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BILDER
AUS DEM
LEBEN IN ENGLAND
VON
Ludwig Freiherrn von Ompteda.
Wir lernen die Menschen nicht kennen,
wenn sit* zu uns kommen; wir roiissen zu
ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit
ihnen steht.
Goethe. -
BRESLAU.
Druck und Verlag von S. Schottlaender.
i ; I88l.
■: 13 APR. 15
Ihrer
kaiserlichen und königlichen Hoheit
VICTORIA
Kronprinzessin
f
des deutschen Reiches und von Preussen
Princess Royal von Grossbritannien und Irland
in tiefster Ehrfurcht gewidmet
vom
Verfasser und Verleger.
Inhalt.
Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
I. Einleitung l
II. Hatfield Ilousei der Landsitz des Marquis von Salisbury ... 5
m. Eine moderne Cottage 28
IV. Windsor Castle und die königlichen Hausgärten 42
V. Die botanischen Gärten in Kew 54
VI. Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute 66
VII. Wobum Abbey, der Landsitz des Herzogs von Bedford .... 78
Vni. Die Blumenausstellungen 99
Die Trinkkrankheit in England 121
Irrfahrten in London • 179
Ein Tag in Oxford ; 209
I. London und Oxford . . .• . 211
II. Magdalen College 223
III. High Street 234
IV. St. Mary the Virgin 245
V. Englische Bildungsmittel zu Lande. Cricket Match. Debattirclub 257
VI. Englische Bildungsmittel zu Wasser. Ein Bumping Racc . . . 269
VII. Dinner in Christ Church Hall 279
VIII. Common Room und Kathedrale in Christ Church College . . . 290
IX. Eine oxforder Studentenkneipe 303
Englische
Landsitze, Gärten und Gärtner.
Vor- und Fürwort.
Jün Theil der nachstehenden Aufsätze ist bereits in der
Monatsschrift „Nord und Süd" erschienen. Die freundliche und
ermunternde Aufnahme, welche diese Versuche eines unbe-
kannten schriftstellerischen Dilettanten fanden, ermuthigt mich,
meine „Bilder aus dem Leben in England" jetzt dem günstigen
Leser in geschlossener, überarbeiteter und vervollständigter
Reihefolge vorzulegen.
Diese Bilder sind aufgezeichnet worden, wie sie sich in der
Erinnerung des Heimgekehrten wiederspiegelten ; es sind keine
Photographien, die den Augenblick peinlich genau abschreiben.
Ich strebte, als ich sie schuf, nach der höheren Wahrheit der
Darstellung, die durch geordnete Gruppirung der einzelnen zer-
streuten Erlebnisse zu einem Gesammtbilde erreicht wird —
falls Zeichnung und Farben richtig und treu sind — gegenüber
der mechanischen Genauigkeit des Reisetagebuchs mit seinen
vereinzelten, lückenhaften Wahrnehmungen, mit seinen unver-
meidlichen Alltäglichkeiten.
Ich wünsche und hoffe, dass die folgenden Blätter meine
Leser unterhalten werden.
Zugleich aber hoffe und wünsche ich auch, dass meine
Skizzen nicht ohne ein wenig bleibenden Nutzen gelesen
werden mögen.
Es war mein Bestreben, das Leben unserer englischen
Vettern von einigen neuen Seiten und auf einigen Gebieten
vorzuführen, die — wie ich glaube — meinen verehrten Lands-
leuten im grossen Ganzen weniger bekannt sind. Ich wählte
dafür sowohl Licht- als Schattenseiten, denn beide ziehen an
und fesseln durch die Eigenartigkeit der englischen Ent-
wickelung und durch die Grossartigkeit der dortigen Lebens-
verhältnisse.
Vor allem ist der, in England vorwiegende, Typus des
tüchtigen Massenhaften uns Deutschen, die wir meistens
in engeren Verhältnissen leben, fremdartig und ungeläufig.
Dieser Eindruck überwältigt uns daher regelmässig, wenn wir
Englands Boden zum ersten Male betreten, und selbst auf die
Dauer wirkt diese durchgängige, tüchtige Massenhaftigkeit in
allen Verhältnissen immer von neuem imponirend.
Treten wir dann allmälig auch den Schattenseiten näher
so werden wir bald erkennen, dass die überwiegende Mehrheit
der scharf ausgeprägten englischen Sitten und Unsitten natur-
gemäss aus löblichen und, namentlich für uns Deutsche, grössten
Theils nachahmenswerthen Eigenthümlichkeiten des National-
chärakters entspring^; es sind natürliche Kehrseiten.
Zu diesen Eigenthümlichkeiten rechne ich: die insulare
Conc^ntrirung auf sich selbst, verbunden mit einem klarsichtigen,
unbefangenen, praktischen Nationalegoismus ; den zuver-
sichtlichen Respect vor sich selbst und die daraus kategorisch
folgende, ungeschminkte Einfachheit, Gradheit und Wahr-
haftigkeit im geselligen wie im geschäftlichen Verkehr; die
ruhige, stetige Umbildung aller Zustände durch den unzerrissenen
Zusammenhang von Neu und Alt; den gesunden Conservatismus
in der Sitte und in den äusseren Lebensformen; die freie Be-
handlung und stetige Ausscheidung des Abgestorbenen, und
zwar, ohne jede doctrinäre Systemmacherei, ohne alle springende
Hast; die gesunde Abwesenheit aller kosmopolitischen Ver-
schwommenheit und aller confessionellen Vaterlandslosigkeit —
beide stets das Kennzeichen einer unfertigen Nation.
Femer müssen wir hieher den grossen Grundsatz für alle
öffentliche Thätigkeit zählen: die organisirte Selbsthülfe, welche
alle allgemeinen Missstände, die Mängel der Gesetzgebung wie
die Schäden der nationalen Moral, mit Zähigkeit und mit
meistens langsamem aber desto nachhaltigeren Erfolge bekämpft
Mit am höchsten aber schätze ich in der englischen
Nationalsitte: die allgemeine Vorliebe für das Landleben.
Denn diese ist eine der wesentlichsten Stützen für das politische
und sociale Uebergewicht des Landes über die grosse Stadt. —
Beide Erscheinungen aber sind stets sichere Zeichen der Volks-
gesundheit, ein reinigendes Reagens gegen die häufig trübe
und gefälschte politische Intelligenz der Grossstädte. —
Wahrhaftig! ich wüsste keine Nation, aus deren Beispiel
gerade wir Deutsche, die wir jetzt endlich ernsthaft begonnen
haben, auch eine Nation werden zu wollen, so viele heilsame
und fördernde Lehren gewinnen können, als England uns
bietet; sowohl in demjenigen, was wir zu erstreben, als was
wir zu vermeiden haben!
Denn der englische Volkscharakter, wenn schon ein fremder,
ist dennoch für uns keineswegs ein völlig fremdartiger, wie
der slavische und der jetzt sogenannte „lateinische". In seinen
Grundzügen hat er sich, unter dem Einflüsse ähnlichen Klimas
und Bodens, sowie gleicher Sprachwurzeln, denselben ursprüng-
lichen Typus bewahrt, den wir noch heute in der ländlichen
Bevölkerung erkennen, welche in den alten angelsächsischen Ur-
sprungsstätten sitzt. Besonders der Norddeutsche, der in unseren
niedersächsisch -friesischen Küstenländern heimisch ist, findet
überall im englischen Wesen und vor allem im älteren
sächsischen Theile der Sprache, zahlreiche verwandte Berührungs-
punkte. Die heutigen Unterschiede der beiden Vettern liegen
w^esentlich in der dortigen kraftvollen, einheitlichen Entwickelung,
die unserer politisch zersplitterten Heimath versagt blieb. —
Hoffentlich wird es mir auch gelingen, durch meine
Schilderungen englischen Lebens, Strebens und namentlich
englischer Gastfreundschaft in Stadt und Land, einige der Vor-
urtheile zu lockern, die sich bei uns, in Beziehung auf England,
festgewurzelt haben. Diese Vorurtheile sind wesentlich wohl
aus unserer einseitigen Bekanntschaft mit der Species des
„reisenden Engländers" entsprungen, allerdings kein normaler
Repräsentant seines Vaterlandes. Oder sie erwuchsen aus
unsrer allzu oberflächlichen Berührung mit der ablehnenden
Zurückhaltung gegen alles Fremdartige und Unbekannte, hinter
der das englische Wesen, auch 'zu Hause, sich anfangs verbirgt.
