiou 
einen Coitus vermitteln können. 

In einem von Gutherz **) mitgetheilten Falle hatte ein 53jähriger Mann in Folge 
ron Typhus den Penis bis auf einen kleinen Stampf von 2 1 /, cm Länge durch Gangrän 
verloren. Gleichwohl konnte derselbe den Coitus mit seiner Frau noch ausüben. 

Krümmungen des Gliedes nach dieser oder jener Richtung hin, nach 
unten, nach oben oder nach den Seiten, wenn sie in höherem Grade bestehen, 
können das Eindringen des Gliedes in die Scheide unmöglich machen und 
daher eine impotentia coeundi begründen. Diese Krümmungen sind mitunter 
schon bei erschlafftem Zustande des Gliedes zu erkennen, oder stellen sich 
erst bei der Erection des Gliedes ein. Bei Hypospadie ist das Glied häufig 
durch das Frenulum herabgezogen, seitliche Krümmungen sind meistens Folge 
von Entzündungsproducten in den cavernösen Körpern oder von Geschwulst¬ 
massen in denselben, welche sich beim schlaffen Zustande des Gliedes con- 
statiren lassen. Ich habe mehrere Fälle der Art zu untersuchen Gelegenheit 
gehabt, wo die Betreffenden Schwangerschaftsklagen gegenüber Unfähigkeit 
zur Cohabitation angegeben haben, wegen bestehender Krümmung des Gliedes 
im Zustande der Erection. Dass solche Angaben als glaubwürdig nur dann 
angenommen werden können, wenn die Localuntersuchung Veränderungen der 
angeführten Art erkennen lässt, versteht sich von selbst. 

Auch grosse Scrotalbrüche können eine impotentia coeundi be-> 
dingen, indem die Haut des Gliedes zur Geschwulstdeckung verwandt wird, 
und auf der Bruchgeschwulst kein vorragendes Glied mehr, sondern nur die 
Falten der Vorhaut, in deren Mitte die HamröhrenmUndung sich befindet 1 
gefunden werden. Bei Untersuchungen solcher Individuen darf nicht versäumt 
werden, zu untersuchen, ob nicht durch Reposition eines Theiles des Bruch- 
inhaltes, die Bruchgeschwulst mehr oder weniger verkleinert werden kann» 
denn wenn von dem Betreffenden eine impotentia coeundi wegen einer solchen 


*) S. mein Lehrbuch der spec. Chir. 2. Aufl. II. S. 842. 

**) Bayr. ärztl. Intelligenzbltt. 1868, 48. 


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Geschwulst angegeben würde, so läge es in seinem Interesse, dem Arzte sich 
zu präsentiren, in einem Momente, wo die Bruchgeschwulst am grössten ist 
Um daher nicht getäuscht zu werden, müssten vorgängige Repositionsversuche 
gemacht werden. Auch elephantiastische Vergrösserungen der Scrotal- 
und Penishaut können die potentia coeundi aufheben. 

Einen exquisiten Fall von Elephantiasis scroti hat Hofmann*) beobachtet Das 
Scrotum reichte bis ans Knie und hatte die Grösse von etwa drei Mannsköpfen. Der 
Penis war in diesem riesigen Tumor vollständig vergraben, und durch eine excoriirte 
Stelle wurde die Mündung der Harnröhre bezeichnet Der Mann war verheirathet, konnte 
aber wegen des Tumors bereits seit mehreren Jahren den Coitus nicht mehr ausüben. 

Wird der Gerichtsarzt vor die Frage gestellt, ob ein bestimmtes männ¬ 
liches Individuum begattungsfähig ist oder nicht, so wird er sie leicht ent- 
entscheiden können, wenn die Untersuchung das Bestehen eines der 
besprochenen Zustände ergibt. Schwierig dagegen kann es sein, festzu¬ 
stellen, ob ein anscheinend normal gebildeter Mann im Vollbesitze der Erec- 
tionsfähigkeit ist. Früher hat man verschiedene Methoden zur Prüfung dieser 
heiklen Frage vorgeschlagen und angewandt, die alle aus sittlichen Gründen 
höchst widerwärtig und zudem unzuverlässig waren. Heute hat sich der 
Gerichtsarzt auf den Standpunkt zu stellen, dass a priori jeder gesunde Mann 
volle Erectionsfähigkeit besitzt, und dass deren Fehlen nur da angenommen 
werden darf, wo die objective Untersuchung nachweisbare Hinderungsgründe 
für deren Eintreten ergibt. In den betreffenden Fällen wird daher ein ge¬ 
richtsärztliches Gutachten in der negativen Form abzufassen sein: „die Unter¬ 
suchung habe keinen Grund für die Annahme gegeben, dass das Individuum 
der Erectionsfähigkeit ermangle.“ 

b) Weibliche Begattungsunfähigkeit. 

Weibliche Begattungsunfähigkeit besteht da, wo die Scheide ausser 
Stande ist, das erigirte Glied in sich aufzunehmen. Dieser Zustand kann 
seinen Grund haben: 1. in Abnormitäten der Scheide selbst und 2. in Ano¬ 
malien ihrer Umgebung. 

Die Impotentia coeundi bei weiblichen Individuen kann also 
auch durch functionelle und mechanische Verhältnisse beeinträchtigt oder 
ganz unmöglich gemacht werden. 

Die functionelle Störung, welche bei weiblichen Individuen Bei¬ 
schlafsunfähigkeit bedingen kann, besteht in einer pathologischen Empfind¬ 
lichkeit bes Scheideneinganges, so dass jeder Versuch zur Erweiterung desselben 
nicht blos die heftigsten Schmerzen verursacht, sondern auch reflectorisch 
krankhafte Zusammenziehung des constrictor cunni und weiterhin der ge- 
sammten Musculatur des Beckenbodens zur Folge hat. Dieser Zustand wurde 
von Marion Sims**) als Vaginismus bezeichnet, und ist schon wiederholt 
Gegenstand gynäkologischer Behandlung geworden. Er wird häufiger bei älteren 
verheiratheten, als jungverheiratheten Frauenzimmern beobachtet. Der Zu¬ 
stand hat augenscheinlich grosse Aehnlichkeit mit der fissura ani, welche die 
Defäcation äusserst schmerzhaft machen kann, und beruht in manchen Fällen 
wenigstens auf Zerreissungen, Fissuren in der Schleimhaut des Scheiden¬ 
einganges, welche beim Eindringen des Gliedes in die Scheide auseinander 
gerissen werden. Diese Fissuren werden leicht übersehen. Fritsch ***) fand 
in einem Falle, bei welchem die Empfindlichkeit ganz ausserordentlich war, 
eine kleine Fissur unter der Clitoris. 

In allen solchen Fällen ist mit seiner Ursache auch der Vaginismus 
heilbar und bedingt der letztere somit nicht dauernde Begattungsunfähigkeit. 


*) Lehrbuch 3. Aufl. S. 57.* 

**) Klinik der Gebärmutterchirnrgie. Deutsch von Beigele 1866. S. 246. 

***) Archiv für Gynäkologie. 1876. S. 547. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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Andererseits aber kann, wie es scheint, der Vaginismus auch auf rein nervösen 
oder psychischen Momenten beruhen und einer erfolgreichen Therapie 
schwieriger zugängig sein; dafür spricht sein Vorkommen bei nervösen, 
hysterischen Personen, welche locale Befunde der genannten Art an den 
Genitalien, resp. am Anus, nicht aufweisen. 

Zahlreicher sind die mechanischen Hindernisse bei weiblichen Indi¬ 
viduen bezüglich des Coitus. Absehend von Missbildungen, wie sie bei 
Zwitterbildungen Vorkommen, von welchen schon früher die Bede war, ist 
anch Atresia hymenalis und vaginalis als angeborene Missbildung zu er¬ 
wähnen, wovon die erstere operativ gehoben werden kann, sowie auch eine 
allfällige, oberflächliche Verwachsung der Labien, die mehrfällig beobachtet 
worden ist. 

Unter den congenitalen ist am häufigsten eine ausserordentlich feste, fleischige Be¬ 
schaffenheit des Hymens, mitunter zugleich mit sehr enger oder ganz fehlender Hymenal- 
öffnung. Ein solcher Zustand kann ein wesentliches Begattungshindernis, aber keinen 
Ehescheidungsgrund bilden, da er sehr leicht operativ zu beseitigen ist. Von dieser 
.Atresia hymenalis“ bis zu vollständigem Fehlen der Scheide kommen die verschiedensten 
Grade von angeborener Verengung und Verkürzung des > Scheidenschlauches vor. 

Ob durch solche Zustände Begattungsunfähigkeit bedingt wird, ist in 
jedem einzelnen Falle je nach dem Grade des Fehlers, sowie danach zu be- 
nrtheilen, ob der letztere operativ geheilt werden kann oder nicht. 

Bei vaginaler Atresie wäre bezüglich der Heilbarkeit zu untersuchen, 
ob der Verschluss mit Scheidenmangel verbunden ist, indem in letzterem Falle 
Heilung ausgeschlossen wäre. 

Erworben kommen Zustände von Verengerung und theilweiser Verwachsung 
der Scheide durch Verletzungen, namentlich bei Geburten, durch brandige und 
geschwürige Zustände in Folge von Verbrennung, Diphtherie, Variola, Noma 
u. s. w. vor. Bei der grossen Verschiedenheit dieser Vorkommnisse kann die 
Behinderung der Cohabitation eine sehr verschiedene sein, was immer eine 
genaue Untersuchung im Einzelfalle voraussetzt, namentlich auch in Bezug 
auf Heilbarkeit. 

Von Anomalien in ihrer Umgebung kann die Scheide völlig un- 
zugängig gemacht werden durch grosse Labialhernien oder Elephantiasis 
labiorum, durch hochgradige Verbildungen, namentlich starke Verengungen 
und abnorme Neigung des knöchernen Beckens, sowie durch angeborene oder 
erworbene Muskelverkürzungen, welche die erforderliche Spreizung der 
Schenkel nicht zulassen. 

Ferner können auch Fehler in der Conformation des Beckens, Knochen¬ 
geschwülste oder vaginale Tumoren den Gebrauch der Scheide unmöglich 
machen. 

Geschwulstbildangen der verschiedensten Art können innerhalb des kleinen Beckens 
den für Aufnahme des Gliedes in die Scheide erforderlichen Raum derart beengen oder den 
Scheidenschlauch durch Vordrängung nahe an seinem Eingänge so abknicken, dass 
absolute Beischlafsunfähigkeit die Folge ist. 

Besonders häufig kommen Vorfälle der Gebärmutter oder der Scheide 
vor. Hiebei kommt es wesentlich darauf an, ob diese Vorfälle reponirbar sind, 
was meistens der Fall ist, und schon spontan in der Rückenlage erfolgt, so 
dass ein solcher Zustand nicht eine Beischlafsunfähigkeit begründen könnte. 

2) Zeugungsunfähigkeit, Impotentia generandi. Die potentia 
generandi ist gebunden an die zwecktüchtige Beschaffenheit der den Samen 
bereitenden und der ihn nach aussen leitenden Organe. Selbstverständlich 
setzt die potentia generandi eine potentia coeundi voraus. Aber auch bei 
der letzteren kann die erstere fehlen. Beischlafsfähigkeit ist daher von 
Zengungsfähigkeit zu unterscheiden. Zeugungsunfähigkeit kann begründet 
sein in mangelhafter oder ganz fehlender Samenbereitung und in behin¬ 
derter oder ganz gehinderter Samenleitung. Impotentia generandi ist 


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demgemäss vorhanden a) beim Fehlen oder bei Functionsnnfähigkeit der Hoden, 
sowie b ) bei bestimmten Anomalien der Samen-Ausscheidungswege von den 
Nebenhoden bis zur äusseren Oeffnung der Harnröhre. 

Die Functionsthätigkeit der Hoden ist in erster Linie vom Lebens¬ 
alter des Individuums abhängig. 

Eine normale Beschaffenheit des Samens setzt in demselben die Gegen¬ 
wart von Spermatozoon voraus, welche erst zur Zeit der Geschlechtsreife in 
jenem auftreten. Eine Hauptbedingung für die Zeugungsfähigkeit ist daher 
ein gewisses Alter. In den gemässigten Zonen tritt die Geschlechtsreife 
gewöhnlich im 15. und 16. Lebensjahre ein, doch zeigen sich hierin grosse 
individuelle Verschiedenheiten, so dass die Zahl der Jahre nicht massgebend 
sein kann bei Untersuchungen über Geschlechtsreife zur Diagnose derselben. 
Man muss vielmehr in solchen Fällen auf erkennbare Zeichen der eingetretenen 
Reife sehen, wobei Körpergrösse und Körperbildung, die Stimme, der Bart¬ 
wuchs und die Behaarung der Genitalien in Betracht kommen. Selbstver¬ 
ständlich wird man ganz besonders auch die Gegenwart der Hoden im Scrotum, 
ihre Form und Grösse, berücksichtigen. 

Doch giebt die Constatirung dieser Veränderungen allein keinen bindenden Beweis für 
wirklich vorhandene Geschlechtsreife, wie Falle beweisen, in denen sich in den Hoden von 
Jünglingen mit bereits wohlaasgeprägtem männlichen Habitus, stark entwickelten Scham- 
haaren etc. bei der Section noch keine Spermatozoen vorfanden. Da das Bestehen der 
Zengnngsfahigkeit in einwandsfreier Weise allein durch den Nachweis von Spermatozoen 
erbracht werden kann, und da sich bald, nachdem die Hoden in die Periode ihrer Activüät 
eingetreten sind, Pollutionen einzustellen pflegen, so wird der Gerichtsarzt in fraglichen 
Fällen nach Spermaflecken in der Wäsche des betreffenden Individuums zu fahnden und 
solche auf Spermatozoen zu untersuchen haben. 

In manchen Fällen wird man über einen Wahrscheinlichkeitsschluss 
nicht hinausgehen können. 

Wir haben kürzlich einen noch nicht ganz 16 Jahre alten Jüngling zu untersuchen ge¬ 
habt, der unter der Anklage einer angeblichen Nothzucht stand, wobei namentlich die Möglich¬ 
keit einer Schwängerung in Frage kam. Der Habitus des übrigens gross gewachsenen Menschen 
war noch derjenige eines Knaben. Von Bartwuchs zeigte sich keine Spur, die Stimme 
war noch nicht gebrochen, an den Genitalien hat noch keine Behaarung stattgefunden, 
die Beschaffenheit der Hoden im Scrotum durchaus normal und von Samenergiessung habe 
sich noch nicht eine Spur gezeigt. Das Glied war wohlgebildet und etwas gross. Wir 
sprachen uns dahin aus, dass wir das Individuum zwar für durchaus beischlafsfahig halten, 
dass wir aber dessen Zeugungsfähigkeit wegen nicht erwiesener Samenbereitung be¬ 
zweifeln müssen. 

Was das Alter betrifft, bis zu welchem die potentia generandi verbleibt, 
so sind hier der Zahl der Jahre nach genauere Grenzen nicht zu ziehen, 
indem man, wie aus den Untersuchungen von Duplay und Dieu hervorgeht, 
noch bis zu 90 Jahren Spermatozoen in der Flüssigkeit der Hoden gefunden 
hat. Ohne Zweifel schwindet die Erectionsfähigkeit des Gliedes früher als 
die Gegenwart von Spermatozoen in der HodenÜüssigkeit, so dass aus dieser 
noch nicht auf eine potentia coeundi geschlossen werden könnte. Bei der Frage 
nach der Zeugungsfähigkeit eines Greises ist daher in erster Linie nicht 
dessen Lebensalter, sondern sein allgemeiner Kräftezustand zu berücksichtigen. 

Angeborenes gänzliches Fehlen eines oder beider Hoden ist eine seltene Missbildung 
und kommt zumeist, aber nicht ausschliesslich, zusammen mit anderweitigen Entwicklungs¬ 
fehlern der Harn- und Geschlechtsorgane, gewöhnlich zugleich bei mangelhafter Ausbildung 
des gesammten specifisch-männlichen Habitus vor. Impotentia generandi besteht natur- 
gemäss nur beim Fehlen beider Hoden, da ein functionstüchtiger Testikel zur Befruchtungs¬ 
fähigkeit genügt; übrigens beobachtet man bei einseitiger Anorchidie nicht selten eine aus¬ 
gleichende Hypertrophie der einen vorhandenen Drüse. In sehr vereinzelten Fällen ist an¬ 
geborene Impotentia generandi durch eine congenitale Hodenatrophie bedingt, derart, dass 
ein oder beiae Hoden zwar vorhanden sind, aber keine Spermatozoen liefern, indem das 
Organ allein aus dem bindegewebigen Stroma besteht und der specifischen Samenbildungs- 
zellen entbehrt. In diesen Fällen sind meist, wenngleich nicht immer, auch die übrigen 
Theile der Genitalien auf einer knabenhaften Entwicklungsstufe zurückgeblieben, und ist 
häufig die ganze Körperbildung schwächlich und infantil. Das theilweise Stehen bleiben 
des Organismus auf einer frühen Entwicklungsstufe macht sich dabei manchmal schon 


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darin deutlich geltend, dass einer oder beide Hoden anf dem Wege ans der Bauchhöhle 
in den Hodensack Halt gemacht, dass der „Descensus testiculorum“ nicht gehörig zustande 
gekommen ist. Jedoch ist die normale Lage der Testikel im Scrotum für ihre Functions¬ 
fähigkeit nicht durchaus erforderlich, so dass aus bestehendem Kryptorchismus keineswegs 
Ton vornherein auf Impotentia generandi geschlossen werden darf. Der Geschlechtstrieb 
kann trotz aller Missbildungen der Generationsorgane erhalten, und die Begattungsfähigkeit 
selbst mit Ejaculation einer spermatozoenfreien Flüssigkeit unbehindert sein. 

Erworbenes gänzliches Fehlen eines oder beider Hoden hat für die Zeugungsfähigkeit 
natnrgemäss dieselben Folgen wie der angeborene Fehler. Die Castration wird namentlich 
bei malignen Hodentumoren, bei Carcinomen und Sarcomen, gelegentlich auch bei Tuber- 
culose des Testikels ausgeführt. Neuerdings hat man die Operation auch zwecks Heilung 
hochgradiger Prostata-Hypertrophie ausgeführt, in allerletzter Zeit aber an Stelle dieses 
Eingriffes die überaus einfach und leicht zu bewerkstelligende Exstirpation je eines Stückes 
der aus den Samensträngen isolirten Vasa deferentia gesetzt. Auch sie bedingt gänzliche 
Azoospermie und somit impotentia generandi. 

Verlust der Hoden durch Castration hebt also die Zeugungs¬ 
fähigkeit auf, doch kann sich hier die Frage erheben, wie lange bei Castraten 
in den Samenbläschen spermatozoenhaltige Samenflüssigkeit noch verbleibt, 
und wie lange daher nach einer Castration die Möglichkeit einer Schwänge¬ 
rung noch fortbesteht, zumal bei Castraten die potentia coeundi immer noch 
fortbesteht. Die Beurtheilung solcher Fälle wird selten Vorkommen, weil nur 
kurze Zeit nach einer Castration wohl kaum je ein Coitus ausgeübt werden 
wird, und bezüglich einer späteren Schwängerung durch einen Castraten bis 
jetzt keine Thatsachen vorliegen. 

Die Exstirpation der Vasa deferentia ist ein viel geringerer, in wenigen Tagen aus- 
heilender Eingriff, nach welchem erfahrungsgemäss der Geschlechtstrieb vielfach unver¬ 
mindert besteht und frühzeitig bethätigt wird. Somit ist es als durchaus möglich 
anzasehen, dass ein derartig operirter Mann bei den ersten Cohabitationen nach dem Ein¬ 
griffe noch befruchten könne. 

Das Fehlen der Hoden im Scrotum wegen Kryptorchie ist keineswegs 
dem Verluste derselben gleichzustellen, obschon allerdings die Kryptorchie 
häufig mit Atrophirung der Hoden verbunden ist, allein es sind Fälle bekannt, 
in welchen Testiconden in der Ehe mehrfach Kinder erzeugt haben (Taylor), 
und sind auch in der Samenflüssigkeit solcher Individuen Spermatozoen ge¬ 
funden worden (Beigel), so dass aus dem Kryptorchismus allein noch durch¬ 
aus nicht auf Zeugungsunfähigkeit geschlossen werden könnte. 

Indessen gehören die Hoden gerade zu denjenigen drüsigen Organen, 
welche den verschiedenartigsten Degenerationen ausgesetzt sind und die 
Functionsfähigkeit derselben beeinträchtigen können. Eine dadurch bedingte 
Zeugungsunfähigkeit kann aber nur dann angenommen werden, wenn bei 
diesem Doppelorgan beide Hoden ergriffen sind. 

Erworbene Functionsunfähigkeit eines oder beider Testikel ist überaus 
häufig und in den meisten Fällen ein Folgezustand acuter oder chronischer 
Entzündungen, in deren Aetiologie die Gonorrhoe bei weitem die erste Rolle 
spielt. In anderen Fällen wird Orchitis durch Syphilis oder durch primäre 
oder metastatische Tuberculose bedingt, oder sie beruht auf metastatischer 
Ansiedelung anderer Entzündungserreger, wie es z. B. bei acutem Gelenks¬ 
rheumatismus oder Parotitis epidemica beobachtet wird. Häufig wird ferner 
die Samenbereitung durch Neubildungen des Hodens aufgehoben, besonders 
durch Adenome und Cystadenome, durch Carcinome und Sarcome, seltener 
durch Fibrome, Myxome und Enchondrome. Weiterhin können die verschieden¬ 
artigsten Traumen destruirend auf den Testikel einwirken, wie Quetschungen, 
Hieb-, Stich- oder Schnittwunden etc. Selbstverständlich besteht Impotentia 
generandi auch in allen diesen Fällen nur da, wo das gesammte samen¬ 
bereitende Gewebe beider Keimdrüsen functionsunfähig geworden ist. Häufig 
kommt sodann Atrophie der Hoden auf Grund allgemeiner Ernährungsstörung 
des gesammten Organismus vor, bei schweren Cachexien nach langandauern¬ 
den Krankheiten oder bei chronischen Intoxicationen, namentlich durch Alkohol 
und Morphium, sowie auch infolge der schwächenden Einflüsse übertriebener 

Bibi, med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin, 24 


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geschlechtlicher Ausschweifungen, besonders nach frühzeitig begonnener und 
excessiv ausgeübter Masturbation. Es bleibe jedoch nicht unerwähnt, dass 
die Widerstandsfähigkeit gegenüber derartigen Einflüssen individuell häufig 
überraschend gross ist. Endlich kann auch lange einwirkender mechanischer 
Druck das Hodengewebe zur Atrophie bringen, was gelegentlich durch Neo¬ 
plasmen der Umgebung, bei grossen Scrotalhemien, Elephantiasis scroti, Hydro- 
und Varicocele- u. dgl. Affectionen mehr in Betracht kommt. 

Dagegen hat eine andere Beschaffenheit des Samens, welche auch bei 
scheinbar normal gebildeten Hoden Vorkommen kann, grössere forensische Be¬ 
deutung, nämlich die sogenannte Azoospermie, bei welcher in der Samen¬ 
flüssigkeit die Spermatozoen fehlen und andere zellige Gebilde von ver¬ 
schiedenem Charakter mit den bekannten krystallinischen Gebilden vorhanden 
sind. Derartige Fälle sind selten. Conrad*) hat hierüber eine beachtens- 
werthe Mittheilung gemacht. Nicht zu verwechseln ist diese auf mangel¬ 
hafter Spermatozoenbildung beruhende Azoospermie, welche männliche Steri¬ 
lität begründet, mit der auf entzündlichen Zuständen der Samenleiter be¬ 
ruhenden, wobei die Samenentleerung behindert oder wenigstens vorübergehend 
sistirt ist und verschiedene Entzündungsproducte in den Ejaculationstiüssig- 
keiten sich befinden. Uebrigens kann eine transitorische Unterbrechung der 
Spermatozoenbildung auch bei grossen Schwächezuständen, bei auszehrenden 
Krankheiten Vorkommen, wie das auch nur ganz vorübergehend bei Excessen 
in Venere geschehen kann. Dass solche Untersuchungen zu forensischen 
Zwecken nicht wohl angestellt werden können, ist leicht ersichtlich, und mnss 
man sich daher vorkommenden Falles damit begnügen, auf die im Ganzen 
selten unter besonderen Verhältnissen vorgenommenen Untersuchungen von 
Anderen sich zu beziehen und die Thatsache der Möglichkeit des Vorkommens 
einer solchen Azoospermie zu berücksichtigen, so dass männliche und weib¬ 
liche Sterilität miteinander concurriren können. 

Ein anderer Zustand, welcher Impotentia generandi bedingen kann, ist 
die sogenannte Aspermatie, welche darin besteht, dass der Mechanismus 
der Ejaculation behindert ist. Dazu können namentlich Unwegsamkeit der 
Harnröhre, Verengungen derselben diesseits der einmündenden ductus eja- 
culatorii, Ausmündung der Harnröhre an der Basis des Gliedes, wie bei den 
höchsten Graden der Hypospadie, auch Phimosenbildung höheren Grades 
führen. Die Samenentleerung ist hiebei nicht ausgeschlossen, allein sie erfolgt 
nicht mehr als Ejaculation, wodurch das tiefere Eindringen der Samenflüssig¬ 
keit in die Scheide mehr oder weniger behindert ist. Dass übrigens ein solches 
tieferes Eindringen des Sperma zur Generation nicht nothwendig ist, und dass 
es in manchen Fällen wenigstens genügt, wenn dasselbe nur in den Scheiden¬ 
eingang gelangt, indem dann Flimmerbewegungen und Selbstbewegungen der 
Spermatozoen eine weitere Bewegung derselben bedingen kann, ist schon 
oben angegeben worden. Bei Harnröhrenverengungen sowohl als bei Phimosen 
erfolgen die Entleerungen der Samenflüssigkeit nach aussen nur allmälig und 
hängt daher das Gelangen derselben in die Scheide wesentlich von dem län¬ 
geren oder kürzeren Verweilen des Gliedes nach erfolgter Samenergiessung 
in der Scheide ab. Bei Phimosen sammeln sich Harn und Samenflüssigkeit 
zuerst im Präputialsack an und gelangen erst nach und nach nach aussen. 

Ein jüngerer Mann vom Lande consnltirte mich wegen einer Phimose, die so be¬ 
deutend war, dass man nur eine Sonde in die Oeffnung bringen konnte. Ich wunderte 
mich, dass er das beschwerliche Harnen, er war über 23 Jahre alt, solange ertragen habe, 
und rieth ihm sofortige Operation an. Da gestand er, dass er eigentlich nicht wegen einer 
solchen Hilfe gekommen sei, sondern aus einem ganz andern Grunde. Er habe eine Be¬ 
kanntschaft, mit welcher er schon öfters geschlechtlichen Umgang gehabt habe und welche 
er zu heirathen beabsichtige, diese Bekanntschaft sei nun schwanger und behaupte, dass 
die Schwangerschaft von ihm herrühre, was er kaum glauben könne, da er mit seiner Miss- 

*) Correspondenzblatt f. Schweizer-Aerzte. 1878. Nr. 22. S. 680. 


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bildung am Gliede wohl nicht zeugungsfähig sei, und darüber wünschte er von mir Aus¬ 
kunft, indem er davon die Heirath abhängig machte. Nachdem ich mich über sein 
Benehmen beim Harnen und beim Coitus orientirt hatte, erklärte ich ihm, dass eine Schwän¬ 
gerung von seiner Seite sehr wohl möglich gewesen sei. 

3. Conceptionsunfähigkeit, Impotentia concipiendi. Von 
Conceptionsunfähigkeit, sprechen wir dann, wenn bei einem weiblichen In¬ 
dividuum die Befruchtung eines Eichens, und somit das Zustandekommen 
einer Schwangerschaft, unmöglich ist. Die Fälle, in welchen sie Gegenstand 
gerichtsärztlicher Erörterung werden kann, sind aus dem Abschnitte „Zeugungs- 
Unfähigkeit“ zu ersehen. Die Grundbedingungen für das Zustandekommen 
einer Conception sind: 1. das Vorhandensein befruchtungsfähiger Ovula und 
2. die Möglichkeit, dass ein solches im weiblichen Genitaltractus vom Ovarium 
bis zur Uterushöhle mit einem Samenfaden Zusammentreffen kann. Demgemäss 
theilen sich die Ursachen der Conceptionsunfähigkeit in zwei Gruppen, deren 
erste Störungen am Ovarium umfasst, während die zweite es mit Anomalien des 
dem Zusammentreffen von Ovulum und Spermazelle dienenden Canalsystems zu 
thun hat. Wie bei männlichen Individuen spielt auch bei weiblichen das Alter 
bezüglich der Conceptionsfähigkeit eine wichtige Rolle, und ist der Eintritt dieser 
Fähigkeit, nämlich der Geschlechtsreife, durch eine besondere Erscheinung 
aulfällig markirt, nämlich durch die Menstruation. Wie beim männlichen 
Geschlecht ist die Conceptionsfähigkeit unabhängig von der potentia coe- 
uudi, welche mit anderen Verhältnissen in Zusammenhang steht. Der Ein¬ 
tritt der Menstruation fällt in den mitteleuropäischen Ländern durchschnittlich 
auf das 15.—16. Altersjahr, doch kommen hierin mancherlei Verschieden¬ 
heiten vor, namentlich in der Art, dass in einzelnen, freilich Ausnahmsfällen, 
die Menstruation schon mehrere Jahre früher eintritt, mit entsprechender, 
weiter vorgeschrittener körperlicher Bildung, so dass man für Annahme einer 
potentia concipiendi nicht bloss auf die Zahl der Jahre, sondern auf die körper¬ 
liche Entwicklung und Ausbildung überhaupt Rücksicht zu nehmen hat. Es 
sind Fälle bekannt, wo Schwangerschaften schon im 8., 9., 10., 11. und 12. 
Lebensjahre eingetreten sind. Wir selbst haben einen Fall kennen gelernt, in 
welchem ein Mädchen im 9. Lebensjahre schwanger geworden ist, und in einem 
anderen Falle im 14. Lebensjahre. Die Menstruation steht mit der Ovulation 
in einem nicht anzuzweifelnden Zusammenhang, der aber immer noch nicht 
hinreichend aufgeklärt ist, und nur das ist für forensische Zwecke bestimmt an- 
zunehmen, dass weitaus in den meisten Fällen Schwangerschaft erst eintritt, 
nachdem menstruale Blutungen vorhergegangen sind. Die Fälle, in welchen 
Schwängerung ohne vorhergegangene Menstruation eingetreten sein soll, wie 
z. B. in den von Casper und Löwy mitgetheilten Fällen, gehören immerhin 
zu den Seltenheiten, und ebenso sind es Raritäten, wenn nach aufgehörter 
Menstruation nochmals Schwangerschaft eingetreten sein soll, wovon gleich¬ 
falls mehrere Fälle berichtet sind. Das Aufhören der Menstruation findet wie 
der erste Eintritt derselben zu verschiedenen Zeiten statt, gewöhnlich zwischen 
dem 45. und 50. Lebensjahre, doch kennt man auch Fälle, wo sie schon im 
37. und erst im 55. Lebensjahre aufhörte. Bei der Schwierigkeit, über den 
Bestand oder Nichtbestand menstrualer Blutungen, die so ausserordentlich 
verschieden sein können, mit Sicherheit Aufschluss zu erhalten, wird man ausser¬ 
ordentlich vorsichtig sein müssen, in gerichtlichen Fällen so seltene Vorkomm¬ 
nisse als sicher erwiesene Thatsachen zu verwenden, und gehören die meisten 
hieher gehörigen Gerichtsfälle' nicht der heutigen gerichtlichen Medicin an. 

Obschon die Geschlechtsreife durch die Menstruation indicirt wird, so 
ist dieselbe doch keineswegs von letzterer abhängig, da bekanntlich in Folge 
von gewissen Blutkrankheiten, die unter dem Namen Chlorose bekannt 
sind, auch bei vollkommen entwickelter Körperbildung die Menstruation fehlen 
und mit derselben Impotentia concipiendi verbunden sein kann. Diese Impotenz 
könnte jedoch in vielen Fällen nicht als eine unheilbare oder bleibeöde foren- 

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sisch verwerthet werden, da die Erfahrung lehrt, dass solche Blutkrankheiten 
durch stärkende Curen früher oder später gehoben werden können, und dann 
Schwangerschaft eintritt. 

Indessen gibt es noch eine Menge anderer pathologischer Zustände, 
welche nicht allgemeiner, sondern localer Natur sind und sich auf die 
weiblichen Genitalien speciell beziehen, welche Sterilität bedingen können; 
doch ist die diagnostische Feststellung derselben wegen der Unzugänglichkeit 
der inneren Geschlechtstheile mit Schwierigkeiten verbunden, so dass bestimmte 
gerichtlich-medicinische Aufklärungen nicht immer gegeben werden können. 

Selten kommt angeboren theilweiser Mangel oder blinde Endigung der 
Scheide vor, zuweilen mit Mangel noch anderer Theile der inneren Geni¬ 
talien, wobei Beischlafsfähigkeit, aber Unmöglichkeit der Conception besteht. 

Hofmank hat bei der Section einer alten, verheirathet gewesenen Fraa die Scheide 
mit einer Länge von 5—6 cm, aber blind endigend gefunden. Statt des Uterns fanden sich 
einige pyramidenförmig angeordnete Faserzüge im Lig. latum, die Tnben fehlten, die Ovarien 
waren vielfach eingekerbt u. s. w. 

Naturgemäss ist das Vorhandensein befruchtungsfähiger Ovula an die 
Gegenwart normal leistungsfähiger Eierstöcke gebunden. Völliges Fehlen der 
Ovarien kommt angeboren nur bei sehr hochgradigen Missbildungen auch der 
übrigen Genitaltheile, erworben heutzutage nach ausgeführter Ovariectomie 
ziemlich häufig vor, und bedingt selbstverständlich absolute Conceptions- 
unfähigkeit. Fehlen eines Ovariums ist für die Conceptionsfähigkeit belanglos, 
solange die vorhandene zweite Keimdrüse functionirt. Durch Ovarialerkran- 
kungen wird die Conceptionsfähigkeit immer erst dann aufgehoben, wenn alle 
keimbereitenden Organe functionsunfähig geworden sind. Häufig aber erhält 
sich auch bei weit vorgeschrittenen pathologischen Veränderungen im Ovarium 
doch noch ein Rest normalen Gewebes mit gesunden GRAAF’schen Follikeln 
und Eiern, so dass man mit der Annahme einer unbedingten Conceptionsunfähig- 
keit bei Eierstockaffectionen ungemein vorsichtig sein muss. 

Die zweite Gruppe ätiologischer Momente der Conceptionsunfähigkeit 
umfasst alle Veränderungen des weiblichen Canalsystems, welche das Zu¬ 
sammentreffen eines beim Begattungsacte in letzterem abgelagerten Samen¬ 
fadens mit einem aus dem Ovarium losgelösten Eichen unmöglich machen. 

Die hierher gehörigen Störungen sind zum Theil angeborene Missbildungen: mangel¬ 
hafte oder fehlerhafte Entwicklung des Uterus oder der FALLOPi’schen Tuben; dieBe- 
gattmigsfähigkeit kann dabei, falls nur die Scheide genügend entwickelt ist, unbeeinträchtigt 
sein. In einer anderen Reihe von Fällen sind die der Conceptionsunfähigkeit zu Grunde 
liegenden Veränderungen Folgezustände von entzündlichen Processen m den Schleim¬ 
häuten des Uterus und der Eileiter oder peritonitischer Affectionen in der Umgebung der 
ostia abdominalia tubarum. 

In der Aetiologie aller hierhergehörender Entzündungen spielt der 
Gonococcus Neisseri bei weitem die erste Rolle. Während derartige Erkran¬ 
kungen der Tuben therapeutischer Beeinflussung meist nicht zugänglich, ja 
intra vitam in der Mehrzahl der Fälle kaum präcise diagnosticirbar sind, ist 
in einer grossen Anzahl von Fällen die Conceptionsunfähigkeit heilbar, wenn 
sie auf krankhaften Zuständen des der Therapie erreichbaren Uterus beruht 

Pathologische Zustände des Uterus, denen als Folge Conceptions¬ 
unfähigkeit mit mehr oder weniger Begründung zugeschrieben werden kann, 
sind mehrfältig und bestehen theils in Unwegsamkeit des Cervicalkanales, 
theils in abnormen Absonderungen der Uteruschleimhaut, in Lage- und 
Richtungsveränderungen des Uterus, oder auch in Geschwulstbildungen des 
Uterus. 

Unwegsamkeit des Cervicalkanales, sei es durch Enge des Canales oder 
durch Obturation desselben mit zähen Schleimmassen wird häufig als Ursache 
von Sterilität angesehen, wegen behindertem Durchgang der an den Vaginal¬ 
partien befindlichen Spermatozoen trotz allfälliger Aspiration von Seiten des 
Uterus. Die günstigen Erfolge mechanischer Dilation des Cervicalkanales 


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lassen kaum daran zweifeln, dass mitunter Unwegsamkeit desselben weibliche 
Sterilität bedingt, allein der Nachweis ist kaum mit einiger Sicherheit zu 
erbringen. 

Dass abnorme Absonderungen der Uterinschleimhaut in Folge katarrha¬ 
lischer oder anderer Entzündungen derselben auf das Leben der Spermatozoen 
ungünstig einwirken können, ist anzunehmen, da alkalischer Uterinschleim 
lähmend auf die Bewegungen dieser Gebilde einwirkt, was aber gleichfalls 
nicht leicht nachweisbar ist. 

Einen hemmenden Einfluss auf die Conceptionsfähigkeit hat man auch viel¬ 
fältig den Lage- und Richtungsveränderungen des Uterus zugeschrieben, aber 
nachgewiesen ist derselbe nicht, und bestehen eine Reihe von Beobachtungen, 
bei welchen Vorfälle und verschiedene Flexionen und Versionen des Uterus 
den Eintritt von Schwangerschaften nicht verhindert haben, ja schon in einer 
Leistenhernie ist ein gravider Uterus gefunden worden. Wir selbst waren 
Zeuge, wo bei einer solchen Bruchgeschwulst, die den schwangeren Uterus ent¬ 
hielt, der Kaiserschnitt gemacht wurde. *) Wenn übrigens solche Vor¬ 
kommnisse auch beweisen, dass derartige Zustände des Uterus eine 
Schwangerschaft nicht ausschliessen, so hat man andererseits auch eine 
grössere Reihe von Beobachtungen, wo bei sterilen Frauen solche Abnormi¬ 
täten der Gebärmutter gefunden wurden, so dass auch nicht in Abrede 
zu stellen ist, dass solche Zustände von Einfluss auf das Zustandekommen 
einer Schwangerschaft sein können, und man daher in gerichtlichen Fällen 
stets genau die Verhältnisse des vorliegenden Falles zu untersuchen hat, um 
wenigstens zu einem motivirten Wahrscheinlichkeitsschluss zu gelangen. 

Geschwulstbildungen in den Uteruswandungen, wie Myome, Fibrome, 
Carcinome u. s. w., haben keineswegs immer Sterilität zur Folge gehabt, doch 
kommen sehr der Sitz dieser Geschwülste, ob peripher oder interstitiell oder 
submucös, und die Grösse derselben in Betracht. 

Abnormitäten der Tuben, angeborene und erworbene, sind keine Selten¬ 
heiten. Ausser angeborenem Mangel und Verschluss der Tuben hat man 
Veränderungen in Folge acuter und chronischer Salpingitis gefunden, als 
Verdickungen der Wandungen mit Stenose des einen oder anderen Ostiums, 
selbst Verschluss derselben, ferner Blutansammlungen, Eiteransammlungen 
u. s. w. Dass die Diagnose hier grosse Schwierigkeiten hat, ist kaum zu er¬ 
wähnen, und ausserdem ist zu berücksichtigen, dass es ein Doppelorgan ist, 
und einseitige Erkrankung die Conceptionsfähigkeit nicht ausschliessen kann. 

Dasselbe ist zu berücksichtigen bei den so häufigen Erkrankungen der 
Ovarien, auch abgesehen von angeborenen Defecten, die bei Zwitterbildungen 
vorhanden sein können. Die häufigste Art der Erkrankung ist Cystenbildung, 
die jedoch meistens nur einseitig ist. Aber auch bei dieser, zumal wenn der 
Tumor noch nicht eine bedeutendere Grösse hat, ist die Eireifung keineswegs 
ausgeschlossen. 

Dass unter solchen Verhältnissen und namentlich mit Berücksich¬ 
tigung der Duplicität des Organes in Verbindung mit den diagnostischen 
Schwierigkeiten eine weibliche Sterilität nicht leicht nachweisbar ist, ergibt 
sich von selbst. So führen schliesslich diese Erörterungen dahin, dass bei weib¬ 
lichen Individuen allerdings sehr häufig durch abnorme Zustände der Genitalien 
Anlass zu Conceptionsunfähigkeit gegeben sein kann, und dass das bei männ¬ 
lichen Individuen in geringerem Grade der Fall ist, so dass man einiger- 
nassen berechtigt ist, bei Untersuchungen über Sterilität einer Ehe die 
Ursachen hievon häufiger bei weiblichen als bei männlichen Individuen zu 
suchen, dass aber bei beiden Geschlechtern bei der Schwierigkeit der Diagnose 
der die Sterilität bedingenden Ursachen weitaus in der Mehrzahl der Fälle 


*) Mein Lehrbuch der Chirurgie, 2. Aufi. II. 1862. S. 314. 


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die Untersuchungsresultate der Aerzte nur zu mehr oder weniger zu begrün¬ 
denden Wahrscheinlichkeitsschlüssen berechtigen können. 

Schliesslich bleibe nicht unerwähnt, dass beim Weibe trotz bestehender 
Begattungs- und Conceptionsfähigkeit dennoch die Fortpflanzungsfähigkeit 
fehlen kann. Dies beruht entweder auf einer Impotentia gestandi oder 
aber auf einer Impotentia parturiendi. 

4. Impotentia gestandi ist die Unfähigkeit des Weibes, ihre 
Leibesfrucht „auszutragen“, bis diese im Stande ist, ausserhalb des mütter¬ 
lichen Organismus weiterzuleben. 

Die Ursachen der vorzeitigen Unterbrechung der Schwangerschaft bestehen zumeist 
in letzter Linie darin, dass die Fracht in Folge mangelhafter oder unterbrochener Zufuhr 
an Nahrung und Sauerstoff abstirbt, worauf sie vom Organismus ausgestossen wird. Weit¬ 
aus am häufigsten wird dies durch syphilitische Erkrankung der Frucht veranlasst, welche 
sowohl vom Vater wie von der Mutter herrühren kann; in anderen Fällen kommt dieselbe 
Störung zustande durch Blutergüsse in die Placenta, durch entzündliche Erkrankungen im 
Gebiete der Gebärmutter oder des den Fötus ernährenden Gefässapparates oder auch durch 
Allgemeinerkrankungen der Mutter, in Folge deren das Blut derselben zu nahrungs- und 
sauerstoffarm für Erhaltung und Wachsthum des Fötus wird. In selteneren Fällen erreicht 
die Schwangerschaft dadurch vorzeitig ihr Ende, dass die Gebärmutter bei noch lebender 
Frucht zu Contractionen angeregt wurde, was in Folge mechanischer und thermischer 
Reize — letzterer unter anderen auch bei hochfieberhaften Erkrankungen der Mutter — 
geschehen kann. 

Die Unfähigkeit weiblicher Individuen, eine Schwangerschaft durch¬ 
zumachen, kommt hauptsächlich in doppelter Weise vor, einmal so, dass 
fast regelmässig nach stattgehabter Conception abortirt wird, und zwar, ohne 
dass nachweisbar veranlassende Ursachen bestanden hätten, so dass eine hoch¬ 
gradige Disposition zu Abortus angenommen werden muss, und dann in der 
Weise, dass die Schwangerschaft bis zu den letzten Monaten speciell bis oder 
kurze Zeit nach dem Eintritt der Lebensfähigkeit der Kinder dauert und nun 
durch Eintritt der Geburt unterbrochen wird, so dass die Kinder entweder noch 
gar nicht lebensfähig oder aber so lebensschwach geboren werden, dass sie 
nur kürzere Zeit am Leben zu erhalten sind. Dass durch solche Vorgänge eine 
Ehe kinderlos werden muss, ist leicht einzusehen. Indessen könnte dieses 
Vorkommnis doch nicht als Grund zur Ehescheidung angenommen werden, da 
vom medicinischen Standpunkt aus durchaus nicht behauptet werden könnte, 
dass nicht früher oder später doch die rechtzeitige Geburt eines Kindes er¬ 
folgen könnte. 

Impotentia parturiendi ist die Unfähigkeit der Mutter, die bis zu voller Reife 
gediehene Frucht zu gebären; ein solches Unvermögen kann in sehr seltenen Fällen auf 
einem Mangel der zur Geburtsarbeit erforderlichen allgemeinen Körperkräfte beruhen; 
zumeist wird es durch mechanische Hindernisse, bei angeborenen oder erworbenen Miss¬ 
bildungen zumeist der knöchernen, seltener der weichen Beckentheile (Geschwülste, Narben¬ 
bildungen oder dergl.), bedingt. 

3. Zweifelhafte Jungfrauschaft 

Abgesehen von Nothzuchtsfällen können Untersuchungen über zweifel¬ 
hafte Jungfrauschaft dadurch nothwendig werden, dass verleumderische An¬ 
gaben über Verlust der Jungfrauschaft auf Klage der Betreffenden zu straf¬ 
rechtlicher Verfolgung Anlass geben können, und nur auf den gerichtsärzt¬ 
lichen Nachweis bestehender Virginität eine Verleumdungsklage angestrengt 
werden kann. Nachstehende gesetzliche Bestimmungen, welche sich in den 
meisten neueren Strafgesetzen befinden, berechtigen zu solchen Klagen. 

Deutsches Strafgesetzbuch 8 186. Wer in Beziehung auf einen Andern eine 
Thatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der 
öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist. wird, wenn nicht diese Thatsache 
erweislich wahr ist, wegen Beleidigung mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder 
mit Haft oder mit Gefängniss bis zu einem Jahre u. s. w. bestraft. 

§ 187. Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen Anderen eine unwahre 
Thatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der 
öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird wegen verleumderischer 
Beleidigung mit Gefängniss bis zu zwei Jahren u. s. w. bestraft. 


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GESCHLECHTSVEBHÄLTNISSE. 


375 


Derartige Fälle sind zwar nicht sehr häufig, weil die betreffenden 
Frauenzimmer, über welche derartige Verleumdungen ausgesprochen werden, 
nicht immer ein gutes Gewissen haben, und daher nicht gerne solchen Unter¬ 
suchungen sich unterwerfen, indessen kommen solche Fälle doch mitunter vor, 
und haben Aerzte die Verpflichtung, einschlägige Untersuchungen auszuführen 
und eventuell Gutachten darüber auszustellen, damit geklagt werden kann. 

In letzter Zeit bin ich in knrzen Zwischenräumen dreimal um solche Untersuchungen 
angegangen worden. In einem Falle führte mir ein Mann vom Lande seine Tochter, welche 
16 Jahre alt war, zu, mit dem Ersuchen, sie zu untersuchen, indem in seiner Ortschaft 
verleumderische Gerüchte über geschlechtlichen Umgang derselben, deren Urheber er kenne, 
ausgestreut worden seien, und er beabsichtige, eine Verleumdungsklage dagegen anzu- 
strengen. Ich nahm die Untersuchung vor, und fand eine vollständig unversehrte, normal 
gebildete Scheidenklappe, so dass ich ein entsprechendes Gutachten ausstellen konnte. 

In einem anderen Falle kam ein 17jähriges Mädchen, auch vom Lande, ohne alle Be¬ 
gleitung zu mir, mit dem Ansuchen, sie zu untersuchen, da in ihrer Ortschaft bezüglich ihrer 
Jungfrauschaft verleumderische Gerüchte ausgestreut worden seien, gegen welche sie, die 
noch niemals fleischlichen Umgang gehabt habe, klagend auftreten werde. Die Unter¬ 
suchung ergab vollkommene Virginität, und ich stellte ein entsprechendes Gutachten aus. 

ln einem dritten Falle endlich kam eine 21jährige Person mit ihrer Schwester zu 
mir, aus dem Canton Freiburg, und zwar im Auffrage ihres bereits zur Klage bestellten 
Anwaltes, welcher sie zur Untersuchung hieher sandte. Ich fand bei derselben ebenfalls 
vollkommen unversehrten und wohl gebildeten Hymen und stellte ein entsprechendes Gut¬ 
achten aus. 

Aus diesen mitgetheilten Fällen ergibt sich die Qualität der Unter¬ 
suchungsobjecte, welche insgesammt jüngere, geschlechtsreife weibliche 
Individuen waren, denen an ihrer Geschlechtsehre sehr gelegen war. 

Solche Untersuchungen müssen stets mit Vorsicht, um nicht selbst Ver¬ 
letzungen zu machen, auf einem gynäkologischen Tisch, womöglich unter Mit¬ 
hilfe einer zweiten Person, zum Auseinanderhalten der grossen Labien, aus¬ 
geführt werden. Zur Untersuchung selbst finde ich am geeignetsten einen 
S-förmig gekrümmten Catheder, der eventuell auch gleich zum Entleeren 
der Harnblase gebraucht werden kann. Dass gute Beleuchtung zur Be¬ 
sichtigung nothwendig ist, versteht sich von selbst. 

Das wichtigste Gebilde nun, welches zur Feststellung der physischen 
Virginität besonders in Augenschein genommen und untersucht werden muss, 
ist die sogenannte Scheidenklappe, eine vorspringende Schleimhautfalte, der 
Hymen, welcher den untersten Theil der Scheide, den introitus vaginae, mehr 
oder weniger verengt. Bei Kindern bildet diese Scheidenklappe gewöhnlich 
einen Ring (ringförmiger Hymen) mit etwas excentrisch nach oben gelegener 
Oeffnung, durch welche ohne Zerreissung eine Sonde oder besser der vorhin 
genannte Catheder eingeführt werden kann. Werden die Labien gegen¬ 
einandergedrückt, so tritt diese Schleimhautfalte als ein scheinbar röhren¬ 
förmiges Gebilde hervor, welche Form aber nicht auf einer besonderen 
Formation der Klappe beruht. Bei den der Geschlechtsreife näher stehenden 
weiblichen Individuen zeigt der Hymen eine mehr halbmondförmige Gestalt, 
welche nicht so bei noch wenig entwickelten Kindern gefunden wird. 

Dieser Hymen zeigt aber noch weitere Verschiedenheiten in der Art, 
dass die Scheidenklappe bald dünn, bald dicker, wulstiger erscheint. Der 
Rand der Oeffnung ist in den meisten FäUen ohne Einkerbungen oder 
Vorlegungen. Er kann am besten bei auseinandergezogenen Labien dadurch 
in Sicht gebracht werden, dass man dieselben auf die eingeführte Catheder- 
spitze bringt und mehr oder weniger spannt. In anderen Fällen ist der 
Rand mehr oder weniger eingekerbt, gefranzt oder gelappt, welche Forma¬ 
tionen deswegen von grosser forensischer Wichtigkeit sind, weil sie zu Ver¬ 
wechslungen mit traumatischen Einrissen Anlass geben können. Die Ent¬ 
scheidung ist keineswegs immer ganz leicht, man muss hiebei berücksichtigen, 
dass bei traumatischen Lacerationen symmetrische Verhältnisse sozusagen 
immer fehlen, und dass bei diesen an der einen oder anderen Einkerbung 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


Spuren von Narbensubstanz aufgefunden werden können. Noch andere 
Bildungen, wie der siebförmige, brückenförmige, mehrfach durchlöcherte 
Hymen u. s. w. sind seltener und kommen daher weniger in Betracht. 

Man wird ferner ausser der Scheidenklappe auch noch die Weite der 
Scheide und ihre Dehnsamkeit zu untersuchen haben, was mit dem erwähnten 
Catheder, oder bei weiterer Entwicklung der Geschlechtstheile mit dem kleinen 
Finger geschehen kann. 

Findet man in solchen Fällen eine gänzliche Unversehrtheit des Hymen, 
so kann man behaupten, dass die Untersuchung der Genitalien keine Er¬ 
scheinungen dargeboten hat, aus welchen auf einen schon stattgehabten fleisch¬ 
lichen Umgang geschlossen werden könnte. Denn es ist erfahrungsgemäss, 
dass eine immissio penis in die Scheide von Seiten eines erwachsenen 
männlichen Individuums nicht wohl geschehen kann, ohne dass an irgend einer 
Stelle der freie Rand der Scheidenklappe mehr oder weniger eingerissen 
würde, was indessen bei grosser Schlaffheit und Dehnsamkeit der Genitalien 
eines weiter entwickelten weiblichen Individuums nicht für eine Unmöglichkeit 
erklärt werden könnte, hat man ja schon nach überstandenen Geburten den 
Hymen noch unverletzt gefunden. 

Auf der anderen Seite dürfte aber auch aus der Gegenwart von Ver¬ 
letzungsspuren noch nicht geschlossen werden, dass eine Defloration, d. h. 
Verlust der Virginität durch Coitus stattgefunden hat, da hymenale Ver¬ 
letzungen auch auf andere Weise hervorgebracht werden können, worauf 
daher bei solchen Untersuchungen Rücksicht zu nehmen ist. Masturbation 
ist für die meisten Fälle auszuschliessen, da hiebei in der Regel nur Fric- 
tionen stattfinden, und durch allfälliges Einbringen von Fingern nur 
Dehnungen der hymenalen Oeffnung hervorgebracht werden, aber keine 
Einrisse, welche der Schmerzhaftigkeit wegen vermieden werden. Dagegen 
kommen Verletzungen durch mechanische Insulte der Genitalien, durch Stoss 
oder Fall vor, wobei in der Regel noch andere Verletzungen in der Umgegend 
vorhanden sind, welche aufklären. 

Ich selbst hatte einen Fall der Art za untersuchen Gelegenheit gehabt, der ein 
13jähriges Mädchen betraf, welches auf dem Stamme einer Tanne reitend Deim Herunter- 
rollen desselben von anderen Baumstämmen schwer an den Genitalien verletzt wurde, 
indem ein kurzer vorstehender Baumast in die Scheide drang und diese perforirte. Da 
Niemand bei dem Vorfälle anwesend war, so dachte man anfänglich an eine schwere Noth- 
Züchtigung, was aber sofort durch genauere Untersuchung der Verletzungsverhältnisse 
aufgeklärt wurde. Auch kam es vor, wovon mir gleichfalls ein Fall bekannt ist, dass bei 
einem 18jährigen Mädchen, durch ungeschickte Untersuchung von einer Hebamme znr 
Constatirung einer vermeintlichen Lagever&nderung des Uterus, der Hymen eingerissen wurde 
und dies Blutung zur Folge hatte. 

4. Geschlechtsdelicte. 

Die Geschlechtsdelicte als Vergehen und Verbrechen sind sehr häufig, 
und gehen, bei uns wenigstens selten AssisenVerhandlungen vorüber, bei 
welchen nicht Fälle von Sittlichkeitsvergehen oder -verbrechen Vorkommen. 
Je nach den Vorgängen, welche bei dieser Art von Gesetzesübertretungen 
strafrechtlich in Betracht kommen, sind Beischlafshandlungen, un¬ 
züchtige Handlungen und widernatürliche Unzucht zu unter¬ 
scheiden. 

a) Beischlafshandlungen. 

1. Nothzncht In allen Strafgesetzen, die hier in Betracht kommen, 
sind Beischlafshandlungen, die gegen den Willen oder das Wissen der be¬ 
treffenden Personen versucht oder ausgeführt werden, mit verhältnismässig 
hoher Strafe belegt. Gemeinhin fasst man solche Vorgänge unter dem Namen 
Nothzucht zusammen, obschon nicht alle der Neuzeit angehörenden 
Strafgesetze dieses Ausdrucks sich bedienen. Derselbe ist aber so allgemein 
eingebürgert und gebräuchlich und durch keinen anderen Ausdruck gleich- 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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werthig zu ersetzen, dass er in der Gerichtspraxis kaum entbehrt oder um¬ 
gangen werden kann. Zur Orientirung in dieser Angelegenheit führen wir 
folgende strafrechtliche Bestimmungen an. 

Deutsches Strafgesetz. §. 177. Mit Zuchthaus wird bestraft, wer durch Gewalt 
oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine Frauensperson 
zur Duldung des ausserehelichen Beischlafs nöthigt, oder wer eine Frauensperson zum 
ausserehelichen Beischlaf missbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke in einem willen¬ 
losen oder bewusstlosen Zustand versetzt hat. 

§. 176. Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer eine in einem willen¬ 
losen oder bewusstlosen Zustande befindliche oder geisteskranke Frauensperson zum ausser¬ 
ehelichen Beischlafe missbraucht. 

§. 178. Ist durch eine der in den §§. 176 und 177 bezeichneten Handlungen der 
Tod der verletzten Person verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 
10 Jahren oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein. , 

Oesterreichisches Strafgesetzbuch. §. 12ö. Wer eine Frauensperson durch 
gefährliche Drohung, wirklich ausgeübte Gewaltthätigkeit oder arglistige Betäubung ihrer 
Sinne ausser Stand setzt, ihm Widerstand zu thun, und sie in diesem Zustande zu ausser- 
ehelichem Beischlafe missbraucht, begeht das Verbrechen der Nothzucht. 

§. 126. Die Strafe der Nothzucht ist schwerer Kerker zwischen 5 und 10 Jahren. 
Hat die Gewaltthätigkeit einen wichtigen Nachtheil der Beleidigten an ihrer Gesundheit 
oder gar am Leben zur Folge gehabt, so soll die Strafe auf eine Dauer zwischen 10 und 
20 Jahren verlängert werden. Hat das Verbrechen den Tod der Beleidigten verursacht, 
so tritt lebenslanger schwerer Kerker ein. 

Der österreichische Strafgesetz-Entwurf. Die Bestimmungen sind ganz 
ähnlich denjenigen im deutschen Strafgesetz. 

Man ersieht aus diesen Bestimmungen, dass die Strafen gegen diese 
Art der Beischlafshandlungen sehr hohe sind, und dass daher bei dem ge- 
richtlich-medicinischen Nachweis derselben sehr sorgfältig zu Werke gegangen 
werden muss, um so mehr, als erfahrungsgemäss aus Gewinnsucht oder anderen 
nichtswürdigen Motiven nicht selten fälschlich Nothzüchtigung angegeben wird. 
Im Uebrigen ist die Bestrafung dieses Verbrechens in der neueren Zeit gegen¬ 
über derjenigen zur Zeit der Carolina viel geringer geworden. Dass Nothzucht 
aber immer noch als ein Verbrechen angesehen und bestraft wird, ist gewiss 
berechtigt, wenn man bedenkt, dass eine wirklich stattgehabte Nothzüchtigung 
das weibliche Individuum nicht nur ihrer physischen Virginität beraubt, son¬ 
dern auch der Schwängerung und Infection aussetzt. 

Bei einer Beischlafshandlung in physiologischem Sinne wird voraus¬ 
gesetzt immissio penis in vaginam und ejaculatio seminis in dieselbe. 

Die gerichtlich-medicinischen Aufgaben zur Feststellung der thatsäch- 
lichen Verhältnisse bei der Nothzüchtigung sind nun: 

1. Nachweis einer stattgehabten Beischlafshandlung, 

2. Nachweis der zur Ausführung derselben gegen Willen oder Wissen 
der betreffenden Person angewandten Mittel und endlich 

3. Nachweis allfälliger nachtheiliger Folgen. 

ad 1. Bei dem Nachweis einer stattgehabten Beischlafshandlung 
zu strafrechtlichen Zwecken ist es durchaus nicht nothwendig, ein stuprum 
consumatum nachzuweisen, denn schon der Versuch dazu, das stuprum atten- 
tatum, ist strafbar. Auch ist man schon längst davon abgegangen, bei einer 
solchen Handlung zum Beweise derselben eine immissio seminis in vaginam 
zu verlangen, denn dieser Nachweis wäre in den wenigsten Fällen zu erbringen, 
ja nach deutschen Reichsgerichtsentscheidungen der neueren Zeit genügt für 
den Versuch einer Beischlafshandlung schon das blosse Andrängen des Gliedes 
gegen den Scheideneingang. 

Natürlich wird man bei solchen Untersuchungen immer so viel als 
möglich darauf bedacht sein, eine immissio penis in vaginam durch allfällig 
vorhandene Verletzungen am Scheideneingang, resp. am Hymen, zu consta- 
tiren und Spuren von einer ejaculatio seminis zu entdecken, im Scheidenschleim 
oder an den Kleidungsstücken, resp. dem Hemd des genothzüchtigten Indi- 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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viduums. Die Auffindung von Samenflüssigkeit im Scheidenschleim der betreffen¬ 
den Person würde eine so rasche Untersuchung voraussetzen, wie sie in 
richterlichen Fällen kaum möglich wäre, und kommt daher gewöhnlich nicht 
vor. Nur in einem mir bekannt gewordenen Falle, wo das missbrauchte 
Mädchen sogleich von einem herbeigerufenen Arzte untersucht werden konnte, 
fand derselbe Spermatozoen im Genitalschleim. Selbst das Hemd, welches die 
betreffende Person während des Vorfalles getragen hat, kann nicht immer zur 
Untersuchung erhalten werden, weil die Untersuchung solcher Vorkommnisse 
öfters so spät geschieht, dass das Hemd schon gewaschen ist. 

Es muss daher als Regel gelten, dass in Nothzuchtsfällen nicht zuerst 
nach allen Richtungen hin Abhörungen vorgenommen und erst schliesslich 
Sachverständige zugezo^en werden, sondern dass diese sobald als möglich zu 
Untersuchungen beizuziehen sind. Namentlich ist das noch besonders wichtig 
wegen allfällig vorhandener Verletzungen, die weitaus in der Mehrzahl der 
Fälle, namentlich diejenigen der Scheidenklappe, nicht bedeutend sind und 
sehr rasch, schon nach vierzehn Tagen bis drei Wochen vernarben, so dass 
man wohl die Gegenwart von Narben constatiren, aber nicht mehr genauer 
angeben kann, wann die Verletzungen entstanden sind, was selbstverständlich 
sehr fatal ist, weil unter solchen Verhältnissen die Behauptung, dass die Be¬ 
treffende schon früher deflorirt gewesen sei, nicht mit Sicherheit zurückgewiesen 
werden könnte. 

Zur Constatirung allfällig vorhandener Verletzungen verfährt man in 
gleicher Weise, wie schon oben angeführt worden ist, bei der zweifelhaften 
Jungfrauschaft. Dabei sind die Persönlichkeiten zu berücksichtigen, welche 
zur Untersuchung kommen, und dabei sind zu unterscheiden verheirathete 
Frauen, welche missbraucht worden sind, bei welchen nur zu untersuchen 
ist, ob von ihrer Vergewaltigung Verletzungsspuren am Körper vorhanden 
sind. Freilich sollte in solchen Fällen auch der stuprator untersucht werden. 

In einem Falle behauptete eine verheirathete Fran, welche bei einer Assisenver- 
handlung wegen Schandung als Zeugin geladen war, dass der auf der Anklagebank sitzende 
sie auch einmal im Walde, als sie Holz sammelte, habe missbrauchen wollen, sie habe sich 
aber gewehrt und ihn in den rechten Arm gebissen, man solle nur nachsehen, die Narben 
werden sich wohl noch finden. Vom Präsidenten aufgefordert, die Sitzung war nicht 
öffentlich, gleich nachzusehen, ob sich das so verhalte, liess ich dem Betreffenden den Rock 
abziehen. schlug den Hemdärmel hinauf und konnte den Geschworenen eine sehr deut¬ 
liche Narbe von Zähnen des Ober- und Unterkiefers zeigen, welche in der Längenrichtung 
des Armes lagen. 

Das grösste Contingent von Persönlichkeiten, welche zur Untersuchung 
kommen, liefern Kinder von wenigen Jahren an bis zur beginnenden Geschlechts¬ 
reife. Bei diesen sind die Geschlechtstheile in der Regel noch so wenig aus¬ 
gebildet, und ist die hymenale Oeffnung so klein, dass von einer immissio 
penis gar keine Rede sein kann, und die Betreffenden das Glied nur gegen 
den Scheideneingang anstossen, oder an den Genitalien das Glied reiben, bis 
eine ejaculatio seminis stattfindet, worüber man von den Kindern selbst die 
entsprechende Auskunft erhalten kann, indem sie angeben, der Betreffende 
sei auf ihnen gelegen, habe gegen ihre Geschlechtstheile gestossen, es habe 
ihnen keine Schmerzen verursacht, auch hätten sie kein Blut bemerkt, wohl 
aber seien sie nass geworden. In solchen Fällen findet man gewöhnlich 
keine Verletzungen am Hymen, nur höchstens mehr oder weniger Röthung 
der äussern Genitalien, das Kind klagt auch wohl über einige Schmerzen 
beim Wasserlassen und Gehen. Ist man im Besitz des Hemdes des Kindes, 
das es zur Zeit des Vorfalles getragen, so können an demselben Spuren von 
Samenflecken gefunden werden, die näher in Bezug auf Spermatozoen zu 
untersuchen sind. 

Sind die Kinder etwas älter, über 10 und mehr Jahre alt, dann kann 
der Versuch des Eindringens des Gliedes mehr oder weniger gelingen, und 
findet man in Folge dessen den Rand der hymenalen Oeffnung mehr oder 


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weniger eingerissen an einer einzelnen oder an mehreren Stellen, häufiger, 
nach unseren Fällen, am oberen Umfang der Oeffnung als am unteren. 

Bei einem 12jährigen Mädchen, dessen Genitalien noch ganz einen infantilen Cha¬ 
rakter hatten, das sich in einer Anstalt befand, nnd das von einem dort angestellten 
Arbeiter monatelang za unzüchtigen Handlangen, namentlich durch Fingereinführungen 
missbraucht und schliesslich von demselben stuprirt wurde, fand ich keine Zerreissung 
der hymenalen Oeffnung, aber eine solche Weite und Dehnsamkeit derselben, dass ich be¬ 
quem, ohne Schmerzen zu erregen, den Zeigefinger in die Scheide führen konnte. Das 
Mädchen gab an, bei diesen Fingermanipulationen niemals Schmerzen empfunden zu haben. 
Der Hymen war etwas fleischig, es muss daher nach und nach durch die häufigen schmerz¬ 
los ansgeführten Fingermanipulationen eine solche Erweiterung des Scheideneinganges 
herbeigeführt worden sein, dass das Glied, ohne hymenale Verletzungen zu bewirken, in die 
Scheide eingeführt werden konnte. Das Mädchen gab an, als ich den Zeigefinger in die 
Scheide eingeführt hatte, dass der Betreffende ebenso tief mit seinem Gliede eingedrungen 
sei. Ich erklärte unter diesen Umständen eine stattgehabte immissio penis nicht nur für 
möglich, sondern für sehr wahrscheinlich, und der wegen Nothzucht in Untersuchungshaft 
befindliche Angeschuldigte gab zu, mit dem Mädchen den Coitus ausgeführt zu haben. 

Es ist also nach diesem Falle möglich, dass auch infantile weibliche 
Genitalien durch fortgesetzte Erweiterungsversuche so dilatirt werden können, 
dass eine immissio penis, ohne Lacerationen zu bewirken, geschehen kann. 
Dass bei ausgewachsenen Individuen bei weiter hymenaler Oeffnung und 
Schlaflheit der Scheide etwas der Art Vorkommen kann, ist schon früher 
angegeben worden. 

Eine dritte Kategorie von Personen, welche in Nothzuchtsfällen zur 
Untersuchung kommen können, sind ausgewachsene weibliche Individuen, bei 
welchen mit verhältnismässig geringer Gewaltanwendung ein erigirtes Glied 
in die Scheide gebracht werden kann, freilich nicht ohne mehr oder weniger 
Einrisse in dem Rande der hymenalen Oeffnung zu bewirken, wobei mehr 
oder weniger Blutung stattfindet. In solchen Fällen kann man sagen, dass 
eine Beischlafshandlung stattgefunden hat, und zwar, wenn die Einrisse noch 
frisch sind, vor ganz kurzer Zeit. 

In einzelnen Fällen wird vom Richter auch noch die Frage gestellt, ob 
sich aus der Beschaffenheit der Genitalien ergibt, dass nicht nur eine ein¬ 
malige Beischlafshandlung stattgefunden hat oder ob der Coitus schon mehr¬ 
mals muss ausgeübt worden sein. Man könnte hier daran denken, dass bei 
mehrmals ausgeübtem Coitus der Hymen immerhin mehrfach eingerissen und 
die Scheide erweitert sein müsste. Allein in dieser Beziehung könnte man 
sich täuschen, wollte man, auf solche Zustände gestützt, auf einen mehrfach 
ausgeübten Coitus schliessen, denn schon beim ersten Mal kann der Hymen 
mehrfach eingerissen sein, und die Erweiterung der Scheide erfolgt keineswegs 
so rasch, denn bedeutende Verletzungen des Hymens und merkbare Erwei¬ 
terung der Scheide treten erst nach stattgehabten Geburten ein. Erst nach 
diesen findet man die carunculae myrtiformes als Ueberreste des Hymens. 

ad 2). Was die Mittel anbetrifft, welche zur Ausführung einer Bei¬ 
schlafshandlung gegen den Willen oder ohne Wissen der betreffenden Person 
in Anwendung gekommen sind, so ist als erstes anzuführen die physische 
Vergewaltigung, mit oder ohne Drohung. Die Häufigkeit dieses Vor¬ 
kommnisses wird bewiesen dadurch, dass die meisten Fälle von Nothzucht 
Kinder betreffen, und die Vergewaltigung ausgewachsener, weiblicher Individuen 
geradezu eine Seltenheit ist. Alle statistischen Angaben hierüber, wie wir sie 
von Casper-Liman, Tardieu u. A. kennen, und womit auch unsere eigenen 
zahlreichen Erfahrungen übereinstimmen, bestätigen dieses Verhältniss und ist 
ja leicht einzusehen, dass Kinder durch Drohungen sich leicht einschüchtern 
lassen, zumal wenn ihnen noch Anderes zur Willfährigkeit vorgespiegelt wird, 
und dass von irgend einer erfolgreichen Gegenwehr keine Rede sein kann. 

Unter 406 von Casper-Liman *) angeführten Fällen waren von 2 l l 2 —3 Jahren 8, von 
3—8 Jahren 64, von 7—10 Jahren 161, von 11—12 Jahren 59, von 18—14 Jahren 60, 


*) Handb. 7. Aufl. 1881. S. 104. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE, 


von 15—18 Jahren 35, von 19—25 Jahren 14, von 30 Jahren 1, von 32 Jahren 1, von 
35 Jahren 1, von 47 Jahren 1, von 68 Jahren 1. Also mehr als 70% unter 12 Jahren und 
mehr als 24% nnter 14 Jahren. 

Bei dieser Besprechung der Vergewaltigung weiblicher Individuen zur 
Ausführung einer Beischlafshandlung ist immer auch die Frage erörtert worden, 
ob ein erwachsenes normal gebildetes Frauenzimmer von einem einzelnen 
Manne genothzüchtigt werden könne. Diese Frage kann weder einfach be¬ 
jaht noch verneint werden, denn es kommt im Einzelfalle immer auf die Ver¬ 
hältnisse an, unter welchen der Gewaltsact versucht oder vorgenommen wurde. 
Gewiss ist anzunehmen, dass ein ausgewachsenes, normal gebautes und ge¬ 
sundes Frauenzimmer einem Manne von gewöhnlichen Körperverhältnissen 
gegenüber, wenn keine anderen das Leben bedrohenden oder betäubenden 
Mittel, als Würgen, Schläge auf den Kopf, Verdeckung des Gesichtes durch 
Kleidungsstücke u. s. w. in Anwendung gebracht werden, wohl immer im 
Stande sein wird, einen Coitus zu verhindern, wenn es wirklich will. Allein 
in manchen Fällen trifft letzteres nicht zu, und in anderen sind grosse körper¬ 
liche Missverhältnisse vorhanden, oder das weibliche Individuum ist wegen 
Krankheitszuständen oder wegen besonderer äusserer Verumständungen u. s. w. 
nicht widerstandsfähig. Obige Frage kann daher, wie gesagt, weder einfach 
bejaht noch verneint werden. Einige Beispiele aus eigener Erfahrung mögen 
zur Illustration dienen. 

Zwei ausgewachsene, in den zwanziger Jahren befindliche Mädchen vom Lande, 
Schwestern, gesund und kräftig gebaut, wurden von einem im selben Hause wohnenden 
Metzger geschwängert. Sie machten von ihren Schwangerschaften bei dem Ortspfarrer, 
wie vorgeschrieben ist, Anzeige. Dieser versäumte natürlich nicht, den Schwestern Vor¬ 
stellungen zu machen, dass sie sich so haben verführen lassen. Sie entgegneten, es sei 
nicht ihre Schuld, man habe sie zum Umgang gezwungen. Sofort machte der Pfarrer 
Anzeige an das Untersuchungsrichteramt wegen vorgekommener Nothzüchtigung und 
Schwängerung. Die Schwestern wurden citirt und uns zur Untersuchung überwiesen, mit 
der Aufgabe, zu begutachten, ob nach der Körperlichkeit der betreffenden Personen die An¬ 
nahme einer Vergewaltigung derselben anzunehmen sei. Der Betreffende, dessen Unter¬ 
suchung ich auch verlangte, konnte mir nicht vorgestellt werden, da er aus guten Gründen 
verschwunden war. Nach Constatirung der oben angegebenen körperlichen Verhältnisse der 
Schwestern und des sehr einfachen stattgehabten Vorganges gab ich mein Gutachten dahin 
ab, dass die Körperverhältniase der betreffenden Personen die Annahme einer physischen 
Vergewaltigung derselben durch einen einzelnen, wenn auch kräftigen Mann nicht als 
glaubwürdig angenommen werden könne. Aus den Abhörungen der Schwestern führe ich 
an, dass die eine unter Anderm sagte: „ich wahrte mich, so gut ich konnte und schrie auch, 
aber nicht laut.“ Die andere sagte: „Anfänglich war es mir nicht recht, ich liess es 
aber schliesslich geschehen, ich schrie zuweilen nur im Anfang.“ Diese Aussagen be¬ 
dürfen keines Commentars. 

In einem anderen Falle hatte ein junger Arbeiter, Spengler seines Berufes, in einem 
Bause, in welchem augenblicklich Niemand als eine 20jährige Tochter war, die an chro¬ 
nischer Polyarthritis litt, so dass sie weder Arme noch Beine, ohne Schmerzen zu empfinden, 
bewegen konnte und auf einem Stuhle sass, nachdem seine Anträge zurückgewiesen wurden 
und er die Unbehilflichkeit der Betreffenden bemerkte, diese gewaltsam genommen, auf ein 
Ruhebett gelegt und trotz aller Protestationen missbraucht. Ich hatte die Person zu unter¬ 
suchen und fand frische Einrisse im Hymen und den Bestand des genannten Krankheits¬ 
zustandes und gab demgemäss mein Gutachten ab. 

Man wird daher in solchen Fällen stets genau zu untersuchen haben, 
wie sich die Sache verhalten hat, und ist womöglich auch immer der angebliche 
Stuprator in Augenschein zu nehmen, um seine Körperlichkeit kennen zu 
lernen, sowie auch Grösse und Form seines Gliedes, resp. der Eichel, und um 
allfällige Yerletzungsspuren von stattgefundener Gegenwehr aufzufinden. Solche 
Untersuchungen müssen umsomehr mit Umsicht gemacht werden, als so häufig 
Nothzüchtigungen zur Entschuldigung geschlechtlicher Vergehen, eingetretener 
Schwangerschaften oder aus anderen Motiven behauptet werden. 

Ausser der physischen Vergewaltigung kommt noch eine Reihe anderer 
Vorgänge in Betracht, welche zu einer Beischlafshandlung ohne Wissen 
der betreffenden Person führen können, wohin der Coitus in der Trunkenheit, 
in der Schlaftrunkenheit, in einer Narkose oder in einem hypnotisirten Zu¬ 
stande gehören. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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Dass der Beischlaf mit einer in höherem Grade betrunkenen Person 
ausgeführt werden kann, ohne dass dieselbe nachher eine Erinnerung davon 
hat, ist nicht zu bezweifeln. In Kindsmordfällen begegnet man sehr häufig 
von Seiten der Angeklagten der Behauptung, dass sie sich eines stattgefun¬ 
denen Umganges nicht bewusst sei, sich nicht erinnern könne. Dass in 
manchen Fällen diese Angabe nur eine Entschuldigung ist für Nichtbeachtung 
der gefolgten Schwangerschaft, ist ebenso sicher, als dass in einzelnen Fällen 
die Verhältnisse so bestanden, dass an eine Vortäuschung eines derartigen 
Zustandes nicht gedacht werden kann. Einen derartigen Fall habe ich schon 
bei der unbewussten Schwangerschaft mitgetheilt. Es versteht sich von 
selbst, dass eine solche Angabe von Seiten der betreffenden Personen nur dann 
als glaubwürdig angenommen werden könnte, wenn sich mit mehr oder weniger 
Sicherheit nachweisen lässt, dass die Betreffende in einem bewusstlosen Zu¬ 
stande sich befunden hat, so dass sie der Einzelheiten des Vorganges sich gar 
nicht mehr erinnern kann. 

Dass narkotische oder bewusstlos machende Mittel, wie Morphium, 
Chloroform, Aether, Chloralhydrat, Bromäthyl u. s. w. zur Ausführung einer 
Beischlafshandlung benützt werden können, ist selbstverständlich und bedarf 
es nicht der Anführung einzelner Fälle, um hiefür den Beweis zu leisten. 
Da namentlich bei Ausübung der Zahnheilkunde häufig Gelegenheit gegeben 
ist, vor Operationen bewusstlose Zustände herbeizuführen, wird es immer zweck¬ 
mässig sein, um Nachreden zu entgehen, diese Unempfindlichmachung nicht 
ohne Zeugen vorzunehmen. 

Auch der Hypnotismus kann unter Umständen einen schlafähnlichen 
Zustand herbeiführen, welcher zur Ausführung eines für die betreffende Person 
unbewussten Coitus benutzt werden könnte. Doch setzt die Herbeiführung 
derartiger Zustände von hypnotischem Schlaf nach unseren Erfahrungen we¬ 
nigstens besondere, meist hysterische Individuen, sogenannte Medien, voraus, so 
dass durch Hypnotismus nicht so leicht ein Zustand herbeizuführen ist, welcher 
eine unbewusste Nothzüchtigung ermöglichen könnte. Es müsste daher in 
solchen Fällen nicht blos der Hypnotiseur, sondern auch sein Medium in ge¬ 
naue Untersuchung genommen werden. 

Dem Hypnotismus schliessen sich der natürliche Schlaf und die 
Schlaftrunkenheit an. Heutzutage kann nicht mehr die Frage ge¬ 
stellt werden, ob eine nicht deflorirte Person im natürlichen, wenn auch festen 
Schlafe genothzüchtigt werden kann, ohne davon etwas zu bemerken, so dass 
also eine unbewusste Nothzüchtigung stattgefunden hätte. Wohl ist es 
möglich, dass bei einer in festem Schlaf befindlichen Frauensperson, die nicht 
deflorirt ist, der Versuch zu einer Nothzüchtigung gemacht werden könnte, 
dass aber der ganze Act auszuführen wäre, ohne dass die betreffende Person 
etwas davon bemerkte und nicht etwachte, davon kann keine Rede sein. 

Eher könnte etwas der Art bei verheiratheten Frauen Vorkommen, bei 
welchen das Eindringen des Gliedes schmerzlos geschehen kann, zumal wenn 
dabei noch im Zustande der Schlaftrunkenheit die Frau daran denken 
könnte, dass es sich bei diesem Vorgänge um ihren Ehemann handle, wovon 
schon mehrere Geschichten erzählt und selbst poetisch behandelt worden sind. 
Allein selbst bei Frauen, wenn an den Ehemann wegen dessen Abwesenheit 
nicht gedacht werden kann, wird es nicht wohl Vorkommen, dass sie von 
einem Anderen ohne ihr Wissen beschlafen werden können. Jedenfalls 
würden derartige Angaben der Glaubwürdigkeit entbehren. Ich kann folgenden 
einschlägigen Fall anführen. 

Ein verheiratheter Arbeiter gestattete einem ihm befreundeten Arbeiter, der augen¬ 
blicklich kein Unterkommen hatte, bei ihm im gleichen Zimmer, in welchem er mit seiner 
Frau schlief, auf einem Ruhebett zu übernachten. Des Morgens früh musste der Mann fort 
jind liess seine Frau schlafend in dem zweischläfrigen Bett zurück, und auch der Arbeiter 
blieb auf dem Ruhebett schlafend zurück. Nach einiger Zeit erhob sich dieser und wollte 


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sich zu der noch festschlafenden Frau ins Bett legen. Er deckte sie ab, brachte ihre 
Beine auseinander, zwischen denselben knieend, und wollte den Coitus ausüben, da wachte 
die Frau auf, sträubte sich mit allen Kräften gegen den auf ihr liegenden Angreifer, der¬ 
selbe suchte sie zu bewältigen und scheint es bis zur ejaculatio seminis gebracht zu haben, 
denn die Frau gab nachher an, nass gewesen zu sein. Schliesslich entfernte sich der Ar¬ 
beiter, es wurde eine Anzeige gemacht und in Folge dessen eine Anklage auf Nothzucht 
erhoben. In Folge des heftigen Kampfes, welchen die Frau mit dem Angreifer hatte, klagte 
dieselbe über Schmerzen in beiden Hüftgelenken, und ich wurde richterlich beauftragt, die 
Frau zu untersuchen und zu constatiren, ob sich an derselben Spuren der stattgehabten 
Vergewaltigung vorfinden, und ob die von ihr beklagten Schmerzen in den Hüftgelenken 
als Folge des Vorfalles zu betrachten seien. Ich musste die Schmerzen in den Becken¬ 
gelenken als traumatische Folgen der heftigen Beckenbewegungen der Frau betrachten und 
bezeichnete sie als Folgen der heftigen Gegenwehr. Andere Verletzungsspuren fanden sich 
keine. Vom Schwurgericht wurde der Arbeiter wegen verübter Nothzucht verurtheilt. 

ad 3. Die Folgen stattgehabter Nothzüchtigung können sehr verschiedene 
sein, bald ganz unbedeutende, namentlich bei Kindern, mitunter aber auch 
sehr bedeutende, ja unter Umständen tödtliche. 

Wenn bei einer Nothzüchtigung eine immissio penis in vaginam statt¬ 
gefunden hat, was ein geschlechtsreifes oder wenigstens der Geschlechtsreife 
nahestehendes Individuum voraussetzt, so ist die erste nachtheilige Folge 
für das Individuum die Defloration, d. h. Verlust des Zeichens der phy¬ 
sischen Virginität der Betreffenden, welcher Verlust zeitlebens ein blei¬ 
bender ist. 

Eine weitere mögliche Folge, welche auch ein geschlechtsreifes Indi¬ 
viduum voraussetzt, ist die Schwängerung. Zwar hat der erste Coitus 
weitaus in der Mehrzahl der Fälle keine Conception zur Folge, aber aus¬ 
nahmslos ist diese Erfahrung keineswegs, und mir selbst sind zwei Fälle be¬ 
kannt, in welchen einer Nothzüchtigung Schwangerschaft gefolgt ist. Es 
werden daher unter solchen Verhältnissen, d. h. wenn der Fall nicht Kinder 
betrifft, von den Untersuchungsbeamten gewöhnlich auch in ihren Anschreiben 
Fragen in Bezug auf allfällige Schwängerung gestellt. 

Weiterhin sind als Folgezustände zu erwähnen Entzündungen der 
Genitalien, entweder nur der äusseren oder auch der inneren, doch sind hiebei 
sehr verschiedene Vorkommnisse zu unterscheiden, je nach dem Alter der 
Individuen, der Art des geschlechtlichen Missbrauches, und je nachdem der 
Stuprator an venerischen Affectionen gelitten hat. 

Bei kleineren Kindern, bei welchen wegen Enge der Scheide und des Scheideneinganges 
eine immissio penis ohne grössere Verletzungen gar nicht möglich ist, bemerkt man nnr die 
Folgen einer Friction an den äusseren Genitalien des Kinaes, als Röthung, Schwellung, 
Schmerzhaftigkeit der Labien und des introitus vaginae, wodurch auch das Gehen und 
'Wasserlassen mehr oder weniger empfindlich werden. Wird das erigirte Glied an den 
Genitalien nicht blos gerieben, sondern auch angestossen, wie zum Eindringen, so können 
auch Sugillationen an den grossen Labien gefunden werden. 

Zerreissungen des Hymens bei älteren Mädchen haben meistens keine 
erhebliche entzündliche Beizung zur Folge und verlieren sich bald nach we¬ 
nigen Tagen. 

Bei intensiven und wiederholten Frictionen an den äusseren Genitalien 
haben wir in einem Falle bei einem Kinde ausgedehntes Eczem an den Labien, 
an der Unterbauchgegend und auch an den Nates gefunden, wofür nur eine 
mechanische Einwirkung in Anspruch genommen werden konnte. 

Sehr häufig findet man bei Kindern, welche wegen Nothzuchtsversuchen 
zur Untersuchung kommen, Ausflüsse aus den Genitalien, deren Natur 
zweifelhaft sein kann, und es entsteht die Frage, ob der Ausfluss rein als Folge 
traumatischer Beizung anzusehen ist, oder ob ein Scheidenkatarrh vorliegt, 
oder ob es sich um eine Infection durch Gonococcen handelt. 

Traumatische Ausflüsse, welche nicht selten wesentlich durch Unrein¬ 
lichkeit herbeigeführt und unterhalten werden, haben in ihrem Verlaufe nichts 
Besonderes, und sind meistens von kürzerer Dauer. Sie hängen mit der 
Stärke des mechanischen Insultes zusammen. 


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Schleimige und schleimig-eitrige Ausflüsse als Folge von Scheiden¬ 
katarrhenkommen, absehend von Desquamationskatarrhen, welche hin und wieder 
bei Neugeborenen beobachtet werden, bei Kindern, namentlich der unteren Volks- 
dassen, sehr häufig vor, durch Erkältungen wegen mangelhafter Bekleidung 
veranlasst und durch Unreinlichkeit unterhalten, welche namentlich bei scro- 
phulöser Anlage sich öfters wiederholen, aber mit einer stattgehabten Infec- 
tion durch einen Stuprator in keinem Zusammenhang stehen. Die äusseren 
Genitalien sind in Folge mangelhafter Reinlichkeit mit Krusten bedeckt, die 
Entzündungserscheinungen sind meistens gering. 

Anders verhält es sich mit infectiösen eitrigen Ausflüssen. Hier besteht 
eine deutlich ausgeprägte Vulvitis und Vaginitis, mitunter auch noch Uret¬ 
hritis und ist der Zustand überhaupt bedeutender, dehnt sich selbst über die 
Uterinschleimhaut aus und kann peritonitische Reizung nach sich ziehen. 
Die Diagnose ergibt sich hauptsächlich durch die bacteriologische Unter¬ 
suchung, welche in den meisten Fällen Gonococcen bei Behandlung nach der 
GRAM’schen Methode erkennen lässt. Der Ausfluss ist eitrig, rahmartig. 
Wenn eine solche Affection bei einem Kinde nach Vorausgang eines Stup- 
rums eingetreten ist, so ist selbstverständlich auch der Stuprator zu unter¬ 
suchen, und zu constatiren, ob derselbe zur Zeit des Vorganges mit einem 
Tripper behaftet war. Werden bei diesem auch Gonococcen gefunden, so ist 
die Provenienz derselben bei dem inficirten Kinde kaum zweifelhaft. Doch 
kann es Vorkommen, dass bei dem Stuprator keine Gonococcen gefunden, über¬ 
haupt auch keine Beweise für einen vorausgegangenen Tripper erbracht 
werden können, trotz genauester Untersuchung des Harnröhreninhaltes und 
des in die Harnröhre gepressten Secretes der Prostata und trotz der Unter¬ 
suchung sogenannter Tripperfäden im Urin. Gleichwohl dürfte daraus noch 
nicht geschlossen werden, dass die Infection nicht von dem Stuprator her¬ 
rühren könne, da das Verschwinden der Gonococcen aus pathologischen Secreten 
kein seltenes und überhaupt noch nicht hinreichend gekanntes ist. 

Ein 11 jähriges Mädchen, M. G., wurde am 25. Juni 1892, abends, von einem gewissen 
Gf. in der Weise missbraucht, dass er dem Mädchen die Kleider aufhob und dasselbe an 
seine entblössten Genitalien andräckte, wobei es eine warme Nässe empfand. Am 27. Juni 
werde das Kind zu einem Arzte gebracht, nach dessen Zeugniss das Hemd in der Gegend 
der Genitalien mit Eiterflecken bedeckt war, und die innere Seite der Oberschenkel, sowie 
die grossen Labien und die vulva geröthet und von Eiter und Eiterkrusten beschmutzt 
erschienen, der Hymen ebenfalls geröthet und geschwollen, aber nicht verletzt. Am 29. Juni 
constatirte der betreffende Arzt Abnahme der Entzündung der äusseren Genitalien, dagegen 
klagte das Kind über Schmerzen im Unterleib und hatte 39° T. Am selben Tage wurde 
das Kind in die hiesige Frauenklinik gebracht und von uns am 2. Juli daselbst untersucht. 
Die Genitalien hatten noch infantilen Charakter, von krankhaften Veränderungen consta- 
tirten wir noch einige weissgelbliche Borken an den grossen Labien, eitriger Ausfluss aus 
der Scheide. Die Scheidenklappe noch lebhaft geröthet und geschwollen, ebenso der Scheiden- 
eingang, der Hymen unverletzt, geringe Empfindlichkeit der Unterbauchgegend, beim 
Wasserlassen etwas brennender Schmerz. Die im hiesigen bacteriologischen Institut durch 
Herrn Prof. Tand vorgenommene Untersuchung des eitrigen Ausflusses ergab sehr viele 
gonococcenhaltige Eiterkörperchen. Auf unsere Veranlassung wurde nun auch am 8. Juli 
der Angeschuldigte untersucht und da fanden sich bei demselben keine Spuren eines vor¬ 
handenen oder dagewesenen Trippers und weder in der Harnröhre noch in den expri- 
mirten Prostatasecret wurden von Herrn Tand Gonococcen gefunden. Wir gaben unser 
Gutachten dahin ab, dass bei dem Kinde wohl ein Andrücken der Genitalien des An¬ 
geklagten an diejenigen des Mädchens M. G. stattgefunden haben kann, dass aber eine 
immissio penis nicht geschah, dass das Kind an einer gonorrhoischen Affection der Genita¬ 
lien leide, deren Anfang mit dem stattgehabten Vorgang am 25. Juni zusammenfällt, dass 
&ber nach dem Resultat der Untersuchung des Angeklagten die Provenienz der inficiren- 
den Gonococcen nicht auf diesen bezogen werden könne. Er wurde wegen Versuchs zur 
Nothzucht verurtheilt. 

Kommen bei Kindern gonorrhoische Affectionen an den Geschlechts¬ 
teilen vor, ohne dass vorher ein nachweisbares Stuprum stattgefunden hat, so 
kann aus jenen allein doch keineswegs geschlossen werden, dass ein Stuprum 
stattgefunden haben müsse, da zahlreiche Möglichkeiten bestehen, wie noch auf 


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andere Weise eine solche Infection hervorgerufen worden sein konnte, nament¬ 
lich durch Zusammenschlafen des inficirten Individuums mit an gonorrhoischen 
Ausflüssen behafteten Personen oder durch Gebrauch von Gegenständen, an 
welchen sich Ueberreste solcher Ausflüsse befinden, wie am Bettzeug, an 
Waschschwämmen u. s. w., wovon mehrere Beispiele bekannt sind. 

Seltenere venerische Infectionen bei Nothzüchtignngen sind der weiche und harte 
Schanker, welche zu erheblichen Ulcerationen und Substanzverlusten fuhren, und auch za 
Verwechslungen mit diphtheritischen Localisationen und mit Noma Anlass geben können. 

Der weiche Schanker findet sich gewöhnlich an den Labien, am Scheideneingang 
und an der hinteren Commissur. Dieser Sitz hat nichts besonderes Charakteristisches, da 
an diesen Stellen auch andere geschwurige Affectionen Vorkommen, die nichts Specifisches 
haben. Für einen weichen Schanker spricht nicht bloss die längere Dauer der Affection, 
sondern auch das mitunter rasche Umsichgreifen der Schwärung. Der harte Schanker ent¬ 
wickelt sich nur sehr allmälig, so dass die Infection nicht einmal gleich anfänglich erkannt 
werden kann. 

Während weitaus in den meisten Fällen versuchte und ausgeführte Not¬ 
zucht nur mit geringen Verletzungen an den Genitalien verbunden ist, kommen 
doch auch Fälle vor, in welchen der Vorgang mehr oder weniger bedeutende 
Verletzungen, ja selbst den Tod des missbrauchten Individuums zur Folge hat. 
Es sind hier zwei Arten von Verletzungen zu unterscheiden, einerseits solche, 
welche zum Zwecke der Ausführung der Beischlafshandlung oder zur Ver¬ 
deckung derselben ausgeführt werden, andererseits solche, welche diese Be¬ 
deutung nicht haben können, sondern lediglich zur Steigerung des Wohllust¬ 
gefühls dienen und allein die sogenannten Lustmorde begründen. 

Die Verletzungen der ersten Art bestehen theils darin, dass die Genitalien, wenn sie 
wie bei Kindern noch zu wenig ausgebildet und zu klein sind, um eine immissio penis 
zu gestatten, gewaltsam mit den Fingern ausgedehnt, aufgerissen oder auch aufgeschnitten 
werden, theils darin, dass die Luftwege verschlossen werden, um das Schreien zu ver¬ 
hindern, sei es dass die Betreffende gewürgt oder erwürgt werde, oder dass man das 
Gesicht mit Kleidungsstücken bedeckt, oder Fremdkörper in den Mund stösst, oder dass 
man, wenn der Coitus von hinten versucht wird, das Gesicht auf den Boden, oder im 
Bett auf Kissen drückt u. s. w. Von allen diesen Vorkommnissen sind Beispiele bekannt 

Die Lustmorde sind im Ganzen selten. Sie werden im Zusammenhang 
mit Beischlafshandlungen ausgeführt, bald unmittelbar vor denselben, bald 
während derselben oder nach denselben. Solche Unthaten beruhen auf Aberra¬ 
tionen des Geschlechtstriebes, denen abnorme psychische Zustände zu Grunde 
liegen, die aber in den wenigsten Fällen eine Unzurechnungsfähigkeit be¬ 
gründen könnten. Krafft-Ebing hat eine solche Geschlechtsbefriedigung mit 
Misshandlung des weiblichen Individuums als Sadismus bezeichnet. Sie mahnt 
an einen thierischen Coitus mit rücksichtsloser Behandlung des weiblichen 
Individuums. Zur Illustration des Gesagten theile ich folgenden mir vor¬ 
gekommenen Fall von Lustmord mit, der gewiss seinesgleichen sucht 

Am 3. Dec. 1890 wurde Morgens nach einem vorausgegangenen grossen Markt¬ 
tage um 4V 2 Ubr in der Nähe von Bern auf einem theilweise durch einen Wald führenden 
Wege unterhalb der Böschung des Fnssweges eine weibliche Leiche aufgefunden, auf dem 
Rücken liegend, mit auseinander gespreizten Beinen, die Knie gebogen, in Coitus-Stellung, 
nach dem Bericht des Polizeibeamten, der die Anzeige gemacht hatte. Der Hut und ein 
Körbchen lagen neben der Leiche. Die Person wurde als eine Anna Fl. erkannt, geb. 1861. 
Die gerichtliche Leichenuntersuchung wurde am 4. Dec. von mir und Dr. Ost ausgeführt. 

Die Bekleidung bestand in einem sonntäglichen, hier zu Lande beim Landvolk 
üblichen Anzug. Dieser war vollständig in Unordnung, vorn theils aufgerissen, theils auf- 
geschnitten und stark durchblutet, namentlich linkerseits. Der Körper hatte eine Länge 
von 148 cm , war wohlgebaut und gut genährt. Die Todtenstarre bestand noch allgemein. 
Nur wenige livide Blutsenkungsflecke an der Rückenfläche des Körpers. 

Von Verletzungen fanden sich am Gesicht zwei Bisswunden, eine an der rechten 
Wange und eine zweite an der Nase. Diese Bisswunden wurden zur allfälligen Agno* 
scirung des Thäters genau untersucht. Auch befinden sich die ausgeschnittenen Hautstücke 
in Weingeist auf bewahrt noch in meinem Besitze. Die Bisswunde, an der rechten Wange 
bildete in der Höhe der Basis der Nase ein transversal liegendes Oval, von den oberen und 
unteren vorderen Zahnreihen gebildet. Die Zähne perforirten die Haut nicht vollständig, 
waren aber an der Rückseite der ausgeschnittenen Hautstücke durch sugiliirte Stellen 
signalisirt. Der obere Bogen enthielt die Eindrücke von fünf oberen, der untere von 


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sechs unteren Zähnen, zwischen welchen keine Lücken bestanden, so dass das Gebiss der 
vorderen Zähne ein vollständiges gewesen sein muss. Die oberen Zahneindrücke ent¬ 
sprachen den vier Schneidezähnen und dem rechten Eckzahn, die unteren den Schneide¬ 
zähnen, dem rechten Eckzahn und dem ersten rechten Prämolarzahn. Die Circumferenz 
des oberen und unteren Zahnbogens betrug 9 cm., der Radius des oberen Zahnbogens 
1 cm n. s. w. An der Nase bildeten die Zähne des Oberkiefers oberhalb der Nasenspitze 
einen Bogen, welcher oberhalb derselben die Nase kranzförmig umgab und mit dem Scheitel 
vollkommen der Mitte der Nase entsprach. Die Zähne des Unterkiefers bildeten Eindrücke 
am septum narium und an den Nasenflügeln, wobei die Oberlippe etwas verletzt war. 
Selbstverständlich konnte hier das Gebiss nicht so vollständig abgedrückt sein wie an der 
Wange, doch stimmten die abgenommenen Masse vollständig mit denjenigen der letzteren 
überein. 

Ausserdem fand sich am Gesicht noch eine 4 cm lange Schnittwunde vom links¬ 
seitigen Mundwinkel nach auf- und auswärts durch die linke Wange gehend und allmälig 
seichter werdend. Dass diese Wunde bei ihrer Entstehung noch geblutet hatte, war nicht 
ganz sicherzustellen, so dass dieselbe möglicher Weise erst nach Aufgehörthaben der 
Circulation beigebracht worden ist. 

Weitere Schnittwunden, die geblutet hatten, bestanden an dem untersten Theil des 
Halses in transversaler Richtung verlaufend, eine mittlere von 8 cm Länge, eine kleinere 
seitlich gelegene 4 cm lange, oberhalb des rechten Endes der vorigen, und eine dritte, gleich¬ 
falls kleinere von 5 cm Länge unterhalb des linksseitigen Endes der mittleren Wunde. 
Sämmtlicbe Wunden durchdrangen die Haut, und die letztgenannte führte bis in die 
Thoraxhöhle. Alle diese Wunden waren von Blutgerinnseln umgeben. Doch war durch 
die letzte Wunde kein grösseres intrathoracisches Gefäss verletzt. Diese Wunden wurden 
ihrer gleichartigen Beschaffenheit nach zu gleicher Zeit beigebracht und sehr wahrschein« 
lieh in der gleichen Richtung von rechts nach links. 

Die linke Brust war vollständig abgeschnitten, resp. amputirt, und lag neben der 
Leiche, ohne allen Zusammenhang mit derselben. Der Abschnitt geschah an der Basis der 
ziemlich grossen und wohlgeformten Brust. Die Wunde war glatt und eben und zeigte 
Spuren stattgehabter Blutung. Die Kleidung war an dieser Stelle stark durchblutet. 

Die grossartigste Verletzung bestand in einem Medianschnitt links unterhalb des 
linken Sternoclaviculargelenks, welches noch angeschnitten war, beginnend an der linken 
Seite des Brustbeines herab, weiterhin über den Bauch an der linken Seite des Nabels 
vorbei bis in die Symphysis ossium pubis hinein. Der Schnitt war penetrirend mit Durch- 
schneidung sämmtlicher Rippenknorpel und der ganzen Dicke der Bauchwand. Die Schnitt¬ 
flächen waren glatt und eben, und nur an einer Stelle des Thorax waren einzelne Knorpel 
zweimal durchschnitten, so dass hier das Messer zweimal angesetzt worden sein musste. 
Die Schnittführung ging so tief, dass nicht nur die Höhlenwandungen ganz durchschnitten, 
sondern auch mehrere Höhlenorgane verschieden tief angeschnitten waren, und zwar muss 
das der Schnittrichtung nach mit dem ersten Einschnitt geschehen sein. Das Zwerchfell 
war tief eingeschnitten, der linke Leberlappen 8 cm lang angeschnitten, der linke Vorhof 
und die rechte Herzkammer aufgeschnitten. In der Pylorusgegend erschien der Magen 
von den Gedärmen durch den Schnitt abgetrennt, und waren diese mit den Netzen theils 
herausgeschnitten, theils herausgerissen und wurden in einzelnen Klumpen gefroren in der 
Nähe der Leiche auf dem Boden gefunden. Der Magen war nur aufgeschnitten und leer. 

Alle diese Schnittwunden mussten beigebracht worden sein, so lange die Circulation 
noch fortbestand, denn die Schnittränder und Flächen waren blutig infiltrirt und die Wund¬ 
spalten enthielten Blutgerinnsel. In der Brust-, Bauch- und Beckenhöhle fand sich viel, 
theOs flüssiges, theils geronnenes Blut. 

In der Bauchhöhle waren noch Leber, Magen, Milz und Nieren vorhanden, die unver¬ 
letzte Harnblase enthielt hellen Harn. Die inneren und äusseren Genitalien erschienen 
unverletzt, nur der Symphysenschnitt ging etwas in die linke grosse Schamlippe hinein, der 
Uterus war leer, in dem von der Scheide abgestreiften Schleime wurden nur vereinzelte 
Spermatozoen gefunden. 

In unserem Gutachten setzten wir auseinander, dass der Betreffende zur Ausführung 
der Bisswunden im Gesicht auf der Person gelegen haben musste, dass die Bisswunde an 
der Nase solche Lage und Beschaffenheit hatte, wie wenn der Betreffende die Nase hätte 
abbeissen wollen, denn am Septum und an den Nasenflügeln waren die Bisswunden pene¬ 
trirend, während aber das Eindringen der Zähne durch das knöcherne Nasendach unmöglich 
gemacht wurde; dass die Brustamputation wohl vor dem Aufschnitt des Thorax geschah, 
weil jene sonst schwieriger gewesen wäre, dass diese Amputation und der grosse Median- 
achnitt links am Nabel vorbei Gewandtheit in der Schnittführung und einige anatomische 
Kenntnis voraussetzen lassen, dass sämmtliche Schnitte, mit Ausnahme desjenigen vom 
linken Mundwinkel ausgehend, ausgeführt worden sein mussten, so lange die Circulation 
noch fortbestand, dass im Verlauf des Tages ein Coitus stattgefunden haben musste, dass 
der Tod durch die grossartige Verwundung und durch Verblutung eintrat u. s. w. 

Dass dieser entsetzliche Mord das Publicum in grosse Aufregung versetzte, ist leicht 
erklärlich, man dachte an den Bauchaufschlitzer Jack auf Reisen und machte richter- 
licherseits alle Anstrengungen zur Entdeckung des Thäters und setzte selbst einen Preis 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Oer. Medicin. 25 


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für dieselbe aus, allein umsonst Bis zur heutigen Stunde ist dieser exquisite Lustmord 
noch Geheimnis. 

2. Schandung. Darunter begreift man eine Beischlafshandlung mit 
geistesschwachen oder blödsinnigen Personen. Nicht alle Strafgesetze ge¬ 
brauchen diese Bezeichnung, wohl aber wird von allen dieser Vorgang straf¬ 
rechtlich berücksichtigt, wie sich aus nachstehenden gesetzlichen Bestim¬ 
mungen ergeben wird, unter welchen wir auch das bernische Strafgesetz 
anführen, welches speciell diesen Vorgang als Schändung aufführt. 

Bernisches Strafgesetzbuch. § 172. Wer mit einer Blödsinnigen oder ihrer 
Verstandeskräfte beraubten Person ohne Gewaltanwendung und ohne Sinnesbetäubung den 
Beischlaf vollzieht, wird mit Correctionshaus bis zu vier Jahren bestraft. Der Versuch ist 
strafbar. 

Hat die Handlung mit einer Person stattgefunden, die zwar nicht blödsinnig ist 
deren geistige Fähigkeiten aber auf einer sehr niedrigen Stufe stehen, so wird der Thäter 
mit Gefängnis von 30 - 60 Tagen oder mit Correctionshaus bis zu einem Jahre bestraft. 

Das österreichische Strafgesetz gebraucht den Ausdruck Schändung (§ 128 
für ein anderes Geschlechtsvergehen, auf welches wir später zu sprechen kommen und im 
deutschen Strafgesetz (§ 176. Nr. 2.) kommt der Ausdruck Schändung nicht vor, und ist 
von einem ausserehelichen Beischlaf mit einer geisteskranken Frauensperson die Rede, 
welcher mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft wird. 

Nach dem benaschen Strafgesetz haben wir eine ganze Reihe von 
Untersuchungen zu machen Gelegenheit gehabt, indem gerade blödsinnige 
und geistesschwache Personen so häufig geschlechtlich missbraucht werden, 
und müssen wir die Unterscheidung blödsinniger und geistesschwacher Per¬ 
sonen wenigstens vom medicinischen Standpunkte aus für wichtig halten, da 
man solche Personen eigentlich nicht den geisteskranken und auch nicht den 
willenlosen und bewusstlosen gleichstellen, daher auch nicht das Strafmass 
dasselbe sein kann. 

Die gerichtlich-medicinische Aufgabe besteht in solchen Fällen meistens 
und bei blödsinnigen Personen sozusagen immer nicht in einer Untersuchnng 
der Genitalien in Bezug auf eine stattgehabte Beischlafshandlung, denn meistens 
sind es schwangere Personen, um die es sich handelt, indem erst die ein¬ 
getretene Schwangerschaft die Eltern oder Pflegeeltern auf das Vorgefallene 
aufmerksam macht und zu einer Untersuchung Anlass gibt, sondern lediglich 
um Feststellung des psychischen Zustandes, wobei Blödsinn und die verschie¬ 
denen Grade von Geistesschwäche in Betracht kommen. Bei der Verführung 
Blödsinniger ist das Strafmass höher als bei derjenigen nur geistesschwacher 
Personen, weshalb die Vertheidigung vor dem Schw'urgericht von den Sachver¬ 
ständigen mitunter ausdrücklich eine bestimmte Unterscheidung dieser ver¬ 
schiedenen Zustände verlangt. 

Andere zu beantwortende Fragen, die bereits früher besprochen wurden, 
sind unter solchen Verhältnissen die, ob der Coitus muthmasslich nur einmal 
oder mehrmals ausgeführt worden ist, und ob ein einmaliger stattgehabter 
Umgang eine Schwängerung hatte herbeiführen können. Natürlich ist in 
solchen Fällen auch immer die Schwangerschaftszeit zu bestimmen, in welcher 
sich die betreffende Person befindet, um darnach approximativ die Zeit zu 
bestimmen, zu welcher der Vorgang der Schwängerung stattgefunden hat. 

3. Blutschande. Auch diese Art von Beischlafshandlungen zwischen 
Verwandten in auf- und absteigender Linie wird strafrechtlich verfolgt. 

Deutsches Stratsgesetz. § 173. Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und ab¬ 
steigender Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, an den letzteren 
mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. 

Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie, sowie zwischen 
Geschwistern wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. 

Neben der Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt 
werden. 

Oesterreichisches Strafgesetz. § 134. Blutschande, welche zwischen Ver¬ 
wandten in auf- und absteigender Linie, ihre Verwandtschaft mag von ehelicher oder un¬ 
ehelicher Geburt herrühren, begangen wird. Die Strafe ist Kerker von sechs Monaten bis 
zu einem Jahre. 


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Gerichtlich-medicinisch hat man in solchen Fällen zum Nachweis des 
Thatbestandes der Blutschande nur zu constatiren, dass eine Beischlafshand¬ 
lung ausgeführt oder auch nur versucht worden ist. *) Meistens wird zu 
solchen Vorgängen dadurch Veranlassung gegeben, dass mehr oder weniger 
geschlechtsreife weibliche Individuen wegen Platzmangel mit dem Vater oder 
einem Bruder in demselben Bette schlafen. Erst kürzlich ist mir noch der 
Fall vorgekommen, dass eine 22jährige Person bei ihrem Vater, der Wittwer 
war, im selben Bette schlief und der Blutschande verdächtig war, so dass die 
Untersuchung der betreffenden Person vom Richter verlangt wurde. 

4. Beischlafshandlangen mit Mädchen unter einem gewissen 
Alter sind nach den meisten Strafgesetzgebungen mit Strafe bedroht. 

Doch herrscht hierin nicht vollständige Uebereinstiramun^, so wird z. B. nach dem 
österreichischen Strafgesetz (§. 127) der Beischlaf mit einer Frauensperson, welche 
noch nicht das vierzehnte Lebensjahr zurückgelegt hat, der Nothzucht gleich bestraft, 
während das deutsche Strafgesetz (§. 175, 3) schon nur für unzüchtige Handlungen 
eine Strafe von 10 Jahren Zuchthaus bestimmt. Das bernische Strafgesetz (Art. 170) 
bestraft mit 10 Jahren Zuchthaus denjenigen, der mit einem Kind unter zwölf Jahren den 
Beischlaf vollzieht. 

Dagegen stimmen deutsches Strafgesetz (§. 182) und österreichischer 
Strafgesetz-Entwurf (§. 190) darin miteinander ganz überein, dass, wer ein unbeschol¬ 
tenes Mädchen, welches das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, zum Beischlaf 
verführt, mit Gefängnis bis zu 1 Jahr bestraft wird. 

Man ersieht aus diesen strafgesetzlichen Bestimmungen das Bestreben 
der Gesetzgebung, die weibliche Geschlechtsehre zu schützen gegen Beischlafs¬ 
handlungen, wenn sie auch nicht mit Gewalt ausgeführt werden und daher 
nicht den Strafbestimmungen über Nothzucht unterliegen würden. 

Die Mithilfe der gerichtlichen Medicin ist zur Anwendung dieser straf¬ 
rechtlichen Bestimmungen insofern unumgänglich, als vom medicinischen 
Standpunkte aus der vorausgegangene Geschlechtsact, d. h. die stattgefundene 
Beischlafshandlung, sei sie nur versucht oder ausgeführt, zu constatiren ist. 

Ausserdem kann den medicinischen Sachverständigen auch noch die Auf¬ 
gabe zufallen, zu bestimmen, ob nach dem Grade der körperlichen Entwicklung 
des missbrauchten weiblichen Individuums dem Thäter das Alter derselben 
bekannt sein konnte, oder ob hier eine Täuschung sehr wohl möglich war, 
was einen Milderungsgrund für den Betreffenden zur Folge haben könnte. 

Wir hatten kürzlich eine Person zu untersuchen, welche das sechzehnte Jahr noch 
nicht zurückgelegt hatte, und von drei Arbeitern missbraucht worden war, welche deshalb 
in strafrechtliche Untersuchung kamen. Sie gaben zur Entschuldigung an, dass sie nicht 
nach dem Alter der betreffenden Person sich erkundigt hätten, da sie dieselbe nach ihrer 
ganzen Körperlichkeit für viel älter hatten halten müssen. Nach meiner Untersuchung 
konnte ich die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit einer solchen Täuschung zugeben, da die 
betreffende Person in dem Grade körperlich ausgebildet war, nach ihren Rörperdimen- 
sionen und der subcutanen Fettablagerung, nach der Behaarung des Körpers u. s. w., 
dass gewiss jeder Sachkundige einer solchen Täuschung hätte verfallen können. 

b) Unzüchtige Handlungen. 

Die Strafgesetze geben keinen Begriff von unzüchtigen Handlungen oder 
von Unzucht, so dass darunter nichts Anderes verstanden werden kann, als 
diejenige Art der Geschlechtsbefriedigung, welche nicht Nothzucht und nicht 
widernatürliche Unzucht ist. Die gesetzlichen Bestimmungen hierüber sprechen 
sich in folgender Weise aus. 

Deutsches Strafgesetz. §. 176. Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird be- 
straft, wer 

1. mit Gewalt unzüchtige Handlungen an einer Frauensperson vornimmt oder dieselbe 
durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüch¬ 
tiger Handlungen nöthigt; 

2. mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder 
dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet. 


*) Oesterr. Strafges. 8. 134. Entscheid, d. oberst. Gerichts- und Cassationshofes vom 
18. Febr. 1876. * 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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§. 174. Mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren werden bestraft: 

1. Yormtlnder, Geistliche, Lehrer und Erzieher, welche mit ihren Pflegebefohlenen, 
Geistliche, Lehrer und Erzieher welche u. s. w., unzüchtige Handlungen vornehmen; 

2. Beamte, die mit Personen u. s. w. 

3. Beamte, Aerzte oder andere Medicinalpersonen u. s. w. 

Sozusagen gleichlautend sind die Bestimmungen im österr. Straf¬ 
gesetz-Entwurf §. 189. Dagegen ist im österr. Strafgesetz der §. 128 
anderslautend, nämlich: 

Wer einen Knaben oder ein Mädchen unter 14 Jahren oder eine im Zustande der 
Wehr- oder Bewusstlosigkeit befind liehe Person zur Befriedigung seiner Lüste auf eine 
andere als die im §. 107 (Beischlaf) bezeichnete Weise geschlechtlich missbraucht, begeht, 
wenn diese Handlung nicht das im §. 129 lit b. bezeichnete Verbrechen (Unzucht wider 
die Natur) bildet, das Verbrechen der Schändung und soll mit schwerem Kerker von ein 
bis zu fünf Jahren u. s. w. bestraft werden. 

Man ersieht aus diesen gesetzlichen Bestimmungen, dass unzüchtige 
Handlungen nur dadurch näher bezeichnet werden, dass es sich um Ge¬ 
schlechtsbefriedigungen handelt, welche nicht Beischlaf und nicht wider¬ 
natürliche Unzucht sind, und dass nur das österr. Strafgesetz diese Vorgänge 
als Schändung bezeichnet, ferner dass nach dem deutschen Strafgesetz und 
dem österr. Strafgesetzentwurf diese Arten von Geschlechtsbefriedigung dann 
mit höheren, und zwar sehr hohen Strafen bedacht sind, wenn sie mit Gewalt 
oder mit Drohungen für Leib und Leben oder mit Personen unter 14 Jahren 
oder, was jedoch die gerichtliche Medicin nicht weiter betriflt, von Personen 
ausgeübt werden, welche ihrer socialen Stellung nach über die missbrauchten 
Persönlichkeiten einen gewissen Einfluss haben. 

Auffallenderweise ist auf das Begehen unzüchtiger Handlungen ohne die 
angeführten erschwerenden Umstände, wenn sie zur Kenntnis richterlicher 
Behörden gelangen, nicht weiter Rücksicht genommen und keine Strafe an¬ 
gegeben. Nur das bernische Strafgesetz bestimmt in dieser Beziehung im 
Art. 162. 

Wer öffentlich die Schamhaftigkeit verletzt, wird mit Gefängnis bis zu sechzig Tagen 
oder mit Correctionshaus bis zu einem Jahr oder mit Geldbusse bis zu fünfhundert 
Franken bestraft. 

Die gerichtlich-medicinischen Aufgaben rücksichtlich dieser unzüchtigen 
Handlungen sind mehrere, welche aber nur in einer geringeren Zahl von 
Fällen aufklärende Untersuchungsergebnisse dem Richter gewähren können. 
Die erste Aufgabe ist zunächst die, auf medicinische Untersuchungen gestützt 
Beweise beizubringen, dass diese oder jene Art unzüchtiger Handlung statt¬ 
gefunden hat, ferner, wenn ja, ob dabei Gewalt in Anwendung gebracht 
worden ist, und endlich ob die unzüchtige Handlung nachtheilige Folgen für 
die Körperlichkeit oder Gesundheit des missbrauchten Individuums nach sich 
gezogen hat. 

Die unzüchtigen Handlungen, welche zu ungehöriger Geschlechtsbefrie¬ 
digung vorgenommen werden, sind ausserordentlich mannigfaltig und grossen 
Theils der Art, dass sie keine erkennbaren Spuren zurücklassen, so dass die 
medicinische Feststellung derselben eine Unmöglichkeit ist, und daher der 
Richter auf anderem Wege sich Aufklärung über das Vorgefallene verschaffen 
muss, und der Sachverständige sich eventuell nur über den psychischen Zu¬ 
stand des Betreffenden rücksichtlich seiner Zurechnungsfähigkeit auszu¬ 
sprechen hat. 

Manche dieser unzüchtigen Handlungen, welche schon bei den Griechen 
und Römern eine gewisse Rolle spielten, und besondere Namen erhielten, wie 
das fellare, irrumare, der cunnilingus u. s. w. lassen nur höchst selten er¬ 
kennbare Spuren zurück, als Infectionen an den Lippen und an der Zunge. Auch 
die Exhibition, das ist die Schaustellung der männlichen Genitalien, gehört 
zu den unzüchtigen Handlungen, welche nur ganz ausnahmsweise zu gerichtlicher 
Untersuchung Anlass geben, wie folgender Fall beweist. 


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GESCHLECHTSVERHALTNISSE. 


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Ich erhielt den Auftrag, einen älteren Schlossermeister Solt. zu untersuchen, ob derselbe 
an Hämorrhoiden mit zeitweisen Blutungen leide. Derselbe war nämlich beschuldigt, an 
einem Fenster seine Hosen herabgezogen und seine Geschlechtstheile entblösst zu haben, 
was von gegenüberwohnenden Personen gesehen und angezeigt worden war. Derselbe, deshalb 
abgehört, entschuldigte sich damit, dass er angab, er leide an Hämorrhoiden und zeitweisen 
Blutungen, und dass er damals gerade bei einer Fensterreparatur glaubte, dass Blut aus 
dem After abgehe und dass er deshalb einen geöffneten Fensterflügel als Spiegel benutzte, 
um nachzusehen, und keine Ahnung davon hatte, dass er von einem vis-a-vis gesehen 
werde. Meine Untersuchung ergab, dass die Angabe des Schlossermeisters mit den 
Hämorrhoiden ganz richtig war, und dass von einer exhibitionistischen Handlung keine 
Rede sein konnte. 

Der §. 176 des deutschen Strafgesetzes spricht zwar nur von un¬ 
züchtigen Handlungen an Frauenspersonen, aber der §. 174 bezieht das Be¬ 
geben unzüchtiger Handlungen auf verschiedene Personen und namentlich 
auch auf minderjährige Schüler oder Zöglinge, und das österreichische 
Strafgesetz spricht ganz speciell von Knaben, es ist daher keinem Zweifel 
unterworfen, dass auch unzüchtige Handlungen an männlichen Individuen, 
welche nicht zur widernatürlichen Unzucht gehören, unter jenen Hand¬ 
lungen gemeint sind, und kommen in dieser Beziehung Frictionen der 
Genitalien an männlichen Individuen in verschiedenen Stellungen in Betracht, 
und ganz besonders auch masturbatorische Handlungen. Alle diese Vorgänge 
haben, wie gesagt, nur geringes forensisches Interesse, da hier in der .Regel 
medicinisch nichts zu beweisen ist, 

Die einzige Art unzüchtiger Handlungen an weiblichen Individuen, 
welche häufig genug gerichtsärztliche Untersuchungen veranlassen, die mitunter 
werthvolle Aufklärungen geben zur Constatirung einer unzüchtigen Handlung, 
sind die Fingermanipulationen an den Genitalien weiblicher Kinder, 
welche theils nur in Betastungen oder Reibungen der äusseren Genitalien 
bestehen, theils in mehr oder weniger gewaltsamen Versuchen zum Ein¬ 
bringen eines Fingers in dieselben. Da das letztere ohne Zerreissung des 
Hymens nicht wohl möglich ist und diese Verletzung Schmerzen verursacht, 
welche die Kinder zum Schreien und zur Gegenwehr veranlassen, so kommen 
solche gröbere Verletzungen nicht häufig vor, sind aber schon in excessiver 
Weise vorgekommen, so dass nicht blos der Hymen, sondern auch ein Theil 
der Scheide zerrissen waren. Meistens findet man nur unbedeutende trau¬ 
matische Effecte, als Röthungen der Vulva, Spuren von Excoriationen durch 
Fingernägel, kleine Einrisse im freien Rande des Hymens, aber engen Eingang 
in die Scheide. Doch haben wir früher schon einen Fall mitgetheilt, wo 
nach und nach durch allmälige Dehnung die hymenale Oeffnung ohne Zer¬ 
reissung so dilatirt wurde, dass der Zeigefinger mit Leichtigkeit eingeführt 
werden konnte. Auch ist durch unreine Finger eine Infection möglich. Die 
Befunde sind demnach bei solchen unzüchtigen Handlungen sehr verschieden, 
und mitunter so unbedeutend, dass nur wenig mit Sicherheit aus ihnen ge¬ 
schlossen werden kann. Indessen wird das Wenige, was man findet, in Ver¬ 
bindung mit den Angaben des missbrauchten Kindes und anderen darauf 
bezüglichen Erhebungen den Sachverständigen in den Stand setzen, sich 
dahin auszusprechen, dass für einen stattgehabten Beischlafsversuch keine 
Thatsachen vorliegen und dass es sich nur um nicht verletzende Finger¬ 
manipulationen handeln kann. 

Gröbere Verletzungen, die mit Schmerzen verbunden gewesen sein 
mussten, sprechen für Gewaltanwendung bei der Ausführung der unzüchtigen 
Handlung. 

Nachtheilige Folgen für die Körperlichkeit und Gesundheit der miss¬ 
brauchten Individuen haben unzüchtige Handlungen nur dann, wenn bei dem 
Acte schwerere Verletzungen der Genitalien oder eine Infection stattgefunden 
hat, was jedoch zu den Ausnahmsfällen gehört. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


c) Widernatürliche Unzucht. 

Was strafrechtlich unter widernatürlicher Unzucht zur Zeit verstanden 
wird, ergibt sich aus nachstehenden gesetzlichen Bestimmungen: 

Deutsches Strafgesetzbuch. §. 175. Die widernatürliche Unzucht, welche 
zwischen Personen männlicnen Geschlechtes oder von Menschen mit Thieren begangen 
wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen, auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte 
erkannt werden. 

Oesterreichischer Strafgesetzentwurf. §.190. Die widernatürliche Unzucht, 
welche zwischen Personen des männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren 
begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen. 

Oesterreichisches Strafgesetzbuch. §. 129. Als Verbrechen werden auch 
nachstehende Arten von Unzucht bestraft: I. Unzucht wider die Natur, das ist a) mit 
Thieren, b) mit Personen desselben Geschlechts. 

§. 170. Die Strafe ist schwerer Kerker von 1 bis zu 5 Jahren. Wer u. s. w. 

Man ersieht aus diesen gesetzlichen Bestimmungen wesentliche Ver¬ 
änderungen in der Auffassung der strafrechtlichen Behandlung der sogenannten 
widernatürlichen Unzucht, indem diese eine viel eingeschränktere und mildere 
geworden ist, denn nach dem österreichischen Strafgesetzentwurf ist die 
strafrechtliche Verfolgung der widernatürlichen Unzucht zwischen Personen 
des weiblichen Geschlechts ganz aufgegeben und wie im deutschen Straf¬ 
gesetz auf Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts beschränkt, 
und ausserdem ist das Strafmass überhaupt ein viel geringeres geworden. 
Dass man die widernatürliche Unzucht zwischen Personen weiblichen 
Geschlechts, die sogenannte Tribadie, strafrechtlich nicht mehr als wider¬ 
natürliche aufführt und bestraft, ist gewiss hinreichend begründet. Demnach 
sind nur noch zwei Arten widernatürlicher Unzucht zu unterscheiden, nämlich 
diejenige zwischen Personen männlichen Geschlechts und diejenige mit 
Thieren. Erstere nennt man gemeinhin Päderastie, letztere Sodomie. 

A. Wider natürliche Unzucht zwi sehen Personen männlichen 
Geschlechts (Päderastie). 

Dass männliche Personen miteinander in sehr mannigfaltiger Weise Un¬ 
zucht treiben können, wohin namentlich die gegenseitige Masturbation und 
die Reibungen der Genitalien des einen an dem Körper des anderen in ver¬ 
schiedenen Stellungen gehören, ist wohl verständlich, allein das Widernatür¬ 
liche bei dieser Unzucht zwischen Personen des männlichen Geschlechts be¬ 
steht nicht blos in der gleichen Sexualität, sondern auch noch in einer be¬ 
sonderen Art der Ausübung der Geschlechtsbefriedigung, welche ein Analogon 
einer Beischlafshandlung darstellt, und darin besteht, dass von der einen 
männlichen Persönlichkeit statt der Scheide eines weiblichen Individiums der 
After und Mastdarm eines anderen männlichen Individuums zur Geschlechts¬ 
befriedigung benutzt wird. Es ist die anale Geschlechtsbefriedigung 
bei einem männlichen Individuum, um welche es sich handelt, und welche ganz 
richtig als widernatürliche Geschlechtsbefriedigung aufgefasst wird. 

Der anale Coitus kann zwar auch bei weiblichen Individuen ausgeübt 
werden und geschieht das auch zuweilen, allein strafrechtlich gehört derselbe 
nicht hieher. Es ist strafrechtlich von Wichtigkeit, dass nicht alle Arten von 
Geschlechtsbefriedigung zwischen männlichen Individuen als widernatürliche 
Unzucht aufgefasst und strenger bestraft werden, denn nur die anale Art des 
Coitus bei männlichen Individuen gegenüber dem vaginalen bei weiblichen ge¬ 
hört hieher. 

Zur näheren Betrachtung dieser Art von gesetzwidriger Geschlechts¬ 
befriedigung, welche strafrechtlich als widernatürliche aufgefasst wird, ist es 
nothwendig, die beiden Arten männlicher Individuen, welche bei diesem Vor¬ 
gänge betheiligt sind, näher ins Auge zu fassen, und hat man hiebei die 
activen und passiven Päderasten zu unterscheiden. 

Bei den activen Päderasten erhebt sich zunächst die Frage nach den 
Motiven zur Ausführung eines so schändlichen Lasters, was bei der gericht- 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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lich-medicinischen Beurtheilung des Falles sehr in Betracht kommt, und 
worauf die Betreffenden auch näher zu untersuchen sind, denn Aberrationen des 
Geschlechtstriebes, welche als perverser, conträrer Geschlechtstrieb 
bezeichnet werden, spielen hier eine wesentliche Rolle. Wir gruppiren die 
hier in Betracht kommenden Persönlichkeiten in folgender Weise, wie sie uns 
vorgekommen sind. 

1. Eine grössere Zahl activer Päderasten sind alte Wollüstlinge, welche 
schon viel in Venere geleistet haben und nun ungewöhnlicher Reize bedürfen, 
um den noch nicht erloschenen Geschlechtstrieb anzuregen, wozu besonders 
eine später zu bezeichnende Abtheilung von passiven Päderasten geeignet ist. 
Uebrigens ist in nicht seltenen Fällen eine bereits eingetretene neurasthe- 
nische Impotentia coeundi hauptsächlich Grund der Zuwendung zu männ¬ 
lichen Individuen, indem man sich scheut, wegen Unfähigkeit mit weiblichen 
Individuen den Coitus auszuüben, vor diesen durch seine Impotenz sich blos- 
zustellen. Freilich sind in solchen Fällen die Betreffenden dann auch nicht 
fähig, die Rolle von activen Päderästen zu spielen, und besteht dann die 
Befriedigung des Geschlechtstriebes nur in masturbatorischen Actionen, die 
nicht selten Anlass geben zu Anzeigen von stattgehabter Päderastie. 

2. Bei anderen Individuen wirken als Motive zur Vermeidung des va¬ 
ginalen Coitus Furcht vor Schwängerung und venerischer Infection und führen 
dann zur analen Geschlechtsbefriedigung. Auch kommt es selbst bei jün¬ 
geren Eheleuten zuweilen vor, um einem zu grossen Kindersegen zu begegnen, 
dass die anale Geschlechtsbefriedigung in Anwendung gebracht wird. Dass 
Personen, welche in Folge ihres Standes zur Abstinenz vom vaginalen Coitus 
gezwungen sind, wie die im Cölibat lebenden Geistlichen, ein grösseres Con- 
tingent unter den Päderasten ergeben, ist leicht erklärlich. Solche Individuen 
bieten weder körperlich noch psychisch Besonderheiten dar. 

3. Bei einer dritten Reihe von Persönlichkeiten kommen ganz andere Mo¬ 
tive für die Päderastie in Betracht, nämlich Abnormitäten des Geschlechts¬ 
triebes, welche überhaupt sehr mannigfaltig sind, und nicht blos zu mancherlei 
Variationen in der Ausübung des gewöhnlichen Coitus führen, welche Krafft- 
Ebing durch verschiedene Namen als Masochismus, Fetischismus, Sadismus 
u. s. w. gekennzeichnet hat, sondern auch in ganz perversen, d. h. c o n - 
trären Sexualempfindungen (Westphal) bestehen, welche bei beiden 
Geschlechtern Vorkommen, so dass männliche Individuen nur für männliche 
und weibliche Individuen nur für weibliche geschlechtliche Neigungen haben. 
Krafft-Ebixg hat das als Homosexualität gegenüber der Heterosexua¬ 
lität unterschieden. 

Von beiden Arten dieser conträren Sexualempfindung sind Fälle bekannt. Doch hat 
grössere gerichtlich-medicinische Bedeutung nur die masculine conträre Geschlechtsempfin- 
iuiig. Iu vielen Fällen ist diese Abnormität des Geschlechtstriebes wohl angeboren, doch 
scheint sie auch gezüchtet vorzukommen. Ein den conträrsexual empfindenden Männern 
Angehöriger hat denselben den Namen der Urninge gegeben und hält ihre Zahl für ver¬ 
hältnismässig sehr gross. Zur Charakteristik dieser Classe von Päderasten ist immer die 
*on Casper *) darüber gemachte Mittheilung sehr beachtenswerth. Ein merkwürdiger 
Fall von conträrer Sexualempfindung bei einem weiblichen Individuum ist der von Birn- 
bacher**) mitgetheilte über Sandor Grafen V., recte Sarolta Gräfin V., welche als Mann 
geheirat het hatte. 

Von besonderen physischen Merkmalen der activen Päderasten kann 
eigentlich schon insofern keine Rede sein, als nach der grossen Verschieden¬ 
heit der Motive zur Päderastie Personen der verschiedensten Art in Betracht 
kommen, also nicht blos Urninge, und auch der Act selbst keine wenn auch 
nur vorübergehende Formveränderungen am Penis zurücklässt. Dagegen ist 


*) Zur Lehre von der Päderastie. Klinische Novellen zur gerichtl. Medicin. Berlin, 
1863, S. 33. 

**) Friedreichs Blätter für gerichtl. Medicin. 1891. H. 1. S. 2. 


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GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 


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nicht in Abrede zu stellen, dass bei den verschiedenen Formen und Grössen 
des Penis ein verschieden leichtes Eindringen desselben in anum möglich 
sein wird und dass dieses bei kleinerem Kaliber der glans und bei mehr 
konischer als kugeliger Form derselben verhältnismässig mit weniger Schwierig¬ 
keit geschehen kann. Man wird daher bei Untersuchungen eines Päderasten 
auf diese Verhältnisse Rücksicht zu nehmen haben. 

Wir können in Bezug auf diese Verhältnisse nur sagen, dass wir bei einzelnen 
activen Päderasten, der Classe der Urninge angehörend, allerdings ein kleineres Glied und 
eine konische Form der Eichel gefunden haben, so dass wir im Gutachten sagen konnten, 
Grösse und Form des Gliedes konnten dem Eindringen desselben in den After kein Hinder¬ 
nis entgegensetzen. 

Bei den passiven Päderasten kommen ebenfalls verschiedene Arten 
von Persönlichkeiten in Betracht, die forensisch wichtig zu unterscheiden sind. 

1. In erster Linie sind Knaben verschiedenen Alters zu nennen, welche 
die eigentlichen Objecte für die echten activen Päderasten sind. Und von 
dem Missbrauch solcher Individuen kommt auch der Name Päderastie her, 
von wu; und eppaw, Knabenliebe, eine Leidenschaft, welche schon bei den 
Griechen und Römern eine grosse Rolle spielte. 

Knaben in diesem Alter sind leicht durch Geschenke und Versprechungen anzu¬ 
locken, und werden von den activen Päderasten an verschiedenen Orten gesucht, wie es 
gerade die Gelegenheit bietet. Um nicht bei den ersten päderastischen Versuchen grössere 
Schmerzen zu verursachen, werden mitunter längere Zeit Ausdehnungsversuche mit den 
Fingern oder anderen Gegenständen gemacht, oder es wird auch das erigirte Glied mit 
einiger Gewalt eingeführt, und kommt es auch hiebei vor, ähnlich wie bei der Notbzucht, 
dass zur Erhöhung des Wollustgefnhles Grausamkeiten durch Beibringung mehr oder 
weniger schwerer Verletzungen an den wehrlosen Opfern vorgenommen werden, die mit¬ 
unter beabsichtigt oder unbeabsichtigt den Tod derselben herbeiführen, wovon mehrere 
wahrhaft grauenhafte Fälle von Tardieu, Casper, Liman u. A. mitgetheilt worden sind. 

2. Eine zweite Reihe der passiven Päderasten gehört der Prostitution 
an, und betrifft Männer aber auch Weiber verschiedenen Alters, welche aus 
der passiven Päderastie ein Gewerbe machen und auch in Bordellhäusern 
grösserer Städte gehalten werden, um dieser Art der Geschlechtsbefriedigung 
zu dienen. 

Die freien Päderasten treiben sich an abgelegenen Orten herum und suchen sieb 
durch ihr Benehmen, ihre Kleidung und Beschäftigung mit Nähen, Stricken, Brodiren den 
activen Päderasten bemerklich zu machen, welche sogleich die Bedeutung solcher Zeichen 
erkennen. Bei solchen gewerbsmässigen Päderasten findet man zuweilen auch obseöne 
Tätowirungen ai} den Hinterbacken, Ferner sind mit solchen Vorgängen mitunter auch 
Erpressungen verbunden, indem die Missbrauchten oder deren Helfershelfer mit Anzeigen 
drohen, wenn ihnen nicht grössere Summen bezahlt werden, welches Diebsgewerbe nach 
Tardieu in Paris als sogenannte Chantage betrieben wird, 

3. Endlich ist noch eine dritte Art passiver Päderasten zu erwähnen, 
welche in Folge eines gleichfalls perversen Geschlechtstriebes gerne die Rolle 
weiblicher Individuen spielen und sich so päderastisch verwenden lassen. 

Solche Individuen zeigen ihrer körperlichen Beschaffenheit nach einen weiblichen 
Habitus, sind bartlos, tragen mitunter auch lange Kopfhaare, haben ziemlich viel subcu- 
tanes Fettgewebe, eine hohe Stimme u. s. w. In psychischer Hinsicht haben sie weibliche 
Neigungen und lassen sich wie gesagt mit einer gewissen Liebhaberei als passive Päde¬ 
rasten gebrauchen. Sie lieben den Putz, tragen auch hie und da weibliche Kleidung. 
Wegen unzüchtiger Handlungen kamen wir mehrmals in Fall, derartige Persönlichkeiten 
zu untersuchen. Mehrere derselben waren in Messbuden engagirt und spielten in den¬ 
selben weibliche Rollen. Solche Individuen werden übrigens von activen Päderasten nicht 
immer blos zu passiver Päderastie verwandt, sondern müssen jenen gegenüber mitunter 
auch die Rolle von activen Päderasten spielen. 

Wie bei den activen Päderasten hat sich auch hier die Frage erhoben, ob 
bei Personen, welche längere Zeit der passiven Päderastie sich hingegeben 
haben, gewisse Veränderungen Zurückbleiben, durch welche das Stattgehabt¬ 
haben solcher Vorgänge erkannt werden könnte. Nun hat man allerdings eine 
Reihe derartiger Veränderungen angegeben, wie z. B. eine dütenförmige 
Einsenkung der Aftergegend, die Verstreichung der die Aftermündung strah- 


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GESCHLECHTS VERHÄLTNISSE. 


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lenförmig umgebenden Hautfalten, Erschlaffung des Sphincters, hahnenkamm¬ 
förmige Wucherungen der Schleimhaut der Aftermündung u. s. w., allein alle 
diese Erscheinungen haben nicht die diagnostische Bedeutung, dass aus ihnen 
allein auf passive Päderastie geschlossen werden könnte, da derartige Ver¬ 
änderungen auch Folge höheren Alters, erschwerter Defäcation, bestehender 
Hämorrhoidalzustände u. s. w. sein können. Was der anus in Bezug auf Di¬ 
latation zu ertragen vermag, beweisen die zu chirurgischen und gynäkologischen 
Zwecken mitunter vorgenommenen analen Untersuchungen mit der ganzen 
Hand. 

Anders verhält es sich freilich in den verhältnismässig selteneren Fällen, 
in welchen kurze Zeit nach einem päderastischen Vorgang der Kinede unter¬ 
sucht werden kann, in welchem Falle man möglicherweise noch Spermatazoen¬ 
haltigen Schleim aus dem After erhalten kann, oder man findet noch trau¬ 
matische Röthung und Empfindlichkeit der Aftermündung, selbst Einrisse oder 
Spuren von] Quetschung. Der Nachweis von Sperraatazoen an Hemd oder 
Bettzeug ist noch kein Beweis einer immissio penis und ejaculatio seminis 
in anum, da der ganze Vorgang sich auch zwischen den Nates oder zwischen 
den Schenkeln abspielen konnte. 

In späterer Zeit können auch Folgen stattgehabter Infection durch vene¬ 
rische oder syphilitische Geschwüre oder durch Tripper auftreten, und findet 
man an der Aftergegend suspecte Geschwüre, condylomatöse Wucherungen, 
gonococcenhaltige Ausflüsse, welche selbstverständlich in diagnostischer Hin¬ 
sicht von grosser Bedeutung sind. 

Lähmungen des sphincter ani und in Folge dessen incontinentia alvi kommt na¬ 
mentlich bei Knaben nicht selten vor. In einem mir vorgekommenen Falle war bei einem 
11jährigen Knaben diese Insufticienz des Schliessmuskels des Afters, wodurch Hemd und 
Kleidungsstücke des Knaben stets verunreinigt wurden, die erste Erscheinung, welche die 
Eltern zu einer Anzeige veranlassten, welche dann weiterhin durch unsere Untersuchung 
zu der Thatsacbe führte, dass dieser Knabe schon seit längerer Zeit als Kinede von einem 
Herrn gebraucht worden ist. Der Fall kam vor das Schwurgericht und der Betreffende 
wurde vcrurtheilt. 

In manchen anderen Fällen, wo durch Anzeigen Untersuchungen herbei¬ 
geführt werden, findet man häufig weder an den activen noch an den passiven 
Päderasten Erscheinungen, welche den untersuchenden Experten in den Stand 
setzen, mit nur einiger Sicherheit stattgehabte Päderastie zu beweisen, ob¬ 
schon nach der Beschaffenheit der Individuen und der Indicien, welche zu der 
Untersuchung geführt haben, es nicht zweifelhaft sein kann, dass solche Vor¬ 
gänge stattgehabt haben. Man könnte in solchen Fällen zur Unterstützung 
der richterlichen Erhebungen nur anführen, dass die Betreffenden ihren körper¬ 
lichen und psychischen Verhältnissen nach nicht als ungeeignet für solche 
Vorgänge bezeichnet werden können. 

B. Widernatürliche Unzucht von Menschen mit Thieren. 

Auch diese Art von Unzucht wird strafrechtlich als widernatürliche auf- 
gefiihrt und bestraft. Sie ist gewöhnlich unter dem Namen Sodomie bekannt. 
Es verhält sich mit dieser Art Unzucht ähnlich, wie mit der Päderastie. Sie 
kam schon im Alterthum vor und wurde früher nach der mosaischen Gesetz¬ 
gebung sehr streng, sogar mit dem Tode bestraft, heutzutage ist die Auf¬ 
fassung eine andere, und wird der Vorgang nur mit Gefängnis bedroht und 
eventueU mit Verlust bürgerlicher Ehrenrechte. 

Gerichtlich-medicinisch hat dieses Vorkomnis nur geringe Bedeutung, 
denn in den meisten derartigen FäUen, die überhaupt selten vor den Richter 
kommen, kann der Thatbestand nur durch Zeugenaussagen festgestellt werden, 
da selten so frühzeitige medicinische Intervention in Anspruch genommen 
wird, dass noch Zeichen eines solchen Vorkommnisses durch medicinische 
Untersuchung aufgefunden werden könnten. 


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GESUNDHEITSPFLEGE. 


Die meisten vorkommenden Fälle sind solche, wo weibliche Thiere wie, 
Stuten, Kühe, Ziegen, Hunde u. s. w. von älteren Knaben oder Männern zur 
Geschlechtsbefriedigung benutzt werden. Fast immer sind es Personen, 
welche mit diesen Thieren im Stalle oder als Viehhüter zu thun haben. Von 
letzteren hatte ich drei Fälle zu begutachten, in denen es sich darum handelte, 
ob die Betreffenden, es waren alle drei ältere Knaben von sehr beschränkten 
geistigen Fähigkeiten, von welchen der eine im Stalle auf einer Kuh liegend, 
die anderen zwei auf offener Weide mit Ziegen Coitus versuchend gesehen 
wurden, als zurechnungsfähig betrachtet werden können, was ich in allen drei 
Fällen verneinen musste. Bei allfälligen Untersuchungen der Art, wenn sie 
frühzeitig gemacht werden können, würde man untersuchen, ob sich in der 
Scheide des gebrauchten Thieres Spermatozoen finden, und an den Genitalien 
des Stuprators, z. B. unter der Vorhaut, Haare des betreffenden Thieres. 

Zum Beweise der Möglichkeit eines solchen Fundes wird nur der von Kutter *) mit- 
getheilte Fall angerufen, welcher allerdings ein solches Vorkommnis, wenn auch mangelhaft 
untersucht, illustrirt. Der Fall betraf einen Unterofficier, G. welcher verdächtig war, mit 
einer Kappstute im Stalle Sodomie getrieben zu haben. Die Untersuchung konnte etwa 
eine Stunde nach dem Vorfall geschehen. Die Schamlefzen und der Scheideneingang des 
Thieres sollen geschwollen und an der Schleimhaut des letzteren an mehreren Stellen seichte 
l*/j—2 Linien lange blutige Einrisse bemerkbar gewesen sein. Ein sparsames, schleimiges, 
röthlich gefärbtes Secret aus der Scheide wurde zwar aufbewahrt, aber nicht weiter unter¬ 
sucht. Am Angeschuldigten fand man ausser psychischer Aufregung an der Eichel zwischen 
ihr und der Vorhaut in der Uebergangsfalte 5—6 feine, schwarze, etwa 3 Linien lange 
Härchen, welche mit den dem Hintertheil der Stute durch Ueberstreichen der Haut mit der 
Hand entnommenen Härchen bei Untersuchung mit der Lupe die grösste Aehnlichkeit zeigten. 
Das Gutachten Kutters ging dahin, dass G. sich der widernatürlichen Unzucht mit der 
Rappstute des Bauers M. schuldig gemacht habe. 

Eine andere gleichfalls selten zu gerichtsärztlicher Untersuchung Anlass 
gebende Art von Sodomie ist die zwischen weiblichen Individuen und männ¬ 
lichen Thieren, welche sozusagen immer Hunde waren, und gehören hieher 
die von Schuhmacher, Pfaff, Schauenstein, Wald u. A. mitgetheilten Fälle, 
weiche indessen insgesammt bezüglich der Beweisführung manche Einwen¬ 
dungen zulassen. 

Ob auch ein päderastischer Act zwischen Mensch und Thier möglich 
ist, wobei ersterer die passive, letzteres die active Rolle spielt, ist behauptet 
und bestritten worden. Dass bei einem Manne in der Knieellenbogenlage 
ein Hund Versuche zu einer Cohabitation machen könnte, ist kaum zu be¬ 
zweifeln, und um mehr könnte es sich ja doch nicht handeln. Wenn aber 
so etwas gesehen wird, werden kaum weitere ärztliche Untersuchungen einen 
Werth haben können und Zeugenbeweise zur Bestrafung solcher unzüchtiger 
Handlungen ausreichen. c. emmert. 

Gesundheitspflege. Jede Aenderung in der Thätigkeit, jede Aende- 
rung in den umgebenden Medien wirkt nach der einen oder anderen Richtung 
auf die Oekonomie unseres Organismus ein. Diese Einwirkung, im zweck¬ 
mässigen Momente auf geeignete Störungen der Gesundheit angewendet, kann 
letztere wieder herstellen, und es wird nur zu häufig diese Thätigkeit vom 
grossen Publikum als einzige Aufgabe des Arztes angesehen. Auf der an¬ 
deren Seite kann aber auch jede solche Einwirkung einen gesunden Organis¬ 
mus krank machen. Die Fähigkeit der Selbstregulirung oder Anpassung ver¬ 
hindert es, dass nicht jede Aenderung der äusseren Verhältnisse mit einer 
Erkrankung des Individuums beantwortet wird. Eine nicht minder umfassende 
Aufgabe für den Arzt wie die Krankheitsheilung ist das Studium'aller schäd¬ 
lichen äusseren Einflüsse, ihre Vermeidung für das einzelne Individuum und 
damit die Erhaltung der Gesundheit oder Gesundheitspflege. 
Dies entspricht dem Bestreben des Einzelnen, sich selbst zu erhalten, dies 


*) Sodomie mit einer Stute. Vierteljahrsschr. f. ger. u. öff. Med. 1865. S. 160. 


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GESUNDHEITSPFLEGE. 


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entspricht dem Interesse der Gesammtheit, aus deren Productionsgewinne an¬ 
fänglich das Individuum erzogen wird und der das producirende Individuum 
erst nach dieser Erziehung, je gesünder und länger es lebt, um so höher 
die Erziehungskosten durch Förderung des allgemeinen Wohlstandes zurück¬ 
erstattet. In der Gesundheitspflege tritt der Arzt, befähigt durch seine Kennt¬ 
nisse im Bau und der Function des Körpers, als Berather des Einzelnen und 
der Gesammtheit auf. Die Gesammtheit kann ausser dem Staate auch jede 
andere Vereinigung einer Mehrheit von Individuen sein, die in ihrem Wohl¬ 
ergehen irgendwie auf die gegenseitige Gesundheit angewiesen sind, wie eine 
Familie, ein Hausstand (Gefängnis, Kaserne etc.), ein Gewerbe oder eine 
Commune. In allen diesen Organisationen können besondere gemeinsame Ein¬ 
griffe oder Hegeln zur Vermeidung von Gesundheitsschädigungen geboten sein. 
Zugleich haben diese Organisationen ein Interesse, die eingetretene Gesund¬ 
heitsstörung eines einzelnen Individuums auf einen möglichst leichten Grad 
und eine kurze Dauer herabzudrücken und bei ansteckenden Erkrankungen 
andere Individuen zu schützen. 

Eine Förderung des Gesammtwohles in dieser Richtung wird häufig nur 
durch die schwersten Eingriffe in die persönliche Freiheit erreichbar sein. 
Eine gesetzliche Festlegung der einschlägigen Pflichten und Rechte in der 
Organisation einer solchen Gesammtheit und eine Abgrenzung der Personen, 
welche sich damit zu befassen haben, wird nöthig. Es behandelt dies das 
Seuchen-, Kranken- und Heilwesen, das wohl von allen Seiten alsein 
Gebiet für den Arzt anerkannt wird. Schädigungen durch Nahrungs- und 
Genussmittel fernzuhalten, ist Sache der Marktpolizei und der Aufklärung 
des Einzelnen in der Ernährungslehre. Zu den Nahrungsmitteln, aber 
auch zur Reinigung von Wohnung und Kleidung ist die Wasserversor¬ 
gung von höchster Wichtigkeit. Zum Schutze gegen klimatische Schädi¬ 
gungen bedürfen wir Wohnung und Kleidung, die durch Abfallstoffe 
und Ausscheidungen neue Speicher von Gesundheitsschädlingen werden 
können und auf deren zweckmässigste Befreiung von dergleichen Anhäufungen 
besonders Bedacht zu nehmen ist. Um so schlimmer können letztere Schä¬ 
digungen wirken, je enger eine grössere Zahl von Individuen zusammen¬ 
gedrängt ist. Es entstehen daraus die besonderen Aufgaben der Wohnungs-, 
Schul- und Gewerbehygiene. Für die Beschäftigung kommt in Betracht, 
dass viele Gewerbe nur unter Verwendung gesundheitsschädlicher Stoffe oder 
unter gesundheitsschädlichem Hantieren mit an und für sich unschädlichen 
Stoffen betrieben werden können. Hier ist ein Minimum von Schädigung zu 
erstreben. Wenn sich die Bewohner zweier Länder gegenseitig im Kriege 
kampfunfähig zu machen streben, so ist doch in einer Kriegshygiene 
für die Angehörigen der eigenen Nation, wie für die Ueberlebenden der feind¬ 
lichen Nation ein günstiger Gesundheitszustand erstrebenswerth, selbst wenn 
man wie in vergangenen Jahrhunderten den unterworfenen Feind nur als 
leibeigenen Knecht verwenden will. Die Leichen der Todten müssen ent¬ 
fernt und dabei vielfach Rücksicht auf religiöse und andere Gefühle der 
Lebenden genommen werden. 

Mit grösserer Berechtigung müssen auch bei allen übrigen Theilaufgaben 
der Gesundheitspflege, wie ich sie oben theilweise im grossen Ueberblick 
berührte, manche der besten Maassnahmen unterbleiben, um nicht die Ge¬ 
sammtheit mit zu hohen Kosten zu belasten, den allgemeinen Wohlstand 
dadurch herabzudrücken und damit durch schlechtere Lebenshaltung neue 
Gesundheitsschädigungen zu schaffen. Bei der Schwierigkeit, zwischen diesen 
oft gegensätzlichen Interessen das Richtige zu wählen und die betheiligten 
Personen zur Durchführung desselben zu veranlassen, ist eine Popularisirung 
der Lehre von der Gesundheitspflege bei allen Verwaltungsbeamten, Technikern, 
besonders aber den Trägern der communalen Behörden nothwendig, bei jedem 


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GESUNDHEITSPFLEGE. 


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Einzelindividuum aber erwünscht, und zwar um so erwünschter, auf eine je 
grössere Zahl anderer Individuen es maassgebenden Einfluss besitzt. Ein Ein¬ 
gehen auf die Einzelfragen der Gesundheitspflege ist in diesem Artikel 
nicht möglich. Dieselben sind unter den einzelnen Schlagworten zu finden. 
Dagegen erscheint hier ein kurzer historischer Rückblick am Platze. 

Eine Gesundheitspflege, welche auf alle Bewohner einer Commune oder 
eines Landes Bedacht nimmt, ist erst seit einem Jahrhundert denkbar und 
seitdem eine ideale Forderung, aber in einer Weise, dass keinem Einzelnen 
im Interesse der Gesammtheit das Recht zum Leben benommen wird. Stets 
trat in der Geschichte wieder das Bestreben hervor, die Lebenshaltung der 
Gesammtheit dadurch zu verbessern, dass man unheilbare Kranke, krüppel¬ 
hafte Kinder und ähnliche beseitigte. Einzelne Personen oder Bevölkerungs- 
classen hatten als Bevorzugte wieder besondere Rechte, die Fürsorge für 
ihre Gesundheitspflege den übrigen Mitbürgern gegenüber in den Vordergrund 
zu schieben. Dazu änderten sich in den Jahrhunderten ständig die Ansichten 
über das Wesen und die Ursachen der Krankheiten und auch der Wohlstand 
der Menschheit. Dies gibt eine von Geschlecht zu Geschlecht und von Volk 
zu Volk verschiedene Stellung zur Gesundheitspflege. 

Das älteste Culturvolk, in dessen Medicin und Gesundheitspflege wir einen Einblick 
haben, sind die Aegypter. Die geographischen Verhältnisse bedingen hier wie in ganz 
Afrika ein Ueberwiegen der Erkrankungen durch makroskopische und mikroskopische 
Helminthen, während Europa der Erdtheil der Bacterien- und Coccenkrankheiten ist. 
Dazu kam die ägyptische Krankheitslehre, welche die Ursache für jede Krankheit ausserhalb 
des Körpers, sei es nun in göttlichen oder naturwissenschaftlichen Ursachen suchte. Der 
Aegypter sah, dass diese Ursachen in dem einen Falle Krankheiten hervorbrachten, in dem 
anderen nicht. Wir könnten darnach a priori beim Aegypter eine Lehre von der Krankheits¬ 
disposition voraussetzen. Doch kehrt der Aegypter die Verhältnisse völlig um, indem er 
die Krankheitsdisposition für den normalen Zustand auffasste und den Mangel dieser 
Disposition erst für individuell erworben hielt. Eine Aufgabe der Gesundheitspflege im 
alten Pharaonenlande war es also, dem Individuum diese Dispositionslosigkeit zu verschaffen. 
Auch für den Gesunden kommen daher zeitweise Abfuhr- und Brechmittel in Frage, 
ausserdem Waschungen und ähnliches. Diese präservative Behandlung hat ihre Ausläufer 
bis heute bei unserem Landvolke in Frühjahrsabführcuren und Frühjahrsaderlässen ge¬ 
trieben. In mancher Richtung mögen die Aegypter praktische Erfolge aufzuweisen gehabt 
haben; denn die Mumien beweisen heute noch, dass ihre conservative Behandlung der 
Gebisse z. B. Erfolge erzielte, wie sie heute als ideal unerreichbar erscheinen müssen. 
Könige und Priester waren den anderen Bewohnern gegenüber höherwertige Personen, auf 
deren Gesundheitspflege natürlich auch mehr Gewicht gelegt wurde. Die Diät war theil- 
weise bis in Einzelheiten vorgeschrieben in der Weise, dass für den nur geistig arbeitenden 
Gelehrten schwer verdauliche Speisen, wie Schweinefleisch und Bohnen, verboten \s r aren. 
Die Hautpflege war durch Enthaarungs- und Bädervorschriften für den Priesterstand 
strenge geregelt. Auch die Kleidung und die Beschneidung war demselben vorgeschrieben, 
wie auch ein mässiger Gebrauch des Geschlechtsverkehres (Monogamie). Alles bisher 
Aufgeführte können wir als den Ausfluss einer vernünftigen, empirischen Hygiene be¬ 
trachten, die allerdings der Individualität nur geringen Spielraum lässt. Bei dem all- 
mähligen Ueberhandnehmen der Zanbermedicin wurde der Krankheitsschutz fast nur 
mehr durch Zauberschutz zu erreichen gesucht. Die persistirenden Ruinen der alten 
empirischen Gesundheitspflege erhielten abergläubische-religiöse Auslegung. Amulette 
traten in den Vordergrund. Eine Tagewählerei von kaum glaublicher Spitzfindigkeit trat 
in volle Geltung und knechtete das Individuum, das sich ihr unterwarf. Auch hievon 
sind noch Reste in der modernen Volksmedicin nachweisbar, wie die Tagewählerei für 
Haarschneiden oder Aderlass. Die Gesundheitspflege in diesem Stadium w r ar ein buntes 
Gemisch hygienischer, aseptischer, symbolischer und abergläubischer Regeln für die höheren 
Stände. Die niederen Stände trugen um so härter daran, als sie nur vermehrte und er¬ 
schwerte Arbeit hatten, um den höheren Ständen ein Leben nach diesen Regeln zu er¬ 
möglichen, ohne dass diese höheren Stände einen Genuss von einem Leben der Sclaverei 
vielfach übertriebener Gesundheitsregeln haben konnten. Diodor giebt uns eine Darstellung 
des täglichen Lebens eines ägyptischen Königs, die allerdings durch keine ägyptischen 
Original berichte beglaubigt ist; darnach war jede Minute in der Tageseinteilung des 
ägyptischen Königs so streng und vernünftig festgestellt, als hätte dieselbe ein Arzt 
erfunden. Man müsste darnach fast annehmen, das ganze alte Aegypten mit seinen circa 
5 bis 7 Millionen Einwohnern habe sich in allen seinen staatlichen Einrichtungen darnach 
regieren lassen, um die Gesundheit eines einzelnen Menschen, nämlich des Königs, za 
pflegen und zu erhalten. Die Erhaltung der Gesundheit wird auch im Dinkart der 


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GESUNDHEITSPFLEGE. 


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Zendavesta, dem ältesten Religionsbuche der Perser, als nothwendig für eine gesunde 
Seele hingestellt. Es heisst dort § 53: Der Arzt des Körpers ergänzt den Seelenarzt und 
der Seelenarzt ergänzt den Arzt für den Körper. Der Arzt für den Körper hat fünf 
Aufgaben, die entspringen 1. aus den Sorgen für die Samenfltissigkeit, 2. für richtigen 
Geschlechtsverkehr, 3. für den Fötus, 4. für die Geburt und 5. für Erhaltung der körper¬ 
lichen Gesundheit. — In Mesopotamien sind bei den Babyloniern, so viel schon heute 
aus den Keilschriften erschlossen ist, strenge Gesetze für die Gesundheitspflege vorhanden, 
so vor allem für Waschungen nach dem äusserst lockerem Geschlechtsverkehr. Bei allen 
diesen vorhippokratischen Völkern, vor allem einschliesslich der Israeliten, sind die 
Regeln für Gesundheitspflege mit religiösen Vorstellungen verquickt, so dass bei hygienisch 
völlig veränderten Lebensbedingungen oder bei wissenschaftlicher Weiterentwicklung die 
Gesundheitspflege auf einem archaistischen Standpunkte stehen blieb und überhaupt das 
Bewusstsein schwinden konnte, dass eigentlich nicht Religionsvorschriften, sondern Regeln 
der Gesundheitspflege vorliegen. — Weiter nördlich in China und dem modernen Europa 
hat die Gesundheitspflege vielfach auf Abhaltung der Kälteeinwirkung bedacht zu sein. 
Das Vordrängen der Sorge um die Kleidung hat einen Formensinn der Mode geschaffen, so 
dass der Auswuchs dieser Gesundheitspflege z. B. in den chinesischen Schuhen und den 
modernen Corsetten gerade selbst wieder die schwersten Versündigungen gegen die Ge¬ 
sundheitspflege ausgeboren hat. — In Hellas und Rom wehte ein demokratischer Geist 
der Gleichberechtigung für alle Bürger. Darum war auch die Gesundheit aller Bürger 
gleich wichtig und es wurde umfangreich für dieselbe gesorgt. Dabei dürfen wir aber 
nicht aus dem Auge verlieren, dass nur ein Bruchtheil der Bewohner freie Bürger waren, 
während der überwiegende Theil der Bevölkerung aus Sclaven bestand. Für letztere 
kommt nur das Interesse ihrer Herren in Betracht, die Arbeitskraft ihres Sclaven möglichst 
lange und möglichst ungeschmälert ausnützen zu können. Für die Gesundheitspflege der 
Vollbürger wurde in splendider Weise aus öffentlichen Mitteln gesorgt. Freilich war die 
Aufgabe der Gesundheitspflege bei allen vorchristlichen Völkern eine um das leichtere, 
als alle schwächlichen Kinder durch Abtödten nach der Geburt von einer Last für sich und 
andere befreit wurden. Bei den Ueberlebenden wurde das erste Augenmerk auf eine 
gesunde Entwicklung des jugendlichen Körpers besonders durch Gymnastik gelegt. Die 
Hautpflege durch kalte und warme Bäder nahm von der Jugend bis ins Alter den 
breitesten Raum ein. Dass aber hierin das Alterthum nicht ein Uebermaass, sondern wir 
Modernen ein Mindermaass einhalten, beweist auch der hohe Wert, der z. B. bei den 
Japanern auf ausgiebigsten Gebrauch der Bäder für Gesundheitspflege gelegt wird. Das 
Studium dieser Richtung der antiken Gesundheitspflege besonders in Bezug auf Verbilligung 
und Verallgemeinerung der Bäderbenützung hat für den Arzt nicht nur theoretisches, 
sondern das activste praktische Interesse in der Anwendung auf die Gegenwart. Denn 
auch das Mittelalter vor Beginn der abschliessenden Religionswirren ist von uns in der 
Hautpflege und der Hautreinlichkeit nicht wieder erreicht, und während jene Zeit allmählich 
Krankheiten, wie die Lepra, zum Verschwinden bringen konnte, tauchen heute wieder da 
und dort neue Lepraherde auf. 

Während man sich bis in die Neuzeit in den grössten Communen mit 
dem verunreinigten Grundwasser behalf, hatte griechisches und römisches 
Alterthum selbst in den kleinsten Gemeinwesen für die kostspieligsten Wasser- 
leituügsanlagen gesorgt. Die Vorliebe jener alten Völker, ihre Ortschaften an 
Abhängen zu gründen, gegenüber nordeuropäischer Gepflogenheit, im Fluss- 
thale zu bauen, forderte solche Wasserleitungsanlagen als gebietende Noth- 
wendigkeit. Aber schon diese antike Ortschaftswahl, welche Niederungsboden 
mit stagnirendem Grundwasser und Ueberschwemmungsbetten von Flussläufen 
mied, entsprach viel mehr als unsere modernen Verhältnisse den Forderungen 
der Gesundheitspflege. Wenn auch heute nicht mehr ganze Städte aus dem 
Flussthal herausverlegt werden können, so kann mit dem Studium der an¬ 
tiken Anlagen auf die Richtung eingewirkt werden, nach der sich manche 
Städte vergrössern sollten. In der Verbreiterung der Strassenanlagen und in 
der Möglichkeit, durch billige Glasproduction den Wohnungen ein Mehr an 
Licht und theilweise selbst Luft zu schaffen, haben wir das Alterthum über¬ 
flügelt, aber erst in einem Zeiträume, der nach wenigen Jahrzehnten zählt. 
Die antiken und modernen Wohnungen selbst lassen sich bei den grossen 
Umwälzungen in der ganzen Lebensweise nur sehr im allgemeinen im Hin¬ 
blicke auf die Gesundheitspflege vergleichen. Zu beachten ist aber, dass schon 
nordafrikanische Städte mit griechischer Cultur und selbst auch schon assy¬ 
rische Häuser auf eine Entfernung der Fäcalien durch Canäle eingerichtet 
Wen, an denen noch mancher moderne grossstädtische Magistrat Studien 


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GESUNDHEITSPFLEGE. 


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machen könnte. Während die Ausübung der Heilkunde wie jedes andere 
Gewerbe frei war, so wussten sich doch sowohl in Griechenland wie im rö¬ 
mischen Reiche die einzelnen Communen durch Besoldung die Niederlassung 
besonders tüchtiger Aerzte zu sichern. Wenn Galenus Arzt einer Fechterschule 
war, so entspricht dies unserem modernen Cassenarzt. Eine Gesundheitspflege 
durch Ordnung des Heil-, Kranken- und Seuchenwesens war überall vorhanden, 
lag aber im Gegensatz zu unserer modernen Centralisirung der Gesetzgebung 
vollständig decentralisirt in den Händen der einzelnen Communen. Bei der 
ausgesprochenen Sorge für die körperliche Entwicklung der Kinder und bei 
der einem warmen Klima entsprechenden leichten oder mangelnden Beklei¬ 
dung der Kinder ist von einer Schulhygiene keine Rede, obwohl im alten 
Aegypten schon Kinder mit vier Jahren in die Schule gingen, um Schreiben 
und Lesen zu lernen. Bei jenen Völkern des Orients, von denen wir medi- 
cinische Ueberlieferungen in grösserem Maasse besitzen, bestand überall auch 
eine ausgebildete und in Anspruch genommene Thierheilkunde. Bei der 
Uebertragbarkeit vieler Thierkrankheiten auf den Menschen und der häufigen 
Gesundheitsschädlichkeit kranken Fleisches nimmt das einschlägige moderne 
Publikum nicht mehr im gleichen wünschenswerten Maasse die Hilfe der Ve¬ 
terinärkunde in Anspruch und sieht selbst mit einer höchst unangebrachten 
Geringschätzung auf ihre Vertreter herab. Bei den Alten waren es theils 
religiöse Rücksichten auf verehrte Thiere, wie in Aegypten, oder theils auf den 
gottähnlichen Menschen, wie im alten Testamente, welche eine Veterinärkunde 
förderten. Aber auf die Gründe kann es nicht ankommen; wenn nur über¬ 
haupt eine frühere Nahrungsmittelpolizei ausgiebigeren Gebrauch von der Hilfe 
der Thierheilkunde machte, als es heute noch vielfach der Fall ist, so müssten 
wir zum mindesten streben, jenen alten Zeiten wieder gleich zu kommen. 
Auch die übrige Marktpolizei war im Alterthum vielfach strenge, obwohl vir 
über viele Einzelheiten nicht mehr unterrichtet sind. Dass selbst im Mittel- 
alter nach den verschiedensten Richtungen noch Wert auf die Erhaltung der 
Gesundheit gelegt wurde, ersehen wir daraus, dass wohl das „Regimen sani- 
tatis Salernitanum“ eines der verbreitetsten Bücher ist, indem es seit 400 Jahren 
über 200 Ausgaben erfuhr. 

Im Allgemeinen kam aber dieser Zweig der Medicin, die vorhandene 
Gesundheit zu erhalten, von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr in Verfall. 
Allerdings existirt bei den Naturvölkern auch keine Gesundheitspflege als 
Wissenschaft, sondern immer nur einzelne zerstreute Lebensregeln, die sich 
auf das eine oder andere Specialgebiet beziehen. Vor allem wird von den 
Naturvölkern noch die Gesundheitspflege in ihren so wichtigen Beziehungen 
zum Geschlechtsverkehr beachtet, so dass z. B. selbst die Beschneidung 
als Vorbeugemittel gegen luetische Infection in den verschiedensten wilden 
Völkerschaften vorgenommen wird. Im Allgemeinen ist bei uncivilisirten 
Völkern eine Gesundheitspflege weniger nothwendig als für civilisirte Ver¬ 
hältnisse. Bei dem geringen Schutze des Lebens des Individuums werden 
schwächliche Personen lange vor der Geschlechtsreife ausgemerzt. Sie fallen 
durch ihre schwächliche Gesundheit weder der Allgemeinheit selbst zur Last, 
noch können sie ihre Schwächlichkeit dadurch auf Nachkommen vererben. 
Die überlebenden kräftigen Individuen werden aber mehr und mehr durch 
Anpassung widerstandsfähig gegen Gesundheitsschädigungen. Umgekehrt wirkt 
aber eine höhere Cultur verweichlichend, und ist Generation um Generation 
in steigendem Maasse genöthigt, die Gesundheitspflege in allen ihren einzelnen 
Disciplinen auszubilden und anzuwenden und vor allem auch zu popularisiren. 
Die Gesundheitspflege muss das Band zwischen Arzt und Laien in Zukunft 
bilden. 

F. v. OEFELE. 


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GESUNDHEITSSTÖRUNG. 


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G68lindh6it88tÖrung. Gesetzliche Bestimmungen: 

A. 0österreichisches Strafgesetz: § 152. Wer gegen einen Menschen, zwar 
nicht in der Absicht, ihn za tödten, aber doch in anderer feindseliger Absicht auf eine 
solche Art handelt, dass daraus eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit 
von mindestens zwanzigtägiger Dauer, eine Geisteszerrüttung oder eine schwere 
Verletzung desselben erfolgte, macht sich des Verbrechens der schweren körperlichen Be¬ 
schädigung schuldig. 

§ 153. Dieses Verbrechens macht sich auch derjenige schuldig, der seine leiblichen 
Eltern; oder wer einen öffentlichen Beamten, einen Geistlichen, einen Zeucen oder Sach¬ 
verständigen, während sie in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind, oder wegen der¬ 
selben vorsätzlich an ihrem Körper beschädigt, wenn auch die Beschädigung nicht die im 
§ 152 vorausgesetzte Beschaffenheit hat. 

§ 154. Die Strafe des in den §§ 152 und 153 bestimmten Verbrechens ist Kerker 
von sechs Monaten bis zu einem Jahre, der aber bei erschwerenden Umständen bis auf 
fünf Jahre auszudehnen ist. 

§ 155. Wenn jedoch: 

a ) die obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf 
solche Art unternommen wird, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist oder auf 
andere Art die Absicht, einen der im § 152 erwähnten schweren Erfolge herbeizuführen, 
erwiesen wird, maj; es auch nur bei dem Versuche geblieben sein; — oder 

b) aus der Verletzung eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit 
von mindestens dreissigtägiger Dauer erfolgte; — oder 

c) die Handlung mit besonderen Qualen für den Verletzten verbunden war; — oder 

d) der Angriff in verabredeter Verbindung mit Anderen, oder tückischer Weise ge¬ 
schehen, und daraus eine der im § 152 erwähnten Folgen entstanden ist; — oder 

e) die schwere Verletzung lebensgefährlich wurde; 

— so ist auf schweren und verschärften Kerker zwischen einem und fünf Jahren zu 
erkennen. 

B. Deutsches Strafgesetz: § 223. Wer vorsätzlich einen Andern körperlich 
misshandelt, oder an der Gesundheit schädigt, wird wegen Körperverletzung mit 
Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark bestraft. 

Ist die Handlung gegen Verwandte aufsteigender Linie begangen, so ist auf Ge¬ 
fängnis nicht unter einem Monat zu erkennen. 

§ 223 a) Ist die Körperverletzung mittelst einer Waffe, insbesondere eines Messers 
oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges, oder mittelst eines hinterlistigen Ueberfalls, 
oder von Mehreren gemeinschaftlich, oder mittelst einer das Leben gefährdenden Behand¬ 
lung begangen, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter zwei Monaten ein. 

§ 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte ein wichtiges Glied 
des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder 
die Zeugungsfahigkeit verliert, oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird, oder in 
Siechthum, Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus bis zu fünf 
Jahren, oder Gefängnis nicht unter einem Jahre zu erkennen. 

§ 225. War eine der vorbezeichneten Folgen beabsichtigt und eingetreten, so ist aut 
Zuchthaus von zwei bis zu zehn Jahren zu erkennen. 

§ 226. Ist durch die Körperverletzung der Tod des Verletzten verursacht worden, 
so ist auf Zuchthaus nicht unter drei Jahren oder Gefängnis nicht unter drei Jahren zu 
erkennen. 

Die Beurtheilung einer durch rechtswidrige Handlungen 
gesetzten Körperbeschädigung erfolgt stets nach gewissen, durch die 
strafgesetzlichen Bestimmungen vorgesehenen Normen, deren 
Beachtung von Seiten der ärztlichen Sachverständigen im Interesse der 
Rechtspflege, sowie im Interesse einer leichteren Verständigung 
geboten erscheint. 

Nach dem deutschen Strafgesetz geschieht die Classificirung 
der aus Körperverletzungen erwachsenden Schäden, wie aus 
den vorstehenden bezüglichen Bestimmungen zu ersehen ist, hauptsächlich 
mit Zugrundelegung der eventuell bleibenden Folgezustände; für den 
französischen Code penal ist ausschliesslich die Dauer der Ge¬ 
sundheitsstörung für die Strafbemessung bestimmend, während in dem 
österreichischen Strafgesetzbuch, sowie theilweise auch in dem 
Entwurf zu einem neuen österreichischen Strafgesetzbuche 
beiden Grundsätzen Rechnung getragen wird. 


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400 


GESUNDHEITSSTÖRUNG. 


Unter Gesundheitsstörung im strafrechtlichen Sinne verstehen 
wir die krankhafte Beeinflussung des irgend einer Schädigung 
unmittelbar vorausgehenden Allgemeinbefindens, wie sie sich 
durch die Attribute der Krankheit (als Unwohlsein, Schmerz¬ 
haftigkeit, Schwellungen und Verfärbungen des Integumentes, 
Abweichungen der Temperatur und des Pulses von der Norm 
u. dgl.) gemeinhin zu äussern pflegt. Obscbon die Dauer der Ge¬ 
sundheitsstörung mit jener der Heilung parallel geht, so sind 
nach der Auffassung des Gesetzgebers Gesundheitsstörung und Heilungs¬ 
dauer keineswegs als synonyme Begriffe zu betrachten, nachdem im 
österreichischen Straf-Gesetz ein besonderes Hervorheben der Berufsunfähigkeit, 
welche doch nur an das Bestehen einer mit einer Gesundheitsstörung ver¬ 
knüpften organischen Erkrankung gebunden ist, für nöthig befunden wird 
Unter der Voraussetzung, dass die Begriffe Gesundheitsstörung und Heilungs¬ 
dauer identisch wären, müsste die eigene Nominirung der Berufsunfähigkeit 
neben der Gesundheitsstörung als Tautologie bezeichnet werden (Heebst, 
Commentar). 

Mit dieser Auffassung stimmen auch die täglichen Erfahrungen der 
Praxis überein, nach denen ein Verletzter, dessen Hautwunde z. B. am 
Kopfe noch nicht complet geschlossen ist, anstandslos für gesund angesprochen 
wird; während andernfalls die Gesundheitsstörung die Heilung z. B. bei 
länger anhaltender Schmerzhaftigkeit im beschädigten Gliede mitunter auch 
überdauern kann. 

Zu den Kriterien einer schweren körperlichen Beschädigung 
gehört nach den österreichischen Gesetzen nächst einer mit feindseliger 
Absicht verbundenen Handlung eine daraus entsprungene Gesund¬ 
heitsstörung von mindestens 20tägiger Dauer (österreichisches 
Strafgesetz § 152), deren zeitliche Feststellung unter allen Umständen dem 
Gerichtsarzte allein zufällt. Wie wir soeben dargethan haben, decken sich 
die Dauer der Gesundheitsstörung und jene der Heilung nicht 
immer, es kann vielmehr zuweilen die eine länger währen als die andere. 
In analoger Weise braucht auch dasZeitmaass der Gesundheitsstörung 
mit dem der Berufsunfähigkeit nicht nothwendig jedesmal 
vollkommen zusammen zu treffen, da erfahrungsgemäss bei noch 
vorhandener Gesundheitsstörung die Berufsunfähigkeit schon behoben sein 
kann, z. B. wenn ein praktischer Arzt mit nicht völlig verheilter Radius- 
Fractur oder kurz nach einer reponirten linksseitigen Schulter-Luxation un¬ 
gestört seiner Berufsthätigkeit nachzugehen vermag, ohne dass er schon völlig 
gesund wäre. 

Trotzdem in der grössten Zahl der Fälle die Coincidenz der Ge¬ 
sundheitsstörung und Berufsunfähigkeit ausser Zweifel steht, muss 
mit Rücksicht auf die soeben herangezogene Möglichkeit einer In- 
congruenz betreffs der Zeitdauer der beiden auf ein eventuell 
unterschiedliches Verhalten derselben eigens aufmerksam gemacht werden. 
Für den Nachweis des objectiven Thatbestandes der schweren körperlichen 
Beschädigung ist es zwar ganz gleichgiltig, ob die Gesundheitsstörung oder 
die Berufsunfähigkeit mindestens 20 Tage gewährt hat, aber gegebenen Falls 
kann der Richter durch ein entsprechendes Auseinanderhalten beider Begriffe 
eine höchst erwünschte Directive für die rechtmässige Zuerkennung des aus 
der Verletzung erwachsenen Schadens geliefert werden. 

Die Entscheidung, ob die Gesundheitsstörung eine blos vor¬ 
übergehende oder aber in Folge des Ausganges der Verletzung in immer¬ 
währendes Siechtum, in eine unheilbare Krankheit oder eine 
Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der Wieder- 


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GEWERBEHYGIENE. 


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herstellung eine bleibende ist, untersteht immer dem begutachtenden 
Arzte und dürfte kaum je auf erhebliche Schwierigkeiten stossen. 

Eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von 
mindestens dreissigtägiger Dauer auf Grund einer an sich leichten 
Verletzung involvirt nach § 155 b österreichisches Strafgesetz, den That¬ 
bestand der qualificirten schweren Körperbeschädigung. 

c. IPSEN. 

Gewerbehygiene. Zu den vielerlei Einwirkungen, die geeignet sind, 
die Gesundheit des Menschen zu untergraben, gehört sicherlich auch das Ge¬ 
werbe, wie aus der Morbilitäts- und Mortalitätsstatistik hervorgeht. Schon die 
Aerzte des Alterthums schreiben bestimmten Gewerben einen specifischen 
schädlichen Einfluss zu, doch sind erst in neuester Zeit die Krankheiten der 
Arbeiter Gegenstand eines besonderen Studiums geworden. Die Resultate 
hiervon gaben Anlass zu den verschiedensten gesetzlichen Vorschriften für den 
Gewerbebetrieb. 

Vor allem hat wohl die Arbeitsdauer und das Arbeitsmaass am meisten 
Einfluss auf das körperliche und geistige Wohl der arbeitenden Classen und 
ferner werden die einzelnen Berufsschädlichkeiten um so stärker wirken, je 
widerstandsunfähiger ein Individuum ist. 

Auf alle diese Reize reagiren nun manche überhaupt nicht, andere erst 
nach längerer Zeit, während wir wiederum bei andern sofortige typische Er¬ 
scheinungen auftreten sehen, sei es nun in Form einer Vergiftung oder einer 
Erkrankung der besonders disponirten, resp. den schädlichen Einflüssen am 
stärksten ausgesetzten Organe. Es ist somit anzunehmen, dass unter einer 
Anzahl von Menschen, die alle den gleichen Schädlichkeiten ausgesetzt sind, 
die einen besser dagegen geschützt sind als die andern. Dieser Schutz kann 
nun angeboren, also der Vortheil einer kräftigen Constitution sein, oder er ist 
erworben, was durch rationellere Lebensführung erreicht wurde, wobei die 
Wohnungs- und Emährungsverhältnisse dann eine bedeutende Rolle spielen. 

Die modernen Wohlfahrtsbestrebnngen nnd Einrichtungen haben also insofern 
eine hygienische Bedentung, als sie geeignet erscheinen, mit der Zeit eine physisch und 
moralisch kräftige ArbeiterbeVölkernng heranzuziehen. Der Arbeiterschutz ist daher 
nicht nur vom humanen und moralischen Standpunkt aus geboten, sondern auch im In¬ 
teresse der Volksgesundheit. Je mehr man den Arbeiter veranlasst zu einer gesunden und 
ökonomischen Lebensfährung, um so bessere Erfolge werden von den öffentlichen und 
privaten Einrichtungen zum Wohle der Arbeiter zu erwarten sein. 

Untersuchen wir nun den Einfluss der verschiedenen Gewerbe auf die 
betreffenden Arbeiter, so ist in erster Linie zu betonen, dass auch hier wieder 
viel von der Individualität abhängt, indem ganz bestimmte Krankheiten mit 
bestimmten Gewerben nicht untrennbar Zusammenhängen, und nur weil die ein¬ 
zelnen Berufsarten verschiedene Anforderungen an körperliche und geistige 
Thätigkeit stellen, kann man von Berufskrankheiten sprechen. 

Wie schon oben erwähnt, kommt von allen Betriebsgefahren die über¬ 
mässige Arbeitsdauer am meisten in Betracht, denn je complicirter die 
Technik und die Maschinen, um so grösser werden die an den Arbeiter ge¬ 
stellten Anforderungen und um so dringender wird die Nothwendigkeit einer 
Verkürzung der Arbeitszeit. Ein Uebermaass an Arbeit und Arbeitsdauer ver¬ 
ringert die Widerstandsfähigkeit und ruft öfters functioneile Erkrankungen 
hervor. Es wird ausserdem, je länger die Arbeitszeit bemessen ist, eine um 
so weniger gesundheitsgemässe Lebensführung der Arbeiter die nothwendige 
Folge sein. 

Die specifischen Gefahren der Gewerbebetriebe lassen sich ein- 
theilen in solche, die durch gewerbliche Gifte, Staubinhalation, Infections- 
stofle, schlechte Luft und sonst noch mancherlei Schädlichkeiten bedingt sind. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 26 


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402 


GEWERBEHYGIENE. 


Gewerbliche Vergiftungen sind ermöglicht durch die Verwendung, resp. 
Verarbeitung direct giftiger oder unter besonderen Umständen giftig wir¬ 
kender Substanzen, theils in festem, theils im flüssigen oder gasförmigem 
Zustand. Hierher gehören: Kupfer, Zink, Blei, Quecksilber, Arsenik, Phosphor, 
Schwefelwasserstoff, Schwefelkohlenstoff, Chlor und Chlorwasserstoff, Cyan¬ 
wasserstoff. Weiterhin schweflige und salpetrige Säure, Kohlensäure, Kohlen¬ 
oxyd, Benzol und seine Derivate u. a. m. 

Metallarbeiter, Buchdrucker, Anstreicher, Spiegelbeleger, Verfertiger 
physikalischer Apparate, Berg- und Hüttenarbeiter, Cloakenreiniger und solche, 
die sich mit der Herstellung von Farben oder anderen chemischen Producten 
beschäftigen, sind obigen Schädlichkeiten besonders unterworfen. Diese ge¬ 
stalten sich hinwiederum verschieden, je nach der Art des Giftes und seiner 
Aufnahme, nach der Dauer der Einwirkung und dem Grad der Widerstands¬ 
fähigkeit des ganzen Körpers oder einzelner Organe. 

Erkrankungen des Respirationsapparates in Folge von Reizung durch 
giftige Substanzen treten hauptsächlich auf bei Grubenarbeitern und solchen, 
die den Dämpfen der verschiedenartigen Säuren ausgesetzt sind. Krankheiten 
der Verdauungsorgane kommen besonders häufig vor in Betrieben, in denen 
Blei, Quecksilber, Arsen, Zink, Schwefelwasserstoff und Schwefelkohlenstoff 
Anwendung finden. Die Haut erkrankt vornehmlich bei Arbeitern in Farben-, 
Theer-, Leim- und Paraffinfabriken, ferner bei Galvaniseuren, Schmieden und 
Wäscherinnen. Das Nervensystem wird durch Beschäftigung mit Anilin, 
Kohlenoxyd, Schwefelwasserstoff, Blei, Arsen, Quecksilber etc. geschädigt. Bei 
weiblichen Arbeitern kommen alle diese Schädigungen wegen ihres ungünstigen 
Einflusses auch auf die Nachkommenschaft noch mehr in Betracht, als bei 
Männern. 

Staubinhalation. In Betrieben, welche nicht mit specifisch giftigen Stoffen 
arbeiten, ist das Personal vielfach gezwungen, eine Luft einzuathmen, die reichlich 
anorganischen oder organischen Staub enthält. Diese Staubinhalation bedingt 
einen Reizzustand der Athraungsorgane, der schliesslich zu chronischen Ka¬ 
tarrhen führt, so dass der Tuberculose so zu sagen Thür und Thor offen 
stehen. 

Nicht alle Staubarten sind indessen gleich gefährlich, sondern man darf 
mit Recht annehmen, dass die spitzen und scharfkantigen Staubpartikelchen, 
wie sie von Metallarbeitern und Steinhauern eingeathmet werden, den grössten 
Schaden anrichten, weshalb man auch geradezu von einer Steinhauertuber- 
culose spricht. Kohlenstaub ist schon weniger Gefahr bringend, und man 
findet in Industriebezirken bei Sectionen oft Lungen, deren Lymphdrüsen und 
Parenchym von Kohlenstoff vollgepfropft und schwarz gefärbt erscheinen, ohne 
dass das betreffende Individuum Beschwerden davon hatte. Dem Einathmen 
organischen Staubes sind insbesonders ausgesetzt die Bäcker, Müller, Spinner, 
Weber, Cigarrenarbeiter, Gerber und Kürschner. Die organischen Staubarten 
sind gegenüber dem metallischen und mineralischen Staub die ungefährlicheren. 
Von ihnen erscheint dann wiederum der animalische Staub, wie er in Ger¬ 
bereien, Kürschnereien ctc. vorkommt, der weniger gesundheitschädliche zu 
sein, sofern er nicht etwa specifische pathogene Pilze enthält, die bei einem 
bestehenden Entzündungszustand der Lungen sich einnisten können. 

Infectionsstoffe. Die Uebertragung von Infectionsstoffen vom Arbeits¬ 
material auf die Arbeiter ist ermöglicht durch Verarbeitung inficirter Roh¬ 
stoffe, z. B. von Rohhäuten, Wolle u. s. w. von Thieren, die an Milzbrand 
und ähnlichem zu Grunde gingen. Auch sollen in Lumpensortirereien schon 
Pocken und andere Infectionskrankheiten verbreitet worden sein. Infections- 
übertragung von einem Arbeiter auf den andern ist überhaupt überall möglich, 
wo viele Menschen zusammen arbeiten und leben. 


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GEWERBEHYGIENE. 


403 


Schlechte Luft finden wir stets da, wo viele Menschen in verhältnis¬ 
mässig engen, geschlossenen Bäumen zusammen sind. Diese Luftverschlech¬ 
terung ist nicht allein ein Product der Athmung und Ausdünstung des Körpers, 
sondern auch der Gase und Dämpfe, die dem Arbeitsmaterial, den Maschinen, 
dem Schmieröl etc. entstammen. Kechnen wir dazu noch die künstliche Be¬ 
leuchtung, sofern sie durch Oel, Petroleum oder Gas bewerkstelligt wird, so 
sehen wir eine Menge von Ursachen vereinigt, die geeignet erscheinen, eine 
ungesunde Atmosphäre zu erzeugen. Diese Schädlichkeiten kommen noch viel 
mehr in den Werkstätten der kleinen Handwerker zum Ausdruck, wofür die 
Statistik wiederum die nöthigen Anhaltspunkte giebt. Für die Gesundheit 
ist der Aufenthalt in derartigen Räumen insofern ungünstig, als durch die 
Einathmung verdorbener Luft der Organismus geschwächt und für allerlei 
Krankheiten empfänglich wird. 

Sonstige Schädlichkeiten. Rascher Temperaturwechsel, grosse Trocken¬ 
heit oder Feuchtigkeit der Luft haben ebenfalls einen schädlichen Einfluss 
auf die Arbeiter in manchen Betrieben. Wir sehen z. B. öfters bei Bier¬ 
brauern, die von den heissen Darrböden alsbald in den Keller sich begeben, 
Krankheiten der Nieren und des Gefässsystems (Herzfehler nach Rheumatis¬ 
mus) auftreten, die wir ganz gut auf eine Erkältung zurückführen können. 
Dasselbe beobachten wir auch beim Zugspersonal und anderen Leuten, die den 
Unbilden der Witterung in hervorragender Weise ausgesetzt sind. Der grosse 
Alkoholconsum, den wir bei manchen Berufsclassen ganz besonders verbreitet 
finden, mag hier ebenfalls in Betracht kommen. Ueberanstrengung einzelner 
Organe, wie z. B. der Augen bei Schleifern, Graveuren, Näherinnen und 
Stickerinnen, vielleicht noch verbunden mit mangelhafter oder zu greller Be¬ 
leuchtung, ist gleichfalls unter die Berufsschädlichkeiten zu zählen. Bäcker, 
Kellner und andere Leute, die viel und manchmal sogar noch in gezwungener 
Haltung stehen müssen, zeigen öfters typische Veränderungen an den unteren 
Extremitäten, das sogenannte genu valgum, welches zum guten Theil auf rein 
mechanischem Weg entstehen dürfte. Das Arbeiten unter erhöhtem Luft¬ 
druck birgt, bei Befolgung der nöthigen prophylactischen Maassregeln, an sich 
keine grossen Gefahren. 

Diese Art von Arbeit kommt in neuerer Zeit immer mehr bei Brückenbauten in 
Anwendung, wo bei der Herrichtung der Brückenpfeiler das Wasser nicht ausgepumpt, 
sondern aus den grossen eisernen Caissons, die nach Art einer Taucherglocke als Funda¬ 
mente in das Flussbett versenkt werden, durch Pressluft ausgetrieben wird. Die Arbeiter, 
welche in und unter dem Caisson den Grund wegschaffen und ihn auf diese Art immer 
tiefer sinken lassen, müssen mit grosser Vorsicht ein- und ausgeschleusst werden, wie der 
technische Ausdruck lautet, d. h. der Luftdruck darf nur ganz allmählig gesteigert, resp. 
verringert werden, wenn nicht schwere Folgeerscheinungen auftreten sollen. 

Am Schluss der Besprechung über die Schädlichkeiten des Gewerbe¬ 
betriebs mag noch erwähnt sein, dass nicht nur den Arbeitern, sondern auch 
den Anwohnern Gefahren drohen durch Ableitung von Gasen, Dämpfen und 
flüssigen Nebenproducten in Luft, Wasser und Boden; doch ist dieser Ver¬ 
unreinigung in neuester Zeit durch gesetzliche Verordnung über Unschädlich¬ 
machung solcher Stoffe ein Riegel vorgeschoben. 

Die Vorkehrungen, welche theils von gesetzgebender, theils von medi- 
cinischer und technischer Seite getroffen, resp. vorgeschlagen wurden, gehen 
nach zwei Richtungen hin, nämlich erstens nach derjenigen der Unfallver¬ 
hütung und zweitens nach der des Betriebsschutzes, also nach der gesund- 
heitsgemässen Einrichtung von Werkstätten. 

Für die Unfallverhütung kommen hauptsächlich die Errungenschaften 
der immer weiter fortgeschrittenen Technik in Betracht, als da sind Schutz¬ 
vorrichtungen an Maschinen und die eventuelle Ausrüstung des Arbeiters 
selbst mit Respiratoren, Schutzbrillen etc. Hierher kann man schliesslich 
noch die Aufstellung von Verbandkasten für erste Hilfe bei Unfällen rechnen. 

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404 


GEWERBEHYGIENE. 


Der Betriebsschutz nimmt Rücksicht auf Lüftung, Heizung, Beleuchtung, 
Reinlichkeit und Maassnahmen gegen staubentwickelnde oder giftige Materialien. 

Lüftung. In verschiedenen Staaten bestehen Gesetze, die für jeden 
Arbeiter einen bestimmten, nach den einzelnen Ländern schwankenden Luft- 
cubus vorschreiben. Daneben darf natürlich auch die stetige Erneuerung der 
Luft in geschlossenen Räumen nicht unterbleiben. In vielen Fällen geschieht 
die Zuführung frischer Luft durch einen unter dem Boden hinziehenden Canal 
zwischen Ofen und Mantel, in anderen durch Einpressen frischer Luft oder 
durch Absaugen der verbrauchten. Bei allen diesen Einrichtungen muss die 
frische Luft auch entsprechend vertheilt werden und die Lüftungseinrichtung 
darf nicht von den Arbeitern willkürlich ausser Betrieb gesetzt werden können, 
wenn die Ventilation überhaupt ihren Zweck erreichen soll. 

Mit den Ventilatoren im engen Zusammenhang stehen die Heizungs¬ 
einrichtungen, da erstere ausser der Erneuerung der Luft auch für eine 
möglichst gleich bleibende Temperatur garantiren sollen. Mit Luftheizung 
sollte auch Wasserberieselung in geeigneter Weise verbunden sein, oder es 
müssen Wassergefässe zur Verdunstung aufgestellt werden, weil allzu trockene 
Luft schädlich auf den Organismus einwirkt. Doch ist auch hierbei Maass 
zu halten, wenn man nicht ins directe und ebenso schädliche Gegentheil ver¬ 
fallen will. 

Beleuchtung. Ein Arbeitsraum, in den neben den Ausdünstungen einer 
Menge von Menschen auch noch die Verbrennungsrückstände des Petroleums 
und des Gases gelangen, eignet sich viel weniger zum Aufenthalt, als ein 
solcher, der durch elektrisches oder Gasglühlicht erhellt wird. Die immer 
gebräuchlicher werdende Verwendung der beiden letztgenannten Beleuchtungs¬ 
arten bedeutet einen Fortschritt hinsichtlich der früheren. 

Reinlichkeit, besonders in Bezug auf Wände und Fussboden, ist von 
grosser Wichtigkeit, da ohne sie der Nutzen einer Ventilation ziemlich illu¬ 
sorisch wird. Der Fussboden soll daher aus einem solchen Material bestehen, 
dass er leicht staubfrei zu erhalten ist, auch müssen die Wände öfters ge- 
weisst und die Maschinen peinlich sauber gehalten werden, und zwar letzteres 
nicht blos aus technischen Gründen. Waschvorrichtungen, Ankleideräume, 
sowie sauber gehaltene Aborte für die Arbeiter tragen nicht nur zur Bequem¬ 
lichkeit, sondern auch zum körperlichen Wohlbefinden bei. Sorgt man ausser¬ 
dem noch für ein gutes reines Trinkwasser, so wird dem grossen Alkohol¬ 
verbrauch der Fabriksarbeiter wenigstens einigermaassen entgegengearbeitet. 

Schutz gegen Staub entwickelnde oder giftige Materia¬ 
lien kann theils dadurch erreicht werden, dass die Stoffe in feuchtem Zu¬ 
stand zur Verarbeitung gelangen, oder dass man den entstehenden Staub 
durch einen starken Luftzug wegführen und in Luftfiltern oder Staubkammern 
sich niederschlagen lässt. Respiratoren und Schutzhauben sollten, weil sie 
von den Arbeitern oft lästig empfunden und daher manchmal gar nicht be¬ 
nutzt werden, erst in letzter Reihe in Frage kommen. 

Was die Verwendung von Giften betrifft, so wäre diese möglichst zu 
beschränken und durch ungiftige Stoffe zu ersetzen, wie dies jetzt auch viel¬ 
fach durch Anwendung von Silber statt Quecksilber beim Spiegelbelegen und 
von amorphem statt gelbem Phosphor in Zündholzfabriken geschieht. Wo 
dies nicht möglich ist, da müsste der entstehende giftige Staub oder die giftigen 
Dämpfe in Condensatoren niedergeschlagen und unschädlich gemacht werden. 

Als weitere Maassnahme zum Wohle der arbeitenden Classe wäre schliess¬ 
lich der Verwendungsschutz zu erwähnen. Es ist nämlich in vielen Ländern 
gesetzlich verboten, in Gewerbebetrieben Kinder unter einem bestimmten 
Alter (in Deutschland 13 Jahre) zu beschäftigen. Bei der nächst höheren 
Altersclasse ist dann die höchste Dauer der täglichen Arbeitszeit genau fest¬ 
gesetzt. Nachtarbeit und Sonntagsarbeit ist mit Ausnahme bestimmter Ge- 


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GUTACHTEN. 


405 


werbe theilweise oder ganz verboten. Ebenso bestehen gesetzliche Verord¬ 
nungen über Frauenarbeit und Schonung während der Schwangerschaft und 
geraume Zeit nachher. 

In Europa besitzen übrigens jetzt auch schon die meisten Staaten eine 
wirkliche Fabriksgesetzgebung, worin für Art und Dauer der Arbeit, sowie 
für etwa zu treffende Schutzmaassregeln zu Gunsten der Arbeiter, resp. be¬ 
sonderer Classen derselben ganz bestimmte Vorschriften ertheilt werden. 

A. RIFFEL. 

Gutachten. Gesetzliche Bestimmungen betreffs der Thä- 
tigkeit ärztlicher Sachverständiger bei der Augenschein- und 
Befundaufnahme, beim Erstatten von Gutachten und während 
der Hauptverhandlung: 

A. Oesterreichische Strafprocessordnung vom 23. Mai 1873: 

§ 118. Sind bei einem Augenscheine Sachverständige erforderlich, so soll der Unter¬ 
suchungsrichter in der Regel deren zwei beiziehen. 

Die Beiziehung eines Sachverständigen genügt, wenn der Fall von geringerer 
Wichtigkeit ist, oder das Warten bis zum Eintreffen eines zweiten Sachverständigen für 
den Zweck der Untersuchung bedenklich erscheint. 

§ 119. Die Wahl der Sachverständigen steht dem Untersuchungs¬ 
richter zu. Sind solche für ein bestimmtes Fach bei dem Gerichte bleibend angestellt, 
so soll er andere nur dann zuziehen, wenn Gefahr am Verzüge haftet, oder wenn jene 
durch besondere Verhältnisse abgehalten sind oder in dem einzelnen Falle als bedenklich 
erscheinen. 

Wenn ein Sachverständiger der an ihn ergangenen Vorladung nicht Folge leistet 
oder seine Mitwirkung bei der Vornahme des Augenscheines verweigert, so kann der 
Untersuchungsrichter eine Geldstrafe von fünf bis einhundert Gulden gegen ihn verhängen, 

§ 120. Personen, welche in einem Untersuchungsfalle als Zeugen nicht vernommen 
oder nicht beeidet werden dürfen, oder welche zu dem Beschädigten oder dem Verletzten 
in einem der in § 152, Z. 1, *) bezeichneten Verhältnisse stehen, sind bei sonstiger Nichtigkeit 
des Actes als Sachverständige nicht beizuziehen. Von der Wahl der Sachverständigen sind 
in der Regel sowohl der Ankläger als der Beschuldigte vor der Vornahme des Augen¬ 
scheines in Kenntnis zu setzen; werden erhebliche Einwendungen vorgebracht und haftet 
nicht Gefahr am Verzüge, so sind andere Sachverständige beizuziehen. 

§ 121. Diejenigen Sachverständigen, welche vermöge ihrer bleibenden Anstellung 
schon im Allgemeinen beeidigt sind, hat der Untersuchungsrichter vor dem Beginne der 
Amtshandlung an die Heiligkeit des von ihnen abgelegten Eides zu erinnern. 

Andere Sachverständige müssen vor der Vornahme des Augenscheines eidlich ver¬ 
pflichtet werden, dass sie den Gegenstand desselben sorgfältig untersuchen, die gemachten 
Wahrnehmungen treu und vollständig angeben und den Befund, sowie ihr Gutachten nach 
bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln ihrer Wissenschaft oder Kunst abgeben 
wollen **). 

§ 122. Die Gegenstände des Augenscheines sind von den Sachverständigen in 
Gegenwart der Gerichtspersonen zu besichtigen und zu untersuchen, ausser wenn Letztere 
aus Rücksichten des sittlichen Anstandes es für angemessen erachten, sich zu entfernen, oder 
wenn die erforderlichen Wahrnehmungen, wie bei der Untersuchung von Giften, nur durch 
fortgesetzte Beobachtung oder länger dauernde Versuche gemacht werden können. 

Bei jeder solchen Entfernung der Gerichtspersonen von dem Orte des Augenscheines 
ist aber auf geeignete Weise dafür zu sorgen, dass die Glaubwürdigkeit der von den 
Sachverständigen zu pflegenden Erhebungen sichergestellt werde. 

Ist von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder Veränderung eines 
von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten, so soll ein Theil des letzteren, 
insoferne es thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung behalten werden. 

§ 123. Der Untersuchungsrichter leitet den Augenschein. Er bezeichnet mit mög¬ 
lichster Berücksichtigung der von dem Ankläger und dem Beschuldigten oder dessen Ver- 

*) § 152. Von der Verbindlichkeit zur Ablegung eines Zeugnisses sind befreit: 

1. Die Verwandten und Verschwägerten des Beschuldigten in auf- und absteigender 
Linie, sein Ehegatte und dessen Geschwister, seine Geschwister und deren Ehegatten, die 
Geschwister seiner Eltern und Grosseltern, seine Neffen, Nichten, Geschwisterkinder, 
Adoptiv- und Pflegeeltern, Adoptiv- oder Pflegekinder, sein Vormund oder Mündel. 

**) Die Eidesformel für Sachverständige lautet: „Ich schwöre bei Gott dem All¬ 
mächtigen und Allwissenden einen reinen Eid, dass ich den Befund und mein Gutachten 
nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln der Wissenschaft (der Kunst, des 
Gewerbes) abgeben werde; so wahr mir Gott helfe!“ 


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406 


GUTACHTEN. 


theidiger gestellten Anträge die Gegenstände, auf welche die Sachverständigen ihre 
Beobachtung zu richten haben, und stellt die Fragen, deren Beantwortung er für er¬ 
forderlich hält Die Sachverständigen können verlangen, dass ihnen aus den Acten oder 
durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen über von ihnen bestimmt zu be¬ 
zeichnende Punkte gegeben werden, welche sie rar das abzugebende Gutachten für er¬ 
forderlich erachten. 

Wenn den Sachverständigen zur Abgabe eines gründlichen Gutachtens die Einsicht 
der Untersuchungsacten unerlässlich erscheint, können ihnen, soweit nicht besondere Be¬ 
denken dagegen obwalten, auch die Acten selbst mitgetheilt werden. 

§ 124. Die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen gemachten Wahr¬ 
nehmungen (Befund) sind von dem Protocollführer sogleich aufzuzeichnen. Das Gutachten 
sammt dessen Gründen können sie entweder sofort zu rrotocoll geben oder sich die Abgabe 
eines schriftlichen Gutachtens Vorbehalten, wofür eine angemessene Frist zu bestimmen ist. 

§ 125. Weichen die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen wahr¬ 
genommenen Thatsachen erheblich von einander ab, oder ist ihr Befund dunkel, unbestimmt, 
im Widerspruche mit sich selbst oder mit erhobenen Thatumständen, und lassen sich die 
Bedenken nicht durch eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, so 
ist der Augenschein, sofern es möglich ist, mit Zuziehung derselben oder anderer Sach¬ 
verständiger zu wiederholen. 

§ 126. Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel in Bezug auf das Gutachten, 
oder zeigt sich, dass es Schlüsse enthält, welche aus den angegebenen Vordersätzen nicht 
folgerichtig gezogen sind, und lassen sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Ver¬ 
nehmung der Sachverständigen beseitigen, so ist das Gutachten eines anderen oder mehrerer 
anderer Sachverständiger einzuholen. 

Sind die Sachverständigen Aerzte oder Chemiker, so kann in solchen Fällen das 
Gutachten einer medicinischen Facultät der im Reichsrathe vertretenen Länder eingeholt 
werden. Dasselbe geschieht, wenn die Rathskammer die Einholung eines Facultätsgutachtens 
wegen der Wichtigkeit oder Schwierigkeit des Falles nöthig findet. 

§ 127. Wenn sich bei einem Todesfälle Verdacht ergiebt, dass derselbe durch ein 
Verbrechen oder Vergehen verursacht worden sei, so muss vor der Beerdigung die 
Leichenbeschau und Leichenöffnung vorgenommen werden. *) 

Ist die Leiche bereits beerdigt, so muss sie zu diesem Behufe wieder ausgegraben 
werden, wenn nach den Umständen noch ein erhebliches Ergebnis davon erwartet werden 
kann und nicht dringende Gefahr für die Gesundheit der Personen, welche an der Leichen¬ 
beschau theilnehmen müssen, vorhanden ist. 

Solche Fälle sind insbesondere, wenn der Tod aus einem der nachstehenden Ver¬ 
schulden eingetreten ist: a) durch unterlassene Verwahrung geladener Schusswaffen; 

*) Nach § 2 der Min.-Vdg. vom 28. Jänner 1855, Nr. 26 RGBl., ist die gerichtliche 
Todtenbeschau, d. i. die Leichenbeschau und Leichenöffnung, vor der Beerdigung eines 
Verstorbenen bei jedem unnatürlichen Todesfälle vorzunehmen, wenn nicht schon aus den 
Umständen mit Gewissheit erhellt, dass derselbe durch keine strafbare Handlung, sondern 
durch Zufall oder Selbstentleibung herbeigeführt wurde, und es ist daher nach § 3 unter 
der oben angeführten Voraussetzung die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau ins¬ 
besondere in folgenden Fällen nothwendig: 

1. Wenn Jemand kürzere oder längere Zeit nach einer voraus erlittenen äusseren 
Gewalttätigkeit, als z. B. durch Stossen, Hauen, Schlagen u. s. w. mit stumpfen, scharfen, 
schneidenden, stechenden, oder durch Gebrauch von Schusswerkzeugen oder durch Fallen 
von einer beträchtlichen Höhe u. dgl. gestorben ist. 

2. Wenn Jemand nach dem Genüsse einer Speise, eines Getränkes, einer Arznei, 
oder auch nur auf den äusserlichen Gebrauch von Salben, Bädern, Waschwässern, Haar¬ 
puder u. dgl. unter plötzlich darauf erfolgten, der Vermutung einer Vergiftung Raum 
gebenden Zufällen gestorben ist. 

3. Bei allen todt gefundenen Personen, welche schon äusserlich solche Merkmale an 
sich haben, oder unter solchen Umständen todt gefunden werden, dass daraus wahr¬ 
scheinlich wird, dass sie keines natürlichen Todes gestorben sind. 

4. Bei wo immer aufgefundenen einzelnen menschlichen Körperteilen. 

5. Bei allen todt gefundenen neugeborenen Kindern und solchen todten Kindern, 
bei welchen die Vermutung nicht unbegründet ist, dass eine gewaltsame Fruchtabtreibung 
oder eine gewaltsam tödtende Handlung stattgefunden habe. 

6. Wenn der Tod nach der Behandlung durch Quacksalber und Afterärzte erfolgte. 

7. Wenn der Verdacht einer vorhergegangenen fehlerhaften ärztlichen, wund- oder 
geburtsärztlichen Behandlung hervorkommt. 

8. Bei allen Todesfällen, welche aus Handlungen oder Unterlassungen hervorgehen, 
von denen der Handelnde schon nach ihren natürlichen, für Jedermann leicht erkennbaren 
Folgen, oder vermöge besonders bekannt gemachter Vorschriften oder nach seinem Stande, 
Amte, Berufe, Gewerbe, seiner Beschäftigung oder überhaupt nach seinen besonderen Ver¬ 
hältnissen einzuBehen vermag, dass sie eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder 
körperliche Sicherheit von Menschen herbeizuführen oder zu vergrössern geeignet seien. 


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GUTACHTEN. 


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b) durch unvorsichtiges Unterhalten von brennenden Kohlen in verschlossenen Räumen; 

c) durch Unvorsichtigkeit bei Schwefelräucherungen und Anwendung von Narkotisirungs- 
(Anästhesirungs-) Mitteln; d) durch Ausserachtlassung der besonderen Vorschriften aber 
Erzeugung, Aufbewahrung, Verschleiss, Transport und Gebrauch von Feuerwerkskörpern, 
Knallpräparaten, Zündhütchen, Reib- und Zündhölzchen und allen durch Reibung leicht 
entzündbaren Stoffen, Schiesspulver und explodirenden Stoffen (Schiessbaumwolle); e) durch 
Nichtbeobachtung der bei dem Betriebe von Bergwerken, Fabriken, Gewerben und anderen 
Unternehmungen vorgeschriebenen Vorsichten;/) durch Unterlassung der Aufstellung der 
vorgeschriebenen Warnungszeichen; g) durch den Einsturz eines Gebäudes oder Gerüstes; 
h) durch unterlassene oder schlechte Verwahrung eines schädlichen oder bösartigen 
Thieres; i) durch den Genuss eines ungesunden, absichtlich verfälschten oder in ge¬ 
sundheitsschädlichen Geschirren bereiteten oder aufbewahiten Nahrungsmittels oder Ge¬ 
tränkes; k) durch Misshandlung bei der häuslichen Zucht; l) durch Unterlassung der 
schuldigen Aufsicht bei Kindern oder solchen Personen, die gegen Gefahren sich selbst zu 
schützen unvermögend sind; nt) durch unvorsichtiges oder schnelles Reiten oder Fahren; 
n) durch das Herabfallen von Gegenständen aus Wohnungen, Fenstern, Erkern u. dgl. 
oder durch Unterlassung der Befestigung dahin gestellter oder gehängter Gegenstände. 
Dasselbe gilt von solchen Fällen, wo Menschen aus den bisher angeführten Ursachen einen 
Nachtheil an ihrer Gesundheit erlitten haben und in einiger, bald kürzerer, bald längerer 
Zeit darauf sterben; ferner, wenn rücksichtlich eines Verstorbenen Gründe bestehen, zu 
vermuthen, dass jene Personen, denen aus natürlicher oder übernommener Pflicht die 
Pflege des Krankgewesenen oblag, es ihm während seiner Krankheit an dem nothwendigen 
ärztlichen Beistände, wo solcher zu verschaffen war, gänzlich haben mangeln lassen; 
endlich bei allen angeblich Selbst entleibten, wenn durch die vorgenommene äussere 
Beschau der Leiche nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass der Tod durch 
Selbstentleibung erfolgte. 

Ehe zur Oeffnung der Leiche geschritten wird, ist dieselbe genau zu beschreiben 
und deren Identität durch Vernehmung von Personen, die den Verstorbenen gekannt 
haben, ausser Zweifel zu setzen. Diesen Personen ist nöthigenfalls vor der Anerkennung 
eine genaue Beschreibung des Verstorbenen abzufordern. Ist aber der Letztere ganz un¬ 
bekannt, so ist eine genaue Beschreibung der Leiche durch öffentliche Blätter bekannt 
zu machen. 

Bei der Leichenbeschau hat der Untersuchungsrichter darauf zu sehen, dass die 
Lage und Beschaffenheit des Leichnams, der Ort, wo, und die Kleidung, worin er gefunden 
wurde, genau bemerkt, sowie alles, was nach den Umständen für die Untersuchung von 
Bedeutung sein könnte, sorgfältig beachtet werde. Insbesondere sind Wunden und andere 
äussere Spuren erlittener Gewaltthätigkeit nach ihrer Zahl und Beschaffenheit genau zu 
verzeichnen, die Mittel und Werkzeuge, durch welche sie wahrscheinlich verursacht wurden, 
anzugeben und die etwa Vorgefundenen, möglicherweise gebrauchten Werkzeuge mit den 
vorhandenen Verletzungen zu vergleichen. 

§ 128. Die Leichenbeschau und Leichenöffnung ist durch zwei Aerzte, wovon der 
eine auch nur ein Wundarzt sein kann, nach den dafür bestehenden besonderen Vor¬ 
schriften vorzunehmen. (Vergleiche „Anhang zur Strafprocess-Ordnung“ §§ 4—24, 26—37, 
99, 101, 114-116.) 

Der Arzt, welcher den Verstorbenen in der seinem Tode allenfalls vorhergegangenen 
Krankheit behandelt hat, ist, wenn es zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen und 
ohne Verzögerung geschehen kann, zur Gegenwart bei der Leichenbeschau aufzufordem. 

§ 129. Das Gutachten hat sich darüber auszusprechen, was in dem 
vorliegenden Falle die den ein getretenen Tod zunächst bewirkende Ursache 
gewesen und wodurch dieselbe erzeugt worden sei. 

Werden Verletzungen wahrgenommen, so ist insbesondere zu erörtern: 

1. ob dieselben dem Verstorbenen durch die Handlung eines Anderen 
zugefügt wurden, und falls diese Frage bejaht wird, 

2. ob diese Handlung 

a) schon ihrer allgemeinen Natur wegen, 

b) vermöge der eigenthümlichen persönlichen Beschaffenheit oder 
eines besonderen Zustandes des Verletzten, 

c) wegen der zufälligen Umstände, unter welchen sie verübt wurde, oder 

d) vermöge zufällig hin zugekommener, j edoch durch sie veranlasster 
oder aus ihr entstandener Zwischenursachen den Tod herbeigeführt 
habe, und ob endlich 

e) der Tod durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte ab¬ 
gewendet werden können. 

Insoferne sich das Gutachten nicht über alle für die Entscheidung erheblichen Um¬ 
stände verbreitet, sind hierüber von dem Untersuchungsrichter besondere 
Fragen an die Sachverständigen zu stellen. 

§ 130. Bei Verdacht einer Kmdestödtung ist nebst den nach den vorstehenden Vor¬ 
schriften zu pflegenden Erhebungen auch zu erforschen, ob das Kind lebendig geboren sei. 


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GUTACHTEN. 


8 131. Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, bo sind der Erhebung des That- 
bestandes nebst den Aerzten nach Thunlichkeit noch zwei Chemiker beizuziehen. Die 
Untersuchung der Gifte selbst aber kann nach Umständen auch von den Chemikern allein 
in einem hiezu geeigneten Locale vorgenommen werden. *) 

§ 132. Auch bei den körperlichen Beschädigungen ist die Besichtigung des Verletzten 
durch zwei Sachverständige vorzunehmen, welche sich nach genauer Beschreibung der 
Verletzungen insbesondere auch darüber auszusprechen haben, welche von den vorhandenen 
Körperverletzungen oder Gesundheitsstörungen an und für sich oder in ihrem Zusammen¬ 
wirken, unbedingt oder unter den besonderen Umständen des Falles, alß leichte, schwere 
oder lebensgefährliche anzusehen seien; welche Wirkungen Beschädigungen dieser Art 
gewöhnlich nach sich zu ziehen pflegen, und welche in dem vorliegenden einzelnen Falle 
daraus hervorgegangen sind, sowie durch welche Mittel oder Werkzeuge und auf welche 
Weise dieselben zugefügt worden seien. 

§ 133. Ist die körperliche Besichtigung einer Frauensperson nöthig, so können nach 
Umstanden auch Geburtshelfer oder in minder wichtigen Fällen Geburtshelferinnen statt 
der Aerzte oder Wundärzte damit beauftragt werden. 

§ 134*. Entstehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Gebrauch seiner Vernunft 
besitze oder ob er an einer Geistesstörung leide, wodurch die Zurechnungsfähigkeit des¬ 
selben aufgehoben sein könnte, so ist die Untersuchung des Geistes- und Gemüthszustandes 
des Beschuldigten jederzeit durch zwei Aerzte zu veranlassen. 

Dieselben haben über das Ergebnis ihrer Beobachtungen Bericht zu erstatten, alle 
für die Beurtheilung des Geistes- und Gemüthszustandes des Beschuldigten einflussreichen 
Thatsachen zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeutung sowohl einzeln als im Zusammen¬ 
hänge zu prüfen und, falls sie eine Geistesstörung als vorhanden betrachten, die Natur 
der Krankheit, die Art und den Grad derselben zu bestimmen und sich sowohl nach den 
Acten, als nach ihrer eigenen Beobachtung über den Einfluss auszusprechen, welchen die 
Krankheit auf die Vorstellungen, Triebe und Handlungen des Beschuldigten geäussert habe 
und noch äussere, und ob und in welchem Maasse dieser getrübte Geisteszustand zur Zeit 
der begangenen That bestanden habe. 

§ 221.Auch die Zeugen und Sachverständigen sind hiezu (zur Haupt¬ 

verhandlung) in der Art vorzuladen, dass in der Hegel zwischen der Zustellung der 
Vorladung und dem Tage, an welchem die Hauptverhandlung vorgenom¬ 
men wird, ein Zeitraum von drei Tagen in der Mitte liegt. 

§ 247. Zeugen und Sachverständige werden einzeln vorgerufen und in 
Anwesenheit des Angeklagten abgehört . . . . 

§ 248.Sachverständige haben nach ihrer Vernehmung so lange in 

der Sitzung anwesend zu bleiben, als der Vorsitzende sie nicht entlässt. 

§ 252.Die Gutachten der Sachverständigen dürfen (bei der 

Hauptverhandlung) nur in folgenden Fällen vorgelesen werden: 

1. wenn die Vernommenen in der Zwischenzeit gestorben sind; wenn ihr Aufenthalt 
unbekannt oder ihr persönliches Erscheinen wegen ihres Alters, wegen Krankheit oder 
Gebrechlichkeit oder wegen entfernten Aufenthaltes oder aus anderen erheblichen Gründen 
füglich hicht bewerkstelligt werden konnte; 

2. wenn die in der Hauptverhandlung Vernommenen in wesentlichen Punkten von 
ihren früher abgelegten Aussagen abweichen; 

3. wenn Zeugen, ohne dazu berechtigt zu sein, oder wenn Mitschuldige die Aus¬ 
sage verweigern; endlich 

4. wenn über die Vorlesung Ankläger und Angeklagter einverstanden sind. 

Augenscheins- und Befundaufnahmen.müssen vorgelesen werden, wenn 

nicht beide Theile darauf verzichten. 

§ 253. Im Laufe oder am Schlüsse des Be weis Verfahrens lässt der Vorsitzende dem 
Angeklagten und soweit es nöthig ist, den Zeugen und Sachverständigen diejenigen Gegen¬ 
stände, welche zur Aufklärung des Sachverhaltes dienen können, vorlegen, und fordert 
sie auf, sich zu erklären, ob sie dieselben anerkennen. 

§ 254. Der Vorsitzende ist ermächtigt, ohne Antrag des Anklägers oder Angeklagten 
Zeugen und Sachverständige, von welchen nach dem Gange der Verhandlung Aufklärung 

*) Sind Objecte zur Vornahme einer chemischen Untersuchung an einen anderen 
Ort zu versenden, so muss 1. jedes Object, z. B. ein Organ, Organtheü, ein Giftstoff, Gift¬ 
träger u. dgl. für sich, von jedem anderen gesondert, in einem eigenen Gefässe verpackt 
werden; 2. hiezu sind vor allem Glas- oder Porzellangefaase zu verwenden und durch 
zweckmässige äussere Verpackung vor Beschädigung zu verwahren; 3. die Gefässe sind 
mit einem geriebenen Glas- oder einem gereinigten Korkstöpsel zu verschliessen, und die 
Stöpsel mit Siegellack derart luftdicht zu verkitten, dass weder von dem Inhalte etwas nach 
aussen, noch von aussen etwas zu dem Inhalte gelangen kann; 4. das zur Verpackung 
zu verwendende Material muss vollkommen rein sein, damit der zu untersuchende 
Gegenstand nicht dadurch verunreinigt oder vergiftet werde; 5. die Verpackung hat durch 
einen Sachverständigen, wo möglich durch einen erfahrenen Chemiker zu geschehen 
(Min.-Vdg. vom 2. August 1856, Nr. 145 RGBl.). 


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GUTACHTEN. 


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über erhebliche Thatsachen zu erwarten ist, im Laufe des Verfahrens vorladen und nöthigen- 
falls Vorfahren zu lassen und zu vernehmen. 

Ob eine Beeidigung solcher neuer Zeugen oder Sachverständigen stattfinde, darüber 
hat nach deren Abhörung und nach Vernehmung der Parteien der Gerichtshof zu ent¬ 
scheiden. 

Der Vorsitzende kann auch neue Gutachten abfordern oder andere Beweis¬ 
mittel herbeischaffen lassen, mit dem Gerichte einen Augenschein vornehmen oder hiezu 
ein Mitglied des Gerichtes abordnen, welches darüber Bericht zu erstatten hat. 

§ 384. Sachverständige, welche bei einem Gerichte bleibend als solche 
bestellt sind und dafür eine Entlohnung beziehen, haben nur den Ersatz der zur Er¬ 
stattung eines Gutachtens nöthig gewesenen und gehörig nachgewiesenen Vorauslagen an¬ 
zusprechen. Andere Sachverständige erhalten ausserd em eine von dem Gerichte 
mit Erwägung aller Umstände zu bemessende Gebühr. Soweit hierüber in den bestehen¬ 
den Vorschriften nichts besonderes bestimmt ist, wird die Gebühr zwischen einem 
und fünf Gulden, und in dem Falle, wenn zu dem Gutachten besondere wissen¬ 
schaftliche, technische oder künstlerische Kenntnisse oder Fertigkeiten 
erforderlich sind, zwischen zwei Gulden und zwanzig Gulden bemessen. Zur Be¬ 
willigung einer diesen Betrag übersteigenden Entlohnung ist die Genehmigung des Gerichts¬ 
hofes zweiter Instanz einzuholen. 

Die Grundlage für die Gebühren-Verrechung und Entlohnung der Sach¬ 
verständigen bildet die Minist.-Vdg. vom 17. Februar 1855, Nr. 33 RGB. 
(Vergleiche diese.) 

B. Deutsche Strafprocess-Ordnung vom 1. Februar 1877 (RGB. S. 253.): 

§ 72. Auf Sachverständige finden die Vorschriften des sechsten Abschnittes über 
Zeugen entsprechende Anwendung, insoweit nicht in den nachfolgenden Paragraphen ab¬ 
weisende Bestimmungen getroffen sind. 

§ 73. Die Auswahl der anzuziehenden Sachverständigen und die Bestimmung ihrer 
Anzahl erfolgt durch die Richter. Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige 
öffentlich bestellt, so sollen nur dann andere Personen gewählt werden, wenn besondere 
Umstände es erfordern.*) 

§ 74. Ein Sachverständiger kann aus denselben Gründen, welche zur Ablehnung 
eines Richters berechtigen, abgelehnt werden. (Nach § 24 u. a. wegen Besorgnis der 
Befangenheit). 

§ 75. Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung Folge zu leisten, wenn 
er zur Erstattung von Gutachten der erforderten Art öffentlich bestellt ist, oder wenn er 
die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung der Begut¬ 
achtung ist, öffentlich zum Erwerbe**) ausübt, oder wenn er zur Ausübung derselben 
öffentlich bestellt oder ermächtigt ist. 

§ 76. Dieselben Gründe, welche einen Zeugen berechtigen, das Zeugnis zu verweigern, 
berechtigen einen Sachverständigen zur Verweigerung des Gutachtens.***) Auch aus anderen 
Gründen kann ein Sachverständiger von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens 
entbunden werden. 

Die Vernehmung eines öffentlichen Beamten als Sachverständigen findet nicht statt, 
wenn die Vorgesetzte Behörde des Beamten erklärt, dass die Vernehmung den dienstlichen 
Interessen Nachtheile bereiten würde. 

§ 77. (Enthält die Strafen wegen Nichterscheinens oder der Weigerung zur Erstattung 
des Gutachtens.) 

§ 78. Der Richter hat, soweit dies ihm erforderlich erscheint, die Thätigkeit der 
Sachverständigen zu leiten.****) 

§ 79. Der Sachverständige hat vor Erstattung des Gutachtens einen Eid dahin zu 
leisten: „dass er das von ihm erforderte Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen 
erstatten werde“. 

Ist der Sachverständige für die Erstattung von Gutachten der betreffenden Art im 
Allgemeinen beeidigt, so genügt die Berufung auf den geleisteten Eid. 


*) Als solche besonderen Umstände sind in der Reichs-Justiz-Commission erwähnt: 
wenn am Orte, wo der Gerichtsarzt wohnt, sich ein besser geeigneter Specialist befindet; 
wenn ein näher wohnender Arzt mit gleicher oder höherer Qualification, als der weiter 
wohnende Gerichtsarzt, vorhanden ist; wenn der Gerichtsarzt, zum Gutachten in mehreren 
Fällen bestellt, die mehreren Functionen nebeneinander nicht wahrnehmen kann. 

**) Aerzte sind verpflichtet, Gutachten zu erstatten. 

***) § 51. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt: 1. der Verlobte des Be¬ 
schuldigten, 2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht. .. 

2. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt.3.Aerzte 

in Ansehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung ihres Berufes anvertraut ist.. 

wenn sie nicht von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind. 

****) Anwesenheit des Richters ist nicht erforderlich. 


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GUTACHTEN. 


§ 80. Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen znr Vorbereitung des Gut¬ 
achtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung ver¬ 
schafft werden. 

Zu demselben Zweck kann ihm gestattet werden, die Acten einzusehen, der Ver¬ 
nehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an dieselben unmittelbar 
Fragen zu stellen. 

§ 81. Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Angeschul¬ 
digten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen anordnen, dass der Angeschul¬ 
digte in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde.*).... Die Ver¬ 
wahrung in der Anstalt darf die Dauer von 6 Wochen nicht übersteigen. 

§ 82. Im Vorverfahren hängt es von der Anordnung des Richters ab, ob die Sach¬ 
verständigen ihr Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten haben. 

§ 83. Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere 

Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für ungenügend erachtet.In 

wichtigeren Fällen kann das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden, 

§ 84. Der Sachverständige hat nach Maassgabe der Gebührenordnung Anspruch auf 
Entschädigung für Zeitversäumnis, für Erstattung der ihm verursachten Kosten und ausser¬ 
dem auf angemessene Vergütung für seine Mühewaltung.**) 

§ 87. Die richterliche Leichenschau wird unter Zuziehung eines Arztes, die Leichen¬ 
öffnung im Beisein des Richters ***) von zwei Aerzten, unter welchen sich ein Gerichtsarzt 
befinden muss, vorgenommen. Demjenigen Arzte, welcher den Verstorbenen in der dem 
Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit behandelt hat, ist die Leichenöffnung nicht 
zu übertragen. Derselbe kann jedoch aufgefordert werden, der Leichenöffnung anzuwohnen, 
um aus der Krankheitsgeschichte Aufschlüsse zu geben. Die Zuziehung eines Arztes kann 
bei der Leichenschau unterbleiben, wenn sie nach Ermessen des Richters entbehrlich ist. 

Behufs der Besichtigung oder Oeffnung einer schon beerdigten Leiche ist ihre Aus¬ 
grabung statthaft. 

g 88. Vor der Leichenöffnung ist, wenn nicht besondere Hindernisse entgegen¬ 
stehen, die Persönlichkeit des Verstorbenen, insbesondere durch Befragung von Personen, 
welche den Verstorbenen gekannt haben, festzustellen. Ist ein Beschuldigter vorhanden, 
so ist ihm die Leiche zur Anerkennung vorzuzeigen. 

§ 89. Die Leichenöffnung muss sich, soweit der Zustand der Leiche dies gestattet, 
stets auf die Oeffnung der Kopf-, Brust- und Bauchhöhle erstrecken. 

§ 90. Bei Oeffnung der Leiche eines neugeborenen Kindes ist die Untersuchung ins¬ 
besondere auch darauf zu richten, ob dasselbe nach oder während der Geburt gelebt habe, 
und ob es reif oder wenigstens fähig gewesen sei, das Leben ausserhalb des Mutterleibes 
fortzusetzen. 

§ 91. Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die Untersuchung der in der 
Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder durch eine 
für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzunehmen. Der Richter kann an¬ 
ordnen, dass diese Untersuchung unter Mitwirkung oder Leitung eines Arztes stattzu¬ 
finden habe. 

§ 157. Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass jemand eines nicht natürlichen 
Todes gestorben ist, oder wird der Leichnam eines Unbekannten gefunden, so sind die 
Polizei- und Gemeindebehörden zur sofortigen Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder an 
den Amtsrichter verpflichtet. 

Die Beerdigung darf nur auf Grund einer schriftlichen Genehmigung der Staats¬ 
anwaltschaft oder des Amtsrichters erfolgen. 

§ 158. Sobald die Staatsanwaltschaft.... von dem Verdacht einer strafbaren Hand¬ 
lung Kenntnis erhält, hat sie.den Sachverhalt zu erforschen. 

§ 159. Zu dem .... Zwecke kann die Staatsanwaltschaft von allen öffentlichen Be¬ 
hörden Auskunft verlangen und Ermittelungen jeder Art entweder selbst vornehmen oder 
durch die Behörden vornehmen lassen. 

§ 163. Wenn Gefahr im Verzüge, hat der Amtsrichter die erforderlichen Unter¬ 
suchungshandlungen von Amts wegen vorzunehmen. 

§ 193. Findet die Einnahme eines Augenscheines unter Zuziehung von Sachverstän¬ 
digen statt, so kann der Angeschuldigte beantragen, dass die von ihm für die Hauptver¬ 
handlung in Vorschlag zu bringenden Sachverständigen zu dem Termine geladen werden, 
und wenn der Richter den Antrag ablehnt, sie selbst laden lassen. 

Den von dem Angeschuldigten benannten Sachverständigen ist die Theilnahme am 
Augenschein und an den erforderlichen Untersuchungen insoweit zu gestatten, als dadurch 
die Thätigkeit der vom Richter bestellten Sachverständigen nicht behindert wird. 

§ 222. Wenn dem Erscheinen eines Zeugen oder Sachverständigen in der Haupt¬ 
verhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit oder Gebrechlichkeit oder 

*) Die Anstalt bestimmt der Richter. Das Gutachten kann der Director oder ein 
Assistenzarzt erstatten. 

**) Gebührenordnung vom 30. Juni 1878. 

***) Der Richter braucht nicht zuzusehen; seine Anwesenheit genügt. 


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GUTACHTEN. 


411 


andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen, so kann das Gericht die Ver¬ 
nehmung desselben durch einen beauftragten oder ersuchten Richter anordnen. Die Ver¬ 
nehmung erfolgt, soweit die Beeidigung zulässig ist, eidlich. 

Dasselbe gilt, wenn ein Zeuge oder Sachverständiger vernommen werden soll, dessen 
Erscheinen wegen zu grosser Entfernung besonders erschwert sein wird. 

§ 247. Die vernommenen Zeugen und Sachverständigen dürfen sich nur mit Geneh¬ 
migung oder auf Anweisung des Vorsitzenden von der Genchtsstelle entfernen .... 

§ 248. Urkunden und andere als Beweismittel dienende Schriftstücke werden in der 
Hauptverhandlung verlesen. 

§ 252. Erklärt ein Zeuge oder Sachverständiger, dass er sich einer Thatsache nicht 
mehr erinnert, so kann der hierauf bezügliche Theil des Protokolls über seine frühere Ver¬ 
nehmung zur Unterstützung seines Gedächtnisses verlesen werden. 

§ 255. Die ein Zeugnis oder ein Gutachten enthaltenden Erklärungen öffentlicher 
Behörden, desgleichen ärztliche Atteste über Körperverletzungen, welche nicht zu den 
schweren gehören, können verlesen werden. 

Ist das Gutachten einer collegialen Fachbehörde eingeholt worden, so kann das 
Gericht die Behörde ersuchen, eines ihrer Mitglieder mit der Vertretung des Gutachtens 
in der Hauptverhandlung zu beauftragen und dem Gerichte zu bezeichnen. 

§ 487. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist aufzuschieben, wenn der Ver- 
nrtheilte in Geisteskrankheit verfällt. 

Dasselbe gilt bei anderen Krankheiten, wenn bei Vollstreckung eine nahe Lebens¬ 
gefahr für den Verurtheilten zu besorgen steht. 

Die Straf-Vollstreckung kann auch dann aufgeschoben werden, wenn sich der Ver- 
urtheilte in einem körperlichen Zustande befindet, bei welchem eine sofortige Vollstreckung 
mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist. 

§ 493. Ist der Verurtheilte nach Beginn der Strafvollstreckung wegen Krankheit in 
eine von der Staatsanstalt getrennte Krankenanstalt gebracht worden, so ist die Dauer 
des Aufenthalts in der Krankenanstalt in die Strafzeit einzurechnen, wenn nicht der Ver¬ 
urtheilte mit der Absicht, die Straf-Vollstreckung zu unterbrechen, die Krankheit herbei¬ 
geführt hat. 

Die Staatsanwaltschaft hat im letzteren Falle eine Entscheidung des Gerichts her¬ 
beizuführen. 

Den Abschluss der Sachverständigen-Thätigkeit bei Gericht bildet die 
Erstattung des Gutachtens, welches entweder schriftlich oder mündlich 
abgegeben wird. Aus demselben soll der Richter in jedem einzelnen Falle die 
feste Unterlage für die Urtheilsfällung gewinnen. Nur eine genaue Kenntnis der 
einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen über die Beziehungen seiner Aufgabe 
zum Strafgesetze kann dem Gerichtsarzte den Erfolg seiner Arbeit sichern, 
so dass ein sorgsames Vertiefen in die bezüglichen Gesetzesstellen und ein 
richtiges Erfassen ihres Inhaltes für denselben unerlässlich ist. Mit dem Scharfsinn 
und der Unparteilichkeit des Urtheils eines Naturforschers, dessen oberstes 
Bestreben jederzeit auf eine gerechte Würdigung des Untersuchungsobjectes 
nach allen Einzelheiten hin gerichtet ist, und der subjectiven Einflüsterungen 
mit unbefangener Stirne Stand zu halten weiss, muss der Gerichtsarzt an die 
Ausfertigung seines Gutachtens treten und mit strengster Gewissenhaftigkeit 
alle in dem Actenmaterial gesammelten Wahrnehmungen zur Entscheidung 
der aufgeworfenen Fragen verwerten. Die Einsichtnahme der Acten ist, wie 
eine unbefangene Ueberlegung von selbst ergiebt, somit nicht nur in vielen 
Fällen zur Beleuchtung verschiedener offener Punkte erwünscht, sondern 
dringlichst geboten, soll die Sicherheit des ärztlichen Urtheils nicht nach¬ 
haltigsten Schaden nehmen; dieselbe wird auch, unserer Erfahrung gemäss, 
heute verständigerweise von Seiten des Gerichtes niemals verweigert. 

Das Gutachten hat mit Rücksicht darauf, dass es für Nicht-Mediciner 
bestimmt ist, vor Allem von jedem drückenden Ballast technischer Fremd¬ 
wörter, wo letztere vermieden werden können, frei zu sein; dieselben lassen 
sich allenfalls, wenn es nöthig und z. B. die Wiedergabe im Deutschen nur 
durch eine umständliche Umschreibung erreichbar erscheint, zur Verhütung 
unliebsamer Missverständnisse in Klammern der deutschen Bezeichnung 
anfügen. Das Gutachten des Arztes soll in möglichst einfacher, klarer und 
rein sachlicher Darstellung alles für die Aufhellung der Sachlage Wissens¬ 
werte in gedrängter Kürze zusammenfassen und unter jedesmaliger Berufung 


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HAARE. 


auf den Befund ein nach dem jeweiligen Stand der Wissensschaft und unserer 
Erfahrung gehörig und ausführlich erhärtetes sowie logisch begründetes Urtheil 
über den concreten Fall bieten. 

Die Berufung auf Autoritäten und deren Namhaftmachung in dem Gut¬ 
achten, um den Ausführungen desselben den oft mangelnden Nachdruck zu 
verleihen, sollen nach Thunlichkeit vermieden werden, ebenso das Heran¬ 
ziehen und Erörtern aller erdenklichen Möglichkeiten, die für den fraglichen 
Fall jeder Unterlage entbehren und nur dazu angethan sind, die Verwendbarkeit 
des ärztlichen Attestes wesentlich einzuschränken. Freilich lassen sich der Natur 
der medicinischen Wissenschaft entsprechend unsere Aussagen nur in Aus¬ 
nahmsfällen mit der Genauigkeit und Sicherheit der sogenannten exacten 
Wissenschaften (Mathematik und Astronomie) machen, aber meistentheils erlaubt 
ein gewissenhaftes Abwägen der Gesammtheit aller Verhältnisse des Einzelfalles 
im Zusammenhalte mit den Lehren der Medicm und den täglichen Erfahrungen 
einen für die Ziele der Rechtspflege brauchbaren Ausspruch, während aller¬ 
dings andererseits auch vielfach mit Wahrscheinlichkeits-Diagnosen gerechnet 
werden muss und verschiedene Möglichkeiten offen bleiben. 

Jedenfalls darf sich der Sachverständige, selbst auf wiederholtes Drängen 
hin nicht zu Aussagen verleiten lassen, die sich als nicht gehörig begründet 
erweisen und von ihm fallen gelassen oder später gar widerrufen werden 
müssen. Die Gediegenheit seines Wissens, gepaart mit grosser Sorgfalt in 
der Behandlung einschlägiger Beobachtungen wird den Arzt in seinem eigenen 
Interesse und zum Frommen der rechtsuchenden Partei alle Male vor groben 
Täuschungen bewahren. Endlich empfiehlt sich noch, in knapper Form das 
Ergebnis der Erörterungen zusammenzufassen und den vorstehenden Aus¬ 
führungen in kurzen Sätzen anzuschliessen. c. ipsen. 

Haare (forensisch). Die Untersuchung von Haaren kann für den 
Gerichtsarzt behufs Beantwortung verschiedener Fragen weittragende Bedeutung 
erhalten. Für die Ueberführung eines Mörders z. B. kann es maassgebend 
sein, wenn sich nachweisen lässt, dass die an einem bei dem Verdächtigen 
Vorgefundenen Messer, Beile oder dergl. haftenden Haare von dem Ermordeten 
stammen; oder wenn nach einem zwischen dem Mörder und seinem Opfer 
stattgehabten Kampfe in der Hand der Leiche Haupt- oder Barthaare des 
ersteren gefunden und als zweifellos von ihm herrührend bestimmt werden. 
Andererseits kann für die Entlastung eines Beschuldigten die Feststellung 
ausschlaggebend sein, dass die an dem vermutheten Mordwerkzeuge entdeckten 
Haare einem Thiere angehört haben. Nach einem Nothzuchtsattentate können 
einige bei dem geschändeten Individuum gefundene Schamhaare des Ver¬ 
brechers durch ihre Farbe oder sonstigen Merkmale auf dessen Spur leiten, 
und des öfteren sind Sodomiten durch einige an ihren Geschlechtstheilen 
hängen gebliebene Haare des gemissbrauchten Thieres entlarvt worden. — 
In fast allen Fällen handelt es sich für den Gerichtsarzt um die Beantwortung 
dreier Fragen: 1. Gehörten die vorliegenden Haare einem Menschen oder 
einem Thiere an? 2. Von welchem Individuum ? 3. Von welcher Körperstelle 
stammen sie? 

Der anatomische Bau der Haare, der selbstverständlich mit Hilfe des Mikroskopes 
stndirt werden muss, ist bei Menschen und Thieren im wesentlichen gleich. Das voll¬ 
kommen ausgebüdete Haar besteht aus drei verschiedenen, deutlich gesonderten Bestand- 
theilen, "welche, in concentrischen Schichten angeordnet, von aussen nach innen auf ein¬ 
ander folgen als 1. Oberhäutchen, Cuticula, 2. Rindenmasse, Substantia corticalis, und 
3. Mark- oder Achsensubstanz, Substantia medullaris. Das Oberhäutchen Betzt sich 
aus dachziegelförmig übereinander gelagerten, durchsichtigen, feinsten Schüppchen zu¬ 
sammen, deren Spitzen gegen das freie Ende des Haares gerichtet sind, und deren jedes 
eine verhornte, kernlose Epithelzelle darstellt. Die Rindensubstanz besteht nur im 
Gebiete der Haarwurzel aus weichen, rundlich gestalteten Zellen mit rundem Kern; in der 
ganzen übrigen Länge des Haares sind die sie zusammensetzenden Epithelzellen hart ver- 


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HAARE. 


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hörnt, schmal und langgestreckt, mit einem linienförmigen, dunklen Kerne ausgerüstet und 
untereinander ungemein innig und fest verbunden. An einzelnen Stellen fast jeden Haares 
finden sich in der Rindensubstanz Luftblüschen, sowie körnige und flüssige Pigment- 
einlagerungen, erstere stets intercellular, letztere auch intracellular gelegen. Die Mark¬ 
substanz endlich durchzieht die Mittelachse des Haares; auch sie setzt sich aus einzelnen 
Zellen zusammen und enthält zwischen und in ihnen feinste Luftbläschen, aber kein 
Pigment. 

So verhält sich, ganz allgemein beschrieben, der Bau eines Haares, und 
diese Darstellung gilt gleicherweise für menschliche Haare, wie für die der 
verschiedensten Thiere. Nun weisen aber bei einer vergleichenden Unter¬ 
suchung menschliche Haare und Thierhaare glücklicherweise in den Einzel¬ 
heiten so vielfache und unverkennbare Abweichungen unter einander auf, dass 
die Differentialdiagnose, ob Menschen-, ob Thierhaar, fast in jedem Falle mit 
grosser Sicherheit gestellt werden kann. Schon das Oberhäutchen bietet 
unterscheidende Merkmale. Beim Menschenhaar tritt die Cuticula ungemein 
wenig hervor, und ihre einzelnen Schüppchen sind nur sehr undeutlich oder 
gar nicht zu erkennen. Bei den meisten Thierhaaren dagegen fällt das Ober¬ 
häutchen in der Gesammtheit des mikroskopischen Bildes weit mehr ins 
Auge, weil ihre Zellen absolut wie relativ grösser sind und deutlicher um¬ 
grenzt erscheinen. Eine Anzahl von Thierhaaren erhält gerade durch die 
Eigenart der Cuticula ein höchst charakteristisches Aussehen, wie z. B. die 
Schafwolle infolge ihrer ungewöhnlich grossen, wellenförmig umgrenzten 
schollenartigen Zellen, oder die Haare der Ratte oder des Fuchses, bei denen 
die einzelnen Schüppchen der Cuticula etwas vom Schafte abstehen, wodurch 
das Haar ein gezähneltes, sägenblattförmiges Aussehen erhält; ja bei der 
Fledermaus sind die abstehenden Cuticulazellen so lang und spitz, dass das 
ganze Haar geradezu gefiedert erscheint. Weit wichtiger für die Unter¬ 
scheidung aber sind die beiden anderen Bestandteile des Haares und 
namentlich das Verhalten dieser beiden zu einander. Während bei den Thier¬ 
haaren durchgehends die Marksubstanz wenigstens gleich stark, meistens 
sogar weit mächtiger entwickelt ist, als die Substantia corticalis, so dass die 
letztere häufig auf eine dünne Scheide um den massigen Markstrang herum 
reducirt erscheint, bildet beim Menschen die Rindensubstanz weitaus den 
grössten Theil des ganzen Haares, und nimmt der Achsenstrang nur einen 
verhältnismässig bescheidenen Raum, etwa Vs—V 4 der gesammten Haares¬ 
dicke ein. Der letztere stellt überhaupt beim Menschen nicht einen aus¬ 
nahmslos vorhandenen Theil des Haarschaftes dar, sondern ist vielmehr viel¬ 
fach nur theilweise entwickelt und fehlt auch gar nicht so selten gänzlich. 
Durchgehends vermisst wird er bei den sogenannten Wollhaaren (Lanugo), 
die den Körper des menschlichen Fötus im Mutterleibe bekleiden, und wahr¬ 
scheinlich auch noch in allen Haaren des Neugeborenen. Beim Erwachsenen 
steht die Entwicklung der Markmasse in einem gewissen Verhältnis zur Farbe 
der Haare, indem sich unter blonden Haaren regelmässig eine grössere Anzahl 
solcher findet, bei denen die Markmasse nur theilweise oder gar nicht vor¬ 
handen ist, unter dunklen Haaren dagegen die markhaltigen überwiegen. 

Charakteristisch sind weiterhin Unterschiede im mikroskopischen Bau 
der Marksubstanz. Sie besitzt ausnahmslos eine zellige Structur, aber diese 
ist beim Menschen ausserordentlich undeutlich: die einzelnen Zellgebilde sind 
so klein und ohne charakteristische Form, dass der ganze Achsenstrang selbst 
unter Anwendung stärkerer Vergrösserungen lediglich ein undeutlich körniges 
Aussehen aufweist. Bei den Thierhaaren dagegen erkennt man leicht schon mit 
schwachen Systemen deutlich gegen einander abgegrenzt die einzelnen Zell¬ 
gebilde, die bald kugelig oder mehr oval, bald kubisch oder polygonal ge¬ 
staltet sind. Bei vergleichender Untersuchung von Haaren einer grösseren 
Reihe verschiedener Thiere beobachtet man eine grosse Mannigfaltigkeit in 
dem zelligen Aufbau der Markmasse. Ein geübter Sachverständiger vermag 


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HAARE. 


infolgedessen nicht allein die Frage, ob Menschen- oder Thierhaar, mit Sicher¬ 
heit zu entscheiden, sondern auch die bestimmte Thierspecies, von der die 
Haare stammen, treffend zu bezeichnen. Eine Yorsichtsmaassregel freilich 
darf hierbei nicht vergessen werden. Es kommt, wie vielfach beobachtet ist, 
wohl bei jedem Thier vor, dass vereinzelt, unter den normalen verstreut, eine 
geringe Anzahl von Haaren sich findet, die von dem gewöhnlichen Typus 
irgendwie abweichen. Besteht nun solche Abweichung — wie nicht ganz 
selten z. B. bei Hunden — in abnorm geringer oder sonst mangelhafter Ent¬ 
wickelung oder in gänzlichem Fehlen der Marksubstanz, so kann das Haar 
einem menschlichen ähnlich sehen. Stets ist zunächst ein solches Haar in 
seiner ganzen Länge zu durchmustern, da manchmal auch bei Thieren der 
Achsenstrang theilweise unterbrochen oder nur in einem geringen Bruchtheil 
des Haarschaftes entwickelt ist. Ferner ist es nach Zusatz von Glycerin, Ter¬ 
pentin oder verdünnter Salpetersäure zu untersuchen, wodurch es aufgehellt 
und der Markstrang sehr viel deutlicher gemacht wird. Jedenfalls soll man, 
wo daran kein Mangel ist, eine nicht zu geringe Anzahl von Haaren unter¬ 
suchen. Wo nur ein einziges zu Gebote steht, kann man, wenn dieses den 
Thiertypus klar erkennen lässt, unbedenklich die thierische Abstammung be¬ 
haupten. Nach Feststellung des Menschentypus dagegen darf man aus nur 
einem Haare nur sehr mit Vorsicht seine Schlüsse ziehen; findet sich aber 
das gleiche Bild bei mehreren Haaren, und weist keines die Eigentümlich¬ 
keiten des Thierhaares auf, so ist auch hier die Diagnose „Menschenhaar“ 
ohne weitere Bedenken gerechtfertigt. 

Sind die gefundenen Haare als menschliche sicher erkannt worden, so 
tritt an den Gerichtsarzt die zweite Frage heran: welchem Individuum 
dieselbeu angehört haben? Selbstverständlich kann ihre Beantwortung unter 
Umständen recht schwierig werden. Keinesfalls ist es möglich, aus der Be¬ 
schaffenheit der Haare einen auch nur annähernd sicheren Schluss auf Alter 
oder Geschlecht desjenigen zu machen, dem sie entstammen. Gelöst werden 
kann die gestellte Frage nur durch eingehendste Vergleichung der vorgelegten 
Haare mit denjenigen der in Betracht kommenden Person, wobei Länge und 
Form, welch’ letztere bald schlicht gerade, bald mehr oder weniger gekräuselt 
ist, ferner Dicke und Farbe, sowie auch das mikroskopische Verhalten in 
Betracht kommen. Mit der Farbe muss jedoch vorsichtig verfahren werden; 
zwar ist sie unschwer zu erkennen, wenn ganze Haarbüschel vorhanden sind, 
aus nur wenigen Exemplaren dagegen kann sie meist nicht mit Sicherheit 
festgestellt werden, und das mikroskopische Bild lässt sich zu ihrer Beurthei- 
lung überhaupt nicht verwerten. Handelt es sich um die Feststellung der 
Identität einer Leiche, so ist zu berücksichtigen, dass sich die Farbe der 
Haare im Grabe oft verändert, indem sie bei dunklen meist heller wird, bei 
hellblonden dagegen nicht selten dunkelt, und häufig einen auffallend röth- 
lichen Ton annimmt, gleichviel welche Farbe ursprünglich bestanden hatte. 

Die dritte Frage endlich, welche den Gerichtsarzt beschäftigen kann, ist 
diejenige: welcher Körperstelle eines Menschen die vorliegenden Haare 
entstammen? Zumeist kommt die Unterscheidung zwischen Kopf-, Bart- und 
Schamhaaren in Betracht, doch kann es sich natürlicherweise gelegentlich 
auch um Haare aus der Achselhöhle oder um die kleinen Haare handeln, 
welche fast den ganzen Körper bekleiden. 

E. R. Pfaff *) vermeinte, diese Frage hauptsächlich durch die Berücksichtigung 
der Haarwurzeln beantworten zu können, auf Grund der Beobachtung, dass sich deren 
Form an den verschiedenen Körperstellen in charakteristischer Weise unterscheide. Diese 
Annahme hat sich jedoch nicht als stichhaltig bewährt, zudem hat es der Gerichtsarzt 
gerade häufig mit Haaren zu thun, an denen die Wurzelzwiebel ganz fehlt oder stark 
beschädigt ist. Ist sie wohlerhalten, so lässt sich ans ihr ein Punkt freilich mit Sicherheit 


*) E. R. Pfaff, Das menschliche Haar, II. Aufl. Leipzig 1869. 


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ersehen, ob nämlich das Haar von selbst ausgefallen, oder ob es gewaltsam ausgerissen 
ist. Ausgefallene Haare haben eine unten geschlossene, glatte, atrophische Wurzel, aus- 
gerissene dagegen zeigen die Zwiebel offen, kolbig, feucht, uneben und oft mit wurzelartigen 
Anhängen von verschiedenen Längen, Resten des Haarbalges, ausgestattet. 

Um die Körperstelle, der das Haar entstammt, festzustellen, sind ins 
Ange zu fassen: Länge, Stärke und Form des Haares, sowie das gesammte 
mikroskopische Bild; bei letzterem muss besonders das Verhalten des freien 
Endes berücksichtigt werden. Ueberschreitet die Länge der Haare ein gewisses 
Maass, so wird das sicher ohne weiteres für ihr Abstammen von einem Frauen¬ 
kopfe sprechen; in anderen Fällen wird die übereinstimmende Länge der vom 
Gericht vorgelegten und solcher Haare, die sich nur an einer bestimmten 
Körperstelle der in Betracht kommenden Person finden, wichtige Schlüsse zu¬ 
lassen. Einige Vorsicht ist bei der Verwertung der Stärke der Haare geboten. 
Wird ihre Dicke am Querschnitte gemessen, so lasse man nicht ausser Acht, 
in welcher Entfernung von der Wurzel der Schnitt angelegt wurde, da sich 
das Haar von seinem unteren Ende nach der Spitze zu gleichmässig und nicht 
unerheblich verjüngt. Zu berücksichtigen ist ferner die Thatsache, dass die 
Haare, die beim Kinde überaus zart und fein sind, mit zunehmenden Jahren 
bis zum kräftigsten Lebensalter an Stärke gewinnen, um schliesslich mit ein¬ 
tretendem und vorschreitenden Greisenalter wieder dünner zu werden. 

Ueber die Dickenunterschiede der Haare von verschiedenen Körperstellen hat Hof¬ 
mann*) eingehende Studien gemacht, wobei erfand, dass die Barthaare mit 014—015 mm 
Qaerdurchmesser die grösste Stärke besitzen; dann folgen in abnehmender Reihe die weib¬ 
lichen Schamhaare, ferner die Augenwimpern, die männlichen Schamhaare, die männ¬ 
lichen und als die feinsten die weiblichen Kopfhaare, welche letzteren nur 0*0 6 mm Quer¬ 
durchmesser aufweisen. Um die Haaresdicke bequem constatiren zu können, ist es am 
zweckmässigsten, Mikrotomschnitte durch die in Paraffin eingebetteten Haare unter dem 
Mikroskope mittels des Messoculars zu untersuchen. 

Besonders wichtige Merkmale bietet oft das freie Ende des Haares dar. 
Läuft es dünn und spitz zu, so ist dies ein Beweis dafür, dass das Haar noch 
nicht beschnitten worden war; in solchem Falle wird es also entweder von 
einem noch jugendlichen Individuum oder von einer Körperstelle stammen, 
an die kein Scheermesser zu gelangen pflegt. Endlich lässt sich ferner er¬ 
kennen, ob das Haar erst kürzlich, oder bereits vor längerer Zeit zum letzten 
Male beschnitten worden ist. Frischbeschnittene Haare nämlich haben ein 
breites, scharfabgeschnittenes Ende. Ist aber seit der letzten Verkürzung 
einige Zeit verstrichen, so beobachtet man als Einwirkung der vielfachen 
mechanischen Insulte, denen das Haar z. B. infolge der Reibung durch die 
Kleider etc. ausgesetzt ist, entweder eine Abschleifung des Haarendes zu 
einer runden, kuppenförmigen Endigung, oder aber eine Zerfaserung, die 
namentlich bei den Kopfhaaren der Frauen, sowie an Stellen, wo Schweiss 
und Körperwärme macerirend wirken, oft so hochgradig ist, dass das Haar 
geradezu mit einem mikroskopisch feinen Pinsel endet. 

Nur in seltenen Fällen wird der Gerichtsarzt in die Lage kommen, 
Haare zur Beantwortung anderer als der erörterten drei Fragen untersuchen 
zu müssen. So kann es behufs Feststellung eines gesetzwidrigen Beischlafs 
zweckmässig sein, die Schamhaare der Frauensperson auf etwa ihnen an¬ 
haftende Samenfäden zu untersuchen. Pfaff nämlich hat behauptet, dass 
sich Spermatozoen, die an den Schamhaaren angetrocknet seien, besonders 
lange unversehrt erhalten und noch nachweisbar seien zu einer Zeit, wo sie 
in verdächtigen Flecken auf schmutziger Wäsche u. dgl. nicht mehr auf¬ 
zufinden seien; er empfiehlt in solchem Falle, die verdächtigen Haare auf dem 
Objectträger mit einigen Tropfen destillirten Wassers, dem ein klein wenig 
Salmiakgeist zugesetzt war, zu untersuchen. Ein Zusatz eines für die Fär- 


*) E. Hofmann, Einiges über Haare in gerichtsärztlicher Beziehung. Prager Viertel- 
jahresschriffc 1871. 


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HEIZUNG. 


bung von Spermatozoen bewährten Anilinfarbstoffes wird das Auffinden der 
Samenzellen noch wesentlich erleichtern. — Gelegentlich wird auch die 
Eigentümlichkeit der Haare, bei einer Arsenikvergiftung ihres Trägers sich 
reichlich mit Arsen zu imprägniren, gerichtsärztliche Bedeutung gewinnen 
können, zumal das Gift in den Haaren unbeschränkt lange Zeit chemisch 
nachweisbar bleibt. — Zum Schlüsse möge noch erwähnt werden, dass das 
Verhalten der Haare bei manchen Kopfverletzungen eine wichtige forensische 
Rolle spielen kann. Z. B. ist es manchmal von höchstem Interesse zu wissen, 
unter welchen näheren Umständen eine in dem Schädel eines aufgefundenen 
Skelettes bestehende Knochenfissur entstanden ist. Finden sich in dem Sprunge 
Haare eingeklemmt, so lässt sich, selbst lange Zeit nachdem die Weichtheile 
schon gänzlich verwest sind, mit Sicherheit behaupten, dass die Verletzung 
mit einer Durchtrennung der weichen Kopfbedeckungen verknüpft gewesen ist. 

WOLTERSDORF. 

Heizung. Die hygienischen Anforderungen, welche wir an die 
zur Versorgung unserer Wohnräume mit Wärme dienenden Vorrichtungen 
zu stellen haben, sind folgende: 

1. Die Wärme soll im ganzen Raume gleichmässig vertheilt 
sein, sowohl in horizontaler, als auch verticaler Richtung. Als ungefähre 
Normen für die geeignete Temperätur in Kopfhöhe (1*5 m über dem Fuss- 


boden) kann man annehmen 

für Wohn- und Geschäftsräume.18—20° C 

„ Schulen, Auditorien und Versammlungsräume . 16—18° C 
„ Krankenzimmer, je nach der Krankheit . . . 14—20° C 

„ Schlafräume.12—15° C 

„ Werkstätten, Fabrikssäle.12—18° C 

„ Corridore, Treppenhäuser u. dgl.12—16° C 


In verticaler Richtung ist vom Fussboden bis Kopfhöhe eine Differenz 
in der Temperatur von 2—3 Grad erträglich. Da die warme Luft stets nach 
der Decke steigt, so ist nicht zu vermeiden, dass in den oberen Schichten 
in der Regel eine höhere Temperatur, als in den mittleren und unteren 
Schichten herrscht. Eine besonders ungleiche Temperaturvertheilung ist meist 
da vorhanden, wo stark erwärmte (überhitzte) Heizkörper sich befinden, oder 
sobald bei centralen Luftheizungen die vorgewärmt eingeführte Luft eine zu 
hohe Temperatur besitzt. Mangelhafte Ventilationsvorrichtungen, Beleuchtungs¬ 
arten vermögen ebenfalls auf die Wärmevertheilung der Aufenthaltsräume un¬ 
günstig einzuwirken. — In horizontaler Richtung tritt der Mangel einer gleich- 
mässigen Vertheilung der Wärme zum Theil aus gleichen Gründen hervor. 
Es findet eine rasche Abnahme der Lufttemperatur mit der Entfernung vom 
Heizkörper da statt, wo derselbe nur durch Wärmestrahlung wirkt. In sehr 
grossen Räumen trägt hieran eine unzweckmässige Vertheilung der Heiz¬ 
körper bei; auch in Räumen mit dünnen, kalten Aussen wänden lassen sich 
empfindliche Temperaturunterschiede constatiren. 

Bei ungleichartiger Erwärmung des Zimmers kann es Vorkommen, dass 
unser Körper nur einseitig erwärmt wird, wodurch Störungen in der Wärme¬ 
regulirung des Organismus eintreten können (sog. Erkältungskrankheiten). 
Eine zufriedenstellende gleichmässige Wärmevertheilung im Raume wird sich 
erzielen lassen durch Bewegung (Circulation) der Luft, wie dies bei den mit 
Circulationsvorrichtungen versehenen Heizanlagen der Fall ist. 

2. Die erste Forderung führt dazu, weiter zu verlangen, dass die Heiz¬ 
apparate regulirfähig sein sollen, um sich den ausserordentlich grossen 
Schwankungen der Aussentemperatur während der Heizperiode anpassen zu 
lassen. Heizkörper von sehr grosser Wärmecapacität, die sich schwer an¬ 
wärmen und entwärmen lassen, sind daher für die Wärmeversorgung ungeeignet. 


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HEIZUNG. 


417 


Wünschenswert ist eine continuirliche Heizung, d. h. Tag und 
Nacht im Betrieb befindliche, um eine vorübergehende Auskühlung der Luft 
der Räume zu verhüten. Eine continuirliche Heizung sorgt zugleich für eine 
genügende Durchwärmung der Umfassungsflächen, die sonst während der Nacht¬ 
stunden erkalten und so die gleichmässige Durchwärmung des Raumes zu 
vereiteln vermögen. 

3. Durch die Heizung sollen weder gas- noch staubförmige Ver¬ 
unreinigungen in die Wohnräume gelangen. Von gasförmigen Verbren- 
nungsproducten kommen hier Kohlensäure, schweflige Säure (vom Schwefel¬ 
gehalt der Brennstofle herrührend) und vor allen Dingen das giftige Kohlen¬ 
oxyd in Betracht. Die Verbrennungsgase müssen vollständig nach aussen 
fortgeführt werden. Das Eindringen dieser Gase in die Wohnung findet bei 
schlecht ziehenden Schornsteinen oder bei frühzeitigem Schlüsse der „Ofen¬ 
klappen“ statt. Letztere sind gewöhnlich am Abzugsrohre des Ofens vor 
dessen Einmündung in den Schornstein angebracht und haben den Zweck, 
nachdem das Brennmaterial verbrannt ist, eine Abstellung des durch die Feuerung 
gehenden Luftstromes vornehmen zu können, um die Wärme des Ofens zurück¬ 
zuhalten und für das Zimmer auszunützen. Schliesst man diese Klappen 
bereits vor beendigter Verbrennung, so dringen Rauchgase, Kohlendunst, 
darunter das unter dem nunmehligen Mangel an Sauerstoff entstehende, unvoll¬ 
kommene Verbrennungsproduct der Kohle, nämlich das Kohlenoxyd, in die 
Wohnung ein. Dieser sogenannte „Kohlendunst“ führt mancherlei Unglücksfälle 
herbei. Deshalb ist an manchen Orten die Ofenklappe behördlich verboten, 
und man findet bereits allgemein zur Regulirung und Aufspeicherung der Wärme 
im Ofen luftdicht schliessende Otenthüren. — Kohlendunst kann auch bei 
schlecht schliessenden Füllschächten von Dauerbrandöfen oder bei den soge¬ 
nannten transportablen Oefen mit zu engem oder ganz fehlendem Rauchabzug 
(Carbonnatronöfen), ferner bei Undichtheiten der Central-Luftheizanlagen, in die 
Räume austreten. 

Experimentell hat man festgestellt, dass Kohlendunst ans im Glühen befindlichen 
eisernen Oefen, und zwar an den glühenden Stellen hindurch passiren kann. Dieser Nachweis 
lässt aber noch nicht schliessen, dass hierdnrch eine Gefahr für die Bewohner des Raumes ent¬ 
steht. So lange nämlich das Feuer unterhalten wird, besteht fortwährend ein Luftzug in 
den Ofen hinein, wodurch ein Austritt von Luft in entgegengesetzter Richtung nicht gut 
möglich wird. Schliesst man derartige Oefen aber zu früh, so können wohl für kurze 
Zeit die Gase die Zimmerluft verunreinigen; die austretenden Rauchgasmengen sind jedoch 
zu gering, um eine Schädigung der Gesundheit zu veranlassen. 

Versengter Staub, d. h. die durch die Versengung der organischen 
Staubpartikelchen erzeugten empyreumatischen Stoffe (darunter bisweilen 
Kohlenoxyd), entstehen bei starker Ueberhitzung der Heizkörper und bilden 
häufig die Ursache für das Gefühl von Trockenheit (namentlich im Halse), 
welches die Bewohner in diesem Falle verspüren. Diese Producte verursachen 
auch Kopfweh und Benommenheit. Temperaturen der Heizkörper von 100° 
bis 120° können bereits zur Bildung solcher empyreumatischer Substanzen 
führen. Namentlich hat man die Entstehung derselben an den Caloriferen der 
Central-Luftheizungen festgestellt, auf denen es, sobald die zu erhitzende Luft von 
stark staubigen Stellen angesaugt wird, zu enormen Staubansammlungen und 
zur trockenen Destillation der organischen Bestandtheile des Staubes kommt. 

Daher sollen solche Heizflächen höchstens auf 100° erwärmt werden; man 
soll dieselben auch so construiren und anlegen, dass eine Staubanhäufung 
möglichst vermieden wird und ihre Reinhaltung eine leichte ist. Dies ist bei 
emaillirten, glatten Heizkörpern der Fall; die Caloriferen müssen zudem 
leicht zugängig sein. 

Unter den staubförmigen Verunreinigungen kommen die von 
den Brennmaterialien stammenden in erster Linie in Betracht. Torf, Kohle, 
Coaks liefern die grössten Staubmengen. Zur Vermeidung des Uebelstandes 
ist es am gerathensten, dort, wo es möglich ist, die Feuerungsöffnungen und 

Bibi. med. Wissenschaften Hygiene u. Ger. Med. 27 


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HEIZUNG. 


insbesondere die Füllschächte der Dauerbrandöfen von aussen in die Corridor- 
wand zu verlegen. 

4. Der Feuchtigkeitsgehalt der Zimmerluft soll durch die Heizung 
nicht zu stark vermindert, die Luft also nicht zu trocken werden. Je 
niedriger die Temperatur der Aussenluft ist, um so weniger Wasserdampf ent¬ 
hält ^ letztere. Wenn nun eine Luft mit geringem Wassergehalt in das 
geheizte Zimmer einströmt, ohne dass sie Gelegenheit hat, auf ihrem Wege 
Wasserdampf aufzunehmen, so muss im Raume schliesslich ein sehr bedeu¬ 
tendes „Sättigungsdeficit“ entstehen. Eine solche Luft wirkt austrocknend, 
d. h. sie entzieht den im Raume befindlichen Objecten eine gewisse Menge 
Wasser, die um so grösser werden kann, je mehr die Temperatur der Innenluft 
von derjenigen der Aussenluft difterirt. Eine;bei 0°Cmit Wasserdampf gesättigte 
Luft besitzt z. B. nur 4‘6 mm Wasserdampf, bei 20° C kann die Luft 
jedoch 17’4 mm aufnehmen. Das Sättigungsdeficit einer 0° betragenden Luft 
wird demnach bei der Erwärmung auf 20° C 17 4 — 4‘6 = 12 8 mm be¬ 
tragen. Die Luft wird unter dieser Bedingung noch so viel Wasser¬ 
dampf aufnehmen können, bis die Spannung desselben 17*4 mm beträgt. Eine 
solche Luft ist sehr trocken und der Aufenthalt in ihr ein unbehaglicher. — 
Ein Sättigungsdeficit von 10 mm und mehr kann, wenn die Luft staubfrei ist, 
ganz gut ertragen werden; in staubreicher Luft treten aber bisweilen Reizungen 
der Kehlkopfschleimhaut und andere Beschwerden auf. — Zu hoher Feuch¬ 
tigkeitsgehalt der Luft, also eine Luft mit zu geringem Sättigungsdeficit 
erregt das Gefühl der Schwüle; sie ist „drückend“. Als Grenzen hat man 
30—70% relativen Feuchtigkeitsgehalt, bei Temperaturschwankungen von 
10—20° C, als geeignet angenommen. 

Die Lufttrockenheit sucht man durch Anreichem mit Wasserdampf zu 
verhüten. Man bedient sich dazu entweder gewisser Verdampfungsapparate 
(Pfannen), die man auf den Heizkörpern anbringt, oder sogenannter Verstäubungs- 
vorrichtungen (Brausen), die letztere bei Centralheizanlagen Verwendung finden. 

5. Der Betrieb der Heizung soll gefahrlos, einfach und billig sein. 

Die Heizung verlangt 1. Heizmaterial; 2. Heizvorrichtungen. 

Als Heizmaterial — Brennstoffe — kommen gewöhnlich kohlenstoff¬ 
reiche Substanzen zur Verwendung, deren Bestandtheile, insbesondere Kohlen¬ 
stoff, sich mit Sauerstoff unter Wärmeentwicklung vereinigen, nachdem sie 
auf die Entzündungstemperatur, d. h. diejenige Temperatur gebracht sind, bei 
der sich aus ihnen brennbare Gase entwickeln. Die folgende Tabelle giebt 
o) den Heizwert (calorimetrischen Effect — Wärmemengen in Wärme-Einheiten 
ausgedrückt), welchen 1 kg der Brennstoffe bei ihrer Verbrennung liefert, 

b) den pyrometrischen Effect, das ist die höchste erreichbare Temperatur, und 

c) die zur Verbrennung erforderliche Luftmenge an. 



Calorimetr. Effekt 

Pyrometr. 

Effekt 

Bedarf ai 
Luft 

1 Kg. luftrockenes Holz 

2800 -3900 W.-E. 

1860° C. 

3.5 Cbm. 

1 , Torf 

3000—5000 

9 

1829° „ 

3.4 „ 

1 jf Braunkohle 

2000- 6000 

9 

2211° * 

5.0 „ 

1 „ Steinkohle 

6000-7500 

9 

2565° „ 

7.5 „ 

1 „ Anthracit 

7500—8000 

9 

— 

8.5 ., 

1 „ Koks 

7000 - 7800 

9 

2593° „ 

79 „ 

1 „ Holzkohle 

7034 

9 

2574° „ 

7.8 , 

1 „ Presskohle 

7000 

9 

— 


1 „ Leuchtgas 

10.000—11.000 

9 

2466° „ 

11.5 ., 

1 Cbm. Wassergas 

2360-2880 

9 

— 

— 

1 „ Dowsongas 

1100-1500 

9 

— 

— 


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HEIZUNG. 


419 


Praktisch wird bei den festen Brennstoflen von der entwickelten Wärme 
je nach dem Heizkörper, der Bedienung desselben u. dgl. m., für den Raum 
ausgenützt, bei gewöhnlicher Kaminheizung 10%, Ofenheizung 20—30% (oft 
auch mehr), bei Centralheizungen 50—75%. 

Die Wärmeabgabe seitens der Heizkörperoberfläche ist eine verschiedene. 
1 m s Heizfläche giebt an Luft von 20° C in einer Stunde ungefähr ab: 


Dickwandige Kachelöfen. 500—1000 W. E. 

Eiserne, glattwandige Oefen. 1500—3000 W. E. 

„ gerippte Wand. 1000 - 2000 W. E. 

Luftheizöfen, glatte Fläche. 1500—3000 W. E, 

* gerippte „ 1000—1500 W. E. 

Warmwasserheizung mit Wassertemperatur 60— 80°C 250—650W.E.lje nach der Construction 
„ „ 80—100° C 325 - 650W.E.J des Heizkörpers. 


Dampfheizungen je nach der Construction 
der Heizkörper. 


Niederdruck Hochdruck 

400—800 W. E. 500—950 W. E. 


Zur Erwärmung von 10 cbm Raum ist an Heizfläche erforderlich für: 

ohne Ventilation mit Ventilation ohne Ventilation mit Ventilation 


Geschützt liegende Räume 
mit Doppelfenstern . . . 

3 0—7-5 m' 

60—7*5 m 7 

1-2—1-5 m 3 2-4-3 0 m‘ 

dto. mit einfachen Fenstern 

40-5-0 , 

8-10 „ 

16—2 0 „ 3-4-4 0 , 

"Weniger geschützte Räume 
(Eckzimmer, grosse Fen¬ 
sterflächen, kalter Fuss- 
boden). 

4-Ö-5-5 „ 

9-1125 , 

1-8—2-2 , 3-6-4-5 , 

Sehr exponirte Räume mit 
einfachen Fenstern . . . 

6 0-7-25 „ 

12-14-5 „ 

2-4—2-9 , 48—5-8 „ 


Kachelöfen 

für eiserne Heizflächen 


Der Wärmebedarf der zu beheizenden Räumlichkeiten kann sehr 
verschieden sein; er ist abhängig von den Wärmeverlusten, die durch 
Wärmeabgabe an die Umgrenzungsflächen hervorgebracht werden und von 
der Grösse des Luftwechsels. Ferner sind hierfür in Abrechnung zu bringen 
die von dem Lebensprocess der Menschen und von der Beleuchtung gelieferten 
Wärmequantitäten, wobei man für einen Erwachsenen im Ruhezustände 
stündlich 100 W.-E., bei der Arbeit 146 W.-E., für ein Kind 24 W.-E. annimmt. 
Bezüglich der Wärmeerzeugung durch die Beleuchtung vgl. diese. Im 
Uebrigen berechnet man gewöhnlich den Wärmebedarf eines Raumes pro 
Stunde nach der Gleichung W = F (L — t») K, worin W der Wärmeverlust 
pro Stunde in Cal., F die Grösse der Fläche in m i , t» Aussentemperatur, 
ti Innentemperatur und K eine empirisch gewonnene Mittelzahl für verschie¬ 
dene Wandumgrenzungen (nach einem Ministerialerlass für Preussen vom 
7. Mai 1884) bedeutet. 

An jeder Heizvorrichtung unterscheidet man 1. den Verbren¬ 
nungsraum, 2. den Heizraum und 3. den Schornstein. 

1. Im Verbrennungsraum geht die Verbrennung des Brennmaterials vor sich. 
Für feste Brennstoffe ist derselbe durch den Rost in zwei übereinanderliegende Theile 
geschieden, den Feuerungsraum und Aschenfall. Letzterer dient oft als Canal für die in 
den Feuerungsraum einzuführende Luft. Leicht brennbares Material braucht keinen 
Rost; die nöthige Luft kann man durch eine Oeffnung der Ofenthür ein treten lassen. 
Für gasförmige Stoffe bestimmte Feuerungsraume sind gewöhnlich so construirt, dass mit 
dem Gasstrom ein Luftstrom sich vermengt, analog der Vorrichtung bei dem bekannten 
Bunsenbrenner. 

2. Der Heizraum giebt die Wärme an die Zimmer ab und richtet sich in seiner 
Gestalt nach der Construction des Heizapparates. Man legt ihn zweckmässig als ein System 
von Canälen (Rauch- oder Feuerzüge) an, durch welche die heissen Rauchgase auf-und 
niederströmen, somit erst dann in den Rauchfang gelangen, nachdem sie ihre Wärme an 
die Heizflächen in ausgiebiger Weise abgegeben haben. Damit letztere sich wieder leichter 
entwärmen und dadurch befriedigende Heizeffecte veranlassen, veygrössert man ihre Ober¬ 
fläche durch Anbringen von s Rippen“. Die Ausdehnung des Heizraumes hat jedoch ihre 
Grenze, da die Rauchgase immer noch eine Temperatur von 120° C haben müssen, wenn 
sie in den Schornstein gelangen, um in diesem einen genügenden „Zug“ zu unterhalten. 

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HEIZUNG. 


3. Der Schornstein bezweckt nicht nur, die aus dem Heizranm aasströmenden 
Verbrennangsproducte ins Freie abzuführen, sondern er soll auch die zur Verbrennung des 
Heizmaterials nothwendige Luftmenge ansaugen. Auf die Construction der Schornsteine hat 
der Heiztechniker grosse Sorgfalt zu verwenden und nicht nur ihre richtige Lage im 
Gebäude, ihren inneren Ausputz ins Auge zu fassen, sondern auch den störenden Ein¬ 
flüssen des Windes, Regens u. dgl. m. durch geeignete Vorrichtungen (Rauchklappen, 
Luftsauger) entgegenzutreten. 

Die Heizanlagenselbst zerfallen in Local- und Central heizungen. 
Bei der Localheizung befindet sich die Heizvorrichtung in der Regel im 
Zimmer selbst, wogegen bei der Centralheizung von einer Stelle aus (Keller 
des Hauses) mehrere Zimmer gemeinsam mit Wärme versorgt werden. 

Die Localheizung geschieht durch Kamine oder Oefen. Die 
Kamine besitzen keinen Heizraum, sondern nur eine offene Feuerstelle die 
direct mit dem Schornstein communicirt; sie heizen durch strahlende Wärme 
und besitzen den Nachtheil einer geringen (5—10%) Wärmeausnützung und 
der ungleichen Erwärmung des Raumes, lassen auch mitunter Rauchgase in 
das Zimmer zurücktreten. Dagegen ventiliren sie den Raum ausgiebig. 
Kamine sind daher nur als Luxusheizung und als Ventilationsvorrichtungen 
anzusehen. Eine wesentlich bessere Erwärmung führt der GALTON’sche 
Kamin herbei, bei dem das die Verbrennungsgase abführende Rauchrohr mit 
einem Mantel umgeben ist, in den, wie bei den Heizungen für „Circulation“, 
die Luft unten eintritt, sich erst an dem Rauchrohr erwärmt und dann oben 
in das Zimmer austritt. 

Als Oefen sind theils Kachelöfen oder eiserne Oefen im Gebrauch. 

Die Kachelöfen, auch Massenöfen genannt, speichern die Wärme, 
welche durch die wenigstens täglich einmal ausgeführte Heizung erzeugt wird, 
in ihrer Steinmasse auf und geben sie allmählich an den Raum ab. Die 
Erwärmung des letzteren geht dabei nur langsam vor sich; ausserdem ist die 
Regulirbarkeit der Zimmertemperatur eine schwierige. Man wendet sie 
daher wohl nur für Privatwohnungen an; für Räume wie Schulen, Kranken¬ 
zimmer und periodisch benutzte Zimmer sind sie nicht empfehlenswert. 

Besonders viel benutzte Kachelöfen smd: der russische und schwedische Ofen. 
Der eratere ist rechteckig, der letztere zumeist kreisförmig; ihre Höhe reicht bis fast unter 
die Zimmerdecke. Der Heizraum des russischen Ofens besteht aus einer Reihe von auf- 
und abwärts steigenden Rauchzügen, die aus Backsteinen hergestellt sind. Eine Ausfüllung 
der Zwischenräume mit Lehm und Ziegeln soll dem Ofen eine grosse Masse für die Auf¬ 
speicherung der Wärme verleihen. — Der Berliner Ofen gleicht dem Russischen; er 
besitzt vertical- und horizontalgehende Züge, ist ohne Rost für Holz- und Press¬ 
kohlenfeuerung, und mit Rost für Kohlenfeuerung eingerichtet. An Stelle des doppelten 
Deckel Verschlusses (Guschke) an der Einmündung des Rauchrohres in den Fuchs beim 
russischen Ofen ist beim Berliner Ofen eine luftdichte Thür angebracht, die verhindern 
soll, dass die W T ärme durch die nachströmende Luft nach dem Schornstein getrieben werde. 

Die Mängel der Kachelöfen hat man durch die Construction des ge¬ 
mischten Ofens zu beseitigen gesucht, bei welchem der Feuerraum und ein 
Theil des Heizraumes durch einen gusseisernen Ein- oder Untersatz gebildet 
ist, an den sich die Rauchzüge anschliessen. Der eiserne Einsatz hat im 
Ofen bisweilen eine freie Aufstellung erhalten und der so gebildete Zwischen¬ 
raum ist unten und oben mit Gitterkacheln versehen, so dass hierdurch eine 
Circulation der Luft erzielt wird. Zu dieser Art von Oefen gehört der BöHM’sche 
Ventilationsofen, welcher in Wiener und Münchener Krankenhäusern einge¬ 
führt ist. 

Die eisernen Oefen, in ihrer einfachsten Form Säulen-, Kanonen¬ 
oder Kasernenöfen genannt, heizen zumeist nur durch Strahlung und ent¬ 
lassen einen grossen Theil der Wärme unverwertet nach dem Schornstein; 
ihre Wandungen werden stets zu stark überhitzt, oft sogar glühend; die Er¬ 
wärmung des Raumes erfolgt zwar sehr schnell, aber ebenso rasch kühlt der 
Raum aus, sobald das Feuer erloschen ist. Zudem müssen diese Oefen sehr 
häufig beschickt werden, was zu starker Staubentwicklung führt. 


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HEIZUNG. 


421 


Diese Mängel wurden nach und nach durch bessere Constructionen zu 
beseitigen gesucht. Die augenblicklich gebauten Mäntel-Regulir-Fü 11 öfe n 
sind das Resultat dieser Bestrebungen. 

Die Füllöfen (Schüttöfen genannt) nehmen den Bedarf an Brennmaterial 
für 6—12, oft für 24 Stunden auf einmal auf. Die meisten derselben functioniren 
mit Dauerbrand, indem sie während der Heizperiode nur einmal angeheizt 
zu werden brauchen, und das frische Brennmaterial auf die noch glimmenden 
Reste des vorhandenen aufgeworfen wird. Der Luftzutritt erfolgt behufs 
langsam von oben nach unten fortschreitender Verbrennung durch einen Rost, 
weshalb nur unten nicht zusammenbackende Kohlen oder Coaks verwendet wer¬ 
den dürfen. Die Füllung des Ofens kann bei manchen Arten derselben ausser¬ 
halb des zu beheizenden Raumes geschehen. 

Vielfach besitzt diese Sorte Oefen einen seitlichen Schacht (Schachtöfen), in 
welchen das Brennmaterial in grösserer Menge anf einmal eingefüllt wird, nachdem anf dem 
Rost das Feuer angezöndet worden ist. Das Brennmaterial gleitet entsprechend der Raschheit 
des Verbrennungsvorganges, der regulirbar ist, allmählich in den Verbrennungaraum herab. 
Der Rost ist beweglich (Schüttelrost) und ermöglicht dadurch eine Auffrischung des Feuers. 
Eine besonders vollständige Verbrennung führen die sogenannten „Korbroste“ herbei, weil 
sie der einströmenden Luft eine grosse Oberfläche darbieten. 

Von wesentlicher Bedeutung sind die den eisernen Ofen umgrenzenden 
Mäntel, da diese sowohl die strahlende Wärme abhalten als auch eine 
schnelle und möglichst gleichmässige Erwärmung des Raumes 
herbeiführen. Der Abstand des Mantels vom Ofen soll mindestens 15 und 
höchstens 30 cm betragen; bei zu geringem Abstand erhitzt sich nämlich die 
zwischen Mantel und Ofen nach aufwärts sich bewegende Luft zu hoch, bei 
zu weitem Abstand findet Einströmung von kalter Luft von oben her in den 
Mantel statt, die die Function des Mantels stört. Der Mantel communicirt 
nämlich unten und oben mit der Zimmerluft, so dass beim Brennen des 
Feuers die zwischen Mantel und Ofen befindliche Luftsäule erwärmt, dadurch 
specifisch leichter wird und daher oberhalb des Mantels in das Zimmer aus- 
tritt. Da in Folge des Austrittes erwärmter Luft frische, kältere Luft von 
unten in den Mantel eintritt, so entsteht in dem Zimmer ein stetig durch 
den Mantel „circulirender“ Luftstrom, weshalb man solche Oefen auch 
Circulationsöfen genannt hat. 

Der Mantel lässt sich ausserdem mit einem Canal (Ventilationscanal) 
verbinden, der mit der Aussenluft communicirt; alsdann saugt der angeheizte 
Ofen frische Luft aus dem Freien an, die sich erst innerhalb des Mantels 
erwärmt, bevor sie ins Zimmer strömt (Ventilationsöfen). Diese Canäle 
enthalten eine Klappe, die durch Umstellung nach Belieben den Ventilations¬ 
schacht zu schliessen gestattet, so dass in diesem Falle der Ofen als „Circulations- 
ofen“ - wirkt, oder die Circulation abzusperren und den Ventilationscanal zu 
öffnen erlaubt, so dass der Raum zugleich mit warmer frischer Luft versehen 
wird (Circulations- und Ventilationsöfen). 

Nach diesem Princip sind eine grosse Menge Oefen construirt worden, z. B. der 
Meidinger Ofen (Eisenwerk Kaiserslautern), die Oefen von Käuffer & Co. in Mainz, Keidel 
in Berlin, der irische Ofen. Der von Gropins und Schmieden in Berliner Krankenhäusern 
eingeführte „Barakenofen“ besteht aus zwei hohen Mantelöfen, die dicht an einander in 
der Mitte des Saales stehen und von denen der eine als Circulationsöfen wirkt, der andere 
als Ventilationsofen. Beide Oefen geben ihre Verbrennungsproducte an ein gemeinschaftliches 
Abzugsrohr ab, welches concentrisch in einem weiten luftabführenden Canal aus Eisenblech 
über das Dach geführt ist. 

Es giebt im Handel kleinere transportable eiserne Oefen, die NiESKE’schen Carbon¬ 
öfen, die Kohlenoxyd in die Zimmerluft abgeben und vor denen daher behördlicherseits 
gewarnt worden ist. 

Die in letzter Zeit in Aufnahme gekommenen Gasöfen bieten den Vortheil ver¬ 
hältnismässig geringer Anlagekosten, des einfachen Betriebes, schneller Regulirfähigkeit; ihr 
Betrieb ist zudem ein reinlicher, denn Russ und Rauch wird bei ihnen vermieden. Unbe¬ 
dingt muss von ihnen eine Construction gefordert werden, welche die Abfuhr der Heizgase 
(nach oben) gewährleistet. Nachtheile dieser Oefen sind die ziemlich hohen Betriebskosten, 


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HEIZUNG. 


die Gefahr des Einströmens von Leuchtgas in die Zimmerluft. Die Ueberhitzung der 
Metallflächen ist bei gut construirten Gasöfen ausgeschlossen. Ein solcher ist der Karls* 
ruher Schulofen (Warsteiner Hütte), ein cylindrischer Mantelofen, der für Circnlation 
und Ventilation eingerichtet ist. — Reflectoröfen heizen durch strahlende Warme und 
besitzen meist die Kaminform; sie sind deshalb mit einem Metallschinne (gewelltes Metall) 
▼ersehen, welcher die Warmestrahlen der im oberen Theil vorhandenen Gasflammen ins 
Zimmer reflectirt. 

Die Centralheizung bewirkt die gleichzeitige Erwärmung einer 
Anzahl von Räumen von einer Stelle aus. Man benützt als Wärmequelle 
entweder Luft (Luftheizung), Dampf (Dampfheizung) oder erwärm¬ 
tes Wasser (Wasserheizung). 

Bei der Luftheizung wird frische Luft an einem Ofen (Heiz¬ 
apparat, Calorif er), der möglichst tief im Gebäude (Keller) aufgestellt 
wird, erwärmt und durch Canäle den einzelnen Räumen zugeführt. Der Heiz¬ 
apparat besteht gewöhnlich aus einem grossen eisernen Schüttofen, der den 
eigentlichen Heizkörper erwärmt. Letzterer hat entweder eine kofferförmige 
Gestalt, ist mit Rippen versehen, oder mit in Windungen verlaufenden, eben¬ 
falls gerippten Röhren. Durch die Heizkörper strömen die heissen Verbren¬ 
nungsgase des Ofens und geben an sie die Wärme ab, ehe sie an den 
Schornstein gelangen. Die Temperatur des Heizkörpers soll nicht 100°C über¬ 
schreiten; er soll die Wärme leicht und schnell abgeben und vor allen Dingen 
dicht construirt sein, so dass das Ausströmen von Verbrennungsproducten in 
die Heizkammer und von da in die Zimmer ausgeschlossen ist. Ebenso soll er 
leicht innerlich und vornehmlich äusserlich zu reinigen sein. — Der Heiz¬ 
körper befindet sich in der Heizkammer: es ist diese ein in einem gewissen 
Abstande den Heizkörper umgebender gemauerter Raum, der wie die Mäntel 
der eisernen Oefen wirken soll. Die Kammer soll so gross sein, dass sich die 
Luft, welche durch Canäle aus dem Freien infolge der Temperaturdifferenzen 
angesaugt wird, in ihr höchstens auf 80° C erwärmt; sie muss bequem begehbar 
und zu reinigen, daher für letztere Zwecke genügend hell sein. Ihre Umfassungs¬ 
flächen müssen behufs leichter Reinigung glatt sein. — In der Heizkammer 
münden alle Canäle für die Heizluft; hier befinden sich ausserdem die zur 
Anfeuchtung der Luft nothwendigen Wasserverdunstungsvorrichtungen. 

Die Kaltluftcanäle führen frische Luft von Aussen in die Heiz¬ 
kammer. Die Entnahmestelle der frischen Luft soll an einer vor Staub, 
üblen Gerüchen u. dgl. m. geschützten Stelle liegen; diese darf ausserdem 
nicht zu stark dem Einfluss des Winddruckes ausgesetzt sein. Man lässt die 
Luft zunächst in eine Luftkammer eintreten, welche plötzliche Windstösse 
abschwächt und in welcher grobe Filter zur Fernhaltung gröberer in der Luft 
suspendirter Partikel vorhanden sind. Feinmaschige Filter oder andere Vor¬ 
richtungen, die die frische Luft von Staub zu befreien den Zweck haben, 
sind so anzubringen, dass sie der Bewegung der Luft, die nur durch die 
Temperaturunterschiede erfolgt, kein Hindernis bieten. — Die» Heissluft¬ 
canäle befördern die in den Heizkammern erwärmte frische Luft in die 
zu beheizenden Räume. Sie sind in den Innenwänden des Gebäudes 
angelegt, dürfen in der horizontalen Lage höchstens eine Länge von 12 m 
besitzen, falls nicht maschinelle Kraft zur Bewegung der Luft benutzt werden 
soll, und sind immer ansteigend (vertical) ohne viele Knickungen anzulegen. 
Für zweckmässige Anordnung von Reinigungsöffnungen ist auch hierbei zu 
sorgen. Die Geschwindigkeit der Luft in ihnen soll wo möglich V2m pro 
Secunde nicht überschreiten und die aus ihnen austretende Luft höchstens 
40° C betragen. 

Die Regulirung der Luftzuführung besorgt der Heizer am besten selbst 
von der Heizstelle aus, die zu diesem Zwecke mit Thermometern ausgerüstet 
sein muss, welche ihm die Temperatur der Luft in den beheizten Räumen 
anzeigen (Fernthermometer). Um diese Regulirung zu ermöglichen, sind 
die Luftzuführungscanäle mit Klappen versehen, die den Austritt erwärmter 


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HEIZUNG. 


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Luft durch Verringerung oder Vergrösserung des Querschnittes vermindern 
oder vermehren. 

Jeder Wohnraum besitzt seinen eigenen Heissluftcanal, dessen Oeffnung 
im Zimmer ca. 1 bis 2 m über Kopfhöhe angebracht ist. Grössere Räume 
müssen mehrere derartige Heissluftcanäle enthalten; jeder einzelne der letzteren 
soll nicht Uber 60 cm gross sein; man giebt den Austrittsöffnungen verstell¬ 
bare Schirme, die die ausströmende heisse Luft nach oben leiten, von wo 
sie sich dann im Zimmer vertheilt; dadurch wird Zugempfindung vermieden. 
Regulirungsvorrichtungen zur Bemessung des einzulassenden Luftquantums sind 
ausserdem im Raume stets vorhanden. 

Um die mit Respirationsproducten überladene Luft abzuführen und die 
Ventilation zu unterstützen, befinden sich ausserdem in jedem Raume sog. 
Abzugs- oder Abfuhrcanäle. Diese liegen in den Innenwandungen des 
Gebäudes und führen über Dach; behufs steter Aufwärtsbewegung der Luft¬ 
säule in ihnen werden diese Canäle an stets benutzte Schornsteine gelegt oder 
mit Wärmequellen (Lockfeuern, Gasflammen) versehen. Diese Abluftcanäle 
besitzen in der Regel zwei Mündungen im Zimmer, am besten auf derselben 
Seite, wo sich der Zuluftcanal befindet; die eine der Mündung nahe am Fuss- 
boden, die andere nahe an der Decke. Nur die erstere soll bei regulärem 
Heizbetrieb geöffnet sein. Die obere Oeffnung wird nur dann benutzt, wenn 
die Temperatur im Zimmer zu hoch geworden ist; die einströmende warme 
Luft kann in diesem Falle direct, ohne im Raume zu circuliren, entweichen. 
Alle Canäle müssen mit grösster Sorgfalt hergestellt und namentlich der¬ 
artig verputzt sein, dass sich aus ihnen kein Staub ablöst; ihre Reinigung 
soll leicht sich bewerkstelligen lassen. 

Zu erwähnen ist noch, dass das Anheizen der Räume in der Weise geschieht, dass 
der von Aussen zur Heizkammer führende Ventilationsschacht geschlossen wird; dadurch 
tritt eine Circulationsbeizung ein, indem die in den Zimmern vorhandene Luft über die 
Caloriferen erwärmt in die Zimmer zurückströmt; erst nach erfolgter Durchwärmung wird der 
Frischluftcanal geöffnet. Zur Temperaturregulirung dienen ferner sog. Mischcanäle, in 
denen sich heisse frische Luft mit kalter frischer Luft in solchen Mengen mischen kann, 
dass die Mischluft die gewünschte Temperatur besitzt. Die Mischung lässt sich reguliren 
und wird vom Heizer je nach Bedürfnis ausgeführt. 

Den Luftheizungen ist der Vorwurf gemacht worden, dass sie die Räume 
leicht überheizen; schuld daran ist aber meist das unsachgemässe Re¬ 
guliren der Verschlüsse der Heissluftcanäle seitens der Bewohner der Zimmer 
oder eine Ueberbürdung des Heizers mit anderen Obliegenheiten, die ihm der 
Beobachtung der Heizanlagen entziehen. — Sind die Gebäude den Winden zu 
stark ausgesetzt, so können Missstände entstehen, indem die dem Winde zu 
stark exponirten Theile des Gebäudes kalt, die entgegengesetzten zu warm 
werden. 

Die schlechte Luft, die in den mit Luftheizungen versehenen Räumen herrschen soll, 
kommt wohl davon, dass entweder geeignete Mischcanäle fehlen, oder die Lüftung nicht 
gehörig functionirt oder gebandhabt wird. — „Brenzlichen Geruch“ erzeugende Producte 
entstehen stets, sobald Staubablagerungen auf den Heizkörpern und den Heissluftcanälen 
stattgefunden haben; der Staub erleidet durch die überhitzte Luft oder durch die heissen 
Flächen der Heizkörper eine trockene Destillation, die unter Entwicklung von brenzlich 
riechenden Producten vor sich geht. — Trockene Luft, über die gerade in den mit Luft¬ 
heizung versehenen Räumen geklagt wird, macht sich nur bei Ueberheizung der letzteren 
und bei ungenügender Durchfeuchtung der Luft fühlbar. Eine gut construirte und gut be¬ 
diente Luftheizung besitzt alle diese Mängel nicht. 

Zu erwähnen ist noch, dass man vielfach die Caloriferen anstatt durch directes Feuer 
mittelst Heisswasser- oder Dampfschlangen heitzt, um eine Ueberwärmung der Luft zu 
vermeiden. Man kann dann von einer Heizstelle aus mehrere Caloriferen erhitzen; bei unter¬ 
brochenem Betrieb solcher Heisswasserluftheizungen ist jedoch ein Einfrieren der Heizung zu 
befürchten. 

Die Wasserheizung, bei der das erwärmte Wasser die Wärmequelle 
vorstellt, besteht im Wesentlichen aus einer Feuerstelle und einer mit Wasser 
gefüllten, in sich geschlossenen Rohrleitung; diese letztere geht nämlich von 
dem oberen Theil eines mit Wasser gefüllten Kessels, der geheizt wird, aus, 


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HEIZUNG. 


läuft durch die zu beheizenden Räume hindurch und endet wieder im unteren 
Theil des Kessels. Da das warme Wasser specifisch leichter ist, als das kalte, 
so wird bei der Erwärmung des Wassers im Kessel ein Aufsteigen desselben 
im Rohrsystem stattfinden. Zugleich kühlt sich aber das Wasser unterwegs (in 
den beheizten Räumen) durch Wärmeabgabe mehr und mehr ab und kehrt 
daher in abgekühltem Zustand in den Kessel wieder zurück. Den Kessel 
stellt man daher im tiefsten Theile des Gebäudes (Keller) auf. 

Man unterscheidet bei der Wasserheizung: 

1. Warmwasserheizung, 

a) mit Mitteldruck (über 100° C im Kessel), 

b) mit Niederdruck (ca. 100° im Kessel), 

2. Heisswasserheizung, 

a) mit Mitteldruck, d. i. etwa 150° C in der Feuerschlange, 

b) mit Hochdruck, d. i. etwa 200° C in der Feuerschlange. 

Die Warmwasserheizung oder Niederdruckwasserheizung 
besitzt ein Rohrsystem, dessen höchster Theil in ein Gefäss (Expansions- 
gefäss) mündet; dasselbe communicirt mit der atmosphärischen Luft und bewirkt 
daher, dass sich das Wasser im Kessel nicht viel höher als 100° erwärmen 
kann. Es dient zugleich zur Aufnahme des überschüssigen Antheiles desjenigen 
Wassers, welches durch die bei der Erwärmung entstehende Volumvermehrung 
aus dem Röhrensystem verdrängt wird; beim Erkalten wird dieses Wasser an 
die Rohrleitung wieder abgegeben. Das vom Kessel aufsteigende erwärmte 
Wasser tritt in die Heizkörper ein, die in den zu erwärmenden Räumen stehen, 
und von denen aus die Wärmeabgabe erfolgt. Jeder dieser Heizkörper muss 
für sich regulirbar sein; sie besitzen daher Hähne oder Ventile, mittelst 
welcher die Wasserzuleitung verringert oder ganz ausgeschaltet werden kann. 
Man giebt ihnen verschiedene Constructionen, theils bestehen sie aus guss¬ 
eisernen Rippenröhren, die an den Wänden entlang laufen, oder zu Registern, 
Batterien, Elementen vereinigt sind, und in einer Nische Aufstellung finden, 
theils sind es flache, schmiedeiseme Kästen oder stehende Röhren (Säulen¬ 
form), deren Zwischenräume das warme Wasser durchfliesst (Wasseröfen). Die 
Röhren enthalten einen mit der Zimmerluft communicirenden Luftraum, durch 
welchen Luft unten ein- und oben ausströmt, auf diese Weise eine Circulations- 
heizung bewirkend. Vorrichtungen an den Heizkörpern gestatten zugleich eine 
Ventilation, d. h. Zuführung frischer, eventuell vorher durch sie angewärmter Luft. 

Die Niederdruckwasserheizung liefert eine milde gleichmässige und nach¬ 
haltige Wärme und eignet sich für Wohn- und Krankenräume, Schulen und 
dgl. m.; sie empfiehlt sich nicht für Räume mit unterbrochenem Heizbetrieb. 
Sie ist gut regulirbar und gestattet die Ausschaltung einzelner Räume. Da 
die Heizkörper sich nicht hoch erhitzen, ist eine Verunreinigung der Luft mit 
brenzlichen Producten ausgeschlossen. Die Anlage selbst ist theuer, der Be¬ 
trieb aber billig. Da das Wasser nur eine niedere Temperatur besitzt, muss 
die die Wärme abgebende Wassermasse relativ gross sein und daher die Röhren 
weit; dies vertheuert die Anlage. 

Wegen der höheren Temperaturen, welche das Wasser der Warmwasserheizung 
mit Mitteldruck besitzt, wird diese Anlage, die sonst die gleiche ist, wie Niederdruck¬ 
wasserheizung, billiger. Die höhere Temperatur bei ersterer erzielt man dadurch, dass man an 
der Mündung der Rohrleitung im Expansionsgefäss ein Doppelventil anbringt mit einer 
dem erlaubten Druck entsprechenden Belastung. Das Wasser aus der Leitung tritt daher 
ins Expansionsgefäss beim Entstehen des Ueberdruckes aus; beim Erkalten öffnet sich das 
Ausflussventil in Folge der im Rohrsystem geäusserten Saugwirkung. 

Die Centralheizung von Liebau (Magdeburg) ist eine Warmwasserheizung, deren 
Heizkessel im Küchenherd untergebracht ist, so dass die Herdfeuerung zugleich die Wohn- 
räume mitheizt. 

Die Heisswasserheizung, PERKra’sches Heizsystem, besitzt 
statt des Wasserkessels meist spiralförmig gewundene Röhren (Heiz- oder 


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HEIZUNG. 


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Feuerschlange), in denen das Wasser erwärmt wird. Dieses Wasser wird eben¬ 
falls, wie bei der Warmwasserheizung, behufs Wärmeabgabe in die einzelnen 
Räume und von da zur Feuerung zurückgeleitet. Der Druck im System beträgt 
3 bis 4 Atmosphären; die Anlage muss aber einen Probedruck von 150 Atmo¬ 
sphären aushalten können. Das Rohrsystem besteht aus engen Röhren; an Stelle 
des offenen Expansionsgefässes bei der Warmwasserheizung tritt ein mit be¬ 
sonderem Ventil belastetes Rohr; das Ventil öffnet sich erst bei 10 bis 15 Atmo¬ 
sphärendruck und lässt dabei das Wasser in ein Reservoir treten; die Ex¬ 
pansionseinrichtung besteht mitunter aus erweiterten zum Theil mit Luft 
gefüllten Röhren. 

Die Länge jedes einzelnen Systems darf 180 m nicht übersteigen. Umfangreiche 
Gebäude bedürfen daher mehrerer Systeme. 

Die Heizkörper bestehen ebenfalls aus spiralförmig aufgerollten Röhren, die aber 
wegen der hohen Temperatur des in ihnen circulirenden Wassers umkleidet sein müssen. 
Die Heisswasserheizungsanlage ist billig, das System gestattet rasche Anheizung, kühlt sich 
aber auch rasch wieder ab. 

In Verbindung mit einer Luftheizung hat die Heisswasserheizung Anwendung für 
Schulen und Krankenhäuser gefunden, allein wird sie dafür nicht empfohlen. Explosionen, 
die stattgefunden hatten, betrafen in der Regel die Heizschlange (Kessel.) 

Die Dampfheizung unterscheidet sich von der Wasserheizung im Princip 
dadurch, dass Wasserdampf in einer Rohrleitung als Wärmequelle von einer 
Feuerstelle aus den zu beheizenden Räumen zugeführt wird. Die Wärme¬ 
abgabe seitens des Wasserdampfes erfolgt in Heizkörpern; hierbei condensirt 
sich der Dampf zu Wasser und kann nunmehr, eventuell in den Kessel zu¬ 
rück, abgeleitet werden. Dieses System gestattet Anlagen von unbeschränkter 
Ausdehnung und empfiehlt sich besonders da, wo man bereits zu anderen 
Zwecken eines grösseren Dampfkessels bedarf. 

Der Kessel befindet sich gewöhnlich entfernt von dem zu beheizenden Gebäude; 
von ihm aus wird der Dampf durch schmiedeeiserne Röhren in die Wohnräume geführt. 
Man giebt ihm nicht mehr wie D/a bis 2 Atmosphären Spannung (110—120° C) und rechnet 
wegen der geringen Wärmecapacität des Dampfes, die eine grosse Dampfmenge zur Be¬ 
heizung erforderlich machen würde, weniger auf die von diesem abgegebene Wärme, also auf 
die Entwärmung des Dampfes, als vielmehr auf die bei seiner Conaensation freiwerdende, 
beträchtliche Wärmequantität. 

In das Rohrsystem sind sog. Compensatoren eingeschaltet, die aus Kupfer be¬ 
stehen und U-Form besitzen. Diese bezwecken, der Ausdehnung, beziehungsweise Zusammen¬ 
ziehung der eisernen Röhren bei der Erwärmung oder beim Erkalten Spielraum zu bieten. 

Das Hauptrohr führt den Dampf zuerst zum höchsten Punkt; von da leiten 
ihn Abzweigungen durch die Heizkörper abwärts. Fliesst das Condensationswasser gegen die 
Richtung des Dampfes, so entstehen unangenehme knatternde Geräusche in den Röhren 
und Heizkörpern; man legt daher für das Condensationswasser eigene Leitungen an. Der 
Uebertritt desselben wird durch selbstthätig wirkende Ventile, die ein Ausströmen von 
Dampf verhindern, vermittelt. 

Die Heizkörper der Dampfheizung unterscheiden sich wenig von den bei 
der Warmwasserheizung üblichen, oft sind es guss- oder schmiedeeiserne 
Register, oft Rippenkörper mit Schutzmäntel, oft benützt man mit Wasser 
gefüllte Oefen, deren Inhalt durch den Dampf erhitzt wird. Vielfach legt 
man wegen der Geräusche die Heizkörper nicht in die Wohnräume selbst, 
sondern verbindet die Dampfheizung mit einer Luftheizung, in der bei dieser 
erwähnten Art. 

In neuerer Zeit gewinnt die Niederdruckdampfheizung, auch 
Wasserdunstheizung genannt, (von Bechem und Post, Rietschel und 
Henneberg, Käufper & Co.) immer mehr an Bedeutung; sie lässt sich zudem 
an kleineren Gebäuden mit Vortheil verwenden. 

Der Kessel dieser Heizung ist mit einem etwas über 10 m langen, oben offenen 
Wasserstandrohr versehen, so dass der in jenem entwickelte Dampf nur wenig über den Atmo¬ 
sphärendruck (01—0‘3 Atmosphärenttberdruck) steht. Im Kessel ist ein Heizkasten, der 
von oben mit Fenernngsmaterial beschickt wird und den Wasserinhalt des Kessels zum 
Verdampfen bringt. Der Luftzutritt zur Feuerung erfolgt durch einen Canal, dessen Oeffnung 
durch einen Deckel selbstthätig mittels sinnreicher Vorrichtung verkleinert oder vergrössert 
werden kann. Steigt in Folge geringeren Wärme- und Dampfverbrauchs in den Zimmern 


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HYPNOTISMUS. 


der Dampfdruck im Kessel, so sinkt der Deckel herab und der Luftzutritt, somit auch die 
Verbrennung, wird geringer. Im entgegengesetzten Falle hebt der Regulator automatisch 
den Deckel, wodurch die Luftzufuhr und die Verbrennung intensiver wird. — Die auto¬ 
matisch wirkenden Regulirungsvorrichtungen haben je nach dem System verschiedene Con- 
struction. Die übrige Anordnung und die Heizapparate sind ähnlich wie bei der Dampfheizung. 

Es ist noch zu erwähnen, dass namentlich die in Krankenhäusern viel¬ 
fach beliebte Fussbodenheizung daher ihre Bezeichnung hat, dass die 
Heizkörper irgend eines Heizsystems in gemauerten Gängen unter die Fuss- 
böden verlegt sind. Die Verdeckung dieser Gänge geschieht mittelst durch¬ 
löcherter Eisenplatten u. dgl. b. proskaueb. 

Hypnoti8lllllS (forensisch). Wenngleich die Erforschung der an einem 
Hypnotisirten zu beobachtenden Erscheinungen und insbesondere der psychi¬ 
schen Ausnahmezustände in den letzten Jahren das rege Interesse berufener 
Autoren gefunden, welche mit grosser Entschiedenheit für die wissenschaftliche 
Berechtigung des Hypnotismus eintreten, so dass der frühere Standpunkt 
allgemeiner Ablehnung bereits ziemlich verlassen ist, so ist doch bei der 
forensischen Beurtheilung der Tragweite des Hypnotismus seitens der Gerichts¬ 
ärzte und Richter die grösste Vorsicht nöthig; diese ist nicht blos in Rück¬ 
sicht auf die Eigenart der hypnotischen Erscheinungen als solche schon, son¬ 
dern deshalb geboten, weil in jenen Fällen, in welchen der Hypnotismus von 
forensischer Bedeutung werden kann, die sogenannten Medien sehr häufig 
Individuen sind, welche in ihrer psychischen Constitution erheblich von der 
Norm abweichen, z. B. Hysterische, deren krankhafte Neigung zu Erfindungen, 
Uebertreibungen und selbst Wahnvorstellungen einerseits und deren sexuelle 
Eigentümlichkeiten andererseits allgemein bekannt sind. 

Indem wir die Symptomatologie der Hypnose im Speciellen als bekannt voraussetzen 
and auf den bezüglichen Artikel verweisen, genügt es hier für die forensische Betrachtung 
des Hypnotismus mit Umgehung der zahlreichen Unterabtheilungen, welche Liebeault, 
Bernheim, Gilles de la Tourbtte, Bin et, Fere angaben, daran zu erinnern, dass die Aus¬ 
dehnung der durch Hypnose hervorgerufenen Functionsstörungen in hohem Grade variabel 
ist, sowohl für die centrifugalen wie die centripetalen Bahnen des Nervensystems. Die 
Tiefengrade der Hypnose schwanken von Somnolenz, in welcher der Hypnotische noch mit 
Anstrengung den Suggestionen widerstehen kann, leichtem Schlaf (Hypotaxie, charme). in 
welchem der Beeinflusste die Augen nicht mehr öffnen und einem Theil der Suggestionen 
bis allen gehorchen muss, ohne Amnesie, bis zur vollentwickelten Lethargie, einem Zustand 
völliger Erschlaffung, in welchem die Sinne keinen Eindruck mehr aufnehmen. Dazwischen 
liegt der somnambule Zustand, in welchem das Sinnesleben hochgradig gesteigert ist, mit 
einem dem Wachbewusstsein ähnlichen Bewusstsein, vermöge dessen Suggestionen von 
Aussen schnell und leicht percipirt und zur Idee verarbeitet werden, so dass in dem Som¬ 
nambulen beliebig Suggestionen erzeugt und Sinnesempfindungen hervorgerufen werden 
können. Ausser der gesteigerten SuggeBtibilität wird als weiteres Charakteristicum die 
meistens vollständige Amnesie nach dem Erwachen angegeben; im kataleptischen Stadium, 
Zustand von Analgesie und Anästhesie, Unbeweglichkeit, passiver Gliederstellung und 
körperlicher Starrheit, sind die Sinne noch erregungsfähig und die Suggestion automatischer 
Bewegungen wird aufgenommen und ausgeführt. 

Hieraus ergiebt sich, dass in der Hypnose Zustände Vorkommen, in 
welchen, wie Lilienthal ausführt, der Eingeschläferte 1. nicht im Stande 
ist, sich gegen verbrecherische Angriffe, welche auf ihn unternommen werden, 
zur Wehr zu setzen, 2. durch den Willen des Hypnotiseurs in einer Weise 
beeinflusst werden kann, dass er als willenloses Werkzeug in dessen Händen 
erscheint. Es handelt sich also um Nöthiguug zur Duldung einer Handlung 
im Sinne des § 240 d. St.-G.-B., um Beraubung der persönlichen Freiheit, 
§ 239 St.-G.-B., im zweiten Falle noch im Zusammenhang mit § 51 d. St.-G.-B., 
in welchem von der für die Strafbarkeit einer Handlung vorausgesetzten freien 
Willens-Bestimmung des Thäters die Rede ist (§ 56 öst. St.-G.-B.) 

Von den strafbaren, an Hypnotisirten unternommenen Handlungen haben 
nur die Sittlichkeitsvergehen — eine Reihe hiehergehöriger Fälle sind in der 
französischen Literatur von Bkouardel, Ladame, Auban, Tardieu, Devergie 
veröffentlicht — gerichtsärztliches Interesse. 


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HYPNOTISMUS. 


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Der interessante BnouARDEL’sche Fall betrifft einen Zahnarzt, der geständig ist, eine 
Clientin während der Hypnose wiederholt geschlechtlich missbraucht zu haben. Das be¬ 
treffende Mädchen war ein sehr gutes Medium, das ebenso leicht hypnotisirbar, aber auch 
in gleicher Weise leicht durch einfaches Anblasen aus tiefer Hypnose zum Erwachen gebracht 
werden konnte, so dass es auffällig sein musste, wenn die mit dem Coitus verbundenen 
tactilen Heize nicht den gleichen Erfolg hatten. Möglicherweise wurde hierauf auch der 
hypnotisirende Zahnarzt aufmerksam; denn er hat sich, wie Brouardel mittheilt, schon 
sehr bald nicht mehr mit der Hypnose allein begnügt, sondern dieselbe mit Inhalations¬ 
narkose combinirt. 

Bei Besprechung der Sittlichkeitsvergehen drängt sich a limine die Frage 
auf, ob Jemand überhaupt gegen seinen Willen hypnotisirt werden kann? 
Nach dem heutigen Stand unserer Erfahrungen über Hypnotismus ist dieselbe 
dahin zu beantworten, dass dies, wenn auch nur in verhältnismässig seltenen 
Fällen, doch immerhin möglich ist, aber ausnahmslos nur bei Personen mit 
sehr gesteigerter Disposition zur Hypnose, wie sie aus angeborener oder er¬ 
worbener neuropathischer Constitution und insbesondere als Folgezustand oft 
wiederholter hypnotischer Proceduren resultirt. 

Keine Schwierigkeiten in der Beurtheilung können die in den vorge¬ 
schritteneren Stadien der Hypnose Befindlichen machen, wo die selbständigen 
Willensregungen oder das willkürliche Hervorrufen von Vorstellungen entweder 
auf ein Minimum reducirt oder ganz unmöglich ist. Ob die hypnotischen 
Somnambulen willen- oder bewusstlos im Sinne des § 176, 2 oder § 177 
d. St.-G.-B. (§§ 125, 127 öst. St.-G.-B.) sind, wonach der aussereheliche 
Beischlaf mit einer in einem willen- oder bewusstlosen Zustand befindlichen, 
bezw. mit einer in einen solchen zu diesem Zweck versetzten Frauensperson 
mit Zuchthaus bestraft wird, diese Frage kann unmöglich generell beant¬ 
wortet werden, sondern nur von Fall zu Fall. 

Im Uebrigen sei an dieser Stelle bemerkt, dass der Begriff „willenlos“ 
auch von bedeutenden Strafrechtstheoretikern, wie Liszt, Meyer, Opperhofp, 
sehr weit interpretirt und Willenslosigkeit schon angenommen wird, wenn 
die Missbrauchte ihren Willen nicht äussern, beziehungsweise nicht geltend 
machen konnte. 

Aus Deutschland ist als ziemlich vereinzelter Fall der im Jahre 1894 vor dem 
• Münchener Schwurgericht zurAburtbeilung gekommene;Process Czynski-Zedlitz zu erwähnen. 
Die Deutung dieses Falles, in welchem gerichtsärztlich die Frage actuell wurde, ob man 
einer leicht hypnotisirten Person Liebe gegen ihren Willen suggeriren kann, so dass sie 
obgleich anscheinend in vollständigem Wachzustand als „willenloses Opfer“ die Ausübung 
des Beischlafes erdulden muss, hat merkwürdiger Weise Meinungsverschiedenheiten her¬ 
vorgerufen. Während eine Autorität wie Grashey, ferner Preyer und Schrenk-Notzing an¬ 
nehmen, dass die Baronesse Zedlitz, occupirt von einer abnormen, künstlich durch Hypnose 
hervorgerufenen und deshalb „pathologischen“ Liebe, in den Händen Czynski’s ein willen¬ 
loses Opfer war. bestritt Hirth in überzeugender Weise die von Grashey bei der Baro¬ 
nesse angenommene dauernde suggestive Beeinflussung des Willens („suggerirte Abulie“ 
nach Preyer) und begutachtete, dass ein willenloser Zustand, wie ihn der § 176, 2 St.- 
G.-B. voraussetzt, bei der Baronesse nicht vorlag, welchem Gutachten sich auch die Ge¬ 
schworenen in ihrem Wahrspruch anschlossen. 

Wir kommen jetzt zur Besprechung der sogenannten hypnotischen 
Verbrechen, d. h. Verbrechenshandlungen, welche von einem Menschen 
unter dem Einfluss einer hypnotischen (intrahypnotischen) oder posthypnotischen 
Suggestion verübt werden. 

Während alle Kenner des Hypnotismus über das Factum der Suggesti- 
bilität überhaupt einig sind, ja man gewissermaassen als Kern der Hypnose 
die Suggestion betrachtet, gehen die Ansichten bezüglich der Frage, ob einem 
Hypnotisirten ein Verbrechen mit Erfolg suggerirt werden könne, weit aus¬ 
einander. Gilles de la Fourette, Brouardel, Binswanger und Andere 
sprechen sich im Wesentlichen dagegen aus, während Berillon, Liegeois 
(welcher 4% aller Hypnotisirbaren als empfänglich für Criminalsuggestionen 
annimmt), Forel, Moll und Lilienthal die Möglichkeit des hypnotischen 
Verbrechens mit Entschiedenheit behaupten und zum Theil eine Stütze für 


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HYPNOTISMUS. 


ihre Ansicht in bezüglichen experimentellen Feststellungen erblicken. Die 
letzteren werden zwar auch von den erstgenannten Autoren keineswegs ge¬ 
leugnet; indessen wird man nicht ohne weiteres aus denselben auf die 
Wirklichkeit Rückschlüsse machen können, da es sich hier sozusagen nur um 
Laboratoriumsexperimente handelt, um Scheinverbrechen, welche keinen Kern 
des Ernstes in sich tragen. 

Wenn Forel in der Hypnose ein braves, unbescholtenes Mädchen zum 
Stehlen eines 50 Centimestückes veranlassen kann und einen 70jährigen 
Mann zu einer Scheinmordthat, wobei unverkennbare Anzeichen eines tiefen 
associirten Affectes zur Beobachtung gekommen sein sollen, Bottey (allerdings 
„unter den nöthigen Cautelen“) experimentell mit Erfolg die Suggestion des 
Selbstmordes versucht hat, wenn ferner Li£geois ein hypnotisirtes Mädchen 
in Gegenwart von Gerichtspersonen dahin gebracht, dass es einen vermeintlich 
geladenen Revolver auf die eigene Mutter abfeuerte, so haben derartige Ver¬ 
suche — die Berechtigung, sie überhaupt anzustellen, sei ad hoc zugegeben — 
doch sicherlich nicht die ihnen von den Experimentatoren vindicirte praktische 
Bedeutung, da es genug Hypnotisirte giebt, welche im Stande sind, vermöge 
ihres erhaltenen Bewusstseins das objectiv Harmlose und Ungefährliche der 
ganzen Experimentanordnung zu überblicken. Selbst nach der Ansicht von 
Bernheim und Beaunis sind nicht alle hypnotischen Somnambulen reine 
passive Automaten, wie man gewöhnlich annimmt, sondern viele derselben 
setzen „bestimmten“ suggestiven Befehlen Widerstand entgegen. Die Stärke 
des Widerstandes gegen die Realisirung einer Criminalsuggestion hängt eben 
nicht allein von der Suggestibilität des Objectes überhaupt ab, sondern die 
gesammte Charakteranlage und psychische Energie eines Individuums, der 
Entwicklungsgrad seiner ethischen und moralischen Begriffe stellt hier zwei¬ 
fellos einen hervorragenden Factor dar. Forensisch wird man höch¬ 
stens die Möglichkeit zugeben können, dass sittlich defecte 
Menschen durch wiederholte eindringende Hypnotisirung zu 
einem ernsten Verbrechen veranlasst werden können. Jeden¬ 
falls muss man ausschliessen, dass die Stärke der sogenannten hypnotischen 
Erziehung oder „Dressur“ (d. h. lange Zeit fortgesetzte hypnotisirende Ein¬ 
wirkungen) die ethische Reaction einer normalen Persönlichkeit gegenüber' 
einer intra-, beziehungsweise posthypnotischen Criminalsuggestion in einer 
Weise zum Verschwinden bringen kann, dass von Aufhebung der freien Willens¬ 
bestimmungen im Sinne des § 51 d. St.-G.-B. (§56 öst. St.-G.-B.) die Rede ist. 

Forel sieht die grösste Gefahr der posthypnotischen Suggestion 
darin, dass der Hypnotiseur gleichzeitig mit der criminellen Suggestion die 
Eingebung machen kann, dass die Versuchsperson an ihren freien Willens- 
entschluss glaubt, dass ihr also der zwangsmässige Charakter der ihr in 
der Hypnose befohlenen Verbrechenshandlung auch nach dem Erwachen aus 
derselben nicht mehr zum Bewusstsein kommt. Nach unserer Ansicht sind 
dies theoretisch conströirte „Fälle“ ohne praktische Bedeutung, da nach der 
ganzen Sachlage der Beweis für einen solchen supponirten Thatbestand nicht 
zu erbringen sein wird. 

Der Process Eyrand-Bompard hat uns gezeigt, wie weit man bei der Begutachtung 
in foro kommen kann, wenn man bei der Erklärung einer incriminirten Handlung stets 
nach suggestiver Beeinflussung sucht. Bernheim und Liegeois haben den offenbar lange 
überlegten und bis in das Detail vorbereiteten Raubmord der Gabrielle Bompard an dem 
Gerichtsvollzieher Gouffe auf suggestive Beeinflussung durch Eyrand, den mitschuldigen 
Geliebten der Bompard, zurückgeführt, weil die Bompard sich experimentell als ein sehr 
gutes Medium erwiesen hat. Man sollte erwarten, dass ein in so hohem Grade ethisch 
defectes Individuum wie die Bompard wahrlich nicht erst suggestive Beeinflussung zur 
Begehung einer Strafhandlung nöthig hat, und Brouardel hat mit vollem Recht sich für 
die Zurechnungsfähigkeit der Bompard ausgesprochen. 

Ueberdies hat es sich nicht einmal um hypnotisch erzeugte, sondern 
nur um sog. „Wach“-Suggestionen gehandelt, einer Bezeichnung, unter 


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HYPNOTISMUS. 


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welcher Foeel jene Fälle zusammenfasst, in denen man bei sehr suggestiblen 
Personen in vollem Wachsein erfolgreich die Suggestion anwenden und dabei 
alle Erscheinungen der Hypnose oder der posthypnotischen Suggestion hervor- 
rufen kann. Bis jetzt sind analoge einwandfreie Fälle aus der forensischen 
Literatur nicht bekannt und man wird mit grosser Sicherheit annehmen 
können, dass solche auch kaum bekannt werden; ebensowenig verdienen die 
„Fascination“ Preyer’s und die von Delboeüf und Beaünis Kondition prime“, 
„veille somnambulique“ benannten Zwischenformen zwischen eigentlicher Hyp¬ 
nose und Wachzustand, als deren Charakteristicum man anführt, dass der 
Hypnotische zwar offene Augen habe, sich wie ein normaler Mensch benimmt, 
gar nichts vergisst, kurz sich in einem vollständig wachen Seelenzustand be¬ 
finde, bis auf den einen Punkt, welcher vom Hypnotiseur verboten, resp. 
befohlen ist, in foro Berücksichtigung. Derartige „Zustände“ sind über¬ 
haupt nach den heutzutage in der Psychopathologie geltenden Gesichtspunkten 
undiscutabel, da es unseren Auffassungen Uber den Mechanismus psychischer 
Vorgänge vollständig widerspricht, anzunehmen, dass jemand lediglich in 
einem Punkt psychisch abnorm, sonst aber normal ist. 

Von dem gleichen Gesichtspunkt, wie forensisch die posthypnotischen Criminal- 
snggestionen, ist auch eine Abart derselben, die Termineingebung (suggestion ä 4chäance) zu 
betrachten, die darin besteht, dass man die Gedanken und Entschlüsse des Hypnotisirten 
im Voraus für eine bestimmte Zeit „bestellen“ kann, wo der Hypnotiseur nicht mehr zu¬ 
gegen ist. In diagnostischer Hinsicht hat man darauf aufmerksam gemacht, dass die ein¬ 
tretende Termineingebung den Charakter des Zwanges, des unwiderstehlichen Triebes, bis 
sie ausgeführt sei, an sich trage, Merkmale, welche gewiss nicht geeignet sind, die bei ße- 
urtheilung ähnlicher Fälle auftretenden Zweifel zu zerstreuen. Aehnlich verhält es sich 
auch mit den zahlreichen anderen Varietäten der posthypnotischen Suggestion. 

Verschiedene Autoren haben den retroactiven Hallucinationen (suggerirte Erinnerung 
an nie Erlebtes, Paramnesie) eine besondere forensische Bedeutung beigelegt. Nach Moll, 
Lilienthal können diese suggerirten Erinnerungsfälschungen dazu verwendet werden, 
Zeugenaussagen vor Gericht zu fälschen, man kann mit ihrer Hilfe die betreffenden Zeugen 
glauben machen, dass sie gewisse Scenen, eventuell auch Verbrechen gesehen haben, so dass 
sie im Brustton der Ueberlegung bezügliche Aussagen machen. Wenn indessen selbst ein so 
eifriger Verfechter des Hypnotismus wie Moll berichtet, dass nach seinen Erfahrungen 
„hypnotisirte Personen ganz ebenso lügen, als wenn sie wach wären, und die raffinirtesten 
Lügengewebe in der Hypnose erzeugt werden können“, so giebt er damit auch zu, dass 
nicht blos die retroactiven, sondern auch die sogenannten positiven und negativen Hallu¬ 
cinationen Hypnotisirter an ihrer Bedeutung in foro wesentlich verlieren müssen, ja häufig 
vollständig belanglos werden. Die Frage nach der Tragweite derartiger psychischer Vor¬ 
gänge in gerichtsärztlicher Beziehung könnte unseres Ermessens nur dann actuell werden, 
wenn diese gleichzeitig noch mit anderen unverkennbaren geistigen Störungen einhergehen, 
z. B. mit Auffälligkeiten im Reden und Thun auch in Bezug auf Dinge, die ausserhalb 
eines inhaltlichen Zusammenhanges mit der betreffenden Suggestion stehen. 

Die Erinnerungstäuschungen durch Suggestion im Wachzustand 
(nach Forel Bearbeitung der Parteien durch Anwälte, Beeinflussung durch 
Suggestivfragen seitens der Untersuchungsrichter) mit den hypnotisch 
erzeugten retroactiven Hallucinationen auf die gleiche Stufe zu stellen, haben 
als Erste Bernheim und Dessoir unternommen, und zwar nicht mit Glück. 
Eine genaue Abgrenzung des Begriffes der hypnotischen Suggestibilität von 
dem der „gewöhnlichen“ muss man für absolut nothwendig halten; hinter 
einer solchen Verallgemeinerung des Begriffes „Suggeriren“ verbergen sich 
in foro mit den spärlichen „unbewussten“ Unwahrheiten recht bald zahlreiche 
bewusste. Zu welch ungeheuerlichen Consequenzen die forensische Anerken¬ 
nung solcher vag definirter Zustände für die Criminaljustiz führen muss, 
liegt ohne weitere Ausführung klar zu Tage. 

Unsere zusammenfassende Ansicht über die Zurechnungsfähigkeit Hypno¬ 
tischer geht dahin, dass nur in den wenigen Fällen, welche mit tiefer gehen¬ 
den Bewusstseinsstörungen einhergehen, vom Fehlen des strafrechtlichen 
Unterscheidungsvermögens gesprochen werden kann. Auch Binswanger hält 
es für unrichtig, alle Arten des Hypnotismus in Bezug auf die strafrechtliche 
Beurtheilung unter den Schutz des § 51 d. St.-G. (§ 56 öst. St.-G.-B.) zu 


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HYPNOTISMUS. 


stellen, da ja sehr häufig der Hypnotisirte frei von Bewusstseinsstörungen und 
gewissermaassen nur willenlos ist. Wie oben besprochen, kommt ja gerade in 
Folge des erhaltenen Bewusstseins auch in der Hypnose die Individualität 
einer Persönlichkeit zum Ausdruck. Aus einer bestehenden posthypnotischen 
Amnesie auf intrahypnotische Bewusstlosigkeit zu schliessen, geht, abgesehen 
von dem schwierigen Nachweis thatsächlicher Amnesie, ebenfalls zu weit. 
Man kann nur, wie auch Fokel zugiebt, von einer wahrscheinlichen Ver¬ 
schleierung des Bewusstseins sprechen, ohne jedoch damit über die Erheb¬ 
lichkeit der eventuell constatirten Alteration bestimmte Anhaltspunkte zu ge¬ 
winnen. Dem Vorschlag Lilienthal’s zu folgen, der im Gegensatz zu dem 
Somnambulen den Lethargischen allein als bewusstlos im juristischen Sinn 
bezeichnet, ist vom ärztlichen Standpunkt aus kaum möglich. Eine solche 
Systematisirung ist hier ebensowenig durchführbar, wie in der gerichtlichen 
Psychopathologie; auch hier greift man zur Beurtheilung des Seelenlebens 
nicht ein bestimmtes Zustandsbild heraus, sondern man fasst den Gesammt- 
zustand, die ganze psychische Persönlichkeit ins Auge. 

Mehrfach hat man bereits die Frage discutirt, ob und inwieweit beim 
gerichtlichen Verfahren eine praktische Verwertung des Hypnotismus ermög¬ 
licht sei. Wenn Lilienthal die bezüglichen juristischen Gesichtspunkte dahin 
zusammenfasst, dass unter den heutigen Verhältnissen zu bestimmten Zwecken 
und unter gewissen Bedingungen eine Hypnotisation vor Gericht zulässig ist, 
so ist von medicinischer Seite zu betonen, dass etwaige Versuche zunächst 
an dem Verhalten des nicht geständigen Verbrechers scheitern würden, welcher, 
wenn nicht gerade zufällig zu den Wenigen gegen ihren Willen hypnotisir- 
baren Personen gehörig, schwerlich die Bedingungen zum Zustandekommen 
der Hypnose erfüllen wird. Neben verschiedenen Bedenken anderer Art 
rechtfertigen auch die Erfahrungen über die Glaubwürdigkeit Hypnotisirter 
den von Lilienthal und du Prel vertheidigten Vorschlag der Vernehmung 
eines hypnotisirten Delinquenten in keiner Weise. 

Es bedarf wohl nicht weiterer Erörterungen, dass ein erfolgreicher 
Hypnotisirungsversuch vor Gericht als Beweis für die hypnotische Natur 
einer Verbrechenshandlung nicht gelten und retrospectiv für die Beurtheilung 
des Geisteszustandes eines Angeklagten zur Zeit der Begehung der That 
nicht maassgebend werden kann, wie dies Liegeois und du Pkel glauben, 
indem sie von der Ansicht ausgehen, dass ein hypnotisches Verbrechen auch 
wieder auf hypnotischem Wege zu entdecken sei. 

Nach obigen Bemerkungen über die Verwertbarkeit des Hypnotismus 
im gerichtlichen Untersuchungsverfahren erscheint es überflüssig, auf die 
Frage der Simulation näher einzugehen. So wichtig die Simulation für den 
experimentellen Hypnotismus ist, so irrelevant ist sie für den Hypnotismus inforo. 

Es erübrigt uns noch kurz der civilrechtlichen Beziehungen des 
Hypnotismus zu gedenken. Fälle von rechtserheblichen Folgen hypnotischer 
Zustände im Civilprocessverfahren sind unseres Wissens noch nicht zur Cogni¬ 
tion gelangt, womit natürlich deren Möglichkeit (Testamentserschleichung, 
Erhebung von Unterschriften u. s. w.) nicht von der Hand gewiesen sein soll. 
Grund zu Befürchtungen, dass bei weiterer Verbreitung der Kenntniss des 
Hypnotismus die Hypnose sehr häufig von Menschen, welche sich ihren civil¬ 
rechtlichen Verpflichtungen entziehen wollen, als Einrede dem Gläubiger gegen¬ 
über oder als Anfechtungsgrund verwerthet wird, ist schon deshalb nicht vor¬ 
handen, weil im Civilprocess ein Jeder beweisen muss, was er behauptet, ein 
in der Vergangenheit liegender hypnotischer Zustand aber nachträglich schwer 
nachzuweisen ist. Da für die ärztliche Sachverständigenthätigkeit im Civil¬ 
processverfahren die gleichen Gesichtspunkte maassgebend sind, wie sie im 
Obigen bei Besprechung der Zurechnungsfähigkeit Hypnotisirter erwähnt wur¬ 
den, genügt es, wenn wir zur Orientirung über die in Betracht kommenden 
juristischen Begriffe auf die lesenswerte Arbeit von Beutivegni hinweisen. 


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IDENTITÄTSBESTIMMUN G. 


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Was endlich die medicinalpolitische Seite des Hypnotismus 
betrifft, so wird allgemein zugestanden, dass ans der Hypnose gesundheitliche 
Nachtheile von zum Theil sehr ernster Natur und längerer Dauer resultiren 
können. (Hysterie nach Binswanger, Convulsionen, Katalepsie, Neurasthenie 
u. s. w.; im Falle Salomon ist bekanntlich der Tod in der Hypnose ein¬ 
getreten.) Selbst zugegeben, dass derartige Folgen nur durch mangelhafte 
Technik des Hypnotiseurs und speciell durch unvollständiges Desuggestioniren 
veranlasst sind, so ergiebt sich doch schon hieraus ohne weitere Berück¬ 
sichtigung anderer Gefahren die Nothwendigkeit, dass man die Suggestion zu 
Heilzwecken ausschliesslich psychologisch geschulten Aerzten gestatten soll 
(eine Forderung, die allerdings mit der deutschen Gewerbeordnung nicht in 
Einklang zu bringen ist) und ferner, dass die öffentlichen Schaustellungen von 
hypnotischen Somnambulen als grober Unfug strengstens zu verbieten sind. 
In einer Anzahl deutscher Staaten, in Oesterreich, Dänemark, in der Schweiz 
und in Belgien ist dies bereits geschehen. In Bussland dürfen die Aerzte 
nach einer Verfügung des Reichsmedicinal-Conseil nur unter Zuziehung 
anderer Aerzte und nach vorheriger Anmeldung bei der Ortsbehörde zu 
therapeutischen Zwecken hypnotisiren. e. schäffek. 

Identitätsbestimmung. 

Gesetzliche Vorschriften: § 127 öst. St.-P.-0. bestimmt u. A.: Ehe zur 
Oeffnung der Leiche geschritten wird, ist dieselbe genau zu beschreiben und deren 
Identität durch Vernehmung von Personen, die den Verstorbenen gekannt haben, ausser 
Zweifel zu setzen. Diesen Personen ist nöthigenfalls vor der Anerkennung eine genaue 
Beschreibung des Verstorbenen abzufordern. Ist aber der Letztere unbekannt, so ist eine 

f enaue Beschreibung der Leiche durch öffentliche Blätter bekannt zu machen. Bei der 
.eichenschau hat der Untersuchungsrichter darauf zu sehen, dass die Lage und Beschaffen¬ 
heit des Leichnams, der Ort wo, und die Kleidung, worin er gefunden wurde, genau be¬ 
merkt, sowie Alles, was nach den Umständen für die Untersuchung von Bedeutung sein 
könnte, sorgfältig beobachtet werde. 

§ 11 der österr. Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen 
Todtenbeschau (Verordnung d. Minist, d. Innern u. der Justiz vom 28. Jänner 1865) 
ist mit § 127 d. St.-P.-O. fast wörtlich gleichlautend. Sie enthält aber ausserdem noch 
folgende auf die Feststellung der Identität bezügliche Stellen: 

§ 15 bestimmt die Anerkennung der Identität im Obductionsprotocolle. Es geschieht 
dies vor Beginn jeder gerichtlichen Leichenöffnung durch einen besonderen Vermerk des 
Untersuchungsrichters im Eingänge. 

§ 31. Hierauf wird zur Untersuchung und Beschreibung der Kleidungsstücke ge¬ 
schritten, welche schon deshalb von besonderer Wichtigkeit ist, weil sie nebst der aer 
übrigen Vorgefundenen Effecten bei Unbekannten zur Constatirung der Identität der Person 
Aufschlüsse giebt. 

§ 32. Die Beschreibung der Kleidungsstücke kann in derselben Ordnung, wie sie am 
Leibe getragen werden, geschehen, und es müssen der Stoff, seine Färbung, der Schnitt, 
das Futter, die vorhandenen Taschen und ihr Inhalt, die alte und abgenützte oder noch 
neue und brauchbare Beschaffenheit derselben berücksichtigt werden. Bei Stücken, die 
gewöhnlich mit Merkzeichen versehen sind, ist diesen nachzuforschen, die Vorgefundenen 
so viel als möglich ähnlich mit Bemerkung ihrer Farbe und Art im Protokolle anzugeben; 
wo sie aber fehlen, ist auch dieser Umstand anzuführen. 

§ 48. Bei Unbekannten hat die äussere Besichtigung mit der Personalbeschreibung 
zu beginnen, in welche die Grösse mit genauer Angabe des Maasses, das Geschlecht, das 
beiläufige Alter, die Körperbeschaffenheit überhaupt, die Farbe der Haare und Augen, die 
Form des Gesichtes, die Bildung der Stirne, der Nase, der Lippen und des Mundes, die 
Art des allenfalls vorhandenen Bartes, die Beschaffenheit der Zähne, andere auffallende 
Kennzeichen: als Narben, Warzen, Muttermäler, durchstochene Ohrläppchen, Missbildung 
u. s. w. aufzunehmen sind. 

§§ 49—57 enthalten noch eine Reihe von aufzunehmenden Identitätsbefunden der 
einzelnen Körpertheile. 

Das deutsche (preussische) Regulativ vom 13. Februar 1875 bestimmt: § 10. 
Die Obducenten sind verpflichtet, in den Fällen, in denen ihnen dies erforderlich scheint, 
den Richter rechtzeitig zu ersuchen, dass vor der Obduction ihnen Gelegenheit gegeben 
werde, die Kleidungsstücke, welche der Verstorbene bei seinem Auffinden getragen, zu 
besichtigen. 

§ 13. Demgemäss sind betreffend den Körper im Allgemeinen, soweit die Besichtigung 
solches ermöglicht, zu ermitteln und anzugeben: 1. Alter, Geschlecht, Körperbau, allge- 


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IDENTITÄTSBESTIMMUNG. 


meiner Ernährungszustand, etwa vorhandene Erankheitsresidnen, z. B. sogenannte Fuss- 

f eschwüre, besondere Abnormitäten (z. B. Mäler, Narben, Tätowirnngen, Ueberzahl oder 
langel an Gliedmassen).... betreffend die einzelnen Theile ist Folgendes festznstellen: 
Bei Leichen unbekannter Personen die Farbe and sonstige Beschaffenheit der Haare 
(Kopf and Bart), sowie die Farbe der Angen. 

Die Rechtspflege ist nicht allzu selten vor die Aufgabe gestellt, die 
Identität von unbekannten Menschen bestimmen zu müssen, und bedarf hiezu 
häufig der sachkundigen Mitwirkung des Arztes. Keineswegs beschränkt sich 
aber diese Aufgabe nur auf die Feststellung der Identität von Leichen, son¬ 
dern sie erstreckt sich auch auf lebende Personen. Im Grossen und Ganzen 
sind aber in jedem Falle dieselben Grundsätze geltend und kommen die 
gleichen Methoden zur Anwendung; nur ist am Lebenden blos die äussere 
Untersuchung ausführbar, während bei unbekannten Leichen auch Beobach¬ 
tungsergebnisse an inneren Organen für diesen Zweck verwertet werden 
können. Wir werden daher die Aufgaben und Methoden der Identitäts¬ 
bestimmung bei lebenden Personen und an Leichen unter Einem erörtern. 

A. Aufgaben der Identitätsbestimmung. 

Die Sicherstellung unbekannter Personen hat folgende Ziele: Bestimmung 
des Alters, des Geschlechtes, der Körperbeschaffenheit und etwa vorhandener 
besonderer Kennzeichen. 

1. Das Alter. Sowohl bei Lebenden wie bei Leichen wird das beiläufige 
Alter häufig abgeschätzt, und es ist etwas anderes als eine solche annäherungs¬ 
weise Schätzung auch vom Gesetze nicht verlangt (vgl. öst. Vorschrift § 48), 
noch immer möglich. Sie erfolgt meist auf Grund gesammelter Erfahrungen 
des Beobachters nach allgemeinen äusseren Merkmalen: der Körpergrösse, 
dem Ernährungszustand, dem Haar- und Bartwuchs, der Haarfarbe, den Zähnen, 
der Beschaffenheit der Haut und der Körperhaltung, wobei allerdings wesent¬ 
liche Täuschungen Vorkommen können. Oft haben junge Leute Glatzen oder 
früh ergraute Haare, schlechte Zähne, mangelnden Fettpolster, welke, schlaffe, 
runzelige Haut, selbst gebückte Haltung und umgekehrt. Namentlich ist die 
Schätzung des Alters bei Leichen wegen des fehlenden Turgor vitalis oder 
der Fäulnisveränderungen oft schwierig; es wird meist zu hoch geschätzt. 

Je unsicherer eine solche Abschätzung häufig ist, umso wünschens- 
werther und wichtiger sind objective Merkmale des wirklichen Alters. Zum 
Theile sehr sichere Anhaltspunkte für die Altersbestimmung bieten die Ent¬ 
wicklungsvorgänge der Knochen, der Knorpel und mancher Organe. 

Die wichtigsten von Orfila, Taylor, Casper, Henle, Langer, Toldt 
u. A. festgestellten osteologischen Thatsachen für die Bestimmung des 
Lebensalters sind im Nachfolgenden zusammengestellt, 
a) Altersbestimmung am Schädel. 

Die Knochenentwicklung beginnt an den platten Schädelknochen 
schon mit dem Ende des zweiten und zu Anfang des dritten Embryonalmonates. 
Zu Ende der achten oder Anfang der neunten Woche ist der Beginn der Ver¬ 
kalkung in der knorpeligen Anlage der Schuppe des Hinterhauptbeines schon 
deutlich erkennbar, während die erste knöcherne Anlage der Stirnbeine in 
der Regel sogar zwischen die siebente bis achte Embryonalwoche fällt. Die 
Scheitelbeine zeigen beginnende Verknöcherung in der zehnten Embryonal¬ 
woche. Um dieselbe Zeit wird auch schon die Verknöcherung des Unter¬ 
kiefers eingeleitet, indem in der nächsten Umgebung des MECKEL’schen 
Knorpels zarte Knochenbälkchen auftreten (Toldt), und auch die sechs bis 
sieben Knochenkerne, aus denen sich der Oberkiefer entwickelt, werden zu 
Beginn des dritten Embryonalmonats angelegt, die Jochbeine um die neunte, 
die Nasenbeine in der zwölften Woche, das Pflugscharbein zu Anfang des 
vierten, die Thränenbeine gegen Ende des vierten, die Nasenmuscheln gegen 
Ende des siebenten Schwangerschaftsmonats; die Anlage der ersten Zahn- 


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IDENTITÄTSBESTIMMDN G. 


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scherbchen für die mittleren Schneidezähne erfolgt nach Zuckerkandl und 
Mauczka im sechsten, die Ossification der Spitzen des ersten Milchmahl¬ 
zahnes und der Eckzähne im siebenten Monate. Im letzten Fötalmonate tritt 
die bisherige radiär-faserige Beschaffenheit der Oberfläche an den platten 
Schädelknochen mehr zurück, sie sind bis zur Berührung gegen einander ge¬ 
wachsen, die dreieckige Fontanelle verschwindet und die vordere Schläfen¬ 
fontanelle wird ganz schmal, der Paukenring verschmilzt mit der Schläfen¬ 
beinschuppe und die Kronenfläche des zweiten Milchmahlzahnes wird wenig¬ 
stens theilweise gebildet. 

Die mittleren Maasse für den Schädel des reifen neugeborenen Kindes betragen nach 
Toldt: 

Horizontalnmfang 335 mm 

Längsdurchmesser 105 „ 

Breitendurchmesser 86 „ 

Diagonaler Durchmesser 125 „ 

Der Horizontalumf&ng des Sch&dels beträgt beim halbjährigen Kinde 39—40 cm 
beim einjährigen 42—43 cm. Am Ende des ersten oder in den ersten drei Monaten des 
zweiten Lebensjahres erfolgt der Verschluss der grossen Fontanelle; am Ende des zweiten 
Jahres hat der Schädel schon einen Umfang bis zu 46cm erreicht; von da ab bleibt sein 
bisher so rasches Wachsthum wesentlich zurück. Welcher giebt folgende Maasse an: 

Am Ende des zweiten Lebensjahres: 418—464 mm 
ji » » dritten „ 425—473 „ 

„ j, „ fünften , 438—486 „ 

* „ „ sechsten „ 443—493 * 

Schädel aus dem dritten bis sechsten Lebensjahr sind durch den Besitz des voll¬ 
ständigen Milchgebisses ausgezeichnet; bis in das vierte Jahr hinein sind die Zähne gewöhn¬ 
lich intact und selbst an der Krone der Schneidezähne ist nur eine mässige Abschleifung 
zu bemerken. Im siebenten Lebensjahre erfolgt der Durchbruch des ersten bleibenden 
Mahlzahnes, in dem Zeitraum vom achten bis vierzehnten Lebensjahre brechen der Reihe 
nach alle bleibenden Zähne durch. 

Die Zahnentwicklung und der Zahnwechsel geben folgende Anhaltspunkte für 
die Altersbestimmung: 

Die medialen unteren Schneidezähne brechen durch im 6.—7. Monat 

» » oberen „ n * n o n* B 

„ „ seitlichen „ „ „ „ 8.—9. „ 

Der erste Milchmahlzahn bricht durch im 1. Drittel des 2. Jahres. 

Der Eckzahn um die Mitte des 2. Jahres. 

Der zweite Milchmahlzahn gegen das Ende des 2. oder Anfang des 3. Jahres. 

Das Dauergebiss entwickelt sich folgendermaassen: 


Der erste Mahlzahn bricht durch im 6. od. 7. Jahre 

Der mediale Schneidezahn 

„ 7. od. 8. ,, 

Der laterale „ 

„ 9. „ 

Der vordere Backenzahn 

* 10.-11. n 

Der Eckzahn 

„ 11.-12. , 

Der hintere Backenzahn 

. H.-13. » 

Der zweite Mahlzahn 

, 12-13. » 

Der Weisheitszahn 

„ 18—24. , 


In dieser Zeit des Durchbruches der Dauerzähne (8.—14. Lebensjahr) schwankt der 
Horizontalumfang des Schädels in der Regel zwischen 46—50c*w. Die Sattellehne des 
Keilbeines ist häufig bis ins 12. oder 13. Jahr hinein noch nicht vollständig verknöchert; 
die Spheno-occipitalfuge schliesst sich zwischen dem 16.—20. Jahre; in dieser Zeit beträgt 
der Schädelumfang 50—52 cm. 

In der Zeit vom 24.—40. Lebensjahre ändern sich die Verhältnisse am Schädel nur 
so wenig, dass kaum irgend welche Anhaltspunkte für die Altersbestimmung gewonnen 
werden Können; nur die fortschreitende Abnützung und auch schon meist das Schadhaft- 
werden der Zähne bieten einige Anhaltspunkte für approximative Schätzungen. Vom 40. Jahre 
aufwärts findet man schon, und zwar je älter über desto grössere Strecken verbreitet die 
senilen Nahtsvnostosen. Nach Zuckerkandl können sich solche zwischen Pfeil- und Kranznaht 
auch schon im 20., an der Kranznaht um das 27. Lebensjahr entwickeln. Im Greisenalter 
stellen sich die typischen Veränderungen der senilen Involution ein, die in Atrophie und 
Osteoporose bestehen. Die Knochensubstanz schwindet, bo dass an vielen Stellen des 
Schädelskelettes wirkliche Lüken entstehen oder der Knochen wenigstens papierblattdünn 
wird. Hervorragend ist dies der Fall am Oberkiefer, am Dach der Orbita, dem harten 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 28 


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IDENTITÄTSBESTIMMÜNG. 


Gaumen, dem Pflugscharbein, den Orbitalflächen des Jochbeines und den angrenzenden 
Tbeilen des grossen Keilbeinflügels. Allerdings kann diese Altersatrophie in einzelnen 
Fällen auch sehr verspätet auftreten oder ganz fehlen und sogar ersetzt sein durch eine 
senile Sclerose der Knochen. Sehr bemerkenswert sind die Alters Veränderungen der Kiefer 
durch den Ausfall der Zähne, den Schwund der Zahnfächerfortsätze und die dadurch herbei¬ 
geführte charakteristische Form Veränderung des Unterkiefers, die in Verschmälerung, Ver- 
grösserung des Winkels und Verlängerung besteht. 

b) Altersbestimmung an Rumpf-und Extremitätenknochen. 
Die für forensische Zwecke zumeist ausschliesslich in Betracht gezogenen 
entwicklungsgeschichtlichen Thatsachen an Rumpf- und Extremitätenknochen, 
welche Altersbestimmungen gestatten, sind kurz folgende: 

An diesen Skelettheilen werden die ersten Knochenkerne in der 10. Embryonal’ 
woche angelegt. Die Verkalkung der Wirbelknochen beginnt in den Bogenstielen der 
oberen Halswirbel und schreitet von da nach abwärts fort; in der 12. Woche folgt je ein 
Verkalkungspunkt in den Wirbelkörpem der Brust- und Lendenwirbel und der beiden 
letzten Halswirbel, während die Knochenkerne in den Körpern der oberen Halswirbel 
erst im fünften Monate angelegt werden; im sechsten Monat tritt der oberste Verkalkungs¬ 
punkt im Körper des Epistropheus auf, welcher entwicklungsgeschichtlich das Aequivalent 
des fehlenden Körpers des Atlas- darsteUt. Im dritten Lebensjahre beginnt die Verschmel¬ 
zung der Wirbelbogen mit dem Körper; sie schreitet nur langsam vor und ist im fünften 
Jahre noch nicht vollendet; zuletzt verschmilzt der Körper des Epistropheus mit dem Zahn; 
Beste der Fuge erhalten sich hier noch bis ins achte Jahr hinein. Zwischen dem 10.—12. 
Lebensjahr entwickeln sich die Epiphysenplatten der Wirbelkörper, deren Verschmelzung 
mit den Körpern zwischen dem 22.—24. Jahre erfolgt. Im Kreuzbein und Steissbein er¬ 
folgt die Entwicklung der Knochenanlagen und die Verschmelzung der einzelnen Theile 
naä dem Typus und annähernd in denselben Zeiten, wie bei den übrigen Wirbeln. Beim 
Steissbein verschmelzen jedoch nach dem Ablauf der Wachsthumsperiode die einzelnen 
Wirbel ganz oder zum Theile miteinander; es geschieht dies meist zwischen dem 
30.—40. Lebensjahr. 

An den Hippen, welche in der 9. Entwicklungswoche zu verknöchern beginnen, 
entwickelt sich erst mit dem 4.-5. Lebensjahr ein deutliches knöchernes Rippenköpfchen; 
im 10.—11. Jahre entwickeln sich kleine Epiphysenscheibchen, welche am Tuberculum gegen 
das 19., am Köpfchen erst gegen das 24. Lebensjahr zur Verschmelzung gelangen. Wenig 
eignet sich das Brustbein wegen seines vielfach wechselnden Entwicklungsganges für Alters¬ 
bestimmungen. 

Das Hüftbein des Erwachsenen ist bekanntlich aus der Verschmelzung von drei 
Knochen, dem Darmbein, dem Sitzbein und dem Schambein hervorgegangen. Die ersten 
Verknöcherungsherde dieser Knochen entstehen schon im 3.—5. Embryonalmonat. Zur 
Zeit der Geburtsreife sind von den 3 Theilen des Hüftbeines die zur Bildung der Gelenk¬ 
pfanne zusammentretenden Körper noch durch eine breite Knorpelfuge von einander ge¬ 
trennt. Im sechsten Lebensjahr ist diese nur noch sehr dünn; sie verschwindet voll¬ 
kommen in der Zeit vom 8.-12. Jahr. Um die Zeit der Geschlechtsreife entwickeln sich 
im Knorpelüberzug der Darmbeine, Sitzknorren und Sitzstachel accessorische Verknöcherungs¬ 
herde in Form von aufliegenden Platten, welche zwischen dem 20.—25. Lebensjahr all- 
mälig mit ihrer Unterlage verschmelzen. 

Sehr grosse Beachtung bei der Altersbestimmung finden seit langer Zeit die 
Knochenkerne in den Epiphysen der langen Röhrenknochen und in den Fusswurzel- 
knochen, insonderheit die Kerne in der distalen Epiphyse des Femur, und an dem proxi¬ 
malen Ende des Schienbeines und des Oberarmbeines, ferner die Kerne des Fersenbeines, 
Sprungbeines und Würfelbeines. Der erstgenannte Knochenkern im unteren Knorpelansatz 
des Oberschenkels wird in der Regel nicht vor der 36. Schwangerschafts woche angelegt, 
gilt daher als ein nicht unwichtiges Reifezeichen des Neugeborenen; Toldt fand ihn aller¬ 
dings auch schon bei nicht ganz 40 cm langen Früchten des achten Monates und Liman, 
v. Hofmann u. A. bezeugen, dass er bei völlig reifen Neugebomen manchmal auch fehlen 
könne. Gleichwohl hat er eine grosse Bedeutung für die Beurtheilung des Fruchtalters, 
bezw. der Fruchtreife. Nach übereinstimmenden Beobachtungen vieler Anatomen, wie 
Meckel, Barkow, Hartmann, Hecker, Toldt u. A. entsteht er nur äusserst selten im achten, 
öfter im neunten Embryonalmonat und ist während des zehnten Monats zwischen 2*5—5 mm, 
an reifen Neugeborenen bis zu 7 mm im Durchmesser haltend. Knochenkerne im Fersen¬ 
bein und Sprungbein entwickeln sich gegen die Mitte des siebenten Monates; ersterer 
misst beim ausgetragenen Kinde 95—13 0 mm im sagittalen Durchmesser, letzterer 
7—10 mm, das Würfelbein erhält in der Regel kurz vor der Geburtsreife einen Ver- 
knöcherungspu n kt. 

Zwischen dem 16.—20. Jahre verschwinden sämmtliche Epiphysenfugen, indem die 
Epiphysen mit den Diaphysen verschmelzen, so insbesondere die Epiphyse des Oberarmes, 
des unteren Endes von Elle und Speiche, die Epiphysen des Oberschenkels, Schienbeines 
und Wadenbeines, der Mittelhand- und Mittelfussknochen und der Phalangen. Neuerdings 
hat Wachholz die Epiphysenverschmelzung am Humerus genauer verfolgt und gefunden, 


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IDENTITÄTSBESTIMMUN G. 


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dass eia beachtenswerter Unterschied im Geschlechte besteht, indem der vollständige 
Schwand dieser Knorpelfugen bei Frauen zwischen 17 und 18 bei Männern zwischen 20 
und 21 Jahren eintritt. Noch einige Zeit nach der Verwachsung ist die Epiphyse durch 
lockeres Gefüge und hellere Farbe differenzirt und von der Diaphyse durch eine feine 
Knochenleiste getrennt. 

Bezüglich der allgemeinen Eigenschaften der Knochen, welche durch 
das Alter bedingt sind, ist zu bemerken, dass die embryonalen und jugend¬ 
lichen Knochen porös, oft von feinen Furchen durchzogen und rauh oder 
mattglänzend sind. Sie sind im feuchten Zustande biegsam, getrocknet spröde 
und brüchig. Erst mit der allmähligen Entwicklung einer compacten Binde 
bekommen sie jene grosse Härte, Festigkeit und Starre, welche die Knochen 
des reifen Menschen auszeichnet. Im Greisenalter tritt auch bei den Knochen 
des Stammes und der Extremitäten seniler Schwund und höhere Brüchigkeit 
(senile Osteoporose), manchmal auch eine Erweichung auf (senile Osteoma- 
lacie). An den Gelenkknorpeln ist nicht selten eine gleichmässige oder 
auch ungleichmässige Abnützung, mitunter auch eine umschriebene oder 
diffuse Hypertrophie im Alter zu bemerken. Nach Weichselbaum können 
sich durch senilen Knorpelschwund selbst umschriebene Defecte, „Knorpel¬ 
geschwüre“, bilden. 

c) Anderweitige Altersbestimmungen. 

Die Entwicklungsgeschichte hat uns noch eine Reihe anderer Thatsachen 
kennen gelernt, die zur Bestimmung des Alters eines Individuums verwertet 
werden können: 

Im dritten Embryonalmonat beginnt sich die Placenta zu entwickeln, im vierten 
zeigen sich die ersten Sparen der Haare und Nägel, letztere sind noch häutig; im fünften 
erscheint das Meconiam im Darm und scheidet sich bereits Galle ab; im sechsten bedeckt 
sich der Körper mit käsiger Schmiere und fängt die Bildung des Fettgewebes an; gegen 
Ende dieses Monats ist die Lösung der Lidnaht vollendet und mit dem Ende des siebenten 
Monates verschwindet allmählich die Pupillarmembran. Im achten und neunten Monate 
entwickeln sich die Ohr- und Nasenknorpel und verhornen die Finger- und Zehennägel. 
Beim reifen männlichen Kinde sind die Hoden von der Bauchhöhle durch den Leisten¬ 
canal in den Hodensack herabgetreten, beim weiblichen ist die Schamspalte geschlossen 
und werden die kleinen Schamlippen, die bisher aus der Schamspalte hervorgeragt hatten, 
vollkommen bedeckt. 

Nach der Geburt gehen auffallende und wichtige Veränderungen in den Kreislauf¬ 
organen vor sich; der fötale Kreislauf hört auf, seine Wege veröden. Die Nabelarterien 
schliessen sich zuerst, in der Regel schon in den ersten Wochen und werden als solide 
Stränge zu den seitlichen Aufhängebändern der Harnblase, die Nabelvene folgt in der ’ 
dritten bis vierten Woche. Gegen Ende des zweiten Monates ist meist der Verschluss des fötalen , 
Arterien ganges (Ductus arteriosus Botalli) vollendet, was neuerdings von Haberda bestätigt 
wurde; endlich am Ende des dritten Monates oder noch später erfolgt der Verschluss des 
ovalen Fensters der Vorhofscheidewand. Die Doppelspitze des fötalen Herzens verschwindet 
durch die geringere Inanspruchnahme des rechten Herzens bei der Lungenathmung und 
es entwickelt sich schon in den ersten Lebenswochen die physiologische Arbeitshypertrophie 
des linken Ventrikels, die mit der Alterszunahme immer deutlicher wird. 

Die bei uns meist in das 14. bis 16. Lebensjahr fallende Geschlechtsreife ist durch 
untrügliche Merkmale bei beiden Geschlechtern gekennzeichnet, wie Behaarung der äusseren 
Geschlechtstheile, Prominenz des Kehlkopfes und Production von Sperma, aas die bisher 
kleinen, schlaffen und leeren Samenbläschen füllt, beim Jüngling; Entwicklung der Brust¬ 
drüsen, der Eierstöcke und des infantilen Uterus zu functionirenden oder functionsfähigen 
Organen beim Mädchen. Eintritt, Fortgang und Dauer der Ovulation sind an den narbigen 
Veränderungen der Eierstockkapsel genau zu erkennen. Ebenso ist an den Rückbildungs¬ 
erscheinungen der inneren Geschlechtsorgane das Senium des Weibes leicht zu bestimmen. 

Mit einigen Einschränkungen und Vorsichten können endlich selbst 
pathologische Veränderungen, die sich fast nur in gewissen Lebensaltern 
vorfinden, für approximative Altersbestimmungen verwendet werden, wie arthri- 
tische Ablagerungen in den Gelenken, Endarteriitis und Verkalkung der 
Gefässe, Hypertrophie der Vorstehdrüse u. A. 

2. Das Geschlecht Die Bestimmung des Geschlechtes ist bei 
lebenden Menschen nur ganz ausnahmsweise schwierig, es kann nur bei 
Zwittern zweifelhaft sein. Im Allgemeinen gilt dies auch für die Geschlechts- 

28* 


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436 


IDENTITÄTSBESTIMMUNG. 


bestimmung an Leichnamen. Die Fälle sind im Ganzen doch ziemlich selten, 
wo die Fäulnis so weit vorgeschritten ist, dass die äusseren Genitalien zer¬ 
stört und die Besichtigung der Leiche allein die Sicherstellung des Geschlechtes 
nicht mehr gestattet; aber die Fälle kommen vor. Das Geschlecht kann aber 
auch durch andere Einflüsse als durch Fäulnis unkenntlich werden, wie durch 
Verkohlung von Leichnamen oder durch Annagen derselben von verschiedenen 
Thieren. v. Hopmann hat bei den Opfern des Bingtheaterbrandes bezügliche 
Erfahrungen im grösseren Umfange zu machen Gelegenheit gehabt, und ich 
selbst habe vier ermordete Personen obducirt, welche zur Verdeckung der 
Unthat auf einen Holzstoss gelegt, mit Petroleum und Spiritus Ubergossen und 
in Brand gesteckt worden sind. Eine derselben war bis zur vollständigen 
Unkenntlichkeit verkohlt. Bei angeschwemmten Wasserleichen oder bei längere 
Zeit an der Luft gelegenen Leichen, sowie bei spät exhumirten ist jedoch 
sehr häufig das Geschlecht nicht mehr erkennbar. In diesen Fällen, sowie 
bei der Untersuchung aufgefundener menschlicher Knochen, sind wir, wenn 
es sich um unbekannte Personen handelt, genöthigt, das Geschlecht durch 
besonders darauf gerichtete Untersuchungen festzustellen, um eine spätere 
Identificirung zu ermöglichen. 

a) Bestimmung des Geschlechtes an Weichtheilen. 

Nicht selten fehlen nur die änsseren Geschlechtstheile, während die inneren wenigstens 
theilweise noch erhalten sind, so dass die Feststellung des Geschlechtes verhältnismässig 
leicht erfolgt. Wegen der geschützten Lage der inneren Genitalien im Becken, sowie durch 
ihren Bau sind sie zum Theile sehr widerstandsfähig gegen zerstörende Einwirkungen, wie 
Hitze und Fäulnis. Der Uterus bleibt ungemein lange erhalten. Unter allen Organen 
des menschlichen Körpers widersteht er, wie schon Casper nachgewiesen hat, am längsten 
der Fäulnis. Auch die Ovarien bleiben sehr lange Zeit erhalten. Aehnlich verhält sich 
die Prostata und der Schnepfenkopf (Uterus masculinus), desgleichen nach meinen 
Erfahrungen die Harnblase und die dahinter liegenden Samenbläschen und nach v. Hofmann 
auch Reste der Corpora cavernosa, welche der weiblichen Harnröhre bekanntlich fehlen. 

Auch äussere Befunde können mitunter die Geschlechtsbestimmung mehr weniger 
sichern, so der Habitus, welcher in typischer Entwicklung allerdings bei den Geschlechtern 
verschieden ist, jedoch wegen der vielfachen Uebergänge doch recht leicht zu Irrungen 
Anlass geben kann. Sind die Haare erhalten, so bieten sie oft sichere Anhaltspunkte für 
die Geschlechtsbestimmung. Zöpfe kennzeichnen das weibliche Geschlecht, Bartwuchs den 
Mann. Auch die Art der Behaarung des Schamberges ist verschieden; beim Mann setzt 
sich dieselbe spitz auslaufend gegen den Nabel zu fort, beim Weibe ist sie bogenförmig ab¬ 
gegrenzt; die Bauchdecken sind in der Regel von Haaren frei. Die allerdings beobachteten 
Ausnahmen sind im Ganzen selten, doch kommen solche vor, wie namentlich B. Schultzb 
nachgewiesen hat. Auch die in der Regel das männliche Geschlecht bekundende Behaarung 
der Brust kann einmal beim Manne fehlen, andererseits ist sie auch bei weiblichen Indivi¬ 
duen beobachtet worden (v. Hofmann). Der Nachweis von Brustdrüsen ist gleichfalls sehr 
wichtig, wenn auch für sich allein nicht absolut entscheidend, da sie bei Mädchen unent¬ 
wickelt, bei älteren Frauen atrophirt sein können und manchesmal auch bei Jünglingen 
und Männern vorhanden sind. 

b) Geschlechtsbestimmung an Knochen. 

Wichtige, in vielen zweifelhaften Fällen endlich einzig entscheidende Anhaltspunkte für 
die Geschlechtsbestimmung bieten die Knochen. Dabei ist wohl zu beachten, dass die 
Geschlechtscharaktere erst in der Pubertätsperiode zur vollen Entwicklung gelangen und 
im Greisenalter in Folge der senilen Knochenatrophie zum Theile wieder verwischt werden. 

Im Allgemeinen ist der Knochenbau beim Weibe zarter, das Gesammtskelett ist kleiner, 
jeder einzelne Knochen graciler und weniger massig entwickelt wie beim Manne; nament¬ 
lich sind die Mittelstücke der weiblichen Röhrenknochen schlanker, die Gelenksenden der¬ 
selben weniger verdickt. Beim Manne sind die zum Ansatz von Muskeln, Fascien und 
Bändern dienenden Leisten und Rauhigkeiten viel stärker ausgeprägt, insbesondere an den 
Oberschenkel- und Oberarmknochen; die Nacken- und Schläfenhnien, sowie die Temporal¬ 
leisten des Keilbeines treten beim Manne bedeutend stärker hervor und der Warzenfortsatz 
ist bei ihm viel stärker entwickelt. Das männliche Kiefergerüst, besonders die Alveolar- 
theile desselben, ist kräftiger ausgebildet; das Gesichtskelett des Mannes erscheint im Ver¬ 
hältnis zum Hirnschädel lang und breit, das des W T eibes verhältnismässig kürzer und 
schmäler. Die Schädelbasis ist beim Weibe im Verhältnis zum Schädelgewölbe sowohl in 
der geraden, wie in der queren Richtung kleiner, und ist nach Welcher besonders der kurze 
Abstand der Warzenfortsätze an weiblichen Schädeln bemerkenswert. Zudem ist der weib¬ 
liche Schädel durch schmälere Stirne, längeres Hinterhaupt, kleinere Aeste und flachere 
Winkel des Unterkiefers ausgezeichnet. Dies Alles gilt aber nur für ein typisch entwickeltes 


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IDENTITÄTSBESTIMMÜNG. 


437 


Knochensystem und man wird sich im concreten Falle die nicht seltenen Abweichungen 
vom Typus immer gegenwärtig zu halten haben. 

Sehr entscheidend kann die absolute Grösse und der Rauminhalt des Schädels sein. 
Der männliche (ausgewachsene) Schädel ist in allen Durchmessern, namentlich aber im 
senkrechten wesentlich grösser als der weibliche. Der Rauminhalt des Hirnantheiles ver¬ 
hält sich zu dem des Weibes im Mittel wie 100 : 89 7, indem der mittlere Rauminhalt für 
den Mann 1450 cm 8 , für das Weib 1300 cm 8 beträgt. Der Horizontalumfang des männ¬ 
lichen Schädels übertrifft den des weiblichen im mittleren Verhältnis von 100:96*6; er 
beträgt beim Manne im Mittel 521'4, beim Weibe 503 6 mm (Welcker). 

Am schärfsten treten die Geschlechtsanterschiede am Becken hervor. Das weib¬ 
liche Becken ist in Folge des zarteren Knochenbaues niedriger, aber breiter und weiter als 
das männliche. Das Kreuzbein ist beim Weibe breit und kurz, beim Manne viel schmäler 
und länger, beim letzteren ragt das Promontorium stark in den Beckenraum hinein; in¬ 
folge dessen ist das männliche Becken in seinem Eingänge stumpf dreieckig oder karten¬ 
herzförmig, das weibliche querelliptisch; ersteres nimmt in seinen Dimensionen gegen den 
Ausgang zu stark ab, es ist trichterähnlich, während der Beckenraum beim weiblichen 
Geschlecht cylinderähnlich ist. Die Darmbeine sind beim weiblichen Becken stark nach aussen 

f eneigt (breite Höfte); die hintere Symphysenfläche ist im flachen Bogen gekrümmt, die 
chamfuge niedriger und stärker geneigt, der Schamfugenwinkel weit und kreisbogenförmig 
gestaltet, während er beim Manne spitz ist. Die Gelenkpfannen sind beim weiblichen Becken 
mehr nach vorne gerichtet und die Sitzknorren stehen weit von einander ab. 

Kann man schon aus diesen Merkmalen meist mit grosser Sicherheit das weibliche 
vom männlichen Becken unterscheiden, so bieten endlich die Messungen der Beckenhöhle, 
von schweren pathologischen Veränderungen abgesehen, einen völlig sicheren Anhaltspunkt 
für die Geschlechtsbestimmung. 


Nach Toldt können als mittlere Maasse folgende Zahlen gelten: 



Weib 

Mann 

Im Beckeneingang: 

Conjugata vera 

118 mm 

113 mm 

Querdurchmesser 

135 „ 

127 , 


Schräger Durchmesser 

124 . 

120 . 

Im Beckenraum: 

Gerader Durchmesser 

126 „ 

114 „ 


Querdurchmesser 

120 „ 

. 109 , 

Im Beckenausgang: 

Gerader Durchmesser 90- 

-HO „ 

7o—95 . 

Querdurchmesser 

110 , 

82 . 


3. Die Körperbeschaffenheit. Die wichtigsten körperlichen Eigenschaften, 
welche die nachträgliche Sicherstellung einer Person ermöglichen können, 
sind: Die Körpergrösse, der Ernährungszustand, die Kopf- und Gesichtsbildung. 

o) Die Körpergrösse. 

Diese gehört unzweifelhaft zu den wichtigsten individuellen Eigenschaften, 
sowohl während der Wachsthumsperiode, wie nach Vollendung der Körper¬ 
entwicklung. Bekannt sind die grossen Schwankungen der Länge eines Menschen 
schon während der Entwicklung desselben. Es kann daher die Körperlänge 
nur mit grösster Vorsicht für die Altersbestimmungen verwertet werden. 
Einjährige Kinder können die Körperlänge von Neugeborenen und fünfjährige 
die von einjährigen haben. Mir ist die Körperlänge daher nur ein Ausdruck 
der individuellen Wachsthumsverhältnisse, eine für die Identitätsbestimmung 
wichtige körperliche Eigenschaft, aber ein sehr unsicherer Ausdruck des Alters 
eines Menschen. Auch sind die Messungsergebnisse verschiedener Autoren 
wesentlich abweichend, wie sich aus der Vergleichung der nachfolgenden 
Ziffernreihen am besten ergibt, ganz abgesehen davon, dass bei dem der 
Messung zu Grunde gelegten Material Race und Nationalität unberücksichtigt 
geblieben sind und doch sind unzweifelhaft auch die Racen- und selbst inner¬ 
halb eines Volkes die Stammesverschiedenheiten nicht unbeträchtlich. 


Unter Zugrundelegung der Angaben Quetelet’s, Zeising’s, Liharzik’s, Bbneke’s and 


im Laufe des 


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1. Lebensjahres zwischen 

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438 


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vorgenomnien worden sind. Von diesen sind, wvil äftf gtossen .ZhIiImi beruhend, die 
Messungen der Frankfurter Cöflamisswa besonders beachtenswert; welche die Jagend der 
Fiankinrter öffentliche« Schule», nod zwar 3159 Knaben «ad 24/6 Mhdrhen umfassen 
(Vierteljalirschr. f. off. Gesandheitsptiege-, IV, 31, 300). 

Knaben. 


Alter 


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der Gemessenen i 

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Anzahl 


Minimum 


Masimum 


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13— 14 
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17 — 18 ; 

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IDENTITÄTSBESTIMMUNG. 


439 


Mädchen. 


Alter 

Anzahl 

der Gemessenen 

Durch¬ 

schnittliche 

Körpergrösse 

Minimum 

MftTrimnm 


6— 7 

44 

1150 

101-6 

124-9 


7- 8 

304 

1163 

990 

1290 


8- 9 

353 

1212 

106 0 

139-9 


9—10 

335 

1251 

106*0 

1401 


10—11 

345 

129-8 

112-0 

1565 


11—12 

307 

135-7 

1 1180 

1540 


12—13 

305 

1411 

1240 

1610 


13-14 

233 

1434 

1190 

1700 


14-15 

151 

150-9 

1220 

1690 


15-16 

49 

156-6 

1420 

172-2 


16—17 

16 

1565 

1510 

166*8 


17-18 

4 

161-2 

1538 

1700 


18-19 

2 

155-5 

1540 

1570 



Auch ans einzelnen aufgefundenen Knochen kann man noch mit 
ziemlicher Sicherheit die Körpergrösse des Trägers derselben erschlossen 
unter Zugrundelegung der von C. Langer (Das Wachsthum des menschlichen 
Skelettes. Wien. Akad. der Wiss. 31. Bd. 1871) ermittelten Zahlen über die 
Verhältnisse der Gesammtlänge zur Länge einzelner Knochen. 

Es ist enthalten in der Leibeshöhe: 


beim Neugeborenen: beim Manne: 


Die Wirbelsäule .... 


2-60 

mal 

ii 

2*82 mal 

Der Schädel. 

n 

4-89 

ii 

ii 

7-90 

ii 

Der Oberschenkelknochen . 


519 


384 


Das Schienbein .... 

ii 

6-20 

ii 

ii 

4-65 

ii 

Das Oberarmbein .... 

ii 

612 

ii 

ii 

500 

ii 

Der Radius. 

ii 

8-34 

ii 

ii 

706 

ii 

Die Hand. 

ii 

7-96 

ii 

ii 

903 

ii 

Der Fuss. 

ii 

8-62 

ii 

ii 

972 

ii 


Eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung wird bei solchen Bestimmungen 
naturgemäss immer obwalten müssen, und ist namentlich zu bedenken, wie 
aus den vorstehenden Zahlen deutlich zu ersehen ist, dass im Laufe der 
Entwicklung, also während der ganzen Wachsthumsperiode, das Verhältnis der 
einzelnen Knochen zur Leibeshöhe sich fortwährend ändert. So fällt nach 
Toldt (a. a. 0. S. 566) beim neugeborenen Kinde die Hälfte der Körperlänge 
etwa in die Mitte der vorderen Bauchwand oder etwas weniger tiefer, ungefähr 
in die Höhe des 3. und 4. Lendenwirbels. In Folge des vorwiegenden 
Wachsthums der unteren Extremitäten rückt sie im Laufe der Kindeijahre 
immer tiefer herab, bis sie um das 10. Jahr an den oberen Rand der 
Symphysis ossium pubis zu liegen kommt. Bei der grossen Mehrzahl der 
Menschen fällt die Mitte der Körperlänge auch nach Vollendung des 
Wachsthuras in die Nähe des Symphysenrandes, gewöhnlich um 1—2 cm tiefer 
(bei kurzbeinigen Individuen meist etwas über die Symphyse, bei auffallend 
langbeinigen beträchtlich unter dieselbe). 

Endlich ist bei der Abschätzung der Körperlänge aus den Knochen zu 
berücksichtigen, dass die Summe der Höhen aller Zwischenwirbelscheiben 
sowohl bei Kindern als bei Erwachsenen annähernd 25% der Gesammthöbe 
der Wirbelsäule ausmacht, also gleich ist dem dritten Theile der Gesammt- 
höhe aller Wirbelkörper. Nach anatomischen Erfahrungen sind ferner zu 
der Gesammtlänge des trockenen Skelettes 3*5—5 cm zuzuzählen, um die 
Körperlänge während des Lebens zu erhalten. 

b) Der Ernährungszustand. 

Es ist eine allgemeine Uebung selbst bei der forensischen Untersuchung 
bekannter Personen den Ernährungszustand anzugeben; bei unbekannten ist 


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440 


IDENTITÄTSBESTIMMUNG. 


derselbe eine so wichtige körperliche Eigenschaft, dass seine Feststellung bei 
Identitätsbestimmungen ganz unerlässlich ist. Bei lebenden Personen oder 
frischen Leichen hat dies gar keine Schwierigkeit, anders bei faulen Leichen. 
Hier kann es Vorkommen, dass durch Hautemphysem und Fäulnisgase eine 
mitunter hochgradige (gigantische) Auftreibung des Körpers stattfindet; ein 
mageres Individuum scheint dann gut genährt, ein altes, dürres, gerunzeltes 
in Folge der Spannung der Haut und der Ausgleichung der Falten jung, ein 
muskelschwaches durch Aufblähung der Muskeln sehr kräftig gebaut zu sein. 
Ganz besonders ist dies bei Wasserleichen der Fall. 

Aber auch das Gegentheil kommt durch postmortale Veränderungen zu Stande. Bei 
der Vertrocknung, der sogenannten Mumification der Leichen gehen durch den Wasser¬ 
verlust die Prallheit, Spannung und das Volum der Gewebe um ein bedeutendes Maass 
zurück, so zwar dass die Mumie wie ein Zerrbild des lebenden Individuums erscheint. 
Die Einschrumpfung namentlich des Gesichtes erzeugt ein greisenhaftes oder abgezehrtes 
Aussehen auch ursprünglich gut genährter Individuen. Eine solche Reduction der Gewebe 
bis zur völligen Unkenntlichmachung des Ernährungszustandes kann auch durch Verkohlung 
der Leichen herbeigeführt werden. 

Beurtheilt wird der Ernährungszustand aus der Beschaffenheit der Haut, 
der Menge des Unterhautfettgewebes und des Körperfettes überhaupt, der 
Blutmenge im Allgemeinen und dem Blutgehalte der Organe, der Masse und 
Beschaffenheit der Muskulatur. Dabei ist wohl zu beachten, dass auch der 
Blutgehalt der Gewebe sich postmortal verändert, so dass nach einiger Zeit 
in Folge der Wanderung der Körperflüssigkeiten und der postmortalen Aus¬ 
blutung der Leichen die ganze Leiche blutleer geworden ist. 

c) Kopf- und Gesichtsbildung. 

Kopfform und Gesichtsbildung sind die am meisten hervortretenden 
Körpertheile und daher für die Agnoscirung einer unbekannten Person von 
grösster Wichtigkeit. 

Der Schädel ist in vielen Fällen so charakteristisch gestaltet, dass die Form auch 
dem Laien auffällt. Ungewöhnliche Länge oder Kürze, Breite, Schmalheit, auffallende 
Höhe (Spitzschädel, Thurmschädel), grosse Assymmetrien, Wasserköpfe, fliehende oder ge¬ 
rade, hone oder niedere, breite oder schmale Stirne, vorstehende Kiefer (Vorderkauer, 
Hundemaul) sind allgemein bekannte, hervortretende Eigentümlichkeiten der Schädel¬ 
bildung und nicht weniger wichtig für die Identitätsbestimmung, wie eine verkrümmte 
Wirbelsäule, ein verkürztes oder krummes Bein, ein flacher oder auffallend stark gewölbter, 
kammartig gestalteter Brustkorb (Hühnerbrust). 

Besonderes Gewicht ist auf die Haare zu legen. Die Farbe, Dichte, Länge, Stärke 
und Tracht derselben müssen hervorgehoben und beschrieben werden. Was die Haarfarbe 
anlangt, so ist allerdings zu beachten, dass sich dieselbe, wie vielfache Beobachtungen ge¬ 
lehrt haben, bei Leichen, die lange Zeit begraben waren, auch ändern kann. So hat 
Chevalier in einem Falle gefunden, dass sich weisse Haare in braune verwandelt hatten, und 
anderseits wurden braune und dunkle Haare bei jahrelang begrabenen Leichen hellröthlich- 
blond (Casper) oder roth (Hauptmann) gefunden. Die Verfärbung der Haare von Leichen 
in eine röthliche Nuance scheint überhaupt Regel zu sein, wie dies aus den Beobachtungen 
von Orfila und Lesueur, Sonnenschein, Oesterlen u. A. hervorgeht. Auch die Haare 
der ägyptischen Mumien sind fast durchwegs rothbraun (fuchsig, wie alte Perrücken), ebenso 
wie die von Leichen aus alten Klostergrüften (Schaffhausen). Beachtenswert ist auch die 
nicht zu selten vorkommende künstliche Färbung der Haare. In solchen Fällen wäre die 
von Moser bisher allein beobachtete postmortale Ausbleichung der Haare bis zum voll¬ 
ständigen Verschwinden des Pigmentes allerdings sehr natürlich zu erklären. Die Haare 
können auch durch Hitzein Wirkung ihre Farbe verändern, wie man beim Brennen zu be¬ 
obachten Gelegenheit hat, und durch Russ kann die ursprüngliche Haarfarbe völlig ver¬ 
deckt werden (v. Hofmann, Beobachtungen an Ringtheaterleichen). Endlich kann es ge¬ 
schehen, dass die Haare durch die Fäulnis zugleich mit der Epidermis verloren gehen 
oder durch Reibung abbrechen und nun wie abgeschnitten oder rasirt erscheinen. Diese 
namentlich bei Wasserleichen zu beobachtende Veränderung hat schon zu verhängnis¬ 
vollen Fehlschlüssen geführt. Was von den Kopfhaaren gilt, trifft auch für die übrigen 
Körperhaare, namentlich die Barthaare zu. 

Die Augen sind ein bekanntes Identificirungsobject. Auch hier ist es besonders 
die Farbe, welche in Betracht kommt. An lebenden und frischen Leichen ist die Farbe 
der Regenbogenhaut leicht festzustellen. Wenn aber die Hornhaut durch Fäulnis getrübt, 
die Epithelschichte aufgequollen und gelockert und die Iris blutig imbibirt ist, dann kann 
die Feststellung der ursprünglichen Farbe der Augen schwer oder ganz unmöglich sein. 


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IDENTITATSBESTIMMUNG. 


441 


Die Augen fauler Leichen erscheinen dem Beobachter in der Regel tiefblau, in manchen 
Fällen kann auch die milchige Trübung bis zu dem Grade gediehen sein, dass man ein 
staarkrankes Auge vor sich zu haben glaubt. 

In der Beschreibung des Gesichtes darf bei unbekannten Personen auch die Nase 
nicht fehlen. Dieser Theil des Gesichtes verleiht demselben nicht selten ein besonders 
charakteristisches Gepräge. Die schmale, breite, spitze, stumpfe, kurze, aufgeworfene, ein¬ 
gedrückte, platte Nase sind bekannte Formen. Die Veränderung der Form z. B. durch 
Fäulnis oder das Fehlen der Nase entstellen ein Gesicht nicht selten bis zur Unkennt¬ 
lichkeit. Das haben sich auch schon Verbrecher zunutze gemacht, indem sie Leichen, nm 
deren Agnoscirung unmöglich zu machen, die Nasen abschnitten (Pinkham). 

Besonders wichtig ist die Beschaffenheit der Zähne. Schon seit alter Zeit ist diesem 
Merkmale von den Gerichtsärzten eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet worden. Die 
Zähne bilden nicht nur bei lebenden Menschen ein mitunter ganz charakteristisches Kenn¬ 
zeichen der Person, sondern sie sind in Folge ihrer Festigkeit und Widerstandsfähigkeit 
gegen zerstörende Einwirkungen oft noch bei ganz verfaulten oder sonstwie entstellten 
Leichen unverändert erhalten. Caspar und Taylor theilen interessante Fälle von Agno- 
scirungen von Leichen mit, bei denen die Beschaffenheit der Zähne oder eines künstlichen 
Gebisses eine grosse Rolle gespielt hat. 

Schon oben ist die Bedeutung der Zahnentwicklung für die Sicherstellung des Alters 
unbekannter Personen dargelegt worden. Die physiologischen Vorgänge des Zahndurch¬ 
bruches sowohl der Milchzähne als der Dauerzähne, die Ausbildung der Abnützungsflächen, 
der senile Ausfall mit der folgenden Atrophie der Kiefer sind oft wertvolle individuelle 
Identitätsmerkmale. Noch mehr sind es pathologische Veränderungen an den Zähnen, wie 
abnorme Stellungen, Ueberzahl oder Unterzahl, Abnormitäten^ des Zahnschmelzes (Riffung), 
die Caries und der vorzeitige Zahnausfall, plombirte und falsche Zähne, sowie falsche 
Gebisse. 

Während die Zähne durch die Fäulnis selbst in Jahren nicht wesentlich verändert 
werden, können sie durch Hitzein Wirkung Umänderungen von Solcher Wesenheit erfahren, 
dass ihre Verwertbarkeit für die Identitätsbestimmung vermindert wird. Die Zähne werden, 
wie zuerst von Küchenmeister, später auch von Hofmann an den Ringtheaterleichen fest¬ 
gestellt worden ist, calcinirt, bekommen Sprünge, und zerbröckeln ungemein leicht, sodass 
Caries oder Zahndefect vorgetäuscht werden kann, dabei sind sie blendend weiss, und 
es lässt sich vorstellen, dass durch die Flamme vordem „schwarze“ Zähne weiss gebrannt 
werden können, während umgekehrt bei der Verkohlung auch eine Anschwärzung vordem 
ganz weisser Zähne beobachtet worden ist (v. Hofmann Lehrb. 7. Aufl. 1895. s. 864). 

d) Besondere Kennzeichen. 

Von jeher hat man mit Recht auf das Vorhandensein sinnenfälliger 
körperlicher Merkmale bei Personsfeststellungen ein grosses Gewicht gelegt. 
In der That sind auffallende Eigenthümlichkeiten, wie ein Höcker, ein Kropf, 
ein Mal u. dgl. mehr als etwas Anderes geeignet, eine Person vollkommen 
sicherzustellen. 

Die wichtigsten dieser besonderen Merkmale sind: Verkrümmungen der Wirbelsäule, 
der Beine, der Arme, Verbiegungen des Brustkorbes oder der Extremitäten, das Fehlen von 
Armen, Beinen, Händen, Füssen, Fingern, Zehen, Versteifungen oder Verrenkungen der Gelenke, 
Brüche, Abnormitäten der Kopfbildung (Spitzschädel, Wasserschädel, schiefer Schädel) und 
der Behaarung, Missbildungen, wie Hasenscharte und Wolfsrachen, Verstümmelungen, auffällige 
pathologische Veränderungen namentlich am Gesichte, den Augen, der Nase, den Ohren und 
Lippen, z. B. krebsige Neubildungen, Geschwüre, Ausschläge, syphilitische Defecte. Dazu 
kommen noch Kropf, Entwicklung und Beschaffenheit der weiblichen Brustdrüsen und Geni¬ 
talien mit Rücksicht auf die bereits eingetretene Geschlechtsfunction, Schwangerschaftsnarben, 
Hernien, pathologische Veränderungen des Penis und der Hoden (Monorchie, Kryptorchie, 
fehlendes Präputium), endlich von besonderer Wichtigkeit noch Narben und Tätowirungen, 
sowie die Beschaffenheit der Hände. 

Bezüglich der Narben und Tätowirungen wird auf die besonderen Abhandlungen an 
anderer Stelle verwiesen;*) über die Hände als Identitätszeichen wollen wir hier noch 
einige kurze Bemerkungen anfügen. 

Die Beschaffenheit der Hände und der Fingernägel gestattet unzweifelhaft oft sogar 
ganz sichere Rückschlüsse auf die Beschäftigung und den Stand des Individuums. So ist 
die schwielige Hand des Arbeiters und Landmannes auf den ersten Blick zu unterscheiden 
von der des Städters mit vorwiegend geistiger Thätigkeit. Gewisse Hantirungen bedingen 
theils charakteristische Färbungen der Haut, theils besondere Arten von Schwielenbildungen, 
die ganz richtig als professionelle bezeichnet wurden (Hebra. Kaposi, Neümann, Hirt), theils 
auch typische narbige Veränderungen. Mit Recht haben Tardieu, Vernois und andere 
Gerichtsärzte von diesen gewerblichen Eigenthümlichkeiten der Hände für forensische 
Zwecke wiederholt Gebrauch gemacht. 

*) Siehe Artikel „Gerichtl. Medicin“ S. 



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IDENTITÄTSBESTIMMUNG. 


Um zunächst von den ge werblichen Verfärbungen der Hände zu sprechen, 
sind die des Maliers, Bäckers, Kalk-, Zink- und Bleiweissarbeiters weiss, des Färbers blau, des 
Kohlenarbeiters, Kesselheizers, Schmiedes, Schlossers schwarz, des Mennigarbeiters roth, 
des Schweinfurtergrünarbeiters grün gefärbt. Dauernde Verfärbungen findet man ferner 
bei den Cichorienarbeitern, deren unbedeckte Hautpartien braun, bei den Ultramarin¬ 
arbeitern, deren Hände blau und bei den Krapparbeitem, wo sie roth sind. Farbige 
Nägel und Fingerspitzen haben die Gerber (braunroth), die Kunsttischler (schwarzbraun), 
die Tabakarbeiter (braun), die Indigoarbeiter (blau). 

Zahlreich sind die mitunter ganz typischen professionellen Schwielen¬ 
bildungen. So finden sich Schwielen in der rechten Hohlhand vorwiegend bei Schmieden, 
Schlossern, Tischlern, Zimmerleuten, Gerbern und Lederzurichtern; an den Fingern der 
rechten Hand bei Bürstenbindern, Steinklopfern, Schriftsetzern, Schustern, Schneidern, 
Uhrmachern, Drechslern und Gerbern; an den Fingern der linken Hand bei Graveuren, 
Modellirern, Malern, Schlossern, Drechslern, Korbmachern, Näherinnen, Häklerinnen und 
Schneidern (Spitze des Daumens und Zeigefingers zerstochen); an beiden Händen finden 
sich Schwielen in typischen Lagen bei Webern und Posamentirern, Hutmachern, Seilern, 
Wäscherinnen und Perlmutterarbeitern. 

Narben neben Schwielen und meist nissiger Verfärbung finden sich bei allen Feuer¬ 
arbeitern, namentlich den Grobschmieden, Zeugschmieden, Schlossern, dann bei den Stein¬ 
brechern, Steinmetzen und Steinklopfern, meist auch bei Maurern. Sie rühren von den 
abspringenden Eisen- und Steintheilen her. 

B. Mittel zur Identitätsbestimmung. 

Um eine Person vollkommen sicherzustellen, dazu bedarf es ausser den 
bisher angeführten, rein ärztlichen Untersuchungen und Befundaufnahmen 
noch besonderer Behelfe, welche im Folgenden eine kurze Erörterung finden 
sollen. Es gehören dahin die Untersuchung der Kleider und Effecten, die 
Photographie, Anthropometrie und einige andere besondere Behelfe. 

1. Die Kleider und Effecten. Es bedarf kaum einer Auseinandersetzung, wie 
wichtig für die Agnoscirung die Untersuchung von Kleidungsstücken und son¬ 
stigen Gegenständen der untersuchten lebenden oder todten Person ist. Ob diese 
Arbeit dem Arzte oder dem Untersuchungsrichter zufällt, könnte an sich zweifel¬ 
haft sein; die Regulative für die Vornahme gerichtlicher Leichenöffnungen weisen 
die Aufgabe dem Arzte zu (§§ 31 und 32 der österr. Vorschrift und § 10 des 
deutschen Regulativs). In der österr. Vorschrift sind auch sehr genaue und 
zutreffende Bestimmungen über die Art des Vorganges hiebei enthalten (vgl. 
gesetzliche Bestimmungen am Eingang), worauf hiemit verwiesen wird. 

Wie die Kleider sind auch andere Hüllen, welche besonders zur Entwicklung neu¬ 
geborener Kinder verwendet werden, zu behandeln. In zahlreichen Fällen hat der Nach¬ 
weis der Herkunft des Lappens, Tuches u. s. f., worin ein todt aufgefundenes Kind ein¬ 
geschlagen war, zur Entdeckung der Kindesmörderin geführt. Ebenso ist das Bändchen, 
mit welchem die Nabelschnur abgebunden ist, wichtig. 

Auch bezüglich der sonstigen Gegenstände, der sogenannten Effecten, ist kaum noch 
etwas zu bemerken. Es kommen da wesentlich in Betracht: Briefe, Karten, Taschentücher, 
Messer, Zeitungsblätter. Münzen, Geldbörsen, Uhren, Ringe, Ohrgehänge und sonstige 
Schmuckgegenstände. Bei hochgradig faulen Leichen ist die Auffindung derartiger Dinge 
meist noch viel wichtiger, weil eine anderweitige Identificirung schwer oder unmöglich 
geworden ist. Die forensische Literatur kennt zahlreiche Beispiele von selbst sehr späten 
Agnoscirungen dnrch diese Untersuchungen. Selbst an Skeletten können sich solche Dinge 
finden und die Erkennung nach Jahrzehnten noch ermöglichen. Viele Gegenstände sind 
ja fast unzerstörbar, aber selbst die Kleider können je nach der Beschaffenheit des Stoffes 
der Zersetzung oft ungewöhnlich lange Zeit widerstehen. Beispiele dieser Art führen 
unter Andern Moser und Reinhard an. Selbst bei verkohlten Leichnamen finden sich 
diese Gegenstände, sowie auch ganz ansehnliche Kleiderreste wohl erhalten, wie wir aus 
den Untersuchungen Zillner’s von den Opfern des Ringtheaterbrandes in Wien wissen. 

2. Die Photographie. Es giebt wohl kaum ein besseres Mittel für di® 
Identificirung von Personen als die Photographie. Mit Recht wird davon auch 
für forensische Zwecke ein immer ausgedehnterer Gebrauch gemacht. Es 
sollte als Regel gelten, jeden unbekannten Verbrecher und jede unbekannte 
Leiche zu photographiren. Nichts kann eine spätere Agnoscirung sicherer ge¬ 
währleisten. 

Dieser Ueberzeugung verdanken die Verbrecher-Albums, welche von den Polizei- 
und Gerichtsbehörden grosser Städte zum Theile schon vor mehr als zwei Decennien an- 


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IDENTITÄTSBESTIMMUNG. 


443 


zullen begonnen worden sind (Paris, Berlin) ihre Entstehung. Das Verbrecheralbum von 
Berlin hatte schon zur Zeit der Hygiene-Ausstellung 1883, wo ich dasselbe zum erstenmale 
besichtigt habe, einen sehr stattlichen Umfang, dank der unermüdlichen Thätigkeit seines 
geistvollen Begründers Hyllesem. Es war in Mitteleuropa damals noch das einzige Unter¬ 
nehmen dieser Art, und war es mit Hilfe dieser Sammlung von Photogrammen aller auch 
ein einzigesmal von der Polizeibehörde in Gewahrsam genommenen Menschen sehr leicht 
möglich, neu eingelieferte Uebelthäter, die natürlich meist falsche Namen angeben, sicher- 
znstellen. 

Einen ebenso grossen Wert hat die Photographie für die spätere 
Agno scirung von Leichen. Bei der Aufnahme sollte aber immer der 
Arzt mitwirken, wenn er sie schon nicht selbst zu machen im Stande ist, 
damit das Wichtige und Charakteristische im Bilde erscheint. *) „Die licht¬ 
empfindliche Platte ist die neue Netzhaut des Forschers“, sagt mit Recht 
Vogel, um den Wert der Photographie für wissenschaftliche Untersuchungen 
klarzulegen, und ich füge hinzu eine „objective“ Netzhaut, was für die 
Zwecke der forensischen Medicin von ganz besonderer Bedeutung ist. 

Für die Agnoscirung ist selbstverständlich der Kopf und das Gesicht 
die Hauptsache. Nun sind diese aber bei faulen Leichen oft bis zur absoluten 
Unkenntlichkeit entstellt. Die photographische Aufnahme so entstellter Ge¬ 
sichtszüge wäre natürlich wertlos. In solchen Fällen empfiehlt es sich, den 
Kopf abzutrennen und der Auswässerung im kalten fliessenden Wasser zu 
unterziehen, die aufgedunsenen Weichtheile nehmen bei dieser Behandlung 
wieder annähernd ihre ursprüngliche Gestalt an, die Fäulnisgase entweichen, 
die flüssigen Fäulnisproducte werden fortgeschwemmt und nun ist die Er¬ 
kennung oft wieder möglich geworden. Derartig behandelte Köpfe können 
auch wieder mit Vortheil photographirt werden, was ich schon in mehreren 
Fällen mit gutem Erfolg ausgeführt habe. 

Die Stellung, welche man dem Lebenden oder der Leiche beim Photograpbiren giebt, 
wird wesentlich von dem Zwecke, der erreicht werden soll, abhängen, und scheinen mir 
theoretische Erörterungen darüber, ob das volle Antlitz oder das Profil oder Theile (Viertel) 
des Profils oder ein Spiegelbild aufgenommen werden soll, wertlos. Genauestes giebt 
hierüber Bertillon in seinem classischen Buche „La Photographie justiciaire* an, ferner 
macht auch Jeserich darauf bezügliche praktische Angaben. 

3. Die Anthropometrie. Alphons Bertillon hat in Paris ein nach 
ihm „Bertillonage“ genanntes Verfahren der Körpermessung unbekannter 
Personen eingerichtet, dessen praktischer Wert für Agnoscirungszwecke immer 
mehr anerkannt wird, je weitere Kreise sich mit demselben vertraut machen. 
Das anthropometrische Verfahren von Bertillon hat die Photographie zur 
Vorbedingung. Es wurde zunächst eine Lichtbildersammlung aller auf die 
Pariser Polizei-Präfectur gebrachten Personen angelegt. Jeder dorthin Ein¬ 
gelieferte wurde seit Jahren und wird noch heute photographirt. Die 
Sammlung hat jetzt 100.000 und mehr Einzelbilder. 

Wird nun Jemand neu eingebracht, so muss zunächst festgestellt werden, ob er 
schon einmal da war; denn dann ist er sofort agnoscirt. Das Heraussuchen seiner 
Photographie aus der Riesen Sammlung wäre aber ein Ding der Unmöglichkeit und der 
Wert grosser Sammlungen von Verbrecherbildern durch die Unmöglichkeit ihrer praktischen 
Verwertung fast auf Null herabgesetzt. Zum Zwecke der Ermöglichung raschen Findens 
der Photographie hat nun Bertillon ein ganz ingeniöses System der Körpermessung 
erdacht, das auf folgenden Grundlagen fusst: 

Von jedem Menschen werden gemessen die Körpergrösse, Kopflänge, Kopfbreite, 
Länge des Vorderarmes, des Mittel- und kleinen Fingers und des Fusses; endlich wird 
bestimmt die Spannweite der Arme, die Höhe der Büste und die Farbe der Augen. Von 
jedem Maasse sind 3 Abstufungen gemacht, die für Männer und Frauen empirisch bestimmt, 
bei einer für jedes Maass genau festgestellten Ziffer beginnen. Es giebt also grosse, mittel- 


*) Die Lichtbilder leisten nicht nur für die Feststellung der Person, sondern auch 
vieler wichtiger Befunde, wie der Lage und Beschaffenheit von Wunden, der Art der Blut¬ 
besudlung und sonstiger Beschmutzungen, der Lage von Strangfurchen u. dergl. so 
wesentliche Dienste, dass solche viel öfter, als es bisher geschieht, von den Gerichts&rzten 
hergestellt werden sollten. Die lichtempfindliche Platte ist die absolute Objectivität und 
daher unschätzbar für forensische Zwecke. 


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IMMUNITÄT. 


grosse und kleine Menschen mit langen, mittellangen and kurzen, breiten, mittelbreiten 
and schmalen Schädeln, grosser, mittlerer and kleiner Spannweite der Arme u. s. f. 
Nach diesen anthropometrischen Merkmalen sind auch alle Photographien untergetheilt 
und es resultiren durch diese fortgesetzte Gruppenbildung schliesslich ganz kleine Gruppen 
von Lichtbildern, unter denen sich das des Neugemessenen befinden muss, wenn er schon 
einmal in der Anstalt war, oder wo es eingereiht wird, wenn der Angekommene ein 
Neuling ist. 

Alle Maasse werden nach einheitlichen festgelegten Grundsätzen aufs Sorgfältigste 
bestimmt. Die Maassstäbe sind sämmtlich fest (nicht Bandmaass), oder werden mit dem 
Tasterzirkel aufgenommen. *) 

4. Anderweitige Behelfe. Ausser der schon oben erwähnten Aus¬ 
wässerung von Leichen und Leichentheilen können bei hochgradiger Fäulnis 
mit Erfolg noch andere Reconstructionsversuche gemacht werden, welche mit¬ 
unter ein überraschend günstiges Resultat liefern und der Leiche oder dem 
abgeschnittenen Kopfe und Gesichte ein nahezu normales Aussehen wiedergeben, 
so dass nach durchgeführter Reconstruction eine Agnoscirung durch Besichtigung 
oder mittelst photographischer Aufnahme möglich ist. Sehr guten Erfolg hat 
das Einlegen des ausgewässerten Körpers oder Körpertheiles in alkoholische 
Sublimat- oder Chlorzinklösung (v. Hofmann) oder die Injection coagulirender 
und bleichender Flüssigkeiten, wie sie von Touhdes, Wilhelmi und Richardson 
ausgeführt worden ist. Die Injection antiseptischer Flüssigkeiten, wie Arsen¬ 
lösungen, Sublimatlösungen, Carbolsäure-Glycerin, WiCKEESHEiM’sche Flüssigkeit 
kann für die Zwecke der Leichenerkennung selbst nach langer Zeit, wie ich 
aus eigener Anschauung weiss, bestens empfohlen werden. 

Ausser diesen chemischen Proceduren ist ein nicht selten angewendeter 
Behelf zur nachträglichen Agnoscirung von Leichen die Abnahme einer 
Gipsmaske. Die Gesichtszüge eines Menschen werden, wenn die Modellirung 
von fachkundiger Hand geschieht, dadurch in ungemein deutlicher Weise 
dauernd erhalten. j. kratter. 

Immunität. Unter Immunität verstehen wir eine gewisse Unempfind¬ 
lichkeit des Körpers gegen krankmachende Einflüsse, besonders Ansteckungs¬ 
stoffe. Am bemerkenswertesten ist daher die Immunität gegen Infections- 
krankheiten (s. d.). 

Wir unterscheiden eine angeborene Immuni tät, und zwar eine 
individuelle und eine Arten- und Rassenimmunität; und eine 
erworbene Immunität, und zwar eine natürlich erworbene und 
eine künstlich erworbene. 

1. Die angeborene Immunität 

Die angeborene individuelle Immunität ist eine allgemein 
bekannte Erscheinung, die wir bei jeder grösseren Epidemie oder stark auf¬ 
tretenden endemischen Krankheit beobachten können. Wir wissen, dass 
einzelne Individuen gegen bestimmte Infectionskrankheiten, wie Masern oder 
Scharlach, Pocken, Typhus, Cholera, Diphtherie, Tuberkulose u. s. w. völlig 
widerstandsfähig, also immun sind, selbst wenn sie sich der grössten An¬ 
steckungsgefahr aussetzen. Der Körper dieser Individuen ist eben nicht 
disponirt für gewisse Infectionskrankheiten. Es ist für diese Erscheinung 
eine ganze Reihe von Immunitätstheorien aufgestellt worden, die wir 
später besprechen wollen. Ganz besonders auffallend ist die angeborene 
Arten- und Rassenimmunität, welche sich darin äussert, dass von 
einzelnen Infectionskrankheiten nur Menschen, von anderen nur Thiere er¬ 
griffen werden, und zwar hier oftmals wieder nur ganz bestimmte Thierarten. 


*) Es muss als Regel gelten, dass bei allen Messungen, die vom Gerichtsarzte vor¬ 
genommen werden, ausser wenn es sich um die Bestimmung von Umfingen handelt, 
niemals Bandmaass, sondern stets ein fester Maassstab oder der Tasterzirkel in Anwendung 
zu ziehen ist. 


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IMMUNITÄT. 


445 


So sind z. B. die Thiere immun gegen die für den Menschen so infectiösen Krank¬ 
heiten: Syphilis, Scharlach, Masern; andererseits ist z. B. wieder der Mensch immnn gegen 
die den Mäusen so verderbliche Mäuseseuche u. s. w. Ferner sind einzelne Thierarten 
immun gegen Krankheiten, denen andere Thierarten sicher erliegen. Gegen Milzbrand, 
der für so viele Thierarten verderblich ist, sind z. B. Ratten, Tauben und Hühner immun, 
letztere sind auch immun gegen Tetanus, Kaninchen gegen Rotz, Hunde gegen Tuber¬ 
kulose, obwohl sie bei ihrem Umherschnuppem und Laufen über staubigen Erdboden wohl 
genug Tuberkelbacillen einathmen. 

Was die Rassenimmunität betrifft, so wissen wir z. B. von Thieren, 
dass Feldmäuse für Rotz nnd Tuberkulose empfänglich sind, weisse Mäuse 
nicht, wogegen wiederum die letzteren einer Infection mit dem Micrococcus 
tetragenus erliegen, der den grauen Mäusen vollkommen unschädlich ist. 
Von Menschenrassen sind z. B. die Neger immun gegen das gelbe Fieber, 
für welches die weisse Rasse sehr empfänglich ist, dagegen sind erstere 
wieder stärker disponirt für Tuberkulose, Pocken und andere Krankheiten. 

2. Die erworbene Immunität 

Natürlich erworbene Immunität gegen eine Krankheit nennen wir 
eine solche, die durch das einmalige Ueberstehen der betreffenden Krankheit 
hervorgerufen ist, und durch welche ein gewisser, allerdings nicht absolut 
sicherer Schutz gegen eine zweite Erkrankung der nämlichen Art gewährt 
wird. Die Dauer, welche ein solcher Schutz gegen eine erneute Infection 
hat, ist bei den verschiedenen Krankheiten sehr verschieden. Die am längsten 
währende natürlich erworbene Immunität hat man nach dem Ueberstehen 
gewisser exanthematischer Krankheiten beobachtet, wie Pocken, Scharlach, 
Masern. Bei anderen Krankheiten wird nur ein kurze Zeit dauernder Schutz, bei 
noch anderen gar keine Immunität beobachtet, und einzelne Krankheiten be¬ 
wirken durch einmaliges Ueberstehen sogar eine Disposition für spätere 
W iedererkrankungen. 

Da man nun beobachtete, dass auch leichte Erkrankungen einen Schutz 
gegen spätere neue Infectionen gewähren, kam man bald dahin, bei leichten 
Epidemien die Gesunden direct der Ansteckung auszusetzen, um sie durch 
Ueberstehen einer leichten Erkrankung gegen spätere schwere zu schützen. 
Es ist dies eine künstlich erworbene Immunität. 

In China hatte man beispielsweise schon vor mehr als 3000 Jahren die so verheerend 
auftretenden Pocken dadurch zu bekämpfen versucht, dass man die Menschen in ganz 
besonderer Weise künstlich mit dem in Pockenschorfen enthaltenen echten Pockengift 
impfte, den Verlauf der Infection durch geeignete Maassnahmen milde gestaltete und die 
künstlich Inficirten so gegen eine natürliche Infection mit derselben Krankheit immun 
machte. 

Dieses Verfahren, die sogenannte Variolation, wurde Anfang des 18. Jahrhunderts 
nach England verpflanzt, breitete sich über mehrere andere Länder aus und gewann zahl¬ 
reiche Anhänger. Es war auch in gewisser Beziehung erfolgreich, aber doch recht 
mangelhaft und gefährlich, da zahlreiche Todesfälle dabei beobachtet wurden. An seine 
Stelle trat dann gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die von dem englischen Arzt 
Jenner entdeckte Impfung mit dem Kuhpockengift, einem für die Menschen harmlosen 
Virus, welches eine Krankheit, die Kubblattern, erzeugt, nach deren Ueberstehen die 
Menschen immun gegen die wahren Pocken sind, und zwar für relativ lange Zeit, circa 
12 Jahre. Man nennt dies Verfahren die Vaccination. Diese grosse Entdeckung Jenner’ s 
hat den Anstoss zu neuen, überaus wertvollen Entdeckungen auf dem Gebiete der Schutz¬ 
impfung gegeben, welche wir besonders den epochemachenden Versuchen Pasteur’s ver¬ 
danken. Pasteur ging von der Anschauung aus, dass das Kuhpockenvirus ein abgeschwächtea 
Pockengift sei und übertrug nun die bei der Pockenschutzimpfung gemachten Erfahrungen 
auf andere Infectionskrankheiten. Es gelang ihm und seinen Schülern zunächst bei aer 
Hühnercholera und beim Milzbrand, später auch beim Schweinerothlauf, beim 
Rauschbrand und zuletzt bei der Hundswuth, Thiere durch vorsichtige, stufenweise 
vorgenommene Application des abgeschwächten Infectionsmaterials gegen eine spätere, sonst 
tödliche Infection mit vollgiftigem Material zu immunisiren. 

Die Schutzimpfung muss äusserst vorsichtig ausgeführt werden, und so 
darf z. B. nicht auf die Impfung mit dem vollständig abgeschwächten Virus 
die Einverleibung des wirksamen Giftes folgen, sondern es müssen noch 


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IMMUNITÄT. 


dazwischen Impfungen mit verschieden starkem Material eingeschoben werden. 
Pasteur bediente sich hierfür zweier „Vaccins“ von verschiedener Giftigkeit: 
des schwächeren „premier vaccin“ und des stärkeren „deuxiöme vaccin“. 

Die Abschwächung des vollvirulenten Materials kann durch verschiedene 
Mittel erzielt werden: 

1. Mittelst der Passage durch den Körper von weniger empfindlichen 
Thieren. 

2. Durch Züchtung der Culturen unter dem Einfluss gewisser physi¬ 
kalischer Einwirkungen, wie höhere Wärme, Luftzutritt, Sonnenlicht, Elek- 
tricität, höherer Luftdruck u. s. w. 

3. Durch Zusatz von Chemikalien, wie Carbolsäure, Jodtrichlorid etc. 

Was den praktischen Erfolg dieser Schutzimpfungen betrifft, 

so gehen die Meinungen über den Wert derselben noch recht auseinander. 
Für den Milzbrand geht die Ansicht der meisten Forscher dahin, dass in 
Ländern oder Bezirken, welche regelmässig von Milzbrand stark heimgesucht 
werden, die Schutzimpfung nützlich ist. 

Beim Schweinerothlauf und bei der Hühnercholera waren die 
Erfolge zunächst keine ermuthigenden, so dass von einzelnen Seiten von der 
Schutzimpfung abgerathen wurde. Jedoch haben, wenigstens was den Bothlauf 
betrifft, die Schutzimpfungen speciell in Ungarn bedeutend zugenommen, und 
man ist dort mit dem Erfolg derselben zufrieden. 

Beim Rauschbrand lauten die Urtheile übereinstimmend so günstig 
für die Schutzimpfung, dass dieselbe als ein wirksames Schutzmittel gegen 
diese Seuche anzusehen ist. 

Mit das wertvollste, auch auf dem Princip der Anwendung abgeschwächten 
Giftes beruhende Verfahren, ist das von Pasteur zur Behandlung der Toll- 
wuth empfohlene. 

Wird einem Affen nach vorhergegangener Trepanition des Schädels ein Stückchen 
Rückenmark eines wnthkranken Hundes unter die Dnra mater gebracht, so erkrankt der 
Affe nach geranmer Zeit an Tollwuth; wird von diesem Affen ein zweiter, von dem zweiten 
ein dritter n. s. w. geimpft, so nimmt die Virulenz des Giftstoffes immer mehr ab. Impft 
man non Hunde mit einem derartig abgeschwächten Impfstoffe, so bleiben dieselben gesund 
und erhalten eine Immunität gegen immer stärkere Giftmengen, so dass sie schliesslich 
ohne Schaden von tollwuthkranken Hunden gebissen werden können. 

Eine noch einfachere Methode der künstlichen Abschwächung des Giftstoffes besteht 
darin, dass Rückenmarkstücke mit möglichst virulentem stabilem Giftwert von geimpften 
Kaninchen mehrere Tage getrocknet werden, und zwar in einem Gefäss, dessen Boden mit 
Stückchen von Kali causticum bedeckt ist. Je länger die Rückenmarkstücke der Trocknung 
ausgesetzt werden, um so schwächer wird das Virus. Dieses stufenweise abgeschwächte 
Virus wird nun zur Schutzimpfung von Thieren nnd auch zur Heilung schon gebissener 
Thiere nnd Menschen benutzt. 

Diese bisher besprochene Art der Schutzimpfung wird hervorgebracht 
durch Einverleibung der natürlich oder künstlich abgeschwächten Erreger der 
betreffenden Krankheit. 

Eine andere Art der Schutzimpfung ist die durch die Stoffwechsel- 
producte der betreffenden Krankheitserreger, die sogenannten Toxine. Alle 
diese Versuche sind aber entweder nur rein theoretische Laboratoriums¬ 
versuche, oder sie dienen zur Entwicklung von Antitoxinen zum Zweck der 
Heilung gewisser Infectionskrankheiten, wie die Diphtherie und der 
Tetanus. 

Ferner ist noch zu erwähnen, dass auch durch die Einverleibung fremder, 
nicht specifischer Bacterien, sowie Bacterienproducte und auch anderer 
chemischer Stoffe eine gewisse, aber meist schnell vorübergehende Immunität 
gegen einzelne Infectionskrankheiten erzeugt werden kann. Einen praktischen 
Wert haben diese Immunisirungen jedoch nicht. — Dagegen haben gewisse 
Stoffe, die sogenannten Bacterienproteine, die in den Bacterienleibern 
enthalten sind und erst durch den Zeriall derselben frei werden, und die zu- 


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IMMUNITÄT. 


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nächst auch zu Immunisirungs- und Heilzwecken hergestellt wurden, insoferne 
Bedeutung, als sie zu diagnostischen Zwecken herangezogen werden. Die er¬ 
wähnenswertesten unter ihnen sind das Tuberculin und das Mall ein. 

Es ist natürlich, dass man für eine so auffallende und wichtige Er¬ 
scheinung, wie die Immunität es ist, nach einer Erklärung suchte. Es sind 
von den verschiedensten Autoren auch solche Erklärungen gegeben worden, 
ohne dass es aber bisher gelungen ist, für irgend eine derselben den stricten 
Beweis zu erbringen. 

Die wichtigsten dieser Hypothesen, von denen einige allerdings nur 
noch historischen Wert haben, sind folgende: 

1. Die von Pasteur und Klebs aufgestellte Erschöpfungshypo¬ 
these, nach welcher bei der ersten Erkrankung des Körpers eine Anzahl von 
Stoffen in demselben verzehrt werde, welche für das Wachsthum der be¬ 
treffenden Bacterienart nothwendig seien, so dass die bei einem zweiten An¬ 
griff in den Körper eindringenden Bacterien nicht mehr die zu ihrem Ge¬ 
deihen nöthigen Stoffe vorfinden. 

Diese Theorie war nur so lange haltbar, als man noch nicht wusste, 
dass Immunität auch durch bacterienfreie Substanzen hervorgerufen werden 
kann, die ja eine derartige Erschöpfung nicht bewirken können. 

2. Dieser Erschöpfungstheorie gegenüber steht die von Chauveau an¬ 
genommene Retentionshypothese, welche annimmt, dass nach der ersten 
Invasion die Stoffwechselproducte der Bacterien im Körper Zurückbleiben und 
einerseits die weitere Entwicklung der Bacterien verhindern und so die Krank¬ 
heit beendigen, andererseits aber auch den Körper derartig durchsetzen, dass 
eine abermalige Invasion derselben Bacterien unmöglich ist. Die Hypothese 
stützte sich auf die Thatsache, dass bei gewissen Gährungen, wie die Milch¬ 
säure-, Buttersäure-, Harngährung und die faulige Zersetzung des Darminhalts, 
Substanzen entstehen, welche schliesslich die weitere Vermehrung der Micro- 
organismen, der Erreger jener Vorgänge, verhindern und theilweise direct 
bacterienwidrige, antiseptische Eigenschaften entfalten. Die nämliche Er¬ 
scheinung sollte sich im Körper abspielen und die angehäuften Stoffwechsel¬ 
producte sollten einen dauernden Schutz gegen eine abermalige Entwicklung 
der nämlichen Bacterien gewähren. 

Gegen diese Hypothese ist daran zu erinnern, dass die erworbene 
Immunität oft viele Jahre lang andauern kann, und dass eine solche Halt¬ 
barkeit nicht durch solche leicht lösliche Substanzen, wie die Bacterien- 
Stoffwechselproducte, bedingt sein kann. Es muss sich nach der Ansicht an¬ 
derer Autoren vielmehr um eine haltbare Veränderung des ganzen Körpers 
handeln, welche nur durch die Thätigkeit der activen Gewebszellen ver¬ 
mittelt werden kann. 

3. Daher wurde von einer Gruppe von Autoren eine dritte Hypothese 
aufgestellt, nämlich die Phagocythentheorie, deren Urheber und haupt¬ 
sächlichster Vertreter Metschnikoff ist. 

Metschnikoff fand, dass bei unempfänglichen Thierarten virulente, bei 
empfänglichen abgeschwächte Milzbrandbacillen von den Leucocythen auf¬ 
genommen — wie er glaubte — gefressen, verdaut werden, während sich die 
gleiche Erscheinung bei empfänglichen Thieren und virulenten Bacillen nicht 
nachweisen liess. Aus dieser Erscheinung leitete Metschnikoff folgende 
Schlüsse ab: 

Die in einem Organismus vorhandene oder nicht vorhandene Immunität 
beruht lediglich auf dem vorhandenen oder mangelnden Vermögen der Leuco¬ 
cythen, die Bacterien zu verzehren und dadurch zu vernichten. Diese Eigen¬ 
schaft der Leucocythen kann angeboren oder erworben sein. Die angeborene 
Immunität beruht also nach Metschnikoff darauf, dass die Leucocythen 
befähigt sind, die eingedrungenen Bacterien rasch in sich aufzunehmen, zu 


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IMMUNITÄT. 


vernichten, während bei den empfänglichen Thieren den Leucocythen diese 
Eigenschaft fehlt, die Bacterien also frei bleiben und sich vermehren können. 

Die erworbene Immunität kommt so zu Stande, dass durch das 
einmalige Ueberstehen der Krankheit die Leucocythen, oder nach Metschnikoff 
Phagocythen sich daran gewöhnt haben, auch stärkere Giftmengen, viru¬ 
lentere Bacterien unbeschadet aufzunehmen, so dass sie schliesslich das viru¬ 
lenteste Material vertragen. Das müsste geschehen entweder durch allmäh¬ 
liche functioneile Anpassung oder durch eine Art Auslese, bei der 
nur die von Hause aus stärksten Phagocythen erhalten bleiben, um ihre 
Fähigkeit auf die Tochterzellen zu vererben. 

Die Anlockung der Leucocythen erfolgte nach Büchner durch die Pro- 
ducte der Bacterienthätigkeit (Chemotaxis). Ein Theil dieser Körper lockt 
die Leucocythen an (positive Chemotaxis), ein anderer 'stösst sie ab 
(negative Chemotaxis). 

Sobald ein Infectionserreger sich in einem Organismus vermehrt, bildet 
er auch anlockende Stoffe, welche bewirken, dass die Phagocythen zum Kampfe 
gegen die Bacterien herbeiströmen. Je virulenter aber der Infectionserreger 
ist, um so energischer bildet er auch abstossende Stoffe, Gifte, Toxine, durch 
welche die Phagocythen in ihrer Thätigkeit gelähmt und zum Verzehren der 
Bacterien unfähig gemacht werden. 

Bei einem künstlich immunisirten Organismus besteht dagegen eine ge¬ 
wisse Angewöhnung der Zellen, welche sie befähigt, die eingedrungenen 
Bacterien zu vernichten, bevor dieselben noch zur Bildung grösserer Mengen 
Toxin gelangt sind. 

Gegen die Phagocythentheorie Metschnikoff’s spricht — ab¬ 
gesehen davon, dass diese Hypothese den weissen Blutkörperchen ein über¬ 
natürliches Können zuspricht — der Umstand, dass Immunisirung ja nicht 
nur durch Bacterien, sondern auch durch Bacterienproducte und andere Stoffe 
erfolgen kann, so dass in diesen Fällen die Gewöhnung der Leucocythen an 
die Infection durch das Verzehren der Infectionserreger fortfällt. 

4. Eine andere Hypothese stützt sich auf die Arbeiten zahlreicher 
Forscher, wie v. Fodor, Nissen, Nuttal, Büchner, Behring u. a., welche 
constatirten, dass das zellfreie Blutplasma und Blutserum, sowie auch 
defibrinirtesBlut, starke bactericide Eigenschaften besitzt. Diese sogenannte 
humorale Hypothese verlegt alle die Eigenschaften, welche nach der 
Phagocythentheorie gewissen körperlichen Elementen des Blutes beigemessen 
werden, in die Blutflüssigkeit, und schreibt die bactericiden Kräfte gewissen 
in Blut gelösten Substanzen, den sogenannten Alexinen zu. Ueber die 
Natur dieser Alexine ist noch zu wenig bekannt, so dass diese Hypothese 
keine genügende Stütze findet. 

5. Dagegen hat eine andere Hypothese, welche eine vermittelnde Stellung 
zwischen der humoralen und der Phagocythentheorie einnimmt, mehr 
Wahrscheinlichkeit für sich. Nach dieser Hypothese sind die Leucocythen aller¬ 
dings an der Vernichtung der Infectionserreger betheiligt, aber nicht, wie die 
Phagocythentheorie annimmt, durch das Verzehren der Keime, sondern durch bac¬ 
tericide lösliche Stoffe, welche von ihnen ausgeschieden werden, und durch welche 
das Blutplasma seine bactericide Kraft erhält. Eine ganze Reihe interessanter 
experimenteller Arbeiten der verschiedensten Forscher stützt diese Theorie. 
Eine der beweisendsten Arbeiten ist die Buchner’s, welchem es gelang, 
durch Einverleibung sterilisirter Weizenkleber- (Aleuronat-) Emulsionen in 
die Pleurahöhle von Versuchsthieren stark leucocythenhaltige, bacterienfreie 
Exsudate zu erhalten, die ausserordentlich bactericid wirkten, und zwar 
stärker als das Blut, respective Blutserum der nämlichen Thiere. Es musste also 
die Mehrleistung den Leucocythen zugeschrieben werden. Um nun zu be¬ 
weisen, dass diese Mehrleistung aber nicht durch Phagocythose bedingt werde, 


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INFECTIONSKRANKHEITEN. 


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wurde ein Theil des Exsudates vor Aussaat der Bacterien zum Gefrieren ge¬ 
bracht, wodurch die Leucocythen getödtet, die von denselben producirten 
Alexine aber nicht verändert werden. Die Phagocythose war also bei dieser 
Versuchsanwendung ausgeschlossen. Es zeigte sich nun bei Anwendung der 
gefrorenen und wieder aufgethauten Exsudatprobe dieselbe bactericide Wir¬ 
kung, wie bei den nicht gefrorenen Proben. 


Trotzdem diese vermittelnde Hypothese viel für sich hat, ist eine Eini¬ 
gung der verschiedenen Forscher auf diesem Gebiet bisher noch nicht er¬ 
reicht, und besonders Metschnikoff hält fest an der von ihm aufgestellten 
Phagocythentheorie. 

Wie der Einzelne sich aber auch zu dieser Frage stellen mag, immer 
ist so viel sicher, dass die Immunität, kurz gesagt, dadurch zu Stande 
kommt, dass im Innern des lebenden Organismus äusserst wirksame Schutz¬ 
kräfte vorhanden sind, über deren Natur und über deren Wirkungsweise wir 
uns vorläufig noch nicht vollkommen klar sind. Zu erwähnen ist noch, dass 
diese Widerstandsfähigkeit experimentell herabgesetzt und verstärkt werden 
kann. Ersteres z. B. durch Störungen des Stoffwechselvorganges, wie Hun¬ 
gern, Dürsten, Ermüden, ungeeignete Ernährung, übermässige 
Temperaturerhöhung und -herabsetzung u. s. w., beim Menschen 
auch durch psychische Einflüsse, wie Kummer, Aufregungen 
u. s. w.; Letzteres durch Vermehrung der im Organismus von Natur aus 
vorhandenen Schutzstoffe, wie es die Blutserumtherapie thut, bei welcher 
der Organismus gegen eine bestimmte Infectionskrankheit geschützt, immu- 
nisirt oder wenigstens widerstandsfähiger gemacht wird, dadurch dass ihm 
Blutserum von Thieren einverleibt wird, welche gegen die nämliche Krankheit 
stark immun gemacht wurden. 

Bemerkenswerthes ist hierin aber erst bei zwei Krankheiten geleistet 
worden, bei der Diphtherie und dem Tetanus. 

Zu erwähnen sind an dieser Stelle noch die Versuche eines rassischen Forschers, 
Smirnow, welchem es nach seiner Angabe gelangen ist, die Diphtherie mit Antitoxinen za 
heilen, welche er ohne die Vermittlung des thierischen Organismus aas Diphtherieculturen 
in normalem Blutserum durch Elektrolyse gewinnt. Smirnow’s Versuche sind noch zu 
ungenau beschrieben und entbehren bisher jeder Nachprüfung, als dass man aus ihnen 
schon jetzt irgend welche Schlüsse ziehen könnte. 

A. DRAER. 

Infectionskrankheiten. Unter Infectionskrankheiten versteht man alle 
jene Krankheiten, bei welchen ein von aussen eindringendes, im Körper sich 
vermehrendes oder wenigstens erheblich anwachsendes Agens einen schädi¬ 
genden Einfluss auf den Befallenen ausübt, wobei man gewöhnlich die durch 
Metazoen (mehrzellige Thiere) verursachten Störungen als Invasionskrank¬ 
heiten abzutrennen pflegt. 

Es ist nicht berechtigt, dieser Definition noch hinzuzufügen, dass jenes 
eindringende Agens ein belebtes sein muss; denn so wahrscheinlich eine 
solche Voraussetzung auch ist, so ist die Annahme keineswegs ausgeschlossen, 
dass es auch chemische Körper geben kann, welche aus den Bestandtheilen 
eines geeigneten Nährbodens einen ihnen selbst gleichenden chemischen Körper 
abzuspalten oder umzubilden vermögen und auf diese Weise sich zu verviel¬ 
fältigen im Stande sind, ohne belebt im gewöhnlichen Sinne des Wortes 
zu sein. 

Die Fähigkeit der Vervielfältigung ist hingegen ein durchaus nothwen¬ 
diges Kriterium für das Agens der Infectionskrankheiten, zum Unterschiede von 
denjenigen der Intoxicationskrankheiten. Ebenso entscheidend ist das Kriterium, 
dass die Krankheitserregung von aussen hineingetragen sein muss. Es ist darin 
die Unterscheidung von Constitutions- und Stoffwechselanomalieen begründet. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 29 


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INFECTIONSKRANKHEITEN. 


Die Erforschung der Thatsache, ob dieses Merkmal in dem einzelnen 
Falle vorhanden ist, unterliegt oft den grössten Schwierigkeiten, so dass die 
Frage, ob eine Krankheit auf Infection zurückzuführen ist oder nicht, vielfach 
erst durch den exacten Nachweis des Erregers, insbesondere durch die ex¬ 
perimentelle Wiederholung des Krankheitsprocesses bei Thieren oder auch bei 
Menschen entschieden worden ist. Ein classisches Beispiel hiefür ist die bei 
weitem wichtigste aller Infectionskrankheiten, die Tuberkulose, welche bis zu 
der Entdeckung des Tuberkelbacillus nur bei einem sehr kleinen Theile der 
Aerztewelt als solche galt. Andererseits ist von vielen Seiten die parasitäre 
Entstehung der Tumoren, insbesondere der malignen, behauptet worden. Auch 
hier könnte nur der exacte Nachweis des betreffenden Erregers beweisend sein. 
Wenngleich es nicht mehr recht bestritten werden kann, dass einige Tumoren 
oder tumorartige Bildungen auf parasitäre Ursachen zurückzuführen sind, so 
ist es doch keineswegs bewiesen, dass solche Vorgänge allgemein oder auch 
nur einigermaassen häufig Vorkommen. 

Speciell ist der Befund von Protozoen in Tumoren bisher noch niemals 
ernst bewiesen, wenn auch vielleicht in ganz vereinzelten Fällen (Molluscum 
contagiosum) wahrscheinlich gemacht; und der Befund von Blastomyceten 
Hefearten sicher nicht in dem Umfange vorhanden, wie es von mancher 
Seite behauptet worden ist. 

Die in früherer Zeit gebräuchlichen Eintheilungen der Infectionskrank¬ 
heiten sind durch die ausserordentlichen neueren Fortschritte auf diesem 
Gebiete durchweg hinfällig geworden. Insbesondere gilt dieses von der 
Abgrenzung der contagiösen von den miasmatischen Krankheiten. 
Es steht fest, dass alle Infectionskrankheiten sich direct von einer Person auf 
eine andere übertragen lassen, wenngleich zugegeben werden muss, dass ein 
solcher Infectionsmodus bei vielen derselben für gewöhnlich nicht vorkommt. 
In klinischer Beziehung kann man acute von chronischen, localisirte von allge¬ 
meinen Infectionen unterscheiden, wobei allerdings zu bemerken ist, dass es 
sich hierbei um äussere Erscheinungsformen handelt, welche vielfach in einander 
übergehen. 

In ätiologischer Beziehung ist nur eine Eintheilung möglich, in erstens 
durch thierische, zweitens durch pflanzliche Parasiten, drittens durch Erreger 
unbekannter Natur hervorgerufene Infectionskrankheiten. 

Von den thierischen Parasiten (wenn wir nach der gebräuchlichen Auffassung die 
sogenannten Invasionskrankheiten ausschliessen wollen) kommen alle vier Classen der 
Protozoen als Schmarotzer beim Menschen vor. Wesentliche Krankheitserscheinungen hat 
man von Angehörigen der Classen der Ciliaten und der Infusorien allerdings bisher nicht 
beobachtet. Noch etwas umstritten ist die Bedeutung der Sarcodinen (Amoeben im engeren 
Sinne). Genügend gesichert erscheint die pathologische Bedeutung der Sporozoen, wenn¬ 
gleich freilich bisher nur von einer Art, der zu den Acystosporidien gehörigen Haemamoeba 
Malariae, erhebliche Störungen, hier allerdings häufig der allerschwersten Art, beobachtet 
worden sind. 

Aus dem Pflanzenreich kann der Natur der Sache nach nur den chlorophyllfreien 
Vertretern eine parasitäre Rolle zukommen. Von diesen können sowohl die Hyphomyceten 
(Fadenpilze), als auch die Blastomyceten (Sprosspilze), als auch endlich die Schizomyceten 
(Spaltpilze), letztere freilich in unvergleichlich grösserem Umfange als die ersteren, von 
pathologischer Bedeutung sein. 

Für die dritte Gruppe, der mit unbekannten Erregern, bleibt leider, trotz der 
eifrigsten Arbeit der neueren Zeit auf diesem Gebiete, noch eine erhebliche Zahl von 
Krankheiten übrig. Besonders auffällig ist es, dass gerade bei denjenigen Infections¬ 
krankheiten, welche diesen Charakter am auffälligsten zeigen und darum schon in den 
frühesten Zeiten als solche angesprochen worden sind, den acuten Exanthemen, der Nach¬ 
weis der Erreger noch nicht gelungen ist, obgleich beispielsweise bei den Pocken das Virus 
leicht erreichbar und in einer modificirten Form, der Vaccine, auf Thiere leicht Über¬ 
tragbar ist. Nachdem man die gelegentlich hierbei Vorgefundenen Mikroorganismen schon 
vor längerer Zeit als zufällige Begleiterscheinungen erkannt hatte, glaubte man vielfach in 
gewissen anderen regelmässig vorkommenden geformten Bestandtheilen parasitäre Bildungen 
zu erkennen. Alle bisherigen Versuche, für diese Bildungen bestimmte Eigenschaften in 


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INFECTIONSKRANKHEITEN. 


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Anspruch za nehmen, welche sie von überall vorkommenden Gewebs-, speciell Kem- 
degenerationsprodncten unterscheiden liessen, müssen für misslangen erklärt werden. 

Die Verbreitung einer Infectionskrankheit kann in erster Linie direct 
durch die Person des Erkrankten erfolgen. Es ist nur von der Syphilis 
bekannt, dass bei dieser die directe Berührung (auch hier nur cum grano 
salis geltend) der inficirenden mit der inficirten Partie nothwendig erscheint. 
Da eine Austrocknung für die leichte Zerstörbarkeit des wirksamen Agens 
ausgeschlossen ist, bleibt nur die Abkühlung als Erklärung übrig. Wo eine 
solche nicht erfolgt (Pfeife der Glasbläser), scheint auch eine Infection durch 
Vermittlung erfolgen zu können. 

Eine ähnliche ausserordentliche Empfindlichkeit scheint der Erreger der 
leprösen Erkrankung zu besitzen. 

Eine besondere Form der persönlichen Uebertragnng ist die durch Vererbung. Von 
der Syphilis, als einer Krankheit unbekannten Ursprungs steht dieselbe mit Sicherheit 
fest. Dagegen muss es als unbewiesen und auch durchaus unwahrscheinlich hingestellt 
werden, dass eine bacterielle Krankheit durch Vererbung im engsten Sinne übertragbar 
sei. Wohl kann eine kranke Mutter den Fötus mit ihrer Krankheit inficiren (eine Durch¬ 
wanderung der Placentargefässe durch Bacterien ist möglich und nachgewiesen), aber 
dann ist es keine Vererbung im engeren Sinne (durch das Ei, welche auch eine Analogie 
in der Uebertragnng durch den Vater haben müsste). Durch Vererbung kann dagegen die 

g rössere oder geringere Empfänglichkeit für eine bestimmte Infectionskrankheit (das 
estehen einer solchen Prädisposition ist wohl kaum anzuzweifeln) von den Eltern auf die 
Kinder übertragen werden, und auf diese Weise dürfte es sich zum Th eil erklären, dass 
gewisse Infectionskrankheiten, beispielsweise die Tuberkulose, in manchen Familien mit 
besonderer Häufigkeit auftreten. 

Alle übrigen Infectionsstoffe, so weit unsere Kenntnis derselben reicht, 
vertragen eine grössere Pause zwischen der Ablösung von ihrem bisherigen 
Nährboden und der Uebertragung auf den neuen Krankheitsherd, wenngleich 
bezüglich der Dauer dieser Frist sehr weitgehende Unterschiede vorhanden 
sind. Von grösster Empfindlichkeit sind vor Allem die Gonococcen. Von 
diesen ist bekannt, dass sie nur höchst selten auf anderem Wege als dem 
der directen Berührung übertragen werden. Von besonderer Empfindlichkeit 
gegen das Austrocknen ist auch der Influenzabacillus, so dass die Weiter¬ 
verbreitung derselben wahrscheinlich in der Hauptsache nur durch das umher¬ 
geschleuderte Secret beim Husten und Niesen erfolgt .Von grosser epidemio¬ 
logischer Bedeutung ist der geringe Widerstand der Choleraspirillen gegen 
das Austrocknen. Die Cholera ist darum niemals auf dem Seewege um das 
Cap herum von Indien nach Europa geschleppt worden, weil bacillenhaltiges 
Material (besudelte Wäschestücke) bei der langen Dauer einer solchen Reise 
auch bei dichtester Einpackung stets genügend austrocknete. Aber auch bei 
den im Trockenzustande sich erhaltenden Infectionsstoffen ist es selbstver¬ 
ständlich, dass ihre Conservirung nicht von allzulanger Dauer sein kann. Wie 
alle organische Substanz sind sie einer Menge von Schädlichkeiten aus¬ 
gesetzt, unter denen Licht und Luft (Oxydation) nicht qualitativ, aber quanti¬ 
tativ die einflussreichsten sind. Die Folge davon ist, dass von einer wirk¬ 
lichen Ubiquität von Krankheitserregern im Allgemeinen nicht die Rede sein 
kann. Auch die Tuberkelbacillen, welche man bei der weiten Verbreitung 
der Krankheit und bei der Art ^und Weise, wie die überwiegende Mehrzahl 
der Phthisiker mit ihrem Sputum umzugehen pflegen, an allen Orten der 
menschlichen Wohnplätze vermuthen möchte, sind immer nur in der näheren 
Umgebung der Kranken, beziehungsweise dort, wo solche in besonderer Häufig¬ 
keit sich aufhalten oder aufgehalten haben, nachweisbar gewesen. 

Von einer grossen Gruppe von Infectionsträgem ist es mit mehr oder 
weniger grosser Sicherheit bekannt, dass sie auch ausserhalb des menschlichen 
oder thierischen Körpers sich nicht nur längere Zeit zu erhalten, sondern 
auch sogar zu vermehren vermögen, also neben der parasitischen auch eine 
saprophytische Existenz zu führen im Stande sind. Der sichere Beweis für 

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INFECTIONSKRANKHEITEN. 


eine solche Thatsache ist häufig nur schwer zu erbringen, und so ist es von 
einer Reihe von sonst wohlbekannten Mikroorganismen noch durchaus zweifel¬ 
haft, ob sie nur parasitär oder auch saprophytisch in der Natur Vorkommen. 
Es ist kein ausreichender Beweis für die Möglichkeit einer saprophytären 
Existenz, wenn man lebende Individuen abgelöst vom thierischen Körper, 
beziehungsweise von abgestossenen Theilen derselben (Schleim, Faeces, Haut¬ 
schuppen, Eiter u. s. w.) vorfindet, denn einmal kann es sich um wirkliche 
Dauerformen (Sporen) handeln, welche, in eine besonders widerstandsfähige 
Hülle eingekapselt, ohne erkennbaren Stoffwechsel eine lange, oft vieljährige 
Existenz zu führen im Stande sind, oder manche Spaltpilze vermögen auch 
ohne Bildung besonderer Dauerform sich unter gewissen günstigen Umständen, 
unter Bedingungen, welche eine Vermehrung oder auch nur einen Stoff¬ 
wechsel ausschliessen (Eingetrocknetsein, Aufbewahrung unter Eis), sich lange 
Zeit lebend und virulent zu erhalten; andererseits ist es ein Beweis gegen die 
Möglichkeit einer saprophytären Existenz, wenn der Nachweis derselben bisher 
nicht gelungen ist. Wenn man es genau nehmen will, ist ja durch die Mög¬ 
lichkeit, einen Mikroorganismus auf künstlichem Nährboden bei gewöhnlicher 
Temperatur zu züchten, der Beweis gegeben, dass derselbe sich auch ausserhalb 
des thierischen Organismus weiter zu entwickeln vermag, zumal es vielfach 
gelungen ist, relativ einfache Nährböden aufzufinden (eiweissfreie u. s. w.). 

Es muss indessen mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, dass eine 
solche saprophytäre Existenz nur einen sehr bedingten Wert für die Aetiologie 
der Infectionskrankheiten besitzt, da es ein Gesetz von, wenn auch nicht ganz 
allgemeiner, so doch sehr weitreichender Geltung ist, dass durch ein längeres 
saprophytäres Wachsthum die Infectionskraft (Virulenz) der betreffenden Er¬ 
reger immer mehr herabgesetzt wird. Es steht damit die alte Erfahrung im 
Einklang, dass eine Neuinfection sich so überwiegend häufig mehr oder 
weniger direct auf eine andere Infection zurückführen lässt. So ist es eine 
feststehende Thatsache, dass die Choleraspirillen und die Typhusbacillen im 
Wasser weiter zu gedeihen im Stande sind, dass die letzteren auch häufig im 
Erdboden (Ackererde) gefunden werden können, und doch gelingt es in der 
Mehrzahl der Fälle, eine Infection auf eine andere kurz vorhergegangene 
zurückzuftlhren. Wenn man nun noch berücksichtigt, dass es oft nur einem 
Zufall oder der besonderen Geschicklichkeit und Gründlichkeit des Requirenten 
zu verdanken war, dass ein solcher Zusammenhang aufgedeckt wurde, so ist 
die Annahme wohl berechtigt, dass wohl bei allen Cholera-, und bei der über¬ 
wiegenden Mehrzahl der Typhuserkrankungen die Verhältnisse ebenso liegen. 
Wenn diese zeitliche Differenz nicht zu erheblich ist, kann allerdings durch 
die Möglichkeit der saprophytären Existenz eine erhebliche Steigerung des 
Infectionsmaterials erfolgen. Nachweislich geschieht das häufig, wenn Infec- 
tionsträger, insbesondere bewegliche, sich im Wasser zu vermehren vermögen. 
Der in der Epidemiologie als „explosive“ Entwicklung einer Infectionskrank- 
heit bezeichnete Vorgang lässt mit ziemlicher Sicherheit darauf schliessen, 
dass in dem betreffenden Falle das Wasser die Verbreitung der betreffenden 
Epidemie vermittelt hat. 

Für eine erhebliche Zahl von Infectionskrankheiten ist es vorläufig bei dem gegen¬ 
wärtigen Stande der Prophylaxe praktisch von sehr geringem Werth, festzustellen, ob der 
betreffende Erreger auch saprophytisch zu gedeihen vermag. Wenn man bespielsweise 
bedenkt, dass eine exacte Anamnese bei der Tuberkulose so überwiegend häufig einem vor¬ 
hergegangenen längeren und intimeren Verkehr des inficirenden mit dem inficirten Indivi¬ 
duum nachzuweisen im Stande ist, so wird es klar, dass gegenüber der enormen Masse 
der sich auf diesem Wege Inficirenden der etwa vorhandene Best von solchen Kranken, 
die saprophytär in der Natur vorkommende Tuberkelbacillen aquiriren, ausser Acht 
gelassen werden kann. 

Eine besondere Gruppe bilden jene Infectionskrankheiten, welche im 
Wesentlichen an andere Thierspecies gebunden sind und nur gelegenlich von 


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INFEKTIONSKRANKHEITEN. 


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diesen auf den Menschen übertragen werden. Es sind der Botz, der Milz¬ 
brand, die Hundswuth. Es unterliegt zwar keinem Zweifel, dass diese Krank¬ 
heiten auch gelegentlich direct von einem Menschen auf einen anderen über¬ 
tragen werden können, aber andererseits ist es eben so sicher, dass in der 
überwiegenden Mehrzahl der Fälle der Mensch die Krankheit von Thieren 
acquirirt und dass, wenn es gelänge, jene Thiere auszurotten, man im Stande 
wäre, die betreffende Infectionskrankheit aus der Welt zu schaffen. 

An diese Gruppe, welche also ihren eigentlichen Wohnsitz ausserhalb des 
menschlichen Körpers, aber immer noch im Thierkörper hat, schliessen 
sich endlich jene wenigen Infectionskrankheiten an, deren Erreger ihren 
gewöhnlichen Aufenthaltsort ausserhalb des Thierkörpers haben. Mit einiger 
Sicherheit steht das nur vom Actinomyces fest. Der wiederholt gemachte 
Befund von Getreidegrannen im Centrum der primären Krankheitsherde in 
Uebereinstimmung mit den entsprechenden Befunden bei pflanzenfressenden 
Thieren lassen eine andere Deutung kaum zu, als dass für gewöhnlich auf 
Plianzentheilen wuchernde Mikroorganismen ohne jede Vermittlung eines 
thierischen Nährbodens vollwerthige Infectionskraft besitzen können. Etwas 
weniger sicher ist es, ob der Erreger der Malaria für gewöhnlich eine sapro- 
phytäre Existenz führt. Die Thatsache, dass das Vorkommen dieser Infections¬ 
krankheit an gewisse sumpfige Gegenden gebunden ist, legte von jeher die 
Annahme nahe, dass es sich um einen dem Boden, beziehungsweise den 
Wasserformationen der betreffenden Gegend anhaftenden, nur gelegentlich 
auf den Menschen übertragenen Infectionserreger handelt. Indessen steht der 
exacte Beweis für diese Annahme, der Befund der specifischen Erreger 
ausserhalb des Menschen, noch aus. 

Von grösserem Interesse als dieses saprophytäre Vorkommen von Infec- 
tionserregem ausserhalb des thierischen Körpers ist das saprophytäre Vor¬ 
kommen zahlreicher pathogener Mikroorganismen auf der äusseren und inneren 
Oberfläche des menschlichen Körpers. Die pyogenen Coccen, der Pneumo- 
bacillus Frankel, der Bacillus Diphtheriae, der Diplobacillus Friedländer, 
der Bacillus coli sind die hervorragendsten Vertreter dieser Gruppe. Einzelne 
von ihnen sind häufige, manche sogar regelmässige Bewohner der mensch¬ 
lichen Schleimhäute oder der äusseren Hautdecke, ohne dass sie hier eine 
erkennbare schädigende Wirkung her vorrufen. Nur theil weise lässt sich diese 
auffällige Thatsache damit erklären, dass es sich um nur äusserlich über¬ 
einstimmende, bei unserer Kenntnis der Dinge nicht zu differenzirende, that- 
sächlich aber doch differente Arten handelt. Ebenso ist es nur zum Theil 
richtig, dass es sich um invirulente, oder wenigstens in ihrer Virulenz er¬ 
heblich abgeschwächte Formen handelt. Der wiederholt gelungene Nachweis, 
dass solche saprophytär wuchernde Formen bei Thierversuchen genau die 
gleiche virulente Wirkung ausüben können, wie die in pathologischen Herden 
Vorgefundenen, spricht durchaus gegen eine Verallgemeinerung jener Erklä¬ 
rungen. Endlich ist auch die thatsächlich nachgewiesene natürliche Immunität 
mancher Personen gegen gewisse Infectionskrankheiten nur zum Theil als 
Erklärungsgrund berechtigt, wie denn schliesslich auch der Schutz des, für 
gewöhnlich impermeabeln, Schleimhautepithels beziehungsweise der Epidermis 
nicht alles aufzuhellen im Stande ist. Auch wenn man eine Combination aller 
dieser Factoren zulässt, wird man im einzelnen Falle nicht umhin können, 
auf gewisse andere, noch ziemlich dunkle ätiologische Momente zurück¬ 
zukommen (Erkältung, nervöse Einflüsse u. s. w.). 

Die Ausscheidung der Infectionsträger erfolgt ohne Schwierigkeit, wo 
es sich um Processe auf der Körperoberfläche handelt. Das Secret der 
Hautläsionen, der erkrankten Schleimhäute, einschliesslich ihrer Drüsen und 
Adnexe entleert sich auf dem gewöhnlichen Wege und gelangt, sofern es 
nicht der Vernichtung anheimfällt, im besten Falle in die Abfallstoffe (im 


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INFECTIONSKRANKHEITEN. 


eng eren Sinne des Wortes), welche in besonderer Weise beseitigt werden. 
Ein anderer Theil wird dagegen, namentlich in ausgetrocknetem Zustande 
durch Verstaubung in die Umgebung des Kranken getragen (Wäsche, Betten, 
Kleider, Wohnräume). Auch gewisse natürliche Entleerungsformen begün¬ 
stigen ein Ausstreuen des Infectionsmateriales. Besonders erwähnenswerth, 
weil noch nicht überall entsprechend gewürdigt, ist das Husten und das 
Niesen. Es ist einleuchtend, dass hierbei kleinste Partikelchen des an¬ 
steckenden Secretes oft in ziemlich weite Entfernung vom Kranken fort¬ 
geschleudert werden. Auch die im Innern des Körpers, namentlich in den 
Blut- und Lymphbahnen befindlichen Infectionserreger gelangen vielfach an 
die Oberfläche, und zwar nicht nur durch durchbrechende Zerstörung, sondern 
auch auf dem Wege der natürlichen Abscheidung. Im Urin und auch im 
Schweiss hat man wiederholt die Bacterien des betreffenden Krankheitsprocesses 
gefunden. In wie weitem Umfange freilich die Ausscheidung von Bacterien 
auf diesem Wege erfolgt, müssen erst weitere Beobachtungen lehren. Der 
Durchtritt von Bacterien durch die Milchdrüsen (bei intacten Drüsen und 
Drüsengängen) erfolgt, wenn überhaupt, keinesfalls so häufig, wie es die An¬ 
gaben mancher Beobachter dargestellt haben. 

Noch wesentlich mehr Dunkelheiten giebt es bezüglich der Aufnahme 
der Infectionskeime. Am leichtesten verständlich ist die Infection durch 
Wunden, wo Lymph- oder auch Blutbahnen blossgelegt sind. Von älteren 
Läsionen aus findet eine Resorption von Infectionskeimen nur sehr schwierig 
statt. Es liegen hier wohl ähnliche Verhältnisse wie bei Abscessmembranen 
vor; es dürfte sich in der Hauptsache um mechanische Absperrungen durch 
die dichten neuen Gewebsbildungen handeln. Schwieriger verständlich, aber 
durch zahlreiche Beobachtungen sichergestellt, ist die Aufnahme von inficiren- 
den Agentien durch die unverletzten Hautdecken. Experimentell hat man sie 
durch Einreiben von Bacterienculturen erzielt. Es liegt nahe, hierbei an eine 
durch das Reiben hervorgerufene Schädigung des schützenden Epidermislagers 
zu denken. Bisweilen mag auch eine Maceration der Oberhaut durch flüssige 
Menstrua eine Rolle spielen. Von nicht geringer Bedeutung für manche 
Infectionen durch die Haut hindurch dürften die im Epidermislager regel¬ 
mässig aufzufindenden Leukocyten sein. Dieselben beladen sich sehr gern 
mit lose umherliegenden Partikeln, darunter auch Bacterien, und schleppen 
dieselben auf ihrer Wanderung weiter umher. Sie mögen wohl bisweilen im 
Stande sein, dieselben zu vernichten (aufzuessen, Phagocytose), namentlich 
wenn dieselben abgestorben sind, nachweislich gehen sie aber dabei auch sehr 
häufig selbst zu Grunde und streuen nunmehr die mitgeschleppten Keime 
wieder aus. 

Der gewöhnliche Weg der Leukocytenwanderung ist der aus dem Innern 
auf die freie Oberfläche; es liegt aber gar kein Grund vor, ausnahmsweise, 
namentlich unter pathologischen Verhältnissen, eine retrograde Bewegung an¬ 
zunehmen. In ähnlicher Weise wirken auch andere Wanderzellen, namentlich 
bei entzündlichen Zuständen. Besonders an den Endothelien sind ähnliche 
Zustände zu beobachten. Damit steht es in Uebereinstimmung, dass alle 
solchen Vorgänge, welche in Folge von Stauung eine Erweiterung der Blut¬ 
gefässe und eine Verlangsamung des Blutstromes, hiermit aber auch eine 
grössere Durchgängigkeit der Capillaren herbeiführen, besonders leicht zu 
infectiösen Processen führen. Endlich ist auch noch folgender Umstand 
geeignet, einiges Licht auf den Infectionsvorgang zu werfen: Es ist eine all¬ 
gemein anerkannte Thatsache, dass die Infectionsmöglichkeit gewöhnlich von 
einer gewissen Zahl der eindringenden Keime abhängig ist. Das könnte man 
damit erklären, dass, beispielsweise wie bei einem Feuergefecht nur ein Bruch- 
theil von Geschossen zu treffen pflegt, so auch hier nur ein Bruchtheil der 
andringenden Krankheitserreger eine geeignete Eingangspforte zu finden im 


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Stande ist. So richtig diese Auffassung zweifellos ist, so ist sie doch nicht 
allein ausreichend, jene Thatsache genügend aufzuklären. Denn in diesem 
Falle müsste es gleich sein, ob eine ebenso grosse Zahl von Keimen ent¬ 
weder auf einmal vordringt, oder vereinzelt, beziehungsweise in kleinen Ab¬ 
theilungen in genügend grossen Zwischenräumen eingeschleppt wird. Das 
ist aber nicht der Fall. Die einmalige Ueberschüttung mit einer grossen 
Zahl von Keimen ist viel wirksamer, ja bisweilen allein wirksam. Eine plau¬ 
sible Erklärung hierfür lässt sich auf folgendem Wege geben: Die pathogenen 
Bacterien und vermutlich auch die anderen Infectionserreger sind giftig, 
und zwar bilden sie die Gifte nicht erst in dem von ihnen befallenen Körper, 
sondern auch ausserhalb desselben und schleppen einen Theil dieses Giftes 
mit sich, entweder als einen ihnen noch anhaftenden Rest ihrer Stoffwechsel- 
producte oder auch durch den Zerfall der mitgeschleppten abgestorbenen oder 
bald absterbenden in ihren Leibern das Gift enthaltenden Keime. Dieses 
Gift nun, dessen Wirkung wie bei jedem anderen von einer gewissen Con- 
centration abhängig ist, erscheint wohl geeignet zu sein, den Infectionsvorgang 
zu vermitteln, durch Beeinflussung der Gefässnerven, durch Anlockung der 
Wanderzellen (Chemotaxis) oder auch durch directe Nekrotisirung der Schutz¬ 
deckung u. a. m. 

Aehnlich liegen die Verhältnisse bei den Schleimhäuten, welche als 
Eingangspforte für Infectionserreger von wesentlich grösserer Bedeutung sind, 
als die äussere Haut. Das erklärt sich einmal damit, dass der Schleimüber¬ 
zug jener durch seine besondere Beschaffenheit eine viel bessere Haftstelle 
der Keime bildet, andererseits für einen erheblichen Theil derselben einen 
guten Nährboden abgiebt. Auch die viel reichlichere Durch Wanderung der 
Schleimhäute durch Leukocyten, welche den zahlreichen ihr anhaftenden 
lymphoiden Psyamen entstammen, erscheint wohl geeignet, diesen Unterschied 
aufzuhellen. Ferner kommt auf den Schleimhäuten viel mehr als auf der 
äusseren Haut ein Zusammenwirken verschiedener Bacterienarten (eine Misch- 
infection) zu Stande. Wie bei der Massenwirkung einer Bacterienart ein 
besonderer Erfolg erzielt werden kann, so können andererseits durch Ver¬ 
einigung, beziehungsweise Ergänzung ihrer Wirkung zwei verschiedene 
Bacterienarten zum Ziele gelangen. Eines der bekanntesten Beispiele geben 
hierfür die Streptococcen. Während dieselben auf den Schleimhäuten primär 
nur selten erheblichere Störung veranlassen, spielen sie bei einer ganzen 
Reihe von Infectionskrankheiten eine bedeutende secundäre Rolle. Bei der 
Tuberkulose, dem Scharlach, der Diphtherie, dem Typhus u. a. m. gesellt 
sich auffallend häufig secundär eine locale oder auch allgemeine Streptococcen- 
infection hinzu und vermag nicht selten ihrerseits einen verhängnisvollen Aus¬ 
gang herbeizuführen, nachdem die Primärinfection schon überwunden war. 
Ausser diesen allgemein bei den Schleimhäuten vorliegenden Verhältnissen 
kommen für die einzelnen von ihnen noch jeweilige Besonderheiten in Betracht. 
Am schwierigsten ist die Erklärung der pneumonischen Processe, welche der 
Einfachheit wegen mit den Schleimhautinfectionen zusammen betrachtet werden 
mögen, wenn man berücksichtigt, dass normalerweise die letzten Luftwege 
steril gefunden werden, während sich unter pathologischen Verhältnissen eine 
so massenhafte und weitverbreitete Entwicklung von Bacterien ausbilden kann, 
wie sie beispielsweise bei der lobären FRÄNKEL-Pneumonie vorhanden sein 
kann. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die entzündlichen Processe der 
Lunge auf verschiedenem Wege entstehen. Ein Theil derselben ist inter¬ 
stitieller Natur (darunter wohl auch der grössere Theil der primären tuber¬ 
kulösen Affectionen, welche aus dem oberen Luftwege durch die Lymphbahnen 
in die Bronchialdrüsen und von dort retrograd in das interstitielle Lungen¬ 
gewebe getragen werden). Für einen anderen Theil ist die Entstehung durch 
Aspiration durch die anatomische Formation (lobuläre, peribronchitische 


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INFECTIONSKRANKHEITEN. 


Herde) oder auch durch andere Gründe (starke Verbreitung der Streptococcen¬ 
pneumonie durch forcirte Inspiration bei den von Croup befallenen Kindern) 
sichergestellt. Für die lobären Erkrankungen wird man nicht umhin können, 
ein unter besonderen Umständen erfolgendes rapides Weiterwuchern auf der 
Schleimhautoberfläche anzunehmen. 

Das Eindringen von Infectionskeimen in die inneren Hamwege erfolgt entweder als 
fortgeleitete Erkrankung der äusseren Harnwege oder auch durch instrnmentelle Infection 
u. a. m. Für manche Fälle lässt sich auch die nachgewiesene gelegentlich eintretende 
retrograde Urinströmung als Erklärung verwerthen. Bisweilen erfolgt wohl auch ein directes 
Einwandern von Darmbacillen (Bac. coli) aus dem Darm unter gewissen Umständen, welche 
ein solches Einwandern gestatten (Circulationsstörungen passiver oder auch activer Natur). 

Die Ursache für das häufig zu beobachtende zeitlich oder örtlich ge¬ 
häufte Auftreten von Infeetionskrankheiten (Epidemieen und Endemieen) ist 
nur zum geringen Theile aufgeklärt. Die Ursachen der Endemieen liegen 
sicher auf sehr verschiedenen Gebieten. Die Malaria, das Prototyp einer 
endemischen Krankheit, ist zweifellos an gewisse Bodenformationen geknüpft. 
Durch Austrocknung von Sümpfen hat man an manchen Stellen das Vor¬ 
kommen von solchen Krankheitsfällen vollständig zu beseitigen vermocht. 
Die Lepra dagegen ist deswegen auf einige bestimmte Gegenden beschränkt, 
weil ihre Weiterverbreitung nur unter ganz besonderen, selten zu erfüllen¬ 
den Bedingungen erfolgt (nur durch intimen Verkehr bei ^sonstigem un¬ 
hygienischen Verhalten), so dass sie auch keine eigentliche endemische 
Krankheit ist, sondern nur als gewöhnliche, aber mit äusserster Langsamkeit 
fast nur unter den niederen Ständen sich verbreitende Infectionskrankheit 
aufzufassen ist. Das endemische Auftreten der Syphilis (Radesyge, Skierlievo) 
erklärt sich durch eine in Folge Zusammenwirkens verschiedener Factoren 
veranlasste allgemeinere Verbreitung jener Infectionskrankheit in gewissen 
Gegenden. Das endemische Auftreten der Cholera endlich im Gangesdelta 
ist auf die Lebensgewohnheiten der Hindu (Waschungen in demselben Ge¬ 
wässer, das auch als Trinkwasser benutzt wird u. a. m.) zurückzuführen. 

Das epidemische Auftreten von Infeetionskrankheiten muss 
auch von Fall zu Fall besonders erklärt werden. Indessen sind hier doch 
auch einige allgemeine Gesichtspunkte maassgebend, die namentlich in neuester 
Zeit Gegenstand gründlicherer Untersuchungen geworden sind. So war es 
schon von Alters her bekannt, dass das Ueberstehen gewisser Infectionskrank- 
heiten mehr weniger Schutz gegen einen zweiten derartigen Anfall verleiht 
(Immunität). Bei einer Reihe experimentell erzeugbarer Infeetionskrankheiten 
hat man nun nachgewiesen, dass sich im Blute (speciell im Serum) der von 
einer solchen Krankheit Genesenen gewisse gelöste, vorher nicht vorhanden 
gewesene Substanzen gebildet haben, die man vielfach unter dem Namen der 
„Antikörper“ zusammenzufassen pflegt, von denen je nach der Art der be¬ 
treffenden Infection die einen das von den Bacterien als Stoffwechselproduct 
gebildete Toxin zu paralysiren im Stande sind (Antitoxine), andere wieder (als 
bactericide Stoffe bezeichnet) die eindringenden Bacterien abzutödten geeignet 
sind. Auch im Blute von Menschen, welche derartige auf natürlichem Wege 
erworbene Krankheiten überstanden haben, hat man derartige Körper, theil- 
weise in reichlicher Menge nachgewiesen (Cholera, Typhus). Auf diese Weise 
erklärt sich zu einem gewissen Theile das epidemische Auftreten von gewissen 
Infeetionskrankheiten. Sobald die Immunität eines erheblichen Bruchtheiles 
einer Bevölkerung aufgehört hat und nunmehr wirksame Infectionskeime unter 
günstigen Bedingungen in dieselbe eingeschleppt werden, entsteht eine Epi¬ 
demie. Eine solche erlischt von selbst, sowie der grösste Theil der infections- 
fähigen Personen die Krankheit überstanden hat, damit immunisirt ist. Die 
Dauer der Immunität ist sehr verschieden. Während manche Infectionskrank- 
heiten meistens nur einmal im Leben überstanden werden, woraus mit einiger 
Wahrscheinlichkeit gefolgert werden kann, dass das einmalige Ueberstehen 


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des Leidens einen lebenslänglichen Schutz zu verleihen vermag, ist bei anderen 
Affectionen nur eine Immunität von längerer oder kürzerer, stets aber vor¬ 
übergehender Dauer, bei einer dritten Gruppe überhaupt keine nachzuweisen. 

Bei Typhus und Cholera scheint ein längerer Schutz gewöhnlich zu sein, 
bei der Diphtherie dagegen meistens nur einer von wenigen Wochen. Bei 
der Streptococcen-Infection und bei der Influenza giebt es nach den bisherigen 
Untersuchungen überhaupt keine Immunität. Wahrscheinlich ist allerdings 
auch hier eine vorhanden, aber sie ist von so kurzer Dauer, dass sie schwer 
nachzuweisen ist Eine wenn auch noch so kurz währende Schutzwirkung 
erscheint für die Erklärung der so häufigen Selbstheilung solcher Affectionen 
kaum entbehrlich. Die schützenden Substanzen werden, wenigstens theilweise, 
unzersetzt aus dem Körper ausgeschieden. So sind sie im Harn und auch 
in der Milch nachgewiesen worden. 

Ein weiteres erklärendes Moment für die örtlichen und zeitlichen Un¬ 
gleichheiten in der Intensität einer Infectionskrankheit ist die schwankende 
Virulenz vieler, vielleicht aller Infectionsträger. Man bezeichnet damit die 
Fähigkeit desselben, das ihm eigene Gift, oder, falls es mehrere sind, die 
Gifte in verschieden grosser Menge oder von verschieden grosser Intensität (wahr¬ 
scheinlich das erstere) zu erzeugen. Es braucht dieses Vermögen keineswegs 
mit der leichten Vermehrungsfähigkeit der Mikroorganismen im Körper des 
Erkrankten zusammenzufallen, wenn auch die beiden Eigenschaften häufig sich 
gleichmässig entwickeln. Obgleich es nun experimentell meistens leicht gelingt, 
Virulenzveränderungen herbeizuführen, so sind doch die Bedingungen, unter 
welchen sich eine solche in der Natur vollzieht, noch vielfach in Dunkel gehüllt. 

Feuchtigkeit und Temperatur hiefür heranzuziehen, liegt sehr nahe; eine 
exacte Beweisführung steht aber noch aus. Ebenso sind Versuche, gewisse 
Verhältnisse des Bodens, namentlich seines Grundwasserstandes, als Erklärung 
heranzuziehen, bisher in einigermaassen überzeugender Weise nicht gelungen 

H. BÜCHHOLTZ. 

Irrenpflege. Eine wohlgeordnete Irrenpflege ist erst eine Errungen¬ 
schaft des 19. Jahrhunderts. Obwohl die Erkenntnis und Behandlung der 
Geistesstörungen im classischen Alterthume bereits auf einer höheren Stufe 
der Entwickelung gestanden hatte, als in dem nachfolgenden christlichen Zeit¬ 
alter, so war doch mit dem Niedergange der classischen Cultur und der Ein¬ 
führung des Christenthums die Psychiatrie als Wissenschaft verloren ge¬ 
gangen und das Schicksal der Geisteskranken seitdem ein überaus trauriges 
geworden und bis zur Wende des vorigen und dieses Jahrhunderts geblieben. 

Als älteste Auffassung finden wir bei den Culturvölkern des vorclassischen Alter¬ 
thums die geistigen Störungen auf Einwirkungen göttlicher und dämonischer Gewalten 
zurückgeführt und zur Versöhnung der strafenden Gottheit oder Besänftigung der bösen 
Geister Gebete, Sühnopfer, Gelübde, Geisterbeschwörungen und die Macht der Musik, also 
gewissermaassen psychische Heilmittel angewandt, insofern als durch diese die Einbildungs¬ 
kraft angeregt, Hoffnung, Vertrauen und Glaube erweckt, Beruhigung des Gemüths hervor- 
gerufen und damit heilsam eingewirkt wurde. 

Die Wahl der Mittel und die Form ihrer Anwendung variirten nach den Verschieden¬ 
heiten der religiösen Gebräuche. Später verabreichten die Priester nebenbei wohl auch 
materielle Arzneimittel, indes behielt die psychische Heilmethode die Oberhand, und auch 
die ersteren waren so indifferenter Natur, dass sie allein durch das mystische Gewand, in 
das ihre Verabreichung gehüllt war, also auch nur auf psychischem Wege zu wirken ver¬ 
mochten. 

Wenn Bonach auch von einer Erkennung der Krankheiten keine Rede sein konnte 
und ihre Behandlung unter dem Einflüsse der Mythe und des Aberglaubens stand, so war 
sie doch keine grausame, der Menschheit unwürdige, wie Jahrtausende später im christ¬ 
lichen Zeitalter, die Kranken waren vielmehr hier und da als Gottbegnadete der Gegen¬ 
stand heiliger Verehrung. 

Nachdem mit dem Fortschreiten der Civilisation dem kindlichen Sinne der alten 
Völker der Boden entzogen war, gelangte im classischen Zeitalter in Griechenland 
mit dem Emporblühen der Künste und Wissenschaften auch die Erkenntnis und Behand¬ 
lung der Krankheiten zu einer wissenschaftlichen Ausbildung und die Lehre von den 


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IRRENPFLEGE. 


Geistesstörungen zur Anerkennung als integrirender Bestandteil der Arzneiwissenschaft, 
welche alle Störungen der körperlichen und geistigen Gesundheit gleichmässig umfasste. 

Pythagoras (582—504 vor Christus) empfahl seinen Schülern einen sittlichen Lebens- 
wandel, Massigkeit, Enthaltsamkeit, Beschäftigung mit der Tonkunst als Art geistiger 
Gymnastik, geeignet, die Seele zu starken und sie vor Verirrung zu bewahren, während 
er die Trunkenheit als Gift für die Seele, als den Pfad zum Wahnsinn schilderte. Alkmaeon 
von Kroton, sein Schüler, erkannte das Gehirn als Sitz der Seele, ohne mit ihm indess die 
Geistesstörungen in Verbindung zu bringen. 

Hippokrates (460—377 vor Christus) war der Erste, welcher eine rationelle metho¬ 
dische Forschung lehrte und damit den Keim zu der Jahrhunderte späteren wissenschaft¬ 
lichen Begründung der Heilkunde und damit auch der Psychiatrie legte. Er war der Erste, 
welcher den Grundsatz von der körperlichen Begründung aller Seelenstörungen aufstellte 
und vertrat und sie theils als selbständige Krankheiten, theils als Symptome anderer 
körperlicher Krankheiten auffasste, obgleich die Vorstellungen über den Zusammenhang der 
Seelenstörungen mit den Organen des Körpers noch sehr unklare waren. Die Behandlung 
war in Folge dessen fast ausschliesslich eine somatische, und wenn auch von späteren An¬ 
hängern, besonders Asklepiades von Bithynien (124 vor Christus), eine psychische Behand¬ 
lung, vorzugsweise die Musik, zur Unterstützung empfohlen wurde, so wurde diese doch 
im Gegensätze zu früher ausserordentlich vernachlässigt. 

Dem letzteren, welcher der griechischen Medicin in Rom Eingang zu verschaffen 
wusste, kommt das grosse Verdienst zu, das methodische System einer wissenschaftlichen 
Behandlung der Psychiatrie begründet zu haben, das von seinen Nachfolgern zu Beginn 
des ersten christlichen Zeitalters, wie Celsus und Aretaeus dem Capadocier im 
ersten, Galenus und Soranus von Ephesus im zweiten und Caelius Aurelianus im fünften 
Jahrhundert nach Christus weiter gepflegt und ausgebildet wurde. 

Mit dem Untergange der griechischen Cultur und dem Zusammensturze des rö¬ 
mischen Reiches sanken Künste und Wissenschaften immer mehr, und damit ging auch die 
Psychiatrie als Wissenschaft allmählig wieder verloren. Plato’s Lehre von der Natur der 
Seele als eines unkörperlichen und vom Leibe unabhängigen Wesens gewann die Oberhand 
und bewirkte die völlige Lostrennung der Psychiatrie von der Arzneiwissenschaft, da ja 
hiernach, ebenso wenig wie die gesunde, auch die kranke Seele etwas mit dem Körper ge¬ 
mein haben konnte. 

So kam ungefähr vom Jahre 500 nach Christus die Psychiatrie in die Hände der 
Priester und Mönche, welche die wissenschaftliche Behandlung vernachlässigten, weil sie 

f egen die Störungen der Seele in den religiösen Gebräuchen und in den Reliquien von 
Tärtyrern genügende Schutz- und Heilmittel zu haben glaubten. Diese waren, so lange 
die christliche Lehre noch die ursprüngliche und reine war, einfach und an Zahl gering; 
als aber der Glaube an eine grosse Zahl von Heiligen, an die Wunderkräfte von Reliquien, 
an gute und böse Dämonen hinzukam und sich mehrte, wurde der Apparat der psychischen 
Heilmittel immer complicirter und gerieth zur Zeit des Mittelalters immer mehr in die 
Abhängigkeit des krassesten Aberglaubens. 

In ihrer Unduldsamkeit gegen Andersgläubige, insbesondere gegen die Heilkunde 
treibenden nicht christlichen Zauberer, welche sich dem Teufel ergeben und mit ihm ein 
Bündnis geschlossen zu haben Vorgaben, stellten sie die Verfolgung dieser Teufelsbanner und 
Hexenmeister und ihrer vom Teufel besessenen Heilobjecte, der armen Geisteskranken, als 
gottgefällige Weike dar. So entstand der Glaube vom Besessensein, der Dämanomanie, 
welche einen grossen, bisweilen förmlich epidemischen Umfang annahm. Hexen und Hexen¬ 
meister wurden gestäupt und verbrannt, jede wissenschaftliche Regung durch das Gespenst 
des Scheiterhaufens im Keime erstickt und auf viele Jahrhunderte das Aufleben der Wissen¬ 
schaft unterdrückt, bis durch das Zeitalter der Reformation die Denkfreiheit wieder 
gegeben wurde. 

Wenn nun auch der Glaube an Dämonen so fest mit dem Volksgeiste verwachsen 
war, dass die nun beginnende Aufklärung sich davon nicht ganz frei machen konnte, so 
war doch der frühere feste Glaube an die psychischen Wundermittel tief erschüttert, die 
Lehre des Aristoteles von dem Zusammenhänge und der Abhängigkeit der Seele von dem 
Körper gelangte mehr zur Anerkennung, und so fingen nun auch die Aerzte wieder an, 
sich mit der Seelenheilkunde zu beschäftigen. 

Von einer geordneten Fürsorge für Geisteskranke war indess noch lange keine Rede, 
die Sorge für sie erstreckte sich noch Jahrhunderte lang darauf, sie unschädlich zu machen; 
Harmlose liess man frei umherlaufen, störender Elemente entledigte man sich dadurch, dass 
man sie über die Grenze brachte und hilflos aussetzte oder sie vom Henker mit Ruthen 
peitschen, in transportable Käfige, die sogenannten Stocke, oder in die Thürme der Stadt¬ 
mauern (Narrenthürme), in Aussatzhäuser, in Gefängnisse, finstere Keller, Kerker und 
Zuchthäuser der traurigsten Art gemeinsam mit Dieben und Mördern setzen liess, in 
welchen sie oft, an Ketten geschmiedet, vor Hunger und Misshandlungen in Schmutz und 
Unrath umkamen. Vielfach waren die Kranken auch Gegenstand der Belustigung und des 
Spottes und wurden wie wilde Thiere der neugierigen Menge zur Schau gestellt und ihren 
Rohheiten ausgesetzt. 


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Im Jahre 1573 erlaubte sogar ein englischer Parlamentsbeschluss den Bauern, auf 
diejenigen Jagd zu machen, die man Währwölfe nannte, weil sie in ihrem Wahne sich ftir 
wilde Thiere ausgaben und in den Wäldern umherirrten. Einem Kranken in Padua, der 
sich für einen Währwolf hielt, aber behauptete, der Pelz sei nach innen gewendet, schnitt 
man Arme und Beine ab, um sich davon zu überzeugen, so dass der Kranke verblutete. 
Selbst ein französischer König verschmähte es nicht, die Geisteskranken als Währwölfe mit 
Schweisshunden zu Tode hetzen zu lassen. 

An manchen Orten waren Geisteskranke wohl auch in besonderen „Tollstuben“ der 
Krankenhäuser untergebracht, doch meist an Ketten und unter so schlechter Behandlung 
und mangelhafter Pflege, dass von Heilung wohl nur selten die Rede sein konnte, zumal 
der fortwährende Streit um das Wesen der Seele und deren Wechselbeziehung zum Körper 
die Beständigkeit und Einheitlichkeit in der Krankenbehandlung verhinderte. Die ersten 
Versuche zur Verwahrung von Geisteskranken scheinen 1305 in Schweden (Gründung der 
Maison de St. Esprit durch die „Fraternitates“ für kranke sieche Wanderer und Irre in 
Upsala) und im nächsten Jahrhundert besonders in Spanien (1410 Valencia, 1412 Barcelona, 
1425 Saragossa, 1436 Sevilla, 1483 Toledo und 1489 Valladolid), dann in Deutschland 
(1533 Hofheim und Merxhausen, 1535 Haina, um 1544 in Esslingen und um 1600 in Frank¬ 
furt a. M.), 1547 in England mit Bethlehem (Bedlam-London) gemacht zu sein; es folgten 
1645 in Italien Florenz, um die gleiche Zeit in Frankreich Charenton und 1681 Avignon, 
1702 Berlin, 1728 in Polen Warschau, 1736 die Hospitäler Norwegens, dann in England 
1741 Springfield mit 97 Acker Land, 1750 Greatford in Lincolnshire mit Familienpflege, 
1751 St. Luke bei London als erste Heilanstalt aus der dort schon seit 1718 bestandenen 
Bewahranstalt hervorgegangen; später 1743 Würzburg, 1749 Braunschweig, 1764 Rock¬ 
winkel bei Bremen, 1784 Wien (Irrenthurm). 

Dieser trotz vereinzelter Ausnahmen im Allgemeinen trostlose Zustand der Irren¬ 
verwahrung dauerte bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts und wurde von einer neuen 
für die Geisteskranken segensreichen Aera erst zu Ende des vorigen und zu Anfang des 
neunzehnten Jahrhunderts abgelöst, als die Humanität in die „Tollhäuser“ eindrang 
und der Ruf nach Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten und ihrer Gemeinschaft 
mit Zuchthäuslern zur Errichtung besonderer Asyle unter der Leitung sachverständiger 
Aerzte führte, die sich nunmehr vor Allem die Heilung der Heilbaren zur vornehmsten 
Aufgabe machten. 

Auf dem Continente war für die Verbesserung des Loses der Geisteskranken beson¬ 
ders das Beispiel Pinel’s entscheidend, der in der Irrenanstalt Bicätre bei Paris während 
der stürmischen Tage der Revolution, im Mai 1798, seine friedlichen Reformen damit 
begann, 49 Kranken, die seit Jahren, darunter einer 36, ein anderer 45 Jahre angekettet 
gewesen waren, die Ketten abzunehmen. Um die That Pinel’s hat sich später eine Mythe 
gewoben, die ihn als den ersten Schöpfer dieser humanen Reform verherrlicht; gleiche 
Reformen sind indess nach Pinel’s eigener Anerkennung auch schon vor ihm und nicht 
blos in Frankreich angebahnt worden. Speciell sind solche 1786 von Chiarugi in dem 
Spitale zu San Bonifacio in Florenz, 1788 von Daquin in Chambery eingeführt und ver¬ 
öffentlicht, unter William Tüke in der 1792 von ihm begründeten und 1796 eröffneten 
Anstalt der Quäker, Retreat zu York, allgemein zum Ausdruck gebracht worden. Pinel 
behält trotzdem ein unvergängliches Verdienst um die Durchführung dieser Reformen und 
um die Verbreitung des irrenärztlichen Grundsatzes von der Heilbarkeit der Geisteskranken, 
weil, wie Westphal sagte, „Niemand vor ihm die Kühnheit hatte, von einem so hervor¬ 
ragenden Platze aus in so umfassender, grossartiger und, was die Bedeutung des Mannes 

g inz besonders hervortreten lässt, in so bewusster Weise mit der Tradition zu brechen. 

enn es war nicht nur humane Gesinnung, sondern auch tiefste wissenschaftliche Ueber- 
zeugung von der Schädlichkeit der Fesselung für die Behandlung und Heilung der Kranken, 
welche Pinel leitete, ein Beispiel für das Zusammenfallen der Forderungen der Wissen¬ 
schaft mit denen der Humanität, wie es schöner die Geschichte der Medicin kaum 
dar bietet.® 

Da die praktische Durchführung dieses Grundsatzes von der Heilbarkeit 
der Kranken aber durch die Verbindung der Irrenhäuser mit anderen Kranken-, 
Siechen-, Waisen-, Armen- und Zuchthäusern arg behindert wurde, so war 
das Verlangen der Entfernung zunächst wenigstens der heilbaren Geistes¬ 
kranken aus den bisherigen Bewahranstalten erklärlich. Waren der Aus¬ 
führung dieses Vorhabens anfangs auch differirende Ansichten der Verwaltungs¬ 
behörden und mancher nicht sachverständiger Aerzte hinderlich, so führten 
doch die sich mehrenden Heilerfolge und die Fortschritte der Irrenheilkunde 
angesichts der grossen Erschwerung des Heilregimes durch die Gemeinschaft 
der Geisteskranken mit den heterogensten Elementen und durch die Unzu¬ 
länglichkeit der Räumlichkeiten zu der Einsicht von der Unhaltbarkeit der 
seitherigen Zustände und der Nothwendigkeit der Errichtung beson¬ 
derer Heilanstalten. 


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IRRENPFLEGE. 


In Deutschland haben vornehmlich Langermann und Reil das Verdienst, diese neue 
Periode des Irrenwesens angebahnt zu haben. Andere, wie Heinroth und Horn schlossen 
sich ihnen an. Reil trug besonders durch seine classische Schrift „Rhapsodien über die 
Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen“ (Halle 1803), in welcher 
er eine packende Schilderung des damaligen schrecklichen Zustandes der Irrenhäuser gab 
und für die Berechtigung der psychischen Heilmethode eintrat, sehr erheblich zum Auf¬ 
schwünge der praktischen Psychiatrie bei. Langermann, schon durch seine Dissertation 
„De methodo cognoscendi curandique animi morbos stabilienda“ (Jena 1797) vortheilhaft 
bekannt geworden, erwarb sich einen europäischen Ruf durch die 1805 bewirkte Umwand¬ 
lung des seit 1791 bestandenen Irrenhauses alten Genres zu St. Georgen bei Bayreuth in 
eine psychische Heilanstalt für Geisteskranke und durch seine spätere erspriessliche Thä- 
tigkeit im preussischen Ministerium, während deren er einen maassgebenden Einfluss auf 
die Gestaltung des preussischen Irrenwesens und auf die Gründung der ersten preussischen 
Heilanstalten, Siegburg 1825 unter Jacobi und Leubus 1830 unter Martini, ausübte. Voran¬ 
gegangen war bereits als erste Heilanstalt in Deutschland der Sonnenstein in Sachsen 1811 
unter Pienitz und Schleswig 1820 unter Jessen ; es folgten als erster Neubau einer Heilanstalt 
Sachsenberg in Mecklenburg unter Flemming 1830, dann Winnenthal in Württemberg unter 
Zeller 1834 u. A. 

War nach den geschilderten Verhältnissen die Errichtung dieser ge¬ 
sonderten Heilanstalten zunächst ein Gebot der Noth gewesen, so machten 
sich sehr bald grosse Mängel dieser Einrichtung fühlbar, welche in kurzer 
Zeit zu dem System der relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalten führten. 
Es bestanden diese Mängel hauptsächlich in der Kostspieligkeit und Um¬ 
ständlichkeit der Errichtung und Verwaltung getrennter Heil- und Pflege¬ 
anstalten, sowie der Versetzung der Kranken aus den ersteren in die letzteren, 
in dem nachtheiligen Einflüsse auf die Kranken und dem bedrückenden Ge¬ 
fühle für die Angehörigen, welche die Versetzung und damit die offen bekun¬ 
dete Unheilbarkeitserklärung ausüben musste, schliesslich auch in der Benach- 
theiligung der wissenschaftlichen Forschung und dem Umstande, dass die 
Trennung doch nicht streng und consequent durchgeführt werden konnte, 
weil die Grenzbestimmung zwischen Heilbarkeit und Unheilbarkeit ja eine 
sehr schwankende war. 

Roller und Damerow wurden nunmehr die Führer der Richtung, welche sich gegen 
die absolute Trennung richtete; unter Hinweis auf Hildesheim, wo bereits seit 1827 in zwei 
benachbarten, nur durch Gärten getrennten Klöstern eine Heil- und Pflegeanstalt unter 
einer gemeinsamen Verwaltung vereinigt waren, traten sie für die relative Vereinigung von, 
nach wie vor getrennt zu haltenden, aber räumlich und administrativ eng mit einander 
zu verbindenden Heil- und Pflegeanstalten energisch ein. So entstanden die relativ ver¬ 
bundenen Heil- und Pflegeanstalten. Die erste derartige Anstalt war Marsberg 
(We&tphalen) insofern, als die seit 1814 dort bestandene gemischte Anstalt 1835 in eine 
Pflegeanstalt umgewandelt und mit einer in unmittelbarer Nähe neu errichteten Heilanstalt 
verbunden wurde. Es folgten Illenau (Baden) 1842 unter Roller und Nietleben (Halle 
a/S.) 1844 unter Damerow, welche als nach diesem Principe speciell errichtete Neubauten 
nunmehr die Muster für weitere gleiche Bauten wie Erlangen unter Solbrig 1846, Eichberg 
unter Snell 1849, Werneck 1855 unter Guddkn, Klingenmünster 1858 unter Dieck, 
München 1859 unter Solbrig u. A. m. wurden. 

Je mehr im Laufe der Zeit die gegen die Berührung von heilbaren mit 
unheilbaren Kranken bestehenden Vorurtheile überwunden wurden, gestalteten 
sich die Beziehungen zwischen Heil- und Pflegeanstalt immer inniger, die 
Trennung bestand mehr in der Idee als in der Wirklichkeit und, nachdem 
selbst ihre hauptsächlichsten Vertreter, Böller und Damerow, diesen Stand¬ 
punkt nach den mit ihren Anstalten gemachten Erfahrungen zu Ende der 
fünfziger Jahre für überwunden erklärt hatten, ging nach und nach die rela¬ 
tive Verbindung in eine absolute Vereinigung über. 

Nach diesem Principe der absolut verbundenen Heil- und 
Pflegeanstalten sind nunmehr fast alle Anstalten der Gegenwart einge¬ 
richtet; die wenigen gesonderten Heilanstalten, die heute noch existiren, sind 
theils bereits in der Umwandlung zu gemischten Heil- und Pflegeanstalten 
begriffen, theils stehen sie vor dieser Metamorphose oder sind es überhaupt 
nur noch dem Namen nach. Auch die Existenz mancher gesonderter Pflege- 
und Siechenanstalten verstösst nicht gegen dieses Princip, da sie nur zur 


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IRRENPFLEGE. 


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Entlastung gemischter Anstalten behufs Förderung der wichtigsten Heil- und 
Lebensinteressen der heilbaren und besserungsfähigen Kranken dienen. 

Bedurfte es langer Zeit, ehe sich bezüglich der Unterbringung der Kranken 
das Anstaltswesen in der geschilderten Weise entwickelte, und blieben derartige, 
nach den erörterten Grundsätzen errichtete Heil- und Pflegeanstalten während der 
ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts noch vereinzelte Ausnahmen in der 
zweifelhaften Gesellschaft ihrer alten Genossinnen, so drang auch das von 
Pinel und Anderen gegebene Beispiel bezüglich einer humaneren Behandlung 
der Kranken nur sehr langsam durch. An den meisten Orten gehörten 
Ketten, Schienen, Leib- und Halsringe, Gürtel, Fuss- und Armbänder von 
Eisen, Drehscheiben und Drehräder, Zwangsstühle, Zwangsjacken, Schaukel, 
Flaschenzug, Masken, Särge und andere grausame Zwangs- und Marterwerk¬ 
zeuge zum unentbehrlichen Inventarium; manche Irrenanstalt glich mehr einer 
grossen Folterkammer, viele Irrenärzte wetteiferten geradezu in der Entdeckung 
von Zwangsapparaten der verschmitztesten Art, und nur in den wenigen besseren 
Anstalten hatte man sich in der Benutzung von Zwangsmitteln die von Pinel. 
und Tuke geübte Reserve aufzuerlegen und sich auf Zwangsjacke, Zwangs¬ 
stuhl und das Anschnallen unruhiger Kranker an die Bettstellen zu beschränken 
verstanden. 

Den mechanischen Zwang ganz abzuschaffen, versuchten zuerst vom 
August 1838 ab Hill und Charlesworth auf des ersteren Anregung in 
Lincoln (Leicester, England), und John Conolly machte sich damit un¬ 
sterblich, dass er in der damals grössten Anstalt Englands Hanwell (Middlesex) 
vom 21. September 1839 ab die vollständige Beseitigung aller mechanischen 
Zwangsmittel durchführte und die Behandlung der Geisteskranken ohne 
mechanischen Zwang zu einem neuen Behandlungssystem, dem seitdem 
sogenannten Non-Restraint-System, erhob. 

Dieser Name allein, insofern er nur die Nichtbeschränkung bezeichnet, 
charakterisirt allerdings nur einen Theil des Systems, die negative Seite des¬ 
selben, denn die Beseitigung der Zwangsmittel allein machte dieses System 
nicht aus, sondern in Gemeinschaft mit ihr der Geist der Humanität, welcher 
zugleich mit ihr auch für die sonstige Behandlung der Kranken maassgebend 
würfle. Dieser Geist hatte schon vor Conolly alle guten Irrenärzte beseelt, 
und Conolly’s System war daher weniger die Veranlassung als die Folge und 
die Krönung dieser neuen Richtung, welche, wie Conolly selbst zugiebt, 
schon zu der Zeit begonnen hatte, als Pinel, Tuke und Reil ihre humanen 
Reformen predigten. Conolly’s That bleibt trotzdem ein unvergängliches 
Verdienst, weil erst mit der vollständigen Beseitigung aller Zwangsmittel der 
schon früher inaugurirte positive Theil des Systems zu seiner vollen Ausbil¬ 
dung und Durchführung gelangen konnte. 

Einen langen und harten Kampf kostete es, ehe das neue System sich 
die Herrschaft zu sichern vermochte. Denn die grossen Anforderungen, 
welche die stricte Durchführung desselben an die Hingabe der Aerzte und an 
das Pflegepersonal stellte, waren nur zu sehr geeignet, die Anhänglichkeit an 
das Althergebrachte zu unterhalten. Zudem war das Non-Restraint-System 
auch eine nicht überall und sofort zu lösende Geldfrage insofern, als der Ver¬ 
zicht auf alle mechanischen Zwangsmittel nicht nur gleichzeitig den Ersatz 
der hier und da noch geübten, mehr oder weniger harten oder menschen¬ 
unwürdigen Behandlungsmethoden durch Güte und Milde involvirte, sondern 
auch auf Verbesserung der Lage der Kranken bezüglich ihrer Wohnung, 
Kleidung, Lagerung, Wartung, Zerstreuung und Beschäftigung, Unterricht 
und Gottesdienst, kurz auf Alles, was der Kranken geistiges und körperliches 
Wohlbefinden zu fördern vermochte, gerichtet war, und die Erlangung dessen 
eben nicht überall vom blossen Willen des Arztes abhing. 

In Deutschland verfocht besonders Brosius das Non-Restraint-System 1858 anf der 
Naturforscher-Versammlung zu Carlsruhe, ohne für dessen unbedingte Anwendung in der 


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IRRENPFLEGE. 


Majorität Anerkennung za finden; conseqaent durchgeführt wurde es zuerst von Ludwig 
Meybr in den Jahren 1861—1863 auf der Irrenstation des Hamburger Krankenkauses, 
wenige Jahre darauf (1867) unter den schwierigsten Verhältnissen von Griesinger und 
Westpiial in der Berliner Charite, nachdem Griksingbr sich bereits 1861 unbedingt für 
dasselbe ausgesprochen und es 1864 in Zürich versucht hatte. Andere wie Guddbn, 
Crauer, Zinn, Koeppb folgten. 

Seitdem haben sich die meisten Anstalten diesem Beispiele ange¬ 
schlossen; die Zahl derer, in denen heute noch Zwangsmittel zu finden sind, 
ist sehr gering, und von denen, welche „noch eine Therapie der Zwangs¬ 
mittel vertreten,“ sagte L. Meter schon 1863, dass „die Basis ihrer An¬ 
schauungen ausserhalb des Gebietes der Medicin liege.“ Die einst viel um¬ 
strittene Frage ist für die psychiatrische Wissenschaft als abgethan zu be¬ 
trachten. 

Die ersten Förderer des Non-Bestraint können nicht genug den ausser¬ 
ordentlich wohlthätigen und heilsamen Einfluss rühmen, welchen dasselbe auf 
das ganze Anstaltsleben und das Verhalten ihrer Pflegebefohlenen hatte. Beide 
gewannen einen ganz anderen Charakter; die Kranken wurden ruhiger und 
fügsamer, milder in ihrer Stimmung und in ihren Sitten; Aufregungszustände, 
Zerstörungssucht, Unsauberkeit milderten und verringerten sich, das Ver¬ 
hältnis der Kranken zu ihren Pflegern und Aerzten wurde ein freundlicheres 
und vertrauensvolleres, Buhe und Frieden, Ordnung und Behaglichkeit wurden 
die Signatur des Hauses. 

Die Folge davon war, dass die Anstalten in ihren Einrichtungen wohn¬ 
licher, in ihrer Umgebung freundlicher, in ihrer Abschliessung nach aussen 
freier wurden und dass den Kranken ein grösseres Maass von Freiheit gewährt 
werden konnte, als man früher für möglich gehalten hatte. 

So erweiterte sich durch einen natürlichen Entwicklungsprocess das Non- 
Bestraint zu einem System der freien Behandlung, bei der das dem 
Non-Bestraint zu Grunde liegende , Princip erst zur selbständigen und voll¬ 
kommenen Ausbildung gelangte. 

Da mit der fortschreitenden Verbesserung der Lage der Kranken die 
Abnahme des gegen die Irrenanstalten bestehenden Vorurtheils des Publikums 
Hand in Hand ging, so wurden die Kranken nunmehr in früherem Krank¬ 
heitsstadium und in grösserer Zahl, vor Allem auch in ihren milderen Formen 
den Anstalten zugeführt und in den meisten derselben sehr bald ein Zustand 
der Ueberfüllung hervorgerufen, welcher, indem er dringend Abhilfe er¬ 
heischte, die weitere Ausbildung und Verwirklichung der freien Verpflegungs- 
formen in Verbindung mit den seitdem sogenannten geschlossenen Anstalten 
begünstigte und beschleunigte. 

Den Uebergang von diesen zu den freien Verpflegungsformen bildete in 
baulicher Beziehung das Pavillonsystem, dessen Ausführung allerdings die 
ersten Versuche der freien Verpflegungsformen bereits vorangegangen waren. 
Hatte man in der ersten Zeit der Einrichtung besonderer Irrenanstalten jedes 
vorhandene grössere Bauwerk, wie Schlösser und Klöster, für ausreichend ge¬ 
halten (Sonnenstein, Siegburg, Leubus), so war man mit dem Fortschritte 
der Irrenfürsorge und dem zunehmenden Bedürfnisse an Irrenanstalten zu 
Neubauten übergegangen. Die einen wie die anderen bestehen mutatis mu- 
tandis aus einem einzigen grossen Massenbau oder aus einer Beihe von mehr 
oder weniger kasernenartigen, durch geschlossene Corridore und verdeckte 
Veranden oder Wandelgänge eng unter einander verbundenen Gebäude-Com- 
plexen, für deren innere bauliche Eintheilung das „Corridorsystem“ das ge¬ 
meinsame Charakteristicum ist. 

Wie für andere Krankenhäuser in den letzten Decennien das Verlangen 
nach grösserer Sonderung der einzelnen Krankheitsgruppen aus hygienischen 
und anderen ärztlichen Gründen allgemein zu der Annahme des Pavillon¬ 
oder Blocksystems führte, so war bei den Irrenanstalten für die Wahl des- 


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selben Bausystems neben den gleichen Gründen der Wunsch maassgebend, 
schon nach aussen hin durch die Zerlegung der Anstalt in eine grössere An¬ 
zahl frei zwischen Parkanlagen gelegener Pavillons der Anstalt den gefängnis- 
oder kasernenartigen Charakter zu nehmen, dadurch schon äusserlich einen 
freieren und freundlicheren Eindruck zu machen und auch den Kranken schon 
innerhalb der Anstalt mehr Freiheit der Bewegung zu ermöglichen. Von An¬ 
stalten nach diesem System sind angelegt und eröffnet Marburg 1876, Hoerdt- 
Stephansfeld 1878, Dalldorf und Saargemünd 1880, Neustadt i. Wpr. 1883, 
Kortau 1886, Lauenburg und Troppau 1889, die Universitätsirrenklinik zu 
Halle a/S. 1891 und die Anstalt Herzberge zu Lichtenberg-Berlin 1893. Doch auch 
diese Anstalten haben vorwiegend noch einen geschlossenen Charakter, wenn¬ 
gleich sie in einzelnen Abtheilungen und besonders in ihren gärtnerischen 
und landwirtschaftlichen Betrieben directe Uebergänge zu den freien Ver¬ 
pflegungsformen bilden, welche durch die Colonisirungder Kranken 
(Specielleres s. Paetz, Colonisirung der Geisteskranken pp. SPRiNGER-Berlin) 
ihren vollen Ausdruck gefunden haben. 

Insbesondere war es Griesinger, welcher im Jahre 1868 in seiner Ab¬ 
handlung über Irrenanstalten und deren Weiterentwickelung in Deutschland 
mit seltenem Eifer und hinreissender Beredsamkeit für die Ausbildung der 
freien Verpflegungsformen eintrat. 

Man kam damals mehr und mehr zu der Ueberzeugung, dass die ge¬ 
schlossenen Anstalten den Zweck, welchen die zeitgemässe Auffassung des 
Wesens und der Behandlung der Geisteskranken anstrebte, nur teilweise 
oder unvollkommen erfüllten, dass für einen grossen Theil der Geisteskranken 
freiere und einfachere und darum auch billigere Verpflegungsformen nicht 
nur ausreichten, sondern erspriesslicher seien, und dass es darum ein Un¬ 
recht sei, allen Kranken ohne Unterschied die Freiheit zu entziehen, deren 
Beschränkung nur für einen Theil derselben eine Notwendigkeit ist. Die 
Einsperrung und Freiheitsentziehung galt früher für alle oder doch weitaus 
die meisten Kranken als allgemeine Regel, anstatt nur für den kleineren 
Theil eine Ausnahme zu bilden. Denn abgesehen von dem schädlichen Ein¬ 
flüsse, den die völlige Entziehung der Freiheit auf die meisten Kranken aus¬ 
übt, dürfte jedem Kranken nach allgemeinem Menschenrechte auch dasjenige 
Maass von Freiheit zuzugestehen sein, das er ohne Schaden für sich und seine 
Mitmenschen zu ertragen vermag. 

Diese Erwägungen hatten angesichts der zunehmenden Ueberfüllung der 
geschlossenen Anstalten und der grossen Opfer, welche deren Anlage und 
Unterhaltung erfordern, den Verwaltungsbehörden und Irrenärzten die Ent¬ 
scheidung der Frage aufgedrängt, in welcher für die Kranken wie für die 
Verwaltungen gleich vortheilhaften Weise die Ueberfüllung der Anstalten zu 
beheben und solche freieren, einfacheren und dem geistigen wie körper¬ 
lichen Wohlbefinden der Kranken zuträglicheren Verpflegungsformen zu be¬ 
schaffen seien. 

Für die Gestaltung derselben war ausser der Ueberzeugung von der 
Möglichkeit und Nützlichkeit grösserer Freiheitsgewährung an die Kranken 
vor allen Dingen auch die Erkenntnis maassgebend, dass eine möglichst aus¬ 
gedehnte und zumal landwirtschaftliche Beschäftigung derselben, wie sie in 
dem Rahmen geschlossener Anstalten nicht in dem nötigen Umfange er¬ 
möglicht werden konnte, eines der vorzüglichsten Hilfsmittel in der Behand¬ 
lung der Kranken bildet. 

Nach Vorgängen, die hier und da schon versucht waren und die zum 
Theil aus ferner Vergangenheit datiren, war man vor etwas mehr als drei 
Decennien im Wesentlichen dahin gekommen, die vorbezeichneten Zwecke 
durch die Colonisirung der Geisteskranken anzustreben und diese haupt- 


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IRRENPFLEGE. 


sächlich einerseits in der Form agricoler Irrencolonien, andererseits durch 
die sogenannte familiale Irrenpflege zu verwirklichen. 

Beide Verpflegungsformen bleiben unter einander verwandt dadurch, 
dass bei beiden die Kranken unter ganz freien Verhältnissen ausserhalb der 
geschlossenen Anstalten gehalten, dass beide ausschliesslich auf-dem platten 
Lande betrieben und die Kranken sowohl bei den agricolen Colonien als auch 
bei der Familienpflege zu allen Arbeiten und vorzugsweise zu ländlicher Be¬ 
schäftigung herangezogen werden. Beide Formen sollen überhaupt weder sich 
gegenseitig noch die geschlossenen Anstalten ausschliessen, sondern alle sich 
wechselseitig ergänzen und neben einander oder in Verbindung unter einander 
je nach den örtlichen Verhältnissen bestehen. 

Die wichtigere dieser beiden freien Verpflegungsformen ist unstreitig die 
agricole Colonie, nicht blos wegen ihrer vielen grossen Vorzüge für die 
Kranken und die Verwaltung, sondern auch weil sie überall ausführbar und der 
grössere Theil aller Geisteskranken für sie geeignet ist, während die für Ein¬ 
richtung der Familienpflege nöthigen Voraussetzungen selten zu finden und nur 
ein verhältnismässig kleiner Theil der Kranken für dieselbe verwendbar ist. 

Obwohl man in den geschlossenen Anstalten nach Möglichkeit auf die 
Beschäftigung der Kranken Bedacht nahm, so war doch das Bedürfnis nach 
Errichtung solcher Colonien unabweisbar, weil nicht alle Anstalten in der Lage 
waren, den Anforderungen nach Beschäftigung und freier Bewegung ihrer 
Kranken genügend zu entsprechen. Es fehlte den meisten Anstalten vor 
Allem an der erforderlichen Mannigfaltigkeit der Beschäftigungs- und Be¬ 
triebszweige, welche nur Colonieen bieten können und welche allein die Ver¬ 
wendung der den verschiedensten Krankheitsformen, Bildungsstufen, Gesell¬ 
schafts- und Altersklassen angehörenden Elemente, die Berücksichtigung der 
verschiedensten Neigungen, Fähigkeiten, Gewohnheiten und Ansprüche, die 
Beschäftigung jedes Kranken in einer seinem geistigen und körperlichen Zu¬ 
stande zuträglichen Weise gestatten. Es fehlte vor Allem den geschlossenen 
Anstalten nach deren Einrichtungen die Möglichkeit, den Kranken diejenige 
Bewegungsfreiheit zu gewähren, welche in Verbindung mit der Beschäftigung 
erst den Schwerpunkt und den eigentlichen Werth der Colonieen bildet. 

Die Ueberzeugung von dem heilsamen Einflüsse ausgedehnter Freiheits¬ 
gewährung auf die Kranken führte dazu, dieses Princip auch auf An¬ 
stalten zu übertragen und unter der Bezeichnung des Open-door- (Offen- 
Thtir-) Systems zuerst in Schottland einzuführen. Es geschah dies um die 
Mitte der siebziger Jahre in dem Fife- und Kinross- District Asylum, in 
weitester Ausdehnung und strengster Durchführung in dem 1875 eröffneten 
Barony Parochial Asylum Woodilee, Lenzie bei Glasgow, mehr oder weniger 
in allen schottischen Anstalten; auf dem Continente zuerst in bisher noch 
nicht wieder erreichter Ausdehnung in Alt-Scherbitz (s. später). 

Die ersten agricolen Colonieen wurden in Frankreich in’s Leben gerufen. Nach 
kleinen Anfängen, die von der Pariser Anstalt Bicetre 1832 auf der Ferme St. Anne und, 
nachdem auf deren Terrain 1867 die gleichnamige Anstalt eröffnet war, in dem 1 Jahr 
später eröffneten, allerdings mehr geschlossenen Asyl Ville Evrard mit einem schon erheb¬ 
lich grösseren Terrain gemacht waren, wurde 1847 von den Gebrüdern Labitte in Ver¬ 
bindung mit ihrer Privatanstalt in Clermont in dem nahen Dorfe Fitz-James die gleich¬ 
namige Colonie eingerichtet, die sich fortschreitend zu einer ansehnlichen Grösse (ca. 230 ha) 
erweitert hat und seit 1887 verstaatlicht ist. In dem Schweizer Cantone St. Gallen wurde 
von der Anstalt St. Pirminsberg aus 1848 eine alpine Sommercolonie auf dem St. Marga¬ 
rethenberge angelegt, welche jeden Sommer von nahe an 20 Kranken bezogen wird. In 
Deutschland war es zuerst der Besitzer der Württembergischen Privatanstalt Christophsbad 
in Göppingen, Dr. Länderer, welcher im Jahre 1889 den nahe bei der Anstalt gelegenen 
„Freihof“ erwarb und zur Colonie einrichtete, die gegenwärtig 93 ha und 25 Kranke um¬ 
fasst. Es folgte 1864 die Colonie Einum, 1 Stunde von der Anstalt Hildesheim gelegen, 
mit jetzt 96 l /a Aa eigenem und 77 ha gepachtetem Areal und 80 Kranken; 1865 die wei- 
marische Colonie Kapellendorf, 1879 wieder aufgehoben und durch die 1880 mit der Anstalt 
zu Blankenhain verbundene Colonie ersetzt; 1868 Czadras, 2 km von der königlich-säch- 


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IRRENPFLEGE. 


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siechen Anstalt Colditz von Voppel angelegt, 1894 zu einer colonialen Anstalt (s. später) 
erweitert, die mit über 400 Kranken belegt ist und ca. 100 ha bewirtschaftet; 1870 Reck¬ 
witz bei der königlich-sächsischen Frauenpflege-Anstalt Hubertusburg mit jetzt 124 ha und 
ca. löO Kranken; im gleichen Jahre Albrechtshof bei der ERLENMEYER’schen Privatanstalt 
zu Bendorf a./Rh. mit jetzt 86*/a ha und 15 Kranken. Aehnliche coloniale Einrichtungen 
von grösserer oder geringerer Ausdehnung wurden später mit einer Reihe anderer öffent¬ 
licher und privater Anstalten verbunden, von denen ich nur Allenberg, Brieg mit Briegisch- 
dorf, Bunzlau mit dem Drüsseivorwerk, Dalldorf, Eichberg mit dem Wachholderhof, Herz¬ 
berge, Hildburghausen mit der Karolinenburg, Ilten mit Köthenwald, Kortau, Kreuzburg, 
Landsberg, Lauenburg, Lengerich, Merzig mit dem Wiesenhof, Neustadt, Pfullingen mit 
Alte-Burg, Plagwitz, Roda, Saargemünd, Sachsenberg, Schleswig, Sonnenstein mit Kuners¬ 
dorf und Jessen, Sorau, Stephansfeld-Hördt etc. nennen will. 

Gleichzeitig mit der Entwickelung dieser agricolen Colonien wurde die 
andere der genannten freien Verpflegungsformen, die familiale Irren¬ 
pflege, welche schon seit Jahrhunderten in dem belgischen Orte Gheel, 
Provinz Antwerpen, als Cultus der heiligen Dymphna betrieben wurde, weiter 
ausgebildet. Man versteht unter Familienpflege die Unterbringung von der 
öffentlichen Fürsorge anheimgefallenen Geisteskranken, welche nicht unbe¬ 
dingt mehr der Anstaltspflege bedürfen, aber auch nicht in der eigenen 
Familie zu leben vermögen oder solche nicht mehr haben, in fremden Fami¬ 
lien. In Gheel widmen sich auf einer Fläche von 11000 ha nahe an 1200 
Pflegerfamilien (Nourriciers) von einer Bevölkerung von 12000 Seelen der 
Pflege von nahezu rund 1800 Kranken, die ihnen in der grösseren Zahl 
direct, in der kleineren nach einer in der „Infirmerie“ verbrachten Beobach¬ 
tungszeit zugehen. Der in der Bevölkerung tief eingewurzelte religiöse 
Charakter dieses Cultus und die derselben seit vielen Generationen ange¬ 
borene Qualification zur Irrenpflege ermöglichten allein diese Ausdehnung, 
die bei Anwendung strengerer Anforderungen an die Krankenpflege erheblich 
eingeschränkt werden müsste und daher anderswo, wo die gleichen Voraus¬ 
setzungen fehlen, auch nicht entfernt entsprechenden Umfang angenommen 
hat. Für die nicht französisch sprechende belgische Bevölkerung sind ähnliche 
Verhältnisse 1884 in Lierneux, Provinz Lüttich, eingerichtet worden, wo 
ca. 300 Kranke untergebracht sind. Die an beiden Orten noch nicht ganz 
aufgegebene Anwendung von Zwangsmitteln contrastirt zu dem sonstigen 
Principe der „freien Behandlung“ in unfreundlicher Weise und schränkt seine 
Empfehlung erheblich ein. 

In Deutschland gingen die ersten Anfänge einer familialen Irrenpflege gegen Endq 
des vorigen Jahrhunderts von den Vorfahren des jetzigen Besitzers der Privatanstalt Rock¬ 
winkel bei Bremen, Dr. Engelkbn, aus; sie wurde später von der Armenpflege der Stadt 
Bremen adoptirt und seit 1878 auf Engelken’s Vorschläge reformirt. Trotz untergeordneter 
Mängel sind die localen Verhältnisse für diese Form der Irrenpflege dort sehr geeignet und 
weiter entwickelungsfahig; ca. 50 Pflegerfamilien vertheilen sich mit rund 80 Kranken auf 
5 Dörfer. 

In grösserer Ausdehnung ist die Familienpflege seit 1888 in Schottland staatlich 
organisirt worden in der Weise, dass die über das ganze Land zerstreuten Geisteskranken, 
welche sachverständiger Pflege entbehrten, bei Reorganisation des schottischen Irrenwesens 
der Obhut des Board of Lunacy überwiesen wurden. Es handelte sich hiernach nicht um 
eine Entlastung der Anstalten durch eine neue Form der Versorgung, wie sie die Familien¬ 
pflege sonst bezweckt, sondern in erster Linie um die Ausdehnung der staatlichen Für¬ 
sorge auf diejenigen Kranken, welche derselben bisher entbehrt hatten, wodurch anfänglich 
sogar eine Zunahme der Anstaltskranken herbeigeführt wurde. Die nunmehr über zahl¬ 
reiche Dörfer, Flecken und einzelne Höfe, selbst über die kleineren Inseln verbreitete 
Familienpflege umfasst nahe an 3000, gleich 1 j 6 aller Kranken; am meisten genannt ist das 
Dorf Kennoway. 

In Deutschland hat sich ausser ENGBLKEN-Rockwinkel in erster Linie Wahrendorff- 
Ilten seit 1880 um die Einführung der Familien pflege sehr verdient gemacht und auf den 
seiner Anstalt benachbarten Dörfern mit, ihm von den Hannoverischen Provinzial-Anstalten 
überlassenen Kranken mustergiltige Einrichtungen geschaffen. Es sind gegenwärtig dort 
nahe an 150 Kranke in dieser Weise untergebracht. 1885 wurde von der Berliner Anstalt 
Dalldorf aus die Familienpflege eingeführt und bis jetzt von dieser und der andern Anstalt 
Herzberge auf ca. 250 Kranke ausgedehnt. 1886 folgte die schlesische Anstalt Bunzlau mit 
der Unterbringung von — bis jetzt 25 — Kranken in dem Dorfe Looswitz, 1890 Kortau, 
1891 Allenberg mit jetzt 47, beziehungsweise 20 Kranken, Eichberg mit 40 Kranken; neuer- 

Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 30 


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IRRENPFLEGE. 


dings werden auch von der provinzialsächsischen Anstalt Uchtspringe Versuche in geringer 
Ausdehnung gemacht. In Amerika hat Professor Sanborn die jetzt von Dr. Woodbury 
geleitete Familienpflege im Staate Massachusetts eingerichtet; seit einigen Jahren sind 
400 Kranke des Seine-Departements in Dun sur Auron bei Bruges-Orl6ans unter Dr. Marie 
in ähnlicher Weise wie in Gheel und Lierneux u nt ergeh rächt. Nicht überall sind die 
Erfahrungen gleich günstige gewesen, und man darf bei aller Anerkennung der erzielten 
Erfolge die Erwartungen an die Erweiterungsfähigkeit dieser Verpflegungsform nicht zu 
hoch spannen ; sie wird immer nur ein Nothbehelf bleiben, niemals ein Verpflegungs-System 
werden, weil nur ein verhältnismässig geringer Theil von Kranken hierfür geeignet und 
die für eine einwandsfreie Gestaltung der Familienpflege unerlässlichen Voraussetzungen 
selten vorhanden sind. 

Auch bei den agricolen Colonien ergaben sich trotz des äusserst wohl¬ 
tätigen Einflusses, welchen deren freie Verhältnisse auf das geistige und 
körperliche Wohlbefinden der Kranken ausübten, sehr bald eine Reihe von 
Mängeln und Unvollkommenheiten, welche deren weitere Ausdehnung ein¬ 
schränkten. Es bestanden diese zunächst darin, dass durch ihre Entfernung 
von der Mutteranstalt und durch den Mangel eines ständig stationirten Arztes 
die Verwaltung und Controle erschwert war, dass in Folge dessen dem öko¬ 
nomischen Verwalter grössere Selbständigkeit über die Beschäftigung der 
Kranken eingeräumt werden musste, als ärztlich statthaft erschien, besonders 
aber bestanden diese Mängel in dem Fehlen aller Einrichtungen zur Behand¬ 
lung plötzlicher oder vorübergehender psychischer Veränderungen, was bei 
der räumlichen Trennung von der Mutteranstalt Verlegenheiten bereitete. Es 
konnten deshalb heilbare oder andere Kranke, welche noch einiger Ueber- 
wachung oder ärztlicher Behandlung bedurften, auf solchen Colonien nicht 
untergebracht werden, selbst wenn die Thätigkeit und Bewegung in deren 
freien Verhältnissen noch so wohlthätig und wünschenswerth für sie gewesen 
wäre. Es mussten erregbare Kranke, deren Rücktransport in die Mutter¬ 
anstalten Unbequemlichkeiten verursacht hätte, von der Colonie ferngehalten 
werden; kurz, es war die Auswahl der Kranken sehr beschränkt und die Vor¬ 
züge der Colonien fast nur ruhigen, harmlosen, unheilbaren und wenigen Recon- 
valescenten zugänglich. 

In dieser Erkenntnis hatte schon Voppel für Czadras die Herstellung 
eines Centralgebäudes — wenn auch erfolglos — angeregt und davon einen 
grossen Vortheil für die Erweiterung der Auswahl der Kranken wie einen 
Fortschritt in der Entwickelung der Colonie zu grösserer Selbständigkeit 
erhofft. 

Beinahe war die weitere Lebensfähigkeit der Colonien trotz des grossen 
Fortschrittes, den sie in der freieren Gestaltung der Inenpflege bildeten, in 
Frage gestellt, als man der lebhaften Discussion über die Frage, ob Colonien 
oder geschlossene Anstalten den Vorzug verdienten, in der preussischen Pro¬ 
vinz Sachsen damit ein Ende machte, dass man hier in der Vereinigung der 
Vorzüge beider zu einem neuen Anstaltssysteme einen glücklichen Ausweg 
wählte. Es war Koeppe’s Verdienst, dass er die nächste Stufe des Fort¬ 
schrittes in der Entwickelung des Irrenwesens darin suchte, eine Verpflegungs¬ 
form zu schaffen, welche die für eine bestimmte Kategorie von Kranken nicht 
ganz zu entbehrenden sicheren Anstaltseinrichtungen mit den Vorzügen der 
Colonien unter thunlichster Vermeidung der beiderseitigen Mängel vereinigte. 
Dieses Ziel angestrebt und zuerst verwirklicht zu haben, bildet den haupt¬ 
sächlichen Werth und das hauptsächlich Neue und Eigenartige in dem Alt- 
Scherbitz’er Systeme der „colonialen Irrenanstalt“, wie dasselbe 
nach des Referenten Vorgänge genannt wird. 

Das Princip derselben beruht darin, auf dem Terrain eines grösseren Landgutes nach 
den neuesten irrenärztlichen und bautechnischen Erfahrungen eine kleinere Centralanstalt 
für diejenigen Kranken zu errichten, welche aus Rücksicht auf ihren geistigen oder körper¬ 
lichen Zustand der vorübergehenden oder dauernden Ueberwachung oder Absonderung und 
besonderen ärztlichen Behandlung bedürfen, und, räumlich getrennt von der Centralanstalt, 
wenn auch in bequemer Nähe und mittelbarer Verbindung mit ihr, die Colonie in der Form 


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IRRENPFLEGE. 


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zu errichten, dass unter Anlehnung an das vorhandene oder zu errichtende Gutsgehöft 
und unter Benutzung der vorhandenen Wohn-, Bauern- oder Arbeitshäuser eine Reihe ein¬ 
facher Landhäuser nach dem Offen-Thür-System för diejenigen Kranken hergestellt werden, 
für welche nach der nöthigen Beobachtungszeit in der Centralanstalt aus ärztlichen oder 
humanitären Rücksichten der Aufenthalt in den freien colonialen Verhältnissen für nützlich 
oder möglich gehalten wird. 

Mit einem Aufwande von einer Million Mark wurde das zwischen Halle und Leipzig 
bei dem Städtchen Schkeuditz gelegene 300 Hektar grosse, durch landschaftliche und 
andere reiche Vorzüge ausgestattete Rittergut Alt-Scherbitz 1875 von der Provinzial-Ver¬ 
waltung angekauft und 1876 unter der Oberleitung des Directors von Nietleben, Koeppe, 
mit dem Bau begonnen, nachdem Referent mit den ersten von dort entnommenen Kranken 
schon vorher die vorhandenen Gutsgebände bezogen hatte. Nach Fertigstellung der ersten 
Anfänge der Central anstatt starb Koeppe im Januar 1879, und es ging die Direction an den 
Referenten über, welcher nach eigenen Plänen bis zum Jahre 1892 die Anstalt zu ihrer 
jetzigen Ausdehnung erweiterte. 

Das Neue und Eigenartige von Alt-Scherbitz besteht aber nicht blos in 
der Art der Vereinigung einer grossen (bisher der grössten existirenden) 
landwirtschaftlichen Colonie mit einer Central-Anstalt und in der grundsätz¬ 
lichen, zum ersten Male auf dem Continent yersuchten Durchführung des 
OfFen-Thür-Systems, das nach dem Zeugniss schottischer Irrenärzte selbst die 
dortige Ausdehnung desselben übertritft, sondern auch in dem gleichfalls zum 
ersten Male durchgeführten grundsätzlichen Verzichte auf Mauern und Gitter 
und auf das bisher in Irrenanstalten ausschliesslich zur Anwendung gebrachte 
Corridorsystem, da dieses wegen seiner Unübersichtlichkeit die consequente 
Durchführung der genannten freien Einrichtungen, welche die unerlässliche 
Voraussetzung des neuen Anstaltssystems bilden mussten, zum Mindesten sehr 
erschwert und beeinträchtigt hätte. 

An die Stelle der Corridorbauten, deren Typus auch die nach dem 
Pavillonsystem errichteten Anstalten tragen, trat ein noch weiter zergliedertes 
Pavillon- und Villensystem mit dem Grundrissprincipe der „Diele“, welches 
bei Gruppirung aller Räume um einen gemeinsamen Mittelraum eine ausser¬ 
ordentlich übersichtliche Anordnung derselben bei grösstmöglicher Ausnützung 
der Grundfläche und damit eine Verringerung der Baukosten ermöglicht, die 
durch den Verzicht auf Mauern, Gitter, überdachte Verbindungsgänge und 
alle specifischen Anstaltseinrichtungen in den colonialen Gebieten noch weiter 
sich steigerte. Dadurch ist dieses System auch das billigste geworden, und 
es haben sich die Kosten von Alt-Scherbitz trotz opulenter Ausstattung der 
Gebäude einschliesslich des grossen Areals, das sich zu einem über die 
normale Höhe hinausgehenden Betrage verzinst, erheblich niedriger gestellt, 
als alle vor ihm auigeführten Anstalten ausschliesslich eines solchen Land¬ 
besitzes. 

Die administrativen und ärztlichen Erfolge haben sich so ausserordent¬ 
lich günstig gestaltet, dass Alt-Scherbitz mit seinem neuen System mass¬ 
gebend geworden ist für die weitere Gestaltung der Irrenanstaltsbauten, und 
dass seitdem die Sachverständigen aller Länder der Erde dieses System als 
das nach den heutigen Begriffen vollkommenste, als das allein vorbildliche 
und nachahmenswerthe Muster bezeichnet haben. Es siDd nach demselben und 
vorwiegend nach des Referenten Gutachten seitdem auf dem Continente er¬ 
richtet worden Emmendingen-Baden, Gabersee-Bayern, Rybnik-Schlesien, 
Dziekanka-Posen, Aplerbeck-Westphalen, Conradstein-Westpreussen, Unter- 
göltzsch im Königreich Sachsen, Uchtspringe u. A.; die frühere agricole 
Colonie Czadras ist durch Errichtung einer Centralanstalt zu einer colonialen 
Anstalt erweitert und damit Voppel’s Plan erfüllt worden, wenngleich das 
zu erleben ihm nicht mehr beschieden war; in Langenhorn bei Hamburg wie 
in Salzburg werden gegenwärtig coloniale Anstalten errichtet, für eine ganze 
Reihe anderer Länder und Provinzen ist die Errichtung solcher Anstalten 
für die nächste Zeit in Aussicht genommen. Da, wo man neue Anstalten 
nach der Lage der Verhältnisse nicht errichten konnte, hat man die vorhan- 

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KINDESMORD. 


denen durch Bau offener Pavillons und Villen wie durch Herstellung colo¬ 
nialer Einrichtungen vielfach modernisirt. Es dürfte dieses System als das 
denkbar vollkommenste für absehbare Zeit den Abschluss der Anstalts-Ent¬ 
wickelung bilden. 

Inder Behandlung der Geisteskranken bildet neben dem uner¬ 
schöpflichen Borne, welchen die freien Einrichtungen und Verhältnisse der 
colonialen Anstalten darstellen, die nach rein klinischen Grundsätzen geleitete 
Bettbehandlung mit dem Principe ständiger Ueberwachung die wichtigste 
Errungenschaft der modernen Therapie. Sie ist zuerst vor mehr als 3 De- 
cennien von L. Meyer, später von Guislain, Brosius und Gudden, Scholz, 
dem Referenten und Andern eingeführt, von dem letzteren die ersten ad hoc 
errichteten Ueberwachungshäuser gebaut, nachdem vorher auch an anderen 
Orten Ueberwachungs-Abtheilungen bereits in zu anderen Anstaltszwecken 
gebauten Krankenabtheilungen eingerichtet worden waren. Unterstützt wird 
die Bettbehandlung hauptsächlich durch Diät und sorgfältige Regulirung des 
körperlichen Befindens (u. A. sorgsame Vermeidung von Obstipation durch 
prophylaktische Darmeingiessungen), durch Bäder und narkotische Medika¬ 
mente, deren massvolle Anwendung sich durchaus segensreich erwiesen hat. 

Die staatliche Organisation der Irrenpflege erstreckt sich in 
vielen Staaten leider nur auf die heilbaren und gemeingefährlichen unheil¬ 
baren Geisteskranken, und auch für diese ist in vielen Ländern noch nicht 
genügend Platz geschaffen. In Preussen haben nach dem Gesetze über die 
ausserordentliche Armenlast vom 11. Juli 1891 alle überhaupt der Anstalts¬ 
pflege bedürftigen Kranken, auch Epileptiker und Idioten Anspruch auf 
Anstaltsversorgung. In den kleineren Staaten sind die Irrenanstalten direct 
den Ministerien unterstellt, in den grösseren näch dem Grundsätze der Decen- 
tralisation den einzelnen Landesregierungen, beziehungsweise Provinzial- und 
Communal-Verwaltungen, während die klinischen Universitäts-Institute auch 
hier von den Ministerien ressortiren. Die Privatanstalten unterstehen der 
Aufsicht der Regierungen und Kreisphysiker, beziehungsweise Bezirksärzte. 
Noch nicht zur Befriedigung gelöst ist leider die Frage der Unterbringung 
der geisteskranken Verbrecher, welche meist noch den öffentlichen Irren¬ 
anstalten zur Last fallen. Die Ansichten darüber schwanken zwischen der 
Errichtung besonderer Abtheilungen für geisteskranke Verbrecher an den 
Zuchthäusern oder an den Irrenanstalten oder der gemeinsamen Errichtung 
besonderer Anstalten für dieselben durch Vereinigung mehrerer Provinzen 
oder kleinerer Staaten. Von solchen Special-Asylen sind besonders Aubom 
im Staate New-York und Broadmoor in England bekannt; im Anschlüsse an 
Strafanstalten wurden Abtheilungen für geisteskranke Verbrecher 1865 in 
Bruchsal-Baden, 1876 in Waldheim-Sachsen, 1888 in Moabit-Berlin eingerichtet. 

PAETZ. 

Kindesmord. Unter Kindesmord versteht man im strafrechtlichen 
Sinne die absichtliche Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter während 
oder gleich nach der Geburt. Es ist dabei vom Standpunkte des öster¬ 
reichischen Strafgesetzes gleichgiltig, ob der Tod des Kindes infolge directer 
Gewalteinwirkung oder aber infolge der Unterlassung des bei der Geburt 
nöthigen Beistandes eintritt. 

Object des Verbrechens ist das neugeborene oder auch das noch im 
Mutterleibe befindliche Kind, sobald einmal der. Geburtsakt begonnen hat. 
Auch die Tödtung des Kindes kurze Zeit nach der Geburt gehört unter den 
Begriff „Kindesmord“, wobei das Gesetz entschieden auf die bei der Geburt 
auftretende stärkere Gemüthsaufregung der Mutter Rücksicht genommen hat. 
Aus demselben Grunde müssen, auch jene Fälle als Kindesmord angesehen 
werden, in denen zwar der Tod des Kindes erst nach Ablauf der etwaigen 


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KINDESMORD. 


469 


psychischen Erregung der Mutter eintritt, jedoch die Handlung, welche den 
Tod bewirkt hat, noch während dieses Aufregungsstadiums gesetzt wurde. 

Die bei Gebärenden und frisch Entbundenen sich zeigende psychische 
Erregung weist wesentliche individuelle Schwankungen auf. In der Regel ist 
dieselbe zu der Zeit, wo eine Untersuchung durch Gerichtsärzte erfolgt, bereits 
vorüber, so dass diese aus anderweitigen Momenten sich ein Urtheil über eine 
etwa vorhanden gewesene psychische Erregung der Entbundenen bilden müssen. 
Dabei wird der psychische Zustand der Betreffenden zu anderer Zeit, der 
Bildungsgrad, der Verlauf der Geburt, der allgemeine Körperzustand berück¬ 
sichtigt werden müssen. Bei an und für sich nervösen Individuen wird durch 
eine protahirte schwere Entbindung eine Steigerung der nervösen Erschei¬ 
nungen sich einstellen können, wozu namentlich Schmerzen beim Geburtsakte 
wesentlich beitragen können. Individuen aus der gebildeteren Volksklasse 
mit ruhigem Temperament wird eher ein gewisser Grad von Selbstüberwindung 
und Selbstbeherrschung zugemuthet werden können. Nun kommt aber bei 
jenen Müttern, welche hauptsächlich das Contingent von Kindesmörderinnen 
bilden, sehr oft auch noch hinzu, dass die Geburten verheimlicht werden, 
also unter Umständen vor sich gehen, welche eine stärkere psychische Er¬ 
regung fördern können, und man wird aus den Aussagen der Kindesmör¬ 
derinnen zuweilen Details entnehmen können, die eine abnorme psychische 
Erregung bei und nach der Geburt als möglich erscheinen lassen. Die Mög¬ 
lichkeit, dass eine solche bestanden hatte, wird namentlich beim Zusammen¬ 
treffen mehrerer der oben genannten Momente zugegeben werden müssen« 
Die Angaben über Gemüthsaufregungen oder die laienhafte Vorstellung über 
solche sind gewiss mit ein Hauptgrund, weshalb gar häufig Kindesmörderinnen 
trotz der eingestandenen Absicht, das Kind durch ihre That zu tödten, von 
den Geschworenen freigesprochen werden. Es unterliegt keinem Zweifel, dass 
in sehr vielen Fällen die Angaben von Kindesmörderinnen über ihren psy¬ 
chischen Zustand bei und nach der Geburt nicht auf Wahrheit beruhen be¬ 
ziehungsweise übertrieben sind, was insbesondere dann wird angenommen 
werden können, wenn sowohl objective Zeichen an Mutter und Kind als auch 
Angaben der Mutter selbst für einen normalen und leichten Verlauf der Ge¬ 
burt sprechen. 

Gerade beim Kindesmord gibt es Fragen, die zum Theil ausschliesslich 
-der Beurtheilung seitens des Arztes unterworfen sind, aber auch solche, deren 
•Beantwortung ärztliche Kenntnisse direct nicht erfordert, jedoch immerhin 
Aufschlüsse seitens des Arztes in einem oder dem anderen Punkte wünschens- 
werth erscheinen lässt. In derartigen Fällen kommt es auf den Nachweis ver¬ 
schiedener Momente an, welcher haupsächlich nur durch die Section und durch 
mit dieser zusammenhängende specielle Untersuchungen erbracht werden kann. 

Nachdem es sich beim Kindesmord um eine Tödtung des Kindes während 
oder gleich nach der Geburt handelt, so ist die erste Cardinalfrage, welche 
mit Bestimmtheit fast ausschliesslich auf Grund objectiver Untersuchung 
.seitens des Arztes beantwortet werden kann, die nach dem Gelebthaben 
des Kindes während und nach der Geburt. Es gibt zuweilen, wenn 
das Verbrechen noch während des Lebens des Kindes, das etwa tödtliche 
Verletzungen erlitten hat, entdeckt wird, Fälle, in denen allerdings durch 
Zeugen bestätigt wird, dass das Kind gelebt hat. Namentlich das Schreien 
oder Wimmern solcher Kinder, das zuweilen die That bald eruiren lässt, 
bildet ja häufig die erste Ursache zu weiteren Nachforschungen. Dies zeigt 
sich beispielsweise nicht selten in jenen Fällen, in denen Neugeborene, um 
•eine Sturzgeburt zu fingiren, in einen Abort geworfen werden. Es wird je¬ 
doch in allen Fällen, in denen ein solches Kind nicht von Aerzten gesehen 
•worden ist, sich empfehlen, solchen Angaben nicht absolut Glauben zu 
schenken, sondern mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln an der Leiche 


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KINDESMORD. 


die nöthigen Untersuchungen vorzunehmen. Diese bestehen darin, dass man 
die Lebensproben, die durch reichliche Erfahrung als forensisch verwertbar 
erachtet worden sind, zur Anwendung bringt. 

Natürlich wird man sich zunächst nach Möglichkeit darüber auszusprechen 
haben, ob das Kind überhaupt lebensfähig war, da es ja auch Vorkommen 
kann, dass eine Mutter an einem nicht lebensfähigen Kinde eine Handlung 
begeht, welche den Tod mindestens beschleunigt. 

In diesem Sinne können wir aber nur solche Früchte als nicht lebens¬ 
fähig bezeichnen, welche vermöge abnormer Entwicklung oder aber vermöge 
des frühen Stadiums der Entwicklung, in welchem sie geboren wurden, über¬ 
haupt nicht fähig waren, selbständig das Leben ausserhalb des Mutterleibes 
fortzuführen. 

In erster Hinsicht kommen Missbildungen in Betracht, bei denen sich ein 
Mangel der Entwickelung oder eine Verbildung oder eine angeborene Erkran¬ 
kung der zum Leben unumgänglich nothwendigen Organe findet. Das gerichts¬ 
ärztliche Urtheil wird in solchen Fällen den Grad der Missbildung und die 
Wichtigkeit der Organe, die daran betheiligt sind, zu berücksichtigen haben. 
Die Erfahrung wird hier eine grosse Rolle spielen, indem namentlich, wenn 
die Missbildung keinen hohen Grad aufweist, die subjective Anschauung des 
Gerichtsarztes wesentlich in die Wagschale fällt. Wir würden in einem ge¬ 
gebenen Falle, beispielsweise einen Hemicephalus, der lebend zur Welt ge¬ 
kommen ist, ohne Zweifel als eine Frucht bezeichnen, die nicht fähig war, ihr 
Leben ausserhalb des Mutterleibes selbständig fortzusetzen, trotzdem ja gerade 
bei dieser Form ein mehrtägiges Leben der Frucht beobachtet worden ist. 
Ueberhaupt dürfte in den meisten Fällen, in denen die Tödtung an einer so 
missbildeten Frucht vorgenommen wird, das richterliche Urtheil dadurch 
wesentlich gemildert werden. 

Was das Alter der Frucht in seinem Verhältnisse zur Lebensfähigkeit 
derselben betrifft, so ist zu bemerken, dass zwar gelegentlich schon von der 20. 
Woche an Früchte lebend geboren werden, wenngleich sie sehr bald absterben. 
Die Erfahrung zeigt jedoch, dass als im erwähnten Sinne lebensfähig eine 
Frucht erst etwa von der 30. Woche an angesehen werden kann. Zu dieser 
Zeit beträgt die Körperlänge durchschnittlich 40c;». Wie grossen 
Schwankungen nun Foeten hinsichtlich ihrer Länge in den verschiedenen 
Entwickelungsstadien unterliegen, ist bekannt. Man darf also die Länge 
einer Frucht nicht als allein für sich beweisendes Kriterium für ihr 
Alter betrachten. In der Regel kann man Früchte von einer Länge unter 
40 cm als nicht lebensfähig bezeichnen, auch wenn sonstige Merkmale dafür 
sprechen, dass sie die 30. Woche bereits erreicht haben. 

Der Körperlänge kommt entschieden ein hoher Wert für die Altersbestimmung eine» 
Fötus zu. Dieselbe beträgt im achten Monate 39—41 cm. Die Frucht wiegt zu dieser 
Zeit etwa 1570 gr . Die Epidermis ist noch starkgeröthet, das Unterhautfettgewebe mangelhaft 
entwickelt. Die Haut ist im Allgemeinen stark mit Wollhaaren bedeckt. Die Wolihaare 
im Gesichte schwinden. Die Kopfhaare werden dunkler und sind durchschnittlich 1 cm 
lang. Die Nägel sind etwas fester geworden, überragen aber noch nicht die Fingerspitzen, 
Eei männlichen Kindern sind die Hoden meistens bereits aus dem Leistencanal ausgetreten 
oder wenigstens im Durchpassiren begriffen. Bei weiblichen Kindern überragen die grossen 
Labien noch nicht die Nymphen. Die Pupillarmembran ist entweder vollständig geschwunden 
oder nur in Kesten vorhanden. Das Gehirn besitzt bereits ausgebildete Windungen. Der 
Dickdarm enthält reichliches dunkelgrünes Meconium. 

Die Untersuchung eines Foetus hinsichtlich der bisher beschriebenen 
Merkmale unterliegt im Allgemeinen keinen wesentlichen Schwierigkeiten. 
Nur möchte ich, wenngleich dies Vielen überflüssig erscheinen mag, auf Grund 
mehrjähriger Erfahrung, die mir beweist, dass hier zuweilen Fehler bei der 
bezüglichen Untersuchung unterlaufen, die aber bei einiger Achtsamkeit leicht 
umgangen werden können, einiges über die Längenbestimmung und über 
die Untersuchung der Pupillarmembran erwähnen. 


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KINDESMORD. 


471 


Was zunächst die Bestimmung der Länge, bei der es ja manchmal auf anscheinend 
unbedeutende Differenzen ankommt, betrifft, so geht man am zweckmässigsten in der Weise 
vor, dass man, bevor der Schädel eröffnet ist, die Frucht auf den Maasstab (Bandmaass 
oder fester Maasstab) auflegt und dabei die Höhe des Scheitels analog dem Vorgänge bei 
der Längebestimmung bei Assentirungen bei dem etwaigen Mangel an Messvorrichtungen 
durch Markirung der Senkrechten mittelst einer senkrecht zum Secirtische aufgestellten 
Ebene (Tasse u. dergl.) feststellt und das eine Ende des Maasstabes genau entsprechend 
dieser Ebene anlegt. Sodann misst man die Länge des Kindes vom Scheitel bis zur Planta 
pedis. Ist die Todtenstarre entwickelt, so müssen etwa dadurch gebeugte Körpertheile vor 
der Messung gestreckt, oder, wo dies mit Rücksicht auf besondere Umstände des Falles 
nicht rathsam erscheint, ohne zu strecken, der Körper des Fötus partienweise mittelst 
unmittelbarer Anlegung des Maassstabes an die einzelnen Körperabschnitte gemessen werden. 

Noch sei bemerkt, dass unter Umständen besonders durch Extractions¬ 
versuche die Frucht künstlich verlängert werden kann, wie dies gelegentlich 
auch infolge von Selbsthilfe Gebärender Vorkommen könnte. 

Unter Berücksichtigung des in Bede stehenden Stadiums der Entwicklung 
der Frucht könnte jedoch diese Eventualität nur bei einem durch einen 
höheren Grad von Beckenenge der Mutter oder durch eine pathologische 
Vergrösserung des kindlichen Schädels bedingten räumlichen Missverhältnisse 
in Betracht kommen. 

Die zweite Untersuchung, die Ungeübten zuweilen Schwierigkeiten macht, 
ist die Untersuchung der Pupillarmembran. 

Man schneidet zu diesem Behufe den enucleirten Bulbus im Aequator mit einem 
Messer an, halbirt ihn mit einer Scheere unter Wasser. Die vordere Hälfte wird mit der 
Cornea nach abwärts in eine Schale mit Wasser gelegt, die Sklera mit einer Pincette ge¬ 
fasst und schrittweise die Iris mit der Pupillarmembran mittelst des Meisseis einer Meissei¬ 
sonde oder mittelst des Griffes eines Skalpells von der Unterlage abgelöst. Die Anwen¬ 
dung von Nadeln empfiehlt sich für minder Geübte bei dieser Procedur nicht, da, trotzdem 
die Pupillarmembran eine ziemliche Resistenzfähigkeit besitzt, dieselbe sonst leicht ein- 
reissen könnte. 

Die freipräparirte Pupillarmembran wird mit einer Lupe oder mit schwacher Ver¬ 
grösserung eines Mikroskopes untersucht und präsentirt sich als eine dünne Membran mit 
radiär verlaufenden Blutgefässen. 

Unter Umständen können die Weichtheile bereits in einer Weise ver- 
ändert sein, welche die Eigenschaften derselben, die etwa zur Altersbestimmung 
eines Fötus verwendet werden können, nicht mehr in ausreichender Weise 
erkennen lassen. In solch einem Falle wird man gelegentlich genöthigt sein, 
auch die Knochen in der genannten Richtung zu untersuchen. Es seien hier 
auf Grund der bekannten, höchst wichtigen und wertvollen Angaben Toldt’s 
(in Maschka’s Handbuch der gerichtl. Medicin, III. pag. 483 ff.) nur jene 
Charaktere der Knochen angegeben, welche die letzteren gewöhnlich bereits 
zur Zeit der 30. Woche deutlich ausgeprägt aufweisen. 

Für unseren Zweck können wir an dieser Stelle die Grenzen ziemlich eng ziehen, 
da es sich ja natürlich hier hauptsächlich um solche Merkmale handelt, die beweisen, dass 
ein Fötus bereits die 30. Woche erreicht hat, somit um solche, die eben um diese Zeit 
aufzutreten pflegen, wobei ich jedoch nur jene Momente hier anführen will, deren Ermitte¬ 
lung leicht und ohne besondere Untersuchungsmethoden geschehen kann. Dahin gehört 
der Befund einer deutlich ausgeprägten Rinne unmittelbar hinter dem Jochfortsatze, 
welche sich in der Fuge zwischen dem grossen Keilbeinflügel und dem Stirnbein öffnet, 
ferner das Vorhandensein von Zahnscherbchen für die zweiten Mahlzähne und die Glättung 
der früher allenthalben faseligen Knochen des Schädeldaches an den Höckern des Stira- 
und Scheitelbeines. 

Nicht selten kommen menschliche Früchte zur gerichtsärztlichen Unter¬ 
suchung, die schon äusserlich Zeichen darbieten, welche darauf hindeuten, 
dass die Frucht todtgeboren worden ist. Es sind dies Veränderungen, 
deren erste Zeichen bereits wenige Stunden nach dem Tode auftreten und 
die hauptsächlich in einer Maceration der Gewebe sich kundgeben, ein 
Vorgang, welcher als Necrose mit Verflüssigung ohne Ansiedölung von 
Fäulnisbacterien anzusehen ist. Nach allgemeinem Sprachgebrauche nennt 
man solche Früchte faultodt, todtfaul, macerirt, und namentlich in früherer 
Zeit bezeichnete man sie mit dem Namen Foetus sanguinolentus. Diese 
Bezeichnungen sind zum Theile unzweckmässig gewählt, insofern als man 


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KINDESMOBD. 


geneigt sein könnte, mit der Bezeichnung „faultodt“ oder „todtfaul“ fälschlich 
den Begriff wirklich vorhandener Fäulnis zu verknüpfen. Die Erfahrung 
lehrt nämlich, dass derartige Früchte in der Mehrzahl der Fälle keine Fäulnis¬ 
erscheinungen darbieten, ein Umstand, der besonders auch in dem Mangel 
jeglichen Fäulnisgeruches seinen Ausdruck findet. Dies gilt auch für solche 
während der Schwangerschaft abgestorbene Früchte, welche erst längere Zeit 
nach dem intrauterin erfolgten Tode abgehen. 

Wirkliche Fäulnis tritt innerhalb der geschlossenen Eihülle nicht ein, 
sondern nur dann, wenn ein Luftzutritt in die Gebärmutter möglich war, was 
beispielsweise der Fall sein kann, wenn der Tod intra partum eintritt, die 
Geburt verzögert wird und infolge von gewissen Manipulationen Luft in die 
Gebärmutter eintritt. 

Wenn in höherem Grade macerirte Früchte zur Beobachtung kommen, 
an denen Fäulnis Veränderungen nicht vorhanden sind, so erscheinen die Weich- 
theile matsch. Die Epidermis ist in grossen Fetzen abgelöst oder leicht 
abstreifbar. Das blossgelegte Cornum ist feucht und schlüpfrig und zeigt an 
den der Oberhaut beraubten Stellen eine diffuse, ziemlich gleichmässige, 
schmutzig-grauröthliche Farbe, erscheint dagegen an den noch von Epidermis 
bedeckten Stellen häufig viel blässer, und zwar im allgemeinen umsomehr, je 
länger die bereits abgestorbene Frucht im Mutterleibe zurückgehalten 
worden war. Der Kopf ist meist in einen schlaffen, schlottrigen Sack um¬ 
gewandelt, in welchem die Knochen des Schädeldaches, oft vollständig aus 
ihren Nahtverbindungen gelöst, unregelmässig Uber- und durcheinander liegen. 
Die Schädeldecken sind oft sulzig infiltrirt. Das Gehirn ist in einen grau- 
röthlichen, mehr weniger zerfliesslichen Brei umgewandelt, an welchem von 
einer Structur einzelner Gehirnabschnitte nichts mehr wahrzunehmen ist. 
Ueberhaupt erscheinen die Weichtheile im Inneren blutig imbibirt, und selbst 
die Knorpel besitzen eine rothe oder braunrothe Farbe. In der Pleura-, Pri- 
cardial- und Peritonealhöhle finden sich meistens blutig seröse Transsudationen. 
Die Nabelschnur ist blutig oder auch gallig imbibirt. 

Diese Erscheinungen werden um so deutlicher ausgeprägt sein, je länger 
die Frucht todt in der Gebärmutterhöhle lag. Bei weiter vorgeschrittener 
Maceration lässt sich aber ein Rückschluss auf die Dauer, wie lange die 
Frucht todt im Mutterleibe geblieben war, nicht ziehen. 

Ist eine macerirte Frucht dem Einflüsse der atmosphärischen Luft aus¬ 
gesetzt, so kann Fäulnis eintreten, mit deren Fortschreiten die Charaktere der 
Frucht als einer macerirten immer mehr verschwinden können, so dass es 
sehr gewagt wäre, aus der Maceration der Haut allein bei bereits faulen 
menschlichen Früchten einen Schluss auf Todtgeburt zu ziehen. 

Noch sei bemerkt, dass gelegentlich auch irrthümlich Verwechselungen 
vorgekommen sind, indem durch pathologische Processe bedingte Epidermis¬ 
ablösungen als Macerationserscheinungen angesehen worden sind und umge¬ 
kehrt. Bei genauer Erwägung des äusseren Befundes, eventuell bei gleichzei¬ 
tiger Berücksichtigung des Befundes im Inneren des Körpers werden jedoch 
solche Fehler leicht umgangen werden können. 

Handelt es sich um intrauterin bei geschlossener Fruchtblase abge¬ 
storbene Früchte, so können die Lungen ein verschiedenes Aussehen dar¬ 
bieten, je nachdem sie eigentlich fötal, also durch Athmung noch gar nicht 
verändert sind, oder aber, je nachdem prämortal Athembewegungen ausgeführt 
wurden oder nicht. Im ersteren Falle erscheinen die Lungen sehr blass, 
grauröthlich gefärbt, während dieselben in letzterem Falle je nach dem Blut¬ 
gehalte eine mehr oder weniger dunkel violette Farbe zeigen. 

An frischen Leichen kann der Geübte in der Regel schon äusserlich 
lufthaltige Lungen oder Lungenpartien von atelektatischen unterscheiden, und 


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KINDESMORD. 


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dies um so mehr, je stärker der Luftgehalt ist. Anhaltspunkte hieftir bieten 
uns das Volumen, die Farbe und die Consistenz des Organs. 

Was zunächst das Volumen der Lungen anbelangt, so ist dasselbe um 
so grösser, je vollständiger sie mit Luft gefüllt sind. Dies sieht man am 
besten an Lungen mit partieller Atelektase, in welchem Falle die lufthältigen 
Lungenabschnitte voluminöser sind, also an der Lungenoberfläche stärker 
prominiren, während dem gegenüber die atelektatischen Lungenpartien wie 
eingesunken, deren Oberfläche glatt erscheint. In je grösserer Menge in 
solchen Fällen lufthaltige und atelektatische Lungenabschnitte alterniren, um 
so unebener erscheint die Oberfläche des Organs. Das Aufblähen der luft¬ 
hältigen Lunge bringt es auch mit sich, dass die Ränder derselben gegen¬ 
über den unter sehr spitzem Winkel sich verjüngenden Rändern atelektati- 
scher Lungen mehr weniger abgestumpft oder abgerundet erscheinen. 

Unter besonderen Verhältnissen könnten auch bei blosser äusserer Betrachtung der 
Lungen atelektatische Herde mit Blutaustritten verwechselt werden, wie ich mich gelegent¬ 
lich in einer Uebungsstunde überzeugt habe. Ich demonstrirte u. a. die Lungen eines 
neugeborenen, bald nach der Geburt verstorbenen Kindes. Als Todesursache fand man 
Erstickung infolge von Verlegung der Bronchien durch Fruchtschleim. Die beiden Unter¬ 
lappen waren vollständig atelektatisch und besassen eine dunkelblaue Farbe. Die übrigen 
Lungenlappen waren zum grossen Theile lufthaltig; die Oberfläche derselben vielfach wie 
gesprenkelt, in dem inmitten der hellen lufthältigen Abschnitte kleine, oft kaum steck¬ 
nadelkopfgrosse dunklere Herde in sehr grosser Zahl gefunden wurden. Einige der Theil- 
nehmer, die diesen Befund deuten sollten, sahen diese Flecken für Ecchymosen an und 
doch waren dieselben nichts anderes als kleinste atelektatische Herde, die man als solche 
bei einiger Uebung sehr leicht schon an ihrer ebenfalls dunkelblauen Farbe erkennen 
konnte. Andererseits wurden bei derselben Gelegenheit und an demselben Präparate 
wirkliche Ecchymosen, die, allerdings in geringer Menge, an der Oberfläche der beiden 
vollständig atelektatischen Unterlappen sich vorfanden, übersehen. 

Die Farbe luftleerer Lungen hängt wesentlich vom Blutgehalt ab. 
Eigentlich fötale Lungen sind anämisch und zeigen blasse Fleischfarbe. 
Dieselbe Farbe besitzen auch luftleere Lungen, die nachträglich anämisch 
geworden sind. Starb eine Frucht suffocatorisch und unter vorzeitigen Athem- 
bewegungen, so ist die Farbe desto dunkler, je blutreicher die Lunge wurde. 
Daher zeigen solche Lungen je nach den betreffenden Verhältnissen im Einzel¬ 
falle eine violette bis dunkelblaue Farbe. 

Mit dem Beginn des Luftathmens nehmen die Lungen eine hellrothe 
Farbe an, die im allgemeinen desto ausgesprochener ist, je vollständiger die 
Athmung war; der Grund dessen liegt einerseits in der Entfaltung der Alveolen, 
andererseits in dem erhöhten Sauerstoffgehalte des Blutes. Die Farbe der 
Lungen für sich allein kann aber niemals Aufschluss über deren etwaigen 
Xuftgehalt geben. 

Von grosser Wichtigkeit ist das gleichmässge Verhalten der mit Luft 
gefüllten Alveolen, welche in diesem Falle besonders bei Lupenvergrösserung 
deutlich wie „Perlbläschen“ hervortreten, ein Befund, der schon für sich allein 
zeigt, dass die Luft nicht durch Fäulnis in die betreffenden Lungenpartien 
hineingekommen ist. Dieselben präsentiren sich als dicht neben einander 
liegende, kleine, hellrothe, kugelige Protuberanzen und entsprechenden durch 
die eingedrungene Luft ausgedehnten Alveolen, zwischen denen ein dichtes 
Netzwerk injicirter Gefässe verlauft, wodurch die Lungenoberfläche ein mar- 
morirtes Aussehen bekommt. 

Atelektatische Lungen haben eine gleichmässig derbe und zähe Con¬ 
sistenz; am Durchschnitte entleeren sie schaumlose, seröse oder blutig 
seröse Flüssigkeit. Durch Athmen lufthaltig gewordene Lungen fühlen sich 
weich, elastisch an, knistern bei stärkerem Luftgehalte deutlich und entleeren 
am Durchschnitte feinschaumige seröse Flüssigkeit. Bei sehr geringem Luft¬ 
gehalte können die Luftblasen spärlich sein und infolge dessen übersehen 
werden; in einem solchen Falle gelingt es eher, einzelne Luftblasen wahrzu¬ 
nehmen, wenn man die Lungen unter Wasser einschneidet. 


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K1NDESM0BD. 


Mit dem Eindringen von Luft vermindert sich das specifische Ge¬ 
wicht der Lungen. Darauf basirt die Lungenschwimmprobe, welche 
auch den Nachweis geringen Luftgehaltes ermöglicht und nach genauer ana¬ 
tomischer Untersuchung der Lungen bei gerichtlichen Sectionen Neugeborener 
stets vorzunehmen ist. Der Grad des Luftgehaltes und die Vertheilung der 
Luft lässt sich nur dann richtig beurtheilen, wenn man schrittweise vorgeht, 
zunächst die gesammten Hals- und Brustorgane, sodann jede Lunge für sich, 
jeden einzelnen Lappen ins Wasser bringt und schliesslich jeden Lappen in 
möglichst kleine Stücke mit der Scheere über Wasser zerschneidet und die¬ 
selben gleich in’s Wasser fallen lässt, wobei namentlich dann, wenn nicht 
etwa sämmtliche Stückchen der einzelnen Lappen schwimmen, auf das Ver¬ 
hältnis der lufthaltigen zu den luftleeren Lungenstückchen und auf den Sitz 
der lufthaltigen Partien zu achten ist. Bei der Trennung der Lungen vom 
Herzen ist auf den Inhalt der Bronchien Rücksicht zu nehmen. 

Ergibt die Lungenschwimmprobe ein positives Resultat, so kann 
es sich um Luft oder um andere gasförmige Körper handeln. Man wird daher 
ausser spontaner Athmung auch andere Möglichkeiten, welche einen Luft- 
resp. Gasgehalt der Lungen bedingen können, zu berücksichtigen haben, 
nämlich künstliche Athmung und Fäulnis. Erst wenn man diese ausschliessen 
kann, ist man berechtigt, spontane Athmung anzunehmen. 

Für eine solche Entscheidung kommen zunächst die makroskopischen 
Verhältnisse in Betracht. Faule Lungen zeigen je nach dem Grade der 
Fäulnis eine mehr oder weniger bedeutende Missfärbung, bedingt durch die 
bei der Fäulnis auftretenden Blutveränderungen. An der Oberfläche fauler 
Lungen findet man verschieden grosse, subpleural gelagerte Fäulnisblasen, bei 
weit vorgeschrittener Fäulnis auch im Innern der Lungen grössere und klei¬ 
nere mit Fäulnisgasen erfüllte Hohlräume. Mit vorschreitender Fäulnis wird 
das Lungengewebe immer zerreisslicher und macht sich ein deutlicher Fäul¬ 
nisgeruch bemerkbar. Dagegen, dass etwa ein Luftgehalt blos von Fäulnis 
herrübrt, spräche der Befund von Perlbläschen, welcher auf einen gleich- 
mässigeren Luftgehalt der betreffenden Lungenpartien hindeutet, wie er 
durch Fäulnis allein nicht zu Stande kommen kann; ein solcher Befund deutet 
auf spontane oder künstliche Respiration hin, wobei noch zu bemerken ist, 
dass namentlich beim kunstgerechten Lufteinblasen sich neben Perlbläschen 
fast regelmässig auch grössere, theils isolirte, theils gruppenförmig beisammen 
liegende subpleurale Luftblasen vorfinden (subpleurales Emphysem). 

Finden sich an der Oberfläche der Lungen nur vereinzelte subpleurale 
Gasblasen, so sticht man dieselben auf und prüft die Lungen hierauf neuer¬ 
dings auf ihre Schwimmfähigkeit. Wenn dieselben nunmehr im Wasser 
untersinken, so handelte es sich um Fäulnisblasen. 

Faule Luugen lassen sich bei Vornahme der Lungen schwimmprobe auch dadurch 
Von durch Athmung lufthaltig gewordenen Lungen differenziren, dass man auf die zunächst 
schwimmenden kleinen Stückchen, in welche die einzelnen Lungenlappen zerschnitten 
wurden, mit der Hand, eventuell zwischen einem Tuche einen massigen Druck ausübt. 
Fäulnisgase entweichen auf diese Weise leicht, dagegen Luft, welche sich in den kleinen 
Alveolen gleichmässig vertheilt befindet, nicht. Untersinken daher die betreffenden Lungen¬ 
stückchen nach einem solchen massigen Drucke im Wasser, so kann man schliessen, dass 
es sich um einen durch Fäulnis bedingten Gasgehalt gehandelt hat. Schwimmen die be¬ 
treffenden Lungenßtückchen auch nach erfolgtem Drucke, so kann man es ausschliessen, 
dass etwa der Gasgehalt ausschliesslich von Fäulnis herrührt; es kann sich dann nur 
um Lungen handeln, welche durch Athmung lufthältig geworden sind, die aber nebstdem 
allerdings auch schon in Fäulnis übergegangen sein können. 

Kunstgerechte Wiederbelebungsversuche (Lufteinblasen, ScHüLTZE’sche 
Schwingungen) kommen in Fällen von Kindesmord kaum in Betracht; wenn 
aber solche gelegentlich vorgenommen werden sollten, werden hierüber schon 
die Erhebungen Aufschluss geben. Was speciell die Schultze’ sehen Schwin¬ 
gungen betrifft, so kann infolge derselben nur sehr wenig Luft in die 


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KINDESMORD. 


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Langen todtgeborener Kinder eindringen; auch geschieht dies keineswegs 
regelmässig. Bei nicht kunstgerechtem Lufteinblasen von Mund zu Mund 
könnte Luft eher in die Verdauungswege als in die Luftwege eindringen. 

Dass ein Kind Luft athmet, bevor noch der Kopf geboren ist, könnte 
nur unter besonderen Verhältnissen geschehen, unter denen Luft in den 
Uterus, bezw. zu den Respirationsöffnungen des Fötus gelangen könnte, wie 
u. a. bei intrauterinen Manipulationen während der Geburt, bei Lagever¬ 
änderungen des Körpers in Fällen von Atonie des Uterus. 

Hat man gefrorene Leichen neugeborener Kinder zu untersuchen, so 
muss man die Lungen, wenn auch sie vereist sind, vor der Vornahme der 
Lungenschwimmprobe aufthauen lassen. 

Aus einem negativen Resultate der Lungenschwimmprobe erhellt zunächst 
blos, dass die Lungen keine Luft enthalten; keineswegs darf man aber daraus 
sofort auf eine Todtgeburt schliessen, da unter verschiedenen Verhältnissen 
bei lebend geborenen Kindern der Eintritt von Luft in die Respirationswege 
verhindert werden kann. Zunächst setzt ja die Respiration keineswegs in 
allen Fällen unmittelbar nach der Geburt ein, namentlich bei noch nicht weit 
vorgeschrittener Entwickelung der Früchte, indem beispielsweise abortirte, 
selbst in einer Entwicklungsperiode, in welcher Respiration beobachtet wird, 
lebend geborene Früchte häufig kurze Zeit nach der Geburt zu Grunde gehen, 
ohne geathmet zu haben. Aber auch bei reifen oder nahezu reifen, lebend 
geborenen Früchten kann sich der Eintritt der Respirationsbewegungen ver¬ 
zögern, so insbesondere bei Hirndruck infolge von intrameningealen, durch 
übermässige Compression des Kopfes bei der Geburt entstandenen Blut¬ 
extravasaten. 

Die Respiration von Luft kann ferner dadurch verhindert werden, dass 
eine Frucht vollständig oder partiell von Eihäuten umgeben geboren wird, 
insbesondere wenn die Respirationsöffnungen durch Eihäute verlegt sind, 
ausserdem durch Aspiration grösserer Mengen von Fruchtwasser oder Meco- 
niom infolge vorzeitiger Athembewegungen, sowie durch innere Erkrankungen, 
welche die Ausdehnung der Lungen hindern. 

Auch fremdartige äussere Einflüsse können die Einathmung von Luft 
verhindern. Dies könnte beispielsweise geschehen, wenn ein Kind gleich 
nach der Geburt, bevor es noch Luft geathmet hat, in eine Flüssigkeit 
geräth. 

Durch Athmen lufthältig gewordene Lungen können gelegentlich selbst 
bei geschlossener Brusthöhle wieder luftleer werden. So kann bei Sistirung 
der Respiration und fortdauerndem Herzschlag Luft aus den Alveolen durch 
das circulirende Blut absorbirt werden. Luft kann ferner infolge patho¬ 
logischer Processe der Lungen aus diesen verdrängt werden. Bei fortschrei¬ 
tender Leicheniäulnis entwickeln sich Fäulnistranssudate in den Brustfell¬ 
säcken; nehmen dieselben einen grossen Theil der letzteren ein, so können 
sie die Lungen comprimiren und auf diese Weise etwa in nicht zu grosser 
Menge angesammelte Luft verdrängen. 

Man darf somit aus einem negativen Resultate der Lungenschwimmprobe 
nicht unbedingt auf Todtgeburt schliessen, wird dann aber aus dem objectiven 
Befunde auch keinen Anhaltspunkt gewinnen dafür, dass das betreffende Kind 
lebend geboren wurde. 

In anderen Fällen wiederum kann man trotz negativen Resultates der 
Lungenschwimmprobe mit Sicherheit auf ein extrauterines Gelebthaben eines 
Kindes schliessen, insbesondere dann, wenn die Luftwege, eventuell auch die 
Verdauungswege weit hinab von fremdartigen aspirirten Massen erfüllt sind, 
oder wenn sich in der Umgebung etwaiger Verletzungen vitale Reactions- 
erscheinungen zeigen, oder endlich mit einer gewissen Einschränkung, wenn 
der Magen und ein Theil des Darmes sich lufthältig erweist. 


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KINDESMORD. 


Demgemäss kommt unter Umständen auch der BuESLAu’schen Magen¬ 
darmschwimmprobe eine hohe Bedeutung als Lebensprobe bei Neu¬ 
geborenen zu. Dieselbe wird zweckmässig in der Weise vorgenommen, dass 
man zunächst den Magen vorsichtig herausnimmt und seine Schwimmfähigkeit 
im Wasser prüft; sodann wird der Magen aufgeschnitten und bei der Unter¬ 
suchung seines Inhaltes aach auf etwaige Anwesenheit kleinerer, dem Magen¬ 
inhalte anhaftender Luftbläschen geachtet. Hierauf durchschneidet man das 
unterste Ileum ganz nahe oberhalb der BAUHiN’schen Klappe, fasst das durch¬ 
trennte obere Ende mit einer Pincette, präparirt nun den ganzen Dünndarm 
mit einer Scheere vom Mesenterium ab und prüft diesen Theil des Ver- 
dauungstractus wiederum auf seine Schwimmfähigkeit; in gleicher Weise ver¬ 
fährt man schliesslich mit dem Dickdarme. 

Die Abpräparirung des Darmes vom Mesenterium hat insbesondere den 
Zweck, zu eruiren, welche Abschnitte des Darmes lufthältig sind, wie tief 
etwa die Luft in den Darm eingedrungen ist. 

Dass wenig Luft auch erst postmortal in den Magen eines Neugeborenen hinein¬ 
gelangen kann, unterliegt keinem Zweifel. Findet sich aber der Magen von Luft stark 
aufgebläht und erweist sich auch ein Theil des Dünndarmes oder gar der grösste Theil 
des Darmes lufthältig, so lässt sich ein postmortales Eingedrungensein der Luft entschieden 
ausschliessen. 

Zuweilen kommt es vor, dass der obere und untere Theil des Darmes im Wasser 
untersinkt, während ein mittlerer Theil schwimmt. Dies könnte man sich daraus erklären, 
dass durch einen zufällig auf den Unterleib der Kindesleiche ausgeübten Druck Luft aus 
den oberen Darmpartien in tiefere verdrängt worden ist. Es muss deshalb bei der Vor¬ 
nahme der Magendarmschwimmprobe darauf geachtet werden, dass die einzelnen Abschnitte 
des Verdauungstractus bei ihrer Herausnahme keinen irgendwie bedeutenderen Druck er¬ 
fahren; denn durch diesen könnte etwa vorhandene Luft nicht bloss verschoben, sondern 
gelegentlich auch vollständig ausgepresst werden. 

Natürlich wird speciell die Verwertung des Resultates der Magendarm¬ 
schwimmprobe für die Entscheidung der Frage des Gelebthabens eines Kindes 
nach der Geburt durch Fäulnis eine wesentliche Beeinträchtigung erfahren, 
da dann eine Unterscheidung zwischen Luft und Fäulnisgasen bei der Ob- 
duction unthunlich erscheint. 

Erfahrungsgemäss findet insbesondere in jenen Fällen, in denen ein Hin¬ 
dernis für das Eindringen von Luft in die Respirationswege besteht, ein star¬ 
ker Eintritt von Luft in die Verdauungswege hinein statt, weshalb eben unter 
besonderen Verhältnissen das positive Resultat der Magendarmschwimmprobe 
bei vollständiger Luftleere der Lungen für sich allein den Beweis liefern kann, 
dass ein Kind lebend geboren wurde. 

Gegebenenfalls wird zu berücksichtigen sein, dass ebenso wie in die 
Respirationsorgane in Ausnahmsfällen auch in die Verdauungswege einer 
Frucht noch innerhalb der Gebärmutter Luft durch Verschlucken hinein- 
gerathen kann. 

Da es zum Begrifie des Kindesmordes gehört, dass die absichtliche Töd- 
tung des Kindes durch die eigene Mutter während oder gleich nach der Geburt 
erfolge, so muss weiterhin nach Möglichkeit die Dauer des Lebens des 
Kindes nach der Geburt wenigstens approximativ bestimmt werden. Es 
werden somit jene Merkmale besondere Berücksichtigung finden müssen, welche 
im allgemeinen für den neugeborenen Zustand des Kindes sprechen. 

Die Hautdecken erscheinen bei Neugeborenen in der Regel mit Blut 
beschmutzt, und es wird insbesondere das Fehlen von Verletzungen am Kindes¬ 
körper, welche etwa die Quelle für eine Beschmutzung der Körperoberfläche 
mit Blut abgeben könnten, dafür sprechen, dass das Blut von def Geburt 
herrührt. An der Körperoberfläche Neugeborener findet sich ferner eine bald 
geringe, bald bedeutende Menge von Vernix caseosa , insbesondere u. a. in 
den Achselhöhlen, in den Inguinalfalten, in den Kniekehlen. 


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KINDESMORD. 


•477 


Das Vorhandensein dieser äusseren Kennzeichen des neugeborenen Zu¬ 
standes hängt natürlich hauptsächlich auch von der Pflege, welche dem Kinde 
nach der Geburt zu Theil geworden ist, ab und speciell davon, ob und wie 
sorgfältig das Kind nach der Geburt gereinigt wurde. Die Möglichkeit, dass 
eine Mutter ihr neugeborenes Kind sorgfältig reinigt, bevor sie es unter dem 
Einflüsse eines durch die Geburt bedingten Aufregungszustandes tödtet, dürfte, 
wenn überhaupt, so doch wohl nur in seltenen Ausnahmsfällen und unter 
ganz besonderen Verhältnissen zugegeben werden. 

Einen beiläufigen Schluss auf die Dauer des Lebens eines Kindes nach 
der Geburt gestattet ferner die Beschaffenheit der Nabelschnur. Steht die 
Nabelschnur mit der Placenta und mit der Frucht noch in festem Zusammen¬ 
hänge, so spricht dies für den neugeborenen Zustand. Unter gewöhnlichen 
Verhältnissen beginnt, falls die Nabelschnur nach der Geburt durchtrennt 
worden ist, die Vertrocknung des dem Kinde anhaftenden Nabelschnurrestes 
bereits am zweiten Tage. Wurde eine solche Vertrocknung nicht etwa durch 
einen besonders hohen Feuchtigkeitsgehalt des den Kindeskörper umgebenden 
Mediums verhindert oder verzögert, so lässt sich aus der frischen, feuchten 
Beschaffenheit eines mit dem Nabel des Kindes fest zusammenhängenden 
Nabelschnurrestes ebenfalls der neugeborene Zustand erschlossen. Erscheint 
der Nabelschnurrest vertrocknet, so spricht dies nicht unbedingt dagegen, 
dass das Kind ein neugeborenes ist, da eine Vertrocknung der Nabelschnur 
unter günstigen Verhältnissen auch erst an der Leiche erfolgen kann. 

Nach einigen Tagen fällt unter normalen Verhältnissen der am Kindes¬ 
körper haftende Nabelschnurrest einfach ab. Fehlt daher die Nabelschnur an 
einem Kindeskörper, so wäre bloss noch darauf zu achten, ob der Defect 
nicht etwa darauf zurückzuführen ist, dass die Nabelschnur am Nabel heraus¬ 
gerissen wurde, worüber gegebenenfalls eine sorgfältige Untersuchung des 
Nabels und der Nabelgefässe Ayfschluss geben könnte. 

Vollständig atelektatische Lungen sprechen, wenn ein postmortales Ver¬ 
drängtwerden etwa in den Lungen vorhanden gewesener Luft nicht anzuneh¬ 
men ist und sich nicht aus anderweitigen Befunden bei der Obduction das 
Gelebthaben des Kindes nach der Geburt erschliessen lässt, für Todtgeburt 
oder für ganz kurz dauerndes extrauterines Leben. Partielle Lungenatelek¬ 
tase schliesst ein längeres Gelebthaben nach der Geburt nicht aus; vollständiger 
und gleichmässiger Luftgehalt der Lungen spricht nicht unbedingt für ein 
länger dauerndes extrauterines Leben, da schon wenige kräftige Respirationen 
genügen können, um einen vollständigen Luftgehalt der Lungen herbeizu¬ 
führen. 

Luftgehalt des Magens und des ganzen Darmes oder wenigstens des 
grössten Theiles desselben sprechen, sobald künstliche Respiration und Fäul¬ 
nis ausgeschlossen werden können, gegen den Tod des Kindes gleich oder 
kurze Zeit nach der Geburt. 

Der Mageninhalt besteht bei neugeborenen Kindern, bevor dieselben 
Nahrung bekommen haben, aus ziemlich zähem, grauem Schleime. 

Die Anwesenheit von Meconium im Darme spricht für den neugeborenen 
Zustand; dasselbe wird in der Regel im Laufe des ersten Tages entleert; 
unter besonderen Verhältnissen, so insbesondere bei Asphyxie, kann jedoch 
Meconium auch schon während der Geburt entleert werden, so dass man aus 
dem Mangel von Meconium im Darme nicht etwa unbedingt auf ein längeres 
Gelebthaben des Kindes nach der Geburt schliessen darf. Meconium ist als 
solches keineswegs regelmässig durch blosse makroskopische Untersuchung 
zu erkennen, namentlich wenn es eine auffallend helle, bräunliche Farbe 
besitzt; dann kann gelegentlich zum Nachweise von Meconium der mikro¬ 
skopische Nachweis nothwendig werden. 


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KINDESMOBD. 


Unter Umständen kann aus der Beschaffenheit etwaiger Blutextravasate 
im Kindeskörper ein beiläufiger Schluss auf das Alter desselben und daher 
auch auf die beiläufige Dauer des extrauterinen Lebens des Kindes gezogen 
werden. 

Hier zu Lande werden fast alle aufgefundenen Leichen menschlicher 
Früchte gerichtlich obducirt. Der Gerichtsarzt muss sich, wie überhaupt bei allen 
gerichtsärztlichen Untersuchungen so insbesondere auch bei Obductionen von 
Kindesleichen hüten, mit einer gewissen Voreingenommenheit an die Unter¬ 
suchungen heranzutreten und darf nicht etwa im Eifer glauben, überall eine 
strafbare Handlung aufdecken zu müssen. Speciell mit Rücksicht auf die 
Gefahren, welchen der kindliche Organismus erfahrungsgemäss sehr häufig vor 
und während der Geburt unterworfen ist, muss in allen Fällen von vome- 
herein die Möglichkeit eines natürlichen Todes bei der Bestimmung der Todes¬ 
ursache in Erwägung gezogen werden. Allerdings zeigt sich in sehr vielen 
Fällen bei der Obduction bald ein objectiver Befund, welcher für einen ge¬ 
waltsamen Tod spricht. 

Die natürliche Ursache des intrauterinen Todes einer menschlichen Frucht 
kann in Erkrankungen der Mutter, sowie in Erkrankungen des Fötus be¬ 
ziehungsweise der Placenta gelegen sein. Von Erkrankungen der Mutter 
wären zu nennen acute Infectionskrankheiten, ferner chronische, mit hoch¬ 
gradigen Circulationsstörungen und Ernährungsstörungen einhergehende Er¬ 
krankungen, insbesondere syphilitische Allgemeininfection, nervöse Zustände, 
Erkrankungen der Geschlechtsorgane, pathologische Processe, welche eine 
stärkere RaumbeeBgung des mütterlichen Beckens bewirken. Von abnormen 
Veränderungen an der Frucht und ihren Anhängen, sowie an der Placenta 
könnten insbesondere Degenerationsvorgänge und Missbildungen der Frucht 
und ihrer Hüllen, Torsionen und Knotenbildungen höheren Grades an der 
Nabelschnur, sowie Hämorrhagien in der Placenta den intrauterinen Tod der 
Frucht bewirken. 

Nebstdem können Traumen, welche zufällig den Unterleib von Schwan¬ 
geren treffen, wie beispielsweise Sturz, Schlag oder Stoss gegen den Unter¬ 
leib u. dergl., die Frucht intrauterin zum Absterben bringen. Dabei können 
einerseits tödtliche Weichtheilverletzungen, andererseits aber auch tödtliche 
Knochenverletzungen entstehen. 

Intrauterin abgestorbene Früchte gehen in der Regel spontan nicht so¬ 
fort, sondern erst nach einiger Zeit, zuweilen nach vielen Wochen ab und 
werden während dieser Zeit entweder mumificirt oder, was häufiger der Fall 
ist, macerirt. 

Auch mit den Gefahren, welche dem Kinde während der Geburt 
drohen, haben wir bei der gerichtsärztlichen Untersuchung von Kindesleichen 
zu rechnen und dies umsomehr in jenen Fällen, in denen die Geburt nicht 
von einem Arzte oder einer Hebamme kunstgerecht geleitet wurde, sondern 
wo die betreffende Frauensperson allein, vielleicht heimlich geboren hat, und 
in denen daher eine Gefahr für das Leben des Kindes nicht rechtzeitig durch 
kunstgerechtes Eingreifen abgewendet werden konnte. Darin liegt offenbar der 
Grund dafür, dass bei heimlichen Geburten gewiss nicht selten die Kinder 
aus natürlicher Ursache während der Geburt zu Grunde gehen. 

Der Tod des Kindes kann während der Geburt zunächst infolge vor¬ 
zeitiger Unterbrechung der Placentarrespiration eintreten. 

Während des intrauterinen Lebens wird die Ernährung der Frucht durch 
Zufuhr von Sauerstoff aus dem mütterlichen Organismus auf dem Wege der 
Circulation unter Vermittelung der Placenta bewerkstelligt. Diese Placentar¬ 
respiration kann nun einerseits durch Lösung des Zusammenhanges der Pla¬ 
centa mit der Innenfläche der Gebärmutter, andererseits durch Verschluss der 


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KINDESMORD. 


479 


Blutgefässe des mütterlichen Uterus oder der Nabelgefässe des Kindes bei 
Dehnung oder Compression der Nabelschnur unterbrochen werden. 

Bei vorzeitiger Lösung der Placenta verringert sich die Zufuhr von 
Sauerstoff zum Fötus, und zwar in dem Maasse, als eine immer grössere 
Fläche des Mutterkuchens sich ablöst und für die Respiration des Fötus un¬ 
brauchbar wird. Die Placentarrespiration wird durch eine energische Wehen- 
thätigkeit immer mehr beeinträchtigt, kann unzureichend werden und 
schliesslich vollständig sistiren, indem durch die Wehen ein immer grösserer 
Theil der Placenta abgelöst werden kann. 

Bei jeder Wehe contrahirt sich die Gebärmutter, wobei deren Blutgefässe 
temporär comprimirt werden. Da nun der Körper des Fötus gegen Sauer- 
stoffarmuth eine gewisse, nicht unbedeutende Widerstandsfähigkeit besitzt, so 
wird das Leben desselben durch eine kurz dauernde Compression der Uterus- 
gefässe, wie sie bei normaler Wehenthätigkeit erfolgt, nicht gefährdet. Handelt 
es sich jedoch um einen lang anhaltenden Contractionszustand und wieder¬ 
holen sich die Contractionen rasch, so kann, wie beispielsweise bei Tetanus 
uteri, die Placentarrespiration so lange unterbrochen werden, dass das Kind 
mittlerweile vor Wiederherstellung der Circulation intrauterin abstirbt. Es er¬ 
folgt unter solchen Verhältnissen im Körper des Fötus eine Ueberladung des 
Blutes mit Kohlensäure; dadurch wird das Athmungscentrum erregt, und das 
Kind aspirirt bei den vorzeitigen Athembewegungen Fruchtwasser, oft auch 
Blut und Meconium; infolge der gleichzeitigen Entwicklung des Lungen¬ 
kreislaufes werden die Lungen sehr blutreich. Das Kind wird unter solchen 
Verhältnissen asphyktisch und geht, falls sich die Geburt verzögert, an fötaler 
Erstickung zu Grunde. In den Bronchien findet sich Fruchtwasser, dessen 
charakteristische Bestandteile durch mikroskopische Untersuchung nachzu¬ 
weisen sind. 

Eine weitere Gefahr droht gelegentlich dem Leben der Frucht während 
der Geburt aus dem Drucke, welchen der Kopf seitens der Geburts¬ 
wege der Mutter erfährt. Einem massigen Drucke ist der Kopf des 
Kindes schon unter normalen Verhältnissen ausgesetzt; der Kopf wird dabei 
vorübergehend verkleinert, die Cerebrospinalflüssigkeit wird verdrängt, die 
Form des Schädels verändert. Der geringste Effect dieses Druckes ist eine 
Verschiebung der einzelnen durch Interstitialmembranen mit einander in Ver¬ 
bindung stehenden Schädelknochen über einander. Diese Modellirung des 
kindlichen Kopfes erfolgt typisch in der Weise, dass die beiden Stirnbeine 
und das Hinterhauptbein unter die Scheitelbeine und die Scheitelbeine ent¬ 
sprechend der Sagittalnaht gegen einander verschoben werden. Der Grad der 
Verschieblichkeit der einzelnen Schädelknochen gegen einander ist je nach 
den individuellen Verhältnissen im concreten Falle verschieden und hängt von 
der Breite der Interstitialmembranen ab, insoferne als sich mit der Breite der 
letzteren die Modellirungsfähigkeit des Kopfes steigert 

Je weiter die Frucht in ihrer Entwicklung bereits vorgeschritten ist, und 
je protrahirter die Geburt verlauft, um so mehr werden die bedeckenden Weich- 
theile des Kopfes gequetscht und gezerrt. Daraus resultiren kleinere und 
grössere Blutaustritte unter den weichen Schädeldecken, die Kopfgeschwulst, 
sowie das Cephalhämatom. 

Eine nicht allzu bedeutende Compression des Kopfes verträgt der Kopf des Kindes 
in der Regel anstandslos. Bei übermässiger Compression leidet jedoch auch das Gehirn 
unter dem auf dasselbe einwirkenden Drucke, namentlich wenn derselbe lange andauert. 
Sind dabei die Interstitialmembranen breit und können daher insbesondere die Scheitelbeine 
-stark gegeneinander verschoben werden, so werden die am Scheitelrande der beiden Gross¬ 
hirnhemisphären von den weichen Hirnhäuten zur harten Hirnhaut ziehenden Venen ge¬ 
zerrt, ja selbst zerissen, woraus dann mehr weniger bedeutende intermeningeale Blutungen 
resultiren können, die dann für sich Hirndruck bewirken oder aber einen bereits beste¬ 
henden Himdruck wesentlich erhöhen können. Selten kommen bei der Compression des 
kindlichen Kopfes während der Geburt Zerreissungen der Blutleiter der harten Hirnhaut 


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KINDESMORD. 


za Stande. Darch den Hirndrack können vorzeitige Athembewegangen aasgelöst werden 
and es kann der Tod durch fötale Erstickung eintreten. 

Genügt die gegenseitige Verschiebung der einzelnen Schädelknochen nicht, am einen 
darch räumliche Verhältnisse gesetzten Widerstand zu überwinden, dann können einerseits 
bedeutende Formenveränderungen, andererseits ausnahmsweise selbst Continuitätstrennungen 
des kindlichen Schädels durch Druck seitens der Geburtswege der Mutter bewirkt werden. 
Namentlich kann dies dann geschehen, wenn, sei es durch Beckenenge der Mutter, sei es 
durch abnorme Grösse des kindlichen Schädels ein räumliches Missverhältnis geschaffen ist. 

Formveränderungen des kindlichen Schädels können insbesondere durch das Promon¬ 
torium oder durch die Symphyse, seltener durch pathologische Knochenvorsprünge an der 
Innenfläche des mütterlichen Beckens bewirkt werden. Natürlich ist es hieza nothwendig, 
dass die Schädelknochen einem änsseren Drucke relativ leicht nachgeben, in welcher Rich¬ 
tung sich jedoch entsprechend der Structur im einzelnen Falle grosse Differenzen ergeben 
können, indem das eine Mal schon durch mittleren Fingerdruck Eindrücke an den Scnädel- 
knochen erzeugt werden können, das andere Mal die Schädelknochen selbst bei sehr starkem 
Drucke von aussen nicht nacbgeben. 

An nachgiebigen Schädelknochen können durch Druck seitens der ge¬ 
nannten Stellen des mütterlichen Beckens Impressionen entstehen. Die¬ 
selben haben ihren Sitz in der Regel an einem Scheitel- oder Stirnbeine, gele¬ 
gentlich auch noch an einer entgegengesetzten Stelle, wenn gleichzeitig von 
Promontorium und Symphyse ein stärkerer Druck auf den Kopf des Kindes 
ausgeübt wird. Die Impressionen bilden das eine Mal mehr der Fläche nach 
ausgebreitete, allmählich abfallende, seichtere Vertiefungen (löffelförmige Im¬ 
pressionen), das andere Mal schroff abfallende Vertiefungen mit tiefem, am 
Querschnitte spitzwinkeligem Grunde (rinnen- oder trichterförmige Im¬ 
pressionen) und sind häufig mit Fissuren in ihrem Bereiche oder an anderen 
Stellen des Schädels vergesellschaftet. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass analoge Impressionen auch durch 
nach der Geburt einwirkende äussere Gewalten, beispielsweise durch Sturz, 
Stoss und Schlag, zu Stande kommen können; ergeben sich jedoch aus dem 
objectiven Befunde keine anderweitigen Anhaltspunkte, welche für eine Ent¬ 
stehung der Impressionen nach der Geburt sprechen, wie äussere Verletzungen, 
Zertrümmerungen des Schädels, Verletzungen an anderen Körperstellen, so 
wird man die Möglichkeit der Entstehung der Impressionen während der Ge¬ 
burt in Betracht zu ziehen haben und dabei nach Möglichkeit die Angaben 
über den Geburtsverlauf und das Grössenverhältnis zwischen dem mütter¬ 
lichen Becken und dem kindlichen Kopf beziehungsweise den Grad der Ent¬ 
wickelung der Kopfgeschwulst berücksichtigen müssen. 

Impressionen bei kindlichen Schädeln können sich bald wieder aus- 
gleichen und setzen oft gar keine Krankheitssymptome; nur selten werden 
sie durch gleichzeitige Ruptur grösserer Blutgefässe zur Todesursache. 

Sind die Schädelknochen sehr fest, so gelingt es nicht, durch äusseren 
Fingerdruck Impressionen an ihnen zu erzeugen, ebensowenig können aber 
solche dann durch blossen Druck seitens der Geburtswege der Mutter bei 
spontanen Geburten entstehen. Dagegen können in derartigen Fällen bei 
spontanen Geburten ausnahmsweise Continuitätstrennungen der Schädel¬ 
knochen, welche in der Regel bloss einfache Fissuren des Stirn- oder Scheitel¬ 
beins sowie der Orbita darstellen, entstehen. Meist ist dies nur bei be¬ 
deutendem räumlichem Missverhältnisse zwischen mütterlichem Becken und kind¬ 
lichem Kopfe der Fall, doch wurde ein solcher Befund auch schon bei nor¬ 
malem räumlichem Verhältnisse in einem Falle von Tetanus uteri constatirt. 
Derartige Fissuren verlaufen parallel zu den Ossificationsstrahlen. 

In solchen Fällen wird man zu untersuchen haben, ob sich etwa Zeichen 
vorfinden, welche nicht so sehr auf eine einmalige plötzliche Gewalteinwir¬ 
kung, als vielmehr auf einen längere Zeit anhaltenden Druck hin- 
weisen. 

Der natürliche Tod tritt bei Kindern bald nach der Geburt nicht 
selten infolge sogenannter angeborener Lebensschwäche (Debilitas 


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KINDESMORD. 


481 


vitae congenita ) ein. Diese wird man bei dem Mangel einer anderweitigen 
nachweisbaren Todesursache namentlich dann annehmen müssen, wenn es sich 
um vorzeitig geborene, jedoch lebensfähige oder selbst um nahezu reife, je¬ 
doch sehr schwach entwickelte Früchte handelt; es können dann eben die 
lebenswichtigen Organe nicht in einer zum Leben nöthigen Weise func- 
tioniren. 

Nach der Geburt kann ein Kind ohne Absicht und ohne Ver¬ 
schulden der Mutter gewaltsam nms Leben kommen. Eines der häu¬ 
figeren Vorkommnisse, bei denen dies geschehen kann, bildet die Sturz¬ 
geburt (vergl. S. 299). In solchen Fällen kann eine Gefahr für das Leben 
des Kindes einerseits aus den Verletzungen, welche dasselbe, namentlich wenn 
der Sturz aus bedeutender Höhe und mit grosser Gewalt erfolgt, erleidet, so¬ 
wie aus der dabei vorkommenden Durchreissung der Nabelschnur erwachsen. 

Hochgradige Verletzungen des Kindes könnten besonders bei sehr bedeutender 
Fallhöhe und beim Sturz auf eine harte, unebene Unterlage zu Stande kommen. Nament¬ 
lich Schädelfracturen und Impressionen der Schädelknochen könnte dann eine hohe 
forensische Bedeutung zukommen, insoferne als derartige Verletzungen sich objectiv in 
keiner Richtung von auf andere Weise etwa absichtlich durch stumpfe Gewalt entstandenen 
Verletzungen zu unterscheiden brauchen. Nur wenn es sich um weitgehende multiple 
Fracturen oder Zertrümmerungen des Schädels handelt, dürfte die Möglichkeit der Entste¬ 
hung derselben bei einer Sturzgeburt nur unter besonderen günstigen Verhältnissen als 
möglich zugegeben werden. 

Die Nabelschnur kann bei der Sturzgeburt ein verschiedenes Ver¬ 
halten zeigen. Zunächst kann die Nabelschnur unverletzt bleiben, wenn die 
Sturzgeburt unter Verhältnissen erfolgt, unter denen dieselbe keine über¬ 
mässige Zerrung und Dehnung erfährt, sowie in Fällen, in denen bei der 
Sturzgeburt die Placenta mit herausgerissen wird. Wird dagegen die Nabel¬ 
schnur stark gedehnt und gezerrt, so kann sie infolge der plötzlichen Wirkung 
des Gewichtes des Kindeskörpers zerreissen. Die Zerreissung erfolgt in der 
Regel entfernt von der Insertionsstelle der Nabelschnur am Nabel; die Riss¬ 
enden sind unregelmässig, fetzig, die Gefässe reissen meistens in ungleicher 
Höhe. 

Eine bei einer Sturzgeburt zerrissene Nabelschnur unterscheidet sich 
objectiv nicht von einer solchen, welche von der Mutter mit den Händen 
zerrissen wurde. 

Die Entscheidung, ob eine Nabelschnur durchrissen oder durchschnitten 
wurde, ermöglicht in der Regel die Untersuchung der Durch trennungsstellen. 
Die Trennungsflächen einer durchschnittenen Nabelschnur sind quer oder 
schräg, dabei glatt und eben. Wurde die Durcbschneidung mit einem stumpfen 
oder schartigen Werkzeuge vorgenommen, so können die Ränder der Tren¬ 
nungsflächen in mässigem Grade fetzig sein. Wurde die Nabelschnur in 
irgend einer Weise durchrissen, so erscheinen die Trennungsflächen unregel¬ 
mässig, fetzig, die einzelnen Bestandteile der Nabelschnur nicht in einer 
und derselben Ebene durchtrennt. 

Ist der am Kinde befindliche Rest der Nabelschnur eingetrocknet, so 
muss derselbe zunächst vor der Untersuchung in Wasser aufgeweicht werden. 

Gelegentlich muss auch die Möglichkeit nachträglich entweder ab¬ 
sichtlich gesetzter oder zufällig zu Stande gekommener Veränderungen am 
peripheren Ende eines Nabelschnurrestes in Erwägung gezogen werden. 
Einerseits kann es geschehen, dass das periphere Ende des Restes einer 
durchrissenen Nabelschnur nachträglich mit einem scharfen Instrumente durch¬ 
schnitten wird, man sonach eine glatte und ebene Trennungsfläche findet, 
trotzdem die Nabelschnur ursprünglich durchrissen wurde. Andererseits kann 
eine ursprünglich glatte, ebene Trennungsfläche durch vorschreitende Fäulnis 
ein unregelmässiges, zerfetztes Aussehen bekommen, oder aber auch dadurch, 
dass die Nabelschnur von Thieren, beispielsweise von Ratten, angefressen 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Medicin. 31 


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KINDESMORD. 


wird; diese Möglichkeit wird man aber nur dann zu erwögen haben, wenn 
sich auch sonst noch am Kindeskörper andere von Thierbissen herrührende 
Verletzungen vorfinden. 

In den meisten Fällen, in denen Kindesleichen zur gerichtsärztlichen 
Untersuchung kommen, ist die durchtrennte Nabelschnur nicht 
unterbunden. Trotzdem erfolgt nur selten eine schwerere, geschweige 
denn tödtliche Blutung aus der Nabelschnur. Eine solche kann begünstigt 
werden durch abnorme Kürze des am Kinde haftenden Nabelschnurrestes, 
durch die Art der Durchtrennung der Nabelschnur, indem eher aus einer 
durchschnittenen Nabelschnur eine stärkere Blutung erfolgt, sowie durch einen 
hohen Blutdruck in den Nabelgefässen, wie ein solcher namentlich dann be¬ 
obachtet wird, wenn der Lungenkreislauf beispielsweise bei asphyktisch ge¬ 
borenen Kindern nicht zur normalen Entfaltung kommt. 

Eine Gefahr kann für das Kind bei der Sturzgeburt auch daraus er¬ 
wachsen, dass dasselbe beim Sturze in eine Flüssigkeit fällt und darin erstickt. 

Der Gerichtsarzt wird auf Grund seiner Untersuchung nicht etwa fest¬ 
stellen können, dass thatsächlich eine Sturzgeburt stattgefunden hat; seine 
Aufgabe wird vielmehr darin gelegen sein, nach Möglichkeit zu entscheiden, 
ob es sich in einem concreten Falle um eine Sturzgeburt gehandelt haben 
konnte. Was in dieser Beziehung die Befunde am Kinde betrifft, so könnte 
man es bei stark entwickelter Kopfgeschwulst ausschliessen, dass etwa das 
ganze Kind plötzlich aus der Mutter hervorgestürzt ist, dagegen müsste in 
einem solchen Falle die Möglichkeit, dass die Austreibungsperiode sehr rasch 
verlaufen ist, zugegeben werden. An der Mutter können bei einer Sturzgeburt 
ausgebreitete Zerreissungen des Perineums, Atonie des Uterus, Prolaps und 
Inversion des Uterus Vorkommen, und es könnten derartige Befunde die 
Glaubwürdigkeit spontaner Angaben der Mutter Uber eine überstandene 
Sturzgeburt erhöhen. 

Was die einzelnen Arten des Kindesmordes betrifft, so kehren 
manche mit besonderer Häufigkeit immer wieder. 

Unter den häufigeren Arten des Kindesmordes sind zunächst zu er¬ 
wähnen Tödtung durch heftige Schläge gegen den Kopf mit stumpfen Gewalten, 
wodurch multiple Fracturen und selbst vollständige Zertrümmerungen des 
Schädels entstehen können. Bei der Untersuchung derartiger Fälle wird der 
Gerichtsarzt natürlich zunächst zu entscheiden haben, ob es sich um intravital 
oder postmortal entstandene Verletzungen handelt. Namentlich an faulen 
Kindesleichen oder an solchen, welche längere Zeit im Wasser gelegen sind, 
kann eine derartige Entscheidung gelegentlich ganz unmöglich werden, so 
dass in vielen Fällen durch die Untersuchung nicht mehr festgestellt werden 
kann, ob ein Verbrechen vorliegt oder nicht. Bei einfachen Knochensprüngen 
wäre die Möglichkeit der Entstehung während der Geburt in Betracht zu 
ziehen. 

Gelegentlich könnten, wie dies thatsächlich bereits des Oefteren vorge¬ 
kommen ist, angeborene Defecte der Kopfhaut und der Schädelknochen mit 
post partum entstandenen Verletzungen verwechselt werden. 

Congenitale Hautdefecte können isolirt ohne jede andere Defect- 
bildung am Körper Vorkommen, haben ihren Sitz hauptsächlich in der behaarten 
Kopfhaut, seltener im Gesichte, sind kreisrund oder unregelmässig begrenzt, 
können einzeln oder multipel Vorkommen und verschieden gross erscheinen. 
Auch am behaarten Kopfe sind solche Hautdefecte haarlos; in unmittelbarer 
Nachbarschaft der Defecte findet man auch bei einem bereits reifen Kinde in 
einer verschieden breiten Zone nur ganz kurze Flaumhaare. Der Rand der 
congenitalen Hautdefecte ist glatt und abgerundet und steigt allmählich zum 
Niveau der umgebenden normalen Haut auf. An der Leiche kann die Be¬ 
stätigung, dass es sich im concreten Falle um einen angeborenen Hautdefect 


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KINDESMORI). 


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handelt, durch mikroskopische Untersuchung geliefert werden; immerhin ist 
die richtige Deutung eines solchen Befundes bei genauer Untersuchung schon 
mit freiem Auge möglich. 

Angeborene Spaltbildungen und Ossificationsdefecte an 
Schädelknochen sind ebenfalls bereits mit Verletzungen verwechselt worden. 
Die Spaltbildungen sind an den verschiedenen Schädelknochen randständig, 
stellenweise symmetrisch, relativ kurz und oft in grosser Zahl vorhanden. 
Die Ränder dieser Spalten sind glatt und abgerundet, die Knochenlücken 
mit membranartigen Gebilden ausgefüllt. Ferner kommen namentlich an den 
Scheitelbeinen und Stirnbeinen rundliche oder unregelmässig begrenzte Ossi¬ 
ficationsdefecte vor, welche ebenfalls von membranartigen Gebilden aus¬ 
gefüllt sind und in deren Umgebung die Knochen aufallend dünn und durch¬ 
scheinend zu sein pflegen. Zuweilen zeigt sich eine mangelhafte Ossification 
blos in der dünnen Beschaffenheit umschriebener Partien der Schädelknochen, 
ohne dass wirkliche Lücken im Knochen vorhanden sind. 

Finden sich an einem Schädel mit mangelhafter Ossification Verletzungen, 
so ist zu bedenken, dass ein solcher Schädel gegen stumpfe Gewalten weniger 
widerstandsfähig ist als ein normaler. 

Von sonstigen durch stumpfe Gewalt entstehenden Verletzungen, die 
gelegentlich bei Kindesmord die Todesursache bilden können, wären noch 
Rupturen innnerer Organe, insbesondere Rupturen der Leber und Milz 
zu nennen. Doch könnten speciell Milzrupturen durch Gewalteinwirkungen, 
wie Stösse und Schläge, kaum isolirt entstehen, ohne dass in der Bauchhöhle 
sich noch andere Zeichen einer stattgehabten Gewalteinwirkung fänden. Uebri- 
gens können derartige Rupturen auch durch Manualhilfe bei der Geburt zu 
Stande kommen. Sollte in einem concreten Falle ein Zweifel obwalten, ob 
eine Ruptur der genannten Organe intravital oder, wie dies gelegentlich 
ebenfalls geschehen kann, postmortal entstanden ist, und ob dieselbe den Tod 
bewirkt hat, so müsste man den Grad der Blutung in die freie Bauchhöhle 
und den Blutgehalt des ganzen Körpers berücksichtigen. 

Ferner werden Kindesmorde häufig durch gewaltsame Erstickung 
in verschiedener Weise ausgeübt. 

Beim Bedecken mit weichen Gegenständen (Betten, Tüchern 
u. dergl.) oder Einhüllen in solche braucht man äusserlich gar keine 
Zeichen einer Gewalteinwirkung zu finden. 

In anderen Fällen, so beim Zuhalten von Mund und Nase mit der 
Hand, sowie beim Erwürgen und Erdrosseln finden sich äussere Druck¬ 
spuren, welche in den erstgenannten Fällen im Gesichte oder am Halse die 
charakteristische Bogenform von Fingernägeln wiedergeben können. Beim 
Erwürgen Neugeborener kann man, falls dasselbe durch Umfassen des ganzen 
Halses mit der Hand erfolgte, Druckspuren in Form von Abschindungen der 
Haut in der ganzen Circumferenz des Halses finden. In den tieferen Schichten 
des Halses constatirt man in solchen Fällen mehr oder weniger ausgebreitete 
Blutungen, doch ist es von Wichtigkeit zu wissen, dass solche Blutungen 
gelegentlich auch als blosser Effect eines spontanen Geburtsactes Vorkommen 
können. Dies gilt nicht nur von den durch Torsion des Halses zu Stande 
kommenden Blutungen in den Kopfnickern (Haematoma musculi sternocleido- 
mastoidei), sondern auch von Blutungen in anderen oberflächlichen und tieferen 
Halsmuskeln. Dass derartige Blutungen durch directen Druck von aussen 
entstanden sind, wird man nur dann annehmen können, wenn an der corre- 
spondirenden Stelle einerseits an der äusseren Haut Druckspuren, andererseits 
auch im Unterhautzellgewebe Blutaustritte sich vorfinden. 

Bei der Frage, ob gewisse Verletzungen am kindlichen Körper etwa 
durch Selbsthilfe entstanden sein können, wird man die näheren Umstände 
im concreten Falle in Betracht ziehen, namentlich etwaige Anzeichen, welche 

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KLEIDUNG. 


für einen leichten oder schweren Verlauf der Geburt sprechen, zu eruiren 
trachten müssen. Dass durch rohe und unzweckmässige Selbsthilfe bei der 
Geburt gelegentlich selbst ein Kind getödtet werden könnte, kann nicht absolut 
ausgeschlossen werden. 

Neugeborene Kinder werden auch zuweilen durch Verstopfen des 
Bachens mit der Hand oder mit irgend welchen Fremdkörpern getödtet. 
In beiden Fällen können Zerreissungen der hinteren oder einer seitlichen 
Rachenwand entstehen; erfolgt die Verstopfung des Rachens durch Einführung 
fremdartiger Gegenstände, so können sich Reste derselben in der Mund- oder 
Rachenhöhle finden. 

Auch absichtliche Unterlassung des bei der Geburt nöthigen 
Beistandes seitens der Mutter wird im Falle consecutiven Todes des Kindes 
als Kindesmord bezeichnet. Dahin gehört die Unterlassung der Unterbindnng 
der Nabelschnur, Unterlassung der Beseitigung von Respirationshindernissen, 
das Nichtbeschützen des Kindes vor äusseren Schädlichkeiten, das Verhungern¬ 
lassen des Kindes. Ob es sich dabei um eine böse Absicht gehandelt hat, 
dürfte meist nur aus den Erhebungen sich erschliessen lassen. Das Gegen- 
theil d. i. der Ausschluss der Absicht könnte gelegentlich, so beispielsweise 
in manchen Fällen von mangelhafter Unterbindung der Nabelschnur auf Grund 
des objectiven Befundes möglich sein. p. dittrich. 

Kleidung. Um den Körper gegen zu starke Wärmeabgabe zu schützen, 
umgeben sich die Menschen, je nach den klimatischen Verhältnissen, unter 
denen sie leben, mit mehr oder weniger Kleidung. Zur Kleidung werden 
gewöhnlich Stoffe verwendet, welche porös, d. h. zwischen den einzelnen Fasern 
mit Zwischenräumen versehen sind; also Gewebe aus vegetabilischen Fasern, 
Haaren von Thieren oder Seidenfäden. Nur die Leder- und Gummistoffe sind 
ungewebt und dienen hauptsächlich dazu, um einzelne Körpertheile gegen 
Nässe zu schützen. Zu den aus vegetabilischen Fasern hergestellten Kleider¬ 
stoffen gehören: Baumwolle, Leinen, Hanf und Jute. Von thierischen Pro- 
ducten stammen Wolle und Seide. In neuerer Zeit werden auch häufig ge¬ 
mischte Gewebe zu Kleiderstoffen verarbeitet, besonders erwähnenswert ist 
hiervon die Kunst- oder Lumpenwolle (Mungo, Shoddy), welche durch Ver¬ 
mischen neuer Schafwolle mit zerkleinerten Wolllumpen hergestellt wird. 

Die erste hygienische Aufgabe nun, die die Kleidung zu erfüllen hat, ist 
die Herabsetzung der Wärmeabgabe des Körpers. Bei trocke¬ 
ner Kleidung kommt dieselbe zunächst zu Stande durch die Herabsetzung 
der Ausstrahlung. Obwohl nämlich das Strahlungsvermögen der Kleider durch 
directe Messungen sogar als etwas grösser als das der Haut festgestellt 
worden ist, ist die Wärmeausstrahlung vom bekleideten Körper geringer als 
von dem nackten, da ersterer an seiner Oberfläche durchschnittlich nur eine 
Temperatur von 21° hat. Rabner hat die Wärmeabgabe in den verschie¬ 
denen Schichten der Kleidung bestimmt und dafür folgende Werte gefunden: 

für die Haut des unbekleideten Körpers 27—32°, 

für die Haut des bekleideten, thätigen Körpers 29—31°. 

Bei voller Ruhe, resp. Schlaf oder bei einer Aussentemperatur, die 24° 
übersteigt: 34—35°. 

Bei Bekleidung mit Wollhemd an der Aussenseite desselben: 28*5°. 

Bei Bekleidung mit Wollhemd und Leinenhemd an der Aussenseite des 
letzteren: 24 8°. 

Bei Bekleidung mit Wollhemd, Leinenhemd und Weste an der Aussen¬ 
seite: 22*9°. 

Bei Bekleidung mit Wollhemd, Leinenhemd, Weste und Rock an der 
Aussenseite: 19‘4°. 


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KLEIDUNG. 


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Hieraus ist ersichtlich, dass die Anpassung an klimatische und Witte¬ 
rungsverhältnisse am besten durch eine zweckentsprechende Zahl der Kleidungs¬ 
schichten erfolgt. 

Der zweite Factor, der bei der Wärmeabgabe durch die Kleidung in 
Frage kommt, ist die schlechte Wärmeleitung derselben. Hauptsächlich ist 
es der Luftgehalt des Gewebes und dessen Dicke und viel weniger die Wärme¬ 
leitung des Stoffes selbst, die dabei in Betracht kommt. Das schlechteste 
Leitungsvermögen besitzt die Wolle. Die Luft, gleich 100 gesetzt, beträgt 
sie für Wolle 122, für Seide 135, für Baumwolle 188 und für Leinen 287. 
Sie nimmt also mit dem grösseren Luftgehalt, resp. mit dem niedrigeren spe- 
cifischen Gewichte des Stoffes ab. Auch der leichtere oder schwerere Durch¬ 
tritt der Luft spielt dabei eine Bolle, d. h. je grösser die Poren und also 
auch der Luftgehalt, desto schlechter die Wärmeleitung. Dabei ist jedoch 
zu beachten, dass ein gewisser Luftwechsel durch die Kleidung hindurch 
nothwendig ist, indem eine schwer durchlässige Kleidung Unbehagen verur¬ 
sacht. Bei gleichbleibendem Luftgehalt der Kleidung ist es allein die Dicke 
der Stoffe, welche für die W r ärmeabgabe in Frage kommt. Die Wirkung der 
feuchten Kleidung auf die Wärmeabgabe gestaltet sich wesentlich anders. 
Die Feuchtigkeit selbst beruht entweder auf dem nur äusserlieh anhaftenden, 
die Poren jedoch nicht füllenden, also hygroskopischen Wasser, oder sie be¬ 
steht aus dem flüssigen, in den Poren selbst befindlichen Wasser. Letzteres 
kann entweder von aussen in die Kleidung gelangt sein, durch Niederschläge, 
oder vom Körper selbst durch eingedrungenen Schweiss, oder endlich, wie 
in feuchten Wohnungen z. B. durch condensirten Wasserdampf. Lästig kann 
die feuchte Kleidung durch Erhöhung des Gewichtes werden, indem die 
baumwollenen oder wollenen Stoffe das Dreifache ihres Gewichts an Wasser 
aufzunehmen im Stande sind. Die Wärmeleitung ist bei den feuchten Kleidern 
eine erheblich bessere und infolge dessen wird die Wärmeabgabe durch sie 
befördert. Die schnelle Absorption des Wassers und die damit verbundene 
Verdrängung der Luft aus den Poren, ebenso auch wie die Verdunstung des 
Wassers wirken abkühlend. Das in dieser Beziehung für den Menschen am 
vortheilhafteste Verhalten zeigt die Wolle; obwohl diese nämlich fähig ist, 
die relativ grösste Menge Wasser aufzunehmen, bleiben bei ihr doch die Poren 
des Gewebes theilweise lufthaltig und die Nässe wird weniger unangenehm 
dadurch empfunden, dass infolge dessen die erhöhte Wärmeabgabe sich nur 
allmählich vollzieht. Für Schweiss ist die Wolle durchgängig, im Gegensatz 
zu Leinen oder Baumwolle, welche denselben zurückhalten. 

Haben wir so gesehen, dass die Kleidung als ersten hygienischen Zweck 
die Herabsetzung der Wärmeabgabe hatte, so soll sie zweitens die Wasser¬ 
dampfabgabe des Körpers reguliren. Der Mensch wird durch die Kleidung 
in eine trockene Atmosphäre eingehüllt, die sich aber nur dann erhalten kann, 
wenn die Kleidung für Luft durchgängig ist, so dass ein regelrechter Luft¬ 
wechsel vor sich gehen kann. Was nun diese Durchlässigkeit betrifft, so 
zeigt im trockenen Zustande die sogenannte Reformbaumwolle das günstigste 
Verhalten, während Leinwand z. B. nur sehr wenig durchlässig ist. Dieses 
Verhältnis tritt im durchnässten Zustande noch deutlicher hervor; ausser 
der Reformbaumwolle und der sogenannten Jäger’ sehen Normal wolle sind alle 
übrigen durchfeuchteten Stoffe fast ganz undurchlässig. Daraus geht hervor, 
dass z. B. Leinen oder gewöhnliche Baumwolle nur dann als zweckmässige 
Bedeckung des Körpers angesehen werden können, wenn die Haut infolge 
einer nur geringen Wasserdampfproduction trocken bleibt, wie dies z. B. bei 
der Bettruhe der Fall ist. 

Der dritte hygienisehe Zweck der Kleidung ist der, dass sie die directe 
Bestrahlung des Körpers hindern soll. Hierbei kommt nun hauptsächlich 
die Farbe der Bekleidung in Betracht. Je heller die Kleidung, desto geringer 


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KÖRPERÜBüNG. 


das Absorptionsvermögen und desto besser also der Schutz gegen die directen 
Wärmestrahlen. Zu erwähnen hierbei sind vielleicht noch die gegen die 
Strahlung von Flammen hergerichteten Stoffe, wie die Asbestkleidungsstücke 
oder die sogen, imprägnirten Stoffe, d. h. solche, welche gegen die Verbren¬ 
nung mit Amrooniumphosphat, Ammoniumsulfat oder mit Bleiessig oder 
Wasserglas oder andern, die schnelle Entzündbarkeit der Stoffe verhindernden 
Mitteln getränkt sind. 

Sind dies nun die positiven Anforderungen, die wir an eine hygie¬ 
nisch zweckmässige Kleidung zu stellen haben, so bleiben noch gewisse Dinge 
übrig, die als schädlich in der Kleidung vermieden werden müssen. Zunächst 
ist darauf zu achten, dass die zum Färben der Kleider benutzten Farben un¬ 
giftig sind. Besonders gelten Arsenik, Blei und Kupfer als schädlich. Je 
poröser ferner die Stoffe sind, um so leichter geben sie durch Aufnahme von 
Staub und Hautsecreten zu üblen Gerüchen Veranlassung, besonders bei durch¬ 
nässter Kleidung können Zersetzungsprocesse stattfinden. Nur eine häufige 
Reinigung der Kleider kann gegen diese Uebelstände schützen. Was den 
Bacteriengehalt der Kleidung und besonders die Uebertragung von Infections- 
erregern durch dieselbe betrifft, so ist ersterer umso grösser, je rauher die 
Oberfläche des Stoffes ist; leinene und baumwollene Stoffe sind am ärmsten 
an Bacterien. Letztere, d. h. die Uebertragung von Krankheitserregern, wie 
besonders diejenigen des Typhus, der Cholera und der Diphtherie durch 
Kleider, besonders Leib- und Bettwäsche, wird häufig beobachtet und kann 
nur durch mit gründlichem Kochen verbundenes Waschen der betreffenden 
Sachen vermieden werden. Schliesslich sei noch hingewiesen auf die Schäd¬ 
lichkeiten, welche durch den fehlerhaften Sitz verschiedener Kleidungsstücke 
hervorgerufen werden können. Enge Halsbekleidung, unzweckmässiges Schuh¬ 
werk, Strumpfbänder und Corsets sind hygienisch durchaus verwerflich und 
die Kleidung in dieser Beziehung einer vernünftigen Reform dringend be¬ 
dürftig. M. ELSNER. 

Körperübung. Die Uebung beruht auf der allgemeinen Eigenschaft 
der lebendigen Zellen, durch Reize in ihrem Lebensprocess erregt und ge¬ 
steigert zu werden, wobei sie die hierfür erforderlichen Stoffe abgeben, dis- 
sociiren, sodann aber in höherem Maasse Ersatzstoffe anziehen und sich aneignen, 
assimiliren. Uebersteigt der Stoffverbrauch den gleichzeitigen Ersatz, so tritt 
Ermüdung ein; Erholung erfolgt in dem Maasse, wie das Verbrauchte ersetzt 
wird, Kräftigung in dem Maasse, wie die Assimilation die Dissociation übersteigt. 
Uebung ist die häufige Wiederholung dieser Vorgänge und tritt ein, wenn 
die Thätigkeit nicht über mässige Grade der Ermüdung fortgesetzt wird und 
aus dem Blute und weiter aus der Nahrung genügende Ersatzstoffe geliefert, 
die zersetzten Bestandteile, Ermüdungsstoffe, aber rasch genug fortgeschafft 
werden. Dieser von der Anziehungskraft der Zellen zunächst abhängige Er¬ 
satz, ebenso wie die Fortschaflung der Ermüdungsstoffe wird begünstigt durch 
eine vom Nervensystem angeregte Erweiterung der zuführenden Arterien und 
vermehrte Herztätigkeit. Fehlen Ersatz und Abfuhr oder finden sie nicht 
in genügendem Maasse statt, so geht die Ermüdung in Erschöpfung über, die 
andauernd bleiben oder allmählich ausgeglichen werden kann. 

Beispiele von Vervollkommnung durch Uebung zeigen uns ganz hervorragend die 
Sinnesorgane, und zwar sowohl in quantitativer wie in qualitativer Beziehung: die Wahr¬ 
nehmung und Unterscheidung von Gerüchen und Geschmacken fibertrifft vielfach die 
feinsten chemischen Reactionen (Weinpröfung, Tabak etc.); das Auge lernt die kleinsten 
Verschiedenheiten der Farben, Formen, Entfernungen und Bewegungen, das Ohr die leisesten 
Geräusche wie die feinsten Tonunterschiede auffassen, und die Sinneswahrnehmungen der 
Haut lassen sich ebenfalls zu hoher Vollkommenheit ausbilden, wie unter der Leitung der 
Sinneswahrnehmungen das Schreiben und Zeichnen, viele Handfertigkeiten, besonders bei 
Ausübung der Musik, die Sprach- und Stimmwerkzeuge beim Sprechen und Singen 


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KÖRPERÜ BÜNG. 


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Leistangen bieten, die nar in Folge der Gewöhnung aafliören, höchst wanderbar zu er¬ 
scheinen. 

In Folge der Uebang werden einerseits die Sinneswahrnehmungen schneller, schärfer 
und vollkommener aufgefasst, andererseits die Bewegangsantriebe rascher auf die moto¬ 
rischen Bahnen öbergemhrt und die Muskeln za rascheren oder langsameren, karz- oder 
langdaaernden, kräftigen oder schwachen, steil- oder langsam an- und abschwellenden oder 
in mehr oder weniger raschem Wechsel sich wiederholenden Zusammenziehungen ver¬ 
anlasst. 

Die Kraft der Muskeln hängt zunächst von der Zahl und Dicke ihrer 
Fasern ab, ihre Straftheit in der Buhe, ihr Tonus, ihre Festigkeit, Härte und 
Leistungsfähigkeit in der Arbeit sind Folgen der durch gute Ernährung 
gebildeten Spannkräfte und der unter Nerveneinfluss durch Oxydation von 
Kohlenstoff (und Wasserstoff) erzeugten lebendigen Kraft. Durch Uebung 
nimmt der Muskel an Masse, Festigkeit und Spannkraft zu, die durch Nerven¬ 
einfluss jeden Augenblick in lebendige Kraft umgesetzt werden kann. Da 
aber Kraft und Schnelligkeit, Beginn und Aufhören der Zusammenziehung 
von den nervösen Bewegungscentren beherrscht werden, so ist jede Muskel¬ 
übung zugleich eine Uebung dieser, in denen nicht nur die Bahnen von den 
corticalen zu den subcorticalen Centren so zu sagen ausgeschliffen, sondern 
auch die Spannkraft der Nerven vermehrt, ihr Zusammenwirken mit ein¬ 
ander wie ihre Herrschaft über die Muskeln gesichert wird. 

Der Ausschlag, also die sichtbare Wirkung einer Muskel Verkürzung, hängt zum Theil 
von der Länge seiner Fasern ab, die sich um so mehr verkürzen können, je länger sie 
sind; zum Theil von der Art ihrer Befestigung an den zu bewegenden Theilen, die vielfach 
als Hebel wirken; endlich auch von dem Bau der Gelenke, deren Knochenenden mehr 
oder weniger verschieblich an einander liegen, bald durch Knochenhemmung fest beschränkt, 
bald durch Gelenkkapseln und Bänder mehr oder weniger straff verbunden. Saftreichthum 
der Bänder nebst einer gewissen Fülle der Synovia vergrössert ohne Zweifel die Leichtigkeit 
und Breite der Bewegungen: in der Jugend grösser, wird sie im Alter geringer, kann aber 
durch Uebung erhalten, wiederhergestellt und vergrössert werden, wobei auch die Elasti- 
cität und Festigkeit der Gelenkbänder zunehmen können. Der grösste Theil von dem, was 
man Gelenkigkeit zu nennen pflegt, kommt indessen der Verkürzungsfähigkeit und Elasti- 
cität der Muskeln zu, die in der verschiedensten Weise um die Gelenke geordnet, mit 
einer gewissen Spannung die Knochenstcllungen beherrschen und durch das Zusammen« 
wirken der Antagonisten den Bewegungen Maass und Ziel geben. 

Endlich wird durch die Muskelarbeit auch die Ernährung der Knochen in gewissem 
Grade beeinflusst, indem sie durch Uebung stärker und widerstandskräftiger werden. 

Die Wirkung der Muskelarbeit geht indessen weit über die zunächst 
betheiligten Werkzeuge der Bewegung hinaus; und zwar nicht blos dadurch, 
dass zur Feststellung der Ausgangspunkte jeder Bewegung, z. B. der Schulter 
bei Armbewegungen, des Beckens und des Rumpfes bei Beinbewegungen, wie 
zur Erhaltung der Körperstellung, des Gleichgewichtes u. s. w. vielfach noch 
entfernte Muskelgruppen in Thätigkeit treten müssen, sondern auch dadurch, 
dass die Muskelarbeit zahlreiche andere Thätigkeiten des Organismus erregt.. 

Die Muskelarbeit zieht einerseits Erweiterung der Arterien ihres Gebietes und 
dadurch gesteigerten Blutzufluss, andererseits durch wechselnde Zusammendrückung der 
Venen, Lymphgefässe und intercellularen Safträume erleichterten Abfluss nach sich, wo¬ 
durch die Zufuhr von Nahrungs- und Brennstoffen und von Sauerstoff ebenso wie die 
Abfuhr der Zersetzungs- und Ermüdungsstoffe erleichtert wird. Die Veränderungen im 
Kreisläufe und in der Innervation biingen gesteigerte Herz- und Athmungsthätigkeit mit 
sich, wodurch Kräftigung und Vergrösserung dieser Organe erzeugt wird; ausgiebige Athem- 
bewegungen erleichtern und fördern den Blutrückfluss, ganz besonders aus dem Kopfe, 
dem Unterleib und den unteren Gliedmaassen. Die gesteigerte Verbrennung von Fett 
und Zucker zur Erzeugung der Bewegungskräfte bildet einen Wärmeüberschuss, der durch 
Haut und Lunge abzugeben ist; die hiermit verbundene Wasserverdunstung fordert ebenso 
wie der Stoffverbrauch in den Muskeln Ersatz, zu dessen Beschaffung Hunger und Durst 
anregen und die Verdauungsorgane in erhöhte Thätigkeit treten müssen. Kurz der gesammte 
Stoffwechsel erfährt eine der Muskelarbeit mit ihren Folgen entsprechende Steigerung, die 
nicht mit der Muskelthätigkeit erlischt, sondern zur Ausgleichung der Ermüdung und zu 
vermehrter Bildung von Muskelmasse und Spannkräften sie mehr oder weniger lange 
überdauert. In Folge der hiermit verbundenen Vorgänge erzeugt der muskelkräftige 
Körper andauernd mehr Wärme, wie die wärmere Haut und das gesteigerte Wärmegefühl 
anzeigen, vermag Wärmeverluste besser zu ertragen und vielen feindlichen Einflüssen besser 
zu widerstehen, als der muskelschwache, und schon heute darf man als höchst wahrscheinlich 


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KÖRPERÜBDNG. 


bezeichnen, dass in weiterer Folge anch die organischen Schatz- und Abwehrstoffe, die 
Phagocythen und Alexine in grösserer Menge und Wirksamkeit gebildet werden. 

Vermehrter Saftzufluss und Stoffwechsel in den arbeitenden Organen vermindert 
die Blutmenge und organische Thätigkeit in anderen Organen: weder das Gehirn in. seinen 
nicht unmittelbar betheiligten Gebieten, also namentlich in denjenigen der höheren Denk- 
thätigkeiten, noch die Verdauung vermögen gleichzeitig mit grosser Muskel thätigkeit 
Erhebliches zu leisten, wie ja auch hohe Geistesanstrengung und volle Verdauungsarbeit 
sich gegenseitig beschränken. Durch Ableitung kann aber die Erholung der nicht arbei¬ 
tenden Organe begünstigt werden, während der allgemein gesteigerte Stoffwechsel und 
Kreislauf durch raschere und vollständigere Entfernung der Ermüdangsstoffe, wie durch 
nachträglich vermehrte und verbesserte Zufuhr ihrer Entwicklung und Kräftesammlung 
erheblich zu Gute kommen kann. 

Einseitig und überwiegend geübte Organe erlangen mit der Zeit ein Uebergewicht 
über die weniger geübten: wie man sehr wohl Armmenschen und Beinmenschen unter 
den Handwerkern wie unter den Sportkünstlern unterscheiden kann, so sind bekanntlich 
seit des Herkules Zeiten die berufsmässigen Athleten nicht durch hervorragende Geistes- 
fahigkeiten ausgezeichnet. 

Die hygienischen Körperübungen haben die gleichmässige 
Uebung der gesammten Körpermuskulatur zur Aufgabe, um dadurch die 
Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Allgemeinen zu heben, ferner um das 
häufig einseitig, mit Vernachlässigung des übrigen Körpers überangestrengte 
Gehirn zu entlasten, und endlich um den zahlreichen Schädlichkeiten und 
Störungen aus mangelnder Muskelthätigkeit oder anderswie unzweckmässiger 
Lebensweise entgegenzuwirken. Die Therapie bedient sich ihrer zur Be¬ 
kämpfung gewisser Krankheitsanlagen und Krankheiten, wie z. B. der Schwäche 
der Athmungs- und Kreislauforgane, und zur Kräftigung einzelner durch 
mangelnden Gebrauch, durch Verletzungen oder Krankheiten geschwächter 
oder gelähmter Muskelpartien, sowie endlich zur Beweglichmachung oder 
Festigung versteifter oder schwacher Gelenke. 

Die körperliche Erziehung und die gesundheitlichen Körper¬ 
übungen haben kein besseres Mittel als das systematische deutsche 
Turnen, weil dies allein alle Formen der willkürlichen Bewegungen umfasst, 
ganz allmählich von leichteren zu schwereren, von einfachen zu zusammen¬ 
gesetzten Uebungen fortschreitet, neben den Muskeln Lunge und Herz kräftigt, 
den ganzen Körper gewandt und geschmeidig, lebenskräftig und lebensmuthig 
macht, zu rascher Entschlossenheit und energischem Wollen erzieht. Das 
deutsche Turnen ist ganz besonders geeignet zur Erfüllung von J. J. Rous- 
seau’s Forderung: „Der Leib sei kräftig, soll er gehorchen; ein guter Diener 
soll stark sein. Je schwächer der Leib ist, desto mehr befiehlt er; je stärker 
er ist, um so mehr gehorcht er. Ein schwacher Körper schwächt die Seele.“ 

Das Turnen ist auch ganz vorzüglich geeignet, das durch scharfe Geistes¬ 
arbeit einseitig erregte oder ermüdete Gehirn zu entlasten, indem die cen¬ 
trale Spannung auf die Bewegungsorgane abgeleitet, durch kräftige Athmung und 
Herzthätigkeit das Blut erneuert wird und das der kräftigen Anregung organi¬ 
scher Thätigkeiten folgende Wohlgefühl den Geist erfreut und erfrischt. Aller¬ 
dings kann auch das Turnen übertrieben werden, athletische Bestrebungen 
anregen und durch überschätzte Muskelarbeit der Geistesarbeit Kräfte ent¬ 
ziehen: aber das ist Missbrauch, der nicht dem Turnen als solchem, sondern 
einem falschen Betriebe zur Last fällt. Was ich selbst als Knabe, Jüngling 
und Mann erfahren, das bestätigen vorurtheilslose Lehrer und Lehrerinnen: 
dass eine zweckmässig geleitete Turnstunde Leib und Seele der Schüler 
erfrischt und für weiteren Unterricht empfänglicher und geschickter macht. 
Die exakten Versuche der neueren Zeit haben wegen der vielerlei mitwirken¬ 
den Umstände und zahlreichen Fehlerquellen noch keineswegs das Gewicht 
dieser tausendfältigen Erfahrungen! Oder will man auch den Schlaf als Er¬ 
müdungsquelle anklagen, weil nach ihm Körper und Geist erst allmählich zu 
voller Spannung und Arbeitsfähigkeit sich erheben? Zu intensiv betriebene 
Turnübungen, sowohl in Massenübungen an Geräthen, wie in den Körper 


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KÜRPERÜBUNG. 


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and Geist scharf beanspruchenden Frei- und Ordnungsübungen können aller¬ 
dings die Kräfte so abnutzen, dass erst nach längerer Kühe und Stoffauf- 
nahme ihre Herstellung erfolgt; aber das ist eben falscher Gebrauch eines 
an sich guten Mittels! Das Turnen der Schüler und Schülerinnen richtig zu 
gestalten, ist Aufgabe der Methodik und Hygiene des Turnens, bei deren 
Ausgestaltung die Aerzte, und ganz vorzüglich die Schulärzte energisch mit- 
wirken sollten. 

Die Jugend- und Volksspiele bilden die natürliche Ergänzung 
und Fortsetzung des Turnens, indem sie Kraft und Gewandtheit in Freiheit 
und Selbständigkeit übeu, wozu sie reiche Auswahl für die verschiedenen Kräfte, 
Alter und Geschlechter darbieten. Ueberanstrengung, die durch Wetteifer 
leichter herbeigeführt werden kann, als beim geordneten Turnen, erheischt 
für die Jugendspiele noch mehr als letzteres eine erfahrene und umsichtige 
Leitung und Aufsicht. 

Schwächliche oder mit gewissen Fehlern und Krankheitsanlagen behaftete 
Kinder und heranwachsende, namentlich Brust- und Herzschwäche, an Rück¬ 
gratsverbiegungen oder Unterleibsbrüchen leidende, sollten in besonderen 
Abtheilungen vereinigt und nur mit genau ausgewählten Uebungen beschäftigt 
werden. Bei erheblichen Graden solcher Uebel wie auch zwecks Kräftigung 
einzelner mangelhaft entwickelter oder durch Verletzungen, Krankheiten u. dgl. 
geschwächter Muskelpartien, so wie zur Heilung von Gelenksteifigkeit tritt die 
ärztlich geleitete Massage und Heilgymnastik mit ihren passiven, activen und 
duplicirten Bewegungen, sowie mit Maschinenbehandlung hilfreich ein. 

Als Ergänzung und — wenngleich unvollkommener — Ersatz des ge¬ 
meinsamen Turnens bietet sich die Haus- und Zimmergymnastik, die 
ohne oder mit ganz einfachen Turngeräthen, wie Hanteln, Stäbe, Bruststärker 
a. u. m., allenfalls auch Ringe und Hängereck, eine grosse Menge nützlicher 
Bewegungsformen und Muskel Übungen lehrt. Neben der allbewährten und 
in vielen Auflagen erschienenen „Zimmergymnastik“ von Schreber empfiehlt 
sich die ebenfalls bereits vielfach aufgelegte „Hausgymnastik für Gesunde 
nnd Kranke“ von Angerstein und Eckler durch mannigfaltige, gut gewählte 
und zusammengestellte, in klarer Schrift und vorzüglichen Abbildungen dar¬ 
gestellte Uebungen, mit besonderen Uebungsgruppen für die verschiedenen 
Lebensalter, Geschlechter und krankhaften Zustände. 

Das militärische Exerciren der Knaben, eine Zeit lang vielfach 
dem Turnen gleich oder sogar vorangestellt, gebietet, bei Weitem nicht über 
die Mannigfaltigkeit der Uebungen, die das Turnen so geeignet zur harmo¬ 
nischen Körperbildung machen, und aus demselben Grunde ist es auch viel 
weniger im Stande, die Jugend frisch und froh zu machen. Der Wehrdienst 
weiss sehr wohl, warum er seine Zöglinge vor und neben dem Exerciren 
und Felddienst turnen lässt und warum er als Recruten Turner, aber nicht 
als Knaben Gedrillte wünscht. Dem Tanzen vollends ist nur eine sehr 
untergeordnete Bedeutung als Körperübung zuzugestehen, und es wirkt ohnedies 
durch mancherlei Einflüsse oft mehr schädlich als nützlich auf die Jugend ein. 

Das Fechten, als Ergänzung des Turnens, um den Jüngling kräftig 
und wehrhaft zu machen, mit Recht geschätzt, ist auch in gesundheitlicher 
Beziehung eine vortreffliche Körperübung, wenn es kunstgemäss und beider¬ 
seitig] geübt wird. Besonderen Wert hat das Stossfechten mit seinen leich¬ 
teren und rascheren Bewegungen, mit der ihm besonders nöthigen scharfen 
Beobachtung des Gegners und einer Geistesgegenwart, die den Willen augen¬ 
blicklich in die That umzusetzen verlangt. Aber wie alle Wehrübungen sollte 
das Fechten dem Jünglinge und Manne Vorbehalten werden; Mädchen und 
Frauen, deren ganzem Charakter es widerspricht, werden weder an Anmuth 
und Würde, noch an anderen Reizen dadurch gewinnen. 


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KORPERüBUNG. 


Fusswandern und Bergsteigen, richtig angeordnet und geübt, 
sind in ausgezeichneter Weise dazu angethan, nicht nur die gesammte Musku¬ 
latur der unteren Gliedmassen, sondern auch Athmung und Kreislauf zu 
stärken, um Leib und Seele zu erfrischen, leistungsfähig und widerstands¬ 
kräftig zu machen. Als Körperübungen lassen sie sich den verschiedensten 
Ansprüchen und Kräften anpassen und beanspruchen namentlich als Terrain- 
curen mit Recht einen hohen therapeutischen Wert. Im Winter werden sie 
durch Eislauf und Schneeschuhlauf in ausgezeichneter Weise ergänzt 
und vertreten. Dass diese Körperübungen in freier und kalter Luft vorge¬ 
nommen werden, erhöht natürlich ihren Einfluss auf den gesammten Körper¬ 
haushalt und ihren hygienischen Werth. 

Das Radfahren, die neueste und von manchen Seiten, sogar von 
Aerzten gar überschwänglich als vorzüglichste Körperübung gepriesen, hat vor 
den andern den grossen Vorzug der raschen Ortsbewegung und damit einen 
unmittelbar praktischen Nutzen voraus, der ihm trotz der theils lächerlichen, 
theils beklagenswerthen Auswüchse und Uebertreibungen des Sportthums eine 
bedeutende Zukunft sichert. 

Um der Gesundheit zuträglich zu sein, verlangt das Radfahren wie alle 
stärkeren Körperübungen einen sozusagen physiologischen Betrieb. Das 
Rad muss, selbstverständlich auch übrigens gute Construction vorausgesetzt, 
dem Fahrer auf den Leib passen, so dass Füsse und Beine mit möglichst 
geringer Kraftaufwendung die Triebkurbel in Bewegung setzen können; der 
Sitz oder Sattel darf weder den Damm noch die Geschlechtstheile drücken 
oder reiben; die Lenkstange muss so hoch stehen, dass die Hände sie ohne 
starke Armstreckung und namentlich ohne Rückenkrümmung und Rumpfvor¬ 
beugung handhaben können. Denn nur in aufrechter Rumpfhaltung, die in 
gleicher Weise der Behauptung des Gleichgewichtes und dem guten Aussehen 
des Fahrers (wie des Reiters zu Pferde) zu Gute kommt, kann das Rad 
gesundheitsgemäss geführt und getrieben werden. Nur in solcher Haltung 
ist Voll- und Tiefathmen mit freier Herzarbeit möglich: gekrümmter Rumpf 
hindert die freie Rippenhebung und Zwerchfellsenkung beim Einathmen wie 
die Wirkung der Bauchpresse beim Ausathmen; in Folge davon wird die 
Lunge nicht vollständig entfaltet, wodurch dem Blutlaufe nicht weniger als 
dem Luftwechsel schwere Hindernisse erwachsen, um so schwerer, als die 
inspiratorische Begünstigung des Blutrücklaufs zum Herzen gleichzeitig weg¬ 
fällt. Die Erschwerung des Athmens bei gesteigertem Luftbedürfnis zwingt 
das Herz zu immer grösseren Anstrengungen, die, wofern nicht das Gefühl 
von Brustbeklemmung und Herzklopfen zum Aufhören nöthigt, vorübergehende 
oder dauernde Erweiterung der Herzhöhlen, Abreissen von Herzklappen, selbst 
gänzliches Versiegen der Herzkraft und plötzlichen Tod durch Herzlähmung 
herbeiführen kann und thatsächlich gar nicht selten herbeigeführt hat. Dass 
diese Gefahren noch grösser werden, wenn Herz und Lunge nicht völlig gesund 
und kräftig sind, braucht nur angedeutet zu werden. Sie drohen aber nicht 
nur bei sportmässigem Dauer- und Wettrennen, wobei die Radler dieselbe 
Vorbeughalte einzunehmen pflegen, wie die Jockey’s, die es unbeschadet thun 
dürfen, weil sie nicht so grossen Ansprüchen an Herz und Lungen zu genügen 
haben, sondern auch beim Fahren gegen den Wind, bergan u. a. m. Mund- 
athmen, das zur Stillung des Lufthangers sich unbewusst einstellt, bringt 
durch Einathmen von kalter Luft, Staub, Bacillen etc. noch andere bekannte 
Gefahren mit sich. Zu solchen mehr gelegentlichen Schädlichkeiten gehören 
ferner Erkältungen, unzeitiges oder unmässiges Trinken u. dgl. m. 

Verständig geübtes Radfahren kann wie andere Körperübungen im Freien 
ohne Zweifel sehr nützlich sein, wenngleich die Hüft- und Beinmuskulatur so 
überwiegend in Anspruch genommen wird, dass man dem Radfahren eine 
ziemliche Einseitigkeit nicht absprechen kann; die Betheiligung der Arme 


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KÖRPERÜBUNG. 


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durch Handhaben der Lenkstange ist sehr unbedeutend; die Erhaltung des 
Gleichgewichtes erfordert mit vorschreitender Uebung immer weniger Muskel¬ 
anstrengung, so dass die Entwicklung der Beinmuskulatur ein entschiedenes 
Uebergewicht bekommt, und ob der Geist bei der unaufhörlich nöthigen Auf¬ 
merksamkeit auf den Weg und das Rad hinreichend oder in ähnlicher Weise 
entlastet wird wie beim Wandern und Bergsteigen, dürfte nicht unzweifelhaft 
sein. Es wird dem Radfahren nachgerühmt, dass es gegen Stuhlträgheit, 
Menstruationsstörungen, Fettansammlung und andere Beschwerden heilsam sei. 
Der Arzt wird gut thun, bei der Empfehlung des Radeins vorsichtig zu indi- 
vidualisiren und vor Allem nicht zu vergessen, dass kaum eine andere Körper¬ 
übung so leicht zu Uebertreibungen reizt und verführt. 

Das kalte Bad, das Brausebad und die kalten Abreibungen regen als 
Reflexwirkung Tiefathmen und verstärkte Herzthätigkeit an, was durch Körper¬ 
bewegungen, Kampf mit Strom und Wellen stärker und dauernder gemacht 
wird. Schwimmen ist auch deshalb eine vorzügliche Uebung, weil es in 
bester Körperhaltung so ziemlich alle Muskeln zu mannigfacher Thätigkeit 
bringt. Indem die plötzliche Kälteeinwirkung die Muskeln der Haut und der 
äusseren Blutgefässe zu plötzlicher Zusammenziehung bringt, hat sie eine 
übende Wirkung auf die Werkzeuge der Wärmeregelung, die bekanntlich den 
besten Schutz gegen Erkältungen gewährt. Die dem plötzlichen Kälteeinfluss 
nachfolgende Reaction mit gesteigerter Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe 
regt den gesunden Stoffwechsel mächtig an, was durch das andauernde Wänne- 
gefühl nebst vermehrter Esslust sich deutlich kenntlich macht. Meerbäder 
haben wegen ihres höheren Salzgehaltes, wegen der meist niedrigeren Tem¬ 
peratur und der Wellenbewegung stärkere Wirkungen als Süsswasserbäder. 
Dass diese Badewirkungen immer noch falsch gedeutet und als unmittelbar 
stärkend angesehen werden, während sie doch nur vorhandene Kräfte mobil 
machen und erst durch die Anregung organischer Gegen- und Nachwirkungen 
Stärkend wirken, erfahren viele Schwächliche, Blutarme, Bleichsüchtige, Ner¬ 
vöse etc. zu ihrem grossen Nachtheil oft zu spät. So mächtige Mittel wie 
das kalte Bad und besonders das Seebad sollten als Heilmittel nur nach 
genauer sachkundiger Vorschrift und bei steter ärztlicher Ueberwachung ge¬ 
braucht werden. 

Der Hautreinigung, womit gesteigerte Functionsthätigkeit der Haut ver¬ 
bunden ist, dienen besser als kalte die warmen Bäder, die gleichfalls die 
Circulation anregen, die Nerven je nach ihrer Temperatur und Anwendungs¬ 
weise beruhigen, erschlaflen oder erregen. Die ihnen folgende Hauterschlaffung 
und Verweichlichung ist durch eine nachfolgende kühle bis kalte Uebergiessung 
oder Abbrausung zu verhindern. Als gute Muskelübung müssen auch die 
neuerdings mehr und mehr in Aufnahme kommenden wannen Schwimmbäder 
angesehen werden, verlangen aber bei kühlem und rauhem Wetter Verhütung 
von Erkältungen durch kühle Abbrausung und angemessene Kleidung. 

Die mannigfaltigen Köi'perübungen gehören unzweifelhaft zu den nütz¬ 
lichsten Mitteln der Gesundheitspflege und werden, richtig ausgewählt und 
gebraucht, in diätetischer und therapeutischer Hinsicht von wenig andern 
Verfahren erreicht oder gar übertroffen. Wer ein guter Arzt sein will, wird 
sich auf jede geeignete Weise mit ihnen vertraut machen müssen. 

FR. DORNBLÜTH. 

Krankenanstalten, Sanatorien, Zufluchtsstätten. Sanatorien, 
Genesungshäuser, sind solche Anstalten, in welchen die von überstandenen 
acuten Erkrankungen noch nicht vollständig genesenen oder ursprünglich an 
chronischen Krankheiten, namentlich Tuberkulose, Blutarmuth, nervöser 
Schwäche (Neurasthenie) u. s. w. leidende Personen durch vorwiegende 
Einwirkung der natürlichen Heilagentien, möglichst reine Luft 


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KRANKENANSTALTEN. 


geeignete Ernährung, entsprechende Einwirkung des Sonnenlichts, angemessene 
Bäder, Waschungen und Massage, sowie durch psychische Erholungs- und Zer¬ 
streuungsmittel bei geregelter passender körperlicher Bewegung unter einer 
sachkundigen und individualisirenden ärztlichen Leitung entweder ge¬ 
bessert oder vollständig geheilt werden sollen. Die Sanatorien sind 
Schöpfungen der neuen Zeit und der vorherrschend gewordenen hygienisch¬ 
diätetischen Heilkunde, welche auf Kräftigung des menschlichen Organis¬ 
mus und seiner Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitskeime und äussere 
Schädlichkeiten gerichtet ist 

Das erste Sanatorium wurde 1854 von Dr. Brehmbr in Görbersdorf (Schlesien) er¬ 
richtet, in einem 561 m hoch gelegenen, von circa 2000 Fuss hohen Bergen rings umgebenen 
Tbale. Die Berge sind dort bis ins Thal hinab mit den herrlichsten Tannen Waldungen um¬ 
geben und bieten für körperliche Bewegung die verschiedenartigsten Steigungen. Die An¬ 
stalt besteht aus dem Curhause und fünf Villen, welche 234 mit allem Comfort eingerich¬ 
tete, aufs zweckmässigste zu luftende Zimmer umfassen. Dr. Brehmer führte selbst die 
Direction der ganzen Anstalt mit drei approbirten Assistenzärzten. Ein zweites Sanatorium 
wurde 1875 in Görbersdorf errichtet von Dr. Röppler für Lungenkranke, Reconvalescenten 
aller Art, leichtere Formen von Nervenleiden, deren Ursache in Blutmangel oder Er¬ 
nährungsstörungen liegt. Nach dem Vorgänge von Dr. Brehmer wurden in Deutschland 
für bemittelte Stände noch weitere Sanatorien errichtet, in Reiboldsgrün (Sachsen), Wil¬ 
helmshöhe bei Cassel, Falkenstein, St. Blasien, St. Andreasberg, Hohenhonnef, in Loslau 
(Oberschlesien) u. s. w., und bei den günstigen in den genannten Anstalten erzielten 
Besserungs- und Heilungsergebnissen sind auch bereits an mehreren Orten sogenannte 
Voiles-Sanatorien für die Arbeiterbevölkerung errichtet und wird die Errichtung noch wei¬ 
terer derartiger Anstalten geplant. Als Centralstelle der deutschen Volksheilstätten-Be- 
wegung ist unter Protectorat der deutschen Kaiserin und Ehrenvorsitz des Fürsten Reichs¬ 
kanzlers ein deutsches Centralcomitö in Thätigkeit getreten. Das Sanatorium Hohen- 
honnef, welches auf Anregung des verstorbenen Oberbürgermeisters, Geheimraths Bredt mit 
einem Kostenaufwand von 1,200.000 Mark durch eine Actien-Gesellschaft errichtet und 1892 
unter Direction des Dr. Meissen, ehemaligen zweiten Arztes des Sanatoriums Falkenstein, in 
Betrieb gesetzt wurde, liegt am Südwestabhange des Siebengebirges, inmitten eines 
160 Morgen grossen eigenen Waldgebiets, 236 m über Meer, 158 m über dem Rhein bei Honnef. 
Nach einer Abhandlung des Dr. Meissen (Centralbl. für allg. Gesundheitspflege, 15. Jahrg. 
8. u. 9. Heft) soll die Anstalt eine Heilstätte sein für Lungenleidende, welche während des 
ganzen Jahres den Anforderungen der Wissenschaft und der Bequemlichkeit der Kranken 
zu dienen habe, ohne den Eindruck eines Krankenhauses hervorzurufen, und ist, wie in der 
vorgenannten Abhandlung eingehend geschildert und durch beigefügte Abbildung erläutert 
wird, mit allen den Anforderungen der neuen Hygiene und Heilkunde entsprechenden Ein¬ 
richtungen versehen. Der Anstalt steht ein Aufsichtsrath vor und als eigentlich geschäfts¬ 
führendes Organ eine Direction, die aus dem dirigirenden Arzte und dem wirtschaftlichen 
Director besteht. Die Direction ist in finanzieller Beziehung dem Aufsichtsrath, bezw. der 
Generalversammlung der Actionäre verantwortlich. In der Anstalt ist aber der dirigirende 
Arzt die oberste Instanz und hat die oberste Leitung in allen Fragen sanitärer Natur. 
Die Bedienung der Kranken, sowie der sehr verwickelte Betrieb des Sanatoriums erfordert 
ein ungewöhnlich zahlreiches Personal, durchwegs etwa 70 Personen. Was die bisherigen 
Leistungen der Anstalt betrifft, so wurden während eines fünfjährigen Zeitraumes 725 
Kranke aufgenommen, von welchen 78 noch in Behandlung befindliche und 11 an ander¬ 
weitigen Krankheiten leidende oder zur Beobachtung aufgenommene Kranke abzuzäblen 
sind. Die übrigen 642 litten an klinisch festgestellter Lungentuberkulose mit oder ohne 
Complicationen in anderen Organen. Es wurden entlassen 90 oder 15 c / 0 als geheilt, 174 oder 
27% als annähernd geheilt, 176 als gebessert. Bei den übrigen blieb der Erfolg aus, und 
zwar durchwegs, weil das Leiden zu weit vorgeschritten war. Bei der sehr strengen und 
sorgfältigen Behandlung aller Auswurfsstoffe sind Uebertragungen der Tuberkulose auf das 
Wartepersonal oder andere gesunde Personen nicht vorgekommen. Dr. Meissen schliesst 
aus den vorstehenden, möglichst streng und ohne Voreingenommenheit aufgestellten Er¬ 
gebnissen, dass zu einer wirksamen Behandlung der Tuberkulose weder das ferne Hoch¬ 
gebirge noch der sonnige, dabei aber staubige Süden nöthig sei, sondern, dass die Behand¬ 
lung auch ebenso erfolgreich und viel bequemer auf unseren heimischen Bergen, an den 
schönen Ufern des Rheins ausgefühxt werden könne. 

Zu bedauern ist nur, dass bei dem ungewöhnlich kostspieligen Betrieb 
die Verpflegungskosten in den heutigen Sanatorien sehr hohe sein müssen und 
nur von reichen Kranken auf längere Zeit ertragen werden können. Hoffent¬ 
lich können die für die Bedürfnisse des Mittelstandes und der Arbeiter¬ 
bevölkerung zu errichtenden Genesungshäuser unter Mitwirkung einer discipli- 


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KRANKENANSTALTEN. 


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nirten Krankenpflegegenossenschaft und einer sachverständig geleiteten eigenen 
Landwirtschaft mit billigeren Verpflegungssätzen betrieben werden. 

Die für vorwiegend bettlägerige Kranke und acute Krankheiten oder 
Verletzungen bestimmten Krankenanstalten (Hospitäler) wurden in den 
früheren Jahrhunderten bis über das Mittelalter hinaus von der Geistlichkeit, 
den Bischöfen und Klöstern zur Pflege armer, durch Krankheit arbeitsunfähig 
gewordener Personen und zur Aufnahme obdachloser Reisender errichtet 
und auch durcbgehends von Geistlichen, die auf der damaligen medicinischen 
Schule zu Paris, Toledo, Salerno und Bologna ärztlich vorgebildet 
waren, geleitet. Es muss anerkannt werden, dass mehrere grössere Ho¬ 
spitäler damaliger Zeit sich eines sehr guten Rufs und segensreicher Wirk¬ 
samkeit erfreut haben. Nachdem aber infolge der religiös-politischen Um¬ 
wälzungen der letzten Jahrhunderte die geistliche Verwaltung der Kranken¬ 
anstalten beseitigt und durch eine ärztliche Leitung nicht ersetzt war, über¬ 
haupt eine geregelte staatliche oder communale Beaufsichtigung nicht statt¬ 
fand, musste sich der Zustand der Hospitäler und Lazarethe sowohl in Kriegs- 
wie Friedenszeiten zunehmend verschlechtern. 

In dem 1817 für gebildete Stände herausgegebenen Conversationslexikon von F. A. 
Brockhaus in Altenburg, Bd. 4. S. 803, heisst es wörtlich: „Hospitäler sowohl als Ver- 
sorgungs- und Krankenhäuser haben ihre Vortheile; aber auch grosse Nachtheile. 
Als Vortheile führt man an: das leichtere Unterbringen armer und kranker Personen, 
Bequemlichkeit und Wohlfeilheit in ihrer Pflege und Wartung, grössere Folgsamkeit der 
Kranken in Rücksicht ihres Verhaltens. Dagegen stehen folgende Nachtheile: die War¬ 
tung und Pflege für die Kranken selbst ist mangelhafter und oberflächlich, die Bequem¬ 
lichkeit derselben geringer, als wo sie vereinzelt sind, die Kosten von gut eingerichteten 
und gehaltenen Hospitälern sind verhältnismässig viel zu gross. Der bedeutendste Nach' 
theil ist aber der, dass jede Anhäufung vieler, vollends kranker, siecher und alter Per¬ 
sonen in einem engen Raume eine Verderbnis der Luft verursacht und Bolche Anstalten 
nicht nur im wörtlichen Sinne zu Sicchhäusern, sondern auch zu Brutnestern bös¬ 
artiger und ansteckender Krankheiten macht.“ Es folgt dann eine Abhandlung über das 
damals herrschende bösartige Hospitalfieber. Ferner heisst es in dem officiellen Be¬ 
licht des Dr. Tehon vom Jahre 1788 über den Zustand des grossen Pariser Hospitals 
Hotel Dieu: „Die Ueberfüllung mit Kranken aller Art, Mangel an Luft und Reinlichkeit, 
sowie ungeeignete Krankenpflege haben die Sterblichkeit des Kranken- und Pflegepersonals 
auf einen ungewöhnlich hohen Grad gebracht und könne es in der ganzen Welt keine 
lebensgefährlichere Wohnung geben, wie das Hotel Dieu in Paris.“ 

Aehnliche Zustände herrschten aber auch noch während des laufenden 
Jahrhunderts in vielen grösseren Krankenanstalten anderer Staaten. In 
der Berliner Charitö, wo sich während der Jahre 1789 bis 1794 die Zahl der 
gestorbenen zur Zahl der aufgenommenen Kranken wie 1:6 verhielt, wurde 
erst durch das Regulativ vom 7. September 1830 die Aufnahme der Kranken 
auf den vorhandenen Rauminhalt der Krankenzimmer beschränkt und die 
sämmtlichen Directorialgeschäfte einem im Hospitaldienste bewährten 
Arzte überwiesen, welche Bestimmung auch jetzt noch nicht in allen 
Hospitälern durchgeführt ist. In Preussen wurde aber zur Beseitigung der 
im Betriebe der communalen Krankenanstalten bemerkbar gewordenen Uebel- 
stände durch Ministerial-Erlass vom 6. April 1866 eine jährliche Revision 
angeordnet und für die Befundprotokolle folgende Zusammenstellung der¬ 
jenigen Punkte vorgeschrieben, welche bei den Revisionen der städtischen 
Krankenhäuser vorzugsweise zu berücksichtigen sind: I) 1. Revisions-Commissa- 
rium (wann und von welcher Behörde?), 2. Revisions-Commissarien (Namen). 
H) Lage und Einrichtung. 3. Geographische und topographische Lage (Nach¬ 
barschaft, Hof, Garten?), 4. Beschreibung des Gebäudes, 5. Trinkwasser und 
Brunnen, 6. Anlage der Abtheilungen, 7. Lage der Treppen, Flure und Corridore, 
8. Lage der Krankenzimmer, Anzahl, Trennung nach Geschlechtern, Krank¬ 
heitsarten, passante Geisteskranke etc., 9. Erwärmung und Ventilation, 10. Fuss- 
böden, Thüren und Fenster, 11. Lagerstellen, 12. Waschapparate, 13. Be¬ 
leuchtung, 14. Zimmer für Krankenwartepersonal, 15. Hauslatrinen, 16. Kammer 


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KRANKENANSTALTEN. 


für Brennmaterial, 17. Wäsche- und Kleiderkammer, Beschaffenheit der 
Wäsche, 18. Victualienkammer, 19. Speiseküche, Waschküche, 20. Leichen¬ 
kammer. III) Verwaltung. 21. Die leitende Behörde, 22. Aerztliche Behand¬ 
lung, Namen der Aerzte, Besoldung, 23. Krankenwärter und Wärterinnen, 
Besoldung, 24. Hausordnung, 25. Befriedigung des religiösen Bedürfnisses, 
26. Verpflegung, Diätformen, 27. Tägliche Verpflegungskosten pro Kopf, 

28. Zahl der am Revisionstage vorhandenen Kranken einschliesslich Siechen, 

29. Mit welchen Krankheiten behaftet? 30. Waren dieselben nach Natur ihrer 
Leiden zweckmässig untergebracht ? 31. Waren dieselben, ihre Lagerstelle und 
Wäsche reinlich gehalten? 32. Beschaffenheit der Speisen und Getränke, 

33. Zahl der nach öjährigem Durchschnitt jährlich behandelten Kranken, 

34. Führung des Receptionsbuchs (Aufnahme-Journal), Art der Entlassung, 
geheilt, gebessert, ungeheilt, gestorben, 35. Sonstige Bemerkungen und Ver¬ 
besserungsvorschläge. 

Da die deutsche Gewerbeordnung von 1869 nicht nur die ganze Heil¬ 
kunde, sondern auch die Errichtung von Privat-Kranken-, Irren- und Entbin¬ 
dungsanstalten für Jedermann, der nicht bereits thatsächlich mit der Orts¬ 
polizei-Behörde in Conflict gerathen, frei gab, richtete der psychiatrische 
Verein der Rheinprovinz, welcher eine grössere Anzahl von Klinikern, Univer¬ 
sitätslehrern und praktischen Krankenhausärzten angehört, unterm 5. August 
1873 eine Vorstellung an das Reichskanzleramt, in welcher ausgeführt wurde, 
dass die von allen nothwendigen Requisiten zum Betriebe von Krankenanstalten 
Abstand nehmende Concessionsgewährung zur nächsten Folge haben werde, 
dass Krankenhäuser entstünden, die ungünstig gelegen, mangelhaft gebaut und 
eingerichtet und ohne ärztliche Leitung seien und mit der Zeit der Zweck 
der Krankenhäuser, Förderung des öffentlichen Gesundheitswohles, ins gerade 
Gegentheil verkehrt werde. 

Die genannte Vorstellung, welche damals an die Landesregierungen ging 
zur gutachtlichen Aeusserung über das dort vorliegende thatsächliche Mate¬ 
rial, hatte insofern den gewünschten Erfolg, dass der § 30 in der Gewerbe¬ 
ordnung vom 1. Juli 1883 dahin ergänzt wurde, dass die Concession für 
Privat-Krankenanstalten zu versagen ist, wenn nach den vom Unternehmer 
einzureichenden Beschreibungen und Plänen die baulichen und sonstigen 
technischen Einrichtungen den gesundheitspolizeilichen An¬ 
forderungen nicht entsprechen. Die höhere Verwaltungsbehörde ist also 
jetzt gesetzlich verpflichtet, für die Errichtung aller Privat-Kranken-, Irren- und 
Entbindungsanstalten die in hygienischer Beziehung erforderlichen Einrich¬ 
tungen, namentlich auch die technische Leitung durch einen zuver¬ 
lässigen approbirten Arzt vorzuschreiben, da diese Leitung als eine 
für die gesundheitspolizeilichen Anforderungen unbedingt nothwendige zu be¬ 
trachten ist. 

Da sich auch während der letzten Jahre im Betriebe deutscher Kranken¬ 
häuser noch fortdauernde Uebelstände bemerkbar machten, wurde auf einen 
betreffenden Bundesrathsbeschluss in den einzelnen deutschen Bundesstaaten 
über Anlage, Bau und Einrichtung von öffentlichen und Privat-, Kranken-, 
Entbindungs- und Irrenanstalten besondere Polizeiverordnungen er¬ 
lassen, für die Rheinprovinz durch Erlass des Ober-Präsidenten vom 
13. October 1897. (Amtsbl. d. Regierung, Cöln. S. 43). Im Sinne der ge¬ 
nannten Verordnung wurden unterschieden: grosse Anstalten mit mehr als 
150 Betten, mittlere mit 150—50 Betten und kleine mit weniger als 50 Betten. 

Es wurde dann vorgeschrieben: Anlage und Bau. § 1, 1. Die Krankenanstalt muss 
thunlichst frei und entfernt von Betrieben liegen, welche den Zweck der Anstalt zu beein¬ 
trächtigen geeignet sind; der Baugrund muss in gesundheitlicher Beziehung einwandfrei 
sein. 2. Die Frontwände der Anstalt müssen unter einander mindestens 20 tn, von anderen 
Gebäuden mindestens 10 m entfernt bleiben. 3. Vor den Fenstern der Krankenzimmer muss 
mindestens ein solcher Freiraum bleiben, dass die Umfassungswände und Dächer gegenüber- 


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KRANKENANSTALTEN. 


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liegender Gebäude nicht über eine Luftlinie hinausgehen, welche in der Fussböden höhe der 
Krankenzimmer von der Frontwand bis zum Da<m des gegenüberliegenden Gebäudes aus 
unter einem Steigungswinkel von 45° gezogen wird. 4. Bei Einheitsbauten (Corridor- 
system) sind von Gebäuden rings umschlossene Höfe unzulässig. § 2. Fluren und Gänge 
müssen mindestens 1*80 »t, wenn sie zugleich als Tageräume benützt werden, mindestens 
2*50 m breit sein; die Gänge sollen in der Regel einseitig angelegt werden; Mittelgänge 
nur zulässig, wenn sie reichliches Licht von aussen erhalten und gut lüftbar sind. § 3, 
1. Die für die Krankenaufnahme bestimmten Räume müssen mindestens 1 m über dem 
höchst bekannten Grundwasserstande liegen und in der ganzen Grundfläche gegen das 
Eindringen von Bodenfeuchtigkeit gesichert sein. 2. Arbeitsräume fallen nicht unter diese 
Vorschrift. 3. Krankenzimmer, welche das Tageslicht nur von einer Seite erhalten, dürfen 
nur ausnahmsweise nach Norden liegen. 4. Die Wände im Operations- und Entbindungs¬ 
zimmer sowie in solchen Räumen, in welchen Personen mit ansteckenden Krankheiten 
untergebracht werden, sind glatt, bis zur Höhe von 2 m abwaschbar herzustellen. Die 
Fussböden müssen wasserdicht sein. § 4, 1. Die Treppen sollen feuersicher und mindestens 
1*30 tn breit sein, die Stufen von 28 cm Auftrittsbreite höchstens 16 cm Steigung. Die Treppen¬ 
häuser müssen Licht und Luft unmittelbar von aussen erhalten. 2. In grossen Kranken¬ 
häusern (Einheitsbauten) sind mehrere Treppen anzulegen. 3. Die Fussböden aller von 
Kranken benützten Räume sind in grossen und mittleren Krankenanstalten wasserdicht 
herzustellen. § 5, 1. Die Krankenzimmer, alle von Kranken benützten Nebenräume, Fluren, 
Gänge und Treppen müssen mit Fenstern versehen werden. Die Fensterfläche soll in 
Krankenzimmern für mehrere Kranke mindestens J / 7 der Bodenfläche, in Einzelzimmern 
mindestens 2 m 2 betragen. 2. Die Fenster müssen zum Schutze gegen Sonnenstrahlen mit 
Vorhängen versehen sein. § 6. 1. Für jedes Bett ist in Zimmern für mehrere Kranke ein 
Luftraum von mindestens 30 m* bei 7*5 m 2 Bodenfläche, in Einzelzimmern von mindestens 
40 m* bei 10 m 2 Bodenfläche zu fordern. Für jedes Kind bis zu 14 Jahren ein Luftraum von 
25 m 8 bis 7*5 bis 10 m 2 Bodenfläche. 2. Mehr als 30 Betten dürfen in einem Kranken¬ 
zimmer nicht aufgestellt werden. 

Innere Einrichtung. § 7. Für jede Abtheilung eines jeden Krankenhauses muss 
mindestens ein Tageraum für zeitweise nicht bettlägerige in gemeinsamer Pflege be¬ 
findliche Kranke eingerichtet werden, dessen Grösse auf mindestens 2 m 2 für das Kranken¬ 
bett zu bemessen ist. 2. Ausserdem ein mit Gartenanlagen versehener Erholungsplatz mit 
mindestens 10 m 2 Fläche für jedes Krankenbett. § 8. Für Irrenanstalten, einschliesslich 
Anstalten für Epileptische und Idioten, gilt anstatt der Bestimmungen in § 6, Absatz 1, 
und § 7 Folgendes: 1. In Anstalten mit mehr als 10 Betten müssen ausnahmslos Tage¬ 
räume und Erholungsplätze vorgesehen werden. Tageräume können durch heizbare, zug¬ 
freie Corridore ersetzt werden. Bei Anstalten, welche Tageräume haben, darf der Luftraum 
in den Schlafzimmern für den Kopf nicht unter 20 m s bei 3 bis 4*50 m lichter Höhe be¬ 
tragen; ausserdem 4 m 2 Grundfläche für den Kopf. Bei Kindern unter 14 Jahren für den 
Kopf 15 m s Luft, in den Tageräumen 3 m 2 Grundfläche etc. — 3. Bei Anstalten ohne Tage¬ 
räume 30 m 8 Luft für Erwachsene, für Kinder 25 m 3 Luftraum. 4. Für bettlägerige Kranke 
im Schlafzimmer 30 m 8 — Für jeden lauten oder unreinlichen Kranken, wenn er bett¬ 
lägerig, 30 m 8 im Schlafzimmer, wenn er nicht bettlägerig, b m 2 Bodenfläche im Tageraum; 
bei Kindern 25 m 3 Luft, beziehungsweise 4 m 1 Bodenfläche. § 8. Zur Absonderung störender 
Kranker muss an jeder Anstalt mindestens ein, in mittleren und grossen Anstalten für je 
30 Pfleglinge je ein Einzelraum vorhanden sein mit mindestens 40 w 3 Luftraum. Der 
Erholungsplatz soll schattig sein mit mindestens 30 m 2 Fläche. § 9. Allen Krankenzimmern 
muss während der Heizperiode frische Luft in einer die Kranken nicht belästigenden 
Art zugeführt werden, insbesondere der obere Theil der Fenster, Nebenräume, Fluren, Gänge, 
Treppen leicht zu öffnen und mit Luftzugseinrichtungen versehen sein. § 10. Für alle 
Krankenzimmer und Nebenräume für Kranke, in grossen und mittleren Anstalten auch 
für Fluren und Gänge, muss genügende Lufterwärmung und Erneuerung vorgesehen sein, ohne 
Belästigung durch strahlende Wärme, Ueberhitzung an den Heizflächen, ohne Beimengung 
von Rauchgasen und Staubentwicklung. § 11, 1. Für jedes Krankenbett täglich 200 Liter 

f esundheitlich einwandfreies Wasser. 2. Die Wasserbezugsquelle und Leitung ist gegen jede 
erunreinigung durch Krankheits- oder Abfallsstoffe durch Lage und Fassung zu sichern. 

8 12, 1. Entwässerung und Entfernung der Abfallsstoffe muss in gesundheitlich unschäd¬ 
licher Weise erfolgen. 2. Fäcalien sind entweder mittelst Abfuhr oder Schwemmung unter 
Wahrung der Reinheit der Luft in den Gebäuden und Verhütung jeder Bodenverunreini- 
eung zu beseitigen. 3. Abtrittsgruben nur für kleine Anstalten im Abstand von 5 m von 
dem Anstaltsgebäude, circa 10 m von jedem Brunnen, dessen Sohle und Umfassungsmauer, 
aus Klinkern mit Cementmörtel gemauert, sowie mit einer Schicht fetten Thons in einer 
Starke von wenigstens 25 cm zu umgeben. 4. Trockene Abfälle und Kehricht in dichten 
Gruben oder Behältern zu sammeln und so oft abzuführen, dass keine Ueberfüllung der 
Behälter eintritt. 5. Ansteckungsverdächtige Auswurfsstoffe sofort unschädlich zu beseitigen. 

§ 13. Aborte von den Krankenzimmern durch Vorraum zu trennen, welcher, wie der Abort 
selbst, hell, lüftbar und heizbar sein muss. § 14. In jeder Krankenanstalt bei einer Beleg¬ 
zahl bis zu 30 Betten mindestens ein Baderaum für ein Vollbad; für Kranke mit an¬ 
steckenden Hautkrankheiten in mittleren und grossen Anstalten ein besonderer Baderaum. 


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KRANKENANSTALTEN. 


§ 15, 1. In Krankenanstalten, in welchen chirurgische Operationen ausgeführt werden, 
bei mehr als 60 Betten besonderes Operationszimmer einzurichten, welches nach Lage der 
Verhältnisse auch für kleine Anstalten verlangt werden kann. 2. In grossen Anstalten für 
Operationen an Kranken mit Wundinfectionskrankheiten einen zweiten abgesonderten Opera¬ 
tionsraum. § 16. In Entbindungsanstalten mit mehr als 4 Betten besonderes Entbindungs¬ 
zimmer erforderlich. 

Nebengebäude: §17. Für grosse und mittlere Anstalten Wirtschaftsräume in 
besonderen Gebäuden. § 18, 1. Für jede Krankenanstalt eigene ausschliesslich für deren 
Insassen bestimmte Waschküche. 2. Inficirte Wäsche darf ohne vorherige Desinfection nicht 
ausserhalb der Anstalt gereinigt werden. § 19. Für grosse und mittlere Anstalten geeignete 
Desinfection Beinrichtung, wenn öffentliche Desinfectionsanstalt nicht zur Verfügung steht. 

§ 20, 1. Zur Unterbringung von Leichen ein besonderer Raum, welcher lediglich zu dem 
Zwecke dient und dem Anblick der Kranken möglichst entzogen ist. 2. Für grosse und 
mittlere Anstalten besonderes Leichenhaus und Sectionszimmer. 

Unterbringung der Kranken. §21. In allen Anstalten für männliche und weib¬ 
liche Kranke, abgesehen von Kindern unter 10 Jahren, getrennte Räume, in mittleren und 
grossen Anstalten getrennte Abtheilungen. § 22. Für Kranke, die an ansteckenden, beson¬ 
ders acuten Krankheiten leiden, in mittleren und grossen Anstalten ein oder mehrere Ab- 
sonderungshäuser; in kleinen Anstalten mindestens abgesonderte Räume mit besonderem 
Eingang, womöglich in besonderen Stockwerken mit eigener Treppenanlage. Für Irren¬ 
anstalten wenigstens ein Zimmer für ansteckende Kranke. § 23. In grossen und mittleren 
Krankenanstalten zur vorübergehenden Unterbringung Geisteskranker ein geeigneter Raum 
mit der erforderlichen Einrichtung. § 24. Zur Feststellung von ansteckenden Krankheiten 
für grosse und mittlere öffentliche Anstalten eine eigene Beobachtungsstation. 

Schluss und Strafbestimmungen. § 25. Auf bestehende Anlagen erstreckt 
sich diese Verordnung nicht und soll auch bei einem Umbau oder einer Erweiterung bestehen¬ 
der Anlagen, welche von dem Umbau nicht berührt werden, keine Anwendung finden. Ein 
Umbau oder Erweiterungsbau ist aber unzulässig, wenn dadurch in den vorhandenen 
Theilen die den vorstehenden Bestimmungen nicht entsprechenden Zustände verschlechtert 
werden. § 26. Die Vorschriften der örtlichen Baupolizeiordnung bleiben insoweit in Kraft, 
als sie nicht durch die vorstehenden Bestimmungen abgeändert werden. § 27. Von den 
Bestimmungen § 1, Abs. 1 — 3, § 3, Abs. 3, § 4, 5, 7, § 8, Abs. 5, § 9, 10, § 11, Abs. 1, 

§ 16, 17, 18, Abs. 1, § 19,20, Abs. 2, § 22,23, kann der Regierungspräsident; vom § 6. Abs. 1, 
der Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten im Einverständnis mit dem Minister 
des Innern eine Ausnahme gestatten. — Zuwiderhandlungen werden, sofern nach den 
bestehenden Gesetzen keine höhere Strafe verwirkt ist, mit Geldstrafe bis 60 M., eventuell 
verhältnismässiger Haft bestraft. Daneben bleibt die Polizeibehörde befugt, die Herstellung 
Vorschriftsmässiger Zustände herbeizuführen. 

Durch dje vorstehende und den gleichen in den übrigen deutschen 
Staaten erlassenen wichtigen und eingreifenden Verordnungen sind alle Com- 
munalbehörden und Privatpersonen von den Anforderungen in Kenntnis ge¬ 
setzt, welche seitens der staatlichen Aufsichtsbehörde an die Errichtung 
von Krankenanstalten gestellt werden und können vor Beginn des Baues 
und der inneren Einrichtung sich darüber schlüssig machen, ob sie im Stande 
sein werden, den gestellten Anforderungen zu genügen, um später verlangte 
kostspielige Umänderungen zu vermeiden. — Für den Gebrauch bei amtlicher 
Revision der Krankenanstalten wird sich ein auf Grund der neuesten Ver¬ 
ordnungen verfasstes Formular nach Muster des bereits mitgetheilten preus- 
sischen Ministerial-Erlasses vom 11. April 1866 sehr empfehlen und würde 
dann der zuständige Leiter der Anstalt am Schluss der Revision etwaige 
Beschwerden zur Entscheidung durch die höhere Verwaltungsbehörde Vor¬ 
bringen können. 

Was aber den Inhalt der vorgenannten Ober-Präsidial Verordnung 
betrifft, so wird nach des Referenten Dafürhalten der § 3 dahin abzuändern 
sein, dass für alle von Kranken benützten Räume nicht nur in grossen und 
mittleren, sondern auch in kleinen Krankenanstalten die Fussböden wasser¬ 
dicht herzustellen sind, da undichte Fussböden überall, namentlich für 
Schlafzimmer gesundheitsschädlich einwirken. Ebenso würden im § 5, 2 zum 
Schutz gegen Sonnenstrahlen nicht Vorhänge vorzuschreiben, die bekanntlich 
schwer vom Staub zureinigen sind, sondern auch andere geeignete, leicht 
zu reinigende Sch utzvorrichtungen zu gestatten sein. Schliesslich würden 
im § 22 für alle Krankenanstalten, welche statutenmässig an übertragbaren 


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KRANKENANSTALTEN. 


497 


Krankheiten Leidende aufnehmen, einschliesslich der bezeichneten kleinen 
Krankenanstalten wenigstens ein Absonderungsbau oder Isolirbaracken 
zu verlangen sein, da namentlich Pocken, Fleck- und Rückfalltyphus, von 
welchen Krankheiten namentlich die vagabundirende Bevölkerung so häufig 
befallen zu werden pflegt, in einem Einheitsgebäude sich nicht genügend wirk¬ 
sam isoliren lassen und zur Entstehung von Hausepidemien Anlass geben 
können. Die auf dem Lande und in kleinen Städten errichteten Kranken¬ 
anstalten, Communal- oder Kreishospitäler, sind durchgehends nur mit 20 bis 
50 Betten versehen, gehören also zu den kleinen Krankenanstalten, in welchen 
nach Bestimmung des preussischen Sanitätsregulativs von den Ortsbehörden 
mit ansteckenden Krankheiten behaftete Reisende so lange unterzubringen 
sind, bis der sachverständige Arzt sie selbst und ihre Sachen für nicht mehr 
ansteckend erklärt hat. 

Reconvalescenten-Anstalten verfolgen das humane Princip, den von 
den schwersten Symptomen einer Krankheit befreiten Patienten oder Kranken, 
die eine Operation hinter sich haben, nachdem sie das Spital verlassen und 
ehe sie zu ihrer Thätigkeit, in ihre oft hygienisch ungeeigneten Wohnräume, 
zu ihrer vielleicht schmalen und unzureichenden Kost zurückkehren, eine 
Stätte zu bieten, wo sie unter sorgfältig überwachten hygienischen Bedin¬ 
gungen, bei guter Kost und guter Luft vollständige Genesung finden können. 
Da der Staat durch die Erhaltung der Spitäler schon ausreichend belastet ist, 
und auch die Räume seiner Krankenanstalten, die ja oft genug überfüllt sind, 
nicht zu anderen Zwecken hergeben kann, so bleibt es fast stets der privaten 
Wohlthätigkeit überlassen, für die die Klinik oder das Spital eben Verlassen¬ 
den eine vorübergehende Heimstätte zu schaffen. Demgemäss finden wir 
Reconvalescenten-Anstalten fast nur in den reichen Ländern, in England und 
Amerika zahlreicher als auf dem Continent. Für die Anlagen von Recon¬ 
valescenten-Anstalten gelten die allgemeinen hygienischen Regeln für Bau¬ 
werke, wie die speciellen Erfordernisse für Erbauung und Einrichtung der 
Spitäler. Vor allem wird man auf geeignete Lage in staubfreier, ruhiger, 
vegetationsreicher Gegend achten, um den Genesenden den so mächtig wir¬ 
kenden Factor frischer reiner Luft zu gewähren. 

Die durch Altersschwäche und unheilbare Gebrechen erwerbsunfähig ge¬ 
wordenen, der Familienpflege entbehrenden Personen werden am zweck- 
mässigsten nicht in die für heilbare, vorwiegend acute Erkrankungen und 
Verletzungen bestimmten Hospitäler, sondern in besondere sogenannte 
Invaliden- oder Siechenhäuser untergebracht, für deren Bau und Einrichtung 
die in §§ 1, 3, 6, 7, 9, 11, 12, 13 der betreffenden Verordnung enthaltenen 
hygienischen Vorschriften ausreichend sein dürften. Invalide, die vorüber¬ 
gehend von acuten Krankheiten befallen werden, können bis nach Ablauf der 
acuten Erkrankung der Hospitalspflege wieder überwiesen werden. Da nach 
gesetzlicher Einführung der Freizügigkeit und infolge Entwicklung der neuen 
Industrie zahlreiche besitzlose Arbeiter in die grösseren Städte einwandem, 
ohne sofort Unterkommen mit lohnender Beschäftigung zu finden, machte sich 
das Bedürfnis geltend zur Einrichtung von Nachtherbergen (sogenannten 
Pennen), welche von Privatpersonen gegen ganz geringfügiges Entgeld ver- 
mietbet wurden. 

Diese Pennen wurden durch Ueberfüllung und hochgradige Unreinlich¬ 
keit, namentlich in den Grossstädten London, Paris, Berlin, die Brutnester 
ansteckender Krankheiten und gaben namentlich im Jahre 1880 Anlass zur 
damals in den östlichen preussischen Provinzen herrschenden Fleck- und Rück¬ 
falltyphus-Epidemie, welche von Osten auch in die westlichen Provinzen 
vordrang. Wie sich Referent damals persönlich überzeugte, war die Berliner 
Charite nnd das städtische Krankenhaus in Magdeburg fast vollständig in 
Anspruch genommen durch Typhuskranke, die in den Pennen angesteckt 

Bibi. med. Wi*«enech»ften. Hygiene u. Oer. Med. 32 


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498 


KRANKENPFLEGE. 


waren. Es wurde deshalb durch Verordnung des Berliner Polizei-Präsidiums 
vom 31. Jänner 1881 für alle Nachtherbergen (Pennen) vorgeschrieben: Tren¬ 
nung der Geschlechter in der Weise, dass für jedes derselben verschiedene 
Herbergen, die durch feste und nicht mit Thüren versehene Wände in allen 
Theilen getrennt sind, bestehen müssen. In jedem Schlafraume für jede 
Person 3 m 2 Flächenraum und 10 m 3 Luftraum, für jeden Schlafgast eine be¬ 
sondere Lagerstätte mit Strohsack, Strohkopf, Eissen, wollener Decke. Alle 
vier Wochen neues Stroh und frische Bettwäsche. In jedem Schlafraume 
Waschgeräth, Wasch- und Trinkwasser, Lüftung durch Offenstehen der Fenster 
von 9 bis 11 Uhr, von 2 bis 4 Uhr. Reine Urinkübel in den Schlafräumen, 
tägliche Fegung der Fussböden, Scheuerung dieser und der Abtrittssitze 
wöchentlich, frische Tünchung der Wände und Decken. Unverzügliche An¬ 
zeige ansteckender Kranker bei dem Polizeirevier. 

Das dann in Berlin errichtete städtische Asyl für nächtliche 
Obdachlose enthält 49 Schlafsäle zu je 50 Betten, 30 Brause- und 14 
Wannenbäder, eine Desinfectionsanstalt mit strömendem Wasserdampf, die 
gleichzeitig die Dampfheizung der ganzen Anstalt liefert. Mit der Heizung 
ist die Ventilationsanlage verbunden, indem die Zuluft neben den Heizkörpern 
einströmt, während die Abluft durch die stellbaren Fensterklappen der Shed- 
dächer und durch die Schornsteine entweicht. In diesem Asyl fanden 1892/93 
335.436 Personen, 320.764 Männer 14.672 Frauen und Mädchen Aufnahme. 
Eine möglichst strenge ärztliche Controle der täglich in derartigen Asylen 
wechselnden Bevölkerung in Bezug auf das Vorkommen ansteckender Krank¬ 
heiten scheint zur Verhütung von Epidemien, sowie auch der weiteren Ver¬ 
breitung geschlechtlicher Krankheiten sehr nothwendig zu sein, schwartz. 

Krankenpflege. Die Krankenpflege im Allgemeinen hat die Aufgabe, 
die Bedingungen zu schaffen, unter welchen krank gewordene Menschen am 
schnellsten, sichersten und möglichst schmerzlos von ihren Leiden befreit 
werden. In allen Culturstaaten ist die Lösung dieser Aufgabe, soweit sie 
die grundlegenden Einrichtungen betrifft, der Gemeinsamkeit, d. i. dem Staate 
zugewiesen. Dieser hat demzufolge zu sorgen für die gründliche Ausbildung 
des ärztlichen Personals und weist dieselbe als Aufgabe den medicinischen 
Facultäten der Hochschulen zu. Es wird auch kein Zweifel sein, dass es 
Pflicht des Staates ist, derartige Einrichtungen zu treffen, dass seine Ange¬ 
hörigen der ärztlichen Hilfe nicht entbehren. Der Staat wird also auch dafür 
Sorge zu tragen haben, dass eine richtige Vertheilung des ärztlichen Personals 
im Lande stattfindet. Diese Aufgabe konnte in früheren Zeiten der Staat, 
welcher sich die Anstellung der Aerzte für einzelne ärztliche Bezirke Vor¬ 
behalten hatte, verhältnismässig leicht lösen. Nachdem aber in neuerer Zeit 
wohl in allen Ländern der Grundsatz der Niederlassungsfreiheit der Aerzte 
unbeschränkt geworden ist, ist die Vertheilung des ärztlichen Personals eine 
ungleichmässige geworden. Die grosse Mehrzahl der Aerzte strebt der Nieder¬ 
lassung in den Städten zu, und trotzdem der Zudrang zum ärztlichen Berufe 
gewaltig zugenommen hat, so bleiben ländliche Bezirke, welche sich einer 
grösseren Wohlhabenheit nicht erfreuen, notorisch vonAerzten ungesucht. Die 
Pflicht des Staates, für solche Gegenden ärztliche Hilfe zu bestellen, wird 
nicht zu leugnen sein, und wird auch von den Staatsbehörden durch beson¬ 
dere finanzielle Zuwendungen für Aerzte, welche sich an derartig weniger 
günstigen Orten niederlassen, erfüllt. Diese Pflicht des Staates tritt besonders 
dann hervor, wenn in bestimmten mit Aerzten nicht hinreichend besetzten 
Gegenden Epidemien ausgebrochen sind. 

Für die grossen Kreise des arbeitenden Volkes ist im deutschen 
Reiche für den Fall der Erkrankung durch die Gesetzgebung vom Jahre 1884 
gesorgt. 


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KRANKENPFLEGE. 


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Die Pflicht, für arme Kranke ärztliche Hilfe zu schaffen, ist den Ge¬ 
meinden zugewiesen. Dies geschieht durch die Aufstellung besonderer Armen¬ 
ärzte. Diese übernehmen gegen ein bestimmtes Honorar die Pflicht, die 
kranken Armen zu behandeln. In Universitätsstädten wird die Behandlung 
der Armen von den Polikliniken übernommen, und hiedurch Kranken-Material 
für den Lehrzweck gewonnen. 

Unbeschadet dieser Einrichtungen wird vom ärztlichen Stande die 
humane Aufgabe hochgehalten und geübt, armen Kranken die ärztliche Hilfe 
unentgeltlich zu gewähren. 

Wohl in allen Staaten wird es auch für staatliche Pflicht gehalten, für 
die Ausbildung von Hebammen zu sorgen; in den meisten Staaten wird auch 
die Ausbildung von Badern oder Heilgehifen durch staatliche Mittel gewähr¬ 
leistet. 

Für solche Kranke, welche in ihrer Wohnung der nöthigen Pflege ent¬ 
behren, sind vom Staate oder den Gemeinden Krankenanstalten, Hospitäler 
geschaffen. 

Ausser diesen sind aber für Kranke, welche vermöge ihrer Stellung und 
ihres Besitzes höhere Ansprüche an Verpflegung machen, Krankenanstalten 
nöthig, welche neben der unter allen Umständen nothwendigen tadellosen 
hygienischen Beschaffenheit auch alle Bequemlichkeiten bieten. Diesem Be¬ 
dürfnisse entsprechen die Privatheilanstalten, meistens mit specialistischer 
Richtung. 

Zur Heilung und Verpflegung von Geisteskranken dienen die Irren- 
Heil- und Pflegeanstalten. Auch diese sind entweder öffentlicher Art, dem 
Staate, der Provinz oder der einzelnen Gemeinde gehörig, oder Privatunter¬ 
nehmungen. 

Die Entbindungsanstalten sind vorwiegend öffentliche Anstalten, selten 
privater Natur. Es ist selbstverständlich, dass alle die genannten Anstalten, 
welche öffentliche sind, entweder von staatlichen Organen direct geleitet oder 
der Beaufsichtigung durch solche unterstellt sind. Aber auch bezüglich der 
privaten Anstalten hat sich der Staat das Recht der Beaufsichtigung in 
höherem oder geringerem Grade überall gewahrt. 

Die Krankenpflege im engeren Sinne hat die Aufgabe, dem hilflosen 
Kranken alle jene Dienste zu leisten, welche der gesunde Mensch an sich 
selber vornimmt, ferner alle ärztlichen Anordnungen auszuführen, alle Krank¬ 
heitserscheinungen, welche während der Abwesenheit des Arztes auftreten, 
genau zu beobachten, endlich alle Verhältnisse, welche auf den Kranken ein¬ 
wirken können, so zu gestalten, dass sie dem Kranken nicht schädlich, son¬ 
dern dem Heilzwecke förderlich werden. 

Sie beschäftigt sich demnach mit dem Raume, in welchem der Kranke 
sich aufzuhalten hat, mit dem Krankenzimmer, mit dessen Lage, seiner Mo¬ 
biliarausrüstung, mit seiner Lüftung und Heizung, mit dem Krankenbette, 
mit der Lagerung des Kranken im Bette, mit dem Wechsel desselben, mit 
der Ernährung des bettlägerig Kranken; sie hat die natürlichen Verrichtungen 
des Kranken im Bette zu ermöglichen. Ferner obliegt ihr die Reinhaltung 
des Körpers des Kranken, sowohl des ganzen Körpers wie der einzelnen 
Theile, namentlich auch die Pflege der Mundhöhle, die Berücksichtigung der 
Theile, welche zum Durchliegen neigen, der Wäschewechsel u. s. w. 

Die Krankenpflege soll nicht curiren, sie darf nicht anordnen. Anzu¬ 
ordnen hat nur der Arzt, der Vollzug der Anordnungen obliegt aber der 
Pflege. Auf Anordnung des Arztes geschieht demnach die Darreichung der 
Arzneien, sowie jedwede anderweitige Anwendung von Heilmitteln. Hierher 
gehören: Einathmungen, Einspritzungen, Einträufelungen, Eingiessungen, die 
Anwendung von Klystieren und Stuhlzäpfchen, von Senfteigen, Blasenpflastern, 
Blutegeln, Schröpfköpfen; ferner Umschläge, Einpinselungen, Einreibungen, 

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500 


KRANKENPFLEGE. 


die dauernde Anwendung von Kälte oder Wärme; die hydropathischen Pro- 
ceduren: Abreibungen, Einpackungen, Uebergiessungen, örtliche nasse Ein¬ 
wicklungen, endlich Bäder. Die Anwendung von subcutanen Einspritzungen, 
von Massagen, Gymnastik und Elektricität, wenn sie in die Hände des pfle¬ 
genden Personals gelegt werden soll, erfordert noch ganz besondere Anweisung 
von Seiten des Arztes für den Einzelfall. 

Eine grosse umfangreiche Aufgabe fällt der Krankenpflege zu bei der 
chirurgischen Behandlung der Kranken. Sie wird hier zur Vorbereitung von 
Operationen und zur Hilfeleistung bei und nach solchen herbeigezogen. Es 
kommt unter anderem namentlich die Wahl des Zimmers, dessen Beleuchtung, 
Temperatur, die Zurichtung des Operationstisches, die Desinfection und Sterili¬ 
sation von Instrumenten, Verbandstoffen und die persönliche Desinfection 
u. s. w. in Betracht. 

Auch die Vorbereitung zu Verbänden, unter Umständen auch die An¬ 
legung von Verbänden, sowie der Krankentransport fallen in das Bereich der 
Aufgaben der Krankenpflege. 

Eine Hauptaufgabe der Krankenpflege besteht in der Beobachtung des 
Kranken. Hierher gehören die Temperaturmessungen, die Beobachtung der 
Athmung, etwaiger Schmerzensäusserungen, des psychischen Verhaltens des 
Kranken, seines Kräftezustandes u. s. w., die Beachtung der normalen und 
krankhaften Abscheidungen, das Aufbewahren derselben u. s. w. 

Es ist selbstverständlich, dass sich die Pflege der Besonderheit der in 
Frage stehenden Krankheit anpassen muss. Der Kreis der Pflegethätigkeit 
wird geändert werden, je nach Umständen eingeengt oder erweitert, wenn es 
sich um die Pflege von inneren oder chirurgischen, von fiebernden oder fieber¬ 
losen, von acuten oder chronischen Kranken, von Nerven-, Krampf-Kranken, 
von Geisteskranken, von kranken Kindern oder Wöchnerinnen handelt. Eine 
ganz besondere Schwierigkeit bildet die Pflege von ansteckenden Kranken. 
Bei ihr ist stets auch die Gefahr der Uebertragung der Krankheit auf die 
pflegende Person oder auf Dritte im Auge zu behalten und jede Handlung 
nach diesem Gesichtspunkte zu überlegen und auszuführen. Diese Forderung 
setzt auch eine genaue Kenntnis des Princips und der Ausführung sowohl 
der Asepsis als der Antisepsis und der Desinfection von Seite des Pflege¬ 
personals voraus. 

Endlich gehört noch zur Krankenpflege die Hilfeleistung bei plötzlichen 
Unfällen. 

Für die Lösung der schwierigen und umfangreichen Aufgaben der 
Krankenpflege ist ein gutes und geeignetes Krankenpflegepersonal nothwendig. 
Billroth verlangt von jenen Personen, welche sich der Krankenpflege widmen, 
innerste Neigung zum Berufe, Herzensgüte, Verstand, stilles Wesen, verbunden 
mit jenem Talente, dessen Eigenthümlichkeit in einer meist unbewussten 
Beobachtungsgabe für die Vorgänge in und am Menschen besteht; Wahrheits¬ 
liebe, Ordnungssinn, zuverlässige Treue im Berufe, Folgsamkeit gegenüber 
den ärztlichen Anordnungen, Fügsamkeit auch in den einzelnen, zuweilen 
recht unbehaglichen Verhältnissen, Verschwiegenheit. Unerlässlich ist der 
Besitz eines gesunden Körpers, um die Mühen des Berufes zu ertragen, den 
Gefahren desselben Widerstand leisten zu können; Geschicklichkeit der Hände, 
Sinn für die grösste Sauberkeit. (Die Forderung der grössten Sauberkeit 
erheischt für das Pflegepersonal eine geeignete Tracht, welche leicht gewaschen 
und von Ansteckungskeimen befreit werden kann.) Selbstverständlich ist 
Anstand und tadellose Sittlichkeit. 

Es ist allseitig unbestritten, dass das weibliche Geschlecht für den so 
grosse Opfer erfordernden Beruf geeigneter ist als das männliche. Es ist 
deshalb die Krankenpflege überwiegend Pflegerinnen anvertraut. Die Kranken¬ 
pflege in Irrenanstalten und in Abtheilungen für Geschlechtskranke wird von 


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KRANKENPFLEGE. 


501 


männlichen Wärtern besorgt. Auch gewisse geistliche Orden (barmherzige 
Brüder) übernehmen die Pflege männlicher Kranken als ihre Ordensaufgabe. 

Werfen wir einen kurzenBlickaufdieGeschichtederK rankenpflege. 

Die Krankenpflege in den ältesten Zeiten stand in innigem Zusammenhang mit der 
ältesten christlichen Gemeinde. Dieselben Diener und Dienerinnen (Diakonen und Diako¬ 
nissen), welche die Gütervertheilnng an die Hilfsbedürftigen überwachten, unterzogen sich 
auch der Pflege der Kranken. Später ging die Krankenpflege in die Hände der geistlichen 
Orden über. Als solche sind namentlich zu nennen: Die Hospitaliter und Hospitaliterinnen, 
die Franziskaner, die Brüder und Schwestern vom hl. Geiste, die Johanniter, die deutschen 
Ritter, aus späterer Zeit die Orden der barmherzigen Brüder und der Alexianer, die verschie¬ 
denen Orden der barmherzigen Schwestern von Vincenz ä Paula, von Karl Borromäus, 
von Clemens D rosste-Vischering u. a. 

Innerhalb der evangelischen Kirchengemeinschaft kam es erst viel später zur Bildung 
von Genossenschaften, nachdem im Jahre 1831 gelegentlich des Ausbruches der Cholera 
in Hamburg Amalie Sievering hiezu den Anstoss gegeben hatte. Im Jahre 1836 wurde 
durch Pastor Fliedner in Kaiserswerth das erste Diakonissenhaus, eine barmherzige 
Schwesternschaft der evangelischen Kirche ins Leben gerufen. Fast zu gleicher Zeit war in 
Berlin ein Verein evangelischer Krankenpflegerinnen, in Horn bei Hamburg von Dr. Wichern 
ein Verband von Diakonen ins Leben gerufen worden. Von König Friedrich Wilhelm IV. 
von Preussen wurde der Johanniter-Orden wieder ins Leben gerufen mit der Aufgabe, 
Ordenskrankenhäuser zu errichten, in welchen die Krankenpflege „ohne Entgelt in freier 
Liebesthätigkeit“ geübt werden sollte. 

In Berlin ist vor einiger Zeit ein Verein zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen 
gebildet worden. 

Viel später als die meisten der hier angeführten confessionellen Vereinigungen bilden 
sich interconfessionelle Genossenschaften, und zwar ging die Anregung von einer vor¬ 
nehmen Engländerin Miss Florenze Nightingale aus. Diese erwarb sich während des 
Krimfeldzuges unsterbliche Verdienste um die Pflege der Verwundeten und Kranken der 
britischen Armee. Durch Lehre und Beispiel begeisterte sie gebildete Frauen zur Theil- 
nahme an der Krankenpflege. Sie gründete auch die erste Pflegerinnen schule am St. Thomas¬ 
hospital in London. 

Nach der Schlacht von Solferino regte der Genfer Bürger Franz Dunant die Grün¬ 
dung von Vereinen zum rothen Kreuz an, zunächst mit dem Zwecke der Krankenpflege 
im Kriege und bei Seuchen. Solche Vereine entstanden bald aller Orten und wendeten 
ihre Thätigkeit der Krankenpflege auch im Frieden zu. An besonderen Vereinshospitalem 
werden Schwestern, ohne confessionelle Beschränkung, zur Krankenpflege ausgebildet, so 
in den Hauptstädten der meisten grösseren deutschen Bundesstaaten. 

In Wien gelang es den unermüdlichen Anstrengungen des unvergesslichen Billroth, 
eine Anstalt zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen (Rudolfinen-Haus in Döbling) ins 
Leben zu rufen. 

An anderen Orten werden auch Pflegerinnen an allgemeinen Krankenhäusern ausge¬ 
bildet, so neuerdings im Hamburg-Eppendorf. 

Neben den religiösen und weltlichen Genossenschaften gab es stets 
Krankenpfleger und -Pflegerinnen, welche die Krankenpflege als Gewerbe 
übten. Diese verrichten gegen Entgelt von Fall zu Fall Krankenpfleger- 
dienste oder sind in Krankenhäusern, Irren-, Siechenanstalten an gestellt. 
Wenn man an diesen auch nicht selten treffliche Eigenschaften und tüchtige 
Leistungen kennen lernt, so ist doch nicht zu verkennen, dass der Mehrzahl 
eine geordnete Ausbildung und systematische Erziehung zu ihrem Berufe ab- 
geht. Uebrigens ist ihre Zahl durch den Aufschwung, welchen allerseits die 
genossenschaftliche Krankenpflege genommen hat, in letzter Zeit in Rückgang 
begriffen. 

Alle Bestrebungen der neueren Zeit gehen dahin, die Krankenpflege über 
das Niveau der laienhaften Empirie zu erheben und zu einer in wissenschaft¬ 
licher Grundlage wurzelnden, von sittlichem Ernste getragenen Ergänzung der 
ärztlichen Thätigkeit zu gestalten. Zweifellos sind aus diesen Bestrebungen 
schon anerkennenswerte Erfolge hervorgegangen; noch grössere aber sind zu 
erringen. Es sollte kein aussichtsloses Ideal bleiben, dass in jedem Dorfe 
wenigstens eine ausgebildete Pflegerin zur Hilfe bereit sei. Wo die freie 
Vereinsthätigkeit nicht ausreicht, werden die gemeindlichen und staatlichen 
Organe für die Sache zu interessiren und für die Gewährung der nothwen- 
digen Mittel zu gewinnen sein. 


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502 


KRANKENTRANSPORT. 


Die Lösung der Aufgaben der Krankenpflege wird durch die fortschrei¬ 
tende Technik in der Herstellung von Instrumenten und Apparaten wesentlich 
gefördert. FR. roth. 

Krankentransport (Krankenbeförderung) ist dasjenige Ver¬ 
fahren, mittels dessen an der Gesundheit Beschädigte aus ihrem bisherigen 
Aufenthalte an einen für ihren Zustand zweckmässigeren Ort weggeschafft 
werden. 

Bei umfassendem Bedürfnisse, wie zur Zeit herrschender Seuchen, wo 
es gilt, ansteckende Kranke aus der gesunden Bevölkerung auszuscheiden, 
oder an Schlachttagen, wo tausende Verwundeter darauf warten, aus dem 
Bereiche der Gefahr unter Dach und Fach gebracht zu werden, gestaltet sich 
der Krankentransport zu einer segensreichen Berufsverrichtung, die besondere 
Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzt. 

Die Anfänge in der Entwicklung des Krankentransports lassen sich bis 
in das graue Alterthum zurück verfolgen; für den handelnden Arzt aber und 
seine Gehilfen (Heildiener, Samariter etc.) ist es nicht von Belang, diese 
Jahrtausende durchlaufende Entwickelung näher kennen zu lernen. Vielmehr 
genügt ihnen, zu erfahren, auf welche Weise und namentlich mit welchen 
Mitteln der Krankentransport am zweckmässigsten durchgeführt wird. 

Der Krankentransport ist theils eine Leistung der sogenannten „ersten 
Hilfe“, theils eine Vorkehrung, die in den anfänglichen oder späteren Ver¬ 
lauf einer Krankheit oder Verletzung fällt. Da seine Art von dem Wesen 
der Verletzung abhängt, so muss ihm logischermaassen die Erkenntnis der 
Verletzung des zu Transportirenden vorausgehen. Die Erlangung dieser Er¬ 
kenntnis und die Wahl und Anordnung, sowie, wenn möglich, die Ueber- 
wachung der Transportweise ist Sache des Arztes; der Transport selbst aber 
ist eine seinen Gehilfen zukommende mechanische Verrichtung. Obwohl nun 
bei Abwesenheit des Arztes das Erkenntnisvermögen des Gehilfen aushilfs¬ 
weise an Stelle desjenigen des Arztes zu treten hat, und obschon der Heil¬ 
gehilfe vor dem Transporte selbständig eine Blutstillung, einen Nothver¬ 
band etc. versuchen muss, so würde es doch eine Abschweifung in das Gebiet 
der Pathognostik und in das der ersten Hilfe bedeuten, wenn sich die fol¬ 
gende Darstellung nicht ausschliesslich auf die eigentlichen Verrichtungen 
des Transports der Kranken beschränken wollte. 

Die Förderung von Kranken und Verwundeten geschieht theils durch 
die blossen Hände des Mitmenschen, theils durch äussere Hilfsmittel, die die 
Menschenhände unterstützen oder für sie eintreten. 

Krankentransport mittelst blosser Handfertigkeit. 

Die Krankenförderung durch die blosse Handfertigkeit oder Muskel- 
fertigkeit ist nicht nur die älteste, sondern auch heute noch die kennens- 
werteste Transportweise. Sie bietet den unvergleichlichen Vortheil, dass der 
Krankenförderer das Förderungsmittel immer und allenthalben bei sich hat 
und ohne Zeitverlust wirken lassen kann. Das ist genügender Anlass, beim 
Krankentransport-Unterricht die Ausbildung der Handfertigkeit und die 
Uebung der ungerüsteten Hände als den grundlegenden Theil zu betrachten. 

Die blosse Handfertigkeit tritt bei der Krankenförderung in zweifacher 
Gestalt auf: in der Krankenführung und in der Krankentragung. 

Die Krankenführung setzt voraus, dass der zu führende Kranke 
ohne sich selbst weiter zu schädigen, gehen kann, also nicht bewusstlos ist, 
und nicht, besonders auch nicht an seinen Gehwerkzeugen, schwer verletzt ist. 

Zur Krankenführung werden ein oder zwei Führer verwendet. Wie viele 
im Einzelfalle wünschenswert oder nöthig sind, bestimmt der Zustand des 
Kranken und das verfügliche Personal. Zwei Führer gewähren im Allgemeinen 


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KRANKENTRANSPORT. 


503 


eine sicherere und schonungsvollere Förderung für den Kranken. Wenn es 
aber bei plötzlich eintretenden zahlreichen Unglücksfällen (auf Schlacht¬ 
feldern etc.) an Personal mangelt, so ist jede Kraftvergeudung zu vermeiden 
und zunächst an nur einen Führer zu denken. 

Die Krankenführung durch einen Führer geschieht folgendermaassen: Der Führer 

f eht bei der Verletzung der oberen Gliedmaassen oder des Rumpfes an der gesunden Seite 
es Verwundeten, bei Verletzung einer unteren und Unverletztheit der gleichseitigen oberen 
Gliedmaassen an der kranken Seite des Beschädigten. Der Kranke aber hängt einen Arm 
in denjenigen des Führers ein und lehnt sich an letzteren an; oder der Führer schlägt 
einen Arm um den Rücken des Kranken und greift unter die Achselhöhle um die Brust 
herum, während der Verletzte den dem Führer zugekehrten Arm um dessen Nacken schlägt 
und sich so fest hält, und mit dem freien Arm sich auf eine etwa verfügliche Krücke 
oder ähnliches stützt. 


Der Führung durch zwei Führer bedürfen Verwundete und Kranke, die zwar eben¬ 
falls noch gehen können, aber hinfälliger als jene sind. Diese zwei Führer gehen zu beiden 
Seiten des Verletzten. Der letztere hängt seine beiden Arme in die Arme der Führer ein 
oder umschlingt deren Nacken mit seinen Händen. Die äusseren freien Hände der Führer 
tragen das Gepäck des Kranken, oder sie erfassen vorn die um den Nacken gelegten Hand¬ 
gelenke des Verletzten; die inneren Hände der Führer aber umfassen den Rücken des Ver¬ 
wundeten oder werden in die nächsten Achselhöhlen des letzteren aufwärts eingesetzt. 

Die Krankentragung mittelst blosser Handfertigkeit tritt ein, wenn 
die Krankheit oder Verletzung des zu Fördernden ihn am Gehen hindert, 
aber nicht so beträchtlich ist, dass besondere künstliche Lagervorrichtungen 
nöthig sind. Auf weite Strecken einen Kranken ohne künstliche Mittel, Bahren 
u. dgl., zu tragen, dazu reichen die Kräfte zumal nur eines Trägers jedenfalls 
nicht aus. Das Tragen mit den Händen geschieht durch 1 oder 2 oder 3 Mann. 

Das Tragen durch nur einen Träger wird mit dem Rücken des Trägers oder mit 
seinen Armen bewerkstelligt. Soll der Kranke auf dem Rücken getragen werden, was dann 
geschehen muss, wenn der Kranke nach Art und Körperstelle (Unterschenkel, Fuss) der 
Verletzung nicht beständiger Ueberwachung bedarf, so wird das Aufheben auf den Rücken 
sehr erleichtert, wenn der Kranke vorher erhöht gesetzt werden kann. Der Träger stellt 
sich dann rücklings vor ihn hin und schwingt ihn sich auf den Rücken. Sitzt aber der 
Kranke niedrig, oder ist er auf die Kniee gesunken, so kniet der Träger rücklings ganz 
nahe so vor ihn hin, dass er nur mit dem einen, etwas rückwärts geschobenen Beine kniet, 
während er den anderen Fuss mehr vorwärts fest auf die Erde aufsetzt. Hat dann der 
Kranke seine Arme um den Hals des Trägers geschlungen, und der letztere jenen unter 
den Oberschenkeln erfasst, so schwingt er sich mit ihm auf. 

Soll der (ohnmächtige) Kranke auf den Armen getragen werden, so kniet der Träger 
ganz nahe an dessen Seite so hin, dass er sein gegen die Füsse des Verwundeten gekehrtes 
Bein im Knie gebogen auf den Boden aufstellt und mit dem andern Beine neben der Hüfte 
des Kranken niederkniet. Nun umschlingt der Träger mit der einen Hand, und zwar mit 
Untergriff, die Oberschenkel des Kranken, schlägt den andern Arm um dessen Rücken und 
setzt die Hand in der Schulter ein, während der Kranke den dem Träger zugekehrten 
Arm um dessen Nacken legt. Nach dieser Umklammerung schwingt der Träger den Kranken 
auf das nicht knieende, m Hüfte und Knie gebogene Knie, setzt ihn darauf und richtet 
sich mit ihm auf. 

Das Tragen durch mehrere Träger muss sich in allen Einzelheiten durch einheit¬ 
liches Handeln, durch gleichzeitige Griffe kennzeichnen. Daher muss der mit der schwierig¬ 
sten Aufgabe betraute Träger für den Vollzug der Einzel Vorrichtungen im Unterricht ein¬ 
geübte Befehle ertheilen, z. B. Fasst an! Hebt auf! Träger marsch! Träger halt! Setzt ab! 
Bei dieser Art des Tragens, bei dem die Träger einen kurzen Gleichschritt einhalten, nimmt 
der Kranke entweder eine sitzende Körperhaltung (mit herabhängenden Unterschenkeln), 
oder eine halbliegende Körperhaltung (mit wagerechter Beinlage) ein. 

Das Tragen durch zwei Träger bei sitzender Körperhaltung des Kranken ge¬ 
schieht in folgender Weise: Der liegende Kranke ist an Ort und Stelle wenn möglich in 
eine sitzende Körperhaltung aufzurichten. Dann kniet auf jede Seite ein Träger so nieder, 
wie es beim Tragen durch die Arme eines Trägers angegeben worden ist. Sie bücken sich 
gegen den Verwundeten, der seine Arme um ihren Nacken schlingt, und dann greift der 
finite Träger mit der rechten Hand und der rechte Träger mit der linken Hand jenem 
entgegenkommend unter die Oberschenkel des Kranken, wo sich beide Hände mit Obergriff 
fassen, so dass sie nun den sitzenden Mann in die Höhe heben. Mit den äussem freien 
Händen erfassen sie die um ihren Nacken gelegten Hände des Kranken oder tragen sie 
etwaige Gepäckstücke. Der Volksmund nennt diese Transportvorrichtung „Engeltrage 11 . 

Lässt sich auf die Nebenverrichtung der äussem freien Arme verzichten, so sind 
sie mit zum Tragen zu verwenden, so dass der Kranke auf vier Händen sitzt. Hierzu 
fasst der eine Träger mit seiner rechten das linke Handgelenk des andern und mit der 


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linken Hand das rechte Handgelenk des andern mittels Obergriffs;' oder jeder erfasst 
mit der linken Hand sein eigenes rechtes Handgelenk von oben and dann mit der 
rechten Hand das linke Handgelenk des andern, oder umgekehrt. Diese Händeverschlin- 
gung wird karzweg „Handknoten“ genannt und setzt voraus, dass der Verunglückte selbst¬ 
ständig und ohne fremde Unterstützung sitzen kann, also vor allem völlig bei Bewusst¬ 
sein ist. 

Ist letzteres nicht der Fall, so muss wenigstens für die Unterstützung des Rückens 
•des sitzenden Kranken gesorgt werden. Die Träger knien in der beschriebenen Weise an 
dem Kranken nieder, dann greift der rechtsseitige Träger mit der rechten Hand und der 
linke Träger mit der linken Hand unter die Oberschenkel des Kranken, so dass zwei 
Hände, verschränkt eingehakt und in den Handgelenken gefasst, den Sitz bilden. Die 
anderen Arme der Träger kreuzen sich am Rücken des Kranken, dessen Arme rückwärts 
über die Arme der Träger herabhängen. 

Noch wirksamer wird die Unterstützung des Rückens beim Tragen durch zwei Träger 
und bei sitzender Haltung des Kranken, wenn der eine (hintere) Träger den Kranken von 
hinten her unter den Achseln um die Brust fasst, indem er vor dieser die Hände faltet, 
und der andere (vordere) Träger zwischen die Beine des Kranken, vom andern Träger 
abgewendet, tritt und die Kniekehlen des Kranken mit beiden Unterarmen von aussen ein¬ 
wärts umklammert. 

Das Tragen durch zwei Träger bei halbliegender Körperhaltung muss dann ein- 
treten, wenn nach Art der Verletzung die Beine nicht herabhängen dürfen, sondern eine 
wagerechte Lage einnehmen müssen, also z. B. zusammengeschient Bind. 

Ist der Kranke bei Bewusstsein, so wird er durch zwei Träger folgendermaassen be¬ 
fördert: Es kniet der eine, dem Oberkörper des Kranken zugewendet, nieder und setzt 
letzteren so, wie es für das Tragen durch die Arme eines Trägers beschrieben worden 
ist; der andere Träger geht inzwischen mit seinen Unterarmen unter beiden Beinen in der 
Kniekehle und am Fussgelenke hin und trägt letztere so. Diese Tragart ist zweckmässig 
beim Heben und Tragen von Bett zu Bett, beim Aufladen auf Wagen und Abladen der 
Kranken. Eine ähnliche Tragart ist die, dass der letztere (vordere) Träger mit dem Antlitze 
gegen die Füsse des Verwundeten gerichtet, neben die gesunde Gliedmaasse desselben kniet 
una mit der dem Verwundeten zugekehrten Hand beide Beine in der Kniekehle oder am 
Oberschenkel mittels Obergriffes, mit der anderen Hand aber das Fussgelenk mit Unter¬ 
griff erfasst. 

Ist der Kranke ohnmächtig, so muss der hintere Träger, wie er es bei der Tragung 
des sitzenden Kranken that, in der beschriebenen Weise mit für die Unterstützung des 
Rückens sorgen. 

Das Tragen eines Kranken oder Verletzten durch drei Träger ist dann nöthig, 
und zwar in sitzender Körperhaltung des Kranken, wenn nur ein Bein schwer verletzt ist, 
in halbliegender Haltung, wenn beide Beine verletzt sind oder wenigstens das eine, ver¬ 
letzte Bein an das gesunde angeschient ist. 

Bei der sitzenden Körperhaltung hängt das gesunde Bein herab. Die beiden hinteren 
Träger fassen den Kranken so, dass sie sich unter seinem Gesässe die inneren Hände 
reichen und mit den freien Händen etwaige Gepäckstücke tragen, oder dass sie bei Bewusst¬ 
losigkeit des Verletzten die inneren Arme um den Rücken desselben schlingen und mit 
den äusseren unter den Oberschenkeln fassen. Der dritte Träger erfasst dann, neben dem 
Kranken stehend, mit beiden Unterarmen das kranke Bein mittels des beschriebenen Ober¬ 
griffs am Knie und mittels Untergriffs am Fussgelenke. Die Körperhaltung ist eine halb- 
liegende, wenn beide Beine gebrochen sind oder das kranke an das gesunde befestigt 
worden ist; die Rumpfträger tragen hier, wie oben angegeben, der dritte Träger beschäftigt 
sich stets mit der gebrochenen Gliedmaasse neben den Beinen marschirend, welche er erfasst 
hat mit Ober- und Untergriff am Knie- und Fussgelenke, oder mit beiden Unterarmen 
mittels Untergriffs am Unterschenkel, oder mit einem Arme mittels Obergriffs nahe dem 
Fussgelenke. 

Darnach ergeben sich für den Bereich der blossen Handfertigkeit über¬ 
sichtlich zusammengestellt folgende Transportweisen: 

A. Führung. 

_ I. durch einen Führer _ 

1. mit Armeinhängung 2. mit Rumpfumfassung 

II. durch z wei Führer _ 

1. mit Armeinhftngung 2. mit Rumpfumfassung 


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B. Tragung. 

I. durch einen Träger 

1. sitzend, hockend 2. halbliegend 

(auf dem Bücken) (auf den Armen) 

II. durch zwei Träger 

1. sitzend 

d) auf 2 Händen b) auf 4 Händen c) mit Rumpfumfassung 
(Engeltrage) (Handknoten) 

_ 2. halb liegend 

ä) ohne Rumpfstützung b) mit Rumpfstützung. 

III. durch drei Träger 

(ein Bein- und zwei Rumpfträger) 

_ 1. sitzend _ 

a) ohne Rumpfstützung b) mit Rumpfstützung 
2. halbliegend 

mit Rumpfstützung. 

Krankentransport mit künstlichen Mitteln. 

Die geübte Hand bildet die Grundlage aller Krankentransportweisen. 
Theils ist sie ein ganz selbständiges Förderungsmittel, wie soeben dargelegt 
worden ist, theils bedient sie sich geeigneter künstlicher Mittel zur blossen 
Erleichterung ihrer Aufgabe, theils ist sie dort, wo das künstliche Förderungs¬ 
mittel (Bahre, Thierausrüstung, Wagen, Schiff) die Hauptrolle zu übernehmen 
berufen ist, anfangs bei der Lagerung des Kranken selbst und weiterhin bei 
der Instandhaltung des Transportlagers immerhin unentbehrlich. 

Zu denjenigen künstlichen Förderungsmitteln, die nur als mehr oder 
weniger nebensächliche Unterstützungsmittel der menschlichen Hand- oder 
Muskelfertigkeit anzusehen sind, gehören in der Hauptsache folgende: 

Die Kraxe, eine sattelförmige Sitzgeräthschaft für einen Verletzten, 
der hockend auf dem Rücken eines Trägers getragen wird. Sie wird vom 
Träger auf das Kreuz genommen und mit Traggurten befestigt. Besonders im 
Gebirgs-Krankentransport ist sie gebräuchlich geworden. 

Bei der Krankentragung durch zwei Träger pflegt man den Kranken, 
falls der Transport nicht einen ganz kurzen Weg zu nehmen hat, nicht gern 
unmittelbar auf die Hände der Träger zu setzen, sondern auf einen zum 
Sitzen halbwegs geeigneten oder hergerichteten Gegenstand, den die Hände 
der Träger bequem anfassen können. Solche Gegenstände sind z. B. Sitz¬ 
kränze aus Stroh, die die innere Hand jedes Trägers mit Obergriff umfasst, 
ferner Tücher oder Gurte oder Strickgeflechte, die auch von einem Rumpf¬ 
träger von hinten her verwendet werden können, endlich Holzstücke oder 
besser dicke Stangen, die vermöge ihrer Länge bis zu den Händen der Träger 
reichen und von jedem mit beiden Händen erfasst werden. Solche Stangen 
lassen sich vielleicht in ihrer Mitte auch noch mit einer Sitzvorrichtung aus¬ 
rüsten, so dass dann die äussern Hände der Träger vor sich die Stange er¬ 
fassen, und die inneren mit dem künstlichen Sitze Fühlung halten. Vor der 
Anwendung aller solchen Mittel sind sie vorsichtshalber durch Belastung mit 
einem gesunden Erwachsenen auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen. 

Muss ein Kranker oder Verwundeter in wagerechter Lage befördert 
werden, so verwendet man eine Bahre, die die Vortheile bietet, dass der 
Kranke ein bequemes Lager hat, dass auch der etwa verletzte Körpertheil zweck¬ 
mässig gelagert werden kann, dass ein Verband sich nicht leicht lockert, dass 
Blutungen hintangehalten werden, dass die vielleicht vorhandenen Schmerzen 


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sich verringern, und dass die Träger angehindert und schnell den Transport 
ausführen können. 

Eine Bahre zählt zu ihren wesentlichen Eigenschaften: dass sie aus 
einer Unterlage (Lager) und aus Holmen (Tragstangen) bestehe, dass sie eine 
gewisse Mindest-Breite und Mindest-Länge besitze und dass ihre Festigkeit 
den ihr zuzumuthenden Leistungen gewachsen sei. Nur wünschenswerte 
Eigenschaften sind, dass sie Kopflebne und Füsse habe, dass sie leer ein 
gewisses Mindestgewicht nicht überschreite und von einem Träger bequem 
getragen werden könne, dass ihr Material leicht ersetzt, dass sie in kleinem 
Baume verpackt, dass sie gut gereinigt und gründlich entgiftet werden könne, 
und dass ihre Handhabung einfach und leichtverständlich sei. Erst in dritter 
Linie stehen die Wünsche: dass sie mit Transportbänden ausgestattet sei, 
dass sie als Operationstisch diene, dass sie als mehrstündiges Lager im Trans¬ 
portwagen genüge und dass sie aulgehängt oder auf ein Rädergestell ein¬ 
gefügt werden könne. In dieser Reihenfolge kommen bei der Herstellung 
einer Bahre deren Constructions-Eigenschaften in Betracht. 

Auf gebahnten Wegen werden gern Räderbahren und in gebirgigem 
Gelände Gebirgsbahren verwendet. Ihre hauptsächlichen Constructions-Eigen¬ 
schaften sind die erwähnten; nur treten für jede dieser Bahrenart noch be¬ 
sondere bauliche Eigenthümlichkeiten hinzu. 

Die Räderbahre, za deren Fortbewegung ein Mann (am Kopfende) hinreicht and 
nar auf ungünstigeren Wegen zwei Mann nöthig sind, besteht aus einem zweiräderigen 
Untergestell mit Freischwingenden Druckfedern und aus einem zu diesem Gestelle passenden 
Krankenkorbe. Zur Feststellung des Rädergestelles beim Beladen und Entladen dienen je 
zwei an beiden Enden des Rädergestells angebrachte hölzerne Fasse oder Stutzen, die vor 
Beginn der Fahrt in die Höhe geschlagen und mit Riemchen an die Holme geknüpft werden. 
Korb oder Trage, die mit den Holmen fest verbunden sind, haben eine stellbare weiche 
Kopflehne und unter dieser eine Tasche zur Aufnahme der Habseligkeiten des Kranken. 
Das Lager ist doppelte starke Segelleinwand oder Matraze. Zum Schutze gegen das Wetter 
hat die Bahre ein Schirmdach und eine Schutzdecke von starker Segelleinwand. Ein Leib¬ 
verdeck, das mit Gurten über den Rumpf des Kranken zusammengezogen wird, schützt vor 
seitlichem Herausfallen. Zur Anstemmung der Füsse kann ein Fussbrett angebracht werden. 

Die Gebirgsbahre muss so gebaut sein, dass sie in schwierigem Gelände von 
einem Träger (etwa 15 Minuten lang) am Rücken, auf gebahnten Gebirgswegen aber von 
zwei Trägern mit Holmen fort gebracht werden kann. Die Bahre darf die Arme und den 
freien Blick des Trägers nach keiner Richtung hindern. Sie muss einfach, sicher, solid 
gebaut sein und darf nicht über 25 Pfund wiegen. Sie darf nur wenige und schmale 
Flächen haben, damit sich Wasser oder Wind nicht in ihr fangen. Sie muss so kurz sein, 
dass sie den Boden nie berühren kann. Durch Hand-, Kopf- und Fussstützen muss die 
Lage oder der Sitz des Kranken bergauf und bergab gesichert sein. Sie habe ein wasser¬ 
dichtes Schutzdach gegen Sonne, Regen und Wind. Sie sei zusammenlegbar und leicht 
verpackbar, aber in ihren einzelnen Theilen nicht trennbar. Sie sei als vorübergehende 
Unterkunft für den Kranken in Wagen, Schiffen etc. verwendbar (Werdnig). 

An Stelle der Menschen-Hände hat man neuerdings die Beinmuskeln 
des Menschen in den Dienst der Krankenförderung gestellt und das Keitrad 
hierzu verwendet. 

Die Reitradbahre, wie sie z. B. in den Berliner Unfallstationen bereit gehalten 
wird, hat die Form eines fünfrädrigen (HöNiG’schen) Reitrades, das durch zwei Personen, 
die eine vorn, die andere hinten tretend, bewegt wird. Auf den mit Pneumatikreifen be¬ 
zogenen Rädern ruht eine mit einer Matraze versehene Bahre, die abhebbar ist, um den 
Kranken aus jedem Raume fortschaffen zu können. Schützt man die Bahre mit einem all¬ 
seits geschlossenen Verdeck (aus Segeltuch), so entwickelt sich ein Reitrad w a g e n, der 
durch seitliche Fenster aus mattgeschliffenem Glas Licht zutreten lässt und durch ver¬ 
deckte Oeffnungen gelüftet werden kann. Während der Nacht wird das Innere des Wagens 
mit einer elektrischen Lampe erleuchtet, die durch ein Trockenelement gespeist wird. Auch 
dieses Verdeck ist aus demselben Grunde, wie die Bahre, abhebbar. 

Es ist bekannt, dass die Menscheukraft mit der Kraft des Trag- oder 
Zug-Thieres sich nicht messen kann. Wiewohl freilich muskulöse und ge¬ 
wandte Männer, namentlich Gebirgsbewohner, mehrere Centner weite Strecken 
spielend forttragen, so kann man dasselbe einem Durchschnittsmenschen 
gegenüber der schonungsvoll fortzobewegenden Körperlast eines Kranken nicht 
zumuthen. 


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Als Trag- und Zug-Thiere kommen hauptsächlich Maulthiere, Pferde, 
Ochsen, Kameele und Elephanten in Betracht, die zum unmittelbaren Kranken¬ 
transport mit besonderen Lagervorrichtungen ausgestattet oder zum mittel¬ 
baren Transport als Zugthiere an Wagen gespannt werden. Dies ist in der 
vielfältigsten Weise geschehen, und zwar hat besonders das Maulthier eine 
ausgedehnte Verwendung in der Krankenförderung gefunden, wie nur bei¬ 
spielsweise gezeigt werden soll. 

Das Maulthier vereinigt allerdings eine Anzahl Eigenschaften in sich, die es unter 
gewissen Umständen als vortrefflich geeignet zur Krankenförderung erscheinen lassen. Das 
Maulthier kann eine Last von 150/# ohne Schwierigkeit tragen, täglich 6 bis 7 Meilen 
zurücklegen, geht selbst in schwierigem Gebirgsgelände ruhig und sicher und ist sehr ge¬ 
nügsam. Sollen Kranke oder Verletzte auf Maulthieren befördert werden, so kann es ein 
einzelner Verletzter nur so, dass er auf dem Maulthiere zweiseitig oder einseitig reitet, 
wozu er, vielleicht nur im letzteren Falle, lediglich einer Rückenstütze bedarf oder auf 
dem Rücken des Maulthieres liegt. Nur einseitig kann wegen der ungleichen Belastung 
kein Kranker am Maulthiere sitzen oder liegen; es müsste denn an der anderen Seite ein 
Gesunder Platz nehmen. 

Als Lager für liegende Kranke werden Bahren (Litieres), für Sitzende Sessel (Cacolets) 
verwendet. Die Bahre ist eisern, mit starkem Segeltuch überspannt und für nur einen 
liegenden Kranken über dem Sattel angebracht, so dass sich der Kopftheil am Nacken des 
Thieres erhebt, und die beiden Beinlager sich sanft an beiden Hüften des Thieres hinab- 
neigen. Für zwei liegende Kranke haben sich die Bahren zu beiden Seiten des Thieres 
dicht über dem oberen Ende der Beine, am Sattel befestigt, hinzuziehen, so dass der Kranke 
in der Regel mit den Füssen nach vorn und mit dem Kopfe hinterwärts zu liegen kommt. 
Sind zwei sitzende Verletzte zu fördern, so geschieht dies in Sesseln aus leichtem Stoffe, 
z. B. Weid engeflecht, die an beiden Seiten des Thieres mit Haken am Sattel aufgehängt 
werden, und zwar so, dass sich die Verletzten die Rücken zukehren, oder dass sie beide 
vorwärtsseben. Der Sessel hat eine Lehne für Kopf und Rücken, zwei Seitenlehnen und 
einen herabhängenden Beintheil mit Fussbrett. Für umfänglichere Krankentransporte 
kann man ein Maulthier hinter das andere koppeln, so dass nur das erste am Zügel zu 
führen ist. 

Dieselben Thiere lassen sich an Wagen oder Karren gespannt als Zug¬ 
thiere von Krankenwagen benutzen. Die Wahl der Thiergattung zu ge¬ 
dachtem Zwecke ist von der Landesüblichkeit abhängig. Am meisten ver¬ 
breitet sind die Pferde und Ochsen, die selbst in fernen Colonialgebieten an¬ 
zutreffen sind. • So ist z. B. das Verkehrsmittel für Personen und Frachten 
im deutschen Südwestafrika der Ochsen wagen. 14 bis 20 Ochsen schaffen 
da 40 bis 60 Centner in einem Tage 18 bis 45 km weit fort. Freilich wird 
das Maulthier zwar an Kraft, nicht aber in seinem lenksamen, ruhigen und 
sicheren Verhalten von den anderen in Frage kommenden Thieren übertroffen. 

Der in Mitteleuropa gebräuchliche Krankentransportwagen, kurz¬ 
weg Krankenwagen, ist mit wenigen Ausnahmen auf Pferde eingerichtet. 

Der Bau der Krankenwagen hat sich nach den Ansprüchen zu richten, die vor allem 
an ein zweckmässiges Lastfuhrwerk gestellt werden und nach denen, die vom Zwecke, d. h. von 
der Krankenförderung, erhoben werden. Darnach ist folgendes zu verlangen: Der Wagen 
soll solid gebaut sein, unbeladen das Gewicht von 14 und beladen das von 24 Zollcentnern 
nicht übersteigen, und von zwei Pferden in beladenem Zustande bequem gezogen vrerden 
können. Er soll sehr lenksam, mit Durchlauf der Vorderräder, Bremse und Radschuh ver¬ 
sehen sein. Die Wagenleitern sollen soweit nach vorn gesetzt werden, dass sie mit den 
äussersten Rändern der Vorderräder in einer Linie stehen, damit man die Last mehr auf 
die Vorderachse laden kann. Die Waage bringt man so nahe wie möglich an die Vorder¬ 
achse, damit die fortbewegende Kraft der fortzubewegenden Masse möglichst nahe gebracht 
wird. Die Pferde sind ganz kurz in die Stränge an eine lange Deichsel zu spannen, um 
Pferdekraft zu ersparen. Die untere Seite der Deichselarme ist, da der Wagen überhaupt 
gut federn soll, um die Kranken vor Stössen und Schwankungen zu bewahren, mit einem 
Federzugbalken zu versehen; dieser besteht aus fünf aufeinander gelegten, verschieden 
grossen Langfedern, deren Enden auf der leicht beweglichen Waage hin und her gleiten 
können und es zulassen, dass die Waage, die durch einen in ihrer Mitte befindlichen 
Zapfen in den Schlitz eines eisernen Fängers eingefügt ist, ziemlich leicht vor- und rück¬ 
wärts bewegt werden kann; nicht nur, dass dieser Federzugbalken zugunstender Kranken 
die Federung des Wagens vergrössert, er erleichtert auch den Anzug und die Fortbewegung 
und verhindert das Schlagen der Deichselspitze an Brust und Schulter der Zugthiere. Der 
Wagen soll ferner ein festes Dach mit Galerie besitzen. Er soll vorn und an den Seiten 
abgeschlossen werden können und mit soliden Vorhängen zum Schutze vor Regen, Wind 


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KRANKENTRANSPORT. 


and Sonne ansgestattet sein. Seitlich soll er zur Erleichterung der Beladung zurückschlag¬ 
bare Trittbretter besitzen, hinten aber durch einen soliden Deckel verschliessbar sein. Das 
Geleise soll das landesübliche sein. Er muss im Winter, wenigstens bei städtischem Be¬ 
triebe, auf Kuffen gestellt werden können. Die innere Einrichtung des Wagens soll haupt¬ 
sächlich für liegende Kranke, und zwar bei grossstädtischem Betriebe und im Felde nicht 
blos auf einen, sondern auf vier in zwei Etagen liegende Kranke berechnet sein, um auch 
umfänglicheren Anforderungen zu genügen. Darnach berechnet sich die Zahl der Bahren, 
die dem Wagen entnommen für sich zum Transport, aber auch als Lager im Wagen selbst 
zu benutzen sind. Der Bau der Wagenbahren hat auf die schmalen Treppen vieler Privat¬ 
häuser Rücksicht zu nehmen; sie sind besser nicht gepolstert und zur Erleichterung gründ¬ 
licher Reinigung mit einem Zinkblechlager versehen. Ausser den Bahren hat der Wagen 
Werkzeug für etwaige kleine Ausbesserungen, Labemittel und insbesondere Trinkwasser 
(ein Wasserfässchen) mitzuführen. 

Auf weitere Entfernungen hat die neuere Zeit die Eisenbahnen in den 
Dienst der Erankenförderung gestellt, und zwar zu Friedenszeiten gewöhnlich 
nur für einzelne Kranke, im Kriege für grosse Massen Kranker und Ver¬ 
wundeter. Es ist selbstverständlich, dass das höhere Interesse sich den im 
Kriege vorkommenden Massentransporten zuwendet. 

Die Einrichtungen für solche Mässen-Krankentransporte hat man Sani¬ 
tätszüge, Lazarethzüge, Hilfslazarethzüge, Krankenzüge, fahrende Laza- 
rethe etc. genannt. Diese Bezeichnungen hat man in einzelnen Staaten mit be¬ 
stimmten an die Verschiedenheit der Einrichtungsweise angelehnten Begriffen 
verbunden, so dass z. B. unter Hilfslazarethzug hier etwas anderes verstanden 
wird als dort. Und so hat sich ein störender Begriffswirrwarr entwickelt. 

Der die Sache am richtigsten bezeichnende Ausdruck ist jedenfalls 
„Krankenzug“; und hat man das Bedürfnis, diejenigen Einrichtungen, die 
nicht vorgesehen sind, sondern im Falle der Noth durch Fundbehelfe zu 
Transporteinrichtungen an Ort und Stelle ins Leben gerufen werden, be¬ 
sonders zu bezeichnen, so werden diese gewiss verständlich genug „Noth- 
Krankenzüge“ genannt werden dürfen. 

Die Auswahl der zur Krankenförderung auf den Schienen geeigneten 
Kranken und Verwundeten richtet sich nach den internationalen Bestimmungen 
des Genfer Vertrags, nach Art und Grad der Krankheit oder Verwundung, 
nach der Entfernung des Abschubortes vom Zielorte und nach der Beschaffen¬ 
heit und Menge des für die Ausführung der Förderung verfüglichen Materials 
und Personals. 

Unstreitig ist hiebei dem Zustande des Kranken oder Verwundeten die 
grösste Bücksicht zu schenken. Der eine verträgt den Abschub nicht, der 
andere ist ihn nicht wert, und eine dritte Gruppe wird durch den Abschub 
gemeingefährlich, indem sie in eine bislang gesunde Bevölkerung das Gift 
einer Seuche streut. Im allgemeinen empfehle ich für die schwierige Auf¬ 
gabe der Auswahl folgende Gesichtspunkte: 

Auszuschliessen vom Eisenbahn-Transport sind vor allem die gesunden 
Spiegelfechter; sie sind nicht den Abschub wert und würden Bedürftigeren 
den Raum kürzen; man behalte sie an Ort und Stelle und bringe sie da 
nöthigenfalls in eine Heilanstalt, in der active Feldärzte Dienst leisten. Ebenso 
sind Leichtverwundete, für die die Wiedergewinnung voller Dienstf&higkeit 
spätestens in etwa zwei Wochen erreichbar erscheint, zurückzuhalten; je 
weiter der Verwundete von der Heimat entfernt ist, desto weniger darf man 
an den Abschub denken; man transportire, wie ich in Wiederholung eines 
meiner früheren Vorschläge empfehle, den Leichtverwundeten nur in den 
Fällen, wo die Dauer der Hin- und Rückfahrt weniger Zeit beansprucht, als 
der vierte Theil der Zeit beträgt, die vom Beginn der Fahrt bis zum Wieder¬ 
eintreffen des Geheilten voraussichtlich vergehen wird. Fern von der Heimat 
sind auch Syphilitiker mit den Anfangserscheinungen und Tripperkranke lieber 
in besonderen Stationen der Feldheilanstalten zu behandeln als abzuschieben. 
Schwer Verwundete, namentlich solche, für die baldiger Eintritt des Todes 


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KRANKENTRANSPORT. 


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zu befürchten ist, sind ebenfalls nicht zu transportiren, ebensowenig die an 
Hospitalbrand oder an Seuchen Leidenden. 

Ist durch diese Ausschliessungen genügend angedeutet, welche Kranke 
sich für die Förderung in die Heimat eignen, so möchte ich doch noch er¬ 
gänzend hervorheben, dass jedenfalls alle die Kranken und Verwundeten früh¬ 
zeitig für den Transport auszuwählen sind, die voraussichtlich nach Ablauf 
ihrer Krankheit dienstuntauglich bleiben werden. Wie man sich Geistes¬ 
kranken gegenüber zu verhalten hat, darüber sind die Meinungen getheilt; 
ihre Förderung ist freilich mit grossen Schwierigkeiten verbunden; und doch 
möchte ich die Lästigkeit des Transportes für viel geringer erachten als die¬ 
jenige der Unterkunft eines Irren im Bereiche des Kriegsheeres — eine 
Meinung, die gewiss auch betreffs der Geisteskranken der bürgerlichen Ge¬ 
meinden getheilt wird. 

An den Bau eines Krankenzuges darf man den Anspruch erheben, dass 
schwerer Erkrankte oder Verwundete hier ohne Gefahr und so sorgfältig und 
nahezu so ausgiebig wie in einer Krankenanstalt gepflegt werden können, dass 
der Krankenzug nicht nur eine Transporteinrichtung, sondern auch ein fahren¬ 
des Lazareth sei, ein, wie man ihn amtlich meist nennt, Lazarethzug sei. Würde 
sich ein Heer, wie es für jedes zur Ausbildung des Feldsanitätspersonals nöthig 
ist, einen oder mehrere Lazarethzüge schon zu Friedenszeiten beschaffen 
wollen, so würde ich für einen solchen Musterzug folgende bauliche Eigen¬ 
schaften vorschlagen: 

Der Lazarethzug bestehe für 240 Kranke aus 40 Wagen, und zwar aus 30 Kranken¬ 
wagen für je acht Kranke, 1 Arztwagen, 2 Wagen für Dienstpersonal, 1 Heil mittel wagen, 
1 Küchen-, 2 Vorraths-, 1 Gepäck-, 1 Magazin- und 1 Heizmaterialwagen. 

Mit Ausnahme des Gepäck- und des Heizmaterial-Wagens seien alle Wagen nach 
dem Durchgangssystem gebaut, an jeder Stirnseite seien ein- oder zweiflügelige, anzxH^ettelnde 
Thüren von mindestens 75 cm lichter Breite und von mindestens 190 cm Höhe anzubringen. 
Zu gleichem Zwecke gehören zu jedem Wagen eine bewegliche Brücke mit und eine ohne 
Verlängerungsklappe, sowie ein 1*5 m langes, bei den Krankenwagen niederlegbares Ketten¬ 
geländer. 

Der besondere Bau der Krankenwagen eines Lazarethzuges — die im Falle des Bedarfs 
hinzugenommenen gewöhnlichen Hilfs-Eisenbahnwagen kommen, wie alle übrigen Improvi¬ 
sationen, nicht in Betracht — darf mit dem Bahndienstbetriebe nicht in Widerspruch 
stehen. Zur Krankenverladung sind bequeme Stiegen und lange Puffer nöthig. Die durch 
unebene Schienen verursachten Seitenschwanklingen der Wagen müssen gemindert werden 
können, indem mittels Schraubenkuppelung die Zughaken straff angezogen werden, so dass 
die Puffer der stehenden Wagen sich eben berühren. Die Längsstösse werden durch 
federnde Puffer und durch Einschaltung von elastischen Zügen in die Zugstangen, ausser¬ 
dem für laufende Wagen durch allmählichen Uebergang in den Stillstand vermieden. 
Die senkrechten Stösse werden durch schwache, lange, elastische und empfindliche Trag¬ 
federn abgeschwächt. 

Dach, Seitenwände und Fussboden des Krankenwagens seien zweiwandig. Die so 
eingeschlossene Luftschicht schützt vor starken Temperaturschwankungen, unterstützt den 
Heizzweck und erhöht — was hervorzuheben bis jetzt mit Unrecht unterlassen worden ist 
— die Gesammt-Federkraft des Wagens. 

Zum Abtritt diene in abgesondertem Raume ein Leibstuhl, der mit Winkeleisen am 
Fussboden festgeschraubt ist, und dessen Abfallrohr auf den Bahnkörper mündet; öderes 
werde jedem Krankenwagen ein tragbarer Nachtstuhl überwiesen, der, während er un¬ 
benutzt ist, auf der Plattform am Ende des Wagens steht. 

Die unverdeckte Lichtfläche eines Krankenwagens betrage mindestens 1‘5 m* und 
werde durch laternenartige Oberlichtfenster, unbewegliche Seitenfenster und umklappbare 
Stimfenster hergestellt. Die Nachtbeleuchtung werde durch Elektricität vermittelt. 

Die Lufterneuerung ist im Winter durch die Heizanlage zu bewerkstelligen, im 
Sommer durch das Oeffnen der Thüren und Fenster des Wagens. Da hierbei mit frischer 
Luft zugleich Staub und Russ einzudringen pflegt, so ist auf Dachlaternen Bedacht zu 
nehmen, deren Einrichtungen (Jalousien, Wasserbehälter etc.) der Lu ft Verderbnis wehren. 

Zur Heizung des Zuges eignet sich die Dampfheizung oder die örtliche durch um¬ 
mantelte Regulir-FüllÖfen, die die äussere freie Luft ansaugen. 

Die wichtigste Ausstattung der Krankenwagen besteht in ihren Krankenlagern, von 
deren Bau zu verlangen ist, dass sie viel mehr Krankenbetten als Transportbahren ähneln. 
Wie diese acht Lager jedes Krankenwagens beschaffen und wie sie insbesondere im Wagen 
angebracht werden sollen, das habe ich bereits auf Grund eines eigenen Systems und mit 


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KRANKENTRANSPORT. 


Veranschaulichung durch Abbildungen im 17. Bande der 2. Auflage der Real-Encyklop&die 
der gesammten Heilkunde 1889 in ausführlicher Weise dargelegt, und so möge dieser Hinweis 
an die Stelle einer Abhandlung treten, deren Lange mit den Grenzen der vorliegenden 
Aufgabe in Widerspruch gerathen würde. Nur so viel sei bemerkt, dass die Neuheit meiner 
Vorschläge hauptsächlich in der Verbindung einer starren und freien Aufhängung der 
Krankenlager besteht. 

Wie die Eisenbahnen pflegen auch die Schiffe für die Krankenförderung 
auf weite Strecken benutzt zu werden, und wir haben es dann mit Kranken¬ 
schiffen zu thun. Die Vortheile dieser Art der Krankenförderung bestehen 
in der Geschwindigkeit und der Gleichmässigkeit der Bewegung, sowie in der 
Luftreinheit der Krankenumgebung; Nachtheile sind damit gegeben, dass die 
Bewegungen des Schiffes auf hoher See von einem den Kranken störenden 
Zittern und Stossen begleitet sind, dass die Maschine ihre nächste Umgebung 
überheizt, dass unter Deck die Luft ungünstig ist und der Kranke obendrein 
die Seekrankheit bekommen kann. Diese Nachtheile heben sich theilweise 
oder ganz auf durch ruhiges Wasser, auf Flüssen, bei genügendem Raume und 
ausreichenden Lager-Einrichtungen. 

Die Krankenförderung auf See ist theils eine innere, innerhalb eines 
und desselben Schiffes, im Seegefecht als erste Hilfe sich vollziehende, theils 
eine von Schiff zu Schiff oder von Schiff auf Land oder umgekehrt, als 
Krankenzerstreuung sich vollführende. 

Die erste Hilfe spielt sich in dem Schiffe ab, wo sie durch die Ver¬ 
letzung veranlasst wird. Hier muss die Förderung oder die Bergung Ver¬ 
wundeter möglichst rasch geschehen, weil diese die Bewegungen der thätigen 
Schiffsmannschaft hindern. Die Krankenlörderung oder Krankenbergung bewegt 
sich in diesen Kriegsschiffen aus den Batterien nach einem bequem zugängigen 
und geschützten Raum, und zwar theils wagerecht entlang den verschiedenen 
Decken, theils senkrecht von Deck zu Deck und aus den Toppen; für den 
Durchgang durch die Luken ist nur ein stuhlartiges Geräth mit Gurten und 
stellbarem Fusstheil verwendbar, während für Landungen eine gewöhnliche, 
aber möglichst zerlegbare Trage genügt. 

Die der Krankenzerstreuung dienenden Schiffe sind zweckmässiger Weise eigens za 
ihrem Zwecke gebaute eiserne Dampfer für je 100 Krankenbetten. Ein solcher Dampfer 
sei 60*95 m lang und 9*14 m breit mit drei Decks für je 30 kranke Mannschaffen und für 
10 Officiere. Die Decks müssen über der Wasserlinie liegen, damit Lüftung und Beseitigung 
der Auswurfstoffe auf kürzestem Wege möglich sind. Jedes Deck sei mindestens 2*4 nt 
hoch und dehne sich so in die Fläche aus, dass auf jeden Kranken 5*5 m* entfallen. Ma¬ 
schinen und Abtritte liegen hinten von den Krankenräumen. Die Küche befinde sich auf 
dem obersten überdeckten Deck. Die Lüftung vermitteln senkrechte Abzugsröhren und wage- 
rechte Pforten, obendrein durch Maschinen bewegte Punkhas (Fächer), die Nachtbeleuchtung 
ist elektrisches Licht und die Frischerhaltung der Nahrungsmittel vermittele eine Kaltluft¬ 
maschine. Die ganze Lazarethausstattung werde in der Last aufbewahrt (Gribbon). 

Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus gehören in eine Abhandlung 
über Krankentransport die geschichtliche Entwicklung mit allen ihren zeit¬ 
weiligen in den verschiedenen Ländern sich abspielenden Rückschritten und 
Fortschritten, die fördernden Ansichten hervorragender Fachmänner, die hier 
und dort amtlich angenommenen und eingeführten Einrichtungen und die zur 
Zeit abgeschlossenen wissenschaftlichen Endergebnisse. Wenn im Voraus¬ 
gehenden von allen diesen Theilen nur der letzte gewürdigt wurde, und wenn 
es diesen Zeilen vor allem darauf ankam, durch die Erfahrung begrenzte An¬ 
sprüche an Eigenschaften und Leistungen eines Krankentransportes zu stellen, 
so geschah diese Selbstbeschränkung im Hinblick auf das thatsächliche Be¬ 
dürfnis des Arztes. Dieses Bedürfnis aber findet nicht in der Vornahme ent¬ 
wickelungsgeschichtlicher Forschungen und in erschöpfenden Vergleichungen, 
sondern in dem erfolgreichen Bestreben, die Gegenwart mit ihrer geistigen 
Höhe verstehen zu lernen, seine wahre Befriedigung. 

H. FRÖLICH. 


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KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 


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Kriminal-Anthropologie. Die Kriminal-Anthropologie ist ein neuer 
Wissenszweig, welcher die Forschungen der Anthropologie für die Kriminal- 
Justiz zu verwerten bestrebt ist. Sie bildet kein abgeschlossenes Wissens¬ 
gebiet, sondern sie will nur bestimmte Resultate der wissenschaftlichen An¬ 
thropologie der Rechtspflege zugänglich machen. Sie hat sich die Aufgabe 
gestellt, den Verbrecher in körperlicher und geistiger Hinsicht zu ergründen, 
um die Frage zu lösen, ob und auf welche Weise sich derselbe von Nicht- 
Verbrechern unterscheiden lasse. 

Die kriminal-anthropologischen Forschungen gehen nicht über den Anfang unseres 
Jahrhunderts zurück. Die ersten Vorarbeiter in Deutschland waren die Aerzte Grohmann, 
Heinrich, Ellinger und Gross, welche das Pathologische grosser Verbrecher-Naturen 
erkannt haben. In England stellt Prichard den Begriff der Moral-Insanity auf, welche 
äusserlich eine grosse Aehnlichkeit mit dem Verbrecherthum aufweist. Der namhafte fran¬ 
zösische Irrenarzt Morel beleuchtet die „Degenc'resance de la race humaine.“ Der geist¬ 
volle Maudsley wies mit Schärfe auf das wichtige Grenzgebiet hin, welches die voll- 

f eistige Gesundheit von der ausgesprochenen geistigen Erkrankung trennt. Als weitere 
brscher sind zu nennen: Legrand du Saull, Brierre du Boismont, Prosper Despine, 
Lauvergne, Prosper Lukas, Griesinger, Salbrig und Krafft-Ebing, welche Alle das neue 
Wissensgebiet vorzubereiten halfen. 

Als der eigentliche Schöpfer der Kriminal-Anthropologie muss aber unbedingt der 
geist- und phantasievolle Cesare Lombroso, Professor an der Universität, Gerichts- und Ge- 
fängnisarzt in Turin, bezeichnet werden, dessen epochemachendes 1877 zuerst erschienenes 
Werk: „Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung 1 * den 
Anstoss zu weiteren umfassenden Forschungen gegeben hat. Lombroso hat in Italien die 
sogenannte „positive Schule“ gegründet, welcher namhafte Juristen und Aerzte beitraten 
und welche auch bald angesehene Anhänger in Frankreich gewann. 

Die Literatur der Kriminal-Anthropologie ist während der letzten beiden Jahr¬ 
zehnte mächtig angewachsen. Aus Deutschland sind namentlich folgende Autoren zu 
nennen: Baer, Binswanger, Flesch, Höldee, Kirn, Knecht, Koch, Kurella, Lappmann, 
Mendel, Noel, Naecke, Richter, Sander, Sommer und Wildermuth; aus Oesterreich 
Benedikt und Meynert, aus der Schweiz Bleuler und Forel, aus England Havelock, 
Ellis, aus Frankreich Ferr, Francotta, Laurent, Naynau, Jardes, Sollier und Topinard, 
aus Italien Ferri, Gradenigo, Marro und viele Andere, aus Belgien Dallmagne und Morel. 

(Sehr eingehendes Literatur-Verzeichnis findet sich in Naecke’s „Verbrechen und 
Wahnsinn beim Weibe“. Wien u. Leipzig 1894). 

Um ein möglichst anschauliches Bild von dem heutigen Stande der 
Kriminal-Anthropologie zu entwerfen, werden wir am besten von den Thesen 
des Begründers der neuen Lehre ausgehen und dieselbe alsbald an der Hand 
der bisherigen weiteren Forschungen und Erfahrungen kritisch zu beleuchten 
suchen. 

Der oberste Satz, welchen Lombroso’s Verbrecherlehre aufstellt, lautet: „Der 
Verbrecher ist vermöge seiner eigentümlichen individuellen Gehirnorgani¬ 
sation von Geburt an zum Verbrecher bestimmt, er ist ein geborener Ver¬ 
brecher, Rex nato, Delinquente nato. Er wird durch unerbittlichen Fatalismus 
dem Verbrechen in die Arme geführt.“ 

Es besteht also nach dieser Darlegung eine bestimmte Classe von 
Menschen, denen die Neigung zum Verbrechen angeboren ist, die 
also, ob sie nun wollen oder nicht, V erbrech er werden müssen. Sie sollen 
sich durch eine Reihe charakteristischer körperlicher und geistiger Eigen¬ 
schaften von den unbescholtenen Menschen in deutlicher Weise unterscheiden. 
Diese Eigenschaften sollen in dem Grade hervortreten, dass sie dem Ver¬ 
brecher ein geradezu specifisches Gepräge verleihen, den Verbrechertypus 
(Tipo criminale), der namentlich bei den stets rückfälligen Gewohnheitsver¬ 
brechern sehr ansgesprochen ist. 

Es leuchtet auf den ersten Blick ein, dass die Consequenzen dieser 
Theorie für unser ganzes sociales Leben im höchsten Grade einschneidend 
wirken müssten. Sie würden nichts weniger als einen vollständigen Um¬ 
schwung unserer ganzen Rechtsanschauung herbeiführen. Man könnte alsdann 
den Uebelthäter nicht mehr für seine Thaten verantwortlich machen, denn 


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KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 


die Schuld liegt lediglich in dem Verhängnis, dem er von Geburt aus ver¬ 
fallen ist. 

Eine so tief eingreifende Lehre bedarf natürlich auch mächtiger Stützen. 
Diese findet Lombroso in der Annahme des Atavismus des Verbrecherthums, 
sowie in pathologischen Verhältnissen des Verbrechers. 

Das Verbrechen ist ein Rückschlag auf den Urzustand des 
Menschen, es ist eine atavistische Erscheinung. Bei den Wilden, 
die gleichsam ein Abbild der primitiven Menschen der Vorzeit darstellen, tritt 
uns das Verbrechen als allgemeine Regel, nicht als Ausnahme, entgegen. 
Geschlechtliche Verbrechen, Fruchtabtreibung und Kindesmord, auch Greisen- 
mord waren erlaubte Handlungen; Diebstahl galt sogar als Zeichen von Kühn¬ 
heit und Gewandtheit, welche nicht Strafe, sondern Lob verdiente. 

Auch die dem Verbrecher ähnlichen Charaktereigenschaften des Kindes 
beruhen auf diesem Rückschläge. „Die Keime des moralischen Irrsinns und 
damit der Verbrechernatur finden sich, nicht ausnahmsweise, sondern in der 
Regel, im ersten Lebensalter des Menschen, so dass ein Kind als ein den 
moralischen Sinn entbehrender Meusch das darstellen wird, was der Irrenarzt 
einen moralisch Irrsinnigen, wir aber einen Verbrecher nennen.“ Das Kind 
zeigt nämlich Zorn, Rache, Eifersucht und Neid, Lügenhaftigkeit und Ver¬ 
stellungskunst. Es fehlt ihm der moralische Sinn gänzlich. Es unterscheidet 
nicht das Gute vom Bösen. Weiter beobachtet man an ihm Mangel von 
Zuneigung, Grausamkeit, Trägheit,'Hang zum Müssiggang und Eitelkeit, selbst 
zur Trunksucht.“ Widerspricht nun schon die alltägliche Erfahrung dieser 
pessimistischen Auffassung des kindlichen Charakters, so scheint es auch 
völlig unlogisch, die Gemtithsverfassung des Kindes mit der der Wilden zu ver¬ 
gleichen; handelt es sich doch bei jenem um noch nicht entwickelte sittliche 
Begriffe, bei diesen um eine Entartung des ausgebildetem Charakters. 

Der Verbrecher ist ein pathologischer Mensch. Sein Typus 
entspricht nicht etwa, nach dem üblichen Sprachgebrauche, einer Summe 
normaler körperlicher und geistiger Eigenschaften, vielmehr einer Reihe ab¬ 
normer Erscheinungen. Diese Erscheinungen, theils körperlicher, theils gei¬ 
stiger Art, sind nun im wesentlichen folgende: 

Der geborene Verbrecher ist im allgemeinen schwerer und grösser 
als der ehrbare Mensch, aber weniger kräftig. Er hat oft verhältnismässig 
lange obere Gliedmassen und nicht selten eine grössere Länge und Dicke 
des linken Armes. Das letztere Verhalten soll darin begründet sein, dass 
die Zahl der Linkshänder dreimal so gross als bei den Normalen sei; dies 
sei eine atavistische Erscheinung. (Diese Annahme ist aber von anderen 
Forschern durchaus widerlegt worden!). Dann soll der Verbrecher häufiger 
eine helle als eine dunkle Farbe der Haut und der Haare, eine auffallend starke 
Behaarung am Kopfe bei gering entwickeltem Barte, verschiedenartige Bil¬ 
dungsfehler der Ohren, Missbildungen im Auge, insbesondere Schielen und 
bleibende innere Augenfalte, Entwicklungshemmungen am Gaumen und Zunge, 
entstellte Nase, verkümmerte Geschlechtstheile u. a. m. aufweisen. Sind nun 
auch thatsächlich alle diese Erscheinungen öfter bei Verbrechern zu beobachten, 
so sind sie doch entschieden nicht charakteristisch, denn man kann die 
sämmtlichen geschilderten Anomalien gelegentlich auch bei unbescholtenen 
Menschen beobachten. 

Mit Recht wird der Untersuchung des Schädels des Verbrechers ein 
grosses Gewicht beigelegt; gestattet doch dessen Grösse und Gestaltung — 
unter gewissen Vorbehalten — einen vorsichtigen Rückschluss auf Grösse und 
Gestaltung des Inhaltes desselben, des Gehirns. Nun hat Lombroso durch 
zahlreiche eigene Untersuchungen und durch Heranziehung fremder Resultate 
die interessante Thatsache festgestellt, dass (neben einer kleineren Zahl abnorm 
grosser, wohl hydrocephaler Schädel) durchschnittlich eine auffallend geringe 


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KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 


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Capacität des Verbrecherschädels nachzuweisen sei. Diese Angabe bedarf 
aber einer gewissen Einschränkung, weil dieselbe die Schädelgrösse der ver¬ 
schiedensten Völker Europa’s unter einander und mit der der Verbrecher in 
Parallele setzt und auf keiner einheitlichen Messmethode beruht. Die zweifel¬ 
losen Einflüsse der Rassen sind hiebei unberücksichtigt geblieben. Immerhin 
haben auch andere Autoren, namentlich Ferri, Laurent und Benedikt, be¬ 
stätigt, dass der Umfang des Verbrecherschädels im Durchschnitte wenigstens 
etwas kleiner als der der frei lebenden Menschen sei, dass namentlich sein 
Stirntheil eine gewisse Einengung zeige. Am meisten gilt das für die 
Schädel der Gewohnheitsdiebe. 

Wenn dagegen Lombroso weiter angibt, dass bei den Mördern die 
brachykephale, bei den Dieben und Fälschern die dolichokephale Schädelform vor¬ 
herrsche, so muss hiergegen eingewandt werden, dass Kurz- und Langköpfig- 
keit Rassen-Eigenthümlichkeiten sind und nicht zur Unterscheidung für be¬ 
stimmte Arten von Verbrechern dienen können. Es scheint überhaupt kaum 
denkbar, dass anthropologische Verschiedenheiten zwischen Dieben oder Fäl¬ 
schern und Mördern bestehen, da doch der sogenannte geborene Verbrecher 
zumeist seine Laufbahn als Dieb oder Betrüger beginnt und erst später zum 
Mörder fortschreitet. 

Ausser den genannten sollen nun weiters nach der positiven Schule 
eine ganze Reihe anderer Anomalien für den Verbrecherschädel charakte¬ 
ristisch sein. Ich will die wichtigsten hier auflühren: partielle oder halb¬ 
seitige Asymmetrien, Missbildungen, wie Spitz-, Thurm- und Flachkopf, 
vorzeitige Nahtverwachsungen oder umgekehrt Persistenz mancher Schädel¬ 
nähte, wie der Stirnnaht und der queren Hinterhauptnaht (Inkabein), und 
Schädel-Impressionen, sattelförmige Vertiefungen namentlich an den Scheitel¬ 
beinen, stark hervortretende Augenbrauenbögen, fliehende Stirne, sehr ver- 
grösserte Stirnhöhlen, grosse, weit von einander abstehende Augenhöhlen, 
massiv entwickeltes Gesichtsskelet, besonders in der Gegend der Jochbögen, 
in die Länge gezogenes Gesicht, voluminöse Entwicklung des Unterkiefers, 
Anomalien der Weisheitszähne, Propathie, Auftreten des Schläfenbeinfortsatzes, 
starkes Hervortreten der Linea semicircularis am Schläfenbeine, mittlere Hinter¬ 
hauptsgrube, Verschmelzung des Atlas mit dem Hinterhaupt. 

Gewiss bietet es ein grosses Interesse, diese verschiedenartigen Ano¬ 
malien an Verbrecherschädeln nachzuweisen; allzu weitgehende Folge¬ 
rungen dürfen aber nicht aus ihnen abgeleitet werden, denn 
sie zeigen nicht die geringste Gesetzmässigkeit, sie fehlen bei 
vielen Verbrechern völlig, während sie andererseits auch bei Unbescholtenen, 
wenn auch seltener, und ebenso häutig, mitunter sogar noch häutiger bei 
Irren und Idioten beobachtet werden. 

Wenn endlich Autoren, wie Kurella, auf die Verwandtschaft des Ver¬ 
brecherschädels mit dem Affenschädel hingewiesen haben, so ist diese 
Anschauung von dem bekannten Anthropologen Ranke völlig widerlegt 
worden: „Es fehlt jedes affenähnliche Merkmal am Menschenschädel.“ 

Ferner sei hier noch erwähnt, dass nicht alle Schädelanomalien angeboren 
sein müssen, dass vielmehr manche krank machende Einflüsse, namentlich 
Rhachitis, Verbildungen und Asymmetrien des Schädels zu erzeugen vermögen. 
Es steht heute fest, dass die Schädelbildung ganz wesentlich von dem Gesammt- 
Ernährungszustande im kindlichen Alter abhängt. Durch mangelhatte Er¬ 
nährung können sich bleibende Deformitäten des Schädels von vollständig pa¬ 
thologischem Charakter ausbilden, während sich unter günstigen äusseren 
Umständen, namentlich durch körperliche Kräftigung, manche Schädel-Ano¬ 
malien wieder zurückbilden können. 

Liegt es nun auch sehr nahe, bei Anomalien des Schädels auch auf 
solche des Gehirns zu fahnden, so ist das Resultat doch keineswegs stets 

Bibi. mcd. Wi«»en«chaften. Hygiene u. Ger. Mcdicin. 33 


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KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 


ein positives, denn ein anormaler Schädel kann ein vollkommen normales 
Gehirn beherbergen mit wohl entwickelter Geistesthätigkeit. Die positive 
Schule hat den Fehlschluss gemacht, hier stets ein anormales Gehirn voraus¬ 
zusetzen. 

Von Gehirn-Anomalien wurden bei Verbrechern thatsächlich beobachtet: 
nicht selten ein etwas niedriges Gehirngewicht, weiter atypische Ver¬ 
hältnisse der Gehirnoberfläche, wie confluirender Windungstypus, Verdoppe¬ 
lung der ersten Stirnwindung (Vierwindungstypus), stärkere Entwicklung 
der sogenannten Affenspalte (Fissura parieto-occipitalis), unvollkommene Be¬ 
deckung des Kleinhirns durch die Hinterhauptslappen (Benedikt) u. a. m. 
Solche Befunde bilden aber keineswegs die Regel, es sind viel¬ 
mehr Ausnahmen. Viele Verbrechörgehirne sind ganz normal 
gebaut. Aus einem kleinen Gehirngewicht allein ist es nicht statthaft, einen 
Rücks chluss auf geringere Geistesfähigkeit zu machen; die letztere hängt weit 
mehr ab von dem Volumen und der Ausbildung der Gehimoberfläche, namentlich 
von der Entwicklung der "Windungen. Man hat schon solche Anomalien bei 
sittlich und geistig hochstehenden Menschen gefunden, während andere wieder 
völlig mit solchen übereinstimmen, welche man an den Gehirnen mancher 
geistig Defecten und namentlich Idioten trifft (Wildermuth). Endlich muss 
man sich wohl hüten, manche durch Syphilis, Trunksucht, Trauma und an¬ 
dere Schädlichkeiten (welche in dem bewegten Leben der Verbrecher eine 
grosse Rolle zu spielen pflegen) erworbene anatomische Hirnveränderungen, 
äs angeborene Anomalien aufzufassen. 

So führt denn die vorurtheilslose Beurtheilung der Gehirnbefunde der 
Verbrecher, welche sich nicht auf einzelne Fälle, sondern auf grössere Zahlen 
stützt, zu dem von namhaften Autoren bestätigten Ergebnis, dass man bis 
heute vergeblich nach charakteristischen Abweichungen im anatomischen Bau 
der Gehirne der Kriminellen geforscht hat; ein specifisches Ver¬ 
brechergehirn existirt nicht. „Wie sollte auch“ (fragt in treffender 
Weise Baer) „ein Gehirn derart beschaffen sein können, dass es alle anderen 
Functionen intact liesse und nur insoweit sich pathologisch verhielte, dass 
es zwangsweise zum Verbrechen antriebe?“ 

Ebensowenig wie die Verbrecher-Anatomie kann die von Lombroso auf¬ 
gestellte V erbrech er-Physiologie vor der Kritik bestehen. Vor allem 
gilt dies von der behaupteten Gefühlsstumpfheit und Unempfindlichkeit gegen 
schmerzhafte Eindrücke. Mag vielleicht auch eine solche bei manchen alten 
Verbrechern infolge von psychischer Indolenz bestehen, so trifft dies doch 
sicher bei der Majorität nicht zu, indem von unparteiischer Seite der Be¬ 
weis erbracht ist, dass sich Verbrecher beim Ertragen von Schmerzen häufig 
sehr wehleidig zeigen, sowie vor den allerkleinsten Operationen schon 
zurückscheuen. Die von einigen Anhängern der positiven Schule beobachtete 
Verschärfung des Gesichts- und Gehörssinnes kann sehr wohl durch lang¬ 
jährige Uebung im Verbrecherhandwerk erreicht sein, während die mitunter 
wahrgenommene Herabsetzung des Geruchs- und Geschmacksinnes auf erwor¬ 
bene Ursachen zurückzuführen sein dürfte. Nichts weist also darauf hin, 
dass irgend welche sensitive oder Sinneseigenthtimlichkeiten den Verbrecher 
angeboren seien. Wird endlich noch auf die Neigung zum Tätowiren ein 
besonderer Wert gelegt, so kann auch hier (wie dies u. a. Baer und Lappmann 
erwiesen haben) gewiss von keiner endogenen Eigenschaft die Rede sein, es 
sind vielmehr rein äusserliche Gründe, wie Nachahmung, Eitelkeit u. dgl. m., 
welche dazu antreiben. Beobachtet man doch diese Neigung nicht minder 
häufig auch bei anderen, durchaus ehrbaren Menschenclassen, so namentlich 
bei Soldaten und Matrosen! 

Wenden wir uns jetzt der bedeutungsvollen Besprechung des geistigen 
Zustandes der Verbrecher zu. Zweifellos beobachten wir hier, worauf schon 


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KRIMINAL-ANTHRO POLOGIE. 


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Lombroso aufmerksam gemacht und was von einer Reihe von Autoren Be¬ 
stätigung gefunden hat, bei vielen Gewohnheitsverbrechern, namentlich bei 
solchen, welche sich stets wieder Eigenthumsdelicte, namentlich Diebstahl, zu 
Schulden kommen lassen, eine gewisse geistige Abstumpfung, eine 
gewisse Intelligenz- und Willensschwäche (selbst die geriebenen Taschendiebe 
sollen mehr schlau als gescheidt bei ihren Delicten Vorgehen), bei anderen 
eine nur einseitige psychische Begabung bei sonstiger geistiger Oede, weiter 
hochgradigen Egoismus mit Mangel an altruistischen Gefühlen, Neigung zur 
Eitelkeit und Prahlsucht mit Arbeitsscheu und totalem Fehlen von Scham- 
und ReuegefUhlen. 

Die Annahme aber, alle diese Eigenschaften für endogene und angeborene 
zu halten, beruht auf einer vollkommen unbegründeten Voraussetzung, viel¬ 
mehr sind die meisten derselben erst im Leben erworben. Der Verbrecher 
entstammt überwiegend häufig der untersten Classe der menschlichen Gesell¬ 
schaft, in welcher im allgemeinen Intelligenz und Moral auf einer niederen 
Stufe stehen. Die geistige Entwicklung derselben kann deshalb nur, wie 
Naecke sehr richtig bemerkt, mit der der unteren Volksschichten verglichen 
werden und wird von dieser keine nennenswerten Unterschiede aufweisen. Der 
Gewohnheitsverbrecher hat zudem in der Regel keine oder eine geradezu 
schlechte Erziehung erhalten; von Jugend an hat er nur schlechte Vorbilder 
vor sich gesehen. Es sind also im wesentlichen äussere Verhältnisse, welche 
auf die betreffende Individualität eingewirkt haben. Von einem angeborenen 
Verbrechercharakter zu sprechen, wäre also total irrthümlich. 

Sehr treffend äussert sich in dieser Hinsicht der erfahrene Baer: „Die 
Verbrecherclassen stimmen in ihrer geistigen Entwicklung mit den ihnen 
gleichen Volksschichten in den meisten Gemüths- und Geisteseigenschaften 
überein, nur treten bei ihnen gewisse Hemmungen und Ausschreitungen in 
bestimmter Richtung, in grosser Schärfe und Häufigkeit hervor, so dass man 
diese als charakteristische Eigenschaften der Verbrecher ansehen darf.“ 

Wollten wir aber auch zugeben, obwohl unsere bisherigen Betrachtungen 
nicht zu diesem Resultat geführt haben, es bestehe wirklich ein Verbrecher¬ 
typus, worunter wir eine Summe anatomischer und biologischer Eigenschaften 
zu verstehen hätten, die mit einer gewissen Regelmässigkeit bei den betreffen¬ 
den Individuen beobachtet werden, so kann nicht einmal Lombroso mit seinen 
eigenen Zahlen für seine These eintreten; hat er doch selbst nur bei 25% 
aller Verbrecher (und zwar bei 36% der Mörder und bei 23% der Diebe) 
diesen angeblichen Typus feststellen können, bei Gelegenheitsverbrechern nur 
bei 17%, bei Betrügern und Bigamisten gar nur bei 6%• Bei so nie¬ 
deren Zahlen kann doch nicht wohl ein Typus geltend gemacht 
werden! 

Weiter hat nun die positive Schule den Nachweis sogenannter Dege- 
nerationszeichen als charakteristisch für den geborenen Verbrecher er¬ 
klärt. Man versteht unter Entartungszeichen, Stigmata degenerationis, Ab¬ 
weichungen gewisser Körpertheile von der durchschnittlichen Norm theils in 
physiologischer, theils in morphologischer Hinsicht. Die echten Degenerations¬ 
zeichen sollen angeboren und zum Theil atavistischer Natur sein. Nun sind 
aber echte Atavismen äusserst selten. Mehr und mehr bricht sich die Ueber- 
zeugung Bahn, dass die Mehrheit der früher als Rückschlagsbildungen auf¬ 
gefassten Merkmale mit Unrecht so genannt werden, vielmehr als patho¬ 
logische Erscheinungen aufzufassen sind, die eigenen Erkrankungen oder 
solchen ihrer Erzeuger den Ursprung verdanken. Viele der sogenannten Ent- 
arthngszeichen sind einfache Hemmungsbildungen, durch ungenügende Lebens¬ 
kraft oder Entwicklungsunfähigkeit des Kindes, bedingt durch schlechte Er¬ 
nährung oder Krankheit während des intrauterinen Lebens, oder durch Er¬ 
krankung oder Siechthum während der ersten Lebensjahre (somit Folgen von 

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KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 


Trunksucht, Tuberkulose oder Syphilis der Eltern oder von durch schädliche 
äussere Lebensverhältnisse erworbenem Rhachitismus). 

Neuerdings haben nun zuverlässige Beobachter festgestellt, dass man die 
echten sowohl als die unechten Degenerationszeichen auch bei Nicht- 
Verbrechern vorfindet, und zwar nicht allein bei ehrlichen Geisteskranken 
und Idioten, sondern auch bei Geistesgesunden. Knecht, Baeb und Naecke 
haben sich besonders mit dieser Frage beschäftigt. Dem letzteren verdanken 
wir als Ergebnis seiner Untersuchungen die Feststellung der Thatsache, dass 
unter den Geistesgesunden nur etwa 3°/ 0 völlig frei von Entartungszeichen 
sind. Vereinzelt haben also diese Zeichen keine besondere Bedeutung, 
sie gewinnen eine solche nur bei mehrfachem Auftreten. In dieser Hin¬ 
sicht ist es immerhin bemerkenswert, dass, nach Naecke, die Zahl der fest¬ 
zustellenden Stigmata von den Normalen zu den Geisteskranken, Epileptikern, 
Idioten und Verbrechern hin zunimmt. Völlig wertlos ist also die Bedeutung 
dieser Zeichen nicht. Aber die Anthropologie lehrt doch nur, dass das mehr¬ 
fache Auftreten von Stigmata degenerationis nicht mehr bedeutet alseinen 
bald höheren, bald niederen Grad von Minderwertigkeit sowohl bezüglich 
der geistigen als körperlichen Beschaffenheit des Trägers. Sie bedeutet eine 
gewisse Veranlagung bald zu Neurosen, bald zu Psychosen, zu geistiger und 
moralischer Schwäche, wird dadurch nur mittelbar zum Antrieb zu Verbrechen. 
Die Degenerationslehre vermag also auch nicht die These vom geborenen 
Verbrecher zu stützen, sie lehrt uns nur, dass es physisch und moralisch 
minderwertige Individuen gibt, welche unter begünstigenden äusseren Um¬ 
ständen leichter als vollwertige Menschen auf die Bahn des Verbrechens ge¬ 
leitet werden. 

Wir könnten füglich unsere Betrachtungen über die Anthropologie der 
Verbrecher hiemit beschliessen, wenn es nicht noch gälte, gegen die kühnste 
Hypothese der positiven Schule Stellung zu nehmen. Lombkoso begnügt sich 
nämlich nicht, seine geborenen Verbrecher mit zahlreichen Pinselstrichen 
freier auszumalen, er lässt sich schliesslich dazu verleiten, sein Bild mit einem 
bekannten psychischen Krankheitszustande zu identificiren. Der geborene Ver¬ 
brecher soll, nach seiner heute noch festgehaltenen Darlegung, nicht nur 
eine durch Degenerationszeichen charakterisirte, eigenartige psychische und 
somatische Erscheinung sein, sondern geradezu das Bild der Moral-Insanity 
darstellen. Da nun auch, nach seiner Anschauung, der Epileptiker an Moral- 
Insanity leide, so seien angeborenes Verbrecherthum, Epilepsie und Moral- 
Insanity identische Begriffe! 

Die ganz überwiegende Majorität der sachverständigen Beobachter hat 
über diese absolut haltlose Hypothese rückhaltlos den Stab gebrochen. 

Sittlicher Schwach- oder Blödsinn ist ein Zustand von Gehirnschwäche, 
welcher mehr in moralischer als in intellectueller Schwäche sich äussert und 
die Betroffenen, weil sie eben kein sittliches Bewusstsein besitzen, leicht und 
gleichsam instinctiv zu unmoralischem, unter Umständen verbrecherischem 
Handeln antreiben kann. Dieser Zustand ist nach heutiger psychiatrischer 
Auffassung in der Regel keine selbständige Erkrankung, pflegt vielmehr unter 
sehr verschiedenartigen Umständen, als Begleiter mannigfaltiger Störungen 
aufzutreten, und muss namentlich nicht nothwendig angeboren, kann 
auch erst in späteren Lebensjahren erworben sein. Es liegt nun nahe, dass 
sich unter den degenerirten Gewohnheitsverbrechern ebensowohl solche mit 
angeborener als mit erworbener geistiger Entartung befinden können. Die 
Elemente der angeborenen Moral-Insanity treten mitunter bei von Geburt an 
minderwertigen Gewohnheitsverbrechern hervor. Unter den an erworbenem 
sittlichen Schwachsinn Leidenden spielen die in der Strafanstalt befindlichen 
chronischen Alkoholisten die erste Rolle, an diese reihen sich Epileptiker 
und Kopfverletzte an. So wird es uns denn nicht wundern, dass sich unter 


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diesen psychischen Schwächlingen auch einzelne finden, welche indirect 
das charakteristische Bild der Moral-Insanity aufweisen. Diese bilden aber 
nur Ausnahmen, welche durchaus keine Verallgemeinerung gestatten. Weit- 
aus die Mehrzahl der Gewohnheitsverbrecher zeigt nicht dieses 
Krankheitsbild. 

Noch viel weniger dürfte der psychische Zustand mit der Moral-Insa- 
nity und indirect also mit dem chronischen Verbrecherthum identificirt werden; 
alle wissenschaftliche Erfahrung und die primitivste humanitäre Krankheits¬ 
auffassung widerspricht diesem absurden Dogma. 

Nachdem nunmehr auch diese Stütze gefallen, dürfte die Lehre vom 
geborenen Verbrecher als vollkommen widerlegt zu betrachten sein. 

* * 

* 

Fassen wir die Ergebnisse unserer Erörterungen in Kürze zusammen, 
so führt uns die anthropologische Ergründung der Verbrecher zu folgenden 
Schlüssen: 

1. Das Verbrecherthum beruht nicht auf Atavismus, nicht auf 
einem Rückschlag in den Urzustand des Menschen, nicht auf einen Rückfall 
in den Geisteszustand der Kindheit. 

2. Ein charakteristischer Verbrechertypus existirt nicht, 
wohl aber (neben der überwiegenden Zahl vollkommen geistig und körperlich 
normaler Menschen) finden sich bei Verbrechern öfters mancherlei Abwei¬ 
chungen, namentlich psychische Minderwertigkeit, und intellectuelle und 
moralische Abstumpfung bald mit, bald ohne somatische Degenerationszeichen. 
Alle diese Abweichungen sind aber nicht einheitlich, vielmehr unter 
einander so verschiedener Art, dass sie durchaus keinem Typus entsprechen. 

3. Wir könnenauch nichtvon einem geborenen Verbrecher 
reden, denn nur ein kleiner Theil der thatsächlich vorhandenen Anomalien 
ist angeboren, der grössere Theil erst im Leben erworben, uud zwar durch 
pathologische Zustände in der Kindheit (namentlich Rhachitis), durch aus¬ 
schweifendes Leben (Alkoholismus, Syphilis) und endlich durch die Einflüsse 
langjähriger Einsperrung. 

4. Das Verbrecherthum als solches ist nicht vererbbar, nur die 
degenerative Constitution kann vererbt werden. 

5. Der habituelle psychische Zustand des Verbrechers ent¬ 
spricht durchaus nicht dem Krankheitsbilde der Moral-Insa- 
nity, nur ausnahmsweise wird neben den verschiedenartigsten anders gestal¬ 
teten psychischen Schwächezuständen dieser Symptomencomplex in Strafan¬ 
stalten beobachtet. 

6. Degenerationszeichen haben nur, wenn mehrfach vor¬ 
handen, eine gewisse Bedeutung, sie beweisen aber auch dann nicht 
mehr, als eine Minderwertigkeit höheren oder geringeren Grades. 

7. Die angeborenen Abweichungen im Bau von Schädel 
und Gehirn der Verbrecher entsprechen vollkommen denjenigen, welche 
bei ehrbarenMenschenaus psychopathischenFamilienundbei Idioten 
beobachtet werden. 

Hiemit dürften die Grenzen der Kriminal-Anthropologie gezogen sein. 
Sie kann nicht den Anspruch erheben, eine selbständige Wissenschaft zu 
sein. Ihre bis heute gefestigten Resultate sind mehr negativer als positiver 
Natur, sie führen zu dem Ergebnisse, dass der Verbrecher keine cha¬ 
rakteristischen anthropologischen Merkmale zeige, welche 
ihn von Nicht-Verbrechern unterscheiden, dass sich dagegen 
unter den Verb re ehern nicht wenige Menschen befinden, welche 
Zeichen der Minderwertigkeit und der Entartung aufweisen. 
Wollen wir also überhaupt eine Kriminal-Anthropologie anerkennen, so würden 


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KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 


wir sie wohl am treffendsten als einen Theil der Degenerescenz- 
Anthropologie bezeichnen. 

Trotz dieser mehr negativen Resultate bleibt es ein ungeschmälertes 
Verdienst Lombroso’s und seiner Schule, der anthropologischen Erforschung des 
Verbrechers die Aufmerksamkeit zugewandt und die hohe Bedeutung der In¬ 
dividualität bei der Strafthat gebührend gewürdigt zu haben. Hiemit ist ein 
neues hochwichtiges Element in die gerichtliche Untersuchung eingeführt. 
Man wird künftig die ererbte organische Belastung der Angeklagten mehr 
als bisher berücksichtigen, sowie (natürlich nach Ausschluss der absolut un¬ 
verantwortlichen ausgesprochen Geistesgestörten) bei zweifelhaften Fällen 
Alkoholismus und Syphilis der Eltern, degenerative Zustände, namentlich des 
Schädels, inbetracht ziehen, weiter geistigen Hemmungen, sittlicher Ab¬ 
schwächung, gemüthlicher Reizbarkeit, Neurosen, namentlich der Epilepsie 
und Hysterie, Kopftraumen u. a. m. die Aufmerksamkeit zuwenden. Man 
wird die hochinteressante Verbrecher-Psychologie weiter zu ergründen suchen. 
Die anatomischen Untersuchungen der Verbrecher-Gehirne werden zwar nichts 
für sie charakteristisches, wohl aber öfters als bisher analoge Bildungen wie 
bei Idioten und anderen Defect-Menschen erkennen lassen. 

So ist denn wohl zu erwarten, dass auch künftig die An¬ 
thropologie bei Verbrechern — wenn auch nicht im Sinne der posi¬ 
tiven Schule — weiter eifrig’ forschen und gewiss noch zu 
manchen wissenswerten und praktisch bedeutungsvollen Auf¬ 
klärungen führen werde. 

Andere Forschungen der neueren Zeit haben uns darüber aufgeklärt, 
dass mindestens von der gleichen Wichtigkeit für die Entstehung des Ver¬ 
brechens wie der anthropologische Factor das „Milieu social“, d. h. die 
äusseren Lebensbedingungen des Menschen seien. 

Hier kommt in erster Linie der hochbedeutsame Einfluss der Er¬ 
ziehung des Menschen inbetracht, welcher namentlich bei ererbter ungün¬ 
stiger Anlage fördernd oder hemmend einzuwirken vermag. Thatsächlich be¬ 
gegnen wir auch, wenn wir das Vorleben der Verbrecher studiren, recht häufig 
einer mehr oder weniger grossen Vernachlässigung bis zum vollständigen 
Mangel jeder Erziehung; statt deren wirken nur Eindrücke der Rohheit und 
Unsittlichkeit auf das empfängliche kindliche Gemüth ein und fordern zur 
Nachahmung auf. Verbindet sich nun mit solchen Einflüssen ein angeborener, 
geistiger Schwächezustand, so wird dadurch die beste Grundlage zum Ge¬ 
wohnheitsverbrecherthum gelegt. 

Weiter macht uns der moderne Verb rech er-Sociologe auf die 
Wichtigkeit der socialen Verhältnisse für die Entstehung des Verbrecherthums 
aufmerksam, auf deren hochinteressante Forschungen wir an dieser Stelle 
leider nicht eingehen können. 

Eine unbefangene Prüfung aller neueren Forschungen führt uns zu dem 
schliesslichen Ergebnisse, dass die Neigung zum Verbrechen weder bei einer 
bestimmten Classe von Menschen direct angeboren, noch allein durch das 
Lebensmedium bedingt sei, dass dieselbe vielmehr auf das Zusammen¬ 
wirken einer ganzen Reihe von Einzelfactoren zurückzuführen sei, welche 
zum Theil im Individuum (bald angeboren, bald erworben) liegen, zum 
Theil in den äusseren Verhältnissen, im Milieu social, begründet sind. 
Nur eine gemeinschaftliche Würdigung der individuellen und 
socialen Verhältnisse vermag also hier Licht und Klarheit zu 
bringen. 

KIRN. 


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KUNSTFEHLER. 


519 


Kunstfehler (ärztliche). I. Allgemeines. 

Die Gesetzgebung macht mit Recht jede Medicinalperson (Arzt, Impf¬ 
arzt, Wundarzt, Hebamme) für dasjenige Heilverfahren strafrechtlich ver¬ 
antwortlich, welches durch ihr Verschulden eine Gesundheitsbeschädigung oder 
den Tod des behandelten Kranken herbeigeführt hat. Die Vergehungen der 
Heilspersonen in dieser Richtung werden als „Kunstfehler“ bezeichnet. Man 
versteht also darunter im Allgemeinen die fahrlässige Körperbeschädigung oder 
fahrlässige Tödtung eines Menschen durch eine Heilsperson. 

Alle Culturstaaten haben strafgesetzliche Bestimmungen gegen 
die fahrlässigen Verfehlungen überhaupt, mehrere (Oesterreich, Russland) 
daneben noch besondere Bestimmungen über die ärztlichen Fahrlässigkeiten, 
die Kunstfehler der Aerzte. 

Gesetzliche Bestimmungen: 

Oesterreich. Strfg. § 356. Ein Heilarzt, welcher bei Behandlung eines Kranken 
solche Fehler begangen hat, aus welchen Unwissenheit am Tage liegt, macht sich, insoferne 
daraus eine schwere körperliche Beschädigung entstanden ist, einer Uebertretung, und 
wenn der Tod des Kranken erfolgte, eines Vergehens schuldig, und es ist ihm deshalb die 
Ausübung der Heilkunde so lange’ zu untersagen, bis er in einer neuen Prüfung die Nach¬ 
holung der mangelnden Kenntnisse dargethan hat. 

§ 357. Dieselbe Bestrafung soll auch gegen einen Wundarzt Anwendung finden, der 
die im vorhergehenden Paragraphe erwähnten Folgen durch ungeschickte Operationen eines 
Kranken herbeigeführt hat. 

§ 358. Wenn ein Heil- oder Wundarzt einen Kranken übernommen hat und nach der 
Hand denselben zum wirklichen Nachtheile seiner Gesundheit wesentlich vernachlässigt zu 
haben überführt werden kann, so ist ihm für diese Uebertretung eine Geldstrafe von 50 
bis 200 fl. aufzuerlegen. Ist daraus eine schwere Verletzung oder gar der Tod des Kranken 
erfolgt, so ist die Vorschrift des § 335 (Vergehen gegen die Sicherheit des Lebens und 
fahrlässige Tödtung) in Anwendung zu bringen. 

Deutsches Reich. Strfg. B. § 222. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines 
Menschen verursacht, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. War der Thäter 
zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes 
oder Gewerbes verpflichtet, so kann die Strafe auf drei Jahre Gefängnis erhöht werden. 

§ 230. Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung eines Andern verursacht, wird 
mit Geldstrafe bis zu 200 Thalern oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. War 
der Thäter zu der Aufmerksamkeit, die er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, 
Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet, so kann die Strafe auf drei Jahre Gefängnis 
erhöht werden. 

§ 232. Die Verfolgung leichter, vorsätzlicher, sowie aller durch Fahrlässigkeit ver¬ 
ursachter Körperverletzungen tritt nur auf Antrag ein, insoferne nicht die Körperverletzung 
mit Uebertretung einer Amts-, Berufs- oder Gew er bs pflicht begangen worden ist. 

Frankreich. Code p4nal. §§ 319, 320. 

Italien. Strfg. §§ 554, 555. 

Russland. Strfg. §§ 870, 871, 872, 873, 877. 

Die gesetzlichen Bestimmungen verschiedener Staaten sind, wie sich aus 
dem Wortlaut derselben ergiebt, wesentlich von einander abweichend. Wäh¬ 
rend das österreichische Strafgesetz von den ärztlichen Kunstfehlern handelt, 
ist von diesem Delict im deutschen Strafgesetzbuch und in dem (jetzt aller¬ 
dings zurückgezogenen) österreichischen Strafgesetzentwurf (§§ 236, 244, 245, 
246) gar nicht besonders die Rede, sondern die ärztlichen Kunstfehler fallen 
hier unter die allgemeinen Bestimmungen über fahrlässige Tödtung und 
Körperbeschädigung. Im deutschen Strafgesetz ist der Aerzte besondere 
Erwähnung gethan nur in den §§ 238 (wissentlich unrichtige Ausstellung 
eines Zeugnisses zum Gebrauch einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft) 
und 300 (unbefugte Mittheilung von Privatgeheimnissen). Auf demselben 
Standpunkt steht auch die französiche und italienische Gesetzgebung, während 
das russische Strafgesetz ähnlich dem österreichischen eine besondere Straf- 


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520 


KONSTFEHLER. 


kategorie von Kunstfehlern der Aerzte, Operateure, Feldscherer und Hebammen 
aufgestellt hat. 

Ein sehr ins Gewicht fallender Unterschied zwischen österreichischem 
und deutschem Gesetze besteht darin, dass ersteres nur dann einen Kunst¬ 
fehler annimmt, wenn der angerichtete Schaden wenigstens eine schwere 
Körperverletzung ist, während letzteres sowie der österreichische Strafgesetz- 
Entwurf jede, auch die leichte, fahrlässige Körperbeschädigung, deren sich 
ein Arzt schuldig macht, bestrafen. 

Mit Recht, sagt der Strafrechtslehrer Professor Berner: „Zu missbilligen ist die 
Bestimmung, wonach selbst bei leichten Körperverletzungen von Seiten eines Arztes ohne 
Antrag der Verletzten der Staatsanwalt sich in Bewegung setzen soll. Wenn der Verletzte 
selbst aas Gründen der Hochachtung für den sonst gewissenhaften Arzt, aus Gründen der 
Dankbarkeit gegen ihn wegen früher geleisteter Dienste keine Verfolgung wünscht, so ist 
das an die Verfolgung einer leichten, bloss fahrlässigen Verletzung gebundene öffentliche 
Interesse nicht stark genug, um die Verfolgung zu rechtfertigen.“ 

Eine besondere Härte des Gesetzes liegt in der Verschärfung der Strafe 
bis zu drei Jahren Gefängnis, wenn „der Thäter zu der Aufmerksamkeit, 
welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes 
besonders verpflichtet war.“ Diese Verpflichtung trifft natürlich bei dem 
graduirten Arzte immer zu, sie trifft aber nicht zu bei dem unbefugten Heil¬ 
künstler, beim Kurpfuscher. Richtet der Kurpfuscher einen Schaden an, 
so kommt er viel besser weg, als der befugte Heilarzt; er kann einen Kunst¬ 
fehler überhaupt nicht begehen, da er der ärztlichen Kunst bar ist, und ist 
als Laie, auch wenn er Kranke behandelt, zu einer besonderen Aufmerk¬ 
samkeit nicht verpflichtet. 

IL Arten der Kunstfehler. 

Auf allen Gebieten der in so viele Specialzweige getheilten Heilkunde 
können Fahrlässigkeiten Vorkommen und es können somit in jedem Einzel¬ 
fache der Medicin Kunstiehler begangen werden. Alle Zweige der Heilkunst 
lassen sich jedoch ungezwungen in die drei Hauptgebiete der inneren Medicin, 
der Chirurgie und der Geburtshilfe einreihen. Dementsprechend könnten wir 
die Kunstfehler sachgemäss in medicinische, chirurgische und geburtshilfliche 
untertheilen. Zweckdienlicher dürfte es jedoch sein, nach dem Vorgänge von 
Oesterlen die fahrlässigen Handlungen und Unterlassungen der Heilspersonen 
selbst als Eintheilungsprincip zu Grunde zu legen und die häufigsten Ver¬ 
schuldungen der Aerzte von diesem Gesichtspunkte aus zu betrachten. 

1. Verweigerung der ärztlichen Hilfe und Vernachlässi¬ 
gung eines Kranken. Im § 358 österreichisches Strafgesetz-B. ist der¬ 
jenige Arzt mit Strafe bedroht, welcher einen von ihm „übernommenen“ 
Kranken zum Schaden desselben vernachlässigt zu haben überwiesen wird. 
Gewiss kommen solche Vernachlässigungen vor, oft aber kann hiebei auch 
eine falsche Anwendung des Gesetzes stattfinden. Zunächst ist festzustellen, 
dass der Begriff in „Behandlung übernommen“ keineswegs scharf genug um¬ 
schrieben ist. Ist ein in ambulatorischer Behandlung stehender Kranker vom 
Arzte „übernommen“? oder ein Kranker, welcher den Arzt einmal rufen lässt 
und ihn nicht auffordert wieder zu kommen? Das ist wohl zu verneinen. Nur 
eine nachgewiesene Abmachung kann den Arzt im Sinne des Gesetzes ver¬ 
pflichten. Anders verhält es sich mit seiner moralischen Verpflichtung, welche 
aber nicht Grundlage der Judicatur sein kann. 

In Deutschland ist der ärztliche Berufszwang zugleich mit der Freige- 
bung des ärztlichen Gewerbes aufgehoben, beziehungsweise nur auf den Fall 
eingeschränkt worden, wenn der Arzt „bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr 
oder Noth von der Polizeibehörde zur Hilfe aufgefordert, keine Folge leistet, ob¬ 
gleich er ohne erhebliche eigene Gefahr der Aufforderung genügen konnte.“ 
(§ 360, Abs. 10 d. Stf.-G. B). Selbst diese enger gefasste Bestimmung kann 


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KUNSTFEHLER. 


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noch zu einer ungerechtfertigten Anklage gegen durch ihre Berufstätigkeit 
ohnehin schwer belastete Aerzte führen. 

2. Verkehrte Behandlung aus Irrthum. Hierher gehören alle 
auf diagnostischen Irrthümern beruhenden fehlerhaften Behandlungen. So 
sind Aneurysmen für Abscesse gehalten und eröffnet worden, ohne dass für 
Blutstillung Vorsorge getroffen war, und die Kranken unter der Hand des 
Arztes verbluteten. Es wurden Beine amputirt wegen blosser Geschwüre am 
Fussrücken, die man für Brand gehalten hat, und nicht erkannte Beinbrüche 
wurden in einer Weise behandelt, dass Verkrüppelung die Folge war. In 
diese Kategorie der Kunstfehler fallen auch zahlreiche geburtshilfliche Verschul- 
digungen. Eine falsche Diagnose führt fast nothwendig zu einem verkehrten 
und ungerechtfertigten Eingriff, der eine schwere Beschädigung oder den Tod 
der Gebärenden oder des Kindes zur Folge hat. 

Bei der Beurtheilung dieser Fälle kommt es darauf an, nachzuweisen, 
dass es sich um Zustände handelt, welche bei einiger Aufmerksamkeit richtig 
hätten erkannt werden müssen; es muss ein sträflicher Irrthum vorliegen. 
Oft ist dann noch das unrichtig gewählte Heilverfahren fehlerhaft ausgeführt 
worden, so dass nicht einmal „die gemeinen Fertigkeiten“ angewendet wurden. 

3. Grobe Fehler in der Behandlung richtig erkannter 
Leiden. Die forensische Casuistik ist reich an diesen therapeutischen Kunst¬ 
fehlern. Ein Wundarzt hat eine Schmiercur so energisch angewendet und so 
wenig überwacht, dass eine Verwachsung der Kiefer und der Zunge mit den 
Rachengebilden eingetreten und der Kranke an Hungertod gestorben ist. Ein 
anderer Wundarzt hat einem Mann wegen Krätze concentrirte Carbolsäure 
einreiben lassen, so dass derselbe in kurzer Zeit zu Grunde ging. Dass 
Hebammen Kinder im ersten Bade verbrühen, ist leider wiederholt vorge¬ 
kommen. 

In der Natur der Sache ist es gelegen, dass die wundärztlichen und 
geburtshilflichen Missgriffe viel häufiger beobachtet werden als die bei der 
Behandlung innerer Krankheiten. Bei letzteren ist auch der Nachweis des 
thatsächlich angerichteten Schadens meist sehr schwer zu erbringen. 

Dagegen habe ich die Verurtheilung eines gewerbsmässigen Kurpfaschers durch mein 
Gutachten herbeigeführt, der beim Aderlässe die Leute so lange bluten liess, bis die Blu¬ 
tung von selbst Stillstand, was wiederholt erst eintrat, wenn sie in Folge des grossen Blut¬ 
verlustes ohnmächtig hinfielen. Derselbe Bauer bat auch einem Mann, dessen Arm von 
Aerzten kunstgerecht amputiert worden war, den Verband abgenommen und den Ampu¬ 
tationsstumpf mit einem Pflaster belegt. Es trat Eiterung auf, und der Mann ist an Blut¬ 
vergiftung gestorben. 

4. Unterlassung eines nothwendigen Eingriffes oder Heil¬ 
verfahrens. Das verhältnismässig seltene Vorkommen von Verurteilungen 
wegen ärztlicher und wundärztlicher Unterlassungssünden erklärt sich vor 
allem daraus, dass diese Fehler weit weniger in die Augen springen, als ver¬ 
kehrte Handlungen, und ferner daraus, dass nur selten behauptet werden kann, 
bei einer anderen Behandlung würde der schlimme Ausgang sicher vermieden 
worden sein. Sehr schwer ist namentlich die Begutachtung der Behandlung 
innerer Krankheiten. Hier muss den wissenschaftlichen Ueberzeugungen und 
den praktischen Erfahrungen jedes einzelnen Arztes ein weiter Spielraum 
gewährt werden, und es ist im Wesen vieler innerer Krankheiten und in der 
Compliciertheit des menschlichen Organismus begründet, dass mitunter recht 
verschiedene Verfahrungsweisen in der Behandlung ein und derselben Krank¬ 
heit zum Ziele führen, und dass jede für vollkommen berechtigt, ja rationell 
erklärt werden muss. Selbst die Homöopathie, diese grosse Unterlassungs¬ 
sünde, wie Casper sie ungemein zutreffend nennt, vermag ich nicht so generell 
wie er abzuthun als ein permanentes Verbrechen an der Menschheit, sondern 
auch hier muss individualisirt werden. Jedenfalls hat das homöopathische 
Heilverfahren noch niemals positiv geschadet, was leider von der Allopathie 


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KÜNSTFEHLER. 


nicht gesagt werden kann. Der allopathische Arzt hat mitunter durch zu 
dreiste Verordnung differenter Arzneimittel, der homöopathische durch die 
Unwirksamkeit seiner Darreichungen, also durch Unterlassung geschadet. Es 
kann eben jeder Arzt, auch der Hydro- und Elektrotherapeut sich eines Kunst¬ 
fehlers schuldig machen, aber es ist keine Behandlungsmethode, weder die 
Homöopathie noch das KNEipp’sche Verfahren als solche ein Kunstfehler. 

Wenn aber ein Homöopath einem Menschen, dem ein Fremdkörper ins Auge einge- 
drnn&en ist, ohne auch nur einen Versuch za machen, denselben zu entfernen, so lange 
innerlich (!) Belladonna nehmen lässt, bis — das Auge an Fanopbthalmie zu Grunde gegangen 
ist, und Kneipp einem Augenkranken so lange kaltes Wasser über den Kopf giessen lässt, 
bis dieser zwar nicht sehend, aber inoperabel und auf einem Auge blind geworden ist, so 
haben sich beide eines Kunstfehlers schuldig gemacht, ebenso wie der schulgerecht gebildete 
Arzt, welcher solche Dosen chlorsaures Kali innerlich verordnet, dass der Kranke an der 
dadurch erzeugten Vergiftung stirbt. End jede dieser Handlungen beziehungsweise Unter¬ 
lassungen hat wirklich stattgefunden. 

Nicht zu selten sind die ärztlichen Unterlassungssünden auf dem Gebiete 
der Chirurgie: Bei einer unverkennbaren Arterienblutung unterbleibt die Unter¬ 
bindung, bei einer eingeklemmten Hernie wird der lebensrettende Bruch¬ 
schnitt (Herniotomie) nicht ausgeführt, ein verrenktes Glied wird nicht ein¬ 
gerichtet u. s. f. 

Die schwersten Verstösse im Gebiete der Chirurgie und Geburtshilfe 
ergeben sich aber aus der Nichtbeachtung der Grundsätze der Antisepsis, 
welche heute wohl als ein vollkommen gesichertes Gemeingut aller Aerzte 
betrachtet werden müssen. Durch die zielbewusste Fernhaltung oder Ent¬ 
fernung jener Mikroorganismen, welche Wundeiterungen und Blutvergiftung 
herbeiführen, sind ungeheuere Fortschritte der Chirurgie und Geburtshilfe 
erzielt und ausserordentliche Heilerfolge nicht nur möglich gemacht, sondern 
Regel geworden. Mit der denkbar grössten Sicherheit können heutzutage die 
schwierigsten Operationen ausgeführt und sonst meist lebensgefährliche Ein¬ 
griffe ohne Gefahr unternommen, bestehende Lebensgefahren durch rechtzeitig 
eingeleitete antiseptische Verfahrungsweisen beseitigt werden. Jeder Arzt hat 
die Pflicht, nach diesen „allgemein anerkannten und bekannten Regeln der 
Heilkunst“ bei der Wundbehandlung und bei operativen Eingriffen zu ver¬ 
fahren; jeder Hebamme ist durch eine besondere Instruction ein genaues 
antiseptisches Verfahren bei ihren Hilfeleistungen zur gesetzlichen Pflicht 
gemacht. 

Bedauerlicherweise sind gerade die Verfehlungen gegen diese Regeln 
noch immer recht zahlreich, zumeist allerdings seitens der Hebammen, durch 
deren vorschriftswidriges Handeln noch oft genug Menschenleben gefährdet 
oder zugrunde gerichtet werden. Es ist ein grosses Verdienst von Nussbaum, 
zuerst in eindringlicher Weise auf die Bedeutung der Antiseptik für die 
gerichtliche Medicin hingewiesen und mit klarer und scharfer Logik die aus 
der Erkenntnis der Gesetze dieser Heilmethode hervorgehende erhöhte Ver¬ 
antwortlichkeit der Heilspersonen dargelegt zu haben. Es ist ein Gebot der 
Schutzpflicht des Staates, für jeden Einzelnen gerade diese Vergehungen mit 
ihren meist sehr schweren, aber in der Regel leicht nachweisbaren Folgen 
mit Nachdruck zu verfolgen. Die Ausserachtlassung dieser wichtigsten und 
völlig gesicherten Erkenntnisse der neueren Heilkunde hat, wie zahlreiche 
eigene und fremde Erfahrungen lehren, nur zu viele Menschenleben schon 
gekostet. 

5. Fahrlässige Verbreitung von Krankheiten. Handlungen oder 
Unterlassungen von Aerzten können selbstverständlich auch zur Verbreitung 
ansteckender Krankheiten führen. So ist beispielsweise durch fahrlässiges 
Vorgehen von Aerzten und Hebammen schon mehrmals Syphilis übertragen 
worden; besonders ist eine solche Uebertragung wiederholt auch durch die 
Impfung zu jener Zeit vorgekommen, als noch häufig humanisirte Lymphe 
verwendet oder vom Arm eines Stammimpflings direct abgeimpft wurde. Das 


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KUNSTFEHLER. 


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deutsche Impfgesetz bedroht im § 17 auch den Impfarzt mit hoher Strafe, 
„welcher bei der Ausführung der Impfung fahrlässig handelt.“ Bei der An¬ 
wendung animaler Lymphe, die jetzt allgemein ist, besteht zwar diese Gefahr 
nicht, wohl aber könnte bei fahrlässigem Vorgehen Tuberkulose vom Rinde 
auf den Menschen übertragen werden. 

Aber auch alle anderen Infectionskrankheiten können durch ärztliche 
Fahrlässigkeit verschleppt werden. Es wird dies namentlich dann leicht 
möglich sein, wenn die vorgeschriebene Anzeige an die Behörde unterbleibt 
und dadurch die Vornahme der Desinfection und die Isolirung des Kranken 
verhindert wird. Mit Recht ist dieser Fall in den neueren Strafgesetzen 
besonders vorgesehen. So droht das deutsche Strafgesetz (§ 327 deutsches 
Str.-G.-B.) empfindliche Strafen an, wenn der Arzt „die zur Verhütung des 
Einführens oder Verbreitens einer ansteckenden Krankheit von der zuständigen 
Behörde angeordneten Absperrungs- oder Aufsichtsmaassregeln wissentlich 
verletzt“; und der österreichische Strafgesetzentwurf enthält gleichfalls zwei 
bezügliche Bestimmungen; § 363: „Wer einer ansteckenden Krankheit in einem 
Orte oder Gebiete, wo sie noch nicht verbreitet ist, Eingang verschafft, wird 
mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis von drei Monaten bis 
zu fünf Jahren bestraft. Hat die Handlung eine schwere Körperverletzung 
verursacht, so ist auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren, und wenn dadurch der 
Tod eines Menschen verursacht worden ist, auf Zuchthaus von 5—20 Jahren 
zu erkennen“. —§ 365: „Wer den Anordnungen, welche von der Behörde zur 
Abwehr oder Tilgung einer ansteckenden Menschenkrankheit erlassen worden 
sind, zuwider handelt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. Ist 
in Folge dessen ein Mensch von der ansteckenden Krankheit ergriffen worden, 
so tritt Gefängnis von drei Monaten bis zu drei Jahren ein“. 

Unter diese Strafbestimmungen würde auch fallen 

6. das gewissenlose Experimentiren an Kranken. Darunter 
sind keineswegs zu verstehen Versuche, welche an Kranken mit neuen Behand¬ 
lungsmethoden, die theoretisch begründet sind, zum Zwecke der Heilung eines 
Leidens angestellt werden. Solche Versuche müssen gemacht werden, ohne 
sie wäre ein Fortschritt in der Heilkunde unmöglich. Wohl aber ist es ver¬ 
werflich und strafbar, wenn Kranke zu Versuchen verwendet werden, welche 
nicht auf die Heilung ihres Leidens, sondern auf die Feststellung anderer 
pathologischer Thatsachen, z. B. die Uebertragbarkeit eines natürlichen oder 
künstlich gezüchteten Krankheitsstofles abzielen, sobald dadurch dem Kranken 
ein Nachtheil an seiner Gesundheit oder eine Gefahr erwächst. Ich glaube, 
dass es kein Richter zu billigen und kein Gerichtsarzt zu vertheidigen ver¬ 
möchte, wenn zu solchem Zwecke in ärztlicher Behandlung stehenden Kindern 
Syphilis inoculirt und in Anstalten befindliche Geisteskranke mit Tripper 
behaftet werden, wie es thatsächlich geschehen ist. Solche wissenschaftlich 
allerdings höchst wertvolle Versuche könnten meines Erachtens vielleicht an 
vollsinnigen Gesunden mit ihrer Zustimmung ausgeführt werden, niemals aber 
an unmündigen oder entmündigten Kranken, die sich im besonderen Schutze 
einer Heilanstalt befinden. 

Diese Auffassung ist sowohl von hervorragenden Gorichtsärzten vertreten, wie auch 
durch richterliches Urtheil als zutreffend anerkannt worden. So veröffentlichen Briand 
und Chaude den Wortlaut eines vom Gerichtshöfe zu Lyon gefällten Urtheiles über Aerzte, 
welche einen mit Kopfgrind behafteten 10jährigen Knaben behufs Feststellung der Ueber¬ 
tragbarkeit der sogenannten secundären Syphilis mit dieser Krankheit behaftet haben, und 
Klusemann theilt weitere derartige Fälle mit. Casper spricht sich dahin aus, dass für diese 
Fälle selbst die Bestimmung des § 229 deutsches Straf-Gesetz Anwendung finden könne: 
„Wer vorsätzlich einem anderen Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit 
zu zerstören geeignet sind, wird mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren bestraft.“ 

7. Vergiftung durch Fahrlässigkeit. Diese leider auch nicht 
allzuselten vorkommenden Unglücksfälle ereignen sich entweder durch sorglose 


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KUNSTFEHLER. 


und unrichtige ärztliche Verschreibungen oder durch nicht entsprechende 
Anordnungen über die Darreichung richtig verordneter Medicamente oder — 
dies am häufigsten — durch Verwechslung von Medicamenten in den Apothe¬ 
ken, mitunter durch übereifrige Verschreibung von in ihren Wirkungen noch 
nicht genügend erprobten neuen Heilmitteln, von denen die hochentwickelte 
chemische Industrie immer wieder neue auf den Markt wirft. Gewiss kann 
und soll keinem Arzt untersagt werden, neue Heilmittel an Kranken zu ver¬ 
suchen, ja das Streben nach Vermehrung der therapeutischen Mittel ist voll¬ 
auf gerechtfertigt. Bei genügender Vorsicht sind derartige Versuche wohl 
auch immer ungefährlich. Der Arzt muss sich aber gerade in diesen Fällen 
seiner vollen Verantwortlichkeit bewusst sein und hat sich zu vergegen¬ 
wärtigen, dass sein Diplom kein Freibrief für gewissenloses Experimentiren 
am Krankenbette ist, sondern dass sein geleisteter Eid ihn vielmehr ver¬ 
pflichtet, jederzeit mit der grössten Gewissenhaftigkeit und mit Anwendung 
seines ganzen Wissens und Könnens in der Ausübung seines verantwortungs¬ 
vollen Berufes zu Werke zu gehen. 

III. Die Aufgaben des Gerichtsarztes. 

Der Beweis eines Kunstfehlers pro foro kann nur durch gerichtsärztlichen 
Ausspruch erbracht werden und ist diese Aufgabe des Gerichtsarztes immer 
eine sehr peinliche, häufig auch eine ausserordentlich schwierige Sache. Der 
Sachverständige hat zu untersuchen, inwieweit der Beschuldigte oder Angeklagte 
sich eine Fahrlässigkeit zuschulden kommen liess oder, im Sinne des öster¬ 
reichischen Gesetzes, inwieweit er Fehler begangen hat, aus welchen Un¬ 
wissenheit am Tage liegt, und welche Folgen aus dem fahrlässigen Handeln 
oder Unterlassen hervorgegangen sind. So einfach dies zu sein scheint, so 
schwierig gestaltet sich die Sache meist im Einzelfalle. 

Zunächst entsteht die Frage: Was verstehen wir unter einem Kunst¬ 
fehler im ärztlichen (nicht juridischen) Sinne? Schon in der Beantwortung 
dieser Grundfrage ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten. Casper hat 
folgende Definition eines Kunstfehlers aufgestellt: „Die nach einer ärztlichen 
(wundärztlichen, geburtshilflichen) Behandlung erwiesenermassen eingetretene 
Gesundheitsbeschädigung oder Tödtung eines Menschen ist dem Arzte zuzu¬ 
rechnen, wenn seine Behandlung ganz und gar abweichend war von dem, was 
in Lehren und Schriften seiner wissenschaftlich anerkannten Zeitgenossen für 
einen solchen oder einen diesem ähnlichen Fall als allgemeine Kunstregel 
vorgeschrieben und durch ärztliche Erfahrung der Zeitgenossen als richtig 
anerkannt worden ist.“ Dieser Satz ist mit Recht allgemein zurückgewiesen 
worden, so sehr er auch im ersten Augenblicke zutreffend zu sein scheint. 
Wenn die Heilkunde eine feststehende Wissenschaft und die Heilkunst stereotyp 
wäre, dann würde es leicht sein, ihre Regeln festzustellen. Die mediciniscbe 
Wissenschaft ist aber in fortwährender Entwicklung, im unausgesetzten Fort¬ 
schreiten begriffen; sie gestaltet sich vor den Augen der „Zeitgenossen“ 
wesentlich um. Wir kennen nur verhältnismässig wenig unwandelbare, natur¬ 
gesetzliche Thatsachen und Methoden der praktischen Medicin. Dahin gehört 
nach Virchow beispielsweise die Lehre von den Maximaldosen derjenigen 
Arzneimittel, die bei bestimmter Gabe tödtlich (als Gifte) wirken; dahin zähle 
ich die Lehre von der mechanischen Blutstillung verletzter grosser Blutgefässe. 
Ein Arzt, welcher durch Ueberschreitung der wissenschaftlich festgestellten 
Maximalgabe eines differenten Arzneikörpers (Giftes) den Tod eines Menschen 
bewirkt oder der bei durchschnittener Armarterie sich auf die Verordnung 
kalter Umschläge beschränkte und die Compression oder Unterbindung unter¬ 
lasse, so dass der Verletzte trotz der Anwesenheit eines Arztes an Verblutung 
zugrunde ginge, hätte einen, man könnte sagen absoluten Kunstfehler 
gemacht. Die Beurtheilung dieser ist allerdings leicht. So stehen aber die 
Dinge nur selten. 


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KUNSTFEHLER. 


525 


Unter der segensreichen Wirkung der Antiseptik und Asepsis werden 
heute Operationen ausgeführt an Organen, deren Verletzung vordem für 
absolut tödtlich und daher für kunstwidrig galt; noch zeitgenössische Aerzte 
würden vor einigen Decennien Exstirpationen des Kehlkopfs, der gesunden 
Eierstöcke, einer Niere, Magenresectionen u. dgl. für vollkommen unerlaubte 
Eingriffe erklärt haben. Haben die Heroen der modernen Chirurgie, ein 
Billroth, Lister und Andere, welche solche Operationen zuerst ausgeführt, 
Kunstfehler begangen? Und welche Wandlungen sind in der Behandlungsart 
innerer Krankheiten vor sich gegangen! Man denke nur an die Behandlung 
der Fieberkranken mit kaltem Wasser und an die Verbannung des Aderlasses 
aus der Behandlung der Lungenentzündung. Es hiesse den Fortschritt der 
Heilkunde gewaltsam aufhalten wollen, wenn man jedes ärztliche Handeln 
dem Urtheile der Zeitgenossen überwiese, ganz abgesehen davon, dass erst 
festgestellt werden müsste, wo die Zeitgenossen anfangen und aufhören. 
Caspers Definition kann demnach nicht angenommen werden. 

Virchow hat die Kunstfehler in ähnlicher Weise definirt als Verstösse 
gegen allgemein anerkannte Regeln der Heilkunst. Er wendet sich gegen 
die zu allgemeine Fassung der gesetzlichen Bestimmungen und schlägt folgende 
Zusätze zu den 222 und 230 Deutsch. StrGB. vor, eine Anregung, die 
jedoch unberücksichtigt geblieben ist. „Auf technische Handlungen oder 
Unterlassungen, welche approbirte Medicinalpersonen in Ausübung ihres 
Berufes begehen, finden diese Bestimmungen nur dann Anwendung, wenn 
dabei aus Mangel an gehöriger Aufmerksamkeit oder Vorsicht gegen allgemein 
anerkannte Regeln der Heilkunst verstossen ist“ — und — „approbirte 
Medicinalpersonen, welche in Ausübung ihres Berufes aus Mangel an gehöriger 
Aufmerksamkeit oder Vorsicht und zuwider allgemein anerkannten Regeln 
der Heilkunst durch ihre Handlungen oder Unterlassungen die Gesundheit 
eines ihrer Behandlung übergebenen Menschen beschädigt haben, sollen . . . 
bestraft werden“ . . . Mit diesen „allgemein anerkannten Regeln der Heil¬ 
kunst“ könnten nach Wald nur diejenigen Erfahrungssätze der Wissenschaft 
und Regeln der Kunst gemeint sein, welche einem Systemwechsel nicht 
unterliegen, welche als „Naturgesetze, als axiomartige Wahrheiten“ weder 
von den verschiedenen Heilmethoden und Schulen, noch von den Anschauungen 
der Einzelnen geändert oder verschieden angesehen werden können. Wenn 
auch bedauerlicherweise Virchows Vorschläge nicht Gesetzeskraft erlangt 
haben, so bilden sie für uns doch als Ausdruck der Auffassung einer höchsten 
medicinischen Autorität eine bleibende, wertvolle Unterlage für die gerichts¬ 
ärztliche Beurtheilung von ärztlichen Kunstfehlern, wobei der „Verstoss gegen 
allgemein anerkannte Regeln der Heilkunst“ nur in dem beschränkten Sinne 
eines Verstosses gegen Naturgesetze, gegen Wahrheiten, welche über dem 
Wechsel der ärztlichen Anschauungen und unberührt von diesen stehen, auf¬ 
zufassen ist. 

Der Verstoss gegen die allgemein anerkannten Regeln der Kunst kann 
aber unter Umständen gar nicht strafbar sein, dann nämlich, wenn er unter 
einer falschen Voraussetzung begangen worden ist, wenn er veranlasst worden 
ist durch einen Irrthum, durch ein Verkennen des Falles. „Ist der Irrthum 
zu entschuldigen, dann ist auch die Handlung entschuldbar, welche dem 
Irrthum entsprungen ist,“ sagt zutreffend Oesterlex, „vorausgesetzt, dass in 
der Art ihrer Ausführung nicht selbst wieder ein grober Fehler vorgekommen 
ist.“ Wenn ein Wundarzt keinen Versuch macht, eine von ihm erkannte 
Verrenkung wieder einzurichten, und der Patient kommt dadurch zu Schaden, 
so ist der Arzt sicherlich strafbar. Hat er aber die Verrenkung nicht sicher 
erkannt, sondern sie nur für eine Quetschung gehalten, so kann er für die 
Unterlassung der Einrichtungsversuche wohl nicht strafbar sein. Es kommt 
dann nur darauf an, ob der Fall derart war, dass — nach dem Ausdrucke 


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KURPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN. 


des ehemaligen bayrischen und hannoverschen Strafgesetzbuches — schon „die 
gemeinen Kenntnisse und Fertigkeiten“ ausgereicht haben würden, den Fall 
richtig zu erkennen, was im österreichischen Strafgesetze mit dem „am Tage¬ 
liegen der Unwissenheit“ und im deutschen mit „ausser Auge setzen der 
Aufmerksamkeit“ ausgedrückt ist. 

Allein auch damit ist die Aufgabe des Gerichtsarztes noch nicht er¬ 
schöpft und die strafbare Fahrlässigkeit noch nicht für alle Fälle erwiesen. 
Es muss auch festgestellt werden, dass der Arzt in der Lage war, von den 
gemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten Gebrauch zu machen, dass er nicht 
durch äussere Umstände, wie Krankheit oder Uebermüdung daran gehindert 
war, oder dass er nicht etwa durch die Nothwendigkeit einer schnellen Ent- 
schliessung, welche ihm zu ruhiger Prüfung der Umstände nicht Zeit liess, 
zu seinem Fehlgriff verleitet worden ist, kurz — der Arzt muss in der Lage 
gewesen sein, frei und dadurch mit voller Verantwortlichkeit zu handeln. 
„Freilich,“ sagt Virchow, „das Publicum und zuweilen auch der Staatsanwalt 
gehen nur zu leicht von der Voraussetzung aus, der Arzt dürfe nie krank, 
nie ermüdet, nie erschöpft sein. Der Arzt soll zu allen Zeiten bereit sein, 
nicht nur die Behandlung eines Kranken zu übernehmen, sondern sie auch 
in der exactesten und besten Weise zu führen. Ist es doch in den bekannt 
gewordenen Verhandlungen wegen Verletzung des § 200 das gewöhnliche 
Verfahren des Staatsanwaltes gewesen, den Aerzten den Beweis zuzuschieben, 
dass sie erkrankt oder erschöpft waren, während er seinerseits den Beweis 
hätte liefern sollen, dass dieselben weder erkrankt noch erschöpft sein konnten“. 
Wenn sich der Arzt jedoch durch eigene Schuld in eine Lage gebracht hat, 
in der er unfähig war, von seinen Kenntnissen und Fertigkeiten Gebrauch 
zu machen, z. B. durch Trunkenheit, so wird sein in diesem Zustande be¬ 
gangener Fehler nur umso strafbarer sein. 

Zur Strafbarkeit eines Kunstfehlers gehört endlich noch der Nachweis, 
dass ein Schaden angerichtet worden ist. Als solchen verlangt das öster¬ 
reichische Gesetz wenigstens eine schwere Verletzung im Sinne des § 152 
StrGB., das deutsche und der österreichische Entwurf erachten jede, auch die 
leichteste Verletzung für genügend zum Thatbestande des Kunstfehlers. 
Sicherlich muss aber unter allen Umständen ein Nachtheil an der Gesundheit 
nachgewiesen werden, und das ist in jedem Falle eine Obliegenheit der 
begutachtenden Aerzte. 

Unter Berücksichtigung aller für den Thatbestand und forensischen 
Nachweis eines Kunstfehlers erforderlichen Momente hat Oesterlen eine 
Definition gegeben, welche zwar etwas schwerfällig, aber sachlich vollkommen 
entsprechend ist. Er sagt: „Ein Arzt hat sich eines strafbaren Kunstfehlers 
schuldig gemacht, wenn er, obgleich er sich in einer Lage befand, welche 
ihm die freie Benützung seiner Kenntnisse und Fertigkeiten gestattete, dennoch 
einen seiner Behandlung anvertrauten Kranken dadurch beschädigt oder ge- 
tödtet hat, dass er in seinem Thun oder Lassen gegen allgemein anerkannte 
Kunstregeln verstiess, während er doch den Fall richtig erkannt hatte oder 
bei Anwendung der gewöhnlichen Kenntnisse und Fertigkeiten richtig erkannt, 
und den Fehler vermieden haben würde“. Diesen Satz dem Gutachten über 
ärztliche Kunstfehler zugrunde zu legen, wird unter allen Umständen ge¬ 
boten sein. j. KKATTER. 

Kurpfuscherei und Geheimmittel wesen. „Kurpfuscher“ oder „Me- 
dicinalpfuscher“ nennt der gesetzlich approbirte Arzt alle diejenigen 
Personen, die sich — ohne dazu durch eine staatliche Anerkennung befugt 
zu sein — mit der Behandlung von Kranken behufs deren Heilung befassen. 
In Oesterreich enthält dieses Wort einen gesetzmässigen und strafrecht¬ 
lichen Begriff, indem das Oesterreichische Strafgesetzbuch den unbefugten 


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Betrieb des Arztgewerbes unter Strafe stellt, eine Bestimmung, die auch der 
jüngst vorgelegte neue Entwurf beibebält. 

In letzterem lautet der § 454: „An Geld bis zu 100 fl. wird bestraft: 1. Wer unbe¬ 
fugt ärztliche Verrichtungen gewerbsmässig unternimmt. 2 . Wer unbefugt Arzneimittel für 
Kranke gewerbsmässig verabfolgt. Bei wiederholter Verurtheilung kann auf Haft oder auf 
Geldstram bis zu 200 fl. erkannt werden.“ 

Gleiche Bestimmungen galten früher auch in Deutschland, wo eben¬ 
falls die Ausübung ärztlicher Praxis ausschliesslich den staatlich approbirten 
Medicinalpersonen zugestanden, jedem anderen dagegen unter Androhung 
empfindlicher Strafe verboten war. Seit dem Inkrafttreten der Nord¬ 
deutschen Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 aber ist für das 
Gebiet des Deutschen Reiches volle Kurirfreiheit gewährt, und damit in 
Deutschland der Begriff des „Kurpfuscherthums“ vor dem Gesetze hinfällig 
geworden. Seitdem darf sich • Jedermann, wer es auch sei, und gleichviel, 
welche Ausbildung er genossen oder nicht genossen, mit der Heilung Kranker 
beschäftigen, ja diese Beschäftigung zu seinem Berufe und Gewerbe machen. 
Grenzen werden dieser Befugnis erst da gesteckt, wo die Paragraphen des 
Strafgesetzbuches über Betrug, über Körperverletzung oder über Verbrechen 
oder Vergehen wider das Leben in Kraft treten. (Allein den Apothekern ist 
die Vornahme ärztlicher Handlungen nach wie vor untersagt. Siehe z. B. 
§ 27 der Oesterreichischen Apothekerordnung, sowie die „Vorschriften be¬ 
treffend Einrichtung und Betrieb der Apotheken im Königreich Preussen“ vom 
16. December 1893, § 37). Seitdem befassen sich, wie es bei dem der mensch¬ 
lichen Natur tief innewurzelnden Drange, einerseits Vorgefundene Noth zu 
lindern, andererseits die eigene Person in den Vordergrund zu drängen und 
sich selbst Vortheile zu verschaffen, nicht anders sein kann, schier Unzählige 
bald nur gelegentlich, bald aber auch dauernd und gewerbsmässig mit der 
Behandlung Leidender. Gross ist unter diesen die Zahl solcher, die mit dem 
Baue, den Einrichtungen, Functionen und Störungen des menschlichen Körpers 
nur in sehr lückenhafter Weise vertraut sind, ja über alle diese Dinge gerade¬ 
zu verkehrte und grundfalsche Anschauungen besitzen. Es bedarf kaum der 
näheren Begründung, dass diese zur Zeit im Deutschen Reiche herrschende 
Ordnung des Heilwesens nach verschiedenen Richtungen hin ernstliche Ge¬ 
fahren in sich birgt. Zweifellos begibt sich erstens der einzelne Patient, der 
sich oft mit vollem Vertrauen der Kunst des Laienarztes an vertraut, häufig 
in schwere Gefahr für Leib und Leben: unzähligemale wird die für eine ver¬ 
hältnismässig leichte, rasche und sichere Heilung der verschiedenen Leiden 
günstige Zeit der Anfangsstadien mit dem zwecklosen Schmieren indifferenter 
Pfuschersalben nutzlos vergeudet, gar nicht zu reden von den zahllosen 
zweifellos constatirten Fällen, in denen die Behandlung des Pfuschers nicht 
allein nicht geholfen, sondern geradezu geschadet und Gesundheit und Leben 
vernichtet hat. Und handelt es sich in derartigen Fällen immer noch allein um 
das Wohl und Wehe des einzelnen Kranken, so kommt in anderen durch das 
Treiben der Kurpfuscher häufig zweitens auch das allgemeine Wohl in die 
allerschwerste Gefahr; es ist sicher festgestellt, dass so manche Endemie oder 
gar Epidemie von Diphtherie, Pocken, Cholera, Typhus und anderen gefähr¬ 
lichen Infectionskrankheiten mit Leichtigkeit vermieden oder doch ganz er¬ 
heblich gemildert worden wäre, wenn nicht die ersten Fälle derselben in die 
Hände unwissender Pfuscher gerathen wären, die nicht imstande waren, die 
Grösse der Gefahr zu erkennen, und dieser entsprechend sachgemässe Anord¬ 
nungen zu treffen. Endlich geschieht drittens den berechtigten Interessen 
der staatlich approbirten Aerzte durch die ihnen von seiten der Kurpfuscherei 
erwachsende Concurrenz in unbilliger Weise Schaden. In der That nimmt 
das Gesetz den legalen Arzt gegenüber der Thätigkeit nicht approbirter Heil- 
beflissener lediglich dadurch in Schutz, dass es die Qualification als Arzt 
(d. h. das Recht, sich so nennen zu dürfen) als rechtlich erworbenes und in- 


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tangibles Privilegium anerkennt, und Vorspiegelungen jedes Unberufenen, 
mittels deren ein solcher sich die Benennung als Arzt anzumaassen sucht, 
verfolgt und unter Strafe stellt, nach Maassgabe des § 147 der Reichsgewerbe¬ 
ordnung, Punkt 3: 

„Wer, ohne hierzu approbirt za sein, sich als Arzt (Wandarzt, Augenarzt, Geburtshelfer, 
Zahnarzt, Thierarzt) bezeichnet, oder sich einen ähnlichen Titel beilegt, durch den der 
Glauben erweckt wird, der Inhaber desselben sei eine geprüfte Medicinalperson, wird mit 
Geldstrafe bis za 300 Mark und im Unvermögensfalle mit Haft bestraft.“ 

Der damit den Aerzten gewährte Schutz ist gegenüber den erfinderischen, 
stets auf neue Kniffe sinnenden Bestrebungen gewerbsmässiger Pfuscher nur 
gering, zumal die Frage, ob ein bestimmter Titel, den ein solcher sich bei¬ 
gelegt hat, ein „ärztlicher“ sei, nach den Umständen des concreten Rechts¬ 
falles oft sehr streitig sein kann. Gegenüber diesem Mangel an gesetzlichem 
Schutze haben sich die Aerzte eine Art von Selbsthilfe zu schaffen gesucht 
durch die Gründung ärztlicher Bezirksvereine, welche — neben der Wahr¬ 
nehmung der ärztlichen Standesinteressen in weitestem Umfange — auch un¬ 
ablässig auf die Thätigkeit des Pfuscherthums ein wachsames Auge richten 
und sich bemühen, es nach Möglichkeit in Schranken zu halten. Eben diesen 
ärztlichen Standesvereinen danken wir vielfach die wertvollsten Kenntnisse 
über das Treiben der Kurpfuscher; ist doch in manchen Bezirken — wie z. B. in 
gewissen Theilen der Provinz Pommern — infolge ihrer Wachsamkeit und gegen¬ 
seitiger Mittheilung aller diesbezüglichen Beobachtungen fast jeder einzelne 
Kurpfuscher sämmtlichen Aerzten des Bezirkes sowohl dem Namen und der 
Person nach, wie auch in seiner gesammten Thätigkeit bekannt. 

Wenden wir den Vertretern des Kurpfuscherthums im einzelnen unsere 
Aufmerksamkeit zu, so können wir dieselben zunächst überall in zwei Haupt- 
classen unterscheiden: in die gewerbsmässigen und die gelegentlichen. In 
beiden Classen finden wir Angehörige aller nur erdenklichen Berufszweige 
und Stände, vom unwissenden Schäfer, der nicht seinen Namen schreiben 
kann, bis zum gebildeten Lehrer und Geistlichen, ja bis zum vornehmsten 
adeligen Junker und zur hocharistokratischen Gutsherrin. Und beide Classen 
von Kurpfuschern treiben überall ihr Wesen, wo Menschen wohnen, auf dem 
Lande sowohl wie in den Städten. Die gewerbsmässigen Kurpfurscher haben 
vielfach eine überraschend grosse Klientel und verdienen zum Theil erstaun¬ 
liche Summen Geldes. Auf dem Lande schenkt das Publicum mit Vorliebe 
einem alten Schäfer sein Vertrauen, der oft seine „Wissenschaft“ vom Vater 
oder Grossvater überkommen oder „ererbt“ hat; an anderen Orten behaupten 
alte Frauen entschieden den ersten Platz. Vielfach haben diese Leute nicht 
die mindesten Kenntnisse von anatomischen, physiologischen und pathologischen 
Dingen; meist würden sie nicht imstande sein, auch nur die Lage von Herz 
oder Magen, Leber, Milz oder Niere im Körper richtig zu bezeichnen. Den¬ 
noch sind sie zumeist weit davon entfernt, Betrüger zu sein. Sie selbst sind 
felsenfest von der ihnen innewohnenden Kraft, Krankheiten heilen zu können, 
überzeugt, obgleich ihre ganze Heilthätigkeit lediglich darin besteht, dass sie unter 
geheimnisvollen Maassnahmen, unter denen vielfach Beziehungen zum Monde 
eine grosse Rolle spielen, häufig gänzlich sinnlose Worte über den Kranken 
hinsprechen. — Hauptsächlich in den Städten ist das Feld der Heilthätigkeit 
für eine grosse Anzahl von Personen, die doch wenigstens ein gewisses, wenn 
auch oft nur geringes Maass von Kenntnissen in ärztlichen Dingen besitzen. 
Zum grossen Theil sind dies Leute, die einmal eine Zeit lang mit wirklichen 
Medicinalpersonen in Verkehr gestanden und sich dabei einige Handgriffe, 
eine Anzahl schönklingender gelehrter Worte und ein grosses Maass von 
Selbstvertrauen angeeignet haben: frühere Diener von Aerzten oder Apothekern, 
ehemalige Wärter an Kranken- oder Irrenhäusern, Kliniken und Polikliniken, 
Bade- oder Curanstalten u. dgl. m. Eine ähnliche Rolle spielen viele Bar¬ 
biere, Hühneraugenoperateure, Masseure u. s. w. Der Mehrzahl nach sind 


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KÜRPFUSCHEREI ÜND GEHEIMMITTELWESEN. 


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diese alle männlichen Geschlechts, doch liefert auch das Genus femininum 
gleichwertige Figuren in Gestalt früherer Wärterinnen, Pflegefrauen und 
namentlich Hebammen. Im Volksmunde führen diese würdigen Damen meist 
den Ehrentitel der „klugen“ oder „weisen Frau“. Auch von allen diesen 
Personen sind viele keineswegs bewusste Betrüger. Freilich aber Anden sich 
gerade in den Reihen der soeben bezeichneten Classe von Kurpfuschern in 
grosser Anzahl auch diejenigen, welche mit wohlbewusster Gewissenlosigkeit 
und berechnetem Eigennutz ihr Gewerbe lediglich zur Ausbeutung der Noth 
und Unwissenheit meist armer Leidender betreiben. Gerade dieser Sorte von 
Heilkünstlern gehören die gefährlichsten Individuen des gesammten Kur¬ 
pfuscherthums an, auf die das Gesetz im Interesse des Allgemeinwohles gar 
nicht scharf genug Obacht haben kann. 

Aus der zahllosen Menge der gelegentlichen Kurpfurscher soll hier 
allein die grosse Zahl der kurirenden „barmherzigen Schwestern“ und der 
prakticirenden, namentlich oft homöopathisirenden Lehrer und Geistlichen 
hervorgehoben werden. Solche Personen treiben die Kurpfuscherei vieler 
Orten in ausgedehntestem Maasse und verdienen deshalb den schärfsten und 
schwersten Tadel. Gemäss der ihrem Amte eigenen autoritativen Stellung 
und des sie auszeichnenden Bildungsgrades sollten gerade sie das vermittelnde 
Glied zwischen Bevölkerung und Arzt sein und dem letzteren auf alle 
Weise die Wege ebnen. Statt dessen thun sie mit ihrem Kuriren und 
Quacksalbern gerade das Gegentheil, und bedenkt man, dass der Beweggrund 
für diese Handlungsweise bei ihnen doch nicht erhoffter Gelderwerb, sondern 
im Grunde häufig nichts anderes ist, als eitle Selbstgefälligkeit und Herrsch¬ 
sucht, so muss man jenem Referenten in der Pommerschen Aerztekammer*) 
recht geben, der das Treiben dieser Schwestern, Lehrer und Pastoren als 
„die jämmerlichste und unwürdigste aller Medicinalpfusche- 
reien“ gebrandmarkt hat. 

Die mit dem ungestörten freien Blühen des Kurpfuscherthums zweifel¬ 
los verknüpften Uebelstände und Gefahren haben im Deutschen Reiche vom 
ersten Tage der jetzt herrschenden Ordnung an ununterbrochen eine lebhafte 
Gegenströmung gegen die unbeschränkte Kurirfreiheit wach gehalten und 
es bewirkt, dass in weiten Kreisen des Volkes immer von neuem die Wieder¬ 
herstellung des vor 1869 herrschenden Zustandes mit dem strengen Verbote 
der Kurpfuscherei gefordert wird. Leicht begreiflicher Weise haben sich auch 
zahlreiche Vertreter des ärztlichen Standes dieser Bewegung angeschlossen, 
und vielfach ist gerade in den letzten Jahren von seiten zahlreicher ärztlicher 
Körperschaften die Wiedereinsetzung der Kurpfuschereigesetze dringend ge¬ 
fordert worden. Ueber die Berechtigung dieses Verlangens lässt sich streiten. 
Jedenfalls sind die Bestimmungen der Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 
nicht ohne reiflichste Erwägung und triftige Gründe eingeführt worden. Da¬ 
mals waren es hauptsächlich zwei Momente, welche die Annahme jener Be¬ 
stimmungen durchsetzten: einmal die Befürchtung, mit der Verstaatlichung 
aller krankheitheilenden Thätigkeit würde ein erstarrender Hauch der Bu- 
reaukratie das freie wissenschaftliche Element im ärztlichen Stande lähmen. 
Wenngleich wir selbst diesen Grund nicht für stichhaltig halten, da wir 
meinen, dass jeder Jünger der Wissenschaft, der einmal die Lust freier For¬ 
schung kennen gelernt hat, nicht so leicht dem todten Schema verfallen werde, 
so glauben wir doch, dass jene Befürchtung aus den Kreisen, von denen sie 
damals geltend gemacht worden ist, bis zum heutigen Tage kaum gewichen 
sein wird. Der zweite damals ausschlaggebende Grund war die Erwägung, 
dass sich das Publicum nicht werde zwingen lassen, allein gerade den vom 
Staate anerkannten Heilkundigen sein Vertrauen zuzuwenden. Auch dieser 

*) Dr. Steinbrück, Stettin. Protokoll der 14. Sitzung der Aerztekammer für die Pro¬ 
vinz Pommern. 18. Dec. 1895. 

Bibi. med. Wiuenschaften. Hygiene u. Oer. Med. 34 


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KURPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN. 


Grund hat in den seit 1869 verflossenen Jahren wohl kaum etwas von seiner 
Berechtigung eingebüsst. Dazu kommt als drittes nicht zu unterschätzendes 
Gegenmoment, dass nach dem Erlasse eines gesetzlichen Verbotes die Kur¬ 
pfuscherei voraussichtlich im Verborgenen nicht weniger kräftig blühen wird 
als jetzt, nur dass es dann um vieles schwieriger sein wird, sie zu beachten 
und ihre Verderblichkeit nachzuweisen. In den Augen des Volkes wird zu¬ 
dem der Kurpfuscher, wenn er gesetzlich geächtet und verfolgt wird, als 
Märtyrer erscheinen und nur um so höher geachtet sein. Diese Erwägungen 
bestimmen uns, für die Beibehaltung des nun einmal bestehenden Zustandes 
zu plaidiren. Unerlässlich aber erscheint uns die Forderung, dass der Staat 
weit aufmerksamer als bisher sein Augenmerk auf die Auswüchse des Kur¬ 
pfuscherthums richten müsse und alle durch dasselbe verschuldeten Gesund¬ 
heitsschädigungen mit unnachsichtlicher Strenge ahnde. Viel häufiger als bis 
dato sollten hiergegen die Paragraphen des Strafgesetzbuches über Betrug 
(§ 362), über Körperverletzung (§§ 223 bis 232) und über Verbrechen oder 
Vergehen wider das Leben (§§ 216—222) in Anwendung gebracht werden. 
Dass dies in der That möglich ist, haben bereits mehrfache, zu harten Ver¬ 
urteilungen gewissenloser Kurpfuscher gelangte Gerichtsverhandlungen be¬ 
wiesen. (Z. B. Erkenntnis des Landgerichts in Tübingen vom 12. Juni 1880 
Verurteilung zweier Kurpfuscher zu je 18 Monaten Gefängnis aus § 263 
des Strafgesetzbuches.) 

Mit dem Kurpfuscherthum in engem Zusammenhänge steht das Geheim- 
mittelwesen, das vielfach geradezu als ein besonderer Zweig des ersteren 
auftritt. Gerade bei der Zubereitung, Verbreitung und Anwendung von Heil¬ 
mitteln geheimnisvoller Zusammensetzung ist es sehr häufig lediglich auf 
die gewissenlose eigennützige Ausbeutung der Noth Leidender abgesehen. 
In Oesterreich ist darum der Handel mit Geheimmitteln sowohl den Apo¬ 
thekern als allen übrigen Personen im Principe verboten (Patent vom 
26. Nov. 1775 Nr. 6). Im Deutschen Reiche unterscheidet die Gesetz¬ 
gebung zwischen dem Handel mit Geheimmitteln durch die Apotheken und 
seitens anderer Personen. Für die Apotheken existiren hinsichtlich dieses 
Sonderzweiges von Arzneistoffen keine allgemeinen Bestimmungen; doch 
richtet allein in Sachsen die Behörde überhaupt kein Augenmerk darauf. 
Bayern und Württemberg suchen den Handel mit Geheimmitteln durch 
darauf gelegte hohe Steuern einzudämmen, während er in einigen anderen 
Bundesstaaten theils von einer für jedes einzelne Mittel besonders ein¬ 
zuholenden, behördlichen Genehmigung abhängig gemacht, theils einfach 
gänzlich verboten ist. In Preussen dürfen die Apotheken auf ärztliche Ver- 
Schreibung hin jedes Mittel verabfolgen, auch wenn ihnen seine Zusammen¬ 
setzung unbekannt ist, da in diesem Falle allein der Arzt die volle Ver¬ 
antwortung trägt. Im Handverkauf dagegen ist ihnen nur die Abgabe solcher 
Mittel gestattet, deren sämmtliche Bestandtheile dem Apotheker bekannt und 
in denen keine Stoffe enthalten sind, deren freihändiger Verkauf durch die 
Medicinalgesetze untersagt ist, oder deren Verkaufspreise die amtliche Arznei¬ 
taxe überschreiten. Alle Mittel von einer dem Apotheker unbekannten Zu¬ 
sammensetzung dagegen sind vom Handverkaufe ausgeschlossen. (Ministerial- 
verfügung vom 17. August 1880.) 

Was den Handel mit Geheimmitteln ausserhalb der Apotheken an- 
betriöt, so verbietet im Deutschen Reiche zunächst die ReicbsgewerbeordnuDg 
(im § 56) allen Handel mit Giften und Arzneien im Umherziehen, während 
für jeden anderen Verkauf von Geheimmitteln der § 367 des Reichsstraf¬ 
gesetzbuches in Geltung tritt: „Mit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft 
wird bestraft . . 3. wer ohne polizeiliche Erlaubnis Gift oder Arzneien, 
soweit der Handel mit denselben nicht freigegeben ist, zubereitet feilhält, 
verkauft oder sonst an andere überlässt.“ Die Ankündigung von Geheim- 


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mittein durch die Presse ist in Oesterreich verboten, während sie im 
Deutschen Reiche durch allgemeine Bestimmungen nicht beschränkt, wohl aber 
durch Polizeiverordnungen vielfach eingeengt und in manchen Bezirken 
gänzlich verboten wird. Die einzelnen diesbezüglichen Bestimmungen weichen 
in mannigfachster Weise von einander ab und erfahren zudem sehr ver¬ 
schiedene Auslegung und Ausführung. Zum grossen Theile liegt das daran, 
dass bis vor kurzem eine allgemein gütige Definition des Begriffes „Geheim- 
mittel“ gänzlich fehlte. Für das Königreich Preussen war in dieser Be¬ 
ziehung zunächst ein Revisionsurtheil des Kammergerichts vom 4. December 
1890 von Wichtigkeit, welches zum ersten Male eine Begriffsbestimmung 
festlegte, indem es erklärte: Ein Geheimmittel ist „ein in Arzneiform in den 
menschlichen Körper einzuführendes, staatsseitig nicht anerkanntes oder 
speciell genehmigtes Heilmittel gegen Krankheiten, welches unter einem 
Namen empfohlen wird, durch welchen seine Natur und Zusammensetzung 
nicht ausreichend bezeichnet wird.“ Den Sinn dieser für die Praxis leider 
ungenügenden Definition hat sich jüngst auch das Reichsgericht in einer 
Entscheidung angeeignet, und in allerletzter Zeit ist derselbe für Preussen 
durch einen Runderlass der Minister der Medicinalangelegenheiten, des Innern 
und für Handel und Gewerbe geradezu officiell gemacht worden. In diesem 
heisst es: Es soll „von dem Grundsätze ausgegangen werden, dass ein 
Heilmittel seiner Eigenschaft als Geheimmittel höchstens dadurch entkleidet 
wird, dass seine Bestandtheile und Gewichtsmengen sofort bei der Ankündigung 
in gemeinverständlicher und für Jedermann erkennbarer Weise vollständig und 
sachentsprechend zur öffentlichen Kenntnis gebracht werden. Angaben, aus 
denen nur ein Sachverständiger ein Urtheil über das Mittel sich bilden kann, 
sind als ausreichend nicht zu erachten, insbesondere nicht die Bezeichnung 
der Bestandtheile des Mittels in lateinischer Sprache. Hiermit steht im 
wesentlichen auch im Einklänge die Rechtsprechung, nach welcher ein 
Geheimmittel jedenfalls dann vorliegt, wenn die Bestandtheile und das Mengen¬ 
verhältnis der Zubereitung „nicht ausreichend“, „nicht deutlich für das Publi¬ 
cum“, „nicht für Jedermann zweifellos“ bei der Ankündigung erkennbar 
gemacht sind.“ Das besondere Verfahren der Herstellung eines Mittels darf 
Geheimnis des Verfertigers bleiben. In Oesterreich sind Geheimmittel über¬ 
haupt verboten, doch lässt sich der Vertrieb solcher Mittel in wirksamer 
Weise nur in den Apotheken überwachen, in welchen ein Verzeichnis aller 
fertig verpackten Arzneizubereitungen mit genauer Angabe der Bereitungs¬ 
vorschrift (Zusammensetzung) zur Einsicht des Arztes aufliegen muss. Die¬ 
jenigen dieser sogenannten „Arznei-Specialitäten“, welche starkwirkende Arznei¬ 
stoffe enthalten, dürfen nur über ärztliche Verordnung abgegeben werden. 
In den Ankündigungen dieser Mittel dürfen Krankheiten, zu deren Heilung 
sie dienen sollen, nicht angeführt werden, überhaupt sind marktschreierische 
Ankündigungen, Gebrauchsanweisungen etc. verboten. 

Trotz dieser gesetzlichen Bestimmungen blüht sowohl in Oesterreich 
wie auch im Deutschen Reiche ein überaus lebhafter Handel mit Geheim¬ 
mitteln, sowohl in den Apotheken wie ausserhalb derselben, und alljährlich 
Üiessen geradezu horrende Summen meist aus den karggefüllten Taschen 
der minderbegüterten Volksclassen in die weiten Cassen gewissenloser Be¬ 
trüger. Ein wie schamloser Betrug und aller Menschlichkeit hohnsprechen¬ 
der Schwindel gerade von diesem Zweige der Kurpfuscherei jahraus jahrein 
und zwar grossentheils völlig ungestört getrieben wird, kann man alljährlich 
aufs neue aus dem „Jahresberichte über die Fortschritte der Pharmakognosie, 
Pharmacie etc.“ von Dr. Wiggers und Dr. A. Husemann, fortgesetzt von 
Dbagendorff, jetzt „Jahresbericht über die Fortschritte der Pharmacie, heraus¬ 
gegeben vom Deutschen Apoth.-Verein“, ersehen, welcher regelmässig Mittheilun¬ 
gen über alle im verflossenen Jahre bekannt gewordenen und untersuchten Ge- 

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KURPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN. 


heimmittel bringt. Aach die modernen grossen Conversationslexica, nament¬ 
lich diejenigen von Brockhaus und Meyer, geben ihren Lesern unter dem 
Stichworte „Geheimmittel“ in dankenswerter Weise Aufschluss über die Mehr¬ 
zahl der meistvertriebenen Reclame-Heilmittel hinsichtlich deren Zusammen¬ 
setzung und ^tatsächlichen Wirksamkeit, sowie auch über die meist enorm 
hohe Differenz zwischen dem geforderten Preise und dem wahren Werte der 
Präparate. 

Was das eigentliche Wesen der einzelnen Geheimmittel selbst betrifft, 
so sind diese von der allerverschiedensten Art. Einer kleinen Anzahl von 
ihnen kann ein gewisser arzneilicher Wert nicht abgesprochen werden, doch 
erfüllen auch diese fast nie alle von ihrem Verfertiger angepriesenen Ver¬ 
sprechungen, und ohne Ausnahme ist ihr Preis unverhältnismässig hoch. 
Weitaus die meisten Geheimmittel aber sind gänzlich ohne arzneiliche Wirkung 
oder sogar geeignet, dem menschlichen Organismus zu schaden. Alle sollen 
in ihrer Wirkung angeblich theils auf allopathischer, theils auf homöopathi¬ 
scher Grundlage beruhen und kommen in den verschiedensten Weisen zur 
Anwendung, als innere Medicin in der Form von Mixturen und Tincturen, 
tropfen- oder löffelweise zu nehmen, als Pillen, Latwergen u. s. w., oder als 
äusserliche Arznei in Form von spirituösen, ätherischen, balsamischen oder 
öligen Waschungen, Einreibungen oder Umschlägen, als Schmiersalben, Zug¬ 
pflaster etc. etc. Einige Fabrikanten wissen ihren Präparaten dadurch einen 
besonderen Reiz zu verleihen, dass sie ihre Wirksamkeit auf ein besonderes 
„Naturheilverfahren“ zurückführen; was dieses tiefsinnige Wort im Grunde 
eigentlich besagt, hat wohl bisher noch kein Sterblicher ergründet, aber es 
wirkt gewaltig! In einer Zeit, da man die geheimnisvollen Kräfte des Magne¬ 
tismus und der Elektricität ringsum die erstaunlichsten Dinge verrichten 
sieht, muss es dem Publicum wohl vernunftgemäss erscheinen, sie auch zur 
Heilung aller nur erdenklichen Erkrankungen heranzuziehen: so werden 
„magneto- und elektromotorische“ oder „elektromagnetische“ Gichtbänder, 
Rheumatismusketten und Zahnhalsbänder zu hohen Preisen an den Mann 
gebracht. Diese Präparate, die bestimmt sind, von dem Kranken unter der 
Kleidung auf der Haut getragen zu werden, haben zum Theil eine absolut 
sinnlose Zusammensetzung; so bergen einige unter irgend einer schönen Um¬ 
hüllung ein Stück Schwefelfaden oder dergleichen, Dinge, die auch nicht die 
mindeste Spur von Magnetismus oder Elektricität zu erregen vermögen. An¬ 
dere bestehen aus zwei zusammengelötheten oder gebundenen Stücken ver¬ 
schiedener Metalle, meist Kupfer und Zink; auch diese Anordnung ist natur- 
gemäss nimmer im Stande, einen elektrischen Strom von therapeutischer Wirk¬ 
samkeit zu erzeugen. Dennoch bringen solche Vorrichtungen dem Verfertiger 
so viele Mark oder gar Thaler ein, als sie ihn Pfennige gekostet haben, wie 
z. B. das berühmte „Voltakreuz“, das bekanntlich die leidenden Körper un¬ 
zähliger Narren beiderlei Geschlechtes und jeden Standes schmückt. 

Dem mit derartigen Mitteln getriebenen Schwindel sollte von seiten der 
zuständigen Aufsichtsorgane in Zukunft weit grössere Aufmerksamkeit ge¬ 
widmet werden, da er in den breitesten Schichten des Volkes unübersehbaren 
Schaden an Gesundheit und Vermögen unzähliger Staatsbürger anrichtet. 

Den Unfug gänzlich zu beseitigen, das freilich wird wohl kaum jemals 
gelingen! Dazu besitzen die Heilmittel-Fabrikanten und -Krämer zu rührige 
Hilfskräfte, einmal in der Scheu Unzähliger, bei gewissen, namentlich durch 
eigene Schuld erworbenen Krankheiten die Hilfe des Arztes nachzusuchen, 
vor dem sie sich der begangenen Fehltritte schämen, sowie zweitens auch 
in dem menschlicherweise ja durchaus verständlichen Bestreben vieler, von 
der wissenschaftlichen Medicin als unheilbar erkannter Patienten oder deren 
Angehörigen, kein möglicherweise doch noch rettendes Mittel unversucht zu 
lassen, zumal die letzte Hoffnung durch die moderne, oft das Urtheil auch 


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LEBENSFÄHIGKEIT DES KINDES. 


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Verständigerer blendende Reclame täglich aufs neue angefacht wird. Diese 
Factoren werden nicht aufhören, wirksam zu sein, solange nicht das Heer 
Jener ausgestorben sein wird, von denen es heisst: „Sie werden nicht alle.“ 
Doch gerade deshalb dürfen die Einsichtsvollen nicht nachlassen, unermüdlich 
auf das Energischeste gegen diese Hilfsmittel der Volksaussauger zu kämpfen. 
Und zwar muss dies in doppelter Weise geschehen: einmal, indem sie immer 
wieder, und womöglich von Zeit zu Zeit in Rücksicht auf jedes einzelne der 
jüngst angepriesenen Schwindelmittel den Betrogenen die Augen öffnen — 
etwa in der Art, wie es seit längerer Zeit das kgl. Polizeipräsidium in 
Berlin oder der Ortsgesundheitsrath der Stadt Karlsruhe regelmässig thun — 
und zweitens, indem sie durch moralische Beeinflussung das schlummernde 
Gewissen der gewaltigen Weltmacht, der Presse, aufrütteln, die trauriger¬ 
weise noch immer den krassesten Betrug auf das Hilfreichste unterstützt, weil 
sie aus den den Aermsten und Elendesten des Volkes abgeschwindelten 
Summen reiche Procente in die eigenen Cassen ableitet, nicht selten ganz 
harmlos in derselben Zeitungsnummer, in der sie in sittlicher Entrüstung 
den frevlen Eigennutz eines Fürsten von Monaco geisselt. In allererster 
Linie jedoch wäre es erforderlich, dass die zuständigen Behörden auf Grund 
der bestehenden gesetzlichen Verordnungen die Anpreisung und den Verkauf 
von Geheimmitteln auf das Schärfste überwachten; zur Zeit sind die ein¬ 
schlägigen Bestimmungen bedauerlicherweise vielfach selbst in den maass¬ 
gebenden Kreisen nicht hinreichend bekannt. q. woltersdorf. 

Lebensfähigkeit des Kindes (forens.). Die Frage, ob ein Kind als 
lebensfähig, d. h. als fähig anzusehen ist, sein Leben selbständig ausserhalb 
des mütterlichen Organismus fortzusetzen, mag für den Richter in nicht sel¬ 
tenen Fällen eine ziemlich hohe Bedeutung haben. Wir werden daher, trotzdem 
die Beantwortung dieser Frage für Fälle vermeintlicher „Kindestödtung“ 
durch die jetzt in Oesterreich in Kraft bestehende Strafprocessordnung 
nicht mehr vorgeschrieben ist, derselben häufig nicht ausweichen können. 
Es ist auch gerade vom Standpunkte des Richters nicht recht einzusehen, 
ans welchem Grunde die Forderung der Beantwortung der Frage nach der 
Lebensfähigkeit eines Kindes aus der österreichischen Strafprocessordnung 
gestrichen worden ist. Ich halte denn auch die Ablehnung der Beantwortung 
einer entsprechenden Frage für überflüssig, mag auch der Gerichtsarzt in 
Oesterreich gegenwärtig hiezu berechtigt sein, ganz abgesehen davon, dass 
eine Entscheidung in der angedeuteten Richtung nur in seltenen Fällen er¬ 
heblicheren Schwierigkeiten begegnen dürfte. 

Allerdings lässt ja der Begriff „Lebensunfähigkeit“ eine verschiedene 
Deutung zu; ja sie wird in ihrem Wesen von den verschiedenen Gerichts¬ 
ärzten thatsächlich auch verschieden aufgefasst. Wenn beispielsweise die 
Section eines neugeborenen reifen Kindes irgendwelche congenitale Erkran¬ 
kungen oder durch die Geburt gesetzte Veränderungen ergibt, die erfah- 
rungsgemäss ein längeres Leben des Kindes nach der Geburt nicht zulassen, 
so wäre zwar vom rein medicinischen Standpunkte ein solches Kind als 
„lebensunfähig“ zu bezeichnen; doch ist es sehr fraglich, ob in einem solchen 
Falle bei gewaltsamer Tödtung die „Lebensunfähigkeit“ als mildernder Um¬ 
stand bei Fällung des Urtheils in Betracht gezogen würde. Es kann meiner 
Ansicht nach selbst für den Richter der Begriff „Lebensunfähigkeit“ doch 
nur dann eine wesentlichere praktische Bedeutung als etwaiger Milderungs¬ 
grund haben, wenn derselbe in erster Linie auf von aussen wahrnehm¬ 
bare Zustände bezogen wird, welche auch schon dem Laien ein extrauterines 
Leben des Neugeborenen als kaum möglich oder unmöglich erscheinen lassen. 
Zieht man dem Begriffe „Lebensunfähigkeit“ vom juridischen Standpunkte 


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LEBENSFÄHIGKEIT DES KINDES. 


diese engen Grenzen, dann wird derselbe auch einheitlicher und vom foren¬ 
sischen Standpunkte zweckmässiger gedeutet werden können und nicht so 
umstritten sein wie bisher. 

Von diesem Gesichtspunkte aus, welchen ich für den praktisch allein 
richtigen halten möchte, könnte eine menschliche Frucht in erster Linie nur 
einerseits infolge wenig vorgeschrittener, andererseits infolge unvollkommener, 
beziehungsweise fehlerhafter Entwickelung als lebensunfähig angesehen werden. 

Die Dauer des Lebens nach der Geburt ist gewiss, wenn dieselbe sich 
blos auf Tage, gelegentlich vielleicht auf Wochen erstreckt, nicht von einschnei¬ 
dender Bedeutung und es ist meiner Ansicht nach deshalb auch die eventuelle 
Frage, „wie lange ein Kind selbständig gelebt haben muss, damit es des Prä- 
dicates „lebensfähig“ theilhaftig werden könne“ (Blumenstock) irrelevant, und 
dies umsomehr, als ja die Frage der Lebensunfähigkeit blos in Fällen von Kin¬ 
desmord, sonach in Fällen von Tödtung der Frucht bei oder gleich nach der 
Geburt, ventilirt zu werden pflegt. Entschieden entgegentreten muss man 
aber dem Vorgänge, wie ihn Blumenstock eingehalten hat, wenn er sagt: 
„Am Ende gewöhnten wir uns daran, jedes Kind, welches gelebt hat, für 
lebensfähig anzuerkennen.“ Diese Commentirung des Begriffes „Lebens¬ 
fähigkeit“ ist geradezu unhaltbar. Soll man etwa Missbildungen höheren 
Grades, die post partum deutliche Lebenszeichen von sich geben, die jedoch 
erfahrungsgemäss kurze Zeit nach der Geburt vermöge der mangelhaften oder 
fehlerhaften Entwickelung regelmässig zu Grunde gehen, als „lebensfähig“ 
im Sinne des Gesetzes ansehen? Dies muss meiner Ansicht nach ent¬ 
schieden der Auffassung des Juristen widersprechen, und es muss daher auch 
befremden, wenn Blumenstock erwähnt, dass sich die Richter mit dem oben 
genannten Vorgänge bei Beurtheilung der Lebensfähigkeit menschlicher Früchte 
seitens der Gerichtsärzte zufriedenstellten. 

Dass der Richter thatsächlich bei dem Begriffe „Lebensfähigkeit“ das 
Hauptgewicht auf die Entwickelung der Frucht legt, scheint, wenn dies auch 
nicht präcise ausgedrückt ist, daraus hervorzugehen, dass auch die neue 
Strafprocessordnung in Deutschland ausdrücklich bei der Oeffnung der Leiche 
eines neugeborenen Kindes die Untersuchung insbesondere darauf gerichtet 
wissen will, ob das Kind reif oder wenigstens fähig war, das 
Leben ausserhalb der Mutter fortzusetzen. 

An einem dem Grade und der Art der Entwickelung nach lebensunfähigen 
Kinde kann ebenso ein Verbrechen begangen werden wie an einem lebens¬ 
fähigen, so lange es eben lebt. Worin läge also dann der Wert der Beant¬ 
wortung der Frage, ob ein Kind, welches getödtet wurde, lebensfähig war 
oder nicht? Meiner Ansicht nach, welche sich mit jener Skbzeczka’s zu 
decken scheint und auch von einem grossen Theile der Juristen getheilt 
werden dürfte, thatsächlich darin, dass der Richter, sobald es sich um eine 
Frucht handelt, welche ihr Leben ausserhalb des mütterlichen Organismus 
wegen ihier wenig vorgeschrittenen oder fehlerhaften Entwickelung nicht 
fortzusetzen vermag, einen Milderungsgrund für das Strafausmaass bei einem 
Verbrechen erblicken kann. Entspricht dies nicht etwa auch der allgemein 
menschlichen Anschauung? 

Meiner Ansicht nach wird man somit nur dann der Intention des Ge¬ 
setzes Rechnung tragen, wenn man die Lebensfähigkeit zunächst blos hin¬ 
sichtlich der Entwickelung der menschlichen Frucht ins Auge fasst und es 
wäre daher nicht unzweckmässig, wenn der Richter in concreten Fällen, in 
denen es sich um an Neugeborenen verübte Verbrechen handelt, fragen würde, 
ob der Thäter mit Rücksicht auf das äussere Aussehen der Frucht 
annehmen durfte oder annehmen konnte, dass dieselbe unter ge- 
wöhnlichenVerhältnissen(d. h. ohne Kunsthilfe oder Anwendung etwaiger 
therapeutischer Eingriffe) ni cht fähig gewesen sei, das Leben ausser¬ 
halb des mütterlichen Organismus fortzusetzen? 


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LEBENSFÄHIGKEIT DES KINDES. 


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Von dem von mir gekennzeichneten Gesichtspunkte aus sollten zunächst 
nur normal entwickelte Früchte in sehr früher Entwickelungsperiode oder 
fehlerhaft entwickelte Früchte als „lebensunfähig“ im Sinne des Gesetzes 
bezeichnet werden. 

Ich kann mich der persönlichen Ueberzeugung nicht verschliessen, dass 
mir ein grosser Theil der Richter, entschieden aber nur ein kleiner Theil der 
Vertheidiger bei dieser engen Begrenzung des Begriffes „Lebensunfähigkeit“ 
beistimmen würde, letzteres eben aus dem Grunde, weil Lebensunfähigkeit 
gelegentlich als mildernder Umstand in Betracht kommen kann. 

Ohne etwa für den einen oder den anderen Theil Partei ergreifen zu 
wollen, muss ich jedoch vom rein ärztlichen Standpunkte zugeben, dass es 
auch menschliche Früchte gibt, deren Lebensunfähigkeit insbesondere von 
medicinischen Laien nicht schon bei blosser äusserer Besichtigung erkannt 
werden kann, sondern deren Lebensunfähigkeit sich erst durch die Obduction 
mit Bestimmtheit oder mit mehr weniger grosser Wahrscheinlichkeit fest¬ 
stellen lässt. Der Arzt muss auch derartige Fälle in den Bereich seiner 
Untersuchung und Begutachtung in der angegebenen Richtung ziehen und 
auch menschliche Früchte, welche erst durch die Obduction erkennbare Ano¬ 
malien der Entwickelung oder angeborene Erkrankungen aufweisen, die er- 
fahrungsgemäss ein längeres Leben der Frucht post partum verhindern, für 
lebensunfähig erklären. Fasst man nun aber den Begriff „Lebensunfähigkeit“ 
vom ärztlichen Standpunkte in diesem weiteren Sinne auf, dann sollte man 
auch als Arzt verschiedene Kategorien der „Lebensunfähigkeit“ aufstellen und 
in erster Linie jene Fälle hervorheben, in denen die Lebensunfähigkeit schon 
bei äusserer Betrachtung einer menschlichen Frucht evident oder wahr¬ 
scheinlich erscheint, in zweiter Linie diejenigen Fälle, in denen bei normaler 
äusserer Entwickelung die Lebensunfähigkeit erst durch die Obduction als 
sicher oder wahrscheinlich erkannt werden kann. 

Inwieweit dann im concreten Falle die Lebensunfähigkeit als Mil¬ 
derungsgrund höheren oder niederen Grades bei der strafrechtlichen Qualifi- 
cation von Verbrechen in Betracht zu ziehen ist, ist dann einzig und allein 
Sache des Richters. 

Vom medicinischen Standpunkte aus, der jedoch den Intentionen der 
früheren Bestimmung der österreichischen Strafprocessordnung nicht vollends 
zu entsprechen scheint, werden wir die Lebensunfähigkeit eines Kindes, sei 
es bereits auf Grund der äusseren Besichtigung, sei es auf Grund der Obduc¬ 
tion, in vielen Fällen mit Bestimmtheit annehmen oder ausschliessen können; 
in einer nicht unbedeutenden Zahl der Fälle wird unser Urtheil unbestimmt 
äusfallen. 

Lebensunfähigheit kann bedingt sein 1. durch congenitale Bildungs¬ 
anomalien, die bald schon äusserlich erkennbar, bald erst durch die innere 
Untersuchung nachweisbar sein können, 2. durch wenig vorgeschrittene Ent¬ 
wickelung, 3. durch angeborene Erkrankungen. 

Was zunächst die Bildungsanomalien betrifft, so kommen hier insbeson¬ 
dere solche in Betracht, bei denen es sich um einen mehr oder weniger voll¬ 
ständigen Mangel eines oder mehrerer zum Leben unumgänglich nothwendiger 
Organe handelt, oder in denen die normale Functionsfähigkeit solcher Organe 
durch besondere angeborene Zustände aufgehoben erscheint. 

Dass Doppelmissbildungen bei normaler Entwickelung ihrer 
Organe lebensfähig sein können, ist bekannt. 

Zuweilen können lebensunfähige Missbildungen lebend geboren werden 
und auch einige Zeit leben (Hemicephalus, Cyclopen); in solchen Fällen wird 
vom forensischen Standpunkte wesentlich der äussere Eindruck in Betracht 
kommen. 

In anderen Fällen wird die Lebensunfähigkeit bei Früchten mit nor¬ 
malem äusserem Aussehen erst durch die Obduction festgestellt werden können, 


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LEBENSFÄHIGKEIT DES KINDES. 


so beispielsweise bei congenitalen Zwerchfelldefecten, bei congenitalem Ver¬ 
schluss des Verdauungstractus an irgend einer Stelle. 

Schwierig könnte sich gelegentlich die Beantwortung der in Rede stehen¬ 
den Frage bei Entwickelungsanomalien des Herzens gestalten; in solchen 
Fällen dürfte das Urtheil sehr häufig unbestimmt ausfallen. 

Was das Stadium der Entwickelung anbelangt, so pflegt man Früchte, 
welche vor der 28. bis 30. Woche geboren werden, als lebensunfähig zu be¬ 
zeichnen, trotzdem auch früher zur Welt gekommene Früchte lebend geboren, 
ausnahmsweise selbst am Leben erhalten werden können. 

Nach vollendeter 30. Woche der Entwickelung hat die menschliche Frucht 
durchschnittlich eine Länge von 37—38«» und ein Gewicht von 1500—2000 g. 
Die Pupillarmembran ist vollständig verschwunden oder nur in Resten vor¬ 
handen. Bei männlichen Früchten sind die Hoden im Hodensack oder Leisten¬ 
canal, bei weiblichen überragen die kleinen Schamlippen die grossen. Am 
Gehirn sind bereits ausgeprägte Windungen zu sehen. Der Dickdarm ent¬ 
hält reichliches Meconium. Im Fersenbein findet sich ein fast 5 mm starker, 
im Sprungbein ein 2—3 mm starker Knochenkern vor. Die Placenta hat ein 
Durchschnittsgewicht von 450 g , die durchschnittliche Länge der Nabelschnur 
beträgt 46 cm. 

Am Ende des 9. Monates ist das Kind 42—44 cm lang, durchschnittlich 
2000 g schwer. Im Sprungbein findet sich ein 5—6 mm starker Knochenkern. 

Das reife Kind hat eine Durchschnittslänge von 50 cm und ein Durch¬ 
schnittsgewicht von 3000 g. Der Occipitofrontalumfang des Kopfes beträgt 
34—35 cm, der quere Kopfdurchmesser etwa 8 5 cm, der gerade 10 5 cm und 
der diagonale 12 5 cm. Die Schulterbreite beträgt etwa 12 cm, der Trochan- 
terenabstand 10 cm. Die Kopfhaare haben eine Länge von 15—2 cm. Nase 
und Ohren fühlen sich knorpelig an. Die Hoden liegen im Hodensack, bei 
weiblichen Individuen ist die Schamspalte geschlossen. 

Die hornigen Nägel überragen die Fingerkuppen und erreichen jene der 
Zehen. In der unteren Epiphyse des Oberschenkelknochens befindet sich ein 
durchschnittlich 5 mm starker Knochenkern. Das Gewicht der Placenta be¬ 
trägt durchschnittlich 500 g, die Nabelschnurlänge 50 cm. 

Ein einwandfreier Schluss hinsichtlich des Alters eines Neugeborenen 
wird innerhalb gewisser Grenzen niemals aus einem einzigen Merkmale ge¬ 
zogen werden können, da jedes einzelne derselben viel zu grossen Schwan¬ 
kungen unterliegt. Dies gilt selbst von der Länge, dem Gewichte des Kindes 
und von der Entwickelung der Knochenkerne, an welch letzteren man übrigens 
noch die relativ grösste Constanz beobachtet. 

Das Gewicht des Kindes schwankt je nach der allgemeinen Entwickelung; 
bandelt es sich um faule Kindesleichen, so wird man insbesondere auch mit 
einer etwaigen postmortalen Gewichtsabnahme zu rechnen haben. 

Von angeborenen Erkrankungen wäre insbesondere die Pneumonia alba 
bei congenitaler Syphilis zu nennen. Gewiss dürften auch angeborene i. e. 
noch während des intrauterinen Lebens von der Mutter auf die Frucht über¬ 
tragene acute Infectionsprocesse gelegentlich Lebensunfähigkeit bedingen; von 
der Art und der Ausbreitung des Infectionsprocesses wird es dann abhängen, 
mit welchem Grade von Wahrscheinlichkeit man im concreten Falle Lebens¬ 
unfähigkeit des Kindes vom rein medicinischen Standpunkte annehmen kann. 

Der Gerichtsarzt würde in Fällen, in denen die Lebensunfähigkeit 
einer neugeborenen menschlichen Frucht in Frage kommt, für strafrechtliche 
Zwecke am besten in der Weise vorgehen, dass er zunächst im allgemeinen 
anführt, ob eine Frucht mit Bestimmtheit oder mit Wahrscheinlichkeit als 
lebensunfähig bezeichnet werden kann, worin die Lebensunfähigkeit ihre Ur¬ 
sache hatte und insbesondere, ob dieselbe schon bei blosser äusserer Betrach¬ 
tung angenommen werden durfte und konnte oder nicht. 


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.LEICHENERSCHEINUNGEN. 


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Inwieweit die die Lebensunfähigkeit im Einzelfalle bedingenden angebo¬ 
renen Zustande als etwaiger Milderangsgrund für das Strafausmaass bei an 
lebensunfähigen Früchten verübten Verbrechen in Betracht kommen können, 
ist Sache der richterlichen Entscheidung. p. dittrich. 

Leichenerscheinungen. Gesetzliche Bestimmungen Aber die Todten- 
beschau. Oesterreich. Provisorische Instruction für Leichenbeschauer. Erlass des Staats¬ 
ministeriums vom 6. März 1861 verfugt die obligatorische Vornahme der Todtenbeschau. 
Das Begräbnis erfolgt ausnahmslos erst nach vorgenommener Beschau auf Grund eines 
vom Todtenbeschauer ausgestellten Beschauscheines. Der Todtenbeschauer ist in der Regel 
ein Arzt, kann aber in abgelegenen Gemeinden auch ein Laie sein. Er hat die Aus¬ 
stellung eines Todtenscheines in folgenden Fällen zu verweigern, woraufhin entweder 
die gerichtliche oder sanitätspolizeiliche Beschau oder Leichenöffnung verfügt wird: 

o) bei Verdacht von Scheintod; 

b) bei wahrgenommenen Zeichen einer verübten äusseren Gewalttätigkeit; 

e) bei einer offenkundigen Vergiftung oder Verdacht einer solchen; 

d) wenn Jemand unter Behandlung von Kurpfuschern stirbt; 

e) wenn bei Neugeborenen eine Abtreibung der Leibesfrucht vorausgesetzt werden kann; 

j) wenn überhaupt eine Verheimlichung der Geburt statt gefunden hat; 

g) wenn Unmündige aus Mangel der nötigen Aufsicht ums Leben kommen; 

h) wenn dem Verstorbenen der nöthige ärztliche Beistand oder die geeignete Pflege 
vorentalten oder ihm die nötigen Lebensbedürfnisse entzogen worden sind; 

t) bei allen plötzlichen Todesfällen; 

k) bei allen todtgefundenen Personen ohne Unterschied, ob sie bekannt sind 
oder nicht; 

T) in allen Fällen, wo Jemand verunglückt; 

m ) endlich bei erwiesenem oder muthmaasslichem Selbstmord. 

Das deutsche Reich hat kein einheitlich geregeltes Leichenwesen. In den meisten 
Staaten ist allerdings eine obligatorische Leichenbeschau eingeführt, im grössten deutschen 
Staate, in Preussen, jedoch noch nicht. Dort ist dies Sache der autonomen Gemeinden, 
welche die Todtenbeschau im eigenen Wirkungskreise zum Theile sehr gut geregelt haben. 
So Berlin schon seit dem Jahre 1835. Demnach darf keine Leiche beerdigt werden, ohne 
dass zuvor von einem Arzte der Todtenschein ausgestellt wäre. Die Ausstellung der 
Todtenscheine erfolgt durch den behandelnden Arzt, oder wenn Jemand ohne ärztliche Be¬ 
handlung starb, durch einen zur Leichenschau herbeigeholten Arzt, bei Unbemittelten durch 
die Armenärzte, in besonderen Nothfällen durch die Bezirksphysiker. Die Leichen unehe¬ 
licher Kinder müssen, wenn letztere todt geboren wurden oder binnen 24 Stunden starben, 
stets durch die Bezirksphysiker besichtigt werden. 

In allen Fällen, wo der Verdacht entsteht, dass die Schuld eines Anderen den Eintritt 
des Todes verursacht habe, wird seitens des Revieres oder des Leichen-Commissariates der 
königl. Staatsanwaltschaft sofort Bericht erstattet, welche entweder die Beerdigung gestattet 
oder gerichtliche Leichenschau oder Obduction verfügt. Im Uebrigen ist das Beerdigungs¬ 
wesen geregelt durch die Polizei-Verordnung vom 16. August 1872 mit der durch das Ge¬ 
setz über die Beurkundung des Personenstandes nothwendig gewordenen Abänderung vom 
20. Mai 1875. 

In Baiern ist mit oberpolizeilicher Verfügung vom 20. November 1885 die Leichen¬ 
schau und das Beerdigungswesen neu geregelt und erstere obligatorisch gemacht worden. 
Die Leichenbeschau ist von bestellten Beschauärzten oder ärztlichen Hilfspersonen, im 
Nothfalle auch von durch den Bezirksarzt unterwiesenen Laien vorzunehmen. 

Sachsen hat die eigenartige Einrichtung der sog. Leichenfrau, welche auch den 
Beschaudienst versieht und verpflichtet ist, in folgenden Fällen einen Arzt, wenn ein solcher 
noch nicht beigezogen war, herbeizurufen: 

a) wenn es sich um eine Schwangere handelt; 

b) wenn die Vermuthang eines gewaltsamen Todes vorliegt (Gift, Verletzung, Er¬ 
drosselung, Erstickung, Betäubung, Einathmung schädlicher Dünste, Ertrinken, Erfrieren); 

c) wenn der Tod durch Schlagfluss oder Blutsturz erfolgt ist; 

d) wenn die verstorbene Person an Krämpfen, Fallsucht u. dgl. gelitten hat; 

e) wenn der Tod bei anscheinend ganz Gesunden plötzlich eingetreten ist; 

jn bei Verdacht des Scheintodes; und 

g) bei Leichen Neugeborener, an welchen Spuren von Gewaltthätigkeit wahrgenommen 
oder welche scheintodt geboren wurden. (Gesetz vom 20. Juli 1850 sammt Ausführungs¬ 
verordnung vom selben Datum, abgeändert durch Ministerialverordnung vom 27. Mai 1882.) 

In Württemberg ist die Leichenbeschau obligatorisch eingeführt durch königl. 
Verordnung vom 24. Jänner 1882 und darf der Leichenbeschaudienst nach § 2 dieser Ver¬ 
ordnung nur Männern von unbescholtenem Rufe übertragen werden. Die Leichenbe¬ 
schauer sind meist Aerzte oder Wundärzte, mitunter auch Laien, welche sich einer Prüfung 
beim Oberamtsphysikate unterzogen haben. Die Dienstanweisung für die Leiehen- 


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LEICHENERSCHEINUNGEN. 


besch&uer vom 3. Februar 1882 enthält die sehr zweckmässige Bestimmung der zwei¬ 
maligen Beschau jeder Leiche, sowie besonders eingehende und sachliche Anleitung zur 
sicheren Feststellung des Todes, zur Vornahme von Wiederbelebungsversuchen und zur 
Feststellung gewaltsamer Todesarten (Verletzungen, Erstickung, Vergiftung, Selbstmord). 
In diesen Fällen muss die Anzeige beim Ortsvorsteher erfolgen, welcher dieselbe der Ge¬ 
richtsbehörde übermittelt. 

In Baden und Hessen besteht gleichfalls die obligatorische Leichenbeschau. Sie ist 
in Baden durch Ministerialverordnung vom 16. December 1876 nach ähnlichen Grundsätzen 
geregelt wie in Württemberg, und für Hessen durch Ministerialerlass vom 18. Februar 1841. 

Die Todtenbeschau (Leichenschau) hat einen dreifachen Zweck; 

1. den wirklich eingetretenen Tod festzustellen, und dadurch zu verhüten, 
dass Jemand scheintodt begraben werde; 

2. gewaltsame Todesarten aufzudecken; 

3. ansteckende Krankheiten zur Kenntnis der Sanitätsbehörde zu bringen. 

Zur Erfüllung dieser Aufgaben ist nicht nur eine genaue Kenntnis der 

Zeichen des eingetretenen Todes erforderlich, sondern auch Vertrautheit in 
der Erkennung vitaler und postmortaler Veränderungen; es ist auch er¬ 
forderlich die Befähigung zur diagnostischen Verwertung äusserer Leichen¬ 
befunde, sowie zur Vornahme von Wiederbelebungsversuchen bei Scheintodten, 
welche in den meisten Todtenbeschauordnungen den Leichenbeschauern zur 
Pflicht gemacht ist. 

Die Gesammtheit dieser Aufgaben ganz und voll zu erfüllen, ist nur ein 
Arzt befähigt. Mit Becht geht daher das Bestreben allgemein dahin, die 
Todtenbeschau nur durch Aerzte vornehmen zu lassen; nur da, wo Aerzte 
allzu schwer erreichbar sind, soll dieses Amt Laien übertragen werden. 

In der Begel findet nur eine einmalige Beschau möglichst kurze Zeit 
nach dem Eintritt des Todes statt. Einige Beschauordnungen verfügen jedoch 
noch eine Nachschau am zweiten Tage, so Baiern, wenn eine nichtärztliche 
Beschau stattgefunden hat, Württemberg und Baden. 

A. Die ersten Veränderungen der Leichen. 

(Leichenerscheinungen im engeren Sinne.) 

Tod ist der dauernde Stillstand der Herzbewegung und der Athmung. 
Selten hören diese beiden Thätigkeiten ganz gleichzeitig auf; in der Regel 
überdauert eine die andere um eine meist nur kurz bemessene Zeit, so dass 
entweder Herzstillstand oder Athmungsstillstand das primäre ist. Man kann 
deshalb mit Recht von zwei Arten des Sterbens sprechen und die erste (pri¬ 
märer Herzstillstand) als Herztod, die zweite (primärer Athmungsstillstand) 
als Lungentod bezeichnen. Die erste Form ist die gewöhnliche bei vielen 
schweren Erkrankungen, wo schon klinisch bedrohliche Erscheinungen der 
Herzschwäche das Herannahen des Todes verkünden; Beispiele für die letztere 
liefern die Erstickungen, bei welchen nach dem Sistiren der Athmung die 
Herzbewegung noch 3, 5 bis 8 Minuten, bei Neugeborenen auch viel länger, 
selbst mehrere Stunden, im Gange bleiben kann. 

Stillstand des Herzens und der Athmung ist aber nicht gleichbedeutend 
mit sofortigem Absterben aller Zellen und Organe. Vielmehr bleiben einzelne 
physiologische Thätigkeiten noch über den Tod hinaus erhalten. So die 
elektro- musculäre Erregbarkeit, welche erst 2—3 Stunden nach 
dem Tode erlischt, die Bewegungen der Flimmerzellen und Spermatozoon, 
welche gleichfalls noch viele Stunden andauern, und die Erregbarkeit der Iris 
durch pupillenverengende und pupillenerweiternde Medicamente, welche na¬ 
mentlich an Enthaupteten untersucht und sichergestellt worden ist. Es ist 
dahin endlich auch die sehr lange Zeit erhaltene Fähigkeit der Gewebe zu 
rechnen, Sauerstoff aus dem Blute aufzunehmen (postmortale Sauerstoff¬ 
zehrung), und die gleichlaufende Fähigkeit des Blutes, atmosphärischen 
Sauerstoff zu binden, wo dieser zutreten kann. Auf diesen weit über den Tod 


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LEICHENERSCHEINUNGEN. 


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hinaus erstreckten physiologischen Thätigkeiten fussen einige besondere Leichen¬ 
erscheinungen, von denen noch im Weiteren die Rede sein wird. 

Für das gewöhnliche Auge sind aber diese erhaltenen einzelnen Lebens- 
thätigkeiten nicht bemerkbar. Dagegen hat das Aufhören der Atbmung und 
der Blutbewegung unmittelbare, in der Regel auch dem Laien auffällige Er¬ 
scheinungen im Gefolge, welche als Kennzeichen des eingetretenen 
Todes bezeichnet werden. Es sind dies: Stillstand der Bewegungen 
des Brustkorbes, Ausfall des Herzstosses und Pulses, Erschlaffung 
der Muskulatur, wodurch beim Herannahen des Todes am Gesichte jener 
erschreckende Ausdruck des Verfalles zu Stande kommt, der als facies hippo- 
kratica schon den ältesten Aerzten für ein untrügliches Zeichen des unab¬ 
wendbaren Endes galt, Abplattung der M.uskeln, deren Gleichgewichts¬ 
figur nach dem Erlöschen des vitalen Tonus einzig vom physikalischen Factor 
der Schwere, bezw. des Druckes bestimmt wird, endlich Erblassen der 
Haut infolge der Entleerung des Blutes aus den Hautcapillaren. Diese 
Erscheinung setzt bei beginnender Erlahmung der Herzkraft schon in der 
Agonie ein. Das Erbleichen, die Leichenblässe, ist eine bekannte, nie fehlende 
Begleiterscheinung des eintretenden Todes. 

Die bisher geschilderten Erscheinungen sind gewissermaassen die Sym¬ 
ptome des Sterbens; sie können daher sachgemäss als Kennzeichen des 
Todes oder auch als physiologische Leichenerscheinungen den 
weiteren (physikalischen und chemischen) Veränderungen gegenübergestellt 
werden. 

Sobald der Tod endgiltig eingetreten ist, setzen an Stelle der physio¬ 
logischen Vorgänge zunächst rein physikalische ein. Diese physikalischen 
Leichenerscheinungen sind: 1. Die Erkaltung, 2. die Vertrocknung, 3. die 
Blutsenkung, 4. die Erstarrung. 

1. Das Erkalten der Leichen ist die nächste natürliche Folge des Auf¬ 
hörens der Wärmebildung. In den meisten Fällen sinkt die Temperatur schon 
in der Agonie (subnormale, agonale Temperatur) und fällt postmortal ständig 
bis zum völligen Ausgleich mit der Temperatur der Umgebung. Die Aus- 
kaltung ist in ihrem zeitlichen Ablaufe abhängig von dem Alter, der Körper- 
beschafienheit und der Todesart, sowie von den äusseren Factoren der Be¬ 
kleidung, Umhüllung und Temperatur des umgebenden Mediums. 

Demgemäss erkalten Kinder, Greise nnd schlechtgenährte, herabgekommene Per¬ 
sonen rascher, als Erwachsene, nach erschöpfenden Krankheiten (Tuberkulose, Carcinom, 
Kachexie) Verstorbene früher, als plötzlich Verstorbene, — nackte oder schlecht bekleidete, 
in kalten Räumen, im Freien oder im Wasser liegende Leichname schneller, als bekleidete, 
umhüllte und in warmen Zimmern aufgebahrte. 

Nicht immer entspricht das Verhalten der postmortalen Temperatur diesen natür¬ 
lichen physikalischen Voraussetzungen. In manchen Fällen kommt es nämlich zu post¬ 
mortalen Steigungen der Temperatur. Bekannt ist das Hinaufschnellen der 
Körperwärme im Sterben bei gewissen Todesarten (Tetanus, Erstickungen); diese agonale 
Temperatursteigerung hält dann in der Regel längere Zeit nach dem Tode an, ja kann 
thatsächlich noch zunehmen. Die Ursache .dieser interessanten Erscheinung — es sind 
Sterbe-Temperaturen von 44*75° C. und postmortale Steigerungen bis 45*37° C beob¬ 
achtet worden — erklärten Bjlleoth und A. Fick aus vermehrter Muskelarbeit, Huppert 
aus der durch Gerinnung des Muskeleiweisses frei werdenden Wärme, was Tamassia und 
Schlemmer auf Grund von Thierexperimenten bestritten. 

Der postmortale Temperaturabfall kann zur Bestimmung der Zeit, 
welche vom Eintritte des Todes bis zur Auffindung der Leiche 
verstrichen ist, verwendet werden unter Zugrundelegung nachfolgender Be- 
obachtungsthatsachen. Im Eis oder Schnee erkalten Leichen schon in einer 
halben bis einer Stunde vollkommen, im Wasser erhalten sie dessen Tem¬ 
peratur etwa in anderthalb bis zwei Stunden; bei Leichen, welche in ge¬ 
schlossenen Räumen liegen, beträgt die Abkühlung in der Stunde annähernd 
1° C. bei einer durchschnittlichen Anfangstemperatur von 37°—36 - 5° C. 
Wilkie, Bukman bestimmten die stündliche Abkühlung im Mittel mit 1 3 / a ° F 


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LEICHENERSCHEINUNGEN. 


= 0 889® C, v. Maschka wenigstens für die ersten Stunden mit 1 - 112° C. 
Besonders stark ist der anfängliche Temperaturabfall nach agonaler und post¬ 
mortaler Steigerung, in welchen Fällen er in der ersten Stunde bis 2 5° C 
betragen kann (v. Maschka). 

2. Die Vertrocknung. Von der Oberfläche des Körpers wird sowohl 
während des Lebens wie nach dem Tode beständig Wasser abgegeben, von 
feuchten, wunden, epidermislosen Stellen aus natürlich mehr als von normaler 
Haut. Im Leben erfolgt ein ständiger Ersatz durch immer neue Zufuhr von 
Flüssigkeit, die Verdunstungsfläche bleibt feucht, an der Leiche, wo kein 
Ersatz stattfinden kann, vertrocknet sie r sie wird häufig lederartig hart und 
erscheint gelb bis dunkelbraun, mitunter selbst schwarz verfärbt. Solche 
lederartige Vertrocknungen kommen zu Stande nach Hautabschürfungen, Ver¬ 
brennungen, Verbrühungen, Frottirungen, Einwirkung von Sinapismen, an 
geschundenen Strangfurchen, an den fratten (wunden) Stellen der Säuglinge, 
vornehmlich am Halse, wo sie Strangfurchen imitiren können, an den Leisten- 
und Achselfalten, um Genitalien und After. Eine besondere Beachtung als 
normale Leichenerscheinungen verdienen die Vertrocknungen an den 
Augen und Lippen. Wenn die Lidspalten nicht vollkommen geschlossen 
sind, was in der Regel nicht der Fall ist, so bilden sich zuerst neben dem 
äusseren, später neben dem inneren Rande der Hornhaut dreieckige 
Vertrocknungsflecke der (unbedeckten) Bindehaut des Augapfels, 
welche anfangs gelblich, später dunkler gefärbt sind. Ausserdem wird der 
ganze Augapfel durch Wasserabgabe schlaff, die Hornhaut verliert ihre Span¬ 
nung, sie faltet sich, wird trübe und undurchsichtig. 

Larcher und Siebenhaar wollten gerade in diesen Flecken ein sicheres Kennzeichen 
des Todes erblicken, wahrend Casper-Liman, y. Maschka und v. Hofmann demselben keine 
besondere Bedeutung beimessen. Nach meinen Erfahrungen sind zur Zeit, wenn dieses 
Phänomen auftritt, jedenfalls auch schon andere, ganz sichere Zeichen des eingetretenen 
Todes, wie Todtenflecke und Leichenstarre, vorhanden, da es sich nie vor Ablauf von drei, 
oft erst sechs bis zwölf Stunden nach dem Tode zeigt, nicht selten auch gar nicht zur Ent¬ 
wicklung kommt. 

Der rothe Saum der Lippen Neugeborener, welcher nach Luschka aus 
zwei morphologisch verschiedenen Zonen, einer inneren „Pars villosa* und einer äusseren 
„Pars glabra* besteht, beginnt regelmässig schon wenige Stunden nach dem Tode von 
innen her, von der Pars villosa aus, zu vertrocknen. Die Eintrocknung kann schliesslich 
bis zu 2 mm in die Tiefe reichen und einen lederartig harten, braunschwarzen Brandschorf 
oder Aetzschorf Vortäuschen. 

3. Die Blutsenkungen. Sobald das Blut nicht mehr activ bewegt wird, 
beginnt es, dem Gesetze der Schwere folgend, passiv nach den tiefer gelegenen 
Körperpartien abzufliessen, es senkt sich. Der Effect dieser Senkung ist die 
Ansammlung des flüssigen Blutes in den tiefgelegenen Theilen der Organe, 
die Bildung von Hypostasen. Man unterscheidet die Hypostasen der Haut 
oder äusseren Hypostasen als sogenannte „Todtenflecke“ von den inneren, 
den Hypostasen im engeren Sinne oder eigentlichen Blutsenkungen. 

o) Todtenflecke sind ein untrügliches und auch nie fehlendes Kenn¬ 
zeichen des Todes. Sie treten zuerst und zwar schon drei bis vier Stunden nach 
dem Tode in Form von kleinen rundlichen oder streifenförmigen zerstreuten 
Flecken auf, welche allmählich Zusammenflüssen und dann ausgebreitete, bei 
gewöhnlicher Rückenlage über Nacken, Schultern, Rücken, Gesäss, Oberschenkel 
und Oberarme ausgedehnte blaurothe und violette Verfärbungen der Haut 
darstellen, welche von der Umgebung nicht scharf abgegrenzt sind, sondern 
allmählich abgetönt in die bleiche, blutleere Haut der vordem Körperpartien 
übergehen. Von Blutunterlaufungen, mit denen sie verwechselt werden 
könnten, unterscheiden sie sich durch ihre Ausdehnung, die unbestimmte Ab¬ 
grenzung und vor allem dadurch, dass beim Einschneiden wohl Blutpunkte 
in der Lederhaut, von den durchschnittenen gefüllten Hautcapillaren herrührend, 
auftreten, aber das Unterhautzellgewebe vollkommen blass ist und in seinen 
Maschen kein Blut enthält. 


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LEICHENERSCHEINUNGEN. 


541 


Etwa 10 bis 14 Standen nach dem Tode besitzen die Todtenflecke ihre grösste Aus- 
dehnnng. Ausnahmsweise treten die Senkungsflecke sehr früh — schon 1 bis 1*/, Stunden 
nach dem Ableben — oder auffallend verspätet, erst nach 4, 6, 10 und selbst nach 15 Stan¬ 
den auf. Es ist daher eine gewisse Vorsicht geboten bei der Beurtheilnng der Zeit, welche 
vom Eintritt des Todes verstrichen ist. Die Ursache dieser Abweichungen lässt sich in der 
Regel leicht feststellen. Bei allen Todesarten, wo das Blnt flüssig bleibt, das sind die 
plötzlichen, and wo reichlich Blat vorhanden ist, beobachtet man rasches Auftreten, grosse 
Aasbreitung and dunkle Färbung der Todtenflecke; bei blutarmen, kachektischen, wasser¬ 
süchtigen Menschen und bei solchen Todesarten, wo starke Gerinnungen anftreten, kommt 
es zu Verzögerungen ihrer Entwicklung. Ein Beispiel dafür ist der Verblutungstod, wobei 
sich oft sehr verspätet nur spärliche und helle Todtenflecke entwickeln. Auch die um¬ 
gebende Temperatur beeinflusst ihre Entstehung und Ausbreitung in dem Sinne, dass höhere 
Temperaturen fördernd, niedrige hemmend wirken. 

Je länger die Leichen liegen, umso intensiver werden die Todtenflecke, 
und es kann bei gleichzeitig fortschreitender Fäulnis der Druck der Blutsäule 
auf die Capillarwände schliesslich so gross werden, dass es hie und da zu 
Zerreissungen derselben kommt. Das Blut tritt dann in die Umgebung, d. i. 
in den Papillarkörper aus. Bei sehr blutreichen und in wärmeren Räumen 
gelegenen Leichen kann man mitunter schon nach 24 Stunden zahlreiche 
derartige postmortale Blutaustretungen in Form von zerstreuten oder 
auch gruppirten, hirsekorn- bis linsengrossen, schwarzen oder blauschwarzen 
Flecken Anden, deren Verwechslung mit Ecchvmosen naheliegend ist. 

Für die forensische Medicin sind vor allem die Lage und die Farbe 
der Todtenflecke von Bedeutung; erstere, weil sie die Stellung der Leiche 
nach dem Tode anzeigt, letztere, weil sie mitunter Schlüsse auf die Todesart 
gestattet. So sind bei Erhängten die Todtenflecke an den Beinen, Vorder¬ 
armen und Händen als den tiefsten Körperstellen am stärksten entwickelt, 
bei Wasserleichen umgekehrt am Kopfe, dem Halse, der Brust, den Schultern 
und Oberarmen, bei am Bauche gelegenen Leichen sind sie vorne vorhanden 
und fehlen hinten. Wird die ursprüngliche Stellung der Leiche vorzeitig 
verändert, dann senkt sich auch das Blut neuerdings im Sinne der geänderten 
Lage, und es entstehen neue Flecke; doch verschwinden stark entwickelte 
Todtenflecke nie mehr vollständig, sie blassen nur bei nachträglicher Ver¬ 
lagerung der Leiche etwas ab; kleine, schwach entwickelte können dadurch 
wohl auch ganz zum Schwinden gebracht werden. 

An Hautstellen, welche einem Drucke ansgesetzt sind, kommen die Todtenflecke 
schwach oder gar nicht zur Entwicklung, so an den Schulterblättern und dem Gesässe bei 
gewöhnlicher Huckenlage, am Halse durch Hemdkrägen, an den Beinen durch Strumpf¬ 
bänder, aber auch an verschiedenen anderen Körperstellen durch Druck enganliegender 
Kleider, deren Faltungen oft abgeprägt sind. Bei seitlicher Lage des Körpers oder eines 
Körpert heiles kommt es zu intensiver einseitiger Entwicklung der äusseren Hypostasen. 
Recht häufig ist dies am Kopfe der Fall. Die daraus hervorgehende einseitige, livide Ver¬ 
färbung der Ohr- und Wangengegend und die düstere hypostatische Verfärbung der Binde¬ 
haut sind schon wiederholt verkannt und für Effecte von Gewalteinwirkungen gehalten 
worden, wie streifige Leichen Verfärbungen am Halse, die bei kleinen Kindern schon durch 
die natürlichen Hautfaltungen entstehen können, für Strangfurchen erklärt wurden. 

Die Farbe der Todtenflecke ist mehr weniger gesättigt bläulichroth 
oder violett und selbst bis dunkelblau; sie ist bedingt durch die Farbe des 
Leichenblutes, welche in der Regel hypervenös ist. Hat das Leichenblut eine 
andere Farbe, wie z. B. bei der Kohlenoxydgasvergiftung, dann erscheinen 
auch die Todtenflecke hellroth. Diese Farbe erhalten sie auch durch Kälte 
und stärkere Durchfeuchtung der Haut infolge der dadurch ermöglichten 
postmortalen Sauerstotfaufnahme von der Haut aus und der herabgesetzten 
oder aufgehobenen Sauerstoffzehrung der Gewebe (Falk). Rauchgrau bis 
braun sind die Todtenflecke bei Vergiftungen mit methämoglobinbildenden 
Giften (z. B. chlorsaures Kali). Die Farbe der Senkungsflecke wird immer 
dunkler und geht bei vorschreitender Fäulnis bald, oft schon in 24 Stunden, 
in die grüne Verwesungsfarbe über. Im Weiteren wandern die flüssigen An- 
theile des Blutes bald auch durch die Gefässwände hindurch und sammeln 


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LEICHENERSCHEINÜNGEN. 


sich unter der Epidermis, diese abhebend, als Blasen an. Die Fäulnisblasen 
bersten, ihr Inhalt entleert sich nach aussen; der Process der postmortalen 
Ausblutung hat begonnen. 

b) Innere Hypostasen bilden sich nach demselben Gesetze der 
Schwere, indem das Blut in die tiefer gelegenen Theile der Organe abfliesst 
und sich daselbst in fortwährend zunehmendem Maasse ansammelt. Diese 
inneren Senkungshyperämien sind umso beachtenswerter, als sie pathologische 
Processe Vortäuschen können. Am Kopfe finden wir sie bei der gewöhnlichen 
Rückenlage der Leichen zunächst als stärkere Durchfeuchtung (Leichenödem) 
der hinteren Kopfschwarte und des darunter befindlichen Zellgewebes. Bei 
stark abhängiger Lage des Kopfes kann es, wie schon Engel gezeigt hat, 
auch hier zur postmortalen Ecchymosenbildung kommen, oder es vergrössern 
sich intravitale kleine Ecchymosen durch hypostatische Nachblutung recht 
beträchtlich. Einen Fall, wo diese Hypostase für einen traumatischen Effect 
gehalten wurde, habe ich erst jüngst übergutachtet. Die hypostatische Ueber- 
füllung der Piagefässe ist schon oft für Gehirnhyperämie und Meningitis ge¬ 
halten worden; wie auch die natürliche, stets vorhandene, strotzende Erfüllung 
der Venen in der Pia mater des Rückenmarks wiederholt für eine Congestions- 
erscheinung erklärt worden ist. Weniger leicht kann die auch stets vorhan¬ 
dene Erfüllung der grossen venösen Sammelgefässe am Schädelgrunde, besonders 
in den hinteren Schädelgruben, Anlass zu Verkennungen geben. 

Am Halse finden sie sich als mehr weniger intensive Einspritzung und maximale 
Erweiterung der Blutgefässe der hinteren Rachen«, Kehlkopf-und Speiseröhrenschleimbaut, 
sowie als forensisch besonders beachtenswerte blutige Durchfeuchtung des lockeren Zell¬ 
gewebes in den seitlichen Theilen des Halses sowohl unter der Haut, wie zwischen den 
Muskeln. (Mögliche Verwechslung mit Würgespuren!) Gleich wichtig sind die Blutsen¬ 
kungen in den Lungen, welche bis zum Luftleerwerden der hinteren und unteren Lungen¬ 
abschnitte gedeihen können und Lungenödem, selbst Lungenentzündung vorzutäuschen 
vermögen. Wie in -den Hohlräumen der Lungen sammelt sich die wandernde Blutflüssig¬ 
keit, die Gefässwände passirend, bald auch in den Brusthöhlen als Fäulnistranssudat 
an. Dasselbe geschieht in der Bauchhöhle, wo sich diese Leichenerscheinung im Becken 
und den Hypochondrien zeigt und im Zusammenhalte mit einer starken cadaverösen Sen- 
kungsinjection der Darmgefässe schon für ein Entzündnngsproduct erklärt worden ist. 
Ausser diesen Blutsenkungen an den Gedärmen, welche bis zur Erfüllung des Darm¬ 
lumens mit einem blutigen Inhalte gedeihen können, sind noch beachtenswert: die 
Hypostasen des Magens, welche durch die Wirkung des sauren Magensaftes sehr bald 
braune und schwarze Färbungen (Bildung von Methämoglobin und Säurehämatin) annehmen. 
Die dadurch hervorgerufene cadaveröse Melanose der Magenschleimhaut und schliess¬ 
lich der ganzen Magen wand ist schon mit Vergiftungen, namentlich mit Schwefelsäure Ver¬ 
giftung verwechselt worden. 

4. Die Erstarrung der Leichen, die sogenannte Todtenstarre (rigor 
mortis ), ist eine allgemeine und allgemein bekannte Leichenerscheinung, 
welche wegen ihres ausnahmslosen Vorkommens mit Recht auch als unfehl¬ 
bares Kennzeichen des Todes anzusehen ist. Sie entsteht bei Leichen aller 
Altersclassen und Todesarten, doch sind in Bezug auf die Zeit des Eintrittes 
und der Dauer, sowie hinsichtlich ihrer Stärke sehr wesentliche Schwankun¬ 
gen bemerkbar. Nur bei macerirten und unreifen Früchten vor dem siebenten 
Entwicklungsmonate fehlt sie, wie es scheint, vollständig, kommt jedoch bei 
älteren Früchten, selbst in der Geburt abgestorbenen, als intrauterine 
Leichenstarre (Feis, Lange, v. Steinbüchel) vor. Ob sie auch bei 
acuter parenchymatöser Degeneration der Musculatur (Sepsis, Phosphor-, 
Schwämme Vergiftung u. s. w.) ganz fehlen kann, wie v. Hofmann angibt, muss 
ich nach meinen Erfahrungen bezweifeln, wohl aber ist sie in diesen Fällen 
naturgemäss in der Regel schwach entwickelt und von kurzer Dauer. 

Bei Leichen Erwachsener beginnt sie durchschnittlich zwei bis drei Stun¬ 
den nach dem Tode, bei Kindern viel früher, nicht selten schon nach 10 Minuten 
bis V 4 Stunde; dafür dauert sie bei diesen auch viel kürzer an, in der Regel 
nur acht bis zehn, selten 24 und nur ganz ausnahmsweise (bei starker Kälte) 


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LEICHENERSCHEIN DNGEN. 


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36 bis 48 Stunden. Bei Erwachsenen dagegen beträgt ihre Dauer bei einer 
mittleren Temperatur von 10° C. 50 bis 60, ja selbst bis zu 75 und 90 Stunden. 

Die Dauer der Starre hängt vorwiegend von zwei Bedingungen ab, 
von der Stärke der Musculatur und von der Temperatur; sie schwankt 
im gleichen Sinne mit diesen, d. h. sie dauert um so länger, je kräftiger die 
Musculatur und je kühler der Raum ist, in dem der Leichnam liegt und um¬ 
gekehrt. Aus diesem Gesetze erklären sich fast alle zur Beobachtung gelan¬ 
genden Schwankungen der Dauer und der damit parallel verlaufenden Stärke 
der Leichenstarre, welche an die gleichen Bedingungen geknüpft ist. Daher 
kommt es und wird verständlich, dass die Todtenstarre bei plötzlich Ver¬ 
storbenen stärker und andauernder ist, als bei Leichen schwer erkrankt ge¬ 
wesener Menschen, während sie schwächer entwickelt ist und rascher schwindet 
bei Kindern, Greisen, Marantischen, Hydropischen und an Infectionskrank- 
heiten Verstorbenen, sowie bei starker Fäulnis. In diesen Fällen kann sie 
auch bei Erwachsenen schon nach 20 Stunden und selbst noch früher gelöst 
sein. Die Gesammtdauer ist dann auf wenige Stunden beschränkt; die kurze 
und schwache Todtenstarre kann der Beobachtung leicht ganz entgehen. Wenn 
sie schon allenthalben gelöst ist, besteht sie oft noch stundenlang an den 
Unterschenkeln und Füssen; das Sprunggelenk bleibt am längsten festgestellt. 

Der Gang der Starre ist fast immer gleich; sie beginnt am Unterkiefer und 
Nacken, verbreitet sich von da über den Rumpf nach abwärts, entwickelt sich dann an den 
Armen und zuletzt an den Beinen. Vier bis sechs Stunden nach dem Beginne, also durch¬ 
schnittlich 6, 8 bis 14 Stunden nach dem Tode, ist sie bereits allgemein. Besonders früher 
Eintritt und rasche Entwicklung wurde bei acuten Erkrankungen des Gehirnes und Rücken¬ 
markes, nach Strychnin Vergiftung und an Krämpfen Gestorbenen beobachtet. Ab und 
zu kommen auch Abweichungen vom gewöhnlichen Gange vor; an die Stelle des absteigen¬ 
den tritt der aufsteigende Typus mit früherer Erstarrung der unteren Extremitäten. Die 
Lösung erfolgt in derselben Reihe wie die Erstarrung, weshalb beim absteigenden Typus am 
spätesten die Sprunggeienke, beim aufsteigenden zuletzt das Kopf- und Kiefergelenk be¬ 
weglich werden. Nach Pellacani soll ersterer bei kräftigen, letzterer bei herabgekommenen 
Menschen Regel sein. 

Mitunter — es sind das allerdings sehr seltene Fälle — setzt die Todtenstarre un¬ 
mittelbar im Momente des Todes ein, so dass Bewegungen und Stellungen des Lebenden 
durch augenblickliche Erstarrung der Musculatur nach dem Tode festgehalten werden. 
Du Bois-Reymond führte dafür die heute allgemein üblich gewordene Bezeichnung kata- 
leptische Todtenstarre ein. v. Maschka, und lange Zeit auch v. Hofmajsn bestritten 
ein solches Vorkommen überhaupt, indem sie die eigentümlichen Stellungen von Leichen, 
welche gewissermaassen todtenstarr gewordene, gewollte Bewegungsvorgänge darstellen, 
wie das Laden des Gewehres, Schiessen, Sturmlaufen, Springen, Essen, Trinken u. s. w., 
durch zufälliges Festhalten der im Augenblicke des Todes eingenommenen Stellung 
erklärten. Bleibt der Arm nach dem Tode zufällig am Gewehrlauf liegen, oder der Löffel, 
der Trinkbecher in der Hand, indem diese selbst von einem daneben befindlichen Gegen¬ 
stände gestützt und am Herabgleiten gehindert wird, und erstarrt später der Körper, so 
scheint der Todtstarre noch das Gewehr laden, essen oder trinken zu wollen. In grösserer 
Zahl sind solche Beobachtungen an erschossenen Soldaten des deutsch-französischen 
Krieges, ab und zu auch an Leichen von Selbstmördern und Verunglückten gemacht 
worden. Es unterliegt keinem Zweifel, dass viele Fälle sogenannter kataleptischer Todten¬ 
starre in dieser Weise, d. h. als postmortale Erstarrung in einer zufällig fixirten Stellung 
zu erklären sind. Anderseits geht aus den Thierversuchen von Falck, Schroff jun., 
A. Paltauf und aus meinen eigenen Beobachtungen an elektrisch getödteten Thieren (vgl. 
Kratter, der Tod durch Elektricität), sowie aus zwei interessanten Beobachtungen Schle- 
senger’s an Menschen, wo bei Tod im Krampfanfalle der unmittelbare Uebergang der 
Krampfstellung in die Todtenstarre direct beobachtet worden ist, unzweifelhaft hervor, 
dass auch eine wahre kataleptische Todtenstarre als seltene und ausnahmsweise Leichen¬ 
erscheinung thatsächlich vorkommt. 

Auch das Herz, dieser wichtigste Muskel des Körpers, unterliegt der 
Todtenstarre. Oft findet man dasselbe bei den Leichenöffnungen zusammen¬ 
gezogen und fest, d. h. todtenstarr, oft auch schlaff, wie einen halbleeren 
Beutel, wenn die Leichenstarre schon gelöst ist. Sie ist dem erörterten Gesetze 
entsprechend auch viel schwächer entwickelt und löst sich rascher bei paren¬ 
chymatöser Entartung des Herzfleisches, als wenn dieses gesund und kräftig 
ist. Diese einfache Leichenerscheinung wurde und wird zum Theil noch 


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LEICHENEESCHEINÜNGEN. 


heute fälschlich als anatomischer Beweis für systolischen oder diastolischen 
Herzstillstand angesehen. 

Strassmann’s Versuche haben unzweifelhaft dargethan, dass es bei gar keiner Todes¬ 
art zu einem systolischen Herzstillstand kommt: er fand vielmehr selbst nach Strychnin¬ 
vergiftung das Herz weich und in diastolischer Stellung. Erst nach Eintritt der Todten- 
starre Ändert sich dies; der linke Ventrikel zieht sich zusammen und entleert (postmortal) 
einen grossen Th eil seines Inhaltes. Die Todtenstarre am Herzen führt also eine Aenderung 
seiner Gleichgewichtsfigur und eine active Blutbewegung in der Leiche herbei. Durch die 
Zusammenziehung der Eingmuskulatur der grossen Gef&sse — auch die glatten Muskeln 
unterliegen der Todtenstarre — wird diese postmortale Blutbewegung noch mehr befördert. 
Deswegen enthalten die grossen Schlagadern meist nur wenig Blut, während die Venen, 
welchen agonal und postmortal durch die Zusammenziehung der Capillaren Blut angeführt 
wird, von diesem strotzen. 

Die Erstarrung der glatten Muskeln bewirktauch die so oft bei 
allen möglichen gewaltsamen und natürlichen Todesarten zu beobachtende 
Leichenerscheinung der Gänsehaut, mitunter auch Bewegungen und Ent¬ 
leerungen von gasigem und breiigem Darminhalt. Auch die Ausstossung von 
Leibesfrüchten — die sogenannten Sarggeburten — hat man als Wirkung der 
Todtenstarre der schwangeren Gebärmutter betrachtet, was jedoch sicher nicht 
der Fall ist. Die Sarggeburt ist vielmehr eine Folge späterer Vorgänge, 
nämlich der Fäulnis, und eine Wirkung der hiebei stattfindenden, mitunter 
stürmischen und massenhaften Gasentwicklung. Dagegen ist das Zusammen¬ 
gezogensein des Hodensackes und des Penis eine Wirkung der Todtenstarre. 

Während die Todtenstarre des Herzens und der glatten Muskelfasern 
postmortale Bewegungen des Inhaltes von Hohlorganen hervorrufen kann, 
werden, soweit bis jetzt verlässliche Beobachtungen vorliegen, durch die 
Leichenstarre der willkürlichen Muskeln keine Bewegungen hervorgebracht. 
Der Grund dieser zunächst befremdenden Erscheinung liegt in der gleich¬ 
zeitigen Erstarrung der Antagonisten, wodurch die Wirkung der Zusammen¬ 
ziehung jeder Muskelgruppe paralysirt wird, Es scheint daher auch, dass die 
so häufig zu findende Beugung der Finger, sowie das ab und zu beobachtete 
Festhalten eines Gegenstandes (Waffe u. a.) einfach aus der Erstarrung der 
zufällig gebeugten Finger oder geschlossenen Hand, nicht aber als postmortale 
Bewegung durch das Uebergewicht der Beuger zu erklären sind. 

Unter Berücksichtigung der geschilderten Einflüsse kann das Verhalten 
der Todtenstarre immerhin zur Beurtheilung der Zeit, welche vom Tode an 
verstrichen ist, wertvolle Anhaltspunkte bieten. Da Wärme dieselbe abkürzt, 
Kälte sie aber verlängert, hört bei Leichen, welche sehr kalt liegen, und bei 
gefrorenen Leichen die Möglichkeit einer Zeitbestimmung vollkommen auf. 
Solange die Leiche gefroren ist, bleibt die Starre erhalten und kann nach 
y. Hofmann selbst das Aufthauen kurze Zeit überdauern. 

Die Ursache der Todtenstarre war schon vor Jahrhunderten 
Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen (Paulus Zacchias). Im Laufe 
der Zeiten sind mannigfache Theorien hierüber aufgestellt worden. Ntsten 
(1811) betrachtete sie als letzte Lebensäusserung der Muskelfasern, bezog sie 
also auf die physiologische Contractilität, Sommer (1833) schrieb sie der 
physikalischen Contractilität der todten Muskeln zu, Beclard und Treviranus 
leiten sie von der Gerinnung des Blutes her, Stannius vom Absterben des 
Muskelnervs. Nach ihm stellt sie die vom Nerveneinfluss befreite, reine Ela- 
sticität des den Tod des Nerven überlebenden Muskels dar. Eiselsbebg hat 
dem entgegen durch Versuche dargethan, dass der Einfluss des Nervensystems 
den Eintritt der Leichenstarre beschleunige. Am meisten Geltung hat sich 
die Theorie von Brücke, die durch Versuche von Kussmaul, Kühne u. a. 
bestätigt wurde, erworben. Nach ihm ist die Todtenstarre bedingt durch Ge¬ 
rinnung des Muskeleiweisses, des Myosins. Die Erstarrung ist begleitet, 
vielleicht eingeleitet und unterhalten von einem Umschlagen der alkalischen 
in die saure Reaction. Nencki und Marie Ekunina haben nachgewiesen. 


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LEICHENERSCHEINUNGEN. 


545 


dass die Muskeln, die Leber und Lungen kurz nach dem Tode die dem ganzen 
lebenden Körper mit Ausnahme des Magens und Dickdarms zukommende al¬ 
kalische Reaction verlieren und einige Zeit sauer reagiren. Die Leichen¬ 
säuerung geht als saure Fäulnis oder besser saure Gährung der eigentlichen 
(ammoniakalischen) Fäulnis voraus. Sie ist die erste chemische Leichen- 
erscheinung und möglicherweise Ursache der Eiweissgerinnung und der 
Todtenstarre. 

B. Die späteren Leichen Veränderungen. 

(Die Leichenzersetzung.) 

Die Zersetzung der Leichen ist ein sehr complicirter, in seinen Einzel¬ 
heiten noch lange nicht völlig bekannter Vorgang. Gleichwohl sind eine 
grosse Zahl von Thatsachen beobachtet und erforscht worden, so dass wir 
uns über die Bedingungen und das Wesen der hierbei ablaufenden Processe 
doch ziemlich klare Vorstellungen machen können. Der Hauptsache nach sind 
es chemische Vorgänge, u. zw. fortgesetzte Spaltungen der hoch zusammen¬ 
gesetzten organischen Moleküle, ein Abbau derselben zu immer einfacheren 
Verbindungen. Als Endglieder erscheinen dann die sehr einfachen, seit langer 
Zeit bekannten Wasserstoff- oder Sauerstoff Verbindungen der die organischen 
Moleküle zusammensetzenden wenigen Grundstoffe: Ammoniak, Kohlenwasser¬ 
stoffe, Schwefelwasserstoff in dem ersten, Salpetersäure, Kohlensäure, Schwefel¬ 
säure, Phosphorsäure im zweiten Falle. Justus v. Liebig hat nach diesen 
Endproducten schon erkannt, dass die Leichenzersetzung, rein chemisch auf¬ 
gefasst, kein einheitlicher Vorgang ist, sondern dass zwei chemisch ver¬ 
schiedene Processe neben einander laufen. Der mit der Bildung einfacher, 
flüchtiger Wasserstoffverbindungen abschliessende ist ein der trockenen De¬ 
stillation analoger Reductionsvorgang, Fäulnis genannt, der zur Bildung von 
Sauerstoffendgliedern führende eine Oxydation oder Verbrennung, welche als 
Verwesung bezeichnet wird. 

Ob sich Fäulnis entwickelt oder Verwesung, hängt vorwiegend von 
äusseren Bedingungen ab. Fäulnis kommt zu Stande bei Sauerstoffmangel 
und unbeschränktem Wasservorrath, aus welchem immer neue Mengen von 
Wasserstoff abgespalten werden können, Verwesung bei unbeschränkter Sauer¬ 
stoffzufuhr und mangelndem Wasser. Bei dem hohen Wassergehalt der Gewebe 
und der grossen Menge der Körperflüssigkeiten sind anfänglich fast ausnahmslos 
in den Leichnamen selbst die Bedingungen für die Einleitung und Unterhal¬ 
tung von Fäulnis gegeben. Jede Leichenzersetzung beginnt daher mit Fäulnis. 
Im Grabe tritt, wenn das Erdreich trocken und porös, also sehr stark luft- 
hältig ist, wie es auf einem guten Friedhof sein soll, bald an die Stelle der 
Fäulnis die Verwesung. Der in solchem Erdreich vorhandene Luftgehalt, 
welcher nach v. Pettenkofer ein Drittel des Gesammtvolumens betragen 
kann, liefert unausgesetzt jene Mengen von Sauerstoff, welche nöthig sind, 
um allmählich den Stickstoff der Körpergewebe zu Salpetersäure, den Kohlen¬ 
stoff zu Kohlensäure, den Schwefel zu Schwefelsäure und den Phosphor zu 
Phosphorsäure zu oxydiren. 

In Wirklichkeit sind die Bedingungen wohl fast niemals solche, dass 
entweder nur Fäulnis oder nur Verwesung zu Stande käme; vielmehr schieben 
sich beide Vorgänge so ineinander, dass eine Trennung in der Darstellung 
unmöglich ist. Vorwiegend ist immer zuerst die Fäulnis, in den Erdgräbern 
später nicht selten die Verwesung oder Vermoderung. Ist der Luftzutritt zu 
einer Leiche sehr erschwert oder wird ihr das Wasser entzogen, so kommen 
die chemischen Processe zum Stillstände; es entwickeln sich modificirte Pro- 
ducte, im ersten Falle Fettwachs, im letzteren Mumien. 

Bibi. med. Wiuciucbflen Hygiene. u. Ger. Med. 3o 


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546 


LEICHE N ERSCHEINUNGEN. 


Wir haben demnach als spätere Leichenveränderungen zu unterscheiden: 
1. Fäulnis und Verwesung, 2. die Fettwachsbildung, 3. die Leichen¬ 
vertrocknung. 

1. Fäulnis und Verwesung sind, wie schon oben gezeigt wurde, ganz 
wesentlich von äusseren, aber auch von inneren (in der Leiche selbst ge¬ 
legenen) Bedingungen abhängig. Aeussere Verwesungsbedingungen sind: die 
Luft, Feuchtigkeit und Wärme, innere: das Alter, die Leibesbe¬ 
schaffenheit und die Todesart. 

Reichlicher Luftzutritt fördert, Luftmangel verzögert die Leichenzer¬ 
setzung. Leichen faulen daher am raschesten an der freien Luft, während 
die Zersetzung im Wasser und in der Erde verzögert ist. Casper hat auf 
Grund seiner reichen Erfahrungen die Einwirkung der verschiedenen Medien 
auf die Leichenzersetzung ziffermässig ausgedrückt, indem er den Satz auf¬ 
stellte: Unter sonst gleichen Bedingungen entspricht in Betreff des Verwesungs¬ 
grades eine Woche (Monat) Aufenthalt der Leiche in freier Luft zwei Wochen 
(Monaten) Aufenthalt derselben in Wasser und acht Wochen (Monaten) La¬ 
gerung auf gewöhnliche Weise in der Erde. Immerhin hat man unter Zu¬ 
grundelegung dieses Erfahrungssatzes, der ja nur ein beiläufiges Verhältnis 
zum Ausdrucke bringt, einigen Anhaltspunkt zur Beurtheilung der Zeit des 
Todes. Ein mittlerer Grad von Feuchtigkeit fördert die Fäulnis am 
meisten, ein Uebermaass (Liegen der Leichen im Wasser) verzögert sie, das 
Fehlen von Feuchtigkeit (Austrocknung des Leichnams) hebt sie vollkommen 
aut Ganz ähnlich wirkt die Wärme. Hohe und niedrige Temperaturen 
hemmen die Fäulnis, erstere durch Austrocknung, letztere durch Frieren. Bei 
0° hört jede Zersetzung auf, gefrorene Leichen bleiben ungemessene Zeit¬ 
räume frisch erhalten. Schon von 5° abwärts ist die Fäulnis ungeheuer ver¬ 
langsamt. Die günstigste Temperatur ist zwischen 10—20° R., wobei jeder 
einzelne Grad der Wärmesteigerung sich durch Beschleunigung bemerkbar 
macht. Bei 30° R. kommt es schon in kurzer Zeit zur vollständigen Aus¬ 
trocknung des Fleisches (Kijanicin). 

Das Alter beeinflusst die Leichenfäulnis nur insoferae, als der Wasser¬ 
gehalt der Gewebe mit dem Lebensalter wesentlich schwankt. Diese Ver¬ 
wesungsbedingung fällt daher eigentlich zusammen mit der Körperbe¬ 
schaffenheit. Je wasser- und säftereicher die Gewebe und Organe sind, 
desto mehr wird die Fäulnis befördert, je trockener, fester, derber, umso mehr 
verzögert. Daher die rasche Fäulnis von Neugeborenen und Kindern, von 
fetten und blutreichen Personen und die viel langsamere von erwachsenen 
mageren und abgezehrten Menschen. Die Todesart ist insofeme von Be¬ 
lang, als plötzlich oder an acuten Krankheiten Verstorbene meist vollsäftig 
sind und daher rasch in Fäulnis übergehen können; an septischen Krankheiten 
Verstorbene (allgemeine Sepsis, Pyämie, Puerperalprocess, Peritonitis, Ery¬ 
sipel u. s. w.) faulen besonders rasch, weil im Blute schon während des 
Lebens Zersetzungen aufgetreten sind und die überall vorhandenen pathogenen 
Bacterien die unmittelbare Fäulnis propagiren. 

Je nach ihrer Festigkeit, bezw. dem Wassergehalte einerseits und der 
Möglichkeit des Luftzutrittes andererseits läuft die Fäulnis der Organe 
zeitlich sehr verschieden ab. Die CASPER’sche Reihenfolge entspricht in der 
That annähernd den täglichen Erfahrungen. Nach ihm gehen die Organe in 
folgender Ordnung in Fäulnis über: Luftröhre, Gehirn Neugeborener, Magen 
und Gedärme, Milz, Netze und Gekröse, Leber, Gehirn Erwachsener, Herz, 
Lungen, Nieren, Harnblase, Speiseröhre, Bauchspeicheldrüse, Zwerchfell, Blut¬ 
gefässe, Uterus, Sehnen, Bänder, Knochen. 

Eine wesentliche Verzögerung führen die Umhüllungen der Leichen, 
Kleider und Särge, herbei, und zwar umso mehr, je dichter sie sind und je 


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LEICHENERSCHEINUNGEN. 


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enger sie die Leiche umschliessen. Daher kommt es auch oft zu rein örtlicher 
Fäulnishemmung durch enganliegende Strümpfe, Schuhe, Gürtel u. s. w. 

Die das Wesen der Fäulnis ausm ach enden, fortgesetzten chemischen Spaltungen 
werden durch Spaltpilze, die sog. Fäulnisbacterien bewirkt. Als solche fungiren zu¬ 
nächst die normalen Darmbactenen, in weiterem Verlaufe treten besondere Arten auf. 
Bisher wurden folgende Fäulnisbacterien im Blute sichergestellt (Ottolenghi): 
Mesentericus vulgatus, Mesentericus fuscus, Mesentericus ruber, Bacillus subtilis, Mikro- 
ooccus albus liquefaciens bei beginnender, — Bacillus candicans, Mikrococcus candicans 
luteus und aurantiacus, dann ein sternförmiger Coccus bei vorgeschrittener, intensiver Fäul¬ 
nis (48 Stunden p. m. 18—22° C). Strassmann und Strecker haben weiters zwei besondere 
Fäulnisbacterien der Spätfäulnis sichergestellt: den Bacillus albus cadaveris und den Ba¬ 
cillus citreus cadaveris , beide sind aerob, ausgesprochen fäulniserregend, verflüssigend, die 
Producte des ersten wirken toxisch, während dem zweiten toxische Eigenschaften nicht 
zukommen. 

An der Leichenzerstörung betheiligen sich aber ausserdem wenigstens in vielen 
Fällen auch noch andere Pilze, nämlich Schimmelpilze. Heim fand neben vielen ge¬ 
wöhnlichen Arten eine neue — Endoconidium Megnint. Nach meinen Erfahrungen sind 
die Leichname, welche 2—3 Monate nach dem Tode, mitunter auch noch später, ausgehoben 
wurden, in der Regel mit einem dichten Rasen von Schimmelpilzen bedeckt. Das Mycel 
derselben durchsetzt tief die Lederhaut. Ich schreibe ihnen daher die Rolle der Haut¬ 
zerstörer zu; sie besiedeln die Haut, sobald die Oberhautgebilde zerfallen sind und die 
blossliegende, feuchte Lederhaut sich als höchst geeigneter Nährboden darbietet. (Vgl. 
Kratter, die Schicksale der Leichen im Erdgrabe). Der Zerfall der Deckgebilde beginnt bei 
starker Fäulnis schon in den ersten Tagen, indem die Oberhaut durch die wandernden 
Körperflüssigkeiten in Blasen abgehoben wird (Fäulnisblasen), welche einreissen und den 
Durchtritt der gesenkten Blutflüssigkeit nach aussen gestatten. Durch den allmählichen 
Zerfall der ganzen Oberhaut wird die vollständige postmortale Ausblutung der 
Leichname ermöglicht, ein Vorgang, der nach Zillner im Ganzen etwa 2 Monate bean¬ 
sprucht. Nach dieser Zeit ist überhaupt kein Blut mehr in den Organen, daher er¬ 
scheinen alle hochgradig gefaulten Organe blutleer; es besteht Fäulnisanämie. Dieser 
cadaverösen Anämie geht während der Zeit der Blutwanderung die allgemeine Durch¬ 
feuchtung der Gewebe mit den flüssigen Blutbestandtheilen voraus, denen der aus den zer¬ 
fallenen Blutkörperchen ausgetretene, zu alkalischem Methämoglobin gewordene Blut¬ 
farbstoff die schmutzig braunrothe Farbe gibt. In dieser Zeit (die ersten 2—4 Wochen) sind 
alle Gewebe mehr weniger stark von gefaultem Blute darchtränkt, ein Zustand, der als 
faule Imbibition bekannt, in der Wärme oft schon nach 24 Stunden so weit entwickelt 
ist, dass die Hautvenen als Netze von federkieldicken dunklen Streifen hervortreten. 

Die Gase, welche sich bei der Fäulnis bilden, bewirken durch ihre Ansammlung im 
Unterhautzellgewebe, dessen Maschenräume sie durchsetzen, das Fäulnisemphysem, 
welches aber auch an inneren Organen durch Ansammlung von Fäulnisgasen unter der 
Lungenpleura oder im submucösen Bindegewebe des Magens und der Gedärme, selbst in 
den derben Organen, wie Leber, Milz, Nieren und Gehirn, bis zur Schwimmiäbigkeit der¬ 
selben sich entwickeln kann. Das faule Hautemphysem bildet sich besonders leicht nach 
schweren Verletzungen, in der Umgebung grosser Blutaustritte und bei Wasserleichen, 
welche einige Zeit an der Luft liegen. 

Unter den Fäulnisgasen kommt dem Schwefelwasserstoff eine besondere Bedeutung 
zu. Er bedingt nämlich durch seine Einwirkung auf die eisenhaltigen Zersetzungsproducte 
des Blutes unter Bildung von Sulfhämoglobin und Schwefelmethämoglobin jene schwarzen 
und schwarzgrünen Verfärbungen, welche oft schon am zweiten Tage nicht nur an der 
Haut, namentlich den Bauchdecken, auftreten, sondern auch an inneren Organen sehr stark 
entwickelt sein können. Hier vermögen sie pathologische Veränderungen sowohl zu ver¬ 
decken als vorzutäuschen, wie z. B. die» cadaveröse Melanose des Magens. Diese 
grünen und schwarzen Verwesungsfärbungen der Organe können sich bei acuter Fäulnis 
des Blutes, wobei die Blutkörperchen rasch zerfallen und der Blutfarbstoff frei wird, umso 
schneller bilden, als Schwefelwasserstoff (H 2 S) und das homologe Methylmercaptan (CH a .HS) 
als Darmgase schon beim Lebenden vorhanden sind. Bei der Fäulnis bilden sich flüchtige 
Schwefel Verbindungen, die zuletzt zu H a S werden, auch aus allen schwefelhaltigen Eiweiss¬ 
substanzen. Dieses Gas kann sich bei heftiger Fäulnis durch Reduction sogar aus den 
Sulfaten bilden nach folgender Formel: K a S0 4 + H 8 = K a O -J- 3H a O -f- SH a . 

Der Chemismus der ammoniakalischen Fäulnis ist heute doch 
schon zu einem Theile bekannt. Veranlasst wird die ammoniakalische Fäulnis, 
wie es scheint, vorwiegend durch den Bacillus cadaveris albus und Bac. cad. 
citreus . Die niedrigen Ammoniakverbindungen bilden sich leicht aus dem 
Harnstoff, der unter Aufnahme von Wasser in Ammoniak und Kohlensäure 
zerfällt: CO(NH a ) a -f- 2 H a O = 2 CO a -f- 2 NH 4 , schwer und langsam da¬ 
gegen aus den Eiweissubstanzen. 

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548 


LEICHENERSCHEINUNGEN. 


Als Zwischenstufen bilden sich stickstoffhaltige Körper, welche heute 
allgemein mit dem gemeinsamen Namen Leichenalkaloüde oder Pto- 
mal'ne (richtig Ptomatine) bezeichnet werden. 

Diese Bezeichnung rührt daher, weil zuerst gelegentlich von forensischen Unter¬ 
suchungen bei Giftmordprocessen auch aus gewöhnlichen, nicht vergifteten Leichen den 
Pflanzenalkaloi'den ähnliche Körper dargestellt wurden. Nachdem schon Marqüart in 
Stettin (1865) eine dem Coniin verwandte Base aus menschlichen Eingeweiden dargestellt, 
Bense Jones und Dupr£ (1866) das „animalische Cbinoidin“ entdeckt, Bergmann und 
Schmiedeberg in Dorpat (1868) aus faulem Blute das „Sepsin“ rein gewonnen, Zülzkr und 
Sonnenschein (1869) aus faulem Fleisch eine dem Atropin und Hyoscyamin ähnliche Base 
abgeschieden hatten, legte am 9. Februar 1873 Francesco Selmi der Academie von Bologna 
seine weltberühmt gewordene Abhandlung über Ptomaine (irrüjpa. ftTibfiotTo;, gefallenes Vieh, 
Cadaver) vor, in welcher er die Behauptung aufstellte, dass in jeder Leiche, gleichgiltig, 
wodurch der Tod erfolgte, alkaloidische Substanzen nachgewiesen werden können, welche 
den Gerichtschemiker sehr leicht irre zu fuhren vermöchten. Er unterschied nach den 
Wirkungen ein Leichen coniin und Leichennicotin, strychninähnliche (tetanisirende) Cadaver- 
alkaloide, pupillenerweiternde, die Ptomatiopine, sowie morphin-, delphinin-, digitalin- und 
curaninähnliche Ptomatine. 

Die von Selmi, dann von Gautier, Brouardel und Boutmy dargestellten Substanzen 
waren Extracte, aber keine chemisch reinen (krystallisirbaren) Körper, keine chemischen 
Individuen. Die erste unzweifelhaft chemisch reine Substanz stellte Nencki (1876) aus 
fauler Gelatine dar, das Collidin. Die grössten Verdienste um die Reindarstellung dieser 
Spaltungsproducte der Fäulnis erwarb sich Bribger. Er hat durch jahrelange Arbeiten eine 

f rosse Reihe von theils schon bekannten, theils neu entdeckten stickstoffhaltigen basischen 
örpem als einfachere Zwischenglieder beim Abbaue der hoch zusammengesetzten Eiweiss- 
moleküle nachgewiesen. 

Wir kennen heute folgende Ptomatine: 

a) Gruppe der Amine: (NH 2 an Alkoholradicale angelagert) 
a) primäre Amine. 

(Amidbasen): Methylamin (CH 8 .NH 2 ) 

Aethylamin (C 2 H 6 . NH 2 ) 

Propylamin (Cg H 7 . N H 2 ) 

Von A. Gautier und t Butylamin (C 4 H 9 .NH 2 ) 

Mourges aus dem Leber- { Amylamin (CgHjj.NHj) 
thran erhalten. | Hexylamin (C 6 H 18 .NH 2 ) endlich 


Isophenylaethylamin C 4 H 5 .C,H 4 .NH, (C 8 H 5 CH {£§*) = Collidin. 

ß) secundäre Amine: Dimethylamin (CH 8 ) 8 .NH 
(Imidbasen) Diäthylamin (C 2 H B ) 2 .NH 
y) tertiäre Amine: Trimethylamin (CH^.N 

(Nitrilbasen) 

b) Gruppe der Diamine: Aethylendiamin C 2 H 4 .(NH 2 ) 2 kommt bei der Fäulnis nicht 
vor, wonl aber das isomere Aethylidendiamin. 

Tetramethylendiamin NH 2 .(CH 2 ) 4 .NH 2 = Putrescin, 

Pentamethylendiamin NH 2 .(CH 2 ) 6 .NH 2 = Cadaverin 

Dem Cadaverin isomer JC ß H l4 N 9 = Neuridin 

*C B H 14 N a = Saprin. 

c) Gruppe des Cholins: 

Cholin (C ß H 15 N0 2 ) mit Structur CjH^OH.NtCHg^OH). von Strecker 1862 in der 
Galle des Schweines gefunden, von Wurtz 1868 synthetisch dargestellt, entsteht bei der 
Fäulnis reichlich aus dem Zerfall des Protagons und Lecithins. 

Betain (Oxyneurin, auch Lycin) = N(CH 8 ) 8 HO.CH*.COOH kommt im Harn, giftigen 
Miesmuscheln, aber auch in Pflanzen vor. 

Mydatoxin (C 6 H 18 N0 2 ) ist ein wohlcharakterisirtes Leichengift von wahrscheinlich 
dem Betain ähnlicher Structur. 

Neurin (Liebreich 1865, Brikger 1883) = Vinylcholin (Gram) C b H 18 NO = C 2 H 8 .N 
(CH 8 ) 8 OH = Trimethyl-Vinylammoniumhydrat ist giftig wie Muscarin, bei 6—ötägiger 
Fäulnis von Pferdefleisch, Rindfleisch und menschlichen Leichen gefunden. (Bribger). 

Neuridin C 6 H 14 N 2 ist eines der häufigsten Fäulnisproducte. Brieger fand es 1884? 
in faulem Fleisch von Pferden, Rindern, Menschen, Fischen; auch aus faulendem Käse, 
Eidotter, Gehirn und Gelatine wird es gewonnen; es ist isomer mit dem Cadaverin und 
ungiftig. 

Muscarin, der Structur nach eine Ammoniumbase N(CH 8 ) 3 OH.C 2 H 4 OH, von Brieger 
als Ptomato-Muscarin aus faulen Fischen dargestellt, hat, wie das natürliche im Fliegen¬ 
schwamm vorkommende, eine curareartige Wirkung und ist antagonistisch zum Atropin. 


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LEICHENERSCHEINUNGEN. 


549 


d) Andere zum Theil der Structur, zum Theil der Formel und Structur nach un¬ 
bekannte Ptomatine: 

Mydin CgH^NO (Brieger, 1886, ungiftig), 

Mydatoxin C 8 H 18 N0 8 (Brieger 1885) nach Kobert giftig, 

Gadinin C 7 H 17 N0 9 (Brieger 1885) aus faulen Dorschen und Leim, 

Hydrocollidin C 8 H 18 Ni (Gaütier und Etard 1881) 

Par voll n C 9 H| 3 Nf beide giftig. 

Mydal ein, vielleicht ein Diamin, Ptomatropin, Ptomatocurarin (Brieger 1885), 
Ichthyotoxin (Mosso), Tyrotoxin (Vanghan). Diesen Körpern sind endlich zuzuzahlen 
die bisher rein dargestellten giftigen Stoffwechselproducte der pathogenen Bacterien, welche 
bei an den betreffenden Krankheiten gestorbenen Menschen auch als Fäulnisproducte 
Vorkommen, wie das Tetanin (C l4 H 2 oNa0 8 ) und Tetanotoxin (C 6 H tl N), Anthracin 
(CjH^NJ, Erysipelin (C n H 18 NO a ), Morbillenptomatin (CaH s N s O), Convulsivin 
(C 5 H 19 N0 9 ) und Andere. 

Diese Spaltproducte treten aber keineswegs gleichzeitig auf, sondern 
folgen bei fortschreitender Fäulnis in der Weise auf einander, dass die einen 
verschwinden und andere an ihre Stelle treten. Diese von Brieger nach¬ 
gewiesene Thatsache könnte zu einer rationellen und exacten Bestimmung der 
Zeit, welche vom Tode an verstrichen ist, verwendet werden; es Hesse sich 
darauf, wie ich schon 1890 gezeigt habe, durch fortgesetzte, systematische 
Untersuchungen wohl eine chemische Chronologie der Fäulnis be¬ 
gründen. (Vgl. Kratter, über die Bedeutung der Ptomaine für die ger. Med. 
1890.) In den ersten 2 Tagen der Fäulnis ist nämlich nur Cholin vorhanden, 
dann entsteht Neuridin, während Cholin allmählich verschwindet (nach sieben¬ 
tägiger Fäulnis), dafür erscheint jetzt Trimethylamin. Das Neuridin ist nach 
14 Tagen völlig verschwunden. Erst aus den Producten späterer Fäulnis 
wird Cadaverin, Putrescin und Saprin gewonnen. Diese ungiftigen Ptomatine 
treten früher auf als die giftigen Cadaveralkalol'de, welche erst nach zwei- 
bis dreiwöchentlicher Fäulnis (das Mydalel’n) oder sogar erst nach Monaten (das 
Mydin und Mydatoxin) gebildet werden. 

Der Zerfall der Gewebe durch die Fäulnis ist auch morphologisch ver¬ 
folgt worden. Die Histologie faulender Gewebe ist durch zahlreiche 
Arbeiten sehr gefördert worden. (Heidenhain, Rindfleisch, Ivlebs, Falk, 
v. Maschka, Tamassia, Zillner, v. Hofmann, Kratter.) Das Ergebnis derselben 
ist gleichwohl ziemlich dürftig. Sichergestellt erscheint folgendes: Früh gehen 
die Formelemente des Blutes zu Grunde, namentlich die rothen Blutkörperchen. 
Sie verändern ihre Form, werden theils aufgebläht, theils eingekerbt, von 
opaken Körnchen und Streifen durchsetzt und zerfallen schliesslich unter Ab¬ 
gabe ihres Inhaltes, des Blutrothes. 

Tamassia fand, dass der völlige Zerfall am 29. bis 25. Tage vollzogen ist. Nach meinen 
Erfahrungen geschieht dies in der Regel viel rascher. Sehr häufig entstehen im fanlen 
Blute Hämatoidinkrystalle. Fast regelmässig findet man sie bei faultodten Früchten. Sehr 
bald treten auch Veränderungen an den Drüsenepithelien und den Muskelfasern, sowohl den 
quergestreiften wie den glatten, auf. Diese bei starker Fäulnis schon in den ersten Stunden, 
meist allerdings erst nach 24 — 36 Stunden, zu beobachtenden Veränderungen bestehen aus¬ 
nahmslos in Trübungen des protoplasmatischen Zellinhaltes; es entwickelt sich ein Bild, das 
von dem vitalen Process der trüben Schwellung (Virchow) nicht zu unterscheiden ist. Meist 
erst nach Wochen entstehen in den Zellen deutliche Körnchen, über deren Wesenheit die 
Meinungen noch getheilt sind. Ich erkläre sie für wirkliche Fettkörnchen und betrachte 
die postmortale Fettbildung als einen allgemeinen Fäulnisvorgang. Auf dem Wege 
des körnigen (fettigen) Zerfalles erfolgt ganz allgemein die Auflösung nicht mehr ernähr¬ 
ter, d. i. abgestorbener Zellen, gleichgiltig ob die Ausschaltung von der Ernährung örtlich 
beschränkt (vital) oder allgemein (postmortal) ist. Bei der Spätfäulnis fast aller Gewebe 
und Organe treten dann recht häufig charakteristisch geformte und krystallisirte Fäulnis¬ 
producte auf, Leucin, Tyrosin und Fettsäurekrystalle. Muskeln, Bindegewebe und elastische 
Fasern sind sehr widerstandsfähig gegen die Fäulnis und können Monate, mitunter Jahre 
erhalten bleiben. 

Der zeitliche Ablauf dieser Fäulnisveränderungen der Gewebe ist so 
schwankend nach äusseren und inneren Verwesungsbedinguugen, nach Bau 
und Zustand der Organe, dass eine morphologische Chronologie der 


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LEICHENERSCHEINÜNGEN. 


Fäulnis wohl nicht zu begründen ist. Da bieten noch die makroskopischen 
Veränderungen weit mehr Anhaltspunkte für Zeitbestimmungen, wenngleich 
auch ihre Verwertbarkeit nach dem so maassgebenden Ausspruche Orfila’s 
eine beschränkte ist, der es für eine Unmöglichkeit erklärt, die Zeit des 
erfolgten Todes aus den Veränderungen an der Leiche annähernd sicher zu 
bestimmen. Gleichwohl müssen, wie oben gezeigt wurde, schon die heutigen 
Ergebnisse der Forschung im Gebiete der Bacteriologie und organischen Chemie 
als verheissungsvolle Anfänge einer exacten Lösung des grossen forensischen 
Bedürfnisses, die Zeit des Todes unbekannter Leichname sicherzustellen, be¬ 
trachtet werden. Auf ihren Bahnen liegt die Zukunft einer besseren Einsicht! 

Bei Leichen, die an der Luft oder im gewöhnlichen Erdgrabe liegen, 
betheiligen sich auch Insecten, die sogenannten Aasin sec ten, hervorragend 
an der Zerstörung; sie, beziehungsweise ihre Larven befallen in Massen die 
ihnen zugänglichen Leichname und zehren dieselben buchstäblich zum grossen 
Theile auf. Es sind mehrere Arten der Dipteren (Curtonevra, Caliphora, 
Lucilia, Sarcophaga, Phora und Anthomyca), der Coleopteren (Dermestes, 
Corynthes, Silpha, Hister, Saprinus, Rhizophagus), Lepidopteren (Aglossa), 
Acarinen (Serrator, Tyroglyphus, Glyciphagus, Uropoda, Trachinotus) und 
Anthrenen (Tineola biselliella). Im gewöhnlichen Sprachgebrauch werden zu 
den Aasinsecten auch die Arachniden und Myriopoden gerechnet. 

Reinhard, Handlirsch und vor allem Megnin haben eine bestimmte Reihenfolge der 
Besiedlung nachgewiesen. Zuerst kommen die Calliphoren und Curtonevren, deren Eier 
schon mit dem Leichnam ins Grab kommen, dann folgt die Anthomyca und Phora (von 
welcher Myriaden lebender Nymphen die Leichen bedecken) und schliesslich die Rhizo- 
phagen. Die Eier von letzteren und von Phora werden offenbar in die Erde über den 
Gräbern gelegt und die ausgekrochenen Maden suchen ihren Weg zu den Cadavern. Die 
den Leichnam zuerst befallenden Dipteren-Gattungen Curtonevra, Calliphora, Lucilia und 
Sarcophaga nähren sich ausschliesslich vom Fleisch— sie sind Muskelzehrer, die Cole¬ 
opteren und Lepidopterengattungen Dermestes, Corynthes und Aglossa von Fettsäuren, 
sie sind Fettzehrer. Phora, Anthomyca, Silpha und Hister besiedeln die Leiche erst 
bei vorgeschrittener Fäulnis, wo die Weichtheile schon in eine schwarze, nach faulem 
Käse riechende Masse verwandelt sind, die Acarinen und Anthrenen noch später; letztere 
sind ihrer Thätigkeit nach Moderbildner. Demnach unterscheidet Megnin vier Perioden, 
die er als Periode sarcophagienne (3 Monate Dauer), Periode dermestienne (3—4 Monate), 
Periode silpbienne (4—8 Monate) und Periode acarienne (6—12 Monate) bezeichnet. 

Aus meiner eigenen nicht ganz geringen Erfahrung muss ich bemerken, dass diese 
Eintheilung höchstens auf eine örtliche Giltigkeit Anspruch erheben kann. In gut ge¬ 
schlossenen Särgen fehlen Insectenlarven wohl auch ganz. So typisch und regelmässig 
ist auch die Aufeinanderfolge durchaus nicht immer. Die Zeitfolge der Besiedlung hängt 
zudem sehr von den Jahreszeiten ab, die Reifungszeit ein und derselben Larvenart 
schwankt je nach Umständen zwischen Wochen und Monaten. Die Gräberfauna kann zu 
Zeitbestimmungen für forensische Zwecke gewiss nur ganz ausnahmsweise und mit grösster 
Vorsicht herangezogen werden. Das System der entomologischen Chronologie 
der Fäulnis von Megnin kann auf Allgemeingiltigkeit, und praktische Verwertbarkeit 
keinen Anspruch erheben. 

Die Zeit, bis zu welcher die Weichtheile durch Fäulnis vollkommen 
zerstört werden, schwankt innerhalb sehr weiter Grenzen. Sie ist abhängig 
von den oben geschilderten äusseren und inneren Verwesungsbedingungen. 
Die Leichen von Neugeborenen, welche oberflächlich verscharrt waren, habe 
ich sogar schon in 3 1 /, und 4 Monaten bis auf die Knochen zerstört gefunden; 
die in gewöhnlicher Weise begrabenen Leichen Erwachsener brauchen im 
günstigsten Falle ebenso viele Jahre. Ist das Erdreich nicht genügend porös 
und trocken, sondern feucht und schwer durchlässig, so genügen 5, 7 und 
mitunter 10 Jahre nicht zum völligen Zerfall der Weichtheile. An der freien 
Luft dagegen können sämmtliche Weichgebilde eines Erwachsenen im Laufe 
eines Jahres durch Fäulnis zerstört werden; es sind aber Fälle bekannt ge¬ 
worden, wo solche Leichname in 2—3 Monaten bis auf die Knochen auf¬ 
gezehrt waren, wenn sie ausser von Maden noch von Ameisen, Würmern r 
Tausendfüssern und anderen Thieren befallen wurden. 


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LEICHENERSCHEINDNGEN. 


551 


Die Verwesung der Knochen beansprucht, wenn sie frei an der 
Luft liegen, einen Zeitraum von 10—15 Jahren; dann sind die meisten Knochen 
bis auf geringe Reste zerstört (Millek). Es zerfallen zuerst die Knochen der 
Hand- und Fusswurzel, die Wirbel, die Rippen, das Kreuzbein und die 
Gelenktheile, zuletzt das Schädeldach, die Hüftbeine und Diaphysen der langen 
Röhrenknochen (Toldt). Die Ursache des endlichen Zerfalles ist ein langsam 
fortschreitender Verwitterungsprocess, dessen Wesen in einer allmählichen 
Zersetzung der organischen Substanz der Knochen, des Osseins, und in end¬ 
licher Lösung der Knochensalze durch die Niederschlagswässer oder das Grund¬ 
wasser (bei Erdleichen) besteht. Namentlich unter dem Einfluss der Kohlen¬ 
säure des Bodens wird der phosphorsaure Kalk der Knochen zum Theil gelöst. 
An seine Stelle treten je nach der Beschaffenheit des Bodens Carbonate und 
Sulfate von Calcium und Eisen, unter Umständen auch Fluor, Kieselsäure und 
Thonerde. Geschieht letzteres in beträchtlichem Maasse, so kommt es zur 
Versteinerung, Petrification der Knochen. In den meisten Fällen aber 
erfolgt das Gegentheil, das Gewicht der Knochen nimmt ab, die Oberfläche 
wild rauh, blättert schichtenweise ab, die porösen und endlich auch die com¬ 
pacten Knochen werden mürbe, brüchig, zerreiblich und zerfallen schliesslich. 

Für die forensische Praxis gelten zur Beurtbeilung der Verwesungszeit 
folgende alten Erfahrungssätze: 1. Knochen, an denen noch mehrfache Reste 
von Knorpeln und Weichtheilen haften, in denen das Knochenmark sich noch 
in den Markhöhlen befindet, können, wenn nicht besondere Umstände ein¬ 
gewirkt haben, wohl nicht länger als 5—10 Jahre in der Erde gelegen sein. 
2. Sind die Weichtheile völlig zerstört, von den Knorpeln noch spärliche 
Reste vorhanden, die Knochen selbst von Fett durchtränkt, aber in ihrer 
Substanz noch nicht merklich verändert, so dürften sie nicht länger als 10 
bis 15 Jahre vergraben gewesen sein, 3. Sind die langen Röhrenknochen 
in den Mittelstücken und den Endstücken gleichmässig ausgetrocknet und 
fettfrei, so können sie 25—30 Jahre gelegen haben; sind sie mürbe und 
bröcklig, rauh und porös, so können sie sich vielleicht 100 Jahre und dar¬ 
über in der Erde befunden haben (Mende). 

2. Die Fettwachsbildung. Bei ungenügender oder völlig mangelnder 
Sauerstoffzufuhr kommt es zu einer ausserordentlichen Verzögerung oder auch 
zum völligen Stillstand im Verwesungsprocesse. Hiebei bildet sich eine weisse 
oder grauweisse, schmierige, bröckelige, käse- oder wachsähnliche Masse, 
welche an der Luft erhärtet, dann wie Gyps aussieht und beim Anschlägen 
tönt. Diese Masse wurde von Fourcroy und Thouret, welche sie zuerst bei 
der 1787 erfolgenden Räumung der Massengräber auf dem Friedhof der un¬ 
schuldigen Kinder in Paris beobachtet haben, Adipocire (adeps, Fett, cera, 
Wachs), Fettwachs (Leichenwachs, Leichenfett) genannt. Erst in 
neuerer Zeit ist beobachtet worden, dass Adipocire auch in Einzelgräbern 
Vorkommen könne (Kratter, Reinhard, Reubold, Küchenmeister u. A.). 
Ausserdem bildet sich Fettwachs auch noch bei Leichen, welche lange Zeit 
(Monate und Jahre) im Wasser liegen. 

Der chemischen Zusammensetzung nach ist das Fettwachs ein 
Gemenge von höheren Fettsäuren und Seifen. An Basen sind Kalk, Magnesia, 
Kali und Natron nachgewiesen worden. 

Ueber die Bildung des Fettwachses gehen seit seiner Entdeckung 
bis heute die Anschauungen der Forscher auseinander. 

Ein Theil derselben sieht im Adipocire nichts anderes, als das der Fäulnis wider¬ 
stehende, vorhandene Körperfett (Thouret, Chevreuil, Wetherell, v. Hofmann, Nencki, 
Ludwig, Ermann, Zillner). Andere dagegen nehmen eine Bildung aus den Eiweisssub¬ 
stanzen des Körpers ähnlich der Bildung von Fett aus dem Casein der Milch und beim 
Reifen des Käses oder der Fettbildung aus dem Eiweiss der Nahrung und dem Zellproto¬ 
plasma bei der fettigen Degeneration der Organe an. (Fourcroy, Gibbes, Bichat, Taylor, 
Casper, Quain, Virchow, Kühne, E. v. Voit, C. Voit, E. Salkowski, Kratter). 


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652 


LEICHENERSCHEINUNGEN. 


Nach dem Ergebnisse der Versuche von K. B. Lehmann, welcher bei 
der Muskelfäulnis im Wasser eine Zunahme des Fettsäuregehaltes um 100% 
beobachtete, muss die Frage als dahin entschieden betrachtet werden, dass 
eine postmortale Fettbildung aus Eiweissubstanzen thatsächlich besteht. 
Ein Theil des Fettwachses wird daher oder kann wenigstens auch aus dem 
Muskeleiweiss gebildet werden, ein Theil geht aber aus dem vorgebildeten 
Fett dadurch hervor, dass dieses in Glycerin und freie Fettsäuren zerfällt 
und letztere nach Maassgabe der in der Erde, dem Wasser oder dem Leichnam 
uelbst vorhandenen Basen in Seifen übergeführt werden. 

Ueber die Zeitfolge der Fettwachsbildung habe ich Folgendes 
festgestellt: 

Die Umbildung erfolgt (im Wasser) in drei Zeitabschnitten. Zuerst ist einfache 
Fäulnis mit Transsudation, Imbibition und schliesslicher Ausblutung unter Zerfall der Ober¬ 
hautgebilde vorhanden. Ich habe diesen ersten Zeitabschnitt das Vorstadium oder die 
Periode der Fäulnis genannt (1—2 Monate). Darauf folgt die Umbildung des Unter- 
hautfettgewebes von aussen nach innen zu; sie dauert 3—-4 Monate. Es ist dies die 
Periode der Verseifung der Fettsubstanzen. Zuletzt werden die Muskeln ein¬ 
bezogen, Periode der Verfettung der Ei weissubstanzen (Kratter, Studien über 
Adipocire 1880). Der Ablauf dieser dritten Stufe der Fettwachsbildung geht in folgender Weise 
vor sich: 

1. Niemals beginnt der Process an den Muskeln vor dem Ende des dritten Monates. 

2. Er schreitet stets von der Oberfläche gegen die Tiefe zu vor; die tiefstgelegenen 
Muskeln bleiben am längsten erhalten. 

3. Die Einbeziehung erfolgt sehr allmählich. Sie ist bei oberflächlich gelegenen 
Muskeln (z. B. den Gesicntsmuskeln) schon nach Ablauf eines halben Jahres vollzogen, 
hei den tiefstgelegenen (am Gesäss und den Oberschenkeln) nach mehr als einem Jahre 
noch nicht beendet. (Kratter, über die Zeitfolge der Fettwachsbildung 1890.) 

Von forensischer Bedeutung ist die lange Erhaltung des Körpers 
durch die Leichenwachsbildung, was oft noch eine späte Feststellung der Iden¬ 
tität und der Todesart ermöglicht An Fettwachsleichen sind ausserdem 
wegen des typischen Verlaufes der Bildung Zeitbestimmungen unter Zugrunde¬ 
legung der von mir ermittelten Thatsachen mit viel grösserer Sicherheit aus¬ 
führbar, als bei der einfachen Fäulnis und Verwesung. Die Erstarrung der 
im feuchten Zustande schmierigen Fettwachsmasse kann nach hier gemachten 
Erfahrungen zur ganz irrthümlichen Auffassung des Zustandes als einer „Kalk- 
incrustation“ der Leiche führen. (Kratter, Forensisch wichtige Befunde bei 
Wasserleichen, 1887.) 

8. Die Vertrocknung der Leichen (Mumification). Ist Luft im Ueber- 
schuss (reicher Luftwechsel) und Mangel an Feuchtigkeit vorhanden, so kommt 
es ebenfalls zum Stillstand der Fäulnis; die Leichname trocknen aus und wer¬ 
den in Mumien verwandelt. Die Leichenvertrocknung ist nichts anderes, als 
die Erstreckung des als gewöhnliche Leichenerscheinung oben geschil¬ 
derten, örtlich beschränkten Vorganges auf die ganze Leiche. 

Allgemeine vollständige Austrocknung von Leichen kommt bei uns im 
Ganzen nicht häufig vor; in heissen Zonen, im lockeren Sande der Wüste, über 
welchem ein heisser trockener Luftstrom weht, wird die Vertrocknung, welche 
hier eine Ausnahme ist, zur Regel, weil dort alle Bedingungen für eine rasche 
Diffusion der Körperflüssigkeiten nach aussen vorhanden sind, welche bei 
unseren klimatischen Verhältnissen und unserer Bestattungsart fast immer 
fehlen. Doch sahen Fourcroy und Thouret in den Pariser Massengräbern 
auch vertrocknete Leichname; Riecke sah in stark salpeterhaltigem Boden 
mehrmals, wohl durch intensive Exosmose von der Leiche in die mit Salzen 
geschwängerte Umgebung bedingte Leichenvertrocknung. Nach Demaria soll 
an vielen Begräbnisstätten Piemonts Austrocknung der Leichen stattfinden. 

Häufiger als im Erdgrabe kommt die Leichenvertrocknung in Grüften 
und Grabgewölben vor. Daher findet man natürliche Mumien von oft jahr¬ 
hundertelangem Alter in vielen Klostergrüften und Gruftgewölben von Kirchen. 
Ab und zu befinden sich Leichname von Verunglückten oder Selbstmördern 


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LEICHENWESEN. 


553 


(Fälle von Orfila, Zillner u. a.) an sehr trockenen und luftigen, schwer 
zugänglichen Orten, sodass sie, monate- oder jahrelang verborgen bleibend, 
völlig vertrocknen. 

Die Mumification eines Leichnams bedingt die Erhaltung der beim Tode vorhanden 
gewesenen Veränderungen, so dass oft noch in sehr später Zeit die Feststellung der Todes¬ 
art möglich ist. Das älteste uns überlieferte Beispiel der Conservirung einer Leiche durch 
Vertrocknung ist die von Pausamas berichtete Auffindung einss messenischen Kriegers in 
dem Dachraume des Heretempels in Elis, an welchem die vielfachen Wunden, denen er im 
Kampfe bei der Erstürmung von Elis erlegen war, noch erkennbar gewesen sein sollen, 
obwohl die Leiche erst nach Jahren, als man an die Wiederherstellung des Tempels ging, 
gefunden wurde. 

Schauenstein hat in überzeugender Weise dargelegt, dass die Leichen¬ 
vertrocknung kein einfach physikalischer Vorgang sei, sondern dass dabei 
auch chemische Umsetzungen stattfinden müssten. Er hat auf Grund der 
Angaben von E. Bischoff über das Gewicht der Trockensubstanzen des mensch¬ 
lichen Körpers und der Gewichtsbestimmungen natürlicher Mumien von 
Toussaint berechnet, dass die Gewichtsverminderung bei vertrockneten Leichen 
keineswegs nur durch den Verlust des Wassergehaltes des Körpers bedingt 
sein könne. Ein 70 kg schwerer Körper besitzt wenigstens 14% Trocken¬ 
substanzen, während das Durchschnittsgewicht der von Toussaint gewogenen 
vertrockneten Leichen nur 5—6 kg betrug. 

Ausser diesen äusseren Einwirkungen leisten auch individuelle Eigen¬ 
schaften der Vertrocknung Vorschub. So vertrocknen recht leicht unreife 
Früchte trotz ihres hohen Wassergehaltes wegen der unentwickelten Haut, 
welche der Verdunstung keinen Widerstand entgegensetzt, ausserdem die 
Leichen magerer, blutarmer, herabgekommener, abgezehrter Menschen. Der 
oft wiederholten Behauptung, dass bei Arsenvergiftungen die Leichen mumi- 
ficirten, muss ich auf Grund zahlreicher eigener Erfahrungen auf das Be¬ 
stimmteste widersprechen. Selbst rein örtliche Vertrocknungen sind vereinzelte 
Ausnahmen. 

Zum Schlüsse muss noch bemerkt werden, dass die geschilderten Leichen¬ 
veränderungen der Fäulnis und Verwesung, der Fettwachsbildung und Ver¬ 
trocknung keineswegs in dem Sinne als eigenartige Vorgänge aufzufassen 
sind, dass einer den andern ausschliesst. Sie können zwar jeder für sich 
an der ganzen Leiche bestehen, aber auch nebeneinander bei ein und derselben 
Leiche Vorkommen, so dass einzelne Theile vertrocknet, andere verseift und 
wieder andere verwest oder verfault sein können. j. kratter. 

Leichenwesen. Zwei Beweggründe haben zu allen Zeiten die Menschen 
veranlasst, den entseelten Körpern ihrer verstorbenen Mitmenschen Sorgfalt 
und Pflege zu widmen; einmal Rücksichten praktischer Art, fussend auf der 
Erfahrung, dass ein sich selbst überlassener Leichnam der Umgebung binnen 
Kurzem grosse Unzuträglichkeiten bereitet, sowie zweitens Momente idealer 
Natur, die in religiösen Anschauungen und in dem Gefühle der Pietät gegen¬ 
über dem Andenken der Verstorbenen wurzelten. Dieselben Gesichtspunkte 
sind auch heute noch in der ganzen Menschheit giltig und maassgebend und 
bilden die Hauptgrundlage aller derjenigen Gebräuche, Sitten und Gewohn¬ 
heiten, Maassregeln und Einrichtungen, welche die Behandlung menschlicher 
Leichname betreffen: auf ihnen beruht ausnahmslos das gesammte Leichen¬ 
wesen. 