Ohne Zweifel ist jene abgeschlossene Zurückhaltung für
den Fremden weder anziehend, noch bequem. In Deutschland
jedoch existirt über diesen Punkt eine Art hergebrachter
öffentlicher Meinung, welche die Schale für den Kern nimmt.
Und diese, immerhin erklärliche Voreingenommenheit verhindert
dann uns, die wir doch selbst — namentlich nördlich der Älainlinie
— keineswegs frei von würdevoller Steifheit sind, die zu-
verlässige Tüchtigkeit und einfache, ruhige Liebenswürdigkeit
des gebildeten Engländers aufzusuchen, die hinter der an-
scheinenden Unnahbarkeit wohnt.
Diese weit verbreitete Ansicht also fühle ich mich, in
Dankbarkeit gegen das mir so gastfreundliche England, ver-
pflichtet nach Kräften zu widerlegen.
Dabei „aufrichtig zu sein kann ich versprechen, unparteiisch
zu sein aber nicht" ; das bekenne ich mit den goldenen Worten
unseres grossen, weisen Altmeisters.
Vielleicht gelingt es mir sogar, einige meiner jüngeren
Landsleute zum eingehenderen Besuche Englands und zu
näherer Bekanntschaft mit dem Leben in England zu bewegen.
Sie würden von dort ohne allen Zweifel einen reicheren Schatz
gesunder Anschauungen und praktisch forderlicher Lebens-
erfahrungen heimbringen, als aus den gewissen grossen inter-
nationalen Vergnügungsanstalten Europas, in denen man sich
zwar sehr angenehm zerstreut, aber nicht sammelt. —
Da ich im allgemeinen auf meiner bescheidenen Lebens-
reise kein schweres Bündel von Gelehrsamkeit mit mir trage,
so darf auch der geneigte Leser in diesen Bildern tiefe Weis-
heit und hohen Gedankenflug nicht suchen. Ich bitte daher
meine werthen Genossen auf unserer bevorstehenden Fahrt vor
allem um gute Reiselaune und um verständnissvolle Nachsicht
gegen den Reisemarschall, denn — um ein bekanntes, kluges
Wort nachzubilden — : „Ein jeder giebt nur, was er geben
kann".
Unter einer Voraussetzung allerdings würde ich sogar
mit einiger Sicherheit darauf hoffen, bei meinen geneigten Reise-
gefährten diese gut gelaunte Nachsicht hervor zu rufen: wenn
mir nämlich gelungen wäre, wonach ich beim Schaff'en meiner
Bilder vor allem gestrebt habe:
dass ein Hauch von dem mächtigen Strome
frischer, englischer Lebensluft dem Leser auch aus
diesen Blättern entgegen wehen möge.
I.
Einleitung.
l_Jem deutschen Reisenden, welcher England besucht, steht
dort ein Freund und Führer von seltener Zuverlässigkeit zur
Seite. Sicher geleitet er uns über das Meer und zeigt uns
Weg und Steg durch das fremde Land. Er bereitet uns sorg-
sam vor auf die riesige Weltstadt, ihre Gasthäuser und Sehens-
würdigkeiten, ihre Verbindungen und Verkehrsmittel, ihre
Unterhaltungen und Gefahren. Er führt uns durch das be-
täubende Gedränge der City, durch das schwarze Wirrsal der
unterirdischen Eisenbahnen; er erleichtert uns die schwere Last
der Museen und Sammlungen; er lichtet uns das Dunkel der
englischen Geschichte; er enthüllt uns die Mysterien der eng-
lischen Küche. An jedem Morgen weckt er uns zeitig; er weist
uns an, die kurz gemessenen, hier doppelt kostbaren Stunden
jedes Tages auszunutzen; er weiss sogar Rath und Trost in
der unendlichen Oede des Londoner Sonntags und flüchtet mit
uns nach Hampton Court oder Greenwich- Das Alles thut der
rothe Bädeker für Alle, die sich ihm anvertrauen. Jeder wird
ihn loben, der an seiner Hand Städte und Landschaften durch-
wandert hat und mit erweitertem Blicke, gereiften Lebens-
anschauungen und nicht fruchtlos erschöpfter Börse aus dem
gTossartigen Altengland heimgekehrt ist.
Zu Hause blättern wir die vertrauten Seiten wieder durch
und besprechen mit des Landes Kundigen die Fülle unserer
Erinnerungen. Erst dann erkennen wir vielleicht, dass wir doch
vielfach nur die äusseren Mauern der grossen Inselfestung
umgangen haben. Die Städte und Häfen, die Kirchen und
Museen in England haben wir kennen gelernt, nicht aber das
Oxnptcda, L. v. Bilder. 1
2 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
lebendige England selbst, jedenfalls nicht einen wichtigen und
hervorragenden Theil seiner Bewohner und ihr Leben.
Denn der Engländer der höheren Klassen wohnt und lebt
nicht in der grossen Stadt, dort arbeitet er nur; er schlendert
nicht auf Boulevards und sitzt nicht um Mittemacht vor Caf6s,
denn das verbietet das Klima; er sucht nicht seine Erholung
mit Frau und Kindern in nahegelegenen öffentlichen Ver-
gtiügungsgärten, denn solche gibt es für die höheren Stände
nicht: des Engländers Heimat ist auf dem Lande, in den
Schlössern und Cottages, in den Parks, Gärten und Gärtchen.
Den Weg nach dieser Seite des englischen Lebens weist uns
der getreue Bädeker zwar aus der Feme, aber er verschafft uns
nicht den Schlüssel, um in die wohlverwahrte Burg einzudringen.
Der Engländer hat sein Daheim auf dem Lande. Dort
müssen wir ihn aufsuchen, um seine besten Seiten, die liebens-
würdigen Eigenschaften zu entdecken, die er hinter einem
tüchtigen aber ungelenken und abweisenden Aeussem verbirgt;
denn nur hier öffnet sich diese spröde verschlossene Natur zu
echter Höflichkeit und herzlicher Gastfreiheit.
Dieses Daheim will er in Haus und Garten geschmückt
sehen, er studirt darauf, es mit allem Comfort und aller Cultur
auszustatten, die der Boden, das Klima und der nationale
Reichthum entwickelt haben.
Nur dann also besitzen wir eine volle Anschauung des
englischen Lebens, wenn wir Englands Landsitze und Gärten
kennen lernten. Zugleich aber werden wir dort in ein uns
neues Culturgebiet, in die englische Gartenkunst eingeführt.
Die Pflege und Ausschmückung der Landsitze, unter Bedin-
gungen, die von den Linien unseres continentalen Lebens wesent-
lich abweichen, hat die Gärtnerei in England zu einer eigen-
thümlichen und hochentwickelten Luxusindustrie ausgestaltet.
Zunächst erlaubt das sonnenarme feuchte Klima nicht ein
anhaltendes ruhiges Verweilen im Freien; es gestattet den
reichlichen Genuss der frischen Luft nur in lebhafter Bewegung.
Dieses kühle Klima reift auch in einem grossen Theile
Englands viele von den edleren Früchten nicht, an denen bei uns
jedes Gärtchen selbst dem Unbemittelteren seinen Antheil gibt
Andrerseits gewähren die wärmeren, in der Regel frost-
freien englischen Winter einer grossen Zahl von Gewächsen,
die unser härteres Klima vernichtet, das Fortkommen im Freien.
Einleitung. O
Hierzu gesellt sich noch der meistens leichte und dabei
frische Boden in einem grossen Theile von England. Dieser,
in Verbindung mit dem feuchten Klima, erzeugt oder gestattet
die saftigen reinen smaragdgrünen Rasenflächen, die dem eng-
lischen Garten seinen Grrundzug geben und deren glückliche
Nachahmung bei uns so selten gelingt.
Endlich führt die bestehende politische und soziale Ein-
theilung des Jahres den Engländer während der schönsten
Monate des Frühlings und Sommers in die Stadt; auf dem
Lande lebt er im Spätherbst und Winter,
Diese Umstände sind es hauptsächlich, die, unterstützt von
dem hohen durchschnittlichen Reichthum der grösseren Grund-
eigenthümer und der zahlreichen kleineren Landhausbesitzer,
zu einer völlig eigenthümlichen Methode in der Behandlung und
Cultur der Parks und Gärten führten.
Die Parks sollen möglichst weit, dabei bäum- und wild-
reich sein, um Raum für energische Bewegung im Freien, für
die Jagd und den nationalen Sport zu schaffen. Die Gärten
sollen im kurzen. Sommer dichtes Laub und heitere Blumen
tragen, sie sollen aber vor Allem in der rauhen Jahreszeit keine
blätterlose Oede, sie sollen immer grün sein. Das Haus soll
während dieser Zeit im Wohnzimmer und im Wintergarten
einen stets blühenden Blumenfrühling zeigen. Die Tafel ver-
langt frische Früchte und junge Gemüse das ganze Jahr hindurch.