Die Behandlung der Körper Verstorbener ist in den verschiedenen Völkern und zu 
verschiedenen Zeiten den grössten Wandlungen unterlegen gewesen. Den meistbestimmen- 
den Einfluss darauf haben überall in erster Linie die religiösen Auffassungen der verschie¬ 
denen Gemeinden ausgeübt. In der Mehrzahl aller einigermaassen gebildeten Völker 
lassen sich deutliche Spuren nachweisen, dass dieselben bereits in grauer Vorzeit der Be¬ 
stattung ihrer Todten in religiöser, ceremonieller und rechtlicher Hinsicht grosse Aufmerk¬ 
samkeit zuwendeten. Je klarer ausgeprägt in einem Stamme der Glaube an eine persön¬ 
liche Fortdauer des Individuums nach dem irdischen Tode festwurzelte, umso treuere Für- 


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LEICHENWESEN. 


sorge wurde in ihm der bestmöglichen Erhaltung des Körpers gewidmet, wenn man glaubte, 
dass derselbe zu der entwichenen Seele in fortdauernder Beziehung bleibe. Das ist der 
Grund für die sorgsame Einbalsamirung der Leichen und für die Errichtung der die Jahr¬ 
tausende überdauernden Grabkammern der Aegypter; das die Idee der in vielen Völkern 
geübten Ausrüstung der Bestatteten mit den mannigfachsten Gebrauchsgegenständen, von 
dem in den Mund der Leiche gelegten Obolus der Griechen an, welchen der Verstorbene 
als Fährgeld für die Ueberfahrt über den Styx an Charon, den unterirdischen Schiffer, 
zahlen sollte, bis zu der vollen Ausrüstung gestorbener Helden anderer Völker mit allen 
Waffen- und Rüststücken, ja mit dem Rosse oder gar mit Sclaven und Weibern, die eine 
volle reichliche Ausstattung für das Leben im Jenseits darstellten. Weit geringere Sorge 
wandte man den Todten bei einigen orientalischen Völkern zu, die von dem Gedanken be¬ 
herrscht waren, dass der Leib nichts als eine nichtige und lästige Fessel des lebendigen 
Geistes sei, mit dessen Abstreifung jener erst in das ihm eigentlich bestimmte bessere Da¬ 
sein eintrete; diese Völker hegten gegen den Leichnam eine gewisse Scheu und schrieben 
ihm zu, dass er das Haus verunreinige; bei dem heissen Klima der von den hierhergehörigen 
Volksstämmen bewohnten Länder kann diese Meinung wegen der dort sehr schnell und 
intensiv sich entwickelnden Fäulnis der Cadaver nicht verwunderlich erscheinen. Zum 
Theil schrieb man die Entstehung der letzteren dem Einflüsse eines mit dem Eintritte des 
Todes in den Körper einziehenden bösen Geistes zu. Bei diesen Völkern suchte man sich 
der Leichen so schnell wie irgend möglich und zum Theil ohne viel weitere Ceremonien zu 
entledigen. (Inder, Perser, Hebräer etc.) 

Als Art der Bestattung ist in den frühesten Zeiten des Menschengeschlechtes 
höchst wahrscheinlich die einfachste und primitivste in Gebrauch gewesen, indem man den 
Leichnam mit irgend einem von der Natur gebotenen Materiale bedeckte, um ihn so dem 
Anblicke der Ueberlebenden und den rohesten Einflüssen der Aussenwelt, namentlich den 
Angriffen der Thiere zu entziehen, sich selbst gegen Belästigungen durch die Producte der 
Zersetzung zu schützen, zu gleicher Zeit aber auch als Anknüpfungspunkt für die Gefühle 
der Pietät ein bleibendes Andenken an den Verstorbenen zu errichten. Noch heutzutage 
werden bei einigen wenig civilisirten Volksstämmen die Leichen einfach mit Stein- oder 
Reisighaufen bedeckt. Als Aufbewahrungsart von viel grösserer Sicherheit hat sich dann 
schon frühzeitig die Bergung der Leiche in die Erde selbst eingebürgert, wie sie bis auf 
unsere Tage her im Grossen und Ganzen bei weitem am meisten unter allen Bestattungs- 
modis in Gebrauch geblieben ist. Der eigentlichen Beerdigung nahe verwandt ist die Bei¬ 
setzung in natürlichen oder künstlich angelegten Höhlen und Gruben, von der es zu 
jener in den Räumen eigens zu diesem Zwecke errichteter Gebäude nur noch ein Schritt 
ist. Vielfach geübt ist ferner die Verbrennung der Leichen, vorzugsweise naturgemäss in 
solchen Ländern, die Reichthum und Ueberfluss an Brennholz boten. Noch andere Arten 
der Leichenbestattung sind nur bei vereinzelten Volksstämmen in Gebrauch gewesen. So 
übergaben einige an den Ufern des Indus Ansässige ihre Verstorbenen den Wogen dieses 
von ihnen als heilig verehrten Stromes, in der Annahme, er werde sie an den unbekannten 
Ort ihrer Bestimmung zu einem ferneren Leben tragen. Die Sitte, die Leichen wilden 
Thieren zur Speise zu bieten, wird noch heute von den Parsen geübt. Ihre nahe bei der 
Stadt Bombay gelegenen Bestattungsstätten, grosse, des Daches entbehrende, thurmartige 
Bauten sind unter dem Namen der „Thürme des Schweigens“ in aller Welt bekannt; in 
ihnen sorgen zahllose Aasgeier für eine rasche und vollständige Verzehrung aller Weich- 
tbeile der dort niedergelegten Leichname, worauf die nackten Knochen in eigenen Räumen 
verwahrt werden. 

Im modernen Leichenwesen spielt die eigentliche Beerdigung bei 
weitem die Hauptrolle. Ihr Sieg über die Leichenverbrennung in der 
ganzen civilisirten Welt ist auf das engste mit der Ausbreitung des Christen¬ 
thums verknüpft, welches ohne Ausnahme in seinen sämmtlichen Parteien, 
Secten und Kirchen nie die Feuerbestattung zugelassen hat. Dieses Verbot 
wurzelt in dem Dogma von der Auferstehung des Leibes. Erst in der aller¬ 
jüngsten Zeit konnte unter dem Einflüsse der Wandlungen, welche die fort¬ 
schreitende naturwissenschaftliche Erkenntnis auch auf dem Gebiete religiöser 
Anschauungen in breiteren Schichten des Volkes zuwege brachte, auch in 
christlichen Gemeinden der Gedanke an eine Wiedereinführung der Feuer¬ 
bestattung Kaum gewinnen. So bildet in unseren Tagen der Streit um die 
grössere Zweckmässigkeit der Beerdigung oder Verbrennung der Leichen 
eine der „brennendsten“ Tagesfragen. Aufgabe der Hygiene ist es, auf der 
Basis wissenschaftlicher Gründe die Lösung der Frage herbeizuführen. 

Sobald der lebende Organismus dem allbesiegenden Tode erlegen ist, stockt — zwar 
nicht mit einem Schlage, aber doch schnell und unaufhaltsam — der Ablauf aller jener 
physiologischen Vorgänge, deren Summe eben das Leben ausgemacht hatte, wie Athmung 
und Kreislauf, Stoff-Aufnahme, -Verarbeitung und -Assimilation, Muskelthätigkeit und Drüsen- 


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secretion, and nach kürzester Frist sind alle die fein and künstlich gebauten Organe 
ausser Stande, die so lange geleisteten Dienste fernerhin zn verrichten. Aber das organische 
Leben kennt keinen Stillstand! Immerdar bestrebt, alle ihm za Gebote stehenden Stoffe 
unablässig zn verwerten, sacht es auch die den Leichnam zasammenbauende Materie 
möglichst bald wieder in den unermüdlichen Kreislauf einzufügen, um sie alsbald in der 
Erfüllung neuer Aufgaben wieder nutzbringend zu verwerten. Das ist im geordneten Haus¬ 
halte der Natur Sinn und Ziel der bald nach dem Eintritte des Todes in der Leiche be- 

f 'nnenden Zersetzungsvorgänge, durch welche die in theils sehr complicirten chemischen 
örpern gebundenen Grundstoffe in solche Formen einfacherer und einfachster Zusammen¬ 
setzung zerlegt werden, in denen sie wieder tauglich sind, um als Bausteine zu frischen 
Schöpfungen Verwendung zu finden. Für den vernunftbegabten denkenden Ueberlebenden 
aber ergibt sich aus solcher Erkenntnis der Wege, welche die allsegnende Mutter Natur 
zu wandeln gewillt ist, ein untrüglicher Fingerzeig für das eigene Handeln. 

Die Hygiene ist diejenige Wissenschaft, welche die Aufgabe hat, in allen 
Beziehungen des Lebens nach jeder Richtung hin die dem Leben und der 
Gesundheit von Körper und Seele des Menschen zuträglichsten Bedingungen 
zu schaßen. Wo es sich für sie um die Frage handelt: Wie sind die Leichen 
der Verstorbenen zu behandeln? da muss sie ihren Maassnahmen das Be¬ 
streben zugrundelegen, dem von der Natur beabsichtigten Auflösungsprocesse 
die möglich geringsten Hindernisse zu bereiten, welche mit den zu Be¬ 
ginn dieses Artikels angedeuteten berechtigten Interessen der Lebenden ver¬ 
einbar erscheinen. Aus diesem Grunde müssen wir alle auf eine möglichst 
vollständige Conservirung der Leichen für lange Zeit abzielenden Vorschläge, 
wie sie zu den verschiedensten Zeiten immer aufs neue aufgetaucht und 
vielfach auch ausgeführt worden sind, im Principe verwerfen. 

Viel erörtert und umstritten ist der Einfluss der in den Leichen sich 
abspielenden Zersetzungsvorgänge auf die menschliche Gesundheit. Schon 
in alten Zeiten war die Meinung weit verbreitet, dass Processe, die mit der 
Emanation so widerwärtig und ekelerregend stinkender Gase einhergehen, der 
Gesundheit schwere Nachtheile zu bereiten geeignet sein müssten. Dem 
gegenüber fehlte es aber auch zu keiner Zeit an Stimmen, die auf Grund ge¬ 
wisser Erfahrungen die völlige Unschädlichkeit der Leichenzersetzung für den 
Menschen behaupteten. Aus diesem schroffen Gegensätze conträrer Meinungen 
ergaben sich gar nicht selten folgenschwere Consequenzen für das praktische 
Leben, die am schärfsten hervortraten, als die Verfechter der ersten Ansicht 
die Forderung aufstellten, man solle mit dem Brauche der Beisetzung und Be¬ 
erdigung der Leichen gänzlich brechen und fortan nur mehr die schnellst¬ 
mögliche Zerstörung derselben mittelst Verbrennung zulassen. Angeregt 
durch den hiedurch verursachten Kampf hat sich die Wissenschaft bemüht, 
die Stichhaltigkeit jener Anschauung von der Schädlichkeit in Zersetzung be¬ 
griffener Leichen nach allen Richtungen hin eingehendst und erschöpfend zu 
prüfen. 

Die hiebei gewonnenen Ergebnisse sind in kurzen Zügen folgende. Es 
sind zwei Fragen, die hier beantwortet werden müssen, nämlich 1. Welches 
sind die Gefahren, die der menschlichen Gesundheit aus der Nähe von Leichen 
erwachsen? und 2. Auf welchen Wegen können diese Gefahren an den 
Menschen herandringen ? 

Für die Lösung der ersten Frage kommen drei Punkte in Be¬ 
tracht. Es sind auf ihre Gesundheitsschädlichkeit zu prüfen: a) die gasför¬ 
migen, b) die flüssigen und festen Leichenzersetzungsproducte, und endlich 
c) die bei der Zersetzung betheiligten Mikroorganismen. 

(Ad a} Unter den gasförmigen Producten der Leichen Zersetzung befindet sich eine 
ganze Anzahl, die an und für sich zweifellos giftig sind: Kohlensäure, Ammoniak, Schwefel¬ 
wasserstoff, Grubengas, Schwefelammonium; in noch höherem Grade gilt dies höchstwahr¬ 
scheinlich von den complicirt zusammengesetzten Gasen der Eiweiss&ulnis, doch sind wir 
über deren toxische Eigenschaften im Einzelnen zur Zeit noch zu wenig unterrichtet, als 
dass sich darüber Genaueres ausführen liesse. 


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LEICHENWESEN. 


(Ad b) Zuverlässigerer Kenntnisse dagegen erfreuen wir uns neuerdings hinsichtlich 
des Giftwesens einer Reihe flüssiger oder fester Zersetzungsproducte der Eiweissfoulnis, in 
erster Linie auf Grund scharfsinniger Untersuchungen von Bribger und Selmi. Es ist be¬ 
reits gelungen, einen Theil derselben zu isoliren und chemisch zu classiflciren, wobei man 
fand, dass sie hochconstituirte organische Verbindungen sind, die in ihrem chemischen Bau 
den giftigen Pflanzenalkaloiden nahestehen. Man hat sie darum kurz und treffend „Leichen¬ 
alkaloide 41 genannt. Zahlreiche experimentelle Prüfungen haben ergeben, dass sie auf 
Menschen wie Thiere hochgradig giftig wirken. Ausser diesen auch unter dem Namen 
der „Ptomaine“ bekannten Fäulnisproducten entstehen in der Leiche des weiteren noch 
eine ganze Menge anderer, meist noch recht unvollkommen erforschter giftiger Stoffe. 

(Ad c ) Betreffs gefahrdrohender Eigenschaften der in der Leiche vegetirenden Mi¬ 
kroorganismen ist es zur Zeit allgemein bekannt, dass die die Fäulnis bedingenden 
Bacterienarten als sogenannte facultativ - pathogene Erreger die schwersten Krankheiten 
septischen Charakters erzeugen können (septisches Wundinfectionsfieber, puerperale 
Septicämie). Ausserdem aber ist auch zu bedenken, dass die Leichen der einer speci- 
fischen Infectionskrankheit erlegenen Individuen wenigstens noch eine Zeit lang nach ein¬ 
getretenem Tode die speciflschen Infectionserreger in lebendem und infectionstüchtigem 
Zustande beherbergen. Bei fortschreitender Fäulnis freilich werden die speciflschen Keime 
erfahrungsmässig von den Fäulniserregern überwuchert und abgetödtet. Von frischen 
Leichen aus gehört jedoch eine Weiterübertragung der betreffenden Krankheiten — es 
werde nur an Blattern, Cholera, Typhus, Diphtherie, Beulenpest u. a. erinnert — durch¬ 
aus in den Bereich der Möglichkeit. 

Für die Beantwortung der vorhin gestellten zweiten Frage: Auf welchen 
Wegen können von einer Leiche aus Schädlichkeiten auf den Lebenden ein- 
dringen? kommen drei Punkte in Betracht: a) Uebertragungen durch die 
Luft, b) solche durch Wasser und c ) Einbringung entweder bei directer Be¬ 
rührung des Lebenden mit dem Cadaver oder unter Vermittelung von Zwischen¬ 
trägern, wie etwa Kleidungsstücken oder dergl. oder auch von Thieren, unter 
denen namentlich die fliegenden Insecten zu beachten sind. Als Eingangs¬ 
pforten in den lebenden Organismus sind für alle Uebertragungsarten in 
Rücksicht zu ziehen erstens die Athemwege — diese vorzugsweise für den 
ersten Modus — zweitens das Verdauungsrohr und drittens etwa vorhandene 
Wund Verletzungen. 

Gesundheitsschädigungen durch Ueberführung verderblicher Stoffe vermittels der 
Luft sind in reichlichem Maasse möglich, solange sidi die Leiche unbedeckt über der Erde 
an der freien Atmosphäre befindet. An erster Stelle steht hier die Schädigung durch 
emanirende Gase. Während des in geordneten Gemeinwesen zwischen der Todes- und der 
Bestattungsstunde gelegenen Zeitraumes ist jedoch aus dieser Quelle kaum ein Schaden zu 
befürchten. Fast immer ist die Zwischenzeit so kurz, dass es in ihr nicht bis zu einem die 
Emanation reichlicher Gase bewirkenden Fäulnisgrade kommen kann; zudem werden die 
wirklich austretenden Gase durch die reichlich vorhandene atmosphärische Luft bis zu 
einem Maasse verdünnt, in welchem sie nicht mehr toxisch zu wirken vermögen. Nur wo bei 
hoher Temperatur eine Leiche in einem sehr engen und nicht ventilirten Raume längere 
Zeit mit Lebenden zusammen belassen würde, wären Gesundheitsschädigungen durch 
Fäulnisgase denkbar. In zweiter Linie ist die Möglichkeit einer Uebertragung pathogener 
Bacterien durch die Luft hindurch zu erwägen. Die Mitwirkung von Fäulniskeimen ist 
hierbei mit einiger Sicherheit auszuschliessen. Diese wirken anfangs nur in den tiefsten 
Theilen des Leichnams von dem Darmrohre aus und leben zudem ausschliesslich in 
reichlich feuchten Substraten. An der trockenen Oberfläche der frischen Leiche können 
sie sich deshalb zu der in Betracht kommenden Zeit nicht ansiedeln, und sollten ja einmal 
— etwa auf einer nässenden Wundfläche — die erforderlichen Existenzbedingungen geboten 
sein, so können sie doch von dem feuchten Boden nicht loskommen, um in die freie Luft 
zu gelangen. Als gefährlicher dagegen sind die speciflschen Erreger gewisser Infections- 
krankheiten anzusehen, namentlich die der exanthematischen Contagien, die von der Körper¬ 
oberfläche nach Eintritt eines gewissen, mit ihrem Fortleben noch verträglichen Austrock 1 
nungsgrades mit leichten Staubtheilchen von der bewegten Luft aufgenommen und, auf 
Lebende hinübergetragen, namentlich auch mit der Luft von solchen eingeathmet werden 
können. Möglicherweise dürften so auch von Typhus-, Cholera- und Diphtherie-Leichen 
und ähnlichen, die mit Fäces und Erbrochenem, resp. Sputis besudelt sind, neue Infectionen 
zustande kommen, wenn die betreffenden Massen eintrocknen und verstäubt werden. — 
Die Zeit, während welcher ein Leichnam unbeerdigt an der Luft steht, ist es auch vor¬ 
zugsweise, ja fast ausschliesslich, in der Gesundheitsschädigungen nach dem drittgenannten 
Uebertragungsmodus erfolgen können; von beerdigten Cadavern aus kann er wohl kaum 
jemals wirksam werden. Doch gehört eine Ueberschleppung gefahrbringender Zersetzungs¬ 
stoffe auf einen Lebenden infolge directer Berührungen mit dem Leichnam so sehr zu den 
ungewöhnlichen Ereignissen des praktischen Lebens, dass ein genaueres Eingehen auf der- 


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artige Möglichkeiten hier föglich entbehrlich erscheint. Als Stätten, an denen sie noch am 
ehesten sich ereignen können, wären die Präparirsäle der anatomischen und pathologischen 
Anstalten zn nennen, diese aber verlangen eben ihre eigene Specialhygiene, auf deren Dar¬ 
legung einzugehen an dieser Stelle nicht angebracht ist. 

Rücksichtlich der bis zu ihrer Bestattung in den Wohnungen zurück¬ 
gehaltenen Leichen jedoch sollte eine viel eingehendere Aufmerksamkeit, als 
bisher gemeinhin geschehen ist, auf die gewiss nicht unerheblichen Gefahren 
gerichtet werden, die durch ein unvorsichtiges Hantiren mit den bei der Be¬ 
sorgung des Leichnams verwendeten Gebrauchsgegenständen, Kleidungsstücken, 
Reinigungsgeräthen u. s. w. verursacht werden können. Besondere Beach¬ 
tung sollte namentlich den aus der Gegenwart aller die Behausung des 
Menschen theilenden Thiere erwachsenden Fährlichkeiten gewidmet werden. 

Können gelegentlich schon Mäuse und Ratten der Verschleppung von Leichengiften 
hilfreiche Dienste leisten, so ist noch weit sorgsamer auf die Rolle zu achten, die dabei die 
mit dem Menschen in engster Berührung lebenden eigentlichen Hausthiere, wie Stuben¬ 
vögel, Katzen und Hunde, spielen können. Wie oft beleckt nicht ein treuer Hund die 
Leiche eines verstorbenen, ihm lieb gewesenen Hausgenossen, um sich unmittelbar darauf 
an die Ueberlebenden zu schmiegen und auch ihnen die Hände oder gar das Gesicht zu 
lecken. Noch verhängnisvoller ist in dieser Hinsicht die Lebensweise der fast überall ver¬ 
breiteten fliegenden Insecten, namentlich der gewöhnlichen Stubenfliegen, weil die Schäd¬ 
lichkeit ihrer Gepflogenheiten zumeist noch weit weniger beachtet wird. Das Geschmeiss 
schwirrt oft unmittelbar von einer Leiche, häufig, nachdem es ihr in Nase, Mund, Ohren 
u. s. w. gekrochen war, im ganzen Zimmer umher, und setzt sich auf alle Gebrauchs¬ 
gegenstände, auf Speisen und Ess- und Trinkgeräthe, sowie auch auf die Kleider, auf 
Hände und in die Gesichter der Lebenden. Dass durch alle derartigen Vermittelungen die 
Uebertragung septischer Leichengifte und gefährlicher Bacterien ungemein leicht bewirkt 
werden kann, bedarf keiner ausführlicheren Auseinandersetzung. 

Gegenüber allen diesen in der gemeinhin doch immer nur kurzen Zeit 
vor der Bestattung wirksam werdenden schädlichen Einflüssen der Leichen¬ 
zersetzung auf die menschliche Gesundheit ist die hygienische Wichtigkeit 
der möglicherweise auch von der beerdigten Leiche ausgehenden Giftwirkungen 
unvergleichlich höher anzuschlagen. Als die dieselben verbreitenden Medien 
wirken die in der Umgebung der Gräber eingeschlossenen Mengen an Luft 
und Wasser. Und somit gelangen wir endlich zu demjenigen Punkte unserer 
Besprechung, der den eigentlichen Kernpunkt der gesammten modernen 
Leichenhygiene darstellt, indem allein aus ihm heraus die Entscheidung der 
heute wichtigsten Frage abgeleitet werden kann, ob beerdigte Leichen aus 
dem verschlossenen Grabe heraus für die Gesundheit der Lebenden Schaden 
zu stiften im Stande sind oder nicht, eventuell, unter welchen Umständen 
solches geschehen, und wiederum unter welchen es vermieden werden kann. 
Allein so ist eine befriedigende Klarstellung darüber zu gewinnen, ob jenes 
Verlangen nach principieller Verwerfung jeglicher Leichenbeerdigung und nach 
der allgemeinen Einführung der Feuerbestattung unter hygienischen Gesichts¬ 
punkten zu Rechte besteht oder als nichtig zu erachten ist. 

Wenn wir hier von einer vermittelnden Rolle der Lnft sprechen, so muss es sich 
natnrgemäss zuerst um diejenigen Luftmengen handeln, welche in der Umgebung der Gräber 
mittels der in der Erde enthaltenen Poren einen Verkehrsweg zwischen der Leiche und der 
Atmosphäre aufrecht erhalten. Fast überall nämlich ist der Boden durch und durch mehr 
oder weniger von kleineren oder grösseren Lücken und Poren durchsetzt, die infolge ihrer 
Communication mit der Atmosphäre bald nur theilweise, bald völlig mit Luft angefüllt sind; 
diese „Bodenluft“ stellt gleichsam eine Fortsetzung der Atmosphäre dar und steht mit ihr 
in stetem Verkehr; sie kann sich unter bestimmten Bedingungen über die Bodenoberfläche 
erheben und der atmosphärischen Luft beimengen, wie auch umgekehrt Luft aus der 
Atmosphäre zur Ergänzung der Bodenluft in die Erde einzutreten vermag. Ein Ausströmen 
der Bodenluft in die Atmosphäre findet namentlich statt: 1. bei sinkendem Barometer¬ 
stände, bei dem auch die Bodenluft infolge der Verminderung des auf ihr lastenden Druckes 
sich ausdehnt; 2. bei heftigen Winden, wenn solche auf einzelne Theile der Erdoberfläche 
pressen, während andere Theile vor dem Winddrucke — etwa durch darauf stehende Ge¬ 
bäude — geschützt sind, und zu gleicher Zeit die ungleich belasteten Bodentheile vermittels 
ihrer Poren mit einander communiciren ; 3. bei starken Wasserbenetzungen einzelner Boden¬ 
theile, die unter gleichen Verhältnissen infolge des durch das in die Poren eindringende 
Wasser ausgeübten Druckes ebenso wirken müssen wie die Windpressung; 4. bei eintreten¬ 
den Temperaturdifferenzen zwischen Bodenluft und atmosphärischer Luft. Unter dem Ein- 


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LEICHENWESEN. 


flösse eines oder mehrerer von diesen F&ctoren findet eine unablässige Bewegung der 
Bodenloft statt. Aof die Intensität derselben haben aosser dem Maasse der treibenden 
Kräfte mehrere Momente Einfluss, die in der Gestaltung des Bodens selbst begründet sind. 
Auf ein näheres Eingehen auf die recht complicirten Einzelnheiten der bezüglichen Ver¬ 
hältnisse müssen wir hier verzichten. Es sei nur ganz allgemein bemerkt, dass die Be¬ 
wegung der Bodenluft umso lebhafter ist, je geringere Widerstände ihr entgegen wirken, 
d. h. namentlich, je zahlreicher und grösser die Poren des Erdreichs sind, und je weniger 
von ihnen ganz oder theilweise durch Wasser verlegt sind. Aof den Verlauf der Leichen¬ 
zersetzung haben diese Umstände insofern grossen Einfluss, als für ihn das Maass der 
Zufuhr an frischem atmosphärischem Sauerstoff von hoher Bedeutung ist. Praktisch wichtig 
ist auch folgender Punkt. Befindet sich im Boden nahe der Erdoberfläche eine infolge 
verminderter oder aufgehobener Porosität für Luft nur schwer oder gar nicht durchlässige 
Schicht, wie sie z. B. durch festen Lehm- oder Thonboden dauernd, oder durch Wasser¬ 
verstopfung oder gar Eisfüllung der Poren zeitweise dargestellt wird, so kann, unter der 
Einwirkung einer an weit entfernter Stelle sich geltend machenden Kraft von einer der 
genannten Arten auf weite Strecken hin auch eine horizontale Bewegung der Bodenluft 
verursacht werden. Eine praktisch äusserst wichtige Ptolle für das Zustandekommen der 
treibenden Factoren spielt der Einfluss der auf dem Boden errichteten Häuser. In 
letzteren ist die Luft zeitweise erheblich wärmer und daher leichter als die Bodenluft, und 
sie schützen die von ihnen bedeckten Flächen vor dem Winddruck sowohl wie vor auf¬ 
fallendem Wasser. Infolgedessen üben sie zu Zeiten geradezu eine energisch ansaugende 
Wirkung auf die Bodenluft aus, die sich beim Bestehen einer oberen undurchlässigen 
Schicht in dem Boden der Umgebung auf Strecken von überraschend grosser Ausdehnung 
hin geltend machen kann; hierzu schafft besonders oft ein kalter Winter die günstigsten 
Bedingungen, wenn die stark durchnässte Bodenoberfläche hart gefroren und die Wohnungs¬ 
luft kräftig geheizt ist. 

Vermittels dieser Wege nun werden überall da, wo in die Bahn der 
strömenden Bodenluft eine in Zersetzung begriffene Leiche eingeschaltet ist, 
solche Zersetzungsproducte, die sich der Luft mitzutheilen im Stande sind, aus 
der Tiefe des Grabes an die freie Atmosphäre getragen werden können. Von 
dieser Möglichkeit erscheinen von vorneherein ausgeschlossen alle nicht flüch¬ 
tigen chemischen Körper in festem und flüssigem Aggregatzustande. Von den 
chemischen Endproducten der Leichenzersetzung haben wir es hier demgemäss 
allein mit den gasförmigen zu thun. Ueber ihre für die menschliche Gesund¬ 
heit schädlichen Eigenschaften, wie sie sie während des kurzen Aufenthaltes 
des Leichnams an der freien Luft geltend machen können, haben wir bereits 
gesprochen. In einer davon erheblich abweichenden Weise aber werden sie 
sich dann gestalten müssen, wenn sie von einem beerdigten Leichnam aus lange 
Zeit hindurch unablässig auf dieselben Individuen einwirken können. Man 
denke z. B. an die Bewohner der in einer grossen Stadt in unmittelbarer 
Nähe eines Kirchhofes gelegenen Häuser, in die hinein nach dem erörterten 
Modus unaufhörlich die Bodenluft des Kirchhofs angesaugt wird. Früher hatte 
man über die Schädlichkeit der den Gräbern entströmenden Leichengase weit 
und breit zum Theil ungeheuer ernste Anschauungen. Namentlich war der 
Glaube fest eingewurzelt, dass sie für die Entstehung bösartiger Krankheiten, 
und zwar gerade derjenigen, die wir heutzutage zusammenfassend als Infec- 
tionskrankheiten bezeichnen, eine verhängnisvolle Rolle spielten. So sollten 
die Blattern, Cholera, Ruhr, die verschiedenen Typhusarten u. a. durch Kirch¬ 
hofdünste geradezu verursacht werden können. Diese Meinung ist nunmehr 
sicher als irrthümlich erkannt. Eine moderne Frage ist es dagegen, ob nicht 
die dauernden Einwirkungen von Leichengasen die Empfänglichkeit der Indi¬ 
viduen für die Ansteckung mit jenen Erkrankungen erzeugen oder erhöhen, 
eine besondere Disposition zu denselben schaffen können ? Behufs Klarstellung 
dieses Punktes sind in den letztvergangenen Jahrzehnten ausgedehnte For¬ 
schungen statistischer und experimenteller Natur angestellt worden. Es kann 
nicht bestritten werden, dass an einzelnen Orten lange Zeit hindurch die 
Beobachtung gemacht werden musste, dass in manchen unmittelbar an Kirch¬ 
höfen gelegenen Häusern, in denen jedem Eintretenden ein höchst wider¬ 
wärtiger Modergeruch auffallend wurde, die Bewohner in ungünstigen Gesund¬ 
heitsverhältnissen lebten. Sie hatten vielfach eine schlechte, ungesunde, bleiche 


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Gesichtsfarbe, kränkelten dauernd und fielen bei auftretenden Epidemien an 
schweren Infectionskrankheiten in auffallender Weise der Ansteckung zum 
Opfer; auch pflegte unter ihnen die Mortalitätsziffer höher zu sein als sonst 
in der Bevölkerung. Trotz dieser unleugbaren Thatsachen haben alle zur 
Lösung gedachter Frage angestellten Erhebungen und Untersuchungen keinerlei 
positive Anhaltspunkte ergeben, die zu der Annahme berechtigten, dass durch 
eine länger andauernde Einwirkung von Kirchhofsausdünstungen direct eine 
Disposition zu Infectionskrankheiten erhöht oder geschaffen, oder aber direct 
eine unmittelbare Untergrabung der Gesundheit verursacht wird. Es ist 
unwiderleglich dargethan worden, dass die bei der Leichenzersetzung gebil¬ 
deten Gase zum grossen Theile durch den Boden selbst, sowie auch durch 
die in ihm enthaltene Feuchtigkeit absorbirt werden. Die von ihnen wirklich 
in die Atmosphäre austretenden Theile ferner werden durch die atmosphärische 
Luft in so hohem Maasse verdünnt, dass sie, wenngleich manchmal durch den 
Geruchssinn wahrnehmbar, doch nicht mehr zu praktisch nennenswerten 
chemischen Wirkungen fähig und somit auch nicht mehr chemisch nachweis¬ 
bar sind. Das menschliche Geruchsorgan ist eben höchst empfindlich und 
vermag gewisse Stoffe noch in erstaunlichen Verdünnungsgraden wahrzu¬ 
nehmen. Eine positive Gesundheitsschädigung vermögen die hier in Betracht 
kommenden Stoffe in dieser enormen Verdünnung unter keinen Umständen 
zu bewirken. Es ist weiterhin constatirt worden, dass an vielen Orten der 
Gehalt der Athemluft an Zersetzungsgasen organischer Materien unendlich viel 
reichlicher ist, ohne die geringsten sanitären Nachtheile hervorzurufen, wie 
z. B. in der Nähe von Abtrittsgruben, Mist- und Jauchedepots, in den Ab¬ 
deckereien u. s. w., ja dass sich vielfach die Bewohner solcher Stätten einer 
vorzüglich guten Gesundheit erfreuen. Die Erklärung für die ungünstigen 
sanitären Verhältnisse jener Kirchhofsanwohner ist darin zu suchen, dass die 
betreffenden Wohnungen wegen der immerhin lästigen und ekelerregend em¬ 
pfundenen Ausdünstungen von allen Wohlhabenden, die sich bessere Quartiere 
leisten können, gemieden und allein von Armen bewohnt werden, die froh 
sind, eine möglichst billige Heimstätte zu finden. Solche Leute aber leben 
zumeist in durchwegs schlechten hygienischen Verhältnissen, hinsichtlich der 
Ernährung, Kleidung etc.; und lediglich dieser Umstand ist der Grund für 
ihre Kränklichkeit und geringere Widerstandskraft gegen ansteckende Krank¬ 
heiten. Allein in einer Hinsicht mag die Luft der Kirchhöfe selbst schädlich 
werden. Die Bewohner der betreffenden Häuser, die nicht wissen, dass die 
Kirchhofgase zumeist eben durch die wärmere Innenluft ihrer Wohnung aus 
dem Boden angesaugt wird, glauben, die schlechte Luft könne nicht anders 
als von aussen eindringen, und halten deshalb ununterbrochen Fenster und 
Thüren möglichst dicht geschlossen. Dadurch wird mit der unvermeidlichen 
Erwärmung der Wohnungsluft nur immer intensiver die Gase führende Boden¬ 
luft angesaugt; so athmen die Menschen, ohne sich je die Vorzüge einer gründ¬ 
lichen Lüftung aus der frischen Atmosphäre zu gönnen, unablässig eine relativ 
concentrirte verdorbene Luft ein. 

Besondere Aufmerksamkeit hat man fernerhin der Frage gewidmet, ob 
etwa mit den Gasen auch die in einer Leiche gediehenen Mikroorganismen 
durch den Strom der Grundluft aus dem Boden heraus in den Bereich der 
Lebenden geführt werden können. Es hat sich herausgestellt, dass dies unter 
keinen Umständen möglich ist. Der Strom der Bodenluft ist selbst bei der 
grösstmöglichen Bewegung viel zu schwach, als dass er Bacterien selbst von 
ganz trockenen Leichentheilen losreissen könnte; zudem bildet eine Boden¬ 
schicht auch von nur geringer Dicke für die durchtretende Luft das beste 
und zuverlässigste Bacterienfilter; der Grund dieser für praktische Zwecke 
bekanntlich vielfach nutzbar gemachten Thatsache ist ohne weiteres einleuch¬ 
tend. Die Möglichkeit, dass die aus den Gräbern ausströmende Luft zur 


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LEICHENWESEN. 


Ansteckungsquelle für Infectionskrankheiten werden könnte, ist somit mit voller 
Sicherheit anszuschliessen. 

Ein Gegenstand von grossem hygienischem Interesse ist endlich die 
Fortführung von Cadaverproducten mittels des in den Boden eingeschlossenen 
Wassers. 

Die in Form atmosphärischer Niederschläge auf den Erdboden fallenden Wasser¬ 
mengen sickern znm grossen Theile dnrch dessen Poren in seine Tiefe, bis sie auf eine 
infolge minimalen Porengehaltes undurchlässige Schicht auftreffen, über welcher sie sich 
sammeln und das „GrnndwasBer“ bilden. Aus dem Grundwasser deckt der Mensch grossen- 
theils und vielerorten ausschliesslich seinen bedeutenden Wasserbedarf. Wo aber in den 
Weg der von der Erdoberfläche her in die Tiefe sickernden Wassermengen oder in den 
Bereich des Grundwassers selbst in Zersetzung begriffene Leichen gelegt werden, da ist 
eine Verunreinigung des Wassers mit absorbirbaren Gasen und löslichen flüssigen und 
festen Zersetzungsproducten sowie durch mechanisch beigemengte Trümmerstückchen 
organischer Massen unvermeidlich. Das Maass dieser Verunreinigungen wird durch zwei 
Factoren bedingt: 1. durch die Menge des Grund wassers und 2. durch die Menge der 
verunreinigenden Stoffe. Doch sind dabei noch eine ganze Reihe besonderer Einzelnheiten 
in Betracht zu ziehen. So steht der Höhegrad der Wasserverderbnis in Wechselwirkung 
mit den Grundluftverhältnissen, je mehr Zersetzungsproducte in die Luft entweichen, um 
so weniger bleiben für die Fortführung durchs Wasser zurück. Ist das letztere gezwungen, 
nach seiner Imprägnirung mit Zersetzungsstoffen bis zu seiner Entnahmestelle aus dem 
Boden kleinere oder grössere Bodenstrecken zu durchfliessen, so wird ihm sein Gehalt an 
Verunreinigungen theils durch Absorbtion und Filtration, theils auch infolge fortgesetzter 
chemischer Umwandlungen der organischen Massen während der ZurücTdegung dieses 
Weges, besonders durch Oxydation, zum Theil oder gänzlich wieder entzogen. Das Maass 
dieser Wiederreinigung hängt nicht allein von der Dicke der durchsickerten Erdschichten, 
sondern auch von gewissen Bedingungen des Bodens selbst, namentlich von dem Grade 
seiner Porosität (Wassercapacität, capillare Wasserleitung) ab; vielleicht haben darauf auch 
chemische Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Bodensorten, leichtverständlicherweise 
ferner die Schnelligkeit der Grundwasserbewegung Einfluss. 

Genaue Kenntnisse über die Höhe der durch sich zersetzende Leichen 
zustandekommenden Grundwasserverunreinigungen hat man sich durch zahl¬ 
lose Untersuchungen von Wasserproben verschafft, die man aus Brunnen in 
der Nähe und in geringerer und weiterer Entfernung von Kirchhöfen unter 
Berücksichtigung der Richtung der Bodenwasserströmung entnahm, sowie 
endlich aus solchen, die man auf den Kirchhöfen selbst, zum Theil in unmittel¬ 
barer Umgebung frischer und verschieden alter Gräber angelegt hatte. Alle 
diese Untersuchungen haben ergeben, dass das Wasser weit weniger, als man 
früher allgemein gedacht hatte, verunreinigt war. Die selbstreinigende Kraft 
des Bodens ist überall so gross, dass die Kirchhofswässer nirgends mehr 
Zersetzungsproducte enthalten, als sich auch sonst im Grundwasser der Um¬ 
gebung menschlicher Wohnstätten finden. Im Gegentheil sind die Wässer im 
allgemeinen reiner als diejenigen vieler Brunnen in der Nähe von Abtritten, 
Jauchegruben u. s. w., die oft unbedenklich und ohne Nachtheil von Vielen 
gebraucht und getrunken werden. Auch über die thatsächliche Gesundheits¬ 
schädlichkeit der mit organischen Stoffen verunreinigten Wässer haben wir 
durch die modernen Forschungsergebnisse durchgehends neue Ansichten ge¬ 
wonnen. Noch vor Kurzem schrieb man dem Genuss solchen Wassers die 
schwersten Nachtheile, namentlich wiederum die Entstehung der Infections¬ 
krankheiten zu. Heutzutage wissen wir, dass die faulenden oder fäulnis¬ 
fähigen Substanzen, wie ihre Zerfallsproducte nur in ganz bedeutenden Ver¬ 
dünnungen im Grund- und Brunnenwasser Vorkommen; dabei sind diese Stoffe 
nichts anderes als dieselben Substanzen, die wir in manchen Speisen, wie in 
saurer Milch und namentlich in Käse, in Wildpret, das uns erst recht schmeckt, 
wenn es „haut goüt“ hat, u. a. in allerconcentrirtester Form ungestraft und 
mit Genuss verzehren. Eine krankmachende Wirkung der im Trinkwasser 
gelösten organischen Materien gibt es nicht, und alle auf sie zurückgehenden 
Bedenken gegen die Anlage von Begräbnisplätzen in der Nähe menschlicher 
Wohnungen sind durchaus hinfällig. Eine sanitäre Gefahr solcher Wässer 
liegt einzig und allein in dem Umstande, dass ein sehr hoher Gehalt an 


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LEICHENWESEN. 


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fäulnisfähigen Stollen das Wasser zu einem Mittel machen kann, pathogene 
Fäulnisbacterien oder anch specifische Krankheitskeime eine Zeit lang am 
Leben zu erhalten und weiter zu verbreiten. Das ist die Rolle, die unreine 
Trinkwässer gelegentlich, z. B. in der Entstehungsgeschichte von Typhus¬ 
epidemien gespielt haben. Was aber endlich die Frage anlangt, ob Bacterien, 
seien es die gemeinen Fäulniskeime oder specifische Infectionserreger, mit 
dem Grundwasser aus den Leichen der Gräber in die Brunnen gelangen 
können, und ob man hieraus einen triftigen Grund gegen das Beerdigen der 
Leichen ableiten müsse, so ist auch diese Frage im allgemeinen zu verneinen. 
Die specifischen Keime der Infectionskrankheiten finden sich zwar in der Leiche 
in der ersten Zeit nach dem Tode in lebendem und vermehrungsfähigem Zu¬ 
stande, und es kann wohl als möglich gelten, dass ein Theil von ihnen mit 
dem die Leiche benetzenden Grundwasser fortgespült wird. Da sie aber in 
der Leiche selbst in kurzer Frist von den Fäulnisbacterien überwuchert und 
abgetödtet werden, so kann dies nur in der allerersten Zeit nach der Beer¬ 
digung geschehen, nach Nägeli längstens sechs bis acht Wochen lang. So¬ 
dann aber bildet der Erdboden auch für durchtretendes Wasser das sicherst 
wirkende Bacterienfilter, das wir kennen; also können sie anch in dem ihnen 
günstigsten Falle nur eine kurze Strecke weit um die Leiche herum den 
Boden inficiren, und endlich ist auch dieser Theil des Bodens zu ihrer Er¬ 
haltung oder gar Vermehrung dadurch sehr wenig geeignet, dass er zugleich 
mit seinem Reichthum an organischer Substanz Legionen von Fäulniskeimen 
enthält, die sie auch hier in raschem Kampfe unschädlich machen. Dem¬ 
entsprechend ist auch für die selbst in nächster Nähe von infectiösen Leichen 
angelegten Brunnen niemals eine Infection des Wassers vom Grabe aus nach¬ 
gewiesen worden. Die unendlich viel zahlreicheren und lebenszäheren Fäulnis¬ 
bacterien dagegen können leichter trotz der Filterwirkung des Bodens das 
Erdreich „durchwachsen“ und somit auch gelegentlich in einen sehr nahe 
gelegenen Brunnen gerathen; doch ist das nicht eine Eigentümlichkeit des 
Kirchhofsbodens und der Kirchhofsbrunnen allein; weit zahlreicher können 
die nämlichen Fäulnisbacterien in Brunnen gelangen, die nahe bei einer 
Abtrittsgrube oder einem Dunghaufen angelegt sind. Auch sind die von ihnen 
für die menschliche Gesundheit zu befürchtenden Gefahren minder gross, als 
man vielfach annimmt, da sie zumeist, sobald sie aus dem an ihren Nähr¬ 
stoffen reichen Boden in das freie Wasser des Brunnenkessels gelangen, bald 
absterben, weil in ihm selbst bei relativ hoher Verunreinigung ihren Nahrungs¬ 
bedingungen nicht auf die Dauer Genüge geschieht." 

Aus allen vorstehenden Erwägungen ergeben sich nun für die Hygiene 
des Leichenwesens eine Reihe von praktischen Schlussfolgerungen; unter ihnen 
ist zunächst die wichtigste die Erkenntnis, dass es von hygienischem Gesichts¬ 
punkte aus keinen zwingenden Grund gibt, die Leichenbestattung durch Be¬ 
erdigung gänzlich zu verwerfen und etwa durch die Leichenverbrennung zu 
ersetzen. Doch ist überall bei der Behandlung der Leichen, auch wenn sie 
zur Erde bestattet werden, mit Umsicht darauf zu achten, dass sie nicht in 
irgend einer Weise zu einer Quelle der Gefahr oder Belästigung für die lebende 
Umgebung werden können. 

Leichenhallen. An erster Stelle ist es eine durchaus berechtigte hygie¬ 
nische Forderung, dass jede Leiche sobald wie irgend möglich aus bewohnten 
Räumen entfernt werde. Ganz besonders gilt das für diejenigen Classen der 
Bevölkerung, welche dichtgedrängt in beschränkten und engen Wohnräumen 
hausen, und bei denen ein besonderer Raum für eine mehrtägige Aufbewah¬ 
rung eines Leichnams meist nicht zur Verfügung steht. Freilich sträubt sich 
gegen eine sofortige Entfernung des soeben erst verstorbenen Körpers bei den 
meisten Menschen das natürliche Gefühl der Liebe und Anhänglichkeit. 

Bibi. med. Wieeenechaften. Hygiene n. Ger. Medicin. 36 


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LEICHENWESEN. 


Immer ist bei einem Todesfälle in der Familie der Augenblick der Fortschaffung 
des Leichnams für die Zurückbleibenden der erschütterndste und aufregendste, und ganz 
unwillkürlich drängt ein natürlicher Wunsch dazu, diesen Moment so lange hinauszuschie¬ 
ben wie irgend möglich. Aber bei eineT längeren Anwesenheit der Leiche im Hause steigert 
der immer wieder aufs neue gewaltig erschütternd wirkende Eindruck, den der unablässig 
wiederholte Anblick der kalten todten Hülle hervorbringt, bei vielen seelisch empfindsamen 
Naturen den Schmerz oft bis zu einer für die Gesundheit des Gemüthes wie auch des 
Leibes geradezu schädlichen Höhe; dagegen wird der Schmerz stiller, sobald jener auf¬ 
regendste Moment einmal überstanden ist; die durch ihn bewirkte Irritation der Gemüther 
aber ist am zweiten oder dritten Tage um nichts geringer, als wenn er bereits wenige 
.Stunden nach erfolgter Katastrophe durchgemacht werden muss. 

Dieser Umstand im Verein mit den hygienischen und ästhetischen Be¬ 
denken, welche das enge Nebeneinander eines Leichnams mit Lebenden er¬ 
wecken muss, sprechen entschieden für eine möglichst baldige Fortschaffung 
der Leiche aus bewohnten Räumen. Es sollte daher mit allen Kräften dahin 
gewirkt werden, dass die in manchen Städten, wie z. B. in München, Arn¬ 
stadt etc, bereits bestehende Ordnung ausnahmslos überall durchgeführt 
würde, nach der jede Leiche bereits wenige Stunden nach sicher festgestelltem 
Tode aus der Wohnung entfernt und in ein eigenes Leichenhaus übergeführt 
werden muss. 

Ein Haupterfordernis für die Durchführung aller das Leichenwesen 
ordnenden Maassregeln ist die Anstellung behördlich autorisirter Persönlich¬ 
keiten behufs sicherer Feststellung des zweifellos eingetretenen Todes. Die 
nähere Erörterung aller hierher gehörigen Gesichtspunkte ist einem beson¬ 
deren Capitel Vorbehalten worden; es genüge daher, dass wir an dieser Stelle 
auf das Specialcapitel „Todtenbeschau“ im vorhergehenden Artikel hinweisen. 

Zur Unterbringung der Leichen für die kurze Zwischenzeit bis zur 
Stunde der Beerdigung dienen am besten eigene, auf den Begräbnisplätzen 
oder doch in deren unmittelbarer Nähe errichtete Baulichkeiten, die „Leichen¬ 
hallen“. Sie sollen derart angelegt und eingerichtet sein, dass sie die doppelte 
Aufgabe erfüllen, einmal ihrem besonderen Zwecke entsprechend praktisch 
zu sein, daneben aber auch zweitens den Gefühlen der Pietät gegen die Ver¬ 
storbenen uDd der Aesthetik Rechnung zu tragen; eine schöne und würdige 
Gestaltung der Leichenhallen selbst und aller ihrer Einrichtungen im ein¬ 
zelnen, welche die Unterbringung der Leiche daselbst als eine dem Verstor¬ 
benen erwiesene letzte Ehre erscheinen lässt, wird am schnellsten und nach¬ 
haltigsten alle Vorurtheile gegen sie beseitigen helfen. Hinsichtlich der 
inneren Einrichtung ist es eine Hauptfrage, ob man alle in der Leichenhalle 
aufzubahrenden Todten in einem einzigen gemeinsamen Raume unterbringen 
solle, oder ob es vorzuziehen sei, jeder Leiche eine einzelne Zelle anzuweisen; 
diese Frage kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen localen Verhält¬ 
nisse, der herrschenden Volksanschauungen und des allgemeinen Geschmackes 
beantwortet werden; Momente hygienischer Natur für eine Entscheidung nach 
dieser oder jener Seite sprechen dabei nicht mit. Gross ist in breiten Schichten 
des Volkes die festeingewurzelte Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden; 
obgleich sicher verbürgte Fälle davon nirgends beobachtet worden sind, und 
ein solches Vorkommnis bei einer gut ausgeübten Leichenschau auch von 
vorneherein ausgeschlossen ist, so erscheint es doch zweckmässig, bei der 
Einrichtung der Leichenhallen auf ein etwa mögliches Wiedererwachen eines 
dort Aufbewahrten Rücksicht zu nehmen, und die Wohnung eines Hallen¬ 
wärters so anzulegen, dass er auch bei Nacht eine ausreichende Aufsicht aus¬ 
üben kann. 

Ein besonderer Raum ist für die Vornahme eingehender Leichenuntersuchungen 
einzurichten. Dieses „Sektionszimmer* ist derart anzulegen, dass es bei reichlicher, je 
nach Bedürfnis regulirbarer Ventilation auch in den heissen Sommermonaten möglichst 
kühl erhalten werden kann, dass es die für alle Untersuchungen, sowohl mit blossem 
Auge, wie auch mit dem Mikroskope, günstige Beleuchtung durch helles diffuses Tageslicht 
bietet, und die Beobachtung allseitiger peinlichster Reinlichkeit gestattet; zu letzterem 


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LEICHENWESEN. 


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Zwecke muss namentlich eine reichlich spendende Wasserleitung vorhanden sein. (Siehe 
auch den Specialartikel „Sektionen“). 

Leichen-Transport. Ein Punkt, der besondere Aufmerksamkeit aus 
hygienischen Rücksichten erfordert, ist der Transport von Leichen, 
zumal wenn die Bestattung an einem dem Sterbeorte fern gelegenen Platze 
erfolgen soll. Als wichtigstes Moment kommt hier in erster Linie die Möglich¬ 
keit in Betracht, dass durch den Transport einer an einer infectiösen Krank¬ 
heit verstorbenen Leiche eine Weiterverschleppung der betreffenden anstecken¬ 
den Krankheit bewirkt werden könnte; als zweiter Gesichtspunkt ist die Be¬ 
fürchtung maassgebend, dass während eines länger dauernden Leichentrans¬ 
portes die Zersetzung des Cadavers bis zu einem Grade vorschreiten möchte, 
der durch die nach aussen gelangenden Zersetzungsproducte zu Belästigungen 
oder Gesundheitsschädigungen der lebenden Umgebung Veranlassung geben 
könnte. In allen Culturländern sind deshalb mehr oder weniger strenge ge¬ 
setzliche Vorschriften, beziehungsweise Einschränkungsmaassregeln, für den 
Transport von Leichen festgesetzt worden. 

Was zunächst den Transport von Leichen nach den Bestattungsplätzen 
des Sterbeortes angeht, so sind die Bestimmungen darüber überall den nächst¬ 
zuständigen Behörden, im Deutschen Reiche den Regierungsbehörden, über¬ 
lassen. Von allgemeinerem Interesse sind die Bestimmungen, welche den 
Transport von Leichen über weitere Strecken regeln. Im Deutschen 
Reiche stehen seit dem 1. April 1888 folgende Bestimmungen in Kraft: 
Der weitere Transport einer Leiche ist gestattet auf Grund eines „Leichen¬ 
passes“. Der Leichenpass wird ausgestellt durch diejenige dazu befugte 
Behörde oder Dienststelle, in deren Bezirke der Sterbeort oder — im Falle 
einer Wiederausgrabung — der seitherige Bestattungsort liegt. Für Leichen¬ 
transporte, welche aus dem Auslande kommen, kann — soweit nicht Verein¬ 
barungen über die Anerkennung der von ausländischen Behörden ausgestellten 
Leichen passe bestehen — die Ausstellung des Leichenpasses durch diejenige 
zur Ausstellung von Leichenpässen befugte inländische Behörde oder Dienst¬ 
stelle erfolgen, in deren Bezirke der Transport im Reichsgebiete beginnt. 
Auch können die Consuln und diplomatischen Vertreter des Reiches vom 
Reichskanzler zur Ausstellung der Leichenpässe ermächtigt werden. Die 
hiernach zur Ausstellung der Leichenpässe zuständigen Behörden etc. werden 
vom Reichskanzler öffentlich bekannt gemacht. 

Der Leichenpass darf nur für solche Leichen ertheilt werden, über welche die nach¬ 
stehenden Ausweise geliefert worden sind: 

a) ein beglaubigter Auszug aus dem Sterberegister; 

b) ein von einem beamteten Arzte, d. h. von einem Kreisphysikns oder von einem 
Chefarzte eines Militärlazareths oder von einem Director einer Universitätsklinik, resp. in 
Behinderungsfällen des letzteren von dessen Vertreter ausgestellte Bescheinigung über die 
Todesursache, sowie darüber, dass seiner Ueberzeugung nach der Beförderung der Leiche 
gesundheitliche Bedenken nicht entgegenstehen. — Ist der Verstorbene in der tödtlich 
gewordenen Krankheit von einem Arzte behandelt worden, so hat letzteren der Kreis¬ 
physikus vor der Ausstellung der Bescheinigung betreffs der Todesursache anzuhören. — 
Handelt es sich um Leichen von Militärpersonen, welche ihr Standquartier nach eingetre¬ 
tener Mobilmachung verlassen hatten, oder welche sich auf einem in Dienst gestellten 
Schiffe oder anderen Fahrzeuge der Marine befanden, so werden die Nachweise a) und 
b) durch eine Bescheinigung der zuständigen Militärbehörde oder Dienststelle über den 
Sterbefall unter Angabe der Todesursache und mit der Erklärung ersetzt, dass nach ärzt¬ 
lichem Ermessen der Beförderung der Leiche gesundheitliche Bedenken nicht entgegen¬ 
stehen; 

c) ein Ausweis über die vorschriftsmässig erfolgte Einsargung der Leiche. — Die¬ 
selbe muss in einem hinlänglich widerstandsfähigen Metallsarge luftdicht eingeschlossen, 
und letzterer von einer hölzernen Umhüllung dergestalt umgeben sein, dass jede Verschie¬ 
bung des Sarges innerhalb der Umhüllung verhindert wird. — Der Boden des Sarges muss 
mit einer mindestens bcm hohen Schicht von Sägemehl, Holzkohlenpulver, Torfmull oder 
dergl. bedeckt, und es muss diese Schicht mit 5°/ 0 iger Karbolsäurelösung reichlich besprengt 
sein. (1 Theil sogenannter verflüssigter Karbolsäure [Acidum carbolicum liquefactum] ist 
in 18 Theilen Wasser unter häufigem Umrühren zu lösen.) — In besonderen Fällen, z. B. 

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LEICHENWESEN. 


für einen Transport von längerer Dauer oder in warmer Jahreszeit, kann nach dem Gut¬ 
achten des betreffenden beamteten Arztes eine Behandlung der Leiche mit fäulniswidrigen 
Mitteln verlangt werden. Diese Behandlung besteht für gewöhnlich in einer Einwickelung 
der Leiche in Tücher, die mit 5°/ 0 iger Karbolsäurelösung getränkt sind. In schweren 
Fällen muss ausserdem durch Einbringen von gleicher Karbolsäurelösung in die Brust- 
und Bauchhöhle (auf die Leiche des Erwachsenen zusammen mindestens 1 Liter gerechnet) 
oder dergleichen für Unschädlichmachung der Leiche gesorgt werden; 

d) in den Fällen, in denen Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass jemand eines 
nicht natürlichen Todes gestorben ist, oder wenn es sich um den aufgefundenen Leichnam 
eines Unbekannten handelt (§ 157 der Stiafpiocessordnung vom 1. Februar 1877): die 
seitens der Staatsanwaltschaft oder des Amtsrichters ausgestellte schriftliche Genehmigung 
der Beerdigung. 

Ausser diesem „Leichenpass“ wird gefordert, dass die zu transportirende 
Leiche von einer zuverlässigen Person begleitet werde, die bei einem Trans¬ 
porte mit der Eisenbahn, unter Lösung einer Fahrkarte für sich nach ge¬ 
wöhnlicher Weise, denselben Zug zu benutzen hat, in dem die Leiche be¬ 
fördert wird. — Ist der Tod im Verlaufe der Pockenkrankheit oder an 
Scharlach, Flecktyphus, Diphtherie, Cholera, Gelbfieber oder Pest erfolgt, so 
ist die Beförderung der Leiche mittelst Eisenbahn nur dann zuzulassen, wenn 
mindestens ein Jahr nach dem Tode verstrichen ist. 

Alle angeführten Bestimmungen, beziehungsweise die zu ihrer Ausfüh¬ 
rung erforderlichen Formulare, gelten in gleicher Weise für den Transport 
von Leichen sowohl auf den Eisenbahnen wie auch auf Landwegen. Die Bei¬ 
bringung des Leichenpasses speciell wird für alle Leichentransporte gefordert, 
die weiter gehen, als nach dem Bestattungsplatze des Sterbeortes- Allein für 
den Transport von Leichen, die bestimmt sind, als Lehrmaterial an anato¬ 
mische und chirurgische Anstalten preussiscber Universitäten geschickt zu 
werden, wird von dem Verlangen eines Passes abgesehen; für sie bedarf es 
auch der sonst vorgeschriebenen Begleitung nicht, wie auch ihre Aufgabe in 
einer dichtverschlossenen Kiste für genügend erachtet wird. Sie allein dürfen 
auf den Eisenbahnen in einem offenen Güterwagen und zusammen mit anderen 
Gütern befördert werden, von denen jedoch Nahrungs- und Genussmittel, 
einschliesslich der Rohstoffe, aus welchen Nahrungs- und Genussmittel her¬ 
gestellt werden, ausgeschlossen sind. Für alle übrigen Leichen verlangt das 
Eisenbahnbetriebsreglement einen besonderen, bedeckt gebauten Güterwagen, 
in dem andere Güter zu gleicher Zeit nicht befördert werden dürfen. Unter 
Auslassung einiger weiterer, weniger wesentlicher Einzelbestimmungen aus 
dem § 34 jenes Reglements sei hier nur noch angeführt, dass „wer unter 
falscher Declaration Leichen zur Beförderuug mittels Eisenbahn bringt, 
ausser der Nachzahlung der verkürzten Fracht vom Abgangs- bis zum Be¬ 
stimmungsorte das Vierfache dieser Frachtgebühr als Conventionalstrafe zu 
entrichten hat.“ — Bei der Ausstellung von Leichenpässen für Leichentrans¬ 
porte, welche nach dem Auslande gehen, sind ausser den vorstehenden 
Bestimmungen eventuell noch besondere, vom Deutschen Reiche mit den be¬ 
treffenden ausländischen Regierungen abgeschlossene Vereinbarungen zu be¬ 
achten, deren Besprechung im einzelnen an dieser Stelle entbehrlich erscheint; 
es genüge die Angabe, dass mit Oesterreich-Ungarn und der Schweiz die 
Abmachung getroffen ist, dass Leichenpässe, welche von einer zuständigen 
Behörde in Deutschland ausgestellt sind, auch in den genannten Ländern als 
gütig anerkannt werden und umgekehrt. 

(Die hier zusammengefassten Bestimmungen über den Leichentransport im Gebiete 
des Deutschen Reiches finden sich an folgenden Stellen: Betriebsreglement für die Eisen¬ 
bahnen Deutschlands vom 11. Mai 1874, § 34. — Bekanntmachung des deutschen Reichs¬ 
kanzlers vom 14. December 1887, betreffend die Abänderungen jenes Reglements. — 
Ministerialverfögungen der Ministerien der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Ange¬ 
legenheiten sowie des Innern vom 7. März 1887; vom 14. Februar 1887; vom 23. Sep¬ 
tember 1888; vom 29. December 1888; vom 14. October 1889; vom 7. Februar 1890; vom 
6. October 1891. — Bekanntmachung des Reichskanzlers betreffend Vereinbarung wegen 


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LEICHENWESEN. 


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Anerkennung der Leichenpässe mit der Schweiz vom 12. Februar 1889; desgl. mit Oester¬ 
reich-Ungarn vom 2. April 3890.) 

Aebnliche Bestimmungen über den Transport von Leichen bestehen auch 
in Oesterreich. 

Exhumirung. Unter Umständen wird es nothwendig, eine bereits be¬ 
erdigte Leiche wieder auszugraben. Diese Nothwendigkeit liegt vor, wenn 
«iner Leiche aus irgend einem Grunde ein anderer als der ursprüngliche 
Bestattungsplatz angewiesen werden soll; sowie, wenn es sich um die nach 
der Beerdigung angeordnete gerichtliche Untersuchung einer Leiche handelt 
Hinsichtlich des zweitgenannten Zweckes schreibt das preussische Regulativ 
für das Verfahren der Gerichtsärzte bei den medicinisch-gerichtlichen Unter¬ 
suchungen menschlicher Leichname vom 6. Jänner 1875 in seinem § 4 vor, 
dass die Aerzte, wo es sich — zum Zwecke der Ermittelung von Abnormi¬ 
täten und Verletzungen der Knochen, oder mancher, die noch zweifelhaft 
gebliebene Identität der Leiche betreffenden Momente, z. B. Farbe und Be¬ 
schaffenheit der Haare, Mangel von Gliedmassen u. s. w., oder von ein¬ 
gedrungenen fremden Körpern, sowie vorhanden gewesener Schwangerschaft 
oder vorgekommener Vergiftungen und ähnlichen Befunden — um die Wieder¬ 
nusgrabung einer Leiche handelt, für dieselbe zu stimmen haben, ohne Rück¬ 
sicht auf die seit dem Tode verstrichene Zeit. — Allgemeine gesetzliche Be¬ 
stimmungen betreffs solcher Wiederausgrabungen oder „Exhumirungen“ be¬ 
stehen nicht, doch pflegt die den geordneten Betrieb eines Kirchhofs über¬ 
wachende Behörde ihre eigenen Bestimmungen darüber zu erlassen. Die Ge¬ 
sichtspunkte, auf welche die Hygiene bei der Vornahme von Exhumirungen 
hinzuweisen hätte, sind kurz zusammengefasst die folgenden: Eine Exhu¬ 
mirung sollte aus ästhetischen und Pietätsrücksichten — die Möglichkeit von 
Gesundheitsschädigungen kommt kaum in Betracht — niemals vor den Augen 
anderer als der nothwendig betheiligten Personen, nicht vor versammelten 
Neugierigen vorgenommen werden; sie darf deshalb niemals in eine Stunde 
fallen, zu der auf dem Begräbnisplatze eine andere Beerdigung stattfindet, 
oder in der der Kirchhof dem Publikum geöflnet ist. Am besten eignet sich 
dazu die Nacht oder doch die späten Abend-, resp. die frühen Morgen¬ 
stunden. 

Während der heissen und wärmeren Monate des Jahres sollten Exhu¬ 
mirungen nur dann gestattet sein, wenn deren Ausführung aus dringenden 
Gründen keine Verzögerung zulässt; namentlich gilt das naturgemäss von den 
gerichtlich geforderten Wiederausgrabungen; alle anderen sollten ausnahms¬ 
los nur während des Winters gestattet werden. Fällt die Exhumirung in 
eine Zeit nach der Beerdigung, in welcher erfahrungsmässig zu vermuthen 
ist, dass sich die Leiche noch im Zustande der stinkenden Fäulnis befindet, 
so ist dafür Sorge zu tragen, dass man durch Aufgiessen von desinficirenden 
und desodorisirenden Mitteln den üblen Geruch der Grabeserde zerstören 
kann; als solche Mittel sind daher genügende Mengen von Chlorkalklösung 
oder Manganlauge schon zu Beginn der Aufgrabung zur Stelle zu halten. 
Ob die Beschaffung eines besonderen neuen Sarges oder eines ähnlichen, 
eventuell luftdicht abschliessbaren Behältnisses für einen etwa vorzunehmen¬ 
den näheren oder ferneren Transport der auszugrabenden Leiche erforderlich 
erscheint oder nicht, ist im Einzelfalle zu entscheiden; der Zweck der Aus¬ 
grabung, sowie die seit dem Tode verstrichene Zeit werden dabei mit zu be¬ 
rücksichtigen sein; selbstverständlich kann es nicht gestattet werden, dass 
ein in seinen Holztheilen mit flüssigen Zersetzungsproducten durchtränkter 
und von Fäulnisjauche tropfender Sarg auch nur eine kurze Strecke weit fort¬ 
getragen werde. Das geöffnete Grab ist so schnell wie irgend thunlich 
wieder zu schliessen, und die Erde, falls sie Fäulnisgeruch verbreitet, mit 


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LEICHENWESEN. 


den oben genannten Mitteln zu desodorisiren, resp. mit frischer Erde in hin¬ 
reichend dicker Schichte zu überdecken. 

Leichenverbrennung oder Feuerbestattung im Gegensatz zur Beer¬ 
digung, also zur Erdbestattung. 

Im Alterthume waren es namentlich die Bewohner von Kleinasien, zeitweise auch 
die alten Juden, ferner die Griechen, Römer, Etrusker, sowie auch unsere eigenen ger¬ 
manischen Vorfahren, welche die Leichen Verbrennung in ausgedehntem Maasse ausübten. 
In der Gegenwart hat sich diese Sitte nur noch bei einigen wenigen Völkern erhalten, so 
namentlich unter den Anhängern des Wischnu in einzelnen indischen Stämmen, bei den 
Hindos und Sikhs, unter den das Himalaya-Gebirge bewohnenden Stämmen und bei den 
Khassia. an der Grenze von Birma. Bei allen genannten Völkern fand resp. findet die 
Leichen Verbrennung mittels des offenen, aus grossen Mengen leicht brennbaren Holzes 
erbauten Scheiterhaufens statt. Dieser Art der Feuerbestattung aber haften sehr erheb¬ 
liche technische Mängel an: erstens wird bei ihr eine fast ungeheuer zu nennende Verschwen¬ 
dung an Brennmaterial getrieben; zweitens bleibt die Verbrennung der Cadaver trotz 
dieses Aufwandes fast immer nur recht unvollkommen; ferner wird die Umgebung in 
weitem Umkreise durch reichlichen Rauch und sehr übelriechende Verbrennungsdünste be¬ 
lästigt, zudem das Auge des Zuschauers nicht selten durch den hässlichen Anblick des 
unter der Hitzeeinwirkung in seinen Gliedern sich bewegenden und krümmenden Leichnams 
verletzt; und endlich wird der zurück bleibende Best des verbrannten Körpers mit der 
Asche des Brennmaterials untrennbar vermengt. Zweifelsohne hat eine frühzeitige Er¬ 
kenntnis aller dieser Mängel schon im Alterthume zu einer Beschränkung der Feuer¬ 
bestattung geführt. Wie wir bereits an früherer Stelle sahen, wurde die letztere nament¬ 
lich unter dem Einflüsse des fortschreitenden Christenthums immer mehr durch die Be¬ 
erdigung der Todten verdrängt, so dass sie für die Dauer vieler Jahrhunderte gänzlich 
ausser Gebrauch kam. 

Aber auch mit der Bestattung der Todten durch Einsenken in den Erd¬ 
boden glaubte man eine Reihe mehr oder minder schwerer Uebelstände ver¬ 
knüpft zu sehen; und es kam die Zeit, da bei vielen die Frucht vor den mit 
dem Begraben der Leichen vermeintlich verbundenen Gefahren so gross wurde, 
dass, sobald die starre Herrschaft kirchlicher Dogmen auch über Fragen des 
rein praktischen Lebens gebrochen war, auch bei den Völkern von vorwiegend 
christlichem Bekenntnisse in weiten Kreisen das Verlangen nach einer Rück¬ 
kehr zu der alten Sitte der Feuerbestattung laut wurde. Auf die Gründe, 
welche diese Strömung anregten und allmählich zu der Stärke anwachsen 
machten, welche ihr gerade in unseren Tagen innewohnt, einzugehen, ist hier, 
soweit sie auf religiösem, ästhetischem, poetischem und künstlerischem Ge¬ 
biete liegen, nicht der Platz, denn hier interessirt uns allein die hygienische 
Seite der Frage. Wie wenig begründet jedoch ein Theil der gegen die Erd¬ 
bestattung geltend gemachten hygienischen Einwände ist, haben wir bereits 
erörtert; wir sahen, dass eine Entstehung oder Weiterverbreitung epidemischer 
Krankheiten von einer im Erdboden ruhenden Leiche aus nicht zu befürchten 
ist, und dass die bis vor Kurzem als höchst verderblich hingestellte Gefahr 
einer Verunreinigung des Kirchhofsbodens und, von ihm aus der Bodenluft 
und der benachbarten Atmosphäre, sowie auch des Grundwassers und der aus 
ihm gespeisten Brunnen in der That von der modernen Hygiene nicht mehr 
anerkannt werden kann. Ebenso hinfällig sind noch einige andere gegen die 
Erdbestattung geltend gemachten Gründe. Dahin gehört z. B. die in breiten 
Schichten des Volkes festgewurzelte Furcht vor dem Lebendigbegraben werden; 
bei vernünftiger Ueberlegung kann dieser gegen die Sitte des Beerdigens er¬ 
hobene Einwand kaum als recht ernsthaft genommen werden, denn es ist 
schwer einzusehen, welche Annehmlichkeiten vor dem Lebendigbegraben, 
werden das Lebendigverbranntwerden haben solle. Durch eine gewissenhaft 
gehandhabte, geordnete Leichenschau wird das eine Gespenst so gut wie das 
andere den Särgen unserer Verstorbenen ferngehalten. Als einen ferneren 
Einwand gegen das Begraben der Todten hört man hie und da die Behaup¬ 
tung aufstellen, dass bei dem tiefen Einsenken der Cadaver in den Erdboden 
die sie zusammensetzenden und bei ihrer Zersetzung wieder frei werdenden 
Stoffe so fern unter die Erdoberfläche verlegt würden, dass sie von den 


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Wurzeln der Pflanzen für gewöhnlich nicht erreicht und somit von der Wieder¬ 
einschaltung in den Kreislauf des organischen Lebens ferngehalten würden. 
Diese Annahme beruht auf einem thatsächlichen Irrthum. Nehmen wir die 
Sohle der Gräber selbst etwas tiefer als 2 m unter der Erdoberfläche an, 
so fällt ihr Niveau doch noch in das Wurzelgebiet vieler Gewächse, und nicht 
nur allein der grösseren Bäume. Die feinsten Wurzeln der Pflanzen reichen 
ganz ungeheuer viel tiefer in den Erdboden hinab, als die Meisten annehmen 
oder zu wissen glauben; erstreckt doch schon ein Weizen- oder Gerstenhalm 
seine Wurzeln bis über zwei Meter tief unter die Ackerfläche! Zudem er¬ 
scheint es nicht recht verständlich, warum manche eifrigen Verfechter der 
Feuerbestattung gerade diesen Grund gegen die Beerdigung in’s Treffen 
führen, da sie selbst doch die bei der Verbrennung der Leichen zurück¬ 
bleibenden Aschenreste in Urnen sammeln und mittels dieser, in Gräbern oder 
Columbarien beigesetzt, Jahrhunderte lang aufbewahren wollen! Als letzter 
Grund gegen die Erdbestattung wird häutig angeführt, dass durch die Kirch¬ 
höfe ein im Verhältnisse zu ihrem Nutzen viel zu grosser und weit besser 
verwertbarer Theil fruchtbaren Ackergeländes oder — wo es sich um städtische 
Begräbnisplätze handelt — wertvollen Bauterrains brach gelegt werde. Auch 
dieser Einwand kann einer unbefangenen Prüfung gegenüber nicht Stand 
halten. 

Auf dem Lande ist der Grund und Boden nicht so kostbar, dass nicht jede Land¬ 
gemeinde mit verschwindend wenigen Ausnahmen den zur Anlage des kleinen Friedhofs 
erforderlichen Platz von ihrem Ackergebiet entbehren könnte. In der unmittelbaren Nähe 
grosser Städte dagegen erfüllen die Begräbnisplätze, wenn sie hygienisch richtig angelegt 
sind und in geschickter Weise nach Art von Parks praktisch und schön bepflanzt werden, 
sogar eine sehr wichtige, hygienische Aufgabe, deren Wert für die körperliche wie seelische 
Gesundheit der Stadtbewohner leider noch immer viel zu wenig gewürdigt wird. Für den 
im unablässigen, geräuschvollen Getriebe der rasselnden Fuhrwerke und klappernden Ma¬ 
schinen sich abhastenden Städter ist es eine Wohlthat, die gar nicht hoch genug geschätzt 
werden kann, wenn er in leicht erreichbarer Nähe seines lärmumtobten Heims eine Stätte 
besitzt, an der er zu jeder Zeit erquickende Stille und ein ruhiges Stündlein einsamen 
sich in sich selbst Versenkens finden kann. Welcher Ort könnte dazu wohl geeigneter 
erscheinen, als der friedliche stille Kirchhof, vorausgesetzt, dass er hygienisch wohlbeschaffen 
und ästhetisch richtig angelegt ist. Gegenüber dem daraus für unzählige Stadtbewohner 
erwachsenden idealen Nutzen für Leib und Seele wird die Einbusse an Bauterrain vieler- 
orten wenigstens auf ein ziemlich geringes Maass praktischen Verlustes zusammen sinken. 
Bei rationellem Betriebe der Kirchhöfe kann, vorausgesetzt allerdings, dass die Boden¬ 
beschaffenheit des betreffenden Platzes allen hygienischen Anforderungen entspricht, ein 
Kirchhof unbedenklich mitten in der Stadt gelegen sein; und so können wir ruhig den 
vielleicht manchen auf das höchste überraschenden Satz aufstellen: Manche grosse Stadt 
würde hygienisch richtig handeln, wenn sie alte hygienisch unzulängliche Stadttheile nieder¬ 
legte, um die gewonnenen Plätze zur Herrichtung von Bestattungsparken zu verwerten. 
In den centralen Theilen solcher Städte freilich, wie London, Paris, Wien und Berlin, 
wird der unermesslich hohe Wert von Grund und Boden solche Anlagen nie und nimmer 
gestatten; für eine ganze Anzahl anderer grosser Städte aber, wie auch für die mehr 
peripher gelegenen Kreise selbst der genannten erscheinen sie als ausführbar und wohl em¬ 
pfehlenswert. 

Sehen wir somit, dass die ganze Reihe der von den Gegnern der Erd¬ 
bestattung gegen dieselbe erhobenen Einwände nicht stichhaltig erscheint, so 
müssen wir andererseits doch anerkennen, dass gegenüber der Hinfälligkeit 
dieser gewissermaassen negativen Gründe für die Feuerbestattung eine 
Anzahl von positiven Momenten existirt, die dem Verlangen nach der 
Wiedereinführung der Leichenverbrennung ein keineswegs unerhebliches Maass 
von Berechtigung verleiht. Mit der eben erwähnten Einschränkung hinsicht¬ 
lich der Anlage von Begräbnisplätzen in den verkehrsreichen Theilen einer 
Metropole sind wir bereits zu einem der schwerwiegenden Factoren gelangt, 
welche die Anhänger der Feuerbestattung für die Nützlichkeit, ja Nothwen- 
digkeit ihres Lieblingsplanes geltend zu machen wissen. Um in solchen 
Theilen einer Millionenstadt einen Begräbnisplatz anzulegen, dazu ist aller¬ 
dings der Grund und Boden, wo für jeden Quadratfuss geradezu horrende 


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Summen gezahlt werden, viel zu theuer. Das ist die Ursache des iu London 
und Paris, und in neuerer Zeit auch bereits in Berlin bitter empfundenen 
Uebelstandes, dass die Friedhöfe in weiter Entfernung von den Wohnungen 
der Ueberlebenden gelegen sind, so dass man die Leichen mittels Eisenbahn 
an die Stätte ihrer letzten Ruhe befördern muss, und der Besuch eines ge¬ 
liebten Grabes das Opfer einer halben oder ganzen Tagereise erfordert. 
Diesem Nothstande kann durch die Einführung der Leichenverbrennung 
dauernd und gründlich abgeholfen werden. Die modernen Leichenverbrennungs¬ 
öfen (Crematorien) erfordern zu ihrer Anlage ein so geringes Areal, dass 
man sie auch rücksichtlich des theuren Bauplatzes sehr wohl mitten in einer 
grossen Stadt anlegen darf. Da bei den neuen vervollkommneten Systemen 
jede Belästigung auch der allernächsten Umgebung eines in Betrieb befind¬ 
lichen Leichenverbrennungsofens durchaus ausgeschlossen bleibt, so liegt seiner 
Anlegung keinerlei Bedenken im Wege. Die Unterbringung der die zurück- 
bleibenden Aschenreste bergenden Urnen erfordert naturgemäss im Vergleiche 
zu den Begräbnisplätzen nach altem Modus nur verschwindend geringe Raum¬ 
dimensionen, mag man dieselben nun an parkartigen Stätten dem Schoosse 
der Erde anvertrauen oder in eigens errichteten Gebäuden, sogenannten Co- 
lumbarien, aufstellen. Müssen wir somit der Wiedereinführung der Feuer¬ 
bestattung in sehr grossen Städten unbedingt ihre Berechtigung zuerkennen, 
so gilt dasselbe auch für solche Gemeinden, die in ihrer nächsten Umgebung 
keinen für die Anlage eines Kirchhofs geeigneten Boden besitzen, und daher 
gezwungen sind, jede Leiche weithin zum nächsten Kirchhofe zu transpor- 
tiren. Wenn aber die Anhänger der Leichenverbrennung soweit gehen, dass 
sie verlangen, jede Leiche, die einen längeren Transport überstehen solle, 
müsse zur Vermeidung hygienischer Unzuträglichkeiten zuvor verascht werden, 
so ist das entschieden übertrieben; die tägliche Erfahrung lehrt uns, dass 
selbst sehr langwierige und weite Leichenüberführungen, sogar in der warmen 
Jahreszeit, bei Beachtung der gesetzlich geforderten Vorsichtsmaassregeln, 
ohne jede Gefahr gesundheitlicher Schädigungen oder Belästigungen ausgeführt 
werden können. — Auch wo es sich darum handelt, ungewöhnlich grosse 
Mengen von Leichen möglichst schnell zu beseitigen, also beim Auftreten 
massenmordender Volksseuchen und namentlich nach grossen mörderischen 
Schlachten, glaubte man eine Zeit lang von der Leichenverbrennung erheb¬ 
liche Vortheile erwarten zu dürfen. Bei näherer Prüfung der dabei sich er¬ 
gebenden technischen Schwierigkeiten aber hat man diese Hoffnung als irr- 
thümlich erkennen müssen. Hätte man z. B. die in der Schlacht von Sedan 
gefallenen fast 5000 Menschen- und 1200 Pferdeleichen verbrennen wollen, 
so hätte man, selbst wenn man zehn Leichenöfen der von Siemens für der¬ 
artige Nothfälle angegebenen, aus Feldsteinen improvisirbaren Construction 
Tag und Nacht in ununterbrochenem Betriebe erhalten hätte, doch nicht 
weniger als 30 Tage zur Bewältigung der ungeheuren Masse von Cadavern 
gebraucht. In solchen Fällen wird daher auch in Zukunft die Beerdigung 
das einfachste und praktischeste Mittel zur Beseitigung der Leichen bleiben. 

Gegenüber den wenigen aber zweifellos gewichtigen Momenten, welche 
für die Wiedereinführung der Leichenverbrennung sprechen, haben alle von 
gegnerischer Seite erhobenen Einwände nicht Kraft genug gehabt, die in 
den letzten Jahrzehnten zu Gunsten der Feuerbestattung entstandene mächtige 
Strömung völlig zurückzudämmen. Schon ist der erste in Gotha errichtete 
Leichenverbrennungsofen längst nicht mehr der einzige in Deutschland in 
lebhafter Benutzung befindliche, und fast von Jahr zu Jahr wächst die Zahl 
der Crematorien. Unter den von den Gegnern der Leichenverbrennung gel¬ 
tend gemachten Einwänden ist namentlich einer von hoher Wichtigkeit für 
das Allgemeinwohl. Es ist die Gefahr vorhanden, dass bei einem Allgemein¬ 
werden der Feuerbestattung der gerichtlichen Untersuchung behufs Aufdeckung 


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und Sühnung begangener Verbrechen das zur Zeit mittels der Exhumirung 
leicht zugängliche Untersuchungsmaterial in vielen Fällen gänzlich entzogen 
werden könnte. Aus diesem Grunde ist das Verlangen durchaus berechtigt, 
dass für jede zu veraschende Leiche eine besonders sorgfältige jeden Zweifel 
ausschliessende Feststellung der Todesursache zur unumgänglichen Vorbedin¬ 
gung gemacht werde. Mit der gerichtlich-medicinischen Seite dieser Frage 
hat sich namentlich Kerschensteineb *) beschäftigt. Er fordert für die ge¬ 
richtliche Genehmigung der facultativen Leichen Verbrennung folgende Vor¬ 
sichtsmaasregeln: 

1. Einlieferung einer ausführlichen Krankengeschichte durch den behandelnden Arzt 
und Nachprüfung derselben seitens des die Leichenpolizei überwachenden ärztlichen Be¬ 
amten, sowie für den Fall ausbleibender Beanstandung, Hinterlegung derselben beim zu¬ 
ständigen Gerichte. 

2. Ausführung einer vollständigen Section der zu verbrennenden Leiche durch einen 
vereidigten, als zuverlässig bewährten pathologischen Anatomen, unter Aufnahme eines 
genauen Sectionsprotokolls, sowie wiederum Hinterlegung desselben bei Gericht. 

3. Fortlaufende Namerirung und sichere Aufbewahrung der sorgfältig gesammelten 
Aschenreste und Hinterlegung einer Probe derselben zu den vorgenannten schriftlichen 
Acten bei Gericht. 

Was endlich die praktisch-technische Seite der Leichenverbrennungs¬ 
frage angeht, so wurde, sobald nur das Bedürfnis nach einem die modernen 
Anforderungen erfüllenden Leichenverbrennungsapparate sich geltend machte, 
das Streben der Technik in kurzer Zeit von Erfolg gekrönt. Es bestand von 
vornherein kein Zweifel darüber, dass man an Stelle der mit so vielen und 
lästigen U ebelständen verknüpften Verbrennung der Cadaver auf dem offenen 
Scheiterhaufen die Veraschung mittels geschlossener Oefen setzen müsse, in 
welchen die Verbrennung, dem menschlichen Anblicke entrückt, ohne jede 
Belästigung der Umgebung durch Rauch und übelriechende Verbrennungs¬ 
gase so vollständig vor sich gehen könne, dass von der Leiche nichts anderes 
zurückbleibt, als ein ästhetisch in keiner Weise verletzend wirkender geringer 
Rest reiner und von den Ueberbleibsein des Feuerungsmaterials säuberlich 
gesonderter Asche. Es sind im Laufe der letzten Jahrzehnte eine ganze 
Anzahl derartiger Oefen construirt und probirt worden. Das Endergebnis 
aller nach dieser Richtung hin gemachten Studien und Versuche liegt heute 
in Gestalt des von Siemens construirten Leichenverbrennungsofens 
vor, welcher allen an einen solchen Apparat zu stellenden Anforderungen in 
höchster Vollkommenheit genügt. 

Derselbe besteht ans zwei Hanptbestandtheilen, nämlich erstens dem Gaserzeuger 
(Generator) und zweitens dem eigentlichen Verbrennungsapparat mit dem Regenerator, der 
Yerbrennungskammer oder dem Calcinirraum und der für die Ableitung der flüchtigen 
Verbrennungsproducte bestimmten Esse. Der Generator stellt einen von dem eigentlichen 
Leichenofen getrennt angelegten Apparat dar, in welchem das aus Holz und Torf, Braun¬ 
kohle und Steinkohle bestehende Feuerungsmaterial verbrannt wird, und aus dem die 
hierbei gebildeten entflammbaren Gase durch ein Zuleitungsrohr in den Verbrennungsofen 

f eföhrt werden; die consumirten Brennstoffe werden durch eine eigene Füllvorrichtung in 
[wischenräumen von einigen Stunden stetig ergänzt. Das hier gebildete Gas wird im 
, Regen erat or“, in den es mittels eines mit einer Regulirklappe versehenen Canals eingeleitet 
wird, zunächst mit atmosphärischer Luft gemischt, deren Menge gleichfalls durch eine 
an dem ihrer Zuleitung dienenden Rohre angebrachte RegulirVorrichtung beliebig vermehrt 
oder vermindert werden kann. Das Gasluftgemenge wird entzündet und in brennendem 
Zustande durch ein grosses, aus feuerbeständigen Backsteinen erbautes Gitter geführt, wo¬ 
bei die Backsteine bis zur starken Rothglutn erhitzt werden. Von dort gelangen die 
heissen Gase durch einen kurzen horizontalen Canal in die für die Verbrennung des Ca- 
davers bestimmte eigentliche Verbrennungskammer, aus welcher sie durch den rostartig 
durchbrochenen Boden in den Aschenraum und sodann in die Esse entweichen. Der 
Leichnam wird mitsammt dem Sarge, sobald das Backsteingitter des Generators bis zur 
Rothgluth erwärmt ist, durch eine klappenartige Thür in den Calcinirraum geschoben, 
und dort 15 bis 30 Minuten lang dem Strome der durchstreichenden heissen Gase ausge- 

*) Kerschensteiner, Gutachten über die Einführung der facultativen Leichen Ver¬ 
brennung, im Aufträge des Münchener Gesundheitsrat lies. Veröffentlichungen des Deutschen 
Reichs-Gesundheitsamtes 1879. 


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LEICHEN W E&EN 


6*tst; dabei wird \hm dttr<di Verdunstung last altes in ihm cnthfllLmo Wawser antzpgea 
und «r selbst stark .vorgewü niit“. Während dessen wird der Baekäteiflvo&t dea Kepn«- 
•tfctoTS durch die fortgeBelzte Durchführung de* brenuetidtm O^sluftgeödaehig bh ztir.Wetes- 
glclh erntet, Tet dieser Punkt erreicht, so. wird durch Schling«itg einer Klappe die Za¬ 
rahr neuer 'Mengen an Verbrennangs^nsc n xm dm Generator afc^eschnitt«n; .«« tritt nun 
altem noch atmosphärische Luft in den Regenerator« welch© ateb ä». den $)öhenden Buck- 
ftteinöti :*nf Wetesgluth erhitst und ln diesem Zustande auf don dusgetröcktirden and vor* 
gewümten Cadaver im Caicinirre^m ©inströmt. Dabei kommt cs *a einer r&scbetv und 
tfoilkömmenen Verzehrung aller hreßüharen Leichentheili und zugleich tu Jebhahoa ehe* 
mischen: Zersetzungen der nicht mbre&n baren. Stoffe, *o da** $dteV ha Körper efit.hulte»e 
Kohte.nsiuif jp Form von Kohlenskiue entweicht, und nur m\ geringer Seftt texrnn Asche 
^riichbteibt, der durch den xmiSntwlgeü ; Boden der Ver b reunujugska&im er m den o»- 
mittelbar darunter g©teg*n«ft A^ehsiiraom tunabföllt. Aus diesem kann dte Asche durch 
eine besondere. Klapp« beqiymi gcgasamelt Gewöhnlich mrd der 

Leichenofen derart mn gerichtet, dass d&x eigen tiiche Vcfthreti nun pappsrat sin »Soatert&m 
eiöee kapeUcntrtigen Gebäudes.hniej'göteaehf u*<; em derefUg©* Gebäude nennt xoäu *in 
*Ör£toatormm* In dor uhet der Erde g^legeu^n ? Ä kirchlich geaciimuckteu HütUe, 


/ '{tysfauü t/ s/rr Im tfaf(/&*//< 


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_I>ei‘ 5 lifm>drWT»T&DWij 5 S 0 (wv ’-.L' 

uhd ttehTi Ub.UiitUdVar vor der Feueib^tüttteg ,dfc Letehtnteter -begangen^ nach ctervn 
Beendigung .de-r «ftllig anWrühVt hteUmhd«? S^fg'durcJ; «Ine FaHlbJ&ri Ober wfchÄ vun . 
.Ahfarig ah aofgfehakri war, in itenjenigetv Iteum do^ Srnrierraips versenkt winL uh« äeüs 
mH Leichtigkeit direkt 4$0 ^klci’fiirru.uisi ghachohen wird. Auf Jiieae 
Oelöhl der Pietät hei ,diei$':Bhfeer.lttbendeti tertet^rbde Al ^^ölÄttOD. mit 
Die. V<>rwärmü»|r dm Äpputit««. dauert etwa •• 

Verhrennuii^ >?v j Leiche sidba! vom Augenblick der £mbmgn»i&r in ' dm Galcjsiijrraum jiri 
circa zwei $iüöde:o- Der grösste,• eine wirklich iriijNdirätie iüuiuhmtig jtfftf 
;Fp>ier.b{sit. 3 itTtp^ «rheidici». eisci#wertude NbchtliMil diesem . Verfa'h.rina tei der, d&es *9 #iti- 
ahri ; ‘ wV5gW;*4«r jnvmerh in ko^f^ptehgv» Ar» lag*. der ^Cfsmatömvm*, aber an£h 

wogen dea crfo.rdEtlichen AUf^hndes Zm ^rjEuüib^jfhMAL did Sb¥ten eilöcr Erd^stailung 
sehr bedeutend nberyt«igt. A.u» diesCRi tkeupdo Wird d.fo LCK*h 6 riUjt^-yOiÄiTeB^ititön 
auch m Äukfeiift ein Lrrxa« d& Ajar dih zu treih«/* \tu Staiido 

*oii\ werden.. Natarp.vf.jfuaöderu Viwb div <ur die sinzelin. L-«es't.öttTl»£y. 

^eon «i/vlir. •'*:• I h< n i.'-m mittelbar l*inU-. v^i »r.r.u\i?:i v»/rt»r»m»i W'-nb.-ü, Ueil daim dr%; deu 
•gx^HorifWhrätl^ih;' m Iteeh'rittSiViOT^terf ^rjfthridrrid«: <>>^AnhaMg' ; dß^, ÄpparÄth» ftlr dte.. 
JtÄth de* ferislen *vt, ' •. 'ktiitihut.' hnnimuxA werden aber 

aa^h d&npL m»ch foji iede VVrWnmuug rirro ilrauukebjc eotij-umirt. 

Behtattuiig. 

dm Tödtm m dtrn feltöbH »ier.'SBSMe bygiöiri^je B^iJpiikea pHueipjfcllor Katar 
ittcht ;M WiA: Alm Aii^g«n^ und beim Betriebe der 

'.iin Aage zu behalten, 
des IvirebhofsveBeiis bestehen 


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nicht; in Prenssen wie auch sonst im Deutschen Reiche ist die Regelung 
aller einschlägigen Dinge den Verwaltungen der Regierungsbezirke übertragen. 
Ein Blick auf die hierher gehörigen Verordnungen, Erlässe etc. lässt uns 
sehr grosse Unterschiede in den einzelnen Bestimmungen erkennen und lehrt 
uns, dass zur Zeit noch ungemein abweichende Anschauungen, die zum Theil 
den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr entsprechen, vor¬ 
herrschen und maassgebend sind. Die hygienischen Gesichtspunkte, unter 
denen der moderne Hygieniker das Beerdigungswesen beurtheilt, resp. seinen 
Betrieb regelt, gruppiren sich gewissem)aassen um zwei Kernpunkte. Der 
erste beruht auf dem Streben, die Leiche im Grabe sich möglichst schnell 
und vollkommen zersetzen zu lassen, und zwar unter thunlichster Beschrän¬ 
kung der stinkenden Fäulnis, vorwiegend durch die mittels sauerstoflbedürf- 
tiger Schimmelpilze zustande kommende Verwesung, unterstützt von der auf 
rein chemischen Oxydationsprocessen beruhenden Vermoderung. Der zweite 
Kernpunkt besteht in der Forderung, dass jede durch die beerdigten Leichen 
etwa verursachte Unzuträglichkeit hygienischer sowie ästhetischer Natur mit 
voller Sicherheit ausgeschlossen bleibe. Aus diesen Gründen ist schon die 
Auswahl des für die Anlage eines Friedhofes bestimmten 
Platzes von grosser Wichtigkeit. Die bei dieser Wahl mitsprechenden 
Rücksichten sind so vielseitig und mannigfach, dass die Bestimmung des 
geeigneten Ortes gar nicht selten eine Aufgabe von recht erheblicher 
Schwierigkeit darstellt, ln erster Linie ist die ganze Beschaffenheit der 
Bodenverhältnisse auf dem in Betracht kommenden Terrain eingehend zu 
prüfen. Der Boden muss erstens so locker sein, dass er der Aushebung 
der Beerdigungsgrube nicht zu grosse (mechanische) Schwierigkeiten ent¬ 
gegensetzt; so ist z. B. harter, fester Felsboden ungeeignet, ebenso ein 
solcher, der im Winter infolge tiefgreifender Eisbildung regelmässig so fest 
wird, dass er nur mittels Pulver- oder Dynamitsprengung bearbeitet werden 
kann. Ein gewisser Grad von Lockerheit des Erdreichs, der bekanntlich 
gleichbedeutend ist mit einem reichlichen Porengehalte, ist auch deshalb 
erforderlich, damit das nöthige Quantum atmosphärischer Luft zur Leiche 
hinabdringen kann, ohne welches die Schimmelpilze nicht gedeihen können, 
welche — im Gegensätze zu den auch unter Abschluss des Sauerstoffes vege- 
tirenden Keimen der stinkenden Fäulnis — die Verwesung bewirken und 
dessen Gegenwart auch für das Zustandekommen der rein chemischen Oxy- 
dationsprocesse, deren Summe die Vermoderung darstellt, unerlässliche Vor¬ 
bedingung ist. Andererseits darf der Boden doch nicht so locker sein, dass 
die Ränder der ausgeschachteten Grube von selbst einfallen können oder 
doch nachzustürzen drohen, sobald die Leichenträger mit der Last des Sarges 
sie betreten müssen. Von sehr erheblicher Wichtigkeit sind ferner die 
BodenwasserVerhältnisse. Das Erdreich darf nicht so nass sein, dass 
der Wassergehalt die Poren für das Durchtreten reichlicher Luftmengen un¬ 
durchgängig mache, aber auch nicht so trocken, dass in ihm eine Mumi- 
ficirung statt der Verwesung der Leichen zu befürchten wäre. Eine besonders 
sorgfältige Berücksichtigung erfordert in dieser Hinsicht die Prüfung der 
Grund Wasserverhältnisse. Liegen die Leichen in einer Bodenschicht, 
die bei hohem Grundwasserstande zeitweise gänzlich durchnässt wird, so wird 
durch den hohen Feuchtigkeitsgrad die stinkende Fäulnis unterstützt, so dass 
sie sogar in dem sonst für Verwesung und Vermoderung allergünstigsten 
Boden aus grobem Kiese die Oberhand gewinnen kann. Befinden sich aber 
die Cadaver gar dauernd im Grundwasser, so wird entweder der Fäulnis- 
jrocess sehr in die Länge gezogen oder gar die Umsetzung in Adipocire 
>ewirkt. Somit ist ein Boden zu wählen, in welchem die die Gräber ent- 
laltende Schicht vor einer Durchtränkung seitens des Grundwassers selbst 
jei dessen höchstem Stande sicher bewahrt bleibt. Ja, es ist sogar wünschens- 


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LEICHENWESEN. 


wert, dass eine möglichst dicke Schicht relativ trockenen Bodens zwischen 
der Tiefe -der Grabessohle und dem höchsten Grundwasserspiegel gelegen sei, 
damit die durch das Grab hindurchsickernden Mengen atmosphärischer Nieder¬ 
schläge von allen ihnen zugesellten organischen Zcrsetzungsproducten mittels 
Filtration möglichst vollständig wieder gereinigt werden, bevor sie sich mit 
dem Grundwasser vereinigen. Man sollte es deshalb niemals versäumen, 
bevor ein Platz zur Anlage eines Kirchhofs bestimmt wird, längere Zeit hin¬ 
durch, zu den verschiedensten Jahreszeiten und während der wechselnden 
Grundwasserstandsperioden, die Oberfläche des Grundwasserspiegels und ihre 
Schwankungen behufs Feststellung seiner geringsten Entfernung von der 
Erdoberfläche zu beobachten. Desgleichen ist auch die Mächtigkeit des 
Grundwasserstromes, sowie auch die Richtung seines Gefälles in Rücksicht zu 
ziehen. Die erstere beansprucht ein gewisses Interesse zwecks annähernder 
Schätzung der grösseren oder geringeren Concentration der in das Grund¬ 
wasser aufgenommenen organischen Zerfallsproducte, die natürlich von dem 
wechselseitigen Mengenverhältnis des vorhandenen Wasserreichthums und der 
Zahl der beerdigten Leichen abhängt. Die Richtung des Grundwassergefälles 
ist zu beachten, damit man soviel wie möglich die Erbauung bewohnter 
Häuser, sowie die Anlage von Trinkwasserbrunnen an derjenigen Seite des 
Begräbnisplatzes vermeiden könne, nach welcher hin die soeben durch die 
gräberhaltigen Bodenschichten gesickerten Wassermengen ihren Lauf nehmen. 
Denn wenngleich wir gesehen haben, dass eine gesundheitsverderbliche Ver¬ 
giftung des Grundwassers und etwa aus ihm gespeister Brunnen nicht zu 
befürchten steht, so ist doch der Gedanke, unser Trinkwasser aus einem 
Brunnen schöpfen zu müssen, dessen Inhalt eben erst durch die Gräber eines 
Kirchhofs hindurchgeflossen ist, so widerwärtig, dass wir diese Möglichkeit 
gerne thunlichst ausgeschlossen wissen. — Wo die von der Natur gebotene 
Auswahl keinen nach den erörterten Gesichtspunkten geeigneten Beerdigungs¬ 
platz aufweist, da wird man die Verhältnisse unter Umständen mit künst¬ 
lichen Mitteln günstig gestalten können. Dazu kommen besonders zwei 
Maassnahmen in Betracht: erstens Aufschüttung und zweitens Drai- 
nirung. Unter besonderen Verhältnissen wird es sich sogar empfehlen, 
beide Hilfsmittel anzuwenden. 

Als Material zur Aufschüttung ist womöglich grobkörniger Kies oder grober Sand 
zu benutzen, und es ist darauf zu achten, dass die Aufschüttung so ausgeführt wird, dass 
nicht etwa das aufgefüllte Erdreich auch wiederum durch Capillaraufsaugung aus dem 
feuchten Mutterboden durchnässt wird. Durch Anordnung eines geeigneten Drainage¬ 
systems in den tiefsten Schichten des aufgeschütteten Bodens wird sich dessen Trocken¬ 
haltung leicht bewerkstelligen lassen. Ferner ist bei der Aufschüttung immer von vorne- 
herein an die später ausnahmslos eintretende allmähliche Zusammensackung des Füll¬ 
materials zu denken, und die aufgetragene Schicht so mächtig zu machen, dass sie auch 
nach deren Beendigung die nothige Stärke behält. Jede Kirchhofsdrainage, mag sie nun 
in natürlichem oder künstlich geschaffenem Terrain angelegt werden, ist derart einzurichten, 
dass das aus dem Bereiche der Gräber abfliessende Wasser behufs seiner Wiederreinigung 
von organischen Zersetzungsmaterien hinreichende Strecken filtrirenden Erdreichs durch- 
sickern muss, bevor es wieder zu Tage treten oder sich mit anderem AVasser mischen kann. 
Auch die Oberflächengestaltung des Begräbnisplatzes ist in jedem einzelnen Falle 
den besonderen Verhältnissen entsprechend zu berücksichtigen und nötigenfalls umzu¬ 
gestalten. Ist man gezwungen, einen Begräbnisplatz an einem Orte anzulegen, wo eine 
dauernde grosse Trockenheit eher die Mumificirung als eine rasche Zersetzung der Leichen 
befürchten liesse, so wird man die Oberfläche so zu gestalten haben, dass möglichst das 
ganze Quantum der auffallenden Meteorwässer gezwungen wird, in den Beerdigungsboden 
einzusickern, d. h. man wird der Kirchhofsfläche eine leicht muldenförmige, nach der Mitte 
zu vertiefte Gestalt verleihen. Häufiger freilich wird man im Gegentheil die Aufgabe haben, 
wegen des das günstige Ilöchstmaass überschreitenden Feuchtigkeitsgehaltes des Bodens 
durch eine mehr oder minder starke Oberflächenneigung nach den Rändern hin für ein 
möglichst rasches und vollkommenes Abfliessen bei möglichst geringem Einsickern in den 
Boden zu sorgen, was man eventuell noch durch Anlegung undurchlässiger Abzugsrinnen, 
wasserdichte Tflasterung der Hauptwege u. dergl. m. befördern kann. 


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LEICHENWESEN. 


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Bedeutsam ist ferner die Lage des Begräbnisplatzes im Verhältnis zu 
den bewohnten Stätten. Der Kirchhof soll, wenn irgend möglich, den Woh¬ 
nungen der Lebenden so nahe liegen, dass er bequem und ohne sehr er¬ 
heblichen Zeitverlust erreicht werden kann. Es bestand noch bis vor Kurzem 
die Neigung, die Kirchhöfe den bewohnten Stätten möglichst fern zu legen, 
um von ihnen die aus der angenommenen Verderbnis von Luft und Wasser 
abgeleiteten Uebelstände und Gefahren mit Sicherheit abzuwenden. Nachdem 
wir heutzutage davon überzeugt sind, dass jene vermeintlichen Gefahren für 
die in der Nähe eines Kirchhofes Lebenden in der That nur verschwindend 
gering sind, dürfen wir die Begräbnisplätze unbedenklich unseren Wohnungen 
weit näher anlegen, als lange Zeit hindurch geschehen. Trotzdem pflegt man 
auch heute noch die Kirchhöfe in einer gewissen Entfernung von Städten 
und Dörfern zu halten, aber die Beweggründe zu dieser Maassnahme sind 
ganz andere, als die früheren rein sanitären. Namentlich spricht dabei ein¬ 
mal das Gefühl der Pietät gegen die Verstorbenen mit, das deren letzte Ruhe¬ 
stätte gern an einem vor dem geräuschvollen Treiben der in Arbeit und 
Genuss hastenden Lebenden geschützten Orte friedlicher Ruhe gelegen weiss, 
ferner auch wohl das den meisten Menschen tief inne wurzelnde Gefühl der Scheu 
vor dem gewaltigen, geheimnisvollen „Memento mori“, das ihnen jeder Kirch¬ 
hof predigt, sowie namentlich der rein praktische Gesichtspunkt, dass man den 
Begräbnisplatz am liebsten und besten an einem Orte anlegt, wo man ihn je 
nach dem Bedürfnisse ohne grosse Schwierigkeit in jeder wünschenswerten 
Richtung erweitern kann. Deshalb achtet man besonders bei der Neuschaffung 
städtischer Kirchhöfe auf die Richtung, nach welcher hin die Stadt vorwiegend 
Neigung zeigt, sich auszudehnen, damit es vermieden werde, dass eines Tages 
die Grenzen der wachsenden Stadt und des vielleicht ebenfalls erweiterungs¬ 
bedürftigen Friedhofs einander beengend in den Weg treten. Obgleich man 
von einer durch die Beerdigungsstätten verursachten Luftvergiftung heute 
keinerlei sanitäre Gefahren mehr befürchtet, so legt man doch in Rücksicht 
auf das ästhetische Gefühl den Kirchhof am liebsten auf der der vorherr¬ 
schenden Windrichtung abgewandten Seite der Städte oder wohl auch so an. 
dass zwischen Stadt oder Dorf und Friedhof ein Stück Wald, ein Flusslauf 
oder ein Hügel gelegen ist. 

UHier allen Umständen empfiehlt es sich, dem Kirchhofe eine Stelle anzuweisen, wo alle 
aus den Gräbern ansteigenden Zersetzungsgase möglichst schnell mit reichlichsten Mengen 
frischer Luft gemischt und derart unschädlich und auch für das empfindlichste Geruchs¬ 
organ nicht mehr wahrnehmbar gemacht werden. Deshalb sind solche Stätten zu bevor¬ 
zugen, die unablässig dem Winde frei zugängig sind, also womöglich ein sich frei erheben¬ 
der Hügel, ein Hochplateau u. dergl.; Stellen, die auch wegen der hohen Entfernung ihres 
Bodens von dem Grundwasserspiegel hervorragend geeignet erscheinen. Wo in einer stark 
hügeligen oder bergigen Gegend der Kirchhof auf eine stark geneigte Fläche angewiesen 
ist, da sind immer noch einzelne besondere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. In erster 
Linie darf die Neigung des Bergabhanges nicht gar zu steil sein: bei dem unter solchen 
Verhältnissen ungemein raschen Abfliessen der atmosphärischen Wässer können die höchst¬ 
gelegenen Theile deB Kirchhofs, zumal diese naturgemäss auch dem Grundwasserspiegel 
ungewöhnlich fern liegen, allezeit so trocken bleiben, dass die Zersetzung der Leichen 
erheblich verzögert wird; andererseits können die in den abhängigen Partien bestatteten 
Cadaver in einer dauernd so nassen Erde liegen, dass sie vorwiegend der Fäulnis oder gar 
der Adipocirebildung anheimfallen. Allzu stark geneigte Flächen werden deshalb am besten 
ganz vermieden, auch aus dem Grunde, weil ungewöhnlich heftige Regengüsse das infolge 
der Anlage zahlreicher Gräber stark gelockerte Erdreich loswaschen und den ganzen 
Kirchhof zum Abrutschen bringen könnten. Bei weniger starker Flächenneigung wird sich 
das Terrain durch theilweise terassenartige Aufschüttungen in den oberen und durch 
reichliche Drainirungsanlagen in den abhängigen Partien bis zu geeigneten Verhältnissen 
verbessern lassen. Bei der Anlegung von Kirchhöfen in wasserreichen Niederungen, plötz¬ 
lichen gewaltigen üeberschwemmungen ausgesetzten Flussthälern und ähnlichen Oertlich- 
keiten ist von vorneherein dafür Sorge zu tragen, dass nicht etwa die über die Gräber 
hinflutenden Gewässer die letzteren öffnen und Särge und Leichen herauswaschen können. 

Was die eigentliche Zusammensetzung des Bodens selbst angeht, 
so ist für die Anlegung von Begräbnisplätzen am geeignetsten ein Boden, der 


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LEICHENWESEN. 


ein möglichst hohes Porenvolumen mit der grösstmöglichen Weite der ein¬ 
zelnen Poren vereinigt. Dabei überwiegt die Bedeutung der Porenweite die¬ 
jenige des Porenvolums; ein aus sehr feinkörnigen Bestandteilen zusammen¬ 
gesetzter Boden kann zwar ein weit grösseres Porenvolumen besitzen als ein 
grobkörniges Erdreich; je feiner aber die einzelnen Poren, umso grösser 
werden infolge des vermehrten Reibungswiderstandes die einem raschen Hin¬ 
durchtreten von Luft und Wasser widerstrebenden Hindernisse, sowie auch 
die durch das mittels Capillarattraction aus der Grundwasserschicht dauernd 
emporgehobene Wasser bewirkte Verlegung der Poren. 

Dementsprechend ist der günstigste Boden ein solcher ans grobkörnigem Kies; der¬ 
selbe gestattet bei seinen sehr zahlreichen und ungemein groben Poren ein sehr schnelles 
Hindurchsickern der Meteorwässer und damit ein rasches Austrocknen des Erdreichs, ver¬ 
hindert die capillare Aufsaugung des Grundwassers und gewährleistet durch diese Eigen¬ 
schaften eine dauernde, reichliche Durchlüftung bis in bedeutende Tiefen hinab. Ordnen 
wir die verschiedenen übrigen Bodenarten hinsichtlich ihrer nach diesen Gesichtspunkten 
beurtheilten Eignung zur Anlegung von Beerdigungsplätzen, so müssen wir gleich hinter den 
grobkörnigen Kies die feineren Kiessorten stellen, in allmählich absteigender Reihe bis zum 
immer feiner werdenden Sande. Schon viel ungünstiger ist ein mit Sand untermengter 
Lehmboden, und sehr ungünstig Thon- und Moorboden, sowie endlich jedes stark humus¬ 
haltige Erdreich. Inwieweit die in einer bestimmten Bodenart enthaltenen chemischen 
Bestandteile verzögernd auf die Leichenzersetzung einzuwirken vermögen, ist zur Zeit noch 
nicht in genügendem Maasse erforscht. Dass reichlicher Gehalt eines Bodens an Kochsalz, 
Salpeter, Eisen- oder Thonerdesalzen und anderen f&ulnishemmenden Bestandteilen die 
Verwesung wenigstens zu verzögern imstande seien, erscheint durchaus wahrscheinlich, 
und auf diese Möglichkeit dürfte vorkommenden Falles bei der Auswahl eines Begräbnis¬ 
platzes immerhin Rücksicht zu nehmen sein. In hervorragendem Maasse gilt dies von sehr 
humusreichen Bodenarten, weiss man doch, dass sich z. B. in reinem Torfboden ganze 
Leichen überraschend lange Zeit 'sehr wohl erhalten, was wohl nicht allein auf der ver¬ 
hältnismässig grossen Impermeabilität solchen Bodens für Luft, sondern zum grossen Theile 
wahrscheinlich auch darauf beruht, dass die grossen Mengen in langsamer aber steter Zer¬ 
setzung begriffenen organischen Materials fast allen hinzutretenden Sauerstoff verzehren, 
bevor er an die Leiche herantreten kann. Nicht selten hat man auch die Beobachtung 
gemacht, dass ein anfangs der Leichenzersetzung nicht ungünstiger Boden nach wieder¬ 
holter Belegung mit Leichen die Zersetzung nur noch langsam und unvollkommen zuliess. 
Diese Erscheinung beruht auf der allmählich zustande gekommenen Ueberladung des Bodens 
mit humusartigen Bestandtheilen, die ihn in dem eben erörterten Sinne für die rasche 
und vollständige Verwesung der Leichen ungeeignet machte. Diese Erfahrung beansprucht, 
wo es sich um die Wiederbenutzung alter Begräbnisplätze zu Beerdigungszwecken handelt, 
wohl beachtet zu werden. 

Ein gewisses hygienisches Interesse muss weiterhin auch der Bepflan¬ 
zung der Friedhöfe zugeschrieben werden. Eine geschickt und geschmackvoll 
angelegte Vegetation ist nicht allein deshalb von Wert, weil sie nach ästhe¬ 
tischer Richtung hin wohlthuend einwirkt. Uebrigens hat auch dieses Moment 
eine nicht geringe, gewissermaassen mehr ideale, hygienische Bedeutung. 
Eine schöne vegetative Ausstattung eines Begräbnisplatzes nimmt ihm durch 
das freundliche Gewand, das sie ihm verleiht, viel von dem natürlichen 
Grauen, das nun einmal Viele vor der Stätte des Todes empfinden. Kein 
anderer, als ein würdiger Blumen- und Pflanzenschmuck, befriedigt so voll¬ 
kommen das unwillkürliche pietätvolle Verlangen eines jeden zarteren Gemüthes, 
den verehrten und geliebten Verstorbenen den Ort ihrer letzten Ruhe friedlich 
und lieblich zu gestalten. So kann eine geeignete Anpflanzung eines Kirch¬ 
hofes viel dazu beitragen, den Besuch desselben, zumal für die gartenarmen 
Bewohner grosser Städte, geradezu zu einer Quelle inneren, Leib uud Seele 
erquickenden Genusses zu machen. Daneben aber erfüllt sie auch eine Reihe 
anderer, nicht minder bedeutsamer Aufgaben mehr praktischen Charakters. 

Die zahllosen Wurzeln einer dichten Vegetationsdecke geben dem Boden, umsomehr 
natürlich, je mehr auch grössere Bäume und Sträucher betheiligt sind, einen nicht uner¬ 
heblichen Grad erhöhter Festigkeit; dies kann bei einem von Hause aus gar zu lockeren 
Boden für die erforderliche Haltbarkeit der Grabesränder einen recht erheblichen prak¬ 
tischen Nutzen gewähren Derselbe Umstand ist von hohem Werte bei einem auf dem 
Abhänge eines stark geneigten Hügels oder Berges angelegten Friedhofe, bei dem die 
Pflanzendecke eine höchst wirksame Schutzvorrichtung gegen das Abspülen des Erdreichs 


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durch heftige Regengüsse darstellt. Ferner saugen die feinsten Haarwurzeln, als die 
HaupternähruDgsorgane der Gewächse, die zum Theil in sehr beträchtliche Tiefen des 
Bodens hinabreichen, die für Erhaltung und Wachsthum der Pflanzen verwertbaren Stoffe 
aus den Zersetzungsproducten der Cadaver auf. Damit leiten sie unablässig einen ge¬ 
wissen Theil, und zwar zumeist die bis in die einfachsten Verbindungen zerspaltenen Pro¬ 
ducts ab; so kann es niemals zu einer Anhäufung dieser Stoffe im Erdreiche und zu einer 
Uebersattigung des Bodens mit denselben kommen; vielmehr bleibt der letztere ununter¬ 
brochen fähig, neue gleichartige Materien in sich aufzunehmen, wodurch einem Stillstände 
in dem weiteren Ablaufe der Zersetzungsvorgänge wirksam vorgebeugt wird. — Auch auf 
die Bewegung von Wasser und Luft im Erdboden haben die Pflanzen einen praktisch nicht 
unwichtigen Einfluss; ihre Wurzeln saugen ohne Unterlass das in ihrem Bereiche in die 
Bodenporen eindringende Wasser auf, worauf es im Innern des Gewächses emporsteigt, um 
von den Blätterflächen aus wiederum zu verdunsten; so findet im Bezirke der Wurzeln 
eine stete Austrocknung statt, die zur Folge hat, dass die des Wassers beraubten Poren 
entweder neues Wasser oder aber, wo solches zur Zeit nicht zur Verfügung steht, atmosphä¬ 
rische Luft aufsaugen; die auf diese Weise erzielte energische Unterstützung der Durch¬ 
lüftung und Durchspülung des Bodens spielt bei den in der Tiefe des Kirchhofes sich 
abspielenden Zersetzungen eine wichtige Rolle für die stete Wiederreinigung des Erdreiches 
und befördert erklärlicherweise die Verwesungs- und Vermoderungsprocesse selbst in kräf¬ 
tigem Maasse. Die besonders lebhafte Wasserconsumption einiger bestimmter Gewächse 
Kann man sich vortheilhaft zunutze machen, wenn der Friedhofboden dauernd einen den 
wünschenswerten Grad überschreitenden Feuchtigkeitsgehalt aufweist. Am kräftigsten 
drainirend von allen bekannten Pflanzen wirkt der Gummibaum (Eucalyptus globulus). Da 
dieser leider den harten Winter unseres Klimas nicht erträgt, so kommt er für uns zu 
dem gedachten Zwecke nicht eigentlich in Betracht; dagegen verwendet man dazu die 
Anpflanzung der Sonnenblume in verschiedenen Arten (Helianthus L.). 

Im allgemeinen sollte bei der Anlage der Kirchhofsbepflanzungen als 
Hauptgesichtspunkt das Ziel einer schönen, parkartigen Vegetation mit mög¬ 
lichster Mannigfaltigkeit der Gewächse maassgebend sein, womöglich so, dass 
zu jeder Jahreszeit, zu der es das Klima überhaupt gestattet, blühende 
Pflanzen vorhanden sind. Die Schaffung wenigstens einiger, möglichst dichter, 
dem Eindringen von Menschen unzugänglicher Gebüsche verleiht einem Kirch¬ 
hofe den besonderen Reiz der Ansiedlung zahlreicher Singvögel. Wie sehr 
durch letztere der hygienische Wert des betreffenden Platzes in dem bereits 
erwähnten idealeren Sinne gehoben wird, bedarf nicht der näheren Aus¬ 
führung. 

Was weiterhin den eigentlichen Betrieb der Kirchhöfe anbetrifft, so 
ist derselbe durch die zustehende Behörde genau zu regeln und durch einen 
eigenen Beamten zu überwachen, dem am besten seine Wohnung in unmittel¬ 
barer Nähe des Begräbnisplatzes angewiesen wird. Wo auf dem letzteren eine 
Leichenhalle vorhanden ist, wird man die Wohnung des Friedhofsinspectors 
zweckmässig derart mit derselben verbinden, dass er sie bequem allezeit über¬ 
wachen kann. Die Benutzung des Kirchhofs muss von Anfang an unter Zu¬ 
grundelegung eines festen Planes geschehen. Zu dem Zwecke ist von ihm 
ein genauer Situationsplan anzufertigen, auf dem nicht allein die thatsäch- 
lichen Raumverhältnisse getreu wiedergegeben und etwa vorhandene Gebäude, 
Brunnen etc. aufgezeichnet werden, sondern auch der Platz für jedes ein¬ 
zelne zukünftige Grab genau vorzusehen und mit seiner laufenden Nummer 
zu bezeichnen ist. Der Beamte hat über den gesammten Friedhofsbetrieb 
Journal zu führen, speciell über jede Beerdigung Namen und Geschlecht, 
Alter, Stand, Wohnort etc. der begrabenen Leiche einzutragen und die Lage 
des ihr angewiesenen Grabes, sowie seine Nummer auf dem Situationsplan 
dazu zu bemerken. Befinden sich auf dem Kirchhofe erbliche Grabstätten, 
Familiengrüfte u. s. w., so sind auch betreffs dieser alle irgend wissenswerten 
Angaben, wie die Namen der Benutzungsberechtigten, Zeit und Art der Er¬ 
werbung, Dauer der Berechtigung, geschehene Bestattungen u. dergl. m. sorg¬ 
fältig zu buchen. 

Bei einer aus Angehörigen verschiedener Religionsbekenntnisse ge¬ 
mischten Bevölkerung wird es meist gerathen sein, behufs Vermeidung con- 


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LEICHENWESEN. 


fessioneller Reibungen schon bei der Anlage des Begräbnisplatzes jeder Reli¬ 
gionsgemeinschaft ihr eigenes Gebiet anzuweisen. 

Einer der hygienisch wichtigsten Punkte im Kirchhofsbetriebe betrifft die 
Grösse des jedem einzelnen Grabe gewährten Antheiles an dem gesammten 
verfügbaren Bodenräume, hinsichtlich dessen sowohl die Tiefe der Gräber, als 
auch die für jedes Grab zu berechnende Bodenfläche eine bedeutsame Rolle 
spielt. Die für die betreffenden MaassVerhältnisse ausschlaggebenden Gesichts¬ 
punkte sind einmal der Wunsch einer möglichst ökonomischen Ausnutzung 
der zu Gebote stehenden Platzfläche für die grösste zulässige Anzahl von 
Gräbern, und zweitens die einer zu weit gehenden Bodenersparung entgegen¬ 
tretende hygienische Forderung, dass das die Leiche bedeckende Erdreich eine 
hinreichend dicke Schicht darstellen muss, um die aus dem Boden in die 
atmosphärische Luft entweichenden Zersetzungsgase unschädlich und dem 
menschlichen Geruchsorgane nicht mehr wahrnehmbar werden zu lassen; ebenso 
muss die zwischen je zwei Gräbern stehenbleibende Erd wand nach allen vier 
Seiten des Sarges hin so dick sein, dass gelegentlich der Aushebung eines 
neuen Grabes neben einem bereits belegten Grabe erstens keine üblen Ge¬ 
rüche bemerkt werden, und zweitens nicht etwa die zwischen beiden Gräbern 
stehengebliebene Brücke festen Erdreichs einstürzen kann, sobald sie von 
Menschen und namentlich von den mit der Last eines gefüllten Sarges be¬ 
schwerten Leichenträgern betreten wird. 

Allgemein gütige Bestimmungen lassen sich betreffs dieses Punktes deshalb nicht 
anfstellen, weil die verschiedenen Bodenarten in dieser Hinsicht recht unterschiedliche An¬ 
forderungen bedingen. Je zahlreichere und grössere Poren ein Boden besitzt, d. h. im 
allgemeinen: je lockerer und trockener er ist, um so eher werden die Ränder des ausge¬ 
schachteten Grabes zum Absturze neigen, um so leichter und schneller werden die Zer¬ 
setzungsgase durch ihn hindurchzutreten vermögen, und um so dicker werden deshalb die 
den Cadaver umhüllenden Erdschichten gewählt werden müssen. Andererseits aber ven- 
tiliren durch einen Boden von der gedachten Beschaffenheit weit reichlichere Mengen immer 
frischer Luft hindurch, so dass die austretenden Luftmengen um so geringere Concentra- 
tionen der Leichengase mit sich führen. Infolge dieser etwas complicirten Verhältnisse 
ist es behufs Feststellung der erforderlichen Tiefe der Gräber und der nöthigen Stärke der 
zwischen je zwei Gräbern übrigbleibenden Erdwand das Zweckmässigste, für jeden einzelnen 
Kirchhof die betreffenden Maasse durch eine Reihe vorläufiger Versuche zu ermitteln. Ist 
der Boden in einem nur mässigen Grade geeignet, ein Abstürzen der Grabränder zuwege 
kommen zu lassen, so gelingt es leicht, dem gefürchteten Uebelstande dadurch vorzu¬ 
beugen, dass man die Grube an ihrem oberen Rande weiter macht und erst allmählich 
derart enger werden lässt, dass sie an ihrer Sohle den ihr ursprünglich zugedachten Um¬ 
fang erhält. Doch ist dieses Hilfsmittel nur bei einem Boden von einem immerhin noch 
mässig festen Gefüge anwendbar. Ist das Erdreich sehr locker, so gewährt es entweder 
doch nicht die ausreichende Sicherheit, oder aber, man müsste die Grube mit so flach ab¬ 
fallenden Seitenwänden herstellen, dass sie eine ganz unverhältnismässige Weite erhalten und 
vielleicht gar in das Gebiet der benachbarten Gräber übergreifen müsste. Dagegen würden 
natürlich die Besitzer der letzteren entschiedenen Einspruch erheben. Um alle auf solche 
Weise entstehenden ünzuträglichkeiten zu vermeiden, kann man sich selbst bei ungewöhn¬ 
lich lockeren Bodenarten dadurch helfen, dass man die Gruben wände mittels Bretterwerk 
stützt. Sehr praktisch ist dazu eine einfache Vorrichtung, die man auf vielen Kirchhöfen 
in Gebrauch sieht. Ein der vorgeschriebenen Flächengrösse des einzelnen Grabes ent¬ 
sprechender, je nach der grösseren oder geringeren Festigkeit des Erdreichs niedriger oder 
höher gebauter Rahmen aus starken Holzbrettern, der gewissermaassen einen Kasten ohne 
Deckel und Boden darstellt, wird auf den Platz gelegt, auf dem das Grab ausgeschaufelt 
werden soll; und nun wird die von ihm umrahmte Erde derart ausgehoben, dass er, die 
Ränder der entstehenden Grube knapp berührend, in den Erdboden einsinkt, bis er durch 
übergreifende Leisten an seinem oberen Rande am Tiefertreten gehindert wird. — Was die 
Tiefe der Gräber anbetrifft, so darf man nicht etwa glauben, um so sicherer alle Unzu¬ 
träglichkeiten zu vermeiden, je tiefer man die Leichen in die Erde bette; wie bereits an 
früherer Stelle erörtert wurde, muss man es auf alle Fälle vermeiden, die Cadaver in zu 
grosse Nähe über der Grundwasser führenden Schicht oder gar in das Grundwasser selbst 
hinein zu verlegen. Die rücksichtlich der Tiefe der Gräber erlassenen Vorschriften der ver¬ 
schiedenen zuständigen Behörden weichen sehr weit von einander ab. Die grösste Tiefe 
verlangt die Kirchhofsordnung von Heilbronn mit 8 Fuss — 2*3 Meter, die geringste ge¬ 
statten die Regierungen von Arnsberg und Stralsund mit 5 Fuss (preussisch) = 1*41 Meter; 
bei ungünstigen Grundw r asserverhältnissen darf im letztgenannten Regierungsbezirk sogar 


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eine Gräbertiefe von nur 4 Fuss in Anwendung gebracht werden, in welchem Falle frei¬ 
lich die Aufschüttung eines mindestens 2 Fuss hohen Grabhügels vorgeschrieben wird. 
Im allgemeinen darf die an sehr vielen Orten ziemlich übereinstimmend geforderte Tiefe 
von l*8ö bis 2 Meter (meist sind 1*88 Meter vorgeschrieben) als durchaus zweckentsprechend 
gelten. Es möge hier jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass von Seiten einiger Hygieniker 
einer weit geringeren als der bisher üblichen Tiefe der Gräber das Wort geredet wird. 
Wenngleich die Angabe Rüpells, j ) dass man über den nur sehr oberflächlich angelegten 
Soldatengräbern auf den böhmischen Schlachtfeldern von 1866 „nirgends auch nur die 
leiseste Andeutung eines üblen Geruches 8 wahrgenommen habe, und dass deshalb Ver¬ 
suche mit 4 Fuss tiefen Gräbern keine ungünstigen Erfolge ergeben würden, von anderer 
Seite 3 ) nicht bestätigt worden [ist, so meint doch auch z. B. Schuster, 8 ) „die bis jetzt 
übliche Tiefe von sechs Fuss habe keine weitere Stütze für sich als das Herkommen. 8 
Als Vortheile einer weniger tiefen Eingrabung der Leichen nennt er 1. die grössere 
Schnelligkeit der Verwesung; 2. die Verminderung der Arbeit; 3. die grössere Entfernung 
der Leiche vom Grundwasser. Vielfach gestatten die Kirchhofsordnungen wenigstens 
für Kindergräber geringere Tiefen als für diejenigen erwachsener Personen, durch¬ 
schnittlich für Kinder bis zu zehn bis zwölf Jahren circa 1*5 Meter. (Kirchhof der 
Werderschen Gemeinde in Berlin für Kinder bis zu zehn Jahren: nur 3 Fuss = 094 
Meter; München für solche bis zu sechs Jahren: 087 Meter, zwischen sieben und 
elf Jahren: 1*16 Meter, unter Vorschrift eines Grabhügels von mindestens 0 43 Meter Höhe.) 
Im Principe ist die Annahme, dass ein Grab um so weniger tief zu sein brauche, je kleiner 
die Leiche, wohlberechtigt; denn je geringer die Menge des der Zersetzung anheimfallenden 
Materials, um so dünnere Erdschichten genügen natürlich zur Unschädlichmachung der ge¬ 
bildeten Zersetzungsproducte. — Nicht minder verschieden, als rücksichtlich der Tiefe, 
sind die von den unterschiedlichen Kirchhofsverwaltungen betreffs der für das Einzelgrab 
zu beobachtenden Flächenausdehnung gegebenen Vorschriften. Die Grösse der ver¬ 
langten Bodenflächen schwankt in den verschiedenen Orten resp. Ländern zwischen 2 2 und 
7*46 Quadratmetern für das Grab eines Erwachsenen. 4 ) Schuster hält für alle in Be¬ 
tracht kommenden Bodenarten folgende Maasse für die zweckmässigsten: Länge der Grabes¬ 
sohle 200 cm, Breite derselben 100 cw, Dicke der Zwischenwandungen sowohl nach der 
Länge wie nach der Breite 60 cm, somit Gesammtfläche für ein Grab 4*16 Quadratmeter. Da¬ 
bei entspricht natürlich der auf die Stärke der Zwischenwandungen berechnete Raum den 
kleinen zwischen je zwei Gräbern gelegenen Wegen. Für Kindergräber sind natürlich 
geringere Flächenmaasse ausreichend; auch in diesem Punkte weisen die bestehenden 
Verordnungen grosse Abweichungen auf. Schuster empfiehlt, entgegen der vielerorten 
üblichen Scheidung der zu Beerdigenden in drei und mehr Altersklassen, nur zwei solche 
aufzustellen, nämlich alle unter zehn Jahre alt Verstorbenen als Kinder, dagegen alle, die 
dieses Alter überschritten hatten, als Erwachsene zu behandeln, und je zwei Kinderleichen 
in einem für einen Erwachsenen bestimmten Grabe zu bestatten. Der genannte Autor 
hält dieses, theilweise z. B. auf den Münchener Kirchhöfen gebräuchliche Verfahren na¬ 
mentlich deshalb für zweckmässig, weil es ermöglicht, lauter Gräber von gleicher Grösse 
zu erhalten; das aber gestattet, sämmtliche Gräber in gleichmässigen Reihen anzuordnen, 
und gewährleistet somit die denkbar sparsamste Ausnutzung der Gesammtfläche des Be¬ 
gräbnisplatzes. Daneben legt er Gewicht darauf, dass das Benutzen der Gräber der Rei¬ 
henfolge nach auch im Interesse der Salubrität geboten sei, da bei einem solchen Modus 
das Erdreich nur in der Umgebung der erst in allerjangster Zeit bestatteten und daher 
meist noch nicht in lebhaftester Zersetzung befindlichen Leichen aufgegraben wird, weshalb 
auch die Todtengräber nicht in einem bereits in weiter Ausdehnung mit Fäulnisstoffen 
durchsetzten Boden zu arbeiten haben. An manchen Orten wird die ausnahmslose Anord¬ 
nung aller Gräber in gleichmässigen Reihen streng durchgeführt, und von der Friedhofs¬ 
verwaltung zur Zeit immer nur ein einziger, durch die laufende Nummer bestimmter 
Platz für jede Einzelbeerdigung gewährt. Es ist nicht zu leugnen, dass darin für die 
Angehörigen fest zusammenhaltender Familien eine Härte liegt. Jedenfalls ist die noch 
weit verbreitete Sitte, nach der sich die an einem Orte festgewurzelten Familien auf dem 
allgemeinen Begräbnisplatze bei dem ersten Todesfälle in ihrem Kreise einen grösseren, 
der Kopfzahl der Familienmitglieder entsprechenden Raum für spätere Todesfälle reserviren, 
als wohlberechtigt anzuerkennen. 

Der für jedes einzelne Grab in Anschlag gebrachte Flächenraum ist zu- 
gleich einer der Hauptfactoren für die bei der Neuanlage eines Friedhofes 
unumgängliche Berechnung der erforderlichen Ausdehnung der Gesammtboden- 


*) Rüpell, Ueber die Wahl der Begräbnisplätze. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. u. öffentL 
Medicin. N. F. Bd. VIII. Heft 1. S. 36. 

*) Dr. Adolf Schuster (München): „Beerdigungswesen 8 in v. Ziemssen’s Hand¬ 
buch der Hygiene u. d. Gewerbekrankheiten, II. Theil. 1. Abtheilung. 1. Hälfte. Seite 344. 

3 ) Am eben angeführten Orte. 

4 ) Riecke, Ueber den Einfluss der Verwesungsdünste etc. Seite 182 ff. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Med. 37 


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fläche. Ausser ihm sind für diese Aufstellung maassgebend die Bevölkerungs¬ 
zahl (eventuell die Mitgliederzahl der Gemeinde etc.) und die durchschnitt¬ 
liche Sterblichkeitsziffer, sowie endlich der sogenannte j,Begräbnisturnus“, 
d. h. die Zeitdauer, während welcher der einmal mit einem Grabe belegte 
Raum nicht wieder zu einer neuen Beerdigung benutzt werden soll. Die 
umsichtige Verwertung aller dieser Momente ist ein aus praktischen Gründen 
ungemein wichtiges Erfordernis, da bei einem etwa plötzlich und unerwartet 
eintretenden Mangel an Begräbnisstätten eine sehr peinliche Verlegenheit und 
unverhältnismässig hohe Kosten erwachsen können. Ist doch die Anlage 
eines Begräbnisplatzes eine Aufgabe, die eingehende, nach den verschiedensten 
Seiten hin gerichtete Rücksichten, Erwägungen und Vorbereitungen erheischt. 
Wenn irgend thunlich, ist auch jeder Kirchhof von vornherein so anzulegen, 
dass er auf lange Zeit hinaus jede nöthig werdende Erweiterung gestattet, da 
die Kosten einer solchen unter allen Umständen weit hinter denen Zurück¬ 
bleiben, welche die Einrichtung eines ganz neuen Friedhofes verursacht. Bei 
der Festlegung des Kirchhofsplanes genügt es, wie wir sahen, für jedes Grab 
einen Flächenraum von vier Quadratmetern in Anschlag zu bringen, wobei 
die zwischen den einzelnen Gräbern gelegenen kleineren Wege bereits mit¬ 
berechnet sind. Zur Anlegung der breiteren Wege ist nach Rieche der achte 
Theil von dem für die Belegung mit Gräbern bestimmten Terrain in Anschlag 
zu bringen. 

An manchen Orten herrscht die Sitte, dass wohlhabende Familien ihre 
Verstorbenen in einer von der gewöhnlichen etwas abweichenden Weise be¬ 
statten. So verschmähen manche die eigentliche unmittelbare Eingrabung 
der Särge in die Erde und stellen sich darum durch Ausmauerung einer 
grossen tiefen Grube eine Art von unterirdischen Leichenkammern 
(Grüften) her, deren Decke bei den umfangreicheren durch ein Mauer¬ 
gewölbe mit einer durch Eisen- oder Steinplatten verdeckbaren Einlassöffnung 
für die Särge, bei den für nur einen Leichnam bestimmten einfach durch 
ebensolche Platten gebildet wird. Aus hygienischen Gründen ist die Bei¬ 
setzung in derartigen Grüften nicht zu empfehlen. Unter allen Umständen 
muss streng darauf geachtet werden, dass die Sohle der Gruft selbst beim 
höchsten Grundwasserstande von dessen Spiegel niemals erreicht wird. Aber 
auch wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann die gedachte Art der Bestattung 
der eigentlichen Beerdigung hygienisch nicht gleichwertig erachtet werden. 

Zwar pflegt die Zersetzung der Leichen in solchen Grüften meist ebenso schnell 
und vollkommen vor sich zu gehen, wie in den gewöhnlichen Gräbern. Sehr viel grösser 
als bei letzteren aber ist die Gefahr einer die Umgebung verpestenden Emanation von 
Leichengasen, die eben bei der gewöhnlichen Beerdigung durch die absorbirende Kraft des 
Erdreiches und infolge der bereits im Bereiche der Bodenluft stattfindenden starken Ver¬ 
dünnung der übelriechenden Ausscheidungen verhindert wird. In den Grüften pflegt die 
eingeschlossene Luft zu stagniren, so dass sie reichlich Zeit gewinnt, sich mit hohen Con- 
centrationsgraden der Zersetzungsgase zu beladen; deshalb können sich die geringen, in 
die freie Atmosphäre entweichenden Theile dieser Luft in der nächsten Nähe der Gruft 
deutlich und belästigend bemerkbar machen. Dieser Uebelstand lässt sich auch durch die 
Anbringung von Ventilationsrohren meist nicht vollkommen beseitigen. Das Zweckmässigste 
ist es immer noch, die oberen Ränder der die Gruft umschliessenden Mauern um einen 
oder mehrere Fuss über das Niveau des Erdbodens emporzuführen, durch sie hin¬ 
durch mittels reichlicher, an allen Seiten der Gruft eingemauerter, siebartig durchbrochener 
Gitter eine ausgedehnte Communication zwischen der freien Atmosphäre und der Gruben¬ 
luft herzustellen, und den ganzen die Erdoberfläche überragenden Theil der Grabkammer 
mit einem ziemlich hohen Hügel von lockerem Erdreich zu überkleiden So findet unter 
dem Einflüsse des Winddruckes, der von allen Seiten her durch die Gitter hindurch 
wirken kann, eine Ventilation der Gruft und ausserdem auch eine Filtration der austretenden 
Luft durch eine Erdschicht statt. 

Eine andere, mancherorten beliebte Abweichung von dem gewöhnlichen 
Bestattungsmodus ist die Beisetzung der Leichen in überirdischen 
Grüften. Auf vielen Kirchhöfen findet man zahlreiche grössere und kleinere 
derartige, meist im Kapellenstyl ausgeführte Gebäude. Oft sieht man die- 


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selben, in ununterbrochener Reihe nebeneinander stehend, die ganze Peripherie 
des Kirchhofes umgeben, worin vielleicht manche Kirchhofsverwaltung den 
Vortheil schätzt, dass damit die Herstellung einer auf ihre Kosten zu er¬ 
bauenden festen Umfriedung des Platzes entbehrlich wird. Diese Anordnung 
hat aber den hygienischen Nachtheil, dass die immerhin meist wenigstens 
anderthalb Mann hohen Gebäude den Kirchhof in mehr als wünschenswerter 
Weise gegen den Wind abschliessen, dessen volle Wirkung zu einer möglichst 
raschen Ableitung aller den Gräbern entströmenden Gase so wenig wie mög¬ 
lich ausgeschlossen werden sollte. 

Im übrigen ist gegen diese überirdischen Grüfte deshalb weniger einznwenden als 
gegen die vorher besprochenen, weil es ein leichtes ist, sie mittels geeigneter Ventilations- 
anlagen dauernd in so ausreichendem Maasse zu lüften, dass eine schädliche Stagnation 
der Verwesungsgase mit Sicherheit ausgeschlossen bleibt; durch einige in verschiedenen 
Höhen des eingeschlossenen Luftraumes beginnende und über Dach geführte Abzugsrohre 
in Verbindung mit einem weiteren Zuleitungsschacht/ der — seinerseits über dem Dache 
beginnend und nahe dem Erdboden im Innern der Gruft endigend — mittels eines automa¬ 
tisch drehbaren Trichters jederzeit den Wind auffängt, kann man alle Leichengase in eine 
so hochgelegene Schicht der Atmosphäre führen, dass sie niemals belästigend zu wirken 
vermögen. Trotzdem bieten auch diese Grüfte einen grossen hygienischen Nachtheil. Dio 
Familien, welche eine solche für ihre verstorbenen Angehörigen benutzen, haben den sehr 
natürlichen Wunsch, jede Möglichkeit thunliehst auszuschliessen, dass sie bei einem Be¬ 
treten der Grabstätte durch Verwesungsdünste belästigt werden könnten, sei cs nun, dass 
es sich um eine neue Beisetzung handelt oder dass sie auch sonst von Zeit zu Zeit die 
Särge ihrer Lieben besuchen und frisch schmücken möchten. Deshalb pflegen sie auch, 
wenn sie der hohen Kosten wegen auf luftdicht schliessende Metallsärge verzichten, doch 
ganz besonders starke, auf möglichst genauen Schluss gearbeitete und mit einer luftdicht 
yerlöthbaren Zinkeinlage versehene Holzsärge zu wählen, die sich thatsächlich fast herme¬ 
tisch abschliessen lassen. In derartigen Särgen aber erleiden die gewöhnlichen Zersetzungs¬ 
vorgänge Modificationen, wie sie hygienisch keineswegs erwünscht sind. Bei dem fast voll¬ 
kommenen Luftabschluss wird das geringe Quantum vorhandenen Sauerstoffs rasch auf¬ 
gezehrt, die ganze Zersetzung verläuft in sehr verlangsamtem Tempo und es nimmt, da 
die Entwicklung der die Verwesung verursachenden sauerstoffbedürftigen Schimmelorga¬ 
nismen ausgeschlossen ist, die durch anaerobe Fäulniskeime geleitete Fäulnis überhand, 
die, wenn die Leiche von Hause aus ungewöhnlich stark wasserhaltig ist, stellenweise so¬ 
gar der Adipocirebildung Platz machen kann. 

Särge. Die Construction der heutzutage bei der Leichenbestattung so 
gut wie ausschliesslich gebrauchten Särge ist auch bei der gewöhnlichen 
Beerdigung der Leichen von hygienischer Bedeutung. Ihr Zweck ist in den 
Augen des Laien ein vorwiegend ästhetischer, nämlich der, dem Verstor¬ 
benen bereits während der kurzen Zeit vor der Bestattung, namentlich aber 
für die Ueberführung zur Stätte seiner letzten Ruhe eine zweckdienliche und 
würdige Hülle zu gewähren, und ihn während und nach der eigentlichen 
Beerdigung vor der directen Berührung mit der „schmutzigen“ Erde zu be¬ 
hüten. Für den Hygieniker aber kommt ausserdem auch der Einfluss in 
Betracht, welchen der Sarg auf den Verlauf def Leichenzersetzung ausübt. 
Die letztere wird, wie wir soeben sahen, um so mehr verzögert und zu 
Gunsten der Fäulnis beeinträchtigt, je dichter luftabschliessend der Sarg in¬ 
folge der Eigenart seines Materials und infolge seiner Bauart wirkt. Da¬ 
gegen kann derselbe die Zersetzung beschleunigen und unter Begünstigung 
der Verwesung und Vermoderung beeinflussen, wenn er bei nur unvollkomme¬ 
nem Verschlüsse den Zutritt atmosphärischer Luft zur Leiche gestattet. 
Gewährleistet er doch dann das Vorhandensein eines grösseren mit sauerstoff¬ 
haltiger Luft gefüllten Raumes in der unmittelbaren Umgebung des Cadavers. 
Zugleich gestattet er bei undichtem Verschluss der Bodentheile ein fort¬ 
währendes Absickern der gebildeten flüssigen Zersetzungsproducte, die bei 
ihrem weiteren Durchtritt durch das Erdreich im Contacte mit der sehr aus¬ 
gedehnten Berührungsfläche der Bodenlnft weit schneller weiter zerlegt 
werden, als wenn sie in grösseren und tieferen Lachen um die Leiche 
stagniren müssten. Ein den Durchtritt von Flüssigkeiten verhindernder Ver¬ 
schluss ist allein seitens des Sargdeckels von Vortheil, damit nicht bei lang 

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andauernden reichlichen atmosphärischen Niederschlägen, die das ganze über 
dem Sarge gelegene Erdreich vollständig mit Wasser dorchtränkt haben, die 
auf ihm lastende Wassersäule durch den Sargdeckel hindurch ihren Weg zur 
Leiche finden könne. Deshalb erweist es sich als zweckmässig, den Deckel 
aus festen Brettern so zu bauen, dass die oberen Bretter dachziegelartig Uber 
die tieferen hinübergreifen. Sind bei dieser Bauart des Deckels die Seiten- 
theile und der Boden des Sarges undicht, so werden, sobald der Boden stark 
durchfeuchtet ist, genügende Mengen Wassers zu der Leiche heranzudringen 
vermögen, um die Verwesung zu unterhalten, ohne doch ein Uebermaass an 
Feuchtigkeit zustande kommen zu lassen, welches wieder die Fäulnis begün¬ 
stigen oder bei langer Dauer gar Adipocirebildung veranlassen könnte. So 
ist also ein hölzerner Sarg mit undichten Seiten- und Bodentheilen, dagegen 
mit festem, undurchlässigem Dache der praktischeste. 

Nägeli,*) der sich mit dem Studium aller hierhergehörigen Fragen am eingehendsten 
befasst hat, schlägt daher vor, dem Sarg einen übergreifenden Deckel von möglichst hartem 
Holze zu geben und die Seitenwände, sowie den Boden mit zahlreichen Bohrlöchern zu 
versehen oder gar nur aus Latten mit möglichst grossen Zwischenräumen zu bilden. „Das 
Allerbeste wäre es,“ nach diesem Autor, „vielleicht, wenn der in die Todtengewänder ge¬ 
hüllte Leichnam unmittelbar auf die mütterliche Erde gelegt und nur mit einem gewölbten 
Sargdeckel bedeckt würde.“ Einer allgemeinen Einführung dieser Bestattungsweise dürften 
sich wohl dieselben Einwände aus ästhetischen Gründen entgegensetzen, die schon seiner¬ 
zeit zur Wiederaufhebung einer Verordnung Kaiser Josephs II. führten, welche bestimmt 
hatte, dass alle Leichen ganz ohne Sarg, nur in einen Sack gehüllt, beerdigt werden 
sollten. 

Kleidung. Von einigem Einfluss auf die Leichenzersetzung, wenn auch 
von weit geringerem als der Sarg, ist die den Leichnam umhüllende Kleidung. 
Je dichter und weniger durchlässig für Luft die Stoffe der Leichengewänder 
sind, um so mehr vermögen sie infolge des erschwerten Luftzutritts die Zer¬ 
setzungsvorgänge zu verzögern. Wo es Sitte ist, die Verstorbenen mit hohen 
engen Schaftstiefeln an den Füssen zu bestatten, beobachtet man häufig, dass 
die in den Stiefeln verborgenen Theile der Leiche entweder mumificirt oder 
bei Gegenwart reichlicher Feuchtigkeit zu Adipocire verwandelt werden. 
Aehnlich können feste Tuchstoffe, zumal Wolle und Baumwolle, wirken, die, 
wenn sie mit Wasser durchtränkt sind, für Luft fast undurebgängig werden. 
Deshalb sollte man die Leichen nur mit den unentbehrlichsten Kleidungs¬ 
stücken versehen, und auch diese nur aus leichtester, locker gewebter Lein¬ 
wand fertigen. 

Massengräber. Wo es sich darum handelt, eine grosse Anzahl von 
Leichen mit einem möglichst geringen Kostenaufwand zu bestatten, da hat 
man häufig zu der Anlage sogenannter Massengräber seine Zuflucht genommen. 
So hat man namentlich auf den für die Beerdigung der Leichen aus den 
ärmsten Volksschichten bestimmten Theilen der alten Kirchhöfe von Paris, 
London, Rom, Mailand und vieler anderer grosser Städte vielfach umfang¬ 
reiche tiefe Gruben angelegt, in welche man die Leichen meist ohne Särge 
nebeneinander legte, bis die ganze Sohle der Grube von Cadavern bedeckt 
war. Auf die erste Schicht Leichen legte man eine dünne Decke von Erde, 
um auf diese eine zweite Lage von Leichen zu betten, und so weiter, bis die 
Grube bis wenige Fuss unter der Erdoberfläche gefüllt war, und dann völlig 
zugeschüttet wurde. Derartige Massengräber sollten aus verschiedenen Grün¬ 
den nicht auf den Kirchhöfen geduldet werden. Bei einer so bedeutenden 
Anhäufung von Leichen kommen die die Zersetzung begünstigenden Ein¬ 
flüsse des Erdreichs nur den in der äussersten Peripherie der Grube gelegenen 
Cadavern zu gute. Die mehr central gelegenen werden so gut wie vollständig 
von dem Zutritte aller Luft abgeschlossen und fortwährend von den flüssigen 
Zersetzungsproducten des ganzen grossen Fleischhaufens durchtränkt. Infolge- 


*) Nägbli, Die niederen Pilze etc. München 1877. Oldenbourg. S. 259. 


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dessen überwiegt in der Mitte des Massengrabes die Fäulnis, die sogar zu¬ 
meist nach einiger Zeit in Fettwachsbildung übergeht. Auf diese Weise wird 
der gesammte Zersetzungsverlauf ungemein in die Länge gezogen, und werden 
auch sonst gerade diejenigen Zustände erzielt, die eine rationelle Kirchhofs¬ 
pflege zu vermeiden bemüht ist. Zu geradezu unerträglichen Folgen aber 
führt diese Einrichtung, wenn es einmal nöthig wird, etwa aus forensischen 
Gründen, aus dem Massengrabe eine bestimmte Leiche wieder herauszuheben. 
In vielen Fällen wird es kaum möglich sein, den gesuchten Leichnam aus 
dem faulenden stinkenden Haufen wieder herauszuerkennen, unter allen Um¬ 
ständen aber wird die Aufsuchung eine höchst widerwärtige Aufgabe sein, 
deren Ausführung auch die benachbarten Theile des ganzen Kirchhofs durch 
unerträglichen Aasgestank belästigen wird. Auf geordneten Kirchhöfen macht 
man deshalb von Massengräbern heutzutage fast nirgends mehr Gebrauch. 
Unvermeidlich aber ist ihre Benutzung auch jetzt noch auf den Schlacht¬ 
feldern. Doch hat man auch auf diesen in letzter Zeit mancherlei früher 
mit ihrer Anlage verknüpfte Uebelstände zu vermeiden gelernt. Nägeli*) 
schlägt vor, sie in Zukunft in der folgenden Weise zu gestalten, wobei ein 
Hauptaugenmerk darauf gelegt wird, etwaige Uebelstände durch möglichste 
Trockenlegung der ganzen Anlage zu vermeiden: 

„Auf dem zur Begräbnisstätte aasgewählten Platze wird der Rasen sammt dem 
Humus entfernt und ohne tiefer zu graben, die Leichname neben und übereinander darauf 
gelegt und dabei womöglich durch Lagen von Kies und Sand, auch durch Reisig von 
einander getrennt. Dann wird rings um diese Stätte ein Graben ausgehoben und, nach¬ 
dem zuerst wieder Humus und Rasen bei Seite geschafft wurden, mit dem gewonnenen 
Untergründe der Leichenhaufen bedeckt. Anf den Untergrund kommt dann aller verfüg¬ 
bare Humus und Rasen wenigstens in der Mächtigkeit von 1 Meter. Man hat nun einen 
von einem Graben umgebenen Leichenhügel von möglichst trockener Beschaffenheit, in 
welchem die Fäulnis bald in Verwesung übergehen wird.“ 

Chemische Mittel znr Beförderung der Verwesung. Um das bei jeder 
Leiche zuerst die Zersetzung einleitende Stadium der Fäulnis möglichst ab¬ 
zukürzen und thunlichst bald in dasjenige der Verwesung und Vermoderung 
überzuleiten, hat man vielfach den Vorschlag gemacht, die Leiche mit be¬ 
stimmten chemischen Mitteln zu umgeben, die in dem gedachten Sinne wirken 
sollten. In Betracht kommen hier alle Chemikalien, die auf die Erhaltung und 
Entwicklung der Fäulnispilze feindlich, auf jene der Schimmelpilze da¬ 
gegen günstig einzuwirken vermögen; namentlich sind dies Säuren, wie 
Schwefelsäure, Salzsäure, Oxalsäure, Weinsäure u. a., und Salze, unter denen 
das gewöhnliche Kochsalz, Chlornatrium an erster Stelle zu nennen ist. Für 
gewöhnlich ist die Anwendung derartiger Mittel durchaus entbehrlich; unter 
besonderen Umständen dagegen mag sie sich hin und wieder doch empfehlen; 
es sei z. B. nur an den gar nicht seltenen Fall erinnert, dass man aus irgend 
welchen Gründen genöthigt ist, einem Leichnam, den man erst später an den 
endgiltigen Ort seiner letzten Ruhe überführen kann, auf einige Zeit einen 
provisorischen Begräbnisplatz anzuweisen; hier hat man natürlich ein Interesse 
daran, dass der Cadaver zur Zeit der beabsichtigten Wiederausgrabung und 
Ueberführung das Stadium der stinkenden Fäulnis bereits überwunden habe. 

Nägeli empfiehlt, entweder Kochsalz oder Weinsäure oder auch diese beiden Sub¬ 
stanzen zugleich zu verwenden. Für den Leichnam eines Erwachsenen, dem er ein durch¬ 
schnittliches Gewicht von 60 Kilogramm zuschreibt, berechnet er 7 Kilogramm Kochsalz 
(ohne Säure) oder IV 2 Kilo Weinsäure (ohne Salz), die er theils in die Brust- und Bauch¬ 
höhle der geöffneten Leiche, theils in die Todtengewänder zu bringen räth. Wird das 
Oeffnen des Leichnams nicht gewünscht, so genüge es auch, denselben nur äusserlich mit 
den genannten Substanzen zu umgeben, doch sei alsdann eine etwas grössere Menge er¬ 
forderlich, etwa 10 Kilo Kochsalz oder 2*15 Kilo Weinsäure. Es möge hier auch eines von 
Francis Sbymour Hadkn und E. Hornemann 1 ) gemachten Vorschlages gedacht werden; 


*) Nägeli, Die niederen Pilze etc. München, 1877. Oldenbourg. S. 261. 

*) Hygienische Abhandlungen. Deutsche Uebersetzung von E. Liebich. Braunschweig 
1881. Vieweg und Sohn. Seite 82. 


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zwecks Unschädlichmachung aller bei der Leichenzersetzung entstehenden übelriechenden 
Producte empfahlen sie, die Leichen im Sarge mit einer dichten Schicht von KohlenpulYer 
zu umgeben, welches bekanntlich in höchstem Maasse die Fähigkeit besitzt, riechende 
Substanzen durch Absorption zu desodorisiren; in etwas geringerem Maasse kommt diese 
Fähigkeit auch allen lockeren humusreichen Pulvern, z. B. Torfpuder, zu, worauf bekannt¬ 
lich die Construction der geruchlosen Torfpuder-Zimmerclosets beruht. Nach dem Ver¬ 
fahren der genannten Autoren soll der gänzlich unbekleidete Leichnam in einem Sarge 
mit undichten Wänden, die also entweder aus Weidenwerk geflochten, aus einzelnen Latten 
hergesteilt oder mit zahlreichen Bohrlöchern versehen sind, derart in Kohlenpulver gänz¬ 
lich eingebettet werden, dass das letztere ihn allerseits in einer mehrere Zoll dicken Schicht 
umgibt. Thatsächlich verläuft bei dieser Anordnung die Zersetzung rasch und völlig ge¬ 
ruchlos (Stenhouse *). Doch bietet das Verfahren bei der Kirchhofsbestattung keine Vor¬ 
theile, da eben das Erdreich allein schon die Dienste des Kohlenpulvers in ausreichendem 
Maasse leistet. Nur wo sich, etwa auf einem Friedhof mit ungewöhnlich lockerem Kies¬ 
boden auch bei der zulässigen tiefsten Eingrabung der Leichen Fäulnisgerüche bemerkbar 
machen sollten, wird man sich mit Vortheil des Kohlenpulvers oder einer Torfpuderstreuung 
in den Särgen bedienen können; desgleichen kann das Verfahren bei der freien Beisetzung 
in Grüften Nutzen gewähren. 

Begräbnisturnns. Eine Frage von grosser praktischer Bedeutung ist 
es, wie lange Zeit man verstreichen lassen müsse, bevor man den einmal mit 
Leichen beschickten Kirchhof aufs neue zu weiteren Beerdigungen verwenden 
dürfe. Den von der Kirchhofs Verwaltung bestimmten Zeitraum, welcher 
zwischen zwei Beerdigungen an derselben Stelle inne gehalten werden muss, 
nennt man den „Begräbnisturnus“. Hygienisch geurtheilt, muss dieser 
Zeitiaum so gross sein, dass man bei der Wiederaufgrabung der alten Grab¬ 
stätte nicht allein keine Spur von den Weichtheilen der Leiche mehr findet, 
sondern dass auch der Boden keine riechenden Zersetzungsgase mehr aus¬ 
strömen kann und namentlich auch beim Befeuchten durch Wasser nicht mehr 
zu stinken beginnt. Der völlige Zerfall der Knochen, die bekanntlich oft 
Jahrhunderte lang gut erhalten bleiben, braucht dabei nicht abgewartet zu 
werden. Die für eine so vollkommene Zersetzung der beerdigten Leichen 
erforderliche Spanne Zeit ist je nach der Bodenbeschaffenheit, nach dem 
Feuchtigkeitsgehalte des Erdreichs und der herrschenden Temperatur so un- 
gemein verschieden, dass sich für die Festsetzung des Begräbnisturnus keine 
allgemein gütigen Regeln aufstellen lassen. Ein vergleichender Blick auf 
die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen verschiedener Orte, Bezirke etc. 
zeigt uns ungeheuer weite Schwankungen in der Dauer des Turnus. 

Die kürzeste Dauer, nämlich fünf Jahre, hat das französische Gesetz vom Jahre 1804 
festgesetzt; auf einigen Berliner Kirchhöfen dagegen sind 60 Jahre vorgeschrieben. Inner¬ 
halb dieser Grenzen gibt es die mannigfachsten Abstufungen in dem festgelegten Zeiträume. 
(München sechs Jahre; Mailand neun Jahre; Stuttgart zehn Jahre; Regierungsbezirk 
Stralsund und desgl. Posen mindestens 16 Jahre, Württemberg 18 Jahre; Aarau 25—30 
Jahre; Gotha 30 Jahre u. s. w.). Aus diesen Zahlen ergibt sich, wie ungeheuer weit früher 
die Ansichten betreffs der für die vollkommene Zersetzung eines Leichnams erforderlichen 
Zeit auseinandergingen. Heutzutage ist man darüber infolge einer grossen Reihe prak¬ 
tischer Untersuchungen ziemlich gut unterrichtet; namentlich haben dazu die Ergebnisse 
von 150 Exhumationen beigetragen, die um das Jahr 1879 im Aufträge der sächsischen 
Regierung von den sächsischen Bezirksärzten vorgenommen worden sind. Durch sie 
wurde festgestellt, dass in Kies- und Sandboden Kinderleichen spätestens nach vier Jahren, 
Leichname von Erwachsenen nach sieben Jahren bis auf die nackten Knochen und auf ge¬ 
ringe Reste amorpher Humussubstanz zerfallen sind; in sehr feinkörnigem Sande wider¬ 
stehen bisweilen nur einige Reste des in der knöchernen Schädelkapsel sehr gut bewahrten 
Gehirnes noch längere Zeit. In Lehmboden brauchen Kinderleichen in der Regel fünf Jahre, 
solche von Erwachsenen neun Jahre, doch kommt hier nicht ganz selten die Bildung von 
Leichenwachs vor, dessen weiterer Zerfall dann längere Zeit beanspruchen kann. Schuster *) 
zieht aus diesen Resultaten den Schluss, dass bei einem günstigen Kirchhofsboden in der 
Regel ein zehnjähriger Turnus ausreichend und zweckentsprechend sei. 

Bei der grossen Verschiedenheit der Zersetzungsdauer je nach den be¬ 
sonderen Verhältnissen jedes einzelnen Kirchhofes dürfte es sich am meisten 
empfehlen, jeder einzelnen Friedhofsbehörde die Festsetzung des Begräbnis- 

J ) Am eben angeführten Orte. 

2 ) 1. c. S. 352. 


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turnus nach ihren eigenen im Einvernehmen mit Sachverständigen gewon¬ 
nenen Erfahrungen zu überlassen. Für Kindergräber sollte man überall ge¬ 
ringere Tumusdauern festsetzen als für diejenigen Erwachsener; in München 
hat sich die Bestimmung, dass für Gräber von Kindern bis zu zehn Jahren 
die Hälfte des für Erwachsene festgesetzten Turnus innegehalten wird, durch¬ 
aus bewährt. Einer zu weiten Ausdehnung der Turnusgrenze stellt sich das 
praktische Bedürfnis entgegen, möglichst beschränkte Areale den Kirchhofs¬ 
zwecken opfern zu müssen. Nach der anderen Seite hin sollte nicht allein 
auf die Forderung der Bodenhygiene Bedacht genommen werden; wollte man, 
wo solches der günstigen Bodenbeschaffenheit entsprechend zulässig erschiene, 
die Plätze älterer Gräber durchgehends bereits nach fünf oder sechs Jahren 
aufs neue zu weiteren Beerdigungen benutzen, so würde man oft das Gefühl 
der Pietät, welches mit Liebe an den Gräbern theurer Verstorbener hängt, 
bei denjenigen ärmeren Leuten schwer verletzen, die nicht in der pecuniären 
Lage sind, sich das Anrecht an der Begräbnisstätte nach Ablauf des ersten 
Turnus für die Dauer eines zweiten oder noch mehrerer weiterer zu sichern. 
Die nach Ablauf eines Begräbnisturnus auf der alten Begräbnisstätte zu be¬ 
erdigenden Leichen werden am besten in die Zwischenräume zwischen je zwei 
alten Gräbern eingebettet, wodurch die Freilegung der Knochen aus letzteren 
nach Möglichkeit vermieden wird. Die an manchen Orten eingebürgerte Sitte, 
die ausgegrabenen Gebeine in besonderen „Beinhäusern“ zu sammeln und 
decorativ aufzubauen, ist aus ästhetischen Gründen zu verwerfen. Wo die 
Freilegung von Knochen bei einem späteren Turnus unvermeidlich ist, da 
sollte die Kirchhofsverwaltung darauf halten, dass sie unter der Sohle der 
neuen Gräber wieder in die Erde geborgen werden. 

Schliessung von Kirchhöfen. Um die Mitte unseres Jahrhunderts 
hat man vielerorten die damals meist inmitten der Städte um die Kirchen 
herum gelegenen Begräbnisplätze, die eben daher den Namen der Kirchhöfe 
führten, aus sanitären Rücksichten geschlossen. Wie mehrfach erwähnt, schrieb 
man damals den beerdigten Leichen die Fähigkeit zu, durch Vergiftung von 
Luft, Boden und Trinkwasser die Gesundheit der Lebenden zu gefährden und 
die verderblichsten Krankheiten, wie Cholera, Typhus, Pocken u. a. zu er¬ 
zeugen. In unseren Tagen geben derartige Befürchtungen nicht mehr die 
Veranlassung zur Schliessung benutzter Beerdigungsstätten. Vielmehr liegt 
die Ursache zu einer solchen Maassnahme heutzutage zumeist in Collisionen, 
welche zwischen dem Kirchhofe und den Interessen des um sich greifenden 
Lebens erwachsen, indem der erstere der weiteren Ausdehnung der wachsenden 
Stadt, einer vergrösserungsbedürftigen industriellen Anlage oder dergl. hin¬ 
dernd in den Weg tritt. Bisweilen wird die Schliessung auch deshalb noth- 
wendig, weil der Kirchhof seine Aufgaben als solcher nur unvollkommen und 
gar zu langsam erfüllt. Manche Friedhöfe, die ohne Rücksicht darauf an¬ 
gelegt worden sind, ob ihr Boden eine schnelle und vollkommene Zersetzung 
der Leichen zulasse, verwandeln’ die ihnen übergebenen Leichen gänzlich oder 
theilweise in Adipocire (wie der Peterskirchhof in Graz), oder lassen den Zer- 
setzungsprocess sich ganz ungeheuer in die Länge ziehen. Manche andere 
haben diese ihrem eigentlichen Zwecke zuwiddrlaufende Eigenart erst durch 
das ein- oder mehrmalige Aufnehmen von Leichen erworben; indem ihr zu 
Beginn der Leichenzersetzung günstiger Boden sich mehr und mehr mit 
humusartigen Resten durchsetzte, verlor er seine Durchgängigkeit für Luft 
und Wasser und wurde somit für die Dienste als Kirchhofboden untauglich. 
Derartige Kirchhöfe sollten ohne Ausnahme geschlossen werden. Eine prak¬ 
tisch sehr wichtige Frage ergibt sich aber sodann bei jeder Kirchhofsschliessung: 
Nach wie langer Zeit darf der Platz zu bestimmten anderen Zwecken in Ge¬ 
brauch genommen, speciell wann dürfen Häuser auf ihm erbaut werden? 
Naturgemäss darf das erst dann geschehen, wenn alle in ihm beerdigten 


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LEICHENWESEN. 


Leichen vollkommen zersetzt sind; man wird also den Friedhof niemals vor 
Ablauf mindestens eines vollen Turnus nach der letzten stattgehabten Beerdi¬ 
gung anderweitig verwerten dürfen. Diese Beschränkung erscheint übrigens 
auch in Rücksicht auf die Anrechte der Angehörigen der zuletzt Bestatteten 
geboten. 

Einbalsamirang. Zum Schlüsse sei hier noch in Kürze derjenigen 
Methoden der Leichenbestattung gedacht, welche nicht einen möglichst schleu¬ 
nigen und vollständigen Zerfall der Cadaver bezwecken, sondern im Gegen- 
theil eine möglichst lange und unversehrte Erhaltung derselben verfolgen. 
An Gründen für die Anwendung und an Vorschlägen für die Verwirklichung 
sowie auch an thatsächlichen Ausführungen solcher Methoden hat es zu 
keinen Zeiten des Culturlebens gefehlt. Die Gründe hiefür lagen jederzeit 
einerseits in Momenten religiöser Natur und in den Gefühlen der Pietät gegen 
die Person des Verstorbenen, andererseits aber auch in praktischen Rück¬ 
sichten. In Aegypten namentlich, dem Lande, in dem die systematische Con- 
servirung der Leichen bekanntlich am längsten betrieben und zur höchsten 
Blüthe entwickelt wurde, haben zweifellos die mit der in dem heissen Klima 
unvermeidlich sehr schnell und intensiv eintretenden Fäulnis verknüpften 
Belästigungen zur Erfindung und Ausbildung der künstlichen Mumifica- 
tion mit beigetragen; nicht weniger wahrscheinlich auch die in alten Zeiten 
oft gemachte Erfahrung, dass die Fluthen des regelmässig das Land über¬ 
schwemmenden Nils die beerdigten Leichen aus dem Boden herauswuschen 
und zu einer Quelle ästhetischer und hygienischer Unzuträglicbkeiten machten. 
Gleichermaassen hat man bei allen späterhin immer wieder und auch in 
modernen Zeiten stets aufs neue auftauchenden Vorschlägen dieser Art eine 
möglichst vollständige Vermeidung aller mit der Leichenzersetzung vermeint¬ 
lich verknüpften hygienischen Uebelstände im Auge gehabt. Bei dem modernen 
Stande wissenschaftlicher Erkenntnis müssen wir alle diese Bestrebungen, als 
von Grund aus auf irrigen Voraussetzungen basirt, entschieden verwerfen. 
Wir wissen, dass bei einem rationell betriebenen Beerdigungswesen die in den 
Boden bestatteten Leichen keinerlei hygienische oder ästhetische Uebelstände 
verursachen. 

Andererseits muss es von vornherein als eine Verkehrtheit erscheinen, 
die Natur durch künstliche Bollwerke von dem Wandel in den von ihr selbst 
geforderten Bahnen abhalten zu wollen. Gegen eine allgemeine Conservirung 
der Leichen sprechen auch die mit ihr verbundenen praktischen Folgen der 
gar zu weit gehenden Raumbeschränkung; hat man doch berechnet, dass, wenn 
die gesammte Menschheit nur dreitausend Jahre lang alle ihre Todten unver¬ 
gänglich aufbewahren würde, jeder Winkel der Erde von einer Mumie einge¬ 
nommen sein und für keinen Lebenden mehr ein Plätzchen übrig bleiben 
würde. Für jetzt und alle Zukunft haben daher die auf eine lange Conser¬ 
virung der Leichname abzielenden Bestattungsmethoden nur in besonderen 
Ausnahmefällen eine Berechtigung; etwa wenn es sich darum handelt, eine 
Leiche für einen weiteren Transport, zumal in heissem Klima, geeignet zu 
machen; ferner bei Leichen von Persönlichkeiten, die der allgemeinen Pietät 
auch späterer Geschlechter würdig sind, sowie bei solchen, die nach dem 
Wunsche des Anthropologen als wertvolles Material für die Forschung in 
fernen zukünftigen Jahrtausenden erhalten werden sollen. Nur um dieser 
berechtigten Interessen willen halten wir ein näheres Eingehen auf die Me¬ 
thoden der Leichenconservirung für wünschenswert. Trotz aller Fortschritte 
der Chemie und Technik können wir in den diesbezüglichen Studien noch 
heute bei den alten Aegyptern in die Lehre gehen, deren Einbalsamirungs- 
methoden ihre Leichen so lange Jahrtausende hindurch gegen den Zahn der 
Zeit geschützt haben, dass wir sie heute fast noch ebenso in ihren Grab¬ 
kammern vorfinden, wie man sie dereinst hineingelegt hat. 


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LUFT. 


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Im Wesentlichen beruht die künstliche Mumification der Aegypter auf dem Zusammen- 
wirken zweier Factoren: auf einer Imprägnirung der ganzen Leiche mit f&ulniswidrigen 
Stoffen und einer möglichst intensiven Austrocknung aller Weichtheile. Im Einzelnen 
waren die ägyptischen Conservirungsmethoden — besonders je nach den für den einzelnen 
Todten zu Gebote stehenden Geldmitteln — sehr verschieden, betreffs der angewandten 
Materialien sowohl als auch hinsichtlich der auf die Balsamirung verwandten Zeit und 
Mühe. Durchgehende aber wurden zuerst die Eingeweide der Bauch- und Brusthöhle, 
sowie auch das Gehirn entfernt. Das letztere wurde meist durch Eröffnung der Kopf¬ 
höhle von der Schädelbasis her von Mund- und Nasenhöhle aus zugängig gemacht und 
mittels metallener Haken herausgezogen. Die Bauch- und Brusteingeweide entfernte man 
theils mit Eröffnung der Bauchhöhle mittels eines in der linken Bauchseite angelegten 
Schnittes, theils obne solche auf eine sehr künstliche Weise durch den After. Sodann wurde 
die Leiche zunächst mit Palmwein behandelt, der in die leeren Höhlen gegossen wurde, 
darauf wieder getrocknet, und mit sehr verschiedenartigen aromatischen Substanzen, Myrrhen, 
Pflanzensäften und Harzen, bei den weniger kostspieligen Methoden auch wohl einfach 
mit Asphalt oder Pech angefüllt, und sodann für längere Zeit (bis zu 70 Tagen) in Natron¬ 
lauge gelegt, aus der sie jedoch von Zeit zu Zeit stundenweise herausgehoben wurde, um 
abgetrocknet und mit balsamischen Salben eingerieben zu werden. Nach derartiger Vor¬ 
bereitung wurde der Leichnam endgiltig noch einmal möglichst gründlich ausgetrocknet, 
vielfach durch Einlagern in heissen trockenen Sand, und schliesslich in einer überaus 
kunstvollen Weise in zahlreiche, harzdurchtränkte Binden eingewickelt, deren man bei 
vielen Mumien bis zu 20 und mehr Schichten übereinander gefunden hat. Die Mumien 
der Könige und anderer besonders vornehmer Aegypter wurden sogar zum Theil oder 
gänzlich vergoldet, namentlich das Gesicht mit einer die Züge des Verstorbenen darstellen¬ 
den goldenen Maske bedeckt, oder in mehr oder weniger künstlerischer Weise gemalt und 
sonst geschmückt. Die Beisetzung in den Grabgemächern geschah theils mit, theils ohne 
Benutzung von Särgen. Will man heutzutage eine Leiche auf eine möglichst lange Zeit 
hin vor der Vernichtung schützen, so müssen auch jetzt noch dieselben beiden Factoren 
(erstens eine möglichst vollständige Wasserentziehung und zweitens eine Imprägnirung 
des ganzen Cadavers mit fäulniswidrigen Substanzen) zur Geltung gebracht werden. Zu 
dem Zwecke injicirt man am besten in die eröffnete Halsschlagader (Arteria carotis) der 
im übrigen unverletzten Leiche ein bis mehrere Liter einer starken alkoholischen Lösung 
von Quecksilbersublimat, Carbolsäure, Formalin oder dergl., und wiederholt diese Injection 
im Laufe mehrerer Wochen mehrmals, während der Cadaver an einem kühlen, aber mög¬ 
lichst trockenen Orte aufbewahrt wird. Erst wenn auf diese Weise alle Theile der Leiche 
gründlich von den Blutgefässen her mit der antiseptischen Substanz durchsetzt worden 
sind, entfernt man die Eingeweide und das Gehirn und füllt die leeren Höhlen mit einer 
geeigneten Masse an; hierzu empfiehlt sich z. B. trockenes Kohlenpulver oder auch Gyps- 
pulver, welch letzteres namentlich wegen seiner Eigenschaft, alles in der Leiche enthal¬ 
tene Wasser energisch an sich zu ziehen und chemisch zu binden, besonders geeignet 
erscheint; zweckmässig kann man auch der Füllmasse noch einen gewissen Gehalt an 
faulniswidrigen Stoffen, wie z. B. Sublimat oder Arsenik zusetzen; schliesslich muss die 
so präparirte Leiche auch durch äussere Einwirkung trockener Luft möglichst ihres ganzen 
Wassergehaltes beraubt werden. Wird ein derartig vorbereiteter Leichnam in einem luft- 
und wasserdicht abgeschlossenen Sarge (zugelötheter Metallsarg) in einem trockenen kühlen 
Raume aufbewahrt, so vermag er der Vernichtung viele Jahrhunderte lang zu widerstehen. 

Alle übrigen, zum Theil noch in ganz neuer Zeit gemachten Vorschläge zur Con- 
servirung der Leichen können füglich als durchaus entbehrlich angesehen werden. Hierher 
gehört namentlich das von Steikbeis *) in Stuttgart 1874 angegebene Verfahren, die Leichen 
zuerst mit einer dünnen Lage von Cement zu incrustiren und dann in einem Cement- 
sarge allseitig mit flüssigem Cemente zu umgiessen, nach dessen Erstarrung also jede 
Leiche in einem künstlichen Felsblock eingeschlossen bliebe. Ganz ähnliche Vorschläge 
enthalten ein Project von Ghatry, *) sowie eine Erfindung von Trübrnbach. 3 ) Vom Stand¬ 
punkte der Hygiene aus sind alle diese Bestattungsmethoden nur zu bekämpfen. 

G. WOLTERSDORF. 

Luft. Das Medium, in dem und von dem auch zum Theil wir leben, 
die atmosphärische Luft, wirkt auf den menschlichen Körper ein durch 
seine physikalischen und chemischen Eigenschaften. Die Lehre von 
ihren physikalischen Erscheinungen und Veränderungen heisst die Meteoro¬ 
logie, bezw. die Klimatologie, d. h. die Witterungslehre und die Lehre 

*) Beilage zur allgem. Zeitung, 1874. Nr. 154. 

*) Devergie, Nouveau mode d’inhnmation dans les cimetieres. Annales d’hygiene 
etc. 1876. I. s4rie, p. 86. 

•) Zeitschrift für Epidemiologie. Bd. 2, Heft 1, S. 49. 


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vom Klima, wobei Witterung die Summe der physikalischen Erscheinungen 
während einer kürzeren Zeitdauer, Klima den durchschnittlichen Charakter 
derselben während einer sich über eine Reihe von Jahren erstreckenden Be¬ 
obachtungsdauer bezeichnet. 

Die einzelnen in Betracht kommenden, in den Schwankungen ihrer In¬ 
tensität an sich und in ihrem Verhältnisse zu einander verschieden die re- 
sultirende Witterung, das Klima bestimmenden Factoren sind: 1. die Tem¬ 
peratur, 2. die Luftfeuchtigkeit, 3. der Luftdruck, 4. die Luftbewegung, 5. die 
Niederschläge. 

1. Die Temperatur. Zu ihrer Feststellung bedient man sich des 
Thermometers, im allgemeinen des einfachen Quecksilberthermometers, dessen 
Scala zwischen Gefrier- und Siedepunkt des Wassers in 100° eingetheilt ist; 
für hohe Kältegrade des Weingeistthermometers, zur selbstthätigen Feststellung 
der höchsten und niedrigsten Temperatur der Maximal- und Minimalthermo¬ 
meter verschiedener Construction. Um richtige Resultate zu erhalten, ist es 
nöthig, die directe Sonnenbestrahlung des Instruments zu verhindern, sowie 
die Strahlung vom Boden, den umgebenden erwärmten festen Gegenständen, 
die Abkühlung durch Uberfliessenden Regen auszuschalten. Die Wärme der 
Sonnenstrahlen für sich misst man mit dem Vacuumthermometer (Kugel mit 
Russ geschwärzt und in eine luftleere Hülle eingeschlossen). 

Die Antheilnahme der Temperatur an der Constituirung der Witterung, 
des Klimas an einem bestimmten Orte zu constatiren, dienen fortlaufende 
Registrirungen der Temperaturschwankungen. Man stellt zu diesem 
Zwecke fest 1. die mittlere Monats- und Jahrestemperatur, 2. die absoluten 
und mittleren Extreme, 3. die mittlere Tagesschwankung, 4. die mittlere 
Jahresschwankung, 5. die interdiurne Veränderlichkeit. 

Nach der Höhe der mittleren Jahrestemperatur unterscheidet man eine 
warme Zone (über 20°), eine gemässigte (zwischen 0° und 20°) und eine 
kalte (unter 0°). Nach den mehr oder weniger stark ausgesprochenen 
Differenzen zwischen extremsten Temperaturen kann man ferner ein conti- 
nentales und ein oceanisches Klima unterscheiden. Bei diesem sind die 
Unterschiede relativ gering, während sie bei ersterem recht bedeutende Grade 
erreichen. Aehnlich steht es mit der mittleren Tagesschwankung, welche 
Uber dem Meere selbst unter dem Aequator sehr gering, inmitten der grossen 
Continente bedeutend ist. Ein klarer Himmel, wie er über der Sahara, im 
westlichen Tibet zu Anden ist, begünstigt nachts die Ausstrahlung in so in¬ 
tensiver Weise, dass Temperaturabfälle bis zu 42° dadurch zustande kommen 
können. 

Die mittlere Jahresschwankung ist am stärksten inmitten der grossen 
Continente, am geringsten in den tropischen See- und Küstengebieten. Sie 
beträgt im Aequatorial-oder Seeklima bis 15°, im Uebergangsklima 15—20°, 
im Landklima 20—40°, im excessiven Landklima 40—60°. 

Die Lufttemperatur übt durch ihre Beeinflussung unseres Wärmehaus¬ 
haltes einen wichtigen Einfluss auf unser Wohlbefinden aus. Der Körper 
verliert Wärme durch Leitung, Strahlung und Verdunstung, wogegen die zur 
Erwärmung der Speisen, der Athemluft nöthige und die durch Verdunstung 
an der Lungenoberfläche in Abgang kommende Wärmemenge in den Hinter¬ 
grund tritt. Da zur Erhaltung der Gesundheit eine möglichst gleichmässige 
Erhaltung der Eigenwärme innerhalb sehr enger Grenzen nöthig ist, ist es 
klar, dass die Luft durch zu hohe Temperatur, welche eine genügende Wärme¬ 
abfuhr verhindert und Wärmestauung hervorruft, oder durch zu niedrige, 
welche Erfrierung bewirkt, oder durch plötzliche Schwankungen derselben, 
welche Grund von Erkältungskrankheiten sein können, ernste Gesundheits¬ 
störungen hervorrufen kann. Es sei hier von solchen bezüglich der ersten 
Eventualität an den Hitzschlag, eine schwere Allgemeinerkrankung infolge 


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von Wärmestauung, ferner an den Sonnenstich, die Localeinwirkung der 
Sonnenstrahlen auf die unbedeckte Haut, erinnert. Eine lang dauernde un¬ 
unterbrochene Einwirkung sehr hoher Aussentemperatur ruft bei dem nicht 
akklimatisirten Europäer in den Tropen einen sehr bedenklichen Zustand, die 
sog. Tropenanämie hervor. 

Neben absolut niedriger Temperatur kann die Bewegung und der Feuch¬ 
tigkeitsgehalt der Luft zu starker Wärmeentziehung führen. Alle starken 
Schwankungen der Luftwärme können, wenn sie plötzlich eintreten und da¬ 
durch vielleicht das rechtzeitige und genügend kräftige Einsetzen der wärme- 
regulirenden Functionen des Körpers verhindern, wenn sie zudem in ihrer 
ungünstigen Einwirkung noch unterstützt werden durch starke Luftbewegung, 
grosse Luftfeuchtigkeit, zu Erkältungskrankheiten führen. Das Wesen der¬ 
selben ist noch wenig ergründet; es ist mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, 
dass die Einwirkung der angeführten schädigenden Momente eine Herabsetzung 
der normalen Widerstandsfähigkeit der Körperbestandtheile gegenüber den 
auch im gesunden Körper vorhandenen Kleinwesen herbeiführt, welche letz¬ 
teren die Entfaltung ihrer krankmachenden Kräfte gestattet. 

2. Die Luftfeuchtigkeit. Die Menge des in der Luft enthaltenen 
Wasserdampfes wechselt je nach der Lufttemperatur, der Luftbewegung, den 
localen Verhältnissen innerhalb ziemlich weiter Grenzen. Je höher die Luft¬ 
wärme, desto grösser das Aufnahmevermögen für Wasserdampf, je stiller die 
Luft, je günstigere Bedingungen für die Verdunstung von Wasser, desto 
leichter ist eine Ansammlung von Wasserdampf in der Atmosphäre ermöglicht. 
Man unterscheidet: die absolute Feuchtigkeit, d. h. diejenige Menge 
von Wasserdampf, welche, in Gewicht, Volumen oder Tension ausgedrückt, 
wirklich in der Luft enthalten ist; die relative Feuchtigkeit, d. h. die 
vorhandene Feuchtigkeit, angegeben in Procen(en der für die bestehende Tem¬ 
peratur möglichen maximalen Feuchtigkeit; das Sättigungsdeficit, d. i. 
die Differenz zwischen maximaler und absoluter Feuchtigkeit; und endlich 
den Thaupunkt, d. i. diejenige Temperatur, für welche augenblicklich 
die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt ist. Die Luftfeuchtigkeit wird bestimmt 
durch Wägung, nachdem der Wasserdampf durch concentrirte Schwefelsäure 
oder Calciumchlorid absorbirt ist, oder durch Apparate, welche die Feststellung 
des Thaupunktes, die mehr weniger ausgiebige Veränderung der Länge eines 
entfetteten Haares (Haarhygrometer) gestatten, am praktischesten durch 
das Psychrometer, bei welchem die Differenz zwischen zwei Thermometern, 
welche sich im übrigen unter gleichen Bedingungen befinden, auf deren 
eines aber infolge der Umhüllung mit feuchten Leinen die Verdunstungskälte 
zur Einwirkung kommt, einen Rückschluss auf den Feuchtigkeitsgehalt der 
Luft erlaubt. Je geringer der letztere* desto stärkere Verdunstung, desto 
grössere Temperaturentziehung, desto grössere Differenz zwischen beiden Ther¬ 
mometern. Eine Tabelle dient zur Feststellung des Feuchtigkeitsgrades. Man 
unterscheidet auch für den Feuchtigkeitsgehalt bestimmte Schwankungen, und 
zwar für die absolute Feuchtigkeit Tages- und Jahresschwankungen, derart, 
dass im allgemeinen der höheren Temperatur auch eine grössere absolute 
Feuchtigkeit entspricht; ähnlich erhalten sich die Schwankungen der relativen 
Feuchtigkeit und des Sättigungsdeficits. 

Die hygienische Bedeutung der Luftfeuchtigkeit liegt nur zum geringen 
Theile in ihrem Einflüsse auf die Wasserdampfabgabe des Körpers, da letztere 
nur selten zu Gesundheitsstörungen Anlass gibt, viel mehr in ihrer Beein¬ 
flussung der wärmeregulatorischen Functionen des Körpers und in ihrer Wich¬ 
tigkeit für die mehr oder weniger austrocknende Wirkung der Luft. Ist für 
den ersten der beiden Fälle die relative Feuchtigkeit maassgebend, so kommt für 
den letzten das Sättigungsdeficit in Betracht. Die Rolle, welche die Luft¬ 
feuchtigkeit für die Wärmeabgabe des Körpers spielt, wurde bereits oben er- 


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wähnt: Kalte, feuchte Luft entzieht lebhaft Wärme, feuchte warme Luft be¬ 
wirkt eine Aufspeicherung derselben. Hygienisch tritt jedenfalls am meisten 
die Wichtigkeit der austrocknenden Wirkung der Luft hervor, sie ist einzig 
und allein abhängig vom Sättigungsdeficit, und zwar im geraden Verhältnisse. 
Austrocknung bewirkt eine starke Schädigung vieler Mikroorganismen, während 
sie anderen das Mittel bietet, sich mit dem Staube in die Luft zu erheben 
und auf grosse Strecken sich zu verbreiten. Die austrocknende Wirkung der 
Luft brauchen wir vielfach im Haushalt, in technischen Betrieben u. s. f. 

3. Der Luftdruck. Er wird gemessen durch die Höhe einer Queck¬ 
silbersäule, welche der in Frage stehenden Luftsäule das Gleichgewicht hält, 
vermittelst des Quecksilberbarometers, oder durch die Ausgibigkeit der Be¬ 
wegungen, welche die Wandung einer flachen Dose aus elastischen Metall- 
Lamellen unter dem Einflüsse des Luftdrucks ausfährt, vermittelst des Aneroid¬ 
barometers. Die Ablesungen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen 
Zeiten müssen immer auf eine Temperatur von 0° reducirt werden und, wenn 
sie zu meterologischen Schlüssen verwertet werden sollen, auf das Meeres¬ 
niveau. Was die zeitliche Vertheilung des Luftdrucks anbelangt, so unter¬ 
scheidet man Tages-, Monats- und Jahresschwankungen, welche vielfach nahe 
Beziehungen zu den Temperaturschwankungen erkennen lassen. Die ört¬ 
liche Vertheilung des Luftdrucks zeigen die Isobaren an, in sich zurück- 
laufende Linien, welche concentrisch zu einander so angeordnet sind, dass 
sie sich desto näher liegen, je schroffer die Druckdifferenz ist. Je höher ein 
Ort liegt, desto geringer ist natürlich daselbst der Druck der über ihm be¬ 
findlichen Luftsäule und umgekehrt. Doch sind diese natürlichen Differenzen 
niemals so gross als die, welche wir selbst künstlich schaffen, z. B. bei 
Taucherarbeiten, in Caissons u. s. f., daher sind jene diesen gegenüber, welche 
ja doch auch ertragen werden, kaum von grösserer Bedeutung. In hygienischer 
Hinsicht bieten uns daher die letzteren eher Anhaltspunkte für die Erkenntnis 
der Einwirkung grosser Druckdifferenzen auf den menschlichen Körper; die 
starke Luftdrucksteigerung bewirkt eine Verlangsamung und Vertiefung der 
Athmung, Einwölbung des Trommelfells, eine gewisse Behinderung der Muskel¬ 
arbeit, Zufluss des Blutes zu den inneren Organen. Der in der comprimirten 
Luft vermehrt vorhandene Sauerstoff ist ohne bemerkenswerten Einfluss, da 
das Hämoglobin schon bei weniger als normalem Druck mit 0 gesättigt ist 
und nicht mehr aufnimmt. Nach der Verminderung des Luftdrucks, wie sie 
auf hohen Bergen (Himalaya bei einer Höhe 6780 m = 340 mm Hg) und bei 
Ballonfahrten (Glaisher constatirte bei 8840 m Höhe 248 mm Hg) beobachtet 
wird, bewirkt starke Blutfüllung der Hautgefässe und bis zum Zerreissen 
gehende Erweiterung derselben, Hervor Wölbung des Trommelfells, Sauerstoff¬ 
verminderung. Diese ist am bedeutungsvollsten und lässt sich künstlich ans¬ 
gleichen; jedoch geschieht das auch ohne solche Maassregel bis zu einem ge¬ 
wissen Grade durch Beschleunigung des Blutumlaufs und der Athmung. So 
kann man auch bei dauerndem Aufenthalte in Höhen bis zu 4000 tn völlige 
Anpassung des Körpers an die Druckverminderung im allgemeinen erwarten. 
Gesundheitlich am bedenklichsten sind plötzliche Uebergänge aus comprimirter 
Luft in normale. Es können da Gefässzerreissungen mit Nasen-, Lungen-, 
Magenbiutungen entstehen; ja es kann plötzlicher Tod eintreten, indem unter 
dem Einflüsse der zu schnellen Druckherabsetzung die Gase des Blutes 
Blasen bilden, welche zur Verstopfung der kleinsten Gefässe in lebenswichtigen 
Organen führen. 

Endlich spielen die Luftdruckschwankungen eine wichtige Rolle bei der 
Entstehung der nun zu besprechenden 

4. Luftbewegung: Sobald das Gleichgewicht im Luftmeer irgendwo 
gestört ist, entsteht Luftbewegung, Wind, welcher die Ausgleichung der 
gestörten Druckverhältnisse zu bewirken hat. Man misst die Stärke dieser 


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Bewegung mit Anemometern, welche entweder den Druck des Windes oder 
seine Geschwindigkeit aufzeichnen. Die Winde bewegen sich vom Maximum 
des Luftdruckes zum Minimum, also senkrecht zu den Isobaren, mit umso 
grösserer Geschwindigkeit, je geringer die Entfernung zwischen letzteren, je 
grösser also der Druckabfall; auf diesem Wege werden die Lufttheilchen noch 
abgelenkt, und zwar durch die Erdumdrehung und durch die Centrifugal- 
kraft. So werden aus den zurückgelegten Wegen Spiralen. 

In den Tropen zeigen die Winde eine grosse Regelmässigkeit (Passat¬ 
winde), welche auf der andauernden starken Erwärmung beruht, derzufolge 
ein Aufsteigen der Luft und Abfliessen in den oberen Schichten nach den 
Polen und Zurückfliessen von dort in den unteren Schichten entsteht. Eine 
gewisse Regelmässigkeit zeigen auch die Winde am Meeresufer: Es steigen 
am Vormittag die Lufttheilchen, welche dicht Uber dem Lande stark erwärmt 
werden, in die Höhe und fliessen in den oberen Schichten nach der See ab, 
während in den unteren Schichten eine Bewegung von der See her stattfindet; 
umgekehrt aus gleichen Gründen nachts. Man beobachtet also am Vormittag 
an der Küste Seewind, gegen Abend und nachts Landwind. — Die Winde 
üben einen bemerkenswerten Einfluss auf unser Wohlbefinden aus, indem sie 
je nach ihren Eigenschaften die wärmeregulirenden Factoren unseres Körpers 
unterstützen oder ihnen entgegenarbeiten. Bei trockener Luft unterstützt die 
LuftbeweguDg die Wärmeabgabe durch Verdunstung und directen Wärme¬ 
transport, macht also auch sehr grosse Hitze erträglich, während warme feuchte 
Winde die entgegengesetzte Wirkung haben und kalte feuchte Winde auch 
bei mä 3 siger Lufttemperatur die Erhaltung der Eigenwärme erschweren. Die 
Luftbewegung dient fernerhin der Ventilation, der Reinheit der Athmungsluft, 
der Austrocknung von Bodenflächen, Neubauten. 

5. Die Niederschläge kommen zu Stande, wenn wärmere Luft¬ 
schichten mit kälteren sich mischen, sich dadurch selbst abkühlen und an 
Aufnahmevermögen von Wasserdampf verlieren. Dann condensirt sich der 
überschiessende Theil des letzteren, und es kommt zur Bildung von Nebel, 
Thau, Reif, Regen, Schnee. Für die Reichlichkeit der Niederschläge sind 
maassgebend reichliches Vorhandensein von Wasser, welches zur Verdunstung 
kommen kann, hinreichende Wärme zur Bewirkung der letzteren, endlich 
die Luftbewegung. Die directe hygienische Bedeutung der Niederschläge ist 
nur gering, die indirecte liegt in dem Einflüsse auf den Haushalt der 
Natur, welcher nothwendig auf uns zurückwirkt. 

Schon aus dem Vorstehenden lässt sich als sicher annehmen, dass die 
Witterung, wie sie sich aus den näher gewürdigten meteorologischen Factoren 
zusammensetzt, einen beträchtlichen Einfluss auf die menschliche Gesundheit 
hat, dass von ihr zum Theil die Entstehung von Krankheiten abhängt. Sta¬ 
tistische Begründung dieses zu vermuthenden Zusammenhanges fehlt jedoch, 
da in den meteorologischen Uebersichten nur immer das für einen längeren 
Zeitraum gefundene Mittel verzeichnet ist, nicht aber die einzelnen die Ge¬ 
sundheit wirklich beeinflussenden Witterungsschwankungen zu ersehen sind. 
Immerhin können wir erkennen, dass einzelne Krankheiten zu bestimmten 
Jahreszeiten am häufigsten Vorkommen, und es ist dann Sache der näheren 
Forschung, festzustellen, ob dieser Umstand auf die Witterungsverhältnisse 
zurUckzufiihren ist, und zwar so, dass einzelne Witterungsfactoren direct den 
Körper in krankmachender Weise beeinflussen, oder so, dass sie nur indirect 
wirksam sind, indem sie Nahrungs-, Wohnungs- und sonstige äusserliche Ver¬ 
hältnisse beeinflussen. So ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Häutung 
von Erkältungskrankheiten im Winter in directem Zusammenhänge mit der 
kalten, feuchten, an Schwankungen reichen Witterung dieser Jahreszeit steht» 
während die zur selben Zeit stattfindende Vermehrung der contagiösen Krank¬ 
heiten nur eine indirecte Folge der Witterung ist, indem diese den Aufentr 


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halt im Freien erschwert, die Menschen zn engem Zusammenleben in die 
Häuser bannt, wo die Uebertragung natürlich leichter erfolgt. 

Die einzelnen Klimate, die wir zu unterscheiden haben, sind: das tro¬ 
pische und subtropische, das arktische, das gemässigte Klima, das Küsten- 
und das Höhenklima. 

1. Das tropische Klima zeichnet sich aus durch eine grosse Regel¬ 
mässigkeit, während wechselnde Witterung, wie in unserem Klima, fehlt. 
Während die Passate wehen, ist trockenes Wetter, mit ihrem Aufhören stellen 
sich andauernde intensive Regengüsse ein. Unsere obigen Betrachtungen 
ergeben ohne weiteres, wie mannigfach der Einfluss des Klimas sein muss in 
hygienischer Hinsicht. Die Zahl der Krankheiten und die der Erkrankungs¬ 
fälle ist sehr hoch. Besonders gefährlich sind Sonnenstich, Hitzschlag, 
Anämie, Leberkrankheiten, Malaria, Ruhr, schwere Darmkatarrhe, Cholera 
asiatica, Cholera infantum, Tuberkulose, Bronchitis. 

2. Das arktische Klima zeigt im Gegensatz zum vorigen aus¬ 
gesprochensten Wechsel der Jahreszeiten, aber im Ganzen günstige Gesund¬ 
heitsverhältnisse. 

3. Das gemässigte Klima trägt den Charakter des Wechselnden an 
sich mit starker Ausprägung der Jahreszeiten. Innerhalb desselben treten 
wieder grosse Verschiedenheiten auf, je nachdem das Klima im Innern 
grosser Continente oder an der Küste in Betracht kommt; dort sieht man 
schroffe Temperaturdiflferenzen, während hier die Extreme mehr gemildert 
sind, schroffe Uebergänge seltener beobachtet werden. 

Dementsprechend sind auch beträchtliche Verschiedenheiten in der Mor¬ 
bidität und Mortalität zu beobachten. Die schroffen Witterungswechsel des 
continentalen Klimas leisten allen Erkältungskrankheiten, der Tuberkulose, 
der Cholera infantum Vorschub; während alle diese unter dem Einflüsse des 
Küstenklimas eine deutliche Verminderung erfahren. 

4. Das Höhenklima zeigt folgende Eigenheiten: Die Temperatur ist ver¬ 
mindert, die absolute Feuchtigkeit sehr gering, die relative dagegen meist hoch, 
das Sättigungsdeficit niedrig. Die Luftbewegung ist lebhaft und wirkt trotz 
dem niedrigen Sättigungsdeficit austrocknend; die Regenmenge nimmt mit der 
Erhebung zu. Der Luftdruck ist herabgesetzt, die Sauerstoffmenge der Luft 
vermindert. Bei der niedrigen Luftschicht, ihrem geringen Wassergehalt und 
ihrer Staubfreiheit ist die Erwärmung des Bodens durch die Sonne auch im 
Winter beträchtlich. 

Die Gesundheitsverhältnisse sind günstig; für manche Krankheiten, 
Malaria, Phthise, infectiöse Dannkrankheiten, soll Immunität bestehen. Die 
immune Zone für Phthise beginnt in der Höhe über 200 m. Einen grossen 
Einfluss auf die gesundheitlichen Verhältnisse übt die Bewaldung aus. 

Das chemische Verhalten der Luft spielt eine grosse Rolle für 
den menschlichen Organismus, da letztere stetig gewisse, ihm durchaus lebens- 
nothwendige gasige Bestandteile aus der Atmosphäre entnimmt. Die Luft 
besteht aus Stickstoff (78*3°/o), Sauerstoff (20-7%), Wasserdampf (1*0%), 
Kohlensäure (0 4%), einer kleinen Menge Argon, Spuren von Ozon, Wasser¬ 
stoffsuperoxyd, Ammoniak, Salpetersäure, salpetriger Säure. 

1. Der Sauerstoff ist überall in der Atmosphäre mit grosser Gleich- 
mässigkeit verbreitet; Schwankungen in seiner procentualen Beimischung 
sind so gering, dass sie hygienisch bedeutungslos bleiben. 

2. Ozon und Wasserstoffsuperoxyd: Dem Ozon, welches als ein 
Sauerstoffmolekül mit angelagertem drittem Atom (0 3 ) aufgefasst wird, schreibt 
man gewöhnlich eine grosse hygienische Bedeutung zu. Doch ist das, soweit 
ein actives Bethätigen derselben gemeint ist, nicht als richtig anzuerkennen, 
man wird vielmehr annehmen müssen, dass sein Vorkommen für eine grosse 
Reinheit der Luft von organischen Substanzen spricht, da solche das Ozon 


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sehr leicht zersetzen. Das ist aber das einzige, was bisher bei allen For¬ 
schungen und Experimenten über die desinficirende Kraft des Ozons und über 
seine physiologischen Wirkungen herausgekommen ist. Die Methoden zur 
Bestimmung des Ozongehalts sind ungenau (Jodkaliumstärkekleister-Papier, 
Tetramethylparaphenylendiamin-Papier). Es entsteht bei Verdunstung von 
Wasser, bei elektrischen Entladungen und bei umfangreicheren Oxydations¬ 
processen. Bei den gleichen Processen entsteht auch Wasserstoffsuperoxyd 
(H 8 0 2 ). Es ist ohne hygienische Bedeutung. 

3. Die Kohlensäure stammt her von den Oxydationsprocessen im 
menschlichen und thierischen Körper, von der Verbrennung von Brennmaterial 
und von Fäulnis- und Verwesungsprocessen. Andererseits wird sie verbraucht 
durch die reduwrende Thätigkeit der grünen Pflanzen, durch die kohlensauren 
Salze des Meerwassers. Der Gehalt der Luft an C0 2 wird ziemlich gleich- 
mässig erhalten durch die Luftbewegung, so dass die mittleren Schwankungen 
nur 0'3 pro mille betragen. Wo die ventilirende Wirkung der Luftbewegung 
fehlt, also in geschlossenen Wohnungen, in Kellern, wo zudem eine reich¬ 
liche Entwicklung von C0 2 stattfindet, da finden leicht grössere Ansammlungen 
des Gases statt. Man bestimmt den Kohlensäuregehalt, indem man die zu 
prüfende Luft in eine Flasche von bestimmtem Rauminhalt füllt, eine bekannte 
Menge von Strontianwasser dazu setzt und nun durch Titriren mit einer 
Säure von bekannter Concentration bestimmt, wie viel Strontiumhydrat durch 
C0 2 gebunden ist. Eine annähernde Bestimmung lässt sich auch machen, 
wenn man die zu untersuchende Luft durch mit Phenolphtaleinlösung roth 
gefärbte Sodalösung streichen lässt, bis Entfärbung eintritt. Die hygienische 
Bedeutung des Kohlensäuregehaltes beruht hauptsächlich darin, dass, wo eine 
Vermehrung desselben in bewohnten Räumen festgestellt ist, gewöhnlich auch 
eine anderweitige Verunreinigung der Luft mit anderen, uns vorläufig noch 
unbekannten Substanzen, Erzeugnissen des menschlichen Stoffwechsels, statt¬ 
gefunden hat, welche viel nachtheiliger wirken, als die Kohlensäure an sich, 
denn chemisch reine Kohlensäure wird noch in einer Beimischung von 5% 
vorübergehend, von 1 °/ 0 auf längere Zeit ohne Schaden vertragen, während 
sie, wenn sie der durch menschliche Ausdünstungen u. s. w. verunreinigten Luft 
zu mehr als 1 °/ 00 beigemischt ist, schon verderblich wird. Dabei ist aber wohl zu 
beachten, dass hier noch nicht die Kohlensäure an sich schädlich wirkt, son¬ 
dern dass ganz andere Factoren dafür in Frage kommen, und dass die Kohlen¬ 
säureansammlung auch auf die Vermehrung jener rückschliessen lässt. So 
kommt bei Menschenansammlungen in engen geschlossenen Räumen die Wärme¬ 
stauung infolge des massenhaft entwickelten Wasserdampfes und der erhöhten 
Wärme für das alsbald bei manchen Personen sich einstellende Unwohlsein 
viel mehr in Betracht als die Kohlensäure. 

4. Kohlenoxydgas wird nur gefährlich, wenn es der Athmungsluft 
in geschlossenen Räumen in grösserer Menge beigemischt wird? in die 
Atmosphäre tritt es bei vielen technischen Processen in grossen Mengen, er¬ 
fährt aber sogleich eine enorme Verdünnung. Der Nachweis geschieht da¬ 
durch, dass man Luft mit Blut schüttelt und dann das Gemisch spectro- 
skopisch untersucht, oder dass man Fliesspapier mit Palladiumchlorür tränkt 
und der zu prüfenden Luft aussetzt. Es wird schon bei einem CO-Gehalt 
der Luft von 0'01°/o in wenigen Stunden geschwärzt. 

Endlich haben wir uns noch mit dem in der Luft suspendirten Staub 
zu beschäftigen. Da sind zu unterscheiden: Gröbere Staubpartikel, Russ, 
Samenstäubchen und Mikroorganismen. Von diesen können die ersteren zu 
Stärkeren Belästigungen führen, indem sie die Schleimhäute des Respirations- 
tractus reizen und so wohl auch ein Eindringen von Mikroben erleichtern. 
Die hygienische Bedeutung des Gehaltes der Luft an Mikroorganismen 
ist vielfach überschätzt worden. Einmal ist derselbe nur sehr gering (100 Keime 


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MARKTPOLIZEI. 


im Cubikmeter im Mittel), dann sind auch die pathogenen Arten unter ihnen 
ausserordentlich selten vertreten, so dass man die Infection durch die freie 
atmosphärische Luft als grösste Seltenheit bezeichnen darf. Dazu kommt, 
dass gerade die Mehrzahl der pathogenen Mikroben im ausgetrockneten Zu¬ 
stande — und nur so können sie in die Luft aufgewirbelt und mit dem Winde 
weiterbefordert werden — schnell abstirbt. spiering. 

Marktpolizei. Die Aufgabe der Marktpolizei besteht in der Ueber- 
wachung der auf den regelmässigen Märkten (Wochenmärkten) feilgehaltenen 
Nahrungsmittel, insbesondere Fleisch, Milch, Butter, Fische, Geflügel etc. 
Diese polizeiliche Aufsicht wird von verschiedenen Organen ausgeführt, nämlich 
einmal von den Ortspolizeibehörden, dann durch die Kreisthierärzte und 
endlich in einigen Bezirken des deutschen Reiches durch staatlich geprüfte 
von grösseren Verbänden (Kreisen, Provinzen) angestellte Chemiker. In 
Oesterreich giebt es sogenannte Marktcommissäre, denen die gesundheitspoli¬ 
zeiliche Ueberwachung der Marktwaaren obliegt. Dieselben erhalten durch 
eigene Curse eine Ausbildung, die sie befähigt, auch selbst einfachere Unter¬ 
suchungen vorzunehmen. Die Untersuchung entnommener Proben wird durch 
eigene Chemiker und Mikroskopiker vorgenommen. 

Der Wirkungskreis der eigentlichen Polizeiorgane ist durch ein Reichs¬ 
gesetz (Deutsche Gewerbeordnung) und durch örtliche Verfügungen geregelt und 
bezieht sich im wesentlichen auf die äussere Ordnung des Marktes, Anweisung 
und Ausmessung der Stände, Erhebung der von den Verkäufern zu zahlenden 
Gebühren etc. 

Dem Thierarzt und Chemiker dagegen liegt die Beaufsichtigung des 
Marktes in hygienischer Beziehung ob. Der Thierarzt soll das zum Verkauf 
angebotene Fleisch, das lebende Vieh etc. prüfen, ob das Vieh gesund, das 
Fleisch frisch und von gesunden Thieren stammt u. s. f. Der Chemiker hat 
die Aufgabe, die feilgebotenen Wurst- und Fettwaaren, die Milch, Butter, kurz 
alle Nahrungs- und Genussmittel auf Reinheit und Echtheit zu prüfen und 
so das kaufende Publicum vor dem Ankauf verdorbener oder verfälschter 
Nahrungs- und Genussmittel zu schützen. 

Die eigentlichen Polizeiorgane müssen nun auf jedem Markt und während 
der ganzen Dauer desselben anwesend sein. Der Thierarzt und der Chemiker 
dagegen revidiren nur in angemessenen Zwischenräumen die Märkte ihres 
Bezirkes und erstatten dann der betreffenden Ortsbehörde Bericht über die 
stattgehabte Revision und das Ergebnis der Untersuchung der etwa ent¬ 
nommenen Proben. Die letztere Aufgabe trifft nun fast ausschliesslich den 
Chemiker, wie überhaupt bei der ganzen Marktpolizei die Thätigkeit des 
Chemikers und des Thierarztes in hygienischer Beziehung im Vordergrund 
steht. Auch tragen beide die grösste Verantwortung, da einmal jeder etwa 
durch Ankauf verdorbenen Fleisches etc. hervorgerufene Krankheitsfall diesen 
beiden Organen der Marktpolizei zum Vorwurf gemacht wird, andererseits 
aber auch eventuell auf ihren Ausspruch hin erhebliche Vorräthe einfach ver¬ 
nichtet werden. Es wird leider noch nicht genug der Chemiker zur Ueber¬ 
wachung der Märkte herangezogen, obwohl die Thätigkeit desselben im Inter¬ 
esse der öffentlichen Gesundheitspflege, besonders für die arbeitende Classe, 
von grösster Bedeutung ist. Auf den Märkten strömen die Verkäufer von 
Nahrungs- und Genussmitteln von weither zusammen und bringen häufig 
Waaren zum Verkauf, die sie in ihren Heimatsorten nicht absetzen konnten. 
Dadurch nun, dass der Chemiker verpflichtet ist, bei seiner Revision des 
Marktes von Stand zu Stand zu gehen, und der Verkäufer ihm alles, was er 
feil bietet, vorlegen muss, ist er in der Lage, jeden Verstoss gegen die Vor¬ 
schriften der öffentlichen Gesundheitspflege sofort festzustellen. Von allen 
dem Chemiker irgend wie verdächtig vorkommenden Verkaufsgegenständen, 


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MAXIMALDOSEN. 


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sei es nun, dass sie verdorben oder gefälscht seien, muss er eine Probe ent¬ 
nehmen, um sie einer gründlichen chemischen Untersuchung zu unterziehen. 
In besonders eclatanten Fällen ist der begleitende Polizeibeamte verpflichtet, 
den ganzen Vorrath sofort mit Beschlag zu belegen und so dem Verkaufe zu 
entziehen. Ueber die am meisten vorkommenden und in hygienischer Be¬ 
ziehung wichtigsten Verfälschungen und die Methoden zur Feststellung der¬ 
selben wird in einem besonderen Artikel gesprochen werden (siehe „Nahrungs¬ 
mittelverfälschung“). Durch die oben kurz beschriebene Art der Marktrevision 
durch den amtlichen Chemiker wird es den gewissenlosen Verkäufern schwer, 
wenn nicht unmöglich gemacht, verdorbene, resp. verfälschte Nahrungs- und 
Genussmittel auf den Markt zu bringen. Von der grössten Bedeutung ist 
diese Art der Controle in den dicht bevölkerten Industriecentren und den 
grossen Städten. Die Erfahrung hat auch gelehrt, dass durch diese Controle den 
Fälschern das Handwerk sehr erschwert wird. Schreiber dieses hat persönlich 
Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht, die von allgemeinem Interesse sein 
dürften. Der Procentsatz der als verdorben, resp. als verfälscht beanstan¬ 
deten Nahrungs- und Genussmittel ging in seinem Bezirk (grosses Industrie¬ 
gebiet mit sehr dichter Bevölkerung) in drei Jahren von etwa 30°/ 0 auf 10% 
herab. Einzelne Verfälschungen verschwanden in der Zeit ganz, z. B. war 
in der ersten Zeit der grösste Theil des auf den Markt gebrachten Schmalzes 
verfälscht, während nach etwa drei Jahren keine Verfälschung dieses für die 
Arbeiter so wichtigen f Nahrungsmittels mehr festgestellt wurde. Diese Er¬ 
fahrung deckte sich mit denen einer ganzen Anzahl Collegen derselben Gegend. 
Der Verkehr mit Wurstwaaren wurde durch die beständige und scharfe 
Controle auch ein erheblich besserer. Bis zur Einführung der Controle wurden 
häufig schlecht zubereitete zum Theil verdorbene oder durch Mehlzusatz stark 
verfälschte Wurstwaaren zum Verkauf gestellt. Nachdem dieses Treiben aber 
durch den zuständigen Chemiker festgestellt und zur Anzeige gebracht worden 
war, trat eine ganz erhebliche Besserung ein. Es wurden auf Veranlassung 
der amtlichen Chemiker Polizeiverordnungen über den Verkehr mit Wurst¬ 
waaren erlassen, und war seitdem selten Grund zur Beanstandung vorhanden. 
Aehnlich verhielt es sich mit dem Verkehr mit Milch, Butter und den Ersatz¬ 
mitteln der Butter. Aus den angeführten Thatsachen ist die überaus grosse 
Bedeutung der Marktcontrole durch staatlich geprüfte und amtlich angestellte 
Chemiker klar ersichtlich. Sie ist nicht nur von hygienischer Bedeutung, 
indem sie das Publicum vor dem Ankauf verdorbener oder gefälschter Nahrungs¬ 
und Genussmittel schützt, sondern sie ist auch in gewisser Hinsicht von 
nationalökonomischer Bedeutung, indem sie den minderbegüterten Arbeiter 
vor dem Ankauf der durch Verfälschung minderwertig oder ganz wertlos 
gewordenen Waare hütet. (Vergl. Artikel „NahrungsmittelVerfälschung“.) 

AD. KREUTZ. 

Maximaldosen. ( Höchstgaben .) Einen sowohl vom gesundheitlichen als 
auch vom medicinal-polizeilichen Standpunkte wichtigen Bestandteil in den 
Pharmakopoen der meisten Culturstaaten bildet die„Maximaldosentabelle“, 
eine staatlicherseits festgesetzte Zusammenstellung bestimmter Höchstgaben 
stark wirkender Arzneimittel, über welche der Arzt in der Receptverschreibung 
nicht hinausgehen darf, ohne durch Hinzufügung eines besonderen, vorge¬ 
schriebenen Zeichens anzudeuten, dass er wohlbewusst und absichtlich eine 
ungewöhnlich hohe Dosis verordnet habe. Die Aufstellung der Maximaldosen¬ 
tabelle bezweckt keineswegs eine Einschränkung des Arztes hinsichtlich seines 
therapeutischen Handelns, sondern hat lediglich die Verhütung von Gesund¬ 
heitsschädigungen durch irrthümlich oder versehentlich zu hoch verschriebene 
Gaben heroischer Mittel im Auge. Demgemäss ist der Arzt allezeit befugt, 
die festgesetzte Höchstgabe eines Arzneimittels in beliebigem Maasse zu tiber- 

Bibl. med. Wiseenschften. Hygiene u. Oer. Med. 38 


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MAXIMALDOSEN. 


schreiten; nur hat er in diesem Falle dem Apotheker dnrch Hinzufügung des 
vorschriftsmässigen Zeichens kundzugeben, dass er diese Ueberschreitung 
beabsichtigt habe und seinerseits verantworte. Fehlt dieses Zeichen auf dem 
Recepte, so darf der Apotheker das Medicament nicht verabfolgen, bevor er 
sich davon überzeugt hat, dass die Verschreibung der ungewöhnlich hohen 
Dosis vonseiten des Arztes nicht etwa irrthümlich erfolgt sei. Der Grundsatz, 
welcher, diesem Zwecke der Maximaldosentabelle entsprechend, bei der Auf¬ 
stellung einer solchen als maassgebend anzusehen ist, ist demnach der, dass 
die fixirte Höchstgabe nicht so hoch sein darf, dass sie unter gewöhnlichen 
Verhältnissen eine Gesundheitsschädigung verursachen kann, andererseits aber 
nicht so niedrig, dass die (in der Praxis erfahrungsgemäss oft vorkommende) 
Auslassung des vorgeschriebenen Zeichens allzuhäutig Störungen im Apotheken¬ 
betriebe veranlasst. Die erste Maximaldosentabelle erschien als Anhang zur 
Pharmakopoea Borussica, Editio IV, Berlin 1829, und enthielt zunächst nur 
Maximaldosen für Einzelgaben; erst später wurden zu diesen auch die höchsten 
Tagesgaben, die Maximaldosen pro die hinzugefügt. Zur Zeit enthalten alle 
Pharmakopoen eine Maximaldosentabelle mit Ausnahme allein der britischen 
und französischen. Wenngleich alle diese Tabellen im Grossen und Ganzen 
nach den gleichen Gesichtspunkten bearbeitet sind, so weichen sie doch im 
Einzelnen vielfach recht erheblich von einander ab. Sehr verschieden gross 
ist z. B. schon die Zahl der in dieselben aufgenommenen Arzneimittel, da es 
naturgemäss keine feste Grenze zwischen stark wirkenden und weniger diffe¬ 
renten Medicamenten gibt. Mittel, die in noch höherer Einzelgabe als zu 
3 0 g zulässig sind, dürften kaum noch zu den heroischen zu zählen und mit 
Fug und Recht von der Maximaldosentabelle auszuschliessen sein. *) Dennoch 
führt auch die zur Zeit gütige Pharmakopoea Germanica, HI. Ausgabe (giltig 
seit dem 1. Jänner 1891) noch höchste Einzeldosen bis zu 4 0 g (Amylenum 
hydratum; Chloralum formamidatum) und 5"0 g Paraldehydum) auf. Die zum 
Theil recht erheblichen Abweichungen der in den verschiedenen Pharma¬ 
kopoen für die gleichen Arzneimittel festgesetzten Höchstgaben beruhen zum 
Theil auf der Verschiedenheit der Ansichten, welche die unterschiedlichen 
Bearbeiter von der Wirkung der betreffenden Mittel hatten, zum Theü aber 
auch auf Unterschieden in der Zubereitung, resp. in der durch diese erzielten 
geringeren oder grösseren chemischen Reinheit mancher Präparate. — Als 
das Zeichen, welches der Arzt bei Ueberschreitungen der Maximaldosen hin¬ 
zufügen soll, war in der ersten preussischen Tabelle das Ausrufungszeichen (!) 
vorgeschrieben. Dieses ist noch heute im Arzneibuche für das Deutsche 
Reich giltig und auch in die Mehrzahl der ausländischen Pharmakopoen über¬ 
nommen worden. Nur Dänemark und Norwegen verlangen statt dessen, dass 
der Arzt alle die Maximaldosen überschreitenden Zahlen erst gewohnter- 
maassen in Ziffern, daneben aber zugleich in Buchstabenschrift ausdrücke. 
Schweden dagegen schreibt die Hinzufügung des Wörtchens „sic!“ vor, und 
die Pharmakopoea Helvetica endlich begnügt sich nicht mit dem Ausrufungs¬ 
zeichen allein, sondern fordert ausser ihm auch die Unterstreichung der die 
Maximaldose überschreitenden Zahl. Ferner enthält das Arzneibuch für die 
Schweiz, während die übrigen sämmtlich Maximaldosen allein für Erwachsene 
aufstellen, auch noch eine besondere Tabelle für das Kindesalter bis zum voll¬ 
endeten zweiten Lebensjahre. Logischerweise hätte diese nur dann einen 
rechten Zweck, wenn der Arzt verpflichtet wäre, auf jedem Recepte das Alter 
des Patienten anzugeben. Dieses Verlangen ist bisher nirgends gestellt 
worden, und da auch der Apotheker gemeinhin nicht in der Lage ist, das 
Alter der Personen, für welche die von ihm gefertigten Medicamente bestimmt 

*) Th. Husemann in der Real-Encyklop&die der gesammten Phannacie von Grissler 
nnd Müller, Wien und Leipzig 1889 (Urban und Schwarzenberg), Bd. VI, S. 576. 


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. MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 


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sind, zu controliren, so bat man in allen übrigen Staaten von besonderen 
Maximaldosentabellen für Kinder Abstand genommen. Die damit anzweifel¬ 
haft gelassene Lücke bemüht sich die Pharmakopoea Russica dadurch auszu¬ 
füllen, dass sie dem Arzte vorschreibt, dass für Kinder von bestimmten Alters- 
classen besonders festgesetzte Bruchtheile der für Erwachsene gütigen Maxi¬ 
maldosen maassgebend sein sollen. *) In allen übrigen Staaten wird es 
wohl stillschweigend als selbstverständlich angenommen, dass ein Apotheker, 
dem es auffällt, dass der Arzt für ein kleines Kind ein der Maximaldose für 
den Erwachsenen sehr nahe kommendes Quantum einer difierenten Arzenei 
verschrieben hat, ohne die Absichtlichkeit seiner Verordnung ausdrücklich 
kundzugeben, aus eigenem Antriebe den Arzt hierauf aufmerksam machen 
werde. Das Verfahren, welches der Apotheker einzuschlagen hat, wenn ihm 
ein Recept zur Anfertigung übergeben wird, auf dem eine Maximaldose über¬ 
schritten ist, ohne dass das vorgeschriebene Zeichen beigefügt ist, ist in den 
meisten Staaten ausführlich vorgeschrieben; so ist z. B. in Preussen der Apo¬ 
theker gemäss einer MinisterialVerfügung vom 21. September 1872 (erlassen 
gelegentlich der Einführung der Pharmakopoea Germanica) gehalten, in erster 
Linie mit dem betreffenden Arzte Rücksprache zu nehmen und, wenn er 
diesen nicht aufzufinden vermag, den Kreisphysicus um eine Anweisung anzu¬ 
gehen; den gleichen Weg hat er auch dann einzuschlagen, wenn ihm trotz 
der Beifügung des Ausrufungszeichens hinsichtlich der Zulässigkeit der ver¬ 
ordnten Dosis noch Zweifel auftauchen. Eine eigenmächtige Modificirung 
der verschriebenen Recepte ist ihm keinesfalls gestattet. Aehnliche Bestim¬ 
mungen sind in den übrigen Staaten maassgebend. Eine übersichtliche 
Zusammenstellung aller europäischen Maximaldosentabellen gibt Th. Husemann 
am früher angegebenen Orte (siehe Fussnote Seite 594). g. woltersdorf. 

Militärgesundheitsdienst ist der Inbegriff aller der Verrichtungen, 
die darauf abzielen, die bewaffnete Macht eines Volkes gesund, kraftvoll und 
schlagfertig zu erhalten. 

Dieser Dienst erstreckt sich theils auf die Umgebung des Soldaten, und 
zwar auf Licht, Luft, Boden und bauliche Einrichtungen der Soldatenwohnung, 
sowie auf seine Bekleidung und Ausrüstung, theils unmittelbar auf den Körper 
des Soldaten, und zwar auf die Reinhaltung, Abhärtung und Ernährung des 
Soldatenkörpers. 

Die wichtigste Unterkunft des Soldaten ist die Kaserne. Damit 
diese für das Sonnenlicht und die reine Luft allseitig zugängig sei und auf 
einem geeigneten Boden ruhe, sind für ihre äussere Anlage folgende Gesund¬ 
heitsregeln zu beachten: Eine Kaserne liege hoch in freier Gegend vor den 
Stadtthoren, etwa 1 km von anderen Wohnungsanlagen entfernt, nicht von 
Bergen, Stadtmauern und Fabriken, sondern von Hainen und Gärten umgeben, 
womöglich an fliessendem Wasser, jedoch nicht im Ueberschwemmungsgebiete. 
Die Platzwahl achte auf die Eigenschaften des Bodens, seine Gestalt, seine 
Höhe über dem Meeresspiegel, seine Bewachsung, seine geognostischen Eigen¬ 
schaften, insbesondere die Anordnung der Bodenschichten (in Hohlwegen, 
Bahn-Einschnitten erkennbar), die Tiefe, in welcher man das Grundwasser 
findet, die physikalische Bodenbeschaffenheit: Bodenfeuchtigkeit, Durchlässig¬ 
keit, Bodentemperatur; chemische Eigenschaften: Gehalt an organischen Stoffen, 


*) Bis zum Ende des 1. Jahres = ‘/so -l /io- 


2— 3 Jahre 

= 

ein Achtel 1:8. 

4— ö „ 

= 

ein Sechstel 1:6. 

6- 8 , 


ein Viertel 1:4. 

9-11 , 

— 

ein Drittel 1:3. 

12-15 „ 

= 

die Hälfte 1:2. 

16-19 , 

= 

drei Viertel 3:4. 


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MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 


quantitative und qualitative Wasseranalyse, meteorologische Eigenschaften; 
Krankheiten und Sterblichkeit der Bevölkerung. 

Ist der Untergrund feucht (z. B. Lehmboden) und undurchlässig, so 
muss er in gehöriger Ausdehnung drainirt werden, oder es werden aushilfs¬ 
weise und ohne Gewähr vollen Erfolgs wasseranziehende Pflanzen, z. B. Sonnen¬ 
blumen, Indianerreis cicacia aquatica, wie dies sich in Festungsgräben bewährt 
hat, angepflanzt. 

Aufzuschiittender Baugrund darf nur aus Erde, Bauschutt (Steine, Sand, 
Mörtel), Sand, Kies und Steinknack, nicht aus Kehricht, Scherben, Blech¬ 
stücken, Blechgeräthen, Gyps, Stroh, Holz, Papier, Dünger, Asche, Kohlen¬ 
staub, Russ, Glas, Schlamm u. dgl. bestehen. 

Die Baugrundfläche sei so geräumig, dass an den Kasernenbau ein 
Uebungsplatz (Marsfeld) stösst, der im Kriegsfälle Baracken und Zelte auf¬ 
nehmen kann. Die Fläche muss besonders gross sein, wenn für die Form 
des Kasernenbaues Blocks in Aussicht genommen sind, die gesundheitlich an 
erster Stelle stehen, sich aber nicht für jedes Klima zu eignen scheinen. Das 
Baumaterial bestehe aus gutgebrannten Ziegeln, trockenen Sandsteinen u. dgl. 

Der nöthige Innenraum des Kasernenbaues ist so hoch zu veranschlagen, 
dass auf jeden Mann durchschnittlich 20 m 3 Luftraum kommen, dass die Wohn-, 
Putz- und Schlaf-Räume getrennt sind, und dass auf Nebengelasse, nament¬ 
lich auch auf einen Raum zum Aufhängen nasser Kleider und zum Auf¬ 
bewahren schmutziger Leibwäsche Bedacht genommen ist. 

Bei Corridorbauten verlaufe der Corridor nicht zwischen den Zimmer¬ 
reihen, sondern auf der (nördlichen oder westlichen) Seite, und beschränke man 
die Zahl der Gestocke, einschliesslich des Erdgestockes, auf drei. Das Dach- 
gestock diene der Unterbringung von Yorräthen, doch gewähre es aushilfsweise 
und vorübergehend, z. B. bei Durchmärschen, auch Leuten Unterkunft. Zweck¬ 
mässig, wiewohl kostspielig, ist es, Küchen, Kantinen, Speiseräume, das Wasch¬ 
haus, das Bad, die Montirungskammern, Wachzimmer, Geschäftsstuben und 
Arreste in besondere Nebengebäude zu verweisen. Zum Theil wird sich 
dies fast immer erreichen lassen. Wenn es für die Küche, Kantine, Wasch¬ 
haus und Bad nicht möglich ist, so fasse man für sie das Kellergestock ins 
Auge. 

Kellerräume eignen sich nicht zur Bewohnung, weil es ihnen in der 
Regel an Licht und guter, namentlich wegen des nahen Grundwassers 
trockener Luft fehlt. Aehnlich verhalten sich die Gasematten (casa matta = 
Mordkeller, weil aus ihnen geschossen wurde); sie sind feucht und kalt und 
beanlagen erfahrungsgemäss oft zum Wechselfieber. Es sind gewölbte, meist 
mit Erdaufschüttung versehene Hohlbaue, welche den Festungsvertheidigem 
zum Schutze dienen und möglichst so angelegt sind, dass sie ihre Luft meist 
von der Seite der Festungsgräben erhalten; die Wände lasse man in Cement 
mauern, mit Steinkohlentheer überstreichen, auch öfter den Boden mit trocke¬ 
nem Sande bestreuen. Die Kellerwohnungen der Kasernen sind nur dann 
gesundheitlich nicht nachtheilig, wenn folgende bauliche Bedingungen erfüllt 
sind: Die Sohle des Kellers komme mindestens 1 m über den muthmaasslich 
höchsten Stand des Grundwassers zu liegen; Kellerwohnungen dürfen nicht 
nach Norden liegen, sondern nur nach Süd, Ost und West; sie dürfen nur 
in Kasernen angelegt werden, welche entweder an einem freien Platze oder 
auf Strassen liegen, auf welchen die gegenüberliegenden Häuser bis zur Trauf- 
kante nicht höher sind, als die Strassen selbst breit sind; vor der Keller- 
Wohnung ist in der ganzen Länge derselben ein isolirender und ventilirbarer 
Luftraum mittels Anlegung von Isolirungsmauern in mindestens 0'25 m Ab¬ 
stand von den Umfassungsmauern herzustellen, dieser Luftzwischenraum muss 
bis unter den Fussboden der Kellerwohnung hinabreichen; der Fussboden 
der Wohnung mussbetonirt sein in einer Dicke von 015 iw, und darauf erst 


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MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 


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jst das Balkenlager und die Dielung zu bringen; anch kann man statt des 
Betons eine Lehmschicht festrammen und dieselbe zunächst mit Theerdach- 
pappe belegen. Die lichte Höhe der Wohnräume hat mindestens 2 6 m zu 
betragen, und es muss deren Decke wenigstens zu einem Dritttheile der Höhe 
Über das umgebende Erdreich zu liegen kommen; die über der Strassenfläche 
liegende Fensterfläche hat wenigstens 0 - 7 m a zu betragen; die Wohnräume 
müssen von innen zu beheizen sein; im Falle durch die Kellerwohnung 
Heimschleussen geführt sind, dürfen diese innerhalb dieser Wohnung keine 
Oeffnung haben. 

Der Fussboden im Innern des Kasernen-Wohnraumes bestehe aus 
festem, hartem, undurchlässigem, dicht gefügtem Holze, das nach der Dielung 
dreimal und dann zweijährlich einmal mit reinem siedenden Leinöle zu tränken 
ist. Das Hauptgewicht ist auf die Undurchlässigkeit des Fussbodens zu legen. 
In alten Kasernen mit undichten Fussböden entwickelt man zur Entgiftung 
der Zwischendeckenluft zunächst Bromdämpfe und spänt und verkittet die 
gereinigten Spalten. 

Im französischen Heere sind vom Jahre 1886 an anf Anordnung der Kriegsverwaltung 
zahlreiche Versuche unternommen worden, um die Kasernenfussböden undurchlässig zu 
machen. Als Imprägnirungsmittel worden angewendet: Steinkohlentheer, in kaltem oder 
warmem Zustande, rein oder vermischt mit Kalkmilch oder hydraulischem Kalk oder 
Terpentinöl, ferner Leinöl in kochendem Zustande, Harzöl. Fussbodenlack, rein oder ge¬ 
mischt mit Theer und Petroleum, sodann Wachsfirnis und endlich Carbolineum. Da von 
Seite der Kriegsverwaltung für die Imprägnirungsversuche keine besonderen Directiven 
herausgegeben wurden, so war vorauszusehen, dass die mit obigen Mitteln in den verschie¬ 
denen Garnisonen und Kasernen unternommenen Versuche zu ganz verschiedenartigen Er¬ 
gebnissen führten, ja dass selbst die mit einem und demselben Mittel erzielten Resultate 
je nach der Anwendungsweise oft ganz entgegengesetzte waren. 

Auf Grund sämmtlicher über die Imprägnirungsversuche eingelangten Berichte gab 
nun der technische Militär-Sanitätsausschuss in Paris folgendes Gutachten in dieser Frage 
ab: Die Undurchlässigmachung der Fussböden in den Mannschaftszimmern ist vom hygieni¬ 
schen Standpunkte zu empfehlen und sollte allgemein eingeführt werden. Das beste und 
Zugleich billigste Imprägnirungsmittel ist der Steinkohlentheer. Die Anwendungsweise soll 
folgende sein: Der Fussboden wird mit Hammerschlag abgerieben und sodann trocken ge¬ 
bürstet, bis 8ämmtlicber Staub verschwunden ist; sämmtliche Fugen und Sprünge zwischen 
und in den Brettern des Fussbodens werden mit Holzleisten ausgefüllt; sodann wird der 
kochende Steinkohlentheer mit einem Pinsel derart aufgetragen, dass er in alle Fugen und 
Risse des Holzes eindringt und 1 kg Theer auf 10 m* Fussbodenfläche hinreicht. Das 
Zimmer darf erst nach vollständiger Trocknung des Fussbodens betreten werden. Nach 
einem halben Jahre ist eine zweite Theerung vorzunehmen; sodann aber genügt es, die 
Imprägnirung jährlich einmal zu erneuern. Vor den späteren Theerungen wird der Fuss¬ 
boden nur trocken gebürstet. Die Mauersockel rings um die Zimmer sind ebenfalls bis 
zu 0*5 m Höhe zu theeren, nachdem sie zuvor abgekratzt und von dem früheren Anstrich 
befreit wurden. Die Imprägnirangen sind entweder während der grossen Manöver vor¬ 
zunehmen, während welcher die Kasernen leer sind, oder aber ist zur Ausführung der¬ 
selben bei den Truppen einstweilen der gedrängte Belag anzunehmen. Die undurchlässig 
gemachten Fussböden dürfen weder gewaschen, noch trocken gekehrt werden; es genügt 
zu ihrer Reinigung, sie mehrmals wöchentlich mit feuchten Lappen abzuwischen. 

Das Füllmaterial des Zwischendeckenraumes muss trocken und frei von 
Keimen und stickstoffhaltigen Körpern aller Art sein. Zu empfehlen ist der 
vom Architect Nussbaum vorgeschlagene Kalktorf, d. i’. mit Kalkmilch getränkter 
Torf. Er entspricht nicht nur den gesundheitlichen Anforderungen, sondern 
ist auch sehr leicht — 1 m 3 wiegt nur 200 kg — und leitet Schall und 
Wärme, aber auch die Flamme, an der er nur erglüht, schlecht. 

Für die natürliche Beleuchtung einer Kaserne ist soweit zu sorgen, dass 
die lichtgebende Gesammtfläche der Fenster eines Wohnraumes mindestens 
ein Zwölftel der Grundfläche beträgt. Die künstliche Beleuchtung ist mit 
Elektricität herzustellen. 

Zugunsten ergiebiger Lufterneuerung (Ventilation) in den Wohn- 
räumen einer Kaserne, besonders einer Corridorkaserne, seien die Stuben mehr 
lang als tief, und liegen die Thüren den Fenstern gegenüber. Jeder Raum 
$ei für sich lüftbar, und seine beweglichen Fenster führen unmittelbar ins 


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MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 


Freie. Dies gilt besonders auch für Abtritte, Küchen und Schlachthäuser. 
Die natürliche Lüftung durch Fenster und Thüren oder durch Einlassöffnungen 
und Auslassschornsteine ist nur bei Temperaturunterschieden zwischen Aussen* 
und Stuben-Luft wirksam und für Corridorkasernen selbst im Winter gewöhn¬ 
lich mangelhaft, weil die Luft auf dem ersteren Wege vom Corridor stammt, 
also verdorben und ausserdem kalt ist. Die künstliche Lufterneuerung erstrebt 
im Winter reine und warme Luft, die sich gleichmässig vertheilt, auf dem 
Wege der Heizung. 

Die Vorrichtungen für Lnftemenernng gewinnen durch den von der Heizung be* 
wirkten Temperatur-Unterschied wesentlich an Wirksamkeit, und man ist heutigen Tages 
bemüht, für die Winterszeit die Saugkraft der warmen Heizluft zur Lufterneuerung der 
beheizten Räume auszunutzen. Im Allgemeinen unterscheidet man centrale und örtliche, 
d. h. für einzelne Räume besonders angelegte Heizeinrichtungen. Die ersteren sind Luft-, 
Wasser-, Dampfluft-Heizungen und Vereinigungen dieser Arten. Sie haben eine Anzahl 
von Vortheilen vor den örtlichen Einrichtungen voraus, aber auch so viele Nachtheile, dass 
für die Kasernen meist noch an der örtlichen Heizung festgehalten wird Die reichlichste 
Aussicht, sich Bahn zu brechen, hat von den centralen Heizungen die Luftheizung. 

Für die örtlichen Heizanlagen wendet man sich mehr von der reinen Strahlungs¬ 
heizung ab und baut vorwiegend Luftheizungsöfen. Diese sind solche, welche die Zuführung 
frischer Luft aus dem Freien, Erwärmung derselben im Raume zwischen dem Innenofen 
und dem bis auf den Fussboden herabreichenden Mantel und Austritt derselben ins Zimmer 
am oberen Ende des Ofens bezwecken (Ventilationsöfen), oder solche, deren Mantel am 
unteren Ende durchbrochen ist, so dass die Luft, zwischen dem Zimmer und dem Raume, 
der den Ofen vom Mantel trennt, circulirt (Circulationaöfen). Die letztere Art fordert, da 
sie vorgewärmte Luft an den Ofen bringt, weniger Heizmaterial, die Luft ist aber freilich 
nicht ausschliesslich reine Luft. 

Abgesehen von dem Zwecke der Lufterneuerung verwendet man Kachel- und Eisen- 
Oefen. Kachelöfen mit luftdichtem Verschlüsse sind den eisernen im allgemeinen vorzu- 
ziehen. Ofenklappen sind verwerflich. 

Es ist ferner vom Stubenzwecke abhängig, ob periodisch (ohne luftdichtschliessende 
Thüren oder mit solchen) oder continnirlich, d. h. mit Schüttfeuerung, bei welcher das 
Material von einem gedeckten Füllscbacht kommt, geheizt werden soll. Inmitten steht die 
Regulirfeuerung, bei welcher grössere Mengen des Heizmaterials allmählich von oben zur 
Verbrennung gelangen, die Luftabfuhr aber gering ist. 

Kamine, wie sie in bürgerlichen Wohnungen Frankreichs, Italiens und Englands 
gebräuchlich sind, vermitteln eine lebhafte Lufterneuerung, können aber in Kasernen nicht 
in Betracht kommen. 

Dass die Stubenwärme 14° R. erreicht, muss durch aufgehängte Thermometer nach¬ 
weisbar sein. 

Die Anlagen für die Abfälle, namentlich den menschlichen Koth, 
müssen so eingerichtet sein, dass letztere von Haus aus ausserhalb der Kaserne 
so gründlich und schnell wie möglich, aber auch geruchlos, den menschlichen 
Wohnungen entrückt werden können. Die Abtritte dürfen daher nicht nächst 
den Wohnräumen der Soldaten in die Kaserne eingebaut werden, sondern 
man errichtet sie abseits und stellt ihre Verbindung mit der Kaserne durch 
gedeckte Gänge her. Die Latrinenräume müssen ausgiebig und unmittelbar 
ins Freie gelüftet werden können. Abtrittsabfallrohre Seien aus undurch¬ 
lässigen Baustoffen hergestellt, spülbar und als Luftröhre über das Dach 
hinaus verlängert. Alle zum Schleussensystem führenden Ausgussbecken, auch 
die der Küchen, seien mit Wasserverschlüssen versehen, insoweit letztere 
nicht an den Nebenschleussen selbst angebracht sind. Abtrittsgruben sind zu 
vermeiden. Wenn sie schon vorhanden und nicht zu beseitigen sind, sind 
Sohle, Wände und Decke derselben mindestens wasser- und luftdicht gegen 
ihre Umgebung abzuschliessen. Besser ist in solchen Fällen für ständige 
Behälter mit pneumatischer Leerung oder bewegliche Tonnen zu sorgen. 

Die Wasserversorgung der Kaserne erfolgt durch Wasserleitung 
(centrale oder örtliche) oder durch Brunnen. Letztere sind jedenfalls auch 
neben der Wasserleitung herzustellen. Ihre Herstellung ist, da sie zumeist 
das Trink wasser liefern, mit besonderer Rücksicht auf gesundheitliche An¬ 
sprüche auszuführen. Ein Brunnen soll fern von Gruben und Schleussen und 


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so tief angelegt werden, dass seine Sohle nicht blos im Sickerwasser, sondern 
im Grundwasser liegt. 

Die Brnimenmaner muss eine Manerziegellänge dick sein; ausserhalb der Maner ist, 
die 3 obersten Meter, Thon anzurammen, weiter abwärts Kies anzufällen. Das obere Mauer¬ 
werk ist in Cement zu mauern und mit Granit zu decken, damit die Abfallwässer nicht 
durcbsickern. Umpflanzungen des Brunnens sind nicht räthlich, weil sich an den Wurzeln 
Wärmer ansammeln, welche in der kalten Jahreszeit nach der Wärme des Brunnens hin¬ 
ziehen. Die Brunnenröhren mässen zweijährlich einmal gesäubert, ebenso oft muss der 
Grund geschlemmt und mit gewaschenem Kiese versehen werden. 

Für das Baden sind die Kaserneninsassen auf Zeit der wärmeren Mo¬ 
nate in die Badeanstalt eines nahen Flusses und auf Zeit der kälteren Monate 
in die Badeanstalt der Kaserne zu verweisen. Eine solche Kasernenbade¬ 
anstalt, die Spritzbäder ermöglicht, beansprucht für ein Infanterie-Bataillon 
einen heizbaren Flächenraum von etwa 50 m*. Der Abstand von je 2 Brausen 
betrage 1 m. Das Verhältnis des Ankleideraums, der vom Baderaum durch 
eine feste, zweithürige Wand zu trennen ist, zum Baderaum ist auf 3:2 zu 
bemessen. 

Es ist selbstverständlich, dass an Noth-Unterkünfte, wie Massenquartiere, 
BUrgerquartiere, Feldlager und Biwaks nicht die strengen Gesundheitsansprüche 
zu erheben sind, wenngleich auch gegenüber diesen vorübergehenden Unter¬ 
künften gewisse Mindestforderungen gestellt werden müssen. 

Für Feldlager meide man sumpfige, sowie der Ueberschwemmung 
durch Flüsse oder Kegen oder schmelzenden Schnee ausgesetzte Gegenden, 
auch enge Thäler und Schluchten; undurchlässiger Lehmboden ist weniger 
zuträglich als Sand- und Kreide-Boden und Boden mit niedrigstehendem Grund¬ 
wasser; Waldbestand ist geeignet, die Nachtheile des Sumpfbodens zu ver- 
grössern. 

Aehnliche Kegeln gelten für die Biwaks oder Freilager; für sie wähle 
man einen hoch auf trockenem, abgedachtem Boden gelegenen Platz, fern von 
stehenden, sumpfigen Wässern, feuchten Bodeneinsenkungen und Stellen, die 
von heftigen Zugwinden bestrichen werden. In der Nähe muss gutes Trink¬ 
wasser, sowie Brennmaterial und Gelegenheit zur Unterbringung der Abfall- 
stofle vorhanden sein. Der Biwakirende schlafe nicht auf feuchtem und un¬ 
bedecktem Erdboden und nicht in nassen Kleidern. 

Die Behausungen in Feldlagern und Biwaks sind Baracken, Zelte und 
Hütten, deren Platzwahl von den für die Kasernen angegebenen Grundsätzen, 
soweit möglich, geleitet wird. Ueberdies sind für Baracken bauten zweck¬ 
mässig: Freie Lage mit natürlichem Gefälle, durchlässiger Untergrund, 
trockener Boden, Gräben, Drainage, trockenes Baumaterial, keine Erdan¬ 
schüttungen, Dielung des der Unterkellerung entbehrenden Fussbodens oder 
wasserdichte Pflasterung, doppelte Brettwände mit Verschalung, dichtes, weit 
vorspringendes Dach, Fenstern und Thüren auf jeder Längs- und Giebelseite, 
natürliche Lüftung und solche im Dachfirst. 

In Zelten sei der Fussboden mit frischem Stroh, Heu, Nadelholzzweigen 
u. ä. oder wasserdichten Decken belegt; bei längerer Benützung empfiehlt 
sich Brettboden, der wöchentlich einmal freizulegen und zu trocknen ist. Um 
jedes Zelt verlaufe ein Graben, der das Wasser in einen Sammelgraben leitet. 

Bei Hütten ist besonderer Werth auf Lüftbarkeit (durch entgegengesetzte 
Luftlöcher) und Trockenheit, also Anlegung von Abflussgräben zu legen. 

Ebenfalls zu den vorübergehenden militärischen Unterkünften zählen 
die Transportunterkünfte in Eisenbahnen und Kriegsschiffen. Die Eisen¬ 
bahnen werden für den allgemeinen Volksverkehr gebaut, und so lassen 
sich besondere gesundheitliche Bauansprtiche an die von Soldaten benützten 
Eisenbahnen nicht stellen. 

Dasselbe gilt von den Feld-Eisenbahnen, insofern auch ihre Bautechnik 
unter den allgemein gütigen technischen Gesichtspunkten steht. Die mili- 


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tärische Gesundheitspflege hat sich deshalb mehr an den Betrieb zu wenden 
und denjenigen Gefahren vorzubeugen, die von Seiten des mit dem Menschen¬ 
verkehr untrennbaren Schmutzes und der von ihm verschleppten Seuchen drohen. 
Daher müssen zu Kriegszeiten die Bahnwagen, wenn irgend möglich, wöchent¬ 
lich einmal gründlich gereinigt und entgiftet werden. Der Kehricht muss 
verbrannt werden. Bei einem auftretenden Seuchenfalle muss der betroffene 
Wagen sofort ausgeschaltet und gründlich gereinigt und entgiftet werden. Es 
müssen Einrichtungen vorhanden sein, mittels deren das Trinkwasser vor dem 
Genüsse gekocht werden kann. 

Die Schiffe verlangen eine grössere Beachtung vonseiten des Gesund¬ 
heitsdienstes, da sie den Soldaten in der Regel länger beherbergen als die 
Eisenbahnen. Besonders thun dies ausrangirte Schiffe, die hie und da als 
Kasernen benützt werden. Dieselben liegen fest vertäut am Lande; im Sommer 
sind sie sehr heiss, im Winter lässt sich nur auf Kosten verminderter, ja 
aufgehobener Ventilation ein einigermaassen behaglicher Wärmegrad erreichen. 
Bei der geringen Höhe der Decks ist eine ausgiebige und gesonderte Ven¬ 
tilation der verschiedenen Räume nöthig; schwierig wird sie immer bei Wind¬ 
stille sein. In gleicher Weise ist auch bei fahrenden Kriegsschiffen für reich¬ 
lichen Luftzutritt und strenge Reinlichkeit, ebenso wie für Trockenheit zu 
sorgen. Gesundheitlich verschieden sind die Schiffe, je nachdem sie Holz¬ 
oder Eisenschiffe sind. Beide haben ihre Vortheile und Nachtheile. 

Die Holzschiffe leiten die Wärme schlecht und haben infolge dessen innen eine 
gleichmässigere Temperatur, während eiserne Schiffe in den Polargegenden wenig Schutz 
gewähren und unter den Tropen zu Glühöfen werden. Die Holzschiffe bestehen aber aus 
organischem, fäulnisfähigem Stoffe, dazu kommt, dass ihnen Lecke nie fehlen und unreines 
Wasser von aussen durchsickert (Bilschwasser); an der inneren Schiffswand eiserner Schiffe 
schlagen sich in kalten Nächten die Dämpfe nieder, doch lässt sich hier das Bilschwasser 
fast ganz entfernen. Hegen- und Spülwasser, Dämpfe, Fett, Kohlenstaub, Asche und Un¬ 
rath von Menschen und Thieren machen das Bilschwasser zu einer dicken, trüben, dunklen 
Flüssigkeit, welche nach Schwefelwasserstoff und Fettsäuren riecht und ansteckende Krank¬ 
heiten, besonders Typhus und Gelbfieber, begünstigt. Daher sind Lecke thunlichst zu ver¬ 
meiden, der Kielraum ist rein von jedem Zuflusse zu erhalten, Spülungen und Trocken¬ 
legung haben stattzufinden und die Bilschgase sind abzuführen. 

Die Bekleidung hat im Allgemeinen den Zweck, den Körper vor den 
Unbilden des Klimas und insbesondere vor nachtheiligen Einflüssen der Luft¬ 
temperatur und der Niederschläge zu schützen. Beim Soldaten kommt noch 
der Zweck der Ausrüstung hinzu, der darin besteht, die Lebensbedürfnisse 
des marschirenden Soldaten am Körper selbst (in Tornister, Brotbeutel, Koch¬ 
geschirr) unterzubringen und den Körper gegen die feindlichen Angriffe 
mittels der Schutzrüstung (Helm, Panzer) zu wappnen. 

Wenn die Bekleidung des Soldaten ihren Zweck erfüllen will, muss sie 
sich einiger unerlässlicher Eigenschaften erfreuen. Sie muss im Freien ein 
schlechter Wärmeleiter sein, wenn die Aussenluft-Temperatur tief unter der 
Eigenwärme oder hoch über dieser liegt, besonders aber, wenn Temperatur¬ 
sprünge zu erwarten sind; ferner muss sie wasserdicht und dabei luftdurch- 
dringlich sein. Ausserdem kommen als zweckmässige Eigenschaften der Be¬ 
kleidung die Einfachheit, Leichtheit, Dauerhaftigkeit und Bequemlichkeit in 
Betracht. 

Die Kopfbedeckung des Soldaten ist in der Regel zweifacher Art, je nachdem sie 
fürs Hans bestimmt ist, wo eine leichtere, oder für den Felddienst vorgesehen ist, wo eine 
schwerere, gerüstete Bedeckung getragen wird. Die letztere ist es, von der verlangt wird, 
dass sie neben ihren allgemeinen Bekleidungseigenschaften auch die besitzt, die Augen vor 
grellem Lichte zu schirmen. Sie muss blendendes Licht mit einem Stirnschirm und Regen 
mit einem beweglichen Kackenschirm abhalten, der Luft durch Oeffnungen, in die freilich 
Regen nicht eindringen kann, Zutritt gewähren; sie darf dem Winde nur eine geringe 
Fläche bieten, muss also klein sein, und sie muss allseits festsitzen, ohne schmerzhaft zu 
drücken. 

Die Halsbinde sei, wenn sie überhaupt nöthig erscheint, niedrig und weich, sowie 
mit einem waschbaren und farblosen Stoffe gefuttert. 


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MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 


601 


Der Mantel soll den Körper vornehmlich gegen Kälte nnd Wind schützen und 
dem durchnässten Soldaten eine trockene nnd warme Bekleidung bieten. Aus letzterem 
Grunde pflegt der Mantel gerollt getragen zu werden; denn wird er dem Regen völlig 
preisgegeben, so kann er an Wasser über das Doppelte seines Gewichtes aufnenmen und 
so die Marschfähigkeit seines Trägers in Frage stellen. Die Brauchbarkeit des Mantels wird 
wesentlich erhöht, wenn er aus einem porös wasserdichten Stoffe hergestellt werden kann. 
Der Kragen sei überfallend und so hoch, dass er die Ohren bedecken kann; eine Kapuze 
ist wünschenswert, aber nicht nöthig; dagegen empfiehlt es sich, wenigstens das Unterfutter 
des Mantelkragens aus wasserdichtem Stoffe zu fertigen, welch letzterer den gerollten 
Mantel zum Theil einzuschliessen hätte. Neuerdings bezweifelt man die Nothwendigkeit 
des Mantels, dieses schwersten und unbequemsten Kleidungsstückes des Feldsoldaten. Ich 
schliesse mich diesem Zweifel an, wenn man sich in den Stand gesetzt sieht, die Waffen¬ 
röcke porös-wasserdicht zu fertigen und jedem Feldsoldaten eine wasserdichte Wolldecke 
zur Verfügung zu stellen. 

Der Waffenrock soll nach Maassgabe des allgemeinen Kleidungszwecks den Rumpf 
schützen, zugleich aber gewissen Ausrüstungsstücken als Anlehnungspunkt dienen. Er 
muss allenthalben weit sein, damit er Blutlauf und Athmung nicht beengt, bis zur Mitte 
der Oberschenkel herabreichen und mit einem möglichst niedrigen Kragen versehen sein. 
Sein Stoff ist Tuch, und es empfiehlt sich ein wasserdichter Stoff für das enganliegende 
Uniformskleid nur in dem Falle, dass er zugleich zweifellos luftdurchgängig bleibt. Für 
den Hausdienst genügt eine leichte Jacke (Litewka). 

Der Hauptzweck des Hemdes liegt in der Aufnahme der Haut-Ausscheidungen, 
nicht in der der Haut wärme. Es dient also in erster Linie der Reinlichkeit, wie die 
Unterhose. Um diesen Zweck zu erfüllen, ist der richtige Stoff für diese Unterkleider 
zu wählen. Als solcher kommt Schafwolle, Baumwolle und Leinwand in Betracht; die 
Nachtheile, deren jeder dieser Stoffe mehrere nachweisen lässt, treten zurück, wenn für 
Hemd und Unterhose ein halbwollener Stoff, ein Baumwollenflanell, der etwa zur Hälfte 
aus Schafwolle gewebt ist, benutzt wird. 

Die Oberhose ergänzt den Waffenrock; sie sei daher aus Tuch, und nur für den 
Hausdienst aus einem leichteren Stoffe (Leinwand) gefertigt. Aufwärts reiche sie bis zur 
Magengrube, abwärts bis an die Knie oder Knöchel. Die längeren Hosen sind die ge¬ 
bräuchlicheren, müssen sich aber abwärts verengen, damit sie in den Stiefeln getragen 
werden können. Die schon oberhalb des Knies endenden Hosen, wie sie Kinder und 
Gebirgsbewohner, aber auch Colonialtruppen tragen, sind, da sie die Kniegelenke frei be¬ 
weglich lassen, für das Fussvolk vorzuziehen. Befestigt werden die Hosen zweckmässiger 
durch Hosenträger als durch Bauchgurte. 

Als Handschuhe empfehlen sich weite wollene Fingerhandschuhe, die über das 
Handgelenk hinaufragen. Wollte man zugunsten der Freiheit des Ellenbogengelenks die 
Waffenrockärmel dicht über diesem Gelenke aufhören lassen, so müssen die Handschuhe 
ergänzend bis an das Ellenbogengelenk hinaufreichen. 

Die äussere Fussbekleidung muss wasserdicht sein, aber nicht luftdicht; sie 
muss die Wärme schlecht leiten; sie muss allen Theilen des Fusses dicht, aber nicht 
drückend anliegen, also gut passen, zu welchem Zwecke das Maass an jedem der beiden 
fest aufgesetzten, völlig belasteten, nackten Füsse zu nehmen ist; sie darf ferner die harten 
Unebenheiten des Bodens den Fuss nicht empfinden lassen, sie muss geschmeidig und 
dauerhaft sein und sich leicht an- und ausziehen lassen. Als äussere Feld-Fussbekleidung 
empfehlen sich ein Paar lederne, einbällige, breit- und doppelsolige, im Zehentheile breite 
Halbstiefeln, und daneben ein Paar leichte, weite, weiche, durchaus lederne, schnürbare 
Knöchelschnhe, die im Hause und nur bei Beschädigungen der Füsse auch auf dem Marsche 
getragen werden. 

Die innere Fussbekleidung soll die Hautausscheidungen in sich aufnehmen, den Fuss 
vor dem Drucke der äusseren Bekleidung schützen und ihn warm und trocken halten. 
Der zweckmässigste Stoff ist Halbwolle. Der Form nach sind Strümpfe und Fusslappen 
zu unterscheiden, die Strümpfe sind zwar gesundheitlich empfehlenswerter, sie sind aber für 
den Feldsoldaten nicht überall zu haben und sind schwer zu ergänzen und auszubessern. 
Diese Nachtheile fallen für die Fusslappen weg, so dass es für den Soldaten räthlich ist, sich 
zu Friedenszeiten wenigstens zeitweise mit dem Anlegen und Tragen von Fusslappen zu 
beschäftigen. 

Für die militärische Ausrüstung des einzelnen Soldaten kommt 
hauptsächlich, soweit der Gesundheitsdienst hier mitzureden hat, die Trag¬ 
weise in Betracht Sie gruppirt sich um die Schultern, die Hüften und das 
Kreuzbein, so dass die Last in grösstmöglicher Nähe des Schwerpunktes des 
Körpers oder wenigstens der Schwerlinie, auf vielen Flächen und auf beiden 
Längs-Körperhälften gleichmässig vertheilt zu liegen kommt. Dabei darf sie 
keinen schmerzhaften Druck ausüben, Athmung und Blutlauf nicht hemmen 
nnd die Fortbewegung und Hantirung nicht hindern. 


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602 


MILITÄ RGESUN DHE1TSDIENST. 


Die vorzüglichste Nahrung des Soldaten ist dasjenige Gemisch von 
Nährmitteln, durch das die Erhaltung des Körpers bei voller Entfaltung seiner 
Kraft mit der geringsten Menge der Nährmittel-Bestandtheile erreicht wird. 
Die Nahrung muss nahrhaft, leicht verdaulich, dauerhaft, haltbar, schmack¬ 
haft, portativ, theilbar und leicht zurichtbar sein. 

Das Fleisch behauptet unter den Feld-Nährmitteln den ersten Platz; 
am willkommensten ist das frische Fleisch von Ochsen, die in Herden dem 
Kriegsheere zu folgen pflegen. Das nach Schlachten sich reichlich darbietende 
Pferdefleisch ist ebenfalls für das Heer nutzbar zu machen; ebenso Hammel¬ 
fleisch, Schweinefleisch, Speck etc., da Rindfleisch allein bei ausbrechender 
Rinderpest versagt. Frisch geschlachtetes Fleisch ist mit Ausnahme des 
Schweinefleisches erfahrungsgemäß nicht genussfähig; vielmehr muss es, um 
Nachtheilen für die Verdauung zu begegnen und dem Geschmacke zu ent¬ 
sprechen, mindestens 24 Stunden, Kalb- und Hammelfleisch etwa zwei Tage, 
Ochsenfleisch drei bis vier Tage alt, und bei herrschender Kälte noch älter 
sein. An der Ausgabestelle ist, wenn irgend möglich, das Fleisch feld¬ 
ärztlich zu untersuchen, damit nicht ganz frisches oder fauliges oder von 
seuchen- und schmarotzerkranken Thieren stammendes Fleisch an den Soldaten 
gelangt. 

Die jetzige Zubereitungsweise des Fleisches im Freien, im Biwak, ist sehr unvoll¬ 
kommen. Der Feldsoldat setzt das Fleisch ohne vorherige Bearbeitung in kaltem Wasser 
mit dem Gemüse vereinigt ans offene Feuer. Statt nach l 1 /* Stunden, nach welcher Zeit 
das Fleisch vielleicht gar sein könnte, nimmt er erfahrungsgemäss sein Kochgeschirr wegen 
Zeitmangels oder aus Hunger oder Müdigkeit schon etwa nach s / 4 Stunden vom Feuer. 
Das Gemüse ist dann gewöhnlich angebrannt, weil es mit dem Fleische vereint sich schwer 
umrühren lässt. Das Fleisch aber ist sicher nicht weich und zum grossen Theil nicht 
geniessbar. 

Dieser stete Misserfolg ist eine Folge davon, dass der Soldat nicht systematisch 
kochen lernt, und dass jedem nur ein Kochgeschirr zur Verfügung steht. 

Vor allem empfiehlt es sich, so lange nicht für das Fleisch, für die Suppe, für das 
Gemüse und für die Ergänzung des verdampften Wassers je ein besonderes Geschirr zur 
Verfügung steht, so dass immer vier Leute eine Kochgemeinschaft bilden würden, wenigstens 
das gelieferte Fleisch so ausgiebig wie möglich zu verwerten. 

Dazn ist nöthig, dass das Fleisch iu grösseren Stücken zuerst geklopft wird, weil es 
hierdurch früher weich und zugleich schmackhafter und verdaulicher wird. Nun hat man 
es aber im Kriege nicht selten mit altem, magerem und frisch geschlachtetem Vieh zu 
thun. In solchen Fällen mag man das Fleisch mit dem Seitengewehre (ein Mann hackt 
ungefähr 3 / 4 kg in 10 Minuten) oder zweckmässiger mit einer Fleischhackmaschine in ganz 
kleine Stücke zerkleinern, so dass beim Kochen die Hitze überall hindringen kann. 

Das Kochen des Fleisches fordert nun, und das ist ein Vortheil dieser Zubereitung, 
kein Fett, und kann mit jeder Fleischsorte, abgesehen von ganz frischgeschlachtetem 
Ochsenfieische, vorgenommen werden. Allein das Kochen beansprucht, ohne dass es volle 
Ausbeute für die Ernährung vermittelt, die meiste Zeit. Muss doch selbst in den wohl¬ 
eingerichteten Mannschaftsküchen der Kasernen das Schweinefleisch 1 bis l 1 ^, das Schöpsen¬ 
fleisch IV 2 bis 2 und das Rindfleisch 2 bis 2 l h Stunden kochen! 

Daher ist das Schmoren des Fleisches vorzuziehen, wobei das Fleisch in kochendem 
Fett auf allen Seiten scharf angebraten und dann zugedeckt in Fett und Wasser bei 
gelindem Feuer gedünstet wird. Sind die Würfel, in die das Fleisch vorher zerschnitten 
wird, klein, so ist das Fleisch in 10 Minuten geniessbar, ist es breiartig zerkleinert, so 
braucht dieses Fleischmus nur 5 Minuten zu schmoren. 

Das Braten (im Kochgeschirrdeckel) liefert, wie das Schmoren, in viel kürzerer Zeit 
als das Kochen, ein verdauliches und wohlschmeckendes Fleisch. Ist, wie gewöhnlich, nur 
wenig Zeit verfüglich, und hat man auch kein Fett zur Hand, so ist das Braten am Spiess 
die zweckmässigste Zubereitungsweise. 

Um die Fleischnahrung des Feldsoldaten für jeden Fall zu sichern, 
betreibt man die Herstellung des Dauerfleisches. Schon längst ist die 
Gewinnung eines gegen Fäulnis Widerstand leistenden Fleisches durch Räuche¬ 
rung bekannt. Die neueren Herstellungsweisen sind Wärmeentziehung, 
Wasserentziehung oder Trocknung, Luftabschluss und die durch chemische 
Mittel (Kochsalz etc.). 

Neben dem Fleische ist das Brot das wichtigste Feldnährmittel, ja 
bisweilen das allein verfügliche. Um das Brot widerstandsfähiger zu machen, 


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MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 


603 


empfiehlt es sich, beim Backen nur wenig Wasser zuzusetzen, das Brot selbst, 
um Wasser zu entziehen, zu pressen, es luftig (z. B. bei Transporten in 
Gitterwagen) unterzubringen, oder Zwieback herzustellen. Jedenfalls bedürfen 
die Brotlieferungen militärärztlicher Prüfung. 

So unentbehrlich wie Fleisch und Brot ist — um nur noch eines im 
weiteren Sinne des Wortes zu gedenken, da hier auf jedes einzelne der zahl¬ 
reichen Feldnährmittel nicht eingegangen werden kann — das Trink¬ 
wasser. Da Wasser auf dem Landwege schwierig zu transportiren ist, so 
ist der Wasserbedarf möglichst an Ort und Stelle zu decken. Wasserfund 
versprechen in trockenen und sandigen Ebenen die Stellen, auf denen hoch¬ 
geschossenes Gras wächst, Morgennebel und Insectenschwärme lagern, oder 
solche, die am Fusse von Anhöhen oder die tief im Schnittpunkte zweier 
längerer Thäler liegen. In Ortschaften, namentlich in denen einer feindlichen 
Bevölkerung, ist Erkundigung nach den brauchbarsten Brunnen einzuziehen, 
und das Wasser dorther zu entnehmen, wo es die Einwohner schöpfen. Da¬ 
gegen meide man zunächst die Brunnen abschüssiger Strassen, die innerhalb 
oder unterhalb der Ortschaft oder die nahe an ärmlichen Wohnstätten, 
Fabriken und Dungstellen gelegenen. 

Zur Deckung des Wasserbedarfes benütze man, wenn man sich nicht allein auf die 
Brunnen verlassen kann, wie in belagerten Festungen, aufgefangenes Regenwasser. Das 
Wasser von Quellen ist oft unrein, von Wiesenquellen stets verdächtig; ebenso das von 
Bächen und Flüssen, das nur bei raschem Laufe und schlammfreiem Bette geniessbar sein 
kann; Schneewasser ist weniger rein als Eiswasser und wird durch Umrühren und Peitschen 
lufthältig; See- und Teichwasser verbessert sich, wenn es dauernden Abfluss und Zufluss 
aus Quellen hat, inmitten des Teiches und wo dieser am tiefsten ist, ist das Wasser am 
wenigsten verdächtig. Pfützen-, Sumpfwasser und das durch Landwirtschaft und Gewerbe 
verunreinigte Wasser ist gewöhnlich reich an organischen Stoffen und darum sehr ver¬ 
dächtig und ungeniessbar. 

Bei Quellen, kleinen Flüssen und Bächen kann man das Wasser an mehreren Stellen 
aufstauen und die höchsten zum Wasserschöpfen für Genusszwecke, die tieferen für die 
Thiere, die tiefsten zum Waschen bestimmen. Dieselbe Anlage der Plätze empfiehlt sich 
auch für grössere benutzbare Wasserläufe. Um das Wasser beim Schöpfen unmittelber am 
Ufer nicht aufzurühren, empfiehlt es sich, kleine Brücken und Stege ins Wasser hinein zu 
bauen. Ist das Wasser durch Regengüsse u. s. w. getrübt, so kann man zur Klärung 
desselben bei günstiger Bodenbeschaffenheit, die seitliche Filtration benutzen, indem man 
kleine Brunnen neben den Fluss gräbt. Ueber dieselben legt man zum Wasserschöpfen 
Bretter und sichert die Seitenwände gegen Nachsinken. Bei geeignetem Boden und reinem 
Grundwasser können mit Vortheil Abessynische Bohrbrunnen — auch NoRTHON’eche Senk¬ 
pumpen genannt — verwendet werden (Erfahrungen hierüber vergl. Allg. mil. Ztg. 1874, 
Nr. 29/30); auch kann man in feuchten Grund durchlöcherte Kübel eingraben. 

Als durchschnittlichen Wasserbedarf für den Mann rechnet man täglich 
5 l zum Trinken und Kochen, und 25 l zur Reinigung der Person, der Wohn¬ 
stätte und der Wäsche; zu Gunsten der Gesundheit ist mehr zu gewähren, 
wenn der höhere Bedarf gedeckt werden kann. Für ein Lager etc. ist das 
Trinkbedürfnis der Thiere mit in Rechnung zu bringen: ein Schaf oder ein 
Schwein säuft täglich etwa 5 l, ein Rind 40 l, ein Pferd 60 l. Auf Kriegs¬ 
schiffen hat man sich mit 4 l Wasser für den Kopf und Tag zu begnügen; 
das weiche ist dem harten, leichter faulenden Wasser vorzuziehen. 

Die Verwandlung unreinen und verdächtigen Wassers in trinkbares ge¬ 
schieht durch Filtration, Abkochung oder Zusatz von chemischen Stoffen. In 
Zweifelfällen ist der physikalischen und chemischen Prüfung des zur Benützung 
sich darbietenden Trinkwassers nicht zu entrathen. 

Nächst der Unterkunft, Bekleidung und Ernährung ist es die militärische 
Ausbildung und Berufsarbeit, die mit gesundheitlichem Schutze zu umgeben 
sind. Die dienstliche Beschäftigung soll den Soldaten im Zustande be¬ 
ständiger Schlagfertigkeit erhalten, und dieser Zweck ist es, dem auch alle 
ärztlichen Maassnahmen unterzuordnen sind. 

Die Friedensarbeit des Soldaten besteht in Uebungen, die seine 
körperlichen, sittlichen und intellectuellen Kraftanlagen harmonisch entwickeln, 


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604 


MILITÄRKRANKENDIENST. 


damit er die Aufgaben, die ihm der Krieg stellt, nicht nur richtig, sondern 
auch gleichsam gewohnheitsgemäss und instinctiv erfüllen kann. Diese 
Uebungen beginnen von der einfachen und festen Körpererhaltung, schreiten 
zur gleichmässigen und gewandten Körperbewegung fort, um in langen Feld¬ 
märschen und zusammengesetzten Felddienstübungen zu enden. Die gesund- 
heitsmässigen Grenzen dieser Ausbildung sind durch vieljährige Erfahrungen 
gefunden, so dass der Arzt nur ausnahmsweise Anlass hat, auf ihre Aenderung 
einzuwirken. 

Die Kriegsarbeit des Soldaten ist im besonderen nicht voraus geregelt 
und setzt den Soldaten ausserdem zahllosen Angriffen auf die Gesundheit aus. 
Wenn der höchste Zweck des militärischen Berufs, der Kriegszweck, diese 
Angriffe fordert, so sind sie im allgemeinen zu dulden, und es ist militär- 
ärztlicherseits nur zu erwägen, ob sich der etwa beabsichtigte Gesundheits¬ 
schutz mit dem Kriegszweck verträgt. Im Verneinungsfalle ist jede störende 
Geltendmachung gesundheitlicher Ansichten zu unterlassen; denn die Verfol¬ 
gung des Unerreichbaren ist zwecklose und undankbare Arbeit. Das höchste 
Ziel des Krieges, der Sieg, ist nun einmal ohne Einsatz von Menschenleben 
nicht denkbar! h. frölich. 

Militärkrankendienst ist der Inbegriff aller der Aufgaben, die darauf 
abzielen, das Vorkommen der Heereskrankheiten im Frieden uDd im Kriege 
festzustellen, ihre Ursachen zu erforschen und zu beseitigen, sowie den er¬ 
krankten Soldaten zu Gunsten ihrer militärischen Ausbildung und der Erhaltung 
der Schlagfertigkeit des Heeres die Gesundheit und Dienstfähigkeit theil- 
nahmsvoll, gründlich und schnell zurückzugeben. Inter arma caritas! 

Nach dieser Begriffsbestimmung unterscheidet sich der Militärkranken¬ 
dienst vom Civilkrankendienst hauptsächlich durch die Verschiedenheit im 
Berufe des Objects. Die Besonderheit des Militärkrankendienstes liegt aber 
nicht lediglich in den wenigen eigentlichen Militärberufskrankheiten, sondern 
vielmehr in der Gehäuftheit des Vorkommens gewisser Erkrankungen 
(Seuchen, Schlachtfeld-Verletzungen), in dem bedrohlichen Einflüsse derselben 
auf den Bestand des Heeres, in der Gefahr, die aus diesem Einflüsse für die 
Staatsexistenz erwächst, und in der von der Verfassung der Heere mitbe¬ 
stimmten Entscheidung über die erforderlichen Vorbauungs- und Heilmittel. 

In diesen Gesichtspunkten findet der Begriff „Heereskrankheit“ zwar 
nicht festgelegte scharfe Grenzen, aber seine volle Rechtfertigung; und so 
zählen die Militärärzte zu den Heereskrankheiten vor allem sämmtliche Seuchen, 
mögen sie in der Zeit oder im Raume oder in beiden Beziehungen gehäuft 
Vorkommen: Pest, Typhus, Ruhr, Cholera, Hirnseuche (oder Genickstarre), 
Gelbfieber, gehäufte Gelbsucht, Pocken, Scharbock, Lungensucht (Tuberkulose), 
Lungenentzündung, venerische Krankheiten, Krätze; ferner Hitzschlag, Minen¬ 
krankheit; dann ägyptische Augenentzündung und endlich mechanische Ver¬ 
letzungen, an deren Spitze die Schussverletzungen. 

In wie hohem Grade schon zu Friedenszeiten die Gesammtheit dieser 
Krankheiten und Verletzungen, allen voran Typhus, Lungensucht und Lungen¬ 
entzündung, an dem Bestände der bewaffneten Macht rütteln, in welchem 
ziffermässigen Verhältnisse sie dieser alljährlich Verluste zufügen, wie aber 
auch dieser dem Heerwesen feindliche Einfluss im Laufe der letzten Jahrzehnte 
dieses Jahrhunderts mehr und mehr eingedämmt worden ist, das mag wenig¬ 
stens für die grossstaatlichen Heere die hier folgende Zusammenstellung, in 
der ich beiläufig die von mir mit Grund nur vermutheten Zahlen eingeklam¬ 
mert habe, vor Augen führen: 


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MILITÄRKRANKENDIENST. 


605 


Staat 

drei seiger 
Jahre 

vierziger 

fünfziger 

sechsziger 

siebziger 

achtziger 

Deutsches Reich 

13,7 

(11,0) 

9,0 

6,6 

5,7 

4,0 

Österreich-Ungarn 

— 

28,0 

17,5 

(14,5) 

13,3 

7,9 

Grossbritannien 

17,5 

16,5 

(12,0) 

9,5 

8,3 

5,9 

Frankreich . . 

(24,0) 

19,4 

16,0 

11.4 

9,1 

8,2 

Italien .... 


16,2 

(13,0) 

(11.5) 

10,6 

9,6 

Russland . . . 

— 

38,0 

20,5 

16,0 

14,0 

9,7 


Werden den Verlusten an Menschen der Friedensheere die Kriegs Ver¬ 
luste gegenübergestellt, so drängen sich besonders zwei Fragen in den Vorder¬ 
grund: 1. Haben wir uns einer gleich günstigen fortschreitenden Sterblichkeits¬ 
abnahme, wie sie für die Friedensheere festgestellt ist, auch betreffs der Kriegs¬ 
heere zu erfreuen? 2. Auf welche der beiden grossen Verlustursachen, Kriegs¬ 
verletzungen und Seuchen, kommt im Bejahungsfälle der ersten Frage der grös¬ 
sere Antheil für die Abnahme der Sterblichkeit? 

Die zeitliche Vergleichung der Kriegsverluste lässt sich leider auf das 
Alterthum und Mittelalter, ja selbst auf die neuere Zeit wegen der Unzuver¬ 
lässigkeit der Ueberlieferungen nur mit Vorsicht ausdehnen. An die Stelle 
der Thatsachen tritt für diese entschwundenen Zeiten die blos mehr oder 
weniger begründete Vermuthung. Besonders bezieht sich dies auf die Ver¬ 
breitung und Verheerung der Seuchen. Zwar steht es schon für Alterthum 
und Mittelalter fest, dass Seuchen zu mächtigen Bundesgenossen der damaligen 
Kriegsparteien geworden sind. Allein der Umfang der von ihnen verursachten 
Verluste wird nirgends ziffermässig berichtet. Selbst die Mittheilungen aus 
der neuen Zeit lassen noch viel zu wünschen übrig. 

Aehnlich ungenau sind die Berichte Uber die Häufigkeit der tödtlichen 
Kriegsverletzungen, schon weil es, auch noch heutigen Tages, unmöglich ist, 
in den Gefechts Verlusten immer streng die Gefallenen von den Vermissten 
zu trennen. Nichtsdestoweniger liegen wenigstens annähernd richtige Verlust¬ 
zahlen für fast alle weltgeschichtlichen Kriege vor. 

Diese Verlustzahlen sind, soweit sie die Kriege und einzelne Schlachten 
des Alterthums betreffen, ungewöhnlich gross. Sie können aber nicht auf¬ 
fallen gegenüber den Umständen, dass das Ziel des Kampfes die gegenseitige 
Vernichtung gewesen ist, dass diese Vernichtung auf die Gefangenen fort¬ 
gesetzt worden ist, weil es meist an Mitteln zu ihrer Verpflegung gefehlt hat, 
dass das Schlachtgemetzel alle Anwesenden, also bei weniger civilisirten 
Völkern auch Frauen und Kinder eingeschlossen hat, und dass endlich für 
einen drohenden Zusammenstoss alles auf einen Wurf gesetzt worden ist. 

Während hierin das Mittelalter noch dem Alterthume ähnelt, hat die 
in die Neuzeit herein wachsende Vervollkommnung der Waffen die Wirkung 
gehabt, dass der schwächere Gegner schneller erlahmt, und so die Kriege 
kürzer dauern. Hiermit vereinigt sich der Wegfall der obengenannten Um¬ 
stände, um die Verluste der heutigen Kriege in günstigerem Lichte erscheinen 
zu lassen. 

Zur Beantwortung der zweiten Frage, die eine Vergleichung der Ver¬ 
luste durch Kriegsverletzungen mit denen durch innere Krankheiten, nament¬ 
lich Seuchen, yoraussetzt, gibt eine Zusammenstellung der Verlustziffern der 
neueren Kriege, wie ich sie S. 362 des 24. Bandes der Realencyclopädie der 
gesammten Heilkunde (2. Aufl.), versucht habe, folgende Thatsachen an die 
Hand: 

1. Die Kriegssterblichkeit infolge von Krankheiten hat in den neueren Kriegen von 
rund 20% bis unter 1% der Heeresstärke geschwankt. 

2. Die Sterblichkeit nach Kriegsverletzungen hat in mehreren grösseren Kriegen 
übereinstimmend gegen 2% betragen. 


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606 


MILITÄRKRANKENDIENST. 


3. Da die Verluste, besonders die infolge von Krankheiten, in grosser Breite schwan¬ 
ken, so lässt sich ein bestimmtes Verhältnis dieser Verluste zu denen nach Kriegsver¬ 
letzungen nicht aufstellen. 

4. Es scheint, als ob die Sterblichkeit nach Krankheiten in den neueren Kriegen 
sich in höherem Grade günstiger gestalte als die nach Kriegsverletzungen. Das Verhältnis 
jener zu dieser schwankt jedoch von 1:04 bis 1:93, so dass sich ein an bestimmte Regeln 
gebundenes Verhältnis nicht erkennen lässt 

Was die einzelnen Krankheitsgruppen und Krankheiten betrifft, die das 
Heer vorzugsweise beschäftigen, so stehen die Seuchen, jene verschleppbaren 
und ansteckenden Krankheiten, die räumlich und zeitlich gehäuft auftreten, 
obenan. 

Ihre Gehäuftheit vollzieht sich entweder plötzlich oder allmählich, indem 
sie sich in beiden Fällen entweder auf den Ursprungsort der Seuche be¬ 
schränkt, oder mehrere und vielleicht viele menschliche Niederlassungen in 
ihren Bereich zieht. Dieses zeitliche und räumliche Verhalten liefert einen 
klareren Maassstab für die Seucheneintheilung, als es das Festhalten am epi¬ 
demischen und endemischen Wesen der Seuchen vermag. Nur der Begriff 
-gehäuft“ kann bei denen Anstoss erregen, die sich lieber auf mathematische 
Berechnungen als auf blosse Gefühlsabschätzungen verlassen. Allein wie selten 
sind wir so glücklich, unsere Beobachtungen mathematisch auszudrücken! 
Nichtsdestoweniger ist es zum Zwecke gegenseitigen militärischen Verständ¬ 
nisses zu empfehlen, dass Grenzen, obschon künstliche, für den Begriff 
„gehäuft“ gezogen werden, und eine Garnison dann als verseucht angesehen 
wird, wenn eine Seuche innerhalb einer Zeiteinheit mindestens einen be¬ 
stimmten Bruchtheil der Garnison befallen hat. 

Der militärärztliche Kampf gegen die Seuchen ist an der Stelle am aus- 
sichtsvollsten, wo er sich gegen die Seuchenursachen richtet, wo er vor¬ 
beugend geführt wird. Bei der bunten Mannigfaltigkeit der Krankheits¬ 
ursachen muss alles, was erfahrungsgemäss für die Seuchenentstehung ver¬ 
antwortlich gemacht werden kann, der Ausforschung unterworfen werden, 
und muss jede gehäufte Krankheit so lange als ansteckend betrachtet werden, 
bis das Gegentheil erwiesen ist. 

Die vorbeugende Thätigkeit des Militärarztes hat die Aufgabe (vgl. 
Hibsch): 

1. die Krankheitsursachen an der Entwicklung zu hindern oder die vor¬ 
handenen zu zerstören und die sie begünstigenden Einflüsse zu beseitigen; 

2. die Verbreitungswege von Ort zu Ort und von Person zu Person zu 
sperren; 

3. die persönliche Empfänglichkeit zu tilgen oder die Person möglichst 
widerstandsfähig zu machen. 

Die Mittel der Vorbeugung sind an erster Stelle, da die meisten Krank¬ 
heitsgifte im Schmutze willkommene Brutstellen finden, Reinlichkeit; dann 
die gesundheitsmässige Regelung der Unterkunft, Bekleidung, Ernährung 
und Beschäftigung, endlich die Entgiftungs-(oder Desinfections-jmittel. Die 
letzteren bilden nur eine Ergänzung der ersteren und täuschen, allein ange¬ 
wendet, oft das ihnen entgegengebrachte Vertrauen. 

Den Uebergang der vorbauenden Thätigkeit des Militärarztes zur ver¬ 
pflegenden und heilenden Thätigkeit bildet die Krankenförderung 
(Krankentransport). Sie ist theils selbst eine Art Vorbauung, insoferne als 
sie zur Zeit herrschender Seuchen ansteckende Kranke aus den Reihen des 
gesunden Heeres ausscheidet und geeigneten Heilstätten zuführt, theils ist sie 
der erste Schritt, die erste Hilfe für die Opfer der Schlachten, die aus ihrem 
ungünstigen Aufenthalte heraus unter Dach und Fach gebracht werden müssen. 

Unter den Transportmitteln steht die blosse, ungerüstete Menschenhand als unent¬ 
behrliches, einfachstes und vorzüglichstes Mittel obenan. Die übrigen Transportmittel sind 
die Bahren und Tragsessel in den verschiedensten Formen — Geräthe, die von Menschen¬ 
händen oder von Thieren getragen werden, dann die Wägen, die von Thieren oder von 


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MILITÄRKRANKENDIENST. 


607 


Menschen, von Dampf oder Elektricität bewegt werden, und endlich die Schiffe. Näheres über 
militärische Krankentransportweisen habe ich in dem allgemeinen Beitrag „Krankentransport“ 
niedergelegt. 

Was die Krankenverpflegung betrifft, so handelt es sich haupt¬ 
sächlich um die Krankenunterbringung, für die als regelmässige Unterkunft 
das Militärlazaret — als Bestandteil der Garnison „Garnisonslazaret“ genannt 
— angesehen werden darf. Die Erfahrung hat gelehrt, dass kleine Garnisons- 
lazarete den grossen in sanitärer Beziehung vorzuziehen sind. „Grosse Lazarete 
sind Tempel, die dem Fieber und dem Tode errichtet sind.“ Darum soll die 
Krankenzahl eines Lazarets 500 keinesfalls übersteigen. 

Das Lazaret liege frei, ausserhalb enger Stadttheile, auf trockenem oder drainirtem 
Untergründe, der aus Sand und Kies und in grösserer Tiefe aus Lehm besteht. 

Der Umfang des Lazarets muss so bemessen werden, dass etwa 4% der Gamisons- 
stärke Unterkunft finden können, und dass auf jeden Kranken 150m* Baufläche und 40 m 8 
Aufenthaltsraum entfallen. 

Die Bauart ist für ein kleines Lazaret ein einfacher Frontbau; für grosse Lazarete 
sind gemischte Bauformen zu empfehlen: für Leichtkranke genügt der Corridorbau, für 
Schwerkranke sind Pavillons und für Seuchenkranke Isolirbaracken die geeignetsten Formen. 

Die Krankenräume sollen jedenfalls nicht über dem 2. Gestock liegen. Je ein Zimmer 
ist auf etwa 10 Betten zu berechnen, doch ist auf Zimmer für Einzelne, z. B. Geisteskranke, 
Ekel erregende, vorspiegelnde und verhaftete Kranke Bedacht zu nehmen. Der Abstand 
der Betten von der Wand betrage 0 5 m und zwischen je 2 Betten 1 m. Die Fenster müssen 
soviel Lichtfläche ergeben, dass mindestens Ihm* auf den Kranken kommt. Die Dielung 
sei wasser- und luftdicht. Die Wände und Decken seien glatt, ohne Vorsprünge und 
Winkel, ohne Leimfarbe und ohne Oel gestrichen, nicht tapezirt. Die Einrichtungen für 
Lüftung, Heizung, Beleuchtung und Abfall-Beseitigung sind die gemeingiltigen und orts¬ 
gebräuchlichen, soweit sie gesundheitlich erprobt sind. 

In der Marine dienen, besonders in den Colonien, die Stations-Hospital¬ 
schiffe zu ständigeren Krankenunterkünften. In den heimischen Gewässern, 
z. B. in England, werden für ansteckende Kranke oft ausser Dienst gestellte, 
festliegende Schiffe als Lazaretschiffe (Hulks) verwendet. Sie lassen meist 
viel zu wünschen übrig, hindern aber die Ausbreitung von Seuchen. 

Zu Kriegszeiten wird für Unterkünfte in der Heimat, bezw. im kriegsfreien 
Theile derselben, für solche beim kämpfenden Heere und für solche zwischen 
diesen beiden Punkten gesorgt. Zur leichteren Verständigung habe ich diese 
Heilanstalten zu unterscheiden vorgeschlagen in die „Ersatzlazarete“ 
der Heimat, weil sie die Garnisonslazarete „ersetzen“ und zugleich für die 
Ersatztruppen der Heimat verfüglich bleiben, in „St and lazarete“, die 
zwischen jenen äussersten Punkten liegen, und in „Feldlazarete“, die 
jetzt schon so genannten für das operirende Heer bereitzuhaltenden Heil¬ 
anstalten. 

Wenn es sich darum handelt, lediglich für die Zeit eines Krieges Heil¬ 
anstalten zu errichten, so fasst man leichte eingestockige Baue — Zelte und 
Baracken mit ihren Uebergängen: Barackenzelte, Zeltbaracken und die halt¬ 
bareren und widerstandsfähigeren Hausbaracken und Barackenhäuser — ins 
Auge. Einen neueren Fortschritt auf diesem Gebiete stellt die transportable 
Feldbaracke dar, die wetterbeständig ist, unschwer zu Bahn oder zu Wagen 
befördert und sofort und leicht aufgestellt und weggenommen werden kann. 

Ausser der Unterkunft gehört zur Kraükenverptiegung noch die Kranken¬ 
bekleidung, die Krankenbeköstigung und die Geldverpflegung der Kranken. 
Alle diese Bestandtheile der Krankenverpflegung sind in sämmtlichen Heeren 
durch die Friedens- und Kriegs-Sanitätsordnungen eingehend geregelt. Sie 
auch nur in ihren Grundzügen besprechen zu wollen, würde an dieser Stelle 
zu weit führen. 

Die den Militärärzten obliegende Krankenheilung hat das Ziel, die 
Dienstfähigkeit des Soldaten, sobald sie durch Krankheit unterbrochen wird, 
gründlich, schnell und mit den zweckmässigsten Mitteln herzustellen. Je 
nach der Unterkunft der Kranken wird ein Truppen- und ein Lazaret-Heil- 
dienst unterschieden. Ersterer bezieht sich auf jene Leichtkranken, die ohne 


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MILITÄRKBANKENDIENST. 


sich und anderen damit zu schaden; in den Unterkünften der Gesunden, in 
der Kaserne, verbleiben. Der JLazaret-Heildienst erstreckt sich auf die Kranken 
des Lazarets, die als solche mehr oder weniger schwerkrank, oder chronisch 
krank oder ansteckungsfähig sind. 

Die am kranken Soldaten znr Anwendung gelangenden Heilmittel müssen möglichst 
wirksam, einfach, verbreitet, portativ, leicht herstellbar und ergänzbar, besonders auch im 
Kriege verfüglich und endlich billig sein. 

An der Spitze der militärmedicinischen Heilmittel steht die Handfertigkeit. Der 
Druck des blossen Fingers hat nicht selten auf dem Schlachtfelde, z. B. bei Blutungen, die 
Bedeutung einer Lebensrettung. Hierher gehört auch das Knetverfahren, mit dem jeder 
Arzt und Sanitäts-Unterofficier vertraut sein sollte. 

Von ähnlichem Werte ist das Wasser. Sine aqua nollem esse medicus! Jeder Militär¬ 
arzt sollte, wenn schon nicht ausschliesslich, Hydrotherapeut sein und die Heilanwendung 
des Wassers gründlicher als die Kegeln des Receptschreibens beherrschen können. 

In der Wahl der Heilmittel ist der Militärarzt so gut wie nicht beschränkt; nur 
wird mit Recht vorausgesetzt, dass er die Wahl die billigeren Mittel und die billigeren 
Gebrauchsweisen bevorzugt. Die Pharmacopoea pauperum gibt hierfür die Richtschnur. 

Die freiwillige Kriegskrankenpflege — schon im Alterthume 
vorhanden und zwar meist an Stelle der amtlichen Krankenpflege stehend — 
hat erst seit den grossen Kriegen dieses Jahrhunderts, besonders aber seit 
der Genfer internationaler Vereinbarung von 1864 Wurzel gefasst. In allen 
civilisirten Ländern haben sifch nun Vereine vom „Rothen Kreuz“ gebildet, 
die es sich zur Aufgabe machen, die amtliche Kriegskrankenpflege zu unter¬ 
stützen und ihre hierzu nöthigen Maassnahmen schon zu Friedenszeiten zu 
treffen. Die Bestimmungen des Genfer Vertrags sind viel gefeiert und viel 
geschmäht worden. Freilich ist der Vertrag ein menschliches Stückwerk, das 
zu noch segensreicheren Wirkungen hinaufentwickelt werden kann. Aber 
schon in seiner jetzigen Gestalt leistet er unendlich viel, insofern er mitten 
in dem unmenschlichen Treiben des Krieges, mit Wort und That unabweisbar 
eine christliche Mahnung an das Sittlichkeitsgefühl der Partner richtet. 

Was das örtliche und zeitliche Vorkommen der Militärkrankheiten be¬ 
trifft, so ist das allgemeine Verhältnis zwischen Kriegsseuchen einerseits und 
Kriegsverletzungen andererseits bereits besprochen worden. Es handelt sich 
daher nur noch darum, in Kürze das Auftreten und den Einfluss der einzelnen 
Seuchen auf die verschiedenen Heere zu beleuchten. 

Die Pest, die Europa das ganze Mittelalter hindurch bis in das vorige Jahrhundert 
heimgesucht hat, ist dann mehr und mehr zurückgewichen. Sie fristet ihr Dasein nur 
noch im äussersten Südost Europas und in Asien, wo sie die Armuth und Faulheit als Ver¬ 
bündete wirbt. Das Bestreben, ihrem Einbrüche und Fortschritte vorzubeugen, hat im 
Jahre 1820 den Beschluss herbeigeführt, in Alexandria einen internationalen Sanitätsrath 
einzusetzen. Die Sterblichkeit beläuft sich auf mehr als 50% der Erkrankten. 

Der Darmtyphus (enterischer Typhus, Abdominaltyphus, Unterleibstyphus, enteric 
fever, fiövre typhoide) zählt mit der Lungensucht und der Lungenentzündung zu den 
ernstesten Krankheiten der Heere. Im deutschen Heere sind anfangs der Siebzigeijahre 
gegen 3000 Erkrankungen an dieser Seuche, anfangs der Achtzigerjahre je rund 2500, 
und endlich nur noch 2000 vorgekommen, von denen jährlich im Durchschnitt von 2 Jahr¬ 
zehnten 350, am Ende der Achtzigerjahre 180 gestorben sind. Die Sterblichkeit ißt seit 
den Dreissigerjahren von 25*8% der Erkrankten bis auf 6% herabgesunken, so dass ihre 
Abnahme den Hauptantheil an der natürlichen Sterblichkeit im Heere überhaupt hat. — 
Im österreichisch-ungarischen Heere hat der Darmtyphus am Anfänge der Siebzigerjahre 
ebenfalls mit 3000 Erkrankungen eingesetzt, hat sich dann auf der Höhe von 2000 gehalten, 
um in den Achtzigerjahren auf 1500 und endlich auf 1200 zu fallen. Die Sterblichkeit 
hat in den gleichen Zeiten 700, 400, 300 und 200 Fälle aufzuweisen. Auch hier verursacht 
er hauptsächlich die Abnahme der allgemeinen natürlichen Sterblichkeit, obgleich immer 
noch 20% Jahre 1870 über 26%) der Behandelten starben. — In Grossbritannien er¬ 
krankten innerhalb der letzten Jahrzehnte im Jahresdurchschnitt nur 0*5 bis 1‘0% 0 der 
Heeresstärke am Typhus; die Sterblichkeit aber belief sich auf über 25% der Erkrankten; 
im inländischen Heere starben z. B. 1875 von 91 Erkrankten 27 und in der Flotte 1891 
von 206 Erkrankten 56. — Im französischen Heere ist daß Fievre typhoide stark verbreitet, 
und die Sterblichkeit ziemlich hoch; in den Siebzigerjahren kamen jährlich rund 4000 Er¬ 
krankungen vor, und in den Achtzigerjahren stieg die absolute Zahl, um mit den Neun¬ 
zigerjahren wieder abzunehmen; die Sterblichkeit ist in dieser Zeit beträchtlich herab- 
gegangen: von 37% bis auf 16% der Erkrankten. Eine Vergleichung dieser Zahlenver* 


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MILITÄRKRANKENDIENST. 


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hältnisse mit denen des deutschen und österreichischen Heeres gibt Folgendes an die Hand. 

im deutschen Heeie im öslerr.-ung. Heere im französischen Heere 

101°/oo 10*6% o 35*3°/ 00 

3-7 „ 4 3. 78 


Es erkrankten 
von der Iststärke 1882 
1891 

Es starben 

von der Iststärke 1882 
1891 


0-55 „ 2 5, 3-2 , 

0 28 , 0-8 , 1-28 , 

Im italienischen Heere erkranken jährlich 1000 bis 1500 an Typhus; auch hier ist 
die Sterblichkeit erheblich gesunken: 1878 starben noch 37*7% der ärztlich Behandelten, 
1889/90 nur noch 18 6%. — Das russische Heer zeigt gegenüber den typhösen Fiebern ein 
stark schwankendes Verhalten: 1881 gab es 15.717 typhöse Fieber, 1889 erkrankten 12*2°/ co 
und|fl890 12*6% 0 der Heeresstärke an Typhus; dagegen starben 1881 nur 12 5% der Er¬ 
krankten. 

Der Flecktyphus (Kriegstyphus, Typhus exanthematicus, Lues pannonica, ungarische 
Krankheit) ist seit den ältesten Zeiten eine Geissei der Kriegsheere. Noch in dem neuesten 
der grösseren Kriege, dem russisch-türkischen 1877/78 — die Verbreitung in früheren 
Kriegen ist in meiner Mililärmedicin, Braunschweig 1887, dargelegt — hatten von je 1000 
Gestorbenen im Donauheere der Russen 294 und im Kaukasusheere 411 an Flecktyphus 

f eendet. Allein vom 1. November 1877 bis 31. März 1878 sollen im Kaukasusheere 9402 
lecktyphusfälle mit 3392 Todesfällen vorgekommen sein. In den Friedensheeren pflegt er 
nicht gehäuft vorzukommen. 

Der Rückfallstyphus (Rückfallsfieber, Recurrens, Relapsing fever, fievre ä 
rechute) kommt hin und wieder gehäuft vor, breitet sich aber in den Heeren nach den 
bisherigen Erfahrungen nicht in dem Grade aus, dass er zu den Heeresseuchen im engeren 
Sinne gezählt werden könnte. 

Die Ruhr ist kein ständiger Gast der Heere, wird aber zu einem gefährlichen 
Feinde, wenn sie, wie es nicht selten geschieht, bei Truppen-Zusammenziehungen im Frieden 
oder im Schoosse der Kriegsheere ihr Haupt erhebt. Im deutschen Heere kommen im 
Jahresdurchschnitte etwa 400 Erkrankungen vor; bisweilen aber wird die Zahl 1000 erreicht 
oder überstiegen; die Sterblichkeit beträgt etwa 3 3% der Erkrankten. — Im österreichisch- 
ungarischen Heere kommen jährlich noch nicht 200, selten mehr Ruhrerkrankungen vor; 
die Sterblichkeit übersteigt meist 10% der Erkrankten. — Aehnliche Schwankungen zeigt 
die Erkrankung an Ruhr in den übrigen Heeren; namentlich aber sind in gemischten 
Colonialheeren die weissen Truppen stärker heimgesucht als die farbigen. Das gilt ins¬ 
besondere von den englischen Truppen Indiens. Auch im nordamerikanischen Bürgerkriege 
sind fast lOmal so viele Erkrankungen bei den weissen wie bei den farbigen Truppen vor¬ 
gekommen (233.812:25 259); dagegen hatten erstere verhältnismässig viel weniger Todesfälle 
(4084:1492) infolge der acuten Ruhr. 

Die Cholera befällt die Truppen im Frieden und Kriege, wann und wo sie solche 
auf ihren zeitweisen Wanderungen antrifft; nur ist ihr Auftreten im Kriege insofern viel 
verhängnisvoller, als sie die Schlagfertigkeit ganzer Heerestheile schwächt oder aufhebt, 
und als sie in den Truppen ein Mittel ihrer Verbreitung erhält. In dem Cholera-Jahre 1873 
kamen im Gebiete des norddeutschen Bundes 541 Erkrankungen und 218 Todesfälle vor, 
so dass die Sterblichkeit über 40% der Erkrankten betragen hat. Im Heere Oesterreichs- 
Ungarns wurden 1873 2493 Mann von der Cholera ergriffen, und 893, also nur 36% der 
Erkrankten, getödtet. Im englischen Heere Ostindiens werden alljährlich 400 bis 800 
Choleraerkrankungen, und zwar viel mehr unter den europäischen als unter den eingeborenen 
Truppen beobachtet. Von ersteren erkrankten 25% 0 , von letzteren 10% o der Iststärke 
innerhalb von 20 Jahren; das Sterblichkeitsverhältnis war aber nahezu gleich gross. Im 
Heere Frankreichs starben 1866 323, im Jahre 1867 797 (einscbl. 744 in Algier) an Cholera. 
Jm Heere Italiens erkrankten im Jahre 1884 478, und zwar 212 mit tödtlichem Ausgange, 
1885 93 mit 32 tödtlich endenden Fällen. Im Heere der nordamerikanischen Freistaaten 
erkrankten 317 mit 139 Todesfällen bei den weissen, und 187 mit 91 Todesfällen bei den 
farbigen Soldaten. 

Die Meningitis cerebro-spinalis (Genickstarre, Hirnseuche) tritt im Ganzen selten 
auf, ist aber schon in allen Heeren beobachtet worden. Zwar spricht sich ihr Seuchen¬ 
charakter in dem plötzlichen Vorkommen örtlich gehäufter Erkrankungen und in ihrer 
hohen Sterblichkeit aus; allein ein gefährliches Fortschreiten über ganze Länder und Heere 
liegt nicht in ihrem Wesen. Wenn im deutschen Heere innerhalb eines Jahres 30 und 
mehr Fälle Vorkommen, so ist dies schon als eine selten hohe Ziffer zu betrachten; und 
dasselbe ist vom österreichischen Heere zu sagen. Im italienischen Heere aber sind Häufig¬ 
keit und Sterblichkeit schon viel beträchtlicher; einzelne Jahre begnügen sich mit 30 Fällen, 
anderen genügen nicht 100 Fälle, und die Sterblichkeit übersteigt bisweilen 80% der Be¬ 
handelten. 

Das Sumpffieber (Malaria) gefährdet die militärischen Unterkünfte des Friedens 
und des Krieges, die in Sumpffieber-Gegenden liegen. Es nimmt mit der wachsenden 
Cultur ab, so dass die Heere viel weniger heimgesucht werden als sonst. In den Flotten 
dagegen, die im Auslande zahlreiche Berührungspunkte finden, hält sich die Zahl der 
Sumpffieber-Erkrankungen höher als im Landheere der entsprechenden Staaten. 


Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 


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MILITÄRKRANKEKDIENST, 


Im deutschen Heere erkranken jährlich an Sninpffieber kaum 20 %,, der Heere«* 
stärke; 1882/83 waren ei 183°/ p0 und 3891/92 nUt 2'0 l % n Dagegen erkranken in dar 


Bodenheschaftenbeit de« Lande« viel häufiger; o0°,% Erkrankungen in Verpflegun gestände 
dea Heeres gatten früher schon ak eine ansnabnasweiso niedere Ziffer; 1882 belief sie eich 
auf ;tB3 9 y / 0f) aiid tft&t nur noch auf 303>%o; fo Marine bewegt sich die darchsehnitV 
liehe-Erkraoknngsziffef nm 7Ö% 9 . Im irarusosiBcben Heere erkrankten 1882 H B^/oo der 
HeeresgröfeBC und 1891 öroßshritaauiena Heer u.nd Flotte zeigen bei ihrer Verbreitung 

j&fcJti dfiet d?n ganze Erdv die bisiteste» §chw&nknugen in der Erkrankung Malaria. 
Üas itftitenische *&hHjRbririb ixfe Dorchschnitt cnva 50%« Erkrankuöge»; dm russische 
aber über 10ÜW y0 v 

00« ttellöwVfoVsr,. ^ priöto der Me^kaney) .hat seine Heimat fitet 

?mr >«f fer weri heben ItHlbku&el und kommt. de«haib iSr die «mroprüBchefc Lähdbeerc 
weuiger in Betracht. Wohl ölier können die Truppen, wie..**»■ thaDfteblie.h geschoben, die 
Kmmheit ver&t&feßpen. und nicht un* ihm eigenen Feldlager za Pfiahzefelt«» der Beuche 
machen, sondern auch <fie CKilbevdlketOßg griftrden. 3« den Siebzig«rjaineu geschah 
es, dass aus Cuba «.uröckkehrebde Truppen die Seuche nach Madrid Sraehte;«, wo dann 
in eineoi Monate l^Xi Erkfnnkangen xnit 80 Todesfällen Tötk&men. An mA&t; Stelle sind 
Schiffabes&tsungett, beim Vorliaadenecm der erzeugenden und mRwiTk.cisd'ea Ursachen, 
gerahrdo^ danW die Garnisoheß hj Seestädte* und Händel tieibcwäcu 

ßer SkiVrböt oder Scbarbock kommt häutiger auf Scfdifcn und tu belagerten 
Festungen ab in Friede ns-Garn i^ooen vor. Seit der Verbesserung dir .Ernährung hat der 
Skorbut in da webten Heeren und Marinen betrkchtllth abgenomten, Im deutschen 
Heere koxßiTieu jiUirlh 'gen an Skorbut vor. 3m östeTreicJdäch'O&gft- 

mehetx Heere ist di« % dd’Är fht das Einzeljahr seit 1880 sehr %&mTiketi.';:Jm 

g aönnten Jahre f/M) ftfrft, tm Jahre >885 aber nur 458 Mahn an.Skorbut 

der eughsdhen Flott« kamen im Jahre 1883 nur 10 Skofbatfäiie vor. ßtw* *o viele 
Erkrank^ingen wie das dgterreichiscb-iiugari&cha Heer zählt das kleinere iWiftotisdhie Heer, 
z. TL Im Jahre 1880 530 Fälle, i i. g*;5 tf / /m - der Heeresgrö«sc. • In / RüWkud* Iteern betrug. 
1873 dksribe Vc-rhäUniszÄhl 5 3 J 7, H . 

Die P^cfeeö {öl/jtteru/varioia), die iu verÖoBsenen Jahxhnnderfen ganze Heere v«f- 
niebteten, kommun Dank der Impfung und *Wiedmmp!Oüg in den Heeren nur Xio^rver- 
rinzelt vor und sind jetzt pur Äusnahroßwme und sehen toätlich. Im ersten Dritte} dea 
lauifiude» Jahrhundert« mdgen rieh innerhalb des dr-utsebea Bandeaheeres w ohl liege n 3000 
PockentodesiäHe zagriragen haben; jeV?.t Ist <j?e Zahl der Eriunkheits- und Todeifalle \m 
deutschen Heere jährlich gleich 0. ]fc> osterrriehisch^aiag^^ utteh im 

Jahre 18*3 das Krkra nkeii an Pocken die Zahl 4Ö0Ö. von denen 286 starben.* n^erdvngs 
i$i die Eiferankungszabl auf 40 im Jahre 1892, 34 im Jahre 3893 und 28 im Jahre 1894 mit 
0, beliebje 1 Todesfall gejB0.uiCh*'.' Ö*i g<oäsbrith«m^^' Hegt 1883 unter 

seinen Lastet kranken 3t& Pockenkranke «acbweisen, während «fc 10 JafeW Zahl 

2CKj dberstiegea hatfm; dio englisch« Klpite häfte^ 18B1 Poeköuföfle. Inf fhmzoriBch&n 
^ wurden wäbteud der Sech^rigeTj^hve jährboh 60 bi^ 70 T^Ae&iälfe und Sn 

dm Achirigerjahreu durchschniuüch noch nicht. 20 lieobäebtet, im Jahre kam 

X Ivdeafatl bri ft)2 Erkrankungen vor. Da?, itaUenjscbe Heer hat in deu Siebrtg^rjahi'eO 
jährlitm, mit 1368 Ertojikunesfä 1 len hegiüneDd, pchb^H^K mit hueh 20Ö hi& 300 Er¬ 
krankungen out 10 bis 30 Todesfällen gehabte in den Ächtzigerjahren abex* Xahl 

dri jährlichen Ei kmikungen nicht. . Ina- '200,:'. Im . russischen Heere wurden hn Jahm 187Ö 
Poeketi-Tod^fäHe beobachtet 

ßk iming:tuiÄtn-lit iTuberküloße) gebört. mit der Luügbnwtzüüdung üid dfcna Stevica *: 


ulc^e im ö«vcrmchisch-nngäri«cben Hfeero innerhalb d : i ; ; jährlich.: 3SÖO 'Er- 

kranktuigerr und 500 TodctsfUlie, vn den ixckt-rigcr Jahr^tv 1100 hTkrankungeu my\ kttttiü 
>#U Stei&iSilßh votzeichnen Im deutschen ilecre betihg^u di« Lungcnsucht-ErkÄ-Än- 

kunge« glricbzedig hü Jahir^äür.^uh'üjtt.' 1160 nüd dariml tihter b/eitco 0c)twaukäugen 

etwa 1200; die Todufefön* ftünkö« vuo 350 aat 200. — Itn englischen ileer^ Crk;rankter/ iü 
den riebziger Jahrtm dex MsOirkc an Lunge «such E und Blarben 4 , 7 i '*/ f ^ der Ist- 

.-riärke ; jii den Achtzignrjrthreä eatik die Sterbjichkrit nuf 3 0% o . ^ 'Irb- tTaukuslaihvivTi^CTfö 
erkrankten »m ' Jalifesdnrch^Jmiit der Siebrigcrjafjrt? wenig über 2’7 0?1 derr 
•1888' »iijeg do»’.Verhältnw. dejs ICrkmnk^n»,-.iüD^*4’8 y / orr der hopfFtärke. 2783- Er- 

kraukujigefi, von denen 5V/9 ^ H8%„ der tsoptf.täTke. «hubtm bnd 21844di0%„ als di^uBt- 
ünbmndibar enHaßs^li wurden. In den letzten' lM Jrüirep rind 4;3% t r des IlecEes arkmukt 
und l’)2 ( 7, ){ . de« Heeren gestorben, während gleirirzritig iro- ori«m‘ichi?ch*vijngari«eher* IIeure 
4-1 0 / m erkrankt und l*3~w de« Hecm? gegtorbnu Bind, und die' ont^nüheriänn' Verhältnis- 
suhlen für dkß llerir ond 08%,, gewvatm- rind. — hn iraheniseben IL.^rc 

kamen von . Luu'gcn.snciit- ;an«^c.hlieblich riiinni^cher Lungctieutzöndung utid Lticeen^ 
blutny.g, innerhalb der .feibbzigerjahre 5C8 firn Iahte 18/1} bb 2ßb Om. Jahre 3870) Kr- 
krankimgen vor, von denen Ehrlich j«j DiirchschmU gegen 4t>0’^ der ßebandoUen «Uuher»; 




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MILITÄRKRANKENDIENST. 


611 


1884 starben 139 an Tuberkulose und 1889/90 391% 0 der an dieser Krankheit Behandelten. 
Im russischen Heere endlich starben 1881 von 1554 Schwindsüchtigen 735 und 1882 von 
1320 nur 589. 

Die Lungenentzündung ist im österreichisch-ungarischen Heere innerhalb der 
Siebzigerjahre jährlich mit rund 3000 Erkrankungen vertreten gewesen; auch noch in 
der ersten Hälfte der Achtzigerjahre sind jährlich ll°/o 0 des Verpflegsstandes an Lungen¬ 
entzündung erkrankt; dann aber ist die Erkrankungsziffer auf etwa 2300 heruntergegangen; 
die Zahl der Todesfälle betrug 370, noch im Jahre 1884 393 = i‘4°/ 00 des Verpflegs- 
standes, und sank auf 200 herab; ja im Jahre 1894 ereigneten sich bei 1799 Erkran¬ 
kungen nur 142 Todesfälle. Im deutschen Heere haben die Erkrankungen an Lungen¬ 
entzündung in demselben Zeiträume sich von 4600 auf 5000, also nicht so hoch, wie man 
bei der Heeresvergrösserung erwarten musste, gesteigert, und die Todesfälle haben im 
Jahresdurchschnitt von jedem der beiden Jahrzehnte etwa 270 betragen. Im französischen 
Heere erkrankten z. B. im Jahre 1888 3121 an Lungenentzündung und starben 315, also 
10*9°/ o an dieser Krankheit. Im italienischen Heere starben im Jahre 1884 339 an Lungen¬ 
entzündung, 1889/90 aber 117°/ 00 der Behandelten. Im russischen Heere sind im Jahre 1889 
ll-5°/ 00 und 1890 10*4°/ 00 des Heeres an Lungenentzündung erkrankt. 

Uebergehen wir die zahlreichen leichteren Erkrankungen, die dann und wann, wie 
z. B. Gelbsucht, in auffälliger Gehäuftheit vorgekommen sind, ohne dass man sie weder 
vermöge ihrer Ursachen noch wegen ihres Einflusses auf das Heer zu den Seuchen rechnen 
kann, so bedürfen jedenfalls die venerischen Krankheiten, die in allen Heeren verbreitet 
sind und die Dienstfähigkeit des Einzelnen auf Wochen und Monate aufheben, um hier¬ 
durch die militärische Ausbildung vieler zu benachteiligen, der Berücksichtigung. Das 
deutsche Beich zählte in den Siebzigerjahren im Durchschnitt jährlich gegen 14.500 Er¬ 
krankungen an Yenerie, also 44 5°/ 00 der Iststärke; an Tripper sind so viele erkrankt, wie 
an Schanker und Lustseuche zusammen (19 : 10 : 9). In den Achtzigerjahren fiel das Pro¬ 
mille-Verhältnis der venerischen Erkrankungen von ö8'2 im Jahre 1882/83, auf etwa 34%o und 
dann auf 29 4 im Jahre 1891/92; in der deutschen Marine aber überstieg das Promille-Ver¬ 
hältnis fortdauernd das doppelte des Landheeres. — Im österreichisch-ungarischen Heere 
erkrankten in den Siebzigerjahren, und zwar 1873 die wenigsten (rund 13.400), 1878 die 
meisten (rund 24.500), oder im Verhältnis zur Iststärke 56°/ 00 bis 814% 0 ; 1882 waren es 
73’7 0 / 0 o und 1891 69 , 4°/ 00 - Verglichen mit dem deutschen Heere sind im österreichisch- 
ungarischen die Tripper zwar auch weitaus stärker vertreten als Geschwüre und Lust- 
seuche; mehr aber verhindern die Geschwüre als die Lustseuche, dass die Tripper die 
Höhe erreichen, wie jene beiden anderen Krankheitsarten zusammen (19: 12: 10); in den 
Achtzigerjahren näherte sich dieses innere Verhältnis wieder dem im deutschen Heere 
beobachteten, die Summe der venerischen Erkrankungen betrug indes immer noch über 
707,0 der Heeresgrösse. In der österreichischen Marine, wo noch 1879 über 100°/oo venerisch 
erkrankten, fielen erst 1891 die Venerischen auf nahezu 70% 0 . — Im englischen Land¬ 
heere haben die einheimischen Truppen annähernd ebenso viele venerische Erkrankungen 
aufzuweisen wie die auswärtigen; nur betheiligen sich hier die farbigen Truppen fast durch¬ 
weg in geringem Grade; das Verhältnis der Erkrankungen zur Iststärke beträgt über 70%o> 
nur ausnahmsweise über 80°/ O o- Die absolute Summe der Erkrankungen ist in der Flotte 
etwas grösser als im Landheere: 1890 kamen über 8600, 1891 über 8400 Fälle vor; das 
innere Verhältnis von Tripper zu primärer und zu secundärer Syphilis war 1890 20:16: 
:6 und 1891 20:15:7. — Betreffs des französischen Heeres sei an das Jahr 1874, wo 
38.837 = 103°/oo der Iststärke, und an 1878 erinnert, wo 29.020 = 65*9°/oo venerisch 
erkrankten; 1882 waren es 60*8°/oo und 1891 39*9°/ 0 o» — Ina italienischen Heere war die 
Erkrankungsziffer der Siebzigerjahre im Jahresdurchschnitt gegen 16.000, in den Achtziger¬ 
jahren sank sie anfangs, doch ist sie 1890/91 wiederauf 15.809 gestiegen — Im russischen 
Heere betrug die Zahl der Syphilitischen im Anfänge der Achtzigerjahre durchschnittlich 
gegen 36.000, 1889 waren es 9*6°/ 0 o und 1890 10 2°/ 00 der Iststärke, während Tripper 1889 
bei 206°/oo und 1890 bei 22’4 0 / 0 n vorkam. 

Die Zahl der Erkrankungen an Krätze hat sich im Laufe der Zeit mit der Aus¬ 
breitung und Vervollkommnung der Cultur und besonders der Reinlichkeit, mit der Er¬ 
kenntnis der Krankheitsursachen und mit der nun möglich gewordenen sicheren und raschen 
Heilung des einzelnen Krankheitsfalles beträchtlich vermindert. Es ist kaum ein Menscheu¬ 
alter her, dass diese Hautkrankheit wegen ihrer Gehäuftheit umfangreiche Maassnahmen 
erheischte; und noch im Holstein’schen Executionszuge 1864 wurden ganze Lazarete für 
Krätzekranke eingerichtet und unterhalten, während man jetzt die Krätzekranken bei der 
Truppe lässt und sie in wenigen Stunden — in Holstein brauchten wir noch eine und 
mehrere Wochen zur Wiederherstellung — zu heilen pflegt. Im deutschen Heere kamen 
in den Siebzigerjahren nur noch der zehnte Theil von den in den Sechzigerjahren beob¬ 
achteten Fällen in Behandlung — etwa 14 W / 0J der Iststärke. Am Anfänge der Achtziger¬ 
jahre gingen gegen 2600 Fälle jährlich zu; und 1881/82 betrug das Verhältnis nur noch 
knapp 6°/o- Im österreichisch-ungarischen Heere belief sich in den Achtzigeijahren die Zahl 
der Erkrankungen auf rund 1500, also auf etwa 5°/oo — so zwar, dass sie seit 1879 jährlich 
sich vergrösserte, im Jahre 1894 weist der Zugang 1328 Fälle = 4*8°/ 00 der Iststärke nach. 
In Italien wurden im Jahre 1879 1018 und im Jahre 1880 1091 Soldaten wegen Krätze 

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MILITÄRKRANKENDIENST. 


lazaretkrank. Im russischen Heere aber betrug das Zugangsverhältuis im Jahre 1889 immer 
noch 10*7°/«* der Heeresgrösse und im Jahre 1890 1V2°J 00 . 

Die Minenkrankheit entsteht durch die beim Verbrennen explodirender Stoffe, wie 
Dynamit u. a., sich entwickelnden Gase, die die Minengänge erfüllen, sich bei hoher Luft¬ 
wärme und Windstille langsam verflüchtigen und so die an den Sprengarbeiten Betheiligten 
mehr oder weniger vergiften können, wenn sie unterirdische Minen nach erfolgter Sprengung 
zu zeitig betreten, oder wenn der mit den Gasen durchsetzte Boden aufgearbeitet wird. 
Früher kamen dann und wann derartige Massen Vergiftungen vor; es sei z. B. an die wäh¬ 
rend der Minenübungen 1878 bei Grandenz beobachteten 74 Erkrankungen erinnert, von 
denen 6 tödtlich endeten. Neuerdings, wo man mit den Schutzmaassnahmen besser ver¬ 
traut ist, wird ganz selten von solchen Unglücksfallen gehört- 

Der Hitzschlag und Sonnenstich (Hitzefieber, Insolation, Coup de cbaleur, sun- 
stroke) hat von jeher die Heere als ein heimtückischer Feind begleitet, der sich besonders 
im Fussvolk seine Opfer sucht. Im deutschen Heere kamen in den Siebzigerjahren 
und zwar jährlich im Durchschnitt etwa 100 Fälle von Hitzschlag vor; in den Achtziger¬ 
jahren treffen wir absolut nicht weniger an, obschon sich das Heer vergrössert hatte; die 
Sterblichkeit war bald hoch, bald niedrig, meist bewegte sie sich zwischen 6 und 10°/ o der 
Erkrankten. — Im österreichisch-ungarischen Heere schwanken die Erkrankungen und 
Sterbefälle ebenfalls in breiten Grenzen; 1884 verzeichnete es 49 mit 3 Todesfällen, 1885 
30 mit 2, 1892 127 mit 2, 1893 50 mit 4 und 1894 124 mit 3 Todesfällen; die Sterblichkeit 
ist also hier eine verhältnismässig niedere; in der Marine ereigneten sich 1883 37 Erkran¬ 
kungen, und zwar von diesen 30 an Land. — Bei dem 57.000 Mann starken englischen 
Heere Indiens kamen 1882 102 Erkrankungen mit 49 Todesfällen unter den Europäern, 
die überhaupt öfter als Eingeborene befallen werden, vor. Besonders heftig ist der Hitz¬ 
schlag während des Bürgerkrieges im Unionsheere aufgetreten, in dem 5 Otficiere und 308 
Mann an dieser Krankheit verendet sind. 

Die militärische Augenentzündung (Ophthalmia militaris, egyptische oder an¬ 
steckende Augenentzündung) erregt die allgemeine Aufmerksamkeit der Militärärzte seit 
etwa 100 Jahren. Ihre Heimsuchung der Heere hat indes in der neueren Zeit beträchtlich 
nachgelassen. In den Sechzigerjahren zählte das preussische Heer jährlich gegen 7000 
Fälle oder rund 30°/ O0 Erkrankungen; dann sank die Anzahl der Fälle im deutschen Heere 
innerhalb der Siebzigerjahre auf 3600 Fälle oder 13 u i00 und im Anfänge der Achtziger¬ 
jahre auf 1800 und noch weniger oder rund b°/oO* — Ein ähnliches, wenn auch mehr 
zögerndes Sinken wird in dem österreichisch-ungarischen Heere wahrgenommen; hier ‘>er- 
krankten im Jahre 1880 11*7 °/ 00 des Verpflegsstandes, im Jahre 1885 2327 Mann oder 8'8 0 /o 0 
und 1894 gelangten 1997 Mann = 71°/ O o (im Jahre 1891 ebenfalls 7*1 °/ 00 ,1892 7 , 5°/ 00 und 1893 
7*7°/oo) wegen Trachoms und Augenblennorrhoe zur Behandlung. — Wie das napoleonische 
Heer im Jahre 1798, so hat auch das englische Heer 1882 beim Feldzuge in Egypten auffällig 
an Augenkrankheiten — 87*5°/oo des englischen Heeres wurden in den knapp zwei Monaten 
augenkrank — gelitten. — In den italienischen Militärlazareten machte sich keine 
entschiedene Abnahme der granulösen Augenentzündungen bemerklich; im Jahre 1871 kamen 
1177 Fälle vor, 1872 1619, 1873 1145, 1874 1466, 1879 4201 und 1880 3283. — Das russi¬ 
sche Heer hat unter den Augenkrankheiten stark zu leiden; noch im Jahre 1881 zählte 
es 32.496 Fälle. 

Ueberblickt man das Erkranken und Sterben in den grossstaatlicben 
Heeren — die kleinen Staaten können hier, wo es sich um das Gesetz der 
grossen Zahlen handelt, übergangen werden —, so fällt allenthalben ein deut¬ 
licher und allmählicher Fortschritt zum Bessern wohlthuend in die Augen. 
Das Erkranken hat im allgemeinen wie auch der tödtliche Ausgang der ein¬ 
zelnen Krankheiten abgenommen 

Wenn der denkende Mensch, wie er es gegenüber allen Naturerschei¬ 
nungen thut, nach der Ursache dieser erfreulichen Thatsache fragt, so ist 
er sich bewusst, dass die Antwort nicht auf der Hand liegen mag. Am ehesten 
ist man geneigt, die Thatsache, soweit sie sich namentlich auf die Seuchen 
bezieht, auf die fortschreitende Cultur der Menschen, insbesondere auf die 
sich mehr und mehr ausbreitende Reinlichkeit ursächlich zurückzuführen. 
Obwohl diese Annahme nicht gerade mit Ziffern belegt werden kann, so hiesse 
es doch die Augen vor Tbatsachen verschliessen, wenn man den befreienden 
Einfluss der Cultur auf die Entstehung und Ausbreitung der Seuche verneinen 
wollte. 

Kaum aber kann angenommen werden, dass die Cultur, die Reinlichkeit, 
die einzigen Ursachen dieser Seuchenabnahme seien. Denn letztere hat sich 
in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Heere in so rascher Weise voll- 


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.MILITÄR-SANITÄTSYERFASSUNG. 


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zogen, dass ein Scbritthalten mit der Cultur nicht erkennbar ist, wohl aber 
eine entschiedene, von langsamen Wandlungen unabhängige Ueberholung 
der Cultur. Vielleicht hat man daher zur Erklärung zugleich eine im Laufe 
der Zeit wie von selbst eingetretene Abschwächung der Seuchengifte, die auch 
die verminderte Sterblichkeit zum Theil erklären würde, heranzuziehen, viel¬ 
leicht auch einen fortdauernden Sieg des gegen die Seuchen gerichteten 
Kampfes der medicinischen Wissenschaft. 

Die letztere Möglichkeit rückt freilich mehr in die Ferne, wenn man 
bedenkt, dass mit der ärztlichen Macht gegen die einzelne Krankheit nicht 
viel getban ist, und dass immer noch Seuchenausbrüche trotz der Fortschritte 
der Medicin und trotz aller ärztlichen Anstrengungen unaufhaltsam ihre ver¬ 
derblichen Wege gehen. 

Nichtsdestoweniger lassen wir uns die Freude an der Flucht des Feindes, 
mag er von unsichtbaren Gegnern oder mag er vom Arzte geschlagen sein, 
nicht vergällen. Denn jedenfalls ist mit dem Arzte als dem berufensten Ver¬ 
fechter und Vertreter der Allianz gegen die ärgsten Feinde der Menschheit 
zu rechnen. h. frölich. 


Militär-Sanitätsverfassung ist der Inbegriff aller der Ausübung des 
Militär-Sanitätsdienstes dienenden Einrichtungen und Bestimmungen. Sie liefert 
so gewissermaassen die Gestalt zum dienstlichen Handeln des Militärarztes 
und zeigt, dass das allgemeine ärztliche Handeln durch die in Pflichten und 
Rechten ausgesprochene Sonderstellung des Soldaten und durch die gesammte 
Eigenart des militärischen Lebens gemodelt wird, zu einem specialistischen 
gemacht wird. 

Schon von jeher ist der Arzt des Heeres gehalten gewesen, militärische 
Vorschriften über seinen Dienst zu beachten. Er hat sich gleichsam der 
Hausordnung des Heeres zu unterwerfen und darum vor allem mit ihrem 
Inhalte vertraut machen müssen. Und so ist es noch heutigen Tages. Selbst 
anscheinend unverschuldete Unkenntnis militärgesetzlicher Bestimmungen 
schützt nicht vor strafenden Folgen; denn auch für die Militärfamilie gilt das 
eiserne Gesetz: Ignorantia juris nocet! 

Die Sanitätsverfassung jeder bewaffneten Macht setzt sich aus dem 
Militär-Sanitätspersonal und dem Militär-Sanitätsmaterial zusammen. Unter 
dem Militär-Sanitätspersonal ist dasjenige Personal zu verstehen, das zum 
Zwecke der Ausübung des Sanitätsdienstes in das Heer oder in die Marine 
als Bestandtheil eingefügt ist. Das Militär-Sanitätsmaterial ist das Material, 
das nach gegebenen Vorschriften über Menge und Art dem Militär-Sanitäts¬ 
personal für seine Dienstleistungen bereitgestellt wird. 

Das Militär-Sanitätspersonal setzt sich in allen civilisirten Heeren aus 
dem Aerztepersonal und dem Aerzte-Hilfspersonal zusammen. Beide Gruppen 
sind in mehreren Staaten in ein „Sanitätscorps“ zusammengeschlossen, in dem 
nach Art der Truppenzusammensetzung die Aerzte als Sanitätsofficiere, die 
ärztlichen Gehilfen als Sanitätsunterofficiere und die Krankenwärter als Sani¬ 
tätsgemeine aufzufassen sind. Ausser diesem eigentlichen Sanitätspersonal gibt 
es noch Nebenpersonal, nämlich dasjenige für den Krankentransport, das Apo¬ 
thekerpersonal, die Verpflegungsbeamten und das militärische Aufsichtspersonal 
in den Heilanstalten. Nur für den Krieg verfüglich und nicht etatisirt ist 
das Personal der freiwilligen Krankenpflege, das sich für die verschiedensten 
sanitären Aufgaben darbietet. 

Der Umfang, in dem Sanitätspersonal bei der bewaffneten Macht Ver¬ 
wendung findet, ist abhängig von deren Grösse und Bedarf, von deren An¬ 
sprüchen an die Fähigkeiten dieses Personals, vom Umfange des in dem 
betreffenden Lande heimischen Sanitätspersonals, von den Mitteln, die ein Staat 
auf die Beschaffung des Personals verwenden kann oder will, und von den 


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MILITÄR-SANITÄTSVERFASSUNG. 


Gegenleistungen, die das Personal in rechtlicher und materieller Beziehung 
vom Staate thatsächlich zu erwarten hat. 

Die allgemeine persönliche Wehrpflicht stellt eine grosse Anzahl er¬ 
probter Aerzte zu Dienstzeiten in den Dienst des Heeres, die die für den 
Kriegsbedarf unzureichende Zahl der Aerzte des Friedensstandes ergänzen. 
Aber nicht lediglich die Zahl genügt der bewaffneten Macht, letztere stellt 
auch die Bedingung, dass jeder ihr dienende Arzt auf sittlicher und wissen¬ 
schaftlicher Höhe stehe und insbesondere die Militärmedicin mit allen ihren 
besonderen Aufgaben auszuüben im Stande sei. Die volle Durchbildung an 
einer Hochschule, specialistische Fortbildung und Prüfungen sind es, die der 
bewaffneten Macht die grösstmöglichste Bürgschaft geben, dass technisch 
leistungsfähige Aerzte den Friedens- und Kriegssanitätsdienst vertreten. 

Das Hilfspersonal der Aerzte ist mit viel geringerem Aufwande ergänzbar. 
Die Leute werden, soweit sie sich körperlich und geistig zum Sanitätsdienste 
eignen, hierzu ausgehoben oder aus Reih und Glied genommen und in Unter¬ 
richt und Uebung mit dem gleichsam körperlichen Theile des Sanitätsdienstes 
vertraut gemacht. 

Die Rechtsstellung des Sanitätspersonals hat sich mit seiner wachsenden 
Bildung und Leistungsfähigkeit in neuerer Zeit gehoben. Es steht in seinen 
persönlichen Rechten den übrigen Militärpersonen nahezu gleich. Fast überall 
sind die Aerzte und ihr Hilfspersonal Personen des Soldatenstandes und haben 
infolge dessen an den Rechten dieses Standes ebensosehr wie an seinen 
Pflichten theil. Im besonderen wird das militärische Rechtsmaass durch den 
Rang bezeichnet, und auch ein solcher ist jedem Militärärzte und jedem seiner 
Gehilfen verliehen, so dass hiedurch eine genügende Rechtssicherheit gewährt 
ist. Die Eigentümlichkeit des Sanitätsdienstes, der mit dem Kampfe gegen 
den Feind nichts zu thun bat, drückt auch den rechtlichen Beziehungen seiner 
Vertreter ihren Stempel auf, insoferne die dem Kämpfer (Combattanten) ge¬ 
setzlich und gewohnheitsgemäss zuerkannten Rechte in Bezug auf Befehls¬ 
gewalt nicht im ganzen Umfange auf die Träger des Sanitätsdienstes über¬ 
tragen werden. Die Befehlsgewalt der eigentlichen Truppen-Befehlshaber 
erstreckt sich auf alle Militärpersonen, während sich die der Leiter des 
Sanitätsdienstes nur auf die mit diesem Dienste beauftragten auszudehnen 
pflegt. 

Für die Verpflegung des Sanitätspersonales, und zwar für seine Unter¬ 
bringung, Bekleidung, Beköstigung und Besoldung, gelten fast in allen Staaten 
die für das Heer gemeingiltigen Bestimmungen. Nur müssen die Ansprüche 
des Sanitätspersonales, da die Verpflegungssätze sich nach dem Range richten, 
und die Sanitätspersonen insgemein auf die höchsten militärischen Rangstufen 
verzichten müssen, sich entsprechend bescheiden. 

Das Militär-Sanitätsmaterial entspricht in seinen verschiedenen Arten den 
mehrseitigen Beziehungen des Sanitätsdienstes; und so lassen sich folgende 
Materialgruppen unterscheiden: Sanitätsmaterial des Unterrichts, der Rekru- 
tirung, der Militär-Gesundheitspflege und der Militär-Krankenpflege. Dürfen im 
weiteren Sinne auch Schreibmaterialien hierher gerechnet werden, so müssen die 
nach vorgeschriebenen Mustern zum Zwecke der Statistik gewährten Formulare 
mit berücksichtigt werden. 

Das Militär-Sanitätsmaterial für den Sanitätsunterricht besteht in 
amtlich eingeführten Unterrichtsbüchern und in dem Anschauungsunterrichte 
dienenden Abbildungen. Da sich aber der Militär-Sanitätsunterricht auf alle 
Bezirke des Militär-Sanitätsdienstes zu erstrecken hat, so schliesst der Unter¬ 
richt zugleich auch alles den Einzelgebieten des Sanitätsdienstes zugehörige 
und im Folgenden anzudeutende Material ein. 

Das Sanitätsmaterial für die Rekrutirungen ist theils amtliches, d. h. 
staatlich beschafftes, theils halbamtliches, d. h. dienstlich nöthiges, aber vom 


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MILITÄR-SANITÄTSVERFASSUNG. 


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Sanitätspersonal selbst za beschaffendes. Zu ersterem gehört ein Rekruten- 
maass zur Bestimmung der Körperlänge und in den meisten Staaten eine 
Wage zur Wägung des Körpergewichtes. Während in einigen Heeren noch 
diagnostische Behelfe aus staatlichen Mitteln gewährt werden, ist sonst die 
Beschaffung solcher den Militärärzten auf ihre eigenen Kosten überlassen. Zu 
den unentbehrlichen Behelfen ist ein Bandmaass zur Messung von Körperthei- 
len, insbesondere des Brustumfanges, sowie zur Messung der Hörweite, des Fem- 
punktsabstandes etc. zu rechnen; ein solches Maass besteht am zweckmässigsten 
aus waschbarer und undehnbarer Leinwand, darf nicht über 1 cm breit sein 
und muss vor jeder Rekrutirung durch Vergleichung mit dem Rekrutenmaasse 
auf Uebereinstimmung geprüft werden. Zur Prüfung der Sehleistung empfehlen 
sich u. a. die SNELLEN’schen Leseproben, einige concave und convexe Augen¬ 
gläser, eine Lupe, deren Anwendungsweise Hock in der Wiener Klinik 1886 , 
Heft 4, vortrefflich abgehandelt hat, ein Prisma, Wollproben, Calabarpapier 
und Atropin 0 05 auf 15 0 mit Pinsel. Den Ohruntersuchungen und Hörprü¬ 
fungen dient die gewöhnliche Taschenuhr, der freilich ein Uhrwerk mit 
Hemmungsvorrichtung vorzuziehen ist, ein Hohlspiegel mit drei Ohrtrichtern 
aus Hartgummi, eine zinnerne Ohrspritze 30 - 0 g haltend mit Elfenbeincanüle. 
Noch andere Spiegel, wie Endoskope, Augen- und Kehlkopfspiegel mitzunehmen 
mag den Specialisten anheimgestellt bleiben. Eines Hörrohres ist für Herz¬ 
untersuchungen nicht zu entrathen, während Klopfscheibe mit Hammer ent¬ 
behrt werden können. Endlich kann ein Thermometer in Fällen, wo die Be¬ 
tastung Fieberbewegungen wahrzunehmen glaubt, das ärztliche Urtheil (wie 
ich im „Militärarzt“ 1879 Nr. 19, ff. dargelegt habe) alsbald ausschlaggebend 
beeinflussen. 

Das Sanitätsmaterial für den Militär-Gesundheitsdienst pflegt rein 
amtlich zu sein und wird in der Regel von der Heeresverwaltung geliefert. 
Es handelt sich hier hauptsächlich um sachliche Mittel, mit denen die mili¬ 
tärischen Unterkünfte sammt ihren Einrichtungen für Lufterneuerung, Heizung, 
Beleuchtung, Wasserversorgung und Abfallbeseitigung, die militärische Be¬ 
kleidung und Ausrüstung, die Beköstigung, die Berufsverrichtungen, sowie 
die unmittelbaren Schutzmaassregeln gegen Krankheiten auf gesundheitliche 
Eigenschaften untersucht werden. Dass hiefür nicht in jeder' Garnison eine 
wissenschaftliche Untersuchungsanstalt errichtet wird, ist zu billigen. Denn 
manches wird sich dem Militärarzt aus dem bereits für die Civilbevölkerung 
Festgestellten ergeben, manches auch mit den Mitteln des am Orte befind¬ 
lichen Militärlazarets, anderes wiederum mit den blossen ärztlichen Sinnen und 
ohne die mehrentheils rein wissenschaftlichen Zwecken dienenden Geräth- 
schaften sich aufklären lassen. Soweit es sich aber um physiognostische 
Zwecke, insbesondere um die Feststellung des körperlichen Gedeihens des 
Soldaten unter gegebenen Verhältnissen handelt, reichen die meist auch in 
den Kasernen verfüglichen Wäge- und Messgeräthe in der Regel aus. 

Den ungleich grössten Antheil an dem Sanitätsmaterial eines Heeres 
beansprucht der Krankendienst. Dieses Material dient dem Heilzwecke, 
ist also Heilmaterial; alles, was zur Wiederherstellung des Kranken dient, ist 
Mittel zum Zweck, ist Heilmittel. Im weiteren Sinne sind es deshalb auch 
Unterkunft, Bekleidung, Beköstigung und Beschäftigung des Kranken. 

Im Allgemeinen von denselben gesundheitlichen Grundsätzen beherrscht, 
wie sie für die Gesunden gelten, verlangen diese Grundsätze freilich gegen¬ 
über Kranken eine andere, durch das Wesen der verschiedenen Krankheiten 
bedingte Anwendung. So unterliegt z. B. die hauptsächliche Unterkunft der 
Militärkranken, das Militärlazaret, im allgemeinen denselben baulichen Ge¬ 
sichtspunkten, wie die der gesunden Soldaten, die Kaserne. Die Unterbrin¬ 
gungsweise der Kranken aber ist eine pfleglichere; die Krankenräume erhalten 
damit eine gewisse von Mannschaftsstuben verschiedene Eigenart, und so 


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MILITÄR-SANITÄTSVERFASSUNG. 


wächst das Krankenhaus von innen heraus zu einer Form, die sich auf den 
ersten Blick von der Kaserne unterscheidet. Nur dort, wo an die Unterkünfte 
die einfachsten Bedingungen gestellt werden, nähern sie sich: Baracken und 
Zelte zeigen für Gesunde und Kranke auch im Aeussern viel mehr Ueber- 
einsümmung als Kasernen und Krankenhäuser. 

Zu den Heilmitteln engeren Sinnes kann man die auf die Erkenntnis 
und die Bekämpfung vorhandener Krankheiten unmittelbar gerichteten Mittel 
rechnen, so die Heilgeräthe, Instrumente, Verbandmittel und Arzneimittel. 
Aber auch hier noch ist mit dem Sprachgebrauche insofern zu rechnen, als 
dieser die Instrumente und Heilgeräthe von den Heilmitteln engsten Sinnes, 
den Verband- und Arzneimitteln trennt. Diese letztere Unterscheidung ist 
praktisch wichtig, weil sie auch die Heeresverwaltung rechnerisch benutzt, indem 
sie die Heilmittel in verbrauchbare (Verband- und Arzneimittel) und in unver¬ 
brauchbare (Instrumente und Geräthe) zu theilen pflegt. Freilich ist auch 
dieser Eintheilungsgrund nicht durchschlagend; denn im Grunde genommen 
sind alle diese Heilmittel verbrauchbar, die einen in kürzerer, die anderen in 
längerer Zeit. 

Mehr als diese rein systematische Eintheilungsfrage interessirt die 
Zahl, der Umfang der etatisirten, d. h. vom Staatsschätze bewilligten Heil¬ 
mittel. Wenn schon hierbei der Grundsatz einer möglichst billigen Wirt¬ 
schaft zum Ausdruck gelangt, so ist doch jetzt in allen Staaten zu beobachten, 
dass dieser Grundsatz nirgends auf Kosten der Kranken die Richtschnur bildet. 
Alle erprobten Heilmittel sind dem Militärärzte zugängig, und Staat und Arzt 
reichen sich allenthalben die hilfsbereite Hand, die Leiden der Kranken zu 
mildern und zu heben. 

Da eine Militär-Sanität sverfassung als menschliche Einrichtung nichts 
Bleibendes ist, sondern beständigem Wechsel unterworfen sein muss, so ist es 
Pflicht der Militärärzte, dafür zu sorgen, dass dieser Wechsel immer ein 
Fortschritt zum Bessern sei, dass die Militär-Sanitätsverfassung nicht rück¬ 
schreite, sondern sich vervollkommene. 

Diese organisatorische Pflicht gehört zu den schwersten des Militärarztes. 
Denn sie fordert nicht nur erfahrungsreiches Verständnis der Verfassungs¬ 
und Dienstbestimmungen und ihrer etwaigen Mängel, sondern auch besondere 
Charaktereigenschaften: Festigkeit, Freimuth, sowie eine Berufsbegeisterung, 
die die objective Beurtheilung von Menschen und Dingen nicht beein¬ 
trächtigt. 

Vor allem ist, wenn diesen Bestrebungen der Erfolg nicht fehlen soll, 
nach einem bestimmten logischen Leitfaden zu verfahren. Denn jede militär- 
medicinische Verfassungsfrage bedarf streng wissenschaftlicher Behandlung; 
und sonach ist der Gang einschlagender Arbeiten durch folgende Forderungen 
bestimmt: 

1. Feststellung des Begriffs des zu bearbeitenden Gegenstandes und 
Rechtfertigung des Arbeitsthemas mit dem Hinweise auf seine allgemeine und 
besondere Bedeutung. 

2. Die Vergangenheit des Gegenstandes, seine geschichtliche Entwicklung 
nach Ausweis der Literatur und eigener Erfahrung. 

3. Gegenwärtiger Stand der zu beurtheilenden Einrichtung; seine Ver¬ 
gleichung mit demjenigen der zweckähnlichen Verfassungsbestandtheile aus¬ 
ländischer Heere; Prüfung des Verhältnisses von Zweck und Mitteln. 

4. Feststellung der Mängel, die gefunden werden in den der Einrichtung 
zugrundeliegenden Beweggründen oder in der amtlichen Verwirklichung der 
leitenden Gedanken, unter gleichzeitigen Erörterungen der Fragen, ob das 
Ueberkommene gegenüber veränderten Heeresverfassungen oder vollzogenen 
Fortschritten der medicinischcn Wissenschaft noch als nöthig oder nützlich, 


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NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 


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oder genügend, oder umgekehrt sich erweist und der Beseitigung oder Ver¬ 
besserung bedarf. 

5. Die Deckung des etwa erkannten Reformbedürfnisses hat vorschlags¬ 
weise so zu geschehen, dass sich das Neue innig an das Vorhandene anscbliesst 
und sich dem Heeresinteresse und den Kriegsbedürfnissen gänzlich unterordnet. 

6. Jeder neue Bestandtheil der Militär-Sanitätsverfassung ist in orga¬ 
nischen Zusammenhang mit den richtig erfassten Heereseinrichtungen zu setzen. 

H. FRÖLICH. 

Nahrungsmittelverfälschung. Im Verkehre mit Nahrungsmitteln 
spielen Verfälschungen eine grosse Rolle. Mehl wird mit Gyps, Schwerspath 
und anderen farblosen, oft gesundheitsschädlichen Pulvern vermischt, verdor¬ 
benes Mehl verbessert man mit Alaun und Kupfervitriol, Nudeln färbt man 
mit Pikrinsäure, statt mit Eigelb, und in der Conditorei werden Gyps, 
Schwerspath, Kreide, namentlich aber schädliche Farbstoffe vielfach ange¬ 
wandt. Zucker wird mit Mehl und Dextrin, indischer Sirup mit Runkelrüben- 
und Kartoffelsirup verfälscht. Beim Fleisch kommen Unterschiebungen des 
Fleisches kranker oder gar gefallener Thiere, Pferdefleisch für Rindfleisch vor, 
und Wurst wird allgemein mit Mehl verfälscht. Milch wird abgerahmt und 
mit Wasser verdünnt, Honig wird mit Stärkesirup, Butter mit Kunst- 
butter versetzt. Die Fälschungen von Wein (Unterschiebungen geringerer 
Sorten und chemische Färbungen, Zusatz von Spiritus u. s. f.) sind allgemein 
bekannt, es wird sehr viel mehr Madeira, Medoc u. s. w. getrunken als in 
den betreffenden Weinbaugebieten wächst, und reiner Rum, Arrac, Cognac ist 
eine Seltenheit im Handel. 

Am schlimmsten treiben es die Fälscher aber bei den gemahlenen Ge¬ 
würzen, indem geeignete Fälschungsmittel fabrikmässig dargestellt werden. 

Solche Verfälschungen kamen schon vor Jahrhunderten vor, wenn sie auch heute 
in bedeutend höherem Maasse betrieben werden. Sie gaben auch schon frühzeitig Ver¬ 
anlassung zum Einschreiten des Gesetzgebers. Friedrich III. bedrohte schon im Jahre 1475 
die Weinfälscher, und im 16. Jahrhundert wurde eine Controle des Gewürzhandels einge¬ 
führt. Die spätere Zeit ist reich an Verordnungen, welche polizeiliche Revisionen ein¬ 
führten und die Physiker im Verein mit besonders ausgebildeten und geprüften Chemikern 
zur Untersuchung von Proben verpflichteten. 

Im Deutschen Reich wurde am 14. Mai 1879 ein Gesetz, betreffend 
den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Ge¬ 
brauchsgegenständen publicirt. Dieses Gesetz ermächtigt die Polizei, 
bei Händlern von Nahrungs- und Genussmitteln, Spielwaaren, Tapeten, Farben, 
Ess-, Trink- und Kochgeschirren und Petroleum Proben zu entnehmen und 
bei Händlern, welche auf Grund dieses Gesetzes zu Freiheitsstrafen verur- 
theilt sind, Revisionen vorzunehmen. 

Mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 1500 Mark oder mit 
beiden Strafen wird belegt: 1. Wer zum Zweck der Täuschung im Handel und Verkehr 
Nahrungs- und Genussmittel nachmacht oder verfälscht, 2. wer wissentlich Nahrungs¬ 
oder Genussmittel, welche verdorben, nachgemacht oder verfälscht sind, unter Verschweigung 
dieses Umstandes verkauft oder unter einer zur Täuschung geeigneten Bezeichnung 
feilhält. 

Ist die unter 2 hezeichnete Handlung aus Fahrlässigkeit begangen, so tritt Geld¬ 
strafe bis 150 Mark oder Haft ein. 

Mit Gefängnis wird bestraft: 1. Wer vorsätzlich Gegenstände, welche bestimmt sind, 
Anderen als Nahrungs- oder Genussmittel zu dienen, derart herstellt, dass der Genuss der¬ 
selben die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet ist, iugleichem, wer wissentlich 
Gegenstände, deren Genuss die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet ist, als 
Nahrungs- oder Genussmittel verkauft, feilhält oder sonst in Verkehr bringt; 2. wer 
vorsätzlich Bekleidungsgegenstände. Spielwaaren, Tapeten, Ess-, Trink- und Kochgeschirre 
oder Petroleum derartig herstellt, dass der bestimmungsgemüsse und vorauszusehende Ge¬ 
brauch dieser Gegenstände die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet ist, in¬ 
gleichem, wer wissentlich solche Gegenstände verkauft, feilhält oder in den Verkehr bringt. 

Der Versuch ist strafbar. Jst durch die Handlung eine schwere Körperverletzung 
oder der Tod eines Menschen verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe bis zu fünf Jahren 


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NAHRUNGSMITTEL VERFÄLSCHÜNG. 


ein. War der Gennas oder Gebrauch des Gegenstandes die menschliche Gesundheit zu 
zerstören geeignet, und war diese Eigenschaft dem Tbäter bekannt, so tritt Zuchthaus« 
strafe bis zu zehn Jahren und. wenn durch die Handlung der Tod eines Menschen verur¬ 
sacht worden ist, Zuchthausstrafe nicht unter zehn Jahren oder lebenslängliche Zucht¬ 
hausstrafe ein. 

Ist eine dieser Handlungen aus Fahrlässigkeit begangen, so tritt je nach den Folgen 
Geld- oder Gefängnisstrafe ein. 

Auf Grund des Gesetzes können mit Zustimmung des Bundesratbes ge¬ 
wisse Verordnungen erlassen werden, die aber dem Reichstage vorzulegen 
sind und auf dessen Verlangen ausser Kraft treten. 

Ferner ist unter dem 5. Juli 1887 ein Gesetz, betreffend die 
Verwendung gesundheitsschädlicher Farben bei der Herstel¬ 
lung von Nahrungs-, Genussmitteln und Geb rau chsgegen ständen 
veröffentlicht worden. Durch das Gesetz ist es verboten, gesundheitsschäd¬ 
liche Farben zur Herstellung von Nahrungs- und Genussmitteln, welche zum 
Verkauf bestimmt sind, zu verwenden. Gesundheitsschädliche Farben im Sinne 
dieser Bestimmung sind diejenigen Farbstoffe und Farbzubereitungen, welche 
Antimon, Arsen, Baryum, Blei, Chrom, Cadmium, Kupfer, Quecksilber, Uran, 
Zink, Zinn, Gummigutti, Korallin, Pikrinsäure enthalten. 

Der Rest des Gesetzes handelt von Gebrauchsgegenständen, die uns hier 
nicht weiter interessiren. 

Die Strafbestimmungen sind ähnliche wie im Gesetze vom 14. Mai 1879. 

Zu diesem Gesetz hat der Reichskanzler eine Erläuterung erlassen, 
betreffend die Untersuchung von Farben, Gespinnsten und 
Geweben auf Arsen und Zinn. Es ist in dieser Erläuterung genau vor¬ 
geschrieben, wie ein etwaiger Gehalt an Arsen und Zinn in den Unter¬ 
suchungsgegenständen bestimmt werden soll. 

Ein Gesetz, betreffend den Verkehr mit Wein, weinhaltigen 
und weinähnlichen Getränken wurde am 20. April 1892 erlassen. 

Im § 1 dieses Gesetzes sind diejenigen Stoffe angeführt, welche bei der Weinbereitnng 
nicht Verwendung finden dürfen. Dahin gehören: Alaun, Baryumverbindungen, Borsäure, 
Glycerin, Kennesbeeren, Magnesiumverbindungen, Salicylsäure, unreiner Sprit, unreiner 
St&rkezucker, Strontium Verbindungen, Theerfarbstoffe. Als Verfälschung dagegen soll 
nicht angesehen werden 1. die anerkannte Kellerbehandlung einschliesslich Haltbar¬ 
machung des Weines, auch wenn dabei Alkohol oder geringe Mengen von mechanisch wir¬ 
kenden Klärungsmitteln (Eiweiss etc.), von Kochsalz, Tannin, Kohlensäure, schwefliger Säure 
oder daraus entstandener Schwefelsäure in den Wein gelangen; 2. der Verschnitt von 
Wein mit Wein; 3. die Entsäuerung mit reinem, gefälltem kohlensaurem Kalk; 4. der 
Zusatz von reinem Rüben-, Rohr- oder Inwertzucker, technisch reinem Stärkezucker, auch 
in wässeriger Lösung. Der Zusatz muss sich jedoch innerhalb bestimmter Grenzen halten. 

Im § 4 werden diejenigen Zubereitnngsarten des Weines angegeben, die als Verfäl¬ 
schungen im Sinne des Gesetzes vom 14. Mai 1879 angesehen werden sollen. Das sind: 
1. Die Verwendung eines Aufgusses von Zuckerwasser auf ganz oder theilweise ausge¬ 
presste Trauben; 2. die Verwendung eines Aufgusses von Zuckerwasser auf Weinhefe; 
3. die Anwendung von Rosinen, Korinthen, Saccharin oder anderen als den oben be- 
zeichneten Süssstoffen; 4. die Anwendung von Säuren oder säurehaltigen Körpern oder 
von Bouquetstoffen; &. die Anwendung von Gummi oder anderen Körpern, durch welche 
der Extractgehalt erhöht wird. 

Die derart hergestellten Getränke dürfen nicht als Weine in den Handel gebracht 
werden, sondern müssen als das declarirt werden, was sie sind, nämlich als: Tresterwein, 
Hefenwein, Rosinenwein, Kunstwein etc. 

Die Strafbestimmungen sind dieselben wie im Gesetze vom 14. Mai 1879. 

Zu diesem Gesetz hat nun der Reichskanzler mit Zustimmung des 
Bundesrathes eine Anzahl Bekanntmachungen erlassen. In der ersten Bekannt¬ 
machung sind die untersten Grenzen für den Gesammtgehalt an Extract- 
stoffen mit 15 g, der nach Abzug der nicht flüchtigen Säuren nicht unter 
11 (/ und nach Abzug der Gesammtsäuren nicht unter 1 g in 100 ccm be¬ 
tragen darf, festgesetzt. Der Gehalt an Mineralbestandtheilen muss mindestens 
0‘14 g pro 100 ccm Wein betragen. 

Neuerdings ist nun noch eine Bekanntmachung erschienen, die die 
Untersuchungsmethoden des Weines vorschreibt. 


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NAHRUNGSMITTEL VERFÄLSCHUNG. 


619 


Ausser diesen für das ganze deutsche Reich gütigen gesetzlichen Bestim¬ 
mungen gibt es nun noch eine ganze Anzahl polizeilicher Bestimmungen, die 
aber nur örtliche Wirksamkeit und Bedeutung besitzen. 

Nachdem so die wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen kurz mitgetheüt 
sind, wollen wir uns nunmehr zur Besprechung der einzelnen Nahrungs- und 
Genussmittel wenden. Es sollen hier jedoch nur diejenigen Arten der Ver¬ 
fälschung nebst ihrem Nachweise erwähnt werden, die in hygienischer Be¬ 
ziehung von Interesse sind. Betreffs der sonstigen Untersuchungsmethoden etc. 
verweisen wir auf den Artikel „Nahrungs- und Genussmittel" im Band: Medi¬ 
cinische Chemie, Seite 580 ff. 

Die Milch. Eines der wichtigsten Nahrungsmittel besonders für die 
Kinder ist die Milch. Durch ihre auch im normalen Zustande sehr schwan¬ 
kende Zusammensetzung ist die Fälschung sehr erleichtert und wird auch 
heute noch in grossem Maassstabe betrieben. Trotz sorgfältigster Con- 
trole seitens der Polizei und der etwa angestellten Chemiker lässt sich den 
gewissenlosen Fälschern das Handwerk nicht legen. Die Gründe dafür liegen 
in der sehr wechselnden Zusammensetzung der Milch, so dass sich fast immer 
ein Gutachter findet, der bei gerichtlichem Verfahren eine beanstandete Milch 
noch als ungefälscht bezeichnet, worauf natürlich Freisprechung erfolgt. 

Die Fälschung der Milch erscheint im bedenklichsten Lichte, wenn man 
berücksichtigt, dass heute ein grosser Theil unserer Säuglinge mittelst Kuh¬ 
milch ernährt wird. Wird nun diesen empfindlichen Wesen eine gefälschte 
Milch verabreicht, so kann das von den übelsten Folgen für die Gesundheit 
der Kinder sein. 

Die gewöhnlichsten Arten der Fälschung: Verdünnen mit Wasser, Ent¬ 
rahmen etc., lassen sich nachweisen durch das specifische Gewicht der Milch 
bei 15°, das specifische Gewicht der Molken — die Werte beider Zahlen 
schwanken nur innerhalb bestimmter Grenzen — ferner durch die Bestimmung 
des Fettgehaltes und der Trockensubstanz. Häufig macht sich gefälschte Milch 
auch schon durch ihr Aussehen verdächtig, sie sieht häufig blau aus. Bezüglich 
der Ausführung der eben genannten Bestimmungen verweise ich wieder auf 
den Artikel „Nahrungs- und Genussmittel“ im Band „Chemie“. 

Neben dieser gefälschten Milch kommen auch noch andere Arten Milch 
in den Handel, die ebenfalls nachtheilig für die menschliche Gesundheit und 
daher als Nahrungsmittel zu verwerfen sind. Das ist die sogenannte rothe 
Milch. Sie verdankt ihre rothe Farbe manchmal einer mechanischen Bei¬ 
mischung von Blut, manchmal aber auch einer Bacterienart. 

Butter. Von den Arten der Fälschung der Butter haben für uns speciell 
nur Interesse die Vermischung von guter Butter mit alter ranziger Butter 
und die Färbung der Butter mit giftigen Farben. Die gewöhnlichste Art der 
Butterfälschung, die Vermischung mit fremden Fetten — Margarine etc. — 
braucht hier nicht besprochen zu werden, da sie hygienisch nicht in Betracht 
kommt. 

Wenn die Butter bei der Bereitung nicht sauber behandelt worden ist, 
wenn z. B. die Buttermilch nicht durch Kneten mit Wasser vollständig ent¬ 
fernt ist, oder wenn die Butter nicht hinreichend vom Wasser befreit ist, so 
tritt allmählich eine Zersetzung der Butter ein. Diese Zersetzung wird hervor¬ 
gerufen und gefördert durch Bacterien. In einer ranzigen Butter finden sich 
auch sehr oft grosse Colonien von Schimmel- und anderen Pilzarten. Eine 
derart verdorbene Butter ist nun geeignet, schädlich auf die menschliche Ge¬ 
sundheit einzuwirken. Die Bestimmung der Ranzigkeit einer Butter auf 
chemischem Wege beruht auf der Bestimmung der Menge der in der Butter 
sich findenden freien Säure. Die Ranzidität wird in Graden ausgedrückt. 
(Vergl. „Nahrungs- und Genussmittel“, Band: Medicinische Chemie.) 


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NAHRUNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 


Bezüglich der künstlichen Färbung der Butter ist zu erwähnen, dass 
diese meist mit unschädlichen Farbstoffen geschieht. Es sind aber auch Fälle 
vorgekommen, wo giftige Farben Anwendung gefunden hatten, z. B. Dinitro- 
kresol. 

Verfälschungen der Butter mit fremdem Fett können hier nur insoweit 
in Frage kommen, als zur Bereitung des Zusatzes Fett von gefallenen oder kranken 
Thieren oder aus Abdeckereien Verwendung findet. Dass dies wirklich ver¬ 
sucht worden ist, geht daraus hervor, dass in Patentgesuchen (z. B. R.-P. 
Nr. 19.013) die Verwendung solcher Fette aus Abdeckereien aufgeführt ist. 
In deutschen Fabriken dürfte eine solche Bereitung aber heute ausge¬ 
schlossen sein. 

Neuerdings ist durch ein deutsches Reichsgesetz wiederholt die Ver¬ 
mischung von Butter mit fremdem Fett, hauptsächlich Margarine, verboten 
worden. Um das Verbot nun auch wirksam durchführen zu können, ist an¬ 
geordnet worden, dass alle Margarine mit einem unschädlichen Farbstoff ver¬ 
setzt wird, der es auch dem Laien ermöglicht, einen eventuellen Zusatz von 
Margarine zur Butter zu erkennen. 

Mehl und Brot Von absichtlichen wissentlichen Fälschungen des 
Mehles und infolge dessen auch des daraus bereiteten Brodes ist heute wohl 
kaum noch die Rede. Früher hat man das Mehl wohl mit Schwerspath zur 
Erhöhung des Gewichtes versetzt, oder verdorbenes, dumpfiges Mehl mit Alaun 
behandelt; aber diese Arten der Fälschung dürften wohl heute kaum noch 
Vorkommen. Wichtiger sind die fremden, pflanzlichen Verunreinigungen des 
Mehles. Die wichtigsten Verunreinigungen dieser Art sind die Kornrade und 
das Mutterkorn. Da durch den Genuss von Brot, das aus Mehl mit diesen 
Verunreinigungen hergestellt worden ist, die menschliche Gesundheit ge¬ 
schädigt werden kann, so ist der Nachweis derselben von grosser Wichtigkeit. 
Chemisch ist der Nachweis von Mutterkorn und Kornrade schwer zu erbringen. 
Dagegen lassen sie sich leicht mit Hilfe des Mikroskops nachweisen. 

Zuweilen soll Kupfervitriol im Brot gefunden worden sein. Ein solcher 
Zusatz dürfte wohl zu den grössten Seltenheiten gehören, da er für den 
Fälscher vielleicht gefährlicher ist als für den Consumenten. 

Wem. Ein sehr beliebtes Fälschungsobject ist der Wein. Er wird theils 
mit Wasser versetzt, um die Quantität zu vermehren, theils werden schlechte 
saure Jahrgänge mit Süsswein verschnitten zur Verbesserung der Qualität, 
theils wird die Qualität des Weines auf andere Weise zu verbessern gesucht, 
oder der ganze Wein wird künstlich hergestellt. Solche Manipulationen 
charakterisiren sich zum grössten Theil als Fälschungen. Infolge der wech¬ 
selnden Zusammensetzungen der Weine je nach den Jahrgängen, der Lage 
der Weinberge etc. ist es für den Chemiker äusserst. schwierig, den Fälschungen 
auf die Spur zu kommen und dieselben mit solcher Gewissheit festzustellen, 
dass eine Bestrafung des Fälschers eintreten kann. 

Bei der Beurtheilung der Weine für gerichtlich-chemische Fälle sind 
zwei Fälle zu unterscheiden: 

1. Dem Wein sind Stoffe zugesetzt worden, die dem normalen Wein voll¬ 
ständig fremd sind, z. B. Theerfarbstoffe, gewisse Conservirungsmittel, Sac¬ 
charin etc. Diese Stoffe sind fast ausnahmslos leicht und sicher nachweisbar, 
und ihre Beurtheilung macht nach dem Erlasse des Weingesetzes vom 20. April 
1892 meist keine Schwierigkeiten. 

Zur Verdeckung des sauren Geschmackes werden dem Wein künstliche 
Süssstoffe (Saccharin, Dulcin), zur Conservirung Borsäure, Salicylsäure, 
Abrastol (ß-naphtolsulfosaures Calciun), Fluorverbindungen zugesetzt. Wenn 
die Weintrauben zur Bekämpfung von Rebenkrankheiten mit Kupferlösungen 
behandelt worden sind, gelangt Kupfer in den Most; bei der Gährung wird 
aber der grösste Theil des Kupfers unlöslich abgeschieden, so dass sich nur 


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NAHRUNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 


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sehr kleine Mengen im Wein vorfinden. Zum Entgypsen des Weines werden 
die Weine zuweilen mit Baryum- oder Strontium salzen behandelt, durch die 
der übermässige Schwefelsäuregehalt der gegypsten Weine vermindert werden 
soll; dabei bleiben meist kleine Mengen Baryum- oder Strontiumsalze in dem 
Wein gelöst zurück. Um den Wein zu entsäuern, hat man ihn zuweilen mit 
Bleioxyd oder Bleizucker behandelt, wobei Bleisalze in dem Wein zurück¬ 
blieben. 

Alle diese Arten von Zusätzen zum Wein sind als Verfälschungen zu 
bezeichnen und sind zum Theil gesundheitsschädlich. 

2. Dem Wein sind Stoffe oder Gemische von Stoffen zugesetzt worden, 
die sich bereits im Weine vorfinden, z. B. Glycerin, Weinstein, Alkohol etc. 
Hier genügt es nun natürlich nicht mehr, die betreffenden Stoffe im Wein 
nacbzuweisen, um daraus auf eine Fälschung zu schliessen. Es ist vielmehr 
nothwendig, dass man die Menge dieser Stoffe im Wein feststellt. Um sich 
aus den gefundenen Mengen ein Urtheil darüber bilden zu können, ob ein 
Zusatz derselben zum Wein stattgefunden hat oder nicht, muss bekannt sein, 
wie gross die Mengen des Stoffes sind, die sich in unverfälschten Weinen 
vorfinden. Wie schon erwähnt wurde, ist die Zusammensetzung der reinen 
Weine eine ausserordentlich schwankende und deshalb der Nachweis des 
Zusatzes eines Stoffes, der im Wein bereits von Natur enthalten ist, sehr 
schwierig. Man kam sehr bald zu der Einsicht, dass man nur zum Ziele 
kommen könne, wenn man in jedem Falle, wo ein Wein zu beurtheilen war, 
nur ein verhältnismässig eng begrenztes Weinbaugebiet ins Auge fasste und 
die Schwankungen in der Zusammensetzung unzweifelhaft reiner Weine dieses 
Weinbaugebietes an einer möglichst grossen Anzahl von Proben feststellte. 

Derartige systematische Untersuchungen der Weine einzelner Weinbaugebiete sind 
bisher nur in Deutschland ausgeführt worden. Bereits im Jahre 1886 trat eine Anzahl 
anerkannt tüchtiger, deutscher Weinchemiker zu einer „Commission zur Bearbeitung einer 
Weinstatistik für Deutschland“ zusammen. Die Commission hat in den Jahren 1887—1894 
eine grosse Anzahl von Mosten und Weinen aus den deutschen Weinbaugebieten unter¬ 
sucht und die Ergebnisse veröffentlicht. Die Untersuchungen der Commissionsmitglieder 
bieten ein überaus wertvolles Material für die Beurtheilung der Zusammensetzung der 
deutschen Weine. 

Noch ein anderer Punkt erschwerte bis vor Kurzem die Beurtheilung 
der Weine auf Grund der chemischen Untersuchung in nicht unerheblichem 
Maasse: die Unsicherheit in Betreff dessen, was als Verfälschung des Weines 
und was als zulässige Behandlung des Weines anzusehen sei. Da das Gesetz 
vom 14. Mai 1879, betreffend denVerkehr mit Nahrungs- und Genussmitteln 
und Gebrauchsgegenständen, ganz allgemein gehalten ist und auf die ein¬ 
zelnen Nahrungsmittel nicht eingeht, war es Sache der Gerichte, in jedem 
Einzelfalle zu entscheiden, ob eine Verfälschung verliege oder nicht. So kam 
es denn, dass die Entscheidungen der Gerichtshöfe in den verschiedenen 
Theilen des deutschen Reiches nicht gleichmässig ergingen. Diesem unhalt¬ 
baren Zustande wurde durch das Gesetz vom 20. April 1892, betreffend den 
Verkehr mit Wein, weinhaltigen und weinähnlichen Getränken, abgeholfen. 
Durch dieses Gesetz ist, wie oben schon mitgetheilt, klar festgestellt, was als 
zulässige Behandlung des Weines, bezw. als erlaubter Zusatz zu dem Weine 
und was als Verfälschung anzusehen ist. 

Durch dieses Gesetz vom 20. April 1892 ist nun der Zusatz einer 
ganzen Anzahl von Stoffen verboten worden. Diese wollen wir einer kurzen 
Besprechung unterziehen. Wenn auch ein grosser Theil dieser verbotenen 
Zusätze keine directe Gefahr für den gesunden, menschlichen Organismus in 
sich birgt, so ist doch immer zu berücksichtigen, dass heute sehr viel Wein 
zur Kräftigung von schwächlichen Personen (Reconvalescenten etc.) verordnet 
wird, und dass sicher durch diese Zusätze eventuelle Störungen des Wohl¬ 
befindens eintreten können. 


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NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHÜNG. 


1. Lösliche Aluminium salze (Alaun und dergl.). Von löslichen 
Al uminiumsalzen kommt als Zusatz zum Wein fast nur Alaun in Betracht; 
die Klärerden (Kaolin, spanische Erde) fallen als unlösliche Aluminiumverbin¬ 
dungen nicht unter das Verbot. Alaun wurde mitunter beim Schönen des 
Weines, namentlich beim Klären des Schaumweines, benützt; auch bildet der 
Alaun einen Bestandtheil gewisser künstlicher Weinfärbemittel. Ueber den 
Nachweis des Alauns und der im Folgenden zu besprechenden Stoffe ver¬ 
gleiche „Nahrungs- und Genussmittel“ im Band: Medicin. Chemie. 

2. Baryum- und Strontium Verbindungen. Zum Entgypsen der 
Weine, d. h. richtiger zur Verminderung des hohen Schwefelsäuregehaltes ge- 
gypster Weine ist vorgeschlagen worden, den gegypsten Wein mit Baryum- 
verbindungen (Chlorbaryum, weinsteinsaurem Baryum, kohlensaurem Baryum) 
oder mit Strontiumverbindungen zu versetzen. Dabei ist nicht zu vermeiden, 
dass gewisse Mengen der so überaus giftigen Baryum und Strontium Verbin¬ 
dungen im Wein gelöst bleiben. Thatsächlich hat man in entgypsten Weinen 
wiederholt Baryum- bezw. Strontiumverbindungen beobachtet. 

3. Borsäure. Mitunter sind zur Conservirung des Weines Borsäure 
oder Borsäure enthaltende Gemische empfohlen und angewandt worden. Für 
die Beurtheilung der Weine ist die Thatsache von Wichtigkeit, dass die Bor¬ 
säure ein normaler Bestandtheil des Weines zu sein scheint. Zur Feststellung 
eines Zusatzes derselben zum Wein genügt es also nicht, sie qualitativ im 
Wein nachzuweisen, man muss vielmehr eine quantitative Bestimmung der¬ 
selben ausführen. Da der Zusatz von Borsäure zum Wein, wenn diese wirk¬ 
lich conservirend wirken soll, ziemlich beträchtlich sein muss, denn kleine 
Mengen Borsäure haben keine conservirende Wirkung, so wird es meist 
möglich sein, durch die quantitative Bestimmung festzustellen, ob ein Zusatz 
stattgefunden hat oder nicht. 

4. Glycerin. Das Glycerin bildet einen wesentlichen Bestandtheil der 
Weine, mitunter wird es auch künstlich zugesetzt, um dem Wein eine grössere 
Süssigkeit und einen höheren Extractgehalt, also eine bessere Beschaffenheit 
zu verleihen, als er seiner Natur nach beanspruchen kann. Aus dem Grunde 
ist dieser Zusatz als Verfälschung anzusehen, abgesehen davon, dass das 
Glycerin des Handels durchweg stark verunreinigt ist. 

Um nun einen Zusatz des Glycerins zum Wein feststellen zu können, 
muss man den Glyceringehalt unversetzter W T eine kennen. Dieser schwankt 
innerhalb weiter Grenzen. Da das Glycerin ein Erzeugnis der Gährung ist, 
wird es in um so grösserer Menge entstehen, je mehr Zucker zur Vergährung 
gelangt; es ist daher vorauszusehen, dass eine gewisse Beziehung zwischen 
dem bei der Gährung entstehenden Alkohol und dem daneben entstehenden 
Glycerin besteht. Zahlreiche Versuche haben ergeben, dass bei der Gährung 
des Mostes auf 100 Gewichtstheile Alkohol meist 7 bis 14 Gewichtstheile 
Glycerin entfallen. Die Weinchemiker drücken diese Erfahrung in der Weise 
aus. dass sie sagen, das Alkohol-Glycerinverhältnis schwankt meist zwischen 
100:7 und 100:14. 

Das Verhältnis zwischen Alkohol und Glycerin kann nun auch jene 
Grenzen überschreiten, ohne dass Glycerin künstlich zugesetzt ist. Wenn die 
Bedingungen für die Gährung des Mostes ausnahmsweise günstig sind, so 
entsteht mehr Glycerin, als dem oben angeführten Verhältnisse entspricht. 
Bei langem Lagern der Weine verschwindet ein Theil des Alkohols theils 
durch Verdunstung, theils durch Oxydation unter der Einwirkung des Kahm¬ 
pilzes. Es können also Weine Vorkommen, die auf 100 Gewichtstheile Alkohol 
mehr als 14 Gewichtstheile Glycerin enthalten, ohne dass sie gefälscht sind. 
Findet sich nun ein solcher Wein, so ist bei der Begutachtung zu prüfen, ob 
Umstände vorliegen, die einen Alkoholverlust hervorrufen. Sind diese Um- 


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NAHRUNGSMITTEL VERFÄLSCHUNG. 


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stfinde nachweislich aasgeschlossen, so hat bei den gewöhnlichen deutschen 
Weinen ein Glycerinzusatz mit grosser Wahrscheinlichkeit stattgefunden. 

5. Kermesbeeren. In Deutschland kommen die Kermesbeeren als 
Rothwein-Fflrbemittel nicht in Betracht; dagegen finden sie in Frankreich, 
Spanien, Portugal u. s. w. Verwendung. Man wird daher nur bei den aus 
südlichen Ländern eingeführten Rothweinen auf diesen Farbstoff Rücksicht zu 
nehmen brauchen. 

6. Magnesiumverbindungen. Ein Zusatz von Magnesiumverbin¬ 
dungen zum Weine dürfte nur selten Vorkommen, es sei denn, dass beim 
Klären des Weines mit kieselsaurer Magnesia, was mitunter vorgenommen 
werden mag, sich ein Theil der Magnesia auflöst. Auch mag es hie und da 
vorgekommen sein, dass man den Wein mit gebrannter Magnesia entsäuerte; 
dabei gehen dann erhebliche Mengen Magnesia in den Wein Uber. Die 
Magnesia ist ein normaler Bestandteil des Weines, doch kommt sie immer 
nur in kleinen Theilen vor. 

7. Salicylsäure. Diese Säure wird dem Wein mitunter zugesetzt, um 
ihn zu conserviren. Wenn der Zusatz seinen Zweck erfüllen soll, darf er 
nicht zu gering bemessen werden. Man hat die Beobachtung gemacht, dass 
die Salicylsäure im Wein sich allmählich zersetzt und ihre conservirende 
Wirkung einbüsst, man muss daher den Zusatz nach einiger Zeit erneuern. 
Der Nachweis gelingt leicht. 

8. Unreiner (freien Amylalkohol enthaltender) Sprit. Nach § 3 des 
Weingesetzes darf der Wein bei der Kellerbehandlung einen Zusatz von 
Alkohol bis zu einem Maassprocent erhalten. Dieser Alkohol soll gereinigt und 
frei von Fuselöl sein. Der Nachweis des Zusatzes von ungereinigtem, fusel¬ 
ölhaltigem Spiritus zum Wein ist innerhalb der erlaubten Grenze des Zu¬ 
satzes nicht möglich. Es ist übrigens auch sehr unwahrscheinlich, dass 
jemand den Wein mit so stark fuseligem Spiritus versetzt, dass ein solcher 
Wein gesundheitsschädliche Wirkungen ausübt, da hiedurch der Geruch und 
Geschmack des Weines erheblich leiden könnte. 

9. Unreiner Stärkezucker. Fast der gesammte in den Handel 
kommende Stärkezucker ist nicht reine Dextrose, sondern enthält je nach der 
Qualität mehr oder weniger, meist sehr grosse Mengen von Stoffen, die als 
Zwischenglieder zwischen der Stärke und dem Traubenzucker aufzufassen sind; 
man hat diese Stoffe Amylin, Gallisin, oder auch „die unvergährbaren Bestand- 
theile des Stärkezuckers“ genannt. Das Amylin soll gesundheitsschädlich 
sein. Der Nachweis des Zusatzes von unreinem Stärkezucker zu dem Weine 
beruht auf dem Gehalte des Stärkezuckers an diesen Bestandtheilen, die durch 
die Hefen des Weines nicht vergohren werden. 

10. Theerfarbstoffe. Färbungen der Rothweine mit Theerfarbstoflfen 
dürften gegenwärtig nur noch sehr selten Vorkommen. Meist werden zum 
Färben der Weine stark gefärbte, südländische Rothweine oder rothe Pflanzen¬ 
farbstoffe verwendet. Der Nachweis, dass Theerfarbstoffe verwendet wurden, 
wird nach den Methoden, die die Verordnung des Bundesrathes über die 
Untersuchungen der Weine vorschreibt, mit Sicherheit erbracht. Die Theer¬ 
farbstoffe sind meist gesundheitsschädlich. 

Die anderen im Gesetz erwähnten verbotenen Zusätze brauchen hier 
nicht weiter erwähnt und besprochen zu werden, da sie nicht nachtheilig 
für die Gesundheit sind. Bis zu einem gewissen Grade schädlich könnte 
ein zu hoher Alkoholzusatz zum Weine sein, wenn man berücksichtigt, dass 
der Wein in der Medicin nur zur Kräftigung Kranker benutzt wird. Bei 
unseren einheimischen Weinen kommt ein solch abnorm hoher Zusatz selten 
oder gar nicht vor, mehr dagegen bei den Süssweinen (Tokayer etc.). Diese 
letzteren bedürfen einer besonderen Betrachtung, da sie nicht unter das Wein¬ 
gesetz fallen und da sie grosse Verwendung als Medicinalweine finden. 


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NAHRUNGSMITTELVERFÄLSCHüNG. 


Sussweine. Es sind dies Weine, welche sich durch einen aussergewöhn- 
lich hohen Extract- und Alkoholgehalt auszeichnen. Viele von ihnen spielen 
als sogenannte Medicinalweine eine wichtige Rolle. 

Die wenigsten Weine dieser Art sind aus stark süssen Trauben ohne 
jedweden Zusatz bereitet, die meisten sind durch die Art ihrer Bereitung 
Kunstproducte. 

Ein grosser Theil der im Handel oft zu verhältnismässig sehr billigen 
Preisen vorkommenden Süssweine ist durch Nachahmung der besten Süss¬ 
weintypen entstanden und hat sich an gewissen Orten eine förmliche In¬ 
dustrie solcher Fa^onweine entwickelt. 

Nach der Höhe ihres Alkohol- und Zuckergehaltes kann man unter¬ 
scheiden zwischen 1. Eigentlichen Süssweinen und 2. Liqueurweinen. 

Die ersteren zeichnen sich durch einen sehr bedeutenden Gehalt von 
Zucker und Extract, neben oft nur geringem Alkoholgehalt aus. Hierher 
gehören: Rheinische Ausbruchweine mit 9—13 Vol. % Alkohol und 3—14% 
Extract, Tokayer Ausbruchweine mit 7—18 Vol. % Alkohol und 8—27% 
Extract, Sicilianische Muskatweine, Malagaweine etc. 

Die Liqueurweine dagegen besitzen einen sehr hohen Alkoholgehalt 
neben relativ niedrigem Extractgehalt. Hierher gehören: 

Marsallaweine mit 19—25 Vol. % Alkohol und circa 5% Extract, Sherry¬ 
weine mit 18—25 Vol. % Alkohol und 3—5% Extract, Portweine mit 15 bis 
24 Vol.% Alkohol und 3—8% Extract etc. 

Die als Medicinalweine bezeichneten Weine sollten eigentlich streng 
reine Naturweine sein, leider ist aber hbute gerade das Umgekehrte der Fall. 
So lange der Arzt die Art des Weines für Kranke und Reconvalescenten 
vorschreibt, liegt keine directe Gefahr vor, da der Arzt sich auf Grund 
chemischer Analysen die Weine für den speciellen Zweck aussuchen kann. 
Es werden diese Kunstproducte, namentlich Tokayerweine, aber auch direct 
vom Publicum ohne Befragen des Arztes gekauft. Da wird denn manchmal 
einem schwachen Kinde ein Wein verabreicht, der neben hohem Alkohol¬ 
gehalt wenig Extract und wenig Mineralstofle enthält; Schreiber dieses war 
mehrfach in der Lage, amtlich sogenannten Medicinaltokayer zu untersuchen, 
der neben 10—12 Vol. °/o Alkohol 18—22% Extract und etwa 0"2% Mi- 
neralbestandtheile enthielt. Es lag also ein Wein vor, der im wesent¬ 
lichen aus Zucker, Alkohol und Wasser bestand. Dass ein solches Getränk 
nicht besonders kräftigend wirkt, liegt wohl auf der Hand. Gerade der 
Handel mit solchen Medicinalweinen sollte streng beaufsichtigt werden. 
Heute aber dringt der amtliche Chemiker mit seinen Beanstandungen dieser 
Kunstproducte von Gericht nur sehr selten durch. Es ist also den Fälschern 
das Handwerk noch ziemlich leicht gemacht. 

Bier. Unter Bier versteht man nur dasjenige Getränk, welches aus dem 
wässerigen Auszug des Gersten - Darrmalzes unter Zusatz von Hopfen und 
theilweiser Vergährung mit Bierhefe bereitet wird. Biere, zu deren Bereitung 
andere Getreidefrüchte als Gerste verwendet wurden, sollten nur mit dem 
Namen der betreffenden Getreide versehen in den Handel gebracht werden. 

Bierverfälschungen, besonders solche, welche hygienische Bedeutung 
haben können, kommen heute selten vor. Unter den dem Biere zugesetzten 
fremden Bitterstoffen sollen allerdings schon direct giftige, wie Brucin gefun¬ 
den worden sein. 

Solche fremde Bitterstoffe brauchen nun dem Biere nicht direct zu¬ 
gesetzt worden zu sein, sondern können auch aus den Hopfen-Surrogaten, die 
wohl noch hie und da Verwendung finden, stammen. 

Als solche werden genannt: Bitterklee (Menyanthin), Quassiaholz (Quas- 
siin), Enzianwurzel (Gentiopikrin), Aloe (Extract von Aloearten, Aloin), Colo- 


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NAHRUNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 


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quinthen (Colocynthin), Kockeiskörner (Pikrotoxin), Krähenangen (Strychnin 
und Brucin), Herbstzeitlose (Colchicin), Pikrinsäure. 

Sonstige Verfälschungen, wie Zusatz von Wasser oder Alkohol etc. 
brauchen hier nicht besprochen zu werden, da sie für die hygienische Be¬ 
urteilung des Bieres nicht von Bedeutung sind. 

Branntwein und Uqueure. Die Beurteilung des Branntweines resp. 
seiner Verfälschungen begegnet grossen Schwierigkeiten. Auf chemischem 
Wege eine Verfälschung des Branntweines zu constatiren ist sehr schwierig, 
wenn nicht unmöglich. Im Allgemeinen ist' die Geschmacksprobe entschei¬ 
dender als die chemische Analyse. Die gewöhnlich angewandten Fälschungen 
der Branntweine, wie Verwendung von technischem Spiritus, Wasserzusatz 
etc., spielen für die hygienische Beurteilung der Branntweine eine sehr 
untergeordnete Rolle. Wichtiger sind die Verfälschungen, bei denen schäd¬ 
liche Stoffe (schädliche Färb- und Bitterstoffe) Verwendung finden. Dieses ist 
z. B. der Fall, wenn sogenanntes Goldwasser anstatt mit echtem, mit un¬ 
echtem Blattgold verkauft wird. Solches unechtes Blattgold besteht aus etwa 
28*5% Zink und 71 • 5°/ 0 Kupfer. Diese beiden Metalle sind wohl in diesem 
Falle als gesundheitsschädlich anzusehen. 

Als bedenklich gelten Bitterstoffe wie Aloe, Gummi-Gutti, Lärchen¬ 
schwamm, Sennesblätter etc. 

Als Farbstoffe werden sehr viel Theerfarbstoffe angewendet, die aber 
in Deutschland durch das Gesetz vom 20. April 1892 ganz allgemein ver¬ 
boten sind. 

Kaffee. Die echten, natürlichen Kaffeebohnen sind insofern einer Fäl¬ 
schung ausgesetzt, als: 

1. Den besseren und theureren Sorten geringwertige und Schalenabfälle 
untergemischt werden. Häufiger werden die schlecht aussehenden Kaffeebohnen 
künstlich gefärbt, wobei man den havarirten Kaffee vorher zur Entfernung 
des Kochsalzes erst mit Wasser, dann mit Kalkwasser abwäscht. 

2. Zusatz von bereits benutztem Kaffee; dies geschieht viel bei dem in 
gemahlenem Zustand in den Handel gebrachten Kaffee. 

3. Glasiren der Kaffeebohnen. 

4. Anwendung von Kaffee-Surrogaten. 

Für uns ist von besonderem Interesse die Fälschung des Kaffees durch 
künstliche Färbung. 

Als Färbemittel sind im Gebrauch: 

Berlinerblau, Turnbullsblau, Indigo, Ultramarin, Curcuma, Chromgelb, 
Eisenocker, Azogelb, Malachitgrün, Methylgrün, Graphitkohle etc. 

Die meisten dieser Färbemittel sind äusserst bedenklicher Natur, da sie 
enorm giftig sind. Das Berlinerblau und Turnbullsblau z. B. sind Verbin¬ 
dungen von Eisen mit der so überaus giftigen Blausäure, das Chromgelb 
besteht aus chromsaurem Blei u. s. f. 

Die gebräuchlichen Kaffee-Surrogate sind unschädlicher Natur. Nur 
soll solcher Kaffee auch unter seinem wahren Namen in den Handel gebracht 
werden. 

Das Glasiren der Kaffeebohnen, d. h. das Ueberziehen derselben mit 
einer Zuckerglasur, soll den Kaffeebohnen ein schöneres Aussehen verleihen, 
dient aber auch zur Erhöhung des Gewichts der Kaffeebohnen. 

Thee. Der Thee ist bei seinem hohen Preise sehr häufigen Fälschungen 
ausgesetzt. Theils wird schon einmal gebrauchter Thee dem frischen zu¬ 
gesetzt, theils wird der echte Thee mit Surrogaten vermischt, theils wird der 
Thee künstlich gefärbt, um ihm ein besseres Aeussere zu geben. Die zu 
letzterer Fälschung verbrauchten Farben sind dieselben, die beim Kaffee er¬ 
wähnt wurden. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 40 


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NAHRUNGSMITTEL VERFÄLSCHUNG. 


Der Nachweis der Fälschungen letzterer Art ist verhältnismässig leicht. 
Dagegen ist auf chemischem Wege ein Zusatz gebrauchter Theeblätter zu 
frischem Thee kaum zu constatiren. 

Gewürze. Unter Gewürzen im weiteren Sinne verstehen wir alle die¬ 
jenigen Stoffe, welche den Geschmacks-, Geruchs- und Gesichtssinn bei Zu¬ 
bereitung unserer Speisen in erhöhtem Grade zu erregen im Stande sind. 
Insofern gehören Kochsalz, Zucker, Säuren und Bitterstoffe, ferner alle bei 
der Zubereitung der Speisen durch Braten, Backen etc. aus den Eiweiss¬ 
stoffen, Fetten und Kohlehydraten sich bildenden aromatischen Stoffe zu den 
Gewürzen. 

Unter Gewürzen im engeren Sinne dagegen werden nur einige beson¬ 
dere Pflanzentheile, Wurzeln, Rinden, Blätter, Samen etc. verstanden, welche 
den Speisen einen angenehmen und zusagenden Geruch und Geschmack ver¬ 
leihen. 

Bei den meisten Gewürzen sind es flüchtige ätherische Oele, bei einigen, 
wie beim Pfeffer und Senf, scharf schmeckende Stoffe, welchen sie diese Wir¬ 
kung verdanken. 

Diese Gewürze nun sind besonders in gemahlenem Zustande häufig 
Gegenstand der Verfälschung. Dieselben Arten der Verfälschung wiederholen 
sich mehr oder weniger bei allen Gewürzen. Es erübrigt sich daher eine 
Besprechung der einzelnen Gewürze. Die gebräuchlichste Art der Verfälschung 
ist die durch Vermischen von Surrogaten mit echtem Gewürz. Unter diesen 
Surrogaten finden sich häufig solche, die nachtheilig auf die menschliche 
Gesundheit einwirken können; beim Pfeffer z. B. die giftigen Beeren des 
Seidelbastes. Dann werden minderwertige Abfälle dem echten Gewürz bei¬ 
gemengt. Endlich als gröbste Art der Verfälschung werden mineralische Zu¬ 
sätze zu den gemahlenen Gewürzen gemacht. Dahin gehören Sand, Kreide, 
Gyps, Schwerspath, Graphit, Ziegelstaub, Bleichromat, gemahlene Baum¬ 
rinden fremder Art, parfümirtes Pulver von Mahagoni-Cigarren- und Zucker¬ 
kistenholz, Brot, Mehl etc. 

Einzelne Gewürze, die auf diese Art nicht gefälscht werden können, 
werden theils ihres ätherischen Oeles beraubt und so in den Handel gebracht, 
theils durch ähnliche andere Blüthen etc., die nun ihrerseits durch künst¬ 
liche Färbung dem echten Gewürz ähnlich gemacht werden, ersetzt. Zu den 
Gewürzen der letzten Art gehört z. B. der Safran. In der Auswahl der 
Farbstoffe sind die Fälscher nicht bedenklich, indem sie häufig giftige Farben, 
wie Pikrinsäure und Dinitrokresol, anwenden. 

Alle diese Verfälschungen lassen sich nun theils durch chemische, theils 
durch mikroskopische Untersuchung nachweisen. 

Fleischwaaren. Die im Fleischhandel vorkommenden Uebervortheilungen 
des Publicums durch Unterschiebung minderwertigen Fleisches etc. sind schon 
unter „Fleischbeschau“ S. 251 abgehandelt. Auch ist dort über den Nachweis 
solcher Unterschiebungen gesprochen. 

Anderer Art sind nun aber die Verfälschungen, die mit den im Handel 
vorkommenden Wurst- und Fettwaaren Vorgenommen werden. 

Wurstwaaren. Die gröbste und gebräuchlichste Art der Verfälschung 
von Wurstwaaren besteht in der Beimengung von Mehl zum Wurstbrei. Dieser 
Zusatz erreicht oft einen Gehalt von 10—15% der gesammten Wurstmasse. 
Durch derartige Beimengungen wird das Aufnahmevermögen des Wurstbreies 
für Wasser auch erheblich erhöht, und es resultirt so eine Wurst, die in der 
Hauptsache aus Mehl und Wasser besteht. Ich hatte des öfteren Gelegen¬ 
heit, solche Würste einer Untersuchung zu unterwerfen. Der Nährwerteines 
solchen Präparates ist natürlich fast gleich Null. Dazu kommt noch, dass 
solche Würste leichter verderben als regelrecht zubereitete. Es liegt also 
in der Anfertigung und dem Verkauf solcher Würste eine Gefahr für die 


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NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHÜNG. 


627 


Gesundheit des Käufers. Leider wird der Chemiker im Kampfe gegen solche 
Fabrikate durch die Gerichte nicht hinreichend unterstützt. Der angeklagte 
Metzger behauptet in solchen Fällen immer, er müsse für die Arbeiter eine 
billige Wurst herstellen und das sei nur auf diesem Wege möglich; worauf 
dann fast regelmässig Freisprechung erfolgt. Infolge dessen sind in ein¬ 
zelnen Bezirken Deutschlands auf Betreiben der Chemiker Polizeiverordnungen 
über den Verkehr mit Wurstwaaren erlassen, in denen der zulässige Mehl- 
gehalt bei einem bestimmten Preise genau angegeben ist. Leider werden 
aber diese Polizeiverordnungen nicht überall als rechtsgiltig angesehen. 

Die Gewissenlosigkeit einiger Metzger geht nun noch weiter. Sie 
begnügen sich nicht damit, übermässig viel Mehl und Wasser dem Wurstbrei 
zuzusetzen, nein, sie gebrauchen sogar faules Fleisch und altes verschimmeltes 
Brot zur Wurstbereitung, auch werden die Därme oft nicht genügend ge¬ 
reinigt. Um den Zusatz von verdorbenem Fleisch zu verschleiern, werden 
die Würste dann sehr stark geräuchert. Dabei kommt es dann vor, dass 
die Würste vollständig hart, fast schwarz und daher unverkäuflich werden. 
Solche Würste werden nun nicht etwa vernichtet, sondern der ganze Vorrath 
wird in Fässern fest zusammengestossen und nach Bedarf mit den Därmen 
wieder zerkleinert und anderen Würsten wieder zugemischt. Diese Fässer 
nun stehen oft Monate lang offen, so dass ein Theil vollständig verschimmelt 
und allmählich in Gährung übergeht. Auch dieser Fall ist in meinem 
Laboratorium amtlich zur Untersuchung gelangt. 

Mitunter kommt es auch vor, dass bereits vollständig in Fäulnis über¬ 
gegangene Würste noch feilgehalten werden. 

Dass solche Manipulationen, wie die eben beschriebenen, nicht nur ekel¬ 
erregend, sondern auch gesundheitsschädlich sind, bedarf wohl nicht mehr 
-der Erwähnung. 

Künstliche Färbungen der Würste kommen wohl heute relativ selten 
vor. Wenigstens ist mir in mehrjähriger Praxis kein solcher Fall begegnet. 
Häufiger kommen aber nicht ungefährliche Conservirungsmittel vor. Neben 
dem gebräuchlichen Salpeter findet man häufig schwefligsaure Salze in erheb¬ 
lichen Mengen, besonders in frischem Hackfleisch. Ja, es werden sogar Con- 
servirungsflüssigkeiten in den Handel gebracht, die nichts anderes darstellen 
als eine wässerige Lösung von schwefliger Säure. 

Schmalz. Unter dem Namen Schmalz soll nur reines ausgelassenes 
Schweinefett in den Handel gebracht werden. Es gibt aber heute grosse 
Fabriken, die sich mit der Fälschung des Schmalzes beschäftigen, indem sie 
Mischungen von Talg mit Baumwollsamenöl und Schweinefett hersteilen, die 
im Aeusseren und auch chemisch sich dem reinen Schweineschmalz sehr 
ähnlich verhalten. Bis in die letzten Jahre wurden häufig diese Falsificate, 
die oft nur aus Talg- und Baumwollsamenöl bestehen, direct unter dem Namen 
r Schmalz“ in den Handel gebracht. Seitdem aber die amtlichen Chemiker 
diesem Treiben ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben, hat das aufgehört, und 
werden diese Präparate heute meist unter dem Namen: „Speisefett“ in den 
Handel gebracht. In grossen Massen wird heute Schmalz aus Amerika direct 
verkaufsfertig eingeführt. Dieses Schmalz ist in Arbeiterkreisen sehr beliebt, 
da es billiger als deutsches Metzgerschmalz ist und sehr schön weiss aussieht. 
Dieses Schmalz zeigt aber chemisch durchgängig Eigenschaften, die auf einen 
Zusatz von Pflanzenfett schliessen lassen. Man nimmt bis heute an, dass 
die besonderen Reactionen, die Schmalz von deutschen Schweinen nie zeigt, 
bedingt werden durch die Rasse und die Art der Fütterung der Schweine 
in Amerika. Es erheben sich aber doch schon Stimmen, die gegen diese 
Ansicht sind. Da wir nicht in der Lage sind, die Fabrication des amerika¬ 
nischen Schweineschmalzes zu controliren, so können wir auch schwer einen 
bündigen Beweis für die stattgehabte Fälschung erbringen. ad. kreutz. 

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PROSTITUTION. 


Prostitution. Wenn ich die Prostitution als die gewerbs¬ 
mässige, gegen irgend welchen Entgelt bewirkte Hingebung 
zur Befriedigung sexueller Begierden definire, so räume ich gerne 
die dieser Definition wie den meisten Definitionen anhaftende Mangelhaftigkeit 
ein. Bei der Entscheidung darüber, ob in einem gegebenen Falle Prostitution 
vorliegt, wird es meistens Schwierigkeiten machen, festzustellen, ob und in¬ 
wieweit eine gewerbsmässige Thätigkeit und inwieweit eine gegen Entgelt be¬ 
wirkte vorliegt. Es darf daher nicht wundernehmen, dass die Grenzen der 
Prostitution nach der subjectiven Auffassung bald weiter, bald enger gezogen 
werden. — Da bei dem sexuellen Verkehre die Männer gewöhnlich der wer¬ 
bende Theil sind, so gehören die sich prostituirenden Personen meistens dem 
weiblichen Geschlecht an. Als ein trauriges Zeichen der Ausbreitung des Lasters 
in einzelnen Grossstädten ist es anzusehen, dass hier auch Männer sich dem 
widerlichen Gewerbe widmen, gegen Entgelt den sie aufsuchenden Frauen — 
und solche finden sich leider — sexuell zu dienen. 

Die Prostitution ist so alt und so verbreitet wie die Welt. Von Urzeiten bis in die 
Neuzeit, bei wilden Völkern, noch mehr bei hoch civilisirten, stets und überall hat die 
Libido sexualis sich ausserhalb der erlaubten Grenzen Wege zu bahnen gesucht und, wie 
es ja bei der Lebhaftigkeit des Geschlechtstriebes verständlich, willige Personen gefunden, 
die, mit ihrem Körper Wucher treibend, aus der Befriedigung desselben einen Erwerb zu 
schaffen wussten. Dabei haben aber die Anschauungen über die Verwerflichkeit der Pro¬ 
stitution, je nach der Auffassung, die man über die Grenzen des erlaubten Geschlechts¬ 
verkehrs hatte, je nach der herrschenden Moral und je nach den herrschenden socialen 
Zuständen bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten gewechselt. Je ge¬ 
läuterter die ethischen Grundsätze eines Volkes waren, je mehr die Monogamie als die dem 
gesitteten Menschen allein entsprechende Institution zur Anerkennung kam, je günstiger 
die socialen Zustände waren, um so weniger ausgebreitet und um so mehr verachtet war 
die Prostitution und umgekehrt. Es hat Völker gegeben, bei denen der Prostitution fast 
gar kein Makel anhaftete, bei denen prostituirte Dirnen von den Männern — die Fürsten und 
Hofleute voran — coram publico mit Ehren überhäuft wurden, man öffentlich Orgien mit 
ihnen veranstaltete, und es gab umgekehrt Zeiten, in denen mit drakonischen Strafen den 
Prostituirten und den mit ihnen verkehrenden Männern zu Leibe gegangen wurde, allerdings 
ohne Erfolg. 

Es würde hier zu weit führen, an der Hand der Culturgeschichte die 
Stellung der Prostitution in den verschiedenen Zeiten und bei den verschie¬ 
denen Völkern zu schildern. Nur denjenigen gegenüber, die die gegen¬ 
wärtigen Zustände auf diesem Gebiete in den denkbar grellsten Farben dar¬ 
stellen, möchte ich, ohne auch nur im Geringsten mit irgend welchem Opti¬ 
mismus in dieser Dichtung behaftet zu sein, doch bemerken, dass man auch 
den Pessimismus nicht zu weit treiben darf. Allerdings sind die sittlichen 
Anschauungen in Bezug auf das Geschlechtsleben auch heute noch niedrig 
genug, lange nicht so, wie man sie hätte au fin de siede erwarten dürfen, 
aber man muss doch auch andererseits zugeben, dass in dieser Beziehung 
eine Besserung nicht zu verkennen ist. In den schlimmsten Zeiten leben 
wir denn doch nicht. Man denke nur zurück an die öffentlichen Orgien der 
alten Römer mit all den Geschlechtsverirrungen! Man erinnere sich, wie in der 
Zeit der Romantik die tapferen Ritter ihr ganzes Sinnen und Trachten in 
den Dienst der Minne stellten und dabei sicherlich nicht rein platonisch 
geschwärmt haben! Man lese nur nach, wie die Kreuzzüge und die Concile 
die Sammelpunkte für zahllose Prostituirte waren, die ganz ungenirt ihr 
Wesen trieben und als selbstverständliches Gefolge der Theilnehmer galten! 
Den Zeiten gegenüber kann man doch heute sagen: Wir sind doch bessere 
Menschen — allerdings aber noch lange nicht gute. 

Die Erkenntnis, dass die Prostitution ein sehr, sehr grosses Uebel ist, 
beherrscht alle moralisch und hygienisch denkenden Menschen. Das Uebel 
macht sich zunächst in ethischer Beziehung geltend. Es ist hier nicht der 
Ort, um näher darauf einzugehen, welch’ hoher Grad sittlicher Verkommenheit 
dazu gehört, um in schamloser Weise jedem Beliebigen für einen Entgelt 


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PROSTITUTION. 


629 


seinen Körper zur Befriedigung der sinnlichen Begierden hinzugeben, meist 
ohne selbst Sinneslust zu empfinden. Alles Gute und Edle muss in einem 
solchen Weibe ertödtet sein. In der That sind diese Personen, wenn sie nur 
einige Zeit dem schändlichen Gewerbe gehuldigt, meistens zu allem Schlechten 
fähig, schrecken auch nicht vor kriminellen Handlungen zurück. 

Auf Grand von Studien der Physiognomien und der Charaktere tritt Lombroso 
warm für die Anschauung ein, dass den Prostituirten überhaupt von Haus aus der Ver¬ 
brechertypus an haftet, dass die Prostitution beim Weibe gleichwertig ist dem Verbrechen 
beim Manne. Geht Lombroso wohl auch in der Verallgemeinerung seiner Ansicht zu weit, 
so muss doch die Thatsache zugegeben werden, dass Prostitution und Verbrechen in nahen 
Beziehungen zu einander stehen. Ob im Einzelfalle eine congenitale, psychische Degenera¬ 
tion der Prostitution und dem Verbrechen als gemeinsame Disposition zu Grunde liegt, 
oder ob die Prostitution erst durch Vernichtung jedes moralischen Haltes die Disposition 
zum Verbrechen schafft, das sei dahingestellt. Einseitig erscheint es wohl, angeborene 
Eigenschaften für beide stets ausschliesslich verantwortlich zu machen; es liegt darin eine 
Unterschätzung der Macht der Erziehung, des bösen Beispiels und des unglücklichen Zu¬ 
falls — Momente, welche auf gutem Boden oft die schlechtesten Früchte hervorspriessen 
lassen. 

Aber nicht nur die Moral der Prostituirten selbst leidet, auch die mit ihnen ver¬ 
kehrenden Männer nehmen in ethischer Beziehung leicht grossen Schaden, Es liegt eine 
Gefahr darin, wenn man zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit in intimsten, wenn auch zum 
Glück meistens ganz vorübergehenden Verkehr mit Personen tritt, die dem Ausschüsse der 
Menschheit zuzuzählen sind. Da rückt die ungeheure Verführung zu geschlechtlichen Aus¬ 
schweifungen und Verirrungen, zu alkoholischen Excessen, zu leichtsinnigen, die Ver¬ 
hältnisse übersteigenden Ausgaben und deren leider so oft verbrecherischen Folgen sehr 
nahe heran und bringt manch’ sonst braven Menschen zur Entgleisung, geleitet ihn in die 
Arme des Lasters und des Verbrechens. 

Für die vorliegende Betrachtung von grösster Bedeutung sind natürlich 
die hygienischen Nachtheile der Prostitution, welchen wir etwas eingehender 
nachspüren müssen. Sehen wir ab von dem körperlichen Ruin der Prostituirten 
durch den ausschweifenden Lebenswandel, das nächtliche Umhertreiben, den 
Alkoholismus, dem sie fast stets verfallen, so ist es vor allem die Verbreitung 
der sogenannten Geschlechtskrankheiten, welche die Prostitution so gefährlich 
macht. Dass dieselbe auch andere contagiöse Krankheiten, besonders die 
Scabies, leicht zu verbreiten Gelegenheit hat, ist ja selbstverständlich, soll aber 
hier nicht weiter erörtert werden. 

Zu den Geschlechtskrankheiten zählen wir das Ulcus molle, die Gonorrhoe und die 
Syphilis, weil diese Leiden in der bei weitem grössten Ueberzahl der Fälle durch den Ge¬ 
schlechtsact verbreitet werden, allerdings nicht immer. Von den Geschlechtskrankheiten 
ist noch das am wenigsten bedeutsame das Ulcus molle. Es bleibt streng localisirt, ruft 
nur in wenigen, besonders malignen Fällen (UIcub phagedaenicum und gangraenosum) 
grössere Gewebsstörungen hervor, wird sonst eigentlich nur durch Lymphdrüsenabscesse 
zur Ursache längerer Krankenlager. Abgesehen von etwaigen störenden Narben übt das 
Ulcus molle keine üblen Nachwirkungen für die Zukunft des Betroffenen aus. — Viel 
bösartiger ist schon die Gonorrhoe, eine Erkenntnis, zu der erst die Arbeiten der letzten 
Jahrzehnte geführt. Bis dahin galt dieselbe als ein ziemlich unschuldiges Leiden. 
Jetzt wissen wir, dass nicht nur, wie schon früher bekannt, eine ganze Reihe von Ano¬ 
malien im männlichen Urogenitalapparat auf gonorrhoische Infection zurückzuführen 
ist, sondern eine grosse Zahl schwerer Complicationen durch dieselbe bedingt ist. Man 
hat erkannt, dass von den gynaekologischen Leiden an Uterus und am dessen Adnexis gar 
viele ihre Quelle in der Gonorrhoe haben, dass letztere verantwortlich ist, für viele Gelenk¬ 
leiden, manche Herzaffection, einige Erkrankungen des Centralnervensystems, für jede 
Blenorrhoea neonatorum, der Hauptursache aller Erblindungen. Alle diese Thatsachen 
sind um so beängstigender, als man gleichzeitig zu sehr pessimistischen Ansichten über die 
Heübarkeit der Gonorrhoe sich hat bekehren müssen; man weiss jetzt, dass dieselbe an den 
steten makroskopischen Nachweis eines Secretes nicht gebunden ist und nach Ablauf des 
acuten Stadiums ein latentes Dasein führen kann, ohne ihre Infectiosität zu verlieren. Alle 
diese Erkenntnisse haben die Gonorrhoe zu einem Schreckgespenst gemacht, das mit Recht 
gefürchtet wird. Allerdings fehlt es da nicht an Uebertreibungen; eine solche ist es, wenn 
manche jede Gonorrhoe für unheilbar erklären oder die Bedeutung derselben höher schätzen 
will, als diejenige der Syphilis, die denn doch die böseste Geschlechtskrankheit, vielleicht 
überhaupt in der Pathologie das bedeutendste chronische Leiden ist. Die Bedeutung liegt, 
nm sie mit wenigen Worten zu skizziren, in folgenden Momenten: Zunächst ist die Syphilis 
ein stets constitutioneiles Leiden, das jedes edle Organ ergreifen kann. An der äusseren 
Körperdecke beginnend, kann sie bald hier bald da im Körperinnern ihre Thätigkeit ent- 


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PROSTITUTION. 


feiten, nicht nur störende, lästige Leiden, sondern direct todbringende erzeugend. Wie 
oft kommt nicht bei der ätiologischen Betrachtung eines klinischen Bildes die Syphilis in 
Frage! Dazu kommt dann die ungeheuere Zähigkeit des Leidens, die fast unbegrenzte 
Dauer. Damit soll nicht gesagt sein, dass jede Syphilis diese böse Eigenschaft hat. Zweifel¬ 
los erlischt dieselbe in einer grossen Zahl von Fällen nach relativ kurzer Zeit, ohne wei¬ 
tere Folgen zu hinterlassen. Das Tragische aber liegt darin, dass wir gar keine Handhabe 
dafür haben, um festzustellen, ob das syphilitische Virus wirklich den Körper verlassen 
hat oder nicht. Da selbst nach jahrelangem Freibleiben von jedem Recidiv doch noch 
Syphiliserscheinungen hervortreten können, können wir mit absoluter Sicherheit die Hei¬ 
lung der Syphilis niemals aussprechen. Es bleibt über dem einmal Inficirten dieselbe als 
Damoklesschwert Jahrzehnte hindurch hängen, ein sehr böser [Charakterzug der Krankheit. 
Einen weiteren Stempel der Bösartigkeit erhält dieselbe durch die ungeheuere Infectiosität, 
zumal in den ersten Jahren. Dadurch wird jeder Syphilitiker nicht nur zu einer grossen 
Gefahr für die mit ihm sexuell Verkehrenden, sondern für alle mit ihm in irgend welche 
Berührung kommenden, speciell natürlich für seine directe Umgebung, die ihm nächst¬ 
stehenden Verwandten und Hausgenossen. Die extragenitale Uebertragung der Syphilis 
spielt eine grosse Rolle bei der Verbreitung der Syphilis; Beobachtungen in ganz ver¬ 
seuchten russischen Dörfern geben dafür die besten Belege. Zu allen diesen Eigen¬ 
schaften kommt dann noch — last not least — die ihr eigene hereditäre Uebertragbar- 
keit, der schwerste Fluch, der an ihr haftet. Bei keiner Krankheit finden wir dasselbe in 
gleicher Weise wieder. Wieviel Früchte gehen schon im Mutterleib© durch Syphilis zu 
Grunde! Wieviel Kinder syphilitischer Eltern sterben in frühester Kindheit dahin! Wieviel 
Kinder verfallen einem körperlichen und geistigen Siechthum! Wahrlich, mau braucht nicht 
Pessimist zu sein, um in der Syphilis eine furchtbare Seuche zu sehen, die zu bekämpfen 
eines jeden Hygienikers und Volksfreundes hehre Aufgabe sein muss, selbst wenn dabei 
mancherlei Skrupel zu überwinden sind. 

Diese kurze Darstellung der den Geschlechtskrankheiten anhaftenden 
Gefahren documentirt gewiss zur Genüge die hygienische Wichtigkeit der 
Prostitution, der Hauptförderin derselben. 

Wenn wir zunächst den Ursachen der Prostitution näher treten, 
so sind dieselben in ethischen und socialen Mängeln zu suchen, die aber so 
mit einander verquickt sind, dass es schwer ist, sie auseinander zu halten. 
Zweifellos ist der Geschlechtstrieb einer der lebhaftesten Triebe, auf dessen 
Befriedigung dem Menschen sicher ein natürliches Recht zusteht. Das gel¬ 
tende Moralgesetz sagt nun aber, dass diese Befriedigung nur in einer mono¬ 
gamischen Ehe geschehen darf. Nun fragt es sich aber, inwieweit das Moral¬ 
gesetz in voller Strenge seine Giltigkeit bewahren kann, wenn durch die 
socialen Zustände gar vielen Menschen der Eheschluss sehr erschwert oder 
erst in einem Alter möglich wird, in welchem der Trieb zum Geschlechts¬ 
verkehr seine Blüthezeit oft schon lange erreicht, ja schon überschritten 
hat, in welchem unsere Ahnen schon auf die Grossvaterschaft lossteuerten. 
Ja, da es mehr Frauen als Männer in den Culturstaaten gibt, ist es 
für einen Theil der ersteren alsolut ausgeschlossen, dass sie durch 
eine Ehe zum legalen Geschlechtsverkehr kommen. Kann . die Moral nun 
verlangen, dass der Mensch so lange oder das ganze Leben auf den Ge¬ 
schlechtsgenuss verzichtet, abstinent bleibt? In eine Erörterung dieser Frage 
kann hier nicht eingetreten werden. Gesetzt aber auch, der Theoretiker legt 
dem Menschen soviel Selbstbeherrschung auf, es wird ihm doch in absehbaren 
Zeiten nicht gelingen, seine Ansicht in die Praxis übersetzt zu sehen. Die 
öffentliche Meinung hat diesen festen moralischen Standpunkt niemals festgehalten, 
sie hat stets beide Augen und beide Ohren zugedrückt, denn sie tadelt den 
ausserehelichen Geschlechtsverkehr nicht, so lange sie nur nichts öffentlich 
davon sieht und hört. Allerdings macht sie einen Unterschied zwischen Mann 
und Weib, gestattet ersterem fast alles, letzterem gar nichts, ohne einen Stein 
auf dasselbe zu werfen. Die in der Theorie jedenfalls nichts weniger als streng 
moralischen Anschauungen, die sich mit dem lebhaften Drange nach sexuellem 
Verkehre so leicht abfinden, im Verein mit den socialen Zuständen bilden 
direct und indirect die Ursache der Prostitution. Wo lebhafte Nachfrage ist, 
findet sich auch das entsprechende Angebot. Viele Mädchen werfen sich der 


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PROSTITUTION. 


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Prostitution in die Anne, zum Tbeil aus Mangel an sittlichem Halt, zum 
geringeren Theil aus materieller Noth. 

Man kann unter diesen zwei grosse Gruppen unterscheiden:die öffentlichen und 
die geheimen Prostituirten. Die geheime Prostitution spielt heutezutage eine grosse 
Rolle; sie zeigt sich in verschiedener Gestalt. Da ist die Dame der Demimonde, die in reinem 
Vierte] lebt, Theater, Concerte, besonders gerne aber Variete-Theater besucht, stets sehr auf¬ 
fällt, aber sich doch nach aussen hin für Uneingeweihte nichts Anstoss erregendes zu Schul¬ 
den kommen lässt. Sie empfängt zu Hause Besuche von Herren, die sie sorgsam auf ihre 
materielle Leistungsfähigkeit und Opferwilligkeit sondirt, bevor sie zu ihnen in intimere 
Beziehungen tritt. Dabei hat sie aber — und das gibt ihr den Charakter einer Prosti¬ 
tuirten — gleichzeitig eine Reihe solcher, denen sie für theuTes Geld geschlechtlich dient. 
Eine ganz andere Sorte sind die Ladenmädchen, Fabrikmädchen, Balleteusen, Choristinnen. 
Diese gehen ihrer anständigen Thätigkeit ruhig nach, in der freien Zeit aber widmen sie 
sich der Prostitution. Zum Theil sind es Mädchen, die ihre ehrliche Beschäftigung nur 
als Aushängeschild und als Schutzwehr gegen die gefürchtete Polizeicontrole benutzen. 
In Wahrheit ist die Prostitution bei ihnen oft der sie eigentlich ernährende Erwerb. An¬ 
dere wiederum bestreiten wirklich von der Arbeit die nothwendigen Bedürfnisse und be¬ 
nutzen das traurige Nebengewerbe nur, um ihrem Hang nach Vergnügen fröhnen zu können, 
was ihnen ihr Verdienst sonst nicht gestattet. Sie besuchen Tanzlocale, Concertgärten, lassen 
sich dort frei halten, gut mit Speise und noch besser mit Trank versorgen und begleiten 
dann den betreffenden Spender nach Hause — heute diesen, morgen jenen. Baares Geld 
beanspruchen sie gewöhnlich nicht. Mancher Hygieniker will dieser Kategorie von Mädchen 
nicht den schändenden Stempel der Prostitution aufdrücken. Es ist auch zuzugeben, dass 
im Beginne bei manchen dieser Mädchen Liebe mitspielt und nichts gewerbsmässiges vor¬ 
liegt. Mit der Zeit pflegen aber die meisten doch in ein Fahrwasser zu kommen, das von 
demjenigen der Prostitution nicht zu unterscheiden ist. — Eine besondere Gruppe der ge¬ 
heimen Prostitution muss hier noch hervorgehoben werden, das ist diejenige der Kell¬ 
nerinnen, welche ja leider in manchen Gegenden, so in Ostpreussen, in den meisten Localen 
bedienen. Diese sind zum bei weitem grössten Theil der Prostitution ergeben; in stellenloser 
Zeit und an ihren sogenannten Ausgehtagen sind sie für jedermann zu haben, der in der 
Lage und gewillt ist, etwas drauf gehen zu lassen. Manche Kneipe ist überhaupt nur ein 
verkapptes Bordell, dessen bedienende Personen die Aufgabe haben, die Gäste zu über¬ 
reichem Alkoholgenuss und sexueller Ausschweifung zu verleiten und auf diese Weise ihnen 
die Taschen zu leeren. 

Der öffentlichen Prostitution sind alle Dirnen zuzuzählen, welche aus ihrem 
Gewerbe kein Geheimnis zu machen bemüht sind, sich jedem bei entsprechendem Entgelt 
preisgeben, von diesem Gewerbe ausschliesslich leben. Die Art des Gewerbebetriebes ist 
dabei eine sehr verschiedene. Ein Theil lebt in Freudenhäusern, Bordellen, zusammen mit 
anderen, unter Aegide einer Unternehmerin oder eines Unternehmers, dessen Angestellte sie 

f ewissermaassen sind. Sie erhalten Wohnung, Nahrung, meist auch Kleidung und einen 
heil der Einnahmen, während der Haupttheil der letzteren den Wirten zufällt. Sie sind 
gewöhnlich erbarmungslos in die Hand ihrer Wirtin gegeben, die sie grausam ausnutzt 
und davonjagt, sobald es ihr passt. Die grosse Masse öffentlicher Prostituirter lebt frei, 
allein oder mit einer anderen Dirne zusammen, sucht sich ihre Kunden auf der Strasse 
oder auf anderen öffentlichen Plätzen (Concerte, Theater etc.) zu ergattern, nimmt sie mit 
zu sich oder folgt ihnen in ihre Wohnung. 

Der Vollständigkeit halber seien noch die Gelegenheitshäuser erwähnt, in denen 
nach sexuellem Verkehr verlangende Männer und Frauen sichtreffen. Die Besitzerinnen dieser 
Häuser nehmen ihren Lohn in Gestalt einer Zimmermietbe, während die dort verkehrenden 
weiblichen Wesen gewöhnlich aus reiner Sinneslust die Häuser aufsuchen, manche aller¬ 
dings auch aus Sucht nach Geldverdienst. Hier findet man nicht selten auch Ehefrauen, 
die in der Gesellschaft sonst die ehrbarste Rolle zu spielen verstehen. Hier strandet so 
manche Jungfrau, von der Inhaberin des Hauses — meistens einer scheinbar recht respek¬ 
tablen Dame — hingelockt. Diese Häuser sind überhaupt für das sogenannte bessere Publi¬ 
cum bestimmt, das sich hier oft in gemeinen Orgien austobt. Es zählen dieselben zur 
Öffentlichen Prostitution, weil sie alle Welt zu kennen pflegt, allerdings auffallender Weise 
mit Ausnahme der Behörden, die es am meisten an geht. 

Die Verbreitung der Prostitution ist nur soweit festzustellen, 
als sie sich als öffentliche zeigt und unter Controle steht. Naturgemäss 
entzieht sich ein grosser Theil der letzteren, so dass die Zahlen durchweg 
nichtssagend und zu irgend welchen statistischen Vergleichen gar nicht ver¬ 
wertbar sind. Die geheime Prostitution spottet natürlich jeder statistischen 
Feststellung. Ich verzichte deshalb, zumal bei dem eng bemessenen Raume, 
auf jede Zahlenangabe. Wer einen Blick für die Vorgänge im Sittenleben 
resp. Unsittenleben des Volkes hat, wird aber sicher zur Ueberzeugung 


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PROSTITUTION. 


kommen, dass die Seuche der Prostitution viel, viel verbreiteter ist, als alle 
Statistiker sich einbilden. 

Aas welchen Kreisen stammen die Prostitnirten? Die öffentlichen recru- 
tiren sich naturgemäss aus dem an Bildung und materiellem Besitz ärmsten Theile des 
Volkes. Unzählige Momente wirken da zusammen, um die gar nicht oder schlecht er¬ 
zogenen Mädchen zu dem verderblichen Berufe zu fahren. Das Zusammenwohnen in 
engen Räumen mit Schlafstellern, das Zusammenarbeiten in den Fabriken lässt eine Ver¬ 
führung im jugendlichsten Alter verständlich erscheinen. Genusssucht, wirkliche Noth 
thun dann das ihrige, um die Defiorirte zur Prostituirten zu machen, zumal wenn sie noch 
von der Natur schön gestaltet ist. Schönheit ist ein Danaergeschenk für arme Mädchen. 
Oft sind auch die ersten Verführer unter den besser situirten Männern zu suchen; ihre 
sittlichen Anschauungen und ihr wenig waches Gewissen gestatten es ihnen, jede Tochter 
eines Arbeiters, eines Handwerkers, jedes Dienstmädchen als eine ihnen zustehende Beute 
zu betrachten. — Doch nicht alle Dirnen sind Mädchen des armen Volkes; es gibt in 
moralischer Beziehung eine Hefe auch in den sogenannten besseren Classen. Manch’ ge¬ 
bildetes, aber charakterloses Mädchen sinkt bis zur tiefsten Stufe. 

Das Schicksal der Prostituirten ist, soweit es sich um öffentliche handelt, 
fast stets ein sehr trauriges. Ein grosser Theil geht jung zu Grunde; der wüste Lebens¬ 
wandel, der Alkoholismus, dem sie alle früher oder später verfallen, sie untergraben oft 
sehr bald ihre Gesundheit. Diejenigen, die älter werden, greifen zu irgend einem der 
Prostitution verwandten Gewerbe, z. B. zur Kuppelei, oder gerathen in die Wege des Ver¬ 
brechens, nur ein Theil kehrt zu ehrlicher Beschäftigung zurück oder heirathet gar. 
Letzteren ist damit keineswegs ein gutes Schicksal garantirt, denn schliesslich entschliessen 
sich doch nur minderwertige Menschen zur Ehe mit einer Prostituirten. — Natürlich haben 
die geheimen Prostituirten immer etwas mehr Chancen, eines besseren Lebensgeschickes 
theilhaftig zu werden. 

Aus den bisherigen Ausführungen erhellt zur Genüge, welch’ grosses 
Uebel die Prostitution ist, welche Gefahren in ethischer, socialer und hygie¬ 
nischer Beziehung sie nach sich zieht. Es fragt sich nun: Wie bekämpft 
man sie resp. wie macht man sie weniger gefährlich? Welche 
Stellung soll der Staat gegenüber diesem verderbenbringen¬ 
den Gewerbe einnehmen? Die Ansichten in dieser Beziehung variiren 
in weiten Grenzen. 

Zunächst die directe Bekämpfung der Prostitution. Nach 
zwei Fronten hat man bei Lösung dieser Aufgabe seine Angriffe zu richten, 
will man eine causale Behandlung dieser Yolkskrankheit einleiten. Man hat 
erstens dahin zu wirken, dass die Zufuhr zur Prostitution aufhört, dass 
Mädchen und Frauen das Gewerbe verachten und fliehen lernen. Zweitens 
hat man sich an die Männer zu wenden, dass sie aufhören, den Kundenkreis 
der Prostitution zu mehren, dass sie sich von ihr abwenden, sie verabscheuen. 
Nach beiden Richtungen hat in erster Reihe die Jugenderziehung ihres Amtes 
zu walten. Man muss der heranwachsenden Jugend einen festen ethischen 
Halt geben, ihren Charakter stärken. Gar viel Zeit, die in Schule und 
Haus für das Einpauken religiöser Dogmen und gedankenlos hergesagter Bibel¬ 
sprüche verwendet wird, könnte besser ausgefüllt werden mit rein sittlicher 
Belehrung. Doch darauf weiter einzugehen, ist hier nicht der Ort. Worauf aber 
hingewiesen werden muss, ist, dass die ausserordentliche Discretion, die über 
alle sexuelle Angelegenheiten gewahrt wird, die überhaupt jede Verständigung 
darüber zwischen Eltern und Kind, Erzieher und Zögling ausschliesst, gar 
nicht am Platze ist. Man muss die Jugend aufklären über die Gefahrendes 
ausserehelichen Verkehrs. Man muss die jungen Leute belehren, wie diese 
Gefahren die mit der Abstinenz verbundenen Unannehmlichkeiten — Schaden 
stiftet sie niemals — bei weitem überwiegen. Man muss verhüten, dass sie 
die Nachtseiten des Lebens erst unter schlechter Führung kennen lernen, 
ihnen dieselben zur rechten Zeit und mit dem richtigen Tact lieber enthüllen, 
als sie, wie üblich, auf jede Weise zu verschleiern. Jeder junge Mensch muss 
wissen, was Syphilis ist, jedes Mädchen, was Schwangerschaft und ansteckende 
Krankheiten ihr für Unglück bringen. Sehr erwünscht wäre es, wenn eine 
wirklich gute Literatur auf diesem Gebiete vorhanden wäre. Leider existirt 


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PROSTITUTION. 


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Unendlich viel verderbenbringende Schundliteratur, aber die gewiss grosse 
Schwierigkeit, dieses Thema in belehrender, ernster Weise für junge Leute 
zu behandeln, hat noch niemand gelöst. Klärt man so die Jugend zeitig auf, 
hält sie ferne vom Umgang mit schlechten Menschen und schlechten 
Büchern, stärkt man ihre Selbstbeherrschung, bringt man ihr Achtung vor 
sich selbst und ihren Mitmenschen bei, gibt man ihr reichliche, besonders 
auch körperliche Arbeit, bewahrt man sie vor überreicher Ernährung und 
bekämpft man jede Neigung zum Alkoholismus, dann thut man unendlich 
viel zur Vernichtung der Prostitution. — Allerdings ist bei der grossen Masse 
des Volkes die Erfüllung dieser Forderungen noch lange ein frommer Wunsch, 
dazu sind die socialen Zustände nach den verschiedensten Seiten hin noch zu 
verbesserungsbedürftig. Leider aber gehen die oberen Zehntausend in dieser 
Beziehung in keiner Weise mit gutem Beispiele voran. Wer das nicht zugeben 
will, der studire nur die Lebensweise der Studenten, die rohen, gewissenlosen 
Anschauungen, die über die sexuellen Dinge in ihren Kreisen herrschen. Da 
wäre ein erzieherisches Colleg über die Fragen sehr angebracht. Ob es be¬ 
sucht werden würde? 

Ein sehr kampfreiches Gebiet betreten wir mit der Erörterung der 
Frage: Wie soll sich der Staat gegenüber der Prostitution ver¬ 
halten? Er könnte a priori einen zweifachen Weg einschlagen: Entweder 
er thut gar nichts, ignorirt die ganze Prostitution, geht eventuell mit Straf¬ 
gesetzen gegen sie vor — oder er nimmt Notiz von ihr, findet sich mit dem 
einmal vorhandenen Uebel, so gut es geht, ab, indem er durch Reglementirung 
und Controle die Gefahren desselben soviel als möglich herabzusetzen sucht. 
Für den ersten Modus kämpfen mit wahrer Begeisterung die sogenannten 
Abolitionisten; ihnen stehen die Anhänger der Beglementirung gegenüber, 
die in den meisten Ländern noch die Oberhand haben. Treten wir den aus 
beiden Lagern vorgebrachten Gründen näher, um zu entscheiden, welcher Weg 
der praktischere ist. 

Die Abolitionisten sagen zunächst: Die Prostitution ist ein Laster, eine 
Unsittlichkeit, die der Staat zu vernichten hat. Dadurch, dass derselbe die¬ 
selbe reglementirt und duldet, pactirt er mit dem Laster, sanctionirt dasselbe, 
hängt ihm gewissermaassen ein sittliches Mäntelchen um und vermehrt schliess¬ 
lich noch den Zuzug zu demselben, fördert also die Unsittlichkeit. 

Diesen Gründen gegenüber wird der Anhänger der Reglementirung ohne 
weiteres zugeben, dass die Prostitution ein Laster ist und es im höchsten 
Maasse wünschenswert wäre, dass der Staat dasselbe mit Stumpf und Stiel 
ausrotte. Das ist theoretisch das Erstrebenswerteste. Nun lehrt aber die 
Culturgeschichte, wie die Kenntnis der menschlichen Schwächen, dass es bis 
auf weiteres unmöglich ist, der Theorie Rechnung zu tragen. Die oben bespro¬ 
chenen Maassnahmen, wie manches andere wird wohl mit der Zeit der Pro¬ 
stitution den Boden abgraben, aber für absehbare Zeiten sie nicht ausrotten. 
Gegen die Gewalt des Naturtriebes anzukärapfen, ist eine schwere Aufgabe. Na- 
turam furca expellas, tarnen usque recurret. Der Geschlechtstrieb ist ein so 
mächtiger, dass er meistens allen Sitten- und Staatsgesetzen Hohn spricht. So 
lange es nicht gelingt, den Menschen im richtigen Alter zu einer nach unserer 
Auffassung erlaubten sexuellen Befriedigung Gelegenheit zu geben, so lange 
muss man die Prostitution bei unserem praktischen Handeln als einmal vor¬ 
handene culturhistorische Thatsache nolens volens hinnehmen. Man braucht 
deshalb in der Theorie nicht ein Haarbreit nachzugeben, in der Praxis muss 
man aber mit den gegebenen Verhältnissen rechnen. Vogel-Strauss-Politik 
treiben hat wahrlich keinen Zweck, wenn es sich um krankheitsbringende 
Momente handelt. Der Hygieniker darf ethische Gesichtspunkte niemals ganz 
aus dem Auge verlieren, er soll aber nicht ihnen zu Liebe hygienische Gesichts¬ 
punkte hintansetzen; denn schliesslich ist er ja Gesundheitsrath der Menschen 


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PROSTITUTION. 


und nicht Moralprediger. Die Menschen aus moralischen Gründen der Gefahr 
schwerer Krankheiten aussetzen, ist kein vernünftiges Beginnen. Wie der 
Arzt in erster Reihe causal, wo das aber nicht geht, wenigstens symptomatisch 
den Krankheiten zu Leibe gehen muss, so muss auch der Hygieniker bei 
Volkskrankheiten die Ursache aus der Welt schaffen, wo das aber nicht 
möglich ist, ihren Schaden wenigstens soviel als möglich einzuschränken suchen. 
In ersterer Beziehung kann er mit den Abolitionisten Hand in Hand gehen, 
in letzterer wandelt er eigene Wege, indem er die Prostitution reglementirt 
und controlirt. Wenn der Abolitionist sagt, dass der Staat durch die Con- 
trole die Prostitution sanctionirt, ihres lasterhaften Charakters entkleidet, so 
ist das doch nicht ganz verständlich. Wenn man ein Uebel, das man doch 
nun einmal nicht ausrotten kann, überwacht, damit es nicht so viel Böses an¬ 
richtet, dann heisst man es doch deshalb noch lange nicht willkommen. Man 
ist nur praktisch und wählt von zwei Uebeln das kleinere. Nach deutschen 
Anschauungen gewinnt niemand ein edleres Aussehen in den Augen der 
Menschen, wenn er unter polizeiliche Controle gestellt wird. Im Gegentheil, 
dieselbe hat etwas schändendes, vielen wird der unsittliche Charakter der 
Prostitution durch die staatliche Ueberwachung erst klar. Dass diese manchem 
ein gewisses Gefühl der Sicherheit vor Ansteckung gibt, ist ja richtig, dass 
aber dadurch der Kundenkreis der Dirnen erheblich vermehrt wird, höchst 
unwahrscheinlich. Denn einerseits lässt sich wohl kein Mensch dadurch von 
der Abstinenz abbringen, andererseits ist es genugsam bekannt, dass die 
Controle einen absoluten Schutz doch nicht bietet und stets auch bei diesem 
ausserehelichen Geschlechtsverkehr das Schreckgespenst der Sexualleiden zu 
fürchten ist. In der That kann man in der Praxis beobachten, dass der¬ 
jenige, der sich bei einer Prostituirten inficirt, niemals staunt, während der 
mit irgend einem „Verhältnis“ Verkehrende es absolut nicht glauben will. 
Sollten aber wirklich hie und da zu optimistische Vorstellungen Uber die 
Gesundheit der Controlirten bestehen, so muss man durch Aufklärung den¬ 
selben entgegenzuwirken suchen. 

Die Abolitionisten pflegen die Prostitution in Parallele zu stellen mit 
Diebstahl und Mord. Sie exemplicifiren: Diebstahl und Mord sind auch 
unausrottbare Verbrechen und culturhistorische Thatsachen, die der Staat 
aber deshalb doch in kein Reglement bringt. Diese Parallele hinkt. Man kann 
nicht sittliche Vergehen und Verbrechen gegen Eigenthum und Leben in 
einen Topf werfen, zumal wenn erstere der Ausfluss eines natürlichen, auch 
moralisch vollkommen berechtigten Triebes sind. Diebstahl und Mord auf 
die gleiche Stufe zu stellen, an sich als berechtigte Triebe zu bezeichnen, 
das dürfte doch keinem Abolitionisten einfallen. 

Ein weiterer Einwand der Abolitionisten ist, dass die Controle der Pro¬ 
stituirten ein Eingriff in die persönliche Freiheit und eine Ungerechtigkeit 
gegenüber dem Weibe bedeute. Dem gegenüber ist einzuwenden, dass dem 
Staate, soweit es die hygienische Fürsorge für das gesammte Volk betrifft, 
das Recht zweifellos zuerkannt werden muss, die eine Reihe von Gefahren für die 
Menschen bedingenden Gewerbe prophylaktisch zu beaufsichtigen. Niemand 
erhebt seine Stimme dagegen, wenn der Staat den Nahrungsmittelverkauf con¬ 
trolirt, schlechte Milch und verdorbenes Fleisch confiscirt etc. Mit demselben 
Recht kann er auch Personen gesundheitlich beaufsichtigen, die ihren Körper 
als Waare zu Markte bringen, zur Befriedigung natürlicher Gelüste, mögen 
dieselben auch lange nicht so unentbehrlich sein, wie Essen und Trinken. 
Wer mit seinem Körper Handel treibt, muss auch damit zufrieden sein, dass 
man das Handelsobject auf hygienische Gemeingefährlichkeit untersucht. Das 
ist keine Beschränkung der Freiheit, sondern eine berechtigte Folgerung des 
gewerblichen Betriebes. Etwas sehr richtiges enthält der Protest gegen die 
ungleiche Behandlung von Mann und Weib. Man controlirt das letztere, aber 


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PROSTITUTION. 


635 


nicht den ersteren, der ihnen doch die Krankheiten, welche es weiter verbreitet, 
zuführt. Aber einerseits betreiben die Männer die Prostitution nicht gewerbs¬ 
mässig, sie sind doch im wesentlichen die gelegentlichen Käufer, die Weiber 
aber diejenigen, welche ihre Waare feilbieten. Andererseits ist es auch that- 
sächlich unmöglich, die Männer im allgemeinen zu controliren. In gewissen 
Grenzen, z. B. beim Militär, geschieht es ja; man könnte es vielleicht auch 
noch ausdehnen, aber einer allgemeinen Controle stehen unüberwindliche Hin¬ 
dernisse im Wege. 

Endlich ist noch die Behauptung der Abolitionisten zu erwähnen, dass 
die ganze Controle doch nichts hilft, die reglementirten Dirnen nicht gesün¬ 
der sind, als die nicht reglementirten. Bei der Entscheidung über diesen 
Einwand begibt man sich gewöhnlich auf das Gebiet der Statistik, ein Gebiet, 
das aber oft weniger sicher ist als es scheint. Es gibt keine Statistik, die 
so abgeschlossen wäre, dass nicht ein Hinterpförtchen zu finden ist. Durch 
kleine Variationen in der Gruppirung der Zahlen, durch Vergleichen nicht 
auf Grund genau derselben Voraussetzungen gewonnener Zahlen, durch Hinein¬ 
bringen subjectiver Momente kann man oft in der Statistik zu den verschie¬ 
densten Schlüssen gelangen. Um eine einigermaassen einwandsfreie Statistik 
zu gewinnen, müssten die Zahlen demselben Volke, demselben Material ent¬ 
nommen sein, sich auf längere Zeiträume erstrecken, in denen die Controle 
und die Nicht-Controle gewechselt haben. Die ausserordentlich schwer be¬ 
stimmbaren, mehr oder weniger willkürlich aufgestellten Grenzen der Prosti¬ 
tution müssten einheitlich abgesteckt sein, genau dasselbe Schema gehandbabt 
werden. Die bisherigen Statistiken sind sehr mangelhaft; die aus ihnen ge¬ 
zogenen Schlüsse passt jeder seiner Ansicht an, während doch die letzteren 
ein Product der ersteren sein müssten. Deshalb können wir hier ruhig auf 
die Wiedergabe der Statistiken verzichten und uns ruhig auf die einfache 
Ueberlegung, den gesunden Menschenverstand verlassen. Dieser aber sagt: 
Wenn man den kranken Theil der Prostitution möglichst frühzeitig als krank 
feststellt und durch Internirung in ein Krankenhaus seinem Gewerbe entzieht, 
beugt man natürlich einer Menge von Ansteckungen vor. Ob eine Dirne mit 
einer Sklerose, mit breiten Condylomen oder einer Gonorrhoe wochenlang 
ihrem Gewerbe nachgeht oder nicht, das kann für die Zahl der Infectionen 
unmöglich gleichgiltig sein. Dieselbe vermag ganz gut täglich wenigstens 
einem ihre Syphilis oder Gonorrhoe zu übertragen, der wiederum eine Quelle 
weiterer Syphilisfälle werden kann. Gegen diese einfache Berechnung ist 
nichts zu machen, da hilft keine rechnerische Spitzfindigkeit. Wie demgegen¬ 
über Manche behaupten können, die Controle steigert noch die Zahl der Ge¬ 
schlechtskranken, ist schwer begreiflich. 

Im Ganzen sind die Einwände der Abolitionisten nicht als stichhaltige 
zu erkennen. Man kann ihren moralischen Horror vor der Prostitution ver¬ 
stehen und theilen, aber beim praktischen Handeln ihnen nicht folgen. So wie 
die socialen und ethischen Zustände nun einmal sind, kann die Hygiene leider 
sich nicht nur von moralischen Bedenken leiten lassen, sondern muss sich den 
nun einmal herrschenden Anschauungen und Gebräuchen anpassen. Wenn die 
Abolitionisten, statt mit solcher Energie die Keglementirung zu bekämpfen, 
auf die Abänderung der letzteren mit gleicher Energie hinarbeiten würden, 
wäre ihre Thätigkeit eine nützlichere und würde von den Hygienikern gewiss 
nach jeder Richtung gefordert werden müssen. Niemand wird den Abolitio¬ 
nisten, wenn durch ihr Verdienst die ganze Prostitution aus der Welt ge¬ 
schaffen ist, so dankbar sein, als die Aerzte, denen die Controle obliegt. Bei 
dieser Gelegenheit sei noch Protest eingelegt gegen die Behauptung der 
Abolitionisten, dass nur minderwertige Aerzte sich zur Ausführung der Unter¬ 
suchungen bereit finden lassen. Wenn auch die Abolitionisten aus ethischen 
Motiven handeln, so haben sie doch kein Recht, eine ehrenwerte Kategorie 


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630 PROSTITUTION. 

von AerzUut (Verfasser geholt nicht »u ihnen) zu verleumden, Es liegt für 
ihre Behauptung, wenigst ens soweit: Deutschland in Betracht kommt, gar kein 
Mitterta! -iterc. Mit grosseui Tact and grösser OpfersUJjgJOfert umorrfelum im 
di? Amt« %*> gewiss nicht angenehmer» X‘fticht int Dienste der HjfgioöfttfiSt 
tiitmdamit genau ebenso gutes auf dem Gebiete der Prophylaxe und'nteifiple. 
•wie die anderen hvgienifieh-therajartttiseh thätigeü CH«lJegtii Ihnen eine 
Minderwertigkeit vorzuwerfen» ist ei« üniiberfegter almlrüdflifttisciier 

Heiessgiorn«, der zuroßkgevrfesan ^rfderi muss. 

Noch etwm» «fas* werden l.t-W« AVoJH.iej»R<t*n mwerfen die I*rosl|Uf- 

Han;. 9a sie nnn atw* &<«)< wisse#, &*» «ich» auf weiteres den ausserehelicitcii 
Verkehr nio)<: •'• ■' .■> •■••.‘iVt» .fcörtr, B, diu -• 

.freie Liebe.’' mH 6«hx mohüicbUpm Aegen aiuusekeß, Zweifellos haftete., 
häitnbpen mehr P.rit>vi<“. an, Kittd sic iüoi-aia’.;)ii soweit es sich um nicht ^«rchdjfclitft.VjkeitßCi 
bandslt, •ccenigef f(i>R.ibs(«i>rf rf* dt« l J rtn»lifctttiön. Aber von praktischen tiefeic^taJtttfrfs 
ooh betrachtet kann Tiotn onr ?u vc-rtifiWji Sachen, denn sie sind oft die 
liehen illeod» fdr beide 'iTioüe. Wto viel Kemme* und fror#«, wie viel 
und VciZtMillfrog, wie viel ärftafede LnBpfi oft an diese lLiei.‘eivorbäillji#Se i Wie rtr*n«hsar 
iuttge Warm «»ttfleisE dntch ein eokhes, Ärfitb aäf vefbießlierisclbe Bahneti, wi u BViriCßß« 
M&ucheü geht «tfc Grunde, fallt tegar SO&iLK-SälfcItder Prosiiintiotl Wobei»«! Wie viele AWIho- 
iviorde haben in «ior freieii Liehe ihren Ufsprutejr' Walitlieh. «tvr die 

Baude >H>t Reifen JUiet» iu» 2 tfkoü|>teiv. fc darf oiaa-kfetas Menschen rgthep, \yi«! ^a/t^-MSß 
Mit schuldiget werden an virfetn. vielen flc^uck. , . 

Kein, Wort ist dgriibpr s5it sprerfd?n. 'iH&ft&ite. Kogfu* in. der Onanie 
etwas weniger Sfbftctlich«& erbBekun Slfs in »ter irftötUraiimi. AVer weiss, wie 
viele Existenzen -infolge zügelloser Onanie dabUirfeehoUt vi Kotirastlieiiikeni 
scklinun.stev Aü, .■•.•) körprrlitbe» und geistigen S-ijOacMnjgcu, zu cbarakt.ev- 
lo>ön Bubjeeten würde», der wird das turfi* AUgt-m 

Kommen wir zur Besprechung der HegiB® entirnag! Zwei Dingt 
sind e> t’ftnieluölieh, bin die de»-Staat sirb hei den öflentluiieri Prosiituirten 
kümmert, 'lue TVöhnung Und ihr« getHtodheitliclie B»t*ahaffen- 
huit, apooit-Ü mit Hiicksieht auf sexuelle Peirieii. In Bezug“ auf erötere tremit 
taaji dift kAsernirte und die freie ProstituTioH.. Ea heniieit sich nun 
yuakehst Ria die Frage, welche vöö beiden Arten . weniger gefährlich ist. 

ui- die kaserom« Prost-Hulkm i.ib<-rii.-i«|.r. gmiuhset werdet» soll, »t h. nc 
die sogeaaaute, vieluuislritteno BordeJ itfcÄge: Frflher berrschte illver die- 
selbe unter den Anrrfed eiß« gewisse Einiijüthigkeit; man' hielt die Bordelle 
für «las wen «gor gefährlielie., weil leichter wntfoUrbftre’. Aber tevipi.n'. 
mutantur et uns nvutaßviir in illfe Eb setir ethebUther Thcil derjenigitöV 
die der sexuellen llygk-ue ihr Interesse zuwenden, verwerfen diarfdbeR vvO- 
komnjen ans rem hygienisrlien Gritßdöa. Die Statistik ward hier wieder ins 
Fehl geführt. Diese soll beweisen, dass die Bordeildirnen hkuligex krank ijb?- 
fnuden werden ah die frei lebenden Dirneti. In der Thafc gyrnhed; die 
Zahlen in dieaein Sininv, Aber -giiid -dieCelbeu wifiUiib juitwandsfmy Berfefct 
denn nicht ein Misftvorhinttiiy zwisehen der Cotvilol« der Bordell- xutd der 
frei wohnend* 4 *» iir-.uorn, als « aä!o von lUA'selbed regölmk&S'^ 

geirofleo werden, während von leirferep kie&er' meli,r als tije Hüllte sich »dl 
•aöe mdgltcUe 'Veise sind natürlich die 

hraalfM zü suchen, denn, diese tebtHi ein Mdtafies Intertiesei so Innge vdu 
rnögli« ii Ibreio ihmdwerke ynge-rfiu’ 1 - uhsihawgshd» und der Oonsiiitmuig ihm’ 
r AO lange ek «ütlüvhän Au viel Gewissen' haben 

y: m- c;. ■.!••:••••. sie wogen <i.‘" • •:«ek’u»g ihrer Kund«« .-ici< '*eu Kopi 

. ■■■■■■ ■ ■ ÖUh ••<!<•'•• die Li .u<:!i-ii l'roMULirioti voniobjoiifh i:on- 

!<•<•!!'.!■ i'io:. 0 .Hti (üi'i ; ;.;j t ■ j: o. !• i|nj M..:. o,:. •> i., < h«- 0>-.1 u. .:., - i;<>rd«I;- 

duiieu li&uhger orlvi"U]ic«)fi ~ ; ''.l»öi'iaansjffuclioalmim vf«m das 
ih ♦‘tuiüvlich - wo.-, JdlgF daraus':' DvdisleJ) dm-n. iiaSS «jit^'-lben uhii-.hi'.-* 
und' ÄltleFttudiSdMT werdenhdtssej!. rttdoit nach ihrer Erktiviiknöii' 

deiu,^döfenüielien Yerkehr «nixoeen eetdea ! ; t ... imie 


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PROSTITUTION. 


637 


ist aber in den Bordellen leichter durchführbar, weil die Inhaberinnen das 
grösste Interesse haben, mit der Sanitätsbehörde nicht in Conflict zu gerathen 
und derselben meistens helfend beistehen, und die Verfügungen strenge zu 
befolgen leicht angehalten werden können. Blaschko, ein sehr reger Bordell¬ 
gegner sucht wiederum an der Hand der Statistik darzuthun, dass in Berlin 
die Syphilis seit der im Jahre 1866 erfolgten Aufhebung der Bordelle stetig 
abgenommen habe. Da ist aber die Beziehung zwischen Ursache und Wir¬ 
kung kaum zu beweisen. Zugegeben, die Thatsache wäre richtig, so können 
gar viele andere Momente dabei mitspielen. Wenn Blaschko aus der Ab¬ 
nahme der Todtgeborenen, die zum grossen Theil Opfer der Syphilis sind, 
auf eine Abnahme der Syphilis schliesst, so steht der Schluss auf schwachen 
Füssen. Wir müssen doch bedenken, um welche Jahrzehnte es sich da handelt. 
Es sind Jahrzehnte, in der die Geburtshilfe, zum grossen Theil Dank der 
Antisepsis, die bedeutendsten Fortschritte gemacht hat, so dass manches früher 
verlorene Kind durch operatives Eingreifen lebend das Licht erblickt. Wir 
müssen ferner bedenken, dass die Geneigtheit, ärztliche Hilfe bei Geburten 
zu requiriren, eine unendlich grössere geworden, die Frauen viel von ihrer 
Prüderie abgelegt haben, die Gelegenheit, ärztlichen Beistand herbeizuholen, 
ungeheuer zugenommen hat, die Hebammen nicht mehr wie früher diesen 
perhorresciren. — Kurz, das kann man wohl nicht zugeben, dass bei rich¬ 
tiger Controle die Bordelle eine gefährlichere Syphilisquelle bilden, als die 
freie Prostitution, zumal die Bordelldirnen sich meistens doch einer viel 
grösseren Sauberkeit befleissigen. 

Vom hygienischen Standpunkte aus kann man also den Bordellen keinen 
Stein in den Weg legen, deshalb aber darf man nicht die zwangsweise Kaser- 
nirung der gesammten Prostitution verlangen. Das ist einfach eine Unmög¬ 
lichkeit. Kein Staat hat die Macht, die Dirnen in Zwangsbordelle zu sperren, 
denn nur wenige Prostituirte sind geneigt, sich kaserniren zu lassen, und nur 
wenige liebesbedürftige Männer haben Lust, in Bordellen ihre sexuelle Be¬ 
friedigung zu suchen. Das ist nicht modern. Wir leben im Zeitalter der 
„Verhältnisse“. „Suam cuique“ ist die Losung. Und wenn auch das Mädchen 
mehrmals in der Woche ihren „Schatz“ wechselt, so gibt dieser sich doch 
der Illusion hin, dieser Losung gemäss zu leben. Vielleicht wenden sich die 
Männer aber wieder mehr den Bordellen zu, wenn sie sich in denselben vor 
bösen Krankheiten sicherer fühlen als jetzt bei der zweifellos sehr verbesse¬ 
rungsbedürftigen Controle. Auf die öffentliche Moral wirken die Bordelle, 
wofern sie zerstreut in verschiedenen Stadttheilen liegen, im ganzen weniger 
schädigend ein, als die freie Prostitution mit ihrem auffallenden Gebahren 
auf öffentlichen Plätzen, die ihr so oft Gelegenheit geben, junge unschuldige 
Männer zur Sittenverderbnis zu verführen. 

Erwähnt sei hier noch der etwas eigenthümliche Vorschlag von Lassar, 
die die Bordelle aufsuchenden Männer bei ihrem Eintritt auf ihre Gesund¬ 
heit untersuchen zu lassen, um so Sexualleiden von den Insassen fernzuhalten. 
Selbst wenn das ausführbar wäre, würde man den Bordellen dadurch den 
Todesstoss geben. Welche Männer würden sich wohl zu einer solchen Unter¬ 
suchung bereit finden! 

Bleiben wir gleich bei den weiteren Maassnahmen zur Erhaltung eines 
guten Gesundheitszustandes in den Bordellen, so gehören dazu ausser einer 
gründlichen, täglichen Untersuchung häufige unerwartete Inspectionen, das Aus¬ 
legen der Gesundheitsbescheinigungen, die Einführung von Beschwerdebüchern 
bei Zusicherung allerstrengster Discretion, das Verbot des Ausschankes alko¬ 
holischer Getränke und aller durch diese angeregten Orgien und Aus¬ 
schreitungen. 

Die Wohnungssverhältnisse der freien Prostituirten sind 
auch Gegenstand von Erörterungen. Soll man sie wohnen lassen, wo sie 


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PROSTITUTION. 


wollen, oder soll man sie in bestimmte Strassen oder Stadttheile verbannen V 
Letzteres bringt mancherlei Nachtheile mit sich. Vor allem drückt man 
diesen Stadttheilen den Stempel des Unmoralischen auf; sie gelangen in 
Verruf. Anständige Menschen wollen in denselben nicht wohnen, es findet 
bald eine Anhäufung aller möglichen schmutzigen Elemente, nicht nur der 
der Prostitution ergebenen, statt. Die Strassen werden unsicher, erregen in 
jeder Beziehung Anstoss, bilden die Centralstätte alles Verbrecherthums. 
Nichts von alledem findet man, wenn sich die freie Prostitution über die 
ganze Stadt — um Städte handelt es sich ja nur bei dieser Besprechung — 
zerstreut. Man vermeidet dadurch die Existenz von Strassen, bei deren 
Nennung anständige Damen erröthen und sich vielsagende Blicke zuwerfen. 
Im Gewühle der Stadt verschwindet die zerstreut wohnende Prostitution. Die 
öffentliche Moral erleidet dadurch am wenigsten Schaden. Auch für die 
Ueberwachung der Prostituirten bringt das zerstreute Wohnen nur Nutzen. 
Ich halte es für leichter, die Controle gut auszuüben, wenn der einzelne Beamte 
möglichst wenige Dirnen zu beobachten hat, als wenn grosse Mengen in 
einem Revier unter Aufsicht gehalten werden sollen. Hat der einzelne Polizei¬ 
beamte eine Liste der in seinem Revier wohnenden, unter Controle stehenden 
Frauenzimmer, dann kann er sie in unauffälliger Weise beobachten und zur 
Untersuchung citiren, wenn sie sich vor derselben zu drücken suchen. Na¬ 
türlich müssen alle Reviere unter einander in Verbindung stehen, damit beim 
Wohnungswechsel einer Prostituirten dieselbe nicht aus den Augen kommt. 
Kurz, in hygienischer und moralischer Hinsicht ist die Concentrirung der 
freien Prostitution zu verwerfen. 

Die gesundheitliche Controle der Prostituirten besteht gewöhn¬ 
lich darin, dass sie ein- bis zweimal wöchentlich sich zu einer ärztlichen 
Untersuchung zu stellen haben. Ist nichts auszusetzen, dann wird es in 
ihren Büchern vermerkt, werden sie für krank befunden, dann kommen sie 
sofort ins Krankenhaus. Dass eine zweimalige Untersuchung das mindeste 
ist, bedarf nicht der Betonung, bei Bordelldirnen genügt auch diese nicht; 
dieselben müssten täglich sich zu derselben stellen. Der Ort der Unter¬ 
suchung ist jetzt meistens ein Raum in der Polizei. Dieses ist absolut zu 
verwerfen. Zu ärztlichen Untersuchungen ist die Polizei kein Platz, dazu 
dienen Krankenhäuser oder extra zu errichtende Polikliniken. Ueberbaupt 
muss die Controle ihres polizeilichen Charakters möglichst entkleidet werden 
und einen hygienischen annehmen. An Stelle der Sittenpolizei muss die 
Gesundheitspolizei treten. Es ist allgemein bekannt, dass die Prostituirten 
die Untersuchung als eine polizeiliche Chicane ansehen, nicht als eine Wohl- 
that, die ihnen und ihren Kunden zu Gute kommt. Wenn sie erst zu letz¬ 
terer Auffassung gelangt sind, werden sie schon williger zu derselben er¬ 
scheinen, während sie sie jetzt auf alle mögliche Weise zu umgehen suchen. 
Muss auch Ernst und Strenge gegenüber den doch meist moralisch ver¬ 
kommenen Prostituirten statt haben, so muss die Strenge gemildert werden 
durch Humanität und Mitgefühl für die bedauernswerten Individuen. Jetzt 
spielt die Polizei die Hauptrolle, der Arzt wird nur als Gehilfe herangezogen. 
Es soll aber der Arzt bei der Controle der Leiter sein, dem die Polizei nur 
beizustehen hat, wenn die Personen renitent sind oder nicht pünktlich er¬ 
scheinen. Der Arzt wird dann schon in erster Reihe der Controle einen 
hygienischen Charakter verleihen, nicht sich als Sittenrichter aufspielen und 
jede Gelegenheit benutzen, um die Prostituirten ihre Stellung unter Polizei¬ 
aufsicht als Strafe fühlen zu lassen. — Bei der Untersuchung ist die Cen- 
tralisirung zu vermeiden, damit einerseits die nöthige Gründlichkeit walten 
kann, andererseits die auffälligen Pilgerfahrten vermieden werden, wie sie 
jetzt zu bestimmten Stunden nach der Polizei stattfinden. Das gibt der Sache 
einen indiscreten, anstosserregenden Charakter. 


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PROSTITUTION. 


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Ueber die Frage* wie die Untersuchung stattfinden muss, kann nicht so eingehend, wie 
es nöthig wäre, gesprochen werden. Man muss Genitalien, Haut, Schleimhäute, Drüsen aut 
Syphilis untersuchen, auf Clcera mollia fahnden und vor allem auch nach Gonorrhoe gründ¬ 
lich forschen. In letzter Beziehung verlangen Viele, dass nur das Mikroskop entscheidet, ob 
infectionsfähige Gonorrhoe, d. h. Gonococcen vorhanden sind oder nicht. Man soll deshalb 
die Herstellung von einigen Präparaten aus dem Schleime der Urethra etc. nicht unter¬ 
lassen. Entscheidend ist leider nur ein positiver Befand. Natürlich gehört zu einer solch’ 
gründlichen Untersuchung Zeit, viel viel mehr Zeit, als jetzt meistens auf sie verwendet 
Werden kann. Nur die Decentralisation und die Heranziehung einer grösseren Anzahl von 
Aerzten kann das möglich machen. Natürlich müssen es auch in dieser Richtung geschulte 
Aerzte sein, wie wir sie aber nur erhalten werden, wenn auf den Universitäten auf das Stu¬ 
dium dieser wichtigen Volkskrankheiten mehr Gewicht gelegt werden wird, als es, wenig¬ 
stens in Deutschland, heutzutage geschieht. Es ist die Bekämpfung der Gefahren der Pro¬ 
stitution auch gebunden an eine bessere Vorbildung der Aerzte. 

Was hat nun zu geschehen, wenn eine Prostituirte krank 
befunden ist? Natürlich muss sie ins Krankenhaus, denn nur da hat 
man die Garantie, dass keine weitere Verschleppung des Leidens stattfindet. 
Das Eecht, die Prostituirten auch wider ihren Willen ins Krankenhaus zu 
sperren und gesund zu machen, kann dem Staate nicht bestritten werden. 
Wer so gemeingefährlich ist, muss, wenn zum Seuchenherd geworden, sich 
diese Zwangsheilung gefallen lassen, die ja in Wahrheit als Freiheits¬ 
beraubung nicht angesehen werden kann. Im Krankenhause muss die Dirne 
so lange bleiben, bis sie frei von allen infectionsfähigen Symptomen ge¬ 
worden ist. Das ist nun ein heikler Punkt, da es oft, bei Syphilis und 
Gonorrhoe, enorme Schwierigkeiten macht, mit apodictischer Gewissheit das 
Zeugnis der Genesung auszustellen. Am besten wäre es ja, die syphilitischen 
Dirnen die ersten Jahre, so lange sie ansteckungsfähige Recidive bekommen 
können, ganz im Krankenhaus zu behalten oder in Asyle zu bringen, wo ja 
gleichzeitig der Versuch einer moralischen Besserung gemacht werden könnte. 
Letzterer Vorschlag ist sehr acceptabel; solche Besserungsanstalten für 
moralisch depravirte Personen zu errichten, ist ja eine schöne staatliche Auf¬ 
gabe, die gute Früchte tragen würde, wenn diese Anstalten es vermeiden, 
zu sehr den Charakter von Gefängnissen anzunehmen. Aber die Durch¬ 
führung macht viel Schwierigkeiten und kostet viel Geld; für Förderung der 
Moral und der Hygiene hat aber der Staat niemals Geld. Solch alltägliche 
Leiden, wie Syphilis oder Gonorrhoe, jagen, trotzdem sie so viele Existenzen 
vernichten, den Menschen nicht so viel Furcht ein, dass sie in den Geld¬ 
beutel greifen. Dazu muss eine „acute“ Furcht, wie sie die Cholera auslöst, 
hinzukommen. — Sind also diese Vorschläge vorläufig nicht zu verwirklichen, 
kann man die angesteckten Prostituirten nicht die ersten Jahre ihrem Berufe 
ganz entziehen, dann muss man sie wenigstens nach Schwund der sichtbaren 
Erscheinungen ambulatorisch weiter behandeln und stets im Auge behalten. 
Für die Syphilitischen empfiehlt sich dringend die „chronisch-intermit- 
tirende“ Behandlung der Syphilis. Bei dieser werden, auch wenn keine 
Symptome vorhanden sind, die Inficirten in Intervallen von 3—6 Monaten 
während der ersten Jahre entsprechenden Curen unterworfen. Dazu werden 
die Dirnen jedesmal für circa einen Monat ins Krankenhaus eingezogen. Das 
hat das gute, dass sie in dieser Zeit dem Verkehr entrissen werden und 
relativ am besten über die Jahre der grössten Ansteckungsfähigkeit hinweg¬ 
kommen. Sollte ihnen dadurch eine Portion „Syphilophobie“ eingeimpft 
werden, so ist das bei den leichtlebigen, gewissenlosen Personen eher ein 
Vortheil. Die chronisch-intermittirende Syphilisbehandlung ist für sie der 
beste Zügel. — Um das durchzuführen, bedarf es natürlich mehr Kranken¬ 
häuser, d. h. mehr Geld, und das ist wieder der Stein des Anstosses. Aber 
ohne grosse materielle Aufwendungen ist auf diesem Gebiete der Hygiene, 
wie auf allen anderen Gebieten derselben nichts zu machen. Wann werden 
die Menschen einsehen, dass die für die Volksgesundheit aufgewendeten Mittel 
sich reichlich rentiren, die besten Zinsen tragen? 


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640 


PROSTITUTION. 


Das sind ungefähr die Maassnahmen, die gegen die Gefahren der öffent¬ 
lichen Prostitution nöthig sind. Wie steht es nun aber mit der ge¬ 
heimen Prostitution? Wir kommen da auf ein Gebiet, auf dem uns 
eigentlich der Boden für eine erfolgreiche Besprechung mangelt. Wir können 
hier weder mit bestimmten Zahlen, noch mit bestimmten Begriffen operiren. 
Wir sind nicht einig darüber, wo die geheime Prostitution anfängt und wo 
sie endet, inwieweit sie bei der Verbreitung sexueller Leiden eine Rolle spielt. 
Es handelt sich um individuelle Ansichten, die gewissermaassen fundamentlos 
in der Luft schweben. Es darf uns daher nicht Wunder nehmen, wenn die¬ 
selben sehr auseinandergehen. Die Grenzen werden von dem Einen enger, von 
dem Anderen weiter gezogen-, die Gefahren hoch und niedrig taxirt. Wenn 
man jedes Mädchen, das in auffallender Weise dem Grundsatz „variatio 
delectat“ huldigt, häufig die Liebhaber wechselt, als Prostituirte betrachtet, 
ohne Ansehung, ob sie es „aus Liebe“ oder „für Geld“ thut, dann zählen viel 
viel mehr Personen zur geheimen Prostitution als man gewöhnlich annimmt 
Ich glaube, dass man richtig thut, die Grenzen recht weit zu stecken und 
die Gefahren recht hoch zu taxiren. 

Es ist ja wahr, dass diese Personen nicht soviel sexuell verkehren als die öffent¬ 
lichen Prostituirten, aber dieses wird reichlich dadurch aufgewogen, dass sie ungestört 
ihren Unsitten fröhnen können, auch wenn sie krank geworden. Während die Controlirte 
bei richtiger Controle doch nur einige Tage nach dem Auftreten der Krankheit noch diese 
weiter tragen wird, kann eine kranke Kellnerin ungestört inficiren, solange es ihr beliebt; 
es kräht kein Hahn darnach. Niemand zwingt sie, sich behandeln zu lassen, niemand legt 
ihr das Handwerk. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, ist die geheime Prostitution 
sehr gefährlich, aber was thun? Blaschke sagt ganz richtig: „Die Nürnberger hängen keinen, 
sie hätten ihn denn zuvor/ Will man die geheime Prostitution gefahrloser machen, dann 
muss man ihr den Charakter des Geheimen nehmen, sie aus dem Dunkeln ans Licht ziehen, 
sie zu einer freien, aber controlirten zu machen suchen. Das ist aber nur zum geringen 
Theil möglich, indem man einmal aufgegriffene Frauenzimmer in ärztliche Beobachtung 
nimmt, wobei aber eine Trennung derselben von den öffentlichen Dirnen statthaben muss, 
um ihnen den Weg zur Rückkehr in einen sittlichen Lebenswandel frei zu lassen. Erst, 
wenn sie sich als nicht besserungsfähig erweisen, soll man sie unter die anderen Dirnen 
einreihen. 

Ferner kann man die besonders gefährlichen Gewerbe, z. B. die Kell¬ 
nerinnen und auch die Kellner, indirect zu einer gewissen Controle heranziehen, 
indem man von ihnen Gesundheitsatteste verlangt, bevor man sie zu dem 
Gewerbebetrieb zulässt. Natürlich muss sich das Attest nur erstrecken auf 
das Freisein von übertragbaren Krankheiten. — Jedenfalls muss man allen 
Quellen geheimer Prostitution nachspüren, in welcher Gestalt dieselbe sich 
zeige; sie ganz unbeachtet zu lassen, geht nicht an. Mit Discretion und Energie 
kann man auch hier in hygienischer Beziehung etwas leisten, trotzdem es 
sich um einen versteckten Feind handelt. 

Dieses sind die Grundzüge der Reglernentirung der Prostitution; es fragt 
sich nun weiter, ob und inwieweit die Strafgesetze bei derselben 
einzugreifen haben. Verfehlt sind in dieser Beziehung natürlich die 
Bestrebungen, durch Gesetz die Prostitution ganz aus der Welt zu schaffen. 
Alle Versuche in dieser Richtung sind gescheitert an der Macht des Sexual¬ 
triebes und der nun einmal als vorhanden anzuerkennenden ungenügenden Kraft 
des Menschen, sich selbst zu beherrschen. Durch strenge Strafgesetze kann 
man nur schaden und den unsittlichen Charakter der Prostitution fördern. 
Man verdrängt dieselbe ganz aus der Oeffentlichkeit, zwingt sie, sich in dunkle 
Verstecke zurückzuziehen, in denen dann die Wogen der Unmoral noch höher 
gehen, die zügelloseste Ausschweifung in verderbenbringender Weise Platz 
greift, alle Verirrungen des Geschlechtsverkehrs in höchster Blüthe stehen. 
Auf gesellschaftliche Uebel muss man das Licht lenken, damit sie gesehen, 
erkannt und vernichtet resp. vermieden werden können; natürlich mit dem 
der öffentlichen Moral schuldigen Tact. Wenn nun aber auch ein radicales 
Vorgehen verfehlt wäre, so kann doch das Gesetz nicht ganz die Hände in 


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PROSTITUTION. 


641 


den Schoss legen; eine Reihe von Auswüchsen muss sie energisch in Angriff 
nehmen, damit das unausrottbare Unkraut doch nicht zu sehr aufwuchert. 

Vor allem Bind alle Ausschreitungen in der Oeffentlichkeit, das B reitmach en. auf 
den Strassen, die Belästigung von Passanten, streng zu ahnden. Prostituirte, die sich 
wiederholt in dieser Richtung vergehen, sind zu bestrafen, dann in Correctionshäuser zu 
stecken und dort einige Jahre festzuhalten. Energisch muss gegen das mit der freien Prosti¬ 
tution verbundene Zuhälterthum vorgegangen werden, das fast noch ein schrecklicheres 
Uebel ist, als die Prostitution selbst. In grossen Städten hat fast jede freie Prostituirte 
ihren Zuhälter, mit dem sie zusammen lebt, der sich in ihrer Nähe aufhält, wenn sie sich 
abends auf Streifzüge begibt, sie beschützt gegen Passanten und die Polizei und von ihr 
dafür unterhalten wird. Diese verkommenen Subjecte sind nicht nur meistens durchseuchte 
Individuen, sondern verbrecherisches Gesindel, das zu allem fähig ist, das Messer stets 
parat hat, vor Mord und Todtschlag nicht zurückschreckt, noch tief unter dem Niveau der 
von ihnen beschützten Prostituirten steht. Gegen diesen Abschaum der Menschen voiv 
zugehen, ist eine Aufgabe der Gesetzgebung. Ich bin nicht Jurist genug, um zu entschei¬ 
den, ob es dazu neuer besonderer Gesetze bedarf, oder ob die vorhandenen eine genügende 
Handhabe in dieser Richtung bieten. Jedenfalls ist hier ein kraftvolleres Vorgehen am 
Platze, als es bisher beliebt zu sein scheint. Es berührt dieses das Gebiet der Bekämpfung 
des Kupplerwesens, das innerhalb der Prostitution wie ausserhalb derselben eine grosse 
Rolle spielt. Personen, die gewerbsmässig Mädchen zur Prostitution verleiten, die zwischen 
Männern und Weibern als Vermittlerinnen functioniren, die Gelegenheitshäuser für die 
unsittliche Aristokratie unterhalten, sie fallen alle unter das Strafgesetz. Besonders streng 
muss die Strafe sein, wenn sie Minderjährige ins Verderben ziehen, ein für Kupplerinnen 
besonders einträgliches Geschäft. Wo Bordelle vorhanden, muss man strenge darauf sehen, 
dass die Inhaberinnen nur Personen, die nnter Controle stehen, beherbergen, sich jeder 
Verkuppelung bis dahin unbescholtener Mädchen enthalten. Thun sie es doch, so müssen 
sie ihre Erlaubnis verlieren und der Bestrafung anheimfallen. Besonders hart muss die 
Strafe sein, wenn Ehemänner ihre Frauen verkuppeln, was leider vorkommt. Die Männer 
sind die Zuhälter ihrer Frauen und leben davon. Etwas Niederträchtigeres gibt es wohl 
kaum. Aehnlich verhält es sich mit den Müttern, die ihre Töchter zur Prostitution an- 
halten. Es wird ja meist nicht leicht sein, den Beweis in diesen Fällen zu führen, aber, 
wo er gelingt, ist strenge Bestrafung am Platze. Wenig rationell erscheint es, die Haus¬ 
wirte zu bestrafen, welche Prostituirte in ihren Häusern dulden, ohne sonst an dem Ge¬ 
deihen ihres Gewerbes Antheil zu nehmen. Sperrt man die Prostituirten ein —. gut! Thut 
man es aber nicht, dann muss man ihnen doch die Möglichkeit lassen, irgendwo zu wohnen. 

Eine viel discutirte Frage ist, ob Personen, die mit einem Geschlechts¬ 
leiden behaftet sind und dennoch den Beischlaf ausüben und den Betreffenden 
resp. die Betreffende anstecken, wegen Körperbeschädigung bestraft werden 
sollen. An sich ist diese Forderung sehr berechtigt, aber in der Praxis wird 
die Bestrafung nur sehr selten erfolgen können, da der Beweis der wissent¬ 
lichen Ansteckung schwer zu führen sein wird. Die Existenz eines der¬ 
artigen Strafparagraphen wäre aber doch sehr heilsam, es wird dadurch schon 
ein moralischer Druck auf die kranken Individuen ausgeübt. Die Furcht vor 
Strafe wird sie vielleicht eher von der Verbreitung ihrer Krankheiten ab¬ 
halten als die Gewissensbedenken, die übrigens auch in gebildeten Kreisen in 
dieser Richtung sehr vermisst werden. 

Es würde zu weit führen, wollte ich ausführlicher auf die vielen hier in 
Frage kommenden Punkte eingehen. Es möge genügen, darauf hingewiesen 
zn haben, dass die Reglementirung der Prostitution die Mitwirkung der Straf¬ 
gesetzgebung nicht ausschliesst. Die Reglementirung sucht sie in Schranken 
zu halten, die Strafgesetzgebung greift ein, wenn sie diese Schranken durch¬ 
bricht oder sich Menschen finden, die aus der Verleitung zur Prostitution 
einen Beruf machen. 

Die im Obigen gegebene Darstellung der Prostitutionsfrage kann nur 
einen allgemeinen Abriss darstellen. Ein vollkommenes Bild erhält man erst, 
wenn man dieselbe durch eine Schilderung der speciellen Verhältnisse in den 
verschiedenen Staaten und Städten ergänzt, was aber die Grenzen des zuge¬ 
messenen Raumes überschreiten würde. Man findet da die weitgehendsten 
Differenzen von der strengsten Controle bis zur absoluten Passivität; letztere 
in denjenigen Landstrichen, in welchen die abolitionistische Bewegung festen 
Fuss gefasst und als Sieger hervorgegangen. Die Zeit wird lehren, ob die 
venerischen Krankheiten durch den Wegfall der Reglementirung gefördert 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 41 


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REKRUTIRUNG. 


werden, wie wir anzunehmen geneigt sind, oder ob die Abolitionisten Recht 
haben. — Uebrigens wäre es vielleicht angemessen, wenn die Behandlung der 
Prostitution zum Gegenstände internationaler Verständigung gemacht würde, 
damit dieselbe eine einheitliche, wenn auch natürlich nach den localen Ver¬ 
hältnissen in gewissen Grenzen modificirbare werde. 

Eine Lücke in dieser Besprechung bildet auch die Nichtbeachtung der 
Prostitution auf dem Lande. Dass es eine solche gibt, ist zweifellos; jedes 
Dorf hat seine feilen Dirnen. Zum Gegenstände hygienischer Beachtung sind 
sie aber bisher wohl kaum gemacht, so dass für eine Erörterung kein hand¬ 
greifliches Material vorliegt. Dass auch auf dem Lande die Controle meistens 
durchführbar wäre, kann in Gegenden, wo die Aerzte dicht gesäet sind 
(und in welcher Gegend der Culturstaaten wäre das wohl nicht der Fall?) 
wohl kaum bezweifelt werden. 

Am Schlüsse sei nochmals betont, dass — mag man auf dem Stand¬ 
punkt des Abolitionisten stehen oder die Reglementirung vertheidigen — die 
causale Bekämpfung der Prostitution nicht aus dem Auge gelassen werden 
darf. Staat, Eltern, Erzieher, Sittlichkeitsvereine, Eassenvorstände, sie alle 
müssen bemüht sein, in Bezug auf sexuelle Verhältnisse reinere moralische 
Anschauungen zu verbreiten, der sexuellen Zügellosigkeit entgegenzuwirken 
und die Aufklärung über die seitens der Prostitution drohenden Gefahren 
durch Wort und Schrift zu fördern. Fortdauernd muss ferner gearbeitet 
werden an der Hebung der socialen Zustände, damit dieselben für den frühen 
Eheschluss günstigere Verhältnisse schaffen, und an der Steigerung der Er¬ 
werbsfähigkeit der Frauen, damit dieselben nicht aus Noth auf Abwege ge- 
rathen. Die Prostitutionsfrage ist ein Theil der socialen Frage. 

s. jessner. 

Rekrutirung (Heeresergänzung) ist derjenige Vorgang, mittelst dessen 
die, namentlich infolge der Dienstpflichterfüllung, eintretenden Abgänge der 
bewaffneten Macht wieder ersetzt werden, so dass die letztere sich nicht nur 
den gesetzlich bestimmten Umfang bewahrt, sondern sich zugleich beständig 
verjüngt. Der unerschöpfliche Born, aus dem die bewaffnete Macht ihre 
dauernde Grösse und Jugendkraft schöpft, ist das Volk, und die Rekrutirung 
ist somit eine gewisse Canalisation zwischen Volk und Heer. 

So lange und wo immer es Menschen gegeben hat, sind auch Krieger 
vorhanden gewesen — partout oü il nalt des hommes, il y a des soldats —, 
und es lässt sich deshalb die Rekrutirung bis auf die Anfänge der Welt¬ 
geschichte zurück verfolgen. 

In welchem Umfange und in welcher Art sich die Ergänzung der be¬ 
waffneten Macht vollzogen hat, ist von jeher von der Quelle, also von der 
physischen und culturellen Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit, vom Charakter 
und der politischen Rolle des betheiligten Volkes abhängig gewesen. In 
der Hauptsache aber lassen sich 3 Hauptarten der Heeresergänzung unter¬ 
scheiden: 

1. Die allgemeine persönliche Wehrpflicht, bei der jeder Staatsangehörige wehrpflichtig 
ist und sich in der Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen kann. 

2. Die Conscription, die jedem Staatsangehörigen die Pflicht aaferlegt, dem Staate 
zu Kriegszwecken zu dienen unter dem Zugeständnisse, dass sich der Wehrpflichtige los¬ 
kaufen und vertreten lassen kann. 

3. Das Werbesystem, vermöge dessen der Staat mit dem Einzelnen einen Vertrag ab- 
schliesst, der dem Staate das Recht gibt, über den Geworbenen für militärische Zwecke 
zu verfügen. 

Bei den Grossmächten gelten jetzt folgende Bestimmungen für die Er¬ 
gänzung ihrer bewaffneten Macht: 

Im Deutschen Reiche geschieht die Ergänzung der bewaffneten Macht nach 
Maassgabe der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht, die mit vollendetem 17. Lebensjahre 
beginnt und bis zum vollendeten 45. Lebensjahre dauert. Innerhalb dieses Zeitraums be- 


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REKRUTIRUNG. 


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steht eine Dienstpflicht, die sieben Jahre für das stehende Heer oder die Flotte und fünf 
Jahre für die Landwehr oder Seewehr ersten Aufgebotes betragt. Jene siebenjährige Dienst- 

§ flicht zerfallt in die active und die Reservepflicht. Die active Dienstpflicht dauert für 
ie Mannschaften der Cavallerie, reitenden Feldartillerie und Marine drei, für alle übrigen 
Mannschaften zwei Jahre; die Reservepflicht erstreckt sich somit auf die Dauer von vier 
oder von fünf Jahren. Diejenigen die drei Jahre activ gedient haben, gehören nicht fünf 
Jahre, wie die übrigen Mannschaften, sondern nur zwei Jahre der Landwehr ersten Auf¬ 
gebotes an. Die Verpflichtung zum Dienst in der Landwehr zweiten Aufgebotes dauert bis 
bl. März desjenigen Kalenderjahres, in dem das 39. Lebensjahr vollendet wird; hierauf er¬ 
folgt die Entlassung zum Landsturm. Dieser besteht aus allen den Wehrpflichtigen vom 
vollendeten 17. bis vollendetem 45. Lebensjahre, die weder dem Heere, noch der Marine 
angehören; der des ersten Aufgebotes umfasst die Leute vom 17. bis 39., der des zweiten 
Aufgebotes die vom 39. bis 44. Lebensjahre. Ueber das deutsche Ergänzungsgeschäft und 
insbesondere über die ärztlichen Rekrutirungsarbeiten verbreitet sich eine 1891 im 23. Bande 
der zweiten Auflage des med.-chir. Handwörterbuchs unter „Rekrutirung“ erschienene Ar¬ 
beit. Da seitdem in dem geschäftlichen Theile der deutschen Rekrutirung nicht wesent¬ 
liche Veränderungen eingetreten sind, so darf ich mich hier vielleicht darauf beschränken, 
auf jene Arbeit zu verweisen. Nur sei für die ärztliche Rekrutirungsthätigkeit bemerkt, 
dass für sie neben der Heer- und Wehrordnung die Dienstanweisung vom 1. Februar 1894 
die Hauptgrundlage bildet. 

Die bewaffnete Macht Oesterreich-Ungarns ergänzt sich ebenfalls auf Grundlage 
der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht. Die Dienstpflicht dauert zwölf Jahre, und zwar 
drei Jahre in der Linie, sieben Jahre in der Reserve und zwei Jahre in der Landwehr. 
Die Mannschaften, die ohne zu dienen unmittelbar in die Landwehr eingereiht werden, ver¬ 
bleiben in dieser zwölf Jahre. Der geschäftliche Theil der Rekrutirung ist 1888 im 
16. Bande der zweiten Auflage des med.-chir. Handwörterbuchs unter „Rekrutirung“ ab¬ 
gehandelt worden. Die für den Militärarzt wissenswertesten der durch das neue Wehr¬ 
gesetz von 1889 eingetretenen Neuerungen sind folgende: die Gestellungspflicht ist vom 
20. auf das 21. Lebensjahr hinausgeschoben worden, und das Mindest-Körpermaass ist von 
155*4 cm auf 155*0 cm hinabgesetzt worden. Die militärärztliche Begutachtung der Unter¬ 
suchten bewegt sich in fünf verschiedenen Urtheilen: tauglich, bedingt tauglich, d. h. nur 
zu bestimmten Waffengattungen oder Heeresanstalten tauglich, minder tauglich, d. h. bei 
geringen bleibenden Fehlern noch zur Waffe (Ersatzreserve) tauglich, derzeit untauglich 
wegen Körperschwäche oder vorübergehender Gebrechen, nur bei Leuten der ersten und 
zweiten Altersclasse anwendbar, und untauglich für immer zu jedem Dienste oder nur 
zum Waffendienste. Die Bestimmung, dass ein Militärarzt, der einen Untauglichen als 
tauglich erachtet, 20 Gulden Strafe zu zahlen hat, ist für die Fälle beibehalten worden, 
wo das fragliche Gebrechen selbst für Laien erkennbar gewesen ist. 

Grossbritannien hält für die Ergänzung seiner bewaffneten Macht noch an 
seinem Werbe- und Miliz-Systeme fest, indem es geeignete Leute für den militärischen Be¬ 
ruf dingt. Die Dienstpflicht der Angeworbenen dauert zwölf Jahre, und zwar, je nach der 
Vereinbarung, entweder so lange bei der Fahne oder nur sieben Jahre bei der Fahne und 
fünf in der Reserve oder drei Jahre bei der Fahne und neun in der Reserve. Nach zwölf¬ 
jähriger Dienstzeit ist eine zweite Werbung auf neun Jahre zulässig. Neben dem Heere 
unterhält Grossbritannien für die Landesverteidigung noch eine Miliz, zu der jeder Eng¬ 
länder auf fünf Jahre verpflichtet ist. Auch hat es gegen feindliche Einbrüche Freiwilligen- 
Corps vorgesehen. Die als kriegstüchtig eingestellten Leute sind zum Theil sehr jung; 
fast die Hälfte stehen zwischen dem 18. und 19. Lebensjahre; jedoch dürfen Leute, die noch 
nicht 20 Jahre alt sind, nicht in die Colonien geschickt werden. Die Tauglichkeitsbegut¬ 
achtung erfolgt durch Militär- und Civilärzte. 

Frankreich folgt für die Ergänzung seiner bewaffneten Macht den Grundsätzen 
der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht. Die Gestellungspflicht beginnt mit dem 20. Lebens¬ 
jahre. Die Wehrpflicht dauert nach Gesetz vom 15. Juli 1889 bezw. 1892 vom vollendeten 
21. bis zum 46. Lebensjahre. Die active Dienstzeit beträgt drei (nicht mehr fünf) Jahre, 
die Dienstzeit in der Reserve zehn (nicht mehr sieben) Jahre, die im Territorialheere (Land¬ 
wehr I) sechs und die in dessen Reserve (Landwehr II) sechs Jahre (nicht mehr neun Jahre). 
Drei-, vier- und fünfjährige Freiwillige werden schon vom 16. Lebensjahre an angenommen. 
Einjahrig-Freiwillige werden nicht mehr eingestellt; älteste Söhne einer Familie aber, die 
Ernährer dieser Familie sind, und Schüler höherer Lehranstalten, die die Fortsetzung ihrer 
Studien nachweisen, auch Religionsdiener werden schon nach einjährigem Dienste im activen 
Heere entlassen. Untaugliche oder vor dem dritten activen Jahre Ausgeschiedene haben 
eine Wehrsteuer zu zahlen. Die Aushebung, der eine Musterung nicht vorausgeht, besorgt 
eine Commission de (reforme oder) rövision, die zusammengesetzt ist aus einem General, 
einem Unterintendanten, einem Rekrutirungsofficier und einem Gendarmerieofficier; ihr bei¬ 
gegeben ist ein Arzt, dessen Gutachten zu berücksichtigen der Commission freisteht. 

Italien hat mit den Gesetzen vom 19. Juli 1871 und 22. November 1873 die all¬ 
gemeine persönliche Wehrpflicht eingeführt. Die Ausgehobenen zerfallen nach ihrer Dienst¬ 
pflicht in drei Gruppen: die erste dient activ fünf Jahre bei der Cavallerie oder drei Jahre 
bei den übrigen Truppen und drei bezw. fünf Jahre in der Reserve; die zweite Gruppe 

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REKRUTIRÜNG. 


bilden Taugliche mit hoher Losnummer, die nicht activ, sondern acht Jahre in der Re¬ 
serve dienen; die dritte Gruppe setzt sich aus den wegen socialer Umstände Befreiten zu* 
sammen. Die der deutschen Landwehr ähnelnde Mobflmiliz besteht aus Leuten der ersten 
und zweiten Gruppe und umfasst vier Jahrgänge. Die dem deutschen Landsturm ähnelnde 
Territorial- oder Communal-Miliz (Miliziastanziale) begreift Leute der ersten und zweiten 
Gruppe mit sieben Jahrgängen und Leute der dritten Gruppe mit 19 Jahrgängen in sich. 
Die Aushebung erfolgt durch Ausschüsse, deren Vorsitzende, je ein Bezirkscommandeur, 
über Tauglichkeit und Zutheilung zu den Truppengattungen allein entscheiden, so dass die 
übrigen Ausschussmitglieder, aucn die Aerzte, nur berathende Stimmen haben. 

Russland ergänzt seine bewaffnete Macht nach Maassgabe der allgemeinen persön¬ 
lichen Wehrpflicht, die mit Gesetz vom 1./13. Januar 1874 in Kraft getreten ist. Die 
Dienstpflicht beginnt mit dem 21. Lebensjahre und dauert 23 Jahre: fünf Jahre gemäss 
Gesetz (vier Jahre thatsächlich) im activen Dienste, 13 Jahre in der Reserve und fünf Jahre 
in der Opoltschenie, einer dem deutschen Landsturm ähnelnden Reichswehr. Die Leute, 
die nicht in das stehende Heer eingereiht werden, dienen 23 Jahre in der Reichswehr ab. 
Abweichend ist die Dienstpflicht bei den Völkerschaften des Küsten- und Amurgebietes, 
einiger Bezirke des nördlichen Kaukasus, des Gouvernements Astrachan, auch Finnlands 
und West- und Ost-Sibiriens. Z. B. dienen die des transkaukasischen Gebietes nur drei 
Jahre bei der Fahne und 15 Jahre in der Reserve, und die Kosaken dienen drei Jahre in 
den Vorbereitungs-, zwölf Jahre in den Front- und fünf in den Ersatzcategorien. Zum 
Rekrutirungsgesch&fte werden seit dem Jahre 1806 auch Aerzte mitverwendet. Jetzt ge¬ 
hören dem Ansbebungsausschusse jedes Gouvernements ein Civil- und ein Militärarzt mit 
berathenden Stimmen an. 

Nächst der Heereserganzung in den europäischen Grossstaaten interessirt diejenige in 
den Nord amerikanischen Freistaaten am meisten. Hier finden unter der Ober¬ 
aufsicht des Adjatant general Werbungen statt. Anzuwerbende müssen über 16 und unter 
35 Jahre alt sein; jedoch dürfen Farbige nicht über 25 Jahre alt sein, weil sie älter viel 
weniger gelenkig und verständig sind. Die in die Cavallerie Einzustellenden dürfen höch¬ 
stens 30 Jahre alt sein. Ueberaies muss jeder Anwärter ausreichende Kenntnis der eng¬ 
lischen Sprache besitzen. Der Geworbene erhält zunächst fünf Dollars Handgeld und ist 
zu fünfjähriger Dienstzeit verpflichtet. Die Prüfung der Anwärter geschieht durch einen 
Werbe- und Sanitätsofficier nach Maassgabe der Army regulations von 1881 und im Ein¬ 
zelnen nach einer 1890 herausgegebenen Dienstanweisung „An epitome of Triplers 
Manual* etc. 

Ein vergleichender Rückblick auf die Heeresergänzungseinrichtungen 
der Grossstaaten lässt in der Hauptsache folgende Thatsachen und Bedürfnisse 
erkennen: 

Die Ergänzung der bewaffneten Macht vollzieht sich entweder auf Grund¬ 
lage der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht, oder, in England und Nord¬ 
amerika, durch Werbung. Mit jener Grundlage ist man in jenen einfach- 
natürlichen Zustand zurückgetreten, welchen vor Jahrtausenden das blosse 
Sittengesetz geschaffen hat. 

Die Militär-Dienstpflicht beginnt meist im 20. Lebensjahre, und zu Kriegs¬ 
zeiten greift man auf noch jüngere Jahrgänge zurück. Es ist nun oft schon 
die Frage aufgeworfen worden, ob nicht die 20-jährigen Leute zu unreif für 
das Waffenhandwerk seien, da doch das Wachsthum des Menschen erst etwa 
mit dem 24. Lebensjahre ende. Diese Frage ist physiologisch berechtigt, 
kann aber militärärztlich nicht in dem Sinne bejaht werden, dass der Dienst¬ 
pflichtbeginn in das 24. Lebensjahr verlegt werden möchte. Die Physiologie 
ist nicht im Stande, der militärischen Erfahrung zu widersprechen, nach 
welcher der Mensch schon vor Beendigung seines Knochenwachsthums kriegs¬ 
diensttauglich ist. Freilich ist der Gang des Wachsthums hei den verschie¬ 
denen Völkern ein deutlich verschiedener, wie namentlich Oesterreich-Ungarn 
zeigt, und andererseits haben sich, wie die Kriegsgeschichte lehrt, zu junge 
Leute, also solche vor dem 20. Lebensjahre, im Kriegsdienste in der Regel 
nicht bewährt. Man möge derart junge Leute im Kriege zwar einziehen und 
militärisch ausbilden, aber nur im Garnisonsdienste verwenden. 

Die ärztliche Rekrutirungsthätigkeit besteht in der Untersuchung und 
Beurtheilung der gestellten Militärpflichtigen. Schon oft ist von Aerzten und 
Nationalökonomen der Wunsch ausgesprochen worden, dass sich darauf die 
aushebungsärztliche Thätigkeit nicht beschränken möge, sondern dass die 
Untersuchung über den Rekrutirungszweck hinaus auf das gesammte phy- 


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REKRÜTIRUNG. 


645 


k 


sische Verhalten der gestellten Mannschaften sich erstrecke, damit die Ursachen 
von Krankheiten und Fehlern enthüllt werden und das physische Wohl der 
gesammten Bevölkerung aufgebessert werden könne. 

Dieser Wunsch ist um so beherzigenswerther, als er ohne Mehraufwand 
an Zeit und Kosten durchführbar ist, falls ihm durch einige Organisations- 
Veränderungen des Rekrutirungsgeschäftes (Zubefehligung von sanitärem Hilfst 
personal, Umwandlung der umständlichen, mühevollen und kostspieligen Zwei¬ 
theilung des Rekrutirungsgeschäftes in ein einziges ungetheiltes Geschäft), 
auf die ich noch einmal zurückkommen werde, die Verwirklichung ermög¬ 
licht wird. 

Wenn der allgemein wissenschaftlichen, statistischen Verwertung der 
gelegentlich der jährlichen Rekrutirung bewirkten Erhebungen das Wort ge¬ 
redet wird, so ist damit keineswegs beabsichtigt, dass etwa alles, was von 
jeher der Gelehrtenwelt verhüllt geblieben ist, nun den Rekrutirungsärzten 
zur Erforschung übergeben wird. Mehr würde der Wissenschaft, da besonders 
hier das Vielerlei der Feind der Gründlichkeit ist, gedient werden, wenn all¬ 
jährlich die obersten Militärsanitätsbehörden, denen die Aushebungsergebnisse 
zur Veröifentlichungsauswahl zu berichten sind, eingehend darauf prüfen, 
wo in physischer Beziehung dunkle Punkte zu finden sind, wo seit Jahren 
in einem bestimmten Theile des Landes und der Bevölkerung immer die¬ 
selben Fehler und Krankheiten entgegentreten, und wenn sie ferner vor jeder 
Rekrutirungsperiode den und jenen Aushebungsarzt veranlassen, die gestellten 
Rekruten auf diese Fehler, insbesondere auf deren Entstehung besonders ein¬ 
gehend zu prüfen. 

Auf diese Weise würden die jährlichen umfangreichen und mühevollen 
Rekrutirungsarbeiten zur reichen Fundgrube werden für ungeahnte, die Wissen¬ 
schaft und das Volkswohl dauernd bereichernde und fördernde Schätze. 

Was die eigentliche, engere Arbeit des rekrutirenden Arztes anlangt, so 
hat dieser die Aufgabe, festzustellen und zu bekunden, ob die vorgestellten 
Wehrpflichtigen für den Militärdienst tauglich oder untauglich sind. Die 
Untauglichkeit ist je nach dem Wesen des Vorgefundenen Gebrechens oder 
Mangels entweder eine dauernde oder zeitige. Nach dem Grade des Ge¬ 
brechens und seinem Einflüsse auf die Leistungsfähigkeit der Menschen ist 
die Untauglichkeit ferner eine völlige oder theilige. Die theilige Untaug¬ 
lichkeit, welche wie die gänzliche eine dauernde oder zeitige sein kann, be¬ 
trifft die Feld- und Garnisondienstfähigkeit oder überhaupt den Waffendienst, 
oder sie schliesst nur von einzelnen Waffengattungen aus. Diese logischen 
Möglichkeiten lassen sich wie folgt schematisch zusammenfassen: 

zeitig I1< * I 8 anz untauglich zu jedem militärischen Dienste. 


dauernd 

zeitig 


theil weise untauglich 


zu einzelnen Truppengattungen 
zu jedem Waffendienste 
zum Friedensdienste 
zum Felddienste. 

Dies ergibt zehn verschiedene Untauglichkeitsgrade, welche, da sie 
logisch denkbar und dem Bedürfnisse der Heeresverfassung entlehnt sind, in 
allen Staaten wiederkehren, obschon sie in den meisten nur wenig scharf be¬ 
zeichnte Begriffe bilden, oder sich nur in den Entscheidungen der Commissionen 
entdecken lassen, ohne rein gutachtliche Begriffe zu sein. Es ist sehr zu em¬ 
pfehlen, dass jedes Gutachten des Aushebungsarztes über die Tauglichkeit 
eines untersuchten Militärpflichtigen mit einem jener zehn Begriffe wieder¬ 
gegeben wird, soweit dies gegenüber amtlichen Bestimmungen möglich ist. 

Diese gutachtliche Mannigfaltigkeit setzt militärärztliches Wissen und 
reiche Erfahrung voraus. Es ist deshalb unerlässlich, dass diese gutachtliche 
Arbeit Militärärzten, und nicht, wie in missverstandenem ökonomischen 


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• REKRUTIRUNG. 


Interesse vorgescblagen worden ist, Civilärzten übertragen wird. Ferner ist es 
wünschenswert, dass zu dieser über den Lebensgang so vieler Menschen ent¬ 
scheidenden Arbeit nur die ältesten Militärärzte herangezogen werden und 
zwar, wie ich im „Militärarzt“ 1878, Nr. 1. bis 3. ausführlicher vorgeschlagen 
habe, eine Anzahl bestimmter höherer Militärärzte, mit derem Amte der Aus¬ 
hebungsdienst dauernd verbunden bleibt. So sehr es ferner als richtig an- t 
zuerkennen ist, dass der Aushebungsarzt, so lange er noch als blosser Begut¬ 
achter amtlich aufgefasst wird, nicht als Mitglied des Aushebungsausschusses 
gilt, als welches er mit Leichtigkeit überstimmt werden könnte, so nöthig 
ist es auch, dass das Gutachten des ausserhalb des Aushebungsausschüsses 
stehenden Aushebungsarztes nicht ohneweiters vom Ausschüsse überstimmt 
werden, und eine entgegengesetzte Entscheidung getroffen werden kann. Es 
sollte vielmehr überall amtlich geregelter Brauch werden, dass das aushebungs¬ 
ärztliche Urtheil in angefochtenen Fällen nicht aufgehoben, sondern seine 
Rechtskraft bis zu einer höheren Entscheidung nur aufgeschoben werden kann. 

Die Wichtigkeit und der Umfang der aushebungsärztlichen Arbeit ver¬ 
langt ferner die Einstellung von Hilfskräften für den Aushebungsarzt: eines 
Sanitätsadjutanten (Assistenzarztes), zugleich zum Zwecke der Heranbildung 
von Aushebungsärzten, und eines Sanitätsunterofficiers (Lazarethgehilfen) zur 
Verrichtung der rein mechanischen Aushebungsarbeiten. Der hiedureh 
entstehende Kostenaufwand wird mehr als ausgeglichen durch den Vortheil, 
dass die Untersuchungen dann schneller und eingehender ausgeführt werden 
können, und dass infolge dessen ein Anlass dazu fortfällt, das Ergänzungs¬ 
geschäft (in Musterung und Aushebung) zu theilen. Es wird dann kaum noch 
etw r as im Wege stehen, das ganze Geschäft zu vereinfachen und insbesondere 
eine nur einmalige Zustellung und Untersuchung der Militärpflichtigen vor¬ 
nehmen zu lassen, wie sie in einzelnen Staaten bereits gehandhabt wird, und 
wie sie schon jetzt zu Kriegszeiten allenthalben genügen muss. 

Dort, wo dem Rekrutirungsarzte kein Assistenzarzt zugebilligt werden 
kann, ist wenigstens ein Sanitätsunterofficier ganz unentbehrlich. Er kann 
zwar in der Listen- oder Rapportführung, die ihn bisweilen nicht ausreichend 
beschäftigt, durch einen Unterofficier der Waffe leicht ersetzt werden, nicht 
aber in den übrigen Verrichtungen. 

Zu seinen Aufgaben zähle ich in der Hauptsache folgende: 1. Schreibgeschäfte, und 
zwar neben der statistischen Zusammenstellung die Reinschriften der ärztlichen Zeugnisse; 

2. Unterstützung des untersuchenden Arztes durch zweckmässige Hinstellung des Militär¬ 
pflichtigen und Handreichungen während der Untersuchung; 3. Erneuerung von Verbänden 
an Militärpflichtigen, wozu er seine Heilmitteltasche regelmässig mit zur Stelle bringt; 

4. Leistung der ersten Hilfe bei Ohnmächten, wie sie bisweilen schon vor Ankunft des 
Arztes in den dicht besetzten Versammlungssälen eintreten; 6. Putzen und Transportiren 
der ärztlichen Instrumente, und endlich 6. aushilfsweise Gewichts- und Längenbestimmungen. 

Wenn ich im Vorausgehenden wünschenswerte Verbesserungen in den 
Rekrutirungsverfassungen unter Zugrundelegung der jetzt zu Recht bestehenden 
zur Sprache gebracht habe, so habe ich doch das Thema damit nicht erschöpft. 
Denn Logik und eigene Erfahrungen eines Menschenalters zwingen mich dazu, 
den grösstmöglichen Nutzen der Rekrutirungen für ein Volk und seine be¬ 
waffnete Macht in einer anderen Verfassung als der bisherigen vorauszusetzen. 
Auf diese gedachte Zukunftsverfassung näher einzugehen, sei mir zum Schlüsse 
gestattet. 

An die Spitze dieser Erwägungen ist die Thatsache zu stellen, dass der 
Hauptzweck der Rekrutirung in der Feststellung der körperlichen Kriegs¬ 
tauglichkeit der Militärpflichtigen besteht. Der Hauptzweck ist also ein 
medicinischer, alle anderen Zwecke sind Nebenzwecke und reichen in ihrer 
Bedeutung auch nicht annähernd an den Hauptzweck hinauf. 

Wenn es sich nun logisch nicht nur rechtfertigen, sondern auch ver¬ 
langen lässt, dass jede Anstalt, jede Einrichtung von einem Vertreter des- 


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REKRUT1RDNG. 


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jenigen Berufes geleitet wird, der dem Hauptzwecke der Anstalt etc. entspricht, 
so kann es keineswegs anspruchsvoll erscheinen, wenn ich immer wieder auf 
meine Forderung zuriickkomme: Man lege die Leitung des Rekrutirungs¬ 
geschäftes in militärärztliche Hände. 

Der landläufige Einwand, der gegen das Aufstreben der Aerzte zu ver¬ 
antwortlicheren und ehrenvolleren Stellungen erhoben wird, ist der, dass die 
Aerzte zwar von Medicin, nicht aber von anderen Dingen etwas verstehen. 
Und so ist auch der anscheinend stärkste Vorwurf gegen mein Verlangen der, 
dass der Militärarzt den beim Rekrutirungsgeschäfte auftauchenden militärischen 
und juristischen Fragen laienhaft gegenüberstehe. 

Allein, es ist jedem, der einer Rekrutirung beigewohnt hat, bekannt, 
dass die ganze bei Rekrutirungen in Betracht kommende Rechtskunde in 
einem Paar Paragraphen enthalten ist, und dass es sich mit dem rein mili¬ 
tärischen Wissen ähnlich verhält. Diese beiden Wissensgebiete könnten durch 
jüngere Officire und Juristen, die unter dem Rekrutirungsarzte stehen, 
würdig genug vertreten werden. 

Als zweiter Einwand gegen meine Empfehlung könnte die Annahme er¬ 
hoben werden, dass der Rekrutirungsarzt als Leiter des ganzen Geschäftes zu 
wenig Zeit habe, sich um das Einzelne zu kümmern, da er ganz von den 
ärztlichen Untersuchungen beschäftigt werde. Nun, in den meisten Staaten 
hat der jetzige Leiter des Rekrutirungsgeschäftes nicht wesentlich mehr zu 
thun, als die vom Arzte tüchtig befundenen Militärpflichtigen zu den ein¬ 
zelnen Truppengattungen zu vertheilen. Dabei sieht er sich zugleich mit 
dem Arzte die vorgestellten Leute an und stimmt in den wenigen und ein¬ 
fachen juristischen Angelegenheiten meist, wenn nicht grundsätzlich, mit den 
Ausführungen des anwesenden juristischen Verwaltungsbeamten überein. 

Worin würde demnach die hauptsächliche Mehrbelastung des Aushebungs¬ 
arztes, wenn er zugleich Aushebungsleiter wäre, bestehen? In der Vertheilung 
der tüchtig Befundenen zu den Truppengattungen. 

Das Gewicht dieser Mehrbelastung wird aber mehr als nöthig durch den 
Umstand ausgeglichen, dass der erfahrene Arzt, der gegenwärtig sich auf ein 
allgemeines Tauglichkeits- oder Untauglichkeitsurtheil beschränken muss, um 
der Waffenwahl des Leiters nicht vorzugreifen, gewiss mit sicherem Blicke 
auch für jeden Körper zugleich die geeignetste Waffengattung erkennt, so 
dass er das, was er denkt, fast mühelos nur in Worte zu übersetzen braucht, 
um damit nahezu die ganze Thätigkeit des jetzigen Vorsitzenden auf sich zu 
nehmen. 

Einen dritten Einwand habe ich aus ärztlichem Munde vernehmen müssen. 
Ein höherer, nun verstorbener, Militärarzt entgegnete mir auf meinen Vor¬ 
schlag: ich möchte doch nur an die grosse Verantwortung denken, die dem 
Aushebungsarzte mit der Verwirklichung meines Wunsches aufgebürdet würde, 
und die durch die voraussichtlichen Klagen der Truppenbefehlshaber über die 
ihnen aufgehalsten untauglichen Rekruten herausgefordert würde. Hiegegen 
darf ich vielleicht daran erinnern, wie an solchen Klagen durch keine Ein¬ 
richtung etwas zu ändern ist, und wie diese Beschwerden schon heutzutage, 
ohne dass der Arzt das Rekrutirungsgeschäft leitet, und ohne dass er selbst 
nur über die Tüchtigkeit und Einstellung der Militärpflichtigen entscheidet, 
hauptsächlich gegen den ärztlichen Sachverständigen des Rekrutirungs¬ 
geschäftes gerichtet werden. 

Während in allen Beziehungen des Rekrutirungsgeschäftes nach aussen 
und insbesondere nach oben gemäss der jetzigen Organisation kein Anderer 
als der Vorsitzende verantwortlich sein kann, und der Rekrutirungsarzt jede 
andere als die innere Verantwortung, d. h. diejenige gegenüber dem Ge¬ 
schäftsleiter, abzulehnen berechtigt ist, pflegt mit Uebergehung des Vor¬ 
sitzenden der Arzt, an dessen Urtheil der Vorsitzende bestimmungsgemäss 


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RETTÜNGSWESEN. 


nicht gebunden ist, für die Ergebnisse des Geschäftes zur Verantwortung ge¬ 
zogen zu wurden. Dieses Verhalten gegen den Aushebungsarzt, dem die Ge¬ 
schäftsleitung versagt, aber die Verantwortung aufgebürdet wird, beweist nur, 
dass er in eine ganz zweideutige und unsichere Rechtsstellung hineingedrängt 
wird, und gibt zugleich zu, dass dem Arzte der Löwenantheil au den Rekru- 
tirungserfolgen, wenn auch nicht formell, so doch thatsächlich gebührt. 

Möchten doch die Militärärzte, um aus dieser Zwitterstellung heraus- 
zugerathen, nicht vor einem Mehr der Verantwortung zurückbeben, und viel¬ 
mehr bedenken, dass sie ohne letztere in der verbesserungsbedürftigen Sani¬ 
tätsverfassung nicht einen Schritt weiter, und vor allem nicht höher kommen; 
denn die Verantwortung wächst mit der Höhe! h. fröuch. 

Rettungswesen. Seit Menschengedenken wird die Samariter-Idee, das 
ist das Bestreben, verunglückten Nebenmenschen beizustehen, als edelste der 
Tugenden hocbgehalten, und schon in der heiligen Schrift wird durch das 
herrliche Gleichnis des barmherzigen Samariters allen Menschen die Lehre 
gegeben, ihren Mitmenschen in Noth und Gefahr zu helfen. 

Das moderne Rettungswesen umfasst neben Vorkehrungen und Ein¬ 
richtungen zur Hilfeleistung für plötzlich erkrankte oder verletzte Personen 
weiterhin auch noch solche Maassnahmen, welche dazu dienen, verunglückte 
Personen zu bergen, also Verschüttete, dem Ertrinkungstode Nahe, durch 
irrespirable Gase Vergiftete, in brennenden Häusern Befindliche aus ihrer 
die Gesundheit oder das Leben bedrohenden Lage zu befreien und endlich 
Vorkehrungen prophylactischer Natur, d. h. solche zur Verhütung von Un¬ 
glücksfällen; es gehören aber in weiterem Sinne hierher auch diejenigen 
Einrichtungen, welche zum Transporte von Erkrankten oder Verletzten 
dienen. — Da die letzteren zwei Punkte bei den Kapiteln über Arbeiter¬ 
hygiene und Krankentransport abgehandelt sind, sollen hier nur die Ein¬ 
richtungen zur ersten Hilfeleistung und Bergung Verunglückter, sowie die 
humanitären Bestrebungen der verschiedenen Vereine auf dem Gebiete der 
ersten Hilfe im Kriege und im Frieden des Näheren besprochen werden. 

Sehr richtig sind die Bezeichnungen, welche die Wiener Freiwillige 
Rettungsgesellschaft für die Vorkehrungen bei den verschiedenen Unfällen 
gewählt hat, und zwar als Wehr „Erste Hilfe“ alle jene Einrichtungen, 
welche dazu dienen, plötzlich erkrankten oder verletzten Personen die nöthige 
ärztliche Hilfe und Abtransportirung angedeihen zu lassen, als „Feuerwehr“ 
die Rettungsvorkehrungen für Menschen bei Feuersgefahr und als „Wasser¬ 
wehr“ die Rettungsvorkehrungen für Wassergefahren, zu welch letzteren 
noch die „Küstenwehr“ mit Vorkehrungen an Hafenplätzen zur Rettung 
Schiffbrüchiger zu zählen ist. 

Wenn wir uns die Frage vorlegen, wodurch sich zumeist plötzliche 
Unglücksfälle aller Art ereignen, so ist es ausserordentlich schwer, eine dies¬ 
bezügliche Definition in solcher Weise in Punkte zusammenzufassen, die 
einen genauen Ueberblick über alle jene Unfälle bieten, von welchen Menschen 
betroffen werden können. Die nachfolgende diesbezügliche Zusammenstellung 
kann sonach nicht auf absolute Vollkommenheit Anspruch machen, wohl aber 
wird es leicht sein, einzelne in derselben nicht enthaltene Fälle in eine der 
aufgestellten Kategorien einzureihen. — Hiernach können sich Unglücksfälle 
ereignen: 

1. Im gewöhnlichen Leben. (Hieher gehören alle, sei es durch die 
Unvorsichtigkeit der betroffenen Person selbst oder durch die Unvorsichtig¬ 
keit Anderer stündlich sich ereignenden Unfälle im Hause oder auf der 
Strasse, alle durch die Verkehrsmittel, Eisenbahnen, Tramway’s, Omnibusse, 
Fiaker, Fahrräder etc. verursachten Unfälle, alle plötzlichen Erkrankungen, 


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RETTUNGSWESEN. 


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von welchen Menschen zufallsweise betroffen werden, alle Selbstmordver¬ 
suche etc.) 

2. Im industriellen und gewerblichen Betriebe. (Hier wären 
alle jene Unfälle einzureihen, welche sich in Fabriken, in Werkstätten aller 
Art, Bergwerken, Kohlengruben und endlich bei den verschiedenen Bauten 
ereignen.) 

3. Durch Elementar-Ereignisse (grosse Brände, Stürme, Erd¬ 
beben, Ueberschwemmungen etc.) hervorgerufene Unfälle. In dieser 
letzten Kategorie handelt es sich zumeist um Katastrophen (Massenunglücke), 
d. h. um Unfälle, von welchen viele Personen gleichzeitig betroffen wer¬ 
den. — In diesem Sinne kann sonach ein sub Punkt 1 oder 2 eingereihter 
Unfall (Eisenbahn-, Tramway- oder Wagen-Zusammenstoss, Kessel-Explosion, 
schlagende Wetter in Gruben, Gasexplosion, Hauseinsturz, Verschüttung, 
Panik) zur Katastrophe werden. — Wir werden sonach unter dem Worte 
„Katastrophe“ — in Bezugnahme auf erste Hilfeleistungen — jedes Er¬ 
eignis zu verstehen haben, durch welches mehrere Menschenleben (oft auch 
Massen) und Güter in imminente Gefahr kommen, zu Grunde zu gehen. 

Im Grossen und Ganzen lässt sich in Bezug auf die Ursachen aller 
vorangeführten Unfälle folgende Eintheilung aufstellen: 

Unfälle aller Art können entstehen entweder durch Zufall oder durch 
Leichtsinn. 

Oft können Unfälle durch nur einen dieser Factoren allein herauf¬ 
beschworen werden, wiederholt durch beide genannten Factoren gleichzeitig. 

Da nun der Mensch dem „Zufalle“ gegenüber grösstentheils machtlos 
dasteht, der „Leichtsinn“ und die Unvorsichtigkeit aber gewiss 
niemals zu existiren aufhören werden, so ist an eine auch nur theilweise 
Beseitigung der Ursachen, durch welche Unfälle hervorgerufen werden, nicht 
zu denken, und es ist daher eine absolute Nothwendigkeit, Vorsorgen 
und Maassnahmen zu treffen, um den auf Grund eines fatalistischen Gesetzes 
von Unfällen aller Art betroffenen Menschen mit Erfolg beistehen zu können 
und dieselben vor weiteren Gefahren zu beschützen. 

Es ist daher nicht das allein als „Rettung“ anzusehen, wenn wir einen 
Ertrinkenden den Wellen, einen im brennenden Hause Befindlichen den 
Flammen entreissen oder einen Verschütteten aus seiner Lage befreien, 
sondern wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass ein eventuell dem Be¬ 
troffenen zugefügter Schaden nach Thunlichkeit mit den zu Gebote 
stehenden Behelfen gutgemacht, die Schmerzen gelindert und er durch Ab¬ 
transportirung unter ein schützendes Dach vor weiteren Gefahren bewahrt 
werde. 

Schon hieraus ergibt sich der innige Gontact, der zwischen der ersten 
Hilfeleistung und dem Krankentransporte besteht, und es bildet sonach ein 
geeignetes Krankentransport-Materiale gleich allen anderen Rettungsuten¬ 
silien einen höchst wichtigen, ja unerlässlichen Behelf für eine fachgemässe 
Hilfe. 

Aber auch die prophylactischen Maassnahmen im Rettungswesen sind 
von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da durch solche mannigfaches Un¬ 
heil vermieden werden kann, doch sollen diese in einem speciellen Capitel 
über „Unfall-Verhütung“ zur Besprechung gelangen. 

Hier sei diesbezüglich nur so viel erwähnt, dass durch die stricte Ein¬ 
haltung der in allen civilisirten Staaten bestehenden baupolizeilichen Vor¬ 
schriften, durch die Anbringung von Schutzvorrichtungen an den Tramway’s 
und anderen Verkehrsmitteln, durch Sicherheitsgürtel, durch strenge Ver¬ 
ordnungen betreffend die Bedingungen zur Veranstaltung theatralischer Vor¬ 
stellungen etc., sowie die Bedingungen für die Einrichtung und den Betrieb 
der Theater überhaupt, durch stricte Vorschriften für den Fall des Aus- 


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RETTUNGSWESEN. 


braches einer Panik an Orten, wo viele Menschen beisammen sind, ganz gleich- 
gütig, ob dieselbe durch einen vermeintlichen, d. i. eingebüdeten, oder wirk¬ 
lichen Grand entstanden ist, etc, etc. viel schweres Unglück verhütet oder 
gemildert werden kann. 

Es ist eine vollkommen irrige Ansicht, dass gegen Paniken ein präven¬ 
tives oder nach dem Eintritte derselben ein die Gefahren beherrschendes 
Mittel nicht existire. — Man kann einer bereits bestehenden Panik mit 
ganzem Erfolge wohl niemals beikommen, wohl aber gibt es Mittel genug 
die Dauer einer Panik abzukürzen, dadurch die Intensität derselben abzu¬ 
schwächen und auf diese Weise die Unglücksfälle zu vermindern. 

Schon in längst vergangener Zeit hat man es allgemein anerkannt, wie ausserordent¬ 
lich wichtig es ist, mit Bücksicht auf die schon damals sich häufig ereignenden plötzlichen 
Unglücksfälle Vorsorgen zu treffen. — Peter Frank citirt in seinem im Jahre 1790 er¬ 
schienenen trefflichen Werke „System einer vollständigen medicinischen Polizey“, dass 
im Jahre 1779 in Wien 167 Personen durch Unglücksfälle gestorben sind, darunter 75 
„beim zersprungenen Pulvermagazine verunglücket sind.“ — Anno 1780 waren in Wien 73 
Verunglückte, darunter Todtgefundene 13, Ertrunkene 8, Todtgefallene 19, Niedergefahrene 9. 

In Leipzig zählte man nach demselben Autor vom Jahre 1769—1774 284 Ver¬ 
unglückte, in London in 30 Jahren 11994. — Die durch Unglücksfälle Umgekommenen 
verhielten sich zu der ganzen Summe der Verstorbenen wie 1 : 62, d. h. unter 62 Per¬ 
sonen ist eine Person durch einen plötzlichen Unfall verunglückt und gestorben. 

Im Jahre 1785 sind in London 245 Personen verunglückt und zwar erfroren 8, 
verwundet 19, verbrannt 9, ertrunken 112, Selbstmörder 22, vergiftet 2, verhungert 3, 
todtgefallen 58, ermordet 7, in siedendes Wasser gefallen 1, im Rauch erstickt 4. 

Sehr interessant sind die Ausführungen Peter Frank’b hinsichtlich des Vergleiches 
der vorkommenden Unglücksfälle in den Städten und auf dem flachen Lande. Derselbe 
schreibt diesbezüglich wörtlich wie folgt: 

„Auf dem flachen Lande sind zwar viele Ursachen plötzlicher Unglücksfalle, die in 
Städten herrschen, nicht zugegen, allein man rechne, wie viele Menschen da in Lehmgruben, 
Sandgruben ersticken, wie viele in Steinbrüchen zertrümmert werden, wie manche von 
Bäumen zu Tode stürzen, beim Holzfällen erschlagen werden, wie viele Kinder wegen Mangel 
an Aufsicht seitens ihrer in Arbeit begriffenen Eltern verbrennen, verbrühen, ersticken, er¬ 
säufen etc. etc., so wird die Gefahr in Städten und auf dem flachen Lande beinahe gleich 
scheinen müssen. 

Diese wenigen Beispiele und hingeworfenen Gedanken mögen also einem Jeden be¬ 
greiflich machen, dass hier eben nicht von Kleinigkeiten die Reae sey, sondern dass, wenn 
man nur überall genaue Berechnungen anstellen wollte, Stoff genug zu nützlichen Ge¬ 
danken gewonnen werden könnte. — Ich habe in Kriegszeiten oft genaue Berichte von 
Erschossenen, Verwundeten, Gefangenen etc. gelesen und habe allemal dabei gedacht, die 
grossen Herren müssen glauben, sie hätten nur auf einen Feind zu zählen und nur auf 
den von diesem verursachten Verlust aufmerksam zu sein. — England, dessen einzige 
Hauptstadt in 30 Jahren 11994 Menschen durch Unglücksfälle verlieret, müsste den un¬ 
glücklichsten Krieg führen, wenn das ganze Reich nach Verhältnis so viele Menschen zu¬ 
setzen müsste, und so bleibt gewiss, dass jedes Land ein Jahr um das andere mehr Bürger 
an ünglücksfüllen verliert, als in einer gegebenen Zeit durch den blutigsten Krieg erlegt 
zu werden pflegen. — Es ist wohl keiner, der nicht die Nothwendigkeit einsehen sollte, 
dass überall solche Tabellen von Unglücksfällen eingeführt und so die Bürger und selbst 
die Fürsten aufmerksamer gemacht werden.“ 

In Wien wurden schon im Jahre 1769 durch ein höchstes Patent und 
später durch ein Regierungs-Circular vom Jahre 1799 die Vorschriften öffent¬ 
lich bekannt gemacht, nach welchen „Personen, die durch einen Unglücks¬ 
fall augenblicklich um das Leben gekommen zu sein scheinen, durch zweck¬ 
mässige Hilfe gerettet und wieder zum Leben erweckt werden können“, und 
im Jahre 1803 wurde von Regierungswegen eine officielle Rettungsanstalt für 
Verunglückte und Todtscheinende ins Leben gerufen. 

Diese Rettungsanstalt functionirte, nach den bestehenden Aufzeichnungen zu schliessen, 
in ausgezeichneter Weise. Es existirten sieben Stationen in der inneren Stadt Wien und 
sechs Stationen längs des Donaucanales in entsprechenden Distanzen. Der Punkt 1 des Cir- 
culars für die Einrichtung dieser Rettungsanstalt (siehe k. Wiener Zeitung Nr. 54 vom 
Jahre 1803) lautete folgen dermassen: 

„1. Vor Allem müssen die Aerzte und Wundärzte im Rettungsgeschäft wohl unter¬ 
richtet sein, es sind daher die Professoren der Arzney und Wundarzney angewiesen, von 
nun an über diesen wichtigen Gegenstand insbesondere jährlich einige Vorlesungen zu 


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RETTÜNGSWESEN. 


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halten nnd bei den Frdfnngen keinen Arzt oder Wnndarzt za approbiren, welcher nicht 
hierin eine vollkommene Kenntnis hat.“ 

Die Wiedereinführung dieser im Jahre 1803 getroffenen Verordnung in 
der Weise, dass eine Lehrkanzel für die „erste Hilfe“ mit „praktischen 
Uebungen“ errichtet werde, ist heute in hohem Grade wünschenswert, und 
es wäre wohl an der Zeit, dass einem so wichtigen Zweige der Hygiene be¬ 
deutend mehr Beachtung geschenkt werde, als dies bisher der Fall ist, umso¬ 
mehr als die Erfahrung es lehrt, dass der Studirende der Medicin die Uni¬ 
versität verlässt, ohne von einer ersten Hilfeleistung und vom Krankentrans¬ 
portwesen sowie der Krankenpflege auch nur die Grundzüge kennen gelernt 
zu haben. 

Die im Jahre 1803 amtlich errichtete Rettungsanstalt fand nach dem 
Kriegsjahre 1809 ihr jähes Ende, und es wurde nunmehr durch eine lange 
Reihe von Jahren bei fallweise vorkommenden Unglücksfällen nur in den 
sogenannten chirurgischen Officinen (Rasirstuben) erste Hilfe geleistet. 

Erst durch das Sanitätsgesetz vom Jahre 1870 wurde den Gemeinden 
die Pflicht auferlegt, für Hilfeleistungen bei plötzlichen Unglücksfällen Vor¬ 
sorge zu treffen. Die Folgen dieses Gesetzes waren die, dass in einzelnen 
Gemeinden soviel wie gar nichts, in anderen wenig und nichts Entsprechendes 
für den gedachten Zweck vorgekehrt wurde. 

In Wien wurden zufolge dieses Gesetzes die k. k. Sicherheits-Wachstuben 
als sogenannte „Rettungs-Anstalten“ installirt, und zwar dadurch, dass jede 
solche Wachstube einen kleinen Rettungskasten und eine Tragbahre erhielt, 
während in jedem Bezirke zumeist im Gemeindehause Träger in Bereitschaft 
gehalten wurden, welche sich fallweise mit ihrer „Rädertragbahre“*) 
über erfolgte Requisition an den jeweiligen Unglücksort begaben. 

Bei der geringen Anzahl der „städtischen Träger“ und bei den riesigen 
Distanzen, welche dieselben mit ihrer Räderbahre zu Fuss zurückzulegen 
hatten, war diese Art der Ausübung des Rettungsdienstes sehr wenig zweck¬ 
entsprechend. 

Nichtsdestoweniger wurde von Seite der Gemeinden behufs Besserung 
der diesbezüglichen Verhältnisse wenig veranlasst und dies aus vielleicht ent¬ 
schuldbaren Gründen. 

Die Lasten der Gemeinden nämlich im Allgemeinen und von humani¬ 
tären Standpunkte im Besonderen sind so gross, dass jedem einzelnen Zweige 
des öffentlichen Sanitätswesens unmöglich so viel Geld, so viele Mittel und 
so viele Menschen gewidmet werden können, welche den betreffenden Bedürf¬ 
nissen entsprechen würden, und welche dennoch zur vollkommenen Erreichung 
des Zieles nothwendig sind; überdies ist gerade dieses Gebiet ein solches, 
welches das öffentliche Mitleid in hohem Grade hervorruft, und es wurde da¬ 
her hier der Privatwohlthätigkeit ein weites Feld zur fruchtbringenden Be¬ 
tätigung offen gelassen. 

Thatsächlich constituirten sich auch nicht nur in Wien, sondern auch 
in grösseren Provinzstädten einzelne Vereine, welche sich die Hilfe bei Un¬ 
glücksfällen zur Aufgabe stellten, so in Wien der I. Wiener Lebens-Rettungs¬ 
verein, in Prag das bürgerliche Rettungs-Corps etc. etc., allein alle diese Ver¬ 
einigungen kamen nicht recht zur Geltung. 

Die eigentliche Entfaltung des freiwilligen Rettungswesens in ganz 
Oesterreich-Ungarn fällt mit dem Momente der Gründung der Wiener 
Freiwilligen Rettungsgesellschaft zusammen, das ist mit dem 
9. December 1881. 

Der tagszuvor stattgehabte Ringtheaterbrand bildete den Anstoss zur 
Gründung dieses Barmherzigkeitswerkes, und seither ist unbedingt eine Epoche 

*) Ein Marter-Transportmittel, welches nun auch schon seitens der Commune Wien 
der Rumpelkammer überwiesen wurde. 


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RETTUNGSWESEN. 


ganz bedeutenden Aufschwunges des freiwilligen Bettungswesens in den 
grossen Städten Oesterreich-Ungarns constatirbar, was wohl nicht in aller¬ 
letzter Linie als Verdienst der Wiener Freiwilligen Rettungsgesellschaft an¬ 
gesehen werden muss. 

Von allem Anfänge an in finanziellen Nöthen und mannigfachen An¬ 
feindungen ausgesetzt, setzte die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft ihre 
erspriessliche Thätigkeit unentwegt fort, ihr Sanitätsmaterial und ihre Sani¬ 
tätswagen fanden bald, nicht nur in Oesterreich-Ungarn, sondern auch weit 
ausserhalb der Grenzen dieses Reiches, Nachahmung, ihre Einrichtungen und 
ihre prompte Action begegneten allerseits der ungeteilten Anerkennung, und 
zusehends schaffte sich die Gesellschaft einen weiteren und weiteren Wirkungs¬ 
kreis, indem dieselbe zu ihren ursprünglich freiwillig übernommenen Pflichten, 
nämlich dem permanenten ärztlichen Tag- und Nachtdienst, immer wieder neue, 
in das Gebiet des Rettungswesens gehörige Obliegenheiten auf sich nahm. 

Durch Affilirung mehrerer freiwilligen Feuerwehren bildete sich die 
Gesellschaft eine eigene Feuerwehr, welche mit den nöthigen Löschutensilien 
armirt wurde, ferner wurde durch die Vereinigung mehrerer Rudervereine 
eine Wasserwehr ins Leben gerufen, welcher Boote, Küchenwagen, Fourgon- 
und Labewagen zur Verfügung gestellt wurden, um bei Ueberschwemmungen 
mit Erfolg interveniren zu können, an verschiedenen Punkten der Stadt wurden 
Tragbahren zum Gebrauche für Jedermann angebracht und von der Gesell¬ 
schaft in Stand gehalten, es wurden gemeinverständliche öffentliche Vorträge 
über Verbandlehre und erste Hilfe abgehalten, dieselben sodann in Druck 
gelegt und verbreitet, (in letzter Zeit wurde eine Samariterschule gegründet, 
in welcher ein systematischer Unterricht in der ersten Hilfe für die ver¬ 
schiedenen Berufskategorien ertheilt wird), mit dem Reichskriegsministerium 
wurde ein Uebereinkommen über die Beihilfe im Militär-Sanitätsdienste im 
Mobilisirungsfalle und im Kriege abgeschlossen, mit den Eisenbahnverwal¬ 
tungen ein solches betreffs des Sanitätsdienstes bei Katastrophen auf Eisen¬ 
bahnen, für Massenunglücke wurde ein eigenes Katastrophen-Reglement aus¬ 
gearbeitet, für den Epidemiefall wutde durch Anschaffung von entsprechendem 
Transport- und Sanitätsmateriale Vorsorge getroffen, und endlich wurde die 
permanente Evidenzhaltung der jeweilig in den Spitälern Wiens befindlichen 
freien Bettenanzahl eingeführt, um diesbezügliche Auskünfte fallweise an Be¬ 
hörden oder an Parteien ertheilen zu können. 

Der ärztliche Permanenzdienst, welcher bis zum Jahre 1894 von Medi- 
cinern als activen Mitgliedern unter Aufsicht von Inspectionsärzten versehen 
wurde, wird seither ausschliesslich vonAerzten versehen, währendes 
jährlich 60 Medicinem freigestellt wird, als Hospitanten unter Anleitung der 
Inspectionsärzte an den Actionen der Gesellschaft theilzunehmen. 

Aber nicht nur in Wien entfaltete die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft ihre 
Thätigkeit, ihr Augenmerk war auch darauf gerichtet, die Gründung ähnlicher Institutionen 
in anderen Städten zu fordern. 

So wurde am 8. Mai 1887 durch die Initiative der Wiener Gesellschaft die Buda- 
pester Freiwillige Rettungsgesellschaft gegründet, welche seither mit so ausgezeichneten Er¬ 
folgen wirkt und gedeiht. Schon im October 1890 wurde in Prag wieder durch die Wiener 
Gesellschaft die erste Sanitäts-Station eingerichtet und dem dort bereits organisirt ge¬ 
wesenen Rettungs-Corps übergeben, später wurden in Brünn, Krakau, Triest, Lemberg, 
Innsbruck und endlich in Abbazia Sanitäts-Stationen installirt und in Gang gebracht, d. h. 
es wurden durch Organe der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft die Functionäre der 
Gesellschaften obgenannter Städte in der ersten Zeit in den Dienst eingeführt. 

Die erste Einrichtung aller dieser Sanitäts-Stationen sammt Krankentransportwagen 
stellte die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft bei. 

Angespornt durch die Thätigkeit der Wiener Freiwilligen Rettungs¬ 
gesellschaft haben auch sehr viele freiwillige Feuerwehrvereine in der Um¬ 
gebung Wiens und in der Provinz begonnen, ihre Mannschaften in der ersten 
Hilfe abrichten zu lassen, schafften sich ein entsprechendes Transportmateriale 



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RETTUNGSWESEN. 


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an und begannen gleichfalls, sich auf dem Gebiete des Rettungswesens nütz¬ 
lich zu machen; auch kleinere RettungSgesellschaften entstanden, so in Ober- 
St.-Veit, Baden bei Wien etc. 

Die Thätigkeit aller dieser Gesellschaften ist aus folgenden Zusammen¬ 
stellungen ersichtlich: 


Tabelle über die bei plötzlichen Erkrankungen, Verletzungen und bei beson¬ 
deren Zufällen geleistete erste Hilfe durch die Wiener Freiwillige Rettungs- 

Gesellschaft. 

Vom 1. Mai 1883*) bis 31. December 1897. 


i 

** 

e 

Plötzliche 

Erkran¬ 

kungen 

Ver¬ 
letz ungen 

• 

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111 
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Irrige 

Meldungen 

Summe 

21 
a • 

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3 

s 

1882 

_ 









1780 

1780 

1883**) 

855 

746 

4 


5 

12 

828 

117 

2067 

1499 

3566 

1884 

301 

500 

18 


22 

19 

156 

118 

1134 

1712 

2846 

1885 

421 

943 

30 


28 

35 

277 

131 

1865j 

1417 

3282 

1886 

681 

1484 

58 


34 

28 

247 

127 

2689 

1907 

4696 

1887 

637 

1534 

179 

12 

41 

89 

349 

124 

2915 

2376 

5291 

1888***) 

1538 

2939 

401 

2 

64 

40 

247 

135 

5361 

3276 

8637 

1889 

673 

1656 

548 

mm 

92 

40 

352 

145 

3507 

2924 

6431 

1890 

786 

1813 

674 


76 

42 

327 

143 

3862 

2978 

6840 

1891 

878 

1818 

811 

mm 

101 

44 

849 

165 

4167, 

2175 

6342 

1892 

1116 

2038 

988 


82 

42 

34 

127 

4422 

3943 

8365 

1893 

1408 

2876 

1306 


105 

55 

56 

230 

6040 

3875 

9916 

1894ff) 

2675 

3311 

1377 


119 

71 

53 

254 

7760 

4534 

12294 

1895 

1944 

3357 

1325 

2 

144 

89 

66 

199 

7126 

! 4987 

12123 

1896 

2418 

3736 

1413 

— 

144 

87 

81 

214 

8093 

5634 

13727 

1897 

2234 

3735 

1108 

1 

157 

71 

56 

257 

7619 

5504 

13123 

Zusammen 

18460 

32481 

10240 

64 

1214 

714 

2978 

2486 

68627 

50531 

119158 


Die Budapester Freiwillige Rettungsgesellschaft intervenirte seit ihrem Bestände 
im Jahre 1887 .in 2067 Fällen 




1888 . . 

. . . • yj 

5878 

n 

n 

n 

1889 . . 

. „ 

6254 

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1890 . . 

• 1» 

6016 



n 

1891 . . 

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5847 




1892 . . 

. . . . „ 

7530 


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7 

1893 . . 

• • • • n 

8731 

7 


Ti 

1894 . . 


9401 

Ti 

7 

Ti 

1895 . . 

. . . . 1 

10241 


n 

n 

1896 . . 

. 13251 

Summa 75215 

7 

Fälle. 


*) Am 9. December 1881 (Ringtheateibrand) wurde die Gesellschaft gegründet; in 
diesem ersten Gesellschaftsjahre trat dieselbe noch nicht in Action. Im zweiten Gesell¬ 
schaftsjahre 1882 wurden nur Kranken-Transporte (1780) ausgeführt. Im dritten Gesell¬ 
schaft sjahre 1883, und zwar im Mai desselben Jahres, wurde die erste Sanitäts-Station (am 
Fleischmarkt 1, später [1886] jene in der Giselastrasse) eröffnet, und der gesammte Sani¬ 
tätsdienst functionirt von da an. 

**) Unter Miteinrechnung der Fälle in der elektrischen Ausstellung. 

***) Unter Miteinrechnung der Fälle in der Gewerbe-Ausstellung. 

f) Die fliegenden Ambulanzen bei allen Bränden wurden mit 1. Jänner 1892 aus 
Erspärungs-Rücksichten aufgelassen. 

ff) Unter Miteinrechnung der Fälle in der Ausstellung für Volksernährung und 
Armee-Verpflegung. 


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654 


RETTUNGSWESEN. 


Das Prager Freiwillige Rettungs-Corps intervenirte seit dessem Bestände 
im Jahre 1890 .in 346 Fällen 


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1891 

1892 
1898 

1894 

1895 

1896 


„ 2275 
, 2821 
, 4551 
„ 5698 
„ 7528 
, 10983 


» 

» 

Ti 

T 

r 


Summa 34102 Fälle. 


Die Freiwillige Bettungsabtheilung des Brunner Turnvereines interrenirte im Jahre 
1896 bei 2045 Vorrallenheiten und unternahm in diesem Jahre 720 Ausfahrten. 

Die Freiwillige Rettungsgesellschaft in Krakau hat von ihrer Gründung bis zum 
Ende des Jahres 1894 in 5327 Fällen interrenirt, darunter hatte diese Gesellschaft im Jahre 
1894 allein 1770 Fälle und 777 Krankentransporte. 

Die Lemberger Freiwillige Rettungsgesellschaft interrenirte seit ihrer im Jahre 
1893 erfolgten Gründung bis Ende Jänner 1898 in 12180 Fällen. 

Die St. Veiter Freiwillige Rettungsgesellschaft interrenirte im Jahre 1894 in 579 
Unglücksfällen und führte 254 Krankentransporte aus. 

Die Rettungsabtheilung der Simmeringer Turnerfeuerwehr hatte im Jahre 1895/% 
406 Unglücksfälle und 365 Krankentransporte. 

Die Budweiser Rettungsabtheilung der freiwilligen Feuerwehr hatte im Jahre 18% 
506 Unglücksfälle und 43 Krankentransporte. 

Die Freiwillige Rettungsgesellschaft in Baden interrenirte im Jahre 1897 in 36 Un¬ 
glücksfällen und besorgte 91 Krankentransporte. 

Die Freiwillige Rettungsgesellschaft Abbazia interrenirte seit ihrem Bestände 
(14. Jänner 1894) bei 102 Vorfallenheiten. 

In Deutschland gebührt Sr. Excellenz dem Herrn Geheimrath 
Prof. Friedrich von Esmarch das Verdienst, mit der Creirung der Samariter¬ 
schulen, d. h. mit dem Unterrichte von Laien in der ersten Hilfeleistung bei 
plötzlichen Unglücksfällen, das Rettungswesen überhaupt zum Aufschwung 
gebracht zu haben. 

Die Ausbreitung des Samariterthums in ganz Deutschland und auch im 
Auslande hat ungeahnte Dimensionen angenommen. 

In vielen Städten Deutschlands wird die erste Hilfe von den Samariter- 
Vereinigungen ausgeübt, in anderen haben sich dieselben an schon bestehende 
Vereine und Corporationen (Sanitätscolonnen, Feuerwehren etc.) angeschlossen, 
während in einigen Städten eigene Rettungsgesellschaften ins Leben gerufen 
wurden. 

So besitzt Hamburg die Sanitätswachen, Leipzig Stationen des Samariter- 
vereins, Berlin die Unfallstationen (jetzt ist auch schon eine Berliner 
Rettungsgesellschaft gegründet worden), während in München und in 
Frankfurt a. M. freiwillige Rettungsgesellschaften bestehen. 

Die Thätigkeit aller dieser Vereine ist eine überaus erspriessliche, ins¬ 
besondere hat sich der Deutsche Samariterverein in Kiel um die Popula- 
risirung der ersten Hilfe grosse Verdienste erworben. 

Die Vorträge v. Esmarch’s über die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfallen 
wurden 23mal in andere Sprachen übersetzt und in mehr als 40000 Exemplaren ver¬ 
breitet. — Einen Auszug aus diesem EsMARCH’schen Leitfaden liess man in vielen Tausenden 
von Exemplaren in Fabriken, Werkstätten, Betrieben, Bädern und an Brücken etc. etc. 
in Plakatform auf Blech gedruckt anbringen, für neu zu gründende Samariterschulen 
wurden Wandtafeln, Lehrmittel-Sammlungen etc. zusammengestellt u. s. w. 

Die Berliner Unfallstationen intervenirten im Jahre 1897 in 20043 Fällen, die Ham¬ 
burger Sanitätswachen im Jahre 1895 in 972 Fällen, die Sanitätswachen der Bremer 
Berufsfeuerwehr im Jahre 1894/95 in 1175 Fällen, die Frankfurter Freiwillige Rettungs¬ 
gesellschaft im Jahre 1897 in 1445 Fällen, die Münchener Freiwillige Rettungsgesellschaft 
vom 17. December 1894 bis 22. Februar 1855 in 104 Fällen, der Leipziger Samariterrerein 
in zehn Jahren (1883—1892) in 18240 Fällen u. s. w. 

In Frankreich sind in Bezug auf das Rettungswesen noch sehr dürftige Vor¬ 
kehrungen. Die einzige Stadt Frankreichs, welche eine gut organisirte Rettungsgesell¬ 
schaft besitzt, ist Bordeaux. 

In Paris ist ausser einer mustergiltigen Einführung des Nachtdienstes für Aerzte 
und Hebammen in Bezug auf das RettungBwesen bisher sehr wenig geschehen, und anlässlich 
der letzten grossen Brandkatastrophe ist der Mangel eines permanenten Rettungsdienstes 


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RETTÜNGSWESEN. 


655 


in so drastischer Weise zu Tage getreten, dass wohl jetzt diesbezüglich Maassnahmen in 
Erwägung gezogen werden müssen. Die bisher bestehenden „Ambulances urbaines“ 
reichen für die Weltstadt Paris bei weitem nicht aus und dies umsoweniger, als erst in der 
allerletzten Zeit (seit 1895) in Paris daran gedacht wird, die Sicherheitswachleute und 
Feuerwehrmänner in der ersten Hilfe auszubilaen. 

In Spanien ist das Rettungswesen durch ein Gesetz geregelt, nach welchem aus« 
nahmslos jede Stadt verpflichtet ist, zur Unterbringung plötzlidi Erkrankter oder Ver¬ 
letzter Rettungswachen zu errichten. Alle diese Wachen müssen entsprechend eingerichtet 
sein und einen bespannten Wagen besitzen. 

In Belgien, Holland, Dänemark und in Schweden und Norwegen ist bis¬ 
her für das Rettungswesen noch sehr wenig geschehen, und liegt dasselbe ganz in den 
Händen der Sicherheitswache und der Barbiere. 

In der Schweiz besorgt das Rettungswesen der Schweizerische Samariterbund, 
welcher seit dem Jahre 1888 segensreich wirkt. Der Dienst wird von ständigen Samariter¬ 
posten versehen. 

In England versieht den Rettungsdienst der Johanniterorden (St. John Ambulance- 
Association), welcher 21 Rettungsstationen in London und im ganzen Reiche viele Rettungs¬ 
stationen errichtet hat. Das Hauptaugenmerk wird jedoch dem Unterrichte in der ersten 
HUfe, Krankenpflege und dem Krankentransport zugewendet. Den eigentlichen Rettungs¬ 
dienst versehen die von dem genannten Orden geschulten Sicherheitswachmänner. 

In Italien wird Verunglückten zumeist in den Apotheken Hilfe geleistet; in Rom 
selbst existirt ein eigenes Spital zur Aufnahme Verunglückter, und wird daselbst der 
Rettungsdienst von mehreren privaten Wohlthätigkeisvereinen versehen. 

ln Russland wurden erst in allerletzter Zeit Bestrebungen bekannt, für das Ret¬ 
tungswesen etwas zu thun, doch ist ausser der vor kurzer Zeit erfolgten Gründung der 
Warschauer Freiwilligen Rettungsgesellschaft bisher auf diesem Gebiet nichts Positives ge¬ 
leistet worden. 

Aus der Türkei und aus den Balkanstaaten ist bisher die Kunde von Organi¬ 
sationen auf dem Gebiete des Rettungswesens nicht zu uns gedrungen. 

ln Amerika und insbesondere in den grossen Stätdten dortselbst ist die Einrich¬ 
tung getroffen, dass in jedem öffentlichen Krankenhause bespannte Ambulanzwägen bereit 
stehen, welche über Aviso in ärztlicher Begleitung zur Abholung Verunglückter aus¬ 
rücken. Die Berufung dieser Wagen erfolgt entweder auf telephonischem Wege oder 
durch Automaten, welche in den verschiedenen Strassen aufgestellt sind. 

Zu den Vereinen, welche sich mit dem Rettungwesen befassen, sind 
noch die Vereine vom Rothen Kreuze und deren Zweigvereine (pa¬ 
triotische Hilfsvereine, Sanitäts-Colonnnen), ferner noch der Mal- 
theser- und der Deutsche Ritterorden zu zählen. 

Man versteht unter den Vereinen des Rothen Kreuzes solche Hilfsvereine 
in den verschiedenen Staaten, welche sich auf Grund der Internationalen Con- 
ferenz zu Genf vom Jahre 1863 zur Unterstützung der Militär-Sanitätspflege 
im Kriege gebildet haben. 

Diese Vereine, welche fast über die ganze Welt ausgebreitet sind, führen 
in den verschiedenen Ländern verschiedene Namen, wie Gesellschaft vom 
Rothen Kreuz, vom Rothen Halbmond, Vereine zur Pflege verwundeter Krieger 
etc. etc. — Ihr Hauptaugenmerk bildet die Pflege der verwundeten und er¬ 
krankten Soldaten im Kriege, doch haben auch einzelne Vereine in ihre 
Satzungen Bestimmungen aufgenommen, durch welche ihnen auch eine 
Friedensthätigkeit ermöglicht wird. Schon die Internationale Conferenz der 
Vereine vom Rothen Kreuz zu Berlin im Jahre 1869 hat diesbezügliche 
Punkte formulirt, und zwar: 

Punkt 19. „Die Hilfeleistungen in den Nothständen des Friedens ist für 
«ine lebenskräftige Entwicklung der Hilfsvereine nothwendig und der Vorbereitung für den 
Krieg förderlich.“ 

Punkt 20. „Die Hilfsvereine werden im Frieden ihre Kräfte solchen humanen 
Bestrebungen zuwenden, die ihrer Aufgabe im Kriege entsprechen, der Krankenpflege und 
der Hilfeleistung in Nothständen, die wie der Krieg rasche und geordnete Pflege ver¬ 
langen.“ 

So hat die österreichische Gesellschaft vom Rothen Kreuze 
bei verschiedenen Katastrophen eine segensreiche Thätigkeit entfaltet; beim 
Ringtheaterbrande im Jahre 1881, indem sie eine Anzahl von Ambulanzwagen 
an den Unglücksort entsandte, bei Hochwasserkatastrophen, dann beim Erd¬ 
beben in Laibach durch Errichtung von Nothspitälern und Baracken. 


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656 


RETTDNGSWESEN. 


In Deutschland haben die Sanit&tscolonnen, welche die Bestimmung 
haben, während eines Krieges den Krankendienst im Lande zu versehen, ihre 
Mitglieder, die grösstentheils Kriegervereinen angehören, als Samariter aus¬ 
bilden lassen. Dieselben betheiligen sich erfolgreich an der ersten Hilfe¬ 
leistung im Frieden. 

Die Sanitäts-Hauptcolonne in München unterhält dortselbst eine 
Sanitätsstation, die den Rettungsdienst in vortrefflicher Weise versieht. 
Dieselbe hat im Jahre 1897 bei 4282 Unglücksfällen intervenirt. Ebenso 
haben die Sanitäts-Colonnen in Meiningen an vielen kleinen Orten in 
Häusern Rettungskästen aufgestellt und sich auf diese Weise um die Förde¬ 
rung des Rettungswesens im engeren Vaterlande verdient gemacht. 

Auch die Genossenschaft „Freiwillige Krankenpfleger im Kriege“ be¬ 
theiligt sich auf Esmarch’s Vorschlag im Frieden an der ersten Hilfeleistung 
bei Unfällen, ebenso der „Vaterländische Frauenverein“. 

Das „Amerikanische Rothe Kreuz“ leistet satzungsgemäss Hilfe in allen 
Fällen öffentlicher Noth, welche durch Krieg, Epidemien, Feuer, Hungersnot!), 
Ueberschwemmungen etc. hervorgerufen werden. 

Die Vereine vom Rothen Kreuze in Russland und Italien haben 
bisher die Zulässigkeit einer Friedensthätigkeit in ihre Satzungen nicht auf¬ 
genommen. 

Bei voller Anerkennung der Bestrebungen der Vereine vom Rothen 
Kreuze, auch im Nothstande des Friedens helfend einzugreifen, könnten die 
genannten Vereine eine viel umfassendere und erspriesslichere Thätigkeit in 
Friedenszeiten entfalten, und dies nicht zum geringen Theile im Interesse 
ihres eigentlichen Zweckes, nämlich der Unterstützung der Militär-Sanitäts¬ 
pflege im Kriege. So wäre es von besonderem Vortheile, wenn diese Ver¬ 
eine ihre Blessirtenträger (zumeist Mitglieder der Krieger- und Veteranen- 
Vereine oder von Turn- und Feuerwehr-Vereinen) zu Samaritern ausbilden 
Hessen und dieselben zur ersten Hilfeleistung im Frieden heranziehen würden; 
durch leihweise Ueberlassung von Tragbahren, Sanitätswagen, Sanitätskästen 
(welche den Reservebeständen sehr leicht entnommen werden könnten) an 
neu zu gründende freiwillige Rettungsvereine, insbesondere in kleinen Städten 
und auf dem flachen Lande, könnte gleichfalls viel Gutes gestiftet werden, 
weil das Entstehen solcher Vereine hier trotz grösster Nothwendigkeit wegen 
Mangel an Geld und an Leuten sehr erschwert ist. Das auf diese Weise 
in Verwendung stehende Sanitätsmaterial würde für den Bedarfsfall im Kriege 
auf seine Verwendbarkeit erprobt werden und die beim Gebrauche desselben 
sich eventuell ergebenden Mängel könnten leicht beseitigt und das Materiale 
auf diese Weise vervollkommnet und verbessert werden. 

Die in Friedenszeiten thätigen Blessirtenträger wären im Kriegsfälle für 
die Rothen Kreuz-Vereine ein praktisch gut geschultes, subalternes Sanitäts¬ 
personale. Erfahrene Männer auf diesem Gebiete, wie Esmarch und Mundy, 
sind wiederholt sehr warm für diese Idee eingetreten. Ersterer hebt mit 
Recht hervor, „dass die Hilfeleistung auf dem Schlachtfelde des täglichen 
Lebens eine dankbare Friedensaufgabe für die Hilfsvereine sei“, letzterer 
hat. seine diesbezüglichen Ansichten auf dem Internationalen Congresse der 
Vereine vom Rothen Kreuze in Rom im April 1892 mit Erfolg vertreten. — 
Ein wichtiger Zweig des Rettungswesens sind die Vorkehrungen zur Hilfe¬ 
leistung bei Eisenbahnunfällen. Es kommen hier in Betracht diejenigen 
Einrichtungen, welche für Unfälle im gewöhnlichen Eisenbahnbetriebe noth- 
wendig sind, ferner solche für Massenunglücksfälle, das ist Eisenbahn¬ 
katastrophen. 

Trotz der fortwährenden Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel zur mög¬ 
lichsten Verhütung von Eisenbahnunf&llen werden dieselben mit Rücksicht auf den Ein¬ 
tritt von elementaren Ereignissen und durch die unvermeidlichen Irrthümer und Unacht¬ 
samkeit von Seite der Bediensteten (Streckenwächter, Weichenwärter etc.) nach einem 


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RETTÜNGSWESEN. 


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fatalistischen Gesetze immer nnd immer wieder Vorkommen. Die Erfahrungen des Jahres 
1897, wo eine Unzahl von Eisenbahnunfallen (ich selbst zählte deren 28) mit einer grösse¬ 
ren oder geringeren Anzahl von verletzten Personen in schreckenerregender Weise ein¬ 
ander folgten, zeigen wohl zur Genüge, dass eine optimistische Auffassung hier gewiss 
nicht am Platze sei. Es besteht daher für jede Bahn Verwaltung die gebieterische Pflicht, 
sanitäre Vorkehrungen zur Hilfeleistung bei Eisenbahnkatastrophen in ausreichendem Maasse 
zu treffen. 

Haben doch die B&hnverwaltungen selbst ein grosses Interesse daran, da sich ja 
die Entschädigungen, welche für verletzte Reisende gezahlt werden müssen, durch eine 
correcte erste Hilfeleistung und des infolge dessen sich günstiger gestaltenden Heilungs¬ 
verlaufes und Invaliditätsgrades bedeutend verringern. Es entspricht einem dringendsten 
Bedürfnisse, dass jede Bahn Verwaltung ganz genaue Vorschriften erlasse über das Ver¬ 
halten ihrer Bediensteten bei einer eingetretenen Eisenbahnkatastrophe, und dies nicht 
nur in Bezug auf die Freimachung der Strecke, sondern in erster Linie in Bezug 
auf die sanitären Maassnahmen zur Bergung der Verunglückten und zur Hilfeleistung für 
dieselben. 

In Intervallen von je einigen Jahren sollte ein „Probe-Alarm* constatiren, ob 
alle Vorschriften eingehalten werden und ob Abänderungen und Verbesserungen noth- 
wendig sind. Einen solchen Probe-Alarm bei einem supponirten Eisenbahnunfalle hat 
die Kaiser Ferdinands-Nordbahn in Wien, welche unter den österreichischen Bahnverwal¬ 
tungen die besten sanitären Vorkehrungen für Eisenbahnunfälle getroffen hat, mit aus¬ 
gezeichnetem Erfolge durchgeführt. 

Sämmtliche Eisenbahnbedienstete wären in der ersten Hilfeleistung, im 
Transportiren und Ein- und Auswaggoniren auszubilden und wiederholt hierin 
zu prüfen. 

In allen grösseren Eisenbahnstationen, vorzugsweise in solchen, wo ge¬ 
heizte Reservemaschinen bereit stehen, wären sogenannte Sanitätswagen 
(zum Unterschiede von den jetzt bestehenden Rettungswagen, welche 
technische Hilfsmittel zu Reparaturen und zur Freimachung der Strecke ent¬ 
halten) einzustellen. Dieser Sanitätswagen müsste das nöthige Sanitäts¬ 
materiale und Labemittel enthalten; und für den Verwundeten-Transport her¬ 
gerichtet sein. In allen grösseren Stationen wäre ein Rettungskasten 
mit dem nöthigen Sanitätsmateriale und eine Tragbahre unterzubringen, in 
Haltestellen eine Sanitätstasche und eine Tragbahre. 

Die Bahnärzte müssten ihren jeweiligen Aufenthalt beim Stations-Vor¬ 
stand in Evidenz halten. 

Die Sanitätskasten und -Taschen wären allmonatlich auf ihre Gebrauchs¬ 
fälligkeit zu revidiren und verbrauchtes oder verdorbenes Materiale sogleich 
zu ersetzen. 

Der Hilfszug hätte von jeder Station, die er passirt, um an den Ort der 
Katastrophe zu gelangen, das ärztliche und Hilfspersonale, sowie die Trag¬ 
bahren und Sanitätskasten mitzunehmen; zur Vermeidung eines längeren Auf¬ 
enthaltes hätten die früher telegraphisch zu avisirenden Stationen alles für 
den passirenden Hilfszug parat zu halten. 

Die Frage, ob in allen verkehrenden Personenz&gen EettnngsntensUien mitzuneh- 
men seien, ist auf dem in Wien im Jahre 1888 stattgehabten Internationalen Congresse für 
Hygiene und Rettungswesen ventilirt worden. 

Mit Rücksicht darauf, dass das Sanitätsmateriale im rollenden Zuge durch Erschütte¬ 
rung nnd Eindringen von Staub nnd Ranch dem Verderben unterworfen ist, hauptsächlich 
aber deshalb, weil die Rettnngsntensilien bei einer Eisenbahnkatastrophe häufig selbst mit¬ 
zerstört werden, wurde der Beschluss gefasst, die Mitnahme von Sanitätsmateriale in grösse¬ 
rem Maassstabe nicht zu empfehlen, wohl aber seien für Unfälle, welche einzelne Personen 
betreffen kleine Sanitätstaschen mit dem allernothwendigsten Materiale im Packwagen 
unterzubringen; diese Taschen müssten von den Bahnärzten allwöchentlich revidirt werden. 

Als im höchsten Grade wünschenswert möchte ich es noch bezeichnen, 
dass die Eisenbahnverwattungen Krankenwaggons in Bereitschaft halten 
und dieselben dem kranken reisenden Publikum zu möglichst billigem Tarife 
zur Verfügung stellen. 

Allerdings darf bei allen diesen so dringenden gemeinnützigen Ein¬ 
richtungen nicht immer und auschliesslich nur die Kostenfrage den Ausschlag 
geben. Es ist im Eisenbahnbetriebe trotz höherer Kosten so viel Rücksicht auf 

Bibi. med. Wissenschaften Hygiene u. Ger. Med. 42 


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RETTDN GSWESEN. 


Bequemlichkeit und Luxus genommen worden, dass das menschliche Mitgefühl 
mit armen Kranken und Verunglückten auch einige Rücksichtnahme zu for¬ 
dern berechtigt ist. 

Die jetzt bestehenden Rettungseinrichtungen auf den österreichischen Eisen* 
bahnen sind auf Grund eines Handelsministerial-Erlasses vom Jahre 1889 eingeführt wor¬ 
den. — In jeder Station, wo Reserve-Hilfslocomotiven in Bereitschaft stehen, ist ein grosser 
Rettungskasten, in allen anderen Stationen, mit Ausnahme der Haltestellen, ein Verband¬ 
kästchen eingestellt. Stationen, in welchen ein Bahnarzt wohnt, und die nicht schon ohne¬ 
dies einen grossen Kasten besitzen, haben einen kleinen Rettungskasten. — Jede Station 
ist mit einer offenen Tragbahre, Stationen, die in der Nähe eines Spitales liegen, mit einer 
gedeckten Stadttrage versehen. 

Die Züge führen keinerlei Rettungsutensilien mit sich. 

Der Samariter-Unterricht der Eisenbahnbediensteten ist bei einigen Eisenbahnver¬ 
waltungen gut, bei einigen mangelhaft durchgeführt. — Eigene Sanitätswaggons — sechs 
an der Zahl — besitzt nur die Kaiser Ferdinands-Nordbahn, welche überhaupt unter den 
österreichischen Eisenbahnen die besten Vorkehrungen für Eisenbahnunfälle hat. — Bei 
grösseren Eisenbahnkatastrophen ist an der Hilfsaction die Wiener Freiwillige Rettungs- 

f esellschaft betheiligt, welche auf Grund besonderer mit den Directionen der österreichischen 
lisenbahnen im Jahre 1883 festgesetzter Normen zur Hilfeleistung herangezogen wird. 

Auf den ungarischen Bahnen sind die Vorschriften bezüglich der Einstellung von 
Sanitätstaschen und Kästen, sowie der offenen und gedeckten Tragbahren analog jenen auf 
den österreichischen Bahnen, jedoch führen auch die Züge im Packwagen eine Sanitäts¬ 
tasche mit. — Das gesammte Verkehrs- und Zugbegleitungspersonale wird in der ersten 
Hilfe ausgebildet und geprüft. Grosse Rettungswagen, mit je 6 Tragbetten und mit Sani¬ 
täts- und Verbandmateriale reichlich ausgestattet, befinden sich in den Hauptstationen 
und an den Knotenpunkten und werden auf Aviso rasch zur Unfallstelle befördert. 

Die Rettungseinrichtungen der Eisenbahnen in Deutschland bestehen in der 
Unterbringung eines kleinen Sanitätskastens im Packwagen eines jeden Zuges und eines 
grossen Sanitätskastens in jeder Eisenbahnstation. — Die Eisenbahnbediensteten erhalten 
durch die Bahnärzte Unterricht in der ersten Hilfeleistung. 

Eingerichtete Krankentransportwagen besitzt nur Bayern, und zwar zehn Stück, 
welche in zehn Haupt-Stationen eingestellt sind und mit dem Rettungstrain an den Un¬ 
glücksort abgehen. 

Alle Vorkehrungen, welche dazu dienen, um Personen aus Wassergefahr 
zu retten subsummiren wir unter der Bezeichnung „Wasserwehr“. 

In den meisten Ländern, welche mehr oder weniger häufig von Hoch¬ 
wasserkatastrophen heimgesucht werden, bestehen Vorschriften, welche die¬ 
jenigen Maassregeln enthalten, die bei drohendem Hochwasser zu ergreifen sind. 

In Wien besteht auf Grund staatlicher Verordnungen vom Jahre 1851 
ein eigenes Centralcomite unter dem Namen „Ueberschwemmungs- 
Commission“, welche aus Vertretern verschiedener Behörden zusammen¬ 
gesetzt ist und bei drohendem Hochwasser einberufen, sowie nothwendigen 
Falles in Permanenz erklärt wird. — Bei dieser Ueberschwemmungs-Com- 
mission laufen alle Meldungen über den Stand des Hochwassers ein, und 
hier werden die entsprechenden Maassnahmen angeordnet. Diese Maass¬ 
nahmen erstrecken sich auf den bautechnischen Schutz der Brücken und 
Dämme, auf die Errichtung von Rettungsstationen, welche mit Rettungs¬ 
booten, Sanitätsmateriale, Labemitteln und Proviant versehen und mit Aerzten, 
Hebammen und geübten Ruderern bemannt werden; ferner auf die Delogi- 
rung von gesunden und Abtransportirung von kranken, bettlägerigen Per¬ 
sonen aus den überschwemmten Wohnungen, und endlich auf die Errichtung 
von Stegen und Ueberfuhren in den überschwemmten Strassen. 

An diesen Actionen ist auch die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft 
mit ihrem Sanitätspersonale und ihrer Wasserwehr, deren Mitglieder den 
verschiedenen Ruderclubs angehören, betheiligt. — Auch besitzt die Wiener 
Freiwillige Rettungsgesellschaft drei Küchenwagen, in welchen für mehrere 
tausend Personen warme Speisen zubereitet werden und den durch Ueber- 
schwemmungen von der Aussenwelt Abgeschlossenen Nahrung und Labung 
leicht und sicher zugeführt werden können. 


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RETTUNGSWESEN. 


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Diese Küchenwagen traten bei der Ueberschwemmung in Prag (1890), 
beim Erdbeben in Laibach (1894) und bei der Ueberschwemmung in Wien 
(1897) erfolgreich in Action. 

Für Unglücksfälle, die sich im gewöhnlichen Leben durch Sturz ins 
Wasser ereignen, sind in Wien an den Brücken communale Rettungsboote 
angebracht, welche fallweise von ira Rudern unterrichteten Sicherheitswach¬ 
männern benützt werden. 

In den meisten deutschen Städten sind an den Brücken auch Rettungsringe und 
Rettungsstangen angebracht. 

Der deutsche Sainariterverein hat Blechtafeln mit der Anweisung zur Wiederbelebung 
Ertrunkener in vielen Tausenden Exemplaren in Deutschland verbreitet, und sind diese 
Tafeln bei den meisten Brücken affichirt. 

In Budapest hat die freiwillige Rettungsgesellschaft im Jahre 1894 auf den 
Schiffahrts-Haltestellen im Gebiete der Stadt Rettungsstationen errichtet, dieselben mit 
Rettungsbooten, Haken und Verbandzeug ausgestattet und das dort beschäftigte Personale 
in der ersten Hilfeleistung bei Ertrinkungsfällen ausgebildet. 

Die Einrichtungen zur Rettung Schiffbrüchiger an den Meeresküsten 
umfasst die schon früher erwähnte „Küstenwehr“. Der Dienst der Küsten¬ 
wehren wird zumeist von Privatgesellschaften versehen, doch finden dieselben 
in den meisten Staaten seitens der Behörden die wohlverdiente Förderung 
und Unterstützung. — Die Küstenwehren unterhalten Rettungsstationen, 
welche mit freiwilliger Rettungsmannschaft bemannt werden. Diese Mann¬ 
schaft wird durch Uebungs- und Rettungsfahrten gut geschult, von der je¬ 
weiligen Gesellschaft gegen Unfall versichert und von Aerzten in der ersten 
Hilfeleistung, insbesondere in der Behandlung von aus dem Wasser geretteten 
Personen unterrichtet. 

Auch werden fixe Geldprämien für gerettete Menschenleben ausgesetzt 
und die Rettungsmannschaft fallweise mit solchen entlohnt. 

Die Rettungsapparate der Küstenwehr-Stationen sind Rettungsboote 
verschiedener Systeme (in England das Peakeboot aus Holz, in Deutschland 
vorzugsweise das Francisboot aus gewelltem Eisenblech), ferner Rettungs¬ 
geschosse (Mörser- oder Rakettenapparate), welche dazu dienen, mittelst 
Leine eine Verbindung zwischen Land oder Boot und dem gestrandeten Schiffe 
herzustellen, dann noch Rettungsringe, Korkbogen und Schwimmanzüge 
und endlich Beleuchtungs-Signalvorrichtungen. 

Bahnbrechend auf dem Gebiete der Küstenwehr war England, wo schon im 
Jahre 1824 einzelne Rettungsstationen errichtet wurden. — Im Jahre 1850 entstand die 
Royal National Lifeboot-Institution, welche nunmehr über 300 Stationen an den englischen 
Küsten unterhält. 

Die Holländer folgten bald nach, ebenso Dänemark, woselbst 55 Stationen, die 
telephonisch mit einander verbunden sind, errichtet wurden. 

In Frankreich besteht seit 1866 die societö centrale de sauvetage de naufrag4s, 
welche an den französischen Küsten 84 Bootstationen und 400 Rakettenstationen besitzt. 

In Deutschland gründete sich im Jahre 1865 die Deutsche Gesellschaft zur 
Rettung Schiffbrüchiger, welche 115 Stationen (70 an der Ostsee und 45 an der 
Nordsee) errichtete. — Der Deutsche Samariterverein liess durch eigene Aerzte Samariter- 
curse für die Rettungsmannschaften abhalten. Eine populäre Schrift, betitelt „Seemann 
in Noth“ mit praktischen Winken zur Rettung Schiffbrüchiger wurde in vielen tausenden 
Exemplaren verbreitet. Die Gesellschaft zahlt Prämien von 20—40 Mark per Kopf der 
Geretteten. Seit Gründung der Gesellschaft wurden 2181 Personen gerettet und über 60.000 
Mark an Prämien ausbezahlt. 

In Oesterreich ist bis in die letzten Jahre zur Errichtung einer Küsten wehr leider 
jaichts geschehen. Im Jahre 1890 wurde namens der Wiener Freiwilligen Rettungsgesell¬ 
schaft durch Baron Mundy der Versuch gemacht, eine Küstenwehr an der Adria zu or- 
ganisiren und wurde diesbezüglich eine Enquete in Triest abgehalten. Im Jahre 1896 
bildete sich in Triest ein Verein zur Rettung Schiffbrüchiger, der erst seit kurzer Zeit in 
Action getreten ist. Es ist zu hoffen, dass derselbe auch in Oesterreich sowohl in der Be¬ 
völkerung, als auch bei den Behörden allgemeine Anerkennung finden und dadurch in die 
Lage kommen wird nach dem bewährten Muster anderer Länder eine segensreiche Thätig- 
keit zu entfalten. 

Was bei Unglücken oder richtiger gesagt Massenkatastrophen in Berg¬ 
werken vorzukehren ist, gehört eigentlich in das Kapitel „Unfallverhütung“. 

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RETTÜNGSWESEN. 


Dass eine genügende Menge von Verband- und Transportmateriale, sowie 
ärztliche Hilfe stets zur Hand sein müssen, ist wohl einleuchtend und selbst¬ 
verständlich. Durch einen in jüngster Zeit von Professor Gärtner und 
Director Walcher construirten „Pneumatophor“, einen Apparat, welcher 
die Athmung in irrespirablen Gasen ermöglicht, wird bei künftigen Schlag¬ 
wetter-Katastrophen gewiss manches Menschenleben gerettet werden können. 

Von der k. k. BerghauptmannSchaft in Wien wurde im Jahre 1897 unter den er¬ 
lassenen Verordnungen, betreffend die Vorkehrungen, welche in Steinkohlengruben für den 
Fall des Eintrittes von Schlagwetter-Explosionen zu treffen sind, die Anwendung von 
Rettungsapparaten vorgeschrieben, welche mindestens eine Stunde gesicherte Benützungs¬ 
dauer in einem mit irrespirablen Gasen erfüllten Raume und eine vollständige Bewegungs¬ 
freiheit gestatten. Als ein diesen Anforderungen entsprechender Apparat wird der erwähnte 
„Pneumatophor“ genannt. Derselbe ist natürlich überall anwendbar, wo man zu 
Rettungszwecken mit irrespirablen Gasen erfüllte Räume betreten muss mit (Leuchtgas, 
Kohlenoxyd, Rauch erfüllte Raume, in Brunnen, Canälen etc.), und sollte dieser Apparat 
zum Rettungsinventar aller Feuerwehren und Rettungsgesellschaften gehören. 

Was die Einrichtungen zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen in Bergen 
betrifft, muss mit Befriedigung hervorgehoben werden, dass die touristischen 
Vereine in letzterer Zeit das Bestreben zeigen, entsprechende Vorkehrungen 
zu treffen. Die zwei grössten Touristenvereine, nämlich der Deutsch-öster¬ 
reichische Alpenverein und der Oesterreichische Touristenclub, lassen den 
Bergführern Samariterunterricht ertheilen und haben in den Schutzhütten 
Rettungskasten und Tragbahren untergebracht. In jüngster Zeit hat sich ein 
Rettungsausschuss gebildet, welcher sich aus Mitgliedern der diversen 
Touristenvereine zusammensetzt und der unter Mitwirkung der Wiener 
Freiwilligen Rettungsgesellschaft die Leitung der genannten Rettungsactionen 
zur Bergung verunglückter Touristen übernommen hat. Der Rettungsausschuss 
verfolgt den höchst gemeinnützigen Zweck, durch Schaffung einer Centrale, 
bei welcher alle Meldungen über Unglücksfälle in den Bergen einlaufen, die 
für den jeweiligen Unglücksfall nothwendigen Dispositionen einheitlich zu 
treffen und, wenn nöthig, eine Hilfsexpedition, bestehend aus Aerzten und ge¬ 
übten Touristen, mit allen nöthigen Rettungsutensilien, Sanitätsmateriale und 
Labemitteln ausgestattet, an den Unfallsort zu entsenden. 

Es wäre wünschenswert, dass solche Rettungsausschüsse sich auch in 
andern Ländern, wo Touristensport gepflegt wird, bilden, und dass auf diese 
Weise auf eine Vervollkommnung und Verallgemeinerung aller zur Rettung 
verunglückter Touristen nothwendigen Einrichtungen hingestrebt werde. 

Das zu Erstrebende sei in wenigen Punkten skizzirt. Popularisirung 
der ersten Hilfeleistung in Touristenkreisen, Einreihung von Sanitätstäschchen 
oder Verbandpatronen zu den nothwendigsten Ausrüstungsgegenständen eines 
jeden Touristen, obligatorischer Samariterunterricht für sämmtliche Berg¬ 
führer mit Uebungen in der Improvisation verschiedener Tragmittel, wobei 
zu beachten wäre, dass kein Führer ohne Zeugnis über eine mit Erfolg ab¬ 
gelegte Prüfung in der ersten Hilfeleistung zum Führerdienste autorisirt 
werden dürfte, und Verpflichtung für jeden Führer, im Rucksacke eine zweck¬ 
entsprechende Sanitätstasche mitzuführen. In jedem Schutzhause wäre ein 
Rettungskasten mit allem nöthigen Sanitätsmateriale, ferner eine Tragbahre 
(am besten Schlittenbahre) und ein Gebirgs-Tragstuhl, dann Fakeln, Laternen, 
Stricke, Wandtafeln über erste Hilfeleistung mit Abbildungen und Improvisa¬ 
tionen etc. unterzubringen. Ein ausgezeichneter Atlas mit Abbildungen über 
erste Hilfeleistung in den Bergen und Improvisationen ist von Dr. Bernhard 
in Samaden erschienen, welcher auch die Rettungseinrichtungen bei Unfällen in 
den Bergen in der Schweiz sehr zweckentsprechend durchgeführt hat. Das 
gesammte Sanitätsmateriale müsste alljährlich wiederholt revidirt werden. 

Es wäre wünschenswert, dass alle diese Rettungsvorkehrungen durch 
die zu bildenden touristischen Rettungsausschüsse einheitlich und obligatorisch 
durchgeführt werden. 


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BETTÜNGSWESEN. 


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Somit wären in kurzen Umrissen so ziemlich alle in Betracht kommenden 
plötzlichen Unglücksfälle und die zur Linderung der durch dieselben verursachten 
Schäden bisher bestehenden und theilweise bestehen sollenden Vorrichtungen 
besprochen. 

Aus Vorstehendem ist ersichtlich, dass das Rettungswesen im Allgemeinen 
in der allerletzten Zeit wohl einen erfreulichen Aufschwung genommen hat, 
dass dasselbe jedoch noch bei weitem nicht auf jener Stufe der Vollkommen¬ 
heit steht, welche einem so hochwichtigen Factor eigentlich zukommen sollte. 

So wie das Feuerlöschwesen in den letzten Jahrzehnten eine solche Ver¬ 
breitung gefunden hat, dass es heutzutage kaum mehr eine Ortschaft gibt, 
welche nicht zumindest ihre freiwillige Feuerwehr besässe, ganz in demselben 
Maasse müsste auch das Rettungswesen Verbreitung finden. Der Feuerwehr 
obliegt die schöne Aufgabe, Hab und Gut aus Gefahr zu retten, und die 
Rettung der Menschen ist gewiss ein ebenso hehrer und edler Zweck. — 
Durch das rasche und zielbewusste Eingreifen einer Feuerwehr bei einem 
Brande tritt jedermann, ohne Unterschied, der volle oder theilweise Erfolg 
klar vor Augen; dies ist beim Retten von Menschen für den Laien allerdings 
nicht immer der Fall, allein nichtsdestoweniger wird durch eine rasche und 
zweckentsprechende erste Hilfe bei Unglücksfällen oft ein Mensch dem Leben 
erhalten, vielen das Leben wiedergegeben, anderen die Krankheitsdauer oder 
der Grad der Invalidität verringert, manche Schmerzen gelindert etc. 

Diese Erkenntnis muss durch entsprechende Belehrung, durch populäre 
Vorträge in die breiten Schichten der Bevölkerung getragen werden, um hier 
den Sinn und das Interesse für die Wichtigkeit des Entstehens zahlreicher 
freiwilliger Samaritervereine zu erwecken. 

Allerdings müssen die Behörden ihre Pflicht thun und die jungen 
Vereine moralisch und materiell nach jeder Richtung hin unterstützen. — 
Sache der Behörden wäre es, im Gesetzeswege diesen Vereinen von den 
Lebens- und Unfall-Versicherungsgesellschaften eine Einnahme zu verschaffen, 
ähnlich wie solche die Feuerwehren von den Feuer-Versicherungsgesell¬ 
schaften beziehen. Die Gemeindevertretungen dürften nicht, wie dies bisher 
zumeist geschieht, solche Vereine zuerst an sich bittlich herantreten lassen 
und denselben dann gnadenweise Summen zuweisen, die zu den Leistungen 
in gar keinem Verhältnisse stehen, sie müssten vielmehr in richtiger Er¬ 
kenntnis der Sachlage, dass diese Vereine Agenden vollziehen, welche eigent¬ 
lich zu den Obliegenheiten der Gemeinden selbst gehören, es endlich einmal 
aufgeben, sich von kleinlichen Rücksichten aller Art leiten zu lassen, und 
müssten alles aufbieten, um durch Zuweisung von geeigneten Localitäten, 
Ueberlassung von Pferdemateriale und durch ausgiebige regelmässig zuzu¬ 
führende Geldmittel den entstehenden Samaritervereinen unter die Arme zu 
greifen. 

Dies gilt als Hauptbedingung bei der Organisirung von Rettungs¬ 
gesellschaften oder Samaritervereinen und zwar für alle Städte und Länder. 

Dm in einem Staate ein geordnetes, den Bedürfnissen der Jetztzeit entsprechendes 
freiwilliges Rettungswesen zu organisiren, müsste daran festgehalten werden, die zu treffen¬ 
den Vorkehrungen den Grössenverhältnissen der Städte oder Ortschaften möglichst anzu¬ 
passen. Es müsste sonach genau präcisirt werden, welche Vorkehrungen Städte mit über 
50 000 Einwohnern, Städte unterhalb dieser Einwohnerzahl und kleine Gemeinden zu treffen 
hätten. 

In sehr grossen Städten müsste unbedingt ein permanenter ärztlicher Tag- und 
Nachtdienst eingeführt sein. Zu diesem Behufs wären an verschiedenen Punkten der Stadt 
in entsprechenden Distanzen Sanitätsstationen zu errichten. Ein Zimmer als Wachzimmer 
für die diensthabenden Aerzte, ein Raum für die subalterne Sanitätsmannschaft, ein Zimmer, 
einige Betten enthaltend und mit allem nöthigen Sanitätsmateriale eingerichtet, ein Raum 
für ein Materialdepot, ein Standplatz für einen bespannten Sanitätswagen, das wäre so 
ziemlich alles, was unbedingt erforderlich ist. 

Selbstverständlich müsste jede Sanitätsstation ein Telephon oder einen Telegraphen 
besitzen, einerseits, um der Bevölkerung die Möglichkeit zu bieten, die Hilfe rasch und be- 


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RETTUNGSWESEN. 


qtiem in Anspruch nehmen zu können, andererseits aber, um eine Verbindung der Sanitata- 
stationen untereinander zu bewerkstelligen, damit diese in die Lage kommen, sich im Be« 
darfsfalle gegenseitig zu ergänzen oder bei Massenunglücken behufs gemeinsamen Ein-» 
schreitens einander raschestens zu verständigen. 

Für Massenunglücke müsste überdies in jeder Stadt ein eigenes Kata¬ 
strophenreglement ausgearbeitet sein, in welchem, den jeweiligen Ortsver¬ 
hältnissen angepasst, alle jene Punkte genau präcisirt sein müssten, mit deren 
Hilfe eine grössere Anzahl von Aerzten, subalternem Sanitätspersonale und 
eine grössere Menge bereit gehaltenen Sanitäts- und Transportsmaterials zu 
einer bestimmten Zeit sofort an irgend eine Unglückstelle dirigirt werden 
können. 

Auch dem Unterrichte in der ersten Hilfe, Verbandlehre, Krankenpflege 
und Krankentransport müsste besondere Sorgfalt zugewendet und dafür Sorge 
getragen werden, dass nicht nur dem Hilfspersonale, sondern auch den breiten 
Schichten der Bevölkerung Gelegenheit geboten werde, in dieser wichtigen 
Disciplin sich das Wissenswerteste anzueignen. Es wird daher gut sein, in 
Orten, wo es die Verhältnisse leicht erlauben, eigene Samariterschulen zu 
diesem Zwecke zu errichten, welche ja einen sehr geringen Kostenaufwand 
erfordern, oder zumindest durch Aerzte wiederholt und regelmässig gemein¬ 
verständliche Vorträge abhalten zu lassen und auf diese Weise in der Be¬ 
völkerung das Interesse für Samariterbestrebungen wach zu erhalten. 

In kleineren Städten wäre es am besten, die Rettungsgesellschaften oder 
Samaritervereine mit den Feuerwehren zu vereinigen, wie dies ja schon in 
vielen Städten, am erfolgreichsten in Graz durchgeführt ist. 

Die Feuerwehrmänner, welche ohnedies Permanenzdienst halten, müssten 
im Rettungsdienste gut geschult werden; ein Zimmer für ein bis zwei Betten 
UDd zur Unterbringung des Sanitätsmateriales wird sich überall leicht adaptiren 
lassen, während die Sanitätswagen, Tragbahren etc. im Feuerwehrdepot remisirt 
werden könnten. 

Die Requisition der Bespannung könnte ganz auf dieselbe Weise erfolgen, 
wie dies beim Ausbruche von Bränden der Fall ist. Aerzte, welche die 
Schulung der Mannschaften übernehmen und sich bereit erklären, die Sanitäts¬ 
wache öfter zu inspiciren und einer fallweisen Berufung durch dieselbe Folge 
zu leisten, werden sich wohl in genügender Anzahl finden und eine tele¬ 
graphische oder telephonische Verbindung zwischen Wachlocale und den 
Wohnungen von Aerzten erfordert gewiss keine unerschwinglichen Kosten. 

Auf dem flachen Lande müsste zumindest darauf gesehen werden, dass 
jedes, selbst das kleinste Dorf, ohne Unterschied, mindestens einen Sanitäts¬ 
kasten und eine Tragbahre besitze, welche Utensilien beim jeweiligen Orts¬ 
vorsteher deponirt und vom Districtsarzte in regelmässigen Zeitintervallen 
inspicirt werden müssten. Mehrere Ortschaften zusammen müssten aber auch 
einen Sanitätswagen für gewöhnliche Kranke oder Verletzte und einen Wagen 
zum Transporte von mit Infectionskrankheiten behafteten Personen zu Gebote 
haben, welche Wägen in demjenigen Orte zu remisiren wären, in welchem 
der Districtsarzt seinen Sitz hat oder wo sich ein Krankenhaus befindet. 

Wenn in grossen Städten Vereine entstehen, welche das Samariterthum 
auf ihre Fahne schreiben, dann werden sich nicht nur Aerzte und Freiwillige 
genug finden, welche sich opferwillig der guten Sache widmen, sondern es 
wird auch der wohlhabende Theil der Bevölkerung durch Zuwendung von 
Unterstützungen gewiss dazu beitragen, dass dieselben in die Lage kommen, 
die nöthigen Behelfe anzuschaffen und in Stand zu halten, um ihren frei¬ 
willig übernommenen Verpflichtungen nachkommen zu können. Schwieriger 
wird sich dies auf dem flachen Lande gestalten, wo es an Wohlhabenden 
mangelt, allein hier könnten, wie schon erwähnt, die Rothen-Kreuz-Vereine 
und alle anderen Vereinigungen, welche für den Fall eines Krieges organisirt 


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SANITlTSWESEN. 


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sind, eine Friedensthätigkeit entfalten, welche nicht nur für die Landbevöl¬ 
kerung, sondern auch für die betreffenden Gesellschaften selbst-von den segens¬ 
reichsten Folgen begleitet wäre. 

Hoffen wir, es sei die Zeit nicht mehr so ferne, wo in sämmtlichen 
Culturstaaten, sei es auf Grund der vorstehend kurz skizzirten Basis, sei es 
auf anderer Grundlage ein vollkommen entsprechendes Bettungswesen orga- 
nisirt sein wird, wo es sich nicht mehr wird ereignen können, dass Menschen, 
sei es in Städten, sei es auf dem flachen Lande, mangels der nöthigen Hilfe 
bei Unglücksfällen zu Grunde gehen oder Schaden erleiden, wo es nirgends 
mehr an Behelfen, welche dazu dienen, Menschen in Gefahr und Noth beizu¬ 
stehen, mangeln wird, dann wird man mit Verwunderung auf unser „vor¬ 
geschrittenes“ Zeitalter zurückblicken und sich vergeblich bemühen, den Grund 
ausfindig zu machen, wieso es komme, dass zu einer Zeit, wo schon die Erkennt¬ 
nis, dass der Mensch das „kostbarste Capital des Staates“ sei, vor¬ 
handen war, für alles andere viel eher Sinn und Interesse erweckt werden 
konnte als für dieses „kostbarste Capital“ selbst, und man wird für die 
Engherzigkeit und Kleinlichkeit der heutigen Zeit, welche stets noch hervor¬ 
tritt, wenn es sich um das Retten von Menschen handelt, kaum eine Erklärung 
finden. chabas. 

Sanitätswesen. Obgleich die geistige und körperliche Gesundheit, 
die mens sana in corpore sano, schon von den alten Römern und Griechen 
als das höchste irdische Gut, die Krankheit als das grösste Uebel betrachtet 
wurde, ebenso das allgemeine Staatswohl, die salus publica, welches von der 
Gesundheit, Arbeits- und Wehrfähigkeit der Staatsbürger abhängt, als oberstes 
Gesetz, suprema lex, galt, finden wir doch in den neuen europäischen Staats¬ 
gebilden, namentlich in den deutschen und österreichischen Staaten, erst 
während des 17. Jahrhunderts ein auf gesetzlicher Grundlage beruhendes 
Sanitätswesen, welches sich nur langsam und oft mit langen Unterbrechungen 
auf Grundlage der neuen naturwissenschaftlichen Heilkunde zur jetzt be¬ 
stehenden deutschen und österreichischen staatlichen Sanitätsverfassung fort¬ 
gebildet hat. 

Nach Artikel 4 und 15 des deutschen Reichs-Verfassungsgesetzes vom 
16. April 1871 soll das Sanitätswesen, beziehungsweise alle Maassregeln 
der Medicinal- und Sanitätspolizei der Beaufsichtigung und Gesetz¬ 
gebung des Reiches unterliegen und sind die Landesbehörden nur befugt, 
auf dem genannten Gebiete Verordnungen beizubehalten und zu erlassen, so 
lange und so weit das Reich von der ihm durch die Reichsverfassung gewähr¬ 
ten Befugnis keinen Gebrauch gemacht hat. 

Das Reichs-Sanitätswesen ressortirt vom Reichsamt des Innern, in welchem 
ein Staatssecretär, Unterstaatssecretär, Director, 12 Vortragende Räthe, 8 Hilfs¬ 
arbeiter fungiren, aber nicht ein ärztlicher Referent. Als lediglich be- 
rathende, keinerlei Verwaltungsgeschäfte erledigende Behörde beim Reichs¬ 
kanzler, beziehungsweise Reichsamt des Innern fungirt das deutsche 
Reichsgesundheitsamt unter einem nicht ärztlichen Director, 7 ordent¬ 
lichen und circa 32 ausserordentlichen Mitgliedern, mit directorialer Ver¬ 
fassung. Die ausserordentlichen Mitglieder, welche vorwiegend nicht am 
Sitze des Reichsgesundheitsamtes wohnen, werden nur auf drei Jahre ernannt 
und vom Director zu vertraulichen Besprechungen herangezogen. Von den 
vier grösseren Militärverwaltungen des deutschen Reiches werden geeignete 
Sanitätsofficiere auf ein bis zwei Jahre zum Dienst im Reichsgesundheitsamt 
commandirt, und besteht ausserdem in Verbindung mit dem Gesundheitsamt 
eine aus 14 Mitgliedern gebildete Commission für Bearbeitung des deutschen 
Arzneibuches. 


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SANITÄTSWESEN. 


Die deutsche Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 und 1. Juli 1883 findet auf die 
Ausübung der Heilkunde nur insoweit Anwendung, als dieselbe ausdrückliche Bestimmungen 
darüber enthält (§ 6); diese Bestimmungen sind enthalten in §§ 29, 30, 53, 56, 80, 144, 
147, durch welche die Ausübung der Heilkunde frei gegeben, die öffentliche Bezeichnung 
als Arzt etc. aber von einer Approbation abhängig gemacht wird. Dagegen sind alle Strafen 
aufgehoben, welche früher den Arzt zur Hilfeleistung zwangen, und die Bezahlung der 
Aerzte einer Vereinbarung der Betheiligten überlassen, in Ermangelung einer Vereinbarung 
landesgesetzliche Taxen zuselassen. Der für die deutschen Aerzte wichtigste § 29 heisst 
im Wortlaut: „Einer Approoation, welche auf Grund eines Nachweises der Befähigung er- 
theilt wird, bedürfen Apotheker und diejenigen Personen, welche sich als Aerzte 
(Wundärzte, Augenärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte und Thierärzte) oder mit gleichbedeutenden 
Titeln bezeichnen oder seitens des Staates oder einer Gemeinde als solche anerkannt oder mit 
amtlichen Functionen betraut werden sollen. Es darf jedoch die Approbation von der vor¬ 
herigen Doctor-Promotion nicht abhängig gemacht werden. Der Bundesrath bezeichnet 
mit Rücksicht auf das vorhandene Bedürfnis in verschiedenen Theilen des Reiches die 
Behörden, welche für das ganze Reich gütige Approbationen zu ertheilen befugt sind, und 
erlässt die Vorschriften über den Nachweis der Befähigung. Die Namen der Approbirten 
werden von der Behörde, welche die Approbation ertheilt, in den vom Bundesrath zu be¬ 
stimmenden amtlichen Blättern veröffentlicht. Personen, welche eine solche Approbation 
erlangt haben, sind innerhalb des Reiches in der Wahl des Ortes, wo sie ihr Gewerbe betreiben 
wollen, nicht beschränkt. Dem Bundesrath bleibt Vorbehalten, zu bestimmen, unter welchen 
Voraussetzungen Personen wegen wissenschaftlich erprobter Leistungen von der vorge¬ 
schriebenen Prüfung ausnahmsweise zu entbinden sind. Personen, welche vor Verkündigung 
dieses Gesetzes die Berechtigung zum Gewerbebetriebe als Aerzte u. s. w. bereits erlangt 
haben, gelten als für das ganze Reich approbirt.“ 

Die Vorschriften für die ärztliche Vorprüfung, welche nur nach Vor¬ 
lage eines Zeugnisses der Reife von einem deutschen humanistischen Gym¬ 
nasium und des Nachweises eines medicinischen Studiums von mindestens 
vier Halbjahren abgelegt werden kann, sowie für die ärztliche Approbations¬ 
prüfung sind enthalten in den betreffenden Bekanntmachungen des Bundes- 
rathes vom 2. Juni 1883. Zur Ertheilung der Approbation an diejenigen, 
welche die vorgeschriebene ärztliche Prüfung vollständig bestanden haben, 
sind befugt 1. die Centralbehörde derjenigen Bundesstaaten, welche eine oder 
mehrere Landesuniversitäten haben, mithin zurZeit: die zuständigen Ministerien 
der Königreiche Preussen, Baiern, Sachsen, Würtemberg, des Grossherzogthums 
Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin und in Gemeinschaft die Ministerien des 
Grossherzogthums Sachsen und der sächsischen Herzogthümer; 2. .das Ministe¬ 
rium für Elsass-Lothringen. Die Prüfung umfasst folgende Abschnitte: 1. die 
anatomische Prüfung, 2. die physiologische Prüfung, 3. die Prüfungen der pa¬ 
thologischen Anatomie und der allgemeinen Pathologie, 4. die chirurgisch- 
ophthalmiatrische Prüfung, 5. die medicinische Prüfung, 6. die geburtshilflich¬ 
gynäkologische Prüfung, 7. Prüfung in der Hygiene. 

Ueber den Ausfall der Prüfung wird eine besondere Censur ertheilt 
unter ausschliesslicher Anwendung der Prädicate: sehr gut, gut, genügend, 
ungenügend, schlecht. Ein Entwurf, betreffend Revision der medicinischen 
Prüfungen, hat zur Begutachtung bereits den Aerztekammern Vorgelegen. 
Hiernach soll das Universitätsstudium auf zehn Semester verlängert, die 
Psychiatrie als obligatorisches Prüfungsfach hinzugefügt und ein praktisches 
Jahr zum Dienst in einer Universitätsklinik oder geeignetem grossen Kranken¬ 
hause absolvirt werden. 

Für die Approbation als Zahnarzt sind besonder^ Prüfungsvorschriften 
erlassen durch Bekanntmachung des Bundesrathes vom 5. Juli 1889. Die 
Zulassung zur Prüfung ist bedingt durch den Nachweis 1. der Reife für die 
Prima eines deutschen Gymnasiums oder Realgymnasiums, 2. mindestens ein¬ 
jähriger praktischer Thätigkeit bei einer zahnärztlichen höheren Lehranstalt 
oder einem approbirten Zahnarzte, 3. eines zahnärztlichen Studiums von 
mindestens vier Halbjahren auf Universitäten des deutschen Reiches. 

Formular für die Approbation: 

Nachdem Herr . . . aus ... am ... 18 . . die Prüfung vor der ärztlichen 
(zahnärtzlichen) Prüfungscommission zu * * * mit dem Prädicat . . . bestanden bat. 


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SANITÄTSWESEN. 


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wird ihm hierdurch die Approbation als Arzt (Zahnarzt) mit der Geltung vom bezeichneten 
Tage ab für das Gebiet des deutschen Reiches gemäss § 29 der Gewerbeordnung vom 
21. Juni 1869 ertheilt. 8 

Andere Approbationen wie für Aerzte und Zahnärzte werden für das 
Gebiet des deutschen Reiches nicht mehr ertheilt. Vor Erlass der deutschen 
Gewerbeordnung von 1869 wurden die Approbationen für Aerzte in Preussen 
nach folgendem Formular ausgestellt, aus welchem am besten die durch die 
Gewerbeordnung vollständig veränderte Stellung der deutschen Aerzte erhellt, 
die auch in den übrigen deutschen Staaten auf die Erfüllung besonderer 
Pflichten vereidigt wurden und unter Disciplinargewalt der hohem Verwaltungs¬ 
behörde standen: 

Approbation für den Doctor der Medicin als praktischen Arzt in den Königlichen Landen. 

Da der Dr. med. . . . welcher entschlossen ist, als ausübender Arzt in den König¬ 
lichen Landen sich niederznlassen, in den für praktische Aerzte vorgeschriebenen Staats¬ 
prüfungen .... Kenntnisse bewiesen hat, so wird derselbe als ansübender Arzt in den König¬ 
lichen Landen also approbirt, dass er seinem noch zn leistenden Eide gemäss den 
Königlichen pnblicirten Medicinal-Verordnungen and Instructionen ge- 
horsamst nachlebe and von der Wahl seines Niederlassungsortes, wie ancb von der 
jedesmaligen Veränderung desselben den dabei interessirten Physikern gehörig Anzeige 
mache. 

ln einzelnen deutschen Kleinstaaten waren alle Aerzte mit Gehalt an- 
gestellte Beamte gegen unentgeltliche Behandlung Unbemittelter und Aus¬ 
führung sanitätspolizeilicher und gerichtlich-medicinischer Geschäfte. Für 
bemittelte Kranke waren sehr niedrige Taxen festgestellt. 

Die vollständige und unvorbereitete Trennung des deutschen Aerztestan- 
des von der Staatsverwaltung, sowie die Freigabe der Heilkunde an eine gewerbe¬ 
treibende, mit allen Hilfsmitteln einer betrügerischen Reclame arbeitende Kur¬ 
pfuscherei musste sehr nachtheilig auf das allgemeine Gesundheitswesen, na¬ 
mentlich bei Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, wie auf das ethische 
Verhalten des deutschen ärztlichen Berufsstandes einwirken, welchem nicht, 
wie in England, gesetzlich organisirte und anerkannte ärztliche Corporationen 
mit Standesordnung und Disciplinargewalt zur Verfügung standen. — Die 
grossen Missstände, welche durch die Freigabe der Heilkunde auf dem Gebiete 
der öffentlichen Gesundheitspflege und der Krankenbehandlung entstanden, 
sind eingehend in der Section für Staatshygiene des letzten internationalen 
hygienischen Congresses in Budapest (über die dort gestellte Frage: „Soll die 
ärztliche Praxis frei oder an eine Qualification geknüpft sein?“) unter Vorlage 
zuverlässiger amtlicher Berichte nachgewiesen worden, und ein vom Mini- 
sterialrath Dr. v. Kusy in Uebereinstimmung mit dem Referenten gestellter 
Antrag, dass die berufsmässige Ausübung der Heilkunde vom Nachweis einer 
technischen und sittlichen Qualification abhängig zu machen sei, wurde 
einstimmig angenommen. (D. Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege 1894, Heft 4.) 

Inzwischen sind fast in allen deutschen Staaten durch die zuständigen 
Landesregierungen in verschiedener Art ärztliche Standes vertretungen 
theilweise mit Ehrengerichten und disciplinaren Befugnissen eingeführt 
worden, am spätesten in Preussen durch Allerhöchste Verordnung vom 25. Mai 
1887, betreffs Einrichtung einer ärztlichen Standesvertretung. — In dem be¬ 
treffenden Ministerialerlass an sämmtliche Königliche Ober-Präsidenten heisst 
es wörtlich: Es ist bekannt, dass in den Kreisen der Aerzte sich seit Jahren 
das Bestreben geltend macht, zu einer staatlich anerkannten Stan¬ 
desvertretung zu gelangen. Maassgebend für diese Wünsche ist einer¬ 
seits die Erkenntnis, dass es dem ärztlichen Stande nicht überall möglich ge¬ 
wesen ist, im Wege der freien Vereinsbildung den Gefahren zu begegnen, 
welche die Hervorkehrung der gewerblichen Seite des Berufes für das 
Ansehen und die Ehre des ärztlichen Standes mit sich führen. Sodann aber 
wird es bei der wachsenden Bedeutung, welche die öffentliche Gesundheits- 


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SANITÄTSWESEN. 


pflege gewinnt, mehr nnd mehr als ein Mangel empfanden, dass es an einer 
Organisation fehlt, mittels deren die reichen Erfahrungen der nicht beamteten 
Aerzte für die staatlichen Aufgaben auf dem Gebiete der öffentlichen Ge¬ 
sundheitspflege unmittelbar nutzbar gemacht werden könnten. Die günstigen 
Erfahrungen, welche mit der Einführung einer ärztlichen Standesvertretung 
in anderen deutschen Staaten (Sachsen, Baiern, Würtemberg, Baden) gemacht 
worden sind, sprechen dafür, auch in Preussen eine ähnliche Organisation ins 
Leben zu rufen. Zu diesem Zwecke ist eine Allerhöchste Verordnung er¬ 
gangen, welche in der Gesetzsammlung veröffentlicht werden wird. Nach der¬ 
selben ist für jede Provinz eine aus der freien Wahl der Aerzte hervor¬ 
gehende, aus mindestens zwölf Mitgliedern bestehende Aerztekammer zu 
bilden, deren Aufgabe es sein wird, alle Fragen und Angelegenheiten zu er¬ 
örtern, welche den ärztlichen Beruf oder das Interesse der öffentlichen 
Gesundheitspflege betreffen oder auf die Vertretung der ärztlichen 
Standesinteressen gerichtet sind. Diese Aerztekammern, denen die Befugnis bei¬ 
gelegt ist, innerhalb ihres Geschäftskreises Anträge an die Staatsbehörden zu 
richten, sind derartig an die staatlichen Behörden angeschlossen, dass sie 
Vertreter wählen, welche als ausserordentliche Mitglieder mit berathender 
Stimme an wichtigen Sitzungen der Provinzial-Medicinal-Collegien und der 
wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen theilnehmen. Discipli- 
nare Befugnisse über die Aerzte ihres Bezirkes sind den Aerztekammern 
nicht beigelegt worden. Es ist nur der Gefahr, dass unwürdige Mitglieder 
des ärztlichen Standes an der neuen Organisation Antheil erhielten, dadurch 
vorgebeugt worden, dass dem Vorstande der Aerztekammer das Recht bei¬ 
gelegt ist, derartigen Aerzten, so weit sie nicht einer staatlichen Behörde 
unterstellt sind, das Wahlrecht und die Wählbarkeit dauernd oder auf Zeit 
zu entziehen. Der betreffende § 5 des Kammergesetzes heisst wörtlich: 

Aerzten, welche die Pflichten ihres Berufes in erheblicher Weise oder wiederholt 
verletzt oder sich dnrch ihr Verhalten der Achtung, welche ihr Beruf erfordert, unwürdig 
gezeigt haben, ist durch Beschluss des Vorstandes der Aerztekammer das Wahlrecht una 
die Wählbarkeit dauernd oder auf Zeit zu entziehen. 

Ein aus den Vorsitzenden der Aerztekammern-Vorstände gebildeter 
Aerztekammer-Ausschuss hat unterm 13. April 1894 dem Herrn 
Minister Vorschläge zur Stellung innerhalb der Organisation gemacht, infolge 
eines betreffenden Ministerialerlasses von 27. November 1893. 

Am weitesten vorgerückt in einer zweckentsprechenden Organisation 
der ärztlichen Standesvertretung mit gesetzlicher Standesordnung und Ehren¬ 
gerichten ist die Landes-Gesetzgebung des Königreiches Sachsen. Durch Gesetz 
von 23. März 1896 wurden dort auf Antrag der ärztlichen Bezirksvereine staat¬ 
liche Ehrengerichte für Aerzte eingesetzt, welchen alle approbirten 
Aerzte mit Ausnahme der bereits einer staatlich geordneten Disciplinarbehörde 
unterstehenden Aerzte und Sanitätsofficiere des Friedensstandes unterworfen 
sind. Ebenso wurde eine ärztliche Standesordnung vorgesehen, welche 
eine Zusammenstellung derjenigen Pflichten enthalten soll, die den Aerzten 
in Ausübung ihres Berufes, sowie zur Wahrung der Ehre und des Ansehens 
ihres Standes auch ausserhalb ihrer Berufsthätigkeit obliegen. Das 
ganze Gesetz ist veröffentlicht im Gesetz- und Verordnungsblatt für das König¬ 
reich Sachsen, 6. Stück 1896 Nr. 39. 

Da die für Preussen erlassene Allerhöchste Verordnung vom 25. Mai 
1887, namentlich der § 5 1. c., sich als unzureichend gezeigt hat, ist schon im 
vorigen Jahre den Aerztekammern vom Herrn Ressortminister der Entwurf 
eines Gesetzes, betreffend die ärztlichen Ehrengerichte, das Umlagerecht und 
die Kassen der Aerztekammer vorgelegt worden, über welchen die Verhand¬ 
lungen zwischen dem Herrn Minister und den Aerztekammern noch nicht zum 
Abschluss gelangt sind. 


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SANITÄTSWESEN. 


667 


Soweit das Sanitätswesen nicht durch die Reichsgesetzgebung geregelt 
ist, ressortirt dasselbe von den zuständigen Centralinstanzen der einzelnen 
deutschen Bundesstaaten, in Preussen nach Allerhöchster Ordre v. 22. Juni 1849 
vom Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten. Das 
Militär-Sanitätswesen wird von einer Medicinalabtheilung des Kriegsministeriums 
geleitet, an deren Spitze ein Generalarzt, in Preussen ein Generalstabsarzt 
steht. — Die Medicinalabtheilung im Cultusministerium besteht aus einem 
nicht ärztlichen Director und vier Vortragenden Räthen, von welchen drei 
Medicinalbeamte sind. Eine gewisse Verbindung des Civil- und Militär-Sani¬ 
tätswesens wird dadurch herbeizuführen gesucht, dass der Chef des letzteren 
auch an den Sitzungen der Medicinalabtheilung im Cultusministerium sich 
Ijetheiligt. Der Geschäftskreis der letzteren umfasst 1. die oberste Leitung 
der gesammten Medicinal- und Sanitätspolizei, 2. die Aufsicht über die 
Qualification des Medicinalpersonals, die Verwendung desselben im Staatsdienst 
und Handhabung der Disciplinargewalt, 3. die Oberaufsicht Uber alle öffent¬ 
lichen und Privat-Krankenanstalten. Unmittelbar unter dem Minister der Me¬ 
dicinalangelegenheiten stehen in Preussen folgende Behörden: 1. die wissen¬ 
schaftliche Deputation für das Medicinalwesen in Berlin, als lediglich berathende 
Behörde, für welche unterm 9. October 1888 eine neue Geschäftsanweisung 
erlassen ist. Die Deputation besteht aus einem nicht ärztlichen Director 
und einer Anzahl ordentlicher und ausserordentlicher Mitglieder; 2. die 
technische Commission für pharmaceutische Angelegenheiten, welche aus prak¬ 
tischen Apothekern besteht, und unter Vorsitz eines technischen Ministerial- 
rathes Gutachten in pharmaceutischen Angelegenheiten abgibt. 

Bei dem Polizeipräsidium in Berlin und den Bezirksregierungen der 
Provinzen sind Regierungs-Medicinalräthe angestellt, welche aus der Reihe 
der bestbewährten Physiker vom Könige mit dem Range der Regierungsräthe 
ernannt werden und nach § 47 der Instruction für die Geschäftsführung alle 
in die Medicinal- und Gesundheitspolizei einschlagenden Sachen bearbeiten 
sollen und in dieser Beziehung alle Rechte, Pflichten und Verantwortlich¬ 
keiten der übrigen Departementsräthe haben. 

Die Regierungs-Medicinalräthe beziehen ein pensionsberechtigtes Gehalt 
von 4200 steigend bis auf 7200 Mark, welches letztere nach ungefähr 15 
Jahren erreicht wird, und ausserdem Wohnungsgeldzuschuss. Sie dürfen die 
ärztliche Praxis nur insoweit betreiben, als ihre Amtsgeschäfte nicht darunter 
leiden. Da die Regierungs-Medicinalräthe vorzugsweise die Apotheken, Dro- 
guerien und Krankenanstalten zu revidiren haben, sind sie zu häufigen Reisen 
genöthigt und an der Uebernahme ärztlicher Praxis oder sonstiger Neben¬ 
ämter namentlich in grösseren Verwaltungsbezirken verhindert. Jeder Re¬ 
gierungs- Medicinalrath hat aus den Berichten der Kreisphysiker in dreijährigem 
Turnus und nach vorgeschriebenem Schema einen General-Sanitätsbericht zu 
verfassen, der in der Regel mit Genehmigung des Ressortministers ver¬ 
öffentlicht wird. 

Am Wohnsitze der Oberpräsidenten fungiren für jede Provinz als rein 
wissenschaftliche, keinerlei Verwaltungsgeschäfte ausübende Behörden die 
Provincial-Medicinalcollegien, die unter dem Vorsitz des Oberpräsidenten aus 
dem Regierungs-Medicinalrath, einem Medicinalrath, einem in der Chirurgie 
und einem in der Entbindungskunst besonders erfahrenen Arzte, sowie einem 
geeigneten Thierarzte bestehen sollen. — Die Medicinalcollegien haben auf 
Anforderung der Gerichte Obergutachten abzugeben, sowie die von den Kreis- 
Medicinalbeamten verfassten, durch die Hand des Regierungspräsidenten ge¬ 
henden Obductionsberichte und Gutachten im Entmündigungsverfahren zu 
prüfen. 

In jedem landräthlichen Kreise ist zur Ausführung sanitätspolizeilicher 
und gerichtlich-medicinischer Geschäfte ein Kreisphysikus angestellt, welcher 


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SANITÄTSWESEN. 


aus der Zahl der sich bewerbenden promovirten und approbirten, mit dem 
Fähigkeitszeugnis zur Verwaltung einer Physikatsstelle versehenen Aerzte 
vom Minister der Medicinalangelegenheiten ernannt wird und nur der Regierung, 
nicht aber dem Landrath subordinirt, den Requisitionen des letzteren aber nach¬ 
zukommen hat. Für die Physikatsprüfung ist unterm 4. März 1880 ein besonderes 
Reglement erlassen. Die Kreisphysiker sind zwar unmittelbare vereidigte 
Staatsbeamte, beziehen aber nur ein nicht pensionsberechtigtes etatmässiges 
Gehalt von 900 Mark und sind deshalb auf Erwerb durch Privatpraxis und 
Nebenämter angewiesen. Eine allgemeine Dienstinstruction für die Kreisphy¬ 
siker ist von dem Herrn Ressortminister noch nicht erlassen; dieselben haben 
aber gemäss besonderer Ministerialerlasse allen an sie ergehenden, sanitäts¬ 
polizeilichen und gerichtlichen Requisitionen mit möglichster Beschleunigung 
zu entsprechen behufs Ausführung gerichtlicher Besichtigungen, Obductionen, 
Abwartung gerichtlicher Termine, Feststellung von Krankheits- und Todes¬ 
ursachen beim Auftreten ansteckender Krankheiten, sanitätspolizeilicher Be¬ 
gutachtung von Wohnräumen, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden, 
Beerdigungsplätzen, Brunnen, bei Untersuchung des Trinkwassers und sonstiger 
Lebens- und Genussmittel. Die Kreisphysiker haben ferner sämmtliche Apo¬ 
theken, Irren- und Entbindungsanstalten, Droguen- und Giftwaarenhandlungen 
ihres Kreises zu beaufsichtigen, die Hebammen nachzuprüfen, alle Contraven- 
tionen gegen die geltenden Medicinalgesetze den zuständigen Staats- und Amts¬ 
anwälten anzuzeigen, den Gesundheitszustand der Staatsbeamten auf Requisition 
von Staatsbehörden im Interesse des Dienstes unentgeltlich zu untersuchen 
und auch die in häuslichen Verhältnissen verpflegten Geisteskranken zu über¬ 
wachen. Endlich haben sie monatlich summarische und dreijährig specificirte 
Nachweisungen über das Medicinalpersonal, die Medicinalanstalten einzureichen 
und schliesslich nach vorgeschriebenem Schema einen eingehenden jährlichen 
Sanitätsbericht, sowie auf Revision sämmtlicher Impflisten und technischer 
Beaufsichtigung der öffentlichen Impfungen beruhenden Impfbericht zu er¬ 
statten. 

Die hauptsächlich für gehörige Ausführung der gerichtlichen Obductionen, 
für welche zwei Aerzte vorgeschrieben sind, vom Ressortminister früher an- 
gestellten Kreiswundärzte wurden während der letzten Jahre nicht mehr an¬ 
gestellt, und sollen nach einem im vorigen Jahre vom Herrn Minister zur Be- 
rathung gestellten, die Umbildung der preussischen Sanitätsbehörden betreffenden 
Gesetzentwurf die noch gebliebenen etatmässigen Kreiswundarztstellen nach 
Abgang der jetzigen Stelleninhaber nicht mehr besetzt werden. 

Der Betrieb des für das Sanitätswesen wichtigen und einflussreichen 
Apothekergewerbes ist für Preussen geregelt durch ein Specialgesetz, 
die Apothekerordnung vom 11. October 1801, welche im Laufe der Zeit 
durch besondere Ministerialerlasse declarirt wurde, zuletzt durch Erlass vom 
16. December 1893. Zum Betriebe einer Apotheke ist erforderlich eine nach 
Ablegung vorgeschriebener Studien und Prüfungen zu erlangende staatliche 
Approbation und eine vom Oberpräsidenten der Provinz, in welcher die Apo¬ 
theke betrieben werden soll, ausgestellte Concession, falls für die zu betrei¬ 
bende Apotheke nicht ein Realprivilegium verliehen worden ist. Die Apo¬ 
thekenbesitzer und Verwalter (Provisoren) werden auf gewissenhafte Erfüllung 
ihrer Berufspflichten, sowie Beachtung der gesetzlichen Vorschriften vereidigt. 
Da die concessionirten Apotheken an approbirte Ankäufer verkauft werden 
können, finden die Verkäufe vielfach zu unverhältnismässig hohen Preisen 
statt, wodurch der Zweck der staatlichen Concessionirung, die Apotheker 
in guter wirtschaftlicher Lage und zum Ankauf der besten Arzneiwaaren 
geneigt zu erhalten, vereitelt wird. Auch hat der ordnungsraässige Betrieb 
der Apotheken durch die Freigabe der Heilkunde, den Geheimraittelvertrieb 
und die in den Detaildroguerien betriebene Kurpfuscherei, die sogenannten 


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SANITÄTSWESEN. 


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„wilden Apotheken“, sehr gelitten. So wird in einer an den Oberpräsidenten 
der Provinz Hannover gerichteten Denkschrift der Kreisvorsteher des 
deutschen Apothekervereines (Nr. 22 der Apothekerzeitnng 1894) nament¬ 
lich hervorgehoben der mit Kurpfuscherei verbundene Arzneikleinhandel 
in Stadt und Land, welcher den vorschriftsmässigen Betrieb der concessionirten 
Apotheken unmöglich mache und schliesslich den vollständigen Ruin der 
Apotheken zur Folge haben müsse. (Näheres über den Apothekenbetrieb 
siehe unter „Apothekenwesen und Arzneimittelverkehr“, S. 24.) 

Das für das Gesundheitswohl der verheiratheten Frauen und neugebore¬ 
nen Kinder so einflussreiche Hebammenwesen ist für Preussen geregelt 
durch § 30 der Gewerbeordnung, nach welchem Hebammen eines Prüfungs¬ 
zeugnisses der nach den Landesgesetzen zuständigen Behörde bedürfen und 
durch eine das Hebammen wesen betreffende allgemeine Verfügung des Ministers 
der Medicinalangelegenheiten vom 6. August 1883. Hiernach werden in die 
inländischen Hebammenlehranstalten nicht nur solche Personen als Schülerinnen 
aufgenommen, welche, wie früher, von den Gemeinden, Ortsarmenverbänden oder 
Hebammenbezirken vorgeschlagen und auf deren Kosten ausgebildet werden, um 
später eine mit einer fixirten Besoldung verbundene Stelle als Bezirkshebamme 
zu übernehmen, sondern es lassen sich auch viele Personen in der Hoffnung 
auf einen späteren einträglichen Gewerbebetrieb auf eigene Kosten in inlän¬ 
dischen und ausländischen Lehranstalten ausbilden und von den inländischen 
Prüfungscommissionen prüfen, um sich dann als sogenannte frei prakti- 
cirende Hebammen in Orten niederzulassen, wo kein Bedürfnis vorhanden 
ist. Die durch ungenügende Ausbildung und Beschäftigung, sowie wirtschaft¬ 
lichen Nothstand der Hebammen bei Ausübung der heutigen häuslichen Ge¬ 
burtshilfe eingetretenen Missstände sind durch ein Referat des Dr. Brenecke 
über Errichtung von Heimstätten für Wöchnerinnen eingehend dargelegt worden 
(D. Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheitspflege Bd. XXIX. Heft 1). 
Zur Beseitigung der genannten Missstände und Mängel habe ich mir erlaubt, 
in einer betreffenden Abhandlung: „Anforderungen der Hygiene an den häus¬ 
lichen Betrieb der Geburtshilfe“ nachstehende Maassregeln als die zweckmässig- 
sten zu bezeichnen: 

1. Verlängerte Lehrzeit für Gehartshelfer and Hebammen zar möglichst gründlichen 
Erlernung der geburtshilflichen Technik. 

2. Zar geeigneten Pflege der 'Wöchnerinnen and Neugeborenen Ausbildung beson¬ 
derer Wärterinnen, welche auch für die Zeit, während welcher die Wöchnerin bettlägerig 
and erwerbsunfähig ist, die nothwendigen Hauehaltungsgeschäfte zu versehen hätten. Das 
genannte Wartepersonal würde an die Frauen vereine zar Pflege armer Wöchnerinnen 
passenden Anschluss finden. 

3. An Stelle der betreffenden Bestimmungen der Gewerbeordnung: Erlass eines die 
Ausübung der gesammten Heilkunde, einschliesslich der Geburtshilfe, umfassenden Gesetzes, 
durch 1 ,welches die Rechte und Pflichten des geburtshilflichen Personals, sowie ein geordnetes, 
zweckentsprechendes Zusammenwirken der Aerzte und Hebammen vorznschreiben wäre. 

4. Erlass gesetzlicher Vorschriften, die sich nicht nur auf die Herstellung gesunder 
Familienwohnungen, sondern auch auf deren gesundheitsgemässe Benützung zu beziehen 
und der gesundheitsschädlichen Ueberfüllung vorzubeugen hätten. 

5. Verbesserte, von der ärztlichen Privatpraxis unabhängige Stellung der für die 
Beaufsichtigung und Prüfung der Hebammen zuständigen Medicinalbeamten. 

6. In den statistischen Sterblichkeitstabellen Trennung der Todesfälle an infectiösem 
Kindbettfieber von den Todesfällen infolge geburtshilflicher Operationen oder anderer 
Krankheiten. 

In allen übrigen deutschen Staaten ist das Sanitätswesen, insoweit 
dasselbe Sache der Landesbehörden geblieben ist, fortschreitend reorganisirt 
worden und ressortirt nicht, wie in Preussen, vom Cultusministerium, son¬ 
dern vom Ministerium des Innern, in den freien Städten vom Senat. In dem 
nach Preussen grössten deutschen Staate Baiern steht dem Minister des Innern 
als Referent für alle Medicinal- und Sanitätsangelegenheiten zur Seite ein 
Obermedicinalrath, der gleichzeitig Vorsitzender des Obermedicinal- 
Ausschusses ist, einer vorwiegend begutachtenden technischen Behörde mit 


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SANITÄTSWESEN. 


collegialer Verfassung. Unter dem Minister des Innern stehen die bei den 
Kreisregierungen angestellten Medicinalräthe und unter letzteren für die Sanitäts¬ 
polizei angestellte Bezirksärzte I. und II. Classe, für die Rechtspflege Land- 
gerichtsräthe für jeden Landgerichtsbezirk. Sämmtliche im baierischen Staats¬ 
dienst angestellte Sanitätsbeamte beziehen angemessene, mit dem Dienstalter 
steigende Besoldungen mit Wohnungsgeldzuschuss und bis zum Bezüge des 
vollen Gehalts steigende Pensionen nebst entsprechender Versorgung der 
Hinterbliebenen. 

Wie nach dem deutschen Reichsverfassungsgesetze vom 16. April 1871 
alle Maassregeln der Medicinal- und Sanitätspolizei der Beaufsichtigung und 
Gesetzgebung des Reiches unterliegen, so gehört nach dem österreichi¬ 
schen Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 21. December 1867 die 
Medicinalgesetzgebung, sowie die Gesetzgebung zum Schutze gegen Epidemien 
zum Wirkungskreise des Reichsrathes. Die Reichs-Sanitätsangelegen¬ 
heiten ressortiren in Oesterreich von einem im Reichsministerium des In¬ 
nern gebildeten besonderen Sanitätsdepartement, welchem ein Ober¬ 
ster Sanitätsrath als berathendes wissenschaftliches Fachorgan bei¬ 
gegeben ist, und an dessen Spitze ein ärztlicher Referent steht. In 
jedem österreichischen Kronlande steht ein Statthalter an der Spitze der 
politischen Verwaltung, welchem ein ärztlicher Landes-Sanitätsrefe- 
rent und als wissenschaftliches Fachorgan zur Behandlung der Sanitäts¬ 
angelegenheiten ein Landes-Sanitätsrath beigegeben ist. Jedes Kron- 
land ist in politische Amtsbezirke getheilt mit einem Bezirksarzt als 
Referenten für Sanitätsangelegenheiten nach Maassgabe der ihm ertheilten 
Dienstinstruction. 

Nach Gesetz vom 30. April 1870 steht die Oberaufsicht über das ge- 
sammte Sanitätswesen und die oberste Leitung der Medicinalangelegenheiten 
der Staatsverwaltung zu, welcher insbesondere obliegt: o) die Evidenz¬ 
haltung des gesammten Sanitätspersonals, die Beaufsichtigung desselben in 
ärztlicher Beziehung, sowie die Handhabung der Gesetze über die Ausübung 
der diesem Personale zukommenden ärztlichen Praxis, b) die Oberaufsicht über 
alle Kranken-, Irren-, Gebär-, Findel- und Ammenanstalten, Heilbäder und 
Gesundbrunnen, Impfinstitute, Siechenhäuser und andere derlei Anstalten, 

c) die Handhabung der Gesetze über ansteckende Krankheiten, Epidemien 
und Thierseuchen, Qurantaine- und Vieh-Contumazanstalten, Verkehr mit 
Giften und Medicamenten, d) Leitung des Impfwesens, /) Anordnung und 
Vornahme der sanitätspolizeilichen Obductionen, g) Ueberwachung der Todten- 
beschau und des Begräbniswesens. 

Die dem selbständigen Wirkungskreise der Gemeinden durch 
die Gemeindegesetze zugewiesene Gesundheitspolizei umfasst: a) Handhabung 
der sanitätspolizeilichen Vorschriften in Bezug auf Strassen, Wege, Plätze 
und Flüsse, öffentliche Versammlungsorte, Wohnungen, Canäle, Senkgruben, 
fliessende und stehende Gewässer, Trink- und Nutzwässer, Lebensmittel, 
Gefässe, Vieh- und Fleischbeschau, öffentliche Badeanstalten, b) Fürsorge für 
die Erreichbarkeit der nöthigen Hilfe bei Erkrankungen und Entbindungen, 
Rettungsmittel bei plötzlichen Lebensgefahren, c) Evidenzhaltung der nicht 
in öffentlichen Anstalten untergebrachten Findlinge, Taubstummen, Irren, 
Cretins, sowie Ueberwachung der Pflege dieser Personen, d) Errichtung, In¬ 
standhaltung und Ueberwachung der Leichenkammern und Begräbnisplätze. 

Ausserdem obliegt der Gemeinde in übertragenem Wirkungskreise: 

d) Durchführung der örtlichen Vorkehrungen zur Verhütung ansteckender 
Krankheiten und deren Weiterverbreitung, b) Handhabung der sanitätspolizei¬ 
lichen Vorschriften über Begräbnis und Todtenbeschau, c) Mitwirkung bei allen 
von der politischen Behörde vorzunehmenden sanitätspolizeilichen Augenscheinen 
und Commissionen, d) unmittelbare sanitätspolizeiliche Ueberwachung der in 


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SCHIFFSHYGIENE. 


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der Gemeinde befindlichen privaten Heil- und Gebäranstalten, e) periodische 
Herstellung von Sanitätsberichten an die politische Behörde. 

Allen Gemeindevorständen stehen für das Sanitätswesen angestellte und 
besoldete Gemeindeärzte zur Seite. 

Nach Vorstehendem ist das österreichische Sanitätswesen durch die 
neuere sanitäre Gesetzgebung in ähnlicher Weise wie das der Königreiche 
Baiern und Sachsen organisirt, weicht aber von der deutschen und preussi- 
schen Medicinal- und Sanitätsverfassung dadurch ab, dass im österreichischen 
Reichsministerium des Innern ein besonderes, von einem ärztlichen Refe¬ 
renten geleitetes Sanitätsdepartement besteht, welchem der Oberste Sanitäts¬ 
rath als wissenschaftliches Fachorgan angehört und die Sanitätsbehörden der 
einzelnen Kronländer, Amtsbezirke und Gemeinden nachgeordnet sind. Auf 
diese Art wird es dem Sanitätsdepartement möglich sein, von allen wichtigen 
sanitären Vorgängen möglichst unmittelbare und schnelle Kunde zu erhalten 
und dann auch, wie dies namentlich beim Ausbruch von Epidemien erforder¬ 
lich wird, die gleichmässige Ausführung der entsprechenden sanitätspolizei¬ 
lichen Maassregeln zu beaufsichtigen. schwartz. 

Schiffshygiene. Da in dem Aufsatz „Eisenbahnhygiene“ in relativ 
ausführlichster Weise das meiste enthalten ist, was für die Schiffs¬ 
hygiene gilt und auf sie angewandt werden kann, so bleibt hier nur sehr 
wenig übrig zu erwähnen und zu modificiren. Es sei deshalb, sowohl im 
Allgemeinen als besonders in Bezug auf diejenigen, welche sich näher zu 
informiren wünschen, auf den Artikel „Eisenbahnhygiene“ in diesem Werke 
verwiesen. 

Es erübrigt hier darauf hinzuweisen, wie bei längeren Schiffsreisen, 
durch Anlegen an den verschiedensten Hafenplätzen, Ein- und Ausladen von 
Waren aller Art, Wechsel der Passagiere, Aufenthalt am Lande, Anwesenheit 
von Thieren an Bord, Schädlichkeiten eingeführt werden, welche die Schiffs¬ 
hygiene belasten, wie sie zu vermeiden sind, und welcher Art die Desinfection 
der Schiffe sein müsse. Dass auch hierbei, bis auf weniges, mutatis mutan- 
dis auf den Artikel „Eisenbahnhygiene“ verwiesen werden kann, will ich 
voranstellen. Allein der grosse Unterschied zwischen den Reisen auf Eisen¬ 
bahnen und Schiffen tritt doch auch in der Hygiene vielfach hervor. Schon die 
durch die stärkere Bewegung der Schiffe entstehende Seekrankheit, welche 
wie bekannt, manche Individuen nicht belästigt, ist bei Eisenbahnfahrten 
selten oder doch sehr milde im Vergleich zu dem alarmirenden Auftreten auf 
Schiffen, namentlich beim weiblichen Geschlecht. Die Hygiene befasst sich 
allerdings nicht weiter mit dem sogenannten Mal de mer, jedoch nimmt die 
Bauart der modernen grossen Passagierdampfer darauf Rücksicht, sie möglichst 
zu mildern. Frauen, welche eine längere Seereise Vorhaben, noch dazu gra- 
vidae, werden gut thun, solche Dampfer zu benützen. Das Seewasser hat, wie 
die Untersuchungen Giuseppi Pinna’s lehren, eher einen günstigen hygie¬ 
nischen Einfluss und besitzt ein gewisses Abschwächungsvermögen auf die 
Virulenz der Bacterien. Thatsächlich wird von keinem Falle einer infectiösen 
Krankheit berichtet, der durch Seewassergenuss oder auf den Contact des¬ 
selben mit erkrankter oder verletzter Hautoberfläche zurückgeführt werden 
könnte. Selbst die jährlich mehr und mehr in Seehospizen sich einfindenden 
scrophulösen Kinder mit ausgedehnten Hautaffectionen baden im Meere täglich, 
ohne dass die Hautkrankheit dadurch schädlich beeinflusst würde. Wir wissen 
im Gegentheil, dass das Seewasserbad auf Scrophulose günstig influirt. Eigen- 
thümlich ist auch die günstige und temperaturherabsetzende Wirkung des 
Seewasserbades an Bord bei Influenzakranken, wie sie Verfasser zu beobachten 
Gelegenheit hatte. Jeder Schiffsreisende sollte täglich sein Wannenbad in 
Seewasser nicht versäumen und sich auch hierdurch widerstandsfähig erhalten. 


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SCHIFFSHYGIENE. 


Der Wechsel der Klimate, welchem der, sei es nach Süden oder von da nach 
Norden zu Reisende unterworfen ist, wird im Allgemeinen gut ertragen, auf 
hohem Meere wiikt selbst die äquatoriale Zone nicht belästigend, auf von 
Wüsten begrenzten Meerestheilen, wie im rothen Meer, hingegen treten zu 
gewissen Zeiten, besonders bei Nordeuropäern ernstere Erkrankungen durch 
Wärmestauung auf. Leichte Tropenkleidung, am besten aus Reformbaum* 
wolle oder Seide, leichtere Arbeit, Herstellung bewegter Luft im Schiffs- 
innern können solchen Vorkommnissen Vorbeugen. 

Die von aussen kommenden Gefahren für die Schiffsbevölkerung liegen 
grösstentheils in der Aufnahme von Infectionserregem, überbracht durch 
Menschen, Thiere, besonders Ratten und Mäuse, und Waren aller Art, welche 
zugleich vom Lande stammenden Schmutz, erdige Bestandtheile, Excremente 
u. s. w. enthalten. Wenn, wie durchweg noch von den Schiffsärzten, nur die 
äussere Untersuchung eines kranken oder suspecten Passagiers geübt wird, 
bei dem der Beginn einer Infectionskrankheit vermuthet werden kann, so darf 
man sich nicht wundern, wenn so häufig auf hoher See erst Schiffsepidemien 
entstehen, während beim Verlassen des Hafens kein solcher Krankheitsfall 
vorhanden war, oder dass auf kürzeren Reisen eine Anzahl von Personen die 
Incubationszeit durchmacht, auf dem Lande anscheinend erst wirklich erkrankt 
und die Krankheit dort weiter verbreitet. Hingegen schützt nur eine auf¬ 
merksame Beobachtung, Temperaturmessung des Körpers und mikroskopische 
Untersuchungen der Excrete, wie auch des Blutes, nebst hafenärztlicher Thätigkeit 
und Quarantaine. In den aussereuropäischen nicht civilisirten Ländern kommt 
es vor, dass Neger oder überhaupt eingeborene Arbeiter weithin verschifft 
werden, ohne dass an Bord ein Arzt sich befindet, eventuell werden sie auf 
einheimischen Segelfahrzeugen transportirt. So ist es erklärlich, dass chine¬ 
sische Kulis mit leichten Erkrankungen an Bubonenpest in den Streets 
Settlements beim Anlegen der Schiffe und am Lande entdeckt wurden. Um 
den hygienischen Ansprüchen zu genügen, ist vor allem für die Rheder der 
Zwang einzuführen, dem Schiffsarzt ein kleines Laboratorium einzurichten, nur 
solche Aerzte anzustellen, welche nachweislich bacteriologische Untersuchungen 
ausführen können und die Aerzte genügend zu salairiren. Mit dem System 
der Anstellung ganz junger Aerzte, welche eine Vergnügungstour unternehmen 
wollen und deren Gehalt gespart wird, muss endgiltig gebrochen werden. 
Bei Ausbruch einer Epidemie an gewissen Hafenorten, oder deren Hinterland 
werden von der Heimatsbehörde erlassene Vorschriften für den Schiffsführer 
und Schiffsarzt verbindlich. Auch hier sollte man nicht schematisch ver¬ 
fahren. So sollte man bei Choleraepidemien, oder wie jetzt gerade bei der 
Pestepidemie in Indien geschehen, nicht alle Waren aufzunehmen verbieten, 
weil dadurch jede Handelsthätigkeit unterbunden würde. Waren, welche, wie 
getrocknete Felle, Leinwandwaren, Elfenbein u. dgl. desinficirt werden können, 
sollten den Schiffen nicht verboten werden aufzunehmen. Getrocknete Früchte, 
Getreidearten dagegen, welche eine mehr oder weniger grosse Menge von 
Erd- resp. Schmutzpartikeln stets unter sich enthalten, müssen ausgeschlossen 
werden, weil ihre Verunreinigungen gerade die Keime enthalten dürften. 
Ratten und Mäuse, welche, wie neuerdings nachgewiesen, die Pestkeime vom 
Boden aufnehmen und massenhaft an der Pest erkranken und sterben, sollte 
man möglichst abzuhalten und zu tödten suchen. Dem Schiffshygieniker ist somit 
eine gewisse Selbständigkeit zu reserviren und er darf durch specialisirte Ver¬ 
ordnungen, von den heimatlichen Bureaus aus, nicht zu sehr eingezwängt 
werden. Eine eigentümliche Erscheinung bildet das Vorkommen von Schiffs¬ 
malaria und Beri-Beri an Bord von Schiffen, welches in der Literatur von 
einer Anzahl vertrauenswürdiger Aerzte und Forscher angeführt ist. So be¬ 
richten Laube, Bonnand, Marston, Holden, de Lajartre, Mairet überein* 
stimmend über Malariaepidemien an Bord ihrer Schiffe. Stets entstanden sie, 


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SCHULHYGIENE. 


673 


wenn in nicht ventilirten Schiffsräumen zu mit erdigen Bestandtheilen ver¬ 
mischten, verschimmelnden Waren Wasser eingedrungen war, welches sie 
nicht iiberfluthete, sondern nur durchfeuchtete und nicht abfliessen konnte. 
Verfasser kann auf einer kleinen Malariaepidemie an Bord eines Schiffes hin- 
weisen, welche im Schiffsraum entstand, wo Arbeiter schliefen und wo eine 
dicke Lage vom Wasser durchfeuchteter Erde (vom Lande wohl eingeladen) 
sich befand. Nachdem die Erde beseitigt und der desinficirte Raum trocken 
gehalten wurde, kamen keine Neuerkrankungen mehr vor. Ebenso ist auf der 
niederländ.-indisch. Marine das Vorkommen von Beri-Beri beobachtet worden, 
so, dass Infection am Lande ausgeschlossen werden konnte. Pekelhabing nimmt 
an, dass Erdpartikeln die Beri-Berikeime auf Schiffen virulent erhalten können. 
Von 2504 europäischen Matrosen der Kön. Niederländischen Marine starb in 
Indien an Bord nur einer, von den 1142 inländischen 48 an Beri-Beri von 
58 Todesfällen unter letzteren, im Jahre 1894. Die Gelbfieberepidemien auf 
Schiffen sind zu bekannt, als dass hier noch näher darauf eingegangen zu 
werden brauchte. Die Ernährungsfrage spielt in Bezug auf die Disposition 
zu Infectionskrankheiten keine so wichtige Rolle, auch ist die Nahrung auf 
europäischen Schiffen eine gut geregelte und ausreichende. Die Desinfection 
der Schiffe geschieht gewöhnlich so, dass nach Ausräumung der Cabinen und 
sonstigen Räumlichkeiten die Wände mit einer alkoholischen 6—10%igen 
Sublimatlösung von oben nach unten bestrichen und nach zwei Stunden mit 
viel Wasser abgewaschen werden. In den unteren Schiffsraum spritzt man 
zuerst eine Lösung von schwefelsaurem Eisenoxydul, dann entfernt man das 
im Raum befindliche Wasser, wäscht mit Seewasser nach und desin- 
ficirt mit Sublimatlösung. In modernen Desinfectionsapparaten wird in be¬ 
kannter Weise die Desinfection von Bettwäsche und Kleidern durchgeführt. 
Häufig wird auch das Räuchern mit Schwefel noch vorgenommen, auch für 
Wäsche etc. bei Mangel an Desinfectionsapparaten, es ist aber die erst¬ 
genannte Methode vorzuziehen. Dass die Schiffshygienne noch sehr der Ver¬ 
vollkommnung bedarf, ist schon aus den vorstehenden, kurzen Mittheilungen 
ersichtlich. C. däubler. 

Schulhygiene. Unter Schulhygiene versteht man denjenigen Theil 
der Gesammthygiene, der sich mit all den Dingen beschäftigt, die Gesundheit 
und Leben von Schülern schädigen und fördern können. Sie fasst demnach 
die Lage von Schulgebäuden, das Baumaterial zu denselben und ihre innere 
Einrichtung ins Auge. Dann beschäftigt sie sich mit Luft, Licht, Sitzbänken, 
der körperlichen und geistigen Anstrengung in den Schulen und schliess¬ 
lich mit den sogenannten Schulkrankheiten oder mit Krankheiten, welche 
durch die Schule entstehen und verbreitet werden. 

Was nun die Schulhygiene im besonderen vorschreibt, lässt sich kurz, 
wie folgt, zusammenfassen. 

Der Boden, auf dem Schulhäuser erbaut werden sollen, darf nicht feucht 
und nicht mit organischen Substanzen imprägnirt sein. Das Gebäude selbst 
soll aus gutem Material hergestellt und so unterkellert sein, dass der Boden 
der ersten Etage 1—1-50 m über dem Strassenniveau liegt, damit die Wände 
nicht feucht bleiben oder feucht werden und damit der Zimmerboden im 
Winter nicht zu kalt wird. Die Zimmer sollen bei einer Höhe von 4—4-5 tn 
einen Bodenflächenraum haben, dass auf einen Schüler (Schülerin) 0'75—1 m 2 
kommen. Die Gänge sollen möglichst breit sein; die Thüren so, dass meh¬ 
rere Schüler neben einander eintreten können. Die Fenster sollen breit und 
hoch, die Pfeile schmal und nach innen abgeschrägt sein, damit genügend 
Licht und zwar von der linken Seite der Schüler her eintreten kann. Die 
Böden sollen von solchem Material hergestellt und so beschallen sein, dass 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Oer. Med. 43 


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SCHULHYGIENE. 


sie leicht zu reinigen sind und sich kein Schmutz und keine Bacillen in die¬ 
selben versetzen können. Die Wände sollen wo immer möglich mit einer nicht 
zu hellen, am besten ins Grünliche schillerndem Oelfarbe angestrichen sein, 
damit man sie abwaschen kann, und damit sie dem Auge nicht wehe thun. 
Die Aborte sollen, so weit es thunlich ist, in einem besonderen, mit dem 
Hauptgebäude durch einen gedeckten Gang verbundenen Raume angebracht 
sein. Im Uebrigen soll das Schulhaus möglichst entfernt von der Strasse 
und von anderen Gebäuden stehen und von freien Plätzen zum Spielen für 
die Kinder während der Unterrichtspausen umgeben sein. 

Die Schulzimmer sollen so ventilirbar sein, dass der Kohlensäuregehalt 
der Luft in denselben 01% nicht bedeutend übersteigt, weil eine solche Luft 
geeignet sei, den zarten kindlichen Organismus zu schädigen. Beleuchtet 
sollen sie so sein, dass auch die entferntest sitzenden normalsichtigen Schü¬ 
ler eine mittelgrosse Schrift auf der Schultafel lesen können. Die Schulbänke 
sollen der Grösse der Schüler angepasst, mit Rücklehnen versehen und so 
beschaffen sein, dass sie zum Geradesitzen nöthigen und dass das Gesicht 
nicht zu nahe und nicht zu weit von der Tischplatte entfernt ist, weil 
anderenfalls durch die Schulbänke Rückgratsverkrümmungen und Kurz¬ 
sichtigkeit entstünden. In Bezug auf die Heizung lässt sich schwer sagen, 
welche Art die beste ist. Immer müssen die Heizvorrichtungen gut regulirbar 
sein und die Ventilation unterstützen. 

Die körperliche und geistige Anstrengung in der Schule soll der In¬ 
dividualität angepasst sein, damit sie keinen Schaden bringe. 

Die Krankheiten, welche bei Schulkindern häufig beobachtet werden, 
sind Appetitlosigkeit, Verdauungsstörungen, Rückgratsverkrümmungen, Kurz¬ 
sichtigkeit, Hyperämien des Gehirnes, Veitstanz, Epilepsie, Onanie und Krank¬ 
heiten des Respirations- und Circulationssystems. Ausserdem tragen die 
Schulen zur Verbreitung von epidemisirenden Krankheiten, namentlich der 
Masern, des Scharlachs, der Diphtherie und auch zu der anderer ansteckender 
Krankheiten bei. 

Wenn man so alles, was über Schulhygiene schon geschrieben worden 
ist, durchliest, könnte man bald zu der Meinung verleitet werden, dass eine 
Unzahl von Uebeln auf die Schule zurückzuführen seien. 

So viel darf aber immerhin angenommen werden, dass, wie auf dem 
vielseitigen Gebiete der Hygiene überhaupt, auch in Bezug auf die Schulen 
manches übertrieben und manches nicht so klar ist, wie es sein sollte, so 
dass man verschiedener Ansicht über die Schädlichkeiten unserer Schulen 
sein kann. Ich behandle daher die einzelnen Capitel der Schulhygiene nach 
Maassgabe des hiezu verfügbaren Raumes und ganz von dem Standpunkte 
aus, den ich nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen einnehmen zu 
dürfen glaube. 

1. Das Schulgebäude. Was die Schulbauten und ihre Räumlich¬ 
keiten betrifft, so ist von vornherein klar, dass man ein Schulhaus nicht in 
den Sumpf stellt, dass es ein grosser Vorzug ist, wenn dasselbe von allen 
Seiten frei ist, dass seine Räumlichkeiten genügend gross, luftig, hell und 
trocken sind, und dass die Zugänge so beschaffen sein müssen, dass sie 
bequem und ohne Gefahr zu laufen, passirt werden können. Das sind aber 
alles Dinge, die nicht zum geringen Theile von dem Geldbeutel der Gemeinden 
und von örtlichen Verhältnissen abhängen. Eine Gemeinde also, die Geld 
und Platz genug hat, mag den höchsten Anforderungen der Hygiene genügen 
und sich Schulpaläste hinstellen, Gemeinden dagegen, die sich nach der Decke 
strecken müssen, werden auf bescheidenere Verhältnisse angewiesen sein, 
wenn sie nur im grossen Ganzen genügen. 


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SCHULHYGIENE. 


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2. Die Luft. Dass die reinste Luft die gesündeste ist, kann mit Sicher¬ 
heit angenommen werden. Dass aber eine Luft, wie sie gewöhnlich in Schulen, 
auch in den schlechtest ventilirten, gefunden wird, einen schädlichen Einfluss 
auf die zarte Kinderconstitution ausübt, ist mir sehr unwahrscheinlich, weil 
die Erfahrung, das Experiment und viele Thatsachen dagegen sprechen, wie 
nun hier näher ausgeführt werden soll. 

Wenn man Kinder in Bezug auf ihr Alter, ihre Grösse, ihre Glied- 
maassen u. s. w. betrachtet, dann kann man erwachsenen, robust gebauten 
Individuen gegenüber von einer zarten Kinderconstitution sprechen. Wenn 
man aber in Betracht zieht, was Kinder vom Tage ihrer Geburt an oft 
alles aushalten und aushalten müssen, dann kann man in dieser Beziehung 
von einer zarten Kinderconstitution nicht mehr sprechen. Man hat vielmehr 
Veranlassung, auf den Gedanken zu kommen, dass die Natur die zarte Kinder¬ 
constitution so eingerichtet hat, dass sie all den Unbilden, Gewaltthätigkeiten 
und Krankheiten, die sie nicht selten zu gewärtigen haben, möglichst lange 
widerstehen kann. Wie oft stossen wir nicht bei Kindern auf die mangel¬ 
hafteste Pflejge, auf die verkehrteste, naturwidrigste Ernährung und doch 
halten sie dieselben oft erstaunlich lange aus oder widerstehen ihnen ganz 
und gar, von der sogenannten Engelmacherei und von den brutalen Behand¬ 
lungen zarter Kinderconstitutionen, über die uns die Annalen der Gerichte 
Aufschluss geben, gar nicht zu reden. Gegen Krankheiten aller Art ist die 
zarte Kinderconstitution zum mindesten eben so widerstandsfähig und oft 
noch widerstandsfähiger, als die Constitution Erwachsener. Ich erinnere nur 
an die oft Wochen und Monate lang dauernden schweren katarrhalischen 
Affectionen der Bespirations- und Verdauungsschleimhäute, an die als Kinder¬ 
krankheiten bezeichneten Infectionskrankheiten, an Typhus, Cholerine, Ruhr 
u. s. w., alles Krankheiten, von denen Erwachsene nicht selten viel stärker 
mitgenommen werden und in verhältnismässig grösserer Zahl daran sterben 
als Kinder. Auch operative Eingriffe und sonstige Verletzungen ertragen 
Kinder ebenso gut und oft noch besser als Erwachsene. So sieht man 
Kinder nicht selten die schwersten Schädelverletzungen ohne jeglichen Nach¬ 
theil ertragen, an denen Erwachsene in der Regel zu Grunde gehen. Ebenso 
ertragen Kinder die Unbilden des Wetters, Hitze und Kälte zum min¬ 
desten ebenso gut, wenn nicht besser als Erwachsene. Man braucht nur 
ihr Leben und Treiben etwas näher ins Auge zu fassen. Mit dem ersten 
Sonnenblicke des Frühlings, ehe der Schnee recht geschmolzen und der Boden 
trocken ist, werfen sie Schuhe und Strümpfe von sich und rennen barfuss 
einher. Die Hitze thut ihnen sicherlich nicht so wehe als Erwachsenen. 
In rauhen Jahreszeiten sieht man sie nicht selten mit blau erfrorenen Wangen 
und Händen auf den Haustreppen, in den Höfen und Strassen sich herum¬ 
treiben. Wo eine Pfütze ist, treten sie hinein und laufen Stunden und Tage 
lang mit nassen Füssen herum und bleiben meist gesund dabei. Das sind 
alles Gelegenheiten, bei denen Erwachsene ihren Rheumatismus oder Gicht¬ 
anfall oder Nieren-, Lungen- und andere Krankheiten sich zuziehen. Warum 
nun die zarte Kinderconstitution gegen die Schulluft, in der sie sich zur 
Schulzeit höchstens drei Stunden täglich anhaltend befindet, besonders em¬ 
pfindlich sein soll, ist angesichts dessen schwer einzusehen. Ob die Luft, 
wie sie gewöhnlich in Schulen gefunden wird, einen Einfluss auf die Gesund¬ 
heit des Menschen ausübt, erscheint überhaupt sehr zweifelhaft, wenn man 
bedenkt, dass die Lehrer, die doch von Kindesbeinen an die Schule be¬ 
suchten und die später die Schulluft länger und in volleren Zügen einathmen, 
nicht mehr krank werden und nicht früher sterben als andere Menschen. Es 
gibt aber auch sonst Beispiele genug in der Natur, die darauf hinweisen, dass 
die Schulluft den schädlichen Einfluss nicht haben kann, den man ihr vielfach 
zuschreiben zu dürfen glaubt. Wer je einmal mit den Nestern von Höhlen- 

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SCHULHYGIENE, 


brütern, wie von Spechten, Staaren, Wiedehopfen und Eisvögeln in nähere 
Berührung gekommen und dabei den Dunst gerochen hat, der denselben 
entsteigt, den Unrath, der sich in denselben befindet, gesehen und da¬ 
bei beobachtet hat, wie tadellos sich die jungen Vögel, Thiere also, die in 
der reinsten Waldluft zu leben pflegen, entwickeln, dem muss es auffallen, 
dass die Gesundheit unter solchen Verhältnissen nicht im mindesten leidet. 
Wer ferner einmal dabei war, wenn Füchse, Iltisse oder Marder ausgegraben 
wurden und dabei den Gestank empfunden und die vielen halb und ganz ver¬ 
faulten animalischen Reste und dabei die tadellose Entwicklung, Munterkeit 
und Wildheit der jungen Thiere gesehen hat, der kann sich des Gedankens 
kaum erwehren, dass die in diesen Höhlen befindliche Luft, mit welcher die 
Schulluft entfernt nicht verglichen werden kann, nicht so schädlich sein 
kann, wie man von vornherein annehmen könnte. Die Kaninchen zählen zu 
den gewöhnlichsten Versuchsthieren. Diese haben bekanntlich die Gewohnheit 
oder den Naturtrieb, sich tiefe Höhlen in den Boden, auch in den sehr stark 
inficirten von Viehställen, zu graben, dort ihre Jungen abzusetzen und dann 
die Eingangsöffnung fest zu verstopfen. Ich habe den Kohlensäuregehalt der 
Luft in solchen Höhlen bestimmt und dabei solchen bis zu 10% gefunden. 
Das habe ich aber nie gefunden, dass die jungen, zarten Thiere darunter 
gelitten hätten. Im übrigen wäre es eine der denkbar schlechtesten Ein¬ 
richtungen, welche die Natur hätte schaffen können, wenn sie die Organismen 
nicht so eingerichtet hätte, dass sie unvermeidliche Dinge ertragen können. 
Man könnte nun vielleicht sagen, dass mit solchen Erörterungen, Beispielen 
und Experimenten der Gleichgiltigkeit und Unreinlichkeit das W T ort geredet 
werde. Darum handelt es sich aber nicht. Bei der hygienischen Forschung 
handelt es sich um Klarheit und Wahrheit und darum, ob man berechtigt 
ist, unsere Schulen als die reinsten Mord- und Pestgruben zu bezeichnen, wie 
dies verschiedentlich schon geschehen ist. Dazu eignet sich, meines Erachtens, 
nichts besser, als Thatsachen und Erfahrungen, die jeder jeden Tag sehen, 
beziehungsweise machen kann. 

3. Die Sitzbänke. Schlechte, der Individualität nicht angepasste 
Schulbänke erzeugen Rückgratsverkrümmungen und Kurzsichtigkeit — ist in 
allen Schriften über Schulhygiene zu lesen. Da erstere mehr bei Mäd¬ 
chen als bei Knaben Vorkommen, so hat man auch das Sitzen auf den beim 
Hineingehen in die Bank sich zusammenschiebenden Röcken beschuldigt, 
weil dadurch eine Schiefstellung des Beckens und eine Verbiegung der Wir¬ 
belsäule bedingt sei. 

Ich habe nun schon viele Hunderte von Schulbänken der verschieden¬ 
sten Construction und entsprechend mehr Schulkinder in meinem Leben 
gesehen, bin selbst jahrelang als Lehrer in der Schule gestanden und habe, 
als ich mich später besonders um die Schulhygiene interessirte, die Kinder 
vieler Schulen mit der Uhr in der Hand beobachtet, um ganz sicher zu 
wissen, wie sie sitzen, wie lange sie ruhig sitzen bleiben oder ruhig sitzen 
bleiben können. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass weitaus die 
meisten Kinder kaum einige Minuten ruhig sitzen bleiben. Dass Mädchen 
auf ihre zu einem Wulste zusammengeschobenen Röcke sich setzen oder sitzen 
bleiben, habe ich nie gesehen. Ich habe im Gegentheil immer gesehen, dass 
sie gleichsam instinctmässig ihre Röcke glatt ziehen oder streichen, ehe sie 
sich niedersetzen. Meinen diesbezüglichen Beobachtungen und Erfahrungen 
zufolge habe ich die Ueberzeugung gewonnen, dass man mit einer Schul¬ 
bank, sie mag so schlecht sein als sie will, bleibende Rückgratsverkrümm ungen 
nicht machen und dass man solche, wo sie entstehen wollen, mit der besten 
Schulbank auch nicht verhüten kann. Die Ursache der RückgratsverkrUm- 
mungen liegt nicht in den Schulbänken, sie liegt in der Constitution der 
betreffenden Individuen. Das geht schon daraus hervor, dass bei Kindern, 


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SCHULHYGIENE. 


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die ein und dieselbe Schulbank benützen, Rückgratsverkrümmungen, auch die 
sogenannten habituellen, nur vereinzelt Vorkommen, und dass wir bei den¬ 
selben durch Correctionsmittel, die viel nachhaltiger und viel einschneidender 
wirken als die Schulbänke, meist nur wenig oder gar nichts ausrichten. Von 
den Tausenden von Schulkindern, die ich im Verlaufe der Jahre sah, unter¬ 
suchte und beobachtete, gehörten fast alle, bei denen ich eine schwache oder 
starke, eine vorübergehende oder bleibende Skoliose constatiren konnte, tuber¬ 
kulösen Familien an, und bei den wenigen Fällen, wo sich dies nicht direct 
nachweisen liess, ergaben sich stets Momente, die auf eine Depravation der 
Säfte schliessen liessen oder bei denen sich eine schwächliche Constitution 
auf vorausgegangene Krankheiten zurückführen liess. Zur Stütze der Theorie, 
dass durch das Sitzen in schlechten Schulbänken schliesslich Rückgrats- 
Terkrümmungen entstehen können, hat man sich auf die diesbezügliche Er¬ 
scheinung bei Lastträgern berufen. Das ist nun aber etwas ganz anderes, 
wenn jemand tagtäglich und jahraus, jahrein centnerschwere Lasten auf ein 
und derselben Schulter trägt und die dazu nöthige Haltung mit der Zeit 
habituell wird, als wenn ein Kind während der Schreibstunde fünf Minuten 
lang eine Haltung einnimmt, die eine Verbiegung der Wirbelsäule bedingt. 
Denn länger als fünf Minuten verharren Kinder in der Schule kaum in einer 
schiefen Haltung. Immer corrigiren sie dieselbe wieder. Davon kann sich 
jeder überzeugen, der sich die Mühe nimmt, Kinder in der Schule zu beob¬ 
achten. Es ist das auch ganz natürlich. Wenn aber hie und da ein Kind — 
die Zahl solcher ist ja sehr gering — permanent sich schief hält, so darf 
man sicher annehmen, dass dies nicht lediglich aus schlechter Gewohnheit 
geschieht, sondern dass ein tiefer liegender Grund dazu vorhanden ist. Im 
Uebrigen braucht man ja nur auf das Land zu gehen und zu beobachten, 
zu welchen Arbeiten schulpflichtige Kinder benützt werden, und welche 
Haltungen sie dabei unverhältnismässig länger einnehmen müssen, als dies 
in der Schule überhaupt möglich ist. Nach meinen Erfahrungen kann ich 
daher die Ansicht nicht theilen, dass Schulbänke bleibende Rückgratsver¬ 
krümmungen erzeugen oder dass sie solchen Vorbeugen können. Bleibende 
Rückgratsverkrümmungen habe ich immer nur bei solchen Kindern gefunden, 
die tuberkulösen Familien angehörten. 

Damit will ich natürlich nicht sagen, dass es ganz einerlei ist, welche 
Schulbänke verwendet werden. So viel will ich nur sagen, dass man auch 
in dieser Beziehung viel zu viel theoretisirt, generalisirt und der Erfahrung 
viel zu wenig Rechnung trägt, was meines Erachtens ein grosser Fehler 
ist, an dem die hygienische Forschung nicht selten leidet. 

4. Die Beleuchtung in den Schulen. Darüber liegen zahlreiche exakte 
Untersuchungen von den berühmtesten Augenärzten unserer Zeit vor. Die 
Ansicht aber, dass die immer mehr überhand nehmende Kurzsichtigkeit unter 
der Schuljugend vorzugsweise auf schlechte Beleuchtung von Schulen zurück¬ 
zuführen sei, kann ich nicht theilen. Ich habe im Verlaufe der Jahre gele¬ 
gentlich meiner sonstigen hygienischen Untersuchungen und Nachforschungen 
tausende von Schülern gesehen und beobachtet und dabei gefunden, dass die 
Zahl der Kurzsichtigen in Stadtschulen, auch in den bestbeleuchteten viel 
grösser ist, als in Landschulen, deren Beleuchtung manches zu wünschen 
übrig lässt. Ich glaube daher diesen Unterschied im Sehvermögen mehr in 
folgenden Dingen suchen zu dürfen. Die Städte sind der Sitz von Beamten, 
deren Augen nicht selten infolge ihrer Studien und Beschäftigung kurzsichtig 
geworden sind und diese erworbene Eigenschaft scheint meiner Beobachtung 
und Erfahrung nach vererbbar zu sein. Das widerspricht zwar der auf das 
Experiment gestützten Ansicht, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbbar 
seien. Genau betrachtet ist dieser Widerspruch jedoch nur ein scheinbarer. 


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SCHULHYGIENE. 


Ein zweiter beachtenswerter Umstand, der sich bei Stadtkindern zur 
Geltung bringt, ist der, dass sie von frühester Jugend an gewöhnt sind oder 
gewöhnt werden, ihre Augen mehr in die Nähe zu gebrauchen. Von ihren 
Wohnungen aus können sie meist nur bis zu den gegenüberliegenden Häusern 
sehen. Auf der Strasse müssen sie schön acht geben, dass sie nicht in eine 
Pfütze treten, oder über die Bordsteine des Trottoirs hinunterfallen oder dass 
sie nicht überrannt oder überfahren werden. Ausserdem befindet sich in 
ihrer nächsten Nähe immer so viel Sehenswertes, dass sie selten veranlasst 
sind, ihr Auge auch in die Ferne schweifen zu lassen. Der Sonntagsspazier¬ 
gang, den sie zuweilen mitmachen dürfen, genügt nicht, um das zu corrigiren, 
was sie während der Woche in Bezug auf ihre Augen vernachlässigt und 
verdorben haben. 

Das Schlimmste bei der Sache scheint mir aber das zu sein, dass Kinder 
von Stadtleuten oft schon vor dem schulpflichtigen Alter zum Lesen und 
Schreiben oder zu Beschäftigungen und Spielereien angehalten werden, wobei 
sie nach Kinderart die Nase sozusagen immer möglichst nahe bei dem Gegen¬ 
stände ihrer Beschäftigung haben. Es ist dies ein Uebelstand der Klein¬ 
kinderschulen, der sich kaum vermeiden lässt. Wie wollte auch jemand mit 
einer Schaar Kinder fertig werden, ohne sie zum Stillsitzen zu veranlassen 
und ohne sie in der gedachten Weise zu beschäftigen? 

Kommen die Stadtkinder in die Schule, so sollen sie möglichst rasch 
lesen und schreiben und noch so manches andere lernen, was zum nahen 
Sehen veranlasst. Viele fangen alsbald an, Erzählungen und dergleichen zu 
lesen und so fort und fort ihre Augen anzustrengen. Da kann es doch nicht 
wundernehmen, wenn das Auge allmählig in der Accommodation für die Nähe 
verharrt. 

Ganz anders verhält sich das alles bei Kindern auf dem Lande. Sie 
stammen durchweg von Eltern, die nicht kurzsichtig sind. Sie sind von 
Jugend auf veranlasst und gewöhnt, ihre Augen auch in die Feme schweifen 
zu lassen. Es interessirt sie, was auf diesem oder jenem Baume, was am 
Ende eines Ackers oder einer Wiese ist und vor sich geht. Kleinkinder¬ 
schulen gibt es in der Regel nicht. Es fällt keinem Menschen ein, sie vor 
dem schulpflichtigen Alter lesen oder schreiben zu lehren und auch die Schule 
stellt in der Folge geringere Anforderangen an sie u. s. w.; das ist offenbar 
die Ursache davon, dass die Augen der auf dem Lande aufwachsenden Kinder 
trotz der oft mangelhaft beleuchteten Schulen normalsichtig bleiben. Ich 
wenigstens habe unter den vielen Landschulkindera, die ich gesehen und 
unter anderem auch auf ihr Sehvermögen geprüft habe, höchst selten eines 
gefunden, das kurzsichtig war, und wo ich eines gefunden habe, so war es 
ein Kind, das überhaupt nicht normal war oder das von Eltern stammte, von 
denen der eine oder andere Theil kurzsichtig ist oder war. Rechnet man 
dazu die schlechte Beleuchtung, bei welcher die Landbevölkerung ihre son¬ 
stigen, das Sehvermögen besonders in Anspruch nehmenden Arbeiten ver¬ 
richtet und endlich auch noch, dass die Kinder in der Schule nicht immer 
lesen und schreiben, dann wird man den Ausspruch, dass schlecht beleuchtete 
Schulen Kurzsichtigkeit erzeugen, wenigstens dahin modificiren müssen, dass 
zu der Veranlagung zur Kurzsichtigkeit und zu dem vorwiegenden Sehen in 
die Nähe nicht auch noch eine schlechte Beleuchtung kommen darf. 

Im Uebrigen habe ich schon oft darüber nachgedacht, dass viele 
Menschen, die viel lesen, schreiben und die feinsten Zeichnungen ausführen, 
und zwar nicht selten bei einer recht spärlichen Beleuchtung, trotzdem nicht 
kurzsichtig werden. Ich kenne sehr viele solche Leute und weiss das auch 
von mir selbst. Ich habe von Jugend auf viel gelesen und viel geschrieben, 
und zwar viele Jahre lang bei einer Beleuchtung, die man nach unseren 


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SCHULHYGIENE. 


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heutigen Begriffen als eine höchst mangelhafte bezeichnen müsste, und trotz¬ 
dem hat mein Sehvermögen bis über mein fünfzigstes Jahr hinaus auch nicht 
die geringste Veränderung erlitten. Erst von da ab musste ich mich beim 
Lesen und Schreiben einer Brille bedienen, aber nicht etwa, weil ich kurz¬ 
sichtig, sondern weil ich weitsichtig geworden bin, wie meine beiden Eltern. 

5. Körperliche und geistige Ueberanstrengung. Bei ober¬ 
flächlicher Betrachtung könnte man leicht zu der Ansicht verleitet werden, 
dass von einer körperlichen Anstrengung durch die Schule nicht die Rede 
sein kann. Wenn man aber alles in Betracht zieht, was die Schule mit sich 
bringt, dann stösst man doch auf manche Dinge, die geeignet sind, das körper¬ 
liche Wohl mancher Kindern direct zu schädigen. Von dem Umstande, dass 
manche schwächliche oder kränkliche Kinder schon durch längeres Sitzen 
oder Stehen oder einzelne Turnübungen übermässig müde werden, Kopfweh 
bekommen u. s. w. will ich ganz absehen, weil solche Kinder eigentlich von 
vornherein besser zu Hause blieben, bis sie kräftiger und gesünder sind. Da¬ 
gegen soll hier einmal etwas näher auf die jetzt vielfach herrschende Sitte 
oder Unsitte eingegangen werden, nach der auch von Kindern des ersten 
Schuljahres schon verlangt wird, dass sie in den Sommermonaten des Morgens 
um sieben Uhr in der Schule erscheinen und dann bis zwölf Uhr oder noch 
länger aushalten. 

Wer nun weiss, welches Treiben und Hetzen es jeden Morgen absetzt, 
bis manche Kinder vom tiefsten Schlafe aufgerüttelt aus dem Bette kommen, 
bis sie gewaschen und angekleidet sind, bis ihnen ihr Frühstück aufgezwungen 
ist u. s. w., der wird nicht behaupten wollen, dass dadurch das körperliche 
Wohl nicht geschädigt wird. Kommt dazu noch, dass Kinder weit in die 
Schule haben und sich infolge dessen eilen müssen, dann passirt es nicht 
selten, dass sie schweisstriefend in der Schule ankommen. Geschieht dies 
ferner zu einer Zeit, wo es bereits zu warm ist zum Einheizen, aber doch 
noch nicht warm genug ist, um mit schwitzendem Körper still zu sitzen, 
ohne eine Erkältung zu riskiren, dann ist das für manche Kinder eine ge¬ 
fährliche Sache. Ich könnte hier viele Beispiele anführen, wo Kinder durch 
diese allmorgendliche Hetze sehr an ihrer Gesundheit geschädigt wurden 
und wo sie sich durch das plötzliche Stillesitzen mit schwitzendem Körper 
in einem kalten Schullocale schwere langwierige und sogar tödtliche Krank¬ 
heiten zugezogen haben. 

Für nicht minder bedenklich halte ich die Verlegung des Unterrichts auf 
die Vormittagsstunden, beziehungsweise von acht bis ein Uhr. Es involvirt 
dies trotz aller Pausen eine zu grosse körperliche und geistige Anstrengung 
und auch einen pädagogischen Fehler. Eine solche Einrichtung kann der 
körperlichen und geistigen Entwickelung nicht förderlich sein. Denn viele 
Kinder können, unmittelbar aus dem tiefsten Schlafe aufgeweckt, gar nicht 
oder nur spärlich essen, gehen also nüchtern oder mangelhaft mit Nahrung 
versorgt in die Schule und bringen nicht selten auch das, was sie mitgenommen 
haben, wieder nach Hause und essen dann erst nicht recht beim Mittagstisch, 
weil ihnen eben durch das frühe Aufstöbern und die Schulsorgen der Appetit 
für den ganzen Tag verdorben ist. 

Der pädagogische Fehler ist durch die bei dem ununterbrochenen fünf¬ 
stündigen Unterrichte nothwendigen Pausen bedingt. Die zerstreuende 
Wirkung der letzteren macht sich tief in die folgende Stunde hinein geltend. 

Die Gründe, welche für die gedachte Unterrichtsverlegung angeführt 
werden, sind ziemlich fadenscheiniger Natur. Bei weitem nicht alle jüngeren 
Schüler sind in der Lage die freien Nachmittage unter Aufsicht im Freien 
zubringen zu können und diejenigen, welche ohne Aufsicht gelassen werden, 
missbrauchen nicht selten die freie Zeit, toben sich ab und kommen dann 


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SCHULHYGIENE. 


müde und nicht mehr zum Lernen aufgelegt nach Hause. Dass ältere Schü¬ 
ler die freien Nachmittage oft zu allem, nur nicht zu Privatstudien benützen, 
ist zu bekannt und ich möchte beinahe sagen zu natürlich, als dass viele 
Worte darüber zu verlieren wären. 

Der weitere Grund, dass es im Sommer des Nachmittags zu heiss zum 
ßchulehalten und zum Lernen sei, und dass im Winter die Dunkelheit zu 
frühe eintrete, lässt sich ebensowenig rechtfertigen. Wenn die männliche 
Jugend später ihrer Militärpflicht genügt, wird nicht darnach gefragt, ob es 
kalt oder warm oder ob es feucht oder trocken ist. Es wird eben das aus¬ 
geführt, was die militärische Schulung und was der militärische Dienst ver¬ 
langt, und das wird dann so verwöhnten jungen Leuten um so härter und 
drückender Vorkommen. 

Und wenn später z. B. ein Beamter, oder wer es sonst sein mag, sagen 
wollte, ich gehe heute nicht auf mein Bureau oder zu meinem Berufs¬ 
geschäft, weil es zu warm oder zu kalt ist, oder weil es regnet oder schneit, 
oder weil es zu trüb oder zu dunkel ist, so müsste das doch die grössten 
Unzuträglichkeiten nach sich ziehen. 

Man führt ferner an, dass es für entfernter wohnende Schüler bequemer 
sei, wenn sie den Weg zur Schule nicht zweimal machen müssen. Gerade 
als ob eine 5—6stündige Hetze weniger schädlich wäre, als ein halbstündiger 
Weg zur Schule. Im Uebrigen lässt es sich vom hygienischen Standpunkte 
aus nicht rechtfertigen, dass man jemanden zuerst recht abhetzt und ihm 
dann gestattet wieder auszurahen. Die Gesundheitspflege verlangt, dass 
Uebung, Anstrengung und Ruhe in geeigneter Weise mit einander ab¬ 
wechseln, und von der Schule kann und muss man verlangen, dass Schul¬ 
zeit und Unterricht so eingerichtet sind, dass auch schwächliche und min¬ 
der begabte Schüler an ihrer gesundheitlichen Entwicklung nicht geschädigt 
und dass die Schüler überhaupt an ein regelmässiges Arbeiten gewöhnt 
werden. Man hört jetzt viel über Nervosität des heutigen Menschengeschlechtes 
reden, und es ist wahr, der Kampf ums Dasein macht die Menschen nervös. 
Nicht wenig tragen dazu, darüber kann kein Zweifel sein, auch unsere Schulen 
namentlich deswegen bei, weil die Anforderungen vielfach bis zum Extrem 
gesteigert werden. Heute soll ein Kind, gleichgiltig, ob mangelhaft oder 
normal entwickelt, ob schwach oder gut begabt, im ersten Schuljahr schon 
fertig lesen und schreiben lernen, das Gedächtnisvermögen wird übermässig 
angestrengt, die Kinder sollen rasch denken und schlagfertig antworten 
lernen, und bei einer solchen Hetze ist es doch nicht zum Verwundern, 
wenn junge Leute, aus denen man bei massigeren Anforderungen und mehr 
Ruhe noch etwas hätte machen können, in den ersten paar Jahren schon 
nicht mehr mitkommen und geistig verkrüppeln, nervös werden, und wenn 
sich infolge eines so frühzeitig ruinirten Nervensystems alle möglichen Uebel 
und Untugenden einstellen, die dem Menschen das Leben für alle Zukunft 
verbittern. Nervöses Kopfweh, Schwindel, nervöses Herzklopfen, nervöse Ver¬ 
dauungsstörungen, Ueberreizung der Sexualorgane, geistige Impotenz und 
noch eine ganze Menge anderer nervöser Uebel lassen sich nicht selten 
auf die geistige Ueberanstrengung und auf die Hetze in unseren modernen 
Schulen zurückfuhren. Dafür könnte ich eine Reihe der schlagendsten Bei¬ 
spiele allein aus meiner eigenen Erfahrung hier anführen. Dem gegenüber, 
was in dieser Beziehung an unserer Jugend gesündigt wird, erscheint das, 
was man Luft, Licht und Sitzbänken in den Schulen zuschreiben zu dürfen 
glaubt oder thatsächlich zuschreiben kann, als etwas ganz Nebensächliches. 

Wenn unsere Schulen den Anforderungen genügen sollen, die vom 
hygienischen Standpunkte an sie gestellt werden müssen, so muss vor allem 
verlangt werden, dass neben reiner Luft, genügender Beleuchtung und der 


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SCHUTZIMPFUNG. 


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Grösse der Schüler angepassten Sitzbänken die Anforderungen geringer ge¬ 
stellt, dass die Unterrichtsstunden in geeigneter Weise auf Vor- und Nach¬ 
mittag vertheilt werden und dass namentlich die geistige Hetze aufhört, der 
wir in so manchen Schulen begegnen. 

Zur Besserung in dieser Beziehung trüge wesentlich bei, wenn man 
den obligatorischen Schulbesuch nicht vom Alter, sondern von der körperlichen 
und geistigen Entwicklung der einzelnen Kinder abhängig machte, und wenn man 
die Schüler nach ihrer geistigen Veranlagung und nach ihrem Fassungs¬ 
vermögen in verschiedene Classen eintheilen würde. Dadurch könnte vielen 
Missständen vorgebeugt werden, mit denen das Lehrpersonei zu kämpfen hat, 
und mancher Schüler, der bei der jetzigen Einrichtung unserer Schulen und 
unserer Unterrichtsmethode zurückbleibt und geistig verkümmert, könnte bei 
einem seiner Veranlagung entsprechenden Vorgehen noch etwas Tüchtiges 
werden. Der eine entwickelt sich eben rascher und der andere langsamer, 
der eine fasst rascher auf, was dem andern Mühe macht, und werden die¬ 
jenigen, welche rascher auffassen, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer 
die geschicktesten und brauchbarsten Beamten, Lehrer u. s. w. Man kann 
sich in dieser Beziehung sehr täuschen. 

Was die Schulen als Verbreiterinnen von ansteckenden Krankheiten be¬ 
trifft, so verhalten sie sich in dieser Beziehung ganz ähnlich, wie alle Ver¬ 
sammlungslocale und Versammlungsorte. In der Regel sind schon zu viele 
Individuen angesteckt, ehe wir die betreffende Krankheit constatiren, daher 
oft die Schwierigkeit, rechtzeitig die entsprechenden Vorsichtsmaassregeln 
zu treffen. a. riffel. 

Schutzimpfung, i. Bedeutung der Schutzimpfungen im Allgemeinen. 
Sowohl ganze Thiergattungen zeigen sich häufig unfähig, durch einen Mikro¬ 
organismus oder ein Gift krank gemacht zu werden, wie auch derartige 
Unempfindlichkeit bei einzelnen Individuen einer sonst empfindlichen Gattung 
vorkommt. Diese Unempfindlichkeit oder Unempfänglichkeit einem Gift oder 
einer Krankheit gegenüber bezeichnet man als Immunität (s. d.). Dieselbe 
kann eine natürliche angeborene sein, wie z. B. die Immunität des Igels 
gegen Schlangengift oder des Hundes gegen Milzbrand, sie kann aber auch 
eine erworbene sein. Erworben kann sie werden durch eine einmalige Infec- 
tion, oder sie kann auf künstliche Weise hervorgerufen werden durch eine 
Schutzimpfung oder Angewöhnung an ein Gift. Diese Fähigkeit, immun zu 
werden, ist nicht eine ausschliessliche Eigenthümlichkeit höher stehender 
Organismen, sondern man findet dieselbe schon unter den niedersten einzel¬ 
ligen Lebewesen. Es gelingt, Bacterien in solchen Salzlösungen und Desin- 
fectionslösungen durch allmähliche Gewöhnung an diese Noxen zu züchten, in 
denen ohne Vorbehandlung die Mikroorganismen sicher abgetödtet werden, 
d. h. es gelingt, Bacterien zu immunisiren. 

Von besonderer Bedeutung für die Praxis ist ausschliesslich die gegen 
Mikroorganismen und Infectionskrankheiten zu erwerbende Immunität, und 
hat diese den Anlass zu zahlreichen, mehr oder weniger gut gelingenden 
Schutzimpfungen gegeben. 

Immunität bei einem Infectionskranken zu erzielen, ist unbewusst oder 
bewusst das Ziel aller Heilversuche, denn jede Heilung bedeutet hier, dass 
eine Immunität eingetreten ist, die den Organismus befähigt hat, mit dem 
eingedrungenen Mikroorganismus fertig zu werden. Die Bedeutung, die ein 
solcher Sieg des Organismus über einen Krankheitserreger für die Zukunft 
dieses Individuums in Bezug auf seine Widerstandsfähigkeit gegen eine noch¬ 
malige Infection hat, ist jedoch eine sehr verschiedene. Sie hängt davon ab, 
ob die Schutzstoffe, die Antikörper, welche die erste Infection besiegt hatten, 


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SCHUTZIMPFUNG. 


in einer so grossen Menge producirt worden sind, dass ein nennenswerter 
Ueberschuss im Körper zurückbleibt, und diese nun erst nach mehr oder we¬ 
niger langer Zeit verschwinden. Ist kein solcher Ueberschuss vorhanden, son¬ 
dern bat die gebildete Menge von Antikörpern nur gerade ausgereicbt, die 
Krankheit zur Heilung zu bringen, so steht das erkrankt gewesene Individuum 
einer neuen Infection gerade so gegenüber, wie ein noch nie inficirtes, ja ist 
häufig sogar noch empfindlicher geworden. Ein derartiges Verhalten findet 
sich z. B. bei der Pneumonie und der Gonorrhoe. 

Der andere Fall, Schutz gegen eine neue Infection durch einmaliges 
Ueberstehen der Krankheit, tritt bekanntermaassen ein bei Scharlach, Masern 
und Pocken. Diese alte Erfahrung hat nun auch zu den ersten Schutz¬ 
impfungen geführt. Man brachte und bringt noch heutzutage bei auffallend 
leichten Masern- und Scharlachepidemien, besonders bei den Masern, gesunde 
Kinder mit kranken in Berührung, in der Hoffnung, dass sie sich inficiren 
und eine leichte Erkrankung durchmachen werden, die sie in einer schweren 
Epidemie gegen Neuansteckung schützt. Dass die Individualität eine sehr 
grosse Bolle bei der Immunität spielt, zeigt sich übrigens trefflich bei diesen 
Versuchen. Einmal kommt es vor, dass trotz innigster Berührung die ge¬ 
wünschte Infection nicht eintritt, es besteht eine angeborene Immunität, dann 
sieht man, dass schon nach wenigen Jahren derartig schutzgeimpfte Kinder 
zum zweiten Mal an derselben Infection erkranken, so dass ihre erworbene 
Immunität nur eine sehr geringe, nicht den Erwartungen entsprechende war. 

Aehnliche Versuche sind im vorigen Jahrhundert in Deutschland und 
schon seit alter Zeit in Indien und China mit den Pocken gemacht worden. 
Die als Variolation bezeichnete Schutzimpfung bestand im Einimpfen von 
Pockenvirus in die Haut. Der Geimpfte erkrankt an den Pocken, jedoch 
treten diese dann in einer milden Form auf. Diese Art der Pockenschutz¬ 
impfung ist in Europa jedoch bald verlassen worden. Die Gefahr für das 
geimpfte Individuum ist eine recht erhebliche (von 300 Geimpften stirbt einer), 
und vor allem wird durch die Variolation die Ausbreitung der Pocken ge¬ 
fördert. Noch viel schlechtere Erfahrungen sind mit cutanen Einimpfungen 
des Syphiliscontagiums (Syphilisation) gemacht worden. 

Weit zweckmässiger als derartige Schutzimpfungen mit voll virulentem 
Material, das bei den geimpften Personen nur deshalb meist nicht die 
schwerste Form der Krankheit erzeugte, weil es nicht an den günstigsten 
Eingangspforten in den Organismus gelangt, sind Schutzimpfungen zwar mit 
lebendem, aber künstlich abgeschwächtem Virus. Es ist ein grosses Verdienst 
Pasteur’s, bewiesen zu haben, dass durch begrenzte Einwirkung schädigender 
Einflüsse auf Krankheitserreger diese so verändert und abgeschwächt werden 
können, dass sie höchstens eine leichte Erkrankung, sicher aber Immunität 
gegen den vollvirulenten Krankheitserreger hervorrufen. Seine Experimente 
betrafen die Hühnercholera, den Rauschbrand, den Milzbrand, den Schweine¬ 
rothlauf und vor allem die Hundswuth. Während die ersteren Methoden, be¬ 
sonders die Schutzimpfungen gegen Milzbrand und Schweinerothlauf mit abge¬ 
schwächten Vaccins, die in meist zweifacher Folge gegeben werden sollten, 
sich doch nicht ganz bewährten, und die Frage der künstlichen Erzeugung 
einer Immunität gegen Milzbrand und Schweinerothlauf auch heute noch nicht 
den Anforderungen der Praxis entsprechend gelöst ist, ist die Methode der 
Hundswuthschutzimpfung unverändert und bewährt geblieben, seitdem im 
October 1885 Pasteur der Akademie der Wissenschaften zu Paris seine ersten 
Mittheilungen gemacht hatte. Wenn dieselbe auch mehr als ein Heilmittel 
denn ein Schutzmittel erscheint, da sie erst nach dem Biss angewandt wird, 
so ist dieselbe thatsächlich doch eine regelrechte Schutzimpfung. Die Erfolge 
derselben nach dem Biss beruhen ausschliesslich darauf, dass die Incubations- 


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SCHOTZIMPFüNG. 


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zeit der Wuth beim Menschen zum Glück meist eine so lange ist, dass noch 
nach dem Biss eine immunisirende Schutzimpfung Zweck und auch meist den 
gewünschten Erfolg hat. 

Zur Impfang wird ausschliesslich Rückenmark yoq an Viras fixe gestorbenen Kaninchen 
verwandt. Viras fixe erhält man, wenn von ursprünglicher Strassenwuth auf Kaninchen 
subdural übergeimpft und weitergezüchtet wird. Diese Weiterimpfangen verändern in der 
26. bis 80. Generation das Virus der Strassenwuth derart, dass aie anfangs schwankende, 
meist 2 bis 3 Wochen betragende Incubationszeit auf constant 5 bis 6 Tage herabsinkt. Von 
an Virus fixe gestoibenen Kaninchen wird das Rückenmark herauspräparirt und in kleinen 
Stückchen in Glasgefässen, deren Boden mit Kalistückchen aufgeschüttet ist, suspendirt. 
In diesen Gefässen lässt man bei 20° C die Markstückchen trocknen. Je länger der 
Trocknungsprocess dauert, um so mehr sinkt die Virulenz. 14 Tage getrocknetes Mark 
ist völlig avirulent. Mit 14tägigem Mark beginnend bis zu 3tägigem fast voll virulentem 
Mark heruntergehend, werden die Schutzimpfungen durch subcutane Injection von emul* 
sionirten Markstückchen ausgeführt. 

Durch diese Methode gelingt es, selbstverständlich auch experimentell 
gegen nachfolgende Impfung mit virulentem Material zu immunisiren. Die 
Erfolge sind überall glänzende gewesen, und hat sich allmählich kein Cultur- 
staat der Errichtung von Instituten, in denen diese Schutzimpfungen ausgeführt 
werden, entziehen können. 

Wie es auf diese Weise gelingt, durch äussere Eingriffe die Virulenz 
specifischer Mikroorganismen zu verändern und abzuschwächen und dann mit 
dem veränderten und abgeschwächten Virus Immunität gegen die vollvirulente 
Form des Mikroorganismus zu erzeugen, so gelingt diese Abschwächung von 
Mikroorganismen auch durch Thierpassagen. Das beste Beispiel hiefür ist 
die jENNER’sche Schutzpockenimpfung mit dem Inhalt der Kuhpocke. Es ist 
der sichere experimentelle Nachweis geführt, dass durch Uebertragen von 
echtem Pockenvirus auf Kühe und Kälber bei diesen die sogenannten Kuh¬ 
pocken erzeugt werden können. Rückimpfungen auf Menschen haben stets das 
Auftreten von localen Impfpusteln bewirkt. Diese haben wiederum Schutz 
gewährt gegen das Contagium der echten Pocken. Die ausführliche Be¬ 
sprechung der Schutzpockenimpfung wird im II. Abschnitt dieses Artikels ge¬ 
schehen. 

Von eminent praktischer Bedeutung haben sich schon bewährt und 
werden sich voraussichtlich, allgemeiner durchgeführt, noch mehr bewähren 
die Schutzimpfungen mit abgetödteten Bacterien. Während in allen bisher 
besprochenen Impfverfahren es sich stets um Einverleibung von lebenden 
Mikroorganismen in den Körper des zu Impfenden gehandelt hatte, kommen 
wir mit diesem Abschnitt zu Impfungen, die ausschliesslich mit todtem Material 
ausgeführt werden. Ehe diese Methoden besprochen werden, scheint es noth- 
wendig, noch eine kleine Abschweifung zu den Theorien und den verschiedenen 
Arten der Immunität zu machen. 

Abgesehen von den bereits oben erwähnten zwei Arten der Immunität, 
der angeborenen natürlichen und der erworbenen, müssen wir noch vier weitere 
Unterarten der Immunität unterscheiden, nämlich erstens die Giftimmunität, 
zweitens die Immunität gegen den lebenden Erreger und ferner in Bezug auf 
die Art der Erzeugung der künstlichen Immunität eine active und passive 
Immunität. Ein Individuum ist activ immunisirt, wenn dasselbe infolge ge¬ 
eigneter Vorbehandlung Antikörper activ in seinem Organismus gebildet hat. 
Unter passiver Immunität versteht man denjenigen Schutz eines Organismus 
gegenüber Gift oder Bacterien, der durch die Einverleibung eines Serums 
eines activ immunisirten Organismus erreicht wird. Die erzielte Immunität 
kann nun den immunen Organismus entweder gegen das specifische Gift oder 
gegen den lebenden specifischen Mikroorganismus schützen, und fällt ein Schutz 
gegen beides durchaus nicht immer zusammen. Mit einer Immunität, welche 
zwar Schutz verleiht gegen einen lebenden Mikroorganismus, aber dessen Gift, 


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SCHUTZIMPFUNG. 


sei es ein Gift, das der Mikroorganismus producirt und secernirt, sei es ein 
Gift, das ein Bestandteil seiner Leibessubstanz ist und demgemäss erst bei 
seinem Zugrundegehen frei wird, nicht tangirt, mit einer derartigen Immuni¬ 
tät wird wohl ein Schutz erzielt werden können vor der Infection, aber nie¬ 
mals eine Heilung nach stattgefundener und diagnosticirter Infection mehr 
möglich sein. Eine solche, dem Serum des immunisirten Körpers bactericide 
Eigenschaften verleihende Immunität wird erzielt durch die Schutzimpfungen 
gegen Cholera, Typhus und Pest. Bei allen drei Schutzimpfungen handelt es 
sich um das Einverleiben von abgetödteten Bacterienleibem, d. h. um das 
Einverleiben von Bacteriengiften. 

Diese Schatzimpfangen gründen sich auf die Untersuchangen von R. Pfeiffer und 
R. Pfeiffer and Kolle, die für Typhus and Cholera gezeigt haben, dass schon wenige Milli- 

t ramm abgetödteterBacteriencultur, mit Bouillon emulsionirt und subcutan applicirt, vollstan- 
ig genügen, um einen hohen specifischen Schutzwert des Serums hervorzurufen. Nach der 
Schatzimpfung treten Temperaturerhöhungen zunächst ein, die 2 bis 3 Tage anzuhalten 
pflegen, dann kommt es zum Auftreten von Antikörpern im Blut und charakterisirt sich 
nun das schutzgeimpfte Individuum als ein sicher immunisirtes. Es befindet sich genau in 
demselben Zustand, wie ein Individuum, welches diese Krankheiten überstanden hat. Die 
Blutuntersuchung eines solchen geimpften Individuums ergibt demgemäss, dass das Serum 
zunächst imstande ist, in einer bis in die Bruchtheile von Milligrammen meist reichenden 
Verdünnung im Peritoneum des Meerschweinchens die specifischen Bacterien in einer 
Dosis, die aas vielfache Multiplum der tödtlichen Minimaldosis ist, zur schnellen Auflösung 
und die Infection damit zur Heilung zu bringen. Ferner zeigt das Serum derartig behan¬ 
delter Menschen auch die Reagenzglaswirkung des Immunserums, d. h. es ist imstande, in 
vitro Vibrionen oder Bacterien zu agglutiniren und zu lähmen. 

Diese eben besprochenen Schutzimpfungen gegen Cholera und Typhus 
sind vod hervorragender Bedeutung für unsere Kenntnis von dem Wesen der 
Immunität und demgemäss von dem Wesen der Schutzimpfungen gewesen. 
Wir sind wohl berechtigt, aus der Erkenntnis des geheimnisvollen Vorganges 
des Entstehens einer Immunität nach einer Schutzimpfung, die wir aus diesen 
Beispielen schöpfen können und geschöpft haben, Schlüsse auf das Zustande¬ 
kommen der Immunität nach Schutzimpfungen mit unbekannten Mikroorga¬ 
nismen zu ziehen, wie es besonders die Schutzpockenimpfung ist. Wenn auch 
die Pockenimmunität durch Impfen mit abgeschwächtem lebendem Material und 
die besprochene Cholera- und Typhusimmunität durch Impfen mit todtem 
Material erzeugt wird, so ist dieser Unterschied nicht erheblich, denn man 
kann auch, wie es die Natur thut, mit lebendem, virulentem oder abge¬ 
schwächtem Material gegen jene beiden Krankheiten schützen. Wir sind be¬ 
rechtigt, aus den Forschungen über Cholera- und Typhusimmunität besonders 
den Schluss zu ziehen, dass nach jeder Schutzimpfung infolge des Reizes des 
injicirten lebenden oder todten Virus bestimmte Zellgruppen, und zwar in den 
blutbildenden Organen, Milz, Knochenmark und Lymphdrüsen, erregt werden. 
Dieselben produciren dann als Reaction auf den specifischen Reiz specifische 
Stoffe, die Antikörper, welche, in genügender Menge vorhanden, zur Heilung 
führen. Um noch einmal zusammenzufassen, sind diese Antikörper entweder 
rein bactericider Art, wie die der Cholera, des Typhus und wahrscheinlich 
der Pest, oder sie sind antitoxische Antikörper, wie die der Diphtherie und des 
Tetanus. Wie sie sich bei den übrigen Krankheiten verhalten, bei denen wir 
Schutzimpfungen ausführen, entzieht sich so lange unserer exacten Kenntnis, 
wie wir die specifischen Krankheitserreger nicht kennen und nicht züchten 
können. 

Für die Praxis hat die Choleraschutzimpfung, die zuerst in ausgedehntem 
Maasse Haffkine in Indien eingeführt hat, eine grosse Bedeutung gewonnen. 
Die Erfolge Haffkine’s sind bedeutende, und betreffen die Verluste an ge¬ 
impften Menschen meist Personen, die sich wohl schon vor der Schutzimpfung 
inficirt haben oder doch so bald nach derselben, dass zur Zeit der Infection 
noch keine Antikörper aufgetreten sein konnten. Es liegt in der Natur der 


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SCHUTZIMPFUNG. 


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Sache, dass beim Typhus diese Schutzimpfungen noch nicht zur Ausführung 
anders als in Laboratorien, in denen viel mit Typhus gearbeitet wird und so 
eine beständige Infectionsgefahr vorliegt, gekommen sind. Bei der Pest sind von 
Haffkine gleichfalls Schutzimpfungen mit abgetödteten Bacterien in grossem 
Maassstabe ausgeführt worden und scheinen sie sich glänzend zu bewähren. 
Es gelingt natürlich auch, bei diesen drei Krankheiten, Typhus, Cholera und 
Pest, passiv zu immunisiren, und zwar durch subcutane Einführung von Serum 
hochimmunisirter Thiere. Eine derartige passive Immunisirungsmethode hat 
nun zwar zunächst den Vortheil, dass der Schutzimpfung keine reactive, doch 
immerhin mit körperlichem Unbehagen verknüpfte Temperatursteigerung folgt, 
aber sie hat den Nachtheil, dass einmal die erreichte Immunität nicht so 
hochgradig ist wie bei der activen Immunisirung, doch wäre dieser Nachtheil 
nur gering anzuschlagen, dann aber die passiv verliehene Immunität sehr 
schnell schwindet, während die activ erzielte Immunität bedeutend länger 
hält. Ist der Impfschutz durch eine einmalige active Immunisirung erlangt 
worden, so besteht ein Impfschutz von immerhin einigen Monaten gegenüber 
einem Impfschutz von zwei bis drei Wochen bei der passiven Immunität. Ist 
die active Immunität durch längere Zeit fortgesetzte regelmässige Injectionen 
von Impfmaterial erreicht worden, so erstreckt sich der Impfschutz über Jahre. 
Ein Vortheil der passiven Immunisirungsmethode ist aber der, dass durch die 
Schutzimpfung ein immerhin erheblicher Grad von Immunität sofort erzielt 
wird. Es kann also in Fällen, in denen ein sofortiger Schutz nothwendig ist, 
eine passive Schutzimpfung bei Cholera, Typhus und Pest in Frage kommen. 

Aus dem oben Gesagten über die Wirksamkeit des Immunserums bei 
Cholera, Typhus und Pest erhellt deutlich, weshalb von einer curativen Ver¬ 
wendung dieser bactericiden Immunsera zunächst nichts zu hoffen ist. Ist die 
Krankheit diagnosticirt, so finden sich derartige Mengen von Mikroorganismen 
in dem befallenen Körper, dass die sofortige Abtödtung der Bacterien, falls sie 
gelänge, doch den Organismus nicht davor bewahren könnte, an dem speci- 
fischen vom Immunserum nicht beeinflussten Gift zu Grunde zu gehen. Dies 
ist analog den Fällen im Thierexperiment, wo die Serumdosis noch gerade 
ausreicht, nach längerer Zeit die sich im Peritoneum des inficirten Meer¬ 
schweinchens schon vermehrenden Mikroorganismen abzutödten, aber das 
Versuchsthier an der specifischen Giftwirkung, ohne noch ein lebendes Bacte- 
rium zu enthalten, zu Grunde geht. Zu erwähnen wäre schliesslich noch, 
dass für die Pest die Frage der Wirkung des Serums zur Zeit auch nicht 
so ganz gelöst erscheint. Yersin hat mit Serum Kranke behandelt. Seine Er¬ 
folge sind aber noch unsicher und sehr bestritten. 

Zum Schlüsse müssen wir noch die Schutzimpfungen gegen Diphtherie 
und Tetanus besprechen. 

Ueberstandene Diphtherie hinterl&sst eine kürzere oder längere Zeit anhaltende 
Immunität. Diese Immunität ist eine ausschliessliche Giftimmunität. Der Diphtherie¬ 
bacillus wird durch sein Immunserum in keiner Weise beeinflusst, wohl aber das von ihm 
producirte Gift. Durch diese Eigenschaft, Gift zu produciren, unterscheidet er sich sehr 
erheblich von den Erregern der Cholera, des Typhus und der Pest, die Gift in ihrer 
Leibessubstanz enthalten, welches nach dem Tode des Mikroorganismus frei wird, aber 
kein Gift na^h aussen absondern. Ist deshalb ein Organismus gegen Diphtheriegift immu- 
nisirt, so verhält sich zu ihm der Diphtheriebacillus wie ein gewöhnlicher harmloser 
Saprophyt. Jedes Quantum Gift, welches dieser producirt, wird sofort, ehe es eine den 
Organismus schädigende Wirkung entfalten kann, durch das im Organismus kreisende 
Antitoxin in Beschlag genommen und neutralisirt. Ich werde demgemäss einen Organismus 
schützen können gegen Diphtherie, wenn ich ihm eine genügende Menge des specifischen 
Antitoxins einverleibe. Ich werde ihn heilen können, wenn ich, noch ehe das bereits pro¬ 
ducirte Gift einen erheblichen schädigenden Einfluss entfalten konnte, genügende Mengen 
Antitoxin dem kranken Organismus zuführe. Wenn ich so das schon producirte und 
noch im ferneren Verlauf der Krankheit gebildete Gift gebunden habe, so wird der Orga¬ 
nismus sehr schnell mit den nun harmlosen Bacillen fertig werden. Es besteht für den 
um seine Existenz kämpfenden Organismus beim Kampf gegen Diphtheriebacillen der Vor- 


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SCHUTZIMPFUNG. 


theil gegenüber dem Kampf gegen Cholera, Typhus and Pest, dass mit jedem aufgelösten 
Diphtheriebacillus nicht eine erhebliche Menge von einem Gift in den Körper Übertritt, 
gegen welches er nar mit seinen natürlichen Kräften sich wehren kann. 

Es sind, wie aus dem eben Gesagten hervorgeht, in praxi zwei Arten von 
Schutzimpfung bei der Diphtherie mit Immunserum möglich, einmal eine 
prophylactische, dann eine curative. Besonders die letztere, durch Behring 
und Ehrlich entdeckte und der Allgemeinheit zugänglich gemachte Impf¬ 
methode hat sich glänzend in den vielen tausenden Fällen, in denen sie zur 
Anwendung gekommen ist, bewährt. Der Nutzen der prophylactischen Impfung 
ist natürlich ein beschränkterer, da sich der Impfschutz auch hier nach zwei 
bis drei Wochen verliert. Dieselbe ist mit Erfolg angewandt worden inner¬ 
halb von Familien und hat schöne Resultate ergeben in Kinderspitälern, 
aus welchen es gelungen ist, die unangenehmen beständigen Hausinfectionen 
nnd Hausepidemien dadurch auszurotten, dass ganz regelmässig alle drei 
Wochen sämmtliche Kinder imrounisirt werden. 

Weniger günstig sind bisher die Erfolge mit der Schutzimpfung gegen 
Tetanus gewesen. Prophylactisch ist eine Schutzimpfung mit Tetanusantitoxin 
unbestritten von sicherer Wirkung. Die Heilwirkung des Tetanusantitoxin ist 
zum mindesten noch nicht sicher bewiesen, ja im Gegentheil sprechen sehr 
viele Mittheilungen für die Nutzlosigkeit desselben. Es ist dies auch leicht 
zu erklären, denn die anatomischen Läsionen im Centralnervensystem sind bei 
Stellung der Diagnose meist schon sehr schwere, und selbst rechtzeitig ge¬ 
reichte grosse Dosen Antitoxin können die weiteren anatomischen Zerstö¬ 
rungen nicht mehr aufhalten. Immerhin ist es wohl auch hier noch zu früh, 
ein abschliessendes Urtheil, sei es nach der einen, sei es nach der anderen 
Seite hin zu fällen. 

II. Die Schutzpockenimpfung. Schon lange Zeit bestand in England der 
Volksglaube, dass eine Infection mit Kuhpocken gegen die echten Pocken 
schütze. Eduard Jenner unterzog diesen Volksglauben einer Nachprüfung, 
die die Richtigkeit dieses alten Glaubens ergab. Er impfte Menschen, die an 
den Kuhpocken erkrankt waren nnd deren Erkrankung zum Theil schon 
fünf Decennien zurücklag, mit virulentem Pockenmaterial, und es erkrankte 
auch nicht einer dieser Impflinge an den Pocken, so dass in der That die 
Infection mit den Kuhpocken einen absoluten Schutz gegen die echten Pocken 
zu verleihen schien. Dadurch ermuthigt, impfte Jenner zum ersten Mal am 
14. Mai 1796 einen Knaben mit dem Bläscheninhalt einer Kubpocke, die 
sich an dem Finger einer Viehmagd entwickelt hatte. Es entstanden die 
charakteristischen Impfpusteln, und auch dieser Knabe zeigte sich unempfäng¬ 
lich gegen eine nachfolgende, an mehreren Körperstellen ausgeführte Variola- 
tion. Jenner wies nun im weiteren Verlauf seiner Studien nach, dass die 
Kuhpocken von Mensch zu Mensch fortgepflanzt werden können, und dass 
auch nach vielen Generationen der Pustelinhalt noch immer in gleicher Weise 
gegen echte Pocken immunisirt, wie der Inhalt der Kuhpocken. Hiermit war 
die Möglichkeit zur allgemeinen Durchführung der Schutzpockenimpfung ge¬ 
geben, denn die Kuhpocke ist doch eine immerhin so seltene Krankheit, dass 
dieselbe niemals genügend Material zu Impfungen im grossen Maassstabe hätte 
liefern können. 

Der Vortheil dieser Vaccination mit humanisirter Lymphe war so in die 
Augen springend der bis dahin geübten Methode der Variolation gegenüber, 
dass die jENNER’sche Schutzimpfung ihren Siegeszug durch die ganze Welt 
antreten konnte. In Deutschland waren es besonders Männer, wie Strometer. 
Soemmering, Hufeland und Hein, die sich hochverdient um die Einführung 
des Jenner’ sehen Verfahrens gemacht hatten. Ein besonderes Augenmerk 
schenkte die preussische Regierung der Pockenimpfung, und war diese bereits 
im Jahre 1802 imstande, über 7445 Impfversuche theils von Civil-, theils von 


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SCHUTZIMPFUNG. 


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Militärärzten berichten zn können. In Oesterreich hat sich besonders de Caro 
um die Einführung der Schutzimpfung verdient gemacht. 

Infolge der unbestrittenen Resultate, die mit der Pockenimpfung erzielt 
worden sind, sahen sich die meisten Staaten im Laufe dieses Jahrhunderts 
veranlasst, in einer mehr oder weniger allgemeinen Form die Impfung gesetz¬ 
lich einzuführen. Ein strenger, allgemein durchgeführter Impfzwang wird vor¬ 
züglich in Deutschland, und zwar seit Inkrafttreten des Reichsimpfgesetzes 
vom 8. April 1874 ausgeübt. (Vergl. III. Abschnitt, Impfgesetzgebungen.) 

Den eminenten Nutzen der Schutzpockenimpfungen kann nichts besser 
illustriren als sorgfältige Statistiken und Vergleiche der Statistiken untereinander. 
Der Ansturm der Impfgegner gegen den segensreichen Impfzwang hat zur Be¬ 
kanntgabe zahlreicher Statistiken, unter denen besonders die des Deutschen 
Reichsgesundheitsamtes zu nennen sind, geführt. Aus dem Werke von M. Schulz 
über die Impfung seien einige dort zusammengestellte statistische Zahlen zur 
lllustrirung angeführt. 

Ueber die Pockenepidemie, welche 1870/71 in Chemnitz wüthete, werden folgende 
Zahlen mifgetheilt. Die Stadt trat in die Epidemie mit 64.255 Einwohnern. 

Von diesen waren 53891 = 83*87°/ 0 geimpft, 

, * „ 5712 = 8*89% ungeimpft, 

4652 = 7*2% hatten die Blattern überstanden. 

Von den Geimpften erkrankten nur 953 == 1*76% Blattern. 

Von den Ungeimpfen aber 2643 = 46*27%. 

Die Mortalität der nngeimpften Blatternkranken war 9*16%, die der geimpften dagegen 
nur 0 73%. 

Nach dem Inkrafttreten des Impfzwanges schwankte zwischen 1875—1884 in Prenssen 
die Pockenmortalitat zwischen 0*34 und 3*64 auf 100.000 Einwohner. In Oesterreich, 
welches ohne Impfzwang blieb, schwankte in derselben Zeit auf gleichfalls 100.000 Einwohner 
die Pockenmortalität zwischen 40*17 und 94*79. 

Seit 1875 bis 1886 schwankte die Pockenmortalität von Berlin und Wien, auf je 
100.000 Einwohner berechnet, wie folgt: Berlin 0*07—5*19, Wien 9*74—179*61. 

Glänzend bewährte sich die Pockenimpfung bei der deutschen Armee während des 
Feldzuges 1870/71; das deutsche Heer hatte 450, das französische dagegen 23.400 Pocken- 
todesfalle zu verzeichnen. 

Seit dem Inkrafttreten des deutschen Reichsimpfgesetzes sind die Durchschnittszahlen 
der jährlichen Pockenmortalität, auf je 100.000 Mann berechnet, 

für die österreichische Armee bis 1886 317 5 
„ , französische „ „ 1881 169*7 

* „ deutsche , „ 1887 4*2. 

Diese wenigen Zahlen mögen genügen, da sie deutlicher wie viele Worte den emi¬ 
nenten Wert der Schutzimpfung ausdrücken, und wenden wir uns nun der Praxis der 
Impfung selbst zu. 

Von ganz besonderer Bedeutung ist die Frage nach der Länge des Impf¬ 
schutzes. Dieselbe lässt sich nicht ganz präcise beantworten, da sie grossen 
individuellen Schwankungen unterworfen ist, doch kann man im Allge¬ 
meinen die Dauer des Impfschutzes auf circa zehn Jahre veranschlagen. Es 
empfiehlt sich demgemäss, entsprechend den deutschen Impfvorschriften, sich 
nicht mit einer Impfung in den ersten Lebensjahren zu begnügen, sondern der¬ 
selben zum mindesten noch eine nach circa zehn Jahren während der Schulzeit 
folgen zu lassen. Spätere Impfungen sind obligatorisch unmöglich durchzu¬ 
führen, doch gelingt es, wenigstens einen grossen Theil der männlichen Be¬ 
völkerung, nämlich beim Eintritt in das stehende Heer, in Deutschland noch 
zum dritten Mal einer Impfung zu unterziehen. Der sehr bedeutende perso¬ 
nelle Impferfolg bei diesen Rekrutenimpfungen lässt deutlich erkennen, wie 
nöthig eine solche dritte Impfung ist. 

Im Gegensatz zu dem vorübergehenden Schutz der Impfung gewährt 
Ueberstehen der echten Pocken fast stets eine dauernde Immunität, und kann 
demgemäss bei allen Personen, welche die Pocken überstanden haben, von 
einer Impfung als zwecklos abgesehen werden. 


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SCHUTZIMPFUNG. 


Die Impfung selbst wird zweckmässig am Oberarm ausgefübrt. Sie kann durch 
Stich, Schnitt oder Riss ausgeführt werden. Es ist darauf zu achten, dass die Impfver¬ 
letzungen nicht zu nahe neben einander angelegt werden, da durch das eventuelle Gon- 
fluiren der häufig entstehenden entzündlichen Höfe um die Pusteln herum sehr schmerz¬ 
hafte und bedeutende Schwellungen des Oberarmes hervorgerufen werden können. Vor 
der Impfung sind die betreffenden Hantpartien zu desinficiren, und soll die Impfung mit 
sterilem Instrument ausgeführt werden. Sehr beliebt sind in letzter Zeit zu diesem Zwecke 
Platiniridiummesser geworden, welche jedesmal vor dem Impfen frisch ausgeglüht werden 
können, also sicher steril sind. Mit dem Impfmesser beziehungsweise der Lancette ist die 
Epidermis bis auf das Rete Malpighii zu durch trennen. Wird mit humanisirter Lymphe ge¬ 
impft. so ist ein einfacher Stich genügend, wird mit animaler Lymphe geimpft, so ist, da 
diese etwas schwerer haftet, ein Schnitt sicherer, und ist in denselben der Impfstoff zweck¬ 
mässig einznstreichen. Da zwei Impfpusteln zum Schutz vollständig ausreichen, muss sich 
die Zahl der Schnitte eigentlich nach der Güte des Impfmaterials richten, könnte also 
bei sicherem Material und sicherer Technik auf zwei sich beschränken. Im Allgemeinen 
werden jedoch gegenwärtig vier Impfscbnitte bei der ersten Impfung und sechs bei der 
zweiten Impfung angelegt. 

Die Entwicklung der Pustel beginnt bei Erstgeimpften meist am dritten Tage. Es 
entsteht ein Knötchen, aus dem dann ein Bläschen hervorgeht, welches sich bis zum 
siebenten Tage zur Pustel entwickelt. Diese erscheint als ein grosses Bläschen von grauer 
Farbe, das von einem mehr oder weniger grossen, entzündlich gerötheten Hof umgeben ist;. 
In der Mitte findet sich an Stelle der Impfwunde ein bräunlicher Eindruck. Dieser nimmt 
allmählich, während sich der bis dahin klare Bläscheninhalt trübt, zu und vergrössert sich 
zum Schorf, der die ganze Pustel bedeckt. Nach drei bis vier Wochen fällt der Schorf 
ab und hinterlässt die Impfnarbe. Die Allgemeinerscheinungen sind meist, ganz geringe, 
nur etwas stärkere, wenn die Höfe confluiren; dann kommt es häufig zu erheblichen Schwel¬ 
lungen der Achseldrüsen. Ein besonderes Impferysipel als Impfkrankheit gibt es selbst¬ 
verständlich nicht, dasselbe kommt zu Stande, wie es gelegentlich bei jeder Wunde Vor¬ 
kommen kann. Es hat nichts mit dem Keimgehalt der Lymphe zu thun, wie weiter unten 
erörtert wird. 

Bei Wiedergeimpften ist der Verlauf meist ein erheblich schneller und 
kommt es häufig nicht zu vollständigen Impfpusteln. Schon die Entwicklung 
von Knötchen wird als erfolgreiche Impfung angesehen. 

Das Material, mit dem im Allgemeinen gegenwärtig die Impfungen aus¬ 
geführt werden, ist animale Lymphe. Gegen das Impfen mit humanisirter 
Lymphe sind viele Bedenken erhoben worden. Wenn dieselben auch meist 
übertrieben sind, lässt sich nicht leugnen, dass Lues in der That auf diese 
Weise übermittelt werden könnte. Sollte deshalb ausnahmsweise von Kindern 
abgeimpft werden, so ist voi* allen Dingen mit Sicherheit Lues des Kindes 
und der Eltern auszuschliessen. Der Abimpfling ist ganz genau zu unter¬ 
suchen, er muss völlig gesund und gut gediehen sein. Er muss mindestens 
sechs Monate alt und ehelicher Geburt sein. Niemals ist das erste Kind aus 
einer Ehe zu nehmen. Lymphe von Wiederimpflingen darf nur im Nothfalle, 
niemals aber zum Impfen von Erstimpflingen verwandt werden. Die Abnahme 
der Lymphe darf nicht später als sieben Tage nach der Impfung erfolgen. 
Die Blattern müssen reif und unverletzt sein und nur einen mässigen Hof 
haben. Mindestens zwei Blattern sind beim Impfling uneröffnet zu lassen. 
Nur Lymphe, die freiwillig austritt und nicht mit Blut oder Eiter untermischt 
ist, darf verwendet werden. 

Für die Gewinnung der animalen Lymphe sind eine Reihe von Vorschriften za be¬ 
folgen, die meist in dem Bnndesraths-Beschlnss vom 28. April 1887 niedergelegt sind. Die 
Kälber, welche zar Impfgewinnang kommen, müssen mindestens drei, besser fünf Wochen 
and darüber alt sein. Sie müssen selbstverständlich völlig gesund sein. Nur dann darf 
der gewonnene Impfstoff abgegeben werden, wenn die genaue Untersuchung des geschlachteten 
Kalbes bestätigt hat, dass das Thier völlig gesund war. Die Stallungen der Impfkälber 
müssen den höchsten Anforderungen der Sauberkeit etc. entsprechen. Die Instrumente 
sind vor dem Ausführen der Impfung zu sterilisiren. Das Impffeld ist zu rasiren und mit 
Seife und warmem Wasser gründlich zu reinigen, darnach wird meist mit Sublimat, Carbol 
oder Lysol desinficirt und mit sterilem Wasser nachgespült. Auf eine andere Methode, 
auf die der Alkoholdesinfection, kommen wir noch weiter unten zu sprechen. Als Impf¬ 
fläche ist zu benützen: bei jungen Thieren die Hinterbauchgegend vom Damm bis in die 
Nähe des Nabels sammt dem Bodensack und der Innenfläche der Schenkel; bei älteren 
Thieren der Hodensack, der Euter, der Milcbspiegel sammt der Umgebung der Vulva. Die 
Impfung wird meist mit kürzeren und längeren Schnitten oder mit Scanficationen ausge- 


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SCHUTZIMPFUNG. 


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fahrt. Zur Impfung kann Menschenlymphe, Thierlymphe oder Kuhpockeninhalt benützt 
werden. Die Abnahme des Impfmaterials erfolgt vor dem Eitrigwerden des Blaseninhaltes, 
d. h. 3—5 mal 24 Stunden nach der Impfung. Es ist dabei die Impffläche sorgfältig mit 
warmem Wasser und Seife zu reinigen. Aus den gut entwickelten Blattern ist mit Hilfe 
eines Löffels der Impfstoff zu entnehmen. Als Impfstoff sind die flüssigen und festen 
Bestandtheile der Blattern zu verwerten, die Borken sind auszuschliessen. Brauchbare 
Impfconserven sind: 

1. Pasten, durch Zerreiben des Pockenbodens mit wenig Glycerinwasser hergestellt. 

2. Pulver, durch Trocknen des Impfstoffes im Exsiccator gewonnen. 

(Wird zum Gebrauch mit Glycerin angerieben.) 

3. Extracte, die nach Verreiben mit Glycerin und Absetzenlassen der festen Bestand¬ 
theile gewonnen werden. 

Letztere Form ist die brauchbarste und meist ausschliesslich angewandt. Die 
Lymphe wird in sterilen Glascapillaren oder grösseren 2—3 cm 8 fassenden Glasgefässen 
abgegeben. 

Es erübrigt nun noch, zum Schlüsse die jetzt viel ventilirte Frage nach 
der Bedeutung der in der Lymphe enthaltenen Bacterien zu erörtern. Man 
ist von manchen Seiten geneigt, die häufig auftretende bedeutende entzünd¬ 
liche Reizung nach der Impfung, wie auch besonders das Auftreten von 
Wundkrankheiten, wie z. B. das Erysipel, dem Gehalt der Lymphe an patho¬ 
genen und pyogenen Keimen zuzuschreiben. Diese Fragen sind von einer 
preussischen Impfcommission aufs sorgfältigste untersucht und diese Unter¬ 
suchungen von Frosch in einem Bericht zusammengefasst. 

Der Keimgehalt der frisch entnommenen Lymphe ist ein sehr hoher und 
beträgt circa vier Millionen. Trotzdem ist die Bedeutung dieses Keimgehaltes 
aus zwei Gründen sehr gering. Einmal sind pathogene Keime in den vielen 
untersuchten Lymphproben eigentlich überhaupt nicht gefunden worden. Nur 
fünfmal konnten pyogene Coccen aus 29 Proben gezüchtet werden, von denen 
ein Coccus sich als virulent für Kaninchen und Mäuse erwies. Sicher war 
dieser Coccus aber nicht virulent für Menschen, denn die Berichte über 
Impfungen, die mit dieser Lymphe ausgeführt worden sind, sprachen weder 
von irgend welchen eitrigen Wundkrankheiten, die diese Lymphe hervorge¬ 
rufen hat, noch von besonders starker Reizung. 

Dann gelingt es sehr leicht, auch die Keime, welche vorhanden sind, 
fast gänzlich zu beseitigen, und zwar mit Hilfe von Glycerin. Wird die 
Lymphe mit 60 0 / o igem Glycerinwasser versetzt, sich selbst überlassen, so tritt 
eine rapide Verminderung der Keimzahl ein. Die pyogenen Keime sind die 
empfindlichsten und sind nach drei Monaten sicher verschwunden. Die geringe 
Zahl von Keimen (5—50 pro cm 3 ) besteht nur aus Vertretern der Sapro- 
phyten, so dass auf diese Weise ganz sicher die Lymphe unschädlich ge¬ 
macht werden kann. Zweckmässig ist es nach den Vorschriften von Schulz, 
durch Centrifugiren erst einen sehr erheblichen Theil der Keime und die 
festen unansehnlichen Bestandtheile der Lymphe auszuschleudem und dann 
dem Glycerin das Abtödten der noch vorhandenen Keime zu überlassen. 
Die so gewonnene Lymphe zeichnet sich äusserlich durch ihr schönes, leicht 
opalescirendes Aussehen aus, so dass auch das ästhetische Moment dadurch 
befriedigt wird und wohl nicht gut von „Geschwürsjauche“ geredet werden 
kann. 

In dem Bestreben, von vornherein die Lymphe möglichst keimarm zu 
gewinnen, sind die verschiedensten Methoden ersonnen worden zur Desinfec- 
tion des Impffeldes und zur Fernhaltung von äusseren Verunreinigungen. Als 
die beste Methode hat sich die von Schulz (Berlin) eingeführte Methode er¬ 
wiesen, über die Schulz wie folgt berichtet: 

„Auf die Umgebung der zu impfenden Stellen werden breite Gazestreifen mit reich¬ 
lichem Collodium aufgeklebt, die rasirte Impffläche wird mit Wasser und Seife gewaschen, 
auch mit Sublimat desinficirt und dann abgetrocknet. Während der Impfung wird sie 
mit Alkohol feucht erhalten; jede geimpfte Stelle wird nach der Impfung unmittelbar mit 
Alkohol-durchfeuchtetem Mull bedeckt. Der feuchte Mull wird nach beendeter Impfung 
durch sterilen trockenen ersetzt und hierüber sterile Watte gelegt. Der Verband wird 

Bibi. med. WUsensch^ften. Hygiene u. Ger. Medicüt. 44 


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SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 


durch Annähen an di© am Rand befindlichen Gazestreifen befestigt und mit einem grösseren 
Fenster aus Celluloid 'versehen, welches die Beobachtung der sich entwickelnden Blattern 
gestattet.® 

Auf diese Weise ist es gelungen, den Anfangsgehalt der Lymphe, ohne 
dass diese durch den Alkohol an Wirksamkeit einbüsst, auf 2000 bis 600 
herunterzudrücken. 

Zum Schlüsse wäre noch zu erwähnen, dass auch die mehr oder weniger 
starken Reizungen, welche die Lymphe hervorruft, in absolut keinem Zusam¬ 
menhänge mit dem Keimgehalt stehen. Ausgedehnte Versuche haben ergeben, 
dass es sich um rein individuelle Unterschiede der Impflinge handelt. 

Ul. Impfgesetzgebungen. (Entnommen aus Wernich und Wehmbr, Lehrbuch des 
öffentlichen Gesundheitswesens.) 

England. 1840 wurde für das Heer nach der grossen Pockenepidemie eine regel¬ 
rechte Vaccination eingeführt. 1858 wurde ein nominelles Zwangsimpfeesetz gegeben, doch 
blieb es unwirksam, da die Impfungen nicht controlirt wurden. 1867 Vaccinationsacte mit 
dem Zusatzgesetz von 1871 (Strafbestimmungen) führten Erstimpfung definitiv obligatorisch 
ein. Revaccination ist im Civilstand nicht obligatorisch. 

Frankreich hat kein Zwangsgesetz. 

Italien führte durch Gesetz vom 13. April 1887 obligatorische Vaccination ein. 

Die Schweiz behielt durch Gesetz vom 2. Mai 1886 das die Impfung obligatorisch 
einfuhrende Impfgesetz vom 7. November 1849 bei. Der Staat ist verpflichtet zur Beschaf¬ 
fung animaler Lymphe. 

Russland hat Impfzwang, doch ist die Durchführung lückenhaft. 

Oesterreich. Ein indirecter Impfzwang wird in der Weise ausgeübt, dass der 
Genuss von Staatswohlthaten, also die Aufnahme in öffentlichen Schulen, Waisenhäusern, 
manchen Stiftungen, von der Beibringung eines Impfzeugnisses abhängig gemacht ist. 

Impfung der Sträflinge und Gefangenen ist vorgeschrieben. 

Belgien verlangt Impfung der Armen, welche Unterstützungen beanspruchen. In 
öffentliche Schulen werden nur geimpfe Kinder aufgenommen. 

Holland hat seit 1887 Impfzwang. 

Deutschland hat Impfzwang seit dem Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874. 

Dasselbe bestimmt, dass jedes Kind vor dem Ablauf des nach seinem Geburtsjahre 
folgenden Kalenderjahres, sofern es nicht nach ärztlichem Zeugnis die natürlichen Blattern 
überstanden hat, geimpft werden muss. Ebenso muss jeder Zögling einer öffentlichen Lehr¬ 
anstalt oder einer Privatschule innerhalb des Jahres geimpft werden, in welchem der 
Zögling das zwölfte Lebensjahr zurücklegte, sofern er nicht nach ärztlichem Zeugnis in 
den letzten fünf Jahren die natürlichen Blattern bestanden hat oder mit Erfolg geimpft 
worden ist. MARX. 

Schwangerschaftsverhältnisse (forensisch). Diese kommen in Kinds¬ 
mordfällen und auch unter anderen Verhältnissen mehrfach zu forensischen 
Zwecken in Betracht und bedürfen daher einer besonderen Behandlung, wo¬ 
bei wir die zweifelhafte Schwangerschaft, resp. deren Diagnose, die unbewusste 
Schwangerschaft, die Dauer der Schwangerschaft und verschiedene Anomalien 
der Schwangerschaft, als Ueberschwängerung und Ueberfruchtung, Molen¬ 
schwangerschaft und extrauterine Schwangerschaft berücksichtigen. 

1. Zweifelhafte Schwangerschaft. 

Die Verhältnisse, unter welchen Untersuchungen über zweifelhafte 
Schwangerschaft nothwendig werden können, bei welchen bald die Gegen¬ 
wart einer Schwangerschaft, bald die Abwesenheit einer solchen zu constatiren 
ist, sind: 

1. Wenn eine ledige Person der Schwangerschaft verdächtig ist, die¬ 
selbe aber nicht anzeigt und vielmehr ableugnet, resp. verheimlicht, da die 
Verheimlichung der Schwangerschaft unter solchen Verhältnissen mit Strafe 
bedroht ist. 

Bern. Strafges.. Art. 134. Hat eine mit einem unehelichen Kinde niedergekommene 
Weibsperson sowohl ihre Schwangerschaft als ihre Niederkunft verheimlicht, so wird, 
sie, wenn hieraus für das lebendig zur Welt gekommene Kind keine nachtheiligen Folgen 
entstanden sind, wegen unterlassener Befolgung der gesetzlichen Vorschriften mit Gefäng¬ 
nis von 5—40 Tagen bestraft. 


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SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 


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2. Wenn durch Verleumdung einer ledigen Person ein schwangerer 
Zustand zugemuthet, angedichtet wird, und diese klagend auftreten will, in- 
den) einer solchen Klage eine ärztliche Untersuchung vorhergehen muss, 
wobei alles das zu berücksichtigen ist, was sich auf die Diagnose einer 
Schwangerschaft bezieht. 

Bern. Strafgesetz Art. 177. Der Verleumdung macht sich schuldig, wer an öffent¬ 
lichen Orten oder in Gegenwart mehrerer Personen eine Privatperson solcher Hand¬ 
lungen beschuldigt, die, wenn sie wahr wären, denjenigen, gegen den sie vorgebracht 
werden, einer strafrechtlichen Verfolgung oder dem Hasse und der Verachtung der Mit¬ 
bürger aussetzen würden. Bestrafung tritt nur auf Klage der Verletzten ein und kann 
bestehen in Gefängnis bis zu 60 Tagen oder in Correctionshaus bis zu vier Monaten oder 
in einer blossen Geldbusse bis zu 500 Fr. u. s. w. 

3. Wenn ein Ehemann seine Gattin nach der Ehelichung schon von 
einem anderen geschwängert findet und deshalb auf Ehescheidung dringt. 

Oesterr. bürgerl Gesetzb. § 68. Wenn ein Ehemann seine Gattin nach der Ehe- 
lichnng von einem anderen geschwängert findet, so kann er ausser dem im § 121 bestimmten 
Falle fordern, dass die Ehe für ungiltig erklärt werde. 

4. Wenn eine Frauensperson zum Tode oder zu einer körperlichen 
Strafe verurtheilt ist, und die Vermuthung besteht, dass dieselbe schwanger ist. 

Deutsche Strafproc.-O. § 485. An sch wangeren oder geisteskranken Personen darf 
ein TodeBurtheil nicht vollstreckt werden. 

Oesterr. Strafproc.-O. § 398. Wenn die zum Tode oder zu einer Freiheitsstrafe Verur- 
theilte zur Zeit, wo das Strafurtheil in Vollzug gesetzt werden soll, schwanger ist, hat 
die Vollziehung so lange zu unterbleiben bis dieser Zustand anfgehört habe. 

5. Wenn eine durch Tod oder Scheidung von dem Manne getrennte 
Frau wieder heirathen will. Dieses kann den meisten civilen Gesetz¬ 
gebungen nach erst nach Ablauf einer gewissen Zeit geschehen, und, wenn 
diese aus was für Gründen immer abgekürzt werden soll, erst nach vorgän¬ 
giger ärztlicher Untersuchung, durch welche festzustellen ist, dass eine 
Schwangerschaft nicht besteht. 

Das deutsche Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 schreibt vor: Frauen dürfen erst 
nach Ablauf des zehnten Monats seit Beendigung der früheren Ehe eine neue Ehe 
schliessen. Dispensation ist zulässig. 

Das österr. bürgerl. Gesetzbuch bestimmt § 120: Wenn eine Ehe für ungiltig erklärt, 
getrennt oder durch des Mannes Tod aufgelöst wird, so kann die Frau, wenn sie schwanger 
ist, nicht vor ihrer Entbindung, oder wenn über ihre Schwangerschaft ein Zweifel ent¬ 
steht, nicht vor Ablauf des sechsten Monates zu einer neuen Ehe schreiten; wenn j aber 
nach den Umständen oder nach dem Zeugnis der Sachverständigen eine Schwangerschaft 
nicht wahrscheinlich ist, so kann nach Ablauf dreier Monate die Dispensation ertheilt 
werden. 

Wenn nun aus dem einen oder anderen Grunde eine Untersuchung auf 
Schwangerschaft nothwendig wird, so kommt alles darauf an, zu welchem 
Zeitpunkte eine allfällig vorhandene Schwangerschaft nachgewiesen werden 
soll, denn die Sicherheit einer Diagnose hängt durchaus ab von dem Zeit¬ 
punkte, bei welchem die Untersuchung gemacht wird, nämlich ob in der 
ersten Zeit einer Schwangerschaft oder erst in einer späteren Periode. Im 
letzteren Fall ist eine Diagnose mit aller Sicherheit möglich, im ersten da¬ 
gegen, wenn man die drei ersten Monate nimmt, nicht. 

Zwar hat die Schwangerschaft schon nach dem ersten Monat gewisse 
Zeichen, welche dem Erfahrenen die Möglichkeit gestatten, eine Wahrschein¬ 
lichkeitsdiagnose zu stellen, aber es ist doch nur eine Wahrscheinlichkeits¬ 
diagnose, die für die Privatpraxis wohl genügt, aber nicht für gerichtliche 
Fälle, indem hier Wahrscheinlichkeitsdiagnosen einen grösseren Wert nicht 
haben, namentlich nicht, wenn Irrthümer nachtheilige Folgen haben können. 

Es ist mir zu wiederholten Malen in Kindsmordfällen vorgekommen, dass die Be¬ 
treffenden schon nach dem ersten Ausbleiben der Menstruation sich von Hebammen auf 
Schwangerschaft untersuchen Hessen und nach einer beruhigenden Antwort von denselben 
an die Möglichkeit einer Schwangerschaft gar nicht mehr dachten, jede Anzeige unterlassen 
und warteten, bis sie von der Geburt überrascht wurden und dann bei eingetretenem Tode 
des Kindes sich damit entschuldigten, dass sie gleich anfangs der Schwangerschaft von einer 
Hebamme oder gar von einem Arzte sich untersuchen Hessen, welche an einer Schwanger¬ 
schaft zweifelten. Aerzte können dadurch, wenn sie vor das Schwurgericht geladen werden, in 

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SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 


eine sehr unangenehme Situation kommen. Wir rathen nicht, sich damit za brüsten, schon 
in früher Zeit ein bestimmtes Gutachten abgegeben zu haben. 

Aber nicht blos kommt es darauf an, eine allfällige Schwangerschaft 
möglichst frühzeitig zu entdecken, sondern vielmehr die Nichtexistenz einer 
solchen mit Sicherheit festzustellen, da Schwangerschaften aus verschiedenen 
Gründen mitunter gewünscht, behauptet und simulirt werden, um gewisse 
Zwecke zu erreichen, namentlich auch, um Strafen zu entgehen. Die Unter¬ 
suchungen auf Dasein oder Abwesenheit von Schwangerschaft gehören daher 
zu denjenigen, welche mit aller Umsicht vorgenommen werden müssen und 
nicht gleich bei der ersten Untersuchung ein befriedigendes Resultat ergeben, 
so dass Nachuntersuchungen nothwendig sind. 

Was die ersten Erscheinungen einer beginnenden Schwangerschaft be¬ 
trifft, so bestehen diese theils in eigentümlichen Gefühlen, Empfindungen 
in den Organen der Geschlechtssphäre, theils in dem Ausbleiben der 
Menstruation. 

Die eigenthümlichen Empfindungen werden von Personen, die sich 
selbst zu beobachten gewohnt sind, wohl wahrgenommen, es sind eine Reihe 
nervöser Erscheinungen, welche der Betreffenden den Gedanken erwecken, dass 
etwas mit ihnen anders ist. Natürlich haben solche Erscheinungen keinen 
weiteren diagnostischen Wert, aber sie gehören doch zum ganzen klinischen 
Bild einer eingetretenen Schwangerschaft. 

Die wichtigste erste Erscheinung, durch welche sich eine eingetretene 
Schwangerschaft indicirt, ist das Ausbleiben der Menstruation. Wenn 
bei einem seit längerer Zeit regelmässig menstruirt gewesenen Frauenzimmer 
die Menstruation ausbleibt, ohne dass ein psychischer Insult oder eine Körper¬ 
verletzung vorhergegangen sind, so ist man berechtigt, diesen Vorgang mit 
grosser Wahrscheinlichkeit auf eine eingetretene Schwangerschaft zu beziehen. 
Ein sicherer Beweis ist dieses Ausbleiben aber nicht, indem nicht sehr selten 
Fälle bekannt sind, in welchen die Menstruation oder wenigstens ein Blut¬ 
abgang während der Schwangerschaft noch fortgedauert hat, und dann ist es 
auch schon vorgekommen, dass eine Schwangerschaft eintrat, ehe und bevor 
menstruale Blutungen vorhergegangen sind. 

Solche menstraale Blutungen sind von Hohl, *) Elsässer, *) Hogg *) u. A. beobachtet 
worden. In fünfzig von Elsässer gesammelten Fällen trat Menstruation ein: in acht ein¬ 
mal, in zehn Fällen zweimal, in zwölf Fällen dreimal, in fünf Fällen viermal, in sechs 
Fällen fünfmal, in fünf Fällen achtmal, in zwei Fällen neunmal. Wir haben in Kinds¬ 
mordfällen öfters Gelegenheit gehabt, Angaben Uber periodische Blutungen während der 
Schwangerschaft zu hören, bei einer genauen Erörterung dieser Angaben aber stets ge¬ 
funden, dass diese Blutungen doch niemals ganz gleich waren denjenigen vor der Men¬ 
struation, sie traten nicht so Tegelmässig ein, dauerten verschieden lang, der Blutabgang 
war nach Menge sehr verschieden u. s. w. Diese Blutungen konnte ich nicht als eine 
regelmässige Fortsetzung der Menstruation ansehen. In einem Falle fand Säxinger, 4 ) als 
Ursache solcher Blutungen einen kleinen Schleimhautpolypen, nach dessen Abtragung die 
Blutungen aufhörten. 

Um so weniger kann das Aufhören der Menstruation als ein nur einiger- 
maassen sicheres Zeichen von Schwangerschaft angesehen werden, wenn die¬ 
selbe schon vor dem Ausbleiben derselben Unregelmässigkeiten in Bezug auf 
ihren Eintritt und ihre Dauer gezeigt hat. Auch ist in solchen Untersuchungs¬ 
fällen die Möglichkeit einer Simulation der Menstruation nicht ausser Acht 
zu lassen, wie die Fälle von Casper und Hofmann beweisen. 

In Casper-Liman 6 ) steht ein Fall, in welchem Injection von Vogelblut benutzt wurde 
zur Vortäuschung der Menstruation. Die mikroskopische Untersuchung des Blutes gab 
über den Betrug Aufschluss. 3 


*) Lehrb. d. Geburtshilfe, 1862. 

2 ) Hexke’8 Zeitschr., Bd. 73, S. 402. 

3 ) Med. Times, 1871, Nr. 4. 

4 ) Mascuka, Handb., III. 1882, S. 200 
•) 1. c. S. 221. 


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SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 


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Hofmann l ) hatte in einem Kindsmordfall ein Gutachten abzageben, in welchem der 
Matter der Angeklagten deshalb der Zustand der Tochter nicht aafgefallen war, weil 
diese in jedem Monat ein blutiges Hemd eines anderen Mädchens abgegeben hatte. 

Mit dem Ausbleiben der Menstruation als Folge eingetretener Empfäng¬ 
nis treten nun successive noch andere Veränderungen ein, welche eine 
Schwangerschaft indiciren, und zwar zunächst am Uterus, in welchem sich 
das Ovulum weiter entwickelt. Diese Veränderungen beziehen sich theils auf 
den Uteruskörper, theils auf die Vaginalportion. 

Die Vergrösserung des Uteruskörpers beginnt schon im ersten Monat, 
im zweiten erreicht derselbe bereits die Grösse einer Orange und ist noch 
ziemlich hart, im dritten ist er kindskopfgross und im vorderen Scheiden¬ 
gewölbe als weicher, fast teigiger Körper zu fühlen. Im vierten Monat ist 
der Körper mannskopfgross und lässt sich der Fundus desselben meistens schon 
durch die äussere Untersuchung über der Symphyse nachweisen. Im fünften 
Monat ist der Uteruskörper zwischen Nabel und Symphyse fühlbar und gegen 
Ende dieses Monats fühlt die Mutter die Bewegungen des Kindes. Im sechsten 
Monat reicht der Uterusgrund bis zum Nabel. Im siebenten Monat steht der 
Fundus zwei bis drei Querfinger über dem Nabel. Der Nabel ist verstrichen, 
das Ballotiren des Kopfes bereits nachweisbar. Im achten Monat steht der 
Fundus in der Mitte zwischen Nabel und Herzgrube. Im neunten Monat 
steigt der Uterus bis in die Nähe der Herzgrube und erreicht damit seinen 
höchsten Stand. Im zehnten Monat hat sich der Uterus wieder etwas ge¬ 
senkt und steht ungefähr wie im achten Monat. Der Fundus sinkt nach vorn 
herüber, die Nabelgegend ist blasenartig vorgetrieben. 

Die Vaginalportion bietet weniger hervortretende Veränderungen. 
Die ersten im ersten Monat sind ähnlich denjenigen bei der Menstruation. 
Es tritt eine gewisse Auflockerung der Portion ein mit vermehrter Secretion 
der Scheide. Im zweiten Monat nimmt die Auflockerung von unten nach 
oben zu, und der Muttermund wird etwas rundlich. Im dritten Monat ist 
die Vaginalportion etwas schwerer zugänglich, weil der Gebärmutterkörper 
mehr nach vorn zu sich neigt. Im vierten Monat nimmt die Auflockerung 
zu und der äussere Muttermund ist dehnsamer, so dass im fünften Monat 
schon die Fingerspitze eindringen kann, wenigstens bei Mehrgebärenden. Im 
siebenten Monat wird die Vaginalportion kürzer. Bei Erstgebärenden ist der 
Muttermund noch geschlossen, bei Mehrgebärenden dagegen nicht selten bis 
zum inneren Muttermund dem Finger zugänglich. In den nächsten Monaten 
wird der Cervicalcanal bei Mehrgebärenden durchgängig bis zum inneren 
Muttermund, bei Erstgebärenden dagegen ist der Cervix selten schon durch¬ 
gängig, wohl aber im zehnten Monat, und ist der äussere Muttermund erheb¬ 
lich weiter als der innere. Mit diesen Erscheinungen, die wesentlich nach 
Schröder *) angegeben sind, stimmen nicht alle Gynäkologen überein. 

Der diagnostische Wert dieser Erscheinungen erleidet wesentliche Ein¬ 
busse dadurch, dass eine Vergrösserung des Uteruskörpers durch sehr ver¬ 
schiedene pathologische Zustände hervorgebracht werden kann, so dass nicht 
die Vergrösserung an sich, sondern nur die Art und Weise ihrer Zunahme 
weiteren Aufschluss geben kann, was eine öftere Untersuchung der Betreuen¬ 
den in gewissen Zeiträumen nothwendig macht. Noch weniger Sicherheit 
geben die Veränderungen an der Vaginalportion, die schon an sich sehr 
verschieden sind, je nachdem es sich um eine Erst- oder Mehrgebärende 
handelt. 

Noch weniger Bedeutung haben einige andere Symptome, wie die Wein¬ 
hefenfarbe der Scheidenschleimhaut, die Hypertrophie der Scheide und das 
von einzelnen Autoren so hervorgehobene eigenthümliche Anfühlen des 


l ) 1. c. S. 180. 
*) 1. c. S. 203. 


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SCHWANGERSCHAFT8VEBHÄLTNISSE. 


schwangeren Uterus, der sich weich, selbst teigig, dunkelfluctuirend anfühlen 
lässt. Doch bemerkt Säxinger, der ein ganz besonderes Gewicht in diagno¬ 
stischer Beziehung auf diese Zeichen legt, selbst, dass dieses Zeichen in 
manchen Fällen nur wenig ausgeprägt sei, ja selbst ganz fehlen kann. 

Die Veränderungen an den Brüsten kommen für die Diagnose der 
Schwangerschaft in den ersten Monaten derselben nicht in Betracht. 

Unter solchen Verhältnissen ist es gewiss gerechtfertigt, wenn man die 
Diagnose einer Schwangerschaft in den ersten Monaten wohl für möglich 
hält, aber für gerichtliche medicinische Zwecke nicht hinreichend begründbar, 
so dass'man sich in dieser Periode nicht mit allzugrosser Sicherheit und Be¬ 
stimmtheit aussprechen darf. Es ist nur anzuerkennen, dass von Seiten der 
Gesetzgebung längere Perioden festgestellt werden für Eingehung einer neuen 
Ehe, wenn die frühere aufgehört hat, denn der sichere Nachweis eines nicht 
schwangeren Zustandes eines Frauenzimmers hat gleichfalls unter Umständen 
seine Schwierigkeiten und kann eine wiederholte Untersuchung der betreffenden 
Person in Zwischenräumen erheischen. 

Die sichere Diagnose einer bestehenden Schwangerschaft ist nur dann 
möglich, wenn die Gegenwart eines Kindes im Uterus nacbgewiesen werden 
kann, und dieser Beweis ist erst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft 
zu erbringen, es müsste denn der Inhalt des Uterus, wie es schon bei kleinen 
Thieren möglich gewesen ist, mittels Durchleuchten des Uterus durch 
RöNTGEN’sche Strahlen auch beim Menschen sichtbar gemacht werden können. 

Die Gegenwart eines lebenden Kindes lässt sich erkennen aus den Be¬ 
wegungen desselben, aus einzelnen fühlbaren Körpertheilen und aus den Herz¬ 
tönen. Die Kindsbewegungen werden von der Mutter gewöhnlich erst am Ende 
des fünften Monates gefühlt. Vom Arzte können diese Bewegungen durch Auf¬ 
legen der flachen Hände an die Seiten des Bauches mit Anwendung der Kälte 
constatirt werden. Das Fühlen einzelner Kindestheile ist meistens erst etwas 
später möglich, entweder durch die Bauchdecke mit flach aufgelegten Händen 
oder von der Scheide aus durch einzelne Finger, womit der auf dem Becken¬ 
eingange liegende Kopf ballotirend gefühlt werden kann. Die Herztöne 
können schon gegen Ende des fünften Monates, von der 18. oder 20. Woche 
an gehört werden, und zwar als frequente Doppelschläge 120 bis 160 in der 
Minute. 

Nach Ahlfeld j ) werden die Kindsbewegungen durchschnittlich am 132,17 Tage ge¬ 
fohlt, bei Mehrgebärenden früher, am 130,73 Tage, bei Erstgebärenden später, am 137, 40' 
Tage. 

Ausser den fötalen Herztönen werden noch andere Geräusche bei der Auscul- 
tation gehört, nämlich das Nabelschnurgeräusch und das Uteringeräusch. Das 
erstere ist ein mit den Herztönen isochronisches zischendes Geräusch, das nach Ecker s ) und 
Schröder 8 ) in 14 bis 1 ö°/ 0 Fällen Vorkommen soll. Das letztere, früher Placentargeräusch 
genannt, ist dem Nabelschnurgeräusch ähnlich auch zischend, aber von verschiedener Fre¬ 
quenz und unregelmässig. 

Ist auf diese Weise der Bestand einer Schwangerschaft constatirt, so ist 
unter normalen Verhältnissen die Dauer derselben nach den angegebenen 
äusseren und inneren Erscheinungen festzustellen. Besonders hydropische 
Zustände und Zwillingsschwangerschaften geben zu Täuschungen leicht Anlass. 

In einem mir bekannt gewordenen Falle, wobei ich bei der Benrtheilnng betheiligt 
war, punktirte ein Arzt eine hochschwangere Frau wegen vermeintlicher Bauchwasser¬ 
sucht, erhielt aber statt Wasser Blut und stellte sich bald nachher die Geburt ein, es war 
eine Zwillingsgeburt, beide Kinder waren todt und die Mutter starb auch. Die Kinder 
wurden untersucht auf Verletzungen durch den Troikar, es wurden aber keine gefunden. 
Eine gerichtliche Section der Frau fand nicht statt. 

In einem anderen Falle wurde auf der zu dieser Zeit von mir besorgten chirurgischen 
Abtheilung des Inselspitales eine Frau als Nothfall aufgenommen, welche angab, schwanger 


*) Monatsschr. f. Geburtsk., Bd. 24, S. 180, 
*) Kl. d. Gehurtsh., S. 2. 

*) Lehrb. der Gehurtsh., 1882, S. 96. 


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SCHWANGERSCHAFT8YERHALTNISSE. 


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zu sein, seit ungefähr Tier Monaten, bei der sich aber in den letzten drei Wochen eine 
solche Vergrössernng des Bauches zeigte, dass sie einer Frau mit hochgradiger Bauch¬ 
wassersucht glich und bedeutende Athmungsbeschwerden hatte. Augenscheinlich war die 
Flüssigkeit innerhalb des enorm vergrösserten Uteruskörpers; eine Schwangerschaft konnte 
nicht deutlich constatirt werden. Ich consultirte damals meinen Collegen Breisky wegen 
einer allfalligen Schwangerschaft und der Zulässigkeit eines operativen Verfahrens. Wir unter¬ 
suchten möglichst genau und Breisky hielt eine Schwangerschaft für sehr unwahrscheinlich. 
Da mir der Fall aber nicht ganz klar war, entschloss ich mich, noch länger znzuwarten, und 
ich hatte Recht. Als ich am zweiten Tage nach der Consultation mit Breisky ins Kranken¬ 
zimmer kam, fand ich den Zimmerboden ganz nass und zeigte mir die Krankenwärterin in 
einer Schüssel Zwillingskinder im Alter- von circa vier Monaten, die soeben unerwartet 
geboren worden seien. So endete dieser Fall mit einer spontanen Frühgeburt, wie das in 
solchen Fällen ja öfters beobachtet wurde. Es war ein Hydrometra mit einer Zwillings¬ 
schwangerschaft. 

2. Unbewusste Schwangerschaft. 

Dieser Gegenstand muss in der gerichtlichen Medicin deshalb zur Sprache 
gebracht werden, weil in Kindsmordfällen nicht selten die Geburt verheim¬ 
licht worden ist und unter Umstanden stattgefunden hat, welche den Tod des 
Kindes zur Folge gehabt haben, und von den Betreffenden als Entschuldigung 
angegeben wird, dass sie gar nicht gewusst haben, schwanger gewesen zu 
sein und daher auch nicht eine Geburt erwarten konnten. Diese Entschul¬ 
digung veranlasst dann den Präsidenten des Gerichtes, an die Sachverständigen 
die Frage zu richten, ob diese Entschuldigung als eine glaubwürdige anzu¬ 
sehen und weiterhin zu berücksichtigen ist. 

Bei der Beantwortung dieser Frage, die zu wiederholten Malen vor dem 
Schwurgericht an uns gerichtet worden ist, muss zuerst festgestellt werden, 
dass, wenn eine Schwangerschaft ein normales Ende erreicht hat, eine Ver¬ 
kennung dieses Zustandes, vorausgesetzt, dass derselbe nicht durch patho¬ 
logische Zustände complicirt ist, nicht glaubwürdig erscheinen kann. Die 
lange Dauer dieses Zustandes von zehn Monaten, der vorausgegangene ge¬ 
schlechtliche Umgang, das Ausbleiben der Menstruation, die successiven Ver¬ 
änderungen an den Genitalien, ganz besonders die Vergrösserung des Bauches, 
die Kindsbewegungen, die Anschwellung der Brüste sind so unzweideutige 
Erscheinungen, dass dieselben nicht übersehen werden können. Daher erklären 
wir auch unter solchen Umständen derartige Angaben von Verkennung einer 
Schwangerschaft für unglaubwürdig. 

Dagegen ist aber auch zu berücksichtigen, dass es Verhältnisse geben 
kann, unter welchen die Verkennung einer Schwangerschaft nicht für un¬ 
möglich erklärt werden kann, und zu diesen Verhältnissen, welche von Seiten 
der Sachverständigen in jedem einzelnen Falle hervorgehoben werden müssen, 
gehören hauptsächlich folgende: 

1. Vor allem muss die Betreffende eine Erstgebärende sein, denn 
Personen, welche schon einmal eine Schwangerschaft durchgemacht haben, 
können unmöglich die Wiederholung eines solchen Zustandes übersehen. Bei 
Mehrgebärenden hat man daher gar nicht auf weitere Erörterungen darüber 
sich einzulassen, es müssten denn Unregelmässigkeiten bei der ersten Schwanger¬ 
schaft bestanden haben; 

2. darf kein höherer Grad von Geistesschwäche vorhanden sein, denn 
bei solchen Personen kann eine Schwangerschaft bestehen, ohne dass die¬ 
selben die Bedeutung ihres Zustandes erkennen, öfters machen andere Per¬ 
sonen aber vergebens darauf aufmerksam; 

3. müssen Umstände vorhanden sein, welche es erklärlich erscheinen 
lassen, dass ein stattgehabter geschlechtlicher Umgang von der Betreffenden 
nicht als ein solcher angesehen wird, der eine Schwangerschaft hätte zur 
Folge haben können, dahin gehören besonders die verschiedenen alkoholischen 
Zustände, in welchen die Betreffenden sich befunden haben, wie das bei Tanz¬ 
gelegenheiten sich ereignen kann. 


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696 


^aöWANöeP^ßHÄFTSVEBflitTNISafe . .. 

4. Das Verhaken der Menstruation: vor dem Eintritt der SebwHoger- 
echaft ist sehr zu beachteü. ln seUeneu Fällen ist noch gar k«üro MAOftöHikv; 
tiofl vo/bergegaitgen: in zahirtjicbta anderen zeigte dieser Dlutabgaug nünkbidy 
lei l'm eg^löiässjgkeittfu und wußten sogar Mittel dagegen 
noch «mU*re»j Füften daoertrii g«riodtii?tbe Blutungen wiUireud der 
«cjiaft fort, welche als Menstruation suigefasst werden, in WirklichkftUf.'^jrtrv 
wie Wir schon oben auseinander gesetzt haben, dies« Bedeutung' nicht HäbejS. 

X>: Wenn die Betrrdi'eudett durch llntersucbüngen von Hebaintntüi rofer 
auch Anraten in den drei »tsten Monate« der Scliwangersciusit über ihren 
Zdetnhd ÄWeifrdJiu1> geniäftM wöfdufi STöyi. kann die Wirken# dieser ZVfe-tf&l 
mnichiigc Vorstellungen bei den :'•■•- ü Ober ihren Zustand h*rvorj.»jf<‘.B. 

!'. t-jidlich üfiti ro>»;l» io Jsvtrarhf. avt teilen, ob die abgelAtilene Sehwauger- 
rehaft eine ga/rz norinaie oder dur^ij tnondterlei pathologische £ufd&Jide mw- 
jilicirte war. 

Sind die ! . ten dieser angeliüit H*n Momente vorhanden, dann kamt 

der »Meh verständig* sagen. dass eHerdtugr ßritnde vorhanden sind, wsfeke die 
Angaben, der Betreffenden Ja l ; !o/üg out V nrkeMiUiig der Scbwaugevschafi mn!\» 
oder weniger glaubwürdig or?cheineu lassen. $ok.h* Fälle siiid 11» geupen 
sei ton. Mir i(t) ♦o!v‘-tidv.: i--.it .. <* - <-r,. s, ; . - : 

Fine IV’rsun vom Fßiidb, 2i ioji/ö'■ älV. £?ktk gt-Wo* iuvi cJjBtefT,.Trift noi- 

. *ti*H*n .v&ueTiHine «rieh. wjibn iJbr^.*? ;«in£c'ix«t in 

V$t£p 0^>’bbir ibtr* Bauriß tfeetoncL *mit rie'r AugaiW, äässrsie an Vi 7 »s*br- 
• f v -i'V^ v».uw rrbU*/? A.tjMd:v rosr.'tiii» mit fttrv tLfy^rViefoküfo di?r* JUfttfnVifc 
*i ; .'^Altsriät v'*nm m d*rvn ^J&ubt;. dass &fe tn 

strebt; A&fe .püb wö. &hi >yeil >,£*- J*srte#Teib **it >f.ooatö8 stß-<% au Umfoßg 20 - 

fwfiv; Arit, rifht prtte.mvcbf bat, ibg .Mittel gegbh Wasser- 

h$k*;^ AiV icb ^br nw Ibemerfcto 4&2ß ibr lir,Verleib gei$.dt» $0 $u$äehtt. ^ie . 
***$» CM :ti ^ diu? m> unxuo^lfeli,denoi 

6>!R ‘^ii^f^ ^vfe-r. Ai> i£k täl mSgifcfee .VüYgä»g;fl .anl^tfcsaai. ßav^bttr, 

:%[* xttw riX •dfyre-fe «<t4; 4^ sie öigestfeh Ibt6 liegen ojega&höc 

-£ü'. Wt .erkl^ily? uö.d hovor id> ffir liuron 

^ u&nm(t^ v*ft «e tmto^ueber^ wt»g«g'-en sk dimbtfoi- oiftbi« 

: t ?ücb ßjrüafe oichi uußgfenommeru imd 

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Äh 4?A P<wkc^ jwetmer - 0xvtec«fwA4«jg sogafc« 

ev. $*• nicht mo^?ck; nb44 wohev Jett v‘bK»ibinißt€ ihr non ^«4 

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RopV Hi4ixvit.tfcblr^ij, $U Affoi .Tttgfc’Möite' i vfcteifc ich die NadiricK^ 

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^VvfcnrjÄbfig 4^v- -SVV^^.itg^4hk<‘t..T4V Adt^o'yt^fi Ä4r.<4<4b^ 

i*'ra»4ftM • 

3 OruK^» fter ^hwaiiÄ^rwitaft jv 

XMo^e kommt ü*il ‘4‘ie I^bH.bsßih'i^K>‘(t Kiml^ «miäfitVfit 

w liptejxvhti dmix KiD.(Je-v 7 vor >i*xm ^rhtoö odi^r vor der 2>?; 

^ck>iPn werdou:, stfeü miytw&v iX*xi\f$$UiM liAiim lebensßdiiig, 

Äfeiar?ü getVexi danii iu : üßtw- 

stvdmu^en AnJ^V'Vren« dor g^wöiu4ifihi dersej!>ea 'von. -soebn M^nd^ 

lüOiiAten: oder 40 ^^iterj^ -oder ^b.o o.m «jiditere Wöeten tibeiwbrH^a 

V‘0/!.h'» { ist. ko .: u.f.ti'el ftiKK'iifit kOm^'b. 'ii^ die >^:h ! Y \»ft >vitk< 

• * •• •-♦• iwsr iivff, ätöi ■ ■ ; Ajjfeug dei \vML ukht ^ur 

«’i»i' r»tv öio voi) dei föötü /.fit hezrigf^ \;:*m ^ icriis^ -• > 

tot i+thnnsu vMmn mm- S*p ä-fgtvl;» rde tii von iv^l^en ätimtf 
ii; :' u 4 ; *«11 i) ni>>. hm- Av^tlcr! ük^r tirhurt^vi:?'!^!; •)• k:** KisUv war., kni >\«*it J 

5t;-i)».'f '•. ;*! vVir-tMt *.\ t)■;{ 

4 ("•♦diivt^liwnrijRc iwVj '{ T frrinikhtijtijCv 

Vfyr l ^ fSupfidoefmHi&üo) ist eine nocörtisdi^e' 

fr: iUi^.;•. ti. k. lvefrüiditvng voji Kieru de/ffli^T» ; ‘0vii1iW4^^^iöä^ 



SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 


697 


durch einen und denselben Mann oder durch verschiedene Männer ; dass das Vor¬ 
kommen kann, beweisen Erfahrungen bei den Thieren. So ist gesehen worden, 
dass eine Stute, welche von einem Pferde und einem Maulthiere belegt worden 
ist, zu gleicher Zeit ein Pferd und ein Maulthierfüllen geboren hat. Hündinnen, 
die während der Brunstzeit von Hunden verschiedener Rasse belegt worden 
sind, werfen mitunter Junge von verschiedener Bastardform, der Rasse der 
Väter entsprechend u. s. w. Bei Menschen ist es vorgekommen, dass Frauen, 
welche bald nacheinander mit einem Neger und einem Weissen cohabitirt 
haben, Zwillinge von weisser und dunkler Farbe geboren haben, was wahr¬ 
scheinlich die Folge einer Ueberschwängerung war, doch macht Küssmaul 1 ) 
hiezu die Bemerkung, dass das nicht ganz sicher sei, indem erfahrungsgemäss 
bei Rassenkreuzung die Kinder mitunter fast ganz dem Vater oder der Mutter 
ähnlich sind, so dass das weisse Kind einer weissen Mutter das Kind eines 
Negers sein konnte. Es zeigen sich bei diesen Vorgängen Verhältnisse, 
welche noch nicht hinreichend aufgeklärt sind. Doch wird man in gerichtlich- 
medicinischer Beziehung bei verschiedener Färbung von Zwillingen auf ver¬ 
schiedene Väter mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit schliessen können, 
da das aber nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, hat die ganze An¬ 
gelegenheit keine grössere gerichtlich-medicinische Bedeutung. 

* Von der Ueberschwängerung unterscheidet man seit Kussmaul die 
Ueberfruchtung (Superfoetatio), worunter der Vorgang verstanden wird, 
dass bei einer Schwangeren noch ein Ei aus einer späteren Ovulationsperiode 
befruchtet wird. Die Fälle, welche zu einer solchen Annahme geführt haben, 
sind Mehrlingsgeburten, bei welchen dem ersten Kinde noch die Geburt eines 
anderen, bald vollkommen, bald nur mangelhaft entwickelten Kindes nachfolgt, 
welches der Zeit nach nicht wohl als eine Frucht der ersten Ovulations¬ 
periode, also nicht als eine gewöhnliche Zwillingsgeburt angesehen werden 
kann. So kennt man z. B. einen Fall von Eisenmann, in welchem eine Frau am 
30. April 1748 ein ausgetragenes Kind und das zweite erst viereinhalb Monate 
später gebar, einen anderen Fall von Moebus, wo eine Frau am 16. October 1833 
mit einem ausgetragenen Mädchen niederkam und erst nach 33 Tagen die 
zweite Geburt hatte u. s. w. In der Literatur sind manche Fälle von ver¬ 
meintlicher Ueberfruchtung bekannt, welche aber einer strengen Kritik nicht 
Stand halten und verschiedene Erklärungen zulassen, namentlich, dass es sich 
in den meisten Fällen um Zwillingsgeburten handelt, bei denen das zweite 
Kind mehr oder weniger verkümmert ist, oder dass dasselbe sich nach Aus- 
stossung des ersten nicht entwickeln konnte. Gegen die Wahrscheinlichkeit, 
dass bei einer bereits bestehenden Schwangerschaft noch eine zweite entsteht, 
lassen sich verschiedene Einwürfe erheben. 

In einzelnen Fällen hat man einen doppelten Uterus gefunden, wie in 
dem Falle von Generali, 8 ) und auch der von Moebus scheint hieher zu ge¬ 
hören, und wäre dann das Zustandekommen einer Ueberfruchtung eher ver¬ 
ständlich, allein auch in diesem Falle lässt sich einwerfen, dass bei Schwanger¬ 
schaft in einem doppelten Uterus die eine Hälfte desselben durch den schwan¬ 
geren Uterus der anderen so comprimirt und verkleinert wird, dass der Eintritt 
einer zweiten Schwangerschaft nicht wohl möglich wäre. Wenn übrigens die 
Möglichkeit einer Ueberfruchtung auch nicht bestritten werden könnte, so steht 
diese Angelegenheit gegenwärtig so, dass bis jetzt noch keine unanfechtbare 
Beobachtung einer Ueberfruchtung bekannt ist. 

Die Ueberfruchtung hat insofern einiges gerichtlich-medicinisches Inter¬ 
esse, als dieselbe in einigen Fällen bei Kindesunterschiebung, welche als 


*) Von dem Mangel u. s. w. der Gebärmutter. Wurzburg, 1858. S. 271. 
3 ) Bei Kussmaul 1 . c. 


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698 


SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 


strafbare Handlung angesehen wird, bald vorgegeben, bald fälschlich ver- 
muthet wurde, wovon die nachfolgenden Fälle Beispiele geben. 

Pircker *) berichtet von einer langjährigen kinderlosen Ehe, wobei ein fremdes Kind 
untergeschoben wurde. Zu gleicher Zeit aber, ohne es zu wissen, war die Frau schwanger 
und kam nach einigen Monaten mit einem Kinde nieder. Nun wollte man diesen uner¬ 
warteten Kindersegen als eine Ueberfruchtung darstellen. 

Ein Fall von Fischer *) betraf eine wegen Kindesmord in Untersuchungshaft befind¬ 
liche Person, die zwei Monate nach der Geburt angeblich ein degenerirtes Ei gebar. Man 
dachte an eine Superfötation. 

ln einem Falle von Frikdberg gebar eine Frau ein reifes Kind. Am dritten Tage 
fand sich in der Nachgeburt ein viermonatlicher macerirter Fötus. Man dachte an eine 
Kindesunterschiebung, allein die Nachgeburt hatte zwei Nabelschnüre. 

5. Molenschwangerschaft 

Die Molen beruhen auf gewissen Abnormitäten der Eihäute. Man unter¬ 
scheidet Blasen-, Blut- und Fleischmolen. 

Der Name Mole wurde schon von den alten Aerzten gebraucht, und verstand man 
darunter entartete Abortiveier, die später als Blut- oder Fleischmolen bezeichnet wurden. 

Die Blasenmolen beruhen auf einer Hyperplasie der Choriumzotten, 
deren Verdickung zunächst bedingt ist durch Wucherung der Zellen und An¬ 
häufung der Intercellularsubstanz. Sie stellen dann weiche Massen doldenartig 
zusammenhängender Blasen dar, von sehr wechselnder Grösse. In den Blasen 
ist eine schlüpfrige flüssige Masse vorhanden mit den Reactionen des Mucins. 

Die Bildung der Blut- und Fleischmolen hat ihren Grund in Blu¬ 
tungen zwischen die Eihäute und auch in die Eihöhle, wobei der Embrio 
abstirbt, aber nicht als Abortus abgeht, sondern im Uterus verbleibt, und die 
Blutmasse einen faserigen fleischartigen Tumor, die Blut- oder Fleischmolen 
darstellt, in welchem noch Reste der Frucht zu erkennen sind. 

Der Abgang der Molen hängt wesentlich von der Stärke der Blutungen 
ab. Die Entstehung der Molen fällt meistens in die ersten Schwangerschafts- 
monate. Bisweilen nehmen die Molen auch einen construirenden Charakter 
an und dringt die entartete Zottenmasse mitunter in die hypertrophische 
Wand des Uterus. Die Erkennung einer Molenschwangerschaft von einer 
normalen Schwangerschaft ist im Anfänge nicht so leicht. Eintretende Blu¬ 
tungen könnten für einen gewöhnlichen Abortus gehalten werden. Man muss 
darauf achten, ob die Grösse des Uterus der Schwangerschaftszeit entspricht, 
entweder zu bedeutend oder zu gering ist, rasch zunimmt, oder im Gegen- 
theil in der Vergrösserung zurückbleibt. Wenn der Zeit nach die Hälfte der 
Schwangerschaft vorüber ist, kann bei einem lebenden Kinde das Hören des 
Fötalpulses aufklären, ist das Kind todt, so fällt dieses Zeichen natür¬ 
lich weg. 

Gerichtlich-medicinisch haben eigentlich die Molenschwangerschaften nur 
Bedeutung bei Fällen von Fruchtabtreibung und bei Schwangerschafts¬ 
diagnosen. Dass bei Molenschwangerschaften besondere Zufälle, wie heftiges 
Erbrechen, hydropische Erscheinungen, Kreuzschmerzen, dünnflüssiger und 
schleimiger Ausfluss u. s. w. bisweilen vorhanden waren, ist Erfahrungssache, 
aber eine besondere diagnostische Bedeutung haben sie nicht, da auch Molen¬ 
schwangerschaften ganz ohne solche Zufälle verlaufen können. 

Säxinger 8 ) z B. hat drei Fälle von Blasenmolen beobachtet, bei keinem derselben 
waren andere als die gewöhnlichen Zeichen der Schwangerschaft vorhanden, trotzdem die 
eine Mole V/ 2 Pfund wog und nach genauer Rechnung der Frau fünf Monate getragen 
wurde. Die Blutung bei Ausstossung der Mole war in allen Fällen eine geringe, alle drei 
Frauen waren Mehrgebärende und hatten früher gut entwickelte lebende Kinder am Ende 
der Schwangerschaft geboren. 


*) Handbuch, 1829. 

*) Vierteljahrschrift N. F. 22. 
1. c. S. 216. 


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SECTIONEN. 


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6. Extrauterinschwangerschaften. 

Bekanntlich sind je nach der Localität, an welcher sich das befrachtete 
Ei ausserhalb der Gebärmutterhöhle weiter entwickelt, Abdominal-, Ova- 
rial- und Tubenschwangerschaften zu unterscheiden. Die letzteren 
sind weitaus die häufigsten. Am wenigsten gekannt sind die Ovarialschwanger¬ 
schaften. Von den Tubenschwangerschaften sind weiterhin nach dem Sitze 
des Eies in der Tube zu unterscheiden eine Graviditas interstitialis, tubo- 
abdominalis, tubo-uterina und die eigentliche Graviditas tubaria, welche die 
häufigste ist. 

Die Entwicklung des Eies geht in der Tube in ähnlicher Weise vor sich 
wie im Uterus. Es bildet sich eine Dec. serotina und vera, die Bildung einer 
reflexa ist zweifelhaft. Mit der Vergrösserung des Eies wird das betreffende 
TubenstOck ausgedehnt, und der Fruchtsack stellt eine bruchartige Aus¬ 
dehnung der Tubenwandungen dar, die aus der Schleimhaut und dem Bauch¬ 
fell besteht, da die Muskelfasern auseinander gedrängt sind. Im Anfänge 
kann der Verlauf einer solchen Schwangerschaft ohne besondere Zufälle sein. 
Dieselbe dauert aber in der Regel nicht lange, indem gewöhnlich in den 
ersten zwei bis drei Monaten wegen der Dünnwandigkeit des Fruchtsackes 
Ruptur desselben eintritt, meistens an der dünnsten Stelle des Sackes. Die 
nächste Folge davon ist heftige Blutung in die Bauchhöhle, welche meistens 
tödtlich endet oder zur Bildung retro-uteriner Blutgeschwülste führt, die 
schliesslich resorbirt werden können, so dass der Fall nicht tödtlich endet. 

Gerichtlich-medicinische Bedeutung erhalten derartige Tubenschwanger¬ 
schaften mitunter dadurch, dass sie zu rasch eintretenden Todesfällen durch 
Verblutung führen, deren Veranlassung auf verhältnismässig leichte Ver¬ 
letzungen auf Stösse, Schläge, Fusstritte u. s. w. zurückzufüren ist, so dass 
ein Tod eintritt, der als Folge einer Misshandlung erscheint, während die 
Tödtlichkeit der Verletzung einen ganz anderen Grund hat, der nur durch 
eine gerichtliche Section klargelegt werden kann. Haben keine Verletzungen 
stattgefunden, so kann der so rasch eingetretene Tod auch zu Verdacht einer 
anderen gewaltsamen Todesart führen, z. B. einer Vergiftung, wovon Hofmann 1 ) 
einen Fall mittheilt. 

In Prag stürzte eine Frauensperson nach dem Genüsse von Würsten unter Schwindel 
and Warenbewegungen zusammen und starb nach wenigen Augenblicken. Man dachte an 
eine Vergiftung, die Section klärte aber den Fall auf, es war ein Verblutungstod infolge 
einer Tabenschwangerschaft. 

C. EMMERT. 

Sectionen. Eine ärztliche Untersuchung menschlicher Leichname wird 
ausgeführt in der Verfolgung zweier durchaus verschiedener Ziele: einmal aus 
pathologisch-anatomischem, d. i. rein wissenschaftlichem Interesse; und zweitens 
zu dem lediglich praktischen Zwecke der Feststellung aller für ein gericht¬ 
liches Verfahren wichtigen Befunde. Diese Verschiedenheit der der Unter¬ 
suchung eines Leichnams zu Grunde liegenden Absichten bedingt gewisse 
Abweichungen in der gesammten Anordnung des Untersuchungsverfahrens. 
In dem vorliegenden der Hygiene und gerichtlichen Medicin gewidmeten 
Theile unseres encyklopädischen Werkes interessiren uns von der Leichen- 
untersuchung in erster Linie allein die speciell gerichtsärztlichen Gesichts¬ 
punkte; die rein wissenschaftlichen, pathologisch-anatomischen Befunde da¬ 
gegen nur insoweit, als sie geeignet sind, in Fragen forensischer Natur Licht 
zu schaffen. 

Für das Gebiet des Kaiserreiches Oesterreich sind die grundlegenden 
gesetzlichen Vorschriften über die gerichtsärztliche Untersuchung mensch- 


*) 1. c. S. 202. 


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700 


SKCTIONEN. 


licher Leichname in den Paragraphen 116—134 der Oesterreichischen Straf- 
processordnuhg vom 23. Mai 1873 festgelegt; specielle Ausführungsbestim¬ 
mungen dazu sind in der noch heute gütigen Ministerialverfügung vom 
28. Jänner 1855 enthalten. Im Deutschen Reiche sind in gleicher Richtung 
die Paragraphen 86—91 der Deutschen Strafprocessordnung vom 1. Februar 
1877 maassgebend, zu welchen für das Königreich Preussen specielle Be¬ 
stimmungen in dem „ Regulativ für das Verfahren der Gerichtsärzte bei 
den medicinisch-geriehtlichen Untersuchungen menschlicher Leichname vom 
6. Jänner 1875“ vorgeschrieben sind. Nach allen diesen Bestimmungen zerfällt 
das Gesammtverfahren der gerichtsärztlichen Leichenuntersuchung in zwei 
Hauptacte: erstens die äussere Besichtigung der Leiche, bei welcher auch alle 
für die gerichtliche Untersuchung wichtigen Beziehungen der letzteren zu 
ihrer äusseren Umgebung, der Fundort, die Lage, Bekleidung u. s. w. wohl 
zu beachten sind, die „Leichenbeschau“; und zweitens die innere Unter¬ 
suchung oder die „Leichenöffnung“, „Section“ oder „Obduction“. 
Zwar ist diese Trennung in den für Oesterreich gütigen Vorschriften weniger 
scharf hervorgehoben, als in den Bestimmungen des Deutschen Reiches, doch 
ergibt sich ihre Innehaltung auch ohne ausdrückliches Verlangen als ein 
praktisches Erfordernis von selbst. In durchaus mustergiltiger, nach jeder 
Richtung hin erschöpfender Weise ist alles bei einer gerichtlichen Section 
in Betracht kommende in dem preussischen Regulativ festgestellt. 

Dasselbe behandelt seinen Gegenstand in drei Hauptabschnitten, deren erster über¬ 
schrieben ist: „Allgemeine Bestimmungen“ (§ 1—8), während der zweite Anweisungen gibt 
für das „Verfahren bei der Obduction“ (§ 9—26) und der dritte von der „Abfassung des Ob- 
ductionsprotokolls und des Obductionsberichtes“ (§ 27—41) handelt. In dem ersten Theile 
werden zunächst die mit der Vornahme der Section zu betrauenden, resp. diejenigen Per¬ 
sonen namhaft gemacht, deren Gegenwart bei derselben gefordert wird. — § 1 schreibt vor, 
dass die Leichenöffnung „nur von zwei Aerzten, in der Regel einem Physicus (Gerichts¬ 
arzt) und einem Gerichts-(Kreis-)Wundarzt im Beisein des Richters vorgenommen werden 
soll.“ Die Obducenten haben die Pflichten gerichtlicher Sachverständiger. Wenn über die 
technische Ausführung der Obduction Zweifel entstehen, so entscheidet der Physicus oder 
dessen Vertreter, vorbehaltlich der Befugnis des anderen Arztes, seine abweichende Ansicht 
zu Protokoll zu geben. Hinsichtlich einer etwa nöthig werdenden Stellvertretung ordnet 
§ 2 an: „Der Physicus (Gerichtsarzt) und der Gerichts-(Kreis-)Wundarzt sind in den gesetz¬ 
lichen Behinderungsfällen berechtigt, sich durch einen anderen Arzt vertreten zu lassen. 
Als Vertreter ist, wenn möglich, ein pro physicatu geprüfter Arzt zu wählen.“ Ferner 
bestimmt § 3, dass Obductionen in der Regel nicht vor Ablauf von 24 Stunden nach 
eingetretenem Tode vorgenommen werden dürfen, die blosse Besichtigung einer Leiche 
dagegen schon früher geschehen kann. — § 4 gibt Anweisungen über die Behandlung bereits 
in Fäulnis übergegangener Leichen: wegen vorhandener Fäulnis dürfen Obductionen in 
der Regel nicht unterlassen und von den gerichtlichen Aerzten nicht abgelehnt werden. 
Denn selbst bei einem hohen Grade der Fäulnis können Abnormitäten und Verletzungen der 
Knochen noch ermittelt, manche die noch zweifelhaft gebliebene Identität der Leiche be¬ 
treffende Momente, z. B. Farbe und Beschaffenheit der Haare, Mangel von Gliedmaassen 
u. s. w. festgestellt, eingedrungene fremde Körper aufgefunden, Schwangerschaften entdeckt 
und Vergiftungen nachgewiesen werden. Es haben deshalb auch die Aerzte, wenn es sich 
zur Ermittelung derartiger Momente um die Wiederausgrabung einer Leiche handelt, für 
dieselbe zu stimmen, ohne Rücksicht auf die seit dem Tode verstrichene Zeit. — § 5 gibt 
ein genaues Verzeichnis aller Obductionsinstrumente, welche die Gerichtsärzte bei jeder 
Section „in guter Beschaffenheit“ zur Stelle haben sollen. — § 6 enthält Vorschriften über 
das Obductionslocal und dessen Beleuchtung: es ist für Beschaffung eines hinreichend 
geräumigen und hellen Locals, angemessene Lagerung der Leiche und Entfernung stören¬ 
der Umgebungen möglichst zu sorgen. Obductionen bei künstlichem Licht sind, einzelne 
keinen Aufschub gestattende Fälle ausgenommen, unzulässig. Eine solche Ausnahme ist 
im Protokoll unter Anführung der Gründe ausdrücklich zu erwähnen. — In § 7 wird die 
Behandlung gefrorener Leichen vorgeschrieben: eine solche ist in ein geheiztes Local zu 
bringen und mit der Obduction zu warten, bis dieselbe genügend aufgethaut ist. Die An¬ 
wendung von warmem Wasser oder von anderen warmen Gegenständen zur Beschleunigung 
des Aufthauens ist unzulässig. — § 8 endlich verlangt, dass bei allen mit der Leiche vor¬ 
zunehmenden Bewegungen, namentlich bei dem Transporte derselben von einer Stelle zur 
anderen, thunlichst darauf zu achten ist, dass kein zu starker Druck auf einzelne Theile 
ausgeübt, und dass die Horizontal läge der grösseren Höhlen nicht erheblich verändert werde. 

Mit § 9 beginnt der zweite, das „Verfahren bei der Obduction“ regelnde Haupttheil 
des Regulativs. In ihm wird zunächst gefordert (§ 9): „Bei Erheben der Leichenbefunde 


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SECTIONEN. 


701 


müssen die Obdncenten überall den richterlichen Zweck der Leichenuntersuchung im Ange 
behalten und alles, was diesem Zwecke dient, mit Genauigkeit und Vollständigkeit unter¬ 
suchen. Alle erheblichen Befunde müssen, bevor sie in das Protokoll aufgenommen, dem 
Richter von dem Obducenten vorgezeigt werden.“ Fernerhin schreibt § 10 die besonderen 
„Pflichten der Obducenten in Bezog auf die Ermittlung besonderer Umstände des Falles* 
vor: „Die Obducenten sind verpflichtet, in den Fällen, in denen ihnen dies erforderlich 
erscheint, den Richter rechtzeitig zu ersuchen, dass vor der Obduction der Ort, wo die 
Leiche gefunden worden, in Augenschein genommen, die Lage, in welcher sie gefunden, 
ermittelt, und ihnen Gelegenheit gegeben werde, die Kleidungsstücke, welche der Ver¬ 
storbene bei seinem Auffinden getragen, zu besichtigen. In der Regel wird es jedoch ge¬ 
nügen, dass sie ein hierauf gerichtetes Ersuchen des Richters abwarten. Sie sind ver¬ 
pflichtet, auch über andere, für die Obduction und das abzugebende Gutachten erhebliche, 
etwa schon ermittelte Umstände sich von dem Richter Aufschluss zu erbitten. (Insbeson¬ 
dere gilt dies für die Krankheitsgeschichte)*. — § 11 gibt Sonderbestimmungen über die 
Vornahme etwa erforderlich erscheinender mikroskopischer Untersuchungen. Nach diesen 
Bestimmungen allgemeiner Natur geht § 12 unmittelbar auf die eigentliche Obduction 
selbst ein: „Die Obduction zerfällt in zwei Haupttheile: a) Aeussere Besichtigung (Inspec- 
tion). b) Innere Besichtigung (Section).* 

Ueber die äussere Besichtigung ordnet § 13 an: 

„Bei der äusseren Besichtigung ist die äussere Beschaffenheit des Körpers im all¬ 
gemeinen und die seiner einzelnen Abschnitte zu untersuchen. Demgemäss sind betreffend 
den Körper im allgemeinen, sobald die Besichtigung solches ermöglicht, zu ermitteln und 
anzugeben: 1. Alter, Geschlecht, Grösse, Körperbau, allgemeiner Ernährungszustand, etwa 
vorhandene Krankheitsresiduen, z. B. sogenannte Fussgeschwüre, besondere Abnormitäten 
(z. B. Mäler, Narben, Tätowirungen, Ueberzahl oder Mangel an Gliedmaassen); 2. die 
Zeichen des Todes und die der etwa schon eingetretenen Verwesung. Zu diesem Behuf 
müssen, nachdem etwaige Besudelungen der Leiche mit Blut, Koth, Schmutz u, dergl. 
durch Abwaschen beseitigt worden, ermittelt werden: die vorhandene Leichen starre, <5e 
allgemeine Hautfarbe der Leiche, die Art und Grade der etwaigen Färbungen und Ver¬ 
fügungen einzelner Theile derselben durch die Verwesung, sowie die Farbe, Lage und 
Ausdehnung der Todtenflecke, welche einzuschneiden, genau zu untersuchen und zu be¬ 
schreiben sind, um eine Verwechslung derselben mit Blutaustretungen zu vermeiden. Be¬ 
treffend die einzelnen Theile ist folgendes festzustellen: 1. Bei Leichen unbekannter Per¬ 
sonen die Farbe und sonstige Beschaffenheit der Haare (Kopf und Bart), sowie die Farbe 
der Augen; 2. das etwaige Vorhandensein von fremden Gegenständen in den natürlichen 
Oeffnungen des Kopfes, die Beschaffenheit der Zahnreihen und Lage der Zunge; 3. dem¬ 
nächst sind zu untersuchen: der Hals, dann die Brust, der Unterleib, die Rückenfläche, 
der After, die äusseren Geschlechtstheile und endlich die Glieder. — Findet sich an irgend 
einem Theile eine Verletzung, so ist ihre Gestalt, ihre Lage und Richtung mit Beziehung 
auf feste Punkte des Körpers, ferner ihre Länge und Breite im Metermaass anzugeben. 
Das Sondiren von Trennungen des Zusammenhanges ist bei der äusseren Besichtigung in 
der Regel zu vermeiden, da sich die Tiefe derselben bei der inneren Besichtigung des 
Körpers und der verletzten Stellen ergibt. Halten die Obducenten die Einführung der 
Sonde für erforderlich, so ist dieselbe mit Vorsicht zu bewirken und haben sie die Gründe 
für ihr Verfahren im Protokoll (§ 27) anzugeben. Bei Vorgefundenen Wunden ist ferner 
die Beschaffenheit ihrer Ränder und ihres Grundes zu prüfen. Bei Verletzungen und Be¬ 
schädigungen der Leiche, die unzweifelhaft einen nicht mit dem Tode im Zusammenhang 
stehenden Ursprung haben, z. B. bei Merkmalen von Rettungsversuchen, Zernagungen von 
Thieren und dergleichen, genügt eine summarische Beschreibung dieser Befunde.* 

Die folgenden Paragraphen ertheilen den Obducenten ausführliche An¬ 
weisungen für die Ausführung der inneren Besichtigung und handeln 
somit von der wirklichen Section. 

§ 14 bestimmt: „Behufs der inneren Besichtigung sind die drei Haupthöhlen des 
Körpers: Kopf-, Biust- und Bauchhöhle zu öffnen. In allen Fällen, in denen von der 
Oeffnung der Wirbelsäule oder einzelner Gelenkhöhlen irgend erhebliche Befunde erwartet 
werden können, ist dieselbe nicht zu unterlassen. Besteht ein bestimmter Verdacht in 
Bezug auf die Ursache des Todes, so ist mit derjenigen Hoble zu beginnen, in welcher 
sich die hauptsächlichsten Veränderungen vermuthen lassen; andernfalls ist zuerst die 
Kopf-, dann die Brust- und zuletzt die Bauchhöhle zu öffnen. In jeder der genannten 
Höhlen Bind zuerst die Lage der in ihr befindlichen Organe, sodann die Farbe und Be¬ 
schaffenheit der Oberflächen, ferner ein etwa vorhandener ungehöriger Inhalt, namentlich 
fremde Körper, Gas, Flüssigkeiten oder Gerinnsel, und zwar in den letzteren beiden Fällen 
nach Maacs, beziehungsweise Gewicht zu bestimmen und endlich ist jedes einzelne Organ 
äusserlich und innerlich zu untersuchen.* — § 15 behandelt sodann auf das eingehendste 
das Verfahren bei der Oeffnung und Untersuchung der Kopfhöhle, woran § 16 noch Vor¬ 
schriften über die etwa erforderlich erscheinende genauere Untersuchung von Gesicht, 
Ohrspeicheldrüse und Gehörorgan anschliesst. In gleicher Weise regelt § 17 die Erforschung 
der Verhältnisse des Wirbelsäulecanals und des Rückenmarkes. — § 18 ertheilt allgemeine 


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SECTIONEN. 


Anweisungen für den Beginn der Untersuchung von Hals, Brust- und Bauchhöhle, die 
durch einen einzigen langen vom Kinn zur Schamfuge geführten Messerschnitt in Angriff 

f enommen wird, worauf § 19 die besonderen Vorschriften für die Untersuchung der Brust- 
öhle und speciell von Herz und Lungen, § 20 für diejenige der Halsorgane, und § 21 
für die der Bauchhöhle gibt. Im letztgenannten Paragraphen sind alle mit den einzelnen 
Organen vorzunehmenden besonderen Manipulationen genau beschrieben, und ist auch die 
Reihenfolge, in welcher die Theile aus der Leibeshöhle herauszunehmen und zu unter¬ 
suchen sind, ein für allemal festgelegt. 

In den nun folgenden Paragraphen sind des weiteren Special-Bestimmungen für 
häufiger vorkommende Fülle besonders eigenartiger Natur enthalten. In § 22 Är Ver¬ 
giftungsfalle, in § 23 und 24 für die Untersuchung der Leichen von neugeborenen Kindern, 
Fülle, bei denen der Gang der gesammten Untersuchung in gewissen Punkten von dem 
sonst vorgeschnebenen abzuweichen hat. Bei den Bestimmungen über die Section Neu¬ 
geborener ist in dem ersten ihr gewidmeten Paragraphen (§ 23) die Ermittlung der Reife 
resp. der erreichten Entwicklungszeit, bei dem zweiten (§ 24) diejenige, ob das Neugebo¬ 
rene geathmet habe oder nicht, mB Auge gefasst. 

Endlich macht § 25 den Obducenten zur Pflicht, auch alle in dem Regulativ nicht 
namentlich aufgefübrten Organe, falls sich an denselben Verletzungen oder sonstige Regel¬ 
widrigkeiten finden, zu untersuchen. Den Beschluss der gesammten technischen Vor¬ 
schriften macht § 26 mit der Bestimmung, dass der Gerichts-(Kreis-) Wundarzt, beziehungs¬ 
weise der zugezogene zweite Arzt, nach beendeter Obduction und nach der soweit als 
möglich erfolgten Beseitigung der Abgünge zur kunstgerechten Schliessung der geöffneten 
Körperhöhlen verpflichtet ist. 

Der dritte und letzte Hauptabschnitt des preussiscben Regulativs handelt 
von der „Abfassung des Obductionsprotokolls und des Obductionsberichtes“. 
Das Obductionsprotokoll (Sectionsprotokoll) ist die während der 
Ausführung der Obduction selbst gemeinschaftlich von dem Richter und den 
Obducenten fixirte genaue Aufzeichnung aller die Obduction betreffenden 
Punkte; dagegen ist der Obductionsbericht ein nur auf besonderes Ver¬ 
langen des Gerichtes durch die Obducenten ausgearbeitetes, motivirtes Gut¬ 
achten, in welchem die durch die Obduction aufgedeckten Befunde wissen¬ 
schaftlich erläutert und behufs Klarlegung des Falles verwertet werden. 

Hinsichtlich des ersteren bestimmt § 27: „Ueber alles die Obduction betreffende 
wird an Ort und Stelle von dem Richter ein Protokoll anfgenommen (Obductionsprotokoll). 
Der Physicus (Gerichtsarzt) hat dafür zu sorgen, dass der technische Befund in allen 
seinen Theilen, wie er von dem Obducenten festgestellt worden, wörtlich in das Protokoll 
aufgenommen werde. Der Richter ist zu ersuchen, dies so geschehen zu lassen, dass die 
Beschreibung und der Befund jedes einzelnen Organes aufgezeichnet ist, bevor zur Unter¬ 
suchung eines folgenden geschritten wird.“ Ueber die Einrichtung und Fassung des Pro¬ 
tokolls schreibt § 28 vor: „Der den technischen Befund ergebende Theil des Obductions¬ 
protokolls muss von dem Physicus (Gerichtsarzt) deutlich, bestimmt und auch dem Nicht¬ 
arzte verstündlich angegeben werden. Zu letzterem Zwecke sind Namentlich bei der Be¬ 
zeichnung der einzelnen Befunde fremde Ausdrücke, soweit es unbeschadet der Deutlich¬ 
keit möglich ist, zu vermeiden. Die beiden Hauptabteilungen — die äussere und innere 
Besichtigung — sind mit grossen Buchstaben (A und B), die Abschnitte über die Oeffnun- 

f en der Höhlen in der Reihenfolge, in welcher dieselben statt gefunden, mit römischen 
ahlen (I, II), die der Brust- und Bauchhöhle aber unter einer Nummer zu bezeichnen, 
ln dem Abschnitte, welcher die Brust- und Bauchhöhle umfasst, sind zunächst die all¬ 
gemeinen, in dem letzten Absatz des § 18 erwähnten Befunde, sodann unter a und b die 
Befunde an den Organen der Brusthöhle, beziehungsweise an denen der Bauchhöhle dar¬ 
zulegen. Das Ergebnis der Untersuchung jedes einzelnen Theiles ist unter eine besondere 
mit arabischen Zahlen zu bezeichnende Rubrik zu bringen. Diese Zahlen laufen vom An¬ 
fang bis zum Schluss des Protokolls fort. Die Befunde müssen überall in genauen An¬ 
gaben des thatsächlich Beobachteten, nicht in der Form von blossen Urtheilen (z. B. „ent¬ 
zündet“, „gesund“, .normal“, „Wunde“, „Geschwür“ u. dergl.) zu Protokoll gegeben 
werden. Jedoch steht es den Obducenten frei, falls es ihnen zur Deutlichkeit nothwendig 
erscheint, der betreffenden Angabe des thatsüchlich Beobachteten derartige Bezeichnungen 
in Klammern beizufügen. In jedem Falle muss eine Angabe über den Blutgehalt jedes 
einzelnen wichtigen Theiles, und zwar auch hier eine kurze Beschreibung und nicht blos 
ein Urtheil (z. B. „stark“, „massig“, „ziemlich“, „sehr geröthet“, „blutreich“, „blutarm“) 
gegeben werden. Bei der Beschreibung sind der Reihe nach die Grösse, die Gestalt, die 
Farbe und die Consistenz der betreffenden Theile anzugeben, bevor dieselben zerschnitten 
werden.“ — § 29 verlangt, dass die Obducenten am Schlüsse „ihr vorläufiges Gutachten über 
den Fall summarisch und ohne Angabe der Grunde“ dem Protokolle hinzuzufügen haben. 
„Sind ihnen aus den Acten oder sonst besondere, den Fall betreffende Thatsachen bekannt, 
welche auf das abgegebene Gutachten Einfluss ausüben, so müssen auch diese kurz er- 


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SECTIONEN. 


703 


wähnt werden. Legt ihnen der Richter besondere Fragen vor, so ist in dem Protokoll 
ersichtlich zu machen, dass die Beantwortung auf Befragen des Richters erfolgt. Auf jeden 
Fall ist das Gutachten zuerst auf die Todesursache, und zwar nach Maassgabe dessen, was 
sich aus dem objectiven Befunde ergibt, nächstdem aber auf die Frage der verbrecherischen 
Veranlassung zu richten. Ist die Todesursache nicht aufgefanden worden, so muss dies 
ausdrücklich angegeben werden. Niemals genügt es zu sagen, der Tod sei aus innerer 
Ursache oder aus Krankheit erfolgt; es ist vielmehr die letztere anzugeben. In Fällen, 
wo weitere technische Untersuchungen nöthig sind, oder wo zweifelhafte Verhältnisse vor¬ 
liegen, ist ein besonderes Gutachten mit Motiven ausdrücklich vorzubehalten.“ Schliesslich 
schreibt noch § 80 vor, dass, wo die Entstehung bestimmter Verletzungen muthmaasslich 
auf bestimmte bekannte Werkzeuge bezogen wird, die Obducenten auf Erfordern des 
Richters Verletzungen und Werkzeuge zu vergleichen und sich darüber zu äussern haben, 
„ob und welche Verletzungen mit dem Werkzeuge bewirkt werden konnten, und ob und 
welche Schlüsse (aus der Lage und Beschaffenheit der Verletzung) auf die Art, wie der 
Thäter, und auf die Kraft, mit der er verfahren, zu ziehen seien. Werden bestimmte 
Werkzeuge nicht vorgelegt, so haben sich die Obducenten, soweit dies dem Befunde nach 
möglich ist, über die Art der Entstehung der Verletzungen, beziehungsweise über die Be¬ 
schaffenheit der dabei in Anwendung gekommenen Werkzeuge zu äussern.“ 

Der letzte Paragraph des Regulativs (§ 41) schreibt die Form vor, in 
welcher der Obductionsbericht (das motivirte Gutachten), falls es seitens des 
Gerichtes eingefordert wird, von den Obducenten zu erstatten ist. „Es wird 
nnter Fernhaltung unnützer Formalien, mit einer gedrängten, aber genauen 
Geschichtserzählung des Falles, wenn und soweit sie auf Grund einer Kennt¬ 
nisnahme der einzusehenden Verhandlungen möglich ist, unter Angabe der 
Actenfolien begonnen. Sodann wird das Obductionsprotokoll, jedoch nur so¬ 
weit, als sein Inhalt für die Beurtheilung der Sache wesentlich ist, wörtlich 
und mit den Nummern des Protokolls aufgenommen; dabei ist auf etwaige 
Abweichungen von demselben ausdrücklich aufmerksam zu machen. Die 
Fassung des Obductionsberichts muss bündig und deutlich sein, und die Be¬ 
gründung des Gutachtens so entwickelt werden, dass sie auch für den Nicht- 
ärzt verständlich und überzeugend ist. Es haben sich die Obducenten daher 
möglichst deutscher Ausdrücke und allgemein fasslicher Wendungen zu be¬ 
dienen. Besondere Beziehungen auf literarische Quellen sind in der Regel 
zu unterlassen. Wenn den Obducenten für ihre Begutachtung richterlicher- 
seits bestimmte Fragen vorgelegt werden, so haben sie dieselben vollständig 
und möglichst wörtlich zu beantworten oder die Gründe anzuführen, aus 
welchen dies nicht möglich gewesen. Der Obductionsbericht muss von beiden 
Obducenten unterschrieben und, wenn ein Physicus die Obduction mit vor¬ 
genommen hat, mit dessen Amtssiegel versehen werden. Jeder erforderte 
Obductionsbericht muss von den Obducenten spätestens innerhalb vier Wochen 
eingereicht werden.“ 

Von diesen in dem preussischen Regulativ enthaltenen Bestimmungen 
weichen diejenigen anderer Staaten meist nur unwesentlich ab, denn im 
grossen und ganzen ist der Gang der Leichenuntersuchung behufs gericht¬ 
licher Erhebungen entsprechend der Uebereinstimmung des erzielten Zweckes 
überall gleich; besonders ist auch die Aufnahme des Sectionsprotokolls und 
des Sectionsberichtes ein allgemeines Erfordernis aller Gerichte. Als der 
wichtigste Punkt für den praktischen Wert einer jeden gerichtlichen Section 
wird von den Behörden ausnahmslos eine möglichst sorgfältige Abfassung 
des Obductionsprotokolls verlangt, infolge deren es möglich sein soll, jeder¬ 
zeit aus dem Studium der schriftlichen Aufzeichnungen ein wahrheitsgetreues, 
durchaus unzweideutiges Bild des seinerzeit gemachten Befundes zu gewinnen. 
Bilden diese Aufzeichnungen des Protokolls doch die Grundlage der wichtig¬ 
sten Schlussfolgerungen für den Richter sowohl, wie auch des Gutachtens des 
Sachverständigen selbst, das nicht selten erst lange Zeit nach der Vornahme 
der Section eingefordert wird, in vielen Fällen sogar die Basis für das Urtheil 
anderer, später zugezogener Sachverständiger, ärztlicher Collegien oder medi- 
cinischer Facultäten. ln der Technik weicht die vollständige gerichtliche 
Section eines Leichnams von der allgemein üblichen pathologisch-anatomischen 


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SEUCHEN. 


gemeinhin nur insoweit ab, als die specielle richterliche Fragestellung Modi- 
ticationen des Verfahrens erheischt. In sehr zahlreichen Fällen werden dem 
Gerichtsarzte namentlich auch Objecte zur Untersuchung vorgelegt, die von 
der gewöhnlichen Beschaffenheit eines menschlichen Leichnams überaus ver¬ 
schieden sind: Zerstückelte, gefrorene, verkohlte, exhumirte, hochgradig faule 
Körper, Leichentheile oder Skeletfragmente, nicht selten auch Leichen, die 
bereits vor ihm von anderer Hand secirt und wieder zusammengeflickt waren; 
namentlich in letzterem Falle können die ungewöhnlichsten und überraschend¬ 
sten Befunde gemacht werden, die naturgemäss mit dem eigentlichen Falle 
absolut nichts zu thun haben (Asche, Gyps, Verbandstoffe, heterogene Orgdhe 
in den Körperhöhlen u. d. m.). 

Hinsichtlich der Veröffentlichung gerichtsärztlicher Befunde gilt in 
Oesterreich die gesetzliche Bestimmung, dass eine solche nicht vor Abschluss 
der gerichtlichen Untersuchung gestattet ist. (Gesetz vom 17. Nov. 1862, 
Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches, § 137.) g. woltebsdorf. 

SeUChGII. Unter Seuchen xat’ lEo'^v versteht man Infectionskrank- 
heiten, welche ständig an einem oder an mehreren Orten der Erde endemisch, 
zu Zeiten ohne erkennbare äussere Veranlassung sich wandernd über einen 
mehr oder weniger grossen Theil des Erdballes ausbreiten. Die Wanderungen 
dieser Krankheiten sind dabei stets von einem erheblichen Verlust an Menschen¬ 
material begleitet 

Nach dieser Definition würden demgemäss als eigentliche Seuchen 
zu betrachten sein Cholera, Pest, Flecktyphus und Pocken. Die meisten 
übrigen Infectionskrankheiten können, wie besonders Diphtherie, Scharlach, 
Influenza, gelbes Fieber, gelegentlich einen seuchenartigen Charakter an¬ 
nehmen, doch unterscheiden sie sich sowohl in ihren Heimatsverhältnissen 
wie in ihrer Ausbreitungsweise erheblich von den eigentlichen Seuchen. 

Cholera. 1. Heimat: Endemisch ist die Cholera beständig in der Ganges¬ 
niederung. 

2. Wanderungen: Grössere Züge trat die Cholera an in den Jahren 
1817—1823, 1836—1837, 1846—1863, 1863—1875, und schliesslich wandert 
sie seit dem Jahre 1883 beständig über die Erde. 

3. Krankheitserscheinungen. Als Prodromalerscheinungen treten 
Schwindel, Ohrensausen, Kälte der Extremitäten und Diarrhoen auf. Auf der 
Höhe der Krankheit besteht Erbrechen und Durchfälle (Reiswasserstuhl) und 
Muskel-, besonders Wadenkrämpfe. Bei ungetrübtem Bewusstsein beginnt die 
Temperatur zu sinken (Stadium algidum); schliesslich tritt, der Tod ein. In- 
cubationszeit 1—17 Tage. Mortalität 60°/o- 

4. Aetiologie. Durch die im Jahre 1883 nach Aegypten und Indien 
entsandte deutsche Forschungsexpedition unter der Leitung Robert Koch’s 
wurde von diesem als Erreger der Cholera der „Commabacillus“, der 
Vibrio cholerae asiaticae entdeckt. Derselbe ist ein gegen äussere Einflüsse, 
besonders gegen Säuren und Eintrocknen, sehr empfindliches Bacterium. Er 
wächst auf Gelatine mit charakteristischen Colonien, die Gelatine verflüssigend; 
er gibt Nitrosoindolreaction. Zur Differenzirung von anderen Vibrionen ge¬ 
nügen sein Wachsthums- und andere Merkmale nicht, sondern ist sein Ver¬ 
halten gegen Choleraimmunserum (PFEiFFEu’sche Reaction) zu prüfen. 

5. Verbreitung. Die Verbreitung der Cholera erfolgt hauptsächlich 
auf zwei Wegen; einmal durch den Kranken und durch die von diesem her- 
rührenden Dejecte (Contactcholera), dann durch das Wasser. Auch die Ver¬ 
breitung durch Nahrungsmittel lässt sich meist in eine dieser Rubriken ein- 
fügen, es ist aber auch möglich, dass durch Insecten Nahrungsmittel inficirt 
werden. 


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SEUCHEN. 


705 


Was die erste Art der Verbreitung anbetrifft, so sind es vorzüglich 
Leichtkranke, bei welchen die Diagnose noch nicht gestellt ist, die aber bei 
leidlichem Wohlbefinden mit ihren Fäces schon erhebliche Mengen Vibrionen 
entleeren, die die Ansteckung vermitteln. Auf diese Weise findet die Ein¬ 
schleppung auf dem Seewege und zwischen räumlich weit getrennten Orten 
statt. Ungleich wichtiger und gefährlicher ist die Verbreitung der Cholera 
durch das Wasser, da dies der Weg ist, auf welchem es zu einer ausgedehnten 
Verseuchung von grossen Landstrecken kommt. Während bei der ersten Art 
der Verschleppung der Cholera die Krankheitsfälle durch fortgesetzte An¬ 
steckungen sich allmählich mehren, entstehen im letzteren Fall explosions¬ 
artig Massenepidemien, wie es die jüngste Hamburger Epidemie treffend 
illustrirt. 

Das Wasser kann als Oberflächenwasser leicht inficirt werden, als Grund¬ 
wasser schwerer, aber auch, sobald die Brunnen, wie es meistens leider der Fall 
ist, nicht zweckmässig angelegt sind. In das Oberflächenwasser gelangen 
vielfach die Fäkalien der Städte, ferner Spül- und Waschwasser und direct 
werden in dasselbe entleert die Dejecte von Flössern und Schiffern. Im 
Wasser sind die Vibrionen ziemlich lange haltbar und können sich sogar 
vermehren. 

6. Abwehrmaassregeln, a) internationale. Am 15. April 1893 
wurden angesichts der drohenden Choleragefahr zu Dresden die Beschlüsse 
der internationalen Choleraconferenz zur Abwehr der Cholera unterzeichnet, 
und zwar von den Bevollmächtigten Deutschlands, Oesterreich-Ungarns, Ita¬ 
liens, Frankreichs, der Niederlande, Russlands, der Schweiz, Belgiens, Luxem¬ 
burgs und Montenegros. Später traten noch bei Dänemark, Spanien, Gross- 
brittanien, Griechenland, Portugal, Rumänien, Serbien, Schweden und Nor¬ 
wegen und die Türkei. Die wichtigsten Punkte sind folgende: 

1. Jede Regierung ist verpflichtet, den diplomatischen oder consularischen 
Vertretungen die Bildung eines Choleraheerdes anzuzeigen. 

2. Ausgeschlossen können werden von der Einfuhr nur Leibwäsche, 
Hadern und Lumpen. 

3. Desinficirt sollen in allen Fällen werden schmutzige Wäsche, alte 
und getragene Kleidungsstücke und Umzugsgut, falls dieselben aus einem 
choleraverseuchten Bezirk stammen. 

4. Landquarantainen sollen nicht mehr errichtet werden. Nur die an 
Cholera, beziehungsweise an choleraverdächtigen Erscheinungen erkrankten 
Reisenden dürfen zurückgehalten werden. Im übrigen sollen die Reisenden 
untersucht werden und wenn sie aus einem verseuchten Ort stammen, einer 
fünftägigen Ueberwachung unterworfen werden. 

5. Behandlung der Schiffe. Als verseucht gilt ein Schiff, welches Cho¬ 
lera an Bord hat, oder auf welchem in den letzten sieben Tagen ein Cholera¬ 
fall vorgekommen war. Verdächtig ist ein Schiff, das Cholera an Bord ge¬ 
habt hat, jedoch nicht in den letzten sieben Tagen. Rein ist ein Schiff, das, 
wenn es auch aus einem verseuchten Hafen kommt, Cholera nicht an Bord 
gehabt hat. 

Die Besatzung und die Passagiere eines verseuchten Schiffes werden, 
wenn angängig, sofort ausgeschifft und einer Beobachtung, nicht länger als 
fünf Tage, unterworfen. Die Kranken werden sofort ausgeschifft und isolirt. 
Schmutzige Wäsche, Bekleidungsgegenstände u. s. w. werden desinficirt, ebenso 
das Schiff (Auspumpen des Kielwassers, Ersatz des Trinkwassers). Bei ver¬ 
dächtigen Schiffen findet eine ärztliche Revision statt, ferner Desinfection der 
Wäsche und Bekleidungsgegenstände, falls dieselben nach Ansicht der Hafen¬ 
polizei mit Cholera in Berührung gekommen sind und eventuell Desinfection 
des Schiffes. Reine Schiffe werden sofort zum freien Verkehr zugelassen. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Gei. Med. 45 


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SEUCHEN. 


6) locale. Das erste Erfordernis ist allgemeine Meldepflicht. In ver¬ 
seuchten Orten sind alle Gelegenheiten zur Ansammlung grösserer Volks¬ 
massen zu verbieten und sind demgemäss unter Umständen auch die Schulen zu 
schliessen. Den hygienischen Verhältnissen des Ortes ist eine besondere Be¬ 
achtung zu schenken, um neue Quellen der Infection zu verhüten und die 
alten zu verstopfen. Kranke dürfen nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln 
transportirt werden. Leichen sind möglichst bald zu beerdigen. Allgemein 
ist die Desinfection der Wohnungen, Wäsche und Kleider der Cholerakranken 
durchzuführen. Wenn angängig, sind Kranke in ein Isolirspital zu über¬ 
führen. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass Waaren, die die Infection ver¬ 
breiten können, den verseuchten Ort nicht verlassen. Der Eisenbahnverkehr 
ist nicht einzuschränken, doch empfiehlt sich eine ärztliche Visitation der 
Reisenden, ähnlich der auf den Schiffen durchgeführten. 

Besonderes Augenmerk ist auf den Wasserverkehr zu richten. Eine 
energisch durchgeführte Strompolizei hat verdächtige Schiffe und Flösse an¬ 
zuhalten. Sämmtliche Schiffer und Flösser sind zu untersuchen und ist den¬ 
selben strengstens zu verbieten, ihre Dejecte in die Wasserläufe zu entleeren. 
Allgemein ist durch Belehrung vor dem Gebrauch von Flusswasser, sei es als 
Trinkwasser, sei es als Spül- und Waschwasser, zu warnen. Es sind genügend 
Brunnen zu errichten, aus welchen die Schiffer und Flösser ihren Bedarf an 
Wasser entnehmen sollen. 

Wegen der eminenten Bedeutung dieser Schutzmaassregeln ist denselben 
an dieser Stelle ein breiterer Raum eingeräumt worden und kann bei den 
übrigen Seuchen ein für alle Mal auf das oben Mitgetheilte verwiesen 
werden. 

Pest, Beulenpest, Bubonenpest. 1. Heimat. Es bestehen zur Zeit 
mindestens zwei Pestherde, der eine im Inneren von China, der andere in 
Mesopotamien. Zweifelhaft ist noch die Existenz eines dritten Herdes in 
Centralafrika. 

2. Wanderungen. Die Pest hat von allen Seuchen die verheerendsten 
Züge über die Erde angetreten. Sicher durchwandert sie seit der Marseiller 
Pest (503) ständig Europa, ungeheure Menschenmassen dahinraffend (z. B. im 
14. Jahrhundert der schwarze Tod). Für Europa ist die Pest im Laufe der 
Jahrhunderte mehr und mehr in den Hintergrund getreten. 1878—1879 war 
die letzte Epidemie in Europa (Astrachan). 1893 brach in Hongkong und 
Kanton die Pest aus, seit 1896 wüthet sie in Vorderindien. 

3. Krankheitserscheinungen. Die Incubationszeit wird auf sieben 
bis zehn Tage angegeben. Die Krankheit beginnt mit Schüttelfrösten, hohem 
Fieber, Benommenheit. Nach einigen Tagen schwellen die Lymphdrüsen an. 
Erlebt der Kranke den fünften Tag, so ist er meist gerettet, und pflegen 
dann die Bubonen zu vereitern. Häufig kommt auch eine primäre Lungen¬ 
pest vor, die klinisch als Pneumonie verläuft und immer zum Tode führt. Sonst 
ist die Mortalität über 80%. 

4. Aetiologie Als Erreger wurde von Yebsin der Pestbacillus ent¬ 
deckt. Ein ziemlich kleines, unbewegliches, sich gern polständig färbendes 
Stäbchen, das mit charakteristischen Colonien auf Gelatine wächst. Sicher 
wird es durch Reaction auf Pestserum analog dem Vibrio cholerae asiaticae 
diagnosticirt. 

5. Verbreitung. Die Verbreitung ist ausschliesslich eine directe 
Uebertraguug. Fälle von Verbreitung durch Waaren sind nicht bekannt, wohl 
auch sehr schwer möglich, da drei- bis viertägiges Eintrocknen den sehr em¬ 
pfindlichen Pestbacillus abtödtet. Die rapide Fortpflanzung der Pest in einem 
Ort und die Sprünge von Haus zu Haus, ohne dass eine Berührung der 
Menschen stattgefunden hatte, erklären sich durch das Verhalten der Ratten. 
Diese sind für Pest äusserst empfängliche Thiere und haben die Angewohn- 


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SEUCHEN. 


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beit, sobald sie an Pest erkranken, in die Wohnungen der Menschen zu kommen, 
um dort zu verenden. Mit ihren Excrementen entleeren sie massenhaft Pest¬ 
bacillen, durch kleinste Hautverletzungen gelangen die Pestbacillen meist in 
den Körper, doch kommt, wie schon erwähnt, auch eine Inhalationspest vor. 

5. Abwehrmaassregeln. Strengste Isolirung der Erkrankten. Sorg- 
fältigst ist alles zu vernichten, was irgendwie mit Pestbacillen verunreiuigt 
worden sein kann. Vor allem sind die WohnungsVerhältnisse zu verbessern 
und für Ausrottung des die Pest verbreitenden Ungeziefers zu sorgen, welches 
als in seinen Wegen uncontrolirbarer Verbreiter der Pest sehr gefährlich 
ist. Im übrigen sind locale und internationale Schutzmaassregeln im all¬ 
gemeinen analog denen bei der Cholera zu treffen. Die Quarantänezeit be¬ 
trägt jedoch nach den Abmachungen der Conferenz zu Venedig für pestver¬ 
dächtige Schiffe elf Tage. 

Pocken, Variola, Blattern. 1. Heimat. Die Pocken sind die älteste 
uns bekannte Seuche. Ihre Heimat ist in Indien, China und Centralafrika zu 
suchen. Aus China stammen Nachrichten Uber Pockenepidemien, die auf das 
Jahr 1122 vor Christus hinweisen. 

2. Wanderungen. Seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts sind 
Wanderungen der Pocken über Europa bekannt, und wandert seit dieser Zeit 
die Seuche beständig über den ganzen Erdball. 

3. Aetiologie. Der Pockenerreger ist zurZeit noch völlig unbekannt. 
All die vielfachen Untersuchungen haben nichts Positives ergeben, wenigstens 
nichts, das vor der Kritik stand gehalten hätte. Wenn wir auch so Uber 
den Erreger der Pocken noch völlig im unklaren sind, so wissen wir we¬ 
nigstens, dass das Contagium in den Hautschuppen, dem Sputum, dem Nasen- 
secret, dem Eiter uud den Borken der Kranken sicher enthalten ist. 

4. Krankheitserscheinungen. Die Incubationszeit der Pocken 
beträgt 10—13 Tage. Die Krankheit selbst verläuft in vier Phasen. Zunächst 
tritt das Stadium invasionis, das Prodromalstadium, ein, welches durch 
Schüttelfröste und hohes Fieber charakterisirt ist und drei bis vier Tage dauert. 
Es tritt dann während des zweiten Stadiums, dem Stadium eruptionis, ein bis 
zum neunten Tage anhaltender Fiebernachlass ein. In diesem Stadium treten 
die Papeln auf. Das sich anschliessende Stadium macerationis, das Eiter¬ 
fieber, zeichnet sich durch remittirendes Fieber aus, und dauert vom neunten 
bis zum elften Tag. Im Stadium exsiccationis trocknen schliesslich die Eiter¬ 
pusteln ein und entfiebert sich der Kranke lytisch. 

5. Verbreitung. Die Pocken werden hauptsächlich durch Berührung 
verbreitet. Dieselbe braucht durchaus keine directe zu sein, sondern auch 
Mittelspersonen können das Contagium verschleppen und inficiren. Auch die 
Luft in den Krankenräumen wirkt höchst wahrscheinlich ansteckend. Als 
äusserst gefährliche Mittel zur Verbreitung der Seuche erscheinen auch hier 
wiederum die Kleider, Wäsche und Gebrauchsgegenstände von Kranken. Ganz 
besonders geeignet zur Uebertragung sind gerade bei den Pocken diese Gegen¬ 
stände, da das Contagium der Pocken nicht von der Kurzlebigkeit der Er¬ 
reger der Cholera und der Pest ist, sondern anscheinend sehr lange seine 
Ansteckungsfähigkeit sich erhalten kann. 

6. Abwehrmaassregeln. Selbstverständlich ist es absolut nothwendig, 
bei der eminenten Ansteckungsfähigkeit der Pocken die Kranken in Isolir- 
spitälern zu behandeln, und eine strenge Desinfection aller Gegenstände, mit 
denen die Kranken nur irgendwie in Berührung gekommen sein können, durch¬ 
zuführen. Auch die Wohnungen sind sorgfältigst zu desinficiren, da sich 
auch in diesen lange Zeit das Contagium erhalten kann. Es sind Fälle 
beobachtet worden, wo in nicht oder nicht gründlich desinficirten Wohnungen, 
in denen Pockenkranke gelegen haben, noch nach Monaten bei den neuen 
Bewohnern Ansteckung vorgekommen ist. 

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SIMULATIONEN. 


Nicht zu unterschätzen sind auch die Leichen von Pockenkranken als 
Träger des lnfectionsstoffes, und ist deshalb der Unschädlichmachung dieser 
durch Einhüllen in mit Desinfectionsfiüssigkeiten getränkten Tüchern, baldigen 
Transport aus der Wohnung, sorgfältiger Einsargung und Beerdigung beson¬ 
dere Sorgfalt zukommen zu lassen. 

So nothwendig alle diese Maassnahmen sind, wenn die Pocken irgendwo 
auftreten, so haben sie sich doch als recht unzulänglich erwiesen. Länder, 
wie Frankreich und Oesterreich, welche diese Schutzmaassregeln aufs sorg¬ 
fältigste durchführen, können doch die Pocken nicht unterdrücken. Einzig 
und allein ist dies durch eine obligatorische Schutzimpfung möglich. (Siehe 
Schutzimpfung.) 

Flecktyphus, Hungertyphus. 1. Heimat. Der Flecktyphus ist heimisch 
in Irland, Russland, Galizien und im Orient. 

2. Wanderungen. Die Wanderungen des Flecktyphus scheinen in den 
letzten Jahrzehnten nachgelassen zu haben, und ist Deutschland seit den letzten 
20 Jahren von Epidemien verschont geblieben. 

3. Krankheitserscheinungen. Nach einer Incubationszeit von 
3—21 Tagen setzen mit hohem Fieber Schüttelfröste ein. Am dritten Tage 
treten reichlich Roseolen auf. Das Fieber hält mit geringen Remissionen von 
sechs bis acht Tagen bis zum 17. Tage an, um dann kritisch abzufallen. 

4. Aetiologie. Die Aetiologie ist völlig unbekannt. Das Contagium 
findet sich an den Bekleidungsgegenständen der Kranken und in der Kranken¬ 
zimmerluft. 

5. Abwehrmaassregeln. Vor allem sind die allgemeinen hygienischen 

Bedingungen zu heben. Nur wo Schmutz und Elend herrscht, sind ausgedehnte 
und anhaltende Epidemien beobachtet worden. Im übrigen sind die Maass¬ 
nahmen bei vorhandenem Flecktyphus analog den Maassregeln bei den Pocken¬ 
kranken zu treffen. Ganz besonders ist noch die eminente Ansteckungsgefahr 
für Aerzte und Krankenpfleger hervorzuheben. Als bester Schutz für die 
Personen, die mit den Kranken in Berührung kommen, erscheint die aus¬ 
giebigste Lüftung der Krankenzimmer. mabx. 

Simulationen (Verstellungen). (Forensisch.) 

Gesetzliche Bestimmungen. 

Deutsches Reich. Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871. 

§ 142. Wer sich vorsätzlich durch Selbstverstümmelung oder auf andere Weise zur 
Erfüllung der Wehrpflicht untauglich macht oder durch einen anderen untauglich machen 
lässt, wird mit Gefängnis nicht unter einem Jahre bestraft; auch kann au? Verlust der 
bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Dieselbe Strafe trifft denjenigen, welcher einen 
anderen auf dessen Verlangen zur Erfüllung der Wehrpflicht untauglich macht. 

§ 143. Wer in der Absicht, sich der Erfüllung der Wehrpflicht ganz oder theilweise 
zu entziehen, auf Täuschung berechnete Mittel an wendet, wird mit Gefängnis bestraft; 
auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Dieselbe Straf¬ 
vorschrift findet auf den Theilnehmer Anwendung. 

Militär-Straf-Gesetzbuch für das deutsche Reich vom 20. Juni 1872. 

§§ 81, 82, 83 handeln von der vorsätzlichen Selbstverstümmelung und ihrer Be¬ 
strafung und von der Anwendung eines auf Täuschung berechneten Mittels, um sich 
der Ermllung der gesetzlichen oder übernommenen Verpflichtung zum Dienste zu ent¬ 
ziehen. 

Vgl. auch Unfallversicherungsgesetz für das deutsche Reich vom 6. Juli 1884, 

B 51 ff., über die vollständige und theilweise Erwerbsunfähigkeit und die Anwendung der 
ltschädigungätarife. 

Oesterreich. Im gegenwärtigen österreichischen Strafgesetzbuch vom 27. Mai 1852, 
RGBl. Nr. 117, ist keine positive Bestimmung über die Simulation enthalten, dieselbe 
wird jedoch als Verbrechen des Betruges geahndet: 

§ 197. „Wer durch listige Vorstellungen oder Handlungen einen anderen in 
Irrthum führt, durch welchen jemand, sei es der Staat, eine Gemeinde oder andere 
Person, an seinem Eigenthume oder an anderen Rechten Schaden leiden soll; oder wer in 
dieser Absicht und auf die eben erwähnte Art eines anderen Irrthum oder Unwissenheit 


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SIMULATIONEN. 


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benützt, begeht einen Betrag; er mag sich hierzu durch Eigennutz, Leidenschaft, durch 
die Absicht, jemanden gesetzwidrig zu begünstigen oder sonst durch was immer für eine 
Nebenabsicht haben verleiten lassen. 4 

Ueber das Verbrechen der Selbstbeschädigung handeln §§ 293, 294 und 677 
des Militär-Strafgesetzes; die Circ.-Verordnung vom 13. Mai 1873, Nr. 3380, Abthlg. 2, N.V.B. 
Nr. 22 enthält die näheren Bestimmungen. 

Dabin zu beziehen sind auch §§ 6, 29, 31, 38 des Gesetzes vom 28. December 1887 
betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter mit analogen Bestimmungen über 
gänzliche oder theilweise Erwerbsunfähigkeit, wie im deutschen Unfallversicherungsgesetz. 

Ganz mit Unrecht ist in den meisten neueren Lehrbüchern der gericht¬ 
lichen Medicin die Lehre von den verstellten Krankheiten (Simu¬ 
lationen) stiefmütterlich oder gar nicht behandelt. Dieser Theil der foren¬ 
sischen Medicin hat ganz im Gegensatz zu der behaupteten Abnahme und 
geringeren Bedeutung der Simulationen vielmehr durch die neufcn Socialgesetze 
eine erhöhte Bedeutung gewonnen. Nicht nur der Militärarzt und der Gerichts¬ 
arzt haben sich damit zu befassen, sondern jeder Krankencassenarzt und Un¬ 
fall-Sachverständige. Die Zahl der auf diesen Gebieten versuchten und auch 
durchgeführten betrügerischen Verstellungen und Vortäuschungen ist Legion. 
(Nach Urtheilen erfahrener Aerzte 50—80% aller Fälle.) 

Aber auch auf dem engeren Gebiete der strafrechtlichen Sachverstän- 
digenthätigkeit ist die Zahl der Simulationen keineswegs klein, innerhalb ge¬ 
wisser Grenzen der Versuch derselben vielmehr fast Regel, wenigstens in der 
Form der Uebertreibung. Ich kann aus eigener reicher Erfahrung sagen, 
dass weit mehr als die Hälfte aller Verletzten die Verletzungsfolgen über¬ 
treibt. Die Dauer der Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit wird weit 
über das richtige Maass angegeben, kleine Störungen zu grossen erhoben, 
wie etwa Ohrensausen zu Taubheit, und eine etwas erschwerte Beweglichkeit 
zur Lähmung und völligen Gebrauchsunfähigkeit des verletzten Theiles. 
Jedem Gutachter ist daher gegenüber den subjectiven Angaben Verletzter, 
finde die Untersuchung für Unfall-, Krankenversicherungs- oder Strafrechts¬ 
zwecke statt, ein grosses Maass von Vorsicht und kühler Zurückhaltung drin¬ 
gend zu empfehlen. Ziel der Untersuchung ist der Nachweis der objectiven 
Veränderungen und ihrer thatsächlichen Folgen, das Mittel dazu die Heran¬ 
ziehung aller erprobten klinischen Untersuchungsmethoden. 

Wie mannigfach die Täuschungen und Verstellungen im einzelnen 
auch sind, so gibt es gleichwohl auch auf diesem Gebiete häufig und mit einer 
gewissen Regelmässigkeit wiederkehrende Typen, welche im Folgenden eine 
gedrängte Darstellung finden. 

Zuvor aber mögen noch einige allgemeine Gesichtspunkte über 
Jas Erkennen der Simulation Platz finden. Ein gemeinsamer Zug bei 
allen Simulanten ist die Ueberschätzung kleiner, wirklich vorhandener 
Gebrechen. Hat er ein unbedeutendes Geschwür am Fuss, so hinkt er, als 
wäre die ganze Sohle wund, und behauptet, nicht gehen zu können; besteht 
irgend wo eine Anschwellung oder Blutaustretung, so gibt er bei der leisesten 
Berührung Schmerzäusserungen von sich, welche zur wirklichen Störung im 
schreienden Missverhältnisse stehen; ist an einem Gelenke noch eine Ver¬ 
dickung als Rest einer längst abgelaufenen Entzündung vorhanden, so bewegt 
er dasselbe activ gar nicht, bei passiver Bewegung spannt er die Muskeln an 
und fixirt dasselbe. Diese (scheinbare) Hyperästhesie erweckt mit Recht zu¬ 
erst das Misstrauen des Arztes. Ueberraschungen können dasselbe in solchen 
Fällen mitunter bald bestätigen, z. B. unerwartete Besuche zu ungewöhnlicher 
Zeit, bei schlechtem Wetter nach sehr kurzen Zwischenräumen. (Casper.) 

Ein weiterer gemeinsamer Zug ist die Verzerrung der Krankheits¬ 
bilder. Der Simulant glaubt recht drastisch auftreten oder sich äussern zu 
müssen; in dem Bestreben recht augenfällig krank zu erscheinen, überschlägt 
er sich und wird durch seine Aufdringlichkeit verdächtig. Er kennt nur ein- 


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SIMULATIONEN. 


zelne Symptome, die er maasslos vergrössert, doch vermag er niemals die Ge- 
sammtheit der Erscheinungen, welche zusammengenommen erst die Diagnose 
einer Krankheit begründen, wiederzugeben. Der Simulant schafft nur Zerr¬ 
bilder und nicht innerlich wahre Krankheitsbilder; viele Symptome, die vor¬ 
handen sein müssten, wäre die Krankheit wahr, fehlen, die herausgerissenen 
Einzelsymptome sind übertrieben. Im Spiegel einer sachkundigen, auf voller 
Kenntnis der wirklichen Krankheitsbilder fussenden Diagnostik erscheinen 
daher die verstellten Krankheiten gegenüber den wahren wie eine verzerrte 
Fratze gegen die Harmonie eines schönen Gesichtes. 

Infolge Unkenntnis der Erscheinungen und des Verlaufes der Krank¬ 
heiten sind die Angaben des Krankheitsschwindlers oft wider- 
spruchsvoll.und wechselnd, so dass er durch Suggestivfragen leicht aufs 
Eis geführt und so überfuhrt werden kann. Es ist dies besonders bei an¬ 
geblichen Fehlern der Sinnesorgane, sowie bei entzündlichen und nach Ver¬ 
letzungen entstandenen Leiden der Fall. In anderen Fällen erweckt mitunter 
gerade das Umgekehrte, das Stereotype der Angaben Verdacht und be¬ 
gründet die Diagnose der Simulation. So ist eine beständig gleichbleibende 
Localisation und Intensität neuralgischer und rheumatischer Beschwerden, 
das fortgesetzt gleiche Jammern über dieselben Schmerzen innerlich völlig 
unwahr und daher ein Zeichen der Simulation. Das Befinden des an einer 
chronischen Krankheit Leidenden gleicht einer unregelmässigen Ebbe und 
Fluth, sagt E. Heller (Simulationen und ihre Behandlung, Fürstenwalde 1882) 
mit Recht; er befindet sich bald besser, bald schlechter, klagt heute über die 
eine Stelle mehr, morgen über andere, ist entweder hoffnungsvoll oder 
verzagt, und spricht sich gern über den Wechsel seines Zustandes aus. Der¬ 
jenige aber, welcher sich freiwillig auf das Krankenlager begibt, um dem Arzt 
die Ueberzeugung eines chronischen Leidens beizubringen, wiederholt mit 
einer gewissen Monotonie täglich dieselben Klagen. 

Die vorgeschützten Krankheiten im Einzelnen. 

1. Innere Krankheiten. Die Vortäuschung oder willkürliche Er¬ 
zeugung innerer Krankheiten wurde in früheren Zeiten zweifellos in weit 
grösserem Maasse betrieben, als dies heute der Fall ist, wenn es auch gegen¬ 
wärtig an derartigen Unternehmungen keineswegs fehlt. Meist beschränkt sich 
die Simulation auf allgemeine, vage Angaben und Klagen über rheuma¬ 
tische Schmerzen, Stechen auf der Brust, Fieber, Hitze, Unter¬ 
leibsbeschwerden, Magen- und Darmleiden, Herzleiden. Recht 
häufig ist eine absichtliche Verlängerung der Reconvalescenz nach 
wirklichen Krankheiten, wobei zur Täuschung des Arztes die verschiedensten 
Mittel angewendet werden, wie freiwilliges Hungern zur Herbeiführung künst¬ 
licher Abmagerung oder fortgesetzte Einverleibung schädlicher Substanzen, 
selbst gefährlicher Gifte zur Erzeugung dauernden Siechthums (Ver¬ 
schlucken von Tabak oder Einfuhren desselben ins Rectum, Trinken von Essig, 
absichtlich fortgesetzter Gebrauch von Quecksilber, Phosphor, Canthariden, 
Opiaten, Digitalis u. s. f.). Bekannt ist auch das künstliche Bluthusten, 
herbeigeführt durch Saugen am Zahnfleisch oder Verschlucken von Thierblut, 
sowie die willkürliche Aphonie, das Sprechen ohne genügende An¬ 
spannung der Stimmbänder. 

Der Nachweis erfordert vor allem fortgesetzte sorgfältige Beobachtung, 
gründliche Untersuchung mit allen Behelfen moderner Diagnostik und Ver¬ 
gleichung der gewonnenen Ergebnisse mit den bekannten Krankheitsbildern. 
Hiebei ist es wichtig, bis zur Sicherung des eigenen Urtheiles den Simulanten 
in die Meinung zu versetzen, dass man ihn wirklich für krank hält. Die 
Ueberführung wird dadurch viel leichter werden; der vertrauensselige Schwindler 
wird bald dreist und kann meist unschwer zu Albernheiten verleitet werden. 


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welche ihn entlarven. Die wissenschaftliche Diagnose der Simulation fasst 
aber stets: 1. Auf dem völligen Dunkel der Aetiologie; 2. auf der Incongruenz 
des vorhandenen Krankheitsbildes mit dem klinischen Bilde einer bekannten 
Krankheit; 3. auf dem vielfach wechselnden, atypischen Verlauf der Erschei¬ 
nungen. 

2. Aeussere Krankheiten. Sehr häufig ist die Vortäuschung von 
Bewegungsstörungen und Gelenkleiden nach Verletzungen. Der 
Verletzte, welcher thatsächlich einen Beinbruch, eine Verrenkung, Quetschung, 
Stich-, Schnitt- oder Schussverletzung erlitten hat, behauptet, nachdem schon 
längst Heilung im chirurgischen Sinne eingetreten ist, noch immer, Hand, 
Arm, Fuss oder Bein nicht gebrauchen, das Gelenk nicht bewegen zu 
können. Der Nachweis, ob noch eine Functionsstörung besteht oder nicht, kann 
mitunter schwierig sein. Neben den oben erörterten Grundsätzen über den 
Nachweis von Simulationen werden hiebei noch besonders zu beachten sein: 
1. Der Ernährungszustand des betreffenden Gliedes, welcher bei wirklich 
bestehenden Functionsstörungen meist stark gelitten hat; 2. das Verhältnis 
der objectiven Symptome zu den angeblichen Functionsstörungen. Es wird 
sich bei Simulation stets ein Missverhältnis zwischen behaupteter Störung 
und objectivem Befund nachweisen lassen, z. B. eine leicht bewegliche Haut¬ 
narbe bei behaupteter Steifigkeit des darunter liegenden Gelenkes u. dgl. 
Contracturen durch willkürliche Anspannung der Musculatur, sowie frei¬ 
willige Verkrümmungen und Schiefhaltungen werden vom sachkun¬ 
digen Arzte bald erkannt werden. 

Künstlich erzeugte Hautgeschwüre an Füssen und Unterschenkeln 
(sogenannte Fussgeschwüre) kommen wohl noch regelmässig zur Beobachtung. 
Sie fallen mitunter durch ihre kreisrunde Form und den festsitzenden unge¬ 
mein scharf abgegrenzten Schorf auf. Solche Geschwüre sind durch Auf¬ 
binden von alten Kupfermünzen erzeugt worden. Auch durch scharfe 
Pflanzensäfte, Canthariden u. dgl. werden diese Geschwüre hervorgerufen und 
unterhalten. 

Eine eigenthümliche, praktisch sehr wichtige Verstellung ist die an¬ 
gebliche Entstehung von Bruchleiden oder Vorfällen durch Traumen. 
Jemand wurde misshandelt, getreten, geschlagen, geworfen, oder ist bei der 
Arbeit hingefallen oder irgendwo angeschleudert worden und behauptet, da¬ 
durch einen Leibschaden erworben zu haben. Die Untersuchung ergibt that¬ 
sächlich das Vorhandensein einer Hernie. Wie verhält es sich mit dem ur¬ 
sächlichen Zusammenhang? Hernien entwickeln sich bekanntlich langsam auf 
vorgebildeten Wegen. Ein schon vorhandener Leibschaden kann infolge eines 
Traumas vielleicht etwas stärker hervortreten, möglicherweise selbst vom Ver¬ 
letzten erst jetzt wahrgenommen werden; die rein traumatische, acute Ent¬ 
stehung einess Bruches gehört zu den grössten Seltenheiten. Eine solche ist 
aber leicht nachweisbar, weil sie ohne Zerreissungen nicht zu Stande kommen 
kann und diese sich durch schwere Symptome der Einklemmung und Bauch¬ 
fellreizung im unmittelbaren Anschlüsse an das Trauma bemerkbar machen 
müssen. Findet man bei der Untersuchung eines Verletzten, wo diese Folge 
behauptet wird, einen frei beweglichen oder wenig schmerzhaften Leistenbruch 
oder Schenkelbruch, so ist der ursächliche Zusammenhang mit einem jüngst 
erlittenen Trauma bestimmt in Abrede zu stellen. 

Ganz dasselbe gilt von den Scheiden- und Gebärmuttervorfällen, welche 
Weiber mitunter betrügerisch zur Erlangung hoher Ersatzansprüche zu ver¬ 
werten suchen. Diese Leiden entstehen ebenfalls allmählich und müsste eine 
behauptete acut-traumatische Entstehung schwere Erscheinungen im unmittel¬ 
baren Anschlüsse an die Beschädigung zur Folge haben. Reactionslosigkeit, 
Reponirbarkeit und epidermisartiger Charakter der prolabirten Schleimhaut 
beweisen die allmähliche Entstehung und den langen Bestand des Uebels. 


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SIMULATIONEN. 


3. Augenleiden. Blindheit beider Augen vorzutäuschen, ist 
für längere Zeit wohl kaum möglich; diese Simulation erfordert ein un¬ 
gewöhnlich grosses Maass von Ausdauer und Entsagungsfähigkeit. Würde 
Bin solcher Versuch dennoch unternommen werden — und es sind Fälle be¬ 
kannt geworden — so wird neben dem völligen Mangel objectiver Befunde 
zur Entlarvung insbesondere das Verfahren von Bükchardt zweckmässig 
sein, welches auf dem Nachweis von Kenntnissen beruht, die der Simulant 
nur durch Sehen erworben haben kann. 

Viel häufiger ist die Simulation einseitiger Blindheit als an¬ 
geblicher Verletzungsfolge. Alle wirksamen Versuche zur Entlarvung dieser 
Verstellung beruhen darauf, den Simulanten glauben zu machen, er sehe etwas 
mit dem gesunden Auge, was er in Wirklichkeit mit dem angeblich blinden 
sieht. Die bekannteste, meist am schnellsten zum Ziele führende Methode 
ist der Pr ismen versuch von Gbäfe. Einsteiles, dreiseitiges Prisma (nicht 
unter 12°) vor das gesunde Auge gehalten, lenkt die Sehprobe nach der Seite 
der scharfen Kante ab, während das andere Auge die Sehprobe an der rich¬ 
tigen Stelle sieht, wenn es überhaupt sieht. Der Simulant sieht also zwei 
Bilder, er sieht doppelt. Gibt er dies zu, so ist er entlarvt. Statt des ein¬ 
fachen Prismas kann man auch das Stereoskop anwenden. Bei diesem 
Verfahren (Rabl-Rückhakd) wird nicht die stereoskopische Wirkung des 
räumlichen Sehens verwertet, sondern die durch den Wettstreit der Sehfelder 
erzeugten Erscheinungen, welche hervorgerufen werden, indem man zwei ver¬ 
schiedene Bilder vorlegt, die beim binoculären Sehen keine Vereinigung 
zum Bilde eines Körpers zulassen. Nimmt der Untersuchte hiebei Farben 
oder Figuren wahr, welche nur in dem, dem angeblich blinden Auge vor¬ 
gesteckten Bilde sich finden, so ist er überführt. Mit Vortheil können die 
BuRCHARDT'schen oder RABL’schen Tafeln (Vierteljahrschr. f. ger. Med. 1876) 
für die stereoskopischen Prüfungen verwendet werden. Sehr einfach und ver¬ 
lässlich ist auch der KuQEL’sche Versuch. Man setzt ein dunkel gefärbtes, 
aber durchsichtiges Glas vor das angeblich erblindete Auge und ein gleich¬ 
gefärbtes, aber undurchsichtiges Glas vor das sehende Auge. Wenn jetzt ein 
vorgehaltenes Object, z. B. ein Finger, erkannt wird, so ist einseitige Amau¬ 
rose ausgeschlossen, (v. Hasner.) 

Herabsetzung der Sehschärfe ist mitunter eine wirkliche Folge 
von Verletzungen, aber auch häufig eine ganz unwahre Angabe des Verletzten. 
Die Prüfung der gesunkenen Sehschärfe findet nach vorausgegangener Unter¬ 
suchung des Auges bei seitlicher Beleuchtung und mit dem Augenspiegel in 
der bekannten Weise mittels Brillengläser und der SNELLEN’schen Tafeln 
statt. Simulation einer amblyopischen Störung oder gänzlicher Erblindung ist 
wahrscheinlich, wenn die Regenbogenhaut bei abwechselndem Bedecken und 
Oeffnen des untersuchten oder auch des anderen Auges, bei concentrirter 
Beleuchtung des Auges, normal reagirt; ferner wenn die ophthalmoskopische 
Untersuchung keinerlei Anhaltspunkte für die Diagnose einer Erkrankung 
des lichtempfindenden Apparates ergibt, und die normale Parallelbewegung 
der Augen erhalten geblieben ist (v. Hasner in v. Maschka’s Handb. der 
ger. Med.), endlich wenn bei raschem und vielfältigem Wechsel der Gläser 
und Entfernungen der Sehproben widersprechende Angaben gemacht werden. 
Mit dem Optometer von Gödicke (3 Linsen: -j- 1 I 36 , — x / 26 und -j- 1 / 1B ) kann 
die Sehschärfe ziemlich schnell bestimmt und etwaige Ametropie festgestellt 
werden. 

Einengung des Gesichtsfeldes wird wohl nie ganz ohne Grund 
angegeben, doch sind Uebertreibungen nich selten, um einen höheren Grad 
von Erwerbsunfähigkeit zugebilligt zu erhalten (Heller). Accommoda- 
tionsstörungen können als solche nicht simulirt werden, wohl aber sind 


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SIMULATIONEN. 


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Fälle beobachtet worden, wo diese künstlich durch absichtliche Anwendungen 
von Atropin oder Calabar herbeigeführt wurden. 

Nicht selten sind die absichtlich erzeugten Bindehautentzündungen. 
Sie werden durch Einbringen von Fremdkörpern in den Bindehautsack er¬ 
zeugt und unterhalten (Tabaksaft, Tabakstaub, Tabakasche, Weingeist, Brannt¬ 
wein, Kochsalz, Pfeffer, Paprika, Kupfervitriol, Höllenstein, Aetzkalk, Can- 
thariden, Obstkerne, Krebsaugen, Strohhalme, Glassplitter, Seife u. andere 
Dinge). In einzelnen Fällen sollen sich Militärpflichtige sogar Cataracte durch 
Nähnadelstiche erzeugt (Lawrence) und durch Höllensteinätzungen künstliche 
Hornhautgeschwüre hervorgerufen haben (Zander). 

4. Ohrkrankheiten. Schwerhörigkeit als angebliche Verletzungs¬ 
folge ist eine ungemein häufige Simulation. Die Angabe ist entweder voll¬ 
ständig erlogen, oder es liegt Uebertreibung vor, oder es wird der Versuch 
gemacht, längst bestandene Schwerhörigkeit gelegentlich einer Verletzung 
möglichst gut zu verwerten. Die Prüfung erfolgt durch Bestimmung der 
Hörweite jedes einzelnen Ohres beim lauten Sprechen und Flüstern. Ge¬ 
schickt gewählte Uebergänge, die als Ueberraschungen wirken, fuhren meist 
zur Aufdeckung einer falschen Angabe. 

Einseitige Taubheit wird nicht selten vorgetäuscht; sie wird oft 
als Folge von verhältnismässig geringfügigen Verletzungen behauptet (Ohr¬ 
feigen). Das einfachste Verfahren zum Nachweis dieser Simulation ist nach 
Trautmann der Stimmgabel versuch. Setzt man eine stark tönende Stimm¬ 
gabel auf die Mitte des Scheitels, der Stirne oder auf die Zähne, so wird sie 
unter normalen Verhältnissen auf beiden Seiten gehört. Liegt eine Erkran¬ 
kung des schallleitenden Apparates vor, so wird sie nach der kranken, bei 
Krankheiten des schallempfindenden Apparates nach der gesunden Seite ge¬ 
hört. Hört jemand bei einseitiger Taubheit die Stimmgabel nach der ge¬ 
sunden Seite und man lässt diese mit dem Finger verschliessen, so muss er 
die Stimmgabel nach der gesunden Seite verstärkt hören, behauptet er, sie gar 
nicht zu hören, so liegt auf der kranken Seite bestimmt Uebertreibung vor. 
Lässt man das gesunde Ohr mit dem Finger abschliessen und spricht nur 
mittellaute Worte in nächster Nähe, so müssen diese bei normaler Hör¬ 
fähigkeit trotz des Verschlusses gehört werden. Gibt der Untersuchte an, 
sie nicht zu hören, so liegt auf der angeblich kranken Seite Uebertrei¬ 
bung vor. 

Doppelseitige Taubheit wird ebenfalls ab und zu simulirt, un¬ 
gleich seltener allerdings als die einseitige. Ihre Entdeckung ist auch 
schwieriger, wenn der Betreffende sehr ausdauernd ist. Wichtig für die Er¬ 
kennung sind Anamnese und objectiver Befund, sowie der Gesichtsausdruck, 
welcher bei wirklich Tauben ein gespannt lauschender ist, während der Fälscher 
bei dieser für ihn nicht nöthigen, einseitigen Anspannung leicht ermüdet. 
Der Simulant verräth sich manchesmal durch Mienen, Geberden oder Be¬ 
wegungen, wenn vom Arzte unerwartete Bemerkungen, die Ehre und 
Schamgefühl verletzen, gemacht werden. Lässt man hinter dem Rücken des 
Exploranden einen schweren Gegenstand zu Boden fallen, so wird der wirklich 
Taube sich ängstlich umsehen, er ist erschreckt durch plötzlich verspürte 
Schwingungen des Fussbodens, der Simulant dagegen wird wie angewurzelt 
unbeweglich bleiben — denn er darf ja nichts hören — und sich dadurch 
verrathen. 

5. Erkrankungen des Nervensystems. Lähmungen werden 
nicht ganz selten vorzutäuschen versucht. Bekanntlich können solche ohne 
Atrophie längere Zeit hindurch nicht bestehen und es stellt sich dann auch 
Entartungsreaction ein. Wiederholte sorgfältige Untersuchungen, namentlich 
Prüfungen der galvanischen und faradischen Erregbarkeit werden den Betrug 
bald aufdecken. 


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SIMULATIONEN. 


Neuralgien können manchmal lange Zeit hindurch mit Glück simu- 
lirt werden. Menschen, welchen die Symptome der Krankheit aus eigener 
Erfahrung von früher her bekannt sind, localisiren die Schmerzen ganz richtig, 
und da physikalisch nachweisbare Erscheinungen bekanntlich fehlen, so ist es 
oft sehr schwierig, mitunter vielleicht ganz unmöglich, diese Simulation zu 
entlarven. 

Anästhesien werden ebenfalls, gewöhnlich in Verbindung mit Paresen 
glücklich simulirt. Fester Wille und Entschlossenheit leisten oft selbst 
den schmerzhaftesten Proben vollkommen Widerstand. Bei der zum Zwecke 
der Entdeckung nothwendigen gesonderten Prüfung aller drei Empfindungs¬ 
qualitäten, des Tast-, Ort- und Temperatursinnes, werden sich beim Simu¬ 
lanten in der Regel sehr bald Widersprüche ergeben, oder er wird durch 
Uebertreibungen auffallen. (Vgl. Burchardt, Diagnostik der Simulation von 
Gefühlslähmungen. Berlin 1875). 

Epilepsie wird besonders von Militärpflichtigen nicht allzu selten 
simulirt u. zw. oft mit Glück. Mir ist ein Fall bekannt, wo ein sehr 
intelligenter, vollkommen gesunder Bursche durch Simulation von Epilepsie 
der schweren Dienstpflicht als Matrose sich gänzlich entzogen hat. Mit dreister 
Behaglichkeit hat der aus dem Militärverbande gänzlich Entlassene mir einst 
die Geschichte seines Fallsucht-Schwindels erzählt und war so freundlich, mir 
sogar einen epileptischen Anfall vorzuspielen. Die Diagnose der Simulation 
kann sich nur auf die directe Beobachtung des Anfalles stützen. Das Augen¬ 
merk ist hiebei vor allem auf jene Symptome zu richten, welche willkürlich 
nicht hervorgerufen werden können: Leichenblässe des Gesichtes im Beginne 
des Anfalles, harter Puls zu Beginn während des tonischen, weicher und 
voller Puls während des klonischen Krampfstadiums; Vorwiegen der Krampf¬ 
erscheinungen auf einer Körperseite; Durchgehen des Krampfanfalles durch 
ein Soporstadium mit reactionslos erweiterten Pupillen, Unerregbarkeit der 
Sinnesthätigkeit und Sensibilität, Aufgehobensein der Reflexe. 

Die nach allgemeinen Erschütterungen des Nervensystems, namentlich 
nach Eisenbahnunfällen auftretende traumatische Neurose (Railway spine) 
ist auch in manchen Fällen eine Simulation oder Uebertreibung. Die Richtig¬ 
stellung erfordert längere Zeit fortgesetzte systematische Beobachtung der 
Erscheinungen und des Verlaufes. Eine echte traumatische Neurose ent¬ 
wickelt sich in der Regel allmählich und hat meist progressiven Charakter. 

Die angeborene Muskelsteifigkeit, eine sehr seltene, aber vollkommen 
sichergestellte Nervenkrankheit, welche im Unvermögen besteht, Bewegungs¬ 
impulse rasch auszuführen (THOMSEN’sche Krankheit, Myotonia congenita), 
könnte umgekehrt leicht für Simulation gehalten werden. 

6. Geisteskrankheiten. Sie werden namentlich von Verbrechern 
zu simuliren versucht, die sich der Strafe entziehen wollen. Auch gibt es Indi¬ 
viduen, welche wegen trauriger socialer und häuslicher Verhältnisse simu¬ 
liren, um in der Anstalt bleiben zu können, aus der sie der Arzt entfernen 
will. Hysterische simuliren oder übertreiben oft aus krankhafter Lust am 
Betrügen oder um Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu werden. Auch 
wirklich Geisteskranke simuliren mitunter, indem sie strafbarer Handlungen 
sich nicht zu erinnern behaupten, (v. Krafft-Ebing, Gerichtliche Psycho¬ 
pathologie.) 

Simulation von Geisteskrankheit ist ungemein schwer, wenn nicht voll¬ 
ständig undurchführbar. Die Seelenstörungen sind so complicirt, dass es 
wohl niemals gelingt, ein empirisch wahres Krankheitsbild vorzutäuschen, 
vorausgesetzt, dass der Gutachter sachkundig und in psychiatrischer Diagnostik 
erfahren ist. Der Simulant verlegt sich auf die Nachäffung einzelner Er¬ 
scheinungen, er glaubt durch Production von möglichst viel krassem Unsinn 
und zusammenhangslosen, barokken Verstellungen, durch blinde Raserei oder 


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STERBLICHKEIT. 


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absolute Stupidität sein Ziel am sichersten zu erreichen, während er gerade 
dadurch erkannt wird; seinem Wahnsinn fehlt die Methode, sein tolles Ge- 
bahren wird zur Farce. 

Fast sämmtliche in der Natur vorkommenden psychischen Störungen sind 
schon simulirt worden. Mit grossen Schwierigkeiten ist die Simulation der 
Melancholie verbunden, weil der physiognomische Ausdruck des schmerz¬ 
lichen Affectes, sowie die typischen Schwankungen der Erscheinungen während 
des Verlaufs und die anhaltende Schlaflosigkeit sich nicht erfolgreich durch¬ 
führen lassen. Die Tobsucht zu simuliren, scheitert an der Unmöglichkeit, 
den triebartigen Bewegungsdrang consequent durchzuführen. Der Simulant 
ermüdet, ruht dann aus und erholt sich in der Nacht durch tiefen Schlaf von 
den Ueberanstrengungen des Tages. Stupidität und Blödsinn lassen sich 
kaum mit Erfolg wiedergeben, weil es unendlich schwierig ist, völlige Affect- 
losigkeit zu heucheln und ihr den mimischen Ausdruck zu verleihen. Auch 
Verrücktheit und Wahnsinn lassen sich nicht consequent durchfuhren. 

Mitunter haben Geisteskranke ein Interesse, für gesund gehalten zu 
werden; es veranlasst sie das zum Gegentheil der Simulation, zur Dissimu¬ 
lation; besonders geschickt wissen Paranoiker ihre Wahnideen oft jahrelang 
vor der Aussenwelt zu verbergen. Auch bei Melancholischen ist Dissimula¬ 
tion möglich, weil die äussere Besonnenheit und das Bewusstsein der Krank¬ 
heit bei ihnen meist noch erhalten sind. 

Um Simulation von Geisteskrankheit festzustellen, ist in der Regel 
eine fortlaufende Beobachtung, womöglich in einer Anstalt erforderlich. Nur 
grobe Täuschungen können sofort erkannt werden. Wichtig ist es, den 
Simulanten vorerst wie einen wirklich Kranken zu behandeln; er verräth sich 
nur um so leichter, wenn er glaubt, vom Arzte für wirklich krank gehalten 
zu werden. Vertraut er dem Arzte, so lässt er sich leicht durch eine hin¬ 
geworfene Bemerkung Uber das Fehlen dieser oder jener Erscheinung im 
Krankheitsbilde verleiten, das gewünschte Symptom am nächsten Tage dar¬ 
zubieten. Mit den beobachteten Thatsachen hat man das wirkliche Krank¬ 
heitsbild zu vergleichen. Aus der Incongruenz ergibt sich der Beweis der 
Vortäuschung. j. kkatter. 

Sterblichkeit. (Mortalitäts-, Morbiditäts- und Lebensdauer-Statistik.) 

Da die Sterblichkeit im Allgemeinen und die dabei zu berücksichtigenden 
besonderen Verhältnisse für das Staatswohl, namentlich die öffentliche Gesund- 
heits- und Rechtspflege von grösster Bedeutung sind, bestehen zur Zeit auch 
in allen civilisirten Staaten gesetzliche Bestimmungen, welche die Anzeige 
eines jeden Sterbefalles binnen möglichst kurzer Frist dem Familienhaupte 
oder demjenigen, in dessen Wohnung der Sterbefall sich ereignet hat, vor¬ 
schreiben. Diese Anzeigepflicht beruht in den deutschen Staaten auf dem 
Reichsgesetz von 6. Februar 1875, betreffend die Beurkundung des Personen¬ 
standes, durch welches Gesetz der zuständige Standesbeamte auch verpflichtet 
wurde, von der Richtigkeit der Anzeige in geeigneter Weise Ueberzeugung 
sich zu verschaffen. So hat dem Standesamt bei jedem Sterbefall spätestens 
am nachfolgenden Wochentage das Familienhaupt oder dessen Vertreter über 
nachstehende in Betracht kommende Verhältnisse Auskunft zu geben, welche 
in das Sterberegister eingetragen und weiter für die staatliche Sterbestatistik 
verwertet werden: 

1. Vor und Zuname des Verstorbenen, ob todtgeboren oder unbenannt 
verstorben? 2. Geschlecht, 3. Zeit des Sterbefalles, 4. Geburtsjahr und Tag, 

5. Familienstand, a) bei Todtgeborenen und Kindern unter fünf Jahren: ehelich 
oder unehelich, b) bei Personen über fünf Jahren: ledig, verheiratet, verwitwet, 
geschieden, bei Verheirateten Dauer der durch diesen Todesfall gelösten Ehe, 

6. Religionsbekenntnis: bei Todtgeborenen des Vaters, der Mutter, 7. Stand, 


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STERBLICHKEIT. 


Beruf oder Gewerbe, 8. Todesursache, 9. Bemerkungen, z. B. ob auf¬ 
gefundene Leiche, auf See, in einer öffentlichen Anstalt? 

Wenn nun auch die Todesursachen erfahrungsmässig ohne Mitwirkung 
von Sachverständigen sehr oft unrichtig angegeben werden, so können 
doch die in den übrigen vorgenannten Colonnen bezeichneten Angaben von 
Standesbeamten auch ohne ärztliche Bescheinigung bezüglich ihrer Richtigkeit 
beurtheilt werden. Ist dann nach dem Ergebnis der amtlichen Volkszählung 
die Zahl der gleichzeitig Lebenden bekannt, so wird es auch möglich sein, 
in zuverlässiger Weise statistisch zu berechnen die jährliche Sterblich¬ 
keitsziffer o) auf 1000 Lebende eines Staats- oder Gemeindeverbandes, b ) in den 
verschiedenen Monaten des Jahres, c) in den verschiedenen Altersclassen 0—1, 

1—5, 5—10 etc., d) in den verschiedenen Berufsständen und Gewerben. 

So zählte beispielsweise nach dem mir gerade vorliegenden General-Sanitätsbericht 
der Regierangsbezirk Köln im Jahre 1883 721.789 Einwohner, von welchen 18341, also 27 
auf 1000 Lebende starben, 6391 einschliesslich Todtgebarten innerhalb des ersten 
Lebensjahres. Nach einer von Dr. Bernheim (Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebens¬ 
jahre. Würzburg, Nehl’sche Bachhandlung) für den Zeitraum 1880/85 zusammengestellten 
Tabelle starben im Königreich Sachsen im Monate Juli 4599, im Monate November nur 
2391 Kinder im ersten Lebensjahre, aus welchen Zahlen der nachtheilige Einfluss gestei¬ 
gerter Sommertemperatur auf die Lebenserhaltung der Neugeborenen hervorgeht. 

Aehnliche Ergebnisse liefert die Sterblichkeitsstatistik in den übrigen 
deutschen Staaten und Verwaltungsbezirken. Nach dem VIII. General-Sanitäts¬ 
bericht des Regierungsbezirkes Köln zeigte das schlechte Weinjahr 1894 bei 
der geringen Wärme des Spätsommers die geringste Kindersterblichkeit. 

Die Todesursachen werden nun von den Familienhäuptern und 
deren Vertretern aus den verschiedensten Gründen in unrichtiger Weise an¬ 
gegeben, einestheils, um bei Sterbefällen infolge ansteckender anzeigepflich¬ 
tiger Krankheiten nicht straffällig zu werden, andemtheils, um bei Sterbefällen 
infolge besonderer Krankheiten: Syphilis, Säuferwahn, Alkoholismus, Selbst¬ 
mord u. s. w., den guten Ruf der Familie zu schonen oder gar an den Ver¬ 
storbenen begangene Verbrechen zu verheimlichen. Häufig können aber 
auch die Todesursachen nicht richtig von den Angehörigen angegeben werden, 
weil die Verstorbenen entweder gar nicht oder während der letzten tödtlich 
verlaufenen Krankheit ärztlich nicht behandelt worden sind. Daher findet 
man auch in den meisten Sterblichkeitstabellen verhältnismässig sehr zahl¬ 
reiche Todesfälle als aus unbekannten, nicht angegebenen Ursachen 
erfolgt verzeichnet. Um die Beerdigung vor Eintritt sicherer Todeszeichen, 
beziehentlich von Scheintodten zu verhüten, ist jetzt wohl in allen Staaten 
eine gesetzliche Frist durcbgehends von dreimal 24 Stunden bestimmt, vor 
welcher Leichen ohne ärztliche Bescheinigung des erfolgten Todes nicht be¬ 
erdigt werden dürfen. 

Ebenso wird auch durch besondere Verordnungen eine angemessene Be¬ 
handlung der Leichen bis zu deren Einsargung vorgeschrieben. Da aber den 
Anforderungen der öffentlichen Gesundheits- und Rechtspflege nur 
durch eine möglichst zuverlässige Klarlegung der Todesursachen genügt 
werden kann, ist in den meisten europäischen Staaten, in Oesterreich schon 
seit dem Jahre 1766, die obligatorische Leichenschau durch ange- 
stellte, auf besondere Dienstinstructionen verpflichtete Aerzte oder in 
deren Vertretung andere vorgebildete und geprüfte unbetheiligte Sachver¬ 
ständige gesetzlich eingeführt. Vor Erlass des Reichsgesetzes vom 
6. Februar 1875 galten für die Beerdigungen im preussischen Staats¬ 
gebiete die Bestimmungen des allgemeinen preussischen Landrechts (Th. II, 
Taf. II), nach welchen der Pfarrer sich durch persönliche Besich¬ 
tigung zu versichern hatte, ob der Verstorbene auch wirklich deijenige ge¬ 
wesen, für den er ihm angegeben, die angebliche Leiche auch wirklich 
todt sei. Ebenso sollte der Pfarrer sich nach der Todesart erkun- 


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digen und dem Todtengräber aufgeben, bei der Einlegung der Leiche in den 
Sarg und dessen Zuschlagung gegenwärtig zu sein. Der zuständige Pfarrer 
sollte also nach preussischem Landrecht gleichzeitig als gesetzlich angestellter 
Leichenschauer fungiren. Seit dem die Bestimmungen des Landrechts 
aufhebenden Reichsgesetz von 1875 sind für den preussischen Staat gesetz¬ 
liche Bestimmungen, betreffend Beerdigungen und Leichenschau nicht er¬ 
lassen, während in den süddeutschen Staaten und mehreren neu erworbenen 
preussischen Landestheilen gesetzliche obligatorische Leichenschau 
besteht. Als Referent des ersten Generalberichts über das öffentliche Gesund¬ 
heitswesen des Regierungsbezirkes Köln für das Jahr 1880 habe ich mich auf 
Grund meiner in Süddeutschland früher gemachten Erfahrungen über die 
Einführung einer allgemeinen obligatorischen Leichenschau in Preussen, wie 
folgt, geäussert: .Die medicinische Statistik wird erst durch eine von Sach¬ 
verständigen und amtlich verpflichteten Leichenschauern herbeigeführte Er¬ 
mittlung der Todesursachen eine solide Grundlage erhalten können. 
Da die meisten Bewohner, namentlich im Sommer, die Leichen während der 
gesetzlichen Zeit nicht aufbewabren können, sind dieselben ohnedies genöthigt, 
den Tod durch einen approbirten Arzt bescheinigen zu lassen, was aber in 
der Regel mit grösseren Kosten verbunden zu sein pflegt, wie solche eine 
amtliche Leichenschau verursachen würde. Letztere ist, wo sie eingeführt, 
nach meiner Erfahrung eine populäre Maassregel, da jedermann sich 
fürchtet, vorzeitig als Leiche behandelt und zugenagelt zu werden und die 
Nothwendigkeit einer sachkundigen Besichtigung einsieht. Abgesehen 
von der immerhin möglichen Gefahr der Behandlung Scheintodter als Leichen 
muss doch auch die Beerdigung der an gemeingefährlichen Krankheiten 
oder äusserer Gewaltthätigkeit Verstorbener ohne Kenntnis der zustän¬ 
digen Polizei und gerichtlichen Behörden möglichst verhütet werden“. 

Die eingehend begründeten Petitionen des niederrheinischen Vereines für öffent¬ 
liche Gesundheitspflege, sowie des Vereines deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften, 
betreffend den Erlass eines Gesetzes über die obligatorische Leichenschau, an den deutschen 
Reichskanzler, wurden in der Reichstagssitzung vom 16 Februar 1877 auf befürwortende 
Interpellation der beiden Abgeordneten Dr. Zinn und Dr. Thilenius vom damaligen Staats¬ 
minister Hofmann dahin beantwortet, dass der Gesetzentwurf über die Anzeigepflicht 
gemeingefährlicher Krankheiten mit dem Leichenschaugesetz-Entwurf zusammen dem 
Reichstage vorgelegt werden solle und die Regierung alles thun werde, um den 
Wünschen der Interpellanten baldigst zu genügen. Da trotz dieser Zusicherung 
eine gesetzliche Regelung des Beerdigungs- und Leichenschauwesens für Deutschland noch 
nicht erfolgt, vielmehr die Mortalitätsstatistik bezüglich der Todesursachen eine sehr mangel¬ 
hafte und unzuverlässige geblieben ist, stellte der allgemeine ärztliche Verein zu Köln 1884 
beim Polizeipräsidenten den Antrag, aus dringenden sanitätspolizeilichen Gründen für den 
Stadtbezirk Köln bei Beerdigungen durch approbiite Aerzte auszustellende Todes¬ 
bescheinigungen anzuordnen und erklärten sich die Mitglieder des genannten Vereines 
bereit, auf den betreffenden Bescheinigungen alle für die Gesundheitspolizei und Sterb¬ 
lichkeit sstatistik wichtigen Fragen zu beantworten. Es wurde dann folgende mit dem 
1. April 1884 gütige Polizeiverordnung und Bekanntmachung für den Stadtbezirk Köln 
erlassen: § 1. Es darf keine Leiche vor Beibringung einer von einem approbirten Arzt aus¬ 
gestellten Todesbescheinigung zur Beerdigung kommen. § 2. Diese Todesb6scheinigung muss 
dem Standesamt von demjenigen vorgelegt werden, welcher nach § 57 des Reichsgesetzes 
über die Beurkundung des Personenstandes vom 6. Februar 1876 den Sterbefall anzu¬ 
zeigen hat, ohne dass indess eine Ueberschreitung der durch dieses Gesetz vorgeschrie¬ 
benen Anzeigefrist eintreten darf. § 3. Wer diesen Vorschriften zuwiderhandelt, verfallt 
in eine Geldstrafe von 1—9 M, an deren Stelle im Unvermögensfalle verhältnismässige Haft 
tritt. Die betreffende vom Polizeipräsidenten und Oberbürgermeister gezeichnete weitere 
Bekanntmachung lautet: Unter Bezugnahme auf vorstehende Polizeiverordnung wird hier¬ 
durch zur öffentlichen Kenntnis gebracht, dass den Herren Aerzten die zu den Todes¬ 
bescheinigungen zu verwendenden Formulare in einer entsprechenden Anzahl kostenfrei 
zugehen werden. Bei der Anmeldung des Sterbefalls wird auch dem Anmeldenden 
ein Formular der Todesbescheinigung behufs Ausfüllung durch einen Arzt übergeben 
werden. Das Formular, welches nur auf Grund persönlicher Ueberzeugung von 
dem eingetretenen Tode ausgestellt wird, enthält auch eine Erklärung darüber, ob gegen 
die Beerdigung vor Ablauf von dreimal 24 Stunden Bedenken vorliegen. 


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Der von den Aerzten ausznftLllende Todtenschein enthält folgende Angaben: 1. Vor- 
nnd Familienname, 2. Geschlecht, 3. Datum der Geburt, 4. Tag und Stunde des Todes, 
6. Stand oder Gewerbe, 6. Wohnung (Strasse), 7. Zahl der Zimmer, 8. Zahl der die Zimmern 
bewohnenden Personen einschliesslich des Verstorbenen, 9. Ort des Todes, wenn nicht 
Wohnung (eventuell Anstalt), 10. Todesursache eventuell Todtgeburt, 11. bei Kindern 
unter einem Jahre a) Art der Ernährung (Mutter-, Ammen-, Thiermilch, künstliche Nahrung), 
b) ob in fremder Pflege, 12. ist der Verstorbene von dem Unterzeichneten Arzt behandelt 
worden, oder demselben persönlich bekannt gewesen; eventuell von wem recognoscirt? 
13. gegen die Beerdigung — auch vor dreimal 24 Stunden — liegen ärztlicherseits keine 
Bedenken vor. 

Aehnliche PolizeiverordnuDgen, wie vorgenannte für den Stadtkreis Köln, 
sind auch für andere Gressstädte, namentlich den Stadtkreis Berlin erlassen, 
welche aber eine gesetzliche Regelung des Leichenschauwesens nicht ersetzen 
können, da sie den Anforderungen der Sanitätspolizei, der Rechtspflege, sowie 
bezüglich der Todesursachen einer wissenschaftlich brauchbaren Sterblich¬ 
keitsstatistik nicht genügen. 

Es fehlt an einer Instruction für die Leichenschau, an einer besonderen 
Verpflichtung zur instructionsmässigen Ausführung der Leichenschau, 
sowie an einem gleichmässigen den Fortschritten der neueren Heilkunde ent¬ 
sprechenden Verzeichnis der auf den Leichenscheinen anzugebenden Todes¬ 
ursachen. 

Dass Aerzte, welche wegen Ausstellung unrichtiger Zeugnisse bereits 
gerichtlich bestraft sind, zur Ausstellung gütiger Todesbescheinigungen noch 
befugt bleiben, spricht gleichfalls für die Anstellung ärztlicher Leichen¬ 
schauer durch die zuständige Gemeindebehörde. 

In Oesterreich, England, der Schweiz, sowie in mehreren süddeutschen 
Staaten ist die schon seit dem vorigen Jahrhundert dort gesetzlich bestehende 
obligatorische Leichenschau in neuerer Zeit, namentlich in Oesterreich, auf 
Grund des Gesetzes vom 30. April 1870, betreffend die Organisation des 
öffentlichen Sanitätsdienstes, wesentlich verbessert worden, wie aus einer 
betreffenden Verordnung desk. k. Statthalters in Steiermark vom 15. Juni 1897 
hervorgeht. (Das österreichische Sanitätswesen von Dr. Daimeb 8. Jahrgang, 
Nr. 33.) 

Wenn die in Oesterreich angestellten ärztlichen Leichenschauer auch 
angewiesen werden, die möglichst baldige Isolirung und Desinfection. aller 
nachweisbar inficirten Leichen zu überwachen, so muss diese 
Maassregel als eine gegen die Weiter Verbreitung übertragbarer Krankheiten 
sehr zweckmässige anerkannt werden. 

Der verstorbene Dr. Hugo Bernheim, welcher als vereidigter Leichen¬ 
schauarzt der Stadt Würzburg fungirte und auch in der 64. Versammlung 
deutscher Naturforscher und Aerzte zu Halle über den Entwurf eines Leichen¬ 
schaugesetzes für das Königreich Preussen einen Vortrag hielt, veröffentlichte 
schon 1891 auf Grund eigener in Baiern, Sachsen und im Eisass gemachten 
Erfahrungen die bereits erwähnte Abhandlung über die Sterblichkeit 
der Kinder im ersten Lebensjahre und die zu ihrer Vermeidung geeigneten 
hygienischen Maassregeln. In dieser Abhandlung bewies Bernheim durch 
vorgezeigte Sterblichkeitstabellen nach Altersclassen die Abhängigkeit der 
allgemeinen Sterblichkeitsziffer von der Intensität der Sterblichkeit im Alter 
von 0—1 Jahr und suchte auch durch graphisch dargestellte Curven nicht 
nur zu erläutern die colossale Sterblichkeit im ersten Lebensjahr, sondern 
den schnellen Abfall der folgenden Classe (1—5 Jahre), das Minimum der 
Altersclasse (10—20 Jahre) und die hohe Sterblichkeit der Greise nach dem 
70. Lebensjahre. 

Dr. Bernheim suchte statistisch nachzuweisen, dass jede Verbesserung 
in der Ernährungsweise der Kinder durch Mutterbrust oder durch frisch ge¬ 
molkene Milch von gesunden Thieren sowie in der Wohnungs-, Ernährungs¬ 
und Beschäftigungsweise der erwachsenen Bevölkerung einen ausser- 


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ordentlichen Einfluss auf die mittlere Lebensdauer der Bevölkerung eines 
Landes ausübe, weil die Anzahl von Jahren, welche eine Person mit Wahr¬ 
scheinlichkeit in einem gewissen Alter noch zu leben habe, der Intensität der 
Sterblichkeit umgekehrt proportional sei. In Norwegen, wo die Kinder¬ 
sterblichkeit am niedrigsten sei, betrage die mittlere Lebensdauer 48 7 Jahre, 
während sie in Baiern, wo die Kindersterblichkeit sehr hoch, nur 35* 1 Jahre 
betrage. Die besonders hohe Sterblichkeit der Kinder innerhalb des ersten 
Lebensmonats, namentlich der ersten Lebenswoche, welche euphemistisch in 
den Leichenscheinen als angeborene Lebensschwäche bezeichnet werde, steht 
nach Bernheim sehr häufig in nachweisbar ursächlichem Zusammenhang mit 
erblicher Syphilis. 

Um die durchschnittliche Lebensdauer in den verschiedenen 
Berufszweigen der erwachsenen Bevölkerung genauer angeben zu können, 
werden den Standesbeamten specielle Mittheilungen über die verschiedenen 
Berufsarten und Beschäftigungsweisen der Verstorbenen, namentlich in er- 
fahrungsmässig gesundheitsschädlichen Berufsarten zugehen müssen. 

Um möglichst genaue Angaben über die Todesursachen durch ärztlich 
ausgestellte Bescheinigungen zu erhalten, empfiehlt es sich, den Aerzten in 
gleicherweise, wie für die Meldungen ansteckender Kranker, verschliess- 
bare Formulare auch für die Leichenscheine zur Verfügung zu stellen, welche 
auch weiter nur in discreter Weise und mit Rücksicht auf die Angehörigen 
der Verstorbenen und die behandelnden Aerzte von den betheiligten Behörden 
statistisch verwertet werden dürfen. Man wird dann beispielsweise erfahren, 
dass eine verhältnismässig grosse Anzahl von den namentlich in Eisenbahn¬ 
verkehr beschäftigten Personen an den Folgen des Alkoholismus vor¬ 
zeitig stirbt und schon längere Zeit vor dem Tode durch den genannten 
Krankheitszustand an der gehörigen Besorgung ihres verantwortungsreichen 
Dienstes verhindert war. In der Schweiz sollen derartige Erfahrungen seit 
der angeordneten Secretirung der ärztlichen Leichenscheine seitens der 
Ortsbehörden bereits gemacht worden sein. 

Uebrigens darf man aus der allgemeinen Sterblichkeitsziffer eines Landes 
oder einer Stadt nicht einseitige Schlüsse auf die Gesundheitsverhältnisse 
und die durchschnittliche Lebensdauer der dort lebenden Bevölkerung ziehen, 
da die Sterblichkeitsziffer solcher Orte, in welche gesteigerter Zufluss von 
aussen stattfindet, entsprechend viele Ehen geschlossen und Kinder geboren 
werden, trotz gesunder Lage und günstiger klimatischer Verhältnisse sich 
steigern kann; dagegen aber in solchen Orten und Ländern, die durch Aus¬ 
wanderung sich entvölkern, niedrige Sterblichkeitsziffern entstehen können. 
Auch unterscheidet sich die statistische Sterblichkeitsziffer des einen Landes 
oder Bezirkes von der des anderen dadurch, dass die frühzeitig, sogar die 
unzeitig todtgeborenen Leibesfrüchte in dem einen Lande den Geburten, 
in dem anderen den Sterbefällen hinzugezählt werden. In gleicher Weise 
sind die in grösseren Kranken- und sonstigen öffentlichen Anstalten sterbenden 
ortsfremden Personen bei der Sterblichkeitsziffer des Ortes, in welchem 
die Anstalten betrieben werden, zu berücksichtigen. Ohne gleichzeitige Be¬ 
rücksichtigung der Geburtstabellen und der in den Sterblichkeitstabellen 
verzeichnten hauptsächlicheren Todesarten, namentlich bei Epidemien und 
Endemien werden die gesundheitlichen Zustände der in den Städten und auf 
dem Lande wohnenden Bevölkerung nicht zutreffend verglichen und beurtheilt 
werden können. 

Als die hauptsächlichen Ursachen einer gesteigerten Sterb¬ 
lichkeit und entsprechend verkürzten mittleren Lebensdauer werden aber 
im Allgemeinen nach den Ergebnissen der heutigen amtlichen Statistik 
anzuerkennen sein: 1. Die Ernährungsweise der kleinen Kinder durch unge¬ 
eignete künstliche Nahrungsmittel statt durch die Mutterbrust oder die Milch 


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von gesunden Thieren, 2. ungünstige und bedrängte WohnungsVerhältnisse der 
ärmeren Volksclassen namentlich in den Grossstädten, durch welche ein sitt¬ 
lich geordnetes, gesundes Familienleben unmöglich gemacht wird, 3. die 
überhandnehmende Zahl der unehelichen Geburten, 4. die Tuberkulose, 
namentlich die tuberkulöse Lungenschwindsucht, 5. Luftröhren-, Lungen- und 
Brustfell-Entzündungen, 6. die im Alter von 15—70 Jahren sich steigernde 
Zahl der Selbstmorde. (Dr. Pröpsting, Centralblatt für allgemeine Ge¬ 
sundheitspflege, 1896, 8. u. 9. Heft.) 

Was nun die zur Ergänzung, beziehentlich Berichtigung der Sterblich¬ 
keitsstatistik erforderliche Krankheitsstatistik betrifft, so kann diese 
bei der Civilbevölkerung sich nur stützen auf die seitens der behandelnden 
Aerzte den Polizeibehörden zugehenden Anzeigen übertragbarer oder gesetzlich 
anzeigepflichtiger Krankheiten, sowie auf die betreffenden Mittheilungen der 
Hospital-, Gefängnis- und sonstigen Anstaltsverwaltungen. Auch sollen nach 
§12 des preussischen Sanitätsregulativs vom 8. August 1835 während einer 
Epidemie die Polizeibehörden ein Krankenjournal führen, in welchem 
anzugeben sind: Name, Alter, Religion, Wohnung, Stand, Gewerbe des Er¬ 
krankten, Zeitpunkt und Ursache der Krankheit, Tag der Genesung oder des 
Todes. Die UnVollständigkeit der von der Ortsbehörde an die höhere Ver¬ 
waltungsbehörde erstatteten Krankheitsberichte geht schon aus der Thatsache 
hervor, dass viele übertragbare Krankheiten entweder gar nicht oder von 
Kurpfuschern behandelt werden. 

So findet sich in einer Abhandlung des Kreisphysicus Dr. Wolfsberg 
über Kindersterblichkeit und Todesursachen-Statistik (Centralblatt für öffent¬ 
liche Gesundheitspflege, XV. Jahrgang, 3. und 4. Heft) angegeben, dass im 
Jahre 1894 dem Standesamt in Tilsit 50 Todesfälle an Diphtherie, der dor¬ 
tigen städtischen Polizei Verwaltung aber nur 11 Erkrankungen an Diph¬ 
therie angezeigt worden seien. Auf derartige Angaben der Standesämter über 
Todesursachen stützt sich aber die Statistik, welche die Veröffentlichungen 
des kaiserlichen Gesundheitsamtes bietet. 

Wie schwer es hält, auch nur über eine gemeingefährliche Krankheit, 
die Syphilis, nach Lage der heutigen Gesetzgebung zuverlässige Angaben 
zu erhalten, geht aus einem Vortrage hervor, welchen nach dem letzterschie¬ 
nenen deutschen ärztlichen Vereinsblatt Geh. Medicinal-Rath Dr. Bocken- 
dahl kürzlich über die Ausbreitung der Syphilis im ärztlichen Verein zn 
Kiel gehalten hat. Durch die Discussion wurde festgestellt, dass die Zahl der 
Syphilitischen viel grösser bei den aufgegriffenen, wie bei den controlirten 
Personen, sei und der Verein wählte eine besondere Commission zur Berathung 
der Schritte, wie man zu einer brauchbaren Statistik der Syphilis gelangen 
könne. — Nach dem Generalbericht über das öffentliche Gesundheitswesen 
des Regierungsbezirkes Köln pro 1880 hatte nach den aus den Hospitälern und 
specialärztlichen Polikliniken eingegangenen Berichten, sowie nach den Mit¬ 
theilungen des Ober-Stabsarztes Dr. Goecke die Zahl der Syphilitischen er¬ 
heblich zugenommen, sowohl bei der Civil- wie Militärbevölkerung. Beispiels¬ 
weise behandelte Dr. Wolfsberg in der dortigen specialärztlichen Poliklinik für 
Unbemittelte vom 2. December 1878 bis September 1879 429 Syphilitische, 
unter denen sich 63 verheiratete Männer befanden, 24 Kinder unter 10 Jahren. 
Nach den eingezogenen Erkundigungen erfolgte die Ansteckung selten durch 
Prostituirte, sondern durch Arbeiterinnen, was mit den in Kiel gemachten 
Beobachtungen übereinstimmt. Von der Garnison Köln und Deutz erkrankten 
an Syphilis: 

1873/74 238 Mann = 3-44% 

1879/80 289 „ = 4-08°/ 0 . 

Auch wurden in den Städten Köln und Bonn, sowie im Kreise Bergheim 
mehrere Fälle von angeborener Syphilis bei kleinen Kindern constatirt. Sehr 


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STRASSENHYGIENE. 


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viel syphilitische Erkrankungen werden nach Freigabe der Heilkunde von 
Nichtärzten behandelt. 

Da alle in den stehenden Heeren dienenden Personen im Falle der 
Erkrankung entweder in häuslichen Verhältnissen oder in den Lazarethen 
ärztlich behandelt werden, ist es auch der ärztlich geleiteten Medicinal- 
abtheilung des Kriegsministeriums möglich, eine zuverlässige Sterblich- 
keits- und Krankheitsstatistik herzustellen, welche ja auch gelegentlich des 
voijährigen internationalen medicinischen Kongresses statistisch nachgewiesen 
hat, dass der allgemeine Gesundheitszustand in den europäischen Heeren 
durch die in neuerer Zeit getroffenen hygienischen Einrichtungen wesentlich 
verbessert worden ist, die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle an Infections- 
krankheiten sich vermindert hat. 

Wenn nun auch nach Lage der heutigen Gesetzgebung eine für die 
Civilbevölkerung aufzustellende Krankheits- und Sterblichkeits-Statistik nicht 
diejenige Zuverlässigkeit erreichen kann, wie solche für die Militärbevölkerung 
erreicht ist, so werden doch durch eine sachverständig ausgeführte und 
controlirte Leichenschau auch bei der Civilbevölkerung die verschiedenen 
Todesarten mit grösserer Sicherheit festgestellt und dann auch den betreffen- 
den Anforderungen der öffentlichen Gesundheits- und Rechtspflege mehr ent¬ 
sprochen werden können. schwaktz. 


Stras8enhygiene. Die Strassenhygiene ist theils in der allgemeinen 
Gestaltung des Stadtplanes (Bebauungsplanes), theils in der tech¬ 
nischen Herstellung der Strassen und der späteren Pflege derselben zur 
Geltung zu bringen. Sie ist erst in der neuesten Zeit zu einer gewissen 
Entwicklung gelangt, veranlasst durch die immer engere Zusammendrängung 
der Bevölkerung in den grösseren Städten. 

Für die Gestaltung des Stadtplanes bilden die sogenannten Fluchtliniengesetze die 
gesetzliche Grundlage; in Preussen besteht ein Fluchtliniengesetz seit dem Jahre 1876. 
Wenn auch in Einzelnheiten von einander abweichend, verleihen doch überall die Flucht¬ 
liniengesetze den Gemeinden das Recht, sowohl neue Strassenzüge und Plätze festzu¬ 
setzen, als auch bestehende zu verbreitern oder zu verlängern, als auch über die tech¬ 
nische Einrichtung der Strassen u. 8. w. genaue Bestimmungen zu treffen. Sie geben ferner 
der Gemeinde die Befugnis, die zu den Strassen u. s. w. nothwendigen Grundflächen auch 
gegen den Willen der Eigenthümer zu erwerben (Expropriationsrecht). Die Geltung 
der Fluchtliniengesetze ist im wesentlichen auf die den Städten neu hinzuwachsenden G*- 
biete (Aussengebiete) beschränkt; sie wirken daher fast nur in vorbeugender Weise. 
Dagegen reichen sie nicht aus, um schon verdorbenen Zuständen im Innern der Städte 
wirksam abzuhelfen, weil sie nicht die Möglichkeit gewähren, neben neu festgesetzten 
Strassen liegen bleibende, zu einer gesundheitsmässigen Bebauuqg ungeeignete Grund¬ 
stücksreste zwangsweise zu erwerben und noch weniger das Recht der sogenannten Zonen¬ 
enteignung für die Gemeinden constituiren, d. h. das Recht, ganze Baublöcke im Innern 
der Städte, welche ganz oder vorwiegend aus Grundstücken von so mangelhafter Gestalt 
zusammengesetzt sind, dass eine gesundheitsgemässe Bebauung unthunlich ist, auch gegen 
den Willen der Eigenthümer zu erwerben, und behufs Herrichtung gesunder Wohnungen 
neu aufzutheilen. In Deutschland ist es die übergrosse Achtung vor dem Eigenthums¬ 
recht, welche die Ergänzung der Fluchtliniengesetze in den vorstehend angedeuteten beiden 
Richtungen bisher verhindert hat; ein gesetzgeberischer Anlauf, der in Preussen vor 
einigen Jahren dazu gemacht wurde, ist gescheitert. Hingegen hat Baden ganz neuer¬ 
dings ein Zonenenteignungsgesetz geschaffen und Hamburg ein Gesetz, wonach an 
Strassen liegen bleibende unbebauungsfähige Grundstücksreste auf Verlangen abgetreten 
werden müssen; neben Hamburg können auch Mainz und Zürich noch genannt werden. 
Im Auslande ist man in Bezug auf das Eigenthumsrecht vielfach weniger scrupulös als in 
Deutschland; England, Frankreich, Belgien, Italien und Ungarn kennen die Zonenent¬ 
eignung längst, und verdanken diesem Umstande grosse gesundheitliche Verbesserungen, 
von welchen die bekanntesten diejenigen in London, Paris, Brüssel, Rom, Florenz, Neapel, 
und Budapest sind. 

Schon aus dem Grunde, dass die Stadt Eigenthümerin ihrer Strassen 
ist, muss die Initiative für alle Maassnahmen, die das Strassennetz beein¬ 
flussen, bei der Stadt selbst liegen. Weil derselben aber durch ihre 
Finanzen und durch Verwaltungszustände oft enge Grenzen gezogen sind, 

Bibi. m«d. Wiu.nacb.ften. Hygiene u. Ger. Medlcin. 46 


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STRASSENHYGIENE. 


werden zuweilen mit Vortheil gesellschaftliche Unternehmungen sich 
an die Stelle der Gemeinde setzen können. Wenn dabei die gesundheitlichen 
Interessen genügend gewahrt werden, verdienen solche Unternehmungen alle 
Förderung, da die hier vorliegenden Aufgaben in der Regel um so voll¬ 
kommener lösbar sind, je grösser der Complex ist, auf den sie sich erstrecken. 
Kleine Leistungen auf dem Gebiete des Städtebaues bedeuten auch in gesund¬ 
heitlicher Hinsicht nur wenig, und der Einzelne vermag daran so viel wie gar 
nichts zu verbessern, schon weil der Nachbar im Stande ist, seine Absichten 
zu durchkreuzen. 

Bei einem Stadtbauplan handelt es sich, ausser um die Festsetzung neuer, 
oder die Veränderung bestehender Strassen und Plätze um Fürsorge für 
wichtige gesundheitliche Anlagen. Es ist z. B. geeigneter Raum für Schlacht¬ 
höfe, Friedhöfe, Krankenhäuser, Marktstätten und Parkanlagen, Badeanstalten, 
Schulen und Spielplätze für Kinder, Kläranstalten für Abwässer u. s. w. 
vorzusehen. Es muss das Strassennetz so ausgebildet werden, dass für cen¬ 
trale Wasserversorgung und unterirdische Canalisation keine Schwierigkeiten 
entstehen. Endlich ist immer zu erwägen, ob es ausführbar ist, lästige oder 
gesundheitsschädliche Gewerbebetriebe aus dem Centrum der Stadt, oder aus 
Gebietsteilen, die vorzugsweise der ruhigen Bewohnung dienen, zu entfernen, 
beziehungsweise dieselben an Stellen, wo sie am wenigsten lästig oder schäd¬ 
lich wirken, zu vereinigen. Freilich entstehen hierbei oft Schwierigkeiten, 
da z. B. in Preussen die Landesgesetzgebung bisher kein Mittel bietet, um 
auf dem Wege des Zwanges eine Absonderung der gewerblichen Betriebe in 
eigentliche „Fabriksviertel“ zu erreichen. Dennoch hat es in der neueren 
Zeit eine Anzahl von grösseren preussischen Städten bei Gelegenheit des 
Erlasses neuer Bauordnungen ermöglicht, solche besondere Fabriksviertel an¬ 
zulegen, bezw. gewisse Stadtteile vor dem Eindringen grösserer gewerb¬ 
licher Betriebe zu schützen. Hier sind beispielsweise zu nennen: Frankfurt 
a. M., Köln, Magdeburg, Hannover, die Vororte von Berlin u. s. w., von 
ausserpreussischen Städten etwa Wien, Dresden, Hamburg, Lübeck, Mainz. 

Die gesundheitlichen Anforderungen an den Stadtbauplan gehen indess 
erheblich weiter. Bei den Ansprüchen, die der Verkehr macht, ist dafür zu 
sorgen, dass dieser sich mit Sicherheit vollziehen kann, insbesondere die 
Zusammenführung eines grossen Verkehrs an Stellen, wo der Raum dafür 
nicht zu beschaffen ist, vermieden wird. Und zwar spielt hiebei die Sicher¬ 
heit des Fussgänger-Verkehrs eine ebenso grosse Rolle als die des 
Wagenverkehrs. Möglichst bequeme Verbindungen sind zwischen Arbeiter¬ 
vierteln und grösseren Arbeitsstätten vorzusehen. — Das Stadtbild soll einen 
thunlichst angenehmen Anblick gewähren, weil Wohlgefallen an demselben ein 
vorzügliches und in gesundheitlichem Sinne nicht zu unterschätzendes Moment 
bildet. Erste Bedingung zur günstigen Wirkung eines Stadtbildes ist Klarheit 
und Uebersichtlichkeit der Anordnung des Strassennetzes; alsdann kommt es 
auf günstige Vertheilung gewisser Anlagen im Plane an. Anstalten und An¬ 
lagen, die vielfach aufgesucht werden, wie Schulen, Badeanstalten, Spielplätze, 
Parks, Flussübergänge, Bahnhöfe, Landeplätze, manche Verwaltungsgebäude 
u. s. w. müssen so vertheilt werden, dass sie von allen Seiten aus auf mög¬ 
lichst kurzen Wegen erreicht werden können. — Erhebungen und Vertiefungen 
im Gelände hat sich das Strassennetz in einer Weise anzuschmiegen, dass der 
Eindruck des Ungezwungenen entsteht. Unschönheiten in der Führung und 
im Längenprofil der Strassen sollen thunlichst vermieden werden. 

Wenn im Bebauungsgebiet untergeordnete Wasserzüge Vorkommen, ist 
es eine wichtige Aufgabe, den Lauf derselben so zu regeln, dass sie nicht 
Privateigenthum durchschneiden, sondern durchgehends in öffentlichem Grunde 
liegen. Nur dadurch kann Missbrauch verhütet und ein gesundheitsgemässer 
Zustand der Wasserzüge gesichert werden. 


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STRASSENHYGIENE. 


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Zu den wirksamsten Mitteln, um ein ansprechendes Stadtbild zu schaffen, 
gehört eine angemessene, klar erkennbare Rangordnung in den Strassen. 
Allgemein lassen sich städtische Strassen in drei Arten sondern: 1. Ver¬ 
kehrsstrassen, 2. Geschäftsstrassen, 3. Wohnstrassen. Die Verkehrsstrassen 
müssen ihr Ziel auf möglichst directem Wege erreichen, also gerade 
geführt werden und entsprechende Breitenabmessungen erhalten. Für die 
Geschäftsstrassen, die aber auch von Handwerkern mit bewohnt gedacht 
werden, ist die Führung, ob gerade oder krumm, nebensächlich, da es bei 
ihnen ausschliesslich auf die richtige Lage im Stadtplan ankommt. Für 
die Lage der Wohnstrassen ist Ruhe die Hauptbedingung. Je nach dem 
Range der Bewohnerschaft liegen sie am passendsten entweder in Aussen¬ 
gebieten, zu besonderen Vierteln zusammengefasst, oder mitten in der Stadt, 
zwischen den Verkehrs- und Geschäftsstrassen angemessen vertheilt. Die 
Aussenlage ist für die besser situirten Classen die gegebene, die Zwischen¬ 
lage für die minder Begüterten, als kleine Handwerker, kleine Beamte, besser 
bezahlte Arbeiter u. s. w. am passendsten; daneben finden in dieser auch 
manche Dienstgebäude, namentlich Bureaux, Krankenanstalten, wie überhaupt 
alle Gebäude, die nicht repräsentiren sollen, den geeignetsten Platz. Auch 
für die Wohnstrassen kommt es auf die Führung, wenn sie nur passenden, 
bequemen Anschluss an die Verkehrs- und Geschäftsstrassen erhalten, nicht 
an. Eine gewisse Unregelmässigkeit in der Führung kann sogar den Reiz 
derselben wesentlich erhöhen, wogegen lange gerade Strassenzttge in der 
Regel langweilig und ermüdend auf den Beschauer wirken. 

Neuerdings ist vereinzelt noch eine vierte Gattung von Strassen zur Ausführung 
empfohlen werden, nämlich solche, die an der Rückseite der Wohnhäuser geführt werden. 
Dieselben sollen nur für den beschränkten Zweck der Heranschaffung der grösseren Haus¬ 
haltsbedürfnisse (Brennmaterial, Materialien für Handwerkszwecke u. s. w.), sowie Ab¬ 
transport der Abfallstoffe des Haushalts dienen; unter Umständen wird es daher genügen, 
diese am passendsten vielleicht als „Hinterstrassen“ zu bezeichnenden Strassen nur an 
einem Ende mit dem Strassennetz der Stadt zu verbinden. Gewiss würde die Anlage 
solcher Strassen, die, weil mehr oder weniger abgesondert, auch als sichere Spiel¬ 
plätze für Kinder dienen könnten, den gesundheitlichen Interessen förderlich sein; 
doch wird sich dazu wohl nur selten passende Gelegenheit bieten. Aber andererseits 
.erregen sie ein gewisses Bedenken dadurch, dass sie der Ueberwachung durch die Oeffent- 
lichkeit mehr oder weniger entzogen sind und deshalb sich leicht Zustände auf ihnen ent¬ 
wickeln können, die ihren gesundheitlichen Nutzen in Frage stellen. 

Aehntiches gilt für die sogenannten Privatstrassen, d. h. Strassen, 
die von Privaten auf eigenem Grundstück angelegt sind, auch von ihnen 
unterhalten werden, und nicht Eigenthum der Stadtgemeinde sind. Wenn 
solche Strassen nicht dem allgemeinen Verkehr geöffnet sind, so entfällt da¬ 
mit die Ueberwachung durch das Publikum, ein Umstand, der da gleichgiltig 
sein kann, wo die Privatstrasse nur eine besser situirte Anwohnerschaft hat, 
im anderen Falle es jedoch nicht ist. Die Anlage von Privatstrassen muss 
daher immer an Bedingungen geknüpft werden, durch die ein steter ord- 
nungsmässiger Zustand (Instandhaltung, Reinigung, Entwässerung, Beleuch¬ 
tung) gewährleistet wird. 

Zu verwerfen sind sogenannte „Gänge“, die sich in manchen alten Städ¬ 
ten noch finden: schmale, meist nur einseitig bebaute Strassen, welche ent- 
• weder nur von einer Seite her die Tiefe eines Grundstücks für die Bebauung 
erschliessen, oder an beiden Enden mit dem Strassennetz verbunden sind. 
Zuweilen können solche Gänge nicht einmal ordnungsmässig entwässert und 
beleuchtet werden. Von grosser Wichtigkeit ist, dass die Gänge mit wasser¬ 
undurchlässiger Abpflasterung versehen werden. 

Durch den in gesetzlichen Formen festgestellten Bebauungsplan wird den 
anliegenden Eigenthümem das Recht gewährt, ihre Grundstücke zu bebauen, 
wenngleich dies Recht nicht immer alsbald, sondern erst nach Erfüllung ge¬ 
wisser Voraussetzungen in Geltung tritt. Diese richten sich auf die zuvorige 

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. STRASSENH YGIENE. 


ordnnngsmässige Herstellung der Strasse. Es sollte nur unter beson¬ 
deren Umständen gestattet sein, Wohnhäuser an noch nicht fertig hergerich¬ 
teten Strassen zu erbauen. Unter diesen Herrichtungen ist es insbesondere die 
ordnungsmässige Entwässerung der Strasse und der anliegenden 
Grundstücke, ohne welche die Erlaubnis zum Anbau nicht ertheilt werden 
sollte. 

In dem Bebauungsplan soll eine möglichst zusammenhängende 
Bebauung des Stadtgebiets angestrebt werden; dieser Zweck ist u. a. darin 
begründet, dass durch zusammenhangloses Bauen der Gemeinde zuweilen un¬ 
verhältnismässige Kosten für die Schaffung der nothwendigen sanitären Ein¬ 
richtungen aufgenöthigt werden. 

Handelt es sich bei der Festsetzung des Bebauungsplanes um grössere 
Gebiete, deren bauliche Entwicklung nach Art und Umfang zum voraus nicht 
genau übersehbar ist, so empfiehlt es sich, den Plan nicht bis in alle Ein¬ 
zelheiten hinein von vornherein festzusetzen, sondern sich vorerst auf die 
Hauptzüge des Planes zu beschränken und die Festlegung der 
Details, d. i. der minder wichtigen Strassenzüge u. s. w., der Zukunft vorzube¬ 
halten. Der vorläufige Aufschub und die successive Feststellung sind darin 
begründet, dass Anlagen, welche sich später als verfehlt erweisen können, 
vermieden werden, dass auch durch die obenerwähnte, mit der Planfeststellung 
verbundene Schaffung von Eigenthümer-Rechten nicht unnöthigerweise un¬ 
gesunde Grundstücks-Speculationen angeregt oder befördert werden. 

Im gesundheitlichen Sinne sind die beiden Hauptanforderungen, 
welche ein Bebauungsplan zu erfüllen hat, etwa folgende: 

1. Die Strassen, Plätze und Bauplätze sollen hochwasserfrei und mög¬ 
lichst hoch auch über dem Grundwasserspiegel liegen. Tief liegende Theile des 
Gebietes, die nicht genügend entwässert werden können, und solche, die stark 
mit organischen Stoffen verunreinigten Boden haben, sind von der Bebauung 
auszuschliessen. Solche Flächen eignen sich meist gut zur Anlage voh 
Schmuckplätzen, Baum- und Gesträuchpflanzungen, durch die der Grund oft 
auch erheblich abgetrocknet werden kann. 

2. Die Strassen sowohl, als die hinter den anliegenden Gebäuden be¬ 
stehen bleibenden Flächen (Hof- und Gartenplätze) sollen für Licht- und 
Lufteintritt im möglichst grossen Maasse offen stehen; besonderer Wert ist auf 
möglichst reichliche Zuführung von directem Sonnenlicht zu den Wohn¬ 
gebäuden zu legen. 

Die Erfüllung der Forderung ad 2 ist theilweise durch die Bauordnung 
(s. unter Wohnungshygiene) zu sichern, zum überwiegenden Theil jedoch 
durch den Bebauungsplan. Bei letzterem fragt es sich, ob für Lichtzuführung 
und Luftwechsel den Strassen oder den hinter den Gebäuden liegenden, 
der Bebauung entzogenen Hof- und Garten flächen die grössere Bedeu¬ 
tung zukommt? Grundsätzlich wird dieselbe den Strassen beizulegen sein, weil 
diese der öffentlichen Ueberwachung unterstehen, weil auch Ordnung und 
Reinhaltung hier mehr gesichert sind, und weil die Strassen grosse, zusammen¬ 
hängende, dabei regelmässig geformte Flächen bilden, welche ungleich gün¬ 
stiger wirken, als viele kleine, offene Flächen von gleicher Gesammtgrösse. 
Doch kann es manche Ausnahmen geben. Wenn z. B. die Strasse vermöge ihrer 
Orientirung wenig oder kein directes Sonnenlicht empfängt, dagegen die Hinter¬ 
seiten der Gebäude gut besonnt sind, und namentlich wenn sie auf grössere 
Gärten oder Wasserflächen hinaus gehen, wird der Raum an der Rückseite 
der Gebäude zu bevorzugen sein. Dies gilt in erhöhtem Maasse, wenn 
die Strasse verkehrsreich oder staubig ist, auch wenn sie heftiger Zugluft 
ausgesetzt ist. 

Die Raumfreiheit an der Hinterseite der Gebäude kann auf mehrfache 
Weise gesichert werden: a) indem die Bebauung, von der Strasse aus gerech- 


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STRASSENHYGIENE. 


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net, über eine gewisse Tiefe hinaus ausgeschlossen, oder b) indem für die 
Annäherung der Gebäude an die rückwärtige Grundstücksgrenze ein gewisses 
Mindestmaass vorgescbrieben wird. Endlich wird c) dem Uebermaass der 
Bebauungsdichte, wie es sich in alten Städten vielfach findet, neuerdings da¬ 
durch vorgebeugt, dass für die Bebaubarkeit eines Grundstücks eine obere 
Grenze festgesetzt wird, was Sache der Bauordnung ist. Vielfach ist in deut¬ 
schen Bauordnungen vorgesehen, dass die Grenze der Bebaubarkeit von 33%— 
75°/ 0 der Grundstücksgrösse beträgt. Der zu a ) angegebene Weg gewährleistet 
Besseres und am meisten dann, wenn (wie z. B. in Hamburg neuerdings 
für einzelne Gebietstheile, beziehungsweise Strassen geschehen ist) auch für 
die Hinterseite der Gebäude, gleichwie an der Strassenseite Fluchtlinien 
festgesetzt werden, indem alsdann der Zerrissenheit der freibleibenden Grund- 
stückstheile vorgebeugt und mehr zusammenhängende freie Flächen geschaffen 
werden. Die günstigsten Verhältnisse ergeben sich durch Combination der zu 
a) und b) angegebenen Maassregeln. 

Im Wesentlichen ist die Bäumigkeit einer Stadt durch die Block- 
grössen bestimmt, d. h. das zwischen vier Strassen liegen bleibende, der 
Bebauung überlassene Gelände, die Gebäudehöhe und den Abstand 
zwischen zwei Gebäuden. Die Block tiefe muss sich dem Charakter der Ge¬ 
bäude anpassen. Für Häuser niederen Ranges müssen, um an Baugrund zu 
sparen, geringe Blocktiefen genügen; hier werden 30—40 m Tiefe angemessen 
sein. Für Gebäude höheren Ranges sind 40—60 m passend, wenn der Bestand 
von Hintergärten gesichert ist, mehr. Für Grundstücke, auf denen gewerbliche 
Betriebe eingerichtet werden sollen, sind grössere Blocktiefen, bis vielleicht 
zu 150 m erwünscht. Die Block längen ergeben sich nach Verkehrsrücksichten; 
vom gesundheitlichen Standpunkte ist Beschränkung, vielleicht auf das 
l 1 /*—4fache der Blocktiefe anzustreben. Je höher die Gebäude, um so grösser 
müssen im Interesse von Licht- und Luftzuführung die Blockgrössen gegriffen 
werden; bei Aneinanderreihung von Gebäuden, die vier bis fünf Wohngeschosse 
enthalten, sollte die Blocktiefe nicht unter etwa 80 m gewählt werden. Da¬ 
gegen ist Verminderung zulässig, wenn die Gebäude nicht unmittelbar an 
einander aufgereiht (geschlossene Bebauung), sondern mit Zwischenraum (Bau¬ 
wich) erbaut werden. Es ergibt sich hienacb, dass in jedem grösseren Bau¬ 
gelände die Festsetzung der Baublockgrössen sorgfältig überlegt und wech¬ 
selnd stattfinden muss, jeder Schematismus darin ungünstig wirkt. Als Regel 
aber kann angesehen werden, dass grosse Blocktiefen eher vermieden werden 
sollen, als geringe, aus dem Grunde, dass später die Bebauung der Blöcke 
zu grösserer als der anfänglich eingehaltenen Tiefe nicht leicht zu ver¬ 
hindern ist, und alsdann oft recht ungünstige Zustände entstehen. Hoch 
erwünscht ist es immer, darauf hinzuwirken, dass die freibleibenden Theile 
der Baublöcke möglichst im Zusammenhang liegen, und nicht in 
viele kleine Theilstücke zerrissen werden. Hier handelt es sich um eine Auf¬ 
gabe der „Bauordnung“, deren Lösung aber leicht auf Schwierigkeiten in dem 
— privaten — Eigenthumsrecht trifft. Freiwillige Vereinbarungen von Nachbarn 
über die Zusammenlegung unbebaut bleibender Theile ihrer Grundstücke ver¬ 
dienen daher kräftigste Unterstützung sowohl durch das Gesetz als die Ver¬ 
waltung. — Soweit als thunlich sollten die Baublöcke rechteckige Form 
erhalten, weil das die Eintheilung erleichtert und Regelmässigkeit der Grund¬ 
stücksformen ermöglicht, welche für die Bebauung in jeder Hinsicht günstig 
wirkt. Andererseits führt jedoch Uniformität der Baublockformen zu sehr 
ungünstigen Strassenbildern und oft auch zu Verkehrs-Erschwerungen. Ab¬ 
schreckende Beispiele dieser Art bieten die Strassenpläne vieler amerikanischer, 
doch auch einiger deutscher Städte. 

Wie die Blockgrössen muss sich auch die Strassen breite nach der 
Höhe der anliegenden Gebäude richten, in erster Linie allerdings nach dem 


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STRASSENHYGIENE. 


Verkehr. Die eigentlichen Wohnstrassen, wenn dieselben mit niedrigen (ein- 
bis zweistöckigen Gebäuden) besetzt sind, mögen mit 8—10 m Breite aus¬ 
reichend bemessen sein; Geschäftsstrassen mit höheren Gebäuden bedürfen 
10—20 m Breite, Verkehrsstrassen 20—30 m. Sogenannte Prachtstrassen mit 
Promenaden und auch sonst getrenntem Verkehr erhalten bis etwa 70 m 
Breite. In Anbetracht der starken Entwicklung des Windes und der Auf¬ 
wirbelung von Staub in solch breiten Strassen erscheint ihre Anlage vom 
gesundheitlichen Standpunkte weniger erwünscht als vom ästhetischen, der in 
einem grossen Stadtplan einige stärker hervortretende Strassenzüge verlangt. 
Als allgemein aus dem Bedürfnis nach Luft und Licht abgeleitete Regel 
kann gelten, dass die Strassenbreite nicht kleiner als die Höhe der 
anliegenden Gebäude sein soll. (Vergleiche übrigens unter „Wohnungshygiene“.) 

Obwohl es nach dem Vorangeschickten unthunlich ist, bestimmte Zahlen 
für den Gesammtantheil anzugeben, den in einem Bebauungsplan die 
zu Strassen und öffentlichen Plätzen ausgelegte Fläche haben soll, mögen 
dennoch einige solche Zahlen hier Mittheilung finden. Bei offener Bebauung 
rufen Orte, in welchen die Strassenfläche 30% oder selbst nur 20% der Ge- 
sammtfläche nicht überschreitet, nicht mehr den Eindruck von Beengtheit 
hervor; andererseits mag dieser Eindruck in Orten mehr oder weniger stark 
hervortreten, welche geschlossene Bebauung und vorwiegend grosse Miet¬ 
häuser aufweisen, wenn der Procentsatz der Strassenfläche sich auf 40% und 
noch darüber beläuft. 

In manchen Fällen kommt bei Bebauungsplänen ausser den Strassen- 
fluchtlinien noch eine mehr oder weniger weit hinter dieselben zurücktretende 
Baufluchtlinie zur Festsetzung. Dies hat zuweilen den Zweck, Raum 
für eine in Zukunft etwa nöthig werdende Strassenverbreiterung zu schaffen, 
gewöhnlich aber den anderen, mehr Luft und Licht in die Strasse zu bringen 
und daneben die Annehmlichkeit des Wohnens an solchen Strassen zu er¬ 
höhen. Die zurückgezogene Lage der Häuser gewährt den Bewohnern Ver¬ 
minderung des Strassengeräusches, verminderte Verunreinigung des Hauses 
durch Staub und Schmutz, vermehrte Sicherheit der Kinder beim Aufenthalt 
im Freien, endlich Freiheit vor Einblicken der Nachbarn in das intimere 
Leben des Hauses. Ausserdem wirkt ein wohlgepflegter „Vorgarten“ befriedigend 
auf Auge und Gemüth. Abgesehen von guter Pflege muss indess ein Vor¬ 
garten, um alle diese Vorzüge bieten zu können, zunächst eine im Verhältnis 
zur Frontlänge sowie zur Höhe des Hauses stehende Tiefe erhalten, die 
sich etwa nach folgenden Rücksichten bestimmt: 

Mit der Frontlänge und Höhe muss die Vorgartentiefe znnehmen, mit ersterer aber 
mehr als mit letzterer. Der Vorgarten mnss bei geschlossener Bebauung tiefer sein als 
bei offener, und bei letzterer um so weniger tief, je breiter der zwischen zwei Häusern sich 
befindende „Abstand“ ist und je kleiner die Gebäude sind. Die Vorgartentiefe darf niemals 
über ein gewisses Maass hinausgehen, welches so zu wählen ist, dass der Charakter vor¬ 
nehmer Abgeschlossenheit des Hauses, eben so wie derjenige von Selbständigkeit der 
Schmuckanlage vermieden wird. Bei offener Bauweise muss der Vorgarten den seitlichen 
Schmuckanlagen des Hauses sich harmonisch einfügen. Nach diesen Rücksichten bemes¬ 
sen, wird die Vorgartentiefe in den Grenzen von etwa 5—15 m zu wählen sein. Dem ganzen 
Charakter des Vorgartens widerspricht es und den gesundheitlichen Zwecken, die derselbe 
erfüllen soll, wird es gewöhnlich zuwiderlaufen, im Vorgarten Bäume und Sträucher 
von besonderer Höhenentwicklung anzupflanzen: einzig angezeigt sind Bäume 
und Gesträuche von beschränkter Grössenentwicklung, und daneben farbiger Schmuck 
durch Blumenbeete und kleine Rasenflächen, deren Formen sich den Bauformen des 
Gebäudes anzuschliessen haben. Wo Vorgärten durch den Bebauungsplan ausgeworfen 
sind, darf, wenn sie ihre Zwecke vollständig erfüllen sollen, die Nutzungsweise derselben 
nicht dem freien Belieben der Eigenthümer überlassen bleiben. Es sind vielmehr polizei¬ 
liche Vorschriften nothwendig, durch die festgesetzt und unter Strafe gestellt wird, dass 
der zwischen Strassenflucht- und Baufluchtlinie liegende Grundstückstheil als Schmuck¬ 
platz anznlegen und dauernd zu unterhalten ist; jede anderweitige, namentlich jede ge¬ 
werbliche Nutzung muss durchaus verhindert werden. — Um die Anlage von Vorgärten 
zu begünstigen, empfiehlt es sich, dass bei Bestimmung der überbauungsfähigen Grundstücks- 
theile die Vorgartenfläche eingerechnet wird. 


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STRASSENHYGIENE. 


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Oeffentliche Schmuckplätze und Parks im Stadtgebiet, die man als 
die „Lungen der Stadt“ bezeichnet hat, bedürfen einer gewissen Mindest¬ 
grösse, wenn die Luftbeschaffenschaft der Umgebung dadurch günstig beein¬ 
flusst werden soll, und wenn man eine befriedigende ästhetische Wirkung er¬ 
zielen will; auch setzt das gute Gedeihen der Anlagen selbst schon einen ge¬ 
wissen Umfang voraus. Andererseits ist zu beachten, dass eine weit getrie¬ 
bene Concentration solcher Anlagen den Nutzen derselben dadurch wieder 
schmälert, dass die Wege dahin zu lang ausfallen. 

Neuerdings werden neben Schmuckanlagen auch noch Kinderspiel¬ 
plätze in Städten ausgeworfen. Sie sind ein dringendes Bedürfnis in 
Grossstädten und wesentlich für die kleineren, noch nicht schulpflichtigen 
Kinder bestimmt, während für das Bedürfnis des schulpflichtigen Alters durch 
Anlage von geräumigen Schulhöfen gesorgt werden muss. Kinderspielplätze 
müssen von Gewässern und dem grossen Verkehre zurückgezogene, gegen heftige 
Windströmungen geschützte und trockene Lage erhalten, und dabei sowohl 
Sonne als Schatten bieten. Es ist dringend erwünscht, auf grossen Kinder¬ 
spielplätzen eine Bedürfnisanstalt für die Kleinen zu errichten. 

Die Lage der Friedhöfe ist beim Entwurf eines Bebauungsplanes mit 
besonderer Sorgfalt auszuwählen. Einestheils handelt es sich dabei um be¬ 
queme Erreichbarkeit, andererseits um Abwendung specieller Gefahren, welche 
die Verunreinigung des Grundes mit sich bringen kann. Sind nach den 
neuesten Feststellungen diese Gefahren auch viel weniger zu fürchten, als 
früher allgemein angenommen ward, so sind sie doch in gewissem Grade vor¬ 
handen. Ein Friedhof muss tiefen, für Wasser und Luft leicht durchlässigen 
Boden haben, und die Richtung des Grundwasserstroms muss der Stadtgrenze 
abgekehrt sein. Wenn diese Anforderungen erfüllt sind, macht es nichts, ob 
der Friedhof den Grenzen der Bebauung näher oder ferner liegt, ja diese 
unmittelbar berührt. Wo mit einer späteren weiten Ausdehnung der Stadt¬ 
grenzen zu rechnen ist, erscheint es zweckmässig, die Lage der Friedhöfe so 
zu wählen, und das Strassennetz der Umgebung so anzuordnen, dass die 
Friedhöfe sich dem Stadtbilde zwanglos einfügen und demnächst, nach Auf¬ 
hören ihrer Benutzung als eingefriedigte Schmuckanlagen dienen können. 
(Vergl. diesbez. den Abschnitt „Kirchhöfe“ im Artikel „Leichenwesen“ S. 570). 

Die Orientirung der Strassen, d. h. die allgemeine Richtung derselben, 
ist in erster Linie dem Verkehrsbedürfnis anzupassen; demnächst kommen 
die Rücksichten auf die Form der Baublöcke, hienach die Ansprüche der 
Gesundheitspflege und schliesslich noch ästhetische Ansprüche in Betracht 
Dabei ist von Bedingungen, die in dem Strassennetz der vorhandenen Stadt, 
ferner in der Form und Oberflächenbeschaffenheit des Stadterweiterungs- 
Geländes, in der Lage von Gewässern und Eisenbahnen, in der Boden¬ 
beschaffenheit, in Hoch- und Grundwasserständen und in anderen Verhält¬ 
nissen gegeben sein können, noch ganz abgesehen. Es leuchtet daher ein, 
dass der in der Neuzeit mehrfach erhobenen Forderung, die allgemeine Rich¬ 
tung von Strassen so zu wählen, dass in dieselben möglichst viel directes 
Sonnenlicht hineinfällt, in der Regel nur in gewissem Maasse genügt 
werden kann. Es geht nicht an, weder die sogenannte äquatoriale Strassen- 
richtung zu vermeiden, noch die sogenannte meridionale im Stadtplane be¬ 
sonders zu bevorzugen; auch steht in der „Bauordnung“ ein wirksames 
Mittel zu Gebote, den Mangel an Sonnenlicht in rein äquatorialen Strassen 
dadurch einzuschränken, dass für den Anbau an solchen Strassen nur ge¬ 
ringere Gebäudehöhen als an den meridional gerichteten Strassen polizeilich 
zugelassen werden. Freilich handelt es sich dabei um einen erheblichen 
Eingriff in Eigenthumsrechte, der sorgfältiger Abwägung bedarf. Und an¬ 
derweitig lässt sich auch dadurch an der Besonnung der äquatorialen Strassen 
erheblich bessern, dass solchen Strassen eine grössere Breite als anders 


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STRASSENHYGIENE. 


gerichteten gegeben wird. Erschöpfend lässt sich übrigens die Frage nach 
dem gesundheitlichen Werte bei den Strassenarten erst auf Grundlage der 
Ansprüche der „Wohnungshygiene“ abthun, in welcher daher auf diesen 
Gegenstand zurückzukommen sein wird. Hier muss es genügen, diesen 
Gesichtspunkt kurz berührt und darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass 
bei Freiheit in der Orientirung der Strassen die meridionalen vor den äqua¬ 
torialen zu bevorzugen sind, dass die Besonnung der von Südost nach Nord¬ 
west gerichteten Strassen eben so günstig als die der riieridionalen Strassen 
ist, und nur etwas weniger günstig diejenige von Strassen, welche die Rich¬ 
tung von Südwest nach Nordost einhalten. Im übrigen sind diese Aussprüche 
nur cum grano salis zu deuten, da das Maass der Besonnung, welche eine 
Strasse von bestimmter Richtung empfängt, wesentlich durch die geogra¬ 
phische Breite des Ortes und den Höhenstand, welchen die Sonne erreicht, 
und ausserdem durch die Himmelsbewölkung, also das Klima der Gegend, 
bestimmt ist. 

Strassen sollen möglichst auf sogenanntem gewachsenem Boden liegen. 
Werden Aufschüttungen nothwendig, so sind dieselben nicht mit faulenden 
oder fäulnisfähigen Stoffen auszuführen. Wenn die Bebauung Flächen er¬ 
reicht, auf welchen in vorhergegangener Zeit derartige Stoffe (Bauschutt, 
Haus- und Strassenkehricht) abgelagert werden, so muss untersucht werden, 
ob der Fäulnisprocess bereits zu Ende gekommen ist. Ist dies nicht der Fall, 
so muss der faulende Boden desinficirt oder — besser — durch gesunden 
Boden ersetzt werden. Der Untergrund der Strasse muss, schon um Sicher¬ 
heit gegen Brüche und Undichtigkeiten gegen die in demselben eingebetteten 
Leitungen (für Trink- und Schmutzwasser, für Gas u. s. w.) zu schaffen, mög¬ 
lichst unwandelbar sein. In Grossstädten, aber auch in einzelnen verkehrs¬ 
reichen Strassen anderer Städte kann es sich empfehlen, alle Leitungen ge¬ 
meinsam in grossen Tunnels unterzubringen, wie es auch vielfach ausgeführt 
worden ist. Dem steht jedoch der Nachtheil gegenüber, dass in den Tunnels 
Ansammlungen von ausgeströmtem Leuchtgas oder explosionsfähigen anderen 
Gasen (Kohlenwasserstoffen u. s. w.) stattünden können. Bei Neuanlagen von 
Strassen in bestehenden Stadttheilen hat man mit dem Vorkommen von 
grösseren Hohlräumen (aufgegebenen Kellern u. s. w.), auch mit Resten alter 
unbekannter Leitungen zu rechnen, d. h. mit Hohlräumen, die oft zu Sammel¬ 
stätten schädlicher Gase (Kohlensäure, Schwefelwasserstoff, Sumpfgas) geworden 
sind und leicht Gefahr bringen können. Der Grund ist daher auf das Vor¬ 
kommen solcher Reste sorgfältig abzusuchen. 

Um Bodenverunreinigungen durch den Strassenverkehr durch unreine 
Wässer u. s. w. fern zu halten, muss die Strassenbefestigung oder Strassen* 
decke (Pflaster) möglichst wasserundurchlässig sein. Vollkommenheit lässt 
sich hierin nur durch Zerlegung der Strassendecke in zwei Theile, ein so¬ 
genanntes Unterpflaster und das eigentliche Pflaster, erreichen. Ersteres muss 
eine wasserdichte Schicht von solcher Stärke bilden, dass es unter der Be¬ 
lastung durch den über die Strasse fortgehenden Verkehr nicht Brüche er¬ 
leidet. Das Oberpflaster muss gleichfalls wasserdicht sein, um Ansammlungen 
von Wasser zwischen Ober- und Unterpflaster zu verhindern. Bei den Geh¬ 
wegen (Trottoiren, Bürgersteigen) ist die Zerlegung in zwei Theile nicht 
nothwendig, da man bei dem minder schweren Verkehr die Wasserundurch¬ 
lässigkeit auch mit einer einfachen Decke erreichen kann. 

Die Strassendecke muss regelmässige Form haben ufid dauernd in regelmässiger 
Form erhalten werden, um Pfützenbildung zu verhindern und die Reinigung der Strasse 
zu erleichtern. Die Regelmässigkeit der Form muss sowohl in dem Längenprofil als in dem 
Querprofil herrschen. Immer dient es dem Reinlichkeitszweck, wenn die Strasse in der 
Längenrichtung nicht wagrecht, sondern in einigem Gefälle liegt, weil dadurch der Wasser¬ 
abfluss befördert wird. Steile Gefälle — wie sie bis auf etwa 1 / 10 herab Vorkommen, sind 
auf Nothfälle zu beschränken, weil sie ermüden und bei Glatteis gefährlich sind. An eine 


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STRASSENHYGIENE. 


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längere Strecke mit 'starkem Gefälle soll sich bald eine wagrechte Strecke oder eine solche 
mit schwachem Gefalle — absatzartig — anschliessen. Das Querprofil der Strasse soll 
gerundet sein, um so schwächer, je stärker das Längengefälle der Strasse ist; die Geh¬ 
wege werden am besten mit ebener Oberfläche und einseitigem, der Fahrbahn zugekehrtem 
Gefälle hergestellt. Wo man frei über Quer- und Längengefälle bestimmen kann, muss 
dasselbe der Beschaffenheit des Pflastermaterials angepasst werden; im umgekehrten Falle 
ist das Pflastermaterial dem Gefälle anzupassen. Je glatter das Material, je flacher muss 
das Gefälle genommen werden. Asphalt lässt nur sehr schwache Gefalle — bis etwa 1 / Ä0 — 
zu, und ähnlich Fliesen, während Natursteine alle Gefälle bis zu den steilsten zulässigen 
hinauf erlauben. Dasselbe gilt für Holzpflaster. Die Gehwege müssen zum Schutz des 
Fussgänger?erkehrs durch einen scharfen Absatz von der Fahrstrasse gesondert werden. 
Auch für in den Strassen liegende Strassenbahnen (mit Dampf-, elektrischem oder Pferde¬ 
betrieb) kann scharfe Absonderung erwünscht sein; doch entscheidet sich diese Frage mehr 
nach Verkehrs- und örtlichen Verhältnissen. 

Mit dem Strassengefälle steht die Entwässerungs-Einrichtung 
der Strasse in engem Zusammenhang. In den verkehrsärmeren Strassen, welche 
einiges Gefälle haben, genügt oberirdische Entwässerung — durch seitliche 
Binnen. Liegt aber die Strasse wagrecht oder nahezu wagrecht, so ist die 
oberirdische Entwässerung mangelhaft. In verkehrsreichen Strassen kann, na¬ 
mentlich wenn sie geringe Breite besitzen, oberirdische Entwässerung nie¬ 
mals genügen, theils weil das Strassenwasser arg verunreinigt ist, theils weil 
im Winter die offenen Binnen stark verkehrshindernd, beziehungsweise gefähr¬ 
dend sein können. Immer sind offene Binnen bedenklich, wenn in dieselben 
auch die Wasser von den anliegenden Grundstücken aufgenommen werden, 
und nicht fortdauernde oder tägliche Spülung der Binnen stattfindet. Zuge¬ 
deckte Binnen, besonders auch die quer durch die Gehwege geführten Binnen, 
welche häusliche Schmutzwässer zuführen, sind aber vom gesundheitlichen 
Standpunkt noch viel gefährlicher als offene Binnen. Immer bringt die ober¬ 
irdische Entwässerung den Uebelstand mit sich, dass dabei die öffentlichen 
Gewässer verunreinigt, vielleicht inficirt werden. Besonders ist an Aus¬ 
breitung von Thierseuchen, darunter der sogenannten Zoonosen, mit Strassen¬ 
wasser zu denken, aber auch an Ausbreitung von Menschenseuchen, wenn 
dem Strassenwasser häusliche Schmutz Wässer oder Wässer von unrein gehal¬ 
tenen Höfen u. s. w. zugeführt werden. 

Beiläufig ist hier auch daran za erinnern, dass im Strassenschmntz der Bacillos des 
Wundstarrkrampfes (Bacillus tetani) angetroffen wird. — Untersuchungen über den Keimgehalt 
von StraBsenwässern liegen bisher nur vereinzelt vor. Die Ergebnisse müssten auch nach 
den grossen Verschiedenheiten der örtlichen Verh&ltnisse.sehr ungleich ausfallen. Einige in 
Paris vorgenommene Untersuchungen von Rinnsteinwässern haben hohe Keimzahlen (von 
32.000 bis 200.000) ergeben, und zwar die höheren Zahlen in den Wässern von nicht cana- 
lisirten, die niedrigeren in den Wässern aus canalisirten Strassen. 

Weil unterirdische Abführung (Canalfäation) die öffentlichen Gewässer 
vor Verunreinigungen am besten schützt, weil sie gleichzeitig die rasche 
und wirksame Entfernung der häuslichen Schmutzstoffe sichert, auch der 
allgemeinen Beinlichkeit am besten dient, ist dieselbe der oberirdischen Ent¬ 
wässerung gesundheitlich weit überlegen. Bei jeder Bearbeitung eines Be¬ 
bauungsplanes muss daher die Einrichtung unterirdischer Entwässerung in 
Betracht gezogen werden und alles geschehen, um dieselbe zu erleichtern. Es 
sollte auch nicht erlaubt sein, an Strassen zu bauen, für welche die Entwässe¬ 
rungsfrage nicht vorher befriedigend gelöst ist. Um möglichst Vollkommenes 
zu erreichen, ist der Entwässerungsplan in den Hauptzügen von vornherein 
festzulegen und muss derselbe — unabhängig von den Grenzen des Gemeinde¬ 
gebiets — das ganze Niederschlagsgebiet umfassen. 

Die Bepflasterung der Strasse soll wenig staub- und geräuschbildend 
sein. Erstere Anforderung wird am besten erfüllt, je härter und je regel¬ 
mässiger das Material bearbeitet ist. Das härteste Material ergibt aber das 
lauteste, bei lebhaftem Verkehr neryenzerstörende Geräusch. Weicheres Ma¬ 
terial, wie Holz, nützt stark und ungleichmässig ab, nimmt ausserdem Feuch¬ 
tigkeit begierig auf, wird stark riechend, besonders auf Standplätzen von 


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STRASSENHYGIENE. 


Fahrwerken, and lässt Keime mehrere Centimeter tief eindringen. Man hat 
bei Untersuchungen von Holzpflastern in Lyon an der Oberfläche in 1 gr Holz¬ 
masse 76,000.000 Keime und in 4 cm Tiefe 260.000 Keime gefunden. Da 
diese Mängel den Vorzug der Geräuschlosigkeit, den Holzpflaster besitzt, mehr 
als aufwiegen, kann dasselbe, wie bisher, so auch in Zukunft nur unter be¬ 
sonderen Verhältnissen auf Anwendung rechnen. Am vollkommensten sind 
die Forderungen: geringe Abnützung und Geräuschlosigkeit beiden Asphalt¬ 
strassen erfüllt, die deshalb für Strassen mit lebhaftem Verkehr in ebenen 
Gegenden die Zukunft für sich haben. Gewisse Mängel haften den Asphalt¬ 
strassen darin an, dass sie bei Feuchtigkeit sehr glatt sind (bei eigent¬ 
licher Nässe nicht), Wärme stark aufsammeln und dass bei Trockenheit der 
aufliegende Staub sehr leicht in Bewegung gesetzt wird; andererseits sind sie 
auch leicht vollkommen rein zu halten. Makadam eignet sich seiner Staub¬ 
und Schmutzbildung wegen für Strassen im Innern der Stadt nicht, sondern 
nur für weniger befahrene Vorstadtstrassen, für Fahrwege in Anlagen u. s. w.; 
die Geräuschbelästigung ist sehr gering. Wenn Klinkerstrassen, um haltbar 
zu sein, nicht einer beständigen Deckung mit Sand bedürften, würden sie in 
jeder Hinsicht als vorzüglich bezeichnet werden können; das Erfordernis 
der Sanddecke schränkt ihre Anwendbarkeit ähnlich ein, wie diejenige des 
Makadams. Ganz neuerdings kommen Strassenpflaster aus Platten vor, die 
unter hohem Druck aus Beton (Gemisch aus Cementmörtel und hartem 
Steinschlag) hergestellt werden. Die Geräuschbildung ist sehr gering; wie 
die Abnützung sich herausstellt, kann erst durch längere Erfahrung ermittelt 
werden. 

FOr Gehwege tritt die Forderung der Geräuschlosigkeit in den Hintergrund; da es 
hier nur einer möglichst ebenen und wenig abnützenden Fläche bedarf. Verlangt muss 
indess ausserdem werden, dass die Fläche wasserundurchlässig und standsicher ist, sowohl 
bei Trockenheit, als im nassen Zustande, dass sich nicht leicht Glatteis auf der Fläche 
bilde, endlich, dass das Material nicht so hart sei, um stark fühlbare Erschütterungen 
der Muskeln und Knochen der Beine beim Auftreten hervorzurufen. Diese Ansprüche 
können von einer ganzen Reihe von natürlichen und künstlichen Materialien erfüllt 
werden, auf welche einzeln einzugehen nicht erforderlich ist. Besondere Eignung für Geh- 
wege-Befestigung besitzen: Asphalt, Cementbeton (in Form von Platten oder Estrichen), 
Klinker, auch sogenanntes Mosaikpflaster aus einigermaassen regelmässig geschlagenen 
Steinstücken. Letzteres hat zudem wegen seiner Durchlässigkeit (die Unterlage besteht 
aus einer Sandschüttung) den Vorzug, dass unter dem Pflaster nicht Ansammlungen von 
Leuchtgas entstehen können. 

Für die Beschaffenheit der Wege in Anlagen, Promen ad en weg e, gilt Aehnliches 
wie für Gehwege in Strassen. Es empfiehlt sich aber dringend, in der Breitenabmessung 
der Promenadenwege nicht über das dem Verkehr genügende Maass hinauszugehen, wenn 
diese Wege als Kieswege hergestellt werden. Grund: die Staubaufwirbelung in trockener 
und Schmutzbildung in nasser Jahreszeit. Derselbe Grund führt dahin, Fahr- und Gehwege 
in Anlagen zu sondern, namentlich aber Reitwege von Gehwegen in einiger Entfernung zu 
halten. Promenadenwege in Alleen werden, besonders wenn sie unmittelbar an der Stadt 
liegen, am besten in ganzer Breite mit Asphaltbelag, oder einem Estrich aus Cement (auf 
Betonunterlage}, oder mit Betonplatten, auch mit einen Belag aus gebrannten Steinen 
Fliesen oder Platten) hergestellt; zur Reinigung solcher Wege muss Wasser möglichst 
unmittelbar zur Hand sein. Breite Promenadenwege in Anlagen erhalten, wenn sie 
bekiest sind, sehr zweckmässig einen mittleren Streifen von 15 —2 m Breite, welcher mit 
Asphalt, anderweitem Estrich, Platten oder Fliesen belegt wird, dessen Nutzen namentlich 
bei nasser Witterung zur Geltung kommt. 

Aach wenn die Stadt centrale Wasserversorgung hat, besteht für 
mancherlei Zwecke das Bedürfnis, auf Strassen und Plätzen eine Anzahl 
öffentlicher Brunnen za haben. Dazu bilden einige Springbrunnen 
auch im gesundheitlichen Sinne eine wertvolle Zugabe. 

Oeffentliche Bedürfnisanstalten beider Art sind schon für die 
Strassen der Städte von nur einiger Grösse ein unabweisbares Bedürfnis. Sie 
sind an Stellen zu errichten, wo Verkehrsconcentrationen stattfinden, wie 
z. B. auch auf offenen Marktplätzen, ln der Lage soll sich eine gewisse 
Zurückgezogenheit und leichtere Anffindbarkeit verbinden; Verstecktheit in 


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STRASSENHYGIENE. 


731 


massigen Gesträuchen ist durchaus zu vermeiden; leichte Umhegung mit Grün 
aber zweckmässig. 

Schmuckanlagen auf freien Plätzen sollten aus erziehlichen Rück¬ 
sichten nur leicht umwehrt sein. Strauchpartien auf denselben bringen für 
die umgebenden Strassen den Nutzen mit sich, dass sie staubmildernd wirken; 
höherer Baumwuchs leistet darin weniger. Rasenflächen sollen, wenn 
der Rasen immerwährend kurz gehalten wird, für die Ozonbildung bei Ge¬ 
wittern besonders wirksam sein. Besonders angezeigt sind Anpflanzungen — 
namentlich auch von Bäumen — auf den Kreuzungen zweier oder mehrerer 
Strassen, wo sich bei bewegter Luft stärkere Windströmungen geltend machen. 
Sowohl zum besseren Gedeihen der Anpflanzungen als zur Verbesserung der 
Strassenentwässerung dient es, die Schmuckanlagen gegen die umgebenden 
Strassen etwas vertieft zu legen; Höherlegungen sind nur ausnahmsweise 
auszuführen. 

Ob eine Strasse zweckmässiserweise Baumreihen erhalten soll, kann nur 
in jedem Einzelfalle entschieden werden; als Regel gilt, dass mindestens 26m Breite 
vorhanden sein müssen. In Strassen von geringerer Breite wird der Nutzen des Baum¬ 
wuchses durch zu starke Lichtentziehung, durch Abhaltung der directen Sonnenstrahlen* 
beziehungsweise durch Beeinträchtigung der Trockenheit der Strasse mehr als ausgeglichen. 
Für äquatorial gerichtete Strassen empfiehlt sich Baumanpflanzung weniger als für meri- 
dional gerichtete; für Strassen in feuchter Lage wird man auf denselben zweckmässig ver¬ 
zichten, wenngleich durch den Baumwuchs dem Boden beträchtliche Wassermengen ent¬ 
zogen werden. An Strassen mit Vorgärten sind Baumreihen zwecklos oder sogar schädlich, 
wenn solche Strassen nicht besonders grosse Breite haben. Immer sollen die Baum¬ 
reihen von den Häusern einigermaassen entfernt stehen, sind daher nicht an der Strassen- 
grenze, sondern unmittelbar zu den Seiten des Fahrweges zu setzen. 

Für die nach mehrfachen Richtungen gehende Zweckerfüllung von 
öffentlichen Schmuckanlagen und Baumreihen ist es unbedingt nothwendig, dass 
denselben eine über das Gewöhnliche hinausgehende Pflege zuge¬ 
wendet wird. 

Die Strassenreinigung umfasst die Sammlung und Fortschaffung des auf 
der Strassenfläche erzeugten Staubes und Schmutzes, ferner die Befreiung der 
Strassen von Schnee und Eis, und es kann endlich auch noch die Strassen- 
besprengung in die Strassenreinigung einbegriffen werden. 

Strassen-Staub und -Schmutz verunreinigt die Luft, wird durch Luftzug 
und mit der Kleidung in die anliegenden Häuser verschleppt, kann bei un¬ 
dichter Pflasterung in den Boden versickern, enthält ausser Fäulnisstoffen auch 
specifisch schädliche Kleinwesen, wie namentlich den Bacillus tetani, gelangt, 
wenn keine ordnungsmässige Beseitigung stattfindet, auch in die offenen Ge¬ 
wässer, die er verunreinigt und sonstwie schädigt. Der Desinfection setzt 
derselbe durch seine Structur unüberwindliche Hindernisse entgegen; es 
ist deshalb nur anderweitige Unschädlichmachung möglich. Die vollkommenste 
besteht in der landwirtschaftlichen Verwertung, welche auch die am meisten 
gebräuchliche ist. Bei seinem nicht grossen Düngerwert verträgt aber 
Strassenkehricht keine langen Transporte, vielmehr müssen die Verwendungs¬ 
stellen in geringer Entfernung gesucht werden. Weniger günstig, doch nicht 
gerade zu beanstanden ist die Benützung zur Aufhöhung tief liegender Land¬ 
flächen. An der Küste gelegene Städte entledigen sich des Strassenkehrichts 
durch Versenken auf den Meeresboden. Vereinzelt wird er mit Hauskehricht 
und anderen häuslichen Abfallstoffen verbrannt; wenn er Kalkantheile in einigen 
Mengen enthält, lässt sich durch den Brennprocess, unter Zusatz anderer noth- 
wendiger Bestandtheile, Mörtel von geringer Beschaffenheit dabei gewinnen. 
Anderweite, aber geringfügige Verwertung findet Strassenkehricht gewisser 
Beschaffenheit wohl als Luftmörtel und zu den sogenannten Holzcement- 
dächern von Gebäuden. 

Vom gesundheitlichen Standpankte ist bei der Strassenreinigung ausser 
der Art und Weise ihrer Ausführung auch der Verbleib des Kehrichts 


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. STRASSENHYGIENE. 


von Wichtigkeit; beide müssen gut geordnet sein. Hie und da ist die 
Sammlung des Kehrichts den Strassenanwohnern auferlegt, entweder für 
die ganze Strassenbreite oder nur init Bezug auf die Gehwege. Seltener wird 
verlangt, dass die Strassenanwohner ausser der Sammlung auch die Abfuhr des¬ 
selben leisten. Weder das Eine noch das Andere ist mit der Wahrung ge¬ 
sundheitlicher Interessen vereinbar. Es werden nothwendig grobe Ungleichheiten 
in dem Reinlichkeitszustande der Strasse sich ergeben müssen, wenn jeder 
vor seiner Thür zu fegen hat, und es kann auch der Verbleib des Kehrichts 
zu groben Missständen führen. Letztere entfallen aber, wenn die Stadt¬ 
gemeinde geeignete Ablagerungsplätze erwirbt nnd Ablagerungen an anderen 
Stellen mit Strafen verfolgt werden. 

Das Kehren vor eigener Thüre ist übrigens anch geeignet, jeglichen Fortschritt in 
der Ansführnng8weise der Strassenreinignng zu verhindern, da nur bei Zusammenfassung 
derselben in einer Hand es möglich ist, Vervollkommnungen einzuführen. Zu diesen rechnet 
auch die Ausführung des Geschäftes zur Nachtzeit, die neuerdings als die ein¬ 
zig richtige angesehen wird. Sie setzt allerdings das Bestehen einer nicht gerade dürftigen 
Strassenbeleuchtung voraus. Ebenfalls rechnet zu den Vervollkommnungen der Ersatz der 
Handarbeit durch Kehrmaschinen; die Erreichung der günstigsten Leistung bedingt 
aber eine nicht zu geringe Pflasterbeschaffenheit. Je nach dem Zustande des Pflasters 
leistet eine Kehrmaschine dasselbe wie 10 bis 15 Arbeiter und für den Preis von nur l /< 
bis 1 I S desjenigen der Handarbeit. Für die Reinigung von Flächen besonderer Form ist 
Hanaarbeit nicht zu entbehren, ebensowenig für die Reinigung der Gehwege oder 
Hürgersteige. Vereinzelt sind Kehrmaschinen aufgetaucht, die nicht den Schmutz zu den 
“Seiten der Strasse zusammenkehren, sondern denselben auch unmittelbar in mit der 
Maschine verbundene Behälter fördern; doch ist bis jetzt eine befriedigende Construction 
dieser Art von Maschinen noch nicht gefunden worden; sie würden sonst der Fortschaffung 
auf Wagen vorzuziehen sein. Auch wenn die Strassenreinignng zur Nachtzeit ausgeführt 
wird, muss dieselbe feucht erfolgen, und müssen die Transportbehälter einigermaassen 
staubdicht sein. 

Asphaltpflaster wird am besten nass gereinigt, was freilich das Bestehen 
unterirdischer Strassenentwässerung voraussetzt, und Einführung grosser 
Schmatzmengen in die Canäle mit sich bringt. Auch bei Steinpflaster 
besserer Beschaffenheit und Holzpflaster beginnt man neuerdings die Rei¬ 
nigung durch Waschen einzuführen, entweder so, dass ein kräftiger Wasser¬ 
strahl aus Schläuchen auf die Strasse gegeben wird, der den Schmutz fort¬ 
schwemmt, oder so, dass die Sprengwagen mit einer Walze versehen werden, 
die am Umfange mit Gummiplatten besetzt sind, welche den stark gewässerten 
Schmutz zur Seite schieben. 

Zur Strassenreinigung im weiteren Sinne rechnet auch die Entfernung 
der Sinkstoffe aus den Einlässen der unterirdischen Entwässerungsanlage und 
aus den Einsteigeschachten derselben. 

Die Beseitigung des Hauskehrichts (Hausmüll) wird am zweck- 
mässigsten mit der StrassenreiniguDg verbunden. Dies ist bisher jedoch nur in 
der Minderzahl der Städte der Fall, bleibt aber das vom gesundheitlichen Stand¬ 
punkte aus mit Nachdruck anzustrebende Ziel. Auf die Beseitigung des Haus- 
mülles wird erst unter „Wohnungshygiene“ näher eingegangen werden. 

Die Mengen des Strassenkehrichts wechseln nach der Strassenbeschaffenheit, nach 
Verkehrsgrösse und Verkehrsart, ferner nach der Wohndichte der Stadt und nach klima¬ 
tischen Factoren in sehr weiten Grenzen. Sie können für 1 km Strassenlänge und Jahr 
250.000—1,260.000 kg betragen. Genauer ist die Angabe, dass in den mit Steinpflaster 
versehenen Strassen mit starkem Verkehr sich im Laufe eines Jahres eine Schmutzscbicht in 
der Gesammthöhe von 50 mm bildet, auf den Gehwegen nur bis 1 / s davon. Die Zurück- 
führung von Mengen des Strassenkehrichts auf 1 Kopf der Stadtbewohnerschaft liefert 
zwar bei den grossen Verschiedenheiten in der Wohndichte der Städte keine mit einiger 
Sicherheit vergleichbaren Zahlen, doch mag angeführt werden, dass in einer Reihe von 
Grossstädten auf 1 Kopf und Jahr von 0 - 12ä—O'öOO cm a Straseenkehrieht entfallen können; 
Der geringste Satz trifft zur Zeit für Berlin zu, der höchste wird in Wien nahezu erreicht. 

Anhäufungen von Schnee in Strassen sind eben so sehr vom Stand¬ 
punkt der Gesundheitspflege als von demjenigen des Verkehrs rasch wieder 
zu beseitigen. Sie wirken stark abkühlend auf die Luft, erzeugen durch 


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STRASSENHYGIENE. 


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Feuchtwerden der Fnssbekleidung Erkältungskrankheiten, behindern sowohl 
den oberirdischen Wasserabfluss, als den Eintritt des Wassers in unter¬ 
irdische Leitungen, wirken Schmutz ansammelnd und bringen direct Gefahren 
für den Fuss- und Wagenverkehr der Strassen mit sich, besonders in Strassen 
mit stärkeren Steigungen. Bei der Plötzlichkeit, mit der grössere Schnee¬ 
fälle sich einzustellen pflegen, ist es kaum möglich, einen entsprechenden 
Arbeits- und Yerwaltungsapparat für die Schneebeseitigung zum voraus ein¬ 
zurichten und müssen Improvisationen getroffen werden. Gewöhnlich — und 
hier ist dieser Weg der zweckmässigste — wird die Freihaltung der Strassen 
von Schnee den Anwohnern zugewiesen; mindestens haben dieselben die Geh¬ 
wege vor den Häusern vom Schnee freizuhalten. In kleinen Städten mit 
weitläufiger Bebauung kann von denselben auch die Entfernung des Schnees 
aus dem Bereich der Strassen verlangt werden; in grösseren mit dichter Be¬ 
bauung muss für diese Aufgabe nothwendig die Stadt eintreten. Das be¬ 
schwerlichste Mittel ist der Abtransport mit Wagen ausserhalb der Stadt 
Ob Yerstürzen der Schneemassen in öffentliche Wasserläufe zulässig ist, 
hängt durchaus von Besonderheiten des Flussregimes, von Schiffahrtsverhält¬ 
nissen u. s. w. ab. Bei grösseren Flüssen und in Küstenstädten, ebenso an 
Gebirgsflüssen wird das Verfahren wohl immer zweckmässig’ sein. 

Das Schmelzen des Schnees an Ort und Stelle und Ableitung des Schmelzwassers 
ober- oder unterirdisch (Wassermenge des Schnees je nach der Dichte der Lagerung = V* 
bis im Mittel 1 I 9 der Schneemenge) ist sehr kostspielig und zeitraubend, daher nur als 
Aushilfsmittel in besonderen Fällen anwendbar. Das Ein werfen in unterirdische Canäle 
setzt entweder Canäle von grösserer Profilweite, oder das Bestehen sogenannter Schnee¬ 
kammern neben den Canälen (Umleitungen) voraus. Auch sind Verstopfungen der Canäle, 
und infolge davon Keller-Ueberschwemmungen zu fürchten. Endlich kann, wo Reini¬ 
gungsanlagen für die Schmutzwässer bestehen, die Vermehrung derselben durch die Schnee¬ 
schmutzwässer Schwierigkeiten verursachen. Das Mittel ist daher ebenfalls nur unter 
besonderen Umständen anwendbar. — Aufthauen des Schnees durch Bestreuen mit Stein¬ 
salz sollte möglichst vermieden, oder doch auf Nothfälle (Freimachen von Bahngeleisen 
u. s. w.) beschränkt werden, da das Gemisch von Salz und Schnee sehr niedrige Tem¬ 
peraturen hat und von denselben die Fussbekleidung stark angegriffen wird. — 

Schlimme Belästigungen entstehen in Städten mit lebhafter Bautätig¬ 
keit bei Abbruch alter Gebäude und Abtransport des Bauschutts; auch 
können mit dem verursachten Staub leicht die Keime ansteckender Krank¬ 
heiten Verbreitung finden; insbesondere ist jedoch der Bauschutt wegen der 
Ausbreitung des Hausschwamms (Merulius lacrymans) zu fürchten. Bauschutt 
darf daher niemals in neuen Gebäuden wiederum benutzt werden; er sollte 
auch stets so abgelagert werden, dass nicht Gefahren für in der Nähe befind¬ 
liche Holzlager entstehen können; er darf auch nicht alsbald zur Aufschüttung 
neuer Strassen u. s. w. verwendet werden. Der Abtransport muss in möglichst 
staubdichten Gefässen erfolgen und durch besondere Polizei-Vorschriften ge¬ 
regelt sein. Gegen alle diese Forderungen der Gesundheitspflege wird leider 
sehr häufig gefehlt, worin wahrscheinlich die Thatsache der grossen neu¬ 
zeitlichen Verbreitung des Hausschwammes zu einem wesentlichen Theile be¬ 
gründet ist. 

In dichter bebauten Städten besteht in den Sommermonaten das Be¬ 
dürfnis der Strassenbesprengung, womit theils Anfrischung der Luft, 
theils Niederschlagung des Staubes bezweckt wird. Das Bedürfnis wechselt 
aber in weiten Grenzen mit der Lage der Strasse und der Beschaffenheit 
des Pflastermaterials. — Wenn die Strassen zugig und auf trockenem, san¬ 
digem Boden liegen, und wenn das Pflastermaterial wie z. B. Granit 
und Asphalt — stark Wärme aufspeichert, ist das Bedürfnis am grössten; 
in solchen Fällen ist mehrmalige Besprengung im Laufe eines Sommertages 
nothwendig. Die sogenannte Sprengsaison umfasst in Deutschland die Zeit 
etwa von Anfang April bis Ende September und enthält, je nach der Witte¬ 
rung, 120—180 Tage, an welchen Besprengung nothwendig ist. 


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TAUBSTUMMENANSTALTEN. 


Das Sprengwasser soll einigermaassen rein sein, wenngleich so strenge 
Anforderungen wie an Trinkwasser an dasselbe nicht zu stellen sind. Ver¬ 
einzelt hat man dem Sprengwasser, am die Verdunstung desselben zu be¬ 
schränken, Kochsalz zugesetzt; in Städten an der Meeresküste wird auch wohl 
Meerwasser zum Sprengen benutzt. Im allgemeinen ist salziges Wasser für 
den Zweck nicht zu empfehlen, weil es den Schmutz klebrig und an der 
Strassenfläche festhaften macht; auch wirkt dasselbe etwas lösend auf Stein¬ 
material. Da Feuchtigkeit des Strassenschmutzes Mikrobenleben begünstigt 
und damit auch Keime in gewisse Tiefen geführt werden können, kann es 
in Zeiten von Typhus- und Cholera-Epidemien eine nützliche Vorsichtsmaass¬ 
regel sein, die Strassenbesprengung einzuschränken oder zeitweilig ganz zu 
unterlassen. 

Es wird theils ans Schläuchen, theils mit Wagen gesprengt. Ersteres Verfahren 
erfordert viel grössere Wassermengen als letzteres, und hat dabei die üble Eigenschaft, 
dass der starke Wasserstrahl den Staub vor sich hertreibt und aufwirbelt; es empfiehlt 
sich wegen der Verkehrsbelästigung auch mehr für Promenaden als für lebhaft befahrene 
Strassen. Beim Sprengen mit Wagen trifft das Wasser die Strassenfläche in mehr 
senkrechter Richtung; die Staubaufwirbelung ist daher gering. Die Vermehrung durch 
die Fahrkosten wird durch die Ersparung an Wasser wieder eingebracht. Bei der Wagen- 
besprengung genügt 1 1 für einmalige Besprengung von 1 m* Strassenfläche. ln Berlin 
werden bei 4,850.000 m* Strassenfläche jährlich etwa 800.000 cm 3 Wasser, d. i. 1 1 auf lm* 
und 1 Tag zur Strassenbesprengung verbraucht. BÜSING. 

Taubstummenanstalten. Das Taubstummenwesen bietet den hygieni¬ 
schen Verbesserungsbestrebungen eine breitere und vielseitigere Angriffs¬ 
fläche dar, als die meisten Aerzte wissen. Es muss deshalb der Allgemein¬ 
heit der Aerzte dringend ans Herz gelegt werden, sich mit demselben ein¬ 
gehender zu beschäftigen, als es bisher der Fall war. 

Bis ins Mittelalter herein vermuthete man den Sitz der Krankheit in 
den Sprech- und Articulationsorganen. Jetzt wissen wir, dass die Stumm¬ 
heit nur die Folge der Taubheit ist und definiren also die Taubstummen 
„als Menschen, welche das Gehör entweder von Geburt an nicht besessen 
oder in den ersten Lebensjahren verloren und infolgedessen das Sprechen 
nicht gelernt oder das bereits Gelernte wieder verlernt haben.“ 

Die Erfahrung zeigt uns, dass den Taubstummen die Fähigkeit, die 
Lautsprache zu erlernen nicht fehlt, wenn es nur gelingt, sie ihnen auf einem 
anderen Wege beizubringen als den Vollsinnigen. 

Ehe wir aber diesen Weg weiter verfolgen, ist es nothwendig, sich die 
Naturgeschichte des Taubstummen vor Augen zu führen. 

Die Zahl der Taubstummen in Deutschland beträgt 50.000, ein Heer von Unglück¬ 
lichen, das schon der Mühe wert ist, dass wir uns um dasselbe kümmern! Was die Häufig¬ 
keit in den einzelnen Ländern betrifft, so ergeben sich hierin ganz beträchtliche Unter¬ 
schiede: während auf 10.000 Einwohner in Deutschland 9*7 Taubstumme kommen, ist 
diese Zahl für die Schweiz 24 5, für Grossbritannien nur 5*7 und für die Vereinigten 
Staaten gar nur 4*2. — Gebirgige Gegenden haben mehr Taubstumme als flache. Man 
ist heutzutage geneigt, den Grund für diese Erscheinung weniger in terrestrischen Ein¬ 
flüssen zu suchen, als vielmehr in dem Umstand, dass die Bewohner gebirgiger Gegenden 
meist in schlechteren socialen und hygienischen Verhältnissen leben und mit Aerzten nicht 
so gut versorgt sind als die Bewohner des flachen Landes. Für diese Annahme spricht 
sich Lemcke auf Grund seiner äusserst sorgfältigen Erhebungen in Mecklenburg-Schwerin 
ganz entschieden aus. Mygind sagt: „Wenigstens richten unter solchen Verhältnissen epi¬ 
demische Krankheiten, welche hauptsächlich die hohe Taubstummenzahl verursachen, 
die grösste Verwüstung an.“ Auch die preussische Statistik liefert dafür ein Beispiel: 
während „Ostelbien“ mit seinen bekannten socialen Verhältnissen ll*ö°/ 000 Taubstumme 
aufweist, hat „Westeibien * deren nur 8 0, also um 30°/ 0 weniger. 

Die Taubstummheit ist entweder angeboren oder erworben; tritt die Er¬ 
taubung vor dem vierten Lebensjahre ein, so verlieren die Kinder in der 
Regel die schon theilweise gelernte Sprache wieder, während sie erhalten 
bleibt bei „spätertaubten“ Kindern. Eines besonderen Taubstummenunter¬ 
richtes bedürfen aber die Spätertaubten ebenso sehr wie die Frühertaubten. 


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. TAUBSTUMMENANSTALTEN. 


735 


Ueber das Procentverhältnis der Taubgeborenen zu den Ertaubten 
schwanken die Angaben der einzelnen Autoren ganz bedeutend, und zwar 
weniger deshalb, weil je nach der Zeit und Gegend mehr oder weniger Ge¬ 
hörorgane einzelnen Epidemien zum Opfer fallen, als vielmehr deshalb, weil 
je nach seinen Vorurtheilen der eine die zweifelhaften Fälle zu der ersten, 
der andere zu der zweiten Kategorie rechnete. Es ist deshalb nothwendig, 
bei allen künftigen Erhebungen alle Fälle, die nicht ganz bestimmt in eine 
der beiden Rubriken gehören, in eine dritte Rubrik „Unbestimmt“ zu ver¬ 
weisen, wie es Lemcke in seiner unser höchstes Vertrauen verdienenden Sta¬ 
tistik Mecklenburgs gethan hat; er fand dort das Verhältnis: Taubgeborene 
100, Ertaubte 122’5, Unbestimmte 15*2. 

Die Vererbung spielt bei der Taubstummheit eine grosse Rolle, aber we¬ 
niger die directe als die indirecte. Ferner sind von ganz bedeutendem Ein¬ 
fluss auf die Häufigkeit der Taubstummheit: Blutverwandtschaft, Tuberkulose, 
Syphilis und Alkoholismus der Erzeuger. Die Sterblichkeit der Taubstummen 
an der Tuberculose ist denn auch — wie nach den Gesagten nicht anders zu 
erwarten ist — eine auffallend grosse. Ausser der erblichen Belastung mit 
Tuberkulose tragen aber dazu noch bei die schlechten socialen Verhältnisse, 
in denen die meisten Taubstummen leben, sowie der Umstand, dass die 
Taubstummen im ganzen viel weniger sprechen als die Vollsinnigen und des¬ 
halb ihre Lungen viel weniger oft und ausgiebig „ventiliren“. 

Nach einer von mir aus der ganzen mir naheliegenden Literatur zu¬ 
sammengestellten Statistik wurde die „erworbene Taubstummheit“ hervor¬ 
gerufen durch folgende Krankheiten: 

Gehirnkrankheiten im weitesten Sinne 40'l°/ 0 ; Scharlach, Masern, Röteln 
22 6 0 /o, andere acute Infectionskrankheiten (wie Typhus, Pocken, Diphtherie, 
Keuchhusten, Pneumonie u. a.), 12*7%, chronische Krankheiten (Rhachitis, 
Skrophulose, Syphilis) 3‘9°/ 0 , Trauma (physisches und psychisches) 3*9°/ 0 , eigent¬ 
liche Ohrenkrankheiten 7 3°/ 0 - 

Die Taubheit ist nicht in allen Fällen eine totale; in der Münchener 
Taubstummenanstalt z. B. fand Bezold einen Knaben, der einen langsam in 
der Nähe des Obres in Conversationssprache gesprochenen Satz nachspricht, 
der aber in der Volksschule, die er zuerst besucht hatte, trotzdem seinen 
Sprachrest verloren hatte. 

Von 2669 ärztlich untersuchten Taubstummen sind totaltaub gefunden worden 
47*/„, während Bezold in der Münchener Taubstummenanstalt nur 19°/ 0 , Urbantschitsch 
in der Döblinger gar nur 4°/ 0 fand. Wenn aber Bezold in seinem Urthefl nicht so sehr 
vorsichtig wäre, hätte er nur 14°/ 0 für totaltanb erklärt, denn nach seinen eigenen Worten 
bestand bei den übrigen 6°/ 0 „vielleicht ein nicht genauer zu localisirender Hörrest-“ 

Die Erkennung der Taubstummheit ist bei Kindern in der ersten Lebens¬ 
zeit nur unter ganz besonders günstigen Verhältnissen möglich; hörende 
Kinder reagiren auf einen Schall durch Herumblicken nach der Schallquelle, 
während diese Reaction bei taubstummen fehlt, es kommt aber doch öfter 
vor, dass sie auch bei hörenden Kindern fehlt, wie andererseits taubstumme 
Kinder laut lachen und weinen und auch oft „plauschen“. 

Ferner kommt es auch bei hörenden Kindern nicht selten vor, dass sie 
mit dem Sprechenlernen über die gewöhnliche Zeit hinaus warten lassen; später 
aber lässt sich die Hörstummheit („motorische Aphasie“, „psychische Taub¬ 
heit“) unschwer von der Taubstummheit unterscheiden. Hörstumme Kinder 
leisten den an sie gerichteten, mündlichen Aufforderungen Folge, sie ver¬ 
stehen alles, sprechen aber nichts oder nur wenige Worte, wie Mama u. dgl. 

Ferner ist von der eigentlichen Taubstummheit die idiotische Stumm¬ 
heit zu unterscheiden, wenngleich es in praxi Fälle gibt, wo man zweifelhaft 
sein kann, ob die eine oder die andere vorliegt. 


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. TAUBSTUMMENANSTALTEN. 


Im Allgemeinen sind die Taubstummen so begabt und talentirt, wie die 
Vollsinnigen; nur bei den Kindern, die durch eine Gehirnkrankheit ertaubt 
sind, ist oft auch die Begabung beeinträchtigt. 

Die Taubstummen können deshalb in allen Fächern unterrichtet werden, 
wie die Vollsinnigen (Musik u. dgl. ausgenommen), wenn es nur einmal gek¬ 
lungen ist, ihnen das Verständnis für die „Wortsprache“ beizubringen. 

Der ununterrichtete Taubstumme hat ja auch eine Sprache: er äussert 
seine Gefühle und bezeichnet die concreten Dinge mit Geberden, die sich 
bei jeden Taubstummen instinktiv entwickeln. Diese „natürliche Ge¬ 
berdensprache“ wird von allen Taubstummen der ganzen Erde verstanden 
und ist so die einzige wirklich internationale Weltsprache. Aus dieser ent¬ 
steht die „erweiterte oder künstliche Geberdensprache“, die auch 
abstracte Begriffe durch conventionelle Geberden bezeichnet. Leicht vermag 
der Taubstumme die „Schriftsprache“ zu erlernen und auf Grund dieser 
die jeden einzelnen Buchstaben durch eine bestimmte Fingerstellung bezeich¬ 
nende „Fingersprache“ (Daktylologie). 

Wesentlich grössere Schwierigkeiten macht aber die Erlernung der 
„Lautsprache“. 

Der erste, der diese Aufgabe in methodischer Weise löste, war der spanische Benedic- 
tinermönch Pedro de Ponce (f 1584). Aber seine bahnbrechende Arbeit fand fast keine 
Beachtung, und es ist nicht bekannt, inwieweit die späteren Arbeiten auf diesem Gebiete 
auf seiner nach seinem Tode veröffentlichten Methode fusaen. 

Die erste Taubstummenanstalt, in welcher in der Lautsprache unterrichtet wurde, 
ist von Braidwood 1760 in Edinburg gegründet worden. In Deutschland war Samuel 
H einicke der erste, der 1754 einen taubstummen Knaben unterrichtete; er benutzte die 
von dem schweizerischen Arzte Ammann in Holland erdachte Methode, die er aber selbst 
systematisch vervollkommnete. 1777 errichtete er die erste deutsche Taubstummenanstalt in 
Leipzig. Um dieselbe Zeit 1756 nahm Bich Abbö de 1’ Epee aus Mitleid zweier taubstummer 
Mädchen an und gründete 1760 die erste französische Anstalt. Anfangs unterrichtete auch 
er in der Laut spräche, es wurden ihm aber bald so viele Zöglinge zugeführt, dass er aus 
Noth auf dieselbe verzichtete und sich auf die Geberden-, Schrift- und Fingersprache be¬ 
schränkte. 

Diese beiden Zeitgenossen sind die Begründer zweier sich feindlich gegenüberstehen¬ 
der Schulen, der „deutschen“ und der „französischen*. 

Die „deutsche Methode“ hat als obersten Zweck das Bestreben, den 
Taubstummen womöglich so weit auszubilden wie den Vollsinnigen, also dass 
er nicht nur im Stande sein soll, mit jedem anderen Menschen zu verkehren, 
sondern auch sich jedem Berufe zuzuwenden, der nicht das Gehör zu wesent¬ 
licher Bedingung hat. Der Hauptnachdruck wird deshalb auf die Fähigkeit, 
fliessend sprechen und ebenso fliessend ablesen zu können, gelegt. 

Indem man an das auch dem taubstummen Kinde zu Gebote stehende 
Schreien anknüpft, entwickelt man durch unermüdliches Vormachen und 
Nachmachenlassen, durch Fühlenlassen der Schwingungen von Kehlkopf, 
Brust und Kopf durch Berichtigung der Zungenlage u. s. w. den Vocal a; von 
diesem aus übt man anfänglich leichte, später schwierigere Consonanten- 
verbindungen mit a, geht dann ebenso zu den anderen Vocalen über, lässt 
die Silben zu Worten verbinden und trachtet vom allerersten Anfang an, mit 
jedem Wort sofort auch einen Begriff zu verbinden. Man fängt deshalb bei 
den nächstliegenden Dingen an, lässt sie das Kind befühlen, beriechen, be- 
schmecken u. s. w., lässt sofort auch das Wort schreiben, um das Haften 
desselben im Gehirn von den verschiedensten Seiten her zu stützen. Indem 
man so eine immer grössere Reihe von Worten mit den dazugehörigen Be¬ 
griffen dem Sprachschatz des Kindes einverleibt, legt man die Grundlage, auf 
der die übrige Ausbildung aufgebaut werden kann. 

Die „französische Methode“ geht von der Erwägung aus, dass eine der¬ 
artige Ausbildung in der Lautsprache die aufgewendete Zeit und Mühe nur 
in ganz besonders günstigen Fällen lohne, verzichtet deshalb für die grosse Masse 
der taubstummen Kinder auf die Lautsprache und beschränkt sich darauf, 


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TAUBSTDMMEN ANSTALTEN. 


737 


denselben mit Hife der „Zeichensprache“ (unter diesem Wort lassen sich die 
oben genannten Sprachen zusammenfassen) den materiellen Inhalt der deutschen 
Ausbildung zu vermitteln. Die Kehrseite der Münze ist aber die, dass der 
so ausgebildete Taubstumme vom Verkehr mit allen denen, welche die Zeichen¬ 
sprache nicht verstehen ausgeschlossen, beziehungsweise auf die Schriftsprache 
angewiesen ist. 

Diese schwere Benachtheiligung der Taubstummen wird auch in Frank¬ 
reich erkannt, und es besteht eine starke Strömung dort, welche die — we¬ 
nigstens theilweise — Einführung der Lautsprache in den Unterrichtsplan der 
französischen Taubstummenschulen verlangt. 

Aber auch bei uns macht sich gegenwärtig eine Gegenbewegung gegen 
unsere reine Lautsprachmethode geltend, die — in der Hitze des Gefechts über 
das Ziel hinausschiessend — die sofortige Umgestaltung unserer Methode in 
eine „gemischte“ verlangt. Sie sagt, die Lautsprache sei — abgesehen von 
den „paar“ mit Hörresten oder mit Spracherinnerung ausgestatteten Kindern — 
für den Taubstummen etwas naturwidriges und der Zwang zu dieser Natur¬ 
widrigkeit führe mit Nothwendigkeit zu Schülermisshandlung und müsse den 
Taubstummen boshaft machen; ausserdem werde dadurch dem eigentlichen 
Zwecke des Unterrichts, dem der Erziehung und der Vermittelung von wirk¬ 
lichen Kenntnissen, unverantwortlich viel Zeit weggenommen. Das Haupt¬ 
ärgernis ist dieser Bewegung das in Deutschland übliche — nicht ohne 
Strafen durchzuführende — Verbot der Geberdensprache vom zweiten Schul¬ 
jahr ab. 

Von der anderen Seite wird dieses Verbot damit begründet, dass es nicht 
möglich sei, dass die Kinder in der knappen Zeit die nothwendigen Fort¬ 
schritte in der Lautsprache machten, wenn sie sich nicht fortwährend — auch 
im Verkehr unter einander — darin übten, und das werde durch den Ge¬ 
brauch der Geberdensprache verhindert. Es muss zugegeben werden, dass 
die Lautsprache dem Totaltauben viel grössere Schwierigkeiten macht als 
dem Partialtauben; derselbe hat auch meist eine äusserst übeltönende Stimme, 
weil er sie nicht mit seinem Ohr controliren kann. 

Es wurde deshalb der Vorschlag gemacht, die verschiedenen Kate¬ 
gorien der Taubstummen auf verschiedene Weise zu unterrichten, wie es in 
Dänemark schon längst der Fall ist. 

Dort werden die taubstummen Kinder gleich von Anfang an in zwei 
Gruppen getheilt: 

A. Kinder mit sehr mangelhafter Intelligenz werden in Kopenhagen 
(1.) in einer besonderen Anstalt acht Jahre lang in einer ihnen angepassten 
Weise unterrichtet. 

B. Die anderen kommen auf ein Jahr in die Vorbereitungsschule in 
Fredericia (2). 

Nach Ablauf dieses Jahres kommen 

I. die Partialtauben nach Nyborg (3), wo sie sieben Jahre lang in der 
Lautsprache unterrichtet werden. 

II. Die Totaltauben werden wiederum getheilt: 

a ) solche, die nur mit Mühe fähig sind die Lautsprache zu erlernen, 
werden in Kopenhagen (4.) in einer besonderen Anstalt in der Zeichen¬ 
sprache unterrichtet; 

b ) die anderen werden in Fredericia (5.) sieben Jahre lang in der 
Lautsprache unterrichtet und zwar wiederum in zwei Paralleleursen (ao. die 
intelligenteren, bb. die weniger intelligenten.) 

Ich selbst halte die Erlernung der Lautsprache im Hinblick auf das 
Fortkommen der Taubstummen für so wichtig, dass ich zwar die dänische 
Trennung der verschiedenen Kategorien sehr empfehle, aber auf die Laut- 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 47 


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TAUBSTUMMENANSTALTEN. 


spräche nur verzichten möchte bei den schwachsinnigen, der Idiotie nahen 
Taubstummen (Ä). 

Bei den schwachtalentirten Totaltauben (Bild) dagegen möchte ich 
statt der ausschliesslichen Daktylologie die „gemischte“ Methode, in deren 
Zeichen sich die deutschen und französischen Reformer die Hand reichen, 
empfehlen. Die Zahl der schwachsinnigen'und Schwachbegabten wird zusammen 
auf 40% geschätzt. 

Für die gutbegabten Totaltauben aber halte ich unsere gegenwärtige 
Methode für die zweckentsprechendste. Ich hätte aber nichts dagegen, wenn 
die Geberde in beschränktem Maasse zugelassen würde. 

Was schliesslich die Partialtauben betrifft, so müssen wir hier wieder 
etwas weiter ausholen. Die Partialtauben sind in den letzten Jahren Gegen¬ 
stand zweier ganz bedeutender Forschungsarbeiten gewesen. Hatte man das 
Procentverhältnis derselben früher auf 40% geschätzt und dieselben einfach 
in Schall- (24%), Vocal- (11%) und Worthörende (5%) eingetheilt so fand 
Bezold bei seiner sorgfältigen Untersuchung mit der von ihm zusammen¬ 
gestellten continuirlichen Tonreihe in der Münchener Taubstummenanstalt 
79*7 partialtaube Individuen. 

Die partialtaaben Gehörorgane konnte er in folgende sechs natürliche Gruppen ein- 
theilen: 

I. Inseln (von */, Tönen bis 2*/* Octaven).17 7% 

II. Lücken (von J / s Ton bis 3*4 Octaven).12'7 „ 

III. Defect der oberen Hälfte der Tonscala.0 6 „ 

IV. Defect am oberen und am unteren Ende der Scala ... 61 „ 

V. Grosser Defect unten (4 Vj- 7 Octaven).ll - 4 „ 

VI. Kleiner Defect unten ( 1 / J —4 Octaven). 20 9 „ 

Dabei konnte er ferner feststellen, dass auch ein vollständiger Ausfall des Schall¬ 
leitungsapparates nicht hinreicht, um Taubstummheit zu erzeugen, dass aber andererseits 
unbedingt nothwendig für das Verständnis der Sprache das Intactsein desjenigen Schnecken- 
theiles ist, in dem die Perception der Sext b 1 — g 11 vor sich- geht. Derjenige Theil des 
Labyrinths, der für das „Hören“ allein in Betracht kommt, ist die Schnecke, und das die 
genannte Sext percipirende Stück der Acusticusausbreitung in der Schnecke spielt für das 
Hören eine ähnlich bedeutungsvolle Rolle, wie die Fovea centralis für das Sehen. Ferner ist 
noch beachtenswert, dass die Taubstummheit bei den Kindern der VI. Gruppe mehr im 
Gehirn liegt als im Gehörorgan selbst. 

Mit dieser Untersuchung Bezold’s, die neben der Arbeit Urbantschitsch’s 
einen Markstein im Taubstummenwesen darstellt, ist in die Taubstummen¬ 
statistik eine ganz neue Rubrik eingeführt worden, nämlich das „Tongehör“ 
für isolirte Töne. Verfolgen wir das Verhältnis desselben zu den anderen 
Gehörqualitäten, so ergibt sich zunächst, dass neun Taubstumme mit Ton¬ 
gehör kein Schallgehör besitzen, dass aber das umgekehrte Verhältnis 
nicht vorkam. 

Wortgehör zeigten 21*5%, ausser diesen Vocalgehör allein 14'0%, 
ausser diesen beiden Gruppen Schallgehör allein 33 - 0%, während die Summe 
aller Tonhörenden 79-7% beträgt. Wie man sieht, sind auch hiebei sämmt- 
liche Zahlen wesentlich höher als bei allen früheren Autoren! 

Noch etwas Neues hat Bezold gefunden: eine Reihe von Kindern, die 
für Töne totaltaub waren, vermochten einzelne Consonanten (p, t, r und andere) 
noch zu unterscheiden. Bezold nimmt mit Bestimmtheit an, dass dieses un¬ 
eigentliche „Hören“ mit den Bogengängen percipirtwerde und unter Umständen 
durch Uebung weiter ausgebildet werden könne. „Consonantengehör“ zeigten 
etwa 80% seiner Untersuchten. 

Jeglichen Gehöres bar zeigten sich von allen 79 Untersuchten nur 3 
(= 3-8%). 