Es soll mithin der englische Landsitz nicht etwa nur dem
Stadtbewohner einen nothdürftigen Behelf für den Sommer
liefern, er soll vielmehr dem Besitzer und seinen zahlreichen
Gästen einen geräumigen warmen reichen, einen „comfortablen"
Aufenthalt im Herbste und Winter bieten. Hier will der Eigen-
thümer sich durch Gärtnerei, Landwirthschaft, Pflege des
Forstes und durch die Anstrengung der Jagd wieder für die
heisse gehetzte Season in London stärken, hier will er in aus-
reichenden Räumen bequeme Geselligkeit üben, hier will er als
Gutsherr seinen politischen und sozialen Einfluss geltend machen
und geniessen.
So hat sich die heutige englische hohe Gärtnerei ent-
wickelt aus einem Kampfe gegen die Ungunst des Klimas und
aus einer künstlichen Verschiebung der Jahreszeiten. Der
schwere Streit ist siegreich durchgefochten vermöge der
4 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
charakteristischen Rücksichtslosigkeit des Engländers gegen
den Kostenpunkt, wenn ein bestimmter, nothw endiger oder
Wünschenswerther Zweck erreicht werden soll. Es bildete
sich eine besondere Schule der Gärtnerei, die, zugleich mit
dem bunten Teppiche der Sommerblumen, den Garten der
immergrüjien Gewächse um das Haus legt; die aber vor Allem
im Treibhause zu jeder Jahreszeit das beste Obst, die seltensten
Blumen für Tisch und Wohnzimmer hervorbringt und daneben
im Wintergarten einen erfreulichen, reich geschmückten
Aufenthalt für die Hausgenossen schafft.
Es ist also, wie wir sehen, das Treibhaus die nothwendige
Grundlage dieses weitverbreiteten grossartigen gärtnerischen
Comforts.
Vereinzelte Ansätze und unvollkommene Nachahmungen
dieser englischen Treibhausgärtnerei treffen wir auch in der
Heimat; aber nur in seltenen einzelnen Fällen ist diese Kunst
bei uns zu einer ähnlichen Stufe der Vielseitigkeit und Vollendung
entwickelt w^ie sie in England den Durchschnitt der Leistungen
bildet.
Diese hohe englische Gärtnerschule fand ihre Zusammen-
fassung in dem grossartigen botanisch-gärtnerischen Institute
zu Kew; von dort aus entwickelten sich, dem Gesetze der
Arbeitstheilung folgend, die riesenhaften Warmhausbetriebe
der grossen Handelsgärtner.
In diese Welt lade ich meine Leser ein, mir zu folgen.
Unsere Wanderung wird uns nicht mit einem Ballaste lehrhafter
Beschreibungen, nicht mit photographisch genauen Wiedergaben
technischer Einzelheiten beladen; sie bietet nur wechselnde
Bilder, die sich dem reisenden Gartenfreunde als Gast auf eng-
lischen Landsitzen und als Besucher englischer Gärten entrollten.
Die nachfolgenden Blätter sollen daher oberflächlich sein.
Falls sie sich wider Willen irgendwo in der Ueberfulle des
Stoffes verlieren, bitte ich den Sachkundigen wegen der un-
vermeidlichen dilettantischen Mängel und Lücken um Nachsicht;
mit den übrigen geneigten Lesern aber bin ich vollständig
einverstanden, wenn sie ermüdende Aufzählungen und Schilde-
rungen fremdartiger Einzelheiten wohlwollend überschlagen.
IL
Hatfleld House, der Landsitz des
Marquis von Salisbury.
/\us der langen Reihe jener bemerkenswerthen Eigen-
thümlichkeiten des englischen Volkscharakters, welche wesent-
lich dazu mitgewirkt haben, das Inselreich so frühzeitig auf
seine Hohe zu fuhren und dort bis jetzt dauernd und fest zu
erhalten, tritt, verwandt mit dem allgemeinen Geiste der Gesetz-
lichkeit, ganz besonders der historische conservative Sinn des
Engländers hervor. Dieser Sinn zeigt sich namentlich auch
in der weit verbreiteten Bekanntschaft mit der vaterländischen
Geschichte, in dem warmen Interesse für die Denkmale und
für die bedeutenden wirkungsvollen Menschen der Vorzeit.
Jeder Lebende fuWt sich in traditionellem Respecte mit seiner
Vorgeschichte und ihren hervorragenden Vertretern verbunden;
er sieht die Entwickelung seines Landes durch die Jahr-
hunderte greifbar vor seinen Augen entrollt, und naturgemäss
vereinigt sich in ihm die erhaltende Neigung mit der ange-
borenen weiterbildenden Thätigkeit.
So genährt und erzogen strebt der englische Volksgeist,
von positiven Gesichtspunkten ausgehend, stets nur nach den
nächsten praktischen Zielen und schweift nicht haltungslos
nach willkürlichen doctrinären Theoremen in die Irre.
Allerdings konnte sich dieser glückliche historische Sinn
des Volkes im Wesentlichen ungestört entwickeln. Es ist Eng-
land stets vergönnt gewesen, ruhig an sich weiter zu bauen und
die Fäden seiner Vergangenheit stetig vom Vater durch den
Sohn zum Enkel fortzuspinnen. Kein dreissigjähriges Kriegs-
6
Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
elend hat die hohe Kultur und Blüthe des Landes unter Schutt,
Thränen und Blut auf fast zwei Jahrhunderte begraben, hat die
stärksten Wurzeln der nationalen Kraft zerstört und die geistig"
wie materiell verarmten Nachkommen, jenseit einer weiten
Kluft, ihren Vor£ahren und ihrer eigenen Vergangenheit ent-
fremdet gegenüber gestellt. Nie ist England zum Spielballe
und Tummelplatze jedes raubgierigen Nachbars erniedrigt
gewesen; nie ist die imponirende Entfaltung seiner nationalen
Wehrkraft, das nothwendigste Schutzmittel für den nationalen
Wohlstand, durch ein verfassungsmässig gelähmtes, organisch
auseinander strebendes föderatives Regiment unterdrückt worden.
Endlich drang auch die englische Kirchenreformation, getragen
von der starken Staatsgewalt, zur Einheit durch; es ent-
stand kein Riss inmitten der Nation, in den fremde Gewalten
ihre Hebel mit Erfolg hätten einsetzen können.
Unter allen Figuren in der Geschichte Englands, welche
sich über das gewöhnliche menschliche Maass, der Herrscher
wie der Beherrschten, erheben und um so grösser erscheinen,
je tiefer im Laufe der Jahrhunderte alle umgebenden, ehedem
hervorragenden Spitzen in Vergessenheit versunken sind, — unter
allen nimmt im Herzen jedes Engländers die Königin Elisabeth
den ersten Platz ein. Sie ist in der Erinnerung ihres Volkes
lebendig geblieben ; nicht wandelt sie nur als blutloser Schatten
durch die Schlösser, Gallerien und Bibliotheken. Der stetig
fortgesponnene Faden der geschichtlichen Entwickelung ver-
bindet noch immer »Good Queen Bess« mit denen, die drei Jahr-
hunderte nach ihr leben.
Zu dieser Wahrnehmung gelangt man schon wenn, man in
englischer Gesellschaft die Kapelle Heinrichs VII. in der West-
m inster Abtei betritt und bemerkt, wie dort der ehrfurchtsvoll
schweigende Kreis das Monument der Königin umsteht, allen
ihren Nachbarn gleichgültig vorbeigehend; oder wenn der
Beefeater im Bell Tower das Gefangniss der jungen Prinzess
Elisabeth zeigt und daneben vom schönen Essex und der armen
zehntägfigen Königin Lady Jane Grey erzählt. Ebenso ver-
schwindet in White Hall Karl I., in St. James's Palast die „blutige
Mary", in Hampton Court Wolsey und Heinrich VIII., ja! es
verblasst, zwischen allen starken Tudors und schwachen Stuarts,
selbst der grosse Protector Cromwell vor dieser einzigen
Hatfield House, der Landsitz des Marquis von Salisbury, 7
erhabenen und volksthümlichen Gestalt. ,Und es ist nicht nur
märchenhafte femabliegende Romantik di^ sie umgibt, ^wie
unsere Kaiser: den „Rothbart" und* den „letzten Ritter"; nein!
der englische Protestant jeder Partei und Sekte sah und sieht
noch heute in ihr die endliche Befreierin von der Herrschaft
Roms, die Vorkämpferin fiir Gewissensfreiheit, die Beschützerin
Englands gegen den spanischen Kreuzzug und gegen die
schottische katholische Prätendentin, die Erwerberin Irlands,
die Begründerin der Macht und Grosse des britischen Volkes.