Diese Zahl stimmt merkwürdigerweise fast genau mit der von 
Urbantschitsch in der Döblinger Taubstummenanstalt gefundenen Anzahl 
von solchen Kindern überein, die sich gegen seine Hörübungen ganz refractär 
verhielten (4%). 


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TAUBSTUMMENANSTALTEN. 


739 


Urbantschitsch hat seit 1888 eine grosse Anzahl von Schwerhörigen 
und Tauben jeglichen Alters mit „methodischen Hörübungen“ behandelt und 
ganz überraschende Erfolge damit erzielt, auch in Fällen, die vorher für 
totaltaub erklärt und auf alle mögliche Weise ohne Erfolg behandelt worden 
waren. 

Er geht dabei so za Werke, d&ss er der betreffenden Person einen Vocal laut und 
gedehnt ins Ohr hineinspricht oder, besser gesagt, hineinsingt und das eine Zeit lang 
wiederholt. Tritt noch keine Hörspar auf, so verstärkt er diesen Ton durch einen aus den 
Hohlhänden geformten Trichter. Ist auch das ohne Erfolg, so lässt er einen der jeweiligen 
Stimmlage entsprechenden Harmonikaton einige Minuten auf das Ohr einwirken. Dies 
muss oft längere Zeit wiederholt werden, bis die erste Hörspur auftritt. — Ist man so 
weit, so spricht man den Patienten Worte ins Ohr, die man ihm zuerst bekannt gibt, um 
mit den Begriffen die Klangbilder der betreffenden Worte zu assoziiren. Hat man so eine 
Reihe von Worten (am besten Benennungen naheliegender Dinge) geübt, so muss nunmehr 
der Patient die Worte unterscheiden lernen. Macht er dabei einen Fehler, so empfiehlt es 
sich, das richtige und das falsche Wort zuerst in bekannt gegebener, dann in unbekannter 
Reihenfolge in das Ohr zu sprechen, um die Unterscheidung zu üben. Auch soll man, um 
die Sache nicht langweilig werden zu lassen, bald auch kleine Sätzchen, Fragen aus dem 
Alltagsleben u. dgl. zurufen. Ist man einmal weiter fortgeschritten, so ist eine wichtige 
Aufgabe die, ähnlich klingende Worte differenziren zu lassen, um dem Hören grössere 
Sicherheit zu verleihen. Sehr wichtig ist ferner die Beachtung der Ermüdung, die sich oft 
sehr bald einstellt und sich in einer Verschlechterung der Hörfähigkeit kundgibt; lieber 
öfter als zu lang üben. — Ferner darf man das Ohr nicht „verschreien“, d. h. man soll 
nur eben so laut sprechen, als es gerade nöthig ist, um noch eine Perception zu erzielen 
und soll allmählich immer leiser werden oder itümer weiter vom Ohr sich entfernen. So- 
bald der Patient seine eigene Stimme hört, muss er sich fieissig selbst üben, allenfalls mit 
Zuhilfenahme eines Hörrohres oder einer Harmonika. Ehe dieser Punkt erreicht ist, dürfen 
die Uebungen nicht unterbrochen werden. 

HörUbongen sind ja anch schon früher gemacht worden, aber kaum je 
an Totaltauben. Diese hielt man allezeit für verloren. Wie sehr man sich 
täuschte, geht schon daraus hervor, dass man jetzt nicht mehr 40°/ 0 , sondern 
80% Partialtaube anzunehmen berechtigt ist und dass in Bezold’s 79 Fällen 
die Angaben der Taubstummenlehrer in Betreff des Gehörs 14 mal richtig 
und 8 mal falsch waren; 12 mal war ausserdem bei bestehendem Vocalgehör 
nichts angegeben. So waren denn auch unter Urbantschitsch’s mit positivem 
Erfolg gekrönten Fällen viele, die man vorher für totaltaub gehalten hatte. 

Von vornherein ausschliessen von den Hörübungen kann man niemand, 
da wir — abgesehen von totaler Sequestration beider Schnecken — bisher 
noch kein sicheres Erkennungszeichen haben, dass der Tonperceptionsapparat 
rettungslos zerstört ist. Denn auch bei manchen von Bezold’s Totaltauben 
wäre vielleicht noch eine Hörspur zu entdecken, wenn die Intensität der Ton¬ 
quelle eine stärkere wäre. Urbantschitsch hat die Beobachtung gemacht, 
dass Stimmgabeltöne oftmals erst nach langer und oft wiederholter Zufuhr per- 
cipirt werden. 

Es muss bemerkt werden, dass Urbantschitsch selbst durchaus nicht 
verkennt, dass seine Erfolge zum grossen Theil auf einer Uebung des 
Gehirns beruhen, aber ein anderer Theil ist doch wohl auf Steigerung der 
Hörschärfe selbst zurückzuführen. Und schliesslich ist es für den praktischen 
Wert der Hörübungen gleichgiltig, welches von beiden der Fall ist, wenn nur 
überhaupt ein Erfolg eintritt. 

Durch diese beiden Arbeiten ist nun die Sache der Partialtauben — und 
dieselben sind viel zahlreicher, als man bisher annahm — in ein neues Stadium 
gerückt worden, der Unterricht derselben muss nach dem übereinstimmenden 
Urtheil der beiden Männer nunmehr erst recht auf der Basis der Lautsprache 
aufgebaut werden. Welcher Art derselbe etwa sein wird, ist aus dem von 
Lehfeldt entworfenen, in der Wiener klinischen Wochenschrift 1894, Nr. 19 
bis 20 innerhalb eines Artikels von Urbantschitsch abgedruckten Unter¬ 
richtsplan zu ersehen. Bezold wie Urbantschitsch fordern auf alle Fälle 
dringend die Trennung und verschiedenartige Ausbildung der Totaltauben 
und Partial tauben. 

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#): V, , TA n bstlmmkna nstaltrn 

Igne soleiir» Trennung wird oifebt nur den Tanbstnmnienlehfeä$ idiitx; 
iaiihpfoi)e Arbeit erleictitera, sonder« %wk den Kindern der vetftfdedfritfti 
Katoguriett selbst .siibV Yörtheil geccfeheit- 

. - • Für die X»ubstumu<ßp. iua^satmnt ist aber «a V#3äsgdß die Au3d.eb- 
nuog der fsebiiipfliolit auf alle ittv ÖjldWiigSfftUef stehenden Kinde*}, »im Xw 
■jjageviJDg der Srhuijdütlit auif ödndc£l*M acht Job*© und die AftStidhiüg ge- 
uügeud zahlreicher imd ausreichend besoldeter (bbi zehn 

Schüler ein Lehrer;}- 

Lh- 1 •••’ tlieileB ■•■■ <■ 1 « » n r. ernate, g«Av»ituü«<:b ,.T*i 5 b 

stuiHmenanstuUen“ genannt, in denen die XbgHugu- nurh wobne.iv und 
pfiegt werden, und Ift B Sternap JCiridW 

nur «ebreiHl der Kchulseit vorn Hause der Eltern «der Bürger ans yeiStitihRß-. 

bi.' aiejgtßB Anhtililvu rsHid li'U'Hh'iiti. 

ILaktmaäs verlangte f.enwrre-H «rt)gßcli€te : lüvmudftjng. der b.usteh'endfcn 
Uilurnate in fatvrnäi«,' da. nie b • ; des F^tiiliedlebenM smf das (M>- 
m'ütli der Kinder von \Werte gts, umi da rs noch aut ii»esc 

Weis« den Kindern- magtUT» Mti y sich die für das Leben nnthwemiige ^ieUüri; 
heit Io der Beherrs^hnng der L«ufS|i(i:äbite zu rinrsebalfeii. Solange die Ktodet 
bei den Eltern acdü kiihoeo, ötihtwe ich voll -und ganfc Ihä onf .tun.- df&hdJfc' 
dafür, dass io allen grösseren Städten Estwnale ftiogeriefetet Werden'. t>h 
über die Anfunliine io der «Sebsten besten 'J’ftegetamUio vor dem A.oiem'bab. 

. !tj* njn*ott gnteu Jnteruate einen Wesentlirhidi Vorzug hebe, fet :6iir traglWb 
Die lötmrste sollten, .ow nif'lit -sw sehr des befaiit:** 

zo weiden, nicht feu gross seinjj io ins ÖÖ .yhülur bildet» diß OborSfce - 

Viiv iktmiate ist, wir. i>ben gesagt winde, die grössere Stadt der geeig¬ 
netste Mrtl für Internate dagegen das Land. IfcDh jnrtn Leb®* 

der -v.-huLed gehen die SiOgüfchJvBit, sieh ougenwt tuamfeln zu höVv>in» v v;e 

höjt fe'fter fcielogeiiheit zu (Kni'temiibßiten, gut« Luit, $fthß des Wal.d^. 
rein WO. ii^nigender Kachharschalt u w, 

ftafes die tlßbliude den Anforderunge-ft d*u v jB&deni?si Sclmlhj|rfen«! 
sprechend. gebaut oder umgebanX werden shaöö, braucht hier nicht Weiter 
erörtert zu wenlen -ri ^ - . ; . : riri-'V-L. 

'»'»Ulksti»nHneo;t«>f(»ii• »,i -’.dHen >.V 0 it,%iir!i iii.bt de» in-iv.itv ig.;-:. ;• 

überlassen, sondern vom Staat errichtet oder tlbernniiimen werde«-; auch sind 
-•te daföbaua »!.»•■*:t di.-- »r-fe m< A&Mn der Staut kuaosetto durL ich scbdiuc 
■'M,..-*' •-.<!s. müssen, dass cts;! in wenigen deut^.-ben Stsa.teu -die 
SebulpHidit für Tnubstumntn uwl dunui die sstatiUtcke,'Fhrsoi^g für .utie 
inldungsaltiigen taiibsfimniH-H Kimb-r heatelifc. 

iHi ob von grösstem Werft 1 fei, taube (ttjiiünn-giutlr öiclit au iftugö braei- 
liegeu zu Iafseu, 'so Verdiout di« Einriohtiuig von ’Kinda'gärteö für tmh~ 
stuiume Kindei «fungisch nugebahnt m nioßficlist 

fiiitizdtig das. Ahie-sen des ßesprochoaen voin flesiCbt lerntau, IM« Aerzte 
mH» «« .lfiü f l 3 ,bü“V vcui ^uitstununen h indern den Itaf 'u geben, rml den^elbeW 
rb€ht oft unii viel ru gprerhen, 30 lange noch ent, wenn aud» noch sO klnloyr 
j h ‘' 

■V liege!und metlnjdfecher TufnuMooX'ieht sollte in ..iüdeC-'-Tsiw^ 
sttiinrüona'nsfäit.' eisgedihrt selivi mn die Euiiitlnung desselboii .hat »ixlt 
besoUit«^-' •AnöfcJtr .<.i-fc«ssi.A-j{«; in Berlin verdient gemacht, desson BfUdih-ii' 
Ll'as Ti<riieü d«ril';«ii>ittut»;fiven* ; {liferlm ih&b) vom preussischo«. MtüiateiLojö 
■ ;i w,>; Auch «li«. l'r.rv*-viele verdienen die büchst« Brwclitoog; 

eheti.so (ler Wenn es irgend jentaud ndtltig hai, 

seiuep brikis-eheii Ivurpop duiC'li l'wrüdn, Timis]iiele inut .OsndtertigkdltsütiM.'f-' 
ViChf; gv*nhtL; ehiitädeii' uödig»^üÄt zu machen', s« i^t es der X'uiiHriuüiwe, 
urnsortielii als he» iiih) .eibe hei de« Vollrinnigett f'eichlicb tUeäSt^odV 




TAUBSTUMMENANSTALTEN. 


741 


von Lungengymnastik, das laute, ausgiebige Sprechen, mehr oder weniger ver¬ 
stopft ist. 

Die Forderung von Fortbildungsschulen und von stärkerer Förderung des 
der Schule entwachsenen Taubstummen ist eine alte, aber sehr berechtigte. 
Da der Taubstumme viel weniger im Stande ist, den Kampf ums Dasein 
siegreich durchzufahren und er deshalb viel häufiger in schlechten sozialen 
Verhältnissen lebt, welche seine Morbidität und Mortalität erhöhen, so ist 
das für uns Grund genug, ihm energischer als bisher unter die Arme zu 
greifen. 

Wenn einmal die Partialtauben in der mehr auf dem Gehör aufgebauten 
Methode unterrichtet werden, wird sich erst recht ein Bedürfnis geltend 
machen, dem bisher nur spärlich Rechnung getragen worden ist, nämlich das 
nach regelmässiger ohrenärztlicher Behandlung der Anstaltszöglinge. Die 
„Hausärzte“ an Taubstummenanstalten verstehen nämlich häufig von der 
Ohrenheilkunde nur so viel als der Durchschnitt der praktischen Aerzte, und 
das ist zu wenig. Eine indicatio vitalis zur regelmässigen und sachverstän¬ 
digen Behandlung bieten alle Otorrhöen dar und wie selten werden sie that- 
sächlich behandelt! Aber durch eine Eiterung mit Schwellung, Secretansamm- 
lung u. s. w. werden auch die Hörreste beeinträchtigt oder aufgehoben. Im 
Interesse dieser Hörreste ist aber schon die Behandlung jedes Tubenkatarrhs 
geboten. Und wie häufig findet man solche Affectionen in den Anstalten! 
Deshalb kommt mir eine Taubstummenanstalt ohne ohrenärztlich gebildeten 
Hausarzt vor, wie ein Dorf ohne Schmid. 

Aber auch der Allgemeinheit der Aerzte winkt noch eine grosse Auf¬ 
gabe. „Das Gebrechen der Taubstummheit,“ sagt Schmaltz, „muss weit mehr 
als Krankheitsproduct im engeren Sinne aufgefasst werden, und zwar als 
Resultat bekämpfbarer Krankheiten und verbesserbarer sozialer 
Verhältnisse.“ Und Tröltsch sagt: 

„Wollen wir rechtmässig annehmen, dass unter den (jetzt) 50000 Taubstummen in 
Deutschland nur 20000 ihr Leiden nicht mit auf die Welt brachten, so bleiben wir sicher 
weit hinter der Wahrheit zurück, wenn wir behaupten, dass Vs» also 4000 durch frühzeitige 
und sachgemässe Behandlung nicht taubstumm, sondern höchstens schwerhörend geworden 
wären, so dass dieselben gewöhnlichen Unterricht hätten benützen und eine annehmbare 
Sprache behalten können/ 

Literatur: Hartmann: Taubstummheit und Taubstummenbildung, Stuttgart 1880. 

Hbdinger: Die Taubstummen und die Taubstummenanstalten nach seinen Unter¬ 
suchungen in den Instituten des Königreichs Württemberg etc., Stuttgart 1882. 

Schmaltz: Die Taubstummen im Königreich Sachsen, Leipzig 1884. 

Lemckk : Die Taubstummheit im Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin, Leipzig 1892. 

Mygind: Die angeborene Taubheit, Berlin 1890. 

Mygind: Die Taubstummen in Dänemark, Zeitschrift für Ohrenheilk. V. XXII. 1892. 

Urbantschitsch : Ueber Hörübungen bei Taubstummheit, Wien 1895. 

Bezold: Das Hörvermögen der Taubstummen, Wiesbaden 1896. 

Nachtrag: Nach der Abfassung des Obigen kam ich erst in den Besitz von Bbzold’s 
-Nachträgen zu seiner Arbeit über das Hörvermögen der Taubstummen“ (Wiesbaden 1897). 
Er hat 1896 von den 79 im Jahre 1893 untersuchten Taubstummen 27 nachuntersucht und 
zwar mit einer verstärkten „continuirlichen Tonreihe 44 . Unter den 54 Gehörorganen dieser 
Kinder fand er 1893 25, 1896 aber nur 21 totaltaub; zwei 1893 vorhandene Hörstrecken 
(Inseln) sind verschwunden, dagegen sind neu aufgetaucht 5, vollständig gleichgeblieben 
ebehfalls 5 Hörstrecken. Von 80 Hörgrenzen fand er 34 nahezu oder vollständig gleich 
wie das erstemal. In 21 Fällen fand er eine grössere Hörstrecke als 1893; dieselbe war 
in 4 Fällen nach unten verschoben; in 2 von diesen 4 Fällen war siegrösser, in 2 kleiner 
als 1893; in dem einzigen Falle von Verschiebung nach oben war sie ebenfalls kleiner. 

Die Genauigkeit der Untersuchungsmethode ist also eine ziemlich grosse; doch ist 
es mir zweifellos, dass bei abermaliger Steigerung der Intensität abermals zahlreichere und 
grössere Hörstrecken gefunden würden, dass also auch jetzt noch nicht alle entdeckt 
worden sind. 

Die bemerkenswerte Zunahme der Grösse der gefundenen Hörstrecken ist aber nicht 
allein auf die grössere Intensität der Schallquellen, sondern auch auf die einige Monate 
vor der Nachprüfung in der Anstalt eingeführten Hörübungen zurückzuführen; diese haben 
auch eine beträchtliche Zunahme der Fälle mit Sprachgehör bewirkt. 


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742 


TODESARTEN, GEWALTSAME. 


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Es erübrigt nur noch darauf hinzuweisen, dass auf Bezold’s Arbeit bin das bayri¬ 
schen Ministerium verfügt hat, dass künftig alle Zöglinge der bayrischen Taubstummen¬ 
anstalten einer eingehenden BczoLD’schen Untersuchung unterworfen und dass die dabei 
gefundenen Hör- und Sprachreste in besonderen Stunden gepflegt und weiter ausgebildet 
werden sollen. 

PFLEIDERER. 

Todesarten, gewaltsame* Als gewaltsame Todesarten bezeichnet man 
den Tod 1. durch Unglücksfälle, 2. durch Selbstmord und 3. durch beab¬ 
sichtigte Tödtung von fremder Hand. Meist wird es Aufgabe des Gerichts¬ 
arztes, durch die Untersuchung des Leichnams Licht in das gemeinhin solche 
Todesfälle umhüllende Dunkel zu bringen. In einem Theile der Fälle unter¬ 
liegt die Gewaltsamkeit des Todes von vornherein keinem Zweifel, und gar 
nicht selten ist auch die besondere Art des gewaltsamen Todes ohne weiteres 
aus den gesammten Umständen bei der Auffindung der Leiche ersichtlich. 
Oft hinterlässt schon der tödtende Eingriff selbst an der unmittelbar von ihm 
betroffenen Stelle unverkennbare Spuren; ebenso erzeugt häufig auch die 
plötzliche Unterbrechung aller lebenswichtigen Körperfunctionen gewisse Ver¬ 
änderungen, welche die Erkennung des wahren Sachverhaltes ermöglichen. In 
zahlreichen anderen Fällen aber sind derartige Zeichen des gewaltsam er¬ 
folgten Todes an der Leiche nur sehr geringgradig ausgeprägt oder auch gar 
nicht erkennbar; häufig kann dann eine eingehende Erforschung und Würdi¬ 
gung von scheinbar geringfügigen und nebensächlichen Punkten aus dem ge¬ 
sammten Leichenbefunde, sowie auch aus den ganzen äusseren Umständen des 
Falles die wertvollsten Anhaltspunkte für die Erkennung der Wahrheit er¬ 
geben. Deshalb muss der Gerichtsarzt, wo immer er es mit der Thatsache 
oder dem Verdachte eines gewaltsamen Todes zu thun bekommt, von Anfang 
an mit weitem, freiem Blicke und mit gespannter, auch die scheinbar unbe¬ 
deutendsten Nebenumstände wohl beachtender Aufmerksamkeit an die Lösung 
seiner Aufgabe herantreten. 

Unglücksfälle sind ihrer Natur nach zu verschieden, als dass man sie 
als Ursachen gewaltsamen Todes zusammenfassend behandeln könnte. Das¬ 
selbe gilt im Allgemeinen auch von den Fällen beabsichtigter Tödtung durch 
fremde Hand. Anders dagegen liegt es hinsichtlich des Selbstmordes, sowie 
rücksichtlich einer besonderen Form absichtlicher Tödtung, der gesetzlichen 
Hinrichtung. Wir schicken deshalb der Besprechung der einzelnen Formen 
gewaltsamen Todes eine zusammenfassende Darstellung der auf Selbstmord 
und Hinrichtung bezüglichen allgemeinen Gesichtspunkte voraus. 

Der Selbstmord. Seit langer Zeit ist es aufgefallen, dass alle den Selbst¬ 
mord betreffenden Notizen von Jahr zu Jahr eine grosse Gleichmässigkeit 
erkennen lassen. Eine ganze Anzahl gründlicher Forscher hat sich deshalb 
bemüht, den Beziehungen des Selbstmordes zu bestimmten anderen Factoren 
nachzuspüren. Beim Studium der von ihnen aufgestellten statistischen Tabellen 
erkennen wir die Abhängigkeit der Selbstmordfälle von einer Anzahl von Ein¬ 
flüssen, die theils allein in der Person des Selbstmörders, theils zugleich in 
äusseren Verhältnissen seiner Umgebung begründet sind. Den nachfolgenden 
Ausführungen liegen hauptsächlich die Tabellen des Italieners H. Morseuu,*) 
sowie Beobachtungen von Alexander von Oettingen **) zugrunde. 

Die in der Person des Selbstmörders liegenden Factoren betreffen dessen 
Geschlecht und Alter, seine Familienstellung, Beruf und Bildungsstand und 
Religion, resp. Confessionsangehörigkeit. 


*) H. Morselm. Der Selbstmord. Ein Capitel ans der Moralstatistik. Brockhaus, 
Leipzig 1881. 

**) Alexander von Oettingen. Ueber acnten und chronischen Selbstmord. Dorpat 
und Fellin, 1881. 


Gougle 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


743 


Was das Geschlecht angeht, so wird die weit überwiegende Zahl aller 
Selbstmorde von Männern verübt, derart, dass auf drei bis vier Männer erst 
je ein Weib kommt. Die Erklärung hiefiir sucht Eduard von Hofmann*) 
wohl ganz richtig in zwei Gründen: einmal in der „mehr secundären Rolle, 
welche die Frau im Kampfe ums Dasein spielt“, infolge deren weit seltener 
zur Verzweiflung führende Bedrängnisse auf sie einstürmen; und zweitens 
darin, dass es ihr, auch wenn dieses der Fall ist, doch meist entsprechend der 
grösseren Sanftmuth und. Duldsamkeit des weiblichen Charakters an dem 
Muthe zur Ausführung einer so gewaltsamen Handlung zu gebrechen pflegt. 

Ein Einfluss des Lebensalters macht sich in der Statistik dahin 
geltend, dass die Zahl der Selbstmorde mit zunehmendem Lebensalter gleich- 
mässig wächst. Im Kindesalter gehört ein Selbstmord naturgemäss zu den 
Seltenheiten; auffallenderweise aber ist in neuester Zeit auch für die jugend¬ 
lichsten Altersclassen eine erschreckende Zunahme zu verzeichnen. Der 
jüngste von allen bekannt gewordenen Selbstmördern dürfte wohl jenes fünf¬ 
jährige Kind sein, von dem Durand-Fardel**) in seiner Abhandlung „Ueber 
den Selbstmord bei Kindern“ berichtet. Fassen wir die absolute Zahl der 
Selbstmorde in den einzelnen Altersstufen ins Auge, so sehen wir, dass das 
Maximum in das Alter der sogenannten besten Jahre, zwischen das 40. und 
50. Lebensjahr fällt, d. h. in die Zeit, in welcher der Kampf um die Existenz 
der eigenen Person und um die Erhaltung der Familie am schwersten wird, 
und wo zudem der Glanz idealer Zukunftsbilder seinen Reiz zu verlieren 
pflegt. Setzen wir dagegen die Zahl der vorkommenden Selbstmorde in Ver¬ 
gleich mit der Zahl der in der bestimmten Altersclasse noch lebenden Indi¬ 
viduen, so finden wir, dass die relative Zahl der Selbstmorde mit dem Vor¬ 
rücken des Alters bis zum 80. Lebensjahre und noch höher hinauf ansteigt. 

Einen unverkennbaren Einfluss auf die Neigung zum Selbstmord übt die 
Familienstellung des Individuums (Civilstand) aus. Am kleinsten ist die 
Zahl der Selbstmörder unter den Verheirateten, grösser unter den Ledigen 
und Verwitweten und am höchsten unter den Geschiedenen. 

Zweifellos muss auch der specielle Beruf und Bildungsstand des Ein¬ 
zelnen von Gewicht sein. Im Allgemeinen gilt die Erfahrung, dass in den 
verschiedenen Volkskreisen der Procentsatz der Selbstmorde um so geringer 
ist, je niedriger die Stufe der Bildung; die vorwiegend mit geistiger An¬ 
strengung arbeitenden Classen stellen ein weit grösseres Contingent zum 
Heere der Selbstmörder als Handwerker und Lastarbeiter. Im übrigen sind 
über den Antheil des Berufes an der Selbstmordfrequenz die Angaben der 
Statistiker wenig übereinstimmend; und gerade bei Beurtheilung dieser Frage 
ist grosse Umsicht geboten. Wenn wir z. B. finden, dass Maler, Dichter, 
Journalisten, Schauspieler u. dgl. auffallend häufig durch Selbstmord enden, 
so dürfen wir daraus nicht ohne weiteres schliessen, dass diese Berufszweige 
für den Selbstmord prädisponiren; vielmehr ist zu bedenken, ob nicht etwa 
dieselbe krankhafte Veranlagung des Individuums, welche zuletzt zum Selbst¬ 
mord geführt, bereits bei der Wahl des Berufes den Ausschlag gegeben hat. 

Von Belang ist fernerhin die Religion, resp. die Confessionsangehö- 
rigkeit; je ständiger und regelmässiger ein Individuum von religiösen Fac- 
toren beeinflusst wird, um so sicherer ist es im Allgemeinen vor der Gefahr 
des Selbstmordes; durchgehends ist daher unter allen Selbstmördern z. B. die 
Zahl der Protestanten, die sich bekanntlich dem kirchlichen Einflüsse sehr 
leicht entziehen können, weit grösser, als die der Katholiken. 


*) E. v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. VI. Aufl. Seite 383. Wien 
und Leipzig, Urban nnd Schwarzenberg, 1893. 

**) Durand-Fardel. Ann. m6d. psych. Jan vier 1855. 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


Ausser diesen persönlichen Momenten wirken eine Reihe mehr allge¬ 
meiner Factoren auf die Selbstmordfrequenz ein. Dahin gehört in erster Linie 
die allgemeine Culturstufe. Was wir soeben im Kleinen hinsichtlich 
der verschiedenen Kreise eines Volkes feststellen konnten, das gilt gleicher¬ 
weise von den verschieden hoch eivilisirten Völkern im Grossen: je natur- 
zuständlicher ein Stamm geblieben, umso geringer ist erfahrungsgemäss die 
Zahl der in ihm vorkommenden Selbstmorde. Mit dem Fortschritte der Civi- 
lisation steigern sich die äusseren wie die inneren Lebensansprüche, und er¬ 
wachsen, wo diesen nicht voll genügt werden kann, Unzufriedenheit und 
Mangel an Lebensfreudigkeit. Dazu kommt, dass die Mühen des bei höherer 
Cultur immer schwieriger werdenden Existenzkampfes manche von Hause aus 
schwache Natur schnell ermüdet und endlich so gänzlich erschöpft, dass sie 
die Wallen streckt. 

Einen wie bedeutenden Einfluss auf die Selbstmordzahl das Schwerer¬ 
werden des Kampfes ums Dasein geltend macht, das zeigt sich auch in der 
unverkennbaren Abhängigkeit der Selbstmordziffer von der Bevölkerungs¬ 
dichtigkeit. ln Europa fällt die höchste Zahl von Selbstmorden auf je 
eine Million Menschen zugleich mit der grössten Bevölkerungsdichtigkeit in 
das Königreich Sachsen, und eine kartographische Darstellung der Selbst¬ 
mordfrequenz in unserem Erdtheile würde sich mit der Karte der Bevölke¬ 
rungsdichtigkeit auch sonst im Wesentlichen decken. 

Ebenso wie in der örtlichen, tritt auch in der zeitlichen Verthei- 
lung der Selbstmorde eine auffallende Regelmässigkeit hervor, die sich zu¬ 
nächst hinsichtlich der Lage der einzelnen Fälle im Jahre geltend macht. 
Beständig steigt die Zahl der Selbstmorde vom Anfänge des Jahres an, bis 
sie im Mai und Juni ihren Höhepunkt erreicht. Nachher sinkt die Ziffer 
wiederum in gleichem Maasse bis zum Ende des Jahres, an welchem sie meist 
ihren niedrigsten Stand erreicht. Es erscheint zunächst überraschend, dass 
die meisten Selbstmorde gerade in der schönsten Jahreszeit verübt werden, 
während es hell und sonnig ist; man sucht dies damit zu erklären, dass die 
klimatischen Verhältnisse, Thermometer- und Barometerstand zu dieser Zeit 
besonders deprimirend auf nervöse und widerstandsschwache Naturen ein¬ 
wirken müssen; das scheint wohl möglich, und in ähnlicher Weise ist die 
Thatsache, dass viel mehr Selbstmorde am Tage als während der Nacht ver¬ 
übt werden, wohl damit zu begründen, dass der Tag mehr Erregungen des 
Nervensystems mit sich bringt als die Nacht. Ein regelmässiges Verhalten 
ergeben die Tabellen auch hinsichtlich der Vertheilung der einzelnen Fälle 
auf die Wochentage. Am geringsten betheiligt ist durchgehends der Sonn¬ 
abend, am stärksten bevorzugt von den Weibern der Sonntag, von den Männern 
der Montag, v. Oettjngen führt dies darauf zurück, dass einestheils am 
Sonnabend die Männer im Arbeiterstande die Wochenlöhnung ausgezahlt er¬ 
halten, während die Frauen wegen der gehäuften häuslichen Beschäftigung 
nicht Zeit zu trüben Grübeleien Anden; am arbeitslosen Sonntag dagegen 
empfindet die Frau ihr Elend doppelt drückend, und am Montag erliegt der 
Mann leichter unter dem Einflüsse des physischen und moralischen Katzen¬ 
jammers. 

Die eigentlichen Beweggründe zum Selbstmorde werden naturgemäss 
nur in einem Bruchtheile der Fälle der statistischen Aufzeichnung zugängig. 
Aber auch in diesem Punkte herrscht eine gewisse Gleichmässigkeit, welche 
die Entnahme einiger bestimmter Regeln gestattet. In einer nach der Häu¬ 
figkeit der einzelnen Motive geordneten Reihe stehen an erster Stelle die 
Geisteskrankheiten, und zwar in gleicher Weise bei Männern wie bei 
Frauen. Auf notorische geistige Störungen wird fast der dritte Theil aller 
Selbstmordfälle zurückgeführt, und es ist schwer zu sagen, ob nicht eine 
grössere Anzahl auch aus den übrigen zwei Dritteln im Grunde aus psychischen 


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TODESAETEN, GEWALTSAME. 


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Vorgängen ausserhalb der Breite des Gesunden hervorgehen. Jedenfalls aber 
müssen wir der Anschauung entgegentreten, jeder Selbstmörder beweise eben 
durch seine Flucht aus dem Leben unzweifelhaft das Bestehen einer Geistes¬ 
krankheit. In vielen Fällen ist die Entscheidung, ob eine Selbstentleibung im 
Irrsinne oder bei voll erhaltener geistiger Zurechnungsfähigkeit vollfuhrt ist, 
überaus schwierig. Bei den weittragenden praktischen Folgen, welche die Be¬ 
antwortung dieser Frage unter Umständen nach sich zieht, z. B. für Auszah¬ 
lung von Pensionen oder Lebensversicherungen, scheint es auch nicht un¬ 
möglich, dass gelegentlich ein geistesgesunder Selbstmörder seine That mit 
Umständen ausscbmückt, die ihn in das Licht eines Irrsinnigen setzen sollen. 

Hinsichtlich der übrigen Motive zum Selbstmorde ist zwischen dem 
männlichen und weiblichen Geschlechte zu unterscheiden. Bei den Männern 
spielt der Alkoholismus die erste Rolle, demnächst die Furcht vor den (Kon¬ 
sequenzen begangener widergesetzlicher Handlungen, berufliche Misserfolge, 
financielle Verluste und körperliche Leiden, unter denen namentlich oft die 
Syphilis verhängnisvoll wird. Bei den Frauen handelt es sich oft um un¬ 
glückliche Liebe und Eifersucht oder andere Leidenschaften, und sehr häufig 
gibt ein ausserehelicher Geschlechtsverkehr mit allen seinen Consequenzen die 
Veranlassung zum Suicidium weiblicher Personen. 

Mannigfach sind die Methoden der Ausführung. Die Wahl der 
Todesart wird naturgemäss zumeist in erster Linie von den beiden Gesichts¬ 
punkten geleitet, dass die That erstens möglichst leicht und ohne besondere 
Vorbereitungen ausführbar sei, und zweitens möglichst schnell, sicher und 
schmerzlos den Tod herbeiführe. 

Entschiedenen Einfluss auf die Wahl des Mittels zum Tode übt erklärlicherweise die 
gewohnte Beschäftigung des Lebensmüden aus: der Officier oder Forstbeamte wird sich 
selten anders als durch Erschlossen, der Apotheker oder Chemiker sich meistens durch 
Gift entleiben, während der Seemann den Tod in den Wellen sucht. — Bei weitem am 
häufigsten ist im Ganzen der Selbstmord durch Erhängen, der mit Hecht für den wenigst 
qualvollen angesehen wird, und nach diesem der durch Ertränken, das entschieden bevor¬ 
zugte Selbstmordmittel der Weiber. In dritter Linie folgt die Vergiftung, namentlich oft 
angewandt in grossen Städten, wo die Beschaffung von Gift verhältnismässig leicht ist, und 
in vierter das Erschiessen. Unter den Selbstmordarten der Städter hat auch der Sturz 
aus den Fenstern hochgelegener Stockwerke seine Stelle. Seltener ist die Selbsttödtung 
durch Oeffnen der Pulsadern oder durch Halsabschneiden, durch Sich-erstechen mit Messern 
oder degenartigen Waffen, durch Sich - überfahren - lassen von Eisenbahnzügen, durch ab¬ 
sichtliche Einathmung von Leuchtgas oder Kohlendunst u. s. w. Im Uebrigen kann man 
sich wohl kaum eine Selbstmordart ausdenken, die nicht gelegentlich schon zur Anwen¬ 
dung gekommen wäre. Manche ungewöhnlichere ergibt sich dadurch, dass dem Lebens¬ 
müden die Mittel dazu mühelos zu Gebote stehen; dahin gehört z. B. der Sprengarbeiter 
im Bergwerke, der sich durch eine Dynamitpatrone in die Luft sprengt, der Metallgiesser, 
der in den Kessel mit glühend-flüssigem Erze, der Brauer, der in den siedenden Bier¬ 
bottich springt. Geisteskranke verfallen oft auf die wunderlichsten Methoden zur Selbst¬ 
tödtung und verwenden bisweilen erstaunlichen Scharfsinn auf deren Ausklügelung. Es 
würde ins Unendliche führen, wollten wir hier alle beobachteten Methoden aufzählen. — 
Manche Selbstmörder wählen wohl meist, um doppelt sicher zu gehen, eine Combination 
mehrerer Tödtungsarten. So nehmen manche, bevor sie sich erschiessen, erhängen oder 
ertränken, Gift; andere erschiessen sich am oder im Wasser, oder mit einer um den Hals 
gelegten und oberhalb befestigten Schlinge, so dass sie ertrinken oder sich erhängen müssen, 
wenn sie infolge der Schussverletzung zu Boden sinken. 

Als Ort für die Ausführung suchen die meisten Selbstmörder irgend 
einen einsamen, abgelegenen Platz auf, aus dessen Wahl sehr häufig das Be¬ 
streben erkenntlich wird, den Leichnam für immer oder doch auf möglichst 
lange Zeit der Entdeckung zu entziehen. Zuweilen aber begeht der Lebens¬ 
müde den Selbstmord, geleitet von der Lust am Ungewöhnlichen oder von 
der Sucht, Aufsehen zu erregen, an einem möglichst menschenbelebten Orte, 
auf offenem Markte, im Theater, ja mitten im Ballsaal oder auch während 
des Gottesdienstes in der Kirche. In einer Reihe von Fällen spricht sogar 
die alles beherrschende Mode mit, indem bisweilen der in bestimmter Weise 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


an einem bestimmten Orte vollführte Selbstmord eines Menschen von Ansehen 
und Autorität eine ganze Kette von Nachahmungen nach sich zieht. 

Sehr oft ist der Selbstmörder bestrebt, seine That derart zu verschleiern, 
dass der Anschein einer zufälligen Verunglückung oder gar einer Ermordung 
durch fremde Hand entstehe. Der Grund liegt bald nur in der Scheu vor 
dem Odium des Selbstmordes, bald auch in dem Bestreben, die Familie vor 
materiellem Schaden zu bewahren, wenn die Auszahlung von Pensionen oder 
Lebensversicherungsgeldern nach Selbstmord verweigert wird. Die gleichen 
Motive veranlassen öfter auch die überlebenden Angehörigen, die Thatsache 
des Selbstmordes zu verheimlichen, auch wenn sie ihnen ausser allem Zweifel 
steht; ebenso bemüht sich in Krankenhäusern und Irrenanstalten bisweilen 
das Personal, welches die gebotene Sorgfalt bei der Bewachung ausseracht 
gelassen hat, einen vorgefallenen Selbstmord als natürlichen Tod hinzustellen. 
Aber auch der entgegengesetzte Fall ist nicht ganz selten, dass ein Selbst- 
mord vorgetäuscht werden soll, wo er thatsächlich nicht vorliegt; namentlich 
haben öfters Mörder mit grossem Raffinement den Anschein zu erwecken 
gesucht, ihr Opfer habe sich selbst umgebracht. 

Gemeinsamer Selbstmord mehrerer Personen ist nicht häufig; zumeist handelt es 
sich dabei um Doppelselbstmord von Liebespaaren, der sich bisweilen bei Eheleuten, die 
in die äusserste Noth gerathen sind, noch mit der Ermordung eines oder mehrerer Kinder 
verknüpft. Hecht selten ist der gemeinsame Selbstmord von zwei Personen gleichen Ge¬ 
schlechtes, die dann übrigens meist Frauen sind; die gemeinsame Selbsttödtung zweier 
Männer ist nur in ganz vereinzelten Fällen beobachtet worden. — Bei allen derartigen 
Ereignissen kann es wichtig und unter Umständen äusserst schwierig sein, festzustellen, 
ob wirklich ein mehrfacher Selbstmord vorliegt, oder ob eine der beiden Personen erst die 
andere und dann sich selbst getödtet habe, resp. welche von beiden dabei die handelnde 
Person gewesen sei; auch die Frage, bei welcher von beiden der Tod zuerst eingetreten sei, 
kann unter Umständen von Wichtigkeit sein. 

So hat das Capitel vom Selbstmorde für den Gerichtsarzt die grösste 
Bedeutung. Mancher Hinweis auf wertvolle Einzelnheiten wird sich noch bei 
der ferneren Besprechung der einzelnen gewaltsamen Todesarten ergeben. 

Die Hinrichtung. Ueber die Todesstrafe und deren Vollstreckung haben 
sich die Anschauungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wesentlich ge¬ 
ändert. Früher bezweckte man mit der Vollziehung des Todesurtheiles nicht 
blos die Sühnung der begangenen Strafthat an der Person des Schuldigen 
sondern auch — und zwar ganz besonders — einen möglichst tiefen Ein¬ 
druck auf das Volk im Sinne der Abschreckungstheorie. Deshalb wurden 
die Hinrichtungen allgemein öffentlich und unter Entfaltung eines gewissen 
äusseren Pompes vollzogen und oft mit geradezu raffinirt ersonnenen Qualen 
für den Delinquenten verknüpft. Die heutige Strafrechtstheorie betont an der 
Todesstrafe vorwiegend das Moment der Sühne für die begangene Rechts¬ 
verletzung und bevorzugt deshalb, zugleich entsprechend der gehobenen Hu¬ 
manität, die am schnellsten und schmerzlosesten das Leben vernichtende 
Vollstreckung. Die allgemeine Erfahrung, dass die Haltung des schaulustigen 
Publikums bei Hinrichtungen dem Ernste der Handlung durchgehends nicht 
entspricht, ja dass die Öffentlichkeit des unter allen Umständen rohen Actes 
geradezu entsittlichend wirkt und zudem vielfach psychisch hypersensible 
Naturen gesundheitlich gefährdet, hat dahin geführt, dass heutzutage in 
Deutschland und Oesterreich-Ungarn, sowie in vielen anderen Ländern die 
Hinrichtungen „intramuran“, d. h. in einem abgeschlossenen Raume, meist 
dem Gefängnishofe, vor einem beschränkten Kreise von Zeugen vollzogen 
werden. Sache des Gerichtsarztes ist es, festzustellen und dem Gesetzgeber 
klar zu legen, welche Hinrichtungsmethode als die rathsamste anzusehen ist. 
Deshalb, und weil in manchen Ländern, z. B. in Oesterreich, *) die Gegen¬ 
wart des Gerichtsarztes bei dem Acte vom Gesetze ausdrücklich gefordert 


*) Oesterr. Strafprocessordnung von 1873, § 404. 


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wird, erscheint eine Besprechung aller die gesetzliche Hinrichtung betreffen¬ 
den Gesichtspunkte an dieser Stelle erforderlich. 

Ueber die Frage, welcher technischen Methode zur Vollstreckung des 
Todesurtheiles der Vorzug zu geben ist, sind die Ansichten noch nicht all¬ 
gemein geeinigt. Für ihre Beurtheilung ist in erster Linie der Gesichts¬ 
punkt maassgebend, dass der Tod des Verurtheilten möglichst sicher, schnell 
und schmerzlos herbeizuführen, in zweiter, dass soviel wie möglich das humane 
und ästhetische Empfinden der Zeugen zu schonen ist. In Betracht kommen 
heutzutage hauptsächlich drei Methoden: 1. Das Erschiessen, 2. die Strangu¬ 
lation, 3. die Enthauptung. 

Das Erschiessen findet nur seitens der Militärgerichtsbarkeit Anwen¬ 
dung, in Deutschland ausschliesslich, in Oesterreich neben der Hinrichtung 
durch den Strang, welche als entehrend an „gemeinen“ Verbrechern aus dem 
Soldatenstande vollzogen wird. Das Erschiessen kann, wenn sofort Gehirn 
oder Herz durchbohrt werden, allen genannten Anforderungen prompt ent¬ 
sprechen; doch muss zuverlässig für die sichere Vermeidung peinlicher Miss¬ 
erfolge durch Fehlschüsse oder durch schmerzhafte, nicht sofort tödtliche 
Verwundungen gesorgt sein. Deshalb bestimmen die Militär-Strafgesetzbücher, 
dass die Hinrichtung durch gleichzeitiges Abgeben einer ganzen Anzahl von 
Schüssen auf Kopf und Brust aus geringer Entfernung zu vollziehen ist. 

Die Hinrichtung durch Strangulation, d. h. durch Erstickung mittels 
Verschliessung der Athemwege durch Compression des Halses ist in mehreren 
Ländern noch heute üblich. Wir unterscheiden drei verschiedene Formen 
der Strangulation: Erwürgen, Erdrosseln, Erhängen. Der äusserst rohe und 
quälerische Modus des Erwürgens, d. h. der Erstickung des Opfers durch 
Zusammenpressen des Halses ohne weiteres Hilfswerkzeug, allein mit den 
Händen, hat in der geordneten Justiz wohl überhaupt nur selten eine Rolle 
gespielt; zur Zeit jedenfalls kommt er nirgends mehr in Betracht. Dagegen 
ist das Erdrosseln noch heute im Oriente üblich, wobei der Scharfrichter 
mit den Händen, eventuell mit Hilfe eines Knebels, einen um den Hals ge¬ 
legten Strang zusammenzieht. 

Eine besondere Erdrosselung wird unter dem Namen der Garrottirung noch heute 
in Spanien vollzogen, wobei ein an einem Baumstamme oder Pfahl angebrachtes Hals- 
eisen, das mittels Schraubenzuges dem Stamme genähert wird, die Luftwege zudrückt und 
Hals und Wirbelsäule zerquetscht. 

In der Mehrzahl der europäischen Länder kommt die Strangulation nur 
noch in Form des „Erhängens“ zur Anwendung; hier wird die um den Hals 
gelegte Schlinge durch das Gewicht des der [Schwerkraft überlassenen Körpers 
zugezogen. Hinsichtlich der dabei sich abspielenden besonderen Vorgänge 
sei auf das Capitel „Erhängen“ verwiesen. Es steht zweifellos fest, dass sich 
gleichzeitig mit dem festen Umschnürtwerden des Halses durch die Schlinge 
vollständige Bewusstlosigkeit einstellt. 

Aus diesem Grunde sind alle besonderen Kunstgriffe überflüssig, die von manchen 
Henkern angewandt werden, um den Eintritt des Todes zu beschleunigen; wie das An¬ 
bringen besonderer Knoten in dem Strange, die den Kehlkopf zudrücken sollen, oder das 
Hinwegziehen der Leiter oder des Brettes, darauf der Hinzurichtende steht, um ihn aus 
einiger Höhe herab in die Schlinge fallen zu lassen, damit der Zahnfortsatz des zweiten 
Halswirbels abbreche und das verlängerte Mark mit dem Athmungscentrum zerquetsche. 
Als zweckmässig sind nur diejenigen Maassregeln des Henkers anzuerkennen, die das 
ästhetisch AnstÖssige des Erhängungsactes zu mildern suchen, wie das Festhalten der 
Extremitäten mittels Binden, um die Zuckungen des TodeskampfeB zu beschränken und 
das Zudecken des Gesichtes mit der Hand, wobei am besten gleichzeitig der Unterkiefer 
fest gegen die Oberzähne gepresst wird, um das Hervorquellen der blauwerdenden Zunge, 
sowie das Ausfliessen von Speichel aus dem Munde zu verhindern. 

Aber auch bei Beobachtung dieser Maassregeln macht eine Hinrichtung 
durch den Strang immer einen ganz besonders widerwärtigen Eindruck, 
worauf es wohl auch zurückzuführen ist, dass diese Vollstreckungsart all¬ 
gemein Tür besonders entehrend angesehen wurde und noch wird. Die Gegen- 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


wart eines Arztes ist bei derselben durchaus erforderlich, damit der Gehängte 
nicht vor dem endgiltigen Erlöschen des Lebens vom Strange entfernt werde; 
denn gar nicht selten ist ein solcher in nur scheintodtem Zustande vom Galgen 
genommen worden und zum Entsetzen der Versammelten und zu nicht geringer 
Verlegenheit des Gerichtshofes ins Leben zurückgekehrt. Erfahrungsgemäss 
sollte der Körper ausnahmslos wenigstens 30 Minuten am Strange bleiben. 

Die prompt vollzogene Enthauptung führt naturgemäss sehr schnell und 
zuverlässig den Tod herbei. Dennoch sind auch gegen sie mehrfach Stimmen 
laut geworden mit der Behauptung, dass der Geköpfte noch mehrere Minuten 
lang in dem abgetrennten Haupte sowohl, wie auch in dem kopflosen Rumpfe 
grausame Schmerzen erleiden müsse. Diese Meinung beruht auf der aus¬ 
nahmslos gemachten Beobachtung mehr oder minder lebhafter Bewegungen 
an Kopf und Rumpf des Enthaupteten, die allerdings dem Laien leicht den 
überaus peinlichen Eindruck erwecken können, als seien sie bewusst und ge¬ 
wollt. Die einwandsfrei feststehende Thatsache jedoch, dass momentan mit 
der Aufhebung der Blutzufuhr zum Gehirne auch das Bewusstsein schwindet, 
berechtigt zweifellos zu der Annahme, dass eine bewusste Schmerzempfindung 
weder in dem abgetrennten Haupte, noch auch in dem kopflosen Rumpfe 
vorhanden sein kann. Vielmehr handelt es sich hier lediglich um Reflex¬ 
bewegungen, die von Willen und Bewusstsein völlig unabhängig sind. Be¬ 
kanntlich treten ganz analoge Bewegungserscheinungen auch während des 
Verblutungstodes der Schlachtthiere auf, wobei es ganz gleichgiltig ist, ob 
das Thier zuvor durch Betäubung der bewussten Schmerzempfindung beraubt 
worden war oder nicht. Demnach sind wir berechtigt, anzunehmen, dass die 
schnell und geschickt vollzogene Enthauptung dem Opfer einen körperlichen 
Schmerz nicht bereite. Von grosser Wichtigkeit aber ist die Art der Aus¬ 
führung. Entschieden zu verwerfen ist der ehemals vielfach und vereinzelt 
noch in neuerer Zeit angewandte Modus, dem auf einem Stuhle sitzenden 
Verurtheilten das Haupt mit einem aus der freien Hand des Scharfrichters 
geführten horizontalen Schwertstreich abzuschlagen, da hierbei — wie häufig 
geschehen — das Schwert statt des Halses den Kopf oder die Schulter 
treffen und dem Unglücklichen schwere schmerzhafte Wunden beibringen kann, 
bevor der tödtliche Hieb „sitzt“. Das gleiche Missgeschick ist bei der zur 
Zeit im Königreich Preussen noch gesetzlich vorgeschriebenen Methode mög¬ 
lich, bei welcher der auf einen Block geneigte Kopf des knieenden oder halb 
liegenden Verbrechers vom Nachrichter gleichfalls freihändig mit dem Beile 
vom Rumpfe getrennt wird. Sicher ausgeschlossen werden derartige häss¬ 
liche Möglichkeiten allein durch Anwendung eines exact arbeitenden, aus 
reichlicher Höhe herabstürzenden Fallbeiles, unter dem der Delinquent in 
sicherer Lage festgeschnürt wird. 

Durch geschickt getroffene Anordnungen kann hierbei auch der wider¬ 
wärtige Eindruck der Hinrichtung auf die Zeugen auf das mögliche Mindest- 
maass beschränkt werden; der abgetrennte Kopf darf nicht zu Boden fallen, 
sondern muss auf dem Blocke liegen bleiben; er sowohl wie auch der Körper 
sollte an dem Blocke derart festgeschnürt sein, dass die Zuckungen während 
der Verblutung dem Zuschauer kaum sichtbar werden, was um so leichter zu 
erreichen ist, wenn der Block selbst den Körper dem Blicke verdeckt. Unter 
Beobachtung dieser Maassregeln scheint uns die Hinrichtung durch das Fall¬ 
beil (Guillotine) die beste von allen Methoden zur Vollstreckung des Todes- 
urtheils zu sein, sowohl im Vergleich mit allen älteren Verfahren, wie auch 
gegenüber manchen neueren Vorschlägen, deren eine ganze Reihe gemacht 
worden sind, in dem Bestreben, den Tod noch schneller, sicherer und schmerz¬ 
loser herbeizuführen. 

Nur der Vollständigkeit wegen sei es deshalb erwähnt, dass man gerathen hat, den 
Verurtheilten zu Tode zu chloroformiren, in irrespirablen Gasen zu ersticken oder durch 
schnell wirkende Gifte, namentlich mittels Cyankalium oder Blausäure zu tödten. 


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In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hat man in neuester Zeit mehrfach 
Hinrichtungen durch Ein wirkenlassen eines sehr starken elektrischen 
Stromes vorgenommen; es scheint, als ob sich die Methode nach einigen zu Anfang er¬ 
zielten Misserfolgen doch derart bewährt habe, dass man dort in Zukunft an ihr fest- 
halten werde, doch sind darüber bisher noch zu wenig zuverlässige objective Berichte an 
uns gelangt, als dass wir im Stande wären, über die Zweckmässigkeit dieser Methode ein 
sicheres Urtheil zu gewinnen. 

Wenn wir die gewaltsamen Todesarten im Einzelnen näher untersuchen 
wollen, so können wir sie zunächst in einer Anzahl von Gruppen übersicht¬ 
lich ordnen. Die erste Gruppe umfasst diejenigen Todesarten, welche durch 
die gewaltsame Entziehung der wichtigsten Erfordernisse für die Erhaltung 
des Lebens, von Nahrungsmitteln und Sauerstoff, verursacht werden, also das 
Erhungern und die acute Erstickung in ihren mannigfach verschie¬ 
denen Formen. Die zweite Gruppe behandelt die Todesarten durch Einwir¬ 
kung unzuträglicher Temperaturen, nämlich den Tod durch Erfrieren 
einerseits, und den durch abnorm hohe Temperaturen andererseits, die Ver¬ 
brennung und Verbrühung, den Tod durch Sonnen stich und Hitz- 
schlag, sowie endlich durch Einwirkung der Hitze infolge von elektrischen 
Entladungen, sei es durch natürlichen Blitzschlag oder durch künstlich 
erzeugte Elektricität. Die dritte Gruppe ist die der traumatischen 
Tod es arten, des Todes durch Hieb und Stich, mittels Erschiessens und 
Ueberfahrens, durch Sturz aus der Höhe und ähnliche Unfälle mehr; und die 
vierte und letzte Gruppe endlich ist die der Vergiftungen. 

1. Der Tod durch Verhungern. 

Der durch den Mangel genügender Nahrungszufuhr verursachte Tod eines 
Menschen, der Hungertod, kommt nicht gerade häufig zur Beurtheilung sei¬ 
tens des Gerichtsarztes. Behufs Ausführung eines Selbstmordes wird die 
Nahrungsenthaltung zwar oft gewählt, begonnen und auch eine Zeit lang 
beibehalten, aber doch nur ungemein selten bis zum Erlöschen des Lebens 
wirklich durchgeführt; in weitaus den meisten Fällen besiegt die Gewalt 
des Hungers bereits vor Ablauf des ersten vollen Tages selbst den grössten 
Lebensüberdruss. Ausnahmen von dieser Regel betreffen zumeist Geistes¬ 
kranke, und sind nur ganz vereinzelt auch anderweitig, am ersten noch an 
Gefangenen in Einzelhaft, beobachtet werden. Beabsichtigte Tödtung eines 
Anderen durch Verhungernlassen kommt vielleicht häufiger vor, als sie be¬ 
kannt wird; so werden wohl gelegentlich auf diese Weise unbequem werdende 
alte oder sonst hilflose Individuen aus dem Wege geräumt; in grosser Menge 
aber fallen diesem traurigen Lose, namentlich in den grossen Städten, kleine 
Kinder, und zwar vorwiegend diejenigen von unehelicher Geburt, zum Opfer. 

Es gibt auch gegenwärtig noch vielerorten entmenschte Weiber, die sich ein einträg¬ 
liches Gewerbe daraus machen, die unglücklichen Früchte ungesetzlicher Liebesverhältnisse 
unter dem Namen der „Ziehkinder“ in Pflege zu nehmen, wobei sie, und zwar nur zu oft 
geradezu im schweigenden oder gar ausgesprochenen Einverständnisse selbst mit den 
Müttern oder sonst Versorgungsverpflichteten von Anfang an keinen anderen Zweck im 
Auge haben, als den, das lästige junge Leben möglichst bald in einer der Wachsamkeit des 
Gesetzes unauffälligen Weise verlöschen zu machen. Mehrfach ist noch gerade in jüngster 
Zeit das jedem menschlichen Gefühl hohnsprechende Treiben solcher „Engelmacherinnen 1 *, 
wie sie im Munde des Volkes heissen, dem Auge des Staatsanwalts offenbar geworden. 
Ihre Kunst besteht darin, die ihnen anvertrauten Kinder eines langsamen, allmählichen 
Verhungerungstodes sterben zu lassen (chronischer Hungertod). 

Kräftige Erwachsene können durch beabsichtigten Hungertod naturgemäss 
nur bei gleichzeitiger sicherer Gefangenhaltung umgebracht werden. Unbe¬ 
absichtigt verfallen demselben traurigen Lose nicht selten Verirrte in un¬ 
wirtlichen Gegenden, Verschüttete in Bergwerken, Schiflbrüchige im unzurei¬ 
chend verproviantirten Rettungsboote etc. Eigenartige Beurtheilung erhei¬ 
schen endlich diejenigen Fälle von Hungertod, in denen der letztere ein- 
treten musste, weil narbige Stricturen oder Verwachsungen u. s. w. im Ge- 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


biete des Verdauungscanales vom Munde bis zum After als Folgezustände von 
Verletzungen oder Verätzungen die Nahrungsaufnahme unmöglich machten. 

Wie lange ein Mensch am Leben bleiben kann, ohne Nahrung aufzu¬ 
nehmen, ist einmal individuell sehr verschieden, je nach Alter, Ernährungs¬ 
zustand, Temperament, natürlicher Widerstandsfähigkeit etc. und ferner 
hin abhängig von mancherlei besonderen Umständen; unter letzteren ist 
namentlich der eine Punkt hervorzuheben, ob mit der Nahrung zugleich auch 
das Getränk entzogen wurde oder nicht. Neugeborene, die wegen angeborener 
Missbildungen keinerlei Nahrung zu sich nehmen konnten, hat man drei bis 
fünf bis sieben Tage und länger leben sehen, wir selbst haben einen Fall 
beobachtet, in dem der Tod erst am 13. Tage erfolgte. Gesunde Erwachsene 
vermögen bei gleichzeitiger Entziehung der Getränke meist höchstens bis zu 
sieben oder acht Tagen ohne Nahrung zu bestehen; bei ungehindertem Ge¬ 
nüsse von Wasser dagegen, wie die Experimente der Hungerkünstler Dr. 
Tanker, Succi u. a. beweisen, sehr viel länger, als man vordem für möglich 
gehalten; hat doch Tanner 40 Tage gefastet! Alte Leute ertragen, ent¬ 
sprechend der senilen Verminderung des Stoffwechsels den Nahrungsmangel 
im Allgemeinen etwas länger als junge kräftige Individuen auf der Höhe der 
physiologischen Energie. 

Die Krankheitserscheinungen, welche der Organismus zwischen der 
letzten Nahrungsaufnahme und dem Eintritte des Inanitionstodes aufweist, 
sind im Allgemeinen einfach die Zeichen der fortschreitenden Entkräftung. 
Auffallend ist dabei, dass das anfangs von Stunde zu Stunde wachsende 
Hungergefühl, nachdem es — meist ungefähr um die 20. Stunde — seinen 
Höhepunkt erreicht hat, schnell an Intensität verliert, um weiterhin gänzlich 
zu fehlen. Unter rascher Abnahme des Fettgehaltes, Sistirung der Koth¬ 
abscheidung und starker Verminderung des immer concentrirter abgesonderten 
Harnes, unter Auftreten oft sehr quälender kolikartiger Leibschmerzen, Uebel- 
keit und würgendem Erbrechen galleartiger Schleimmassen, während dessen 
häufig auch mehr oder minder starke Blutergüsse in die Augenbindehäute 
auftreten, verfallen die Kräfte immer mehr, bis der Verhungernde in einen 
Zustand schlafähnlicher Apathie verfällt. Gewöhnlich wird dieser gegen Ende 
des Krankheitsbildes zeitweilig durch kurze Delirien unterbrochen, bis 
schliesslich unter rapidem Sinken der Kräfte der Tod erfolgt. 

Der Leichenbefund wird naturgemäss in den meisten Fällen die Todes¬ 
ursache zweifellos erkennen lassen; für den Tod durch Erhungern charakteri¬ 
stisch ist nicht so sehr die hüchstgradige Abmagerung und Anämie, das 
völlige Fehlen des Fettes im Unterhautzellgewebe wie in allen inneren 
Organen, die auffallende Atrophie und Blutarmuth von Leber, Milz, Nieren 
u. s. w.; denn alle diese Befunde können in gleich hohem oder doch in ähn¬ 
lich ausgeprägtem Grade als Folgezustände einer ganzen Reihe von Krank¬ 
heiten „auszehrenden“ Charakters sich ausbilden; maassgebend dagegen ist 
die auffallende Engigkeit von Magen und Darm und die absolute Leere dieser 
Organe an Speisetheilen; ein Individuum, in dessen Magen und Darm bei der 
Section nennenswerte Massen von Speisebrei gefunden werden, kann nicht an Ver¬ 
hungern gestorben sein. Bei kleinen Kindern kann die Diagnose des Hunger¬ 
todes durch die Beschaffenheit der Thymusdrüse gestützt werden; man findet das 
Organ deutlich atrophisch, ja oft bis auf ganz kleine Reste geschwunden*). 

2. Der Tod durch Erstickung. 

Die acute Erstickung kommt zustande, wenn dem Körper plötzlich und voll¬ 
ständig die Möglichkeit der Aufnahme der Luft durch die Lungen entzogen wird. 
Die für den Gerichtsarzt wichtigsten Formen der Erstickung sind diejenigen 
mittels Erhängens, Erdrosselns, Erwürgens und Ertrinkens. 

_ Beümer u. G. Woltersdorf. 

*) Seydel, Leitfaden der gerichtl. Med. Berlin, 1895. S. 90. 


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Bevor jedoch diese einzelnen Formen der Erstickung besprochen werden, 
soll die Erstickung im allgemeinen erörtert werden. 

Erstickung. Allgemeines. Erstickung heisst Aufhebung des respira¬ 
torischen Gaswechsels. Von den beiden hauptsächlichsten Vorgängen, die 
denselben bewerkstelligen, der Sauerstoffaufnahme und der Kohlensäureaus¬ 
scheidung, kommt bei der Erstickung in erster Linie die Sistirung der Sauer- 
stoffaufnahme in Betracht. 

Der Begriff der Erstickung ist danach also ein sehr weiter. Er umfasst 
nicht nur die Störungen im Mechanismus der äusseren Athmung, sondern auch 
diejenigen der inneren Athmung, die einerseits aus Anomalien der Blutbewe¬ 
gung, andererseits aus solchen der Blutmischung hervorgehen. Zu den letz¬ 
teren gehören die Folgezustände der Einwirkungen der Blutgifte, Kohlenoxyd, 
Kali chloricum u. a. m. Unter die Störungen der Blutbewegung müssen wir 
zunächst die primäre Herzlähmung rechnen, ferner embolische Processe, wie 
Embolie der Pulmonalarterie, aber auch die acute Anämie des Verblutungs¬ 
todes gehört ebenso wie die chronischen Anämien hierher. Zu den Störungen 
im Athmungsmechanismus rechnen wir zunächst die Verlegung des Respira- 
tionstractus an irgend einer Stelle, also den Verschluss von Nase und Mund, 
den Verschluss des Rachens durch Fremdkörper, diphtheritische Membranen 
u. a., das Erhängen, Erwürgen, Erdrosseln und Ertrinken, weiter die Be¬ 
schränkung des eigentlich athmenden Theiles der Lunge, des Alveolarepithels 
durch aufgelagerte exsudative oder transsudative Processe, Pneumonie, Bron¬ 
chitis, Lungenödem. Weiter gehört hieher die Erstickung in einem ge¬ 
schlossenen oder mit irrespirablen Gasarten angefüllten Raume, die Ver¬ 
hinderung der Athembewegungen beim Verschütten oder Erdrücken und bei 
Krampf- oder Lähmungszuständen der Athemmuskeln (Curare-, Strychninver¬ 
giftung, Epilepsie). Endlich ist zu erwähnen die Verhinderung der Aus¬ 
dehnung der Lungen selbst, infolge von doppeltem Pneumothorax, Hydro- 
thorax, Hämatothorax u. s. w. 

Die Berechtigung, alle diese, zum Theil recht wenig mit einander gemein 
habenden Todesarten als Arten des Erstickungstodes aufzufassen, wird her¬ 
geleitet einmal von Erscheinungen, welche der Erstickungstod als solcher 
darbietet, und sodann aus den Erscheinungen an der Leiche. Im Uebrigen 
aber rechnet, das sei gleich hier vorweg bemerkt, die gerichtliche Medicin 
zu den Erstickungsarten im engeren Sinne nur die Formen der mechanischen 
Erstickung, bei denen ceteris paribus der Tod primär durch Erstickung er¬ 
folgt, gegenüber den mit Störung in der Blutmischung und Blutbewegung ver¬ 
bundenen Erstickungsformen, bei denen der Tod secundär eintritt. Vorstehend 
werden, wie gleichfalls ausdrücklich hervorgehoben sein soll, die Anschauungen 
wiedergegeben, wie sie allgemein acceptirt worden sind. Auf die Bedenken, 
welche sich im Ganzen und bei den einzelnen Punkten ergeben, wird später 
eingegangen werden. 

Die Symptome des Erstickungstodes haben, wie bemerkt, eine eigentüm¬ 
liche Reihenfolge, die bis zu einem gewissen Grade constant ist. Am besten lassen sie 
sich studiren an jungen kräftigen tracheotomirten Thieren, die durch Verschluss der 
Tracheotomiecanäle erstickt werden oder bei Aufdrücken einer Pechmaske auf die Athem- 
ffnuiigen. Aeltere Thiere zeigen weniger Constanz in der Aufeinanderfolge der einzelnen 
Erscheinungen, ebenso erschöpfte oder langsam, z. B. durch Luftabschluss, in der eigenen 
Exspirationsluft erstickte. Wir unterscheiden vier Stadien. 

Zunächst tritt eine Dyspnoe ein, die zuerst vorwiegend inspiratorisch, dann exspira- 
‘ torisch ist; die Dauer dieses Stadiums beträgt etwa eine Minute. Das zweite Stadium ist 
das der Krämpfe, die vorwiegend clonischer Natur sind, aber auch wohl toxisch sein 
. können; ein Opisthotonos wird nicht selten beobachtet. Das Bewusstsein ist mit dem Beginn 
des zweiten Stadiums erloschen. Als drittes Stadium tritt eine Athempause von zuweilen 
minutenlanger Dauer ein, der als letztes das der terminalen Athembewegungen folgt. Dies 
sind einzelne lang angezogene Athembewegungen mit mehr oder weniger grossen Zwischen- 


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räumen, bei denen das Thier zuweilen wohl den Mund weit öffnet. Die Dauer aller dieser 
Erscheinungen beträgt etwa 3-8 Minuten. 

Hervorgerufen werden sie durch eine Reizung des Athmungscentrums der Medulla 
oblongata durch das sauerstoffarme Blut. Von den Erscheinungen der übrigen Organ¬ 
systeme seien besonders die des Circulationsapparates erwähnt. Infolge Reizung des 
"Vagus stellt sich beim Beginne der Erstickung eine Verlangsamung der nerzbewegungen 
ein, die von einer durch Lähmung desselben Nerven veranlassten Beschleunigung der Herz- 
contractionen gefolgt ist. Dieselben werden nun weiter langsamer, um cdlmählich ganz 
zu verschwinden; sie überdauern die terminalen Athembewegungen erheblich, wie nicht 
nur der Thierversuch, sondern auch Beobachtungen an durch den Strang Hingerichteten 
beweisen, zuweilen 8 Minuten oder noch mehr. Der Blutdruck ist bei der Dyspnoe ge¬ 
steigert, die Steigerung erhält sich während des convulsiven Stadiums, ist sogar noch etwas 
erhöht und sinkt dann allmählich herab. Der Verdaungs-(Urogental-)canal reagirt auf die 
Erstickung bereits im Stadium der Dyspnoe oder später durch Abgang von Fäces und Urin. 

An Complicationen, die störend in den Gang des Erstickungstodes, wie 
er soeben geschildert ist, eingreifen können, sind zwei besonders hervorzu¬ 
heben: Der Shockund die Synkope. Sie erklären zum Th eil die Verschieden¬ 
heit der sogleich zu besprechenden Befunde an der Leiche, sie erklären 
weiter, warum beispielsweise bei dem einen Erhängten das Herz noch minuten¬ 
lang schlägt, während ein anderer unmittelbar nach der Suspension von dem 
umschnürenden Strangwerkzeug Befreiter bereits keine Spur mehr von Herz¬ 
bewegung zeigt. Der Shock stellt bekanntlich den durch Vermittlung der 
Reflexbahnen hervorgerufenen Herztod dar; er ist beobachtet besonders bei 
Schlag auf den Vorderhals (Brouardel). Synkope würde in Frage kommen 
bei älteren Individuen mit erkrankter Herzmuskulatur. Es sei hier übrigens 
bemerkt, dass der richtigere Name für die Erstickung eigentlich Synkope wäre, 
da er das Aufhören der Athmung bedeutet (aovxoitjj tou itvEu^axoc), während 
Asphyxie, jetzt gleichbedeutend mit Erstickung, soviel wie Pulslosigkeit heisst 
(a-avoypoi = pulslos). 

Wird der Gang der Erstickung unterbrochen, so kann restitutio in in¬ 
tegrum eintreten; ein jedes Stadium der Erstickung erscheint hierzu noch 
geeignet, unter der Voraussetzung natürlich, dass von seiten des Herzens 
keine Complicationen dazwischen getreten sind. 

Die Erscheinungen an wiederbelebten Erstickten sind einmal solche all¬ 
gemeiner Natur, wie Benommenheit, Delirien, Blasen- und Mastdarmstörungen, 
sodann localer Natur — wie nach dem Erhängen durch die Natur und den 
Ort des erstickenden Werkzeuges veranlasst. Eine zuweilen beobachtete 
Störung ist die retrograde Amnesie, die sich auf eine Reihe von Stunden 
vor der Erstickung erstrecken kann, und die sowohl nach Erhängen, als nach 
Ertrinken beobachtet ist. Auch wenn die Wiederbelebung gelungen ist, kann 
der Tod secundär infolge pneumonischer und ähnlicher Processe eintreten. 

Begreiflicherweise beanspruchen für den Gerichtsarzt die Erscheinun¬ 
gen an der Leiche beim Tode durch Erstickung ein ungleich grösseres 
Interesse, als die soeben erwähnten vitalen Processe. Man hat bereits einige 
sich bei der äusseren Besichtigung ergebende Merkmale hiebei zu verwerten 
versucht. Die Todtenflecke kommen bei der Erstickung im weiteren Sinne 
nur insofern in Betracht, als sie reichlich entwickelt und von dunkler Farbe 
gefunden werden, eine Erscheinung, der etwas speciflsches kaum zuerkannt 
werden kann. Die Entwicklung der Todtenflecke beim Erhängungstode wird 
bei Besprechung dieses Capitels abzuhandeln sein. Auch die Leichenstarre 
gibt zu Bemerkungen keinen weiteren Anlass. Cyanose des Gesichtes wird 
zuweilen beobachtet, insbesondere bei dem etwas langsamen Verlaufen der 
Erstickungsformen (z. B. Erdrücktwerden) scheint sie ziemlich constant zu 
sein, vorgetriebene Augäpfel, erweiterte Pupillen sind Zeichen von nur mehr 
historischem Wert, die, wenn sie vorhanden sind, registrirt werden müssen, 
aber für eine Diagnose nicht in Betracht kommen. Dasselbe gilt von der 
Vorlagerung der Zunge vor die Zahnreihen. Einen gewissen Wert neben der 
Cyanose beanspruchen dagegen die Hautblutungen, welche sich an verschie- 


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denen Theilen der Leiche finden. Manchmal ist die Haut besät mit der¬ 
artigen kleinen Blutaustretnngen, manchmal findet man sie nur an einzelnen 
Prädilectionsstellen bei genauer Untersuchung. So zeigte die Leiche eines ver¬ 
schütteten Brunnenarbeiters ausserordentlich zahlreiche Ecchymosen von ver¬ 
schiedener Grösse, die zum Theil confluirten und so fast den Charakter einer 
traumatischen Suffusion annahmen; nur die anscheinend durch Druck relativ 
anämisch gewesenen Hautpartien waren im Wesentlichen frei geblieben. Am 
häufigsten finden sie sich in den Augenbindehäuten, wo sie in der Regel die 
Grösse eines Stecknadelkopfes nicht überschreiten. Sie werden beobachtet 
nicht nur beim Tode durch mechanische Erstickung, sondern auch beim Tode 
im epileptischen Krampfanfalle, beim Keuchhusten und vielen anderen Todes¬ 
arten. ihr Dasein scheint zu beweisen, dass dem Tode vorangegangen ist ein 
Stadium erhöhten arteriellen Blutdruckes, wie dies experimentell auch er¬ 
härtet worden ist. Auffällig sind nun hiebei die Befunde von Ecchymosen 
an hypostatischen Hautstellen, so bei Erhängten an den Beinen, insbesondere 
den Oberschenkeln, bei in Knieellenbogenlage gefundenen Erschossenen ebenda, 
ferner an der Vorderseite des Rumpfes bei in Bauchlage Verstorbenen. In 
dem Bezirke der gewöhnlichen Stelle der Hypostase, der Rückenhaut, sind sie 
gewöhnlich nicht beobachtet. Er fragt sich nun, ob derartige in hypostatischen 
Hautbezirken angetroffene Ecchymosen vitaler Natur sind, oder ob sie nicht, 
wenigstens zum Theil, durch die auf die zarten und durch Fäulniss verän¬ 
derten GefässWandungen drückende Blutsäule veranlasst sind. Letztere An¬ 
schauung erscheint als die richtigere, wie neuerdings angestellte Unter¬ 
suchungen beweisen. 

Haberda nämlich hat feststellen können, wie an Neugeborenen, die er an den Beinen 
snspendirte, unter den Angen des Beobachters Ecchymosen in den Conjunctiven entstanden; 
er fand zugleich eine seröse kopfgeschwulstarlige Durchtränkung der Schädeldecke. Dass 
durch die Hypostase Ecchymosen vergrössert werden können, erscheint zweifellos. Die 
Frage, warum denn nur gewisse Prädilectionsstellen für diese Ecchymosen vorhanden sind, 
und warum speciell die Bückenhaut frei von derartigen Blutungen gefunden wird, findet 
ihre Erklärung vielleicht in einer grösseren Straffheit der dort vorhandenen Gewebe. 

Man ist weiter früher geneigt gewesen, dem Austritt von Sperma aus 
der Harnröhrenmündung einen gewissen diagnostischen Wert beizulegen; 
jetzt ist man davon zurückgekommen, nachdem diese Beobachtung bei den 
verschiedensten Todesarten, und nicht blos beim Erhängen gemacht ist. Die 
Annahme, dass beim Erhängen eine Wollustempfindung auftrete, die u. a. 
durch die Erzählungen von dem sagenhaften Club der Erhängten in London 
ihre Nahrung fand, hatte zu dieser Interpretation des erwähnten Sperma¬ 
befundes geführt — gewiss mit Unrecht, da, wie bemerkt, eine derartige 
Beobachtung öfter gemacht wird, insbesondere auch beim plötzlichen natür¬ 
lichen Tode. Ihre Erklärung findet sie wohl in dem Rigor mortis der glatten 
Muskulatur, durch den Sperma zum Austreten gebracht wird. In einer Reihe 
weiterer Fälle, bei denen man eine Todtenstarre der glatten Muskulatur aus- 
schliessen zu dürfen glaubt, insbesondere von länger dauernder Suspension, 
handelt es sich gewiss um einfach mechanisches Ausfliessen aus der nahezu 
völlig vertical gelagerten Urethra, nachdem vielleicht durch einen im con- 
vulsiven Stadium der Erstickung eingetretenen Krampf der glatten Muskulatur 
der Inhalt der Samenblasen entleert worden war. 

Unter den inneren Zeichen des Erstickungstodes wird die dunkle Farbe 
und die flüssige Beschaffenheit des Blutes in der Regel an erster Stelle ge¬ 
nannt; eine Wichtigkeit kommt ersterer Eigenschaft nicht, letzterer nur bis 
zu einem gewissen Grade zu. Dass das sauerstoffarme und kohlensäurereiche 
Blut des Erstickenden ebenso dunkel ist, wie das sauerstoffarme und kohlensäure¬ 
reiche Venenblut, ist ja nicht zu verwundern; das ist ein Befund, den wir bei jeder 
Autopsie, wenn es nicht eine Vergiftung mit CO, Kali chloricum oder einem 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Oer. Med. 18 


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ähnlichen Stoffe ist, machen, ja machen müssen, weil die Gewebe dem Blute 
den Sauerstoff entziehen, der ihm noch post mortem innewohnt. Und das Blut 
der Leiche, wenn es vorsichtig entnommen ist, ohne dass es mit der Luft in 
Berührung kam, zeigt ja demgemäss nicht das OHb-Spectrum, sondern nur 
das Spectrum des sauerstofffreien Hämoglobins. Diese Erscheinung werden 
wir mit um so grösserer Gewissheit am Blute wahmehmen können, als ja 
zwischen Exitus und Autopsie immer eine gewisse Zeit, mindestens wohl 24 
Stunden vergehen, in denen das Blut Zeit hat, allen bis dahin ihm verblie¬ 
benen Sauerstoff noch an die Gewebe abzugeben. 

Bezüglich der Flüssigkeit oder des Geronnenseins des Blutes sind zwei 
verschiedene Momente auseinanderzuhalten. Einmal die Zeit, die zwischen 
Tod und Autopsie verstrichen ist, und dann die Blutbeschaflenheit selbst. 
Gegenstand der Untersuchung bilden für den Gerichtsarzt nicht die Leichen 
lange erkrankt Gewesener, wie sie in Kliniken u. s. w. zur Beobachtung kommen, 
sondern vorwiegend diejenigen solcher Personen, die mitten in der besten Ge¬ 
sundheit ohne vorheriges Kranksein eines gewaltsamen Todes gestorben sind. 
Plötzliche natürliche Todesfälle an Pneumonie, Meningitis werden andererseits 
wieder in Bezug auf diesen Punkt ähnliche Befunde, wie sie in Kranken¬ 
häusern erhoben werden, vermuthen lassen. Die häufig gemachte Beobachtung 
geht nun dahin, dass diejenigen Fälle, welche nach einer mehr oder weniger 
langen Agonie defunct sind, speckige Gerinnsel im Herzen, insbesondere im 
rechten Herzen haben, und dass die plötzlich ohne Agonie Gestorbenen flüssiges 
oder locker geronnenes Blut darbieten. Der Agonie gleichwertig sind in Bezug 
auf die Beschaffenheit des Blutes alle Zustände, welche zu einer Leukocytose 
überhaupt führen, also die grosse Mehrzahl der Infectionskrankheiten u. s. w. 
Diese Beobachtung ist eine so constante, dass der Befund von derben, ver¬ 
filzten Gerinnseln im Herzen direct gegen die Annahme einer plötzlichen 
reinen Erstickung spricht, was gerichtsärztlich sehr gut zu verwerten ist. 

Wenn auch bezüglich der Lehre von der Blutgerinnung noch vieles zu untersuchen 
und klarzustellen ist, so darf doch als ausgemacht gelten, dass die Träger des zur Coagula- 
tion erforderlichen Fibrinfermentes die Leukocyten sind. Die Fähigkeit zur Ferment¬ 
bildung wohnt dem Blute nun noch einige Zeit nach dem Tode inne, es kann daher zu¬ 
nächst gerinnen, aber wohl nur locker, während diese Fähigkeit bereits nach 24 Stunden 
nicht nur erloschen zu sein scheint, sondern die bis dahin bestandene Coagulation infolge 
Veränderungen, welche das Fibrin eingeht, wieder einer flüssigen Beschaffenheit des Blutes 
Platz macht; die Auflösung fester speckiger Gerinnsel erscheint ausgeschlossen, nur wenn 
das Blut locker geronnen war, wird dieses Verschwinden von Gerinnseln beobachtet werden 
können. Hängt man zwei Hunde auf (Brouardel) und macht die Autopsie des einen 
zehn Minuten post mortem, so findet man sein Herz erfüllt mit weichen Gerinnseln. Die 
Autopsie des zweiten Hundes 24 Stunden post mortem ergibt keine Spür von Gerinnsel mehr 
im Herzen. 

Für die Diagnose eines Erstickungstodes werden wir, wie aus diesen 
Darlegungen hervorgeht, nur in bedingter Weise von der Blutgerinnung, resp. 
flüssigen Beschaffenheit des Blutes Gebrauch machen können. Bei den mehr 
chronisch verlaufenden Formen von Erstickung aus inneren Ursachen werden 
wir jedenfalls eine flüssige Blutbeschaflenheit kaum erwarten dürfen, bei den 
Leichen eines gewaltsamen Todes plötzlich Gestorbener findet man meist 
flüssiges, nicht geronnenes Blut — aber die vorhanden gewesenen Gerinnsel 
können bereits wieder aufgelöst worden sein, und da nun die Zeit zwischen Tod 
und Autopsie verschieden lang ist, und eine mehr oder weniger lange Zeitdauer 
sich nach der Richtung der Verflüssigung des Blutes hin bemerkbar zu machen 
scheint, so lassen sich allgemeine Normen hier nicht aufstellen. 

An zweiter Stelle unter den inneren Zeichen des Erstickungstodes pflegt 
angeführt zu werden die Blutüberfüllung der inneren Organe, insbesondere 
der Lungen. Auch dieses Zeichen entbehrt der allgemeinen Giltigkeit; es ist 
vielmehr erforderlich, eine ganze Reihe Einschränkungen zu machen. Theore- 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


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tisch hat zuerst Donders für die Lungenhyperämie eine Erklärung gegeben; 
Patenko hat experimentell die ÜONDERs’sche Theorie zu stützen gesucht. Die¬ 
selbe läuft darauf hinaus, dass durch die dyspnoischen Athembewegungen des 
ersten Stadiums beim Erstickungstode bei Verschluss der Respirationswege 
der Druck in der Thoraxhöhle ein negativer werde, eine Erscheinung, die 
eine Erweiterung des Lumens der Lungengefässe und weiter eine Verlang¬ 
samung des Blutstromes in ihnen zur Folge habe. Die Dauer der Dyspnoe 
würde also demnach proportional sein der Stärke der Lungenhyperämie. 
Skrzeczka hat diese Theorie experimentell dahin ergänzt, dass bei Luftab¬ 
schluss im Moment der Inspiration der Druck im Thorax vermindert wird, 
dass man hier Lungenhyperämie zu erwarten habe. Bei Luftabschluss im 
Beginn der Exspiration dagegen treten diese Verhältnisse nicht ein. 

Bei der Beurtheilung der Lungenhyperämie beim Erstickungstode wird man 
sich zuvörderst davor zu hüten haben, eine diesbezügliche Diagnose zu stellen, 
wenn die Criterien dieses Zustandes nicht zutreffen (Skrzeczka). Diese be¬ 
stehen darin, dass die hyperämische Lunge sich weniger gut retrahirt, dass 
sie sich schwerer anfühlt, von derberer Consistenz ist. Ihre Farbe ist dunkel¬ 
violett, auf der Pleura sieht man ein engmaschiges Netz injicirter Venen, 
auf Durchschnitten entleert sich ohne Druck reichlich dunkles Blut. Es wird 
nun von allen Untersuchern betont, dass eine derartige Lungenhyperämie 
nicht die Regel ist, dass geradezu blutarme Lungen beim Erstickungstode, 
auch beim gewaltsamen, gefunden werden. Zunächst werden wir uns sagen 
müssen, dass ein Theil der untersuchten Individuen wohl normale Blutver¬ 
hältnisse zeigt, dass man aber von einem anämischen Individuum nicht er¬ 
warten kann, dass es hyperämische Lungen aufweist. Weiter zeigt eine Be¬ 
obachtung von Hopmann an durch den Strang justificirten Verbrechern, wie 
durch Einziehung des Bauches und Hochsteigen des Zwerchfelles der vermin¬ 
derte Druck der Thoraxhöhle während der Erstickung wieder zum Theil ausge¬ 
glichen werden kann. Endlich ist zu bemerken, dass bei älteren Individuen, 
bei denen die Stadien des Erstickungstodes abgekürzt oder nur angedeutet 
sind, von einer erheblichen Verminderung des intrathorakalen Druckes kaum 
die Rede sein kann. 

Die Verschiedenheit im Blutgehalt, welche nach diesen Erwägungen er¬ 
wartet werden musste, erhielten wir auch bei einer Reihe von Untersuchungen, 
bei denen als Ziel gesetzt wurde, zahlenmässige Beläge für den Blutgehalt 
der Lungen bei verschiedenen Todesarten zu gewinnen. 

Die Lösung der Aufgabe wurde versucht mittelst dos FLKiscHL’schen Hämometers in 
folgender Weise: Die sofort nach Eröffnung der Brusthöhle sorgfältig unterbundenen 
Lungen wurden herausgenommen, in ein eigenes Glasgefäss gelegt und in diesem secirt; so¬ 
fort nach beendeter Section wurden die Lungen weiter mittels einer Hackmaschine fein 
zerkleinert und die Masse der feinen Partikel mit einer bestimmten Menge (20 1 ) Wasser 
verdünnt. Jede Verschüttung auch von kleinen Blutmengen wurde ängstlich vermieden. 
Die Auslaugung des Blutfarbstoffes fand nun während der nächsten 24 Stunden vollkommen 
statt, und es wurde dann nach dieser Zeit zur hämometnschen Bestimmung des Blut¬ 
gehaltes bei einer constanten Verdünnung der zerkleinerten Lungen mit 160 1 Wasser, her¬ 
gestellt an kleineren Quantitäten der Stammflüssigkeit durch Verdünnung um jedesmal die 
Hälfte Wasser, geschritten. Werte, welche bei dieser Verdünnung ausserhalb der Scala 
des FLEiscHL’schen Hämometers lagen (120), also einer weiteren Verdünnung benöthigten, 
z. B. Verdünnungen von 320 1 wurden rechnerisch, um vergleichbare Werte zu gewinnen, 
auf 160? Verdünnung gebracht. Die Fehlerquellen dieser Versuchsanordnung wurden da¬ 
durch nach Möglichkeit ausgeglichen, dass nur kräftige, gut genährte Individuen in mitt¬ 
lerem Alter gewählt wurden, deren Körpergrösse eine annähernd gleiche (etwa 150—160 cm) 
war; ferner wurden nachträglich eine Reihe von Fällen ausgeschieden, bei denen die Sec¬ 
tion irgend welche Complicationen von Seiten der Lungen aufwies, Tuberkulose, Blut¬ 
aspiration, Aspiration von Erbrochenem u. s. w. 

Die erhaltenen Resultate sind nun, wie zu erwarten war, sehr verschieden von 
einander. Sje mögen in nachfolgender Tabelle ihre übersichtliche Darstellung finden: Es 
ergaben sich bei Verdünnung der zerkleinerten Lunge mit 160? Wasser bei 

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TODESAETEN, GEWALTSAME. 


Zahl der Fälle 

Diagnose 

Hämometerwerte 

1 

Verschüttung durch 

116 


Erdmassen 

10 

Erhängen 

58, 62, 64, 70, 

73, 88,115,120, 

136, 164 

1 

Phosphorvergiftung 

63 

1 

Cyankaliumvergiftg. 

120 

1 

Alcoholvergiftung 

110 

3 

Erschiessen 

95, 103, 120 

100 

1 

Ertrinken 

2 

Sturz von der Höhe 

77, 140 

92, 107 

2 

Herzparalyse 

1 

Hydrocephalus int. 

64 

1 

Schrumpfniere 

70 

1 

Erstickung in Folge 

102 


Lues Laryngis 


Die Resultate haben, wie unbedingt zagegeben werden soll, eine Reihe Fehlerquellen, 
aber sie sind doch von Wert, weil sie eine unbefangene Prüfung des Bluteehaltes der 
Lunge bei einer Anzahl gewaltsamer und plötzlicher natürlicher Todesmlle darstellen, die nicht 
mit Vorbedacht eben nur an „Erstickten“ ausgeführt wurde, sondern ohne Wahl, sobald diebe¬ 
treffende Leiche den oben mitgetheilten Bedingungen überhaupt nur genügte. Zunächst ergibt 
sich aus der Zusammenstellung, dass auch bei Erstickten im eigentlichen Sinne eine ganz er¬ 
hebliche Schwankung besteht. Stellen wir Hämometerwerte von 100 etwa gleich der Diagnose 
„ziemlich blutreiche Lungen“ und 110 etwa gleich „blutreiche Lungen“, Werte, wie sie 
ungefähr den in den Protokollen niedergelegten Bezeichnungen entsprechen, so finden wir 
beispielsweise, dass Ton den zehn Erhängten die Majorität (sechs) die Grenze 100 nicht 
einmal erreicht, während die vier anderen wieder den bisherigen Mindestwert 58 um das 
zwei- bis dreifache übertreffen — gewiss bemerkenswerte Schwankungen. Der Blutgehalt 
der drei Fälle von Erschlossen hält sich im Ganzen auf der gleichen Höhe; der Mindest¬ 
wert beträgt 95, der Meistwert 120; auf ähnlicher Höhe liegt der untersuchte Fall von 
Ertrinken (100), sowie von Verschütten (116), der Fall von CyankaliumVergiftung zeigte 
blutreiche Lungen (120), ebenso der Fall von Tod im Rausch, derjenige von Phosphor¬ 
vergiftung andererseits nichts weniger als blutreiche (63). Es bleiben übrig die Fälle von 
Sturz von der Höhe, von denen der eine noch einmal so blutreiche Lungen als der andere 
aufwies (77—140), und die Fälle von plötzlichem natürlichem Tod, von denen der Hydro- 
cephalus (64), ebenso der Fall von Schrumpfniere (70) nur geringere Werte aufweisen, 
während die Fälle von Herzparalyse und von Tod durch Erstickung an Kehlkopfsyphilis 
die Grenzwerte der „ziemlich blutreichen“ Lungen zum Theil überschreiten. Hervorgehoben 
sei noch, dass ein Fall von Erhängen den stärksten Blutgehalt hatte, diesen am nächsten 
kam ein Fall von Sturz von der Höhe. Wirklich blutreiche Lungen fanden sich unter 
den untersuchten 25 Fällen neunmal. Die Untersuchungen — insbesondere die an Er¬ 
hängten angestellten — zeigen die oben theoretisch construirte Möglichkeit von Schwan¬ 
kungen im Ulutgehalt an zahlenmässigen Beispielen. 

Die alten Gerichtsärzte massen der „Congestion“ einen grossen Wert 
bei, man suchte den Sitz der Hyperämie und bestimmte darnach die Todes¬ 
ursache — Lungen-, Herz-, Gehirntod (Bichat, Devekgie), resp. Stickfluss, 
Schlagfluss bei Lungen- oder Gehirnhyperämie, Stickschlagfluss, wenn beide 
Organe hyperämisch gefunden wurden, und Neuroparalyse, wenn keine 
Hyperämie in Gehirn oder Lungen bestand (Casper u. a.). Die gerichtliche 
Medicin unserer Tage hat es, wie bemerkt, für angezeigt gefunden, die Diagnose 
„Erstickung“ zu erweitern und erkennt die venösen Hyperämien aller Or¬ 
gane — nicht nur der Lungen — nur als Theilerscheinungen des Erstickungs¬ 
befundes an der Leiche an. Was zunächst die Gehirnhyperämie betrifft, so lie¬ 
gen hier einige Beobachtungen in vivo vor, die einander nicht völlig entsprechen. 

Donders und Ackermann experimentirten an trepanirten Thieren, denen sie Glas¬ 
stücke in die Lücke des knöchernen Schädeldaches hatten einheilen lassen; während 
Dondkrs aber nach anfänglichem Erblassen stets eine Cyanose der Pia bei Luftabschluss 
auftreten sah, fand Ackermann eine Anämie der Hirngefässe dem Tode vorangehen. 
Hofmann gibt an, dass man mittelst des Augenspiegels eine Anämie der Retinalgefässe 
während der Dyspnoe beobachten könne; Brouardel und Descoust bestätigen diesen Be¬ 
fund mit dem Bemerken, dass der anfänglichen Anämie der Retinalgefässe eine Hyperämie 
als Ausdruck eines vasomotorischen Krampfes mit sucessiver Lähmung nachfolge. 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


757 


Dies sind gewiss wissenschaftlich interessante Thatsachen, für den 
Gerichtsarzt aber kaum verwertbar, wenn man den thatsächlichen Leichen¬ 
befund bei Erstickten in Frage zieht; und hier sehen wir manchmal eine 
Hyperämie bestehen, in anderen Fällen wieder nicht. Dasselbe gilt von der 
Hyperämie der Nieren und der übrigen Organe. 

Auf den Blutgehalt derselben wirken nämlich ausser dem oben erwähnten 
Momente, ob das betreffende Individuum überhaupt anämisch oder blutreich 
war, und ob die Erstickung längere oder kürzere Zeit dauerte, noch eine 
Reihe anderer, sogleich zu erwähnender ein. Da ist zunächst zu nennen 
die posthume Circulation, die unter dem Einfluss der Fäulniss sich thatsächlich 
bis zu einem gewissen Grade einstellt; die im Bereich der Hypostase liegen¬ 
den Organe werden zunächst immer eine grössere Blutfülle als die von ihr 
entfernteren aufweisen; verfliesst eine gewisse Zeit zwischen Tod und Autopsie, 
so werden Blutgase frei und sie leisten dem Tiefertreten des Blutes, da sie 
das Bestreben haben emporzusteigen, nur Vorschub. Eine etwaige Auftrei¬ 
bung des Leibes, die durch Vermehrung der Darmgase entsteht, bringt 
weiter eine Entfernung des Blutes aus den Unterleibsgefässen zu Wege. Fer¬ 
ner ist zu berücksichtigen die Todtenstarre der glatten Muskulatur der Ar¬ 
terien, welche die letzteren bis zu einem gewissen Grade von dem etwa in 
ihnen enthaltenen Blut befreit, und endlich die Todtenstarre des Herzens. 

Seit Strassmann's grundlegenden Untersuchungen über diesen Punkt 
beginnt man der Todtenstarre des Herzens einen grossen Wert beizulegen; 
insbesondere hat Strassmann gezeigt, inwieweit die als ein wichtiges Zeichen 
des Erstickungstodes geschätzte Füllung des rechten Ventrikels als ein Vor¬ 
gang aufzufassen ist, der durch die Todtenstarre des Herzmuskels seine ganz 
natürliche Erklärung findet. Die Füllung, welche die Herzhöhlen im Momente 
des Todes haben, finden wir — vorausgesetzt, dass nicht schwere degenera- 
tive Zustände des Herzens eine letzte Contraction überhaupt verhindern — 
nicht mehr bei der Autopsie. Denn der Herzmuskel hat sich contrahirt und 
der muskelstarke linke Ventrikel entleerte seinen ganzen Inhalt in die zur 
Verfügung stehenden Canäle, ein Vorgang, den der muskelschwache rechte 
nur bis zu einem gewissen Grade — wenn überhaupt — mitzumachen im 
Stande war. 

Tardieu’s Autorität war es, welche die auch vor ihm bereits bekannten 
und beschriebenen subserösen Ecchymosen in die Reihe der wichtigen Merk¬ 
male des Erstickungstodes erhob, er vindicirte ihnen einen pathognomonischen 
Wert bezüglich der Diagnose des Todes durch Bedeckung der Athemöffnungen. 
Die nach ihm benannten „TARDiEu’schen Flecke“ haben seitdem oft zu Dis- 
cussionen Anlass gegeben, und man ist jetzt darüber einig, dass sie häufig 
bei Erstickung überhaupt, nicht nur bei mechanischer Erstickung, Vorkommen, 
dass sie aber auch wohl gelegentlich fehlen können. 

Die Prädilectionsstellen der Ecchymosen sind die Pleuren und das Pericard, an denen 
-sie sich als punktförmige, bis linsengrosse Blutaustretungen zeigen. Diesen subserösen 
Ecchymosen gleichwertig sind kleine Blutungen auf der Thymusdrüse, in der Magen- und 
Darmschleimhaut, ferner in der Schleimhaut der Respirationsorgane, in der Nasenschleim¬ 
haut, in der Paukenhöhlenschleimhaut, seltener in den Hirnhäuten; einmal sahen wir sie 
bei einem Erhängten unter dem Ependym des vierten Ventrikels. Verwandt mit ihnen sind 
die Ecchymosen der Conjunctivalschleimhaut und der äusseren Haut, über welche bereits 
oben gesprochen wurde. Die Blutungen treten leichter ein bei Individuen mit zarten 
Gefässwandungen, insbesondere Kindern, als bei Erwachsenen. 

Wie ist nun ihr Vorkommen zu erklären? Zunächst hat man an Stauungsvorgänge 
zu denken, die sich unter dem Einfluss einer Lungenhyperämie (vgl. die Bemerkungen 
oben) im Venensystem überhaupt einstellen, sodann kommen aber noch eine Reihe anderer 
Umstände in Frage. Krahmer hat im weiteren Ausbau der DoNDERs’schen Theorie von der 
Lungenhyperämie die sogenannte Schröpfkopftheorie aufgestellt, indem er annahm, dass 
durch die inspiratorischen dyspnoischen Thoraxbewegungen das Blut wie in einem Schröpf¬ 
kopf an die Oberfläche des Organs, d. h. unter die Pleuren in das subpleurale Bindegewebe 
gezogen werde und dort aus den Gefässen austrete. Weiter betont v. Hofmann den 


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vasomotorischen Krampf bei der Erstickung, mit dem eine Vermehrung des Seitendrnckes 
im Gefasssystem einhergebe, und bemerkt hiezu — eine Behauptung, die er selbst und an¬ 
dere auch experimentell stützen konnten — dass das Entstehen der Ecchymosen Zusammen¬ 
falle mit dem Stadium der Krämpfe beim Erstickungstode. Corin hat in einer neueren 
Arbeit behauptet, dass einerseits eine Vermehrung des Blutdruckes infolge einer Erregung 
des vasomotorischen Centrums, andererseits ein mehr oder weniger langer Athemstillstand 
für das Zustandekommen der Ecchymosen als wesentlich zu erachten sei. 

Gewiss kommen, das kann keinem Zweifel unterliegen, eines oder das andere der 
angeführten Momente oder auch mehrere für das Entstehen der Ecchymosen in Frage 
— aber ihre Bedeutung für den Gerichtsarzt ist damit noch lange nicht erhärtet. Und 
diese Bedeutung ist, wie Strassmann (Die subpleuralen Ecchymosen und ihre Beziehung 
zur Erstickung. Vierteljahrschrift für ger. Med. u. s. w. 1898, Heft II) erst kürzlich noch 
auseinandergesetzt hat, nicht gering genug angeschlagen. 

Finden sie sich doch, um zunächst die Ubiquität ihres Vorkommens zu betonen, 
nicht nur bei der mechanischen Erstickung im TARDiEu’schen Sinne, sondern auch bei der 
Erh&ngung, beim Erdrosseln und Ertrinken; ferner bei Kopfverletzungen, nach spontanen 
Hirnapoplexien, bei Epilepsie, ebenso wie bei Tetanus, bei Lungenkrankheiten, ebenso wie 
beim Darmkatarrh der Kinder, bei der Phosphor- und Arsenvergiftung, ebenso wie bei 
Vergiftung durch Morphin oder durch verdorbenes Fleisch. Ausserdem ist zu betonen, 
dass auch ihr Fehlen nichts gegen die Annahme eines Todes durch Erstickung, auch durch 
mechanische Erstickung beweist. Weiter hat man der Ansicht Raum gegeben, dass ein 
Vorhandensein von Ecchymosen nicht mit der Annahme eines Todes an Herzparalyse 
vereinbar sei. Dem ist entgegen zu halten, dass es sich hierbei sehr wohl um ein nicht 
momentanes Erlahmen des Herzens handeln kann, während dessen doch noch Stauungs¬ 
erscheinungen eintreten können, so dass dann also doch eine „Erstickung durch Herz¬ 
lähmung“ vorliegt. Im Uebrigen ergaben Versuche, die in der Berliner Unterrichtsanstalt 
für Staatsarzneikunde mit Strophantin (dargestellt durch Professor Thoms, Berlin) ange¬ 
stellt sind, dass bei diesem unter ziemlich plötzlicher Blutdruckerniedrigung letal wir¬ 
kenden Stoff subpleurale Ecchymosen vorhanden waren. Der rechte Ventrikel war ad ma- 
ximum gefüllt, unfähig seinen Inhalt zu entleeren; die Lungen waren fast anämisch, 
das ziemlich schlaffe linke Herz bekam von den Lungen naturgemäss kein Blut mehr und 
enthielt nur wenig Blut — also ein Herztod — und doch waren, wie bemerkt, Ecchy¬ 
mosen unter der Pleura pulmonalis. Auf die Frage, wie sie entstanden, gehen wir ab¬ 
sichtlich nicht an dieser Stelle ein, aber wir registriren die Thatsache. Eines weiteren für 
die Dignität der Ecchymosen als Zeichen des Erstickungstodes sehr in Betracht kom¬ 
menden Umstandes gedenkt Strassmann in seinem Lehrbuch der gerichtlichen Medicin 
(pag. 217, Anm. 1), nämlich der älteren subpleuralen Ecchymosen, die sich gelegentlich 
bei Autopsien Erwachsener finden können, und die sich als nicht mehr aus Blutkörperchen, 
sondern aus Blutpigment bestehend erweisen. Aus diesen Befunden geht jedenfalls hervor, 
dass nicht nur als eine Theilerscheinung des Erstickungstodes Ecchymosen auftreten 
können, sondern dass sie auch ein Product lediglich vitaler Zustände sein können, 
das unmöglich der Deutung als Zeichen des Erstickungstodes anheim fallen kann. Und 
zuletzt sei noch hingewiesen auf die Beobachtung Haberda’s, der Ecchymosen an den 
Conjunctiven unter dem Einfluss künstlich forcirter Hypostase auftreten sah. Erinnern 
wir uns jetzt daran, dass die Ecchymosen hauptsächlich an der Hinterseite des Herzens 
und der unteren Fläche der Lungen in gewisser Ausdehnung gefunden werden, so wird 
es uns nicht gezwungen erscheinen, zum mindesten in der Vergrösserung schon vorhan¬ 
dener Ecchymosen, vielleicht aber auch in dem Entstehen von Ecchymosen überhaupt im 
Bezirk hypostatischen Abschnitts von Lungen und Herz eine analoge Erscheinung zu 
finden. 

Wir haben vorstehend die Lehre von der Erstickung ganz so wieder¬ 
gegeben, wie sie sich in den Lehrbüchern der gerichtlichen Medicin dar¬ 
gestellt findet, und wie sie auch praktisch allgemein von gerichtsärztlicher 
Seite Anwendung findet. Wir wollen dieses Capitel aber nicht beschliessen, 
ohne unserem principiell abweichenden Standpunkte Ausdruck verliehen zu 
haben, der, wie wir gleichzeitig bemerken wollen, nicht allein der unsrige ist, 
sondern der von maassgebenden neueren gerichtlich-medicinischen Schrift¬ 
stellern ersichtlich getheilt wird. 

Unsere Einwendungen betreffen zunächst die Definition der Erstickung. 
Wie eingangs hervorgehoben wurde, versteht man unter Erstickung nicht 
nur die primäre mechanische Erstickung mit ihren Unterarten, sondern auch 
die secundäre Erstickung infolge mangelhafter Blutzufuhr zu dem Terri¬ 
torium des respiratorischen Gaswechsels infolge Herzlähmung u. a. m. Wir 
unterlassen es, alle die verschiedenen Möglichkeiten aufzuzählen, die diese 
Bedingungen schaffen können; es würde zu weit führen; wir verweisen hiebei 


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nur auf die der Abhandlung vorangestellte Erörterung. Aber, so fragen wir 
nun weiter: was bleibt denn da überhaupt noch übrig? Welche Todesursache 
lässt sich denn eigentlich bei dieser uferlosen Definition nicht unter der 
Rubrik Erstickung unterbringen ? Aufhebung des respiratorischen Gaswechsels 
beendet stets wohl das Leben an erster oder letzter Stelle. 

Vieles spricht ja für die Einheitlichkeit all der angeführten, zum Tode 
führenden Krankheitszustände. Zunächst die dem Tode vorangehenden Er¬ 
stickungserscheinungen. Wie sie beim Zuklemmen der Trachea des Versuchs- 
thieres sich abspielen, so treten sie gewiss auch ein bei den übrigen mecha¬ 
nischen Erstickungsarten, und auch, was bisher kaum in dieser Weise betont 
worden ist, beim Tode durch Herzlähmung, durch Verblutung u. a. Bezüglich 
der Verblutung sei nur an die „Verblutungskrämpfe“ erinnert; und betreffs 
der Herzlähmung lehrt die Beobachtung am Krankenbett, wie auf das Auf¬ 
hören des Herzschlages wohl dyspnoische Athembewegungen oder convulsive 
Zustände folgen, ganz so wie wir es oben geschildert haben, als wir nicht 
hervorzuheben unterlassen, dass bei geschwächten Individuen die Aufeinander-? 
folge und Dauer der Erstickungserscheinungen eine oft nur angedeutete sei. 
Die unter unserer Mitwirkung angestellten Versuche mit Strophantin (s. o.), 
über welche A. Schültz alsbald ausführlich berichten wird, zeigen weiter, 
wie, nachdem der Blutdruck auf 0 gesunken ist, Krämpfe, Athempause und 
terminale Athembewegungen eintreten. Für die Einheitlichkeit des Erstickungs¬ 
begriffes spricht auch der Leichenbefund. Mag die Cyanose auch nur bei 
nicht ganz acut verlaufenden Erstickungen besonders stark sein (die stärkste 
Cyanose, welche wir beobachten konnten, zeigt Fälle von congenitalem 
Herzfehler mit sogenannter Blausucht und von gewaltsam Gestorbenen, ein 
durch den Fahrstuhl gequetschter, an dem Vollzug der Athembewegungen 
verhinderter junger Mensch), mag das Blut auch nur bei ganz schnell ab¬ 
laufenden Erstickungsfällen flüssig sein, bei langsam verlaufenden dagegen 
nicht, mag das Zustandekommen von Hyperämien der inneren Organe und 
der Ecchymosen an die verschiedensten Umstände geknüpft sein — bei einer 
grossen Anzahl Fällen von Erstickung in obigem Sinne werden wir auch den 
bis zu einem gewissen Grade typischen Leichenbefund erheben können. Aber 
was sagt uns dies alles? Wir erfahren nur, dass der Untersuchte an Er¬ 
stickung d. h. Aufhebung des respiratorischen Gaswechsels gestorben ist; es 
sagt uns dies alles — oder nichts. Die erwähnten Erstickungserscheinungen und 
der Leichenbefund sind eben bis zu einem gewissen Grade allen Todesarten 
überhaupt gemein und die Diagnose, die uns im Gutachten entgegen klingt, 
„Erstickung“, besagt schliesslich weiter nichts, als dass der Untersuchte 
todt ist. 

Wir sind demnach nicht in der Lage, den Erstickungsbefunden etwas 
specifisches zuzuerkennen, und wir glauben weiter, dass es ganz diesen Ver¬ 
hältnissen entspricht, wenn Strassmann vorschlägt, an Stelle des Gutachtens: 
„der p. N. ist an Erstickung gestorben; eine Ursache der Erstickung hat die 
Section nicht ergeben“ — zu sagen: „Die Section hat eine bestimmte Todes¬ 
ursache nicht ergeben.“ Es entspricht dem richterlichen Zweck der Section 
am ehesten, wenn wir bei dem Richter mit unserer Diagnose „Erstickung“ 
nicht falsche Vorstellungen wachrufen. Und unter Erstickung versteht der 
Richter nur den Tod durch Luftabschluss in irgend einer Form. 

In seiner bekannten Arbeit „Zur Lehre vom Erstickungstode“ (Viertel¬ 
jahrschrift für gerichtliche Medicin etc. 1867) hat Skrzeczka die Alternative 
aufgestellt, entweder den Begriff Erstickung ganz weit zu fassen, aber durch 
specielle Formulirung des Gutachtens der Diagnose eine bestimmte Richtung 
zu geben, oder aber Erstickung nur zu diagnosticiren, wenn wir neben den 
sogenannten Zeichen des Erstickungstodes die Einwirkung einer erstickenden 
Ursache feststellen können. Wenn wir nun nicht in der Lage sind, den 


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Zeichen des Erstickungstodes eine Specifität zu concediren, so erübrigt für 
uns erstens: den Begriff der Erstickung thatsächlich auf den Abschluss der 
atmosphärischen Luft in irgend einer Form zu begrenzen, und zweitens: 
der Kenntnis dieser abschliessenden Ursachen (inneren und äusseren), ihrer 
vitalen Reaction u. s. w. unsere ganz besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. 
Sind wir nur über diese im Klaren, dann werden wir auch entsprechend dem 
Sprachgebrauch diejenige Todesart Erstickung nennen können und dürfen, 
die wirklich durch Abschluss der athembaren Luft zum Exitus geführt hat. 
Wenn wir aber weiter überdies die bekannten sogenannten Zeichen des Er¬ 
stickungstodes antreffen, so gilt von ihnen das, was Bbouardel von den Hy¬ 
perämien sagt (Pendaison p. 17 ff.): „Notez le fait, et ne tirez pas de cette con- 
gestion des conclusions sans rapport avec sa valeur reelle“ — und von den 
Ecchymosen: „Signalez-les, interpretez leur valeur, mais n’en faites jamais un 
signe pathognomique: vous n’en avez pas le droit.“ g. puppe. 

Im Anschluss hieran wollen wir nun die einzelnen Formen der Er¬ 
stickung näher besprechen. 

a) Der Tod durch Erhängen. Der Tod durch Erhängen kommt dadurch 
zustande, das ein um den Hals gelegter und an irgend einem fixen Punkte 
befestigter Strang durch die eigene Schwere des an ihm mehr oder weniger 
frei schwebenden Körpers zugeschnürt wird. Der Strang ist in den meisten 
Fällen ein richtiger Strick, etwa ein Stück Zeugleine oder dergleichen, kann 
aber auch der allerverschiedensten Art sein: ein Hosenträger, ein Ledergurt, 
ein Handtuch, eine Serviette oder dergleichen; mancher Gefangene hat sich an 
bandartigen Streifen erhängt, die er aus seiner Kleidung gerissen, und gele¬ 
gentlich ist auch ein Stück Draht aus Eisen, Kupfer oder Messing benutzt 
worden. Die Befestigung des Strangwerkzeuges geschieht meist an einem 
nagel- oder hakenartigen Vorsprung an einer Wand oder an der Zimmerdecke, 
an einer Fensterkrampe oder Thürklinke, am Griffe der Ofenthür, an einem 
Dachsparren oder an einem Baumaste. Für den Erfolg ist es ohne Belang, 
ob der Körper wirklich frei hängt, und somit mit der vollen Last des ganzen 
Leibes in der Schlinge hängt, oder ob er irgendwie unterstützt wird, etwa mit 
den Füssen oder Knien oder gar mit dem Gesässe den Boden berührt. Somit 
können Erhängte in den allerverschiedensten Stellungen aufgefunden werden: 
wirklich frei hängend, stehend, knieend, sitzend, hockend, ja sogar liegend. 
Letztgenannte Stellung wird z. B. beobachtet, wenn ein Selbstmörder die um 
den Hals gelegte Schlinge am Bettpfosten befestigte und dadurch zur Zu¬ 
schnürung brachte, dass er seinen auf dem Bette liegenden Körper soweit wie 
möglich von dem Pfosten hinwegschob. Vielfach verschieden ist auch die Art 
der Befestigung des Strangwerkzeuges am Halse. 

Die meist benutzten Methoden sind folgende zwei: Das eine Ende des Stranges wird 
zu einer kleinen Oese geschlungen und durch diese das andere Ende desselben vor dessen 
Befestigung am Aufhängungspunkte hindurchgezogen; dabei entsteht eine regelrechte 
Schlinge, die in einfacher Lage um den Hals gelegt wird. Bei der zweiten Befestigungsart 
wird aus dem zweifach zusammengelegten Strick eine Schlinge gebildet, die den Hads in 
doppelter Lage umfasst. Bei diesen beiden Arten der Anlegung ist der Strang zu einer 
wirklichen Schlinge geschlossen, so dass der Hals in seinem ganzen Umfange ohne Unter¬ 
brechung mit dem Stranewerkzeuge in Berührung liegt. Bei anderen Arten der Anlegung 
ist die Schlinge nicht völlig geschlossen; so kann z. B. nur der vordere Theil des Hals¬ 
umfanges mit dem Stricke in Berührung sein, die Nackenpartie dagegen von ihm ganz un¬ 
berührt bleiben, indem der Strang, welcher hinter den Kieferwinkeln eine Stütze gegen das 
Abgleiten findet, von diesen aus aufwärts nach dem behaarten Kopfe zieht. Oft auch werden 
die beiden Enden des mit seiner Mitte um den Hals gelegten Stranges zu einem Knoten 
verschlungen, welcher dann entweder dicht dem Halse anliegt oder von ihm mehr oder 
minder weit entfernt bleibt, wodurch wiederum die Schlinge am Halse geschlossen oder 
offen erscheint. Berührt der Knoten den Hals, so kann dieses an verschiedenen Stellen 
geschehen: vorn oder hinten oder rechts oder links, wodurch natürlich die Haltung des 
Kopfes wesentlich beeinflusst wird. Liegt der Knoten im Nacken, so berührt das Kinn die 
Brust, liegt er vorn am Kehlkopfe, so wird das Kinn durch den Strang nach oben und 


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das Hinterhaupt in den Nacken gedrängt. Naturgemäss ist der Körper durch seine Schwere 
bestrebt, in der Schlinge soweit wie möglich nach abwärts zu rutschen; infolge dessen um¬ 
fasst der Strang stets die höchsten Partien des Halses, so dass er an dessen vorderer 
Seite fast immer oberhalb des Kehlkopfes zu liegen kommt. Aus demselben Grunde ver¬ 
läuft der Strang für gewöhnlich nicht wirklich horizontal um den Hals, sondern zieht von 
einer tiefsten Stelle an dem letzteren nach einer höchsten empor. Nur unter ungewöhn¬ 
lichen Verhältnissen werden wir bei einem Erhängten den Strick genau horizontal den Hals 
umfassen sehen, nämlich blos dann, wenn der Körper in einem rechten Winkel zum Auf¬ 
hängungsstrange horizontal gelagert war. 

Die Beachtung dieser Verhältnisse ist zuweilen von Wichtigkeit für die 
Unterscheidung eines Erhängungs- von einem Erdrosselungstode, bei welch’ 
letzterem, wie wir später sehen werden, eine mehr horizontale Lage des 
Strangwerkzeuges am Halse typisch ist. 

Die Mechanik des Erhängungstodes ist keineswegs so einfach, 
wie man früher wohl allgemein angenommen hat. Man glaubte ehedem, der 
Tod werde lediglich durch Erstickung infolge des Zupressens von Kehlkopf oder 
Trachea herbeigeführt; vielfach dachte man auch an ein Abbrechen des Zahn¬ 
fortsatzes des zweiten Halswirbels, und an eine Zerquetschung des in seinem 
Bereiche gelegenen Theiles des verlängerten Markes. Durch das Studium des 
anatomischen Befundes an Halbschnitten gefrorener Cadaver von Erhängten 
(Langreuter) ist man neuerdings dahin belehrt worden, dass das strangulirende 
Werkzeug den Zungengrund nach oben drängt, und dass die fest gegen 
Gaumen und hintere Rachenwand gepresste Zunge, die zudem den weichen 
Gaumen gegen das Dach des Nasenrachenraumes drückt, einen vollständigen 
Verschluss über dem Kehlkopfeingang herstellt. So sind allerdings alle Vor¬ 
bedingungen für das Zustandekommen des wirklichen Erstickungstodes ge¬ 
boten; aber dennoch haben wir Grund, anzunehmen, dass wir es bei dem Er- 
hängungstode nicht mit einer reinen Erstickung zu thun haben. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das strangulirende Werkzeug eine Com- 
pression der grossen Halsgefässe bewirken und jederseits_die Vena jugularis und Arteria 
carotis mehr oder weniger vollständig verschliessen wird. Dazu kommt fernerhin, dass 
auch der mit den genannten Gelassen in einer gemeinsamen Bindegewebsscheide verlaufende 
Nervus vagus durch den Druck des Stranges zunächst intensiv gereizt, dann aber sehr 
schnell gelähmt werden muss. Deber die Folgen dieser Einwirkung auf den functionell 
ungemein wichtigen Nerv ist Genaueres zur Zeit nicht sicher festgestellt, doch dürfen wir 
annehmen, dass insbesondere die Lähmung der die Uerzthätigkeit beeinflussenden Vagus¬ 
fasern durch Störungen der Herzbewegung den Eintritt des Todes begünstigen und be¬ 
schleunigen dürfte. Der Grad dieser Beeinflussung des Nervus vagus, sowie des Gefäss¬ 
verschlusses, und die Frage, ob solche Einwirkungen beiderseits oder auf nur einer Seite 
zustande kommen können, hängt naturgemäss in erster Linie von der Anlegung des 
Strangwerkzeuges am Halse ab, aber auch von der Schwere des die Zuschn&rung bewir¬ 
kenden Gewichtes. Jedenfalls wird durch die Compression der grossen Blutgefässe plötzlich 
die Speisung des Gehirnes mit frischem sauerstoffhaltigen Blute so eingreifend geschädigt, 
dass ausnahmslos eine momentan eintretende Bewusstlosigkeit die Folge ist. 

Die Richtigkeit dieser Annahme wird durch mehrere einwandsfreie Be¬ 
weise dargethan; einmal sprechen dafür die übereinstimmenden Aussagen aller 
vom drohenden Strangulationstode Erretteten; sie alle versichern, dass sie von 
dem Augenblicke an, da sich die Schlinge fest um ihren Hals gelegt, das 
Bewusstsein verloren und absolut nichts mehr gefühlt haben; dafür spricht 
zweitens auch die Thatsache, dass man es noch niemals beobachtet hat, dass 
ein sich Erhängender sich wieder aus der einmal zugeschnürten Schlinge be¬ 
freit hätte, obgleich es dazu in vielen Fällen, wenn z. B. die Füsse den 
Boden berührten, nur dessen bedurft hätte, sich aus der hängenden Stellung 
wieder aufzurichten, was doch bei erhaltenem Bewusstsein keinerlei Schwie¬ 
rigkeit hätte machen können. Bei jeder anderen Art des Selbstmordes kommt 
es bekanntlich unzählige Male vor, dass dem Lebensmüden sein Entschluss 
noch während der Ausführung leid wird, dass er davon Abstand nimmt, so¬ 
bald sein Unternehmen ihm Schmerz oder Todesangst zu bereiten anfängt; 
allein bei einem sich Erhängenden ist dies noch niemals vorgekommen! Von 
der Einwirkung, welche das Strangulationsband auf die Blutgefässe ausübt, 


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zeigen auch die späterhin noch zu erwähnenden, ziemlich häufig beobachteten 
Zerreissungen in der Tunica intima der Arteriae carotides, die fast immer 
im Bereiche derjenigen Stellen gelegen sind, auf welchen der Druck des 
Stranges lastete; und das thatsächliche Bestehen einer intensiven Compression 
der Carotisarterien hat E. v. Hofmann*) experimentell nachgewiesen: es ge¬ 
lang ihm nicht, selbst unter Anwendung hohen Druckes eine in die Arterie 
eingebrachte Flüssigkeit über die Stelle des Aufhängungsstranges hinweg zu 
bewegen. 

Der Leichenbefund bei Erhängten bietet zumeist einige unver¬ 
kennbare charakteristische Anzeichen für die besondere Todesart dar. In 
früheren Zeiten pflegten die Gerichtsärzte ein gewisses Gewicht auf das Aus¬ 
sehen des Gesichtes zu legen; man betonte das Bestehen einer auffallend 
cyanotischen Färbung desselben, ein deutliches Hervorgequollensein der Aug¬ 
äpfel und eine starke Injection der sichtbaren Schleimhäute, zumal der Augen¬ 
bindehäute, mit Blut. Heutzutage wissen wir, dass diese Anzeichen an der 
Leiche zumeist fehlen. Allerdings können sie während des Todeskampfes vor¬ 
handen sein, aber doch auch nur dann, wenn die Compression des Halses die 
oberflächlicher gelegenen und dünnerwandigen Venen bis zu völliger Undurch¬ 
gängigkeit für das Blut zuschliesst, während die geschützter gelagerten Arte¬ 
rien mit ihren stärkeren und widerstandsfähigeren Wänden noch Blut in den 
Kopf einfliessen lassen. Bei der unter diesen Verhältnissen sich ausbildenden 
starken Blutstauung unter hohem Drucke kommt es danu auch häufig zu 
Zerreissungen kleinster Blutgefässe, zumeist in den Conjunctivae der Augen, 
aber auch auf den Schleimhäuten der Mund-, Nasen- und Rachenhöhle, sowie 
gelegentlich auch in den Gefässschlingen der Hautpapillen in der Gesichts¬ 
oder Halshaut. Wo jedoch zufolge der Lagerung des Stranges am Halse auch 
die Arterien fest geschlossen werden, kann eine so hochgradige Stauung 
überhaupt nicht zustande kommen. Ist sie während der Agonie vorhanden 
gewesen, so schwindet sie doch hinterher wiederum, derart, dass in den meisten 
Fällen das Gesicht eines Erhängten sich von dem einer anderen Leiche nicht 
auffällig unterscheidet. Die vorhin beschriebenen Ecchymosen aber bleiben, 
da sie ja auf wirklichen Blutaustritten in das Gewebe beruhen, auch späterhin 
bestehen, ja sie können sich durch späteres Nachsickern des bekanntlich ge¬ 
rade bei Erstickten flüssig bleibenden Blutes noch sichtlich vergrössern. 
Charakteristisch für den Tod durch Erhängen sind sie indessen keineswegs, 
da sie, wie in dem Capitel über die Erstickung im allgemeinen näher ausge¬ 
führt ist, einen ziemlich constanten Befund bei allen Erstickungsleichen bilden. 

Etwas für den Erhängungstod Charakteristisches wurde ferner früher vielfach in 
einer eigenthümlichen Ausbildung und Anordnung der Todtenflecke gesucht. Bekanntlich 
bleibt gerade in den Leichen Erstickter das Blut flüssig; es kann also in weit stärkerem 
Maasse als in gewöhnlichen Leichen in die abhängigen Partien des Körpers hinabsickern. 
So liegt es auf der Hand, dass sich an der freihängenden Leiche eines Erhängten, der 
längere Zeit am Strange geblieben ist, ungewöhnlich stark ausgebildete Senkungshyperämien 
in den unteren Extremitäten finden müssen, in die ja das Blut fast ans dem ganzen 
Körper hineinsickert, ebenso wird sich alles in den Oberextremitäten befindliche Blut in 
den herniederhängenden Händen sammeln, sowie das Blut in den Hautpartien des Kopfes 
sich über dem Strange am Halse anstauen wird. Selbstverständlich aber ist diese An¬ 
ordnung der Todtenflecke nicht durch den Erhängungstod bedingt. Wird die Leiche eines 
aus anderer Ursache Verstorbenen gleich nach dem Tode frei aufgehängt, so wird sich 
bei ihr dieselbe Anordnung der Hypostasen ergeben, und andererseits wird die Lage der¬ 
selben bei einem Menschen, der sich in liegender Stellung erhängte, von der bei einer 
gewöhnlichen Leiche nicht abweichen. Somit sind Schlüsse aus der Lage und Starke der 
Todtenflecke stets nur mit grosser Vorsicht zu ziehen. 

Bei weitem das grösste Interesse für den Gerichtsarzt bieten diejenigen 
Befunde an der Leiche eines Erhängten, welche aus der unmittelbaren Ein¬ 
wirkung des Strangwerkzeuges resultiren. Tn den meisten Fällen hinterlässt 


*) E. v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtl. Med. VI. Aufl. 1893. S. 515. 


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der Strang eine schon änsserlich deutlich sichtbare Spur, die wir gemeinhin 
als „Strangfurche“, „Strangrinne“ oder „Strangulationsmarke“ bezeichnen. 
Auch betreffs der Strangfurche haben hinsichtlich ihrer forensischen Bedeu¬ 
tung die Anschauungen der Gerichtsärzte gegen früher einen wesentlichen 
Wandel erfahren. In den älteren gerichtlich-medicinischen Werken finden wir 
zumeist die Anschauung vertreten, das Vorhandensein einer deutlichen Strang¬ 
furche beweise unzweifelhaft, dass das betreffende Individuum „lebend an den 
Strang gekommen sei“, während man beim Fehlen derselben annahm, dass 
der erhängt Vorgefundene erst nach seinem, aus anderer Ursache erfolgten 
Tode aufgeknüpft worden sei. Diese Ansicht hat sich als völlig irrthümlich 
erwiesen. Vielfache Leichenuntersuchungen und experimentelle Forschungen 
haben dargethan, dass einerseits auch bei einem infolge Erhängens Veren¬ 
deten die Strangfurche fehlen kann, wenn z. B. die Strangulation durch ein 
sehr breites und weiches Werkzeug bewirkt wurde, und dass andererseits 
auch bei einem anderweitig Verstorbenen sich noch einige Zeit nach dem 
Tode durch Anlegung eines geeigneten Stranges eine Strangfurche erzeugen 
lässt. Für die gerichtsärztliche Beurtheilung des Falles sind namentlich zwei 
Gesichtspunkte hinsichtlich der Strangulationsmarke ins Auge zu fassen: 
erstens der Verlauf derselben am Halse und zweitens ihre nähere Beschaf¬ 
fenheit. Aus dem Verlaufe der deutlich ausgeprägten Strangfurche lässt 
sich feststellen, in welcher Weise das schnürende Werkzeug angelegt gewesen 
ist; aus ihm kann man ersehen, ob die Schlinge am Halse vollständig ge¬ 
schlossen war oder nicht, indem im ersten Falle die Furche ohne Unter¬ 
brechung den ganzen Hals umfassen wird, während sie andernfalls nur einen 
Tbeil desselben umgreift, um sich sodann nach oben hin aufsteigend allmählich 
zu verlieren. Aus diesem Befunde ergibt sich sodann, ob die Schlinge vorne 
oder hinten, oder ob sie an einer der beiden Seiten offen war, und. wo die 
tiefste Stelle ihrer Einwirkung lag, die sich naturgemäss der offenen Stelle 
gegenüber befinden muss. Ist sie gänzlich geschlossen, so lässt sie gewöhnlich 
an einem tieferen und grösseren Eindruck erkennen, an welcher Stelle der 
Knoten dem Halse angelegen hatte. Ein mehrfach um den Hals gelegter 
Strang hinterlässt daselbst eine doppelte oder mehrfache Strangfurche, zwischen 
deren einzelnen Rinnen die Haut sich gewulstet und meist etwas ödematös 
geschwollen hervordrängt. Aus solchen Befunden und ihrem Vergleiche mit 
der Gesammtsituation des einzelnen Falles oder mit den Eigenthümlichkeiten 
des vielleicht vorgelegten Strangwerkzeuges, mit dem die Tödtung geschehen 
sein soll, lassen sich häufig die wichtigsten Schlüsse ziehen. 

Die Beschaffenheit der Strangfnrche ist naturgemäss in erster Linie abhängig von 
der Art des dieselbe erzeugenden Werkzeuges: rauhe Stricke z. B. werden eine erheblich 
deutlichere Strangulationsmarke hinterlassen, als ein glattes weiches Seidentuch, ein 
schmaler fester Draht wird tiefer und schärfer in die Haut einschneiden als ein breiter 
Gurt. Ohne weiteres ist es fernerhin verständlich, dass die Beschaffenheit der Strang¬ 
marke wesentlich beeinflusst wird durch die Zeit, während welcher das Werkzeug ein* 
gewirkt hat, sowie durch die Schwere des Gewichtes, das bei der Zuschnürung der Schlinge 
zur Geltung kam. — Dem Aussehen nach unterscheiden wir zwei Hauptformen der 
Strangfurche, erstens die weiche, bläuliche oder anämische und zweitens die mumi- 
ficirte, harte, lederartige oder braune Strangulationsmarke. Die erstgenannte Beschaffen¬ 
heit. wird dann beobachtet, wenn die Einwirkung des Stranges nicht in so brüsker Weise 
zustande kam, dass sich dabei Hautabschürfungen ausbildeten, und eine übermässige Com- 
pression der getroffenen Theile eintrat-, wir sehen sie deshalb vorzugsweise als die Spuren 
mehr breiter und weicher Strangwerkzeuge; sehr auffallend ist besonders die blasse Farbe, 
die auf der durch die Compression bewirkten Anämie beruht, und die zumeist um so 
deutlicher hervortritt, als gewöhnlich die benachbarten Hautpavtien infolge besonders starken 
Blutgehaltes eine dunkel rothblaue Verfärbung aufweisen; dieser stärkere Blutgehalt ist 
über der Strangfurche regelmässig am stärksten ausgebildet, wird hier durch die sich nach 
unten senkenden Blutmengen bewirkt und beruht somit auf reiner Hypostase; die bläuliche 
Farbe der weichen Strangmarke erklärt Hofmahn damit, dass die durch stärkeren Druck ver¬ 
dichtete Haut immer eine blaugraue Farbe annehme, und dass hiebei zudem die Eigen¬ 
farbe der tiefergelegenen Muskulatur hindurchschimmere. 


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Die leder- oder pergamentartige Beschaffenheit der Strangfnrche wird niemals bei 
völlig frischen Leichen beobachtet, sondern bedarf zu ihrer Ausbildung immer erst des 
Verstreichens einer gewissen Zeit nach dem Eintritte des Todes; sie ist somit eine echte 
Leichenerscheinung. Ihre Entstehung beruht darauf, dass die Epidermis im Bereiche der 
Strangfurche durch die mechanische Einwirkung des Stranges abgescheuert, und derart 
das Corium freigelegt wird, das sodann infolge von Vertrocknung seines natürlichen Ge¬ 
haltes an Feuchtigkeit die geschilderten Eigenschaften annimmt. Begünstigt wird dem¬ 
gemäss die Ausbildung dieser Form durch eine rauhe, harte und feste Beschaffenheit des 
Stranges, sowie durch ein besonders energisches und kräftiges Zuschnüren der Schlinge, 
welches nicht allein alles Blut, sondern auch jede andere Flüssigkeit im Bereiche der 
Strangrinne aus den Geweben der Haut verdrängt, worauf, zumal nach Entfernung des 
Strickes, die Austrocknung der abgeschürften Partien um so schneller erfolgen Kann. 
Uebrigens beobachtet man häufig die mannigfachsten Combinationen beider Formen an 
einer und derselben Strangfurche, indem namentlich an den tiefsten Stellen, wo der Strang 
den heftigsten Druck ausübte, die braune, lederartige, in den höhergelegenen Partien da¬ 
gegen menr die livide Beschaffenheit zu bemerken ist. 

Schreitet man in der Untersuchung der Strangfurche von deren blosser äusserer 
Besichtigung zur Feststellung des inneren Befundes vor, so bemerkt man nach Durch¬ 
schneidung der Strangmarke und der ihr benachbarten Partieen am Halse zunächst die 
auffallende Blutfüllung in der Umgebung, am stärksten ausgeprägt, wie wir bereits sahen, 
oberhalb der Kinne, etwas weniger lebhaft unterhalb derselben. Immer aber ist das Blut 
4er Hauptsache nach in den Blutgefässen enthalten; oberhalb der Furche haben wir es 
demnach lediglich mit einer Senkungshyperämie, mit einer reinen Hypostase zu thun, die 
dadurch entsteht, dass das der Schwere nach abwärts fliessende, flüssige Blut durch die 
fest zusammengepressten Gefässe im Bereiche der Strangwirkung aufgehalten wird; dagegen 
ist die stärkere Blutfüllung unterhalb der Strangmarke die Folge einer Blutstockung, die 
auf dem Fehlen der treibenden Kräfte beruht, welche sich nicht durch die zusammen¬ 
gepressten Gefässe der Compressionszone hindurch fortzusetzen vermögen. Wirkliche Blut¬ 
austritte in das Gewebe hinein sind sowohl im Gebiete der Strangmarke als auch in dessen 
Umgebung nur selten zu beobachten, und wo sie vorhanden sind, stets nur in geringem 
Maasse ausgebildet. Diese Thatsache erscheint durchaus leicht verständlich, wenn man 
bedenkt, dass der ganz plötzlich in voller Stärke auftretende Druck durch den sich zu- 
schnürenden Strang sogleich alles Blut aus den Gefässen verdrängen muss, und dass bei 
der Schnelligkeit, mit der der Tod eintritt, bei der rasch erlahmenden Circulation für die 
Ausbildung grösserer Suffusionen gar keine Zeit übrig bleibt. Aus demselben Grunde sind 
zameist auch an den oft vorhandenen Muskelzerreissungen, die insbesondere häufig an den 
Muscali sternocleidomastoidei zur Wahrnehmung gelangen, nur ganz minimale Zeichen vi¬ 
taler Reaction zu erkennen. Darum ist es in den meisten Fällen ungemein schwierig fest¬ 
zustellen, ob solche Muskelrupturen noch am Lebenden oder erst nach dem Tode ent¬ 
standen sind, etwa beim Abnehmen der Leiche vom Strange oder sonst bei den Manipu¬ 
lationen mit dem Cadaver, die zwecks Vorbereitung zur Section unumgänglich sind; das 
Vorhandensein aus den Gefässen getretenen Blutes an den Rissstellen ist hier nicht allemal 
ohne weiteres als während des Lebens geschehen anzusehen, da es bei der flüssigen Beschaffen¬ 
heit des Leichenblutes Erstickter auch in postmortal entstandenen Muskelrissen durchaus mög¬ 
lich erscheint, dass aus mitzerrissenen Blutgefässen reichlichere Mengen Blutes aussickern 
und die Rissränder infiltriren können. Von sonstigen Verletzungen an Halsorganen Erhängter 
sind des öfteren constatirt worden: Fracturen der Zungenbeinhörner, zumal wenn diese 
verknöchert waren, Brüche der Schildknorpelplatten und Zerreissungen der Kehlkopf¬ 
bänder. Nach den Untersuchungen Haumeders entstehen diese Verletzungen zumeist we¬ 
niger infolge des unmittelbaren Druckes vonseiten des strangulirenden Werkzeuges als mehr 
indirect durch den Druck und die Zerrung, welche die betreffenden Theile erfahren, in¬ 
dem sie nach oben und hinten an die hintere Rachenwand und gegen die Wirbelsäule ge¬ 
drängt werden. — Ein ziemlich häufiger Befund sind die bereits erwähnten Zerreissungen 
der Tunica intima in der Arteria carotis. Diese Zerreissungen sitzen regelmässig im Ge¬ 
biete der unmittelbaren Strangwirkung und sind häufig nur einseitig, öfter aber auch an 
den beiderseitigen Carotiden aufzufinden; sie sind stets quer gestellt, d. h. ihr Ver¬ 
lauf steht ziemlich rechtwinklig zur Längsachse des Gefässes, und umfassen entweder nur 
einen Theil des Gefässlumens oder auch dessen ganze Peripherie; bisweilen sieht man auch 
mehrere gleichartige Risse in geringer Entfernung bis zu einigen Millimetern über einander 
angeordnet. Ihre Entstehung ist höchst wahrscheinlich auf das Zusammenwirken zweier 
Momente zurückzuführen. Der Druck des strangulirenden Werkzeuges zerrt die Arterie 
an der umschnürten Stelle nach oben, während zugleich die Last des ganzen Körpers an 
derselben einen starken Zug nach unten ausübt. Wird die Intima schon hierdurch heftig 
gedehnt, so steigert der hohe Innendruck des vom Herzen her zu Beginn des Strangu¬ 
lationsactes noch kräftig eingepressten Blutes, das an der Zuschnürungsstelle Halt machen 
muss, die Spannung der Innenhaut über deren WTderstandsvermögen hinaus. Dass eine 
vorgeschrittene atheromatöse Entartung der Arterienwand das Auftreten solcher Rupturen 
begünstigen wird, kann nicht bezweifelt werden, Vorbedingung für deren Entstehung ist 


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6ie jedoch keineswegs, wie die Thatsache beweist, dass man diese Zerreissangen aach bei 
kräftigen, jugendlichen Personen gesehen hat, deren Blatgefässe durchaus gesund waren. 

Alle übrigen Sectionsbefnnde stimmen mit denjenigen überein, die man 
auch sonst an den Leichen anderweitig Erstickter beobachtet; dementsprechend 
ist hier auf das Capitel „Erstickung“ zu verweisen. 

Bei weitem die Mehrzahl aller Todesfälle durch Erhängung wird durch 
Selbstmord herbeigeführt. Erhängung infolge unbeabsichtigten, unglücklichen 
Zufalles ist ungemein selten, aber naturgemäss nicht unmöglich. Für die 
absichtliche Tödtung eines anderen kann die Methode des Erhängens nur 
dann in Betracht kommen, wenn der Angreifer über ein ungewöhnlich grosses 
Uebermaass an Körperkräften seinem Opfer gegenüber verfügt; so gehört die 
gewaltsame Erhängung von Kindern durch Erwachsene nicht zu den Selten¬ 
heiten; zur Ermordung Erwachsener aber ist das Erhängen im Allgemeinen 
so völlig ungeeignet, dass der Gerichtsarzt durchaus berechtigt ist, wo er 
einen erwachsenen Menschen, der im Vollbesitz seiner Körperkräfte war, er¬ 
hängt vorfindet, in erster Linie Selbstmord anzunehmen. Nur unter Anwendung 
ganz besonders raffinirt getroffener Vorbereitungen könnte es gelingen, einen 
vollbewussten und kräftigen Erwachsenen mittels Erhängens zu ermorden; ein 
solcher Fall findet sich z. B. in Vibchow’s Jahresbericht 1890, I, S. 496 
mitgetheilt. Unter gewöhnlichen Umständen würde ein derartiger Mord¬ 
anschlag kaum ohne die heftigste Gegenwehr von seiten des Ueberfallenen 
ausführbar sein, dies aber müsste fast immer deutlich sichtbare Spuren an 
dem Körper des Ueberwältigten zurücklassen. Freilich ist es auch denkbar, 
dass sich das Opfer bisweilen von Hause aus in einem bewusstlosen oder 
völlig wehrlosen Zustande befinden, oder dass es durch irgend welche be¬ 
sondere Maassnahmen des Mörders in einen solchen versetzt werden kann« 
Ein ganz besonderes Interesse für den Gerichtsarzt kommt der Möglichkeit 
zu, dass ein Mörder sein irgendwie getödtetes Opfer derart aufhängt, dass 
der Anschein eines Selbstmordes erweckt werden soll. Ist in einem solchen 
Falle der Tod durch eine traumatische Einwirkung erfolgt, so wird meistens 
die Auffindung der tödtlichen Verletzung alle Zweifel lösen. Doch ist auch 
in der Beurtheilung derartiger Fälle die allergrösste Vorsicht am Platze. 
Es ist nicht unmöglich und des öfteren sicher beobachtet, dass ein Selbstmör¬ 
der, dem der Eintritt des Todes infolge einer selbstgesetzten Verletzung, etwa 
durch Stich oder Schuss oder durch Oeffnen der Pulsadern, Schnitt in den 
Hals u. dgl. nicht schnell genug erfolgte, sich dann noch erhängte. Kleinere 
oder grössere Verletzungen, die leicht den Verdacht erregen können, es 
handle sich in ihnen um die Spuren eines stattgehabten Kampfes mit einem 
feindlichen Angreifer, können zufällig bestanden haben, oder auch erst wäh¬ 
rend des convulsiven Stadiums in der Agonie durch Schlagen oder Stossen des 
Körpers gegen irgend welche Gegenstände, ja auch erst postmortal beim 
Abnehmen oder Transportiren des Leichnams entstanden sein. 

Ganz besonders schwierig werden kann die Beurtheilung dann, wenn 
der Mörder sein Opfer irgendwie anderweitig erstickt und dann, um den 
Schein des Selbstmordes zu erwecken, aufgehängt hat. Es erscheint wohl 
denkbar, dass unter solchen Umständen die Feststellung des wahren Sach¬ 
verhaltes geradezu unmöglich wird, da alle äusseren und inneren Befunde 
der Erstickung mit dem Erhängungstode nicht in Widerspruch stehen. Doch 
werden auch in diesen Fällen Zeichen geleisteter Gegenwehr nur selten 
gänzlich fehlen, oder aber locale Symptome am Halse auf ein stattgehabtes 
Drosseln oder Würgen hindeuten. 

b) Der Tod durch Erdrosseln, Der Tod durch Erdrosseln kommt ebenso 
wie der durch Erhängen dadurch zustande, dass ein um den Hals gelegtes 
Strangwerkzeug zusammengeschnürt wird. Die eigentliche Todesursache 
ist auch hier nicht einfache Erstickung, sondern beruht gleichfalls auf 


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dem Zusammenwirken dieser mit der Unterbrechung der Blutcirculation in 
den grossen Halsgefässen und der Irritation, welche der Nervus vagus durch 
die ihn treffende kräftige Compression erfährt. 

Die Mechanik der Erdrosselung unterscheidet sich von der des 
Erhängungstodes dadurch, dass die Zuschnürung des Strangwerkzeuges nicht 
durch die Schwere des eigenen Körpers, sondern durch eine andere Kraft 
erfolgt, meist durch die Hand eines fremden Angreifers, bisweilen unter Zu¬ 
hilfenahme besonderer, mehr oder minder sinnreich erfundener Apparate, die 
ein Lockerwerden der festgeschnürten Schlinge verhindern sollen. Auch hier 
entsteht unter der Einwirkung des strangulirenden Werkzeuges eine Strang¬ 
furche, für deren gerichtsärztfiche Beurtheilung im Allgemeinen ganz die¬ 
selben Gesichtspunkte maassgebend sind, wie für die Strangulationsmarke 
beim Erhängten. Etwas besonderes gegenüber jener bietet sie allein hin¬ 
sichtlich ihrer Lage am Halse und bezüglich ihres Verlaufes. Während bei 
der Erhängung eines Menschen, wie wir sahen, der Strang regelmässig die 
höchsten Partien des Halses umfasst, fehlen hier jene Gründe, die dort ein 
Hinaufrutschen des Strangwerkzeuges bedingen. Die Erdrosselungsmarke kann 
daher je nach der Anlegung des Stranges in jeder beliebigen Höhe des Halses 
verlaufen und gelegentlich genau horizontal um denselben gelegen sein, 
was dort niemals der Fall ist; ausserdem ist die Drosselfurche ausnahmslos 
völlig geschlossen und im Nacken ebenso deutlich ausgeprägt, wie vorn am 
Halse, es sei denn, dass irgend ein schützender Gegenstand, etwa ein Tuch, 
ein kräftig entwickelter Vollbart oder dergleichen eine bestimmte Stelle vor 
der Einwirkung des Stranges bewahrt hätte. 

Erdrosselung durch Unglücksfall ist naturgemäss ungemein selten. In 
der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um beabsichtigte Tödtung, die nament¬ 
lich häufig an kleinen Kindern, insbesondere an Neugeborenen, ausgeführt 
wird. Doch sind auch Fälle von Selbsterdrosselung durchaus nicht so selten, 
wie vielfach angenommen wird; freilich wird diese nicht in der Weise aus¬ 
geführt werden können, dass der Selbstmörder die beiden Enden des um den 
Hals gelegten Strickes nach entgegengesetzten Richtungen anzieht, da bei 
dieser Anordnung des Versuches allemal bei eben eintretender Bewusstlosig¬ 
keit die zuschnürende Kraft erlahmen wird, bevor der Tod eintreten konnte. 
Wohl aber kann eine Selbsterdrosselung leicht ausgeführt werden, wenn nur 
Fürsorge getroffen ist, dass auch nach dem Verluste des Bewusstseins — 
etwa unter Anwendung eines Knebels — die zugeschnürte Schlinge sich nicht 
wieder löst. 

c) Der Tod durch Erwürgen. Der Tod durch Erwürgen wird im Gegen¬ 
sätze zu den Todesarten durch Erhängen und Erdrosseln nicht durch die 
Einwirkung eines strangulirenden Werkzeuges, sondern lediglich durch Com¬ 
pression des Halses mittels einer oder beider Hände des Angreifers ausgeführt. 
Auch bei ihm haben wir es nicht mit einem reinen Erstickungstode zu thun; 
allerdings spielt auch hier der Verschluss der Athemwege eine Hauptrolle; 
zustande kommt dieser zum Theil durch wirkliche Zudrückung von Kehlkopf 
und Trachea, zum Theil aber auch durch die Empordrängung der Halsorgane 
in den Nasenrachenraum hinauf und gegen die Wirbelsäule, wobei dem Luft¬ 
strome insbesondere durch den das Cavum nasopharyngeale geradezu tam- 
ponirenden Zungengrund nebst dem in gleicher Weise wirkenden Velum pala- 
tinum der Zugang zu den Athemwegen verlegt wird. Aber auch hier gesellt 
sich dazu die Compression der grossen Halsgefässe, wenngleich dieselbe wohl 
nur ausnahmsweise so vollständig werden kann, wie bei der Einwirkung eines 
strangulirenden Strickes, und als weit eingreifenderes Moment die Wirkung 
des brüsken Angriffs auf den Nervus vagus, der hier nicht allein in Gestalt 
seines Hauptstranges, sondern zudem auch mit seinen die Halsorgane und 
insbesondere den Kehlkopf versorgenden Fasern, speciell dem Nervus laryngeus 


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superior in Betracht kommt. Es ist mehrfach beobachtet worden, dass ein 
einmaliges kräftiges Zusammenpressen des Kehlkopfes, bei welchem jedoch 
die mechanische Unwegsamkeit für den athmenden Luftstrom im gleichen 
Momente wieder aufgehoben wurde, sofortigen Erstickungstod nach sich zog. 
Man konnte diese Thatsache nur als reflectorischen Athemstillstand infolge 
der heftigen mechanischen Reizung der in Betracht kommenden Nerven deuten. 
Einer ganzen Reihe von Forschem*) gelang es, den auffallenden Vorgang 
im Thierexperimente nachzuahmen, durch welches auch der Beweis für die 
Richtigkeit der Anschauung erbracht wurde, dass es sich hier um einen Reflex¬ 
vorgang handelt, indem augenblicklicher Athemstillstand auch durch ander¬ 
weitige intensive Reizung des Nervus laryngeus superior bei Fernhaltung 
jedes mechanischen Athemhindernisses erzielt werden konnte. Dasselbe beob¬ 
achtete man übrigens auch bei Reizung der Endigungen des Nervus recur¬ 
rens (Falk). Gerichtsärztlich ist diese Thatsache ungemein wichtig, da sie die 
Möglichkeit feststellt, dass ein Mensch nach einer einzigen und nur einen 
Moment lang währenden kräftigen Zusammendrückung des Larynx unter den 
Anzeichen der Erstickung sterben kann. 

Was die verschiedenen Gelegenheiten anbetrifft, bei welchen die Erwür¬ 
gung beobachtet wird, so ist ein Selbstmord mittels dieser Todesart nur 
schwer denkbar und sicherlich ganz ungemein selten zur Ausführung ge¬ 
kommen, denn naturgemäss wird, beim Versuche dazu, fast immer mit dem 
Eintreten der Bewusstlosigkeit auch die würgende Hand erschlaffen und damit 
die Compression der Halsorgane unterbrochen werden, bevor der Tod ein- 
treten konnte. So findet sich in der Literatur auch nur ein einziger Fall **) 
verzeichnet: eine geisteskranke Frau hatte sich derartig neben ihr Bett 
niedergekauert, dass ihr Gesicht auf dem Bette lag, wodurch der Luftzutritt 
zu Mund und Nase auch dann noch aufgehoben blieb, als sie infolge der 
Selbstwürgung mit den eigenen Händen bewusstlos geworden war. — Von 
Erwürgung durch Unglücksfall könnte man sprechen, wenn ein Angreifer, 
ohne selbst die Tödtung beabsichtigt zu haben, durch einen kräftigen Griff 
an den Kehlkopf auf die vorhin besprochene Weise den Tod eines Menschen 
herbeigeführt hätte. — In weitaus den meisten Fällen von Erwürgung aber 
haben wir es mit beabsichtigter Tödtung zu thun. 

Fast regelmässig weist der Leichenbefund bei Erwürgten, ausser den 
für den acuten Erstickungstod im Allgemeinen charakteristischen Kennzeichen, 
eine Anzahl von Symptomen auf, die auf die specielle Todesart mehr oder 
minder deutlich hinweisen. In erster Linie unter diesen stehen die äusseren 
Spuren, welche die Einwirkung der würgenden Hand am Halse zurückgelassen 
hat, in Form von Hautabschürfungen und von den Fingernägeln herrührender 
mehr oder weniger tiefer Kratzwunden, sowie Blutunterlaufungen von recht 
verschieden grosser Ausdehnung in deren Umgebung. Aus der natürlichen 
Stellung der vom Angreifer zumeist gebrauchten rechten Hand ergibt es sich, 
dass man gewöhnlich an der rechten Seite des Halses die durch den Daumen, 
an der linken dagegen die durch die übrigen vier Finger verursachten Spuren 
bemerken kann. Der umgekehrte Befund würde die Schlussfolgerung recht- 
fertigen, dass mit der linken Hand gewürgt worden sei. Selbstverständlich 
wird der Angegriffene fast immer versuchen, sich der würgenden Hand zu 
entziehen und heftige Gegenwehr zu leisten, so dass der Mörder wohl selten 
mit nur einmaligem Anpacken des Halses und ohne erheblichere Kraftanwen¬ 
dung bei dem Kampfe auf Tod und Leben zum Ziele gelangen kann. Daher 
weist der Hals der Leiche auch meistens eine ganze Anzahl von Verletzungen 


*) J. Rosenthal; Claude-Bernard; F. Falk; P. Bert u. A. Hofmann, Lehrbuch der 
gerichtlichen Medicin VI. Auflage, 1893. S. 559 ff. 

**) Binner, Zeitschrift für Medicinalb., 1888, S. 364 ff. 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


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auf, aus deren Lage zu einander aber doch oft noch deutlich ersichtlich ist, 
in welchen verschiedenen Stellungen die würgende Hand den Hals gefasst 
gehalten hat. In den tieferen Theilen des letzteren weist die Section häufig 
Verletzungen nach von mehr oder minder grossen Blutergüssen in sämmtliche 
Gewebe bis zu Quetschungen und Zerreissungen der Muskulatur, sowie In- 
fractionen und vollendeten Fracturen der Kehlkopfknorpel und des Zungen¬ 
beins. — Die Folgen eines stattgehabten Kampfes können an der Leiche in 
Gestalt aller möglichen Verletzungen, unter Umständen auch bezeichnender 
Beschädigungen an der Kleidung des Getödteten in die Augen fallen. 

d) Der Tod durch Ertrinken. Der Tod durch Ertrinken ist diejenige 
Form des acuten Erstickungstodes, welche dadurch zustande kommt, dass der 
atmosphärischen Luft der Zugang zu den Athemwegen durch ein flüssiges 
Medium verwehrt wird. Es ist hierzu keineswegs erforderlich, dass der ganze 
Körper des Ertrinkenden, oder auch nur sein ganzer Kopf, in die Ertrinkungs¬ 
flüssigkeit gerathe, vielmehr genügt es, wenn allein Nase und Mund durch 
die Flüssigkeit von der Luft abgeschlossen sind. Somit kann es Vorkommen, 
dass selbst erwachsene Personen in ganz seichten Lachen ertrinken, wenn 
sie derart mit dem Gesichte in eine solche hineingerathen, dass sie dasselbe 
nicht mehr aus ihr herauszubringen vermögen; Schwerberauschte, Epileptische 
während des Anfalles oder sonst bewusstlos gewordene sind gelegentlich in 
einem ganz flachen Graben, ja in einer Pfütze des Weges oder gar in der 
eigenen Waschschüssel ertrunken, und naturgemäss fallen Kinder ähnlichen Un¬ 
glücksfällen besonders leicht zum Opfer. Die Natur der Flüssigkeit ist für 
den Ertrinkungstod ohne Belang; selbstverständlich spielt hier das Wasser 
die erste Bolle, doch ist ein Ertrinken auch in jeder anderen Flüssigkeit 
möglich; besonders häufig ereignet es sich in dem flüssigen Inhalte von Dung¬ 
oder Abortgruben, sowie bei Neugeborenen oder noch ungeborenen Kindern 
im eigenen Fruchtwasser. 

Die näheren Vorgänge, weche sich während des Ertrinkens abspielen, sind vielfach 
studirt und namentlich auch im Thierexperimente geprüft worden. E. v. Hofmann 1 ) unter¬ 
scheidet nach eigenen Beobachtungen und nach den Angaben von F. Falk *) und Beet j ) 
drei Stadien im Verlaufe des Ertrinkungstodes. Während des ersten Stadiums stellt der 
Ertrinkende das Athmen gänzlich ein. Dieses kann auf zweierlei Ursachen beruhen. In 
einem Theil der Fälle handelt es sich dabei um einen ReflexVorgang, ausgelöst durch die 
plötzliche Berührung eines grossen Theiles der Körperoberfläche mit einer kalten Flüssig¬ 
keit; dass hierdurch secundenlang andauernder reflectorischer Athemstillstand erzengt 
wird, weiss jedermann aus eigener Erfahrung, der je ein kaltes Bad oder eine kalte Douche 
genommen. In anderen Fällen geschieht das Anhalten des Athems theils mehr oder weniger 
absichtlich und bewusst, theils mehr instinctiv, indem jedes Geschöpf in der Ertrinkungs¬ 
gefahr von Natur bestrebt ist, sich dem Eindringen der Flüssigkeit in die Athemwege so¬ 
lange wie irgend möglich zu widersetzen. Nach diesen Ausführungen ist es leicht ein¬ 
zusehen, dass das erste Stadium im Verlaufe des Ertrinkungsvorganges nicht absolut con- 
st&nt sein wird, sondern dass es ausbleiben muss, wenn ein Mensch in einem solchen Zu¬ 
stande in die Ertrinkungsgefahr geräth, in dem die Reflexerregbarkeit in höchstem Maasse 
abgestumpft und alles Wollen und Denken erloschen ist, wie etwa im schwersten Alkohol¬ 
rausche, während eines epileptischen Anfalles oder dergleichen mehr. Das zweite Stadium 
ist dasjenige der Dyspnoe. Wenn infolge der Athemverhaltung das Blut bis zu einem ge¬ 
wissen Grade sauerstoffarm und kohlensäurereich geworden ist, werden durch einen vom 
Athemcentrum in der Medolla oblongata ausgehenden Reiz Inspirationen ausgelöst; diese 
aber aspiriren nun statt der Luft die Ertrinkungsflüssigkeit in die Athemwege. Durch die 
Berührung der Flüssigkeit mit der Schleimhaut des Kehlkopfes und der Luftröhre and 
namentlich mit den äusserst empfindlichen Stimmbändern wird auf reflectorischem Wege 
jede Inspiration schnell durch eine heftige Exspiration abgebrochen. Die zweite Phase des 
Ertrinkungsvorganges ist somit in sehr deutlicher Weise gekennzeichnet, durch kurze, flache 
Inspirationen, unterbrochen von gewaltigen Exspirationsstössen von bald geradezu krampf¬ 
haftem Charakter; dabei werden reichliche Mengen eines feinblasigen Schaumes aus Mund 
und Nase geschleudert, der sich durch die Vermischung der Flüssigkeit mit den in den 
Respirationsorganen noch vorhandenen Luft mengen gebildet hat. Zu gleicher Zeit pflegt 


*) E. v. Hofmaän, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. VI. Aufl. 1893, S. 567. 
2 ) V irchow s Archiv, Bd. 47. F. Falk, „Zur Lehre vom Ertrinkungstode.“ 

8 ) Bert, Le<*our sur la Physiologie comparee de la respiration. Paris, 1870. 


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auch der ganze Körper in allgemeine ConTulsienen von bald mehr klonischer, bald mehr 
tonischer Natur zu verfallen. 

Das dritte Stadium ist das der Asphyxie, während dessen Bewusstsein und Reflex¬ 
erregbarkeit vollständig erloschen sind, und nur noch vereinzelte, in allmählich immer 
länger werdenden Pausen anf einander folgende tiefe Inspirationen ausgeführt werden. 
Diese ganz zu Ende des ErtrinkungsVorganges sich abspielenden und deshalb als „termi¬ 
nale Inspirationen“ bezeichneten Athembewegungen erst sind es, welche die Ertrinkungs¬ 
flüssigkeit tief in die Athemwege aspiriren und die feinsten Bronchialverzweigungen, ja 
selbst die Lungenalveolen damit anfüllen; bei jeder derselben wird der Mund krampf¬ 
artig weit aufgerissen und der Körper stark gekrümmt. Das Herz schlägt, während diese 
terminalen Athemkrämpfe allmählich immer seltener und schwächer werden und schliess¬ 
lich ganz aufhören, noch eine verschieden lange Zeit hindurch fort. Mit dem Erlöschen 
der Herzthätigkeit tritt sodann der Tod ein. Die Dauer des Ertrinkungsvorganges bis zum 
Verschwinden sichtbarer Lebenszeichen ist nur kurz, insbesondere die Zeit, während 
welcher der Ertrinkende Qual empfindet, beschränkt sich auf Bruchtheile einer Minute. 
Das erste Stadium dauert höchstens etwa eine halbe Minute, denn länger vermögen die 
meisten Menschen selbst bei ruhiger Körperhaltung den Athem nicht zurückzuhalten; so 
wird der Ertrinkende, der doch zumeist lebhafte Bewegungen ausführt, gemeinhin noch 
früher zu Inspirationen gezwungen sein. Auch das mit der Empfindung der Erstickungs¬ 
qual und Todesangst verknüpfte Stadium der Dyspnoe dauert nur sehr kurze Zeit, da der 
Mangel an frischer Sauerstoffzufuhr zum Gehirne bereits nach einer Anzahl von Secunden 
das Bewusstsein schwinden macht. Dagegen kann das Stadium der Asphyxie von längerer 
Dauer sein. Es währt vom Nachlassen der reflectorischen Exspirationskrämpfe bis zum Ein¬ 
tritte des Todes. Dieser aber erfolgt nach sehr verschiedenen Fristen. Bekanntlich ge¬ 
lingt es oft, trotz sofort angewandter sachverständiger Rettungsmaasnahmen (künstlicher 
Athmung etc.) nicht, einen Ertrunkenen, der nur wenige Minuten im Wasser gelegen war, 
ins Leben zurückzubringen, während in anderen Fällen die Wiederbelebungsversuche 
manchmal von Erfolg gekrönt werden, nachdem der Verunglückte erstaunlich lange Zeit 
im Wasser zugebracht hatte; namentlich trifft diese Erfahrung bei Kindern zu. Individuelle 
Veranlagung spielt in diesem Punkte eine grosse Rolle. 

Der so beschriebene Verlauf stellt gewissermaassen den Typus des Er¬ 
trinkungstodes dar; von ihm kommen aber mannigfache Abweichungen vor. 
Hin und wieder tritt z. B. der Tod plötzlich bereits während des ersten 
Stadiums ein, bevor es noch zu einer Aspiration von Flüssigkeit in die Luft¬ 
wege kommen konnte. Wahrscheinlich beruht dieses Ereignis auf einer shock- 
artigen Einwirkung — sei es der schnellen und intensiven Abkühlung des 
Körpers in kaltem Wasser, sei es der tief erregenden psychischen Einwir¬ 
kung des Schrecks, der Todesangst — auf das Centralnervensystem, welche 
plötzlichen, dauernden Stillstand der Athem- und Herzbewegungen verursacht. 
Individuell sehr verschieden ist die Dauer und Intensität der terminalen Athem¬ 
bewegungen und Convulsionen, welche in einzelnen Fällen sogar gänzlich aus- 
bleiben, ohne dass uns hierfür ein besonderer Grund ersichtlich würde. Für 
den Gerichtsarzt ist die Kenntnis dieser Thatsachen von Wert, damit er 
nicht etwa bei der Beurtheilung des Leichenbefundes aus dem Vorhandensein 
oder Fehlen, resp. aus dem Grade der Aspiration von Ertrinkungsflüssigkeit 
in die Luftwege irrige Schlüsse ziehe. 

Der Leichenbefund bei Ertrunkenen vereinigt in sich erstens 
alle Anzeichen, welche dem Erstickungstode überhaupt eigen sind, zweitens die 
besonderen Symptome der Erstickung in einem flüssigen Medium und drittens 
— sobald die Leiche eine irgendwie nennenswert lange Zeit in der Ertrin¬ 
kungsflüssigkeit liegen blieb — die Einwirkungen der letzteren auf den todten 
Körper. Aufgabe des Gerichtsarztes ist es, in dem Gesammtbilde des Leichen¬ 
befundes diese drei verschiedenen Factoren zu erkennen, und namentlich aus 
dem zweiten von ihnen die besondere Todesart zu diagnosticiren. Was die 
den Erstickungstod im Allgemeinen charakterisirenden Einzelheiten angeht, 
so sei auf das Capitel „Erstickung“ verwiesen. An dieser Stelle sei allein 
noch bemerkt, dass die sonst bei Erstickten so häufigen Ecchymosen in den 
inneren Schleimhäuten und serösen Häuten, sowie in den Augenbindehäuten 
bei Ertrunkenen nur selten beobachtet werden, mit Ausnahme allein von 
kleinen Kindern, zumal Neugeborenen; bei Erwachsenen werden sie, sofern 
dieselben in dünnflüssigen Medien den Tod fanden, nur ganz vereinzelt ge- 

Blbl. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Med. 49 


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funden, um so zahlreicher jedoch, je weniger dünnflüssig, je compacter das 
Medium war (Schlamm, Abtrittinhalt etc.). Die Erklärung hierfür ist in Fol¬ 
gendem zu suchen. Bei den dyspnoetischen, tiefen Inspirationen des Ertrin¬ 
kungskampfes wird Wasser oder jede andere leichtbewegliche Flüssigkeit 
leicht und ohne Widerstand tief bis in die feinsten Bronchien und Alveolen 
hinein aspirirt, wobei das flüssige Medium schnell das durch die inspira¬ 
torische Thoraxerweiterung geschaffene Vacuum ausfüllt. Ein dickflüssiges, 
zähes Medium dagegen kann nur langsam und unter mehr oder minder grossem 
Widerstande in die Athemwege eindringen; daher wird das bei den Inspira¬ 
tionsbewegungen entstehende Vacuum durch die aus den peripheren Theilen 
her angesaugten Blutmengen ausgeglichen; hierbei aber kommt es zufolge der 
damit gesetzten starken venösen Hyperämie aller intrathorakalen Organe zu einer 
ungewöhnlichen Drucksteigerung in dem gesammten zugehörigen Gefäss- 
gebiete, welche dann hie und da Capillarrupturen herbeiführt; bei neugeborenen 
oder noch ganz jungen Kindern können derartige Rupturen bei der grossen 
Zartheit und Widerstand sschwäche der Gapillaren selbst beim Ertrinken im 
Wasser zustande kommen. 

Welches sind nun die besonderen Symptome der Erstickung in einem 
flüssigen Medium? Die Frage, ob es an der Leiche Zeichen gebe, an denen 
man untrüglich erkennen könne, dass das Individuum ertrunken sei, ist 
kurzweg zu verneinen. Unter allen gewaltsamen Todesarten ist der Ertrin¬ 
kungstod derjenige, welcher einer zweifellosen Diagnose die grössten Schwie¬ 
rigkeiten bereiten kann. Es existirt nur ein einziges Anzeichen, das mit 
einer gewissen Sicherheit für den Ertrinkungstod spricht, nämlich der Nach¬ 
weis der Ertrinkungsflüssigkeit in einer bestimmten Anzahl von Räumen im 
Körper. Aber auch dieses Zeichen gilt nicht ohne Ausnahmen, und ist in 
jedem Falle nur mit Vorsicht für die Diagnose der Todesart zu verwerten. 
Bei dem Befunde einer Flüssigkeit in den sogleich näher zu besprechenden 
Körperhöhlen drängen sich naturgemäss zwei Fragen auf; erstens: ist die Vor¬ 
gefundene Flüssigkeit von aussen her in den Körper eingedrungen, und haben 
wir es nicht vielmehr mit einer aus dem Körper selbst stammenden Flüssig¬ 
keit zu thun? Und zweitens, wenn es gelingt, die Flüssigkeit als eine dem 
Körper fremde nachzuweisen, ist dieselbe noch während des Lebens in die 
Organe eingedrungen, oder fand sie etwa, ganz unabhängig von der speciellen 
Todesart, erst in die Leiche Eingang? Behufs Beantwortung der ersten Frage 
wird der Gerichtsarzt auf Eigenarten der Flüssigkeit zu achten haben, die 
etwa als Ertrinkungsflüssigkeit in Betracht kommen kann; so wird er in der 
bei der Leiche Vorgefundenen Flüssigkeit auf etwa mit blossem Auge sicht¬ 
bare oder mittels des Mikroskopes erkennbare corpusculäre Elemente fahnden, 
in besonderen Fällen vielleicht auch den Nachweis auffallender chemischer 
Bestandtheile ins Auge fassen. So hat z. B. in manchen zweifelhaften Fällen 
die Auffindung kleiner im Wasser lebender Organismen, von Fragmenten von 
Wasserpflanzen, kleiner Algen u. dgl. m. einen sicheren Fingerzeig gegeben; 
der Nachweis chemischer Bestandtheile könnte in Frage kommen, wenn fest¬ 
zustellen wäre, ob der Todte an einer Stelle ertrunken sei, an welcher das 
Wasser die Abgänge etwa einer Fabrik oder dergleichen aufnimmt, und daher 
irgend welche ungewöhnlichen Stoffe enthält. Fehlen derartige Anhaltspunkte 
gänzlich, so kann die Entscheidung, ob die Flüssigkeit in der Leiche aus 
dem Körper selbst oder von aussen her stammt, geradezu unmöglich werden. 
Zwecks Lösung jener zweiten Frage ob die Flüssigkeit unabhängig von der 
besonderen Todesart erst post mortem in die Leiche Eingang gefunden, wird 
der Gerichtsarzt im einzelnen Falle, sich der Ergebnisse der von einer Anzahl 
von Forschern angestellten Untersuchungen — betreffend die Möglichkeit des 
postmortalen Eindringens von Flüssigkeiten in die Körperhöhlen menschlicher 
Leichen — erinnern müssen. 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


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Die hier in Frage kommenden Körperhöhlen sind: 

a) die Lufträume des Athemapparates, 

b) Magen und Darm, und 

c) die Paukenhöhle des Gehörganges. 

Ad a) Den Befund einer Flüssigkeit in den Athemwegen richtig zu wür¬ 
digen, erfordert grosse Umsicht. Zunächst ist festzuhalten, dass bei zweifel¬ 
losem Ertrinkungstode doch die Athemorgane völlig frei von aspirirter Er¬ 
trinkungsflüssigkeit gefunden werden können. Diese Thatsache beruht auf dem 
Umstande, dass es zu einer Aspiration von Flüssigkeit immer erst während 
des dritten Stadiums des Ertrinkungsvorganges kommt, nachdem bereits das 
Bewusstsein erloschen und die Reflexerregbarkeit im höchsten Grade abge¬ 
stumpft war, während der Tod, wie wir gesehen, bisweilen bereits in einer 
der früheren Phasen eintritt, zu einer Zeit, da die Aspiration von Flüssigkeit 
in die Luftwege theils willkürlich oder mehr instinctiv, theils reflectorisch 
durch heftige Exspirationsbewegungen verhindert wird. Vom gänzlichen Fehlen 
aspirirter Flüssigkeit bis zu vollkommener Anfüllung des ganzen Luftröhren¬ 
systems bis in die feinsten Bronchiolen, ja bis in die tiefsten Lungenalveolen 
hinein, kommen in der Leiche eines Ertrunkenen alle erdenklichen Grade der 
Füllung mit Ertrinkungsflüssigkeit vor, je nach der Dauer und Intensität der 
terminalen Inspirationen. Ist dabei alle Luft aus dem Athemapparat durch 
Flüssigkeit vertrieben worden, so füllt die letztere auch wirklich als Flüssig¬ 
keit alle Respirationsräume aus. Dieser Befund jedoch ist ziemlich selten. 
Zumeist bleibt ein mehr oder minder beträchtlicher Theil der Athemluft in 
den Respirationswegen erhalten und mit ihr vermischt sich die dazu tretende 
Ertrinkungsflüssigkeit im heftigen Kampfe der Ein- und Ausathmungen zu 
einem mehr oder weniger feinblasigen Schaume. Die Farbe des letzteren 
kann je nach der Grundfarbe der Flüssigkeit sehr verschieden sein; geschah 
das Ertrinken in ganz reinem klaren Wasser, so ist sie rein weiss. Häufig 
wird dieser Schaum bereits vor Eröffnung der Leiche sichtbar; denn wird die 
letztere transportirt oder zwecks Entkleidung oder äusserer Besichtigung etc. 
hin- und hergewendet, so quillt er oft infolge eines Druckes auf den Brust¬ 
korb aus Nase und Mund hervor. Später geschieht dasselbe auch unabhängig 
von Berührungen der Leiche, indem das durch die in der Bauchhöhle sich 
entwickelnden Fäulnisgase in den Brustraum hineingedrängte Zwerchfell die 
Lungen zusammenpresst und den Schaum oft in charakteristischer Form 
(Champignon d’öcume) ausdrückt. Bei der Section lässt erklärlicherweise der 
Grad der in den Athemorganen bestehenden Flüssigkeitsansammlung einen 
wesentlichen Einfluss auf den Lungenbefund erkennen, der naturgemäss auch 
von der Art, namentlich von der Consistenz der Flüssigkeit abhängig sein 
wird. In den Fällen, in welchen der Tod eintrat, bevor noch eine Aspiration 
des ertränkenden Mediums zustande kommen konnte, werden die Lungen 
durchaus die gewöhnliche Beschaffenheit auf weisen; in anderen wird man nur 
geringe Mengen des aus der Ertrinkungsflüssigkeit entstandenen Schaumes in 
den obersten Theilen der Luftwege auffinden. Sind dagegen alle unter natür¬ 
lichen Verhältnissen lufthaltigen Räume der Lunge mit Wasser oder gar mit 
einer zähen und compacten Flüssigkeit, wie etwa Abtrittinhalt, angefüllt, so 
wird sich das in sehr deutlicher Weise schon bei Eröffnung der Brusthöhle 
darin zu erkennen geben, dass die gewöhnliche, durch die normale Elasticität 
des Lungengewebes bedingte Retraction der Lungen weit geringer ausfällt 
oder sogar gänzlich vermisst wird. In den am deutlichsten ausgeprägten 
Fällen erscheinen dann die Lungen geradezu aufgedunsen, so dass die normal 
scharfen Randtheile stumpf und geschwollen erscheinen, und beim Palpiren 
des Organes gewinnt man nicht das gewöhnliche fein knisternde, sondern 
vielmehr ein teigiges Gefühl. Die durch die Lungensubstanz selbst gelegten 
Sectionsschnitte erweisen dann naturgemäss einen ganz ungewöhnlich grossen 

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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


Saftreichthum des ganzen Parenchyms, der um so grösser erscheint, je weniger 
Luftgehalt in Gestalt eines feinblasigen Schaumes erhalten geblieben ist. 

Nach den Untersuchungen von A. Paltauf *) flieset die reichliche Flüssigkeit nicht 
allein ans den mit der Ertränknngsmasse gefüllten Lufträumen, sondern zum Theil auch 
aus dem durchschnittenen Zwischengewebe, in welches die Flüssigkeit bereits .während des 
Ertrinkens selbst aus den Alveolen, theils auf den präformirten Wegen der Kittleisten und 
Saftspalten, theils durch kleine Verletzungen in den Alveolarwandungen eindringt, welche 
während des heftigen Wechsels zwischen Inspirationen und Exspirationen im zweiten 
Stadium des Ertrinkungskampfes entstehen. 

Grosse Schwierigkeiten kann es nun aber bereiten, wenn es gilt zu ent¬ 
scheiden, ob die in den Athemwegen aufgefundene Flüssigkeit in diese von 
aussen eingedrungen ist, oder ob sie aus dem Körper selbst stammt. Be¬ 
kanntlich sammeln sich bei allen, mit einem langdauernden Todeskampfe ver¬ 
knüpften Todesarten in den Alveolen der Lungen, sowie in den kleineren und 
schliesslich auch in den grösseren Bronchien reichliche Mengen von Serum 
an, wodurch derjenige Zustand der Lungen geschaffen wird, der als Lungen¬ 
ödem allgemein bekannt ist. Ein stark entwickeltes Lungenödem kann daB 
Organ in eine Beschaffenheit versetzen, welche dem oben geschilderten Bilde 
einer Ertrinkungslunge sehr ähnlich ist. Unter diesen Umständen kann es 
geradezu unmöglich werden, allein aus dem Lungenbefunde die Unterschei¬ 
dung zu treffen, ob wir eine Ertrinkungslunge vor uns haben oder nicht, so¬ 
fern ein Ertrinken in reinem Wasser in Frage kommt, da wir bisher keine 
sichere Handhabe besitzen, die beiden hier in Frage kommenden Flüssig¬ 
keiten zuverlässig zu unterscheiden. Auch bei einer gewaltsamen acuten Er¬ 
stickung, etwa bei einer Erwürgung oder Erdrosselung, kann das Erlöschen 
des Lebens in so protrahirter Weise vor sich gehen, dass es zur Ausbildung 
eines erheblichen Lungenödems kommt. Dann findet der untersuchende Ge¬ 
richtsarzt neben allen Zeichen der acuten Erstickung die Lungen so voller 
Flüssigkeit, dass ihm sehr wohl ein Ertrinkungsfall vorgetäuscht werden kann. 
In derartigen Fällen wird er für die Diagnose der Todesart andere Stütz¬ 
punkte verwerten müssen. 

Für den Gerichtsarzt, der nicht selten auch Leichen zu untersuchen 
hat, seit deren Tode bereits eine geraume Zeit verstrichen ist, hat auch die 
Kenntnis der Thatsache erhebliche Wichtigkeit, dass sich mit fortschreiten¬ 
der Zersetzung der Leiche die soeben besprochenen Verhältnisse in den 
Lungen wesentlich ändern. Die in den Lufträumen der Lungen enthaltenen 
Flüssigkeiten erfahren im Laufe der Zeit infolge von Imbibitions- und Trans¬ 
sudationsvorgängen eine Ortsveränderung, so dass die Lungen allmählich 
trocken werden, während sie zugleich infolge von Fäulnisgasentwicklung wieder 
einen gewissen Luftgehalt bekommen. Secirt man eine Leiche in diesem 
Stadium, so drängen sich die Lungen in auffallender Weise aus der Brust¬ 
höhle hervor, weil sie entsprechend ihrem geringeren Gewicht auf der in den 
Pleurahöhlen sehr reichlich angesammelten Flüssigkeit die höchste Stelle 
suchen. Auf dem Durchschnitte erscheinen sie dann um so trockener, je 
weiter der gedachte Transsudationsvorgang bereits vorgeschritten ist. 

Was nun endlich die Frage betrifft, ob die in den Athemwegen auf¬ 
gefundene Flüssigkeit unabhängig von der besonderen Todesart postmortal 
erst in die Leiche eingedrungen sei, so haben zahlreiche Untersuchungen von 
Liman, sowie auch von E. v. Hofmann**) ergeben, dass Wasser und andere 
leicht bewegliche Flüssigkeiten in die obersten Partien der Luftorgane auch 
bei Leichen einzudringen vermögen. Stärkere mechanische Einwirkungen, 
welche den Brustkorb bei unter Wasser liegenden Mund- und Nasenöffnungen 
zusammenpressen und wieder frei lassen, werden nach Art der künstlichen 


*) A. Paltauf: .Ueber den Tod durch Ertrinken.“ 1888. 

**) E. v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, VI. Auflage 1893, S. 673. 


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Athmung eine Aspiration von Flüssigkeit zu Wege bringen können, was nament¬ 
lich dann mit zu berücksichtigen wäre, wenn etwa das Hervorheben der Leiche 
aus dem Wasser mit Schwierigkeiten verbunden war. Regelmässig aber bleibt 
auch in solchen Fällen das Eindringen von Flüssigkeit nur auf die aller¬ 
obersten Theile der Athemwege beschränkt, so dass ein Zweifel nur in einer 
verhältnismässig kleinen Zahl von Fällen statthaben wird. Unter allen Um¬ 
ständen lässt der Befund irgend grösserer Ansammlungen und namentlich 
deren Vorgerücktsein bis in die kleineren Bronchien und Bronchiolen mit 
grosser Sicherheit auf eine active Aspiration während des Lebens schliessen. 
Dasselbe gilt in noch höherem Maasse, wenn man zähe, schwerbeweg¬ 
liche Massen, wie Schlamm u. dgl., in tieferen Partien des Bronchialbaumes 
antrifft, da solche naturgemäss noch weit weniger leicht als wässerige Flüssig¬ 
keiten in eine Leiche einzudringen vermögen. 

Ad b) Als zweite Stelle, an der er Ertrinkungsflüssigkeit vorfinden kann, 
hat der Gerichtsarzt Magen und Darm zu prüfen. Wenn durch die Inspira¬ 
tionen während des zweiten Stadiums des Ertrinkungsvorganges Flüssigkeit 
aspirirt wird, regt der von ihr ausgehende Reiz nicht allein jene heftigen 
Exspirationen, sondern zugleich auch reflectorische Schluck- und Schling¬ 
bewegungen an. Die Dauer und Intensität derselben ist individuell wieder 
sehr verschieden, daher auch die Menge der in Magen und Darm Vorgefun¬ 
denen Ertrinkungsflüssigkeit bald grösser, bald kleiner ausfallen muss. Doch 
handelt es sich zumeist nur um mässige Quantitäten, eine sehr starke An¬ 
füllung des Magens oder Darms mit Ertrinkungsflüssigkeit ist selten. Fast 
immer findet sich ein Theil der in den Magen hinabgeschluckten Flüssigkeit 
in den Darm hinein weiterbefördert, so dass sie im Duodenum und oberen 
Dünndarm angetroffen wird, ja gelegentlich bis ins Ileum hinein nachgewiesen 
werden kann. Von praktischem Werte ist die Auffindung einer Flüssigkeits- 
menge in Magen und Darm natürlich allein dann, wenn es gelingt, die Iden¬ 
tität der in der Leiche befindlichen Flüssigkeit mit der als Ertrinkungsmedium 
in Betracht kommenden nachzuweisen; in den Fällen der Praxis ist das meist 
auch nicht schwierig, da ja ein Ertrinken in ganz reinem Wasser kaum je, 
oder doch nur sehr selten vorkoramt. Ganz reines Wasser freilich würde 
naturgemäss nur eine Verdünnung des normalen Magen- oder Darminhalts 
bewirken, ohne irgend ein für den Ertrinkungstod charakteristisches Zeichen 
erkennen zu lassen. Glückt jedoch der Nachweis jener Identität, so hat der 
Gerichtsarzt darin die bei weitem wertvollste Handhabe für die Diagnose des 
stattgehabten Ertrinkungstodes. In den Magen zwar können, wie schon Liman 
und dann auch Hopmann feststellten, noch ganz geringe Flüssigkeitsmengen 
auch nach dem Tode eindringen. Irgend erheblichere Ansammlungen der 
Ertrinkungsflüssigkeit im Magen dagegen sprechen schon mit grosser Sicher¬ 
heit dafür, dass sie bei noch erhaltenem Leben durch active Schluckbewe¬ 
gungen in das Organ befördert sind; wo sich aber nennenswerte Quantitäten 
derselben gar im Darme vorfinden, da kann jeder Zweifel für ausgeschlossen 
gelten, da keiner von allen Forschem die diese Frage studirt haben, ein 
postmortales Eindringen von Flüssigkeit in den Darm beobachtet hat*). 

Ad c) Als dritter Fundort von Ertrinkungsflüssigkeit in der Leiche 
spielten eine Zeit lang die Paukenhöhlen des Gehörorgans eine gewisse Rolle. 
Nachdem nämlich Wreden und Wendt behauptet hatten, dass der Befund 
eines lufthaltigen Lumens in den Paukenhöhlen eines Neugeborenen beweise, 
dass das Kind extrauterin geathmet habe und somit lebend geboren sei, kam 
man auf den Gedanken, den Befund in den Paukenhöhlen auch für die Dia¬ 
gnose des Erstickungstodes heranzuziehen, da v. Hofmann und Blumenstock 
gelegentlich ihrer behufs Prüfung jener Wreden-Wendt’schen Ohrenprobe an- 


*) Fagkrlund, Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin, 1890, L. II. 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


gestellten Untersuchungen beobachtet zu haben glaubten, dass Flüssigkeiten 
niemals bei der Leiche, sondern allein beim Lebenden unter der Mitwirkung 
aktiver Schluckbewegungen durch die Tubae Eustachii in die Paukenhöhlen 
eindringen könnten. Zahlreiche daraufhin ausgeführte Untersuchungen aber 
ergaben, dass die gerichtsärztliche Bedeutung der „Paukenhöhlenprobe“ auch 
für die Feststellung des Ertrinkungstodes nur gering ist. Bei zweifellos Er¬ 
trunkenen fand man die Ertrinkungsflüssigkeit bald in beiden, bald in nur 
einer, bald in gar keiner Paukenhöhle; zudem stellte sich heraus, dass Flüs¬ 
sigkeit nicht selten auch postmortal in die Paukenhöhlen eindringt. Der 
Gerichtsarzt wird demnach aus diesem Befunde nur sehr vorsichtige Schlüsse 
ziehen dürfen; vor allen Dingen versäume er nie die Prüfung, ob nicht 
etwa die in den Paukenhöhlen Vorgefundene Flüssigkeit durch ein perforirtes 
Trommelfell eingedrungen sei, wobei natürlich der Befund gänzlich wertlos 
wäre. 

In manchen älteren Werken über gerichtliche Medicin wird zu den be¬ 
sonderen Symptomen des Ertrinkungstodes eine Anzahl von Eigenthümlich- 
keiten gezählt, welche die Haut Ertrunkener erkennen lasse. Es wird betont, 
dass sich die Haut durch auffallende Kälte und Blässe, sowie durch eine sehr 
starke Entwicklung desjenigen Zustandes auszeichne, den der Volksmund als 
„Gänsehaut“ bezeichnet, und endlich dass die Haut des Penis und des Scrotum, 
wie auch im Bereiche der Brustwarzen und deren Höfe auffallend geschrumpft 
und gerunzelt erscheine. Die Kälte der Haut wird allerdings regelmässig 
beobachtet; sie beruht aber lediglich darauf, dass die in der Haut einer im 
Wasser gelegenen Leiche reichlich angesammelte Flüssigkeit bei der Berührung 
mit der Luft schnell verdunstet, die zum Uebergange aus dem flüssigen in 
den gasförmigen Aggregatzustand erforderliche Wärmemenge zum grossen 
Theile der Haut der Leiche entzieht und somit diese erheblich abkühlt. 
Naturgemäss spielt sich dieser Vorgang in gleicher Weise bei jeder Leiche 
ab, die nach längerem Liegen im Wasser an die Luft gebracht wird. Mit 
der Todesart des Ertrinkens hängt er in keiner Weise zusammen. Eine auf¬ 
fallende Blässe der Haut kann nur dann die Leiche eines Ertrunkenen aus¬ 
zeichnen, wenn diese ganz frisch zur Besichtigung gelangt. In solchem Falle 
freilich können die Blutgefässe der Haut unter dem Einflüsse der Kälte noch 
eine Zeit lang in Contraction verharren, so dass das Blut in die centralen 
Theile zurückgedrängt bleibt. Regelmässig aber erschlafft nach Ablauf einiger 
Zeit der Spasmus der Hautgefässe; dann füllen sich diese, zumal in den ab¬ 
hängigen Theilen, wiederum mit dem flüssig gebliebenen Erstickungsblute, 
und es kommt zur Ausbildung der gewöhnlichen Leichenfarbe im Allgemeinen, 
sowie ausgeprägter Todtenflecke in den tiefergelegenen Partien. Da die stark 
durchnässte Haut einer im Wasser liegenden Leiche den im letzteren gelösten 
Sauerstoff besonders gut zu leiten scheint, und zwar um so mehr, je niedriger 
die Temperatur, so pflegen aus kaltem Wasser gezogene Leichen sich sogar 
durch auffallend intensiv-hellrothe Todtenflecke auszuzeichnen. — Die Erschei¬ 
nung der „Gänsehaut“ beruht auf einer Contraction der musculi arrectores 
pilorum, kleiner, in der Haut gelegener, glatter Muskelfasern, deren Zusammen¬ 
ziehung eine Aufrechtstellung der Haarbälge und Drüsenmündungen bewirkt, 
wodurch deren periphere Enden etwas aus dem Niveau der Haut empor¬ 
gehoben werden. Diese Erscheinung tritt am Lebenden unzähligemale als eine 
Reflexwirkung nach plötzlichen Temperaturerniedrigungen der Haut oder durch 
nervöse Einflüsse bei Gemüthserregungen u. s. w. auf, und wenn sie an einer 
Leiche längere Zeit bestehen bleibt, so ist das allein darauf zurückzuführen, 
dass die arrectores pilorum gerade im contrahirten Zustande von der alle 
Muskeln befallenden Leichenstarre ergriffen wurden. Es liegt auf der Hand, 
dass die Bedingungen hierfür bei einem in kaltem Wasser Ertrinkenden be¬ 
sonders günstig sein werden; aber dasselbe kann bei den verschiedensten 


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TODESÄRTEN, GEWALTSAME. 


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anderen Todesarten gleichfalls eintreten. Irgend etwas für den Ertrinkungs¬ 
tod Charakteristisches hat die Gänsehaut darum keineswegs. Ausserdem ist 
es sicher beobachtet, dass sie auch postmortal zustande kommen kann, und 
zwar unter zweierlei Bedingungen. Einmal dann, wenn eine wasserreiche 
Haut ihre Nässe schnell durch Verdunstung verliert, wobei die Haarbälge 
und Drüsenmündungen infolge Einsinkens der zwischen ihnen gelegenen Haut¬ 
partien stärker hervortreten, und zweitens, wenn eine noch ganz frische Leiche 
einer intensiven Kältewirkung ausgesetzt wird, zu einer Zeit, da die glatten 
Muskelfasern trotz des bereits erloschenen animalen Lebens ihre Contractilität 
noch nicht eingebüsst haben. So wird sie sich also auch bilden können, 
wenn die noch ganz frische Leiche eines irgendwie verstorbenen oder ge- 
tödteten Individuums in kaltes Wasser geworfen wird. Auf gleichen Ursachen wie 
die Gänsehaut beruht auch das eigenartige Verhalten der Haut im Gebiete 
des Penis und Hodensackes, wie auch der Brustwarzen; auch hier ist die Haut 
reich an glatten Muskelfasern, die unter denselben Bedingungen wie die 
arrectores pilorum sich zusammenziehen und deren Contraction bei der leichten 
Verschieblichkeit der Haut auf ihrer Unterlage das geschrumpfte und ge¬ 
runzelte Aussehen jener Theile hervorruft. Somit haben wir es auch hierin 
keineswegs mit einem dem Ertrinkungstode eigenthümlichen Zeichen zu thun. 

Die letzte Gruppe der an der Leiche eines Ertrunkenen beobachteten 
Besonderheiten umfasst diejenigen Folgezustände, welche sich durch die län¬ 
gere Berührung des Leichnams mit der Ertrinkungsflüssigkeit ausbilden. Es 
bedarf keines Beweises, dass diese Zeichen in gleicher Weise auch an allen 
Leichen Nichtertrunkener sichtbar sein werden, die gleich lange Zeit denselben 
Bedingungen ausgesetzt waren. Es handelt sich dabei um Imbibitions- und 
Quellungserscheinungen, sowie um Macerationsvorgänge und Modificationen 
des Verwesungsprocesses, der sich erklärlicherweise an einem im Wasser lie¬ 
genden Körper etwas anders, als an einem nur der Luft ausgesetzten Leichnam 
abspielen wird. Die Quellungsvorgänge treten am deutlichsten an der Epi¬ 
dermis in die Erscheinung und werden um so stärker und auffallender, je 
dickere Lagen verhornter Epidermis vorhanden sind. Deshalb sind sie regel¬ 
mässig am stärksten an den Fusssohlen und namentlich an der Ferse zu 
beobachten, ferner an der Innenfläche der Hände, und zwar um so mehr, je 
häufiger und anhaltender dieselben zu groben Arbeiten benutzt wurden, daher 
regelmässig bei Angehörigen der arbeitenden Classe weit ausgeprägter, als 
an den zarten Händen von Individuen aus den feineren Ständen; ferner 
häufig auch an den Knieen, namentlich wenn diese vielen mechanischen In¬ 
sulten ausgesetzt waren. Diese Quellungserscheinungen bilden sich unter 
Einwirkung der Nässe auch an der Haut des Lebenden, und sind daher wohl 
einem jeden, wenigstens in ihren geringeren Graden bekannt. Ihre ge¬ 
richtsärztliche Bedeutung ist um so höher anzuschlagen; als sie nicht 
allein mit Sicherheit beweisen, dass der Körper, welcher sie aufweist, 
einer intensiven Nässewirkung ausgesetzt war, sondern weil die Höhe 
ihres Entwicklungsgrades auch einen annähernden Schluss auf die Zeit¬ 
dauer dieses Einflusses gestattet. Sie können somit für die Beantwortung 
der oft wichtigen Frage, wie lange ein Körper im Wasser gelegen hat, be¬ 
deutsame Stützpunkte liefern. Zu berücksichtigen ist hierbei auch die Tem¬ 
peratur des Wassers, da die Quellungsvorgänge um so rascher verlaufen, 
unter je höherer Temperatur sie sich abspielen. Deutlich erkennbare Anfänge 
derselben sind gewöhnlich bereits nach zwei bis drei Stunden vorhanden, 
namentlich an den Fersen, sowie an den Endgliedern der Zehen und Finger; 
nach ebensovielen Tagen pflegt die ganze Epidermis an den Fusssohlen, an 
den Innenflächen der Hände und an den Knieen ausgewässert, gequollen und 
vielfach gerunzelt zu erscheinen, wobei jedoch die gewöhnliche Farbe der 
Theile meist noch leidlich gut erhalten ist. Bei noch längerer Einwirkung 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


der Nässe geht jedoch diese Farbe immer mehr verloren, indem die normale 
Durchsichtigkeit der Epidermis, welche den röthlichen Farbenton der tiefer 
gelegenen Weichtheile durchschimmern lässt, schwindet; dabei wird die Haut 
weiss und sieht nach sechs bis sieben Tagen geradezu kreidefarbig aus. Zu 
gleicher Zeit lockert sich der Zusammenhang der verhornten Hauttheile mit 
dem darunter gelegenen Corium, so dass man etwa vom achten bis zehnten 
Tage an die ganze Epidermis mit sammt den Nägeln nach Art eines Hand¬ 
schuhes von Händen und Füssen ziehen kann. Liegt eine Leiche noch länger 
im Wasser, so lösen sich die Epidermistbeile nicht selten selbständig ab 
und das nackte Corium liegt frei zu Tage. 

Für den Verlauf der Zersetznngserscheinnngen an einer im Wasser liegenden Leiche 
ist es von grösstem Einflüsse, ob der Leichnam gänzlich unter Wasser bleibt, oder ob er 
an die Oberfläche gelangt, und somit wenigstens zum Theile in Berührung mit der Luft 
tritt. Im ersten Palle behalten Macerations Vorgänge die Oberhand. Diese bewirken bei 
fehlender BacterienWirkung in erster Linie einen Zerfall der muskulösen Körpertheile, 
während ihnen ausser den Knochen die Bänder und Sehnen, sowie auch die Haut und die 
Fettsubstanzen ziemlich lange Widerstand leisten. Die letzteren erfahren dabei oft eine 
eigenartige Umwandlung zu einer stearinartigen Masse, die mikroskopisch zahlreiche Fett- 
Bäurekrystalle erkennen lässt. Tritt dagegen der Leichnam an die atmosphärische Luft, 
so beginnt unter dem Einflüsse specifischer Spaltpilze schnell die Fäulnis zu überwiegen. 
Meistens pflegen die Leichen nur einige Zeit unter Wasser zu verharren, dann aber bald 
durch die in ihnen sich bildenden Zersetzungsgase an die Oberfläche gehoben zu werden. 
Die Zeit, in welcher dies geschieht, ist durch eine ganze Reihe von Factoren bedingt, unter 
denen in erster Linie die Temperatur und Beschaffenheit der Flüssigkeit, sowie auch der 
Fettreichthum der Leiche eine Rolle spielen. Hinsichtlich der Temperatur ist naturgemäss 
die Jahreszeit von wesentlichstem Einflüsse; während im kalten Winter Leichen häufig 
wochen- und monatelang auf dem Grunde eines Gewässers verharren, tauchen sie in der 
heissen Jahreszeit meist schon nach einigen Tagen empor. Die Beschaffenheit der Flüssig¬ 
keit macht sich insofern geltend, als die Fäulnis in bewegtem, tiefem und reinem Wasser 
weit weniger günstige Bedingungen vorfindet, als in stagnirendem, seichtem Gewässer, das 
faulnisfahiges Material und reichliche Bacterien enthält, oder gar in einer Flüssig¬ 
keit, die selbst eine in Zersetzung begriffene Maasse darstellt, wie der Inhalt einer Dung¬ 
grube, Kloakenjauche oder dergleichen. Ist eine Wasserleiche an die Luft gelangt, so 
nimmt die Fäulnis, da die Bacterien in den stark wasserhaltigen, durchweichten und 
macerirten Geweben einen ungewöhnlich günstigen Entwicklungsboden vorfinden, einen 
rapiden Verlauf; dabei bilden sich schnell grosse Mengen von Zersetzungsgasen, die zumal 
an warmer Luft, an Stellen, wo die Haut nur durch lockeres Gewebe mit den tiefergele¬ 
genen Theilen zusammenhängt, also namentlich am Gesichte, am Halse und an den Ge- 
schlechtstheilen, durch ein subcutanea Emphysem eine gewaltige Auftreibung bewirken und 
zugleich die Körperhöhlen, namentlich die Bauchhöhle in höchstem Maasse ausdehnen. 
Dadurch wird die Leiche derart entstellt, dass eine Erkennung der Persönlichkeit bald 
nicht mehr möglich ist. 

Unter den verschiedenen Gelegenheiten, bei denen der Tod durch Er¬ 
trinken vorkommt, spielen bei weitem die grösste Rolle Unglücksfälle und 
Selbstmord. Mord durch Ertränken, an Erwachsenen begangen, ist aus nahe¬ 
liegenden Gründen nur selten und wird fast immer so ausgeführt, dass der 
Mörder sein Opfer unversehens ins Wasser stösst an einer günstig gelegenen 
Stelle, wo ein selbstthätiges Entkommen aus dem letzteren unmöglich ist. An 
Kindern dagegen wird Mord durch Ertränken öfter verübt, zumal werden zahl¬ 
reiche Neugeborene Jahr für Jahr auf diesem Wege beseitigt, besonders 
häufig durch Versenken in Dunggruben, Abtritten oder Jauchegräben. Für 
den Gerichtsarzt wird die Beantwortung der Fragen, ob ein im Wasser ge¬ 
fundener Leichnam der eines Ertrunkenen sei oder nicht, ferner ob es sich 
bei einem Falle von Ertrinken um einen Unglücksfall oder um einen Selbst¬ 
mord handelt, oder endlich ob ein Mord vorliege, noch erschwert durch die 
Möglichkeit, dass die Leiche eines anderweitig Verstorbenen, Verunglückten 
oder Getödteten mit oder ohne Zuthun eines Dritten ins Wasser gelangt sein 
kann. Für die Lösung derartiger forensischer Fragen lassen sich allgemeine 
Gesichtspunkte kaum aufstellen, immer wird in solchen Fällen der Gerichts¬ 
arzt alle Einzelnheiten des concreten Falles zu berücksichtigen haben. Nur 
an den Leichen Neugeborener gibt es ein zuverlässiges Zeichen, welches mit 
Sicherheit erkennen lässt, dass der Körper erst einige Zeit nach erfolgtem 


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TODESAETEN, GEWALTSAME. 


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Tode ins Wasser gelangt ist, das ist die Mumification des Nabelschnurrestes. 
Liegt die Leiche eines Neugeborenen eine Zeit lang an der Luft, so trocknet 
der Nabelschnurrest ein und nimmt damit das eigenartige Aussehen des mumi- 
ficirten Zustandes an; dieser bleibt in der Folge auch dann erkenntlich, wenn 
der Leichnam nachträglich in eine Flüssigkeit gebracht wird. Niemals aber 
bildet sich derselbe aus, wenn das Neugeborene noch lebend oder sofort nach 
eingetretenem Tode ins Wasser kam. Wo man also an einer im Wasser auf¬ 
gefundenen Leiche eines neugeborenen Kindes einen mumificirten Nabelschnur¬ 
rest vorfindet, da kann man sicher sein, dass das Kind nicht im Wasser seinen 
Tod gefunden habe, sondern dass es auf andere Weise ums Leben gekommen, 
dann als Leiche noch eine Zeit lang an der Luft gelegen und später erst ins 
Wasser geworfen ist. Seine besondere Aufmerksamkeit wird der Gerichtsarzt 
der richtigen Würdigung aller an einer im Wasser gefundenen Leiche etwa 
vorhandenen Verletzungen zuzuwenden haben. In manchen Fällen wird deren 
Umfang und Eigenart das Vörliegen einer Ermordung und die nachträgliche 
Einbringung der Leiche ins Wasser zweifellos erkennen lassen; durch letzteres 
trachtet häufig der Mörder entweder die Leiche überhaupt zu beseitigen oder 
aber den Schein zu erwecken, sein Opfer habe infolge eines Unfalles oder 
durch Selbstmord das Leben eingebüsst. Im Uebrigen ist die Zahl der Möglich¬ 
keiten für die Entstehung der verschiedenartigsten Verletzungen ungeheuer 
gross. So können sie kurz vor einem Unfall oder vor dem Selbstmorde bei 
einer Rauferei, durch einen Sturz oder ähnliches verursacht worden sein; sie 
können während des Unfalles selbst oder bei der Ausführung des Selbstmordes 
etwa durch einen Absturz oder bei einem Sprunge über ein steiles, felsiges 
Ufer, durch Aufschlagen des Körpers auf einen Brückenpfeiler oder dergleichen 
zustande gekommen sein; weiterhin kann es sich um die Spuren eines früheren 
missglückten Selbstmordversuches handeln, und auch die Möglichkeit eines 
„combinirten“ Selbstmordes wird gelegentlich in Frage kommen, ist es doch 
mehrfach beobachtet worden, dass ein Selbstmörder, um ja seinen Zweck sicher 
zu erreichen, sich im Bade den Hals durchschnitt oder die Pulsader öffnete, 
oder dass sich ein anderer an einer Stelle erschoss, den Leib aufschlitzte, 
oder mit einem Degen das Herz durchbohrte, von der sein Körper ins Wasser 
stürzen musste. Endlich darf der Gerichtsarzt bei allen Verletzungen niemals 
die Möglichkeit von deren postmortaler Entstehung aus dem Auge verlieren. 
Im Wasser liegende Leichen werden oft durch die Strömung über weite 
Strecken rauhen Grundes dahingeschleift, gegen Brücken geworfen, über 
Wehre gezerrt und mit Wasserfällen in die Tiefe gestürzt etc. Dass dabei 
ausgedehnte Hautabschürfungen und Gewebszerreissungen, ja Luxationen und 
Knochenbrüche sich ereignen können, liegt auf der Hand und derartige Lä¬ 
sionen werden um so leichter entstehen, je weniger widerstandsfähig die 
Gewebe durch den Fortschritt des Macerations- und Fäulnisprocesses 
bereits geworden sind. Auch durch mancherlei Gethier können die Cadaver 
angefressen werden, unter dem die Ratten wohl am häutigsten in Frage 
kommen. Behufs Unterscheidung der noch bei erhaltenem Leben entstan¬ 
denen von den postmortal gesetzten Verletzungen wird der Gerichtsarzt die 
Läsionen auf das Vorhandensein oder Fehlen vitaler Reactionen, in erster 
Linie von Blutergüssen in ihrer Umgebung zu prüfen haben. Bei den vital 
entstandenen Traumen werden sich solche fast ausnahmslos nach weisen lassen; 
die Möglichkeit, dass bei einer Anzahl der soeben angedeuteten Fälle die Zeit 
des noch fortdauernden Lebens nach dem Zustandekommen der Verletzung zu 
kurz gewesen sei, um eine vitale Reaction noch sich ausbilden zu lassen, 
dürfte kaum je praktische Bedeutung gewinnen. — Besondere Schwierigkeiten 
kann gelegentlich die Deutung einer an einer Wasserleiche ausgeprägten 
Strangfurche machen, indem diese den Gedanken nahe legt, es sei die Leiche 
eines Erhängten oder Erdrosselten nachträglich ins Wasser geworfen worden. 
Strangulationsmarken rühren manchmal von der Einwirkung eines Strickes 


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her, den sich der Selbstmörder zwecks Befestigung von Steinen oder sonstigen 
beschwerenden Gegenständen um den Hals legte, um seinen Körper desto 
sicherer unter Wasser festzulegen; doch wird die Marke ebenso entstehen, 
wenn eine Leiche in gleicher W 7 eise auf dem Grunde verankert wurde, sobald 
das sich bildende subcutane Fäulnisemphysem die Theile des Halses um den 
Strang herum auftreibt; dieselbe Wirkung wird auch ein enger Halskragen 
hervorbringen können, wie auch sonst festanliegende Kleidungstheile an anderen 
Körperstellen ähnliche Eindrücke zu erzeugen vermögen. 

3. Der Tod durch Einwirkung unzuträglicher Temperaturen. 

a) Der Tod durch Eintcirkung abnorm niedriger Temperaturen (Erfrieren). 
Der Tod durch Erfrieren nimmt verhältnismässig nur selten das Inter¬ 
esse des Gerichtsarztes in Anspruch. Selbstmord durch Erfrieren ist kaum 
je mit Bestimmtheit festgestellt worden, da der Selbstmörder erklärlicher¬ 
weise fast immer irgend eine andere, schneller und namentlich zuverlässiger 
zum Tode führende Methode bevorzugen wird. Auch zur Ausführung eines 
Mordes kann der Erfrierungstod nur in einer sehr beschränkten Anzahl von 
Fällen in Betracht kommen, da für ihn immer eine völlige Hilflosigkeit des 
Opfers nothwendige Vorbedingung ist; Erwachsene können daher nur, wenn sie 
entweder stark gelähmt oder aber in sinnlos trunkenem oder sonst bewusst¬ 
losem Zustande sind, durch Erfrieren ermordet werden. Beim Erfrierungstode 
Erwachsener handelt es sich daher fast ausnahmslos um Unglücksfälle. Gar 
nicht selten dagegen werden Kinder und zumal Neugeborene durch Aus¬ 
setzung bei strenger Kälte vorsätzlich getödtet. 

Unter normalen Verhältnissen vermag der mit genügender Bekleidung 
versehene menschliche Körper sehr bedeutende Kältegrade zu ertragen; das 
beweisen die Erfahrungen der Polarforscher, deren manche ohne Gesundheits¬ 
schädigung wochenlang in Temperaturen gelebt haben, die nicht mehr messbar 
waren, weil das Quecksilber im Thermometer gefroren war. Mancherlei Ein¬ 
flüsse jedoch setzen die Widerstandsfähigkeit des Organismus gegen die Kälte 
stark herab; es handelt sich dabei durchgehends um augenblickliche oder 
dauernde Beeinträchtigung der normalen physiologischen Wärmeproduction. 
Am stärksten ist demnach die Widerstandsfähigkeit zur Zeit der grössten 
Energie der Lebensfunctionen, d. h. bei dem gesunden erwachsenen Körper 
im Zustande harmonisch vereinigter körperlicher und geistiger Thätigkeit; 
vermindert ist sie in sehr jugendlichem, sowie in weit vorgerücktem Alter, 
während der Zeit des Schlafes und nach jeder Schwächung des Körpers durch 
Krankheiten, mangelhafte Ernährung und starke Anstrengungen, sowie auch 
bei Zuständen tiefer seelischer Depression aus den verschiedensten Ursachen. 
Kleine Kinder, namentlich Neugeborene, können an Erfrierung zugrunde 
gehen, selbst wenn die Temperatur noch erheblich über dem Nullpunkte 
liegt. Zu den im Organismus selbst gelegenen Momenten gesellen sich weiter¬ 
hin eine Anzahl äusserer Umstände, die das Zustandekommen des Erfrie¬ 
rungstodes begünstigen. Dass darunter der Mangel an ausreichender Beklei¬ 
dung die erste Stelle einnimmt, ist ohneweiters verständlich. Sehr wichtig 
ist betreffs der Bekleidung auch der Punkt, ob die letztere trocken, oder ob 
sie feucht oder gar nass ist. Nasse Kleider stellen im Gegensatz zu trockenen 
einen guten Wärmeleiter dar, durch den der Körper schnell und intensiv 
Wärme abgibt, von welcher ein beträchtlicher Theil zudem behufs Verdunstung 
des in den Kleidern enthaltenen Wassers absorbirt wird. Infolge des guten 
WärmeleitungsVermögens des Wassers kann auch ein Mensch den Tod erleiden, 
der — NB. bei sicherem Ausschluss der Ertrinkungsgefahr, weil die Athmungs- 
wege frei blieben — mit dem grösseren Theile des Körpers im Wasser liegt, 
allein durch die intensive Wärmeentziehung; und das auch, wenn das Wasser 


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noch bedeutend über dem Gefrierpunkt temperirt ist. Zweifellos begünstigt 
wird der Eintritt des Erfrierungstodes des weiteren durch den Genuss von 
Alkohol; der letztere bewirkt, wie aus der allgemein bekannten, intensiven 
Hautröthung bei Trunkenen ersichtlich, eine lebhafte Congestion des Blutes 
in die erweiterten Hautgefässe, und damit eine weit über die Norm gestei¬ 
gerte Wärmeabgabe aus dem Blute an die umgebende kalte Luft. 

Von den Vorgängen, die sich unter der Einwirkung der Kälte im Organismus ab¬ 
spielen, werden Getässsystem und Circulation in erster Linie und am eingreifendsten be¬ 
einflusst. Wir haben hier zwei zeitlich getrennte Stadien zu unterscheiden, die jedermann 
im Winter an sich selbst studiren kann. Geben wir z. B einen entblössten Arm der 
Kältewirkung preis, so sehen wir ihn zuerst blass, ja völlig weiss werden; nach einiger 
Zeit aber beginnt er sich wieder zu röthen, um allmählich immer dunkler zu werden bis 
zu einem blaurothen, lividen Farbenton. Dasselbe spielt sich beim Erfrierungstode im 
Grossen ab. Die der niederen Temperatur am unmittelbarsten ausgesetzten peripheren 
Körpertheile erfahren anfangs eine energische Contraction der gesammten Blutgefässe, die 
auf einem tonischen Krampfe der in den Gefässwandungen gelegenen glatten Muskelzellen 
beruht; hierdurch wird fast der gesammte Blutgehalt aus den peripheren Theilen nach 
den inneren Organen zu verdrängt. Es ist wohl denkbar, dass in einzelnen Fällen die 
so erzeugte, sehr bedeutende Blutüberfüllung lebenswichtiger Organe, zumal von Herz und 
Lungen, allein schon tödtlich werden kann (Herzlähmung, Lungenschlag); zweifellos können 
auch, zumal bei Vorhandensein weit vorgeschrittener atheromatöser Processe, Gefäss- 
rupturen eintreten und lethale innere Blutungen verursachen (Gehirnapoplexien). Bei 
länger andauernder Kältewirkung weicht dieses erste Stadium dem zweiten: die Gefässmus- 
kulatur geht aus dem Zustande des tonischen Krampfes gewissermaassen durch Ermüdung 
infolge von üeberanstrengung in den der Lähmung über; infolge dessen kommt es zu 
einer weit über die Norm gesteigerten Blutfüllung der peripheren Gefassbezirke. Somit 
werden naturgemäss die eben noch strotzend gefüllten inneren Organe wieder weit un t er 
die Norm ihies Blutgehaltes entledigt: es entsteht eine hochgradige Anämie in Gehirn 
und Rückenmark, Langen und Herz, welche auf die lebenerhaltenden Verrichtungen dieser 
Organe lähmend einwirkt. Dazu kommt noch, dass sich nunmehr das Blut in den peri¬ 
pheren Bahnen ganz ungemein langsam fortbewegt, theils schon infolge der starken Er¬ 
weiterung der Gefässe, tbeils aber auch infolge der Abnahme in der Energie der Herz- 
thätigkeit; so muss dem Blute bei der niederen Temperatur der Umgebung unverhältnis¬ 
mässig rasch und intensiv seine Wärme entzogen werden, so dass es weit unter die Norm 
abgekühlt in die inneren Organe zurückkehrt und auch deren Temperatur bald zu 
Graden herabsetzt, die mit dem Fortbestehen des Lebens nicht mehr vereinbar sind. In 
diesen Vorgängen haben wir wohl die Hauptmomente für das Zustandekommen des Er¬ 
frierungstodes zu suchen, wenngleich es nicht an Forschern fehlt, die das Hauptgewicht 
auf andere Punkte legen, denen wir geneigt sind, eine mehr secundäre Bedeutung zu¬ 
zuschreiben; so stellt Crecchio die ertödtende Wirkung der Kälte auf die Nerven in den 
Vordergrund. Horwarth ihren zerstörenden Einfluss auf die Muskulatur u. s. w. Pouchet 
machte die Entdeckung, dass durch die Kältewirkung auch im lebenden Körper zahlreiche 
rothe Blutkörperchen zerstört werden, und spricht der Menge der zugrunde gegangenen 
Hämocythen die erste Rolle für die Prognose hinsichtlich der Lebenserhaltung bei einem 
noch lebend aufgefundenen Erfrorenen zu. 

Der Leichenbefund bei Erfrorenen bietet nichts besonders 
Charakteristisches. Der festgefrorene Zustand ist kein Beweis dafür, dass der 
Todte durch Erfrierung zugrunde gegangen ist, da naturgemäss jede Leiche, 
gleichviel aus welcher Ursache der Tod erfolgte, in entsprechend kalter Tem¬ 
peratur gefrieren muss. Bisweilen hat man dabei beobachtet, dass der beim 
Gefrieren sich ausdehnende Wassergehalt des Gehirns und seiner Häute die 
Schädelkapsel in ihren Nähten auseinandersprengte; auch dieser Befund be¬ 
weist nichts für den Erfrierungstod. Die Todtenflecke pflegen bei Erfrorenen 
infolge der starken Blutfüllung der Hautgefässe auffallend kräftig ausgebildet 
zu sein und zeigen meist eine sehr hellrothe Farbe; es scheint, als ob der 
Sauerstoff schneller und leichter durch die gefrorenen Gewebe hindurchtreten 
könne und in der Kälte intensiver von dem Hämoglobin festgehalten werde; 
auch in den inneren Organen findet man das Blut bisweilen — freilich aber 
nicht constant — auffallend hellroth, jedenfalls durcbgehends weit heller als 
Erstickungsblut. Alb. Schmidt nimmt deshalb eine specifische Wirkung der 
Kälte auf das Hämoglobin oder ein Zurückbleiben von Sauerstoff im Blute 
an. — Solange eine Leiche im gefrorenen Zustande verharrt, geht sie nicht 
in Verwesung über; man hat in den Alpengletschern die vereisten Körper ver- 


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unglückter Touristen nach Jahrzehnten so wohlerhalten aufgefunden, als wäre 
der Tod erst gestern eingetreten. Betreffs einer gefrorenen Leiche, welche 
unverkennbare Zeichen der Verwesung trägt, kann daher der Gerichtsarzt 
mit Bestimmtheit behaupten, dass der Tod nicht durch Einwirkung derselben 
Kälte verursacht worden sei, welche die Leiche in den jetzt bestehenden ge¬ 
frorenen Zustand versetzte; natürlich aber ist es darum nicht ausgeschlossen, 
dass der Todte zu einer früheren Zeit dennoch den Erfrierungstod gestorben 
war; wäre das der Fall gewesen, so ist die anfangs gefrorene Leiche mit der 
Einkehr wärmerer Witterung aufgethaut und in Verwesung übergegangen; 
neu eintretende Kälte bat sodann die Fäulnis unterbrochen und die Leiche 
noch einmal zum Gefrieren gebracht. Bei Beurtheilung eines derartigen 
Falles sind demnach auch die vorausgegangenen Witterungsverhältnisse wohl 
zu berücksichtigen. Für die häufig wertvolle Feststellung der seit dem Ein¬ 
tritte des Todes verflossenen Zeit ist es von Wichtigkeit zu wissen, dass die 
Todtenstarre durch das Aufthauen der gefrorenen Leiche nicht gelöst wird, 
sowie dass die Dauer der Starre durch ein während derselben eintretendes 
Gefrieren oder Aufthauen oder auch beider Vorgänge nacheinander nicht merk¬ 
lich verändert wird. 

b) Der Tod durch Eintoirkung abnorm hoher Temperaturen. (Verbrennung 
und Verbrühung; Sonnenstich und Hitzschlag; elektrische Entladungen: Blitz¬ 
schlag, künstliche Quellen elektrischer Energie). 

Der Tod durch Einwirkung ungewöhnlich hoher Temperaturen nimmt 
verhältnismässig häufig das Interesse des Gerichtsarztes in Anspruch. In 
weitaus den meisten Fällen handelt es sich dabei um eigentliche Verbren¬ 
nungen. 

Das Wort „Verbrennung“ hat im Sprachgebrauche eine zweifache 
Bedeutung. Es bezeichnet erstens einen Vorgang und zweitens einen Zustand. 
Der Vorgang, den wir so nennen, ist der — meist mit Licht- und immer 
mit Wärmeentwicklung verbundene — chemische Process der Vereinigung 
irgend welcher Substanzen mit Sauerstoff. Der Zustand, den wir mit dem¬ 
selben Worte kennzeichnen, fasst die Summe aller derjenigen Wirkungen 
zusammen, die an einem Körper unter dem Einflüsse ungewöhnlich hoher 
Temperaturen zustande kommen. In letzterem Sinne wendet die gerichtliche 
Medicin das Wort „Verbrennung“ an, indem es damit die durch abnorm hohe 
Temperaturen bewirkten Verletzungen des menschlichen (resp. thierischen) 
Körpers bezeichnet. Verursacht werden können solche Verbrennungen durch 
alle festen, flüssigen und gasförmigen Medien, die Wärme an ihre Umgebung 
abgeben. Demgemäss handelt es sich bald um Berührungen mit der offenen 
Flamme, bald um solche mit heissen festen Körpern, wie z. B. glühenden 
Metallen; bald wiederum mit heissen Flüssigkeiten, wie siedenden wässerigen, 
öligen, fettigen Fluidis oder geschmolzenen Metallen, oder mit stark erhitzten 
Gasen oder Dämpfen; für die durch heisse flüssige, sowie Dampf- und gas¬ 
förmige Medien verursachten Verletzungen ist besonders auch die Bezeich¬ 
nung „Verbrühung“ üblich. In weiteren Fällen entstehen Verbrennungen 
durch die Einwirkung der von allen genannten Stoffen ausstrahlenden 
Hitze, ohne dass dieselben unmittelbar berührt wurden. Gemäss der Art 
ihrer Entstehung gehören hierher, wenngleich bei ihnen von „Verbrennung“ 
im gebräuchlichen Sinne des Wortes nicht die Rede sein kann, auch die 
schädlichen Wirkungen der von der glühenden Sonne ausstrahlenden Hitze; 
wir werden dementsprechend in diesem Capitel auch den „Sonnenstich“ und 
„Hitzschlag“ besprechen, soweit er für den Gerichtsarzt von Interesse ist. 
Die besondere Art der Entstehung der hohen Temperaturgrade kann sehr ver¬ 
schieden sein. Bei weitem am häufigsten kommen sie zustande bei jenem 
als „Verbrennung“ bezeichneten Vorgänge, d. h. bei dem mit einer gewissen 
Intensität vor sich gehenden Processe der chemischen Verbindung irgend 


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welcher Stoffe mit dem atmosphärischen Sauerstoffe. In vielen anderen Fällen 
werden sie durch anderweitige mehr oder minder rapid verlaufende chemische 
Vorgänge erzeugt, wie z. B. beim Löschen von Kalk oder dergleichen mehr, 
und als letzte Quelle für die Entwicklung hoher Temperaturen kommen 
elektrische Vorgänge in Betracht, sowohl in Gestalt natürlicher Entladungen, 
d. h. des Blitzschlages, als auch in Form von kräftigen Strömen oder Schlägen 
aus elektrischen Anlagen von Menschenhand. 

Unter den Wirkungen, welche hohe Temperaturen auf den menschlichen K6rper 
ansüben, haben wir zunächst zu unterscheiden diejenigen, welche eich an der begrenzten 
Stelle der unmittelbaren Einwirkung ausbilden, die localen Verbreimnngserscheinungen, 
und solche, welche, mehr allgemeiner Natur, den normalen Ablauf der gesammten Lobens- 
erscheinungen im Organismus mehr oder minder stören. Hinsichtlich der localen Verbren¬ 
nungserscheinungen kann auch der Gerichtsarzt mit Vortheil die von den Chirurgen unter¬ 
schiedenen vier Grade der Verbrennung auseinanderhalten, die je nach der Intensität der 
Hitzewirkung sich ausbilden; von diesen erstrecken sich die ersten drei Grade, 1. die 
Hautröthung (Erythem) 2. die Blasen- und 3. die Schorfbildung (Eschara), noch allein auf 
die Haut, während der vierte Grad, welcher alle weiteren Gewebsveränderungen bis zur 
völligen Verkohlung der Weichtheile und Calcinirung der Knochen umfasst, bis in sehr 
verschiedene Tiefen reichen kann. Solche Verbrennungen vierten Grades bilden nur selten 
den Gegenstand chirurgischer Behandlung, desto häufiger dagegen denjenigen gerichtsärzt¬ 
lichen Interesses, da sie meist bald zum Tode führen. Hinsichtlich der Lebensgefahr nach 
Verbrennungen gilt übrigens die Erfahrung, dass weit mehr die Ausdehnung der betroffenen 
Körperoberfläche, als die Intensität der Verbrennung den Ausschlag gibt, so dass sich die 
Prognose bei einer Verbrennung ersten oder zweiten Grades von erheblicherer Flächenaus¬ 
breitung ungünstiger gestaltet, als bei einer solchen vierten Grades, die etwa einen Fuss 
bis zur Calcinirung der Knochen zerstörte. Bezüglich der Flächenausdehnung der Ver¬ 
brennungen lehrt die Erfahrung der Chirurgen, dass, wo die Hälfte der Körperoberfläche 
oder mehr betroffen ist, auf die Erhaltung des Lebens nicht mehr zu rechnen ist; auch 
bei Betheiligung von über einem Drittel derselben ist es nur ganz ausnahmsweise gelungen, 
die drohende Todesgefahr abzuwenden. 

Führt eine Verbrennung nicht sofort zum Tode, so folgen die klinischen Erschei¬ 
nungen des gesammten Krankheitsverlaufes keineswegs einem allen Fällen gemeinsamen 
Typus. Die Vorgänge freilich, welche sich an den localen Brandwunden abspielen, ver¬ 
laufen regelmässig nach gewissen Gesetzen, die wir hier ausseracht lassen dürfen, da sie 
sich in jedem Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie eingehend besprochen finden. Hinsicht¬ 
lich der allgemeinen, den ganzen Organismus betreffenden Wirkungen ausgedehnterer Ver¬ 
brennungen aber können wir recht verschiedene Krankheitsbilder beobachten. Bei den 
rasch tödtlich endenden Fällen herrscht entweder der Gesämmteindruck des schweren 


Nervenshocks vor, oder es kommt zur Ausbildung eines Symptomencomplexes, wie wir ihn 
sonst wohl nach intensiven Vergiftungen durch massenhaft resorbirte septische Stoffe sehen 
können, nicht selten verbunden mit Hämaturie und Nephritis. Der Tod erfolgt bei acutem 
Verlaufe zumeist unter Somnolenz und Delirien. Wo der Krankheitsverlauf anfangs eine 
günstige Wendung genommen, da kann doch leicht — zuweilen vielleicht zu einer Zeit, da 
man alle Gefahr bereits für beseitigt hielt — schliesslich noch der Tod infolge von Er¬ 
schöpfung eintreten, oder durch Erkrankungen innerer Organe, zumal der Lungen, herbei¬ 
geführt werden; besonders häufig spielen embolische Processe in den Lungen mit ihren 
verschiedenen Folgezuständen eine verhängnisvolle Rolle. Dass solche sich gerade nach 

g rösseren Verbrennungen leicht ereignen können, ist bei der Anwesenheit ausgedehnter 
erde von abgestorbenen Gewebstheilen ohne weiteres verständlich. 

Die Frage nach der eigentlichen Todesursache bei ausgedehnten Verbrennungen hat 
von jeher sowohl die Gerichtsärzte, wie auch die Chirurgen und Pathologen lebhaft inter- 
essirt, zu vielfachen Studien angeregt und zur Aufstellung einer ganzen Reihe von Hypo¬ 
thesen veranlasst. Unter den letzteren legen die einen auf die gestörte Physiologie der 
Haut das Hauptgewicht, während eine zweite Gruppe in erster Linie die Alteration des 
Kreislaufes beschuldigt; wieder Andere schreiben Veränderungen in der Beschaffenheit des 
Blutes die erste Rolle zu, und eine vierte Gruppe stellt Beeinflussungen des Nervensystems 
in den Vordergrund. Wo besonders den Veränderungen der Haut Wichtigkeit beigemessen 
wird, da betonen die Einen die hohe Bedeutung der Haut als eines Ausscheidungsorganes 
für bestimmte Stoffwechselproducte, deren Zurückhaltung im Körper diesen schnell ver- 


;iften müsse. Andere beschuldigen als Todesursache die theils durch die Hyperämie der 
laut, theils durch die Entblössung ganzer Hautstrecken von der Epidermis verursachte Stei¬ 
gung der Wärmeabgabe, welche tiefgehende Störungen in der gesammten Wärmeökonomie 
es Organismus hervorrufe. Diejenigen, welche Alterationen im Blutkreisläufe verantwortlich 


machen, führen aus, dass infolge der bedeutenden Hyperämie ausgedehnter Hautstrecken 
eine Blutarmuth der inneren Theile erzeugt werde, die den Blutdruck so erheblich sinken 


lasse, dass er nicht mehr ausreiche, um als normaler physiologischer Reiz die Herzthätig- 
keit ungestört zu unterhalten. Zu dieser Hypothese sei gleich hier bemerkt, dass sie 


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unseres Erachtens entschieden nur für diejenigen Fälle zutreffend sein kann, in denen 
unter der Hitzewirkung die Haut auf weite Strecken stark hyperämisch gemacht worden 
ist. Wo dagegen grosse Hautflächen verschorft und nekrotisirt sind, da kann von einer 
Hyperämie aer betroffenen Theile keine Rede mehr sein; und gerade diese Fälle mögen es 
sein, an denen ältere Aerzte in schärfstem Gegensatz zu der eben erörterten Hypothese 
ihre Beobachtungen von „Congestionen nach inneren Organen“ anstellen konnten, die sie 
ihrerseits für das Erlöschen des Lebens verantwortlich machten*). Von den Vertretern der 
Ansicht, dass das Blut der Haaptträger der den Tod herbeiführenden Veränderungen sei, 
wird theils auf die Beobachtungen von Max Schulze und Rollet**) hingewiesen, welche 
bei Erwärmung lebenden Blutes auf dem heizbaren Objecttische schon bei einer Tem¬ 
peratur von gegen 50° C an ein massenhaftes Absterben und Zerfallen von Blutkör¬ 
perchen beobachteten; theils wird behauptet, dass das Blut mittels Wasserentziebung so¬ 
wohl infolge von Verdunstung, wie auch durch reichliche Transsudation bei der Bildung 
ausgedehnter serumgefüllter Brandblasen stark eingedickt und damit in verschiedener Weise 
functionsuntüchtig werde. Noch andere weisen auf die in der Haut zum Theil auftre¬ 
tende Blutgerinnung und deren Folgen hin, oder machen in erster Linie chemische Ver¬ 
änderungen des Blutes für die tiefgreifenden Störungen des gesammten Körperhaushaltes 
verantwortlich, wie z. B. die reichliche Lösung von Hämoglobin aus den zerfallenen rothen 
Blutkörperchen im Plasma, oder die starke Ueberladung des letzteren mit fibrinogener Sub¬ 
stanz aus den zugrunde gegangenen Leukocythen; auch darauf wird aufmerksam gemacht, 
dass bei ausgedehnten wunden Hautfiächen eine Resorption massenhafter septischer Stoffe 
nicht ausbleiben könne. Diejenigen, welche Einwirkungen auf das Nervensystem in den 
Vordergrund stellen, erklären den Tod zumeist für eine Art von Shockwirkung, ausgelöst 
durch die intensive Reizung zahlloser centripetaler Nerven, zumal der Hautnerven. Sonnen¬ 
burg***) erklärt auf Grund sehr eingehender Studien den Tod nach ausgedehnten Ver¬ 
brennungen als die Wirkung eines übermässigen Reizes auf das Nervensystem, der reflec- 
torisch eine sehr bedeutende Herabsetzung des Tonus der Gefässe bewirke; durch das 
damit gesetzte Sinken des Blutdruckes werden nach seiner Ansicht lethal wirkende Cir- 
culationsstörungen erzeugt. 

Wir sehen, die Zahl der Meinungen ist gross, und es ist schwer zu sagen, welche 
von allen diesen Hypothesen die grösste Wahrscheinlichkeit für sich habe. Unseres Erach¬ 
tens enthält keine von allen die ganze Wahrheit, doch trägt jede von ihnen einen Theil 
derselben in sich. Wir meinen, dass sich in den meisten Fällen die eigentliche Todes¬ 
ursache aus einer Mehrzahl neben einander wirkender Factoren zusammensetzt, in der 
von allen den angeführten Möglichkeiten bald diese, bald jene die wichtigste Rolle 
spielen mag. 

Der Leichenbefund bei Individuen, die infolge von Verbrennung 
verstorben sind, ist je nach dem Grade der Verbrennung sehr verschieden, 
in nicht geringem Maasse aber auch von der besonderen Art der Verbrennung 
abhängig, und wesentlich beeinflusst durch die Frist, welche von der Ent¬ 
stehung der Verletzungen bis zum Eintritte des Todes verflossen ist. Dabei 
handelt es sich vorwiegend, ja man kann wohl sagen, fast ausschliesslich um 
äusserlich wahrnehmbare Befunde. An einer Leiche, welche die höheren 
Grade der Verbrennung aufweist, wird die Erkennung der besonderen Todes¬ 
art dem Auge des Sachverständigen keine Schwierigkeiten machen. Kam 
dagegen nur der erste Grad der Verbrennung zur Ausbildung, so kann die 
Diagnose schwieriger werden. Die am Lebenden so deutliche Hyperämie der 
von der Hitzewirkung betroffenen Hautstellen nämlich schwindet an der Leiche 
infolge von Hypostase meist so gänzlich, dass die Hautröthung fast völlig 
verloren geht, und nur eine gewisse Schwellung der Haut, auf einem intra- 
cutanen Oedem beruhend, zurückbleibt. Häufig lassen die zu Lebzeiten hyper¬ 
ämisch gewesenen Hautstellen post mortem eine kleienförmige Abschilferung 
der Epidermis erkennen, die gelegentlich Veranlassung zu Verwechslungen 
mit verschiedenen Hautaffectionen entzündlicher Natur geben könnte. Da¬ 
gegen bleiben schon die den zweiten Verbrennungsgrad kennzeichnenden, 
serumgefüllten Blasen zwischen Corium und Epidermis an der Leiche deutlich 
erhalten. Ist jedoch die Anamnese des Falles gänzlich unbekannt, und hat 
die Hitze allein ausgedehnte Brandblasen erzeugt, ohne sonst irgendwelche 

*) Länderer, Handb. der allgem. chir. Pathologie und Therapie 1890. S. 289. 

**) Landois, Lehrb. d. Physiologie; VIII. Aufi. 1893. S. 21 ff. 

***) Sonnenburg, in Eulenburg’s Realencyclopädie der gesammten Heilkunde. 
1. Aufl. 1883. S. 496. 


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intensiveren Verbrennungseffecte geschaffen zu haben, so kann eine irrthüm- 
liehe Deutung der Blasen — wie etwa die Fehldiagnose auf Pemphigus — 
gelegentlich wohl Vorkommen. Ebenso können umgekehrt derartige Blasen 
anderer Herkunft, etwa bei bestehendem Pemphigus, für Verbrennungsproducte 
angesehen werden. 

So berichtet z. B. Hofmann*) über einen Fall eigener Erfahrung, in dem sogar die 
durch weit vorgeschrittene Fäulnis entstandenen Hautblasen auf der aus einem Dung¬ 
haufen gezogenen Leiche eines neugeborenen Kindes für das Ergebnis einer Verbrennung 
erklärt worden waren. 

Oft kommen die Brandblasen, sei es schon zu Lebzeiten unter dem Eigen¬ 
drucke der aus dem Corium austretenden Blutflüssigkeit, oder durch mecha¬ 
nische Einflüsse etwa bei Bewegungen des Verbrannten, sei es erst an der 
Leiche, beim Aus- oder. Ankleiden, Umbetten, Transportiren oder Einsargen, 
zum Platzen. Dann läuft ihr seröser Inhalt aus und die abgehobene Epider¬ 
mis fällt zusammen. War nur eine kleinere Oeffnung entstanden, so pflegt 
auch in der eingesunkenen Blase so viel Flüssigkeit zurückzubleiben, dass 
das Corium unter der auf sie zurückgesunkenen und die Verdunstung ver¬ 
hindernden Epidermis die natürliche feuchte Beschaffenheit bewahrt; wurden 
dagegen grössere Partien des Corium gänzlich von der Epidermis entblösst, so 
trocknet dasselbe zu einer harten, pergament- oder lederartigen Haut von gelb¬ 
brauner bis dunkel schwarzbrauner Färbung ein, die beim Anschlägen mit 
dem Secirmesser tönt. Dieser Befund ist aber keineswegs charakteristisch für 
die Verbrennungswirkung, da solche Stellen überall da entstehen, wo das 
Corium — gleichviel unter welchen Ursachen — der schützenden Epidermis 
entkleidet wurde. 

Verbrennungseffecte dritten und vierten Grades sind an der Leiche wohl 
meist ohne Schwierigkeit unzweideutig ■ erkennbar; die ersteren lassen die 
Haut nebst den darunter gelegenen Gewebspartien in sehr verschiedener Tiefe 
an der noch frischen Leiche weissgrau getrübt erscheinen, eine Veränderung, 
wie sie an dem gebrühten oder leicht gebratenen Fleische auf der Speise¬ 
tafel täglich zu sehen ist. 

Mehr oder weniger deutlich erkennbare Spuren hinterlässt zumeist auch 
die besondere Art, in welcher die Verbrennung zustande kam. Die Wirkung 
der offenen Flamme macht sich oft an der Versengung der Haare und Nägel 
und durch die Ablagerung einer Schicht von Russ auf der Oberfläche kennt¬ 
lich, ein Befund, der die Entstehung der Verbrennungseffecte mittels heisser 
Dämpfe oder siedender Flüssigkeiten mit Bestimmtheit ausschliessen lässt. 
Dagegen sind bei einer derartigen „Verbrühung“ Haare und Nägel an sich 
wohl erhalten, aber aus ihrem Zusammenhang mit dem Mutterboden gelöst; 
an solchen Leichen behält man die Haare beim Anfassen in ganzen Büscheln 
in der Hand — eine Erscheinung, ganz analog dem bekannten Abbrühen des 
Federviehes, wie es in der Küche behufs leichter Entfernung der Federn 
praktisch gehandhabt wird; desgleichen kann man die Nägel in Verbindung 
mit der ganzen Epidermis der Finger und Nägel nach Art eines Handschuhes 
von Händen und Füssen abstreifen. In manchen Fällen wird die Erkennung 
der speciellen Art der Verbrennung dadurch gesichert, dass man die ver¬ 
brennende Substanz selbst auf den beschädigten Theilen vorfindet: ganze 
Krusten von Lack, Pech, Schwefel oder ähnlichen Substanzen, wenn solche 
in glühend-flüssigem Zustande verspritzten, oder eine Lage frisch gelöschten 
Kalkes u. dgl. m. Verbrennungen durch Pulverexplosion werden meist durch 
Pulverschmauch und in die Haut eingesprengte Pulverkörner erkenntlich, 
endlich werden die dem Verbrennungseffect sehr ähnlichen Aetzwirkungen 
scharfer Säuren und Laugen gemeinhin durch den Nachweis intensiver Röthung, 
beziehungsweise Bläuung von Lackmus-Reagenzpapier mittels der auf den 


*) Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, VI. Auflage 1893, S. 594. 


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zerstörten Tbeilen zurückgebliebenen Reste der schuldigen Flüssigkeiten auf 
ihre Ursache zurUckzuführen sein. 

Auch die örtliche Anordnung der verbrannten Partien gestattet häufig 
wichtige Schlüsse: die Hitzewirkung ausstrahlender Wärme wird sich stets 
am intensivsten oder sogar ausschliesslich an den unbekleideten Körperstellen 
zeigen. Dasselbe gilt für gewöhnlich auch für Verbrennungen mittels explo- 
dirender Gase (Leuchtgas, schlagende Wetter in Bergwerken); entzünden sich 
jedoch hierbei die Kleider, so werden meist diejenigen Theile am stärksten 
geschädigt erscheinen, Uber denen die letzteren am leichtesten und schnellsten 
verbrannten. Der Brandefiiect offener Flammen, die gemeinhin von unten 
nach oben emporschlagen, wird eine tiefer gelegene Stelle intensivster Schädi¬ 
gung erzeugen, von welcher aus sich eine in der Intensität des Wärmeeffects 
schrittweise abnehmende Fortsetzung nach oben hin erstrecken wird; nament¬ 
lich bei den Leichen solcher, die verbrannten, indem ihre Kleider Feuer fingen, 
wird sich die Brandwirkung von der Stelle der ersten Entflammung aus vor¬ 
wiegend aufwärts erstrecken, da die Flamme schneller und kräftiger aufwärts 
als nach unten hin weiterfrisst; gerade umgekehrt erzeugt aus erklärlichem 
Grunde die Verbrühung mit siedenden Flüssigkeiten eine höher gelegene 
Stelle stärkster Einwirkung, von der aus eine Zone allmählich abnehmender 
Hitzewirkung nach unten verläuft, falls nicht der Verbrühte mit den Füssen 
voran in ein Gefäss mit kochender Flüssigkeit gesprungen war. Handelt es 
sich bei der Einwirkung offener Flammen um weibliche Personen, so wird 
die Verbrennung vorzüglich die untere Körperhälfte bis zum Gürtel betreffen, 
da die diesen Theilen nur lose anliegenden Röcke sehr leicht, die eng an¬ 
liegenden Stücke der die obere Körperhälfte einhüllenden Kleidung dagegen 
ungemein schwerer zu brennen vermögen. Oft sieht man an den Leichen 
derartig Verunglückter den grössten Theil des Körpers intensiv verbrannt, 
diejenigen Stellen aber, wo die Kleidung der Haut eng anlag, nur wenig oder 
gar nicht verändert. So wirken namentlich enge Strumpfbänder und Taillen¬ 
gürtel; auch feste Corsets verleihen oft den umschlossenen Theilen sehr wirk¬ 
samen Schutz. 

Der innere Befund an den Leichen der durch Brandunglück Um¬ 
gekommenen bietet nur wenig Charakteristisches und ist verschieden, je nach 
den besonderen Umständen des einzelnen Falles. Fast regelmässig wird das 
Blut in ausgedehntem Maasse geronnen angetroffen. Manche Forscher schreiben 
bekanntlich dem massenhaften Untergange rother Blutkörperchen, der in den 
der Hitzewirkung ausgesetzten Theilen des Gefässsystems stattfinden soll, 
einen Haupteinfluss beim Zustandekommen des Verbrennungstodes zu. Durch 
die häufige Beobachtung ausgedehnter Gerinnselbildungen erhält diese An¬ 
schauung eine wesentliche Stütze, da eine Auflösung zahlreicher Erythro- 
cythen durch die damit freiwerdenden Gerinnungstoffe zweifellos die Gerinnung 
begünstigen muss. Erfolgte der Tod in acuter Weise unter der Hitzewirkung 
selbst, so ist das Ergebnis der inneren Leichenuntersuchung meist fast negativ, 
indem diejenigen Organe, die nicht unmittelbare Verbrennungseffecte auf¬ 
weisen, unverändert erscheinen. 

Bei einer grösseren Anzahl von Bergleuten, die durch schlagende Wetter getödtet 
wurden, fand man (z. B. Franz) wiederholt Ecchymosen auf den serösen H&uten des 
Herzens und der Lungen, doch sind die competentesten Autoren, unter ihnen auch 
Hofmann, geneigt, diese nicht als eine Yerbrennungserscheinung zu deuten, sondern viel¬ 
mehr als einen Beweis dafür aufzufassen, dass die betreffenden Individuen an Erstickung 
in irrespirablen Gasen starben. 

Erlag der Verunglückte nicht unmittelbar der Verbrennung, sondern 
erst nach mehr oder minder langer Krankheit, so findet man regelmässig 
körnige Degeneration der Muskulatur, aller drüsigen Organe, sowie auch der 
Gefässwände. Auf die hierdurch verursachte geringere Widerstandsfähigkeit 
der Blutgefässe sind wahrscheinlich die bei solchen Leichen in den ver- 


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schiedensten Organen häufig gefundenen kleineren oder grösseren Blutungen 
zurückzuführen. Analoge Blutaustritte aus den degenerirenden Nierengefässen 
und Glomerulis bedingen die meist noch zu Lebzeiten sich einstellende Hä¬ 
maturie, wie auch die zuerst von Curling und nachdem von manchen Anderen, 
z. B. von Hofmann, beobachteten Duodenalgeschwüre als ein Effect gleich- 
artiger Ecchymosen in der Darmschleimhaut mit nachfolgender Nekrose an¬ 
zusehen sind. Uebrigens sind gleiche Geschwüre auch im Magengrunde und 
in den übrigen Abschnitten des Verdauungsrohres gefunden worden. Hat die 
verbrannte Person noch längere Zeit gelebt, so ergibt die Section gemeinhin 
das Bestehen sehr verschiedener secundärer Erkrankungen; vor allem sieht 
man hypostatische oder embolische Pneumonieen, bronchitische oder croupöse 
Affectionen — letztere wohl meist als Folge der Einathmung von Russ und 
heisser Luft — sowie allgemein marastische Erscheinungen. 

Die Gelegenheiten, welche zum Zustandekommen des Verbrennungs¬ 
todes Veranlassung geben, sind weitaus der Mehrzahl nach Unglücksfälle der 
allerverschiedensten Art. Selbstmord durch Sichverbrennen kommt, wie 
bei der allgemein bekannten, grossen Schmerzhaftigkeit aller Brandverletzungen 
leicht erklärlich ist, nur selten vor. Immerhin sind eine Anzahl derartiger 
Fälle bekannt geworden; meist betrafen sie geisteskranke Personen. Gewöhn¬ 
lich tränkt dabei der Selbstmörder seine Kleider, die er auf dem Leibe trägt, 
oder sein Bett, in das er sich hineinlegt, mit Petroleum, Spiritus, Benzin 
oder dgl. und zündet dieselben an. Einen besonders abschreckenden Fall hat 
Hofmann erlebt; ein Insasse einer Irrenanstalt steckte den Kopf durch die 
Ofenthüre in das Feuerloch und legte ihn auf die glühenden Kohlen, wobei 
bis auf den Knochen dringende Verbrennungen der einen Kopfseite entstanden; 
der Unglückliche starb erst nach zwölf Tagen. Mehrfach ist auch Selbst¬ 
mord durch Verbrühen vorgekommen, meist indem die Lebensmüden in grosse 
Kessel oder ähnliche Behälter voll siedender Flüssigkeit sprangen; so berichtet 
die Prager Zeitschr. f. Heilk. 1880, S. 47 u. 48 von zwei Bräuknechten, die 
sich in den kochenden Bräubottich stürzten. — Mord durch Verbrennungen 
kann sehr leicht an kleinen Kindern ausgeführt werden; es ist eine beträcht¬ 
liche Anzahl solcher Fälle, namentlich an Neugeborenen verübt, bekannt ge¬ 
worden. 

Ein sehr häufiges Ereignis ist das Verbrühen kleiner Kinder im zu heissen Bade; 
es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein oder mehrere solcher Fülle bekannt werden. 
Meist handelt es' sich dabei um Fahrlässigkeit der Hebamme, Mutter oder Pflegerin, die 
die Temperatur des Badewassers nicht nach dem Thermometer, sondern nach dem Ge¬ 
fühle mittels der eingetauchten Hände beurtheilte. Da der Temperatursinn der letzteren, 
wenn sie sehr oft und lange mit heissen Flüssigkeiten in Berührung kommen, überaus 
abgestumpft zu werden pflegt, so laufen hierbei die grössten Irrtbümer unter. Dieser nur 
allzuoft gemachten Erfahrung wegen ist jeder Hebamme die Benutzung des Badethermo¬ 
meters anbefohlen, und werden Dnglücksiälle infolge Nichtbeachtung dieses Gebotes streng 
bestraft. Naturgemäss kann in derartigen Fällen auch beabsichtigte Kindestödtung vor¬ 
liegen, ein Argwohn, der namentlich, wenn es sich um uneheliche Kinder bandelt, auf¬ 
tauchen wird, sowie ganz besonders, wenn sich das verbrühte .Ziehkind“ in der Pflege 
einer Person befand, die unter dem Verdachte gewerbsmässiger „Engelmacherei“ steht. 

An Erwachsenen ist Mord durch Verbrennung oder Verbrühung für ge¬ 
wöhnlich erklärlicherweise nur möglich, wenn sie bewusstlos, etwa sinnlos 
betrunken sind; über mehrere solcher Fälle haben Taylor und Hofmann*) 
berichtet. 

Sehr viel häufiger als der eigentliche Verbrennungstod ereignet es sich, 
dass der Körper eines auf irgend eine andere Weise ums Leben Gekommenen 
zufällig oder absichtlich der Verbrennung ausgesetzt wird. In vielen Fällen 
tritt daher an den Gerichtsarzt die Aufgabe heran, zu ermitteln, ob ein Indi¬ 
viduum, dessen Leiche mit den Zeichen der Verbrennung aufgefunden wurde, 


*) Hofmann, Lehrb. d. gerichtl. Medicin VI. Aufl. 1893, S. 595. 

Bibi. ined. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 50 


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wirklich den Verbrennungstod gestorben, oder sonst irgendwie verendet und 
erst als Leiche verbrannt worden sei. Da es ein allgemein verbreiteter Kniff 
des Verbrecherthums ist, einen begangenen Mord oder andere Strafthaten 
durch Brandstiftung gegen Entdeckung zu schützen, so hat diese Frage 
namentlich oft hohe kriminelle Bedeutung. Naturgemäss muss ihre Beant¬ 
wortung auf der Eruirung von Verschiedenheiten beruhen, welche Wirkung 
die Verbrennungshitze auf einen lebenden Körper und welche sie auf einen 
Leichnam. ausübt. Klinische und pathologische Beobachtung im Vergleiche 
mit zahlreichen experimentellen Untersuchungen an Leichen haben Uber diesen 
Punkt folgendes ergeben: Das erste Stadium der Verbrennung am lebenden 
Körper, das Hauterythem, tritt an der Leiche niemals auf; es beruht auf einer 
reactiven stärkeren Gefässfüllung mit Blut, die natürlich nach eingetretenem 
Tode nicht mehr möglich ist. Demgemäss sind wir bei Beobachtung dieser 
Erscheinung an einem Leichnam, wo sie besonders in der Umgebung inten¬ 
siverer Verbrennungswirkungen in Form eines gerötheten und leicht geschwollenen 
Hofes zu bestehen pflegt, zu dem Schlüsse berechtigt, dass die Hitzewirkung 
den Körper bei noch erhaltenem Leben getroffen habe. Andererseits aber 
dürfen wir aus dem Fehlen dieses Symptomes nicht ohne weiteres den gegen¬ 
teiligen Schluss ableiten. Ebenso wie die leichteren Grade erythematöser 
Röthung bei vielen krankhaften Hautaffectionen nach dem Tode bekanntlich 
zu schwinden pflegen, kann auch das Verbrennungserythem, zumal nach leich¬ 
teren Graden seiner Ausbildung an der Leiche wieder gänzlich verloren gehen 
oder doch so stark verblassen, dass ihr Vorhandensein zweifelhaft erscheint; 
im Allgemeinen tritt diese Abblassung um so rascher und vollständiger ein, 
je früher nach geschehener Verbrennung der Verunglückte verstorben ist. 
Das Bestehen gut ausgebildeter serumhaltiger Brandblasen spricht mit ziem¬ 
lich grosser Wahrscheinlichkeit, aber nicht mit absoluter Sicherheit für die 
Einwirkung der Hitze noch bei Lebzeiten des Individuums. Unter den zahl¬ 
reichen Forschern, welche sich bemühten, derartige Brandblasen an Leichen 
zu erzeugen, gelang dies nur einigen, und auch diesen nur ausnahmsweise. 
Meist entstehen sie überhaupt gar nicht, oder doch nur in sehr geringer Aus¬ 
dehnung und nur, um sehr bald zu platzen und wieder zusammen zu sinken. 
Man darf daher, wo die Leiche eines Verbrannten grosse, wohlausgebildete 
Serumblasen aufweist, es für wahrscheinlicher halten, dass er lebend, als dass 
er erst als Leiche in das Feuer gerathen sei. Die das dritte Stadium der 
Verbrennung kennzeichnenden Schorfbildungen können zur Entscheidung un¬ 
serer Frage unter Umständen einen sehr bedeutungsvollen Fingerzeig geben. 
Bekanntlich tritt unmittelbar nach eingetretenem Tode alles Blut aus den 
sich contrahirenden Arterien und Capillaren in das erschlaffende Venensystem 
hinüber, und senkt sich in diesem wiederum aus den bei der jeweiligen Lage 
des Leichnams höher gelegenen abwärts in die abhängigen Partien. Kommt 
es somit an einer Leiche nur einige Zeit nach eingetretenem Circulations- 
stillstand zur Entstehung von Brandschorfen, so werden die letzteren, wenn 
sie den höhergelegenen Theilen des Körpers angehören, ganz blutleer sein, 
und wenn sie an den abhängigen Stellen zur Ausbildung kommen, Blut allein 
in den Venen enthalten. Ganz anders, wenn sich die Brandschorfbildung 
am lebenden Körper entwickelt. Unter dem gewaltigen Reize der intensiven 
Hitzewirkung entsteht eine bedeutende Hyperämie aller Arterien und Capillaren 
des betreffenden Bezirkes; unter dem zerstörenden Einflüsse der Verbrennung 
reissen und brechen die Gefässwände, die dem erhöhten Drucke nicht mehr 
hinreichend widerstehen können, und somit entstehen zahlreiche Blutaustritte 
in das Gewebe. Bald darauf gerinnt nnd vertrocknet unter der weiteren 
Hitzewirkung das Blut, sowohl das in die Gewebe ergossene, wie auch das 
noch in Arterien und Capillaren befindliche, wo es später im Brandschorfe 
makroskopisch wie mikroskopisch gefunden und nachgewiesen werden kann. 


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Ein solcher Blutbefund in den Geweben, in Arterien und Capillaren eines 
Brandschorfes beweist demgemäss mit grosser Sicherheit die vitale Entstehung 
des Schorfes. Noch höhergradige Verbrennungen bis zu vollständiger Ver¬ 
kohlung der Weichtheile und Calcinirung der Knochen lassen Unterscheidungen 
für ihre vitale oder postmortale Entstehung nicht mehr erkennen. — Einen sehr 
wichtigen Anhaltspunkt für die Beantwortung der erörterten Frage vermag 
'endlich oft die chemische oder spektroskopische Untersuchung des in der 
Leiche enthaltenen Blutes zu liefern. Bekanntlich hat das Hämoglobin des 
Blutes die Eigenthümlichkeit, sich mit verschiedenen Gasen chemisch zu 
verbinden. Die so entstehenden Hämoglobin-Verbindungen sind im Blute 
selbst in sehr geringen Mengen durch gewisse chemische Reactionen, wie 
namentlich auch mittels des Spektroskops mit Sicherheit nachzuweisen. Kohlen¬ 
oxyd-Hämoglobin ist unter gewöhnlichen Umständen, da unsere Athemluft 
des für uns giftigen Kohlenoxyds entbehrt, im Blute nicht vorhanden, bildet 
sich aber darin in einer spektroskopisch nachweisbaren Menge bereits dann, 
wenn ein Individuum nur wenige Athemzüge in einer kohlenoxydhaltigen 
Atmosphäre thut. Das kann nun gemeinhin nur bei zwei Gelegenheiten Vor¬ 
kommen; einmal, wenn Leuchtgas, welches regelmässig beträchtliche Quanti¬ 
täten jenes Gases enthält, ausgeströmt ist, oder zweitens, wenn bei irgend 
einer Verbrennung kohlenstoffhaltiger Materien, bei welcher ohne Ausnahme 
Kohlenoxyd in reichlicher Menge gebildet wird, Rauch und Verbrennungsgase 
in die betreffende Luft gelangt sind. Letzteres ist natürlich bei jedem Schaden¬ 
feuer regelmässig der Fall. Gelingt es somit dem Gerichtsarzte, in dem in 
den Gefässen einer Leiche Vorgefundenen Blute Kohlenoxyd Hämoglobin nach¬ 
zuweisen, so ist damit der Beweis erbracht, dass jene Person in einer kohlen¬ 
oxydhaltigen Atmosphäre geathmet hat. In vielen Fällen, in denen sich 
nach der ganzen Sachlage die Möglichkeit einer Leuchtgaseinathmung von 
selbst ausschliesst, wird hieraus der Schluss zulässig erscheinen, dass der Ver¬ 
unglückte, als das Feuer ausbrach, noch gelebt haben muss. Das zu dieser 
Untersuchung verwendete Blut muss jedoch immer aus einem Blutgefässe 
oder dem Herzen der Leiche entnommen werden, von einer Stelle, an der es 
von der kohlenoxydhaltigen äusseren Luft nicht berührt werden konnte. Die 
Verbindung zwischen Hämoglobin und Kohlenoxyd kommt nämlich nicht allein 
in der athmenden Lunge zustande, sondern kann unter Umständen auch bei 
einer unmittelbaren, äusseren Berührung des Blutes, wenn dieses aus dem 
Gefässsystem ausgeffossen und selbst, wenn es bereits längere Zeit „todt“ war, 
mit der kohlenoxydhaltigen Luft entstehen. Deshalb würde z. B. eine Prüfung 
mit einer Blutprobe, die man von einer Blutlache in der beim Brande ge¬ 
platzten Brust- oder Bauchhöhle entnommen hatte, nichts beweisen. Wird 
aber das Blut in den Gefässen der Leiche sicher frei von Kohlenoxyd- 
Hämoglobin gefunden, so berechtigt uns dies zu dem sicheren Urtheil: der 
Verunglückte hat zur Zeit des Brandes nicht mehr geathmet, und ist somit 
erst als Leichnam in das Feuer gerathen. Ein wertvolles Zeichen, ob derselbe 
in dem brennenden Hause noch geathmet habe oder nicht, ist natürlich auch 
das Vorhandensein oder Fehlen aspirirter Russ- oder Aschentheilchen in den 
oberen Athemwegen. 

Wo ein Mörder sein Verbrechen durch Brandlegung zu verschleiern suchte, da 
wird nicht selten durch die Auffindung der von ihm geschaffenen Körperverletzungen 
auch an der zum Theil verbrannten Leiche Klarheit in die Sachlage gebracht. Doch muss 
der Gerichtsarzt bei der Entdeckung derartiger Verletzungen, bevor er sein definitives 
Urtheil abgibt, sich mit Sicherheit davon überzeugen, ob sie nicht durch äussere Gewalten, 
die erst während des Brandes auf den Körper einwirkten, entstanden seien, wie durch 
stürzende Balken, Herabstürzen der Leiche durch den ausgebrannten Stubenboden u dgl. 
Hier können nicht alle möglichen Eventualitäten berücksichtigt werden, nur soviel sei 
bemerkt, dass das Vorhandensein oder Fehlen erkennbarer Spuren von vitaler Beaction an 
oder um die verletzten Partien hier immer den wertvollsten Fingerzeig abgeben werden; 
doch ist auch -dieser Anhaltspunkt immer nur mit Vorsicht und unter umsichtiger Beach- 

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tang der gesammten Einzelnheiten jedes Falles zu verwerten; so können z. B. Verletzungen 
mit deutlichen Spuren vitaler Reaction, die vielleicht sehr nach Läsionen von fremder 
Hand aussehen, entstanden sein, indem der beim Brande Hartbedrängte aus der Höhe 
herabstürzte oder, um sich zu retten, sprang, und was dergleichen Möglichkeiten mehr 
sind. Wurde ein zuvor Erdrosselter oder Erhängter verbrannt, so kann unter Umständen 
die Strangfurche noch an der arg verunstalteten Leiche nachgewiesen werden, besonders, 
wenn das strangulirende Werkzeug um den Hals liegen blieb und die von ihm um¬ 
schlossenen Theile gegen die Hilzewirkung schützte, ähnlich wie wir es früher von Strumpf¬ 
bändern und Gürteln gesehen haben. 

Der Tod durch Hitzschlag und Sonnenstich. Als zweier sehr eigen¬ 
artiger, durch den Einfluss ungewöhnlich hoher Temperaturen verursachter 
Todesarten müssen wir auch des Todes durch Hitzschlag und Sonnenstich 
gedenken. Beide werden vorwiegend als Heereskrankheiten beobachtet; einzeln 
Wandernde oder Arbeitende werden nur ziemlich selten davon befallen. Foren¬ 
sische Bedeutung beanspruchen sie vorwiegend rücksichtlich der Unterscheidung 
von anderen Todesarten, gelegentlich wohl auch, indem die Führer von 
Truppentheilen, in welchen Erkrankungen und Todesfälle solcher Art in ge¬ 
häufter Zahl vorkamen, unter dem Vorwurfe fahrlässiger Gefährdung von 
Gesundheit und Leben ihrer Mannschaften zur Verantwortung gezogen werden; 
und endlich können beide Erkrankungen als die Folge einer „Aussetzung in 
hilfloser Lage“ bei kleinen Kindern oder bei alten oder sonst hinfälligen 
Personen auftreten. Das eigentliche Wesen des Hitzschlages, lange Zeit 
auch den erfahrensten Aerzten und Pathologen ein Räthsel, ist durch eine 
ganze Reihe namhafter Forscher *) seit etwa dem Ende der Sechziger- und im 
Verlaufe der Siebziger - Jahre unseres Jahrhunderts untersucht und der Er¬ 
klärung näher gebracht, wenngleich noch immer nicht in seinen letzten patho¬ 
logischen Gründen zweifellos aufgedeckt worden. Ganz allgemein hat man 
die Erfahrung gemacht, dass der Hitzschlag fast ausschliesslich gelegentlich 
langdauernder, angestrengter Märsche an heissen, schwülen und zugleich 
windstillen Tagen vorkommt, zumal, wenn die Truppen in schwerer, eng¬ 
anliegender Kleidung mit vollem Gepäck und in dichtgeschlossenen Colonnen 
marschiren. Als die Grundursache der Erkrankung haben alle Forscher eine 
das physiologische Maass überschreitende Steigerung der Körperwärme er¬ 
kannt, die zustande kommt, indem eine ungewöhnlich hohe Wärmeproduction 
im Körper mit einer starken Behinderung des Wärmeabflusses nach aussen 
hin zusammentrifft. 

Schon unter normalen Verhältnissen erzengen die physiologischen Verbrennungs- 
processe und sonstigen chemischen, mechanischen, elektrischen etc. Lebens Vorgänge im 
erwachsenen menschlichen Organismus soviel Wärme, dass diese, würde sie gänzlich im 
Körper zarückgehalten, den letzteren in jeder halben Stunde um fast einen Grad Celsius 
höher temperiren würde. Es wären, wenn nicht ein ununterbrochener, lebhafter Wärme¬ 
abfluss nach aussen hin stattfände, nur 36 Stunden erforderlich, um den ganzen Körper 
bis zum Siedepunkte (100° C) zu erhitzen.**) Bekanntlich aber bringt bereits eine Steigerung 
der Eigenwärme um wenig mehr als 41° C dem menschlichen Organismus ernstliche Ge¬ 
fahren. Bei einem stundenlang ohne Ruhepause fortgesetzten, angestrengten Marsche ist 
eine das normale Maass sehr erheblich überschreitende Erhöhung der Wärmeerzeugung 
das unausbleibliche Ergebnis der für eine derartige Kraftleistung erforderlichen, enormen. 
Muskelarbeit. Schädlichen Folgen einer so bedeutend forcirten Wärmeproduction kann, 
allein durch ein erhöhtes Maass der Wärmeableitung vorgebeugt werden. Drei Wege sind 
es hauptsächlich — neben den geringen Wärmemengen, die mit den Excreten und Se- 
creten den Körper verlassen — mittels vrelcher sich der Organismus der in ihm gebildeten 
Wärme entledigt: ein Theil der Wärme wird von den aus der Lunge und von der Körper¬ 
oberfläche verdunstenden Wassermengen behufs ihres Ueberganges aus dem flüssigen in 
den gasförmigen Zustand gebunden: Entwärmung durch Wasser Verdunstung; ein zweiter 
Theil geht unmittelbar aus dem Körper in die ihn berührenden, niedriger temperirten Ob¬ 
jecte, d. h. zumeist in die atmosphärische Luft über: Entwärmung durch s Wärmeleitung* 1 ; 

*; Obernier, Der Hitzschlag. 1867. — Rudolf Arndt, Zur Pathologie des Hitz¬ 
schlages, in Virchow’s Archiv, Band 54. — Jacubasch, Der Hitzschlag, Monographie 1879. 
— Köstf.r, Die Pathologie des Hitzschlags, in der Berliner klinischen Wochenschrift 
1875, und andere. 

**) Landois, Lehrbuch der Physiologie. 8. Auflage, Wien 1893, S. 418. 


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ein dritter Theil endlich tritt unabhängig von der Temperatur der dazwischen gelegenen 
Medien von dem wärmeren in einen niedriger temperirten Körper hinüber, ohne aasslbeide 
Gegenstände sich unmittelbar berühren: Entwärmung durch „Wärmestrahlung*. Während 
nun unter gewöhnlichen Verhältnissen jede die normale Grenze übersteigende Wärme- 
production auf reflectorischem Wege einen intensiveren Wärmeabfluss durch eine oder 
mehrere dieser drei Pforten selbständig hervorruft, gewissermaassen automatisch auslöst, 
lassen die besonders eigenartigen Umstände, unter denen die Erkrankung an Hitzschlag 
zur Ausbildung kommt, die Wirkungen der sonst den erhöhten Wärmeabstrom verursachen¬ 
den Reflexe nicht zur Entfaltung gelangen. Bei einem forcirten stundenlangen Marsche 
an einem heissen schwülen und windstillen Tage erzeugt die gewaltige Muskelarbeit zwar 
in gleicher Weise, wie sonst, kräftig vertiefte, häufigere Athemzüge, lebhafte Röthung der 
Körperoberfläche infolge Ausdehnung und stärkerer Blutfüllung aller Hautgefässe und ener¬ 
gische Schweisssecretion, aber die damit sonst erzielte stärkere Entwärmung des Organis¬ 
mus kann trotzdem nicht in Kraft treten. Die mit Wassergasen bis nahe an den Thau- 
punkt beladene atmosphärische Luft vermag keine nennenswerten Wassermengen mehr in 
sich aufzunehmen, daher die Verdunstung des Lungenwassers wie auch des gebildeten 
Schweisses unterbleibt. Die der Atmosphäre durch die Sonnengluth mitgetheilte hohe 
Temperatur gestattet ihr nicht mehr die Aufnahme neuer Wärmemengen mittels Leitung 
aus der Haut des überhitzten menschlichen Körpers, obgleich sich diese durch stärkere 
Blutfüllung und Durchfeuchtung zu vermehrter Wärmeabgabe vorbereitete. Ebensowenig 
kann bei dem Mangel erheblich kühlerer Gegenstände in der Umgebung der auf sonnen- 
durchglühtem Felde dahinmarschirenden Truppe die Entwärmung durch Strahlung wirk¬ 
sam werden. Dazu kommt, dass die enganliegende, allseitig festgeschlossene Kleidung der 
Soldaten aus dichtgewebtem Tuchstoff im Verein mit dem schweren Tornister und sonstigen 
Gepäckstücken die Tiefe und Ausgiebigkeit der Athemzüge durch Einengung des Brust¬ 
korbes behindert und die Entwärmung von der Körperoberfläche durch deren Abschluss 
von der Luft noch mehr beschränkt; alle diese Momente fallen um so schwerer ins 
Gewicht, als beim Herrschen völliger Windstille auch der Luftwechsel in der Umgebung 
jedes einzelnen Mannes überaus gering ist. Endlich wirkt naturgemäss auch das nahe 
Nebeneinander vieler wärmeüberladener Menschenleiber als ein erhebliches Hindernis für 
die Entwärmung jedes Einzelnen. — Somit entwickelt sich im Organismus eine hochgradige 
Wärmestauung mit allen pathologischen Folgen der Ueberhitzung, die sich namentlich in 
Störungen der Circulationsthätigkeit, wie auch des Centralnervensystems kenntlich machen. 
Welches dieser beiden Organsysteme das vorwiegend, beziehungsweise primär erkrankte sei, 
ist zur Zeit noch nicht entschieden. Die beginnende Erkrankung äussert sich zumeist in 
den Anzeichen lebhafter Blutwallungen nach dem Kopfe unter heftigen Kopfschmerzen, 
allgemeiner Schlaffheit und Hinfälligkeit und beginnenden Bewusstseinsstörungen; bald 
tritt völlige Bewusstlosigkeit auf, Convulsionen stellen sich ein, und unter Erlahmung der 
Herzthätigkeit erfolgt der Tod. Wird letzterer durch rechtzeitiges Eingreifen sachverstän¬ 
diger Hilfe abgewendet, so pflegen langandauernde Störungen in den Functionen der 
Centralorgane zurückzubleiben, die anzudeuten scheinen, dass im Gehirne und Rücken¬ 
marke anatomische Läsionen aufgetreten waren. In der That sind solche durch die Section 
aufgefunden worden, nämlich constant eine hochgradige Hyperämie der genannten Organe 
und eine diffuse ödematose Schwellung und trübe Degeneration ihres Parenchyms. Daneben 
zeigt sich regelmässig starke Hyperämie der Lungen, das Herz in seiner linken Hälfte, 
zumal dem Ventrikel, leer und contrahirt, in der rechten dagegen schlaff und mit Blut 
überfüllt; das Blut selbst erscheint dünnflüssig und zeigt verminderte Neigung zur Ge¬ 
rinnung, ähnlich demjenigen Erstickter. Die Muskulatur (ist auffallend trocken. In der 
Deutung der eigentlichen Todesursache ist bisher noch keine Einigung der Anschauungen 
erzielt worden. Während die Einen annehmen, dass der Tod durch eine sozusagen „pri¬ 
märe* Herzlähmung bewirkt werde, die duTch mechanische Circulationshemmungen auf 
Grund einer Eindickung des Blutes infolge starken Wasserverlustes zustandekomme, führen 
Andere das Ende auf eine Lähmung der lebenswichtigen Centren in Gehirn und Rücken¬ 
mark zurück, welche auf eine Art von Giftwirkung des in seinem Wassergehalte alterirten, 
mit Kohlensäure überladenen und infolge Unterganges zahlreicher Blutkörperchen destruirten 
Blutes zu beziehen sei; nach dieser Ansicht wäre dann die eintretende Herzlähmung ein 
„secundärer“ Vorgang. Rudolf Arndt lehrt auf Grund seiner Sectionsbeobachtungen, bei 
denen er die Organe, und in erster Linie das Gehirn in ihrem eigentlichen Parenchym 
selbst blutleer und die allgemein beschriebene „Hirnhyperämie* auf ihre grossen Gefässe 
beschränkt sah, das Erlöschen des Lebens werde durch eine Anämie des Parenchyms von 
Gehirn und Rückenmark bedingt, die auf einer trüben Schwellung desselben, dem Anfangs- 
stadium einer parenchymatösen Entzündung beruhe, welch’ letztere eine Folge sei theils 
der hohen Eigenwärme der Organe selbst, theils einer durch seine starke Erhitzung er¬ 
zeugten De8truction des Blutes (Untergang zahlreicher Blutkörperchen, Ueberladung des 
Blutes mit Umsatzproducten). 

Vom Hitzschlage, der unter dem Vorwalten der übrigen ursächlichen 
Momente sehr wohl auch bei bewölktem Himmel sich ereignen kann, unter* 
scheidet sich der „Sonnenstich“ dadurch, dass er durch die unmittelbare 


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Einwirkung der glühenden Sonnenstrahlen auf den Kotier, und besonders aut 
den Kopf des Menschen entsteht. Rücksichtlich des klinischen Bildes zeigen 
übrigens die beiden Erkrankungen grosse Aehnlichkeit, doch pflegt der Sonnen¬ 
stich gemeinhin plötzlicher einzusetzen und rascher und unaufhaltsamer, auch 
trotz schnell geleisteter sachverständiger Hilfe, zum Tode zu führen. Der 
rapide Ausgang soll auch hiebei nach der einen Anschauung seinen Grund 
in einer durch die hohe Blutwärme bedingten Herzlähmung haben, die Jacu- 
basch bezeichnend eine „Herzstarre“ nennt, während andere wiederum 
für das primär geschädigte Organ das Gehirn ansehen, dessen lebenswichtige 
Centren durch die directe Ueberhitzung der Schädeloberfläche mittels der 
Sonnenstrahlen in Lähmung verfallen soll. 

Prophylaxe und Behandlung von Hitzschlag und Sonnenstich, die insofern 
forensisches Interesse bieten können, als ihre Unkenntnis, beziehungsweise 
Unterlassung ein Verschulden der verantwortlichen Persönlichkeit begründen 
könnten, ergeben sich aus dem Vorstehenden von selbst. In der Nothlage 
des Krieges freilich wird man nur zu oft auf die drohende Gefahr keine 
Rücksicht nehmen können. Zu Friedenszeiten dagegen, im Manöver, bei 
sonstigen Truppenübungen, Turnmärschen, Schülerpartien u. dgl. m., wird 
man den verantwortlichen Führer, sobald Erkrankungen oder gar Todesfälle 
solcher Art in irgend grösserer Zahl auftreten, von dem Vorwurfe einer Fahr¬ 
lässigkeit meist wohl nicht freisprechen dürfen. In der heissen Jahreszeit 
sind die Märsche, soviel wie irgend thunlich, in die kühleren Morgen-, Abend¬ 
oder Nachtstunden zu verlegen, in gemässigtem Tempo zu halten, und durch 
öftere, entsprechend lange Ruhepausen zu unterbrechen. Sehr wichtig ist 
auch die Sorge für reichliches Satttrinkenlassen der Leute vor dem Marsche 
und für öftere Tränkung während der Ruhepausen, ja nötigenfalls auf dem 
Marsche selbst mit zweckdienlichen Getränken. Als solche haben sich be¬ 
sonders dünner kalter Kaffee und Thee, sowie auch Wasser mit Zusatz von 
Citronensaft oder Citronensäure bewährt. Dagegen ist der Genuss aller gei¬ 
stigen Getränke auf das strengste zu untersagen: der Alkohol bewirkt nach 
schnell vorübergehender Steigerung der körperlichen und geistigen Energie 
nur um so schnelleres Sinken der Leistungsfähigkeit, und vermehrt nach 
kurzer Anregung der Herzthätigkeit um ein Bedeutendes die Gefahr eintreten¬ 
der Herzparalyse. Mit Sorgfalt ist weiterhin auf die Bekleidung der Mann¬ 
schaften, sowie auf eine praktische Einrichtung und Anlegungsart der Gepäck¬ 
stücke zu achten. Die Kleider sollen leicht und luftig sein und in keiner 
Weise die Athmungsthätigkeit einengen. Ebenso soll der Tornister derart 
construirt sein und getragen werden, dass die mögliche geringste Einschnü¬ 
rung des Brustkorbes und die leichteste Belastung der Schultern erzielt wird. 
Im preussischen Heere ist, sobald Gefahr des Hitzschlages im Anzuge ist, 
gestattet, die Oberkleider durch Oeffnen der Knopfschlüsse zu lüften, sowie 
auch die Tornister auf den Gepäckwagen abzulegen. Gegen den Sonnenstich 
ist in erster Linie durch eine, die unmittelbare Bestrahlung des Kopfes durch 
Sonnenglut möglichst vollständig verhindernde, dabei aber doch leichte Kopf¬ 
bedeckung zu sorgen. Endlich sind bei der Formirung des Marschzuges die 
einzelnen Leute in möglichst grosse Abstände von einander zu bringen. — 
Bereits ausgebildete Erkrankungen erheischen künstliche Herabsetzung der 
Körpertemperatur durch kühle Uebergiessungen und Bäder, Kaltwasser¬ 
infusionen per anum etc. neben Maassnahmen zur Abwendung der drohenden 
Herzlähmung, wie Einflössung von Alkohol, Kampher, Moschus oder ähnlichen 
herzpeitschenden Mitteln, subcutane Injectionen von Aether oder Kampher- 
äther, Waschungen der Körperoberfläche mit Essigwasser, Anwendung von 
Massage, Frottirungen, künstlicher Athmung u. dgl.. m. Ueber die Heil¬ 
samkeit der von manchen Seiten anempfohlenen Blutentziehungen (Aderlässe, 
Schröpfungen) sind die Meinungen getheilt. 


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Tod durch elektrische Entladungen: 

Blitzschlag; künstlich erzeugte Elektricitat. Als eine besondere Art 
der Verbrennung, d. h. gleichfalls als eine Wirkung abnorm hoher Tempera¬ 
turgrade, wird gemeinhin die Vernichtung von Menschenleben durch elek¬ 
trische Entladungen aufgefasst. Ohne Zweifel trifft diese Auffassung nicht 
ohne weiteres auf alle derartigen Fälle zu, wie jedem unschwer einleuchten 
wird, der jener allbekannten sogenannten „kalten Blitzschläge“ gedenkt, die 
doch bei sonstigen sehr heftigen Gewalteinwirkungen keine Spur von eigent¬ 
lichen Verbrennungseffecten hervorbringen. Dennoch wollen wir die elek¬ 
trischen Tödtungen, soweit sie forensisches Interesse bieten, an dieser Stelle 
mit abhandeln, wie ihre Besprechung auch in der Mehrzahl der gebräuch¬ 
lichsten Handbücher der gerichtlichen Medicin unter dem Capitel der Ver¬ 
brennungen zu finden ist. Für den Gerichtsarzt haben Todesfälle durch elek¬ 
trische Kraft fast ausschliesslich insofern Bedeutung, als er sie gelegentlich 
von anderen gewaltsamen Todesarten zu unterscheiden hat, da es nicht selten 
vorkoromt, dass ein durch elektrische Gewalt Verunglückter den Anschein 
erweckt, als sei er auf sonst irgend eine andere gewaltsame Weise ums 
Leben gekommen und vielleicht das Opfer eines Verbrechens geworden. Des¬ 
gleichen sind Fälle bekannt geworden, in denen zunächst der umgekehrte 
Irrthum auftauchte, bis erst durch die gerichtliche Untersuchung des Leich¬ 
nams der wahre Sachverhalt klargestellt wurde. 

Die Quelle der elektrischen Energie ist immer entweder der natürliche Blitzschlag 
oder aber eine der mannigfachen künstlichen Anlagen zar Erzengang elektrischer Kraft 
von Menschenhand. Ihrer physikalischen Natnr nach sind die ans diesen beiden Quellen 
entstammenden Kräfte unseres Wissens dnrchans gleichartig; über das [eigentliche Wesen 
der Elektricität jedoch wissen wir zur Zeit noch so gut wie nichts Gewisses, alle gegebenen 
Erklärungen sind bisher noch durchweg Hypothesen. 

Todesfälle durch Blitzschlag sind ein nicht gerade häufiges Ereignis; 
nach Boudin sollen von allen Menschen auf der ganzen Erde jährlich im 
Durchschnitt etwa 4000 vom Blitze getroffen und von diesen etwa 1000 ge- 
tödtet werden. Der Tod tritt in den meisten überhaupt lethal endenden 
Fällen unverzüglich im Augenblicke des Getroffenwerdens und nur selten erst 
kurze Zeit bis höchstens einige Stunden später ein. Fälle, in denen Tage 
oder gar Wochen darüber vergingen, sind nur ganz ausnahmsweise beobachtet 
worden. Man kann daher gemeinhin, wenn man einen vom Blitze Getroffenen 
noch lebend auffindet, die Prognose für die Erhaltung des Lebens günstig 
stellen. Das hervorstechendste Krankheitssymptom ist in solchen Fällen 
regelmässig tiefe Bewusstlosigkeit von verschieden langer Dauer, nach deren 
Schwinden in erster Linie Lähmungserscheinungen unterschiedlicher Körper¬ 
regionen sich geltend zu machen pflegen; daneben werden mehr oder minder 
heftige Kopfschmerzen, Athembeschwerden und schwere angsterregende Herz- 
palpitationen beobachtet. An den Leichen der vom Blitze Erschlagenen findet 
man in der Regel deutliche Spuren der gewaltigen Einwirkung, sowohl an 
der Kleidung, wie auch am Körper selbst. Nur in seltenen Fällen ist der 
Befund gänzlich negativ. An der Kleidung zeigen sich die Zeichen in Ge¬ 
stalt entweder von unregelmässigen Zerfetzungen oder runden Löchern, theils 
mit versengten oder verbrannten Rändern, theils ohne jede Spur einer Brand¬ 
wirkung. Metallene Gegenstände, die der Verunglückte an sich trug, wie 
Geldmünzen, Knöpfe, Uhren, Messer u. dgl. findet man häufig zerrissen, oxy- 
dirt oder geschmolzen, Eisentheile bisweilen magnetisch geworden. Die Ver¬ 
letzungen des Körpers selbst sind von sehr verschiedener Art und Ausdehnung, 
von leichten circumscript rundlichen oder streifenförmigen Hautabschürfungen 
nnd Blutunterlaufungen, bis zu ausgebreiteten Quetschungen und Zerreissungen 
der Haut, mehr oder minder deutlich ausgeprägten und local ausgedehnten 
Verbrennungseffecten, wie Branderythemen, Blasenbildungen und Versengungen 
der Haare, sowie endlich jenen höchst eigenartigen, für die Blitzwirkung 


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TODESARTEN, GEWALTSAME. 


durchaus charakteristischen baumastartig verzweigten „Blitzfiguren“. Es sind 
dies geröthete Streifen, die dem Wege zu entsprechen scheinen, den der Blitz 
und die Ausstrahlung seiner Funken über die Körperoberfläche genommen. 

Ihr Ausbreitungsgebiet zeigt ungemein verschiedene Grösse, indem es 
bald auf kleine engbegrenzte Bezirke beschränkt, bald wieder über fast den 
ganzen Körper vom Kopf und Hals an über den Kumpf und eine, mehrere 
oder sämmtliche Extremitäten ausgedehnt ist. Die eigentliche Natur dieser 
Streifen ist noch nicht ganz sicher erklärt, wahrscheinlich handelt es sich in 
ihrem Bereiche um eine locale Hyperämie der Hautcapillaren, verursacht 
durch eine Lähmung der Gefässmuskulatur infolge der heftigen Ueberreizung 
der vasomotorischen Nerven durch die Einwirkung der elektrischen Energie. 
Mehrfach ist behauptet worden, ihr Verlauf entspreche dem anatomischen 
Zuge der Gefäss- und Nervenbahnen und spreche für eine bessere Leitung der 
Elektricität innerhalb der letzteren; doch ist diese Anschauung durch die 
exacte Untersuchung widerlegt worden. Da die Gestalt dieser Blitzfiguren 
von einer Stelle stärkster Ausbildung, die meist an den höchstgetragenen 
Körpertheilen, an Kopf und Hals gelegen ist, nach unten und nach den Seiten 
zu allmählich immer dünner wird, in gleicher Weise wie auch die Zweige 
eines Baumes, je mehr sie sich vom Stamme entfernen, sich verjüngen, so 
nimmt E. von Hofmann an, „dass der elektrische Funke in der Haut selbst 
durch seitliche Ausstrahlung sich erschöpfe“. Intensivere Verletzungen, wie 
lochförmige Oeffnungen, grössere Wunden mit zerrissenen Rändern oder gar 
Abreissungen ganzer Gliedmaassen, Aufreissung der grossen Körperhöhlen 
u. s. w. sind übrigens recht selten gesehen worden. Wo sie gefunden werden, 
ist wohl zu erwägen, ob sie nicht etwa auf secundären Ursachen, Fortschleu¬ 
derung des ganzen Körpers über weitere Strecken, Gegenschlagen an harte 
Gegenstände der Umgebung oder Zurückfallen auf den Erdboden beruhen. 
Dasselbe gilt von den verhältnismässig seltenen gröberen Läsionen innerer 
Organe, deren Zustandekommen aus ähnlichen mechanischen Gründen, ja auch 
ohne grössere Verletzungen der äusseren Bedeckungen wohl denkbar ist; als 
solche findet man bisweilen namentlich kleinere oder grössere Blutaustritte in 
den verschiedensten Regionen und Organen, Knochenbrüche zumal im Bereiche 
der Schädelkapsel, und Quetschungen oder Zerreissungen der Leber, des Ge¬ 
hirns u. s. w. Manche Autoren betonen als charakteristisches Zeichen des Blitz¬ 
todes das ungewöhnlich schnelle und intensive Eintreten der Leichenstarre; 
da wir wohl zweifellos annehmen dürfen, dass die gesammte Körpermuskulatur 
im Augenblicke der Blitzwirkung durch die gewaltige elektrische Reizung in 
einen plötzlichen Zustand intensivster Contraction versetzt wird, so muss uns 
diese Beobachtung wohl erklärlich erscheinen; ist es doch eine bekannte That- 
sache, dass die die Starre bedingende Myosingerinnung um so früher auftritt, 
in je lebhafterer Action sich die Muskeln im Augenblicke des eintretenden 
Todes und kurz vorher befunden hatten (schnelle Todtenstarre des gehetzten 
Wildes etc.). 

Durch die Einwirkung künstlich erzeugter elektrischer Ströme werden 
Menschenleben, seit der ausgedehnten Anwendung starker elektrischer Kräfte 
zu technischen, motorischen und Beleuchtungszwecken, durchaus nicht selten 
vernichtet. Naturgemäss handelt es sich dabei in der überwiegenden Mehr¬ 
zahl der Fälle um unbeabsichtigte Verunglückungen, indem der Betroffene 
aus Zufall, Unachtsamkeit, Versehen oder Fahrlässigkeit in den Bereich der 
stromleitenden Drähte kam und diese berührte. Besonders verhängnisvoll 
wird es dabei, wenn der Betreffende nasse Kleider trug, weil solche die Elek¬ 
tricität unvergleichlich viel besser leiten als trockene Kleider. Es liegt auf 
der Hand, dass auch Selbstmord durch absichtliches Berühren derartiger Leiter 
möglich ist, wie auch absichtliche Tödtung Vorkommen kann, indem der 
Mörder sein ahnungsloses Opfer auf irgend eine Weise veranlasst, sich in 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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den verhängnisvollen Stromkreis einzuschalten. Wie allgemein bekannt, hat 
die amerikanische Jnstiz sogar die Wirkung starker elektrischer Ströme zur 
Vollstreckung von Todesurtheilen nutzbar gemacht. Erfahrungsmässig ge¬ 
nügt eine elektrische Energie von 1500 Volt zur sicheren Tödtung eines er¬ 
wachsenen Menschen. Die elektrischen Apparate zur Erzeugung bedeutender 
Maschinenkräfte, zu Beleuchtungszwecken etc. arbeiten zum Theil mit weit 
grösseren Energien, wie z. B. die Spannung in der Anlage zwischen Lauffen 
und Frankfurt a. M. 30.000 Volt beträgt. Merkwürdigerweise ist der Leichen¬ 
befund bei derartig Verunglückten meist durchaus negativ. In vereinzelten 
Fällen hat man in der Haut Ecchymosen oder mehr oder minder stark aus¬ 
gebildete Verbrennungseffecte von streifenförmigen Erythemen bis zu wohl¬ 
entwickelten Brandblasen und lochförmigen Durchbohrungen der Cutis mit 
geschwärzten Rändern ähnlich wie bei Blitzgetroffenen gesehen. Ecchymosen 
sind auch auf den Lungen und am Hörzen beobachtet worden. Die Kleider 
der Verunglückten liessen bald lochförmige Verbrennungen, bald keinerlei 
Spuren der elektrischen Wirkung erkennen. Grange*), der die Wirkungen 
kräftiger Ströme an Hunden studirte, wobei die Thiere den nicht unterbro¬ 
chenen Strom ohne Schaden ertrugen, durch den vielfach unterbrochenen da¬ 
gegen sofort getödtet wurden, fand capillare Haemorrhagieen in der Medulla 
oblongata. beumek u. g. wolteksdokf. 

Traumatische Krankheiten (forensisch). Unter vorstehender Bezeich¬ 
nung fassen wir alle diejenigen Organerkrankungen zusammen, welche sich 
im Anschluss an ein Trauma entwickeln können, unter Ausschluss jener 
Fälle, in welchen nach den für die moderne Chirurgie maassgebenden Ge¬ 
sichtspunkten Indication für sofortiges oder doch wenigstens thunlichst be¬ 
schleunigtes Eingreifen vorliegt. Der Begriff Trauma deckt sich in den 
nachfolgenden Betrachtungen mit dem der acuten Gewalteinwirkung, er ist 
also im Wesentlichen identisch mit der bei Ausführung der Unfallversiche¬ 
rungs-Gesetzgebung maassgebenden Begriffsbestimmung des „Unfalls“ resp. 
„Betriebsunfalls“ und basirt auf der Voraussetzung eines plötzlichen, d. h. 
zeitlich bestimmbaren, in einen verhältnismässig kurzen Zeit¬ 
raum eingeschlossenen Ereignisses, welches in seinen — möglicher¬ 
weise erst allmählich hervortretenden — Folgen mehr oder minder erheb¬ 
liche Schädigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit bedingt. 

Ein unmittelbarer Causalnexus besteht nur zwischen dem Trauma 
und den durch dasselbe geschaffenen Verletzungen. 

Gemäss der Judicatur des deutschen Reichsversicherungsamtes, die mit 
den Entscheidungen der höheren Spruchbehörden in Oesterreich und der Schweiz 
im Allgemeinen übereinstimmt, und die sich von der Erwägung leiten liess, 
dass die vornehmste Aufgabe der socialen Gesetzgebung die staatliche 
Arbeiter für sorge bleiben muss, hat indessen der Causalitätsbegriff eine er¬ 
hebliche Erweiterung erfahren, insofern zur Motivirung eines Unfallentschädi¬ 
gungsanspruches nicht mehr der Nachweis eines unmittelbar ursächlichen 
Zusammenhanges postulirt, sondern es als genügend erachtet wird (Recurs- 
entscheidung vom 4. Februar 1887), dass die bei dem Unfall erlittene 
Schädigung nur eine von mehreren zur Einbusse an Erwerbs¬ 
fähigkeit, resp. zum Tod mitwirkenden Ursachen ist. 

Es haben deshalb in Rücksicht auf praktische Bedürfnisse im vor¬ 
stehenden Artikel auch jene krankhaften Zustände Berücksichtigung finden 
müssen, bei welchen das Trauma in der Regel nicht mehr als primäre und 
eigentliche Ursache anzusehen ist, sondern nur mehr als auslösendes 
Moment für einen bis zur Einwirkung des Trauma latent im Körper existiren- 
den Krankheitsprocess, der erst durch das Trauma manifest und hin- 

” *) Ann. d’hyg. publ. XIII. pag. 53. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


sichtlich Symptomatologie und weiterer Entwicklung in der Weise ungünstig 
beeinflusst wird, dass er mitunter von den gleichen Krankheitstypen ohne 
traumatische Aetiologie nach der einen oder anderen Richtung abweicht. 

Bei dem Umfange und der Vielseitigkeit des zu besprechenden Materials 
war natürlich in dem verhältnismässig eng begrenzten Rahmen dieses Artikels 
eine detaillirte Besprechung aller hier in Betracht kommenden Gesichtspunkte 
nicht möglich, weshalb wir zu weiterer Orientirung an den entsprechenden 
Stellen des Textes die bezüglichen Literaturangaben gemacht haben, deren 
Abkürzung unten Erklärung findet. 

Die traumatischen Erkrankungendes Seh-und Hörorganes 
scheiden für die Besprechung aus, weil sie, wie dies in der Natur der Sache 
begründet liegt, wohl ausschliesslich Gegenstand specialistischer Unter¬ 
suchung und Begutachtung geworden sind und deshalb in anderen Special¬ 
artikeln dieses Werkes berücksichtigt werden. 

I. 

Die functionellen Nervenerkrankungen nach Unfall. 

Einleitende Bemerkungen. 

In England hat man infolge der früher als bei nns erfolgten gesetzlichen Regelung 
der Haftverbindlicbkeit den Affectionen des Nervensystems nach Unfällen and spedeH 
nach Eisenbahnunglücken, einem rein praktischen Bedürfnis folgend, schon früher ent¬ 
sprechende Aufmerksamkeit geschenkt. Erichsen hat bereits 1866 nach dem Vorgänge von 
Bell, Abercombie, Cooper in einer zusammenfassenden Arbeit („on railway and other injuiies 
of the nervous System“) die krankhaften Zustände dieser Art, die man kurzweg unter 
dem Namen rail way spine snbsummirt hatte, bevor man erkannte, dass die Symptome 
hauptsächlich cerebraler und nicht spinaler Natur sind, eingehender zu schildern versucht. 
In Deutschland gewannen diese Erkrankungen erst nach Herausgabe des Haftpflichtgesetzes 
(1871) actuellere Bedeutung. Wenn auch bei den Arbeiten der deutschen Autoren (Leyden, 
Westphal, Bernhard) die Verletzungen nach Eisenbahnunfällen noch zu sehr im Vorder¬ 
gründe standen, hatte doch gleichzeitig Erb in seiner Casuistik als Bestätigung der bereits 
von Erichsen erwähnten Thatsachen eine Reihe von Fällen aufgenommen, in welchen 
nach einem Trauma anderer Art gleiche, oder doch nicht wesentlich verschieden gestaltete 
Symptomencomplexe seitens des Centralnervensystems auftreten. Auch die Frage nach 
dem Wesen und der Art des Zustandekommens dieser Erkrankungen ist damals bereits 
viel ventilirt worden Besonders hervorgehoben zu weiden verdient die Monographie von 
Riegler (1879), insofern sich der genannte Autor mit der praktischen Seite beschäftigt hat 
Im Allgemeinen schloss man sich anfangs hinsichtlich der Pathogenese der von 
Erichsen urgirten Theorie an, dass die Symptome auf entzündliche Processe im Rücken¬ 
mark und den Häuten zurückzuführen seien. Indessen mehrten sich bald die Zweifel an 
der Berechtigung dieser Auffassung. Bereits Riegler und Moeli hatten für das Zustande¬ 
kommen derartiger Erkrankungen nicht blos die mechanische Erschütterung, sondern 
auch den Schreck mit seinen Folgen für die Psyche verantwortlich gemacht. Charcot 
hat als der Erste unter Negirung jeglicher anatomischer Veränderungen im Gehirn und 
Rückenmark auf den rein fanction eilen und psychogenen Charakter dieser Krankheits¬ 
zustände hingewiesen, indem er als veranlassendes Moment den psychischen Shock, der den 
Unfall noch lange Zeit überdauern kann, an spricht. Nach seiner Theorie handelt es sich um 
einen hysterischen Symptomencomplex (nevrose hystörotraumatique) durch Autosug¬ 
gestion, gewöhnlich ohne Dazwischenkunft von Bewusstsein oder Reflexion bedingt. Er 
stützte seine Ansicht auf das positive Ergebnis von Experimenten, indem es ihm gelang, 

Erklärung der Abkürzungen: 

A. N. = Amtliche Nachrichten des Reichs Versicherungsamtes (R.-V.-A.), 

M. f. U. = Monatsschrift für Unfallheilkunde, 

A. f. U. = Archiv für Unfallheilkunde, 

A. S. V. Z. = Aerztliche Sachverständigenzeitung, 

Z. M. B. = Zeitschrift für Medicinalbeamte, 

Vj. f. g. M. = Vierteljahresschrift für gerichtliche Medicin, 

A. kl. M. =: Archiv für klinische Medicin, 

A. kl. Ch. = Archiv für klinische Chirurgie, 

B. kl. W. = Berliner klinische Wochenschrift, 

D. m. W. = Deutsche medicinische Wochenschrift, 

M. m. W. = Münchener medicinische Wochenschrift, 

Z. f. N. = Zeitschrift für Nervenheilkunde, 

V. A. = Virchow’s Archiv. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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bei hypnotisirten Personen durch einen leichten Schlag Lähmungen hervorzurufen, die 
den im Anschluss an Verletzungen entstandenen auch in Bezug auf ihr sensorielles Ver¬ 
halten vollständig glichen; durch die heftige Einwirkung des das Trauma begleitenden 
Schreckens befinde sich das Gehirn der traumatisch Hysterischen unter denselben Bedin¬ 
gungen wie das der hypnotisirten Personen. 

Oppenheim (Archiv für Psychiatrie 1885) trat der Auffassung Charcot’s von dem 
Wesen dieser Erkrankungen entgegen und legte dem starken körperlichen Trauma ein 
besonderes Gewicht bei. Des Weiteren macht er darauf aufmerksam, dass die psychischen 
Störungen, die er an einem grossen Material beobachtet hat, nicht immer in dem Rahmen 
der sogenannten hysterischen Psychose sich unterbringen lassen; in späteren Arbeiten aus 
den Jahren 1888 und 1889 hebt Oppenheim die Eigenthümlichkeiten des gesammten Sym- 
ptomencomplexes immer mehr hervor und kam auf Grund seiner Beobachtungen schliess¬ 
lich zu der Ansicht, dass man die ganze Gruppe von nervösen Functionsstörungen nach 
Trauma zu einem einheitlichen Krankheitsbild unter dem Namen „traumatische Neu¬ 
rose“ zusammenfassen müsse. Hiemit will Oppenheim also ein Symptomenbild charak- 
terisiren, welches, so verschieden Art und Ort der Läsion sein mögen, in sei¬ 
nen hauptsächlichsten Erscheinungsformen stets das gleiche sei, seinen 
Hauptsitz in der 6 rosshirnrinde habe und aus Functionsstörungen im 
Gebiet der Psyche, Motilität, Sensibilität und der Sinnescentren bestehe. 

Aus der OrPKNHEiM’schen Symptomatologie, die so ziemlich alle Störungen umfasst, 
welche bei Neurosen überhaupt Vorkommen können, heben wir hier nur jene vier Sym¬ 
ptome hervor, die Oppenheim als sogenannte objective ganz besonders in den Vordergrund 
gestellt, da sie nach ihm im Gegensatz zu der nicht in Abrede zu stellenden Möglichkeit 
der Nachahmung der übrigen, einer bewussten Beeinflussung durch den Willen des Unter¬ 
suchenden entrückt, die Beurtheilung des Zustandes und dessen Abgrenzung von der 
Simulation ermöglichen sollen: 

1. Anästhesien beziehungsweise Hyperästhesien. 2. concentrische Gesichtsfeldeinengung 
(„G. F. E.“), 3. Pulsbeschleunigung, 4. psychische Anomalien. 

Wir werden bei der Symptomatologie noch einmal auf dieselben zurückzukommen 

haben. 

Strümpell (Berliner Klinik 1888) ist unter Betonung der grossen praktischen Wich¬ 
tigkeit der Erkenntnis des OpPENHEiM’schen Symptoraencomplexes für die traumatischen 
Neurosen eingetreten; ihre Erweiterung hielt er sogar insofern für nöthig, als er den 
„allgemeinen“ traumatischen Neurosen, bei deren Entstehung neben der psychischen Ein¬ 
wirkung beim Unfall möglicherweise auch die materielle Erschütterung eine Rolle spielt, 
noch die localen gegenüber stellte, obwohl er gleichzeitig zugab, dass diese Trennung 
nicht streng durchzuführen sei, da Uebergänge und Combinationen nicht selten Vorkommen. 
Als „locale“ traumatische Neurosen bezeichnete er jene Fälle, in welchen nach Verletzun¬ 
gen, welche nur ein Glied treffen, in diesem betroffenen Theil schwere nervöse Störungen 
auftreten (Anästhesien, Hyperästhesien, Paresen, Contracturen. Tremor etc. etc.), Störungen, 
die ihre Entstehung rein cerebralen Vorgängen verdanken. 

Neben dem psychischen Trauma bei einem Unfall selbst sah Strümpell seinerzeit in 
UebereinStimmung mit den meisten übrigen Autoren als wichtiges Moment für die Fort¬ 
entwicklung und Weiterverlauf der Erkrankung die intensiven Gemüthserregungen, welche 
in der Sorge um die Wiedererlangung der Gesundheit und früheren Erwerbsthätigkeit, um 
die eigene und der Familie Existenz, die Vorstellung der Vorenthaltung der gesetzmässig 
zustehenden Rente an; letzteres besonders in jenen Fällen, in welchen unter den psychi¬ 
schen Erscheinungen das fortwährende Quäruliren und Processlren um die Unfallsrente im 
Vordergründe steht. Pages hatte schon 1885 darauf hingewiesen, dass der specifische Zug 
der sogenannten rail way spine nicht durch die besondere Art, des körperlichen und psy¬ 
chischen Trauma bedingt ist, sondern durch das hartnäckige Sich-Versenken der Verletzten 
in ihre Entschädigungsansprüche. In Deutschland hat Albin Hofman den durch die Unfall¬ 
versicherung hervorgerufenen Ideenkreis der Arbeiter, die eigenartige Interessensphäre, in 
der die Verunfallten zu leben gezwungen sind, die langwierigen Verhandlungen der Berufs- 

f enossenschaften, die Differenzen in der ärztlichen Beurtheilung, die Ungewissheit der Ver- 
ältnisse, die auf lange Zeit aus dem Verfahren resultiren, als ursächliche Momente für 
jene Abhängigkeit und Befangenheit der Unfallverletzten angesehen, welche den Nährboden 
für eine directe, psychische Alteration darstellen, die functionellen Störungen im Organis¬ 
mus theilweise veranlassen, theilweise unterhalten oder verschlimmern, Gesichtspunkte, 
die für die En tstehung der Unfalln eurosen von hervorragender pathoge¬ 
netischer Bedeutung sind (s. Prophylaxe). 

Es währte nicht lange, bis sich gewichtige Stimmen sowohl gegen die Auffassung 
des OppENHEiM'schen Symptomenconglomerates als ein typisches, in sich abgeschlossenes 
Krankheitsbild, als auch gegen die diagnostische Bedeutung der vier objectiven Symptome 
erhoben (Seeligmüller, Eisenlohr u. a ). Insbesondere trat Schultze (Bonn) gegen Oppenheim 
auf, als er 1890 auf dem internat. med. Congress zu Berlin seinen Vortrag dahin resu- 
mirte, dass es keine einheitliche scharf begrenzte Krankheitsform, welche auf die Bezeich¬ 
nung „traumatische Neurose“ Anspruch habe, gibt, da wirklich pathosnomische Krank¬ 
heitssymptome und objective Kriterien für die Unterscheidung von Simulation und Nicht- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Simulation zurZeit nicht aufgestellt werden können. Auch von der STRÜMPELL’schen „localen“ 
traumatischen „Neurose“ wollte Schultze nichts wissen, indem er es für die Beurtheilung 
derartiger Falle als richtiger erachtet, je nach dem am meisten hervortretenden Befund 
von Neuralgien, localisirten Krämpfen, Paresen, Contracturen (seien sie nur Reflexerschei¬ 
nungen oder Ausdruck einer bestehenden Hysterie') zu reden, als alles in den bequemen 
Schleier der localen traumatischen Neurose zu hüllen, In den hauptsächlichsten Punkten 
schloss sich seinen Ausführungen auch Jolly an, der hinsichtlich der Nomenclatur noch 
darauf hinwies, dass, wenn auch für die praktische Verständigung eine die ätiologische 
Zusammengehörigkeit ausdrückende Bezeichnung, wie traumatische Neurosen, vielleicht 
zulässig erscheinen könne, doch die bisher bekannten Neurosen resp. Neuropsychosen 
(Hysterie, Hypochondrie, Neurasthenie und deren Mischformen) vollständig zur Classifici- 
rung der OppENHEiM’schen Fälle genügen. 

Eine Klärung der schwebenden Controversen wurde erst auf dem Wies¬ 
badener Congress für innere Medicin 1893 erzielt, insofern als Ergebnis der 
Verhandlungen, in denen Strümpell und Webnicke die Referate übernom¬ 
men hatten, nach längerer Discussion zwischen Hitzig, Bbüns, Sänger, 
Jolly, Unvebricht u. A. ein gewisser Abschluss in der ganzen Streitfrage 
verzeichnet werden konnte. Derselbe ist in nuce dahin zusammenzufassen, 
dass man sich hinsichtlich der nosologischen Stellung der Oppenheim’- 
schen traumatischen Neurosen den vorerwähnten Ausführungen von Schultze 
und Jolly auf dem int. med. Congress in Berlin anschloss. Des Weiteren 
stimmte man darüber überein, dass auch nach leichten Traumen nicht selten 
allgemeine functioneile Neurosen Vorkommen. Die Oppenheim’s chen trau¬ 
matischen Neurosen sind bald Fälle von classischer Hysterie, 
Neurasthenie, Hypochondrie, bald auch Krankheitsbilder, die 
aus dem Rahmen einer dieser Erkrankung heraustretend sich 
mit anderen Symptomen combiniren, so dass je nach dem Vor¬ 
wiegen der einen oder anderen Symptomenverbindung die 
äussere Erscheinung des Gesammtzustandes modificirt und 
das Krankheitsbild ein äusserlich differentes Gepräge er¬ 
halten kann. Da die Symptome der genannten Krankheitsformen in 
der Hauptsache als psychisch bedingt anzusehen sind, haben auch die von 
Oppenheim aufgestellten vier sogenannten objectiven Symptome bei aller 
Wichtigkeit für die Erkennung derartiger functioneller Neurosen nur den 
Wert relativer Objectivität im Gegensatz zu den wirklich objectiven Symptomen 
der organischen Nervenerkrankungen. Infolge ihrer psychogenen Entstehung 
und der Abhängigkeit von Bewusstseinszuständen*) sind sie hinsichtlich ihrer 
Entäusserung auch anderen Regeln unterworfen, als die anatomisch bedingten. 
So erklärt sich ihre Inconstanz, das scheinbare Missverhältnis zwischen Inten¬ 
sität des Trauma und In- und Extensität der nervösen Folgezustände des¬ 
selben. Wegen der Unbeständigkeit gewisser Symptome und der Neigung 
der Kranken zu absichtlichen Uebertreibungen ist man noch nicht berechtigt, 
an der Realität der Krankheitserscheinungen zu zweifeln und Simulation, die 
selten und sehr schwierig mit Sicherheit nachzuweisen ist, anzunehmen. 

Symptomatologie. Man hat sich zweifellos in den ersten Jahren, als 
die „traumatische Neurose“ irrthümlicher Weise von so vielen Seiten als 
eine bisher unbekannte Krankheit und als ein typisches, in sich abgeschlos¬ 
senes Krankheitsbild betrachtet wurde, bezüglich der Wertschätzung der soge¬ 
nannten vier objectiven Symptome dadurch beeinflussen lassen, dass man in 
Ermanglung anderer Kennzeichen diese Symptome als pathognostisch für die 
Neurosen traumatischen Ursprunges ansah. Symptome, die ausschliesslich bei 
einer Neurose Vorkommen, gibt es aber überhaupt nicht und natürlich auch 
nicht bei den im Anschluss an ein Trauma sich entwickelnden neurotischen 
Störungen, die sich ja, wie wir nochmals betonen wollen, von den übrigen 


*) Erst kürzlich hat Sänger an einer Reihe prägnanter Fälle gezeigt, dass die in 
Rede stehenden Symptome vollständig ausserhalb der Bewasstseinssphäre Vorkommen 
und ihren „subjectiven“ Charakter ganz verlieren können. 


b v Google 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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Neurosen doch blos durch ihre Aetiologie, aber nicht durch ihre Sympto¬ 
matologie unterscheiden. Man kann deshalb auch diese Symptome nicht für 
den Nachweis des Causalnexus zwischen Neurose und Trauma verwenden; 
aber in Voraussetzung wiederholter Nachprüfung einer erstmaligen Unter¬ 
suchung beruht bei Anwendung der neuerdings in wertvoller Weise vervoll¬ 
ständigten Untersuchungsmethoden resp. Cautelen ihre Bedeutung darauf, 
dass sie mit gewisser Objectivität auf die Existenz eines von 
der Norm abweichenden Zustandes hinweisen, dass sie nach 
Schlösser’s neuesten Untersuchungen unter Umständen auf tiefer grei¬ 
fende Ernährungsstörungen des Gesammtorganismus zu be¬ 
ziehen sind u. ähnl., kurz, bei erschöpfender Untersuchung erscheinen sie wohl 
geeignet, mancherlei Schwierigkeiten für die Beurtheilung eines Falles 
zu beseitigen. Entgegen der neuesten, mit seinen Ausführungen auf dem 
Wiesbadener Congress in auffallendem Widerspruch stehenden Ansicht von 
Strümpell über den Wert der objeetiven Symptome (s. u.) heben Bruns, 
Sänger u. A. deren diagnostische Bedeutung noch in der letzten Zeit 
hervor, so dass die Frage nach dem Wert dieser Symptome für die Diagnose 
eines neurotischen Zustandes im Allgemeinen, also auch für die Erkennung 
einer der Unfallneurosen im Besonderen sicherlich noch actuell genug ist, um 
an dieser Stelle einige kurze Bemerkungen Uber den Nachweis derselben 
zu rechtfertigen. 

Den quantitativen functioneilen Störungen der optischen Sensibilität 
(abnorme Ermüdungserscheinungen der Retina, gestörter Farbensinn, gleichmässig concent- 
rische Gesichtsfeldeinengung*), die so häufig combinirt sind mit cutanen Anästhesien (ein- 
oder doppelseitig, hat man stets grosse Beachtung geschenkt. 

Im Gegensatz zu Peters, der weder die Gesichtsfeldeinengung und die übrigen 
Eimüdungsphänomene, noch den FÖRSTER’schen Verschiebungstypus (ein in centripetaler 
Richtung in das Gesichtsfeld eingeführtes Object wird weiter peripherisch gesehen als ein 
in centrifagaler eingeführtes) für diagnostisch bedeutsam hält, obwohl auch er zugeben 
muss, dass die vorgenannten Erscheinungen bei Individuen mit functioneilen Nervenkrank¬ 
heiten besonders häufig Vorkommen, rechnen Sänger und Wkrnicke die Gesichtfeldein¬ 
engung zu den objeetiven Symptomen bei Berücksichtigung folgender Cautelen und Control¬ 
maassregeln: 1. Verhalten der Farbengesichtsfelder unter einander, d. h. die Reihenfolge 
der Farbenausdehnung im Gesichtsfeld mit der speciellen Modification, welche z. B. die 
Grenze für Roth gegenüber der Ausdehnung für Blau bei den Neurosen erfährt; 2. die 
Projection des Gesichtsfeldes auf grössere Entfernung mittelst der WiLBRAND’schen Faden¬ 
vorrichtung, bei deren Anwendung es dem zu Untersuchenden auch nach den Prüfungs¬ 
ergebnissen von Freund und jenem von König mit dem modificirten FÖRSTER’schen Peri¬ 
meter unmöglich ist, etwa vorhergemerkte simulirte Einschränkungsgrenzen einzuhalten; 
bei der campimetrischen Untersuchung (Schmidt-Rimplrr) in verschiedenen Entfernungen 
müssen nach physiologischen Gesetzen stets die entsprechenden Grössenunterschiede her¬ 
vortreten und können Widersprüche gar nicht anders denn als Simulation gedeutet werden; 
3. die WiLBRAND’sche Methode der Untersuchung im Dunkelraum, am ScHERK’schen Hohl- 
kugelperimeter, unter Benutzung selbst leuchtender Untersuchungsobjecte, eine Vervoll¬ 
kommnung des früheren Verfahrens der Gesichtsfelduntersuchung bei diffusem Tageslicht 
mit sogenannten Ermüdungstouren im horizontalen Meridian. Sie stützt sich auf die Er¬ 
fahrungstatsache, dass bei wirklich bestehender Gesichtsfeldeinengung die Erholungsaus¬ 
dehnung des Gesichtsfeldes im Dunkelraum je nach der Schwere des Falles oft vielstün- 
digen Aufenthalt im Dunkelraum erfordert. Zwecks detaillirterer Orientirung ist das 
Studium der neuesten W ilbr AND*schen Arbeit: „Ueber Erholungsausdehnung des Gesichts¬ 
feldes unter normalen und pathologischen Bedingungen“ sehr zu empfehlen. 

Quantitative Farbensinnprüfungen bei Unfallnervenkranken hat u. a. 
Wolfberg angestellt, welcher constant eine eigentümliche Uebereinstimmung im Verhalten 
des Farbensinnes der Macula lutea und dem des Gesichtsfeldes nachweisen konnte. 
Während sich nämlich bei normalem quantitativen Farbensinn der Macula auch die Farben¬ 
grenzen innerhalb des normalen Gesichtsfeldes normal verhielten, rückten in den von 
Wolfberg untersuchten Fällen die Farbengrenzen von den Aussengrenzen um so stärker 
nach dem Fixirpunkt, je mehr der quantitative Farbensinn der Macula lutea sich herab¬ 
gesetzt zeigte. 

Zur Prüfung der cutanen Sensibilität empfiehlt sich neben Nadel- und Pinsel¬ 
berührung, Prüfung des Raumsinnes, Feststellung des Grades der elektrocutanen Empfind- 

*) Als normale Aussengrenze nimmt man übereinstimmend 90°, als normale Innen¬ 
grenze 60° an. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


lichkeit, besonders die GoLDsCHBiDBR’sche Methode der Prüfung des Wärme- nnd Kältesinnes 
(Neurol. Centralblatt 1892, Nr. 12) wegen ihrer weit zuverlässigeren Resultate, als solche 
die übrigen Methoden ergeben. (Wbrnicke, Thiem, Jurka.) 

Sänger ist für die Anwendung des Influenzfunkens von kräftiger Spannung und für 
Prüfung mittelst einer von ihm angegebenen besonderen Vorrichtung am Inductionsapparat, 
welche gestattet, die Stromstärke an den betreffenden Hautstellen zu steigern oder zu ver¬ 
mindern, ohne dass es der Untersuchte sehen kann. 

Rumpf (Deutsche med. Wochenschrift 1890) führt als constante Sym¬ 
ptome feiner an: 1. Die sogenannte traumatische Muskelreaction (Wogen der 
Muskeln mit fibrillären und klonischen Zuckungen nach Oeffnung des fara- 
dischen Stromes neben fast vollständig normalem elektrischem Untersuchungs¬ 
befund bei Prüfung der Muskelerregbarkeit); 2. Die traumatische Herzaction 
(MANNKOPF’sches Symptom), Pulsveränderung bei Druck auf die als schmerz¬ 
haft bezeichnete Stelle, sowohl was die Zahl als die Regelmässigkeit der Puls¬ 
schläge angeht; 3. die quantitative Herabsetzung der faradischen und gal¬ 
vanischen Erregbarkeit der motorischen Nervenstämme. 

In der neuesten Zeit haben indessen Nachprüfungen der RuMPF’schen 
Beobachtungen ergeben, dass weder jedem einzelnen, noch der ganzen Sym¬ 
ptomtrias die von Rümpf vindicirte Bedeutung beigelegt werden kann. 
(Mendel, Windscheid, Rosenthal etc.). Nach den Untersuchungen des 
Letzteren ist das MANNKOPF’schen Symptom sogar selten und auch in den 
wenigen Fällen, wo es sich findet, nicht objectiv genug, während er die trau¬ 
matische Reaction in der von Rumpf verlangten Form constant kaum bei 
einem seiner 49 Fälle fand. 

Von weiteren Symptomen wollen wir noch die von Mann aus der 
WERNiCKE’schen Klinik beschriebene Verminderung des galvanischen Leitungs¬ 
widerstandes am Kopf erwähnen, und zwar soll sie wegen ihres besonders 
häufigen Auftretens bei den mit Kopfbeschwerden, Schwindel, Sausen, 
Schmerzen u. s. w. einhergehenden Formen nach diesem Autor geeignet sein, 
das wirkliche Bestehen derartiger Beschwerden sehr wahrscheinlich zu machen. 
Auch bei Neurasthenien ohne voraufgegangenes Trauma hatte Eulenberg 
dieses Symptom gefunden. 

Jacksch betont das häufige Vorkommen von alimentärer Glyco- 
surie bei den Unfallneurosen, so dass sie bei positivem Ausfall der Unter¬ 
suchung in zweifelhaften Fällen hinsichtlich der Frage der Simulation Be¬ 
rücksichtigung verdient. (Verabreichung einer wässerigen Lösung von 10(ty 
Traubenzucker in 500 aqua, Untersuchung des Urins in den darauffolgenden 
6 Stunden, während welcher sich der zu Untersuchende selbstverständlich 
jeder Nahrung enthalten muss.). Auch Mendel jun. hat die alimentäre Gly- 
cosurie bei traumatischen Erkrankungen des Nervensystems häufiger beob¬ 
achtet als bei functionellen Neurosen anderen Ursprunges und stimmt hierin 
mit Strümpell überein, der besonders bei Unfallhysterien ein vermindertes 
Zuckerverbrennungsvermögen constatirte; er lässt aber nicht ausser Acht, dass 
individuelle Momente zweifellos in der ganzen Frage eine grosse Rolle spielen, 
da die Assimilationsgrenze nicht nur bei verschiedenen Individuen, sondern 
auch bei einem und demselben Individuum oft erheblichen Schwankungen 
unterworfen ist. Die definitive Entscheidung der Frage hält er erst an der 
Hand eines grösseren Beobachtungsmaterials für möglich, das sich nicht nur 
auf traumatische, sondern auch auf andere functionelle Erkrankungen des 
Nervensystems zu erstrecken hat. 

Das — sit venia verbo — spontane Auftreten von Zucker im Urin bei 
Neurosen traumatischen Ursprungs hat Ebstein, der mit Blasius den wohl 
beachtenswerten Rath gibt, den Urin von Unfall verletzten stets auf 
Zucker zu untersuchen, schon vor längerer Zeit beobachtet. 

Mit den bis jetzt besprochenen Krankheitserscheinungen ist jedoch die 
Symptomatologie der Unfallneurosen noch keineswegs erschöpft. Nachdem 
wir aber auf eine Dctailschilderung der psychischen Symptome der 


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cerebralen Neurosen im Anschluss an Trauma nicht näher ein¬ 
zugehen brauchen, da sie sich nicht von jenen ohne traumatische Ursache 
entstandenen, welche an anderer Stelle dieses Werkes Besprechung finden, 
unterscheiden, können wir uns darauf beschränken, im Folgenden zunächst aus 
dem grossen Gebiet der Hysterie nach Trauma, resp. Unfall unter Hin¬ 
weis auf die späteren Bemerkungen über die Prädisposition zu Unfallneurosen 
im Allgemeinen einzelne Symptome zur Exemplification hysterischer Störungen 
herauszugreifen, hinsichtlich deren Entwicklung und späteren Gestaltung der 
Einfluss des Unfalls und der sich nach Maassgabe des Unfallversicherungs¬ 
gesetzes hiemit verquickenden Vorstellungsthätigkeit besonders klar hervor¬ 
tritt, umso eher, als die von einzelnen Autoren vertretene Ansicht, dass das 
Trauma meistens ein acutes Einsetzen schwerer hysterischer Symptome be¬ 
dinge, im Gegensatz zu der mehr chronischen Symptomentwicklung bei anderen 
ätiologischen Varietäten der Hysterie (z. B. der sogenannten toxischen Hysterie 
[Achaed]) nur für eine relativ kleine Anzahl von hysterischen Erkrankungen 
nach Unfall Giltigkeit zu haben scheint. 

Entsprechend unserer Auffassung von der psychogenen Natur der 
Hysterie treten sehr häufig am Ort der Verletzung, auf den ja bei der psy¬ 
chischen Erregung natürlicher Weise die Aufmerksamkeit am meisten hin¬ 
gelenkt ist, zuerst die hysterischen Stigmata auf (Sensibilitätsanomalien mit 
ihren charakteristischen Begrenzungslinien, Aufhebung des Lage- und Muskel¬ 
gefühles, vasomotorische Störungen, schlaffe Lähmung, Steifigkeit, Muskel¬ 
rigidität, Contracturen), die sich entweder von hier aus weiter verbreiten oder 
auch local beschränkt bleiben. In diesem Zusammenhang wollen wir zunächst 
die sogenannten Gelenkneurosen auf traumatischer Basis erwähnen, Er¬ 
krankungen, welche stets erst nach einer gewissen Zeit, während welcher sich 
der psychische Process entwickelt, resp. ausgebildet hat, nach dem Trauma 
auftreten und in ihrer Symptomatologie einer entzündlichen Gelenkaffection 
durchaus ähneln können, ohne dass jedoch ein anatomisches Substrat hierfür 
vorhanden wäre. (Esmarch, Volkmann, Ebb, Seligmülleb u. A.). Und 
thatsächlich hat man auch in Zeiten, als man Uber das W T esen dieser Gelenk¬ 
leiden noch nicht genügend unterrichtet war, in Verkennung des Krankheits¬ 
bildes eingreifende Operationen vorgenommen (Bebgeb, Pftersen, Esmabch). 

In differentialdiagnostischer Hinsicht ist neben den von Brodie eingehend 
geschilderten Sensibilitäts- und vasomotorischen Störungen, letztere oft in periodischer Ab¬ 
wechslung mit entgegengesetztem Verhalten, nach Esmarch für die Schultergelenksgegend 
zu berücksichtigen die Schmerzhaftigkeit des Plexus brachialis in der MoHRENHEiM'schen 
Grube, im Gegensatz zur Schmerzhaftigkeit im Sulcus intertubercularis bei wahrer Schulter¬ 
gelenkentzündung, ferner im Allgemeinen die Fixation der Glieder in Strecksteilung im 
Gegensatz zu den Beugecontracturen bei organischen Gelenkleiden, die Thatsachen, dass 
die sonst für Beseitigung pathologisch-anatomisch nachweisbarer Gelenkleiden vortheilhaften 
Mittel in diesen Zuständen nutzlos sind, ja sogar das Leiden verschlimmern, der auffallende 
Contrast zwischen der Geringfügigkeit der örtlichen Veränderungen und der Heftigkeit und 
langen Dauer des Leidens, das Ergebniss der Untersuchung in Narkose, in welcher die 
Muskelcontractur schwindet, das Gelenk frei und unbeweglich wird, und ähnl. 

Der traumatisch- hysterische Tremor, bei dessen Diagnose natür¬ 
lich alle Erkrankungen auszuschliessen sind, zu deren Symptomen der Tremor 
gehört (multiple Sklerose, Paralysis agitans, Tic convulsif Guinon, chronische 
Intoxicationen) pflegt entweder unmittelbar nach dem Trauma oder im An¬ 
schluss an einen durch letzteres vermittelten hysterischen Anfall einzutreten 
und ist bekanntlich bei der männlichen Hysterie in hemi- oder monoplegischer 
Form eine der häufigsten Erscheinungen. Paradigmatische Fälle von solchem 
fein und schnell schlägigem Zittern (10—15 Oscillationen in der Secunde) 
haben u. a. Strümpell, Heyse, Jolly mitgetheilt; in einer Beobachtung von 
Fuchs war bei einer schweren traumatischen Hysterie an Stelle des ursprüng¬ 
lichen feinschlägigen Zitterns eine so gesteigerte Reflexerregbarkeit getreten, 
dass schon bei den geringsten Anlässen die heftigsten klonischen Krämpfe 


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an den oberen und unteren Extremitäten sich einstellten, so dass das ganze 
Krankheitsbild Aehnlichkeit mit der Tetanie hatte. Mitunter lässt sich ganz 
deutlich die Entwicklung des Leidens verfolgen und speciell, wie zwischen 
dem Zeitpunkt des Trauma und dem Ausbruch des Tremor, dem häufig eine 
muskulöse Unruhe vorausgeht, ein freier Intervall liegt (im HEYSE’schen Fall 
acht Tage), in welchem die Vorstellung von dem infolge des Trauma ein¬ 
getretenen Zitterns auf das seelisch alterirte Individuum so einwirkt, dass all¬ 
mählich ein dauernder Zustand daraus entsteht. Der betreffende Kranke 
copirt gewissermaassen die Zitterbewegungen, die während des Trauma aus 
ganz anderen Gründen (z. B. als Commotionserscheinungen) aufgetreten sind; 
hierin ähnelt also das Bild ganz der Entstehung hysterischer Lähmungen 
oder Krämpfe durch Nachahmung. Der freie Intervall ist bei der trauma¬ 
tischen Hysterie fast stets, wenn auch nicht immer scharf begrenzt, nach¬ 
zuweisen. 

Nach Jolly spricht vor allem für die Diagnose, abgesehen von dem Anfhören des 
Tremor im Schlaf der Einfluss aller Emmotionszustünde, der Umstand, dass überhaupt 
nach einer Emmotion, die vielleicht erst einige Zeit nach der Verletzung entstand, auch 
das Schütteln sich entwickelt hat und dann im weiteren Verlauf immer im Zusammenhang 
damit die Zunahme des Schütteins bemerkt wurde, das bei Intention und psychischer Er¬ 
regung hinsichtlich Zahl und Grösse des Ausschlages sich bis zu wahren Schtittelkr&mpfen 
steigern kann, wobei sich, wie wir noch betonen, oft schon aus der begleitenden starken 
congestiven Röthung des Gesichtes erkennen lässt, wie stark die Fsycne in solchen Zu¬ 
ständen engagirt ist. 

Zur Unterscheidung des vorgetäuschten und krankhaften Zitterns der Extremitäten 
hAt Fuchs-Bonn (Monatsschrift für Unfallheilkunde 1894, 3) auf eine Methode aufmerksam 
gemacht, die sich darauf gründet, dass man normaliter ohne vorherige Einübung nicht 
gleichzeitig mit dem rechten und dem linken Arm, oder mit einem Arme und einem Beine 
zwei verschiedene Bewegungen ausführen kann, ohne dass diese sich gegenseitig stören. 
Die Mitbewegungen an der kranken, angeblich mit Tremor behafteten Hand, durch welche 
das Zittern stossweise unterbrochen wird, sind nach dem genannten Autor ein sicheres 
Kennzeichen der Simulation. Auch Liniger empfiehlt in seinem über Zittersimulation auf 
der Lübecker Naturforscherversammlung 1896 gehaltenen lesenswerten Vortrag die Füchs’- 
sche Methode. 

In sehr naher Beziehung zur Hysterie stehen die sogenannten Schreck- 
(Emotions-) neurosenlähmungen, bei denen lediglich Erregungs¬ 
zustände depressiver Natur als Trauma wirken. Ein Beispiel hiefttr finden 
wir u. a. in den Mittheilungen von Nonne (Deutsche medicinische Wochen¬ 
schrift 1892, pag. 629 ff.), welches zeigt, wie ein rein psychischer Shock 
schwere und sehr complicirte Krankheitssymptome (spastische Lähmungen, 
ausgedehnte Muskelcontracturen, G. F. E., Ageusie, Anosmie, hochgradige 
Sensibilitätsstörungen u. ä.) zur Entwicklung] bringen kann/) In einem 
anderen Fall (Eulenburg), der von verschiedenen Vorgutachtern als grobe 
Simulation aufgefasst worden ist, handelte es sich am linken hyperästhe¬ 
tischem Arm um localisirte, rhytmische, sterotyp wiederkehrende klonische 
Zuckungen, durch welche der Arm im Schultergelenk blitzartig vorwärts ge¬ 
schleudert und der meist rechtwinklig gebeugte Vorderarm mit der Hand 
rein passiv vorgeschnellt wurde. Aehnliche Beobachtungen hat auch Sachs 
gemacht. 

Ohne an dieser Stelle auf die noch schwebende Meinungsdifferenz ein¬ 
zugehen, ob das von Friedreich seiner Zeit alsParamyoclonusmultiplex 
beschriebene Krankheitsbild ein selbständiges Leiden sei (Marie) oder nur 
eine Variation des Tic convulsif im Sinne von Guinon, oder ob der Para- 
myoclonus, wie Moebius und Strümpell annehmen, zur Hysterie gehört, für 
welch’ letztere Ansicht vor allem die Art des Auftretens als Schreckneurose 
sowie der Verlauf sprechen, erwähnen wir nur jene Fälle, in welchen als 

*) Ob man für die sämmtlichen als „Schrecklähmung" beschriebenen Fälle materielle 
Läsionen ausschliessen kann, ist znr Zeit noch fraglich. Leyden, Kohts. Brieger beschreiben 
Fälle, in welchen sich infolge von Schreck nicht eine functionelle Lähmung, sondern eine 
wirkliche Myelitis entwickelt hat. 


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Ursache für die Entstehung des genannten Leidens ein Unfall angesprochen 
worden ist. So die Mittheilung Goldflams (Neurolog. Centralblatt 1892), 
wobei die Frage offen bleibt, ob der Unglücksfall als solcher oder nur der 
begleitende Shock Grund der Erkrankung ist. Im Anschluss an eine directe 
Verletzung des Centralnervensystems mit anatomisch nachweisbaren structu- 
rellen Veränderungen ist Paramyoclonie noch nie beobachtet worden, wie denn 
auch der einzige vorliegende Sectionsbefund durchaus negativ ist. 

Diagnostisch lehrreich ist der ScHÜTTE’sche Fall (Neurologisches Centralblatt 1897), wo 
zur Zeit der vier Jahre nach dem Unfall erfolgten Untersuchung anfangs daß Bild einer 
traumatischen Hysterie mit allerdings schon vorhandenen, aber nur unbedeutenden fibril¬ 
lären Zuckungen und Contractionen verschiedener Muskeln gegeben war, während bei einer 
zwei Jahre später ebenfalls in der Göttinger psychiatrischen Klinik erfolgten Untersuchung 
der ausgesprochene Symptomencomplex des Paramyoclonus multiplex conBtatirt wurde, in 
Gestalt von clonischen, nicht synchronen Zuckungen einer Anzahl symmetrischer, will¬ 
kürlich erschlaffter, idiomusculär zwar gesteigert, elektrisch jedoch normal erregbarer 
Muskeln der oberen und unteren Extremitäten ohne einen anderen locomotorischen Effect, als 
Zitterbewegungen der betreffenden Gliedmassen auszulösen, da sie nie synergisch wirkende 
Muskelgruppen gleichzeitig betreffen. 

Auch isolirte traumatisch hysterische Lähmungen einzelner Nerven 
sind bekannt (z. B. Nervus peronealis superficialis). 

Differential-diagnostisch ist besonders die normale elektrische Erregbarkeit und die 
trotz langen Bestehens der Lähmung geringgradige Abmagerung der betreffenden Muskeln 
bei derartigen rein functionellen Lähmungen zu berücksichtigen; ihre weitere Entwicklung 
wird, wie auch Leddrrhose annimmt, noch durch den mächtigen Einfluss seelischer Er¬ 
regungen über unrichtige ärztliche Beurtheilung, sehr geringe Unfallsrente, materielle Folgen 
der Erwerbsbeschränkung u. s. w. gefördert. 

Als hysterische Hämoptoe hat Stkümpell in letzter Zeit jenes 
hell rosa gefärbte, starkschleimige und nur mit spärlichen eitrigen Beimen¬ 
gungen untermischte, oft ziemlich abundante Sputum beschrieben, wie es 
z. B. Unfallkranke nach einem Trauma der Brustgegend lange Zeit hin¬ 
durch unter beständigem Hüsteln und Räuspern zu Tage fördern. Neben Brust¬ 
schmerzen finden sich regelmässig allgemein neurasthenische Symptome vor, 
die im Verein mit dem Ergebnis der mikroskopischen Untersuchung Zweifel 
hinsichtlich der Provenienz des Sputums nicht mehr bestehen lassen. Nach 
Strümpell ist das Primäre die Vorstellung, dass eine Erkrankung der Lunge 
oder der Luftwege als Folge des Unfalles zurückgeblieben sei und „dass des¬ 
halb Husten eintreten müsse“. Der Gedanke an den Husten ruft alsbald das 
Auftreten von Hustenbewegungen hervor, welche, je öfter sie, wenn auch nicht 
bei vollem Bewusstsein, willkührlich ausgeführt werden, um so rascher zur 
Gewohnheit und zum Zwang werden. Durch das beständige Hüsteln ent¬ 
steht schliesslich ein mechanischer Reiz, ein wirklich katarrhalischer Zustand 
im Rachen, aus dessen gelockerter Schleimhaut die Blutung durch das Husten 
veranlasst wird. In anderen Fällen wird das Zahnfleisch durch Saugbewe¬ 
gungen, Reiben mit der Zunge und dergleichen oberflächlich verletzt. 

So einleuchtend auch die theoretische Erklärung von der psychogenen 
Entstehung dieses Symptoms sein mag, so kann man es bei der forensischen 
Begutachtung nur dann als Krankheitserscheinung auffassen, wenn es gleich¬ 
zeitig mit anderen einwandfreieren Symptomen der traumatischen Hysterie 
vergesellschaftet ist; bei dem Mangel solcher wird man über die factische 
Gleichstellung mit Simulation kaum hinauskommen. In einem von uns seiner¬ 
zeit begutachteten analogen Fall hat. die auf unser Gutachten hin erfolgte Sisti- 
rung der Rentenauszahlung die Hämoptoe zum Verschwinden gebracht und 
die früher vorhandene, vier Jahre bestehende vollständige Erwerbsunfähigkeit 
innerhalb recht kurzer Zeit in volle Erwerbsfähigkeit umgewandelt. 

Goldschmidt beschreibt (Rf. Mf. U. 1898, 3) aus der MENDEL’schen 
Klinik zwei Fälle von hysterischer Tachypnoe (nach Trauma [Con- 
tusion] des Brustkorbes); Athemfrequenz bis zu 50 i. M. bei einem Puls von 
70—80. Die Pathogenese erklärt er sich durch die Annahme, dass das 
cerebrale Athmungscentrum durch das psychische Trauma getroffen wird, 

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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


während das Oblongatacentrum durch die vom Unfall direct betroffenen, 
sensiblen Fasern der Brust- und Bauchorgane gereizt wird. Beide Beize, von 
denen jeder allein bei einem gesunden Menschen vorübergehend Tachypnoe 
erzeugen kann, vereinigen sich und bringen bei einem „nervösen“ Individuum 
dauernd Tachypnoe hervor. 

Dass auch jene schweren Formen von Hysteria magna mit den 
grossen hysterischen Attaken (grands mouvements, arc de cercle, 
attitudes passioneiles etc.) im Anschluss an ein Trauma zur Entwicklung 
kommen können, zeigt u. a. die Beobachtung von Fürbringer und Neumann 
(Archiv für klinische Medicin XII). 

Traumatische Beflexhysterie hat Ziehen eine ätiologische Form 
der Hysterie genannt, in welcher der hysterische Symptomencomplex auf das 
mit materieller Läsion eines peripheren Nerven verbundene Trauma folgt, 
die Läsion und später die Narbe des peripheren Nerven im Sinne eines fort¬ 
währenden traumatischen Reizes wirkt und gewissermaassen die Hysterie oder 
wenigstens Symptome derselben dauernd unterhält, also ähnlich wie bei der 
bekannten und viel häufigeren Reflexepilepsie. 

In diagnostischer Hinsicht verdienen noch die rhachialgischen Be¬ 
schwerden (points apophysaires nach Trousseau) infolge Contusionen der 
Wirbelsäule erwähnt zu werden, welche man früher nach dem Vorgänge von 
Strohmeyer als Erscheinungen von Spinalirritation aufgefasst hat, während die¬ 
selben wohl häufig nur hysterische Druckpunkte auf hyperästhetischen Zonen 
darstellen. Sie erstrecken sich bald nur auf die Halsregion, am häutigsten aber 
über den dorsalen und lumbalen Abschnitt der Wirbelsäule, beschränken sich 
speciell auf die Gegend der Dornfortsätze und überschreiten seitlich nicht die 
Wirbelrinnen. Schwierig kann ihre Unterscheidung werden von den ersten Ent¬ 
wicklungsstadien wirklicher traumatischer Erkrankungen der Wirbelsäule (siehe 
rareficirende Ostitis der Wirbelkörper, Kümmell), welche ebenso wie beginnende 
tuberkulöse Spondylitiden nach Trauma (1. c.) anfangs die gleichen Erscheinun¬ 
gen veranlassen können, unter denen besonders jener gefürchtete Schmerz 
in der Lendengegend bei gleichzeitiger Rücken Steifheit hervorzuheben ist, der 
die Verletzten häufig zwingt, Bewegungen der Wirbelsäule vollständig zu ver¬ 
meiden. 

Charcot lenkt zur Erkennung der „Simulation hystörique de la maladie de Pott“ die 
Aufmerksamkeit auf das Auftreten von an die hysterische oder epileptische Aura erinnern¬ 
den Empfindungen (phenomönes sympathiques) bei oberflächlichem Reiben der hyperästhe¬ 
tischen Haut oder Druck auf eine zwischen zwei Finger genommene Hautfalte (Oppres- 
sionsgefühl im Epigastrium, „aufsteigende Kugel“, Herzpalpitationen, Hämmern in den 
Schläfen, Ohrenbrausen ohne Trübung des Bewusstseins), Erscheinungen, welche bei wirk¬ 
lichem malum Potti kaum Vorkommen, indem sich die Schmerzen hier regelmässig unter 
dem Bild von mehr oder weniger ausgebreiteten Intercostalneuralgien manifestiren. 

Aus der mit Elementen anderer Neurosen untermischten und oft un¬ 
bestimmten Neurasthenie nach Trauma hat Friedmann einen ein¬ 
facheren Symptomencomplex herauszuschälen versucht, der sich vollständig 
isolirt nach einem Trauma des Nervensystems entwickeln kann, und den er 
als vasomotorischen Symptomencomplex bezeichnete. Derselbe 
äussert sich in Kopfschmerzparoxysmen, Intoleranz und Insufficienz gegen 
Strapazen und Erregungen, Schwindel mit Erbrechen. Hinsichtlich der 
Schwindelsensationen wollen wir speciell hervorheben, dass dieselben bei im- 
pressionablen Kranken sehr viel zu jener gedrückten, düsteren Stimmungs¬ 
lage beitragen, welche die Kranken zu allerhand ängstigenden Autosuggestionen 
betreffs ihres körperlichen Befindens veranlassen, sie muth- und energielos 
machen u. s. w. 

Als anatomisches Substrat fand Friedmann bei der mikroskopischen Untersuchung 
des Gehirnes in unerwarteter Ausdehnung hochgradige Veränderungen ausschliesslich an 
den mittleren und kleineren Gefässen, Dilatation der Lumina und Gefässscheiden, An- 
föllung mit Wanderzellen und Pigment; stellenweise hyaline Entartung der Wandungen, 
also im Wesentlichen eine Bestätigung des von Bernhardt, Kronthal und Sperling in 


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einem Fall von sogenannter traumatischer Neurose constatirten mikroskopischen Befundes 
an den kleineren und kleinsten Hirnarterien mit fleckenweiser Degeneration leichten Grades 
in allen Gebieten des weissen Rückenmarksystems. 

Hiezu wollen wir bemerken, dass man noch nicht an die Möglichkeit einer Neurose 
„sine materia* zu glauben braucht, um sein reservirtes Verhalten diesen Befunden gegen¬ 
über zu rechtfertigen. Dass sich eine Reihe ausgedehnter structureller Veränderungen in 
den Nervenapparaten unserer Kenntnis seither vollständig entzogen, haben die neuesten 
Aufsehen erregenden mikroskopischen Untersuchungen Nlssel’s bekanntlich nachgewiesen. 
Speciell die vorbeschriebenen Befunde sind aber doch einerseits noch zu vereinzelt bei den 
Unfallneurosen gefunden und auf der anderen Seite ist das Vorkommen arteriosklero¬ 
tischer Proeesse gerade bei der hier in Betracht kommenden Arbeiterbevölkerung zu häufig, 
als dass wir sie ohne weiteres als anatomisches Substrat für die Krankheitszustände in 
vivo ansehen könnten. 

Was das procentuale Verhältniss der Betheiligung der drei 
genannten Psycho-Neurosen an dem grossen Sammelbegriff „Trau¬ 
matische Neurosen“ betrifft, so bestehen auch hier grosse Meinungsdifferenzen. 
Charcot und seine Schule, deren Standpunkt im Wesentlichen auch Strümpell 
seither vertreten hat (s. u.), halten die Hysterie für die häufigste Krankheits¬ 
form, Thiem hält im Gegensatz zu Seligmüller das hypochondrische Ele¬ 
ment für sehr verbreitet, Horsley und Vibert rechneten den grössten Pro¬ 
centsatz der traumatischen Neurasthenie zu, wobei jedoch ein ganz erheb¬ 
licher Theil ihrer Fälle mit dem Bild der traumatischen Hysterie überein¬ 
stimmt. Nach Ansichten anderer Neurologen scheinen die Uebergänge von 
Neurasthenie und Hysterie, die sich in jeder Zwischenform zwischen diesen 
beiden centralen Neurosen darstellen können, am verbreitetsten zu sein, und 
zwar werden der Hysterie die Druckpunkte, die Sensibilitätsstörungen und Ge¬ 
sichtsfeldveränderungen entlehnt, der Neurasthenie der Kopfdruck, die abnorm 
leichte Erschöpfbarkeit, Schlaflosigkeit und reizbare Verstimmung u. s. w. 

Im weiteren Verlauf der Unfallneurosen treten schwere 
psychische Störungen nicht selten so sehr in den Vordergrund, dass 
man direct von einer traumatischen Psychose sprechen muss, die 
sich jedoch im Allgemeinen nicht von den auf andere Weise entstandenen 
Psychosen unterscheidet. Bald handelt es sich bei diesen secundären trau¬ 
matischen Psychosen (im Gegensatz zu den unten zu besprechenden primären, 
die ohne neurotische Vorboten, unmittelbar nach dem Unfall mit schweren 
psychischen Erscheinungen einsetzen) um ausgesprochen melancholische Zu¬ 
stände mit hysterisch hypochondrischer Färbung, in welchen der Kranke voll¬ 
ständig unter der Herrschaft eines Krankheitsgefühles, eines pathologischen, 
depressiven Gemüthszustandes und schwerer körperlicher Hemmung steht, bald 
um eine mehr weniger beträchtliche Herabsetzung der intellectuellen Fähig¬ 
keiten, steigend bis zur vollständigen Verblödung, bald um ausgesprochene 
Formen progressiver Paralyse (Dietz), bald um eine hypochondrische para¬ 
noische Psychose mit verallgemeinerndem Beeinträchtigungs- und Verfolgungs¬ 
wahn, welcher durch seine Beziehungen zu dem Unfall und den 
sich daraus ergebenden Rechtsansprüchen sein besonderes 
Gepräge erhält. Alle diese Fälle zeigen, wie vorsichtig man im Allge¬ 
meinen mit der Prognose sein soll, da sich die schwersten psychotischen Zu¬ 
stände nach anscheinend geringfügigen Traumen und aus einem anscheinend 
ganz verschwommenen Symptomencomplex, der nur zu häufig als Simulation 
aufgefasst wird, entwickeln können (Richter, Laehr). 

Aus meiner früheren Thätigkeit in Darmstadt erinnere ich mich eines Falles, in 
welchem man in einer Universitätsklinik, trotzdem ich in dem Vorgutachten auf die bereits vor¬ 
handenen psychischen Elementarstörungen hingewiesen, den betreffenden Kranken als groben 
Simulanten und als arbeitsfähig erklärt hatte, worauf ihm die Berufsgenossenschaft die 
Bente entzog und auch die verschiedenen Recursinstanzen im gleichen Sinne entschieden. 

Aber schon nach kurzer Zeit machte sich die Geistesstörung (quärulirende Paranoia, 
Schwachsinn) in einer Weise geltend, dass auch ein psychiatrischer Laie nicht mehr an 
eieren Existenz zweifeln konnte. Nach Wiederaufnahme des Verfahrens kam der betreffende 
Kranke endlich in den Besitz seiner Rente. 

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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Prädisposition. Schon frühzeitig hat man die Frage aufgeworfen, 
ob die sog. traumatischen Neurosen oder nach der richtigeren Bezeichnung 
die Unfallsneurosen thatsächlich bei ganz gesunden Menschen häufig seien, 
und ob nicht vielmehr eine hereditäre oder erworbene neuropsychopathische 
Constitution nothwendig sei. 

Oppenheim und Strümpell sprechen in ihren Krankengeschichten ausnahmslos von vor 
dem Trauma vollständig gesunden, zu Geistes- resp. Nervenkrankheiten nicht veranlagten 
Individuen, während Albin Hofmann und Schultze im entgegengesetzten Sinne betonten, 
welch’ unglaubliche Folgezustande häufig einem anscheinend geringfügigen Unfall zur Last 
gelegt werden und wie wichtig eine, allerdings oft recht zeitraubende, genaue Anamnese 
sei. Auch Leppmann hält es für anfechtbar, in dieser Allgemeinheit wie Oppenheim und 
Strümpell bei unserer Arbeiterbevölkerung ein rüstiges Nervensystem anzunehmen. Im 
Übrigen ist zu berücksichtigen, dass eine positive Anamnese auch hinsichtlich überstan¬ 
dener Krankheiten von den Unfallkranken bekanntlich meist in Abrede gestellt wird, da 
bei denselben noch allgemein die Ansicht herrscht, um in den Besitz einer Rente gelangen 
zu können, müsse man bis zu dem Unfall vollständig gesund gewesen sein, weil sonst auf 
die früher überstandene Erkrankung und nicht auf den Unfall die eventuelle Erwerbs¬ 
beschränkung bezogen werden könne. Indessen genügt es ja bekanntlich nach der Aus¬ 
legung des Gesetzes, dass das Trauma eine concurrirende Ursache unter anderen sei, und der 
Schwerpunkt liegt nur in dem Nachweis der bis zu dem Unfall reichenden 
Arbeitsfähigkeit. Ist erst einmal bekannt geworden, dass frühere Erkrankungen unter 
Umständen sogar eine Präsumption zu Gunsten des Unfallverletzten werden können, so 
fallen voraussichtlich derartige anamnestische Schwierigkeiten recht bald fort. 

Im Gegensatz zu den oben erwähnten Oppenheim ’schen und Si'RÜMPELL’schen Mit¬ 
theilungen hat Charcot, der (s. o.) auf die Entwicklung von hysterischen Zuständen 
im Anschluss an Traumen zuerst aufmerksam machte, dem Trauma in den meisten Fällen 
nur die Bedeutung einer Gelegenheitsursache und eines „agent provocateur“ für die Krank¬ 
heit oder nur für neue auffällige Symptome mit ihren charakteristischen Localisationen 
beigelegt, eine Ansicht, die auch Ziehen, Debove u. A. vertreten, wenn sie es als selten 
erachten, dass ein nicht prädisponirter, von allen hysterischen Symptomen vor dem Trauma 
freier Mensch durch ein Trauma hysterisch wird. Auch an dem von Albin Hofmann 
beobachteten Material, der unter 17 an Unfallneurosen Erkrankten (die sich ihm gegen¬ 
über insgesammt natürlich von vornherein als früher vollständig gesund erklärt hatten) 
nur vier vorher vollkommen Gesunde und Unbelastete eruiren konnte, während bei den 
übrigen Epilepsie, Alkoholismus und Syphilis nachgewiesen wurde, tritt die Bedeutung der 
Prädisposition genügend hervor. Des weiteren sei daran erinnert, dass erst vor kurzem 
Kowalewsky (Arch. f. Psych. XXVI) die ätiologischen Beziehungen functioneller Nerven¬ 
krankheiten zur Syphilis eingehender erörtert hat und auch Sänger, der neben den bereits 
erwähnten Noxen zur Entstehung functioneller Störungen im Nervensystem noch die Er¬ 
müdung, die Unterernährung, die Arteriosklerose erwähnt, führt in seiner Monographie 
über Nervenerkrankungen nach Unfall sprechende Beispiele auf, welche die Nothwendig- 
keit der Berücksichtigung eventueller syphilitischer Infection bei Beortheilung von Unfall¬ 
nervenkranken illustriren. Sf.ligmüller, Nonne u. A. weisen darauf hin, dass chronische 
Intoxicationszustände nach Abusus von Tabak (bes. Priemen) und Alkohol vollständig 
unter dem gleichen Bild wie traumatische functioneile Nervenstörungen verlaufen können, 
und in seiner Casuistik berichtet letzterer von einem instrnctiven Fall, bei dem das Ur- 
theil, ob die nachgewiesenen Störungen durch Potatorium oder Trauma bedingt, in suspenso 
gelassen werden musste. Aber auch die psychischen Anomalien beim chronischen 
Alkoholismus können durchaus gleichgeartet sein jenen bei den sogenannten traumatischen 
Neurosen beobachteten (Tromboni, Krückenberg, Dumstrf.y). Bei diesen kurzen Bemerkungen 
können wir es wohl bewenden lassen, da sie schon genügsam zeigen, wie sehr die rich¬ 
tige Abwägung der allgemeinen prädisponirenden, causalen und sympto¬ 
matischen Umstände von den rein localen und occasionellen der sprin¬ 
gende Punkt bei der forensischen Beurtheilung der Neurosen ist. 

Neueste Ansicht von Strümpell. (M. m. W. 1895, 49 ff.) Sprümpell 
nimmt neuerdings einen wesentlich anderen, zum Theil sogar entgegengesetzten 
Standpunkt ein als früher. Die sogenannten objectiven Symptome verdienen 
nach ihm keine grössere Beobachtung mehr als die subjectiven, die Klagen 
und Beschwerden der Verletzten, und er gibt jetzt sogar den Rath, über¬ 
haupt gar nicht mehr darauf zu untersuchen; ferner sieht er nicht mehr be¬ 
ängstigende und beunruhigende Vorstellungen (s. o.) als die Grundlage zur 
weiteren Ausbildung der Unfallneurosen an, sondern als psychogenes Moment 
stehen für ihn jetzt lediglich die Begehrungsvorstellungen der Un¬ 
fallverletzten nach einer möglichst hohen Rente im Vordergründe; sie ver¬ 
anlassen nach ihm, den Rentenansprecher auch nach vollständiger Heilung 


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der Unfall Verletzung fortgesetzt seine körperliche Leistungsfähigkeit zu prüfen, 
auf jede subjective Empfindung zu achten und sich alle die Krankheitssym¬ 
ptome zu suggeriren, die er zu haben wünscht. Nach Maassgabe des hervor¬ 
ragenden Einflusses, den er jetzt den Begehrungsvorstellungen beilegt, be¬ 
tont Strümpell weiter, dass das Verhalten des Kranken nach dem Unfall 
der wesentlichste Factor sei; „es kommt alles darauf an, wie der 
Kranke seinen Unfall auffasst und wie er ihn beurtheilt. Es 
spielen Verhältnisse hinein, für welche wenigstens zum Theil 
der Kranke selbst verantwortlich ist.“ Dementsprechend verwischen 
sich auch die Grenzen zwischen Simulation und Krankheit so sehr, dass die 
Schwierigkeiten bei der Beurtheilung bis zu einem gewissen Grad unüber¬ 
windlich sind. 

Lenhartz, in vielen Beziehungen auch Fürstner, schliessen sich Strümpell an, 
während andere Autoren auf Grund ihrer Erfahrungen hiezu nicht in der Lage sind. Sie 
erkennen, ebenso wie Oppenheim selbst, den Einfluss der Begehrungs Vorstellungen, die ja 
gewiss nichts Neues (wir erinnern an Page’s „Processsymptome 1 *) und Unverständliches 
.sind, an, verkennen aber andererseits nicht, dass nicht nur vor den Begehrungsvorstellungen, 
sondern noch nach deren Auftreten und gleichzeitig mit ihnen mindestens ebenso bedeut¬ 
same psychische Emotionen ängstlicher und hypochondrischer Natur auf das Seelenleben 
der Verletzten einwirken, denen sich der Betreffende nicht entziehen kann, da sie ihren 
sehr realen Untergrund in den prekären socialen Verhältnissen des grössten Theiles der 
Arbeiterbevölkerung haben. 

Zunächst hat Oppenheim (der Fall N. Berlin 1896) auf die tiefgreifenden Meinungs¬ 
änderungen Strümpell’s seit dem Jahr 1888 aufmerksam gemacht und mit Recht neben 
anderem die Fragen aufgeworfen, wie man z. B. die früheren localen traumatischen Neu¬ 
rosen Strümpell’s aus Begehrungsvorstellungen erklären wolle, ferner warum so grosse 
Verschiedenheiten unter den Unfallneurosen selbst besteben, wenn an der Entstehung doch 
lediglich blos Begehrungsvorstellungen Schuld seien, desgleichen stehe Strümpell im Wider¬ 
spruch mit den von Oppenheim u. A. gemachten Beobachtungen des Auftretens von Sen¬ 
sibilitätstörungen unmittelbar nach dem Trauma, also zu einer Zeit, wo sich die von 
Strümpell gekennzeichnete Vorstellungsthätigkeit noch nich geltend machen konnte.*) 
Flatau (Zeitsch. f. pr. Aerzte 1898, 8.) beschreibt 3 Fälle von Neurosen nach Unfall, 
für deren Aetiologie nur das erlittene Trauma in Betracht kommen kann. Obwohl „Be¬ 
gehrungsvorstellungen“ im Sinne Strümpells auszuschliessen waren, da Rentenansprüche 
nicht erhoben wurden, und es sicher im Interesse der Pat. lag zu gesunden, bestand der 
Symptomencomplex in sehr hartnäckiger Weise lange Zeit fort. 

Sänger, Rumpf und Nonne halten ebenfalls den jetzigen STRüMPELL’schen 
Standpunkt für zu extrem, und Bruns, der in seinen bekannten kritischen Re¬ 
feraten in den ScHMiDT’schen Jahrbüchern sagt, dass er gerade in Rücksicht auf 
die Begutachtungen immer sehr zufrieden sei, wenn er deutlich sogenannte ob- 
jective Symptome (s. o.) nach weisen kann, gedenkt der für Gewährung von Renten- 
ansprüchen so bedeutungsvollen Consequenzen, die bei allgemeiner Anerkennung 
der STRüMPELL’schen Auffassung gezogen werden müssen, indem Strümpell die 
Neurosen nicht mehr als „unvermeidliche“ Folgendes Unfalles betrachtet 


*) Fälle, welche bekanntlich Oppenheim in der Erkenntnis, dass zu ihrer Erklärung 
die CHARCOT’sche Theorie von der Autosuggestion nicht herangezogen werden könne, darauf 
.zurückführt, dass bei starken Reizen, welche die Hautnerven auf einer Körperseite treffen, 
auch in der entgegengesetzten Gehirnhälfte Reize entwickelt werden, die nach dem Gesetz 
der Irradiation sich auf die Sensibilitäts-Motilitätscentren der betreffenden Gehirnhälfte 
verbreiten und deprimirend, d. h. hemmend auf die dort localisirten Functionen wirken. 
Diese OppuNHEiM’sche Erklärung acceptirte in der letzten Zeit auch Goldscheider. In 
einer erst vor kurzem erschienenen Arbeit (Die Bedeutung der Reize für Pathologie und 
Therapie im Lichte der Neuronlehre, Leipzig 1898) betont Goldscheidbr hinsichtlich 
der Beeinflussung der Neuronschwelle durch ein Trauma, dass die von Charcot ange¬ 
nommene psychogenetische Entwicklung der Unfallneurosen für eine grosse Reihe von 
Fällen, in denen es sich um eine unmittelbare Wirkung des Trauma handelt, nicht passt, 
.„indem hier die Erregbarkeit der Neurone unmittelbar durch die Erschütterung alterirt 
und diese Erregungen zu den Centralorganen fortgepflanzt werden.“ Jolly gibt für solche 
Fälle leichte periphere Läsionen als Substrat zu, ohne jedoch für die spätere Gestaltung 
des Krankheitsbildes den maassgebenden Einfluss der psychischen Emotionen ausser&cht 
zxx lassen, der den hysteriformen Symptomencomplex producirt. Dieser entsteht nur auf 
dem Weg von Vorstellungen, die sich mit dem ursprünglich betroffenen peripheren Gebiet 
beschäftigen. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


und die Kranken sogar theilweise für dieselben verantwortlich macht. Mit Recht 
hebt Leppmann hervor, dass, gerade wenn man, wie Strümpell, an die psycho¬ 
gene Entstehung der Beschwerden glaube, das Milieu, in welches der Verletzte 
durch seine Verunglückung tritt, zur Entfaltung eines freien starken Willens 
und zur Unterdrückung von Begehrungs- und Beunruhigungsvorstellungen das 
denkbar ungünstigste ist, zumal wenn, wie wir noch hiezu bemerken wollen, 
auf ein vorher durch verschiedenartige Momente in- und ausserhalb der Be¬ 
rufstätigkeit bereits habituell geschwächtes Nervensystem mit dem Unfall 
noch accidentelle Schädigungen einwirken. 

Simulation. (Vgl. den Specialartikel S. 708) Was im Speciellen die 
Frage der Simulation betrifft, so liegt es in der Natur der Sache be¬ 
gründet, dass dieselbe weniger in den ausgesprochenen Fällen von functionellen 
Störungen actuelle Bedeutung hat, bei deren Beurtheilung es nicht so sehr 
darauf ankommt, ob das eine oder andere Symptom simulirt oder bewusst 
übertrieben wird, da die Diagnose noch auf Grund der übrigen Erscheinungen 
ermöglicht sein kann, sondern es sind hauptsächlich die leichteren Fälle, wo 
sich aus dem unvollkommenen, unausgeprägten, sehr variablen Symptomen- 
complex die Specialdiagnose einer der drei vorzugsweise in Betracht kommen¬ 
den centralen Neurosen oder deren Mischformen nicht ohne weiteres ergibt, 
also jene Fälle, die man kurz als formes fructes bezeichnet. 

Bestimmte Methoden für die Entlarvung von Simulanten lassen sich 
natürlich nicht geben. Der Nachweis der Simulation kann sich nach Jolly 
(amtl. Nachrichten des Reichsversicherungsamtes XIII, 10) nur darauf stutzen, 
dass sich unter besonderer Berücksichtigung der Glaubwürdigkeit und des 
Charakters des Exploranden bei eingehender, ausgedehnter Beobachtung in 
geeigneter, je nach den individuellen Verhältnissen einzurichtender Modi- 
tication der Versuchsanordnung derartige Widersprüche in den Angaben und 
dem Verhalten des Untersuchten finden, wie sie durch die sonst bekannten 
Erfahrungen sich nicht verstehen lassen, wobei immerhin noch der subjec- 
tiven Neigung des jedesmaligen Beobachters ein gewisser Spielraum bleiben 
wird, Simulation zu vermuthen. 

Moebu s gibt im Allgemeinen den Rath, darauf zu achten, ob der Kranke 
sich auf die von ihm angegebenen Symptome beschränkt, oder ob er sich zur 
Variation und Vermehrung derselben verlocken lässt; doch ist hier nicht 
ausseracht zu lassen, wie unberechtigt selbst bei nachgewiesener Simulirung 
einzelner Symptome die Annahme sein kann, dass der betreffende Untersuchte 
überhaupt nicht krank und speciell nicht psychisch krank sei. Viele dieser 
sogenannten Simulanten sind und bleiben, wie der Verlauf zeigt, recht schwer 
krank. „Povocation und Fallstricke dürfen angemeldet werden, verwerflich 
aber sind alle Foltermittel.“ Zu diesen gehört insbesondere die forcirte 
Elektrisation; ihre Anwendung ist um so unverantwortlicher und brutaler, als 
sehr häufig bei bis dahin nur leicht Erkrankten schwere hysterische Zufälle und 
ernste psychische Erkrankungen hieraus entstehen können (Jolly, Eulen¬ 
burg u. A.). 

Inwieweit unter entsprechenden Kautelen der Untersuchungsmethoden 
die sogenannten objectiven Symptome sich der Simulation entziehen können, 
ist oben schon berücksichtigt. 

Es ist nicht wunderlich, wenn je nach dem Standpunkte, der hinsichtlich 
der Wertschätzung der objectiven Symptome für die Diagnose eingenommen wird, 
sich auch die Angaben über die Häufigkeit der Simulation widersprechen: 
Seligmüller zählt 25°/ 0 , Hofmann 33%, Schultze 36%, Oppenheim 4%, 
Hitzig und Alt 1‘2%. 

Man hat aus dem Umstande, dass in Berufskreisen, welche viel Unfällen 
ausgesetzt sind, in welchen aber das Interesse überwiegt, die Folgen derselben 
zu überwinden und nach wie vor der Berufsthätigkeit nachzugehen, die bei 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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vielen Unfallverletzten so häufig dauernden nachtheiligen. Folgen des Unfalls 
sehr oft vermisst werden, auf die grosse Verbreitung der Simulation unter 
den Unfallverletzten geschlossen. Dem gegenüber ist jedoch auf die That- 
sache hinzuweisen, dass das Auftreten nervöser Störungen auch bei der vor¬ 
erwähnten Kategorie von Verletzten, die keine Ansprüche auf Entschädigung 
zu machen haben, keineswegs seltener ist; die Beschwerden werden nur 
weniger bekannt, weil die betreffenden Verletzten meistens ein Interesse daran 
haben, Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit nicht aufkommen zu lassen. Also 
ganz das Gegentheil wie bei den Unfallneurosen-Verletzten! Hier kommt, 
wie bereits erwähnt (s. o.), der maassgebende Einfluss des Milieu und der 
gesammten socialen Verhältnisse in Betracht; man vergisst bei der ersten 
Argumentirung vollständig, dass den Unfallneurosen meistens erst durch den 
Kampf um Entschädigung jener eigenartige Stempel der Hartnäckigkeit und 
Unverbesserlichkeit aufgeprägt wird, der so viele Fälle kennzeichnet. Auch 
Jolly warnt bei Beurtheilung solcher Fälle vor Missbrauch des Wortes Simu¬ 
lation; denn um Simulation, d. h. um bewusste Vortäuschung einer nicht vor¬ 
handenen Krankheit handelt es sich gar nicht, wenn jemand unter dem Bann 
der Vorstellung, kränker zu sein, als man ihm glauben will, vorhandene Be¬ 
schwerden übertreibt und sie oft in bizarrer Weise zur Darstellung bringt. Die 
krankhaften Vorstellungen können, wie Wichmann treffend in seinem auf der 
Lübecker Naturforscherversammlung, Abtheilung Unfallheilkunde, gehaltenen 
Vortrag über Suggestion und Autosuggestion Unfallverletzter ausführt, unter 
solchen Umständen gar nicht zur Ruhe kommen, sie können nicht abklingen, 
weil sie immer wieder künstlich angefacht werden. 

Jolly, Wernicke machen darauf aufmerksam, dass die Simulation von 
gar nicht vorhandenen Krankheitszuständen ganz entschieden selten sei im 
Vergleich zur Simulation des ursächlichen Zusammenhanges (Sänger), d. h. die 
Behauptung, dass irgend welche längst bestehenden Beschwerden erst durch den 
späteren Unfall herbeigeführt worden seien, in ihrer Verbindung mit der 
häufigen Aggravation dieser Beschwerden. 

Dass gelegentlich echte Simulation vorkommt, wird natürlich niemand 
bestreiten wollen und können. Wenn aber einzelne Fanatiker der Simulation 
im fortgesetzten Bestreben, Simulanten zu entlarven, deren grosse und zu¬ 
nehmende Häufigkeit betonen und in gewissenhafter Wahrung der materiellen 
Vortheile der Berufsgenossenschaften vielleicht schon mit Voreingenommenheit 
an die Untersuchung des betreffenden Kranken herantreten oder gewisse An¬ 
hänger des sogenannten gesunden Menschenverstandes in extremer Einseitig¬ 
keit alle Unfallverletzten als Simulanten betrachten, da sie, um eine hohe 
Rente zu erhalten, zur Uebertreibung und Simulation genöthigt seien, und 
wenn auf der anderen Seite nach der entgegengesetzten Richtung gefehlt 
wird, indem allen Beschwerden und Klagen volle Glaubwürdigkeit beigelegt 
wird, oder man die Aggravation lediglich als Erscheinung einer psychischen 
Alienation hält und speciell an deren häufiges Vorkommen bei gewissen nicht 
traumatisch entstandenen centralen Neurosen erinnert, so liegt der richtige 
Standpunkt zwischen diesen beiden Extremen in der vorurtheilsfreien Würdigung 
des Untersuchungsbefundes, in der kritischen Abwägung, inwieweit den Be¬ 
schwerden, welche man bei der unzweifelhaft bestehenden Neigung zur Ueber¬ 
treibung und Aggravation mit gewisser Reserve aufnehmen soll, thatsächlich 
Glauben beizulegen ist und nicht minder in einer genauen und gründlichen 
Erhebung der Anamnese unter Berücksichtigung der oben bei der Prädispo¬ 
sition kurz erwähnten Gesichtspunkte. 

Die Vorschläge, welche man zur Bekämpfung der Simulation gemacht, 
brauchen nur kurz berücksichtigt zu werden. Seligmüller hat z. B. die Er¬ 
richtung von Unfallkrankenhäusern befürwortet, um die Ansprüche von Inva¬ 
liden und Verletzten von einheitlichen Gesichtspunkten aus prüfen zu können, 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


ein Vorschlag, der ja manches für sich hat, ohne dass sich jedoch ein drin¬ 
gendes Bedürfnis hach allgemein und weit verbreiteter Einrichtung solcher 
Anstalten bis jetzt geltend machen konnte. Ein zweiter Vorschlag, die Simu¬ 
lanten einem eigens dafür zu erlassenden Strafgesetz zu überweisen, ist 
praktisch wohl a priori bedeutungslos; denn die Simulation ist nur in den 
seltensten Fällen ein wirklich freier und durchdachter Act der Schlauheit, sie 
ist ein aus zahlreichen bewussten Motiven und unbewussten Vorstellungen 
gemischtes Compositum, so dass es unmöglich ist, dieselbe in ihre einzelnen 
Componenten zu zerlegen und die Straffälligkeit des Betreffenden im richtigen 
Grad abzuschätzen (Vergl. auch Artikel „Simulationen“ S. 708). 

Prophylaxe. Therapie. So divergent bis jetzt noch die Ansichten 
über eine Reihe theoretisch und praktisch allerdings recht wichtiger Punkte 
in der Lehre von den Unfallneurosen sind, so übereinstimmende Einigung 
herrscht doch hinsichtlich der Prophylaxe und Behandlung der Unfallnerven¬ 
kranken. 

Einer kleinen Anzahl von Fällen, die durch einfache hydrotherapeutische 
Proceduren vielleicht Besserung resp. Heilung finden können, steht die unver¬ 
hältnismässig grosse derjenigen gegenüber, in welchen alle therapeutischen 
Maassnahmen, wie sie sonst gegen die entsprechenden auf andere Ursachen 
zurückzuführenden Nervenkrankheiten zur Anwendung kommen, nicht nur er¬ 
folglos sind, sondern den Gesammtverlauf geradezu schädlich beeinflussen. 
Und für diese ist Wiederaufnahme der Arbeit der einzige Heil¬ 
factor; am erfolgreichsten natürlich noch zu einerZeit, wo die 
vollständige Fixirung des psychogenen Symptomencomplexes 
noch nicht stattgefunden hat und noch jenes psychische Moment, das 
man gewöhnlich Correctivvorstellung nennt, zur Wirkung kommen kann. 

Die Realisirung der Vorschläge, die man zur Gewöhnung des 
Kranken an die Arbeit gemacht, begegnet nach verschiedenen Richtungen er¬ 
heblichen Schwierigkeiten. Abgesehen von der verlockenden Annehmlichkeit 
des Weiterbezuges der Rente sind es gewiss auch die durch lange Unthätig- 
keit nach dem Unfall zweifellos herabgesetzte körperliche Leistungsfähigkeit, 
das mangelnde Training für körperliche Arbeit, die infolge dessen auftretenden 
bis zu Schmerzen sich steigernden lästigen Muskelgefühle, Ermüdungserschei¬ 
nungen aller Art u. s. w., welche an die psychische resp. moralische Kraft 
des Betreffenden nicht zu unterschätzende Anforderungen stellen und deren 
entsprechende Würdigung gerade bei den ersten Begutachtungen nach Ablauf 
der Carenzzeit eine zu rigorose Beurtheilung verhindern sollte, da die letztere 
erfahrungsgemäss doch nur geeignet ist bei dem Kranken das sogenannte 
Princip des Schmerzensgeldes, d. h. die Ueberzeugung von der gesetzlich ver¬ 
bürgten Rechtmässigkeit der Ansprüche auf Entschädigung nach jedem Unfall 
immer mehr in den Vordergrund treten zu lassen und dadurch jenes Moment 
hereinzuziehen, das den Verlauf derartiger Fälle so verhängnisvoll gestaltet 
und alles andere eher bezweckt, nur nicht die Stärkung der Willensenergie 
und die Wiederaufnahme der Arbeit. 

Eine weitere Schwierigkeit liegt in dem Umstand, dass bei der Eigen¬ 
art und psychogenen Natur der Symptome die Frage, inwieweit wir berech¬ 
tigt sind, von dem Kranken zu verlangen, dass er sich von dem Einfluss 
seines Krankheitsgefühles und der mit demselben zusammenhängenden Vor- 
stellungsthätigkeit frei macht und mit derselben die graduelle Schätzung der 
Arbeitsfähigkeit als Grundlage für die Rentenbemessung, für welche natürlich 
complicirtere Verhältnisse vorliegen, als bei den einfachen mechanischen Ver¬ 
letzungen, in den wesentlichsten Punkten von der subjectiven Stellungnahme 
des Gutachters abhängen. 

Im Allgemeinen ist in der Benrtheilnng des Grades der Arbeitsfähigkeit von den 
an Unfallnenrosen Erkrankten, für die sich specielle Vorschriften natürlich ebensowenig 
geben lassen, wie für die anderweitig entstandenen Nenrosen, im Gegensatz zn der früher 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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weit verbreiteten Ansicht ihrer ungünstigen Prognose ein Umschwung insofern eingetreten, 
als man jetzt in Erkenntniss der hohen Bedeutung der Wiedergewöhnung an die Arbeit 
für den weiteren Verlauf derartiger Neurosen auf den Unfallverletzten durch Gewährung 
einer nicht zu reichlich bemessenen Rente einen Druck zur Wiederaufnahme der Arbeit 
und zu einer hierdurch allein möglichen neuen Willenskräftigung auszuüben sucht. Wäh¬ 
rend der Rentenansprecher im Falle der partiellen Erwerbsfähigkeit im Stande sein dürfte, 
sich mit seinem Verdienst und der Unfallrente zu ernähren, müsste im entgegengesetzten 
Falle bald möglichst eine entsprechende Erhöhung der Rente eintreten. Im Uebrigen wird 
man bei Verwendung des Untersuchungsbefundes sich natürlich nicht an einzelne Sym¬ 
ptome halten, die wie z. B. Anästhesie, concentrische G. F. E. trotz ihrer Bedeutung 
für die klinische Auffassung eines bestimmten Falles bei der forensischen Frage 
nach der Erwerbsfähigkeit nur bedingte Berücksichtigung beanspruchen können, 
da bekanntlich Individuen mit schweren hysterischen Symptomen trotzdem arbeitsfähig 
sein können (Mendel, Golebiewski, Sänger). Anders gestaltet sich jedoch die Sache, wenn 
die Würdigung des seelischen und körperlichen Gesammteindruckes des 
Exploranden in den erwähnten Störungen nur den objectiv zu constatirenden Ausdruck, 
d. h. den körperlichen Begleitzustand eines tieferen, das gesammte Nervensystem beein¬ 
trächtigenden Leidens erkennen lässt; dann kann wohl von einer nennenswerten Erwerbsfähig¬ 
keit kaum mehr die Rede sein. Insbesondere wird die Wichtigkeit der Berücksichtigung des 
körperlichen Ernährungszustandes auch neuerdings von Fürstner hervorgehoben, 
da man bei tiefergehenden Störungen im Nervensystem trotz abundanter Nahrungszufuhr 
meist ein stetiges Sinken des Körpergewichtes constatiren kann und andererseits erfahrungs- 
gemäss gerade diese Fälle eine sehr ungünstige Prognose bieten. Des Weiteren empfiehlt 
es sich das Urtheil zu stützen auf Factoren, die auch bei gleichartigen Fällen ohne 
materiellen Beigeschmack als wertvoll betrachtet werden; man berücksichtigt also das 
etwaige Bestehen einer Disposition zu Erkrankungen des Nervensystems vor dem Unfälle, 
etwaige frühere nervöse Erkrankungen, die Art des Trauma, insbesondere, ob dasselbe 
überhaupt geeignet war, den Verletzten psychisch in hohem Grad zu erschüttern, die auf 
das Trauma unmittelbar folgenden Krankheitssymptome (z. B. Commotionserscheinungen) 
und endlich den Verlauf des gesammten Krankenlagers, das sich an den Unfall anschliesst.*) 

Neben diesen Schwierigkeiten, die bei der Arbeitsgewöhnung von Unfall¬ 
nervenkranken in Betracht kommen, ist an dritter, aber deshalb nicht minder 
wichtiger Stelle zu bedenken, dass bei dem grossen Angebot vollwertiger 
Arbeitskräfte und der hieraus resultirenden Abneigung der Arbeitgeber, nur 
theilweise leistungsfähige Arbeiter einzustellen, selbst den besten Willen der 
Betheiligten vorausgesetzt, meistens die Gelegenheit zu leichterer, passender 
Arbeit fehlt. Strümpell, Brandenburg, Jessen treten zwecks Beseitigung 
dieses Uebelstandes warm für die Errichtung von staatlichen Arbeits¬ 
nachweisstellen ein und Immelmann hat in einem 1896 im Verein der 
Berliner Unfallversicherungsärzte gehaltenen Vortrag bereits beachtenswerte 
Vorschläge hinsichtlich der auf staatlichem Wege zu erfolgenden Organisation 
solcher Arbeitsnachweisstellen gemacht, deren Aufgabe es ist, den aus dem 
Heilverfahren Entlassenen nur theilweise Erwerbsfähigen jeden Berufes eine 
für den speciellen Zustand geeignete Arbeit nachzuweisen. 

Am Schlüsse sei noch auf die Vorschläge hingewiesen, welche Jolly 
(Berliner klinische Wochenschrift 1896, 12) zur Abänderung einzelner 
Bestimmungen des Unfall Versicherungsgesetzes gemacht hat, die 
im Allgemeinen möglichste Beschleunigung des Verfahrens und Einführung 
der bereits in den englischen und schweizerischen Haftpflichtgesetzen vor¬ 
gesehenen und thatsächlich in der Mehrzahl der Fälle zuerkannten Capital- 
abfindung an Stelle der mit der Veränderung des Grades der Arbeits¬ 
unfähigkeit stets wechselnden Rente betreffen, wodurch also gerade 
jene Irritamente in Wegfall kommen, die erfahrungsgemäss den Geisteszustand 
der Unfallverletzten so ungünstig beeinflussen. Wenn Kaufmann, Dubois 
und Page infolge der in der Schweiz und England gemachten Erfahrungen 
zu der entgegengesetzten Ansicht gekommen sind, nämlich, dass die Capital- 
entschädigung mit Rücksicht auf die Möglichkeit der Veränderung der für die 

*) Auch bei seiner neuesten Theorie von der hervorragenden Wichtigkeit der „Be¬ 
gehrungsvorstellungen* hat sich Strümpell, wie er selbst mittheilt, nie entschliessen 
Können, die nach einer stärkeren Commotion zurückbleibenden Klagen selbst o h n e jeglichen 
objectiven Befund mit Sicherheit als unbegründet hinzustellen. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Entschädigung maassgebenden Verhältnisse unbillig sei und wenn sie gerade 
für die traumatischen Neurosen die Rentenentschädigung als die einzig rich¬ 
tige Entschädigungsform ansehen, so erkennt dies Jolly gewiss für speeielle 
Fälle an, ist jedoch generell davon überzeugt, dass sich die Capital- 
entschädigung, wenn man erst einmal in der Lage ist, auf Grund eines ent¬ 
sprechenden Materials die Schlussrechnung zu stellen, nicht mehr blos als 
das psychisch Hygienische, sondern auch als das wirtschaftlich 
Vorth ei lhaftere erweisen wird. 

Pathogenetisch zweifelhafte Fälle. Obigen Fällen, welche einen rein 
psychogenen Ursprung haben, reihen sich solche an, bei welchen trotz 
eingehender Untersuchung organische Veränderungen als Folgen des acquirir- 
ten Traumas nicht mit der gleichen Bestimmtheit ausgeschlossen werden 
können. Man hat dieselben früher, als man die Bezeichnung traumatische 
Neurosen noch promiscue auf die verschiedensten Unfallnervenerkrankungen 
anwandte, auch unter diesen grossen Sammelbegriff subsummirt. Hiegegen 
hat sich natürlich Oppenheim schon von Anfang an verwahrt; er betont in 
seinem in der II. Auflage der EuLENBUBG’schen Realencyklopädie erschienenen 
Artikel „Rail way spine“ ausdrücklich, dass es in manchen Fällen unent¬ 
schieden bleibe, ob eine reine Neurose oder eine palpable materielle Er¬ 
krankung des Centralnervensystems vorliege. Nicht selten kommen bei einem 
und demselben Unfallverletzten neben rein nervösen Störungen anatomisch 
zu begründende Symptome vor (Opticusatrophie, reflectorische Papillenstarre 
u. s. w.). Lähmungen der Augenmuskeln mit Paresen in Gesichtsast des 
Facialis involviren per se noch keineswegs eine organische Entstehungsweise; 
denn sie kommen, wenn auch selten, doch immerhin bei Hysterie ebenfalls 
vor; eine Beobachtung von grosser Wichtigkeit für die Frage nach Augen¬ 
muskellähmungen auf traumatisch-hysterischer Basis hat z. B. 
Hitzig mitgetheilt (Berliner klinische Wochenschrift 1897, 7). 

Die Differentialdiagnose zwischen organischen and hysterischen Facialis-Lähmungea 
anlangend, wollen wir u. a. nur kurz an den von französischen Autoren zuerst beschriebenen 
Pustversuch eiinnern, indem bei Schluss der scheinbar kranken Mundhftlfte und Blasen 
aus der gesunden nach Jolly mit Bestimmtheit der hysterische Charakter der Lähmung 
nachgewiesen ist. 

Erwähnung verdienen auch jene Fälle, in welchen nach Traumen wesent¬ 
lich oder ausschliesslich Ohrensausen, abnorme Geräusche oder Schwindel¬ 
gefühle auftreten, bei welchen es sich also um eine organische oder auch nur 
functionelle Erkrankung der nervösen Gehör- und Gleichgewichtsorgane handelt. 
Schultze sagt mit Recht, dass es gewiss nicht Wunder nimmt, wenn nach 
einem harten Stoss gegen den Schädel oder den Körper überhaupt gerade 
die Gleichgewichtsorgane leiden. Nur wird im concreten Falle die Beurthei- 
lung, ob nicht ein altes Ohrenleiden schon an sich zu derartigen Folge¬ 
zuständen geführt hat, recht erschwert sein können, ebenso wie auch ein 
derartig primäres Ohrensausen allmählich Schlaf- und Appetitlosigkeit, depri- 
mirte Störung bis zur Steigerung eines krankhaften Atfectes hervorbringen 
kann. 

In einer anderen Reihe von Erkrankungen, in welchen nach der ganzen 
Art des Trauma, das meist an umschriebener Stelle zur Einwirkung kam, 
Blutungen in das Centralorgan sehr wahrscheinlich sind, bestehen oft lange 
Zeit gewisse allgemeine cerebrale Störungen, wie Kopfschmerzen, Schwindel¬ 
erscheinungen u. s. w. fort, ohne dass irgend welche Anhaltspunkte für orga¬ 
nische Läsionen zu gewinnen sind. 

Fürstner theilt Beobachtungen mit, nach welchen infolge Erschütterung des Kopfes 
ohne irgend welche Hirnsymptome sich eine progressive Abnahme der Intelligenz entwickelt, 
bestehend in hochgradiger Denkstörung, längere Zeit fortbestehenden, aber doch der Rück¬ 
bildung fähigen Gedächtnisdefecten, ferner Schwindelsensationen bis zu Bewusstseinsverlust, 
gleichzeitig mit somatischen Erscheinungen, welche an eine progressive Paralyse denken 
lassen, während die später eintretende, anhaltende Besserung im Zustand und das Ver¬ 
schwinden der Krankheitssymptome eine solche Vermuthung nicht gerechtfertigt hat. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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Ebenso treten auch nach Erschütterungen der Wirbelsäule Spinalsymptome auf, 
deren organische Natur nicht mit Bestimmtheit nachgewiesen werden kann; einzelne Er¬ 
scheinungen, intensive Schmerzen, Blasen- und Mastdarmstörungen, abnorme Haltung be¬ 
stehen auffallend lange Zeit fort, bis sie sich schliesslich wieder mehr öder weniger voll¬ 
ständig ausgleichen. 

Akot (Z. f. N. V.) sah in zwei Fällen neben einer Reihe subjectiver und objectiver 
hystero-neurasthenischer Erscheinungen eine gekreuzte Hemiparese der linken oberen und 
rechten unteren Extremität, combinirt mit Aufhebung resp. Herabsetzung der Gefühls- 
empfindung in diesen Theilen und im „rechten Quintusgebiet. Pathogenetisch Hess er die 
Fälle unentschieden, wenngleich er mehr zur Annahme einer functionellen Störung neigte. 

Wenn man auch in der Mehrzahl dieser Fälle bei Berücksichtigung der 
Stärke des Trauma und der Schwere der unmittelbar nachher eintretenden 
Hirn- oder Kückenmarksymptome eine schätzenswerte Handhabe für die Beur¬ 
teilung gewinnen kann, so ist doch zu bedenken, dass selbst ganz leichte 
Verletzungen der Rückengegend bei einem Unfall, die so gering waren, dass 
sie anfangs kaum beachtet wurden, zu einem schweren progressiv verlaufen¬ 
den Rückenmarksleiden, an dessen materieller Natur nicht der geringste 
Zweifel mehr besteht, Veranlassung geben können. Desgleichen weist die 
Erfahrung darauf hin, dass bei einzelnen Individuen schon leichte Körper¬ 
erschütterungen (Heben einer Last, Sprung auf die Füsse etc.) unmittelbar 
zu einer BlutuDg in die Rückenmarksubstanz mit ihren Folgezuständen führen 
können. 

Einen Symptomencomplex, dessen Entstehung lediglich aus psychischen 
Störungen zweifelhaft erscheinen muss, und der viel eher auf eine Localisation 
in den Pyramidenseitenstrangbahnen hinweist, hat vor kurzem Fürstner im 
MENDEL’schen Centralblatt unter Rücksicht auf die wesentlichsten Symptome 
als Pseudospastische Parese mit Tremor beschrieben. Analoge Beob¬ 
achtungen liegen bis jetzt von Nonne, Jessen und Onuf vor. Die moto¬ 
rischen Symptome, unter denen die Spasmen so hochgradig auftreten können, 
dass einzelne Muskelgruppen reliefartig vorspringen, können ganz isolirt Vor¬ 
kommen, ohne Begleitung seitens der sensiblen oder sensorischen Sphäre, 
ohne Complication mit Symptomen einer Allgemeinneurose; in anderen Fällen 
sind sie vergesellschaftet mit den bekannten sensiblen Störungen einer Spinal¬ 
irritation, oder gleichzeitig mit Erscheinungen schwerer Neurose, wie hoch¬ 
gradige anfallsweise Polyurie, Tachycardie, die sich in einem der NoNNE’schen 
Fälle bis zu Delirium cordis steigerte. Erwähnenswert ist noch die Eigenart 
des Ganges bei abnorm stark gebeugten Beinen, (»high stepping“), die 
Nonne durch die Art und Weise erklärt, wie die Kranken die unwillkür¬ 
lichen Muskelcontracturen und den Tremor zu beseitigen suchen. Dieser 
Autor fasst das Krankheitsbild im Wesentlichen als functionell bedingt auf, 
während Fürstner gegenüber der Annahme, dass auch hier entsprechende 
Vorstellungen das auslösende Moment sind, sich auf einen Fall seiner Beob¬ 
achtungen stützt, wo der Verletzte zunächst nach dem Trauma, id est zu einer 
Zeit, als der Kranke noch unter einem so intensiven Shock stand, dass der¬ 
artige Einflüsse der Vorstellungsthätigkeit ausgeschlossen werden müssen, die 
paretischen und spastischen Erscheinungen gerade am stärksten zeigte und 
eine partielle Rückbildung erst später zu constatiren war. 

II. 

Traumatische Affectionen des Gehirns und seiner Häute. 

Meningitis suppurativa. Die Möglichkeit der Entstehung einer 
acuten eitrigen Hirnhautentzündung nach Trauma ohne nachweisbare Ver¬ 
letzung der äusseren Bedeckungen des Schädels, als Convexitäts- oder Basilar- 
meningitis wird allgemein anerkannt. Dagegen ist die Annahme einer Menin¬ 
gitis lediglich infolge Hirnerschütterung mit unserer gegenwärtigen Auf¬ 
fassung von der Aetiologie und dem Wesen des Eiterungsprocesses nicht ver¬ 
einbar. W r ie v. Hofmann (Wiener klinische Wochenschrift 1888) betont, ist der 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


anatomische Nachweis eines cansalen Zusammenhanges zwischen Trauma und 
Erkrankung nur dann erbracht, wenn es gelingt, darzuthun, dass durch die 
Gewalt eine Läsion am Schädeldach u. s. w. gesetzt wurde, durch welche 
das Eindringen virulenter Mikroorganismen in die Schädelhöhle ermöglicht 
wurde, für welche, wie v. Bergmann in seiner bekannten Monographie über 
Kopfverletzungen sagt, keine Wunde zu klein und keine Spalte zu eng ist. 

Freilich begegnet der Nachweis von Fissuren, Narben olt sehr grossen 
Schwierigkeiten. So berichtet Stbassmann, dass ihm das Auffinden der ur¬ 
sächlichen Fissur in einem sicheren Fall von traumatischer Meningitis miss¬ 
glückt sei, trotz genauer Untersuchung des Türkensattels, Nasenrachenraumes, 
Paukenhöhle u. s. w., welch letztere in zweifelhaften Fällen stets vorgenommen 
werden muss, nicht nur weil sich dort verborgene Läsionen finden können, 
sondern auch weil katarrhalische und andere Entzündungen dieser Schleim¬ 
häute bekanntlich oft den Ausgangspunkt der Meningitis bilden, resp. deren 
Eintritt vermitteln. 

Dass man auf den anamnestischen Nachweis der bekannten Erscheinungen 
der Basisbrüche (Nasen-, Ohrblutungen, Abfluss von Liquor cerebrospinalis) 
achten wird, bedarf wohl nur einer kurzen Andeutung. 

Was die Zeit der Entstehung nach dem Trauma betrifft, so 
tritt die Entzündung um so rascher und stürmischer auf, je grösser die Ein¬ 
gangspforte, je bessere Chancen für die Ausbreitung der Entzündung eine 
umfangreiche Blutinfiltration der Piamaschen liefert. 

Der Verlauf der Erkrankung selbst ist für sich nach keiner Rich¬ 
tung maassgebend, insbesondere beweist in Rücksicht auf das häufig spon¬ 
tane Auftreten einerseits und Ausbleiben auch nach stattgebabtem Kopftrauma 
andererseits das Auftreten eines der Meningitissymptome auch ganz kurz 
nach einem Trauma für sich allein durchaus noch nicht einen causalen Zu¬ 
sammenhang mit diesem. 

v. Hofmann empfiehlt bei Begutachtung hierher gehöriger Fälle die 
ausdrückliche Erklärung, dass die Meningitis nicht zufolge der allgemeinen 
Natur des den Schädel treffenden Trauma, nicht als nothwendige oder gewöhn¬ 
liche Consequenz desselben, sondern nur infolge der als accessorische und 
zufällige Complication aufzufassenden Infection der Läsion eingetreten ist. 

Gehirnerschütterung. Je weniger sich die Intensität der einwirken¬ 
den Gewalt in der Ueberwindung der Heftigkeit des Schädeldaches erschöpft 
(durch Fracturen mit oder ohne grob anatomische Hirnläsionen), um so aus¬ 
gesprochener sind die Commotionserscheinungen. Aus der Gruppe der be¬ 
kannten Erscheinungen, welche zu dem Nachweis einer stattgehabten Commo- 
tion verwendet werden können (unmittelbar beim Unfall eintretende Bewusst¬ 
losigkeit von verschieden langer Dauer, Erbrechen etc., etc.), wie sie entweder 
uncomplicirt auftreten, oder mit Symptomen des Hirndruckes (Pulsverlang¬ 
samung) oder Hirnverletzung (Herdsymptome) sich vergesellschaften können, 
heben wir als keineswegs seltenes Phänomen die von Azam als „Amnesie 
retrograde d’origine traumatique“ beschriebene Störung des Gedächt¬ 
nisses hervor, welche binnen wenigen Stunden wieder verschwinden kann 
(Wollenberg) oder sich auch als längere Zeit anhaltende, meist auf die dem 
Unfall zeitlich zunächst liegenden Erlebnisse beschränkt, oder gar als dauernde 
Störung repräsentirt. 

Neuerdings hat sich Ziehen (Vj. f. g. M. 1897, 3) mit den Gedächtnis¬ 
störungen nach Kopfverletzungen eingehender beschäftigt; er unterscheidet: 
1. Eine allgemeine Gedächtnisschwäche, entweder stabil oder progressiv ver¬ 
laufend als wirklicher Intelligenzdefect mit fliessenden Uebergangsformen bis 
zum ausgesprochenen Schwachsinn. 2. Die sogenannte Amnesie, nicht auf 
einer Zerstörung des Hirngewebes beruhend, sondern auf sogenannten Hem¬ 
mungsvorgängen, welche sich allmählich im Verlauf einiger Zeit wieder aus- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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gleichen können, was sich in Rückbildung der Amnesie ausdrückt. Das aus¬ 
lösende Trauma kann ein körperliches und ein psychisches sein. Wir haben 
retro-anterograde Amnesie beobachtet unter den bei einem wiederbelebten 
Strangulirten aufgetretenen psychischen Störungen (Zeitschrift für Medicinal- 
beamte 1897, 12) und Charcot in einem Fall, in welchem nur ein sehr 
intensives psychisches, aber überhaupt kein körperliches Trauma voraus¬ 
ging. 3. Den Verlust einzelner Gruppen von Erinnerungsbildern, deren Cha¬ 
rakter abhängig ist von der Localisation der ihnen zu Grunde liegenden 
Hirnveränderung (Blutung, Erweichung), z. B. Verlust von optischen Erinne¬ 
rungsbildern (Seelenblindheit), respective acustischen (Seelentaubheit), je nach 
dem Sitz in Hinterhaupt- oder Schläfelappen. Er beschränkt sich blos auf 
die Vorstellungen eines bestimmten Sinnesgebietes und unterscheidet sich 
dadurch von der allgemeinen Gedächtnisschwäche und Amnesie, welche all¬ 
gemein gesagt, diffuse Veränderungen irgend welcher Art zur Voraussetzung 
haben. 

Im einzelnen Fall müssen keineswegs stets alle drei Störungen vorhanden 
sein, vielmehr findet man oft nur zwei oder auch blos eine. 

Traumatische Erweichung; Cystenbildung. Unter den durch nachweis¬ 
bare structurelle Veränderungen bedingten traumatischen Erkrankungen der 
Hirnsubstanz, nach welchen nicht selten erhebliche Temperaturdifferenzen 
beider Körperhälften Vorkommen (15—2° nach Schüller, v. Bergmann), er¬ 
wähnen wir nur kurz die Contusionen, die ja bekanntlich auch ohne 
jegliche Verletzung der knöchernen Schädelkapsel, dagegen regelmässig mit 
inter- respective intrameningealen Blutungen sich finden. Eine erschöpfende 
Zusammenstellung der bezüglichen Literatur gibt Zaayer (V. g. M. III f. 
14. Band) und Zeller (D. Z. f. Ch. 37. Band). Für den vorliegenden Zweck 
genügt ihre kurze Anführung ebenso wie die ihrer Folgezustände, wie z. B. 
der u. a. von Bergmann und Billroth beschriebenen sogenannten gelben 
Erweichung im Anschluss an Hirnquetschungen, die noch nach lange er¬ 
folgter Ausheilung der Kopfverletzung unter den verschiedenartigsten, fou- 
droyanten Symptomen, die sich aus der topischen Diagnostik des jeweils be¬ 
troffenen Hirntheils ableiten lassen, nach kurzem Verlauf letal endet. 

Dass sich aus Blutungen, traumatischen Erweichungsherden u. a. auch 
Cysten entwickeln können, oft klaffende Spalten in der Hirnoberfläche, die 
anatomisch unter Umständen congenitalen porencephalitischen Defecten gleichen 
(Seelhorst), ist ebenfalls bekannt. Räude, Marchand (A. S. Z. 1897, 13) 
beschreiben den Fall einer interessanten Kleinhirncyste, welche aus einer 
isolirten traumatischen Kleinhirnblutung infolge Sturz auf den Schädel ent¬ 
stand und nach sechs Monaten durch consecutives Oedem des Hirns und 
seiner Häute zum Tode führte. 

Encephalitis, Polioencephalitis superior. Jenen Fällen, in welchen die 
Encephalitis als secundärer, reactiver Process nach Verletzungen des Gehirns, 
die den Eitermikroorganismen keinen Zutritt zu dem Organ verschafft haben, 
Vorkommen kann, und die dann unter dem Bild ischämischer, respective 
hämorrhagischer Erweichung verlaufen, wie die experimentellen Forschungen 
(Friedmann, Ziegler) und einige klinische Beobachtungen (Huguenin) 
lehren, stehen die Fälle von Bruns (Neurol. Centralblatt XIV), Mauthner, 
Wernicke, Dinkler (Zeitschrift für Nervenheilkunde VII) gegenüber, in 
welchen der Entwicklung einer primären hämorrhagischen Encephalitis oder 
eines dieser Affection entsprechenden SymptomenbUdes eine Kopfverletzung 
ohne jegliche äussere Verwundung vorausgegangen war. 

Zwischen Verletzung und Ausbruch des Leidens lag ein Zeitraum von 
Tagen bis Wochen, im DiNKLER’schen ein viel grösserer, der allerdings nicht 
vollständig frei war von Beschwerden und cerebralen Erscheinungen verschie¬ 
dener Art. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Nach den nur spärlich vorliegenden Beobachtungen wird man Oppenheim 
darin beistimmen müssen, dass die Frage nach der Wertschätzung des Trauma 
(ob unmittelbarer Zusammenhang oder nur prädisponirendes Moment durch 
Schaffung eines geeigneten Ansiedelungsortes — Contusionsherd — umschrie¬ 
bene Blutung etc.) für die eigentlichen Krankheitserreger bis jetzt noch 
nicht zu entscheiden ist. Ganghofner’s Fall verlief z. B. unter dem Bild 
einer acuten Infectionskrankheit und auch die bei der Autopsie nachgewiesene 
acute Nephritis drängt die Vermuthung auf, dass ausser dem Trauma noch ein 
anderer Factor im Spiel gewesen sein muss. 

Eitrige Encephalitis. Hirnabscess. Unter den Ursachen des Hirn- 
abscesses ist das Trauma, weil die häufigste, auch die wichtigste; be¬ 
kanntlich genügt nicht nur jede Verletzung des Schädels, sondern sogar Haut¬ 
schrunden, eine noch so geringfügige Zerstörung der Continuität der Haut, 
die dem Patienten unter Umständen ganz verborgen bleiben kann, ungünstigen 
Falles um einen secundären Hirnabscess zu erzeugen, der nicht selten nach 
bereits längere Zeit schon erfolgter Verheilung der äusseren Wunde mit seinen 
Symptomen zur Entwicklung kommt. 

Unter 241 Fällen von Gowkrs, welcher ebenfalls wie v. Bergmann das Vorkommen 
eines sogenannten idiopathischen Hirnabscesses vollkommen leugnet und die Ansicht ver¬ 
tritt, dass die meisten derartigen Fälle auf ein unbekannt gebliebenes Trauma znrückzu- 
ftthren seien, hatten 25"/o eine bestimmt nachweisbare traumatische Entstehung. Die Loca- 
lisation des Abscesses ist im Allgemeinen natürlich von dem Ort des Traumas abhängig. 
Dementsprechend sind auch die geschützteren an der Basis liegenden Hirntheile und das 
Kleinhirn seltener der Sitz traumatischer Hirnabscesse als die verschiedenen Lappen der 
Convexität, besonders Stirn- und Scheitellappen, womit natürlich nicht in Abrede gestellt 
sein soll, dass selbst die durch Contrecoup getroffenen Hirnstellen den Ort der Eiterung 
abgeben können (Gowers, Janeway). 

Die hinsichtlich der traumatischen Entstehung des acuten Hirnab¬ 
scesses in Betracht kommenden Gesichtspunkte ergeben sich ohne weiteres, 
wenn man bedenkt, dass die Symptome der mit dem Unfall resp. Trauma 
verbundenen Commotio, Contusio cerebri beziehungsweise meningealer oder 
cerebraler Blutungen ohne deutliche Scheidung in die des Hirnabscesses über¬ 
gehen und somit auch die zeitliche Continuität der Erscheinungen klar zu 
Tage liegt. 

Bemerkenswerter sind jene Fälle, in welchen die Kopfverletzung selbst 
eine unbedeutende war, etwaige Commotionserscheinungen sich rasch zurück¬ 
bilden, worauf sich nach einem freien Intervall von mehreren Tagen bis zu 
zwei oder drei Wochen ganz acut die aus der Hirnpathologie zur Genüge 
bekannten Abscesssymptome entwickeln, die bei rasch wechselnden Abscessen 
(Martius beobachtete die Entwicklung eines hühnereigrossen Abscesses in 
drei Tagen) bald von den Hirndruckerscheinungen, die in der Regel bei tiefen 
Markabscessen deutlicher entwickelt sind, als bei corticalen, Fernwirkungen, 
Ausfallerscheinungen (bedingt durch entzündliche Oedeme und Compression) 
verdeckt sein können. 

Die traumatischen Spät- (chronischen) Abscesse anlangend ist zu 
berücksichtigen, dass sich zwischen Termin der Verletzung und Beginn des 
Hirnleidens die Periode einer mehr oder weniger reinen Latenz einschieben 
kann, welche Monate, ja selbst Jahre umfasst, indem das zuerst einwirkende 
Trauma entweder von Beginn an die Erscheinungen einer purulenten Hirn¬ 
krankheit auslöst, welche jedoch schon nach kurzer Zeit wieder zurücktreten 
oder nur zu ganz passageren Commotionserscheinungen Anlass gegeben, nach 
deren Ablauf jede Gefahr vorüber zu sein schien und abgesehen von den 
meist persistirenden charakterologischen Veränderungen des betreffenden Indi¬ 
viduums kein Symptom das Fortbestehen einer schweren Krankheit verräth. 
Gelegentlich treten dann mit und ohne äussere Veranlassung intercurrente 
Recrudescenzen, sich äussernd in dumpfem Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen, 
auf, welche ebenfalls wieder rückgängig werden können. Plötzlich wird diese 


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Periode der totalen oder intervallären Latenz, deren Dauer Wernicke, Kauf¬ 
mann u. A. bis über 20 Jahre angeben, durch das stürmische Bild des frischen 
Abscesses mit letalem Ausgang (Durchbruch in die Hirnhöhle oder an die 
Oberfläche mit eitriger Meningitis) beendigt. 

Nicht minder wichtig für die forensische Beurtheilung sind jene Fälle, 
in welchen das Trauma zunächst überhaupt gar keine in äussere Erscheinung 
tretende Störung der Hirofunctionen bedingt, das Gehirn also zunächst gar 
nicht in Mitleidenschaft gezogen zu sein schien, bis nach Wochen, Monaten 
resp. Jahren die Symptome des Hirnleidens zum Vorschein kommen. 

Hinsichtlich der gutachtlichen Verwertung des Sectionsergeb- 
nisses bei traumatischen chronischen Hirnabscessen beachte man: 

1. Aus der Dicke und Festigkeit der Abscessmembran einen Rückschluss 
auf den Bestand der Erkrankung und deren Abhängigkeit von einem der Zeit 
der Einwirkung nach bekannten Trauma zu ziehen, ist nur insofern angängig, 
als die früheste Ausbildung einer vollständigen Abscesskapsel nicht vor der 
6. Woche zu Stande kommt (Strassmann). Das Fehlen derselben spricht aber 
nicht gegen die Chronicität des Leidens, weil dieselbe erfahrungsgemäss auch. 
bei älteren Abscessen fehlen und auch hier das Hirngewebe selbst in mehr 
oder weniger grosser Ausdehnung eitrig infiltrirt sein kann. 

2. Für einen Gehirnabscess, zu dessen Entstehung keine andere Ursache 
vorliegt, muss ein vorher erlittenes Kopftrauma auch dann verantwortlich 
gemacht werden, wenn es keine sonstigen Spuren am Kopf hinterlassen hat 
(Mendel, Schuster). 

Das Trauma kann auch die Bedeutung einer Gelegenheitsursache haben, 
indem es einen anderweitig (z. B. durch caries des Felsen-, Siebbeins) ent¬ 
standenen, bislang latent verlaufenen Abscess aus der Latenz herausreisst, 
den Eiterherd zum Durchbruch veranlasst u. s. w. 

Die Möglichkeit der Entstehung eines tuberkulösen Hirnabscesses durch 
ein Schädeltrauma ergibt sich aus den Bemerkungen über die Beziehungen 
zwischen Trauma und Tuberkulose (s. u.). 

Hirnblutungen. Zur Entscheidung der Frage, ob eine Hirnblutung 
traumatisch oder unabhängig von einer etwaigen Verletzung durch innere 
Ursachen (Arteriosklerose, Schrumpfniere, Herzhypertrophie) 
bedingt ist, kann neben dem Vorhandensein von intrameningealen Blutungen 
der Nachweis frischer corticaler Blutungsherde, die Abwesenheit erfahrungs¬ 
gemäss Hirnblutungen bedingender Organveränderungen im ersteren Sinn Ver¬ 
wendung Anden. 

In der Literatur der Unfallpraxis sind die für unfallrechtliche Be¬ 
urtheilung der Hirnapoplexien (ob Betriebsunfall oder Krankheit) maassge¬ 
benden Gesichtspunkte bereits mehrfach erörtert worden (Strassmann, Liersch, 
Thiem, M. f. U. 1897, 9). Bei der Berücksichtigung des so häufig spontanen 
Eintretens von Apoplexien, ohne jede äussere Veranlassung, z. B. während des 
Schlafes, ist es ersichtlich, dass es sich in vielen Fällen von Apoplexien 
während der Berufsarbeit nur um eine zeitliche und nicht um eine ursäch- 
Coincidenz handeln kann. Eine solche ist nur bei erbrachtem Nachweis anzu¬ 
nehmen, dass eine Betriebsarbeit begünstigend und beschleunigend auf das 
Platzen eines Hirngefässes eingewirkt hat, wenn, wie eine Recursentscheidung 
des Reichsversicherungsamtes ausführt, diese Verrichtung mit einer ausser- 
gewöhnlichen, über den Rahmen der regelrechten Berufsthätigkeit hinaus¬ 
gehenden plötzlichen Anstrengung verbunden ist. Die Feststellung, inwie¬ 
weit bei länger dauernden Anstrengungen noch der zum Wesen eines Betriebs¬ 
unfalles nöthige Begriff der Plötzlichkeit angenommen werden kann, ist nach 
der Ansicht von Thiem nicht Sache des Arztes, sondern des Richters und der 
technischen Sachverständigen. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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In einer Entscheidung des R. V. A. vom 28. October 1896 ist auch die Frage nach 
der Bedeutung von Hitzewirkung für das Zustandekommen von Apoplexien behandelt 
worden, insofern das R. V. A. in ständiger Rechtsprechung angenommen hat, dass auch 
die schädliche Einwirkung der Hitze als Betriebsunfall angesehen werden kann, immer 
nur dann, wenn diese Einwirkung durch Betriebsverhältmsse — ungünstige Lage oder 
Beschaffenheit der Arbeitsstelle, die eigenthümlichen Anforderungen der Betriebsthätigkeit 
u. dgl. — mit veranlasst worden ist, wobei es gleichgiltig bleibt, ob das betroffene Indivi¬ 
duum auch sonst eine ausgesprochene Anlage zu Schlaganfällen hat, da schon der Nachweis 
nur einer mit dem Betrieb in Zusammenhang stehenden Ursache genügt, welche aber 
keineswegs die alleinige zu sein braucht. Kann der besagte Causalnexus nicht erwiesen 
werden, so muss das Entstehen der Apoplexie aus besonderer körperlicher Veranlagung 
angenommen werden, der Schlaganfall ist dann lediglich eine gewöhnliche Entwicklung 
einer dem Erkrankten beziehungsweise Getödteten innewohnenden natürlichen Krankheits¬ 
anlage. Eine Entscheidung in diesem Sinne hat das Grossherzogliche Hessische Landes¬ 
versicherungsamt (A. S. V. Z. 1896, 6J getroffen. 

Liersch (M. f. U. 1895, 5) empfiehlt hinsichtlich der Beziehungen 
zwischen Apoplexie und Unfall die Berücksichtigung folgender Punkte: 

1. psychischer Vorgänge (Schreck u. dgl.); 

2. atmosphärische Verhältnisse (Insolation sehr hoher oder sehr niedriger 
Temperatur, schneller Wechsel des Luftdruckes); 

8. Alkoholgenuss; 

4. Arbeit resp. Thätigkeit zur Zeit des Unfalles, insbesondere Körper¬ 
stellung; 

5. sonstige Körperbeschaffenheit des Verunfallten. 

Hinsichtlich approximativer Altersbestimmungen von Blutungen im Central¬ 
nervensystem und besonders im Gehirn hat Türck (Centralblatt für klin. 
Med. 1893) durch experimentelle Untersuchungen festgestellt, dass diffuses 
Durchsetzen des Gewebes seitens des Blutfarbstoffes nicht vor der 2. Woche 
auftritt, in der 4. Woche beginnt die Umwandlung in Hämatoidin, von der 

6. Woche ab fehlt die Eisenreaction und in der 9. Woche findet man neben 
bindegewebiger Verdickung, Cysten, plaques jaunes, mikroskopisch nur noch 
freie Pigmentkörncben. 

Traumatische Spätapoplexie hat Bollinger (ViRCHOw’sche Festschrift 
1891, II) jene Hirnblutungen genannt, die sich erst im Verlauf mehrerer 
Wochen im Anschlüsse an Contusionsherde besonders des 4. Ventrikels ent¬ 
wickeln, während unmittelbar nach dem Unfall keine oder nur ganz gering¬ 
fügige Erscheinungen auftreten. Durch die infolge des Traumas bewirkte Com- 
pression der Hemisphären wird die Cerebrospinalflüssigkeit aus den Seiten¬ 
ventrikeln plötzlich in den 4. Ventrikel hineingepresst und verursacht an der 
Wand des Aquäductus und der 4. Kammer zunächst mechanische Läsionen, 
Zerreissungen in den unter dem Ependym gelegenen Wandpartien mit oder 
ohne ganz geringfügigen Blutungen, wie dies bereits seit Jahren durch die 
experimentellen Untersuchungen von Duret und Gussenbauer nachgewiesen 
ist, deren Richtigkeit nunmehr Bollinger mit vier Obductionsbefunden auch 
für den Menschen bestätigt hat. Die vorzugsweise als Erweichungsnekrose 
auftretende sogenannte traumatische Degeneration führt zu Gefässalterationen 
und schliesslich infolge letzterer sowie der veränderten Widerstands- und 
Druckverhältnisse zu traumatischen und tödtlichen Apoplexien. Die verän¬ 
derten Druckverhältnisse erklären sich u. a. aus dem Umstand, dass die am 
Rand solcher Erweichungsherde verlaufenden arteriellen Gefässe nunmehr des 
Aussendruckes entbehren, welchen vorher normale Hirnmasse auf sie aus¬ 
übte, indem ein gewisses Gegengewicht gegen den durch die Blutwelle hervor¬ 
gerufenen Innendruck gegeben war, der die Gefässe jetzt viel eher zum 
Bersten bringen kann, als wenn sie von normaler Hirnsubstanz mit guter 
Consistenz umgeben sind. 

Mag sich auch im Allgemeinen das klinische und anatomische Bild ver¬ 
schiedenartig gestalten, wobei natürlich die Intensität des Traumas, die Rich¬ 
tung der einwirkenden Gewalt, die individuelle Disposition, die Qualität des 


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Hirnparenchyms and die Beschaffenheit der Gefässe eine grosse Rolle spielen 
werden, so wollen wir doch gewissermaassen als Typus einen der BoLLiNGER’schen 
Fälle anftihren: 

Dreizehnjähriges Mädchen; Sturz auf den Kopf mit kurzer Bewusstlosigkeit. Fünt 
Wochen später inmitten vermeintlich vollkommener Gesundheit binnen l 1 /, Stunden 
tödtlich endende foudroyante Apoplexie. Bei der Obduction fanden sich neben dem fri¬ 
schen apoplektischen Herd ein älterer kleiner Bluterguss, Fettkörnchenzellen und in den 
Wandungen des vierten Ventrikels starke Anfülltmg der Lymphscheiden u. s. w. 

Multiple Sklerose siehe unter traumatische Rückenmarkskrank¬ 
heiten. 

Traumatische Nuclearlähmung der Augenmuskeln. Nach Ausschluss der 
übrigen bei Kernlähmungen der Augenmuskeln in Betracht kommenden 
Degenerations-Processe (Syphilis, Tabes, progr. Paralyse, dissem. Sklerose 
u. ä.) bleiben noch Fälle übrig, wo die Nuclearlähmung unzweifelhaft nach 
einem gegen den Kopf wirkenden Trauma (Fall oder Wurf auf das Hinter¬ 
haupt) aufgetreten ist, so dass man als Art der Läsion nur eine durch das 
Trauma gesetzte Blutung in die vom unteren Ende der Brücke bis an die 
Hirnschenkel sich erstreckende Augenmuskelkeraregion (HI., IV., VI. Gehirn¬ 
nerv) annehmen kann. (Siemerling, Hirschberg, Mooren und Schirmer). 

Die Krankheitserscheinungen treten schon nach sehr kurzer Zeit, spä¬ 
testens in einigen Tagen nach dem Unfall ein und bleiben meistens auf 
eine Kerngruppe beschränkt, nur in der Beobachtung von Galeczowski fand 
fortschreitende Lähmung vom Abducens auf andere in der Nähe liegende 
Nerven- (Facialis-) Kerne statt. (Wohl bedingt durch den Facialiskem in 
Mitleidenschaft ziehende secundäre Erweichung in der Umgebung des apo- 
piektischen Herdes.) 

Ohne im Uebrigen auf die Differentialdiagnose zwischen fasciculärer und 
nuclearer Lähmung eingehen zu wollen, erwähnen wir blos noch das gleich¬ 
zeitige Auftreten von Diabetes als Stütze für die Annahme einer nuclearen 
Lähmungsform. 

Die Prognose der traumatischen Kernlähmung der Augenmuskeln ist, 
aus den bis jetzt vorliegenden Beobachtungen zu schliessen, eine günstige. 

Hirngeschwülste siehe unter Trauma und Geschwulst. 

Traumatische Epilepsie. Dass durch die Einwirkung eines Traumas 
mit und ohne begleitende psychische Emotionen und besonders durch ein 
Schädeltrauma epileptische Zustände veranlasst werden können, mit allen Va¬ 
rianten der epileptischen Erkrankung, von leichten epileptoiden Zuständen, 
Krampfattaken, Absenzen, bis zu den das epileptische Irresein xaz’ zu¬ 

sammensetzenden Erscheinungsformen, in welcher bekanntlich Individualität, 
Charakter der Erkrankung, Verlauf im einzelnen Fall ebensoviele Modificationen 
bilden, und endlich bis herab zu jenem unaufhaltsam progressiven intellec- 
tuellen Niedergang, der im terminalen Blödsinn seinen Abschluss findet, ist 
schon seit längerer Zeit anerkannt. Eulenburg hat besonders darauf auf¬ 
merksam gemacht, dass wahrscheinlich ziemlich viele im frühesten Kindes¬ 
alter auftretende Epilepsien auf ein späterhin unbekanntes Trauma zurück¬ 
zuführen seien, während Neftel wohl zu weit geht, wenn er für die grosse 
Mehrzahl aller Fälle von Epilepsie im Kindesalter erlittene Kopfverletzungen 
als ätiologisches Moment für die Entstehung ansieht. 

Hinsichtlich der Entstehnngsmöglichkeit von Epilepsie nach Kopftrauma er¬ 
innert Jolly (Charite-Annalen XX) an die bekannten Versuche Westphal’s, bei welchen 
durch starke Erschütterung des Kopfes einerseits ohne sichtbare grobe Verletzung des 
Gehirns Epilepsie zu Stande kam, während andererseits, wenn infolge der Erschütterung Blu¬ 
tungen im Gehirn entstehen, dieselben an den verschiedensten Stellen disseminirt gefunden 
werden können, ganz besonders aber in den mehr basal gelegenen Gehirntheilen. 

Wo der von Nothnagel als „epileptische Veränderung“ Gezeichnete Zustand selbst lo- 
calisirt ist, resp. ob es überhaupt eine einheitliche Localisation hiefür gibt, darüber sind 
wir trotz der zahlreichen hierauf gerichteten Untersuchungen und Experimente noch ganz 
im Unklaren. Man weiss allerdings, dass durch Reizung (Hitzig) und Herdbildung in der 

Bib I. med. Wissenschaften, Hygiene n. Oer. Med. b2 


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818 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 

sogenannten motorischen Zone des Gehirns verhältnismässig häufig dieser Zustand herbei- 

t efuhrt wird. Aber nicht minder steht fest, dass derselbe auch bei völliger Unversehrtheit 
ieser Zone durch Läsion anderer Hirntheile zu Stande kommen kann, so dass selbst dann, 
wenn eine traumatische Einwirkung in der Gegend der motorischen Zone vorliegt und 
Epilepsie entstanden ist, keineswegs der Schluss statthafterscheint, dass eine andern 
Ort der Hirnverletzung eingetretene Affection auch die Ursache der epi¬ 
leptischen Veränderung sein muss. Der Zustand, welcher die habituelle Wieder¬ 
kehr von Krämpfen bedingt, ist also nicht an die Oertlichkeit gebunden, von welcher ur¬ 
sprünglich der Reiz zu ihrer Entstehung ausgegangen ist 

Kocher hat neuerdings als anatomische Veränderungen in fünf Fällen von trauma¬ 
tischer Epilepsie grössere mit Cerebrospinalflüsssigkeit gefüllte Hohlräume beschrieben und 
hält sich zu dem Schluss berechtigt, dass neben der gesteigerten Reizbarkeit des Gehirns 
im Allgemeinen die bleibende oder vorübergehende Spannung des Liquor cerebrospinalis zur 
Entstehung der Epilepsie disponirt. 

Des Weiteren zeigt eine Beobachtung Jolly’s, dass auch in einem Fall von soge¬ 
nannter einseitiger oder Rindenepilepsie ein anderes epileptogenes Agens (Alkoholabusus) 
mitgewirkt hat, resp. mindestens für die Häufigkeit der Anfälle maassgebend geworden ist, 
wie denn überhaupt in allen Fällen traumatischer Epilepsie die bereits vor 
der Einwirkung des Traumas bestandene Disposition zur Epilepsie eine 
grosse Rolle spielt, insofern traumatische Einwirkungen von gleicher Schwere je nach 
der verschiedenen Grösse der Disposition von verschieden grosser Bedeutung sind, und 
wenn auch im Allgemeinen mit der Schwere der Läsion und mit der Stärke der Er¬ 
schütterung die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens der Epilepsie wächst, so erhöht 
sich doch diese Wahrscheinlichkeit noch ganz ausserordentlich und kann schon bei verhältnis¬ 
mässig geringer, nicht zu graveren Veränderungen führender Erschütterung sich entwickeln, 
bei gegebener ausgesprochener Disposition (Heredität, Intoxication, frühere Erkrankungen, 
unter welchen besonders die cerebrale Kinderlähmung hervorgehoben zu werden verdient, 
bei welcher nach der einmaligen acuten Attake mit und ohne Krämpfe oft lange Zeit nichts 
anderes besteben bleibt als eine stationäre spastische Hemiplegie ohne Anfälle; noch nach 
vielen Jahren kommt durch irgend eine epileptogene Ursache, z. B. Trauma, die Epilepsie 
zur Entwicklung, die, wenn auch nicht immer, so doch sehr häufig die gelähmte Seite 
stärker ergreift und dann einer primär entstandenen JxcKsoN’schen Epilepsie sehr 
ähneln kann). 

Für den Gutachter kann die Frage nach der Heilbarkeit der 
jACKSON’schen Epilepsie durch Operation actuell werden. Die Wahr¬ 
scheinlichkeit eines Erfolges der Operation macht Jolly von dem bestimmten 
Nachweis einer Affection der motorischen Zone abhängig, d. h. ob einseitige 
Convulsionen vorhanden, ob in der vom Krampf ergriffenen Seite Paresen und 
Sensibilitätstörungen bestehen, die jedesmal im Anschluss an die Krämpfe 
eine Steigerung erfahren, oder auch nur dann vorübergehend hervortreten, 
während jene Fälle unheilbar sind, in denen bereits stabile mit Contractur ver¬ 
bundene oder an Stärke und Ausdehnung zunehmende Lähmung besteht, da hier 
regelmässig bereits tiefergreifende inoperable secundäre Veränderungen im 
Mark Platz gegriffen haben. 

Was die Symptomatologie betrifft, so entwickelt sich nach Schädel¬ 
traumen besonders häufig die psychische Epilepsie (18’3°/ 0 ), während unter 
den nicht traumatischen Fällen nur in 5% sich Geistesstörung anschliesst. 

Bemerkenswert erscheint ferner die Möglichkeit des Auftretens bi¬ 
lateraler Convulsionen auch bei einseitiger Rindenläsion. Sie er¬ 
klärt sich daraus, dass die motorischen Rindencentren auch zu gleichseitigen 
Muskelgruppen Beziehungen haben. Vielleicht hat auch eine fnnctionelle 
Compensation der Hirnrinde durch andere Hirntheile statt, so bei einer 
Beobachtung von Sepilli (intra vitam rechts- und linksseitige Convulsionen 
trotz totaler Zerstörung der rechtsseitigen Hirnrinde). 

Die ersten Anfälle stellen sich meist erst relativ spät nach dem 
Trauma ein, zuweilen erst nach Jahr und Tag, weshalb, wie auch Kaufmann 
betont, die Forderung des R. V. A. hinsichtlich der zeitlichen („unmittel¬ 
baren") Verbindung zwischen Unfall und Epilepsie vom ärztlichen Standpunkt 
aus nicht gebilligt werden kann. 

V. Strümpfxl (Zeitschr. für Nervenheilkunde VIII) hat in einem Fall von trauma¬ 
tischer Epilepsie auf das Vorkommen von retrograder Amnesie aufmerksam gemacht (to¬ 
taler Gedächtnisdefect nicht nur für Eindrücke aus der Zeit zwischen Auftreten der ersten 
Krämpfe und dem Höhepunkt der Krankheit, sondern auch für alle Erlebnisse bis zu vier 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN, 


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Jahren vor dem stattgehabten Trauma mit Ausnahme von zwei fragmentären Erinnerungen). 
Nach anderweitigen Erfahrungen (s. unter Gehirnerschütterung) und den Beobachtungen 
von Alsheimer in Fällen genuiner Epilepsie erscheint die rackschreitende Amnesie für die 
vorbesprochene Krankheitsform nicht pathognostisch. 

Ausser durch Schädel- und Hirntrauma können auch durch traumatische 
Läsionen der übrigen Körpertheile epileptogene Reize gesetzt werden (z. B. 
durch Verletzung peripherer Nervenstämme, besonders ischiadicus, trigeminus); 
in vielen Fällen dieser Form von Reflexepilepsie pflegt bekanntlich eine von 
dem betroffenen Gebiet nach dem Kopf aufsteigende aura den Ausgangspunkt 
aiizuzeigen, während die Narbe selbst keineswegs schmerzhaft zu sein braucht 
(Binswanger). 

Die Nothwendigkeit des Nachweises, dass Epilepsie nicht bestanden, 
braucht bei der Diagnose traumatische Epilepsie wohl kaum besonders hervor¬ 
gehoben zu werden, ebensowenig wie die Thatsache, dass der Verlauf einer 
bereits bestehenden Epilepsie durch ein Trauma in ungünstiger Weise beein¬ 
flusst werden kann. 

Im Uebrigen erinnern wir noch an jene Entscheidungen des R. V. A. (I. 166, II. 401, 
YI. 63), wonach Unfälle, welche an Epilepsie leidende Arbeiter in einem während der Be¬ 
triebsarbeit erfolgenden epileptischen Anfall erleiden, in ihren Folgen entschädigungspflichtig 
sind, wenn die Verletzungen durch besondere Gefahren des Betriebes verursacht oder be¬ 
einflusst worden sind. 

Traumatische Psychosen (siehe oben über Verlauf der traumatischen 
Neurosen). 

Der Zusammenhang zwischen Geistesstörung und Trauma hat bereits 
mehrfach in der Literatur eingehende Bearbeitung erfahren (Schläger, 
Krafft-Ebing, Hartmann, Güder). In den meisten Fällen ist nicht das 
Trauma der einzige ätiologische Factor, sondern es handelt sich häufig noch 
um das Vorbestahen anderer disponirender Momente, die man kurz als an¬ 
geborene oder erworbene neuropathische Constitution zusammenfassen kann. 
Die traumatischen Seelenstörungen repräsentiren ebensowenig wie andere 
Krankheiten mit traumatischer Basis besondere Typen, wenngleich man be¬ 
stimmte übereinstimmende Züge und Eigentümlichkeiten, welche erfahrungs- 
gemäss gerade bei Geistesstörungen nach Kopfverletzung zur Beobachtung 
kommen, nicht in Abrede stellen kann. 

Je nachdem die vollentwickelte Psychose sich unmittelbar an das 
Trauma anschliesst oder durch einen längeren oder kürzeren Zwischenraum 
von ihm getrennt ist, in welchem neurotische Beschwerden im Vordergrund 
stehen, hat man von primärem (acutem, subacutem) und secundärem trauma¬ 
tischem Irresein gesprochen. Luib (A. S. Vz. 1896, 7), der sich im Interesse 
-der Verständigung und Uebersichtlichkeit ebenfalls für die Beibehaltung dieser 
Bezeichnung ausspricht, macht besonders darauf aufmerksam, dass im zweiten 
Fall die traumatische Genese nur dann als erwiesen zu erachten ist, wenn 
■die ersten krankhaften Veränderungen, jener psychonervöse Zustand mit den 
Stimmungsanomalien, Charakterveränderungen, psychischer Reizbarkeit mit 
und ohne somatische Begleiterscheinungen seitens der Motilität und Sensi¬ 
bilität, sich schon kurze Zeit nach dem Unfall bemerkbar machten, während 
die stetige Verschlimmerung dieser Erscheinungen bis zur ausgesprochenen 
Psychose einen längeren Zeitraum umfassen kann. In den späteren Ent¬ 
wicklungsstadien der secundären Psychosen herrscht als gemeinsamer Zug 
meist das Bild der fortschreitenden Demenz vor. 

Was die besonders von Wille (Arch. f. Psych. VIH) genauer charak- 
terisirten Fälle von primärem acutem, traumatischem Irresein be¬ 
trifft, so verfällt der in der Regel schwer Verunfallte (Basisbruch, Depressions- 
fractur), nachdem nur für kurze Zeit nach der Commotio cerebri das Bewusst¬ 
sein wiederkehrt, bald wieder in schwere Benommenheit und Somnolenz, die 
mit mehr weniger grosser Regelmässigkeit besonders in den Abendstunden 
von katatonischen oder allgemeinen Erregungszuständen in Form lebhaft ver- 

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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


worrener hallucinatorischer Angstanfälle mit reactiv-aggressivem Charakter, 
Neigung zu impulsiven Gewaltacten, planlosem Fort- und Umherlaufen unter¬ 
brochen wird. Im weiteren Verlauf, in dem plötzliches Aufschiessen primärer 
Wahnvorstellungen expansiven oder depressiven Inhalts nur selten vorkommt, 
kann das Bild der acuten Demenz vorherrschen, bis nach zwei-, resp. drei¬ 
wöchentlichem Bestehen allmählich das Stadium der Reconvalescenz mit zu¬ 
nehmender geistiger Frische und anfangs grösseren, später immer mehr zu¬ 
sammenschrumpfenden antero- und retrograden Erinnerungslücken eintritt, 
dessen Fortschreiten parallel erfolgt der Rückbildung der somatischen Sym¬ 
ptome (Schwindel und andere in das Innere des Kopfes verlegte Sensationen, 
je nach Sitz und Ausdehnung des traumatischen Localprocesses wechselnde 
Innervationsstörungen verschiedenster Art). 

Des Weiteren kommen Fälle vor, in welchen sich im Anschluss an das acute Stadium 
eine chronische und tiefgreifende geistige Veränderung entwickelt, welche der sogenannten 
secundären Demenz entspricht, mit einem der progressiven Paralyse durchaus ähnlichen 
Symptomenbild. Ein anderes Mal bleibt die secundäre Demenz auf einer gewissen Stufe 
stationär (Ziehen), der Kranke zeigt, abgesehen von mässiger Urtheüsschwäche, einer Ver¬ 
armung von complexen und abstracten Begriffen und den dieselben normaliter begleiten¬ 
den complicirteren Gefühlstönen, keine manifesten psychischen Störungen. 

Hinsichtlich der günstigen Auffassung der Mehrzahl der acuten traumatischen Psy¬ 
chosen stimmt Wille mit Schule überein, während er sowie andere Autoren (Borchardt, 
Jolly) sich diesem nicht anschliessen, wenn er eine besondere Form aufstellt, die gewöhn¬ 
lich nach vier Wochen letal enden soll; denn diese letztere ist nach dem ganzen klinischen 
Verlauf, Ausgang, Autopsiebefund nichts anderes als eine protrahirt verlaufende eitrige 
Meningitis mit vorwiegend psychischen Symptomen, die man aber deswegen noch nicht 
als besondere Form von Geistesstörung gelten lassen kann. Luib, Stolper (Vz. f. g. M. 
1897, 2) u. A. halten auch die Prognose der acuten Formen nicht für so günstig und 
bezweifeln besonders den längeren Bestand der event. erzielten Genesung. 

Besonders schwierig kann sich die forensische Beurtheilung 
jener Fälle gestalten, in welchen der Verletzte zunächst Monate oder Jahre 
gesund bleibt, abgesehen von den oben erwähnten Veränderungen seiner psy¬ 
chischen Persönlichkeit, die nur bei Vergleich mit dem Verhalten vor dem 
Trauma als Anomalien erscheinen, aber noch nicht als Psychose betrachtet 
werden können. Die erst nach längerer Zeit durch das Hinzutreten eines 
oder mehrerer occasioneller Momente zum Ausbruch gebrachte Seelenstörung 
ist also auf einem durch das Trauma prädisponirten Boden entstanden. Ein 
geringfügiger Anlass, welcher vor dem Trauma ohne pathologische Reaction 
ertragen wurde, führt nach dem Trauma infolge der durch dasselbe geschaf¬ 
fenen neuropsychopathischen Constitution zu einer schweren Psychose. Spe- 
ciell in der Pathogenese des Delirium acutum (acute Paralyse) spielt das 
Trauma eine grosse Rolle, indem das Leiden hauptsächlich derartig invalid 
gewordene Gehirne aufsucht und dann für den Ausbruch dieser so stürmisch 
verlaufenden Psychose in einem durch ein früheres Trauma geschwächten 
Gehirn schon eine intensive Gemüthsbewegung als alleinige Gelegenheits¬ 
ursache wirksam werden kann (v. Krafft-Ebing). 

In Rücksicht auf die jetzt von den meisten Autoren bereits anerkannte 
Möglichkeit einer traumatischen Genese von Hirntumoren haben in der Unfall¬ 
praxis auch jene Psychosen actuellere Bedeutung erlangt, die lediglich als 
Symptome von Geschwülsten im Schädelinnern auftreten. Von diesen 
durch Neubildung bedingten Psychosen lässt sich eine allgemeine Sympto¬ 
matologie nicht einmal in groben Umrissen geben, da Sitz und Grösse des 
Tumors, Wachsthumschnelle, complicirende mechanische Folgewirkungen jeden 
Fall so zu sagen zu einem individuellen machen. Das polymorphe, regellos 
verlaufende, gewöhnlich aus diffusen und Herderscheinungen gemischte Bild 
zeigt im Allgemeinen die Symptome eines mehr minder rasch verlaufenden 
Blödsinnes mit den mannigfachsten Druck- und Reizsymptomen, dazwischen 
häufig stupid manische, delirant hallucinatorische und auch lucidere Phasen. 

Ueber die Beeinflussung bereits bestehender Geistesstörung durch 
Unfall berichtet Leppmann (A. S. V. Z. 1895, 6) und macht auf die Verschiedenheit der 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN, 


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Beobachtungen in der Anstaltspr&xis aufmerksam, wo man Verblödete und ängstlich Ver¬ 
worrene nach durch Unglücksfali bewirkten Schädigungen auffallend schnell klar werden 
sieht, als ob die Erschütterung des Gehirns dazu gement hätte, wesentliche moleculare 
Umgestaltungen in demselben zu verursachen, im Gegensatz zu zwei von ihm selbst begut¬ 
achteten Fällen, in welchen ein Unfall eine bestehende Geistesstörung (Paranoia) zur 
Arbeitsunfähigkeit verschlimmert habe. Koppen (Gehirnveränderungen nach Trauma, 
Jahressitzung des Vereines deutscher Irrenärzte 1897) hält die moleculären Verschiebungen 
bei der Consistenz der Hirnsubstanz für unmöglich, sondern glaubt, wie es auch die Unter¬ 
suchungen von Friedmann u. A. wahrscheinlich machen, an eine Veränderung der Hirn- 
gef&sse 

Von besonderer Bedeutung aus der speciellen Psychopathologie ist die 
Frage nach der traumatischen Entstehung der progressiven Pa¬ 
ralyse. 

Oebeke bewertet das Trauma capitis als ätiologisches Moment mit 5°/«, 
Gudden (Arch. f. Psych. XXVI) mit 8% u. s. w. 

Die Gesichtspunkte, welche für die traumatische Genese des Läh- 
mungsirreseins bei der Begutachtung zu berücksichtigen sind, hat u. a. 
Leppmann (A. S. VZ. 1897, 17) eingehender erörtert. Wir heben hier her¬ 
vor, dass das acute Trauma, eine Schädelverletzung, sowohl eine auslösende 
als auch eine prädisponirende Wirkung ausüben kann, wobei sich meist noch 
andere BelastuDgsmomente, seien sie angeboren oder erworben, unter welchen 
besonders die Syphilis zu erwähnen ist, ohne dass man ihr deshalb eine so 
maassgebende pathogenetische Bedeutung beizulegen braucht, wie dies von 
manchen Autoren geschieht, nachweisen lassen. 

Am deutlichsten ist der Causalnexus bei directen oder indirecten cen¬ 
tralen Verletzungen, wenn sich die Paralyse, wie dies nach Gudden nicht 
selten der Fall ist, in unmittelbarem Anschluss an das Trauma entwickelt 
(in 18 unter 46 Beobachtungen). Handelt es sich um die Spätwirkung eines 
Traumas, liegt also zwischen diesem und dem Manifestwerden der paralytischen 
Seelenstörung ein grosser Zwischenraum von Monaten, so ist eine exacte 
Anamnese des Falles unumgänglich nothwendig, die sich auf möglichst genaue 
Fixirung des Zeitpunktes des ersten Auftretens der sogenannten prämonito- 
rischen Symptome (motorische und vasomotorische Störungen, allerhand Ausfall¬ 
erscheinungen in der psychischen Sphäre mit allmählich sich entwickelnder 
geistiger Decadence) erstrecken wird. Bekanntlich umfasst dieses Entwicklungs¬ 
stadium der Paralyse oft eine erhebliche Reihe von Monaten. 

Leppmann (A. 8. V. Z 1898, 11) macht auf das Auftreten der dementia pa- 
ralytica bei Personen mit langwieriger tabes aufmerksam. Nach ihm kann der psy¬ 
chische Shock beim Unfall im Anschluss an die vorbestandene organische Erkrankung des 
Nervensystems (tabes) eine solche des Gehirns entstehen lassen. Er berichtet z. B. von 
einem Mann mit augenscheinlicher tabes, welcher eine Pfanne siedenden Eisens trug, stol¬ 
perte und sich verbrühte; nach 6 Wochen typische Paralyse (s. u. über periphere Ver¬ 
letzungen und Lähmungsirresein). 

Was die Frage betrifft, ob ein Kopftrauma die bereits vorbestandene 
Geisteskrankheit besonders in den ersten Anfängen wesentlich verschlimmern 
kann, so hängt deren Entscheidung in concreto neben der Erheblichkeit der 
einwirkenden Gewalt wesentlich ab von dem Nachweis der Verschlimmerung 
•des Zustandes aus den unmittelbaren Unfallfolgen heraus. Leppmann 
gibt theoretisch gewiss die Möglichkeit einer Verschlimmerung im besagten 
Sinne zu, erinnert aber in praktischer Hinsicht an die den Irrenärzten zur 
Genüge geläufige Erfahrung, dass trotz der häufigen und oft recht erheb¬ 
lichen Kopfverletzungen, die Paralytiker acquiriren, eine mit diesen zeitlich 
zusammenhängende wesentliche Steigerung der Krankheit keineswegs zu den 
regelmässigen Erscheinungen gehört, während Gudden in seiner 596 Fälle 
von progressiver Paralyse umfassenden Casuistik im Anschluss an ein Kopf¬ 
trauma eine wesentliche Beschleunigung des Verlaufes und rasche Steigerung 
der Symptome bis zum Höhestadium in 3 5°/o der Fälle nachgewiesen hat. 

In dritter Linie ist zu erwägen, ob ein Zusammenhang zwischen 
einer peripheren Verletzung Und dem Lähmungsirresein besteht, 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


insofern die hauptsächlich seelische Wirkung peripherer Verletzung überdau¬ 
ernden oder häufig wiederkehrenden Schmerzen, Schreck, Sorge, Angst, die 
Krankheit auslösen oder die bereits vorbestandene wesentlich beschleunigen 
kann. Im Gegensatz zu Simon, der den Einfluss psychischer deprimirender 
Momente als nebensächlich erachtet, betont Mendel in seiner bekannten Mo¬ 
nographie über progressive Paralyse entschieden deren Einfluss: „man wird sich 
der Möglichkeit solcher psychischer Wirkungen umso weniger verschliessen 
können, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch jeder psychische Process 
nach unseren gegenwärtigen Anschauungen mit einem materiellen Stoff¬ 
wechsel verbunden ist.“ Hiehergehörige Fälle sind ferner von Witkowski 
(Berl. klin. Wochenschrift 1877) und Leppmann mitgetheilt. 

Reflexpsychosen Köppe’s. Den traumatischen Psychosen im engeren 
Sinne reihen sich jene ziemlich seltenen Fälle an, in welchen die Verletzung 
eines peripheren Körpertheils bei bereits prädisponirten Individuen das aus¬ 
lösende Moment für die Psychose war (ßeflexpsychose). Es braucht wohl 
kaum die Nothwendigkeit einer strengen Sichtung der hierher zu nehmenden 
Fälle betont zu werden. Einwandfreie Beobachtungen enthalten die Fälle von 
Abndt und Thomsen (D. A. f. kl. M. 1874). 

Thomsen’s Beobachtung betrifft einen prädisponirten Mann, bei dem 14 Jahre nach 
einer Schnssverletznng am rechten Arm zunächst Anfälle gleichzeitiger Schmerzen, dann 
Episoden hallucinatorischer Geistesstörung auftraten, die sich regelmässig durch von der 
Narbe ausgehende Missempfindungen einleiteten. Zwischen den;sich vereinzelt zu völliger 
Verwirrtheit steigernden Anfällen bestand anfangs kurzes und etwas später längeres Inter¬ 
vall mit Uebergangsformen. 

Thomsen hält die traumatische Genese dieses Zustandes erwiesen, nicht 
nur wegen der von der Narbe ausgehenden aura, der completen Heilung durch 
Excision der Narbe, sondern auch durch das Verhalten der (Gesichts-) Hallu- 
cinationen, Paresen, sensoriellen und sensiblen Störungen der Haut, Sinnes¬ 
organe etc., welche auf der verletzten rechten Körperseite unverhältnis¬ 
mässig stärker auftreten als links, was der Annahme einer reflectorischen 
Wirkung auf eine Hemisphäre durchaus entspricht. Im Uebrigen beweist gerade 
das durchweg parallele Verhalten der Anfälle und Hemianästhesie einer¬ 
seits, freie Intervalle und normale Sensibilität anderseits die Zusammen¬ 
gehörigkeit beider Momente, indem mit Nachlassen und Abklingen des Reizes 
auch die Wirkung verschwindet. 

Delirium tremens und Trauma. Bei der grossen Verbreitung, welche 
unter der vorzugsweise traumatischen Schädigungen exponirten Arbeiter¬ 
bevölkerung der AlkoholismuS hat, ist noch kurz der Beziehungen zwischen 
Delirium tremens und Trauma zu gedenken. Becker (A. S. Vz. 1895, 18} 
hat diese Frage zuerst eingehender bearbeitet. Eine jede Verletzung 
kann bei Gewohnheitstrinkern ohne weiteres zu Delirium führen; Schwere 
der Verletzung, Alter etc. machen keinen wesentlichen Unterschied. Das 
Berliner R. V. A. ist in seiner Spruchpraxis dem von Becker zuerst 
urgirten Standpunkt beigetreten, dass die Schuldfrage in der Regel zu ver¬ 
neinen sei, da Delirium nach Verletzungen als eine Folge derselben anzu¬ 
sehen ist; dasselbe stellt den Ausbruch einer Krankheit dar, deren Anlage 
dem Verletzten innewohnt, deren Entwicklung durch die Verletzung bedingt 
wird, analog der tuberkulösen oder irgend einer sonstigen Disposition. Im 
Uebrigen geht aus den bis jetzt vorliegenden Entscheidungen des R. V. A. 
hervor, dass der Rentenanspruch genügend begründet erscheint, wenn das 
Delirium in den ersten Tagen nach dem Unfall in Erscheinung tritt und 
jedenfalls noch zur Zeit der Bettlage der Verunfallten. Heftige Fieber¬ 
erscheinungen, grosser Blutverlust, reichliche Eiterungen als unmittelbare 
Folgen der Verletzung erhöhen den Wahrscheinlichkeitsgrad des Causalnexus, 
während zu Ungunsten des Verletzten in Erwägung zu ziehen ist, ob er ein 
„notorischer* Säufer oder bereits ohne äussere Veranlassung früher an Delirium 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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erkrankt war. Uns scheint hinsichtlich der letzten beiden Momente ein Wider¬ 
sprach vorzuliegen, insofern sie doch nur ein vorgeschrittenes Stadium jener 
dem betreffenden Individuum innewohnenden krankhaften Anlage darstellen, 
für welche man dasselbe in weniger entwickelten Fällen als „schuldfrei“ be¬ 
zeichnet hat. Das Trauma kommt in einem dermaassen geschwächten Gehirn 
nur noch viel leichter zur Wirkung. 

Paralysis agitans (Schüttellähmung). Die Bedeutung des Trauma 
für diese Nervenkrankheit, die noch vielfach als motorische Neurose gilt, 
haben u. a. Kaufmann, Eulenburg, Wichmann, Oppenheim in ihren be¬ 
züglichen Arbeiten betont. In letzter Zeit hat Walz (V. f. g. M. 1896, 
Octoberheft) unter Mittheilung einer eigenen Beobachtung die bis jetzt be¬ 
kannt gewordenen Fälle traumatischer Schüttellähmung in einer nahezu er¬ 
schöpfenden Casuistik zusammengestellt, welche zeigt, dass die Erkrankung 
nach allen möglichen Verletzungen entweder unmittelbar nach der Verletzung, 
einige Tage später, oder erst nach einem längeren Zwischenraum einsetzt, 
mit Bevorzugung des mittleren und höheren Lebensalters, und zwar um so 
rascher, wenn das Trauma gleichzeitig mit seiner psychischen und physischen 
Wirkung zur Geltung kommt. 

Betreffend den näheren Entstehongsmodus nach peripheren Traumen differiren noch 
die Ansichten in der gleichen Weise wie hinsichtlich der eigentlichen Ursache der Krank¬ 
heit selbst, wenn auch neuerdings Bongiierini und Redlig m einigen Fällen Veränderungen 
im Rückenmark in Form von perivasculärer Sklerose constatiren konnten. Charcot und 
Hitzig nehmen von der Peripherie nach den Centren schreitende entzündliche Processe 
an, welche die motorischen Reizerscheinungen hervorrufen, Gowers hält das rein mecha¬ 
nische Moment der Erschütterung an und für sich schon genügend, und Machot fasst in 
wenig überzeugender Hypothese das ganze Krankheitsbild als reactiven Vorgang auf eine 
durch starken Nervenreiz entstandene Uebererregung auf. 

Unter den prädisponirenden Momenten nennt Jolly, der bei einer bereits vor 
dem Unfall bestehenden Erkrankung durch letzteren eine sehr erhebliche Steigerung des 
anfangs nur leicht vorhandenen initialen Zitterns eintreten sah, in einem bezüglichen Ober¬ 
gutachten (A. N. des R. V. A. 1898, 1 Febr.) besonders die erbliche Anlage, wie sie sich 
theils durch Auftreten der Krankheit bei aufeinanderfolgenden Generationen oder bei Ge¬ 
schwistern äus8ert, und misst ihr eine grössere Bedeutung bei, als dies in den Lehrbüchern 
zu geschehen pflegt. Wenn allerdings auch in einer nicht unerheblichen Reihe von Fällen 
die Schüttellähmung ohne jede nachweisbare Ursache entsteht, so muss hereditäre Anlage 
doch keineswegs mit Nothwendigkeit zur Krankheit führen, indem unter Umständen erst 
durch mehr oder weniger intensive äussere Gewalteinwirkung der Ausbruch der Krankheit 
bewirkt wird. Nach Vaudier und Leroux kann ein Trauma nur auf einem durch Here¬ 
dität vorbereiteten Boden agitirende Paralyse erzeugen. 

Der Causalnexus tritt besonders klar bei localisirten Verletzungen vor, 
indem das charakteristische Symptom der Erkrankung, der Tremor, zuerst im 
verletzten Glied bemerkbar wird; er ist meist contiuuirlich mit raschen, 
gleichmässig oscillatorischen Bewegungen, bald von geringeren, bald von stär¬ 
keren Excursionen, später bald allgemein, bald in paraplegischer Form auf¬ 
tretend. (Zur Unterscheidung von Zittersimulationen siehe oben die FucHs’sche 
Methode unter: traumatische Hysterie.) Auch in jenen Fällen, wo zwischen 
Trauma und Krankheitsausbruch eine grössere Latenzperiode liegt, finden sich 
gewisse Prodromalerscheinungen (unbestimmte rheumatoide oder neuralgiforme 
Schmerzen, Parästhesien, Schwäche und Steifigkeit) mit Vorliebe im verletzten 
Glied localisirt. Bei jenen von Charcot und Bourneville als Formes 
frustes beschriebenen, selteneren unvollständigen Formen, in welchen das 
Zittersymptom nur schwach ausgebildet ist, wird die Summe der übrigen 
Symptome des motorischen Apparates (Muskelrigidität mit der hierdurch be¬ 
dingten eigentümlichen Körperhaltung, Pro- und Retropulsion, allgemeine 
Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit u. a.) mit den bekannten charakteristischen 
Begleiterscheinungen die Diagnose ermöglichen. Die Prognose ist in gleicher 
Weise ungünstig wie bei der nicht traumatischen Form. Bereits frühzeitig 
vollständige Erwerbseinbusse. 

Periodische Schwankungen der Himrinden-Functionen nennt Stern 
(Arch. für Psych. Bd. XXVII) einen Symptomencomplex, den er als Folgezu- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


stand nach schweren Kopfverletzungen in drei Fällen beobachten konnte. Seinem 
Bericht entnehmen wir, dass für eine oft relativ sehr kurze Zeitdauer eine 
Herabsetzung der Sensibilität auf allen Sinnesgebieten, Parese mit Ataxie der 
willkürlichen Muskulatur, Abnahme der intellectuellen Leistungsfähigkeit ein- 
tritt. Nach seiner Auffassung dürfte diese Störung nicht allein infolge von 
Kopfverletzung auftreten, sondern sie stellt eine besondere Art functioneller 
Schädigung des Gehirns dar, die auch durch andere Ursachen hervorgerufen 
werden kann; er exemplificirt hierbei auf das Vorkommen des sogenannten 
cerebralen oder CHEYNE-STOCKEs’schen Athmens. 

Weitere analoge Beobachtungen liegen unseres Wissens bis jetzt noch 
nicht vor. 

Akromegalie. Unverricht (M. m. Wochschr. 1895, 14) hält in einem 
Fall, in welchem bei einem vorher gesunden Arbeiter nach Sturz aus be¬ 
deutender Höhe auf den Rücken im Anschluss an eine durch den Unfall er¬ 
littene Knochenverletzung innerhalb 1V 2 Jahren das Symptomenbild der Akro¬ 
megalie sich entwickelte, den Zusammenhang mit dem Unfall für wahrschein¬ 
lich. In gutachtlicher Beziehung ist der Fall lehrreich, weil der be¬ 
treffende Verletzte lange Zeit „wegen seiner Hünengestalt“ als Simulant 
betrachtet wurde; nach Hinzutritt der bekannten nervösen Symptome der 
Akromegalie fasste man das Krankheitsbild als „traumatische Neurose" auf. 
Neben einer Anzahl von Fällen aus der Literatur, bei welchen ein Trauma 
als ätiologisches Moment genannt ist, erinnert Unvebricht besonders an eine 
Beobachtung von Moebius, bei welcher es sich zwar nicht um Akromegalie, 
wohl aber um die mit dieser verwandten Osteo-arthropathie, hypertroph, 
pneum. handelte, und schliesst daraus, dass es von Bedeutung ist, wie im 
Anschluss an Trauma sich gewisse der Akromegalie verwandte Wucherungs- 
processe am Knochengerüst verstärken können. 

In gleicher Weise kann unter Bezugnahme auf die bis jetzt in der 
Literatur niedergelegten Beobachtungen auch für eine Reihe anderer Erkran¬ 
kungen des Centralnervensystems gegebenen Falles die Möglichkeit eines 
Zusammenhanges mit Trauma nicht von der Hand gewiesen werden: Chorea 
(Schultze, Seligmüller), RAYNAUü’sche Krankheit (Bernhardt, Dehio), 
Hemiatrophia facialis (Moebius, Fromhold), Morbus Basedowii (v. Ziemssän, 
Zihmermann). 

III. 

Traumatische Affectionen des Rückenmarkes und der Rückenmarkshäute. 

Blutungen. Von den auf traumatischem Wege entstandenen Verände¬ 
rungen interessiren uns zunächst die Blutungen, wie sie bald durch Einwir¬ 
kung directer Gewalt (Fall, Stoss auf die Rückengegend) oder auch indirect 
(Sprung auf die Füsse, Heben einer schweren Last) zu Stande kommen können. 
Eine Reihe von Autoren sind der Ansicht, dass Gefässerkrankungen bei dieser 
Genese keine wesentliche Rolle spielen. 

Die Blutungen finden sich: 

1. zwischen Wirbel und dura mater; 

2. nach innen von der dura im Arachnoidealsack (Hämatorrhachis, 
Apoplexia canalis spinalis); 

3. als Meningealapoplexien im Gewebe der weichen Häute. 

Da die sub 1 und 2 erwähnten zu hervorstechenden Symptomen kaum 
Veranlassung geben, weil ihre Bedeutung hinter derjenigen der übrigen Com- 
plicationen (Wirbel-, Rückenmarksläsionen) zurücktritt, und andererseits nur in 
den seltensten Fällen eine extradurale Blutung so mächtig werden kann, dass 
sie Compressionserscheinungen des Rückenmarks erzeugt, wenden wir uns zu 
der sub 3 erwähnten Meningealapoplexie, die, wie nochmals bemerkt, 


□ igitizkd by Got >gle 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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auch durch indirecte Gewalt hervorgerufen und aus Gefässen mit normaler 
Wandbeschaffenheit erfolgen kann. 

Im Gegensatz zu den Blutungen in die Rückenmarksubstanz selbst (siehe 
nnter Hämatomyelie) mit den vorwiegenden Lähmungserscheinungen, findet man 
hier in erster Linie Reizerscheinungen seitens der Rückenmarkshäute und der 
Nervenwurzeln, welche natürlich in Intensität und Vielgestaltung von den 
quantitativen und localen Verhältnissen des Blutergusses abhängen müssen. 
(Spinalschmerz, Steifigkeit der Wirbelsäule, am deutlichsten über dem Sitz des 
Blutergusses, irradiirende Schmerzen, Parästhesien, reflectorische Muskelspasmen, 
Blasen-, Mastdarmstörungen u. s. w.). 

Diagnostisch wichtig ist: 

1. das plötzliche, apoplektische Auftreten, rasche Entwicklung der Sym¬ 
ptome nach meist schnellem Verschwinden des Shock; 

2. der eigenthümliche Verlauf, bedingt durch das Anwachsen des Blut¬ 
ergusses, die entzündliche Reaction und Resorption des Ergusses. 

Prognose. Vollständige Restitutio ist möglich (Leyden, Hitzig), wofern 
nicht besondere Complicationen seitens des Rückenmarks, dessen Betheiligung 
meist erst aus dem weiteren Verlauf festgestellt werden kann, gegeben sind. 

Schindlek (M. U. 1896) macht darauf aufmerksam, dass gerade die 
leichten Fälle diagnostisch sehr wichtig seien, indem der centrale Ur¬ 
sprung der Schmerzen oft verkannt wird (Rheumatismus, Muskelzerrung), und 
durch eine unangebrachte active Therapie (Massage, Elektricität), wie in zwei 
von ihm beobachteten Fällen gesehen, erhebliche Verschlimmerung des Zu¬ 
standes mit irreparablen Paresen herbeigeführt werden können. 

Ebenso wie Blutungen in andere Organe sind auch Blutungen in die 
Meningen ein locus min. resist., an welchem ein im Körper kreisendes Krank¬ 
heitsgift sich festsetzen und weiter entwickeln kann. Neben dem auch hier 
geltenden Causalnexus von Trauma zu Tuberkulose und Syphilis (s. u.) er¬ 
innern wir nur an eine Beobachtung von Freund (M. U. 1894, 3), nach 
welcher durch Sturz auf den Rücken zunächst eine Meningealapoplexie und 
später eine Vereiterung des Blutergusses durch Influenzagift erfolgt ist. 

Meningocele spuria traumatica spinalis. Nach Analogie der trauma¬ 
tischen Meningocelen am Schädel hat zuerst Linigeb (M. f. U. 1895, 2) 
nach schwerer Gewalteinwirkung in der Rückengegend entstandene, cysti- 
sche, mit dem subduralen Raum communicirende, also mit Liquor cere¬ 
brospinalis gefüllte Geschwülste an verschiedenen Abschnitten der Wirbelsäule 
beobachtet; sie gehen mit mehr oder weniger ausgesprochenen Erscheinungen 
spinaler Reizung auf motorischem und sensiblem Gebiet einher. Ein vierter Fall 
ist neuerdings von Schanz (M. f. U. 1897, 2) mitgetheilt. Die Grösse der 
Geschwulst ist natürlich sehr variabel und hängt, abgesehen von sonstigen 
Eigenthümlichkeiten der Verletzung vor allem von Sitz und Grösse der Riss¬ 
stelle in den Rückenmarkshäuten ab. 

Während die Diagnose der grösseren Spinalmeningocelen bei Berücksich¬ 
tigung des Entstehungsmodus, Sitz im Verlauf des Wirbelcanales, Fluctua- 
tion, Vorwölbung bei Husten, Verkleinerung bei Druck kaum Schwierigkeiten 
begegnen wird, können bei kleineren die objectiven Symptome der cystischen 
Geschwulst sehr undeutlich sein, zumal bei Ueberlagerung durch eine dicke 
Weichtheilschichte, ein Umstand, der zur Vorsicht bei Beurtheilung der so 
häufigen und diagnostisch oft dunklen Fälle von Rückenverletzungen mahnt. 

Unter den drei von Liniger beobachteten Fällen ist in zwei wieder voll¬ 
ständige Erwerbsfähigkeit eingetreten, während im dritten die Meningocele 
stationär geworden ist. 

Meningitis spinalis erfordert keine besondere Besprechung. 

Myelitis traumatica. Dass sich an Compressionen, Zerreissungen, 
Quetschungen, intramedulläre Blutergüsse Myelitiden anschliessen können, 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


wird allseitig anerkannt. Ihre Symptomatologie ergibt sich aas der Höhen- 
localisation und Ausdehnung im RUckenmarkquerschnitt unter Berück¬ 
sichtigung der anatomischen physiologischen Verhältnisse ohne weiteres von 
selbst; ebenso sind aus der pathologischen Anatomie die verschiedenen 
Stadien im Verlauf der Resorption eines hämorrhagischen Herdes (rothe, 
gelbe Erweichung, Vernarbung durch derbes fibröses Gewebe, Bildung einer 
grösseren Cyste oder eines von grösseren und kleineren Cysten durchsetzten 
porösen Gewebes) bekannt genug. Unter andern beschreibt Buschan (A. S. Z. 
1895, 21) einen instructiven Fall von multiplen myelitischen Herden 
(disseminirte Myelitis) traumatischen Ursprungs. 

Erschütterung, Commotio. Wir subsummiren hier jene Fälle, bei welchen 
eine Gewalt direct oder indirect auf die Wirbelsäule einwirkt und sich durch 
die intact gebliebenen Hüllen auf das Rückenmark fortpflanzt. 

Das pathologisch anatomische Substrat für die häufig zu beobachtenden 
schweren Spinalsymptome sind besonders für jene Erscheinungen, die nicht 
sofort nach dem Unfall, sondern erst im Verlauf der folgenden Stunden ein- 
treten, Blutungen, andererseits sind im ersten Shock letal verlaufene Fälle 
mit vollständig negativem Obductionsbefund bekannt, während in anderen 
Fällen infolge von Rückenmarkserschütterung diffuse, pseudosystematische 
Degenerationen sich entwickelten, die sich unmöglich als Folgezustände von 
Blutungen auffassen lassen. Zur Erklärung dieser Fälle kommt man jetzt 
wieder auf die bereits von Ollivieb vertretene Annahme moleculärer Verände¬ 
rungen zurück; eine Bestätigung derselben scheint besonders in den neuesten 
Experimenten von Schmaus, Watson, Bickeles gegeben zu sein, die an erst 
längere Zeit nach experimenteller Rückenmarkserschütterung getödteten 
Kaninchen schwere structurelle Veränderungen der Nervenfasern, Ganglien¬ 
zellen, Erweichungsherde u. s. w. nachweisen konnten, im Gegensatz zu dem 
Mangel palpabler Veränderungen bei den gleich nach stattgehabter Erschütte¬ 
rung getödteten Kaninchen. 

Tritt auch häufig eine vollkommene oder fast vollkommene Heilung ein, 
so wird man doch bei Unfallgutachten in Fällen schwerer Erschütterung, 
trotz des vielleicht momentan günstigen Zustandes an die Möglichkeit einer 
später hinzutretenden Myelitis, secundärer Degeneration, diffuser Strang¬ 
erkrankung denken müssen, wie überhaupt eine einigermaassen abge¬ 
schlossene Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit nach Verletzun¬ 
gen der Wirbelsäule und des Rückenmarks in der Regel erst 
1—1*4 Jahre nach dem Unfall ermöglicht ist. 

Hämatomyelie. Die Blutungen in die Rückenmarksubstanz, intramedul¬ 
läre Blutungen, sind theils blutige Infiltrationen (hämorrhagische Erweichung) 
theils sogenannte Röhrenblutungen (Hämatomyelie), welche in ihrer eigen¬ 
artigen Verbreitung durch die Structur des Rückenmarks bedingt sind und 
nach den experimentellen Untersuchungen von Goldscheideb und Flatau 
vorwiegend in derjenigen Richtung stattfinden, wo sie nicht durch Bündel 
weisser Markfasern gehindert sind. Der Centralcanal dient der Flüssigkeit 
nicht zur Verbreitung. 

Die Frage nach dem Sitz der Blutung im Rückenmark selbst kann nur 
mit Wahrscheinlichkeit beantwortet werden, da die Localisation der die ein¬ 
zelnen Muskelgruppen versorgenden Innervationscentren im Rückenmark noch 
nicht hinreichend sichergestellt ist. 

Die Diagnose stützt sich: 

1. auf den plötzlichen Beginn analog dem plötzlichen Eintreten einer 
Hirnapoplexie, 

2. auf die schnell zur Höhe sich entwickelnden Erscheinungen einer 
unzweifelhaften Rückenmarkslähmung, in ihrem Grad nach Sitz und Aus¬ 
breitung der Blutung wechselnd und sich wieder steigernd nach wenigen 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


827 


Tagen durch das Hinzutreten der entzündlichen Reactionsvorgänge seitens 
der Rückenmarksubstanz, 

3. intensive Spinalschmerzen durch Compression der hinteren Wurzeln 
oder directe Läsion des Hinterhorns oder auch excentrisch als Gürtelschmerz, 
partielle Empfindungslähmung des Schmerz- und Temperaturgefühls, wie bei 
Syringomyelie, bedingt durch centrale Verbreitung der Blutung (Minor). 

Syringomyelie, MoRVAN’sche Krankheit. Weniger geläufig als die trau¬ 
matische Genese der Hämatomyelie ist die der Syringomyelie. Während 
Leyden noch in seiner neuesten Bearbeitung der Rückenmarkskrankheiten 
(1895) die einzige und alleinige Ursache der Syringomyelie in angebore¬ 
nen Anlagen sieht und speciell hinsichtlich des Traumas bemerkt, dass ein 
Beweis für den ursächlichen Zusammenhang dieser Schädlichkeit mit Syringo¬ 
myelie bis jetzt noch fehlt, sind andererseits in der letzten Zeit aus der 
Unfallpraxis eine Reihe von Fällen bekannt geworden, in welchen nach 
der ganzen Sachlage mindestens ein indirecter Zusammenhang zwischen 
Trauma und Syringomyelie angenommen werden muss (Hitzig, Strümpell, 
Wichmann, Hofmann, Lähb). 

I. Kann ein Trauma direct zur Syringomyelie führen? 

Ohne auf die verschiedenen Hypothesen von Langhaus, Leyden, Schlesinger näher 
einzngehen, wollen wir uns hier nur kurz vergegenwärtigen, dass der syringomyelitische 
Process von dem den Centralcanal anskleidenden Ependym ausgeht, welches von einer 
Stelle ans sich in eine gliöse Wucherung um wandelt, sei es nach Art eines Tumor oder 
einer diffusen Neubildung oder eines Infiltrates, woraus sich die vielfachen (Modificationen 
im klinischen Verlauf ja zur Genüge erklären. Diese Neubildung, wie wir es zunächst 
einmal nennen wollen, erstreckt sich theils gegen die Hinterhörner, theils gegen die Vorder¬ 
hörner und bat eine ausgesprochene Neigung zum Zerfall, zur Bildung von Höhlen, welche 
gewöhnlich, nachdem sie eine Zeit lang neben dem Centralcanal bestanden, mit letzterem 
verschmelzen. Nach unseren bisherigen Auffassungen über die Beziehungen zwischen 
Trauma und Tumor (s. u.), die man besonders für gliöse und gliomatöse Wucherungen 
schon seit geraumer Zeit anerkannt hat (Gerhardt, Oppenheim), ist es gewiss a priori nicht 
unwahrscheinlich, dass embryonale Glianester neben dem Centralcanal im Rückenmark 
unter Einwirkung eines Traumas zu weiterer Wucherung mit nachfolgender Höhlenbildung 
veranlasst werden können. Im Verlauf von reparatorischen Vorgängen bei traumatischer 
Hämatomyelie oder traumatisch myelitischen Herden, besonders, wenn dieselben mit Ver¬ 
wachsungen der Rückenmarkshäute einhergehen, welche als Verdickungen für die schrumpf¬ 
ende Glia gewissermaassen einen festen Punkt abgeben und das Zustandekommen von 
Höhlen in analoger Weise begünstigen, wie pleuritische Schwarten dasjenige von Bronchi- 
ectasien im cirrhotischen Lungengewebe, kann es zu gliöser Wucherung und Höhlenbildung 
im Rückenmark mit einem der Syringomyelie durchaus ähnlichen Symptomencomplex kommen 

« . Ferner steht nach den experimentellen Arbeiten von Eichhorst und Naunyn 
,ss auch diese traumatisch bedingten Spalten- und Höhlenbildungen im Rückenmark 
ausgesprochen progressiven Charakter annehmen können. Eine sehr instruc- 
tive Beobachtung hat neuerdings Bawli mitgetheilt, indem er neben Blutfarbstoff - Meta¬ 
morphosen noch Knochensplitter am Rand der Höhlenbildungen im Lendenmark und am 
conus in der Höhe der alten Wirbelfractur constatirte und dadurch den exacten Beweis 
für den ursächlichen Zusammenhang der syringomyelitischen Höhlenbildung mit den durch 
den Unfall veranlassten primären Veränderungen erbrachte. 

Bawli hebt u. a. als Eigenthümlichkeiten der primär traumatischen 
Syringomyelie hervor: 

1. Localisation der hauptsächlichsten Krankheitserscheinungen in den 
unteren Extremitäten, häufiges und frühzeitigeres Auftreten von Blasen- und 
Mastdarmstörungen, weil die Verletzungen meistens die Lenden- und untere 
Brustwirbelsäule treffen und weniger die Halswirbelsäule, während bei nicht 
traumatischer Syringomyelie vorzugsweise das Halsmark afficirt ist. 

2. Häufiges Vorkommen von vollkommenen Anästhesien (infolge der bei 
traumatischer Syringomyelie bevorzugten Höhlenbildung in den Hintersträngen). 

ü. Trauma bei einer bereits bestehenden Syringomyelie. 
Hieher gehört die Mehrzahl der bis jetzt publicirten Fälle, für welche die 
Bezeichnung traumatische Syringomyelie nicht mehr passt. Wie die Beob¬ 
achtungen von Lähr, Schultze, Bernhardt u. A. illustriren, sind bei Prüfung 
dieser Frage hauptsächlich die bei Syringomyelie so häufigen osteo- und arthro- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


pathischen Processe von Belang, die im Gegensätze za den analogen Vor¬ 
gängen bei Tabes hauptsächlich die oberen Extremitäten befallen, wo schon 
bei einer gleichsam noch physiologischen, die normalen Functionsansprüche 
an die Bewegungsorgane nicht überschreitenden Thätigkeit unter Ausbleiben 
schmerzhafter Empfindungen die genannten Störungen als erste Krankheits¬ 
zeichen bemerkt werden, was nicht Wunder nimmt, da man auch aus der 
ärztlichen Erfahrung ausserhalb der Unfallspraxis weiss, dass die spinale Gliose 
Jahre lang vollständig latent verlaufen kann, bis das Auftreten von Muskel¬ 
atrophien oder aber äussere Verletzungen den Kranken zum Arzt und damit 
erst zur Entdeckung der Krankheit führen. Schültze erblickt für seinen 
Fall, der einen Bäcker betrifft, welcher beim Teigkneten einen Bruch des 
rechten Oberarmes, linken radius acquirirte, auf welche Verletzungen er ledig¬ 
lich durch das schlaffe Herabhängen der betreffenden Extremitäten aufmerk¬ 
sam wurde, bei der Abwesenheit eines anatomischen Befundes an den be¬ 
züglichen Knochen die nächste Ursache nicht so sehr in einer Ernährungs¬ 
störung der Knochen, als vielmehr in der Einwirkung der (weil von dem 
Kranken wegen seiner syringomyelitischen Sensibilitätsstörungen unterschätzten) 
zu brüsken und energischen Muskelcontractionen. Gegebenen Falles kann 
der Nachweis von zahlreichen oft erheblichen Hautnarben älteren Datums, die 
schon Jahre vorher durch schmerzlose Ulcerationen entstanden, die Existenz 
des Leidens schon vor dem Unfall beweisen. Entschädigungspflichtig ist der 
Unfall deswegen doch, da nach Entscheidung des R. V. A. vom 10. October 
1895 auch für die Syringomyelie ein ätiologischer Zusammenhang mit einem 
Unfall anzunehmen ist, wenn die früher vorhandene Erkrankung durch den Un¬ 
fall manifest, d. h. eine deutliche Verschlimmerung des Zustandes, bestehend 
in Verminderung, respective Aufhebung der früheren Erwerbsfähigkeit, ein¬ 
getreten ist. Erwähnt sei hier noch bei der Frage nach der eventuellen Ver¬ 
schlimmerung des Leidens durch traumatische Einflüsse die GßAF’sche Zu¬ 
sammenstellung, nach welcher sich bei Männern erheblich mehr syringomye- 
litische Knochen- und Gelenkaffectionen finden, als bei Frauen (26:8), ein 
Verhältnis, das der Betheiligung der beiden Geschlechter an dieser Krankheit 
(2 :1) nicht entspricht und nur daraus sich erklärt, dass die Männer in höhe¬ 
rem Grad äusseren Schädlichkeiten exponirt sind als die Frauen. 

HI. Syringomyelie im Anschluss an periphere V er letz ungen. 
In einigen Fällen (Eulenburg, Thiem) konnte als Bindeglied zwischen peri¬ 
pherem Trauma und Rückenmarkserkrankung eine ascendirende Neuritis vom 
locus laesionis aus nachgewiesen werden, welche im Rückenmark zunächst 
zu consecutiver Poliomyelitis mit subsequenter Höhlenbildung Veranlassung 
gegeben haben soll, in anderen Fällen glaubte man reflectorische oder vaso¬ 
motorische Einflüsse supponiren zu müssen. 

Im Gegensatz zu Brasch und Sänger, welche die Entstehung der Syringomyelie nach 
peripheren Verletzungen als ganz unwahrscheinlich halten, vertritt Wichmann (M. f. U. 
1897, 6), wie uns scheint mit Hecht, die Ansicht, dass für die Ärztliche Begutachtung die 
Möglichkeit des sub III erwähnten Entstehungsmodus nicht ohne weiteres von der Hand 
gewiesen werden kann, so lange trotz der zaMreichen experimentellen Arbeiten auf diesem 
Gebiete die Frage noch strittig ist. Im gleichen Sinne äussert sich auch Lähr (Charite- 
Annalen XX.). 

Für die Diagnostik wird man, abgesehen von der auch bei Syringo¬ 
myelie stets zu erwägenden Möglichkeit einer Ueberlagerung durch 
Hysterie berücksichtigen müssen, dass auch bei traumatischer Hysterie 
ganz ähnliche Empfindungsstörungen Vorkommen, wie bei Syringomyelie und 
dass bei Complication von progressiver Muskelatrophie mit Hysterie ein 
Symptomencomplex resultiren kann, welcher der Syringomyelie zum Ver¬ 
wechseln ähnlich sieht (Leyden). 

Multiple Sklerose. Das Trauma als ätiologischer Factor wurde be¬ 
reits 1871 von Leube (Arch. f. klin. Med. VIII) erwähnt, unter Mittheilung 
eines anatomisch untersuchten Falles, wo sich im Anschluss an einen Sturz 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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auf den linken Unterschenkel in der gleichseitigen linken unteren Extremität 
Schwäche, schleppender Gang und bereits nach mehreren Monaten die sicheren 
Symptome multipler Sklerose entwickelten. 

Nach den Arbeiten von Kaiser nnd Jutzler, in deren Zusammenstellung allerdings 
Fälle aufgeführt sind, in welchen zwischen Trauma und den ersten sicheren Krankheits¬ 
zeichen eine Reihe von Jahren liegen, hat Mendel (Deutsche medicinische Wochenschrift 
1897, 7) vier beweisende Fälle mitgetheilt, und weitere nahezu gleichzeitige Beobachtungen 
stammen aus der GERHARDT’schen Klinik von Blumreich & Jacoby (eod 1897, 28). 

Je nach der Localisation des Krankheitsprocesses tritt der cerebro¬ 
spinale oder spinale Typus auf. 

Zwecks Erklärung des näheren Zusammenhanges erinnert Mendel, wenn er auch 
zugibt, dass eine völlige Uebereinstimmung, ob der Ausgangspunkt des sklerotischen 
Processes in den Gefässen in der Neuroglia oder in der Nervensubstanz zu suchen sei, noch 
nicht erzielt ist, besonders an die anatomischen Befunde, die in frischen Fällen der Erkrankung 
bis jetzt constatirt wurden (Goldscheider, Williamson, Ribbert), nach welchen Circulations- 
störungen den Ausgangspunkt des Processes zu bilden scheinen. Nach der GussENBAUER’schen 
mechanischen Theorie von der Wirkung der Erschütterungen der Wirbelsäule auf die 
Cerebrospinalflüssigkeit können nach einem Unfall ganz analoge Alterationen des Gefäss- 
inhaltes und der Circulation zu Stande kommen, wie die durch die oben erwähnten Autoren 
in Fällen nicht traumatischen Ursprungs constatirten. Möglicherweise kommt auch noch 
eine congenitale oder erworbene (nach Infectionskrankheiten) Disposition mit zur Wirkung. 
Das vorzugsweise Auftreten der sklerotischen Flecke in der weissen Substanz erklärt sich 
aus der Gefässanordnung, indem wegen der Endarterien in der weissen Substanz bei unter 
dem Einfluss einer stattgehabten Erschütterung des Organs sich entwickelnden Stasen und 
Blutungen hier ein Ausgleich in der Blutversorgung weniger leicht ermöglicht ist. Mobli 
stellt nicht das physikalisch-mechanische, sondern das chemische Moment in den Vorder¬ 
grund, er hält unter Hinweis auf die Beziehungen zwischen multipler Sklerose einerseits 
und Infectionskrankheiten und chronischen Intoxicationszuständen andererseits auch hier 
eine durch das Trauma gesetzte Veränderung des Stoffwechsels um so plausibler, als 
Strümpell solche bereits für die functioneilen Unfallnervenkrankheiten in dem Auftreten 
der alimentären Glycosurie (s. o.) nachgewiesen hat. 

Diesen durch das Trauma direct verursachten Fällen von Sklerose und 
den Beobachtungen von Gowers, dass eine disseminirende Sklerose sich an eine 
acute oder subacute Herdmyelitis traumatischen Ursprungs anschliessen kann, 
reihen sich jene Fälle an, in welchen durch den Unfall eine ungünstige 
Beeinflussung resp. volle Ausbildung der bereits vorher schon vor¬ 
handenen Rückenmarksaffection bewirkt wird. Die Entscheidung der Frage 
nach dem Erheblichkeitsgrade des Einflusses der traumatischen Schädlichkeit 
ist, wie in allen derartigen Fällen, zunächst davon abhängig, ob der Ver¬ 
unfallte, obwohl bereits krank, bis zu dem Unfall noch arbeitsfähig war. Für 
den Nachweis sind besonders gewisse initiale Symptome, wie Schwindel, 
unsicherer Gang, von Wichtigkeit, da sie leicht einen Unfall veranlassen 
können. 

Differentialdiagnostisch kommt wieder die Hysterie in Betracht, 
ln einem Fall Mendel’s (Contusion von Kopf und Rücken) entwickelte sich 
bei einem bis dahin vollständig gesunden Menschen unmittelbar an den Unfall 
anschliessend ein Symptomencomplex, den Mendel bei dem Mangel eines 
objectiven Befundes für einen hysterischen hielt, bis nach Ablauf eines halben 
Jahres die bekannten classischen Erscheinungen der multiplen Sklerose auf¬ 
traten. Auch bei der klinischen Analyse vorgeschrittener Fälle hat man sich 
zu vergegenwärtigen, dass die Sklerose en plaques mit Hysterie zwei wichtige 
Züge gemein hat, nämlich die oft so merkwürdige Combination von Sym¬ 
ptomen, welche einen systemlosen, anatomisch unzusammenhängenden Cha¬ 
rakter zeigen können, und den Wechsel der Kranhheitszeichen, Umstände, die 
gerade bei der für beide Nervenkrankheiten möglichen traumatischen Ent¬ 
stehungsweise von Bedeutung sind. 

Tabes traumatica. In der Aetiologie des Tabes findet man schon 
seit längerer Zeit des Trauma Erwähnung gethan, ohne jedoch, diese Be¬ 
ziehungen genauer präcisirt zu haben. 

Klemperer ist 1890 an der Hand eines statistischen Materials nnd gestützt auf 
eigene Beobachtungen für die traumatische Genese der Tabes entschieden eingetreten. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Da sich die Tabesfälle seiner Ansicht nach meistens nach Quetschungen oder Knochen¬ 
brüchen mit ausgedehnten Weichtheilzerreissungen entwickeln, also nach Verletzungen, 
in welchen schwere Schädigungen peripherer Nerven nicht auszuschliessen sind, nimmt er 
für die Entstehung des tabischen Processes die Vermittlung einer von der Verletzungsstelle 
ausgehenden Neuntis ascendens an. Auch Leyden halt gerade vom Standpunkt der 
moiernen Neuronlehre die traumatische Entstehung der Tabes nicht unwahrscheinlich, 
indem es für die ärztliche Vorstellung ganz plausibel sei, den Ausgangspunkt der Er¬ 
krankungen in der Peripherie zu suchen, wo das Nervensystem so mannigfachen Schäd¬ 
lichkeiten ausgesetzt sei. 

In einer sehr beachtenswerten Monographie hat Hitzig zur Frage der traumatischen 
Tabes Stellung genommen und die KLEUPERER'sche Ansicht nach dem anatomischen Befund 
der bis jetzt untersuchten Fälle als nicht stichhältig bezeichnet. Hitzig, welcher den 
Beginn der Erkrankung in die Spinalganglien verlegt und in der grauen Degeneration der 
Hinterstränge nur den Ausdruck einer secundären Faser Veränderung sieht, empfiehlt ebenso 
wie Sänger (M. f. U. 1897) unter kritischer Besprechung der KLEMPERER’schen Zusammenstellung? 
bei Zurückführung von Tabes auf Trauma grosse Vorsicht. Unter Hinzufügen von zwei 
Fällen kommt er zu der Ansicht, dass immerhin einwandfreie Beobachtungen, allerdings 
nicht in erheblicher Zahl, bestehen, welche zwar kein typisches, für die traumatische 
Tabes lediglich zu construirendes Krankheitsbild bieten, in welchen aber doch der Zu¬ 
sammenhang zwischen Tabes und Trauma ein auffallender und continuirlicher war, irgend 
welche andere schädliche Einflüsse sich nicht constatiren Hessen und die ersten Er¬ 
scheinungen der Tabes schon kurze Zeit nach dem Trauma und häufig, aber nicht aus¬ 
nahmslos, zuerst in dem verletzten Theil beginnen, während Moebius im Verfolg der 
FouRNiER-ERB’schen Ansicht betreffend der Beziehungen zwischen Syphilis und Tabes dem 
Trauma jegliche ätiologische Bedeutung abspricht. 

Auch die von Hitzig selbst neuerdings aufgestellte Hypothese, nach welcher dem 
Trauma nur die Rolle einer Gelegenheitsursache zur Entwicklung der Tabes in einem 
durch verschiedene, früher bereits zur Einwirkung gekommene Noxen (Toxine über¬ 
standener Infectionskrankheiten) geschädigten und dadurch vorbereiteten Nervensystem 
zukommt, scheint, wie auch Leppmann unter Berücksichtigung der unzweifelhaft fest¬ 
gestellten, oft raschen Einwirkung von durch das Trauma gesetzten Schädlichkeiten 
gegenüber der meist sehr langsamen Entwicklung (z. B. bei SyphiHs) hervorhebt, nicht 
erschöpfend genug; eine allgemein gütige Erklärung für den Causalnexus kann nach dem 
gegenwärtigen Stand der Lehre von der Tabesätiologie bis jetzt noch nicht gegeben werden. 

MortonPrince, Bernhardt fordern für die Diagnose: traumatische 
Tabes, abgesehen von der Erbringung des st rieten Nachweises, dass weder 
kurz vor, noch nach dem Unfall Tabes bestanden, nicht nur die Abwesenheit 
aller anderen Schädlichkeiten, welche als ätiologische Momente der Tabes eine 
Bolle spielen (besonders Syphilis), sondern auch eine bestimmte Intensität 
des Traumas, das seiner Natur nach einen erheblichen physischen oder psy¬ 
chischen Eindruck hat machen können (nicht aber z. B. eine mässige Con- 
tusion), sowie endlich das Manifestwerden der Erkrankung in annehmbarer 
Zeit nach dem Unfall, also etwa innerhalb des ersten Jahres. 
Beobachtung Hitzigs: 

47jähriger, bis zu dem Unfall vollständig gesunder Mann, keinerlei nachweisbare 
Ursachen für Tabes; nach Sturz auf die linke Körperseite Distorsion des gleichseitigen 
Fusses und Bruch des linken Radius. Drei Wochen nach dem Trauma Gefühl von 
Pelzigsein und EingeBchlafensein in den linken Extremitäten, lancinirende Schmerzen, 
kurze Zeit später atactische Symptome; sechs Monate nach dem Unfall Blasen-, Mastdarm¬ 
störungen, fortschreitende Zunahme der bekannten Tabessymptome, die ihren Sitz vor¬ 
nehmlich in den beiden verletzten Hnksseitigen Extremitäten in einem solchen Grad 
hatten, dass der Verletzte überhaupt keine Ahnung von der auch auf der anderen Seite 
vorhandenen Erkrankung besass. 

Von analogen Fällen echter traumatischer Tabes sind jene unverhältnis¬ 
mässig häufigeren zu trennen, welche durch den Unfall nur eine acute Ver¬ 
schlimmerung erfahren und in denen bis zu dem Trauma noch vollständige 
Erwerbsfähigkeit bestand; 

Dass letztere überhaupt möglich, zeigen die Mittheüungen von Sänger, Bernhard, 
Frick. Anamnestisch sind neben den Frühsymptomen (lancinirende Schmerzen, Parästhesien, 
leicht eintretende Ermüdbarkeit der Beine, Erhöhung des Bauch- und epigastrischen 
Reflexes (Bechterew, Ostankow), Unempfindlichkeit der nn. ulnar, u. tibial. gegen 
Druck oder Beklopfen, Unempfindlichkeit gegen Muskeldruck (Fehlen des normaliter durch 
ein Zusammenquetschen des entspannten Wadenmuskels mit den Fingern hervorzurufenden 
Schmerzes u. ähnl.), noch die visceralen und besonders die gastrischen Krisen zu berück¬ 
sichtigen und ferner ähnlich wie bei Syringomyelie (s. o.) noch die bekannte Neigung zu 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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osteo-, respective arthropathischen Processen, die oft schon za den ersten Tabessymptomen 
gehören (Tillmaun’s) and darch auffallend geringfügige Veranlassungen aasgelöst werden. 