Man hat ihr noch nicht die weise Selbstüberwindung vergessen,
mit der sie in der Frage wegen des königlichen Monopolrechtes
dem energischen Widerstände des Unterhauses nachgab und
wie sie hernach sogar den Gemeinen in würdigen und warmen
Worten für ihre Pflichttreue in der Vertheidigung des Volks-
wohles dankte. ^
So fühlt die. Gegenwart sich der Königin Bess als ihrer
direkten Erblasserin dankbar verbunden ; längst sind die kleinen
Schwächen der Frau vergessen, die als Königin schon bei
ihren zeitgenössischen Widersachern so hoch stand, dass die
Puritaner, die sie selbst hatte in's Gefangniss werfen lassen,
dort für ihre Errettung von jesuitischen Mordanschlägen beteten,
und dass ein besonders fanatischer Sektirer dem soeben auf dem
Schaffote die rechte Hand abgeschlagen war, mit der Linken
seinen Hut schwenkte und laut rief: „God save the Queen !"
Solche und ähnliche, durch den Vergleich mit den leider!
weit verschiedenen Schicksalen des eigenen Vaterlandes nicht
erheiternde Betrachtungen werden dem deutschen Reisenden
häufig das Geleit geben, wohin er auch in England seine
Schritte wendet. Ueberall hier findet er Vergangenheit und
Gegenwart friedlich nebeneinander und in harmonischer Folge
vereinigt , überall stellt sich aus Erhaltung und Fortbildung ein
einheitliches Ganzes zusammen. —
Wir verlassen nach kaum einstündiger Fahrt unsem Zug
auf einer Station der Grossen Nordbahn, die uns von King's
Gross dem dunstigen London entfuhrt hat. Schon wenige
Schritte ausserhalb des Bahnhofes haben wir ein Stück Mittel-
alter vor uns. Wir betreten ein Städtchen, dessen malerische
weissgetünchte Fachwerkhäuser sich mit ihren spitzen Giebeln
und ihren kleinen tiefen Fenstern der Strasse zuwenden und
8 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner»
die mit dem übergebauten, Sonne und Luft' suchenden Sommer-
zimnier die schmale Gasse überragen. Sie versetzen uns in die
Zeiten der ersten Tudors, \vo der Haustein noch den Kirchen
und Herrenhäusern vorbehalten und der rothe Backstein ein
neuer Luxus war. Das Städtchen lag ursprünglich nur im
Thale; die Kirche allein, älter als Wilhelm der Eroberer, stand
darüber erhöht. An dieser vorbei zog sich später die neuere
Hochstrasse, dem Wege nach London entlang, den Hügel
hinan und mündete unter dem alten Sommerpalaste der frommen
Bischöfe von Ely. Vielleicht war dieser neue Stadttheil noch
nicht ganz oben angelangt, als die Bischöfe den Hügel schon
wieder hinabstiegen um dem zweiten Tudor, Heinrich VIIL,
in ihrer Sommerfrische Platz zu machen. Hernach wurde es
dann zu spät die Höhe vollends zu erklimmen, denn als auch
Jakob I. den alten Bischofspalast wieder verliess, schied der
neue Eigenthümer, Robert Cecil erster Earl von Salisbury,
Elisabeths zweiter grosser Minister, sich und sein „Haus"
durch die heute noch stehende hohe Parkmauer von dem
emporstrebenden Städtchen ab. Zwei und ein halbes Jahr-
hundert lag der Ort alsdann ruhig in seinem alten Weichbilde,
bis wieder ein Grosser des Reiches, dieses Mal ein ganz
moderner, der Direktor der ^„Grossen Nordbahn", sich auf
dessen anderer Seite ansiedelte, der nun die neuesten Häuser
sich zuwenden.
Das Städtchen heisst Hatfield und war schon eine erwähnens-
werthe Niederlassung, als es unter dem Namen „Hetfelle" in das
Doomsdaybook (1086) eingetragen wurde. Hier sassen Benedik-
tiner von der Abtei Ely und verwalteten ihr schönes Gut, ein
Geschenk des sächsischen Königs Edgar aus den Tagen des
heiligen Dunstan. Es umfasste etwa viertausend Morgen.
Später ward aus der Abtei zu Ely ein Bischofssitz und aus
dem Meierhofe zu Hatfield eine Sommerresidenz der Bischöfe.
Um das Jahr 1480 bauten diese sich dort einen „Palast**, von
dem wir ein herrliches Stück Ueberrest näher kennen lernen
werden. Jedoch sollten die geistlichen Herren sich des so ver-
schönerten Besitzes nicht mehr lange erfreuen, denn im Jahre 1534
mussteder neue Bischof vom König HeinrichVIIL seine Ernennung
mit der Abtretung von Hatfield bezahlen. Wie beide hohe
Herren sich wegen dieser Sünde der Simonie vor ihren Gewissen
Hatfield House, der Landsitz des Marquis von Salisbury. 9
absolvirten, weiss man jetzt nicht mehr genau. Vermuthlich
verfuhr Heinrich VIII. hier ähnlich wie gegen die Gläubiger
des Cardinais Wolsey, als er dessen ungjeheures Vermögen
einzog. Er überwies den Berechtigten als Vergütung eine
Reihe von Forderungen der Krone, die aber schon lange
notorisch „nothleidend", nicht mehr realisirbar waren. Leider
ist ja zu allen Zeiten und aller Orten das Gut der Kirche,
deren Reich nicht von dieser Welt sein soll, von den frommen
Grossen dieser Erde als passende Beute angesehen. Auch die
mächtigen rechtgläubigen Laien hatten stets nicht minder „einen
guten Magen" als Mephisto ihn, in seiner tadelnswerthen par-
teiischen Einseitigkeit, der Kirche zuschreibt und konnten „un-
gerechtes Gut verdauen".
So wurde Hatfield eine königliche Residenz und sogar
eine sehr beliebte und viel bewohnte. Eduard VI. und seine
Schwester Elisabeth verlebten hier einen Theil ihrer Jugend
imd letztere bestieg von hier Englands Thron. Ihrem Nach-
folger jedoch, Jakob L, gefiel Teobalds, das grossartigere Schloss
seines Ministers Robert Cecil, besser und er tauschte es im
Jahre 1607 gegen Hatfield ein. Mit diesem Wechsel stieg der
Bischofs- und Königssitz zu frischem und dauernden Glänze empor,
denn der neue Eigenthümer baute in den alten Park das
prächtige „Haus", welches wir, nebst den weiten Gärten, mit
denen er es umgab, heute durchwandern wollen.
Indessen begann die Verbindung der Cecils mit Hatfield
nicht erst damals, als sie dessen Besitzer wurden. Schon
Robert Cecils, des ersten Earls von Salisbury, Vater William
Cecil, der berühmte erste Minister Elisabeths während vierzig
Jahren, uns Deutschen aus Schillers Maria Stuart als Lord
Burghley wohl bekannt, liess die Spuren seines Wirkens hier
zurück. Er besass eine hervorragende klassische Bildung und
gab, erst neunzehn Jahre alt, den Studenten von St. John's
College zu Cambridge schon griechischen Unterricht. Bereits
unter Eduard VI. war er Sekretär des Lord Protector, des
Herzogs von Somerset; nach dessen Sturze wurde er zwar
zuerst in den Tower gesetzt aber bald darauf zum Staats-
secretär befördert. Als die „blutige" Mary zur Regierung kam,
stellte er sich zwar an die Spitze der Opposition im Unterhause,
gleichzeitig aber bewahrte er sich die Gnade der Königin,
10 Englische Landsitze» Gärten und Gärtner.
indem er sich wieder öffentlich zum Katholicismus bekannte
und — wie es die Königin verlangte — einen Hauskaplan
hielt Er war ein verständiger Mann, verspürte daher keinen
Beruf zum Märtyrer. Als Elisabeth im Jahre 1558 aus ihrer
Gefangenschaft in Hatfield den Thron bestieg, ernannte sie
noch hier William Cecil, ihren bewährten geheimen Rathgeber,
zu ihrem Ersten Staatssecretär. Er blieb in dieser Stellung
und in der noch höheren als Lord High Treasurer bis zu seinem
Tode im Jahre 1598. Augenscheinlich war er der Mann, der
von Allen, welche Elisabeth und ihre königliche Macht um-
warben, die meisten von den Eigenschaften vereinigte, deren
der erste Diener und Rath der energischen Selbstherrscherin
bedurfte. Nach längerem Schwanken hat sein geschichtliches
Bild sich etwa dahin festgestellt: dass er, wenn auch kein
grosser Mann und kein sogenannter edler heroischer Charakter,
jedenfalls ein grosser Minister war. — Vielleicht bedingt das
Eine nicht immer nothwendig das Andere.
Und niemals verliess das Vertrauen der Königin ihren
treuen Diener. Ihrem Herzen standen der hofmännische ge-
wandte Leicester und der schöne glänzende Essex näher,
Burghley aber wurde stets gegen die Intriguen und Angriffe
aller Nebenbuhler in den höchsten Ehren erhalten. Für ihn
galt die damalige strenge Etikette nicht, nach welcher Jeder-
mann, den die Königin anredete oder auch nur ansah, sofort
auf die Kniee sinken musste; Jiir Burghley war in Gegenwart
der Majestät stets ein Sessel vorhanden. Auch ihre Sparsam-
keit in Ehren und Geldbelohnungen vergass sie für William
Cecil. Er hinterliess, nach Macaulay, etwa dreihundert ver-
schiedene Landgüter. Zwölf königlicher Besuche hatte er
sich zu erfreuen; jeder dauerte mehrere Wochen und kostete
dem Wirthe vierzig- bis sechzigtausend Mark. Indessen war
der ganze Zuschnitt seines Haushaltes oder richtiger: Hof-
staates diesem königlichen Luxus gewachsen. Er hatte zwei
Residenzen in London und zwei auf dem Lande. In der Stadt
kostete sein Haushalt wöchentlich sechshundert Mark, wenn
er abwesend und achthundert bis tausend Mark, wenn er
anwesend war. Dort hielt er stets drei offene Tafeln. Sein
Gefolge bestand aus zwanzig angesessenen bemittelten Edel-
leuten. Er war ein sehr vornehmer und stolzer aber auch, was
Hatfield Hotise, der Landsitz des Marquis von Salislury, 11
noch mehr ist, ein sehr kluger und scharfsinniger Mann.
England verdankt William Cecil, wie seinem jüngeren Sohne
und Nachfolger Robert Cecil, seinen grossen Aufschwung unter
Elisabeths langer Regierung und die endliche feste Gründung
des protestantischen Glaubens. Dieser Sohn war sein un-
mittelbarer Nachfolger als Elisabeths erster Minister. Das
Aeussere des jüngeren Cecil konnte die Königin nicht be-
stochen haben. Er war kränklich, seine Gestalt verwachsen
und zwerghaft, aber in diesem elenden Körper lebte ein starker,
thätiger, geduldiger, kluger Geist und eine zuverlässige, muthige
Pflichttreue. Robert Cecil ererbte in Wirklichkeit von seinem
Vater die Eigenschaften, die einen bedeutenden Staats- und
Geschäftsmann ausmachen — eine Erbschaft, welche immer noch
häufiger eröffnet als angetreten wird.
Nicht ohne Grund wird ihm die kluge und diskrete Art,
in welcher er den Uebergang der Krone von der alternden
Elisabeth auf ihren unruhigen ungeduldigen schottischen Gross-
neffen vermittelte, zum Verdienste gerechnet. Er traf im
Stillen alle Vorbereitungen für einen Wechsel ohne Störungen
und stand an Elisabeths Seite als sie starb (1603). Sie hatte ihn
stets gern mit seiner körperlichen Missgestalt geneckt und auch wol
in ihren Briefen „Pigmäe", „kleines Männlein" angeredet. Als es
nun an's Sterben ging und sie irreredend mit starrem Blicke im
Garten von Richmond dasass, von ihrem rathlosen Hofe um-
standen, sagte Cecil: „Euer Majestät müssen jetzt zu Bette
gehen". „Müssen"! stiess die Königin hervor, „müssen! Ist
„müssen" ein Wort für eine Fürstin? Oh, Männlein, Männlein!
Dein Vater hätte sich ein solches Wort nicht erlaubt, aber
Du wirst jetzt unverschämt, weil Du weisst, dass ich sterben
werde". — Das unglückliche Wort „müssen" war wol des
armen Cecils einzige Pfiichtvergessenheit gegen seine Gebieterin
während seiner langen Dienstzeit.
Jakob I. zeigte sich nicht undankbar gegen Cecil. Nach
zwei Jahren war dieser Earl of Salisbury, Ritter des Hosen-
bandes und bald darauf Lord High Treasurer. Aber der Herr
selbst war ein Anderer. Er war kein Selbstherrscher wie
Elisabeth und verlangte keine äussere ceremoniöse Unter-
würfigkeit. Es regierte sich ganz bequem unter ihm, falls er
nur hinreichend Freiheit und Geld fand, um die neuen grossen
12 Englische Landsitze , Gärten und Gärtner,
Verhältnisse mit seinen „hungrigen** schottischen Günstlingen
zu geniessen. Man beglückwünschte eines Tages Cecil, dass
er nun nicht mehr zu knieen brauche; er erwiderte: „Wollte
Gott, ich spräche noch auf meinen Knieen". Er hatte hart
zu kämpfen gegen des Königs Verschwendung und Haltlosig-
keit und mit Schmerz sah er England von der hohen Stellung
herabgleiten, die es unter Elisabeth in Europa eingenommen
hatte. Um so weniger wol mochte er sich weigern, dem
Könige zu Willen zu sein, als Jakob wünschte, Robert Cecils
schönen Landsitz Teobalds bei Cheshunt, in nächster Nähe
von London, gegen das entferntere Hatfield einzutauschen.
Jedoch dem Minister genügte der „Palast" in Hatfield
ebenso wenig als dem Könige und da er zudem die Bauleiden-
schaft hatte, so benutzte er Ort und Gelegenheit, vermuthlich
auch günstige Tauschbedingungen, um sich ein neues „Haus"
neben dem alten „Palaste" und diesen weit überragend, zu bauen.
Das neue „Haus" krönt, weithin sichtbar, die Anhöhe,
welche wir vom Bahnhofe aus hinansteigen. Durch den Um-
schwung der Zeiten und Communicationen kehrt jetzt das
Schloss dem Ankömmlinge seine nördliche Rückfront zu, während
die südliche Vorderseite, der alten Heerstrasse von London
zugewandt und mit ihr durch eine grossartige Allee verbunden,
in einsamer Hoheit die Gärten überragt. Nach Nord und
Nordost dehnt sich der Park aus; nicht sehr gross, seine Um-
fassungsmauer misst nur eine deutsche Meile. Ein neuer Weg
leitet uns vom kürzlich eröffneten Parkthore am Bahnhofe nach
Osten und biegt in die Hauptallee ein, die südlich zum
Schlosse führt Der Park tritt hier unmittelbar an das Haus
heran. Das Schloss bildet drei Seiten eines offenen Vierecks.
Die ungebrochene nördliche Rückfront, in ihrer Mitte durch
einen hohen Uhrthurm gekrönt, hat eine Länge von etwa
achtzig Metern; die nach Süden vorspringenden Seitenflügel sind
etwa sechsundvierzig Meter lang. Das Haus ist aus rothem
Backstein aufgeführt, die Einfassungen der Fenster und Thüren,
die Mauerkanten und Krenelirungen sind von dunklem Hau-
stein. Die vordere südliche Front ist eine der grossartigsten
Schöpfungen der englischen Architektur in jener eigenthümlichen
Mischung des späteren gothischen oder perpendikulären Stils
mit der Renaissance welche man den »Elisabethstil< genannt,
Hatfield HousCf der Landsitz des Marquis von Salishury. 13
•
hat. Die beiden auf dieser südlichen Seite weit vortretenden
Flügel sind jeder mit zwei ausspringenden viereckigen Thürmen
abgeschlossen, zwischen denen doppelte Freitreppen zu weiten
mit Glas geschlossenen Pforten führen. Längs der, zwischen
diesen beiden Flügeln weit zurücktretenden südlichen Front
des Hauptgebäudes, welches zwei Stockwerke enthält, während
die Flügel es mit einem dritten überragen, zieht sich eine
doppelte Reihe aufeinander gestellter dorischer Säulen hin.