Mendel ist der Ansicht, dass das Trauma als solches nicht allein oder 
überhaupt nicht im Stande ist, den tabischen Process in seinem Verlauf zu 
beschleunigen, sondern dass vielmehr die äusseren Bedingungen, welche durch 
dasselbe gesetzt werden, die alleinige Schuld oder Hauptschuld tragen. Dazu 
gehört vor allem eine durch die Art des Traumas (Verletzungen der Beine z. B.) 
bedingte lange Bettruhe, indem es eine genügsam bekannte Erfahrungstat¬ 
sache ist, dass Tabetiker, welche durch von der Tabes unabhängige Ursache 
zu längerer Bettruhe genötigt werden, ihre Beine oft gar nicht oder nur 
mehr sehr schlecht gebrauchen können, wenn sie wieder aufstehen sollen. 

.Poliomyelitis ant. chron.*) spin.; progr. Muskelatrophie. Dass längere 
Zeit anhaltende intensive physische Anstrengungen und speciell übermässige 
Inanspruchnahme gewisser Muskelgruppen, also gewissermaassen chronische 
Traumen zur progressiven Muskelatrophie führen können, ist schon lange 
bekannt. Anders verhält es sich mit einmaligen und besonders peripheren 
Schädigungen, auch wenn sie nicht zu einer palpablen örtlichen Verletzung 
des Rückenmarks führen, mit den acuten Traumen, wie sie in das Bereich 
der Unfallgesetzgebung fallen. 

Die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang mit einem peripheren Traama ist 
erst in der allerjiingsten Zeit wiederholt ventilirt worden; Eulenbürg, Thjem (Sammlung 
kl. Vortr. N. F. Nr. 149) nehmen als vermittelnden Factor auch hier wieder eine ascen- 
dirende Neuritis an, die durch Propagation in die grauen Vorderhörner zur Entartung 
der dort befindlichen grossen motorischen Ganglienzellen führt, während Erb die erste 
Ursache in einer molecularen Erschütterung des Rückenmarks selbst erblickt. Die zur 
Zeit noch offene Frage, ob die Ganglienzellen- oder die Muskelatrophie das Primäre ist, 
welch letztere Ansicht Erb vertritt, wenn er annimrot, dass der Nachlass der nutritiven 
Functionen der Ganglienzellen sich zuerst in der peripheren Ausbreitung der motorischen 
Nerven kenntlich macht, während erst später die charakteristischen Veränderungen in den 
Zellen selbst auftreten, kommt für den praktischen Standpunkt des Gutachters zunächst 
nicht weiter in Betracht. 

In den spärlichen, bis jetzt bekannt gewordenen Fällen progressiver 
Muskelatrophie nach Trauma handelt es sich in der Mehrzahl nicht um eigent¬ 
liche periphere Verletzungen, sondern um Fall, Schlag auf den Kopf, Rücken, 
weshalb die Annahme einer directen Alteration des Centralnervensystems mit 
entsprechenden secundären Degenerationen nicht ausgeschlossen werden kann. 

Hinsichtlich des Einflusses peripherer Verletzungen sind 
meines Wissens bis jetzt nur die Fälle von Ziehen, Thieh, Erb bekannt 
geworden (Schlag aut Brust und Magengegend, Quetschung der Hand, des 
Armes u. s. w.) 

Gegebenen Falles erfährt die traumatische Entstehungsweise eine Stütze, 
wenn andere bekannte Ursachen (Erblichkeit, chronische Intoxicationen, wieder¬ 
holte excessive körperliche Ueberanstrengungen u. s. w.) anamnestisch aus- 
zuschliessen sind, und die Erkrankung ein Individuum betrifft in einem 
Lebensalter, in dem sie sonst nicht aufzutreten pflegt. 

Was den zeitlichen Zusammenhang betrifft, sei daran erinnert, dass man 
auf das anamnestisch festgesetzte Datum des ersten Auftretens der Symptome 
nur wenig Gewicht legen kann, weil die progressive Muskelatrophie während 
der ersten Monate und oft auch über ein Jahr vollständig latent verläuft, 
thatsächlich bereits Kranke noch vollständig erwerbsfähig sein können und 
höchstens über rascheres Ermüden klagen. In den beiden ERB’schen Fällen 
(XXII. Wanderversammlung südwestdeutscher Neurologen und Irrenärzte) 
traten die ersten Krankheitssymptome schon zwei bis vier Wochen nach statt¬ 
gehabtem Trauma auf (poliomyelitis ant. lumbalis mit ihren charakteristischen 
Symptomen nach Fall auf das Gesäss, poliomyelitis ant. cervicalis nach star¬ 
ker Zerrung beider Arme). 


*) Ueber begrenzte Muskelatrophien siehe unter sog. reflectorische Muskelatrophie. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Bei Würdigung des Verlaufes der Erkrankung ist zu berücksichtigen, 
dass nach Beobachtungen von Leyden, Hayem, Seligmülleb die sogenannte 
essentielle Kinderlähmung zur späteren Entwicklung einer spinalen progres¬ 
siven Muskelatrophie mit atypischer Localisation, monolateralem Auftreten 
der Atrophie u. s. w. disponirt, indem sie eine '.dauernde Alteration der 
Ganglienzellen zurücklässt, welche oft viel ausgedehnteren Umfang hat als 
man bei Berücksichtigung der schliesslich zurückbleibenden paretischen Er¬ 
scheinungen an den Extremitäten erwarten sollte. Bei solcher Sachlage ist ein 
Aufflackern des scheinbar abgeschlossenen Krankheitsprocesses nach Hinzutritt 
einer entsprechenden traumatischen Noxe sicher nicht von der Hand zu 
weisen. 

Franke (M. f. U. 1898, 3) theilt einen Fall von Poliomyelitis 
anterior acuta nach Unfall mit, der nicht blos durch die Acuität des Ver¬ 
laufes, wofür bis jetzt in der Unfallpraxis keine Beobachtung vorlag, aus¬ 
gezeichnet ist, sondern auch durch die Combination mit einseitiger Facialis- 
lähmung, die, wie überhaupt die Betheiligung der Hirnnerven an der Polio¬ 
myelitis antorior bekanntlich selten vorkommt und als Kernlähmung analog 
der Aifection der Vorderhornzellen aufzufassen ist. 

Goldberg (B. kl. W, 1898, 12) beobachtete nach Fall auf das Ges&ss ans 3 Meter 
Höhe nach wenigen Monaten die ansgesprochenen Erscheinungen der amyotrophiachen 
Lateralsclerose. Unmittelbar nach dem Unfall nur Schmerzen, die nach dem Knie ans¬ 
strahlen, und Schwächegefühl in der unteren Extremität der verletzten Seite. Wegen feh¬ 
lender objectiver Erscheinungen Anfangs Verdacht der Simulation, bis nach) 5 Monaten 
Atrophie der gleichseitigen Wadenmuskulatur, Fass- und Patellardonus, spastisch-paretischex 
Gang etc. etc. auftraten. 

Rückenmarksläsionen nach plötzlicher Verminderung des Luftdruckes 
(Caissonlähmung). Unter Hinweis auf die als bekannt vorauszusetzende 
Lehre von den sogenannten Luftdruckerkrankungen im Allgemeinen, aus deren 
Literatur wir hier die Arbeiten von Hoppe-Seyler, Bert, Dräsche (Oester. 
Sanitätswesen 1896, Nr. 15), Heller, Mayer, v. Schrötter (Deutsche 
med. Wochenschr. 1897, Nr. 24 ff.), v. Wenüsch (Wr. kl. Wochenschr. 
1896, Nr. 34), Balser’s und unsere eigenen Sectionsbefunde bei ver¬ 
unglückten Caissonarbeitern (Ztschr. f. Md. Beamte 1898, 13) hervorheben 
wollen, müssen wir uns an dieser Stelle auf die Erwähnung der Thatsache 
beschränken, dass neben Störungen in anderen Körperorganen auch im Central¬ 
nervensystem und vorzugsweise im Rückenmark krankhafte Veränderungen 
sich entwickeln bei Arbeitern, die unter Atmosphärenüberdruck gearbeitet, 
wie dies in der Caissontechnik pneumatischer Fundirung üblich ist und bei 
zu kurz bemessener Ausschleussungszeit, sobald sie aus dem Caisson in die 
freie Luft heraustreten, einer jähen Verminderung des Luftdruckes (Decom- 
pression) ausgesetzt unter einer Reihe von mehr oder weniger gefährlichen 
Zufällen, allgemeinen Erscheinungen seitens des Nervensystems, psychischen 
Störungen in Form von passageren Verwirrtheitszuständen auch an apoplek- 
tischen Erscheinungen mit Bewusstseinsverlust und sich daran anschliessenden 
Lähmungen mit dubiöser Prognose erkranken. 

Das Reichsversicherungsamt in Berlin ist in einer Entscheidung vom 5. April 1897 
einem von Fürstnbr in einem Fall von Caissonlähmung, welche durch zu frühes Verlassen, 
des Ausschleusseraumes herbeigeführt wurde, abgegebenen Gutachten beigetreten und hat 
aus der zu früh durch den Vorarbeiter vorgenommenen Ausschleussung der Arbeiter eine 
Betriebsstörung hergeleitet, wodurch die Caissonkrankheiten nicht mehr als Berufs* oder 
Gewerbekrankheiten, sondern als entschädigungsberichtigte Unfälle im Sinne des Unfall¬ 
gesetzes anzusehen sind. 

Das klinische Bild der Caissonlähmung entspricht meistens einer spa¬ 
stischen Paraplegie des Dorsalmarkes mit oder ohne Betheiligung der Hinter¬ 
stränge. Seltener ist ein tabischer Symptomencomplex, der nach dem Ver¬ 
schwinden der anfänglichen Paraplegie zurückbleibt, oder spastische Monoplegie 
eines Beines von längerer Dauer. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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Die ersten anatomischen Untersuchungen eines derartig erkrankten Rückenmarks 
rühren von Leyden und Schultze her. Der LEYDEN’schen Ansicht, dass es sich um Zer- 
reissungen oder Spaltbildungen in der Marksubstanz handle, welche durch das plötzliche 
Freiwerden von Gasblasen aus Blut- und Plasmafiüssigkeiten bedingt sind, ist in letzter 
Zeit besonders Hoche (Berl. kl. Wochenschrift 1897, 22) entgegengetreten, der die Rftcken- 
marksveränderungen als ischämische Erweichung der weissen und grauen Substanz, ent¬ 
standen durch Verstopfung der Endarterienäste durch Gasembolien auffasst. Die Ver¬ 
keilung der Gasembolien auf die einzelnen Abschnitte des Centralnervensystems ist zum Theil 
vom Zufall abhängig. Der mit einer gewissen Gesetzmässigkeit auftretende Haupttypus 
der Erkrankung, die dorsale Paraplegie, verdankt seine Entstehung gerade in dieser Form 
bestimmten gesetzmässigen Eigentümlichkeiten in der Anordnung der Blutgefässe des 
Rückenmarkes. In neuester Zeit haben v. SchröttEh, Mayer, Heller in der HL medicinischen 
Klinik zu Wien an zahlreichen experimentell decomprimirten Hunden genaue Unter¬ 
suchungen des Centralnervensystems angestellt und Nekrosen der grauen und weissen 
Substanz mit subsequenter Höhlenbildung gefunden, also im Wesentlichen eine Bestätigung 
der HocHB’schen Auffassung. 

IV. 

Traumatische Affectionen des peripheren Nervensystems. 

Im Gegensatz zu den organischen und functioneilen Erkrankungen des 
Centralnervensystems nach Trauma erheischen die traumatischen Affectionen 
des peripheren Nervensystems nur eine weniger eingehende Besprechung. 
Die periphere Nerven treffenden traumatischen Schädigungen bewirken im 
Wesentlichen bald Krampfzustände, Contracturen in den versorgten Muskel¬ 
gruppen, bald Lähmungen, Neuralgien oder Neuritiden. Je nach Intensität 
und Sitz des einwirkenden Trauma können sie bald auf ein Nervengebiet, 
eine bestimmte Muskelgruppe, oder auf einen einzelnen Muskel beschränkt 
und isolirt Vorkommen, bald entwickeln sich die Störungen in einem 
grösseren Umfang, indem auch die anscheinend verschont gebliebenen Nerven 
und ihre Gebiete meist eine gewisse Schwäche zeigen, durch welche sie sich 
in ihren Functionen deutlich von den entsprechenden Muskeln der unver¬ 
letzten Seite unterscheiden, oder die Störungen treten, wie dies zum Beispiel 
von den Lähmungen der Schulter- und Armnerven bekannt ist, in verschieden¬ 
artigen Combinationen und Gruppirungen auf, so dass die wechselndsten 
Krankheitsbilder entstehen (DucHENNE-ERB’scher, KLUMP’scher Typus u. s. w.), 
bald liegt eine totale Plexuslähmung vor, bald eine partielle, die sich nur 
auf zwei oder drei Nerven zusammen erstreckt, bei Unversehrtheit der übrigen 
Plexustheile. 

Es kann sich hier nicht darum handeln, aus der speciellen Neuropatho¬ 
logie eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung aller hier eventuell 
in Betracht kommenden Vorkommnisse mit ihren Folgezuständen zu geben, 
sondern wir müssen uns begnügen, nur einige wenige kurz hervorzuheben. 

Was zunächst die Krampfzustände im Gebiete einzelner motori- 
scherNerven betrifft, so sei das von ScHULTZE-Bonn angeführte im Anschluss an 
ein Trauma der Wadengegend in der dortigen Muskulatur auftretende eigen¬ 
tümliche Muskelwogen (Myokymie) erwähnt. 

Einen ähnlichen Symptomencomplex beschrieben als Myoclonus 
fibrillaris multiplex Jolly, Kny bei zwei Patienten nach Stoss in die 
Leistengegend: clonische fibrilläre Zuckungen mit continuirlichem Wogen und 
Wallen der Wadenmuskulatur, während sich die übrige Muskulatur der un¬ 
teren sowie die der oberen Extremität nur wenig afficirt zeigte. 

Delorme berichtet im Anschluss an eine Contusion der Oberschenkelmuskulatur über 
einen am Ort der Verletzung localisirten Krampf der Beugemuskeln, die man beim Gehen 
fest zusammengezogen fühlte, während die Streckmuskulatur schlaff blieb. Beim Ueber- 
gang des Unterschenkels aus der Beuge- in die Streckstellung während des Gehactes wird 
der erstere in vollständige Streckung geschleudert mit einem Ruck, der sich der ganzen 
betreffenden unteren Extremität mittheilt und Schmerzen im Kniegelenk verursacht 
(Genou ä ressort, schnellendes Knie). 

Im Bereich des Nervus accessorius werden isolirt auftretende, nur 
die Musculi sternocloidei mastoidei et cucullares befallende Krämpfe beobachtet, 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Med. 53 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN 


in anderen Fällen combiniren sich solche Krämpfe mit analogen Zuständen 
der Hals- und Übrigen Nackenmuskeln, so dass es unter Umständen schwer 
werden kann, bei den durch die combinirte Thätigkeit verschiedener Muskeln 
hervorgebrachten Wendungen und Drehungen des Kopfes den Grad der Be¬ 
theiligung eines einzelnen Muskels mit Sicherheit festzustellen. 

Durch Fall auf den Kopf, Stoss in den Nacken etc. entstehen die unter 
dem Namen Spasmus mutans beschriebenen Krämpfe, welche meist die 
tiefen Nackenmuskeln, die Kopfnicker und die tiefen, vorderen Halsmuskeln 
doppelseitig befallen und das pagodenartige, oft nur wenige Male in der Minute 
wiederkehrende, oft aber auch ungemein häufig während dieser Zeit erfolgende 
Kopfnicken bewirken (Bernhardt). 

Nussbaum und Seligmüller berichten über krampfhafte Contractur der Mnscnli pecto- 
rales, s&mmtliche Flexoren des Ober-Vorderarmes und der Hand nach Einwirkung einer 
stumpfen Gewalt in der Genickgegend. Heilung nach Dehnung der vier unteren Hals¬ 
nerven. 

Dass bei der diagnostischen und prognostischen Beurtheilung 
der Lähmungen einzelner Nerven neben elektrischer Untersuchung auch eine 
sorgsame Prüfung der cutanen Sensibilität von Wichtigkeit ist, 
ergibt sich u. a. schoD aus der Thatsache des Vorkommens hystero-trauma- 
tischer Lähmungen, besonders an den oberen Extremitäten nach Trauma bei 
nervös prädisponirten Individuen (s. o. traumatische Hysterie). Des Weiteren 
wird man sich auch an das bei Lähmungen der nn. radial, u. median, nicht 
selten vorkommende Fehlen jeder Sensibilitätsstörung erinnern. LetiErant 
hat zuerst diesen überraschenden Gegensatz im Verhalten von Motilität und 
Sensibilität als sensibilitö rdcurrente oder supplöe beschrieben und 
als vikariirende Sensibilität, Ersatzinnervation des einen Nervenbezirkes durch 
einen anderen Armnerven erklärt. Indessen findet sich nach Bernhardt 
gerade bei tieferen Medianuslähmungen das umgekehrte Verhalten, also trotz 
erheblicher Modificationen der elektrischen Erregbarkeit wenig geschädigte 
Motilität gegenüber den tiefen Störungen der Sensibilität. 

Unter den traumatischen Neuralgien, wie sie z. B. nach Quet¬ 
schungen auftreten, die erfahrungsgemäss um so leichter neuralgische Be¬ 
schwerden herbeiführen, je peripherischer die Läsion und je kleiner und feiner 
die verletzten Aestchen und Zweige, kommen Ischias, Intercostalneuralgien 
(nach Rippenbrüchen), ferner Cervicobrachialneuralgien am häufigsten vor. 
Bei den letzteren sind hauptsächlich der an der Umschlagstelle am Oberarm 
relativ frei liegende Nervus radialis und der Nervus ulnaris betheiligt, weniger 
der unter den Weichtheilen besser geborgene Nervus medianus. 

Die Unterscheidung von einfachen traumatischen Neuralgien (d. h. solchen 
ohne besondere anatomische Veränderung der Nerven) von den durch neu- 
ritische Processe bedingten, ergibt sich meist nicht schwer aus dem Umstand, 
dass die Formen mit schweren Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen, ausgedehnten 
vasomotorischen und secretorischen Begleiterscheinungen vorzugsweise nur 
bei den nachweisbar entzündlichen mit Degeneration einhergehenden Ver¬ 
änderungen im betreffenden Nerven selbst Vorkommen, nicht aber bei den 
leichteren Fällen, denen nur die sogenannte neuralgische Veränderung der 
Nerven (Moebius) zu Grunde liegt. Was in diesem Zusammenhang speciell 
die Störungen im Gebiet des n. ischiadicus betrifft, so betrachtet Brno 
(Z. F. N. IX) erhebliche Abschwächung resp. vollständiges Fehlen des 
Achillessehnenreflexes als Zeichen für nenritis ischiadica; Reflexsteigerung 
kann zwischen Neuralgie und Hysterie schwanken lassen. Dumstrey (M. U. 
1896, 8) berichtet über Fälle, in welchen nach erlittenen und gut geheilten 
Traumen sehr heftige Schmerzen bestehen blieben, ohne dass auch nur der 
geringste objective Befund vorhanden wäre. Als Ursache ist die locale Ein¬ 
wirkung eines Traumas auf ein durch chronischen Alkoholismus geschwächtes 
Nervensystem anzunehmen („traumatische Potatoren-Neuralgie“). 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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Bei Verdacht auf Simulation (z. B. bei Abwesenheit jeglicher objec- 
tiver Kriterien, zu denen auch die reflectorischen Spasmen in der benach¬ 
barten Muskulatur zu rechnen sind) kann Erweiterung der Pupille auf der 
betroffenen Seite, ferner speciell bei Intercostalneuralgien die constante Stei¬ 
gerung der Bauchreflexe auf der befallenen Seite (Seligmüller), bei trau¬ 
matischer Ischias das Verhalten des gleichseitigen Achillessehnenreflexes 
(Bernhardt, Babinsky), sowie des Glutaealreflexes (ausgebreitete rhythmische 
Zuckungen bei Druck auf die Gefässmuskulatur der kranken Seite, Joffroy’s 
phenomöne de la hanche), ferner die von Minor beschriebene Bewegungs¬ 
probe bei ischias (D. m. W. 1898, 23) zur Klärung des Falles verwertet 
werden. 

Von anderen Neuralgien erwähnen wir Neuralgia phrenica nach 
heftigem Schlag gegen die Herzgegend (Falkenberg), Neuralgia sper- 
matica nach Stoss gegen die Schamgegend (Benda), Hackenschmerz 
(Tarsalgie, sogenannte MoRTON’sche Krankheit), ferner die Coccygodynie (s. u.), 
Achillodynie, deren Symptomencomplex darin besteht, dass Gehen und Stehen 
durch heftigen Schmerz unerträglich wird, während Sitzen und Liegen schmerz¬ 
frei ist. In den meisten Fällen ist die letztere Erkrankung nur ein rein 
symptomatisches Leiden (Wiesinger, Rosenthal, Dittmar, bei Er¬ 
krankungen des Calcaneus, der bursa subachillea, Neuromen im retrotendinösen 
Raum), im Gegensatz zu den wenigen einwandfreien Fällen, in welchen die 
Bezeichnung Neuralgie gerechtfertigt ist. 

Parästhesien im Gebiete des Nervus cut. fern, externus traten in 
einer (Eigen-)Beobachtung Naecke’s auf, bei welcher das ätiologische Moment, 
das Trauma (Zerrung des Nerven in der Tiefe des Beckens beim Vortreten 
mit dem Fuss) klar zu Tage trat (MENDEL’sches Centralblatt 1895). 

In der Aetiologie der Neuritis steht an erster Stelle das Trauma. 
Doch sind es je nach der Art der Verletzung zwei verschiedene Ursachen, 
welche die traumatische Entzündung der Nerven bewirken. In einem Fall 
haben wir die Verletzung nur als Eingangspforte für die die Entzündung 
hervorrufende Infection zu betrachten, und nach unseren modernen Anschau¬ 
ungen über Wundverlauf und Infection können wir eine offene Verletzung 
eines Nerven nur dann als Ursache einer Neuritis gelten lassen, wenn der 
Verlauf der Verletzung sich nicht aseptisch gestaltet hat. Hiemit stehen 
auch in Uebereinstimmung die experimentellen Prüfungen von Käst und 
Rosenbach, sowie die in der letzten Zeit publicirten wertvollen Beobach¬ 
tungen von Krehl. Diese Neuritiden nach inficirten Wunden (septische Neu¬ 
ritis Kölliker’s) treten als ascendirende und descendirende auf, wobei die Aus¬ 
breitung des Processes von dem Sitz der Verletzung aus atypisch und chronisch 
schleichend erfolgt; sie haben ferner grosse Tendenz zu Recidiven, noch 
grössere zur Chronicität und neigen vor Allem in charakteristischer Weise 
zu wandern (Neuritis migrans), wobei oft mehrere Hautäste unbetheiligt 
sind, so dass die Sensibilitätsstörungen in ihrer Verbreitung 
nicht genau dem Verbreitungsbezirk der betroffenen Nerven- 
stämme entspricht. 

Was den Verlauf derselben betrifft, so treten unter den bekannten 
Symptomen einer solchen Neuritis eines gemischten Nerven (Neuritiden rein 
motorischer oder rein sensibler Nerven brauchen wohl kaum speciell berück¬ 
sichtigt zu werden) zuerst die Sensibilitätsstörungen auf und meist erst später 
die motorischen Erscheinungen (Reizung, Lähmung, Atrophie), wobei die ver¬ 
schieden lange Dauer der Zeit zwischen Anfangserscheinungen und dem Trauma 
bemerkenswert ist. Trophische und vasomotorische Störungen treten erst 
relativ spät auf (glossy skin, tiefe Schrundenbildungen an der Stelle der Ver¬ 
letzung, Rissigkeit der Haut u. s. w.). Naunyn machte zuerst in einem Fall 
von Neuritis traumatica auf eine bisher noch nicht beobachtete Erscheinung, 

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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


nämlich das auffallend rasche Verschwinden von Tätowirungsfiguren am be¬ 
fallenen Arm, bald nach dem Auftreten der Neuritis beginnend, aufmerksam, 
während am anderen Arm die Tätowirungen unverändert weiter bestanden. 

Die Prognose kann im Einzelfall bei dem oft unberechenbaren Verlauf 
der Erkrankung quoad restitutionem nicht mit Sicherheit gestellt werden. 

(Die Bedeutung der ascendirenden Neuritis für die Entstehung von 
Rückenmarkskrankheiten nach peripheren Traumen s. o.). 

Bei der anderen Reihe von Fällen spielt das mechanische Moment Com- 
pression, Contusion mit verschiedengradiger Zerstörung der Nervenelemente 
die Hauptrolle; hier handelt es sich um meistens localisirt bleibende degene- 
rative und regenerative Processe an den Nerven, find wenn auch heftige Schädi¬ 
gungen der Nerven bei solchen subcutan wirkenden Gewalten ab und zu zu voll¬ 
ständiger und irreparabler Degeneration des betroffenen Nerven führen können, 
so entspricht es doch mehr der Regel, dass selbst ausgedehnteren Degene¬ 
rationsprocessen am Nerven bei diesen Formen eine Regeneration und voll¬ 
ständige restitutio ad integrum folgt. 


V. 

Traumatische Affectionen des Bewegnngsapparates. 

Reflectorische Muskelatrophie, Muskelcollaps. Abgesehen von Muskel¬ 
rupturen, -hernien ist von den durch traumatische Einflüsse bedingten Ver¬ 
änderungen des Muskelparenchyms zunächst die reflectorische Muskel¬ 
atrophie zu nennen (einfache Atrophie des Muskels ohne Entartungs- 
reaction, häufig aber nicht immer mit Steigerung der Reflexerregbarkeit, oft 
verbunden mit myasthenischer Reaction (Jolly) und Verlagerung der soge¬ 
nannten motorischen Punkte (Bernhardt), wie sie nach Verletzungen der 
Gelenke und besonders häufig der unteren Gliedmassen auftritt, und zwar 
nicht nur am Ort der Läsion oder dessen nächster Nähe, sondern es betheiligt 
sich an der Atrophie gewöhnlich die Muskulatur des ganzen Gliedes, wobei 
auch die vasomotorischen Störungen, Cyanose der Haut an der verletzten 
Extremität, weit über den Sitz der Verletzung hinaus reichen können. Bei 
lange Zeit bestehendem Muskelschwund muss natürlich auch eine Veränderung 
der statischen Verhältnisse eintreten, wobei besonders hinsichtlich der Be- 
nrtheilung des Grades der Erwerbsfähigkeit Folgezustände, wie 
z. B. Spitzfuss, Hackenfuss, Beckenneigungen, zu berücksichtigen sein werden. 

Man hat früher solche Atrophien insgesammt einfach als functioneile 
Inactivitätsatrophien aufgefasst, obwohl entgegen allen anderen Erfahrungen 
über Inactivitätsatrophien trotz regelmässiger und angestrengter Arbeit der 
Zustand stationär bleibt und in sicher beobachteten Fällen die Atrophie 
schon so kurz nach der Verletzung begann, dass von einer derartigen Wirkung 
der Inactivität kaum die Rede sein kann. 

Es währte ziemlich lange, bis die von Paget-Vulpian zuerst inaugurirte Reflex¬ 
theorie Anerkennung fand. Ohne auf die historische Entwicklung der bezüglichen medi- 
cinischen Anschauungen eingehen zu können, erwähnen wir neben den experimentellen 
Untersuchungen von Duplay, Raymond, welche die von Sabourin aufgestellte Theorie der 
Neuritis ascendens widerlegen, da nach ihrem Untersuchungsergebnis ein Fort¬ 
schreiten eines entzündlichen Processes entlang den Nerven stammen in das Rückenmark 
nicht stattfindet, und den Mittheilungen von Hoffa aus dem Jahre 1892, hier speciell den 
von Charcot vertretenen, jetzt ziemlich allgemein anerkannten Standpunkt, dass die 
Gelenkaffection oder die aus einer Verletzung der Gliedmassen resultirenden Folgezustande 
auf dem Weg der gereizten Nerven auf das spinale Centralorgan einwirken und daselbst 
die Centren in ihrer Thätigkeit hemmen, von welchen die motorischen und die der Muskel¬ 
ernährung vorstehenden Nerven ausgehen. In neuester Zeit hat Klippel structurelle Ver¬ 
änderungen im Rückenmark (Atrophie zahlreicher Nervenzellen in den Vorderhörnern der 
grauen Substanz) als Ursache der in Frage stehenden Veränderungen in der MuBkelsubstanz 
betrachtet. 

Caspari (A. f. U. I), der in Uebereinstimmung mit der HoRWATH’schen Lehre von 
der Muskelkraft bei normaler Ausdehnung der Muskeln das Zustandekommen von Muskel- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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atrophien infolge von Inactivität für unmöglich hält, hat jüngst ans der GoLEBiewsiu’schen 
Klinik ausgedehnte Untersuchungen (histologische, elektrische mit far&dischem, galvanischem, 
FRANKLiN’schen Spannungsstrom) über den Muskelschwund angestellt. Er macht darauf 
aufmerksam, dass auch das Knochengerüst sich an der Atrophie betheiligen kann, 
wie dies speciell für den Calcaneus schon vorher Golebiewski beobachtete, in Fällen, wo 
die sonst straff gespannte Haut über der Hacke weicher und der Knochen bedeutend 
schmaler als an der gesunden Seite ist. Des Weiteren theilte er als einen bis jetzt noch 
nicht von anderer Seite beschriebenen Befund mit, dass in allen Fällen, in welchen die 
Einwirkung einer Verletzang selbst bei anscheinend umschriebenen Anlässen sich so intensiv 

f estaltete, dass an sämmtlichen Muskeln der betroffenen Extremität der Einfluss des 
rauma sich geltend machte, die Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit nicht blos an 
eben diesen Muskeln nachweisbar war, sondern dass bei Verletzungen des Beines die Herab¬ 
setzung auch am Arm und umgekehrt constatirt werden konnte. In manchen Fällen war 
die Erregbarkeit auch an der Rumpfmuskulatur und im Facialisgebiet vermindert, meist 
mit Abnahme der cutanen Sensibilität. 

Nach den bis jetzt vorliegenden Erfahrungen scheint die Anwendung der 
Influenzmaschine die günstigsten Erfolge zu erzielen. 

Als traumatische Myalgien beschrieben Oppolzer, Runge, Senator 
Krankheitsbilder, welche genau dem acuten Muskelrheumatismus glichen, 
jedoch einem zweifellosen Trauma ihren Urspruug verdanken und zwar nicht 
so sehr directen äusseren Gewalten als vielmehr brüsken Bewegungen des 
Körpers, ungewohnten Muskelleistungen z. B. beim Heben oder Stemmen 
schwerer Gegenstände und Aehnliches. Infolge solcher abnormer Bewegungen 
kommt es zu übermässigen Zerrungen der Muskulatur und Sehnen und wohl 
auch zu Zerreissungen kleinerer Muskelbündel oder auch nur einzelner Fasern 
(Lorenz), eine Annahme, welche zur allgemein herrschenden Ansicht geworden 
ist, obwohl anatomische Befunde derzeit hiefür noch nicht vorliegen. 

Am häufigsten sind die traumatischen Myalgien der Abdominalmuskulatur 
(bes. mm. recti u. des m. ileopsoas.) Die letzteren ähneln bei einseitigem Auf¬ 
treten des Processes oft dem Bild einer Hüftgelenkerkrankung. 

Circum scripte traumatische Muskeldegeneration wurde auf der Al- 
BERT’schen Klinik in Wien von Schnitzler beobachtet (Centralblatt für 
Chirurgie 1895). Diese umschriebene Degeneration und Sequestration einer 
kleinen Muskelpartie durch local begrenzten Druck ist verschieden von der 
diffusen ischämischen Muskellähmung Volkmann’s und Leser’s, bei welcher 
es sich um die Vermischung von Degenerations- und Entzündungsprocessen 
handelt. Bei fortschreitender Degeneration kann es zu völligem Zerfall der 
contractilen Muskelelemente kommen, in späteren Stadien zu Resorption und 
narbiger Schrumpfung, mehr weniger ausgedehnten ringförmigen traumatischen 
Defecten (Winkler M. f. U. 1896, 4), Zustände, für welche Analogien in 
dem caput obstipum von Kindern nach einem beim Geburtsact erfolgten um¬ 
schriebenen Druck auf den Muskel schon von früher her bekannt waren. 

Gelenkmäuse. Nachdem die knarrenden, knackenden, auch knisternden 
Geräusche nach einem die Schulter oder das Kniegelenk treffenden Trauma 
als bedeutungslos anerkannt sind, wenn nicht noch andere berücksichtigens- 
werte Symptome einer Gelenkaffection vorliegen, wenden wir uns, soweit 
traumatische Gelenkleiden in dem vorliegenden Artikel Berücksichtigung finden 
müssen, zu den Gelenkkörpern. 

Neben der Entstehung derselben ohne weitere traumatische Schädigung 
durch krankhafte Processe (Arthritis deformans) mit ihren zerstörenden und 
wuchernden Vorgängen, Verknorpelung und Ablösung von Zotten, Osteochon¬ 
dritis dissecans (König, Riedel, entzündliche Zottenhyperplasien im Gelenk auf 
rheumatischer oder syphilitischer Basis), spielt in der Aetiologie der Gelenkmäuse 
das Trauma eine Rolle, insofern durch dasselbe knorpel- und knochenhaltige 
Stücke abgesprengt werden können, wobei der knöcherne Theil des Sprengstückes 
abstirbt, während der knorpelige seine Vitalität bewahrt, die bei einem gross¬ 
blasigen Knorpel geringer ist als bei einem kleinzelligen. Schüller (A. S. V. Z. 
1896, 4) hebt mit Recht hervor, dass beim Lebenden in geradem Wider- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


sprach zu den Leichenexperimenten oft nur relativ geringfügige, locale Ge¬ 
walteinwirkungen (Fall, Stoss, Schlag) traumatische Gelenkmäuse erzeugen 
können und erklärt dies daraus, dass hier die Verhältnisse (Haltung des 
Gelenkes, Spannung und Feststellung desselben) in einem für die Einwirkung 
direct oder indirect treffender Gewalten besonders günstigen Winkel durch 
die contrahirten Muskeln, eventuell Combination mit forcirten Bewegungen, 
welche für die Entstehung der Gelenkmäuse von besonderer Bedeutung sind 
u. dgl, niemals so einfach sich gestalten wie beim Leichenexperiment. Die 
Lage des Gelenkkörpers und der Grad seiner Beweglichkeit im 
Gelenk ist für die Thätigkeit des Gutachters von grösserer Bedeutung als 
der Umfang des Gelenkkörpers selbst. Derselbe kann nach Einwirkung des 
Trauma zunächst noch an Kapselfetzen oder Bandfasern hängen bleiben und 
sich erst später ablösen, oder das vollständig abgesprengte Stück kommt so 
zu liegen, dass die Knochenoberfläche der Gelenkkapsel anliegt und von hier 
aus vom Bindegewebe durchwachsen wird (gestielte Gelenkkörper), oder die 
Sprengstücke gleiten sofort frei im Gelenke hin und her, bis sie zwischen die 
Gelenkflächen gerathen und direct die Bewegungen hindern. 

Zu erwähnen ist noch, dass auf die durch ein Trauma beschädigten 
Knochentheile besonders leicht entzündungserregende Noxen einwirken können, 
die zufällig in einem Organ im Körper vorhanden sind; ist doch erfahrungs- 
gemäss gerade die Spongiosa der Gelenkenden besonders empfänglich für die 
Localisation von im Blut befindlichen Entzündungserregem. Schüller sah 
bei chronischer Gonorrhoe, z. B. nach einfachen Gelenktraumen auffallend 
starke subacute Entzündung der Synovialis mit Zottenbildung, welche ihrer¬ 
seits wieder unter Bildung von der regressiven Metamorphose angehörigen 
Producten zu Gelenkkörpern führen kann. Auch bei vorbestehender Lungen¬ 
tuberkulose sah Fbänkel nach einer geringfügigen Kniecontusion intensive 
haemorrhagische synovitis des Kniegelenkes auftreten, ohne dass er den 
Nachweis der tuberkulösen Natur dieses Gelenkleidens zunächst erbringen 
konnte. 

Dass ein Trauma auch auf die Löslösung von durch pathologische Pro- 
cesse (s. o.) primär veranlassten resp. vorbereiteten Gelenkkörpern einen un¬ 
günstigen Einfluss haben kann, ist ohne weiteres ersichtlich. 

Spondilitis traumatica (Kümmell). Nachdem Beobachtungen von Schede 
aus den Achtzigerjahren über zunehmende Erweichung von Knochen- 
callus nach Fracturen der Wirbel-, Fusswurzelknochen unbeachtet geblieben 
waren, hat Kümmell (D. m. W. 1895) auf analoge krankhafte Zustände neuer¬ 
dings wieder aufmerksam gemacht und dieselben als Spondylitis trau¬ 
matica beschrieben. Vorzugsweise ist die Brustwirbelsäule Sitz der Erkran¬ 
kung, das veranlassende Trauma kann die Wirbelsäule direct treffen oder ein 
Zusammenknicken des Oberkörpers und damit eine Compression resp. Contu- 
sion von Wirbelkörpern hervorrufen. Nachdem meist auf die ersten Folgen 
des Unfalles ein wochen- oder monatelanges Wohlbefinden gefolgt und die 
Verunfallten bereits schon seit längerer Zeit wieder arbeitsfähig gewesen, 
treten schleichend am Ort der Läsion spontane oder Druckschmerzen auf, 
verbunden mit Intercostalneuralgien, allmählich sich entwickelnder habitueller, 
vornüber und nach einer Seite geneigter Haltung des Oberkörpers (veran¬ 
lasst durch das instinctive Bestreben, die schmerzende Wirbelsäule zu ent¬ 
lasten), motorische Störungen der unteren Extremitäten und dgl. Nach einiger 
Zeit bildet sich mit den compensatorischen Gegenkrümmungen in den benach¬ 
barten Theilen eine ausgesprochene Kyphose mit Gibbus aus („secundäre trau¬ 
matische Kyphose“), die besonders schmerzhaft bei directem Druck und bei 
Stoss in der Richtung der Längsachse der Wirbelsäule ist und auch hinsichtlich 
ihrer Form (rundbogig oder spitzwinklig) keine constanten differentialdiagnosti¬ 
schen Merkmale der tuberkulösen Spondylitis gegenüber zeigt NachHENLE und 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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Hattemer (Beiträge zur klinischen Chirurgie Bd. XX) können sich die secun- 
dären Erscheinungen sehr rasch an die primäre Verletzung anschliessen. 

Kümmell lässt es vorläufig unentschieden, ob in allen Fällen eine durch das Trauma 
veranlasste Wirbelfractur für die zunehmende Erweichung und den fortschreitenden Druk- 
schwund (rareficirende Ostitis), pathologische Resorption der Kalksalze mit grösserer oder 
geringerer Atrophie der Knochenbälkchen im Anschluss an hyperplastische Processe des 
Knochenmarkes (Nielskr, Glawitz) verantwortlich zu machen ist. Kaufmann (M. f. U. 
1895, 6) supponirt für alle Fälle eine Wirbelfractur, welche bei den anfangs oft sehr 
geringfügigen Symptomen leicht der Diagnose entgehen kann; Köniö, der ebenfalls in allen 
Fällen eine Fissur oder Fractur annimmt, erklärt die Deformirung aus der zu frühen 
Belastung des noch weichen Callus, während Mikulicz und Henle (Mittheilungen aus den 
Grenzgebieten von Medicin und Chirurgie, Bd. 1) auch die Annahme einer Fractur zur 
Erklärung des Krankheitsbildes noch nicht erschöpfend erachten. Der letzterwähnte Autor 
nimmt für seine Beobachtung, die sich von der KüMMEL’schen überdies noch durch ihren 
progredienten Verlauf unterscheidet, trophoneurotische Einflüsse seitens des gleich¬ 
zeitig mit geschädigten Rückenmarks an (Compression der Rückenmarksnervenwurzeln und 
Spinalganglien durch Bluterguss etc.) und stützt seine Ansicht auf die Ergebnisse der 
experimentellen Untersuchungen von Goltz, der bei Thieren, welchen Abschnitte des 
Rückenmarks excidirt wurden, die Wirbelknochen des entsprechenden Bereiches auffallend 
morsch gefunden hatte. Weitere Beobachtungen sind von Heidbnhain (M. f. U. 1897, 3) 
Vulpius (eodem 1897, 7) mitgetheilt 

Die Diagnose der Spondylitis traumatica ist vor der Gibbus¬ 
bildung schwer. Verwechslungen mit Hysterie (s. o.) und Simulation sind, 
wie die bezüglichen Mittheilungen von Helfebich, Mikulicz zeigen, nicht 
selten; nach Auftreten des Gibbus kommen differentialdiagnostisch Tumoren, 
tuberkulöse und gummöse Processe der Wirbelsäule, Kyphose nach Osteomye¬ 
litis, Arthritis deformans in Betracht. 

Prognose dubios; Dauer der Erkrankung unberechenbar, da die 
spongiösen Wirbel mit ihrer geringen Periostfläche nur sehr träge Heilungs¬ 
tendenz zeigen. 

Da überhaupt nur Schonung und vollständige Entlastung der Wirbel¬ 
säule (durch Suspension) complete Heilung erzielen kann, ist vor Eintritt 
derselben auch die Erwerbsunfähigkeit eines solchen Patienten als voll¬ 
kommene zu taxiren. 

Dass die in letzter Zeit von Marie und Asti6 beschriebene „Kyphose 
herödo-traumatique “ in Beziehung zu der Spondylitis traumatica (Kümmell) 
gebracht werden kann, erscheint uns schon deshalb sehr zweifelhaft, da in 
dem Fall der erstgenannten Autoren die Kyphose — allerdings nur in gerin¬ 
gerem Grade — bereits vor dem Unfall vorhanden war und im Uebrigen 
auch die Druckempfindlichkeit der Wirbelsäule fehlte. 

DuPUYTBEN’sche Contractur. Aponeurositis palmaris nach Bähb. 
Die Frage nach der Entstehungsursache derselben und speciell, ob ein Trauma 
allein die Erkrankung hervorrufen kann, ist noch nicht völlig geklärt. Analoge 
Processe zu jenen an der Palmarfascie kommen auch an der Fusssohlenfascie 
vor. Ledderhose, der die Verschiedenheit der Erscheinungen an Hand und 
FUSS durch locale anatomische und physiologische Verhältnisse bedingt erklärt, 
nimmt für die Erkrankung in erster Linie traumatischen Ursprung an, 
indem durch Dehnen oder Zerren ein oder mehrere partielle Einrisse der 
Aponeurose entstehen; an den lädirten Stellen entwickelt sich dann hyper¬ 
trophisches Narbengewebe, das später in Atrophie und Schrumpfung verfällt 
und so zu der charakteristischen Begleiterscheinung der Fingercontractur 
Veranlassung gibt. Eulenburg, Golebiewski, Caspabi (A. f. U. I) machen 
auf den neuropathischen Ursprung aufmerksam, ohne damit die die 
Krankheit auslösende Wirkung des Trauma bestreiten zu wollen. In Fällen, 
in welchen sich im Anschluss an die Verletzung eine die Fascie in Mitleiden¬ 
schaft ziehende Phlegmone entwickelt, erscheint die Annahme eines neu- 
ritischen Ursprunges nicht auffällig; auf Grund von zwei genauer publicirten 
Beobachtungen, bei welchen sich im Anschluss an ein Trauma der Wirbel¬ 
säule Aponeurositis an beiden Händen entwickelte, nimmt Caspari (1. c.) an, 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


dass auch spinale Erkrankungen Contracturen der Palmar-Aponeurose ver¬ 
anlassen können. 

Dass das bis zu dem Trauma latent verlaufende Leiden durch das 
Trauma manifest werden kann, ist u. a. von Bähr bereits hervorgehoben, 
der in Uebereinstimmung mit König einer eventuell vorhandenen arthritischen 
Diathese mit sklerotischen Processen an den Arterien als unterstützendes 
Moment für die Entstehung eine gewisse Bedeutung beilegt. 

Traumatische Entzündung der Schleimbentel. Erwähnt sei hier die durch 
den Unfall nicht selten hervorgerufene traumatische Entzündung des 
grossen Trochanteren-Schleimbeutels, da sie, wie schon Hüter- 
Lossen (Lehrb. d. Chir. IU) hervorhebt, differential-diagnostisch von Interesse 
ist, wegen der Möglichkeit einer Verwechslung mit Hüftgelenksentzündung. 
Sie greift meist auch auf die Endabschnitte der am grossen Rollhügel und 
unterhalb desselben sich ansetzenden Muskeln über und ruft nicht unerheb¬ 
liche Functionsstörungen derselben hervor (Thiem, M. f. U. 1895, 5). 

VI. 

Traumatische Affectionen des Gefasssystems. 

Von den traumatischen Affectionen des Gefässsystems inter- 
essiren uns hier nur die Aneurysmen, welche nach traumatischen Schädi¬ 
gungen, wie Contusionen, auch an gesunden, besonders leicht an durch degene- 
rative Processe hiezu vorbereiteten kranken Gefässen entstehen. 

Der Causalnexus zwischen Trauma und Krankheit wird nicht schwer zu 
erkennen sein, wenn bereits wenige Wochen oder Monate nach der Gewalt¬ 
einwirkung die Erscheinungen der aneurysmatischen Gefässdilatation vor¬ 
handen sind. Bei späterem Manifestwerden des Leidens, für das, nebenbei gesagt, 
sich eine bestimmte, den Zusammenhang noch als wahrscheinlich erscheinen 
lassende zeitliche Grenze bis jetzt nicht feststellen lässt, wird man oft nur 
von. der Möglichkeit eines ursächlichen Verhältnisses sprechen können, wenn 
nicht anamnestisch das Auftreten von Schmerzen am Ort der Läsion, die in 
charakteristischer Weise nach der Peripherie ausstrahlen, sich entweder auf 
die Zeit des Unfalls selbst oder doch höchstens auf zwei bis drei Monate 
zurückführen lässt. 

Nicht blos an peripheren, sondern auch an im Innern der Körperhöhlen 
gelegenen Arterien hat man als Folgen stumpfer Gewalteinwirkung Aneu¬ 
rysmen beobachtet (Aortenaneurysma nach schwerer Brustcontusion, Aneu¬ 
rysma der Leberarterie nach Hufschlag gegen den Unterleib u. s. w.). 

Tiiiem hat auf der Unfallabtheilung der Lübecker Naturforscherversammlung (1895) 
die Frage nach der Entsch&digungshöhe der Aneurysmen angeregt. Nach seinem Vor¬ 
schlag hat man bei Aneurysmen der Brust- und Baucbschlagader völlige Erwerbsunfähig¬ 
keit angenommen, da jede einigermaassen anstrengende Thätigkett das Aneurysma rum 
Platzen bringen kann. Bei Extremit&ten-Aneurysmen könne man eher Arbeiten im Sitzen 

f estatten, weshalb man */ a —®/ 4 Invalidität als dem Grad der erlittenen Erwerbebescbrän- 
ung entsprechend angenommen hat. 

In Uebereinstimmung mit experimentellen Ergebnissen deutet Leger 
einen im Anschluss an heftige Brustcontusion zur Entwicklung gekommenen 
acuten Krankheitszustand (Verbreiterung der Dämpfung nach aussen vom 
rechten Sternalrand, H. Intercostalraum starke Subclavia- und Carotidenpulsation, 
unreiner rauher 1. Aortenton, weicher, mässig frequenter Puls) als acute 
Aortitis, die eine vorübergehende Erweiterung des Bogens und der aus 
demselben tretenden Gefässe zur Folge hat. Weitere analoge Fälle sind noch 
nicht bekannt geworden. 

VH. 

Trauma und Infection. 

Während nach unseren jetzigen Vorstellungen das Causalitätsverhältniss 
zwischen äusserer Wunde und der sich an dieselbe anschliessenden Infection 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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ohne weiteres klar ist, wird der Nachweis des Zusammenhanges schon 
schwieriger, wenn Verletzungen subcutan gelegener Theile oder innerer Or¬ 
gane, die je nach ihren structurellen Verhältnissen etc. in dieser Richtung 
ganz erhebliche Verschiedenheiten zeigen, zum Ausgangspunkt infectiöser 
Processe werden. Stern (Zeitschrift für praktische Aerzte 1896, 19) fasst am 
Schluss seiner Erörterungen die hiebei in Betracht kommenden Gesichts¬ 
punkte dahin zusammen, dass 

1. das Trauma Infectionserregem eine Eintrittspforte eröffnen kann 
(W undinfectionen). 

2. Das Trauma kann in einem bereits inficirten Organismus die Wirk¬ 
samkeit der Infectionserreger erst ermöglichen und die Localisation derselben 
bestimmen (Osteomyelitis, ein Theil der sogenannten traumatischen Tuber¬ 
kulosen). Wir erinnern an dieser Stelle an die bekannten ScHüLLER’schen 
Experimente bei tuberkulös gemachten Thieren mit gleichzeitig gesetzten 
Gelenktraumen, welche die Bedeutung mechanischer Einflüsse für die Loca¬ 
lisation sprechend illustriren. 

Frankhausen (cit. Ref. M. F. U. 1898, 8; ein Fall von acuter traumatischer Staphy- 
lomycose) beobachtete bei einem Verunfallten eine complicirte Depressionsfractur am 
Schädel und subcutanen Oberarmbruch, an welchem acute Vereiterung durch Staphylo- 
coccen eintrat, während die Schädel wunde von Anfang nie eine Spur von Entzündungs- 
erscheinun^en zeigte. Die Eitererreger mussten also irgend wo im Körper vorhanden 
gewesen sem und sich dann an der Stelle des Trauma am Oberarm angesiedelt haben. 

3. Das Trauma kann ältere, bis dahin latent gebliebene oder anschei¬ 
nend ausgeheilte Krankheitsherde zu weiterer Ausbreitung veranlassen; z. B. 
Recidiv einer osteomyelitischen tuberkulösen Knochenerkrankung. Unter 
Umständen kann auch die Entstehung einer Allgemeininfection (z. B. acute 
disseminirte Tuberkulose) von dem verletzten, aber bereits vorinficirten 
Krankheitsherd aus ermöglicht werden. 

Wir besprechen hier die drei für die Unfallpraxis wichtigen Infections- 
krankheiten Tuberkulose, Osteomyelitis, Syphilis, während andere 
innere Erkrankungen nach Trauma, bei deren Entwicklung infectiöse Processe 
ebenfalls eine Rolle spielen, unter den traumatischen Affectionen des Hirns, 
der Brust- resp. Unterleibsorgane erwähnt sind. 

Trauma und Tuberculose. Entsprechend der grossen Verbreitung der 
tuberkulösen Processe überhaupt spielen auch unter den Unfallerkrankungen 
die tuberkulösen neben den Nervenerkrankungen die Hauptrolle. Es steht 
dies nicht im Widerspruch mit dem Ergebnis der experimentellen Forschung, 
wonach einerseits, wie oben bereits erwähnt, Traumen Veranlassung zu tuber¬ 
kulösen Herderkrankungen werden, und andererseits lehren bakteriologische 
Erfahrungen, dass neben anderen pathogenen Mikroorganismen besonders der 
Tuberkelbacillus in alten Krankheitsherden, die in klinischem und zum Theil 
anch in anatomisch-pathologischem Sinn als ausgeheilt betrachtet werden 
können, viele Jahre seine Virulenz behalten kann, bis durch ein Trauma und 
die hiedurch gesetzten Gewebsalterationen (Blutungen, nekrotische Processe) 
als hinzutretendes accidentelles Moment von neuem ein günstiges Feld für 
die deletären Wirkungen des Bacillus geschaffen wird. Das Trauma gibt also 
dann den Anstoss zur VerbreituDg der Bacillen, welchen es in dem verletzten 
Körpertheil einen geeigneten Angriffspunkt bereitet. Sind sie hier angelangt, 
so beginnt deren Vermehrung und die Bildung ihres specifischen Productes 
im Körper, des Tuberkelknötchens. 

Dass unter den disponirenden Momenten hereditäre Verhältnisse 
für die traumatischen Tuberkulosen eine bedeutende Rolle spielen, ist nicht 
weiter auffällig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in weit mehr als einem 
Drittel aller Fälle von Tuberkulose hereditäre Belastung nachgewiesen wurde, 
wobei noch viele der Tuberkulose verdächtige Fälle nicht einmal Berücksich¬ 
tigung gefunden. Die Gesichtspunkte, welche sich bei der Beurtheilung von 


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^TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Tuberkulose als Unfall folge dem Gutachter von selbst aufdrängen, sind 
folgende: 1. Bestehen der Erkrankung bereits vor dem Unfall (Verschlim¬ 
merung durch denselben); 2. Entwicklung der Krankheit im Anschluss 
an den Unfall. Auftreten am Ort der Läsion. 

Eine sorgfältige Zusammenstellung der wichtigsten Beobachtungen über Inoculations- 
und Contnsionstuberkulose verdanken wir Guder (Vj. ger. Med. 1894). 

Von den verschiedenartig localisirten tuberkulösen Erkrankungen sind 
die praktisch wichtigeren: 

1. Knochen- und Gelenktuberkulose. Unter den hier in Betracht kom¬ 
menden Traumen liefern Ueberanstrengungen und Distorsionen das Haupt- 
contingent, und zwar sind infolge der durch den complicirten anato¬ 
mischen Bau des Fusses und dessen Function bedingten grösseren Häu¬ 
figkeit der Distorsionen an den unteren Extremitäten auch die tuberkulösen 
Knochen- und Gelenkaffectionen hier häufiger als an den oberen. Wenn auch 
gewiss zuzugeben ist, dass oft von den Patienten derartige Affectionen auf 
Ursachen zurückgeführt werden, die damit in gar keinem causalen Zusammen¬ 
hang stehen, so ist doch andererseits ebenso sicher, dass jedenfalls noch 
häufiger die Gelegenheitsursachen übersehen und wegen ihrer Geringfügigkeit 
nicht genügend gewürdigt werden, so dass man leicht dazu kommen kann, 
die Bedeutung der Gelegenheitsursachen für die Entwicklung der so häufigen 
tuberkulösen Fussgelenk- und Fusswurzelknochen zu unterschätzen. 

Spengler macht darauf aufmerksam, dass nicht selten die von dem Patienten zu 
Grunde gelegte Ursache (Distorsion) bereits Folge der vorbestehenden Krankheit sei resp. der 
durch dieselbe hervorgerufenen Schwäche der betreffenden Extremität; die vermeintliche 
Gelegenheitsursache ist dann nur das Mittel, den latenten und schmerzlosen Verlauf der 
Affection, wie er ja gerade den tuberkulösen Knochenerkrankungen im Initialstadium eigen 
ist, manifest zu machen, indem sie einen acuten Schub des Leidens bewirkt. Dies gilt 
namentlich für jene Fälle, wo mehrere gleichwertige oder verschiedene Traumen nach¬ 
einander die Extremität treffen und wo das erste Trauma Gelegenheitsursache, das Zustande¬ 
kommen der folgenden durch die bereits bestehende Schwäche des Fusses z. B. in hohem 
Grad begünstigt wird. Man kann dann auch deutlich die jeweilige Steigerung der Sym¬ 
ptome nach dem neuen Trauma erkennen. 

Hinsichtlich der Intensität des Trauma ist zu bemerken, dass, wie 
oben bereits angedeutet, auch leichtere Traumen Schädigungen hervorbringen 
können, die zur wirksamen Einwanderung der fast ubiquitären Tuberkelbacillen 
geeignet sind. Ja man hat gerade bei den Knochen- und Gelenktuberkulosen 
den leichten Verletzungen ein entschiedenes Uebergewicht beigemessen und 
es durchaus nicht als erforderlich erachtet, dass die Verletzung äusserlich 
sichtbare Folgen oder unmittelbar schwere Functionsstörungen nach sich 
zieht. Zerreissungen von kleinen Gefässen der Spongiosa, der Synovialmem¬ 
bran, Blutextravasate, seröse Durchtränkung der Gelenkkapsel genügen, um 
den Boden für die Ablagerung des im Blute kreisenden Tuberkelgiftes und für 
seine locale Ausbreitung am Ort der Läsion vorzubereiten, während, wie in 
ganz plausibler Weise von Kbause in seiner Monographie (Tuberkulose der 
Knochen und Gelenke 1891) bemerkt ist, bei starken Verletzungen von 
Knochenbrüchen die Heilungsvorgänge in so energischer Weise verlaufen, 
dass die Tuberkelbacillen nicht gegen die hiebei auftretenden gewaltigen 
Gewebswucherungen anzukämpfen vermögen. 

Was im Speciellen den Infectionsmodus bei den traumatischen 
Knochen- und Gelenktuberkulosen betrifft, so betrachtet König, da sie vor¬ 
zugsweise bereits anderweitig tuberkulöse Individuen befällt, dieselben als eine 
metastatische Tuberkulose, d. h. durch das Trauma wird die Entstehung der 
Metastase gerade an der Stelle seiner Einwirkung gefördert. Tritt Knochen- 
und Gelenktuberkulose als primäre Erkrankung auf, so erfolgt die Invasion 
der Bacillen durch die Schleimhaut des Intestinal- resp. Bespirationstractus, 
ohne dass aber die Eingangspforten selbst irgend welche Erkrankung zu 
zeigen brauchen (Krause). 


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^TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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Der Verlauf, die klinischen Erscheinungen der traumatischen 
tuberkulösen Ostitis und Synovitis unterscheiden sich nicht von dem wech¬ 
selnden Bild des ohne traumatische Gelegenheitsursache zur Entwicklung ge¬ 
kommenen Leidens. 

Hinsichtlich des zeitlichen Zusammenhanges mit dem Trauma ist zu 
berücksichtigen, dass kleine, im Innern des Knochens und von der Ober¬ 
fläche, resp. einem benachbarten Gelenk noch durch eine ziemlich dicke 
Schichte normalen Knochens getrennte ostitische Herde anfangs weder Schmerz 
noch Schwellung noch irgend eine andere Störung zu verursachen brauchen, 
bis erst bei progredienterem Verlauf der Herd näher an die Oberfläche zu 
liegen kommt, und es dann erst möglich wird, durch etwas kräftigen Finger¬ 
druck an den betreffenden Stellen Schmerzen zu erzeugen und so die Existenz 
eines in der Tiefe liegenden ostitischen Herdes mit einer an Sicherheit gren¬ 
zenden Wahrscheinlichkeit festzustellen. In anderen typischen Fällen besteht 
ein continuirlicher Zusammenhang zwischen Verletzung und ausgeprägtem 
Krankheitsbild, nachweisbar durch das Ausbleiben glatter Heilung der Unfalls¬ 
folgen, stetiges Zunehmen der trotz therapeutischer Maassnahmen hartnäckig 
persistirenden Schwellung im Gegensatz zu der begleitenden Muskelatrophie, 
und in 8 bis 10 Wochen nach der Verletzung sind die Erscheinungen nicht 
selten schon unverkennbar. 

Beobachtungen über traumatische Kniegelenktuberkulose (fungus, hydrops) 
unter speciellem Hinweis auf deren sehr chronischen Verlauf bei Personen des 
kräftigen und höheren Alters, um die es sich in der Unfallpraxis meist han¬ 
delt, haben u. a. König, Kaufmann (M. f. 1895, 6) Fübringer, Schütz, mit- 
getheilt. 

Eine noch grössere Bedeutung als für die Aetiologie der genannten 
Knochen- etc. Tuberkulosen hat das Trauma (Heben, Tragen schwerer Lasten, 
Fall auf das Gesäss u. s. w.) bei der Tuberkulose der Wirbelkörper 
mit ihrer sehr schwammigen Structur, die bei ihrem ausserordentlich chro¬ 
nischen Verlauf oft lange Zeit bestehen kann, bis objective Veränderungen an 
der Wirbelsäule manifest werden und als deren einzige Erscheinung oft nur 
locale und im Bereich der Intercostalnerven ausstrahlende, an Intensität 
wechselnde Schmerzen jahrelang bestehen können, die aber diagnostisch um 
so grössere Bedeutung haben, wenn sie bereits unmittelbar nach dem Unfall 
an der gleichen Stelle angegeben wurden. Bei dieser Sachlage ist der be¬ 
stimmte und einwandfreie Nachweis des Causalitätsverhältnisses oft mit grossen 
Schwierigkeiten verknüpft. Bei der forensischen Beurtheilung wird 
man mit besonderer Vorsicht verfahren müssen, besonders bei Beantwortung 
der Frage, inwieweit die Wirbelsäule nicht schon vorher tuberkulös war, 
da aus bekannt gewordenen Beobachtungen zur Genüge hervorgeht, dass 
Menschen mit weit ausgedehnten cariösen Zerstörungen mehrerer Wirbel nicht 
nur keine Beschwerden zu haben brauchen, sondern sogar noch erhebliche 
Strapazen mit Belastung der Wirbelsäule zu ertragen vermögen. Grawitz 
erwähnt in seinem Bericht über Tuberkulose in der preussischen Armee 
einen Fall von enormer cariöser Zerstörung der Wirbelsäule, welche den 
Mann nicht verhindert hatte, noch acht Tage vor seinem Tode Dienst zu thun, 
welche auch in der letzten Zeit keine Erscheinungen hervorgerufen hatte, 
vielmehr sich nur durch metastatische acute Miliartuberkulose der Lungen 
und Pia bemerkbar machte. 

Rieder (D. m. W. 1898, 6) hat die praktische Bedeutung der Caries der Synchon- 
drosis sacro-iliaca nach Trauma hervorgehoben; die Synchondrosencaries im 
Anschluss an Contusion der Lumbal- und Sacralgegend kann langdauernde und unbestimmte 
Schmerzen verursachen, welche die betreffenden Kranken in den Verdacht der Simulation 
bringen können. Als charakteristisch für das Leiden hebt der genannte Autor, neben 
Schmerzen in ausgesprochenen Fällen Druckempfindlichkeit und Knochenverdickung und 
besonders die Atrophie der betreffenden unteren Extremitätenmuskulatur hervor, gegen¬ 
über dem Kreuzschmerz bei traumatischer Neuralgie der nn. clunium z. B. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN) 


Speciell die Beziehungen zwischen vorbestandener Phthise der Lungen 
und traumatisch veranlasster Knochen- resp. Gelenktuberkulose betreffend ist 
zu bemerken, dass nach einem Erkenntnis des R. V. A. Anspruch auf Renten¬ 
gewährung nicht besteht, wenn die letztere zur Zeit des Todes noch weit von 
jenem Stadium entfernt ist, in welchem sie das Leben bedrohen kann. 

Differential-diagnostisch kann für Wirbelcaries u. a. die KüMMELL’sche 
Spondylitis traumatica, Rhachialgie in Betracht kommen. (Siehe die betreffen¬ 
den Capitel.) 

2. Tuberkulose der Meningen. Nachdem von den älteren Autoren sich 
Niemeyer-Seitz und Huguenin bereits dahin ausgesprochen, dass in einigen 
Fällen das Trauma mit dem Beginn der Hirnhauttuberkulose in so evidentem 
Zusammenhang steht, dass ihm eine veranlassende Rolle kaum abzusprechen 
sei, ist in der letzten Zeit durch Beobachtungen von Beol, Salis, Becker, 
Schilling etc. die Bedeutung des Trauma im besagten Sinne noch weiter 
hervorgehoben worden. Ob die Ausbreitung der Tuberkulose auf die Meningen 
von einem kleinen, latent gebliebenen tuberkulösen Herd in deren nächster 
Umgebung (Schädelknochen) oder auf metastatischem Weg durch Einschwemmen 
der Tuberkelbacillen in die Blutbahn von einem an einer anderen Körper¬ 
stelle gelegenen Herd spontan oder durch die mit dem Trauma verbundene 
Körpererschütterung erfolgt, kann natürlich nur durch exacte anatomische, 
resp. histologische Untersuchung des Einzelfalles entschieden werden. 

Dürck and Stern halten den zuletzt angeführten Infectionsmodus besonders in 
jenen Fällen für wahrscheinlich, in welchen die tuberkulöse Meningitis nach allgemeinen 
Körpererschütterungen oder nach Traumen, welche tuberkulöse Knochen, beziehungsweise 
Gelenke betreffen, zum Ausbruch gelangt. 

In praktischer Verwertung der BAUMGARTEN’schen Untersuchungsergeb¬ 
nisse hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung der Tuberkelknötchen, welche 
uns bekanntlich gezeigt, dass nach Infection der Vorderkammer des Kaninchen¬ 
auges die Entwicklung der Tuberkelknötchen vier Tage nach Invasion 
der Bacillen beginnt und am elften Tag bereits vollkommen ausgebildete 
Epithelioidzellentuberkel vorhanden sind, sind wir berechtigt, in allen Fällen, 
in welchen eine tuberkulöse Hirnhautentzündung unmittelbar oder einige 
Stunden nach einem Trauma zum Ausbruch kommt, einen ursächlichen Zu¬ 
sammenhang beider mit Sicherheit auszuschliessen. Die schweren cerebralen 
Krankheitserscheinungen beginnen erst Ende der zweiten Woche nach dem 
Trauma. 

Einen beweisenden Fall hat Hilbert (Berl. kl. Wchschr. 1891) mitgetheilt: Ausser 
Mattigkeit nach Erholung aus der durch den Schlag auf den Kopf verursachten Betäubung 
zunächst keine Beschwerden; am dritten Tag unbestimmte Symptome, Kopfschmerzen, 
Erbrechen. Am neunten Tag noch keine Zeichen, welche auf eine schwere Erkrankung 
hindeuteten; erst am elften Tag pathognostische Symptome (Abducenslähmung etc. etc.). 

Bei der tuberkulösen Entzündung der Spinalmeningen ist der langsame 
und schleichende Verlauf derselben hervorzuheben. Wegen der Anfangs nur 
sehr unbestimmten Symptome ist zu Beginn der Erkrankung, wie die von 
Leyden (Archiv f. Psych. VIII) und mir (Vj. f. ger. Med. 1895) veröffent¬ 
lichten Fälle zeigen, Verwechslung mit functionellen Nervenerkrankungen 
nicht ausgeschlossen. 

3. Lungentuberkulose. Ihre traumatische Entstehung ist erst in den 
letzten Jahren Gegenstand eingehenderer wissenschaftlicher Besprechung ge¬ 
worden. Zwar finden sich in der älteren Literatur bereits Mittheilungen, 
dass nach Brustverletzung Lungenphthise entstanden sei, indessen entbehren 
diese spärlichen älteren Beobachtungen des nöthigen Beweismaterials, um die 
Frage nach der traumatischen Genese mit Erfolg discutiren zu können. 
Mendelssohn (Ztschr. f. klin. Med. X) hat aus der LEYDEN’schen Klinik 
unter dem Namen „traumatische Phthise“ eine Reihe hieher gehöriger 
Fälle publicirt und erklärt sich das Zustandekommen der Erkrankung durch 
das Trauma in der Weise, dass Continuitätstrennungen der Lungen den bis 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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zu einem gewissen Grad ubiquitären Tuberkelbacillen den Zutritt zum Innern 
der Lungen eröffnen; in den durch das Trauma hervorgerufenen Blutungs¬ 
und Entzündungsherden sieht er noch weitere, die Entstehung der Krankheit 
begünstigende Momente. 

Neben Lacher (Friedreichs Blätter 1891) hat besonders Guder im Anschluss an ein 
von ihm erstattetes Gutachten die bis jetzt vorhandene Casuistik zusammengestellt. Unter 
kritischer Sichtung des gesammten Materials hat Stern in seinem mehrfach citirten Werk 
über die traumatische Entstehung innerer Krankheiten als erster die für einen Causal- 
zusammenhang zwischen Trauma und Krankheit sprechenden Gesichtspunkte eingehend 
erörtert, und wenn er auch für die MENDELSsoHN’schen und jACCOUD’schen Fälle die Wahr¬ 
scheinlichkeit einer traumatischen Genese zugibt, so hält er doch zur einwandfreien Fest- 
Stellung, dass ein Trauma bei einem vorher gesunden Menschen die Entstehung von 
Lungentuberkulose hervorrufen kann, noch weitere exacte, abgeschlossene Beobachtungen 
nothwendig, da für keinen der hisher bekannt gewordenen Fälle ein einheitliche ärzliche 
Beobachtung von Beginn der Erkrankung an vorliegt. Der jüngst von Schräder (Berl. 
klin. Wochscbr. 1897, 46), aus dem Knappschaftslazareth Könieshütt mitgetheilte Fall kann 
nach unserem Ermessen als hinreichend beweiskräftig angesehen werden. 

Was die Art der Verletzungen betrifft, so sind es, abgesehen von 
den tuberculösen Lungen- resp. Pleuraerkrankungen, wie sie Scholz und 
Mendelssohn nach perforirenden Brustwunden beschrieben und die in dem 
Bahmen dieser Arbeit keine eingehendere Berücksichtigung finden können, 
hauptsächlich Lungenverletzungen bei Brustcontusionen und aus ser- 
gewöhnlichen Anstrengungen (Heben, Tragen etc.), kurz körperliche 
Leistungen, welche Gefässzerreissungen und Blutergüsse in den Lungen ver¬ 
anlassen können. Dass der Sitz des Leidens speciell der Stelle der Ver¬ 
letzungen entsprechen müsse, ist, nach Analogie der traumatischen Lungen¬ 
entzündung, entgegen der Ansicht von Schkadeb u. A., nicht nothwendig. 

Für den gerichtlich-medicinischen Nachweis des Causalnexus 
kommt zunächst der Zustand der Lungen in der ersten Zeit nach der 
Verletzung in Betracht, als deren wichtigstes Symptom die sofort oder kurze 
Zeit, spätestens aber einige Tage nach dem Trauma auftretende Haemoptoö 
genannt werden muss. Existiren über denselben für eine spätere Begut¬ 
achtung keine detailirteren ärztlichen Angaben, so kann ein ursächlicher Zu¬ 
sammenhang nicht mehr als genügend erwiesen angesehen werden und man 
wird über die Annahme einer blossen Möglichkeit resp. Wahrscheinlichkeit 
kaum hinaus kommen. 

Stern (1. c.) betrachtet diese traumatische Hämoptoe als ein zwar wichtiges aber 
durchaus nicht nothwendiges Bindeglied zwischen Trauma und später manifest werdender 
Lungentuberkulose. Ein Urtheil, ob sich Lungentuberkulose häufiger und rascher nach 
Traumen mit oder nach solchen ohne Hämoptoe entwickelt, ist auf Grund des vorhandenen 
Materials z. Z. noch nicht möglich. 

Ohne auf die zum Theil widersprechenden Ansichten hinsichtlich des 
Entwicklungsganges der Krankheit hier näher eingehen zu können, 
recurriren wir in diesem Zusammenhang auf eine Beobachtung Jaccoud’s, 
wonach der Uebergang einer primär durch das Trauma veranlassten Pneu¬ 
monie mit fehlender oder doch sehr unvollkommener Krise in Lungentuber¬ 
kulose durch die anfangs wiederholt constatirte Abwesenheit von Tuberkel¬ 
bacillen im Sputum erwiesen zu sein scheint, somit eine zweite Erklärung für 
die Pathogenese der traumatischen Lungentuberkulose Stütze findet. 

In anderen für die Beurtheilung besonders schwierigen Fällen fehlt ein 
acutes Stadium vollständig (Stern), so dass es für diese unentschieden bleiben 
muss, ob es sich bei diesen zunächst um nicht tuberkulöse, chronische Ent¬ 
zündung handelt, die erst später in Tuberkulose „tibergeht“ oder aber um 
einen von vorneherein tuberkulösen Process. Stets wird jedoch das Schwer¬ 
gewicht für die Begutachtung auf den Nachweis von spätestens wenige 
Monate nach der Gewalteinwirkung in die Erscheinung tretenden subjectiven 
und objectiven Symptomen zu verlegen sein, da, wie auch Stern bemerkt, 
ein viele Monate oder gar Jahre umfassendes Latenzstadium, wie es z. B. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


beim traumatischen Himabscess Vorkommen kann, nicht nur unerwiesen, 
sondern vielmehr unwahrscheinlich ist. 

Dass weitere Beobachtungen für die traumatische Phthise gegenüber der 
Lungentuberkulose ohne voraufgegangenes Trauma besondere physikalische 
Symptome oder Abweichungen im klinischen Verlauf constatiren werden, ist 
füglich nicht anzunehmen. 

Durch verschiedene Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes ist 
eine Entschädigungspflicht im Sinne des Unfallgesetzes anerkannt worden für 
jene Fälle, in welchen eine vorbestandene, aber bislang nur sehr protrahirt 
verlaufende, die Erwerbsfähigkeit noch nicht wesentlich beeinträchtigende 
Lungentuberkulose im Anschluss an ein Trauma eine erhebliche Verschlim¬ 
merung zeigt; einen bezüglichen klaren Fall hat Liersch (M. f. U. 1896, 12) 
mitgetheilt. 

4. Tuberkulose des Urogenitalapparates. Darunter als die häufigste 
die Hoden- und Nebenhodentuberkulose, wie sie nach stumpfer Ge¬ 
walteinwirkung, sei es bei bis zu den Unfall vollständig gesunden oder here¬ 
ditär belasteten oder an Tuberkulose anderer Organe bereits leidenden Indi¬ 
viduen, zur Entwicklung kommt. Die Bedeutung vorbestandener tuberkulöser 
Erkrankung anderer Organe ist speciell für die Hodentuberkulose aus den 
bekannten Befunden von Jani unter Weigert’s Leitung ersichtlich, welch’ 
ersterer bei acht an chronischer Lungentuberkulose Verstorbenen fünfmal in 
den Samencanälchen des von tuberkulöser Herderkrankung freien Hodens 
Tuberkelbacillen nachgewiesen, unter 6 Fällen auch viermal in der Prostata; 
dass die Erkrankung auf den verletzten Hoden beschränkt bleiben oder später 
auch auf den gesunden übergreifen und im weiteren Verlauf den gleich un¬ 
günstigen Ausgang zeigen kann, wie jede andere Organtuberkulose, braucht 
nicht weiter erwähnt zu werden. 

Trauma und Osteomyelitis. Die Stellung des Trauma in der Aetiologie 
der Osteomyelitis, welche man insofeme nicht mehr als specifische Infections- 
krankheit ansieht, als die Erkrankung auf einer Infection durch verschiedene 
pyogene Mikroben (vorzugsweise Staphylo-, Strepto- und Pneumococcen) beruht, 
ist auf der Naturforscherversammlung zu Wien 1894 von Thiem eingehend 
besprochen worden. Aus seinem in M. F. U. 1894 abgedruckten Vortrag 
können wir hier nur das Resumö hervorheben: Obwohl die infectiösen Knochen¬ 
haut- und Knochenmarkentzündungen beim Menschen meistens ohne nach¬ 
weisbare traumatische Ursache auftreten, können durch örtliche traumatische 
Schädigungen oder Erschütterungen von Extremitäten durch Fall auf die¬ 
selben aus beträchtlicher Höhe, ferner auf eine bestimmte Stelle des Knochens 
wirkende Muskelzerrungen, sog. Ueberanstrengungen, endlich auch in sehr 
seltenen Fällen starke örtliche Abkühlungen die Localisation der Mikroben, 
den Ausbruch der Erkrankung an der geschädigten Stelle begünstigen, und 
sind für diese Fälle die Knochenhaut- und Knochenmarkentzün- 
dungen als Unfallfolgen anzusehen, wenn die ersten örtlichen und all¬ 
gemeinen Erscheinungen spätestens 14 Tage nach dem Unfall aufgetreten 
sind, Arbeitseinstellung zur Folge gehabt und von dem Arzt [beobachtet und 
bekundet sind. Beizufügen ist noch, dass das R. V. A. in jenen Fällen, wo 
anderweitige ätiologische Factoren nicht vorhanden sind und das Causalitäts- 
verhältnis auch bei längerem Zwischenraum durch locale Schmerzen erwiesen 
werden kann, ein zeitliches Intervall zwischen Unfall- und Er¬ 
krankung bis zu zehn Wochen gelten lässt. 

Entsprechend der exponirten Lage des Schienbeinschaftes gegenüber 
traumatischen Einflüssen, tritt auch die Osteomyelitis mit Vorliebe am Schien¬ 
bein auf. 

Der Infectionsmodus selbst lässt sich in einer Anzahl von Fällen 
nur vermuthen. Nach Stern u. A. kommen als Eintrittspforten die Haut 


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TEADMAT1SCHE KRANKHEITEN. 


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(Eczeme, Furunkel), die Schleimhaut des Rachens (angina) und des Darms 
(Enteritis) in Betracht. Gewöhnlich ist die Affection, welche zur A ufnahm e 
der Infectionserreger geführt haben kann, kurz vor dem Trauma aufgetreten; 
dabei können die erwähnten primären Entzündungsherde, von denen auch auf 
dem Weg der Blutbahn metastatisch Entzündung am Knochenmark und Periost 
erregt wird, manchmal so gering sein, dass sie der Beobachtung entgehen, 
oder in einer zweiten Reihe von Fällen liegt zwischen primärer und secun- 
därer Erkrankung ein so langer Zeitraum, dass inzwischen schon die Abhei¬ 
lung des ersten Processes erfolgt ist. 

Eine weitere Infectionsmöglichkeit ist, wie Kocher in seinen Vorlesungen 
über chirurgische Infectionskrankheiten hervorhebt und durch eigene Beobach¬ 
tungen stützt, darin gegeben, dass nach bereits einige Wochen vorher er¬ 
folgtem Trauma die Osteomyelitis an der lädirten Stelle erst nach dem Auf¬ 
treten eines Furunkels an einer anderen Körperstelle zum Ausbruch kommt 

Neben der oft lange bestehenden Latenz des Krankheitsherdes verdienen 
bei der Begutachtung besonders die in allen Formen der Erkrankung, einerlei 
ob sie als Knochenhaut- und Knochenmarkentzündung mit serösem Erguss 
einhergeht oder in der häufigsten Form, der eitrigen, auftritt, oder als 
foudroyant verlaufende septische hämorrhagische Form, die ja nur klinisch ver- 
schiedenartigd Bilder mit graduellen Unterschieden darstellen — an der pri¬ 
mären Stelle wiederkehrenden Recidive Berücksichtigung, dieselben können 
nach völliger Ausheilung, nach jahrelangem Wohlbefinden selbst 12—35 Jahre 
nach der ersten Erkrankung noch auftreten, wie einige Autoren annehmen. 

Schnitzler (Crtbl, f. Bacteriologie 1894) spricht sich für ein ausserordentlich hart¬ 
näckiges Persistiren der Virulenz der pyogenen Mikroorganismen in den alten Krankheits- 
•herden ans, während Kraske n. A. der Ansicht sind, dass bei so langer Daner es sich wohl 
um neue Invasion der die Krankheit verursachenden Eiternneserreger handeln müsse. 
Sohlten (Ctrlbl. f. Chirurgie 1895) hat in mehreren Fällen auch für die Recidive der Krank¬ 
heit traumatische Einflüsse als concurrirende ätiologische Momente nachgewiesen. 

Trauma und Syphilis. Analog der Localisation der tuberkulösen und 
osteomyelitischen Krankheitserreger an traumatisch beeinflussten Körperstellen 
bildet sich auch das Product der syphilitischen Infection, das Gumma, mit 
Vorliebe da am Körper, wo ein Trauma eingewirkt. Auch Lang (Vorlesungen 
über Pathologie und Therapie der Syphilis) macht darauf aufmerksam, dass 
im Verlauf der Syphilis oberflächlich liegende Knochen (Stirn-, Schlüsselbein, 
Schienbeinkamm) weit häufiger erkranken als andere. Hinsichtlich der B e- 
gutachtung von Ostitiden und Periostitiden Unfallverletzter betont 
Marechaux (A. S. V. Z. 1896, 2) die Nothwendigkeit genauer Nachforschungen 
nach etwa überstandener Lues. Der langwierige, zuweilen über Jahre sich 
hinziehende Verlauf der genannten Erkrankungen ist geeignet, den Verdacht 
auf Syphilis hervorzurufen, da es im Ganzen selten ist, dass bei einem sonst 
gesunden Menschen ein Trauma zu einer primären chronischen Ostitis 
führt, vielmehr kommt es nach Verletzungen häufiger zu den acut verlaufen¬ 
den Processen, wie Osteomyelitis, acute Periostitis u. s. w. 

Kocher hat anf der LANGENBECK’schen Klinik 2 Fälle von Hodensyphilis im Anschluss 
an einen Stoss anf den Hoden beobachtet; ebenso liegen Beobachtungen von typischer 
interstitieller Hornhautentzündung bei hereditär Syphilitischen nach vorausgegangenen 
Angenverietzungen vor (Bronner). 

vrn. 

Constitutionsanomalien und Trauma. 

Traumatischer Diabetes. Die ätiologische Bedeutung des Trauma für 
den Diabetes mellitus — nach Traumen vorübergehend auftretende Glycosu- 
rien bedürfen bei ihrer praktischen Bedeutungslosigkeit keiner weiteren Be¬ 
sprechung — ist in Ergänzung der bekannten von Claude Bernard aus¬ 
geführten Piquüre bereits in grösserem Umfang von vielen Autoren anerkannt 
worden. Den Studien Griesinger’s über Diabetes (1859), in welchen unter 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


225 Beobachtungen in 5'7 0 /o die Entstehung der Krankheit auf Trauma 
zurtickgefiihrt wird, sind später eine Reihe von Mittheilungen über trauma¬ 
tischen Diabetes gefolgt; doch ist die Zahl der beweisenden Fälle nicht so 
häufig als man nach der Fülle der Literatur anzunehmen geneigt sein könnte, 
da bei vielen ein früheres Bestehen des Diabetes nicht ausgeschlossen ist. 

Von den Arbeiten aas den letzten Jahren sind besonders die von Brodardel-Richab.- 
diere, Ebstein (D. A. f. kl. M. 54 B.), Asher (Vj. g. M. 1894) und BrXhuer (A. S. V. Z. 
1895, 14) hervorzuheben. 

An erster Stelle sind die Kopfverletzungen zu nennen, ferner sind Er¬ 
schütterungen des ganzen Körpers, des Centralnervensystems, der Leber 
(Tboüsseau, Feerichs), Magen- wohl auch Nierengegend durch Schlag, Stoss, 
Fall geeignet, Zuckerausscheidung herbeizuführen, entweder fast unmittelbar 
oder doch wenigstens in relativ kurzer Zeit (Wochen, resp. Monate) nach 
Einwirkung des Trauma. Auch Diabetes insipidus (Polyurie-Dipsie) schliesst 
sich mitunter Commotionen des Hirns an, nicht blos an directe, sondern auch 
an indirecte Schädeltraumen (Fall auf andere Theile mit Contracroup), theils 
sofort nach dem Trauma in unmittelbarem Anschluss an das Aufhören der 
darnach aufgetretenen Bewusstlosigkeit, theils nach vorangegangener Melliturie, 
nach deren Verschwinden die Polyurie eintritt. Wie hier vorausbemerkt, 
kommen im Gegensatz zu traumatischem Diabetes nach Kahler bei Diabetes 
insipidus Spätformen nicht vor. 

Brähmer tritt mit Nothnagel für die Bezeichnung Diabetes nach Trauma (statt trau¬ 
matischer Diabetes) ein, auf Grund seiner Erfahrung, dass sehr häufig nicht das Trauma, 
sondern die mit der Entstehung des Trauma verbundene psychische Erregung die eigentliche 
Ursache der Krankheit bildet. 

Bei der grossen Bedeutung der Prädisposition für die Pathogenese 
der Zuckerkrankheit ist hinsichtlich der Annahme eines inneren Zusammen¬ 
hanges mit einer Verletzung grosse Vorsicht geboten, und wir stimmen Blasius 
bei, wenn er die Entstehungsmöglichkeit aus dem Lebenswandel, der Körper¬ 
beschaffenheit etc. im gegebenem Fall als ätiologisches Moment höher be¬ 
wertet als eine verhältnismässig geringe periphere Verletzung, besonders 
wenn sie eine Stelle betrifft, welche sehr entfernt von den hier in Betracht 
kommenden Theilen des Centralnervensystems liegt, auch wenn nach der 
Ansicht Brouabdels jede Verletzung die Krankheit auslösen kann. 

Auch Ebstein rechnet angesichts der Thatsache, dass doch nur ein relativ kleiner 
Bruchtheil von Verunfallten diabetisch wird, mindestens mit der Möglichkeit, dass solche 
Kranke eine rein individuelle Disposition für den Diabetes haben, dass sie, um seine eigenen 
Worte zu gebrauchen, durch eine besondere Anlage ihrer Gewebe mehr zur Erkrankung 
an Diabetes neigen als die Personen, welche bei gleichen und schwereren Einwirkungen 
frei von dieser Krankheit bleiben. 

Nach seiner Ansicht ist es unmöglich, in einem concreten Fall einen bestimmten 
Factor als die Ursache des Diabetes anzusprechen; „die Entscheidung des inneren Zusam¬ 
menhanges muss durch das Abwägen von Wahrscheinlichkeiten begründet werden.“ 

Bezüglich des klinischen Verlaufes des traumatischen Diabetes — 
sei es in Form von Diabetes insipidus, decipiens mit oder ohne intermitti- 
rendem Typus — ist zu bemerken, dass nicht selten die diabetischen Sym¬ 
ptome scharf und brüsk markirt gleich nach dem Unfall hervortreten 
können, während andererseits bis zur Entdeckung der Erkrankung oft Monate 
und Jahre vergehen können. Gegenüber der von Brouardel und Richardiere 
vertretenen Ansicht, dass die acut eintretenden traumatischen Diabeteserkran¬ 
kungen (Diabete precoce, aigu) im Gegensatz zu den von Beginn an chronisch 
verlaufenden (Diaböte retardö) immer mit Genesung endigen, macht Ebstein 
geltend, dass dies wohl für die Mehrzahl der Fälle zutreffen mag, während 
er entschieden daran festhält, dass auch unter den acut einsetzenden Fälle 
mit letalem Ausgang Vorkommen (Beobachtungen von Lindsay, Pottien, 
Frerichs). Für die forensische Beurtheilung wird man bei verspätetem Auf¬ 
treten nach Trauma unseres Ermessens dann am ehesten an einen causalen 
Zusammenhang denken dürfen, wenn nach dem Trauma eine vollständige Ge- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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sundung und frühere Arbeite- und Leistungsfähigkeit nicht eintritt und wenn 
die Störungen derselben durch eine Schwächung der allgemeinen Constitution 
oder schwere Störungen‘des Nervensystems — einerlei ob locale oder allge¬ 
meine — bedingt sind. 

Nach Ebstein ist anch zu berücksichtigen, dass das Trauma indirect der Ent¬ 
wicklung des Diabetes mellitus Vorschub leisten kann, insofern es die Widerstands¬ 
fähigkeit des Individuums nicht nur in körperlicher, sondern auch in geistiger Beziehung 
schädigt. 

Asher zweifelt an der traumatischen Genese bei einem symptomenfreien Intervall 
von 3 bis 5 Jahren. Kaufmann will, dass der Gutachter in allen Fällen, wo keine früh¬ 
zeitige und öftere Harnuntersuchung nach dem Unfall vorgenommen wurde, und speciell 
bei vorhandener Disposition zu Diabetes über die Annahme einer blossen Möglichkeit 
des Zusammenhanges nicht hinausgehe, sobald Zucker erst nach 1 bis 3 Jahren nach dem 
Unfall constatirt würde. Im Uebrigen wird in erster Linie zu berücksichtigen sein, ob der 
Kranke bis zum Unfall durchaus arbeitsfähig war, da allgemein anerkannt wird, dass ein 
bereits bestehender Diabetes durch die Einwirkung eines entsprechenden Unfalles in acuter 
Weise verschärft und sein Verlauf durch den Unfall ungünstig beeinflusst wird. 

Ebstein hat auf die nicht seltene Verbindung des Diabetes mellitus 
mit dem Symptomenbild der Unfallneurosen aufmerksam gemacht. Für 
die diagnostische Würdigung der oft recht vagen, nervösen Beschwerden 
solcher Kranker ist der die Diagnose keineswegs erleichternde Umstand von 
Bedeutung, dass der Diabetes dann sowohl als decipiens, wie als decipiens 
intermittens auftritt. Im Uebrigen hat der genannte Autor die Ansicht, dass 
die Glykosurie nicht eine Theilerscheinung der Neurosen zu sein braucht, 
sondern sie kann als weitere Folge des Unfalles, unabhängig von den 
Neurosen, auftreten. 

Traumatische Leukämie. Hierher gehörige Fälle sind von Ebstein 
(D. m. W. 1894, 29), Hermann (Jahresbericht 1896 aus dem Breslauer Institut 
für Verunfallte) mitgetheilt worden, nachdem schon früher "Virchow und 
Mosler betont, dass traumatische Schädigungen der Milz resp. Milzgegend, 
allgemeine Körpererschütterungen, Läsionen des Knochengerüstes eine leu¬ 
kämische Blutveränderung, bei welcher Milz, Knochenmark, Lymphdrüsen 
allein oder zusammen im Zustand hochgradiger Schwellung angetroffen werden, 
herbeifuhren können. Wenn auch solche Beobachtungen zunächst noch nicht 
zu erklären sind, bei dem jetzigen Stand unserer Kenntnisse über die wahre 
determinirende Ursache der Leukämie — auf die verschiedenen Erklärungs¬ 
hypothesen von Mosler, Tarschanoff kann nicht eingegangen werden — 
wird man gegebenen Falles doch mit der Möglichkeit einer traumatischen 
Genese der Leukämie rechnen müssen und auch das Trauma zu den die 
Leukämie begünstigenden Momenten zählen, deren es offenbar ausserdem noch 
andere gibt. 

Die Krankheit kann sich in verschieden grossen Zeiträumen nach dem 
Unfall, in welchen oft der Symptomencomplex der Unfallneurosen vorherrscht, 
entwickeln, bis sich nach Monaten die Symptome zu einem charakteristischen 
Krankheitsbild gestalten, wobei zu berücksichtigen ist, dass die eventuelle 
Kürze der Entwicklungsdauer der sonst im Allgemeinen chronisch verlaufenden 
Krankheit durchaus nicht gegen eine causale und bedingende Beziehung 
zwischen Unfall und Leiden spricht, da auch Fälle von ganz acuter Leukämie 
mit den Erscheinungen schwerer hämorrhagischer Diathese, graven Störungen 
des Centralnervensystems etc. sich kurze Zeit, oft wenige Wochen nach einem 
Trauma entwickeln können (Ebstein, Lüdek). 

Greiwer (Berliner kl. Wchschr. 1892) berichtet über Verschlimmerung einer latent be¬ 
stehenden Leukämie durch Unfall. Ueber perniciöse Anämie und Unfall liegt bis jetzt 
nur eine Beobachtung vor (Kaufmann, Unfallverletzungen pag. 116). 

Den Einfluss von Trauma auf das Auftreten von Gicht sucht Cornillon-Vichy an 
drei Beobachtungen nachzuweisen, indem durch das Trauma die Erkrankung manifest 
werden soll. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 54 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


IX. 

Traumatische Geschwülste. 

In der Aetiologie der gut- und bösartigen Geschwülste spielt das Trauma 
schon seit langer Zeit eine grosse Rolle, wenn auch gewiss nicht mit gleich 
grosser Berechtigung. Dass wiederholt und längere Zeit einwirkende Schädi¬ 
gungen bei vorhandener individueller Disposition zu Reizzuständen in den 
Geweben mit darauf folgender Geschwulstbildung Veranlassung geben können, 
ist gewiss zuzugeben, und Virchow hat bekanntlich selbst in seinem Werk 
„Die krankhaften Geschwülste“ gerade hinsichtlich einer Form von bösartigen 
Neubildungen, dem Krebs, schon betont, dass sich derselbe aus chronischen 
Entzündungen, Geschwüren und Narben entwickeln kann, was später auch 
mikroskopisch durch den Befund von Hauser’s atypischen Epithelwucherungen, 
in der Narbe von Magengeschwüren z. B., Bestätigung fand. 

Im Folgenden soll aber ausschliesslich die Frage behandelt werden, ob 
und inwieweit eine einmalige Gewalteinwirkung, wie sie der vom R. V. A. 
gegebenen Definition des Unfalls entspricht, als ätiologisches Moment in Be¬ 
tracht kommen kann. Und hier ist zunächst zu erwähnen, dass diese Frage 
nicht an der Hand einer statistischen Zusammenstellung zur Entscheidung 
gebracht werden kann, welche hunderte von Fällen aus der Literatur enthält, 
bei denen eine Verletzung als veranlassendes Moment angeschuldigt wird, 
ebensowenig wie dadurch, dass man die Möglichkeiten erwägt, wie man die 
Wirkung des Trauma mit einer der vielen Theorien über Geschwülste — 
mögen sie nun von der Vorstellung einer Infection oder von der einer em¬ 
bryonalen Anomalie und dgl. ausgehen, in Einklang bringen kann. Beruht 
doch in den meisten dieser tabellarisch zusammengestellten Fälle die An¬ 
nahme ihrer traumatischen Entstehung lediglich auf der Aussage des be¬ 
treffenden Patienten, dass er vor kürzerer oder längerer Zeit eine Verletzung 
deijenigen Körpergegend erlitten hat, an der sich später die Geschwulst ent¬ 
wickelte. Stern (Ergebnisse der allgem. Pathologie und pathol. Anatomie der 
Menschen und Thiere, 1896) verlangt mit Recht für die Annahme des ur¬ 
sächlichen Zusammenhanges zwischen Trauma und Tumor nicht nur, dass 
das Trauma und seine näheren Umstände einwandfrei sichergestellt seien, 
sondern dass der Verletzte auch bald nach dem Trauma in sorgfältige ärztliche 
Beobachtung kommt, damit einerseits constatirt werden kann, dass zur Zeit 
der Verletzung Symptome der Krankheit noch nicht vorhanden waren, anderer¬ 
seits die Entwicklung der letzteren nach der Verletzung genau verfolgt 
werden kann. 

Das bis jetzt in der Literatur niedergelegte, verwertbare Material ist 
geeignet, ein Gausalitätsverhältnis zwischen einmaliger Gewalteinwirkung und 
Geschwulstbildung nur für die relativ kleine Zahl bestimmter Gefäss- und 
Nervengeschwülste, Chondrome (Virchow, NElaton) und für Sarkome annehmen 
zu lassen. 

Für die di recte Entstehung von Carcmomen aus einem einmaligen 
Trauma (z. B. Stoss, Schlag etc.) liegt noch kein einzig sicher gestellter Fall vor, 
und wir stimmen Blasius bei, der sagt, man stehe bislang nur vor Hypo¬ 
thesen, von welchen jede gleichen Wert hat. Gerade die in der letzten Zeit 
für die traumatische Genese des Krebses von mehreren Seiten ins Feld ge¬ 
führte Häufigkeit von Krebs, und speciell Brustkrebs bei Weibern infolge 
eines einmaligen Stosses oder einer einmaligen Quetschung der Brustgegend 
(Löwenthal, Arch. f. klin. Chir. 49, führt in seiner S00 Fälle umfassenden 
Statistik 137 Mammacarcinoma nach vorausgegangenen einmaligem Trauma der 
Brust auf!) enthalten in der Unbestimmtheit und Lückenhaftigkeit der ver¬ 
meintlich beweiskräftigen Krankengeschichten Anhaltspunkte im entgegen¬ 
gesetzten Sinne. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


851 


.Die Möglichkeit eines Causalnexus zwischen Trauma und Carcinom- 
bildnng kann nach der jetzigen Sachlage indessen ebensowenig in Abrede 
gestellt werden. 

Nach Boas (Sitzungsprotokoll des Ver. f. innere Medicin, Berlin 1896) kann speciell bei 
Intest malkrebsen ein Trauma ätiologisch in Betracht kommen, wenn es auf einen latent be¬ 
reits anderweitig erkrankten Darmtheil trifft, wodurch ein weiterer Reiz zur Wucherung der 
Zellen gesetzt wird. Das zeitliche Minimum für die Entwicklung beträgt ein halbes Jahr, das 
Maximum vier bis fünf Jahre in Berücksichtigung des Umstandes, dass sich gerade bei den 
Darmcarcinomen die Latenz auf mehrere Jsmre erstrecken kann. Den von Pollnow ge¬ 
forderten Nachweis anatomischer Veränderungen, welche auf eine stattgehabte Contusion 
hinweisen, hält Boas nicht im gleichen Grad wichtig, da ja zwischen Trauma und Exitus 
Jahre liegen können, während welcher die Folgen der Contusion verschwunden sind. Wenn 
Boas des Weiteren unter den vorerwähnten Bedingungen schon eine blosse Erschütterung 
des Organs als hinreichend zur Carcinombildung hält, wird diese Annahme auf vielen Seiten 
Widerspruch finden. 

Gockel (Archiv f. Verdauungskrankheiten, 1897) der nebenbei bemerkt in der Frage 
nach der traumatischen Entstehung der Carcinome mit seiner Ansicht, dass das Trauma 
so häufig Carcinom verursacht, dass es in differentialdiagnostisch schwierigen Fällen sogar 
zu Gunsten des Carcinoms spricht, zweifellos recht weit über das Ziel hinaus geht, theilt 
einige Fälle von Intestinalcarcinomen mit, in welchen wohl von der Möglichkeit eines 
Causalzusammenhanges die Rede sein kann. In einem von Litthauer (Vj. g. Med., HI. 
Folge IX) und später im gleichen Sinn von Prof. Schönborn (A. N. 1897, 6), welcher Trauma 
als Grundursache für die Entwicklung des Krebses ebenfalls nicht anerkennt, ober¬ 
gutachtlich erläuterten Fall hat sich das R. V. A. der Ansicht der genannten Autoren an¬ 
geschlossen, dass nicht der Unfall an sich, oder der primär durch den Unfall veranlasste 
Kräfteverlust Vorbedingung für die organische Entwicklung des Krebses ist, sondern dass 
die durch den Unfall bewirkte, in ein chronisches Stadium übergetretene Entzündung der 
Magenschleimhaut mit oder ohne Zerreissung derselben infolge von Contusion den Boden 
für die Krebsentwicklung wahrscheinlicher Weise geschaffen hat. 

Berger (Vj. g. Med. 1897) erkennt das Trauma, das weniger ein einmaliges heftiges, 
als ein wiederholtes, Contusionen mit Blutergüssen, überhaupt Veränderungen der Er¬ 
nährungsverhältnisse der betreffenden Gewebe bedingendes gewesen sein muss, als prädis- 
ponirendes Moment zur Entwicklung des Carcinoms an, sei es, dass dasselbe die Anlage 
zur Entwicklung bringt oder den Ort bestimmt. Mit Recht macht er die Annahme eines 
Causalzusammenhanges von dem Nachweis einer ununterbrochenen Kette von Krankheits¬ 
erscheinungen im betreffenden Organ, entweder gleich anschliessend an das Trauma oder 
doch nur kurze Zeit nach demselben, abhängig. Hinzufügen wollen wir noch, dass die 
Wahrscheinlichkeit eines inneren Zusammenhanges zunimmt, wenn das erkrankte Indivi¬ 
duum in einem erfahrungsgemäss von Carcinom nur selten heimgesuchten Lebens¬ 
alter steht. 

Eine allgemeinere Anerkennung hat das Trauma, wobei natürlich stets ein 
gewisser Erheblichkeitsgrad und sich schon kurze Zeit später geltend machende 
Unfallfolgen zu postuliren sind, in der Aetiologie des Sarkoms gefunden 
(Lungensarkom nach Brustquetschung, retroperitoneales Sarkom nach heftiger 
Bauchquetschung u. ä). Besondere Schwierigkeiten liegen bei den sich 
lange Zeit symptomlos entwickelnden Osteosarkomen der langen Röhrenknochen 
vor, was v. Bergmann auch veranlasst, einen von Graser (D. m. Wchschr. 1894) 
auf traumatische Entstehung zurückgeführten Fall als nicht beweiskräftig an¬ 
zusehen. 

Folgenden klarliegenden, von Anfang an ärztlich beobachteten Fall von 
traumatischem Melanosarkom hat Sick (A. S. V. Z. 1897, 15) mitgetheilt: 

Einem 51jährigen Steward fiel einige Tage nach einer Verbrennung zweiten Grades 
des linken Fusses eine Bank auf die granulirende Wunde. Drei Tage später an der gequetschten 
Stelle ein erbsengrosses Knötchen, das rasch wuchs, trotz ausgiebiger operativer Entfernung 
zu localen und allgemeinen Recidiven und kaum zehn Monate nach Einwirkung des 
Trauma zum Tod führte. 

Von den übrigen Geschwnlstformen erscheint besonders für die Gliome 
das Tranma von Bedeutung (Virchow, Gerhardt, Oppenheim). Gerhardt 
sieht in Kopfverletzungen viel häufiger, als man gewöhnlich annimmt, die 
wahre Ursache des Glioms, unter elf eigenen Fällen fand er viermal trauma¬ 
tische Veranlassung. Oppenheim erklärt sich die Entstehung der Geschwalst 
auf dem Boden einer durch Verletzung bedingten Blntfülle oder Blutung ans 
den Hirncapillaren; Kleinhirngeschwülste werden nach dem genannten Autor 

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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


deshalb so häufig bei Kindern beobachtet, weil dieselben durch Fall auf den 
Hinterkopf entsprechenden traumatischen Schädigungen ausgesetzt sind. 

Dass schon vorbestandene maligne Tumoren unter Umständen durch 
das Trauma eine Verschlimmerung erfahren können, wird gegebenen 
Falles zu berücksichtigen sein. Altmann (A. S. V. Z. 1896, 14) berichtet 
von Beschleunigung der Krebscachexie durch einen Unfall, Caäraba (Vj. ger. 
Med. 1896) über ein vorher kaum deutliche Symptome verursachendes Neuro- 
gliom, das nach Kopfverletzung mit stürmischem Verlauf in drei Monaten 
tödtlich endete. Bei vorbestandener Arbeitsfähigkeit wird nach den heutigen 
Gepflogenheiten in der Auslegung des Unfallgesetzes auch für diese Fälle Rente 
zuerkannt werden müssen. 

Die Epithelcysten, beschrieben von GarrE (Beitr. f. kl. Chir. XI), 
Bruns, Martin u. A., finden sich ausnahmslos bei Leuten, welche trauma¬ 
tischen Insulten ausgesetzt sind. Ein Stückchen Epithel mit den zuführenden 
ernährenden Gefässen wird durch Verletzungen, häufig so geringfügiger Natur, 
dass sie nicht weiter beobachtet werden, in die Tiefe gerissen und entwickelt sich 
dort zu einer Cyste, welche, wie die Wönz’sche Beobachtung auf der BiiüNs’schen 
Klinik zeigt, bis zu über Kirschgrösse wachsen kann. Neben Epithel in ver¬ 
schiedenen Zerfallsformen enthalten sie seröse Flüssigkeit. Die eventuelle 
Dififerentialdiagnose—Hygrom, Atherom, Dermoid — ergibt sich nicht unschwer. 

Ueber traumatische Lymphcysten nach Gewalteinwirkungen mit 
mehr weniger bedeutenden Weichtheilquetschungen berichten Heusner und 
Ledderhose (V. A. 137). Die Entstehung führen sie zurück auf Stauung 
infolge von ausgedehnter Zerrung der Lymph- und Blutbahnen, auf 
mechanische und chemische Reize, welche von durch die Gewalteinwirkung 
abgetödteten Gewebstheilchen und Zersetzungsproducten der in das Gewebe 
ausgetretenen und daselbst stagnirenden Körperflüssigkeiten ausgehen. 

Im Uebrigen siehe Cysten des Gehirns, Magens, Pancreas. 

X. 

Traumatische Erkrankungen der Brustorgane. 

Traumatische Lungenaffectionen. Da die unmittelbaren Folgen des 
Trauma hier nicht weiter berücksichtigt zu werden brauchen, wenden wir nns 
direct zu jenen Erkrankungen der Lungen, welche sich in den durch das 
Trauma geschädigten Lungenpartien entwickeln. Nach unserer heutigen Auf¬ 
fassung handelt es sich um infectiöse Folgekrankheiten im Anschlüsse an ein 
Trauma. Stern (Traumatische Entstehung innerer Erkrankungen, Herz und 
Lunge, I. Heft) spricht von inneren Wundinfectionskrankheiten. Je 
nach der Qualität der Infectionserreger und der Empfänglichkeit des ver¬ 
letzten Organes wird in einem Fall eine Lungenentzündung oder -Gangrän, 
-Abscess oder Lungentuberkulose entstehen können. 

1. Traumatische Pneumonien. Schon Andral und Grisolle haben auf 
die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Trauma 
und Pneumonie hingewiesen. Wir können ihre Ansicht jetzt noch dahin er¬ 
weitern, dass das Trauma auch hier um so mehr wirkt und um so sicherer 
einen zur Entstehung einer Pneumonie sich steigernden schädigenden Ein¬ 
fluss auf den menschlichen Körper hat, wenn dieser selbst sich zur Zeit der 
Gewalteinwirkung unter abnormen Verhältnissen befindet. Nach Aufrecht 
verdient bei der Pneumonie mehr wie bei einer anderen Infectionskrankheit 
die individuelle Disposition, deren Dauer nur eine vorübergehend kurze zu 
sein braucht, in den Vordergrund gestellt zu werden, und dies gilt natürlich 
noch mehr beim Hinzutritt anderer wirksamer Momente, wie z. B. das 
Trauma. Disponirend wirken übertriebene und ungewohnte körperliche An¬ 
strengungen, welche hochgradige Ermüdung des gesammten Muskelsystems 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


853 


und im Zusammenhang hiemit eine erhöhte Function der Schweissdrüsen zur 
Folge haben. Für einen derartigen Zusammenhang sprechen z. B. die Beob¬ 
achtungen. von Riebe an der Magdeburger Garnison hinsichtlich der so über¬ 
wiegend häufigen Erkrankungen von Rekruten an Pneumonie im Gegensatz 
zu den Mannschaften im 2. resp. 3. Dienstjahr, Unterschiede, die nur in den 
bei Beginn der Dienstzeit hochgespannten Anforderungen in betreff mancher 
bisher ungewohnter Leistungen ihre Erklärung finden. 

Im Uebrigen äussert sich ein weiteres Moment der Prädisposition 
für die im Anschluss an eine Brustcontusion sich entwickelnde Lungenent¬ 
zündung auch dadurch, dass mit Vorliebe solche Stellen afficirt werden, wo 
bereits ältere Veränderungen (Adhäsionen, Bronchiectasien etc.) ihren Sitz 
haben, auch wenn diese Stellen räumlich ganz unabhängig sind von 
dem Ort der Gewalteinwirkung. Wie sehr speciell die durch frühere Erkran¬ 
kungen der Lungen verursachte Einbusse, resp. Verminderung der Elasticität 
des Lungengewebes in Betracht kommen kann, haben wir bei der Obduction 
eines von uns begutachteten Falles (A. S. V. Z. 1896, 6) zu beobachten 
Gelegenheit gehabt, wo sich die traumatisch entstandenen acuten pneumoni¬ 
schen Herde vorzugsweise in der nächsten Nähe von alten und bereits längst 
abgelaufenen Lungeninfarcten entwickelt hatten. 

Was speciell den Infectionsmodus selbst betrifft, so macht Stern 
zunächst darauf aufmerksam, dass allerdings die feineren Bronchien und die 
Lungenalveolen beim Menschen wahrscheinlich ebenso wenig Mikroorganismen 
enthalten wie beim Thier. Aber auf der anderen Seite ist nicht ausseracht 
zu lassen, dass wohl kaum sehr viele Menschen eine normale Bronchial¬ 
schleimhaut haben. Nach Analogie mit anderen infectiösen Schleimhaut¬ 
erkrankungen sind wir ferner zur Annahme berechtigt, dass auch noch längere 
Zeit nach einer infectiösen Bronchitis, Krankheitserreger, z. B. Pneumococcen, 
Zurückbleiben können, ebenso wie das Trauma selbst das Eindringen von 
Mikroorganismen in die feineren Luftwege begünstigen kann, indem es zur 
Inhalation von kleinsten bacterienhaltigen Flüssigkeits- oder Staubpartikelchen 
aus der Mundhöhle resp. Nasenrachenraum führt. Bacteriologische Unter¬ 
suchungen haben aber das Vorkommen von pathogenen Mikroorganismen und 
speciell von Pneumococcen im Speichel und den Schleimhäuten der Mund-, 
Nasen-, Rachenhöhle bei vielen gesunden Menschen schon vor längerer Zeit 
zur Genüge constatirt. 

Aus der bis jetzt schon ziemlich reichhaltigen Casuistik über trauma¬ 
tische Pneumonie ergibt sich betreff des klinischen Verlaufes, dass 
verschiedene Arten von Lungenentzündungen als Folge von Brustcontusion 
auftreten können. Stern theilt dieselben der Uebersicht halber ein: 

a) Fälle von typischer croupöser Pneumonie. Ihr Vorkommen ist trotz 
des Widerspruches von Demuth (M. m. Wochsch. 1888), der für eine stricte 
Unterscheidung zwischen infectiösen und Confusionspneumonien eingetreten, 
auch durch klinische Beobachtungen zweifellos festgestellt, abgesehen davon, 
dass bekanntlich Weichselbaum in zwei eclatanten Fällen von sogenannten 
Contusionspneumonien auch den bacteriologischen Nachweis von Pneumo¬ 
coccen erbracht hat. 

b) Fälle mit ausgedehnter Infiltration und atypischem Verlauf (insbeson¬ 
dere Unregelmässigkeit der Curve des oft nur unbedeutenden und kurz dau¬ 
ernden Fiebers, Fehlen des charakteristischen pneumonischen Sputums, wenig 
ausgesprochene Allgemeinerkrankungen), Umstände, die sich doch mit Leich¬ 
tigkeit aus einer verminderten Virulenz der Krankheitserreger erklären lassen. 

Inwieweit man die physikalischen Erscheinungen der Infiltration auf 
entzündliche oder hämorrhagische Vorgänge beziehungsweise auf beide zu¬ 
sammen zurückfuhren kann, ist in vivo oft schwer zu entscheiden. Im Allge¬ 
meinen ist ja wohl die Entwicklung der Infiltration geeignet, hierüber Auf- 


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854 


. TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Schluss zu geben, indem entzündliche Infiltrationen stets Neigung zur Pro¬ 
gredienz zeigen, und des weiteren ein rein blutiges Sputum mehr für hämor¬ 
rhagische Infiltration spricht 

c) Fälle mit circumscripten (wahrscheinlich bronchopneumonischen) In¬ 
filtrationsherden, also jene Fälle, von welchen Liebermeister in seinen Vor¬ 
lesungen über specielle Pathologie und Therapie sagt, dass sie, wie Fremd¬ 
körper-Schluckpneumonien, was anatomisches Verhalten und Gesammtkrank- 
heitsbild betrifft, mehr den lobulären Pneumonien entsprechen. 

Bei der forensischen Begutachtung handelt es sich, abgesehen 
von den bei anderen Krankheiten schon wiederholt erwähnten Gesichtspunkten 
(entsprechende Erheblichkeit der Gewalteinwirkung etc. etc.) 

1. um den Nachweis des zeitlichen Zusammenhanges. Gegenüber 
Birch-Hirschfeld (M. f. M. 1896, 8), der mit Entschiedenheit betont, dass 
die Pneumococcen vier bis höchstens zehn oder zwölf Stunden brauchen, um 
sich zu entwickeln, zu vermehren und ihre Virulenz zu bethätigen, und dass 
man nicht mehr von einem directen Zusammenhang zwischen Trauma und 
Pneumonie sprechen kann, wenn der Schüttelfrost, also der Beginn der Pneu¬ 
monie, nicht schon im Verlauf des ersten Tages eingetreten ist, erkennt Stern 
eine so enge zeitliche Grenze nicht an, da, wie er meines Erachtens richtig be¬ 
merkt, nicht einzusehen ist, warum nicht je nach der Widerstandsfähigkeit des 
befallenen Körpers, nach der Virulenz der Infectionserreger und dem Betheili¬ 
gungsgrad anderer maassgebender Momente die Incubationszeit länger sein 
kann. In den oben sub 1. erwähnten Fällen gibt der letztgenannte Autor die 
Zeit von wenigen Stunden bis zu vier Tagen an, eine Ansicht, der auch das 
R. V. A. in einer Recursentscheidung beigetreten ist; für die sub 2 und 3. 
charakterisirten Verlaufsvarietäten können bei ihrer so häufigen allmählichen 
Entstehung entsprechende Angaben zur Zeit noch nicht gemacht werden. 

2. Was die örtlichen Beziehungen zwischen Trauma und Pneu¬ 
monie betrifft, so ist es ebensowenig wie bei der traumatischen Phthise noth- 
wendig, dass der Sitz des pneumonischen Processes dem Ort der Gewalt¬ 
einwirkung entspricht, indem die primär von dem Trauma nicht betroffene 
Seite auf dem Weg des Contracroup (Beobachtungen von Küby, Becker und 
meine eigene) in Mitleidenschaft gezogen werden kann. 

3. Für die diagnostische Verwertbarkeit der unmittelbar oder 
spätestens innerhalb der ersten Tage nach stattgehabter Gewalteinwirkung 
auftretenden traumatischen Hämoptoe gilt das Gleiche, was bei der trau¬ 
matischen Lungentuberkulose bereits besprochen (1. c.). 

4. Durchgreifende pathognostische Unterschiede im anatomischen 
und klinischen Verhalten zwischen traumatischer und nicht traumatischer 
Pneumonie existiren nicht. Der von Demuth als charakteristisch hingestellte 
anatomische Befund stellt vielmehr lediglich eine hämorrhagische Infiltration 
des Lungengewebes traumatischen Ursprunges dar. 

Dass die acute, traumatisch entstandene Pneumonie (in gleicher Weise 
wie die nicht traumatische) in eine chronische Form, Tuberkulose, Gangrän 
übergehen kann, steht nach Beobachtungen aus der Unfallpraxis fest. 

Indirecte Beziehungen zwischen Trauma und Pneumonie bestehen in 
dem Auftreten einer hypostatischen Pneumonie im Verlauf des an irgend eine 
Verletzung sich anschliessenden längeren Krankenlagers, einer metastatischen 
Pneumonie bei pyämischer Allgemeininfection nach einem Trauma, einer 
Aspirationspneumonie etc. 

Falck and neuerdings Flatten beben nearoparalytische Einflüsse hervor, indem gerade 
bei Schädel- resp. Hirnverletzungen eine hochgradige Gefässdilatation in einem mehr oder 
minder grossen Lungenabschnitt hervorgerufen wird, welcher den von ihr befallenen 
Lungentheil jeder anderen weiteren Erkrankung geneigter, beziehungsweise jeder Schädlich¬ 
keit gegenüber weniger widerstandsfähig macht. Flatten stützt seine Ansicht durch einen 
von ihm beobachteten Fall eines durch die linke Kopfhälfte geschossenen, innerhalb den 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


855 


ersten Tages bereits verstorbenen Mannes, bei dem also überhaupt von Contnsion der 
Lunge nicht die Rede sein kann and bei welchem der rechte Unterlappen der nicht öde- 
matösen Lunge im Znstand extremer Blntüberfüllnng gefanden wurde. Mikroskopisch 
zeigte sich pralle Capillarfüllung, die Alveolarräume zum überwiegenden Theil leer, ebenso 
die übrigen Lnngentheile normal bei intactem Gefässsystem. Der Befand entspricht dem 
von Schiff experimentell durch Vagusdurchschneidung erzeugten. 

2. Fälle von primärem Lungengangrän nach Brustcontusionen (infolge 
Infection des gequetschten Lungenparenchyms durch Fäulnisserreger) sind 
ebenfalls bereits beschrieben. In einer eigenen Beobachtung aus meiner 
Assistentenzeit bei Professor v. Zenker entsprach eine mit circumscripter, 
secundärer fibrinös-eitriger Pleuritis einhergehende, etwa handtellergrosse, 
stark fötid riechende Gangränescenz im Mittellappen der sonst völlig intacten 
rechten Lunge eines zwölf Tage nach schwerer Brustquetschung verstorbenen 
jungen Arbeiters genau dem durch subcutane Blutung und Bippenbrüche ge¬ 
kennzeichneten Ort der Gewalteinwirkung, während bei anderen Beobachtungen 
der örtliche Zusammenhang nicht so klar zu Tage tritt. Der Gesammt- 
v er lauf ist wie bei der gleichen Erkrankung ohne traumatische Aetiologie 
sehr wechselvoll. In unserem vorerwähnten Fall wurde Lungengangrän be¬ 
reits am fünften Tag diagnosticirt, in anderen Fällen werden die gangränösen 
Sputa erst 2 bis 3 Wochen nach stattgehabter Einwirkung producirt. Stern 
citirt zur Stütze seiner Behauptung, dass die Infection eines durch Quetschung 
erzeugten Blutherdes in der Lunge oft noch Monate nach dem Trauma möglich 
ist, eine Beobachtung von Woillez, wo die putride Infection des aus umfang¬ 
reicher Lungenzerreissung resultirenden Blutherdes erst x /» Jahr nach dem 
Trauma stattfand. 

3. Traumatische Lungentuberkulose s. Trauma und Infection. 

4. Traumatische Pleuritis. Dieselbe tritt nach Brustquetschungen als 
coordinirte, selbständige Erkrankung mit oder ohne gleichzeitige Entzündung 
des Lungengewebes auf; einerseits kann sie secundär durch traumatische 
Lungenerkrankungen bedingt sein, andererseits sind auch Fälle denkbar, in 
welchen die Entzündung von der primär erkrankten Pleura auf das Lungen¬ 
gewebe übergreift. Sie ist viel häufiger als die Contusionspneumonien, ja 
nach Stern überhaupt bei weitem die häufigste unter den traumatischen 
Erkrankungen der Brustorgane. 

Wie bei der traumatischen Pericarditis, verursacht auch die Entzündung 
der Pleura entweder nur einen fibrinösen Belag oder einen meist allmählich 
sich entwickelnden serösen Erguss in den Brustfellsack. Ob dieser seröse 
Erguss auch in dem Entwicklungsgang einer einfach entzündlichen (id est 
nicht infectiösen) Pleuritis auftreten kann, oder ob er nicht vielmehr in¬ 
folge einer vorbestehenden latenten Lungentuberkulose tuberkulöser Natur 
ist, diese Frage muss zur Zeit offen bleiben. Praktisch wichtig ist die Erfah- 
rungsthatsache, dass tuberkulöse Pleuritiden vollständig ausheilen können 
(Netter-Chauffard), so dass sich die betreffenden Individuen später der 
besten Gesundheit erfreuen. Zur Bildung von Empyem als Folge einer nicht 
■weiter complicirten Brustquetschung scheint es, nach den literarisch gesammelten 
Fällen zu urtheilen, nur selten zu kommen. 

Für die gutachtliche Beurtheilung ist die Berücksichtigung der 
Möglichkeit des Uebergangs in die chronische Form*) mit ihren bekannten 
Folgezuständen (Schwielen, abgesackte Exsudatreste, Thorax-Deformitäten mit 
secundären Veränderungen der Brustorgane und ähnliche) von Bedeutung. 
Einen Fall, wo eine Brustquetschung, ohne in der ersten Zeit nach der Gewalt¬ 
einwirkung erhebliche Folgen zu hinterlassen, einen die Erwerbsfähigkeit aus- 


*) Eine Bezeichnung, die natürlich nicht s. s. genommen werden kann, da ja be¬ 
kanntlich auch langsam und unmerklich sich entwickelnde Exsudate oft einen schnellen 
Verlauf nehmen und in kurzer Zeit zur Resorption kommen können. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


schliessenden, ungünstigen Verlauf genommen, hat Stern (1. c. pag. 181) 
aus der Breslauer Klinik mitgetheilt. 

Die nach abgeheilter Pleuritis oft noch lange Zeit persistirenden Schmerzen 
und ihr Zusammenhang mit pleuritischen Adhäsionen sind mutatis mutandis 
in gleicher Weise zu beurtheilen, wie die pericardialen Verwachsungen und 
ihre Folgezustände (1. c.). 

Für die Diagnose pleuritischer Verwachsungen und der hiemit in Ver¬ 
bindung stehenden Behinderung der Lungenthätigkeit ist das LnrEN’sche 
Zwerchfellphänomen von Bedeutung, indem auf der erkrankten Seite die Aus¬ 
schlagsweite des Zwerchfells je nach Sitz und Ausdehnung der Adhäsionen 
erheblich herabgesetzt ist. Man sieht, wie Stabt (A. S. V. Z. 1896, 18) mit¬ 
theilt, das Phänomen nicht in Form einer geraden Linie um den Thorax 
verlaufen, sondern dasselbe erscheint in unregelmässiger, zackiger, verzerrter 
Form mit an einzelnen Stellen mehr oder minder deutlicher Einziehung. 

5. Inwieweit für die Entstehung von Lungentumoren traumatische Ein¬ 
flüsse als ätiologische Factoren in Betracht kommen siehe unter traumatische 
Geschwülste. 

Dass vorbestehende Lungenkrankheiten durch Trauma ungünstig be¬ 
einflusst werden können, ergibt sich zunächst für die mit Gewebsinfiltrationen 
einhergehenden Erkrankungen ohne weiteres u. a. schon aus der blossen 
Erwägung, dass infolge der durch die Verdichtungsprocesse bedingten Ein¬ 
busse resp. Verminderung der Gewebselasticität viel leichter Zerreissungen etc. 
entstehen können als bei intactem Parenchym. 

Ueber ungünstige Beeinflussung der Lungentuberkulose durch Trauma s. o. 

Unfallsweise Verschlimmerung eines vorbestehenden Lungen¬ 
emphysems, insbesondere bei coexistirenden secundären Herzstörungen, ist 
wiederholt in Recursentscheidungen des R. V. A. anerkannt worden. 

Traumatische Herzkrankheiten. Die grosse Mehrzahl der in der älteren 
Literatur niedergelegten Fälle von traumatischen Herzaffectionen ist wegen 
der Lückenhaftigkeit der Beobachtungen und unvollständigen Anamnese über 
den Zustand des Herzens vor Einwirkung des Trauma nicht einwandfrei 
genug. Erst in den jüngsten Jahren ist man der Frage nach der trauma¬ 
tischen Genese der Herzkrankheiten und den für die forensische Beurtheilung 
derartiger Fälle maassgebenden Gesichtspunkten näher getreten, und Stern 
bleibt das Verdienst, in seiner mehrfach erwähnten Monographie uns eine 
zusammenfassende klinische Darstellung der traumatischen Herzaffectionen 
mit eingehender Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur Unfallgesetzgebung 
gegeben zu haben. 

Von den verschiedenen traumatischen Schädigungen brauchen die pene- 
trirende Herzwunden verursachenden nicht erwähnt zu werden. In das Bereich 
unserer Betrachtungen fallen vielmehr blos jene Veränderungen des Herzens, 
wie sie nach heftiger Compression, Contusion und Thoraxerschütterung in 
Erscheinung treten, wobei, wie ja bekannt, das Herz oft in schwerster Weise 
in Mitleidenschaft gezogen werden kann, ohne dass äusserlich irgend welche 
Spuren stattgehabter Gewalteinwirkung vorhanden zu sein brauchen. Die 
Gewalteinwirkung wird durch die gewaltsam zurückgedrängten Rippen nach 
dem Herzen fortgeleitet. Bei entsprechender Vehemenz prallt das Herz 
hinten gegen die Wirbelsäule an, oder es kommt zu einer Quetschung des¬ 
selben zwischen Brustbein-, Rippen und Wirbelsäule; letztere wird um so 
eher eintreten, wenn sich das Herz zur Zeit des Trauma in der Diastole 
befindet. 

Unter den Traumen im legislatorischen Sinne der Unfallgesetzgebung 
sind auch plötzliche und intensive körperliche Ueberanstrengungen, welche 
durch brüske Steigerung des intrathoracalen Druckes wirken, hervorzuheben. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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Bei folgender Besprechung berücksichtigen wir zunächst die Einwirkung 
des Trauma auf ein vorher gesundes Herz. 

1. Acute Endocarditis. Ihre traumatische Genese ist möglich: 

a ) Durch Gewalteinwirkungen werden Läsionen, Zerreissungen und 
Quetschungen des Endocards, (sub)-endocardiale Blutungen auch ohne sonstige 
schwere Verletzungen des Herzens, wie Klappen-, Sehnenfäden-, Papillarmuskel- 
rupturen, geschaffen, aus welchen eine einfache „reactive“ Endocarditis her¬ 
vorgeht. 

b) Die Contusionseffecte am Endocard bilden für die in der Blutbahn 
(schon vor dem Trauma) circulirenden Infectionserreger einen zur Ansiedlung 
derselben geeigneten Locus minoris resistentiae, so dass wir es also mit einer 
acuten Infection der durch das Trauma gesetzten Wunde des Endocards zu 
thun haben. 

Wenn anch die Möglichkeit einer traumatischen Entstehung der infectiösen Endo¬ 
carditis nach Analogie anderer infectiöser Vorginge im Körper and deren Beeinflassang 
durch das Trauma gewiss zugegeben werden muss, sind die Beobachtungen noch zu ver¬ 
einzelt, als dass man diese Frage als gelöst bezeichnen könnte. Die Erscheinungen der 
acuten Endocarditis müssen unmittelbar oder doch nur kurze Zeit nach der Gewaltein¬ 
wirkung auftreten, wie in den Beobachtungen von Biggs und Lückinger (M. m. W. 1893), 
und im Uebrigen müssen ältere endocarditische Veränderungen mit Sicherheit ausgeschlossen 
werden können, weshalb auch Stern die LEYDEN’sche (Charitö-Annalen 1894) und Riedingbr’- 
sche Beobachtung (M f. U. 1894) nicht für beweiskräftig hält. A. Frankel verlangt unter 
Betonung der grossen diagnostischen Schwierigkeiten der acuten Endocarditis im Gegen¬ 
satz zu Leyden und Litten für den Nachweis ausser dem Herzgeränsch noch das Auf¬ 
treten von länger dauerndem Fieber im Anschluss an das Trauma. 

c) Die Endocarditis ist Theilerscheinung einer durch das Trauma ver- 
anlassten pyämischen Allgemeininfiltration, Fälle, die man zweckmässig aus 
dem Begriff der traumatischen Endocarditis im engeren Sinne ausscheidet. 

2. Subacute, beziehungsweise chronische Endocarditis. Die traumatische 
Entstehung desselben hält Leyden für erwiesen, da nach einer Brustcontusion 
sehr leicht ein wochenlanges Incubationsstadium vergehen kann, bis die 
Endocarditis bemerkbar wird. Auch Stern (M. f. U. 1897, 9) tritt mit Ent¬ 
schiedenheit für das Vorkommen der subacuten Form ein, indem er einen 
Fall mittheilt, der kaum anders zu deuten ist: 

Nach Sturz auf Rücken und Hinterkopf stetig zunehmende Schmerzen in der Herz¬ 
gegend, Beklemmungegefühl, zeitweise Athemnoth. Ausser m&ssiger Pulsbeschleunigung in 
den ersten Wochen bei wiederholter Untersuchung kein weiterer Befund; l 1 /* Monate 
nach dem Unfall Auftreten von Herzgeräusch; nach drei Monaten ausgesprochene 
Hypertrophie des linken Ventrikels, lautes systolisches Geräusch über dem Aorten- 
ostium, daselbst auch systolisches Schwirren fühlbar. 

In jenen Fällen, wo sich die Erscheinungen von Klappenfehler nach 
Unfall ganz allmählich ausbilden und speciell unmittelbar nach der Gewalt¬ 
einwirkung alle Erscheinungen fehlten, welche die Annahme einer trauma¬ 
tischen Klappenruptur stützen könnten, muss man wohl zur Erklärung des 
später erhobenen Befundes von Klappenfehler auf eine chronische, ganz 
schleichend verlaufende Endocarditis recurriren, deren Existenz eben erst 
später durch den hieraus resultirenden Herzklappenfehler erkannt werden kann. 
Ob es sich um Producte einfacher oder infectiöser Entzündungen handelt, ist 
zur Zeit noch ganz unaufgeklärt. Sie finden ein Analogon an den chronischen, 
mitunter gänzlich fieberlos verlaufenden Entzündungen anderer innerer Organe. 

Für eine abgeschlossene forensische Begutachtung bieten der¬ 
artige Fälle zum Theil unüberwindliche Schwierigkeiten, und man wird meistens 
nur mit Möglichkeiten, beziehungsweise Wahrscheinlichkeiten rechnen können, 
indem bei ihrem schleichenden Verlauf die positiven Befunde meistens zu 
spät nach dem Trauma erhoben werden. Im Uebrigen äussern Fürbringer 
und Stern auch selbst für ganz glaubwürdige Angaben von Verunfallten über 
den Mangel von Herzstörungen vor dem Unfall laute Zweifel, indem sie 
daran erinnern, dass man gar nicht selten auch ohne traumatische Aetiologie 


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.TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


bei der Untersuchung zufällig einen Herzklappenfehler findet, ohne dass sich 
durch die Anamnese beachtenswerte Herzbeschwerden feststellen Hessen, 
welche das betreffende Individuum auf das Bestehen der Erkrankung auf¬ 
merksam zu machen geeignet waren. 

Soweit aus den bis jetzt vorliegenden Beobachtungen von traumatischer 
Endocarditis mit Klappenfehler Schlüsse berechtigt erscheinen können, sind 
Stenosen häufiger als lnsufficienzen; die Casuistik ist noch zu späriich, um 
unter Ausschluss von Zufälligkeiten einen inneren Zusammenhang für erwiesen 
erachten zu können. 

8. Traumatische Klappenrupturen mit consecutiver Endocarditis. Seit 
den Arbeiten von Babi£ und Dubosiez ist die Möglichkeit einer trauma¬ 
tischen Klappenruptur im Gegensatz zu den „spontanen“ nicht mehr 
bezweifelt worden. Dieselbe ist unseres Wissens auch an allen Klappen be¬ 
obachtet worden, mit Ausnahme der Pulmonalis. Die Ruptur betrifft die 
Klappenzipfel, Segeltaschen, Papillarmuskel, Sehnenfäden. 

Unter traumatischen K lappenruptnren im engeren Sinne fasst Gerhardt die durch 
Äussere Gewalteinwirkung veranlassten zusammen, zum Unterschied von jenen viel häu¬ 
figeren, welche durch die Einwirkung von über das Maass gesteigertem intrathorac&lem 
Druck (starke, körperliche Anstrengung) zu Stande kommen, bei beiden Entstehungsarten, 
die im klinischen Verlauf selbstredend keine Verschiedenheiten involviren und unseres Er¬ 
achtens wegen der so häufigen Coincidenz überhaupt kaum scharf getrennt werden können, 
betreffen sie am häufigsten die Aortenklappen, in zweiter und dritter Linie die Mitralis 
beziehungsweise Tricuspidalis. 

Was den näheren Entstehungsmodus selbst betrifft, so erfolgt, wie 
schon Nelaton betont, die Ruptur am Orte des geringsten Widerstandes. Aus 
den umgekehrten Spannungsverhältnissen des nicht contrahirbaren Endocard und 
der bekanntHch nur Duplicaturen desselben darstellenden Klappenzipfel einer¬ 
seits und dem nach Systole und Diastole wechselnden Contractionszustand 
des Herzmuskels andererseits ergibt sich, dass das übrige Endocard vorzüglich 
nur in der zweiten Hälfte der Diastole, die Klappenapparate aber während 
der ganzen Diastole der hinter ihnen liegenden Herzkammer für Rupturen 
günstige Verhältnisse bieten; deshalb zeigen auch die Klappen, welche den 
Rupturen günstigen Momenten während grösserer Zeitdauer einer jeden Phase 
der Herzthätigkeit ausgesetzt sind als das übrige Endocard oder gar das 
Myocard, eine grössere Neigung zu Rupturen als die übrigen Theile des 
Herzens. 

Hinsichtlich der Symptome der Herzklappenzerreissungen 
ist zu erwähnen, dass die unmittelbare Wirkung der Ruptur natürlich Insuf- 
ficienz des betroffenen Klappenapparates ist. Die Diagnose einer trau¬ 
matischen Klappenruptur ist nur dann mit einiger Sicherheit zu stellen, wenn 
bei einem gesunden Menschen kurze Zeit nach stattgehabter Gewalteinwirkung 
der auscultatorische Befund einer Klappeninsufficienz nachzuweisen ist. In 
den meisten Fällen kommt es zu unmittelbaren Erscheinungen seitens des 
Herzens, die sich als typische Zeichen nicht compensirter lnsufficienzen 
charakterisiren. Neben schon kurze Zeit nach der Verletzung oder in unmittel¬ 
barem Anschluss an diese auftretenden schweren Shockerscheinungen infolge 
jähen Sinkens des Blutdruckes herrschen im Krankheitsbild ausser dem 
„Gefühl von Zerreissung in der Brust“, das uns da, wo es sich findet, ein 
sehr schätzbares Kriterium bieten kann, besonders Beklemmungsgefühle, 
Athemnoth, Herzklopfen vor. Das den betreffenden Herzfehler bezeichnende 
Herzgeräusch ist oft besonders stark accentuirt, dabei entweder rauh oder 
auch von musikalischem Timbre, bald nur bei aufrechter Stellung hörbar und 
in der Rückenlage verschwindend. 

Potain und Baeue führen wohl mit Recht den rauhen Charakter auf Vibrationen 
der dnrch den Blutstrom bewegten losgerissenen Klappenenden zurück. In anderen F&llen 
(Bernstein, Ztschr. f. kl. Med. 1896) verstreicht nach dem Trauma eine längere Zeit bis 
zum ersten Auftreten der Herzsymptome. Zur Erkl&rung erinnert Bernstein an die be- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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kannten Versuche von de Jager, Oodard, Rosknbach, welche mit NothWendigkeit zur 
Annahme eines Reservefonds von Arbeitsvermögen im Herzmuskel, der ein zu rapides Sinken 
des arteriellen Blutdruckes, speciell z. B. nach Rupturen der Aortenklappen verhindern 
kann, führen ; von seiner Grösse und dem Verhältnis zu den für Ueberwinaung der durch 
das Trauma geschaffenen acuten Circulationsstörungen hängt es ab, ob bei seiner Erschöpfung 
Compensation eintritt oder nicht. 

Als Maximum für die Dauer eines durch Klappenruptur entstandenen 
Vitium cordis berechnet Bernstein aus den literarisch gesammelten Fällen 
drei Jahre. 

Zar genaueren Bestimmung des Sitzes der Ruptur an den Aortenklappen gibt Foster 
als charakteristisch für eine Läsion der linken valvnla sigmoidea besonders lantes Hervor¬ 
treten des Geräusches Aber der Herzspitze an; Verbreiterung des Geräusches nach dem 
Schwertfortsatz hin und der Gegend der rechten Herzhälfte spricht für Sitz der Rnptnr an 
der rechten Klappe. 

In dem einen Fall fällt das regnrgitirende Blntqnantnm auf die Unterfläche der 
Mitralis und wird nach der Spitze geführt, im andern Falle soll sie das Septum treffen. 

4. Ueber die traumatischen Affectionen des Myocards liegen nur spär¬ 
liche Mittheilungen vor (Stern, Hiegel, Pelvet). Sie sind combinirt mit 
traumatischer Endocarditis, ihr isolirtes Auftreten ist bis jetzt noch nicht 
sicher constatirt und erscheint auch nach den obigen Bemerkungen über die 
Spannungsverhältnisse der einzelnen Herzschichten in Systole und Diastole 
nicht sehr wahrscheinlich. 

Hochhaus (D. A. kl. Med. 1893) sieht als das Primäre der traumatisch 
veranlassten Myocarditis Zerreissungen und Blutungen im Herzfleisch an, die 
in kurzer Zeit schon die Function des Herzens beeinträchtigen können (un¬ 
regelmässiger Puls, Beklemmung, Herzschwäche). Ob neben Herzmuskel¬ 
erkrank ung noch ein organischer Klappenfehler besteht, ist oft schwer zu ent¬ 
scheiden, da die im Gefolge von myocarditischen Processen sich nicht selten 
ausbildende Herzdilatation zu relativer Insufficienz des betreffenden Klappen¬ 
apparates führen und entsprechende auscultatorische Phänomene bedingen kann. 

Auch hinsichtlich der anatomischen Grundlage und besonders darüber, 
ob es entzündliche oder degenerative Vorgänge sind, welche zu schwieliger 
Myocarditis, bezw. Entwicklung chronischer partieller Herzaneu¬ 
rysmen führen, fehlt uns noch die nöthige Zahl einwandfreier Beobach¬ 
tungen. 

Acute Herzdilatation nach grosser und anstrengender Arbeit haben 
Besnard und Wagner auf der ZiEMSSEN’schen Klinik und Friedrich (W. kl. 
th. Wchschr. 1898) beobachtet. Sie kann nach ungewöhnlich grosser Muskel¬ 
arbeit auch bei einem bis dahin völlig intacten Herzen auftreten und 
erscheint nach Friedrich als charakteristisches Krankheitsbild, welches sich 
aus subjectiven Erscheinungen mit variabler Constanz und folgenden objectiv 
nachweisbaren Symptomen zusammensetzt: Cyanose und Dyspnoe, Carotiden- 
eventuell Halsvenen - Puls, diffuse heftige Herz- und epigastrische Pulsation, 
Oedem und Ascites an den verschiedensten Körperstellen, physikalischer Be¬ 
fund der Herzdilatation, schwacher leerer und frequenter Puls bei ent¬ 
sprechenden ab und zu von Geräuschen unterbrochenen Herztönen, Arythraie 
und die ganze Reihe der bekannten Stauungserscheinungen seitens der Unter¬ 
leibsorgane. 

Die excentrisch hypertrophirte Muskulatur des Herzens war im 
WAGNER'schen Fall blass, brüchig und zeigte bei mikroskopischer Untersuchung 
staubige Trübung. 

Friedrich hält bei rechtzeitiger Diagnose die Prognose nicht ungünstig, 
wenn sich der Kranke entsprechend lange Zeit jeglicher Arbeit ent¬ 
halten kann. 

5. Die durch Unfälle veranlassten fonctionellen (sog. nervösen) Herz- 
stornngen unterscheiden sich in keiner Weise von den nervösen Herzaffec- 
tionen anderen Ursprunges. Sie sind stets Theilerscheinung einer durch 


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.TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


das Trauma acquirirten oder durch dasselbe gesteigerten neuropathischen 
Constitution, und man findet sie demgemäss auch stets in Gemeinschaft mit 
anderweitigen psychoneurotischen Symptomen vor. 

Die Wichtigkeit der aus der inneren Medicin bekannten Differential- 
diagnose, die vornehmlich in der ersten Zeit nach einer Brustcontusion 
Schwierigkeiten bereiten kann, ergibt sich für den Gutachter schon aus der 
Verschiedenheit der beiden Krankheiten zukommenden Prognose und even¬ 
tuell einzuleitenden therapeutischen Maassnahmen. Dass functionelle Erkran¬ 
kungen auch gleichzeitig mit organischen Vorkommen können, braucht kaum 
weiter ausgeführt zu werden. 

Es erübrigen uns noch hier einige kurze Bemerkungen über die un¬ 
fallrechtliche Seite der vorerwähnten traumatischen Herzaffectionen, 
wenn der Verdacht eines bereits vorbestehenden Herzleidens vorliegt. 
Hier handelt es sich um Würdigung des Zustandes bis unmittelbar vor dem 
Trauma und um den Nachweis der erheblichen Verschlimmerung 
durch dasselbe. Dass in solchen Fällen ein körperliches und psychisches 
Trauma von geringerer Intensität schon ausreicht, um das labile Gleich¬ 
gewicht des klappenkranken aber bis dahin gut compensirten Herzens zu 
stören und mit einem Schlag das vorher latente Krankheitsbild des Herz¬ 
fehlers zu einem offenkundigen zu machen, ist ohne weiteres klar. Käst 
(A. N. 1897, 8) hat in einem Obergutachten betreffend einen durch starke 
Anstrengung des Herzens verursachten Todesfall unter Hinweis auf 
die so verschiedene Reaction von Herzkranken gegenüber körperlichen An¬ 
strengungen eingehend erläutert, dass es sich in solchen Fällen durchaus 
nicht um Feststellung des absoluten Maasses und der Grösse der Körper¬ 
anstrengung handeln kann, sondern dass bei chronisch herzkranken Individuen 
auch schon eine das Maass der gewöhnlichen Muskelleistung überschreitende 
Bewegung, also eine relative Ueberanstrenguug genügt, um die vollkommene 
Ermüdung, Dehnung und schliesslich Lähmung des vorher dauernd über¬ 
anstrengten Herzmuskels zu veranlassen. 

Von Momenten, welche die Wirkung des Trauma auf das Herz oft in 
unvorhergesehener ungünstigster Weise zu verändern im Stande sind, nennen 
wir noch die durch Potatorium und Nephritis veranlassten Schwächungendes 
Herzmuskels. 

6. Pericarditis. Ihre traumatische Genese mit oder ohne Betheiligung 
der oberflächlichen Schichten des Myocards ist schon seit langer Zeit be 
kannt. Die traumatische Pericarditis kann als trockene oder exsudative auf- 
treten und unterscheidet sich in Symptomatologie und Verlauf nicht von der 
anderweitig entstandenen Pericarditis. 

Die primär am Pericard durch das Trauma gesetzten Veränderungen, an 
welche sich die Pericarditis anschliessen kann, bestehen entweder in Blu¬ 
tungen oder mehr weniger ausgedehnten Einrissen des Herzbeutels. Insbe¬ 
sondere erklärt sich das Zustandekommen der letztem aus der anatomischen 
Anordnung der Bänder, durch welche das Pericard mit den benachbarten Knochen 
in Verbindung steht. Das wichtigste von ihnen ist das von Luschka beschriebene 
Ligamentum sternopericardiacum superius et inferius zwei bis drei constant vor¬ 
kommende Zellstoffbündel, die, vom Pericard zum oberen, resp. unteren Ende 
des Brustbeins ziehend, sich durch ihre geringe Dehnbarkeit auszeichnen. 
Nach Bernstein vollzieht sich nun die Wirkung so, dass sie bei einem von 
vorneher gegen die Brust gerichteten Stoss oder Schlag straff gespannt 
werden, während das Herz eine kleine Strecke weit nach hinten geschleudert 
wird. Die gleiche Function für die von oben oder hinten her einwirkenden 
Traumen haben die BßRAND’schen Ligamente zum dritten Halswirbel und 
Richet’s Pseudoaponeurosis cervicopericardiaca zum Zungenbein. Das zwischen 
dem in der Richtung der Contusion geworfenen Herzen und dem im ent- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN, 


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gegengesetzten Sinne wirkenden Ligament befindliche Pericard wird strafi ge¬ 
spannt, gezerrt und reisst in diesem Zustande natürlich leichter als im 
schlaffen. 

Für den Gutachter besonders wichtig sind die als Folgezust&nde re- 
sultirenden pericardialen Adhäsionen, seien sie an der Aussen- oder 
Innenfläche des Herzbeutels. Sie können erhebliche Functionsstörungen be¬ 
dingen, besonders wenn neben ihnen noch myocarditische Veränderungen ent¬ 
weder als unmittelbare Folgen des Trauma oder erst secundär durch Fort¬ 
leitung der Entzündung hervorgerufen, bestehen. Auch recht ausgedehnte 
und noch vielmehr kleinere circumscripte Adhäsionen entziehen sich bei der 
in vielen Fällen oft nur subjectiven Seite des Befundes (Schmerzen) leicht 
der Diagnose, so dass infolge des Missverhältnisses zwischen objectiven Be¬ 
fund und Klagen des Verunfallten oft an Simulation gedacht wird. Der peri- 
cardiale Ursprung dieser Schmerzen kann in den erst längere Zeit nach dem 
Unfall zur Begutachtung gekommenen Fällen nur dann mit entsprechender 
Sicherheit behauptet werden, wenn in der ersten Zeit nach dem‘Unfall an¬ 
dere Erscheinungen von Pericarditis ärztlich nachgewiesen wurden. 

Auf das häufige Vorkommen pericardialer Geräusche bei an¬ 
scheinend gesundem Herzen hat Buttersack (Jubiläumsfestschrift des 
Friedrich-Wilhelms-Institutes, citirt nach Referat in der A S. V. Z. 1896, 9) 
hingewiesen. Ueber gleichzeitige subjective Beschwerden (Herzklopfen, Kurz- 
athmigkeit) klagten selbst bei sehr intensiven körperlichen Anstrengungen nur 
auffallend wenige der von ihm Untersuchten. 

Die forensische Beurtheilung solcher Fälle empfiehlt der genannte 
Autor davon abhängig zu machen, ob von der das Geräusch hinterlassenden 
früheren Erkrankung her auch der Herzmuskel afficirt ist, also vor allem 
Beobachtung der Herzthätigkeit. Ist auch bei kleineren, vorübergehenden 
Störungen der subjectiven Auffassung des einzelnen Gutachters ein grösserer 
Spielraum belassen, so ist doch nicht ausseracht zu lassen, dass durch 
fernere häutige und grosse Anstrengungen ursprünglich kleinere myocardi¬ 
tische Herde sich vergrössern und im Laufe der Zeit zu Herzinsufficienz führen 
können. 

Die traumatische Genese anderer Erkrankungen, wie Chylothorax 
(Beobachtung Wiesinger’s), Emphysem des Mediastinum (Petebsson), 
bedarf bei der Einfachheit der in Betracht kommenden Verhältnisse und der 
grossen Seltenheit dieser Leiden nur der namentlichen Erwähnung. 

XL 

Traumatische Erkrankungen der Baachorgane. 

Von den auf traumatische Genese zurückzuführenden Affectionen der 
Unterleibsorgane scheiden zunächst alle Folgezustände, wie sie sich an pene- 
trirende Bauchverletzungen anschliessen können, für die Besprechung aus. 
Es können nur jene Erkrankungen berücksichtigt werden, die sich nach 
subcutanen Verletzungen vorzugsweise der parenchymatösen Unterleibs¬ 
organe entwickeln. Sie sind durchwegs Contusionsverletzungen, entstehen 
entweder durch directe Einwirkung einer stumpfen Gewalt (Fall, Stoss, Schlag, 
Ueberfahrenwerden), welche eine grössere Unterleibsfläche trifft, ohne zu einer 
Trennung der elastischen Bauchwandungen zu führen, oder auch auf indirectem 
Weg (Contrecoup) bei Sturz aus grösserer Höhe auf Gesäss, Füsse etc. 

Die procentuale Betheiligung der einzelnen Organe steht im directen 
Verhältnis zum Volumen der einzelnen Organe; am häufigsten sind Leber¬ 
verletzungen, dann kommen in absteigender Reihenfolge die Verletzungen der 
Nieren, Milz, Bauchspeicheldrüse etc. 

Leber- und Gallenblase. Leichte Contusionen und oberflächliche Ein¬ 
risse des Parenchyms können bei Fernhaltung accidenteller Schädlichkeiten 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


symptomlos verheilen ohne auch später zu weiteren gesundheitlichen Beein¬ 
trächtigungen Veranlassung zu geben. Bei entsprechender Intensität der 
einwirkenden Gewalt können schwerere Läsionen zu Stande kommen unter 
allen möglichen Combinationen von Hyperämie mit bedeutender Volnmzunahme 
des Organes, nicht selten combinirt mit umfangreicheren Blutungen nach 
Berstung der Kapsel, Einrissen des Gewebes, Ablösung des serösen Ueber- 
zuges durch Blutextravasate zwischen diesem und dem Parenchym, oder 
Blutungen in das mehr weniger zerstörte Lebergewebe selbst („Leberapoplexie“). 
Der aus solchen primären Veränderungen resultirende Folgezustand verläuft 
als Hepatitis traumatica (einfach-reactive Entzündung) oder unter com- 
plicirender Mitwirkung pyogener Mikroben als Leberabscess oft in ver¬ 
schiedener Weise. 

Hinsichtlich der Provenienz der Entzündungserreger bemerken wir unter 
Hinweis auf die Ausführungen über die Entstehung von infectiösen Entzün¬ 
dungen in anderen inneren Organen, nach welchen subseröse oder intra¬ 
parenchymatöse Blutextravasate einen günstigen Nährboden darstellen, auf 
welchem die im Organismus kreisenden Mikroorganismen sich ansiedeln und 
zu entwickeln vermögen, dass schon infolge der Nachbarschaft des (con- 
tundirten und für Bacterien seines Inhaltes durchgängiger gewordenen) 
Darmes hinreichende Gelegenheit zur Infection von Leberwunden gegeben 
ist. Hildebrand berichtet von einem 6 Tage nach einem Stoss in die 
Lebergegend laparotomirten Kranken, bei welchem in dem blutig-eitrigen 
Inhalt eines Leberabscesses zahlreiche Colibacillen nachgewiesen wurden. 

Die klinischen Erscheinungen der traumatischen Hepatitis (schon kurz 
nach der Gewalteinwirkung entstehende Druckempfindlichkeit der Leber¬ 
gegend, Gefühl von Völle und Schwere, percussorisch und palpatorisch nach¬ 
weisbare Vergrösserung, Icterus, nicht selten Glycosurie, galliges Erbrechen, 
ferner der charakteristische rechtsseitige Schulterschmerz) bedürfen hier keiner 
weiteren Besprechung. Es sei hier nur noch kurz daran erinnert, dass beim 
Sitz des Entzündungsherdes im oberen convexen Theil durch Fortsetzung der 
Entzündung per contiguitatem auf dem Weg der Lymphspalten des Zwerch¬ 
felles auch secundär die Pleura, resp. das Lungengewebe in Mitleidenschaft 
gezogen werden kann, oder es kommt zur Bildung circumscripter peritonealer 
Abscesse (subphrenische A.) zwischen convexer Leber- und Zwerchfellfläche. 

Dass seitens unvollständig zur Resorption gelangter Blutherde noch 
nach Monaten oder später die Infectionsmöglichkeit durch pyogene Mikroben 
vorliegen kann, wird man in concreto beim Nachweis des zeitlichen Zusammen¬ 
hanges zwischen Trauma und Krankheit zu berücksichtigen haben. 

Ob auch für Falle von chronischer Entzündung des Organs mit Ausgang in 
Schrumpfung traumatische Schädigungen als ätiologische Momente angesprochen werden 
dürfen, ist in Rücksicht auf die Spärlichkeit des vorliegenden Materials zur Zeit noch strittig. 

Stern und Löwenstein führen als weitere aus Leberquetschungen resultirende Unfall- 
folgen an: 

Pfortader verschliessung (nach wiederholter Einwirkung stumpfer Gewalt), Wander¬ 
leber bei vorbestehender Disposition infolge Hängebauch, traumatische Gallenblasen¬ 
entzündung mit Cholelithiasis. 

Betreff der Zerreissungen von Gallenblase und Ergiessen von Galle in 
den freien Bauchfellraum hatte man lange Zeit die Ansicht, dass unter dem 
Entzündung bewirkenden Reiz der Galle ausserordentlich schnell eine ganz 
besonders heftige, eitrige Peritonitis auftreten könne. Nach den neueren For¬ 
schungen kann jedoch die Galle an sich überhaupt keine entzündlichen Er¬ 
scheinungen zeitigen, da sie nicht blos aseptisch ist, sondern auch, wie durch 
ihre die Fäulnisprocesse im Darm herabsetzende physiologische Thätigkeit 
schon nahe gelegt wird, auch antiseptisch wirkt 

Nieren. Wanderniere: Die Möglichkeit einer Lageveränderung ist bei der 
Niere in viel höherem Maass gegeben als bei der Leber. Küster (Deutsche 


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Chirnrgie) sieht in dem gehäuften Auftreten des Leidens in der Zeit zwischen 
20 und 40 Jahren, wo mit der stärksten Ausnutzung der Körperkräfte auch 
die aus schwerer körperlicher Arbeit erwachsenden Gefahren am meisten im 
Vordergrund stehen, einen Beweis für die traumatische Aetiologie der Wander¬ 
niere. Auch Güterbock (A. f. kl. Ch. 1895) hält die traumatische Wander¬ 
niere häufiger als Wagner und Blasius und macht besonders auf ihre Ent¬ 
stehung im Anschluss an langsam zur Resorption gelangende umfangreiche 
circumrenale Blutungen aus der Kranzblutader der Nierenkapsel und deren 
Verbindungszweige mit der Nierensubstanz aufmerksam. Je nach der Grösse 
dieser Blutungen wird die Niere mehr oder weniger vollständig aus ihrer 
Kapsel ausgeschält, und wenn sich die Verbindung zwischen ihr und der 
Kapsel nicht wiederherstellt, wird sie nach Verlust ihres dauernden Haltes 
zu Lageveränderungen geneigt. Unter Hinzutritt von weiteren Momenten 
(nach infolge des Trauma sich entwickelnden Veränderungen im Volumen 
und Gewicht der dislocirten Niere durch Entzündung und urinöse Rückstauung) 
werden auch noch die anderweitigen Befestigungsmittel und speciell der 
Nierenstiel (die Nierengefässe) insufficient, wodurch die weitere Ausbildung 
des Zustandes der Wanderniere begünstigt wird. 

Ebenso wie eine ganz plötzliche, einmalige, brüske Muskelzusammen¬ 
ziehung, kann auch eine zwar langsamer erfolgende, aber allmählich zur 
stärksten Inanspruchnahme der Muskulatur führende Zusammenziehung (Heben 
schwerer Lasten z. B.) eine Verschiebung der Niere (gewöhnlich unter einem 
„deutlich gefühlten Ruck“) erzeugen. 

Das bevorzugte Auftreten der Wanderniere auf der rechten 
Seite erklärt sich aus den anatomischen Verhältnissen und speciell aus der 
bedeutenden Ueberlegenheit der Befestigungsmittel der linken Niere gegen¬ 
über der rechtsseitigen. Im Uebrigen kommt auch hier, wie bei allen trau¬ 
matischen Nierenaffectionen die Ausfüllung des rechten Hypochondrium durch 
die mächtige Drüsenmasse der Leber in Betracht, während das linke Hypo¬ 
chondrium bei der relativen Kleinheit der Milz im wesentlichen gashaltige 
Organe enthält. 

Auch bei der traumatisch entstandenen Wanderniere kann es durch 
Stauung der Blutzufuhr zu Schrumpfen und Atrophiren des dislocirten Or¬ 
ganes kommen (unter Entwicklung einer compensatorischen Hypertrophie der 
zweiten Niere), ferner durch Abknickung oder Torsion des Urether zu Hydro- 
nephrose mit anfallsweisem Auftreten (intermittirende H.) oder permanentem 
Bestehen der bekannten klinischen Erscheinungen. Nach Abknickung des 
Nierenstieles wurde Reflexkrampf in den Gefässen der zweiten Niere beob¬ 
achtet, der zu vollständiger Sistirung der Urinsecretion und urämischen Er¬ 
scheinungen führen kann. 

Dass auch durch die einfache nicht complicirte Wanderniere eine 
totale Einbusse der Erwerbsfähigkeit veranlasst werden kann, beweisen zwei 
Beobachtungen von Küster. 

b. ferner unter Peritonitis. 

Nierenruptur entsteht durch directe oder indirecte Gewalteinwirkung, 
welch’ letztere entweder den ganzen Körper gleichzeitig treffen oder sich von 
einem anderen Körpertheil auf die Niere fortpflanzen kann. Die Richtung 
der Gewalteinwirkung ist meistens seitlich in die Lenden- oder Nierengegend. 

Nach Bramann und Sladowsky finden sich bei indirecten Ge waltein Wirkungen meistens 
Risse am Hilus, nach directen häufiger unregelmässige Zerreissungen an der Nierenvorder¬ 
fläche, eine Ansicht, welche die experimentellen Untersuchungen von Herzog und Tillmakn’s 
auch bestätigt haben. 

Küster erklärt sich die Nierenrupturen aus dem Zusammenwirken zweier Umstände: 
einmal durch eine plötzliche, stossweise Adductionsbewegung der beiden unteren beweg¬ 
lichen Rippen gegen die Wirbelsäule und zweitens durch die hydraulische Pressung der 
in den Nieren enthaltenen Flüssigkeiten. (Wirft man eine frisch exstirpirte Niere auf den 
Boden, so entsteht keine Ruptur, dagegen wird eine solche mit Leichtigkeit hervorgerufen, 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


wenn das Organ mit Wasser gefallt ist.) Der Grand für den vorzugsweise beobachteten 
qneren and radiären Verlauf der Nierenrupturen liegt nach Grawitz im Bau der Niere, 
welche im Fötalleben aus 12—15 renculi bekanntlich zusammenwächst, die sich erst spät 
und oft nur unvollkommen zu einer glatten Oberfläche vereinigen. Auch wenn sie ver¬ 
wachsen, bilden diese Furchungen noch einen locus min. resist. Die grösseren Einrisse 
entstehen meistens am Hilus oder in seiner Nähe, weil hier die Niere wegen ihrer gerin¬ 
geren Breite auch nur einen entsprechend geringen Widerstand zu leisten vermag. 

Bei gleichzeitigen Einrissen der Faserkapsel der Niere ergiesst sich das 
Blut in das pararenale und retroperitoneale Bindegewebe, woselbst diese 
Ansammlung zu umfangreichen Hämatomen führen kann, die nach Bramann 
mitunter aufwärts bis zum Zwerchfell und abwärts bis in das Becken reichen. 

Krankheitsverlauf und Symptomatologie ist bei den Nierenrupturen sehr 
variabel. Neben leichteren Fällen, die rasch heilen, so dass derartig Ver¬ 
unfallte oft schon nach wenigen Tagen frei von Symptomen sind (König), 
finden sich solche, in welchen die Krankheitserscheinungen (Hämaturie, 
Nierenschmerz etc. etc.) sich auf eine Reihe von Wochen ausdehnen können, 
ebenso wie eine dritte Gruppe von Fällen, in welchen sich plötzlich wieder 
Blutbeimischungen im Urin einstellen, nach dem derselbe schon seit längerer 
Zeit blutfrei war (Thrombenlösung und secundäre Blutung aus den zerrisse¬ 
nen Gefässen), oder ein perirenaler Bluterguss kann noch spät in das Nieren¬ 
becken durchbrechen, wodurch dann wieder eine neue, zweite Hämaturie er¬ 
zeugt wird, welche sich auch klinisch von der eben erwähnten Nachblutung, 
die wie die primäre auftritt, schon dadurch unterscheidet, dass das Blut bei 
den in Rede stehenden Spätblutungen bräunlich ist und Blutkörperchen in 
den verschiedensten Zerfallstadien unter dem Mikroskop erkennen lässt. Mit 
der „Spätblutung“ geht dann gewöhnlich auch Schmerz und Fieber zurück, 
die Schwellung in der Nierengegend wird geringer, doch können bis zu voll¬ 
ständiger Rückbildung Monate vergehen (Tuffier). 

Die aus Nierenrupturen entstehenden Complicationen sind traumatische 
Pyonephrose, Nierenabscesse, peri- und paranephritische Abscesse, Pseudo- 
hydronephrose (die nach Quetschung der Nierengegend entstandene Ansamm¬ 
lung von Urin rings um die Niere), ferner Hydronephrose, z. B. bedingt durch 
Compression des Urether seitens eines perirenalen oder periurethralen Ergusses 
u. s. w. 

Die traumatische Nephritis ist nach Küster durch Albuminurie mit 
Polyurie ausgezeichnet. Während die Anwesenheit der Cylinder und der 
ihnen anhaftenden Epithelien auf eine Betheiligung seitens der Harncanälchen 
hinweist (parenchymatöse Nephritis), spricht die gesteigerte Hamsecretion 
nach der Ansicht einiger Autoren mehr für eine Betheiligung des inter¬ 
stitiellen Gewebes, während wieder andere das Krankheitsbild aus einer 
Mischform beider Entzündungsgruppen erklären. Eine weitere Eigentümlich¬ 
keit soll in dem zuweilen ungewöhnlich schnellen Auftreten von ödematösen 
Anschwellungen der Füsse, des Gesichts oder Hydrops universalis bestehen. 

Traumatische Hydronephrose. (Paul Wagner, Berl. Klinik 1894; 
Nathrat, J. D. Bonn 1897). 

Die in Betracht kommenden, zum Theil schon im Vorstehenden er¬ 
wähnten Entstehungsmöglichkeiten sind folgende: 

1. Verletzung des Urethers mit nachträglicher Stricturbildung. 

2. Verstopfen durch ein Blutgerinnsel, das entweder mit der Zeit weg¬ 
gespült wird oder, wenn organisirt, einen dauernden Verschluss bilden kann. 

3. Lockerung eines Nierensteines durch ein Trauma; Verlegung des 
Urethers und Einkeilung in denselben. 

4. Compression des Urether durch periurethrale oder perirenale Blut- 
resp. Harnergüsse. 

5. Traumatische Nierenverlagerung mit consecutiver Abknickung des 
Urethers. 


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Thiem erwähnt als charakteristisch für die echte tranmatische Hydronephrose die 
allmähliche, etwa innerhalb eines Monates sich abspielende Entwicklung der Geschwulst 
in der Lenden-Nierengegend.' 

Nephrolithiasis. Müller (A. f. Ch. Bd. 50) hat aus der BRAMANN’schen 
Klinik in Halle eine Reihe von Fällen von NierensteinbilduDg nach Wirbel- 
fracturen mit Rückenmarksläsionen combinirt, veröffentlicht. Unter zehn fand 
er achtmal beiderseits Concrementbildung im Nierenbecken. Nach experi¬ 
mentell erzeugter Rückenmarkquetschung hat er ausgedehnte Verfettung des 
Nierenparenchyms mit Albuminurie eintreten sehen. 

Zur Pathogenese äussert sich der genannte Autor dahin, dass infolge 
der Rückenmarkläsion als trophische Störung eine acute nekrotisirende Ne¬ 
phritis auftritt und dass das abgestorbene, durch den Harn fortgeschwemmte 
Stroma mit Epitheleylindern das Gerüst bildet, in dem sich die im alkalischen 
Harn suspendirten Sedimente ablagern. Im Gegensatz hinzu legt Stern (Er¬ 
gebnisse der allgemeinen Pathologie 1896) einer aus der Blase aufsteigenden 
infectiösen Entzündung, wie sie ja so häufig nach Wirbel Verletzung auftritt, 
eine grössere ätiologische Bedeutung bei. 

Weber (M. m. W. 1897, 12) erklärt in einem von ihm beobachteten Fall von doppel¬ 
seitiger Nierensteinbildnng, im Anschluss an eine Nierencontnsion entstanden, die Nephro¬ 
lithiasis dnreh Inkrustirnng der traumatisch veranlassten Blutextravasate und Entzündungs¬ 
herde mit Harnsalzen. 

Ueber Verschlimmerung vorbestehender chronischer Nierenleiden 
durch Unfallereignisse berichtet Albü (A. f. U. 1897). 

Milz. Die ätiologische Bedeutung subcutaner Milzläsionen für die 
Leukämie siehe oben. 

Im Uebrigen ist hier, da die meisten Fälle von Milzrupturen schon 
nach kurzer Zeit letal endigen, neben entzündlicher Anschwellung des Organes, 
Abscess, Cystenbildung, Perisplenitis mit den verschiedenen Stadien der 
regressiven Metamorphose, welche die fibrinösen Auflagerungen auf der Milz¬ 
kapsel durchmachen können, Zustände, deren traumatische Genese und Sym¬ 
ptomatologie ohne weiteres klar ist, nur die Wandermilz kurz zu besprechen. 

Nach Ledderhose bildet sich allerdings in den meisten Fällen die 
Wandermilz ganz allmählich aus, indem mit der langsam fortschreitenden 
Dehnung der Aufhängebänder die Ortsveränderung Hand in Hand geht, aber 
auf der anderen Seite hält er es doch durch klinische und anatomische Er¬ 
fahrungen für erwiesen, dass äussere Gewalteinwirkung (Fall, Sprung etc.) 
im Stande ist, Dislocation der Milz durch partielle Einrisse der Ligamente 
herbeizuführen, und verweist auf die Beobachtung von Pirotaix. 

Die eine Lageveränderang der Milz begünstigende Wirkung eines vorbestehenden 
Milztumors wird durch eine Beobachtung von Rezeck illustrirt, wonach sich eine Inter- 
mittensmilz nach Fall von einer Treppe in die Gegend des Beckeneinganges gesenkt hat und 
daselbst allseitig verschieblich lag. 

Die durch Stieltorsionen hervorgerufenen Circulationsstörungen ent¬ 
sprechen vollständig den analogen Krankheitszuständen der Nieren (s. o.). 

Wie leicht die Wandermilz zu erheblicher Erwerbsbeschränkung führen 
kann, ergibt sich schon aus ihrer Symptomatologie. 

Magen. Die Beziehungen zwischen Magenerkrankungen und Trauma 
hat in jüngster Zeit Ebstein (Göttingen) mit besonderer Rücksichtnahme auf 
das Unfallversicherungsgesetz zum Gegenstand einer lesenswerten Abhandlung 
gemacht (D. A. kl. M. Bd. 54). Die die Magengegend treffenden Traumen, 
welche den Magen schädigen, indem sie Magenblutungen, resp. Geschwüre 
veranlassen, bestehen in Druck, Fall und Contusion. Als primäre traumatische 
Veränderungen der Magenschleimhaut finden sich blasige hämorrhagische 
Abhebung derselben, mit blutiger Suffusion des umgebenden Gewebes, hieran 
anschliessend Zustände entzündlicher Reizung. Unvollkommene Durch¬ 
trennungen der Magenschichten kommen selten vor, indem bei Contusions- 
rupturen der Riss meistens durch sämmtliche Häute geht Dass für die 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 00 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


traumatische Genese solcher Veränderungen der jeweilige Füllungszustand 
des Magens von maassgebender Bedeutung werden kann, braucht hier nur 
kurz erwähnt zu werden. 

Hinsichtlich der Häufigkeit der nach Trauma zur Entwicklung gekommenen Magen¬ 
blutungen, resp. Magengeschwüre differiren die Angaben der Beobachter bedeutend. Ebstein 
bewertet die traumatischen Magengeschwüre auf 3*8%; da es ihm zweifelhaft erscheint, 
ob es sich bei einer nach Trauma auftretenden Hämatemesis immer um Magengeschwüre 
gehandelt, wie die meisten Beobachter annehmen, empfiehlt er, wenn nicht die Diagnose 
aus anderen Zeichen mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit gestellt werden 
kann, sich mit der symptomatischen Diagnose „Bluterbrechen nach Trauma“ vorerst zu 
begnügen. 

In einer Beobachtung von Leubb (Ctrbl. f. med. Wiss. 1886) traten unmittelbar nach 
dem Trauma die ersten Magenbeschwerden auf und schon nach kurzer Zeit die charakte¬ 
ristischen Ulcus-Symptome (u. a. circumscripter Schmerz, Druckempfindlichkeit, Steigerung 
der Schmerzen durch linke Seitenlage etc.). 

Die Entstehung des Magengeschwüres erklärt man sich aus der peptischen 
Wirkung des Magensaftes auf die hämorrhagischen Infiltrate und die in ihren 
Ernährungsverhältnissen durch die Circulationsstörungen beeinträchtigte Magen¬ 
schleimhaut. Gerade die Prädilectionsstellen des Geschwüres, insbesondere 
die kleine Curvatur, werden, wenn ein Trauma den durch Ingesta oder Gas 
stark ausgedehnten Magen trifft, am meisten gefährdet, da an dieser Stelle 
der volle Magen dicht der Wirbelsäule anliegt. 

In einem von Pauly und Ponfick (A. S. V. Z. 1898, 2) mitgetheilten Fall ist die 
traumatische Genese durch die besondere Gestaltung des Substanzverlustes unverkennbar, 
der entgegen dem sonstigen Befund bei runden Magengeschwüren (also ohne traumatische 
Aetiologie) einem nach aussen sich erweiternden Trichter gleicht; die durch das Trauma 
in stärkerer Weise in Mitleidenschaft gezogenen äusseren Schichten des Magens zeigten 
infolge der hiedurch veranlassten geringeren Widerstandsfähigkeit auch rascheren und 
ausgedehnteren Zerfall. 

Richardiere, Riegel (Nothnagels spec. Pathol. und Therap. XVI) betonen in Ueber- 
einstimmung mit experimentellen Ergebnissen zunächst die grosse Tendenz der Magen¬ 
schleimhaut zur Heilung. Nach ihrer Ansicht bedarf es noch weiterer Factoren, damit auf 
dem Boden einer traumatisch-hämorrhagischen Infiltration ein chronisches Magengeschwür 
entstehe. Die genannten Autoren unterscheiden beim traumatischen Ulcus zwei verschie¬ 
dene Verlaufsweisen; die eine Gruppe geht rasch, nach zumeist sehr heftigen Erscheinungen 
in Heilung über, während die zweite einen sich länger hinziehenden Verlauf zeigt, wie ihn 
gewöhnlich das klassische Ulcus ventriculi aufweist. Riciiardiere glaubt den Grund dieser 
Verschiedenheit in dem differenten Verhalten des Magensaftes suchen zu sollen, indem bei 
normalem Magensaft die lädirte Magenschleimhaut ebenso rasch verheilt, wie eine andere 
einfache Wunde. Bei erhöhter Acidität des Magensaftes aber geht die Affection in das 
typische Magengeschwür über. 

Ueber den unterstützenden Einfluss von Chlorose, Anämie, oder 
Zuständen, die an und für sich schon zu einer Hyperämie der Magenschleim¬ 
haut führen, wie acuter oder chronischer Katarrh, Störungen im Pfortader¬ 
kreislauf etc. weitere Bemerkungen zu machen, ist wohl kaum nöthig, eben¬ 
sowenig wie über die ungünstige Beeinflussung vorbestehender Magen- resp. 
Darmgeschwüre durch eine Contusion des Abdomens. 

Merycismus (Rumination) nach Stoss in die Magengegend mit einer 
Deichsel hat Dufous bei einem bis zum Unfall vollständig gesunden Mann 
beobachtet. Auch Riegel (1. c.) erwähnt bei der Aetiologie der Rumination 
das Trauma. Nach unserem Erachten bedarf es für das Zustandekommen 
dieser Motilitätsneurose des Magens einer vorbestehenden nervösen Dispo¬ 
sition. 

Zigler (M. m. W. 1894, 6) berichtet über eine traumatische Magenwandcyste, 
entstanden innerhalb der Magenhänte, welche sich von einander durch die Quetschung des 
Magens zwischen den Paffem eines Eisenbahnwagens getrennt hatten. Bei der Entstehung 
des Hohlraumes sind die Blätter der Magenwand ursprünglich offenbar in geringerer Aas¬ 
dehnung abgehoben gewesen als zur Zeit der Operation. Die Geschwulst bildete sich erst 
allmählich dnrch die weitere Füllung und durch die von der letzteren hervorgerufene 
weitere Ablösung der Blätter des Magens, da sonst der Inhalt des Hohlraumes geronnene 
Blutklumpen und nicht eine mit Blut vermischte Flüssigkeit hätte enthalten können. 

Darm. Von den durch traumatische Schädigungen zu Stande kommen¬ 
den Darmerkrankungen brauchen jene, welche einen sofortigen chirurgischen 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN 


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Eingriff bedingen (Ruptur, innere Einklemmung etc.), nicht berücksichtigt zu 
werden. Zu erwähnen sind hier: 

1. Ulcus duodeni traumaticuni, für dessen Entstehung die gleichen Ver¬ 
hältnisse maassgebend sind, wie für das Ulcus ventriculi traumatici. 

2. Die traumatische Enteritis mit Bildung von Narbenstenosen. Hieher- 
gehörige Fälle finden sich in der unter Stern’s Leitung verfassten Dissertation 
von Epstein aus der Breslauer Klinik mitgetheilt; in allen diesen Fällen 
(citirt nach Ref. A. S. V. Z. 1895, 4) schloss sich die Enteritis unmittelbar 
an das Trauma (Baucheontusion) an; in drei Fällen wurde die Diagnose durch 
die Section, in einem durch die Operation bestätigt. 

3. Eine Betheiligung des Peritoneum am Entzündungsprocess findet bei 
Typhlitis, Peri- und Paratyphlitis nach Trauma statt. Leichtere Fälle 
gehen in Heilung über, in schwereren wurden tödtliche Blutungen, gan¬ 
gränöser Zerfall von ganzen Darmabschnitten, Bildung von anus praeternaturalis 
etc. beobachtet. 

4. Für die von einzelnen Autoren erwähnte traumatische Darm¬ 
lähmung und Invagination, deren Möglichkeit theoretisch ja zuzugeben ist, 
liegt eine einwandfreie Casuistik bis jetzt noch nicht vor. 

Traumatische Hernien. Bei der Häufigkeit des Vorkommens von 
Brüchen und speciell von Leistenbrüchen unter der arbeitenden Bevölkerung 
ist die Frage nach der acuten traumatischen Entstehung der Brüche schon 
seit längerer Zeit actuell. Da die Bildung eines Bruches zur nothwendigen 
Voraussetzung die Anwesenheit eines Bruchsackes hat (bei den Leistenbrüchen 
der persistirende Theil des Processus vaginalis peritonei), so ist zunächst klar, 
dass diese Ausstülpung des Bauchfells, dieser congenital präformirte, spätere 
Bruchsack, nicht durch ein Trauma entstehen kann, wie man es in der Un¬ 
fallpraxis als Betriebsunfall definirt hat. 

Wenn nach der Ansicht von Roser, Socin u. A. ein Brachschaden als Unfall über¬ 
haupt nicht in Betracht kommen kann und auch Blasius die plötzliche Entstehung eines 
Leistenbrnchea ohne gleichzeitige Zerreissung des Leistenringes oder Einklemmung des 
Bruchinhaltes in Abrede stellt, so hat doch das R. V. A. unter Bezugnahme auf eine Ent¬ 
scheidung des Reichsgerichtes in einem einen Bruchschaden betreffenden Haftpflichtfall 
und im Einklang mit der Auffassung anderer Autoren (Thiem, Kaufmann etc.) wiederholt 
in seiner Judicatur die Thatsache des Bruchaustrittes unter Umständen als entschädigungs¬ 
pflichtig anerkannt, indem es in seiner bezüglichen Entscheidung dahin gestellt sein lässt, 
ob das plötzliche Entstehen eines Bruches lediglich auf traumatischem Weg und ohne vor¬ 
gängige Bruchanlage denkbar ist oder aus dem Gebiet der pathologischen Möglichkeiten 
herausfällt. Nicht die bestehende Anlage z. B. zu einem Leistenbruch, sondern das sog. 
Austreten des Bruches, d. h. eines Theiles der Eingeweide durch die Bruchpforte des 
Leistencanals oder auch die Einklemmung eines Eingeweidetheiles in einen Bruchsack wird 
unter Umständen als Unfall betrachtet werden müssen. Das Auftreten eines Bruches in 
diesem Sinn bringt nicht nur gegenüber dem Umstand eines vollständig gesunden, sondern 
auch gegenüber demjenigen eines mit Bruchanlage behafteten Menschen eine die Erwerbs¬ 
fähigkeit mindernde Verschlimmerung des körperlichen Gesammtbefindens hervor. Das 
Hervortreten eines Theiles der Eingeweide durch den Leistencanal aus der Unterleibshöhle 
bei vorhandener Bruchanlage vollzieht sich häufig dunch eine Kette kleinerer oder grösserer 
Anstrengungen allmählich, es kann aber auch im Anschluss an schwere körperliche Arbeit 
oder ungewöhnliche Anstrengung plötzlich erfolgen. Im ersteren Fall stellt es keinen Un¬ 
fall dar, wohl aber im letzteren. 

Bei der stets wachsenden Zahl von Entschädigungsansprüchen wegen 
acut traumatisch entstandener Brüche hat .das R. V. A., gegenüber dessen 
Auffassung besonders Blasius wiederholt seine Bedenken geäussert, sich ver¬ 
anlasst gesehen, die Momente, von welchen die Rentenbewilligung abhängig 
ist, noch genauer zu präcisiren. Es verlangt besonders den „fast zwingen¬ 
den“ Nachweis eines mit mehr als betriebsüblicher Anstrengung 
verbundenen und zeitlich bestimmten Betriebsereignisses, „welches so ge¬ 
artet ist, dass es als Ursache für den Austritt des Bruches nach wissenschaft¬ 
lichen Grundsätzen und praktischer Erfahrung angesehen werden kann.“ 

Nach einer Rec entsch. v. 2. XI. 1897 kann auch eine betriebsübliche Arbeit Ver¬ 
anlassung zu Bruchaustritt werden, sofern die begleitenden Umstände dessen plötzliche 
Herbeiführung durch eine solche Arbeit wahrscheinlich machen. 

oö* 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Aus dem vorliegenden sehr reichhaltigen Spruchmaterial ergibt sich, 
dass nur ausnahmsweise eigentliche Unfallsereignisse (directe Gewalteinwir¬ 
kung auf die Leistengegend, Ausgleiten oder Fallen beim Heben oder Werfen 
von schweren Gegenständen und Lasten) in Betracht kommen, sondern meist 
handelt es sich, wie Kaufmann (1. c.) betont, um ungewöhnliche Anstren¬ 
gungen (sei es dass schwere, jedoch geläufige Arbeiten unter ausnahmsweise 
ungünstigen Umständen verrichtet werden müssen, sei es dass ungewohnte 
Anstrengung oder über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit hinaus¬ 
gehende Anstrengung vorliegt). 

Für die Praxis des Gutachters ergeben sich Schwierigkeiten nicht so 
sehr aus der Qualification der fraglichen Körperleistung, also aus dem Nach¬ 
weis der acut zur Wirkung gekommenen maximalen intraabdominalen Druck¬ 
steigerung, sondern vielmehr bei der Construction des directen Causalnexus 
zwischen Anstrengung und Bruchaustritt, da die Behauptung des Verunfallten 
an sich begreiflicher Weise nicht mehr Bedeutung hat als etwaige Zeugen¬ 
aussagen. Das Charakteristische für die acute Entstehung besteht ausschliess¬ 
lich in dem plötzlich auftretenden, heftigen, kaum erträglichen Schmerz, der 
sich aus dem plötzlich geschaffenen räumlichen Missverhältnis zwischen der 
Capacität des vorbestandenen Bruchsackes und dem Volumen des neuen In¬ 
haltes desselben erklärt, den Verunfallten mindestens zur Unterbrechung der 
Arbeit nöthigt; nur für ausserordentlich kräftige und abgehärtete, gegen 
Schmerzen nicht empfindliche Individuen hat das R. V. A. (IX, 301) die 
Möglichkeit zugegeben, dass sie bei plötzlicher Entstehung eines Bruches noch 
weiter zu arbeiten vermögen. Im Uebrigen spricht in allen Fällen, wo das 
Vorhandengewesensein des durch seine Intensität charakteristischen Bruch¬ 
schmerzes zweifelhaft erscheinen muss, die Vermuthung dafür, dass die Ar¬ 
beit, welche mit der Bruchentstehung in Verbindung gebracht wird, nur Ver¬ 
anlassung für Entdeckung des Bruches, nicht aber Ursache für Entstehung 
des Bruchleidens ist, und das ist offenbar die weitaus grösste Zahl dieser so¬ 
genannten Unfallbrüche. 

Bei der praktisch so wichtigen, aber mitunter auch ebenso schwer zu 
lösenden Frage nach dem approximativen Alter eines Bruches ist u. a. zu 
berücksichtigen: 

1. Nachweis, ob früher schon eine Bandage getragen. (Hautveränderungen 
über der Bruchpforte durch eventuellen Pelottendruck, Druckspuren an benach¬ 
barten Körperstellen.) 

2. Grösse des Bruches. Kaufmann schliesst einen frischen Bruch aus 
bei und über citronengrosser Bruchgeschwulst. 

3. Irreponibilität trotz Abwesenheit frischer Incarceration. 

4. Besondere anatomische Verhältnisse des Leistencanals, Beschaffenheit 
des Brüchsackes, etwaige Adhäsionen mit dem Hoden. 

Die von mancher Seite postulirte Untersuchung beim Eintritt in die Ar¬ 
beit und deren Wiederholung in bestimmten kürzeren Zeiträumen behält kaum 
andere als theoretische Bedeutung. 

Aus der die Rechtssprechung des R. V. A. bei Bruchschäden behan¬ 
delnden Arbeit von KrIes (A. S. V. Z. 1895, 19) sei noch erwähnt, dass im 
allgemeinen gegen eine unfallsweise, also gegen eine acut traumatische 
Entstehung spricht: 

1. Vorhandensein eines doppelten Leistenbruches, soweit nicht ganz 
exceptionelle Verhältnisse vorliegen. 

2. l!ei einseitigem Bruch, Existenz einer erheblichen Bruchanlage, welche 
die allmähliche Entstehung begünstigt, auch auf der gesunden Seite. 

3. gleichzeitiges Vorkommen von Leistenbruch mit Leistenhoden 
(Kaufmann). 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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Ferner vorgerücktes Alter des Verunfallten, seit Jahren geübte Verrich¬ 
tung schwerer Arbeiten und ähnliches. 

Die traumatische Entstehung der sogenannten interstitiellen Leisten- 
hrüche betreffend, verweisen wir auf eine Beobachtung Kocher’s, der in einem 
bezüglichen Fall die Präexistenz eines leeren Bruchsackes in Abrede stellt, 
eine Anlage zur Bruchbildung aber in der auf der gesunden Seite deutlich 
nachweisbaren Schwäche der vorderen Wand des Leistencanals erblickt. 

Eine weitere Beziehung zwischen Trauma und Bruch ist in der Mög¬ 
lichkeit einer Bruchsackruptur, Darmverletzung eines schon alten, gefüllten 
Bruches durch ein Trauma gegeben. (Beobachtung v. Sick, D. Ztschr. f. 
Chir. 47). 

Die Gefahr der Einklemmung eines vorbestandenen Bruches durch ein 
Trauma bedarf keiner weiteren Besprechung. 

Von den übrigen Bruchformen kann man wegen der Seltenheit ihrer 
traumatischen Entstehung die Nabelbrüche übergehen. 

Im Gegensatz zu der negirenden Ansicht von Görtz (M. U. 1896, 12) gibt Kaufmann 
hinsichtlich der unfallrechtlichen Bedeutung der Schenkelbrüche deren acut trauma¬ 
tische Genese zu. Eine solche wird auch für die in der weissen Bruchlinie oberhalb des 
Nabels vorkommenden epigastrischen Brüche — wegen ihrer verhältnismässig starken, 
mit dem Magen Beziehung habende Beschwerden auch Magenbrüche genannt — von 
Seydel unter speciellem Hinweis auf die WiTZEL’sche Arbeit als häufig angenommen, Rinne 
hält ihre traumatische Entstehung für verhältnismässig selten und ist der Ansicht, dass 
Bauchbrüche nur nach heftigen Traumen (Stoss. Hafschlag, Fall, Ueberfahren- resp. Ver¬ 
schüttetwerden) aus den hiedurch bewirkten Zerreissungen der bindegewebig muskulösen 
Bauchwand unmittelbar und plötzlich entstehen, während in dritter Linie König entschieden 
an der congenitalen Natur der als Bruchpforte dienenden Defecte, Querspalten in der Linea 
alba festhält, deren Entstehungsmodus durch ein äusseres Trauma oder durch ein inneres, 
in Gestalt sehr erhöhten abdominalen Druckes bis jetzt noch in keiner Weise erwiesen 
ist (A. N. 1897, 7). Uebereinstimmung herrscht unter den genannten Autoren nur 
hinsichtlich der häufigen ungünstigen Beeinflussung vorbestandener Magen¬ 
brüche durch äussere Veranlassungen (Anstrengungen, directe Gewalteinwir¬ 
kungen), wenn im unmittelbaren Anschluss an ein Trauma unter Vergrösserung des Bruches 
sich vermehrte Reizerscheinungen einstellen. 

Pankreas. Infolge der wohlgeschützten Lage des Pankreas kommen 
traumatische Schädigungen desselben nur selten vor. Am häufigsten ent¬ 
stehen solche durch Ueberfahren werden. Praktische Bedeutung haben nur die 
Cysten. 

Nach der Ansicht von Berg und Heinrichs entstehen durch eine Gewalt¬ 
einwirkung, welche das Organ direct von vorne nach hinten trifft in dem 
Theil, wo das Pankreas auf der Wirbelsäule liegt, Einrisse der Drüse, Blutung, 
Secretabsonderung in die Peritonealhöhle (Bursa omentalis), welche zur Folge 
haben, dass sich durch den Beiz eine entzündliche Kapsel um das ergossene 
Secret herum bildet, die sich nach und nach immer mehr füllt und erheb¬ 
liche Grösse erreichen kann. 

Die von einzelnen Autoren vertretene Ansicht, es handle sich um Reten¬ 
tionstumoren (Einfluss der verdauenden Kraft des Pankreassaftes) ist bis jetzt 
keineswegs allgemein anerkannt. Jedenfalls ist der Umstand, dass ein Hohl¬ 
raum im Bauch Pankreassaft enthält, noch kein Beweis dafür, dass diese 
Höhle aus Pankreasgewebe entstanden ist; der besagte Befund beweist nur, 
dass die Cyste mit dem Pankreas in Verbindung steht. 

Traumatische Blutcysten des Mesenteriums haben Hahn, Socin be¬ 
schrieben. 

Männliche Geschlechtsorgane. Von den forensisch belangreichen Er¬ 
krankungen der männlichen Geschlechtsorgane (Ambrosius, Vj. g. Med. 
IH. f. 12) erwähnen wir, abgesehen von den schon oben (s. „Trauma und 
Infection‘ l ) besprochenen tuberkulösen, resp. syphilitischen Hoden- und Neben¬ 
hodenerkrankungen nur die traumatische Entstehung von Hydrocele, Spermato- 
cele, (meist am Kopf des Nebenhodens sitzend oder mit dem corpus Highmori, 
resp. den Vasa aberrantia in Verbindung stehende Samencysten als Folge- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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zustande einer erlittenen Hoden-, Nebenhodencontusion). Ferner Varicocele, inso¬ 
fern eine erwerbsmindernde Verschlimmerung durch die Contusion eintreten 
kann. Hinsichtlich der unfallsweisen Entstehung der beiden zuerst genannten 
liegen Recursentscheidungen des R. V. A. (VII, 111; VIII, 59; IX, 214) vor. 

Weibliche Geschlechtsorgane. Auf die Erkrankungen der weiblichen 
Geschlechtsorgane als Unfallfolgen (wichtig wegen der zahlreichen in Land- 
wirthschaft, Textilindustrie beschäftigten Arbeiterinnen) hat zuerst Thiem in 
einem auf der Braunschweiger Naturforscherversammlung gehaltenen Vortrag 
(M. f. U. 1897, 10) aufmerksam gemacht. Kurze Zeit darauf hat die gleiche 
Materie Schwakze (A. S. V. Z.1898, 4 und 5) behandelt. Im Allgemeinen 
pflichtet er den TniEM’schen Ausführungen bei, wenngleich er bei einzelnen 
Arten von gynäkologischen Verletzungen zu anderen Schlüssen kommt. Wir 
wollen im Folgenden die zur allgemeinen Orientirung nöthigen Gesichts¬ 
punkte aus den beiden genannten Arbeiten, unseres Wissens den einzigen bis 
jetzt auf diesem Gebiet erschienenen, kurz hervorheben, ohne dass wir jedoch 
dabei auf die aus diesen Zuständen sich entwickelnden mittelbaren Unfall¬ 
folgen näher eingehen können. 

1. Retroflexio (-versio). Die Rückwärtslagerung des nicht schwangeren 
Uterus mit ihren graduell so vielfachen Uebergangsformen scheidet Thiem 
als Unfallfolge aus. Schwarze (1. c.) und v. Herff (A. L. V. Z. 1898, 7) fassen 
dagegen ihre Ansicht über die plötzliche Entstehung der Retroflexio in 
Uebereinstimmung mit Küstner dahin zusammen, dass sich wohl die meisten 
derartigen Fälle als incorrecte Beobachtungen oder als Verschlimmerung eines 
bereits vorbestandenen, wenn auch bislang ohne ausgesprochene Erscheinungen 
verlaufenden Zustandes entpuppen, während sie doch — wenn auch allerdings 
nur für seltenere Fälle — die traumatische Genese nicht in Abrede stellen. Sie 
erachten insbesondere in jenen Fällen, in welchen trotz später ungestörter 
Arbeitsfähigkeit die Retroflexio aus der Entwicklungszeit stammt, den Nachweis 
einer traumatischen Schädigung im Sinne des Unfallgesetzes als erbracht, wenn 
im Anschluss an einen an sich geeigneten Unfall (Sturz auf das Gesäss, plötz¬ 
liche aussergewöhnliche Anstrengung) aus demselben eine starke Zerrung der 
Gebärmutter resultiren kann, sich ohne weitere nachweisbare Veranlassung 
Dysmenorrhoe, Kreuz- oder andere bis nach dem Magen ausstrahlende 
Schmerzen, Symptome von Endometritis einstellen. 

2. Anteflexio (-versio) ist nur unter ganz besonderen Verhältnissen 
(gleichzeitiges Tiefertreten der Gebärmutter) als Verschlimmerung eines be¬ 
reits vorbestandenen Leidens unfallrechtlich zu berücksichtigen. 

3. Vorfall von Scheide und Gebärmutter. Hier ist in erster Linie mög¬ 
lichst genaue Anamnese über den vorherigen Körperzustand der Verunfallten 
und ihrer Leistungsfähigkeit vor dem Unfall zu erheben. Dass im Uebrigen 
differentialdiagnostisch für frische und alte Vorfälle vor allem der Zustand 
der Scheidenschleimhaut und der Portio Berücksichtigung erheischt, ist sattsam 
bekannt. In Berücksichtigung des Umstandes, dass die Entwicklung der 
Prolapse in weitaus den meisten Fällen eine allmähliche ist, ist ferner bei der 
unfallrechtlichen Würdigung dieses Leidens streng zu unterscheiden zwischen 
Frauen, die geboren, und solchen, die nicht geboren haben. Nur bei letzteren 
liegt die hohe Wahrscheinlichkeit der plötzlichen Entstehung eines Vorfalles 
durch ein bestimmt nachzuweisendes Unfallsmoment und aussergewöhnliche 
Betriebsanstrengung vor, also Umstände, wie sie auch bei der traumatischen 
Entstehung von Unterleibsbrüchen von maassgebender Bedeutung sind. 
Bei geboren habenden Frauen dagegen und bei Greisinnen genügt die 
Feststellung eines Vorfalles allein auch bei aussergewöhnlicher Betriebs¬ 
leistung oder nach einem anderweitigen bestimmten Unfallsmoment noch 
nicht für den Nachweis eines Causalnexus, sondern es ist hier vielmehr stets 
zu fordern, dass die Verunfallte im directen Anschluss an den Unfall in er- 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


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heblichem Grad in ihrer Erwerbsfähigkeit dauernd, resp. längere Zeit wesent¬ 
lich geschädigt worden ist. Vorfälle geringen Grades bedingen hier keine 
erhebliche oder dauernde Schädigung der Erwerbsfähigkeit; sie deuten viel¬ 
mehr mit Sicherheit auf ein Vorbestehen des Leidens hin. 

Keine Verschlimmerung im unfallrechtlichen Sinn erfährt completer 
Scheiden- und Uterusprolaps mit Cysto-, resp. Rectocele. 

Bei angeblich traumatisch entstandenem Vorfall einer schwangeren 
Gebärmutter ist eine abgeschlossene Beurtheilung erst nach stattgehabter 
Entbindung möglich. 

4. Hämatocele feminae (Hämatom des lig. rotund.) kann durch schweres 
Heben und directe Gewalteinwirkung zu Stande kommen, ebenso wie auch 
Hydrocele (Ansammlung seröser Flüssigkeit infolge traumatisch veranlasster 
Entzündung); Chiari und Pollack theilen derartige Fälle mit, deren trau¬ 
matische Genese in Rücksicht auf den infolge Entwicklungshemmungen per- 
sistirenden Hohlraum in dem ursprünglich einen Hohlmuskel darstellenden 
runden Mutterband, a priori wahrscheinlich erscheint, indem in den präfor- 
mirten Hohlraum die traumatisch erzeugte Blutung, resp. der entzündlich- 
seröse Erguss erfolgt. 

5. Coccygodynie, mitunter sehr heftige, namentlich bei Berührung und 
Lageveränderung des Steissbeines sich steigernde neuralgische Schmerzen im 
Gebiet des Plexus coccygeus, können entstehen durch Fall auf das Gesäss 
Fracturen etc. Bei der gerichtsärztlichen Beweisführung des inneren Zusammen¬ 
hanges ist zu berücksichtigen 

o) ob die Verletzung wirklich das Steissbein getroffen haben kann, 

b) eventuell und insbesondere bei geboren habenden Frauen Vorbestehen 
des Leidens. 

6. Traumatische Affectionen der Gebärmutter, Ovarien. 

Directe Unfallfolgen, soweit sie hier zu berücksichtigen sind, kommen 
bei der gedeckten Lage der nicht vergrösserten Gebärmutter wohl kaum in 
Betracht. 

Die Verjauchung eines Myoms infolge eines directen Trauma ist als 
Unfallfolge anzuerkennen bei continnirliehern Zusammenhang der Krankheits¬ 
erscheinungen. Nach Analogie unserer Ansicht über die Beeinflussung an¬ 
derer Unterleibsorgane durch stumpf einwirkende Gewalt finden die eiter¬ 
erregenden Mikroben, deren Durchtritt durch die traumatisch geschädigte 
Darmschleimhaut erleichtert ist, in der durch traumatische Blutungen, ander¬ 
weitige Gewebsläsionen etc. disponirter gewordenen Geschwulst entsprechend 
günstige Verhältnisse für ihre Weiterentwicklung. 

Von den aus Gewalteinwirkung auf die schwangere Gebärmutter resul- 
tirenden Folgezuständen sind zu nennen: 

a ) Aborte; der Zusammenhang ist bekannt genug, wenn auch die Häufig¬ 
keit der im hier zu besprechenden Sinne traumatisch provocirten Aborta nicht 
so gross ist, als man ohne weiteres anzunehmen geneigt ist. 

b) Uterusruptur, zu deren richtiger Würdigung Schwarze die genaue 
Berücksichtigung des ganzen Unfallherganges und des weiteren Verlaufes für 
unerlässlich hält; im Uebrigen erheischt dieselbe ebenso wie 

c) vorzeitige Placentarlösung, Platzen und Einreissen von Ovarialcystomen 
und eine Reihe von anderen Affectionen, sofortiges Eingreifen, und gehört 
deren weitere Besprechung deshalb nicht mehr in den Rahmen dieser Arbeit. 

7. Traumatische Erkrankungen der Gebärmutteranhänge. 

Bis zu dem Unfall gesunde Adnexe sind von vorneherein auszuscheiden. 
Bei schon erkrankten (meist gonorrhoisch inficirten) Anhängen können, wie 
leicht erklärlich, durch indirecte Gewalteinwirkungen schwere Folgezustände 
hervorgerufen werden. 


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TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 


Schwarze (1. c.) erörtert die Folgen der für die oft recht schwierige 
forensische Beurtheilung maassgebenden Gesichtspunkte: 

* o) Bei noch bestehender gonorrhoischer Infection ist der Nachweis einer 
unfallsweisen Verschlimmerung in der Regel unmöglich, da die gonorrhoische 
Infection an und für sich schon etappenartige, plötzliche Verschlimmerungen 
und Fortschritte macht, ganz unabhängig von äusseren Einflüssen. 

b) Bei mangelndem Beweis einer noch bestehenden gonorrhoischen In¬ 
fection ist eine bestimmte aussergewöhnliche Gewalteinwirkung oder Betriebs¬ 
anstrengung zu verlangen, weil bei allen chronischen Entzündungszuständen 
der Adnexe schon durch geringfügige, gesunde Frauen in keiner Weise schä¬ 
digende Anstrengungen, plötzliche Verschlimmerung eintreten kann. 

c) bei einem Missverhältnis zwischen Schwere des Unfalls und Erheblich¬ 
keit der Verschlimmerung ist ein ursächlicher Zusammenhang auszuschliessen. 

d) Die Verschlimmerung muss sich unmittelbar an den behaup¬ 
teten Unfall anscliliessen, ein freier Zwischenraum von mehreren Tagen lässt 
den Zusammenhang mindestens schon zweifelhaft erscheinen. 

e ) genaueste Berücksichtigung des Grades, Dauer, Gesammtverlaufes der 
vorbestandenen Erkrankung. 

Peritonitis. Dass eine Contusion des Abdomens auch ohne äussere Wunde 
und Zusammenhangstrennung eines der Unterleibsorgane zu allgemeiner oder 
localisirter Bauchfellentzündung führen kann, wird heutzutage nicht mehr 
bezweifelt. Hinsichtlich der Provenienz der Entzündungserreger verweisen 
wir u. a. auf die sub Leber und Gallenblase stehenden Ausführungen. Die 
gutachtliche Seite der acuten traumatischen Peritonitis erfordert keine be¬ 
sondere Besprechung. 

Die praktische Wichtigkeit der als Residuen einer acuten traumatischen 
Peritonitis oder als Endstadien einer von Beginn an chronisch und schleichend 
verlaufenden Adhäsiv-Peritonitis persistirenden peritonealen Verwach¬ 
sungen haben u. a. Riedel (Langenbecks Archiv Bd. 47) und neuerdings 
Fürbbinger (A. S. V. Z. 1897, 7) hervorgehoben. Wenn auch in der Mehr¬ 
zahl der Fälle die chronischen peritonealen Verwachsungen fast oder ganz 
symptomlos sind, so bleibt doch noch eine stattliche Zahl übrig, in denen, 
von der Gefahr des Ileus abgesehen, die heftigsten Schmerzen thatsächlich 
vorhanden sind, und zwar steht die Intensität der durch die Verwachsungen 
veranlassten Beschwerden meist in einem nur mangelhaften Verhältnis zur 
Ausdehnung derselben. 

Riedel (27. Congr. der D. G. f. Chir.) würdigt die chronische Peritonitis als ätiolo¬ 
gischen Factor der Wanderniere (s. o.). In Fällen weiter vorgeschrittener Nephroptose 
ist eine Verwechslung der herunter getretenen Niere mit der prall gefüllten Gallenblase 
möglich, um so mehr als oft gleichzeitig infolge von Abknickung des Duodenum durch das 
Heruntersinken der Niere Icterus besteht. 

Inwieweit wirkliche Visceralneuralgien vorliegen, oder ob ein Theil der 
Beschwerden aus der durch den Unfall mit veranlassten reizbaren Schwäche 
des Nervensystems, die in neurasthenischer oder hypochondrischer Färbung des 
Gesammtkrankheitsbildes sich ausdrückt, resultirt, diese Fragen können nur in- 
dividualisirend in Erwägung gezogen werden. Jedenfalls mahnt die Schwierig¬ 
keit einer exacten Diagnose in concreto mit dem Urtheil Simulation vor¬ 
sichtig zu sein. 

Walthahd (Corr. bl. f. Schw. Aerzte 1898) referirt über eine interessante Beobachtung, 
wo nach einer klinisch einzig und allein mit dem Symptom „Schmerz“ verlanfenden 
Affection anatomisch eine circumscripte Peritonitis zu Gründe lag, wie die Laparotomie er¬ 
geben hat. Auch er warnt bei einem durch Trauma auf das Abdomen Verunfallten vor 
der übereilten Diagnose: traumatische Neurose oder Simulation. 

Prognostisch ist zu erwähnen, dass, nach den bis jetzt erzielten 
Operationserfolgen zu urtheilen (Crede, Lauenstein), die post operationem 
zunächst eintretende günstige Wendung und Besserung in dem Befinden 
noch nicht die definitive Heilung gewährleistet. e. schäffer. 


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TROPENHYGIENE, 


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Tropenhygiene. Erst seit dem letzten Decennium findet man das Wort 
„Tropenhygiene“ in der Literatur mehr ausgesprochen und die Tendenz, die 
Hygiene in den Tropen zu specialisiren. Hervorgerufen wurden diese Be¬ 
strebungen unabhängig von einander durch die verschiedensten Forscher und 
Tropenärzte, welche einsahen, dass die für die Länder aussertropischer Zone 
geltende allgemeine Hygiene nicht ohne weiteres auf tropische Oertlichkeiten 
angewandt werden konnte, vielmehr auf die den Tropen anhaftenden eigen¬ 
tümlichen Schädlichkeiten zugepasst werden müsse. Dazu kommt noch in 
den Tropen die private Hygiene, l’hygiene privee ou individuelle der Fran¬ 
zosen, welche die allgemeine Hygiene nicht kennt. Die Tropenhygiene könnte 
man darnach als einen Zweig der allgemeinen Hygiene betrachten, auf deren 
wissenschaftlicher Grundlage sie steht. Wenn die Aufgabe der Hygiene in 
Europa in der Stärkung und Bewahrung der Gesundheit der Bevölkerung 
besteht, so deckt sich damit die Aufgabe der Hygiene in den Tropen eigent¬ 
lich nur in Bezug auf die Eingeborenen, denn für Europäer ist dort eine 
Stärkung der Gesundheit, wie sie in Europa war, trotz aller Kunst nicht zu 
erzielen gewesen, und auch die hygienischen Maassnahmen, die Gesundheit zu 
bewahren, stossen wenigstens im Tropentieflande auf die grössten Schwierig¬ 
keiten. Indem man stets auf eine Akklimatisation der Europäer in Tropen¬ 
ländern sein Augenmerk richtete und darüber Untersuchungen anstellte, deren 
Resultate theils einander widersprechend, theils ungenauer Art sind, trennte 
man Akklimatisation von Tropenhygiene. Die Aufgaben der Akklimatisation, 
d. h. des Zuthuns der Europäer zur Anpassung an die Tropen, bestehen aber 
wesentlich in der Bewahrung der früheren Gesundheit und Kraft in den neuen, 
veränderten und gefährlichen Verhältnissen. Die Fragen, welche sie in sich 
enthalten, kann jedoch nur die Hygiene beantworten, welche allein dazu be¬ 
rufen ist, einschlägige Maassnahmen zur Erreichung eines solchen Zweckes 
vorzunehmen. 

Nachdem schon Virchow und Hirsch anf Grand statistischer und anthropologischer 
Stadien, die Möglichkeit einer Akklimatisation der weissen Rasse in den Tropenländern in 
Abrede stellten und eine Anzahl von Untersuchern in den Tropen, wie Moore, Bondin, 
Theille, Rochard sich grösstentheils in ungünstigem Sinne darüber äusserten, von Deutschen 
auch Koiilstock für Ostafrika eine Akklimatisation der Europäer verneint, habe ich, neben 
dem Franzosen Navarre, in mehreren ausführlichen Arbeiten die ganze Nichtigkeit der 
bisherigen Akklimatisationsfrage, speciell soweit sie sich auf das Tropentiefland bezieht, 
nachgewiesen und festgestellt, dass da, wo in einem Gebiete mit ausgesprochenem tropischen 
Charakter Europäer in grösserer Anzahl colonisirten und seit langer Zeit kräftigen Nach¬ 
wuchs erzielten, es sich stets um eine Mischrasse handelt, welche in einzelnen Ländern, wie 
z. B. im spanischen Südamerika, auf einigen Inseln des ostindischen Archipels, bei Aus¬ 
schluss fremden Blutes zuletzt einen bestimmten Typus zeigt, der indessen mit dem euro¬ 
päischen oft wenig gemein hat. Eine scheinbare Ausnahme von dieser Regel macht Queens¬ 
land in Australien, an der Tropengrenze gelegen, wo Europäer in grosser Anzahl sich un- 
vermischt und kräftig erhalten haben, allein Queensland hat keinen tropischen Charakter, 
es ist wie das Kapland subtropisch zu nennen, hat eine wenig feuchte Luft, ist nicht mit 
tropischem Urwald besetzt, sondern ähnelt einer Parklandschaft, so dass, wie Schellong 
betont, die Sonnenstrahlen tief in die Erde eindringen können, und Nachts die Erdwärme 
ausstrahlt. 

Diejenigen, welche noch immer an der Akklimatisationsfähigkeit des Euro¬ 
päers in den Tropen festhalten, berufen sich wie Stokvis auf einzelne Fälle, 
wo Europäer anscheinen gesund blieben und sich mehrere Generationen hin¬ 
durch fortpflanzten. Aber auch in solchen Fällen ist gewöhnlich fremdes 
Blut nachzuweisen und Zufuhr des weiblichen Theiles aus Europa, oder es 
handelt sich um Ungenauigkeiten. Ausserdem halten sich wohlhabende 
Familien meistens in dem gesünderen und kühleren Hochgebirge auf und 
lassen ihre Kinder in Europa erziehen. Diese wenigen Fälle, auch wenn sie 
ganz rein wären, sind, gegenüber den Massenbeweisen, hinfällig, und wir 
sind demnach nicht berechtigt, von einer irgendwie erfolgenden Tropen¬ 
akklimatisation von Weissen zu sprechen, vielmehr die Fragen obenan zu 
stellen: Worin liegen die Einflüsse auf die Gesundheit des Europäers in 


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TROPENHYGIENE. 


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den Tropen: I. soweit nur das Milieu an sich, abgesehen von Infections- 
keimen, in Betracht kommt; II. wie äussern sie sich; III. wie können ihre 
Schädlichkeiten, besonders die auf Infection beruhenden gemindert werden, 
so dass der Europäer es möglichst lange aushält? Wenn man der Definition, 
welche Rubner vom Klima gibt, folgt, Klima bedeutet hygienisch „alle die 
durch Lage eines Ortes bedingten Einflüsse auf die Gesundheit“, so muss 
meine Ausdrucksweise in der eben gegebenen Fragestellung nicht überraschen, 
denn die Einflüsse der Tropen auf die Gesundheit liegen weniger in der 
hohen Wärme der Tropenluft, nicht allein in ihrem Feuchtigkeitsgehalte, in 
ihren Bewegungen (Winden), dem Regenfall, als in der Combination des 
sogenannten Klimas mit Bodeneinflüssen und in den mehr äquatorialen 
Gebieten zugleich in dem Constantbleiben der Hauptfactoren des Klimas, 
worunter der europäische Organismus Jeidet, weil ihm abwechselnder Kälte- 
und Wärmereiz fehlt, dessen seine nervösen Centren bedürfen, um nicht 
gewollte Bewegungen, wie z. B. tieferes Athmen, auszulösen. Man könnte darnach 
versucht werden, die Blässe des Gesichtes der Weissen in den Tropen auf die 
geringeren Reize, welche die Lungenvagusnerven treffen, zurückzuführen. Auch 
der Schlaf des Europäers in den Tropen ist ein durchaus ungenügender und 
nicht annähernd so tief als in Europa. Hier tritt uns zu starke Reizwirkung 
der heissen und feuchten Tropenluit auf das Gehirn entgegen. Man wird 
nach obigen Ausführungen nnd ähnlichen vielfältigen, hier des Raumes wegen 
nicht auszudehnenden Beispielen zugeben, dass die Hygiene in Europa mit 
solchen Vorkommnissen und Einflüssen auf die Gesundheit jahrein, jahraus 
nicht zu rechnen hat. Noch anders stellt es sich, wenn man berücksichtigt, 
welche Einflüsse schädlicher Art den Europäer von Seiten der Eingeborenen 
treffen, besonders wenn er gezwungen ist, mit ihnen enger zusammenzuleben, 
sie, die meistens die einfachsten und natürlichsten Regeln der Hygiene nicht 
befolgen oder kennen, dabei doch kräftig sind und sich so fortptianzen. Hier 
in diesem Aufsatze sollen die Eingeborenen nur vorübergehend, auch in der pri¬ 
vaten Hygiene, welche wir hervorheben möchten, erwähnt werden. Es ist 
auch leicht zu folgern, dass in einer menschlichen Ansiedlung mit solcher 
gemischter Bevölkerung, trotz geschriebener Gesetze, die Schwarzen sowohl 
Wohnungen, als den Boden durch Unrath aller Art verpesten, noch mehr auf 
Expeditionen und Karawanenzügen, wo der Europäer mit ihnen in noch engerem 
Connex steht. Durch die weitere Ausführung dieser Thatsachen soll die 
Beantwortung der sich aufdrängenden Hauptfragen erfolgen. Man beobachtete 
methodisch seit 20 Jahren bereits, dass, wie schon angedeutet, die 
meteorischen Factoren des Begriffes „Klima“ nicht allein einen besonders 
schädlichen Einfluss auf die Gesundheit des Europäers in den Tropen aus¬ 
üben. Um diesen Einfluss zu studiren, kann man den Tropenboden aus¬ 
schalten, indem Schiffsmannschaften, welche in der Nähe der Küste jahre¬ 
lang auf Schiffen zubringen, beobachtet werden. 

van Lef.nt, Generalarzt der niederländischen Marine, hat darüber vor allen Anderen 
zuerst interessante Resultate erbracht. Es geht daraus hervor, dass die an 3600 Mann 
(Europäer) betragende Besatzung holländischer Kriegsschiffe, welche ohne Unterbrechung 
drei bis fünf Jahre im Geschwaderverbande im indischen Archipel bleiben müssen nna 
meistens zur Blokade, besonders an der Atjebküste, verwandt werden, mit der Zeit eine 
geringere — vom Verfasser mit dem Dynamometer gemessene — Muskel- und Hubkraft 
zeigen und, im Ganzen genommen, erschlaffen, sonst aber gesund bleiben, da sie sehr selten 
an Land kommen und dort logiren. Selbst die Mariniers, Seesoldaten, welche bei kriege¬ 
rischen Operationen am Lande ausgeschifft werden und ab und zu en masse länger als 
einen Tag an Land bleiben müssen, wurden nur nach solchem Aufenthalte und Anstren¬ 
gungen in bemerkenswerter Weise krank, sonst kamen, wenn sie grösstentheils an Bord 
blieben, bestimmte, eigentliche Erkrankungen nicht viel mehr vor als ausserhalb der Tropen. 

Durch eine Reihe anderer Forscher, sowie meine eigenen Beobachtungen 
wurden van Leent's Resultate nur bestätigt, seitens der Franzosen wurde, 
was als indirecter Beweis für die hygienisch günstige Ausschaltung des Tropen- 


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TROPENHYGIENE. 


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bodens gelten kann, neuerdings auf die überaus günstigen Resultate hin¬ 
gewiesen, welche sie in den letzten fünf Jahren, nach Einführung von eigenen 
Krankenschiffen, bei tropenkranken Europäern machten, eine Einrichtung, die 
bei den Engländern und Niederländern ebenfalls, aber in anderer Weise 
besteht, nämlich so, dass bei ihnen der Patient in den Tropen bleibt, bei den 
Franzosen aber eine Reise bis Europa macht und währenddessen häufig schon 
gesundet. Es ist, um nicht in diesem Artikel weitschweifig zu werden, aus 
diesen und anderen Beobachtungen ersichtlich, dass die meteorischen Factoren 
des Tropenklimas also keinen bedeutenden oder direct gefährlichen Einfluss auf 
die Gesundheit des Europäers ausüben, vorausgesetzt, dass er sich gegen die 
intensiven Sonnenstrahlen, wie auf Schiffen durch die Bedeckung des Kopfes 
vorgesehen, schützt. Indessen ist nicht zu leugnen, dass bei einzelnen Schiffs¬ 
bewohnern in den Tropen sich ein höherer Grad von Schwäche nach längerer 
Zeit herausbilden kann, der unter Umständen die Repatriirung nothwendig 
erscheinen lässt; häufig sind diese Fälle aber nicht, sie sind eher zu den 
Ausnahmen zu rechnen, gewöhnlich ist nur eine geringe Abschwächung der 
Muskelkraft und der vitalen Energie. 

Wenn schon diese Schiffsbevölkerung sowohl durch das Fehlen des in 
der Heimat gewohnten Kältereizes und des in dem Wechsel der Witterung 
liegenden, welche unser Nervensystem verlangt, leidet und dadurch, wie durch 
die schwierigere physikalische Wärmeregulirung erschlafft, so noch in viel 
höherem Grade der Landbewohner, besonders an der flachen Küste und im 
Tieflande der Tropen. Hier macht sich die frische Seebrise nicht in dem 
Maasse bemerkbar, wie auf dem Meere, selbst in der Küstennähe, welche 
noch durch die Vorwärtsbewegung der Kreuzerschiffe erhöht wird und die 
Wärmeabgabe und Verdunstung erleichtert, hier erwärmt die von der tropischen 
Sonne bestrahlte Erde durch Rückstrahlung und Leitung die unteren Luft¬ 
schichten in noch höherem Maasse als auf dem Meere und Waldungen halten 
die Luftströmungen nur auf. Die auf dem Meere, fehlenden Mosquitos rauben 
Nachts dem Weissen nicht allein den an sich schon mangelhaften und nicht 
tiefen Schlaf, sondern verletzen die Haut in empfindlicher Weise, Insulte, 
denen die Haut des pigmentirten Tropenbewohners wenig ausgesetzt ist. Das 
Sättigungsdeficit der Luft am Strande der Tropenländer, wo die meisten Euro¬ 
päer sich aufhalten müssen, ist nicht grösser als auf dem Meere selbst. Alle 
diese Momente bedingen, dass der Europäer im tropischen Strandklima die 
vom Körper erzeugte Wärme, welche, wie eine Reihe von Forschern fest¬ 
stellte, im Blut sich auf derselben Höhe (37-2° C.) hält als in Europa, nur 
schwierig und stets nur unter Zuhilfenahme ausgiebigster Schweissverdunstung 
an die umgebende, feuchtheisse, wenig bewegte Luft abgeben kann, schwieriger 
noch als auf den mit Sonnensegeln versehenen Schiffen. Dazu kommt, dass 
die Bewegungen des Schiffspersonals kurz andauernde genannt werden können. 
Der Raum beengt, anders am Lande, wo der Europäer grössere Strecken 
zurücklegt, sei es zu Pferde oder zu Fuss. Expeditionsmitglieder und Sol¬ 
daten haben täglich lang andauernde Körperbewegungen auszuführen, die eine 
grössere Wärmebildung im Organismus veranlassen, welche durch die physika¬ 
lische Wirmeregulirung zur Erhaltung der erwähnten Wärmebilanz nur schwie¬ 
rig ausgeglichen werden kann, trotz günstig ausgewählter Kleidung. Selbst in 
der Ruhe producirt der Weisse eine bei uns im heissen Sommer ungewöhn¬ 
lich grosse Menge von Schweiss. Es ist nachgewiesen, dass 95°/o der von 
der Haut abzugebenden Wärme zur Verdunstung des Schweisses verwandt 
werden, 5% beziehen sich auf Strahlung, Leitung und Perspiratio insensi- 
bilis. Hieraus ist die grosse Menge der durch Bewegung und anstrengende 
Arbeit in den Tropen erzeugten Wärme zu ermessen, die nicht ein gewisses 
Maass übersteigen darf, weil sie nicht abgegeben werden kann und so durch 
Wärmestauung das Leben gefährden würde. Der Europäer ist deshalb in den 


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TROPENHYGIENE. 


Tropen nicht völlig arbeitsfähig und muss sein Thun auf ein Mindestmaass 
beschränken. Alle Pulse klopfen schon bei massiger, andauernder Bewegung. 

Ich habe anderenorts meine darauf bezüglichen Beobachtungen an einem grossen 
Soldatenmaterial publicirt und sie mit solchen an schwer arbeitenden Eingeborenen, wie 
mit den gleiche Arbeit — Märsche — leistenden eingeborenen Soldaten verglichen. Bei 
Weissen stieg die Pulszahl während des Marsches auf 100 pro Minute schon nach 
30 Minuten und nahm erst nach längerer Ruhe bis auf 82 ab, Schwarze hatten höchstens 
90 p. M. und waren nach mehrstündigem Marsch noch frisch und munter, während die 
Weissen öfters, wenn auch nur ganz kurz, rasteten. Dieses gilt für das Strandklima. 

Der Weisse befindet sich also in den Tropen im steten Kampfe mit der 
Hyperthermie, der Ueberhitzung seines Blutes, und dieses ist das Punctum 
saliens in der Würdigung der Schädlichkeiten des Klimas für den Europäer. 
Durch die Untersuchungen Eykmann’s, Glogner’s, Lehmann’s, auch des Ver¬ 
fassers, ist festgestellt, dass der Europäer in den Tropen trotz verschiedenartiger 
Nahrung nicht weniger Wärme producirt als in Europa und nicht mehr als 
der Eingeborene. Die chemische Wärmeregulirung des Europäers erleidet in 
den Tropen keine irgendwie bedeutende Veränderung. Wird demnach vom 
Europäer in den Tropen dieselbe Wärmequantität erzeugt wie in Europa, und 
bleibt trotz höherer Tropenluftwärme seine Körpertemperatur, wie erwähnt, 
dieselbe, so ist dieses Constantbleiben nicht der chemischen, sondern der 
physikalischen Wärraeregulirung (Rubneb) zuzuschreiben. Hierdurch aber, 
d. h. durch die geschilderte hochgespannte Regulirung, bei erschwerter Wärme¬ 
abgabe, sammelt sich, wie festgestellt, das Blut in der Bauchhöhle an, und es 
steigert sich die Arbeit innerer Organe, besonders die des Herzens und auch 
der stärker bluthaltigen Leber, welche in den Tropen in nicht unbeträcht¬ 
lichem Maasse ihre Schutzkraft gegen Toxine einbüsst, und so wird der im 
Kampfe gegen die Hyperthermie geschwächte Weisse leichter eine Beute 
der tropischen Infectionskrankheiten, wie der klimatischen Krankheiten, welchen 
der Eingeborene leichter widersteht, da bei ihm diese Folgezustände nicht 
eintreten und er im Stande ist, trotz anstrengender Arbeit seine Wärmeab¬ 
gabe unbelästigt zu besorgen. Ein weiteres Eingehen auf die Beantwortung 
der oben gestellten Fragen nach den Einflüssen des Tropenklimas auf den 
Weissen und wie sie sich äussern, mag hier unterbleiben; es muss auf meine 
früher publicirten Abhandlungen in den „Grundzügen der Tropenhygiene“, 
„Französische und niederländische Tropenhygiene“ und in mehreren Fachzeit¬ 
schriften zerstreute Arbeiten hingewiesen werden. Zu bemerken wäre aber 
des Verständnisses wegen, dass, wenn auch der Stoffwechsel und die Wärme- 
production des Europäers auf Grund experimenteller Untersuchungen gegen¬ 
über der in Europa bei annähernd gleichartig ernährten Soldaten unverändert 
befunden wurde, doch Schwankungen nicht ausgeschlossen sind, und es muss 
darauf hingewiesen werden, dass die gesteigerte Arbeit innerer Organe auch 
eine Arbeitsleistung ist, die mit erhöhter Wärmeproduction einhergeht. 

Die praktische Frage, wie einem solchen Zustande des Europäers in den 
Tropen abzuhelfen sei, wenigstens insoweit, dass er befähigt ist, längere Zeit 
dort auszuhalten, ist nach dem vorgehend Erläuterten nicht so schwer zn 
beantworten. Einmal soll seine Arbeitsleistung keine körperlich dauernd an¬ 
strengende sein, weil sonst gefährliche Zustände wie Hitzschlag, Gehimcon- 
gestion, Collaps erfolgen können; körperliche Uebungen auszuschliessen, wäre 
aber fehlerhaft, sie dürfen nur nicht zu lange dauern und zur Erschöpfung 
leiten und müssen zu passender Tageszeit im Schatten ausgeführt werden. 
Die Nahrung sei nicht zu reichlich und nicht zu fettreich, da Fett bekanntlich 
mehr Wärme im Körper erzeugt. Niemals sollte das kalte Bad fehlen, am 
besten badet man zweimal täglich in den Tropen und versuche, auf harten 
guten Wärmeleitern zu schlafen, am besten auf Korkunterlagen. Die 
normale Nervenspannung und die der Centralorgane wird man durch solche 
Mittel und Verhalten kaum völlig herstellen; übrigens ist ein heiteres Gemüth 
und das Aufsuchen damit begabter Menschen sehr zu empfehlen, alle anderen 


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TROPENHYGIENE. 


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lasse man möglichst ganz bei Seite und lasse ihre oft zur Bösartigkeit ge¬ 
steigerte Hysterie nicht auf sich einwirken. Alle diese Mittel sind palliative; 
will man ernstlich den Europäer unter bessere Verhältnisse bringen, so ist 
der dauernde Aufenthalt im Strandklima der Tropen auszuschliessen, so dass 
er möglichst nur kürzere Zeit am Tage sich dort befindet und dann mit Be¬ 
nützung modernster Verkehrsmittel in die den Tropenküsten fast ausnahmslos 
nahen Gebirge oder Vorberge zurückkehrt, wo eine kühlere, trockenere Luft 
ihn empfängt, die Nächte angenehmer sind, w r o auch Mosquitos fehlen und 
wo er sich subjectiv wohl fühlt. Auch das Verweilen auf Schiffen oder Hulks 
mag als ein Aushilfsmittel gelten. 

Wir haben in dieser Abhandlung die Frage nach der Einwirkung des 
Tropenklimas speciell der Niederungen vorangestellt, einmal, weil dadurch die 
eingewurzelten Unklarheiten der Akklimatisationslehre beleuchtet und besei¬ 
tigt werden und weil es für das Verständnis der Hygiene in den Tropen un¬ 
umgänglich nöthig erscheint, schon um zu wissen, um was es sich hier 
eigentlich handelt und mit welchem Menschenmaterial der Hygieniker und 
Arzt zu thun haben. 

Die weiteren praktischen Fragen, wie wir den durch das Tropenklima 
an sich schon geschwächten Europäer vor bestimmten Krankheiten schützen 
sollen, werden uns auf die Capitel der Hygiene: Wohnung, Krankenhaus¬ 
anlagen, Ernährung, Quarantainemaassregeln, Trinkwasser etc. hinleiten, welche 
aber hier nur gestreift oder skizzirt werden können. 

Die hauptsächlich in Betracht kommenden direct krankmachenden Schäd¬ 
lichkeiten der Tropenländer beruhen nach vielfältigen Erfahrungen im Boden 
und in vom Boden und Pflanzen abhängigen Thieren, resp. blutsaugenden 
Insecten. Wir sehen die Malariakrankheit als die häufigste und verderblichste 
für den Weissen in den Tropen, ebenso die Beri-Beri-Krankheit als von 
Bodeneinflüssen bedingte Krankheiten an, weil sie nur an gewissen Oertlich- 
keiten entstehen und bei Ausschaltung dieses Bodens am besten heilen. 
Nach Erdarbeiten in grossem Stil, wie auch nach Erdbeben mit Aufreissen 
des Bodens sieht man an früher wenig von Malaria und Beri-Beri heimgesuchten 
Orten diese Krankheiten epidemieartig auftreten. Dysenterie entsteht durch das 
Trinken inficirten Oberflächenwassers, die Keime (Amöben) halten sich in den 
Dejecten von Dysenteriekranken lange Zeit am Boden lebendig, werden vom 
Regenwasser aufgenommen und oft aus Pfützen getrunken, oder sie gelangen direct 
oder indirect in das Brunnenwasser, resp. in das von Cisternen, von wo aus sie in den 
menschlichen Magen und Darm gelangen. Es hat den Anschein, als ob auch 
diese Keime durch die Regengüsse der Tropen in die wasserhaltige, bis 2'5 m 
tiefe Bodenschicht gelangen, wo besonders Eingeborene sich Wasserlöcher 
hineingraben. 

Die niederländische Regierung hat eine Verordnung erlassen, wonach keine Privat¬ 
person in Niederländisch-lndien ohne besondere Erlaubnis auf weniger als 35 m Tiefe dem 
Roden Trinkwasser durch Brunnenanlagen entnehmen darf. Ausserdem sind an den Haupt¬ 
plätzen artesische Brunnen angelegt, welche unter Staatsaufsicht stehen. Hierdurch ist 
z. B. die Mortalität an Dysenterie unter den Truppen, welche 1828 noch 17% betrug, bis 
zum Jahre 1892 auf 02% heruntergegangen. An den Garnisonplätzen, welche seit 10 Jahren 
mit gutem Trinkwasser versorgt sind, ist die Dysenterie so gut wie verschwunden. 

Nicht so einfach wie mit den hygienischen Erfolgen bei Dysenterie steht 
es mit der Malaria. Zur Abwehr aller am Boden haftenden Krankheitskeime, wozu, 
wie neuerdings festgestellt wurde, auch die der Pest gehören, indem die Ratten 
den Infectionsstoff piaciren, tritt in erster Linie die Wohnungshygiene und 
die Auswahl des Wohnplatzes, nebst etwaiger Bodenassanirung hervor. Da die 
Malaria auf enorm grosse Strecken Landes in den Tropen verbreitet ist, auch ohne 
dass sich Sümpfe Anden, so hat die Hygiene zwei Wege einzuschlagen, entweder 
den Boden zu assaniren und passende Wohnhäuser darauf zu errichten, in denen 
in bestimmter Höhe über dem Boden gewohnt wird, oder sie hat malariafreieu 
Boden aufzusuchen und als solchen zu bestimmen. Der eigentlichen ärzt- 


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TROPENHYGIENE. 


lieben Thätigkeit ist es Vorbehalten, die Krankheiten selbst zu behandeln, aber 
in den Tropen stellt ein Höhensanatorium auf gesundem oder sterilem Boden 
eine praktisch-hygienische Anstalt dar, weil dort nicht allein malariakranke 
Europäer ohne ärztliches Eingreifen gesunden, sondern auch der durch das 
Tropentiefland geschwächte, abnorm functionirende Organismus in ein für ihn 
passendes Klima kommt, in dem er sich erholt und frische Kräfte schöpfen 
kann. Der Boden selbst, je nach seiner Zusammensetzung und dem Gefälle, 
kann jedoch nur in seinen oberflächlichen Schichten als Nährboden für Malaria¬ 
keime oder als Brutstätte derselben seitens blut saugender Insecten gedacht werden. 
Die Theorie R. Koch’s, wonach Malaria wahrscheinlich durch Mosquitos über¬ 
tragen wird, wäre mit genannten Befunden wohl zu vereinbaren. 

Die Wirkungen des tropischen Höhenklimas auf den Europäer und ihre Ursachen 
sind von mir früher auch an Ort und Stelle, sowohl in Indien als in Afrika studirt worden; 
in neuester Zeit von Kohlbrügge auf dem 1700 m hoch auf Java gelegenen Sanatorium 
Tosari und dem etwas niedrigeren Poespoe an grossem Material, ausserdem von einigen 
Militärärzten auf hochgelegenen Orten des indischen Archipels. Daraus erhellt, dass bei 
gesunden Personen aus der Ebene der Hämoglobingehalt und die Zahl der rothen Blut¬ 
körperchen derselbe bleibt, also ganz im Gegensatz zu den Wirkungen des Höhenklimas 
in Europa, wo derselbe sich erhöht, dass beides aber sich vermehrt bei Besserung des Zustandes 
kranker, blutarmer Patienten. Nicht ganz 2*4 °/ 0 von Malariakranken verloren das Fieber 
nicht und mussten die Höhen verlassen, um meistens, wenn noch möglich, Europa aufzu¬ 
suchen; die übrigen verlieren auf bestimmten Plätzen, so auf Tosari, das Fieber* vom 
Tage ihrer Ankunft an; es kehrt in den ersten drei bis vier Wochen wieder, wenn 
die Patienten anstrengende und andauernde Bewegungen, Bergpartien, grössere Spazier¬ 
fahrten etc. machen, in der Ruhe nicht In letzterem Falle bemerkt man im peripheren 
Blut nur ausnahmsweise active Malariaparasiten, nach Anstrengungen gelangen sie in 
grösseren Mengen aus den inneren Organen, besonders der Milz und aus dem Knochen¬ 
mark, wieder in die Circulation, sporuliren und rufen so wieder Fieberanfalle hervor 
(Beobachtung von Kohlbrügge und Anderen). Wenn dagegen mehrere Wochen der grössten, 
am besten absoluter Ruhe verflossen sind und der Patient dann beginnt, nicht oder wenig 
anstrengende Märsche mit Ruhepausen zu machen, und so fort, so kehrt das Fieber nicht 
wieder, die Malariaparasiten bleiben latent oder verschwinden ganz auch aus den Organen. 
Das Milzblut zeigt sich frei davon. Ausserdem nimmt der Patient an Körpergewicht von 
Woche zu Woche zu. 

Die von Kohlbrügge, Eykmann und Anderen in Indien ausgeführten 
Blutkörperchenzählungen und Hämoglobinbestimmungen sind indessen nicht 
absolut genau, weil die Trockensubstanz des Blutes nicht bestimmt und dabei 
in Rechnung gezogen wurde, auch nicht das specifische Gewicht des Serums. 
Ich habe früher nachgewiesen und in verschiedenen Arbeiten darauf auf¬ 
merksam gemacht, dass Europäer, w r elche längere Zeit in den Tropen lebten, 
eine Verminderung des Wassergehaltes ihres Blutes zeigten und relative Er¬ 
höhung der Trockensubstanz, ausserdem ist bei Vergleichen zwischen Blut¬ 
körperchengehalt in den Tropen und Europa und in verschiedener Höhe hier 
wie dort der geringere Druck auf die Zählkammer in Betracht zu ziehen, der 
in bedeutender Höhe und auch noch in der Tropenebene bei leichterer Luft 
vorwaltet. Wenn daher ein jahrelang in den Tropen verweilender und thä- 
tiger Europäer dort noch annähernd so viel Blutkörperchenzahl aufweist als 
normaler Weise in Europa, so ist daraus noch nicht der Schluss zu ziehen, 
dass nicht die geringste Anämie vorhanden sei. 

Die günstige Wirkung des tropischen Hochgebirgsaufenthaltes auf die 
Malariakrankheit bei Europäern haben jedoch keineswegs die günstigere, 
kühlere, an wenig waldreichen Orten weniger feuchte, vom Bergwind be¬ 
wegte Luft und die kühlen erfrischenden Nächte zur Ursache. Es kommt 
dabei vielmehr auf die örtliche Lage im Hochgebirge an, mit malariafreiem 
Boden, so dass der Patient nicht hier wie anderswo täglich Neuinfectionen, 
wie wir grösstentheils annehmen, durch Einathmung keimhaltiger Luft vom 
Malariaboden hervorgebracht, erleidet. 

Es ist von mir zuerst darauf hingewiesen, dass jedes Terrain in den Höhen, wo in 
grosser Ausdehnung nackter Felsboden oder Vulkanschlacken sich befinden, tnalari&frei 
ist, dass aber da, wo Humusschichten vorherrschen, die Höhe nichts ausmacht, sondern 
nur einzig und allein die abschüssige Lage des Ortes und die damit verbundene lebhaftere 


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W&sserbewegung in der mit der Luft noch communicirenden, wasserhaltigen, bis 
1 bis 12 m tiefen Bodenschicht, der die circa 25 cm hohe, zeitweise trockene, poröse Oberschicht 
aufliegt. Auf dem Gipfel eines Berges, der flach genug ist und keine ausreichende natürliche 
Drainage hat, ist gewiss Malaria endemisch, ebenso auf Plateaus mit oft geradezu sumpfigen 
Strichen. Hingegen sind gemäss diesen gesetzmässig sich in den Tropen wiederfindenden 
Verhältnissen abschüssige Höhenlagen frei von Malaria, vorausgesetzt, dass nicht weiter unten 
stauungbefördernde Factoren auttreten, die technisch nicht zu überwinden sind. Man 
misst die Ausgiebigkeit der Wasserbewegung in der betreffenden Bodenschicht nach Bohrungen 
in verschiedenen geraden Linien nach unten durch die Höhe des sich ansammelnden Wassers; 
Versuche, welche ich früher mit Salzen machte, die an einem Punkte in den Boden ge¬ 
bracht wurden und nun weiter unten in bestimmter Zeit nachgewiesen werden konnten, 
sind nicht absolut sicher, aber sie beweisen doch die Weiterbewegung des sonst auf flachem 
Terrain stagnirenden Wassers, welches gerade zur Bildung von Keimen nothwendig zu sein 
scheint, indem es durch längeres Verweilen an einer Stelle an den, wie Hildegard in seinen 
Bodenuntersuchungen betont, in den Tropen bedeutend gesteigerten, chemischen Zersetzungs¬ 
processen des Bodens mehr theilnimmt, als es bei in steter Bewegung befindlichen Wasser- 
theilchen der Fall ist. Dm in verticaler Richtung den Grundwasserspiegel zu erreichen, 
dazu braucht das Wasser dieser in den Tropen meistens feinporigen Bodenschicht, Jahre. 
Wie ich durch Versuche im hiesigen landwirtschaftlichem Laboratorium der Universität 
neuerdings nachwies, eignet sich das schwefelsaure Natron am besten zur Bestimmung der 
Geschwindigkeit der Wasserbewegung im geneigten Boden, während verschiedene andere 
Salze resorbirt werden. Es ist recht wohl denkbar, dass, worauf ich schon in früheren 
Arbeiten hinwies, Mosquitos die am Boden haftenden Malariaerreger aufnehmen und ver¬ 
breiten, wenn auch nicht immer, weil auf der flachen Höhe von Bergen, wie Nieuwenhuis, 
Kohlbrügge und ich beobachteten, Malaria endemisch sein kann, ohne Vorhandensein von 
Mosquitos, während der abschüssige Gebirgsabhang davon frei ist, deren Bewohner sich, 
wie genaue Nachforschungen erwiesen, oben gelegentlich inficirt haben mussten. 

Meine hier noch einmal zusammengefassten Beobachtungsresultate, aus 
denen betrefts der Anlage von Wohnplätzen, Sanatorien etc. auf malariafreiem 
Höhenterrain ein bestimmtes Gesetz für die Tropen resultirt, sind durch 
Kohlbkügge neuerdings und Nieuwenhuis auf Borneo durch die Praxis 
und auf Forschungsreisen reichlich bewiesen worden. Man hat es daher in 
der Hand, in den Tropen Exemtionsgebiete darnach auszuwählen und genau 
als solche zu bestimmen, daher nicht mehr wie bisher und noch immer 
sich auf die Aussagen und sogenannte Erfahrung zu verlassen, dass an einem 
namhaften Orte keine Malaria vorkomme, ohne zu wissen, warum. Das Suchen 
nach Exemtionsgebieten ist durch Kohlbhügge’s und meine Studien, sowie des 
Franzosen Simond, auf eine planmässige, wissenschaftliche Basis gestellt, die noch 
vervollkommnet werden kann. Die Beri-Beri-Patienten erholen sich am besten in 
hochgelegenen Gegenden oder in Europa, auch an nicht malariafreien Orten. 
Einer Malariaprophylaxis in der Ebene, respective im Strandklima kann die 
Wohnungshygiene in so erfolgreicher Weise wie in der Höhe nicht annähernd 
dienen, ja selbst die grösste Mühe und Kunst schützt nicht vor der Malaria- 
infection, da der Hausbewohner doch die eventuell insectenfreie Wohnung 
verlässt und dann der Infection ausgesetzt ist. In kleineren Plätzen kann 
man den Boden feststampfen und ihn ausserdem noch mit Cement belegen. 
Es muss dieses, wenigstens das Feststampfen, in grösserer räumlicher Aus¬ 
dehnung, als Haus und Nebengebäude einnehmen, geschehen, am besten in 
dreifacher. Ueber den Haus- und Krankenhausbau in den Tropen habe ich 
seit dem Jahre 1888 in verschiedenen Arbeiten mich eingehend ausgesprochen, 
es sei besonders in dieser Beziehung auf mein Buch „Die Grundzüge der 
Tropenhygiene“, Verlag von J. F. Lehmann, München 1895, verwiesen. Hier 
mag es genügen, darauf aufmerksam zu machen, dass, um nicht noch Boden- 
bestandtheile enthaltende Luft oder Staub einzuathmen und damit, sowie mit 
der vom Boden rasch aufsteigenden warmen Tropenluft etwaige Malaria¬ 
keime, auch um nicht hochfliegende Insecten abzuhalten, zum Wohnen 
nur hochgelegene Zimmer benutzt werden sollten. Meistens ist dieses 
in den Tropen auch der Fall, man wohnt nach Art der Eingeborenen 
hoch; ohne zu wissen, warum, haben Laien schon die Erfahrung gemacht, dass, 
je höher die Pfahlbauten waren, desto geringer das Vorkommen von Malaria bei 
ihren oft europäischen Bewohnern. Unterkellerungen sind in den Tropen, be- 


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TROPENHYGIENE. 


sonders im Tieflande und auf nicht abschüssigem Terrain zu vermeiden, am 
besten ist es, auf Steinsäulen zu bauen und den Boden ringsherum vor dem 
Weiterbau feststampfen und cementiren zu lassen. Die Bodenassanirung in 
grösserem Maassstabe ist sehr kostspielig und nur auf dem Wege der Gesetz¬ 
gebung auf Java ins Werk gesetzt, indem die Eingeborenen ihre Reisfelder 
an den Vorbergen so anlegen müssen, dass das sie berieselnde Quell- und 
Regenwasser auf das nächst unten gelegene abgelassen wird, und indem ein 
Theil von Batavia drainirt wurde, ebenso andere europäische Centren in den 
Tropen. Nichts leistet aber so viel, als der Aufenthalt oder das Wohnen an 
Gebirgsabhängen vorhin genauer beschriebenen Charakters; schon eine Höhe 
von 500 m setzt nicht allein die Malariagefahr herab, sondern mildert zugleich 
den Kampf des Europäers gegen die Hyperthermie. 

Für die Expeditions-undKarawanenhygie ne in den Tropen ist es von 
grosser Wichtigkeit, die vorhin beschriebenen gesetzmässig wiederkehrenden 
Beziehungen zwischen Terrainbeschaffenheit und Malaria zu kennen. Um z. B. 
den Lagerplatz auszuwählen, ist es wahrlich nicht gleichgiltig, zu wissen, ob 
man ihn in einem Stauungsgebiet, Kessel etc. aufzuschlagen hat. Die Wasser¬ 
verhältnisse, Quellen, Flüsse, Teiche in der Umgebung geben in Bezug auf 
ihren differenten Hochstand schon Fingerzeige, auch kann man darnach und 
nach der Neigung des Terrains genau bestimmen, an welcher Flussseite das 
Lager aufzuschlagen ist. Die Fehler, welche in dieser Richtung gemacht 
wurden und noch gemacht werden, kosten manchem Europäer Leben und 
Gesundheit, und manche gerade sehr grosse Expedition verlor so, ohne dass 
ihre Aerzte die nöthigen Kenntnisse besassen, durch Malaria viele Leute. 
Die ernsthaft colonisirenden Nationen, wie England und Holland, in neuester 
Zeit auch Frankreich und Russland, förderten die Tropenhygiene, und kost¬ 
spielige Anlagen werden nicht gescheut. Um so mehr ist es zu verwerfen, 
wenn eine Nation sich durch scheinbare, jedesmal nicht theure Anlagen und 
Untersuchungen ihren Verpflichtungen gegenüber sich selbst und den Colo- 
nisten, besonders den privaten, zu entziehen sucht, die grossartigeren und durch¬ 
greifenden Veranstaltungen genannter Völker verkleinert, die ihr zum Vorbild 
zu dienen hätten, und so sich selbst schadet. 

Als Kleidung des Europäers ist am meisten Seide oder Halbseide, 
wenigstens als Unterkleidung, zu empfehlen, sonst Baumwolle. Der Tropen¬ 
helm soll niemals fehlen, um die senkrecht auffallenden Sonnenstrahlen vom 
Kopfe direct abzuhalten. 

In Europa ist in der Hygiene bei dem Capitel Beleuchtung der oberste 
Grundsatz, dass man am Tage beim Lesen von seinem Platze aus den Himmel 
sehen müsse. In den Tropen ist das direct auffallende Himmelslicht zu grell, 
nur an Orten, wo wie im Gebirge, z. B. auf Tosari, starke Bewölkung vor¬ 
herrscht, ist dieser Grundsatz maassgebend. Dass die künstliche Beleuchtung 
Abends die geringste Wärraebildung im Auge haben muss, ist selbstverständlich, 
dazu wäre am besten Acetylen in den Tropen zu verwenden. 

Kalte Bäder im Bassin, noch besser im Meere, früh Morgens, kurz nach 
Sonnenaufgang, Sturzbäder, oder beides combinirt, sind, wie schon erwähnt, in 
den Tropen zur Erhaltung der Gesundheit durchaus täglich nothwendig, was 
bei uns in Europa nicht in dem Maasse zutrifft. In den Tropen dienen sie 
ausserdem zur Hautpflege, die nicht zu vernachlässigen ist. 

Die Ernährungsfrage für Europäer ist in den Tropen nicht so wichtig, 
als man früher annahm, da, wie Eykmaxn’s Untersuchungen lehren, eine 
chemische Wärmeregulirung in den Tropen kaum in Betracht kommt. Eine 
zu reichliche Fleischkost, besonders fettreiche, vermehrt nur noch die schon 
vorhandene Blutfülle der Leber und des Darmes. Excesse in baccho rächen 
sich oft schwer durch folgende Magendarmkatarrhe und Hepatitis, Erkran¬ 
kungen, die durchaus nicht so gutartig in den Tropen verlaufen als die 
gleichbenannten in Europa, auch sich pathologisch anatomisch unterscheiden 


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TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE. 


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und im günstigsten Falle mit der sogenannten tropischen Diarrhoe endigen, 
ein Leiden, welches langwierig ist und die Kräfte des Europäers erschöpft. 
Am meisten zu empfehlen ist gemischte leichte Kost,, man passe sie möglichst 
der der Eingeborenen an. Wo Reis gebaut wird, soll dieser als Zuspeise täglich 
genossen werden. Massiger Alkoholgenuss ist in den Tropen nicht zu ver¬ 
bieten, er ist bei Europäern, welche regelmässig täglich körperlich arbeiten, 
wie Militärs, kaum zu entbehren, noch dazu da diese sich zu Tages- und Nacht¬ 
zeit anderen Berufsarten ungekannten Gefahren in den Tropen aussetzen 
müssen, welche ein Stimulans erfordern. Bei vielen Krankheiten ist der Wein 
in den Tropen nicht zu entbehren. Nicht zu übersehen hat die Hygiene in 
den Tropen die Behandlung der Schwangeren und Gebärenden, wenn auch hier 
die eigentlich ärztliche Thätigkeit in ihr Recht tritt. Die Blutansammlung im 
Abdomen bei weissen Frauen, die Ectasien der Venen der unteren Extremi¬ 
täten sind ganz bedeutend. In Anstalten wie privatim soll eine darauf ge¬ 
richtete Massage mit den Bädern verbunden werden. Die Ernährung ist so 
zu regeln, dass bei nicht zu compacter Nahrung in der ersten Zeit der Gra¬ 
vidität doch genügend Nahrungsstoffe der Frau zugeführt werden, nebst leichtem 
Wein in kleinen Mengen. Im ganzen Verlaufe der Schwangerschaft ist eine 
mässige Bewegung anzurathen, mit Höhenaufenthalt. Die Geburten selbst er¬ 
folgen, wenn auch oft langsamer, doch in gleicher Weise als in Europa. 

Ueber die Desinfection der Genitalien bei eingeborenen Frauen kann be¬ 
merkt werden, dass Malayinnen und Chinesinnen die Genitalien sehr reinlich 
halten, sogar die spärlichen Schamhaare exstirpiren. Scheideninjectionen werden 
am besten mit kaltem Wasser in den Tropen vorgenommen. 

Eigenthümlich ist für die Tropen der günstige Ablauf des Wundheilungs- 
processes, worüber ich von Deutschen zuerst genauere Arbeiten veröffentlichte. 
Ganz besonders günstig sind pigmentirte Tropenbewohner gestellt, dann folgen 
Mischlinge. Aber auch bei Weissen ist die Wundheilung günstiger und sel¬ 
tener complicirt als in Europa. Bei Eingeborenen, auch ohne Asepsis behan¬ 
delt, beobachtet man häufig in Europa für unmöglich gehaltene Heilungen. 
Das was die Chirurgie in den Tropen gefährlich complicirt, ist der Tetanus 
und die Blutungen. Das Nähere findet sich in der Literatur über Tropen¬ 
chirurgie. Ob in den Tropen die Eitererreger seltener sind oder ob ein 
anderer Grund als Rassenimmunität in dieser Hinsicht vorliegt, bleibt vor¬ 
läufig unentschieden. Meine eigenen Untersuchungen erwiesen die Ab¬ 
schwächung der Virulenz der Eitercoccen in den Tropen und eine rasch ein¬ 
tretende Resistenz des Granulationsgewebes des pigmentirten Tropenbe¬ 
wohners. 

Dass bei verheerend auftretenden Krankheiten in den Tropen, wie bei 
Cholera, Bubonenpest, Quarantainemaassregeln wie bei uns in Europa gehand- 
werden, ist selbstredend; seit einigen Jahren hat die brasilianische Regierung 
auch für Reisende aus Gelbfieberplätzen, wo die Krankheit acut epidemisch 
ist, die Quarantaine verhängt und genaueste Desinfection der Schiffe. Die 
Leprakrankheit in den Tropen und Subtropen vermehrt sich nur, wo die 
Regierung nicht thatkräftig auf Durchführung der Isolirung der Kranken in 
Anstalten vorgeht. Die in den Tropen in eigener Weise auftretende Syphilis 
decimirt zuweilen, wie in Südafrika an der Tropengrenze, ganze Stämme Ein¬ 
geborener. Untersuchungen auf den Geisteszustand von Europäern in den 
Tropen sollten häufiger vorgenommen werden, die häufigen Geisteskrankheiten 
werden dort gewöhnlich erst im ausgebildeten Stadium erkannt. 

carl dIubler (Berlin). 

Trunk8UCht und Trinker-Asyle. Der verderbliche Einfluss, welchen 
die Trunksucht, d. h. die übertriebene Neigung zum unmässigen Genuss wein¬ 
geisthaltiger Getränke in allen heutigen Staaten auf die öffentliche Gesund¬ 
heit und Sittlichkeit ausübt, ist aus der zur öffentlichen Kenntnis gelangenden 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 56 


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TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE. 


Krankheits- und Sterblichkeitsstatistik nicht zu ersehen, weil dort nur die 
dem Tode unmittelbar vorhergehenden Todesursachen, als Schlagfluss, Herz¬ 
oder Lungenlähmung, chronisches Leber- oder Nierenleiden, Wassersucht 
u. s. w., nicht aber die lange bestandene Trunksucht als Todesursache an¬ 
gegeben zu werden pflegt. Sogar die an ausgebildetem Säuferwahnsinn und 
Alkoholismus erfolgenden Todesfälle müssen durchgehends bei der amtlichen 
Statistik in Golonne „unbekannte, nicht angegebene Todesursachen“ geführt 
werden. Dass aber ein sehr hoher Procentsatz der in die Irrenanstalten ge¬ 
lieferten Kranken durch langjährige Trunksucht in ausgebildete 
Geisteskrankheit verfallen sind, wird durch die in den Anstalten geführte 
Statistik, betreffend Krankheitsursachen, unzweifelhaft nachgewiesen, sowie 
auch die neueste betreffende preussische Strafanstaltsstatistik ergibt, dass 
mindestens 70% aller Verbrechen und Vergehen in ursächlichem Zusammen¬ 
hänge mit der Trunksucht stehen. 

So befanden eich beispielsweise in der Strafanstalt zn Vechta 76'22% entschiedene 
Trunkenbolde and nach der Publication des königlich-sächsischen statistischen Bnreans 
waren 30% der in die dortigen Arbeitsanstalten Verwiesenen Gewohnheitstrinker. Der 
Generalinspector der belgischen Gefängnisse versicherte, dass nach seiner bezüglichen 25- 
jährigen Erfahrung % der hentigen Verbrechen and des socialen Elends ans der Trunk¬ 
sucht stamme und erhielt auch 1877 das bairische Oberhaus von 24 Gefängnisvorst&nden 
ähnliche Antworten. Nach einem ministeriellen Bericht soll der Spirituosenverbrauch in 
den nordamerikanischen Freistaaten von 1870—1880 ungefähr 30.000 Menschenleben zerstört, 
100.000 Kinder in die Armenhäuser, 150.000 Erwachsene eben dabin oder ins Gefängnis 
gebracht, mehr wie in 1000 Fällen Wahnsinn, und in 2000 Fällen Selbstmord herbeigeführt, 
endlich 200.000 Witwen und eine Million Waisen geschaffen haben (Köln. Volkszeitung 
vom 6. März 1888, 2. Bl.). Brünimg berechnet die Ausgaben fiir Branntwein in Preussen 
auf 261 Millionen Mark pro Jahr. 

In vielen Fällen beruht nach ärztlicher Erfahrung die Trunksucht auf 
einer krankhaft nervösen (psychopathischen) Anlage, die ererbt oder er¬ 
worben sein kann und schon in früher Jugend zu künstlichen Reizmitteln, 
namentlich zum unmässigen Genuss alkoholhaltiger Getränke treibt. Nicht 
selten tritt auch der krankhafte Drang zu reizenden Getränken nur perio¬ 
disch auf und können dann derartige Kranke in den freien Zwischenräumen 
sich des unmässigen Genusses von Spirituosen enthalten und ihren Berufs- 
geschäften mit Besonnenheit und mit gutem Erfolge nachgehen. Im gewöhn¬ 
lichen Leben pflegt man derartige periodische Trinker als Quartalsäufer 
zu bezeichnen. 

In den bei weitem meisten Fällen entwickelt sich aber die Trunksucht 
ohne krankhafte Anlage unter dem Einfluss einer ungeeigneten häuslichen 
Erziehung und dem natürlichen Triebe der Jugend, das von den Eltern 
und Erziehern gegebene Beispiel, überhaupt die bei Erwachsenen üblichen 
Trinksitten anzunehmen. — Sehr zutreffend und mit der ärztlichen Er¬ 
fahrung übereinstimmend wird die häusliche Erziehung in den vom deutschen 
Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke herausgegebenen Mässigkeits- 
blättern (Jahrgang 1888, Nr. 3) von Dr. Wilhelm Bode geschildert. 

„Es ist noch in den meisten Häusern Brauch, dass auch die Kinder gelegentlich 
oder regelmässig Wein oder Bier trinken. Sie thun es bei und zwischen den Mahlzeiten, 
damit sie kräftiger und gesünder werden sollen. Manche Eltern freuen sich, wenn ihre 
Kleinen schon einen guten Schluck haben und grosse Mengen scheinbar ertragen können. 
Selbst Säuglinge bekommen schon Zusätze von Cognac und Wein in ihre Milch, Brannt¬ 
wein durch den sogenannten Lutscher; wenige Jahre alte Kinder lässt man am Branntwein¬ 
glase nippen oder gibt ihnen mit Branntwein durchtränktes Brod. Bei Festen und Lust¬ 
barkeiten lässt man in allen Schichten der Gesellschaft die Kinder mittrinken; die G&ste 
freuen sich darüber, wenn die Kinder erregt werden, einen sogenannten Spitz bekommen; 
man schleppt die Kinder bis in den späten Abend in die Biergärten und Restaurationen, 
wo die Jungen den Alten bald nachahmen, da die Nachahmungssucht für Kinder das 
stärkste angeborene Erziehungsmittel ist.“ 

Der in der Kindheit erlernte gewohnheitsmässige Genuss geistiger 
Getränke wird fortgesetzt von dem eben aus der Schule entlassenen Arbeiter 
in den Branntweinschänken, von unserer studirenden Jugend in den Kneip- 


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TRÜNKSDCHT UND TRINKER-ASYLE. 


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localen der verschiedenen Corps oder sonstigen akademischen Vereine, deren 
Geselligkeit sich hauptsächlich um das Zu- und Nachtrinken oder die gemein¬ 
schaftliche, möglichst beschleunigte Entleerung gefüllter Bierschoppen zu 
drehen pflegt. Es ist aber durch die allgemeine Erfahrung der Aerzte und 
Lehrer, sowie durch überzeugende wissenschaftliche Versuche unzweifelhaft 
nachgewiesen, dass der gewohnheitsgemässe Genuss von Spirituosen für das 
jugendliche Alter unbedingt nachtheilig ist und die normale körperliche und 
geistige Entwicklung aufs schädlichste beeinflusst. Bezüglich der physio¬ 
logischen Wirkung des Alkohols muss hier auf den Artikel im Band 
„Pharmakologie“ S. 349 verwiesen werden. Nach den neuen Untersuchungen 
ist die Grundwirkung der alkoholhaltigen Getränke nur eine scheinbar 
anregende und belebende, die sehr bald als eine lähmende und schwä¬ 
chende sich kundgibt. Auch die Vermehrung der Athemzüge und Puls¬ 
schläge nach Alkoholgenuss beruht auf Lähmung der centralen Herznerven. 

Nach den Untersuchungen des Prof. Fick (Würzburg) kann es nicht 
zweifelhaft sein, dass im frühen Kindesalter, wo die Gewebselemente des Hirns 
noch in der Entwicklung begriffen sind, auch die kleinsten Gaben al¬ 
koholischer Getränke schädlich wirken. Nach Prof. Thomas, dem als 
Director einer pädiatrischen Klinik in Freiburg reiche Erfahrungen zur Ver¬ 
fügung stehen, verlieren selbst ältere Kinder durch gewohnheitsgemässen 
Genuss geistiger Getränke ihre körperliche und geistige Frische, werden 
blutarm und lernen ungenügend. Auch auf den Charakter der Kinder wirkt 
der Alkohol nachtheilig; sanftmüthige und lenksame Kinder werden durch 
den Alkohol unlenksam und erst durch Alkohol-Entziehung wieder 
gebessert. 

Bei Gelegenheit des elften internationalen med. Congresses in Moskau wurde dnrch ein 
Referat des Dr. Gkndre (Paris) in der inneren Section bestätigt, dass der Alkohol krank¬ 
hafte Verfettung erzeuge, die Verdauung störe nnd den normalen Stoffwechsel verzögere. 
,Quant k l’alcool, il est bien etabli, qu’il favorise la lipomation en produisant la 
dyspepsie et en relentissant la nutrition“ (la Semaine medicale 1897, Nr. 45). 

Die Trunksucht pflegt vorzugsweise im mittleren Lebensalter, in 
welchem der normale Mensch durch die in der Jugend erlernte Berufsarbeit 
sich selbst und seine Familie ernähren muss, „körperliches und geistiges mit 
Erwerbsunfähigkeit verbundenes Siechthum und durch krankhafte Ent¬ 
artung des Herzens, der Leber und Nieren, schliesslich vorzeitigen Tod 
herbeizuführen. — Nach dem Ausspruch eines erfahrenen Pädagogen, des 
Prof. Rein in Jena ist es nicht zu berechnen, was durch regelmässigen Genuss 
alkoholischer Getränke, namentlich durch übermässigen Biergenuss in 
der Jugend unserem Volke an geistiger Kraft und Wirksamkeit verloren 
geht. — Die Trunksucht herrscht allerdings vorzugsweise bei der auf den 
Genuss der billigeren Branntweine und Liqueure, in Frankreich und Belgien 
des dort allgemein verbreiteten Absynt-Liqueures, angewiesenen Arbeiter¬ 
bevölkerung; kommt aber verhältnismässig ebenso häufig bei Fabrikanten und 
Gross-Kaufleuten, sowie bei allen übrigen Berufsständen: Aerzten, Juristen, 
Theologen, Verwaltungsbeamten und Ofticieren u. s. w. vor und richtet um 
so grösseres Unheil an, je höher und einflussreicher die Berufsstellung des 
vom Alkoholismus Befallenen war. 

Weil der übermässige Genuss alkoholischer Getränke nicht nur die 
geistigen Fähigkeiten, Verstand, Willenskraft und die ethischen Gefühle ab¬ 
schwächt, die Geschlechtstriebe aber steigert und zu geschlechtlichen Excessen 
verleitet, werden hauptsächlich durch Alkoholisten die syphilitischen und gonor¬ 
rhoischen Krankheiten in die Familien eingeschleppt und weiter verbreitet. 
Zu einer möglichst wirksamen Bekämpfung des in allen Staaten sich 
mehr oder weniger bemerkbar machenden gemeingefährlichen Alkohol¬ 
missbrauchs hat bekanntlich in Brüssel im vorigen Jahre ein fünf Tage 
dauernder internationaler Congress getagt, an welchem sich Mitglieder aller 

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TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE. 


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Berufsstände: Geistliche, Lehrer, Aer/te, Juristen, Yerwaltungsbeamte, Volks- 
wirthe u. s. w. betheiligten und ö5 betreffende Themate besprochen wurden. 
Auch der deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege, der schon 1891 
einen Gesetz-Entwurf zur Bekämpfung der Trunksucht an den deutschen 
Reichstag einreichte, der aber leider im Plenum nicht zur Berathung gelangte, 
hat auf die Tagesordnung seiner vorjährigen Versammlung die Bekämpfung 
des Alkoholmissbrauchs gesetzt, und kann hier nur auf das sachgemässe, 
ausführliche Referat des MedicinaU’aths Prof. Tuczek (Marburg) verwiesen 
werden (Deutsche Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheitspflege, Band XXX, 
Heft 2). Es sind aber folgende vom Herrn Referenten zur Bekämpfung der 
Trunksucht in Vorschlag gebrachten Maassregeln von besonderem Interesse: 

1. Die Verhütung und Beseitigung der socialen Folgen der Trunksucht bedarf der 
staatlichen Intervention: Unterbringung der Trinker in geeignete Anstalten, 
Entmündigung derselben, Zwangserziehung der Kinder von Trinkern, Bestrafung der öffent¬ 
lichen, Aergernis erregenden Trunkenheit. 2. Zum Zwecke der Heilung der Trinker ist 
die Errichtung von Trinkerheilanstalten unter staatlicher Aufsicht und ärzt¬ 
licher Leitung erforderlich. Die Aufnahme in dieselben muss unter ausreichender 
Garantie auch gegen den Willen der Trinker stattfinden können und darf von der 
vorausgegangenen Entmündigung nicht abhängig gemacht werden. Die Trinkerasyle dürfen 
nicht als Straforte behandelt werden. 3. Geheilte Trinker müssen sich des Alkohols voll¬ 
ständig enthalten; ferner ist die absolute Abstinenz nöthig für Kinder und alle 
diejenigen, welche aus Gründen krankhafter Anlage den Alkohol schlecht vertragen und 
bald die Kraft verlieren, dem Reizmittel zu entsagen. Weiter gehende Forderungen totaler 
Enthaltsamkeit gehen über das Gebot der Hygiene hinaus. 4. Die Mitwirkung der Gesetz¬ 
gebung bei Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs ist unentbehrlich und hat sich be¬ 
währt (in der Schweiz, Schweden, Norwegen, Holland etc.). Die in Deutschland geltenden, 
gegen die Trunksucht gerichteten gesetzlichen Bestimmungen sind nicht ausreichend. 
Ein Reichsgesetz dieser Art ist zu erstreben unbeschadet der Bestimmungen durch 
Landesgesetz und Statut. 

Jeder erfahrene Arzt wird nun dem Herrn Prof. Tuczek beistimmen, 
dass die Trunksucht durch specifische Arzneimittel und eine in den gewohnten 
häuslichen Verhältnissen zu gebrauchende Cur nicht geheilt zu werden pflegt 
und deshalb die Errichtung besonderer Trinkerheilanstalten ein dringendes 
Bedürfnis unserer Zeit geworden ist. Es sind nun auch bereits mehrere 
Trinkerasyle errichtet, von denen aber in Deutschland nur einzelne 
von Aerzten, die meisten aber von Laien, vorzugsweise evangelischen Geist¬ 
lichen betrieben werden. Da die Trunksüchtigen, wie früher gezeigt, ent¬ 
weder ursprünglich (primär) nervenkrank oder durch den übermässigen Genuss 
alkoholhaltiger Getränke erst secundär krank geworden sind, so können auch 
die bisher von Privatpersonen errichteten Trinkerasyle nur als concessions- 
pflichtige Privatkrankenanstalten im Sinne der deutschen Gewerbe¬ 
ordnung angesehen werden. Die zuständige höhere Verwaltungsbehörde ist 
dann aber befugt, nebst den übrigen für den hygienischen Anstaltsbetrieb 
erforderlichen Einrichtungen auch die verantwortliche Leitung durch einen 
zuverlässigen, approbirten Arzt vorzuschreiben, wodurch in dieser 
Beziehung den Anforderungen des Herrn Referenten auch unter der bestehen¬ 
den Gesetzgebung genügt werden könnte. Da ausserdem nach bisheriger 
Erfahrung die Trunksüchtigen sich durcbgehends freiwillig zum Gebrauch 
einer Anstaltscur entschliessen und auch bei freiwilligem Ausharren in 
der Anstalt die günstigsten Chancen zur Genesung bieten, würde zwangsweise 
Aufnahme und Zurückhaltung sich nur für solche Trunksüchtige empfehlen, 
die in häuslichen Verhältnissen sich als gefährlich oder öffentliches 
Aergernis erregend gezeigt haben. Für solche Fälle würden die für zwangs¬ 
weise Behandlung Kranker in Irrenanstalten erlassenen Vorschriften ge¬ 
nügen. — Die eventuelle zwangsweise Aufnahme und Zurückhaltung Trunk¬ 
süchtiger in den Anstalten wurde durch den Leiter einer Anstalt für Nerven¬ 
kranke, Dr. Anton Schmitz (Bonn), wiederholt in den Jahres-Versammlungen 
des deutschen Vereines gegen den Missbrauch geistiger Getränke als noth- 
wendige Maassregel vertreten. Auch Prof. Tuczek sprach sich in seinem er- 


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TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE. 


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■wähnten Referat dahin aus, dass die Trinkerasyle erst dann ihre volle Wir¬ 
kung entfalten würden, wenn die Kranken allgemeiner in früheren Stadien 
darin Heilung suchen und aus der Anstalt nicht vorzeitig, ehe sie genügend 
widerstandsfähig geworden seien, entlassen würden. An dem Fehlen eines 
gesetzlichen Mittels hierzu seien bisher die von philanthropischer Seite und 
von Aerzten errichteten Heilanstalten gescheitert, während gerade in den 
freiesten Staaten: England, Amerika und der Schweiz die Trunksucht als 
gemeingefährliche Krankheit betrachtet werde und dieser Auffassung 
entsprechende Gesetze erlassen seien. 

Nach den Ausführungen des Privatdocenten Dr. Aschaffenberg (Heidel¬ 
berg) zum Referat des Prof. Tuczek. sind die Heilungen in den Schweizer 
Trinkerasylen weit häufiger, als man im Allgemeinen anzunehmen pflege und 
wurden von Dr. Jordy (Bern) sogar auf 75% geschätzt. Wenn Dr. Jordy 
ab.er die staatliche Aufsicht und die Ueberweisung der Kranken im Ver¬ 
waltungswege möglichst zu umgehen anräth, um die Unterbringung derartiger 
Kranken thunlichst zu erleichtern, so kann kein geordnetes Staatswesen auf 
die Oberaufsicht über die für das allgemeine Gesundheitswohl besonders 
wichtigen Krankenanstalten Verzicht leisten, welche Aufsicht aber erfahrungs- 
gemäss in einer möglichst wenig belästigenden und keinerlei Aufsehen er¬ 
regenden Art für die Betheiligten ausgeführt werden kann. Es genügt für 
die Aufnahme ein in vorgeschriebener Form ausgestelltes Attest des Haus¬ 
arztes und eine unvermuthete Revision der vorgeschriebenen Einrichtungen, 
sowie des Anstaltsbetriebes durch einen unbetheiligten, sachverstän¬ 
digen Beamten, durch welche Revision weder der Leiter der Anstalt, noch 
die Kranken, noch deren Angehörige belästigt zu werden brauchen. Nach dies¬ 
seitiger Erfahrung wünschen die leitenden Anstaltsärzte eine derartige 
staatliche Revision, um vor den bekanntlich nicht seltenen unbegründeten Klagen 
und Beschwerden mehr geschützt zu sein. Eine entsprechende Mitwirkung von 
Geistlichen bei der psychischen Krankenbehandlung ist durch die ärzt¬ 
liche Leitung der Trinkerasyle keineswegs ausgeschlossen und kann nach einer 
betreffenden Mittheilung des Dr. Schmitz für die Krankenheilung sich als sehr 
nützlich erweisen. 

Da vor zwei Jahren die Errichtung von Trinkerheilanstalten in Deutsch¬ 
land, namentlich für die Aufnahme unbemittelter Kranker, welche in den 
ausschliesslich für bemittelte Kranke eingerichteten Privatanstalten nicht auf¬ 
genommen werden, von einem in Frankfurt gebildeten Centralcomite dringend 
empfohlen wurde, wird die Mittheilung von Interesse sein, dass im nordameri¬ 
kanischen Staate Massachusetts durch besonderes Gesetz von 1889 eine staat¬ 
liche Heilanstalt für bemittelte und unbemittelte Trunksüchtige errichtet 
und die Kosten für den erforderlichen Landerwerb, Gebäude, Inventar etc. auf 
die Staatscasse angewiesen worden sind. 

Die Aufnahme der Trunksüchtigen in die Anstalt findet auf Zeugnis zweier Aerzte 
und richterliches Erkenntnis für zwei Jahre statt und kann nach Ablauf dieser Zeit wider¬ 
ruflich die Freiheit wieder gegeben werden; Appell an höhere gerichtliche Instanz ist 
aber zulässig. Die für die Heilanstalt bestimmten Personen müssen abgesehen von ihrer 
Krankheit nicht in schlechtem Rufe stehen und keine Verbrechen begangen haben. Die 
Kosten der Anstalt betragen 37.000 Pfund, 3000 Pfund für Inventar. Beim Bau wurde 
das Cottagesystem befolgt, mit besonderen Gebäuden für Speisezimmer, Küche, Wasch¬ 
küche and Verwaltung. Es fehlten Mauern und fanden deshalb anfangs viele Flachtversache 
statt, welche sich vermindert haben, seit die Kranken in verschiedenen Abtheilnngen be¬ 
handelt werden. Eine Abtheilung ist bestimmt für weniger Fügsame, welche in ge¬ 
schlossenen Räumen überwacht und nur zur Speisung frei gelassen werden. Die übrigen 
Abtheilungen geniessen möglichst grosse Freiheit und werden ihrem Zustand entsprechend 
beschäftigt mit Haus- und Feldarbeiten, sowie verschiedenen Handwerken. Diejenigen, 
welche dnrch Gymnastik behandelt werden, erhalten auch Brausebäder von entsprechender 
Temperatur. Eine genaue Angabe über die Fortschritte der Heilung oder Verschlimmerung 
wird für jeden Aufgenommenen geführt. Die vorgenannten Maassregeln haben sich bisher 
als sehr erfolgreich gezeigt. Von 119 Kranken, welche vor Mai 1394 entlassen wurden, 
haben 31 als geheilt, 13 als gebessert sich gezeigt. Im ersten Betriebsjahre betrug die 


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UNFALLVERHÜTUNG. 


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Krankenz&hl täglich 101*8. Das Durchschnittsalter der Kranken war: 82 Jahre, 2 unter 
15, 35 zwischen 50 bis 76 Jahren. 

Die Ausgaben des ersten Jahres betrugen: 9581 Pfd. 

„ Einnahmen für Arbeiten 134 „ 

„ , t von der Oekonomie 152 w 

„ „ „ von der Gemeinde für arme Kranke 1332 „ 

Staats-Zuschuss 8775 „ 

Selbstzahlende Kranke 453 „ 

Aus anderen Quellen 89 „ 

(British Medical Journal 1896, Nr. 4, p. 229). 

Nach diesseitiger Erfahrung würde die Mitwirkung richterlicher 
Behörden, wie solche in den amerikanischen Anstalten stattfindet, die recht¬ 
zeitige Aufnahme Trunksüchtiger in die Heilanstalten verzögern und auf 
die Heilerfolge der Anstalt ungünstig ein wirken. Ebensowenig kann ein 
unbedingt auf zwei Jahre bestimmter Aufenthalt in der Anstalt empfohlen 
werden, da auch der erfahrenste Arzt die Zeit der Genesung bei chronischen 
Erkrankungen nicht so genau vorher bestimmen kann und in der hiesigen 
Bonner Anstalt auch schon nach einem durchschnittlichen Anstaltsaufenthalt 
von 3 Monaten Genesungen einzutreten pflegen. Für eine irgendwie zuver¬ 
lässige Statistik, betreffend die aus den Anstalten als geheilt, gebessert oder 
ungeheilt entlassenen Kranken, fehlt es leider noch an gleichmässig zu 
beachtenden Vorschriften, weshalb die von den Privatanstalten publicirten 
Erfolge nur mit grosser Vorsicht verwertet werden können. Dr. Schmitz 
versicherte mir, dass er nur solche Fälle als Heilungen bezeichne, wo er 
nach einer mehrjährigen Probezeit in häuslichen Verhältnissen die fort¬ 
bestehende Heilung von den aus der Anstalt Entlassenen und deren Angehörigen 
positiv erfahren habe. 

Da es leider zur Zeit in Deutschland noch nicht möglich geworden ist, 
unbemittelte Trunksüchtige in geeigneten Heilanstalten unterzubringen, 
so werden Behörden und Wohlthätigkeitsvereine um so eifriger bemüht sein 
müssen, die hauptsächlichen Ursachen der Trunksucht nach Möglichkeit zu 
beseitigen, um der unter der Arbeiterbevölkerung grassirenden Trunksucht 
vorzubeugen. Das wird am wirksamsten geschehen durch Beschaffung ge¬ 
sunder Wohnungen, die ein geordnetes Familienleben möglich machen 
und durch eine bessere gesundheitsgemässe Ernährung der Arbeiter¬ 
familien in ihrer eigenen Häuslichkeit. Die gemeinnützigen Bau¬ 
vereine und menschenfreundlichen Arbeitgeber, die für gesunde Arbeiter¬ 
wohnungen, sowie die Vereine, die für nahrhafte billige Speisen und den 
Branntwein ersetzende Getränke sorgen, erwerben sich gleichzeitig die grössten 
Verdienste um die Beschränkung der gemeinschädlichen Trunksucht. Wie 
sollten auch die aus den Trinkerasylen als geheilt entlassenen Arbeiter vor 
Rückfällen in die Trunksucht geschützt werden, wenn, wie im Artikel „Fabrik¬ 
hygiene“ p. 237 zutreffend angegeben ist, Männer und Frauen, halbwüchsige 
Knaben und Mädchen morgens nüchtern vom Hause in die Fabrik gehen 
und sich erst während der Frühstückspausen durch Schnapstrinken zu 
stärken suchen? Wenn die Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse, wie solche 
in dem vorgenannten Artikel beschrieben sind, sich nicht bessern, werden 
auch alle heutigen Heilstätten gegen Tuberkulose oder Trunksucht, die so oft 
gleichzeitig die Arbeiterfamilien befallen, dauernde Erfolge nicht erzielen 
können. schwartz. 

Unfallverhütung. Unter „Unfallverhütung“ versteht man die Ge- 
sammtheit aller Einrichtungen (gesetzlicher und administrativer Natur), welche 
die Bestimmung haben, erfahrungsgemäss vorkommende Unfälle durch zweck¬ 
entsprechende Vorkehrungen zu verhüten. 

Die Unfallverhütung bildet sonach den prophylactischen Theil des 
Rettungswesens, und wird sich dieselbe auf alle Gebiete erstrecken müssen, 


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UNFALLVERHÜTUNG. 


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welche im Capitel „Rettungswesen“ (s. d. S. 648) des Näheren angeführt sind; es 
können daher die Maassnahmen für Unfallverhütung, ganz analog den Rettungs¬ 
einrichtungen für bereits stattgehabte Unfälle, gruppirt werden, und dies zwar 
in solche, welche schon im gewöhnlichen Leben und im täglichen Verkehre 
erforderlich sind, und in solche, welche der gewerbliche und industrielle Be¬ 
trieb erheischt. 

Der Zweck einer geeigneten Verhütung von Unfällen aller Art wird 
einerseits durch technische Sicherheitsvorkehrungen, andererseits durch 
zweckentsprechende Vorschriften erreicht. 

Die Unfall-Verhütungsmaasregeln im gewöhnlichen Leben bestehen vor¬ 
zugsweise in behördlichen Erlässen und polizeilichen Verordnungen. 

Hierher gehören in erster Linie die feuerpolizeilichen Vorschriften, 
welche sich im Allgemeinen erstrecken 1. auf den Umgang mit Feuer und 
Licht, insbesondere auf den Dachböden und in Kellerräumen, Reinigung der 
Schornsteine und Unterbringung von feuergefährlichen Gegenständen; zu 
letzteren sind auch diejenigen Stoffe zu zählen, welche bei ihrer Lagerung in 
grossen Mengen, bei dichter Verpackung oder hoher Belastung durch schwere 
Gegenstände zur Selbstentzündung geneigt sind, wie Heu, Stroh, Sägespäne, 
Dünger, Hanf, Flachs, geölte oder fettige Lappen, Wolle, Baumwolle u. a.; 
2. Auf die feuersichere Bauart, Dachung, Schornstein- und Feuerungs¬ 
anlagen, feuergefährliche Betriebe in Gebäuden u. s. w. 

In diese Kategorie müssen auch eingereiht werden: die vorgeschriebene 
Stiegenbeleuchtung in Häusern bei eintretender Dunkelheit, die Anbringung 
der Leitstangen in den Stiegenhäusern, die Bedeckung von Gruben- und 
Kelleröffnungen, die Reinigung der Dächer von Schnee, die Bestreuung der 
Trottoire bei Glatteis, das Verbot des Hinauswerfens von Gegenständen aus 
den Fenstern, die Anwendung von Sicherheitsgürteln beim Fensterputzen in 
Stockwerken, das Anseilen bei Arbeiten auf den Dächern und viele andere 
im Wege der Polizei oder der städtischen Behörde erlassene Verordnungen 
und Vorschriften. 

Für die Ausführung von Bauten bestehen in den Städten den jeweiligen 
örtlichen Verhältnissen angepasste Bauordnungen, welche von den Bau¬ 
behörden erlassen werden. Die diesbezüglichen Anordnungen beziehen sich 
theils auf die Beschaffenheit der Bauten selbst, theils auf die Sicherheit der 
bei denselben in Verwendung stehenden Arbeiter. Die Herstellung von Bau¬ 
anlagen, ja selbst von Bauveränderungen oder grösseren Adaptirungen wird 
in der Regel von der vorherigen obrigkeitlichen Prüfung und Genehmigung 
des Planes abhängig gemacht. 

Die jeweiligen örtlichen Bauordnungen schreiben unter anderem vor: Die Tiefe der 
vorzunehmenden Fondamentirung, die erforderliche Beschaffenheit des Materials, die min¬ 
deste Stärke des Mauer- und Balkenwerks, die Tragfähigkeit der in Gebrauch kommenden 
Traversen, die Anlegung von Feuerstätten, Räuchfangen u. s. w. — Es wird darüber ge¬ 
wacht, dass das Leben und die Gesundheit der Arbeiter, der Vorübergehenden und der 
späteren Bewohner der Häuser nicht leide. Zu diesem Zwecke wird die Einplankung von 
Neubauten vorgeschrieben, auf eine vorschriftsmässige Herstellung der Gerüste Rücksicht 
genommen, bei den Erdarbeiten Pölzungen angeordnet und auch bezüglich des bei diesen 
Sicherungsarbeiten in Verwendung zu nehmenden Materiales das Entsprechende verfügt 

Für den Bau solcher Objecte, in welchen grosse Menschenansammlungen 
stattfinden, also Theater, Circus, sowie überhaupt für solche Anlagen, welche 
in Bezug auf den Zuschauerraum ähnliche Einrichtungen wie die Theater 
bedingen, wurden erst in den letzten Jahren behufs Verhütung von Unfällen, 
welche hier zumeist durch Paniken oder Feuersgefahr hervorgerufen werden, 
wirksame Vorschriften erlassen. 

Den directen Anstoss hiezu gab die entsetzliche Katastrophe des Ringtheaterbrandes 
in Wien am 8. December 1881. — Es muss geradezu als Wunder bezeichnet werden, dass 
es erst dieses schrecklichen Unglückes bedurfte, um die maassgebenden Factoren ans ihrer 
Lethargie aufzurütteln; sind doch von den 1500 Theatern, welche beiläufig in Europa 


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UNFALL VERHÜTUNG. 


existiren, in diesem Jahrhunderte allein mehr als 500 grössere Theater bis auf den Grund 
niedergebrannt, wobei mehr als 4000 Menschen zum Opfer fielen! — In den Jahren 1871 
bis 1881 sind durchschnittlich im Jahre 18 Theater abgebrannt. 

Im Jahre 1882 kamen nicht weniger als 21 Theaterbrande vor und zwar: 

Am 7. Mkrz: Das czechische Nationaltheater in Prag. 

„ 17. „ Das Krystallpalasttheater in Marseille. 

„19. „ Das Livadia-Operntheater in Petersburg. 

„ 19. „ Das Grandetheater in Algier. 

„ 16. April: Das Hoftheater in Schwerin. 

„ 17. „ Prince’s Theater in Portsmouth. 

„ 6. Mai: Das Theater zu Sibibel-Abbös in Algier. 

„ 6. „ Moorö’s Opernhaus in Nevada. 

„ 18. Juni: Das Royal-Courttheater in Liverpool. 

„ 26. * Das Stadttheater in Riga. 

„ 4. Juli: Das Arcadiatheater in Petersburg. 

„ 6. „ Das Theater de los Recreos Martinenses in Madrid. 

„ 1. September: Das Theater zu Nowaja Hussa in Russland. 

„5. „ Das Theater zu Islington. 

„11. „ Das Theater in Löwen (Belgien). 

„ 22. „ Das Theater in Orebro (Schweden). 

„ 7. October: Melisson’s Theaterhalle in Brighton. 

„30. „ Abbey’s Parktheater in New-York. 

„30. „ Das Theater Mariui in Barcelona. 

„ 28. November: Das Westendtheater in South-Sbilds (England). 

„ 7. December: Das Alhambratheater in London. 

Im letzten Decennium sind die Theaterbrände seltener geworden, was 
gewiss nicht in letzter Linie den allerorts getroffenen Sicherheitsvorkehrungen 
zu danken ist. Der im Vorjahre in Paris stattgehabte Brand eines Wohl- 
thätigkeitsbazars, bei welchem leider wieder so viele Menschenleben zu be¬ 
klagen waren, hat aber wieder die traurige Gewissheit an den Tag gefördert, 
dass die Durchführung der schon vielfach bewährten Maassnahmen zur Ver¬ 
hütung von solchen Katastrophen noch nicht überall zur vollen Geltung ge¬ 
langt ist. 

In Oesterreich wurden von Regierungswegen am 1. Juli 1882 „Die Be¬ 
dingungen zur Veranstaltung theatralischer Vorstellungen in neuen Theater¬ 
gebäuden, ferner die Bedingungen für die Einrichtung und den Betrieb der 
Theater überhaupt und die Ueberwachung der genauen Einhaltung derselben“ 
herausgegeben. 

Diese Bedingungen beziehen sich im Hauptsächlichen auf die Lage der Theater (nach 
allen Seiten freistehend, wenigstens 15 m vom Nachbarobjecte entfernt), auf feuersichere 
Constructionen, auf direct ins Freie mundende geradearmige Stiegen, auf nach aussen 
aufgehende Thüren, auf die Anbringung eines feuersicheren Vorhanges zur Trennung des 
Buhnenraumes vom Zuschauerraume (eiserne Courtine), auf die Imprägnirung der nicht 
feuersicheren Bestandtheile der Maschinerien und Gerüstungen der Bühne, des Schnür¬ 
bodens und der Unterbühne, auf die Zwischengänge im Zuschauerraume (1—1'25 m 
Breite), auf die Beleuchtung, die Nothbeleuchtung (Nothlampen), die Beheizung (unbedingt 
Central-Heizungsanlage) und endlich auf die Unterbringung von Wasserwechsel, Feuer¬ 
telegraphen und Feuer-Löschrequisiten. ~ Auch hinsichtlich des Betriebes der Theater sind 
genaue Vorschriften in diesen Bedingungen enthalten, und obliegt die Ueberwachung der 
Einhaltung aller dieser Maassnahmen den Theater-Landescommissionen. — Ein behördlicher 
Functionär hat die Pflicht, eine Stunde vor jeder Vorstellung die Revision aller Raume des 
Theaters in Bezug auf die Sicherheit der Personen, sowie die Feuersicherheit überhaupt, 
vorzunehmen una wahrgenommene Uebelstände sofort abzustellen. 

In allen anderen Staaten wurden gleichfalls ähnlich lautende Theater¬ 
vorschriften erlassen, und es kann als gewiss angenommen werden, dass durch 
dieselben schon manches Unheil verhütet wurde. 

Bei grossen Volkszusammenkünften, Feierlichkeiten, Volksbelustigungen 
in den Strassen oder auf grossen Plätzen, wo sich die Zuschauer auf Tri¬ 
bünen versammeln, bestehen in nahezu allen Städten in Bezug auf die Er¬ 
richtung von Tribünen und auf die Erprobung derselben durch Sachverständige 
strenge Vorschriften, und wird die Errichtung sogenannter fliegender Schau¬ 
gerüste zumeist polizeilich verboten. 


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UNFALL VERHÜTDNG. 


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Die meisten Unfälle im gewöhnlichen Leben entstehen durch die in Ge¬ 
brauch stehenden öffentlichen Fuhrwerke, Fiaker, Omnibusse, Tramway, 
Lastwagen, Fahrräder, Eisenbahnen etc. 

Die Maassnahmen zur Verhütung der durch diese Verkehrsmittel hervor¬ 
gerufenen Unfälle erstrecken sich theils auf die Construction der Fuhrwerke 
selbst (Bremsvorrichtungen, Radschuhe, Schutzvorrichtungen bei Tramway’s, 
Beleuchtung der Wagen zur Nachtzeit), theils auf die Handhabung der¬ 
selben durch die Lenker (Verbot des Schnellfahrens auf Kreuzungspunkt'en, 
Fahrprüfung der Kutscher), und endlich auch auf allgemeine Vorschriften 
(Verbot des unbeaufsichtigten Stehenlassens von Gefährten, Vorschrift der 
Herstellung sogenannter Rettungsplätze an besonders frequenten Punkten etc.). 

In grossen Städten ist es zumeist die Polizeibehörde, welche ein eigenes 
Lohnfuhramt unterhält, dem die Erlassung aller diesbezüglicher Vorschriften 
und die Ueberwachung der stricten Einhaltung derselben durch die Polizei¬ 
organe zustebt. 

Die Verhütung von Unfällen im Eisenbahnverkehre geschieht durch die 
möglichst erhöhte Betriebssicherheit und durch strenge Handhabung der Ver¬ 
kehrsvorschriften für die Reisenden sowohl als auch für die Bahnbediensteten. 

Nebst dem Bergbau und dem Baugewerbe rangirt der Eisenbahnver¬ 
kehr in der Unfallstatistik zu denjenigen Berufsgruppen, welche percentuarisch 
das grösste Contingent an Verunglückungen liefern. 

Im Jahre 1890 kamen nach dem Berichte der Section für Eisenbahnhygiene des 
internationalen Congresses in Berlin 2461 Betriebsunfälle vor, und zwar 313 Entgleisungen, 
258 Zusammen8tösse und 1890 sonstige Betriebsunfälle. — Hiebei sind 2202 Personen ver¬ 
unglückt, wovon 500 (darunter 30 Reisende) getödtet und 1702 (darunter 117 Reisende) 
verletzt wurden. 

Von einer Million beförderten Reisenden wurden 0*11 Personen getödtet und 0*43 
Personen verletzt. 

Zur Erhöhung der Betriebssicherheit sind in neuerer Zeit durch die 
Eisenbahnverwaltungen verschiedene Einrichtungen getroffen worden. — Dass 
in erster Linie ein solider Ober- und Unterbau der Strecken erforderlich ist, 
ist selbstverständlich. — Bezüglich des Oberbaues wird das System mit den 
hölzernen Querbalken für das sicherste gehalten. 

Die Einführung der elektrischen Weichenstellen in den Hauptstationen, 
ferner das Blocksystem im stärkeren Verkehre sind als wichtige Unfall-Ver¬ 
hütungsvorkehrungen anzusehen. — Ein Mittel, die Betriebssicherheit zu er¬ 
höhen, bilden elektrische Läutepfosten an den Wegübergängen, welche die Bahn¬ 
strecke kreuzen. Dieselben sind auf den amerikanischen Bahnen eingeführt. 
Dadurch, dass der Zug in entsprechender Entfernung von der Wegkreuzung 
einen Radtaster niederdrückt, wird eine Klingel in Gang gesetzt, welche so 
lange läutet, bis die Berührung eines zweiten Radtasters durch den weiter¬ 
fahrenden Zug den Strom öffnet. 

Zu den Unfall-Verhütungsmaassregeln auf Eisenbahnen sind noch zu 
zählen: die permanente Bewachung der Strecke durch Streckenwächter, die 
Vorschriften und Unterweisungen des Bahnpersonales, die Untersuchung der 
Radreifen und der Achsen, die Nothleine in Personenzügen und schliesslich 
die strenge Einhaltung der polizeilichen Vorschriften für die Reisenden. 

Die im Vorjahre so häufig vorgekommenen Einsenbahnunfälle haben 
gezeigt, dass die Betriebssicherheit im Eisenbahnverkehr noch Vieles zu 
wünschen übrig lässt, und ist die Ueberlastung der Eisenbahnbediensteten in 
ihrem schweren und verantwortungsvollen Dienste als eine der Hauptursachen 
hiefür anzusehen. 

Nur eine Vermehrung des Personales könnte hier Abhilfe schaffen. 
Auch auf dem internationalen Congress in Berlin 1890 hat der ungarische 
Delegirte von Csatäry erklärt, dass die Erschöpfung der Bediensteten in¬ 
folge Ueberanstrengung, namentlich des Fahrpersonales, zu Unglücksfällen 
Anlass gebe. 


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UNFALLVERHÜTUNG. 


Der in jüngster Zeit erflossene Erlass des österreichischen Eisenbahn- 
Ministeriums, der die Ueberanstrengnng der Eisenbahnbediensteten durch 
Aenderungen in dem Dienstreglement zu vermeiden bezweckt, ist als dankens¬ 
werte Initiative auf diesem Gebiete zu bezeichnen. 

Die Schutzvorrichtungen zur Verhütung von Unglttcksfällen im 
gewerblichen oder industriellen Betriebe sind theils allgemeiner 
Natur, theils beziehen sie sich auf besondere, gefahrbringende Theile von 
Maschinen. 

Ihre Anbringung ist in einzelnen Staaten durch gesetzliche Bestimmungen 
vorgeschrieben, wie z. B. in Deutschland durch das Unfall-Versicherungsgesetz 
vom 6. Juli 1884 und durch die Reichs-Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891 
§ 120 a, anderenorts, wie beispielsweise in Oesterreich, wo die Unfallverhütung 
nicht im Gesetzwege geregelt ist, werden von den Behörden den Besitzern von 
gewerblichen Etablissements mit maschinellem Betriebe in Form eines „Rath¬ 
schlages“ diejenigen Bedingungen vorgezeichnet, unter welchen der jeweilige 
Betrieb gestattet ist. Die Ueberwachung des Vorhandenseins und des rich¬ 
tigen Functionirens dieser Schutzvorrichtungen obliegt den technischen Be¬ 
amten der Gewerbeinspection. 

Zu den Sicherheitsvorkehrungen allgemeiner Natur gehören alle Apparate 
zur automatischen Anzeige von Gefahren aller Art, die sogenannten Alarm¬ 
apparate, dann alle Einrichtungen in Fabriken, um eine etwa entstehende 
Feuersbrunst hintanzuhalten oder um sich derselben möglichst rasch ent¬ 
ziehen zu können, endlich alle Vorschriften in Bezug auf die Anlage einer 
Fabrik, über das zur Verwendung kommende Baumaterial, die Beheizung, 
Beleuchtung etc. 

Zu den gefährlichsten industriellen Betrieben gehört unstreitig der 
Bergbau. 

Die Massenverunglückungen durch schlagende Wetter, Grubenbrände, 
Schachteinstürze, Wassereinbrüche etc. sind allgemein bekannt und erklären 
zur Genüge die hohe Zahl der Menschenopfer, die der Bergbau alljährlich fordert. 

Durchschnittlich circa 8 5 0 / 0 der Arbeiter verunglücken jährlich in 
diesem Betriebe. Die tödtlichen Unfälle bilden in Preussen nicht weniger als 
23°/ 0 aller Sterbefälle der Bergleute. 

Schlagwetter kommen fast nur in Steinkohlengruben vor und be¬ 
dingen die grössere Gefährlichkeit dieser Betriebe gegenüber anderen Bergbauen. 

Aber nicht nur durch Entzündung schlagender Wetter kommen Explo¬ 
sionen in Berg werken zustande; auch durch Entzündung des Kohlen¬ 
staubes werden brennbare Gase entwickelt, die zu verheerenden Kohlenstaub¬ 
explosionen Veranlassung geben. Die Ursachen dieser Explosionen sind ent¬ 
weder Entzündung durch Lampen oder durch Sprengschüsse. 

Die Maassnahmen zur Unfallverhütung gehen nun dahin, durch Ver¬ 
besserung der technisch-hygienischen Einrichtungen, durch Ueberwachung und 
Belehrung der Arbeiter die Betriebssicherheit zu erhöhen. Und in der That 
sind diese Bestrebungen in einigen Ländern nicht ganz ohne Erfolg geblieben. 
So hat die Durchschnittszahl der verunglückten Bergarbeiter in Belgien, 
Frankreich und England um circa 2°/ 0 abgenommen. 

Die Vorschrift, durch die Beleuchtung keine Veranlassung zu Explo¬ 
sionen zu geben, hat zur Construction von Sicherheitslampen geführt, 
die auf dem Principe beruhen, dass eine von einem Drahtmantel umschlossene 
Flamme die im Raume angesammelten Gase nicht entzünden kann (Davy's 
Sicherheitslampe). 

Die Sicherheit derselben ist jedoch nur eine beschränkte, da das 
Drahtnetz sich schliesslich so stark erhitzt, dass es die Flamme durchlässt; 
insbesondere kann die Flamme bei heftiger Luftbewegung durch das Gitter 
herausschlagen. 


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UNFALLVERHÜTUNG. 


891 


Eine der häufigsten Ursachen der Explosionen ist das Wiederanzünden der ans 
irgend einem Grunde verlöschten Lampe. Trotz aller Belehrungen, Verbote und Strafen 
geschieht es immer wieder, dass leichtsinnige Bergleute ihre verlöschte Lampe Öffnen, um 
dieselbe mittelst eines Zündholzes wieder zu entzünden. Man hat daher Lampen construirt, 
die man in der Grube gar nicht öffnen kann; andere Lampen wieder hat man mit einer 
mechanischen Vorrichtung versehen, welche ein An zünden gestatten, ohne dass die Lampen 
geöffnet zu werden brauchen (WoLFF’sche Benzinlampe). Gegenwärtig sind im Ostrau- 
Karwiner Kohlenrevier elektrische (Accumulatoren-) Lampen in Verwendung. 

Eine weitere sehr häufige Ursache der Explosionen ist die Entzündung 
durch Sprengschüsse. Die Verwendung von Sprengmitteln ist in einigen be¬ 
sonders gefährdeten Gruben in Oesterreich, England und Belgien behördlich 
verboten. Die Verwendung von Sprengmitteln lässt sich jedoch in vielen 
Kohlen werken kaum entbehren. 

Die Gefährlichkeit der verschiedenen Sprengstoffe ist eine ungleiche; die langsam 
explodirenden Sprengstoffe, wie das Schwarzpulver, sind die allergefährlichsten, der Gebrauch 
des letzteren ist daher auch vielfach untersagt. In neuerer Zeit wird das ungeheuer rasch 
explodirende Dynamit wegen der geringen Gefährlichkeit zu Sprengzwecken verwendet. 

Auch das Entzünden der Sprengladung kommt in Betracht. Sprühende Zündschnüre 
sind zu meiden; am sichersten eignen sich hiezu elektrische oder Frictionszönder. 

Ferner ist auch der Besatz der Ladung (das ist das Material, welches zum Ver¬ 
stopfen des Bohrloches oberhalb der Sprengladung verwendet wird) von Bedeutung. Ist 
ein Sprengschuss schlecht besetzt, so wirft er ähnlich einem Flintenschüsse den Besatz heraus 
und eine oft mehrere Meter lange Flamme folgt, welche den aufgewirbelten Kohlenstaub 
entzündet und zur Explosion bringt. Als besten „Besatz“ empfiehlt die österreichische 
Schlagwettercommission feuchtes Moos und Sand. Aber oft genügen schon die Funken, welche 
durch die Schläge der stählernen Werkzeuge gegen die Gussstücke, oder durch Stoss der 
Spatenspitze gegen einen harten Stein entstehen, um eine Explosion in dem mit Schlag¬ 
wettern erfüllten Raume zu verursachen. Es sind deshalb die Signalapparate zu empfehlen, 
welche die Anwesenheit schlagender Wetter anzeigen (ANSELL’sche Alarmglocke, Alarm- 
Pfeifenmanometer von Fromont). Dieselben beruhen auf dem Principe, dass der Kohlen¬ 
stoff schneller durch poröse Wände diffundirt als die Luft, wodurch auf ein Manometer 
ein Druck ausgeübt wird, welcher ein Signal anslöst. Beim Erschallen des Signals ist die 
Arbeit sofort einzustellen, eventuell sind die Gruben zu verlassen. 

Das wichtigste Mittel zur Verhütung von Schlagwettern ist die mög¬ 
lichste Verhinderung zur Ansammlung und die Entfernung angesammelter 
Schlagwetter. Dies geschieht durch eine geeignete Ventilation, die sogenannte 
Grubenwetterung. 

Die Menge der dem Schachte zuzuführenden Luft wird per Kopf der 
Belegschaft und Stunde auf 100 bis 120 m 8 berechnet; bei Entwicklung von 
Schlagwettern erhöht sich das erforderliche Luftquantum auf das Doppelte 
und Dreifache. 

Während früher für die Ventilation sogenannte Wetteröfen in Verwen¬ 
dung standen, hat man jetzt behufs Erzielung einer ausgiebigen Ventilation 
zu maschinellen Hilfsmitteln (Ventilatoren) gegriffen. Durch Anlage von 
Wetterthüren wird die beim Förderschachte einströmende Luft auf Umwegen 
durch alle Strecken geleitet. Durch die im Karwiner Kohlenbezirk von Herrn 
Cameraldirector von Walcher vorgenommenen Untersuchungen ist es sicher¬ 
gestellt, dass die Schlagwetterentwicklung mit den Schwankungen des Luft¬ 
druckes in Zusammenhang stehe. Die Untersuchungen zeigten, dass mit dem 
Eintreten von starken Barometerstürzen oder bei künstlich erzeugtem Druck¬ 
abfall in der Grube die Schlagwetterentwicklung beträchtlich in die Höhe ging. 
Auf Grund dieser Erfahrungen wird den Barometerständen genauere Beachtung 
geschenkt, und man lässt daher bei eintretendem Barometersturz doppelte 
Vorsicht walten, indem man die Schiessarbeit und an besonders gefährlichen 
Punkten die Arbeit überhaupt ganz einstellt. 

Director von Walcher liess sich ein Barometer constrniren, welches ein jähes Sinken 
des Barometerstandes durch eine Signalglocke anzeigt. Beim Ertönen des Signals hat der 
amtirende Beamte die Betriebsleiter sämmtlicher Schachte von der drohenden Gefahr zu 
verständigen. 

Statt der Ventilatoren, welche die Luft aufsaugen und dadurch Luft¬ 
druckdepressionen herbeiführen, die ein Ausströmen der Schlagwetter begün- 


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892 


. DNFALLVERHÜTüNG. 


stigen, verwendet man in neuerer Zeit grosse Compressoren, mit welchen Aussen- 
lnft in die Grube gepresst wird. 

Zur Verhinderung von Kohlenstaubexplosionen werden die ge¬ 
fährdeten Strecken in ihrer ganzen Länge mit Wasser bespritzt. Die Be¬ 
spritzung erfolgt mittelst Röhrenleitungen, welche Druckwasser von oben 
führen und mit entsprechenden Ausflüssen (Brausen) versehen sind. Ln 
manchen Revieren ist die Befeuchtung behördlich vorgeschrieben. 

Die so häufig wiederkehrenden Massenkatastrophen in Bergwerken haben 
die Regierungen veranlasst, im Gesetzeswege Normen und Vorschriften für die 
Sicherheit der Bergleute festzustellen und die Einhaltung dieser Vorschriften 
durch besondere, mit einer gewissen Machtvollkommenheit ausgerüstete Organe 
(Bergwerksinspectoren) überwachen zu lassen. So haben Oesterreich, Deutsch¬ 
land und England specielle Berggesetze erlassen, welche den neuen Erfah¬ 
rungen und Verbesserungen entsprechend durch behördliche Erlässe ergänzt 
werden. 

Die mächtige Entwicklung, welche die Elektrotechnik in den letzten 
Decennien genommen, hat auch in diesem Berufe der Unfallverhütung ein 
neues Gebiet eröffnet. 

Die elektrischen Starkstrom-Anlagen bringen gewisse Gefahren mit sich, 
und die Zahl der durch elektrische Betriebe herbeigeführten Unglücks¬ 
fäll eist keine geringe. Die Veranlassungen zu den durch Elektricität herbei¬ 
geführten Unfällen sind verschieden. Entweder berührt ein daselbst Be¬ 
schäftigter zufällig einen Leitungsdraht, die Polklemmen oder sonst einen 
leitenden Theil in der Centralanstalt, oder es reisst ein Draht und berührt 
dabei einen Menschen, oder es gelangt durch Schadhaftwerden eines Trans¬ 
formators, statt eines niedrig gespannten, plötzlich ein hochgespannter Strom 
in eine Hausleitung etc. Man hat daher schon vor einem Decennium die 
Nothwendigkeit erkannt, gegen die sich häufenden elektrischen Unfälle Schutz¬ 
maassnahmen zu treffen. In allen Staaten wurde die Errichtung und der 
Betrieb von Elektricitätswerken der staatlichen Controle unterworfen, welche 
die Anlagen überwacht und die zum Schutze der Beschäftigten nothwendigen 
Vorkehrungen anordnet. 

Die Bestimmungen, welche sehr detaillirt gehalten sind, erstrecken sich 
auf zureichende Isolirungen der einzelnen Theile der Anlagen und Leitungen, 
auf die Beschaffenheit und Verlegung der Kabel, auf Abschmelzsicherungen, 
zulässige Maximalstromstärke, Isolationswiderstand der ganzen Anlage etc. 
Ferner werden Belehrungen herausgegeben, wie durch den elektrischen Strom 
verunglückte Personen von den elektrischen Drähten zu befreien sind und 
welche rationelle Hilfe denselben zu leisten ist. Sehr empfehlenswerte Vor¬ 
schriften hat der „Elektrotechniker“ veröffentlicht, welche auch hier mit- 
theilenswert erscheinen. Sie lauten: 

1. Man unterbreche sofort den elektrischen Strom, wenn ein Mittel hiezn nahe znr 
Hand ist und man damit umzugehen versteht. 

2. Ist dies nicht der Fall, so hüte man sich, den Körper des Verunglückten mit der 
Hand zu berühren. Wenn Gummi-Handschuhe nicht zur Stelle sind, so ziehe man den 
Verunglückten an seinen Rockschössen aus den Drähten. Oder man balle seinen eigenen 
Rock oder eine trockene Decke in zwei oder drei dicke Lagen zusammen und benütze 
dies zum Anfassen des Körpers, um denselben sofort herauszuziehen. 

3. Wenn es unmöglich ist, den Verunglückten aus den Drähten herauszubringen, so 
hebe man mit bedeckten Händen denjenigen Theil des Körpers des Verunglückten, der 
mit der Erde oder mit einem der Pole in Berührung steht. Dadurch wird der elektrische 
Strom unterbrochen, und es wird gewöhnlich möglich, den Verunglückten herauszubekommen. 

4. Wenn dies Alles nicht gelingen sollte, so mache man aus einem trockenen Tuche 
noch ein anderes Kissen, welches man dann unter denjenigen Theil des Körpers schiebt, 
der auf dem Boden liegt. Dann trachte man den Körper, wie vorerwähnt, aus den Drähten 
zu befreien. 

5. Ist der Körper vom elektrischen Drahte frei, so entferne 'man am Halse alle 
Bekleidung und mache Wiederbelebungsversuche wie bei einem Ertrunkenen. 


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UNFALLVERHÜTUNG. 


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6. Man wehre alle Versuche der Umstehenden ab, den Verunglückten Branntwein 
oder dergleichen einzugeben, sondern behandle ihn so, wie gesagt, bis ein Arzt er¬ 
schienen ist. 

Die Sicherheits- und Schutzvorrichtungen an den Maschinen oder 
Maschinentheilen sind so mannigfach, wie diese selbst. Hier hat der erfin¬ 
derische Geist schon Vieles geschaffen, meist Zweckmässiges, oft auch Solches, 
das sich im Gebrauche als unpraktisch gezeigt hat. 

Im Grossen und Ganzen ist ein gewisser passiver Widerstand der 
Arbeiter selbst gegen alle an Maschinen angebrachte Schutzvorrichtungen 
nicht zu leugnen, und es ist deshalb als erste diesbezügliche Forderung 
geltend gemacht worden, dass sämmtliche gesundheitsschützenden Anlagen 
dem Arbeiter nicht zugänglich sein sollen und dass ein Schutzapparat an 
Maschinen automatisch wirken müsse, oder dass die Construction der Ma¬ 
schinen selbst möglichst eine solche sei, dass Unfälle sich nicht leicht er¬ 
eignen können. 

Die Maschinen von vorneherein auf die Weise zu construiren, ist aber 
derzeit noch ein rein ideales Bestreben, und wenn man dem Bestehenden 
Rechnung trägt, so muss jede praktische Vorrichtung, welche zur Verhütung 
von Unfällen im maschinellen Betriebe beiträgt, mit Freude begrüsst werden. 

In Wien hat sich im Jahre 1889 ein „Verein zur Pflege des gewerbe-hygienischen 
Museums“ gebildet, dessen Zweck folgender ist: 

Zur Herbeiführung thunlichster Sicherheit gegen Gefahren des Lebens und der Ge¬ 
sundheit im Gewerbebetriebe beizutragen, hierauf gerichtete Bestrebungen zu unterstützen, 
und in Bezug auf Einführung, Verbreitung und Gestaltung von Arbeiter-Wohlfahrtsein- 
richtungen anregend und rathend zu dienen. 

Als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes betrachtet der Verein unter Anderem: 

Systematische Sammlung von in Modellen, Zeichnungen und Beschreibungen vor- 

f eführten Schutzvorkehrungen im Gewerbebetriebe; Veranlassung fachmännischer Prüfung 
erselben, sei es im Wege der Discussion oder seitens industrieller planmässig vorgenom¬ 
mener Erprobung; sorgfältige Sammlung der Ergebnisse derartiger Prüfungen; Zugänglich¬ 
machen der Musealobjecte und deren Erläuterung durch Wort und Schrift; Abhaltung von 
Vorträgen; Rath-und Auskunftsertheilung an Industrielle, Behörden und Männer der For¬ 
schung; Veranstaltung von Wander-Ausstellungen; Ausschreibung und Ertheilung von 
Prämien für bestimmte Schutzvorkehrungen; Abfassung von in Fabriken anzuschlagenden, 
auf die Verhütung von Unfällen abzielenden Vorschriften, Belehrungen und Warnungen, 
Anlegung und planmässige Pflege einer Fachbibliothek; systematische Sammlung und Ver¬ 
arbeitung von Daten aus dem Gebiete der Unfallstatistik. 

Die Wirksamkeit dieses Vereines ist eine überaus segensreiche und die Sammlungen 
desselben, welche dem Publicum allgemein zugänglich sind, bilden eine Sehenswürdigkeit. 

Im Deutschen Reiche, wo, wie erwähnt, die Unfall-VerhütungsVorschriften 
gesetzlich geregelt sind, ist es den verschiedenen Berufs-Genossenschaften 
überlassen, Unfall-Verhütungs Vorschriften zu erlassen und von dieser Befugnis 
hat auch die Mehrheit dieser Corporationen (59 von 90) Gebrauch gemacht. 

Es wurden gemeinsame Unfall-Verhütungsvorschriften für sämmtliche 
Berufs-Genossenschaften ausgearbeitet und dann besondere Vorschriften für 
die einzelnen Industriezweige. 

Aus der Unfallstatistik der gewerblichen Berufs-Genossenschaften ergibt sich, 
dass im Jahre 1887 in 319.453 versicherten Betrieben mit 3,861.560 versicherten gewerb¬ 
lichen Arbeitern 106 001 Unfälle gemeldet wurden. Die Verletzungen bestanden in 851 
Fällen in Verbrennungen, Verbrühungen und Aetzungen und in 14.840 Fällen in verschie¬ 
denen Wunden und Knochenbrüchen; in 114 Fällen erstickten und in 147 Fällen ertranken 
Personen. Die Zahl der Verletzten, für welche Entschädigungen bezahlt werden mussten, 
belief sich auf 15.970. 

Was die Art des Zustandekommens der Verletzungen betrifft, so kommen auf Ver¬ 
letzungen durch Maschinen 4287 Fälle = 26*84% und auf anderweitige Verletzungen 
11.683 Fälle = 7316%. 

Unter den Verletzungen durch Maschinen nehmen der absoluten Zahl nach die durch 
Arbeitsmaschinen verursachten = 2803 die erste Stelle ein. Dann folgen die durch Fahr- 
atühle und Aufzüge verursachten Unfälle mit 899, die durch Transmissionen mit 369 und 
die durch Motoren mit 216 Unfällen. 

Unter den anderweitigen Verletzungen stehen an erster Stelle die durch Zusammen¬ 
bruch und Einsturz von Fels-, Sand- und Erdmassen, Gerüsten etc. mit 3322 Fällen. 


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UNFALLVERHÜTUNG. 


Hiernach kommen die Unfälle durch den Sturz der Arbeiter von Treppen, Leitern, Ge¬ 
rüste, in Vertiefungen u. 8. w. mit 2318 Fällen. 

In Oesterreich, wo, wie bereits hervorgehoben, gesetzliche Vorschriften für 
Unfallverhütung nicht bestehen, sind die verschiedenen Betriebe gebunden, 
ihre Arbeiter gegen Unfall versichern zu lassen, und die sogenannten Gewerbe¬ 
inspectoren sind damit betraut, die verschiedenen gewerblichen und indu¬ 
striellen Etablissements zu inspiciren und zu überwachen. 

Die Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt von Niederösterreich hat bisher 
nur eine Belehrung zur Verhütung von Unfällen bei landwirtschaftlichen 
Maschinen herausgegeben, die, wie es in der Einleitung zu dieser Broschüre 
heisst, „der landwirtschaftlichen Bevölkerung in unverbindlicher Art an 
die Hand gehen soll“, damit Unfälle soweit als möglich vermieden werden. 

Die Statistik derselben Arbeiter-Unfallversicherungsgesellschaft weist im Jahre 
1896 aus: 

Zahl der versicherten landwirtschaftlichen Betriebe 18.827 mit 58.974 Personen. 

Zahl der versicherten gewerblichen Betriebe 15.806 mit 290.895 Personen. 

Zahl der freiwillig versicherten Betriebe: 27 mit 844 Personen. 

Die Anzahl der im Jahre 1896 Verletzten, für welche eine Unfallsanzeige überhaupt 
erstattet wurde, betrug 25.488; die Anzahl der Personen, welche von einem, eine Ent¬ 
schädigung begründenden Unfälle betroffen wurden, betrug 5184. 

Hierunter nach der Ursache des Unfalles 181 Fälle durch Verschulden des 
Verunglückten, drei Fälle durch Verschulden des Bethebsunternehmers, 26 Fälle durch 
Verschulden eines Dritten, 4970 durch unvorhergesehene Zufälle, und vier durch unauf¬ 
geklärte Ursachen. 

Nach den Folgen der Verletzungen war: Vorübergehende Erwerbsunfähigkeit in 
3018 Fällen, dauernde Erwerbsunfähigkeit in 1984 Fällen und Tod in 182 Fällen. 

Laut dem Berichte der Gewerbeinspectoren in Wien gelangten im 
Jahre 1896 53.471 Unfälle aus gewerblichen Betrieben zur Anmeldung, mit 
490 Todesfällen. Hieran werden in dem genannten Berichte die nachfolgen¬ 
den Bemerkungen geknüpft, welche so charakteristisch und lehrreich sind, 
dass wir dieselben hier wörtlich citiren: 

„Eine Reihe von Wahrnehmungen gibt Zeugnis dafür, dass die Pflege der Unfall¬ 
verhütung und die Beachtung der diesfalls nöthigen Vorsichtsmaassregeln noch nicht zum 
Bewusstsein derjenigen Organe gelangt ist, welche vor allem berufen erscheinen, diesem 
Gegenstände ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Nach wie vor findet man in 
den Betrieben Aufsichtsorgane, welche, die Gefahr nicht achtend, ihr Leben oder aber ihre 
gesunden Glieder, anfs Spiel setzen. 

Die Mehrzahl der Berichterstatter befindet sich in der angenehmen Lage, über zweck¬ 
mässige Schutzvorkehrungen Mittheilung zn machen, welche im Berichtsjahre angebracht, 
beziehungsweise in Verwendung genommen wurden. Es waren aber auch Scnutzvor- 
kehrungen angebracht, welche inrem Zwecke nicht entsprachen. In solchen Fällen lag die 
Schuld entweder an der anzweckmässigen Construction, oder aber an der Art der An¬ 
bringung derselben an der betreffenden Maschine, beziehungsweise Werk Vorrichtung, und 
wurde selbstverständlich sofort Abhilfe veranlasst. 

Fast alle Berichterstatter verzeichnen verschiedene Wahrnehmungen, welche dafür 
sprechen, dass die Vorschriften betreffend Aufstellung, Erprobung, Revision und Wartung 
der Dampfkessel nicht überall beachtet werden. Noch immer kommt es vor, dass das 
Kesselhaus als Arbeitsraum oder zu anderen Zwecken, hauptsächlich aber als Trockenraum 
und das Kesselplateau als Trockenboden benützt wird; einmal war der Dampfkessel so 
ungünstig situirt, dass eine schnelle Flucht der Bedienungsmannschaft im Falle der Gefahr 
sehr erschwert war. Anlässlich der Inspectionen wurden Kessel vorgefunden, welche ausser¬ 
halb jeder behördlichen Revision standen; auch gibt es noch Betriebe, in welchem die 
Dampfkessel in gewölbten oder überbauten Räumen untergebracht sind; einmal fehlte das 
Kesselcertificat; einzelne Kessel wurden von ungeprüften Heizern gewartet; in einigen Be¬ 
trieben war der Mangel an Reserveheizern zu beanstanden, welcher Mangel zur Folge hatte, 
dass der Kessel oft längere Zeit ohne Aufsicht, in einem Falle sogar nicht gespeist war; 
einige Male waren die Sicherheitsventile überlastet; einmal war die Bedienung des Dampf¬ 
kessels und gleichzeitig auch die Bedienung einer 25-pferdigen Dampfmaschine, welche in 
einem vom Kesselhause 30 Schritte entfernten Gebäude aufgestellt war, einem und dem¬ 
selben Wärter anvertraut; ein anderes Mal, und zwar in einem bergmännisch betriebenen 
Schieferbruche, hatte der Kesselwärter, welcher als Maschinist nicht geprüft war, auch die 
im Nebenlocale befindliche Fördermaschine zu bedienen; überhaupt wurde mehrere Male 
constatirt, dass die Kesselwärter auch noch zu anderen, mit der Kesselwartung nicht zu¬ 
sammenhängenden Leistungen herangezogen werden. 


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UNFALLVERHÜTUNG. 


895 


Wie unvorsichtig beim Kesselbetriebe vorgegangen wird, dafür sprechen die vielen 
Verbrühungen, welche in zwei Fällen den Tod der Verletzten zur Folge batten. 

Im Berichtsjahre kamen zwei Dampfkessel-Explosionen vor, welche sich als Kata¬ 
strophen in grossem Umfange darstellen; denselben fielen — von den sonstigen Verletzten 
abgesehen — neun Menschenleben zum Opfer. In dem einen dieser Fälle dürfte die Explo¬ 
sion durch Wassermangel veranlasst gewesen sein und wird vermuthet, dass die Unter¬ 
lassung der Speisung auf eine optische Täuschung des verunglückten, ausserordentlich 
pflichttreuen und verlässlichen Kesselwärters bei Beobachtung des Wasserstandes zurück¬ 
zuführen ist. Würde sich diese Vermuthung bestätigen, dann würde diese Katastrophe, 
welche vier Menschenleben forderte, nur zu deutlich dafür sprechen, dass man der Frage 
der guten Beleuchtung des Kesselhauses, insbesondere aber der guten Beleuchtung der 
Sicherheitsarmatur und der leichten Erkennbarkeit des Wasserstandes, sowie überhaupt der 
rechtzeitigen Speisung des Kessels nicht genug Aufmerksamkeit schenken kann. 

Gleichwie in den Vorjahren schenkten mehrere Berichterstatter dem Betriebe der 
Dampfapparate ihre besondere Aufmerksamkeit. Wenn auch die in den Einzelnberichten 
mitgetheilten Fälle dafür sprechen, dass es dringend nothwendig erscheint, alle Apparate, 
welche unter Druck arbeiten, ebenso wie Dampfkessel unter behördliche Controle zu stellen, 
so kennzeichnen sie auch die Schwierigkeiten, welche der Erlassung allgemeiner Sicherheits¬ 
vorschriften entgegenstehen, zumal es sich darum handelt, neben der Betriebssicherheit 
auch die Betriebsmöglichkeit nicht aus dem Auge zu verlieren. 

Der Aufschwung, welcher namentlich in W 7 ien im Baugewerbe zu verzeichnen ist, 
war Anlass zur Eröffnung neuer und zum forcirten Betriebe bereits eröffneter Steinbrüche, 
Schotter- und Sandgruben. Leider fand hierbei der Arbeiterschutz nicht immer die wün¬ 
schenswerte Beachtung, wofür die zahlreichen Unfälle sprechen, welche sich daselbst er¬ 
eigneten. In dieser Beziehung lässt nicht blos die Art des Vorganges beim Abbaue, 
sondern auch die Aufbewahrung und Verwendung der Sprengmittel sehr viel zu wünschen 
übrig. 

In Bezug auf den Schutz der Schleifsteine wissen einzelne Berichte Erfreuliches zu 
verzeichnen; namentlich gilt dies von einem Bremsregulator und der Construction eines 
Mantels, welcher zum Schutze der Schleifer gegen die beim Bersten eines Steines herum¬ 
fliegenden Bruchstücke bestimmt ist. 

Andererseits wird berichtet, dass der Schutz der Schleifsteine einem hartnäckigen 
Widerstande begegnet. Ein Unternehmer, in dessen Betriebe sich infolge Berstens von 

f rossen Schleifsteinen mehrere Unfälle mit tödtlichem Ausgange ereigneten, war zur An- 
ringung entsprechender Schutz Vorkehrungen erst dann zu bewegen, als mit der Ein¬ 
stellung seines Betriebes vorgegangen wurde; diese energische Maassregel bestimmte auch 
die anderen Unternehmer, der ihnen durch § 74 der Gewerbeordnung auferlegten Ver¬ 
pflichtung zu entsprechen. 

Mannigfaltig sind die bezüglich der Schutzbrillen gemachten Wahrnehmungen. Fast 
übereinstimmend war der Widerstand hervorgehoben, welchen die Arbeiter der Benützung 
derselben entgegenstellen; bald sind sie ihnen zu schwer, bald laufen sie an, bald sind sie 
Ursache, dass die Augen schwitzen u. s. w. Es macht keinen Unterschied, ob es sich um 
Gussputzer, Kesselschmiede, Steinmetze oder Schotterschläger handelt. 

W T ie sonst, gab auch im Berichtsjahre der Schutz der Holzbearbeitungsmaschinen, 
insbesondere aber der Kreissäge viel zu schaffen. Vielfach wird über ungenügende und 
auch unzweckmässige Vorrichtungen geklagt. Unter solchen Umständen ist es erklärlich, 
dass dieselben theilweise oder ganz ausser Function gesetzt sind, nachdem sie weder der 
Beschaffenheit des Sägeapparates, noch der Art der zu leistenden Arbeit entsprechen, diese 
vielmehr behindern. 

Dem entgegen wird von einer Doppelsaumsäge berichtet, die ungefähr doppelt so 
leistungsfähig als die gewöhnliche Kreissäge und in ihrer Handhabung vollkommen ge¬ 
fahrlos ist. 

Auch sonst noch wird von einer zweckmässigen Schutzvorrichtung an Kreissägen 
Mittheilung gemacht, welche in einer Bürstenholz-Erzeugung angetroffen wurde. 

Grossen Widerstand setzen die Unternehmer der Anbringung von „Schützenfängern“ 
entgegen. Ist es richtig, dass die Schützen nur bei schlecht montirten Stühlen heraus¬ 
fliegen, so liegt es an der Hand jedes einzelnen Unternehmers, dem Herausfliegen der 
Schützen durch gut montirte Stühle zu begegnen. Uebrigens scheinen die Unternehmer 
die Richtigkeit dieser Behauptung selbst in Zweifel zu ziehen, weil sie die Fensterscheiben 
ihrer Webereien durch Drahtgitter schützen, was sie gewiss nicht tbäten, wenn sie das 
Herausfliegen der Schützen nicht befürchten würden. Was also seitens der Gewerbein¬ 
spectoren im Sinne des § 74 der Gewerbeordnung als Arbeiterschutz intendirt wird, 
wird als Fensterschutz durcbgeführt, ohne dass es gleichzeitig dem Arbeiterschutze 
dienen würde. 

Der Widerstand der Unternehmer gegen die Schützenfanger wird genährt durch den 
Widerstand der alten Weber, welche behaupten, dass sie durch dieselben in der Arbeit be¬ 
hindert werden. Wie wenig begründet diese Behauptung ist, dafür spricht die Thatsache, 
dass es den in jüngerer Zeit ausgelernten Webern, die doch auch im Stücklöhne stehen, 


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896 


VENTILATION. 


nicht beifällt, den Schützenfänger vom Stahle za entfernen. Selbstverständlich mnss man 
darauf bedacht sein, unter den verschiedenen Constructionen die richtige Auswahl za treffen. 

Auch das Baugewerbe gab im Berichtsjahre Anlass zu Klagen, und zwar betrafen 
dieselben ebenso die Gerüste als die Baumaschinen.* 

Dieser Bericht der Gewerbeinspectoren in Wien drängt wohl jeder¬ 
mann die Ueberzeugung auf, dass auf dem Gebiete der Unfallverhütung im 
gewerblichen und industriellen Betriebe noch sehr Vieles wird geleistet werden 
müssen. 

Jedenfalls ist die Schaffung eines diesbezüglichen Gesetzes eine höchst 
dringende Nothwendigkeit. 

In Deutschland ist der Widerstand, den die Fabrikanten anfänglich der 
Einführung von Schutz Vorkehrungen und den damit verbundenen Inspicirungen 
ihrer Etablissements durch behördliche Organe entgegensetzten, heute bei¬ 
nahe völlig geschwunden. Die Haftpflicht der Arbeitgeber wurde vom Staate 
strictest durchgeführt, und die Unternehmer lernten es einsehen, dass sie die 
hohen Beträge, die sie oft zahlen mussten, beim Vorhandensein oft nur um 
minimalen Preis anzusebaffender Schutzvorrichtungen sehr leicht hätten er¬ 
sparen können. 

Auch der Einwand, dass seit Einführung der Schutzvorrichtungen lant 
der Statistik eher ein Zu- als Abnehmen der Unfälle zu beobachten sei, ist 
hinfällig. Wohl scheint dies auf den ersten Anblick der Zahlen der Fall zu 
sein, allein es muss erwogen werden, dass, während früher die Unfallsanmel¬ 
dung eine mangelhafte war, dieselbe nunmehr seit Schaffung des Unfall-Ver¬ 
sicherungszwanges einen bedeutenden Aufschwung genommen hat, wenn sie 
auch heute noch lange nicht auf jener Stufe steht, welche sie im Interesse 
einer ausreichenden Unfallstatistik hätte erreicht haben sollen. 

Die Unfallstatistik hat nämlich neben ihrer besonderen Bedeutung für 
die Socialpolitik auch noch insoferne ein hervorragendes Interesse für sich, 
als ihr die Aufgabe zufällt, die bei den Unfällen concurrirenden verschiedenen 
Factoren festzustellen und so die nöthigen Grundlagen für- eine erfolgreiche 
Prophylaxe zu beschaffen. 

Erst mit einer allerseits möglichst einheitlich organisirten Unfalls- 
Anzeigepflicht wird eine wirklich brauchbare Statistik zu Stande kommen, 
und mit dieser Hand in Hand wird die Unfallverhütung, welche ein Product der 
modernen socialpolitischen Bestrebungen ist, mit der zunehmenden Aner¬ 
kennung und Verwirklichung dieser Bestrebungen die ihr gebührende Be¬ 
achtung finden. charas. 

Ventilation. Zweck der Ventilation ist, die Luft bewohnter Räume 
dauernd in möglichst derselben Beschaffenheit zu erhalten, wie die Luft 
des Freien. Erstere unterscheidet sich von letzterer durch Verunreini¬ 
gungen, die ihr insbesondere durch den Aufenthalt der Bewohner und den 
„Haushalt“ derselben zugeführt werden. Eine ideale Lösung der Ventilations¬ 
aufgabe würde darin bestehen, ständig Frischluft in derselben Menge ein¬ 
zuführen, als verunreinigte Luft entsteht, und zwar so, dass die Frischluft 
auch den Ort wieder einnimmt, den die verunreinigte Luft soeben verlassen 
hat. Dieser Lösung kann man auch mit den vollkommensten Hilfsmitteln der 
Technik nur nahe kommen, sie ganz zu erreichen ist unthunlich. 

Die atmosphärische Luft ist ein Gemisch aus circa 79 Raumtheilen Stickstoff 
und 21 Raumtheilen Sauerstoff. Dem Gewichte nach besteht atmosphärische Luft zu 77% 
aus N und 23% aus 0. Einige neuerdings in der Luft in minimalen Mengen auf- 
gefundene, mit dem Stickstoff in schwerlöslicher Verbindung befindliche andere Stoffe 
sind für die gesundheitliche Beschaffenheit derselben von keiner Bedeutung. Wichtig sind 
dagegen die in der Luft zufällig vorkommenden anderweitigen Stoffe, und unter diesen 
insbesondere die stets anzutreffende Kohlensäure, der Wasserdampf und der gewöhnlich 
ebenfalls vorhandene Staub. Accidentell in der freien Luft vorkommende Stoffe sind 
ferner Russ, schweflige Säure und Schwefelsäure, Kohlenoxyd, Ammoniak, 
salpetrige Säure und Salpetersäure, Kohlenwasserstoffe, Chlor, Ozon 
das Product elektrischer Entladungen, Spalt- und Schimmelpilze. 


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VENTILATION. 


897 


Was zunächst die Spalt- and Schimmelpilze betrifft, so sind sie im Allgemeinen nnr 
wenig zahlreich in der freien Lnft vorhanden; der Grand davon ist, dass sie am Stanbe 
haften and mit diesem leicht za Boden fallen. Allen bisherigen Beobachtangen nach 
kommt den in der freien Luft enthaltenen Pilzen gesundheitlich nnr geringe Bedeutung 
za. Petri fand in der Strassenlnft vor einem Berliner Hanse 710—800, in der Hoflnft hinter 
dem Hanse 32.000 und in der Lnft aber dem Hausdache 330—610 Keime. Im Park von 
Montsonris ward die Keimzahl za 300, die Zahl der Schimmelpilze zu 206 ermittelt und 
in der Pariser Strassenlnft im Jahresmittel zu 5445 Keime und 1689 Schimmelpilzen; alle 
diese Zahlen beziehen sich auf 1 m 3 Lnft. Als Regel scheint zn gelten, dass je höher die 
Feuchtigkeit, desto höher anch die Keimzahl der Lnft. Aber nach Versuchen, die im 
Park von Montsonris angestellt sind, darf angenommen werden, dass Spaltpilze auch im 
trockenen Stanbe ihre Lebensfähigkeit and Virulenz viele Jahre hindurch bewahren können. 

Oie genaue Bestimmung von Staub mengen der Luft bietet grosse Schwierigkeiten; 
ein völlig sicheres Verfahren dazu ist bisher nicht gefunden worden. Uebrigens sind die 
Staobmengen im Freien nach Oertlichkeit und Zeit sehr wechselnd und geringer, als man 
nach dem blossen Augenschein annehmen möchte. Fodor fand in Budapest im Winter 
0*24 mg, im Frühjahr 035 mg, im Sommer 0*55 mg und im Herbst 0 24 mg in 1 m s Lnft. 

Russ (unverbrannte Kohlentheile und Flugasche) findet sich in grösseren Mengen 
in der Luft von Fabriksstädten. Aach die genaue Bestimmung der Russmengen der Luft 
ist mit besonderen Schwierigkeiten verknöpft. In 1,000.000 m * Luft über der amerikanischen 
Stadt Cleveland wurden von 15—34 gr Russ gefunden, und in Würzburg ermittelte 
Keim die auf 1 w* Fläche in 24 Stunden ausgeschiedene Russmenge za 93—214 mg. 
Laft aus der Fabriksstadt Chemnitz ergab die höchste Zahl mit 260 mg. In 1,000000m 8 
Luft über der Stadt Cleveland fand man von 303—1373 gr freies Ammoniak, 16—34 gr 
Schwefelsäure und 54—1216 gr salpetrige und Salpetersäure. 

Bei der Entnahme von Frischluft für Ventilationszwecke sind Stellen, an 
welchen Staub, Russ und andere Verunreinigungen in grösseren Mengen Vor¬ 
kommen, zu vermeiden. Wo das nicht thunlich ist, muss die zugeflihrte Luft 
durch Filtern oder Waschen von diesen Fremdstoffen möglichst befreit 
werden. Die grössten Staubmengen finden sich dicht über der Geländeober¬ 
fläche, die grössten Russmengen in der Höhe über den Gebäudedächern; die 
geringsten Staubmengen werden an geschützten Stellen, etwa unter Bäumen 
oder Gesträuchern angetroffen. Die Entnahmestellen von Frischluft sollen 
daher einige Meter hoch über Geländeoberfläche an vor Luft¬ 
strömungen geschützten Stellen liegen. Die erhöhte Lage schützt auch vor 
Einführung von Stoffen oder Gerüchen, die der Luft unmittelbar über Gelände¬ 
höhe beigemischt sind. Wo günstige Oertlichkeiten für Entnahme von Frischluft 
einige Meter Uber Geländehöhe fehlen, ist es am besten, die Luft in etwas 
grösserer Höhe, vielleicht der Höhe des ersten oder zweiten Geschosses von 
Wohngebäuden, zu entnehmen. 

Viel grössere Staubmengen und ebenso ungleich höhere Keimzahlen als 
im Freien werden in der Luft geschlossener Räume angetroffen, die 
höchsten Staubmengen in der Luft gewisser gewerblicher Betriebe. Theils 
erfolgt die gesundheitsschädliche Wirkung des Staubes in einer mechanischen 
Weise, theils kommen auch chemische Wirkungen in Betracht, die von der 
speciellen Beschaffenheit des Staubes abhängig sind. 

Hesse fand in der Luft eines Wohnzimmers 1*6, in derjenigen einer Hatfabrik 6'4 
and in der Laft des Hadernsaales einer Papierfabrik wechselnd von 3*8—24'9 mg Staab in 
1 m> Luft. 

Durch das Oeffnen von Fenstern und Thüren wird bereits abgelagerter 
Staub von neuem der Luft beigemischt, und dasselbe geschieht durch die 
Ventilation, deren Wirksamkeit Luftbewegung, und stellenweise sogar stärkere 
Luftströmungen voraussetzt. Es folgt daraus, dass man Staub in geschlossenen 
Räumen durch Ventilation nur in geringem Maasse oder kaum bekämpfen 
kann, möglichste Staubfreiheit hier vielmehr durch Aufnehmen desselben mit 
feuchten Tüchern u. s. w. geschaffen werden muss. 

Während in der freien Luft das Vorkommen infectiöser Keime 
kaum zu fürchten ist, muss mit dieser Gefahr in geschlossenen Räumen aller¬ 
dings gerechnet werden. Dies gilt insbesondere für Krankenzimmer in 
Wohngebäuden, Kranken- und Operationssälen in Hospitälern. In der Luft 
solcher Räume sind mehrere Arten von infectiösen Keimen, insbesondere 

Bibi. zned. Wiaeenaohaften. Hygiene u, Ger. Med. 57 


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898 


VENTILATION, 


Eitercoccen und Tuberkelbacillen, ferner die Erreger von Lungenentzündung 
und Wundstarrkrampf sicher nacbgewiesen worden. Uebrigens haben Luft¬ 
untersuchungen in Krankenhaussälen Keimzahlen, die zwischen 3000 und 
80.000 in 1 m 3 wechseln, ergeben. Da die Keime nicht selbständig in 
der Luft vorhanden sind, sondern von Staubtheilchen getragen werden, gilt 
bezüglich ihrer Entfernung durch Ventilation dasselbe, was oben hinsichtlich 
der Fernhaltung von Staub angegeben ist. Bei der gesteigerten Wichtigkeit, 
welche die Ventilation für Krankenräume besitzt, ist hier, neben Entfernung 
des Staubes durchfeuchte Reinigung, nachdrücklich gegen die Entstehung 
von Staub zu wirken. Dies kann insbesondere durch Wahl von nicht oder 
nur möglichst wenig abnutzbaren Baustoffen zu Fussböden, Wänden und 
Möbeln geschehen. 

Der Einführung der anderen oben genannten zufälligen Luftverunreini¬ 
gungen in geschlossenen Räumen kann nur in der Weise entgegengewirkt 
werden, dass die Entnahme der Frischluft an Stellen, wo dieselben in grösseren 
Mengen Vorkommen, vermieden wird. 

Wasserdampf und Kohlensäure beeinflussen das Gewicht der Luft in 
entgegengesetzter Weise. Da die Antheile, welche sie in der Luft bilden, 
relativ gering sind, kann bei Berechnungen über den Luftwechsel in Räumen 
dieser Einfluss als bedeutungslos angesehen werden. Die Menge des 
Wasserdampfes in der freien Luft bleibt meist hinter dem Maximum (so¬ 
genannter Thaupunkt) zurück. Als „trocken“ bezeichnet man Luft, welche 
von 40—60% der Sättigungsmenge enthält, „mittelfeucht“ ist Luft mit 
60—80% und „feucht“ ist Luft mit über 80% der Sättigungsmenge. Die Luft 
von reinlich gehaltenen und mässig besetzten Wohnräumen wird in der Regel 
als „trocken“ gelten müssen, während stark besetzte Räume, namentlich wenn 
dieselben mit künstlicher Beleuchtung versehen sind, die (wie Gas) viel Wasser 
erzeugt, mittelfeuchte und sogar feuchte Luft enthalten können. 

Die specifische Bedeutung, welche dem Feuchtigkeitsgehalt der Athemluft für die 
Körpergesundheit zukommt, ist nicht näher bekannt. Es wird aber beobachtet, dass 
feucht-warme Luft (Extrem z. B. die Luft in Treibhäusern), weil sie die Entwärmung 
und Wasserabgabe des Körpers durch die Haut hindert, das Gefühl druckender Schwüle 
hervorruft, warme trockene Luft dagegen meist angenehm empfunden wird und das¬ 
selbe von kalter trockener Luft gilt. Hingegen steigert feucht-kalte Luft das Frost¬ 
gefühl, weil dabei die Entwärmung des Körpers zu stark begünstigt wird, und ruft die so¬ 
genannten Erkältungskrankheiten hervor. Da zwischen den angegebenen vier Zuständen 
aer Luft keine scharfen Grenzen bestehen, da weiter die Wirkungen dieser Zustände in 
hohem Maasse davon abhängen, ob die Luft sich in Ruhe befindet, oder bewegt ist, da auch 
Ruhe, bezw. körperliche Thäiigkeit, und endlich Individualität und Gewöhnung eine grosse 
Rolle spielen, so ist klar, dass für die Zuträglichkeit der Luft, so weit dieselbe von dem 
Gehalt derselben an Wasserdampf abhängt, nicht eine bestimmte Norm angebbar ist, sondern 
nur Grenzwerte, die weit auseinander liegen. Im Allgemeinen gilt Zimmerluft für 
zuträglich, wenn sie von 40—60°/o der Sättigungsmenge an Wasseidampf enthält, also 
nach der oben gegebenen Bezeichnungsweise „trocken 1 * ist. 

Der wichtigste Nebenbestandtheil der Luft ist die Kohlensäure, die 
sich Überall iu derselben in gewissen, wenig wechselnden Mengen findet 
Kleine Wechsel finden nach der Höhe und nach der Jahreszeit statt. Unmittel¬ 
bar über Geländeoberfläche ist der C0 2 -Antheil grösser als in höheren 
Schichten. 

In freien Lagen, nahe dem Meer und im Gebirge, werden nur 022—020 Raum- 
t heile in 1000 Raumtheilen Luft angetroffen, in luftigen Strassen und auf freien Plätzen 
in Städten von 0 26 - 0*32 Raumtheile, in engen Strassen und Höfen dagegen bis 0 6 Ranm- 
theile; durchschnittlich kann man in der Stadt 030-045 Raumtheile rechnen; doch wird 
unter normalen Verhältnissen der Antheil der unteren Grenze meist näher liegen als der 
oberen. 

Viel grössere Mengen von C0 2 werden in geschlossenen Räumen, namentlich in so¬ 
genannten Massenlokalen (Schulen, Auditorien, Restaurants, Theatern und Concertsälen, 
Ärbeitsrüumcn, dicht besetzten Schlafräumen u. s. w.) angetroffen. In einem Schulzimmer, 
das ohne besondere Ventilationseinrichtungen war, ermittelte Hesse, mit der Unterrichts¬ 
dauer wachsend, von 03—4'2 Raumtheile C0 2 und ähnliche Mengen, nämlich zwischen 
2*61 und 5*31 fand H. Wolpert in einer Anzahl Berliner Restaurants. 


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VENTILATION. 


899 


Die besondere Wichtigkeit des CO g -Antheiles in der Luft beruht nicht 
in der besonderen Schädlichkeit desselben, vielmehr darin, dass dieser 
Antheil (infolge Mangels einer anderen besseren Bestimmungsmethode) als 
Maassstab für die Luftverunreinigung benutzt wird. Für die Wahl 
dieses Maassstabes gibt es drei Gründe, nämlich: 

1. dass in bewohnten Bäumen der C0 2 -Gehalt der Luft etwa in dem¬ 
selben Verhältnis wächst, wie die Bewohnerzahl; 

2. dass wahrscheinlich in demselben Maasse, als der CO * Gehalt zu¬ 
nimmt, auch die Menge der Verunreinigungen der Luft zunimmt. 

3. dass die CO s -Bestimmung relativ einfach ist, im Vergleich «zu einer 
einigermaassen vollständigen Luftanalyse; gewisse Verunreinigungen sind 
bisher überhaupt nicht quantitativ bestimmbar. 

Hiernach ergibt sich, dass die C0 2 ~Menge weiter nichts als ein Indicator 
ist und selbst als solcher keine unbeschränkte Geltung hat, weil er nur auf die 
Menge derjenigen Stoffe einen Schluss erlaubt, die vom Mensehen selbst 
herrühren, während die aus sonstigen Quellen fliessenden Verunreinigungen 
unberücksichtigt bleiben. 

Pettenkofer hat nun nach vielfachen Beobachtungen namentlich an sich 
selbst festgestellt, dass, wenn eine Zimmerluft behaglich wirken soll, der C0 2 - 
Antheil nicht über 0*7 Raumtheile, d. i. etwa das Doppelte der in der freien 
Atmosphäre der Städte vorkommenden Menge, hinausgehen darf, und dass bei 
der Menge von 1 Raumtheil empfindliche Personen solche Luft mit Wider¬ 
streben einathmen. 

Die Festhaltung von 0 7 Raumtheilen stellt an den Luftwechsel von 
Räumen im Allgemeinen recht hohe Ansprüche; in manchen Fällen kann den¬ 
selben (wie weiterhin nachgewiesen wird) nicht genügt werden, ohne unzu¬ 
lässige Nachtheile in den Kauf zu nehmen. Dies gilt für stark besetzte 
Massenlocale, namentlich auch Schulen; deshalb wollen andere Autoren einen 
höheren Antheil von CO, zulassen, so z. B. Flügge 1 Raumtheil und 
Rietschel für Schulen speciell sogar 1*5 Raumtheile. 

Diese gemilderten Ansprüche können, abgesehen von Fällen, in denen 
z. B. wie bei Krankenhäusern, grundsätzlich die höchsten Ansprüche gestellt 
werden müssen, nicht leicht von der Hand gewiesen werden, umsoweniger, 
als es an einer exacten Festsetzung darüber, bei welchem Antheil die CO a 
anfängt, nicht blos unangenehm empfunden zu werden, sondern positiv schäd¬ 
lich wirkt, bisher fehlt. Abgesehen von den oben bereits mitgetheilten hohen 
Zahlen sind auch zahlreiche Fälle bekannt, in welchen viel höhere An- 
theile ohne Schaden ertragen wurden. An der Durchbohrung des Gotthard 
wurde bei einem Antheil von 9*6 Raumtheilen gearbeitet, in preussischen 
Bergwerken wurde früher dauernd bei 5 Raumtheilen gearbeitet, und in 
Münchener Wohnräumen enthielt die Luft (nach Oertel) 9*4 Raumtheile. 
Darnach und nach anderweitigen Feststellungen sollen nach Flügge 10 Raum¬ 
theile längere Zeit hindurch und 50 bis 100 Raumtheile vorüber¬ 
gehend ohne Gesundheitsschäden ertragen werden können. 

Die hier eingeführte Abstufung nach der Dauer des Aufent¬ 
haltes ist jedenfalls gut begründet. 

Wie bei sehr hohen Antheilen von C0 2 Gesundheit und Leben ge¬ 
fährdet sind, so hört auch das Brennen einer Flamme in einer stark kohlen¬ 
säurehaltigen und dadurch sauerstoflärmer gemachten Luft auf. Nach 
Einigen soll die Flamme schon bei etwa 30 Raumtheilen, nach Anderen erst bei 
60 bis 80 Raumtheilen erlöschen. Die „Lichtprobe“ ist daher ein gegen 
Vergiftungsgefahren durch C0 2 sehr sicherndes Mittel. 

Die COj-Menge, welche durch die Athmung abgegeben wird, ist nach Alter und Ge¬ 
schlecht, nach Schlaf, Rohe, Bewegung oder Arbeit der betreffenden Person sehr verschie¬ 
den. Als Durchschnittszahl hat sich nach den bisher vorliegenden Beobachtungen 
etwa 18 1 pro Stunde ergeben, mit den Grenzwerten von 86 8 und 9'7. Das Nähere enthält 
die folgende Tabelle: 57 * 


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900 


VENTILATION. 



Alter der 
Person 
Jahre 

Körper¬ 

gewicht 

leg 

Stündliche 
CO, Aus¬ 
scheidung 
l 

Kräftiger Mann während der Arbeit. 

28 

72 

363 

derselbe in der Rnhe. 

28 

72 

226 

Mann.. . 

28 

82 

18-6 

Frau. 

35 

65 

17-0 

Jüngling. 

16 

57-75 

17-4 

Jungfrau. 

17 

55-75 

12-9 

Knabe. 

975 

22 

10-3 

Mädchen. 

10 

23 

9-7 1 


Nach neuerlichen Untersuchungen von H. Wolprrt übt die Temperatur auf die 
CO s -Ausscheidung innerhalb der Grenzen der Beobachtung (5°—25°) keinen Einfluss, wo¬ 
gegen ein bedeutender Einfluss der Thätigkeit sich geltend machte; bei Schlaf z. B. 
ist die CO,-Ausscheidung am geringsten. Wird die bei Schlaf ausgeschiedene Menge = 1 

B esetzt, so ermittelte Wolpert folgende Verhältniszahlen: Schlaf: 1, Buhe: 1*25, Ar- 
eit: 3. 

Bei gewerblichen Arbeitern, verschiedener Berufe, fand Wolpert die während 
der Thätigkeit ausgeschiedenen CO,-Mengen, nach den Verhältniszahlen, welche folgen: 
1 : 1*12 : 118 : 135 : 1*41 : 1*77 : 2*06. 

Es ergibt sich demnach, dass es bei Ventilationsanlagen unzulässig ist, 
mit einer einzigen Zahl für die CO,-Ausscheidung zu rechnen, dass dabei 
vielmehr Alter, Geschlecht, Thätigkeit, Ruhe oder Schlaf in Betracht gezogen 
werden müssen. Die kleinste Kohlensäureerzeugung findet in Schulen, die 
grösste in Arbeitssälen gewerblicher Arbeiter statt; für Concert- und Theater¬ 
säle erscheinen mittlere Zahlen passend zu sein. Entsprechend mag man 
mit etwa 9 beziehungsweise 36 und 20 l C0 2 -Erzeugung pro Kopf und 
Stunde rechnen. 

Vom wissenschaftlichen sowohl als praktischen Standpunkte aus würde 
vor der indirecten Bestimmung der Luftverunreinigung durch den CO,-Gehalt 
das directe Verfahren der Bestimmung der Verunreinigungsstoffe selbst 
den Vorzug verdienen. Insoweit die Verunreinigungen von dem Menschen 
herstammen (Ausathmungsproducte, Darmgase, Hautaqsdünstungen und Ab¬ 
fälle u. s. w.), handelt es sich um organische Stoffe. Man hat sich bemüht, 
die Menge derselben zu ermitteln, und zwar nach der sogenannten Chamäleon¬ 
probe, welche die Menge des zur Oxydation der organischen Stoffe erforder¬ 
lichen Sauerstoffes angibt. Diese Methode gibt aber, auf Untersuchungen von 
Luft angewendet, so unsichere Resultate, dass sie hier zu unanwendbar er¬ 
scheint, und daher bei Ventilationszwecken ausscheidet. 

Der Aufenthalt von Menschen in geschlossenen Räumen kann nicht nur 
durch unzuträgliche Beschaffenheit der Luft, sondern auch durch zu 
hohe Temperaturen der Luft zuträglicher Beschaffenheit behindert 
werden, beziehungsweise lästig sein. Und zwar ist es möglich, dass die Be¬ 
lästigung durch hohe Temperatur schon früher eintritt, als Belästigungen 
durch unreine Beschaffenheit der Luft sich geltend machen. In der Regel 
wird dieser Fall bei starker Besetzung von Räumen, die mit reichlicher Be¬ 
leuchtung — insbesondere durch Gas — ausgestattet sind, eintreten, z. B. 
in Theatern, Concertsälen, Restaurants, Auditorien und Abendschulräumen. 
Gestützt hierauf hat Rietsciiel den nicht von der Hand zu weisenden Vor¬ 
schlag gemacht, den Ventilationsbedarf derartiger Räume nicht nur aus 
der Luftverunreinigung, sondern auch aus der Temperaturerhöhung zu 
ermitteln, und die Einrichtung alsdann so zu treffen, dass sie den höheren 
von den beiden Anforderungen, die sich auf den beiden Grundlagen ergeben 
haben, genügt. 


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VENTILATION. 


901 


Ueber die Verunreinigungen speciell der Laft geschlossener Räume 
folgendes: 

Bei normaler Athmung werden in einer Minute 15 bis 16 Athemzüge gemacht, und 
durch jeden derselben 0*4 bis 0*5 l, stündlich daher 360 bis 480 1 und im Laufe von 
24 Stunden 9000 bis 12.000 1 Luft in die Lungen eingeführt, eine gute Mittelzahl wird 10.000 1 
sein. In letzterer Menge werden 


eingeathmet 


ausgeathmet 


Sauerstoff . 
Stickstoff . 
Kohlensäure 


. . 2096 l 
. . 7900 „ 
4 * 


1603 l 
4900 * 
440 * 


10.000 / 


9943 l 


weniger 493 l 


mehr 436 „ 
| Unterschied 57 l 


Durch die Athmung wird hiernach die Raumluft in doppelter Weise verschlechtert: 
durch die Verminderung des Sauerstoffes um ca. 2 / 4 und Vermehrung der CO s auf 
mehr als das Hundertfache. Ausserdem gelangen durch die Exspiration organische Stoffe 
in die Luft, welchen von einigen ganz besondere gesundheitliche Bedeutung beigelegt wird, 
weil man in ihnen ein specielles Athemgift (Anthropotoxin), Umsetzungsgifte vermuthet, 
oder für nacbgewiesen hält Die Frage ist noch nicht spruchreif, und noch immer mit 
den drei Möglichkeiten zu rechnen, dass die Athemluft entweder giftfrei ist, oder Gifte 
enthält, oder auch Stoffe, die erst nach der Ausathmung zu Giften werden. 

Mit der Athmung gelangt auch Wasserdampf in die Luft Die Menge desselben be¬ 
trägt pro Kopf in 24 Stunden 0 25 bis 0 35 l Wasser. Da durch Verdunstung von der 
Körperoberfläche noch 0*6 bis 0*7 1 abgegeben werden, so ist die in Dampfform an die 
Luft der Umgebung abgegebene Wassermenge einer Person 0.85 bis 1*05 Z, oder rund 1Z. 
Diese Menge genügt, um folgende Mengen trockener Luft auf halbe Sättigung zu 
bringen. 

Luft von 10° Temperatur 213 m 8 
, „ 20’ „ 116 „ 

» d 25° „ 87 , 

ist daher gross genug, um bei unzureichender Lüftung und reichlicher Besetzung eines 
Raumes die Umschliessung desselben, insbesondere Fenster und Aussenwände feucht zu 
machen, und auch Unreinlichkeit zu befördern, sowie Ansiedlungen von Pilzen zu erzeugen, 
beides Umstände, die ihrerseits wiederum luftverschlechternd wirken. 

Andere und unter Umständen recht grosse Wasserdampfmengen werden von künst¬ 
licher Beleuchtung an die Luft abgegeben, und zwar gleichzeitig mit Kohlensäure 
und Wärme. Für die gebräuchlichsten Beleuchtungsmittel sind die stündlich erzeugten 
Wasserdampf-, Kohlensäure- und Wärmemengen in der nachstehenden Zusammenstellung 
angegeben. Zu den Angaben ist aber zu bemerken, dass dieselben nicht in strengem 
Sinne verstanden werden dürfen, weil mit der Einrichtung der Brenner, mit der 
besonderen Beschaffenheit des Leuchtstoffes, und mit der Temperatur u. s. w. vielfache und 
sehr grosse Wechsel möglich sind. Andererseits ist die durch die Beleuchtungsmittel be¬ 
wirkte Luftverschlechterung nicht auf die Erzeugung gewisser Mengen von Wärme, Wasser¬ 
dampf und Kohlensäure beschränkt, sondern wird dadurch vergrössert, dass bei der Licht¬ 
erzeugung ein gewisser Sauerstoffverbrauch stattfindet, der aus der umgebenden Luft ge¬ 
deckt werden muss. Leuchtgas enthält Kohlenoxyd, aber auch von den übrigen Leucht¬ 
stoffen kann bei unvollkommener Verbrennung Kohlenoxyd an die Raumluft abgegeben 
werden, und ausserdem können noch andere giftige Verbrennungsproducte entstehen. 

Für je 10 Normalkerzen Lichtstärke werden stündlich entwickelt: (Siehe Tabelle 
Seite 602). 

Wenn man die für die C0 2 - Erzeugung geltenden Zahlen dieser Tabelle mit den An- 

S Btben S. 900 vergleicht, so ergibt sich, dass durch Gas- und Petroleumflammen mittlerer 
euchtkraft die Raumluft 2—6 mal so stark mit CO* angereichert wird als durch 1 Kopf 
der Bewohnerschaft. 

Hingegen findet bei der Wassererzeugung zwischen den einzelnen Flammen und der* 
jenigen für 1 Kopf der Bewohnerschaft nur ein geringerer Unterschied statt; im Allgemeinen 
beträgt die Wassererzeugung einer Flamme mittlerer Stärke, derselben Art wie vor, das 
1 bis 2 1 /2fache der Wasserdampfabgabe eines Menschen im Ruhezustände. Durch Arbeit 
sowohl als erhöhte Temperatur kann indess nach den Untersuchungen Wolpbrt’s beim 
Menschen eine Erhöhung soweit eintreten, dass der Unterschied völlig verschwindet. In¬ 
dessen haben Temperaturerhöhungen auch bei Flammen Erhöhung der Wassererzeugung zur 
Folge, worüber jedoch genauere Feststellungen bisher nicht vorBegen. 

Andere Verunreinigungen der Zimmerluft ergeben sich durch die Heizung, ins¬ 
besondere wo eiserne Heizkörper angewendet werden. Wenn auf überhitzte Flächentheile 


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902 


VENTILATION. 



Wasser 

Kohlensäure 

W ärmeeinheiten 
auf 1 m z 
Wasser bezogen. 

l 

Elektrisches Bogenlicht . . . f 

_ 

Spuren 

5—15 

„ Glühlicht. 

— 

— 

15 — 45 

Leuchtgas, Argandbrenner . . . 

0*086 

46 

440 

„ Zweilochbrenner . . 

0-214 

114 

500 

Siemen’s Regenerativbrenner . . 

— 

— 

230 

Auerbrenner. 

0064 

35 

67-106 

Petroleum-Rundbrenner .... 

0037 

44 

200 

Flachbrenner .. 

0080 

95 

— 

Paraffin.• • * 

0099 

122 

— 

Stearin . 

i 

0104 

130 

i 


eiserner Oefen Staub fallt, so wird der organische Antheil des Staubes versengt und 
verbreitet unangenehme brenzliche Gerüche. Ob durch glühende Wände eiserner Oefen 
Kohlenoxyd dinundiren kann, ist ebenso oft behauptet als bestritten worden. Aber auch, 
wenn die Frage im bejahenden Sinne zu beantworten wäre, würde von Oefen, die in den 
zu heizenden Räumen selbst aufgestellt sind (directe Heizung), keine Gefahr von Luftvergif¬ 
tung zu befurchten sein, weil die Luftströmungen im Zimmer dem Ofen zu- und nicht 
abgekehrt sind. Hingegen sind bei ausserhalb des Raumes stehenden eisernen Oefen 
Luftvergiftungen durch CO eventuell möglich; es muss daher bei den eisernen Oefen der 
sogenannten Luftheizungen mit besonderer Vorsicht gegen Glühendwerden der Ofenwände 
vorgekehrt werden. 

Als letzte Quelle der Luftverunreinigung in bewohnten Räumen kommt die beson¬ 
dere Disposition und Con struction des Gebäudes, sowie die Benützungsweise 
desselben in Betracht. Räume, von welchen üble Gerüche ausgehen, sind z. B. Koch- und 
Waschküchen, Werkstätten mancherlei Art und Aborte. Bestehen zwischen denselben und 
den eigentlichen Wohnräumen nicht ausreichend dichte Trennungen, so können von solchen 
Bäumen aus sich schlimme Luftverunreinigungen verbreiten. Dasselbe gilt von Kellern mit 
nicht luftdichter Sohle und mit durchlässigen Aussen mauern, in welchen sich feuchte, muffige 
Luft bildet und mehr oder weniger starke C0 2 - Bildungen stattfinden. Feuchtigkeit der 
Wände und mangelhafte Fenster bringen nothwendig Schmutzanhäufungen und Luftver- 
derbnis mit sich. Solche ergibt sich aber auch in Räumen, die unzureichendes Tageslicht 
haben, wenn dieselben nicht häufig gelüftet werden. Gleichwie stagnirendes Wasser bald 
verdirbt, so auch die Luft geschlossener Räume, wenn sie nicht öfter ausgewechselt und 
insbesondere, wenn sie nicht vom directen Sonnenlicht erreicht wird. Es ist hierbei an. 
die desinficirende Wirkung des directen Sonnenlichtes zu denken, das chemische Wirkungen 
äussert und auch genügt, um eine Anzahl von pathogenen Mikroben zu vernichten, be¬ 
ziehungsweise ihre Vermehrung zu hindern. 

Aus dem Vorstehenden ersieht sich, dass die Bestimmung der Luft¬ 
verunreinigung in geschlossenen Räumen aus dem C0 2 -Gehalt streng ge¬ 
nommen nur für den besonderen Fall einigermaassen zuverlässig ist, dass es 
sich um einen reinlich gehaltenen, mässig besetzten Raum handelt, der Ver¬ 
unreinigungen von anderen Räumen nicht zugeführt erhält. Einen angenähert 
richtigen Maassstab bildet die Kohlensäuremenge aber auch noch unter etwas 
weniger günstigen Umständen, wenn, wie es die Regel ist, bei Berechnung 
des Ventilationsbedarfes diejenigen Frischluftmengen ausser Ansatz bleiben, 
die durch Wände, Fenster und Thüren uncontrolirbar in den Raum 
eintreten. 

Sei die pro Kopf und Stunde zur Verhütung der Ueberschreitung eines 
gewissen C0 2 -Antheiles p zuzuführende Luftmenge L, sei ferner a die iu 
1 m 3 Frischluft enthaltene, und K die von 1 Person stündlich ausgeathmete 
COj-Menge (alle Maasse in m 3 verstanden), so ist L a -j- K die stündlich 
eingeführte und Lp die nicht zu überschreitende CO s -Menge und darnach: 
La-\- K= Lp , woraus: 


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VENTILATION. 


903 


L — 


K 

p—a 


( 1 ) 


Wenn noch aus anderen Quellen, wie z. B. der Beleuchtung stündlich 
die Menge K, von CO a zugeführt wird, ist entsprechend : 

* + g» . 

p—a 


L,= 


( 2 ) 


Mit Hilfe dieser beiden Gleichungen lassen sich alle Aufgaben über die Ven¬ 
tilationsgrösse bequem lösen, abgesehen von der Bestimmung von L oder z. B. 
auch diejenige zu ermitteln, welcher Antheil von CO a in der Frischluft nicht 
überschritten sein darf, wenn in einem Raum von gegebenem Inhalt und ge¬ 
gebener Besetzung in einer bestimmten Zeit der CO,-Gehalt der Luft nicht 
über einen bestimmten Satz = p hinausgehen soll, oder die andere, zu berechnen, 
welche Besetzung und Flammenzahl ein Raum höchstens haben darf, wenn der 
C0 2 -Antheil in einer bestimmten Anzahl von Stunden = t den bestimmten Satz 
= p nicht überschreiten soll, oder auch, welcher Antheil =p in einer be¬ 
stimmten Stundenzahl = t hei. gegebener Besetzung und Flammenzahl des 
Raumes erreicht wird u. s. w. 

Hier soll die Gleichung 1 nur zur Berechnung einer Tabelle benutzt 
werden, die den stündlichen Frischluftbedarf L für Personen verschiedener 
Art unter Voraussetzung gewisser CO s -Mengen, die von denselben erzeugt 
werden, und unter drei Voraussetzungen über den zulässigen Antheil p , den 
die CO a erreichen darf, angibt. Es wird angenommen, dass p L = 0*0007, 
p t = 0*0010,#, == 0 0015 und der Gehalt der Frischluft a t — 0 0003, o 8 = 
0*0004 sei. Die Tabelle ist folgende: 



Stündlich 

ausge- 

athmete 

C0 2 

C0 2 -Gehalt 

der 

Frischluft 

Stündlicher Frisch¬ 
luftbedarf, m 3 , 
beim zulässigen C0 2 
Gehalt der Kaumluft 


m® 

0,0007 

0,001 

0,0015 

Kräftiger Arbeiter, arbeitend . . . 

0030 

00003 

0,0004 

75 

100 

43 

50 

25 

27 

desgl. ruhend .... 

0*020 

0.0003 

0.0004 

50 

67 

29 

33 

17 

18 

Schwächlicher Arbeiter, ruhend . . 

0*016 

0-0003 

0-0004 

40 

53 

23 

27 

13 

14 

Mann. 

0‘020 

0*0003 

0*0004 

50 

67 

29 

33 

17 

18 

Frau.i 

i 

0*017 

00003 

0 0004 

43 

57 

24 

28 

14 

15 

4 

Jüngling.j 

0018 

0-0003 

00004 

45 

60 

26 
' 30 

15 

16 

Jungfrau. 

i 

0013 

0*0003 

0*0004 

33 

43 

19 

22 

11 

12 

Aelterer Knabe. 

0 012 

0 0003 

0 0004 

30 

40 

17 

20 

10 

11 

desgl« Mädchen. 

0011 

00003 

0 0004 

28 

37 

16 

18 

9 

10 

Jüngerer Knabe. • .. 

0.009 

0*0003 

00004 

23 

30 

13 

15 

8 

8 

desgl. Mädchen. 

0-008 

00003 

00004 

20 

27 

11 

13 

7 

7 


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904 


VENTILATION. 


Die Zahlen in den drei letzten Spalten gelten der Voraussetzung nach 
nur für den Fall der Tageslüftung, d. h. dass keine künstliche Beleuchtung 
vorhanden ist. Wo diese vorliegt, würde man eine andere gleichartige Tabelle 
nach der obigen Gleichung 2 berechnen können. 

In der Tabelle tritt der Einfluss, welchen die verschiedenen Factoren 
(Alter, Geschlecht, Buhe oder Bewegung und Beschaffenheit der Frischluft) 
üben, deutlich hervor. Die Zulassung des Antheils 0 0015 von C0 2 gegen 
0-0007 setzt den Frischluftbedarf auf 1 / i bis 1 j i herab, während der um 0 0001 
höhere Antheil der Frischluft an C0 8 eine Vermehrung der nothwendigen 
Menge Frischluft im Maximum in dem Verhältnis von etwa 4:3 bedingt. 

Der erste, welcher zahlenmässige Angaben über das Frischlnftbedürfnis pro Kopf 
machte, war der französische Geneml Morin. Seine Zahlen haben sich bis neute in 
Geltung erhalten, und stimmen auch mit denjenigen späterer Autoren nahe überein. Eine 
von Rietscbel gegebene Tabelle, welche, den wechselnden Verhältnissen entsprechend, für 
jeden einzelnen Fall Maximal- und Minimalzahlen enthält, ist folgende: 


Kleinste Grösste 

Frischluftmenge pro Stunde und Kopf in m s 

Krankenräume für Erwachsene. 76 76 

, * Kinder. 36 36 

Schalräume für Kinder unter 10 Jahren . 10 17 

P » » über „ „ . . 16 28 

Auditonen, Versammlungssäle.17 30 

Theater-, Concert- und Festsäle ...» 25 30 

Gefängnisse und Kasernen. 20 30 

Oeffentliche Kassenräume.15 20 

Geschäftsräume bei starker Besetzung • . 17 30 

Desgleichen bei schwacher „ ... 20 — 


Die Berechnung des Ventilationbedarfes stark besetzter und 
künstlich beleuchteter Bäume aus der Temperatur gestaltet sich 
wie folgt: 

Die Wärmemenge, welche der Baum enthält, setzt sich aus drei 
Theilen zusammen, und zwar: 

W u derjenigen Wärmemenge, welche von den im Baum sich aufhaltenden 
Personen abgegeben wird, 

W a , derjenigen Wärmemenge, welche durch die Beleuchtung erzeugt wird, 

W 3 , derjenigen Wärmemenge, welche durch die Umschliessungen des 
Baumes entweder von aussen aufgenommen oder nach aussen abgegeben wird. 

Die Summe ist: W = W t -{- W t ± W s . 

Alle Werte sind auf die Stunde als Einheit zu beziehen. Müssen nun 
stündlich L (m 3 ) Luft der Temperatur eingeführt werden und ist t die 
zuzulassende Baumtemperatur, so ist die Temperaturerhöhung, welche diese 
Luft erfährt t—t x und die dazu erforderliche Wärmemenge 0 306 ( t — L. 

Da dieselbe von der im Baum erzeugten Wärmemenge hergegeben 
werden muss, und dieses bei dem Ausdehnungscoöfficienten 0 003665 der Luft 

{W (1 -f 0-003665 <), 
erfordert, so besteht die Bedingung: 


0-306 (<—*,) L : 

L 


W (1 -f- 0-003665 t), woraus: 
W (1 + 0-003665 t) 

0 306 (t-t,) • • • W 


Die Unterschiede in den nothwendigen .Ventilationsgrössen, je nachdem 
bei der Bechnung die C0 8 -Erzeugung oder die Temperaturerhöhung zu 
Grunde gelegt wird, können leicht an einem Beispiel anschaulich gemacht 
werden. 


Es sei ein Saal von 30 m L&nge, 20 m Breite und 8 m Höhe 4800 m» Inhalt gegeben, 
der 300 Personen fasst, und mit 60 offenen Flammen beleuchtet ist. Es soll wegen der nur 
vorübergehenden Besetzung ein CO s -Gehalt von 00015 zugelassen werden, und es habe 
die Frischluft den CO,-Gehalt von 0*0004. Dann ist nach Gleichung 2 (S. 903) die stündlich 
einzuführende Frischluftmenge: 



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VENTILATION. 


905 


L = 


300.0-020+ 60.0-114 
00015 — 0*0004 

11673 

die beim Saalinhalt von 4800 m 8 stündlich eine 


11673 m 8 


4öÖCf> e * wa ^ 1/8 ma ^ß e Lufteraeuerung be¬ 


deuten. 

Bei Berechnung nach der Temperatur werde angenommen, dass die Temperatur am 
Fussboden 15* betrage und für je 1 m Höhe um 2° zunehme, so dass sie in Kopfhöhe 19° 


und an der Decke 16 + 2.8 = 31°, daher in halber Höhe ——=23° betrage. Es 

werde ferner die Anssentemperatnr t = 12*5 gesetzt nnd angenommen, dass der Saal rnnd- 
berom eingebaut sei, so dass darch die Umscnliessungen weder W&rme zu- noch abströmt, 
also W t = 0 ist. Dann hat man 

W = 300.100 -f 60.500 ± 0 = 60000 W. E., daher nach Gleichung (3) 

60000 (1 + 0 003665.23) 


L = 


20248 


0 306 (23 — 12-5) ~ 20248 m *> 


die eine " 4300 " “ ^ malige Lufterneuerung in der Stunde bedeuten. 


ln diesem Falle stellt also die Vermeidung einer belästigenden Tem- 
.peraturhöbe beinahe doppelt so grosse Anforderungen an den Luftwechsel, 
als die Vermeidung eines unzulässig hohen C0 2 -Gehaltes. In Wirklichkeit 
ist allerdings die Sachlage so, dass der Unterschied weniger gross sein wird, 
weil der vorausgesetzte Zustand: dass durch die Umschliessungen des Raumes 
keine Luft ein- oder ausströmt, nicht erfüllt sein kann, daher der Luft¬ 
wechsel um das Maass der durch Wände, Thüren u. s. w. freiwillig ein- oder 
austretenden Luftmengen sich ändert. Immerhin lehrt das Beispiel, dass bei 
Massenlocalen mit künstlichen Beleuchtungseinrichtungen die Grenze, 
von welcher ab die Regelung der Temperatur höhere An¬ 
forderungen an die Ventilation stellt, als die Erhaltung einer 
zuträglichen Luftbeschaffenheit, ziemlich nahe liegt. 

• Das Beispiel erweist ferner die grosse zweifache Bedeutung, die 
bei künstlicher Beleuchtung die Art derselben besitzt. Bei Wahl von Auer- 
brennern anstatt offener Brenner würden (Tabelle S. 902) die stündlich ein¬ 
zuführenden Luftmengen sich auf 7365 m 8 oder etwa 63% bezw. 13148 m*, 
oder etwa 60% ermässigen. Bei Beleuchtung mit elektrischem Glüh¬ 
licht würden gar nur 5450 m 3 bezw. 10800 m s Frischluft nöthig sein, d. h. 
der Luftbedarf würde sich auf etwa 50% ermässigen. 


Wenn man nach dem Vorstehenden im Stande ist, in jedem besonderen 
Falle diejenigen Frischluftmengen, welche einen Raume entweder zur Erhaltung 
einer gewissen Luftbeschaffenheit oder einer gewissen Lufttemperatur 
zugeführt werden müssen, auf rechnerischem Wege mit hinreichender An¬ 
näherung zu bestimmen, so fragt es sich, welche Mittel, d. h. welche beson¬ 
deren technischen Einrichtungen zu dieser Leistung erforderlich sind, und 
nachdem diese Frage entschieden ist, ob etwa Gründe ausserhalb der Sache 
vorhanden sind, welche zu einer Ermässigung der Ansprüche an den Luft¬ 
wechsel nöthigen. 

Von den technischen Einrichtungen wird weiterhin die Rede sein; die 
zuletzt aufgeworfene Frage führt zu einer Betrachtung über den sogenannten 
Luftcnbus, d. i. dieauf 1 Kopfder Bewohnerschaft entfallende 
Raumgrösse, oder den Wert ß, wenn B den cubischen Inhalt des Raumes 
— nach Abzug der Möbel — und n die Bewohnerzahl desselben bezeichnet. 
In demselben Maasse, als der Luftcubus kleiner oder grösser wird, in dem¬ 
selben Verhältnis muss die Zahl der auf eine Stunde entfallenden Luft¬ 
erneuerungen des Raumes zu-, beziehungsweise abnehmen. Ist z. B. die auf 
1 Kopf und Stunde entfallende Frischluftmenge zu 40 m 8 ermittelt, und be¬ 
trägt auch der Luftcubus 40 m 8 , so wird die Luft des Raumes stündlich ein¬ 
mal auszuwechseln sein. Wenn dagegen der Luftcubus entweder 10 oder 


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906 


VENTILATION. 


20 m* ist, so wird die Häufigkeit der stündlichen Lufternenernngen 4, be¬ 
ziehungsweise 2 sein müssen. Je grösser aber die Häufigkeitszahl, je 
grösser dieGeschwindigkeit, mit der die Frischluft denRaum 
durchströmt, umso eher stellt sich Zugbelästigung der Bewohner 
ein. Freilich spielt hiebei auch die Temperatur der Frischluft eine Rolle, 
Durch niedere Temperaturen wird die Zugempfindung bedeutend gesteigert, 
durch höhere gemildert. Immerhin gibt es eine, zwar individuell verschieden 
liegende Grenze, an welcher bei jeder Temperatur Zugbelästigung merkbar 
wird. Aus diesem Grunde ist die Möglichkeit einer Ventilationseinrichtung, 
durch die x »i* Luft in 1 Stunde eingeführt werden sollen, durch die Be¬ 
dingung beschränkt, dass der Luftcubus gross genug sei, damit die Anzahl 
der stündlichen Lufterneuerungen nicht diejenige Grenze erreiche, bei welcher 
Zugbelästigung eintritt. Diese Grenze muss bei Räumen für dauernden 
Aufenthalt niedriger liegen, als bei solchen für kurzen Aufenthalt; sie kann 
auch bei Räumen von besonderer Grösse, namentlich grosser Höhe, mit ent¬ 
sprechend grosser Entfernung der Oeffnungen für den Lufteintritt, etwas 
höher liegen als bei Räumen von gewöhnlicher Grösse und Höhe. 

Im Allgemeinen sieht man etwa folgende Häufigkeitszahlen der stünd¬ 
lichen Lufterneuerung als angemessen an: 

für Wohn- und für Geschäftsräume mit nicht grosser Benützung 1—2, 

„ Vorräume und Treppenhäuser je nach der Benützung . . 1—4, 

„ Küchen und Aborte ..3—5. 

Die Häufigkeitszahl 2—3 kann als eine mittlere, auch für Räume an¬ 
derer Bestimmung geltende angesehen werden. 

Luft von ungleicher Temperatur lagert sich nach dem Unterschiede der 
Schwere gewissermaassen schichten weise über einander; die schwerste, am 
niedrigsten temperirte Luft zu unterst. An Aussenwänden und Fenstern, welche 
dauernd kälter als die Raumluft sind, befindet sich die Luft in Abwärts¬ 
bewegung; an Innenwänden, die wärmer als die Raumluft sind, ist die Luft 
in aufsteigender Bewegung. Ob und in welcher Höhenzone eines geschlossenen 
Raumes Luft von aussen eindringt, ob und in welcher anderen Höhenzone Luft 
nach aussen abgegeben wird, hängt vom Druck der auf beiden Seiten der 
Raumumschliessung befindlichen Luft ab, der seinerseits nach dem Mariotte- 
schen Gesetz zum Luftgewicht in der Beziehung steht: 

p Y = Pi Ti = Pi Ya = ConBtante. 
p bezeichnet den Druck (Spannung), y das Gewicht der Luft. 

Nach dieser Bedingung gehört zu dem kleineren Gewicht y erwärmter 
Luft der höhere Druck p, und zu dem höheren Gewicht y, kälterer Luft der 
kleinere Druck p lt d. h. es wird im unteren Theile eines geschlossenen 
Raumes, der Luft von nicht überall gleicher Temperatur enthält, von aussen 
nach innen gerichteter Druck — sogenannter Unterdrück — herrschen, wäh¬ 
rend im oberen Theil von innen nach aussen gerichteter Druck — sogenann¬ 
ter Ueberdruck — stattfindet. Es wird entsprechend durch den unteren Theil 
der Wände und am Fussboden Luft eintreten und durch den oberen Theil 
der Wände und die Decke Luft austreten. Zwischen der oberen und 
unteren Zone muss es nothwendig eine Schicht von der Dicke = 0 geben, 
die man — uneigentlich — als neutrale Zone bezeichnet, in welcher weder 
Lufteintritt noch -Austritt stattfindet, also Ruhe herrscht. Die Lage der neu¬ 
tralen Zone ist von grosser Bedeutung für die Wirksamkeit einer Lüftungs¬ 
einrichtung, und sie muss nach der Art derselben verschieden 
sein. Es ist die Aufgabe des Constructeurs, je nach der Be¬ 
stimmung der Räume, die neutrale Zone in einer bestimmten 
Höhe zu fixiren. 


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VENTILATION. 


907 


In Wohnräumen muss die nentrale Zone in der Höhe der Fenster* 
brüstnng liegen, weil bei dieser Lage die Fenster keine kalte Luft von aussen 
eintreten lassen, vielmehr warme Luft durch die Fenster nach aussen ab¬ 
gegeben wird. — In Küchen, Aborten, Werkstätten, in welchen üble 
Gerüche herrschen, desgleichen in Krankenräumen muss die neutrale 
Zone unmittelbar unter der Decke liegen, so dass in der ganzen Höhe der 
Räume Unterdrück besteht, der bewirkt, dass von allen Seiten Luft eindringt 
und dadurch verhindert, dass sich die unreine Luft der genannten Räume 
durch Wände und Thüren hindurch in benachbart liegende Räume verbreitet. 
In Theater- und Concertsälen, Versammlungsräumen u. s. w. muss umgekehrt 
der ganzen Höhe nach Ueberdruck herrschen, insbesondere damit bei Been¬ 
digung des Aufenthaltes durch die geöffneten Zugänge nicht Lufteintritt statt¬ 
finden und heftige Zugströmungen hervorrufen kann. Dasselbe gilt für Kirchen 
und andere Räume von besonderer Höhe. 

Beiläufig mag in Bezng anf die Heizung der beiden letztgenannten Geb&ndearten 
hier bemerkt werden, dass die Erwärmung der Bäume bereits vollendet sein sollte, 
wenn die Besucher eintreten, damit der Ueberdruck von vornherein vorhanden ist 
und sich nicht erst später etablirt; denn es werden bis zu diesem Zeitpunkte die Besucher 
durch Strömungen kalter Luft, die sich als Folge des herrschenden Unterdruckes ergeben, 
belästigt werden. Bei Theater- und Concertsälen, sowie Versammlungsräumen, die mit 
Pulsionslüftung ausgestattet sind, sollte der Lüftungsbetrieb nicht mit dem Augenblick, 
wo das Publikum die Bäume verlässt, aufhören, sondern, u. zw. besonders kräftig 
während der ganzen Dauer der Leerung fortgesetzt werden, um den bis dahin bestan¬ 
denen Ueberdruck, der die Zugbelästigung beim Oeffnen der Thüren verhindert, aufrecht 
zu erhalten. 

Die Fixirung der neutralen Zone geschieht durch Anlage der Oeff- 
nnngen, sei es für Luftzuführung, sei es für Luftabführung in der Höhe 
dieser Zone. 

Da in Räumen, aus welchen die unreine Luft durch Ab sau gen ent¬ 
fernt wird (Aspirationslüftung), Unterdrück herrscht, so ist diese Lüf¬ 
tungsweise für alle Räume, in welchen — nach dem Obigen — Unterdrück 
nothwendig oder erwünscht ist, besonders angezeigt. Umgekehrt muss Druck¬ 
lüftung grundsätzlich da angewendet werden, wo Ueberdruck im Raume 
nothwendig oder erwünscht ist. 

Die Frischluft kann entweder mit der Temperatur des Freien, oder mehr 
oder weniger erwärmt zugeführt werden. Ersterer Modus ist für viele Fälle, 
namentlich bei kleinen Räumen auszuschliessen, weil er grosse Temperatur¬ 
verschiedenheiten im Raume hervor bringen kann. Er mag aber zulässig sein, 
wenn es angeht, die Frischluft an einer Mehrzahl von Stellen in feiner Ver- 
theilung in den Raum einzuführen, sowie namentlich bei grossen und hohen 
Räumen, wenn die Luft auf ihrem Wege bis in die Athmungssphäre der Per¬ 
sonen, die sich im Raume aufhalten, Gelegenheit hat, höhere Temperatur 
anzunehmen. Dies findet statt, wenn die Einströmungsöffnungen in der Höhe 
angeordnet werden. 

Bei strengeren Anforderungen an die Lüftung ist aber Vorwärmung 
der Frischluft nothwendig. Durch dieselbe wird die Luft relativ trocken, 
bedarf also der Anfeuchtung, z. B. enthält Luft von der Temperatur 0 beim 
Sättigungszustande in 1 m n 4‘9 gr Wasser; im Zustande halber Sättigung 
enthält dagegen Luft von 20° Temperatur 8‘6 gr Wasser; mithin fehlen 
der von der Temperatur 0 auf 20° erwärmten Luft unter diesen Ver¬ 
hältnissen 3*7 gr, für 40 m* stündliche Zuführung also etwa 150 gr Wasser. 
Es handelt sich also in gewissen Jahreszeiten um recht bedeutende Wasser¬ 
mengen, welche der Frischluft zugeführt werden müssen, soll die Zimmer¬ 
luft nicht „trocken“ sein. 

Das meist angewendete Mittel, die Befeuchtung durch Wassergefässe 
zu bewirken, welche in dem Zuge der Frischluft aufgestellt werden, wirkt 
gewöhnlich nur unvollkommen, entweder in dem Sinne, dass die Be- 


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908 


VENTILATION. 


feuchtung ungenügend ist, oder in dem anderen, dass sie sich den Wechseln 
im Feuchtigkeitsgehalt der Aussenluft nicht nahe genug anschliesst. Zu 
ersterem Punkte kommt es sowohl auf den richtigen Aufstellungsort 
der Wassergefässe, als die Grösse der luftberührten Wasserfläche an; die 
Gefässe müssen an einer Stelle stehen, wo die Temperatur der vorbei¬ 
streichenden Luft hoch genug ist, um die nöthige Energie der Verdampfung 
zu erzeugen, und es sind hinreichend grosse Spiegelflächen nothwendig, um 
bei der bestimmten Energie der Verdampfung die nöthige Dampfmenge her¬ 
geben zu können. Wo, wie z. B. in manchen gewerblichen Betrieben, die 
Einhaltung einer gewissen Luftfeuchtigkeit von Bedeutung ist, wird die Be¬ 
feuchtung durch Einblasen eines Dampfstrahles in den Luftweg erzeugt, ein 
Verfahren, das aber auch in anderen Fällen gute Dienste thut. 

Zur Messung des Feuchtigkeitsgehaltes der Luft gibt es eine Anzahl von Instru¬ 
menten. Das verbreitetste darunter ist das Hygrometer von Saussurb, das indess öfter 
auf die Richtigkeit seiner Angaben controlirt, bezw. berichtigt werden muss. Genaue An¬ 
gaben liefert jederzeit das AuGUST’sche Hygrometer oder Psychrometer, das aus der Com- 
bination eines trockenen und eines feuchten Thermometers besteht. Krell hat diesen 
Apparat in eine für die Praxis besonders brauchbare Form gebracht. 

Wenn die Frischluft nicht staubfrei zur Verfügung steht, muss die¬ 
selbe vor dem Eintritt in den Baum vom Staub befreit werden. Das ein¬ 
fachste Mittel dazu bilden die sogenannten „Staubkammern“: Bäume von 
grossem Querschnitt, die in den Weg der Luft eingebaut sind. Dadurch, dass 
in der Staubkammer die Geschwindigkeit der Luft ermässigt wird, fällt in 
derselben der Staub zu Boden. Da es aber bei feinen und leichten Staub- 
theilcben hiezu längerer Zeit bedarf, und da auch infolge von Wirbelströ* 
mungen bereits abgelagerter Staub der Luft von neuem beig:emischt werden 
kann, leisten Staubkammern nur Unvollkommenes. — Wattelilter, durch die 
man die Luft streichen lässt, werden in kurzer Zeit durch Füllung der Hohl- 
räume mit Staub dienstunfähig; alsdann kann der Luftdurchgang nicht 
nur vollständig stocken, sondern es kann auch bei Windstössen ein Theil des 
bereits abgelagerten Staubes der Luft wieder beigemischt werden. Immer 
nimmt die durchstreichende Luft aus einem verschmutzten Wattafilter Scbmutz- 
theile auf. — Passiren der Luft durch einen sogenannten Wasserschleier, 
der den Staub auswäscht, desgleichen seitliches Einblasen eines Wasser- oder 
Dampfstrahles in den Strom der Frischluft bringt den Uebelstand mit sich, 
dass die Luft zu stark angefeuchtet wird, auch sich in dem Waschraum 
nasser Schmutz ablagern, zum Theil in Fäulnis übergehen und üble Gerüche 
aussenden kann. Aehnliches ist gegen noch andere Einrichtungen zum Waschen 
der Luft einzuwenden. Die bisher besten Einrichtungen zum Entstäuben der 
Luft sind Filter aus Geweben mit rauher Oberfläche, die in geräumigen 
Staubkammem aufgehängt werden. Sie werden entweder mehrfach gefaltet 
oder, wie die MöLLER’schen Luftfilter, mit sogen. Taschen versehen, durch 
welche die Luft passiren muss. Bei der Baschheit, mit welcher Luftfilter 
verstaubt werden, ist es von grosser Wichtigkeit, dieselben so einzubauen, 
dass sie bequem auswechselbar sind. 

Dass die Entstäubung der Luft nicht gleichbedeutend mit Keim¬ 
freiheit ist, leuchtet von selbst ein. Uebrigens setzen Luftfilter jeder Art 
der Luftbewegung einen Widerstand (Beibung und Bichtungsänderungen) 
entgegen, der zu gross ist, um diese Art der Luftreinigung bei Lüftungen, 
die blos auf Temperaturunterschieden beruhen, anwendbar zu machen. 

Ob eine LUftungseinrichtung dasjenige leistet, worauf sie berechnet ist, 
kann auf verschiedene Weise controlirt werden. 

Laufend angestellte Proben über den C0 2 -Gehalt der Raumlaft geben directen 
Aufschluss über die Wirkung der Anlage, während Messungen der Luftgeschwindigkeit an 
geeigneten Stellen im Zuge derselben Aufschluss über die Luftmengen, welche einpassiren, 
gewähren. Zu den Messungen werden Anemometer benützt, die indess der häufigen 


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VENTILATION. 


009 


Prüfung auf die Richtigkeit ihrer Angaben bedürfen. Sonstige Apparate zur Bestimmung 
der Lmtgeschwindigkeit mögen hier nur andeutungsweise berührt werden. Ein Mittel zur 
laufenden Controle der Leistung einer Venulationsanlage bietet ein Apparat von 
Recknagel, dessen Haupttheil eine leichte Platte ist, die in den Strom der Frischluft 
gehängt, und deren Ablenkung aus der senkrechten Lage auf einem Gradbogen an¬ 
gegeben wird. 

Ob die Frischluft mit der Temperatur des Freien oder vorgewärmt ein- 
gefiihrt werden soll, ist Sache des besonderen Falles. Eine gewisse Tem¬ 
peraturerhöhung wird sich in kalter Jahreszeit beim Passiren durch die Canäle 
von selbst heraussteilen, hingegen in warmer Jahreszeit öfter eine Temperatur- 
ermässigung; beide Aenderungen sind aber gering. 

Wird die Frischluft concentrirt, d. h. an nur einer oder an wenigen 
Stellen in einen grösseren Raum eingeführt, so bewirkt sie in kalter Jahres¬ 
zeit in der Nähe der Einströmungsstellen leicht lästiges Zug- und Kälte¬ 
gefühl. Weniger stark wird das empfunden, wenn mehrere kleine Ein- 
strömungsöffnungen vorhanden sind. Je mehr man aber auf Vollkommenheit 
der Lüftungsanlage hinausgeht, umso nothwendiger wird Vorwärmung der 
Frischluft. Da in der Vorwärmung auch ein Mittel zur Bewegung der Luft 
geschaffen wird, so bildet bei allen besseren Anlagen Vorwärmung die Regel. 
Bei Lüftung von Küchen und überhaupt von Räumen, in welchen die Luft 
feucht ist, hat die Einführung vorgewärmter Frischluft überdies den Vortheil, 
dass sie lufttrocknend wirkt. 

Kühlung der Frischluft, die nur in Ausnahmefällen angewendet wird, 
kann erzielt werden, indem man die Luft über Eispackungen streichen lässt. 
Dies Mittel ist wenig empfehlenswert, weil sich auf das Eis Schmutz nieder¬ 
schlägt, der Modergeruch abgibt, und auch weil die Luft vielleicht zu stark 
angefeuchtet wird. Die Kühlung dadurch, dass man die Luft durch einen 
Wasserregen strömen lässt, bringt ähnliche Nachtheile wie die Eiskühlung 
hervor. Wo Maschinenbetrieb vorhanden ist, kann man der Luft einen Strahl 
von abgekühlter, gepresster Luft beimischen; durch die Aufhebung der 
Pressung wird die Temperatur derselben herabgesetzt. Umständlich ist das 
Mittel, die Luft einen Raum passiren zu lassen, der von Röhren durchzogen 
ist, in welchen sich kaltes Wasser, eventuell eine noch stärker kühlende 
Flüssigkeit, wie z. B. eine Chlorcalciumlösung, bewegt. 

Vieles kann zur Temperirung der Frischluft in allen Jahreszeiten durch 
sorgfältige Auswahl der Entnahmestellen derselben geschehen, 
da an einem vor Windströmungen geschützten schattigen Ort im Winter die 
Temperatur der Luft nicht so weit sinkt, und im Sommer nicht so hoch 
steigt als im ungeschützten Freien. Am besten liegen auch von diesem Ge¬ 
sichtspunkte aus die Entnahmestellen der Frischluft entweder in all- oder 
mehrseitig umschlossenen, doch von der Sonne erreichten Höfen, wenn an 
dieselben keine Räume mit stark verunreinigter Luft anstossen. Die beste 
Stelle ist die unter nicht zu dichten und nicht zu hohen Gruppen von 
Gesträuchern oder Bäumen. 

Jede Luftbewegung beruht auf einer Störung des Gleichgewichtes. 
Dieselbe kann entweder durch Auflockerung, Verdünnung oder durch 
Verdichten bewirkt werden. Für ersteren Zweck stehen Erwärmung 
oder Absaugung, für letzteren entgegengesetzt, Abkühlung und Pressung 
zur Verfügung. 

Je höher die Erwärmung an einer Stelle getrieben wird, umso grösser 
wird der Unterschied zwischen der Lufttemperatur an dieser Stelle und der¬ 
jenigen an einer benachbarten Stelle, umso stärker die Luftbewegung sein. 
Dasselbe gilt für Absaugung, Abkühlung und Pressung. 

Wird der Temperaturunterschied durch die Heizung des Raumes 
hervorgebracht, so ist derselbe von den Wechseln der Heizung und demjenigen 
der Aussentemperatur abhängig, und hört zu Zeiten ganz auf. Lüftungen, 


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010 


VENTILATION. 


die nur auf Temperaturunterschieden beruhen, sind demnach durch Unbe¬ 
ständigkeit charakterisirt. In kalter Jahreszeit mag der Luftwechsel zu 
reichlich, in warmer zu gering, und zu anderen Jahreszeiten gleich Null sein. 
Dieser Einwand richtet sich nicht nur gegen Anlagen, bei denen die Erwär¬ 
mung durch in den Räumen selbst aufgestellte Heizkörper erfolgt: Local - 
heizung, sondern auch gegen die Erwärmung mittelst der sogenannten Luft¬ 
heizung, die sehr verschiedene AusfUbrungsformen haben kann. Darnach sind 
Lttftungsanlagen, die nur auf der Heizung, und der Thätigkeit von Ltiftungs* 
schachten (Canälen) in der Wand beruhen, einerlei, ob die Heizung Local¬ 
oder Luftheizung ist, überall da unanwendbar, wo auf Gleichmässigkeit 
der Wirkung Wert zu legen ist. Will man bei Benützung von Wärme Voll¬ 
kommenes erzielen, so müssen Heizung und Lüftung vollständig 
getrennt werden. 

Ein gewisser Luftwechsel, der auf Temperaturunterschieden beruht, voll¬ 
zieht sich ohne jegliches Zuthun, vermöge Porosität der Raum-Um- 
schliessungen, sowie Undichtheiten und gelegentliches Oeffnen 
von Thüren und Fenstern; man bezeichnet diesen Luftwechsel 
wohl als „freiwilligen“, „selbsttätigen“ oder „natürlichen“. Aber hierbei 
gesellen sich den Wechseln in den Temperaturunterschieden noch zeitliche 
grosse Wechsel in der Wandporosität und in den Wechseln, die der 
Winddruck aufweist, hinzu. Erstere können sowohl von Wärmewechseln, als 
von Wechseln des Feuchtigkeitszustandes verursacht werden. Und da in dem 
Oeffnen von Thüren und Fenstern keinerlei Gesetzmässigkeit herrscht, so er¬ 
sieht es sich, dass bei dieser Art von Lüftung das Charakteristische in der 
gänzlichen Regellosigkeit besteht Nichtsdestoweniger ist die natürliche 
Ventilation von grosser Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden, da sie 
für die ganz überwiegende Zahl aller Wohnungen die einzige Lüftung 
bildet. Dies gilt insbesondere von den Wohnungen der geringeren Classen, 
für welche künstliche Einrichtungen zu kostspielig, oder im Betriebe zu um¬ 
ständlich sind. Vielleicht darf es als ein „glücklicher Umstand“ bezeichnet 
werden, dass gerade bei dieser Art von Wohnungen vermöge ihrer weniger 
soliden Bauweise die natürliche Lüftung mehr leistet als bei den Wohnungen 
besserer Art. Immerhin ist es sehr zu wünschen, dass der Aufgabe der Schaffung 
verbesserter Lüftungseinrichtungen gerade für die niederen Wohnungen in 
Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu Theil werde, als derselben bis zur Gegen¬ 
wart leider nur zugewendet worden ist. 

Dafür, dass Mauern für Luft durchlässig sind, hat zuerst Pettenkofer 
den Beweis durch seinen allbekannten Versuch erbracht. Leider ist das Er¬ 
gebnis dieses Versuches nicht geeignet, um aus demselben mit nur irgend 
einem Grade von Annäherung einen Schluss auf die Grösse der stündlich 
durch eine Wand von gegebener Dicke und Beschaffenheit gehenden Luft¬ 
menge ableiten zu können, weil Pettenkofer bei seinem Versuch so hohen 
Luftdruck benützte, wie er unter natürlichen Verhältnissen niemals vor¬ 
kommt. Und da es ebensowenig möglich ist, zu bestimmen, welche Luft¬ 
mengen durch Undichtheiten von Thüren und Fenstern, sowie gelegentliches 
Oeffnen derselben ein- oder austreten, so ist es schlechterdings unmöglich, 
von der Grösse des natürlichen Luftwechsels auf andere Weise als durch Ver¬ 
suche in jedem Einzelfalle sich ein Bild zu verschaffen. 

Gewöhnlich wird der natürliche Luftwechsel sich ausser durch Wände, 
Thüren und Fenster auch durch Fussboden und Decke des Raumes voll¬ 
ziehen. Nach einem Versuche Recknagel’s kamen von einem natürlichen 
Luftwechsel von 45*5 m 8 mehr als 66% auf Fussboden und Decke. Wenn 
es auch ausgeschlossen ist, das Ergebnis zu verallgemeinern, so ist 
dasselbe doch ausreichend, um die Forderung zu begründen, dass Fussboden 
und Decken von Wohnräumen möglichst luftdicht sein sollen, wogegen 


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die Aussenwände weniger luftdicht, als es zuweilen der Fall ist, zu sein 
brauchen, weil durch Fussboden und Decke fast nur verunreinigte Zimmer¬ 
luft, durch die Aussenwände dagegen die bessere Luft aus dem Freien eintritt. 

Eine sehr grosse Rolle spielt bei dem natürlichen Luftwechsel der 
Wind. Vom Winde bestrichene oder getroffene Wände lassen erheblich 
mehr Luft aus- bezw. eintreten, als vor Windströmungen geschützt liegende 
Wände. Daher sind in Bezug auf den natürlichen Luftwechsel freistehende 
und insbesondere kleine freistehende Wohnhäuser in vie 1 günstigerer Lage, 
als sogenannte eingebaute und namentlich grosse eingebaute Wohnhäuser. 

Eine zweite Art des natürlichen Luftwechsels wird durch die Ofen¬ 
heizung bewirkt, findet daher nur in kalter Jahreszeit statt. Sie entsteht 
durch den Luftverbrauch der Ofenfeuerung. Sind Menge und Art des Brenn¬ 
stoffes bekannt, so kann man, da man die zur Verbrennung einer bestimmten 
Menge von bestimmtem Brennstoff nöthige Luftmenge kennt, diesen Luft¬ 
wechsel annähernd genau bestimmen. Doch übt dabei die Ofenconstruction 
einen grossen Einfluss. Bei manchen Constructionen geschieht die Ver¬ 
brennung unvollständig, bei anderen vollständig. Bei ersterer bleibt der 
Luftverbrauch unter dem normalen; bei letzterer wird dieser Verbrauch nicht 
nur erreicht, sondern gewöhnlich mehr oder weniger überschritten. Eine 
noch weitere, in unserem Sinne günstige Vermehrung tritt durch Undicht¬ 
heiten des Ofens und unnöthiges Offenstehenlassen des Ofenverschlusses ein. 

Eine im technischen Sinne vollständige Lüftungseinrichtung muss neben 
Einrichtungen für den Eintritt der Frischluft, auch „Zuluft“ genannt, solche 
für den Austritt der verdorbenen Luft — A bl uf t — besitzen. Nach dieser Regel 
beurtheilt, sind z. ß. Oeffnungen und Canäle nur für die Abluft oder auch 
nur für die Zuluft, die mit der Ofenheizung verbunden werden, ferner die so¬ 
genannten Ventilationslichter, die Sonnenbrenner, Canäle in den Wänden, nur 
für Zuluft oder nur für Abluft, auch erwärmte Lüftungsschlote, Luftscheiben 
und Jalousien in den Fenstern, und andere ähnliche Einrichtungen, als un¬ 
vollständige zu bezeichnen. Bei den grossen Schwankungen, welchen 
ihre Leistungen unterworfen sind, kann auf eine geordnete Wirksamkeit 
jener, gewissermaassen nur halben Einrichtungen nicht gerechnet werden. 
Damit soll indessen der grosse Nutzen, den sie in besonderen Fällen schaffen, 
nicht in Zweifel gestellt sein. Relativ grossen Nutzen darf man namentlich 
den Ventilationslichtern und Sonnenbrennern beilegen, insofern, als dieselben 
dazu dienen, die Verbrennungsproducte des Leuchtgases vor ihrer Mischung 
mit den tiefer lagernden Luftschichten, und ausserdem die hoch temperirte 
Luit der oberen Schichten aus dem Raume zu entfernen. 

Von mangelhafter Wirksamkeit ist auch die einfachste Einrichtung zur 
künstlichen Lüftung, welche darin besteht, dass man ein mehr oder weniger 
grosses Stück der Fenster, oder ein ganzes Fenster so construirt, dass das Auf¬ 
sperren für kürzere oder längere Zeit möglich ist Denn beim Oeffnen bilden 
sich in der Oeffnung zwei entgegengesetzte Strömungen, eine ausgehende in 
der oberen Fensterhälfte, eine eingehende in der unteren, und beide hemmen 
sich gegenseitig, so dass die Wirkung sehr gering ausfallen kann. Voll¬ 
ständigkeit der Wirkung wird erzielt, wenn gleichzeitig mit dem Fenster 
eine in einer inneren Zimmerwand liegende Thür geöffnet wird, wobei das 
entsteht, was man kurz als Durchlüftung bezeichnet hat. Die Durch¬ 
lüftung ist nach speciellen Beobachtungen, die darüber angestellt wurden, von 
fast unerwartet rascher Wirksamkeit. Aus der Nichtbeachtung dieser 
Thatsache mag die geringe Würdigung erklärt werden, welche der Durchlüftung 
selbst in Fällen, wo sie ganz besondere Empfehlung verdient, bisher nur 
zu Theil wird. In der Regel wird ein grosser Wärmeverlust gefürchtet, und 
dieser tritt in der That ein, wenn die Durchlüftung unzweckmässig betrieben 
wird. Nach Versuchen in Dresdener Schulclassen ist die nur 5—6 Minuten 


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VENTILATION. 


lange Wirksamkeit der Durchlüftung vollkommen zur Lufterneuerung aus¬ 
reichend, das Hinausgehen über diese Zeit daher nicht allein ohne Nutzen, 
sondern nur zum Schaden für die Temperatur des Raumes. Wird nach 5 bis 
6 Minuten Dauer die Durchlüftung eingestellt, so haben bis dahin die Um¬ 
schliessungen des Raumes nur so wenig von inrer zuvorigen Temperatur ein- 
gebüsst, dass innerhalb weniger Minuten und mit den minimalsten Kosten¬ 
aufwand wieder die normale Temperatur erreicht wird, wogegen bei längerem 
Inganghalten der Durchlüftung die Raumumschliessungeu allerdings ent¬ 
sprechend grössere Wärmemengen abgeben, und es längerer Zeit, sowie 
grösseren Brennstoftaufwandes bedarf, um die vorher bestandene Raum¬ 
temperatur wieder zu erreichen. Es muss daher als Regel für die Durch¬ 
lüftung gelten, dass dieselbe immer nur die Dauer weniger Mi¬ 
nuten haben, dagegen in kurzen Zeitabständen (etwa stündlich) 
in Wirksamkeit gesetzt werden soll. 

Bei den im engeren Sinne als „künstliche“ geltenden Lüftungseinrich¬ 
tungen werden Saug-und Drucklüftungen (Aspirations- und Pulsionslüftun- 
gen) unterschieden. Einiges über den Unterschied der Wirkungsweise, und über 
die Rücksichten, nach welchen die Auswahl zu treffen ist, wurde bereits auf 
S. 907 bei Besprechung der Druckvertheilung im geschlossenen Raume mit- 
getheilt. Ergänzend ist an dieser Stelle hinzuzufügen, dass Drucklüftungen 
im Allgemeinen nur bei einer gewissen Grösse der Anlage Vorkommen, daher 
z. B. bei grossen Unterrichtsgebäuden, grossen Theater- und Concertsälen, 
Parlamentsgebäuden u. s. w., ausserdem in Arbeitssälen der Industrie. 
Der Grund für diese Erscheinung liegt in der Schwierigkeit der Installation 
der Maschinen kraft, die man braucht, vermehrt durch die Noth Wendig¬ 
keit, eine gewisse Reserve bei Störungen u. s. w. zur Hand zu haben, in 
dem Geräusch des Maschinenbetriebes, endlich in der Nothwendigkeit sach¬ 
verständiger Bedienung. Alles dies gestaltet sich bei der Säuglüftung viel 
einfacher und weniger lästig, weil man hierbei mit Anlagen die nur für die 
Erwärmung der Luft dienen, ausreicht. 

Grundsätzlich ist die Drucklüftung vor der Säuglüftung im Vorzüge 
durch die Möglichkeit engerer Anpassung an das wechselnde Bedürfnis, 
und durch bessere Beherrschung der Luftbewegung im Raume. Während 
bei der Säuglüftung, wenn die Ein- und Austrittsstellen der Luft nicht in 
weitgehender Weise decentralisirt sind, sich leicht sogenannte „todte Ecken“ 
bilden, Räume, in welchen die Luft unausgewechselt bleibt, ist man bei Druck¬ 
lüftung im Stande, die Luft mit Sicherheit in alle Theile eines Raumes zu 
vertheilen. Und es mag noch weiter zu diesem Punkte angemerkt werden, 
dass die Bedienung von Säuglüftungen im Sommer, aus Rücksicht auf Kosten¬ 
ersparnis und aus sonstigen Gründen leicht eingestellt wird, wogegen der 
Betrieb einer Drucklüftung, weil weniger leicht unterbrechbar und wieder- 
aufnehmbar, im Gange erhalten wird. Da mit der immer weitergehenden Ein¬ 
führung des elektrischen Betriebes ein Theil der bei der Drucklüftung 
vorhandenen Schwierigkeiten in Wegfall kommt, kann man wohl darauf 
rechnen, dass mit der Zeit die Drucklüftung sich ein grösseres als das bis¬ 
her eingenommene Gebiet erobern wird. 


Die Canäle für die Frischluft sind theils nach der Rücksicht anzu¬ 
ordnen, dass sie der Luftbewegung den geringsten Widerstand bereiten, theils 
nach der anderen, dass die Luft in den Raum so eingeführt wird, dass sie 
sich in geregelter Weise und gleichförmig in dem Raume vertheilt. 

Nach ersterer Rücksicht sind die Canäle auf kürzestem und gerade¬ 
stem Wege zu führen, namentlich horizontale Strecken und scharfe Bie¬ 
gungen zu vermeiden. Canäle von grossem Querschnitt sind für die Luft¬ 
bewegung günstiger als enge Canäle. Es müssen deshalb die engeren Ver- 


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zweigungen der Canäle möglichst kurz gehalten, d. h. der Hauptcanal aus 
dem Freien, welcher die gesammte für das Gebäude nothwendige Luftmenge 
zuleitet, möglichst weit in das Gebäude hineingeführt werden. 
Am günstigsten ist die Anordnung, dass dieser Canal unter dem ganzen Ge¬ 
bäude sich erstreckt und von ihm aus möglichst in senkrechter 
Richtung die nach den einzelnen Räumen führenden Zweigcanäle aufsteigen. 
Weiter ist bei der Führung aller Canäle zu beachten, dass dieselben 
leicht reinigungsfähig sind, da sich an den Wänden derselben Staub, 
und bei kalter Lage der Canäle auch feuchter Schmutz absetzen kann. Um 
dem möglichst entgegenzuwirken, soll die Wand der Canäle möglichst glatt 
sein. Damit die Wand selbst nicht Verunreinigungen an die durchströmende 
Luft abgibt, soll sie aus dem am wenigsten abnutzbarem Material be¬ 
stehen. Hiernach ist Verputz der Canalwände im Nachtheil z. B. gegen Mauer¬ 
werk aus hartgebrannten Ziegeln mit glatter Oberfläche. Vorzüglich ge¬ 
eignet zu Luftleitungen sind glasirte Thonröhren, sehr gut aber auch 
Röhren aus Zink. Von grosser Wichtigkeit ist es, dass die Wandungen der 
Canäle möglichst luftdicht sind, sowie dass Eingänge und Verschlüsse 
so liegen, dass sie nicht als Zutrittsstellen für verunreinigte Luft aus dem 
Gebäude selbst, oder dessen Umgebung dienen können. Mit dieser Gefahr 
ist ganz besonders zu rechnen, wenn die Bewegung der Luft in den Canälen 
durch Aspiration (Luftverdünnung) bewirkt wird; hier ist die „Wahrung“ 
der eingeleiteten Frischluft eine Aufgabe von hoher Wichtigkeit. 

Die Weite der Canäle ist durch die Luftmengen, welche dieselben zu 
führen haben, und deren Geschwindigkeit bestimmt. Vielfach wird angegeben, 
dass die Luftgeschwindigkeit an den Austrittsstellen nicht über 1 m betragen solle. 
Diese Angabe ist willkürlich. Denn die Empfindlichkeit gegen Zug, der durch 
ermässigte Einströmungsgeschwindigkeit vermieden werden soll, ist nach der In¬ 
dividualität sehr verschieden, und es besteht zudem die Thatsache, dass im 
Freien Luftströmungen von mehreren Metern Geschwindigkeit ohne unan¬ 
genehmes Gefühl ertragen werden. Es kommt dabei besonders auf den Unter¬ 
schied zwischen der Körpertemperatur und der Temperatur der bewegten 
Luft an. Je grösser dieser, umso geringer muss die Luftgeschwindigkeit 
sein, und umgekehrt. Ausserdem spielt die „Mächtigkeit“ des Luftstromes, 
d. h. der Querschnitt desselben, eine grosse Rolle. Nach allen diesen Rück¬ 
sichten ergibt sich, dass, je weniger die Temperatur der Frischluft von der 
Raumtemperatur abweicht, umso grösser die Eintrittsgeschwindigkeit derselben 
gewählt werden kann, und umgekehrt, dass eine einzige feste Regel dafür, 
wie die obige, keinen Sinn hat Uebrigens kommt es bei der Vermeidung 
auch sehr auf die Lage der Einströmungsöffnungen an. Je näher die¬ 
selben sich der Athmungssphäre befinden, umso geringer muss im Allgemeinen 
die Eintrittsgeschwindigkeit der Luft sein. 

In Wohnräumen pflegt man die Eintrittsstellen in etwa 2 m Höhe an¬ 
zuordnen; diejenige Höhenlage, bei welcher es vermieden wird, dass kalte 
Luft durch die Fenster eintritt, ist bereits auf S. 907 angegeben. Nach den 
dort gemachten anderweitigen Angaben über die Luftdruckvertheilung im Raume 
ist auch in anderen Fällen die Höhenlage der Eintrittsöffnungen zu bestimmen. 
Immer fällt mit derselben die Lage der neutralen Zone zu¬ 
sammen. Indessen können für die Höhenlage der Einströmungsöflhungen 
auch noch andere Rücksichten maassgebend sein, wie z. B. diejenige auf die 
Beleuchtung durch Flammen, ferner bei Versammlungsräumen der Umstand, 
ob in denselben die Personen sich sitzend aufhalten oder in Bewegung sind. 
Im ersteren Falle wird man, wie es z. B. bei Theatersälen, Auditorien u. s. w. 
geschieht, die Eintrittsöffnungen am zweckmässigsten in den Futterstufen der 
treppenförmig angeordneten Sitzreihen anordnen, in anderen von der — sonst 
zweckmässigen — Anordnung im Fussboden Abstand nehmen, weil mit dem 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 58 


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VENTILATION. 


Eintritt hier den Uebelstand verknüpft wäre, dass die Luft Staub aufwirbelt, 
auch dass durch die Eintrittsöffnungen Schmutz in die EinfUhrungscanäle der 
Frischluft gelangt. In Krankenräumen wird die Frischluft zweckmässig in 
etwa Betthöhe eingeführt. 

Besondere Wichtigkeit kommt bei der Lage der Canäle einerseits für 
Zuluft, andererseits für Abluft dem Umstande zu, ob die Baumumschliessungen 
theils Aussen-, theils Innenwände, oderauch nur Aussen- oder nur Innen¬ 
wände sind, weil darnach die Temperatur der Wände sich richtet. Wird vor¬ 
gewärmte Frischluft eingeführt, so müssen die Canäle in derartiger Lage zu 
einander angeordnet werden, dass die Luft sich gegen den oberen Theil der 
kalten Wände bewegt, um an denselben wieder herabzusinken und in der 
Nähe des Ausgangspunktes wieder abgeführt zu werden. Sind alle vier Wände 
warm, so besteht in der Disposition über die Lage der beiden Arten von Ca¬ 
nälen relativ viel Freiheit; sind alle vier Wände kalt, so werden Ein- und 
Austritt zweckmässig etwa in der Mitte des Baumes anzuordnen sein. 

Wie der Eintritt der Luft durch den Fussboden oder in geringer Höhe 
über demselben zweckmässig sein kann, so auch der Austritt derselben. Die 
Fälle liegen nach der Höhe und nach der Bestimmung der Räume so sehr 
verschieden, dass ein noch weiteres Eingehen auf die Lage der beiden Canal¬ 
arten, sowie der Oeffnungen für Ein- und Austritt der Luft nicht ohne Bei¬ 
gabe von Abbildungen durchführbar sein würde. Als ausnahmslos gü¬ 
tige Regel mag aber noch die hier angeführt werden, dass die 
Luft immer so dirigirt werden muss, dass die Abluft nicht 
wieder in die Athmungssphäre der Bewohner, die sich in dem 
Raume aufhalten, gelangt. 

Von grossem Einfluss auf die richtige Luftbewegung sind die regel¬ 
baren Verschlüsse, welche an den Ein- und Austrittsöflhungen angebracht 
werden; unter denselben findet sich oft Unzweckmässiges. Vielfach fallen 
diese Theile recht ungeeignet aus, weil sie bei der künstlerischen Ausstattung 
der Räume eine gewisse Rolle spielen, oder auch weil sie im Bauplane nicht 
berücksichtigt worden sind, oder endlich, weil später an die Stelle der ur¬ 
sprünglichen Benützung des Raumes eine andere tritt, zu der sie nicht 
passen. Auch diese Theile einer Lüftungseinrichtung sind hier nicht weiter 
als bloss andeutungsweise zu behandeln. 

Ein verschiedentlich aufgetauchter Vorschlag zur Einrichtung einer möglichst voll¬ 
kommenen Lüftung (und gleichzeitig Heizung) mag hier kurz ber&hrt werden, der dahin 
geht, vor kalten Aussenwänden des Raumes innen eine zweite dünne Wand mit Zwischen¬ 
raum aufzuführen, und den Zwischenraum als Canal für die Abluft zu benutzen. Die Aus¬ 
führung ist kostspielig; in einzelnen Fällen aber können die Kosten sehr wohl in an¬ 
gemessenen Grenzen bleiben, zumal an den Kosten der Heizung dadurch wieder einiges 
eingebracht wird, dass die Wärme der Abluft zu einem Theile für die Erwärmung Ses 
Raumes wieder nutzbar wird. 

Einige Bemerkungen mögen hier schliesslich den maschinellen 
Apparaten, die bei Lüftungsanlagen Verwendung finden, gewidmet werden. 

Bei Drucklüftungen finden zur Zuführung der Luft Strahlappa¬ 
rate, Schraubenbläser und Flügelbläser, Anwendung. Erstere sind 
nur für kleinere Anlagen verwendbar und der Betrieb verursacht belästigendes 
Geräuseh. Die Strahlapparate werden mit Wasser betrieben, das entweder 
in geschlossenem oder getheiltem Strahl aus einer Douche tritt; die Luft wird 
daher unter gewissen Umständen in zu reichlichem Maasse angefeuchtet. 
Strahlapparate sind sowohl für Druck- als Säuglüftung verwendbar, je nach¬ 
dem sie in die Leitung der Zu- oder Abluft eingeschaltet werden. Es gibt 
jedoch auch eine Form, die bei jeder der beiden Aufstellungen sowohl für 
Druck- als Säuglüftung benutzbar ist. — Schraubenbläser sind in ihrer 
Grundform übereinstimmend mit der Schiffsschraube. Sie können durch 
Wasser, Dampf, Warmluft angetrieben werden und kommen in jeder 


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VENTILATION. 


915 


Grösse vor, so dass sie eventuell auch in Fenster, Decken oder Wände 
einsetzbar sind. Aehnliches gilt von Flügelbläsern, welche die Luft 
durch Wirkung der Centrifugalkraft fortbewegen. Neuerdings wird für 
kleinere Schrauben- und Flügelbläser, aber auch für grosse, der elek¬ 
trische Antrieb beliebt, der die „Installation“ ausserordentlich erleichtert. 
Darnach darf man hoffen, dass die kleineren Apparate dieser Art in Zukunft 
sich ein grösseres Feld der Anwendung als bisher erobern werden. Leider 
arbeiten auch die Schrauben- und Flügelbläser nicht geräuschlos. Beide aber 
können sowohl durch Absaugen als Pressen ihren Zweck erfüllen. 

Zum Betriebe von Säuglüftungen dient aber meist Wärme. In ein¬ 
fachster Weise wird dieselbe durch Flammen erzeugt, die man unter oder vor 
den Oeffnungen von Abluftcanälen, oder in diesen selbst anbringt; grössere 
Wirkungen sind erst durch eine grössere Anzahl von Flammen, wie sie z. B. 
in Kronleuchtern und sogenannten Sonnenbrennern sich finden, erreichbar. 
Oft lassen sich Rauchrohren für Säuglüftungen in der Weise nutzbar machen, 
dass man neben ein Rauchrohr, nur durch eine sogenannte Zunge aus Eisen¬ 
blech oder Gusseisen davon getrennt, einen Abluftcanal legt. Wegen der nur 
geringen Wärmemengen, die der Luft im Abluftcanal durch die Zunge hin¬ 
durch zugeführt werden, ist die Wirkung auch dieser Einrichtung gering. 
Zu grösseren Leistungen sind Fabriks- und Bäckerei-Schornsteine im Stande, 
wenn in den Mauerwerkskörper ein Eisenrohr mit Zwischenraum eingesetzt 
wird, das den Rauch abführt, während der ringförmige Zwischenraum für die 
Abluft dient. Aehnliche Schlote werden auch wohl für.grössere Gebäude 
besonders angelegt, und erhalten dann am Fusse eine sogenannte Lock- 
feuerung. 

Die Wirkung aller genannten Einrichtungen lässt sich durch Aufsetzen 
einer sogenannten Lufthaube auf das obere Ende des Abluftrohres etwas 
verstärken, da die Lufthauben derart eingerichtet sind, dass die Kraft des 
Windes für die Aufwärtsbewegung im Abluftcanal nutzbar gemacht wird. Bei 
der Unregelmässigkeit des Windregimes mangelt der Wirkung jedoch selbst 
nur ein minimaler Grad von Beständigkeit. Von der Anbringung von Luft¬ 
hauben auf unerwärmten Abluftcanälen darf man sich nur sehr geringe 
Wirkung versprechen, wenn die betreffende Gegend nicht zufällig besonders 
windreich ist. 

In dem Falle, dass in einer Lüftungsanlage Druck- und Säuglüftung 
gleichzeitig zur Anwendung kommen und zu beiden Maschinenbetrieb be¬ 
nutzt wird, ist es nothwendig, den Gang der beiden — getrennt aufgestellten 
— Maschinen in möglichst genaue Uebereinstimmung zu bringen. Für diesen 
Zweck gibt der elektrische Betrieb die vollkommenste Leistung. 

Die vorstehend besprochenen Einrichtungen der Ventilation passen nur für die 
Wohnungen unter den gemässigten und kalten Himmelsstrichen; es erübrigen daher 
einige Bemerkungen über Ventilationseinrichtungen für Wohnungen unter heis s en Himmels¬ 
strichen. 

Bei ihnen kommt mit dem Fortfall der Heizung auch die Sauge-(Aspirations)Lüftung 
in Fortfall; die anwendbar bleibende Druck-(Pulsions-)Lüftung erfordert aber einen maschi¬ 
nellen Apparat. Wichtiger als die Einführung von Frischluft ist unter den Tropen die 
Erhaltung einer massigen Temperatur in den Wohnräumen; es liegt daher 
dort im Allgemeinen die umgekehrte Aufgabe vor, als diejenige, welche mit Bezug auf 
Heizung und Ventilation in den Wohnungen der gemässigten und der kalten Zone zu 
lösen ist. 

Man wird der in den Tropen gestellten Aufgabe bisher nur durch Besonderheiten 
in der Disposition und Construction der Wohngebäude selbst gerecht: Die 
Häuser werden allseitig freistehend, klein und niedrig, mit Vermeidung freier Eintheilungen 
und desgleichen mit Vermeidung von hofartigen Einschlüssen angelegt. Die Um Schliessungen 
sind dünn, und der Schutz gegen die Sonnenbestrahlung wird durch einen halb offenen 
Eingang und ein das Haus weit überspannendes, bis nahe zum Fussboden herabreichendes 
Dach angestrebt. (Die zuweilen noch ausgeführte Stellung des Hauses auf Pfähle, so dass 
auch der Fussboden von der Aussenluft bestrichen wird, leistet mit Bezug auf Wärme- 
ablialtung nichts) Die Fenster- und Thüröffnungen reichen möglichst vom Fussboden bis 


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VERGIFTUNGEN. 


zur Decke der — hoch auszuführenden — Raume hinauf. Sie müssen einander gegenüber 
liegen, so dass eine wirksame Durchlüftung (S.911) ermöglicht ist, die namentlich 
während der Nachtstunden im Gange erhalten wird. Gerade das, was man in den ge¬ 
mässigten Klimaten zu vermeiden wünscht: Z u g, bildet in den Tropen die Hauptanforderung 
an die Wohnung, zumal durch die Erfüllung derselben gleichzeitig Schutz gegen di© 
Musquito-Plage geschaffen wird. Wo die beschriebenen Einrichtungen des Hauses noch 
nicht genügen, wird zur Erzielung von Luftzug die sogenannte Punk ha, ein grosses Stück 
Stoff, das man in schwingende Bewegung versetzt, benutzt. 

Zur Lüftung und gleichzeitig Anfeuchtung der Luft ^verwendet man grosse Geflecht© 
aus Pflanzenfasern mit weiten Maschen, durch welche die eingeführte Luft passiren muss; 
diese Geflechte werden nass gehalten. F. BÜSING. 


Vergiftungen vom gerichtlich-medicinischen Standpunkte. 

Gesetzliche Bestimmungen. 

Oesterr. St.-G. § 135: Arten des Mordes sind: 1. Meuchelmord, welcher durch 
Gift oder sonst tückischer Weise geschieht.... 

Oesterr. St.-P.-O. § 131: Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so sind der 
Erhebung des Thatbestandes nebst den Aerzten nach Thunlichkeit auch zwei Chemiker bei- 
zuziehenf Die Untersuchung der Gifte selbst aber kann nach Umständen auch von den 
Chemikern allein in einem hiezu geeigneten Locale vorgenommen werden. 

Deutsches St.-G. § 229: Wer vorsätzlich einem Anderen, um dessen Gesundheit zu 
beschädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet 
sind, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. 

Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung verursacht worden, so ist 
auf Zuchthaus nicht unter fünf Jahren, wenn durch die Handlung der Tod verursacht 
worden, auf Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder auf lebenslängliches Zuchthaus zu 
erkennen. 

Deutsche St.-P.-O. § 91: Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die 
Untersuchung der in der Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen Stoffe durch einen 
Chemiker oder durch eine für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzu¬ 
nehmen. Der Richter kann anordnen, dass diese Untersuchung unter Mitwirkung oder 
Leitung eines Arztes stattzufinden habe. 

Allgemeines. 

Der Begriff Gift hat für den Laien die Bedeutung eines Körpers, welcher 
unter allen Umständen, dem Organismus einverleibt, schädliche Wirkungen 
äussert oder den Tod herbeiführt, oder mit anderen Worten, der Laie kennt 
nur unbedingte Gifte: Arsenik, Phosphor, Blausäure u. s. w. Für die Wissen¬ 
schaft gibt es solche unbedingt schädlich wirkende Körper überhaupt nicht, 
sie kennt nur relative Gifte. Denn es gibt von jedem noch so heftig wirken¬ 
den Giftkörper irgend eine Menge, welche als unschädlich, ja vom thera¬ 
peutischen Standpunkte aus als nützlicher Arzneikörper bezeichnet werden 
muss. 

Es sind viele Definitionen, was ein Gift sei, schon aufgestellt worden. Am zu¬ 
treffendsten ist wohl die Definition Kobert’s, welche den Errungenschaften der modernen 
Toxikologie vollkommen Rechnung trägt. Er sagt: „Gifte sind solche, theils unorganische, 
theils organische, im Organismus entstehende oder von aussen eingeführte, theils künstlich 
dargestellte, theils in der Natur vorgebildete, nicht organisirte Stoffe, welche durch ihre 
chemische Natur unter gewissen Bedingungen irgend welche Organe lebender Wesen so 
beeinträchtigen, dass die Gesundheit oder das relative Wohlbefinden dieser Wesen dadurch 
vorübergehend oder dauernd schwer beeinträchtigt wird.“ Es wäre dieser Definition viel¬ 
leicht noch beizufügen, dass die Beeinträchtigung der Gesundheit schon durch verhältnis¬ 
mässig kleine Gaben erfolgt, weil sonst, wenn die Gabe als unbeschränkt grosse gedacht 
würde, schliesslich jeder Körper ausnahmslos als Gift bezeichnet werden müsste. Für die 
forensische Praxis trifft daher wohl auch die Definition von Ohlshausen (Commentar zum 
deutschen Reichs-Strafgesetzbuch) zu, welcher sagt: „Gift ist ein Stoff, welcher in kleiner 
Dose durch seine chemische Beschaffenheit die Gesundheit oder das Leben zu zerstören 
geeignet ist.“ 

Die in der Natur verkommenden Gifte haben sehr verschiedene Bedeu¬ 
tung; soviel wir bis heute darüber wissen, haben sie theils die Bedeutung 
von Abfallstoffen, beziehungsweise Stoffwechselproducten, theils sind es Reserve¬ 
stoffe, theils Schutzstoffe zur Vertheidigung oder Waffen beim Angriffe, theils 
Krankheitsproducte, theils postmortale Zersetzungskörper. 


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VERGIFTUNGEN. 


917 


Die Giftwirkung ist an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, und 
zwar kommen vonseiten der Aussenwelt zunächst in Betracht die Temperatur 
und der Luftdruck, eventuell auch die Zusammensetzung der Luft; es wirkt 
beispielsweise Alkohol in kalter Umgebung tödtlich, während die gleichen 
Mengen oder noch grössere in warmer Umgebung ohne Schaden überstanden 
werden. Für die Giftwirkung ist zweitens von Belang die Beschaffenheit der 
Substanz, und zwar zunächst die allgemein-chemischen Eigenschaften derselben, 
die chemische Constitution, die chemischen Wirkungen und Affinitäten, ferner 
der Aggregatzustand, die Löslichkeit, die Reinheit, die Concentration. Von 
Wesenheit ist auch das Alter des Giftes, indem manche Giftkörper durch 
Verflüchtigung der wirksamen Substanz (z. B. Sabina) ihre Giftigkeit allmählich 
verlieren. Die grösste Bedeutung kommt der Menge des einverleibten Giftes 
zu. Wir bezeichnen jene Menge eines Giftkörpers, welche bereits schädliche 
Wirkungen hervorbringt,als Dosis toxica, jene Menge, welche den Tod eines 
Menschen bewirkt, als Dosis toxica letalis. 

Auch die Art der Beibringung ist von Bedeutung, und zwar hier wieder 
einerseits das Vehikel andererseits der Weg. Bezüglich des ersteren ist es 
keineswegs gleichgiltig, ob die Substanz in demselben löslich oder unlöslich 
ist. Es kann schon durch die Wahl des Vehikels allein die Giftwirkung 
theils abgeschwächt, theils verstärkt werden. Würde beispielsweise Cyan¬ 
kalium in eine saure Flüssigkeit gebracht und so einverleibt werden, so 
würde seine Wirkung wegen der raschen Entbindung der Blausäure viel stärker 
sein, als wenn dasselbe Gift etwa in Substanz und mit Eiweiss oder Fett 
eingehüllt genommen würde. Die Abschwächung der Giftwirkung erfolgt theils 
durch Verdünnung, durch Vertheilung, theils durch Einhüllung der Substanz 
oder auch durch chemische Bindung. Ein Beispiel für letzteres wäre die 
Abschwächung der Sublimatwirkung bei gleichzeitiger Darreichung von Eiweiss 
oder die Abschwächung der Alkaloidwirkung, wenn gleichzeitig tanninhältige 
Substanzen eingeführt werden. Die Wege der Gifteinführung sind entweder 
die Verdauungsorgane oder die Injection, After, Scheide, Haut, Athmungs- 
organe. Der Weg ist durchaus nicht gleichgiltig; am schnellsten tritt die 
Wirkung in der Regel ein, wenn das Gift unmittelbar in den Kreislauf ge¬ 
bracht wurde. Es gibt jedoch von dieser Regel auch Ausnahmen. So wirken 
Strychnin, Arsenik, Brechweinstein vom Magen aus viel intensiver als bei 
directer Einbringung in die Blutbahn. Umgekehrt verhalten sich die Kalium¬ 
salze; diese sind, wenn sie direct in den Kreislauf gebracht werden, heftige 
Herzgifte; vom Magen aus sind sie eigentlich als ungiftige Körper zu be¬ 
zeichnen. Auch vom Curare ist es bekannt, dass es erst in grossen Dosen 
wirkt, wenn man es verschluckt, während Bruchtheile dieser Mengen injicirt 
schwere Vergiftungserscheinungen auslösen. 

Für die Wirkung eines Giftes sind endlich noch von Belang gewisse 
individuelle Verhältnisse, zunächst das Alter. Im Allgemeinen sind Kinder, 
besonders neugeborene, gegen Gifte unendlich viel empfindlicher als Erwach¬ 
sene. Bekannt ist beispielsweise die hohe Empfindlichkeit der Kinder gegen 
Opiate. Der Gesundheitszustand eines Menschen bedingt gleichfalls Ver¬ 
schiedenheiten der Giftwirkung in dem Sinne, dass in der Regel kranke, 
herabgekommene, marastische, geschwächte Menschen für dieselben Giftgaben 
ungleich empfindlicher sind als gesunde. Wichtig ist es auch, ob ein Mensch 
an ein Gift gewöhnt ist oder nicht; es gibt bekanntlich Angewöhnung an 
mancherlei Gifte, wie dies die Arsenikesser, die Opiumraucher und Morphio- 
phagen, sowie die Alkoholisten beweisen. Wesentlich ist auch der Zustand 
des Magens. Der leere Magen verstärkt in der Regel, beziehungsweise be¬ 
schleunigt die Giftwirkung, während umgekehrt ein gefüllter Magen sie ab¬ 
schwächt. Es ist auch nicht gleichgiltig, ob die Magenwand gesund oder 
krank ist; hier begünstigt die gesunde Beschaffenheit meist die Giftwirkung, 


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VERGIFTUNGEN. 


während die kranke dieselbe verringert. Von Bedeutung kann auch die che¬ 
mische Beschaffenheit des Mageninhaltes sein, namentlich ob dieser mehr oder 
weniger sauer, neutral oder vielleicht gar alkalisch reagirt. 

Der forensische Beweis einer stattgehabten Vergiftung 
stützt sich auf dreierlei: 1. Die Krankheitserscheinungen; 2. die Leichen¬ 
befunde, 3. die chemische Untersuchung. Pro foro kann in der Regel nur 
selten bloss aus den Krankheitserscheinungen allein oder bloss aus den Leichen¬ 
befunden oder nur durch die chemische Untersuchung der Nachweis einer 
stattgehabten Vergiftung als erbracht angesehen werden; der forensische Nach¬ 
weis hat sich vielmehr auf die ganze Trias zu stützen. 

1. Die Krankheitserscheinungen. 

Die Krankheitserscheinungen, welche Gifte herbeiführen, sind ausser¬ 
ordentlich mannigfaltig, so dass man wohl sagen kann, es sei je nach der 
Beschaffenheit des Giftes kein Organ und kein Organsystem, welches nicht 
afficirt werden würde. Gleichwohl lassen sich die Krankheitserscheinungen 
gewissermaassen in drei Gruppen bringen in dem Sinne, dass wir eben nur 
die zumeist in das Auge fallenden Symptome ins Auge fassen, nicht aber in 
dem Sinne, dass etwa gar keine andere Wirkung einträte. Ein Theil der 
Gifte verändert in hohem Grade die Stelle der unmittelbaren Einwirkung, 
und da die meisten Gifte doch vom Munde aus eingeführt werden, so sind 
es vorwiegend Störungen der Verdauungswege, welche zur Beobachtung ge¬ 
langen. Es treten die Erscheinungen der Entzündung der Verdauungsorgane 
auf, es entwickelt sich das Bild einer Gastroenteritis, welche, weil durch Gifte 
erzeugt, als Gastroenteritis toxica zu bezeichnen sein wird. Gifte mit 
solcher Wirkung sind beispielsweise die ätzenden Säuren und Alkalien, viele 
Salze u. s. w. 

Bei anderen Giften kommt es zwar auch zu grob-anatomischen Störungen, 
allein diese treten nicht am Orte der Einwirkung oder da nur in schwacher 
Ausprägung hervor; die Veränderungen finden sich vielmehr an entfernten 
Organen. Es ist dies nur möglich, wenn die betreffenden Giftkörper zunächst 
zur Aufsaugung gelangen und auf dem Wege der Lymph- und Blutbahnen 
den unmittelbar nicht zugänglichen Organen zugeführt werden. Es wird also 
in letzterem Falle der Stoffwechsel in den Organen schwer beeinträchtigt und 
demgemäss sind auch die ausgelösten Krankheitsbilder nicht örtliche Affec- 
tionen der Verdauungswege, wenigstens nicht vorwaltend, sondern die schwerer 
Organerkrankungen. Solche Wirkungen hat beispielsweise der Phosphor, der 
Arsenik u. s. w. 

Eine weitere Gruppe von Giften bewirkt örtlich gar keine, auch nicht 
die geringsten Veränderungen, sondern die Wirkung besteht in Aufnahme in 
das Blut und in dadurch hervorgerufenen Veränderungen entweder im Blute 
oder im Nervensystem, so dass die vorwaltenden Krankheitserscheinungen in 
der Regel als Affection der Kreislauforgane oder als Affection des Nerven¬ 
systems hervortreten. Hieher gehören Gifte wie etwa das Kohlenoxyd, dann 
die narkotischen Gifte u. s. w. 

Es gibt nun eine grosse Reihe von natürlichen Erkrankungen, welche 
ähnliche Symptome haben wie die eben kurz geschilderten Vergiftungen. 
Diese Erkrankungen können also leicht mit Vergiftungen verwechselt werden. 
So zeigen den Symptomencomplex der Gastroenteritis der acute Magen- 
Darmkatarrh, die Incarceration, die Peritonitis, besonders die Peritonitis per- 
forativa, Cholera, Typhus. Die Erscheinungen der toxischen Stoffwechsel¬ 
erkrankungen können verwechselt werden mit der Sepsis, dem katarrhalischen 
Icterus, dem acuten Gastrointestinalkatarrh, der gelben Leberatrophie. Der 
dritte Symptomencomplex der Vergiftungen, wo es zu vorwaltender Affection 
des Centralnervensystems kommt, hat täuschende Aehnlichkeit mit den Krank- 


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VERGIFTUNGEN. 


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heitsbildern, wie wir sie beobachten bei der Herzlähmung, der Herzruptur, der 
Haemorrhagia cerebri, bei Embolie oder Urämie. 

Es wäre falsch, sich vorzustellen, dass diese Giftwirkungen immer nur 
beschränkt wären auf einzelne Organe oder Organsysteme. Man hat sich 
vielmehr vorznstellen, dass jedes Gift irgend eine Gesammtwirkung äussert, 
und dass es nur die am meisten ins Auge fallenden Erscheinungen sind, nach 
welchen wir die betreffenden Gifte unterordnen, oder mit anderen Worten, 
sehr viele Gifte haben combinirte örtliche und allgemeine Wirkung. Bei den 
örtlich wirkenden Giften ist wohl ausnahmslos der Zeitpunkt des Eintrittes 
der Krankheitserscheinungen ein sehr früher, das heisst, mit der Einver¬ 
leibung des Giftes treten zugleich auch die ersten Wirkungen ein. Bei den¬ 
jenigen Giften, welche erst resorbirt werden müssen, um ihre Wirkung zu 
äussern, verstreicht eine gewisse, allerdings auch schwankende Zeit zwischen 
der Einverleibung und dem Auftreten der ersten Vergiftungserscheinungen. 
Es kann der Eintritt der Giftwirkung bis zu einer halben Stunde, einer 
Stunde, ja selbst bis zu mehreren Stunden nach der Einverleibung verzögert 
sein. Eine sehr rasche Wirkung beobachten wir in der Regel bei den Giften, 
welche durch Einathmung aufgenommen werden, also bei den giftigen Gasen. 
Was die Dauer der Vergiftungserscheinungen anlangt, so ist auch diese bei 
den einzelnen Giften sehr verschieden. Wir beobachten nicht selten sehr 
vehementen Verlauf, unter Umständen innerhalb weniger Minuten (Blau¬ 
säure, Arsenwasserstoff), oder einen Verlauf innerhalb von Stunden oder Tagen. 
Dabei werden oft Steigerungen, aber auch Remissionen der Krankheits¬ 
erscheinungen beobachtet. So ist es beispielsweise für die Phosphorvergiftung 
fast typisch, dass nach den ersten stürmischen Erscheinungen in der Regel 
eine weitgehende, vielfach täuschende Remission eintritt. 

Der Ausgang der Vergiftung ist Genesung (gänzlich oder unvoll¬ 
ständig) oder Tod. Die erstere hat zur Voraussetzung die Ausscheidung der 
Gifte aus dem Organismus oder die Unschädlichmachung derselben innerhalb 
des Organismus. Ausscheidungswege für die Gifte sind die Nieren, die Speichel¬ 
drüsen, die Galle, der Darmcanal, die Haut, die Lungen. Viele Gifte, z. B. sämmt- 
liche Pflanzenalkaloide, werden unverändert ausgeschieden. Bei anderen treten 
im Körper selbst chemische Veränderungen ein. Diese sind Schutzmaassregeln 
des Organismus gegen den eiugedrungenen Fremdkörper. Die chemischen Vor¬ 
gänge, deren Zweck die Entgiftung des Körpers ist, sind in neuerer Zeit 
Gegenstand eingehender und interessanter Untersuchungen geworden, welche 
festgestellt haben, dass es eine Entgiftung durch Neutralisation, durch Oxy¬ 
dation, durch Reduction, durch Paarung und durch Spaltung gibt. Als Bei¬ 
spiel der Entgiftung durch Neutralisation kann das Verhalten der Säuren 
angezogen werden, welche innerhalb des Organismus in ihre meist weniger 
giftigen oder ganz ungiftigen Alkalisalze umgewandelt werden, soweit dies 
möglich ist. Umgekehrt sucht der Organismus überschüssige Alkalien im 
Magen durch Magensäure, im Blute durch Zerfall von Blutkörperchen zu 
decken, indem dabei Glycerinphosphorsäure aus dem Lecithin gebildet wird. 
Ein Beispiel der Entgiftung durch Oxydation bietet der Phosphor, welcher in 
Phosphate übergeführt wird. Entgiftung durch Reduction findet bei den 
chlorsauren und überchlorsauren sowie jodsauren Salzen statt, die als Chloride 
und Jodide, welche weit weniger giftig sind, ausgeschieden werden. Entgiftung 
durch Paarung (von Baumann 1879 gefunden) ist eine hochinteressante That- 
sache der physiologischen Chemie. Es kann sich durch Paarung ein Gift 
zunächst mit Schwefelsäure, beziehungsweise mit Sulfaten verbinden. Auf 
diese Weise wird z. B. aus der giftigen Carbolsäure das ungiftige phenol¬ 
ätherschwefelsaure Kalium, ferner gibt es eine Paarung mit Glykuronsäure, 
so wird z. B. das Chloralhydrat zunächst zu Trichloräthylalkohol reducirt und 
dann zu Trichloräthylglykuronsäure (Urochloralsäure) gepaart. Paarung mit 


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VERGIFTUNGEN. 


Glykokoll findet theilweise statt bei Benzoesäure und Salicylsäure; den ungif¬ 
tigen Paarling nennt man bei der Benzoesäure Hippursäure, bei der Salicylsäure 
Salicylursäure. Entgiftung durch Spaltung des giftigen Moleküls in zwei oder 
mehrere Moleküle ungiftiger Substanzen findet bei manchen Glykosiden statt. 
In seltenen Fällen sind die chemischen Veränderungen im Organismus nicht 
Entgiftungsvorgänge sondern Bildung von giftigen Producten aus eingeführten 
ungiftigen Substanzen; so wird Salol in Carbolsäure und Salicylsäure, das 
ungiftige Krotonglycerid in die giftige Krotonolsäure umgewandelt. 

Dem Verlaufe nach unterscheidet man acute und chronische Ver¬ 
giftungen. Erstere setzen plötzlich ein, letztere fangen allmählich an. Be¬ 
züglich des Ausganges sind sowohl bei den acuten, wie auch bei den chro¬ 
nischen Vergiftungen drei Fälle möglich: Tod, vollkommene Genesung oder 
Ausgang in ein Siechthum. Die letzte Ursache des Todes ist sehr verschieden. 
Er kann hervorgerufen werden durch centrale Athmungslähmung oder allge¬ 
meine Gehirnlähmung, Herzlähmung, Lungenödem, tödtliche Abkühlung, Glottis¬ 
ödem, Verblutung aus angeätzten Gefässen, Verlegung der Harncanäle und 
durch allgemeine Erschöpfung. 

Bleibende Folgen bei nicht tödtlichem Ausgange, wenn es aber auch 
nicht zur völligen Wiederherstellung gekommen ist, sind abnorme Empfind¬ 
lichkeit einzelner Organe, wie der Lunge, der Haut, der Nieren, des Magens, 
des Gehirnes, Atrophie und Degeneration von Organen oder Organtheilen, wie 
Schwund der Magendrüsen, Degeneration der Leber und der Nieren oder von 
Muskeln, Gehirn u. s. w., bindegewebige Schrumpfungen und Narbenretrac- 
tionen, Verlust einzelner Sinnesorgane, nekrotische Abstossung einzelner 
Körpertheile und allgemeiner Marasmus. 

Für die klinische Diagnose einer Vergiftung können auch die 
äusseren Umstände oft eine Bedeutung erlangen. Das unerwartet plötzliche 
Auftreten von schweren Erkrankungen bei vorhin ganz gesunden Menschen, 
das gleichzeitige Erkranken mehrerer Personen unter völlig gleichen Erschei¬ 
nungen, besonders nachdem alle Erkrankten von derselben Speise genossen, 
sind sehr häufige Momente, welche zu allererst den Verdacht einer Vergiftung 
rege machen. 

2. Die Leichenbefunde. 

Ueber die sachgemässe Eröffnung von Leichen Vergifteter sowie über die 
für die nachfolgende chemische Untersuchung nothwendige Entnahme von 
Körpertheilen und Inhaltsmassen bestehen ausführliche Vorschriften: Oester- 
reichisches Regulativ vom 2. August 1856, R.-G.-B. Nr. 145, 3. Abschnitt 
§§ 98 bis 111 enthalten die besonderen Regeln, welche bei der Untersuchung 
von Leichen mit dem Verdachte einer stattgehabten Vergiftung zu beobachten 
sind. Inhaltlich wesentlich gleich, jedoch in kürzerer Fassung finden sich 
diese Bestimmungen im deutschen Regulativ vom 13. Februar 1857 § 22, 
welcher lautet: 

„Bei Verdacht einer Vergiftnng beginnt die innere Besichtigung mit der Baachhöhle. 
Es ist daher vor jedem weiteren Eingriff das äussere Aassehen der oberen Baacheinge¬ 
weide, ihre Lage und Ausdehnung, die Füllung ihrer Gefasse and der etwaige Geruch au 
ermitteln. 

In Bezog auf die Gefässe ist hier, wie an anderen wichtigen Organen, stets festzu- 
stellen, ob es sich am Arterien oder Venen handelt, ob auch die kleineren Verzweigungen 
oder nur Stämme und Stämmchen bis za einer gewissen Grösse gefüllt sind and ob die 
Aasdehnung der Gefässlichtang eine beträchtliche ist oder nicht. 

Alsdann werden um den untersten Theil der Speiseröhre dicht über dem Magen¬ 
munde, sowie um den Zwölffingerdarm unterhalb der Einmündung des Gallenganges 
doppelte Ligaturen gelegt und beide Organe zwischen denselben durchschnitten. Hierauf 
wird der Magen im Zusammenhänge mit dem Zwölffingerdarm heraosgeschnitten, wobei 
jede Verletzung derselben sorgfältig zu vermeiden ist. Die Oeffnung geschieht in der im 
§ 21 angegebenen Weise. 

Es wird sofort der Inhalt nach Menge, Consistenz, Farbe, Zusammensetzung, Reaction 
und Geruch bestimmt und in ein reines Gefäss von Porzellan oder Glas gethan. 


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Sodann wird die Schleimhaut abgespült und ihre Dicke, Farbe, Oberfläche, Zusammen¬ 
hang untersucht, wobei sowohl dem Zustande der Blutgefässe, als auch dem Gefüge der 
Schleimhaut besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und jeder Hauptabschnitt für sich zu 
behandeln ist. Ganz besonders ist festzustellen, ob das vorhandene Blut innerhalb von 
Gefassen enthalten oder aus den Gefässen ausgetreten ist, ob es frisch oder durch Fäulnis 
oder Erweichung (Gährung) verändert und in diesem Zustande in benachbarte Gewebe ein- 
gedrungen (imbibirt) ist. Ist es herausgetreten, so ist festzustellen, wo es liegt, ob auf 
der Oberfläche oder im Gewebe, ob es geronnen ist oder nicht u. s. w. 

Endlich ist besondere Sorgfalt zu verwenden auf die Untersuchung des Zusammen¬ 
hanges der Oberfläche, namentlich darauf, ob Substanz Verluste, Abschürfungen (Erosionen), 
GesSbwüre vorhanden sind. Die Frage, ob gewisse Veränderungen möglicherweise durch 
den natürlichen Gang der Zersetzung nach dem Tode, namentlich unter Einwirkung gäh- 
renden Mageninhalts, zustande gekommen sind, ist stets im Auge zu behalten. 

Nach Beendigung dieser Untersuchung werden der Magen und der Zwölffingerdarm 
in dasselbe Gefäss mit dem Mageninhalt (s. oben) gethan und dem Richter zur weiteren 
Veranlassung Übergeben. In dasselbe Gefäss ist auch später die Speiseröhre, nachdem sie 
nahe am Hcase unterbunden und über der Ligatur durchschnitten worden, nach vorgän¬ 
giger anatomischer Untersuchung, sowie in dem Falle, dass wenig Mageninhalt vorhanden 
ist, der Inhalt des Leerdarmes zu bringen. 

Endlich sind auch andere Substanzen und Organtheile, wie Blut, Harn, Stücke der 
Leber, Nieren u. s. w. aus der Leiche zu entnehmen und dem Richter abgesondert zur 
weiteren Veranlassung zu übergeben. Der Harn ist für sich in einem Gefässe zu bewahren, 
Blut nur in dem Falle, dass von einer spectralanalytischen Untersuchung ein besonderer 
Aufschluss erwartet werden kann. Alle übrigen Theile sind zusammen in ein Gefäss zu 
bringen. 

Jedes dieser Gefässe wird verschlossen, versiegelt und bezeichnet. 

Ergibt die Betrachtung mit blossem Auge, dass die Magenschleimhaut durch beson¬ 
dere Trübung und Schwellung ausgezeichnet ist, so ist jedesmal, und zwar möglichst bald 
eine mikroskopische Untersuchung der Schleimhaut, namentlich in Bezug auf das Verhalten 
der Labdrüsen, zu veranstalten. 

Auch in den Fällen, wo sich im Mageninhalt verdächtige Körper, z. B. Bestandtheile 
von Blättern oder sonstige Pflanzentheile, Ueberreste von thierischer Nahrung finden, sind 
dieselben einer mikroskopischen Untersuchung zu unterwerfen. 

Bei Verdacht einer Trichinenvergiftung hat sich die mikroskopische Untersuchung 
zunächst mit dem Inhalt des Magens und des oberen Dünndarms zu beschäftigen, jedoch ist 
zugleich ein Theil der Muskulatur (Zwerchfell, Hals- und Brustmuskeln) zur weiteren 
Prüfung zurückzulegen. u 

Schon die äussere Besichtigung der Leichen Vergifteter kann 
Anhaltspunkte für die Diagnose geben; solche sind: ikterische Hautfärbung bei 
Phosphorvergiftung, hellrothe Färbung bei der Kohlenoxydvergiftung, ver- 
schorfte Lippen und Mundwinkel, insbesondere auch lederartig vertrocknete, 
vom Mundwinkel gegen Kinn und Hals herabziehende braune Streifen bei Vergif¬ 
tungen mit ätzenden Substanzen, ein bestimmter Geruch der Leiche bei Blau¬ 
säure-, eventuell Chloroformvergiftung. 

Beider inneren Untersuchung der Leiche gestalten sich die Be¬ 
funde wesentlich verschieden, je nachdem es sich um örtlich wirkende ätzende 
Gifte oder um solche handelt, welche nur durch Resorption zur Wirkung ge¬ 
langten und schwerere oder auch gar keine nennenswerten Veränderungen in 
den entfernteren Organen veranlasst haben. Bei der erstgenannten Gruppe der 
Gifte ist die Untersuchung der Magenwand und des Mageninhaltes vor allem 
wichtig und sind die dabei erhobenen Befunde oft von ausschlaggebender Be¬ 
deutung. Nach der in vorgeschriebener Weise vorgenommenen Oeffnung des 
Magens wird zunächst der Inhalt untersucht, wobei auffallende Eigenschaften 
desselben zu beachten sind: Der Geruch ist nicht selten charakteristisch, 
es kann dies der Fall sein bei der Phosphorvergiftung, bei der Blausäure¬ 
vergiftung, wo der bekannte Geruch nach bitteren Mandeln wahrzunehmen 
ist, bei der Alkohol-, Chloroform-, Sabinavergiftung, wo stets der Mageninhalt 
mehr weniger deutlich den specifischen Geruch dieser Substanzen zeigt. In 
vielen Fällen ist dem Mageninhalt Blut beigemengt, welches von Läsionen der 
Blutgefässe herrührt; diese Beimengung kann mitunter auch erst postmortal ent¬ 
standen sein. Dabei hat das Blut fast niemals seine ursprüngliche Farbe, 
sondern es sind wesentliche Veränderungen eingetreten, weshalb die Be- 


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VERGIFTUNGEN. 


Stimmung der Farbe des Mageninhaltes wichtig ist; er ist mitunter schwarz¬ 
braun bis schwarz (Schwefelsäurevergiftung) oder auffallend roth (Cyankalium¬ 
vergiftung) oder grün, wenn die Vergiftung durch chlorophyllhältige Pflanzen- 
theile oder grüne Farben vorgenommen wurde (Juniperus Sabina, Arsengrün), 
oder gelb bei Vergiftung mit chromsauren Salzen, Jod oder Tinctura opii 
crocata, blau bei der Kupfervitriolvergiftung. 

Immer wird auch die Reaction zu prüfen sein, und es gehört Lakmus- 
papier zu den unerlässlichen Dingen bei der Vornahme der Obduction Ver¬ 
gifteter. Die entweder übermässig saure oder übermässig alkalische Reaction 
deutet auf die Anwesenheit freier Säure, also auf Säurevergiftung, oder von 
Alkalien hin, auch bei Cyankaliumvergiftung ist die stark alkalische Reaction 
wahrnehmbar. 

Stets muss auch auf die Beimengung etwa vorhandener, verdächtiger 
fremder Substanzen im Mageninhalt gesehen werden. Deren Auslese ist für die 
nachfolgende chemische Untersuchung wichtig und sichert manchmal die 
Diagnose schon am Leichentisch. So findet man z. B. recht häufig ungelösten 
weissen oder gelben Arsenik in Form sandiger weisser oder gelber Beimen¬ 
gungen oder in Form grösserer oder kleinerer Stücke dieser Substanz. Bei 
der nicht allzu seltenen Vergiftung mit Sabina-Abkochung können Bestand¬ 
teile dieser Pflanzen aufgefunden werden, oder es werden andere charakte¬ 
ristische Pflanzentheile nachgewiesen, so etwa bei der Opium Vergiftung Theile 
der Mohnpflanze. Die Kantharidenvergiftung verräth sich, wenn Kanthariden- 
pulver verwendet wurde, durch anwesende Bruchstücke der grünglänzenden 
Flügeldecken dieser Insecten. 

An der Magenwand finden sich bei den Aetzgiften immer mehr minder 
tiefgehende und oft auch für sich charakteristische, daher diagnostisch wich¬ 
tige Veränderungen vor. Es ist nach Abspülung derselben mit destillirtem 
Wasser die Ausbreitung der etwa vorhandenen Verschorfungen und Ver¬ 
ätzungen genau aufzunehmen. Nicht immer sind alle Theile der Magen¬ 
schleimhaut in gleicher Weise verändert Wurde ein Gift im Stehen oder 
Sitzen genommen, so ist es meist die Pyloruspartie der grossen Curvatur oder 
die kleine Curvatur, wo die tiefgehendsten Veränderungen vorhanden sind, 
während bei der Einverleibung im Liegen hauptsächlich der Fundus und die 
hintere Magenwand verätzt sind. Sehr häufig sind ausgebreitete Ecchymosirungen 
vorhanden und reactiv-entzündliche Veränderungen der Schleimhaut. Hat die 
Vergiftung etwas länger angedauert, so ist nicht selten schon trübe Schwel¬ 
lung der Schleimhaut vorhanden. Ganz ähnliche, nur quantitativ verschiedene 
Veränderungen wie im Magen finden sich bei den Aetzgiften auch in den an¬ 
grenzenden Partien der Gedärme, namentlich im Zwölffingerdärme, sowie in 
der Speiseröhre und in der Mundhöhle. 

Auch bei den Aetzgiften können die Leichenbefunde zu Verwechslungen 
mit anderen krankhaften Processen Anlass geben. Namentlich sind es katar¬ 
rhalische Entzündungen, auch die physiologische Verdauungsröthe der Magen¬ 
schleimhaut, ferner die bei der Erstickung manchmal auftretende Röthung 
und Ecchymosirung und die Diphtherie der Magenschleimhaut, welche solche 
irrthümliche Auffassungen möglich machen. Auch Leichenerscheinungen, wie 
die schwarze Verfärbung der Magenschleimhaut, welche als cadaveröse Mela¬ 
nose bekannt ist, ferner die sogenannte weisse Magenerweichung sind schon 
für Vergiftungseffecte gehalten worden. 

Bei den nicht ätzenden Giften treten diese örtlichen Erscheinungen in 
den Hintergrund, indem die örtlichen Veränderungen nicht besonders } stark 
oder gar nicht vorhanden sind. Wurden schwere pathologische Veränderungen 
in entfernten Organen gesetzt, wie beispielsweise bei der Phosphorvergiftung, 
so sind namentlich diese Veränderungen von diagnostischer Bedeutung, vor 


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VERGIFTUNGEN. 


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allem also fettige Entartung der Leber, der Nieren, des Herzfleisches, der Ge- 
fässe und Muskeln. 

Viele Gifte bedingen Veränderungen des Blutes. So ist bekannt die hell- 
rothe Färbung des Blutes bei Kohlenoxydgasvergiftung, die braune bei der 
Vergiftung mit Chrom, mit chlorsaurem Kalium und anderen Methämoglobin 
bildenden Giften. 

Zahlreiche Gifte, wie insbesondere die ganze wichtige Gruppe der 
Pflanzenalkaloide und die meisten Narkotica und Anaesthetica bewirken gar 
keine so hervorstechenden Veränderungen, dass die Leichenbefunde allein ge¬ 
nügende Anhaltspunkte für die Diagnose liefern würden. Wir finden in diesen 
Fällen zumeist nur die allgemeinen Erstickungsbefunde, nämlich Hyperveno- 
sität des Blutes, Ansammlung desselben in den Brustorganen, ab und zu auch 
wie bei den mechanischen Erstickungen, Ecchymosen. Man kann demnach 
sagen, dass die anatomischen Befunde nur für einen Theil der Vergiftungen 
diagnostisch ausschlaggebend sind. 

3. Der chemische Nachweis. 

Die zu Gerichtshanden genommenen Leichentheile, welche in der Regel 
der Magen und sein Inhalt, ferner Gedärme sammt Inhalt, Theile der Leber, 
Milz, Nieren, Lungen, des Gehirns oder Harn und Blut sind, werden vor- 
schriftsmässig verwahrt, dem Gerichtschemiker übergeben. Die chemische 
Untersuchung kann naturgemäss nur in entsprechend eingerichteten Labora¬ 
torien von eigenen chemischen Sachverständigen vorgenommen werden. 

Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist jedoch wieder Gegenstand des 
gerichtsärztlichen Urtheiles, indem sich das Gutachten auf den chemischen 
Befund zu stützen hat. Vielfach ist der Irrthum verbreitet, dass der foren¬ 
sische Beweis einer stattgehabten Vergiftung als erbracht angesehen werden 
müsse, wenn in der Leiche ein Gift gefunden wurde, und umgekehrt, dass 
eine Vergiftung nicht vorhanden wäre, wenn das Ergebnis der chemischen 
Untersuchung negativ ausgefallen ist. 

Diese Meinung ist völlig irrthümlich, vielmehr ist es Sache gerichts¬ 
ärztlicher Erwägungen, ob trotz der Anwesenheit eines Giftes der Mensch 
thatsächlich an dieser oder überhaupt an einer Vergiftung gestorben ist, und 
umgekehrt ist wohl zu beachten, dass ebenso auch bei einem negativen Aus¬ 
fall der chemischen Untersuchung gleichwohl eine Vergiftung thatsächlich vor¬ 
liegen kann. 

Zunächst ist an die Möglichkeit zu denken, dass gar nicht selten Gift¬ 
spuren im Körper vorhanden sind, ohne dass der Mensch an Vergiftung ge¬ 
storben ist. Werden doch so viele, in grösserer Dosis als Gifte wirkende 
Körper auch als Arzneien verwendet. So können also auch in Leichen oder 
Leichentheilen kleine Mengen von Arsen, von Alkaloiden, von Metallsalzen 
u. s. w. vorhanden sein, welche als Medicamente dem Lebenden verabfolgt 
wurden. Ebenso können kleine Mengen giftiger Körper auch von aussen in 
die Leiche gekommen sein. Es ist das namentlich dann möglich, wenn Leichen 
schon längere Zeit begraben waren, und erst später der aufgetauchte Verdacht 
einer Vergiftung eine Ausgrabung nothwendig machte. Bei ausgegrabenen 
Leichen kann insbesondere Arsen entweder von arsenhältiger Friedhoferde 
oder von arsenhaltigen Gegenständen, welche der Leiche beigelegt waren, wie 
von künstlichen Blumen, Kränzen, grüngefärbten Blättern die Quelle für die 
Beimengung von Spuren dieses Giftes sein. Dass nicht etwa durch die An¬ 
wendung unreiner Reagentien das Ergebnis einer chemischen Untersuchung 
getrübt werde, dafür haben die chemischen Sachverständigen durch die An¬ 
wendung absolut chemisch reiner Substanzen bei ihren Untersuchungen Vor¬ 
sorge zu treffen. 


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VERGIFTUNGEN. 


Aber auch der negative Ausfall der chemischen Untersuchung beweist, 
wie schon gesagt wurde, noch durchaus nicht, dass keine Vergiftung statt¬ 
gefunden haben könne. So können einmal Gifte durch vollständige Aus¬ 
scheidung aus dem Körper hinausgekommen sein, oder sie sind durch die 
Fäulnis zerstört worden, oder endlich kann es sich auch um Körper handeln, 
deren chemischer Nachweis unmöglich oder unsicher ist. 

In vielen Fällen muss der chemische Nachweis noch durch das physio¬ 
logische Experiment gestützt werden; es ist dies vornehmlich beim Nachweis 
von Alkaloiden der Fall. Dabei ist auch die Wahl des Versuchsthieres von 
Wichtigkeit, da sich erfahrungsgemäss die verschiedenen Thiergattungen gegen 
gleiche Mengen eines und desselben Giftes verschieden verhalten. So ist 
beispielsweise für den physiologischen Nachweis des Strychnins der so oft 
verwendete Frosch ein keineswegs geeignetes Versuchsthier, weil die Strychnin¬ 
krämpfe bei ihm oft erst durch verhältnismässig grosse Dosen sicher aus¬ 
gelöst werden. Unendlich viel empfindlicher für Strychnin ist z. B. die weisse 
Maus, für Atropin ist nicht das Kaninchen geeignet, sondern entweder das 
Auge eines Menschen oder einer Katze. 

In besonderen Fällen ist noch eine spectroskopische Untersuchung vor¬ 
zunehmen und in manchen Fällen wird der Beweis einer Vergiftung nur durch 
mikroskopische Untersuchung zu erbringen sein. 

Die Vergiftungen im Einzelnen. 

Man hat die Gifte in verschiedener Weise eingetheilt, so nach ihrer 
Herkunft in anorganische und organische, oder in Mineral-, 
Pflanzen- und Thier gifte, oder man hat sie nach rein chemischen Ge¬ 
sichtspunkten geordnet. Vom Standpunkte der Medicinalpolizei gruppiren 
sich die Intoxicationen nach ätiologischen Gesichtspunkten als Giftmorde, 
Giftselbstmorde, gewerbliche Vergiftungen, technische, öko¬ 
nomische und Medicinal-Vergiftungen. Die innere Medicin unter¬ 
scheidet heute ziemlich allgemein zwischen Giften, welche von aussen bei¬ 
gebracht werden, und Giften, welche im Körper selbst entstanden sind, indem 
sie zwei grosse Gruppen aufstellt, die endogenen und exogenen Intoxi¬ 
cationen (System von Jaksch). In manchen Lehrbüchern ist jede systema¬ 
tische Eintheilung unterlassen. Für das Verständnis und die klare Darstellung 
der Vergiftungen scheint jedoch ein System unerlässlich zu sein, wenngleich 
es heute keine vollständig sachlich begründete und allgemein gütige Ein¬ 
theilung gibt. Für unsere Zwecke und das richtige Verständnis der Ver¬ 
giftungen ist eine Eintheilung nach den Giftwirkungen wohl das Zweck- 
mässigste. Es ist hiebei ebenso Bedacht genommen auf die klinischen wie 
auf die pathologisch-anatomischen Veränderungen und so können wir zwang¬ 
los folgende Gruppen aufstellen: 

I. Aetzgifte. 

II. Parenchymgifte. 

III. Blutgifte. 

IV. Herzgifte. 

V. Nervengifte. 

I. Die Aetzgifte. 

Darunter sind solche Gifte zu verstehen, welche vorwaltend die Applica- 
tionsstellen verändern, also am Orte der Einwirkung schwere anatomische 
Läsionen hervorrufen. Es gehören dahin die ätzenden Säuren, die ätzenden 
Alkalien, die ätzenden Salze, die ätzenden Gase und Dämpfe und endlich 
ätzende organische Substanzen, welche ihrer chemischen Constitution • nach 
weder Säuren, noch Basen, noch Salze sind. 


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VERGIFTUNGEN. 


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a) Säurevergiftungen. 

Sämmtliche hieher gehörigen Körper, welche theils anorganische, theils 
organische Säuren sind, rufen im Munde, in der Speiseröhre, im Magen und 
meist auch in den Gedärmen eine fast momentane Reizung hervor, welche 
man als Aetzung zu bezeichnen pflegt. Eine reine Aetzung bekommt übrigens 
nur der Experimentator beim Thierversuch zu sehen. Das, was der Gerichts¬ 
arzt an der Leiche beobachtet, ist fast immer ein zusammengesetztes Bild, 
bestehend aus der Aetzung des lebenden Gewebes, aus der reactiven Ent¬ 
zündung und aus den durch das Aetzmittel postmortal gesetzten Veränderungen. 

Die gemeinsame Wirkung der ätzenden Säuren beruht auf der Eiweiss¬ 
umwandlung, Wasserentziehung und Temperaturerhöhung. Jedes dieser drei 
Momente allein genommen ist im Stande, Schleimhauttheile zum Absterben zu 
bringen. So ist es begreiflich, dass alle drei zusammen, falls die Säure con- 
centrirt ist, geradezu furchtbare Wirkungen erzeugen. Es hängt daher die 
Schwere einer Säurevergiftung, wenigstens in Bezug auf die sogenannte Aetz- 
wirkung, nicht so sehr von der absoluten Menge, als von der Concentra- 
tion ab. 

Schwefelsäure, H ä S0 4 -f- x H 2 0. Die Vergiftung mit dieser ist das Pro¬ 
totyp aller Säure Vergiftungen. Die Dosis letalis der concentrirten Säure wird 
bei leerem Magen auf 4—5 g geschätzt. Die Vergiftungserscheinungen treten 
augenblicklich ein und bestehen in intensivem Schmerz und Brennen der Zunge, 
im Munde, im Rachen und in der Speiseröhre sowie im Magen. Sehr bald 
kommen dazu grosser Durst, Erbrechen brauner Massen, Schluckbeschwerden, 
Leibschneiden, Koliken, Durchfall, Auftreibung des Abdomens, Sinken der 
Körpertemperatur und allgemeiner Collaps. Der Harn ist auffallend sauer, 
wird unter brennenden Schmerzen entleert und enthält sehr bald Eiweiss, 
oder sogar Hämatin. Dabei ist das Bewusstsein fast bis zum Tode erhalten. 
Dieser tritt entweder schon nach zwei bis drei Stunden unter Collapserschei- 
nungen ein, oder es ist ein protrahirter Verlauf vorhanden, so dass sich die 
Vergiftung auch über mehrere Tage hinziehen kann. In letzterem Falle 
kommt es auf dem Wege der demarkirenden Entzündung um die verätzten 
Schleimhautpartien zur Abstossung von nekrotisirten Gewebstheilen aus der 
Speiseröhre und dem Magen, welche manchesmal in Schlauchform durch 
Brechbewegungen ausgestossen werden. Bei protrahirtem Verlauf gesellen 
sich nicht selten pneumonische Processe hinzu. 

Die Leichenbefunde zeigen äusserlich mitunter braune, lederartige 
Streifen, welche von den Mundwinkeln herabziehen, Verschorfungen der Lippen, 
innerlich ist weissgraue Verfärbung der Schleimhaut der Mundhöhle und des 
Rachens vorhanden, sogenannte weisse Verschorfung; es sehen diese Theile 
wie gekocht aus, und sind es auch thatsächlich infolge der Temperaturerhö¬ 
hung, die bei der Vermengung der wässerigen Bestandtheile der Gewebe mit 
der eingeführten Säure entsteht. Der Magen ist in der Regel schon äusserlich 
schiefergrau gefärbt, die Wandungen sind verdickt, die Blutgefässe treten 
häufig als schwarze Streifen und Netze hervor. Nicht allzu selten ist das 
Blut in den Gefässen theerartig eingedickt oder ganz erstarrt in Form braun- 
rother Cylinder. Der Mageninhalt reagirt stark sauer, er enthält freie Säure, 
welche dadurch nachgewiesen werden kann, dass man einige Tropfen des fil- 
trirten Inhaltes auf doppeltkohlensaures Natron giesst, wodurch Aufbrausen 
entsteht. Die Inhaltsmassen sind theils breiig, theils flüssig und haben die 
Farbe von Kaffeesatz. Diese Färbung rührt von beigemengtem Blute her, 
dessen Farbstoff durch die anwesende Säure in dunkles Säurehämatin umge¬ 
wandelt ist. Auf dieselbe Ursache ist auch die oft über die ganze Magen¬ 
schleimhaut sich erstreckende schwarze Verfärbung der Schorfe zu beziehen, 
ein Befund, den man ehemals missverständlich als Verkohlung bezeichnete. 
Die Schorfe sind starr, brüchig, es besteht eine sogenannte feste Mortification 


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im Gegensatz zu der durch kaustische Alkalien bedingten Erweichung oder 
Verflüssigung. Die Verschorfung ist in der Regel am intensivsten am Magen¬ 
grund und an der hinteren Magenwand. In einzelnen Fällen kann es auch 
znr Perforation kommen, einer Erscheinung, die übrigens wohl ausnahmslos 
als Leichenerscheinung aufzufassen sein wird, da ja die chemischen Eigen¬ 
schaften der Säure auch nach dem Tode fortwirken. In diesem Falle ist 
freie Säure in den Bauchfellsack ergossen und sind die angrenzenden 
Organe, namentlich die Oberfläche der Leber, die Gedärme u. s. w. von aussen 
her in ähnlicher Weise verändert wie die Magenschleimhaut von innen. In 
der Nähe des Magens reagirt in der Regel alles Blut, welches theerartig be¬ 
schaffen ist, sauer. Oft ist es in den Kranzgefässen des Magens, ja selbst in 
der unteren Hohlvene und manchmal im rechten Herzen zu einer brüchigen 
Masse eingedickt. Auch das ist nur eine Leichenerscheinung. Bei etwas 
längerer Dauer der Vergiftung besteht trübe Schwellung in den Nieren, wo 
bereits Fibrincylinder angetroffen werden. Tritt der Tod nicht acut ein, so 
kommt es zu Nachkrankheiten, und zwar zu Stricturen und Dilatationen der 
Speiseröhre, des Magens und zu Pylorusstenosen, zu chronischem Vomitus, 
hartnäckigen Neuralgien, namentlich Intercostalneuralgien; auch Fixationen 
des Kinns auf der Brust, Narbencontracturen im Munde, theilweise Verödung 
des Nierenparenchyms und bei Einspritzung in die Vagina Atresien dieser 
sind beobachtet worden. 

Die Häufigkeit der Schwefelsäurevergiftung scheint in wesentlichem 
Rückgänge begriffen zu sein. Gleichwohl kommen durch die in der Technik 
in Verwendung stehende unreine Schwefelsäure, das Nordhäuser Vitriolöl, aber 
auch durch die reine, concentrirte Säure Vergiftungen für Selbstmordzwecke 
oder noch häufiger als zufällige Vergiftungen ab und zu vor. 

Aehnliche Wirkungen wie die Säure haben auch einige Salze derselben, 
so das saure, schwefelsaure Kalium (KHSOJ und das neutrale schwefel¬ 
saure Kalium (K 3 S0 4 ), welches in der Pharmakopoe als Sal polychrestum 
Glaseri bekannt ist und auch als Abortivum in Gebrauch steht. 

Der chemische Nachweis beruht auf dem Befund freier Säure im Magen 
durch Fällung des wässerigen Auszuges mit Baryumchlorid oder essigsaurem 
Bleioxyd, wobei Baryumsulfat, beziehungsweise Bleisulfat als schweres, weisses 
Pulver ausfällt. 

Salpetersäure, H NO s . Die Salpetersäurevergiftung, im Wesen gleich der 
Schwefelsäurevergiftung, ist dadurch charakteristisch unterschieden, dass das 
Eiweiss unter der Wirkung dieser Säure schon sehr bald in gelb gefärbte 
Xanthoproteinsäure übergeführt wird. Darauf beruht es, dass die verätzten Stellen 
von den Lippen angefangen bis in den Dünndarm hinab mehr weniger intensiv 
gelb verfärbt sind, ein Befund, der neben der starren Beschaffenheit der tief¬ 
gehenden Schorfe bei intensiv saurer Reaction des mitunter schon ähnlich 
gefärbten Mageninhaltes und der erbrochenen Massen die Diagnose vollständig 
sichert. (Vergl. Ipsen, Salpetersäurevergiftung.) Die tödtliche Dosis beträgt 
nach Kobebt etwa 8 g. Auch bei dieser Vergiftung kann man in den Nieren 
acute parenchymatöse Nephritis finden. Der Nachweis geschieht, indem der 
wässerige oder alkoholische Auszug mit Eisenvitriol und concentrirter Schwefel¬ 
säure versetzt wird, wodurch beim Ueberschichten ein dunkelvioletter Ring 
entsteht. Brucin in concentrirter Schwefelsäure ruft bei Berührung mit Salpeter¬ 
säure eine purpurrothe Färbung hervor. Forensich interessant ist die Ver¬ 
wendung der Salpetersäure als Fruchtabtreibungssmittel in den südlichen 
Theilen Russlands. (Bellien.) Es wird rohe, oft arsenhältige Säure in Dosen 
von 10 Tropfen bis zu 15 g pro die mitunter Monate lang genommen, wobei 
es zu einer sehr schweren chronischen Vergiftung kommt, welche durch tiefe 
Ernährungsstörungen, hochgradige Anämie, Schlaflosigkeit, Tremor, Erbrechen, 
Koliken und Abortus charakterisirt ist. 


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VERGIFTUNGEN. 


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Salzsaure, HCl. Die 30—40°/ 0 ige rauchende Salzsäure des Handels, 
welche meist mit Arsenik und Eisen, manchmal auch mit Antimon verun¬ 
reinigt ist, wird gleichfalls für Vergiftungszwecke verwendet. So starben in 
England allein im Jahre 1890 sechs Menschen an Salzsäure Vergiftung; gleich¬ 
wohl kann diese Vergiftung als eine im Ganzen seltene bezeichnet werden. 
Sie hat die grösste Aehnlichkeit mit der Schwefelsäurevergiftung, wobei in¬ 
folge der sich entwickelnden Dämpfe auch eine starke entzündliche Affection 
der oberen Luftwege hinzukommt, so dass die Veränderungen im Rachen 
und Kehlkopf oft täuschend diphtheritischen Entzündungen ähneln. 

Oxalsäure, C 2 H 2 0.,. Die Oxalsäure, auch Klee- oder Zucker säure ge¬ 
nannt, und ihr saures Kalisalz, das saure oxalsaure Kalium oder K1 e e s a 1 z, auch 
Bittersalz (KHC 2 0 4 ) sind im Haushalte und in der Industrie zum Färben, 
Bleichen, Verfertigung der blauen Tinte, zum Putzen von Messing- und Kupfer- 
geräthen, zur Entfernung von Tintenflecken aus der Wäsche u. s. w. in Verwendung. 
Die dadurch bedingte leichte Zugänglichkeit erklärt auch die relative Häuflgkeit 
dieser Vergiftung in neuerer Zeit. Die tödtliche Dosis beträgt 5 g, doch sind 
wiederholt auch viel grössere Gaben überstanden worden. Die Erscheinungen 
bestehen in intensiv saurem Geschmack, Brennen im Magen, häufigem Er¬ 
brechen saurer dunkelbrauner bis schwarzer Massen mit reichlicher Beimen¬ 
gung von Schleim, in Schlingbeschwerden und Schmerzen im Epigastrium und 
über den ganzen Unterleib, ja ausstrahlend bis in die Extremitäten. Dazu 
gesellen sich Erscheinungen, welche auf eine Mitaffection des Nervensystems 
Hinweisen, wodurch sich überhaupt die organischen Säuren in ihren Wirkungen 
von den anorganischen unterscheiden. Diese Symptome sind Krämpfe in Form 
von Trismus, Tetanus und anderweitigen Convulsionen. Sehr bald tritt Collaps 
ein, die Haut wird cyanotisch und kalt, bedeckt sich mit klebrigem Schweiss, 
der Puls wird unfühlbar, und es erfolgt unter Coma der Tod. Der Harn kann 
Methämoglobin und Hämatin enthalten, manchesmal ist die Harnsecretion voll¬ 
ständig unterdrückt, meist wird ausserdem noch Eiweiss, Zucker und eine 
reiche Menge von Calciumoxalatkrystallen im Harn beobachtet. Der Leichen¬ 
befund weist auffallend stark angeätzte, weissgrau verfärbte Schleimhaut der 
Speiseröhre und des Duodenums nach, während der Magen oft auffallender¬ 
weise relativ frei von Verätzung sein kann. (Lesser.) Manchesmal finden 
sich punktförmige bis linsengrosse Hämorrhagien in der Magenschleimhaut 
und auf ihr oft Niederschläge von Calciumoxalat in Form von Nadeln, Garben¬ 
bündeln, Blättchen und wetzsteinartigen Gebilden. Diese Sedimente sind 
reichlich auch in den Harncanälchen vorhanden, während die Glomeruli der 
Nieren stets frei von Krystallen gefunden werden. 

Carbolsäure, C 6 H 5 . OH. Auch diese Säure, in neuerer Zeit vielfach 
verwendet, ist nicht unschwer zugänglich; ihre Wirkung besteht in der Coagu- 
lation von Eiweiss; sie ruft also wie die übrigen Säuren eine Coagulations- 
nekrose hervor. Ausser dieser örtlichen Wirkung hat sie eine centrale auf 
Gehirn und Rückenmark. Sie wird selbst von der unverletzten äusseren Haut 
aus schnell aufgenommen; die Dosis letalis liegt bei Einführung per os etwa bei 
10 g. Bei directer Einführung in Körperhöhlen sogar bei 1 g. Der Organismus 
des Menschen und der Säugethiere paart die Carbolsäure zu Phenolätherschwefel¬ 
säure, und wenn grosse Mengen vorhanden sind, zu Phenolglykuronsäure. Die 
Nieren werden beim Durchgänge der gepaarten Säuren gereizt, weshalb auch 
hyaline Cylinder und Eiweiss im Harn gefunden werden. 

Die Vergiftungserscheinungen gleichen denen der übrigen ätzenden 
Säuren. Dazu kommen noch Schwindel, Ohrensausen, Blasswerden, Ohnmacht, 
Aussetzen von Puls und Athmung sowie Delirien, Eingenommensein des Kopfes, 
Mattigkeit, Pupillenverengung und profuse Schweisse. Der Patient riecht 
nach Carbolsäure, der Harn ist meist schwarzgrün verfärbt, hat Phenolgeruch 
und gibt auf Chlorbaryumzusatz keinen Niederschlag von Baryumsulfat wie 


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VERGIFTUNGEN. 


der normale Harn, da alle Sulfate des Organismus zur Bildung der Phenol¬ 
ätherschwefelsäure herangezogen sind. 

Aehnlich wie das Phenol selbst wirken anch seine Abkömmlinge, so das Methyl¬ 
derivat oder Kresol, dann die Dihydroxylbenzole, das Hydrochinon, Brenzkatechin und 
Resorcin, ferner der Methyl&ther des Brenzkatechins, das Gnajakol, sowie das Trihydroxyl- 
benzol oder Pyrogallol. 

b) Alkalienvergiftungen. 

Die ätzenden Alkalien bewirken auf der lebenden Schleimhaut gleich¬ 
falls eine Nekrose, welche jedoch ganz anderer Art ist als die durch Säuren 
bedingte. Die geätzten Partien sind hier nicht trocken und brüchig, sondern 
weich und schmierig. Die Aetzung besteht in der Bildung von Alkalialbumi- 
naten, welche gelatinös aufquellen, ja bei Anwesenheit von viel Wasser sich 
sogar, wenigstens theilweise, lösen können. Dieser Vorgang wird in der Patho¬ 
logie Colliquation genannt. Im Uebrigen gleichen die Erscheinungen ganz 
ausserordentlich denen der Säurevergiftung. 