Der grosse Haupteingang, dessen Ueberbau, der Uhrthurm, in
mehreren Stockwerken emporstrebt und mit einer zwiebeiför-
migen Kuppel abschliesst, zeigt nach damaligem Geschmacke
eine aufsteigende Zusammenstellung von Säulen dorischer,
jonischer und korinthischer Ordnung. An jeder Seite des
mittleren erhöhten Hauptportals, welches das kolossale Wappen
der Cecils: den von Löwen gehaltenen und mit Löwen be-
säeten Schild trägt, erheben sich auf dem Dache zwei niedrige
geschweifte Giebel. Das Ganze bringt durch seine edlen Ver-
hältnisse, mannigfaltigen Verzierungen und durch den Gegensatz,
in welchem sich der rothe Backsteinbau von dem üppigen
Grün der Landschaft abhebt, eine aussergewöhnlich grossartige
Wirkung hervor.
Der Hof zwischen den beiden Flügeln ist ganz frei; eine
breite Terrasse, deren dichter grüner Rasen durch blühende
Büsche und Blumenbeete unterbrochen wird, erstreckt sich vor
der Hauptfront längs dem Schlosse. Von ihr aus fuhren nach
vorn und nach den Seiten schwere Sandsteintreppen in die
Gärten hinab. Hier mündet auch, vor der Hauptfront, die
grosse etwa fünfzig Meter breite Einfahrtsallee von mächtigen
Linden, an deren fernem nicht absehbaren südlichen Ende der
Park durch ein reich vergoldetes Eisengitter sich gegen die alte
Heerstrasse nach London abschliesst.
Da ich den Vorzug genoss, Hatfield House als Gast zu be-
treten und der Hausherr heute durch Geschäfte in Downing-
street gefesselt war, so empfing mich sein ältester Sohn, der
junge Lord Cranbome und erbot sich mir das „Haus" und die
Gärten zu zeigen. Nach den ungezwungenen Gewohnheiten, die
auf den grossen englischen Landsitzen jedem Gaste, und auch
den Wirthen, möglichst selbständige Bewegung gestatten,
wusste ich, dass ich die Dame des Hauses erst Abends beim
14 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
Dinner begrüssen wurde. Wir begaben uns daher sofort auf
die Wanderung.
Der erste Robert Cecil war sein eigner Baumeister und
wahrhaftig! er hatte einen grossartigen Begriff von seiner Auf-
gabe; er wusste, wie ein prächtiger ländlicher Herrensitz zu-
geschnitten und ausgestattet sein muss, um nicht nur seines
vornehmen Eigenthümers würdig zu erscheinen, sondern auch
den Souverain und seinen Hof festlich zu empfangen und zu
bewirthen.
Sehen wir jetzt, wie er seine Aufgabe gelost hat.
In jedem Flügel des Schlosses führt eine Treppe zum
ersten Stocke empor. Beide sind in Eichenholz schwer ge-
schnitzt, die östliche jedoch ist reicher mit allerlei Figuren
verziert, da sie zu denjenigen Gemächern des ersten Stockes
führt, die für die Majestät bestimmt waren. Diesen oberen
Stock füllt in der ganzen Länge der Hauptfront des Mittel-
baues eine Gallerie aus, sechsundfünfzig Meter lang. Sie ist
an Decken und Wänden mit reichem eichenen Täfelwerke be-
kleidet, das durch silberne Armleuchter unterbrochen wird,
Grrosse, bis beinahe auf den Fussboden gehende Fenster führen
genügendes Licht zu, auch wird der allgemeine dunkle Ton
des Raumes durch rothe Vorhänge und durch eine Waffen-
sammlung belebt. Auf der westlichen Seite stösst diese Gallerie
an einen, jetzt als Bibliothek reich und bequem eingerichteten
saalartigen Raum. Auf der anderen Seite der Gallerie ist ein
gleich grosses Gemach, The King's Chamber, denn hier und in
den anstossenden Schlafzimmern sollten die Majestäten wohnen,
in der Gallerie aber und jenseit derselben, in der jetzigen
Bibliothek, die Feste sich entwickeln. Die Verbindungen sind
durch die zwei Treppen aufs Beste hergestellt und zugleich
ist die Raumverschwendung für ein übergrosses Staatstreppen-
haus in der Mitte des Schlosses vermieden, welches sich oft
wie ein riesiges fremdartiges Ungeheuer in's Unendliche breit
macht und ein halbes Dutzend unentbehrlicher Zimmer zum
Fenster hinauswirft.
Auf die königlichen Wohnräume ist selbstverständlich aller
Glanz und Reichthum verwendet, den die damalige Zeit zu er-
sinnen vermochte. Aus den Kassettirungen des Plafonds
hängen metallene Verzierungen herab, die Wände sind (wol
Hatfietd House, der Landsitz des Marquis von Saiisöurv, 15
erst später) mit weissem Atlas bespannt, die Möbel mit rothem
Sammet und Gold überzogen. Ein bis an die Decke ragender
Kamin wird durch die Bronzestatue Jakobs I. gekrönt.
Die Arbeiten der Holztäfelung, womit das Schloss hier und
in vielen anderen seiner Räume verziert ist, sind von seltener
Schönheit und verdienen eine nähere Betrachtung. Man weiss
aus den Bauakten, dass der Bauherr den Entwürfen zu diesen
Decorationen ganz besondere Aufmerksamkeit widmete. Er ver-
mied thunlichst die grossen ebenen Flächen, verschmähte alle
überladene Vergoldung, ebenso die dem englischen Klima nicht
Stand haltenden Wandmalereien und wendete auch keine Leder-
tapeten an. Dafür bekleidete er das Haus mit einem seltenen
Reichthum von Holzsculptur.
Dorische und ionische Halbsäulen mit reichen Laubkränzen
an den Kapitalen schmücken die königlichen Schlafzimmer;
in der Kapelle und in der grossen Speisehalle, beide zu ebener
Erde, sind die Wände in einfachere grosse Fächer eingetheilt,
hier abgerundet, dort rechteckig. Diese Fächer sind dann
wieder mit Arabesken von zartester Arbeit verziert. Ueberall
begegnet man reichen Friesen und Architraven, Blumen-
gewinden und Pfeilern. Aber trotz der Zartheit in der Aus-
führung erweckt diese Decoration den Eindruck des Warmen,
Massiven, Dauerhaften — des Einheimischen. Sie entspricht
durchaus dem vornehmen ernsten Stile des Hauses und dem
nicht weniger ernsten Charakter der umgebenden englischen
Landschaft, in welcher dieses reich gemaserte und kräftig
gefärbte Eichenholz gewachsen ist.
Als wir in der Reihenfolge dieser grossartigen Staats-
gemächer den ers^ten Stock fast durchmessen hatten, öffnete
mein junger Führer eine kleine Thür. Wir traten in eine
Art von Gallerie oder Prieche ein, welche als hohe Empore die
eine Breitseite eines kirchenhaft langen und weiten, zwei Stock-
werke hohen Eaumes einnimmt. Durch Oeffnungen, die mit
Flügeln aus durchbrochenem Holzwerke verschliessbar sind,
sahen wir hinab in die grosse »Hall«, den Speiseraum.
„Wir wollen die Hall heute Abend von unten genauer be-
sehen", sagte der junge Lord, „ich brachte Sie jetzt nur hier-
her, damit Sie die Fahnen betrachten, die vor dieser Empore
aufgehängt sind. Es sind Franzosen aus der Schlacht bei
Ib Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
Waterloo: der Herzog von Wellington schenkte sie hierher.
Ich dachte mir, diese Erinnerung müsste Sie als Hannoveraner
besonders interessiren. Bei grossen Festen wird hier oben
Musik gemacht und sie klingt an der flachen weissen kasset-
tirten Gipsdecke über uns recht kräftig wieder. — Jetzt haben
wir Alles im ersten Stock gesehen".
„Aber", frug ich, „wo wohnten und schliefen denn wohl
die Gäste, die zu den grossen Festen hier erschienen und
wo wurde das königliche Gefolge untergebracht?"
„Ich weiss es eigentlich nicht recht", erwiderte Lord
Cranbome, „denn zu ebener Erde sind ausser dieser Hall und
der Kapelle nur die Drawingrooms und die Wohnzimmer meiner
Eltern und oben, im zweiten Stock der Flügel, wo ich mit
meinen fünf Brüdern und zwei Schwestern hause, da sieht es
nur bescheiden aus. Auch nimmt unser grosses Familienarchiv,
das die bekannten „Hatfield Papers" enthält, dort viel Raum
ein. Indessen", fuhr er fort, „hörte ich oft sagen, dass man in
früheren Zeiten nicht so viel Ansprüche und auch nicht so viel
Umstände gemacht hat wie jetzt. Es erschienen auf den grossen
Festen nicht so zahlreiche Damen, überwiegend Herren. Die
Kammerjungfem schliefen mit im Zimmer ihrer Lady und die
vornehmen Diener stellten eine Pritsche vor die Thür ihres
Herrn. Von letzteren wurden auch wohl mehrere in ein
Zimmer gelegt. Für die untere Dienerschaft war ausreichender
Raum im Pferdestalle; davon werden Sie sich hernach selbst
überzeugen".
„Eine schöne bescheidene Zeit, die »gute alte«, bemerkte
ich, „räumen wir das ein; aber wie stand es damals wohl mit
den Bade- und Waschapparaten, die in unseren jetzigen Schlaf-
und Ankleidezimmern einen so bedeutenden Raum verlangen?^*
„Das weiss ich nicht", erwiderte mein junger Führer, „jetzt
aber ist diese Schwierigkeit gehoben, da das ganze Schloss
mit heissem Wasser geheizt wird". —
Wir durchwanderten nun die Wohnräume zu ebener Erde.
Sie sind stattlich, herrschaftlich und ihre reiche schwere Einrichtung
entspricht in den Maassen wie in den Stoffen dem Stile des Hauses.
Ihre schönste Zierde jedoch besteht in den hier vereinigten histo-
rischen Porträts, deren Originale zum grössten Theile durch
personliche Beziehungen mit dem Hause Cecil verknüpft sind.
Hatfield House, der Landsitz des Älarquis von Salisbury. 17
Heinrich VIII. erscheint mehrfach, darunter einmal von
Holbeins Meisterhand, mit prachtvollem täuschend gemalten
Schmucke ; ^ das Bild ist ausgezeichnet durch die Frische der
Farben. Der dicke polygamische Herr mit seinem etwas rohen
und grobsinnlichen Ausdrucke erinnert unwillkürlich an den
^lärchenhelden Blaubart.
Mary Tudor ist nicht vertreten ; wir wissen, dass ihr Ver-
hältniss zu William Cecil kein sehr inniges war. Sie traute
seiner Orthodoxie nicht und er — temporisirte. Auch dauerte
ihr finsteres Regiment nur fünf Jahre.
Die Königin Elisabeth erscheint hier in zwei bemerkens-
werthen Porträts. Einmal jung, als Diana mit der Mondsichel
und entsprechend durchgeführtem Kostüm. Sie ist in ihrer
Blüthe dargestellt, etwas fade und weisslich mit blassröthlichem
Haar. Sie blickt freundlich, aber das helle Auge, fast ohne
Brauen, ist nicht gerade gewinnend. Das andere Bild, aus
späterer Zeit, ist ernster: ein stechendes Auge, scharfe Züge
und harter Ausdruck. Sehr merkwürdig ist ihr reiches Gewand.
Das schwere Stoffkleid ist übersäet mit eingestickten mensch-
lichen Augen und Ohren, also wohl die Allwissenheit dar-
stellend. Wenn sie das Kleid wirklich jemals trug, so haben
diese unendlich vervielfältigten Organe des Allsehens und All-
hörens auf die officiellen königlichen Verehrer, deren heim-
liche kleine Erholungen ja nicht unbekannt geblieben sind, einen
etwas . unheimlichen Eindruck machen müssen — falls nicht
etwa diese Herren es besser wussten, wie es mit der königlichen
Allwissenheit bestellt war.
Es ist nicht zu leugnen, dass die Königin uns in diesen
Darstellungen ihrer äusseren Erscheinung unendlich weniger
gross und imponirend entgegentritt, als in ihrem geschichtlichen
Charakterbilde. Sie hatte als Frau mancherlei weibliche
Schwächen und Schatten, als Englands Beherrscherin jedoch
war sie — „jeder Zoll eine Königin" ! und so bezeichnet sie auch
Robert Cecils Nachruf: „Wollte Gott, ich müsste noch knieen".
Zwischen der keuschen Diana und der Allwissenheit
fesselt uns ein Bild von seltener Lieblichkeit: die poetisch ver-
klärte Gestalt, die wir „Maria Stuart", die Engländer „Mary
Queen of Scots" nennen. Es stammt aus ihrer Jugend, so wie
sie uns Deutschen, wenn auch mit einiger dichterischer Freiheit,
Omptcda, L. v., Bilder. 2
18 Englische Landsitte, Gärten und Gärtner.
auf immer bekannt und vertraut ist. Ein frischer duftiger
Schmelz ruht auf diesem Bilde; es ist ein echt französisches Ge-
sicht mit feiner Nase, reizvoll lieblichem Munde, etwas schmach-
tenden Augen, die nicht gerade einschüchternd wirken imd mit
ausserordentlich schönen Händen. Ihr Anzug, obschon in der
fremdartigen Tracht jener Zeit, ist so harmonisch in den
Farben und der Anordnung, dass man auch hierin die Fran-
zösin zu erkennen glaubt. Ein solches Bild zu besitzen, wäre
ohne Zweifel eine seltene Gunst des Geschickes; vielleicht
würde man sogar dieses Porträt — dem Originale vorziehen,
welches denn doch seinen verschiedenen Gatten etwas allzuviel
zu schaffen gemacht hat Zu ihrer Rechten und Linken sehen
wir zwei vornehme Herren. Rechts der junge, verliebte, un-
widerstehliche Dudley, der „zu Schiff nach Frankreich" ging,
imd links derselbe Graf Leicester, lange nach seiner Rück-
kehr; ein vornehmer, schöner, starker, alter Herr, mit wohl-
gepflegtem weissen Barte; nicht sehr klug ausschauend, aber
recht würdevoll.
Wir verlassen die Drawingrooms im östlichen Flügel durch
eine der grossen Glasthüren, in England »French Windows^
genannt, und stehen auf den breiten Gartenterrassen, die sich
mit stattlichen Treppenfluchten bis zum Flüsschen Lea hinab
ziehen, das den Park durchschneidet Auch diese Anlagen sind
vom Erbauer des Schlosses entworfen ; in einer späteren Genera-
tion wurden wohl einzelne Aenderungen in der Benutzung
getroffen.
Die Gartencultur nahm in England erst zur Zeit der Königin
Elisabeth einen neuen Aufschwung, gleichzeitig mit dem
Wechsel in der Bauart der Herrenhäuser auf den grossen
Landsitzen, die, nach dem Frieden der beiden Rosen, nicht
mehr befestigte Burgen, sondern frei zugängliche Häuser sein
sollten. Bis dahin muss der Gartenbau wenig gepflegt worden
sein. Noch im Jahre 1550 schreibt Roger Asham, Elisabeths
bekannter Lehrer in den alten Sprachen ^ aus Gent seinen
Freunden in Oxford: „Wenn man doch allein auf den wüsten
Plätzen innerhalb Londons solche Gärten anlegen wollte, wie
sie hier jede Stadt, auf eine Meile hinaus, voll Kraut und Ge-
müse umgeben; zuvörderst für die Fremden, die diese Kost
gewohnt sind; nach und nach würde auch die grosse Menge
Hatfield Hotise, der Landsitz des Marquis von Salisbury. 19
der Einheimischen aus Noth, Sparsamkeit oder Massigkeit
davon Gebrauch machen und dann dürften sich in England die
Lebensmittel bald billiger stellen als es jetzt der Fall ist".
Wir werden nun sehen, welche riesige Fortschritte die
Gartenkunst in England in einem halben Jahrhundert gemacht
hatte; wie es scheint, wesentlich unter dem Einflüsse franzosischer
Lehrer, denn solche sind auch in Hatfield gewesen.
Es gibt wol wenige Orte, die dem Gartenfreunde und
dem Landschaftsgärtner ein grosseres Interesse bieten, als die
Gärten von Hatfield House. Alle Vergangenheit und die
neueste Gegenwart bilden hier die stärksten Gegensätze und
sind dennoch, jede in vollkommener Leistung, zu einem schönen^
gTOSsartigen und gefälligen Ganzen verschmolzen. Auch hier
ist der historische Faden der Entwickelung nie zerrissen; diese
Gärten und der umschliessende Park bilden ein Stück englischer
Geschichte. Sie sind zum Theil älter als das „Haus", grösseren
Theils gleichaltrig.