Es gehören hieher zunächst die Laugen, und zwar die Aetzlange 
(KHO), auch Seifensiederlauge, Liquor kalii hydrici; dann die Natronlauge 
(Na HO), Laugenessenz, auch Seifenstein genannt. Die Laugenessenz ist eine 
Lösung des unreinen Natronhydrates und wie die Kalilauge sehr leicht zu¬ 
gänglich und in Haushaltungen vielfach für ökonomische Zwecke in Gebrauch. 
Aber nicht nur die kaustischen, sondern auch die kohlensauren Alkalien haben 
dieselbe toxische Wirkung, nur mit dem Unterschiede, dass ihre Wirkung 
etwas schwächer ist. Das kohlensaure Kalium (K, CO s ) oder die Pottasche, 
ferner das kohlensaure Natrium, Soda (Na 9 CO s ) gehören hieher. 

Aetzlaugen. Die Aetzlaugenvergiftung ist neuerer Zeit ziemlich häufig als 
Selbstmordart zu beobachten (Hofmann), meist bei Weibern vorkommend; es 
sind auch schon Fälle von Mord beobachtet worden. Die Vergiftungserschei¬ 
nungen treten wie bei den Säuren sehr rasch auf, der Verlauf ist jedoch in 
der Regel ein etwas verzögerter; gewöhnlich verläuft die Vergiftunng in zwei 
bis drei Tagen, gar nicht selten erfolgt der Tod erst secundär, infolge der 
mit Recht so gefürchteten Oesophagus- und Pylorusstricturen. Die Haupt¬ 
erscheinungen sind intensiv laugenhafter, brennender Geschmack, Erbrechen 
schmieriger, sehr zäher, alkalisch reagirender Massen. Bei der Kalilaugen¬ 
vergiftung, welche wegen der Wirkung des Kaliums auf das Herz besonders 
gefährlich ist, treten noch Ohnmächten und Krämpfe sowie eine rasch zu¬ 
nehmende Herzschwäche hinzu. Im Weiteren gesellt sich in der Regel Durch¬ 
fall hinzu, welcher aber auch mitunter fehlen kann. Die Diagnose am 
Lebenden wird gesichert durch das Erbrechen stark alkalisch reagirender und 
gelatinös gequollener Massen, denen mitunter gequollene Fetzen von Schleim¬ 
häuten der oberen Verdauungswege beigemengt sind. Die Leichenbefunde be¬ 
stehen in Verätzungen des Mundes, Schlundes und der Speiseröhre, des 
Magens, und des angrenzenden Zwölffingerdarmes. Am meisten ist wieder die 
Magenschleimhaut verändert. Das Epithel der Mundhöhle und der Speise¬ 
röhre ist grau verfärbt, getrübt, gequollen, die Schleimhaut missfärbig. Die 
Wandungen des Magens sind beträchtlich verdickt, zusammengezogen, blutig 
infiltrirt, mit schleimigen, gelatinösen, transparenten Massen überzogen. Diese 
stark alkalischen Massen enthalten die oft schwarzbraun verfärbte Schleim¬ 
haut, welche des Epithels beraubt ist, oder es besteht starke Röthung; die 
ganze Wand fühlt sich seifenartig an. Die Verschorfung geht in der Regel 
nicht so tief wie bei den Säuren, obwohl auch die Alkalien sehr tiefe Ver¬ 
ätzungen hervorbringen können; sogar Perforationen, welche wahrscheinlich 
immer erst postmortal entstanden sind, sind beobachtet worden. Auch kommt 
es postmortal zur Transsudation der Lauge durch die Magenwand hindurch, 
und es werden demgemäss die angrenzenden Gewebe neben alkalischer Reac- 
tion auch die bekannte Quellung der Epithelien nicht selten zeigen. Die 


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VERGIFTUNGEN. 


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braune Veränderung des ausgetretenen Blutes wird durch die Umwandlung 
des Hämoglobins in dunkles Alkalihämatin bewirkt. In den Coronargefässen 
des Magens ist das Blut meist locker geronnen und schmierig. 

Bei etwas verzögertem Verlaufe kommt es zur Abstossung nekrotischer 
Schleimhaut, welche nicht nur in Fetzen, sondern selbst in Böhren abgeht. 
In diesen Fällen finden sich auch Veränderungen der Nieren in Form von 
trüber Schwellung der Epithelien aller Nierenabschnitte, ferner der Leber¬ 
zellen und der Muskelzellen bis zur vollkommenen fettigen Entartung der¬ 
selben. Auch bei den Alkalienvergiftungen gesellen sich nicht selten pneu¬ 
monische Processe hinzu. Die Diagnose ist ausserdem noch gesichert durch 
die intensiv alkalische Reaction des Mageninhaltes und der Magenwand, ferner 
durch den sehr starkalkalischen Harn, welcher meist Krystalle von phosphor¬ 
saurer Magnesia und phosphorsaurer Ammoniakmagnesia in Mengen enthält. 

Ammoniak. Das Ammoniakgas löst sich in Wasser 32 1 /j 0 /oig; diese 
oder auch dünnere Lösungen werden Aetzammoniak oder Salmiakgeist ge¬ 
nannt (Liquor ammonii caustici). Auch in Spiritus ist das Gas löslich und 
liefert so den Liquor ammonii caustici alcoholicus. Diese Flüssigkeiten finden 
vielfach Verwendung in Kattundruckereien, Bleichereien, Lack- und Farben¬ 
fabriken, bei der Eisfabrikation, in chemischen Laboratorien und auch als 
Arzneimittel. Das Ammoniak wird bekanntlich als Nebenproduct bei der 
Leuchtgasfabrikation in grossen Mengen gewonnen. Es ist eine nicht ganz 
geringe Zahl von theils ökonomischen Vergiftungen, theils Giftselbstmorden mit 
dieser Flüssigkeit beobachtet worden, namentlich in England. Die Sterblichkeit 
wird mit 50°/ 0 angegeben. 

Das Trinken von Ammoniakfiüssigkeit bewirkt Aetzungen des Ver- 
dauungstracts, Entzündungen der oberen Athmungswege infolge des Eindringens 
von Dämpfen der Ammoniakfiüssigkeit in den Respirationstract und Allgemein¬ 
erscheinungen. Die Verätzung entsteht, indem Ammoniak die in den Epi¬ 
thelien enthaltenen Hornsubstanzen auflöst und die Ei weisskörper in Ammoniak- 
albuminat um wandelt; der Blutfarbstoff wird in alkalisches Hämatin über¬ 
geführt. 

Dem entsprechend sind die Krankheitserscheinungen, welche un¬ 
mittelbar nach der Einverleibung auftreten, rasende Schmerzen, Schwellung 
und Blasenbildung im Munde, Salivation, Erbrechen von Blut und Schleim, 
blutige, dünne Stuhlentleerungen, also wieder das bekannte Bild einer hef¬ 
tigen, acuten, toxischen Gastro-enteritis, und dazu gesellen sich Symptome 
von Seiten der Athmungsorgane: Stimmlosigkeit, Husten, Dyspnoe, Brustbe¬ 
klemmung, Erstickungsanfälle und Expectoration von blutigeiterigen Sputen 
und Croupmembranen. Aus der Allgemeinwirkung des Ammoniaks ergibt 
sich noch eine dritte Symptomenreihe in Form psychischer Erregungszustände, 
klonischer Krämpfe mit bald eintretender Lähmung, namentlich der Extremi¬ 
täten, Mattigkeit, Gliederschmerzen und Bewusstlosigkeit. Der Athem riecht 
stark nach Ammoniak; im stark alkalischen Harn sind Ammoniaksalze, sehr 
bald auch Eiweiss und Hämatin enthalten. 

Die Leichenerscheinungen bestehen in Verätzung der Schling¬ 
wege und des Magens, Schwellung der Schleimhaut der Mundhöhle, Röthung 
und fetziger Ablösung fast aller Schleimhäute der oberen Verdauungs- und 
Luftwege. Die letzteren können ödematös, infiltrirt und geröthet oder sogar 
mit croupartigen Pseudomembranen belegt sein; in den Lungen sind häufig 
pneumonische Herde vorhanden, in den Nieren sieht man Glomerulonephritis 
und fettige Degeneration. 

Aehnlich wirkt das kohlensaure Ammoniak, Ammonium carbonicum, flüchtiges 
Laugensalz, auch gereinigtes Hirschhornsalz genannt, sowie das Ammonium 
carbonicum pyrooleosum, auch Sal tolatile cornu cervi (flüchtiges Hirschhornsalz 
oder brenzliches kohlensaures Ammoniak). Alle Erscheinungen sowie die Leichenverän¬ 
derungen sind aber wesentlich weniger intensiv. 

Bibi. mad. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Medicia. 59 


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VERGIFTUNGEN. 


Den Aetz&lkalien ähnliche Vergiftungserscheinungen und Ver&tzungen bewirken auch 
die alkalischen Erden, unter denen insbesondere der Aetzkalk oder gebrannte 
Kalk, ferner der gelöschte Kalk und die Kalkmilch wichtig sind. 

Baryumverbindungen. Aetzbaryt oder Baryumhydroxyd [Ba(OH)g] 
bat bisher keine Vergiftungen erzeugt, wenigstens sind solche nicht bekannt 
worden, wohl aber Schwefelbaryum, BaS, welches unter dem Namen 
Böttcheb’s Depilatorium oder Thompson’s Haarmittel in Handel 
kommt; ferner kommen Vergiftungen vor durch Chlorbaryum, BaCl a , kohlen¬ 
sauren Baryt oder Witherit, BaCO s , und salpetersaures Baryum, Ba(NO,)*, so¬ 
wie schwefelsauren Baryt, BaS0 4 , welcher zur Darstellung weisser Farben 
(Pergamentweiss), zur Verfälschung von Bleiweiss, Mehl u. s. w. benutzt wird 
und in der Natur als Schwerspat vorkommt. Die Zahl der von Bart und 
Koppel gesammelten Fälle beträgt 26. In allen handelt es sich theils um 
fahrlässige Vermischung mit Arznei- oder Nahrungsmitteln, theils um Selbst¬ 
morde, theils um zu hohe medicinale Dosen. Die Wirkung der Barytsalze 
besteht nach Kobebt örtlich in Ekel, Nausea, Speichelfluss, Erbrechen und 
Leibschneiden, Koliken und heftigen Durchfällen, ferner in Reizung der Him- 
krampfcentren, Störung der Contraction der Muskelsubstauz, digitalinartiger 
Beeinflussung des Herzens und der Gefässe, katarrhalischer Affection der Con- 
junctiven und der Schleimhäute des Respirationstractes, namentlich der Nase. 
Es bilden sich im Organismus unlösliche Barytsalze, das Phosphat, Sulfat und 
Carbonat, u. zw. im Blute und in den ausscheidenden Drüsen, welche ver¬ 
stopft werden. 

c) Vergiftungen durch ätzende Salze. 

Die Wirkung von sehr vielen Salzen, namentlich der schweren Metalle, 
besteht in der Umwandlung des lebenden Organeiweisses in todtes Metall- 
albuminat und in der Säureätzung durch die hiebei frei werdende Säure. Der 
hiebei gebildete Schorf ist in der Regel weit weniger tief, als bei den Säuren und 
Alkalien, er ist trocken und mehr flächenhaft ausgebreitet als in die Tiefe gehend. 
Oft ist der Schorf, welchen das Metalloxyd mit den Gewebstheilen bildet, weich, 
die verschorften Partien sind in einen halbflüssigen Brei verwandelt. Die 
Wirkung der bei der Bildung der Metallalbuminate frei werdenden Säure ist 
je nach ihrem Mengenverhältnis, in dem sie im betreffenden Salze vorhanden 
war, auch sehr verschieden. Sie fällt namentlich ins Gewicht bei den MetaU- 
chloriden, bei denen nicht unbeträchtliche Mengen von Salzsäure nach der 
Einverleibung frei werden. Zu den ätzenden Salzen 'gehören die Quecksilber-, 
Silber-, Zink-, Kupfer-, Chrom- und Zinnsalze. Wir wollen als praktisch 
wichtig nur die Quecksilber-, Kupfer- und Chromvergiftung kurz behandeln. 

Quecksilbersalze. Das wichtigste und gefährlichste Salz des Quecksilbers 
hinsichtlich seiner ätzenden Kraft ist Aetzsublimat, HgCl 2 , Hydrargyrum 
bichloratum corrosivum; es haben aber noch ätzende Wirkung auch der rot he 
Präcipitat, HgO, Hydrargyrum oxydatum rubrum , der weisse Präcipitat, 
Hydrargyrum bichloratum ammoniatum, NH 2 Hg Cl, und andere, jedoch selten 
gebrauchte Salze des Quecksilbers. Eine grosse Zahl aller Quecksilbervergif¬ 
tungen sind namentlich in neuerer Zeit Medicinalvergiftungen, welche durch 
alle Arten der Anwendung zum Zwecke des Wundverbandes und bei der 
Syphilisbehandlung zustande kommen können. Wiederholt sind auch gewerb¬ 
liche Vergiftungen vorgekommen, schliesslich auch nicht zu selten absichtlich 
herbeigeführte zu Selbstmordzwecken. Das Quecksilberoxyd sowie das Chlorid 
und Jodid besitzen grosse Neigung, sich mit den stickstoffhaltigen Gewebsbestand- 
theilen des Menschen- und Thierkörpers zu verbinden, wobei eine Ertödtung der 
Zellen erfolgt. Die abgetödtete Zellschichte bildet aber keine feste, undurchlässige 
Decke, wie etwa der Silberschorf, sondern gestattet dem Aetzmittel das Vordringen 
in die Tiefe. Man nimmt gewöhnlich an, dass ausser der örtlichen Wirkung die 
bekannte Allgemeinwirkung der Mercurialien, welche wir als chronische Mer- 


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VERGIFTUNGEN. 


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curialvergiftung auftreten sehen, dadurch hervorgerufen werde, dass Queck- 
silberchloridalbuminat oder Chlornatrium-Quecksilberoxydalbuminat im Orga¬ 
nismus kreist. Das resorbirte Quecksilber gelangt auf den Schleimhäuten der 
Anfangs- und Endtheile des Verdauungsschlauches hauptsächlich zur Aus¬ 
scheidung, daher entwickelt sich die bekannte Stomatitis und Quecksilber¬ 
dysenterie. 

Die forensische Medicin hat nur an der acuten Quecksilbervergiftung 
Interesse, welche, da sie in der überwiegenden Anzahl aller Fälle durch 
Sublimat hervorgerufen wird, man könnte sagen pars pro toto, in der Regel 
schlechtweg als Sublimatvergiftung bezeichnet wird. 

Bei innerlicher Sublimatvergiftung treten die Vergiftungserscheinungen 
augenblicklich auf. Sie bestehen in widerlichem Metallgeschmack, Brennen im 
Schlund, grauweisser Verfärbung der Zunge und des Schlundes, Würgen und 
Erbrechen weisser, oft blutiger und mit Schleimhautfetzen untermengter Massen, 
in blutigen Durchfällen, welche die Form einer scheinbar echten Dysenterie 
zeigen können, Tenesmus, Unterdrückung der Harnabsonderung, Albuminurie, 
ferner sind kleiner Puls, Ohnmächten und Collaps zu beobachten. Der Ver¬ 
lauf ist mitunter sehr stürmisch, selbst in einer halben Stunde hat man schon 
den Tod eintreten gesehen (Welch). In der Mehrzahl der Fälle dauert die 
Krankheit einige Tage, wobei sich gewöhnlich secundäre heftige Entzündung 
des Schlundes, Glossitis, Speichelfluss, Lockerung und Bluten des Zahn¬ 
fleisches mit Foetor ex ore zur ursprünglichen Gastroenteritis hinzugesellen. 

Bei nicht tödtlichem Ausgange kommt es nach oft tagelanger Anurie 
zur Entleerung eiweissreichen Harnes, die Albuminurie kann Monate, selbst 
Jahre dauern, da die Entgiftung eines mit Quecksiber vergifteten mensch¬ 
lichen Organismus sehr langsam vor sich geht. 

Die Dosis letalis beträgt für Sublimat bei innerlicher Darreichung 0’18 g, 
durch Kunsthilfe kann jedoch unter Umständen selbst bei zwanzigfacher 
Menge das Leben erhalten bleiben. Merkwürdig ist die bisher nicht klar¬ 
gestellte Thatsache, dass Opiumesser grosse Mengen von Sublimat vertragen, 
ohne zu erkranken, nach Rigler 1*8 g pro die. 

Leichenerscheinungen. Bei der Obduction findet man einen schwarzen 
Saum am Zahnfleische, hochgradigeJEntzündung und Ecchymosirung des Magens, 
seine Schleimhautist in der Regel mit einem rissigen, grauweissen Schorf bedeckt. 
Diese flächenhafte, graue Verschorfung findet sich auch schon längs des ganzen 
Oesophagus und an der Zungen- und Mundhöhlenschleimhaut vor. Nur dann, wenn 
die Vergiftung wenigstens einige Tage angedauert hat, finden sich schwere ent¬ 
zündliche Veränderungen im Darmcanal, und dysenterische Geschwüre 
auf der Dickdarmschleimhaut entwickeln sich in der Regel erst nach wenigstens 
einer halben Woche. Hat die Vergiftung beiläufig eine Woche angedauert, 
dann sind die Dickdarmveränderungen in so hohem Grade vorhanden, dass 
sie, wie selbst Virchow erklärte, von gewöhnlicher Dysenterie kaum zu unter¬ 
scheiden sind. Die Differentialdiagnose kann aber in zweifelhaften Fällen 
jedesmal leicht durch eine chemische Untersuchung der betreffenden Schleim- 
hauttheile, welche stets quecksilberhaltig sind, gemacht werden. Die Ver¬ 
änderungen der Nieren, von Weichselbaum übersichtlich zusammengestellt, 
bestehen sowohl beim Menschen wie bei den Versuchsthieren in einer Ab¬ 
lagerung von Kalksalzen in der Art, dass es zur Kalkincrustation des secer- 
nirenden Parenchyms, also der Canaliculi contorti kommen kann. Die Kalk¬ 
salze stammen nach Prevost aus aufgelösten Knochen, was allerdings 
Klemperer bestreitet. 

Der chemische Nachweis kann unter Umständen durch eine sehr 
einfache Reaction gleich am Leichentische ausgeführt werden, indem in den 
angesäuerten Magen- und Darminhalt oder in den salzsauren Auszug der 
Magen- und Darmwand blankes Kupferblech oder blanker Kupferdraht ein- 

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VERGIFTUNGEN. 


gelegt wird. Bei Anwesenheit auch nur von Quecksilberspuren beschlägt sich 
durch elektrolytische Abscheidung von Quecksilbermetall am Kupferpol dieser 
mit einem grauen Belag. 

Kupfersalze. Die praktisch-forensische Bedeutung der Kupfersalze ist 
bedeutend zurückgegangen, da sie als Selbstmordmittel fast ganz ausser Ge¬ 
brauch gekommen sind. Welchen Umfang die Kupfervergiftungen in früheren 
Zeiten hatten, geht aus einer Darstellung Tardieu’s hervor, der aus einem 
einzigen Jahrzent unter 670 verbrecherischen Vergiftungen in Frankreich 110 
durch Kupfer ausgeführte aufzählen konnte. 

Die wichtigsten Kupfersalze, welche zu Vergiftungen Anlass geben 
können, sind der Kupfervitriol, CuS0 4 -j- 5 H 2 0, Cuprum sul/uricum, 
blauer Vitriol oder auch Galitzenstein genannt, ferner die verschiedenen Grttn- 
spanarten, das halbbasische, einfachbasische und zweifachbasische essigsaure 
Kupfer, und, wenn auch minder stark wirkend, das kohlensaure Kupfer, CuCO,. 
Vergiftungen können wohl auch durch das in neuerer Zeit von Hygienikern 
protegirte Kupfern der Gemüseconserven bedingt sein (Tschirch). 

Die tödtliche Dosis der ätzenden Kupfersalze wird sehr verschieden an¬ 
gegeben. Van Hasselt bestimmt sie mit 0 4 bis 0*5 g, Seydel auf 1 g, 
Tardieu auf 2 bis 3 g, andere, namentlich neuere, darunter auch Husemann, 
nehmen erst Dosen von 30 bis 60 g als tödtlich an. 

Auch bei der Kupfervergiftung bestehen neben örtlichen Störungen 
Allgemeinwirkungen, welche durch Resorption des Kupfers zustande kommen. 
Die Symptome treten in der Regel sehr bald auf und bestehen in gastrischen 
Erscheinungen, namentlich in heftigem Erbrechen, Metallgeschmack, Er¬ 
brechen grün-blauer Massen, Speichelfluss, Schmerzen im Magen und Darm, 
Aufgetriebenheit des Leibes, Koliken und Diarrhöen, Tenesmus. Der Tod er¬ 
folgt in der Regel selten am ersten, meist am dritten, vierten, oft erst am 
achten Tage. Es sind zahlreiche Fälle von Genesung, selbst nach der Ein¬ 
verleibung von grossen Dosen beobachtet worden. 

Von Leichenbefunden würde diagnostisch wichtig sein namentlich 
die grünblaue Verfärbung der Magen- und Speiseröhrenschleimhaut neben 
oberflächlicher Verschorfung und reactiv-entzündlicher Schwellung, Hyperämisi- 
rung und Ecchymosirung der Magenschleimhaut. Meist wird ein leichter 
Icterus beobachtet, auch Ecchymosen in den serösen Häuten und bei Ober 
mehrere Tage andauernder Vergiftung beginnende Verfettung der Nieren, 
parenchymatöse Nephritis, ln einzelnen Fällen sind auch Perforationen im 
Magen, Dünndarm und Rectum durch daselbst entstandene Geschwüre beob¬ 
achtet worden. 

Chromverbindungen. Die acute Chromvergiftung kann sowohl durch die 
Cbromoxydsalze, wie das Chromchlorid, den Chromalaun und das 
Chromgrün hervorgerufen werden, als auch, was viel häufiger ist, durch 
die Salze der Chromsäure, namentlich das Kaliumsalz, Kaliumchromat 
oder neutrale chromsaure Kalium, K 2 Cr 0 4 , oder durch das saure, chrom¬ 
saure Kalium, Kaliumbichromat, KjCr 2 0 7 , sowie auch durch die Blei¬ 
salze der Chromsäure, das Chromgelb, Chromroth und Chromorange. 
Meist handelt es sich wohl um ökonomische Vergiftungen, namentlich in 
Fabriksbetrieben, wo mit Chromsalzen gearbeitet wird. Die Aetzwirkung be¬ 
ruht gerade so wie bei den anderen Metallsalzen auf der eiweissfällenden 
Eigenschaft der Chromsäure sowie ihrer Salze. Die Fernwirkungen treten in 
den Ausscheidungsstellen, namentlich in den Nieren und im Dickdarm auf. 
Vom Kaliumbichromat werden schon 30 mg im Tage nicht mehr vertragen, es 
tritt Trockenheit im Munde, Rachen, Erbrechen und Ueblichkeit auf. Charak- 
terisirt ist die toxische Gastritis bei der Chromvergiftung durch das Er¬ 
brechen von blaugrauen oder grüngefärbten Massen, indem die gelbgefärbten 
chromsauren Salze bei inniger Berührung mit organischen Substanzen im 


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Y ERGIFTüN GEN. 


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Munde und im Magen reducirt und in grünes Chromoxyd übergeführt werden. 
Hat diese Umwandlung noch nicht stattgefunden, was zu Beginn der Vergif¬ 
tung der Fall ist, so ist die Farbe des Erbrochenen charakteristisch gelb. 
Gerade der Wechsel der Farbe würde die Diagnose unzweifelhaft sichern. 

Charakteristische Leichenbefunde sind nicht bekannt, es würde auch 
nur die Färbung der nicht allzutief verätzten Magenschleimhaut auffällig sein. 
Im Uebrigen sind die Erscheinungen der Gastritis wie bei den anderen Aetzgiften 
vorhanden. Nekrotische Veränderungen finden sich weiters in der Niere, in¬ 
dem die gewundenen Canäle reichlich Cylinderbildung zeigen, auch Aus¬ 
schwitzungen in die Kapseln der Glomeruli kommen vor. 

d) Aetzende Gase und Dämpfe. 

Gase und Dämpfe, welche beim Einathmen örtliche Reizerscheinungen 
und im Weiteren mehr weniger heftige, acut verlaufende und gefährliche Ver¬ 
giftungserscheinungen auslösen, sind folgende: Ammoniakdämpfe, die Dämpfe 
von Chlor, allenfalls von Brom, Jod, Fluor, Salzsäure, von schwefeliger Säure 
und Schwefelwasserstoff. Vom praktisch-toxikologischen Standpunkt aus kommt 
nur die Vergiftung durch Ammoniakdämpfe und die Vergiftung durch Schwefel¬ 
wasserstoff in Betracht. In Bezug auf die Wirkung der Ammoniakdämpfe ver¬ 
weisen wir auf das schon bei der Aetzammoniakvergiftung Gesagte. 

Schwefelwasserstoff, H, S. Die Vergiftung mit reinem Schwefelwasser¬ 
stoffgas kommt wohl nur in chemischen Laboratorien vor; in praxi handelt 
es sich um Cloaken-, Latrinen- oder Mistgrubengasvergiftung, also um Ver¬ 
giftung mit einem Gasgemenge, in welchem 2'/* bis zu 8°/ 0 Schwefelwasser¬ 
stoffgas enthalten sind. Die örtliche Wirkung des Schwefelwasserstoffgases 
besteht in hochgradiger Irritation der Schleimhäute der Respirationsorgane, 
daneben aber hat dieses Gas auch eine auffällige Wirkung auf das centrale 
Nervensystem und auf das Blut. 

Wird Luft eingeathmet, die einige Procente Schwefelwasserstoff enthält, 
so stürzt der Mensch in wenigen Minuten zusammen, es tritt sehr bald Be¬ 
wusstlosigkeit ein, und er stirbt unter Umständen ohne vorausgehende Krämpfe. 
Diese acuteste Form der Schwefelwasserstoffvergiftung wird apoplektische Form 
genannt (Van Hasselt). Bei geringerer Menge von Schwefelwasserstoffgas 
tritt nach Lehmann starkes, quälendes Reissen der Augen sowie der Nasen¬ 
rachenschleimhaut in fünf bis acht Minuten ein, weiters heftige katarrhalische 
Entzündung der Nasenschleimhaut und der Schleimhaut der oberen Luftwege 
mit heftigen Hustenanfällen, Dyspnoe, Herzklopfen, Schwindel, Zittern der Ex¬ 
tremitäten, hochgradige Mattigkeit, intracranielles Druckgefühl, Blässe, kalter 
Schweiss, Kopfschmerz. Lehmann nimmt an, dass bei 0-07 —0-08% Schwefel¬ 
wasserstoffgas der Mensch nach einigen Stunden lebensgefährlich erkrankt und 
bei 01—0 - 15°/ 0 Schwefelwasserstoff in der Luft rasch stirbt. 

Bei der Obduction von blitzartig schnell Gestorbenen kann man unter 
Umständen auch gar keine Veränderungen vorfinden. Ist der Tod etwas lang¬ 
samer eingetreten, so zeigen die Organe den Geruch nach Schwefelwasserstoff, 
ferner ist mehr weniger grüne Verfärbung der ganzen Leiche und grünliche 
Verfärbung der inneren Organe infolge der durch das Gift herbeigeführten 
Veränderung des Blutes vorhanden, welche in der Bildung von Schwefelmethä- 
moglobin besteht; aber auch bei sofort vorgenommener spectraler Unter¬ 
suchung des Blutes eines an Schwefelwasserstoffvergiftung Gestorbenen kann das 
Schwefelmethämoglobin nicht mehr nachgewiesen werden, weil die Verbindung 
im Gegensatz zum Kohlenoxydhämoglobin sehr lose ist. 

e) Organische Aetzstoffe. 

Es gibt eine ganze Reihe von organischen Giften, theils thierischer, 
theils pflanzlicher Herkunft, theils auch künstlich erzeugter Stoffe, welche, ob¬ 
zwar sie chemisch sehr verschieden constituirt sind, nach ihrer Wirkung zu 


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VERGIFTUNGEN. 


den Aetzgiften gezählt werden müssen, da sie am Orte der Einwirkung aus¬ 
nahmslos mehr weniger intensive Entzündung mit nachfolgender Eiterang ver¬ 
anlassen. Alle hiehergehörigen Stoffe haben das Gemeinsame, dass sie theils 
auf der äusseren Haut, theils auf Schleimhäuten, im Unterhautzell- und Binde¬ 
gewebe zunächst Gefässerweiterung veranlassen; diese führt zu Hyperämie, zu 
Röthung und Schwellung, Temperaturerhöhung der betreffenden Stelle, weiter 
zum Austritte gerinnungsfähigen Serums oder Plasmas aus den Capillaren, 
wodurch der Abfluss der normalen Ernährungsflüssigkeit der Gewebe nicht 
mehr in gewöhnlicher Weise erfolgt, es entsteht also Oedem. Dem Austritt 
von Plasma folgt sehr bald die Auswanderung weisser Blutkörperchen, es 
kommt zur Eiterung. Von den überaus zahlreichen, hieher gehörigen Thier- 
und Pflanzengiften wollen wir nur die Kanthariden, die Filixsäure und die 
Sabina einer kurzen Besprechung unterziehen. 

Kanthariden. Die spanischeFliege, Lytta vesicatoria oder Kantharis, 
ist weder eine Fliege, noch stammt sie aus Spanien; sie ist ein Käfer von 
schön grüner Farbe, der hauptsächlich in Südrussland aber auch im Süden von 
Deutschland häufig vorkommt. Der wirksame Bestandtheil ist das Kantharidin, 
welches im Wasser sehr schwer löslich ist, leicht dagegen in Alkohol, Aether, 
Chloroform und in fetten Oelen. Es ist in chemischer Hinsicht das Anhydrid 
der Kantharidinsäure. Es wirkt örtlich ausserordentlich heftig entzündüngs- 
erregend, seine Fernwirkung besteht auch bei der Einverleibung durch den Mund 
in einer ungewöhnlich starken Hyperämisirung der Harnwege und der Genital¬ 
organe, ausserdem werden auch Gehirn und Rückenmark gereizt. Auf der Haut 
entstehen die bekannten Vesicatorblasen. Der Wirkung auf das Urogenitalsystem 
verdanken die Kanthariden ihre ausgebreitete Verwendung als Aphrodisiacum 
und Abortivum; verwendet wird hiezu sowohl das Kantharidenpulver, das heisst 
die gepulverten, trockenen Insecten, dann Kantharidentinctur, allenfalls das 
reine Kantharidin. 

Je nach der Form der Darreichung treten die Krankheitserschei¬ 
nungen verschieden rasch, meist in wenigen Stunden auf, bestehen in Brennen 
und Blasenbildung im Munde und Rachen, Schluckbeschwerden, die sich bis zur 
förmlichen Hydrophobie steigern können, Speichelfluss, heftigem Durstgefühl, 
in Erbrechen und Durchfall oft mit blutigen Beimengungen, Schmerzen in 
der Nierengegend, Harndrang, Brennen in der Harnröhre, Kopfschmerz 
Schwindel und Convulsionen. Unter oft tetanischen Krämpfen tritt der Tod 
im Coma ein. Bei Männern wird schmerzhafter Priapismus, bei Frauen 
Nymphomanie erzeugt. Die tödtliche Dosis beträgt 15 g Kantharidenpulver, 
30 g der Kantharidentinctur, 15 ^ des Pflasters, 10 bis 20 mg vom Kantharidin. 

Die anatomische Diagnose würde nur durch den eigenthümlichen Geruch 
der Kantharidenpräparate und durch den eventuellen Befund von Theilen des 
gepulverten Insectes, namentlich der so charakteristisch gefärbten Flügel¬ 
decken gesichert werden können. Sonst sind nur heftige Entzündungserschei¬ 
nungen der ganzen Magendarmschleimhaut und ungewöhnliche Hyperämisirung 
der Nierenschleimhaut und der Genitalwege noch bemerkenswert. 

Wurmfarnvergiftung. In den Wurzelstöcken vieler in- und ausländischer 
Farnkräuter ist eine wirksame Substanz enthalten, welche im Auszuge als 
Extradum filicis maris (aethereum), ein geschätztes Wurmmittel, in allen Ländern 
officinell ist. Durch ungeschickte Anwendung, nicht entsprechende Dosirung 
und ungewöhnliche Idiosynkrasie sind schon wiederholt Vergiftungen von 
Kindern und Erwachsenen, und zwar auch tödtlich verlaufene bedingt 
worden. Die tödtliche Dosis des Extractes schwankt nach dem Alter, 
nach der Bezugsquelle und Darstellungsweise sehr beträchtlich. Bei 
Kindern tritt der Tod nach 7—10 g, bei Erwachsenen nach 40—50 g 
Extract ein. Nach Paulssen soll die toxische Wirkung auf der amorphen Filix- 
säure (C S5 H 48 0 13 ) beruhen. Kobert hingegen fand das ätherische Oel toxisch. 


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VERGIFTUNGEN. 


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Die Krankheitserscheinungen bestehen in Erbrechen und Durch¬ 
fall, Schwere der Glieder und Schwächegefühl, Ohnmachtsanwandlungen, Som¬ 
nolenz, Pupillenerweiterung, Albuminurie und Krämpfen. 

Die Leichenbefunde zeigen wohl nichts Charakteristisches. Es ist 
Röthung der Magen- und Darmschleimhaut beobachtet worden mit zahlreichen 
Blutaustritten, welche besonders auf der Höhe der Falten vorhanden waren. 
Im Gehirn und Rückenmark können Zeichen eines acuten Oedems vorhanden 
sein, auch Blutaustritte in die Meningen und in die Retina kommen vor, die 
Niere zeigt wie bei so vielen anderen Vergiftungen das Bild einer parenchy¬ 
matösen Nephritis, Leber und Milz sind blutüberfüllt, die Lungen ödematös. 

Sadebaum. Die Endzweige von Juniperus Sabina, Sadebaum, auch Seven- 
baum, woraus hierzulande fälschlich Segenbaum gemacht wurde, gelten unter 
allen drastisch wirkenden Mitteln dieser Gruppe als ein besonders zur Herbei¬ 
führung des Abortus in hohem Grade geeignetes, örtlich reizendes Mittel. Es 
ist daher als Abortivum in weiten Ländergebieten in Gebrauch. Das wirk¬ 
same Princip ist bekanntlich das scharfe ätherische Oel, welches in eigenen 
Oeldrüsen an der Hinterseite der kleinen, dachziegelförmig übereinander gelegten 
Blättchen aufbewahrt ist. Wegen der Flüchtigkeit desselben geht an der 
trockenen Pflanze die Wirksamkeit allmählich verloren. Sowohl die Zweige 
(Frondes Sabinae) als noch mehr das reine ätherische Oel besitzen einen 
höchst widerwärtigen Geruch. 

Die Wirkung der Sabina ist gemischt, indem einmal heftige Reizerschei¬ 
nungen im Darmcanal, in den Nieren und den Genitalien auftreten, anderer¬ 
seits aber auch narkotische Wirkungen auf das Gehirn entstehen. Der Frucht¬ 
abgang erfolgt keineswegs immer sicher, ja es sind Fälle mit tödtlichem Aus¬ 
gange bekannt geworden, ohne dass Abortus eingetreten wäre. Die Erschei¬ 
nungen, welche meist erst eine oder mehrere Stunden nach dem Genüsse einer 
Abkochung — diese ist die häufigst gewählte Form der Gifteinführung — ein* 
treten, sind Erbrechen von stark nach Sabina riechenden Massen, blutige 
Durchfälle, Harnzwang, mitunter blutiges Erbrechen und Hämaturie. E3 
gesellen sich Krämpfe, Gefühl- und Bewusstlosigkeit und manchesmal die 
Symptome der Peritonitis hinzu; der Tod kann schon nach zwölf Stunden ein- 
treten, erfolgt aber manchesmal erst nach Tagen. 

Die Leichenöffnung liefert keinen charakteristischen Befund, es sind 
nur die Erscheinungen einer mehr weniger hochgradigen Entzündung des 
Magens und Darmcanals sowie Hyperämie aller Unterleibsorgane, Ecchymo- 
sirung von Nieren, Blase und Uterus vorhanden, auch soll manchesmal allge¬ 
meine Peritonitis beobachtet worden sein. Neben einer grünen Verfärbung 
der Magenwand durch das Chlorophyll der Pflanze und neben den vielleicht 
noch mitunter wenigstens im Darm vorhandenen grünlichen Massen der ein¬ 
geführten Abkochung würden insbesondere etwa aufgefundene Theile der be¬ 
kanntlich höchst charakteristischen Pflanze sowie der specifische Geruch die 
Diagnose sichern können. 

II. Die Parenchymgifte. 

Das Wesen der Giftwirkung der hieher gehörigen Körper besteht darin, 
dass sie erst auf dem Wege der Resorption zur eigentlichen Wirkung ge¬ 
langen, während die örtliche Einwirkung immerhin viel geringer ist als bei den 
eigentlichen Aetzgiften. Es scheint sich, wenigstens nach den Ausführungen 
von Löw (Ein natürliches System der Giftwirkung), um Störungen im Stoff¬ 
wechsel der Zellen durch Entziehung des Sauerstoffes zu handeln, der inter¬ 
mediäre Stoffwechsel ist infolge mangelnden Sauerstoffes in den Säften gestört, 
es tritt gewissermaassen eine Protoplasmaerstickung ein. Das Protoplasma, 
welches nicht genügend oder keinen Sauerstoff mehr zugeführt erhält, reagirt 
auf diesen Mangel durch weitgehende Ernährungsstörungen, die sich in end- 


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VERGIFTUNGEN. 


lichem Zerfall der Zellen, welcher durch die sogenannte körnige und fettige 
Degeneration eingeleitet wird, äussert. Löw nennt mit Recht, die hieher zn 
beziehenden Körper Oxydationsgifte. Es ist vor allem der Phosphor ein solcher 
Giftkörper und gewissermaassen das Prototyp eines Oxydations- oder 
Parenchymgiftes. Die fortgesetzte Oxydation des Phosphors entzieht dem Olga* 
nismus in den lebenden Zellen den Sauerstoff; der Phosphor wird zu 
phosphoriger Säure und Phosphorsäure oxydirt, dafür aber das Protoplasma 
der Zellen in der gedachten deletären Weise infolge des Sauerstoffmangels 
in den Parenchymen verändert. Ausser dem Phosphor wären in diese Gruppe 
noch zu stellen Arsen, Blei und Mutterkorn. 

Phosphor. Phosphorvergiftungen sind, wenigstens in einigem 
Umfang, erst bekannt geworden seit der Erfindung der Phosphorzündhölzchen im 
Jahre 1833, während die schon um 150 Jahre früher gemachte Entdeckung des 
Elementes, bevor die erwähnte, so ausgebreitete technische Anwendung platz¬ 
griff, nicht zu Vergiftungen führte. 

Die Zahl der Phosphorvergiftungen ist recht gross und wenigstens in 
unseren Ländern ziffermässig fast ebenso hoch als die der Arsenikvergif¬ 
tungen. Meistens handelt es sich um Selbstmorde, viel seltener um Morde 
oder unglückliche Zufälle; auch Medicinalvergiftungen sind infolge von Ueber- 
schreitungen der Maximaldosis beobachtet worden. Ausserdem findet Phosphor 
leider noch immer eine ausgebreitete Anwendung als Fruchtabtreibungsmittel, 
häufig mit tödtlichem Ausgange. Benützt werden fast ausschliesslich die 
Köpfchen der Phosphorzündhölzchen, die ein Gemenge von gelbem Phosphor 
mit Bleinitrat, Bleisuperoxyd, Salpeter, chlorsaurem Kalium, Kreide und Farb¬ 
stoff darstellen. Auch das Phosphoröl, Oleum phosphoratum, sowie die 
Phosphorpillen haben schon zu Vergiftungen geführt, sowie auch die Phosphor¬ 
paste. Die kleinste tödtliche Gabe des Phosphors beträgt, wenn er gut vertheilt 
oder gelöst ist, 005^, aber schon 0 015 g können schwere Vergiftungserschei¬ 
nungen veranlassen. Auf ein gewöhnliches Zündholzköpfchen kommen etwa 
3—5 mg gelben Phosphors, so dass schon 16 Zündhölzchen zur Vergiftung 
eines Erwachsenen genügen. Die tödtliche Wirkung des Phosphors kommt 
ihm selbst und auch noch den Wasserstoffverbindungen (Phosphorwasserstoff), 
nicht aber seinen Sauerstoffverbindungen zu. Die Phosphorsäure würde 
im concentrirten Zustande, wie jede andere concentrirte Mineralsäure als Aetz- 
gift wirken. Auch die Wirkung des Phosphorwasserstoffs ist von jener -des 
Phosphors selbst verschieden, es kommt ihm übrigens eine praktische Be¬ 
deutung als Gift wohl nicht zu. 

Die Symptome der Phosphorvergiftung sind gut bekannt. Einige 
Zeit, meist erst einige Stunden nach der Einverleibung, tritt Schmerz und 
Brennen in der Magengegend, knoblauchartig riechendes Aufstossen, endlich 
Erbrechen nach Knoblauch riechender und im Dunkeln leuchtender Massen 
ein, schliesslich wird Galle erbrochen. Nach den ersten stürmischen Erschei¬ 
nungen erfolgt nahezu ausnahmslos eine weitgehende Remission, welche zwei 
bis drei Tage andauern kann. Dann treten erst deutlich die Erscheinungen 
hervor, welche durch die tiefgehenden Veränderungen in den Parenchymen 
innerer Organe hervorgerufen werden. Es entsteht Icterus mit Schmerzhaf¬ 
tigkeit im ganzen Unterleib, es kommt neuerlich zu Magenschmerzen, Erbrechen 
galliger und selbst blutig gefärbter Massen, es tritt Durchfall ein, die Zunge 
ist belegt und man kann unter Umständen ein Leuchten des Athems im 
Dunkeln wahrnehmen, Die Leberdämpfung ist sehr stark vergrössert, es be¬ 
steht jetzt ein ausgedehnter, intensiver Icterus, der Puls ist klein und schnell, 
die Herztöne sind leise und unscharf abgegrenzt, der Harn enthält Eiweiss, 
Pepton, Gallenfarbstoff, Gallensäure, Leucin und Tyrosin, manchesmal auch 
Hämoglobin und phosphorhaltige Ptomatine. Die Dauer der Erkrankung ist 
verschieden, es kann beim Einnehmen einer Phosphorlösung oder einer Emul- 


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VERGIFTUNGEN, 


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sion von Phosphor der Tod auch schon innerhalb von Stunden, 6, 10, 20 
Stunden eintreten, oder in Tagen, drei bis acht Tagen. Er erfolgt durch 
primäre Herzlähmung, wobei mitunter dem Tode ein starkes Absinken der 
Temperatur vorausgeht. Bei längerer Dauer der Erkrankung können auch 
äusserlich wahrnehmbare Blutungen im Unterhautzellgewebe, in den Binde¬ 
häuten und Lidern auftreten. 

Auch Ansgang in Genesung kommt vor; in diesen Fallen ist der Verlauf Ober viele 
Wochen ausgedehnt. In zwei von mir beobachteten Fallen von nicht tödtlichem Ansgang 
der Phosphorvergiftung, wo es sich jedesmal um intendirte Fruchtabtreibung gehandelt 
hat, hat der Icterus über sechs und acht Wochen angedauert. Die Genesung war aber 
dann eine vollständige und es ist auffallender Weise in keinem der beiden Fälle Abortus 
eingetreten, sondern die Frauenspersonen haben am normalen Ende der Schwangerschaft 
ausgetragene Kinder geboren. 

Dem verschiedenen Verlaufe der Phosphorvergiftung entsprechend sind 
die Leichenbefunde keineswegs einheitlich, so sehr das auch in den Lehr¬ 
büchern oft gegentheilig dargestellt wird. Es bestehen vielmehr wesentliche 
Unterschiede in den Veränderungen der Organe, je nach der Zeit, welche die 
Vergiftung angedauert hat. Bei der alleracutesten Form ist die bekannte 
fettige Entartung der Leber noch kaum erkennbar. Ebenso sind noch nicht 
sehr weit gediehen die Veränderungen am Herzen, dagegen sind in diesen 
Fällen meist ziemlich intensive Heizerscheinungen in den Verdauungswegen, 
namentlich im Magen, ausgebildet. Das typische Bild der pathologischen 
Veränderungen bei Phosphorvergiftung findet man in der Hegel erst, wenn 
die Vergiftung drei bis fünf Tage gedauert hat. Diese sind: beträchtliche 
Vergrösserung der Leber infolge fettiger Entartung des ganzen Parenchyms, 
fettige Entartung des Herzfleisches, dieselbe Degeneration in den Nieren, 
ferner in den Stamm- und Gliedmassenmuskeln und fettige Entartung der 
Capillaren. Diese letztere Veränderung bedingt eine leichte Brüchigkeit und 
es treten nun Blutungen auf, welche in Bezug auf ihre Localisation vorwiegend 
von mechanischen Vorgängen abhängen. Wir finden daher in den binde¬ 
gewebigen Scheiden zwischen den Muskeln, namentlich den stark in Anspruch 
genommenen Hebe- und Beugemuskeln der Oberarme und der Schenkel, ferner 
zwischen den Bauchmuskeln, welche bei der Athmung fortgesetzt thätig sind, 
meist linsengrosse oft auch bis kreuzergrosse, Ecchymosen ähnliche Blutaustritte 
vor. Blutungen sind weiters vorhanden im Netz, zwischen den Blättern der 
Gekröse, am Pericard und Endocard, wo sie einen den Erstickungsecchyraosen 
ganz ähnlichen Charakter zeigen. Auch im Gehirne, bezw. seinen Häuten 
kommen aus derselben Ursache Blutungen vor, ja es sind schon umfäng¬ 
lichere Hämorrhagien auf Grund der fettigen Entartung von Capillaren im 
Gehirn beobachtet worden, so zwar, dass unter Umständen die Gehirnblutung 
zur unmittelbaren Todesursache bei der Phosphorvergiftung wird. Es sei 
noch bemerkt, dass die Blutungen auch vollständig fehlen können, und sie 
fehlen sogar in der Regel bei früh eingetretenem Tode. Es ist das auch 

S janz leicht verständiich, weil zu dieser Zeit eben die Verfettung der Endothe- 
ien noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass die Haargefässe dem Blut¬ 
drucke nicht mehr Widerstand leisten konnten. 

Die Phosphorvergiftung hat eine unverkennbare Aehnlichkeit mit einer Krankheit, 
welche Icterus gravis oder acute gelbe Leberatrophie heisst. Die Aehnlichkeit in den 
Symptomen nnd im Verlaufe beider Erkrankungen ist so gross, dass es bis vor kurzem 
poch Autoren gab, welche behaupteten, dass die acute gelbe Leberatrophie überhaupt eine 
Phosphorvergiftung sei, wo die Veränderungen in der Leber über die fettige Entartung hinaus 
zum Zerfalle des Parenchyms und dadurch hervorgerufener Verkleinerung der Leber vor¬ 
geschritten wäre. Diese Auffassung ist gewiss nicht haltbar, vielmehr ist die acute gelbe 
Leberatrophie eine Erkrankung eigener Art, deren Aetiologie allerdings noch keineswegs 
sichergestellt ist; wohl am meisten Zustimmung dürfte die Annahme finden, dass es sich um 
einen acuten, schweren septischen Process handelt, der durch Infection vom Darme aus 
hervorgerufen wird. In klinischer Beziehung unterscheidet sich die gelbe Leberatrophie 
durch die schon in vivo zu beobachtende Verkleinerung der Leber, während die Leber- 
dämpfung bei der Phosphorvergiftung fortwährend zunimmt, ferner durch viel stärkere 


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VERGIFTUNGEN. 


Fieberbewegungen, einen schnelleren Kräfteverfall, den Mangel des knoblanchartigen Ge* 
ruchs and Leuchtens der Ausathmungsluft. Das pathologisch-anatomische Bild der gelben 
Leberatrophie zeigt ein znsammengefallenes, schlaffes, oft geradezu fast znnderartig zer¬ 
fallendes, dabei nicht eigentlich fetthaltiges Parenchym mit starkem Lebericteras and bei 
der mikroskopischen Untersuchung Zerfallsproducte, wie sie bei der Phosphorvergiftung in 
der Leber nicht gefunden werden. Namentlich ist bei der gelben Leberatrophie schon 
in der Leber Leucin und Tyrosin in grosser Menge anzutreffen. 

Der Nachweis erfolgt im Erbrochenen, oder in den Stühlen, oder im 
Magen- und Danninhalt, der bei der Obduction gewonnen wurde, durch De¬ 
stillation des Phosphors und Beobachtung der übergehenden, im Dunkeln 
leuchtenden Dämpfe. Es können, da die Erscheinung der Phosphorescenz 
sehr auffällig ist und lange anhält, auch sehr geringe Spuren von unoxy- 
dirtem Phosphor nachgewiesen werden. Ist aber einmal die Oxydation vollzogen, 
was in einigen Tagen geschehen ist, dann ist der chemische Nachweis eigent¬ 
lich gar nicht mehr möglich, weil die gebildeten Oxydationsproducte, die 
phosphorige Säure und Phosphorsäure, ja normale Bestandteile der mensch¬ 
lichen Gewebe sind. 

Arsen. Neben Phosphor gehört entschieden Arsen, bezw. seine giftigen 
Verbindungen zu den allerwichtigsten Giften. Die Arsenikalien eignen 
sich schon aus dem Grunde in ganz besonders hohem Grade zu Giftmorden, 
weil sie einerseits keinen specifischen Geruch besitzen, andererseits in der 
Farbe zumeist so beschaffen sind, dass sie Speisen, namentlich dem Mehle, 
unbemerkt beigemengt werden können. Kaum irgend ein anderer Körper 
kann darum so leicht heimtückisch jemandem beigebracht werden. Es ist 
daher begreiflich, dass schon vor Jahrhunderten gerade dieser Stoff vielfach 
zu Giftmordzwecken Anwendung gefunden hat; so sind die nachgewiesenen, 
mehr als 600 Giftmorde, welche durch die berüchtigte Giftmischerin Tofana 
im 17. Jahrhundert verübt worden sind, durch ein Arsenikpräparat ausgeführt 
worden. Sie gab Thieren Arsenik ein, aus deren verfaultem Speichel sie die 
Acquetta di Napoli oder Aqua Tofana, offenbar ein arsenhaltiges Ptomatin, be¬ 
reitete. In den Alpenländern ist der weisse und gelbe Arsenik sehr weit im 
Volke verbreitet und das nahezu ausschliessliche Gift, dessen sich die Menschen 
hier bedienen. Namentlich Steiermark ist ein Land, in welchem die Arsenik¬ 
vergiftungen sehr häufig Vorkommen, so dass die Zahl der durch Arsenik 
herbeigeführten Todesfälle die durch alle anderen Gifte veranlassten weit 
übersteigt. 

Die in Betracht kommenden chemischen Körper sind: 

1. Metallisches Arsen (Fliegenstein, Scherbenkobalt anch Näpfchenkobalt), ist 
als chemisch reine Substanz ungiftig; allein die Oberfläche ist wohl ausnahmslos oxydirt, 
so dass auch Fliegen6teinpulver giftige Eigenschaften besitzt. 

2. Weisser Arsenik, Arsentrioxyd, As s 0 3 , Hüttenrauch (dialectisch verunstaltet 
in Hüttrach), ist das Anhydrid der arsenigen Säure, welches in glasigen Stücken mit glänzen¬ 
dem, muscheligem Bruch oder als weisses Pulver, sogenanntes Giftmehl oder Rattengift im 
Handel vorkommt. 

3. Arsensäure, H s As0 4 , wird inder Anilintechnik verwendet. — Beide Säuren bilden 
mit Alkalien sehr leicht wasserlösliche Salze, welche namentlich für die Herstellung der 
pharmakologischem Präparate verwendet werden. So ist die Solutio arsenicalis Fowleri 
eine Lösung von Kaliumarsenit, der Liquor Pearsonii eine Lösung von Natriumarsenat und 
der Liquor Bietti von Ammoniumarsenat. 

4. Gelber Arsenik, Arsentrisulfid, As 2 S 3 , Auripigment, Operment, Rauschgelb, ist 
in chemisch reinem Zustande eine unlösliche und daher ungiftige Verbindung des Arsens. 
Das Handelsproduct ist aber im Grossen dargestellt durch Destillation eines Gemenges von 
Schwefel und arseniger Säure; dieser gelbe Arsenik des Handels enthält immer reiche 
Mengen von arseniger Säure, welche bis zu 75°/„ des Präparates und noch mehr betragen 
kann. Darauf beruht die Giftigkeit des gewöhnlichen gelben Arseniks, durch welchen zahl¬ 
reiche Vergiftungen ausgeführt werden. Der gelbe Arsenik ist beim Landvolke der Alpen¬ 
länder vielleicht noch weiter verbreitet als der weisse. Gelber Arsenik mit gelöschtem 
Kalk und Wasser zu einem Brei angerührt, bildet das bei den Mohammedanern gebräuch¬ 
liche Rhnsma tartarum. In den Malerfarben Neugelb und Königsgelb ist immer Arsen¬ 
trisulfid enthalten. 


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VERGIFTUNGEN. 


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ö. Roth er Arsenik, Arsendisalfid, AsjS 2 , Realgar, Ranschroth, Rubinschwefel, 
Sandarak der Alten, ist im chemisch reinen Zustande ebenfalls ungiftig. Das künstliche, 
durch Destillation von Schwefelkies mit Arsenikkies dargestellte Präparat ist wegen seines 
Gehaltes an arseniger Säure giftig. 

6. Die grünen arsenhaltigen Farben, und zwar Kupferarsenit oder Scheel’- 
sches Grün und Schweinfurter Grün, ein Gemenge von Kupferarsenit und Kupferacetat, 
sowie die unter dem Namen Kaisergrün, Pariser Grün, Mitisgrün u. s. w. bekannten 
Malerfarben, welche sämmtlich solche Gemenge von Kupferarsenit und Kupferacetat sind. 

7. Anilinfarben und andere Farbstoffe enthalten sehr häufig Arsenverbindungen, 
da bei der technischen Darstellung dieser Farben arsenige Säure oder Arsensäure ver¬ 
wendet wird, namentlich Anilinroth und Fuchsin, dann aber auch Königsblau, Kobalt¬ 
ultramarin, Smalte, Cochenilleroth, Wiener Roth. 

8. In der Natur kommt eine giftige Arsen Verbindung vor, die sogenannte Kutten¬ 
berger Erde in Böhmen, d. i. arsenigsaures Eisen. 

9. Arsenwasserstoff ist höchst giftig, in Bezug auf seine Wirkung müsste er 
jedoch eine andere Stellung erhalten. Es ist ein höchst intensiv und rasch wirkendes Blut¬ 
gift. Der Tod der Chemiker Gehlen und Beitton wurde durch diesen, wohl nur in Labo¬ 
ratorien erzeugten Körper veranlasst. 

Die tödtliche Dosis von arseniger Säure kann von 01 g aufwärts ange¬ 
nommen werden, wenngleich auch Fälle bekannt sind, in denen grössere 
Mengen den Tod nicht bewirkt haben. Als Dosis toxica muss aber schon 
eine Gabe von 1— heg bezeichnet werden. Die zulässigen Maximaldosen der 
Pharmakopoen sind als Einzelgabe in Deutschland 5, als Maximaltagesgabe 
10 mg, in Oesterreich 6 und 12 mg. 

Die Wirkung besteht nach Resorption des Giftes in vasomotorischer 
Lähmung der Enden des Splanchnicus, dadurch hervorgerufenem Sinken des 
Blutdruckes und Erzeugung einer enormen Hyperämie der Unterleibsorgane. 
Dadurch kommt es zu ungewöhnlich reichlichen wässerigen Ausscheidungen 
auf den Schleimhäuten des Magens und der Gedärme, die noch dadurch ver¬ 
mehrt werden, dass die DarmdrUsen auch als Ausscheidungsorgan ftlr das im 
Blute circulirende Gift dienen. Die dadurch hervorgerufene, wenn auch 
nur mässige örtliche Reizung steigert noch die Erscheinungen der Gastro¬ 
enteritis. Von der Darmwirkung abgesehen, kommt es aber noch zu ähnlichen 
schweren Stoifwechselstörungen wie bei der Phosphorvergiftung, welche in 
fettiger Entartung des Parenchyms der Leber, der Nieren, des Herzens, des 
Zwerchfelles und der Darmepithelien, sowie der Intima aller Gefässe bestehen. 
Es kann dadurch bei etwas längerer Dauer der Vergiftung zu vielfachen Blut¬ 
austritten in verschiedenen Organen kommen, und es erfolgt in diesen Fällen 
der Tod durch Herzlähmung. 

Das Krankheitsbild der acuten Arsenikvergiftung ist ein zwei¬ 
faches. Bei der einen Form, welche dann zur Beobachtung kommt, wenn das 
Gift gelöst eingeführt wurde und sehr rasch in grosser Menge in die Circu- 
lation kommt, ist schon frühzeitig das centrale Nervensystem vorwiegend 
in Mitleidenschaft gezogen, es treten Schwindel, Kopfschmerzen, Ziehen in den 
Gliedern, Mydriase, Ohnmacht, Betäubung, Delirien, Krämpfe und Lähmungen 
auf. Diese Form der acutesten Vergiftung wird deswegen als Arsenicismus 
cerebrospinalis bezeichnet; der Tod kann dabei schon in einer Stunde ein- 
treten, erfolgt aber meist in 3, 6 bis 12 Stunden. 

Die viel häufigere Form ist die gastrointestinale, Arsenicismus gastro- 
intestinalis , welcher gewöhnlich innerhalb von 2 bis 5 und 10 Tagen verläuft, 
und zwar unter dem ausgesprochenen Bilde einer Gastro-enteritis mit den be¬ 
kannten choleraähnlichen Erscheinungen, nämlich dem wiederholten Erbrechen 
und den Durchfällen, welche in massigen Entleerungen reiswasserähnlicher 
Darmabsonderungen bestehen. In der Regel erst am zweiten oder dritten Tage 
kommt es auch zu cerebralen Erscheinungen, als Eingenommenheit, Bewusst¬ 
seinstrübung, Krämpfen, namentlich in Form von Wadenkrämpfen. Bei etwas 
protrahirterem Verlaufe gesellt sich parenchymatöse Nephritis, fettige Ent¬ 
artung der Leber und infolge dessen Icterus hinzu. . 


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VERGIFTUNGEN. 


Die Leichenbefunde sind: äusserlich: eingefallene, halonirte Augen, 
Cyanose des Gesichtes, Trockenheit der ganzen Leiche, in der Regel auch 
kleienartige Abschilferung der Haut; innerlich sind in der Mundhöhle, im 
Rachen, in der Speiseröhre in der Regel gar keine Veränderungen vorhanden. 
Der Mageninhalt kann mitunter etwas Blut beigemengt enthalten. Die Magen¬ 
schleimhaut ist meist mehr weniger stark geröthet, sammtartig glänzend, ge¬ 
schwellt, verdickt und mit ziemlich viel Schleim belegt. Zwischen den mehr 
weniger starren Falten findet man nicht selten im Schleim eingebettet Par¬ 
tikelchen der genommenen Verbindungen, auf deren Auffindung umso mehr 
Gewicht zu legen ist, als dadurch die Diagnose rasch gesichert wird. In den 
meisten Fällen ist auch eine starke Hyperämisirung der Schleimhaut vor¬ 
handen. Eine eigentliche Verätzung, wie sie vielfach behauptet wird, findet 
nicht statt. In manchen Fällen, namentlich wenn gelöstes Gift eingenommen 
wurde, sind die örtlichen Erscheinungen im Magen sehr schwach entwickelt. 
Aber auch in diesen Fällen, wo die gröberen makroskopischen Veränderungen 
fehlen, findet sich Infiltration des Gewebes mit Rundzellen (Gastro-enteritis 
arsenicalis parenchymatosa Virchow). Die Darmbefunde, welche hauptsäch¬ 
lich im Duodenum und Jejunum ausgesprochen sind, bestehen in der Regel 
in Röthung, namentlich aber Schwellung und Auswässerung, beziehungsweise 
Maceration der Schleimhaut, deren Epithelien in grosser Menge abgestossen, 
den flüssigen Ausscheidungen beigemengt eben die molkenähnliche Beschaffen¬ 
heit des Darminhaltes bedingen. Die solitären Drüsen und PAYER’schen 
Plaques sind markig infiltrirt. Bei längerer Dauer endlich sind die Leber, 
Nieren und selbst das Herz verschieden stark fettig degenerirt. 

Der chemische Nachweis erfolgt nach Zerstörung der organischen 
Substanzen mittels Salzsäure und chlorsauren Kaliums durch Ausfällung mit 
Schwefelwasserstoff und Erzeugung eines Arsenspiegels auf trockenem Wege 
oder durch den MARSH’schen Apparat. Da Arsen wie alle Metallgitte der 
Fäulnis widersteht, so ist ein positives Ergebnis des chemischen Nachweises 
noch nach Jahren möglich, wobei nur die Vorsicht zu beobachten ist, dass 
nicht etwa durch arsenhaltige Friedhoferde oder durch künstlich gefärbte 
Blumen oder durch andere der Leiche beigegebene Gegenstände Arsen von 
aussen in die Leiche kommt. Die so oft behauptete Mumification der mit 
Arsenik vergifteten Leichen habe ich bei zahlreichen Untersuchungen und 
Exhumirungen niemals beobachten können. 

Zum Schlüsse sei noch bemerkt, dass auch nach einmaliger Einverlei¬ 
bung einer grösseren Arsenmenge, wenn die Vergiftung nicht tödtlich ver¬ 
laufen ist, sich das Bild der chronischen Arsenik Vergiftung, welche 
als Tabes arsenicalis (Falck) bezeichnet wurde, entwickeln kann. Dies ist 
leicht verständlich, wenn man bedenkt, dass Arsenik wegen seiner grossen 
Affinität zu den Eiweissubstanzen lange zurückgehalten wird, so dass die 
Ausscheidung Wochen und Monate in Anspruch nehmen kann. 

Die Antimon- und Bleiverbindungen erzeugen annähernd ähnliche Ver¬ 
giftungsbilder; eine praktische Bedeutung kommt ihnen weniger zu, da acute 
Vergiftungen wohl nur selten zur Beobachtung gelangen. 

Mutterkorn. Ein wichtiges Parenchymgift ist das Mutterkorn, Secale 
cornutum, bekanntlich das Dauermycelium eines Pilzes, Claviceps purptirca, 
welches vielfach als Fruchtabtreibungsmittel in Anwendung gezogen wird. 
Das Mutterkorn enthält drei Bestandtheile, die Sphacelinsäure, das Cornutin 
und die Ergotinsäure; nur die beiden erstgenannten Substanzen sind nach 
den Untersuchungen von Dragendorff, Kobert u. A. giftig, während die 
Ergotinsäure ungiftig ist. Die experimentelle Toxikologie hat festgestellt, 
dass die Sphacelinsäure jene Erscheinungen der Secalewirkung bedingt, welche 
als Ergatismus gangraenosus bezeichnet werden, und die in kaltem Brande 
peripherer Körpertheile, so der Finger und Zehen, und in der Abstossung 


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VERGIFTUNGEN. 


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dieser bestehen. Das Cornutin dagegen bewirkt hauptsächlich jene Verände¬ 
rungen, wegen welcher das Mutterkorn in entsprechender Dosis auch in der 
Therapie so vielfache Anwendung findet. Diese Wirkung besteht in einer 
Reizung des Krampfcentrums im Gehirne, ferner des Vaguscentrums, des 
vasomotorischen Centrums und der Centren für die Uteruscontractionen im 
Rückenmark. Die Reizung des Vaguscentrums führt zu Pulsverlangsamung 
und später durch Lähmung zur Pulsbeschleunigung. Durch die Reizung des 
vasomotorischen Centrums kommt es zu beträchtlicher Blutdrucksteigerung, 
die später wieder in Lähmung umschlägt. Die Reizung der Krampfcentren des 
Gehirns bewirkt nach vorangehendem Kriebeln (daher Kriebelkrankheit) 
stundenlang andauernde tonische und klonische Krämpfe (Ergotismus convul- 
sims). Bei fortgesetztem Gebrauche kommt es zur Entwicklung der sogenann¬ 
ten Mutterkorntabes und zu Verblödung; das letztere wird nur bei chronischer 
Vergiftung im Falle von lange fortgesetztem Genuss von mutterkornhaltigem 
Mehle beobachtet. 

Die Obduction ergibt, wenn nicht etwa Theile des Mutterkornes noch 
gefunden werden, keine sicheren Anhaltspunkte für die Diagnose dieser Ver¬ 
giftung. Es sind nur ähnliche Veränderungen, wie nach Blei, Arsenik oder 
Phosphor, die sich insbesondere auch auf das centrale Nervensystem erstrecken, 
bei der chronischen Mutterkornvergiftung beobachtet worden. Der Nachweis 
kann durch das Auftreten des Geruches nach Trimethylamin bei Zusatz von 
Kalilauge, sowie durch die Auffindung des in der Aussenschichte des Mutter¬ 
korns enthaltenen Farbstoffes, des Skiererythrins geführt werden. 

III. Blutgifte. 

Die gemeinsame Wirkung der hieher gehörigen Körper besteht in Ver¬ 
änderungen des Blutes, welche allerdings wieder mannigfacher Art sind. So 
gibt es Gifte, welche durch Störung der Blutcirculation Gefässverlegung ver¬ 
anlassen, wie das Wasserstoffsuperoxyd, oder welche Fibringerinnung erzeugen. 
Andere lösen rothe Blutkörperchen auf, wie das in heimischen Giftschwämmen 
enthaltene Phallin und die Helvellasäure, auch Arsen- und Antimonwasser¬ 
stoff; andere bilden Methämoglobin, wie das chlorsaure Kalium und Nitro¬ 
glycerin, die Pikrinsäure, Anilin und Schwefelkohlenstoff; endlich gibt es 
Blutgifte, welche den Blutfarbstoff binden, beziehungsweise mit ihm neue Ver¬ 
bindungen eingehen, wie Schwefelwasserstoff, Blausäure und Kohlenoxyd. Nur 
wenige hieher gehörige Gifte haben ein praktisch-toxikologisches Interesse. 

Chlorsaures Kalium, KC10 S . Durch innerliche Darreichung zu grosser 
Dosen dieser Substanz sind bedauerlicher Weise ziemlich zahlreiche Medicinal- 
vergiftungen hervorgerufen worden. Nachdem man gegenwärtig die Gefähr¬ 
lichkeit dieses Körpers erkannt hat und dadurch vorsichtig geworden ist, 
wird diese Vergiftung fast nicht mehr beobachtet. Die Dosis toxica liegt 
über einigen Grammen, die Dosis letalis über 5 bis 10 g. Bei der Vergiftung 
wurden Erbrechen, profuse Diarrhöen, hochgradige Dyspnoe, tiefe Cyanose und 
Herzschwäche beobachtet, im Falle etwas protrahirteren Verlaufes infolge Zer¬ 
falles der rothen Blutkörperchen auch Icterus, ferner Functionsstörungen der 
Nieren und Störungen des Nervensystems, indem urämieähnliche Erschei¬ 
nungen auftraten. Die Leichenbefunde sind einigermaassen charakteristisch 
durch die Braunfärbung des Blutes infolge des gebildeten Methämoglobins 
und durch eine mehr minder ausgesprochene braune Verfärbung aller Organe. 

Blansänre, Cyanwasserstoff, CNH. Sie ist im Pflanzenreich, im Thier¬ 
reich und in künstlich dargestellten Substanzen vorhanden. Für Vergiftungen 
wird in der Regel das in der Technik und in den Gewerben mehrfach ge¬ 
brauchte Cyankalium verwendet. Es können aber auch Vergiftungen durch 
Cyansilber, Cyangold und Cyanquecksilber Vorkommen. Die Doppelsalze der 
Blausäure, das rothe und gelbe Blutlaugensalz, sind trotz ihrer Löslichkeit 


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VERGIFTUNGEN. 


angiftig, es könnten Vergiftungen nur bei gleichzeitiger Darreichung concen- 
trirter Mineralsäuren, welche Blausäure frei machen, erfolgen, und solche 
Fälle sind auch schon beobachtet worden. Auch pharmakologische Präparate, 
welche Blausäure enthalten, können zu Vergiftungen Anlass geben, so 
Aqua amygdalarum amararum, Aqua laurocerasi und Aqua cerasorum 
nigrorum. Giftmorde sind wegen des Geruches weniger leicht ausführbar und 
daher auch in der That viel seltener als die Selbstmorde und zufälligen Ver¬ 
giftungen. 

Die Erscheinungen sind ungemein stürmisch; sie bestehen in rasch 
auftretender Dyspnoe, Bewusstlosigkeit, Zusammenstürzen, in heftigen klonischen 
Krämpfen und Tod unter den Erscheinungen der Erstickung, mitunter in 
wenigen Minuten. 

Es ist heute durch Untersuchungen von Schönbein, Bbrnard, Preyer, Geppert, 
Zillkssen, Kobert u. A. wohl ausser Zweifel gestellt, dass die Blausäure eine eigenthüm- 
liche Veränderung des Blutes hervorbringt; während nämlich im normalen Blute die Blut¬ 
körperchen das Wasserstoffsuperoxyd mit Leichtigkeit in Wasser und Sauerstoff zersetzen, 
wird diese Zersetzung schon durch sehr kleine Mengen von Blausäure verhindert. Nach 
Geppert ist es erwiesen, dass der Organismus unter der Einwirkung der Cyanwasserstoff- 
saure weniger Sauerstoff aufnimmt und weniger Kohlensäure bildet als normal, selbst dann, 
wenn Sauerstoff in reichlicher Menge künstlich zugeführt wird. Es ist somit die Blausäure¬ 
vergiftung eine innere Erstickung der Organe. 

Die Vergiftung verläuft unter Schwindel, Bewusstseinstrübung, Kopf¬ 
schmerz, Präcordialangst, Störungen der Athmung und Krämpfen; in den 
acutesten Formen tritt sogleich das asphyktische Stadium ein, indem der 
Patient unter Pupillenerweiterung bewusstlos zusammenstürzt, und nach zwei 
bis drei krampfhaften Athemzügen und Convulsionen sein Tod erfolgt. 

Bezüglich der Leichenbefunde ist zu unterscheiden zwischen der 
reinen Blausäure- und Cyankaliumvergiftung. Im ersten Falle besteht nur 
eine ziemlich allgemein vorhandene mehr weniger starke, hellrothe Färbung 
des Blutes und leichte Röthung der Magenschleimhaut nebst allgemeinen Er¬ 
stickungsbefunden. 

Bei der Cyankaliumvergiftung dagegen besteht eine viel inten¬ 
sivere Röthung, welche sich von der Mundhöhle und vom Schlunde durch die 
ganze Speiseröhre und ganze Magenschleimhaut und Schleimhaut des oberen 
Dünndarmes erstreckt; dabei sind Ecchymosirungen und streifenförmige sub- 
mucöse Blutaustretungen im Magen nahezu Regel. Es kommt aber hier auch 
die Kaliumwirkung in Betracht, infolge welcher die Schleimhaut gallertartig 
gequollen, transparent und seifenartig anzufühlen und in ihren oberfläch¬ 
lichen Schichten in eine gelatinöse Masse verwandelt ist, ganz ähnlich wie 
bei den Alkalienvergiftungen. Zum Unterschiede von diesen ist jedoch die 
Färbung der Magenwand hellroth. So ist auch die Schleimhaut der oberen 
Luftwege, namentlich im Kehlkopfeingang und im Kehlkopfe gefärbt. Die 
anatomische Diagnose wird vor allem noch durch den charakteristischen Ge¬ 
ruch nach bitteren Mandeln, welcher oft schon vor Eröffnung der Leiche, 
sicher aber bei der Eröffnung der Körperhöhlen wahrgenommen wird, erleichtert. 

Der Nachweis des Giftes erfolgt durch Destillation und durch die 
Darstellung von unlöslichem Berlinerblau mittels zugefügter Kalilauge und 
Eisenvitriollösung, oder mittels der Rhodankaliumreaction, indem das Destillat 
mit Schwefelammonium abgedampft und dann mit einem Tropfen Eisenchlorid¬ 
lösung versetzt wird, wobei blutrothe Färbung eintritt. Das von Kobert 
entdeckte eigenthümliehe Blutspectrum von Cyanmethämoglobin ist im Leichen- 
blute nicht so ganz sicher auffindbar. 

Kohlenoxydgas, CO. Zur Vergiftung mit diesem Gase gibt Anlass das 
Ausströmen von Kohlendunst bei unvollständiger Verbrennung in Oefen, in 
offenen Kohlenbecken, Kohlenmeilern, Kalk- und Ziegelbrennereien, Giesse- 
reien, dann das Ausströmen von Leuchtgas und die Einathmung des soge¬ 
nannten Wassergases. Es sind zumeist unabsichtliche, zufällige Vergiftungen, 


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VERGIFTUNGEN. 


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aber auch Selbstmorde sind auf diese Weise schon ausgefübrt worden. Der 
Kohlendunst ist ein Gasgemenge, welches je nach dem Brennmaterial und 
der Art der Verbrennung verschiedene Mengen von Kohlenoxydgas, meist jedoch 
nur wenige Procente enthält. Ebenso ist im Leuchtgase das Kohlenoxyd in 
verschiedener Menge, und zwar beiläufig in den verschiedenen Gasarten zu 
5 bis 25% enthalten. Im Wassergase, welches neuestens auch ab und zu 
für Beleuchtungszwecke verwendet wird, finden sich 50 und mehr Procent 
Kohlenoxydgas vor. Die Giftwirkung beruht auf der Bildung einer schwer 
lösbaren Verbindung des eingeathmeten Gases mit dem Hämoglobin (Kohlen- 
oxydbämoglobin). Indem dadurch grössere Blutmengen ihrer physiologischen 
Function entzogen werden, da das Kohlenoxydhämoglobin nicht mehr fähig 
ist, Sauerstoff aufzunehmen, so kommt es zu dyspnoischen Erscheinungen und 
schliesslich zur inneren Erstickung. Die beobachteten Symptome bestehen in 
Kopfschmerz, Schwindel, Mattigkeit, Betäubung, Bewusstlosigkeit, reflectori- 
schem Erbrechen, Athembeklemmung, Coma, Sopor und Tod. Wegen der 
schweren Lösbarkeit des Kohlenoxydhämoglobins geht die Abgabe nur all¬ 
mählich und langsam vonstatten und es erfolgt nicht selten der Tod, auch 
nachdem der Mensch in gute Luft gebracht und einer rationellen Behandlung 
zugeführt worden ist; der Tod kann noch nach vielen Tagen eintreten. 

Die Leichenbefunde sind sehr charakteristisch. Sie bestehen in 
heller Färbung des Blutes, was zur Folge hat, dass schon das äussere An¬ 
sehen der Leichen ein auffallend frisches ist; sie haben ein Colorit, welches 
an das des lebenden Körpers erinnert. Auch die Todtenflecke sind hellroth; 
dieselbe auffallend hellrothe Färbung zeigen auch alle inneren Organe, das 
Gehirn ist meist rosenroth gefärbt, ähnlich die serösen Häute; die Parenchyme 
der Organe zeigen in der Regel mehr weniger ausgesprochene hellrothe bis 
zinnoberrothe Färbung. 

Der Nachweis erfolgt durch das bekannte spectrale Verhalten des 
Kohlenoxydblutes, indem das Spectrum die bekannten zwei Absorptionsstreifen 
zwischen den Frauenhofer’schen Linien D und E zeigt, welche durch die Ein¬ 
wirkung reducirender Mittel, namentlich des Schwefelammoniums nicht wie die 
zwei ähnlichen Streifen des Oxyhämoglobins zu einem breiten Absorptions¬ 
bande verschmelzen, sondern nach Zusatz des Reagens als getrennte Streifen 
erhalten bleiben. Ausserdem kann die Anwesenheit von Kohlenoxydgas im 
Blute noch durch einfache chemische Reactionen erwiesen werden, so nament¬ 
lich durch den Zusatz von Natronlauge (Natronprobe), wobei gewöhnliches 
Blut braun verfärbt wird, während Kohlenoxydblut hellroth bleibt. Aehnlich 
verhält es sich beim Zusatz von Schwefelwasserstoff, Schwefelammon und 
Kupfervitriol. 

IV. Die Herzgifte. 

Die Herzgifte sind Körper, welche primär das Herz in der Weise an¬ 
greifen, dass durch Erregung des Vaguscentrums und directe Beeinflussung 
der Herzmuskulatur eine Pulsverlangsamung und beträchtliche Blutdruck¬ 
steigerung herbeigeführt wird; bei Darreichung toxischer Mengen erfolgt nun 
bald der Umschlag in das Gegentheil und Tod durch Herzlähmung. Die Herz¬ 
gifte, zu denen neben Digitalis auch Helleborus, ferner das Muscarin des 
Fliegenpilzes gezählt wird, haben doch im ganzen mehr theoretische als 
praktische Bedeutung. Vergiftungen mit ihnen kommen wohl nur selten zur 
Beobachtung, da heute auch die giftigen Eigenschaften des Fliegenpilzes 
ziemlich allgemein bekannt sind. 

V. Die Nervengifte. 

Dahin gehören zunächst die als Narcotica und Anästhetica bekannten, 
im Heilschatze vielfach verwendeten Körper, so das Opium und seine Alkaloide, 
namentlich Morphin, ferner Chloroform, Chloralhydrat, Alkohol, Aether, dann 


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VERGIFTUNGEN. 


die pflanzlichen Alkaloide, Strychnin, Pikrotoxin, Nikotin, Atropin, Datnrin, 
Hyoscyamin. Eine grössere forensische Bedeutung kommt nur einigen dieser 
Körper zu. 

Opium und Morphium. Der Absud von Mohnköpfen, leider noch hie 
und da zur Beruhigung von Säuglingen und kleinen Kindern verwendet, führt 
ebenso wie das nicht allzu schwer zugängliche Opium des Handels, sowie 
die pharmakologischen Opiumpräparate (Opiumpulver, Opiumtinctur), dann das 
therapeutisch so vielfach angewendete Morphin, zu absichtlichen oder unab¬ 
sichtlichen Vergiftungen. 

Die Vergiftungserscheinungen spielen sich in zwei Stadien ab, 
einem Excitations- und einem Depressionsstadium. Im ersten sind Schwindel, 
Schwere des Kopfes, rauschartige Aufregung, Sinnesdelirien, Empfindlichkeit 
gegen Licht und Schall, Hautjucken, Ueblichkeiten und Erbrechen zu beob¬ 
achten, im zweiten fortschreitende Betäubung bis zum Eintritte von Bewusst¬ 
losigkeit, tiefer, pathologischer Schlaf, Sopor. Der Puls ist infolge von Vagus¬ 
lähmung frequent, die Ausscheidungen sind sistirt (Blasenlähmung), die Pupillen 
hochgradig verengt. Unter den Erscheinungen der centralen Lähmung erfolgt 
der Tod bei der acuten Vergiftung in der Regel innerhalb von fünf bis zwölf 
Stunden. 

Die Leichenbefunde bieten nichts Charakteristisches, es sei denn 
dass bei der Verwendung von Opium und seinen Präparaten der bezeichnende 
Opiumgeruch im Mageninhalte wahrgenommen würde. Ab und zu könnte die 
Anwesenheit von Bestandtheilen der Pflanze im Mageninhalte die Diagnose 
sichern. Bei der Verwendung der Tinctura opii crocata wäre die safrangelbe 
Färbung des Mageninhaltes und der Magenwand auffällig. Bei der Morphium¬ 
vergiftung sind ausser den allgemeinen Erstickungsbefunden gar keine Ver¬ 
änderungen sinnlich wahrnehmbar; der Beweis der stattgehabten Vergiftung 
fusst ausser auf den beobachteten Krankheitserscheinungen auf dem chemischen 
Nachweise, der durch das umständliche Verfahren von Stas-Otto oder nach 
Dragendorff ausgeführt wird. Die Identitätsreactionen werden mittels des 
FnöHDE’schen Reagens oder durch die HusEMANN’sche Reaction bewerkstelligt. 

Atropin. Dieses heftig wirkende Alkaloid der einheimischen Tollkirsche, 
Atropa Belladona, ist schon in Mengen von 7 bis 8 cg tödtlich. Die nach 
wenigen Minuten eintretenden Vergiftungserscheinungen bestehen in 
Muskelzittern, Betäubung, rauschartigem Erregungszustände, tobsuchtartiger Auf¬ 
regung, heiteren Delirien, Pulsbeschleunigung und maximaler Pupillenerwei¬ 
terung; unter Convulsionen tritt Tod durch Lähmung ein. Der Sections- 
befund ist negativ, der Nachweis der Vergiftung nur auf chemisch-physio¬ 
logischem Wege möglich. 

Strychnin. Neben dem Opium und Morphin kommt unter den Alka¬ 
loiden dem Strychnin wohl die grösste praktisch-toxikologische Bedeutung zu. 
Das Alkaloid, bekanntlich in der Brechnuss, Nux vomica, welche gepulvert als 
Krähenaugenpulver bekannt ist, neben Brucin enthalten, wird nicht allzu selten 
zu Selbstmorden verwendet, auch Giftmorde, darunter sehr sensationelle 
(Process Palmer und Demme-Trümpy) sind damit ausgeführt worden. 

Die Vergiftungserscheinungen stellen sich bald nach der Ein¬ 
verleibung, in etwa 15 bis 20 Minuten ein; sie bestehen in allgemeinem 
Uebelbefinden, Unruhe, Muskelziehen, Steifwerden, Erstickungsgefühl, endlich 
ausgesprochenem Trismus, Opisthotonus und allgemeinem Tetanus. Dabei ist 
im Gegensatz zur Wirkung der übrigen Alkaloide das Bewusstsein erhalten. 
Der Tod erfolgt unter hochgradiger Cyanose auf der Höhe eines langdauern¬ 
den tetanischen Anfalles. 

Der Sectionsbefund ist negativ. Auch die mehrfach behauptete auf¬ 
fallend hochgradige Todtenstarre ist wenigstens keineswegs in allen Fällen 


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VERLETZUNGEN. 


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vorhanden. Ich habe sogar bei Leichen, die zur Sommerzeit etwas länger 
gelegen waren, das Gegentheil beobachten können. Jedenfalls bildet das Ver¬ 
halten der Todtenstarre kein auch nur einigermaassen verlässliches anatomisches 
Kennzeichen der stattgehabten Strychninvergiftung. Auch die inneren Befunde 
sind negativ, es sind nur allgemeine Erstickungsbefunde vorhanden. Der 
Nachweis des Giftes geschieht nach Isolirung durch das STAS-Orro’sche 
oder DRAGENDOBFP’sche Verfahren mittels concentrirter Schwefelsäure und 
chromsauren Kaliums, wobei intensive Violettfärbung auftritt, die rasch in 
weinrothe Färbung Ubergeht, und durch den physiologischen Versuch. 

J. KRÄTTER. 


Verletzungen. Das weite Gebiet der Körperverletzungen um¬ 
fasst einen grossen Theil der gerichtsärztlichen Thätigkeit. Statistisch be¬ 
trachtet kommt die Summe aller anderen den Gerichtsarzt beschäftigenden 
Fälle nicht annähernd der Zahl der körperlichen Beschädigungen gleich; ihre 
Beurtheilung ist eine ständige Aufgabe des gerichtlichen Mediciners. Diese 
Aufgabe ist, so sehr auch selbst bei Aerzten vielfach eine gegentheilige Mei¬ 
nung herrscht, keineswegs selbstverständlich oder leicht, ja in sehr vielen 
Fällen sogar für den Erfahrenen ungemein schwierig. Die so selten richtig er¬ 
kannten gerichtsärztlichen Endziele sind ganz andere wie die heilärztlichen. 
Treffend hat dies Schauenstein mit folgenden Worten charakterisirt: „Für 
den Heilzweck ist eine Wunde eine Veränderung am Körper, deren mögliche 
üble Folgen für den Verletzten der Chirurg zu verhüten sucht; für den 
Gerichtsarzt ist die Wunde eine Wirkung, deren Ursache er genau zu er¬ 
forschen streben muss, eine Thatsache, deren Causalnexus mit einer bestimmten 
Handlung er logisch zu entwickeln hat. u 

Um dieser forensischen Aufgabe bei der Beurtheilung der Körperver¬ 
letzungen gerecht werden zu können, müssen dieselben stets in dreifacher 
Richtung betrachtet und analysirt werden: 1. nach ihrer Art, d. h. nach dem 
verletzenden Werkzeuge, mit dem sie beigebracht wurden; 2. nach ihrem 
Sitze; 3. nach den Folgen, welche sie nach sich gezogen haben. Die Be¬ 
gründung liegt in den praktischen Forderungen der Rechtspflege, welche ja 
überhaupt den Rahmen darstellt, den die Medicin mit einem entsprechenden 
Inhalt zu versehen hat. 

Die Frage nach dem Verletzungswerkzeuge ist eine ganz und gar 
selbstverständliche; sie muss in erster Linie erörtert werden; von ihrer Be¬ 
antwortung hängen nicht selten der Gang der Untersuchung, die richterliche 
Qualification und die Höhe der Strafzumessung ab. Die Körpergegend, welche 
den Sitz einer Verletzung bildet, ist bedeutungsvoll wegen der grossen Ver¬ 
schiedenheit der anatomisch-physiologischen Dignität der einzelnen Körper¬ 
regionen. Ein und dieselbe Verletzung mit dem gleichen Werkzeuge, z. B. 
einem Messer, beigebracht, hat eine ganz andere Bedeutung, je nachdem der 
Stich am Kopfe oder am Halse, am Gesäss oder in der Herzgegend sitzt. 
Von den thatsächlich eingetretenen Verletzungsfolgen endlich hängt zumeist 
das Schicksal des Angeklagten ab, nachdem alle Strafgesetzgebungen den 
Grundsatz vertreten, dass jedermann für die Folgen seiner Handlungen oder 
auch Unterlassungen verantwortlich sei. 

I. Die Art der Verletzungen. 

Sämmtliche Verletzungen sind nach der Art ihrer Zufügung entweder 
mit schneidenden oder stechenden Instrumenten, mit Schusswafien oder 
stumpfen Werkzeugen gesetzt worden. Je nach der verschiedenen Führung 
der Waffe, der besonderen Beschaffenheit oder der Kraft der Einwirkung sind 
die thatsächlichen Effecte mannigfach abgestuft, und ergeben sich dadurch 
noch besonders bezeichnet« Verletzungsarten als Untergruppen. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 60 


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VERLETZUNGEN. 


a) Verletzungen mit schneidenden Werkzeugen. 

a) Schnittwunden. Wirkt ein schneidendes Werkzeug tangential, d. h. 
durch Zug auf die Körperoberflache ein, so entsteht eine Zusammenhangs¬ 
trennung, welche als Schnittwunde bezeichnet wird. Die Schnittwunde ist 
gekennzeichnet durch glatte Beschaffenheit der Ränder, spitze Winkel und 
reinen, nicht gequetschten Grund. Da jede Schnittwaffe einen Keil mit un¬ 
terer, sehr spitzwinkeliger Kante und gegenüberliegendem, verschieden breitem 
Rücken darstellt, so ist der Querschnitt jeder Schnittwunde keilförmig, die 
Schnittwunde verjüngt sich nach der Tiefe. Zudem hat die typische Schnitt¬ 
wunde einen] geradlinigen Verlauf. Diese Merkmale treffen aber nur dann 
vollkommen zu, wenn das Instrument senkrecht zur Körperoberfläche gestellt 
und die getroffene Stelle eben oder wenig gekrümmt ist. Fällt es jedoch 
nicht im rechten, sondern im stumpfen Winkel ein, so sind die Wundränder 
am Einfallswinkel entsprechend abgeschrägt; der dem stumpfen Einfallswinkel 
zugekehrte Wundrand ist nach oben, der andere nach unten zugeschärft. 
Auf diese Weise entstehen schliesslich Lappenwunden. Die Grösse der 
gebildeten Lappen ist von der Neigung des Werkzeuges, der Krümmung der 
getroffenen Körperstelle, der Länge und Schärfe des Instrumentes, sowie von 
dem Druck und der Geschwindigkeit abhängig, womit es über die Körper¬ 
oberfläche geführt wird. Wird die Neigung so gross, dass die Fläche des 
Messers zur Körperoberfläche parallel oder nahezu parallel gestellt ist, so 
kann ein Theil der letzteren ganz abgetragen werden, es entsteht eine 
Flächenwunde. Solche Schnittflächen können auch bei mehr weniger senk¬ 
rechter Stellung der Wafle dann gebildet werden, wenn hervorragende und 
kleine Körpertheile, wie Ohren, Nase, Finger, Zehen, getroffen werden. Für 
die Beurtheilung der Stellung des Angreifers, sowie der eigenen oder fremden 
Schuld ist die genaue Betrachtung der Wundbeschaffenheit von grosser Wich¬ 
tigkeit. 

Von den Eigenschaften einer Schnittwunde sind endlich noch in Betracht 
zu ziehen die Klaffung und die Tiefe derselben. Der Grad der Klaffung wird 
von der Faserrichtung und dem Retractionsvermögen der verletzten Haut- 
steile bedingt und wechselt dementsprechend; die Tiefe hängt von der Schärfe 
des Werkzeuges und der Kraft der Führung, sowie von anatomischen Ver¬ 
hältnissen ab. Knochen hemmen in der Regel das Tieferdringen selbst bei 
grossem Kraftaufwand. 

Die Wirkung einer Schnittverletzung ist ganz und gar abhängig von 
der physiologischen Dignität der verletzten Gewebe. Wir bezeichnen den 
Effect durch Nennung des getroffenen Theiles und sprechen demgemäss von 
Haut-, Muskel-, Sehnen-, Gefäss-, Nerven-, Knochenwunden u. s. w. 

Forensisch beachtenswert ist auch die Thatsache, dass manchesmal durch 
einen einzigen Schnitt zwei oder mehrere getrennte Wunden entstehen können. 
Es ist dies bei Faltungen der Haut, z. B. am Halse, ganz leicht möglich oder 
wenn eine Klinge durch einen starken Widerstand abgelenkt wird oder wäh¬ 
rend der Führung abbricht. 

3. Hiebwunden. Wirkt das schneidende Werkzeug nicht durch Zug, 
sondern durch Druck, beziehungsweise Fall, indem es auf die Körperober¬ 
fläche senkrecht eingetrieben wird, so entsteht eine Zusammenhangstrennung, 
welche als Hiebwunde bezeichnet wird. Während zum Schnitte alle Arten 
der Messer, vom schlechtest beschaffenen Taschenmesser bis zum Dolche 
und Hirschfänger verwendet werden, sind die Hiebwaffen in der Regel längere 
und schwerere schneidende Werkzeuge, wie Säbel, Faschinenmesser, Beile. 

Die Hiebwunde zeigt als eine ebenfalls durch ein schneidendes Werk¬ 
zeug hervorgebrachte Verletzung in der Regel alle Merkmale einer Schnitt¬ 
wunde. Sie unterscheidet sich von dieser nur dadurch, dass infolge der 
Schwere des Hiebwerkzeuges nicht selten die Wundränder gequetscht sind 


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VERLETZUNGEN. 


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und die Wände eine viel grössere Tiefe besitzt. Deswegen sind Hiebwunden 
auch in der Regel weit gefährlicher als reine Schnittwunden. Während dem 
Schnitte fast ausnahmslos durch Knochen ein unüberschreitbares Ziel nach 
der Tiefe zu gesetzt wird, dringen Hiebwaffen sehr häufig in den Knochen 
ein und spalten oder zertrümmern ihn. Besonders gefährlich sind deswegen 
Kopfhiebwunden, insbesondere solche mit Beilen, schweren Cavalleriesäbeln 
und Haubajonetten. Splitterungen der knöchernen Schädelkapsel, sowie Ver¬ 
letzungen der Hirnhäute und des Gehirns sind nebst manchesmal auch starker 
Quetschung der Weichtheile die gefürchteten Folgen derselben. 

Eine Hiebwaffe ist umso gefährlicher, je mehr sie wiegt und je weiter 
ihr Schwerpunkt nach vorne zu gerückt ist. Darum ist der studentische 
Schläger, dessen Schwerpunkt im Korbe liegt, eine verhältnismässig wenig 
gefährliche Hiebwaffe, der Säbel eine schwerere, weil sein Unterstützungs^ 
punkt sich meist schon nahe der Mitte der Klinge befindet, und das Beil 
die schwerste, weil bei ihm der Schwerpunkt im vordersten Teile, gerade Uber 
der Schneide liegt. Stumpfe Hieb Werkzeuge, z. B. ungeschliffene, schwere, 
militärische Seitenwaffen und stumpfe Beile, sind wegen der Weichtheil- 
quetschung und Knochensplitterung in der Regel, namentlich am Kopfe ge¬ 
fährlicher, als scharfschneidende. Bei der Beurtheilung von Hiebwunden 
werden neben der physiologischen Wertigkeit der verletzten Theile auch diese 
Eigenschaften der Waffe zu beachten sein. 

b) Verletzungen mit stechenden Werkzeugen. 

v) Stichwunden. Alle mit einer Spitze versehenen Werkzeuge und 
Waffen, mögen sie sonst was immer für eine Gestalt besitzen, können, in der 
Richtung ihrer Längsachse gegen die Körperoberfläche gestossen, diese durch¬ 
trennen und in den Körper eindringen. Die in solcher Weise erzeugten Zu¬ 
sammenhangstrennungen werden Stichwunden genannt. Man unterscheidet 
an ihnen eine Einstichöffnung und einen Stichcanal. 

Die Einstichöffnung ist stets ein spaltförmiger Hautschlitz mit 
spitzen Winkeln und glatten Rändern, gleichgiltig, ob das Werkzeug ein 
conischer Stachel mit kreisrundem Querschnitt, eine reine Stichwaffe, ein 
einschneidiges oder zweischneidiges Instrument (Messer, Dolch) ist; nur bei 
der im ganzen recht seltenen Verwendung von drei- und mehrkantigen Stich¬ 
werkzeugen werden sternförmige Stichöffnungen mit der Kantenzahl ent¬ 
sprechenden Zacken gebildet. Bei vielkantigen, nicht gekehlten Instrumenten 
werden die Zacken wegen der' durch den grossen Kantenwinkel bedingten 
Stumpfheit der einzelnen Kante undeutlich, und es können auch durch sie 
von den typischen Einstichen kaum zu unterscheidende Schlitze gebildet 
werden. Die Form der Eingangsöffnung ist also nur bis zu einem gewissen 
Grade von der Beschaffenheit des Werkzeuges abhängig; sie hat niemals eine 
dem Querschnitte desselben genau entsprechende Gestalt. Das so häufig ver¬ 
wendete einschneidige Messer mit Rücken, der zweischneidige Dolch, der 
conische Stachel und der Stossdegen erzeugen gleiche Verletzungsfiguren der 
Einstichöffnung. 

Diese befremdende Thatsache hängt mit der schon von Dupuytren und 
Malgaigne gekannten, durch Langer eingehend studirten Spaltbarkeit der 
Haut zusammen. Der Faserverlauf ist an verschiedenen Stellen der Haut 
wohl verschieden, aber sehr regelmässig. Parallel der Richtung des Faser¬ 
verlaufes weicht die Haut auseinander, wenn ein spitzes Instrument eindringt, 
und so kommt es, dass ein Dorn oder Stachel, an jeder Stelle der Körper¬ 
oberfläche eingestossen, immer eine spaltförmige, spitzwinkelige und scharf- 
randige Wunde erzeugt. 

Reine Stichwerkzeuge, das sind solche, die nur eine Spitze, aber keine 
Schneide besitzen, kommen verhältnismässig sehr selten zur Anwendung. Die 

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VERLETZUNGEN. 


meisten Stich Verletzungen werden durch Messer gesetzt, sind also eine Ver¬ 
bindung von Stich und Schnitt. Wir bezeichnen daher auch die so häufig 
zur gerichtsärztlichen Beurtheilung kommenden Messerstichverletzungen als 
Stich-Schnittwunden. Bei diesen zeigt der Einstich nicht selten ein 
besonderes, wohl zu beachtendes Verhalten. Einmal ist die Wundrichtung 
von der physiologischen Spaltbarkeit der Haut unabhängig, die Fasern werden 
eben in der Richtung, in welcher das Messer gestellt ist, durchschnitten; es 
hängt also die Stellung des Schlitzes ganz von der Stellung des Messers und 
nicht von der Faserrichtung ab. Dagegen ist der Grad der Klaffung der 
Wunde hinwiederum davon abhängig, ob das Messer in der Richtung des 
Faserverlaufes oder auf diesen quergestellt eingedrungen ist. In letzterem 
Falle klafft die Wunde stärker wie im ersten. Bei starker Klaffung kann 
es sogar geschehen, dass eine Verkürzung der Wunde eintritt und die Ein¬ 
stichöffnung um 1—2 mm kürzer ist, als die grösste Breite des Messers be¬ 
trägt. Diese Wundverkürzung wird bei Messerstichwunden auch noch durch 
Einstülpung und Dehnung der elastischen Haut durch den Rücken des Messers 
hervorgerufen; der eingestülpte und gedehnte Theil kehrt nach dem Heraus¬ 
ziehen wieder in seine frühere Lage zurück. Es ist dies ein höchst beach¬ 
tenswertes Verhalten und mahnt zur Vorsicht bei der Beurtheilung der Frage, 
ob eine Wunde durch ein bestimmtes vorliegendes Messer beigebracht werden 
konnte oder nicht. 

Aber häufiger als eine Verkleinerung findet durch Messerstiche eine 
Vergrösserung der Wunde beim Rückziehen des Messers statt. Dabei wird 
nicht selten die Richtung geändert und das Messer in einer anderen Ebene 
zurückgezogen, als wie es eingestochen wurde. Dadurch entstehen nicht nur 
grosse, sondern auch winkelige Einstichöffnungen. 

Der Stichcanal ist eine der Stichrichtung entsprechende, geradlinige 
Durchtrennung der tieferen Gewebe und inneren Organe. Seine Länge hängt 
ab von der Grösse und Schärfe der Klinge und von der Kraft des Stosses. 
Knochen setzen nicht selten auch dem Vordringen von Stich Werkzeugen ein 
Ziel. Oft dringt aber ein solches, wenn es mit entsprechender Kraft geführt 
wurde, auch noch in den Knochen ein und durch diesen hindurch, z. B. ins 
Schädelinnere. Wurde Knochen oder Knorpel getroffen, so ist dies für die 
Beurtheilung der Stellung des Angreifers und der Stossrichtung von entschei¬ 
dender Wichtigkeit. Während die schlitzförmige Hautwunde nicht erkennen 
lässt, wohin die Schneide und wohin der Rücken des Messers gekehrt war, 
lässt die Knochen- oder Knorpelwunde darüber keinen Zweifel; sie hat (bei 
Messern mit Rücken) stets die Keilform und spiegelt überhaupt den Quer¬ 
schnitt des eingedrungenen Verletzungswerkzeuges wider. 

Bei den anderen Geweben und den inneren Organen ist dies nicht der 
Fall. Hier kommt wieder vielfach die Faserrichtung und Spaltbarkeit in der 
Beschaffenheit der Verletzungsfiguren zum Ausdrucke, so beispielsweise beim 
Magen und Darm, wo nicht selten entsprechend der verschiedenen Faserrichtung, 
die Serosa in anderer Richtung gespalten ist als die Muscularis. Die Ver¬ 
letzungsfiguren der Gewebe mit ausgesprochener Faserrichtung sind beinahe 
ausnahmslos mehr weniger spitzwinkelige Spalten und Schlitze; in nicht ge¬ 
schichteten Organen, wie Gehirn, Leber, Lungen, Milz, Nieren erscheinen die 
Stichcanäle oft als nicht scharf begrenzte, mit Blut und Gewebstrümmern aus- 
gefüllte Zerstörungsgänge. 

Manchesmal wird auch bei eindringenden Stichverletzungen kein Stich¬ 
canal gebildet, sondern die schräg eingestossene Waffe schlitzt die Organe nur 
auf, ohne in dieselben vorzudringen; es finden sich dann rinnenförmige Ge- 
websdurchtrennungen an der Oberfläche, z. B. der Leber, der Lungen, des 
Herzens vor. Auch die Haut kann bei sehr schräg auffallendem Werkzeug 


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in ähnlicher Weise rinnenförmig gespalten werden. Eine solche Stichver- 
letzung gleicht dann vollkommen einer Schnittwunde. 

Zu beachten wäre schliesslich noch die Möglichkeit der Ablenkung des 
Stichwerkzeuges durch Knochen, wie etwa die Rippen. Dadurch kann der 
Stichcanal eine Richtung bekommen, welche ganz und gar abweicht von der 
eigentlichen Stichrichtung. Ich habe bei einem Messerstich ins Gesicht ein 
solches Abspringen des Messers von einem Zahn auf die rechte Wange ge¬ 
sehen. Es wurde dadurch ausser einer der ursprünglichen Stichrichtung ent¬ 
sprechenden Spaltung der Oberlippe noch eine tiefe Lappenwunde der Wange 
erzeugt. Beide Wunden waren drei Querfinger von einander entfernt und doch 
durch einen Act erzeugt worden. 

c) Verletzungen durch Schusswaffen. 

8) Schusswunden. An typischen Schusswunden ist dreierlei zu unter¬ 
scheiden: Der Einschuss, der Schusscanal und der Ausschuss. 

Die Einschussöffnung verhält sich wesentlich verschieden, je nach¬ 
dem der Schuss aus der Nähe oder aus grösserer Entfernung abgegeben 
wurde. Vom Standpunkte der forensischen Praxis ist die Unterscheidung von 
Nah- und Fernschüssen von grosser Wichtigkeit. Als Naheschuss wird der¬ 
jenige bezeichnet, bei welchem sich an der Einschussöffnung noch die Explo- 
sions- und Flammenwirkung bemerkbar macht. Der Abstand, in welchem dies 
geschieht, ist für die verschiedenen Waffengattungen verschieden gross; er 
wird umso grösser, je besser die Construction der Waffe und je stärker die 
Pulverladung ist. Versuche haben ergeben, dass mit modernen Militärgewehren 
Papier noch auf Entfernungen von anderthalb Meter und darüber in Brand 
geschossen werden kann, während bei Revolvern gewöhnlicher Art dies oft 
schon in einem Abstand von einem halben Meter nicht mehr der Fall ist. Im 
Durchschnitt werden die charakteristischen Merkmale des Naheschusses in der 
Regel nicht mehr ausgeprägt sein, wenn die Mündung der Waffe über einen 
Meter von der Körperoberfläche entfernt ist. Ein Fernschuss schliesst die 
eigene Handanlegung aus. 

Die Untersuchung einer Einschussöffnung hat sich zu erstrecken auf die 
Form und Grösse der Zusammenhangstrennung und auf die Beschaffenheit der 
Umgebung. 

Der Einschuss ist keineswegs immer, ja nicht einmal in der Mehrzahl 
der Fälle, eine kreisrunde, dem Querschnitt des Projectils entsprechende 
Oeffnung, sondern hat insbesondere beim Naheschuss mannigfach abweichende 
Gestalten. So kommen durch die Explosivwirkung der Pulvergase mitunter 
Zerreissungen der Haut nach verschiedenen Richtungen vor; es entstehen stern¬ 
förmige Verletzungsfiguren oder die Beratung der Haut erfolgt in der Richtung 
ihrer Spaltbarkeit, so dass schlitzförmige Einschussöffnungen erzeugt werden. 
Das erstere geschieht nicht selten durch Gewehre, namentlich Militärgewehre, 
welche ausgedehnte Zerreissungen der Haut herbeiführen können, letzteres ist 
fast Regel bei den kleinen Spitzkugeln der Revolver. Die schlitzförmigen Ein¬ 
schüsse können Stichwunden so sehr ähnlich sein, dass Verwechslungen nicht 
nur möglich, sondern thatsächlich schon wiederholt vorgekommen sind, so im 
bekannten Falle der Ermordung des Schriftstellers Victor Noir durch den 
Prinzen Peter Bonaparte. 

Was die Grösse der Einschussöffnung anlangt, so ist dieselbe mitunter 
grösser oder gleich gross, wie der grösste Querschnitt des eingetretenen Pro¬ 
jectils; in vielen Fällen jedoch sogar um etwas kleiner. Diese wiederholt zu 
beobachtende Thatsache wird verständlich aus der bekannten grossen Dehn¬ 
barkeit und Elasticität der Haut. Wird ein Projectil gegen die Haut getrieben, 
so stülpt sich diese unter der Wirkung des drückenden stumpfen Körpers zu¬ 
nächst trichterförmig nach innen, wobei sie maximal gedehnt wird; endlich 


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VERLETZUNGEN. 


rewst der Trichter an seiner Spitze ein, das Projectil schiesst unter Dehnung 
der kleinen Oeffnung hindurch, und die Haut kehrt dann wieder in ihre 
Gleichgewichtslage zurück. Auf diese Weise kann eine Eingangsöffnung ent¬ 
stehen, deren Durchmesser bis zu zwei Millimeter geringer ist, als der Durch¬ 
messer des eingetretenen Projectils. Solche kleinere Einschussöffnungen kommen 
sowohl bei Kugel- wie hei Spitzkugelschüssen vor. Experimentell ist diese 
Thatsache durch Versuche von Busch mitiSchüssen gegen Kautschuckplatten 
beleuchtet worden. Er fand dabei stets e n winziges Loch, welches kaum ein 
Drittel des Durchmessers der Kugel hatte, aber einen dem Kugeldurchmesser 
entsprechenden schwarzen Hof besass. Dieser Hof entspricht der als Brand¬ 
saum bezeichneten innersten Zone der Umgebung des Einschusses, wovon noch 
im weiteren die Bede sein wird. 

Die Umgebung der Einschussöffnung ist für die Diagnose des Nahe¬ 
schusses von entscheidender Bedeutung. Zunächst ist die Haut im Umkreise 
von ein oder mehreren Centimetern, je nach der Grösse des Zerstreuungs¬ 
kegels durch Pulverschmauch geschwärzt. Diese Schwärzung kann weggewischt 
werden. Ist dies geschehen, so gewahrt man meist ziemlich zahlreiche, in die 
Haut eingesprengte Pulverkörner, so dass die Umgebung der Wunde auf 
einige Entfernung ein gesprenkeltes Aussehen hat. Die Pulverkörner können 
nicht weggewischt werden; sie sitzen in der Lederhaut fest. In dieser ganzen 
Strecke sind die Haare versengt. Der innerste, unmittelbar an der Wunde 
liegende Theil der Umgebung ist in der Regel ein mehrere Millimeter breiter 
Hautsaum, dessen Epidermis abgängig und der lederartig vertrocknet ist. 
v. Hofmann erklärte diese Erscheinung rein mechanisch durch Quetschung 
und Abschürfung der Haut von Seiten des durchtretenden Projectils und 
nicht als Verbrennung, so dass die Bezeichnung „Brandsaum“ unzutreffend 
wäre. Als ein besonderes Kennzeichen des Naheschusses hat R. Paltauf noch 
die Entwicklung der hellrothen Kohlenoxydfärbung des Blutes und der Musku¬ 
latur der Umgebung namhaft gemacht. Diese Erscheinung ist mitunter sehr 
schön entwickelt, in der Mehrzahl der Fälle ist sie jedoch nicht ausgeprägt. 
Nur kohlenreiche Pulverarten entwickeln bei der Explosion Kohlenoxydgas in 
jener Menge, um dem extravasirten Blute die bleibende hellrothe Färbung 
des Kohlenoxydhämoglobins zu geben. 

Der Schusscanal ist meistentheils eine geradlinige Fortsetzung der 
Schussrichtung im Innern des Körpers. Denkt man sich den Schusscanal nach 
aussen geradlinig verlängert, so erhält man die Richtung, aus welcher der 
Schuss abgefeuert wurde. Allerdings erhält der Schusscanal nicht selten Ab¬ 
lenkungen von der ursprünglichen Richtung. Es ist dies besonders dann 
häufig der Fall, wenn die Kugel auf Knochen stösst. Dabei kann sie einer¬ 
seits selbst aus der Richtung gebracht werden, anderseits bilden die abge¬ 
rissenen Knochensplitter neue secundäre Projectile, welche nach verschiedenen 
Richtungen ins Gewebe eingetrieben werden und mitunter umfängliche Zer¬ 
störungen der Organe, namentlich des Gehirns und der Lungen herbeiführen 
können. Auch die sogenannten Ringel-, Bogen- oder Contourschüsse stellen 
Ablenkungen von der geraden Bahn dar. Das Projectil wird, auf Knochen an¬ 
schlagend, im Bogen abgelenkt und kann dann längs einer natürlichen ge¬ 
krümmten Wand, z. B. an der Concavität des Schädeldaches hinlaufen. Be¬ 
achtenswert ist auch für die Beurtheilung der Schussrichtung aus dem Ver¬ 
laufe des Schusscanals, dass der Körper auch durch ein Geschoss getroffen 
werden kann, welches ursprünglich gar nicht gegen ihn gerichtet war, son¬ 
dern welches auf seinem Wege durch Aufschlagen auf einen harten Gegen¬ 
stand aus seiner anfänglichen Richtung unter einem Winkel abgelenkt worden 
ist. Dieseindirecten Schüsse werden Ricochet-Schüsse genannt. In man¬ 
chen Fällen ist der Schusscanal kein Canal, sondern eine Rinne, an der Ober¬ 
fläche innerer Organe, ähnlich wie die rinnenförmigen Stichcanäle. Durch Verschie- 


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buogen der verletzten Organe, namentlich der Lungen und noch mehr der 
Gedärme, kann der Schasscanal derart verzerrt werden, dass die Reconstruction 
der eigentlichen Schussrichtung manchmal eine ziemlich schwierige Aufgabe 
ist. Manchesmal ist überhaupt kein Schusscanal, sondern nur ein Zerstörungs¬ 
herd vorhanden, so nicht selten bei Naheschüssen (Selbstmorden) aus Militär¬ 
gewehren, wenn der Schuss den Kopf getroffen hat. Durch das Eintreiben der 
Pulvergase in das Schädelinnere wird eine solche Sprengwirkung erzeugt, dass 
vollkommene Berstungen des Schädelgehäuses und gänzliche Zertrümmerung 
des Gehirnes entstehen. Strassmann bildet einen derartigen Fall ab. 

Auch für die Beurtheilung der Entfernung, aus welcher der Schuss ab¬ 
gegeben wurde, ist die Beschaffenheit des Schusscanals von Bedeutung. Bei 
Naheschüssen ist die Wirkung der Pulverflamme auch noch im Schusscanal 
bemerkbar. Derselbe ist in nach innen zu abnehmendem Grade geschwärzt, 
zeigt oft noch zahlreiche eingesprengte Pulverkörner. Nicht selten ist durch 
die Wirkung der Entladungsgase das umgebende Gewebe aufgewühlt und in 
einigem Umfange zertrümmert. Im Canale befinden sich oft mitgerissene 
fremde Gewebstrümmer, Knochensplitter, Kleiderfetzen und vom Pfropfe, dem 
Mantel oder auch der Hülse herrührende Theile. Finden sich im Schusscanal 
von aussen hereingekommene Dinge, so sind dieselben bei zweifelhaften Todes¬ 
fällen zu sammeln und auf ihre Herkunft zu untersuchen. Mitunter können dar¬ 
aus Aufschlüsse über den Thäter, sowie über die Frage der eigenen oder fremden 
Schuld gewonnen werden. In vielen Fällen endet der Schusscanal innerhalb 
des Körpers; dann findet man am blinden Ende desselben das Projectil. Dieses 
hat aber recht häufig Formveränderungen erlitten, namentlich beim Durch¬ 
schlagen der Knochen; es wird plattgedrückt, zerkratzt oder nicht selten ge¬ 
spalten, so dass man bei einem Revolverschuss Bleistückchen im Körper 
finden kann, als wäre gehacktes Blei zur Ladung verwendet worden. 

Läuft der Schusscanal durch Knochen hindurch, so werden stets höchst 
charakteristische Durchlochungen erzeugt, welche auf die Schussrichtung einen 
untrüglichen Schluss gestatten. Der Schusscanal im Knochen ist nämlich aus¬ 
nahmslos an der Auffallseite des Projectils zugeschärft und gegen den Aus¬ 
trittsort abgeschrägt. Der Substanzverlust wird in der Richtung des Schusses 
immer grösser; er ist an der Aufschlagstelle am kleinsten, an der Austritt¬ 
stelle am grössten. Auch nur an einem Theile eines Schusscanales im Knochen 
kann dadurch die Schussrichtung mit grösster Sicherheit bestimmt werden. 
Die Knochen werden aber nicht blos durchlöchert, sondern oft auch noch 
sonst fracturirt. Röhrenknochen splittern meist der Länge nach, die glatten 
Schädelknochen zeigen manchmal vom Schussloch ausgehende Sprünge, die 
sich mitunter über einen grossen Theil der Schädelkapsel erstrecken; es sind 
Berstungsbrüche durch Sprengwirkung und werden insbesondere bei den 
modernen Militärwaffen beobachtet. Busch, Wahl, Küster, Richter, Kocher, 
Beck, Bruns, Hubert und viele Andere haben zahlreiche bezügliche Beob¬ 
achtungen und Versuche mitgetheilt. Auf diese Weise erklären sich auch 
nach Messerer die indirecten Schussfracturen, welche bei Kopfschüssen nicht 
selten an den Orbitaldächern beobachtet werden. 

Hat ein Schuss einen Körpertheil durchdrungen, so ist auch ein Aus¬ 
schuss vorhanden. Es erwächst dann die Aufgabe, zu bestimmen, welche 
Wunde der Einschuss, welche der Ausschuss ist. Von ihrer richtigen Lösung 
hängt oft die Entscheidung über die Schuldfrage ab. Es gibt zahlreiche 
Körperstellen, wo die eigene Handanlegung vollkommen ausgeschlossen, andere, 
wo sie wenigstens höchst selten und daher unwahrscheinlich ist. Bei Nahe¬ 
schüssen ist die Entscheidung über Ein- und Ausschuss nach dem Dargelegten 
völlig klar, anders bei Fernschüssen. Hier kommen alle Merkmale des Ein¬ 
schusses in Wegfall. Auch ein contusionirter und excoriirter Hautsaum fehlt 
meistens; die in den Büchern oft behauptete Einstülpung der Haut kann nicht 


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.VERLETZUNGEN. 


nur fehlen, sondern durch vorquellendes Unterhautfettgewebe geradezu in 
das Gegentheil verkehrt sein, die Einschussöffnung ist dann von einem vor¬ 
gestülpten Wundsaum begrenzt. In solchen zweifelhaften Fällen ist die Grösse 
der Oeflnung von Wichtigkeit, indem bei Fernschüssen die Eingangsöflfnung 
fast immer kleiner ist als die Austrittsöflhung. Oft wird die sichere Ent¬ 
scheidung erst durch genaueste Untersuchung des Schusscanals ermöglicht. 
An jedem penetrirten Organ, namentlich an durchgeschlagenen Knochen wieder¬ 
holt sich das Gesetz: Eintrittsöffnung kleiner, Austrittsöffnung grösser. Bei 
den Weichtheilwunden ist dies aber meist weit weniger sinnenfällig als bei 
Knochenwunden. 

Schlägt ein mattes Geschoss stumpfwinkelig an den Körper an, ohne ein¬ 
zudringen, so nennt man das einen Prellschuss. Prellschüsse können ohne 
nennenswerte äussere Verletzungen Contusionirungen innerer Organe, z. B. der 
Lungen oder des Herzens hervorrufen. Auch Zerreissungen der Innenhaut 
grosser Arterien sah v. Hofmann auf indirectem Wege durch das knapp am 
Gefässrohr vorbeistreifende Geschoss entstehen. 

Trifft ein Projectil die Körperoberfläche tangential, dann dringt es eben¬ 
falls nicht in den Körper ein, sondern erzeugt eine rinnenförmige oder streifen¬ 
förmige Verletzung der Haut, eine Risswunde, welche einer Schnittwunde zum 
Verwechseln ähnlich sein kann. Diese Schüsse werden Streifschüsse 
genannt. 

Wohl kaum noch den Schussverletzungen zuzählen kann man die durch 
Sprengmittel, wie Dynamit, Dualin, Jahnit erzeugten, ausgedehnten Zer¬ 
reissungen und Zertrümmerungen des Körpers, wie solche sowohl in ver¬ 
brecherischer (Fall Thomas in Bremen) und in selbstmörderischer Absicht 
(Blumenstok), wie als Verunglückungen vorgekommen sind. 

d) Verletzungen mit stumpfen Werkzeugen. 

Die hier in Betracht kommenden Werkzeuge sind ungemein mannigfach. 
Es gibt keinen Gegenstand, der leicht zur Hand ist, welcher nicht schon als 
Verletzungswerkzeug gedient hätte; Steine, Stöcke, Prügel, Holzscheite, Ge- 
fässe aller Art, Sessel, Bänke, Stuhlbeine, Lampen, Leuchter, Schlüsseln, 
Schaufeln, Hammer, Mistgabeln u. s. w., dann besonders gefertigte Werk¬ 
zeuge, wie Todtschläger, Schlagringe, endlich die den Menschen von der 
Natur verliehenen Waffen, Hände, Fäuste, Füsse, Nägel und Zähne. Stumpfe 
und stumpfkantige Körper wirken auch ein beim Ueberfahrenwerden, beim 
Absturz, bei Verschüttungen, beim Einsturz von Gebäuden, Gerüsten und Ge¬ 
bälk, sowie beim Anfallen und Anschleudem an harte, stumpfe und kantige 
Gegenstände. 

Dementsprechend sind auch die Wirkungen ungemein mannigfach, so 
dass die durch stumpfe Gewalten gesetzten Verletzungen qualitativ und quan¬ 
titativ alle Stufen von den leichtesten bis zu den schwersten Graden durch¬ 
laufen. Gleichwohl lassen sich dieselben ungezwungen auf drei Haupttypen 
zurückführen: Quetschungen, Zerreissungen, Erschütterungen. 

e) Quetschungen. Stumpfe Gewalten können derart auf den Körper 
einwirken, dass eine Durchtrennung der allgemeinen Decke nicht erfolgt — 
einfache Quetschung, Contusion — oder sie führen eine Beratung der Haut 
herbei, es entsteht eine Wunde, die nach ihrer Entstehung als Quetsch¬ 
wunde bezeichnet wird. Die einfache Quetschung ist besonders durch zwei 
Merkmale gekennzeichnet: die Blutunterlaufung und die Hautabschürfung. 

1. Blutunterlaufungen sind wohl die allgemeinsten, fast niemals fehlen¬ 
den Folgen stumpfer Gewalteinwirkungen. Durch die plötzliche, gewaltsame 
Verschiebung der Haut kommt es vorwiegend im Unterhautzellgewebe zu 
Gefässzerreissungen und Austritt von Blut in die Umgebung. Die Suffusion 
kann für sich allein, als einziger Effect des Traumas bestehen, oder sie ist 


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VERLETZUNGEN. 


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Begleiterscheinung anderweitiger, oft sehr schwerer Veränderungen. Ihre 
Grösse schwankt innerhalb weiter Grenzen und hängt ab von der Wucht der 
ausgetibten Gewalt, Zerreissbarkeit, Grösse und Art der verletzten Gefässe 
(Capillaren, Venen, Arterien), sowie der Beschaffenheit der betroffenen Körper- 
stelle. Bekannt ist die leichte Zerreissbarkeit der Gefässe von Kindern, 
zarten Frauen und sehr alten Individuen, bei denen oft nach geringfügigen 
Einwirkungen Blutunterlaufungen entstehen. Desgleichen wissen wir, dass 
Blutaustritte in der Kopfhaut, wo ein straffes Bindegewebe vorhanden ist, 
stets eine geringere Ausdehnung besitzen als solche an Stellen mit lockerem 
und grobmaschigem Zellgewebe, wie unter der Galea, an den Augenlidern, 
dem Hodensack und den grossen Schamlippen. Für die verschiedenen Formen 
und Grössen sind die Bezeichnungen Petechien und Ecchymosen (Blutpunkte 
und -Flecke), Sugillation (Blutunterlaufung), Suffusion (Bluterguss), Hämatom 
(Blutbeule) üblich. 

Nicht jede Blutaustretung ist traumatischen Ursprunges, sondern es gibt 
auch durch pathologische Processe bedingte spontane Blutergüsse, sowohl in 
der Haut, wie an den Schleimhäuten und inneren Organen. Es ist dies der 
möglichen falschen Deutung wegen besonders zu beachten. Solche Blutungen 
kommen vor beim Scorbut, der Hämophilie, Phosphorvergiftung, Sepsis, 
Variola haemorrhagica, Purpura, Erythema nodosum (contusiforme). 

Die gewöhnliche Form der Blutergüsse ist die rundliche, und können 
Werkzeuge der verschiedensten Art gleichgeformte Blutaustritte hervorbringen; 
in manchen Fällen haben jedoch die Blutunterlaufungen ein das Verletzungs¬ 
werkzeug unzweifelhaft charakterisirendes Gepräge. Dahin gehören die 
striemenförmigen Sugillationen nach Stockhieben und Peitschenhieben und 
die pinselförmigen nach Ruthenhieben. Der Rückschluss auf die Art der Ein¬ 
wirkung wird noch durch die Lage der Striemen am Rücken, dem Gesäss, den 
Oberschenkeln, ein besonders sicherer. Durch Form und Lage in ihrer Ent¬ 
stehungsart genau gekennzeichnete Blutaustretungen sind auch die durch 
W r ürgen entstehenden Druckflecke am Hals. 

Eine forensisch bemerkenswerte Thatsache ist auch die mitunter vor¬ 
kommende Wanderung des extravasirten Blutes, die Blutsenkung, sodass die 
Suffusion nach einiger Zeit an anderer Stelle gefunden werden kann, als wo 
sie entstanden ist Diese Blutsenkungen erfolgen auf anatomisch vorgezeich¬ 
neten Wegen längs der Fascien und Muskelscheiden. Ich habe einen Fall 
begutachtet, wo bei der gerichtsärztlichen Untersuchung in der unteren Hals¬ 
gegend Vorgefundene blaue und rothe Flecke für Würgespuren erklärt worden 
sind, obwohl dieselben nichts anderes waren als gesenktes Blut von einer 
Schnittwunde der Wange; durch Zeugen war unzweifelhaft festgestellt worden, 
dass der Gestochene am Halse absolut nicht berührt worden war. 

Auch die Beurtheilung des Alters eines Blutergusses ist Aufgabe des 
Gerichtsarztes. Die frische Blutunterlaufung ist eine geschwollene, druck¬ 
empfindliche, blauroth gefärbte, stark gespannte Hautstelle. Durch Aufsau¬ 
gung der flüssigen Antheile des ausgetretenen Blutes schwillt die Stelle all¬ 
mählich meist schon in 24 Stunden deutlich merkbar ab, die Haut wird ent¬ 
spannt und dadurch leicht gerunzelt. Die Farbe des Fleckes ändert sich in 
den nächsten Tagen vom Rande her von blauschwarz und blaugrau und 
roth weiter ins Grünliche und Gelbliche. Diese Farbenveränderung, anfäng¬ 
lich durch die Eindickung des Blutes bewirkt, erfolgt später durch die Um¬ 
wandlung des Blutfarbstoffes in braunes Methämoglobin, in braunrothes 
Hämatin, dann in rostfarbenes, amorphes und krystallisirtes Hämatoidin und 
endlich in Pigment. Bei Altersbestimmungen an Leichen können diese Ver¬ 
änderungen durch directe Untersuchung des Extravasates noch genauer fest¬ 
gestellt werden. Anfangs ist das Blut von theerartiger Beschaffenheit, die 
rothen Blutkörperchen sind noch erhalten; das Extravasat wird immer trockener, 


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-VERLETZUNGEN. 


zerreiblich; die Blutkörperchen zerfallen; es treten contractile Zellen auf, 
welche die Blutkörperchen und den Blutfarbstoff einschliessen; in ihnen voll¬ 
zieht sich die Umsetzung in Pigment Verhältnismässig frühzeitig können 
Hämatoidinkrystalle gefunden werden. Solche sah Virchow in Amputations¬ 
lappen schon am 4., in Extravasaten am 17. Tage. Nach Eschweiler 
hätte die Farbenveränderung der Blutbeulen gar nichts mit der Umwandlung 
des Farbstoffes zu schaffen, sondern sei lediglich bedingt durch die mehr oder 
weniger oberflächliche Lage und Dicke der Blutschicht. 

So wichtig die Blutunterlaufungen in forensischer Hinsicht sind, so ge¬ 
ring ist in der Regel ihre gesundheitliche Bedeutung. Nur grosse Hämatome, 
die nicht mehr aufgesaugt werden können und etwa gar brandig zerfallen, 
bedingen filr sich längere Gesundheitsstörung. Auch kleinere, gleichzeitig 
entstandene, zahlreiche Sugillationen können durch ihr Zusammenwirken unter 
Umständen selbst lebensgefährlich werden, wegen der heftigen Reizung zahl¬ 
reicher sensibler Nervenendigungen und dadurch bedingter reflectorischer Er¬ 
regung, Uebererregung und Erschöpfung lebenswichtiger Nervencentren; Züch¬ 
tigungen mit Ruthen, Peitschen und Stäben, Stockschläge, Lynchen, Spiess- 
ruthenlaufen und Bastonaden auf die Fusssohlen mit ihren lebensgefährlichen 
und selbst tödtlichen Folgen sind bekannte Belege hiefttr. 

2. Hautabschürfungen sind ein fast ebenso häufiger Effect der Ein¬ 
wirkung stumpfer Gewalten, wie die Blutunterlaufungen. Sie kommen meist 
durch tangentiale oder schräge Einwirkung zu Stande, die Oberhaut wird ab- 
gestreift, abgeschunden, abgekratzt. Sie können allein oder mit anderen Ver¬ 
letzungen zusammen Vorkommen. In jedem Falle sind sie an sich chirurgisch 
unbedeutende, forensisch aber meist sehr wichtige Veränderungen. Sie be¬ 
zeichnen einmal die Stelle einer stattgehabten Gewalteinwirkung und durch 
Form und Lage mitunter auch die Art derselben. So sind die sogenannten 
Kratzwunden — in Wirklichkeit sind es nur Excoriationen — durch die 
Streifenform oder als linsenförmige Abschindungen oder halbmondförmige 
Nägel eindrück e deutlich gekennzeichnet und durch ihre Lage an den Händen, 
im Gesichte oder am Halse oft von höchster diagnostischer Bedeutung als 
Zeichen geleisteter Gegenwehr oder stattgehabten Würgens. 

Die frische Hautabschürfung blutet in der Regel etwas, sie kann aber 
auch eine ganz unblutige Abstreifung des Oberhäutchens sein. Die Blutung 
rührt von verletzten Capillaren des Papillarkörpers der Haut her. Zuerst 
bedeckt sich die abgeschundene Stelle mit ausgetretener Gewebsflüssigkeit, 
welche bald eintrocknet und eine gelbe oder, wenn Blutung vorhanden war, 
braun-rothe Borke bildet. Diese fällt in fünf, acht bis zehn Tagen ab. Die 
Heilung erfolgt ohne Eiterung und ohne Narbenbildung, doch ist auch nach 
dem Abfallen der Borke die verletzte Stelle geröthet und dadurch oft noch 
nach Wochen erkennbar. 

An der Leiche stellt die Excoriation eine derbe, harte, beim Anschlägen 
tönende, gelbe, gelbbraune oder braunrothe, lederartige Hautstelle dar, welche 
schwer schneidbar ist. Diese Beschaffenheit einer erst kurz vor dem Tode 
entstandenen Hautabschindung ist eine Leichenerscheinung, welche auf post¬ 
mortaler Vertrocknung beruht. Da alle im Leben feuchten und der Epi¬ 
dermis beraubten Hautstellen diese Veränderung erfahren, ist Anlass zu 
vielleicht verhängnisvollen Verkennungen gegeben, umso mehr, als es keines¬ 
wegs immer möglich ist, die intravitale Entstehung einer Hautabschürfung 
sicherzustellen. Blutunterlaufung würde dieselbe unzweifelhaft beweisen, 
weswegen stets durch Einschneiden darnach zu suchen ist; allein sie kann 
auch fehlen, denn nicht jede während des Lebens entstandene Excoriation ist 
sugillirt. Bei längerem Bestände, wenn sich bereits eine Borke gebildet hat, 
oder wenn in der Schwarte selbst capilläre Blutaustritte vorhanden sind, kann 
ein Zweifel allerdings nicht bestehen. 


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Verwechslungen sind möglich mit Brandwunden, Druckbrand und den 
Wirkungen von Vesicantien, Reibungen und anderen agonal oder schon post¬ 
mortal gemachten Eingriffen zur Wiederbelebung. 

3. Wunden, nach ihrer Entstehung als Quetschwunden bezeichnet, 
sind ein höherer Grad der durch stumpfe Gewalten bewirkten Veränderungen. 
Die Haut und oft noch darunter liegende Weichtheile sind in verschiedener 
Ausdehnung durchtrennt, zerrissen, zertrümmert. In der Regel hat daher 
die Quetschwunde unebene, gezackte, eingekerbte Ränder und einen auf¬ 
gewühlten, breiten Grund; zum Unterschiede von der Schnittwunde verjüngt 
sie sich nicht, sondern nimmt nach der Tiefe meist an Breite zu, indem die ge¬ 
borstene Haut oft in beträchtlichem Umfange losgelöst und bei schräger Ein¬ 
wirkung als Lappen abgehoben ist. Nicht selten erfolgt jedoch die Berstung 
der Haut in der Richtung ihrer Spaltbarkeit auch bei der Einwirkung stumpfer 
und stumpfkantiger Körper ganz linear und scharfrandig, so dass eine Quetsch¬ 
wunde mitunter das Aussehen einer Schnittverletzung zeigen kann. Es kommt 
dies namentlich da zu Stande, wo die Haut prall über Knochen gespannt 
ist, wie am Kopf und am Schienbein. Eine sehr sorgfältige Untersuchung 
wild allerdings auch in diesen Fällen die Genese sicherstellen können, denn 
-vollkommen scharfrandig sind solche Wunden nie, die Durchtrennung der 
Gewebe ist nach ihrer verschiedenen Zerreissbarkeit oft stellenweise unvoll¬ 
ständig, so dass die Wunde häufig von Balken nicht durchtrennter Theile durch¬ 
zogen ist, welche wie Brücken zwischen den Wänden der Wunde ausgespannt 
sind. Dazu kommt wohl ausnahmslos eine umfänglichere Suffundirung der 
Quetschwunden und recht häufig Excoriation ihrer Ränder. 

Die gequetschten Wunden sind weit gefährlicher als geschnittene. Sie 
heilen meist durch Granulation und Narbenbildung, sehr selten durch erste 
Vereinigung. Oft kommt es zur Nekrose gequetschter Gewebspartien und zu 
länger dauernden Eiterungen behufs Abstossung derselben. Viel leichter als 
Schnittwunden und (nicht penetrirende) Stichwunden können Quetschwunden 
Eingangspforten für Wundinfectionskrankheiten werden. 

Eine besondere Art von Quetschwunden sind die durch Zähne bewirkten — die 
Bisswunden. Die Zähne sind stumpfe und kantige Werkzeuge, welche ihrer Grösse und 
ihrem Baue entsprechende Quetschungen und Wunden erzeugen können. Einerseits ge¬ 
braucht gar nicht so selten der Mensch diese ihm von der Natur gegebene Waffe zum 
Angriff und zur Verteidigung, anderseits können auch Bisse von Thieren, wie Pferden, 
Hunden, Schweinen, selbst von Ratten und Mäusen, Objecte forensischer Untersuchungen 
werden. Die Ränder von Bisswunden oder die durch Abtrennungen kleiner Körperteile 
(Nase, Ohren, Finger) gebildeten Wundflächen sind stark sugillirt und zerquetscht und 
lassen häufig die Abdrücke der Zähne so deutlich erkennen, dass die Herkunft der Ver¬ 
letzung sogleich sichergestellt werden kann. Ja selbst die Thierspecies ist oft sicher zu 
erkennen, wie z. B. die eigentümlichen, parallelstreifigen Abschabungen der Ränder von 
Nagethierbisswunden. - 

Bisswunden von Menschen und von Thieren sind oft recht gefährliche Verletzungen. 
Nicht selten sind sie gefolgt von Entzündung, Phlegmone, Gangrän, Sepsis. Die Biss¬ 
wunden grosser Thiere, namentlich von Hunden sind oft ausgebreitete Zerreissungen, Ver¬ 
letzungen, die durch Verblutung acut tödtlich werden können. Endlich erwächst aus dem 
Hundebiss noch die Gefahr der möglichen Uebertragung der mit Recht so gefürchteten 
Hundswuth (Lyssa) auf den Menschen. 

C. Zerreissungen. Grosse stumpfe Gewalten, die den Körper treffen, 
bewirken entweder umfänglichere, äussere Zusammenhangstrennungen: Riss¬ 
wunden — oder Zerreissungen innerer Theile: Organrupturen, Knochen¬ 
brüche und Verrenkungen — oder eine Verbindung beider: Zertrümmerung 
und Abtrennung ganzer Körpertheile. Die zur Erzielung dieser schweren 
Verletzungseffecte geeigneten Einwirkungen sind Sturz von der Höhe, Ver¬ 
schüttungen, Ueberfahrenwerden, Verunglückungen bei Eisenbahnen, Maschinen¬ 
betrieben und Explosionen. 

1. Risswunden kommen durch in Bewegung befindliche, stumpfe und 
kantige Körper zu Stande, welche im Zuge wirken und dadurch Zerrungen 
der Haut hervorrufen, denen dieselbe trotz ihrer hohen Dehnbarkeit nicht 


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VERLETZUNGEN. 


mehr nachzukommen vermag, sie reisst ein. Recht häufig geschieht dies in 
der Richtung ihrer physiologischen Spaltbarkeit. Noch viel häufiger als die 
Quetschwunden haben daher die Risswunden scharfe, wie geschnittene Ränder; 
dass eine Zerreissung vorliegt, ist oft nur an der Quetschung und unregel¬ 
mässigen Absetzung der tiefer gelegenen Weichtheile zu erkennen. Die Blut¬ 
unterlaufungen können wegen der durch die hochgradige Zerrung bedingten 
Rttckpressung des Blutes und der Einrollung der Innenhaut gerissener Ge- 
fässe namentlich bei rasch tödtlichem Verlaufe oft recht geringfügig sein, 
und stehen häufig im schreienden Missverhältnisse zur Grösse der Wunde. 
In allem Übrigen gleichen die Risswunden völlig den Quetschwunden, von 
denen sie auch meist nicht scharf getrennt werden können. Wie wir daher 
von Stichschnittverletzungen sprechen, so gebrauchen wir auch häufig die 
zutreffende Bezeichnung Quetschrisswunde. 

2. Organrupturen, das sind Beratungen innerer Organe, kommen durch 
directen Stoss oder indirect durch eine fortgepflanzte Stoss- oder Druckwir¬ 
kung zu Stande. Je nach ihrer Grösse, mehr oder weniger ungeschützten 
Lage und der Festigkeit oder Brüchigkeit ihrer Gewebe zerreissen die Organe 
sehr ungleich leicht und häufig. Daraus ergibt sich eine natürliche Häufig¬ 
keitsscala, welche von der Erfahrung durchwegs bestätigt wird. Am häufigsten 
sind demnach Zerreissungen der Leber, dann folgen abfallend die Milz, die 
Nieren, die Lungen, die Luftröhre, das Herz und die grossen Gefässe, der 
Magen, die Gedärme, die Speiseröhre, die Beckenorgane und am seltensten 
das stark geschützte Gehirn. Dennoch sind auch schon Zerreissungen des 
Gehirns bei intacter Schädelkapsel beobachtet worden, so von Casper-Limax, 
Cooper u. A. 

Die Organrupturen verlaufen meistentheils tödtlich, indem entweder 
innere Verblutung eintritt, wenn blutreiche parenchymatöse Organe (Leber, 
Milz, Nieren), die Lungen oder das Herz und grosse Gefässe zerrissen sind, 
oder Infectionen und Autointoxicationen herbeigeführt werden, wie durch 
Magendarm-, Blasen- und Harnröhrenzerreissungen, oder das centrale Nerven¬ 
system ausser Function gesetzt wird (Gehirnruptur). Nur ganz oberflächliche 
Zerreissungen von Organen können heilen. In dieser Richtung erweist sich 
das Gehirn als das widerstandsfähigste Organ. Oberflächliche Verletzungen 
werden quoad vitam verhältnismässig gut vertragen und kommen häufig zur 
Ausheilung. (Hämorrhagische Narben und Cysten, Plaques jaunes.) 

Erkrankte Organe zerreissen in der Regel viel leichter als gesunde, und 
kommen bei pathologischen Veränderungen Organrupturen manchesmal selbst 
auf geringfügige Einwirkungen zu Stande, so Zerreissungen von Milztumoren, 
der fettig entarteten Leber, des degenerirten Herzens, atheromatöser Gefässe, 
der mit Geschwüren besetzten Magen- oder Darmwand u. s. w. Auch selbst 
physiologische Zustände können die Disposition zu Zerreissungen erhöhen, wie 
Füllung des Magens, Schwangerschaft. Endlich ist noch an die Spontan¬ 
rupturen erkrankter Organe zu erinnern, welche auch zu falschen Deutungen 
Anlass geben können. 

Wichtig ist die Thatsache, dass Organzerreissungen, ja hochgradige 
Quetschungen und Zermalmungen innerer Organe bei unverletzten Haut¬ 
decken zur Entwicklung gelangen können, so dass äusserlich mitunter gar 
keine Spuren der stattgehabten Gewalteinwirkung vorhanden sind. 

3. Knochenbrüche und Verrenkungen sind eine häufig vorkommende 
Art der Verletzung innerer Theile. Sie werden durch grobe Gewalteinwir¬ 
kungen, wie sie oben namhaft gemacht wurden, veranlasst. Bei dem Um¬ 
stande, als gerade die Kenntnis dieser Verletzungen ärztliches Gemeingut ist, 
kann an dieser Stelle wohl von einer weiteren Erörterung Umgang genommen 
werden. Es sei nur in praktisch-forensischer Beziehung bemerkt, dass ich 
wiederholt die Frage zu erörtern hatte, ob ein Knochenbruch durch Fall oder 


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Schlag entstanden sei. Dies lässt sich manchmal schwer entscheiden; meist 
ist aber die Stelle der Einwirkung durch Blutung, Hautabschindung oder 
Quetschrisswunden so gekennzeichnet, dass ein Zweifel nicht bestehen kann. Zu¬ 
dem brechen die Knochen beim Fall bekanntlich fast immer an typischen, 
anatomisch vorbereiteten Stellen. Die Fractur durch Schlag entsteht an jeder 
Stelle, die getroffen wird. 

4. Abreissung und Zermalmung ganzer Körpertheile kommen bei 
EisenbahnunglUcksfällen, Ueberfahrenwerden durch Eisenbahnzüge, Maschinen¬ 
verunglückungen, Explosionen, Sturz von sehr grosser Höhe und Verschüttungen 
vor. Oft findet man bei diesen schwersten Einwirkungen Organe und ganze 
Körpertheile geradezu in einen Brei verwandelt, die Körperhüllen geborsten, 
die darin befindlichen Organe herausgerissen, zertrümmert und oft weit weg¬ 
geschleudert. Dabei bewährt sich immer wieder die grosse Widerstands¬ 
fähigkeit der Haut. Ich habe Menschen gesehen, über welche Eisenbahnzüge 
hinweggegangen sind, ohne dass die Haut vollständig durcbgequetscht worden 
wäre, dies darunter liegende, mit Einschluss der Knochen, war zu Brei zer¬ 
malmt. 

7]. Erschütterungen. Es gibt Fälle von traumatischer Einwirkung, 
wo ohne oder wenigstens ohne wichtige anatomische Läsionen schwere func- 
tionelle Störungen im centralen Nervensystem ausgelöst werden. Diese fuhren 
entweder sofort oder nach kurzer Zeit zum Tode: Gehirnerschütterung, 
Shok, oder es entwickeln sich Folgezustände in Form schwerer allgemeiner 
oder örtlicher Nervenkrankheiten: traumatische Neurosen und Psychosen, 
Hysterie, Epilepsie, Aphasie, Reilway spine, Lähmungen. Im Folgenden 
wird Gelegenheit sein, diese wichtigen Verletzungseffecte noch eingehender zu 
würdigen. 

II. Der Sitz der Verletzungen. 

Für die Betrachtung der Localisation der Verletzungen ergibt sich die 
natürliche anatomische Gliederung in Kopfverletzungen, Verletzungen des 
Halses, der Brust, des Unterleibes, des Beckens und der Gliedmassen. 

a) Kopfverletzungen. 

Sie gliedern sich naturgemäss in die Verletzungen des Schädels, des 
Gesichtes und der Sinnesorgane. 

1. Die Schadelverletznngen beanspruchen unser ganzes Interesse so¬ 
wohl wegen der Häufigkeit ihres Vorkommens, als wegen der oft über¬ 
raschenden Eigenthümlichkeiten ihres Verlaufes. Nichts ist schwieriger und 
unsicherer, als die Prognose einer Schädel Verletzung. Wenn wir die beiden 
Extreme ins Auge fassen, so kommt Folgendes vor: Es sind anfänglich gar 
keine nennenswerten oder schweren Erscheinungen vorhanden; der Verletzte 
zeigt keine Krankheitssymptome, er geht sogar seinem Berufe nach. Erst 
nach Tagen, manchesmal selbst nach Ablauf von Wochen kommt es zu schweren 
und bedrohlichen Zufällen und zu tödtlichem Ausgang, während mittlerweile 
die Verletzung schon als eine leichte erklärt worden ist. Anderseits geschieht 
es, dass schwerste Anfangserscheinungen vorhanden sind, man befürchtet das 
schlimmste Ende und nach wenigen Tagen ist der Kranke wieder vollkommen 
hergestellt, während der Arzt dem Richter schon den Tod aufs bestimmteste 
vorhergesagt hat. In der forensischen Beurtheilung dieser so ungemein zahl¬ 
reichen Verletzungen ist daher die grösste Vorsicht geboten, und sollte es als 
Regel gelten, ein abschliessendes und bestimmtes Gutachten erst dann abzu¬ 
geben, wenn unzweifelhaft vollkommene Heilung eingetreten ist. Auch eine 
kleine, aber noch eiternde Weichtheilwunde der Kopfhaut kann noch durch 
Infection lebensgefährlich werden, daher der hippokratische Spruch noch heute 
giltig ist: „Nullum vulnus capitis contemnendum.“ 


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VERLETZUNGEN. 


Die unmittelbaren Erscheinungen einer jeden Schädelverletzung 
hängen von dem Grade und der Art der Mitbetheiligung des Gehirnes ab. 
Diese kann eine dreifache sein. Sie besteht entweder in Zerreissungen der 
Substanz des Gehirns, in Blutungen oder in Gehirnerschütterung. 

Zerreissungen der Gehirnsubstanz können sowohl bei unver¬ 
letztem Schädelgehäuse, sowie als Theilerscheinung von Schädelbrüchen zu 
Stande kommen. Letzteres ist wohl häufiger, als ersteres. Sie sind qualitativ 
und quantitativ ganz ausserordentlich verschieden und können auch die ver¬ 
schiedensten Theile des Gehirns betreffen. Sie sitzen allerdings naturgemäss 
viel häufiger an der Peripherie des Gehirns, wie im Innern. Lieblingsstellen 
der peripheren Gehirnquetschungen und -zerreissungen sind die Spitzen und 
die Unterseite der Stirnlappen, die tiefsten Stellen der Schläfelappen und die 
Enden der Hinterhauptslappen. Aber auch alle andern Partien der Gehirn¬ 
oberfläche, namentlich auch die verletzenden Gewalten so leicht zugänglichen 
Centralwindungen sind gelegentlich Sitze von traumatischen Läsionen. Be¬ 
sonders geschützt durch seine Lage ist das Kleinhirn. 

Es ergibt sich daraus, dass die durch Läsionen des Gehirns bedingten 
Erscheinungen ausserordentlich verschieden sein werden, je nach der func¬ 
tioneilen Bedeutung der verletzten Stelle und der Grösse des Zertrümmerungs¬ 
herdes. Alle Arten von Lähmungen der verschiedensten Muskelgruppen, Sensi¬ 
bilitätsstörungen, Krämpfe, Störungen der Sprache, der Sinnesorgane, der Coordi- 
nationen und psychischen Functionen des Denkens, Vorstellens und Erinnerns 
können gelegentlich ausgelöst werden. Die Gehirnzerreissungen lösen sehr viel¬ 
gestaltige Krankheitsbilder aus; unter allen Umständen sind es aber Herd¬ 
symptome, so dass wir sagen können, die Zerreissungen der Gehirnsubstanz sind 
durch das Auftreten von Herd Symptomen charakterisirt. 

Ganz andere Wirkungen äussern die intracraniellen Blutungen. Sie 
bewirken, da die Schädelkapsel unnachgiebig ist, durch Vermehrung des Inhaltes 
einen Druck auf das Gehirn; es werden die bekannten und mit Recht ge¬ 
fürchteten, weil fast immer tödtlich verlaufenden Erscheinungen des Hirn¬ 
drucks, der Compressio cerebri, hervorgerufen. Dabei können die Anfangs¬ 
erscheinungen gleich Null sein. Unmittelbar nach der Verletzung treten 
keinerlei bemerkbare Symptome auf. Man erkennt zunächst nicht, dass dem 
Verletzten etwas Ernstliches zugestossen sei. Je nach dem Caliber des ver¬ 
letzten Gefässes rascher oder weniger rasch, oft erst nach vielen Stunden 
treten Drucksymptome, erst meist geringfügige Reizungen von Muskeln, 
Krämpfe, dann Lähmungen mit unaufhaltsam progressivem Charakter auf. Der 
Tod kann nach Stunden aber auch erst nach Tagen eintreten. Forensisch 
wichtig kann die Frage nach der zeitlichen Entstehung werden, d. h. ob der 
Mensch nach Erhalt der tödtlichen Verletzung noch dies und das thun, 
sprechen, nach Hause gehen u. s. w. konnte. Gerichtsärztliche Irrungen in 
dieser Richtung sind mir wiederholt bekannt geworden. 

Vom anatomischen Standpunkte aus betrachtet, unterscheiden wir mehrere 
Arten der intracraniellen Blutergüsse. Die Blutung erfolgt einmal zwischen 
dem Knochen und der harten Hirnhaut durch Zerreissung eines Duragefässes, 
namentlich der Arteria meningea roedia und ihrer zahlreichen Aeste, es ent¬ 
steht durch Ablösung der harten Hirnhaut vom Knochen ein supradurales 
Hämatom (Haematoma durae matris extern um); oder das Blut ist unterhalb 
der Dura über dem Gehirn ausgebreitet, es ist ein infradurales Hämatom 
gebildet worden (Haematoma durae matris internum); oder die Blutung ist 
durch Zerreissung von Piagefässen in die subarachnoidealen Räume zu Stande 
gekommen, was wir als intermeningeale Hämorrhagie bezeichnen. Endlich 
kann auch ein Gehirngefäss selbst zerreissen und einen Zertrümmerungsherd 
erzeugen; es entsteht eine traumatische Hämorrhagia cerebri oder durch Ver¬ 
letzung der Adergeflechte ein Bluterguss in die Gehirnkammern. 


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Die dritte Art der Mitbetheiligung des Gehirns an Schädeltraumen be¬ 
steht in der Erschütterung desselben. Die Gehirnerschütterung kann 
sowohl für sich allein wie als Begleiterscheinung anderer Gehirnverletzungen 
auftreten. Die reine Gehirnerschütterung kann anatomisch nicht begründet 
werden, sie gehört zweifellos in das Gebiet der functionellen Störungen, 
welche man in verschiedener Art zu erklären versucht hat. Nach Fischer 
ist sie eine traumatische Reflexparalyse der Hirngefässe, nach Koch’s und 
Filehne's interessanten Verhämmerungsversuchen stellt sie sich als eine 
Reflexparalyse des vasomotorischen Centrums dar, Duret und Gussenbauer 
sind geneigt, aus der mechanischen Reizung des Bodens der vierten Kammer 
und der Corpora restiformia durch das gewaltsame Andrängen des compri- 
mirten Liquor cerebri die Erscheinungen der Gehirnerschütterung abzuleiten. 
Welcher Hypothese man immer beipflichten mag, jedenfalls stellt sich die 
Hirnerschütterung als vasomotorische Neurose dar. Wenn in einzelnen Fällen 
auch capilläre Hämorrhagien gefunden wurden, so darf man in diesen keines¬ 
wegs die anatomische Grundlage der Hirnerschütterung erblicken wollen. Sie 
besteht viel öfter ohne, als mit diesen kleinsten Blutaustritten. 

Ihre Symptome sind sofortige Bewusstlosigkeit, verlangsamter Puls selbst 
bis unter 40, Blässe der Haut, träge reagirende Pupillen, Erloschensein der 
Reflexe, schwache, mitunter unregelmässige Respiration, reflectorisches Er¬ 
brechen und Krämpfe. Die Erscheinungen gleichen vielfach denen der Alkohol¬ 
vergiftung, was umso beachtenswerter ist, als viele Verletzungen gerade im 
Rausche erfolgen. Wiederholt sind schwer Betrunkene für Schädel verletzte 
und diese für Betrunkene erklärt worden, ein mitunter verhängnisvoller Irr¬ 
thum. Differential-diagnostisch wären die bei der Alkoholintoxication er¬ 
höhte Pulsfrequenz, der Turgor des Gesichtes, die strotzende Füllung der Con- 
junctivalgefässe verwerthbar, nicht aber der Geruch nach Alkohol, weil ja die 
meisten Raufexcesse von Menschen verübt werden, die Alkohol genossen haben. 

Die Hirnerschütterung kann für sich allein zum Tode führen; die Er¬ 
scheinungen gehen nach stunden- ja selbst tagelangem Bestand in Coma und 
Sopor über, oder es tritt Heilung ein. Mitunter dauern die Erscheinungen 
nur wenige Minuten an. Auch die leichten Grade stellen an sich schwere, 
die schweren unter allen Umständen lebensgefährliche Verletzungen dar. 

Im Einzelnen betrachtet haben wir zunächst die Verletzungen der 
weichen Schädeldecken kurz zu erörtern. Sie sind ausserordentlich 
häufig, weil der Kopf mehr als jeder andere Körpertheil Angriffsobject aller 
Arten von Gewalteinwirkungen ist. Die ohne Zusammenhangstrennung der 
Kopfschwarte bestehenden Quetschungen, die Hautabschürfungen und Blut¬ 
unterlaufungen sind in der Regel ohne jede Bedeutung. Nur die grösseren 
Blutbeulen und namentlich Blutergüsse unter das Pericranium kommen mit¬ 
unter nicht zur Resorption, vereitern und können selbst Necrosen des Knochens 
veranlassen. Von den Wunden der Kopfschwarte sind wegen der meist scharf- 
randigen Berstungen, die durch stumpfe Gewalteinwirkungen hervorgerufen 
werden, die Quetschwunden von den Schnittwunden mitunter nicht leicht zu 
unterscheiden und sind irrthümliche Beurtheilungen in Bezug auf das verletzende 
Werkzeug meinen Erfahrungen nach geradezu recht häufig. Sonst sind die 
Weichtheilwunden am Schädel leicht zu beurtheilen. Die Blutungen sind, 
wenn nicht gerade die Schläfenarterie oder Hinterhauptschlagader verletzt 
wurden, meist nicht besonders stark, jedenfalls kaum je lebensgefährlich. Doch 
sah ich nach Entstehung eines traumatischen Aneurysmas eine lebensgefähr¬ 
liche Nachblutung eintreten. 

Ein besonderes Interesse erregten von jeher die Verletzungen des 
knöchernen Schädelgehäuses, die Schädelbrüche. Und dies mit Recht. 
Sie stellen in der Regel lebensgefährliche und nicht selten tödtliche Ver¬ 
letzungen dar, und zeigen beachtenswerthe Eigentümlichkeiten bezüglich ihrer 


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•VERLETZUNGEN. 


Entstehung, welche oft recht sichere Rückschlüsse auf die Zufügungsart ge¬ 
statten. An sich ist allerdings ein Schädelbruch ein Knochenbruch wie jeder 
andere und würde dieselben Aussichten auf Heilung bieten, wenn nicht die 
Mitbetheiligung des Gehirns und seiner Häute wäre. Dadurch wird jeder 
Schädelbruch zu einer viel schwereren und gefährlicheren Verletzung wie ein 
anderer Beinbruch. 

Sowohl gerichtlich-medicinische, wie chirurgische Erfahrungen und Ver¬ 
suchsergebnisse haben in den letzten Decennien wichtige Aufschlüsse über 
den Mechanismus und die Bedeutung der verschiedenen Bruchformen gebracht, 
so insbesondere die von P. Bruns, Messerer, Hermann, Schranz, A. Paltauf 
und v. Hofmann (Lehrb.). Zunächst hat Messerer die vielen und verschieden¬ 
artig bezeichnten Schädelbrüche (Fissur, Lochbruch, Einbruch, Stückbruch, 
Sternbruch, Impression, Depression) auf zwei Grundformen zurückgeführt: 
Berstungsbrüche und Einbrüche. . 

Wirkt eine Gewalt auf irgend eine von aussen zugängliche Stelle des 
Schädels ein, so wird derselbe in der Stossrichtung zusammengepresst, der 
Durchmesser in dieser Richtung verkürzt, in der darauf senkrechten verlängert 
bis zum Auseinander weichen der Knochen, zur Berstung: es entsteht eine von 
der Einwirkungsstelle ausgehende Fissur oder einfache Fractur. Denkt man 
sich die Angriffsstelle als Pol, so verlaufen die Berstungsbrüche von hier aus 
stets in der Richtung von Meridianen am Schädelsphäroid. Diese Erkenntnis 
ist von grosser Wichtigkeit. Es können also beispielsweise Querfracturen der 
Schädelbasis, diese so besonders gefährlichen und gefürchteten Brüche wohl 
entstehen durch seitliche Einwirkungen oder durch Gewalten, welche den 
Scheitel treffen, nicht aber von der Stirne oder vom Hinterhaupte aus. Ge¬ 
walten, welche hier angreifen, bewirken wohl Längsfracturen der Basis, aber 
niemals Querbrüche. Darnach erscheint das von Aran aufgestellte Gesetz, dass 
die Fissuren jedesmal von der getroffenen Stelle aus auf dem kürzesten Wege 
zur Basis verlaufen, wesentlich modificirt; nur das ist richtig, dass der Aus¬ 
gangspunkt der Fissuren fast immer die direct getroffene Stelle ist. Von 
dieser aus können sie nach allen Richtungen hin am Schädelsphäroid ver¬ 
laufen-, hiebei folgen sie häufig den physiologisch schwachen Stellen des Schädel¬ 
gehäuses, wie den tiefen Gefässfurchen und den dünnen Stellen der Schläfen¬ 
schuppe und des Schädelgrundes. Darum die so häufige (aber durchaus nicht 
ausnahmslose) Verlaufsrichtung der Fissuren zur Schädelbasis. 

Die zweite Art der Brüche des Schädels, die Einbrüche, entstehen durch 
Uebereinanderschieben der Theile. Diese Brüche verlaufen nicht im Sinne 
von Meridianen, sondern im Sinne von Breitekreisen; sie stehen senkrecht 
zur Stossrichtung. Seltener ist ein gleichzeitiges Vorkommen von Sprengung 
und Uebereinanderschiebung der Theile. Die Einbrüche haben ein erhöhtes 
forensisches Interesse dadurch, dass sie häufig charakteristische Formen 
darbieten, welche die Angriffsfläche des Verletzungswerkzeuges widerspiegeln. 
Man kann daraus oft mit grosser Bestimmtheit auf die Beschaffenheit der 
Waffe rückschliessen. Bekannt sind die charakteristischen Lochbrüche durch 
Schuss-, Stich- und Hiebwaffen, die runden und viereckigen Einbrüche 
durch Todtsehlflger und Hämmer, die terrassenförmigen durch Hufschläge und 
Steine. Es kann im Allgemeinen als Regel gelten, dass Lochbrüche und Ein¬ 
brüche meist sehr genau den Querschnitt der Angriffsfläche des verletzenden 
Werkzeuges zeigen. Beispiele dieser Art sind zahlreich in der forensischen 
Literatur verzeichnet und durch Abbildungen von Lesser (Atlas), v. Hofmann, 
A. Paltauf, Strassmann illustrirt. 

Eine besondere Art der Schädelbrüche stellen diejenigen vor, welche 
sich an einer von der Angriffsstelle entfernten, ihr meist mehr oder weniger 
diagonal gegenüberliegenden Stelle des Schädelgehäuses finden, Brüche, deren 
Entstehung man sich bis vor Kurzem durch die sogenannte Gegenstosswirkung 


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VERLETZUNGEN. 


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(Contrecoup) erklärte. Namentlich Messerer’s, von Anderen bestätigte Ver¬ 
suche haben klargelegt, dass es Schädelbrüche durch Gegenstosswirkung im 
Sinne der Theorie von Saucerotte überhaupt nicht gibt. Nach Saucerotte 
sollten vom direct getroffenen Orte Wellen ausgehen, sich gleichmässig über 
den ganzen Schädel verbreiten und durch ihr Confluiren an der gerade ent¬ 
gegengesetzten Stelle des Schädels eine solche Erschütterung hervorrufen, 
dass hier der Bruch entsteht. Namentlich die Ringbrüche ums grosse Hinter¬ 
hauptsloch und die so häufigen Fracturen der Orbitaldächer hat man sich 
auf diese Weise zu erklären versucht. Messerer hat gezeigt, dass erstere 
überhaupt keine indirecten, sondern directe Brüche sind, die dadurch ent¬ 
stehen, dass die Wirbelsäule, sei es durch Schlag auf den Scheitel oder durch 
Fall aufs Gesäss in das Schädelinnere eingetrieben wird, wobei es zu kreis¬ 
förmigen Einbrüchen des Hinterhauptsbeines kommt. 

Die unleugbar vorkommenden indirecten Brüche namentlich der vor¬ 
deren Schädelgruben, seltener des Clivus und der Schläfengruben sind theil- 
weise auch nur scheinbar indirect entstanden. So kommen bei den Schüssen 
infolge der Eintreibung der Pulvergase in die Schädelkapsel durch den 
starken allseitigen Innendruck die Berstungen der Orbitaldächer als der 
schwächsten Theile zu Stande. Für die durch Druck und Stoss erzeugten, 
allerdings seltenen indirecten Brüche gibt Messerer folgende zutreffende Er¬ 
klärung: Zu ihrem Zustandekommen ist stets nöthig, dass die Gewalteinwirkung 
auf relativ starke Schädeltheile statthat, welche den Angriff auszuhalten und 
denselben auf entferntere, schwächere Theile zu übertragen vermögen. Hier 
entsteht dann der indirecte Bruch. Der Mechanismus eines solchen kann 
ebenso, wie jener der directen Brüche ein zweifacher sein. Die entfernt vom 
directen Gewaltangriffe liegenden Theile des Schädels bersten entweder, sie 
reissen auseinander, oder sie werden gegen einander geschoben, sie biegen 
und brechen ein. 

Bekannt und wegen ihrer Lebensgefährlichkeit mit Recht gefürchtet 
sind die Infectionen des Schädelinneren, welche durch Fissuren besonders be¬ 
günstigt werden. Die mit Aussenwunden combinirten Brüche der 
Augenhöhlendächer, Brüche des Siebbeines und der Felsenbeine sind wegen der 
naheliegenden Infectionsgefahr sehr gefährlich; natürlich können alle Schädel¬ 
wunden Ausgangspunkte und alle Brüche Eingangspforten für Eitererreger 
werden, welche Pachy- und Leptomeningitis und Encephalitis hervorrufen. 

Die überaus zahlreichen nicht tödtlichen Verletzungsfolgen des Gehirns 
und seiner Adnexe, die traumatischen Psychosen, die Epilepsie, Aphasie, die 
functionellen Störungen der Sinnesorgane werden in einem folgenden Ab¬ 
schnitte kurz erörtert werden. 

2. Die Verletzungen des Gesichtes. Im Allgemeinen sind dieselben 
nicht besonders schwerer Art. Sie werden jedoch gerichtsärztlich bedeutsam 
wegen ihrer zum Theil engen Beziehungen zu den Sinnesorganen und weil 
sie infolge der exponirten Lage des Gesichtes in ihren Folgen nicht selten 
eine „auffallende“ Verunstaltung darstellen. 

Bruch der Nasenbeine ist eine häufige, wohl an sich schwere Verletzung, 
welche jedoch in der Regel keine länger dauernde Gesundheits- oder Berufs¬ 
störung im Gefolge hat. Eine besondere Entstellung ist das wiederholt beob¬ 
achtete Abbeissen der Nase. Nasenblutung kann für sich oder mit Brüchen 
der Nasenbeine und des Siebbeins Vorkommen; sie ist in der Regel bedeu¬ 
tungslos, kann aber mitunter lebensgefährliche Dimensionen annehmen, da; 
sie, je nach dem Sitz der verletzten Stelle, manchmal selbst durch Tampo¬ 
nade des Nasenrachenraumes nicht sicher gestillt werden kann. 

Ebenso bewirken Stich- und Schnittwunden der gefässreichen Lippen und 
der Zunge oft bedeutende Blutungen; weniger Biss-, Riss- und Quetschwunden, 
welche jedoch meist durch Eiterung heilen und hässliche und die Functionen 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Oer. Med. 61 


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VERLETZUNGEN. 


der Theile hindernde Narben hinterlassen können. Von geringerer Bedeutung 
sind in der Regel die Wunden der übrigen Gesichtshaut, doch erzeugen um¬ 
fängliche Zerreissungen, z. B. durch Hundebiss, dann Verätzungen und Ver¬ 
brennungen, höchst entstellende Narben als bleibende „auffallende“ Ver¬ 
unstaltungen. Dahin würden auch die Fisteln des AusfUhrungsganges der 
Ohrspeicheldrüsen nach Verletzung des Ductus Stenonianus gehören. Die 
Quetschungen und Wunden der Ohrspeicheldrüsen selbst bedingen schwere 
Parotitiden. 

Die entweder allein oder mit Schädelbrüchen vergesellschafteten Brüche 
der Gesichtsknochen kommen nicht selten vor. Isolirte Gesichtsknochenbrüche 
heilen meist gut ohne bleibende Folgen; nur nach gleichzeitigen Nerven- 
läsionen bleiben mitunter Lähmungen von Gesichtsmuskeln, namentlich Fazialis¬ 
lähmungen und -Paresen zurück. 

Das Einschlagen der Zähne ist eine ziemlich häufige Verletzung 
und deswegen von einiger praktischer Bedeutung. Doll und Schuh¬ 
macheb haben lebhaft gestritten, ob der Verlust eines oder mehrerer Zähne 
eine schwere oder eine leichte Verletzung sei. Der Kernpunkt dieser Streit¬ 
frage liegt in etwas anderem. So kann die Frage überhaupt nicht gestellt 
und beantwortet werden. Es kommt eben auf die Beschaffenheit des ver¬ 
letzten Zahnes an. Der Verlust eines schadhaften Zahnes mit atrophischer 
Wurzel oder eines Milchzahnes ist ganz etwas anderes, wie das Einschlagen 
kräftiger gesunder Dauerzähne, welches in der Regel nur unter gleichzeitigem 
Bruch des Zahnfächers erfolgt. Bei der Beurtheilung dieser Verletzung wird 
daher meiner Meinung nach, die auch Mauczka aufgenommen hat, stets 
strenge individualisirt werden müssen. Es wird auch ein Unterschied zu 
machen sein, ob nur ein oder ob mehrere Zähne verloren gegangen sind, ob 
dies vordere oder hintere Zähne waren, endlich ob und wie ein künstlicher 
Ersatz möglich ist und welcher Art die Gewalteinwirkung war. Man wird 
diese Verletzung also nach den wechselnden Umständen einmal als an sich 
schwer, das andere Mal als leicht zu qualificiren haben. 

3. Die Verletzungen der Sinnesorgane, a) Die Augen sind sehr 
zahlreichen traumatischen Einwirkungen ausgesetzt, welche wieder sehr viel¬ 
fach abgestufte Folgen nach sich ziehen. So können durch die Einwirkung 
stumpfer Gewalten Quetschungen und Erschütterungen aller Theile des Auges 
und seiner äusseren Schutzgebilde erzeugt werden. Häufig sind die Blut¬ 
unterlaufungen der Lider, die für sich bestehen können, oder als Theilerschei- 
nung tieferer Verletzungen, namentlich des Gesichts- oder Schädelskelettes 
auftreten. Das „blaue Auge“ ist eine allbekannte Erscheinung. Manchesmal 
entwickeln sich wahre Hämatome der Lider. An sich ziemlich bedeutungs¬ 
los, haben sie gleichwohl nicht selten diagnostischen Werth. In ähnlicher Weise 
entstehen durch stumpfe Traumen Blutungen in die Bindehäute und in die 
Augenkammern, in und hinter die Netzhaut mit den gefürchteten Abhebungen 
derselben, sowie endlich in die Scheide der Sehnerven. Aber auch Berstungen 
und Zerreissungen des Bulbus und einzelner Theile des Auges können durch 
Stumpfe Gewalteinwirkungen veranlasst werden, so namentlich Berstungen 
der Sklera, Zerreissungen der Iris und der Zonula Zinii mit Luxation der 
Linse nach aussen oder in den Glaskörper. Eine besondere Art der Augen¬ 
verletzungen durch stumpfe Gewalten ist dasAugenaushebeln, eine durch 
Einsetzen des Daumens in den innern Augenwinkel bewirkte Luxation des 
ganzen Bulbus. Diese jetzt sehr selten gewordene Verletzung war früher in 
einigen Gegenden Tirols landesüblich und wurde bewusst und mit Geschick 
beim Raufen ausgeführt. 

Die spitzen und schneidenden Werkzeuge erzeugen entsprechende Wunden 
der Lider, der Bindehaut, der Hornhaut, Sklera, Iris, Linse, des Glaskörpers, 
der Choroidea und der Netzhaut. In ihren Folgen schlimmer als die ein- 


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VERLETZUNGEN. 


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fachen Stich- und Schnittwunden, sind die durch eingedrungene und liegen¬ 
gebliebene Fremdkörper erzeugten Wunden. Sind dieselben septisch, so 
können sehr leicht Panophthalmie und selbst Meningitis veranlasst werden. Er¬ 
blindung oder wesentliche Beeinträchtigung der Sehfunction ist eine sehr 
häufige bleibende Folge solcher schon nach ihrer allgemeinen Natur und den 
unmittelbar gefolgten Krankheitserscheinungen schweren Verletzungen. 

Nicht ganz selten ist die Simulation von einseitiger Erblindung nach 
einem äusseren Trauma, sowie die absichtliche Erzeugung von Augenkrank¬ 
heiten. (Vergl. Simulationen.) 

ß) Die Ohren sind gleichfalls häufigen traumatischen Einwirkungen 
ausgesetzt, am häufigsten das äussere Ohr: die Ohrmuschel. Reissen, Ziehen, 
Schlagen, Beissen, Kratzen, Stechen, Hauen, Schneiden sind nicht seltene 
Verletzungsarten dieses hervorstehenden, und für gewisse Angriffsarten ge¬ 
radezu anatomisch prädestinirten Körpertheiles. Eine öfter vorkommende 
schwerere Folge des Reissens, Ziehens oder Stossens am Ohre ist die Bildung von 
grossen Blutunterlaufungen. Die dadurch entstandene Geschwulst wirdOhr- 
blutgesch wulst (Haematoma auriculae, Othaematom) genannt. Die Othä- 
matome heilen im günstigsten Falle mit Hinterlassung deformirter Ohrmuscheln, 
nicht selten kommt es zu jauchigem Zerfall und Nekrose des Knorpels, sogar 
tödtlicher Ausgang ist schon beobachtet worden. Durch Verletzungen miss¬ 
gestaltete oder verloren gegangene Ohrmuscheln würden als „auffallende“ Ver¬ 
unstaltungen zu qualificiren sein. 

Die Verletzungen des äusseren Gehörganges werden entweder durch ein¬ 
dringende Fremdkörper oder Verletzungswerkzeuge direct erzeugt, oder sie 
entstehen indirect durch Fall, Stoss, Schlag auf den Unterkiefer, wodurch 
Fracturen der vorderen Wand des knöchernen Gehörganges zu Stande kommen. 
Die Fremdkörper im Ohre, nicht immer durch die eigene, sondern auch 
durch fremde Hand eingeführt, beanspruchen einiges forensisches Interesse. 
Es ist einmal die häufigste Art zur absichtlichen Erzeugung von Ohrenflüssen, 
eine beliebte Simulation, um vom Militärdienste loszukommen, dann aber auch 
eine besonders raffinirte Tödtungsart. Morison, Rau, Osiander, Taylor und 
Seydeler theilen Fälle von Morden durch Eingiessen von geschmolzenem 
Blei ins Ohr mit, Trautmann sah schwere eitrige Entzündung entstehen nach 
Einlegen von Kreosotwatte ins Ohr behufs Stillung von Zahnschmerzen. 

Zufällig oder absichtlich ins Ohr gelangte Fremdkörper werden wegen 
der hochgradigen örtlichen Entzündung, die leicht aufs Mittelohr und schliess¬ 
lich selbst aufs innere Ohr übergreifen kann, gefährlich. Anderseits können 
freilich auch eingedrungene Fremdkörper als unschädliche Ohrsteine Jahre und 
Jahrzehnte ohne wesentliche Nachtheile im Gehörgang liegen bleiben. Man fand 
da schon Bohnen, Erbsen, Hafergrannen, Kirschkerne, Kaffeebohnen, Pfeffer¬ 
körner, Glasperlen, Zähne, Knochenstücke, Korallen, kleine Steine, Elfenbein¬ 
knöpfe, Schieferstifte und viele andere Dinge. Ein Recrut hat sich zur Vor¬ 
täuschung eines stinkenden Ausflusses wiederholt Käse mit Eigelb ins Ohr 
gestopft (Trautmann). 

Trommelfellverletzungen werden entweder gleichfalls direct durch 
«indringende Körper oder Werkzeuge, namentlich spitze, wie Nadeln u. dgl., 
bedingt, oder sie entstehen indirect durch Gewalten, welche das äussere Ohr 
selbst oder andere Theile des Schädels treffen. So kommen sie nicht allzu 
selten als Begleiterscheinungen von Basisfracturen vor. Die Entstehung einer 
Trommelfellzerreissung ist mit so grossem Schmerze verbunden, dass Menschen 
manchmal davon ohnmächtig werden. Da die einfachen Fissuren oft in kurzer 
Zeit heilen, kann man sie nur als an sich leichte Verletzungen betrachten, 
welche jedoch nicht selten durch nachfolgende Infection länger dauernde Eite¬ 
rungen und auch bleibende Hörbeeinträchtigungen zur Folge haben. So 
können allerdings selbst durch Ohrfeigen, die indirecte Trommelfellrupturen 

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VERLETZUNGEN. 


erzeugt hatten, wie es infolge strarker Compression der Luft im Gehörgang 
manchmal vorkommt, in weiterer Folge schwere Erkrankungen des Ohres und 
selbst Gefährdungen des Lebens bewirkt werden. 

Es treten aber schwere und bleibende Folgen thatsächlich viel seltener 
ein, als sie behauptet werden. Die Simulation von einseitiger Taubheit nach 
Ohrfeigen, Faustschlägen u. dgl. in der Regel doch leichten Beschädigungen 
ist geradezu sehr häufig. (Vergl. Simulationen.) 

Auch das Mittelohr kann direct vom äusseren Gehörgang aus durch das 
Trommelfell, sowie vom Nasenrachenraum durch die Ohrtrompete verletzt 
werden. Grosse Gefahren bringen eingedrungene Fremdkörper. Die Mittel¬ 
ohrentzündungen und -Eiterungen bedingen Zeit ihres Bestandes Lebens¬ 
gefahr wegen des leichten Uebergreifens der Eiterung auf den Sinus petrosus 
(Sinusthrombose) oder auf die Meningen. 

Der schallempfindende Apparat kann nach seiner geschützten Lage immer 
nur mittelbar beschädigt werden. Heftige Erschütterungen des Schädels oder 
Schläge hinter das Ohr sind Gewalteinwirkungen, welche ihn verletzen und 
Taubheit bewirken können. Die doppelseitige Taubheit ist aber auch schon 
vorgetäuscht worden. (Vergl. Simulationen.) 

Die übrigen Sinnesorgane geniessen nicht den Schutz der Strafgesetze. 
Keines derselben berücksichtigt den Verlust des Geruchs oder Geschmaks als 
einer besonderen Verletzungsfolge. Die forensische Medicin hat daher auch 
keine Veranlassung, auf die Beschädigungen dieser Sinne, die auch wenig 
bekannt sind, einzugehen. 

b) Verletzungen des Halses. 

Schläge, Stösse, Tritte und andere stumpfe Gewalten vermögen nach 
Fischer auch ohne sonstige Beschädigungen, bloss auf dem Wege der 
Erschütterung des nervenreichen Kehlkopfes reflectorisch Tod durch Shock 
oder Glottiskrampf zu erzeugen (Commotio laryngis), oder Erschütterungen 
des Halsmarkes hervorzurufen. 

Die Wunden des Halses, seien es Stich-, Schnitt-, Hieb-, Schuss oder 
was allerdings am Halse seltener vorkommt, Quetsch- und Risswunden, sind 
im Allgemeinen wegen der vielen wichtigen und wenig geschützten Halsorgane 
meist sehr gefährlich; sie bedingen oft Lebensgefahr und führen nicht selten 
den Tod herbei. Zu den gefährlichsten, meist tödtlich verlaufenden gehören 
die Gefässwunden, ferner die Wunden des Kehlkopfes und der Luftröhre, 
welche meist Erstickungsgefahr durch Blutaspiration oder Schluckpneumonie 
bedingen, dann die Wunden der Nerven. Was Verletzungen des Vagus, 
Sympathicus, Laryngeus superior und Recurrens bedeuten, ist allgemein be¬ 
kannt. Stechende Werkzeuge und Projectile von Schusswaffen können auch 
bis in den Wirbelcanal Vordringen und das Halsmark verletzen. Meist sofor¬ 
tiger Tod wird durch Verletzung des verlängerten Markes hervorgerufen, 
welches vom Genick aus für Stichwerkzeuge nicht unschwer zu erreichen ist 
(Genickfang). Nicht tödtlich endende Fälle von Verletzung des obersten Hals¬ 
markes, wie v. Hofmann einen beschreibt, sind seltenste Ausnahmen. 

Fast gleich gefährlich sind Brüche des Zungenbeines, des Kehlkopfes, 
der Luftröhrenknorpel und der Halswirbelsäule, welche durch Würgen, 
Drosseln und stumpfe Gewalten aller Art entstehen. Die Zungenbein- und 
Kehlkopfbrüche sind hauptsächlich wegen der durch die Verschiebung der 
Bruchenden, die Quetschungen der anliegenden Theile, das Glottisödem und 
das meist bald hinzutretende Emphysem der Weichtheile des Halses hervor¬ 
gerufenen acuten Erstickungsgefahr sehr gefährlich, v. Hofmann gibt die Zahl 
der Todesfälle nach Kehlkopfbrüchen mit 80% an- Isolirte Zerreissungen der 
Luftröhre gehören wohl zu den sehr seltenen Verletzungen; vereint mit 
anderen schweren Verletzungen bis zum vollkommenen Abreissen (Quer- und 


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VERLETZUNGEN. 


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Längsrisse) habe ich wiederholt, aber stets nur bei tödtlich gewordenen Fällen 
beobachtet. Lauenstein beschreibt einen Fall von Heilung eines wahrschein¬ 
lichen Querrisses der Trachea nach Hufschlag. 

Durch plötzliche Gewalteinwirkungen auf den Hinterkopf, wie Fall, 
Niederdrücken des Kopfes oder Aufheben des Körpers durch Anfassen am 
Kopfe, Zerren an den Haaren und plötzliche Drehungen können Verren¬ 
kungen, namentlich der obersten Halswirbel-Gelenke, erzeugt werden, und 
zwar doppelseitige, einseitige und unvollständige. Meist zur Heilung gelangen 
die Subluxationen, schon viel gefährlicher sind die unilateralen und fast immer 
tödtlich die bilateralen Luxationen des Kopfgelenkes. 

c) Brustverletzungen. 

Ab und zu rufen stumpfe Gewalten, welche die vordere Brustgegend, 
namentlich die Herzgrube getroffen haben, wahrscheinlich durch Uebererregung 
von Vagusenden ohne Verletzung der Brusteingeweide, reflectorisch Herzstill¬ 
stand (Shock) hervor. 

Viel häufiger veranlassen die schweren stumpfen' Gewalten, wie 
Ueberfahren, Absturz, Verschüttung, Auffallen schwerer Lasten Knochen¬ 
brüche und Organrupturen. Erstere sind nicht selten in mehrfacher 
Zahl vorhanden, wenn es sich um schwere Traumen handelt. Man findet dann 
die Thoraxwand einseitig oder beiderseitig eingedrückt, alle oder einen grossen 
Theil der Rippen einer oder beider Seiten, einfach oder mehrfach, mit und 
ohne Zerreissung der Pleura gebrochen. Ebenso sind nicht selten Brustbein- 
und Schlüsselbeinbrüche, desgleichen Brüche der Brustwirbelsäule. Je nach 
der Grösse der einwirkenden Gewalt, der Angriffsfläche und der Lage der 
Angriffsstelle kommen diese Brüche einzeln oder in mehrfacher Zahl vor. 
Durch allerschwerste Gewalten können selbst Berstungen der Brusthöhle und 
Herausschleudern der abgerissenen Lungen und des Herzens erzeugt werden. 
Ich sah letzteres bei einem zwischen die Puffer schwer beladener Lastwagen 
gerathenen Arbeiter; Caspeb, v. Hopmann und Fischer berichten gleichfalls 
über Fälle von Abreissen und Herausschleudern des Herzens aus dem gebor¬ 
stenen Thorax. 

Aber auch ohne Eröffnung der Brusthöhle kommen Zerreissungen der 
Organe zu Stande. Am häufigsten sind Verletzungen der Lungen bei cornpli- 
cirten Rippenbrüchen, viel seltener Berstungen des Herzens oder der grossen 
Gefässe. Bei Abgestürzten und Ueberfahrenen beobachtete ich auch Ab¬ 
reissungen der Luftröhre, eines und beider Hauptbronchien und vollständige 
Abreissung der Speiseröhre, eine wegen der geschützten Lage höchst seltene 
Verletzung, sowie Ruptur der Aorta. 

Sind diese sehr schweren Beschädigungen, sowie die von mir auch schon 
beobachtete gänzliche Zermalmung der Brustorgane immerhin selten, so 
sind dagegen Quetschungen der Lungen oft genug zu beobachten. Die Lungen- 
<juetschung, meist oberflächlich unter der direct getroffenen Stelle gelegen, 
ist durch Blutung charakterisirt. Es kommt zur Hämoptoö, entzündlicher 
Verdichtung und blutiger Infiltration der verletzten Theile und ihrer Umge¬ 
bung (Contusionspneumonie, Demuth). Es können sich aber nach Ver¬ 
letzungen auch echte croupöse Lungenentzündungen entwickeln. Das Trauma 
ist dann das auslösende Moment; es schafft einen Angriffspunkt (Locus minoris 
resistentiae) für die in den unverletzten Luftwegen häufig genug vorhandenen, 
latenten Entzündungserreger: Pneumococcen Friedländer, Fränkel-Weich¬ 
selbaum; vergl. auch Diffen, Petit u. A. In selteneren Fällen kommen 
die Contusionen der Lunge auch an Stellen zu Stande, welche von der An¬ 
griffsstelle mehr weniger weit abliegen (indirecte Lungenquetschung). Es ge¬ 
schieht dies, indem beim Zusammendrücken des Thorax Luft so gewaltsam in ab¬ 
liegende Theile der Lungen eingepresst wird, dass daselbst das Gewebe einreisst. 


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.VERLETZUNGEN. 


Ziemlich grosse praktische Bedeutung haben die Verletzungen des 
Rückenmarkes, welche entweder in Compressionen als Theilerscheinung von 
Brüchen der Wirbelsäule oder in Contusionen des Markes und seiner Hüllen 
bestehen. Die sog. Compressionsmyelitis mit ihren bekannten Folgen (Lähmung 
der unteren Extremitäten, oft auch der Blase, des Mastdarms und der Becken¬ 
muskulatur) führt sehr häufig zu chronischem Siechthum und Tod, meist nach 
langer Krankheitsdauer. Günstiger ist die Vorhersage, wenn keine Ab¬ 
quetschung des Markes stattfand, sondern die Compression durch Bluterguss 
bedingt ist, weil es allmählich doch zur Aufsaugung des Blutes und dadurch 
zum Rückgang der Erscheinungen, wenn auch nur selten zur vollständigen 
Wiederherstellung kommt. Neben diesen gröberen anatomischen Veränderungen 
gibt es aber auch eine Form der Rückenmarkserschütterung, welche 
darin besteht, dass aus unscheinbaren, kleinen Läsionen (capillaren Hämor- 
rhagien) oder erst gar nicht nachweisbaren, molekularen Verschiebungen 
chronisch-entzündliche Processe (Meningo-Myelitis) entstehen, welche schwere 
Functionsstörungen, namentlich Lähmungen sowie hysteroide, hypochondrische 
und paralytische Zustände im Gefolge haben. Dieses oft vielgestaltige, aus 
physischen und psychischen Symptomen zusammengesetzte Krankheitsbild wird 
nach der häufigsten Ursache, den Eisenbahnuufällen, als „Eisenbahnlähmung“ 
(Railway spine) bezeichnet (Erichsen, Erb, Riegler, Thomsen, Meynert, 
Charcot, Vibert, Strümpell, Oppenheim u. A.). In neuester Zeit glaubt man, 
dass selbst wirkliche multiple Sklerose aus Erschütterungen des Rückenmarkes 
hervorgehen könne (Westphal u. A.). 

Zahlreich sind Stich- und Schnittverletzungen der Brust Sie 
sind, wenn nur die äusseren Weichtheile treffend, in der Regel von geringer 
Bedeutung. Bedenklich sind die meisten mit stärkeren Messern, Dolchen, Säbeln, 
Stossdegen erzeugten Stichverletzungen der vorderen und seitlichen Brust¬ 
wände wegen des verhältnismässig leichten Eindringens der Verletzungswerk- 
zeuge in die Brusthöhle. Dadurch kommt es zu meist lebensgefährlichen 
Beschädigungen des Herzens, der grossen Gefässe und der Lungen. Weniger 
leicht entstehen penetrirende Stichverletzungen von der hinteren Thoraxwand 
aus, wo der Schutz der Wirbelsäule und der Schulterblätter vorhanden ist, 
obwohl auch dieser kein absoluter ist. Besonders gefährlich sind Stiche in 
den Schlüsselbeingruben wegen der von hier aus ungemein leicht zu er¬ 
reichenden grossen Blutgefässe, deren Verletzung wohl unausbleiblich Ver¬ 
blutungstod in wenigen Minuten bedingt. Oft verhütet nur das zufällige Auf¬ 
treffen der Klinge auf eine Rippe, das Brustbein oder Schlüsselbein die sicht¬ 
liche Lebensgefahr. Daher wird der Gerichtsarzt meist auch die an sich nur 
leichten Bruststichwunden als mit einem gemeiniglich lebensgefährlichen 
Werkzeuge und auf lebensgefährliche Art erzeugte Verletzungen zu bezeichnen 
haben (§ 155 a österr. St.-G.). 

Lungenstichwunden bedingen Pneumothorax und Bluterguss. Da¬ 
durch entsteht meist acute Lebensgefahr. Es hängt nur von der Zahl und 
Grösse der getroffenen Gefässe ab, ob in kurzer Zeit Tod durch innere Ver¬ 
blutung eintritt oder die Blutung beschränkt bleibt und nicht tödtlich wird. 
Auch der Pneumothorax muss keineswegs unbedingt zum Tode führen, son¬ 
dern kann durch Aufsaugung der Luft und Verschluss der Wunde zur Aus¬ 
heilung kommen. Die Prognose ist ungleich günstiger, wenn die Lungen an¬ 
gewachsen, als wenn sie frei wären. Das Gleiche gilt von den Schuss¬ 
wunden der Lungen. 

Die Stichwunden des Herzens gehören zu den allergefährlichsten, 
in der Regel innerhalb weniger Augenblicke durch innere Verblutung oder 
noch häutiger durch Herzdruck tödtlich verlaufenden Verletzungen. Ist nur 
eine Herzwand eröffnet, wie es gewöhnlich geschieht, und erfolgt der Blut¬ 
erguss nur in den Herzbeutel, dann füllt sich dieser rasch mit Blut, so dass 


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die Bewegungen des Herzens mechanisch durch Druck von aussen behindert 
werden. Der Tod tritt dadurch früher ein, als es durch den Blutverlust ge¬ 
schehen müsste. Wir finden dann in der Leiche auch keineswegs allgemeine 
Blutleere der Organe und grossen Gefässe, wie beim wirklichen Verblutungs¬ 
tod. Gleichwohl wäre die Vorstellung falsch, dass Herzstichwunden oder Stich¬ 
wunden der grossen Gefässe sofortiges Zusammenstürzen oder augenblicklichen 
Tod zur Folge hätten. Es ist sogar das Gegentheil häufig; Menschen führen 
noch Bewegungen aus, klappen das Messer zusammen, gehen oder laufen noch 
eine Strecke, bringen Kleider in Ordnung u. s. w. 

Dieselben Folgen haben auch die Schusswunden des Herzens, 
welche je nach ihrer Lage und Grösse in derselben Weise augenblicklich oder 
erst nach einer, wenn auch meist sehr kurzen Zeit den Tod durch Herzdruck 
oder innere Verblutung herbeiführen. Uebrigens enden keineswegs alle Herz¬ 
wunden mit dem Tode, wie aus der interessanten Zusammenstellung von 
Fischer hervorgeht, der unter 452 Fällen von Herzverletzungen 72 Fälle von 
Heilung fand! Von diesen waren 36 durch Sectionen sichergestellt, 36 aus 
Symptomen vermuthet; in 12 Fällen fanden sich Fremdkörper eingeheilt und 
zwar sechsmal Nadeln, fünfmal Kugeln, einmal ein Dorn. 

Verletzungen des Zwerchfelles kommen sowohl von aussen als 
von innen zustande, u. z. durch alle Arten der Gewalteinwirkung. Durch 
stumpfe Gewalten werden Abreissungen und Zerreissungen bewirkt; sind die 
Zwerchfellrisse an der Kuppe und complet, so kommt es zu Verlagerung von 
Unterleibseingeweiden in die Brusthöhle (Traumatische Zwerchfellhernien). 
Stiche und Schüsse erzeugen Durchbohrungen, welche nicht selten in mehr¬ 
facher Zahl bei einer einzigen Einwirkung entstehen. Es ist dies leicht ver¬ 
ständlich aus der anatomischen Lage des Zwerchfells. Uebrigens können 
mehrfache Stich- und selbst Schussverletzungen von einer einzigen Eingangs¬ 
öffnung aus am Herzen und den Lungen zustande kommen, wenn nämlich 
wiederholt durch dieselbe äussere Oeffnung aber in geänderter Richtung ge¬ 
stochen oder geschossen wurde, was schon einigemale beobachtet worden ist 
(v. Hofmann). 

d) Verletzungen des Unterleibes. 

1. Bauchorgane. Stumpfe Gewalten, welche den Unterleib, namentlich 
die Magengegend oder die Gegend der Bauchgeflechte stark treffen, können 
ebenfalls ohne Zerreissungen Shocktod hervorrufen. Stösse, Tritte, Schläge 
und Fall auf den Unterleib sind solche Veranlassungen. Viel häufiger kommt 
es durch solche Einwirkungen zu Organzerreissungen. 

Unter diesen stehen obenan die Leberrupturen. Die Leber ist 
infolge ihrer Lage, Grösse und ihrer Brüchigkeit das am meisten gefähr¬ 
dete Organ. Von kleinen, oberflächlichen Kapselrissen bis zur völligen Zer¬ 
trümmerung kommen alle Abstufungen vor. Häufig erfolgen die Einrisse und 
Brüche an den natürlichen Furchen, es kann aber auch jede andere Stelle, 
auf welche sich ein Stoss unmittelbar fortpflanzt, einreissen; es sind daher 
namentlich auch die Risse der Oberfläche des rechten Leberlappens nicht 
selten. Manchmal kommt es zu Abhebungen der Kapsel und mehr weniger 
umfänglichen Blutungen unter dieselbe. Die so entstehenden Hämatome der 
Leber werden hauptsächlich bei Neugeborenen als natürliche Folge schwerer 
Geburten oder ungeschickter und gewaltsamer Eingriffe bei der Hilfeleistung 
beobachtet. Die Leberrupturen tödten meistens durch innere Verblutung, 
welche bei kleineren Zerreissungen oft erst nach mehreren Stunden eintritt. 
Nur ganz kleine Kapselrisse und sehr oberflächliche Parenchymrisse können 
möglicherweise heilen. 

Etwas weniger häufig sind die Milzzerreissungen. Die Risse be¬ 
finden sich auch hier vorwiegend auf der Unterseite des Organes. Milzrisse 


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VERLETZUNGEN. 


kommen wohl niemals zur Heilung. Der Tod erfolgt gleichfalls durch Ver¬ 
blutung. 

Weit geschützter liegen die Nieren, welche infolge dessen auch sel¬ 
tener zerreissen. Die Nierenrisse betreffen meist die Oberfläche und finden 
sich nicht selten in mehrfacher Zahl oft als ganz feine Fissuren der Rinde 
vor. Seltener sind Einrisse vom Hilus her und Verletzungen des Beckens. 
Die durch Blutharnen schon während des Lebens sich bemerkbar machenden 
Nierenzerreissungen sind gleichfalls nahezu ausnahmslos tödtlich, wenn nicht 
durch Verblutung in kurzer Zeit, so durch Urämie, Nephritis und Abscess 
im weiteren Verlaufe. 

Zerreissungen des Magens, der Gedärme und Gekröse 
habe ich ebenfalls wiederholt beobachtet, wenngleich sie seltener sind als 
jene der drüsigen Organe. Magen und Gedärme zeigen mitunter unvoll¬ 
ständige Einrisse der Schleimhaut oder des Bauchfellüberzuges. Im ersteren 
Falle kann es zur Entwicklung von Magen- oder Darmgeschwüren kommen 
(Leube, Duplay, Ritter, Chiari). Schleimhautrisse des Magens können 
auch durch ungeschickte Magenspülungen erzeugt werden (Key-Aberg). Sind 
Magen- und Darmwände ganz durchrissen, so tritt der infectiöse Inhalt in 
den Bauchfellsack und erfolgt, wenn nicht sehr rasch chirurgische Hilfe zur 
Hand ist, Tod durch Peritonitis. Einrisse des Gekröses und Abreissungen 
desselben von der Wirbelsäule, wie ich es durch Schlag einer Mühlrad¬ 
schaufel zustande kommen sah, tödten durch Verblutung. 

Für die Stich- und Schussverletzungen der Bauchorgane gilt ganz das¬ 
selbe. Sie bedingen immer Lebensgefahr und tödten ungemein häufig durch 
Verblutung oder septische Infection. Die nur die Bauchwandungen betreffen¬ 
den Stich-, Schnitt- und Schusswunden sind allerdings in der Regel an sich 
leichte Verletzungen, sie werden jedoch wegen der besonders leicht möglichen 
Perforation der Bauchdecken durch spitze, schneidende Werkzeuge und Schuss¬ 
waffen meistentheils im Sinne des § 155 a österr. St.-G. als „auf gemeiniglich 
lebensgefährliche Art unternommen“ zu qualificiren sein. 

2. Beckenorgane. Durch Einwirkung sehr grosser, stumpfer Gewalten 
kommt es neben oft umfänglichen Quetschungen der äusseren Weichtheile 
auch zu Brüchen des Beckens und der Lendenwirbelsäule. Diese werden 
namentlich bei Abgestürzten, Verschütteten und Ueberfahrenen beobachtet. Die 
Beckenbrüche erfolgen nicht selten in einer ganz typischen Art. Es wird die 
Schamfuge und das Kreuzbein eingedrückt und gegen das Beckeninnere ver¬ 
schoben. Dabei brechen die horizontalen Schambein- und die aufsteigenden 
Sitzbeinäste sowie die Flügel des Kreuzbeines. An diesen Stellen laufen in der 
Mehrzahl der Beckenbrüche die Bruchlinien hindurch. Infolge der Ver¬ 
schiebung der Bruchenden kommt es gar nicht selten zu gleichzeitiger Zer- 
reissung des häutigen Theiles der Harnröhre bis zur völligen Abreissung, 
wohl auch zur Blasenruptur. Bei seitlicher Gewalteinwirkung sind Brüche 
und Zerschmetterungen der Darmbeine gewöhnlich. Isolirte Rupturen der 
Harnblase sind selten. 

Mastdarmverletzungen kommen unabsichtlich durch ungeschickte 
Hantirungen beim Klystiren, durch Einführung von Fremdkörpern für masturba- 
torische und päderastische Zwecke, sowie durch päderastische Gewaltacte oft 
in ausgebreiteter Weise zustande; Spontanrupturen des mit Meconium ge¬ 
füllten Dickdarms sind bei Neugeborenen mit und ohne Atresia ani wieder¬ 
holt beobachtet worden (Zillner, A. Paltauf, A. Ludewig). In seltenen 
Fällen kommen auch absichtliche Verletzungen des Mastdarms vor. Be¬ 
kannt ist, dass König Eduard II. von England durch Einstossen eines 
glühenden Eisens in den Mastdarm getödtet wurde; v. Hofmann erzählt einen 
Fall, in welchem einem Manne, der einem Bauernweibe nachgestiegen war. 


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VERLETZUNGEN. 


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von dem Gatten desselben unter Beihilfe mehrerer Anderen mit einem Steine 
ein Holzpflock in den After eingetrieben worden ist. 

Bezüglich der Hernien als Verletzungsfolge ist schon unter „Simu¬ 
lationen“ abgehandelt worden. 

3. Geschlechtsorgane. Die männlichen Geschlechtsorgane sind 
schon durch ihre Lage Verletzungen häufig ausgesetzt. Zerrungen, Quet¬ 
schungen, Zerreissungen, aber auch Stich-, Schnitt-, Hieb- und Schussver¬ 
letzungen kommen an den äusseren Geschlechtsorganen zur Beobachtung. In 
forensischer Hinsicht sind die dadurch bedingten Folgen, welche nicht selten 
in Verlust des Zeugungsvermögens bestehen, beachtenswert. 

In fahrlässiger Weise können Verletzungen des Penis mit schweren Folgen 
durch die rituelle Beschneidung herbeigeführt werden. So wurde sogar Tuber¬ 
kulose und Syphilis durch Verwendung unreiner Messer übertragen, sowie 
Erysipel und Gangrän erzeugt. Die Stich- und Schnittwunden des Penis sind 
wegen der Blutungen aus den verletzten Schwellkörpern, sowie aus den grossen 
Dorsalgefässen, besonders gefährlich. 

Die weiblichen Geschlechtsorgane sind Verletzungen hauptsäch¬ 
lich ausgesetzt durch mechanische Fruchtabtreibungsversuche. (Das Nähere Biehe 
Art. „Fruchtabtreibung“ S. 267). Verletzungen der äusseren Genitalien 
durch Fall, Stoss, Schlag, Stich, Schnitt können infolge der starken Blutungen 
lebensgefährlich werden; es gilt dies insbesondere von den Verwundungen des 
Kitzlers und der Wasserlefzen. Lebensgefährliche Blutungen sind auch schon 
durch den ersten Beischlaf veranlasst worden. Die forensische Literatur kennt 
auch Fälle von absichtlichen Verletzungen der weiblichen Genitalien durch 
Schnitte und Stiche oder gewaltsames Eintreiben von Fremdkörpern in die 
Scheide zum Zwecke der Tödtung. Fälle dieser Art führen Watton, Mitchel 
Hill, Schauenstein und v. Maschka an. lieber die Verschneidungen der 
äusseren weiblichen Geschlechtstheile bei der religiösen Secte der Skopzen in 
Russland berichtet Pelikan. 

Ueber Scheiden- und Gebärmuttervorfälle als Folgen von Ver¬ 
letzungen vergleiche man Art. „Simulationen“ S. 708. 

e ) Verletzungen der Gliedmaassen. 

Sie sind ungemein häufig; es finden sich alle Arten und alle Grade vor. 
Ftlr die gerichtliche Medicin und Unfallheilkunde liegt die Bedeutung der 
Extremitätenverletzungen darin, ob dadurch der Gebrauch der Arme, Hände, 
Beine oder Füsse zeitweilig oder dauernd beeinträchtigt oder ganz aufgehoben 
wird. Die Dauer der Berufsunfähigkeit oder der Grad der dadurch bewirkten 
verminderten Arbeitsfähigkeit sind die bei der Beurtheilung hauptsächlich in 
Betracht kommenden forensischen Fragen. 

Die Dignität der Verletzungen hängt in erster Linie davon ab, was ver¬ 
letzt worden ist. Hautabschürfungen, kleinere Blutaustritte, Wunden der 
Haut und des Zellgewebes sind meist leicht und heilen ohne bleibende Folgen. 
Je tiefer eine Wunde in die Muskulatur eindringt, desto bedenklicher wird 
sie, weil nicht selten die Heilung nur auf dem Wege der Eiterung erfolgt 
und Muskelnarben oft wesentliche Beeinträchtigungen der Function des ver¬ 
letzten Muskels herbeiführen. Sehnendurchtrennungen sind immer schwere 
Verletzungen, welche ohne Sehnennaht überhaupt nicht heilen und auch im 
letzteren Falle mitunter Beschränkungen der Brauchbarkeit herbeiführen 
können, welche sogar dem Verluste einer Hand, eines Fingers oder eines 
Fusses gleicherachtet werden müssen. Die Nervenwunden bedingen Be- 
wegungs- und Gefühlslähmungen der vom verletzten Nerv versorgten Muskeln 
und Hautgebiete. Sie können, wenn sie nicht zur Heilung gelangen, Muskel¬ 
atrophie und dauernde Functionsstörungen begründen. Kunsthilfe, recht¬ 
zeitig angewendet, vermag diese Folgen meist völlig abzuwenden. Gefäss- 


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VERLETZUNGEN. 


wunden sind nach der Grösse des verletzten Gefässes zu beurtheilen. Durch¬ 
schneidungen der Achsel- und Oberarmarterie, der Schenkelarterie und ihrer 
ersten Zweige sowie Verletzungen der entsprechenden Venen führen, wenn 
nicht sehr rasch Compressionen und Unterbindungen vorgenommen werden, 
Tod durch Verblutung herbei. Auch durch Verletzungen der Vorderarm- und 
Unterschenkel-, sowie selbst der Hohlhand- und Plattfussgefässe können lebens¬ 
gefährliche und sogar tödtliche Blutungen entstehen. 

Die Verletzungen der Gelenke sind entweder Wunden oder Ver¬ 
renkungen. Beide Arten sind schwere Beschädigungen. Die Gelenkswunden 
führen fast regelmässig zur Entzündung des Gelenkes mit nachfolgender 
grösserer oder geringerer Bewegungsbeschränkung. Die Verrenkungen heilen 
wohl, eine entsprechende chirurgische Hilfe vorausgesetzt, in der Regel nach 
längerer Dauer vollständig. 

Die Knochenbrüche, meist durch stumpfe Gewalten erzeugt, aber 
auch durch Schuss- und Hiebwaffen hervorgerufen, sind stets als schwere Ver¬ 
letzungen zu betrachten. In Bezug der durch Beinbrüche bedingten Gesund- 
heits- und Berufsstörung bestehen natürlich wesentliche Unterschiede je nach 
der Grösse und functioneilen Bedeutung des gebrochenen Knochens sowie der 
Art des Bruches. Mit Recht gefürchtet sind complicirte und SplitterbrUche. 

Bei gewissen Gewalteinwiikungen, zu denen namentlich maschinelle und 
durch Explosionen hervorgerufene gehören, kommt es zu Zertrümmerungen 
und Abreissungen ganzer Körpertheile wie Finger, Hände, Arme und Beine. 
Die Beurtheilung dieser sehr schweren Verletzungen ist meist leicht. Sie be¬ 
gründen in der Regel den dauernden Verlust des verletzten Theiles. 

III. Folgen der Verletzungen. 

So vielfach die Verletzungsfolgen strafrechtlich und civilrechtlich ab¬ 
gestuft sind, können sie vom ärztlichen Standpunkte doch zunächst in zwei 
Gruppen untergetheilt werden, in die tödtlicben und die nicht tödtlichen Ver¬ 
letzungen. 

A. Tödtliche Verletzungen. 

Im Gegensätze zu einer früheren Zeit, welche die Tödtlichkeit eine 
Verwundung nach der Wahrscheinlichkeit beurtheilte, mit welcher diese den 
Tod herbeiführen würde, nimmt die forensische Medicin heute den einzig 
richtigen Standpunkt ein, nur den wirklich eingetretenen und nicht den 
möglicher Weise zu erwartenden Erfolg zu bezeichnen; der Gerichtsarzt hat 
keine Prognose zu stellen, sondern sich nur auf Thatsachen zu stützen. Das 
ist der leider noch nicht im vollen Umfang gewürdigte allgemeine Grundsatz, 
welcher allen forensischen Urtheilen zu Grunde gelegt werden muss. Es ist 
daher eine tödtliche Verletzung diejenige, welche den Tod eines 
Menschen thatsächlich herbeigeführt hat, nicht aber diejenige, welche 
ihn möglicherweise oder wahrscheinlich veranlassen wird. Der Erfolg muss 
bereits eingetreten, nicht erst zu erwarten sein. 

Die gerichtsärztlichen Aufgaben bei der Beurtheilung tödtlicher Ver¬ 
letzungen sind in folgenden Bestimmungen zusammengefasst: 

Oesterr. Str.-P.-O. § 129: Das Gutachten hat sich darüber aaszusprechen, was in 
dem vorliegenden Falle die den eingetretenen Tod zunächst bewirkende Ursache gewesen 
und wodurch dieselbe erzeugt worden sei. 

,Werden Verletzungen wahrgenominen, so ist insbesondere zu erörtern: 

1. Ob dieselben dem Verstorbenen durch die Handlung eines Andern zugefügt 
wurden, und falls diese Frage bejaht wird. 

2. ob diese Handlung a) schon ihrer allgemeinen Natur wegen, 

b) vermögo der eigenthüinlichen persönlichen Beschaffenheit oder eines besonderen 
Zustandes des Verletzten, 

r) wegen der zufälligen Umstände, unter welchen sie verübt wurde, oder 

d) vermöge zufällig hinzugekommener, jedoch durch sie veranlasster oder aber aus 
ihr entstandener Zwischennrsachen den Tod herbeigeführt habe, und ob endlich 


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. VERLETZUNGEN. 


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e)»der Tod durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte abgewendet werden 
können.“ 

Deutsches Regulativ für gerichtliche Leichenuntersuchungen § 29: „Auf jeden Fall 
ist das Gutachten zuerst auf die Todesursache, und zwar nach Maassgabe desjenigen, was 
sich aus dem objectiven Befunde ergibt* nächstdem aber auf die Frage der verbrecherischen 
Veranlassung zu richten“. 

Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass der Gerichtsarzt dreierlei 
zu erörtern hat: 

1. Die nächste Todesursache; 2. den ursächlichen Zusammen¬ 
hang; 3. die Entstehungsart der tödtlichen Verletzung. 

a ) Die nächste Todesursache. 

Verletzungen können in sehr verschiedener Weise den Tod veranlassen. 
Wir unterscheiden unmittelbare und mittelbare Todesveranlassungen. Im 
Folgenden habe ich ein Schema aller traumatischen Todesursachen zusammen¬ 
gestellt. Die Aufgabe der Leichenuntersuchung besteht in erster Linie darin, 
festzustellen, wodurch der Tod des Verletzten zunächst veranlasst wurde. 
Stets wird eine der folgenden Todesarten vorhanden sein. 

Schema der traumatischen nächsten Todesursachen. 

Unmittelbare (directe): 

1. Verblutung (innere oder äussere). 

2. Erstickung (durch Pneumothorax, Blutaspiration, Compression der 
Lungen, Fettembolie, Luftembolie). 

3. Beschädigungen lebenswichtiger Organe: 

Des Gehirnes (Gehirnzertrümmerung, Hirndruck), 
des Rückenmarkes (Rückenmarkszerquetschung), 
der Lungen (Lungenzerreissung). 
des Herzens (Herzzertrümmerung, Herzdruck). 

5. ' Shoök n (ange C meiii e Ne U rve 8 ner 8 chöpfang)} ohne anatomischen Befund. 

Mittelbare (indirecte): 

6. Entzündungen: 

Der Hirnhäute — Meningitis — (Hirnhautentzündung), 
des Gehirnes — Encephalitis — (Gehirnentzündung, -Abscess), 
des Rippenfells — Pleuritis — (Rippenfellentzündung), 
der Lungen — Pneumonie — (Lungenentzündung), 
des Herzbeutels — Pericarditis — (Herzbeutelentzündung), 
des Herzens — Myo- und Endocarditis — (Herzfleischentzündung), 
des Bauchfells — Peritonitis — (Bauchfellentzündung), 
der Nieren — Nephritis, Pyelitis — (Nierenentzündung, -Abscess, -Ver¬ 
eiterung), 

des Zellgewebes — Phlegmone — (Zellgewebsentzündung). 

7. Wundinfectionen: 

Erysipel — (Wun drothlauf), 

Wnnddiphtberie (Hospitalbran d), 

Tetanus — (Starrkrampf), 

Sepsis — (Blutvergiftung), 

Pyämie — (Eitervergiftung). 

8. Intoxicationen: 

Urämie — (Harnvergiftung, Harnverhaltung), 

Diabetes — (Zuckerharnruhr). 

9. Erschöpfung (Marasmus). 

Eine nähere Erläuterung dieses Schemas erscheint umsoweniger noth- 
wendig, als die Diagnostik der hier aufgeführten, mittelbaren Todesursachen ganz 
in den Bereich der pathologischen Anatomie fällt, die primären nächsten Todes¬ 
veranlassungen aber schon an anderen Stellen erörtert worden sind. (Vergl. 
Art. Verletzungen 1. Theil, „Todesarten,“ „Traumatische Krank¬ 
heiten“.) 

b) Der ursächliche Zusammenhang. 

Um festzustellen, ob die erhobene Todesursache thatsächlich durch eine 
Vorgefundene Verletzung veranlasst worden sei, ist zweierlei nothwendig, 


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VERLETZUNGEN. 


erstens der Nachweis, dass die Verletzungen dem Verstorbenen während des 
Lebens beigebracht wurden, zweitens die Ausschliessung jeder anderen Todes¬ 
veranlassung. 

1. Die Unterscheidung vitaler und postmortaler Ver¬ 
letzungen ist von grösster Bedeutung. Durchaus nicht alle an einer 
Leiche Vorgefundenen Beschädigungen rühren von Einwirkungen während des 
Lebens her, vielmehr gibt es recht zahlreiche Veranlassungen für das Zustande¬ 
kommen von Beschädigungen der Leichen. Diese können nur allzuleicht für 
intravital entstandene Verletzungen gehalten werden. Postmortale Ver¬ 
letzungen finden sich besonders häufig bei Wasserleichen, bei den Leichen 
weggeworfener, neugeborener Kinder, bei im Freien liegenden Leichen infolge 
von Benagungen durch Thiere, sowie bei Leichen, die mehrfach hin und her 
geschafft oder gewaltsam gezerrt worden sind. Namentlich kommen in den 
Anatomien Muskelzerreissungen durch gewaltsames Strecken todtenstarrer 
Glieder, dann Knochenbrüche bei alten Leuten, Brüche der Halswirbelsäule 
beim Ueberstrecken des Kopfes zustande. Leichenbeschädigungen werden 
auch absichtlich zum Zwecke von Täuschungen ausgeführt, wie das Legen 
eines Ermordeten auf Eisenbahnschienen, um eine Verunglückung wahrschein¬ 
lich zu machen u. dgl. Endlich wurden mitunter Leichnamen zufällige Ver¬ 
letzungen beigebracht, die bezüglich ihrer Entstehung falsch beurtheilt, schwere 
Rechtsirrthümer veranlassten. Lehrreich sind in dieser Hinsicht die von 
v. Maschka und Späth mitgetheilten Fälle, wo Leichen von Verunglückten 
und Selbstmördern, die am Feld oder im Wald lagen, von Jägern angeschossen 
worden sind. Der Befund von gehacktem Blei im Schädel hatte die Gerichts¬ 
ärzte zur Annahme einer Tödtung durch Schuss veranlasst. 

Bei plötzlichem (natürlichen) Tod kommt es nicht selten infolge des 
Zusammenstürzens und Anschlagens des Körpers zu allerlei Verletzungen, 
welche gewissermaassen den Uebergang von den intravitalen zu den postmor¬ 
talen bilden. Diese agonalen Verletzungen tragen in der Regel die 
Merkmale der vital entstandenen an sich; es können dieselben, namentlich 
Blutaustritte, aber auch fehlen (A. Paltauf). An solchen agonalen Verletzungen 
wurden nebst leichteren Quetschungen, Blutunterlaufungen, Risswunden am 
Kopfe, namentlich am Hinterkopf, der Stirne, den Schläfen und der Scheitel¬ 
höckergegend auch schon schwere vorgefunden. So Nasenbein- und Joch¬ 
bogenbrüche, Brüche von Zähnen, Armbrüche, Brüche und Diastasen von 
Schädelknochen und Brüche der Halswirbelsäule. Die letztgenannten Ver¬ 
letzungen kommen namentlich dann leicht zustande, wenn auf Stiegen, 
Leitern oder überhaupt erhöhten Stellen stehende Personen vom plötzlichen 
Tode ereilt werden und „im Tode abstürzen.“ 

Eine besonders erwähnenswerte Mittelstufe zwischen den Verletzungen 
Lebender und Leichen sind die bei Wiederbelebungsversuchen theils that- 
sächlich schon postmortal theils noch intravital erzeugten oberflächlichen Be¬ 
schädigungen der Haut durch die angewendeten starken Reize und sonstigen 
Eingriffe. Es gehören dahin vor allem die durch Reibungen, Bürsten, Sina- 
pismen hervorgerufenen Hautabschürfungen, die sich an den Leichen infolge 
der postmortalen Vertrocknung der epidermislosen Stellen als lederartige, 
gelbe und braune Flecke und Streifen darstellen. Durch das noch hie und 
da angewendete Aufträufeln von brennendem Siegellack entstehen ähnlich aus¬ 
sehende Verbrennungsschwarten und -blasen. Die durch Aethereinspritzungen 
bewirkten, mitunter bis thalergrossen, rundlichen, bleichgrauen, oft von einem 
blassrothen Saum umgebenen Veränderungen der Haut und des Unterhaut¬ 
zellgewebes, das beim Einschneiden wie gekocht aussieht, sind ebenfalls 
schon mit Verbrennungen verwechselt, oder für Suffusionen gehalten worden. 
Letzteres ist umso leichter möglich, als ja thatsächlich mitunter eine vom 
Einstich herrührende Blutaustretung vorhanden ist. Man hat stets nach der 


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VERLETZUNGEN. 


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nicht selten excentrisch gelegenen kleinen Stichöffnung za suchen, durch deren 
Auffinden wohl die richtige Erklärung des Befundes immer gegeben ist. 

Kennzeichen vitaler Verletzungen sind die Klaffung, die Blutung, 
die Unterlaufung, die Schwellung und die Entzündung. Ganz unzweifelhaft 
und leicht als intravital entstanden können solche Verletzungen erkannt 
werden, welche einige Zeit vor dem Tode erzeugt wurden. An diesen sind 
immer Veränderungen wahrnehmbar, welche nur während des Lebens zu¬ 
stande kommen, wie Schwellung und Verfärbung bei einfachen Quetschungen, 
Borkenbildung bei Hautabschürfungen, bei Wunden Secrete mit und ohne 
Verklebung, Fleischwärzchen, Eiter, Jauche. Schwierig kann daher nur die 
Erkennung von unmittelbar vor dem Tode entstandenen Verletzungen werden. 
Bei diesen ist häufig selbst die rasch eintretende reactive Hyperämie und 
Schwellung nicht mehr zur Entwicklung gelangt und es könnfen nur drei 
Merkmale dem Urtheile zu Grunde gelegt werden, die Retraction (Klaffung), 
die Blutung und die Suffusion. 

Nach den Untersuchungen von F. Falk, Aeby, Stbassmann und Schulz 
muss die schon von Casper hervorgehobene Erscheinung, dass an der Leiche 
sowohl Weichtheile wie Knochen namentlich gegen stumpfe Gewalten viel 
grössere Widerstandsfähigkeit zeigen, als dies im Leben der Fall ist, für eine 
Thatsache angesehen werden. Es folgt daraus, dass unter gleichen Bedin¬ 
gungen postmortale Verletzungen schwerer entstehen, als intravitale; die leben¬ 
den Gewebe sind leichter verletzbar, als die todten. Die Erklärung für diese 
Erscheinung, von deren Bestand man sich bei jeder Leichenöffnung zu über¬ 
zeugen Gelegenheit hat, glaube ich in der grösseren Spannung des lebenden 
Gewebes, im Turgor vitalis zu sehen. Wird der Zusammenhang durch eine 
Verletzung aufgehoben, so ist die dadurch bewirkte Entspannung beim leben¬ 
den Gewebe umsoviel grösser, als die Spannung höher war, wie beim todten 
Gewebe; das lebende Gewebe zieht sich daher nach der Durchtrennung stärker 
zusammen. Infolge dessen muss die Klaffung der Wundränder grösser sein. 
Zu dieser physikalischen (passiven) Retraction kommt noch bei vielen Geweben 
die physiologische (active) Retraction, die durch contractile Elemente, wie die 
Muskelzellen und elastischen Fasern bewirkt wird. Diese physiologische Re¬ 
traction äussert sich besonders stark bei Verletzungen von Muskeln. Nachdem 
die Lebensfähigkeit der Muskelzellen erst einige Zeit nach dem Tode erlischt, 
so ist es selbstverständlich, dass eine höhere, stärkere Zusammenziehung auch 
noch dann erfolgt, wenn Muskeln bald nach dem Tode durchtrennt werden. 
Auch die Todtenstarre bewirkt, wie Stbassmann und Schulz experimentell 
gezeigt haben, stärkere Retraction. 

Wenn demnach auch feststeht, dass gleiche Durchtrennungen lebender 
und todter Gewebe eine ungleich grössere Klaffung der im Leben 
erzeugten Wunde hervorbringen, so wird, weil die physiologische Retrac¬ 
tion nicht zugleich mit der physikalischen im Momente des Todes erlischt, 
sondern den Herzstillstand noch einige Zeit überdauert, die Grösse der Klaf¬ 
fung einer Wunde nur mit einer gewissen Beschränkung für intravitale Ent¬ 
stehung sprechen. Die praktische Erfahrung lehrt, dass gleichwohl der Unter¬ 
schied sowohl bei äusseren Wunden, wie bei Verletzungen innerer Organe ein 
recht augenfälliger und mitunter unverkennbarer ist. 

Von weit grösserer Bedeutung für die Unterscheidung vitaler und post¬ 
mortaler Verletzungen ist die Blutung. Diese erfolgt entweder nach aussen 
oder nach innen zu in Körperhöhlen oder in das benachbarte Gewebe. Im 
letzteren Falle entsteht eine Blutunterlaufung oder Suffusion. 

Jede Verletzung lebenden Gewebes mit Ausnahme der epidermoidalen 
Gebilde ist mit Blutung verbunden. Wir finden daher bei intravital ent¬ 
standenen Wunden an der Leiche theils eingetrocknetes, theils geronnenes, 
oft auch noch flüssiges Blut. Wird der Leiche eine Verletzung beigebracht, 


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VERLETZUNGEN. 


so tritt stärkere Blutung nur dann ein, wenn mit Blut gefüllte grössere Ge- 
fässe getroffen wurden. Die Hautgefässe sind an der Leiche wenigstens zum 
grossen Theile blutleer. Schneidet man daher an höher gelegenen Hautstellen 
ein, so blutet die Wunde in der Regel gar nicht. An abhängigen Stellen, 
wo gesenktes Blut in den Haargefässen vorhanden ist (Todteniiecke), bluten 
auch Leichenwunden. Desgleichen kann aus verletzten todten Organen, 
namentlich aus blutreichen wie Leber, Milz, Lungen eine beträchtliche Menge 
von Blut austreten, besonders wenn es flüssig ist. 

Der Nachweis von Blutung ist daher für sich allein noch keineswegs 
als ein untrügliches Kennzeichen der intravitalen Entstehung einer Wunde 
anzusehen. Der Befund lässt diese Folgerung nur dann zu, wenn die Lage 
der Wunde, die Tiefe derselben, die Beschaffenheit der verletzten Theile und 
die Menge des ergossenen Blutes, über welche unter anderem auch die Be¬ 
sudlung der Wäsche und Kleider Aufschluss gibt, derart sind, dass die An¬ 
nahme einer Leichen Verletzung unmöglich wird. Es ist daher jede einzelne 
Verletzung darauf hin zu untersuchen. Ist durch die Blutung der Tod ein¬ 
getreten, so gibt noch der Befund der allgemeinen Anämie der Organe, welche 
durch postmortale Verletzungen in diesem Grade nicht erzeugt werden kann, 
einen wichtigen Anhaltspunkt für die Erklärung der Verletzung als einer 
im Leben entstandenen. 

Aus dem Umstande, ob das Blut in der Umgebung der Wunde ange¬ 
trocknet ist, oder nicht, kann natürlich gar kein Schluss auf die Entstehung 
während des Lebens gemacht werden, dagegen hat man mit Recht schon seit 
alter Zeit auf die geronnene Beschaffenheit des Blutes im Bereiche von 
Verletzungen Gewicht gelegt. Man war früher geneigt, dies für ein sicheres 
Kennzeichen vitaler Verletzungen zu halten. Wir wissen nun heute, dass 
auch Leichenblut gerinnt und können die Gerinnung nicht selten am Leichen¬ 
tisch beobachten. Es kann daher auch aus postmortalen Verletzungen aus- 
tiiessendes Blut gerinnen. Blutgerinnsel in einer Wunde sind daher noch kein 
verlässliches Merkmal der Wunderzeugung im Leben. Nachdem die Berührung 
des Blutes mit der Luft die Gerinnung bekanntermaassen fördert, so findet 
man bei offenen Wunden mitunter weit in das Innere erstreckte Gerinnungen 
vor, z. B. bis ins Herz hinabreichende Gerinnsel von Wunden der grossen Hals- 
gefässe aus. So massige Gerinnungen kommen postmortal wohl nicht zu¬ 
stande. Diagnostische Bedeutung besitzen aber insbesondere die Blut¬ 
gerinnungen in Extravasaten und Suffusionen. Allerdings hat sich aus Ver¬ 
suchen ergeben (v. Hofmann), dass auch in postmortalen Suffusionen das 
Blut gerinnt; allein derbe Gerinnungen, wie sie recht oft in der Umgebung 
besonders gequetschter Wunden gefunden werden, kommen meiner Erfahrung 
nach nur bei vitalen Verletzungen vor, wenngleich Schulz einen Unterschied 
auch in dieser Beziehung nicht fand. Dass die Gerinnung häufig propor- 
tionell ist der Zerstörung bezw. Veränderung der Gewebstheile, die mit dem 
Bluterguss in Berührung kommen, wie es zuerst Seydel ausgesprochen hat, 
scheint mir im Allgemeinen zuzutreffen. Damit hängt es auch zusammen, 
dass bei scharfen Durchtrennungen (Schnitt- und Stichwunden) Blutaustretung 
in der Umgebung gering ist, ja selbst ganz fehlt (namentlich bei innerer 
Blutung, wo die Aussenwunde gar nicht vom Blut bespült wird), während bei 
Quetschungen mit und ohne Durchtrennung der Haut meist dem Umfange 
der Verletzung entsprechende Blutaustritte vorhanden sind. Das in die Maschen¬ 
räume der Gewebe ergossene Blut ist geronnen. 

Mit Recht wurde stets der Blutunterlaufung (Suffusion) die grösste 
Bedeutung für die Diagnose vitaler Verletzungen beigemessen. Allerdings ist 
auch die Verwertung dieses Befundes keine so ganz uneingeschränkte, wie 
man früher glaubte, wo man annahm, Blutunterlaufung bedeute unter allen 


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VERLETZUNGEN. 


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Umständen intravitale, der Mangel einer solchen postmortale Entstehung 
einer Verletzung. 

Einmal kann bei zweifellos im Leben erzeugten Verletzungen die Blut- 
austretung sehr gering sein, wohl auch vielleicht ab und zu ganz fehlen, 
wenngleich letzteres viel seltener der Fall ist, als A. Paltauf („Ueber reac- 
tionslose vitale Verletzungen“) annimmt. Die Blutungen sind allerdings in 
der Regel gering bei sehr schweren Verletzungen, welche ganz plötzlichen 
Tod erzeugt haben, wie beim Ueberfahrenwerden durch die Eisenbahn, bei 
Abstürzen, Verschüttungen, Abreissungen ganzer Körpertheile durch Maschinen 
und Explosionen. Einen Fall von vollständigem Fehlen jeglicher Blutextra¬ 
vasation bei derartigen Verletzungen habe ich jedoch nie beobachtet. Zwar 
fehlt die Blutung, namentlich bei abgerissenen Körpertheilen, oft an der höchst- 
gradig gequetschten Rissfläcbe selbst, allein in der Umgebung solcher an¬ 
scheinend reactionsloser Verletzungen habe ich bei sorgfältiger Nachschau 
irgend welche, mitunter gar nicht kleine Suffusionen, stets aufzufinden ver¬ 
mocht. 

Viel bedenklicher für die sichere Unterscheidung der vitalen und post¬ 
mortalen Verletzungen ist die experimentell festgestellte Tbatsachc, dass an 
Leichen erzeugte Wunden mitunter sufiundirt werden können, wenn auch als 
Regel angesehen werden muss, dass Sufiusionen an der Leiche nicht zustande 
kommen, u. zw. aus zwei Gründen, einmal, weil in den getroffenen, peripheren 
Theilen meist das Material zur Bildung von Blutaustritten — das Blut — fehlt, 
und zweitens, weil dem austretenden Blute der Druck fehlt, welcher zur Ein¬ 
treibung desselben in die verletzten Theile nothwendig ist. 

Manchesmal können aber doch auch an Leichen die Bedingungen zur 
Entstehung von Blutaustritten vorhanden sein. Es ist dies der Fall, wenn 
das Leichenblut flüssig und daher leicht beweglich ist und eine an der Leiche 
erzeugte Verletzung so liegt, dass das flüssige Blut nach einfachen physika¬ 
lischen Gesetzen dahin abfliessen muss. Bringt man daher erstickten Thieren 
gelbst erst nach Stunden Kopfverletzungen bei und hängt sie an den Füssen 
auf, so werden die verletzten Theile suffundirt, ja es können auf solche Art 
selbst intracranielle Blutergüsse arteficiell und postmortal zustande gebracht 
werden. Ob anch subepidermoidale Ecchymosen auf diese Art postmortal ent¬ 
stehen können, wie zuerst Engel behauptet hat und v. Hofmann lehrte, darf 
wohl, von vorgeschrittener Fäulnis abgesehen, mindestens als zweifelhaft be¬ 
trachtet werden; richtig dagegen ist, dass schon vorhandene Blutaustritte an 
abhängigen Körperpartien durch postmortale Nachsickerung sich vergrössern 
können. Solche in der Leiche durch Blutsenkung vergrösserte Ecchymosen 
sieht man sogar recht häufig bei Erstickten. 

Ein für unsere Frage ins Gewicht fallender Befund kommt öfters bei 
grösseren Blutaustritten durch die mitunter sehr rasch erfolgende Scheidung 
der festen und flüssigen Antheile des Blutes zustande. Die flüssigen Blut- 
bestandtheile durchfeuchten das umliegende Gewebe. Es entsteht in der Um¬ 
gebung der Blutbeule eine seröse Infiltration, welche man früher unrichtig 
als reactives Oedem bezeichnet oder auch als einen Lympherguss aufgefasst 
hat (Lesser, LavalEe und Köhler); dieselbe ist aber, wie A. Paltauf nach¬ 
gewiesen, nichts anderes, als ein falsches Lymphextravasat, erzeugt durch 
den Gerinnungsvorgang. Dieser Befund kommt wohl nur während des Lebens 
zur vollen Ausbildung, muss daher als ein wertvolles Merkmal der intravitalen 
Entstehung einer Verletzung angesprochen werden. 

Aus alledem geht hervor, dass die Unterscheidung von intravi¬ 
talen und postmortalen Verletzungen selbst an frischen Leichen 
mitunter schwierig sein kann; es folgt aber auch, und die gerichtsärztliche 
Erfahrung bestätigt es hundertfältig, dass diese Unterscheidung bei sorg¬ 
fältiger Berücksichtigung aller erörterten Verhältnisse und sachgemässer Ver- 


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VERLETZUNGEN. 


Wertung der Einzelerscheinungen in den allermeisten Fällen doch 
ganz sicher gemacht werden kann. Hiebei ist die Blutung, bezw. der 
Blutaustritt, nach wie vor der wichtigste, meist entscheidende Befund. Ist 
man bei einer Suffusion im Zweifel, ob dieselbe intravital oder doch erst 
postmortal entstanden ist — letzteres kann sogar während der Leichenöffnung 
geschehen — so gibt die Prüfung, ob sich das Blut wegspülen lässt oder nicht, 
einen sicheren Anhaltspunkt für die fragliche Entscheidung. 

Wirklich schwierig, ja mitunter selbst ganz unmöglich kann der Nach¬ 
weis intravitaler Entstehung einer Verletzung dann werden, wenn hochgradige 
Leichenveränderungen vorliegen. Hieher gehört vor allem die Fäulnisimbi¬ 
bition und -Transsudation, die Auswässerung, die Leichenzerstückelung und die 
Verbrennung. Aber selbst da gelingt es noch oft genug, die Diagnose zu 
sichern. Begegnet man bei hochgradig faulen Leichen mit weit vorgeschrittener 
Imbibition einer Austretung von geronnenem Blute, so kann man der intra¬ 
vitalen Entstehung sicher sein. Bei erschlagenen und dann halb verbrannten 
Leichen habe ich sogar die Blutextravasate besonders schön erhalten ge¬ 
funden, obwohl die Untersuchung erst stattfand, nachdem die Leichen drei 
Monate begraben waren (Krattek, „Ueber den Wert des Hämatoporphyrin- 
spectrums für den forensischen Blutnachweis u ). 

2. Die Ausschliessung anderer Todesursachen. Die gericht¬ 
liche Medicin hat die bestimmte und nicht von der Hand zu weisende Aufgabe, 
neben der Feststellung der unmittelbaren Todesveranlassung auch die Ursache 
der tödtlichen Veränderung zu erforschen und darzulegen. Für ihre Zwecke ge¬ 
nügt es nicht, was dem pathologischen Anatomen letztes Ziel ist, darzuthun, woran 
jemand gestorben ist, sondern sie hat ausserdem den Tod als natürlichen 
oder gewaltsamen zu erkennen. Ihre Aufgabe ist beispielsweise noch nicht 
erfüllt, wenn erkannt wurde, dass ein Mensch an Gehirnhautentzündung, 
Lungenentzündung oder Tuberkulose gestorben ist, sondern es muss noch er¬ 
wiesen werden, ob diese Meningitis, Pneumonie oder Tuberkulose in natür¬ 
lichen Ursachen begründet oder durch eine Verletzung veranlasst worden sind. 
Beides ist objectiv möglich. Die Beispiele sind gerade wegen ihrer thatsäch- 
lichen praktischen Wichtigkeit gewählt worden. 

Der Zusammenhang von eitriger Meningitis mit Traumen ist oft genug 
klar und unzweideutig, wenn mit Wunden verbundene Schädelbrttche die 
Infection der Meningen durch von aussen eingedrungene Eitererreger veran¬ 
lasst haben. Oft wird aber, namentlich bei Schulkindern, welche kurz vor 
ihrer Erkrankung Züchtigungen erlitten haben, ein ursächlicher Zusammen¬ 
hang zwischen der Hirnhautentzündung, der sie erlegen sind, und der Miss¬ 
handlung, die oft nicht einmal den Kopf betroffen hat, behauptet. Das zeit¬ 
liche Zusammenfallen der Misshandlung mit dem Beginn der Krankheit ist 
gar kein Beweis für einen ursächlichen Zusammenhang. Ein solcher kann nur 
dann als gegeben erachtet werden, wenn es eventuell durch eine forensisch¬ 
bakteriologische Untersuchung gelingt darzuthun, dass die pyogene Infection 
von einer äussern oder innern Verletzung ausgegangen ist. Besonders wird 
in diesen Fällen zu beachten sein, dass es genügend Möglichkeiten der natür¬ 
lichen Entstehung von Meningitiden gibt, wie eitrige Mittelohrentzündung, Ent¬ 
zündungen der Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes und seiner Nebenhöhlen, 
croupöse Pneumonie, die sich besonders bei jungen Individuen leicht mit Me¬ 
ningitis vergesellschaftet. Ich konnte in einem Falle von behauptetem Tod eines 
Schulkindes durch Misshandlung seitens der Lehrerin aus beobachteten That- 
sachen den Beweis erbringen, dass nicht die Züchtigung die Ursache der Er¬ 
krankung, sondern die bereits bestehende Erkrankung die Ursache der Züch¬ 
tigung war. 

Ein solcher Zusammenhang dürfte nicht vereinzelt sein. Der Fall lehrt 
auch, dass der forensischen Beurtheilung ausschliesslich die Leichenbefunde 


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za Grunde za legen, falsch ist. Aas diesen allein würde mancher Fall gar 
nicht klargelegt werden können. 

Ist als Todesursache eine Krankheit erkannt worden, welche zu ihrer 
Entwicklung längere Zeit erforderte, dann muss insbesondere darauf geachtet 
werden, wann die ersten Erscheinungen der tödtlich gewordenen Erkrankung, 
z. B. einer Lungen- oder Rippenfellentzündung, aufgetreten sind. Es ist be¬ 
greiflich, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dieser und einer Miss¬ 
handlung umso unwahrscheinlicher wird, ein je längerer Zeitraum von der 
Verletzung bis zum Krankheitsausbruche verstrichen ist. Wundinfectionskrauk- 
heiten können allerdings oft noch sehr spät auftreten, die Infection ist eben 
so lange möglich, als die Wunde offen ist. Manche Infectionskrankheiten be¬ 
sitzen eine lange Incubationsdauer, wie beispielsweise der Tetanus, bei dem 
der Ausbruch der Krankheit acht, zehn ja selbst erst 14 Tage nach der In¬ 
fection erfolgt. Traumatische Lungenentzündungen sind nicht allzu 
selten. Der Zusammenhang ist dann meist leicht sicherzustellen, ja oft 
recht in die Augen fallend, wenn es sich um eine aus Lungenquetschung 
hervorgegangene, sog. Contusionspneumonie handelt. Oft ist aber der Zu¬ 
sammenhang der Lungenentzündung mit einer Verletzung anatomisch nicht 
oder schwer feststellbar, wenngleich ein solcher thatsächlich besteht. Die 
lobulären, metastatischen Pneumonien, welche im Verlaufe von Pyämien auf¬ 
treten, sind bekannt, der causale Zusammenhang meist wohl nachweisbar. 
Dagegen ist schon das bekannte häufige Auftreten von hypostatischen Pneu¬ 
monien nach Verletzungen oft peripherer Körperpartien schwerer verständlich. 
Nicht selten treten sie nach Kopfverletzungen auf. Diese Pneumonien ver¬ 
danken ihre Entstehung entweder der Aspiration von Mundflüssigkeiten in¬ 
folge vorhandener Bewusstlosigkeit (Schluckpneumonie) oder sie müssen hypo¬ 
thetisch aus neuroparalytischer Hyperämie der Lungen erklärt werden. Jeden¬ 
falls muss gerade hier grosse Vorsicht angewendet werden, und ist keines¬ 
wegs, wie es wohl öfters zu geschehen pflegt, eine zur Verletzung hinzu¬ 
kommende, tödtlich gewordene Lungenentzündung immer als ein spontan und 
unabhängig aufgetretener pathologischer Process zu betrachten. 

Aehnliches gilt von der Tuberkulose, welche auch, wie heute nicht 
mehr zu bezweifeln ist, traumatischen Ursprunges sein kann (P. Gdder, 
Grasseb, Lehmann, Eiselsbebo u. A.). Wohl am häufigsten tritt Tuber¬ 
kulose wie die Pneumonie nach Brustverletzungen, namentlich penetrirenden, 
auf. In der Regel findet sie sich dann als tuberlnilöse Pleuritis. Jedenfalls 
ist von ausschlaggebender Bedeutung der Nachweis, ob Tuberkulose schon 
vor der Verletzung bestanden hat oder nicht. Im letzteren Falle ist die 
Inoculation durch die Verletzung primär erfolgt, im ersteren, viel häufiger 
vorkommenden Falle war die Verletzung die Gelegenheitsursache zur Aus¬ 
breitung eines bereits bestehenden Krankheitsprocesses, der als „eigenthüm- 
liche Leibesbeschaffenheit“ forensisch gewürdigt werden müsste. 

Vielfach wird auch die Entstehung von Krebs auf Traumen bezogen. 
Wissenschaftlich ist ein solcher Zusammenhang zwar nicht völlig sichergestellt, 
doch nach beobachteten Thatsachen auch keineswegs kurzweg abzuweisen. 
Dass bei bestehender Carcinomatose Verletzungen zu Metastasen führen können, 
ist sichergestellt. In solchen Fällen hätte das Gutachten gleichfalls auf „be¬ 
sondere Leibesbeschaffenheit“ zu erkennen. 

Mitunter wird aber nicht eine Todesursache gefunden, sondern mehrere, 
d. h. es werden mehrfache Veränderungen an einer Leiche nachgewiesen, deren 
jede für sich hinreichend ist, den Tod zu erklären. In solchen Fällen ent¬ 
steht die Frage nach der wirklichen nächsten Todesursache. Hierbei wird 
immer zu entscheiden sein, welche der Vorgefundenen Verletzungen vor der 
andern den Tod nach sich ziehen musste, also thatsächlich veranlasst hat. 
Ein Mensch wird aufgehängt gefunden. Bei demselben sind auch schwere 

Bibi. med. 'Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 62 


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Kopfhiebwunden vorhanden. Die Untersuchung ist darauf zu richten, ob der 
Mann an der Schädelverletzung oder durch Erhängen gestorben ist. Im er- 
steren Falle ist der Todte aufgehängt worden, es liegt fremdes Verschulden 
vor; im letzteren ist Selbstmord durch Erhängen nach einem verunglückten 
ersten Versuch nahezu sicher anzunehmen. (Vgl. Art. Selbstmord S. 742). Dies 
nannte Casper die Priorität der Todesart, während Skrzeczka dafür 
die ebenfalls zutreffende Bezeichnung „concurrir ende Todesursachen“ 
eingefübrt hat 

Bei mehrfachen Verletzungen hat der Gerichtsarzt, um über die Priorität 
der Todesart zu entscheiden, Folgendes klarzustellen: 

1. welche der vorhandenen Verletzungen einen tödtlichen Charakter 
besitzt; 

2. ob die als tödtlich erkannten Verletzungen gleichzeitig oder in 
welcher Folge sie zugefügt worden sind; 

3. welche von ihnen vor den andern den Tod thatsächlich herbei¬ 
geführt hat. 

Zu 1 ist zu bemerken, dass die Auffassung des Gesetzes von jener der 
gerichtlichen Medicin über den Begriff der tödtlichen Verletzung ab¬ 
weicht. Wir verstehen unter tödtlicher Verletzung eine solche, welche den 
Tod eines Menschen zur Folge hatte. Nach dieser Auffassung kann bei jeder 
Leiche überhaupt nur eine tödtliche Verletzung vorhanden sein. Aus der 
Fassung des § 143 österr. St.-G. und der maassgebenden Interpretation, 
welche diese Gesetzesstelle erfahren hat, geht aber hervor, dass nach richter¬ 
licher Auffassung darunter „nur eine solche verstanden wird, welche für sich 
allein, nämlich unabhängig von den übrigen Verletzungen und Misshandlungen 
den Tod herbeizuführen geeignet war“ (Herbst). „Wenn eine Verletzung 
diese Beschaffenheit hat, so kommt es,“ sagt Herbst, „weiter nicht darauf an, 
ob der Tod wirklich aus ihr oder aus einer von einem andern Thäter zuge¬ 
fügten, gleichfalls tödtlichen Verletzung hervorging.“ Es hat also in einem 
solchen Falle der Arzt nicht nur eine Diagnose, sondern auch eine Prognose 
zu stellen. Wie misslich und trügerisch Prognosen sind, ist bekannt. Gleich¬ 
wohl muss dem Bedürfnisse der Rechtspflege Rechnung getragen werden und 
kann der Gerichtsarzt die Beantwortung dieser Frage nicht ablehnen. Aus 
der ärztlichen Erfahrung ist sie in der Regel doch nicht allzu schwierig zu 
beantworten. Jemand hat einen Schädelbruch und eine Herzstichwunde er¬ 
halten. Es entspricht durchaus unseren Erfahrungen zu erklären, jede dieser 
Verletzungen könne für sich allein den Tod eines Menschen bewirken. Wenn 
aber jemand neben der Schädelzertrümmerung eine Stichwunde im Oberarm 
erhalten hat, durch welche kein grösseres Blutgefäss verlezt wurde, so kann 
dieser Stichverletzung der tödtliche Charakter nicht zugesprochen werden, 
weil erfahrungsgemäss bei solchen Verletzungen nicht der Tod, sondern die 
Heilung Regel ist. War aber bei dieser Armstichwunde auch die Arteria 
brachialis durchschnitten worden, dann liegt eine Verletzung vor, welche bei 
mangelnder ärztlicher Hilfe in der Regel den Tod herbeizuführen pflegt. 

Die Aufeinanderfolge der einzelnen Verletzungen ist oft nicht 
sicher zu bestimmen. Anhaltspunkte hiefür bieten die Reactionserscheinungen, 
die bei der erst zugefügten Verletzung naturgemäss stärker sind, als bei den 
späteren. Sind jedoch nicht auffallende Unterschiede, besonders in der Blutung 
und Suffusion vorhanden, so hüte man sich vor allzu sicheren Aussprüchen. 
Ist eine Entscheidung nicht sicher zu fällen, dann sage man das auch glatt 
im Gutachten. Agonale Verletzungen fallen oft durch die Geringfügigkeit der 
Reactionserscheinungen auf. Die Reihenfolge der Verletzungen erhellt bei 
Selbstmördern manchesmal auch aus der Ueberlegung, ob nach Erhalt der 
einen noch eine Handlung zur Setzung der zweiten oder dritten Verletzung 
ausführbar war. Ein Selbstmörder wird mit einem Kopf- und einem Herz- 


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schass aufgefunden. Das Herz ist durcbgeschossen, am Kopfe wird das breit* 
geschlagene Projectil an der Glabella angetroffen. Es unterliegt keinem 
Zweifel, dass der llerzschuss erst nach dem missglückten Kopfschuss abgegeben 
wurde und nicht umgekehrt. 

Die Frage endlich nach der unmittelbar tödtlich gewordenen 
Verletzung wird nur unter Zugrundelegung der physiologischen Thatsachen über 
die functioneile Bedeutung eines Organes oder Organtheiles und aus der 
Ärztlichen Erfahrung zu lösen sein. Hat jemand einen Stich in die Leber 
und einen ins Herz bekommen, so ist zweifellos der Herzstich jener, welcher 
den Tod zunächst veranlasst hat, weil der Verblutungstod rascher aus dem 
«röffneten Herzen als durch Blutung aus dem Leberpareuchym zustande 
kommt; der Herzstich hat vor dem Leberstich den Tod herbeigeführt. Aehn- 
liche Erwägungen ergeben sich aus der genauen Untersuchung mehrfach ver¬ 
letzter Gehirne. Wir kennen heute schon ziemlich genau die Bedeutung der 
einzelnen Hirntheile für das Leben; wir wissen, dass die centralen Theile 
eine viel grössere Wichtigkeit für das animale Leben besitzen, wie der Hirn¬ 
mantel. Eine auch kleine Verletzung der ersteren führt ungleich rascher den 
Tod herbei, als selbst ausgebreitete Beschädigungen der Peripherie. Am 
schnellsten tödten Verletzungen der Brücke und des verlängerten Markes. 

Es ergibt sich also, dass auch bei der Beurtheilung der Priorität der 
Todesart nur die eingehendste Individualisirung, die sorgfältigste Analyse 
Aller Einzelerscheinungen, und nicht eine Schablone zum Ziele führen kann. 
Trotz aller Sorgfalt wird mitunter die Frage überhaupt nicht gelöst werden 
können und dann muss der Fall unentschieden gelassen, nicht aber, wie es 
leider so häufig geschieht, eine sachlich unbegründete, willkürliche Lösung er¬ 
zwungen werden. 

c) Die Entstehungsursache. 

Die Nothwendigkeit, die Ursache der Entstehung einer tödtlichen Ver¬ 
letzung zu erörtern, liegt auf der Hand, ist aber auch durch gesetzliche Ver¬ 
fügungen (§ 129 österr. St.-P.-0. und § 29 deutsches Regul. Vergl. oben) 
dem Gerichtsarzte direct zur Pflicht gemacht. Es handelt sich hiebei in erster 
Linie um die objective Feststellung, ob die Verletzung durch eigenes oder 
fremdes Verschulden oder durch Zufall herbeigeführt wurde, ob demnach 
Selbstmord, absichtliche oder fahrlässige Tödtung oder Verunglückung vorliegt. 
Das Einschlägige ist bereits im Art. Todesarten, gewaltsame (S. 742) er¬ 
örtert, auf welchen hiemit verwiesen wird. 

Es erübrigt uns an dieser Stelle nur die Besprechung einiger beson¬ 
deren Umstände, welche bei der forensischen Beurtheilung der Ent¬ 
stehungsursache einer tödtlichen Verletzung ins Gewicht fallen. 

Dahin gehören: 

1. Die allgemeine Natur der Verletzung; 

2. die persönliche Beschaffenheit des Verletzten; 

3. die zufälligen Umstände, unter welchen die Verletzung verübt wurde; 

4. die zufälligen Zwischenursachen, welche etwa den Tod herbeigeführt 
haben; 

5. ob der Tod hätte abgewendet werden können. 

Die allgemeine Natur einer Verletzung ist nach ärztlichem 
Sprachgebrauch vierfach abgestuft. Sie ist (an sich) entweder tödtlich, lebens¬ 
gefährlich, schwer oder leicht. Ueber den Begriff der tödtlichen Verletzung 
ist bereits oben gehandelt worden. Lebensgefährlich ist eine Verletzung, 
welche zwar nicht unbedingt aber häufig den Tod nach sich zieht, schwer 
eine solche, welche, ohne in der Regel den Tod herbeizuführen, doch wich¬ 
tige Körpertheile oder Organe betrifft und bedeutendere Folgen verursacht, 
leicht jede andere nicht in diese Kategorien fallende Verletzung. Aus jeder 
Verletzung kann der Tod hervorgehen; es kann auch die an sich leichte, die 

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schwere, die lebensgefährliche Verletzung einen tödtlichen Ausgang nehmen. 
Für den Richter ist es nun wichtig zu wissen, wie der ursprüngliche Charakter 
der Verletzung, „ihre allgemeine Natur“ war. 

Die persönliche Beschaffenheit des Verletzten ist oft aus¬ 
schlaggebend für den Erfolg eines Traumas. Jemand erhält einen Stoss auf 
die Brust; er stürzt zusammen und stirbt bald darauf. Die Obduction ergibt 
Berstung eines Aortenaneurysmas. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der so 
schwere Erfolg lediglich durch „die eigenthümliche Leibesbeschaffenheit des 
Verletzten“ bedingt war. Wir haben schon im Vorangehenden wiederholt auf 
solche Zusammenhänge hingewiesen. Während aber krankhafte Veränderungen 
der Organe als eigenthümliche Leibesbeschaffenheit aufzufassen sind, gilt dies 
nicht für die durch physiologische Veränderungen bedingte geringere Wider¬ 
standsfähigkeit von Organen und Geweben. Die bekannte grössere Brüchigkeit 
der Knochen im höheren Alter wäre daher nicht als dahin gehörend zu be¬ 
trachten. Würde aber der tödtliche Erfolg etwa durch einen Ossifications- 
defect oder durch eine erworbene Lücke im Knochen (Lues, Caries, Nekrose, 
Operationsdefect) oder durch ungewöhnlichen Verlauf und Erkrankung eines 
Blutgefässes oder durch einen anderen abnormalen Zustand (z. B. Extrauterin¬ 
schwangerschaft) bedingt worden sein, dann läge der strafrechtlich belang¬ 
reiche Umstand der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“ vor. 

Die zufälligen Umstände, unter denen eine Verletzung beigebracht 
wurde, sind für die strafrechtliche Qualification von sehr grosser Bedeutung. 
Der Arzt hat mitunter auch die Frage zu erörtern, ob die tödtliche Ver¬ 
letzung etwa nur einem vom Richter erhobenen Zufalle ihre Entstehung ver¬ 
danke. Objectiv werden sich in der Regel wenig oder keine Anhaltspunkte 
für die Unterscheidung von Zufall oder absichtlicher Handlung ergeben und 
wird daher die Beurtheilung dieses Umstandes meist dem Richter zufallen. 
Der Arzt hat dann lediglich die Frage zu beantworten, ob dieser oder jener 
Hergang geeignet war, die tödtliche Verletzung herbeizuführen. 

Die aus der Verletzung entstandenen zufälligen Zwischen¬ 
ursachen, welche den Tod bedingt haben, zu beurtheilen, ist dagegen wieder 
eine ausschliessliche Aufgabe des Gerichtsarztes. Es handelt sich hiebei vor¬ 
wiegend um Infectionen, welche von einer Verletzung ausgehend, mittelbar 
den Tod veranlasst haben. Bei einer Rauferei erlitt jemand leichte Kratz¬ 
wunden im Gesichte, die er gar nicht weiter beachtet. Nach einigen Tagen 
bekommt er Gesichtsrose, der er schliesslich erliegt. Hier ist der Tod aus 
einer „zufälligen Zwischenursache,“ welche aber aus der Verletzung hervor¬ 
ging, entstanden. Die Verletzung war die Eingangspforte für die zufällig 
(ohne Verschulden des Thäters) hinzugekommenen Erysipelcoccen. So liegt 
die Sache meistenteils bei den Wundinfectionen. 

Die rechtzeitige und zweckmässige Hilfe, welche einem Ver¬ 
letzten zu Theil wird, ist oft entscheidend für die Erhaltung des Lebens. 
Billigerweise berücksichtigt der Gesetzgeber auch diesen Umstand, indem er 
frägt, ob der Tod durch entsprechende Hilfeleistung hätte abgewendet werden 
können. In vielen Fällen ist die Frage leicht und mit voller Bestimmtheit 
bejahend oder verneinend zu beantworten. Es wurde ein Mensch auf dem 
Dorfe in den Arm gestochen und hiebei die Armarterie verletzt. Ein Arzt ist 
nicht zur Hand. Als dieser, zwar rasch herbeigeholt, einlangt, ist bereits Tod 
durch Verblutung eingetreten. Man kann in diesem Falle sicher sagen, dass 
der Tod leicht hätte abgewendet werden können. Gerade bei Blutungen ist 
sehr häufig das bis zur Ankunft eines Arztes von den Laien eingeschlagene 
Verfahren auch noch sehr unzweckmässig. Es werden mit Vorliebe Waschungen 
und Umschläge mit kaltem Wasser angewendet, dadurch jede Gerinselbildung 
in der Wunde verhindert und die Blutung in Gang erhalten. An lebens¬ 
rettende Compressionen denkt in der Regel niemand. Wohl kommt es auch 


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vor, dass zur Blutstillung Mittel angewendet werden, welche selbst wieder 
grosse Gefahren nach sich ziehen können. So sind Spinneweben ein beliebtes, 
oft angewendetes Blutstillungsmittel. Diese Fangnetze für allen Staub sind 
beladen mit allen Arten von Bacterien; die schwersten, tödtlich verlaufenen 
Infectionen habe ich als Folge dieses irrationellen Blutstillungsmittels der Volks- 
medicin schon zu beobachten Gelegenheit gehabt. Erhielt der Mensch aber 
oinen Stich in die Leber, die Milz, das Herz, die Aorta, so kann wohl nicht 
behauptet werden, dass auch eine rechtzeitige, also sofortige ärztliche Hilfe 
den Tod würde abgewendet haben. Die Frage liegt für fast alle Verletzungs¬ 
arten so klar, dass die Beantwortung in jedem Einzelfalle kaum einer Schwie¬ 
rigkeit begegnet. 

Welches Gewicht von richterlicher Seite auf die gerichtsärztliche Erör¬ 
terung dieser „besonderen Umstände“ gelegt wird, erhellt aus der Schluss¬ 
bestimmung des § 129 österr. St.-P.-O. „Insoferne sich das Gutachten nicht 
über alle für die Entscheidung erheblichen Umstände verbreitet, sind hierüber 
von dem Untersuchungsrichter besondere Fragen an die Sachverständigen zu 
stellen.“ 

B. Nichttödtliche Verletzungen. 

Gesetzliche Bestimmungen. Oesterreichisches Strafgesetzbuch. 

§ 152. Wer gegen einen Menschen, zwar nicht in der Absicht, ihn zu tödten, jedoch 
in anderer feindseliger Absicht auf eine solche Art handelt, dass daraus eine Gesundheits¬ 
störung oder Berufsunfähigkeit von mindestens 20-tägiger Dauer, eine Geisteszerrüttung oder 
eine schwere Verletzung desselben erfolgt, macht sich des Verbrechens der schweren 
körperlichen Beschädigung schuldig. 

§ 165. Wenn jedoch: 

a) Die obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen Werkzeug und auf 
solche Art unternommen wird, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist . . . 

b) aus der Verletzung eine Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit von mindestens 
30-tagiger Dauer entstand; oder 

c) die Handlung mit besonderen Qualen für den Verletzten verbunden war: oder 

d) der Angriff in verabredeter Verbindung mit anderen oder tückischer Weise ge¬ 
schehen und daraus eine der im § 152 erwähnten Folgen entstanden ist; oder 

e) die schwere Verletzung lebensgefährlich wurde; — so ist auf schweren Kerker 
zwischen einem und fünf Jahren zu erkennen. 

§ 156. Hat aber das Verbrechen: 

a) Für den Beschädigten den Verlust oder eine bleibende Schwächung der Sprache, 
des Gesichtes oder des Gehörs, den Verlust der Zeugungsfähigkeit, eines Auges, Armes oder 
einer Hand oder eine andere auffallende Verstümmelung oder Verunstaltung; oder 

b) immerwährendes Siechthum, eine unheilbare Krankheit oder eine Geisteszerrüttung 
ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung, oder 

c) eine immerwährende Berufsunfähigkeit des Verletzten nach sich gezogen, so ist 
die Strafe des schweren Kerkers zwischen 5 und 10 Jahren auszumessen. 

§ 235. Handelt von der fahrlässigen schweren körperlichen Beschädigung » 
Vergehen gegen die Sicherheit des Lebens. 

§ 411. Vorsätzliche und die bei Raufhändeln vorkommenden körperlichen Beschädi¬ 
gungen sind dann, wenn sich darin keine schwerer verpönte Handlung erkennen lässt 
(8 152), wenn sie aber wenigstens sichtbare Merkmale und Folgen nach sich gezogen haben, 
als Uebertretungen zu ahnden. 

§. 412. Strafandrohung drei Tage bis sechs Monate Arrest. 

Hieher gehören auch die §§. 413—421, betreffend die Misshandlungen bei häuslicher 
Zucht seitens der Eltern, Vormünder, Gatten, Erzieher, Lehrer, Lehrherren und Gesinde- 
hälter, begangen an Kindern, Mündeln, Ehegatten, Schülern, Lehijungen und Dienstboten. 

Deutsches Strafgesetz: 

§. 223. Wer vorsätzlich einen Andern körperlich misshandelt oder an der Gesund¬ 
heit beschädigt, wird wegen Körperverletzung mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder 
mit Geldstrafe bis zu 300 Thalern bestraft. 

§. 223 a. ist die Körperverletzung mittels einer Waffe, insbesondere eines Messers 
oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges oder mittels eines hinterlistigen Ueberfalles 
oder von mehreren gemeinschaftlich, oder mittels einer das Leben gefährdenden Handlung 
begangen, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter zwei Monaten ein. 

§. 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte ein wichtiges Glied 
des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder 
die Zeugungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird oder in 


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VERLETZUNGEN. 


Siechthum, Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren 
oder Gefängnis nicht unter einem Jahr zu erkennen. 

§. 227. Handelt von den durch eine Schlägerei oder gemeinsamen Angriff herbeige¬ 
führten schweren Körperverletzungen (§ 224). 

§. 230. Fahrlässige Körperverletzung. 

§. 239. Die durch vorsätzliche und widerrechtliche Freiheitsentziehung herbeigeführt» 
schwere Körperverletzung. 

§. 251. Mit Zuchthaus wird bestraft, wenn bei dem Raube ein Mensch gemartert oder 
durch die gegen ihn verübte Gewalt eine schwere Körperverletzung oder der Tod desselben 
verursacht worden ist. 

Aus dem Wortlaute der gesetzlichen Bestimmungen geht hervor, dass 
der Gesetzgeber eine grössere Zahl bestimmter Verletzungsfolgen namhaft 
gemacht hat, welche für den Richter die Merkmale einer abgestuften Straf¬ 
zumessung darstellen. Diese gesetzlich festgelegten Folgen kommen auch für 
den Gerichtsarzt besonders in Betracht; sie sind es, auf deren Bestand er 
jeden einzelnen Verletzungsfall zu untersuchen hat. 

Sowohl das deutsche wie das österreichische Strafgesetz berücksichtigen auch 
das verletzende Werkzeug, indem die Verwendung eines „gemeiniglich lebens¬ 
gefährlichen Werkzeuges“ (§. 155 lit. a öster. St.-G.) „mittels einer Waffe, eines 
Messers oder eines andern gefährlichen Werkzeuges“ (deut. St.-G. § 223 a) 
mit erhöhter Strafe belegt wird. Dieser strafrechtlichen Folge wegen fällt 
auch die Beurtheilung der Verletzungswerkzeuge häufig dem Arzte zu, we¬ 
nigstens in Oesterreich, wo er in jedem Falle zu bestimmen hat, ob „eine 
obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf 
eine solche Art unternommen wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr ver¬ 
bunden ist.“ 

Bei der forensischen Beurtheilung einer Waffe oder eines an¬ 
deren Werkzeuges kommt es auf zweierlei an: erstens auf die Beschaffen¬ 
heit, zweites auf die Art und Weise des Gebrauches. Säbel, Schläger, Pisto¬ 
len, Revolver, Beile, starke Messer u. dgl. sind im Allgemeinen geeignet, 
tödtliche oder lebensgefährliche Verletzungen zu erzeugen, vorausgesetzt, dass 
sie auch zweckmässig, d. h. so angewendet werden, wie es erforderlich ist, 
um damit lebensgefährlich zu verletzen: Säbel und Schläger zum Hieb mit 
der Schneide, Pistolen und Revolver zum Schiessen, Beile zum Hacken, Messer 
zum Stechen, Steine zum Schlagen oder Werfen. Wäre eine Pistole statt mit 
Pulver zufällig mit Streusand geladen worden, so ist sie keine Schusswaffe, 
also kein lebensgefährliches Werkzeug mehr. Es ist dies auch der Schläger 
des Studenten nicht, wenn die Paukanten durch entsprechende Bandagen 
davor geschützt sind, lebensgefährliche Verletzungen davonzutragen. Wer 
jemand mit flacher Klinge auf den Rücken schlägt, ein zugeklapptes Messer 
oder einen gesperrten Revolver nachwirft, statt zu hauen, zu stechen oder 
zu schiessen, der hat zwar an sich gefährliche Werkzeuge, jedoch nicht in 
solcher Art verwendet, womit gemeiniglich, d. h. [in der Regel Lebensgefahr 
verbunden ist. Ausser der Beschaffenheit des Werkzeuges und der Art des 
Gebrauches kommt auch drittens die getroffene Körperstelle in Betracht. 
Messerstiche am Kopfe sind wegen des Schutzes, den die knöcherne Schädel¬ 
kapsel gibt, ungleich weniger gefährlich als am Halse, der Brust und dem 
Unterleib; umgekehrt ist die Wirkung schwerer stumpfer Werkzeuge am 
Kopfe viel gefährlicher als in anderen Körpergegenden. 

Die Verletzungsfolgen sind theils vorübergehender Natur (heilbar), theils 
fürs ganze weitere Leben andauernd (unheilbar). 

Als vorübergehende Verletzungsfolgen sind namhaft gemacht: 

a ) die zeitliche Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit, abgestuft nach 
mindestens 20-tägiger (§ 152 österr. St.-G.) und 30-tägiger Dauer (§ 155 b österr. SL-G.); 
Beschädigung der Gesundheit (§ 223 deut. St.-G.) ohne gesetzlich festgelegte Zeitabstufung. 

(Vergl. Art. Gesundheitsstörung S. 399). 

b) Die (heilbare) Geisteszerrüttung. 


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VERLETZUNGEN* 


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c) Die ursprüngliche Schwere der Verletznng (an sich schwer) d b. die Verletzung 
eines functioneil wichtigeren Theiles (grössere Blutgefässe, Nerven, Sehnen, Knochen, innere 
Organe) ohne Rücksicht auf die Dauer der dadurch bewirkten Gesundheits- und Berufs¬ 
störung. 

d) Die besondere Schmerzhaftigkeit der Verletzung, d. h. eine Zufügungsart, 
welche für den Verletzten ungewöhnliche Qualen im Gefrnge hat (Quälerei § 155 c 
österr. St.-G., § 251 deutsch. St.-G.). 

e) Die Lebensgefahr, welche eine (an sich schwere) Verletzung thatsächlich her¬ 
beigeführt hat (§ 155 e österr. St.-G.) oder die in der Handlung selbst gelegen war 
(§ 223 a letzter Absatz deut. St-G. „mittels einer das Leben gefährdenden Handlung be¬ 
gangen“). 

Dauernde Verletzungsfolgen sind: 

1. Verlust oder bleibende Schwächung der Sprache (§ 155a österr. St.-G* 
§ 224 deut. St.-G.). Bleibende Sprachstörungen können durch Beschädigungen sehr ver¬ 
schiedenartiger Organe bedingt werden; einmal durch schwere, unbehebbare Verletzungen 
der zur Lautbildung nothwendigen Theile (Lippen, Zähne, Gaumen, Kehlkopf), dann 
durch Beschädigungen der tonbildenden Apparate, also des Kehlkopfgehäuses, der Stimm¬ 
bänder, Kehlkopf-Muskel und -Nerven (N. laryngeus sup. und inf., hypoglossus, glosso- 
pharyngeus), endlich durch Verletzungen der sprachbildenden Theile des Gehirnes. 
Es sind dies die Rindenfelder der dritten linken Stirnwindung (motorische Aphasie) und 
der ersten Schläfenwindung (sensorielle Aphasie). 

2. Verlust oder bleibende Schwächung des Gesichtes (§ 156a österr. 
St.-G.); „Verlust des Sehvermögens auf einem oder beiden Augen“ (§ 224 deut St.-G.). 
Es ist darunter selbstverständlich sowohl der physische als auch der functionelle Verlust 
eines oder beider Augen zu verstehen. Das österr. Gesetz anerkennt im Gegensatz zum 
deutschen mit Recht auch eine dauernde Herabsetzung des Sehvermögens (bleibende 
Schwächung), ein Nachtheil, der unter Umständen viel schwerer wiegt, als der völlige Ver¬ 
lust nur eines Auges. Dadurch ist auch eine Uebereinstimmung zwischen Strafgesetz und 
Unfallversicherungsgesetz gegeben, welche im deutschen Reiche nicht besteht, denn eine 
halbe Erblindung auf beiden Augen wird auch dort unbedingt als „theilweise Erwerbs¬ 
unfähigkeit“ anerkannt werden müssen. 

3. Verlust oder bleibende Schwächung des Gehöres (§ 156a österr. 
St.-G. § 224 deut. St.-G.). Auch das Hörvermögen kann durch periphere und centrale Ver¬ 
letzungen beeinträchtigt oder ganz verloren werden. Dem Wortlaute nach anerkennt 
strafrechtlich das deutsche Gesetz auch nur den Verlust, nicht aber die bleibende Beein¬ 
trächtigung des Gehörs. 

4. Verlust der Zeugungsfähigkeit (Vergl. Art. Zeugungsfähigkeit S.360). 

5. Verlust eines Auges, Armes oder einer Hand. Die Beurtneilung dieser 
Verletzungsfolgen ist sehr leicht. Zunächst ist wohl der physische Verlust dieser Theile 
gemeint; sinngemäss ist darunter aber auch die völlige Unbrauchbarkeit der genannten 
Körpertheile, wenn sie auch nicht verloren gegangen sind, zu verstehen. Hier geht er¬ 
freulicher Weise das deutsche Strafgesetz weiter, als das österreichische, indem es ganz 
allgemein von Verlust eines wichtigen Gliedes spricht, worunter gewiss auch ein Fuss oder 
ein Bein verstanden werden muss, welche in der österreichiechen Gesetzgebung keine Er¬ 
wähnung finden. 

6. Dauernde Entstellung (§. 224 deut. St.-G.) oder „eine auffallende Ver¬ 
stümmlung oder Verunstaltung“ (§. 166 a österr. St.-G.). Auf diese Verletzungsfolge wurde 
schon im Vorangehenden wiederholt hingewiesen. Es handelt sich hiebei um entstellende 
Narben, Fisteln u. dgl. an unbedeckten Körpertheilen, also vor allem am Gesichte, wie 
solche nach Brandwunden und Verätzungen Zurückbleiben, ferner um Verstümmelungen 
oder Verlust von Nase, Ohren u. dgl. 

7. Immerwährendes Siechthum (§. 156 lit. b), „Verfall in Siechthum“ (§. 224 
deut. St.-G.). Der medicinische Sprachgebrauch bezeichnet als Siechthum einen mehr we¬ 
niger stationär gewordenen, unheilbaren oder voraussichtlich erst nach langer Zeit heil¬ 
baren Zustand, welcher, ohne eine Krankheit im engeren Wortsinne zu sein, gleichwohl die 
volle physische und psychische Leistungs- und Genussfähigkeit ausschliesst. Gelähmte, 
schwer Nerven-, Rückenmarks- und Gehirnkranke bieten häufig Beispiele solchen Siech¬ 
thums dar. Während das österr. Gesetz „immerwährende“ Dauer dieses Zustandes ver¬ 
langt, fallt nach deutscher Auffassung auch eine zeitliche, beschränkte Invalidität hier 
hinein. Skrzecka spricht sich wohl in maassgebender Weise hierüber und namentlich auch 
über die Unterscheidung von Siechthum und chronischer Krankheit folgendermaassen aus: 
„Auf eine solche Krankheit, deren Heilung in bemessener Frist — und sollte dieselbe auch 
Monate betragen — von vornherein mindestens mit Wahrscheinlichkeit in Aussicht gestellt 
werden kann, würde die Bezeichnung des Siechthums nicht anwendbar sein, vielmehr wird 
dieselbe beschränkt bleiben müssen auf diejenigen schweren chronischen Krankheitszu¬ 
stände, von denen sich, wenn sie nicht überhaupt für unheilbar erklärt werden können, 
doch nicht auch nur mit einiger Sicherheit Vorhersagen lässt, ob dieselben überhaupt je¬ 
mals beseitigt werden können, oder wenn dieser günstige Fall eintreten sollte, in welcher 
Frist dies möglicherweise geschehen könnte.“ 


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VERLETZUNGEN. 


9. Unheilbare Krankheit (§. Ic6b österr. St.-G.) ist eine Verletznngsfolge, welche 
logischer Weise neben „immerwährendem Siechthnm“ keinen Platz finden sollte. Th&t- 
s&chlich kennt das deutsche Strafgesetz diese Folge nicht. Eine unheilbare Krankheit be¬ 
gründet aber das Siechthnm. Ein unheilbar Kranker ist siech. Ich glaube jedoch, dass 
der Gesetzgeber mit Siechthum mehr weniger einen abgeschlossenen, zum Stillstände ge¬ 
langten, ruhenden, keiner Therapie zugänglichen Krankheitsprocess bezeichnen wollte, 
während er unter Krankheit wohl einen Zustand meinte, der niemals stillsteht, sondern 
unter Schwankungen, Steigerungen und Abfall der Erscheinungen fortschreitet bis ans 
Ende. So würde ich beispielsweise Epilepsie nach der heutigen Ausdrueksweise des österr. 
Strafgesetzes als eine unheilbare Kranheit bezeichnen, während mir ein Anus praeterna¬ 
turalis immerwährendes Siechthum zu begründen scheint. 

9. Verfall in Geisteskrankheit (d. St.-G.) oder „Geisteszerrüttung ohne Wahr¬ 
scheinlichkeit der Wiederherstellung“ (§. Iö6b österr. St.-G.). Das österr. Gesetz unter¬ 
scheidet zwischen heilbarer Geisteszerrüttung (§. 152 St.-G. vergl. oben) und unheilbarer. 
Diesen Unterschied anerkennt das deutsche Strafgesetz nicht; es spricht nur von Geistes¬ 
krankheit überhaupt ohne Rücksicht auf deren Heilbarkeit. An und für sich ist die Pro¬ 
gnose einer Geisteskrankheit schwierig, die traumatischen Psychosen gestalten sich aber in 
prognostischer Hinsicht besonders trügerisch. Die Aufgabe des deutschen Gerichtsarztes, 
der nur die Diagnose zu stellen hat, dass jemand nach einer Verletzung geisteskrank ge¬ 
worden, in Geisteskrankheit verfallen ist, stellt sich viel einfacher, klarer und leichter dar, 
als jene des österreichischen, der auch noch die wahrscheinliche Heilbarkeit oder Unheil¬ 
barkeit vorherbestimmen soll. Bezüglich der Diagnostik der traumatischen Psychosen und 
Neurosen wird auf „Nervenkrankheiten“ verwiesen. 

10. Immerwährende Berufsunfähigkeit (§. 156c österr. St.-G.). Sie ist in 
der Regel durch Siechthnm bedingt oder veranlasst durch den Verlust eines wichtigen 
Gliedes und findet deshalb mit Recht im deutschen Strafgesetz keine Berücksichtigung. 

Sehr viele Verletzungen haben nun nicht nur eine, sondern mehrere 
Folgen nach sich gezogen; sie besitzen, wie der technische Ausdruck lautet, 
eine mehrfache Qualification. Aufgabe des Gutachters ist es, auch 
bei mehreren Verletzungen jede einzeln in allen Richtungen nach den An¬ 
forderungen des Strafgesetzes zu qualificiren. Kaum irgend eine Aufgabe 
der forensischen Medicin bietet namentlich dem Anfänger so grosse Schwierig¬ 
keiten, wie die richtige Beurtheilung von Verletzungen nach dem öster¬ 
reichischen Strafgesetz; einfacher und klarer in der Stilisirung stellt das 
deutsche Strafgesetz dem Arzte viel leichter lösbare Aufgaben. 

Der österreichische Gerichtsarzt wird bei der Beurtheilung der nicht 
tödtlichen Verletzungsfolgen am besten folgendermaassen vorgehen. Jede 
einzelne Beschädigung wird zuerst daraufhin geprüft werden müssen, ob sie 
nach medicinischen Begriffen und Sprachgebrauche unter die an sich schweren 
oder die an sich leichten Verletzungen einzureihen ist. Was man unter an 
sich schwerer Verletzung zu verstehen habe, ist schon oben kurz erläutert 
worden. Streng wissenschaftlich lässt sich der Begriff ebensowenig defmiren, 
wie etwa die Grenze zwischen schwerer und leichter Pneumonie, schwerem 
und leichtem Typhus u. s. w. genau bestimmbar ist. Haben die Symptome 
eine gewisse gefahrdrohende Höhe erreicht, so nennen wir die Krankheit eine 
schwere, sonst eine leichte. Wir bezeichnen mit schwer und leicht aber 
nicht bloss Gradunterschiede ein- und derselben Krankheit, sondern auch die 
Unterschiede in der Qualität der Krankheiten. So nennen wir mit Recht den 
Scharlach, die asiatische Cholera, die Meningitis schwere Krankheiten, wenn¬ 
gleich es auch leichte Formen dieser an sich schweren Krankheitsprocesse 
gibt. Aehnlich verhält es sich mit der Bezeichnung von Verletzungen. Die 
physiologische Wertigkeit des Organs und der Grad der Verletzung müssen 
in gleicher Weise dem Urtheile zugrunde gelegt werden. Die kleine Ver¬ 
letzung eines physiologisch wichtigen Theiles ist an und für sich als ein viel 
schwererer Nachtheil zu erachten, wie die ausgedehnte eines unwichtigen. Ein 
ganz kleiner Stich in die Schenkelarterie stellt eine viel gefährlichere Ver¬ 
letzung dar, wie eine 15 cm lange Schnittwunde am selben Schenkel, welche 
nur die Haut betroffen hat. Man wird mit Recht die erste als an sich schwer, 
die zweite als leicht bezeichnen. An sich leicht ist nämlich jede (nicht tödt- 
liche) Verletzung zu nennen, welche wir nicht unter die an sich schweren 


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VERLETZUNGEN. 


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einreihen müssen. Immerhin ist hier dem subjectiven Ermessen des Arztes 
ein so weiter Spielraum gegeben, dass es wohl fraglich (erscheinen kann, ob 
in einem künftigen Strafgesetz diese Begriffe nicht zweckmässig ganz in Weg¬ 
fall kommen sollten, wie im deutschen Strafgesetz. Dieses spricht im § 223 
nur von körperlicher Misshandlung und Gesundheitsbeschädigung als objec- 
tiven Merkmalen der (leichten) Körperverletzung. Die körperliche Misshand¬ 
lung deckt sich wohl mit dem Begriffe „sichtbare Merkmale und Folgen“ des 
§411 österr. St.-G., die Gesundheitsbeschädigung mit Gesundheitsstörung 
(§ 152 österr. St-G.). 

Hat man entschieden, ob eine Verletzung als an sich leicht oder an 
sich schwer zu bezeichnen ist, muss die Dauer der durch sie veranlassten 
Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit geprüft werden. 

Gesundheitsstörung (Gesundheitsbeschädigung d. St.- G.) ist eine 
derartige Abweichung vom normalen Befinden eines Menschen, dass wir ihn 
im gewöhnlichen Leben als krank bezeichnen würden. Nicht jede Verletzung 
ist auch von Erkrankung gefolgt, wie wir an uns selbst leicht beobachten 
können. Wie oft ziehen wir uns Verletzungen zu, welche die Gesundheit 
nicht beeinträchtigen. Bestehender Schmerz, Blutung, Eiterung, Fieber, Kopf¬ 
schmerz, allgemeine Abgeschlagenheit, Schwäche sind Symptome von Krank¬ 
sein. Dagegen deckt sich erfahrungsgemäss dieser Begriff durchaus nicht 
mit der Heilungsdauer. Manche Wunde ist noch nicht geheilt und dennoch 
bestehen keine Krankheitserscheinungen mehr; umgekehrt kann die Gesund¬ 
heitsstörung auch die Heilungsdauer übersteigen. Nach einem Beinbruch 
bestehen oft noch lange Zeit, nachdem Heilung im chirurgischen Sinne ein¬ 
getreten ist, Anschwellungen, Schmerzhaftigkeit beim Gebrauch, Bewegungs¬ 
beschränkungen, kurz Erscheinungen, welche entschieden als Gesundheits¬ 
störungen im Sinne des Strafgesetzes zu bezeichnen sind. Ein Mann, der 
nach vierwöchentlicher chirurgischer Behandlung „geheilt entlassen“ wurde, 
wird gleichwohl dahin begutachtet werden müssen, dass die Gesundheitsstörung 
sechs Wochen angedauert, also den Zeitraum von 30 Tagen überschritten habe. 
Wir werden vom forensischen Standpunkte die Zeitdauer der Gesundheits¬ 
störung darnach bemessen, bis wann wieder derjenige allgemeine Gesundheits¬ 
zustand erreicht ist, welcher vor der Verletzung vorhanden war. So lange 
noch eine nennenswerte Abweichung besteht, ist die Gesundheit „gestört“ 
(öst. St.- G.) oder „beschädigt“ (d. St.- G.). Da auch ein Kranker verletzt 
werden kann, so handelt es sich keineswegs darum festzustellen, ob der Ver¬ 
letzte überhaupt krank oder gesund sei, sondern ob jener Zustand des All¬ 
gemeinbefindens wiederhergestellt sei, welcher vor der Verletzung vorhan¬ 
den war. (Vergl. S. 399). 

Berufsunfähigkeit ist ein strafgesetzlich festgelegter Begriff, welchen 
das deutsche Strafgesetzt überhaupt nicht kennt. Dieses setzt offenbar still¬ 
schweigend voraus, was auch österreichische Aerzte und Richter häufig genug 
glauben, dass sich Berufsunfähigkeit und Gesundheitsstörung völlig decken. 
Es ist dies keineswegs der Fall. Solange noch Gesundheitsstörung besteht, 
wird häufig der Beruf nicht ausgeübt werden können, obwohl wir es 
oft genug beobachten, dass Menschen mit offenen, eiternden Wunden, mit 
schmerzenden Beulen u. dgl. doch ihrer Beschäftigung nachgehen, somit im 
Berufe nicht mehr gestört sind, wenn noch Krankheitserscheinungen vorhan¬ 
den sind. Ebenso häufig kann das Umgekehrte beobachtet werden. Die 
Berufsthätigkeit ist unmöglich, obwohl bereits Genesung eingetreten ist. Ein 
Maurer hat beim Zusammensturz eines Gerüstes schwere Brustverletzungen 
mit nachfolgender Contusionspneumonie erlitten. Nach vielwöchentlicher 
Spitalsbehandlung wird er „gesund“ entlassen. Gleichwohl ist er noch nicht 
im Stande, seine schwere Berufsthätigkeit unverzüglich und im vollen Um¬ 
fange aufzunehmen; er bedarf noch der Erholung. Die Berufsunfähigkeit 


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VERLETZUNGEN. 


überdauert in diesem Falle die Gesundheitsstörung vielleicht um Wochen. 
Selbstverständlich kommt es bei der Beurtheilung der Berufsunfähigkeit nicht 
darauf an zu erforschen, ob der Verletzte überhaupt eine Thätigkeit aus¬ 
zuüben vermag, sondern ob er seinen Beruf ausüben kann oder nicht. Von 
diesem Gesichtspunkte aus sind gleiche Verletzungen forensisch oft ganz un¬ 
gleich zu bewerten. Der Tagschreiber ist berufsunfähig, wenn Daumen und 
Zeigefinger der rechten Hand verletzt sind, weil er ohne sie nicht schreiben 
kann, der Botengänger ist mit der gleichen Verletzung nicht berufsunfähig, 
weil er seinem Berufe auch mit eingebundenen Fingern nachkommen kann; 
er würde aber umgekehrt durch eine Verletzung an den Zehen oder Füssen 
berufsunfähig werden, was beim Schreiber keineswegs der Fall ist. Gesund¬ 
heitsstörung und Berufsunfähigkeit sind daher auch keineswegs sich deckende, 
forensische Begriffe. Sie müssen vielmehr gesondert beurtheilt werden und 
können sich in der Zeitdauer wesentlich gegen einander verschieben. Daher 
spricht das Gesetz auch von Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit (nicht 
„und“). 

Jede Verletzung, ob an sich leicht oder schwer, kann eine so lange 
dauernde Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit herbeiführen, dass der 
gesetzlich festgelegte Zeitraum von „mindestens 20 oder mindestens 30 Tagen“ 
erreicht, beziehungsweise überschritten wird. Ist dies der Fall, so liegt für 
den Richter ein Merkmal des „Verbrechens der schweren körperlichen Be¬ 
schädigung“ vor. „Schwere körperliche Beschädigung“ ist somit ein rein 
juridischer, „schwere“ oder „leichte Verletzung“ sind medicinische Begriffe. 
Der Arzt sollte ersteren Ausdruck niemals gebrauchen. Es folgt aber aus 
dem Gesagten, dass allerdings auch eine an sich leichte Verletzung, wenn 
die Gesundheitsstörung den Zeitraum von 20 oder 30 Tagen überstieg, oder 
eine andere vom Gesetze namhaft gemachte Folge eingetreten ist, das 
Substrat der Anklage auf „Verbrechen der schweren körperlichen Beschädi¬ 
gung“ bilden kann. Für den Arzt bleibt dessenungeachtet die Verletzung 
immer, was sie war, d. h. an sich leicht. Falsch ist es daher zu sagen, die 
Verletzung ist schwer, weil ihre Heilungsdauer mehr wie 20 Tage betragen 
hat. Die Formeln für die gerichtsärztliche Beurtheilung der nicht tödtlichen 
Verletzungen nach dem österreichischen Strafgesetz können nur so lauten: 
DieansichleichteVerletzunghat ausser „sichtbaren Merkmalen“ keine 
Folgen gehabt oder „die an sich leichte Verletzung hat eine Gesundheits¬ 
störung und Berufsunfähigkeit von weniger als 20 Tagen“ (§ 411, „leichte 
körperliche Beschädigung“) oder „von mehr als 20,“ „mehr als 30 Tagen“ 
veranlasst oder sie ist mit einem „gemeiniglich lebensgefährlichen Werkzeug“ 
unternommen oder sie ist „lebensgefährlich“ geworden u. s. w. (§§ 152, 
155 a, b, e ev. 156) — und ein zweiter Typus: Die an sich schwere 
Verletzung hat eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit (oder beides 
zusammen) von weniger als 20-tägiger, oder von „mindestens 20-tägiger“ 
oder „mindestens 30-tägiger Dauer“ oder eine andere oben angeführte vor¬ 
übergehende oder bleibende Folge nach sich gezogen. 

Es ist endlich noch zu beachten, dass mehrere oder viele an sich leichte 
Verletzungen in ihrem Zusammenwirken eine schwere, ja selbst lebens¬ 
gefährliche bilden können. Es kommt dies vor sowohl durch fortgesetzte Miss¬ 
handlungen seitens einer Person (Stock-, Ruthen-, Peitschenhiebe), als auch 
wenn mehrere Personen einen Einzelnen misshandeln (Schlägereien, Lynchen). 

Der schwere Charakter vielfacher, wenn auch an sich leichter Einzel¬ 
verletzungen kann bedingt sein durch einen übergrossen Blutverlust oder 
durch ungeheure Schmerzhaftigkeit. Lebensgefahr und selbst Tod sind beob¬ 
achtet worden als combinirte Wirkung von Stockschlägen, Spiessruthenlaufen, 
Bastonaden auf die Fusssohlen und ähnlichen, allerdings schon mehr histo¬ 
risch gewordenen scheusslichen Misshandlungen. 


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VERSICHERUNGSWESEN. 


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Die gerichtsärztlichen Aufgaben bei der Beurtheilung von Verletzungen 
an Lebenden sind kurz und treffend im § 132 öst. St.-P.-O. zusammengefasst: 

„Auch bei körperlichen Beschädigungen ist die Besichtigung des Verletzten durch zwei 
Sachverständige vorzunehmen, welche sich nach genauer Beschreibung der Verletzungen 
insbesondere auch darüber auszusprechen haben, welche von den vorhandenen Körper¬ 
verletzungen oder Gesundheitsstörungen an und für sich, oder in ihrem Zusammenwirken, 
unbedingt oder unter den besonderen Umständen des Falles als leichte, schwere oder 
lebensgefährliche anzusehen seien; welche Wirkungen Beschädigungen dieser Art gewöhnlich 
nach sich zu ziehen pflegen, und welche in dem vorliegenden einzelnen Falle daraus her¬ 
vorgegangen sind, sowie durch welche Mittel oder Werkzeuge und auf welche Weise die¬ 
selben zugefügt worden seien.“ j # kRÄTTER. 

Versicherungswesen. (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und 
Altersversicherung.) Da bei der fortschreitenden Entwicklung der 
neueren Industrie zahlreiche Arbeiter vom Lande in die für Fabriksanlagen und 
Waarentransport günstiger gelegenen Städte gelockt wurden, erwies sich fast 
in allen Staaten die bisherige Gesetzgebung als unzureichend, um den 
durch Krankheit oder Unfall in den verschiedenen gewerblichen Betrieben 
erwerbsunfähig gewordenen besitzlosen Arbeitern nebst deren Familien ent¬ 
sprechende Unterstützung zu gewähren und einer auch für das Allgemeinwohl 
gefahrvollen überhandnehmenden Verarmung der städtischen Arbeiterbevöl¬ 
kerung wirksamer vorzubeugen. 

Die neuere sociale Gesetzgebung suchte deshalb namentlich in den 
deutschen und österreichischen Staaten für die erfahrungsgemäss gesundheits- 
und lebensgefährlich wirkenden gewerblichen Betriebe und Fabriken ent¬ 
sprechende Vorschriften zu erlassen, deren Ausführung unter die Aufsicht 
technisch vorgebildeter Beamten (Fabrikinspectoren, Gewerberäthe) gestellt 
wurde und demnächst auch besondere Arbeiterversicherungsanstalten ein¬ 
zurichten, um den Arbeitern und deren Angehörigen bei einer durch Krank¬ 
heit oder Unfall entstehenden wirtschaftlichen Nothlage möglichst dauernde 
Hilfe zu verschaffen. So wurde für das deutsche Reich erlassen: Das Krank¬ 
heitsversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883 und 10. April 1892, das Unfall¬ 
versicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 und schliesslich das Invaliditäts- und 
Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni 1889. 

Da bei Ausführung der vorgenannten socialen Gesetze dem ärztlichen 
Berufsstande eine besonders einflussreiche Mitwirkung zugefallen ist, werden 
wir an dieser Stelle namentlich auf denjenigen Theil der deutschen und öster¬ 
reichischen Gesetzgebung näher eingehen müssen, welcher für eine dem Sinne 
der Gesetze möglichst entsprechende Thätigkeit der Aerzte von Bedeu¬ 
tung ist. 

Nach dem deutschen Krankenversicherungsgesetze ist der Versiche¬ 
rungszwang vorgeschrieben für die in dauerndem d. h. den Zeitraum einer 
Woche überdauernden Arbeitsverhältnis stehenden gewerblichen Lohnarbeiter 
und für die kleinen mit einem Jahresarbeitsverdienste bis zu 2000 Mk. an- 
gestellten gewerblichen Betriebsbeamten (Werkmeister und Techniker, Hand- 
lungs- und Bureaugehilfen). Durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde 
kann der Versicherungszwang für den Bezirk derselben auch auf nur vorüber¬ 
gehend beschäftigte gewerbliche Lohnarbeiter, Hausindustrielle und auf land- 
und forstwirtschaftliche Arbeiter erstreckt werden. Dienstboten sind berech¬ 
tigt, nicht verpflichtet, der Gemeindekrankenversicherung derjenigen Ge¬ 
meinde, in deren Bezirk sie beschäftigt sind, beizutreten, dasselbe gilt auch 
von anderen gesetzlich nicht versicherungspflichtigen Personen der arbeiten¬ 
den Classe, und statutarisch kann sogar auch selbständigen kleinen Ge¬ 
werbetreibenden der Eintritt gestattet werden. Die Annahme nicht ver¬ 
sicherungspflichtiger Personen kann jedoch abgelehnt werden, wenn die 
ärztliche Untersuchung eine bereits bestehende Krankheit ergibt. 
Schlechthin ausgeschlossen von der Theilnabme an der gesetzlich geordneten 


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VERSICHERUNGSWESEN. 


Krankenversicherung sind nur Personen, deren jährliches Gesammteinkommen 
den Betrag von 2000 Mk. übersteigt. Die Organisation der Krankencassen- 
versicherung beruht auf dem Princip der Gegenseitigkeit und Selbstverwaltung 
d. h. die versicherungspflichtigen Berufsgenossen werden kraft Gesetzes zum 
Zweck gegenseitiger Krankenversicherung in corporativen, mit Statut- und 
Selbstverwaltungsorganen (Vorstand und Generalversammlung) ausgestatteten 
Verbänden, den sogenannten Cassen, vereinigt, deren Verwaltung unter be¬ 
hördlicher Oberaufsicht geschieht. Das Gesetz hat folgende Cassenarten 
zugelassen: 

1. Die Ortskrankencassen, welche von den Gemeinden für die in einem Gewerbs- 
zweige oder in einer Betriebsart beschäftigten Porsonen zu errichten sind nnd zwar in der 
Hegel für jede Gewerbeart nnd jeden Betriebszweig besonders, wenn in jedem derselben 
100 Personen oder mehr beschäftigt werden. 

2. Die Betriebs- (Fabriks-'i Krankencassen, za deren Errichtung jeder Unter¬ 
nehmer berechtigt ist, in dessen Betriebe 50 oder mehr dem Krankenvetsicherangszwange 
unterliegende Personen beschäftigt sind. 

3. Die Baukrankencassen, welche auf Anordnung der höheren Verwaltungs¬ 
behörde für die in vorübergehenden Baubetrieben beschäftigten Personen von den Bauherren 
zu errichten sind. 

4. Die Innungskrankencassen, welche auf Grund des Titel VI. der Reichs¬ 
gewerbeordnung bereits errichtet sind oder noch errichtet werden. 

5. Die Knappschaftscassen, welche auf Grund berggesetzlicher Vorschriften 
bestehen. 

6. Die freiwillig auf Grund des Reichsgesetzes vom 7. April 1876 errichteten ein¬ 
geschriebenen Hilf8cassen, wenn ihre Leistungen den Anforderungen des Krankenver¬ 
sicherungsgesetzes entsprechen. 

Für alle diejenigen Versicherungspflichtigen, welche keiner dieser Cassen 
angehören, tritt subsidiär die Gemeindekrankenversicherung ein. Dieselbe 
ist mit keiner besonderen Cassenorganisation verbunden, sondern stellt eine 
communale Einrichtung dar. 

Einen unbedingten Anspruch auf Krankenunterstützung gewährt das 
Gesetz den Versicherten nur für ihre Person. Durch das Cassenstatut kann 
jedoch die Unterstützungspflicht in beschränktem Umfange auf die nicht ver¬ 
sicherten Familienangehörigen der Cassenmitglieder ausgedehnt werden. 
Von den Krankencassen und der Gemeindekrankenversicherung sind ihren 
Mitgliedern zu gewähren: o) vom Beginne der Krankheit ab freie 
ärztliche Behandlung, Arznei, Brillen, Bruchbänder und ähnliche Heilmittel; 
b) im Falle der Erwerbsunfähigkeit vom dritten Tage an nach der Er¬ 
krankung für jeden Arbeitstag ein Krankengeld von mindestens der Hälfte 
des den Beiträgen zu Grunde liegenden Durchschnittslohnes oder statt dessen 
freie Cur und Verpflegung in einem Krankenhause nebst der Hälfte des vor- 
bezeichneten Krankengeldes für hilfsbedürftige Angehörige. Die ad a), b) er¬ 
wähnte Krankenunterstützung endet, falls nicht etwa bei den Zwangscassen 
im Statute ein längerer Zeitraum festgestellt ist (die Ausdehnung ist bis zu 
einem Jahre gesetzlich zulässig), mit dem Ablaufe der 13. Woche nach Be¬ 
ginn der Krankheit, im Falle der Erwerbsunfähigkeit mit dem Ablaufe der 
13. Woche nach Beginn des Krankengeldbezuges. 

So weit die Erkrankten nicht in ein Krankenhaus aufgenommen sind, 
muss die Casse, falls nicht das Statut Bestimmungen über die 
Bestellung von Cassenärzten und Benützung bestimmter Apo¬ 
theken vorsieht, für die ärztliche Hilfeleistung jedes Arztes und für 
die Lieferung der Medicamente durch jede Apotheke Zahlung leisten; denn 
ohne ausdrückliche Bestimmung im Statut steht der Cassenver- 
waltung die Bestellung besonderer Cassenärzte mit der Maassgabe, 
dass die Hilfeleistungen anderer Aerzte, von dringenden Fällen abgesehen, 
nicht bezahlt zu werden brauchen, jetzt nicht mehr zu. Enthält dagegen 
das Statut diesbezügliche Bestimmungen, so wird die ärztliche Behandlung 
durch den Cassenarzt oder einen der Cassenärzte und die Lieferung 


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VERSICHERUNGSWESEN. 


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der Arzneien durch die mit der Cassa in Geschäftsverbindung stehende 
Apotheke gewährt. Die Bezahlung der durch Inanspruchnahme anderer 
Aerzte und Apotheken entstandenen Kosten kann alsdann, von dringenden 
Fällen abgesehen, abgelehnt werden. Beim Vorhandensein mehrerer Cassen- 
ärzte kann im Statute bestimmt werden, dass die Auswahl unter denselben 
den Mitgliedern frei stehe, jedoch während derselben Krankheit ohne Zu¬ 
stimmung des behandelnden Arztes ein Wechsel nicht vorgenommen werden 
dürfe. Auf Antrag von mindestens 30 betheiligten Versicherten kann nach 
§ 45 der am 1. Jänner 1893 in Kraft getretenen Krankenversicherungs¬ 
novelle die höhere Verwaltungsbehörde anordnen und erzwingen, dass den 
Versicherten noch andere als die bisherigen Aerzte, Apotheken und Kranken¬ 
häuser zur Verfügung zu stellen seien, wenn durch die von der Cassa ge¬ 
troffenen Anordnungen eine der berechtigten Anforderungen der Versicherten 
entsprechende Gewährung jener Leistungen nicht gesichert ist. 

Die Pflichten des Cassenarztes beschränken sich nicht nur auf die ärzt¬ 
liche Behandlung; er hat in manchen Beziehungen auch bei der Kranken- 
controle mitzuwirken. So erfolgt die Auszahlung des Krankengeldes nur 
gegen Einlieferung eines vom Cassenarzte jedesmal auszustellenden Kranken¬ 
scheines, welcher für Mitglieder, die in ein Krankenhaus aufgenommen 
sind, vom Krankenhausarzte auszustellen ist. 

Durch Statut kann der Cassenverwaltung die Befugnis eingeräumt werden, 
Mitgliedern, welche sich eine Krankheit vorsätzlich oder durch schuldhafte 
Betheiligung bei Schlägereien, durch Trunkfälligkeit oder geschlechtliche Aus¬ 
schweifungen zugezogen haben, für diese Krankheit das Krankengeld gar nicht 
oder nur theilweise zu gewähren. 

Hat der Cassenarzt Grund zu der Annahme, dass ein derartiger Fall 
vorliegt, so hat er dies in dem Krankenscheine zu vermerken. 

Ebenso hat der Cassenarzt in dem Krankenscheine einen entsprechenden 
Vermerk zu machen, wenn die Krankheit durch einen möglicherweise nach 
dem Unfall Versicherungsgesetze zu entschädigenden Unfall herbeigeführt wor¬ 
den ist. 

Durch Bestimmungen im Statute kann den Cassenmitgliedern zur Pflicht 
gemacht werden, die Anordnungen des behandelnden Arztes zur Vermeidung 
von Ordnungsstrafen bis zu 20 Mk. zu befolgen. Die auf Grund des Kranken¬ 
versicherungsgesetzes gewährten Leistungen gelten nicht als öffentliche Armen¬ 
unterstützungen und wird die öffentliche Armenpflege durch das Kranken¬ 
versicherungsgesetz nicht berührt. 

Das Unfallversicherungsgesetz beruht auf der allseitigen Anerkenntnis, 
dass dem Arbeiter für alle Unfälle im Betriebe eine Entschädigung 
zugebilligt werden müsse, gleichviel, ob der Unfall durch höhere Gewalt oder 
durch ein Versehen des Arbeiters entstanden sei. Es wurde deshalb eine 
Zwangsversicherung der Arbeitgeber eingeführt durch staatlich organisirte 
Verbände, sogenannte Berufsgenossenschaften. Die Entschädigung für alle 
Unfälle, welche eine Krankheit von nicht über 13 Wochen zur Folge haben, 
fällt den Krankencassen zu und tritt eine Entschädigung überhaupt dann 
nicht ein, wenn der Verletzte den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat. 

Es unterliegen der Unfallversicherung: 1. Alle Arbeiter beziehungsweise 
Betriebsbeamten mit Jahresverdienst bis zu 2000 Mk. 2.; die Arbeiter in den 
gesammten Betrieben der Post-, Telegraphen- und Eisenbahnverwaltung, der 
Marine und Heeresverwaltung einschliesslich der Bauten, welche von diesen 
Verwaltungen auf eigene Rechnung ausgeführt werden; 3. die Beamten der 
Reichscivilverwaltung, des Reichsheeres und der Marine und die Personen 
des Soldatenstandes, welche in einem der Unfallversicherung unterliegenden 
Betriebe beschäftigt sind. Durch Statut kann die Versicherungspflicht auf 
Betriebsbeamte mit höherem Jahresarbeitsverdienst als 2000 Mk. ausgedehnt 


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VERSICHERUNGSWESEN. 


werden. Für gewisse Personen, welche zwangsweise nicht versichert sind, 
lässt das Gesetz eine freiwillige Versicherung kraft eines mit der Berufs¬ 
genossenschaft geschlossenen Vertrages zu. 

Träger der unter Garantie des Reiches auf Gegenseitigkeit erfolgenden 
Versicherung sind für die privaten Betriebe die in sogenannten Berufsgenossen¬ 
schaften vereinigten Betriebsunternehmer. Die Berufsgenossenschaften 
sind corporative, mit Statut und ehrenamtlichen Selbstverwaltungsorganen (Vor¬ 
stand, Genossenschaftsversammlung) und gewissen obrigkeitlichen Befugnissen 
(Erlass von Unfallversicherungsvorschriften) ausgestattete Verbände, die für 
bestimmte Bezirke gebildet werden. Die versicherten Arbeiter sind nicht 
Mitglieder der Berufsgenossenschaften; das Gesetz zieht aber Vertreter 
der versicherten Arbeiter zur Theilnahme an gewissen Verwaltungsarten und 
zur schiedsgerichtlichen Jurisdiction heran und werden die Vertreter von den 
Cassenvorständen gewählt. 

Der Geschäftsbetrieb der Berufsgenossenschaften wird beaufsichtigt 
durch das Reichsversicherungsamt in Berlin, welches auch als höchste 
Instanz über Recurse gegen Entscheidungen der Schiedsgerichte entscheidet 

Gegenstand der Versicherung ist der Ersatz jedes, auch des kleinsten 
Schadens, welcher durch eine im Betriebe erlittene Körperverletzung oder 
Tödtung entsteht. 

Im Falle der Verletzung besteht der Schadenersatz: a) in den Kosten 
des Heilverfahrens vom Beginne der 14. Woche nach Eintritt des Unfalls; 
b) in einer dem Verletzten vom Beginne der 14. Woche für die Dauer der 
Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden, durch Capitalabfindung nicht ablösbaren 
Rente, welche beträgt a) im Falle völliger Erwerbsunfähigkeit 66%% des 
nach gewissen Durchschnittssätzen anzunehmenden Arbeitsverdienstes, 6) im 
Falle theilweiser Erwerbsunfähigkeit für die Dauer derselben nur ein Bruch- 
theil der Rente unter a), deren Höhe nach dem verbliebenen Grade der Er¬ 
werbsfähigkeit zu ermessen ist. 

Jeden Unfall hat der Unternehmer binnen zwei Tagen nach erhaltener 
Kenntnis der Ortspolizeibehörde schriftlich zu melden, welche die Unfall¬ 
untersuchung unter Hinzuziehung von Sachverständigen vornimmt, falls 
deren Anhörung von der Berufsgenossenschaft beantragt wird. Die Unfall¬ 
untersuchung hat den Zweck, eine möglichst erschöpfende Klarstellung aller 
für den Entschädigungsanspruch wesentlichen Punkte herbeizuführen. 

Die Entschädigung wird dann vom Vorstande der betheiligten Genossen¬ 
schaft festgestellt. Gegen den Bescheid findet vier Wochen nach Zustellung 
Berufung auf schiedsrichterliche Entscheidung statt. Das Schieds¬ 
gericht besteht aus einem öffentlichen Beamten als Vorsitzenden, zwei Mit¬ 
gliedern der Genossenschaft und zwei Vertretern der versicherten Arbeiter. Gegen 
das Urtheil des Schiedsgerichts gewährt das Gesetz Recurs an das Reichs¬ 
versicherungsamt, der binnen vier Wochen einzulegen ist. 

Das Invalidität»- und Altersversicherungsgesetz soll den Arbeiter für die 
Zeit dauernder Arbeitsunfähigkeit den Genuss einer kleinen, vor der äussersten 
Noth schützenden Rente gewähren, zu deren Erwerb er wenigstens theilweise 
aus eigenen Mitteln beigetragen hat. Die den Gemeinden und Armenverbänden 
obliegende Fürsorge für hilfsbedürftige Personen soll durch das Gesetz nur 
erleichtert, nicht aber gänzlich beseitigt werden. 

Dem Versicherungszwange sind unterworfen ohne Unterschied des Be¬ 
rufes oder Geschlechtes vom vollendeten 16jährigen Lebensjahre alle vorüber¬ 
gehend oder dauernd in Dienst und barem Lohn stehenden Personen (Arbeiter, 
Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten, Betriebsbeamte und Handlungs¬ 
gehilfen) mit einem jährlichen Arbeitsverdienste bis zu 2000 Mark. Die 
Invalidenrente erhält ohne Rücksicht auf Lebensalter oder Ursache der 
Invalidität derjenige Versicherte, welcher dauernd erwerbsunfähig ist 


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VERSICHERUNGSWESEN. 


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und unter Znrücklegung öjähriger Wartezeit Beiträge geleistet hat. Die Er¬ 
werbsunfähigkeit muss zum Unterschiede von der bei der Unfallsentschädi¬ 
gung vorausgesetzten eine voraussichtlich das ganze Leben dauernde 
sein, aber keine absolute. 

Es genügt, dass die Erwerbsfähigkeit nur noch in sehr geringem Maasse 
— etwa zum dritten Theil — vorhanden ist. Die Altersrente erhält jeder 
Versicherte — gleichviel ob noch erwerbsfähig oder nicht —, welcher das 
70. Lebensjahr vollendet oder unter Zurücklegung einer Wartezeit von 
30 Beitragsjahren Beiträge geleistet hat. — Träger der Invaliditäts- und Alters¬ 
versicherung sind die nach Bestimmung der Landesregierungen errichteten 
Versicherungsanstalten, in welchen alle diejenigen versicherungspflich¬ 
tigen Personen versichert sind, deren Beschäftigungsort im Bezirke der An¬ 
stalt liegt. Dieselben haben die Rechte juristischer Personen, durch Statut 
geregelte Verfassung und werden durch einen Vorstand verwaltet, welcher die 
Eigenschaft einer öffentlichen Behörde hat und von dem zuständigen Com- 
munalverbande oder der Landesregierung bestellt wird. Neben dem Vor¬ 
stande muss ein aus fünf Vertretern der Arbeitgeber und der V er sicherten 
bestehender Ausschuss gebildet werden, welchen das Statut festzustellen hat. 
Für den Bezirk einer jeden Versicherungsanstalt wird mindestens ein Schieds¬ 
gericht errichtet, welches aus einem von der Landesregierung zu ernennen¬ 
den Vorsitzenden und mindestens zwei Beisitzern besteht, zur Hälfte aus der 
Classe der Arbeitgeber und der Versicherten. Das Schiedsgericht fungirt als 
Berufungsgericht gegen Entscheidungen des Vorstandes der Versicherungs¬ 
anstalt, und in letzter Instanz entscheidet auf das Rechtsmittel der Revision 
das Reichsversicherungsamt. Personen, welche Anspruch auf Bewilli¬ 
gung einer Rente erheben, haben diesen Anspruch bei der für ihren Wohnort 
zuständigen Verwaltungsbehörde anzumelden, welcher Anmeldung die Quittungs¬ 
karten Uber die geleisteten Beiträge beizufügen sind. Hinsichtlich der Be¬ 
schaffung ärztlicher Gutachten über die Erwerbsfähigkeit eines Invaliden¬ 
rentenbewerbers geht die Praxis der Versicherungsanstalten davon aus, dass 
es Sache des Bewerbers sei, das betreffende Gutachten selbst zu be¬ 
schaffen und zu bezahlen. 

In Oesterreich ist die Krankenversicherung durch das Gesetz vom 
30. März 1888 für Arbeiter und Betriebsbeamte in ähnlicher Weise geregelt wie in 
Deutschland und bestehen auch dort verschiedene Krankencassen: 1. Bezirks¬ 
kranke ncassen, 2. Betriebskrankencassen, 3. Baukrankencassen, 
4. Genossenschaftskrankencassen, 5. Vereinskrankencassen, 
6. Bruderladen (Knappschaftscassen). Die Versicherten erhalten im 
Falle einer Erkrankung unentgeltlich ärztliche Hilfe, Medicamente und ein 
nach der Höhe des üblichen Taglohnes festgestelltes Krankengeld. Für jede 
Krankencasse wird ein, nach Bedarf auch mehrere Cassenärzte be¬ 
stimmt. Lässt ein Mitglied sich von einem anderen als dem Cassenarzt 
behandeln, so werden die Kosten von der Krankencasse nur dann ersetzt, wenn 
die Behandlung mit Genehmigung des Vorstandes oder bei Gefahr im Verzüge 
erfolgt. Für jede Woche ist vom Cassenarzt ein Krankenschein auszustellen. 

Durch das österreichische Unfallversicherungsgesetz vom 28. 
December 1881 werden alle diejenigen Arbeiter versichert, welche mit gesund- 
heits- oder lebensgefährlichen Arbeiten beschäftigt sind und bestehen znm 
Zweck dieser Versicherung eigene Unfallversicherungsanstalten unter staat¬ 
licher Aufsicht. Erfolgt in einem versicherungspflichtigen Betriebe ein Unfall, 
so hat der Betriebsunternehmer unter Benützung eines bestimmten Formulars 
denselben der politischen Behörde I. Instanz anzuzeigen. Dieselbe nimmt bei 
bedeutenden Unfällen, wo nöthig, unter Hinzuziehung von Sachverstän¬ 
digen an Ort und Stelle Erhebungen auf Kosten der Anstalt. Bei kleineren 
Unfällen nimmt die Gemeinde die Erhebungen vor. 


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VERSICHERUNGSWESEN. 


Ein Invaliden- und Altersversicherungsgesetz ist für Oester¬ 
reich bisher nicht erlassen. 

In der Schweiz ist schon seit mehreren Jahren eine umfassende Arbeiter¬ 
versicherungsgesetzgebung in Kraft unter hervorragender Mitwirkung des 
Fabriksinspectors Dr. Schüler, welchem als ehemaligen sehr beschäftigten 
Krankencassenarzt besondere Erfahrungen auf dem Gebiete der Gewerbehygiene 
zur Verfügung standen. Auch in England und Russland wurden Aerzte 
mit Erfolg zur hygienischen Beaufsichtigung der verschiedenen Fabriken 
verwendet. 

Welch 1 hohe Bedeutung die social-politiache neuere Gesetzgebung nicht nur für das 
Gesundheitswohl der Arbeiterbevölkerung, sondern auch für die beiden Berufsstände 
der Aerzte und Apotheker erlangt hat, geht aus den betreffenden amtlichen Veröffent¬ 
lichungen der statistischen Bureaus hervor, nach welchen die Zahl der in Krankencassen 
Deutschlands Versicherten schon 1891 — 6 801.928 betrug, die Jahreseinnahmen sämmtlicher 
Krankencassen auf 114,558.315 Mk. sich bezifferten. Pro 1895 wurde verausgabt: Für Aerzte 
23,141.102, Arzneimittel 18,134.308, Krankengeld 45,356.229, Anstaltspflege: 18,190.722. Mk. 
— Bei den nunmehr publicirten Verhandlungen des letzten internationalen hygienischen Con- 
gresses in Budapest wurde von Dr. von Scheel (Berlin) die Zahl der im Deutschen Reiche 
Versicherten ungefähr geschätzt a) in Krankencassen auf 7% Millionen, b) Invaliden- und 
Altersversicherungscassen 11 Millionen, Unfallversicherung 18 Millionen. Nach dem amt¬ 
lichen Verwaltungsberichte bestanden bis Ende 1895 im Stadtbezirke Köln: 20 Orts-, 49 Be¬ 
triebs- und 6 Innungskrankencassen mit C2626 Versicherten, von welchen während des 
Jahres 1895 erkrankten: 27.508 Versicherte mit 536.287 Krankheitstagen und einer durch¬ 
schnittlichen Krankheitsdauer von 19.5 Tagen. Die Gesammteinnahmen betrugen 1895 
1,790.550, die Ausgaben 1,703 536 Mk. Der Reservefonds betrug 1,114.597 Mk. — Im Regie¬ 
rungsbezirke Köln betrug 1891 die Zahl der Cassenmitglieder: 121.370 und wurde veraus¬ 
gabt für ärztliche Behandlung 350.146, für Arzneien: 404 001 Mk. — Nach den bereits er¬ 
wähnten Veröffentlichungen des statistischen Bureaus in Berlin pro 1891 schlossen in 
Deutschland 34 Procent der Krankencassen mit Unterbilanz, 65 mit Ueberschuss ab. 
Die Zahl der Versicherten ist im Stadtbezirke Köln gestiegen von 53.456 ^Anfang 1893) 
auf 62626 (Ende 1895), aus welcher erheblichen Vermehrung man auf die im Deutschen 
Reich stattgefundene Vermehrung der Versicherten schliessen kann, die 1894 auf 7 1 /* Mil¬ 
lionen geschätzt wurde, abgesehen von den zugehörigen Familienmitgliedern. 

Der grösste Theil der praktischen Aerzte, namentlich in kleineren Städten 
nnd auf dem Lande, wurde durch die socialpolitische Gesetzgebung bezüglich 
seiner Erwerbsverhältnisse von den Krankencassenvorständen abhängig, welche 
durch ihre Statuten das gesetzliche Recht erlangt hatten, die Versicherten auf 
bestimmte Aerzte und Apotheker anzuweisen, Cassenärzte anzustellen und den¬ 
selben nach Befinden zu kündigen. Von diesem Rechte machten die Kranken- 
cassenvorstände leider vielfach ohne jede Rücksicht auf das Gesundheitswohl 
und das Vertrauen der Versicherten, sowie die berechtigten Ansprüche der 
Aerzte und Apotheker den ausgiebigsten Gebrauch. Wenn einzelne Aerzte 
oder auch ärztliche Privatvereine auf eine den Minimalsätzen der gesetzlichen 
Medicinaltaxe entsprechende Gebührengewährung drangen, wurden die Cassen- 
arztstellen zur Concurrenz öffentlich ausgeschrieben und mit jüngeren, fremden, 
den Versicherten unbekannten Aerzten besetzt. So war in Nr. 2 und 10 des 
diesjährigen ärztlichen Centralanzeigers die Cassenarztstelle für eine bedeu¬ 
tende Hafenstadt ausgeschrieben, welche statutenmässig dem Cassenarzt für 
ärztliche Behandlung eines Cassenmitgliedes nebst dessen ganzer Familie 
einschliesslich aller Kinder unter 15 Jahren drei Mark jährlich zubilligte. Noch 
geringer wurde bei entfernt wohnenden Versicherten die ärztliche Arbeit und 
die Gesundheit der Versicherten geschätzt, wenn die dahin bewilligten Ge¬ 
bühren kaum den Landbotenlohn erreichten. Eis haben sich deshalb seit 
Erlass der socialpolitischen Gesetzgebung unter den Aerzten zwei Parteien ge¬ 
bildet, von welchen die eine Partei, durchgehends im Besitze von Cassenarzt- 
stellen, die Beibehaltung fixirter Cassenärzte, die andere aber freie oder be¬ 
schränkt freie Arztwahl erstrebt, um dem Versicherten die Möglichkeit zu ge¬ 
währen, einen Vertrauensarzt zu wählen und auch den Aerzten die Gelegenheit 
zu bieten, sich unter annehmbaren, nicht entwürdigenden Bedingungen an der 
Behandlung der lvrankencassenmitglieder zu betheiligen. Welches System 


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VERSICHERUNGSWESEN. 


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schliesslich zur allgemeinen Geltung gelangen wird, oder ob beide nebenein¬ 
ander bestehen bleiben, lässt sich noch nicht übersehen, da in neuester Zeit 
doch auch die Vorstände der Krankencassen, welche bisher fixirte Cassen- 
ärzte anstellten, dazu übergegangen sind, deren Anzahl zu vermehren, um den 
Versicherten eine grössere Auswahl unter den Aerzten zu bieten. Jeden¬ 
falls haben alle Aerzte, mögen sie nun gegen Fixum oder gegen Vergütung 
der Einzelleistung Cassenkranke behandeln, nicht nur das Recht, sondern auch 
mit Rücksicht auf ihre eigene und ihrer Familie Existenz die Pflicht, für 
ihre Verrichtungen bei den Krankencassen eine den niedrigsten Sätzen der 
gesetzlichen Landesmedicinaltaxen entsprechende Vergütung zu verlangen. 
Der § 2 der preussischen Gebührenordnung vom 15. Mai 1896 bestimmt aus¬ 
drücklich, dass die niedrigsten Sätze der Medicinaltaxe bei Arb eit er kran¬ 
kencassen zur Anwendung kommen sollen, so weit nicht besondere Schwie¬ 
rigkeiten der ärztlichen Leistung oder das Maass des Zeitaufwandes einen 
höheren Satz rechtfertigen. Dazu kommt, dass die niedrigsten Sätze der 
Medicinaltaxe von 1815, als das Geld den dreifachen Werth der Jetztzeit 
hatte, bei der Medicinaltaxe von 1896 nahezu unverändert geblieben, die 
ärztlichen Verrichtungen aber durch die fortgeschrittenen Untersuchungs¬ 
methoden weit mühevoller und zeitraubender geworden sind. Während des 
genannten Zeitraumes sind nicht nur die Arbeitslöhne, sondern auch die Ge¬ 
halte aller Berufsstände mit Rücksicht auf die Verteuerung der not¬ 
wendigsten Lebensbedürfnisse verdoppelt und verdreifacht, bei den Aerzten 
aber nur die Ansprüche an deren Ausbildung und Prüfung gesteigert worden. 
— Bei den heutigen Krankencassen handelt es sich auch nicht um die Unter¬ 
stützung Armer und Unbemittelter, welche die Aerzte in ihrem Berufe 
unentgeltlich zu behandeln noch hinreichend Gelegenheit finden, sondern um 
leistungsfähige Cassen, die entweder vom Staate oder, wie bereits gezeigt, 
vorwiegend mit Ueberschüssen betrieben werden. Wenn der Vorsitzende 
des dänischen Aerztevereinsbundes, Dr. Orum nachweist (Zeitschrift für sociale 
Medicin, Heft 5, S. 326), dass durch das starke Anwachsen des Kranken- 
cassenwesens die Einnahmen der dänischen Aerzte durchgehends um 25°/ 0 
vermindert seien, so beweist dies, dass auch die dänische Krankenversiche¬ 
rung sich auf bemittelte Personen ausgedehnt hat, die früher ihre Ver¬ 
trauensärzte aus eigener Tasche anständiger zu honoriren wussten, wie dies 
von den heutigen Krankencassenvorständen geschieht. So sank in Kopenhagen 
das Honorar für den ärztlichen Besuch bei verschiedenen Cassen unter die 
Gebühr herunter, die ein Dienstmann für einen gewöhnlichen Weg in der 
Stadt zu fordern berechtigt ist. Dass durch ein derartig fast überall sich 
kundgebendes rücksichtsloses Verfahren gegen den ärztlichen Berufsstand nicht 
nur die Interessen der Krankenbehandlung, sondern auch indirect die finan- 
ciellen Interessen der Krankencassen geschädigt werden, geht aus der Erwä¬ 
gung hervor, dass vorzugsweise die Aerzte im Stande sind, durch sorgfältige 
und gewissenhafte Untersuchung, Begutachtung und Behandlung, die Dauer 
der bei den Arbeitern vorkommenden Krankheiten abzukürzen und durch 
Ermittlung der in häuslichen Verhältnissen oder im Gewerbebetriebe einwir¬ 
kenden Schädlichkeiten der Entstehung von Krankheiten möglichst vorzu¬ 
beugen. Das ist der sicherste Weg, auf welchem erhebliche Ersparnisse an 
Arzneimitteln, Krankengeldern und Krankenhausverpflegung erzielt werden 
können. Es sei hier hingewiesen auf den durch thatsächliche Belege begrün¬ 
deten Vortrag des Krankenkassenarztes Dr. Blum in M. Gladbach „über die 
Staubgefahr in der Textilindustrie“ (Centralblatt für allgemeine Gesundheits¬ 
pflege, XVII. Jahrgang, Heft 3). Da auch bei vorkommenden Unfällen in der 
Regel der bei der Betriebsstätte zunächst wohnende Cassenarzt hinzu¬ 
gerufen zu werden pflegt, so ist dessen erste Behandlung und das zu den 
Unfallsacten ausgestellte ärztliche Befundsattest von maassgebender Be- 

BibJ. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Med. 63 


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VERSICHERUNGSWESEN. 


deutung für die von den Berufsgenossenschaften festzustellenden Renten, so¬ 
wie auch bei Ausführung des Invalidenversicherungsgesetzes sachkundig and 
gewissenhaft ausgestellte Atteste der Krankencassenärzte nicht entbehrt werden 
können. Wenn deshalb die socialen Versicherungsgesetze einen wohlthätigen 
Einfluss auf das Allgemeinwohl, namentlich die gesundheitlichen Verhältnisse 
der Arbeiterbevölkerung ausüben sollen, so ist ein harmonisches Zusammen¬ 
wirken der Aerzte unter einander, sowie der ärztlichen Vereine mit den 
Krankencassenvorständen unbedingt nothwendig. — Man kann es deshalb nur 
freudig begrüssen, dass im Königreich Sachsen durch die neueste dort er¬ 
lassene Landesmedicinalgesetzgebung (Verpflichtung für alle Aerzte zum Bei¬ 
tritt in den zuständigen Bezirksverein, Erlass ärztlicher Standesordnung mit 
Herstellung ärztlicher Ehrengerichte) die früheren heftigen Conflicte der Aerzte 
mit den Krankencassenvorständen durch gegenseitige Verständigung auf dem 
Boden der bestehenden Gesetzgebung beigelegt werden konnten. Darüber 
wird an die Redaction der deutschen medicinischen Wochenschriit von Dr. 
Thiersch (Leipzig) Folgendes berichtet: 

„Die moralische Stellung der Aerzte durch den gesetzlichen obliga¬ 
torischen Zusammenschluss gegenüber den gewaltigen Casseninstituten 
hat eine ganz bedeutende Stärkung erfahren. Wir empfinden es als eine 
sehr grosse Errungenschaft, dass die Cassenvorstände fast überall, zum Theil 
nach dem heftigsten Widerstande sich zu Verhandlungen mit den Be¬ 
zirksvereinen haben verstehen müssen. Die Cassen wissen jetzt, dass sie 
es bei allen Streitfragen nicht mehr mit einem einzelnen Arzt, sondern mit 
der Gesammtheit der Aerzte und mit der Behörde zu thun haben, welche die 
Aerzte bei rechtmässigem Vorgehen sicherlich unterstützen werden. Die 
erwähnten Ministerialverordnungen, betreffend Declaration des § 15 der ärzt¬ 
lichen Standesordnung, haben, wie es sich nachträglich zeigte, lediglich den 
Zweck gehabt, die Aerzte vor Missbrauch ihrer Rechte zu warnen, keines¬ 
wegs ihnen durch Gesetz und Standesordnung garantirte Rechte zu nehmen. 
Das kommende Jahr wird sicherlich überall das rechte Maass erkennen lassen, 
welches die Aerzte bei Stellung ihrer Forderungen zu halten haben. Die 
cassenärztlichen Honorare sind überall im Steigen begriffen, die centralisirte 
Chemnitzer Ortskrankencasse hat sich in einem Vertrage mit dem Chemnitzer 
Bezirksverein verpflichtet, nicht approbirte Personen zur regelmässigen Kranken¬ 
behandlung nicht mehr zuzulassen. Die Curpfuscherei wird immer mehr 
zurückgedrängt und in den grösseren Städten, wo die Gegensätze am heftig¬ 
sten aufeinander platzten, sind bezüglich der Honorirung namhafte Erfolge 
erzielt.“ 

Man kann nur hoffen und wünschen, dass das von Sachsen bezüglich 
thatkräftiger und sachkundiger Reform der sanitären Landesgesetzgebung ge¬ 
gebene Beispiel in allen Staaten Nachahmung finden und eine für das all- 
gemeine Gesundheitswohl erspriessliche Ausführung der socialen Versicherungs¬ 
gesetzgebung ermöglichen werde. — Die mehrfach üblich gewordene Ueber- 
weisung versicherter Arbeiter an solche Apotheken, die von den Wohnungen 
der Arbeiter entfernt liegen, aber den Krankencassen auf dem Wege der Lici- 
tation den höchsten Rabatt bewilligt haben, lässt sich mit den Interessen 
einer gehörigen Krankenbehandlung nicht vereinigen, weil die Arzneien na¬ 
mentlich beim Auftreten von Epidemien wegen der grösseren Entfernung und 
Ueberlastung des Apothekerpersonals nicht rechtzeitig abgegeben werden 
können. Ebenso ungehörig ist der aus Sparsamkeitsrücksichten angeordnete 
Bezug der Arzneimittel aus Detaildrogerien, weil das Krankencassen- 
gesetz wiederholt nur die Apotheken als Bezugsquellen für die den ver¬ 
sicherten Arbeitern zuliefernden Arzneien bezeichnet und auch nur der 
staatlich concessionirte Apotheker nach der deutschen und österreichischen 
Gesetzgebung geprüft und verpflichtet ist, alle Arzneimittel nach den 


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VETERINÄRWESEN. 


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Vorschriften des geltenden Arzneibuches vorräthig zu halten und nach den 
ärztlichen Vorschriften zu bereiten. Die Arbeiter haben also berechtigten Grund 
zur Unzufriedenheit, wenn sie die ihnen verordneten Arzneimittel nicht aus 
der zunächst liegenden, ihr Vertrauen geniessenden Apotheke beziehen dürfen. 
Es ist Aufgabe der gesetzlichen, jährlich abzuändernden Arzneitaxe, die 
Arzneimittel und Arbeitspreise festzustellen und dabei die öffentlichen und 
Krankenversicherungscassen entsprechend zu berücksichtigen, schwartz. 

Veterinärwesen. Vor der Gründung von Lehranstalten für Thierärzte 
konnte von einer rationellen Thierheilkunde keine Rede sein. Wenn es auch 
im Alterthum, namentlich unter den Griechen und Römern bereits circa 500 
Jahre v. Chr. Thierärzte, bei den Griechen hauptsächlich Pferdeärzte (Hippiater), 
bei den Römern Maulthierärzte (mulomedici) oder auch Thierärzte für das 
Zug- oder Jochvieh (veterinarii) gab, so waren es doch nur rohe Empiriker, 
deren Heilmittel oft in den unsinnigsten Dingen bestanden. 

Die Römer sahen die Thiermedicin als einen Theil der Landwirtschaft an, die land¬ 
wirtschaftlichen Schriftsteller der damaligen Zeit besprachen nebenbei auch einzelne Thier* 
krankheiten, z. B. Varro, Columella, Vegetius Renatus, Gelsus, Plinius u. A. Im Mittel- 
alter ruhte die Thierheilkunde vollständig in den Händen von Pfuschern (Hirten, Schäfern, 
Schmieden, Bereitern etc.\ nur gelegentlich nahmen sich ihrer die Aerzte an, meist nur 
notgedrungen, wenn Epi- und Enzootien unter den Thieren wüteten und einen grossen 
Theil von ihnen dahinrafften. Die Zootomie wurde dadurch gefördert, dass in damaliger 
Zeit die Mediciner ihre anatomischen Studien an Thierleichen machten. In der Zeit vom 
14. bis 16. Jahrhundert tauchten in Deutschland einige Werke über Thierheilkunde von 
Pferdeliebhabern und Stallmeistern auf, denen ein wissenschaftlicher Wert kaum beigelegt 
werden kann, z. B. von Marx Fugger, Böhme, Winter v. Adlbrsflügel, v. Sind. 

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde zwar an verschiedenen Uni¬ 
versitäten z. B. Göttingen, Marburg, Würzburg, Tübingen, Halle, Greifs¬ 
walde, Heidelberg, Jena etc. von Fachprofessoren Unterricht für Thierärzte 
ertheilt, er konnte aber nur sehr mangelhaft sein, weil ein Lehrer die ganze 
Materie vorzutragen hatte. 

Die wissenschaftliche Aera für die Thiermedicin in Deutschland begann erst 
nach dem Vorgänge Frankreichs mit der Gründung von Thierarzneischulen gegen 
Ende des 18. Jahrhunderts (1770—1790) in den Hauptstädten der einzelnen 
deutschen Länder, u. zw. in Hannover, Dresden, Berlin, München und Stuttgart. 
Noth lehrt beten. Die Regierungen hatten wohl erkannt, dass der Tilgung der 
Viehseuchen nur mit einem gut geschulten thierärztlichen Personal beizu¬ 
kommen war. Der Lage der Dinge entsprechend konnten als Lehrer der 
Thierheilkunde nur Aerzte und Apotheker berufen werden, die humane Me¬ 
diän ist somit die Mutter der Thiermedicin geworden; man war genöthigt, vor 
der Hand die Erfahrungen der Medicin und deren wissenschaftliche Errun¬ 
genschaften der Thierheilkunde dienstbar zu machen und die Führung und 
Leitung des Veterinärwesens in die Hände der Aerzte zu legen. Allmählich 
gelang es der comparativen Wissenschaft, die Differenzen im Baue und in 
den Verrichtungen des menschlichen und thierischen Körpers, sowie zwischen 
Menschen- und Thierkrankheiten festzustellen und auf diese Weise die Thier¬ 
medicin auf eigene Füsse zu stellen und sie der Vormundschaft der Mediciner 
zu entheben. Aber dankerfüllt blicken die Thierärzte auf die Mutterwissen¬ 
schaft, sie befleissigen sich, diese in ihren Forschungen und Bestrebungen ge¬ 
treulich zu unterstützen, welche dahin gehen, die Menschheit vor Krankheiten 
und Siechthum zu schützen und gemeinschaftlich mit ihr in den Kampf gegen 
Seuchen einzutreten. In etwa 100 Jahren haben sich die Thierarzneischulen 
zu thierärztlichen Hochschulen emporgearbeitet, es erübrigt nur noch, die 
Schüler derselben auf dieselbe Vorbildungsstufe zu stellen, wie jene der alma 
mater. Die Vielseitigkeit der Studienobjecte und die schwierigen Aufgaben 
der Hygiene erheischen dies gebieterisch, gern werden die Mediciner die Ve¬ 
terinäre in dem Bestreben unterstützen, auch für ihre Studien die Maturität 
eines humanistischen Gymnasiums zu fordern. 

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VETERINÄRWESEN. 


1887 wurde die Thierarzneischule in Berlin und Hannover, 1889 die in Wien, 1890 
die in Stuttgart, Dresden und München zu thierärztlichen Hochschulen erhoben. 

Die Regierungen Deutschlands waren bei Gründung der Bildungsan¬ 
stalten für Thierärzte von der Nothwendigkeit durchdrungen, sich wissen¬ 
schaftlich und praktisch geschulte Organe der Veterinärpolizei heranzubilden, 
sie machten deshalb bald höhere Ansprüche an die Vorbildung der Veterinär¬ 
beamten und vermehrten die Zahl der Unterrichtsdisciplinen. 

Im Grossherzogthum Hessen forderte man bereits 1830 für das Studium der 
Thiermedicin das gymnasiale Maturitätszeugnis, auch verlieh die Universität in Giessen, 
resp. die medicinische Facultät daselbst das Diplom als Dr. medicinae veterinariae. In 
Giessen ist das thierärztliche Lehrinstitut mit der Universität verbunden, ähnlich wie die 
landwirthschaftliehen Institute an vielen andern deutschen Universitäten, die auch eine 
Professur für Thierheilkunde errichtet haben, damit der Landwirth sich einigermaassen 
mit den Seuchen und acut verlaufenden Thierkrankheiten bekannt machen kann. Der¬ 
gleichen Institute besitzt Breslau, Göttingen, Halle, Jena, Kiel, Königsberg nnd Leipzig. 
Die Studienzeit setzte man auf 6—7 Semester fest. Die naturwissenschaftlichen Prüfungs¬ 
fächer sind Zootomie, Histologie, Physiologie, Botanik, Chemie, Physik und Zoologie, die 
Fachprüfung zerfällt in die anatomische, physiologische, pathologisch-anatomische, medi- 
cinisch- und chirurgisch-klinische, operative, pharmaceutische und Schlussprüfung. Die 
thierarztlichen Hochschulen in Berlin, München und Dresden bilden auch die Militär¬ 
thierärzte aus. 

In Preussen gingen 1872 die Veterinärangelegenheiten vom Cultusministerium in 
das Ressort des Ministers für landwirtschaftliche Angelegenheiten über. Schon seit 1817 
stellte man hier auf Grund besonders abzulegender Prüfungen Departements- und Kreis- 
Thierärzte als technische Berather der Regierungen und des Landraths an, leider ohne 
eine fachliche Vertretung bei der Centralbehörde anzuordnen, man vermischte derart das 
Medicinalwesen mit dem Veterinärwesen in zweckwidriger Weise und erschwerte damit die 
gedeihliche Entwicklung des letzteren. Eine selbständigere Verwaltung des Veterinär¬ 
wesens erhielt Sachsen, Baden, Württemberg und Baiern in den Jahren 1856 — 68, man er¬ 
hob das Veterinärwecen zu einem besondern Verwaltungszweige mit fachlicher Vertretung 
bei den Unter-, Mittel- und Centralbehörden. 1875 errichtete man in Preussen die tech¬ 
nische Deputation für das Veterinärwesen, die dem landwirtschaftlichen Mini¬ 
sterium untergeordnet ist, mit der Aufgabe, dem Minister ein technischer Consulent zu 
sein, den gerichtlichen und Verwaltungsbehörden gutachtliche Aeusserungen zu erstatten, 
die Prüfungen nnd Anstellung der beamteten Thierärzte zu leiten und die Vieh- und Vieh¬ 
seuchenstatistik zu bearbeiten; sie besteht aus einem Vorsitzenden und einer den Bedürf¬ 
nissen entsprechenden Zahl ordentlicher und ausserordentlicher Mitglieder, ihr können 
Hilfsarbeiter beigeordnet werden; die Einberufung der ausserordentlichen Mitglieder zur 
Berathung organisatorischer und wirtschaftlicher Fragen ist Sache des Ministers. Ge¬ 
wöhnlich ist der Departementsthierarzt als Veterinär-Assessor zugleich auch 
Mitglied des Provinzial-Medicinalcollegiums. Zu ähnlichen Zwecken erhielt Sachsen 1856 
die Commission für das Veterinärwesen, sie ist aus einem Regierungscommissar 
als Vorsitzenden und zwei ordentlichen Mitgliedern (Professoren der thierärztl. Hochsch.) 
zusammengesetzt, ihre Befugnisse erstrecken sich auf die Verwaltung der Hochschule, die 
Geschäftsführung der beamteten Thierärzte, Prüfungswesen und gutachtliche Aeusserungen. 
Unter einem Landesthierarzt stehen die Bezirksthierärzte jeder Amtshaupt¬ 
mannschaft nnd die Kreisthierärzte bei jeder Kreisdirection, sie gehen aus den als 
Polizeithierärzte geprüften Amtsthierärzten hervor, die noch nicht angestellt 
sind. In Baiern sind seit 1872 Bezirksthierärzte für die Polizeidistricte, Kreisthierärzte 
für die Kreisregierungen und Controlthierärzte zur Verhütung der Einschleppung von 
Seuchen angestellt, der Landesthierarzt hat seinen Sitz im Staatsministerium; Districs- 
thierärzte bestellt die Gemeinde; ein Ober-Medicinalausschuss hat ständige thierärztliche 
Mitglieder. In Württemberg heissen die beamteten Thierärzte Oberamtsthierärzte, 
einer von ihnen ist dem Medicinal-Collegium als Referent zugetheilt. In Baden verwaltet 
die Veterinärabtheilung ein Medicinal-Referent im Ministerium des Innern, die amtlichen 
Geschäfte besorgen die Bezirksthierärzte, ebenso in Hessen; hier verwaltet die Abtheilnng 
für öffentliche Gesundheitspflege im Ministerium des Innern in Darmstadt die Veterinäran¬ 
gelegenheiten sie besteht aus mindestens zwei Aerzten, einem Thierarzt und einem Pharma- 
ceuten. Auch die übrigen deutschen Staaten haben ihren Landesthierarzt und Kreisthierärzte 
oder ihren St aa t s- (Hamburg) und P olizeithi erarzt (Bremen und Lübeck.) In Berlin 
überwachen Polizeithierärzte den Verkehr mit Lebensmitteln. 

Den hier namhaft gemachten Behörden und beamteten Thierärzten liegt 
die Abwehr und Bekämpfung der Thierseuchen ob in Gemässheit des deutschen 
lteichsseuchengesetzes vom 23. Juni 1880, resp. 1. Mai 1894, welches die ge¬ 
summte Materie mit Ausnahme der Rinderpest einheitlich geregelt hat, während 
bis dahin jeder deutsche Staat seine besondern Gesetze und Verordnungen 


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VETERINÄRWESEN. 


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hatte, die öfter differirten und lückenhaft waren. Das prenssische Viehseuchen¬ 
gesetz von 25. Juni 1875 wurde dem Reichsgesetz zu Grunde gelegt, denn 
es war ein mustergiltiges zu nennen, das unter Mitwirkung des deutschen 
Veterinärraths zustande gekommen war und sich bei der Seuchentilgung aus¬ 
gezeichnet bewährt hatte, alle Bestimmungen in demselben sind klar und 
präcis gegeben. Die Anordnung der Abwehr- und Unterdrückungsmaassregeln 
und die Leitung des Verfahrens liegt den Landesregierungen ob. Die an¬ 
zeigepflichtigen Seuchen sind, ausser der Rinderpest, der Milzbrand, der 
Bauschbrand (die Wild- und Rinderseuche sind dem Milzbrand gleich zu er¬ 
achten), die Tollwuth, der Rotz, die Maul- und Klauenseuche, die Lungen¬ 
seuche, die Schafpocken, die Beschälseuche der Pferde, der Bläschenausschlag 
der Pferde und des Rindviehs und die Räude der Pferde, Esel, Maulthiere, 
Maulesel und der Schafe, neuerdings auch die Schweineseuchen. 

Die Anzeigepflicht kann in Zeiten der Gefahr auch vom Reichskanzler 
für den Typhus der Pferde, für die Schweinepest, die besonders von Däne¬ 
mark und Schweden aus importirt wird, für die Schweineseuche, den Schweine¬ 
rothlauf und die Influenza der Pferde (Brustseuche) angeordnet werden, des¬ 
gleichen eine strenge Grenzcontrolle zur Verhütung des Vieh Schmuggels und 
Grenzsperren zur Verhütung der Einführung kranker oder verdächtiger 
Thiere in das Reichsgebiet. Mit der Grenzcontrole wurden besonders hierzu er¬ 
nannte Grenzthierärzte beauftragt. Einfuhrverbote und Verkehrsbeschrän¬ 
kungen sind für Rindvieh, Schafe, frisches Schaffleisch, Schweine, Ziegen und 
Ziegenfleisch aus Russland und Oesterreich-Ungarn, für Schweinedärme 
Schweinezungen, Schweinefleisch, Speckseiten, Schinken aus Amerika, für 
Rinder, Pferde und Schafe aus Amerika, für Schlachtthiere aus Island, Däne¬ 
mark, Schweden, Norwegen, Belgien, Holland und Luxemburg erlassen worden, 
die Transporte müssen dann vor der Landung von beamteten Thierärzten 
untersucht werden, diese haben auch die Desinfection der Viehwagen der Eisen¬ 
bahnen zu überwachen. (Vergleiche das diesfallsige Reichsgesetz vom 25. Fe¬ 
bruar 1876 und 20. Juni 1886, sowie den preuss. Ministerial-Erlass vom 
19. November 1886.) Die Hühnercholera in Italien (Prov. Mailand) erheischte 
ebenfalls Einfuhrverbote. Bei dem Einfuhrverbote von amerikanischem Schweine¬ 
fleische, das erfahrungsgemäss häufig trichinenhaltig ist, handelt es sich um 
Vorbeuge der Trichinose, als einer die menschliche Gesundheit und das Leben 
bedrohenden Krankheit. Auch ausländische Kuhhäute vermögen die mensch¬ 
liche Gesundheit zu schädigen (Milzbrandinfection), sie müssen deshalb an 
abgelegenen Orten lagern, die Lagerplätze derselben werden später desinficirt, 
Abfälle vergraben oder verbrannt. Um der Verschleppung von Viehseuchen 
vorzubeugen, hat die Veterinärpolizei ihr Augenmerk auf Treibheerden, Vieh¬ 
märkte, Viehhändler- und Gastställe und auf die behufs öffentlichen Verkaufs 
oder öffentlicher Schauen zusammengebrachten oder aus dem Auslande ein¬ 
geführten Viehbestände zu richten. Ebenso werden die öffentlichen und pri¬ 
vaten Schlachthäuser von beamteten Thierärzten überwacht. Die Maassregeln 
gegen Rinderpest sind durch das Reichsgesetz vom 7. April 1869 und die 
Instruction vom 9. Juni 1873 festgestellt. 

Der Erlass besonderer Instructionen zu dem Vieh-Seuchengesetze ist 
aus der Erwägung hervorgegangen, dass die Veterinärpolizei in den einzelnen 
Bundesstaaten Rücksicht auf die Fortschritte der Veterinärwissenschaft, das 
Wesen der Epizootien, die Verschiedenartigkeit der landwirtschaftlichen und 
Verkehrs Verhältnisse und der Verwaltungsorganisation zu nehmen hat. Die 
Kosten und Entschädigungsbeträge der Seuchentilgung konnten nicht auf das 
deutsche Reich übernommen werden. 

Nach den Bestimmungen des Seuchengesetzes ist Folgendes vorgeschrieben: 
Die genaue Untersuchung der der Seuche oder der Ansteckung verdächtigen 
oder an der Seuche erkrankten Thiere von Seite des beamteten Thierarztes. 


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VETERINÄRWESEN, 


Zur Feststellung der Diagnose kann ein Thier getödtet und secirt werden. 
Die Ermittlung des Umfangs und der Entstehung des Seuchenausbruches. 
Die Anordnung von Absperrungsmaassregeln (Stall-, Gehöfts-, Orts-, Weide-, 
Flur- und Grenzsperre). Die Trennung der erkrankten von den gesunden 
Thieren. Die Bewachung verdächtiger Thiere. Beschränkung in der Be¬ 
nutzung und dem Transporte verseuchter oder verdächtiger Thiere und der 
von ihnen herstammenden Producte oder mit ihnen in Berührung gewesener 
Gegenstände. Die Impfung verdächtiger Thiere. Die Tödtung der verseuchten 
Thiere bei Rinderpest, Rotz und Lungenseuche. Die unschädliche Beseitigung 
der Cadaver und ihrer Abfallsstoffe. Die Desinfection der verseuchten Stallun¬ 
gen und der mit den verseuchten Thieren in Berührung gekommenen Gegen¬ 
stände. Verbot der Abhaltung von Thiermärkten. Oeffentliche Bekannt¬ 
machung des Ausbruches und des Erlöschens der Seuche. Alle diese Maass¬ 
nahmen haben sich in der Praxis vorzüglich bewährt, es ist bei ihrer exacten 
Ausführung gelungen, die Epizootien und Enzootien, wenn auch nicht völlig 
auszurotten, so doch wesentlich einzudämmen, den Uebergang der Zoonosen 
auf den Menschen und die damit verbundene Schädigung der menschlichen 
Gesundheit möglichst zu umgehen und die Verluste an Vieh erheblich zu 
mindern. Als eines brauchbaren Tilgungsmittels ist noch der Impfung besonders 
zu gedenken. 

Die Impfung mit Krankheitsproducten bezweckt einestheils, die Anlage 
zu Krankheiten zu tilgen, die Thiere zu immunisiren (Schutzimpfung), anderen- 
theils der Krankheit vorzubeugen, wenn die Einschleppung des Contagii in 
seuchenfreie Viehbestände zu befürchten steht (Cautionsimpfung), oder bei be¬ 
reits ausgebrochenen Seuchen den Krankheitsverlauf zu mildern und abzu¬ 
kürzen (Nothimpfung). Seitdem man gelernt hat, als Impfstoff gewissermaassen 
ein Extract der Krankheitserreger (Bacillen, Bacterien) und das Blutserum 
immun gemachter Thiere zu verwenden, hat die Impfung nicht nur an Sicher¬ 
heit des Erfolges gewonnen, sondern sind auch die Gefahren für das Impfthier 
fast auf Null herabgemindert worden, Umstände, die die Impfungen populär 
gemacht und in grössere Kreise eingeführt haben. Sogar die Veterinärpolizei 
und die Veterinärhygiene vermögen aus ihnen Nutzen zu ziehen. Man konnte 
vordem keine Zwangsimpfung veterinärpolizeilich vorschreiben, weil ein gut¬ 
artiger Verlauf der Impfkrankheit nicht zu garantiren war. Impfungen ver¬ 
suchte man zuerst bei der Rinderpest, sie stutzten sich auf die Erfahrung, 
dass mit dem Durchseuchen des Rindes die Anlage zu weiteren Erkrankungen 
an Rinderpest getilgt ist, ja es erschien wahrscheinlich, dass durchseuchte 
Rinder diese Immunität den nächsten Generationen vererben. 

Professor Jessen versuchte deshalb, die Riuderpest in ihrem Heimathslande, in den 
Steppen Russlands, durch Impfung mit dem Pestcontagium auszurotten. Schon früher 
waren Versuche damit in England, Holland und Dänemark gemacht worden, die angeblich 
günstig ausfielen, 1781 erliess sogar Friedrich der Grosse eine Impfinstruction für Preussen. 
Auf Anregung Jessen’s errichtete man 1853 in Russland auf Staatskosten ein Impfinstitut 
in Karlowka am Salmysch und Bondarewka, auch machte man Impfversuche an der Veteri¬ 
närschule zu Charkow. Als Impfstoff wurden Blut, Nasen- und Maulschleim etc. von 
Thieren benutzt, die nicht hochgradig erkrankt waren. Einige Tage nach der Inocul&tion 
stellten sich die ersten Krankheitssymptome ein, es fallirten nur 1—10 %. Bei den Impfungen 
in anderen Ländern erlag indes nicht selten der grösste Theil der Impflinge. 1873 sprach 
sich ein Veterinärcomit£ in Russland unbedingt gegen die Impfungen aus, weil die erwar¬ 
teten Vortheile ausblieben und in den Impfanstalten ein beständiger Seuchenherd unter¬ 
halten wurde. Auch die 1872 auf dem internationalen Congresse in Wien versammelten 
thierärztlichen Autoritäten sprachen sich einstimmig gegen die Rinderpestimpfungen aus, 
denn die Impfrinderpest forderte bei uns ebenso grosse Verluste wie die natürliche Rinder¬ 
pest, wohingegen sie beim Steppenvieb nur 10—12 °/ 0 betragen haben sollen. Neuerdings 
ist es Rob. Koch im Kimberley gelungen, durch Impfungen mit Galle von Rindern, die der 
Rinderpest am fünften oder sechsten Krankheitstage erlagen, bei gesunden Rindern Immu¬ 
nität. zu erzeugen, hingegen Kollr und Turner mit dem Immunserum auch Heilerfolge zu er¬ 
zielen. Für Deutschland bleibt das Keulen der Kranken das beste und billigste Tilgnngs- 
xnittel. 


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YETERINÄRWESEN. 


999 


Impfangen mit Milzbrandvirus sind neuerdings mit Vortheil aus¬ 
geführt worden, seitdem man Mitigationsverfahren (Toussaint, Pasteur, 
Chauveau u. A.) durch Erwärmen des Milzbrandblutes, Züchtung der Milz¬ 
brandbacillen bei einer Temperatur von 42—43° C, Abschwächung des Virus 
der Bacillen durch künstliche Züchtung derselben auf Fleischextractlösung 
von Generation zu Generation oder durch Antiseptika kennen gelernt hat. In 
Frankreich betrug der Verlust an den mit abgeschwächten PASTEUR’schen 
Impfstoff inoculirten Schafen und Rindern V» bis 3%, in Deutschland aber 
12%. Schutzimpfungen sind nur in Milzbranddistricten zulässig, weil die Impf- 
thiere das Contagium verbreiten können. Bei Schafen verursachen Milzbrand¬ 
impfungen 10—15%. Verluste, bei ihnen erreicht man damit nur eine un¬ 
sichere Immunität, sie hält, ebenso wie bei Rindern, höchstens ein Jahr an. Das 
Resultat der auf der preussischen Domäne Pakisch ausgeführten Impfungen 
ist kein günstiges gewesen, es starben von den Impflingen 1% bis 5%. 

Impfungen gegen Rauschbrand der Rinder sind namentlich in 
Frankreich, Oesterreich und in der Schweiz, in kleinerem Maasstab auch 
in Baden und im Rheinland ausgeführt worden, die damit erzielte Immunität 
hielt einige Jahre vor. Die Impfung wird bei Rindern au der unteren Scbwanz- 
fläche vorgenommen und nach zehn Tagen wiederholt; die Impfkrankheit ver¬ 
läuft gefahrlos und fordert geringe Verluste (etwa 0.3%). 

Schutzimpfungen gegen Rabies wurden hauptsächlich von Pasteur 
studirt, sie beanspruchen ein grosses Interesse für die Prophylaxe der von 
wüthenden Hunden gebissenen Menschen, bei weiteren Forschungen können 
sie vielleicht auch der Therapie der Hundswuth dienstbar gemacht werden. 
Pasteur benutzte als Impfstoff das getrocknete Rückenmark eines wuthkranken 
Thieres (Kaninchens), das durch Eintrocknung an Virulenz erheblich ver¬ 
loren hat. 

Impfungen mit abgeschwächtem Rotzvirus, dem sogenannten 
Mal lein, sindbis jetzt nur zur Sicherstellung des occulten Pferderotzes vor¬ 
genommen worden, ein Zweck, den man auch erreicht, wenn man Meer¬ 
schweinchen oder jungen Hunden rotzige Ausflussmaterien oder den ausge¬ 
pressten Saft der exstirpirten verdächtig angeschwollenen Submaxillardrüsen 
der Pferde subcutan injicirt, wornach nach ein bis drei Tagen Schwellung, 
Eiterung, chankröse Geschwürsbildung, metastatische Rotzprocesse in den 
Lungen und sonstigen Eingeweiden sich entwickeln. Kaninchen sind für Rotz¬ 
impfungen unbrauchbar, weil darnach häufig Septikämie und erst nach Monaten 
Rotzprocesse entstehen. Das Mallei'n wurde von Kalning, Preusse, Johne, 
Foth, Höflich und Hellmann aus den Stoffwechselproducten der Rotzbacillen 
dargestellt, deren Culturen auf Kartoffeln mit Wasser und Glycerin extrahirt 
und die Bacillen durch Erhitzen und Filtriren entfernt werden. 7—23 Stunden 
nach der Injection erhöht sich bei rotzigen Pferden die Körpertemperatur um 
1*5 bis 2*9° C, gesunde oder sonst kranke Thiere reagiren auf die Injection 
nicht. Zu Folge neuerer Erfahrungen (Professor Dr. Schütz an der thierärztlichen 
Hochschule in Berlin) ist dem Mallei'n eine zuverlässige Bedeutung bei der 
Rotzdiagnose nicht zuzusprechen; drei constatirt rotzige Pferde unter 42 Ver¬ 
suchspferden hatten auf die Mallei'ninjection nicht reagirt, 15 davon zeigten 
eine Temperatursteigerung von 1-5° und mehr, ohne krank zu sein. Aehn- 
liche Beobachtungen machte der französische Thierarzt Robeis. Dem Thier¬ 
arzte Foth ist die Gewinnung eines festen Malleins gelungen, er mischt das 
Extract der auf festen Substraten gewonnenen Rotzculturen mit etwas absolu¬ 
tem Alkohol, wornach eine braune, harzige Masse sich auf den Boden des 
Gefässes niederschlägt; das Präparat wird um so voluminöser, feiner und 
weisser, je absoluter der Alkohol ist; die damit in verschiedenen Ländern an- 
gestellten Versuche sind günstig ausgefallen. Boschetti verwendet zu 
diagnostischen Zwecken das Blutserum rotzkranker Pferde. 


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1000 


VETERINÄRWESEN, 


Schutzimpfungen gegen Maul- und Klauenseuche sind bisher 
unausführbar gewesen, weil ihr specifischer Krankheitserreger bislang noch un¬ 
bekannt war, sie würden auch wenig Werth haben, weil das Durchseuchen nur eine 
kurze Immunität erzeugt. Hingegen hat man die Nothimpfung mittelst Maql- 
schleimes oder Blasenserums aphthenseucherkrankter Rinder empfohlen, um 
den Seuchenverlauf im Gehöft, respective im Stalle abzukürzen. Wichtiger für 
die Prophylaxe ist der Selbstschutz; man kaufe zur Zeit der Invasion kein 
Vieh oder, wenn es sein muss, nicht ohne es einer Quarantäne zu unterwerfen; 
fremden Personen verbiete man das Betreten der Stallungen. 

Bei der Lungenseuche der Rinder hat man die Impfung als ein 
gutes Tilgungsverfahren kennen gelernt. Die Präcautionsimpfung wurde 
schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts von vielen Thierärzten ausgeübt, in¬ 
des erst 1852 von Willems in Hasselt begründet. Als Impfstoff benutzt 
man die aus frischen Hepatisationen der seuchekranken Lungen ausgepresste 
Lymphe, auch die der Impfgeschwulst am Schwänze oder Triel. Die beste 
und gefahrloseste Impfstelle ist am Schwänze. Oefter wird eine Nachimpfung 
nach sechs bis acht Wochen nothwendig, denn nicht alle Thiere sind für das 
Contagium gleich empfänglich, einzelne gar nicht. Da die Impflinge den 
Ansteckungsstoff übertragen können, so sind sie zu isoliren, die Verluste 
unter ihnen sind gering (1—2°/ 0 ), sie sind Jahre lang gegen natürliche In- 
fection geschützt. Die Impfung gewährt unstreitig grossen Nutzen, sie bringt 
die Lungenseuche bald zum Erlöschen, man hat deshalb ganz besonders der 
Nothimpfung das Wort geredet. In Oesterreich ist nach dem neuen Lungen¬ 
seuchengesetz vom 17. August 1892 die Nothimpfung ausgeschlossen, alle 
Kranken, der Seuche und der Ansteckung verdächtigen Thiere müssen unter 
allen Umständen getödtet werden; mit diesem Verfahren will man in Oester¬ 
reich-Ungarn die Lungen seuche fast ganz getilgt haben. 

Nach den Bestimmungen des deutschen Viehseuchengesetzes ist die 
Tödtung der verdächtigen Rinder nur bedingungsweise in einzelnen kleineren 
Viehbeständen, nicht bei Verbreitung der Seuche in zahlreichen grossen Vieh¬ 
beständen gestattet respective angeordnet, weil im letzteren Falle die sofor¬ 
tige Tilgung nicht zu bewirken sei. Die Impfung wurde nicht angeordnet, 
aber auch nicht verboten, da die Thierärzte über den Werth der Impfung 
noch nicht einig sind, manche ihr überhaupt keinen Werth beilegen. Die 
Infectiosität der Geimpften wird als unerwiesen angesehen, indessen werden 
nach § 80 a der Bundesrathsinstruction vom 27. Juni 1895 die auf polizei¬ 
liche Anordnungen geimpften Rindviehbestände) denselben polizeilichen 
Maassregeln unterworfen wie das der Ansteckung verdächtige Rindvieh. Zu 
Folge ergänzender Gesetze (z. B. vom 1. Mai 1894) können einzelne Provin- 
cial- und Communalverbände die Schutzimpfung aller der Ansteckung ausge¬ 
setzten Thiere beschliessen. 

Beim Ausbruche der Pocken unter den Schafen muss nach dem 
Seuchengesetz die Impfung aller zur Zeit noch seuchenfreien Stücke der 
Heerde unter Aufsicht des beamteten Thierarztes ausgeführt werden, falls 
nicht innerhalb zehn Tagen nach der Feststellung vom Besitzer der Antrag 
auf Schlachtung der ganzen Heerde gestellt worden ist. Ohne polizeiliche 
Anordnung darf die Impfung nicht vorgenommen werden; die geimpften 
Schafe werden wie pockenkranke behandelt. Die Nothimpfung verkürzt und 
mildert den Seuchenverlauf; je zeitiger sie vorgenommen wird, umso günstiger 
ist der Verlauf; es ist somit auch die Präcautionsimpfung zn empfehlen. In 
der Provinz Pommern war seit langer Zeit die Scbutzpockenimpfung bei den 
Lämmern üblich, da sie aber künstlich das Pockencontagium conservirt und 
zur Verschleppung desselben Gelegenheit bietet, so hat das deutsche Seuchen¬ 
gesetz diese Schutzimpfung ganz verboten. Nach Gerl ach vermögen geimpfte 
Schafe noch zwei Monate nach der Impfung gesunde Schafe zu inficiren. 


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VETERINÄRWESEN. 


1001 


Eine Mitigirung der Schafpockenlymphe konnte nicht erreicht werden, ob¬ 
schon man am Wiener Thierarzneiinstitut von 1836 bis 1864 die Schafpocken 
bis zur 297. Generation fortimpfte; die Lymphe dieser Generation war fast 
ebenso virulent wie die der natürlichen Schafpocken. Die Schutzimpfungen 
bringen einen Verlust von höchstens 1—2 % mit sich, die natürlichen Pocken 
einen solchen von circa 50%. 

Die Rothlaufseuche oder der Stäbchenrothlauf ist in unseren 
Gegenden die am häufigsten grassirende einheimische, enzootisch auftretende 
Schweinekrankheit. Die Schweineseuche (infectiöse lobuläre Pneumonie) 
und die Schweinepest oder Schweinecholera (diphtheritische Dickdarm¬ 
entzündung) werden uns durch fremde Treibheerden aus England, Amerika, 
Schweden und Dänemark importirt. Die Rothlaufseuche charakterisirt sich 
als eine infectiöse Septikämie und hämorrhagische Gastroenteritis mit hin¬ 
zutretender Nephritis und parenchymatöser Entzündung der Leber, des Herzens 
und der Muskeln und Milztumor; ein feiner Stäbchenbacillus gibt die Krank¬ 
heitsursache ab, der hauptsächlich in den Darm einwandert; beim Durchgang 
desselben durch den Körper des Kaninchens wird seine Virulenz abgeschwächt, 
so dass man durch Inoculation der Culturen der auf diese Weise mitigirten 
Bacillen Schweine immun machen kann. Pasteur führte die Schutzimpfung 
ein, man machte in Baden nach seiner Methode Versuche an Schweinen, die 
Schweine wurden an der innem Fläche der Hinterschenkel geimpft, zuerst 
mit einem schwächeren, 12 Tage darauf mit dem stärkeren Impfstoff, nach* 
weiteren 12 Tagen mit nicht abgeschwächtem Virus; es starben von den Ge¬ 
impften 5'6°/ 0 , später nur 1—2%. Versuchs-Impfungen wurden ausserdem in 
Frankreich, in der Schweiz, im Reichsland und in Preussen gemacht. Gün¬ 
stigere Impfresultate hat man mit dem LoRENz’schen Impfstoff erhalten. 
Lorenz in Darmstadt präparirt denselben aus dem Blutserum immun gemachter 
Kaninchen unter Zusatz von Glycerin und Wasser. Das Farbwerk Fried¬ 
richsfeld bei Mannheim fabricirt als Impfstoff das sogenannte Porcosan auf 
ähnliche Weise wie Lorenz. Nach den von Prof. Dr. Schütz in Berlin auf 
Veranlassung des Landwirthschaftsministeriums vorgenommenen Impfungen 
genügen alle drei Verfahren mit Bezug auf Ungefährlichkeit nicht, es sollen 
auf Staatskosten noch weitere Versuche angestellt werden. 

Mit einigen Worten sei noch der Hühnercholera gedacht; dieselbe 
ist ihrem Wesen nach eine infectiöse typhöse Enteritis, die epizootisch auf- 
tritt und auch das übrige Hausgeflügel befallen kann. Das Contagium wird 
hauptsächlich durch den Koth verbreitet. Die Hühnercholera-Bacillen wurden 
von Perroncjto, Toussaint und Pasteur festgestellt, nach Kitt und Hueppe 
sind sie identisch mit den Bakterien der Kaninchen-Septikämie; ein Bluts¬ 
tropfen eines kranken Huhnes in den Brustmuskel einer Taube injicirt be¬ 
wirkt an der Impfetelle eine gelbe, knotige Geschwulst. Schutzimpfungen 
blieben bisher ohne Erfolg. Die Kaninchenseptikämie erzeugte Gaffky durch 
subcutane Injectionen von Berliner Panckewasser. Der Infectionsstoff stellt 
ein sehr kleines ovoides Bacterium dar. 

Eine der wichtigsten Aufgaben der Veterinärpolizei und Hygiene bildet 
die Tilgung und Ausrottung der Tuberkulose der Rinder, die nach der 
Form ihrer Krankheitsproducte auf den serösen Häuten Perl sucht (Marga- 
rosis) genannt wird. Der Erreger derselben ist der von Robert Koch ent¬ 
deckte Tuberkelbacillus, der feine Stäbchen darstellt. Die Tuberkulose wird 
auch bei den übrigen Hausthieren und dem Geflügel beobachtet, indes bei 
weitem nicht in der Ausdehnung und Häufigkeit wie bei Rindern; mittelst 
Tuberkulin-Injectionen ist man im Stande, die sonst sehr verkappt beim Rinde 
verlaufende Krankheit mit ziemlicher Sicherheit zu diagnosticiren. Das 
diagnostische Merkmal nach der Injection besteht in einer Erhöhung der 
Körpertemperatur, die alle drei, etwas später alle zwei Stunden gemessen wird. 


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VETERINÄRWESEN. 


Beim Vorhandensein der Tuberkulose steigt die Temperatur um 11° und 
darüber, in einzelnen Fällen bis auf 1*9°, selbst bis auf 2 bis 3° C, indess 
reagiren ca. 10 bis 12°/ 0 der tuberkulösen Rinder nicht auf die Injectionen, 
andere reagiren, ohne tuberkulös zu sein. Die Zahl der Fehldiagnosen beläuft 
sich etwa auf 10%, wenn man die bei den Sectionen Vorgefundenen Käse¬ 
knötchen und verkalkten Herde in einigen Lymphdrüsen ausser Betracht lässt. 
Gefahren für die Thiere ziehen die Injectionen nicht nach sich. Nach wieder¬ 
holten Tuberkulininjectionen reagiren die Thiere öfter nicht mehr, sie gewöhnen 
sich an das Mittel, diese Immunität hält zuweilen 25 bis 30 Tage an. Prof. 
Bang in Copenhagen war der Erste, welcher die Tuberkulinprobe als Tilgungs¬ 
mittel der Perlsucht eingeführt hat. Die reagirenden Rinder sind möglichst 
zu isoliren, die offenbar erkrankten sogleich oder nach der Mästung zu 
schlachten, die Kälber der noch scheinbar gesunden Kühe nur mit gekochter 
oder bis zu 85° C pasteurisirter Milch zu ernähren, der Stall ist zu desinfi- 
ciren. Wünschenswerth für die Ausrottung der Rindertuberkulose ist es, den 
gesunden Viehstamm jedes Jahr ein- bis zweimal der Tuberkulinprobe zu unter¬ 
werfen. Da, wo eine systematische Tilgung nicht vorgenommen werden kann, 
empfiehlt sich die Bildung von Genossenschaften zur tuberkulosefreien Auf¬ 
zucht des Jungviehs. Unbedingt auszumerzen ist dasjenige Vieh, das die 
klinischen Erscheinungen der Tuberkulose an sich trägt. Den Besitzern der 
geschlachteten Thiere würde eine dem dadurch entstandenen Verluste ent¬ 
sprechende Entschädigung aus Staatsmitteln oder Zwangsversicherungen zu 
bewilligen sein. 

Bezüglich des Genusses des Fleisches der perlsücbtigen Rinder bestimmt 
ein preussischer Ministerialerlass vom 26. März 1892: Eine gesundheits¬ 
schädliche Beschaffenheit ist anzunehmen, wenn das Fleisch Perlknoten enthält, 
oder das Thier abgemagert ist; geniessbar, für die Gesundheit unschädlich ist 
es, wenn das Thier gut genährt ist, und die Perlknoten sich ausschliesslich 
in einem Organ vorfinden, oder, falls zwei oder mehrere Organe davon er¬ 
krankt sind, diese Organe in derselben Körperhöhle liegen und untereinander 
direct oder durch Lymphgefässe oder durch solche Blutgefässe verbunden sind, 
welche nicht dem grossen Kreisläufe, sondern dem Lungen- oder dem Pfort¬ 
ader-Kreislaufe angehören. Da eine Uebertragbarkeit der Tuberkulose durch 
Genuss des Fleisches perlsüchtiger Thiere nicht nachgewiesen ist, so kann 
das Fleisch von gut genährten Thieren, auch wenn eine der vorgenannten 
Erkrankungen vorliegt, in der Regel nicht als minderwerthig erachtet und der 
Verkauf desselben nicht unter besondere polizeiliche Aufsicht gestellt werden. 
Aehnliche Vorschriften enthalten die gesetzlichen Erlässe anderer deutscher 
Staaten. Das Kochen im Dampfkochapparat von Rohrbeck vernichtet im 
Fleisch die Tuberkelbacillen, es ist alsdann für die menschliche Gesundheit 
unschädlich; eine Hitze von 75—85° C tödtet die Tuberkelbacillen innerhalb 
10 Minuten, während sie der Salzung und Räucherung widerstehen. Bei 
geringgradiger Tuberkulose ist das Fleisch der Freibank zu übergeben, bei 
hochgradiger, generalisirter Tuberkulose aber zu kochen oder nur technisch 
zu verwerten. Tuberkelbacillen werden sehr selten im Fleische gefunden, 
ebenso in der Milch und in der Butter, man findet sie hier öfter erst in 
Fällen von generalisirter Tuberkulose und allgemeiner Abmagerung, aber öfter 
bei Eutertuberkulose, die nicht sehr häufig vorgefunden wird; hier besonders 
dann, wenn die Knoten erweicht und vereitert sind. In sonstigen Fällen 
treten die Bacillen nicht leicht in die Milch über, sie werden lange Zeit hin¬ 
durch von den Lymphdrüsen festgehalten. Die Gefahr des Ueberganges der 
Rindertuberkulose auf den Menschen durch Genuss des Fleisches und der 
Milch tuberkulöser Kühe ist deshalb nicht so gross, als viele Sachverständige 
angenommen haben, sie ist unstreitig übertrieben worden, sie hat sich durch 
das Experiment nicht stichhaltig begründen lassen. Trotzdem wird die Vor- 


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VETERINÄRWESEN. 


1003 


sicht gebieten, die Milch tuberkuloseverdächtiger Thiere nur in gekochtem 
Zustande geniessen zu lassen. Der Centrifugenschlamm der Milch in den 
Molkereien ist zu verbrennen. 

Die Tuberkulose der übrigen schlachtbaren Hausthiere ist eine seltene 
Erscheinung, sie erheischt dieselben Maassregeln wie die der Rinder. 

Das Fleisch von an Infectionskrankheiten leidenden Thiere muss zu¬ 
weilen deshalb confiscirt werden, weil es das Contagium verschleppt und 
durch Contact Menschen krank machen kann; dies gilt von Rinderpest, Milz¬ 
brand, Rauschbrand, Wuth und Rotz, obschon solches Fleisch schon öfter 
ohne Schädigung der Gesundheit von Menschen gegessen wurde. Das Fleisch 
nimmt erst im Verlaufe der Aphthenseuche, der Pocken, des Tetanus und 
des malignen Oedems gesundheitsschädigende Eigenschaften an, wenn es zur 
Pyämie und Septikämie gekommen ist. Pyämische und septikämische Processe 
bedingen giftige Eigenschaften des Fleisches und nach dessen Genüsse sehr 
gefährliche, das Leben der Menschen bedrohende Erkrankungen; solche Pro¬ 
cesse bilden sich in abgesetzten Thieren, bei Lungen- und Gebärmutter¬ 
verjauchungen oder Vereiterungen, in der eitrigen Nabelentzündung der Kälber 
(Kälberlähme, Polyarthritis), bei Magendarmkatarrh und hämorrhagischer En¬ 
teritis der Kälber und Rinder, dem septischen Kalbfieber, der Metritis und 
Mastitis der Kühe, bei bösartigem Kopfhöhlenkatanh des Rindes, Petechial¬ 
fieber und Hufveijauchungen des Pferdes, bei Pericarditis traumatica des 
Rindviehes, mitunter auch im Verlaufe des Schweinerothlaufs, der Schweine¬ 
seuche und der Schweinepest, der Wild- und Rinderseuche, der Diphtherie 
und Ruhr der Kälber. Lungenseuche, Räude, hydrämische, leukämische, 
urämische, ikterische, osteoporöse, osteomalaktische, sarkomatöse und carcino- 
matöse Processe machen das Fleisch ungeniessbar, sobald es zu serösen Durch¬ 
feuchtungen des intramusculären Bindegewebes und der Muskeln selbst ge¬ 
kommen ist oder die malignen Neubildungen eine grössere Verbreitung ge¬ 
wonnen haben. 

Distomatose, Aktinomykose und Botrymykose bedingen eine Vernichtung der 
befallenen Theile und Organe, desgleichen Echinococcus- und Cysticercusblasen. 
Ziemlich oft sitzen auf den serösen Häuten des Hinterleibs, besonders auf dem 
Zwerchfell und der Leber des Rindes und des Schweines einzelne Cysticercus 
blasen, in diesem Falle genügt das Herausschneiden und Verbrennen der Blasen. 
Das mit Trichinen behaftete Thier wird total vernichtet, das finnige Schwein 
oder Rind nur bei grösserer Verbreitung der Finnen, das Fleisch und Fett 
darf technisch verwerthet werden. Schwachfinniges Schweinefleisch wird in 
Gemässheit des Gutachtens des baierischen Obermedicinalausschusses vom 
20. Mai 1882 unter polizeilicher Aufsicht gekocht und in Freibänken öffent¬ 
lich verkauft. Stark finnig ist ein Schwein, wenn bei jedem Einschnitt ins 
Fleisch eine Finne angetroffen wird. Nach einem preussischen Ministerial¬ 
erlass vom 18. November 1897 sind Rinder und Kälber mit 10 lebensfähigen 
Finnen als schwachfinnig, mit mehr als 10 Finnen als starkfinnig zu be¬ 
trachten. Auf Freibänken darf schwachfinniges Fleisch verkauft werden, wenn 
es unter thierärztlicher Aufsicht gar gekocht, oder 21 Tage in 25%iger Salz¬ 
lake gepökelt oder 21 Tage in Kühlräumen mit einer Temperatur von 3—7°C 
und einem Luftfeuchtigkeitsgehalt von nicht über 70—75 u aufbewahrt worden 
ist. Starkfinnige Thiere dürfen nur technisch verwerthet oder müssen un¬ 
schädlich beseitigt werden. Das Fleisch der schwachfinnigen Thiere darf nur an 
Selbsconsumenten oder zum häuslichen Verbrauch freigegeben werden, Wieder¬ 
verkäufer und Gastwirthe etc. sind vom Erwerbe desselben ausgeschlossen. 
Ueber die finnigen Rinder und Kälber ist eine Nachweisung zu führen. 

Der Fleischgenuss ist auch zu untersagen von Thieren, welche mit an¬ 
haltendem hochgradigen Fieber oder ausgedehnten Entzündungen und Eite¬ 
rungen behaftet waren, von verendeten, von unreifen, todtgeborenen, abor- 


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VETEMNlRWESEN. 


tirten Thieren, ebenso der Genuss solchen Fleisches, das stark mit Aktino- 
myces, Concrementen oder Blutaustretungen infolge von Quetschungen oder 
Decubitus durchsetzt ist oder einen widerlichen Geruch verbreitet (Fäulnis, 
nach Genuss stark riechender Stoffe oder Aufbewahrung des Fleisches in mit 
Carbol oder Chlorkalk durchräucherten Räumen) und widerlich schmeckt, 
z. B. das Fleisch von Ebern, Ziegen- und Schafböcken oder von Kryptorchiden, 
zu untersagen ist ferner der Genuss des Fleisches von vergifteten Thieren. 
Erfahrungen und Versuche haben erwiesen, dass die Behandlung der Thiere 
mit giftigen Medicamenten niemals eine Gesundheitsschädlichkeit des Fleisches 
bedingt; Magen und Darm, wohl auch das Euter derartiger Thiere sind stets 
zu vernichten. 

Oefter verursacht der Fleischgenuss von kranken Thieren Vergiftungen 
der Consumenten. Es handelt sich hier um die sogenannten Fleisch- und 
Wurstvergiftungen, bei Fischen um das Fischgift. Die Intoxicationen beruhen 
auf Mikroorganismen, welche Eiterung, brandige Processe, Sepsis und Fäulnis 
im Fleische bedingen, wobei meistens die nothgeschlachteten Thiere in Be¬ 
tracht kommen, bei diesen wieder besonders die Leber und Nieren, welche 
grössere Mengen der giftigen Substanzen in sich aufnehmen. Als ein solcher 
Mikroorganismus wurde von Gärtner, Johne u. A. der Bacillus enteritidis, 
von Gaffky und Paar Wurstbacillen, von Poels und D’s Hont in den Ge- 
fässen des intermuskulären Bindegewebes kurze feine Stäbchen, von Flügge 
eine Art Colibacillus, von Basenad der Bacillus bovis mortificans, von van 
Ermengen, Brieger und Kempner der Bacillus botulinus nachgewiesen; der 
Bacillus botulinus erzeugt ein Gift, mit dem sich die Symptome des Botulis¬ 
mus hervorrufen lassen, auch ist es gelungen, durch Einverleibung dieses 
Giftes ein wirksames antitoxisches Serum zu gewinnen. 

Die alkalische Reaction des Fleisches nothgeschlachteter Thiere un¬ 
mittelbar nach der Schlachtung ist erst als ein bedenkliches Zeichen, das die 
Verwerfung als geboten erachten lässt, zu betrachten, wenn sie bis zum 
nächsten Tage anhält und alsdann erst in saure Reaction übergegangen ist. 

Das Fleisch abgehetzter Thiere hat einen widerlichen, säuerlichen, öfter 
ätherartigen Geruch, es ist dunkelroth, schneidet sich wie Gummi, es klebt 
der Messerklinge an, ist trocken und enthält keinen Muskelsaft, öfter findet 
man zwischen den Muskeln blutig-seröse Ergiessungen, die Blutgefässe ent¬ 
halten dunkles, schwarzes Blut, das Fleisch geht leicht in Fäulnis über; sein 
Genuss kann Unwohlsein und leichte Intoxicationen herbeiführen, es enthält 
lOmal mehr Kreatinin als sonst und Producte der Zersetzung, ähnlich den 
Fermenten der Fäulnis. Brieger hat aus dem in Zersetzung begriffenen 
Fleische verschiedene toxische PtomaYne extrahirt, z. B. das Cadaverin, Putres- 
cin, Neurin, Ganidin. Nicht immer braucht das Fleisch hochgradig ver¬ 
dorben zu sein, um schädliche Folgen nach sich zu ziehen. 

Einer strengen Controle ist das ans dem Anslande eingeführte Fleisch 
zn nnterwerfen. Die Fleischznfnhr nimmt von Jahr zn Jahr za, 1896 worden 266960 
Doppelcentner, 1897 schon 480858 Doppelcentner Fleisch und Fleischwaaren nach Deutsch- 
land eingeführt; am stärksten betheiligt sich hieran Amerika mit Speck nnd Schinken; man 
kann nach den bisherigen Erfahrungen ohne Uebertreibung annehmen, dass 1—2 Procent 
derselben trichinenhaltig sind, wie dies die mikroskopischen Untersuchungen nachgewiesen 
haben. Die aus sanitären Gründen erlassenen Einfuhrverbote von lebendem Schlachtvieh 
haben die Einfuhr von Fleisch ausserordentlich gesteigert, Holland allein importirte nach 
Deutschland 1897 103000 Doppelcentner Fleisch und Fleischwaaren, vorzugsweise Schweine¬ 
fleisch, Dänemark Rindfleisch; Russland und Oesterreich-Ungarn kommen in geringerem 
Maasse in Betracht, noch weniger Australien. Das Fleisch wird auch in Büchsen importirt, 
das ebenfalls einer sanitären Controle bedarf, da nach dem Verzehr desselben hin und 
wieder Erkrankungen in mehreren Garnisonen Frankreichs beobachtet worden sind; man 
fand darin Bacillus Termo, Bacillus subtilis, Vibrio septica, öfter waren die Keime noch 
lebend. Poincare constatirte in den Fasern des Conservefleisches eine wachsartige Degene¬ 
ration, sie hatten aber noch ihre Querstreifung, das Fleisch musste also von kranken 
Thieren abstammen oder vor der Einbüchsung in Zersetzung begriffen gewesen sein. 


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VETERINÄRWESEN. 


1005 


Aus allen diesen Schilderungen sind die Gefahren zu ersehen, welche 
durch den Fleiscbgenuss der menschlichen Gesundheit drohen; diese fern zu 
halten, ist die Aufgabe der Sanitätspolizei, speciell der Fleisch¬ 
beschau, die schon seit längerer Zeit an den öffentlichen Schlachthäusern 
von Sanitäts-Thierärzten ausgeübt wird. Die Sanitätsthierärzte werden 
von den Gemeinden angestellt. Selbstredend eignen sich nur Thierärzte zu 
Fleischbeschauern, da sie durch ihr Fachstudium allein mit den Thier¬ 
krankheiten genügend vertraut sind; man ist neuerdings darauf bedacht, die 
Fleischbeschau zu einem besonderen Lehrgegenstand der thierärztlichen Hoch¬ 
schulen zu erheben. Die Fleischbeschau wird täglich mehr und mehr als 
dringendes Bedürfnis erkannt, die Vorbereitungen eines entsprechenden Reichs¬ 
gesetzes sind soweit gefördert, dass in nächster Zeit im Kaiserlich-deutschen 
Reichsgesundheitsamt Commissionsverhandlungen zur Berathung Uber die Ein¬ 
führung der allgemeinen Fleischbeschau stattfinden werden. (Vergl. Artikel 
„Fleischbeschau“ S. 251.) 

Das Reichsgesundheitsamt in Berlin ist in gleicher Weise zusammengesetzt wie die 
technische Veterinärdeputation, nämlich ans ordentlichen und ausserordentlichen Mitgliedern; 
za letzteren zählen zur Zeit die Veterinäre Geh. Reg.- R. Professor Dr. Schütz, Ober-Re- 
eierungsrath Landesthierarzt Göring in Mönchen, Ober- Med.-R. und Landesthierarzt Pro¬ 
fessor Dr. Siedamgrotzky in Dresden und Geh. Ober-Reg.-R. Dr. Lydtin in Baden-Baden. 
Geheimer Regierungsrath Böckl in Berlin ist ordentliches Mitglied und hat als solches die 
Seuchenstatistik nach den eingehenden Seuchentabellen der beamteten Thierärzte zu be¬ 
arbeiten. ^ : 

Der deutsche Veterinärrath hat die Staatsthierheilkunde in anerkennenswerter 
Weise gefördert, denn er befasste sich in seinen Sitzungen mit gründlicher Besprechung 
der brennenden veterinär- und sanitätspolizeilichen Fragen; die gefassten Beschlüsse wurden 
den Regierungen unterbreitet. Der Veterinärrath bildet sich aus den thierärztlichen Ver¬ 
einen heraus, die eine Vereinigung zu gemeinsamer Vertretung der Interessen sämmt- 
licher Thierärzte Deutschlands anstrebten. Zunächst constituirte sich am 25. Mai 1841 in 
Mainz der Verein deutscher Thierärzte, am 20. Mai 1864 bei Gelegenheit der Jubiläums¬ 
feier Professor Gltrlt’s in Berlin der Centralverein für Norddeutschland. Am 21. August 

1872 trat in Frankfurt am Main ein thierärztlicher Congress zusammen, indes ging die 
Anregung zu einer Delegirten-Versammlung sämmtlicher deutschen 1 hierärztlichen Vereine 

1873 von dem Vereine zu München aus; als Versammlungsort wählte man Berlin, wo man 
am 13. und 14. April 1874 tagte und den deutschen Veterinärrath behufs Förderung und 
Hebung des gesammten Veterinärwesens gründete. Der erste Präsident war Professor 
Dämmen in Eldena, später übernahm Lydtin in Karlsruhe die Präsidentschaft, sie ruht 
gegenwärtig in den Händen des Professors Dr. Esser in Göttingen. Die zweite Versammlung 
des Veterinärraths fand vom 22.-24. April 1875 in Berlin, die 3. vom 25.—27. September 
1876 in Cassel, die 4. vom 3 —4. August 1878 in Hannover etc. statt, er tagte zum achten¬ 
male vom 9. —10. October 1897 in Cassel. Berathungsgegenstände bildeten unter anderem: 
Studium der Thierheilkunde, Unterrichts- und Prütungswesen, Reform der Währschafts- 
gesetzgebung beim Kauf und Tausch der Hausthiere, technische Grundlagen für ein Reichs¬ 
gesetz, Maassregeln gegen Lungenseuche und Perlsucht, allgemeines Seuchengesetz, Grund¬ 
lagen der Fleischbeschau, Regulirung des Abdeckereiwesens, Bekämpfung der Aphthen- 
seuche, des Schweinerothlaufs und der Tuberkulose, Maturität der Veterinärstudenten. 

Bei den erleichterten Verkehrs Verhältnissen mittelst der Damplkraft 
brechen häufig Invasionen verheerender Seuchen in die Länder ein, gegen 
deren Bekämpfung die einzelnen Staaten ohnmächtig sind, diese erheischt 
gemeinsame, einheitlich geregelte, internationale polizeiliche Maassregeln für 
grössere Ländergebiete. Diesem Ansprüche suchten nationale und interna¬ 
tionale thierärztliche Congresse zu genügen und die dazu zweckdienlichen 
Mittel in die Wege zu leiten. Den ersten Congress beriefen Hering in Stutt¬ 
gart und Gamgee in Edinburg am 14. Juli 1863 nach Hamburg, weitere 
Congresse tagten vom 21.—26. August 1865 in Wien, vom 2.—8. September 
1867 in Zürich, vom 16. März bis 6. April 1872 in Wien, am 21. August 
1872 in Frankfurt a. M., vom 7.—10. September 1879 in Bologna, 1883 in 
Brüssel. Auf diesen Congressen wurden z. B. die Contumazzeit bei Rinder¬ 
pest auf 10 Tage festgesetzt, die Tilgungsmaassregeln der Lungenseuche, die 
Entschädigung der auf polizeiliche Anordnung getödteten Thiere, die Prin- 
cipien der Währschaftsgesetzgebung, die Organisation der Fleischbeschau und 


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1006 


VETERINÄRWESEN. 


des Veterinärwesens, das thierärztliche Unterrichts wesen u. dergl. mehr unter 
Theilnahme von Regierungsbeamten besprochen, so dass die Beschlüsse zur 
Grandlage der Veterinärgesetzgebung genommen werden konnten und zur 
Entwicklung der Thiermedicin erheblich beigetragen haben. Welchen Wert 
die Staatsregierungen auf die thierärztlichen internationalen Congresse legen, 
mag man daraus ersehen, dass das grossherzoglich badische Ministerium für 
die Einrichtung und Abhaltung eines solchen in Baden-Baden im August 1899 
2000 Mark und der deutsche Reichskanzler 10000 Mark zur Verfügung ge¬ 
stellt haben. Die thierärztliche Hochschule in Berlin wird zur Erforschung 
der Thierseuchen ein hj’gienisches Institut erhalten. anackeb. 

Veterinärwesen in Oesterreich-Ungarn. Die Veterinärverwaltung bildet 
in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern mit Bezug auf 
die Thierheilkunde einen integrirenden Theil der Sanitätsverwaltung. 

Die veterinärmedicinische Wissenschaft wird dermalen in den vor¬ 
erwähnten Ländern der österreichischen Monarchie an zwei Lehranstalten 
mit Hochschulcharakter gelehrt und zwar in Wien am k. u. k. Militär- 
Thierarzneiinstitut und thierärztlichen Hochschule. 

Diese Anstalt wurde 1767 unter Kaiserin Maria Theresia als Pferdecurschule für 
milil&r. Fahnenschmiede auf der Landstrasse (III. Bezirk) errichtet. Im Jahre 1776 wurde 
diese Anstalt unter Kaiser Josef II. zur Thierarzneischule mit einem Thierspitale um¬ 
gestaltet und im Jahre 1819 unter Kaiser Franz neu organisirt. Das jetzige Gebäude wurde 
im November 1823 vollendet. 

Im Jahre 1812 wurde diese Thierarzneischule zu einer Abtheilung der Wiener Uni¬ 
versität erklärt und unterstand der Studien-Hofcommission. Im Jahre 1852 wurde das 
Institut der Militärverwaltung unterstellt. 

Im Jahre 1897 wurde diese Lehranstalt zur Hochschule mit vierjähriger 
Unterrichtsdauer erhoben und wird von den ordentlichen Hörern zur Auf¬ 
nahme an diese Lehranstalt das Zeugnis der mit Erfolg bestandenen Matu¬ 
ritätsprüfung verlangt. Doctoren der gesammten Heilkunde können den Lehr- 
curs in zwei Jahren vollenden. 

In Lemberg wurde im Jahre 1881 eine Thierarznei- und Hufbeschlags¬ 
schule mit demselben Studienplan wie am Militär-Thierarznei-Institut in Wien 
eröffnet, gleichzeitig mit der Wiener Schule zur Hochschule erhoben mit dem¬ 
selben Lehrziel und der gleichen Unterrichtsdauer wie an der vorgenannten 
Anstalt. 

Das öffentliche Veterinär-Sanitätspersonale ist entweder vom 
Staate, von den Ländern oder von den Communen bestellt. 

Die vom Staate bestellten Veterinär-Sanitätsorgane müssen zufolge einer 
Ministerial-Verordnung vom 21. März 1873 eine Staatsprüfung abgelegt 
haben. 

Zu den öffentlichen Veterinär-Sanitätsorganen, die entweder 
als ständige oder berathende Organe fungiren, gehören im Ministerium des 
Innern der oberste Sanitätsrath mit dem Referenten für Veterinärangelegen¬ 
heiten. 

Bei den Landesbehörden der Landessanitätsrath mit dem Referenten für 
Veterinärangelegenheiten — dem Landesthierarzt. 

Bei den politischen Bezirksbehörden fungiren die landesfürstlichen Be¬ 
zirksthierärzte als ständige Veterinärreferenten. 

Im Sinne des § 2 des allgemeinen Thierseuchengesetzes vom 29. Fe¬ 
bruar 1880 obliegt die Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen über 
Thierseuchen, insoferne in diesen Bestimmungen keine besondere Anordnung 
getroffen ist, den politischen Behörden, und zwar in erster Instanz den poli¬ 
tischen Bezirksbehörden unter gesetzmässiger Mitwirkung der Gemeinden, 
ferner den Organen der Seesanitätsverwaltung nach Maassgabe ihres gesetz¬ 
lichen Wirkungskreises und wird vom Ministerium des Innern, beziehungs¬ 
weise vom Handelsministerium geleitet und überwacht. 


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WAISENANSTALTEN. 


1007 


Bei der Handhabung der Bestimmungen der Thierseuchengesetze ist sich 
des Beistandes der beamteten Thierärzte (landesfürstliche Bezirksthierärzte) zu 
bedienen. 

ln den Ländern der ungarischen Krone gehört die Leitung des Vete¬ 
rinärwesens in den Wirkungskreis des Ministers für Ackerbau, Gewerbe und 
Handel. Die veterinärmedicinische Wissenschaft wird an der königlich un¬ 
garischen thierärztlichen Akademie in Budapest gelehrt, welche im Jahre 1787 
gegründet wurde und dem königlich ungarischen Ministerium für Ackerbau, 
Industrie und Handel unterstellt ist. 

Zur Aufnahme der Zöglinge wird das Absolutorium der 6. Classe einer 
Mittelschule verlangt, der Unterricht erstreckt sich auf drei Jahre. 

Das Veterinärwesen ist in Ungarn durch den Gesetzesartikel VII vom 
Jahre 1888 geregelt. Die oberste Veterinär-Instanz, ist der Minister für 
Ackerbau, Gewerbe und Handel. Die Handhabung der Veterinärpolizei obliegt 
beamteten Thierärzten, welche rangirt sind in Veterinär-Inspectoren, 
Staats-Oberthierärzte, Staatsthierärzte 1 . und 2. Classe. 

Den veterinärpolizeilichen Dienst versehen in erster Instanz die von Ge¬ 
meinden und Städten bestellten Thierärzte. 

Staats- oder Municipalthierarzt kann nur ein solcher Thierarzt werden, 
welcher eine zweijährige Praxis auszuweisen vermag und hierauf durch er¬ 
folgreiche Ablegung der praktischen Prüfung seine Kenntnisse im Veterinär¬ 
polizeiwesen nachgewiesen hat. 

Der militärthierärztliche Dienst erstreckt sich auf das Pferdewesen des 
k. u. k. Heeres und wird von Militärthierärzten, thierärztlichen Prak¬ 
tikanten und Militärcurschmieden besorgt. 

Bezüglich der Hintanhaltung und Tilgung ansteckender Pferdekrank¬ 
heiten bestehen besondere Verordnungen. 

Die Militärthierärzte sind Militärbeamte und werden gegliedert in Ober¬ 
thierärzte 1. und 2. Classe, in Thierärzte, Unter-Thierärzte und thierärztliche 
Praktikanten. 

Die oberste Leitung aller thierärztlichen Angelegenheiten des k. u. k. 
Heeres führt das Reichs-Kriegsministerium (3. Abtheilung). Die Militär- 
Curschmiede haben an einer Thierarzneischule einen zweijährigen Curs 
zu absolviren; eine besondere Vorbildung wird nicht verlangt, dieselben werden 
über Pferdekrankheiten und Hufbeschlag unterrichtet und sind den thierärzt¬ 
lichen Beamten als Gehilfen beigegeben und vorzugsweise für die Ausübung 
des Hufbeschlages bestimmt. Kh. 

Waisenanstalten bezwecken in erster Linie die Verpflegung und Er¬ 
ziehung von Kindern, welche durch den Tod des Vaters oder der Mutter 
(Halbwaisen) oder auch beider Elterntheile (Ganzwaisen) ihres natürlichen 
Schutzes beraubt und auf fremde Hilfe angewiesen sind. 

Wenn auch Sparen einer Waisenpflege sich bis in die Blüthe der römischen Kaiser¬ 
zeit zuruckverfolgen lassen, so fällt die straffere Organisation derselben in Form der 
Gründung von Waisenhäusern (Orphanotrophieen) doch erst in die Zeit, zu welcher das 
Christentham, das die Fürsorge für Witwen und Waisen als eine seiner erhabensten Pflichten 
erachtete, festen Boden gewonnen hatte. Dementsprechend erscheinen auch die Waisen¬ 
häuser frühester Zeit in unmittelbarer Verbindung mit Klöstern und blieben auch noch 
unter dem Einfluss der letzteren, als sie später (im 5. Jahrhundert), wenigstens äusserlich, 
zu selbständigen Anstalten sich entwickelten, welche der Aufsicht der Staatsbehörden 
unterlagen. Während bis zum 9. Jahrhundert das Bestreben geherrscht hatte, den Waisen 
neben der körperlichen Pflege auch eine entsprechende Erziehung zu gewähren, sank von 
da ab die Waisenpflege zu einem lästigen Theil der Armenpflege herab, dem man unter 
Aufwendung möglichst geringer Mittel zu genügen suchte. So kamen die elternlosen 
Kinder zum Theil in die Pflege von sogenannten Hausmüttern —■ unsere heutige Aussen- 
pflege — zum Theil wurden sie den Findel- und Armenhäusern überantwortet. Der „schwarze 
Tod“, der im 14. und 15. Jahrhundert in ganz Europa die entsetzlichsten Verheerungen 
hervorrief, legte — zumal in den volkreichen Handelsstädten — die Nothwendigkeit einer 
umfassenderen Waisenpflege nahe In Nürnberg bestanden schon um die Mitte des 14. 


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1008 


WAISENANSTALTEN. 


Jahrhunderts vereinigte Findel- und Waisenhäuser; auch in München war für die Waisen 
vom 15. Jahrhundert ab in der Art gesorgt, dass denselben eine besondere Abtheilung des 
heiligen Geist-Spitals zusammen mit den Findelkindern eingeräumt war. Den Anstoss zur 
Gründung von Anstalten, welche lediglich der Unterbringung von Waisen dienen sollten, 
gab um das Jahr 1520 herum in Amsterdam eine reiche Bürgersfrau, Haasje Klassin in 
Paradiese, welche ihre Schützlinge in kleinen Häusern vereinigte; aus diesen Colonieen ent« 
wickelte sich 1561 das erste Amsterdamer Waisenhaus, später das grossartigste Institut 
seiner Art. 

Von den Mitteln, welche die Reformation durch Einziehung von Klöstern und Stiften 
der Allgemeinheit zur Verfügung stellte, kam den Waisen nur wenig zu gute; vielmehr 
war es zunächst weniger der Drang, diesen Aermsten der damaligen Gesellschaft ein 
menschenwürdiges Dasein zu verschaffen, welcher zur Gründung weiterer Waisenhäuser 
Anlass gab, als das zwingende Bedürfnis, dem in Folge von Theuerung, Seuchen und Krieg 
überhandnehmenden Strassenbettel entgegen zu treten. So erhielt Augsburg 1572 sein erstes 
Waisenhaus, Hamburg 1604, München 1615, Rostock 1624, Würzburg 1636, Lübeck 1647. 
Auf die Nothwendigkeit der intellectuellen und moralischen Erziehung der Kinder wurde 
dabei im Allgemeinen wenig Rücksicht genommen; bezeichnend in dieser Beziehung ist die 
nicht seltene Vereinigung der Waisenhäuser mit Armen-, Arbeits- und selbst Zuchthäusern, 
durch welche die Waisen oft der schwersten Gefahr sittlicher Ansteckung ausgesetzt waren. 
Einen Wendepunkt in dieser Hinsicht bedeutete die Gründung des Waisenhauses zu Halle 
(1698) durch A. H. Franke, der dem erzieherischen Moment in der Waisenpflege auf der 
Basis aufrichtiger, tiefer Religiosität zu der ihm zukommenden Bedeutung verhalf. Zum 
Theil nach dem Vorbild der Hallenser Musteranstalt in rein pietistischem Sinn, zum Theil 
als Pflegestätten bestimmter confessioneller Richtungen, zum Theil ohne diese Voraus¬ 
setzung entstand um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert eine grosse Zahl von Waisen¬ 
häusern. so in Bautzen (1698). Zittau (1700), Gotha (1702), Meiningen (1703), Stuttgart 
(1710), Wien (1724), Weimar (1727), Stettin (1732), ferner in Züllichau, Hamburg, Lübeck 
und an zahlreichen anderen Orten. — Während in diesen Anstalten zumeist die Heran¬ 
ziehung der Zöglinge zu tüchtigen Dienstboten und Handwerkern erstrebt wurde, in 
manchen auch die Kinder, weiche aus den besseren Kreisen hervorgegangen waren oder 
sich durch besondere Befähigung auszeichneten, gelehrten Berufsarten zugeführt wurden, 
verfolgte das von König Friedrich Wilhelm I. zu Potsdam gegründete Militärwaisenhaus 
den ausschliesslichen Zweck, die Knaben frühzeitig auf den Soldatenberuf vorzubereiten. 

Von der Mitte des 18. Jahrhunderts ab wurden die Gründungen neuer Waisenhäuser 
immer seltener, und man begann auch damit, die bereits bestehenden wieder aufzulösen. 
Es hatte sich nämlich vielerorts herausgestellt, dass die Institute den bei ihrer Gründung 
gesetzten Aufgaben nicht gewachsen waren, dass insbesondere die Kinder, oft auf engem 
Kaum zusammengedrängt, die nöthige körperliche Pflege entbehren mussten. So begann 
man denn (zunächst 1773 in Sachsen-Gotha) mit Versuchen, die Anstaltspflege durch Fa¬ 
milienpflege zu ersetzen. Die übertriebenen Erwartungen, die man bei diesem W r echsel 
gehegt hatte, wurden aber nicht dermaaBsen gerechtfertigt, dass mit dem Anstaltsprincip 
völlig gebrochen worden wäre. Auch das neue System zeigte seine Mängel und manche 
Schwierigkeiten in der praktischen Durchführung, welche die theoretischen Abhandlungen 
völlig übersehen hatten. Es erfolgten immer noch Neugründungen von Anstalten, zumal 
als nach den schweren Verlusten in den Freiheitskämpfen eine weitgehende Fürsorge für 
die Waisen geboten war. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Familien pflege vorherr¬ 
schend geworden, nachdem man gelernt hat, durch Schaffung einer peinlichen Controle 
ihren schlimmsten Mängeln aus dem Wege zu gehen. 

Die Organisation der Waisenhäuser kann bei der Verschieden¬ 
heit der von den Gründern verfolgten Zwecke keine auch nur einigermaassen 
einheitliche sein. 

Die meisten älteren Anstalten tragen, aus frommen Stiftungen hervor¬ 
gegangen, confessionellen Charakter. Wo den Gemeinwesen, denen die Für¬ 
sorge für die Waisen in erster Linie obliegt, die Errichtung einer Anstalt 
zufiel, war es natürlich, dass sie dieselbe Angehörigen aller Glaubensbekennt¬ 
nisse zugänglich machten. Auch die von den Reichsfechtschulen errichteten 
Waisenhäuser nehmen bei der Aufnahme der Zöglinge keine Rücksicht auf 
die confessionelle Zugehörigkeit. 

Vielfach beschränken die Waisenhäuser ihre Fürsorge nicht nur auf die 
Waisen im engeren Sinne, sondern dienen auch der Aufnahme solcher Kinder, 
welche aus irgendwelchen Gründen nicht in der eigenen Familie erzogen 
werden können; zu diesen zählen: 1. Kinder, welche zeitweise von beiden 
Eltern oder einem Elterntheile verlassen sind; 2. Kinder, welche gerichtlich 
wegen sittlicher Verwahrlosung zur Zwangserziehung verurtheilt und deshalb 
der elterlichen Obhut entzogen sind; 3. solche, die zwar sittlich verwahrlost 


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WAISENANSTALTEN. 


1009 


sind, nach den gesetzlichen Bestimmungen aber nicht zur Zwangserziehung 
verurtheilt werden können; 4. Kinder, deren Eltern wegen grober Vernach¬ 
lässigung der Erziehungspflichten das Erziehungsrecht gerichtlich abgesprochen 
wurde. Für die meisten Kinder dieser Kategorien ist indes die Unter¬ 
bringung in besonderen Erziehungsanstalten (Rettungshäuser) aus pädago¬ 
gischen Gründen erwünscht. 

Bezüglich der Altersgrenze gilt zumeist der Grundsatz, dass die Anstalts¬ 
pflege nur während des schulpflichtigen Alters gewährt wird. 

Es sind Ausnahmen, wenn wie in Nürnberg und in der Baruch AüRRBACH’schen 
Anstalt zu Berlin Kinder bis zum Alter von 3 Jahren herab aufgenommen werden, oder 
wenn, wie in Köln, eine Säuglingsstation mit dem Institut verbunden ist. Man zieht es 

f ewöhnlich vor, die zu versorgenden Waisen bis zum Alter von 6 Jahren in geeignete 
'amilienpflege zu bringen. In richtiger Erkenntnis, dass gerade in den Jahren, wo die 
Schulpflicht erlischt, die Gefahren für die ins Leben hinaustretenden Kinder am grössten 
sind, machen es sich aber wohl alle Anstalten zur Aufgabe, ihre bisherigen Pfleglinge 
soweit zu unterstützen, bis dieselben eine gesicherte Existenz haben. 

In vielen Anstalten schliesst uneheliche Abstammung von der Aufnahme 
aus; dagegen war die Combination von Waisenhaus und Findelhaus, wenig¬ 
stens in Deutschland, früher eine sehr häufige. Städtische Waisenhäuser 
verlangen gewöhnlich, dass die Eltern der Aufzunehmenden in der betreffen¬ 
den Stadt beheimatet waren. Die Aufnahmebedingungen weichen an ver¬ 
schiedenen Orten so sehr von einander ab, dass ein Eingehen auf Details an 
dieser Stelle nicht möglich ist. 

Fast überall ist in Waisenhäusern das Princip der Trennung nach Ge¬ 
schlechtern durchgeführt, sei es, dass die Anstalt überhaupt nur Kinder eines 
Geschlechtes aufnimmt, oder dass im gleichen Hause die Erziehung der 
Knaben und Mädchen in völlig getrennten Räumen geschieht. Für die Zweck¬ 
mässigkeit einer solchen Anordnung lässt sich wohl anführen, dass die Vor¬ 
bereitung für den künftigen Beruf bei Knaben in ganz anderen Bahnen sich 
bewegt als bei Mädchen, und dass es zumeist an dem zur Beaufsichtigung 
nöthigen Personal mangelt; es ist aber doch zweifellos, dass die Harmlosig¬ 
keit des Verkehrs mit dem anderen Geschlecht nach geschehener Entlassung 
durch eben diese Einschränkung leidet. 

Soll eine Waisenanstalt ihrem doppelten Zweck genügen, den Kindern 
nicht nur die körperliche Pflege, die ihnen im Elternhaus geworden wäre, 
angedeihen zu lassen, sondern auch die Geistes- und Gemüthsbildung zu 
fördern, so bedarf es zunächst einer Leitung durch Personen, welche die 
zur Erfüllung einer so verantwortungsvollen Aufgabe nöthige Einsicht be¬ 
sitzen. Die unmittelbare Beaufsichtigung der Kinder fällt gewöhnlich dem 
sogenannten Waisenvater oder der Waisenmutter zu, Personen, welche in 
früherer Zeit im Wesentlichen nur für die Einhaltung der oft ins Kleinste 
sich erstreckenden Hausordnung zu sorgen hatten, an deren Bildung aber 
nur geringe Ansprüche gestellt werden konnten; später freilich, als man auch 
der pädagogischen Seite der Waisenpflege eine grössere Aufmerksamkeit zu¬ 
wandte, legte man dieses Amt in die Hände von geprüften Lehrern und 
Lehrerinnen, unter Umständen auch von Geistlichen und Ordensschwestern. 
Man hat sich allmählich auch daran gewöhnt, nicht nur bei vorkommenden 
Krankheitsfällen den Arzt beizuziehen, sondern denselben auch als ständigen 
Berather in Angelegenheiten der Gesundheitspflege zur Seite zu haben. In 
Leipzig ist sogar das Directorium der Anstalt einem Arzt übertragen, dem 
zugleich die Behandlung der in Aussenpflege befindlichen Kinder anheimfällt. 
Wenn man bedenkt, dass die meisten Waisenkinder aus den allerdürftigsten 
Familienverhältnissen heraus in die Anstalt versetzt werden, dass ihnen oft 
die Gefahren einer ererbten Disposition für Tuberkulose oder Krankheiten 
des Nervensystems anhaften, dass ferner gerade in den Entwicklungsjahren 
ein schematisirender Anstaltszwang vom Uebel ist und auch der körperlichen 

Bibi. med. WieeenechnAen. Hygiene n. Ger. Med. 64 


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1010 


WAISENANSTALTEN. 


Veranlagung des Individuums Rechnnng getragen werden muss, so wird man 
dem Arzt im Waisenhaus gerne einen breiteren Wirkungskreis einr&umen. 

Von einer besonderen Hygiene der Waisenanstalten kann man 
kaum sprechen; dieselbe fällt im Wesentlichen zusammen mit der Hygiene 
des Kindes im Allgemeinen, der Hygiene der Erziehungsanstalten und der 
Hygiene des Unterrichts, insoferne grössere Waisenhäuser meist ihre eigenen 
Schulen besitzen. Indessen bedürfen wegen der Eigenthümlichkeiten der in 
Rede stehenden Anstalten einzelne Punkte einer gesonderten Besprechung. 
Eine Hauptfrage ist die: Wohin sollen wir unsere Waisenhäuser bauen? Die 
heranwachsende Jugend braucht in erster Linie Licht, Luft und viel freien 
Raum, um dem für ihr Gedeihen so wichtigen Bewegungsdrang durch Spiele, 
körperliche Uebungen, eventuell auch durch gärtnerische und landwirtschaft¬ 
liche Arbeiten genügen zu können. Da pecuniäre Rücksichten bei Unter¬ 
nehmungen der öffentlichen Fürsorge immer mitspielen, wird die Erwerbung 
eines entsprechenden Terrains im Innern einer Stadt stets Schwierigkeiten 
machen. Wo man deshalb in neuerer Zeit Waisenhäuser schuf, verlegte man 
dieselben meist an die Peripherie der Städte. So errichtete Berlin im Jahre 
1859 seine Waisenerziehungsanstalt zu Rummelsburg, welche auch heute noch 
als Muster hingestellt zu werden verdient, wenn auch Einzelheiten ihrer 
Einrichtung von der fortschreitenden Hygiene überholt sind. 

Von dem Gesammtgmndstück von 1321 Ar nehmen die Gebäude und Höfe nur 
187 Ar (also kaum 1 j 1 ) ein, während die übrige Fläche auf Gärten, Parkanlagen, Turn- und 
Spielplätze und auf die Wege entfallt. Die zehn zweistöckigen Wohngebäude, deren jedes 
für die Aufnahme von nur 50 Kindern berechnet ist, liegen zerstreut in dem weiten Areal 
und enthalten im Souterrain die Wirtschafts-, in der ersten Etage die Wohnräume und 
einen Schlafsaal, in der zweiten Etage einen weiteren Schlafsaal. Als Luttcubus sind in 
den Arbeitsräumen für den Kopf 10*5 m 3 in den Schlafsälen 12 m 3 gerechnet, Grössen, die 
hinter den gewöhnlichen Forderungen der Hygiene etwas Zurückbleiben und eine häufige 
Lufterneuerung voraussetzen; eine solche ist aber durch die grosse Anzahl und zweck¬ 
mässige Anordnung der Fenster gewährleistet. — Einen grossen Vorzug bietet die Lage 
der Anstalt unmittelbar neben dem Rnmmelsburger See; so kann jedes Kind im Sommer 
täglich ein Bad nehmen, wobei die grösseren Knaben auch Schwimmunterricht erhalten. 
Ausser den gewöhnlich im Freien, bei ungünstiger Witterung in der grossen Turnhalle 
geleiteten Turn- und Spielübungen gewährt die Beschäftigung in Garten und Feld den 
Zöglingen ein reiches Maass körperlicher Bewegung. Die ausgebreiteten Anlagen und ein 
anstossendes Ackerstück werden ausschliesslich von den Kindern bestellt — Die Anstalt 
enthält ausserdem ein Kinderkrankenhaus, in welches auch „kleine, kränkliche, schwäch¬ 
liche, mangelhaft organisirte Individuen“ aufgenommen werden. Dasselbe wird von einem 
besonderen Arzt geleitet, der in der Anstalt wohnt und den Beruf hat, „die ganze Lebens¬ 
weise der Zöglinge und die in derselben liegenden Wirkungen auf die Körperentwicklung 
und den Gesundheitszustand zu beobachten, auf schädliche Einflüsse aufmerksam zu 
machen, Verbesserungen vorzuschlagen und Schutzmaassregeln anzuordnen.“ Bei so weit¬ 
gehender Sorgte für Einhaltung hygienischer Principien ist es nicht zu verwundern, dass 
der Gesundheitszustand und das physische Gedeihen der Kinder in der Anstalt vorzüglich 
ist, und dass die Morbidität in derselben hinter der allgemeinen weit zurückbleibt 

Mit Recht wird heutzutage ein Hauptgewicht auf eine rationelle Ver¬ 
köstigung der Waisenhauszöglinge gelegt. Was früher so häufig gegen die 
Anstaltserziehung ins Gefecht geführt wurde, das blasse, kraftlose, kränkliche 
Anssehen der Kinder, mag in erster Linie auf fehlerhafte Ernährung zurück¬ 
zuführen sein. Muss man in dieser Beziehung schon aus Gründen der Dis- 
ciplin — yon vornherein auf ein Individualismen verzichten, so besteht um¬ 
somehr die Verpflichtung, für häufige Abwechslung in der Wahl der Speisen, 
für deren Nährwert und Schmackhaftigkeit zu sorgen. Dass diese Forderung 
nicht so sehr grosse pecuniäre Aufwendungen in sich schliesst als den guten 
Willen und die Findigkeit der Anstaltsleiter, zeigt die Kostordnung im Nürn¬ 
berger Waisenhaus, wo die Tagesko3t für jedes Kind auf nur 35*6 Pfennige 
zu stehen kommt. 

Als Norm mag die im Jahr 1886 erlassene Speisenordnung für die Zöglinge der 
Wiener Waisenhäuser gelten; diese billigt den Kindern zu: 


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WAISEN ANSTALTEN. 


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Fleisch 140 resp. 300 p. 

Brot 440 g x 

Suppe 300 g } Tagesration. 

Milch 300 g I 

Gemüse 300 g I 

Diese Ration enthält im Durchschnitt folgende Nährstoffmengen: 

Eiweiss 77*0 p, Fett 50*0 p, Kohlehydrate 238*0 p; sie ist also für 6—14-jährige Kinder 
sicher ausreichend. 

Besondere Hervorhebung verlangt auch die Bei nl ich keitspf lege in den 
Waisenhäusern. Die k. bayr. Min.-E. vom 3. März 1874, welche die Gesund¬ 
heitspflege in bayrischen Erziehungsanstalten überhaupt in musterhafter 
Weise regelt, beansprucht als Minimum, dass die Zöglinge in der kalten 
Jahreszeit alle 3 Wochen ein warmes Bad nehmen. Bei der Schwierigkeit, 
besonders in stark frequentirten Anstalten Wannenbäder häufiger zu verab¬ 
reichen, wäre gerade für die in Frage stehenden Institute die Errichtung 
von Brausebädern, wie sie ja auch in Schulen vielfach mit nur geringem 
Kostenaufwand betrieben werden, in Erwägung zu ziehen. 

Die erzieherische Thätigkeit in den Waisenhäusern wird 
um so erspriesslicher sein, je mehr auf die Individualität der Kinder ein¬ 
gegangen wird. Aus diesem Grunde darf an Erzieherpersonal nicht gespart 
werden. Man wird die Kinder nicht nach Altersclassen vereinigen, sondern in 
kleinen Gruppen zusammenfassen, deren jede ihren besonderen Präceptor hat 
und dadurch, dass man sie aus verschiedenalterigen Kindern bildet, einen 
familienähnlichen Charakter gewinnt. 

Raubt dem elternlosen Kinde schon der blosse Anstaltsaufenthalt ein 
gut Theil der jugendlichen Fröhlichkeit, so nimmt die Gefahr, dass Neid 
und Missgunst in ihm aufkeimen, um so mehr zu, je häufiger die Berühr¬ 
ungen mit der Aussenwelt sind. Nicht mit Unrecht hat man deshalb auch 
darauf hingestrebt, die Waisenhäuser aus den Centren des Verkehrs hinaus¬ 
zuschaffen in ländliche Bezirke oder doch wenigstens in die Vorstädte zu 
verlegen. Aus gleichen Gründen sucht man den Verkehr mit den Verwandten 
nach Möglichkeit einzuschränken, besonders wenn in den Anstalten auch 
solche Kinder Aufnahme finden, welche wegen Gefahr der Verwahrlosung der 
Obhut ihrer Familie entzogen werden mussten. Als pädagogisch ganz ver¬ 
fehlt aber ist es zu betrachten, dass man zuweilen neben den auf Kosten der 
Armenpflege oder der betreffenden Stiftung verpflegten Waisenkindern auch 
zahlende Pensionäre aufnimmt und so gleichsam zwei verschiedene Classen 
von Zöglingen schafft. 

Der Unterricht wird bei grösseren Instituten gewöhnlich im Hause, 
und zwar durch dieselben Lehrer geleitet, welchen auch die Erziehung der 
Kinder obliegt. Der Lehrstoff variirt je nach den Zwecken der Anstalt, deckt 
sich aber im Allgemeinen mit demjenigen, welchen die Volksschulen für die 
betreffenden Altersclassen verlangen. Waisenschulen stehen vielfach in hohem 
Ansehen, so dass auch ausserhalb der Anstalt wohnende Kinder denselben 
zugeführt werden; so sind es in Stuttgart gerade die vornehmeren Familien, 
welche ihre Kinder in der Schule des k. Waisenhauses unterrichten lassen. 
Die kleineren Institute überweisen ihre Zöglinge zum Zweck des Unterrichts 
in der Regel den öffentlichen Lehranstalten. 

Erziehung und Unterricht bezwecken, den Waisen eine genügende Basis 
für ihren zukünftigen Beruf zu schaffen. Um diesen Zweck ganz zu 
erfüllen, darf aber die Fürsorge dann noch nicht erschöpft sein, wenn die 
Kinder, die bis dahin unter stetem sicheren Schutz, mehr oder weniger von 
der Aussenwelt abgeschlossen dahinlebten, in diese hinaustreten. Ergreifen 
die Knaben, wie dies ja gewöhnlich der Fall ist, den Beruf eines Hand¬ 
werkers, so sorgt die Anstalt für Unterbringung bei einem tüchtigen Meister, 
versieht ihn mit etwas Baargeld, den nöthigen Kleidern und den für den 

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WAISENANSTALTEN. 


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Beruf nöthigen Utensilien, bezahlt für ihn das Lehrgeld und wohl auch für 
die Dauer der Lehrzeit die Krankencassengebühren; daneben werden zuweilen 
(so in Würzburg) denjenigen, welche sich am besten geführt haben, Prämien 
ausbezahlt. Ist eine Fortbildungsschule am Ort, so wird der Entlassene zu 
deren Besuch auf Kosten des Hauses (Stuttgart, Köln) angehalten. Manche 
Waisenhäuser sind in den Stand gesetzt, talentirte Zöglinge höheren Berufs¬ 
arten zuzuführen; so dürfen solche in Stuttgart unentgeltlich die höheren 
Lehranstalten besuchen, in besonderen Fällen auch über das 14. Lebensjahr 
hinaus; in Königsberg wird den befähigten und fortgeschrittenen Zöglingen 
des dortigen Waisenhauses freier Unterricht bis zur Universität gewährt, 
eventuell bei Aufnahme ins theologische Seminar Unterstützung bis zum Ab¬ 
schluss des Studiums; in Nürnberg kommt das Waisenhaus für die Kosten 
des Besuchs der dortigen Realschule und der Kunstschule auf; die befähigten 
Zöglinge des Frankfurter Waiseninstituts der niederländischen Gemeinde 
Augsburger Confession, auch solche, welche Gymnasium und Universität be¬ 
suchen, werden in Allem unterhalten, bis sie in die Möglichkeit eines selbst¬ 
ständigen Erwerbs gesetzt sind. Aehnliche wohlwollende Bestimmungen sind 
in den Statuten auch von vielen anderen Waisenhäusern vorgesehen. 

Auch bei den Waisenmädchen wird bei der Berufswahl nach dem Aus¬ 
tritt auf Fähigkeiten und Neigung Rücksicht genommen; doch nehmen die¬ 
selben fast ausschliesslich Stellung als Dienstmädchen, weit seltener als Schnei¬ 
derinnen, Verkäuferinnen u. dgl. Der dem Entwicklungsgang der Waisen¬ 
mädchen entsprechende Beruf einer Lehrerin, Erzieherin oder Krankenwärterin 
wird fast nie ergriffen. Mehr noch als bei den Knaben zeigt sich bei den 
Mädchen die NothWendigkeit, dass die Anstalt den Entlassenen bis zur Voll¬ 
jährigkeit mit Rath und That zur Seite steht, da die Erfahrung lehrt, dass 
besonders in grossen Städten die abhängige, schlecht bezahlte Dienstboten¬ 
stellung gewöhnlich schon nach kurzer Zeit mit der einträglicheren Arbeit 
in Fabriken vertauscht wird; auf die mit einem derartigen Berufswechsel ver¬ 
knüpften Gefahren in gesundheitlicher und moralischer Beziehung muss von 
Seiten der früheren Erzieher immer wieder in freundschaftlicher und be¬ 
lehrender Weise hingewiesen werden; durch disciplinäre Maassregeln auf die 
Entlassenen irgendwie einzuwirken, fehlt zur Zeit jedwede gesetzliche Hand¬ 
habe. Um schon frühzeitig die Freude an einer geeigneten Beschäftigung 
zu wecken, leitet man mehrerseits die Mädchen schon während des Anstalts¬ 
aufenthalts zur Führung des Haushalts an. 

So ist in Köln, wo Hans- und Aussen pflege neben einander bestehen, die Anordnung 
getroffen, dass die Mädchen durchgehends, nachdem sie die Schale verlassen haben, noch 
1—1 */s Jahre im Waisenhaus eingezogen werden. In dieser Zeit werden sie der Reihen¬ 
folge nach unter geeigneter Anleitung in der Waschküche, der Kochktiche, dem Näh¬ 
zimmer und dem Bügelzimmer des Hauses beschäftigt, wobei, besonders beim Kochen, 
neben dem grossartigen Anstaltsbetrieb auch auf die kleinen Verhältnisse in der Familie 
Rücksicht genommen wird. 

Die Unterhaltung der Waisenhäuser geschieht zumeist aus den 
Renten von Stiftungen, Legaten und gelegentlichen Geschenken, welche von 
Seiten fürstlicher, geistlicher oder auch privater Persönlichkeiten zukamen; 
manche Anstalten verfügen über sehr ansehnliche, aus solchen Quellen stam¬ 
mende Capitalien (so die Würzburger über 400000 Mark). Häufig ist die 
Inanspruchnahme der privaten Wohlthätigkeit zu Gunsten der Waisen in 
Form regelmässiger Vereinsbeiträge, von Hauscollecten, durch Aufstellung 
von Sammelbüchsen in Kirchen, Gasthäusern u. dgl.; auch die Erträgnisse 
von Wohlthätigkeitsconcerten, -Theatern, -Bazaren und -Lotterien, ferner bei 
Vergleichen vor Gericht geleistete Strafgelder werden manchmal dem ge¬ 
nannten Zweck zugeführt. Die früher häufig geübte Sitte, die Einkünfte der 
Waisenhäuser dadurch zu vermehren, dass die Kinder in ihren freien Stunden 
mit Herstellung von allerlei Industrieartikeln (Webereien, Flechtereien, Nacht- 
lichterfabrication u. a.) beschäftigt wurden, ist erfreulicher Weise heutzutage 


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WAISENANSTALTEN. 


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fast ganz aufgegeben; die geleistete Arbeit wurde oft erbärmlich bezahlt und 
den Kindern, die durch den Unterricht stark in Anspruch genommen waren, 
wurde durch dieselbe der für ihre körperliche Entwicklung so wichtige Factor: 
freie Bewegung in frischer Luft in ungebührlicher Weise geschmälert. Wo 
von den Zöglingen die Bethätigung handwerksmässiger Verrichtungen ge¬ 
fordert wird, geschehe dies in maassvoller, freierer Weise (Handfertigkeits- 
Unterricht) und erstrecke sich nur auf die Bedürfnisse der Anstalt selbst. — 
Mehr von der ethischen Seite verwerflich sind die mancherorts noch in regel¬ 
mässigen Zwischenräumen veranstalteten Bettelzüge der Waisenkinder und 
die gegen Bezahlung von denselben verrichteten Gebete für Kranke und Ster¬ 
bende, oder die bezahlte Theilnahme an Begräbnissen. 

Die Waisenpüege ist ein Theil der den Gemeinden zufallenden Armen¬ 
pflege; wo deshalb für die Waisen durch Stiftungen keine Fürsorge getroffen 
ist, oder die Mittel aus den anderen genannten Quellen zu spärlich fliessen, 
werden die Gemeinden in stärkerem Maasse herangezogen werden müssen; 
zumal den Verwaltungen grosser Städte erwachsen dadurch bedeutende Lasten, 
und so wurde gerade hier das Bedürfnis am dringendsten empfunden, den 
Aufgaben der Waisenpflege mit möglichst geringen Aufwendungen gerecht 
zu werden. Die Frage: „Anstaltspflege oder Familienpflege'?“, die 
schon am Ende des 18. Jahrhunderts viel discutirt worden war, kam haupt¬ 
sächlich wegen ihrer pecuniären Seite in Folge der raschen Grössenzunahme 
der Städte von den Sechzigerjahren ab mehr in Fluss. Es kann kein Zweifel 
sein, dass die Erziehung in Waisenhäusern viel grössere Kosten verursacht. 
Hat man doch in Leipzig die Erfahrung gemacht, dass ein in Familienpflege 
gegebenes Kind einen Pflegegeldersatz von höchstens 120 Mark pro Jahr 
erfordert, während man für jedes Anstaltskind 300—400 Mark rechnen muss. 
Im Zeitalter der Humanität könnte aber dieses Moment allein nicht den 
Ausschlag für die überwiegende Bevorzugung der Familienpflege geben, wenn 
nicht für dieselbe noch andere Gründe sprächen. Vor Allem scheint der 
Vorwurf Berechtigung zu haben, dass in den Anstalten auf die Individualität 
der Kinder zu wenig eingegangen werde. Wo individualisirt werden soll, ist 
zahlreiches Personal nöthig; wie aber sollen die Institute, die schon bei 
äusserster Einschränkung mit hohen Betriebskosten zu rechnen haben, einer 
solchen Anforderung genügen können? — Auch diejenigen mögen Recht 
haben, welche sagen, dass Waisen, gross geworden unter dem Schutz einer 
auch die kleinsten Lebensbedürfnisse regelndenden Anstalt, den Anforderungen, 
Sorgen und Entbehrungen des Lebens nicht das gleiche Verständnis ent¬ 
gegenbringen als diejenigen, welche in der Familie des kleinen Mannes her¬ 
angewachsen sind. Namentlich den Mädchen mag es später, wenn ihnen als 
Dienstboten oft nur die kärglichsten Lebensbedingungen geboten werden, sehr 
schwer fallen, in die neuen Verhältnisse sich zu fügen. — Einen völligen 
Ersatz dessen, was die Familie als solche bietet, kann auch die beste ge¬ 
schlossene Pflege nicht leisten; denn für die Erziehung des Charakters zur 
Selbstverläugnung, für die Weckung der Schaffenslust im Interesse auch von 
anderen, ist der lockere, durch die Waisenhausregeln geschaffene Zusammen¬ 
hang nicht genügend. 

Wenn den Gegnern der Anstaltspflege in diesen Punkten beigepflichtet 
werden muss, so kann man ihren Einwürfen nach anderen Seiten hin nur 
noch eine historische Berechtigung zuerkennen, insoferne sie moderne, gut 
geleitete Anstalten nicht treffen können. Man sagt gerne, dass die Gesund¬ 
heit und das körperliche Gedeihen der Kinder in den Waisenhäusern leide. 
Die Statistiken, die an verschiedenen Orten geführt wurden, sprechen dagegen; 
insbesondere ist es auffällig, dass Tuberkulose in Waisenhäusern nur äusserst 
selten vorkommt, trotzdem doch gerade die erbliche Belastung der Kinder 
in dieser Hinsicht eine sehr starke ist. So konnte Stich als Hausarzt am 


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WAISENANSTALTEN. 


Nürnberger Waisenhaus in acht Jahren bei einer jährlichen durchschnittlichen 
Frequenz von 100 Kindern nur einen Fall von Tuberkulose constatiren, und 
auch Bollinger fand innerhalb 12 Jahre unter den Kindern des Münchener 
städtischen Waisenhauses, von denen mehr als die Hälfte erblich belastet 
war, ein einziges tuberkulöses, das überdies die Krankheit schon ausserhalb 
der Anstalt erworben hatte. — Ein Aehnliches gilt von den Hautkrankheiten, 
die früher in Waisenhäusern unausrottbar schienen, jetzt durch eine pein¬ 
liche Reinlichkeitspflege aus denselben geschwunden sind. 

Dass die streDge Zucht die Zöglinge zu Lüge und Heuchelei führe, 
kann nnr für diejenigen Fälle zugegeben werden, wo die Strenge der Erzieher 
nicht mit der Einsicht in die Schwächen des Kindergemüths gepaart ist; das 
Princip der Anstalt aber trifft dieser Vorwurf nicht. Mit derselben Vorsicht 
ist die immer wieder in den Vordergrund geschobene Gefahr der sittlichen 
Ansteckung von einzelnen schlechten Elementen aus aufzufassen; wo tüch¬ 
tigen Erziehern die Aufsicht untersteht, wird diese Gefahr für die Waisen¬ 
hauskinder nicht grösser sein, als sie sich für die in Familienpflege stehenden 
Kinder in der Schule, auf der Strasse und auf öffentlichen Spielplätzen 
darstellt. 

Die Bedenken, welche anderseits gegenüber der Familienpflege erhoben 
werden, beziehen sich auf die Auswahl und Beaufsichtigung der Persönlich¬ 
keiten, welche den Kindern die verlorenen Eltern ersetzen sollen. Wenn 
man die Höhe des den Pflegeeltern gewährten Kostgeldes mit den von ihnen 
übernommenen Verpflichtungen vergleicht, so kommt man zu der Ueber- 
zeugung, dass der Nutzen daraus nur ein sehr geringer sein kann; es liegt 
daher die Versuchung nahe, die übernommenen Kinder nur mangelhaft zu 
verpflegen oder auch, wenn sie einigermaassen herangewachsen sind, ihre 
Kräfte übermässig in Anspruch zu nehmen, eventuell dieselben auch zum 
Bettel anzuhalten. Man sollte glauben, dass es schwer fiele, Pflegeeltern zu 
finden, welche in geordneten Verhältnissen lebend, ohne lohnenden Verdienst 
sich fremder Kinder annehmen; und doch berichten fast alle Städte, welche 
ihre Waisen in Familien unterbringen, dass deren Versorgung nur selten 
mit Schwierigkeiten verbunden sei. Die besten Pflegeeltern sind ältere Ehe¬ 
leute, die mit der Aufziehung ihrer eigenen Kinder schon Erfahrung ge¬ 
sammelt und nach Versorgung derselben, um nicht zu vereinsamen, Kinder 
um sich haben wollen. Auch Witwen sind im Allgemeinen, besonders für 
Mädchen, willkommene Erzieherinnen. Dagegen hat die Aufnahme von Waisen 
in kinderreiche Familien meist nicht den gewünschten Erfolg. 

Die Unterbringung auf dem Lande wird meistens schon aus gesundheit¬ 
lichen Rücksichten vorgezogen. Die Mehrzahl der Kinder wird bei Bauern 
und Handwerkern in Pflege gegeben und erlernt dabei das Gewerbe des 
Pflegevaters; an manchen Stellen hat sich die Aufnahme der Waisen in 
Lehrersfamilien auf plattem Lande sehr gut bewährt. 

Den Schwierigkeiten, welche der häufigen Controle räumlich oft weit 
auseinanderliegender Pflegestellen entgegenstehen, wird dadurch begegnet, 
dass sich den amtlichen Aufsichtsorganen (Armenbehörden und Waisenrath) 
überall opferwillige Männer und Frauen zur Verfügung stellen, welche dann 
je einen kleinen Bezirk mit einer beschränkten Anzahl von Kindern zugewiesen 
bekommen. Auch versuchte man mit gutem Erfolg eine Centralisirung der 
in Aussenpflege gegebenen Kinder durch Gründung sogenannter Waisencolonien: 
Man sucht möglichst viele Pflegeeltern im gleichen Ort zu gewinnen und 
setzt eine geeignete Persönlichkeit im Ort selbst (Pfarrer, Lehrer, Bürger¬ 
meister) als Waisenvater ein; dadurch wird die Controle zu einer ständigen 
gemacht, die Kinder erhalten dabei einen einheitlichen Schulunterricht, eine 
einheitliche Erziehung, ohne die Vortheile des Familienlebens entbehren zu 
müssen. 


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WASSER. 


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Mag nun immerhin — schon aus pecuniären Gründen — die Versor¬ 
gung der Mehrzahl der Waisen in Familienpflege geboten sein, so bleibt für 
einzelne Fälle das Bedürfnis nach Erhaltung der Waisenhäuser, even¬ 
tuell nach Neuerrichtung von solchen bestehen. Es hat sich auch da, wo 
man im Allgemeinen mit dem Anstaltsprincip völlig gebrochen hat (z. B. in 
Berlin und Leipzig) gezeigt, dass das Waisenhaus wenigstens als Durchgangs¬ 
station nicht zu entbehren ist. Auch bei der besten Organisation der Fa¬ 
milienpflege wird es nicht immer sofort gelingen, eine passende Unterkunft 
für das verwaiste Kind zu Anden; es wird nöthig sein, dasselbe zunächst 
durch geeignete Persönlichkeiten auf seine physischen, intellectuellen und 
moralischen Qualitäten prüfen zu lassen, wenn man sich nicht der Gefahr 
aussetzen will, schon nach Kurzem mit der Pflegestelle wieder wechseln zu 
müssen. Wo könnte dies aber besser geschehen als in einem Waisendepot, 
wo die Kinder einer ständigen Beobachtung unterworfen sind? 

Es ist ferner eine Erfahrungssache, dass viele Kinder in derart ver¬ 
wahrlostem Zustand der Wagenpflege überantwortet werden, dass man ihre 
Erziehung, wenigstens zunächst, nicht einer Familie überlassen kann. In¬ 
dessen verdient erwähnt zu werden, dass der Waisenrath in Kiel in solchen 
Fällen die verwahrlosten Knaben mit gutem Erfolg bei einem Fischer auf 
einer Hallig unterbringt, und dass man auch in Berlin leichtere Grade der 
Verwahrlosung noch nicht als Hindernis für — freilich schon erprobte — 
Familienpflege betrachtet. Für gewöhnlich wird man aber, wenigstens bis 
die Erziehung die ersten Früchte gezeitigt hat, die Hilfe von Waisenhäusern 
eventuell von Rettungsanstalten in Anspruch nehmen müssen. 

Eine dritte Gruppe der Anstaltspttege bedürftiger Waisen wird von den¬ 
jenigen gebildet, welche wegen körperlicher Gebrechen, schwächlicher Con¬ 
stitution oder geistiger Mängel eine besondere Wartung benöthigen. Wo es 
die Verhältnisse erlauben, wird man derartige Kinder freilich lieber in Waisen¬ 
sanatorien als in den allgemeinen Waisenhäusern unterbringen; so dient das 
5. Wiener städtische Waisenhaus zu Klosterneuburg statutenmässig nur der 
Aufnahme solcher Kinder, welche wegen Schwächlichkeit und Kränklichkeit 
in die eigentlichen Waisenhäuser nicht eintreten können. Das segensreiche 
Wirken dieser Anstalt, welche fast drei Viertel der (im Jahr 1883) krank auf¬ 
genommenen, meist scrophulösen Kinder geheilt entliess, rechtfertigt den Wunsch, 
dass, soweit nicht schon bestehende Kinderheilstätten, Seehospize, Feriencolonien 
u. dgl. auch den Waisenkindern ihren Schutz gewähren, anderorts ähnliche 
Sanatorien diese Lücke in der öffentlichen Fürsorge ausfüllen möchten. 

J. H. BOTH. 

Wa88er. Das Wasser ist als eine Substanz, welche mit dem bei 
Weitem grössten Antheile an der Bildung der Erdoberfläche sich betheiligt, 
von einer hervorragenden Bedeutung im ganzen Naturreiche. Es spielt eine 
wichtige Rolle bei den meisten chemischen Umsetzungen, es ist unentbehrlich 
für den Aufbau und die Erhaltung des thierischen und pflanzlichen Körpers, 
es ist endlich in dem gesamraten menschlichen Leben von entscheidender 
Bedeutung für die Ernährung direct sowohl als indirect, für die Reinlichkeit, 
des Körpers und der Umgebung, damit zugleich auch für die Gesunderhaltung 
des Individuums und ganzer Völker, für die gesammte Industrie, deren Blüthe 
schliesslich auch wieder auf das Wohlergehen des Einzelnen rückwirkt. Kurz, 
an das hinreichende Vorhandensein von Wasser ist die Existenz des Menschen 
geknüpft, von der Güte des zur Verfügung stehenden Wassers hängt seine 
Gesunderhaltung zum guten Theile ab. Das leuchtet umso mehr ein, wenn 
man bedenkt, dass das Wasser seinen besonderen Eigenschaften gemäss ausser¬ 
ordentlich leicht zum Träger und Verbreiter gesundheitsschädlicher Agentien 
werden kann. Aus alledem resultirt zur Genüge die besondere Wichtig¬ 
keit desselben für die Hygiene des gesammten menschlichen Lebens und die 


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WASSER. 


Nothwendigkeit, dass der Staat dafür sorge, dass es einem Jeden in genügen¬ 
der Menge und Güte zur Verfügung stehe. Diese Erkenntnis hat zu ein¬ 
gehenden Untersuchungen geführt, welche, lange Jahre fort betrieben, jetzt 
wohl gestatten, nach einfachen, klaren Grundsätzen jenes Ziel anzustreben. 

Das Wasser kommt vor als 1. Regenwasser, 2. Oberflächenwasser, 
3. Grundwasser. 

Diese Ausdrücke bedeuten eigentlich nur Etappen auf dem ununter¬ 
brochenen Kreislauf des Wassers: Als Wasserdampf in der Luft vorhanden, 
condensirt es sich und fällt als Regen, Schnee, Hagel zur Erde nieder, sickert 
zum Theil durch die durchlässigen Erdschichten, bis es sich als Grundwasser 
über einer undurchlässigen Schicht staut. Der andere Theil fliesst in Bächen, 
Flüssen ab und sammelt sich in Teichen, Landseen, schliesslich im Meer. Das 
ist das Oberflächenwasser. 

1. Das Regen wasser ist bei seinem Entstehen aus Wasserdampf chemisch 
rein, wird aber bei seinem Fall durch die Luft mehr weniger verunreinigt. 
Es nimmt an Gasen auf: Sauerstoff, Stickstoff, in grösserer Höhe über dem 
Erdboden Salpetersäure, näher demselben Ammoniak. Der Sauerstoff ist in 
der vom Regenwasser aufgenommenen Luft reichlicher vertreten als in der 
atmosphärischen Luft, ebenso die Kohlensäure. Da Kalk- und Magnesium¬ 
salze fast ganz fehlen, so ist das Regenwasser sehr weich und daher für den 
wirtschaftlichen Gebrauch besonders geeignet. An der Meeresküste finden 
sich oft nicht unbeträchtliche Mengen von Chlornatrium im Regenwasser; es 
war durch Verstaubung mit dem Meerwasser in die Luft gehoben und vom 
Regen mit niedergerissen worden. Die beigemischten festen Bestandteile sind 
je nach der Oertlichkeit, der Jahreszeit u. s. w. sehr verschieden an Menge 
und Art. Es finden sich immer zahlreiche Bakterien vor; ihre Anwesenheit im 
Verein mit oft beträchtlichen Mengen von organischen Substanzen bewirkt, 
dass stagnirendes Regenwasser leicht in stinkende Fäulnis gerät. Das Regen¬ 
wasser ist im Beginne des Regens am stärksten verunreinigt in Bezug auf 
alle genannten Beimischungen, weiterhin wird es immer reiner. Als Trink¬ 
wasser und zum Kochen wird es nur in Ermangelung einer besseren Wasser¬ 
versorgung gebraucht, da seine starken Verunreinigungen es bedenklich er¬ 
scheinen lassen; sein Geschmack ist unangenehm weichlich. Es wird in 
Cisternen gesammelt und hier einer Passage durch Sandfilter unterworfen 
oder der Selbstreinigung durch Sedimentirung überlassen. 

2. Das Oberflächenwasser. Unter diesem Begriffe fasst man die frei zu 
Tage liegenden fliessenden und stehenden Gewässer, Bäche, Flüsse, Teiche, 
Seen und Meere auf. Sie erhalten Zufluss sowohl vom Regenwasser als auch 
vom Grundwasser, sind also als ein Gemisch von beiden auch in ihrer Zusammen¬ 
setzung zu betrachten. Letztere richtet sich nach der geologischen Forma¬ 
tion, nach der Art der zufliessenden Wässer, welche natürlich sehr verschie¬ 
den sein müssen, je nachdem sie aus stark oder schwach oder gar nicht be¬ 
wohnten, industriereichen, mit Waldungen bestandenen oder ackerbaureichen 
Gegenden kommen. Im Allgemeinen ist Oberflächenwasser kohlensäurehaltiger 
und härter als Regenwasser, weicher und ärmer an Kohlensäure als Grund¬ 
wasser. Am wichtigsten sind der Gehalt an Kalk- und Magnesiumsalzen und 
der an Chlornatrium, ersterer weil er die Härte des Wassers bedingt, letzterer, 
weil er auf die Verunreinigungen durch Zuflüsse aus dem menschlichen und 
thierischen Haushalte unter gewissen Verhältnissen — wo nämlich eine andere 
Herkunft des Chlornatriums, z. B. aus dem umgebenden Erdreiche, ausgeschlos¬ 
sen werden kann — schliessen lässt. Der Kalkgehalt wird bestimmt durch die 
Formation der Gestein- und Erdschicht, welche der Fluss durchläuft, und 
durch den Kohlensäuregehalt des Wassers, der Chlornatriumgehalt durch die 
Verunreinigungen, die geologische Formation und die Jahreszeit, insofern als 
er am höchsten ist bei niedrigem Wasserstande. Die ungelösten Bestandtheile 


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WASSER. 


1017 


des Flusswassers sind naturgemäss von einer ausserordentlichen Verschieden¬ 
heit: Sie werden theils aus den durchlaufenen Erdschichten mitgerissen, theils 
sind sie von oben her in das Wasser gelangt, entstammen in verschiedenen 
Verhältnissen der organisirten oder der anorganischen Natur. Immer enthält 
es Bakterien in wechselnder Zahl, deren Schwankungen für die Beurtheilung 
der Verunreinigung des Flusswassers von der grössten Wichtigkeit, ja fast allein 
maassgebend sind. 

Das Flusswasser hat die Fähigkeit, die aufgenommenen Verunreinigungen in seinem 
Laufe wieder zu beseitigen, die sogenannte Selbstreinigung der Flüsse. Diese kommt 
zu Stande durch die Verdünnung mit zuiliessendem Wasser, durch chemische, vornehmlich 
Oxydationsprocesse, hauptsächlich wohl durch Sedimentirung, welche um so eher vor sich 
geht, je ruhiger und langsamer die Strömung ist. Die chemischen Processe, besonders die¬ 
jenigen, welche die Umwandlung der organischen Stoffe bewirken und die stickstoffhaltigen 
Substanzen in Ammoniak, salpetrige und Salpetersäure zerlegen, kommen vielfach unter 
dem Einflüsse von Bakterien zu Stande. Gelangen pathogene Bakterien in das FluBswasser, 
so kann letzteres, da es denselben auf verschieden lange Zeit passende Lebensbedingungen 
bietet, zur Verbreitung derselben und zur Entstehung von Epidemien Anlass geben. Das 
hat vornehmlich in Bezug auf Cholera und Typhus Geltung. Das Wasser von Teichen 
und Landseen unterscheidet sich nicht wesentlich vom Flusswasser. 

Das Meerwasser ist sehr reich an Salzen, da ihm solche mit den Zuflüssen fort¬ 
während zugeführt werden. Obenan steht an Menge daB Kochsalz, es folgen Chlormag¬ 
nesia, Gips, schwefelsaures Magnesium, Chlorkalium, Bromnatrium. An Bakterien ist es 
im Allgemeinen arm, obwohl die Existenz auch empfindlicher Arten in ihm nicht ausge¬ 
schlossen ist. 

3. Grandwasser. Auf dem Wege, den das Regenwasser durch die durch¬ 
lässigen Bodenschichten zurücklegt bis dahin, wo es sich als Grundwasser 
über einer undurchlässigen Schicht staut, gibt es eine Menge der in der 
Luft, auf den Dächern etc. aufgenommenen Verunreinigungen an den Boden 
ab; besonders die Riech- und Farbstoffe, auch gewisse Mineralsubstanzen, von 
denen am unverändertsten bleibt das Chlor. Die fäulnisfähigen Substanzen 
werden von den zahlreichen Bodenbacterien umgesetzt und schliesslich in 
Ammoniak, Wasser und Kohlensäure zurückgeführt. Das Ammoniak wird 
weiter in salpetrige Säure und Salpetersäure übergeführt. Die unlöslichen 
Bestandtheile, auch die Bacterien, werden mechanisch im Boden zurückgehalten. 
Der Sauerstoß wird zum grössten Theile in Kohlensäure übergeführt; diese 
Zunahme an Kohlensäure verleiht dem Grundwasser erhöhte Fähigkeit, Cal¬ 
cium, Magnesium und Eisensalze zu lösen. Letztere sind oft in grösseren 
Tiefen, wo die Menge des absorbirten Sauerstoffs nur noch gering ist oder 
wo diese ganz fehlt, im Grundwasser zu finden als kohlensaures und phosphor¬ 
saures Eisenoxydul. Ammoniak kann im Grundwasser gefunden werden, 
wenn die vom Regenwasser zu passirenden Bodenschichten so reich an orga¬ 
nischen Stoffen sind, dass sie das in jenem vorhandene Ammoniak nicht mehr 
aufnehmen können, oder in sehr grossen Tiefen, wo die Luft nur noch sehr 
wenig oder gar keinen Sauerstoff enthält, was eine Reduction der Salpeter¬ 
säure zu Ammoniak zur Folge hat. Kommt es auf seinem Wege durch den 
Boden mit in Verkohlung begriffenen Pfianzenresten in Berührung, so zeigt 
es gewöhnlich humussaures Eisenoxydul neben Ammoniak. Das Grundwasser 
ist im Allgemeinen im Sommer kühler, im Winter wärmer als die Luft. Es 
tritt entweder in Folge der sich schneidenden Verlaufsrichtungen der Erd¬ 
schichten von selbst als Quelle zu Tage oder wird künstlich durch Brunnen 
erschlossen. In beiden Fällen entspricht das gelieferte Wasser in seiner 
Qualität ganz dem Grundwasser, wenn nicht an der Stelle, wo es zu Tage 
tritt, durch ungünstige Anlagen Verunreinigungen bewirkt werden. 

Das Wasser kann eine Reihe von mikroskopischen Pflanzen und Thieren 
enthalten; unter denen besonders den Eiern von Bandwürmern, Spulwürmern, 
des Oxyuris vermicularis, des Trichocephalus dispar und des Anchylostomum 
duodenale eine grössere Wichtigkeit für die menschliche Hygiene zukommt. 


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WASSER. 


Soll eines dieser W&sser irgendwie im menschlichen Haushalt Verwen¬ 
dung finden, so ist Folgendes zu bedenken. Solches Wasser darf nie, gleich¬ 
viel ob es zum directen Genüsse als Trinkwasser oder zum Kochen oder zu 
wirtschaftlichen Zwecken benutzt werden soll, gesundheitsschädliche Eigen¬ 
schaften haben. In dieser Beziehung sollte ein Unterschied zwischen Trink¬ 
wasser und Nutzwasser nicht gemacht werden, da einmal eine Controle 
über die Verwendung des Wassers, sobald es einmal in den Haushalt gelangt 
ist, ausgeschlossen ist, anderseits auch bei dem besten Willen es nicht zu um¬ 
gehen ist, dass nur zu Nutzzwecken geeignetes Wasser, an die zum Trinken 
und Speisen bestimmten Geräthe gelangt und somit dem Körper sammt den 
etwaigen krankheitserregenden Agentien zugeführt wird. Ein jedes für den 
menschlichen Haushalt bestimmte Wasser soll also von tadelloser Beschaffen¬ 
heit sein; dazu gehört, das es von klarem, appetitlichem Aussehen, geruchlos, 
von angenehm erfrischendem Geschmack und der richtigen Temperatur ist, 
dass es nicht durch zu hohen Gehalt an Erdalkalien zu hart wird, dass es 
endlich keinerlei krankheitserregende Bestandtheile, seien sie nun chemischer 
Natur oder thierische oder pflanzliche Organismen, enthält. Wasser von un¬ 
gewöhnlichem Aussehen, sei es nun, dass es durch schwebende erdige oder 
pflanzliche Beimischungen getrübt, gefärbt oder sonst wie verändert ist, er¬ 
regt Widerwillen, ebenso solches, das einen ausgesprochenen Geschmack hat 
oder durch einen zu geringen Kohlensäuregehalt des angenehmen Prickelns 
entbehrt, das wir von gutem Trinkwasser verlangen, oder das zu warm ist. 
Ein zu hoher Gehalt an Erdalkalien macht das Wasser zum Waschen unge¬ 
eignet, da jene mit der Seife unlösliche Verbindungen eingehen, und dadurch 
der Verbrauch an Seife und damit die Kosten der Reinigung steigen, auch 
ist solches Wasser nicht zum Kochen von Hülsenfrüchten zu gebrauchen. 
Krankheitserregende Beimischungen chemischer Natur kommen nur selten in 
Betracht, denn im Allgemeinen werden sie in einer solchen Verdünnung auf- 
treten, dass sie praktisch keine Wichtigkeit haben; es soll damit nicht aus¬ 
geschlossen werden, dass chemische Körper von giftiger Einwirkung auf den 
menschlichen Körper in Wasserentnahmestellen in gefährlicher Concentration 
erscheinen können. Man denke da besonders an das Auftreten von Bleiver¬ 
bindungen im Leitungswasser, das in Bleiröhren fliesst; auch sind absichtliche 
Beimischungen von giftigen Verbindungen bei Brunnen und Quellen nicht 
undenkbar. 

In solchen Fällen werden besondere Krankheitserscheinungen oder son¬ 
stige äussere Momente Anlass zu näherer Untersuchung geben. Die thierischen 
Krankheitserreger, welche im Wasser auftreten können, sind oben erwähnt. 
Von höchstem Interesse sind aber diejenigen pflanzlicüen kleinsten Lebewesen, 
welchen das Wasser häufig als Verbreitungsmittel dient, und die auf diese 
Weise die Erreger weitverbreiteter Epidemien werden können. Es ist wieder¬ 
holt mit unumstösslicher Sicherheit festgestellt, dass Cholerabacterien auf 
irgend eine Weise in fliessendes Wasser gelangten und nun in dem ganzen 
von diesem Wasser versorgten Gebiete in kurzer Zeit massenhafte Cholera¬ 
erkrankungen hervorriefen. Bestimmte Wasserentnahmestellen, die mit Typhus- 
bacterien inficirt worden waren, wurden zum Ausgangspunkte zahlreicher 
Typhuserkrankungen in allen jenen Haushaltungen, die ihr Wasser von da¬ 
her bezogen. Auch für die Dysenterieerreger nimmt man einen gleichen 
Modus der Verbreitung an; derselbe ist auch für eine Anzahl anderer Infec- 
tionskrankheiten wahrscheinlich, doch nicht mit Sicherheit erwiesen. 

Die Begutachtung einesWassers auf seine Brauchbarkeit 
für den menschlichen Haushalt wird alle diese Factoren sorgfältig 
in Rechnung zu ziehen haben. Man hat zu dem Zwecke ganz bestimmte 
Grundsätze aufgestellt: Wasser, in dem es gelang, pathogene Bacterien nach¬ 
zuweisen, ist ohne Weiteres als gesundheitsschädlich zu verwerfen; aber auch 


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WASSER. 


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solches Wasser, welches einen unverhältnismässig hohen B&cteriengehalt zeigt, 
ist znm Mindesten verdächtig, da jener ein Beweis dafür ist, dass die filtri- 
rende Kraft des Bodens erschöpft ist, somit ein Eindringen von pathogenen 
Keimen in das Wasser zu den naheliegenden Möglichkeiten gehört. Bei 
Brunnen kann man sich darüber leicht Gewissheit verschaffen, wenn man den 
Brunnen desinficirt und dann untersucht. Bei gut filtrirendem Boden wird 
das Grund wasser dann dauernd keimfrei erscheinen. Auf Grund des chemi¬ 
schen Untersuchungsbefundes allein wird Wasser selten zu beanstanden sein. 
Die Endproducte der Fäulnis organischer Stoffe, Ammoniak, salpetrige und 
Salpetersäure, an sich in der im Wasser vorkommenden Verdünnung völlig 
gleichgiltig, können als Zeichen der stattgehabten Zersetzungsvorgänge benützt 
werden und die Verwendung eines Wassers, in dem sie sich finden, bedenk¬ 
lich erscheinen lassen; doch darf nie darauf hin ein Urtheil gefällt werden 
ohne genaue Feststellung des Ursprungs dieser Verbindungen. Ammoniak 
kann sogar in tiefsten, vor jeder Verunreinigung geschützten Brunnen Vor¬ 
kommen und ganz unbedenklich sein; es ist hier in der sauerstoffarmen Luft 
durch Reduction entstanden und findet sich fast regelmässig in eisenhaltigen, 
auch Tiefbrunnen vor. Man hat ferner auf die geologische Formation der 
Umgebung des Wassers Rücksicht zu nehmen und zu bedenken, ob jene Ver¬ 
bindungen den Gesteinsschichten entstammen können. Es lässt sich demnach 
auch kein allgemeiner Grenzwert für dieselben angeben, vielmehr müsste ein 
solcher für jeden Ort erst unter Berücksichtigung der genannten Verhältnisse 
festgesetzt werden. Ist aber ein derartiger Ursprung auszuschliessen, so sind 
diese Verbindungen allerdings geeignet, den Ablauf von Zersetzungsvorgängen 
im Wasser anzuzeigen, welche dieses, besonders wo sie in reichlicher Menge 
Vorkommen, als ungeeignet erscheinen lassen. Ebenso steht es mit dem 
Chlor; dasselbe tritt im Wasser als Chlornatrium auf, welches dem thierischen 
oder menschlichen Haushalte, besonders den Fäcalien entstammen kann. 
Dann würde eine der gefährlichsten Verunreinigungen vorliegen. Es kann 
aber auch aus Chlornatrium führenden Erdschichten stammen und ist dann, 
wenn ein zu hoher Gehalt nicht die Schmackhaftigkeit beeinträchtigt, ganz 
unbedenklich. 

Zeigt die Untersuchung einen beträchtlichen Gehalt an organischen 
Stoffen, so muss ein solches Wasser als verdächtig betrachtet werden; immer¬ 
hin ist auch dieses Ergebnis unsicher, da die übliche Untersuchung über die 
Art derselben und ihre Herkunft keinen Aufschluss gibt, also auch ihre Ge¬ 
fährlichkeit oder Harmlosigkeit unbeachtet lässt. Das trifft besonders wieder 
zu bei humusreichen Erdschichten. 

Ein hoher Eisengehalt ist nicht direct gesundheitsschädlich, macht aber 
das Wasser unansehnlich und kann den Betrieb von Wasserleitungen stören, 
besonders wenn das ausgescbiedene Eisen durch Crenothrix polyspora verfilzt 
wird und die Röhren verstopft. Für industrielle Zwecke kann solches Wasser 
ebenfalls untauglich sein. 

Grosse Härte des Wassers wird nur in beschränktem Maasse gesund¬ 
heitsschädlich wirken können, und dann nur bei sehr lange fortgesetztem 
ausschliesslichen Genüsse, macht es aber für wirtschaftliche und industrielle 
Zwecke ungeeignet. 

Untersuchungsmethoden: Für die Entnahme des zu untersuchenden 
Wassers hat man im Auge zu behalten, dass einmal die Manipulationen bei 
der Entnahme selbst nicht die Durchschnittsbeschaffenheit beeinflussen, z. B. 
indem der Grundschlamm aufgerührt oder nur von der stark verunreinigten 
Oberfläche geschöpft wird, zum Anderen, dass das Wasser ohne wesentliche 
Veränderung zur Untersuchungsstelle geschafft wird. Es darf also nur mög¬ 
lichst kurze Zeit unterwegs sein, ja die bakteriologische Untersuchung sollte 
sogar sofort an Ort und Stelle ausgeführt werden, es darf auf dem Transport 


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WASSER. 


nicht zu warm gehalten werden, ebenso wenig lässt sich aber eine beträcht¬ 
liche Erniedrigung der Temperatur für längere Zeit, z. B. durch Eisverpackung 
empfehlen. Die Entnahme sollte ausserdem am besten so geschehen, dass 
man mit Sicherheit Wasser aus bestimmten Tiefen entnehmen kann. Dafür 
sind verschiedene Apparate angegeben, die verschlossen in das Wasser ge¬ 
lassen, in der gewünschten Tiefe geöffnet und nach Füllung wieder verschlossen 
werden. 

1. Die physikalische Untersuchung erstreckt sich auf Aussehen, 
Geruch, Geschmack, Temperatur. 

2. Die mikroskopische Untersuchung richtet sich auf das Vor¬ 
handensein von Pflänzchen und Thierchen, beim Verdunsten sich ausscheidende 
Krystalle anorganischer Verbindungen. 

3. Die bakteriologische Untersuchung (vergl. S. 134) hat die 
Zahl der in einem bestimmten Quantum vorhandenen Keime und ihre Art, 
letzteres hauptsächlich bezüglich etwaiger pathogener Keime, festzustellen. 
Für den ersteren Zweck versetzt man ein Gelatineröhrchen mit einer be¬ 
stimmten Menge, z. B. 1 cm s Wasser, giesst die Gelatine zu einer Platte aus 
und wartet einige Tage, bis alle Keime zu Colonien ausgewachsen sind. Diese 
werden gezählt. Enthält das Wasser voraussichtlich sehr viele Keime, so 
wählt man geringere Wassermengen, eventuell Verdünnungen mit sterilisirtem 
Wasser. Für die Auffindung der pathogenen Keime bestehen viele Methoden, 
was schon beweist, dass sie alle nicht völlig genügen. Am leichtesten und 
sichersten ist noch die Auffindung der Cholerakeime nach der Peptonwasser- 
Culturmethode nach Koch, wogegen die Feststellung von Typhuskeimen nach 
den vielen dafür angegebenen Methoden noch immer als Glückszufall zu be¬ 
trachten ist. 

4. Die chemische Untersuchung: Abdampfrückstand: Man 
dampft 200—250 cm® in gewogener Platinschale ein und trocknet bei 120° 
bis zur Gewichtsconstanz. Den Glühverlust zu bestimmen, hat wegen grosser 
Fehler der Methode keine Bedeutung für die Wasseranalyse. 

Chlorgehalt: 100cm 3 Wasser werden mit einigen Tropfen neutralen 
Kaliumchromats versetzt und mit x /io Normal-Silbernitratlösung titrirt, bis 
Bothfärbung eintritt. 

Kalksalze: werden mit VlO Normaloxalsäurelösung ausgefällt; der 
Ueberschuss der Säure wird zurücktitrirt mit Chamäleonlösung. 

Härte: Man hat zu unterscheiden zwischen 1. Gesammthärte, d. i. dem 
ursprünglichen Kalk- und Magnesiumgehalt, 2. vorübergehender Härte, d. i. der 
Härte, welche das Wasser noch nach dem Kochen, also nach Ausscheiden der 
Biearbonate des Kalks und Magnesiums hat, 3. bleibender Härte, d. i. der Diffe¬ 
renz beider. Bestimmt wird die Härte durch Titriren mit Seifenlösung, von 
der man weiss, wie viel mg Kalk sie zu fällen vermag. Das Zeichen für die 
vollendete Ausfällung der Kalk- und Magnesiumsalze ist das Stehenbleiben des 
Schaumes beim Schütteln. 

Ammoniak: Wird bestimmt durch die Färbung mit Nessler’s Reagens 
(Jodquecksilber gelöst in Jodkalium und Natriumhydrat) in dem Wasser, aus 
dem die Erdalkalien mit Soda und Natriumhydrat gefällt sind. Die Menge 
kann auf colorimetrischem Wege bestimmt werden. 

Salpetrige Säure: Weist man durch Zusatz von Jodkaliumstärke¬ 
lösung und Ansäuern mit Schwefelsäure nach oder noch sicherer durch Meta¬ 
phenylendiamin (Gelb- bis Braunfärbung). 

Salpetersäure: Zusatz einiger Tropfen Wasser zu einer Lösung von 
Diphenylamin in concentrirter Schwefelsäure (Blaufärbung). 

Oxvdirbarkeit: Die organischen Substanzen werden in schwefelsaurer 
Lösung mit V 10 Normal-Chamäleonlösung zerstört und die Menge der ver¬ 
brauchten Chamäleonlösung durch Oxalsäure zurücktitrirt. Man drückt die 


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WASSER. 


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organischen Stofle aus durch den Verbrauch des Manganhyperoxyds in mg 
oder des demselben entsprechenden Sauerstoffs. 

Eisensalze: Geben sich schon zu erkennen dadurch, dass das beider 
Entnahme klare Wasser trübe und mitunter braun wird und ockerfarbige 
Bodensätze liefert. Durch Säuren wird das Wasser wieder klar und gibt nach 
Oxydation der Oxydulverbindungen zu Oxydverbindungen mit Rhodankalium 
eine rothe Färbung. 

Schwefelsäure: Das Wasser wird mit verdünnter Salzsäure ange¬ 
säuert und Bariumchlorid hinzugesetzt. Es entsteht ein weisser, in Säure 
unlöslicher Niederschlag. 

Bleisalze: Lassen sich durch Zusatz von Schwefelwasserstoff zum 
Wasser und die entstehende Braun- beziehungsweise Schwarzfärbung und auch 
durch den Niederschlag erkennen. 

Die Wasserversorgung geschieht entweder für einzelne Haushaltungen, 
beziehungsweise Grundstücke besonders oder für eine grössere Anzahl solcher, 
für ganze Gemeinden, Städte gemeinsam. In beiden Fällen kann man von 
jeder der drei oben genannten Wasserarten Gebrauch machen. Dabei ist zu 
bedenken, dass unter allen Umständen Regen- und Oberfläcbenwasser bedenk¬ 
lich erscheinen, und wenn nicht durch besondere Maassnahmen ihre Fehler 
vor dem Gebrauche beseitigt werden, nur im Nothfalle im menschlichen 
Haushalte zugelassen werden sollten. Grundwasser dagegen ist immer als an 
sich brauchbar zu erachten, und nur Gewicht darauf zu legen, dass seine Be¬ 
schaffenheit nicht durch Verunreinigungen an den Entnahmestellen beein¬ 
trächtig wird. Man gewinnt es aus Quellen und Brunnen. Erstere können 
am Orte, wo sie zu Tage treten, aus dem Erdreiche Substanzen aufnehmen, 
welche das Wasser färben und seinen Geschmack verschlechtern, so besonders 
in Torfgegenden. Sie müssen, um Verunreinigungen durch Zuflüsse oder 
von oben her zu vermeiden, gut gefasst und überdeckt werden. Brunnen 
unterscheidet man, je nach der Tiefe, in welcher sie die wasserführende Schicht 
erreichen, in Flach- und Tiefbrunnen, nach ihrer Bauart in Kessel- 
und Röhrenbrunnen. Erstere werden durch Ausschachtung und Aus¬ 
mauern des Schachtes hergestellt, die Beförderung des Wassers erfolgt durch 
directes Aufziehen in Eimern oder durch Pumpen (Zieh-, bezw. Pumpbrunnen). 
Ziehbrunnen sind nach oben offen, also allen Verunreinigungen von daher 
ausgesetzt, auch ihre Seiten wände sind nur roh aus Feldsteinen aufgebaut, 
so dass auch von da her bedenkliche Zuflüsse eintreten können. Pumpbrunnen 
sind zwar oben gedeckt, ihr seitliches Mauerwerk ist sorgfältiger hergestellt, 
eventuell auch cementirt. Immerhin ist die Controle der Abdichtungen 
schwierig und unsicher. Deshalb sollte man Kesselbrunnen überhaupt ganz 
aufgeben und nur Röhrenbrunnen benutzen. Hier wird ein eisernes Rohr, 
das oben eine Pumpe bildet, unten in einen Saugkopf ausläuft, bis in die 
wasserführende Schicht getrieben; verunreinigende Zuflüsse sind absolut aus¬ 
geschlossen. Steht die wasserführende Schicht von Natur unter einem hohen 
Druck, so tritt das Wasser durch letzteren zu Tage und die Pumpvorrichtung 
ist überflüssig (Artesischer Brunnen). 

Das Regenwasser wird für den Gebrauch der einzelnen Haushaltungen 
in Cisternen gesammelt, deren Construction oben erwähnt ist; soll es für die 
centrale Versorgung von Städten verwandt werden, so muss die genügende 
Menge für alle Jahreszeiten dadurch gesichert werden, dass man es in der 
regenreichen Zeit in Reservoirs sammelt. Vielfach hat man für diesen Zweck 
Thalsperren angewandt; die Güte des Wassers wird hier ganz von den ört¬ 
lichen Verhältnissen abhängen. Oberflächenwasser wird direct geschöpft, am 
besten an von dem Ufer entfernteren Stellen. 

Wasserleitungen. Die Zuleitung des Wassers bei der Centralver¬ 
sorgung muss natürlich jegliche Verunreinigung sicher ausschliessen; sie muss 


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WASSER. 


geschehen in geschlossenen Röhren ans gesundheitlich unbedenklichem Material, 
am besten getheertem oder emaillirtem Gusseisen, welche zur Kühlhaltung des 
Wassers mindestens 2 m tief unter dem Erdboden laufen; innerhalb der Häuser 
geschieht die Vertheilung aus ökonomischen Gründen gewöhnlich in Bleiröhren. 
Aus diesen kann das Wasser bei beträchtlichem Gehalte an Kohlensäure und 
geringer Härte Blei gelöst aufnehmen und so gesundheitsgefährdend werden. 
Zum Zwecke der regelmässigen Vertheilung wird das Wasser zunächst in 
Sammelbehälter geführt, von denen aus es, wenn sie hochgelegen sind, mit 
natürlichem Gefäll, wenn sie in der Ebene liegen, durch Druckpumpen in die 
Häuser befördert wird. Der natürliche oder künstliche Druck sollte so gross 
sein, dass das Wasser bis in die höchsten Stockwerke und bei Feuersgefahr 
noch auf die Dächer der höchsten Häuser gehoben wird. Bei der Einrichtung 
solcher Anlagen hat man vorzusorgen, 1. für die nöthige Menge, 2. für die 
Reinheit des Wassers. Was die erstere anbetrifft, so sollte sie, unter Be¬ 
rechnung der persönlichen, wirtbschaftlichen und gewerblichen Bedürfnisse, 
gegen 150 1 pro Kopf und Tag betragen. Die Reinheit ist, wie gesagt, nur 
bei Grundwasser von vornherein anzunehmen. Regen- und Oberflächenwasser 
bedarf immer der Reinigung, welche zwischen Entnahmestellen und Reservoir 
vorzunehmen ist. 

Der Reinigung des Wassers überhaupt dienen Maassnahmen, 
welche 1. durch Temperaturerhöhung, 2. durch Zusatz chemischer Mittel, 
3. mechanisch wirken. 

1. Durch Kochen werden alle Bakterien und ihre Sporen sicher ab- 
getödtet, die doppeltkohlensauren Salze ausgefällt, organische Stoffe zerstört. 
Doch leidet der Wohlgeschmack des Wassers durch Austreibung der Luft. 
Zusatz von Thee und Kaffee dient zur Geschmacksverbesserung. Der Destilla¬ 
tion des Wassers kann ein gleicher Werth beigemessen werden. Sie kommt 
besonders auf Seeschiffen zur Anwendung, wo die zur Zeit sehr vervoll- 
kommten Apparate ein vorzügliches Wasser liefern. 

2. Die chemischen Mittel haben zum Theil eine vornehmlich klärende 
Wirkung, indem sie mit im Wasser gelösten Substanzen unlösliche Verbin¬ 
dungen geben, welche im Niederfallen die schwebenden Stoffe mit nieder- 
reissen, einigen kommt auch eine wirklich desinficirende Wirkung zu. Unter 
den ersteren sind zu nennen Kalkwasser, Alaun, Eisenverbindungen (Ferrum 
sulfuricum und Ferrum sesquichloratum). Der Sauerstoff der atmosphärischen 
Luft ist ein vorzügliches Mittel, eisenhaltige Grundwasser durch Umwand¬ 
lung des gelösten doppeltkohlensauren Eisenoxyduls in unlösliches Ferrocarbonat, 
welches durch Filtration durch Coaks beseitigt wird, vom Eisen und dem 
durch dieses bedingten unangenehmen Geschmack und Aussehen zu befreien 
(Pboskaueb, Piefke). Eigentlich desinficirend wirken sollen Wasserstoffsuper¬ 
oxyd, Chlorkalk, Brom. Während das erstere eine relativ sehr lange Zeit zur 
vollen Wirkung beansprucht, ist mit den beiden letzteren Stoffen in wenigen 
Minuten eine sichere Desinfection zu erreichen. 

Bassenge bat für sein Chlorkalkdesinfectionsverfahren folgende Vorschrift 
gegeben: Auf 1 1 Wasser sollen 00978^ activen Chlors in Form von 0*15^ käuflichen Chlor¬ 
kalks 10 Minuten lang einwirken. Danach wird das nicht verbrauchte Chlor, bezw. die unter- 
chlorige Säure durch Zusatz von Calciumbisulfit entfernt. Es Fällt schwefelsaurer Kalk 
aus. Die Härte ist dann vermehrt, das Wasser ist frei von Beigeschmack oder Geruch. 
Das Verfahren empfiehlt sich durch seine Wirksamkeit und Billigkeit. — Schumburg macht 
Wasser keimfrei, indem er demselben eine Brombromkaliumlösung hinzufugt, so dass auf 
1 l Wasser 0 * 06*7 freies Brom, welche in 0*2 cm 3 der Lösung enthalten sind, kommen. 
Zeit der Einwirkung 5 Minuten. Umwandlung des übrig gebliebenen Broms in Brom¬ 
natrium durch Zusatz von Pastillen, welche 0*0ö^ Natrium sulfuricum und 0*04^ Natrium 
carbonicum enthalten (für 1 1 Wasser). Verfasser kann nach eigenen Versuchen bestätigen, 
dass Typhusbakterien auf diese Weise, auch in grosser Menge, sicher abgetödtet wurden. 
Störend war ein zurückbleibender, höchst widerlicher Geruch, welcher auch nach langen 
Tagen nicht a*üs dem Wasser entschwand nnd der dieses Verfahren, ganz abgesehen von 
den Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten, welche das Hantiren mit Brom an sich 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


1023 


hat, wenig empfehlenswert!) erscheinen lässt, zumal wir in dem von Bassenge ein ebenso 
wirksames, aber von diesen Mängeln freies haben. 

3. Die weitaus gebräuchlichste Methode der Wasserreinigung ist die durch 
Filtration, und zwar die durch Sand und Kies. Sie kann in auf- und ab¬ 
steigender Richtung vor sich gehen; am üblichsten ist die letztere. Im Gross¬ 
betriebe wird die Einrichtung derart getroffen, dass das Wasser in Bassins 
von 3—4 m Tiefe und 3000—4000 m 2 Bodenfläche gelassen wird. Es muss 
hier durch die Filterschichten hindurchtreten und sammelt sich in den am 
Boden befindlichen durchlöcherten Sammelcanälen, die es in die Reinwasser¬ 
reservoirs leiten. Das Filter selbst besteht aus von oben nach unten grob¬ 
körniger werdenden Schichten: 60 cm feiner, 8 cm grober Sand, 15 cm feiner, 
15 cm grober Kies, 15 cm handgrosse. 28 cm kopfgrosse Feldsteine. Zur In¬ 
betriebsetzung wird das Filter bis über die Randschicht von unten her mit reinem 
Wasser gefüllt, und dann von oben her langsam das zu reinigende Wasser zu¬ 
gelassen. Erst nach 48 Stunden beginnt die Filtration; in dieser Zeit hat sich 
auf dem Sande eine feine Schlammschicht gebildet, welche die eigentlich 
filtrirende Arbeit leistet. Ist diese bis zu einer gewissen Mächtigkeit ange¬ 
wachsen, somuss sie sammt der obersten Sandschicht entfernt, das Filter 
gereinigt werden. 

Die Veränderungen, welche das Wasser in seiner chemischen Zusammen¬ 
setzung durch den Filtrationsprocess erfährt, sind gering und unwesentlich. 
Maasssgebend für die Beurtheilung der filtrirenden Kraft ist die Fähigkeit, 
die Bakterien zurückzuhalten. Ein Sandfilter wird das nur unter guter Beauf¬ 
sichtigung des Betriebes, sorgfältiger Construction leisten. 

Für den Gebrauch im Kleinen ist eine ganze Reihe von Filtern an¬ 
gegeben, von denen aber keines auf absolute Zuverlässigkeit für längeren Ge¬ 
brauch Anspruch erheben darf. Es seien kurz erwähnt das BüHitiNG'sche 
Filter (plastische Kohle), verschiedene Constructionen von Asbest-Filtern, die 
Filter aus Kieselguhr von N ordtmeyer- Berkefeld und die aus Kaolin von 
Chamberlanp-Pasteur. Alle diese Constructionen erwiesen sich nur für 
mehr oder weniger beschränkte Zeit als keimdicht, dann werden sie von 
Bakterien durchwachsen, und es kann dazu kommen, dass das Wasser sie 
reicher an Keimen verlässt, als es in sie eingetreten war. spiering. 

Wohnungshygiene. Die Wohnungshygiene, d. i. die Sorge für Wah¬ 
rung der gesundheitlichen Interessen, die sich an die Herstellung und die 
Benützung der Wohnungen knüpfen, ist bisher fast nur im ersten Theile 
ein Gegenstand der Sorge der gesundheitspolizeilichen Thätigkeit ge¬ 
wesen, während in Bezug auf die Ueberwachung des „gesunden Wohnens“ 
zur Zeit fast überall auf dem Continent erst die Anfänge polizeilicher Wirk¬ 
samkeit vorliegen, und auch diese noch auf eine leicht übersehbare Anzahl 
von Orten und auf ein Minimum von dem, was die hygienische Wissenschaft 
verlangen muss, beschränkt ist. 

Die seit lange geübte Aufsicht der Polizei bei Herstellung von 
Wohnungen hat vorzugsweise den Zweck, Sicherheit der Bewohner gegen 
Gefahren, die durch ungenügende Festigkeit des Gebäudes, oder Mängel 
der Verkehrseinrichtungen in demselben, oder durch Feuersgefahr drohen, ab¬ 
zuwenden, und erst in der neueren Zeit werden in den Baupolizeiordnungen 
(kurz Bauordnungen genannt) auch vereinzelt Bestimmungen angetroffen, die 
darauf hinausgehen, die Bewohner eines Hauses vor Schädigungen ihrer 
Gesundheit durch Feuchtigkeit und Unreinlichkeit, sowie Mangel an Luft 
und Licht zu bewahren. 

Während aber die den Schutz gegen Gefahren betreffenden Polizei¬ 
vorschriften verhältnismässig leicht durchführbar sind, weil sie nur für die 
kurze Dauer Anwendung finden, welche die Herstellung eines Hauses erfordert, 
(eine Ausnahme bilden die sog. Massenlokale, hinsichtlich deren der polizei- 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


liehe Schutz gegen Gefahren für die ganze Dauer ihres Bestandes mit 
einer gewissen Strenge aufrecht erhalten werden muss) ist es um die Durch¬ 
führung der die Abwendung von Gesundheits-Schädigungen bezweckenden 
Vorschriften im Allgemeinen recht ungünstig bestelllt, weil es sich hierbei 
um die Wirkungen häufig wiederkehrender, oder auch dauernd herrschender 
Ursachen handelt. Dieselben sind ausserdem nicht immer sinnfällig, und auch 
wenn dies der Fall ist, ihrem Umfange nach selten genau übersehbar, und 
es setzen das -Hausrecht“ sowie Gewinnsucht und Nachlässigkeit des Haus- 
eigenthümers der überwachenden Thätigkeit der Polizei leicht eine Grenze, 
an der sie selbst beim Bestehen grober gesundheitlicher Uebelstände in 
einem Hause Halt zu machen hat. Darin finden die heute in Deutschland 
und anderen Ländern verfolgten Bestrebungen nach dem Erlass von Gesetzen 
zum Schutz des „gesunden Wohnens“ ihre Erklärung, welchen indes 
grössere Erfolge bisher leider versagt geblieben sind. Was staatlicherseits 
bisher geschehen ist, geht nicht viel über die Sorge um Abstellung der 
gröbsten Mängel in den Wohnungen der niederen Volksclassen hinaus, und 
dies gilt sogar für England, wo die Entwicklung einer eigentlichen Wohnungs¬ 
hygiene schon nach dem ersten Auftreten der Cholera in Europa (London 
1831) ihren Anfang nimmt, und die Sorge dafür in umfassenden Gesetzen 
aus den Jahren 1867 (Public Health Act für Schottland), 1875 (Public Health 
Act für England ausgenommen London) und 1891 Public Health Act für 
London) einen gewissen Abschluss findet. (Vergl. deutsche Vierteljahresschrift 
für öffentliche Gesundheitspflege, ßd. 29; 1897). — In Frankreich bestehen 
schon seit 1851 Commissions des logements insalubres, die indes dem An¬ 
schein nach keine grösseren Leistungen entwickelt haben. — In Deutschland 
sind mehrfach Bestrebungen auf Erlass eines Wohngesetzes durch das Reich 
hervorgetreten, ohne jedoch Erfolg gehabt zu haben, da die Competenz der 
Reichsgesetzgebung auf diesem Gebiete angezweifelt wird. Insbesondere hat 
der deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege sich um den Erlass 
eines „Reichs“-Wohngesetzes bemüht, gegenwärtig jedoch in Aussicht genommen, 
die Aufgabe bei den einzelnen Landesregierungen weiter zu verfolgen. 

In zwei deutschen Staaten bestehen zur Zeit schon derartige Gesetze: im Gross¬ 
herzogthum Hessen seit dem 1. Juli 1893 unter der Ueberschrift: „Gesetz, die polizei¬ 
liche Beaufsichtigung von Mietwohnungen und Schlafstellen betreffend, und in Hamburg, 
wo das Gesetz vom 8. Juni, betreffend die „Wohnungspflege“, verkündet, jedoch noch nicht 
in Kraft getreten ist. Eine kleine Zahl von Grundzügen betreffend die Wohnungen der niederen 
Volksclassen sind in einer Verordnung des königlich Sächsischen Ministeriums des Innern 
vom 30. September 1896 aufgestellt, und übrigens haben in Preussen verschiedene Bezirks¬ 
regierungen für ihren Verwaltungsbezirk Verordnungen über das Wohn- und Schlafstellen- 
wesen bestimmter Arbeiterclassen erlassen. Darüber jedoch hinausgehend hat der 
Regierungspräsident in Düsseldorf am 21. November 1896 eine Polizeiverordnung über die 
Beschaffenheit und Benützung von Wohnungen veröffentlicht, welche sich auf alle Woh¬ 
nungen ohne Unterschied, ob es sich um eigene oder Mietwohnungen handelt, erstreckt. 
In einzelnen deutschen Städten sind Sanitätscommissionen oder besondere Commissionen 
für Ueberwachung von geringeren Wohnungen speciell eingesetzt, oder haben sich aas 
anderen Körperschaften entwickelt, so z. B. in der Stadt Posen. (Vergl. deutsche Vierteljahr¬ 
schrift für öffentliche Gesundheitspflege, Bd. 29; 1897.) Im Königreich Sachsen, im Gross¬ 
herzogthum Baden, und ähnlich in Elsass-Lothringen ist die Einrichtung getroffen, dass 
dem Bezirksarzt (Physicus) eine Mitwirkung bei Ertheilung des Bauconsenses für alle 
öffentlichen Gebäude eingeräumt ist. 

So gewährt das, was auf dem speciellen Gebiet der „Wohnungspflege“ in 
Deutschland geschehen ist — nicht zum Besten der Sache — ein sehr wechselndes 
Bild, das durch den Umstand noch viel wechselvoller wird, dass die Polizei¬ 
behörden kraft der denselben allgemein beigelegten Befugnis in Einzelfällen 
einschreiten können, ohne dabei an gesetzliche Normen gebunden zu sein. 
Immer aber handelt es sich nur um die Wohnungen untersten Ranges. Es liegt 
daher ein dringendes Interesse vor, nicht nur in dieser Materie grössere 
Einheitlichkeit zu schaffen, sondern den Bereich der zu erlassenden Gesetze 
auf alle Wohnungen ohne Unterschied auszudehnen. — 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


1025 


Eine Anzahl von Dingen, durch welche die Gesundheit der Bewohner 
eines Hauses stark beeinflusst wird, fällt in das Gebiet des Privatrechts. 
Es gehört dahin z. B. das sogenannte „Lichtrecht“ und das „Aussichtsrecht,“ 
durch das die Ansprüche des einen Nachbars gegen den andern auf den Bezug 
von Himmelslicht und Gewährung freier Aussicht geregelt werden. Weil 
beide liechte als „Privatrecht“ aufgefasst werden, ist die Wahrung der damit 
verknüpften gesundheitlichen Interessen dem Wirkungskreise der Polizei ent¬ 
zogen, die nur in Gegenständen des öffentlichen Rechts ihre Thätigkeit 
auszuüben hat. Neuerdings macht sich indes in der Rechtsbildung erfreu¬ 
licherweise eine Strömung dahin geltend, dem öffentlichen Recht, und damit 
dem Schutze der öffentlichen Gewalt, auch Gegenstände zu unterwerfen, die 
bisher, als dem Gebiete des Privatrechts angehörig, davon ausgenommen 
waren. Für die Wohnungshygiene lassen sich davon nur günstige Folgen 
erwarten. 

Gesundheitspolizeiliche Vorschriften über die Herstellung von 
Wohnungen, die in neueren Bauordnungen aufgenommen zu werden 
pflegen, beziehen sich etwa auf folgende Punkte: 

a) Lage des Wohnhauses zur Strasse und zu einander. 

b) Ueberbauungsfahiger Theil eines Grundstücks. 

c) Gestalt und Kleinstgrösse der mit Gebäudetheilen ganz oder zum Theil um¬ 
schlossenen Grundstückstheile (sogenannte Höfe). 

d) Zulässige Höhe der Gebäude, beziehungsweise Anzahl der über einander anzu¬ 
legenden „Wohngeschosse“. Fast immer, wird für die Gebäudehöhe ein bestimmtes 
Maximalverhältnis zur Breite der davor liegenden Strasse festgesetzt. 

e) Kleinstenhöhe der Wohnräume. 

f) Lage, Anzahl und constructive Einrichtung der Treppen. 

g) Constructive Sicherheit; Verhütung von Feuersgefahr; Vermeidung von Gefahren 
durch Grundwasser (Feuchtigkeit). 

li) Bedingungen für die Bewohnbarkeit von Keller- und Dachgeschossen. 

i) Lage und Beschaffenheit von Nebenräumen (Koch- und Waschküchen, Roll- und 
Plättstuben und andern Arbeitsstätten), wenn dieselben zum dauernden Aufenthalt von 
Menschen dienen. 

Je) Termin der Beziehbarkeit von Wohnungen in neuen Gebäuden.' 

l) Lage und Einrichtung der Aborte und Stallungen in und bei Wohngebäuden. 

m) Beseitigungsweise der flüssigen und festen Abfallstoffe, die in den Haushaltungen 
erzeugt werden. 

n) Wasserversorgung des Hauses. 

Bauordnungen, die aus älterer Zeit stammen, sind mehrere, vielleicht die 
meisten der hier nur andeutungsweise berührten Bestimmungen fremd. Und 
wo dieselben Vorkommen, herrschen in der Art der Regelung grosse Ver¬ 
schiedenheiten, die ihre Erklärung nur theilweise in Verschiedenheiten der 
örtlichen Verhältnisse finden. Gewöhnlich lässt aber auch die Durch¬ 
führung der baupolizeilichen Vorschriften zu wünschen übrig, so dass selbst 
das Minimum, welches sie fordern, unerreicht bleibt. 

In den ersten Jahren seiner Thätigkeit hat sich der deutsche Verein für öffentliche 
Gesundheitspflege vielfach mit der Aufgabe des Erlasses baupolizeilicher Vorschriften, die 
auch dem dringendsten Anspruch an die Gesundheitspflege genügen, beschäftigt, u. a. in 
seiner 2., im Jahre 1874 zu Danzig und in der 3., im Jahre 1875 zu München abgehaltenen 
Versammlung (Veröffentlichungen in der Vierteljahrschrift des Vereins und in der Deutschen 
Bauzeitung i875). Später hat auf Veranlassung des Vereins Prof. Baumeister, gewisser- 
maassen als Abschluss dieser Arbeiten, unter dem Titel Normale Bauordnung den 
Entwurf eines Baupolizeigesetzes veröffentlicht, der aber nur Grundzüge enthält, die sich 
auf das Allgemeine beschränken, und darum des Ausbaues nach den Besonderheiten der 
Oertlichkeit bedürfen. Viel weiter in Einzelheiten eingehend sind die von Franz Ritter, 
v. Gruber, Architekt, und Prof. Dr. M. Grubeh verfassten „Anhaltspunkte für die 
Verfassung neuer Bauordnungen in allen die Gesundheitspflege be¬ 
treffenden Beziehungen“. Wien 1893, eine Arbeit, welche als „Bericht“ an den 
k. k. obersten Sanitätsrath abgefasst ist. 

Hygienische Bestimmungen weitergehender Art, als die oben mitgetheilten, 
werden zur Zeit in Deutschland kaum irgendwo angetroffen. Doch muss 
anerkannt werden, dass wegen der grossen Mannigfaltigkeit der Ursachen, 
welche in Wohnungen Gesundheitsschädigungen mit sich bringen können, die 

Bibi. raed. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 6f) 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


genaue Formulirung derartiger Vorschriften mit erheblichen Schwierigkeiten 
verbunden ist. Unter diesen Umständen ist es schon als ein wesentlicher Fort¬ 
schritt anzuerkennen, wenn nur die angerufenen Gerichte gewisse allgemeine 
Rechtsgrundsätze zur sinngemässen Anwendung auch in Fragen der 
Wohnungshygiene bringen. Dies ist z. B. in Deutschland durch ein Erkenntnis 
des höchsten Gerichtshofes (Reichsgericht in Leipzig) vom 28. September 1895 
geschehen, in welchem ausgesprochen ist: 

dass kein Grand vorliege, den Rechtsbegriff der Gefahr aaf die Beförchtung oder 
Schädigung durch mechanische Einwirkungen in Folge mangelhafter technischer 
Construction (eines Wohngebäudes u. s. w.) zu beschränken, dass vielmehr Gefahr auch 
in Bezug auf mögliche Erregung innerer Krankheiten vorliegen könne. 

Mit diesem Urtheil ist thatsächlich eine Reihe von Handlungen oder 
Unterlassungen beim Wohnhausbau, für welche ein causaler Zusammenhang 
mit Krankheiten oder Gesundheitsschädigungen der Bewohner des Hauses 
nachweisbar ist, der Geltung des deutschen Strafgesetzbuchs unterworfen, bei¬ 
spielsweise Mangel an Vorsicht des Baumeisters gegen Einscbleppen des 
Hausschwammes (Merulius lacrymans) in ein Wohngebäude oder auch gegen 
Feuchtigkeit u. s. w. 

Eine besondere Bedeutung in der Wohnungshygiene haben in neuerer 
Zeit, seitdem über Ursprung und Verbreitungsweise einer Anzahl sogenannter 
ansteckender Krankheiten nähere Kenntnis gewonnen worden ist, die Schutz¬ 
maassregeln gegen diejenigen unter jenen Krankheiten erlangt, welche 
von besonderen Eigenschaften oder Einrichtungen des Hauses oder von 
dem Verhalten der Bewohner desselben ihren Ausgang nehmen, bezw. 
dadurch verbreitet werden. Die Erklärung der Wechselbeziehungen, welche 
zwischen der Wohnung und einer Anzahl von ansteckenden Krankheiten be¬ 
stehen, bildet den Inhalt einer Special-Wissenschaft, welcher Hueppe die Ueber- 
schrift „Bakteriologie und Biologie der Wohnung“ gegeben hat. 
Eine, wohl die erste zusammenfassende, aber noch nicht vollständige Bearbei¬ 
tung, die diese Wissenschaft bisher erfahren hat, rührt von Hueppe selbst her 
und ist im Band 4 des Handbuchs der Hygiene von Th. Weyl (Jena 1896) 
veröffentlicht. 

Im Wesentlichen handelt es sich in der Bakteriologie und Biologie der 
Wohnung um die Einflüsse, welche Feuchtigkeit und Schmutzstoffe in 
mittelbarer Weise auf die Gesundheit der Bewohnerschaft dadurch ausüben, dass 
sie die Träger von organisirten Gebilden sind, unter welchen sich auch die¬ 
jenigen befinden, welche die ansteckende Krankheit hervorrufen oder doch 
hervorrufen können. Gleichzeitig werden jene als Ausgangsstätten von 
Zersetzungen in Betracht gezogen, wobei theils giftige, theils übelriechende 
Gase, theils auch sogenannte Umsetzungsgifte entstehen, welche die Gesund¬ 
heit sei es direct, sei es indirect, beeinflussen. 

Das Auftreten von Feuchtigkeit in Wohnungen kann theils aus 
den beim Hausbau verwendeten Baustoffen, theils aus Besonderheiten der 
Verwendungsweise derselben (Construction), theils aus der Baugrundbeschaffen¬ 
heit und Lage desselben, endlich auch aus der Benutzungsweise der Wohnung 
hervorgehen. Vorhandensein von Feuchtigkeit ist, abgesehen von einigen be¬ 
stimmten Wirkungen, die dadurch hervorgebracht werden, in der Regel auch 
gleichbedeutend mit der Entstehung von Schmutzstoffen z. B. aus Staub, der 
durch jene zum Haften gebracht wird. Indes bildet dieser Schmutz nur 
einen geringen Theil im Vergleich mit denjenigen Sch mutzmengen, die in 
den sogenannten Abfallstoffen des Hauses, die theils trockene, theils 
feuchte, theils nasse Beschaffenheit haben, enthalten sind. 

Die gewöhnlichen Baumaterialien 6ind porös, daher luftdurchlässig; sie nehmen auch 
Feuchtigkeit auf und geben dieselbe ab. Auch haben alle Wohngebäude Berfthrung mit dem 
Erdboden, und es sind daher dem Eindringen von Mikroben in den Umschliessungen des 
Wohnhauses verschiedene Wege geöffnet. Dennoch ist die Gefahr, dass pathogene Mi¬ 
kroben auf diesen Wegen in die Wohnräume gelangen, sehr gering. Die Luft des Freien 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


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ist an Mikroben relativ arm, zumal die in den Poren der Hausumschliessungen durch Wind- 
und Temperaturunterschiede die zu beiden Seiten herrschen, erzeugte Luftbewegung völlig un¬ 
zureichend ist, als dass mit der Luft Mikroben hindurchgeführt werden könnten; umgekehrt 
wirkt wegen des grösseren Mikrobenreichthums der Zimmerluft das Durchtreten von Frischluft 
durch die Hausumschliessungen nur günstig. Möglich ist, dass Mikroben durch Windströmungen 
an die Hausmauern geführt werden, hängen bleiben, und durch die Mauer hindurch- 
wacbsen, wie ebenso, dass sie von den die Grundmauern berührenden Erdschichten aus und 
ebenso mit Bodenfeuchtigkeit oder Unterwasser in die Mauern hinein gelangen. Aber auch 
davon ist keine erhebliche Gefahr zu besorgen, weil das in den Mauern vorhandene Kalk¬ 
hydrat ein wirksames Vernichtungsmittel für Mikroben bildet. Bei Mauern von grösserer 
Stärke bedarf es wahrscheinlich einer langen Reihe von Jahren, bevor die Ueberführung 
des Kalkhydrats in kohlensauren Kalk und damit auch die Wirksamkeit dieses Schutz¬ 
mittels beendet ist. Anders freilich bei Mauern und Wänden von nur geringer Stärke, und 
selbstverständlich auch bei Wänden aus Holz oder andern Materialien, die ohne Verwen¬ 
dung von Aetzkalk hergestellt sind. Desgleichen liegt der Fall anders, wenn durch einen 
Gehalt der Mauern an gewissen Stoffen, z. B. Schwefelsäure oder Urin, das in den Mauern 
enthaltene Kalkhydrat neutralisirt wird. 

Unter den verschiedenen Materialien, ans welchen Mauern hergestellt 
werden, sind Ziegelsteine dadurch im Vorzüge, dass sie wogender hohen 
Temperatur, bei welcher sie gebrannt wurden, von vorherein im Innern 
mikrobenfrei sind, ein Vorzug, der bei anderen künstlichen Steinen und auch 
manchen Natursteinen nicht vorhanden ist. 

Das Vorstehende gilt für Mauern, welche, im praktischen Sinne ge¬ 
sprochen, rein sind, d. h. nicht mit Faulstoffen in unmittelbarer oder 
mittelbarer Berührung stehen. Wenn dies der Fall ist, kann dauernde Unge¬ 
sundheit der Mauern, mit üblen Folgen für die Gesundheit der Haus¬ 
bewohnerschaft stattfinden. Der in den Faulstoffen enthaltene Stickstoff wird 
durch die Thätigkeit von Mikroben in Ammoniak (NH S ) verwandelt und 
tritt etwa bereits anwesendem Ammoniak hinzu. Auch kann durch Reduc- 
tion von Nitraten und Nitriten weiteres Ammoniak gebildet werden. Wie die 
Umwandlung von Stickstoff in Ammoniak wird aber auch die Oxydation des 
Ammoniaks zu salpetriger und Salpetersäure durch Mikroben bewirkt, die mit 
verschiedenen Basen, als Kali- und Natronsalzen, Kalk und Magnesia — Stoffen 
die in Mauerwerk regelmässig vorhanden sind — sich zu Salpeter, der in solchen 
Fällen als Mauerfrass bezeichnet wird, verbinden. Bedingung des Ent¬ 
stehens ist nur Feuchtigkeit und Lichtabwesenheit. Die Salpeterbildung 
geht besonders reichlich da vor sich, wo die Mauern oder der Boden mit 
dem - grosse Stickstoffmengen enthaltenden — Urin von Menschen und 
Thieren getränkt wird, also in Mauern, welche an Düngerstättep, Vieh¬ 
ställe, Abortgruben und ähnliche Sammelstellen für Faulstofte angrenzen. 
Mit Salpeterbildung behaftete Mauern sind immer feucht, auch von dumpfigem 
Geruch, beides Umstände, durch welche die Gesundheit nachtheilig beein¬ 
flusst wird. Zwischen der Bildung von Salpetersäure und Thätigkeit der 
Nitrobakterien zu derjenigen von Schimmelpilzen besteht ein Gegensatz, in¬ 
dem letztere nicht oxydirend sondern reducirend wirken. Daher schliesst 
reichliche Anwesenheit von Schimmelpilzen reichliche Bildung von Salpeter¬ 
säure, und folglich auch von Salpeter aus. Im gesundheitlichen Sinne stehen 
aber Mauerfrass und Schimmelpilz-Bildungen wohl auf etwa gleicher Stufe 
der Schädlichkeit. 

Im Vergleich zu den von Mauern und Wänden unter Umständen zu er¬ 
wartenden Gesundheitsschädlichkeiten, die durch Mikroben-Thätigkeit verur¬ 
sacht werden, sind diejenigen von ungleich grösserer Bedeutung, welche von 
den nach meist üblicher Art hergestellten wagrechten Theilungen der Wohn¬ 
gebäude— den Zwischendecken — ausgehen können. Diese Thatsache ist 
zuerst von Emmerich Anfangs der achtziger Jahre durch exacte Untersuchungen 
festgestellt, die in Band 10 der „Zeitschrift für Biologie“ veröffentlicht worden 
sind. Immer handelt es sich um Zwischendecken mit sogenanntem Fehlboden, 
d. h. Füllung der Hohlräume zwischen den Balken mit losen (ungeformten) 
Materialien, als welche Sand und Kies, Lehm, gemischter Boden — darunter 

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WOHNUNGSHYGIENE. 


auch Humus — Kohlenklein und Kohlenschlacke, Asche, oft auch Bauschutt, 
der beim Abbruch alter Gebäude gewonnen ist, benutzt werden. Die meisten 
dieser Materialien enthalten schon von vom herein Verunreinigungen und 
andere werden denselben späterhin, beim Neubau des Hauses und bei der Be¬ 
nutzung der Wohnungen zugeführt. 

Verunreinigungen während des Neubaues kommen oft in sehr grossem Umfange vor, 
regelmässig immer dann, wenn auf der Baustelle nicht für Bedürfnisanstalten zum Gebrauch 
der Arbeiter gesorgt ist, oder wenn nicht mit der allergrössten Strenge darauf gehalten 
wird, dass vorhandene Bedürfnisanstalten von den Arbeitern benutzt werden, da Arbeiter 
nicht Anstand nehmen, abgelegene Ecken oder Räume in einem Neubau als Bedürfnis¬ 
anstalten zu benutzen. 

Andere Verunreinigungen ergeben sich durch Staub und Regenfall während der 
Austrocknungsperiode leicht, wenn die Decken ohne Schutz durch aas Dach des Hauses 
offen daliegen, oder wenn Schlagregen durch nicht geschlossene Thür- und Fensteröffnungen 
eindringt, oder wenn wegen des Fehlens von Dachrinnen und Regenrohre den Decken¬ 
füllungen Feuchtigkeit in Massen zugeführt wird. Es ist endlich an die Gefahr zu denken, 
dass mit dem Holz geringster Qualität, welches in der Regel in Zwischendecken zur An¬ 
wendung kommt (sogenannte Schwarten von Nadelholzstammen), Unreinigkeiten, Moder¬ 
stoffe, Parasiten des Holzes und pflanzliches Leben in die Zwischendecke gelangt. 

Bei der Bewohnung des Hauses ist das Deckenfüllmaterial der Gefahr 
der Verunreinigung dadurch ausgesetzt, dass insbesondere bei der nassen 
Reinigung der Fussböden Schmutzstoffe durch die undichten Fugen, und die 
fast immer undichten Anschlüsse an die Umfassungswände der Räume in das 
Füllmaterial einsickern. Desgleichen ist auch beim gelegentlichen Verspritzen 
von Wasser (wie z. B. beim Waschen und Baden) und von nassen Speisen, 
beim Verspritzen des Inhalts von Nachtgeschirren u. s. w., die Möglichkeit 
von schlimmen Verunreinigungen des Deckenfüllmaterials unmittelbar gegeben. 
Nur bei sehr dichtem (fugenlosem) Fussböden und da, wo Belegung des 
Fussbodens mit Linoleum oder Teppichen stattfindet, sind die Gefahren nach¬ 
träglicher Verunreinigung des Deckenfüllmaterials gemindert oder aus¬ 
geschlossen. Am grössten sind dieselben in den dürftigen Wohnungen der 
ärmeren Volksklassen, wo auch noch mit der besonderen Gefahr der Ver¬ 
unreinigung der Zwischendecken durch Ungeziefer, das sich darin ansiedelt, 
stirbt u. s. w., gerechnet werden muss. Ausser mit Feuchtigkeit können den 
Zwischendecken auch mit Staub beträchtliche Mengen von Schmutz durch die 
offenen Fugen des Fussbodens zugeführt werden. Entsprechend den reichlich 
vorhandenen Quellen der Verunreinigung wird beim Aufreissen alter Dielen- 
fussböden unter den Fugen derselben immer ein mehrere Centimeter breiter 
Streifen von schmutzig grauem Ansehen und einigen Millimetern Dicke ange¬ 
troffen, der aus Schmutzstoffen besteht, und einen für mikroskopisches Leben 
gut geeigneten Nährboden abgibt, da derselbe feucht und von constanter, 
mässig hoher Temperatur ist. Ausser der von oben eingesickerten Feuchtig¬ 
keit kann aber das Füllmaterial einer Zwischendecke an gewissen Stellen 
auch durch Condensation des Dampfgehaltes von feucht-warmer Luft, die von 
unten aus Zutritt erlangt, angefeuchtet werden. 

In welch hohem Grade Deckenfüllmaterial oft verunreinigt ist, machen 
die Zahlen der Tabelle auf Seite 1029 anschaulich, welche die Resultate von 
Analysen enthalten, die von Emmerich ausgeführt, und a. a. 0. veröffentlicht 
sind. 

Wenn der verunreinigte Boden von Strassen als gesundheitsgefährlich 
gilt, um wie viel grösser wird die Gesundheitsgefährlichkeit des Füllmaterials 
von Decken sein, dessen Verunreinigungszustand (nach der Tabelle) ebenso 
hoch wie der des Strassenbodens ist! Dies gilt für die unter den Nr. 4 und 5 
aufgeführte Kohlenschlacke, die demnach ein ausserordentlich be¬ 
denkliches Füllmaterial ist. Aber die unter Nr. 6 und 7 verzeichneten Ma¬ 
terialien unbekannter Herkunft müssen als noch viel bedenklicher bezeichnet 
werden. Es ist daher ein Gebot der einfachsten Vorsicht, auf die Auswahl des 
Materials zu Deckenfüllungen die allergrösste Sorgfalt zu verwenden. Ins- 


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besondere soll - Deekenfüilnwterud frei von Stickstoff, von Ammoniak, von 
Kit-rften andNitraten. von Chlorverbindungen (K\>ßh«a}i(i, awdj von Alkalien 
sein, uod geringen Glühverfust gehen, d, h. im Allgemeinen • pflöge Mengen 
von organischen: Stoffen enthalten. 

Am meisten empfiehlt .md) von den in der Tabelle-.vmekhueten Mate- 
rniiicn Saud und Kies. Zulässig ist, wesa Trockenheit dev Decke gesichert 
ist, alter Kalkmörtel : gut Verwendbar auch noch zerkleinerter Ziegelstein.; 
ganz auszüsehliessen sind Kohlenschlaeken, Vo» nicht in der Tabelle vor- 
zeichneten Materialien sind Kohlengrus und Ilumusbodea durchaus m ver¬ 
meiden, wahrend Lehmboden tttui. Mischungen Von Band und Lehar hur mit 
Vorbehalt als benutzbar bezeichnet werden können, weil Lehm Alkalien 
enthält. 

• Eine besondere Betrachtung erfordert noch der hem Abbruch älter 
Mäuget ge^önueBe Baaseh u tL ein Gemenge aus ,'dtem Mäftel t i§fbitE:ehiKehm, 
Holz und'anderen Kesten organischen Ursprungs; einen KauptfcMl des Schuttes 
bildet das Materittl der Zwischendeckenfüllungea. Einen Vorzug beaitzt' dfö^ Bau¬ 
schutt .in seiner relativen Trockenheit, durch die eine wssßJäÖ&M A^rzhög der 
Herstelluagszeit, die ein Neubau erfordert, ermöglicht wird Diesem Vorzüge' 
stehen aber gewisse sehr üble Eigenschaften des Bauschutts eotgßgeü; in 
erster Linie der aas der obigen Tabelle e,rsic,btliehe hohe Gehalt an ver¬ 
schiedenen Stotleu, die in directer -und; indirekter Weise- GesuadheitssebädL 
gongen der fluusbewohuorschäK hemreubriagem im Blande sind, in zweiter 
Linie kommt die Gefahr in lietrarlit, mit Ilauschiu t einen der. grössten Feinde 
des Holzes, und einfcn auch tu gesund beit lieber Hinsicht äftbr'zü fürchtenden 
Lik, den-Haussc h warnm in ein neues Gebäude-eiwzasr-Weppnö.: Biese Gefahr 
ist -gross, weil der Meruilux kervmiute spdraiirt, und weil- auch unbedeutende 
Reste desselben, die der« Augenschein nach längst- abgestorben «Ind, ’ Leben 
und Eortpflanzungsfiihigkeit bewahrt haben können, 

HaMÄtäcb'WtMm»». Die Gefahr der raschen .ZeMbrüögj des lioiz^at dotcK 
den HaUMchwamni bei Seite gelassen, entsteht *anäcfc$t‘die Frage,' -vfe dieser 
Pilz spezifisch aiftige. Eigenschaften. bei Aufnahme iii den mensuhlieben 
.Körper, sei es tu den Verdauungsgang, sei es in die Luftweg«, sei cs in den. 
Blutkreislauf, ärmere könne ? Die Einen bejahen diese Frage, während.Ändere 









1030 


WOHNDNGSHYGIENE. 


sie verneinen. Die Verneinungen scheinen in neuerer Zeit die Oberhand zu 
gewinnen. Aber abgesehen von der Frage specifisch giftiger Wirkungen 
des Hausschwammes, ist die allgemeine Schädlichkeit für die Bewohner 
eines mit Schwamm behafteten Gebäudes eine sehr grosse, wie sich aus dem 
Folgenden ergibt. 

Der Pilz besteht za hohem Antheil ans Wasser; bei verschiedenen Proben ergab 
sich sein Wassergehalt zwischen 48 und 684°/ ö liegend; getrocknete Pilzmasse enthielt 
4*9°/ 0 Stickstoff, 15 2°/ 0 Fett und ausserdem mehrere andere, noch nicht näher bestimmte 
Stoffe. 

Von Hansschwamm ergriffenes Holz nimmt gelblich-braune Färbung an, aber erst 
nachdem ein gewisser Substanzverlust an der Holzmasse eingetreten ist; dieser kann bis 
vielleicht 70°/ 0 gehen. An die Stelle der aufgezehrten Holzsubstanz tritt, wo Feuchtigkeit 
in der Nähe ist, Wasser, welches begierig anfgesangt wird. Es ist eine der schlimmsten 
Eigenschaften des Pilzes, dass er Wasser ans mehreren Metern Entfernung heranschaffen 
kann und dabei über Hindernisse hinweg zu kommen weiss, die man als unüberwindbar 
anzusehen geneigt sein könnte. Er kann z. B. über grosse Mauerflächen hinweg kommen, und 
sich sogar durch dicke Mauern hindurch verbreiten, obwohl es ihm hier an Nahrung 
gänzlich fehlt. Unter und durch solche Hemmnisse fort führen die Spitzen der Mycelfäden 
dem Pilze Wasser ans weiterer Entfernung zu. Der Hausschwamm kann also zu gleicher 
Zeit die Doppelrolle von Ursache und Wirkung spielen: er kann schon vorhandene 
Feuchtigkeit vermehren und noch trockene Unterlagen erst feucht machen. 

Endlich will als Schädlichkeit des HausschwammeB der Geruch, den derselbe ver¬ 
breitet, beachtet sein. Doch geht belästigender muffiger Geruch nur von dem abge¬ 
storbenen Pilz aus, während der vom lebenden abgegebene keineswegs unangenehm ist. 

Bedingung für das Auskeimen von Hausschwammsporen ist Anwesenheit von Feuchtig¬ 
keit und Alkalien; doch genügen von beiden schon geringe Mengen; die Gegenwart von 
Ammomaksalzen begünstigt sein Gedeihen sehr. Gegen Frosttemperatur scheint der Pilz 
sehr empfindlich zu sein, ebenfalls aber auch gegen höhere Temperaturen, von etwa 40° an. 
Feuchte Luft ist für die Entwicklung Bedürfnis, während Berührung mit trockener Luft 
den Pilz bald sicher vernichtet. Eine Ausnahme hiervon machen die stärkeren Stränge 
und die Sporen, welche selbst längere Trockenperioden überBteben können. Gegen Licht 
scheint der Hausschwamm sich einigermaassen indifferent zu verhalten; sicher genügen 
aber sehr geringe Lichtmengen zu seinem Gedeihen, während andererseits reichliches Licht 
schädigend auf ihn wirkt, ln dem Füllmaterial der Zwischendecken sind alle Daseins¬ 
bedingungen des Hausscbwamms demselben in besonders günstiger Weise dargeboten, und 
es ist daher gerade dieser Theil der Wohngebäude, von welchem eine Verbreitung des 
Pilzes gewöhnlich ihren Ausgang nimmt. 

Die Zersetzungen, welche in den Deckenfüllungen unter Umständen 
dauernd bestehen, sind Fäulnisvorgänge und die dabei entstehenden 
hauptsächlichsten Umsetzungsproducte: Kohlensäure und Ammoniak. 
Dass erstere in Zimmerdecken in beträchtlichen Mengen gebildet werden 
kann, haben Bestimmungen von Hofmann und Emmerich, die in Hörsälen 
des Universitätsgebäudes zu Leipzig, während einer längeren Ferienperiode 
ausgeführt wurden, mit Sicherheit ergeben. Es wurden in der Luft von 
Räumen, von welchen der Zutritt von C0 2 auf besonderen Wegen abgehalten 
war, Kohlensäuremengen bis zu 1394 Raumtheilen in 1000 Theilen Luft auf¬ 
gefunden und Budde hat durch Untersuchungen im alten Krankenhause zu 
Kopenhagen festgestellt, dass die durch Zersetzungen in der Zwischendecke 
gebildete CO,-Menge gross genug ist, um den Kohlensäuregehalt der 
Zimmerluft — der bekanntlich nicht über 07 bis höchstens 1 Raumtheil 
in 1000 Raumtheilen Luft betragen soll — über jedes zulässige 
Maass hinaus zu vermehren. 

Da Fäulnis neben Kohlensäure und Ammoniak eine Reihe weiterer 
gasiger Producte liefert, unter denen auch solche von üblem Geruch sind, so 
leuchtet die grosse Bedeutung, welche den Zwischendecken der Wohnungen 
für Wohlbefinden und Gesundheit der Hausbewohner zukommt, ein. Nur ein 
Theil des schädlichen Einflusses derselben lässt sich durch Lüftung beseitigen, 
während ein Theil bestehen bleibt. Zu letzterem gehören Staubaufwirbelung, 
die bei trockenem Zustande des Füllmaterials durch die Fugen des Fuss- 
bodens vermittelt werden kann, ferner gasförmige ZersetzuDgsproducte und 
unter Umständen pathogene Mikroben, die vorübergehend ihren Sitz in dem 
verunreinigten Füllmaterial der Zwischendecken haben können. 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


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Was die gesundheitlichen Wirkungen gasförmiger Zersetzungsproducte betrifft, so 
haben die Ansichten darüber gewechselt, sind aber bis jetzt nicht zur Einhelligkeit gediehen. 
Auf der einen Seite stehen die Anhänger der englischen Sewergases-Theorie, welche in den 
bei Zersetzungen gebildeten Gasen die di recte Ursache einer Anzahl von Infectionskrank- 
heiten erblicken, und aut der anderen Seite Vertreter der Ansicht, dass von derartigen 
Gasen weder ein direct noch ein indirect schädigender Einfluss auf die Gesundheit zu 
fiirchten sein; zwischen beiden Extremen ist Raum für vermittelnde Auffassungen. Die 
Sewergases-Theorie, auf welche weiterhin bei Besprechung der Aufgabe der Beseitigung 
der Abfallstoffe noch zurückzukommen sein wird, hat neuerdings in der eigenen Heimat 
an Ansehen etwas eingebüsst, ausserhalb der Heimat überhaupt keine allgemeinere An¬ 
erkennung gefunden und ist in Deutschland heute fast aufgegeben. Die Mehrzahl der 
Sachverständigen scheint gegenwärtig der Ansicht zu huldigen, die Hueppe in dem Aus¬ 
spruch zusammen fasst: dass von den gasförmigen Erzeugnissen von Zersetzungen keine 
directen Infectionen zu fürchten sind, wohl aber, dass dieselben sogenannte disponirende 
Wirkungen äussern: Krankheitsanlagen hervorrufen, bereits vorhandene Anlagen ver¬ 
stärken, und dadurch Infectionen, die aus anderen Quellen hervorgehen (Wasser, 
Nahrungsmittel, Staub u. b. w.), begünstigen können. Hueppe vertritt diese, experimentell 
kaum zu erweisende Ansicht auf Grund der Erfah rung, und bemerkt mit Rücksicht auf 
die Ergebnisse von Thierversuchen, welche zu dem Schlüsse geführt haben, dass von gasigen 
Zersetzungsproducten ungünstige gesundheitliche Einflüsse nicht zu fürchten seien, dass 
Thierversuche aus dem Grunde nicht beweiskräftig sind, weil die Versuchsthiere zum Theil 
Aasfresser sind, zum Theil in Höhlen und Gängen dicht gedrängt in einem Gestank leben, 
der Menschen bald ohnmächtig machen würde. 

Erst vereinzelt sind bisher pathogene Mikroben in Zwischendecken¬ 
füllungen aufgefunden worden. Sicherheit für den Befund scheint auch nur 
mit Bezug auf die Bacillen des Tetanus und des malignen Oedems zu be¬ 
stehen, beides Saprophyten, die ausserhalb des thierischen Körpers leben und 
vermehrungsfähig sind. Daher besteht zwar die Möglichkeit, dass gelegent¬ 
lich auch pathogene Mikroben in den Zwischendecken vorhanden sind und 
dort die zu ihrer Vermehrung nothwendigen Bedingungen er¬ 
füllt finden. Gewöhnlich wird aber die Vermehrungsfähigkeit ausgeschlossen 
sein, und es sich nur um vorübergehendes Vorkommen handeln, wobei sogar 
an Abnehmen der Virulenz zu denken ist. Die Berührung der Erreger mit 
dem Menschen ist (abgesehen von besonderen Fällen) kaum anders als durch 
Staubaufwirbelung in Folge Erschütterung des Fussbodens u. s. w. zu denken. 

Theilweise in den geschilderten gesundheitlichen Mängeln der Zwischen¬ 
decken, theilweise in dem Bestreben, die Decken feuersicher zu machen, endlich 
aber auch in dem Streben nach Verkürzung der Bauzeit und Verminderung 
der Baukosten hat der mehr und mehr in Aufnahme kommende Ersatz der 
Holzbalkendecken durch ganz massive Decken oder solche aus Stein und 
Eisen seine Begründung. Mit den Vorzügen dieser Decken laufen aber ge¬ 
wisse Mängel parallel, als z. B. vermehrte Wärmeleitung und verstärkte 
Scballleitung; im Vergleich zu den anderen gesundheitlichen Vorzügen dieser 
Decken sind jedoch die Mängel unbedeutend, und lassen sich auch beseitigen. 
Hierauf, sowie überhaupt auf die sehr zahlreichen Constructionssysteme von 
Zwischendecken, die unter Vermeidung von Holz hergestellt werden, ist aber 
an dieser Stelle nicht einzugehen. 

So hoch die Bedeutung der Zwischendecken für die Gesundheit eines 
Hauses auch angeschlagen werden mag, so wird dieselbe doch erheblich durch 
die Reinhaltung des Hauses, worunter hier speciell die Sammlungs- und 
Beseitigungsweise der Abfallstoffe verstanden ist, übertroffen. 
Wenigstens wird diese Schlussfolgerung durch die bisherigen Beobachtungen 
über die Sterblichkeitsziffer und insbesondere über die Typhushäufigkeit an 
die Hand gegeben. 

Als Abfallstoffe gelten hier die Absonderungen der Menschen und 
Hausthiere, der Haus- und Küchenkehricht, sowie die flüssigen und halb¬ 
flüssigen Abgänge des Küchen- und sonstigen Hauswirthschaftsbetriebs. Ob 
den trockenen oder den nassen Abfallstoffen die grössere Bedeutung beizulegen, 
ist vielleicht offene Frage. Die trockenen Abfallstoffe können weite Verbrei¬ 
tung durch Staubaufwirbelung, die beim Sammeln und beim Transport ent- 


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steht, finden nnd sich dadurch sowohl der Athemluft als den Speisen mit¬ 
theilen. Sie enthalten ihrer Herkunft nach (ein grosser Theil besteht aus 
Asche) aber weniger Schädlichkeiten als die feuchten und nassen Abfallstoffe. 
Für diese Auffassung ist jedenfalls ein Grund in der Thatsache gegeben, dass 
die beim Abtransport und der Behandlung des sogenannten Hausmülls dauernd 
beschäftigten Arbeiter und Kutscher sich im Allgemeinen einer guten Ge¬ 
sundheit erfreuen, und eine besondere Gefährdung durch Infectionskrankheiten 
bei denselben nicht beobachtet wird. Die feuchten und nassen Abfallstoffe be¬ 
sitzen geringere Verbreitungsfähigkeit als Staub, neigen dagegen bei ihrem 
Reichthum an organischen Stoffen zur Fäulnis, und bilden im Allgemeinen 
günstige Nährböden für Bakterien zahlreicher Arten. Man kann diese Stoffe 
in zwei Hauptgattungen scheiden: menschliche Absonderungen und Küchen- 
abfälle. Die früher herrschende Ansicht von der grösseren Gefährlichkeit der 
erstgenannten Stoffe wird neuerdings nur noch vereinzelt aufrecht erhalten, 
vielmehr in der Regel beiden Arten von Stoffen etwa übereinstimmende Schäd¬ 
lichkeit beigelegt. Aber in Zeiten von einigen besonderen Epidemien, wie 
Ruhr, Cholera und Darmtyphus, ist die grössere Bedenklichkeit entschieden 
auf Seiten der menschlichen Absonderungen, weil diese alsdann die speciellen 
Infectionserreger enthalten werden. Doch finden dieselben in den Abson¬ 
derungen im Allgemeinen keinen günstigen Nährboden, werden auch von den 
nicht pathogenen Bakterien leicht überwuchert. Vermehrungsfähigkeit ausser¬ 
halb des menschlichen Körpers scheint nur unter besonderen Verhältnissen 
stattzufinden, wogegen die Virulenz z. B. von Typhusbacillen lange Zeit, 
sogar Monate, andauern kann. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass die 
menschlichen Absonderungen so rasch als möglich aus der Wohnung nnd 
deren Nähe entfernt werden, und die Bedeutung dieser Nothwendigkeit wird 
dadurch verstärkt, dass sich in den Absonderungen bei Fäulnis sogenannte 
Umsetzungsgifte (Alkaloide), sowie massenhaft gasige Erzeugnisse bilden, welche 
nicht nur ekelerregend und zu Krankheiten disponirend wirken, sondern auch 
die Luft in den Wohnungen sehr bedeutend verschlechtern können. 

1 m* Grubeninhalt von gewöhnlicher Consistenz kann bei massigem Luftzug und 
massiger Temperatur in 24 Stunden 31 öl Kohlensäure, 1481 Ammoniak, l'll Schwefel¬ 
wasserstoff und 5801 Kohlenwasserstoffe, also im ganzen 10441 ln ft verunreinigen de Gase 
aussenden; es werden dabei 5101 Sauerstoff verbraucht, so viel wie in 26m 3 Luft Über¬ 
haupt enthalten ist. Wenn man aber selbst 15 Raumtheile Kohlensäure auf 1000 B&um- 
theile Luft als zulässigen Yerunreinigungszustand der Luft annimmt, so werden durch die 
315 

erzeugten 3151 CO*:-^g = 210 m* der umgebenden Luft an die Grenze des noch als 
zulässig vorausgesetzten Verunreinigungszustandes gebracht. 

Viel weiter gehende Schädlichkeiten als die besprochenen legt die 
englische Sewer-Gases-Theorie den menschlichen Absonderungen bei. Diese 
„Theorie“ nimmt an, dass Canalgase, das ist die in Strassencanälen und 
Gruben vorhandene Luft, eine Reihe von Infectionskrankheiten, als Digestio¬ 
nen, Durchfall, Cholera, Darmtyphus, Diphtherie, Lungenentzündung, Scharlach, 
und vielleicht noch andere hervorrufen können. Fälle von Wundrose, Hospital¬ 
brand und Puerperalfieber sollen in Häusern, in welche Canalgase ein- 
dringen, schwerer als sonstwo verlaufen. Was den Sitz, den Ort und die Ver¬ 
breitungsweise von Schädlichkeit betrifft, so liegen jener Theorie etwa fol¬ 
gende Anschauungen zu Grunde: 

a) Der Sitz der Schädlichkeit liegt in den Strassencanälen; die Haus¬ 
canäle dienen derselben nur als Wege. 

b) Die krankmachenden Erreger oder „Stoffe“ nehmen entweder ihren 
Ursprung in den Strassencanälen, oder wenn dies etwa nicht der 
Fall ist, finden sie in diesen günstige Bedingungen für ihre Erhaltung, be¬ 
ziehungsweise Weiterentwicklung. 


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c) Die Erreger oder Stoffe können ans dem Inhalt der Strassen- 
canäle losgelöst werden, und mit der Lnft zn den Bewohnern der anliegenden 
Häuser gelangen. 

Indem die Anschauung zu a) zwischen der Beschaffenheit des Inhalts von Strassen- 
nnd Hauscanälen unterscheidet, beruht sie auf einer Voraussetzung, welche bei rationell 
angelegten und ordnungsmäs sig betriebenen Strassencanälen unzutreffend ist. Dies 
ist eine in der Wirkungsweise und der Ueberwachung der Straasencanäle begründete 
Ansicht, die durch die tägliche Erfahrung bestätigt wird. Unrationell angelegte und 
mangelhaft betriebene Strassencanäle äussern Rückwirkungen auf die Hausc&näle so dass, 
wo jene Schädlichkeiten enthalten, diese nicht frei davon sein können. In jedem Falle 
leidet daher die Anschauung zu a) an Einseitigkeit. 

Zu b). Da die Krankheitserreger organisirte Wesen sind und keine „Urzeugung“ 
besteht, kann der Ursprung derselben nicht in den Canälen liegen, sondern jene 
müssen von aussen hineingetragen sein. Da sie auch nicht Erzeugnisse der Krankheit sind, 
können sie nur den Absonderungen Erkrankter entstammen. Sowohl die Temperatur, die 
in Canälen herrscht, als der Mangel an Sauerstoff in den Absonderungen, als ungünstige 
Beschaffenheit der Nahrung, als endlich die Concurrenz der nicht pathogenen Mikroben 
wirken ihrer längeren Erhaltung und noch mehr der Bewahrung der Schädlichkeit und 
der Vermehrung pathogener Mikroben entgegen. 

Zu c). Es ist durch vielfache Versuche (insbesondere Naegbli’s) ausser Zweifel 
gestellt, dass weder durch Verdunstung noch Capillarkraft Mikroben aus flüssigen Stoffen 
frei werden können. Es bleiben daher nur die beiden Möglichkeiten der Verspritzung 
und des Anhängens an Gegenstände, Flächen etc., welche infolge von Senkungen de6 
Flüssigkeitsspiegels aus der Flüssigkeit heraustreten und trocken werden. Beide Möglich¬ 
keiten sind nur in beschränktem Maasse vorhanden. Aber auch wenn mit denselben 
ernstlich gerechnet werden müsste, bedarf es zum Forttragen der Erreger mit der Luft auf 
längeren Wegen, wie directe Versuche erwiesen haben, ziemlich bedeutender Wind¬ 
geschwindigkeiten und Wege, welche relativ frei von Hindernissen sind. Umgekehrt ist aber 
der Weg von den Strassencanälen durch die Hausanschlüsse und in die Wohnungen ein 
mit so zahlreichen Hindernissen besetzter, dass die Passirung desselben durch Mikroben 
wohl einen sehr seltenen Ausnahmefall bilden wird. Der Hinweis auf Riechstoffe, die von 
Canälen ausgehen, ist bei der viel weiter gehenden Freiheit, gewissermaassen Unkörper¬ 
lichkeit derselben, ohne Beweiskraft. 

Es mag zur Widerlegung der Canalgastheorie weiter noch angeführt werden, 
dass der Nachweis von Erregern von Krankheiten in der Luft von 
Strassencanälen bisher nicht erbracht worden ist, obwohl Untersuchungen von 
Canalluft zahlreich ausgeführt worden sind; vielmehr hat sich die Canalluft relativ frei 
von Spaltpilzen erwiesen. Und nicht nur das, sondern auch in chemischer Hinsicht reiner, 
als meistens angenommen wird. Dies Ergebnis wissenschaftlicher Forschung steht in 
genauem Einklang mit den Beobachtungen, die über den Gesundheitszustand von hunderten 
Arbeitern vorliegen, welche Jahre hindurch täglich in und an Strassencanälen beschäftigt 
wurden, ohne dass bei ihnen Infectionskrankheiten oder besondere Dispositionen zu solchen 
oder mehr als gewöhnliche Gesundbeitsschädigungen, bemerkt worden sind. Endlich 
sei die vielleicht bündigste Widerlegung der Canalgastheorie hier kurz berührt, die in den 
Beobachtungen über die Abnahme der Typhussterblichkeit in canalisirten Städten 
vorliegt. In gut canalisirten Städten hat man eine Abnahme der Typhussterblichkeit bis auf 
1 / i oder Vio (und noch weniger) der früher bestandenen festgestellt, und es liegt dabei 
Grund vor, gerade diese Aenderung als einen besonders geeigneten Maassstab bei Be- 
urtheilung der Wirkungen von Stadtcanalisationen zu benutzen. Allerdings werden bei der 
Aenderung auch zahlreiche andere Factoren im Spiele sein, so dass es unmöglich ist, die 
Wirkung jedes einzelnen darunter aus dem Gesammteffect herauszuschälen. Aber dass 
den Canalisationen eine sehr bedeutende Mitwirkung dabei zukommt, ist im höchsten Grade 
wahrscheinlich, weil wenn das nicht der Fall, oder wenn die Canalgastheorie Recht hätte, 
statt einer Abnahme der Typhushäuflgkeit ein Stillstand, vielleicht sogar eine Zunahme 
derselben hätte eintreten können.*) 

Wie hoch oder wie gering aber auch der gesundheitliche Einfluss der 
Abfallstoffe eingeschätzt werden mag, so herrscht doch darüber Einstimmig¬ 
keit, dass es nothwendig ist, jene Stoffe so rasch als möglich, d. h. 

*) Vergl. hiezu insbesondere: Baron, „Der Einfluss von Wasserleitungen und Tief- 
canalisation auf die Typhuserregung in deutschen Städten 8 , im Centralblatt für allgemeine 
Gesundheitspflege 1886; ferner Hueppe, „Ueber Typhus und Canalisation“ im Journal für 
Gasbeleuchtung und Wasserversorgung 1887; Weyl, „Die Einwirkung hygienischer Werke 
auf die Gesundheit der Städte“, Jena 1893, Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege, Bd. 27 und 28; endlich Büsing, „Die Städtereinigung“, Band 3 des Städtischen 
Tieftaues Stuttgart 1897; und Boechling, Sewer-Gas and ita Influence üpon Health, London 
1898. 


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bevor fanlige Zersetzung eintritt, aus der Wohnung und deren Nähe 
zu entfernen. Alle Einrichtungen müssen, um Anspruch auf günstige Beurthei- 
lung zu haben, dieser Forderung angepasst sein, während die weitere 
Anforderung, dass die Beseitigungsweise der Stoffe so beschaffen sein soll, 
dass dieselben rasch in denZustand der Unschädlichkeit über¬ 
geführt werden, und dabei nicht die Gesundheit Dritter Schaden erleidet in 
zweiter Linie steht. Am besten kann letzterer Anforderung da entsprochen 
werden, wo es nach Beschaffenheit des Orts möglich ist, die Abfallstoffe als 
Dungmittel in der gewöhnlichen landwirthschaftlichen Art und 
Weise zu benützen. Jede andere Beseitigungsweise ist mit mehr oder 
weniger grossen Mängeln verknüpft, auf welche indes an dieser Stelle nicht 
näher einzugehen ist. 

Die durchschnittliche Menge der pro Jahr auf eine Person ent¬ 
fallenden Absonderungen wird wechselnd zu 434 bis 486 kg angegeben, dar¬ 
unter die Menge der festen Stoffe zu 27 - 4 bis 48*5 kg, die der flüssigen von 
400 bis 438 kg. Die Mischung der beiden Arten besteht zu 93’5 % aus 
Wasser und zu nur 6 5 °/ p aus Trockengehalt. 

Die grössere gesundheitliche Bedeutung fällt dem Harn za, nicht nur deswegen, 
weil derselbe an Menge bei weitem überwiegt, sondern auch wegen der die Ausbreitung be¬ 
günstigenden flüssigen Form, wegen des Reichthums an Stickstoff, und wegen der Eigen¬ 
schaft des Harnes, sehr rasch stinkender Fäulnis mit reichlicher Ammoniakbildung zu 
verfallen. Die in der Tagesabsonderung einer Person enthaltene Stickstoffmenge ist für 
die Fäces 1*7 gr , für den Harn 9*6 gr, daher bei letzterem 5 65 mal so gross als bei 
ertereren. Indessen kann dies Verhältniss bis auf etwa 7*5 steigen, wie die Tageserzeu¬ 
gung einer Person an Stickstoff auch zwischen 9 und 13*5 gr und selbst in noch weiter 
auseinander liegenden Grenzen schwanken kann. 

Von den thatsächlich erfolgenden Mengen der Absonderungen gelangt immer nur ein 
gewisser Procentsatz zur Sammlung; ein anderer Theil wird verschleppt. Bei gewissen 
Systemen der Sammlung geht auch ein Theil durch Verdunstung, ein anderer durch Um¬ 
setzungen (Gasbildung etc.) verloren. Daher bleibt die fortzuschaffende Menge von Abson¬ 
derungen selbst bei sehr vollkommenen Sammeleinrichtungen hinter der wirklich erfolgten 
Absonderungsmenge zurück, und wahrscheinlich um so weiter, je länger Aufspeicherung 
(in Gruben) stattfindet. Nach Ermittlungen über die Jahres-Abfuhrmen gen, die in verschie¬ 
denen Städten angestellt sind, kann man rechnen, dass beim Grubensystem bei den voll¬ 
kommensten Einrichtungen 90%, bei mittelguten Einrichtungen 66% und bei mangelhaften 
Einrichtungen, wie sie in kleinen Städten herrschend sind, nur 50% und noch darunter 
der Absonderungsmengen zur thatsächlichen Fortschaffung gelangen. Vom gesundheitlichen 
Standpunkt betrachtet kann dies nur als ein Uebelstand angesehen werden. 

Noch ungünstiger scheint das Verhältnis beim Kübel- und Tonnensystem zu 
sein, was auch bei der in kurzen Zeiträumen erfolgenden Füllung der Behälter und dem 
Zwange der dadurch geschaffen wird, verständlich ist. Nach Beobachtungen in ein paar 
Städten mit Kübelsystem scheint die thatsächlich fortzuschaffende Menge nur 35—40% der 
wirklichen Absonderungsmenee zu betragen. 

Aehnliches dürfte bei der Sammlung in Erd-, Aschen-und Torfmull-Closets 
stattfinden, wenn die Closets ohne Gruben sind. Wo Gruben bestehen, wird der fort¬ 
zuschaffende Antheil etwa so hoch anzunehmen sein, wie bei dem gewöhnlichen Gruben¬ 
system. 

Ob bei Benützung von Wasserclosets der zur Sammlung und Fortschaffung 
gelangende Antheil an den Absonderungen grösser oder geringer ist, als bei den vor¬ 
erwähnten Systemen, hängt zum Theil davon ab, ob die Abflüsse der Closets in Sammel¬ 
graben oder in ein unterirdisches Canalisationsnetz gehen. Ist ersteres der Fall, so wird 
bei den hohen Kosten, welche die Grubenleerung meist erfordert, den Sammelstätten 
wahrscheinlich ein grosser Theil der Absonderungen entzogen und auf sogenannten Unrecht¬ 
wegen zur Fortschaffung beziehungsweise Verbreitung gelangen. 

Ueber die aus sonstigen Gründen den genannten Systemen zur Be¬ 
seitigung der menschlichen Absonderungen gebührende Beurtheilung noch 
Folgendes: 

Das Grobensystem hat den Mangel, dass die Zahl der Stellen, an welchen 
die Absonderungen mit dem Boden und mit der Luft in Berührung 
kommen, sehr gross ist, weil jedes Haus mindestens eine, vielfach mehrere 
Gruben besitzen wird. Sicherheit der Gruben gegen Durchtreten von Flüssig¬ 
keit ist nicht gewährleistet, weil die Baustoffe selbst nicht vor Zerstörung 
durch den Grubeninhalt gesichert sind (vergl. S. 1027). Wenn höherliegende 


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Geschosse an Gruben angeschlossen sind, so werden die hinabführenden Fall¬ 
rohre beschmutzt und bringen leicht üble Gerüche ins Haus. Gegen solche 
besteht auch bei guten Lüftungseinrichtungen der Grube keine vollkommene 
Sicherheit. Letztere ist so einzurichten, dass die Luft durch den (stets offen 
zu lassenden) Sitz in die Grube ein-, und durch ein warm zu legendes Rohr 
über Dach wieder austritt (System d’ARCET). Das obere Rohrende muss 
einen Aufsatz erhalten, der den Luftdurchgang befördert und Störungen des¬ 
selben durch Winddruck verhindert. Die Räumung der Grube bringt leicht 
Störungen im Hause mit sich, ist auch kaum ganz geruchfrei zu bewirken; 
gewöhnlich ist zur Entfernung des letzten Theiles vom Grubeninhalt das Be¬ 
treten der Grube durch einen Arbeiter nothwendig, was immer einen Uebel- 
stand bildet. Uebrigens sollen der besseren Ueberwachung wegen Räumungen 
nur während der Tagesstunden ausgeführt werden. Die Gruben dürfen 
nur mässig gross sein, um häufige Leerung zu erzwingen; jedenfalls ist es 
hygienisch nicht zu rechtfertigen die Gruben so gross anzulegen, dass die 
Räumung bis über Jahr und Tag aufgeschoben werden kann. Ausserdem 
nimmt der Düngerwert des Grubeninhaltes mit der Lagerung — infolge 
Umsetzung des Stickstoffs — erheblich ab; Die Gruben sind sorgfältig da¬ 
gegen zu schützen, dass Wasser in dieselben geschüttet wird, weil mit der 
Vermehrung der Dünnflüssigkeit die Gefahr der Durchsickerung durch die 
Grubenwände zunimmt. Gruben, von denen der Harn ferngehalten oder ab¬ 
geleitet wird, sind aus diesem Grunde und aus dem anderen, dass die Menge 
der erzeugten übelriechenden Gase dabei erheblich verringert wird, vor den 
Gruben, in welchen feste und flüssige Absonderungen gemeinsam aufgenommen 
werden, im Vorzüge. Einen Uebelstand bilden Gruben dann leicht, wenn auf 
dem Grundstück in der Nähe Brunnen bestehen, und Dichtheit der Gruben¬ 
wandungen nicht garantirt ist; bei centraler Wasserversorgung kommt dieser 
Uebelstand in Wegfall. 

Vorzüge besitzt das Grubensystem darin, dass es billig in Herstellung 
und Betrieb, auch die von demselben ausgehende Infectionsgefahr gering 
ist, weil die Erreger in den breiigen Massen im Allgemeinen gut verschlossen 
sind, und eine Aufwärtsführung derselben mit dem Luftstrom bei der 
Feuchtigkeit der Gruben- und Rohrwandungen nicht gefürchtet zu werden 
braucht, auch eine etwaige Infection leichter zu localisiren ist als bei 
Centralsystemen, die zum Fortschaffen der menschlichen Absonderungen 
eingerichtet sind. Grosse Schwierigkeiten bietet eine wirksame Desinfection 
des Grubeninhaltes, weil innige Mischung des Desinfectionsmittels mit dem¬ 
selben kaum erreichbar ist. Indessen ist Desinfection von seit längerer Zeit 
lagernden Massen auch kaum nothwendig, da die Möglichkeit, dass in den¬ 
selben noch pathogene Keime vorhanden sind, ziemlich gering ist. 

Alles zusammen genommen, lässt sich sagen, dass das Grubensystem 
nur für kleinere Städte mit Gartenbau- und Landwirtschafts-Betrieb in der 
unmittelbaren Nähe gut geeignet ist, jedoch in dem Maasse an seiner Eignung 
einbüsst, als die Stadt grösser wird. Grossstädte können damit, wie meh¬ 
rere neuzeitliche Beispiele erweisen, auf die Dauer nicht auskommen (Stutt¬ 
gart, Karlsruhe, Basel u. a.), schon weil in gewissen Jahreszeiten die Mög¬ 
lichkeit zur alsbaldigen Unterbringung der Massen fehlt, ln 
jedem Falle ist aber, wenn an das Grubensystem höhere Ansprüche gestellt werden, 
nothwendig, dass in alle Einrichtungen durch polizeiliche Bestimmungen 
Ordnung hineingetragen wird. Es müssen über Grösse, Lage, Construction, 
Lüftung, Benützung, Räumung, Zeit und Art der Räumung, Räumungsgeräth- 
schaften Bestimmungen getroffen, und keine Grube darf in Benützung ge¬ 
nommen werden, bevor sie nicht durch Wasserfüllung auf Wasserundurch¬ 
lässigkeit untersucht ist. Die Räumung darf nicht den einzelnen Grund¬ 
stückbesitzern überlassen bleiben, sondern muss centralisirt werden. Die 


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Unternehmer der Räumung sind zu verpflichten, von Störungen oder Schäden, 
welche sie an der Gruben- oder Aborts-Einrichtung wahrnehmen, der Polizei 
Anzeige zu machen. Letztere hat eventuell für stets aufnahmefähige Ab¬ 
ladeplätze und ausschliesslich zu benützende Zufuhrwege zu denselben zu 
sorgen und Abladen am Unrechten Ort durch Erlass strenger Verbote zu ver¬ 
hindern. 

Die Gruben werden zur Beschränkung der Geruchbildung mehr hoch 
als breit gemacht; vereinzelt sind hohe eiserne Cylinder als Gruben her¬ 
gestellt worden. — 

Das Kübelsystem ist mit dem Grubensystem im Aeusseren bis auf den 
Unterschied übereinstimmend, dass an die Stelle der festen Grube ein trag¬ 
barer Behälter tritt. Dieser Unterschied bringt die Nothwendigkeit von 
Leerungen der Kübel in kurzen Zeitabschnitten mit sich; gewöhnlich wird 
der Inhalt der Kübel direct auf Felder verbracht, ist daher frisch und von 
relativ hohem Dungwert. Hingegen ist bei der offenen Aufstellung der 
Kübel und der Gefahr des leichten Ueberlaufens derselben die Infections- 
gefahr zweifellos vergrössert. Dieselbe wird auch noch durch den Transport 
vergrössert, einerlei ob die Kübel als Transportgefässe dienen, oder ob der 
Inhalt derselben in grössere fahrbare Behälter entleert wird, da bei beiden 
Modalitäten Verstreuungen oder Verspritzungen nicht zu vermeiden sind. Zu 
gewissen Zeiten kann es Schwierigkeiten haben, den Kübelinhalt sogleich 
unterzubringen; es muss dann vorläufige Aufspeicherung in Erdgruben oder 
anderen Behältern, oder in Haufen, die mit Erde bedeckt werden, stattfinden. 
Die zu Gunsten des Kübelsystems oft geltend gemachte Behauptung, dass 
dasselbe gegen das Grubensystem durch Entfernung der Absonderungen im 
frischen Zustande (vermeintliche Fernhaltung von Gerüchen und Infections- 
gefahren), und Fernhaltung von Bodenverunreinigungen im Vorzüge sei, ist 
daher unbegründet. Ein gewisser Vorzug mag darin liegen, dass die in 
Zeiten von Epidemien nothwendige Desinfection der Absonderungen und der 
Kübel selbst erleichtert ist. Dieser Vorzug kommt aber nur dann zur Geltung, 
wenn in einem Hause immer nur dieselben Kübel benutzt werden, und 
nicht Auswechslung stattfindet. Die Desinfection des Kübelinhalts und der 
Kübel selbst ist verhältnismässig leicht zu bewirken. Im Allgemeinen ist 
nach Vorstehendem das Kübelsystem im hygienischen Sinne dem Gruben¬ 
system nachzusetzen. Es ist für geschlossen bebaute Städte kaum brauchbar, 
vielmehr nur für ländlich geartete Orte, in welchen die Transportwege kurz 
sind. Die Mehrkosten der Einrichtung werden aber wohl durch den höheren 
Dungwert des Kübelinhalts ausgeglichen, wenngleich ein sehr erheblicher 
Procentsatz der Absonderungen überhaupt nicht zur Sammlung gelangt, und 
ein anderer Theil nach der Sammlung wieder verloren wird. 

Das Tonnensystem ist von dem Kübelsystem in Bezug auf eine vervoll- 
kommnete mechanische Durchbildung unterschieden. Die Behälter sind ge¬ 
schlossen, wodurch Verspritzung und Ueberlaufen vermieden wird. Für den 
Fall, dass letzteres zu befürchten ist, können leicht Einrichtungen zur geord¬ 
neten Abführung der übergelaufenen Stoffe getroffen werden. Auch verringert 
der geschlossene Zustand der Behälter die Infectionsgefahr, die Bildung von 
Gerüchen und zufällige Verluste beim Transport. Die Abortrohre sind durch 
leicht lösbaren Verschluss dicht mit den Behältern verbunden, unter Ein¬ 
schaltung eines Geruchverschlusses, der allerdings aus Kothmassen gebildet 
wird. Durch Anbringung einer Flamme dicht hinter dem Geruchverschluss 
lässt sich eine wirksame Lüftung des Fallrohres einrichten. — Die Tonnen 
haben in der Regel 100—110/ Inhalt. Das System ist in der Herstellung 
kostspielig, weil selbst bei geringster Transportweite zwei Tonnen, ausser 
einer Reserve von mindestens noch einer dritten Tonne, nothwendig sind; 
neuerdings werden die Tonnen meist aus verzinktem Eisenblech an Stelle der 
früher üblichen Holzconstruction hergestellt. 


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Eine Abwandelung des Tonnensystems, die für sogenannte Massenaborte 
(Kasernen, Fabriken, Schulen u. s. w.) gebräuchlich ist, besteht in dem Er¬ 
satz der einzelnen Tonnen durch einen grösseren'kesselförmigen (cylindrischen) 
Behälter, an welchen eine Anzahl Fallrohre (bis zu etwa 6) angeschlossen 
wird, und der sowohl fahrbar eingerichtet sein, als auch festliegend angeordnet 
werden kann. Das Tonnensystem ist leicht der missbräuchlichen Benützung 
in der Richtung unterworfen, dass die Tonnen auch zum Einleiten von Schmutz¬ 
wasser und zum Einschütten von Hauskehricht benutzt werden. 

Vor dem Kübelsystem hat das Tonnensystem augenscheinlich gewisse 
Vorzüge. Doch ist es ebenso wenig wie jenes für grosse Städte mit dichter 
Bebauung geeignet. Das bekannteste Beispiel der Anwendung bietet Heidel¬ 
berg, wonach das System auch oft bezeichnet wird. Die Erfahrungen, welche 
mit demselben in gesundheitlicher Beziehung gemacht sind, können min¬ 
destens als „nicht ungünstig“ bezeichnet werden. 

Unerlässliche Voraussetzung für die gute Wirksamkeit des Kübel- und 
des Tonnensystems ist eine straffe Organisation der ganzen Einrichtung. 
Die Abholung, Reinigung und Reparatur der Behälter muss dem Willen des 
einzelnen Hauseigenthümers entzogen sein, und ohne Rücksicht auf den 
Füllungszustand in regelmässigen Zeitabschnitten erfolgen; höchstens darf 
ein Eigenthümer mit einem etwas grösseren Grundbesitz von dem Abfuhr¬ 
zwange befreit werden; doch ist auch das wegen der dann nicht gesicherten 
Regelmässigkeit in der Reinhaltung und Instandsetzung der Tonnen min¬ 
destens unerwünscht. 

Auch wenn Verbringung des Inhalts der Kübel und Tonnen unmittel¬ 
bar auf den Acker stattfindet, bedarf es für Zeiten, wo dies unthunlich ist, 
gewisser Reserve-Ablagerungsplätze. Wenn die Massen einer Centralstation 
zur Verarbeitung auf Pudrette zugeführt werden, fallen die Einrichtungen 
etwas verwickelter aus, und die Centralstationen können leicht zu Stellen 
werden, vor denen Belästigungen und auch Infectionsgefahren ausgehen. 
Diese Stationen sind, was Lage und Gestalt des Platzes, Boden¬ 
beschaffenheit desselben, Betriebseinrichtungen und anderes betrifft, mit sehr 
grosser Vorsicht zu behandeln, und mit Strenge zu überwachen. 

Günstig ist in jedem Falle die Einrichtung einer Station, an welcher 
Kübel und Tonnen nach jeder Auswechslung gereinigt (desinficirt), auf ihren 
tadellosen Zustand genau untersucht und eventuell reparirt werden. 

Wo der Gruben-, Kübel-oder Tonneninhalt in grossen Massen zu be¬ 
wältigen ist, so dass die Unterbringung in der Nähe unmöglich ist, wird 
Pudrettirung eingerichtet. Bekannte Beispiele von Pudrettirungsanstalten 
sind Augsburg, Bremen, Amsterdam. Ein vereinzeltes Beispiel des 
Transports von rohen Absonderungsmassen auf sehr weite Ent¬ 
fernungen bietet Stuttgart, wo dieselben mittelst der Eisenbahn bis 88 km 
weit von der Stadt fortgeschafft werden. Die Einrichtung bedingt grosse 
Reserveanlagen ausserhalb der Stadt, einen besonderen Transportapparat, und 
ist in Zeiten von Epidemien, wo die Möglichkeit nahe liegt, dass der Ab¬ 
transport zeitweillig ganz eingestellt werden muss, gefährlich. Die Stuttgarter 
Einrichtung bietet ein vereinzeltes Beispiel, das auch vielleicht bald aufhören 
wird, weil die Stadt die Einrichtung einer Pudrettirungsanstalt plant, beson¬ 
ders um der oben angedeuteten Möglichkeit zu entgehen. 

Die Desinfection von Grubeninhalt stösst auf so grosse Schwierigkeiten 
und bietet so geringe Chancen für den Erfolg, dass sie nur in Zeiten von 
Epidemien, z. B. bei den ersten Fällen von Cholera, wenn frische Ausleerun¬ 
gen von Kranken in die Gruben gelangen, gefordert werden sollte. Wird sie 
verlangt, so sind als Desinfectionsmittel fast nur Kalkmilch und Mineral¬ 
säuren geeignet. 

Kalkmilch wird hergestellt, indem man 10 Ranmtheile Aetzkalk mit 6 Raumtheilen 
Wasser ablöscht and dem so erhaltenen Fairer auf 1 Baamtheil 4 Ranmtheile Wasser 


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zusetzt ; dies gibt eine sogenannte 20®/oig© Lösung, die, um wirksam zu sein, in der Menge 
von 5°/ 0 dem Grubeninhalt sorgfältig zugemischt werden muss. Von Mineraisauren eignen 
sich Salzsäure und Schwefelsäure, beide in rohem Zustande. Zusatz in derjenigen 
Menge, dass das Gemisch mindestens 1 / 600 freie Säure enthält. — Anstatt Aetzkalk kann auch 
der noch wirksamere Chlorkalk und Carbolkalk (in frischem Zustande) benutzt werden. 
Auf die sonst zur Desinfection von Grubeninhalt zahlreich vorgeschlagenen Desinfections- 
mittel ist kein Verlass. 

Der frische Inhalt von Kübeln und Tonnen ist leichter desinficirbar als der Inhalt 
von Gruben; auch wird grössere Sicherheit für innige Durchmischung geboten. Dasselbe gilt 
für die Desinfection von frischen in Geschirren u. s. w. gesammelten Absonderungen, wo¬ 
zu ausser Aetzkalk und Mineralsäuren auch siedende Lauge, die aus 1 Theil Holzasche 
auf 2 Theile Wasser bereitet wird, verwendbar ist; doch muss die Laugenmenge etwa das 
Dreifache der Menge der Absonderungen betragen. 

Grösser als die Zahl der wirksamen Desinfectionsmittel ist die Reihe 
der Mittel, die zur Vernichtung von Gerüchen der Absonderungen zur 
Verfügung stehen. 

Unzweckmässig ist die Benutzung von Carbolsäure, da dieselbe Gerüche nur *ver¬ 
deckt“, aber die Riechstoffe nicht bindet. Zweckmässige und billige Desodorisationsmittel 
sind Eisen- und Kupfervitriol, auch rohes ManganchlorÜr und rohes überman¬ 
gansaures Kali (Kaliumpermanganat). Die erstgenannten beiden Stoffe binden Schwefel¬ 
wasserstoff und Schwefelammonium, ferner Ammoniak, und ähnliche Wirkungen äussem 
die beiden anderen Stoffe. Von mehr künstlichen Desodorisirungsmitteln sind nochSaprol 
und Lysol zu nennen. 

Neben Beseitigung der Gerüche findet bei der Desodorisation auch eine gewisse, 
doch unzureichende Wirkung auf Spaltpilze statt. — 

Der halb flüssige Zustand der in Gruben, Kübeln oder Tonnen ge¬ 
sammelten Absonderungen begünstigt die Ausbreitung von Infectionen und 
üblen Gerüchen und erschwert den Transport. In beiden Beziehungen werden 
Verbesserungen geschaffen, entweder durch Zusatz von aufsaugenden Stoffen 
(Trocknung) oder durch vollständige Verflüssigung der Absonderungen. 
Ersterem Zwecke dienen die sogenannten Trocken- oder Streuclosets, 
letzterem die Spülabtritte und Wasserclosets. 

In den Trockenclosets werden Erde, Asche, Torfmull und Torfstreu be¬ 
nützt, alles Stoffe, die vermöge Flächenattraction Gerüche binden, und durch die Trocknung 
die Oxydation der Absonderungen begünstigen; durch die vermehrte Zähigkeit der Mischung 
werden Mikroben sicherer festgehalten. Erde und Asche besitzen keine desinficirenden 
Eigenschaften, Torfmull und Torfstreu vermöge ihrer sauren Reaction eine gewisse keim- 
töatende Kraft, die aber den widerstandsfähigeren Keimen, wie z. B. Typhusbacillen, gegen¬ 
über ganz ungenügend ist. Sobald Torfmull und Torfstreu mit menschlichen Absonderungen 
in Berührung kommen, hört die saure Reaction auch auf, und bildet das Gemisch alsdann einen 
günstigen Nährboden für ein reiches Mikrobenleben. Durch Zusatz starker mineralischer 
Säuren (Schwefelsäure oder Salzsäure, oder Phosphorsäure), auch saurer Salze (Kainit) kann 
diese ungünstige Eigenschaft aufgehoben werden; doch wird dadurch der Dungwert des 
Gemisches verringert. Aus diesem Grunde kann es sich empfehlen, den Säurezusatz — der 
übrigens um eine gute Durchtränkung zu erreichen, schon auf der Fabrik gemacht werden 
muss — nur in Zeiten von Epidemien zu benützen. Dann müssen allerdings einige Ballen 
Torfmull immerwährend zur Hand sein, was wieder den Nachtbeil haben kann, dass bei 
längerer Dauer der Säurezusatz unwirksam wird. Es ist daher die ständige Benutzung 
von gesäuertem Torfmull mehr angezeigt. Es genügen schon zwei bis drei Öewicbtstheile 
Säure auf 100 Gewichtstheile Torfmull oder Torfstreu; nebenbei wird durch diesen Zusatz 
ein Theil des Ammoniaks gebunden. 

Die in den Erdclosets benutzte Erde muss möglichst trocken sein; am besten 
ist Erde mit reichem Antheil an Hamas, also sogenannte Gartenerde. Die erforderliche 
Menge beträgt bei guter Beschaffenheit der Erde und sorgfältiger Benutzung 2—2*5 Theile 
auf 1 Theil Absonderungen, es wird daher die Menge derselben durch den Zusatz auf 
mindestens das Drei- bis Vierfache vergrössert, und der Jahresbedarf pro Kopf stellt sich 
auf 1—15 m 3 . Diese grosse Menge wird in städtisch eingerichteten Häusern zu einem üebel- 
stand, der kaum überwindbar ist. Daher erscheint aas Erdcloset nur für kleinere Orte, 
Landstädte und einzelne Anlagen, Fabriken n. s. w., wo Raum zur Lagerung der Erd¬ 
massen, und Unterbringung des Gemisches vorhanden ist, geeignet. Wo, wie z. B. auf 
Fabriken bequeme Gelegenheit znm Trocknen des Gemisches gegeben ist, kann die Erde 
allerdings zweimal benutzt werden; doch empfiehlt sich das nicht. Erdclosets erhalten 
am besten eine gemauerte, von aussen leicht zugängliche Grube. 

Ascho ist sowohl mit Bezug auf Wasseraufsaugung als Bindung von Gerüchen im 
Vergleich zur Gartenerde minderwerthig. Dazu ist auch der Bedarf bei weitem grösser, da 
derselbe allein für die Fäces das Sechs- bis Siebenfache der Menge derselben erreicht. Bei 
Aschenclosets empfiehlt sich daher gesonderte Auffangung und Fortschaffung des 


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Urins, wodurch aber der Gebrauch des Aschenclosets und der Nutzen noch viel enger 
eingeschränkt wird, als der des Erdclosets. Am meisten geeignet erscheint dasselbe noch 
zu Massenaborten auf Fabriken u. s. w., und dann in der Ausführungsweise mit gemauerter 
Grube. Es kommt indes auch die Ausführung mit Kübeln vor, und zwar selbst in 
grösseren Städten; dazu gehört, wie bekannt, Manchester. 

Torfmull und Torfstreu sind von derselben Herkunft; beide werden aus den 
oberen (jüngeren) Lagen der Torfmoore hergestellt. Die Beschaffenheit der Moore wechselt 
nach den Pflanzenarten, aus deren Absterben sie gebildet sind, sehr; die beste Be¬ 
schaffenheit weisen Torfmull und Torfstreu auf, die aus dem sogenannten (langfaserigen) 
Moostorf hergestellt sind. 

Der Torf wird auf Maschinen zerkleinert (zerfasert) und darnach gesiebt. Was 
davon durchfällt, also der körnerartigen Structur sich nähert, heisst Torfmull, was auf 
dem Siebe liegen bleibt, der gröbere und mehr langfaserige Theil, „Torfstreu“. Letztere 
wird vorzugsweise als Streu in Viehställen benutzt, wo sie sich bewährt hat, dagegen 
wegen der der innigen Vermischung mit Fäces widerstrebenden Structur, weniger in Closets; 
für diese ist Torfmull mehr geeignet. 

In lufttrockenem Zustande enthält Torfmull noch von 10 bis 30% Feuchtigkeit, und 
kann in diesem Zustande noch das Fünf- bis Zwanzigfache deB Eigengewichts Wasser auf¬ 
saugen und festhalten. Im Mittel darf man aber nur mit dem Vier- bis Achtfachen rechnen, 
und der niedrigste Satz ist immer dann zu Grunde zu legen, wenn das Torfmull nicht 
möglichst trocken gelagert wird. Da in der Jahresmenge der Absonderung einer Person ca. 

450 450 

450 Wasser enthalten sind, so würde der Jahresbedarf an Torfmull sich auf -j- bis -g- 

oder auf 56 bis 112 kg berechnen, oder dem Raume nach etwa % bis %m 3 . 

Das Bestreuen der Absonderungen mit dem Torfmull kann von Hand geschehen; 
gewöhnlich wird aber ein mit dem Abortsitz verbundener — auch zur Selbstthätigkeit 
eingerichteter mechanischer Apparat benutzt. Bei Massenaborten legt man Gruben an, 
sonst werden „Sitze“, an deren Rückseite der Torfmullbehälter angebracht ist, aufgestellt. 
Bei mehrgeschossigen Häusern Gruben anzulegen, empfiehlt sich aus dem Grunde nicht, 
dass von jedem Sitz ein besonderes Rohr zur Grube hinabgeführt werden und dieses Rohr, 
um Beschmutzungen der Wand desselben möglichst vorzubeugen, grosse W T eite (20 bis 2b cm) 
erhalten muss. Wenn möglich, sollen Gruben und Sitze zur Lüftung eingerichtet werden. 

Nach dem hygienischen Gesichtspunkte beurtheilt, ist das Torfstreuclo¬ 
set unter gewissen Voraussetzungen einwandfrei; diese beziehen sich nament¬ 
lich auf die Hauseinrichtung. Es erscheint für mehrgeschossige Häuser 
wegen des Erfordernisses an Lagerraum für das Torfmull und des Trans¬ 
ports von Torfmull und Closetinhalt über Flure und Treppen ungeeignet, 
desgleichen wegen des Transports der relativ grossen Massen über die Strassen 
für grössere Städte unbrauchbar, gut geeignet dagegen für kleinere Orte, 
Landstädte, Einzelbesitzungen, auch Schulen, Kasernen, Fabriken u. s. w., 
wenn Land, auf welches der Closetinhalt unmittelbar verbracht werden kann, 
in der Nähe ist. Der Düngerwerth desselben ist hoch; man hat vereinzelt 
auch Brennmaterial durch Trocknen und Pressen aus demselben hergestellt. 

In dem oben hervorgehobenen Umstande, dass der Urin der bedenk¬ 
lichere und weitaus überwiegende Theil der Absonderungen ist, die Mischung 
mit dem festen Theil auch besondere Transportschwierigkeiten mit sich bringt, 
finden Einrichtungen zur Trennung des Urins von den Fäces ihre 
Begründung. Ob die Trennung gesundheitlich im Vorzüge ist, erscheint 
aus dem Grunde zweifelhaft, dass damit die Schädlichkeiten vergrösserte 
Ausbreitung erhalten; doch kommt es sehr auf die Art und Weise an, in 
welcher die Trennung und der Abtransport des Urins erfolgt. Man hat zu 
unterscheiden: ob die Trennung alsbald nach der Entstehung, oder erst 
nachdem Fäces und Urin sich gemischt haben, geschieht. 

Für den erstgenannten Modus gibt es eine Anzahl von Einrichtungen an den Sitzen 
und auch etwas tiefer unter dem Sitz; keine derselben wirkt indessen tadellos, insofern 
als grössere Mengen des Urins unterwegs hängen bleiben und dadurch Flächen, die 
mit intensiv faulender Flüssigkeit bedeckt sind, entstehen. Beinhalten durch Wasserspü¬ 
lung wird den Umständen nach in der Regel ausgeschlossen sein. Der Urin wird in be¬ 
sondere Gefässe oder Gruben, oder auch in ein unterirdisches Canalnetz geleitet. Darunter 
ist die Sammlung in Gruben die bedenklichste Einrichtung, weil die sogenannten nassen 
Gruben kaum dicht zu halten sind, und bei nicht gehöriger Aufsicht auch wohl Über¬ 
flüssen, also den Boden in der Umgebung der Grube stark verunreinigen und die Luft in 
der Nähe verpesten können; solche Gruben dürfen daher niemals unter, oder unmittelbar 
anstossend an das Haus angelegt werden. Der Abtransport des Urins verursacht, wenn 


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derselbe nicht in unmittelbarer Nähe landwirtschaftlich Verwerthang finden kann, 
grosse Kosten; allerdings ist der Düngerwerth desselben hoch. Vereinzelt hat man ge¬ 
sammeltem Urin Gelegenheit gegeben, sich mit Sägespänen, Torfmull, Asche za mischen; 
auch wohl mit Aetzkalk, am sie za desinficiren; durch diese meist mangelhaft bedienten 
Einrichtungen wird aber im gesundheitlichen Sinne nichts gebessert. (Geeignet erscheint 
die Abtrennung etwa nur auf Jj&ndgütern, wo man den Urin mit den flüssigen Abgängen aus 
den Viehställen zusammen führen kann, vielleicht auch neben Stallanlagen bei städtischen 
Wohngebäuden. 

Wird dem Urin Gelegenheit zum Abfluss geboten, nachdem derselbe 
sich mit den Fäces gemischt hat, so erhält man viel geringere Mengen, 
dafür aber ein dünnflüssiges Gemisch von Urin und Fäces, das in kleinen 
Orten wohl den Strassenrinnen zugeleitet wird, in Orten mit unterirdischer 
Canalisation in dieser Aufnahme findet. Letzterer Modus wird oft einwand¬ 
frei sein, ersterer ist dagegen aus Gründen, die nicht wiederholt zu werden 
brauchen, hochbedenklich und unter allen Umständen auch da zu verwerfen, 
wo etwa regelmässige Spülung der Strassenrinnen stattfindet. 

Wenn man die sogenannten nassen Gruben dazu einrichtet, dass in denselben die 
Abscheidung fester Bestandtheile erfolgt, werden sie wohl als Klärgruben bezeichnet, 
Solche Gruben bestehen aus mehreren Abtheilungen, die von dem Zufluss nach einander 
p&ssirt werden. Die Trennung geschieht durch Gitter; oder es wird der Weg, den der Zu¬ 
fluss zu nehmen hat, auch wohl aufsteigend eingerichtet. Der mechanische Effect 
solcher Grubeneinrichtung ist in der Regel gering, etwas besser nur bei sehr sorgfältiger 
Betriebsweise; Wirkung im Sinne der Desinfection findet nicht statt. Soll eine solche er¬ 
zielt werden, so erfordert die Grube besondere Einrichtungen, die namentlich auf die innige 
Zumischung des Desinfectionsmittels zu dem Grubeninhalt berechnet sein müssen. Aber 
auch dann ist der Erfolg keineswegs vollkommen sicher, weil Alles von der Sorgfalt, die 
auf die Bedienung der Einrichtung verwendet wird, abhängt. Folgeweise muss die Ge¬ 
sundheitspolizei derartige Einrichtungen auf städtischen Grundstücken, von welchen 
aus Schädlichkeiten leicht auf Nachbargrundstücke verbreitet werden können, perhorres- 
ciren, und kann Klärgrubenanlagen auf den einzelnen städtischen Grundstücken nicht als 
Ersatz für centrale Kläranstalten, deren Betrieb geregelt ist,und der Ueberwachung 
durch verantwortliche Beamte untersteht, betrachten. Klärgrubenanlagen erscheinen daher 
nur bei einzelnen Instituten, auf Landgütern u. s. w. von einem gewissen gesundheit¬ 
lichen Werth. 

Bei den Aborteinrichtungen, in welchen der Inhalt verflüssigt wird, 
kann man sogenannte Spülaborte und Wasserclosets unterscheiden. 
Der Unterschied besteht darin, dass in den Spülaborten die Zuführung des 
Wassers nicht in Becken oder Trichter, vielmehr in einem besonderen Be¬ 
hälter erfolgt, auch nicht nach jeder einzelnen Benutzung sondern summarisch 
stattfindet. Bei den Spülaborten verbleibt daher der Closetinhalt kürzere 
oder längere Zeit in der Nähe des Sitzes, kann auch verspritzen und da¬ 
durch Ursache zu Infectionen werden; die Trichter unter den Sitzen und der 
Sitz selbst sind der Gefahr der Beschmutzung ausgesetzt. Aus diesen Gründen 
sind die Spülaborte den Wasserclosets, in welchen Spülung nach jeder 
Benutzung stattfindet, und der Inhalt mit dem Spülwasser sogleich abgeleitet 
wird, nachzusetzen. Die Möglichkeit von Verspritzungen und Beschmutzungen 
des Sitzes ist entweder ganz aufgehoben, oder doch eingeschränkt. Endlich 
ist von gesundheitlichem Interesse, dass bei den Spülaborten der Abschluss 
gegen die Grube oder die Rohrleitung, in welcher der Closetinhalt abge¬ 
führt wird (Wasserschluss), in mehr oder weniger weiter Entfernung von den 
Sitzen liegt, während derselbe bei den Wasserclosets sich unmittelbar unter 
oder hinter dem Sitz befindet. 

Spülaborte werden gewöhnlich als sogenannte Massenaborte für Schulen, 
Bahnhöfe, Kasernen u. s. w. angewendet, aus dem Grunde, dass für sie ein er¬ 
heblich geringerer Wasserbedarf genügt als für Wasserclosets. Der Behälter 
zur vorläufigen Ansammlung ihres Inhalts kann in Trog- oder Röhrenform, 
oder in einer andern der Oertlichkeit angepassten Form, als Trichter oder als 
conischer oder cylindrischer Hohlkörper hergestellt werden, der Sitz als 
blosser sogenannter Ring, oder in der meist üblichen Form der Sitze. 

Wassercloscts kommen in sehr wechselnden Aasführungsweisen vor: als einfache 
Trichter mit Syphon-Wasserschlnss am unteren Ende; als sogenannte Becken- oder Pfannen- 


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closets mit einem zweitheiligen Trichter, wovon der obere Theil in dem unteren liegt and 
beweglich ist; mit Becken von verschiedener Form and festem oder beweglichem Wasser* 
schloss; mit nur einem oder auch zwei auf einander folgenden Wasserschlüssen. In der 
Regel ist der Raum unter dem Sitz — Trichter oder Becken — sowie der Hohlraum 
zwischen diesem und dem Geschr&nk durch ein nach aussen, oder zu einem sogenannten 
warmen Rohre führendes Rohr zur Lüftung eingerichtet. 

Da der von dem Geschränk umschlossene Hohlraum dem Auge entzogen ist, wird 
derselbe leicht der Sammelort von Schmutz und allerhand Ungeziefer, und das Geschränk 
selbst bietet leicht Gelegenheit zu Verunreinigungen. Deshalb wird in neuerer Zeit bei 
besseren Einrichtungen ein Geschränk überhaupt nicht angewendet, vielmehr der Sitz 
ans Fayence (auch emaillirtem Eisenguss) aus einem Stück hergestellt und frei, an allen 
Seiten bequem übersehbar, in der „Zelle“ aufgestellt. 

Ein grosser Vorzug, der Spülaborten und Wasserclosets gemeinsam ist, 
besteht in der Möglichkeit der leichten Desinficirung des Inhalts. Dieselbe 
kann mittelst Anwendung sogenannter Spülkasten auch als dauernde Ein¬ 
richtung vorhanden sein. 

Während bei den Spülaborten das Wasser frei fliessend (druckfrei) zu¬ 
geführt werden kann, ist es bei den Wasserclosets für die wirksame Rein¬ 
haltung der Trichter und Becken nothwendig, dass das Spülwasser unter 
einem etwas stärkeren Druck eintrete. Da in den oberen Geschossen des 
Hauses der Wasserdruck geringer als in den unteren ist, wird der Rein¬ 
lichkeitszustand der in den oberen Geschossen stehenden Wasserclosets in 
der Regel geringer sein als der in den unteren Geschossen aufgestellten. 

Die Reinhaltung der Trichter und Becken, sowie die vollständige 
Abschwemmung aller Schmutztheile erfordert den Gebrauch eines ge¬ 
wissen Minimums an Wasser. Vielfach wird daran in ganz unzulässigem 
Maasse gespart. Versuche über die zur Abschwemmung des Schmutzes un¬ 
entbehrliche Wassermenge haben ergeben, dass dieselbe nicht unter 12—18 1 
für jede einzelne Closetbenutzung betragen muss; gewohnheitsmässig wird 
meist kaum die Hälfte dieser Menge aufgewendet und dadurch Gelegenheit 
zu längerem Verbleiben des Schmutzes in der Rohrleitung, beziehungsweise Ver¬ 
schmutzungen und Verstopfungen derselben gegeben. Wo das Minimum an 
Spülwasser nicht jederzeit vorhanden ist, können Wassercloseteinrichtungen 
mehr gesundheitsbedenklich sein als eine von den bisher besprochenen andern 
Aborteinrichtungen. 

Die Anlage tob Wasserclosets hat hiernach das Bestehen einer häuslichen 
Wasserleitung zur Voraussetzung. Es kommen nun zwei Modalitäten der Verbindung 
zwischen beiden vor. Entweder findet zwischen der Wasserleitung und dem Closet un¬ 
mittelbare Verbindung statt, oder aber es wird zwischen beiden ein besonderes kleines 
Reservoir (sogenannter Spülkasten) eingeschaltet. Bei der unmittelbaren Verbindung be¬ 
steht keine Sicherheit dagegen, dass gelegentlich Closetinhalt oder übelriechende Oase in 
die Rohre der Wasserleitung gelangen. Diese Möglichkeit kann z. B. bei Ausführung von 
Reparaturen an der Verbindung, und ebenso in dem Falle eintreten, dass bei Entleerung 
der Wasserleitung in dem Anschlussrohr Luftleere oder Luftverdünnung entsteht. Daher 
ist die Einschaltung eines Spülkastens zweckmässig, die deshalb auch in manchen Städten 
polizeilich vorgeschrieben ist. Es giebt aber auch andere Sicherheitsvorkehrungen gegen 
die in Rede befindliche Gefahr, die indessen weniger einfach und deshalb der Anwendung 
eines Spülkastens nachzusetzen sind. 

Die Wasserschlüsse von Closets sind der Gefahr unterworfen, durch Austrocknem 
oder Leersaugen, oder durch Verspritzen ihres Inhalts zerstört zu werden. In erster Linie 
schützt hiegegen eine reichliche Bemessung des Inhalts derselben (also ausreichende Höhe 
der Wassersäule). Es muss jedoch ausserdem durch zweckmässige Anlage der Ableitungen 
und besondere Einrichtungen gegen die erwähnte Gefahr vorgebeugt werden. Die be¬ 
treffenden Einrichtungen sind sehr mannigfaltig, und diejenigen darunter, welche wirk¬ 
liche Sicherheit gewähren, complicirt und entsprechend theuer. Da die einfachen nicht unter 
allen Umständen Sicherheit gewährleisten, sind dieselben wenig beliebt und es erklären 
sich aus diesem Grunde viele mangelhafte Anlagen, welche Vorkommen. Den besten Dienst 
leistet die immerwährende Zuführung von frischem Wasser zu den Wasserschlüssen. 
Wo diese nicht eingerichtet ist, und zeitweilige Unterbrechungen in der Benützung eines 
Closets zu erwarten sind, muss für häufige Erneuerung des Inhalts des Wasserschlusses 
gesorgt werden. 

Bibi. med. Wissenschaften Hygiene u. Ger. Med. 66 


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W OHNÜNGSH YGIENE. 


Obwohl der Inhalt von Wasserclosets auch in Gruben gesammelt 
werden, und von dort aus seine Verbringung, beziehungsweise Verwerthung in 
verschiedener Weise ausgeführt werden kann, ist die Sammlung in Gruben 
doch nur unter besonderen Verhältnissen zulässig, vielmehr setzt die Anlage von 
Wasserclosets als Regel das Bestehen einer unterirdischen Entwässe¬ 
rungsleitung voraus. Diese kann auf dem Grundstück selbst angelegt 
werden, entweder so, dass die Leitung ihren Inhalt einem in der Nähe be¬ 
findlichen offenen Gewässer zuführt, oder dass derselbe unterirdisch an den 
Boden abgegeben wird (sogenannte Untergrund-Berieselung). Ob eine dieser 
Möglichkeiten zulässig, und welche den Umständen nach die bessere ist, 
richtet sich ganz nach den örtlichen Verhältnissen. Besser ist in jedem Falle 
das Bestehen einer öffentlichen Canalisation, an welche, unter Vermeidung 
einer Grube, die Wasserclosets angeschlossen werden. Geht der Inhalt von 
Wasserclosets in eine Grube, so kann dort entweder oberirdischer Abfluss 
in einen Graben, oder in offene Strassenrinnen erfolgen; beides ist jedoch 
von gesundheitlichem Standpunkt zu beanstanden. Geschieht dies, so bleibt 
nur das Mittel, die Gruben von Zeit zu Zeit zu leeren und den Inhalt auf 
Ackerland abfliessen zu lassen oder abzuführen; es muss sich daher aufnahme¬ 
fähiger Ackerboden in einiger Nähe finden. Immer ist der Abtransport mit 
Wagen kostspielig und dies führt leicht zu unzulässiger Beschränkung des 
Spülwasserverbrauchs bei der Benützung der Wasserclosets. Berücksichtigt man 
endlich, dass gegen den sehr dünnflüssigen Inhalt der Abgänge aus Wasser¬ 
closets Gruben nur sehr schwer dicht halten, dass auch die Möglichkeit 
gelegentlichen Ueberfliessens derselben nicht ausgeschlossen ist, daher mehr¬ 
fache Gelegenheit zu Bodenverunreinigungen gegeben ist, so ergibt sich, dass 
nur in Orten mit öffentlicher Canalisation Wasserclosets als 
vollkommene Einrichtungen zur Geltung kommen, unter andern 
Verhältnissen dagegen so grosse Uebelstände mit ihrer Einführung ver¬ 
bunden sein können, dass sie nicht nur andern Abortseinrichtungen nach¬ 
zusetzen sind, sondern die Gesundheitspolizei geradezu Veranlassung hat, die 
Einrichtung derselben zu verhindern, oder doch starb zu erschweren. In der 
That findet beides auch vielfach statt. 

Dass sogenannte Schwindgruben, d. i. Gruben mit durchlässigem 
Boden und Seitenwänden nicht zur Aufnahme und Versickerung von Wasser¬ 
closetabgängen benützt werden dürfen, ist dem Vorstehenden nach selbst¬ 
verständlich. Nur unter besonderen örtlichen Verhältnissen kann die Anlage 
von Schwindgruben zulässig sein, dieselben versagen übrigens leicht ihren 
Dienst. 

Pissoiranlagen in Wohngebäuden werden sehr leicht zu Stätten, von 
welchen allerlei Schädlichkeiten ausgehen. Sie bedürfen besonders, um geruch- 
frei zu bleiben, reichlicher Wasserspülung, die entweder continuirlich oder 
intermittirend sein kann. Bei guter Anordnung steht die intermittirende 
Spülung der continuirlichen, welche viel grössere Wassermengen erfordert, 
nicht nach. Dies liegt darin, dass die Spülwirkung nicht nur von der 
Zuführung einer gewissen Wassermenge, sondern auch von der Ge¬ 
schwindigkeit abhängt, mit welcher die zu spülende Fläche vom 
Wasser getroffen wird; letztere ist bei der intermittirenden Spülung in der 
Regel grösser als bei der continuirlichen. — Leicht werden die Flüssigkeiten 
von häuslichen Pissoiren, wenn dieselben in oberen Geschossen der Häuser 
angelegt sind, zu Stellen verbreitet, an denen sie grossen Schaden anrichten 
können: wie z. B. an hölzernen Balkenlagen und Zwischendecken, aber auch 
an Mauern. Besonders gefährlich sind in dieser Hinsicht die sogenannten 
Rinnenpissoire, viel günstiger Beckenpissoire; die Zulassung ersterer 
Art sollte an die Erfüllung gewisser Bedingungen gebunden werden, während 
die Zulassung von Beckenpissoiren mit geordneter Ableitung in der Regel 


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unbedenklich geschehen kann. Die Becken bestehen am besten aus Fayence; 
für die Spülung empfiehlt sich Selbstthätigkeit, die unter Benützung eines 
sogenannten Spülkastens in verschiedener Weise herstellbar ist. 

Bei den neuerdings eingeführten sogenannten Oelpissoiren wird Wasserspülung 
dadurch ganz vermieden, dass das Becken einen öfter zu erneuernden Oelüberstrich 
erhält, der das Haften von Urin an der Beckenwand verhindert, und dass auf dem Wasser¬ 
schluss unter dem Becken eine Oelschicht schwimmt, welche wegen ihres geringeren 
specifischen Gewichts dauernd erhalten bleibt und es verhindert, dass der Wasserverscnluss 
durch Verdunstung aufgehoben wird. Bei einer anderen Art von Oelpissoiren wird das 
Haften von Urin am Becken dadurch verhindert, dass die Beckenwand hohl, und der Hohl- 
raum mit Oel gefüllt ist, das nach der Vorderseite hin „darchschwitzt - und so eine isoli- 
rende Schicht bildet. Die Bewährung dieser letzteren Art von Oelpissoiren bleibt abzu¬ 
warten. Sogenannte Trockenpissoire mit ähnlichen „Trockenstoffen - , als bei den Trocken¬ 
closets zur Anwendung kommen, sollten in Wohngebäuden nicht angewendet werden. 

Ein wesentlicher Vorzug, der den Spülclosets, Wasserclosets und 
Pissoiren mit Wasserspülung gemeinsam zukommt, besteht in der leichten und 
sicheren Desinfectionsfähigkeit der menschlichen Absonderungen, da 
die — wasserlöslichen — Desinfectionsmittel dem Spülwasser zugesetzt werden 
können. 

Eine Abortseinrichtung, die in gewissem Sinne als zwischen dem Grubensystem und 
dem WasserclosetSystem liegend aufgefasst werden kann, sich aber dem ersteren mehr 
als dem letzteren nähert, ist das System Liernur, das in einer kleinen Reihe von Städten, 
namentlich Hollands, Eingang gefunden hat. Die Eigenart des LiERNUR-Systems beruht 
darin, dass die Grube nicht in der Wohnung, sondern für eine Anzahl von Häusern 
gemeinsam unter den Strassen angelegt, und zwischen den Closets und der Grube 
eine Rohrleitung benützt wird. Die Zuführung der Absonderungen zu der Grube erfolgt 
auch nicht sogleich, sondern in mehr oder weniger langen Zwischenräumen, und es werden 
während derselben die Absonderungen in den Closettrichtern zurückgehalten, die eine 
diesem Zweck entsprechende besondere Tiefe haben. Am unteren Ende des Trichters 
liegt ein Syphon, dessen Verschluss durch die Absonderungen selbst mit einem geringen 
Antheil Wasser gebildet wird. Der gesundheitliche Werth des LiERNüR-Systems ist wesent¬ 
lich dadurch bedingt, dass die Zeitabschnitte zwischen zwei Leerungen kurz sei, damit 
die Absonderungen nicht schon während ihres Verweilens im Trichter in Fäulnis über¬ 
gehen. Im Vergleich mit dem Grubensystem bestehen die Vortheile darin, dass die Quelle 
von Gestankbildungen in relativ weite Entfernung vom Ilause verlegt ist und keine offene 
Verbindung dahin besteht, und ferner in der leichten Möglichkeit der Desinfection der 
Absonderungen. Gegen das Wasserclosetsystem ist das LiERNUR-System durch die nothwendige 
Beschränkung des Spülwasserverbrauchs im Nachtheil, und auch dadurch, dass dasselbe 
den sogenannten „ästhetischen“ Anforderungen weniger weit entgegenkommt. — Die cen- 
tralisirte Verarbeitung der Absonderungen, die den Grundgedanken des 
LiERNUR-Systems bildet, wird gesundheitlich im Allgemeinen vor der gesonderten 
Verarbeitung von Grubeninhalt im Vorzüge sein. Endlich ist bei dem System, welches 
eiserne Leitungen und Gruben, sowie Luftverdünnung zur Fortbewegung der Abson¬ 
derungen in den Leitungen benützt, Verunreinigung von Luft und Wasser ausgeschlossen. 

Dem LiERNUR-System ist das System Berlier ähnlich, das bisher aber nur ganz 
vereinzelt zur Anwendung gekommen ist und weniger leistet als jenes. — Das sogenannte 
Luft closet ist ein beweglicher Abort mit Eimer und Trennvorrichtung der festen und 
flüssigen Stoffe; den Innenraum des Geschränkes ist durch ein Rohr, das mit einem soge¬ 
nannten warmen Rohr verbanden wird, lüftbar. Wo Wasserclosets nicht angelegt werden 
können und die Unterbringung des Gruben-, Kübel- oder Tonneninhalts unmöglich ist, kann 
sich die Einrichtung des sogenannten Feuer-Closets empfehlen. Zwar sind mehrere bezüg¬ 
liche Constrnctionen desselben bekannt, doch hat es darunter bisher nur eine einzige zu 
einer gewissen Bedeutung gebracht. In dem Feuer-Closet erfolgt mittelst einer Feuerung 
Verbrennung der Fäces und Verdampfung des Urins; zuweilen wird letzterer auch fort¬ 
geleitet, wodurch aber die Einrichtung sehr mangelhaft wird. Viel grössere Bedeutnng 
als in Wohnungen kommt den Feuer-Closets in Infections-Krankenhäusern zu; ebenfalls 
können sie für Massenlocale (Kasernen u. s. w.) vor anderen Einrichtungen im Vorzüge 
sein. Bekannte Beispiele hiezu bieten das Epidemiespital in Brünn nnd mehrere preussische 
Kasernen, darunter auch eine in Potsdam. 

Fasst man alles zusammen, was im Vorstehenden über die Mängel und 
Vorzüge der verschiedenen zur summarischen Besprechung gelangten Sammel- 
und Fortschaffungsweisen der menschlichen Absonderungen sowie über Samm¬ 
lung und Beseitigung der häuslichen Brauchwasser mitgetheilt worden ist, 
£0 steht zweifellos fest, dass in gesundheitlichem Sinne das Wassercloset 
mit Anschluss an eine öffentliche Canalisationsanlage, die 

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WOHNDNGSHYGIENE. 


auch die häuslichen Brauchwässer aufnimmt, das bisher Vollkommenste leistet; 
auch mit Bezug auf das Entgegenkommen gegen Ansprüche sittlicher und 
ästhetischer Natur ist diese Einrichtung allen anderen überlegen. Dies gilt 
unbeschadet von Besonderheiten, welche die Canalisationsanlage aufweisen 
kann, wobei man bekanntlich zwischen Schwemmsystem und Trenn¬ 
system zu unterscheiden pflegt, denn die Unterschiede zwischen beiden be¬ 
rühren viel weniger gesundheitliche Rücksichten, als dass sie mit rein tech¬ 
nischen und wirtschaftlichen Aufgaben Zusammenhängen. Da diese hier 
nicht Gegenstand der Besprechung sein können, und ein selbst nur neben¬ 
sächliches Eingehen auf sie einen sehr breiten Raum erfordern würde, muss 
dazu auf die ziemlich reiche Specialliteratur verwiesen werden. 

Die in der Küche sich ergebenden Schmutzwasser, die Spül-, Wasch- 
und Badewasser wurden früher als weniger gesundheitsgefährdend als 
die menschlichen Absonderungen betrachtet, und man hielt demzufolge auch 
ihre oberirdische Ableitung in Gruben, offenen Strassenrinnen u. s. w. für 
zulässig. In der neuern Zeit hat man erkannt, dass diese Wasser qualitativ 
den Absonderungen nicht nachstehen, und stellt daher in Bezug auf die Ent¬ 
fernung die gleich strengen Anforderungen wie bei jenen. 

In der Tbat wird man einen Unterschied nicht machen können, wenn man bedenkt, 
dass die genannten Wasser reich an organischen Stoffen, Staub und Schmutz, vielfach auch 
mit menschlichen Absonderungen — namentlich Urin — vermischt zur Abführung gelangen. 
Sie enthalten die Abfälle und Beste von der Zubereitung der rohen Nahrungsmittel, daneben 
verdorbene Speisereste, Hautabschürfungen, Sputa, Kehrichttheile und Schmutz, der 
von den Fussböden u. s. w. der Wohnungen gesammelt wurde, sind daher reich an 
faulnisfähigen Stoffen und desgleichen stickst off reich, können daher ebenso gut wie die 
menschlichen Absonderungen geeignete Nährböden für infectiöse Keime sein. Es müssen 
daher diese Wasser, die man unter dem Sammelnamen „häusliche Brauchwasser 11 zusammen¬ 
fasst, auch ebenso sorgfältig gesammelt und in unschädlicher Weise beseitigt werden, wie 
die menschlichen Absonderungen, und es ist ungeregelte Abführung durchaus unzulässig, 
desgleichen auch oberirdische Ableitung in Strassenrinnen und Gruben. Die beste Ableitung 
ist die durch eine unterirdische Canalisation, und zwar zusammen mit dem Inhalt der 
Wasserclosets, da durch die gemeinsame Abführung die Vorfluth in den Canälen befördert 
und dadurch die Reinhaltung der Canalwandungen begünstigt wird. 

Vereinzelt bat man, in Verkennung der Beschaffenheit der häuslichen 
Brauchwasser für die Abgänge der Wasserclosets besondere Ableitungen 
angelegt. Nach dem, was oben mitgetheilt wurde, fehlt für diese Trennung 
die Begründung; umgekehrt ist die Zusammenfassung sowohl vom gesundheit¬ 
lichen als wirtschaftlichen Standpunkte zu empfehlen. 

Die Menge der häuslichen Brauchwasser nimmt man als übereinstim¬ 
mend mit der Menge des der Wohnung zugefübrten Reinwassers an, welche 
von 20 bis 1001 und darüber für einen Tag, d. h. von etwa 7-5 bis 40m s in 
einem Jahr betragen kann. Zwar gelangt ein Theil des Reinwassers nicht 
wieder zum Abfluss; andererseits erfährt aber die Menge des Brauchwassers 
auch durch feste Abfall- und Schmutzstoffe eine gewisse Vermehrung. 

Wo die unterirdische Canalisation fehlt, muss für die häuslichen Brauch¬ 
wasser eine Sammelgrube angelegt werden, für die alles dasjenige gilt, 
was oben mit Bezug auf die Sammelgruben für Wasserclosetabgänge ange¬ 
führt worden ist. Ebenso wenig wie für diese sind für die häuslichen Brauch¬ 
wasser sogenannte Schwindgruben zulässig. 

Bei dichter städtischer Bebauung sammelt sich auf den unmittelbar an das 
Haus anschliessenden Höfen und Plätzen, die in der Regel gepflastert oder an 
der Oberfläche auf sonstige Weise mehr oder weniger wasserundurchlässig her¬ 
gestellt werden, Regen- und Traufwasser, dem sich Schmutz von der Hoffläche 
selbst und aus dem Haushalt, Asche, Kehricht u. s. w., auch Schmutz, der an 
den Füssen herzugetragen wird, beimischt. Je dichter die Bebauung und je zahl¬ 
reicher die Bewohnerschaft der Häuser, um so unreiner wird das sogenannte 
Hofwasser sein. Daher bedarf auch dieses Wasser der sorgfältigen Sammlung 
und Ableitung, die gleichfalls am besten durch eine unterirdische Canalisation 


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WOHNDNGSHYGIENE. 


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bewirkt wird, aber auch durch Untergrundberieselung erfolgen kann. Unter 
Umständen mag auch Beseitigung mittelst Schwindgrube zulässig sein. Ab¬ 
gesehen von der directen Beziehung, die das Hofwasser zu der Gesundheit 
der Hausbewohnerschaft hat, kommt für die Nothwendigkeit der geordneten 
Sammlung und Fortschaffung desselben die indirecte Beziehung in Betracht, 
die in der Thatsache gegeben ist, dass stagnirendes Wasser dem Hause 
leicht Feuchtigkeit zuführt und die Luft in der Umgebung desselben „muffig“ 
macht. 

Die trockenen Abfallstoffe des Haushaltes, als „Hauskehricht“, 
„Hausmüll“, auch kürzer als „Kehricht“ oder „Müll“ bezeichnet, setzen 
sich aus den bei der Hausreinigung gesammelten Massen, aus den gröberen 
Küchenabfällen, Knochen, Kork, Asche, Trümmern aller Art, Papier-, Stoff¬ 
und Metallresten, Abfällen häuslicher Gewerbebetriebe, geringen Mengen von 
Bauschutt und sonstwie zusammen. 

Was zunächst die Gesammtmenge des Kehrichts betrifft, so wird derselbe passend 
auf 1 Kopf und Jahr bezogen, wechselt aber in sehr weiten Grenzen, die durch Woh- 
nungsgrosse, Lebenshaltung der Bewohner, Bauart und Lage des Hauses, Art des Brenn¬ 
materials und andere Ursachen bestimmt sind. Durchschnittszahlen, wie die von Petten- 
kofer gegebenen von $Okg für Kehricht und 15 kg für Asche — die einem Volumen von 
l&O bis 160/ entsprechen, lassen daher keine Verallgemeinerung zu. In grösseren Städten 
scheint die Kehrichtmenge auch ziemlich überall grösser als 150 bis 160/ zu sein; hier 
wird dieselbe sich meist zwischen 200 und 300 1 bewegen; doch gibt es Städte, in welchen 
selbst 300/ noch mehr oder weniger weit überschritten werden, jedoch wohl nur ver¬ 
einzelt solche, in welchen 200/ unerreicht bleiben. 

In sehr hohem Grade ist die Kehrichtmenge von der Beschaffenheit des Brenn¬ 
materials abhängig; je besser dasselbe, je geringer die Aschenmenge und umgekehrt. Letztere 
macht immer einen beträchtlichen Antheil an der Gesammtmenge aus. Auf der anderen 
Seite ist die Asche, abgesehen von dem Staube, den dieselbe beim Transport verursacht, 
«Ln relativ harmloser Bestandtbeil des Kehrichts, da sie von organischen Stoffen ziemlich 
frei ist, während letztere in den übrigen Bestandtheilen des Kehrichts in reichlichen 
Mengen vertreten sein können. Immer hat der Kehricht einen gewissen Wassergehalt, 
•den Vogel*) in 16 Proben innerhalb der Grenzen von 3*76 und 23 Gewichtprocenten 
liegend fand. In denselben Proben wechselte die Menge der verbrennlichen Stoffe zwischen 
13*33 und 33 55°/ 0 und die Menge der unverbrennlichen zwischen 50*91 und 77*47%. Etwas 
Genaueres über die Zusammensetzung von Hauskehrichtproben, die aus Berlin und Brüssel 
stammten, enthält die Angabe von Vogel, dass sich darin von 17*64—27 00% organische 
Stoffe, von 0*35—0*46% Stickstoff und von 0 02—0-58% Phosphorsäure fanden, daneben 
Kali, Kalk, Magnesia in stark wechselnden Mengen, und Asche von 60*94—80*74%. 

Es könnte nach diesen Zahlen — insbesondere nach der Stickstoffmenge 
beortheilt — der Hauskehricht im gesundheitlichen Sinne als ziemlich harmlos 
erscheinen, und zu derselben Ansicht könnte man vielleicht auf Grund der Beob¬ 
achtung gelangen, dass unter den zahlreichen Arbeitern, die beim Verladen und 
Transport des Kehrichts jahraus, jahrein beschäftigt sind, besondere Krankheiten, 
«der selbst nur Dispositionen zu solchen bisher nicht hervorgetreten sind. In¬ 
dessen ist den thatsächlichen Verhältnissen nach dieser Schluss doch abzu¬ 
weisen, da der Kehricht neben einem hohen Antheil organischer Stoffe Feuchtig¬ 
keit enthält, also die Hauptbedingung für Entstehung von Fäulnis und eines 
reichen Mikrobenlebens erfüllt. In letzterem aber können gelegentlich auch 
pathogene Arten vertreten sein, nnd sogar für längere Zeit, wie beispielsweise 
Typhus- und Tuberkelbacillen, Eitererreger, Erreger von mehreren äusseren 
ansteckenden Krankheiten u. s. w. Die zuletzt genannten Schädlinge können 
aus dem Staube von Krankenzimmern — in welchen sie mehrfach nachgewiesen 
sind — in den Kehricht gelangen, und derselbe Weg steht vielleicht auch dem 
Typhusbacillus offen, der übrigens noch durch andere Medien, wie z. B. ver¬ 
dorbene Speisen und Dejecte von Typhuskranken, in den Kehricht gelan¬ 
gen kann. 

Die Sammelweise des Kehrichts ist sehr vielgestaltig. Es werden dazu feste 
Graben ausserhalb des Hanses, tragbare oder fahrbare Behälter, die in oder ansser dem 
Hanse Aufstellung finden, endlich anch sogar „Schächte* benutzt, die ausserhalb oder im 

*) Vogel, Die Verwerthang der städtischen Abfallstoffe, Berlin 1896. 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


Innern des Hauses angebracht sind, und am unteren Ende zur Entleerung eine verschliess- 
bare Oeffnung haben. Grundsätzlich ist den kleineren Sammelgefässen vor den grösseren 
der Vorzug zu geben, weil durch jene die raschere Entfernung des Kehrichts erzwungen 
wird. Eine Ausnahme ist indes bei grossen städtischen Miethsgebäuden zu machen, da 
naturgemäss für jede einzelne Familie ein Sammelgeiäss vorhanden sein muss. Hier könnte 
es sich also um eine sehr grosse Zahl von Stätten, von welchen Gefährdungen ausgehen r 
handeln, welchen gegenüber eine einzige Grube von entsprechender Grösse, welche nur in 
längeren Zeitabschnitten entleert wird, im Vorzüge ist. Sammelbehälter und Gruben 
müssen in den Wandungen dicht, letztere auch vor Zuführung von Wasser und missbräuch¬ 
lichem Einschütten anderer Flüssigkeiten geschützt sein. 

Es ist eine offene Frage, ob die tägliche Fortschaffung des Kehrichts vor derjenigen in 
etwas längeren Zeitabschnitten gesundheitliche Vorzüge besitzt, weil dem zweifellos günstigen 
Umstande der Fortschaffung des „frischen“ Kehrichts als Nachtheil der gegenüber steht, 
dass die Fortschaffung kaum ohne Staubbildung und Verstreuen von kleineren Kehricht¬ 
mengen auf dem Grundstück vorgenommen werden kann. 

Mit besonderer Strenge ist darauf zu halten, dass die Wagen, in welchen der Ab¬ 
transport des Kehrichts geschieht, so dicht als möglich sind, damit beim Verladen und 
Fortschaffen nicht Staub Verbreitung und Verluste an den Kehrichtmengen entstehen. 
Gleichzeitig ist an die Transportwagen die Forderung zu stellen, dass die Arbeiter, welche 
das Verladen u. s. w. des Kehrichts besorgen, bei ihren Verrichtungen möglichst vor Staub 
und anderen Schädlichkeiten geschützt werden. Es sind in der neueren Zeit Transport¬ 
wagen, die beiden Anforderungen gerecht werden wollen, mehrfach aufgetaucht; doch ist 
eine vollkommene Lösung des Problems bisher nicht gefunden. 

Bei dem geringen Düngerwerth, den der Hauskehricht seiner Zusammen¬ 
setzung nach nur hat, ist Verwerthung desselben in der Landwirthschaft so gut 
wie ausgeschlossen. Dieser, auch vom gesundheitlichen Standpunkt ungün¬ 
stige Umstand zwingt da, wo nicht Gelegenheit geboten ist, den Kehricht 
zur Aufhöhung von tief liegenden Bodenflächen zu benützen oder denselben 
in See zu verbringen, ihn auf Abladeplätzen anzuhäufen, wo er sich vorläufig 
selbst überlassen bleibt. Solche Abladeplätze können die Ausgangspunkte von 
Seuchen werden, auch Boden und Trinkwasser in der Umgebung verunreinigen. 
Sie müssen daher von menschlichen Wohnstätten entfernt liegen und um¬ 
friedigt werden, damit kein Unberechtigter Zutritt erhalten kann. Uebrigens 
müssen Lage und Bodenbeschaffenheit der Abladeplätze so beschaffen sein, 
dass die von dem Kehricht zu befürchtenden Schädlichkeiten auf ein Minimum 
beschränkt werden. Wegen dieser Ansprüche kann die Beschaffung der Ablade¬ 
plätze nicht der Sorge des Einzelnen überlassen bleiben, sondern muss von 
der Gemeinde bewirkt werden, welche für die Benutzung eventuell eine 
Abladegebühr erheben kann, und Abladen an anderen Stellen als den an¬ 
gewiesenen Plätzen unter Strafe zu stellen hat. Ueberhaupt lässt sich das 
Ganze der Kehrichtsammlung und -Abfuhr in gesundheitlichem Sinne nur 
dadurch befriedigend gestalten, dass die Gemeinde gegen entsprechende Ge¬ 
bühr die Leistung entweder in eigener Regie ausfuhrt, oder dieselbe unter 
strengen Bedingungen an einen General-Unternehmer überträgt. Dies muss 
das bisher noch nicht überall erreichte Ziel sein, neben welchem es, wenig¬ 
stens in grösseren Städten, ein anderes nicht geben darf. Wo dasselbe aus 
besonderen Gründen nicht zu verwirklichen ist, oder seine Erreichung erst 
für einen späteren Zeitpunkt in Aussicht steht, muss in die Sammlung und 
Abfuhr des Kehrichts seitens der Polizei strenge Ordnung gebracht werden. 
Es sind Vorschriften über Beschaffenheit und Grösse der Sammelgefässe und 
Gruben, über die Zeiten der Abfuhr u. s. w. zu erlassen, deren Uebertretung 
mit strengen Strafen zu ahnden ist. 

Um den Zersetzungsvorgang der abgelagerten Kehrichtmassen abzukürzen, 
kann es sich empfehlen, frisch zugeftthrte Massen mit einer dünnen Erdschicht 
zu überdecken. Wenn nach einigen Jahren die Zersetzung beendet ist, 
können die angehäuften Massen unbedenklich zur Aufführung neuer Strassen, 
Plätze und Baustellen dienen, Verwendungszwecke, zu welchen „frischer“ 
Kehricht nicht benutzt werden darf. 

Die Schwierigkeiten, in der Nähe grosser Städte geeignete Plätze zum Abladen der 
entstehenden grossen Kehrichtmengen zu beschaffen, und die Gefahren, welche in Zeiten 


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WOHNUNGSH Y GIENE. 


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z. B. von Choleraepidemien von solchen Plätzen ausgehen können, haben neuerdings dazu 
geführt, Verbrennungs-Einrichtungen für den Kehricht zu schaffen. Auf dem Continent 
ist Hamburg zuerst mit einer derartigen Anlage Torgegangen, wozu dort die grosse 
Choleraepidemie von 1892 den wirksamsten Anlass gegeben hatte; in einer Reihe Ton 
Städten schweben zur Zeit Projecte zur Anlage Ton Verbrennungsanstalten. In Orten, wo 
geringwerthiges Brennmaterial (Braunkohle oder Briquets) benutzt werden, stösst aber 
namentlich im Winter die Verbrennung auf Schwierigkeiten, da die Kosten hoch und die 
zu beseitigenden, allerdings gesundheitlich nicht mehr zu fürchtenden Rückstandsmassen 

f ross sind, da sie von 40—60 Volnmprocente betragen. Mit der Absicht, die Kosten 
erabzumindern, ist man neuerdings an die Errichtung von Kehrichtverwer- 
thungs-Anstalten heran gegangen. Das erste derartige Beispiel bietet auf dem Con¬ 
tinent Budapest; ganz neuerdings ist München diesem Beispiele gefolgt. Die „Ver¬ 
werthung“ wird durch Sortiren des Kehrichts, d. h. Sondern desselben in verschiedene 
Gattungen, erzielt. Metalltheile, Papier, Stoffreste, Glasscherben, Coaks, organische Reste 
u. 8. w. haben jede für sich einen gewissen Werth, während dem Gemisch ein Werth voll¬ 
kommen abgebt. Die Sonderung darf aber nur in geschlossenen Räumen geschehen, und 
die dabei beschäftigten Arbeiter sind gewissen Gefahren ausgesetzt. In dieser Hinsicht 
und wegen der von der Verwerthung untrennbaren Gefährdung noch Anderer ist letztere 
gegen die Kehrichtverbrennung bedeutend im Nacbtheil. 

In einer Reihe englischer Städte bestehen theils Einrichtungen zur Verwerthung, 
theils zur Verbrennung. Letztere geschieht zuweilen unter Hinzunahme auch des Strassen- 
kebrichts und der in Gruben, Tonnen oder Streuclosets gesammelten menschlichen Ab¬ 
sonderungen. 

Dass im biologischen Sinne auch dem Luftstaube der Wohnungen Be¬ 
deutung zukommt, ist oben schon mehrfach berührt worden. Diese Bedeutung 
macht sich sowohl direct als indirect geltend. Es ist die Feuchtigkeit, 
durch welche der Luftstaub „angeklebt“, und nicht nur zur Ursache von Un¬ 
reinlichkeit, muffigen Gerüchen, sondern auch zur Entwickelung von Schimmel- 
und Spaltpilzen an den Wänden der Wohnräume und an sonst geeigneten 
Stellen werden kann. Es ist ausserdem daran zu denken, dass der Staub auf 
Speisen und Getränke fallen und in diesen Zersetzungen hervorrufen kann; 
besonders gilt dies für Kellerräume und Wohnräume, deren Fussboden tiefer 
als das anstossende Erdreich liegt. Von hier aus kann aber bei der Verbindung, 
die durch Thüren, Treppenhäuser, Aufzugschachte hergestellt ist — aber auch 
durch die Zwischendecken, die in ihrer Masse niemals luftdicht sind, und an ihrem 
Umfange meist einen mehrere Centimeter breiten offenen Spalt lassen — leicht 
eine Uebertragung in die höher liegenden Räume stattfinden. Dass dies auch 
geschieht, ist durch vielfache Untersuchungen sicher erwiesen. Regelmässig hat 
man in den zu ebener Erde gelegenen Räumen einen höheren Kohlensäure¬ 
gehalt der Luft angetroffen als in den Räumen der oberen Geschosse; mit 
der Höhenlage ermässigt sich der CO,-Antheil der Zimmerluft. Dies ist um 
so mehr beweisend für Räume mit künstlicher, nahe unter der Decke an¬ 
gebrachter Beleuchtung, die es mit bewirken, dass die Luft der höher 
liegenden Räume an Kohlensäure reicher wird als die der tiefer liegenden. 

In Zimmern, welche gut rein gehalten werden, ist der Luftstaub arm 
an Keimen, weil dieselben in ruhender Luft sich bald auf Fussböden, Möbel, 
Geräthe, Oefen (an diesen brenzliche Gerüche erzeugend) ablagern. Die be¬ 
wegte Aussenluft hat meist höhere Keimzahlen. Es ergibt sich hier¬ 
nach die Unmöglichkeit, den Keimgehalt der Luft geschlossener Räume durch 
Luftwechsel herabzusetzen, und kann dies wirksam nur durch feuchtes Rei¬ 
nigen des Fussbodens und der Möbel geschehen. 

Die im Luftstaub enthaltenen Keime gehören meist nicht pathogenen Arten an; doch 
liegen auch mehrfach Befunde von pathogenen Arten vor, die darin freilich die Bedingungen 
für Weiterentwickelung gewöhnlich nicht erfüllt finden werden. In dem Luftstaube von 
Krankenräumen, (nach Hukfpe) aber auch im Staube von Hotelzimmern und Zimmern von 
Privatwohnungen sind sowohl Tuberkel- als Diphtherie-Bacillen nachgewiesen worden, beide 
Arten wahrscheinlich aus dem Sputum Kranker herrührend. Noch leichter sind mit Luftstaub 
die Erreger der acuten Exantheme verbreitungsfähig, welche namentlich mit Hautab¬ 
schürfungen an die Zimmerluft abgegeben werden können. Mehrfach sind Strepto¬ 
coccen und Staphylococcen in der Luft von Krankensälen gefunden worden, die auch 
während langer Zeit im trocknen Luftstaube entwicklungsfähig blieben. Im Speichel Ge¬ 
sunder und Kranker hat man Pneumonie-Bakterien sicher festgestellt. 


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.WOHNUNGSHYGIENE. 


Abgesehen von der Infectionsgefahr, mit welcher beim Luftstaube ge¬ 
rechnet werden muss, kommt die Ablagerung desselben in den Luftwegen in 
Betracht. Es werden dadurch Reizungen der Schleimhäute bewirkt, Disposi¬ 
tion zu Katarrhen und Lungenaffectionen sei es erzeugt, sei es vergrössert. 

Die Thatsache, dass gewisse Wohnungen in ausgesprochenem Maasse 
die Eigenschaft besitzen, dass in denselben gewisse Infectionskrankheiten 
öfter als in anderen Wohnungen zum Ausbruch kommen, oder schwerer als 
anderwärts verlaufen, auch die andere Thatsache, dass gewisse Wohnungen 
mehr oder weniger stark begünstigend auf die sogenannten Erkältungskrank¬ 
heiten wirken, ist nach dem, was im Vorstehenden über die Beziehungen, die 
zwischen der Beschaffenheit der Wände und Zwischendecken der Wohnungen 
bestehen, und über den Einfluss, den Feuchtigkeit, Unreinlichkeit und Staub in 
den Wohnungen auf die Gesundheit der Bewohnerschaft ausüben können, mit- 
getheilt ist, ausreichend erklärt. Die Uebereinstimmung der Auffassungen, 
die darüber besteht, spricht sich unzweifelhaft darin aus, dass es üblich ist, 
einige Infectionskrankheiten geradezu als „Schmutzkrankheiten“ zu bezeichnen; 
es gilt dies namentlich von den verschiedenen Formen der Cholera und 
vom Darm- und Flecktyphus. Bei denselben scheinen insbesondere die 
von den Abfallstoffen ausgehenden Schädlichkeiten im Spiele zu sein, 
deren Bedeutung für die Wohnungshygiene daher nicht leicht überschätzt 
werden kann. Daneben darf indes die Wichtigkeit anderer Anforderungen, 
wozu allgemeine Reinlichkeit der Wohnung, Fernhaltung von Feuchtigkeit, 
Zuführung von Licht und Luft in ausreichendem Maasse, endlich Schutz 
gegen Auftreten von Temperatur-Extremen in der Wohnung gehören, nicht 
übersehen werden. 

Wenn aber auch in allen diesen Beziehungen das Nothwendige geschieht, 
ist immer noch keine vollkommene Sicherheit dafür geschaffen, dass den 
Insassen der Wohnung selbst nur diejenigen Infectionskrankheiten fern bleiben, 
zwischen welchen und der Wohnungsbeschaffenheit mehr oder weniger directe 
Beziehungen bestehen, weil mit dem, was in der Wohnung geschehen kann, 
nur einige, und zwar wohl die Hauptquellen, aber doch nicht alle 
Quellen der Infection geschlossen sind. 

Desinfectionsmittel, die für Wolinräume und die darin befindlichen Gegenstände 
(Möbel) geeignet sind, stehen nnr in beschränkter Zahl zur Verfügung; theils sind sie flüssige, 
theils gasförmige, theils feste. Einerseits müssen die Mittel so beschaffen sein, dass sie zu 
allen — auch verdeckt liegenden — Stellen Zutritt erlangen können und dass ihre Wirkung 
in einer nicht zu langen Zeit erfolgt, anderseits aber auch so, dass durch sie die Gegen¬ 
stände wenigstens nicht leicht beschädigt werden, und dass sie keine Schädlichkeiten (Gifte) 
an den desinficirten Gegenständen zurücklassen; selbstverständliche Anforderung ist, dass 
sie für denjenigen, der die Desinfection mit gehöriger Vorsicht ausführt, nicht Gefahr 
bringend sind. 

Bedingungslos gilt, dass Desinfectionen von Wohnräumen nnr von Personen, welche 
in dieser Beschäftigung regelrecht ansgebildet sind, ausgeführt werden können und dürfen. 
Ausnahmen können z B. bei rohen Mauern und Wänden Platz greifen, die man wirksam 
durch einen Anstrich mit Kalkmilch desinficirt. Zur grösseren Sicherheit kann der 
Anstrich in einem mehrstündigen Zwischenraum zwei mal aufgetragen werden; die Wirkung 
desselben erfolgt etwas langsam. An Stelle von Kalkanstrich können auch Natron* uni 
Kalilauge, desgleichen Lösungen von Schmierseife (in heissem Zustande) verwendet werden. 

Wandflächen mit Farbenanstrich oder Tapetenbezug werden mit Brot abgerieben, 
nachdem vorher der Fussboden des Raumes mit einer oprocentigen Carbolsäure-Lösung 
stark angefeuchtet ist. (1 Theil Acidum carb. depur. auf 18 Theile Wasser. Thüron, 
Fenster, Holzvertäfelungen, u. e. w. werden ebenfalls mit öprocentiger Carboisäurelösung 
bestrichen. Abortsitze, Möbel, Bilder, Ledersachen u. s. w. werden abgerieben und mit 2pro- 
centiger Carboisäurelösung bestrichen. An Stelle von Carbolsäure kann auch Sublimat 
benutzt werden; es dürfen aber keine Reste davon an den behandelten Gegenständen ver¬ 
bleiben, weil dieselben sich zersetzen, dann verstauben, und noch nach langer Zeit giftig 
wirken können. 

Bei der Desinfection benutzte Tücher, Lappen, Brotabfälle u. s. w. sind sorgfältig zu 
sammeln und zu verbrennen. 


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WOHNUNGSHYGIENE, 


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Neuerdings ist zur Desinfection von geschlossenen Raumen Formaldehyd-Ver¬ 
dampfung (sogenanntes Formalin) in Aufnahme gekommen. Dieselbe bietet grosse Erleich¬ 
terungen in der Durchführung, besonders auch mit Bezug auf die Zeitdauer, welche bis 
Wiederingebrauchnahme des Raumes erfordert wird. Die bisherige Erfahrung mit diesem 
Mittel ist aber vielleicht noch etwas kurz. 

Wohnungen in Niederungen und Th&lern, die überfluthet wurden, bedürfen vor dem 
Wiederbeziehen einer besonders sorgfältigen Behandlung, eventuell auch einer Desinfection. 
Als im Frühjahr 1888 in verschiedenen Gegenden Preussens Wohnungs-Ueberschwemmungen 
zahlreich vorgekoramen waren, erliess (am 9. April) 1888) das Medicinal-Ministerium eine 
Anleitung zur Wiederbeschaffung normaler gesundheitlicher Zustände in solchen Wohnungen, 
aus der hier Folgendes mitgetheilt wird. 

„. .. Vor allem ist eine gründliche Reinigung der Wohngebäude in allen 
ihren Abtheilungen nothwendig, die aber in der Regel allein noch nicht genügt, da 
meistens nicht nur Wasser, eventuell mit Lehm oder ähnlichen, in sanitärer Hinsicht nur 
wenig bedeutsamen Stoffen verunreinigt, eingedrungen ist, sondern das Wasser auch 
mehr oder weniger Strassenschmutz, Unrath aus überflutheten Abtritten und Dünger¬ 
stätten, nach Umständen auch den Inhalt von Schmutz Wasserleitungen mit sich geführt 
hat, und Wände und Fussboden der Zimmer mit solchen Stoffen verunreinigt sind. In 
solchen Fällen ist die Reinigung unzureichend und Desinfection nothwendig. 

Besondere Aufmerksamkeit erfordert in gedielten Zimmern die Füllung der entweder 
nur durchnässten, oder auch verunreinigten Zwischendecken. Auch bei blosser Durchnässung 
wird dieselbe — unter der oft zutreffenden Voraussetzung, dass sie von vornherein aus 
unreinem Material bestanden hat, — der Sitz sich lange hinziehender Fäulnis, und unter 
Umständen ein sehr geeigneter Boden für etwa vorhandene Krankheitskeiroe werden 
können. Durchnässtes Deckenfüllmaterial muss daher beseitigt und durch passendes, 
trockenes ersetzt werden. 

Da. wo die Dielung bereits schadhaft war, ist die Beseitigung des Füllmaterials 
auch in dem Falle sehr rathsam, dass nicht eine besondere Verunreinigung vorliegt, weil 
die Dielen auf der durchnässten Unterlage bald faulen oder durch Schwamm zerstört 
wurden. — Wenn sich bei der probeweisen Aufnahme der einen oder anderen Diele die 
der Deckenfüllung etwa nicht besonders feucht und unrein erweist, genügt die Desinfection 
der Dielen. 

Was die Wände betrifft, so ist die Entfernung des Abputzes von denselben 
sowohl deshalb dienlich, weil damit unreine Stoffe, die mit dem Wasser eingedrungen waren, 
sicherer unschädlich gemacht werden, als es durch Anordnung von Desinfectionsmittein 
allein geschehen könnte, wie auch deshalb von Nutzen, dass dadurch die Austrocknung 
der Wände erheblich beschleunigt wird. 

Keller, in die Wasser von oben eingedrungen, müssen möglichst bald und voll¬ 
ständig ausgeschöpft werden. Sind die Keller im Wesentlichen wasserfrei gemacht, so ist 
der noch vorhandene Rest zu desinficiren und heraus zu schaffen. — Durch Eindringen von 
Orundwasser überschwemmte Keller können erst trocken gelegt werden, nachdem der 
Grundwasserstand entsprechend gefallen ist. 

Zur Desinfection sind zwei Mittel benutzbar: Carbolsäure und Aetzkalk. Rohe 
Carbolsäure mit roher Schwefelsäure übertrifft an Wirkung entsprechende Lösungen von 
reiner Carbolsäure; auf je 10 l Carbolsäure werden 5 l rohe {Schwefelsäure genommen. 
Nach guter Mischung beider Körper muss die Mischung 2 bis 3 Tage stehen. — Die Kalk¬ 
milch wird etwas steifer zubereitet, als die Maurer dieselbe zum Tünchen benützen. 

Zur Desinfection von Wänden, Fussboden und von trocken gelegten Kellern wird am 
besten die Carbolsäure-Mischung benützt. Zur Desinfection der in den Kellern verbliebenen 
Wasserreste wird auf 20 Theile derselben ein Theil der Carbolsäure-Mischung verwendet. 
Wände sind mittelst Pinsel oder Lappen mit der Mischung reichlich anzufeuchten, Holz- 
fussböden mit derselben zu „scheuern“. Von Abputz befreite Wände werden mit Kalk¬ 
tünche desinficirt. In Schlamm, der auf der Kellersohle etwa zurückgeblieben ist, wird 
am besten Kalkpulver in der Menge von 1 Theil auf 20 Theile Schlamm eingestreut. Zu 
der Desinfection von Kellerwänden kann zwar auch die Carbolsäure-Mischung benützt 
werden; dies ist des Geruches wegen aber da zu widerrathen, wo der Keller zur Auf¬ 
bewahrung von Nahrungsmitteln, namentlich von Milch benützt wird. 

Neben der Benützung von Oefen zum Trocknen der Wände ist die Anwendung von 
eisernen Coakskörben sehr zu empfehlen. Eine Aufschüttung von Sand unter den Körben 
wird stark erwärmt und befördert dadurch das Austrocknen des Fussbodens. In Räumen, 
in welchen Coakskörbe aufgestellt sind, müssen, um Vergiftungen mit Kohlenoxyd zu ver¬ 
hüten, und auch wegen des Trocknens Fenster und Thüren beständig offen gehalten 
werden. 

Röhrenbrunnen werden von Ueberschwemmungen in der Regel nicht leiden und 
können daher fortgesetzt benützt werden, dagegen sind Kesselbrunnen möglichst 
vollständig auszuschöpfen. Die Wandungen sind alsdann zu reinigen und mit Kalkmilch zu 
desinficiren. ln das im Kesselbrunnen — oder einfachen Schöpfbrunnen — verbliebene 
Wasser wird eine mässige Portion Kalkpulver eingeschüttet, und wenn dadurch Trübung 
des Wassers eintritt, der Brunnen abermals möglichst trocken gelegt. Es ist zu em- 


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.WOHNÜNGSHYGIENE. 


pfehlen, das Wasser desinficirter Brunnen eine Zeit lang nicht ohne weiters, sondern sum 
Trinken und für andere häusliche Zwecke nur gekocht zu benützen. Unbedingt noth- 
wendig ist dies, wenn das Wasser überschwemmt gewesener Brunnen in Benützung ge¬ 
nommen werden muss, noch bevor Desinfection des Brunnens stattgefunden hat. 

Ueberschwemmt gewesene Abtrittsgruben müssen sorgfältig reparirt werden, 
namentlich um benachbart liegende Brunnen vor dem Durchsickern von Grubeninhalt zu 
schützen. Wenn ein Brunnnen nahe an einer Abtrittsgrube liegt, muss, bevor das Aus* 
schöpfen desselben unternommen wird, die Grube ausgeleert werden. u 


In der Reihe der verschiedenen Factoren, welche Morbidität und Morta¬ 
lität beeinflussen, ist bei dem Ueberwiegen der Zeit, während welcher die 
Insassen dem Einfluss derselben ausgesetzt sind, die Wohnung vielleicht 
derjenige, der sich am stärksten geltend macht. Es ist aber unmöglich, den 
Einfluss, den dieser eine Factor übt, aus der Wirkung, die alle Factoren 
zusammen ausüben, heraus zu schälen. Wollte man dennoch dieser Aufgabe 
näher treten, so müsste man eine gegebene Anzahl von Wohnungen nach 
ihrer gesammten Beschaffenheit in bestimmte Gruppen sondern, wobei 
neben der Grösse der Wohnung auch die übrigen Eigenschaften als Lage, 
Trockenheit, Licht und Luft, Wärme, nähere Umgebung u. s. w. zu berück¬ 
sichtigen wären. Da aber bei der Einreihung nach den letztgenannten Factoren 
bei der grossen Mannigfaltigkeit und einer gewissen Subjectivität des Urtheils, 
die dabei nicht vermeidlich ist, manches Willkürliche und Unzutreffende unter¬ 
laufen müsste, hat man bei mehreren Untersuchungen, die vielfach über den 
Einfluss der Wohnung auf den Gesundheitszustand der Insassen angestellt 
sind, alles bis auf den einen Factor der Wohnungs-Grösse bei Seite ge¬ 
lassen und ist so zu Zahlen gekommen, die zwar nicht in strengem Sinne 
verstanden werden dürfen, jedoch immerhin ein angenähertes Bild von 
jenem Einflüsse gewähren. 

In anderen Fällen hat man Ermittelungen über den Einfluss, den die 
Höhenlage der Wohnung, d. h. die Zahl der Wohngeschosse in dem¬ 
selben Hause, in gesundheitlicher Richtung ausübt, angestellt; Unter¬ 
suchungen dieser speciellen Art liegen aber bisher erst einzelne vor. Abge¬ 
sehen von der Unsicherheit, die hiedurch in die Ergebnisse hinein getragen 
wird, gilt von letzteren dasselbe, was vorhin über die aus der Wohnungs¬ 
grösse allein abgeleiteten Schlussfolgerungen bemerkt worden ist. 

Ermittelungen in London, die in dem Zeiträume von 1885 bis 1892 angestellt 
wurden, ergaben für Bezirke mit steigenden Procentsätzen der kleinen Wohnungen ein 
beträchtliches Ansteigen der Gesammtsterblichkeit. Die Ermittelungen wurden auf 
Wohnungen, die aus weniger als fünf Räumen bestanden, in welchen zugleich mehr als 
zwei Personen auf einen Raum entfielen, beschränkt, da man solche Wohnungen als 
„überfüllt* ansah. 

Wohnungen dieser Art fanden sich in Die Sterblichkeitsziffer pro Tausend 
der Anzahl vor: war in den Bezirken: 


Bezirke mit weniger als 15%.17 51 

15-20 „.19*51 

20—25 „.20*27 

I 25—30 „.2176 

„ „ 30-35 .. 2392 

„ mehr als 35 . 25 07. 

In Glasgow wurde 1885 die Sterblichkeitsziffer ermittelt: 

Zu 18 pro Tausend in Wohnungen von 4 Zimmern 

3 20 „ » » 7 ) 

s 26 „ „ „ „ , 2 

27 1 

Cob nelly und Akdror ermittelten die Sterblichkeit an acuten Darmkrank¬ 
heiten allein: 

Zu 1*96 pro Tausend in Wohnungen von 4 und mehreren Zimmern 
» 276 „ „ 3-4 „ 

n 3*90 9 „ „ „ „ 2—3 „ 

, 0-98 „ „1-2 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


1051 


Was den Einfluss der Höhenlage der Wohnung im Hanse betrifft, so 
fand Schwabe (in Berlin), dass die Sterblichkeitsziffer im Erdgeschoss sich 
höher stellte, als in dem darüber liegenden Geschosse (der sogenannten Bel¬ 
etage), nnd dass auch für die darüber liegenden Geschosse die Sterblichkeits¬ 
ziffer höher war als für die Beletage. Die Sterblichkeitsziffer für das Keller¬ 
geschoss war, wenn auch hoch, doch günstiger, als man erwartet hatte. 
Anderweitig ist bemerkt worden, dass die höher liegenden Geschosse gesund¬ 
heitlich im Vorzüge vor den tiefer liegenden sind. Man sieht den Grund 
der Erscheinung in der grösseren Menge von Licht und Luft, deren sich die 
Bewohner der oberen Geschosse erfreuen. Andererseits sind aber auch die Be¬ 
schwerden in Ansatz zu bringen, welche das Ersteigen mehrerer Treppen, 
namentlich den im höherem Lebensalter stehenden sowie lungenschwachen 
Personen auferlegt, und es muss weiter berücksichtigt werden, dass bei der 
Schwierigkeit des Verkehrs mit der Aussenwelt in den hoch liegenden Ge¬ 
schossen die Pflege von Reinlichkeit und Sitte weniger gut gesichert ist, als 
in den der Erde näher liegenden Geschossen, endlich, dass die oberen Geschosse 
aus den unteren auch Luftverschlechterungen aufnehmen und zwischen den 
Bewohnern der verschiedenen Geschosse sociale Verschiedenheiten bestehen, 
die im Gesundheitszustände sich stark geltend machen können. 

Die neuzeitliche sociale Entwickelung, welche dahin geht, dass die Be¬ 
völkerung sich mehr und mehr in den grösseren und grossen Städten an¬ 
sammelt, während die Bevölkerungs-Dichte in den kleineren Städten und auf 
dem platten Lande stabil bleibt, vielfach sogar Abnahme erfährt, bringt neben 
andern Uebelständen auch solche auf dem gesundheitlichen Gebiete mit sich. 
Je grösser die Agglomerationen der Bevölkerungen werden, um so stärker 
wirkende Maassregeln und Gesundheitsschutz derselben werden erfordert, und 
um so grösser können dessenungeachtet die Verwüstungen von Gesundheit 
und Leben werden, die einherziehende Volksseuchen grösserer Art fordern. 

Es gibt in Deutschland zur Zeit eine ganze Anzahl von Städten, in welchen die auf 
1 ha des Stadtgebiets entfallende Bevölkerungszahl 250—300 erreicht; in einzelnen, sogar 
nicht kleinen Bezirken solcher Städte steigt die Bevölkerung auf 800 und selbst 1000 
Köpfe, und sogar noch über letztere Zahl hinaus. Selbst in Mittelstädten werden bis etwa 
500 Köpfe auf 1 ha gezählt; dies gilt insbesondere von Städten mit reicherer gewerblicher 
Thätigkeit, doch auch von einigen anders gearteten Städten, wenn durch natürliche Zu¬ 
stände oder künstlich geschaffene Verhältnisse, wie etwa Einschnürung durch Festungs¬ 
werke, der Raum zur Yertheilung auf breiterer Fläche knapp ist oder ganz fehlt. 

Fast immer ist mit grosser „Bevölkerungsdichte“ Uebervölkerung 
der Wohnungen (Overcrowding of dwellings) verbunden. Dieselbe kann 
aber auch da vorhanden sein, wo die auf die Flächeneinheit (ha) ent¬ 
fallende Kopfzahl nur mässig, oder sogar relativ klein ist. Im ersteren Falle 
liegt die Ursache in einer zu weit getriebenen Ausnutzung des Baugrundes, 
die dahin geführt hat, auf kleinster Grundfläche die grösstmögliche Zahl 
von Einzelwohnungen herzurichten, und, was meist damit identisch ist, die 
Bevölkerung mehr über einander zu schichten —d. h. Häuser mit einer 
anormalen Zahl von Wohngeschossen zu erbauen — anstatt dieselben durch 
Herstellung von Wohnungen neben einander mehr in die Breite zu ver¬ 
theilen. ln dem andern Falle sind die Wohnungen aus übermässig weit getrie¬ 
bener Ersparnis an den Baukosten für die aufzunehmende Kopfzahl zu klein 
ausgefallen. 

Gegen die übermässige Ausnutzung des Baugrundes muss eine fürsorg¬ 
liche Gemeindeverwaltung insbesondere durch Erschliessung neuer Baugründe, 
Herstellung guter Verkehrswege und Verbindungen zu denselben wirken, und 
daneben die Gesundheitspolizei durch Erlass von Vorschriften über das 
Maximum des überbaubaren Theiles eines Grundstücks, ferner über Zuführung 
von Licht und Luft zu den Wohnräumen, endlich Uber die Minimalhöhe 
der Wohnräume und die Maxi mal zahl der über einander zulässigen Wohn- 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


geschosse vorkehren. Beide Aufgaben sind verhältnismässig leicht lös¬ 
bar, weil sie sich kraft öffentlichen Rechts erfüllen lassen, ohne dass unüber¬ 
windbare Collisionen mit den Rechten der Grundstückseigenthümer entstehen. 

Gegen die — in zu weit getriebenen Ersparnisrücksichten begründete — 
zu enge und zu dürftige Ausstattung der Wohnungen sind der Gemeinde¬ 
verwaltung und der Gesundbeitspolizei bisher weit weniger Mittel in die Hand 
gegeben, weil es hierbei nicht ohne tiefe Eingriffe in das Eigenthums- und 
Selbstbestimmungsrecht der Besitzer abgeht, und mit zu strengen Vorschriften 
sich leicht die Gefahr verknüpft, die Privatthätigkeit auf dem Gebiete des 
Wohnungsbaues mehr oder weniger brach zu legen, was unter allen Umständen 
vermieden werden muss. Ausserdem fehlt es in den meisten deutschen Staaten 
bisher an der gesetzlichen Grundlage für eine ausreichende Thätigkeit auf den Ge¬ 
bieten der Wohnungspflege und Wohnungsbenutzung, die, wie leicht 
einzusehen ist, nicht entbehrt werden kann, wenn es überhaupt möglich sein 
soll, für den Wohnungsbau etwas Durchgreifendes zu erreichen. So ist einige 
Besserung zunächst nur davon zu erwarten, dass staatliche und Gemeindebehörden 
entweder die Errichtung guter Wohnungen direct und indirect unterstützen, 
oder selbst den Bau von Wohnungen für ihre Beamten u. s. w. in die Hand 
nehmen. Ebenfalls finden Grossindustrielle und Gesellschaften hier ein reiches 
Feld fruchtbarer Thätigkeit, und desgleichen können Vereinigungen der 
Wohnungsbedürftigen selbst viel zur Verbesserung ungünstiger Wohnungs¬ 
verhältnisse thun. 

Wo bisher von Seite der Behörden in die Wohnungspflege eingegriffen ist, 
handelt es sich fast nur um die Festsetzung eines bestimmten Luftraumes 
und einer bestimmten Grundfläche, die auf 1 Kopf der Bewohnerschaft min¬ 
destens entfallen muss; gewöhnlich werden 10 m 3 Luftraum für einen Er¬ 
wachsenen und 5 m s für ein Kind gefordert. Es darf eine gewisse minimale 
Höhe der Räume und eine gewisse Grösse der Fenster fläche nicht unter¬ 
schritten werden. Jene Höhe liegt meist um 2 m und die Fenstergrösse in 
etwa 1 /, a der Grundfläche der Räume. Zuweilen werden Vorschriften über 
die Zahl der für eine Familienwohnung nothwendigen Räume sowie 
über die Zahl der Aborte in Mehrfamilien-Häusern getroffen. Alles 
das und noch einige andere wichtige Vorschriften, die wohl angetroffen werden, 
sind Minima, die nur den ärgsten Missständen in den Wohnungen der 
niedersten Glassen abhelfen wollen. Aber selbst das bleibt unerreicht, wenn 
nicht durch ständige Ueberwachung der Benutzungsweise der 
Wohnungen die Einhaltung jener Bestimmungen erzwungen wird. Diese 
Ueberwachung aber darf, um Missgriffen vorzubeugen, und im Gegentheil, 
fruchtbar zu sein, nicht von gewöhnlichen Polizeibeamten ausgeübt werden, 
sondern muss in den Händen eines hygienisch geschulten Personals, von 
Gesundheitsaulsehern (Wohnungspflegern), liegen, wie ein solches in eng¬ 
lischen Städten längst aufgestellt ist. Die Gesundheitsaufseher müssen einem 
Gesundheitsarzt unterstellt sein, dessen Obliegenheiten sich auf alle 
im Stadtgebiete wahrzunehmenden Einrichtungen der Gesundheitspflege zu 
erstrecken haben, ln einigen deutschen Städten liegen bisher mehr oder 
weniger freiwillig ins Leben gerufene Einrichtungen dieser Art vor, welche 
Nützliches leisten, aber einen amtlichen Apparat zu ersetzen ausser Stande 
sind. Es ist dringend zu wünschen, dass hier bald Wandel geschaffen werde, 
und den langjährigen Bestrebungen des deutschen Vereins für öffentliche Ge¬ 
sundheitspflege nach Erlass eines Gesetzes über die Wohnungs¬ 
pflege, die auf der eben abgehaltenen 23. Versammlung des Vereines zu 
Köln eine abermalige Bethätigung erfahren haben, endlich ein günstiger Er¬ 
folg beschieden sein möge. 

Wohnungen werden entweder zu mehreren unter einem Dache vereinigt, 
oder jedes Haus enthält nur eine einzige Wohnung. Erstere Anordnung be- 


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WOHNÜNGSHYGIENE. 


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zeichnet man gewöhnlich als Miethhans, letztere als Familienhaos oder Ein¬ 
familienhaus. Beiden Arten von Häusern kommen gewisse Eigenschaften zu, 
die auch von gesundheitlichem Interesse sind. 

In der Regel wird der Wohnungsraum im Miethhause enger sein als 
im Familienhause und unter den Bewohnern sich in mancher Beziehung ein 
gewisses Abhängigkeitsverhältnis heraussteilen. Störungen der häuslichen Ruhe 
sind nicht zu vermeiden, und mit der Zusammendrängung einer grösseren 
Anzahl von Menschen in einem Hause nimmt auch der Schutz gegen die Aus¬ 
breitung von ansteckenden Krankheiten ab. Ein befriedigender Zustand der 
allgemeinen Reinlichkeitspflege ist im Miethhause schwerer aufrecht zu erhalten 
als im Familienhause. Dagegen hat das Miethhaus den Vortheil billigerer Her¬ 
stellung und einer stärkeren Abstumpfung der Temperatur-Extreme; bei zweck¬ 
mässiger Anordnung ist auch die Haushaltsführung in demselben vereinfacht. Ge¬ 
wisse Einrichtungen, wie die der Wasserversorgung, der künstlichen Beleuchtung, 
der Entwässerung und derjenigen zur Beseitigung von Abfallstoffen lassen sich 
in dem — grösseren — Miethhause vollkommener treffen als in dem — kleinen — 
Familienbause, ja sind in ersterem vielleicht überhaupt erst möglich. Die hoch 
liegenden Geschosse des Miethhauses sind in Bezug auf den Genuss von frischer 
Luft und directem Sonnenlicht, wie auch in Bezug auf Störungen durch den 
Strassen verkehr in günstigerer Lage als das niedrige Familienhaus; doch 
kann ersteren von den tiefer gelegenen Wohnungen aus auch verdorbene Luft 
zugeführt werden. Die Wohnung im Miethhause passt sich der Individualität 
des Bewohners im Allgemeinen weniger gut an als die Wohnung im Ein¬ 
familienhaus; der Inhaber ist unabhängig von Mitbewohnern und frei von 
Störungen, hat dagegen mit grösserer Abhängigkeit von Wärmewechsel zu 
kämpfen, und schliesslich die Vorzüge des Alleinbewohnens mit grösseren 
Kosten zu erkaufen. 

Entweder werden Wohnhäuser unmittelbar anstossend: „geschlossene Be¬ 
bauung“ oder mit Zwischenraum: „offene Bebauung“ errichtet. Der Zwischen¬ 
raum der offenen Bauweise, oder auch der Abstand, der von der seitlichen 
Grenze einzuhalten ist („Bauwich“), wechselt sehr; gewöhnlich ist das Minimum 
desselben baupolizeilich festgesetzt, ein Mehr aber dem Belieben des Grund¬ 
stückseigentümers überlassen. Eine zu enge Begrenzung des Minimums etwa 
auf 7*—1 */ä »*, welche in älteren Städten vielfach angetrotfen wird, empfiehlt 
sich nicht, weil solche enge Gassen leicht als Ablagerungsplatz und Auf¬ 
bewahrungsort von allerhand Ungehörigkeiten benutzt werden, die Luft in 
denselben entweder stagnirt (und verdirbt), oder auch umgekehrt durch diese 
Gassen heftiger Zugwind geht. Enge Gassen zwischen zwei Nachbarhäusern 
ohne Verschluss an beiden Enden sind auch aus sicherheitlichen und Ver¬ 
kehrsrücksichten nicht zu dulden. Zu weite Bemessung des Zwischenraums 
ist zwar für Licht- und Luftzuführung zum Hause günstig, hat aber da, wo 
die Wahl zwischen der offenen und der geschlossenen Bauweise frei gestellt ist, 
den Nachtheil, dass sie leicht zur Wahl der geschlossenen Bauweise führt, die 
im Allgemeinen weniger günstig ist als die offene. Vielfach wird bau¬ 
polizeilich ein Abstand von der Nachbargrenze von 2 bis 3 m gefordert, wenn 
auf die Anlegung von Fenstern und Thüren in der betreffenden Wand des 
Gebäudes verzichtet wird, und von 4—6 to, wenn Fenster- und Thüröffnungen 
angelegt werden sollen. 

Es ist leicht ersichtbar, dass sich der Abstand nach der Gebäudegrösse, 
namentlich nach der Höhe, richten muss, damit der Zwischenraum nicht ein 
„schartenartiges“ Aussehen annimmt. Je höher die Gebäude, um so grösser 
muss der Abstand sein, je niedriger, umso mehr darf derselbe — bis etwa zu 
den oben angegebenen Maassen hinab — eingeschränkt werden. Für Gebäude 
von 20 m Höhe und darüber erscheinen 6 to Abstand von der Grenze — also 
12 to Zwischenraum zwischen zwei benachbarten Gebäuden noch gering, bei 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


Gebäuden bis etwa 10 m Höhe können 2*5 m Abstand — also 5 m Zwischen¬ 
raum noch als ausreichend angesehen werden. Die geschlossene Bebauung 
schränkt den Zutritt von Luft und Licht zu den Wohnungen erheblich ein und 
übt auch einen erheblichen Zwang auf die innere Anordnung der Wohnungen; 
sie kann aber noch genügen, wenn darauf gehalten wird, dass an der Rüde¬ 
seite der Gebäude grosse zusammenhängende freie, für Licht und Luit 
offene Räume, nicht aber anstatt dessen zahlreiche einzelne, ganz und halb 
umbaute, sogenannte „Höfe“ entstehen; dies zu verhüten, ist Sache der Bau¬ 
ordnungen. (Vergl. unter Strassenhygiene). Vorzüge besitzt die geschlossene 
Bebauung darin, dass sie weniger Baugrund erfordert, daher billiger ist, auch 
die Gebäude in thermischem Sinne sich günstiger verhalten als bei der 
offenen Bebauung. Letztere ist in Bezug auf Licht- und Luftzuführung so¬ 
wie in Bezug auf die Freiheit hinsichtlich der Anordnung — das Nebenein¬ 
ander — der Räume erheblich im Vorzüge, erfordert aber hohe Kosten wegen 
des grösseren Bedarfs an Grundfläche und der Nothwendigkeit, allen vier Seiten 
des Hauses „fa^adenmässige“ Ausbildung zu geben. Dazu ist das an allen 
Seiten frei stehende Haus im Sommer heiss und im Winter kalt. 

Ein mittlerer, im Allgemeinen befriedigender Zustand ergibt sich da, 
wo die geschlossene Bebauung nicht in voller Strenge, sondern mit der Mil¬ 
derung durchgeführt wird, dass je zwei Häuser unmittelbar an einander ge¬ 
baut werden dürfen, wobei die Zahl der Zwischenräume auf die Hälfte ver¬ 
ringert ist, alle Häuser aber noch an drei Seiten für Licht und Luft zugäng¬ 
lich sind. 

Alles Vorstehende gilt für die Wohnungen unter gemässigten 
Himmelsstrichen. Welche Abweichungen einerseits in kalten, andererseits in 
heissen Klimaten geboten sind, ergibt sich von selbst daraus, dass in ge¬ 
mässigten Klimaten das Haus die doppelte Aufgabe hat sowohl gegen höhere 
als gegen niedere Temperaturen Schutz zu gewähren, während es in den 
kalten Klimaten fast allein auf Schutz gegen die Kälte und in den heissen 
Klimaten ausschliesslich darauf ankommt, die Hausbewohner gegen die Sonnen- 
gluth zu schützen, wozu insbesondere die Zuführung grosser Frischluft¬ 
mengen mit hoher Geschwindigkeit nothwendig ist. 

Um den Wohnungen möglichst viel directes Sonnenlicht zu verschaffen, muss die 
Gebäudehöhe in ein günstiges Verhältnis zur Breite der davor liegenden Strassen und zu 
dem freien Raum an der Hinterseite gesetzt werden. Es ist im gesundheitlichen Sinne nicht 
zu viel verlangt, wenn man fordert, dass die Gebäudehöhe die Strassenbreite nicht 
überschreitender in Zeichen ausgedrückt, h höchstens — b sei. Die Erfüllung di es er Forderung 
bildet aber sehr oft die Ausnahme und fast regelmässig ist dies im Kern der Städte der 
Fall, wo häufig sogar eine constante minimale Höhe, die ziemlich weit über die Breite der 
engen Strassen hinausgeht, zugelassen wird, und für Strassen von normaler Breite viel¬ 
fach als Regel festgesetzt ist h — b -f* Constante. Dabei kann die Constante 5—7 m be¬ 
tragen, und es tritt zu der Höhe h auch noch die Dachhöhe — vom Hauptgesims bis zum 
First — hinzu, sofern nur das Dach nicht sehr steil ist, d. h. einen Neigungswinkel gegen 
die Horizontale von 45° nicht überschreitet. Aus Vorschriften dieser Art gehen in neuern 
Stadttheilen Gebäudehöhen bis etwa 22m hervor, in welchen fünf Wohngeschosse über 
einander angelegt werden können — und auch dürfen. Dies ist in gesundheitlichem Sinne 
ein Uebermaass, das bei Erlass neuer Bauordnungen herabgesetzt werden müsste. Jeden¬ 
falls ist es geboten, für die Aussengebiete der Städte Beschränkungen ein¬ 
zuführen, und zwar von der Art, dass mit grösser werdender Entfernung 
vom Stadtkern die zulässige Gebäudehöhe immer geringer normirt wird. 
Dies bringt auch für den Stadtkern in der vermehrten Zuführung von Frischluft gesund¬ 
heitliche Vortheile mit sich. 

Durch die Lage zum Meridian ist die Wärmemenge bestimmt, 
welche ein Haus durch Sonnenbestrahlung (Insolation) empfängt. 

Prof. Knaupf (Heidelberg) hat einige Messangen dieser Wärmemengen ausgeführt, 
welche folgende, in Verhültmszahlen ausgedrückte Ergebnisse lieferten: (S. Tab. S. 1055). 

Man wird annehmen dürfen, dass in der übrigen Jahreszeit die Ver¬ 
hältnisse ähnlich liegen als an den drei bestimmten Zeitpunkten, zu welchen 
die Messungen ausgeführt wurden. Unter dieser Voraussetzung besagen die 


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.WOHNÜNGSHYGIENE. 


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Zeit 

Wännezuführung za den Zeiten 

Ost 

Süd 

j West i 

Nord 

Sommersolstitium. 

1 

0-73 

1 

0*18 

Aequinoctium. 

1 

1 

2*20 

1 

0 

Wintersolstitium. 

1 1 

j 

5*50 

1 

0 


Zahlen etwa, dass die Nordseite durch Insolation im Herbst, Winter und 
Frühling gar keine Wärmemenge erhält, nur im Hochsommer ein Minimum, 
und dass West- und Ostseite sich übereinstimmend verhalten. Die Südseite 
ist im Herbst und Frühling, namentlich aber im Winter ausserordentlich 
begünstigt, d. h. in Jahreszeiten, wo die Sonnenwärme besonders wohlthätig 
empfunden wird, während im Hochsommer die von der Südseite aufgenommene 
Sonnenwärme nicht ganz diejenigen erreicht, welche Ost- und Westseite em¬ 
pfangen. Dieser zunächst auffällig erscheinende Umstand erklärt sich daraus, 
dass die mitgetheilten Wärmemengen im Verhältnis zur Grösse des Neigungs¬ 
winkels stehen, unter welchem die betreffenden Flächen von den Sonnen¬ 
strahlen getroffen werden. Die Südseite der Wohnungen erscheint darnach 
in doppelter Weise begünstigt: durch gemilderte Wärme im Hochsommer, 
vermehrte Wärme in der kühlen, und (relativ) grösste in der kältesten Jahreszeit. 

Das Gleiche gilt für das directe Sonnenlicht, welches die Wohnung 
empfängt, dessen gesundheitliche Bedeutung noch Uber diejenigen der Wärme 
hinausgeht. Der sechste internationale Congress für Hygiene und Demographie 
zu Wien 1887 hat die grosse Bedeutung des directen Sonnenlichtes für die 
menschliche Gesundheit in folgendem Ausspruche anerkannt: 

„Die Wichtigkeit des Lichtes ist für den Menschen so gross, dass dieser 
sich nicht scheuen soll, die schwersten Opfer zu bringen, um sich 
seine wohlthätige Wirkung zu verschaffen. Es begünstigt die Thätigkeit der 
Haut, vermehrt den Athmungsaustausch, steigert den Blutreichthum, regt die 
Ernährung an, trägt zur regelrechten Entwicklung der Kinder bei, und gibt 
Allen physische und moralische Kraft. Es bildet ein für das Auge 
vorteilhaftes Medium, und es ist der Mangel des Lichtes eine der häufigsten 
Ursachen der Erschütterungen des Lebens. Endlich gesundet es die 
Wohnungen, indem es die infectiösen Keime vernichtet. Diese 
hygienischen Eigenschaften gehören den Strahlen an, welche directvom 
Himmel ausgehen, nicht aber dem diffusen Licht.“ 

Während die in diesem Ausspruche dargelegte grosse Wirkung des 
Sonnenlichtes auf Körper und Geist seit lange bekannt und anerkannt war, 
dagegen die Erkenntnis der bactericiden Wirkung des Lichtes aber noch in 
den Anföngen steckte, ist letztere, seit der Zeit, wo der Ausspruch geschah, 
durch vielfache Versuche erkannt, bewahrheitet und nach manchen Richtungen 
hin genauer festgestellt worden. 

Durch die in Bezug auf Wärme und Licht stattfindenden Unterschiede 
sind einige Directiven über die innere Anordnung eines Wohnhauses, d. h. 
die Lage der Räume zu einander, an die Hand gegeben. Wohn-, insbesondere 
aber Kinderzimmer und Krankenzimmer sollen gegen Süden, Schlafzimmer 
und Arbeitszimmer gegen Osten oder Nordosten gelegt werden, für letztere 
Zimmergattung sind horizontal einfallende und dabei blendende Lichtstrahlen 
unerwünscht. Speisezimmer, Küche, Speisenkammer, Badezimmer, Aborte und 
Treppenhaus liegen entweder geradezu günstig gegen Norden, oder befinden 
sich an dieser Seite in nicht ungünstiger Lage: für Badezimmer und Aborte 
ist aber Helligkeit von besonderer Bedeutung. 


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WOHNÜNGSHYGIENE. 


Aborte erhalten ihre Lage oft. am Treppenhanse mit directer Zugänglichkeit von 
diesem aus; vielfach ist alsdann ein Abort mehreren Wohnungen gemeinsam. Gesundheit¬ 
liche und Sittlichkeitsrücksichten fordern, dass für jede Wohnung ein besonderer Abort 
vorhanden sei, der leicht zugänglich sei, dabei aber eine unauffällige Lage habe. Ausser¬ 
dem soll der Abort so liegen, dass die Luftbewegung zu demselben hin und nicht um¬ 
gekehrt stattfinde, damit Verbreitung übler Gerüche verhindert sei. Mit allen diesen An¬ 
forderungen steht die Lage des Abortes, unmittelbar mit dem Treppenhause verbunden 
in Widerspruch. Bei kleinen Wohnungen wird es immer zweckmässig sein, den Abort 
ausserhalb des Hauses, doch mit demselben durch einen halb oder ganz geschlossenen 
Gang verbunden, anzulegen. 

Es ist selbstverständlich, dass den vorstehenden Directiven, die wohl 
als „Regeln des Sonnenbaues“ bezeichnet werden, nur grundsätzliche Be¬ 
deutung zukommt, und schon darnach Abweichungen von denselben in vielen 
Fällen zweckmässig sein können. Dies wird z. B. der Fall sein, wenn die 
Südseite des Hauses auf eine enge verkehrsreiche Strasse hinausgeht, deren 
andere Seite mit hohen Häusern besetzt ist. Man wird bei geschlossener 
Bebauung den Regeln des Sonnenbaues meist nur in sehr unvollkommener 
Weise entsprechen können und selbst bei offener Bauweise häufig zu Ab¬ 
weichungen von denselben genöthigt sein. Denn die Anordnung der Räume 
in einem Hause stellt sich fast immer als ein Compromiss zwischen einer 
grossen Anzahl von Anforderungen dar, die sich theilweise diametral gegen¬ 
über stehen. Den hauptsächlichsten Einfluss üben in jedem Falle die Lage 
zur Strasse, die Orientirung letzterer und die Form des Bauplatzes. 

Gewisse Theile eines Hauses bilden insofern Nebentheile einer 
Wohnung, als in denselben die sogenannten Nebenräume Platz finden. 

Hierher gehört zunächst das Kellergeschoss, dem in gesundheitlichem 
Sinne eine grössere Bedeutung beiwohnt. Zunächst aus dem Grunde, dass 
das Kellergeschoss eine isolirende Zone zwischen dem Baugrunde und den 
Wohngeschossen bildet, welche von letzteren Feuchtigkeit, oder auch Boden- 
dttnste abhält, desgleichen günstig für den Wärmeschutz ist und die Tem¬ 
peraturextreme im Erdgeschoss abstumpfen hilft. Alsdann sind Kellerräume 
von grosser Bedeutung für Aufbewahrung und Conservirung von Nahrungs- 
mittel-Vorräthen und Speisen, die in der höheren Temperatur der Wohn- 
geschosse leicht dem Verderben anheimfallen. Ob Waschküchen im Keller¬ 
geschoss zweckmässig liegen, hängt durchaus davon ab, ob durch Vermittlung 
des Treppenhauses sich feuchte Dünste den oberen Räumen mittheilen können 
oder nicht. Uebrigens muss für Isolirung des Kellergeschosses gegen von 
unten oder von der Seite zutretende Bodenfeuchtigkeit sorgfältig vorgekehrt 
werden und dasselbe gut lüftbar sein. Beides ist um so mehr erleichtert, je 
weniger tief die Sohle des Kellergeschosses in den Grund eintaucht. Bei zu 
geringer Tiefenlage ist der Keller aber nicht, mehr geeignet, den Zweck der 
Aufbewahrung und Conservirung von Nahrungsmitteln gut zu erfüllen; es 
empfiehlt sich dann der Ausweg, unter demselben einen sogenannten 
Tiefkeller, der in kleinen Abmessungen gehalten werden kann, anzulegen. 

Bei den Wohnungen niedersten Ranges wird ein Kellergeschoss oft ganz entbehrt 
Es sollte alsdann durch Herstellung von Wandschränken in den Zwischenwänden des 
Hauses dem dringenden Bedürfnis nach Räumen, die für Aufbewahrung und Conservirung 
von Nahrungsmittel-Vorräthen und Speisen einigermaassen geeignet sind, wenigstens bis 
zu gewissem Grade entsprochen werden. 

Eine ähnliche aber viel weniger wichtige Rolle als das Kellergeschoss 
spielt das Dachgeschoss. Sein Hauptzweck ist der Schutz des Hauses 
gegen Niederschläge; daneben erfüllt der Dachraum in hohem Masse den 
Zweck, abstumpfend auf die Temperatur-Extreme zu wirken. Die mannig¬ 
fachen willkommenen Gelegenheiten zur Nutzung des Dachraumes bleiben 
hier ausser Betracht; es sei nur noch darauf hingewiesen, dass in städtischen 
Wohnhäusern oft die Waschküche, aus mehreren Gründen, darunter auch 
gesundheitlichen, eine sehr zweckmässige Lage im Dachraume findet. 

Das Treppen- oder Stiegenhaus ist bei der Verbindung, die dadurch zwischen 
den Geschossen hergestellt wird, und weil in demselben alle Bewohner eines Hauses zu- 


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W OHNUNGSH YGIENE. 


1057 


sammen treffen, sehr geeignet, Schädlichkeitsaasbreitangen im Hanse zn vermitteln. Es 
bietet Infectionen den Weg ans einem Geschoss zom anderen; es führt Dünste und üble 
Gerüche leicht zn Stellen, die ohne das Dasein des Treppenhauses unerreicht bleiben 
würden; es verbreitet einen Brand leicht durch alle Geschosse des Hauses, und es können 
unsweckmässig angelegte Treppenhäuser und Treppen in vielfacher Weise Gelegenheit za 
Unfällen geben. Es ist endlich daran zu erinnern, dass lange Treppen ohne Ruhepunkte, 
oder mit ungünstigen Steignngsverhältnissen, sehr ermüdend wirken und namentlich für 
alte und schwache, oder mit Gebrechen oder Krankheiten der Athmungsorgane behaftete 
Personen gefährlich sein können. Demnach ist auf Lage, Construction und Ausstattung 
des Treppenhauses, namentlich in grossen Miethhäusern, besondere Sorgfalt zu verwenden. 
Das Treppenhaus soll leicht zugänglich liegen, geräumig und luftig sein. Die einzelnen 
Wohnungen müssen gegen das Treppenhaus abgeschlossen liegen. Die Wände müssen 
einen abwaschbaren Ueberzug erhalten und die Handläufer, durch welche leicht Ueber- 
tTagungen von ansteckenden Krankheiten vermittelt werden, die einfachste Form; sie 
sind ans hartem Holz und polirt herzustellen; verwickelte Formen und Stoffüberzüge sind 
unzulässig. Die Steigung der Treppen soll mässig und um so geringer sein, je länger ein 
Treppenlauf ist; nach je 12 bis lö Stufen soll ein Ruhepunkt (Podest) an dem möglichst 
ein Sitzplatz einzurichten ist, folgen. Das Material der Stufen soll Standsicherheit des 
Fasses verbürgen, also eine gewisse Rauhigkeit besitzen, und um Abnützung, durch welche 
die Steigung verändert werden kann, zu vermeiden, hart sein. Diese Bedingungen werden 
sowohl von Hartholz als künstlichem Stein, als auch manchen natürlichen Steinsorten 
erfüllt; Holz erhält eine Tränkung mit Oel oder einen Oelfarbenanstrich. Eiserne Treppen¬ 
stufen sind sehr gefährdend bei Unfällen Sogenannte Läufer aus „Stoff* auf den 
Treppenstufen dienen in hohem Grade der Unreinlichkeit, wogegen Läufer aus Linoleum 
günstig für die Reinlichkeit wirken. Der Vorschlag, bei Treppen in hohen Gebäuden, die 
Steigung nach oben hin zu ermässigen, um Ermüdungen abzuschwächen, ist nicht 
empfehlenswert h, weil bei der leichten Gewöhnung des Fusses an eine bestimmte Steigung, 
selbst nur kleine Aenderungen derselben zu Unsicherheit beim Begehen der Treppe führen. 

Für Bai ko ne, die den leichten Genuss der frischen Luft ermöglichen, eignet sich 
am besten die Ostseite des Hauses, darnach auch die Westseite. Sehr unzweckmässig liegt 
ein Balkon immer an einer verkehrsreichen Strasse. Unmittelbarer Anschluss eines 
Balkons an ein Wohnzimmer empfiehlt sich in der Regel nicht, weil Undichtigkeiten der 
Thürverbindung leicht Anlass zum Eindringen von Regen oder Schnee geben, auch stark 
abkühlend auf die Zimmerluft in der Nähe der Thür wirken. Wenn die Entwäßserungs- 
leitung des Balkons an eine unterirdische Canalisation angeschlossen ist, ist Gelegenheit 
gegeben, dass durch dieselbe leicht Canalluft zum Balkon hinauf steigt. Balkonanlagen 
an belebten Strassen werden am besten aussen geschlossen angelegt, in welchem Falle sie 
zu halb abgetrennten Theilen des Zimmers werden, die die Bezeichnung Erker führen; 
der gesundheitliche Zweck der Anlage nimmt durch diese Abänderung allerdings Schaden. 

Wird der Raum für einen Balkon dem Zimmer abgewonnen, so entsteht die Loggia, 
die für Genuss der freien Luft günstig ist, dagegen dem Zimmer viel Licht raubt. Für 
südliche Himmelsstriche sehr geeignet, ist die Loggia in nordischen Klimaten mit vorwiegen¬ 
der Himmelsbedeckung kaum heimatsberechtigt. In Bezug auf die Lage an einer der Seiten 
des Hauses besteht für die Loggia weniger Zwang als für den Balkon; desgleichen ist die 
Gefahr der Schädigung des Zimmers durch eine Loggia-Anlage erheblich abgemindert. 

Demselben Zweck, welchen Baikone, Loggien und Erker erfüllen, dienen in be¬ 
schränkterem Maasse auch Veranden, d. h. Vorbauten am Erdgeschoss mit halb zimmer¬ 
artiger Einrichtung. Werden sie vor dem Hauseingange angelegt, so genügen sie gleich¬ 
zeitig dem Zweck der sogenannten Windfänge, der darin besteht, stärkeren Zug, Kälte 
und Hitze von den Vorränmen der Wohnung abzuhalten. 

Von grosser Wichtigkeit für Reinlichkeit, gute Luft und Vermeidung 
von Infectionsgefahren sind die Einrichtungen zur Ableitung der häuslichen 
Schmutzwasser (Küchen- und Closetwasser). Die Leitungen müssen wasser- 
und luftdicht hergestellt und dauernd in diesem Zustande erhalten werden. 
Ferner müssen die Leitungen durch ausreichende Spülung möglichst rein 
erhalten werden; sie müssen gut gelüftet und endlich von missbräuchlicher 
Benutzung (Einwerfen von lästigen oder Gefahr bringenden Gegenständen) 
geschützt sein. 

Ausser, dass nur geeignetes Material von tadelloser Beschaffenheit zu den Leitungen 
zu verwenden ist, ist der dauernd gute Bestand derselben dadurch zu erstreben, dass 
die Leitungen so angebracht werden, dass sie von Erschütterungen und Lockerungen der 
Konstruktion des Hauses möglichst unberührt bleiben, und dass sie durch ihre Lage auch 
vor muthwilligen und fahrlässigen Zerstörungen gesichert sind. Die Leitungen müssen möglichst 
unverdeckt liegen, damit etwaige Schäden an denselben leicht wahrgenommen und reparirt 
werden können; schliesslich ist frostfreie Lage derselben nothwendig. Zur dauernden 
Reinhaltung der Leitung dient ausser ausreichender Spülung die Vermeidung von scharfen 
Ecken und Biegungen, sowie die richtige Bestimmung aer Rohrweiten; an gefährdeten 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


Stellen sind Revisionseinrichtungen nothwendig. Einwerfen ungehöriger Gegenstände in 
die Leitung wird durch geringe Weite der Einlaufenden derselben und Anbringen 
von festen Sieben im Boden von Becken verhindert: Ausgussbecken für Küchenwasser 
aus emaillirtem Eisen widerstehen in der Regel nicht lange; besser sind Becken aus 
Fayence oder Steingut. Ueber jedem Einguss muss eine Zapfstelle für reines Wasser vor¬ 
handen sein und unter demselben ein Wasserschluss. Die ganze Einrichtung zur Ab¬ 
leitung von Schmutzwasser gewinnt an gesundheitlichem Werth sehr, und der allgemeine 
Gesundheitszustand des Hauses wird gefördert, wenn es gelingt, eine gewisse Zusammen¬ 
fassung der Leitungen durchzuführen; es muss die Möglichkeit dazu allerdings in der 
Disposition der Räume geschaffen werden. Die Zusammenfassung gelingt um so besser, 
je näher alle diejenigen Räume an einander gerückt werden, aus welchen Schmutzwasser 
zu entfernen sind. Dahin gehören in den gewöhnlichen Wohnhäusern Koch- und Wasch¬ 
küchen, Badestuben und Wasserclosets, deren nahe Zusammenlegung auch aus anderen 
Gründen erwünscht ist. Das Streben nach Zusammenfassung der Leitungen darf aber 
unter keinen Umständen so weit gehen, dass Schmutzwasser-Leitungen, durch Wohn- 
räume geführt werden, weil bei der höheren Temperatur der Wohnräume selbst unauf¬ 
findbare Schäden an den Leitungen, oder nothwendige Aenderungen zu schweren Belästi¬ 
gungen und selbst Schädigungen der Bewohnerschaft die Ursache sein können. Ebenso 
wenig dürfen Theile der Leitungen verdeckt in Zwischendecken liegen. 

Keine Schmutzwasserleitung in einem Wohnhause sollte in Benützung 
genommen werden dürfen, bevor eine genaue fachmännische Prüfung derselben 
auf tadellosse Beschaffenheit ausgeführt ist. — 

Beheizung. Für Erzielung einer möglichst gleichmässigen Durchwärmung 
der Wohnräume ist es wichtig, unnöthig grosse Höhen derselben zu 
vermeiden. Wohnzimmer von mittlerer Grösse — etwa 20 bis 30 m* — 
sollten nicht mehr als etwa 3 5 m bis höchstens 4 m Höhe erhalten, weil es 
leicht vorkommt, dass für 1 m Zimmerhöhe sich Temperaturänderungen 
von 2 bis 2’5° ergeben, wobei Kälte am Fussboden und Ueberhitzung an 
der Decke stattfindet. Nur die Rücksicht darauf, künstliche Beleuchtungs¬ 
einrichtungen nicht nur zur besseren Wirkung zu bringen, sondern auch die 
Verbrennungsproducte möglichst aus der Athmungssphäre der Bewohnerschaft 
fern zu halten, kann grössere als die angegebenen Höhen von Wohnzimmern 
rechtfertigen. — Ofenheizung wird, um Hineintragen von Schmutz in die Wohn¬ 
räume zu beschränken und Aufwirbelungen von Asche zu vermeiden, am 
besten so eingerichtet, dass die Beheizung von aussen erfolgt. Oefen und 
andere Heizkörper müssen eine Stellung im Raume erhalten, dass möglichste 
Gleichmässigkeit der Temperatur in allen Theilen eines Raumes erreicht wird, 
weil grössere Ungleichheiten nicht nur unangenehm empfunden werden, son¬ 
dern auch zu Erkältungskrankheiten disponiren. Ein gewisses „Mehr“ an Grösse 
der Heizkörper ist weniger als ein „Minus“ an der nothwendigen Grösse zu 
scheuen, weil letzteres die Veranlassung zu Ueberheizungen und Entstehung 
reizend auf die Schleimhäute wirkender brenzlicher Gerüche wird. Die 
äussere Form der Oefen soll gefällig aber einfach sein, da Ueberladung mit 
Zierformen nur Anlass zu Staubablagerungen auf der Ofenwand, die bei 
eisernen Ofen leicht verbrannt werden, gibt. Dem vielfach wahrnehmbaren 
Streben, Oefen in sogenannten momumentalen Formen zu gestalten, sollte 
seitens der Hygiene daher Widerstand entgegen gesetzt werden, umso mehr als 
die Ueberladung mit Zierformen auch fast immer eine Schmälerung der Heiz¬ 
wirkung mit sich bringt. Hinsichtlich der Wasserheizung ist der Gefahr, 
in kalter Jahreszeit einzufrieren, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, da 
das mit dem Einfrieren sehr leicht verbundene Zerspringen eines Wasser¬ 
heizkörpers und Entleerung seines Iuhalts grossen Schaden in einer Wohnung, 
namentlich in den Zwischendecken anrichten kann. 

Die Beleuchtung eines Wohnraumes soll, einerlei ob es sich um natür- 
iches oder künstliches Licht handelt, möglichst gleichmässig in allen 
Theilen sein. Zur Erreichung dieses Zustandes trägt das von Wänden und 
Decke reflectirte Licht viel bei; Wände und Decke sollen daher helle Fär¬ 
bung haben. Da die Lichtmenge, die eine wagrecht liegende Fläche erhält, 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


1059 


am grössten ist, wenn die Lichtstrahlen die Fläche senkrecht treffen, so wird 
durch die obersten Th eile eines Fensters ein Zimmer besser beleuchtet 
als durch die unteren. Es sollte daher Regel sein, Fenster so nahe als 
möglich an die Decke heranzuführen, und die obere Begrenzung „gerade" 
(anstatt bogenförmig) zu gestalten, auch das Fenster unten in geringer 
Höhe über Fussboden beginnen zu lassen. Die Einfassung des Fensters soll 
nach innen und aussen abgeschrägt werden, damit möglichst viel Raum für 
den Lichteintritt geschaffen wird, und unmittelbar neben dem Fenster nicht 
„dunkle Ecken“ entstehen. Die die Glasfläche zerlegenden Fensterkreuze und 
Sprossen versperren grossen Theilen der Fensterfläche den Lichteinfall und 
bringen dadurch auch Ungleichheiten in der Lichtvertheilung hervor. Diese 
Theile sollten daher so schmal gemacht werden, als die Materialbeschaffen¬ 
heit es irgend zulässt. 

Durch das natürliche Licht werden die vom Fenster entfernt liegenden 
Theile geringer beleuchtet als die näher liegenden, und die Abnahme ge¬ 
schieht im umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernung. Daher ist 
die natürliche Beleuchtung der Fenster gleich grosser Zimmer, wenn die 
Fenster in den Langseiten liegen, entsprechend günstiger als die Beleuchtung 
durch Fenster in den Schmalseiten. Bei der künstlichen Beleuchtung sind 
diese Unterschiede durch passende Vertheilung der Lichtquellen so weit 
aufzuheben als man will; doch ist als Uebelstand mit der weitgehenden 
Theilung der Lichtquellen auch die grössere Ausbreitung der Verbrennungs- 
producte im Raume verbunden. 

Die Menge von natürlichem Licht, welche ein in beliebiger Tiefe hinter dem Fenster 
liegender Punkt empfängt, lässt sich (nach dem Verfahren von Förster) so ermitteln, 
dass man von dem Punkte aus zwei Sehstrahlen gelegt denkt, von welchen der eine die 
obere Fensterbegrenzung, der andere den First eines gegenüber liegenden Gebäudes be¬ 
rührt; diese beiden Sehstrahlen schliessen einen Winkel ein, dessen Grösse, wenn die Be¬ 
leuchtung ausreichend sein soll, nicht unter 5° betragen darf. Es ist jedoch ausserdem 
nöthig, dass der Halbirungsstrahl dieses Winkels mit der horizontalen Fläche — oder Linie — 
einen Winkel von nicht unter 28° bilde. Das Verfahren ist, da dasselbe auf die Breite, in 
der das Licht einfällt, keine Rücksicht nimmt, nur ein ungefähres. 

Genauere Ergebnisse liefert die Anwendung des WEBER’schen Raum Winkel¬ 
messers, mit welchem dasjenige Stück des Himmelsgewölbes in sogenannten Quadrat¬ 
graden gemessen wird, wovon aas ganze als Vollkugel gedachte Himmelsgewölbe vom 
Radius K eine bestimmte Anzahl enthält und jeder einzelne Quadratgrad die Grösse 



besitzt, also ein „sphärisches“ Quadrat, dessen Seitenlänge = 1° ist. Ausser der Anzahl 
n solcher sphärischen Quadrate gibt das Instrument auch den mittleren Winkel a an, unter 
welchem das Licht von der leuchtenden Himmelsfläche einfällt. Bei senkrechtem Licht¬ 
einfall (also a = 90°) ist genügende Helligkeit an einer Stelle vorhanden, für welche n ^ 50. 

50 

Wenn aber a < 90, so muss die Zahl n in dem Verhältnis — : - grösser sein. Da der 

sm a ° 

Raumwinkelmesser das von Wänden, Decke u. s. w. reflectirte Licht nicht berücksichtigt, 
ist die Beleuchtung besser, als der Raumwinkelmesser angibt und die Lichtmenge um so 
stärker vermehrt, je hellfarbiger Wände und Decke sind. 

Genaue Ergebnisse liefert die Anwendung des WEBER’schen Photometers, dem 
«ine Helligkeitseinheit zu Grunde liegt, die entsteht, wenn eine Normalkerze aus 1 m 
Entfernung ihr Licht auf eine weisse Fläche wirft; diese Helligkeit heisst Meterkerze. 
10 Meterkerzen sind eine zum Lesen und Schreiben ausreichende Helligkeit, die durch 
natürliches Licht nur zu Stande kommt, wenn bei Anwendung des FÖRSTER’schen Messungs¬ 
verfahrens die Werthe von 5° und 28° vorliegen, und beim Gebrauch des WEBER’schen Raum¬ 
winkelmessers die Anzahl der Quadratgrade n = ist. 

Zum Vergleich von natürlichen Lichtmengen in Zimmern sei noch angeführt, dass an 
Plätzen, welche für (directes) Himmelslicht unerreichbar sind (Raumwinkel = 0), an trüben 
Tagen die von reflectirtem Licht erzeugte Helligkeit 1—3 Meterkerzen beträgt, und dass 
an trüben Tagen noch ausreichende Beleuchtung herrscht, wenn die Bedingung erfüllt ist 
*i sin a > 50. 

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1060 


WOHNUNGSHYGIENE. 


Gewohnheit und Streben nach Lnxusentfaltung sind die Ursache, den 
oberen Theil der Fenster durch schwere Vorhänge für den Lichtzutritt abzu¬ 
sperren. Nicht nur wird der wirksamste Theil der Fensterfläche dadurch 
zwecklos gemacht, sondern es bieten schwere Vorhänge auch ganz besondere 
gut geeignete Flächen für Staubablagerungen und Festsetzung von Riech¬ 
stoffen. Viel weniger schädlich wirken Vorsetzer und Vorhänge vor den 
unteren Theilen der Fensterfläche, die aber nur unter besonderen Um¬ 
ständen, und dann meist neben Vorhängen für den oberen Theil zur Anwen¬ 
dung kommen; es liegt dann doppelte Schädigung der Beleuchtung vor. 
Können aus gewissen Rücksichten Vorhänge nicht entbehrt werden, so sollte 
man nur stark durchlässige Stoffe, — also locker gewebte und hellfarbige — 
benützen. Am günstigsten wirken crömefarbige sogenannte Köperstoffe, durch 
die auch die Lichtfärbung verbessert wird, und welche nur einen relativ 
geringen Procentsatz des Lichts verschlucken. 

Die Wasserversorgung der Wohnungen kann entweder n centralisirt„ 
oder „Einzelversorgung“ sein. Sie ist am vollkommensten bei Centralisirung 
in dem Falle, dass das Wasser an jeder Stelle und zu jeder Zeit zur 
Verfügung steht: sogenannte constante Versorgung. Finden Beschränkungen 
statt, so kann die Einzelversorgung gleichwerthig sein. Hinsichtlich der Ver¬ 
breitung von „Wasserepidemien“ ist die centralisirte Versorgung wegen der 
genaueren Ueberwachung ihres Betriebes im Vorzüge vor der Einzelver¬ 
sorgung. Erstere fördert auch den Gebrauch des Wassers und begünstigt da¬ 
durch die allgemeine Reinlichkeit; bei letzterer ist der Wasserverbrauch in 
der Regel geringer. Das Wasser soll den einzelnen Zapfstellen ohne Da- 
zwischenkunft von Hausreservoiren, also direct aus der Strassenleitung zu¬ 
geführt werden, da das Verweilen in Reservoiren auf die Wasserbeschaffenheit 
schädigend einwirkt; ausserdem ist blos bei steter Füllung der Rohre, die 
nur gesichert ist, wenn das Wasser ohne Vermittlung von Hausreservoiren 
zugeleitet wird, gegen die Gefahr der Lösung von Metallen aus der Rohr¬ 
wand (Blei) ausreichende Sicherheit vorhanden. Genügende Mengen von 
Wasser sind 40—50 l pro Kopf und Tag; bei grösserer Wohlhabenheit werden 
aber 80—100 l verbraucht, während in niederen Wohnungen der Bedarf 
umgekehrt mit 20—25 l gedeckt wird. 

Von den beiden Brunnenformen: weiten Kesselbrunnen und engen 
Rohrbrunnen, sind die letzteren wegen des viel grösseren Schutzes, der 
bei ihnen vor Verunreinigungen besteht, im Vorzüge. Kesselbrunnen 
müssen an erhöhten Stellen angelegt werden, damit sie keinen Zufluss von 
sogenanntem wilden Wasser empfangen. Die Nähe von Düngerstätten, Ställen, 
Gruben mit Schmutzstoffen ist zu vermeiden, doch die Angabe einer be¬ 
stimmten einzuhaltenden Entfernung (die oft geschieht) ohne Werth, da alles 
auf die örtlichen Verhältnisse, sowie die Brunnen- und Bodenbeschaffenheit 
ankommt. Niemals sollten wegen der Gefahr muthwilliger und fahrlässiger 
Verunreinigungen Kesselbrunnen offen daliegen, sondern immer sicher zuge¬ 
deckt sein, und die Wasserförderung mittelst Pumpe bewirkt werden. 

Der Bangrand für ein Wohnhaus soll wo möglich sogenannter gewachsener, 
d. h. in natürlicher Lajge vorkommender, und noch nicht verunreinigter Boden 
sein. In erster Linie ist Trockenheit Erfordernis. Entweder ist dieselbe durch 
die Höhenlage gewährleistet, oder sie muss durch Aufschüttung künstlich ge¬ 
schaffen werden. Sogenannter warmgründiger Boden, als Sand und Sand mit 
Lehm gemischt, auch Kiesboden und lockerer Felsboden, ist vor kaltgrün- 
digem Boden, schwarzem strengen Lehm, Letten, u. s. w. im Vorzüge. Je 
weniger organische Bestandteile der Boden enthält, um so besser ist der¬ 
selbe geeignet. Auf Bauschutt dürfen Wohngebäude erst errichtet werden. 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


1061 


nachdem die Zersetzungsvorgänge in demselben zu Ende gekommen sind. 
Weder darf das Grundwasser an die Mauern des Hauses treten noch Wasser¬ 
gefahr von aussen drohen. Ist die Gefahr vorhanden, dass die Grundmauern 
<les Hauses mit dem Grundwasser in Berührung kommen, so muss dagegen 
■durch Isolirung Schutz geschaffen werden. Dies geschieht entweder, indem 
■die ganze Grundfläche, auf der das Haus stehen soll, mit einer undurchlässigen 
Schicht (Beton oder Steinplatten) abgedeckt, oder — weniger gut — soge¬ 
nannte Isolirschichten (Blei- oder Glasplatten, Asphaltlagen u. s. w.) auf der 
Höhe des Fundamentabsatzes in die Grundmauern eingelegt werden. Seit¬ 
licher Zutritt von Feuchtigkeit wird durch einen wasserdichten Ueberzug der 
Aussenseiten der Grundmauern abgehalten, noch sicherer durch isolirende 
Mauern oder weite sogenannte Lichtgruben. Die Kellersohlen sind 
in Gebäuden, welche in feuchtem Grunde stehen, durch Abpflasterung 
«der Estriche aus Asphalt und Cement vor Wasserdurchtritt zu sichern. 
Bei dem Schutze gegen Wohnungsfeuchtigkeit ist nur von den vorbeugenden 
Mitteln Erfolg zu erwarten; den zahlreich angepriesenen Mitteln znr Wieder¬ 
beseitigung bereits vorhandener Wohnungsfeuchtigkeit ist nur sehr geringe 
Bedeutung beizulegen. 

Die Bewohner von Gebäuden in Thalsenken, oder Kesseln, oder 
in Flussthälern, oder am Fusse von Hängen sind in höherem Maasse für ge¬ 
wisse Krankheiten disponirt als die Bewohner von höher liegenden Gebäuden. 
Vielleicht liegt eine Ursache dieser oft beobachteten Thatsache darin, dass 
in Lagen wie den genannten Grundwasser und Boden leichter verunreinigt 
werden als in anderen Lagen; dies ist namentlich zu fürchten, wenn ober¬ 
halb der tiefen Lagen menschliche Wohnungsstätten liegen, von welchen aus 
Schmutzwasser u. s. w. zu Thal geführt werden können. — Geringe Feuch¬ 
tigkeit der oberen Bodenschicht lässt sich durch Anpflanzungen von Bäumen 
und Sträuchern solcher Arten, die viel Wasser zu ihrem Aufbau gebrauchen, 
«der von der Oberfläche verdunsten, beseitigen. Grundwasser das in Becken 
«der Mulden auf wenig hoch liegender, undurchlässiger Schicht steht, kann 
man zuweilen mittelst sogenannter absorbirender Brunnen dem tiefer lie¬ 
gendem Grundwasser einverleiben. In solchen Lagen kann nasser Boden durch 
Drainagen trocken gelegt werden. 

Die Materialien zum Aufbau des Wohnhauses müssen allgemein gewisse 
Ansprüche erfüllen, unter welchen diejenigen, welche sich auf die Porosität 
und das Verhalten gegen Feuchtigkeit und Wärme beziehen, mit die 
wichtigsten sind. Bis in die neueste Zeit hinein hat man einen gewissen 
Grad von Porosität der Bausteine als nothwendig oder nützlich für die 
gesundheitliche Beschaffenheit des Hauses gehalten. Dieselbe sollte dem 
Luftaustausch zwischen aussen und innen dienen, ferner bei der geringen 
Wärmeleitungsfähigkeit der Luft günstig im thermischen Sinne wirken, 
■endlich das Austrocknen der Mauern, beziehungsweise das Trocknen derselben 
nach Aufnahme von Feuchtigkeit bei Kegenfällen, befördern. Gestützt auf 
<las bekannte PETTKXKOFER'sche Experiment: von einer Seite der Mauer aus 
«ine an der anderen Seite derselben befindliche Flamme auszublasen, schrieb 
man dem Luftaustausch zwischen aussen und innen eine grosse Bedeutung zu. 
Dieser Schluss ist durch anderweitige Versuche und die Erfahrung als hin¬ 
fällig erwiesen. Das konnte geschehen, weil bei der Betrachtung des Petten- 
KOFER’schen Experiments die G r ö s s e des angewendeten Luftdrucks übersehen 
worden war. 

Der Luftaustausch durch eine Mauer hindurch ist proportional dem Unterschiede, 
der auf den beiden Seiten herrschenden Luftdrücke: p—p x . Sind 7 und die Einheits¬ 
gewichte der beiden Luftarten, so ist (nach dem MARiorrB’schen Gesetz): Pi = p —, mithin 


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1062 


WOHNDNGSHYGIENE. 


der Luftdruckunterschied za beiden Seiten 


d=P — P- 7 - = p(l- 

Nun ist bei den Temperaturen von — 10° aussen und 
gungazast&nd der Luft 

7 _ 1341 


J-) 

•P- 


20° innen bei etwa 50°/ a S&tti- 


- — = 1*078, mithin: 

7 x 1*244 
d = - 0 078. p 

(worin das Minuszeichen andeutet, dass Luftdurchtritt von innen nach aussen stattfindet). 
Dieser Werth ist so gering, dass selbst für grosse Wandflachen die secundlich durchtretenden 
Luftmengen sich nur zu einigen Litern berechnen, welchen Mengen eine gesundheitliche 
Bedeutung nicht beizulegen ist. Eine gewisse Bedeutung erlangt der Luftaustausch erst, 
wenn stärkere Windströmungen stattfinden, wenn also anstatt des Druckes d der Druck: 


di “ p ( 1- ""r) + * 

wirkt. Aber selbst dieser Druck ist erst bei heftigen StOrmen gross genug, tim durch 
Wände von normaler Stärke hindurch einen mässigen Luftaustausch zuwege zu bringen. 

Wo künstliche Ltiftungseinrichtungen bestehen, wirkt der durch die 
Wände vermittelte Luftaustausch geradezu störend auf den regelmässigen 
Gang jener. Da nun die Porosität der Aussenwände auch zur Feuchtigkeitsauf¬ 
nahme bei Regenwetter dient, und somit als einziger Nutzen derselben nur der 
bestehen bleibt, dass die Wärmeleitung der Mauern etwas eingeschränkt 
wird, ein Nutzen, dem gegenüber den angeführten Nachtheilen keine wesentliche 
Bedeutung zukommt, wird neuerdings mit Recht für die nach aussen liegende 
Seite der Gebäudemauem den nicht oder nur wenig porösen Materialien vor 
den stark porösen der Vorzug gegeben. Da aber für die Innenseiten und 
den Kern der Mauern der Grund von Feuchtigkeitsaufnahmen in Wegfall 
kommt, ist für diese Theile die Verwendung poröser Steine, und zwar 
stark poröser, welche grosse Einschlüsse von ruhender Luft 
enthalten, im Interesse des Wärmeschutzes zu empfehlen. 

Denselben Zweck, der durch die Porosität erfüllt werden soll, hat man 
bisher vielfach durch die Einlegung sogenannter Luftisolirschichten (Spalte 
von 5—8 cm Weite), die im Kern der Mauern ausgespart werden, zu er¬ 
reichen gesucht. Das findet aber nur unter zwei Bedingungen statt: Die Luft 
dieser Schichten muss ruhend, und gleichzeitig trocken sein. Da beide 
Bedingungen selten erfüllt sind, leisten Luftisolirschichten zum Wärmeschutz 
— wie auch durch das Experiment erwiesen ist — nur wenig, und kann von 
stark porösen Steinen, auch sogenannten Lochsteinen (Steinen mit Hohl¬ 
räumen, die nicht nach der Aussenseite ausgehen) mehr erwartet werden. 
Unbeschadet dieser Thatsache bleibt aber der Nutzen, den Luftisolirschichten 
dadurch gewähren, dass sie zur rascheren Austrocknung der 
Mauern dienen, auch Feuchtigkeit, die von aussen kommt, an ihrem 
Fortschreiten durch die ganze Dicke der Mauern hindern, bestehen. 

Mit dem Verhalten der Materialien gegen Wärme hängt das hygrosko¬ 
pische Verhalten derselben eng zusammen. Materialien, die stark wärme¬ 
leitend sind, kühlen entsprechend rasch ab, wonach an denselben aus warm¬ 
feuchter Luft Feuchtigkeitsniederschlag stattfindet. In dieser Hinsicht ver¬ 
halten sich natürliche Gesteine viel ungünstiger als künstliche, namentlich 
als gebrannte Steine (Ziegel). Da auch die stärkere Wärmeleitung an sich 
sowohl in warmer als in kalter Jahreszeit ungünstig ist, da Natursteine theil- 
weise sehr beträchtliche Wassermengen aufnehmen und lange festhalten 
können (manche Sandsteine bis zu 400 l in 1 m s , Kalksteine bis zu 200 i, 
einige von den sogenannten Urgesteinen, auch von den vulkanischen Gesteinen 
bis etwa 50 l ), so stehen Naturgesteine den künstlichen Steinen für Wohnhaus¬ 
bauten im Allgemeinen weit nach. Wo man ihrer Benützung nicht ganz ent- 
rathen kann, ist es immer zweckmässig, dieselbe auf die äussere Schale 
der Mauer zu beschränken, und zu dem nach innen liegenden Theil der 
Mauer künstliches Steinmaterial zu verwenden. Ziegelstein ist auch in der 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


1063 


Beziehung vor Naturstein weit im Vorzüge, dass die specifische Wärme des 
ersteren (Wärmecapacität) erheblich geringer als die des letzteren ist. Die 
specifische Wärme des Sandsteines steht z. B. za der des Ziegelsteines im Ver¬ 
hältnis 1:06. 

Wie starke Wärmeleitang, so setzt aach starke Wärmesammlung 
den gesundheitlichen Werth eines Baumaterials herab. Stark wärmesammelnd 
sind alle Metalle, desgleichen auch Glas, was z. B. bei Dächern von 
Wohngebäuden sehr beachtet sein will. 

Hölzer nehmen mit Bezug auf das Verhalten gegen Wärme eine mitt¬ 
lere Stellung ein. Da die sonst zum Wohnhausbau benutzten Materialien 
nur in relativ geringen Mengen gebraucht werden, erscheint es unnöthig, 
dieselben in den Kreis der Besprechung einzubeziehen. 

Die Stärke der Aussenmauern von Wohngebäuden hat, ausser dass 
sie den Anforderungen der Standfestigkeit und dem Schutz gegen Witterangs¬ 
unbilden entsprechen muss, auch den allgemeinen klimatischen Ansprüchen 
zu genügen. In dieser Hinsicht kommt insbesondere die Abhängigkeit des 
Wärmedurchgangs von der Mauerstärke und von dem Material der 
Mauern in Betracht. 

Wenn die Mauerptärke von 1 bis auf 3 zunimmt, so nimmt der Wärmedurchgang 
von 1 auf 0*60 ab. Von hier an Yerlangsamt sich die Abnahme in geringerem Maasse, 
beispielsweise bei Zunahme der Mauerstftrke von 3 auf 6 von 0*60 auf 0 38 und bei Zu¬ 
nahme der Mauerstärke von 6 auf 10 von 0*38 auf 0*25. Es ersieht sich hieraus, dass 
die Vermehrung der Mauerstärke über einen mittleren Werth hinaus im Interesse des 
Wärmeschutzes ohne besondere Bedeutung ist; immerhin bleibt der Vortheil bestehen, 
dass die stärkere Mauer vor der weniger starken den Vorzug grösserer Wärme- 
Beständigkeit hat. 

Der Einfluss, den die Materialbeschaffenheit in thermischer Ilinsicht übt, geht 
aus folgenden Zahlen hervor: Wenn der Wärmedurchgang für Mauern aus Hohlziegeln und 
Mauern mit (wirksamen) Luftisolirschichten = 1. gesetzt wird, so ist derselbe bei Mauern 
aus gewöhnlichen Ziegeln etwa = 2 und bei Sandsteinmauern etwa = 3. D. h. es müssen, 
um gleichen Wärmeschutz zu erreichen, Sandsteinmauern etwa die dreifache Stärke der in 
Bezug auf Wärmeschutz günstigsten Arten von Ziegelmauern erhalten. 

Von den Sonnenstrahlen getroffene Wände können an der Innenseite um 4—7° 
höhere Temperaturen erreichen als nicht bestrahlte Wände derselben Stärke. Das Maximum 
folgt aber der Bestrahlung zeitlich um ein Stück nach; bei einer 38 cm starken Mauer 
wurde die zeitliche Verschiebung zu 6—7 Stunden beobachtet. Wenn die Wände von 
Schlafzimmern Sonnenbestrahlung empfangen, so fällt hiernach die stärkste Erwärmung 
der Räume gerade in die Nachtstunden. 

Für Innenwände ist die Rücksicht auf Wärmeschutz meist ohne Bedeutung, 
abgesehen vielleicht von Trennungsmauern zwischen nicht heizbaren Räumen 
und von den Mauern, die das Treppenhaus von den Wohnräumen sondern. 
Dagegen ist für die Innenmauern die Rücksicht auf Schutz gegen Schall¬ 
leitung von einiger Bedeutung, der ebenfalls eine gewisse Wandstärke be¬ 
dingt. Hierbei spricht aber ebenfalls die Materialbeschaffenheit wesentlich 
mit Je dichter das Material und je elastischer, umso grösser ist bei dem¬ 
selben die Leitungsfähigkeit für Schall. Es verhalten sich hiernach weder 
Wände aus sehr dichtem Gestein noch Holzwände in Bezug auf Schall¬ 
dämpfung günstig. 

Eben vollendete Mauern enthalten beträchtliche Mengen Wasser. Da zu 1 m 8 
Ziegelmauerwerk fast 0*3 m* Mörtel erforderlich sind (in Bruchsteinmauerwerk noch da¬ 
rüber), und 1 m z Mörtel bis 0*2 m 8 Wasser zum Anmachen erfordert, so finden sich im 
Fugenmörtel von 1 1 » 8 frischem Mauerwerk etwa 0‘06 m 8 Wasser. Hierzu tritt eine gewisse 
Menge die zu dem nothwendigen Annässen der Ziegel erforderlich ist, eventuell noch eine 
weitere Menge in dem zum Wandputz erforderlichen Mörtel. Mithin kann als Wassermenge, 
die in 1 m 8 frischen Mauerwerks enthalten ist, bis zu 010 m 3 = 100 1 (unter Umständen 
noch mehr) gerechnet werden, abgesehen von dem Hydratwasser, das in dem Mörtelmaterial 
enthalten ist, aber als Feuchtigkeit nicht in Betracht kommt. Da der gewöhnlich ver¬ 
wendete Kalkmörtel zum Erhärten kein Wasser gebraucht, muss die ganze Wassermenge, 
die im frischen Mauerwerk enthalten ist, durch Verdunsten an die Atmosphäre abgegeben 
werden. Vollständig wasserfrei wird aber Mauerwerk nie; im gewöhnlichen Sinne trockene 
Mauern enthalten immer noch von 3—6% Feuchtigkeit, umso weniger, je höher die Stelle 
im Vergleich zum Boden liegt, an welcher die Bestimmung des Wassergehalts ausgeführt 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


wird. Die Verdunstung des Wassers aus den Mauern ohne Zuhilfenahme künstlicher Mittel 
erfordert geraume Zeit; am stärksten ist die Verdunstung bei warmem Sommer- aber auch 
bei sogenanntem trockenem Frostwetter. Je grösser die Mauerdicke, umso mehr verlängert 
sich die Zeit. Mauern aus natürlichen Steinen mit hoher Wärmecapacität erfordern längere 
Trocknungsdauer als Ziegelsteinmauern. 

ln diesen Verhältnissen finden polizeiliche Vorschriften ihre Begründung, 
welche fordern, dass zwischen der Fertigstellung des sogenannten Rohbaues 
(der nackten Mauern) und dem Aufträgen des Wandputzes ein mehr oder 
weniger langer Zeitraum (l 1 /,—3 Monate) liegen muss, und andere, nach 
welchen ein Neubau erst bezogen werden darf, nachdem eine sogenannte 
Gebrauchsabnahme stattgefunden hat, deren Zweck es ist, über die genügend 
weit gehende Austrocknung desselben Gewissheit zu schaffen. Uebrigens 
ist klar, dass beide in Rede befindlichen Fristen, wenn der Zweck derselben 
erreicht werden soll, nicht schematisch, vielmehr mit der Jahreszeit 
wechselnd festgesetzt werden müssen. 

Die Trocknungsfristen können durch Anwendung künstlicher Mittel er¬ 
heblich abgekürzt werden, ln einfachster Weise geschieht dies durch Auf¬ 
stellung und Anheizung der Oefen in den Räumen, beziehungsweise vor¬ 
zeitige Ausführung der etwa beabsichtigten Luftheizungsanlage; letztere ist 
erheblich wirksamer als die gewöhnliche Ofenheizung. Ein anderes mehr ge¬ 
bräuchliches Mittel ist das Aufstellen von sogenannten Coakskörben in den 
Räumen, die aber vornehmlich nur durch Wärmestrahlung wirken; ausser¬ 
dem sind die die Coakskörbe bedienenden Arbeiter der Gefahr der Vergiftung 
durch das in reichlichen Mengen erzeugte Kohlenoxyd unterworfen. Am besten 
ist die Benutzung besonderer Apparate, durch welche erhitzte Luft unter Druck 
in die Räume eingetrieben, oder mittelst Schlauchs an die betreffenden Mauer- 
fiächen geführt wird, und gleichzeitig Einrichtungen für geregelte Abführung 
der mit Feuchtigkeit beladenen Luft getroffen werden. — 

Von grossem Einfluss auf den Trockenheitszustand, sogar auf die dau¬ 
ernde Beschaffenheit eines Wohnhauses, kann ein sorgfältig erwogener 
Arbeitsplan sich erweisen. Je sorgfältiger mit Bezug auf die Jahres¬ 
zeit und die Reihenfolge der einzelnen Arbeiten derselbe entworfen ist, 
um so besser für den Bau. Niemals sollte ein Wohnhausbau im Spätherbst 
begonnen werden, vielmehr so zeitig im Sommer, dass derselbe noch vor 
Eintritt nasser und kalter Witterung „unter Dach“ gelangt. Einregnen eines 
noch nicht überdachten Neubaues, oder Herstellung von Mauern bei Frostwetter 
kann schlimme Folgen haben: Schwammbildung und sehr lange anhaltende 
Feuchtigkeit. — Die Anlagen zur geordneten Sammlung und Ableitung des 
Dachwassers sind an jedem Neubau zugleich mit der Eindeckung des Daches 
zu trefien, weil, wenn dies nicht geschieht, selbst leichte Regenfälle die 
betreffenden Bautheile stark durchnässen können. — Auf jedem Bau müssen 
bequem gelegene Bedürfnisanstalten für die Bauarbeiter hergestellt werden, 
damit diese keine Veranlassung haben, ihre Bedürfnisse etwa in abgelegenen 
Räumen des Baues zu verrichten und dadurch dieselben vielleicht dauernd 
zu schädigen. Fälle dieser Art sind mit unerbittlicher Strenge zu ahnden. 

Uebrigens ist noch hinzuzufügen, dass das Beziehen eines Neubaues im 
Herbst immer mit gesundheitlichen Bedenken verknüpft ist, wogegen das 
Beziehen im Frühjahr oft unbedenklich sein wird; die Gründe ergeben sich 
aus dem Vorstehenden von selbst. 

Stallungen unmittelbar mit einem Wohnhause zu verbinden, ist selbst bei 
sorgfältigen Ausführungen misslich. Gelegenheiten zur Uebertragung ansteckender Krank¬ 
heiten (Zoonosen) werden dadurch stark begünstigt. Ferner sind Ställe Orte für Entstehung 
von üblen Dünsten, Fäulnis organischer Stoffe und Feuchtigkeit, und endlich 6ammelt sich 
in denselben allerhand Ungeziefer, unter denen auch Fliegen den Hausbewohnern arge 
Belästiguneen und Gefahren bringen können. In jedem Falle sind di recte Verbindungen 
zwischen Wohnung und Stallraum zu vermeiden und zwischen beiden auch sonst strenge 
Scheidungen herzustellen; am besten ist es, zwischen Wohnung und Stall isolirende 
Räume einzuschalten. 


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WOHNDNGSHYGIENE. 


1065 


Hinsichtlich der Deckenconstrnctionen und Fussböden in Wohn¬ 
gebäuden ist auf S. 1027 ff. Bezug zu nehmen; es bleibt hier nur noch einiges 
Specielle nachzutragen. Zu den Fussböden in Wohnräumen sollte hartes 
und völlig ausgetrocknetes Holz verwendet werden; wo ersteres nicht 
disponibel ist, muss der Fussböden Oeltränkung oder -Anstrich erhalten. Fuss- 
bödenconstructionen, welche ein leichtes Nachtreiben der Bretter zum Schliessen 
etwa entstandener Trocken-(Schwind-)Fugen gestatten, sind im Vorzüge vor 
den „genagelten“ Bretterböden. Fussböden aus Holz von geringer Beschaffen¬ 
heit erhalten am besten einen Belag aus Linoleum, der vollkommen wasser¬ 
dicht, leicht reinigungsfäig ist und sehr wenig abnutzt. Die Fussboden- 
bretter sollen möglichst eng an die Umfangswände des Raumes anschliessen, 
damit an diesen Stellen nicht offene Spalte entstehen, die Feuchtigkeit ein- 
dringen lassen. Die sogenannten Fuss- oder Scheuerleisten müssen aus dem¬ 
selben Grunde möglichst dichtschliessend mit dem Fussböden und der Wand 
zusammengearbeitet werden. — Holzfussboden, der auf Sand oder Erde liegend 
(in Erdgeschossen ohne Unterkellerung) hergestellt ist, muss mit Hohlraum 
darunter versehen werden, damit die Luft durchziehen kann. Es wird zu dem 
Zweck der Hohlraum einerseits mit der Aussenluft, andererseits mit dem Innern 
des Raumes in Verbindung gesetzt, noch besser statt letzterer Verbindung eine 
solche mit dem Ofenrohr oder einem sonstigen „warmen“ Rohr hergestellt. 
Wird diese Vorsicht ausser Acht gelassen, so bildet sich sehr leicht Feuchtig¬ 
keit und Schwamm. Kellerräume sollten nur massiven Fussböden erhalten, oder 
auch Estriche aus Cement oder Asphalt auf massiver Unterlage. Massiver 
Fussböden ist dringend auch für Räume in anderen Geschossen zu empfehlen, 
in welchen viel Wasser verspritzt wird. Das gilt für Koch- und Waschküchen, 
desgleichen tür Abortzellen, Speisekammern, auch für die sogenannten Vor- 
räume der Wohnung und für etwaige Pflanzenzimmer, deren ganze Einrich¬ 
tung übrigens mit Bezug auf Schutz vor Feuchtigkeit u. s. w. sehr grosse 
Vorsicht erfordert. Sehr bewährt ist in Räumen, in welchen mit Feuchtig¬ 
keitszutritt von der Unterseite her zu rechnen ist, der sogenannte Stab- 
fussböden in Asphalt, der aus kurzen schmalen Brettstttcken, welche 
dicht aneinander schliessend in eine Schicht von heissflüssigen Asphalt ein¬ 
gedrückt werden, besteht. 

Die Fussbodenreinigung sollte überall „feucht“, nicht nass bewirkt 
werden, um Staubaufwirbelungen zu vermeiden. Die nasse Reinigung ist 
zu vermeiden, weil das nackte Holz begierig Feuchtigkeit einsaugt. Die 
Wasseraufnahme ist bei Fichtenholz etwa doppelt so gross als bei Eichenholz. 

Belag der Fussböden mit Teppichen hat wegen der Eigenschaft der 
Teppiche, grosse Staubmengen und Mikroben festzuhalten, eine schlimme 
Schattenseite, die besonders bei schweren Teppichen ins Gewicht fällt. 
Letztere sollten, um die öftere Reinigung nicht zu erschweren, niemals unter 
den Möbeln fortgehen, oder gar die Fussböden in der ganzen Fläche be¬ 
decken. Kleine, leichte Teppiche sind gesundheitlich am wenigsten an- 
stössig. Niemals sollten Teppiche in Kinder- und Krankenzimmern 
gelegt werden, weil sie hier den grössten Schaden anrichten; überhaupt sollten 
sie da immer fortgelassen werden, wo viel Bewegung stattfindet. — 

In Räumen, in welchen Kalktünche den Ansprüchen, die an das Aussehen 
der Wände gestellt werden, noch genügt, ist jene Tünche der beste Anstrich, 
weil er Reinlichkeit befördert die Räume hell macht und auf Bakterien 
vernichtend wirkt. Ein gering er Zusatz von Leim hebt letztere Wirkung nicht 
auf, macht aber die Tünche einigermaassen waschbar. 

Die gewöhnlichen Leimfarbenanstriche, in welchen als Farbstoffe besonders Ocker 
und Kreide benutzt werden, verstauben leicht. Immer sollten sie hellfarbig gehalten 
werden. Chromfarben, üranfarben, Eisenfarben, wenn mit Arsen verunreinigt, 
Bleifarben, Quecksilberfarben, Arsenfarben, Antimonfarben und Kad- 
miumfarben (alle mineralischer Herkunft) sind giftig; ebenfalls sind einige organische 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


Farbstoffe, wie Safran in and mehrere Nitrofarb Stoffe (ans der Kohlentheer-Ve 
arbeitnng gewonnen) giftig. Giftige Farben sollten auch für Wand* und Deckenanstriche 
möglichst ganz vermieden werden. Gleichfalls sind Tapeten, sn deren Bedruck Giftfarben, 
wie z. B. das bekannte Schweinfurter Giün, welches Arsen enthält, and einige rothe Farben, 
in welchen ebenfalls Arsen enthalten ist, nicht znzolassen, da das Arsen leicht verstaubt. 
Am besten sind Oelfarbenanstriche, bei welchen aber anstatt der giftigen Blei¬ 
farben, besser die ungiftigen Zinn- und Zinkfarben zur Anwendung kommen. Mit Oelfarbe 
gestrichene Wände liefern weder selbst Staub, noch bilden sich auf ihnen Staubablagerungen, 
wenn nur die Flächen, die den Anstrich erhalten sollen, genügend glatt hergestellt waren. 
Immer sind Oelfarbenanstriche leicht wasch- und desinficirbar. 

Unter den Tapeten sind die von glänzendem Aussehen den in stumpfer 
Fläche gehaltenen vorzuziehen; noch besser sind waschbare Tapeten, welche 
in neuerer Zeit öfters Vorkommen. Tapeten mit Relief sind, gleichgiltig, 
ob es sich um echte Ledertapeten oder Imitationen derselben aus Pappe u. s. w. 
handelt, vom gesundheitlichen Standpunkte zu verwerfen. 

Höheren Schutz vor Zerstörungen der Wandflächen und gesundheit¬ 
liche Vorzüge gewähren Wandbezüge aus „Lincrusta Walton“, einem linoleum- 
artigen, mit Relief versehenen, dickwandigen Stoff. 

Erfüllen die bisher für die W a n d behandlung genannten Mittel in 
Wohnräumen auch die gesundheitlichen Ansprüche in mehr oder minder 
ausreichendem Umfange, so sind dieselben doch in den Nebenräumen der 
Wohnung mehr oder weniger ungenügend. In Küchen schlagen sich auf 
kalt liegenden Wänden Wasserdämpfe nieder und bilden auf Oelfarbenanstrich 
grosse Tropfen, welche an den Wänden herablaufen, wobei durch Aufnahme 
von Staub u. s. w. Schmutzstreifen entstehen. Küchenwände erhalten daher 
am besten eine Bekleidung aus hellfarbigen Fliesen; jedenfalls ist die 
Anbringung für etwa die untersten 2 m Höhe der Küchenwände sehr angezeigt. 
Etwas weniger noth wendig, aber doch sehr empfehlenswerth v ist Fliesen¬ 
bekleidung der Wände auch in Speisenkammern und Abortszellen. 
In diesen Räumen genügt allerdings auch Oelfarbenanstrich, weil bei der 
niederen Temperatur dieser Räume das Niederschlagen von Wasserdämpfen 
nicht leicht zu fürchten ist. Aehnliches gilt für die Wände der Treppenhäuser 
und Vorräume. 

Holzvertäfelungen der Wände u. s. w. wirken günstig in ther¬ 
mischer Hinsicht, ungünstig aber durch Resonanz und dadurch, dass der Hohl¬ 
raum hinter denselben günstige Gelegenheit zum Ansammeln von Staub 
und allerhand Ungeziefer gibt. Uebrigens kann der Hohlraum mitunter vor- 
theilhaft für Lüftungszwecke nutzbar gemacht werden. 

Grundsätzlich ist zu fordern, dass alle Theile der Umfläche eines Wohn- 
raumes möglichst glatt, d. h. frei von Relief und scharfen Ecken ge¬ 
halten werden, weil bei dieser Haltung den Ansprüchen der Reinlichkeits¬ 
pflege am weitesten entgegengekommen wird. Stuckverzierungen der Wände 
sind daher vom gesundheitlichen Standpunkte zu verwerfen, Ausrundungen 
der Ecken in Wohnzimmern und Nebenräumen mindestens erwünscht, in 
Krankenräumen noth wendig. 

Was für die Behandlung der Wände vorstehend angeführt ist, kann auch 
auf die Möbelausstattung der Räume übertragen werden. Mit Schmuck- 
theilen überladene Möbel sind zu verwerfen, die einfachsten, ihrem Nutz¬ 
zwecke am besten angepassten Möbelformen vom gesundheitlichen Stand¬ 
punkte vorzuziehen. 

Während bei dem dauernden Aufenthalt in Wohnräumen der Gesund¬ 
heitsschutz im Wesentlichen durch die Erhaltung von Reinlichkeit, Trocken¬ 
heit, gesunder Luft und ausreichendem Tageslicht beschafft wird, handelt es 
sich bei den — nur vorübergehend benutzten — sogenannten Massenlocalen, 
zu welchen Theater-, Circus-, Concert- und Versammlungssäle, 
in gewissem Sinne auch Kirchen und Schulen rechnen, vorwiegend um 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


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Sicherheit gegen Gefahren, die aus der Anhäufung grosser Menschen¬ 
mengen auf engem Raum hervorgehen, und treten gegen die Forderung der 
„Sicherheit“ die oben erwähnten anderweiten Ansprüche an den Gesundheits¬ 
schutz etwas zurück. Man kann sagen, dass die Nothwendigkeit, besondere 
Maassregeln für den Gesundheitsschutz der Besucher von Massenlocalen zu 
treffen, erst seit den grossen Theaterbränden der neueren Zeit (Nizza 
und Wien 1881, Paris 1887 und Oporto 1888) ausreichend erkannt worden ist. 

Der Gesundheit der Besucher von Massenlocalen drohen: 

o) Unfälle infolge Mangels an constructiver Sicherheit des Locals, oder 
von mangelhafter Einrichtung gewisser Theile desselben, wie z. B. der Ab¬ 
gänge und Treppen, Raumenge u. s. w., 

6) Desgleichen infolge Ausbruchs von Panik, 

c) Betäubung oder Erstickungsgefahr durch Einathmen irrespirabler Gase. 

d) unmittelbare Körperbeschädigung durch Feuer. 

Constructive Sicherheit und Sicherheit gegen unmittelbare Körper¬ 
beschädigung durch Feuer, bedingt zunächst, dass die technische Herstellung 
derart bewirkt ist, dass alle Bautheile den besonderen Beanspruchungen, welchen 
sie unter den ungünstigsten Verhältnissen unterworfen sein können, ge¬ 
wachsen sind. Die constructive Sicherheit bedingt ferner noch, dass mit 
Bezug auf den Schutz gegen Brandfälle, bezw. die Einschränkung oder Be¬ 
wältigung derselben alles geschieht, was gegen ein solches Ereignis über¬ 
haupt vorgekehrt werden kann. Es handelt sich bei letzterem Punkte aber 
nicht nur um Herstellung des Baues aus schwer brennbaren oder unverbrenn¬ 
baren Materialien, sondern ebenso sehr um Einrichtungen zur Vermeidung 
von Feuersgefahr bei der Heizung und Beleuchtung des Hauses, bezw. bei 
Darstellungen in demselben, welche Feuersgefahr mit sich bringen. Den von 
dem Techniker zu treffenden Einrichtungen hierher gehöriger Art müssen 
strenge Ordnungen über die Benutzung des Locals und dessen, was in 
demselben enthalten ist, hinzutreten. Solche Ordnungen zu treffen, ist theils 
Sache der Polizei, theils auch des Eigenthümers. In denselben darf 
nicht generalisirt werden, sondern es sind ganz specielle Vorschriften 
zu treffen, die den Besonderheiten des Locals möglichst genau angepasst sind. 

Thüren, welche in die Wege der Abgehenden fallen, müssen ausreichende Weite 
haben, und schon auf einen geringen Druck öffnen. In Corridoren oder anders gearteten 
Abgängen dürfen keine unvermittelten Baumverengungen, auch keine vereinzelt liegenden 
Treppenstufen Vorkommen. Treppen dürfen keine sogenannten Wendel- oder Keilstufen 
enthalten, und möglichst „gerade 11 geführt sein. Podestanlagen in den Treppen, sind, weil 
auf denselben leicht Stauungen eines Menschenstromes stattfinden, grundsätzlich als un¬ 
zweckmässig zu betrachten. Die Treppen sollen mässige Steigungen haben und die Stufen 
dürfen nicht glatt, auch nicht scharfkantig sein; es sind an beiden Seiten Handläufer an¬ 
zubringen. 

Um die Gefahren bei Ausbruch von Panik zu mildern, müssen die Ausgänge auf 
möglichst kurzen Wegen erreichbar, daher in grösserer Anzahl vorhanden sein. Die 
Länge der Sitzreihen darf nicht über eine gewisse Grösse (12 bis höchstens 15 Sitze) 
hinausgehen. Sitzbreiten und Sitzlängen dürfen nicht eng bemessen werden. Zum Nieder¬ 
legen eingerichtete Sitze scheinen unzweckmässig, feste Sitze im Vorzüge zu sein. Die Aus¬ 
gänge sollen ständig in Benützung gehalten werden. Logen-Nothausgänge, die das Publicum 
nicht ständig in Benützung hat, sind von zweifelhaftem Werth. Während die Ausgangs- 
thüren so anzuordnen sind, dass sie von allen Stellen des Raumes gesehen werden 
können, oder sich dem Blicke leicht darbieten, sollen die Thüren zu den Aborten versteckte 
Lage erhalten und auch dem Eintretenden entgegen schlagen; Letzteres, sowohl um bei 
Panik den Eintritt zu erschweren, als den Austritt unabsichtlich hineingerathener Personen 
zu erleichtern. Schiebethüren sind für Massenlocale ungeeignet. Thüren und Gänge 
sind so zu disponiren, dass im Fall eines Brandes das Publicum sich nicht in der dem Brand¬ 
herde zugekehrten Richtung zu bewegen bat. Die ganze allgemeine Anordnung des Raumes 
ist überhaupt so zu treffen, dass das Publicum bei allen Bewegungen gewissermaassen ge¬ 
führt wird, oder die einzuschlagenden Richtungen instinctiv findet. Es dürfen keine Stellen 
entstehen, an welchen zwei oder mehrere Bewegungsrichtungen des Publicums, die nicht 
ganz oder doch fast gleichlaufend sind, Zusammentreffen. Wenn das Gebäude des Massen- 
locals nicht an allen Seiten frei steht, vielmehr an enger Strasse „eingebaut“ oder auf 
dem hintern Theile eines Grundstücks errichtet ist, so muss vor den Ausgängen so viel 


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WOHNUNGSHYGIENE. 


freier Raum vorhanden sein, dass die gesammte Menschenmenge bequem auf demselben 
Platz findet. In Versammlungsräumen, in welchen Gallerien angebracht sind, dürfen zwischen 
letzteren und dem Raum selbst keine Treppenverbindungen bestehen. 

Die Gefahr von Gesundheitsbeschädigungen durch Einathmen inrespi- 
rabler Gase tritt in Brandfällen unerwartet rasch ein, da die specifisch 
leichten Gase sowohl durch Diffusion als Bewegung bis zum Ablauf von etwa 2 
Minuten alle Räume selbst eines grösseren Gebäudes erfüllen können. Da es 
unmöglich ist, die Verbreitung der Gase in andere Räume als die der Er¬ 
zeugungsstätte derselben durch die Thiiren u. s. w. zu verhindern, so bleibt 
nichts anderes übrig, als Thür- und Treppenanlagen so zu bemessen, dass die 
Entleerung der Räume sich in geordneter Weise in der Dauer von etwa 
zwei Minuten vollziehen kann. 

Wenn man eine secundliche Bewegungsgeschwindigkeit von 0*5 m (= 1 Schritt) zu 
Grunde legt, und die für 1 Person erforderliche Breite und Tiefe ebenfalls zu je 0*5 m 
annimmt, so würden in einer Gangbreite von 1 m in 1 Minute 120 Personen passiren 
können, wenn keine Bewegungshindernisse bestehen. Weil aber solche auf einer längeren 
Wegesstrecke kaum vermeidbar sind, rechnet man mit einer etwas geringeren Zahl, die in 
den Grenzen zwischen 60 und 150 liegt, und zwar die kleinere Zahl, wenn es sich um 
Passirung von Treppen, die höhere, wenn es sich um Passirung gerader Wege ohne Be¬ 
wegungshindernisse handelt In der Regel wird als Weite der Thüren, Gänge und Treppen 
soviel mal 1 m gefordert, als je 60—150 Personen auf dieselben angewiesen sind. 
Befinden sich, wie in Theatern, die Sitze theilweise in grösserer Höhe, so rechnet man mit 
der kleineren Zahl, liegen die Sitze wie in vielen Versammlungsräumen und Kirchen zu 
ebener Erde, so können bis 150 angenommen werden. Immer aber ist eine Mindest¬ 
breite einzuhalten, die nicht unter 1*5 m, besser 2 m sein soll. Die Breite muss aber auch, 
von der absoluten Zahl der Besucher abhängig gemacht werden; je grösser diese, je 
geringer ist in den Grenzen von 60-150 die auf dieselbe angewiesene Personenzahl an¬ 
zusetzen. 

Für Kirchen ist in Preussen als Mindestbreite der Thüren und Gänge vorge¬ 
schrieben zu: 0.7 m bei der Besucherzahl bis 500 und 0*5 m Zuschlag für je 100 Personen 
mehr in den Grenzen von 500 1000, aber nur 0 3 m mehr, wenn die Besucherzahl 1000 
überschreitet. Die Mindestbreite von geraden Treppen soll 1*3m sein; für gewendelte 
Treppen sind der Breite 30% zuzuschlagen. Für Versammlungsräume, die bis zu 
300 Personen fassen, genügt eine Treppe, für grössere nicht mehr. Wenn der Raum mehr 
als 600 Besucher fasst, müssen Treppen auf zwei Seiten angelegt werden; die Mindest¬ 
breite derselben ist 1*5 m. 

Die grösseren Gefahren bestehen in Theatern, in denen die Besucher 
über einander geschichtet sind, geringere in Circusanlagen, bei welchen 
die Schichtung mehr breit erfolgt. Bei der höheren Besucherzahl letzterer 
ist aber allseitig freie Lage zu fordern. 

In preussischen Theatern düifen nicht mehr als 4 „Ränge“ über dem Parket an¬ 
gelegt werden. Corridore und Treppenhäuser müssen directes Tageslicht erhalten. Als 
künstliche Beleuchtung ist Gasbeleuchtung nur bei kleinen Theatern (bis zu 800 Be¬ 
suchern) zulässig, bei den grossem wird elektrische Beleuchtung gefordert. Gaszuleitung 
von der Strasse aus muss in mehrere von einander unabhängige Systeme zerlegt werden. 
Immer ist eine sogenannte Nothbeleuchtung einzurichten, die so gestaltet werden muss, 
dass sie unabhängig von dem etwaigen Authören der normalen Beleuchtungseinrichtung 
weiter functionirt. 

Da das Bühnenhaus derjenige Theil eines Theaters ist, von welchem 
bei Brandfällen die grösste Gefahr, besonders die Verbreitung grosser Mengen 
irrespirabler Gase ausgeht, so sind für dasselbe besondere Einrichtungen 
nothwendig, auf welche hier nicht näher einzugehen ist. Es mag aus den¬ 
selben nur erwähnt werden: die Nothwendigkeit eines eisernen Vorhangs, 
eine um einige Meter erhöhte Lage des sogenannten Schnürbodens (in Prenssen 
mindestens 3 m) über der Decke des Zuschauerraums und Anhringen von 
Abzugsöffnungen im Dache des Bühnenhauses; in Preussen sollen letztere ins- 
gesammt mindestens 7so der Buhnengrundfläche betragen. Die Anlage von 
Abzugsöflnungen auch in der Decke des Zuschauerranmes ist zwei¬ 
schneidig, indem bei derselben irrespirable Gase in den Zuschanerraum ge¬ 
saugt oder gedrängt werden können. 

An die Heizung und Lüftung der Massenlocale brauchen bei der 
vorübergehenden Benützungsdaner nicht die strengen Anforderungen gestellt 


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ZU RECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


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zu werden, wie z. B. an Wobnrfiume; sie sind wegen der Grösse der Räume 
auch schwer erfüllbar. Ofenheizung ist wegen der Ungleichheit der Wärme- 
vertheilung am wenigsten leistend, und Centralheizung wohl immer im Vor¬ 
züge. Am besten ist diejenige Einrichtung, bei welcher die Heizkörper 
(Röhren oder Canäle) am, oder im Fussboden liegen. Dadurch ist Luftheizung, 
welche horizontale Führung der Canäle nicht verträgt, für die Heizung von 
Massenlocalen so gut wie ungeeignet, wenn man nicht künstliche Pressung 
anwendet, und es treten Dampf- und Wasserheizungen in den Vordergrund. Bei 
seltener Benützung der Locale kann auch Gasheizung zweckmässig sein; doch 
setzt dieselbe voraus, dass eine wirksame Lüftungseinrichtung vorhanden ist. 
Auch die Zuführungsstellen der Frischluft liegen bei grossen Räumen am 
besten im Fussboden, diese Lage ist aber in solchen Räumen ungünstig, in 
welchen das Publicum nicht sitzend verweilt, sondern in Bewegung ist, weil 
in diesen durch die eingefübrte Frischluft Staubaufwirbelung stattfindet. 

Bei Gasbeleuchtung sollten nicht die offenen sondern nur geschützte 
Flammen zur Anwendung kommen, die sowohl in Bezug auf Menge als Be¬ 
ständigkeit des Lichtes, als endlich wegen der geringeren Menge schädlicher 
Verbrennungsproducte im Vorzüge sind. Besser noch ist Gasglühlichtbeleuch¬ 
tung, und mit denselben etwa gleichstehend mag auch die Beleuchtung mit 
anderen verbesserten Gasbrennern (Regenerativlampen u. s. w.) sein, weil bei 
diesen die Beleuchtung durch eine viel geringere Flammenzahl möglich ist, 
was für die Abführung der Verbrennungsproducte grosse Erleichterungen mit 
sich bringt; für letztere sollten in jedem Falle Einrichtungen getroffen werden. 

Durch die enge Berührung der Menschenmengen in den Massenlocalen 
wird die Ansteckungsgefahr befördert. Als besonders gefährdende Stätten 
können die Treppenhäuser und Thürgriffe, sowie die Aborte und Pissoire 
gelten. An allen genannten Stätten ist peinliche Reinlichkeitspflege 
das wirksamste Bekämpfungsmittel. Zu den Aborten und Pissoiren sollten 
nur die vollkommensten Spüleinrichtungen benutzt werden, und die 
Wände und Fussböden der Zellen so behandelt werden, dass sie leicht wasch- 
und desinficirbar sind. f. büsing. 

Zurechnungsfähigkeit (forens.). In der gerichtlichen Medicin geben 
zu gerichtsärztlichen Untersuchungen sehr häufig Anlass Zweifel über 
Zurechnungsfähigkeit und Dispositionsfähigkeit eines Indivi¬ 
duums. Erstere betrifft das Strafrecht, letztere das bürgerliche Recht. Zur 
Ausübung der bürgerlichen Rechte und Pflichten wird nämlich ein gewisser 
Grad von geistiger Entwicklung und Ausbildung verlangt, sowie Abwesenheit 
psychischer Abnormitäten, und dasselbe ist der Fall in Bezug auf Strafbarkeit 
gesetzwidriger Handlungen. Zur Feststellung abnormer psychischer Zustände 
ist die Intervention der gerichtlichen Medicin nothwendig. 

Dispositionsfähigkeit 

Darunter ist zu verstehen die Fähigkeit, alle bürgerlichen Rechte und 
Pflichten anszuüben und zu erfüllen. Dass hiezu ein gewisses Alter und 
normale psychische Zustände verlangt werden, ergibt sich aus folgenden ge¬ 
setzlichen Bestimmungen. 

Preussisches allgemeines Landrecht, Theil I, Titel 1, § 31. Diejenigen, welche 
wegen nicht erlangter Volljährigkeit oder wegen Mangels an Seelenkräften ihre Angelegen¬ 
heiten nicht gehörig wahrnehmen können, stehen nnter der besonderen Aufsicht und Vor¬ 
sorge des Staates. 

Titel 18, § 12. Wahnsinnige oder Blödsinnige, welche nicht unter Aufsicht eines 
Vaters oder Ehemannes stehen, müssen vom Staat unter Vormundschaft gestellt werden, 

Oesterreichisches bürgerliches Gesetzbuch § 21. Diejenigen, welche Mangels an 
Jahren, Gebrechen des Geistes oder anderer Verhältnisse wegen ihre Angelegenheiten selbst 
gehörig zu besorgen unf&hig sind, stehen unter dem besonderen Schutze des Gesetzes: 
Dahin gehören Kinder, die das siebente, Unmündige, die das 14., Minderjährige, die das 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


24. Jahr ihres Lebens noch nicht znrückgelegt haben, dann Rasende, Wahnsinnige und 
Blödsinnige, welche des Gebrauches ihrer Vernunft entweder ganz beraubt, oder wenigstens 
unvermögend sind, die Folgen ihrer Handlungen einznsehen. 

§ 173. Gerechte Ursachen, die Fortdauer der väterlichen Gewalt bei Gericht anzu¬ 
suchen, Bind, wenn das Kind ungeachtet der Volljährigkeit wegen Leibes- oder Gemüths- 
gebrechen sich selbst zu verpflegen oder seine Angelegenheiten zu besorgen, nicht vermag. 

Ueber die Art und Weise, wie die Entmündigung vorgenommen 
oder aufgehoben werden soll, sind folgende gesetzliche Bestimmungen zu 
beachten. 

Deutsche Civilprocess-Ordnung § 599. Die Entmündigung darf nicht ausgesprochen 
werden, bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverstänaige 4 Über den Geisteszustand 
des zu Entmündigenden gehört hat. 

§ 595. Der Antrag zur Bevormundung kann von dem Ehegatten, einem Verwandten 
oder dem Vormunde des zu Entmündigenden gestellt werden. Gegen eine Ehefrau kann 
nur der Ehemann, gegen eine Person, welche unter väterlicher Gewalt oder unter Vor¬ 
mundschaft steht, nur vom Vater oder dem Vormund der Antrag gestellt werden. In 
allen Fällen ist auch der Staatsanwalt zur Stellung des Antrages befugt. 

Preussisches allgemeines Landrecht, Theil II, Titel 18, § 815. Die Vormundschaft 
über Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige muss aufgehoben werden, wenn dieselben zum 
völlig freien Gebrauch der Vernunft wieder gelangen. 

Die bürgerlichen Rechte und Pflichten beziehen sich auf sehr verschie¬ 
dene Verhältnisse und können das Recht zur eigenen Vermögensverwaltung, 
das Recht zu testiren, eine Ehe einzugehen, Kinder zu erziehen, die väter¬ 
liche Gewalt auszuüben, einem Amte vorzustehen, gerichtliches Zeugnis ab¬ 
zulegen, gerichtliche Klage zu führen, einen Eid zu leisten u. s. w. betreffen. 

Die Dispositionsfähigkeit kann nun entweder für die Ausübung aller 
dieser Rechte und Pflichten vollständig ausgeschlossen sein, so dass der Be¬ 
treffende auf alles selbständige Handeln verzichten muss und so zu sagen 
mundtodt ist, indem Andere, der Vormund, der Curator den Unmündigen zu 
vertreten haben, wie das bei einem gewissen Alter der Fall ist. Oder aber 
es bestehen gewisse Grade der Dispositionsfähigkeit, welche mit der Unter¬ 
scheidung der Kindheit, Unmündigkeit, Minderjährigkeit in Zusammenhang 
stehen, so dass die Dispositionsfähigkeit eine gradweise fortschreitende ist, 
bis zum Eintritt der vollständigen Dispositionsfähigkeit. 

Diese tritt nach den meisten Civilgesetzen mit dem 21. oder 24. Jahre 
ein. Von den schon früher eintretenden bürgerlichen Rechten heben wir fol¬ 
gende hervor. 

Die Testirfähigkeit tritt nach den meisten Civilgesetzgebungen 
schon mit dem 18. Lebensjahre ein, und ausserdem können schon Minder¬ 
jährige, die das 18. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, vor Gericht 
testiren, jedoch nur mündlich. 

Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Oesetzbach § 569. Unmündige sind 
za testiren unfähig. Minderjährige, die das 18. Jahr noch nicht znrückgelegt haben, können 
nnr mündlich vor Gericht testiren. Das Gericht muss durch eine angemessene Erforschung 
sich fest za überzeugen suchen, dass die Erklärung des letzten Willens frei und mit Ueber- 
legung geschehen ist. Die Erklärung muss in ein Protokoll aufgenommen und dasjenige, 
was sich ergeben hat, beigerückt werden. 

Um letztwillige Bestimmungen rechtsgiltig auszuführen, wird verlangt, 
dass dieselben bei vollständigem Bewusstsein, mit richtiger Erkennung der 
Bedeutung solcher letztwilliger Verordnungen und mit freier WUlens- 
bestimmung gemacht weiden, weshalb hiezu die Gegenwart zuverlässiger 
Zeugen verlangt wird. 

Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 591. Jünglinge unter 
18 Jahren können bei den letzten Anordnungen nicht Zeuge sein. 

Uebrigens liegt es nicht im Sinne der Gesetzgebung, dass der Testirende 
in vollständiger geistiger Gesundheit sich befinde, es wird nur verlangt, dass 
wenigstens zur Zeit der Testirung der Testator dispositionsfähig sei, da es 
ja Zustände gibt, in welchen nur zeitweise Bewusstseinsstörungen Vorkommen 
und freier Wille aufgehoben ist, so dass lucide Intervalle bestehen, in welchen 
vollkommene Bewusstheit und freier Wille vorhanden sind. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


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Preussisches allgemeines Landrecht, Theil II, Titel 12, § 21. Personen, die wegen 
Wahnsinn oder Blödsinn unter Vormundschaft genommen worden, sind, solange die Vor- 
mnndschaft dauert, letztwillige Verordnung zu verrichten, unfähig. 

§ 147. Ist dem Richter bekannt, dass der Testator zuweilen an Abwesenheit des 
Verstandes leide, so muss er sich vollständig überzeugen, dass derselbe in dem Zeitpunkt, 
wo er sein Testament aufnehmen lässt oder übergibt, seines Verstandes wirklich 
mächtig sei. 

§ 148. Findet er dieses zweifelhaft, so muss er Sachverständige zuziehen. 

§ 20. Personen, die nur zuweilen ihres Verstandes beraubt sind, können in lichten 
Zwischenräumen von Todes wegen rechtsgiltig verordnen. 

Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 565. Der Wille des Erb¬ 
lassers muss bestimmt, nicht durch blosse Bejahung eines ihm gemachten Vorschlages, er muss 
im Zustande der vollen Besonnenheit, mit Ueberiegung und Ernst, frei von Zwang, Betrug 
und wesentlichem Irrthum erklärt werden. 

§ 566. Wird bewiesen, dass die Erklärung im Zustande der Raserei, des Wahnsinns, 
Blödsinns oder der Trunkenheit geschehen sei, so ist sie ungiltig. 

§ 567. Wenn behauptet wird, dass der Erblasser, welcher den Gebrauch des Ver¬ 
standes verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung bei voller Besonnenheit gewesen 
sei, so muss die Behauptung durch Kunstverständige oder durch obrigkeitliche Personen, 
die den Gemüthszustand des Erblassers genau erforschten, oder durch andere zuverlässige 
Beweise ausser Zweifel gesetzt werden. 

Die Untersuchung betrifft in solchen Fällen bald Personen, welche eine 
Testirnng beabsichtigen, oder solche, welche bereits testirt haben, oder endlich 
Testamente von Personen, welche nicht mehr leben. 

Schwieriger ist der Fall immer dann, wenn es sich um Beurtheilung 
psychischer Zustände handelt, die nur zeitweise auftreten, und das Testament 
in einem luciden Intervalle gemacht worden sein soll. Hier kommt es wesent¬ 
lich auf die Art der psychischen Störung an, ob dieselbe ihrer Natur nach 
nur periodisch auftritt, also einen transitorischen Charakter hat, wie das 
namentlich bei toxischen Psychosen der Fall ist, oder ob der lucide Intervall, 
in welchem das Testament gemacht worden sein soll, durch glaubwürdige 
Zeugen erwiesen werden kann. 

Wir hatten einen solchen Fall bei einer Jodoformpsychose zu beurtheilen. Dem 
Betreffenden, einem älteren Manne, wurde am Rücken eine Geschwulst operativ entfernt 
und nachher die ziemlich grosse Wundfläche mit Jodoform behandelt, und jedes Mal stellten 
sich nach einem solchen Verbände Symptome von Hirnreizung ein mit WahnVorstellungen, 
welche zu ungereimten Handlungen führten. Nach einigen Stunden verloren sich diese 
Erscheinungen und der Betreffende war wieder ganz vernünftig, was nicht bloss durch ver¬ 
schiedene andere Personen, sondern auch durch den behandelnden Arzt bezeugt wurde. 
Der Betreffende hatte nun, ehe seine Wunde geheilt war, ein Testament gemacht zu Gunsten 
entfernterer Verwandten, welches nun von den directen Erben angegriffen wurde. Es gab 
nun Gutachten für und gegen den dispositionsfahigen Zustand des Erblassers. Mein Gut¬ 
achten gehörte zu den ersteren. Das Gericht entschied nur theilweise gegen Dispositions¬ 
fähigkeit, ein Entscheid, den ich für unrichtig halten musste, weil die luciden Intervalle 
unzweifelhaft bewiesen waren, und das Testament in einem solchen vor glaubwürdigen 
Zeugen gemacht wurde. Man hat eben das Eigenthümliche der Jodwirkung nicht begriffen. 

Noch schwieriger sind die Verhältnisse, wenn der Testator bereits ver¬ 
storben ist, und das Testament von den Ueberlebenden angegriffen wird. Wir 
hatten auch einen solchen Fall zu begutachten Gelegenheit. Hier kommt es 
darauf an, ob genaue Angaben erhalten werden können über die Verhältnisse, 
unter welchen testirt worden ist, und ob noch Zeugen einvernommen werden 
können, welche bei der Anfertigung des Testamentes zugegen waren, ferner 
welcher Art die psychische Störung war, wegen welcher das Testament an¬ 
gegriffen worden ist, und auch das Testament selbst ist zu prüfen nach seinem 
Inhalt, seinem Zwecke und nach den Beziehungen desselben zu den ein¬ 
gesetzten und ausgeschlossenen Erben. Es sind in dieser Beziehung schon 
sehr wunderliche Testamente gemacht worden, welche auf vorhanden gewesene 
Wahnideen schliessen Hessen. 

Legrand du Saulle 1 ) gibt eine Zusammenstellung von sonderbaren Testamenten, 
z. 6. dass Thiere berücksichtigt wurden, wie Pferde, Hunde, Katzen u. s. w. In einem 
Falle machte ein reicher Engländer einer jüngeren Dame, welcher er stets nachreiste, sein 

*) Etüde medico-legale sur les testaments, constates par cause de folie Paris, 1849. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


ganzes Vermögen, weil deren Nase ibm während drei Jahren ein ausserordentliches Ver¬ 
gnügen gemacht hat. 

Auch die Ehefähigkeit gehört zu den civilrechtlichen Acten, welche 
an gewisse Vorschriften gebunden sind. 

Zunächst kommen Altersverhältnisse in Betracht, indem mit Berück¬ 
sichtigung des Eintrittes der Geschlechtsreife ziemlich allgemein in den hier 
in Betracht kommenden Ländern das 18. Altersjahr als maassgebend für das 
Eingehen einer Ehe angenommen wird. 

Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 48. Unmündige sind 
ausser Stande, einen gütigen Ehevertrag zu errichten. 

§ 49. Minderjährige sind auch unfähig, ohne Einwilligung ihres ehelichen Vaters oder 
der Gerichtsbehörde sich giltig zn verehelichen. 

Ausserdem schliessen auch gewisse psychische Störungen die Ehefähig¬ 
keit aus, als welche Blödsinn, Wahnsinn, Raserei bezeichnet werden. 

Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 49. Rasende, Wahn¬ 
sinnige, Blödsinnige und Unmündige sind ausser Stande, einen gütigen Ehevertrag zu 
errichten. 

In den meisten Einsprachen gegen Ehefähigkeit handelt es sich jedoch 
nicht um die angeführten schwersten psychischen Störungen, sondern nur um 
verschiedene Grade von Geistesschwäche, und hier ist es mitunter schwierig, 
die Grenzen zu bestimmen, bis zu welchen die Intelligenz ausreicht, um die 
mit einer solchen Verbindung zu übernehmenden Pflichten, namentlich in 
Bezug auf eine allfällig zu erwartende Nachkommenschaft in entsprechender 
Weise zu erfüllen. Es bezieht sich das auf männliche und weibliche Indivi¬ 
duen, doch ist das erstere häufiger als das letztere der Fall, in der Art, dass 
schwachsinnige Männer von speculirenden weiblichen Individuen zum Ein¬ 
gehen einer Ehe veranlasst werden, um dadurch eine finanziell gesicherte 
Lebensstellung zu erlangen. Bei solchen Untersuchungen müssen natürlich 
die Begleiterinnen abtreten, da diese sonst das Wort führen würden. 

Auch Ehescheidungen können zu forensischer Intervention führen, indem 
nach preussischem Civilrecht § 693, und anderen civilrechtlichen Gesetz¬ 
gebungen Wahnsinn, wenn er unheilbar ist und schon ein Jahr gedauert hat, 
einen Grund zur Ehescheidung gibt. Schwierig ist in solchen Fällen, sich über 
Unheilbarkeit des Wahnsinns auszusprechen. Da dieser sich erst während der 
Ehe eingestellt haben muss, so wird es sich öfters um einen puerperal ent¬ 
standenen Wahnsinn handeln. Einschlägige Fälle finden sich von Hüter, 
Krafft-Ebing, Legrand du Saulle u. A. mitgetheilt. 

Von andern die Dispositionsfähigkeit betreffenden bürgerlichen Rechten, 
die weniger häufig in Betracht kommen, erwähnen wir noch folgende. 

Bei Misshandlungen kann der Misshandelte noch vor Eintritt der Voll¬ 
jährigkeit einen Antrag auf Bestrafung stellen. 

Deutsches Strafgesetz § 65. Der Verletzte, welcher das 18. Lebensjahr vollendet 
hat, ist selbständig za dem Anträge auf die Bestrafung berechtigt. 

Solange der Verletzte minderjährig ist, hat der gesetzliche Vertreter desselben unab¬ 
hängig von der eigenen Befugnis des Verletzten das Recht, den Antrag zu stellen. 

Bei bevormundeten Geisteskranken und Taubstummen ist der Vormund zur Stellung 
des Antrages berechtigt. 

Die Fähigkeit zur Eidesleistung wird nur solchen Personen zugetraut, 
welche ein gewisses Alter erreicht haben, und ohne psychische Abnormitäten, 
sind, was mitunter durch Sachverständige festzustellen ist. 

Deutsche Strafprocessordnung § 36. Unbeeidigt sind zu vernehmen Personen, 
welche das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet, oder wegen mangelnder Verstandesreife 
von dem Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben. 

Nicht unwichtig zu wissen ist ferner, dass Personen unter einem gewissen 
Alter Versprechen weder machen noch annehmen können. 

Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 865. Ein Kind unter 
sieben Jahren ist unfähig, ein Versprechen zu machen oder anzunehmen. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


1073 


Zurechnungsfähigkeit 

Diese bezieht sich, wie gesagt, auf das Strafrecht, und ist darunter zu 
verstehen die Fähigkeit, die Strafbarkeit einer gesetzwidrigen Handlung zu 
erkennen und einzusehen, mit der Freiheit des Willens die Handlung zu thun 
oder zu unterlassen, so dass der Betreffende für die Handlung verantwortlich 
gemacht werden kann. 

Wir exemplificiren mit zwei Gesetzgebungen, welche sich besonders dazu 
eignen, den angegebenen Standpunkt klar zu legen, nämlich das bernische 
und das deutsche Strafgesetz, indem sich dieselben gegenseitig ergänzen. 

Der österreichische Strafgesetzentwurf ist dem deutschen Strafgesetz 
ganz ähnlich. 

Bernisches Strafgesetz Art. 43. Straflos sind diejenigen, die sich znr Zeit der 
Th&t in einem Zustande befanden, in welchem sie sich ihrer Handlung oder der Strafbarkeit 
derselben nicht bewusst waren (Wahnsinn, Blödsinn u. s. w.), oder die infolge äusseren 
Zwanges, gefährlicher Drohungen oder aus anderen Gründen der Willensfreiheit be¬ 
raubt waren. 

Deutsches Strafgesetz § 81. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn 
der Th&ter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusst- 
losi gkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welche 
seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. 

Oesterreichischer Strafgesetzentwurf § 56. Eine Handlung ist nicht strafbar, 
wenn derjenige, der sie begangen hat, zu dieser Zeit sich in einem Zustande der Bewusst¬ 
losigkeit oder krankhafter Hemmung oder Störung der Geistesthätigkeit 
befand, welcher es ihm unmöglich machte, seinen Willen frei zu bestimmen, oder 
das Strafbare seiner Handlung einzusehen. 

In strafrechtlicher Hinsicht bezeichnet man gemeinhin diejenigen, welche 
nach den angeführten Bestimmungen ohne Einsicht der Strafbarkeit ihrer 
gesetzwidrigen Handlung oder ohne freie Willensbestimmung gehandelt haben, 
als unzurechnungsfähig, was Strafbarkeit ausschliesst. Die medicinischen 
Sachverständigen werden in einschlägigen Fällen häufig genug von Seite 
richterlicher Beamten nach Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit 
gefragt, was sich der Kürze wegen in vielen Fällen empfiehlt, und vorauszu¬ 
setzen ist, dass der medicinische Experte wohl weiss, was unter dem juristi¬ 
schen Begriff der Zurechnungsfähigkeit *) verstanden werden soll, und dass 
er vom medicinischen Standpunkte aus dem Richter auseinander zu setzen hat, 
ob der Betreffende in dem vorliegenden Falle mit Bewusstheit und freier 
Willensbestimmung gehandelt hat oder nicht, und dass es sich hiebei nur um 
eine gutachtliche Ansichtsäusserung und nicht um eine richterliche Ent¬ 
scheidung handelt. Dass dem richterlichen Experten nicht gestattet sein soll, 
sich nach dem Resultate seiner Untersuchung schliesslich darüber auszu- 
sprechen, ob er den Betreffenden für zurechnungsfähig oder unzurechnungsfähig 
halte, hat eigentlich keinen Sinn, da es sich ja immer nur, wie gesagt, um 
eine gutachtliche Ansichtsäusserung handelt, wodurch der medicinische und 
richterliche Standpunkt hinreichend gekennzeichnet wird. 

Dass von Seite der Strafgesetzgebungen so ziemlich übereinstimmend 
in zusammenfassender Weise zwei psychische Zustände hervorgehoben 
werden, welche bei der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit hauptsächlich in 
Betracht kommen, ist vom medicinischen Standpunkte aus durchaus zu recht- 
fertigen, indem bei jeder rationellen Beurtheilung einer gesetzwidrigen Hand¬ 
lung immer zuerst gefragt werden muss, ob der Betreffende eigentlich gewusst 
hat, oder hat wenigstens wissen können, dass die begangene Handlung eine 
strafbare war, und dann kommt erst die zweite Frage, ob der Betreffende zur 
Zeit der That nach freiem Willen zu handeln im Stande war. 

Die angeführten gesetzlichen Bestimmungen drücken das Gesagte aus, 
jedoch nicht mit derselben Deutlichkeit und Vollständigkeit, und doch sollte 

*) Ueber verschiedene Auffassangen dieses Begriffes s. Gretener, Die Zurechnungs¬ 
fähigkeit als Gesetzgebungsfrage. Berlin, 1897. 

Bibi. med. Wissenschaften. Hygiene n. Oer. Medicia. 68 


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1074 


ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


das in einem Strafgesetze umso mehr der Fall sein, als dasselbe nicht bloss 
für den sachverständigen Juristen, sondern für das ganze gebildete und un¬ 
gebildete Publicum bestimmt ist. 

Das bernische Strafgesetz drückt sich in Bezug auf die Bewusstheit 
der Strafbarkeit der Handlung in kaum missverständlicher und deutlicher 
Weise aus, indem es sagt, dass diejenigen straflos seien, welche zur Zeit der 
That sich der Strafbarkeit der Handlung nicht bewusst waren. Das deutsche 
Strafgesetz dagegen und das österreichische sprechen von einem Zu¬ 
stande der Bewusstlosigkeit bei der Begehung der Handlung, ein Ausdruck, 
der gewiss weniger zutreffend ist, als der obige, da ja nach medicinischen 
Begriffen, und diese müssen wohl hier in erster Linie berücksichtigt werden, 
Bewusstlose nicht mehr im Stande sind, Handlungen vorzunehmen, welche 
auf Willensimpulse schliessen lassen. Auch ist der wesentliche Sinn dieser 
Bestimmung wohl nicht der, dass überhaupt ein bewusstloser Zustand verlangt 
wird, sondern nur ein solcher, in welchem die Handlung als strafbare oder 
die Strafbarkeit der Handlung nicht erkannt worden ist, der Betreffende also 
keineswegs bewusstlos, sondern nur unbewusst der Strafbarkeit der Handlung 
war. Dieser unbewusste Zustand ist natürlich bei Bewusstlosigkeit auch vor¬ 
handen, aber nicht umgekehrt, nicht Bewusstlosigkeit bei Unbewusstheit, und 
in einem bewusstlosen Zustande werden überhaupt keine Handlungen mehr 
vorgenommen. 

Gerade entgegengesetzt verhält es sich bei den angeführten Gesetz¬ 
gebungen bezüglich des zweiten psychischen Zustandes, welcher Zurechnungs¬ 
fähigkeit ausschliesst, nämlich der Unfreiheit des Willens. Während das 
bernische Strafgesetz in dieser Beziehung durchaus nichts Näheres angibt 
und nur von Beraubung der Willensfreiheit aus andern Gründen als äusserer 
Zwang und gefährliche Drohungen spricht, führt das deutsche Strafgesetz 
speciell krankhafte Störung der Geistesthätigkeit auf, durch welche die freie 
Willensbestimmung ausgeschlossen war. Es kann daher nicht jede Art von 
Geistesstörung oder Geisteskrankheit Straflosigkeit nach sich ziehen, sondern 
nur eine solche, durch welche die freie Willensbestimmung aufgehoben wird. 

Das bernische Strafgesetz und das deutsche ergänzen sich in sehr passen¬ 
der Weise. Im ersten ist die Unbewusstheit der Strafbarkeit einer Handlung, 
im letztem die Aufhebung der Willensfreiheit deutlich gekennzeichnet. Es 
bleibt nur noch näher zu erörtern die Unfreiheit des Willens, was in 
das Gebiet der gerichtlichen Psychopathologie gehört, da es sich ja um eine 
Geisteskrankheit handelt. 

Bei der Unfreiheit des Willens kommen selbstverständlich die¬ 
jenigen psychischen Functionen in Betracht, durch welche die Willens¬ 
bestimmung vermittelt wird, und dahin gehören diejenigen complicirten Func¬ 
tionen, auf welchen die Bildung von Vorstellungen nach äussern und innern 
Einwirkungen, weiterhin die Bildung von Begriffen, Urtheilen und Schlüssen 
auf Grund der entstandenen Vorstellungen beruht. 

Bei geistig Gesunden entsprechen die gebildeten Vorstellungen den wirk¬ 
lichen Verhältnissen und einer richtigen Auffassung derselben mit logischer 
Verb ndung zu Begriffen, Urtheilen und Schlüssen. Und kommen aus Un¬ 
kenntnis Irrthümer vor, so lassen sich diese durch Belehrung und Aufklärung 
beseitigen, nicht aber so bei einer gewissen Classe von Geisteskranken, die 
ganz besonders hieher gehören, und das sind die an Wahnvorstellungen Lei¬ 
denden. Es gibt Menschen, bei welchen der erwähnte normale Vorgang bei 
der Bildung der Vorstellungen fehlt, und zwar nicht aus Geistesschwäche oder 
psychischer Insufficienz, sondern infolge von Abnormitäten der psychischen 
Thätigkeiten bei den verschiedenen Geistesoperationen, so dass unrichtige 
Vorstellungen, Begriffe, Urtheile und Schlüsse entstehen, die augenscheinlich 
auf einen krankhaften Zustand der die psychischen Functionen vermittelnden 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


1075 


Hirnelemente hinweisen. Solche Menschen fassen unrichtig auf, den wirk¬ 
lichen Verhältnissen nicht entsprechend, daher auch ihre weiteren Fol¬ 
gerungen verkehrte sind, und eine psychische Correctur derselben ist nicht 
möglich. Von solchen Menschen erhalten wir den Eindruck, dass sie nicht 
mehr richtig denken, und ihre Vorstellungen haben für uns den Charakter 
von Wahnvorstellungen. 

In diesem Sinne kann man die betreffende Störung der Geistesthätigkeit 
als Wahnsinn bezeichnen, welcher auch von Seite der Gesetzgebungen ge¬ 
wöhnlich darunter verstanden wird. Unter solchen psychischen Verhältnissen 
begangene gesetzwidrige Handlungen, können nicht mehr als aus freier 
Willensbestimmung hervorgegangene bezeichnet werden, sondern sind Hand¬ 
lungen, welche unter der Herrschaft von Wahnvorstellungen, also 
nicht mit freier Willensbestimmung ausgeführt worden sind. Solche Menschen 
sind daher unzurechnungsfähig. 

Die Fähigkeit der freien Willensbestimmung setzt voraus, dass der 
Betreffende absehend von äusserm Zwange etwas thun oder lassen kann, je 
nach den Vorstellungen, Begriffen, Urtheilen und Schlüssen, welche derselbe in 
Bezug auf Ausführung oder Unterlassung der in Frage stehenden Handlung 
bildet. Die Erwägung der hier in Betracht kommenden Verhältnisse setzt 
diejenige psychische Function voraus, bei welcher die auf die Handlung sich 
beziehenden Vorstellungen auf einander einwirken, was man Ueberlegung 
nennt, wodurch der Betreffende zu einem Entschluss kommt, der das Wollen 
begründet. Die Realisirung dieses Wollens, insofern es in einer Handlung be¬ 
steht, setzt dann weiterhin psycho-motorische Thätigkeit voraus, welche das 
Gewollte in motorische Actionen umsetzt, d. h. in eine Handlung. 

Dem freien Willen muss daher stets zur Ausführung einer Handlung 
eine Denkoperation vorangehen, wenn auch eine kurze, was Denk¬ 
fähigkeit und Ueberlegung voraussetzt, die bei höheren Graden von 
Schwachsinn fehlen, so dass deshalb bei höheren Graden des Schwachsinns 
die freie Willensbestimmung und daher auch die Zurechnungsfähigkeit aus¬ 
geschlossen sind. 

Ausnahmsweise kommt es auch vor, dass bei krankhafter Erregung oder 
Depression der psychischen Thätigkeiten, wie bei Zorn, Wuth, Furcht oder 
Schreck eine Erwägung der Handlung ganz ausfällt und diese gleichsam re- 
flectorisch unmittelbar nach der äusseren Einwirkung erfolgt, wohin Hand¬ 
lungen in den höchsten Graden des Affectes gehören, so dass auch hier von 
einer freien Willensbestimmung, ohne Einwirkung von Wahnvorstellungen, 
gleichfalls keine Rede sein kann. Doch muss der Affect, um Straflosigkeit zu 
begründen, nicht immer im höchsten Grade bestanden haben, sondern es muss 
ein eigentlich krankhafter gewesen sein. 

Zu erwähnen ist noch, dass einige Gesetzgebungen eine vermindert e 
Zurechnungsfähigkeit annehmen, welche eine Herabminderung des Straf- 
maasses zur Folge haben, was insofern zweckmässig erscheinen muss, als 
namentlich bei transitorischen Bewusstseinsstörungen, zumal bei den so häufig 
vorkommenden alkoholischen, die Unbewusstheit der Strafbarkeit einer Hand¬ 
lung keineswegs immer eine so vollständige ist, dass Annahme gänzlicher 
Unzurechnungsfähigkeit zu rechtfertigen wäre. 

Bernisches Strafgesetz Art. 43. Wenn das Bewusstsein oder die Willensfreiheit 
nicht ganz anfgehoben, sondern nur gemindert ist, so kann statt der Todes- oder lebens¬ 
länglichen Zuchthausstrafe Znchthans von mindestens einem oder höchstens zwanzig Jahren 
verhängt werden. 

Uebersicht 

der Dispositions- und Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden 

psychischen Zustände. 

1. Die psychische Insufficienz. 

Das Gehirn als Functionsorgan sämmtlicher psychischer Thätigkeiten 
erlangt erst nach und nach, nach einer Reihe von Jahren, denjenigen Grad 

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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


der Entwicklung und Ausbildung, dass das Individuum als dispositions- und 
zurechnungsfähig angesehen werden könnte, und nehmen daher alle Gesetz¬ 
gebungen sowohl für das Civil- als Strafrecht ein gewisses Alter an für 
Dispositions- und Zurechnungsfähigkeit. Ehe das Individuum dieses Alter 
erreicht hat, sind dessen geistige Fähigkeiten noch als insufficient zu be¬ 
trachten, weshalb wir es für zweckmässig halten, diesen Zustand als psychische 
Insufficienz besonders hervorzuheben, zumal sich dem Alter noch andere Zu¬ 
stände der Insufficienz anschliessen. 

Die gerichtliche Medicin würde bei diesen gesetzlich normirten Alters¬ 
bestimmungen wenig in Anspruch genommen werden, wenn nicht unter Um¬ 
ständen für gewisse Altersperioden medicinische Untersuchungen nothwendig 
werden könnten und wenn nicht ausser dem Alter auch noch ein normaler 
psychischer Zustand verlangt würde. 

Die Altersbestimmungen, insoweit siefürdieDispositionsfähigkeit 
in Betracht kommen, sind schon oben bei dieser näher angegeben worden. 
Es hat sich dabei ergeben, dass hier in Bezug auf den Eintritt dieser Fähig¬ 
keit eine gewisse Succession besteht und erst mit dem 21. oder 24. Lebens¬ 
jahre dieselbe vollständig eintritt. 

Anders verhält es sich mit der Altersgrenze in Bezug auf den Eintritt 
der Zurechnungsfähigkeit und der Strafbarkeit. Hier ist so ziem¬ 
lich allgemein von den Gesetzgebungen, welche hier in Betracht kommen 
können, das zwölfte Altersjahr angenommen, wie die folgenden gesetzlichen 
Bestimmungen ergeben. 

Bernisches Strafgesetz Art. 44. Kinder, die im Augenblick der Begehung einer 
strafbaren Handlung das 12. Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben, können nicht straf¬ 
rechtlich verfolgt werden. 

Deutsches Strafgesetz § 55. Wer bei Begehung der Handlang das 12. Lebensjahr 
noch nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt werden. 

Oesterreichiscber Strafgesetzentwurf § 60. Unmündige, welche bei Begehung 
einer Handlung d&B 12. Jahr noch nicht zurückgelegt haben, können wegen derselben 
strafrechtlich nicht verfolgt werden. 

Die Gesetzgebungen gehen aber noch weiter in Bezug auf strafrecht¬ 
liche Verfolgung, indem sie für begangene gesetzwidrige Handlungen nach 
zurückgelegtem 13. Lebensjahr noch eine weitere Frist nehmen, und zwar bis 
zum 16. und 18. Lebensjahr, in welcher die strafrechtliche Verfolgung erst 
nach Vorausgang einer sachverständigen Untersuchung eintreten kann. 

Bernisches Strafgesetz Art. 45. Wenn ein Angeschuldigter im Augenblicke der 
Begehung einer strafbaren Handlung das 16. Altersjahr noch nicht zurückgelegt hatte, so 
ist zu entscheiden, ob er mit oder ohne Unterscheidungskraft gehandelt hat. 

Wird entschieden, dass er ohne Unterscheidungskraft gehandelt hat, so soll er frei- 
gesprochen werden. Erfordert jedoch die öffentliche Sicherheit die Anwendung von Sicher¬ 
heit smaassregeln gegen den Freigesprochenen, so soll die urtheilende Gerichtsbehörde beim 
Regierungsrath einen sacbbezüglichen Antrag stellen. 

Deutsches Strafgesetz § 56. Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, wo er das 
12. aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, 
ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntnis ihrer Strafbarbeit 
erforderliche Einsicht nicht besass. 

Der österreichische Strafgesetzentwarf § 61. Ebenso. 

§ 62 gibt mildere Strafen an, wenn die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der That 
erforderliche Einsicht nicht bestand. 

Man hat seiner Zeit in dem internationalen kriminalistischen 
Congress in Bern die Frage aufgeworfen, ob es nicht zweckmässiger sei, 
statt des 12. Lebensjahres das 14. zu setzen und dann auf allfällige spätere 
Untersuchungen zwischen dem 12. und 16. oder 18. Lebensjahr zu verzichten. 
Einfacher wäre dieses Verhältnis allerdings, ob aber dadurch der Vortheil, 
den die freie Hand bietet, in zweifelhaften Fällen untersuchen zu können, 
aufgewogen wird, ist eine andere Frage, und bei den grossen Verschieden¬ 
heiten der Menschen gerade in diesen Entwicklungsperioden müsste ich gegen 
jede Veränderung sein, welche den Anlass zu einer sachverständigen Unter¬ 
suchung entnimmt. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


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Eine psychische Insufficienz wird aber nicht nur durch das Alter be¬ 
gründet, sondern auch durch gänzlichen Mangel an Ausbildung der 
psychischen Functionen, also durch Mangel jedweder Erziehung. Welchen 
Einfluss das auf die geistige Entwicklung des Menschen haben kann, beweist 
der grosse Unterschied zwischen unterrichteten und ununterrichteten Taub¬ 
stummen. Indessen ist hier nicht bloss der Mangel an Unterricht gemeint, 
sondern der Mangel, wenn dem betreffenden Individuum jeder Umgang 
mit anderen durch Einsperrung unmöglich gemacht wird, indem hier jede 
Selbstbildung durch Nachahmung ausgeschlossen ist. Solche Beispiele von 
eingesperrten Individuen schon von Kindheit an, sind äusserst selten. Ein 
Beispiel gibt der so bekannt gewordene und jetzt noch nicht ganz aufgeklärte 
Fall von Kaspar Hauser, der gegen 18 Jahre in solcher Lage abgeschlossen 
gehalten, dann auf den Markt von Nürnberg gebracht, dort von der Polizei 
aufgenommen und dann untersucht wurde, wobei sich ergab, dass der Be¬ 
treffende ein ganz intelligenter aber jeder gesetzlichen Ordnung unbewusster 
Mensch war. Später wurde Kaspar Hauser geheimnisvoll ermordet. 

Die erste Anzeige der Auffindung dieses Menschen am 26. Mai 1828 auf einem öffent¬ 
lichen Platze in Nürnberg lautete: Bekanntmachung (einen widerrechtlich in Gefangenschaft 
aufgezogenen und gänzlich verwahrlosten, dann aber ausgesetzten jüngeren Menschen be¬ 
treffend). Vom Magistrat der königlich bayerischen Stadt Nürnberg. 7. Juli 1828. Der erste 
Bürgermeister: Binder. *) 

Eine psychische Insufficienz, welche gerichtlich-medicinische Bedeutung 
hat, wird durch angeborenen Mangel eines höheren Sinnesorganes 
begründet. Hieher gehört in erster Linie die Taubstummheit. Werden 
Taubstumme sich selbst überlassen, so bleibt die Entwicklung und Ausbildung 
der psychischen Functionen, welche hauptsächlich die Intelligenz vermitteln, 
so weit zurück, dass von ihnen Dispositionsfähigkeit nicht vorausgesetzt 
werden kann. 

Preussisches allgemeines Landr., Th. II, Tit. 18, §. 15. Taubstumm geborene, in 
gleichen diejenigen, welche vor zurückgelegtem 14. Jahr in diesen Zustand gerathen sind, 
müssen, sobald sie nicht mehr unter väterlicher Aufsicht stehen, vom Staate bevormundet 
werden. 

§ 818. Die Vormundschaft über Taubstumme hört auf, wenn bei angestellter Unter¬ 
suchung sich findet, dass sie zu der Fähigkeit, ihren Sachen selbst vorzustehen, gelangt sind. 

Dagegen sind Taubstumme erfahrungsgemäss durch entsprechenden 
Unterricht so weit zu bringen, dass sie einen höheren Grad von Bildung er¬ 
langen und dadurch fähig werden können, über sich selbst zu disponiren und 
die Strafbarkeit gesetzwidriger Handlungen einzusehen. Die Gesetzgebung 
macht daher einen Unterschied zwischen ungebildeten und gebildeten Taub¬ 
stummen. Die ersten werden den Unmündigen und strafrechtlich den Straf¬ 
losen gleichgestellt. 

Deutsches Strafgesetz § 58. Ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntnis der 
Strafbarkeit einer von ihm begangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht besass, ist 
freiznsprechen. 

Die gebildeten Taubstummen dagegen können nach vorgängiger sach¬ 
verständiger Untersuchung sowohl als dispositionsfähig anerkannt, als auch 
strafrechtlich verfolgt werden. 

Bei derartigen Untersuchungen müssen meistens Taubstummenlehrer zu 
Hilfe genommen werden. Die gesetzwidrigen Handlungen, welche von Taub¬ 
stummen mitunter begangen werden, sind ausser Diebstählen nicht selten 
Geschlechtsdelicte, wegen welcher wir mehrere Untersuchungen zu führen 
hatten. 

Der Taubstummheit reiht sich die Aphasie an, von der es verschiedene 
Arten gibt. Bei derselben ist keineswegs nothwendigerweise die Intelligenz 
beeinträchtigt, aber wegen Sprachunfähigkeit die Mittheilungsfähigkeit ein¬ 
geschränkt, was in Bezug auf Dispositionsfähigkeit zur Folge haben kann, 

*) Abgedruckt in: Kaspar Hauser, Des Räthsels Lösung. Von Alex. v. Artin. Zürich 
1892. S. 10. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


dass der Betreffende, wenn er sich nicht hinreichend durch andere Mittel als 
die Sprache verständlich machen kann, einer Vertretung durch einen Curator 
bedarf. 

Zur psychischen Insufficienz gehört auch die sogenannte moral in- 
sanity, das moralische Irresein, welches von englischen Aerzten, namentlich 
von Prichard*) als besondere Geistesstörung hervorgehoben und seitdem weiter 
besprochen wurde. Man nimmt dabei an, dass diejenigen psychischen Centren, 
welche das moralische Fühlen und Denken vermitteln, fehlen, so dass diese 
Art von Vorstellungen gar nicht gebildet wird. Wie es Farbenblinde gibt, 
so gebe es auch sittlich Blinde. Krafft-Ebing **) meint, ein Gehirn, dem 
diese Fähigkeit abgeht, sei ein ab ovo inferior angelegtes, defectives, func¬ 
tioneil degeneratives, und liegen demselben meistens hereditäre Bedingungen, 
Irresein, Trunksucht, Epilepsie der Erzeuger zu Grunde. 

Wir können der Annahme eines moralischen Irreseins in Folge Mangels 
gewisser psychischer Centren, welche den moralischen Sinn vermitteln sollen, 
nicht beitreten, indem es keine Centren für so complicirte psychische Zu¬ 
stände gibt, wie sie die ethischen und moralischen Gefühle voranssetzen. 
Ebenso wenig gibt es im Sinne Lombrosos einen geborenen Verbrecher. Die 
Fälle, welche als Beweise moralischen Irreseins aufgeführt werden, beziehen 
sich weitaus in der Mehrzahl der Fälle auf schlecht erzogene und verwahr¬ 
loste Individuen und nicht auf Geisteskranke. Ich stimme Krafft-Ebing voll¬ 
kommen bei, wenn er meint, dass solche Menschen nicht ins Zuchthaus ge¬ 
hören. Es kann aber auch ein solches angenommenes Irresein bei gesetz¬ 
widrigen Handlungen nicht als Motiv zur Begründung einer Unzurechnungs¬ 
fähigkeit verwandt werden. 

Wie unbestimmt die Ansichten über dieses moralische Irresein sind, geht ans den 
verschiedenen darüber ansgesprochenen Ansichten hervor, von welchen wir noch ^erwähnen, 
dass Krafft-Ebing meint, das moralische Irresein sei keine eigene Form von Geistes¬ 
krankheit, sondern nnr ein eigenthnmlicher Entartnngsvorgang anf psychischem Ge¬ 
biet, während Griesinger der Ansicht ist, dass das, was man mit moral insanity bezeichne 
nnr ein Symptom des Jugendirreseins sei, der sogenannten Hebephrenie n. s. w. 

2. Blödsinn und Schwachsinn. 

Mit Blödsinn bezeichnet man die höchsten Grade von Geistesschwäche, 
welche Dispositions- und Zurechnungsfähigkeit vollkommen ausschliessen. 
Derselbe beruht meistens auf angeborenen Missbildungen des Gehirns. 
Diesem Zustande schliessen sich der Cretinismus und dieMikrocephalie 
an, während man jenen als Idiotismus bezeichnet. Ein eigentliches Idioten¬ 
gehirn gibt es übrigens nicht. Die Gehirne solcher Menschen zeigen die 
verschiedensten Arten von Hemmungsbildungen in wechselnden Combinationen. 

Häufig bestehen hydropische Zustände der Ventrikel mit Erweiterung derselben auf 
Kosten der Hirnsub&tanz, ferner Verkümmerung und Mangel einzelner Hirntheile, wie des 
Balkens des fornix, der th&lami optici, der corpora striata, der corpora candicantia 
u. s. w. ferner Asymetrie der Hemisphären, Unregelmässigkeit und Unvollständigkeit 
der Hirnwindungen, Heteropie grauer Hirnsubstanz, hypertrophische Zustände des Glia- 
gewebes u. s. w. 

Die Blödsinnigen werden gewöhnlich schon an ihrem Aeussern erkannt 
und nähere Aufschlüsse über dieselben können nur durch Verwandte oder 
Pflegeeltern erhalten werden. Mitunter handelt es sich um schwangere Per¬ 
sonen, deren Zustand von den Angehörigen mitunter erst in späteren Perioden 
der Schwangerschaft erkannt worden ist. 

Mehr gerichtlich-medicinisches Interesse bietet der Schwachsinn, der 
wesentlich in einer Schwäche derjenigen psychischen Functionen besteht, 
welche die Intelligenz vermitteln. Die verschiedenen Verstandesoperationen, 
Bildung von Vorstellungen, Begriffen, Urtheilen und Schlüssen können von 

*) Treatise of the different forms of insanity. 1842. 

**) L. c. p. 241. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


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den Betreffenden wohl ansgeführt werden, allein Alles geschieht in einer mehr 
oder weniger beschränkten Weise und entspricht nicht dem gewöhnlichen, 
natürlichen Menschenverstände. Die Vorstellungen gehen über die einfachsten 
Verhältnisse nicht hinaus, die Begriffe fehlen entweder ganz oder sind sehr 
mangelhaft, die Urtheile und Schlüsse sind beschränkt und vielfältig un¬ 
richtig. Die ältere gerichtliche Medicin hat deshalb verschiedene Grade 
geistiger Beschränktheit unterschieden, Dummheit, Stumpfsinn u. s. w., was 
jedoch keine weiteren Anhaltspunkte für die Beurtheilung der bestehenden 
Verhältnisse bietet, weshalb solche Unterscheidungen auch verlassen sind. 
Man muss jeden einzelnen Fall in concreto mit Berücksichtigung der in Frage 
kommenden Verhältnisse beurtheilen. 

Am häufigsten betreffen derartige Untersuchungen die Dispositions¬ 
fähigkeit eines Individuums in Bezug auf Testiren oder Ehefähigkeit, und 
es wird sich leicht ergeben, ob der betreffende ein Verständnis von einem 
Testament, von der Bedeutung eines Ehebündnisses, von der Kindererziehung 
u. s. w. hat Dabei wird man auch den Bildungsgang des Betreffenden berück¬ 
sichtigen, ob er Schulen besucht hat, seiner Zeit unterwiesen worden ist, 
u. s. w. 

Seltener kommt der Schwachsinn bei der Frage über Zurechnungs¬ 
fähigkeit in Betracht, und ist dann die gesetzwidrige Handlung haupt¬ 
sächlich zu berücksichtigen bezüglich ihrer Motive. So hatten wir von einem 
Brandstifter, der einen Hausbrand herbeiführte, indem er sein Bett angezündet 
hat, auf die Frage nach dem Motiv zu dieser That zur Antwort erhalten, dass 
ihn Flöhe und Wanzen so geplagt hätten, und als man ihn auf die schweren 
Folgen seiner That wegen der dadurch veranlassten Unkosten zur Rede stellte, 
gab er Entschuldigungen an, die bewiesen, dass er nicht die geringsten Kennt¬ 
nisse von derartigen Verhältnissen hatte. Dagegen kommt bei verbrecherischen 
Handlungen, die mit hohen Strafen bedacht sind, nicht selten Simulation vor 
und ist die Entlarvung der Betreffenden nicht immer leicht. 

Wir haben einen Fall genauer kennen gelernt, in welchem ein Raubmörder, der zurii 
Tod verurtheilt wurde, unmittelbar nach der That die Rolle eines dem Blödsinn nahe 
stehenden Menschen spielte, und zwar fast ein ganzes Jahr hindurch, trotzdem, dass man 
während einiger Wochen ihn mit einem Mitgefangenen zusammenliess, so gut, dass zwei 
Professoren, welche ihn zu untersuchen hatten, bis zur Assissenverhandlung von ihm 
getäuscht worden sind. Vor dem Schwurgericht erklärte er dann, dass es ihm leid sei, 
die Herren Professoren so getäuscht zu haben. Er wurde hingerichtet, hatte aber kein 
Bekenntniss abgelegt. 

3. Wahnsinn, Paranoia. 

Blödsinn, Schwachsinn und Wahnsinn gehören zu denjenigen psychischen 
Störungen, welche von den Gesetzgebungen zunächst hervorgehoben werden 
als Zustände, welche Dispositionsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit aus- 
schliessen. Während die Unbewusstheit der Strafbarkeit einer gesetzwidrigen 
Handlung vorzüglich bei der psychischen Insufficienz und dem Schwachsinn 
eine Rolle spielen, die namentlich bei der Dispositionsfähigkeit in Betracht 
kommt, so ist die Unfreiheit des Willens als Folge von Geisteskrankheit in 
der oben auseinandergesetzten Weise die wichtigste und häufigste psychische 
Störung, welche Unzurechnungsfähigkeit bedingt. 

Der Wahnsinn ist nicht angeboren und tritt in verschiedener Weise, 
bald nur allmählich häufig unter dem Bilde einer Gemüthskrankheit, bald 
plötzlich mitunter nach einem maniakalischen Anfall auf, und sind die Wahn¬ 
vorstellungen entweder allgemein oder, der viel häufigere Fall, nur auf einzelne 
Vorstellungsgebiete beschränkt. 

Häufig gehen dem beschränkten Wahnsinn sogenannte Zwangsvor¬ 
stellungen vorher, die nach und nach zu fixen werden. Der Inhalt de!r 
Wahnvorstellungen bei beschränktem Wahnsinn kann ausserordentlich ver¬ 
schieden sein, und unterscheidet man darnach eine ganze Reihe von Wahn- 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


sinnsformen, den religiösen, erotischen, politischen Wahnsinn, den 
Grössenwahn, den Verfolgungswahn, den Querulantenwahn 
u. s. w. Dass die klinischen Bilder der Wahnsinnigen nach den dem Wahn 
zu Grunde liegenden Vorstellungen sehr verschieden sein werden, ist leicht 
verständlich. In forensischer Hinsicht ist der wichtigste Nachweis der, dass 
Wahnvorstellungen, welcher Art nun immer, vorhanden sind. 

Selten bestehen die Wahnvorstellungen nur für sich allein, ohne ander¬ 
weitige psychische Störungen, welche den Zustand compliciren, und zwar sind 
es psychische Erscheinungen im Gebiete des Empfindens und Fühle ns, 
oder sie beziehen sich auf die Gemüthsstimmung, oder sie betreffen die 
Willensäusserungen. 

Ganz gewöhnlich kommen bei Wahnsinnigen Sinnestäuschungen vor, 
welche alle Sinnesorgane betreffen können, am auffälligsten sind sie aber bei den 
höheren Sinnen, beim Gesicht und Gehör, als sogenannte Hallucina- 
tionen und Visionen, je nachdem der Täuschung ein reales Object nicht zu 
Grunde liegt (Hallucination), oder aber ein solches besteht, das zu falschen 
Vorstellungen Anlass gibt (Vision). Die Betreffenden sehen oder hören irgend 
etwas, das von Andern nicht gesehen oder gehört wird, und lassen sich nicht 
aulklären. Etwas Aehnliches kommt auch als Täuschung des Gemein- 
gefühls vor, indem die Betreffenden ihren Körper unrichtig fühlen. So ist 
es vorgekommen, dass ein Wahnsinniger sich für doppelt hielt, ein anderer 
glaubte, aus Glas zu bestehen. Ich hatte einen gebildeten Geistlichen wegen 
Unterbringung in eine Irrenanstalt zu untersuchen, der angab, dass er im 
Unterleib unerträgliche Schmerzen empfinde, und doch konnte objectiv auch 
nicht das Geringste an den Unterleibsorganen wahrgenommen werden. Dass 
es eine Wahnvorstellung war, ergab sich daraus, dass er behauptete, in Folge 
dieser Schmerzen unfähig zu sein, zu gehen, zu stehen, zu liegen, überhaupt 
irgend etwas zu thun, während das thatsächlich ganz unrichtig war. 

Die Gemüthsstimmung ist mehr oder weniger verändert, und zum 
Theil abhängig von der herrschenden Wahnidee. Eine deprimirte Gemüths¬ 
stimmung ist mitunter eine so auffällige Erscheinung, dass man nicht von 
Geisteskrankheit, sondern von Gemüthskrankheit spricht. Doch ist ein 
melancholischer Zustand noch keine Geistes- oder Gemüthskrankheit, 
die an und für sich Unzurechnungsfähigkeit begründen könnte, wenn nicht 
zugleich Wahnideen vorhanden sind, d. h. wenn nicht melancholischer Wahn¬ 
sinn besteht. Bei Melancholischen ist daher nicht bloss der deprimirte Ge- 
müthszustand zu constatiren, sondern zugleich die Existenz von Wahnvor¬ 
stellungen. Die Angstgefühle in der Präcordialgegend sind mitunter so stark, 
dass sie zu einem wahren Raptus melancholicus sich steigern, der leicht 
zu Selbstmord führen kann. 

In die Kategorie der melancholischen Gemüthsstimmung gehört auch 
das sogenannte Heimweh, die Nostalgie, welche besonders den Schweizern 
bekannt ist. Wenn nicht diesem deprimirten Gemütszustand corrigirende 
Vorstellungen entgegenwirken, kann leicht daraus ein melancholischer Wahn¬ 
sinn sich bilden. 

Die Abnormitäten in den Willensäusserungen Wahnsinniger, die 
als solche besonders hervortreten, sind theils maniakalische Anfälle 
(Raserei, wie die Gesetzgebungen sich ausdrücken), theils gänzliche Willen¬ 
losigkeit (Abulie), die selten vorkommt, absehend von toxischen Einwir¬ 
kungen, theils endlich besondere, sogenannte krankhafte Triebe (Mono¬ 
manien). 

Diese Monomanien haben in der gerichtlichen Medicin eine Zeitlang 
eine grosse Rolle gespielt, indem durch ihre Annahme eine Menge gesetz¬ 
widriger Handlungen auf Wahnsinnserscheinungen zurückgeführt und dadurch 
entschuldigt wurden. So wurden Brandstiftungen, Diebstähle, schamlose 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


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Handlungen, selbst Morde u. s. w. durch Annahme einer Pyromanie, Klepto¬ 
manie, Aidoiomanie, Mordmanie u. s. w. als unzurechnungsfähige Handlungen 
hingestellt. Es ist ein Verdienst Caspers *), dieser Annahme isolirter krank¬ 
hafter Triebe als Unzurechnungsfähigkeit begründender psychischer Zustände 
entgegengetreten zu sein, da sie in dieser Weise gar nicht Vorkommen, 
sondern mit allgemeinen psychischen Störungen in Zusammenhang stehen, 
von welchen sie nur ein hervortretendes Symptom sind, und der Trieb keines¬ 
wegs immer auf Wahnvorstellungen beruht. 

Die Untersuchung Wahnsinniger hat mitunter Schwierigkeiten. Zwar 
kommt hier Simulation viel seltener vor als bei Schwachsinnigen. Dagegen 
ist es bei beschränktem Wahnsinn zuweilen schwierig, die beherrschenden 
Wahnideen ausfindig zu machen, indem der Betreffende durch den Fragenden 
in einem gewissen Ideenkreise gehalten wird. W'ir fanden es daher in ein¬ 
zelnen Fällen zweckmässiger, den zu Untersuchenden seinen eigenen Gedanken 
zu überlassen, dadurch dass wir ihn beauftragten, uns einen kurzen Bericht 
über seinen Krankheitszustand zu machen. Zur Illustration theile ich aus 
dem Briefe eines Wahnsinnigen, der an erotischem Wahnsinn litt, Nachstehen¬ 
des mit. 

Der Betreffende, ein Kaufmann, batte sich in die Tochter des Arztes seiner Ortschaft 
verliebt. Er war arm, der Vater der Tochter vermöglich. Aus der Heirat wurde nichts, 
infolge dessen wurde der Bewerber geisteskrank, und sollte in einer Irrenanstalt unter¬ 
gebracht werden. Ich hatte ihn deshalb zu untersuchen, was in Gegenwart mehrerer 
meiner Zuhörer geschah, die fanden, dass der Betreffende auf meine Fragen eigentlich 
ganz vernünftig antwortete. Er schrieb den Abschlag seiner Bewerbung seiner Vermögens¬ 
losigkeit zu. Ich ersuchte ihn nun, wegen Mangels an Zeit mir in Kürze einen schrift¬ 
lichen Bericht über seinen Zustand zukommen zu lassen, und erhielt darauf einen Brief 
von mehreren Quartseiten mit einem Vorwort, von dem ich den Anfang mittheile. 

„Vorwort. Titelblatt. 

Sie empfangen hiemit ehrerbietig gewünschtes Begleitschreiben ad acta in verbesserter 
erneuter Auflage. 

Stichhaltiges Figur, Zeigerblatt (Hochzeit), Reichthum und Armuth, jovialer, naiver, 
gesunder logischer Verstand war von jeher mein System; vis a vis: 

Schüpbach (so hiess der Vater der Tochter) Lohry (der Name des Arztes, bei dem 
er früher untergebracht war) und Zimmermann (der Advocat, welcher bei der Angelegen- 
betheiligt war) im Rüttli.-Bunde. 

Solon der Gesetzgeber der Weise, soll in Ihnen durch Sie für meine Sache die un¬ 
natürliche, gottverdammte Entscheidung treffen und Fahndung veranstalten. 

Lesen, prüfen Sie nach der Ihnen so vorteilhaft verliehenen Gabe des Geistes und 
der Seele: Göttliches Wesen, höherer Theologie. Professor. Ursprungs himmlischer Kraft. 

Prüfen Sie recht und tief: Sie forschen hier Juris Medicinischen (Prudenz). Nehmen 
Sie warmen Antheil an meinem traurigsten materiellen Schicksal. Ich fliehe zu Euch, Ihr 
Autoren um Hülfe und Beistand activ nicht formellen. Lesen Sie ohne Unterlass und 
werdet trotzdem nicht müde. Sie werden sich beiderseits belohnt finden; der heutige Tag 
ist national, sehr eidgenösisch u. s. w.“ Nun folgt erst der Brief. 

Als ich diesen Bericht meinen Studirenden mittheilte, waren sie nun anderer Ansicht. 

Hat die Beurtheilung des psychischen Zustandes eines Angeschuldigten 
Schwierigkeiten, so weisen die meisten Strafprocessordnungen darauf hin, dass 
die Betreffenden zu weiterer Beobachtung in eine öffentliche Irrenanstalt 
untergebracht werden können, wobei eine gewisse Zeit für diesen Aufenthalt 
in der Anstalt festgesetzt wird, was ich für sehr zweckmässig halte. 

Deutsche Strafprocessordnung § 87. Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den 
Zustand des Angeschuldigten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach 
Anhören des Vertheidigers anordnen, dass der Angeschuldigte in eine öffentliche Irren¬ 
anstalt gebracht und dort beobachtet werde. Die Verwahrung in der Anstalt darf die 
Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten. 

4. Transitorische psychische Zustände von Unbewnsstheit und Unfreiheit 

des Willens. 

Es gibt eine ganze Reihe derartiger Zustände, bei welchen Dispositions¬ 
fähigkeit und Zurechnungsfähigkeit in Frage kommen, so dass gerichts¬ 
ärztliche Untersuchungen nothwendig werden. 

*) Lehrbuch, I. 1881. S. 693. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


Diese psychischen Zustände beziehen sich theils auf Alterationen 
normaler psychischer Functionen, wohin die Affecte, die Mania transitoria 
die Schlaftrunkenheit und das Nachtwandeln gehören, theils anf toxische 
Einwirkungen und ihre Folgen, wie Alkoholismus, Morphinismus, 
Cocainismus u. s. w., theils stehen sie mit gewissen Krankheitszuständen 
in Zusammenhang, wie das hysterische, hypochondrische, epileptische Irresein 
u. s. w. Diesen Zuständen reihen sich auch solche an, welche mit gewissen 
Entwicklungsperioden des Körpers, oder mit der Menstruation, mit 
dem Puerperalznstand u. s. w. in einer Verbindung stehen. 

a) Alterationen normaler psychischer Functionen. 

1. Affecte sind Alterationen der Stimmmungszustände des Bewusstseins 
mit dem Charakter der Depression, wie Furcht, Schreck oder der Exaltation, 
Zorn, Wuth. Gerichtlich-medicinisch haben diese Affecte grössere Bedeutung, 
da gesetzwidrige Handlungen so häufig im Affect begangen werden, namentlich 
in einem aufgeregten, exaltirten Zustande, und dieser Umstand bei der straf¬ 
rechtlichen Beurtheilung des Falles verminderte Zurechnungsfähigkeit, ja unter 
Umständen selbst gänzliche Unzurechnungsfähigkeit und daher Straflosigkeit 
zur Folge haben kann. 

Preus8i8ches allgemeines Landrecht, Theil I, Titel 4. § 29. Den Wahnsinnigen gleich 
zu achten sind diejenigen, welche durch Schrecken, Furcht, Zorn oder andere heftige 
Leidenschaften in einen Zustand versetzt werden, worin sie ihrer Vernunft nicht mächtig 
waren. 

Deutsches Strafgesetz § 54. Die Ueberschreitung der Nothwehr ist nicht strafbar, 
wenn der Thäter in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Vertheidigung hinaus¬ 
gegangen ist. 

Wenn nun schon auch geringe Grade von Affectzuständen zur Annahme 
mildernder Umstände bei Beurtheilung gesetzwidriger Handlungen führen 
können, so kann völlige Straflosigkeit bei Affect doch nur dann eintreten, wenn 
derselbe in dem Grade besteht, dass der Betreffende seines Vernunftgebrauches 
gar nicht mehr mächtig ist, also gar nicht mehr weiss, was er thut, d. h. 
wenn der Affect nach Intensität und Dauer ein pathologischer ist. Die 
einen solchen Zustand indicirenden Erscheinungen beziehen sich hauptsächlich 
auf das vasomotorische Centrum, durch welches bald plötzliche Ueberfüllung des 
Gehirnes und Gesichtes mit Blut, daher rothes Gesicht, oder im Gegentheil 
Anämie des Gehirns mit Gesichtsblässe vermittelt werden, welche Störungen 
in der Hirncirculation entweder einen maniakalischen Affect oder einen ohn¬ 
machtähnlichen Zustand hervorbringen. Charakteristisch für solche Affecte 
ist, dass die Betreffenden sich des Geschehenen gar nicht mehr näher er¬ 
innern, auch nicht einmal der Veranlassung dazu. Für solche Affecte haben 
besonders etwas Schwachsinnige eine Disposition. 

Zur Feststellung des Thatbestandes eines pathologischen Affectes muss 
natürlich die Veranlassung desselben, und der Zustand des Betreffenden während 
des Affectes näher gekannt sein, ferner auch ob erbliche Anlage dazu vor¬ 
handen ist, ob schon mehrmals Anfälle der Art vorgekommen sind, wie sich 
die Intelligenz des Betreffenden verhält, und endlich ist auch noch die Art 
der im Affect ausgeführten Handlung näher ins Auge zu fassen, welche zu¬ 
weilen eine ganz unvernünitig ausgeführte, sinnlose erscheint, wie z. B. in 
nachstehendem Falle, den wir vor dem Schwurgericht zu vertreten hatten. 

Ein jüngeres, nicht gerade sehr intelligentes aber gebildetes Fränlein nahm in England 
eine Stelle als Erzieherin an. Dort wurde die Dame geschwängert, ohne dass sie, wie es 
scheint, eine Ahnung davon gehabt hat. Nach mehr als einem Jahr kehrte sie zurück in 
einem ziemlich beleibten Zustande. Weder die junge Dame noöh «ihre Anverwandte, eine 
Frau Pfarrerin, bei der sie war, hatten eine Ahnung von ihrem Zustande, auch durfte 
Niemand an eine Schwangerschaft denken. Als eines Morgens die Frau Pfarrerin in das 
Zimmer der jungen Dame kam, die noch im Bette lag, sah sie zu ihrem Schrecken, dass 
diese ein neugeborenes Kind vor sich hatte, welches sie durch Faustschläge, Kratzen, 
Zusammendrücken u. s. w. zu tödten versuchte. Das Fräulein war in einem ganz exaltirten 
Zustand und konnte keine Auskunft geben. Man nahm ihr das Kind aus den Händen, 


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das noch lebte, und liess sofort eine Hebamme kommen znr Besorgung des Kindes, allein 
dasselbe war so verletzt, dass es bald starb. Bei der gerichtlichen Section fanden sich 
an dem Kinde eine Menge von Verletzungen, namentlich Quetschungen, Kratzwunden 
auch Fracturen der Schädelknochen. Wir mussten uns namentlich über den psychischen 
Zustand der Betreffenden aussprechen, und sprachen uns mit Berücksichtigung der hier 
in Betracht kommenden Verhältnisse, besonders auch des sinnlosen Versuches der Kindes- 
tödtung dahin aus, dass diese Handlung in einem hochgradigen Affect begangen worden 
sei. Das Fräulein wurde freigesprochen. 

2. Mania transitoria. Darunter begreift man einen maniakalischen Anfall 
von verschiedener Dauer bei voller Gesundheit des Betreffenden vor und nach 
dem Anfall, ohne nachweisbare Veranlassung, lediglich in Folge einer plötzlich 
eingetretenen Hyperämie des Gehirns mit eintretender Bewusstlosigkeit und 
folgender gänzlicher Amnesie. Ob solche reinen, mit keiner Krankheit zu¬ 
sammenhängenden maniakalischen Anfälle Vorkommen, ist zweifelhaft, Casi’er *) 
sagt: es gibt keine eigene Species von Tobsucht, keine sogenannte Mania 
transitoria. Krafft-Ebing **) will gerade nicht soweit gehen, erklärt die 
Krankheit aber für selten und meint, dass die meisten sogenannten Fälle, 
welche als transitorische Manie bekannt gemacht werden, Fälle von epileptischem, 
hysterischem und alkoholischem transitorischem Irresein gewesen seien. 

3. Die Schlaftrunkenheit (somnolentia) ist ein Dämmerzustand zwischen 
Schlaf und Wachen. Bekanntlich sind die Menschen bezüglich des Aufwachens 
aus dem Schlafe sehr verschieden, und geschieht das bald rasch, fast augen¬ 
blicklich, bald aber auch sehr langsam und schwer und hängt nicht bloss von 
individuellen constitutionellen Verhältnissen ab, sondern auch von zufällig 
eingetretenen körperlichen Zuständen, z.B. nach starker Ermüdnng, nach Alkohol¬ 
genuss u. s. w. Wenn unter solchen Verhältnissen Umstände eintreten, welche 
einen Schlaftrunkenen zu einem raschen Handeln veranlassen können, so ist 
klar, dass diese Handlungen ganz unüberlegte und sinnlose sein können. 
Die wenigen bekannt gewordenen Fälle beziehen sich meist auf gewaltsame 
Tödtungen. Man wird unter solchen Verhältnissen den psychischen Zustand 
vor, während und nach der That möglichst genau zu untersuchen und fest¬ 
zustellen haben, um sicher zu sein, dass nicht simulirt worden ist. 

4. Schlafwandeln ( Somnambulismus ) ist der eigentümliche, namentlich 
bei jüngeren Individuen zeitweise auftretende Traumzustand, in welchem die 
Träumenden, wenn der Traum Locomotionen betrifft, nicht liegen bleiben, 
sondern fortträumend die Locomotionen und andere damit verbundene Körper¬ 
bewegungen ausführen, dann, wenn sie auf ihrem Gange nicht aufwachen oder 
aufgeweckt werden, in ihr Lager zurückkehren und fortschlafen. Beim Er¬ 
wachen erinnern sie sich wohl des gehabten, meistens sehr lebhaften Traumes, 
aber nicht, dass sie gewandelt sind und irgend etwas gemacht haben. Diese 
Anfälle wiederholen sich bald öfters, bald kommen sie auch nur vereinzelt vor. 

Ich erinnere mich in meinem Leben einmal geschlafwandelt zu haben in meinen 
jüngeren Jahren bei einem Aufenthalte in Paris. Mein Bett stand an der gegenüber einem 
Fenster gelegenen Wand des Zimmers, das eine Tiefe von 8 5m hatte. Ich träumte lebhaft, 
dass ich mit Freunden eine Fusstour gemacht und dabei eine Ruine mit einem noch gut 
erhaltenen Burgverlies besucht habe. Der Eingang war durch eine Thür verschlossen. 
Nach Oeffnung derselben konnte man auf einem Balken über die Tiefe des Thurmes zu 
einem gegenüberliegenden Fenster gehen. Ich ging hinüber, und als ich zurückkam, fand 
ich die Thüre verschlossen und meine Freunde fort. Ich ging auf dem Balken zurück, 
öffnete das Fenster und rief so laut ich nur konnte nach meinen Freunden, da erwachte 
ich an meiner Stimme und fand mich am geöffneten Fenster des Zimmers. Glücklicher¬ 
weise hatte Niemand im Hause mein Rufen gehört. Ich war nach diesem Ereignis sehr 
aufgeregt, hauptsächlich wegen der fatalen Situation, in der ich mich im Traume befand. 

Zuverlässige Mittheilungen über verbrecherische Handlungen, in somnam¬ 
bulem Zustande begangen, welche zu gerichtsärztlichen Untersuchungen ge¬ 
führt hätten, sind nur wenige bekannt. Man erzählt Beispiele von Diebstählen, 
in diesem Zustande begangen, auch von Schwängerung eines Mädchens durch 

*) L. c. p. 579 — 

**) L. c. p. 561. Bei Maschka IV. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


einen Prediger, ferner von Simulationen u. s. w.*) Dass übrigens schwere 
Verbrechen in einem somnambulen Zustande begangen werden könnten, beweist 
folgender von Legrand du Saulle**) mitgetheilter Fall. 

In einem Kloster kam ein Mönch, als Schlafwandler bekannt, Nachts in das Zimmer 
des Priors, der noch am Arbeitstisch sass. Der Mönch hatte ein Messer in der Hand, die 
Augen offen, ging geraden Wegs gegen das Bett des Priors, tastete nach dessen Körper, 
stach dreimal das Messer in das Bett und kehrte wieder in seine Zelle zurück. Am Morgen 
erzählte er dem entsetzten Prior, dass er geträumt habe, dieser habe seine Mutter getödtet, 
deren blutiger Schatten sei ihm erschienen, um ihn zur Rache aufzufordern. In Folge 
dessen habe er den Prior erdolcht. Bald darauf sei er in seinem Bett erwacht und habe 
Gott gedankt, dass es nur ein Traum gewesen sei. Der Prior erzählte ihm dann das Ge¬ 
schehene. 

Es ist leicht einzuseheD, dass das Schlafwandeln zur Entschuldigung von 
begangenen gesetzwidrigen Handlungen leicht vorgeschützt werden kann, und 
dass dann eine gerichtsärztliche Untersuchung nothwendig werden kann, wobei 
ausser der Individualität noch Alter, Geschlecht, constitutionelle Verhältnisse, 
anderweitige Krankheiten, ganz besonders auch die Ausführung der Hand¬ 
lung zu berücksichtigen wären. 

b) Toxische Psychosen. 

Unter diesen, welche unter Umständen Unbewusstheit und Unfreiheit 
des Willens herbeiführen können, ist die wichtigste der Alkoholismus, 
wovon drei Zustände zu unterscheiden sind, die Trunkenheit, der 
Säuferwahnsinn und die Trunksucht. 

Die Trunkenheit ist eine sehr häufig vorkommende psychische Störung 
in Folge von Alkoholgenuss, welche in der gerichtlichen Medicin eine grosse 
Rolle spielt, indem weitaus die grösste Zahl gesetzwidriger Handlungen der 
verschiedensten Art in einem Zustande von Betrunkenheit begangen werden 
und diese bei der strafrechtlichen Beurtheilung des Falles in Betracht gezogen 
werden muss, wie sich aus nachstehenden gesetzlichen Bestimmungen ergibt. 

Prenssischea allgemeines Landrecbt Theil I, Titel 4, § 28. Personen, welche durch 
den Trunk des Gebrauchs ihrer Vernunft beraubt werden, sind, solange ihre Trunkenheit 
dauert, den Wahnsinnigen gleich zu achten. 

Oesterreichischer Strafgesetzentwurf § 452. Wer im Zustande einer die Zu¬ 
rechnung ausscbliessenden vollen Trunkenheit eine Handlung verübt, welche das Gesetz 
mit einer Verbrecherstrafe bedroht, ist mit Haft zu bestrafen. 

Die Trunkenheit kommt in sehr verschiedenen Graden vor, von der 
ersten leichten Erregung des Gehirns und Nervensystems bis zu den höheren 
und höchsten Graden, also bis zur psychischen Exaltation und schliesslich 
folgenden Depression der Hirnthätigkeit mit Eintritt von Bewusstlosigkeit. 
Aus dem Vorkommen so verschiedener Grade der Berauschung ergibt sich 
ganz besonders die Nothwendigkeit der Unterscheidung einer verminderten 
Zurechnungsfähigkeit, indem man einen ganz nüchternen Menschen nicht wohl 
mit einem angetrunkenen, dessen Sinnesthätigkeit bereits unsicher geworden 
ist, in derselben Weise strafrechtlich behandeln kann. 

In gerichtlichen Fällen ist es daher von Wichtigkeit, den Grad der Be¬ 
rauschung festzustellen, wozu in der Regel richterliche Erhebungen noth¬ 
wendig sind über den Zustand, in welchem sich der Berauschte befunden 
hat, Uber die Art und Menge des genossenen Getränkes und über die Zeit, 
in welcher der Betreffende das Getränk genossen hat. Dabei ist zu berück¬ 
sichtigen, dass die Wirkungen des Alkohols nach Alter, Geschlecht und Ge¬ 
wohnheit sehr verschieden rasch und stärker oder schwächer sind. Mit 
Berücksichtigung aller dieser Umstände im einzeln Falle wird es meistens keine 
Schwierigkeiten haben festzustellen, in welchem Grade von Betrunkenheit der 
Betreffende sich befunden hat, und ob derselbe bei Ausführung der gesetz- 

*) S. Krafft-Ebing in Maschkas Handbuch der gerichtlichen Medicin Bd. IV. 1882 
S. ö48. 

La folie, p. 288. 


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widrigen Handlang in einem Zustand von Bewusstheit oder Unbewusstheit 
sich befunden hat. Die Gerichtsärzte haben sich Uber diese Verhältnisse 
meistens in der öffentlichen Verhandlung auszusprechen, bei welcher sie nicht 
nur die Persönlichkeit, um welche es sich handelt, sondern auch die That- 
umstände durch Angaben des Angeklagten und der Zeugen kennen lernen. 

In den meisten Fällen wird es sich nur um geringere Grade der Betrunken¬ 
heit handeln, was zu der Annahme mildernder Umstände führt. 

Der Säuferwahnsinn ( Delirium tremens ) ist eine acute alkoholische 
Intoxicationserscheinung, welche nach längerem Missbrauch alkoholischer Ge¬ 
tränke bald unerwartet plötzlich nach auffälligen Excessen, Gemüthserregungen, 
Verletzungen wodurch die Betreffenden zum Liegen gezwungen werden, bald 
erst nach Vorausgang von Unruhe und Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, gastri¬ 
schen Erscheinungen u. s. w. eintritt. Das Delirium ist ein hallucinatorisches, 
indem die Betreffenden in ihrer Geistesverwirrung mit kleinen Gegenständen, 
namentlich Mäusen zu thun haben, welche sie ergreifen wollen. Dass in 
einem solchen Delirium sowohl Dispositionsfähigkeit als Zurechnungsfähigkeit 
aufgehoben sind, ist selbstverständlich. Da der Zustand häufig lebensgefährlich 
erscheint, so kommt es öfters zu Versuchen, von dem Erkrankten eine letzt¬ 
willige Verordnung zu erhalten, was natürlich nur in luciden Intervallen als 
rechtsgiltig geschehen könnte. 

Die Trunksucht ( Alcoholismus chronicus , das alkoholische Irresein) 
als Folge von längere Zeit fortgesetztem Missbrauch alkoholischer Getränke, 
hat insoferne forensische Bedeutung, als dadurch nach und nach in verschie¬ 
denen Körperorganen, namentlich auch im Gehirn pathologische Veränderungen 
herbeigeführt werden, welche die psychischen Functionen sehr herabsetzen 
bis zum Schwachsinn mit Energielosigkeit und grosser-Reizbarkeit, so dass 
es leicht zu sinnlosen maniakalischen Anfällen kommt, das eigentliche alko¬ 
holische Irresein, in welchem Zustand sehr häufig gesetzwidrige Handlungen 
ausgeführt werden als in einem unbewussten Zustand von Geistesverwirrung. 
Dadurch kann nicht bloss verminderte, sondern gänzliche Unzurechnungsfähig¬ 
keit bedingt werden. Bei Geistesverwirrung handelt es sich nicht sowohl um 
herrschende Wahnideen, als vielmehr um fehlende Coordination der Gedanken, 
so dass keine richtigen Verstandesoperationen mehr vorgenommen werden 
können. Da es sich häufig um vorübergegangene Anfälle handelt, ist einer¬ 
seits der Status des chronischen Alkoholismus zu berücksichtigen, andererseits 
die Art der Ausführung der in Rede stehenden Handlung und ihre Ver¬ 
anlassung. 

Von andern toxischen Psychosen heben wir noch hervor den Morphinismus, 
durch Missbrauch des Opiums, resp. Morphins hervorgebracht. Das Opium 
ist zunächst als schmerzstillendes Mittel bekannt, welches dadurch einen Zu¬ 
stand von Schmerzlosigkeit mit Wohlbehagen hervorzurufen vermag. Aehnlich 
wie der Alkohol ist das Opium ein Mittel, um ein unangenehmes und müh¬ 
sames Leben leichter zu ertragen, indem es gegen alle äusseren unange¬ 
nehmen Eindrücke unempfindlicher macht. Diese Wirkung führt bei manchen 
Menschen, namentlich wenn sie schmerzhafte Uebel zu ertragen haben, leicht 
zu Missbrauch des Opiums, namentlich da dasselbe, ohne etwas einzunehmen, 
durch Injectionen einer Morphiumlösung so leicht beizubringen ist. Der 
längere Fortgebrauch des Morphins aber hat wie derjenige des Alkohols nach 
und nach einen ungünstigen Einfluss auf die psychischen Functionen. Dieselben 
werden herabgesetzt, das Gedächtnis nimmt ab, ebenso die Willensenergie, es 
stellt sich ein höherer Grad von Neurasthenie ein, und treten hallucinatorische 
Schwächedelirien auf. Das letztere geschieht namentlich 10—12 Stunden, 
nachdem die Morphiuminjectionen ausgesetzt worden sind. In solchem Zu¬ 
stande können leicht Selbstmordversuche oder Attentate auf andere Personen 
gemacht werden, weshalb es gerathen erscheinen muss, zu dieser Zeit die 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


Betreffenden nicht ohne Aufsicht zu lassen, ln gerichtlichen Fällen wird der 
Nachweis eines solchen Zustandes keine Schwierigkeiten haben, doch ist immer* 
hin an Simulation zu denken. x ) 

c) Mit anderen Krankheiten in Zusammenhang stehende 

Psychosen. 

Dahin gehören das hysterische, hypochondrische und epilep¬ 
tische Irresein. 

Das hysterische Irresein. Es ist hier nicht der Ort, in das vielgestaltige 
Krankheitsbild des Hysterismus, der meistens auf erblichen Anlagen beruht, 
näher einzijtreten. Es ist leicht zu verstehen, wie bei dem so häufigen Wechsel 
der Gemüthsstimmung Hysterischer, den nicht minder oft sich ändernden 
Neigungen und Abneigungen gegen dieses oder jenes, bei dem so schwanken¬ 
den Willen — bald Willenlosigkeit, bald hartnäckiger Wille, bald Triebe dieser 
oder jener Art u. s. w., kurz, dass bei solchen unstäten, bald exaltirten, bald 
deprimirten psychischen Zuständen mitunter auf verhältnismässig geringe Ver¬ 
anlassungen Handlungen begangen werden, die auf ein eigentliches Irresein, 
auf Unbewusstheit, Wahnvorstellungen, oder Geistesverwirrtheit hinweisen und 
Zweifel entstehen lassen über die Zurechnungsfähigkeit der betreffenden Per¬ 
sonen, so dass Untersuchungen nöthig werden. 

Es sind Fälle bekannt, dass in solchem hysterischen Irresein Diebstähle, 
Brandstiftungen, ja selbst Morde begangen worden sind. Ausserdem ist noch 
hervorzuheben, dass solche Irren mitunter in der Simulation eine Virtuosität 
besitzen, die kaum erwartet werden dürfte. Ich weise in dieser Beziehung 
auf den so bekannten, von Casper *) mitgetheilten Fall hin, die Teufelseherin 
Charlotte Luise Glaser betreffend. 

Diese Person täuschte nicht nur Aerzte im Laufe mehrerer Jahre, sondern war so¬ 
gar ein Jahr im Irrenhaus, bis es Casper gelang, sie als freche Betrügerin zu entlarven, wie 
sich Casper ausdrückt. Sie wurde zuerst von den Aerzten für blödsinnig erkl&rt. 

Das hypochondrische Irresein hat keine grössere Bedeutung, weil es 
seltener als das hysterische ist, und nicht leicht als eine schwerere Psychose 
auftritt. Casper *) theilt zwei Fälle mit, den einen als hypochondrischen 
Verfolgungswahn, indem der Betreffende glaubte, vergiftet worden zu sein, 
und deshalb eine Klage einreickte, den anderen als hypochondrische V er- 
rücktheit, wo der Angeschuldigte eine wissentlich falsche Denunciation 
gemacht hatte. Wir haben oben bei den Störungen des Gemeingefühls einen 
Fall mitgetheilt von einem gebildeten Geistlichen, der in einer Privatirren¬ 
anstalt untergebracht war, weil er den Wahn hatte, an einem unerträg¬ 
lichen Schmerz im Unterleib zu leiden, der ihn zu allem unfähig mache, 
und auch zu mehreren Selbstmordversuchen geführt hat, ohne dass objectiv die 
geringste Veränderung an den Unterleiborganen wahrgenommen werden konnte. 

Die wichtigste hieher gehörige Art ist das epileptische Irresein. Nicht 
bloss kommt es vor, dass der epileptische Anfall sich als Wahnsinnsanfall 
auslöst, in welchem die schwersten Verbrechen unbewusst begangen werden 
können, sondern dass das epileptische Kranksein auch wesentliche Verände¬ 
rungen in den psychischen Verhältnissen des Betreffenden zur Folge hat, die 
forensische Bedeutung haben, und endlich, dass der gewöhnliche epileptische 
Anfall mitunter zu Unglücksfällen der Epileptischen führt, wobei es zweifel¬ 
haft sein kann, ob Zufall, ein Selbstmord oder Tod, durch fremde Hand bewirkt, 
vorliegt. 

Bekanntlich kommt der epileptische Anfall in sehr verschiedenen Graden 
vor, so dass man ein petit mal und ein grand mal unterscheidet. Das erstere 
verläuft zuweilen nur als ein leichter Schwindel, als eine Hallucination, 

') Levinstein, die Morphinmsncht. Berlin 1874. 

*) Vierteljahrsschrift für ger. Med. XII. 25. Lehrbuch 1881. 2. St. 517. 

s ) Lehrbuch 1881. I. S. 616 u. 617. 


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ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 


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während dem letzteren, dem gewöhnlichen epileptischen Anfall, zuerst als 
Vorläufer eine sogenannte aura epileptica vorhergeht, dem dann der Krampf¬ 
anfall mit Niedersturzen des Ergriffenen und Bewusstlosigkeit folgt, längere 
oder kürzere Zeit dauert und gewöhnlich mitSchlaf und gänzlicher Amnesie endet. 

Das epileptische Irresein als Wahnsinnsanfall besteht nun darin, 
dass entsprechend dem typischen Anfall eines Epileptischen auch eine Art 
von aura epileptica vorangeht, die nicht von einem gewissen Körpertheil 
ausstrahlt, sondern in Form einer hallucinatorischen Aufregung erscheint, 
der dann der maniakalische Anfall mit verschiedenen Körperbewegungen bei 
Unbewusstheit des Vorganges folgt, längere oder kürzere Zeit andauert und 
dann auch mit Schlaf endet, nach welchem gänzliche Amnesie des Geschehenen 
besteht. 

Dass es sich in solchen Anfällen um einen wirklichen, dem epileptischen 
ganz analogen Vorgang handelt, ergibt sich aus dem Vorausgange gewöhn¬ 
licher epileptischer Anfälle, was jedoch in gerichtlichen Fällen vorher nicht 
immer bekannt ist, sondern erst von den Sachverständigen festgestellt werden 
muss, und dann hauptsächlich aus dem ganzen Verlaufe des Anfalles mit den 
prodromalen Erscheinungen, den Körperbewegungen ohne Bewusstheit der¬ 
selben, dem schliesslichen Schwinden des Anfalles mit Eintritt von Schlaf 
und gänzlichem Mangel der Erinnerung an das Geschehene. Dass auch in 
solchen Fällen, wie bei der gewöhnlichen Epilepsie grosse Verschiedenheiten 
bezüglich der Stärke der Anfälle Vorkommen, ist erfahrungsgemäss. 

Wir selbst hatten Gelegenheit, einen solchen maniakalischen Anfall als Aequivalent 
eines epileptischen zn beobachten. Der Betreffende, ein Angestellter auf dem hiesigen 
Güterbahnhof, einige 20 Jahre alt, wurde vor den Untersuchungsrichter wegen einer Diebstahls¬ 
geschichte geladen. Kurze Zeit, nachdem er dort eingetroflfen war und abgehört werden sollte, 
wurde derselbe eigenthümlich aufgeregt und sinnverwirrt, so dass von einer Abhörung 
keine Bede sein konnte, im Gegentheil es brach eine Art Wuthanfall aus, und Betreffender 
musste von nicht weniger als drei Polizisten, die nothwendig waren, in das Untersuchungs¬ 
gefängnis gebracht werden. Ich erhielt sogleich den Auftrag mit dem damaligen Gefangen- 
schaftsarzt Dr. SchXrer die Untersuchung des Betreffenden im Untersuchungsgefängnisse 
vorzunehmen. Dies geschah Nachmittags, etwa vier Stunden nach dem Vorfall. Auf die 
Frage nach dem Gefangenen, ob derselbe aus seiner Zelle heruntergebracht werden könne 
in das Audienzzimmer, erhielten wir zur Antwort, dass dieser bald nach seiner Aufnahme 
eingeschlafen und erst kürzlich erwacht und ganz ruhig sei. Ich liess ihn nun kommen 
und sah den Menschen zum erstenmal, er war vollkommen ruhig, und als ich ihn fragte, 
ob er wisse, warum er hier sei, konnte er nichts weiter sagen, als dass er auf dem Unter¬ 
suchungsrichteramt abgehört werden sollte. Weiteres erinnere er sich nicht mehr und war 
erstaunt, als ich ihm das Vorgefallene mittheilte. 

Aus weiteren richterlichen Erhebungen ergab sich, dass der Betreffende auf dem 
Bahnhofe schon mehrmals sonderbare Anfälle gehabt habe, indem er sich zuweilen vor 
eine Locomotive stellte, mit dieser zu kämpfen schien, aber nicht recht bei Bewusstsein 
war, so dass er von seinen Mitangestellten weggenommen und ins Zimmer gebracht werden 
musste, wo er dann nach einem solchen Anfall einschlief und nach dem Erwachen von 
allem Vorgefallenen gar nichts mehr wusste. Wegen dieser Anfalle sollte er aus dem Dienst 
entlassen werden. 

Bei wiederholten späteren Untersuchungen des in Untersuchungshaft Befindlichen 
stellte sich nun heraus, dass derselbe schon vor einigen Jahren an Epilepsie gelitten habe, 
dass die Anfälle zwar nie aufgehört haben, aber im Laufe der Zeit viel seltener geworden 
seien. Und als wir das erste Auftreten vor mehreren Jahren genauer besprachen, ergab 
sich, dass der Betreffende einmal von einer Tanne heruntergefallen sei, und dass in Folge 
dieses Ereignisses die epileptischen Anfälle zum erstenmal eintraten. Er war damals nach 
dem Sturze einige Zeit bewusstlos. Die Untersuchung des Kopfes liess eine undeutliche 
und unregelmässige längliche Narbe in der Kopfschwarte linkerseits, dem vorderen Theile 
des Scheitelbeins entsprechend, erkennen. Auch fühlte man hier eine seichte Vertiefung 
des unterliegenden Knochens. 

Da die Epilepsie in so verschiedenen Graden auftreten kann, ist bei 
Epileptikern, vrenn sie Anfälle von Schwindel und Bewusstlosigkeit, sogenannte 
absences, bekommen, auch wenn diese rasch vorübergehen, stets an die Mög¬ 
lichkeit einer epileptischen Attaque zu denken. Bei dem epileptischen Anfall 
ist meistens mit dem Eintritt der Bewusstlosigkeit das Erblassen des Gesichtes 
auffällig und die Pupillen sind starr. c. emmert. 


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Original fro-rn 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Sachregister. 


A. 

Aasinsecten 550. 

— Fettzehrer 550. 

— Moderbildner 550. 

— Muskelzehrer 550. 
A-B-C.-Process 10. 

Abbruch alter Gebäude 733. 
Abdeckereien 1. 
Abdominal-Schwangerschaft 

699. 

Abdominaltyphus, Beziehun¬ 
gen des Bodens zum 176. 
Abfallstoffe 7, 1031, 1045. 

— Beseitigung der 1032. 

— Canalgase 1032. 

— Canalgastheorie 1033. 

— Desinfection der 1037. 

— Hauskehricht 1045. 

— Menge der 1034. 

— Pudrettirung 1037. 

— Sammlung der 1034. 

— Schädlichkeit der 1032. 

— Schmutzwässer 1044. 

— Strassencanäle 1032. 
Abfuhrsysteme 7, 1034. 

— Berlier-System 1043. 

— Desinfection des Gruben¬ 
inhalts 1037. 

— Grubensystem 1034. 

— Klärgruben 1040. 

— Kübelsystem 1036. 

— Liernur-System 1043. 

— Pissoiranlagen 1042. 

— Pudrettirung 1037. 

— Sammelgruben 1044. 

— Schmutzwässer 1044. 

— Schwemmsystem 1044. 

— Schwindgruben 1044. 

— Spülaborte 1040. 

— Tonnensystem 1036. 

- Trennsystem 1044. 

— Trockenclosets 1038. 

— Wasserclosets 1040. 
Abgegessensein 229. 


Abluft 911. 

Abolitionisten 633. 

Abort, traumatischer 871. 
Aborte 4, 1040. 

— Massenaborte 1040. 

— Spülaborte 1040. 
Abortus, Constatirung eines 

271. 

— crimineller 267. 

— Diagnose des 268. 

— künstlicher 264. 

— Nachw. a.Lebenden270. 

— — — Leichen 271. 

— provocirter 273. 

— spontaner 267, 272. 
Abschwächung Bakter. 184. 
Abulie (forens.) 1080. 
Abwässer 7, 1044. 

— Beseitigung 8. 

-Kosten der 19. 

— Desinfection 9. 

— Desodorisiren 10. 

— Menge 1044. 

— Reinigung 15. 
Abwehrmaassregeln gegen 

Seuchen 705. 

— — internationale 705. 

— — locale 706. 
Acetylenlicht 149. 
Actinomycespilz 123, 140. 
Actinomykose i. Fleisch 265. 
Adipocire 551. 

Aepfel, chemische Zusam¬ 
mensetzung 226. 

Aerzte 664. 

Aerztekammem 666. 
Aerztekammer-Ausschuss 
666. 

Aerztliche Approbationen 
664. 

— Ehrengerichte 666. 

— Kunstfehler 519. 

— — Arten der 520. 

— — gesetzliche Bestim- 
i mungen 519. 


Aerztliche Prüfung 664. 

— Sachverständige 405. 

— Standesordnung 666. 

— Standesvertretung 665. 

— Vorprüfung 664. 

— Zeugnisse 97. 

Aetzgifte 924. 

— Aetzbaryt 930. 

— Aetzkalk 930. 

— Aetzsublimat 940. 

— Ammoniak 929. 

— Baryumverbindungen 
930. 

— Böttcher’s Depilatorium 
930. 

— Carbolsäure 927. 

— Chlorbjtryum 930. 

— Chrom 932. 

— Hirschhornsalz 929. 

— Kalk 930. 

— Kalkmilch 930. 

— Kanthariden 934. 

— Kleesalz 927. 

— Kupfersalze 932. 

— Kupfervitriol 932. 

— Laugensalz 929. 

— Oxalsäure 927. 

— Präcipitat, rother 930. 

— — weisser 930. 

— Quecksilbersalze 930. 

— Sadebaum 935. 

— Salpetersäure 926. 

— Salzsäure 927. 

— Schwefelbaryum 930. 

— Schwefelsäure 925. 

— Schwefelwasserstoff 933. 

— Thomson’s Haarmittel 
930. 

J — Wurmfarn 934. 

— Zuckersäure 927. 


i Aetzkalk 189. 

I Aetzkalkvergiftung 930. 

| Aetzsublimatvergiftg. 940 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



SACHREGISTER. 


1089 


Affecte 1082. 

— Depression 1082. 

— Exaltation 1082. 

— pathologische 1082. 
Agnoscirung v. Leichen 448. 

— — durch Gipsmasken 
444. 

-durch Photographie 

443. 

Agonale Verletzungen 945. 
Akklimatisation 19. 
Akklimatisationskrankheiten 
20. 

Akklimatisationsveränderun¬ 
gen 20. 

Akklimatisationsvermögen 

20. 

Akromegalie, traumat. 824. 
Alarmapparate 890. 
Alauncarmin 142. 
Albocarbonbrenner 146. 
Alcoholismus chronicus 
1085. 

Alexine 121, 448. 
Alkalialbuminat, festes für 
Nährböden 139. 
Alkalienvergiftungen 928. 

— Aetzlaugen 928. 

— Ammoniak 929. 

— Baryumverbindungen 
930. 

— Laugen 928. 
Alkalofdhaltige Genussmittel 

326. 

— Amanita muscaria 327. 

— Coca, Cocain 329. 

— Coffein 318. 

— Haschisch 327. 

— Morphin 329. 

— Opium 328. 

— Tabak 330. 

Alkohol, saurer (bakter.) 

142. 

Alkoholische Genussmittel 
322. 

-Bier 325. 

— — Branntwein 326. 

-Wein 325. 

Alkoholisches Irresein 1085. 
Alkoholismus 1084. 

— chronischer 1085. 

— Säuferwahnsinn 1085. 

— Trunkenheit 1084. 

— Trunksucht 1085. 
Alkoholmissbrauch 324. 


Alkoholmissbrauch, Be¬ 
kämpfung 883. 
Altersbestimmung 432. 

— am Schädel 432. 

— an Kumpf- u. Extremi- 
täten-Knochen 434. 

— anderweitige 435. 
Altersversicherung 990. 
Aluminiumsalze imWein622. 
Ambulances urbaines 655. 
Ammoniakdämpfe 189. 
Ammoniakvergiftung 929. 
Anaörobenzuchtgläschen 

132. 

Anaerobiose 122. 
Anästhesien, simnlirte 714. 
Anale Geschlechtsbefriedi¬ 
gung 390. 

Anfälle, maniakalische 1080. 
Angeborene Immunität 444. 
Aneurysmen, traumat. 840. 
Anilinfarben (hygien.) 241. 
Anilinfuchsin (bakter.) 142. 
Anilin-Gentianaviolett 142. 
Animale Lymphe 688. 
Animalischer Staub 236. 
Anlage von Strassen 724. 
Anorganische Farbstoffe240. 

— Antimonfarben 240. 

— Arsenfarben 240. 

— Barytfarben 240. 

— Bleifarben 240. 

— Cadmiumfarben 240. 

— Chromfarben 240. 

— Eisenfarben 240. 

— Kalkfarben 240. 

— Kupferfarben 240. 

— Manganfarben 240. 

— Quecksilberfarben 240. 

— Uranfarben 240. 

— Zinkfarben 240. 

— Zinnfarben 240. 
Anteflexio, traumat. 870. 
Anteversio, traumat. 870. 
Anthrachinonfarben(hygien.) 

242. 

Anthropometrie 443. 
Antimonfarben(hygien.) 240. 
Antimonvergiftung 940. 
Antisepsis 185. 

Aortitis acuta, träum. 840. 
Aphasie (forens.) 1077. 
Aphonie, willkürliche 710. 
Aponeurositis palmar, träum. 
839. 


Bibi. med. Wissen schäften. Hygiene u. Ger. Medicin, 


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Apotheken 49. 

— Betrieb 49. 

— concessionirte 51. 

— Controle 49. 

| — Einrichtung und Aus- 
| stattung 53. 

— Errichtung 49. 

— Geschäftsbetrieb 53. 

— Personalconcession 52. 

— privilegirte 51. 

— Revision 49. 

— Revisoren 53. 

— Statistik 32. 

— Visitation 49, 56. 
Apotheken-Inspectoren 49. 
Apothekenwesen 23. 

— allgem. Verhältnisse 82. 

— Arzneitaxen 36. 

— Geschichte des 23. 

— Gesetzgebung 49. 

— Pharmakopöen 25. 

— Strafgesetzliche Bestim¬ 
mungen 54, 57. 

Apothekenwesen in Belgien 
60. 

— — Bulgarien 71. 

— — Croatien 58. 

— — Dänemark 63. 

— — Deutschland 50. 

— — England 61. 

— — Frankreich 59. 

— — Griechenland 73. 

— — Holland 60. 

— — Italien 67. 

— — Norwegen 62. 

— — Oesterreich 54. 

— — Rumänien 69. 

— — Russland 65. 

— — Schweden 61. 

— — Schweiz 58. 

— — Serbien 70. 

— — Spanien 68. 

-Türkei 73. 

— — Ungarn 57. 

— — Ver. Staaten 75. 
Apotheker, Approbation 43. 

— Conditionszeit 43. 

— Vereidigung 44. 
Apotheker-Gehilfen 41. 
-Prüfung der 41. 

— -Gewerbe 54, 668. 

— — freiverkäufliche 54. 
-Personal- 54. 

— — radicirte Real- 54. 

— -Gremien 56. 

69 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



1090 


SACHREGISTER. 


Apotheker-Instruction 55. 

— -Lehrling 41. 

-Lehrzeit 41. 

— -Ordnung 55. 

-Praktikant 41. 

-Rath 50. 

— -Servirzeit 43. 

Apparat von Botkin 131. 

— — Kasparek 127, 132. 

— z. Abmessen u. Einfüllen 
der Nährböden 139. 

Approbation für Aerzte 664. 

— — Apotheker 43. 

-Zahnärzte 664. 

Arbeiterschutz 401. 
Argandbrenner 146, 148. 
Ambum’sches System 313. 
Arsenfarben (hygien.) 240. 
Arsenikvergiftung 939. 

— acute 939. 

— chronische 940. 

— Leichenbefund 940. 

— Nachweis 940. 
Arsenvergiftungen in Fa¬ 
briken 235. 

Arsenwasserstoff,hyg.Schädl. 
233. 

Artenimmunität 444. 
Artesische Quellen 170. 
Arthrobacterium 118. 
Arthrosporen 117. 
Arzneidispensirstellen 92. 
Arzneikasten der Seehandels¬ 
schiffe 94. 

Arzneimittelverkehr 23, 76. 

— Deutschland 77. 

— Oesterreich 78. 

— Ungarn 82. 

Arzneitaxen 36. 

Asepsis 185. 

Asphaltpflaster 730. 
AspirationslUftung 907. 
Asyle für Blinde 150. 

-Obdachlose 498. 

Atavismus 217. 
Atmosphärische Luft 896. 
Atropinvergiftung 944. 
Atteste 97. 

Auer’sches Gasglühlicht 148. 
Aufblasen d. Fleisches 258. 
Aufhellungsmittel (bakter.) 
. 142. 

Augenaushebeln 962. 
Augen, Identificir. d. 440. 
Augenleiden, simul. 712. 


Augenleiden, simul., beiders. 

Blindheit 712. 

-Bindehautentzündun¬ 
gen 713. 

-Einengung des Ge¬ 
sichtsfeldes 712. 

— —einseit. Blindheit 712. 

— — Gräfe’s Prismenver- 
. such 712. 

— — Herabsetzung der 
Sehschärfe 712. 

—!- — Kugel’scher Versuch 
712. 

-Rabl-Rückhard’s Ver¬ 
fahren 712. 

Augenscheinbefund 100. 
Aurine (hygien.) 241. 
Autoclav 138. 

Azine (hygien.) 242. 
Azofarbstoffe (hygien.) 241. 

B. 

Bacillen 117. 

Bacillus 118. 

— albus cadaveris 547. 

— anthracis 123, 140. 

— citreus cadaveris 547. 

— diphtheriae 123, 140. 

— Friedländer 123. 

— influenzae 123. 

— leprae 124. 

— mallei 123. 

— ödematis maligni 123, 
140, 172. 

— Proteus 124. 

— pyoceaneus 123. 

— s. str. 118. 

— subtilis 140. 

— syphilidis 124. 

— tetani 123, 140. 

— typhi abdominalis 123. 

— -im Boden 172. 

— — murium 123. 

— der Bubonenpest 123. 

— — Fettchenseuche 123. 

— — Hühnercholera 123. 

— — Influenza 123. 

— — Kaninchensepticae- 
mie 123. 

-- Mäusesepticaemie 

123. 

— des Mäusetyphus 123. 

— — Rauschbrandes 123. 

— — Rhinoscleroms 123. 


Bacillus der Rinderseuche 
123- 

— des Rotz 123. 

— der Schweinepest 123. 

— des Schweinerothlaufs 
123. 

— der Schweineseuche 123. 

-Wildseuche 123. 

Bacterium coli communel 23, 

140. 

— fluorescenc. 140. 

— mallei 140. 

— pneumon. Fränkei 140. 

— prodigiosum 140. 

— s. str. 118. 

— typhi 140. 

— vulgare 140. 

Bad 104. 

— Brause 108. 

— Dampfbad 110. 

— Douche 108. 

— Heisswasserbad 108. 

— irisch-römisches 110. 

— Luftschwitzbad 110. 

— Regenbad 108. 

— russisches 110. 

Bäder 104. 

— Fallbäder 108. 

— heisse 109. 

— indifferente 109. 

— kalte 106. 

— kühle 108. 

— laue 108. 

— Mineralbäder 111. 

— Sandbäder 111. 

— Seebäder 111. 

— Soolbäder 113. 

— Sturzbäder 108. 

— Theilbäder 111. 

— warme 109. 

— Wellenbäder 108. 
Bakteriaceen 118. 
Bakterien 116. 

— Austrocknung 122. 

— biolog. Eigenschaften 
140. 

— Cultur 129, 132. 

— Einteilung 116. 

— Färbung (m. Tafel) 125. 

— im Boden 172. 

— im Strassenschmutz 729. 

— Massencultur 129. 

— medicin. wichtigste 123. 

— pathogene im Boden 172. 

— Phosphorescenz 122. 


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Gen igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



SACHREGISTER. 


1091 


Bakterien, Pigmentbildung 
123. 

— Reincultur 129. 

— Specificität 120. 

— Untersuchung 125. 

— Vermehrung 117. 
Bakteriencultur (s. Tafel I) 

129. 

— Bouillonculturen 132. 

— Kartoffelculturen 132. 

— Massencultur 129. 

— Reincultur 129. 

— Stichcultur 132. 

— Strichcultur 132. 
Bakterienfärbung (m. Tafel) 

125. 

— Aufhellungsmittel 142. 

— Beizen z. Geisselfärbung 
142. 

— Contrastfärbung 126, 
128. 

— Differenzfärbung 127. 
—Differenzirungsmittel 142. 

— Entfärbungsmittel 126. 

— Färbeflüssigkeiten 142. 

— Geisselfärbung 142. 

— Sporenfärbung 127. 

— Technik der 127. 

— Trocknen der Ffirbe- 
prä parate 127. 

Bakterienprotei'ne 446. 
Bakteriologische Untersu¬ 
chungsmethoden 125. 

— Untersuchungen 134. 
-Bereitung der Nähr¬ 
böden 138. 

-Blut 135. 

— — Boden 135. 

-Luft 134. 

-Milch 135. 

— — Nährböden 137. 

— — Sera für Schutz¬ 
impfungen 137. 

-Sputum 135. 

-Sterilisation der In¬ 
strumente 137. 

-Stühle 136. 

— — Wasser 134. 
Baikone 1057. 

Barytfarben (hygien.) 240. 
Baryum Verbindungen i. Wein 

622. 

Baryumvergiftungen 930. 
Bauchorgane, traumatische 
Affectionen der 861. 


Bauchorgane, Darm 866. 

— Gallenblase 861. 

— Geschlechtsorgane 869. 

— Hernien 867. 

— Leber 861. 

— Magen 865. 

— Milz 865. 

— Nieren 862. 

— Pankreas 869. 

— Peritonitis 872. 
Bauchwunden 967. 
Baufluchtlinie 726. 
Baugrund 1060. 
Baukrankencassen 988,991. 
Baumaterialien 1027, 1061. 

— Feuchtigkeit 1061. 

— Porosität 1061. 

— Schalleitung 1063. 

— Wärmeleitung 1062. 
Bauordnungen 1025. 
Bauschutt 1029. 

Bebauung v. Städten 724. 
Bebauungsplan 721. 
Beckenbrüche 968. 
Bedürfnisanstalten, öffent¬ 
liche 730. 

Beerdigung 554. 
Beförderung von Wieder¬ 
käuern 301. 
Befundaufnahme 333. 
Begattung 360. 
Begattungsunfähigkeit 362. 

— männliche 362. 

— weibliche 362. 
Beggiatoa 118. 
Begräbnisturnus 578, 582. 
Beheizung von Wohnungen 

1058. 

— Ofenheizung 1058. 

— Wasserheizung 1058. 
Beischlaf 342. 

— Diagnose d. stattgehabten 
345. 

Beischlafshandlungen 376, 
387. 

Beischlafsunfähigkeit 362. 
Beize, Löffler’sche 142. 
Beizen z. Geisselfärbung 142. 
Bekämpfung d. Prostitution 
632. 

Beleuchtung 142. 

— künstliche 144. 

— natürliche 144. 

— m. elektr. Licht 146. 
-Erdöl 146. 


Beleuchtung m. Kerzen 146. 
-Leuchtgas 146. 

— — Oellampen 146. 

— — Petroleum 146. 
-Spiritusglühlicht 146. 

— von Schulen 677. 

-Wohnungen 1058. 

Bepflasterung von Strassen 

729. 

Bergbau, Unfälle im 890. 

— Explosionen 890. 

— Grubenwetterung 891. 

— Kohlenstaubexplosionen 
890. 

— Schlagwetter 890. 

— Sicherheitslampen 890. 

— Ventilatoren 890. 
Bergsteigen 490. 
Berieselung 15. 
Berlier-System 1043. 
Berlier’s pneum. System 11. 
Berliner freiwill. Rettungs¬ 
gesellschaft 654. 

Berufsgenossenschaften 990. 
Berufsunfähigkeit in Folge 
von Verletzungen 985. 

— (forens.) 399. 
Bertillonage 443. 
Beschälseuche 202. 
Beschauärzte 537. 
Besichtigung v. Leichen 791. 

— — äussere 702. 

— — innere 702. 
Besprengung der Strassen 

733. 

Bestattungsarten 554. 

— Einbalsamirung 554, 
584. 

— Erdbestattung 554, 566. 

— Feuerbestattung 554, 
566. 

Betonpflaster 730. 
Betriebskrankencassen 988, 
991. 

Betriebsschutz im Gewerbe 
404. 

Beulenpest 706. 

— Abwehr 707. 

— Aetiologie 706. 

— Verbreitung 706. 

— Wanderungen 706. 
Bewegungsapparates, trau- 

mat. Affectionen des 836. 

— Aponeuritis palmaris 
839. 

69* 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



1092 


SACHREGISTER. 


Bewegungsapparates, träum. 
Affect. Dupuytren’sche 
Contractur 839. 

— Gelenkmäuse 837. 

— Muskelatrophie, reflecto- 
rische 836. 

— Muskelcollaps. 836. 

— Muskeldegeneration, cir- 
cumscripte 837. 

— Myalgien 837. 

— Schleimbeutelentzündung 
840. 

— Spondilitis 838. 
Bewegungsstörungen, simu- 

lirte 711. 

Bewusstlosigkeit (forens.) 
1073. 

Bezirksarzt 670. 
Bezirkskrankencassen 991. 
Bhang 327. 

Bier 325. 

— Fälschungen 325, 624. 
Bindehautentzündungen, si- 

mulirte 713. 

Bisswunden 955. 
Bismarckbraun(bakteriolog.) 
142. 

Blasenmolen 698. 
Blasenwürmer i. Fleisch 263. 
Blattern 707. 

— Abwehr 707. 

— Aetiologie 707. 

— Heimath 707. 

— Verbreitung 707. 

— Wanderung 707. 
Blausäurevergiftung 941. 
Bleifarben (hygien.) 240. 
Bleivergiftung 940. 
Bleivergiftungen i. Fabr.234. 
Blinden-Anstalten 150. 

— -Bildungsanstalten 150. 

— -Druckschrift 153. 

-Erziehungsinstitute 151. 

-Unterrichtsmethode 151. 

-V ersorgungsanstalten 

156. 

Blindenheime 157. 
Blindenliteratur 154. 
Blindenschrift 154. 
Blindenstatistik 157. 
Blindheit, simulirte 712. 
Blitzschlag 791. 

Blödsinn 1078. 

Blut, bakter. Unters. 135. 


Blutaustretungen, postmor¬ 
tale 541. 

Blutfarbstoff, Nachw. 165. 
Blutgifte 941. 

— Blausäure 941. 

— Chlorsaures Kali 941. 

— Cyankalium 942. 

— Cyanwasserstoff 941. 

— Kohlenoxydgas 942. 
Bluthusten, künstlicher 710. 
Blutige Abdrücke 163. 
Blutkörperchen, Nachweis 

der rothen 164. 
Blutkrystalle, Teichmann- 
sche 166. 

Blutmolen 698. 

Blutspritzer 163. 
Blutschande 386. 
Blutsenkungen 540. 
Blutserum für Nährböden 
139. 

Blutserumgelatine 139. 
Blutspuren 162. 

— Alter von 168. 

— an Leichen 163. 

— — Menschen 164. 

— Nachweis 164. 

— Unterscheidung von 
menschlichen u. thieri- 
schen 167. 

Blutsverwandtschaft 344. 
Blutunterlaufungen 952. 
Boden 168. 

— Assanirung 178. 

— Bakterien 172. 

— Befeuchtung 170. 

— Bindekraft 171. 

— Capillarität 170. 

— chemische Eigenschaften 
178. 

— Durchlässigkeit für Luft 
169. 

— — für Wasser 170. 

— Feuchtigkeit 170. 

— Grundluft 169. 

— Grundwasser 170. 

— hygienische Untersu¬ 
chung 178. 

— Niveauverhältnisse 178. 

— Oxydation 171. 

— physikalische Eigenschaf¬ 
ten 178. 

— Sonnenbestrahlung 171. 

— Structur 169, 177. 

— Temperatur 171, 178. 


Boden, Untersuchung 178. 

— Verunreinigung 171, 
177. 

— wasserbindende Kraft 
170. 

— Zersetzungsstoffe im 171. 
Bodenbakterien 172. 
Bodenerwärmung 172. 
Bodenfeuchtigkeiten 170. 

— Gang der 171. 
Bodenfiltration 14. 
Bodenhygiene 168. 
Bodentemperatur 171. 
Bodenuntersuchung 178. 

— bakteriologische 135. 

— Capillarität 179. 

— chemische 180. 

— Durchlässigkeit 179. 

— Feuchtigkeitsverhältnisse 
179. 

— Grundluft 179. 

— Grundwasser 179. 

— Korngrösse 179. 

— Luftgehalt 179. 

— Permeabilität 179. 

— physikalische 178. 

— Porengrösse 179. 

— Porenvolum 179. 
Bodenverhältnisse, Einwirk. 

auf die Gesundheit 173. 
Böttcher’s Depilatorium, 

Vergiftung mit 930. 
Bohnen, chemische Zusam¬ 
mensetzung 226. 
Bordellfrage 636. 

Borsäure im Wein 622. 
Botkin’s Apparat 131. 
Botryomykose i. Fleisch 265. 
Bouillonculturen (bakter.) 
132. 

Braille’sche Punktschrift 
153. 

Branntwein 326. 

— Verfälschung 625. 
Brenner 148. 

Brennstoffe 418. 
Bromdämpfe, hyg. Schiidl. 

233. 

Brot, Verfälschung 620. 
Bruchleiden, simulirte 711. 
Bruderladen 991. 

Brunnen 1021. 

— artesische 1021. 

— Flachbrunnen 1021. 

j — Kesselbrunnen 1021. 


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SACHREGISTER. 


1093 


Bronnen, öffentliche 730. 

— Röhrenbrunnen 1021. 

— Tiefbrunnen 1021. 
Brustcontasionen, traumati¬ 
sche 845. 

Brustorgane, traumatische 
Erkrankung der 852. 

— Lungengangrän 855. 

— Lungentuberkulose 844. 

— Pleuritis 855. 

— Pneumonien 852. 
Brustverletzungen 965. 

— Herzwunden 966. 

— Lungenquetschungen 
965. 

— Lungenstichwunden 966. 

— Schnittwunden 966. 

— Stichwunden 966. 

— Zwerchfellverletzungen 
967. 

Brutkasten für bakteriolo¬ 
gische Untersuchungen 
129. 

Bubonenpest 706. 

— Abwehr 707. 

— Aetiologie 706. 

— Verbreitung 706. 

— Wanderung 706. 
Buffeifleisch 253. 
Burchardt’sche Tafeln 712. 
Butter, chemische Zusam¬ 
mensetzung 225. 

— Verfälschung 619. 
Butzkelampe 148. 

C. 

Cacao 318, 322. 

—- Verfälschungen 322. 
Cadaveröse Melanose 542. 
Cadmiumfarben (hygien.) 
240. 

Caissonlähmung 832. 
Calidarium 110. 

Canalisation 12, 729. 
Canalluft, Ableitung der 13. 
Carbolkalk 189. 
Carboifuchsin 142. 
Carbolsäure 188. 
Carboisäurevergiftung 127. 
Carbolseifenlösung 188. 
Carburiren 145. 

Carcinome, traumat. 850. 
Castration 369. 


Cerebrale Neurosen, trauma¬ 
tische 799. 

Chemotaxis 448. 

— negative 448. 

— positive 448. 
Chlordämpfe, hyg. Schädl. 

233. 

Chlorgas 188. 
Chlorkalk-Desinfectionsver- 
fahren 1022. 

Chlorsaures Kali, Vergiftung 
mit 941. 

Chocolade 322. 

— Verfälschungen 322. 
Cholera 175, 704. 

— Abwehrmaassregeln 705. 

— — internationale 705. 
-locale 706. 

— Aetiologie 704. 

— Heimath 704. 

— Krankheitserscheinungen 
704. 

— Schutzimpfung 684. 

— Verbreitung 704. 

— Wanderungen 704. 
Cholera-Bacillus im Boden 

173. 

— -Contagium 175. 

— -Miasma 175. 

-Roth 133. 

— -Schutzimpfung 684. 

— -Zeiten, Eisenbahnver¬ 
kehr 215. 

Chrom-Farben (hygien.) 240. 

-Vergiftung 932. 

Churrus 327. 

Chylothorax, traumat. 861. 
Cisternen 1021. 

Cladothrix 118. 
Cladotricheen 118. 
Classensystem, Gefängn.313. 
Closets 1034, 1038. 

— Aschencloset 1034, 
1038. 

— Erdcloset 1034, 1038. 

— Feuercloset 1043. 

— Luftcloset 1043. 

— Massenaborte 1040. 

— Spülaborte 1040. 

— Streucloset 1038. 

— Torfmullcloset 1034. 

— Trockencloset 1038. 

— Wassercloset 1034,1040. 
Clostridium 118. 

Coca, Cocain 327. 


Cocainismus 330. 

Coccaceen 118. 

Coccen 117. 

Coccygodynie 871. 

Coenurus cer. i. Fleisch 263. 
Cohabitatio 360. 

Coitus 360. 

— analer 390. 

Colanttsse 318. 

Coloniale Irrenanstalten466. 
Columbarien 568. 
Commaform(bakteriol.) 117. 
Compostirung 9. 
Conceptionsunfähigkeit 371. 
Concession, Apotheken 51. 
Conditionszeit der Apothe¬ 
ker 53. 

Consonantengehör 738. 
Constitutionsanomalien, trau¬ 
matische 847. 

— — Diabetes 847. 

-Leukämie 849. 

Contactthermometer 192. 
Contagiöse Krankheiten 450. 
Contrastfärbung 128. 
Contusionen (forens.) 952. 
Cornyebact. diphther. 140. 
Contagium 174. 

Conträre Sexualempfindung 

363, 391. 

Conträrer Geschlechtstrieb 
391. 

Crematorien 568. 
Crenothrix 118. 

Creolin 189. 

Cretinismus 1078. 
Crimineller Abortus 267. 

— — schwere Folgen 278. 
Culturschalen, Wichmann- 

sche 131. 

Cumulativhaft 312. 
Curanstalten 181. 

Cyankali-Vergiftung 942. 
Cyanwasserstoffvergiftung 
941. 

Cysticercusarten im Fleisch 
263. 

D. 

Daktylologie 736. 

Dampfbad 110. 
Dampffeuchtigk eitsmesser 
192. 

Dampfkochtopf 197. 


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1094 


SACHREGISTER. 


Dampfsterilisatoren 3. 
Dampftopf, Koch’scher 137. 
Darm, traomat. Affect. d. 
866. 

: — Enteritis 867. 

— Typhlitis 867. 

Ulcus duodeni 867. 
Darmlähmung, tranmat. 822. 
Dauersporen 117. 

Davy’s Sicherheitslampe 890. 
Defloration 382. 
Degener’sches Verfahren 17. 
Degenerationszeichen 515. 
Degenerescenz-Anthropolo¬ 
gie 518. 

Delirium tremens 1085. 

— tranmat. 822. 

Dementia paralytica, träum. 

821. 

Denkfähigkeit (forens.)1075. 
Depression (forens.) 1082. 
Desinfection 184. 

.— Anstalten 192. 

— Apparate 190. 

— bei Viehtransporten 206. 

— chemische 187. 

— durch Besonnung 187. 

-Dampf 186. 

-Hitze 186. 

-Verbrennen 197. 

— für specielle Zwecke 194. 

— mechanische 187. 

— von Abortgruben 195. 
-Auswurf 195. 

— — Badewasser 194. 

— — Brunnen 196. 

.— — Eisenbahnwagen 210. 

— — Fuhrwerk 195. 

— — Grubeninhalt 1037. 

— — Händen 194. 

-Kleidern 195. 

— — Leichen 196. 

— — Lumpen 196. 
-Matratzen 195. 

— — Papiersachen 195. 

— — Reiseeffecten 212. 

— — Rinnsteinen 195. 

— — Schiffen 196, 206, 
210. 

— — Viehställen 196. 

— — Viehwagen 196,206. 

— — Wäsche 195. 

— — Wohnräumen 195, 
10-18. 


Desinfections-Anstalten 192. 

-Inventar der 193. 

Desinfections-Apparate 190. 

-Controlinstrumente 

für 192. 

— — Grösse der 191. 

— —Improvisirenvonl91. 
-mit gespanntem 

Dampf 190. 

— — strömendem Dampf 
190. 

Desinfectionsmethoden 186. 

— chemische 187. 

— mechanische 187. 

— physikalische 186. 
Desinfectionsmittel 188. 

— Aetzkalk 189. 

— Ammoniakdämpfe 188. 

— Carbolkalk 189. 

— Carbolsäure 188. 

— Carboiseifenlösung 188. 

— Chlorgas 188. 

— Creolin 189. 

— Eisensulfat 189. 

— Erde 189. 

— flüssige 188. 

— Formaldehyd 188. 

— gasförmige 188. 

— Kalkmilch 189. 

— Kupfersulfat 189. 

— Lysol 189. 

— Phosphattorf 189. 

— Prüfung 189. 

— pulverförmige 189. 

— Salzsäure 189. 

— Saprol 189. 

— Schmierseifenlösung 
189. 

— Schwefelige Säure 188. 

— Schwefelsäure 189. 

— Sodalösung 189. 

— Solutol 189. 

— Sublimat 188. 

— Torfmull 189. 

— trockene 189. 
Desinfectionswesen, gesetz¬ 
liche Ordnung 196. 

Desinfectoren 193. 
Destructoren 3. 

Deutsche Gesellschaft z. Ret¬ 
tung Schiffbrüchiger 659. 
Deutscher Ritterorden 655. 
Deutsches Reichsgesund¬ 
heitsamt 663. 


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Gck igle 


Deutscher Samariterverein 
.654. 

Diabetes, traumatischer 847. 

Diagnose des Abortus 268. 

— des stattgehabten Bei¬ 
schlafes 345. 

— der Geschlechtsverhält¬ 
nisse bei Zwittern 357. 

— einer Fruchtabtreibung 
durch inn. Mittel 275. 

— — — — mechanische 
Mittel 278. 

— einer überstandenen Ge¬ 
burt 289. 

Differenzfärbung (bakter.) 
127. 

Differenzirungsmittel (bak- 
teriolog.) 142. 

Digestoren 3. 

Diphtherieschutzimpfung 

685. 

Diplococcus intracellularis 
124. 

Dispensiranstalten 53. 

Disposition 219. 

Dispositionsfähigkeit 1069. 

— Ehefähigkeit 1072. 

— Eidesleistung 1072. 

— Entmündigung 1070. 

— gesetzL Bestimmungen 
1069. 

— Testirfähigkeit 1070. 

— Untersuchung 1071. 

Dissimulation 715. 

Distomen im Fleisch 263. 

Dosis toxica 917. 

Dosis toxica letalis 917. 

Douche 108. 

Drainagewasser 170. 

Drehlade der Findelanstalten 
247. 

Drucklüftung 907, 914. 

Dupuytren’sche Contractur 
839. 

Durchlüftung 911. 

E. 

Echinococcenblasen i. Fleisch 
263. 

Ehe 343. 

Ehefähigkeit 1072. 

— gesetzl. Bestim. 1072. 

Ehen,Fruchtbarkeitsverhält- 

nissc 344. 


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SACHREGISTER. 


1095 


Ehen, vorzeitige 344. 
Ehrengerichte, ärztliche 666. 
Ehrlich’sche Lösung 142. 
Einbalsamirung 584. 
Einlochbrenner 148. 
Einschlussmittel (bakter.) 
142. 

Einzelhaft 313. 
Eisenbahn-Hygiene 199. 

— -Verkehr inCholerazeiten 
215. 

-Unfallverhütung889. 

— -Wagen, Desinfection 
von 210. 

Eisenfarben (hygien.) 240. 
Eisensnlfat 189. 

Eislauf 490. 

Eiweissfreie Nährböden 138. 
Eiweissstoffe, Bedeutung für 
die Ernährung 220. 
Elektricität, Hinrichtung 
durch 749. 

— Tod durch 791. 
Elektrische Unfälle 892. 

— — Schutzmaassnahmen 
892. 

Elektr. Bogenlicht 146,149. 

— Glühlicht 146, 149. 
Emotionslähmungen 800. 
Encephalitis, traumat. 813. 
Endocarditis, traumat. 857. 
Endoconidium Megnini 547. 
Endogene Sporen 117. 
Endosporen 117. 

Enteritis, traumat. 867. 
Entmündigung 1070. 

— gesetzt. Bestim. 1070. 
Enthauptung 748. 

— durch Fallbeil 748. 
-Schwert 748. 

— Guillotinirung 748. 
Entwässerungsanlagen 7 29. 
Epidemien 209. 
Epigastrische Brüche, trau¬ 
matische 869. 

Epilepsie, simulirte 714. 

— traumatische 817. 
Epileptisches Irresein 1086. 
Epispadie (forens.) 365. 
Epithelcysten, traumat. 852. 
Erblichkeit 217. 

— conservative 217. 

— erhaltende 217. 

— fortschreitende 217. 

— progressive 217. 


Erblichkeit von Krankheiten 
218. 

Erbsen, chem.Zusammensetz. 
226. 

Erbswurst 228. 
Erdbestattung 566. 
Erdclosets 6, 1038. 

Erde z. Desinfection 189. 
Erdöl 146. 

Erdrosseln 747, 765. 

— Garrottirung 747. 
Erection 362. 

Erhängen 747, 760. 

— Strangulation 747. 
Erker 1057. 

Ernährung 219. 

— Anforderungen 224. 

— Eiweissstoffe 220. 

— Fette 220. 

— Kohlehydrate 220. 

— Kost 224. 

— Nahrungsbedarf 223. 

— Salze 220. 

— Stoffumsatz 222. 

— Wasser 220. 

Ernährung der Gefangenen 

228, 230, 307. 

-Soldaten 228. 

Erotischer Wahnsinn 1080. 
Erschiessen 747. 
Ersatzlazarethe 607. 
Erschöpfungshypothese 447. 
Erschütterungen (forens.) 
957. 

Erste Hilfe 648. 

— — für Touristen 660. 

— — Lehrkanzel für 651. 

— — Unterricht i. der 662. 
Erstickung 761. 

— Allgemeines 751. 

— Diagnose 754. 

— Leichenerscheinungen 
752. 

— Symptome 751. 
Ertrinken 768. 

•— Leichenbefund 769. 
Erworbene Immunität 447. 
Erwürgen 747, 766. 

— Leichenbefund 767. 
Erziehung der Fabrikbevöl¬ 
kerung 238. 

Esmarch’sche Rollplatten 
131. 

Exaltation (forens.) 1082. 
Exhibition 388. 


Exhumirung 565. 
Expeditions-Hygiene 880. 
Expropriationsrecht der 
Städte 721. 

Extrauterinschwangerschaft 

699. 

— Abdominalschwanger¬ 
schaft 699. 

— Ovarialschwangerschaft 
699. 

— Tubenschwangersch. 699. 

F. 

Fabrikshygiene 230. 
Fabrikskrankencassen 988. 
Fäcalien, Abfuhr 9. 

— Desinfection 9. 

— Desodorisirung 9. 

— Kosten der Abfuhr 11. 

— Präparation 9. 
Fäcalsteine 11. 

Fälschung von Nahrungsmit¬ 
teln siehe Verfälschungen. 

FärbeflUssigkeiten (bakter.) 
142. 

Farcine de boeuf 140. 
Fascination (forens.) 429. 
Fasssystem 5. 

Fechten 489. 

Färbung der Bakterien 125. 

— Aufhellungsmittel 142. 

— Beizen zur Geisselfär- 
bung 142. 

— Contrastfärbung 126, 
128. 

— Differenzfärbung 127. 

— Differenzirungsmittel 
142. 

— FärbeflUssigkeiten 142. 

— Geisselfärbung 142. 

— Sporenfärbung 127. 

— Technik der 126. 
Fäulnis 546. 

— Chemismus der 547. 

— Chronologie der 549. 

— der Organe 546. 

— des Fleisches 258. 

— Eintritt der 259. 

— Merkmale der 258. 
Fäulniss-Anämie 547. 

-Bakterien 547. 

— -Blasen 547. 

-Emphysem 547. 

-Pilze 547. 


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1096 


SACHREGISTER. 


Fäulniss-Transsudat 542. 
Farben (hygien.) 239. 

— anorganische 240. 

— Gesetz betreffe Verwen¬ 
dung von 618. 

— gesundheitsschädliche 
242. 

— organische 241. 
Farbstofflösungen (bakter.) 

142. 

— Alauncarmin 142. 

— Anilinfuchsin 142. 

— Anilingentianaviolett 
142. 

— Bismarckbraun 142. 

— Carboifuchsin 142. 

— Ehrlich’sche Lösung 
142. 

— Fuchsinlösung 142. 

— Löffler’s Methylenblau 
142. 

— Methylenblau von Löffler 
142. 

— Methylenblaulösung 142. 

— Ziehl’sche Lösung 142. 
Fehlgeburten 267, 292. 
Feldlazarethe 607. 
Feriencolonien 244. 

— Halbcolonien 246. 

— Milehcolonien 246. 

— Stadtcolonien 246. 
Fernthermometer 422. 
Feste Nährböden 138. 
Festes Alkalialbuminat (bak¬ 
ter.) 139. 

Fetischismus 391. 
Fettbildung, postmortale 
552. 

Fette 220. 

Fettgas 149. 

Fettwachs 551. 
Fettwachsbildung 551. 

— forens. Bedeutung 552. 

— Zeitfolge der 552. 
Feuchtigkeit (hygien.) 237. 
Feuchtigkeitsgehalt der Zim¬ 
merluft 418. 

Feuer-Bestattung 566. 

— — Verbrennungsofen 
570. 

— -Closet 7. 

— -Waffen, Untersuchung 
339. 

Feuerwehr 648. 

— als Sanitätswache 062. 


Filialapotheken 53, 55. 
Findel-Anstalten 247. 

— — hygienische Anforde¬ 
rungen 250. 

-Sterblichkeit 249. 

— -Häuser 246. 

— -Pflege 246. 

— — german. System 247. 

-roman. System 247. 

-Wesen 246. 

Fingersprache 736. 

Finnen im Fleisch 261. 
Flachbrenner 146. 
Flächenwunden (forens.)946. 
Flecktyphus 708. 

— Abwehr 708. 

— Aetiologie 708. 

— Heimat 708. 

— Wanderung 708. 

Fleisch 252. 

— Arten 253. 

— Aufblasen des 257. 

— Beschaffenheit 254. 

— Blutungen 266. 

— Fälschungen 256. 

— Farbe 252. 

— Färben des 257. 

— Fäulnis 258. 

— fettige Entartung 266. 

— gefrorenes 260. 

— Geruch 254. 

— Geschwülste im 267. 

— Krankheiten 261. 

— leuchtendes 260. 

— mangelhaft ausgeblutetes 
255. 

— Merkmale 252. 

— Parasiten 261. 

— postmortale Verände¬ 
rungen 258. 

— unreifes 254. 

— Verfärbung 258. 

— wässerige Durchtränkung 
266. 

Fleischarten 253. 

— Büffelfleisch 253. 

— Hammelfleisch 253. 

— Hundefleisch 254. 

— Kalbfleisch 253. 

— Pferdefleisch 253. 

— Bindfleisch 253. 

— Schaffleisch 253. 

— Schweinefleisch 253. 

— Ziegenfleisch 253. 

— Wildpret 254. 


Fleisch-Beschau 251. 

— — a. Trichinen 262. 

-Conserven 228. 

-Controle 1004. 

-Gemttseconserren 228. 

— -Mehlconserven 228. 

— -Molen 698. 

— -Waaren, Verfälschung 
626. 

Fleischwasser-Bouillon 138. 

— -Peptonagar 139. 

-Peptongelatine 139. 

Fleischzwiebak 228. 
Fliegenpilz 327. 

Fluchtlinien 727. 

Flüsse, Selbstreinigung der 
1017. 

Flüssige Nährböden 138. 
Flusswasser 1017. 
Formaldehyd 188. 
Freiwillige Bettungsgesell¬ 
schaften 654. 
Fremdenpolizei 214. 
Friedhöfe 571. 

— Anlage 571, 727. 

— Begräbnisturnus 582. 

— Bepflanzung 574. 

— Betrieb 575. 

— Grüfte 578. 

— Schliessung von 583. 
Friedrich’sches Verfahren 10. 
Frischluftbedürfnis 904. 
Fruchtabtreibung 267. 

— durch innere Mittel 275. 

— — mechan. Mittel 278. 
Fruchtabtreibung8mittel274. 

— innere 274. . 

— mechanische 276. 

— thermische 276. 
Fruchtbarkeitsverhältnisse 

der Ehen 344. 
Frühgeburten 267, 292. 
Fructification (bakter.) 117. 
Fuchsinlösung (bakter.) 142. 
Fussböden 1065. 

— Holzfussboden 1065. 

— Linoleum 1065. 

— Stabfussboden 1065. 
Fussbodenreinigung 1065. 
Fussgängerverkehr der Städ¬ 
te 722. 

— Gehwege 730. 

— Promenadewege 730. 
Fussspuren 341. 

— Netzzeichnen von 341. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



SACHREGISTER. 


1097 


Fussspuren, plast. Nachfor¬ 
mung 341. 

Fusswandern 490. 

G. 

Gährungskölbchen 132. 
Gallenblase, traumatische Af- 
fection 861. 
Garnisonslazarethe 607. 
Garrotirung 747. 
Gasförmige Desinfections- 
mittel 188. 

GasglUhlicht 148. 
Gebär-Anstalten 280. 

-Mutter, traumatische Af- 

fectionen der 870. 

— -Unfähigkeit 360, 374. 
Gebäudehöhe 725. 
Geberdensprache 736. 
Geburt, Diagnose einer über¬ 
standenen 289. 

— unbewusste 296. 
Geburtenstatistik 284. 
Geburts-Tabellen 719. 

— -Verhältnisse 289. 

— — Fehlgeburt 292. 

— — Frühgeburt 292. 
-Spätgeburt 294. 

— — Sturzgeburt 299. 

— — unbewusste Geburt 
296. 

Gedächtnisstörung, trauma¬ 
tische 812. 

Gedärmezerreissung 968. 
Gefängniskachexie 304. 
Gefängnisse 301. 

— Anlage 305. 

— Einrichtung 306. 

— prophylaktische Maass¬ 
regeln 311. 

Gefängnis-Hygiene 302. 

— -Kost 309. 

-Krankheiten 304. 

Gefängniswesen 801. 

— bauliche Anlage der Ge¬ 
fängnisse 305. 

— Ernährung des Gefan¬ 
genen 307. 

— Haftsysteme 312. 

— sanitäre Verhältnisse 302. 
Gefässystem, traumatische 

Affectionen 840. 

— Aneurysmen 840. 

— Aortitis, acute 840. 


Gefangenen, Beschäftigung 
der 310. 

— Disciplin 311. 

— Ernährung 307. 

— Kleidung 310. 

— körperliche l'ebungen 
312. 

— Lagerstätten 310. 
Gefrorenes Fleisch 260. 
Geheime Prostitution 631. 

640. 

Geheimmittel, Ankündigung 
von 530. 

Geheimmittelwesen 530. 
Gehirnaffectionen, trauma¬ 
tische 811. 

— Abscesse 814. 

— Akromegalie 824. 

— Cystenbildung 813. 

— Delirium tremens 822. 

— Encephalitis 813. 

— Epilepsie 817. 

— Gedächtnisstörung 812. 

— Gehirnerschütterung 
812. 

— Gehirnerweichung 813. 

— Himabscess 814. 

— Hirnblutungen 815. 

— Meningitis suppur. 811. 

— Nuclearlähmung der 
Augenmuskeln 817. 

— Paralysis agitans 823. 

— Polioencephalitis suppu¬ 
rativa 813. 

— Psychosen 819. 

— Reflexpsychosen 822. 

— Schüttellähmung 823. 

— Spätapoplexie 816. 
Gehwege der Städte 730. 
Geisselfärbung, Beizen 142. 
Geisteskrankheiten, simu- 

lirte 714. 

— — Blödsinn 715. 

— — Melancholie 715. 

— — Stupidität 715. 

— — Tobsucht 715. 

— — Verrücktheit 715. 

— — Wahnsinn 715. 
Gekrösezerreissung 968. 
Gelbes Fieber 174. 
Gelegenheitshäuser 631. 
Gelenk-Leiden, simul. 711. 

-Mäuse, traumat. 837. 

-Neurosen, traumat. 799. 


Gelenk-Tuberkulose, trau¬ 
matische 842. 

-Verletzungen (forens.) 

970. 

Genesungshäuser 491. 
Genossenschaftskrankencas- 
sen 991. 

Genussmittel 316. 

— Alkaloide 326. 

— alkoholische 322. 

— Bedeutung für die Er¬ 
nährung 219, 222. 

— Bier 325. 

— Branntwein 326. 

— Cacao 318, 322. 

— Chocolade 322. 

— Coca, Cocain 329. 

— Colanüsse 318. 

— Fliegenpilz 327. 

— Gewürze 317. 

— Guaranapaste 318. 

— Haschisch 327. 

— Kaffee 317, 318. 

— Kochsalz 317. 

— Mate 318. 

— Morphin 329. 

— Opium 328. 

— Paraguaythee 318. 

— Tabak 330. 

— Thee 320. 

— Wein 325. 
Genussmitte], Verfälschung 

von 617. 

— Bier 624. 

— Branntwein 625. 

— Kaffee 625. 

— Liqueure 625. 

— Liqueurweine 624. 

— Medicinalweine 624. 

— Süssweine 624. 

— Thee 625. 

— Wein 620. 

Gerichtlicher Augenschein¬ 
befund 100. 

Gerichtliche Untersuchungen 
101. 

— Medicin 332. 

— — Aufgaben der 332. 
Gerichtlich-medicinische Un¬ 
tersuchungen 333. 

-— v. Fussspuren 

341. 

— — — v. Narben 333. 
-v. Tätowirungen 

338. 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 





1098 


SACHREGISTER. 


Gerichtlich-medicinische Un¬ 
tersuchungen von Waffen 
339. 

— -v. Werkzeugen 

339. 

Geschäftsstrassen 723. 
Geschälte Kartoffelhälften 
(bakter.) 139. 

Geschlecht, Bestimmung des 

435. 

-an Knochen 436. 

— — — an Weichtheilen 

436. 

— zweifelhaftes 353. 
Geschlechts-Befriedigung, 

anale 390. 

— — anormale 387, 390. 

— -Bestimmung 435. 

— — an Knochen 436. 
-Weichtheilen436. 

— -Delicte 376. 
Geschlechtsleben 342. 

— Beischlaf 342. 

— Blutsverwandtschaft 344. 

— Diagnose des Beischlafes 
345. 

— Ehe 343. 

— Nachweis v. Sperma 348. 

— — venerischer Affec- 
tionen 350. 

Geschlechts-Organe, trauma¬ 
tische Affectionen der 869. 

— — Anteflexio 870. 
-Anteversio 870. 

— — Coccygodynie 871. 

— — Gebärmuttervorfall 

870. 

— — Hämatocele femin. 

871. 

— — Hydrocele 869. 

— — Retrotiexio 870. 

— — Retroversio 870. 

— — Scheidenvorfall 870. 

— — Spermatocele 869. 

-Verletzungen der 969. 

Geschlechtsreife, Altersbe¬ 
stimmung durch 435. 

Geschlechtstrieb, conträrer 
391. 

— — perverser 391. 
Geschlechtsverhältnisse 353. 

— anale Geschlechtsbefrie¬ 
digung 390. 

— Aspermatie 37<>. 

— Atresia hymenalis 367. 


Geschlechtsverhältnisse, Azo¬ 
ospermie 370. 

— Begattung 360. 

— Begattnngsunfähigkeit 
362. 

— — männliche 362. 

— — weibliche 362. 

— Beischlafshandlungen 
376, 387. 

— Beischlafsunfähigkeit 
362. 

— Blutschande 386. 

— Castration 369. 

— Cohabitatios.Coitus360. 

— Conceptionsunfähigkeit 
371. 

— Conträre Sexualempfin¬ 
dung 363, 391. 

— Conträrer Geschlechts¬ 
trieb 391. 

— Defloration 382. 

— Diagnose der, bei Zwit¬ 
tern 357. 

— Elephantiasis scroti 366. 

— Entwicklungsverhältnisse 
d. Urogenitalsystems 354. 

— Epispadie 365. 

— Erection 362. 

— Exhibition 388. 

— Fetischismus 391. 

— Gebärunfähigkeit 360, 
374. 

— Geschlechtsbefriedigung, 
anale 390. 

— Geschlechtsdelicte 376. 

— Geschlechtstrieb, con¬ 
trärer 391. 

— — perverser 391. 

— Hermaphrodismus verus 
354. 

— Heterosexualität 391. 

— Homosexualität 391. 

— Hypospadie 364. 

— innere Missbildungen 
356. 

— Impotentia coeundi 362. 

— — concipiendi 371. 

— — generandi 367. 

— — gestandi 374. 

— — parturiendi 374. 

— Impotenz 362. 

— — psychische 363. 

— Jungfrauschaft 374. 

— — Untersuchung 375. 

— — zweifelhafte 374. 


Geschlechtsverhältnisse, 
Krümmungen des Gliedes 
365. 

— Kryptorchie 369. 

— Lustmorde 384. 

— Mannweiber 359. 

— Masochismus 391. 

— Nothzucht 376. 

— Päderasten 390. 

-active 390. 

-passive 390. 

— Päderastie 390. 

— Perverser Geschlechts¬ 
trieb 391. 

— psychische Impotenz 3 63. 

— Sadismus 391. 

— Schändung 386. 

— Scheinzwitterthum 354. 

— Schwängerung 382. 

— Scrotalbrtlche 365. 

— Sodomie 393. 

— Tribadie 390. 

— Unzucht 387. 

-widernatürliche 390, 

393. 

— unzüchtige Handlungen 
387. 

— Urninge 391. 

— Vaginismus 866. 

— Zeugungsfähigkeit 360. 
-zweifelhafte 360. 

— Zeugungsunfähigkeit367. 

— zweifelhafte Jungfrau¬ 
schaft 374. 

— — Zeugungsfähigkeit 
360. 

— zweifelhaftes Geschlecht 
353. 

— Zwitterbildung 353. 
Geschwülste, traumatische 

850. 

-Carcinome 850. 

— — Epithelcysten 852. 

-Gliome 851. 

-JLymphcysten 852. 

Gesetz betr. den Verkehr 

mit Nahrungsmitteln 617. 

— — — — — Wein 
618. 

— — Verwendung ge¬ 
sundheitsschädlicher F ar- 
ben 618. 

— der Vererbung 217. 
Gesichts-Bildung, Identific. 

durch die 440. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



SACHREGISTER. 


1099 


G esichts-Verletzungen 961. 
Gesandheitliche Controle der 
Prostitution 638. 
Gesundheits-Arzt 1052. 

— -Aufseher 1052. 

-Beschädigung 399. 

-Pflege 394. 

— -Störung (forens.) 399. 
— in Folge von Ver¬ 
letzungen 985. 

Gewerbebetriebe, Einrich¬ 
tung 404. 

— Beleuchtung 404. 

- Gefahren der 401. 

— Lüftung 404. 

— Reinigung 404. 

— Schutzmaassregeln 404. 

— Unfallverhütung 403. 

— Verwendungsschutz 404. 
Gewerbehygiene 401. 
Gewerbliche Vergiftungen 

402, 924. 

Gewaltsame Todesarten 742. 
Gewürze 317. 

— Verfälschung 626. 

Gift 916. 

— Definition 916. 

Gifte 924. 

— Aetzgifte 924. 

— anorganische 924. 

— Blutgifte 941. 

— Herzgifte 943. 

— Mineralgifte 924. 

— Nervengifte 943. 

— organische 924. 

— Parenchymgifte 935. 

— Thiergifte 924. 
Gift-Morde 924. 

— -Selbstmorde 924. 

— -Verkehr 81. 

-Wirkung 917. 

Gliedersporen 117. 
Gliedmaassenverletzungen 

(forens.) 969. 

Gliome 851. 

Glüblicht 146. 

Glycerin im Wein 622. 
Gödicke’s Optometer 712. 
Gonococcus 123. 

Gräfe’s Prismenversuch 712. 
Gram’sche Flüssigkeit 126. 
Gram’s Jodkaliumlösung 
142. 

Graviditas interstitialis 699. 

— tubaria 699. 


Graviditas tubo-abdominalis 
699. 

— tubo-uterina 699. 
Gremialordnung der Apo¬ 
theker 56. 

Grenz-Revision, sahitäre 214. 

— -Sperre bei Rinderpest 
204. 

Grössenwahn 1080. 
Gruben-Inhalt, Desinfection 
von 1037. 

— -System 5, 1034. 

Grüfte 598. 

— oberirdische 578. 

— unterirdische 578. 
Grund-Luft 169. 

-Wasser 170, 1017. 

— -Wasserschwankungeu 
170. 

Guaranapaste 318. 
Guillotinirung 748. 

Gurken, chemische Zusam¬ 
mensetzung 226. 
Gutachten, Abgabe von 103. 

— gerichtsärztliche 405. 
-Erstattung von 411. 

— gesetzliche Bestimmun¬ 
gen 405. 

— Verfassen von 407, 411. 

H. 

Haare, Identificir. d. 440. 

— Untersuch, (forens.) 412. 
Hämatocele femin. traumat. 

871. 

Hämatomyelie, traumat. 826. 
Hände, Identificir. d. 441. 
Häring, chemische Zusam¬ 
mensetzung 225. 

Härte des Wassers 1020. 
Haftsysteme 312. 

— Anbura’sches System 
313. 

— Classensystem 313. 

— Cumulativhaft 312. 

— Einzelhaft 313. 

— irisches System 315. 

— Schweigsystem 313. 

— Progressivsystem 315. 
Halbcolonien 246. 
Hallucinationen 1080. 
Halswunden 964. 
Hammelfleisch 253. 
Handapotheken 92. 


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| Harnblasenrupturen 968. 
Haschisch 327. 

— Bestandteile 327. 

I— Bhang 327. 

— Churrus 327. 

— Vergiftungen 328. 
Haus-Apotheken 92. 

-Auslässe 13. 

— -Gymnastik 489. 

— -Kehricht 732, 1045. 
-Abfuhr 1046. 

— — Beseitigung 732. 

— — Menge 732, 1045. 

— — Sammlung 732, 

1045. 

— — Verwertung 731, 

1046. 

-Müll 732, 1045. 

— -Schwamm 1029. 
Haut-Abschllrfungen(forens.) 

954. 

— — Kratzwunden 954. 
Haut-Geschwüre, simul. 711. 
Hebammen, frei praktici- 

rende 669. 
Hebammenwesen 669. 
Hebephrenie 1078. 
Heeresergänzung 642. 
Heidelberger Tonnensystem 
6. 

Heilstätten für Kinder 183. 

— — Nervenkranke 184. 

— — Unfallverletzte 184. 
Heilanstalten für Lungen¬ 
kranke 183. 

Heimweh (forens.) 1080. 
Heisswasser-Bad 109. 

-Trichter 138. 

Heizanlagen 420. 

— Centralheizung 422. 

— Circulationsöfen 421. 

— Dampfheizung 425. 

— Füllöfen 421. 

— Fussbodenheizung 426. 

— Gasöfen 421. 

— Heisswasserheizung 424. 

— hygienische Anforderun¬ 
gen 416. 

— Kachelöfen 420. 

— Kamine 420. 

— Localheizung 420. 

— Luftheizung 422. 

— Massenöfen 420. 

— Niederdruckdampfhei¬ 
zung 425. 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



1100 


SACHREGISTER. 


Heizanlagen, Niederdruck¬ 
wasserleitung 424. 

— Oefen 420. 

— Ventilationsöfen 421. 

— Wärmeabgabe der 419. 

— Warmwasserheizung 424. 

— Wasserdunstheizung 425. 

— Wasserheizung 423. 
Heiz-Material 418. 

-Vorrichtungen 419. 

-Heizraum an 419. 

— — Schornstein an 420. 

— — Verbrennungsraum 
an 419. 

— -System, Perkin’sches 
424. 

— -Systeme 420. 

Heizung 416. 

— Betrieb der 418. 

— centrale 422. 

— continuirliche 417. 

— locale 420. 

Helligkeit e. Baumes 145. 
Hermaphrodismus bilateralis 

354. 

— lateralis 354. 

— unilateralis 354. 

— verus 354. 

Hernien, traumatische 867. 
Herstellung v. Strassen 724. 
Herzgifte 943. 
Herzkrankheiten, traumati¬ 
sche 856. 

— — Endocarditis 767. 

— — Herzdilatation 859. 

— — Klappenruptur 858. 

— — Myocard-Affect. 859. 
-nervöse Störungen 

895. 

-Pericarditis 860. 

Herztod 538. 

Herzwunden (forens.) 966. 

— Stichwunden 966. 

— Schusswunden 967. 
Heterosexualität 391. 
Hiebwunden (forens.) 946. 
Hilfe, erste 648. 
Hilfs-Cassen 988. 

-Vereine 655. 

Hinrichtung 746. 

— durch Elektricität 749. 

-Enthauptung 748. 

-Erdrosseln 747. 

— — Erhängen 747. 

— — Erschiessen 747. 


Hinrichtung durch Fallbeil 
748. 

— — Garrottirung 747. 

— — Guillotine 748. 
Him-Abscess, traumat. 814. 
—Blutungen, traumat. 815. 
Histologie faulender Gewebe 

549. 

Hitzschlag 788. 
Hodentuberkulose, traumat. 
846. 

Höchstgaben 593. 
Höhenklima 590. j 

Hörübungen f. Taubstumme 
739. 

Hörweitebestimmung 713. 
Holzpflaster 730. 
Homöopathie, gesetzliche 
Bestimmungen 95. 
Homosexualität 391. 
Hospitäler 493. 
Hospitalfleber 493. 

Hüftbein, Altersbestimmung 
am 434. 

HUhnercholera, Impfungen 
gegen 1001. 

Hulwa’sches Verfahren 17. 
Humorale Hypothese 448. 
Humanisirte Lymphe 688. 
Hundefleisch 254. 

— Geruch 255. 
Hundswuthschutzimpfung 

682. 

Hungertyphus 708. 

— Abwehr 708. 

— Aetiologie 708. 

— Heimat 708. 

— Wanderung 708. 
Hydronephrose, traumati¬ 
sche 864. 

Hygiene der Ernährung 
-Fabriken 230. 

— des Gefängniswesens 
301. 

— d. Tropen 873. 
Hypnotische Suggestion 427. 

— Verbrechen 427. 
Hypnotismus 426. 

— civilrechtlich 430. 

— medicinalpolitisch 431. 
Hypochondrische Verrückt¬ 
heit 1086. 

Hypochondrischer Verfol¬ 
gungswahn 1080. 


Hypochondrisches Irresein 
1086. 

Hypospadie (forens.) 364. 
Hypostasen der Haut 540. 

— äussere 540. 

— innere 542. 

Hysterie, traumatische 799. 
Hysterisches Irresein 1086. 
Hysterismus (forens.) 1086. 

I. 

Identitätsbestimmung 431. 

— Alter 432. 

— Aufgaben der 432. 

— Behelfe zur 444. 

— Geschlecht 435. 

— gesetzliche Vorschriften 
431. 

— Körperbeschaffenheit 
437. 

— Mittel zur 442. 

-Anthropometrie443. 

— — Bertillonage 443. 

— — Effecten 442. 

-Gipsmasken 444. 

-Kleider 442. 

-Photographie 442. 

Idiotismus 1048. 
Impf-Gesetzgebung 690. 

— -Schutz 687. 

-Dauer des 687. 

Impfung, Ausführung 688. 
Impfungen, veterinäre 998. 

— — bei Hühnercholera 
1001. 

— — Lungenseuche 1000. 

— — Maul- und Klauen¬ 
seuche 1000. 

-Milzbrand 999. 

— — Perlsucht 1001. 

— — Pocken der Schafe 
1000. 

— — Rabies 999. 

— — Rauschbrand 999. 
-Rinderpest 998. 

— — Rothlaüfseuche 
1001. 

-Rotz 1001. 

-Schweinepest 1001. 

— — Schweinesseuche 
1001. 

— — Tuberkulose der Rin¬ 
der 1001. 

Impfzwang 687. 


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SACHREGISTER. 


1101 


Immunisirungs-Eiulieit 121. 

— -Werth 121. 

Immunität 444. 

— angeborene 444. 

— Arten- 444. 

— Erschöpfungshypothese 
447. 

— erworbene 445. 

— humorale Hypothese 448. 

— individuelle 444. 

— künstliche 445. 

— natürliche 445. 

— Phagocytentheorie 447. 

— Rassen- 444. 

— Retentionshypothese 447. 
Immunitätstheorien 444. 
Impotentia coeandi 362. 

— concipiendi 371. 

— generandi 367. 

— gestandi 374. 

— parturiendi 374. 
Impotenz (forens.) 362. 

— psychische 363. 
Indischer Hanf (Haschisch) 

327. 

Individuelle Immunität 444. 
Infection, traumatische 840. 

— und Trauma 840. 
Infectionskrankheiten, trau¬ 
matische 840. 

— — Gelenktuberkulose 
842. 

— — Knochentuberkulose 
842. 

— — Lungentuberkulose 
844. 

— — Osteomyelitis 846. 

— — Syphilis 847. 

— — Tuberkulose 841. 

— — — der Meningen 
844. 

— — — des Urogenital¬ 
apparates 846. 

Infectionsstoffe im Gewerbe¬ 
betriebe 402. 

Innungskrankencassen 988. 
Insufficienz, psychische 1075. 
Invalidenhäuser 497. 
Invaliditätsversicherung 990. 
Invasionskrankheiten 449. 
Irisch-römisches Bad 110. 
Irisches System im Gefäng¬ 
niswesen 315. 
Irrenanstalten 460. 

— coloniale 466. 


Irrenpflege 457. 

— agricole Colonien 464. 

— familiale 465. 

— Non-Restraint-System 
462 

— Pavillonsystem 462. 

— staatliche Organisation 
468. 

Irresein, alkoholisches 1085. 
i — epileptisches 1086. 

! — hypochondrisches 1086. 
i — hysterisches 1086. 

— moralisches 1078. 
Isobaren 588. 


J. 

Joddämpfe, hygienische 
Schädlichkeit 233. 
Jodjodkaliumlösung (bak- 
ter.) 142. 

Jodoformpsychose 1071. 
Jugendirresein (forens.) 
1078. 

Jugendspiele 489. 
Jungfrauschaft (forens.) 374. 

— Untersuchung 375. 

— zweifelhafte 374. 


K. 

Käse, chemische Zusammen¬ 
setzung 225. 

Kaffee 317, 318. 

— havarirter 320. 

— marinirter 320. 

— Surrogate 320. 

— Verfälschungen 320, 
625. 

Kaffeesurrogate 320. 

— Cichorienwurzel 320. 

— Continentalkaffee 320. 

— Eichelkaffee 320. 

— Feigenkaffee 320. 

— Kinderkaffee 320. 

— Schwedischer Kaffee 320. 
Kalbfleisch, chemische Zu¬ 
sammensetzung 225. 

Kafildesinfector 3. 
Kalkfarben (hygien.) 240. 
Kalkmilch zur Desinfection 
189. 

Kantharidenvergiftung 934. 
Karawanenhygiene 880. 


Kartoffel-Culturen (bakter.) 
132. 

-Cylinder (bakter.) 139. 

— -Hälften (bakter.) 139. 
Kartoffeln, chemische Zu¬ 
sammensetzung 226. 

Kasernen 595. 

— Abfallbeseitigung 598. 

— Anlage von 595. 

— Bäder 599. 

— Fussboden 597. 

— Heizung 598. 

— Kellerräume 596. 

— Lufterneuerung 597. 

— Wasserversorgung 598. 
Katastrophen 649. 
Kasernirte Prostitution 636. 
Kasparek’s Apparat 127, 

132. 

Kassenärzte 988, 

Kehricht 1045. 

Keimgehalt der Luft 897. 
Kermesbeeren zum Wein¬ 
färben 623. 

Kerzen 146. 
Kinder-Spielplätze 727. 

-Sterblichkeit 716, 718. 

Kindes, Lebensfähigkeit des 
533. 

Kindesmord 468. 

— Arten von 482. 
Kirchhöfe 571. 

— Anlage 571. 

— Begräbnisturnus 582. 

— Bepflanzung 574. 

— Betrieb 575. 

— Grüfte 578. 

— Schliessung von 583. 
Klär-Gruben 1040. 

— -Verfahren d. Abwässer 
14, 16. 

Klappenrupturen, traumati¬ 
sche 858. 

Kleesalzvergiftung 927. 
Kleidung 484. 

— hygienische Aufgabe der 
484. 

— der Fabrikarbeiter 238. 

— — Leichen 580. 

Klima 590. 

— arktisches 590. 

— gemässigtes 590. 

— Höhen- 590. 

— tropisches 590. 


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1102 


SACHREGISTER. 


Knappschaftskassen 988, 
991. 

Knochen-Brüche (forens.) 
956, 965. 

— -Kerne, Altersbestim¬ 
mung 484. 

— -Tuberkulose, traumati- 
. sehe 842. 

-Versteinerung 551. 

— -Verwesung 551. 

Koch'scher Dampftopf 137. 
Koch’s Plattengiessapparat 

130. 

— Plattenverfahren 130. 
Kochsalz als Genussmittel 

317. 

Körperbeschaffenheit, Alters¬ 
bestimmung durch 437. 

— Augen 440. 

— Ernährungszustand 439. 

— Gesichtsbildung 440. 

— Haare 440. 

—- Hände 441. 

— Kennzeichen, besondere 
441. 

— Körpergrösse 437. 

— Kopfbildung 440. 

— Narben 338. 

— Nase 441. 

— Schädel 440. 

— Skelettlänge 437. 

— Tätowirungen 339. 

— Zähne 441. 
Körpergrösse, Identificirung 

durch 437. 

Körperilbung 486. 

— Bergsteigen 490. 

— Eislauf 490. 

— Fechten 489. 

— Fusswandern 490. 

— Hausgymnastik 489. 

— Jugendspiele 489. 

— milit. Exerciren 489. 

— Radfahren 490. 

— Schneeschuhlauf 490. 

— Schwimmen 491. 

— Tanzen 489. 

— Turnen 488. 

— Volksspiele 489. 

— Zimmergymnastik 489. 
Körperverletzungen 945. 
Kohlenbreiverfahren 17. 
Kohleudunst, Vergiftung m. 

942. 

Kohlenhydrate 221. 


Kohlenoxyd-Gas, hygienische 
Schädlichkeit 231. 

— — in der Luft 591. 

— -Vergifung 942. 

Kohlensäure d. Luft 591,898. 

— hyg. Schädlichk. 231. 

Kopibildung, Identific. 440. 

Kopfverletzungen (forens.) 

957. 

— Gesicht 961. 

— Schädel 957. 

— SchädelbrUche 959. 

— Sinnesorgane 962. 

— Zähne 962. 

Kost, Zusammensetzung 225. 

Kostsätze für Arbeiter 227. 

— — Gefangene 228. 

— — Soldaten 228. 

Krankenanstalten 491. 

— Anlage und Bau 494. 

— Beaufsichtigung 496. 

— innere Einrichtung 495. 

— Unterbringung der Kran¬ 
ken 496. 

Kranken-Beförderung 502. 

-Führer 502. 

-Führung 502. 

— -Journal bei Epidemien 
720. 

Krankenkassen 988, 991. 

— Baukrankenkassen 988, 
991. 

— Betriebskrankenkassen 
988, 991. 

— Bezirkskrankenkassen 
991. 

— Bruderladen 991. 

— Fabrikskrankenkassen 
988. 

— Genossenschaftskranken¬ 
kassen 991. 

— Hilfskassen 988. 

— Innungskrankenkassen 
988. 

— Knappschaftskassen 988, 
991. 

— Ortskrankenkasssen 988. 

— Vereinskrankenkassen 
991. 

Krankenkassen-Gesetz, deut¬ 
sches 987. 

-österreichisches 991. 

Krankenkassenwesen 988. 

Kranken-Pflege 498. 

— :— Geschichte d. 501. 


Kranken-Pfleger 501. 

-Pflegerinnen 501. 

-Schiffe 510. 

— -Träger 503. 

— -Tragung 503. 
Kranken-Transport 502. 

— m. Bahre 505. . 

— — Gebirgsbahre 506. 

— — Kankenwagen 507. 

— — Kraxe 505. 

— — Maulthieren 607. 

-■-Bäderbahre 506. 

-Reitradbahre 506. 

Kranken-Transportwagen 

507. 

— -Versicherung 987. 

— -Wagen 507. 

-Waggons 657. 

— -Zug 508. 

Krankhafte Triebe 1080. 
Krankheiten der Gefangenen 

304. 

— — Verbrecher 304. 

— verstellte 709. 

— vorgeschützte 720. 
Krankheitsstatistik 720. 
Kratzwunden (forens.) 954. 
Kreis-Physiker 668. 

— -Wundärzte 668. 
Kriminalanthropologie 511. 

— Atavismus 512. 

— Degenerationszeichen 
515. 

— Moral-Insanity 516. 

— Verbrechergehirn 512. 

— Verbrecherphysiologie 
514. 

— Verbrechertypus 511. 
Krimineller Abortus 273. 
Kübelsystem 1036. 
Künstliche Immunität 445. 
Küstenwehr 659. 
Kugel'scher Versuch 712. 
Kuhmilch, chemische Zu¬ 
sammensetzung 225. 

Kuhpockenlymphe 689. 
Kunstfehler, ärztliche 519. 

— — Arten der 520. 
-gesetzliche Bestim¬ 
mungen 419. 

Kupfer-Farben (hygien.)240. 

— -Sulfat z. Desinfect. 189. 

— -Salze, Vergiftung mit 
932. 

^ Kurpfuscher 526. 


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SACHREGISTER. 


1103 


Kurpfuscherei 526. 
Kurzsichtigkeit der Schul¬ 
kinder 677. 

L. 

Lähmungen, simulirte 713. 
Lähmungsirresein 821. 
Lampen 146. 
L&ndes-S&nitätsrath 670. 

— -Sanitätsreferenten 670. 
Lappenwunden (forens.)946. 
Laugensalzvergiftung 929. 
Lautsprache 736. 
Lazarethzüge 508. 
Lebensdauer, durchschnitt¬ 
liche 719. 

--Statistik 715. 

Lebensfähigkeit des Kindes 
533. 

Lebensproben 470. 

-Lungenschwimmprobe 

474. 

-Magendarmschwimm¬ 
probe 476. 

Lebensunfähigkeit 533. 
Leber, traumatische Affec- 
tionen der 861. 

— — Hepatitis traumatica 
862. 

— — Leberabscess 862. 

-Wanderleber 862. 

Leberrupturen 967. 
Leberwurst, chemische Zu¬ 
sammensetzung 225. 

LeichenalkaloYde 548. 

— Amine 548. 

— Anthracin 549. 

— BetaYn 548. 

— Cadaverin 548. 

— Cholin 548. 

— CoUidin 548. 

— Convulsivin 549. 

— Diamine 548. 

— Erysipelin 549. 

Gadinin 549. 

— Hydrocollidin 549. 

— Ichthyotoxin 549. 

— Morbillenptomatin 549. 

— Muscarin 548. 

.— Mydaflel'n 549. 

— Mydatoxin 548. 

— Mydin 549. 

— Neuridin 548. 

— Neurin 548. 


LeichenalkaloYde, Parvolin 
549. 

— Ptomatropin 549. 

— Ptomatocurarin 549. 

— Putrescin 548. 

— Tetanin 549. 

— Tetanotoxin 549. 

— Tyrotoxin 549. 
Leichen-Beschau 700. 

— -Besichtigung 702. 

— — äussere 702. 

— — innere 702. 

-T- -Fett 551. 
Leichenerscheinungen 537. 

— Blutsenkungen 540. 

— chemische 539. 

— Erkalten der Leichen 
539. 

— Erstarrung der Leichen 
542. 

— Fäulnis 546. 

— Fäulnis-Bakterien 547. 

— — -Blasen 542. 
-Transsudat 542. 

— Fettwachsbildung 551. 

— Gänsehaut 544. 

— Leichen-AlkaloYde 548. 

— — -Starre 542. 

— — -Zersetzung 545. 

— Mumification 552. 

— physikalische 539. 

— physiologische 539. 

— Ptomaine 548. 

— Sarggeburt 544. 

— Todten-Flecke 540. 
-Starre 542. 

— Vertrocknung 540, 552. 

— Verwesung 546. 

-der Knochen 551. 

Leichen-Frauen 537. 

— -Hallen 561. 

-Kammern, unterirdische 

578. 

— -Kleidung 580. 

— .-Oeffnung 700. 

— -Pass 563. 

— -Schau 538. 

-obligatorische 717. 

— -Schauer 717. 

-ärztliche 718. 

— -Starre 542. 

— — Dauer der 543. 

— — Gang der 543. 

— — intrauterine 542. 

— — .kataleptische 543. 


' Leichen-Starre, Ursache der 
544. 

— -Transport 563. 

— — gesetzliche Bestim¬ 
mungen 563. 

— — Pass für 563. 

— -Untersuchungen 562. 

— -Veränderungen 545. 

-Verbrennung 566. 

-Ofen (m. Abbild.) 570. 

— -Vertrocknung 540,552. 
-Vertrocknungsflecke 

540. 

— -Wachs 551. 
Leichenwesen 553. 

— Beerdigung 554. 

— Begräbnisturnus 578, 
582. 

— Bestattungsarten 554. 

— Columbarien 568. 

— Crematorien 568. 

— Einbalsamirung 584. 

— Erdbestattung 566. 

— Exhumirung 565. 

— Feuerbestattung 566. 

— Friedhöfe 571. 

— Grüfte 578. 

— Kirchhöfe 571. 

— Kleidung 580. 

— Leichen-Hallen 561. 
--Kammern, unter¬ 
irdische 578. 

— — -Pass 563. 

— — -Transport 563. 

— —Untersuchungen 562. 

-Verbrennung 566. 

-V erbrennungsofen 

570. 

— Massengräber 580. 

— Mumification, künstliche 
584. 

— Särge 579. 

— Sectionszimmer 563. 

— Verwesungsbeförderung 
581. 

Leichenzersetzung 545. 
Leptothrix 118. 
Leuchtendes Fleisch 260. 
Leuchtgas 147. 

— Argandbrenner 146. 

— Gltthlicht 146. 

— Schnittbrenner 146. 

— Siemensbrenner 146. 

— Zweilochbrenner 146. 
Leuchtkraft 148. 


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1104 


SACHREGISTER. 


Leukämie, traumatische 849. 
Licht, hygienische Bedeutung 
236. 

Licht-Farbe 160. 

— -Messung 1069. 

-Meterkerze 1059. 

— — Weber’s Photometer 
1059. 

-Raumvinkelmesser 

1059. 

Liernur’8 pneumatisches Sy¬ 
stem 11. 

Liemur-System 1043. 
Liqueure, Verfälschung 625. 
Liqueurweine, Verfälschung 
624. 

Lockfeuerung 915. 
Löffler’sche Beize 142. 
Löffler’s Methylenblau 142. 
Loggia 1057. 

LUftungseinrichtungen 911. 

— Abluft 911. 

— DrucklUftung 912. 

— Säuglüftung 912. 

— Zuluft 911. 

Luft 585. 

— atmosphärische 896. 

— bakteriologische Unter¬ 
suchung 134. 

— chemisches Verhalten 
590. 

— der Schulen 675. 

— Feuchtigkeit 587. 

— Keimgehalt 897. 

— Klima 590. 

— Kohlensäure 898. 

— Luftbewegung 588. 

— Luftdruck 588. 

— Niederschläge 589. 

— Russ 897. 

— Schimmelpilze 897. 

— Spaltpilze 897. 

— Staub 897. 

— Temperatur 586. 

— Verunreinigung 899. 

— Wasserdampf 898. 

— Zusammensetzung 590. 
Luft-Bewegung 588. 

— -Cubus 905. 

-Durchlässigkeit des Bo¬ 
dens 169. 

— -Druck 588. 

— — Isobaren 588. 

— -Haube 915. 

— -Feuchtigkeit 587. 


Luft-Feuchtigkeit, absolute 
587. 

— — Haarhygrometer 
587. 

— — hygienische Bedeu¬ 
tung 587. 

— — Messung der 587. 

— — Psychrometer 587. 

— —Sättigungsdeficit 587. 

— — Tbaupunkt 587. 

-Schwitzbad 110. 

-Staub 1047. 

— — -Keimgehalt 1047. 

— -Wechsel, natürlicher 
910. 

Lungenaffectionen, trauma¬ 
tische 852. 

-Lungen-Emphysem 

856. 

— —-Gangrän 855. 

-— -Tumoren 856. 

— — Pleuritis 855. 

— — Pneumonien 852. 

-Tuberkulose 844. 

Lungen-Quetschung 965. 

— -Schusswunden 966. 

— -Schwimmprobe 474. 

— -Seuche 202. 

— — Impfung gegen 1000. 

— -Stichwunden 966. 

-Tod 538. 

Lustmorde 384. 
Lymphcysten, traumatische 

852. 

Lymphe, animale 688. 

— Gewinnung 688. 

— humanisirte 688. 

— Keimgehalt 689. 

— Kuhpocken 689. 

Lysol 189. 

M. 

Magen, traumatische Er¬ 
krankungen des 865. 

— Geschwür 866. 

— Magenwandcyste 866. 

— Merycismus 866. 
Magendarmschwimmprobe 

476. 

Magenzerreissungen 968. 
Magnesiumverbindungen im 
Wein 623. 

Makadam 730. 
Malaria-Fieber 174. 


Malaria-Organismen i. Boden 
173. 

Malignes Oedem im Fleisch 
265. 

Mallein 447. 

Maltheserorden 655. 
Manganfarben (hygien.) 240. 
Mania transitoria 1083. 
Maniakal. Anfälle 1080. 
Mannweiber 359. 
Marktpolizei 592. 
Masochismus 391. 
Massen-Aborte 1040. 

-Cultur (bakter.) 129. 

-Ernährung 227. 

-Gräber 580. 

— -Locale 1066. 

— — Gefahren der 1067. 

— —Schutzvorschriften für 
1068. 

— -Unglücke 662. 
Mastdarmverletzungen (fo- 

rens.) 968. 

Matd 318. 

Mauerfrass 1027. 
Maul-undKlauenseuche 202. 

— Impfung gegen 1000. 
Maximaldosen 593. 
Medicinal-Collegien 667. 

— -Pfuscher 526. 

— -Polizei 663. 

-Vergiftungen 924. 

— -Räthe 667. 

— -Weine, Verfälschung 
624. 

— -Wesen 663. 
Meerwasser 112, 1017. 
Mehl, Verfälschung 620. 
Melancholie, simulirte 715. 
Melanose, cadaveröse der 

Magenschleimhaut 542. 
Meningealapoplexie, trau¬ 
matische 821. 
Meningen-Tuberkulose, trau¬ 
matische 844. 

Meningitis suppur., trauma¬ 
tische 811. 

Meningocele spur. spin., 
traumatische 825. 
Menschenlymphe 689. 
Meristaform (bakter.) 117. 
Merycismus, traumatische 
866 . 

Meterkerze 143, 1059. 
Metallstaub 235. 


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Original fro-m 

U NIV E RS I Vf _QF. Ml£ H1G4&L—. 



SACHREGISTER. 


1105 


Methylenblau, Löffler’s 142. 
-Farbstoffe (hygien.) 242. 

— -Lösung 142. • 

Miasma 174. 

Miasmatische Krankheiten 
450. 

Microeoccus 118. 

— gonorrhoeae 140. 

— pyogenes u. aur. 140. 

— tetragenus 140. 
Miescher’sche Schläuche 

263. 

Mikrocephalie 1078. 
Mikroorganismen in der 
Luft 591. 

Milch, bakteriologische Un¬ 
tersuchung 135. 
als Nährboden (bakter.) 
138. 

— Verfälschung 619. 

— -Colonien 246. 

— -Serumgelatine 139. 
Militär-Ausrüstung 601. 

— Bekleidung 600. 

— Fussbekleidung 601. 

— Handschuhe 601. 

— Kopfbedeckung 600. 

— Mantel 601. 

— Oberhose 601. 
Unterkleidung 601. 

— Waffenrock 601. 
Militär-Curschmiede 1007. 
Militär-Gesundheitsdienst 

595. 

— — Bekleidung der Sol¬ 
daten 600. 

— — Beschäftigung 603. 

— — Ernährung 602. 

— — Unterkunft 595. 

— — — Baracken 599. 

— — — Biwaks 599. 

— — — Feldlager 599. 

— — — Hutten 599. 

— — — Kasernen 595. 

— — — Schiffe 600. 

— — — Zelte 599. 
Militär-Krankendienst 604. 

— — Ersatzlazarethe 607. 
— Feldlazarethe 607. 

— — Garnisonslazarethe 
607. 

— — Standlazarethe 607. 
Militär - Sanitätsmaterial 


Militär-Sanitätsmaterial für 
d. Gesundheitsdienst 615. 

— — für den Kranken¬ 
dienst 615. 

-für die Rekrutirun- 

gen 614. 

-fürd. Unterricht 614. 

Militär-Sanitätspersonal 

613. 

— -Sanitätsverfassung 613. 

— -Thierärzte 1007. 

j-Exerciren 489. 

Milz, traumatische Erkran¬ 
kung 865. 

— Wandermilz 865. 
Milzbrand 202. 

-Bacillen im Boden 172. 

— im Fleisch 265. 

— Impfung gegen 999. 
Milzzerreissungen (forens.) 

967. 

Mineral-Bäder, Wirkung der 

111 . 

— -Staub 235 
Moderbildner 550. 

Möbel, hygienische Beschaf¬ 
fenheit 1066. 

| Möhren, chemische Zusam- 
! mensetzung 226. 

[ Molenschwangerschaft 698. 

— Blasenmolen 698. 

— Blutmolen 698. 

— Fleischmolen 698. 
Monomanien 1080. 
Moral-Insanity 516, 1078. 
Morbiditätsstatistik 715. 
Morphin 329. 

— Verkehr mit 329. 
Morphinismus 329, 1085. 
Morphiophagie 329. 
Morphiumvergiftung 944. 

— Leichenbefund 944. 
Mortalitätsstatistik 715. 
Morvan’sche Krankheit, trau¬ 
matische 827. 

Moule’s Erdcloset 6. 
Multiple Sklerose, trauma¬ 
tische 828. 

Mumification 552. 

— künstliche 584. 
Muskel-Actinomykose im 

Fleisch 266. 

—• -Arbeit 487. 

-Atrophie, traumatische 

831. 


Muskel - Collaps, trauma¬ 
tischer 836. 

-Degeneration, trauma¬ 
tische 837. 

— -Distomum im Schweine¬ 
fleisch 263. 

Mutterkornvergiftung 940. 
Myalgien, traumatische 837. 
Mycobacterium tuberculosum 
*140. 

Myelitis, traumatische 825. 
N. 

Nabelbrüche, traumatische 
869. 

Nachtherbergen 497. 
Nachweis venerischer Affec- 
tionen 350. 

— einer stattgehabten Bei¬ 
schlafshandlung 377. 

— von Sperma 348. 
Nährböden 138. 

— Alkalialbuminat, festes 
139. 

— Apparat zum Abmessen 
und Einfüllen 139. 

— Bereitung von 137,138. 

— Blutserum 139. 

— Blutserumgelatine 139. 

— eiweissfreie 138. 

— feste 138. 

— festes Alkalialbuminat 
139. 

— Fleischwasser - Bouillon 
138. 

— — -Peptonagar 139. 

— -Peptongelatine 138. 

— flüssige 138. 

— geschälte Kartoffelhälf¬ 
ten 139. 

— Kartoffelcvlinder 139. 

— Kartoffelhälften 139. 

— Milch 138. 

— Milchserumgelatine 139. 

— neutrale 139. 

— Oblaten 142. 

— reducirende 139. 

— ungeschälte Kartoffel¬ 
hälften 139. 

Nahnsen’sches Verfahren 17. 
Nahrung (hygien.) 237. 

— für einen Arbeiter 227. 
Nahrungsbedarf 223. 

70 


614. 

Bibi. med. "Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



1106 


SACHREGISTER. 


Nahrungsmittel 225. 

— Aepfel 226. 

— animalische 225. 

— Bohnen 226. 

— Butter 225, 

— chemische Zusammen¬ 
setzung 225. 

— Conservirung 224. 

— Erbsen 226. 

— Gesetz 617. 

— Gurken 226. 

— Häring 225. 

— hygienische Anforderun¬ 
gen 224. 

— Kalbfleisch 225. 

— Kartoffeln 226. 

-- Käse 225. 

— Kuhmilch 225. 

— Leberwurst 225. 

— Möhren 226. 

— Ochsenfleisch 225. 

— Pöckling 225. 

— Pumpernickel 226. 

— Reis 226. 

— Roggenbrot 226. 

— Rothkraut 226. 

— Schellfisch 225. 

— Schinken 225. 

— Schweinefleisch 225. 

— Steinpilze 225. 

— vegetabilische 225. 

— Verfälschung 617. 

— Weizenbrot 226. 

— Weintrauben 226. 

— Zubereitung 224, 229. 
Nahrungsmittelverfälschnng 

617. 

— Bier 624. 

— Branntwein 625. 

— Brot 620. 

— Butter 619. 

— Fleischwaaren 626. 

— Gewürze 626. 

— Kaffee 625. 

— Liqueure 625. 

— Liqueurweine 624. 

— Medicinalweine 624. 

— Mehl 620. 

— Milch 619. 

— Schmalz 627. 

— Süssweine 624. 

— Thee 625. 

— Wein 620. 

— Wurstwaareu 626. 


Narben, ger. med. Unter¬ 
suchung 333. 

— Altersbestimmung 335. 

— Folgezustände 336. 

— Heilverlauf 338. 

— Herkunft 334. 

— Identitätsnachweis 338, 
441. 

— Sitz 337. 

— Verunstaltungen durch 
336. 

Nase, Identificirung durch 
441. 

Natürliche Immunität 445. 
Nebenhodentuberkulose, 
traumatische 846. 
Nervenerkrankungen, trau¬ 
matische 794, 894. 

— — alimentäre Glykosu- 
rie 798. 

— — cerebrale Neurosen 

799. 

— — Emotionslähmung 

800. 

-Gelenkneurosen 799. 

— — Hysterie 799. 

— — hysterische Hämo¬ 
ptoe 801. 

— — — Tachypnoe 801. 

— — hysterischer Tremor 
799. 

— — Neurasthenie 802. 

— — Neurosen 803. 

— ■ —Psychoneurosen 803. 

— — Reflexhysterie, trau¬ 
matische 802. 

— — Schrecklähmung 800. 
Nervengifte 943. 

— Atropin 944. 

— Morphium 944. 

— Opium 944. 

— Strychnin 944. 
Nervenkrankheiten, simul. 

713. 

-- — Anästhesien 713. 

-- — Epilepsie 714. 

— — Lähmungen 713. 

— — Neuralgien 714. 

— — Railway-spine 714. 

— — traumatische Neuro¬ 
sen 714. 

Nervensystems, traumatische 
Affectionen des peripheren 
833. 

— Krampfzustände 833. 


Nervensystems, Myoclonus 
fibr. mult. 833. 

— tr. Aff., Myokymie 833. 

— Neuralgien 834. 

— Parästhesien 835. 
Nephritis, traumatische 864. 
Nephrolithiasis, traumatische 

865. 

Neuralgien, simulirte 714. 
Neurasthenie, traumatische 
802. 

Neurosen, simulirte 714. 

— traumatische 803. 
Neutrale Nährböden 139. 
Niederschläge 589. 

Nieren, traumatische Er¬ 
krankungen 862. 

— Hydronephrose 864. 

— Nephritis 864. 

— Nephrolithiasis 865. 

— Nierenruptur 863. 

— Wanderniere 862. 
Nierenrisse (forens.) 968. 
Nitrofarbstoffe (hygien.) 241. 
Nitrosofarbstoffe (hygienisch) 

241. 

Nitrosoindolreaction 133. 
Normal-Kerze 143. 

— -Serum 121. 

Nostalgie (forens.) 1080. 
Noth-Apparate für Aerzte92, 

94. 

Nothzucht 376. 

Nutzwasser 1018. 

0 . 

Obduction 700. 

Abfassung des Protokolls 
702. 

— allgemeine Bestimmun¬ 
gen 700. 

— äussere Besichtigung701. 

— innere Besichtigung 701. 

— Verfahren bei der 700. 
Obductions-Bericht 702. 

-Protokoll 702. 

Oberflächenwasser 1016. 
Obermedicinal-Ausschuss 

669. 

Obermedicinalrath 669. 
Oblaten als Nährboden 142. 
Oberster Sanitätsrath 670. 
Obsorge für entlassene Sträf¬ 
linge 316. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



SACHREGISTER. 


1107 


Obstweine 326. 
Ochsenfleisch, chemische Zu¬ 
sammensetzung 225. 
Oefen 420. 

— Barackenofen 421. 

— Berliner Ofen 420. 

— Circulationsöfen 421. 

— eiserne 420. 

— FUllöfen 421. 

— Gasöfen 421. 

— gemischte 420. 

— Kachelöfen 420. 

— Karlsruher Schulofen 
422. 

— Kanonenöfen 420. 

— Kasernenöfen 420. 

— Mäntel-Begulir-Flillöfen 
421. 

— Massenöfen 421. 

— Reflectoröfen 422. 

— russische 420. 

- Säulenöfen 420. 

— Schachtöfen 421. 

— Schüttöfen 421. 

— schwedische 420. 

— Yentilationsöfen 421. 
Oeffentliche Prostitution631. 
Oekonomische Vergiftungen 

924. 

Oellampen 146. 
Oestruslarven im Fleisch 
264. 

Ohrblutgeschwülste (forens.) 
963. 

Ohrkrankheiten, simulirte 
713. 

— — doppelseitige Taub¬ 
heit 713. 

— — einseitige Taubheit 
713. 

— — Hörweitebestimmung 
713. 

— — Nachweis 713. 

— — Schwerhörigkeit713. 

— — Stimmgabelversuch 
713. 

-Taubheit 713. 

Oospora bovis 140. 

— farcinica 140. 

Opium 328. 

— Chandu 328. 

— -Essen 328. 

— -Genuss 328. 

— -Rauchen 328. 

-Vergiftung 944. 


Optometer von Gödicke 712. 
Ordensapotheken 95. 
Organische Farbstoffe 241. 

— — Anilinfarben 241. 

— — Antrachinonfarben 
242. 

-Aurine 241. 

— — Azine 242. 

— — Azofarbstoffe 241. 

— — Indigo 242. 

— — Methylenblaugruppe 
j 242. 

| — — Nitrofarbstoffe 241. 
j— — Nitrosofarbstoffe241. 
1 -Phtaleine 241. 

— — Rosanilinfarbstoffe 
241. 

— — Rosolsäurefarbstoffe 
241. 

-Triphenylmethanfarb- 

stoffe 241. 

Organrupturen 956, 965. 

— Herzwunden 966. 

— Lungenquetschung 965. 

— Lungenstichwunden 996. 
Orientirung der Strassen 

727. 

Ortskrankenkassen 988. 
Osteomyelitis, traumatische 
846. 

Ovarialschwangerschaft 699. 
Oxalsäurevergiftung 927. 
Ozon in der Luft 590. 

P. 

Pacini’sche Flüssigkeit 164. 
Päderasten 390. 

— active 390. 

— passive 390. 

Päderastie 390. 
Pankreascysten, traumati¬ 
sche 869. 

Parästhesien, traumatische 
855. 

Paraffinkerzen 146. 
Paraguaythee 318. 

Paralysis agit., traumatische 
823. 

Paranoia (forens.) 1079. 
Parasiten 118. 

Paratyphlitis, traumatische 
867. 

Parenchymgifte 935. 

— Antimom 940. 


Parenchymgifte, Arsen 938. 

— Blei 940. 

— Mutterkorn 940. 

— Phosphor 936. 

Parks 727. 

Partialtaube 738. 

Partus praecipitatus 299. 

— praematurus = Frühge¬ 
burt 292. 

Pasteur’sche Schutzimpfung 
682. 

Patholog. Affecte 1082. 
Patriotische Hilfsvereine 
655. 

Pennen 497. 

Pericarditis, traumatische 
860. 

Peritonitis, traumatische87 2. 
Perityphlitis, traumatische 
867. 

Perlsucht, Impfung gegen 
1001. 

Pemiciöse Anämie, trauma¬ 
tische 849. 

Personalprivilegien der Apo¬ 
theken 51. 

Perverser Geschlechtstrieb 
391. 

Pest 706. 

— Abwehr 707. 

— Aetiologie 706. 

— Heimat 706. 

— Krankheitserscheinungen 
706. 

— Verbreitung 706. 

— Wanderung 706. 
Pestschutzimpfung 684. 
Petri’sches Verfahren 11. 
Petrischalen 130. 

Petroleum 146. 
Petroleumglühlicht 149. 
Pferdefleisch 253. 

— Fett 254. 

— Geruch 254. 

— Glykogen 254. 

— Nachweis von 256. 
Pflanzliche Parasiten des 

Fleisches 264. 

-Spaltpilze 264. 

Phagocytentbeorie 447. 
Pharmaceut. Ausbildung 40. 

— — Belgien 46. 

— — Deutschland 41. 

— — England 44. 

— — Frankreich 46. 

70* 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



1108 


SACHREGISTER. 


Pharmaceut. Ausbildung, 
Griechenland 48. 

— — Holland 45. 

-Italien 47. 

— — Norwegen 47. 

— — Oesterreich 42. 
-Russland 48. 

— — Schweiz 45. 

— — Spanien 47. 

— — Ungarn 42. 
Pharmacie siehe Apotheken¬ 
wesen 23. 

— -Aspirant 41. 

— Doctorat der 44, 46. 
Pharmakopöen 25. 

— internationale 33. 

— Universal- 33. 
Phosphattorf 189. 
Phosphorescenz der Bakte¬ 
rien 122. 

Phosphor-Vergiftung 936. 
-Leichenbefund 937. 

— — Nachweis 938. 
-Symptome 936. 

— -Vergiftungen in Fabri¬ 
ken 235. 

-Wasserstoff, hygienische 

Schädlichkeit 233. 
Photographie, Identitäts¬ 
nachweis durch 442. 
Photometer 143, 1059. 
Phragmidiothrix 118. 
Phtale'ine (hygien.) 241. 
Physikatsprüfung 668. 
Pissoiranlagen 1042. 

— Beckenpissoire 1042. 

— Oelpissoire 1043. 

— Rinnenpissoire 1042. 

— Trockenpissoire 1043. 
Pissoirs 7, 1042. 
Platten-Giessapparat, Koch¬ 
scher 130. 

-Pflaster 730. 

— -Verfahren 129, 130. 
Plectridium 118. 

Pleuritis, traumatische 855. 
Pneumatisches System 11. 
Pneumatophor 660. 
Pneumococcus Fränkel 123. 
Pneumonien, traumatische 

852. 

Pocken 707. 

— Abwehr 707. 

— Aetiologie 707. 

— Heimat 707. 


Pocken, Krankheitserschein¬ 
ungen 707. 

— Mortalität 687. 

i — Schutzimpfung 686. 

— Verbreitung 707. 

— Wanderung 707. 

Pocken der Schafe 202. 

— — — Impfung gegen 
1000. 

Pöckling, chemische Zusam- 
• mensetzung 225. 

Polit. Wahnsinn 1080. 
Porenvolum des Bodens 169. 
Posthypnot. Suggestion 428. 
Postmortale Ausblutung 547. 

— Blutaustretungen 541. 

— Fettbildung 552. 

— Leichenveränderungen 
545. 

— Sauerstoffzehrung 538. 

— Temperatursteigung 539. 

— Verletzungen 968. 
Poudrettefabrication 9, 

I 1037. 

Präparation der Fäcalien 9. 
Prager freiwilliges Rettungs¬ 
corps 654. 

Prismenversuch von Gräfe 
712. 

Privatstrafen 723. 
Privilegirte Apotheken 51. 
Progressive traumatische 
Muskelatrophie 831. 

— — Paralyse 821. 
Progressivstem im Gefäng- 

nisswesen 315. 
Promenadenwege 730. 
Prophylaxe geg. Staub 236. 
Proskowetz’sches Verfahren 
16. 

Prostituirte 631. 

— Controle der 638. 

— freie 637. 

— geheime 631. 

— gesundheitliche Controle 
638. 

— kasemirte 636. 

— öffentliche 631. 

— Wohnungsverhältnisse 
637. 

Prostitution 628. 

— Abolitionisten 633. 

— Bekämpfung 632. 

1 — Bordellfrage 636. 

! — freie 636. 


Prostitution, geheime 631, 
640. 

— Gelegenheitshäuser 631. 

— gesundheitliche Controle 
638. 

— kasemirte 636. 

— öffentliche 631. 

— Reglementirung 636. 

— Strafgesetze 640. 

— Ursachen 630. 

— Verbreitung 631. 

— Verhalten des Staates 
633. 

— Zuhälterthum 641. 
Proteus vulgaris 124. 
Protokoll, Abfassung bei 

gerichtlichen Untersu¬ 
chungen 102. 

Provocirter crimineller Abor- 
tus 273. 

Prüfungsordnung für Phar- 
maceuten 44. 

Psorospermien im Fleisch 
263. 

Psychische Impotenz 363. 

— Insufflcienz 1075. 
Psychoneurosen, traumati¬ 
sche 803. 

Psychosen, toxische 1084. 

— traumatische 819. 

— verschiedene 1086. 
Ptomäine 548. 

Ptomatine 548. 

Pudrettirung 1037. 
Pulsionslüftung 912. 
Pumpernickel, chemische 

Zusammensetzung 226. 
Pyämie im Fleisch 265. 
Pyrometer für Desinfections- 
apparate 192. 

Q. 

Quecksilber-Farben(hygien.) 

240. 

— -Vergiftungen 930. 

|-in Fabriken 234. 

Quellen 170. 
Querulantenwahn 1080. 
Quetschrisswunden 956. 
Quetschungen (forens.) 952. 

— Bisswunden 955. 

— Blutunterlaufungen 952. 

— Contusionen 952. 

— Hautabschürfungen 954. 


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Original fro-m 

UNIVERSiTY OF MICHIGAN 



SACHREGISTER. 


1109 


Quetschungen, Kratzwunden 
954. 

— Quetschwunden 955. 

R. 

Rabies, Impfung gegen 999. 

Rabl’sche Tafeln 712. 

Rabl-RUckhard’s Verfahren 
712. 

Radfahren 490. 

Räude der Pferde u. Schafe 
203. 

Railway-spine, simulirte 714. 

Rainey'sehe Körperchen 2 63. 

Rangordnung der Strassen 
723. 

— -Geschäftsstrassen 

723. 

— — — Verkehrsstrassen 
723. 

-— Wohnstrassen 723. 

Raptus melancholic. 1080. 

Raserei (forens.) 1080. 

Rassenimmunität 445. 

Raumwinkelmesser 144, 
1059. 

Rauschbrand der Rinder 203. 

— — Impfung gegen 999. 

Realprivilegien der Apothe¬ 
ken 51. 

Reconvalescenten-Anstalten 

497. 

-Heime 181. 

Recrutirung 642. 

Reducirende Nährböden 139. 

Reflex-Hysterie,traumatische 
802. 

— -Psychosen, traumatische 
822. 

Regenerativbrenner 148. 

Regenwasser 1016. 

Reglementirung der Prosti¬ 
tution 636. 

Reichs-Gesundheitsamt, 
deutsches 663. 

— -Impfgesetz, deutsches 
690. 

— -Versicherungsamt 990. 

Reincultur (bakter.) 129. 

Reinigung des Wassers 1022. 

Reis, chemische Zusammen¬ 
setzung 226. 

Religiös. Wahnsinn 1080. 

Retentionshypothese 447. 


Rettung Schiffbrüchiger 659. 

Rettungs-Abtheilungen 654. 

— -Anstalten 651. 

— -Ausschuss für verun¬ 
glückte Touristen 660. 

-Boote 659. 

-Corps 654. 

— -Einrichtungen derEisen- 
bahnen 658. 

— -Geschosse 659. 

— -Gesellschaften 661. 

— — Freiwillige 651,654. 

— — Organisirung 661. 

-Kasten 657. 

-Ringe 659. 

— -Wagen 657. 

-Wesen 648. 

Revision der Apotheken 

53-74. 

— — Drogenhandlungen 
80. 

— — Gifthandlungen 80. 

— — Materialwaarenhand- 
lungen 80. 

Richtung der Strassen 727. 

Rigor mortis 542. 

Rinderpest 203. 

— Impfung gegen 998. 

Rindfleisch 253. 

Rippen, Altersbestimmung 
an 434. 

Risswunden (forens.) 955. 

Röckner-Rothe’sches Ver¬ 
fahren 17. 

Roggenbrod, chemische Zu¬ 
sammensetzung 226. 

Rollplatten, Esmarch’sche 
131. 

Rosanilinfarbstoffe (hygien.) 
241. 

Rosolsäurefarbstoffe(hygien.) 

241. 

Rothes Kreuz 655. 

Rothkraut, chemische Zu¬ 
sammensetzung 226. 

Rothlauf der Schweine 203. 

— — — Nachweis im 
Fleisch 265. 

— -Seuche, Impfung gegen 
1001. 

Rotz, Impfung gegen 1001. 

-Krankheit 202. 

— — Nachweis im Fleisch 
266. 


Rückenmark, traumatische 
Affectionen 824. 

— Blutungen 824. 

— Caissonlähmung 832. 

— Erschütterung 826. 

— Hämatomyelie 826. 

— Meningealapoplexie 824. 

— Meningocele spur. 825. 

— Multiple Sklerose 828. 

— Myelitis 825. 

— progressive Muskelatro¬ 
phie 831. 

— Syringomyelie 827. 

— Tabes 829. 
Rückenmarkerschütterung 

(forens.) 966. 
Rumination, traumatische 
866. 

Rundbrenner 146. 

Russ in der Luft 897. 
Russisches Bad 110. 

S. 

Sachverständige, ärztliche 
405. 

— Thätigkeit der 405. 

— Wahl der 405. 
Sachverständigenthätigkeit 

332, 405. 

Sadebaumvergiftung 935. 
Sadismus 391. 

Särge 579. 

— Construction der 579. 
Säuferwahnsinn 1085. 

Säure Vergiftungen 925. 

— Carbolsäure 927. 

— Oxalsäure 927. 

— Salpetersäure 926. 

— Salzsäure 927. 

— Schwefelsäure 925. 
Saurer Alkohol (bakter.) 

142. 

Salicylsäure im Wein 623. 
Salpetersäure Vergiftung 926. 
Salze in der Ernährung 221. 
Salzsäure zur Desinfection 
189. 

Samariter-Schulen 654. 
-Verein, deutscher 654. 

— -Vereine 661. 

— — Organisirung 661. 
Samenflecke, Untersuchung 

350. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



1110 


.SACHREGISTER. 


Sammelgruben 1044. 
Sanatorien 181, 491. 
Sandbäder 111. 

Sanitäre Grenzrevision 214. 
Sanitäts-Colonnen 655. 

— -Departement 670. 

-Polizei 663, 1005. 

-Rath, oberster 670. 

— -Referenten 670. 

— -Stationen 661. 

-Tasche 657. 

— -Thierärzte 1005. 

-Wachen 654. 

— -Wagen 657. 

— -Wesen 663. 

— -Züge 598. 

Saprol 189. 

Saprophyten 119. 

Sarcina 118. 

— pulmonum 140. 
Sarcinaform (bakter.) 117. 
Sarggehurt 544. 

Schädel, Altersbestimmung 

am 432. 

— Identificir. durch 440. 
-Brüche 959. 

— -Verletzungen 957. 

Schädlichkeiten im Gewerbe¬ 
betrieb 403. , 

— Infectionsstoffe 402. 

— Schlechte Luft 403. 

— Staubinhalation 402. 
Schändung 386. 

SchafHeisch 253. 

— Geruch 254. 

Schallgehör 738. 
Scheidenvorfall, traumati¬ 
scher 870. 

Scheinzwitter,männliche354. 

— weibliche 354. 
Scheinzwitterthum 354. 
Schellfisch, chemische Zu¬ 
sammensetzung 225. 

Schenkelbrüche, trauma¬ 
tische 869. 
Schiffs-Hygiene 671. 

-Räume, Desinfection von 

210 . 

Schimmelpilze in der Luft 
897. 

Schinken, chemische Zu¬ 
sammensetzung 225. 
Schlaftrunkenheit (forens.) 
1083. 

Schlafwandeln 1083. 


Schlagwetter 890. 

Schlechte Luft im Gewerbe¬ 
betrieb 403. 
Schleimbeutelentzündung, 
traumatische 840. 
Schlinggruben 5. 

Schmalz, Verfälschung 627. 
Schmierseifenlösung 189. 
Schmuck-Anlagen 731. 

-Plätze 727. 

Schmutzwässer 1044. 
Schnee, Beseitigung von, 
auf den Strassen 732. 
Schneeschuhlauf 490. 
Schnitt-Brenner 146, 148. 
-Wunden 946. 

— — Flächenwunden 946. 

— — Lappenwunden 946. 
Schraubenform (bakteriolo¬ 
gische) 117. 

Schrecklähmung, trauma¬ 
tische 800. 

Schüttellähmung, trauma¬ 
tische 823. 

Schul-Bänke 676. 

— -Besuch, obligatorischer 
681. 

Schulen, Beleuchtung 677. 

— Gebäude 674. 

— Hygiene der 673. 

— Luft 675. 

— Sitzbänke 676. 

— Ueberanstrengung in den 
679. 

Schul-Gebäude 674. 

— -Hygiene 673. 
Schusswunden 949. 

— Ausschuss 951. 

— Einschussöffnung 949. 

— Prellschuss 952. 

— Ricochetschüsse 950. 

— Schusscanal 950. 

— Streifschüsse 952. 
Schutzimpfung 445, 681. 

— Bedeutung 681. 

— gegen Cholera 684. 

— — Diphtherie 685. 

— — Hundswuth 682. 

— — Milzbrand 446. 
-Pest 684. 

- — Pocken 686. 

— — Rauschbrand 446. 
-Schweinerothlauf 446. 

— — Tetanus 686. 

— Pasteur’sche 682. 


Schutz-Impfungsgesetze 690. 

— -Pockenimpfung 686. 

— -Stoffe 121. 

— -Vorrichtungen im ge¬ 
werblichen und indu¬ 
striellen Betriebe 890. 

Schwachsinn 1078. 

— Dispositionsfähigkeit 
1079. 

— Zurechnungsfähigkeit 
1079. 

Schwängerung 382. 

Schwangerschaft 690. 

— Dauer 696. 

— diagnostische Kenn¬ 
zeichen 693. 

— extrauterine 699. 

— unbewusste 296, 695. 

— zweifelhafte 690. 

Schwangerschaftsdauer 696. 

Schwangerschaftsverhält¬ 
nisse 690. 

— Abdominalschwanger¬ 
schaft 699. 

— Blasenmolen 698. 

— Blutmolen 698. 

— Dauer der Schwanger¬ 
schaft 696. 

— Diagnose der 693. 

— Extrauterinschwanger¬ 
schaft 698. 

— Fleischmolen 698. 

— Ovarialschwangerschaft 
699. 

— Tubenschwangerschaft 
699. 

— Ueberfruchtung 696. 

— Ueberschwängerung 696. 

— unbewusste Schwanger¬ 
schaft 695. 

— zweifelhafte Schwanger¬ 
schaft 690. 

Schwefelige Säure zur Des¬ 
infection 188. 

Schwefel-Kohlenstoff, hygie¬ 
nische Schädlichkeit 233. 

Schwefelsäure zur Desin¬ 
fection 189. 

— -Vergiftung 925. 

Schwefelwasserstoff, hygie¬ 
nische Schädlichkeit 232. 

-Vergiftung 933. 

Schweigsystem in Gefäng¬ 
nissen 315. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



►SACHREGISTER. 


1111 


Schweine-Fleisch 253. 

— — chemische Zusam¬ 
mensetzung 225. 

— -Pest, Impfung gegen 
1001. 

-Seuche, Impfung gegen 

1001. 

Schweiss, bakteriologische 
Untersuchung 136. 
Schwemmcanalisation 9, 11. 
Schwerhörigkeit, simulirte 
713. 

Schwimmen 491. 
Schwindgruben 5, 1044. 
Section 700. 

Sectionen 699. 

— gesetzliche Bestimmun¬ 
gen 700. 

— Protokolle 702. 
Sections-Protokoll 702. 

— — Abfassung des 702. 

— -Zimmer in Leichenhallen 
563. 

See-Aufenthalt 111. 

— -Bäder 111. 

— -Hospize 182. 

— -Krankheit 671. 

— -Wasser, hygienische Be¬ 
deutung 671. 

Selbstmord 742. 

— Ausführung 745. 

— Beweggründe 745. 

— gemeinsamer 746. 

— verschleierter 746. 
Selbstreinigung der Flüsse 

1017. 

Septicaemia haemorrhagica 
im Fleisch 265. 
Septikämie im Fleisch 265. 
Sera für Schutzimpfungen 
137. 

Serumtherapie 121. 
Servirzeit der Apotheker 43. 
Seuchen 199, 704. 

— Abwehrmaassregeln 705. 

— Beulenpest 706. 

— Blattern 707. 

— Bubonenpest 706. 

— Cholera 704. 

— Flecktyphus 708. 

— Hungertyphus 708. 

— Pest 706. 

— Pocken 707. 

— Variola 707. 
Shone’sches Trennsystem 11. 


Sicherheitslampen 890. 
Sickergruben 5. 
Siechenhäuser 497. 
Siechthum, simulirtes 710. 
Siemens' Regenerativbrenner 
148. 

Siemensbrenner 146. 
Simulationen 708. 

— Erkennen der 709. 

— Lehre von den 709. 

— Nachweis 710. 

Simulirte Krankheiten 710. 

— — äussere 711. 

— — Anästhesien 714. 

— — Aphonie 710. 

— — Augenleiden 712. 

— — Bewegungsstörungen 
711. 

— — Bindehautentzündun¬ 
gen 713. 

— — Blindheit 712. 
-Bluthusten 710. 

— — Bruchleiden 711. 
-Einengung des Ge¬ 
sichtsfeldes 712. 

— — Epilepsie 714. 

— — Geisteskrankheiten 
714. 

— — Gelenkleiden 711. 

-Hautgeschwüre 711. 

-Herabsetzung der 

Sehschärfe 722. 

— — innere 710. 

— — Melancholie 715. 

— — Nervenkrankheiten 
713. 

— — Neuralgien 714. 

— — Ohrkrankheiten 713. 

— — Siechthum 710. 

— — Taubheit 713. 

— — traumatische Neu¬ 
rosen 714. 

-Vorfälle 711. 

Sinnesorgane, Verletzungen 
der 962. 

— — Augen 962. 

— — Obren 963. 
Sinnestäuschungen 1080. 

— Hallucinationen 1080. 

— Visionen 1080. 
Sitzbänke in den Schulen 

676. 

Sodalösung zur Desinfection 
189. 

Sodomie 393. 


Solutol 189. 

Sommerdiarrhoe, Beziehung 
zum Boden 177. 
Somnambulismus 1083. 
Somnolentia 1083. 
Sonnenstich 789. 
Spätapoplexie, träum. 816. 
Spätgeburt 294. 

Spaltpilze im Fleisch 264. 

— in der Luft 897. 
Spasmus mutans, traumati¬ 
scher 834. 

Spectrum des Hämatopor- 
phyrin 166. 

— — Hämoglobin 166. 
-Methämoglobin 166. 

— — Oxyhämoglobin 165. 
Sperma, Nachweis von 348. 
Spiritusglühlicht 146, 149. 
Spirillum 118. 
Spirobakteriaceen 118. 
Spirochaetae 118. 

— cholerae asiat. 123. 

— Finkler-Prior 124. 

— Obermeieri 123. 
Spondilitis, traumat. 838. 
Spontaner Abortus 272. 

— — Ursachen des 273. 
Sporen, endogene 117. 

— -Bildung (bakter.) 117. 
Springbrunnen 730. 

Sprit im Wein 623. 

Spül-Aborte 1040. 

— -Canalisation 9. 

-Wässer 1044. 

Sputum,bakteriologische Un¬ 
tersuchung 135. 

Sputumfärbung 136. 

— n. Czaplewsky 136. 

— — Kaufmann 136. 
Stadt-Colonien 246. 

-Plan 721. 

Städteanlage 721. 
Stärkezucker 623. 
Standlazarethe 607. 
Standes-Ordnung für Aerzte 

666. 

— -Vertretung, ärztliche 

666 . 

Staphylococcus pyogenes 
123. 

Staub, hygienische Schädlich¬ 
keit 235. 

— animalischer 236. 

— Metall- 235. 


Digitizeü by 


Gck igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



1112 


SACHREGISTER. 


Staub, Mineral- 235. 

— vegetabilischer 236. 

— in der Luft 591, 897. 

— -Inhalation im Gewerbe¬ 
betrieb 402. 

-Thee 321. 

Stearinkerzen 146, 
Steinkohlengas 147. 
Steinpilze, chemische Zu¬ 
sammensetzung 226. 
Sterblichkeit 715. 

— Anzeigepflicht 715. 

— der Kinder 716, 718. 

— in den Findelanstalten 
249. 

— Krankenjournal 720. 

— Krankheitsstatistik 720. 

— Leichenschau 717. 

— Leichenschauer 717. 

— — ärztliche 718. 

— Statistik 721. 

— Scheintodte 716. 

— Selbstmorde 720. 

— Sterblichkeitstabellen 
719. 

— Todesursachen 716. 
Stereoskop 712. 

Sterilisation 196. 

— discontinuirliche 198. 

— fractionirte 198. 

— von Injectionsflüssig- 
keiten 199. 

— — Instrumenten 198. 

— — Medicamenten 199. 
-Spülflüssigkeiten 198. 

— — Verbandstoffen 198. 
Stichculturen 132. 
Stichwunden 947. 

— Einstichöffnung 947. 

— Stichcanal 948. 

— Stichschnittwunden 948. 
Stimmgabelversuch, Traut- 

mann’s 713. 

Stoffumsatz 222. 

Sträflinge, Obsorge für ent¬ 
lassene 316. 
Strafanstalten 301. 

— Gesundheitsverhältnisse 
305. 

Strafbarkeit (forens.) 1076. 
Strangulation 747. 

Strassen 723. 

— Anlage 724. 

— Bepflasterung 729. 

— Besprengung 733. 


Digitia»d by Gck igle 


Strassen, Breite 725. 

— Canalisation 729. 

— Entwässerung 729. 

— Gänge 723. 

— Gehwege 730. 

— Geschäftsstrassen 723. 

— Herstellung 724. 

— Privatstrassen 723. 

— Promenadewege 730. 

— Rangordnung 723. 

— Reinigung 731. 

— Richtung 727. 

— Verkehrstrassen 723. 

— Wohnstrassen 723. 
Strassenanlage 724. 

— Bebauungsplan 724. 

— Blockgrössen 725. 

— Blocktiefe 725. 

— Breite 725. 

— Fluchtlinien 725. 

— Gebäudehöhe 725. 

— Hof- und Gartenflächen 
724. 

— hygienische Anforde¬ 
rungen 724. 

Strassenbepflasterung 729. 

— Asphalt 730. 

— Holzpflaster 730. 

— Makadam 730. 

— Mosaikpflaster 730. 

— Platten 730. 

— Beton 730. 

— Estrich 730. 

— Fliesen 730. 

— Klinker 730. 
Strassen-Besprengung 733. 

-Breite 725. 

Strassenhygiene 721. 

— Abbruch alter Gebäude 
733. 

— Baufluchtlinie 726. 

— Bebauungsplan 721. 

— Bedürfnisanstalten 730. 

— Bepflasterung 729. 

— Besprengung 733. 

— Blockgrössen 725. 

— Blocktiefe 725. 

— Brunnen 730. 

— Canalisation 729. 

— Entwässerung 724, 729. 

— Expropriationsrecht 721. 

— Fluchtlinien 725. 

— Friedhöfe 727. 

— Fussgängerverkehr 722. 

— Gänge 723. 


Strassenhygiene, Gebäude¬ 
höhe 725. 

— Gehwege 730. 

— Geschäftsstrassen 723. 

— Hauskehricht 732. 

— Hausmüll 732. 

— Herstellung der Strassen 
724. 

— Kinderspielplätze 727. 

— Orientirung der Strassen 
727. 

— Parks 727. 

— Privatstrassen 723. 

— Promenadenwege 730. 

— Rangordnung d. Strassen 
723. 

— Richtung der Strassen 
727. 

— Schmuckanlagen 731. 

— Schmuckplätze 727. 

— Springbrunnen 730. 

— Stadtplan 721. 

— Strassen - Besprengung 
733. 

— — -Breite 725. 

— — -Kehricht 731. 

— — -Reinigung 731. 
--Staub 731. 

— — -Schmutz 731. 

— -Schnee 731. 

— Verkehrs-Strassen 723. 

— Wohnstrassen 723. 
Strassenkehricht 731. 

— Beseitigung 732. 

— Kehrmaschinen 732. 
Strassenreinigung 731. 

— Ausführung 732. 

— Beseitigung des Haus¬ 
kehrichts 732. 

— -Schnees 733. 

— Besprengung 733. 

— Hauskehricht 732. 

— Kehrmaschinen 732. 

— Menge des Strassen- 
kehrichts 732. 

— Sammlung des Kehrichts 
732. 

— Schmutz 731. 

— Schnee 732. 

— Staub 731. 
Strassenschmutz 731. 

— Bakteriengehalt 729. 
Strassenscbnee 732. 

— Beseitigung 733. 
Strassenstaub 731. 


Original from 

UNIVERSSTY OF MICHIGAN 



SACHREGISTER. 


1113 


Streptococcus US. 

— Erysipelatis 123. 

— pyogenes 123, 140. 
Streucloset 6. 

Strichculturen 132. 
Strontium Verbindungen 623. 
Strychninvergiftung 944. 

— Sectionsbefund 944. 
Stühle, bakteriologische Un¬ 
tersuchung 136. 

Sturzgeburt 299. 

Sublimat zur Desinfection 
188. 

Sudatorium 110. 
Süsswasserbäder 105. 
Süssweine, V erfälschung624. 
Sttvem’sches Verfahren 10. 
Suggestion 428. 

— hypnotische 427. 

— posthypnotische 428. 

— Wach- 428. 
Superfoecundatio 696. 
Superfoetatio 697. 

Syphilis, traumatische 847. 
Syphilisation 682. 
Syringomyelie, traumatische 

* 827. 

T. 

Tabak 330. 

—- Verfälschungen 331. 
Tabes, traumatische 829. 
Tätowiren 338. 
Tätowirungen 333, 441. 

— forensische Bedeutung 
339. 

Tageslichtreflectoren 144. 
Talgkerze 146. 

Tanzen 489. 

Tapeten 1066. 
Taubgeborene 735. 
Taubheit, doppelseitige 713. 

— einseitige 713. 

— simulirte 713. 

— Stimmgabelversuch 713. 
Taubstumme 734. 

— Fingersprache der 736. 

— Geberdensprache 736. 

— Lautsprache 736. 

— Zeichensprache 737. 
Taubstummenanstalten 734. 
T aubstummenun terricht 736. 

— Consonantengehör 738. 

— Daktylologie 736. 


Taubstummenunterricht, 
deutsche Methode 736. 

— Externste 740. 

— Fingersprache 736. 

— französische Methode 
736. 

— Geberdensprache 736. 

— gemischte Methode 738. 

— Hörübungen 739. 

— Internate 740. 

— Lautsprache 736. 

— Partialtaube 738. 

— Schallgehör 738. 

— Schriftsprache 736. 

— Tongehör 738. 

— Totaltaube 738. 

— Zeichensprache 737. 
Taubstummheit 734, 1077. 
Technik der Bakterienfär¬ 
bung 125. 

Technische V ergiftungen924. 
Teichmann’sche Blutkry- 
stalle 166. 

Tellerbohrer 179. 
Temperatur 586. 

— hygienische Bedeutung 
236. 

Temperaturen für Wohn- 
räume 416. 

Temperaturschwankungen 

586. 

Tepidarium 110. 

Teppiche 1065. 
Testirfähigkeit (forens.) 
1070. 

— gesetzt. Bestimm. 1070. 
Tetanus-Bacillen im Boden 

173. 

Tetanus-Schutzimpfung 686. 
Tetraden 117. 

Thee 320. 

— grüner 321. 

— schwarzer 321. 

— Staubthee 321. 

— Verfälschungen321,625. 

— Ziegelthee 321. 
TheerfarbstofFe (hygienisch) 

241. 

— im Wein 623. 

Theilung (bakteriologisch) 

117. 

Thierärzte 994. 

— Amtsthierärzte 996. 

— Bezirksthierärzte 996, 
1006. 


Thierärzte, Controlthierärzte 
996. 

— Curschmiede 1007. 

— Departementsthierärzte 
996. 

— Districtsthierärzte 996. 

— Grenzthierärzte 997. 

— Kreisthierärzte. 

— Landesthierärzte 996, 
1006. 

— Militärthierärzte 1007. 

— Oberamtsthierärzte 996. 

— Polizeithierärzte 996. 

— Sanitätsthierärzte 1005, 

— Staatsthierärzte 996, 
1007. 

Thierarzneiwesen 995. 

— in Deutschland 995. 

— in Oesterreich - Ungarn 
1006. 

Thierische Parasiten des 
Fleisches 261. 

— — Blasenwürmer 263. 

— — Distomen 263. 

— — Echinococcenblasen 
263. 

— — Finnen 261. 

— — Oestruslarven 264. 

— — Psorospermien 263. 

-Trichinen 262. 

Thierlymphe 689. 
Thierseuchen 202. 

Tiro 41. 

Tirocinalprüfung 41. 
Tirocinium 41. 

Tod 538. 

— Herztod 538. 

— Kennzeichen 539. 

— Lungentod 538. 
Todesarten, gewaltsame 742. 

— Blitzschlag 791. 

— Etektricität 791. 

— Enthauptung 748. 

— Erdrosseln 747, 765. 

— Erhängen 747, 760. 

— Erschiessen 747. 

— Erstickung 751. 

— Ertrinken 768. 

— Erwürgen 747, 766. 

— Garottirung 747. 

— Guillotinirung 748. 

— Hinrichtung 746. 

— Hitzschlag 788. 

— Selbstmord 742. 

— Sonnenstich 789. 


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1114 


SACHREGISTER. 


Todesarten, Strangulation 
747. 

— Verbrennung 780. 

— Verhungern 749. 
Todesursache, Feststellung 

der 716. 

Todtenbeschau 537. 

— Beschauärzte 537. 

— gesetzliche Bestimmun¬ 
gen 537. 

— Leichenfrauen 537. 
TodtenHecke 540. 

— Farbe der 541. 

— Lage der 541. 
Todtenstarre 542. 

— Beginn 542. 

— Dauer 543. 

— Gang der 543. 

— intrauterine 542. 

— kataleptische 543. 

— Ursache 544. 

Tongehör 738. 
Tonnensystem 5, 1036. 
Torfmull 189. 
Torfstreucloset 6. 

Totaltaube 738. 

Toxine 120, 446. 

Toxische Psychosen 1084. 

— — Alkoholismus 1084. 

— — Morphinismus 1084. 
Transport von Fleisch 201. 

— — Leichen 563. 

— — Thieren 199. 
Trauma und Constitutions¬ 
anomalien 847. 

Trauma und Infection 840. 
Traumatische Krankheiten 
793. 

— Abort 871. 

— Akromegalie 824. 

— alimentäre Glykosurie 
798. 

— Aneurysmen 840. 

— Anteflexio 870. 

— Anteversio 870. 

— Aortitis, acute 840. 

— Aponeurositis palmaris 
839. 

— Bauchorgane 861. 

— Brustcontusionen 845. 

— Caissonlähmung 832. 

— Carcinome 850. 
cerebrale Neurosen 799. 

— Chylothorax 861. 

— Coccygodynie 871. 


Traumatische Krankheiten, 
Darm 866. 

— Darmlähmung 867. 

— Delirium tremens 822. 

— Dementia paralytica 821. 

— Diabetes 847. 

— Dupuytren’sche Contrac- 
tur 839. 

— Emotionslähmungen800. 

— Encephalitis 813. 

— Endocarditis 857. 

— Enteritis 867. 

— epigastrische Brüche869. 

— Epilepsie 817. 

— Epithelcysten 852. 

— Gallenblase 861. 

— Gedächtnisstörung 812. 

— Gefässsystemaffectionen 
840. 

— Gehirn-Affectionen 811. 

— — -Erschütterung 812. 

— -Erweichung 813. 

— Gelenk-Mäuse 837. 

— -Neurosen 799. 

--Tuberkulose 842. 

— Geschwülste 850. 

— Gliome 851. 

— Hämatocelefeminae871. 

— Haematomyelie 826. 

— Hepatitis 862. 

— Hernien 867. 

— Herz-Dilatation 859. 

— — -Krankheiten 856. 

— — -Störungen (func¬ 
tioneile) 859. 

— Hirn-Abscess 814. 
--Blutungen 815. 

— Hodentuberkulose 846. 

— Hydronephrose 864. 

— Hysterie 799. 

j — hysterische Hämoptoe 
[ 801. 

- Tachypnoe 801. 

— Infection 840. 

— Klappenrupturen 858. 

— Knochentuberkulose 842. 

— Lähmungsirresein 821. 

— Leber 861. 

— Leukämie 849. 

— Lungen-Affectionen 852. 

— — -Emphysem 856. 

— — -Gangrän 855. 

— — -Tuberkulose 844. 

— — -Tumoren 856. 

— Lymphcysten 852. 


Traumatische Krankheiten, 
Magen 865. 

— -Brüche 869. 

--Geschwür 866. 

— Magenwandcyste 866. 

— Menin gealapoplexie 824. 

— Meningentuberkulose 
844. 

— Meningitis suppur. 811. 

— Meningocele spur. spin. 
825. 

— Merycismus 866. 

— Milz 865. 

— Morvan’sche Krankheit 
827. 

— Multiple Sklerose 828. 

— Muskel-Atrophie 831. 
-reflectorische 836. 

— — -Collaps 836. 

— — -Degeneration 837. 

— Myalgien 837. 

— Myelitis 825. 

— Myoclonus fibr. mult. 
833. 

I — Myokymie 833. 

— NabelbrUche 869. 

— Nebenhodentuberkulose 
846. 

— Nephritis 864. 

— Nephrolithiasis 865. 

— Nerven 894. 

— Neurasthenie 802. 

— Neuritis 835. 

— — ascendens 836. 

— Neurosen 803. 

— — simulirte 714. 

— Nieren 862. 

— Nierenruptur 863. 

— Nuclearlähmung der 
Augen 817. 

— Osteomyelitis 84(5. 

— Pankreascysten 869. 

— Parästhesien 855. 

— Paralysis agitans 823. 
—Paramyoclonusmult. 800. 

— Paratyphlitis 867. 

— Pericarditis 860. 

— Peritonitis 872. 

— Perityphlitis 867. 

— perniciöse Anämie 849. 

— Pleuritis 855. 

— Pneumonien 852. 

— Polioencephalitis super. 
813. 


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SACHREGISTER. 


1115 


Traumatische Krankh., pri¬ 
märes acutes Irresein 819. 

— progressive Muskel¬ 
atrophie 831. 

— — Paralyse 821. 

— Psychoneurosen 803. 

— Psychosen 819. 

— Reflexhysterie 802. 

— Reflexpsychosen 822. 

— Retroflexio 870. 

— Retroversio 870. 

— rhachialgische Beschwer¬ 
den 802. 

— Rückenmarksaffectionen 
824. 

— Rumination 860. 

— Scheidenvorfall 870. 

— Schenkelbruche 869. 

— Schleimbeutelentzündung 
840. 


Trockenschrank 197. 
Trommelfellverletzungen 
(forens.) 963. 
Tropenhygiene 873. 
Trunkenheit 1084. 
Trunksucht 881, 1085. 
Tubenschwangerschaft 699. 
Tuberkulin 447. 
Tuberkulose der Rinder 
1001 . 

— Nachweis im Fleisch 265. 

— traumatische 841. 
Turnen 488. 

Typhlitis, traumatische 867. 
Typhus-Contagium 176. 

— -Miasma 176 

— -Schutzimpfung 684. 

U. 


Universal-Pharmakopöen 33. 
Untergrundberieselung 16. 
Untersuchung von Fuss- 
spuren 341. 

— — Haaren 412. 

— — Narben 333. 

— — Samenflecken 350. 

— — Tätowirungen 338. 

— — Waffen 339. 

— — Wahnsinnigen 1081. 

— — Wasser 1019. 

— — Werkzeugen 339. 

— — zweifelhafter Jung¬ 
frauschaft 374. 

-Zwitterbildungen 356. 

Untersuchungen, bakteriolo¬ 
gische 125, 134. 

— gerichtliche 125. 

— gerichtlich-medicinischc 
333. 


— Schrecklähmung 800. 

— Schüttellähmung 823. 

— Simulation 806. 

— Spätapoplexie 816. 

— Spasmus mutans 834. 

— Spondilitis 838. 

— Syphilis 847. 

— Syringomyelie 827. 

— Tabes 829. 

— traumatisch-hysterischer 
Tremor 799. 

— Tuberkulose 841. 

— Typhlitis 867. 

— Ulcus duodeni 867. 

— Uterus-Ruptur 871. 

— — -Vorfall 870. 

— Wander-Leber 862. 
-MUz 865. 

— — -Niere 862. 
Trautmann’s Stimmgabel¬ 
versuche 713. 

Tremor, traumatisch-hyste¬ 
rischer 799. 

Trennsysteme 11, 1044. 
Treppenhaus, Anlage 1056. 
Tribadie 390. 

Trichinen im Fleisch 262. 
Triebe, krankhafte 1080. 
Trinkerasyle 881. 
Trinkwasser 1018. 
Triphenylmethanfarbstoffe 
(hygienisch) 241. 
Trockenclosets 1038. 
Trockene Desinfectionsmittel 
189. 


Ueberfruchtung 696. 

Ueberlegung (forens.) 1075. 

Ueberschwängerung 696. 

Ueberschwemmungscommis- 
sion 658. 

Unbewusste Geburt 296. 

— Schwangerschaft 296, 
695. 

Unbewusstheit, transitorische 
(forens.) 1081. 

Unfälle 648. 

— Entstehung von 648. 

— Verhütung 866. 

Unfall-Erkrankungen 794. 

— -Neurosen 798, 803. 

— -Stationen 654. 

— -Statistik 893. 

Unfalls-Anzeigepflicht 896. 

Unfallverhütung 886. 

— im Bergbau 890. 

— im Eisenbahnverkehr 889. 

— in elektrischen Betrieben 
892. 

— in gewerblichen Betrieben 
403, 890. 

— in industriellen Betrieben 
890. 

j — in Theatern 888. 

Unfallverhütungs-Vorschrif¬ 
ten 893. 

Unfreiheit des Willens 1074. 

-transitorischel081. 

Ungeschälte Kartoffelhälften 
(bakteriologisch) 139. 

' Unglücksfälle 650. 


Unterleibsverletzungen (fo¬ 
rens.) 967. 

— Bauchorgane 967. 

— Beckenorgane 969. 

— Geschlechtsorgane 969. 
Unzucht 387. 

— widernatürliche 390,393. 
Unzüchtige Handlungen 387. 
Unzurechnungsfähig 1073. 
Uranfarben (hygienisch) 

240. 

Urninge 391. 

Uteruserkrankungen, trau¬ 
matische 870. 

V. 

Vaccination 445, 686. 
Vaginismus (forens.) 366. 
Variola 607. 

— Abwehr 607. 

— Aetiologie 607. 

— Heimat 607. 

— Verbreitung 607. 

— Wanderung 607. 
Variolation 445, 682. 
Vegetabilischer Staub 236. 
V enerischeAffectionen,Nach¬ 
weis von 350. 

Ventilation 896. 

— Aspirationslüftung 907. 

— Drucklüftung 914. 

— Flügelbläser 914. 

— Lockfeuerung 915. 

— Lufthaube 915. 


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1116 


SACHREGISTER. 


Ventilation, neutrale Zone 
906. 

— Schraubenbläser 914. 

— Staubkammern 908. 

— Strahlapparate 914. 

— Wasserschleier 908. 

— Wattefilter 908. 
Ventilationsbedarf 904. 
Verbrecher-Gehirn 512. 

— -Physiologie 514. 

-Typus 511. 

Verbrennung, Tod durch 

780. 

— Leichenbefund 782. 

— Selbstmord durch 785. 
Verbrennungstod 785. 
Vereidigung des Apothekers 

44. 

Vereine vom rothen Kreuz 
655. 

Vereinskerze 143. 
Vereinskrankencassen 991. 
Vererbung 217. 

— Gesetz der 217. 

— latente 217. 

— unterbrochene 217. 

— ununterbrochene 217. 

— von Krankheiten 218. 
Verfälschung von Bier 624. 

— — Branntwein 625. 

— — Brot 620. 

— — Butter 619. 

— — Fleischwaaren 626. 

— — Genussmitteln 617. 

— — Gewürzen 626. 
-Kaffee 625. 

— — Liqueuren 625. 

— — Liqueurweinen 624. 

— — Medicinalweinen624. 
-Mehl 620. 

— — Milch 619. 

— — Schmalz 627. 

— — Süssweinen 624. 
-Thee 625. 

— — Wein 620. 

— — Wurstwaaren 626. 
Verfahren von Kugel 712. 

— — Rabl-Rückhard 712. 
Verfolgungswahn 1080. 

— hypochondrischer 1086. 
Vergiftungen 916. 

— Allgemeines 916. 

— Ausgang der 919. 

— chemischer Nachweis 
923. 


Vergiftungen durch ätzende 
Gase und Dämpfe 923. 

— — — Salze 930. 

-Alkalien 928. 

-organische Aetzstoffe 

933. 

— — Säuren 925. 

— forensischer Beweis 918. 

— gesetzliche Bestimmun¬ 
gen 916. 

— gewerbliche 402, 924. 

— Giftmorde 924. 

— Giftselbstmorde 924. 

— Krankheitserscheinun¬ 
gen 918. 

— Leichenbefunde 920. 

— medicinale 924. 

— ökonomische 924. 

— Säure Vergiftungen 925. 

— Specielles 924. 

— technische 924. 
Verletzungen 945. 

— agonale 972. 

— Art der 945. 

— Augenaushebeln 962. 

— Bauchwunden 967. 

— Beckenbrüche 968. 

— Berufsunfähigkeit durch 
985. 

— Bisswunden 955. 

— Blutunterlaufungen 952. 

— Brustverletzungen 965. 

— Brustwunden 966. 

— Contusionen 952. 

— Erschütterungen 957. 

— Flächenwunden 946. 

— Folgen der 970. 

— Gedärmezerreissung968. 

— Gekrösezerreissung 968. 

— Gelenkverletzungen 970. 

— Geschlechtsorganverle¬ 
tzungen 969. 

— Gesetzliche Bestimmun¬ 
gen 981. 

— Gesichtsverletzungen 
961. 

— Gesundheitsstörung durch 
985. 

— Gliedmaassenverletzun- 
gcn 969. 

— Halswunden 964. 

— Hamblasenrupturen968. 

— Hautabschürfungen 954. 

— Herzwuuden 966. 

— Iliebwundeu 946. 


Verletzungen, Knochen¬ 
brüche 956, 965. 

— Kopfverletzungen 957. 

— Kratzwunden 954. 

— Lappenwunden 946. 

— lebensgefährliche 979. 

— Leberrupturen 967. 

— leichte 979. 

— Lungen-Quetschung965. 

— — -Schusswunden 966. 

— — -Stichwunden 966. 

— Magenzerreissungen 968. 

— Mastdarmverletzungen 
968. 

— Milzzerreissungen 967. 

— Nierenrisse 968. 

— Ohrblutgeschwülste 963. 

— Organrupturen 956,965. 

— postmortale 968. 

— Quetschrisswunden 956. 

— Qualification der 984. 

— Quetschungen 952. 

— Risswunden 955. 

— Rückenmarkerschütte- 
rung 966. 

— Schädelbrüche 959. 

— Schädelverletzungen957. 

— Schnittwunden 946. 

— Schusswunden 947. 

— schwere 979. 

— Sitz der 957. 

— Stichschnittwunden 948. 

— Stichwunden 947. 

— tödtliche 970. 

— Trommelfellverletzungen 
963. 

— Unterleibsverletzungen 
967. 

— Verrenkungen 956. 

— vitale 973. 

— Waffen zu 982. 

— Zahnverletzungen 962. 

— Zerreissungen 955. 

— Zwerchfellverletzungen 
967. 

Verhungern 749. 
Verkehrsstrassen 723. 
Verletzungsfolgen 982. 
Verrenkungen (forens.) 956. 
Verrücktheit, hypochondr. 
1086 

Versicherungswesen 987. 

— Altersversicherung 990. 

— Invaliditätsversicherung 
990. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



SACHREGISTER. 


1117 


Versicherungswesen, Kran¬ 
kenkassen 988, 991. 

— Krankenversicherung 
987. 

— Unfallversicherung 989. 
Verstellte Krankheiten 709. 
Verstellungen (forens.) 708. 
Versteinerung der Knochen 

551. 

Vertrocknung der Leichen 
540. 

Vertrocknungsflecke 540. 
Verwesung 546. 

— Aasinsecten 550. 

— der Knochen 551. 

— — Leichen 546. 

— künstliche Beförderung 
581. 

— Moderbildner 550. 
Veterinär-Assessor 996. 

— -Inspectoren 1007. 

-Rath 1005. 

— -Sanitätspersonale 1006. 
Veterinärwesen 995. 

— in Deutschland 995. 

— in Oesterreich-Ungarn 
1006. 

Vibrio 118. 

— cholerae 140. 

— danubicus 140. 

-— Finkler 140. 

— proteus 140. 

Vieh-Pässe 200. 

— -Seuchen 202. 

-Gesetz 997. 

— -Transport 199. 

— — Desinfection bei 206. 
Visionen (forens.) 1080. 
Vitale Verletzungen 973. 
Volksspiele 489. 

Vorfälle, simulirte 711. 
Vorgeschützte Krankheiten 

710. 

W. 

Wachsuggestion 428. 
Wärme-Abgabe der Heizan¬ 
lagen 419. 

— -Bedarf zu beheizender 
Räume 419. 

Waffen, gerichtlich-medici- 
nische Untersuchung 339. 
Wahnsinn 1079. 

— Abulie 1080. 


Wahnsinn, Anfälle, mania- 
kalische 1080. 

— erotischer 1080. 

— Grössen wahn 1080. 

— Hallucinationen 1080. 

— Heimweh 1080. 

— krankhafte Triebe 1080. 

— Maniakal. Anfälle 1080. 

— Melancholie 1080. 

— Monomanien 1080. 

— Nostalgie 1080. 

— politischer 1080. 

— Querulantenwahn 1080. 

— Raptus melancholicus 
1080. 

— Raserei 1080. 

— religiöser 1080. 

— Sinnestäuschungen 1080. 

— Verfolgungswahn 1080. 

— — hypochondrischer 
1086. 

— Visionen 1080. 

—Verrücktheit, hypochondr. 
1086. 

— Willenlosigkeit 1080. 

— Zwangsvorstellungen 
1079. 

Wahnvorstellungen 1075. 
Waisenanstalten 1007. 

— Erhaltung der 1015. 

— Erziehung in den 1011. 

— Hygiene der 1010. 

— Organisation 1008. 

— Unterhaltung der 1012. 

— Unterricht in den 1011. 

— Verköstigung in den 
1010. 

Wandanstrich 1065. 
Wandporosität 910. 
Waring’s Trennsystem 11. 
Waschküchen, Anlage 1056. 
Wasser 1015. 

— bakteriologische Unter¬ 
suchung 135. 

— Bedeutung für die Er¬ 
nährung 221. 

— Begutachtung des 1018. 

— Flusswasser 1017. 

— Grundwasser 1017. 

— Meerwasser 1017. 

— Nutzwasser 1018. 

— Oberflächenwasser 1016. 

— Regenwasser 1016. 

— Reinigung des 1022. 

— Trinkwasser 1018. 


Wasser, Untersuchung des 

1019. 

Wasser-Closets 5, 1040. 

— -Filtration 1023. 

— -Gas 149. 

— -Leitungen 1021. 
Wasserreinigung 1022. 

— Chlorkalkdesinfections- 
verfahren 1022. 

I — Filtration 1023. 
i — Kochen 1022. 

W asseruntersuchung 1019. 

— bakteriologische 134, 

1020. 

— chemische 1020. 

— — Abdampfrückstand 
1020. 

— — Ammoniak 1020. 

— — Bleisalze 1021. 

— — Chlorgehalt 1020. 

— — Eisensalze 1021. 
-Härte 1020. 

— — Kalksalze 1020. 

— — Oxydirbarkeit 1020. 

— — Salpetersäure 1020. 

— — Salpetrige Säure 
1020. 

— — Schwefelsäure 1021. 

— mikroskopische 1020. 

— physikalische 1020. 
Wasserversorgung 1021. 

— artesische Brunnen 1021. 

— Brunnen 1021. 

— Cistemen 1021. 

— Flachbrunnen 1021. 

— Kesselbrunnen 1021. 

— Leitungen 1021. 

— Röhrenbrunnen 1021. 

— Tiefbrunnen 1021. 
Wasserwehr 648. 

Weber’s Photometer 143. 
— Raumwinkelmesser 144. 
Wein 325. 

— Conserviren 623. 

— Färben 623. 

— Gesetz, betreffend den 
Verkehr mit 618. 

— Jahresproduction 326. 
— Obstweine 326. 

— Schönen 622. 

— Verfälschung 620. 

— -Verbrauch 326. 
Weinzusätze, Nachweis von 

622. 

— — Alumiumsalze 622. 


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1118 


SACHREGISTER. 


Weinzusätze, Nachweis von 
Baryumverbindungen 622. 

-Borsäure 622. 

— — Glycerin 622. 

-Kermesbeeren 623. 

— — Magnesiumverbin¬ 
dungen 623. 

— — Salicylsüure 623. 

— — Sprit 623. 

— — Stärkezucker 623. 

— — Strontiumverbindun¬ 
gen 623. 

— — Theerfarbstoffe 623. 

Weintrauben, chemische Zu¬ 
sammensetzung 226. 

Weizenbrot, chemische Zu¬ 
sammensetzung 226. 

Wenhamlampe 148. 

Werkzeuge und Waffen, 
Untersuchung 339. 

Wichmann’sche Cultur- 
schalen 131. 

Wiener freiwillige Rettungs¬ 
gesellschaft 651. 

Wilhelmy’sches Verfahren 
11. 

Willenlosigkeit (forens.) 
1080. 

Willensäusserungen, ab¬ 
norme 1080. 

Willensfreiheit (forens.) 
1073. 

Winddruck 910. 

Wirbelknochen, Altersbe¬ 
stimmung an 434. 

Wohngesetze 1024. 

Wohnhaus, Aufbau des 1061. 

Wohnstrassen 723. 

Wohnung der Fabrikarbeiter 
238. 

Wohnungshygiene 1023. 

— AbfaUstoffe 1031,1045. 

— Baikone 1057. 

— Baugrund 1060. 

— Baumaterialien 1027, 
1061. 

— Bauordnungen 1025. 

— Bauschutt 1029. 

— Bebauungsart 1053. 

— Beheizung 1058. 

— Beleuchtung 1058. 

— Closets 1034. 

— Dachgeschoss 1056. 

— Deckenconstructionen 
1065. 


Wohnungshygiene, Desin- 
fection von Grubeninhalt 
1037. 

— — von Wohnräumen 
1048. 

— Erker 1057. 

— Feuchtigkeit 1026. 

— Fussböden 1065. 

— Gesundheitsaufseher 
1052. 

— Grubensystem 1034. 

— Hauskehricht 1045. 

— Hausmtill 1045. 

— Hausschwamm 1029. 

— Kellergeschoss 1056. 

— Klärgruben 1040. 

— Kübelsystem 1036. 

— Loggia 1057. 

— Luftstaub 1047. 

— Massenaborte 1040. 

— Massenlocale 1066. 

— Mauerfrass 1027. 

— Möbel 1066. 

— Pissoiranlagen 1042. 

— Salpeter bildung 1027. 

— Sammelgruben 1044. 

— Schmutzwässer 1044. 

— Schwindgruben 1044. 

— Sonnenbestrahlungl054. 

— Sonnenlicht 1055. 

— Spülaborte 1040. 

— Tapeten 1066. 

— Teppiche 1065. 

— Tonnensystem 1036. 

— Trennsystem 1044. 

— Treppenhaus 1056. 

— Trockenclosets 1038. 

— Uebervölkerung 1051. 

— Ueberwachung 1052. 

— Verunreinigungen 1028. 

— Vorschriften zur 1024. 

— Wandanstrich 1065. 

— Waschküchen 1056. 

— Wasserclosets 1040. 

— Wasserversorgung 1060. 

— Wohngesetze 1024. 

— Wohnhausbau 1026. 

— Wohnungspfleger 1052. 

— Zwischendecken 1027. 
Wohnungspflege 1024. 
Wohnungsrechte 1024. 

— Aussichtsrecht 1025. 

— Hausrecht 1024. 

— Lichtrecht 1025. 


Wohnungsverhältnisse der 
Prostituirten 631. 
Wurmfarnvergiftung 934. 
Wurstfabrikate, Fälschung 
257. 

— Fäulnis der 260. 

— Grauwerden der 260. 
Wurstwaaren, Verfälschung 

626. 

Wuthkrankheit der Haus- 
thiere 203. 


Z. 

Zähne, Identificirung durch 
441. 

Zahn-Entwickelung 433. 

— -Verletzungen 962. 

-Wechsel 433. 

Zeichensprache 737. 
Zeugnisse, ärztliche 97. 
Zeugungsfähigkeit 360. 

— zweifelhafte 360. 
Zeugungsunfähigkeit 367. 
Zerreissungen (forens.) 955. 

— Erschütterungen 957. 

— Knochenbrüche 956. 

— Organrupturen 956. 

— Quetschrisswunden 956. 

— Risswunden 955. 

— Zermalmung 957. 
Ziegelthee 321. 

Ziehl’sche Lösung 142. 
Zinkfarben (hygien.) 240. 
Zinnfarben (hygien.) 240. 
Zimmergymnastik 489. 
Zoogloeen 117. 
Zuckersäurevergiftung 927. 
Zufluchtsstätten 491. 
Zuhälterthum 641. 

Zuluft 911. 

Zurechnungsfähigkeit 1069, 
1073. 

— Abulie 1089. 

— Affecte, pathologische 
1082. 

— Alkoholismus 1084. 

— Aphasie 1077. 

— Bewusstlosigkeit 1073. 

— Blödsinn 1078. 

— Cretinismus 1078. 

— Delirium tremens 1085. 

— Denkfähigkeit 1069. 

— epilept. Irresein 1086. 


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SACHREGISTER. 


1119 


Zurechnungsfähigkeit, 

gesetzl. Bestimm. 1073. 

— Hallucinationen 1080. 

— Hebephrenie 1078. 

— hypochondr. Irresein 
1086. 

— hyster. Irresein 1086. 

— Idiotismus 1078. 

— Irresein, alkoholisches 
1085.’^ 

-epileptisches 1086. 

— — hysterisches 1086. 

— — moralisches 1086. 

— Jugendirresein 1078. 

— krankhafte Triebe 1080. 

— Mania transitoria 1083. 

— Maniakal. Anfälle 1080. 

— Mikrocephalie 1078. 

— Monomanien 1080. 

— Moral Insanity 1078. 

— Morphinismus 1085. 

— Nostalgie 1080. 

— Paranoia 1079. 

— psychische Insufficienz 
1075. 

— Psychosen, toxische 1084. 


Zurechnungsfähigkeit, Psy¬ 
chosen, verschied. 1086. 

— Raptus melancholieus 
1080. 

— Raserei 1080. 

— Säuferwahnsinn 1085. 

— Schlaftrunkenheit 1083. 

— Schlafwandeln 1083. 

— Schwachsinn 1078. 

— Sinnestäuschungen 1080. 

— Somnambulismus 1083. 

— Somnolentia 1083. 

— Strafbarkeit 1076. 

— Toxische Psychosen 1084. 

— Trunkenheit 1084. 

— Trunksucht 1084. 

— Ueberlegung 1075. 

— Unbewusstheit, transi¬ 
torische 1081. 

— Unfreiheit des Willens 
1074. 

— — transitorische 1081. 

— Untersuchung Wahn¬ 
sinniger 1081. 

— Unzurechnungsfähigkeit 
1073. 


Zurechnungsfähigkeit, ver¬ 
minderte 1075. 

— Visionen 1080. 

— Wahnsinn 1079. 

— W ahnvorstellungen 1075. 

— Willensäusserungen, ab¬ 
norme 1080. 

— Willenlosigkeit 1080. 

— Zwangsvorstellungen 
1079. 

Zwangsvorstellungen 1079. 
Zweifelhafte Jungfrauschaft 
374. 

— Schwangerschaft 690. 

— Zeugungsfähigkeit 360. 
Zweifelhaftes Geschlecht 

353. 

Zweilochbrenner 146, 148. 
Zwitter 354. 

— falsche 354. 

— wahre 354. 
Zwitterbildung 353. 
Zwitterbildungen, falsche 

355. 

— Untersuchung von 356. 
Zwerchfellverletzungen 967. 


K. und k. Hofbuchdruckerei Karl Prochaeka in Tesclien, 


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