Durch einen stolzen, alten Baumgang von Linden und
Eichen nähern wir uns dem „Weinberge", ein grosses nicht
übersehbares Terrain, das sich östlich vom Schlosse an das
Flüsschen Lea hinunterzieht. Aber der Weinberg, für den
Sir Robert fünfzigtausend Reben und zwei Gärtner aus Frank-
reich verschrieb, ist längst verschwunden. Sehr wahrschein-
lich wurde der Weinbau im Freien sehr bald wieder aufgegeben
als ein hoffnungsloses Beginnen unter dem englischen bedeckten
Himmel. Wir sehen jetzt hier Le Nötre's Gartenkunst in un-
gewöhnlich grossartiger, seltsamer Anwendung. Man betritt
den Weinberg zwischen soliden dunkelgrünen Mauern und
befindet sich bald in einem weitläufigen verwickelten Systeme
von Thürmen, bedeckten Wegen, Bögen, Schiessscharten und
Zinnen. Alle diese Werke sind aus verschnittenem Taxus
hergestellt. Wir wandern durch riesige Gallerien und gewölbte
Gänge mit dichten undurchdringlichen Dächern; an den
Kreuzungen stehen schwere Pfeiler, aus verschlungenen Stämmen
gebildet. Der nach dem Flusse abfallende Boden hat zu den
originellsten Abwechselungen Anlass gegeben. Die unteren
Aeste der Bäume sind zur Erde herabgebogen und bilden
eine dichte Decke, einen weit herabwallenden Schleppmantel
um den Stamm, während der obere Theil sich zu einer frei
20 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
und breit wachsenden Krone schliesst. Es gibt keine ange-
nehmere Wandelbahn an einem heissen Sommertage. Der
Anblick ist märchenhaft und feierlich, eine etwas prosaische
Poesie ; leider ist er wegen seiner Absonderlichkeit im Einzelnen
und wegen der Grossartigkeit seiner Ausdehnung sehr schwer
beschreiblich: er allein lohnt dem Gärtner eine Reise nach
Hatfield. Eine Schilderung dieser Gärten sollte, bei richtiger
Vertheilung des Stoffes, eigentlich mit dem Weinberge schliessen,
denn alles andere ist geringer, mag auch einiges noch älter
sein. In diesem Zauberwalde steigt man zum Flüsschen hinab,
an dessen anderem Ufer der alte von hohen Mauern ein-
geschlossene Küchengarten, jetzt zeitgemäss cultivirt, sich erhebt
Am entgegengesetzten westlichen Ende des Parkes . liegen
die neuen Küchengärten. Sie geben uns, in vollkommenem
Gegensatze, auf ihrem Gebiete von etwa zwölf Morgen ein
Bild neuester englischer Hochcultur. Im Vorübergehen er-
staunen wir über die aussergewöhnliche Menge von verschie-
denen Salatarten, die hier mefirere Morgen bedecken.
„Wie ist es nur möglich, dass das Alles verzehrt wird?**
„Möglich?** sagte der Obergärtner Mr. Normann, „Sie sollen
sogleich noch mehr erstaunen! Ich liefere für den Haushalt
jährlich 5000 Stück Sellerie; Endivien und Kopfsalat in die Zehn-
tausende. Vor zwei Jahren wurden einmal binnen fünf Tagen
800 Köpfe Endiviensalat verbraucht!**
Indessen drängt die Zeit und wir treten unter der Führung
des Obergärtners in das anstossende Gebiet der Treibhäuser.
Hier reift die Traube für den Tisch, vom April bis in den
Februar hinein, in sieben verschiedenen Häusern von insgesammt
einhundert Metern Länge. In vier Häusern, von zusammen
dreissig Metern Front, werden Gurken, Melonen und Bohnen
getrieben. Daneben stehen zwei Ananashäuser, es folgen zwei
Pfirsichhäuser, jedes zwanzig Meter lang und zwei andere
Gebäude, mit je fünfzehn Metern Front, für Erdbeeren. Aus
den letzteren waren zwei Tage zuvor vierzig Pfund Erdbeeren
für die Tafel geliefert und trotzdem hing eine neue reichliche
reife Ernte an den Büschen. Für die Ausschmückung des
Schlosses und des Stadthauses mit Blumen ist durch ein Kalt-
und ein Warmhaus gesorgt; zugleich steht hier ein reich
decorirter Wintergarten. Dann folgen nochmals ein Pfirsich-
Hatßeld House, der Landsitz des Marquis von Salisbury. 21
und ein Feigenhaus, beide achtzehn auf sechs Meter enthaltend,
endh'ch zwei Ananashäuser und eine Treiberei, in der nur Trauben
in Töpfen gezogen werden. Ausserdem fehlen die Vermehrungs-
häuser und der übrige nothwendige Zubehör an Räumen nicht.
Doch genug, — vielleicht zuviel — der Aufzählung und Be-
schreibung!
Ich kann indessen nicht schliessen, ohne des Heizapparates
zu erwähnen. Hier haben wir ein Stück allermodernster
Gartenindustrie. Der grosse Wasserkessel für alle diese Häuser
wird nicht direct durch Kohlenfeuerung geheizt, sondern er
ruht auf einem Ofen, in welchem eine Kalkbrennerei betrieben
wird und empfängt so die vom Kalke entweichende hoch-
gradige Hitze. Die Idee ist ganz neu und hier zuerst praktisch
ausgeführt. Mr. Normann sprach sich völlig zufrieden über das
Ergebniss aus und bemerkte: dass bei durchschnittlichen Kalk-
und Kohlenpreisen die gesammte erforderliche Wärme kosten-
frei erzeugt und daneben an der täglichen Kalkproduction
noch fünf bis zehn Mark verdient wird.
Wir nähern uns nun wieder dem Schlosse und gelangen
an dessen südwestliche Ecke. Hier verändert der Garten seinen
landschaftlichen Charakter. Er erscheint ungepflegter, verlassen,
veraltet. Eine niedrige Mauer schliesst einen geräumigen quadra-
tischen gegen die Umgebung vertieften Platz ein, wir steigen
zu ihm auf halbverfallenen Stufen hinab. Rundum läuft ein
Laubgang von alten knorrigen, verschnittenen und verschränkten
Linden. In der Mitte ist ein grosses Wasserbecken, von ge-
schorenen Juniperus umgeben, an welche sich schnörkelhafte
Beete schliessen. Diese Beete, sind mit einfachen veralteten
Sommerblumen und mit Gemüsen besetzt. In jeder der vier
Ecken steht ein nicht grosser aber sehr alter Maulbeerbaum.
Es ist ein Stück mittelalterlicher Gärtnerei, in das wir ein-
traten. Dieser Garten gehört zum alten Tudorpalaste und
ward wahrscheinlich in seiner jetzigen allgemeinen Anlage zu
der Zeit hergestellt, als die junge Prinzess Elisabeth hier die
Maulbeeren pflanzte.
Aus dieser merkwürdigen Gartenruine fuhren uns wenige
Schritte in den »Garten der wohlriechenden Pflanzen«.
Die Blumenbeete hier, in eleganten einfachen gradlinigen
und runden Figuren, sind mit Buchsbaum eingefasst und aus-
22 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
schliesslich mit wohlriechenden Blumen bepflanzt. Um den
Mangel an Farben in den Mustern der Beete zu ersetzen, sind
alle Wege mit lebhaft buntem Sande beschüttet. Hier finden
wir in reichem Wechsel, je nach der Jahreszeit: Heliotrop
und Nelken, Thymian, Lavendel, Rosmarin und Reseda,
' Levkoien und Nachtviolen, Maiblümchen und Veilchen.
Wir umwandem jetzt einen stattlichen See mit freien grünen
Ufern und stehen vor einer Trauerweide von aussergewohnlicher
Entw^ickelung. Sie stammt aus St. Helena vom Grrabe Napoleons I.
Ganz nahe diesem lebendigen Monumente gefallener
irdischer Grosse gelangen wir in den unmittelbar anstossenden
Rosengarten; ein geräumiges Quadrat, dessen Hintergrund
der alte »Palast« bildet. Als die Tudors hier noch Hof
hielten, war das jetzt blühende und duftende Rosenfeld ein
kahler innerer Hof, welchen der Palast mit vier Flügeln umgab.
Die Stellen, an denen ehemals die Eckthürme standen, sind durch
erhöhteBeete bezeichnet. Die Rosen gedeihen hier prachtvoll;
sie geniessen den doppelten Vortheil der niederen schattigen
Lage und einer Bewässerung durch unterirdische Rohren.
In der Mitte sprudelt ein erfrischender Springbrunnen unter
einem offenen Dache von Kletterrosen. Die Hauptfront des
alten Palastes, auf dessen Grunde wir stehen, lief dem jetzigen
westlichen Flügel des neuen Schlosses parallel und lag an der
alten Heerstrasse von London. Diese Front und die beiden
Seiten wurden niedergerissen; man bedurfte des Bauplatzes
und benutzte das erst einhundert und zwanzig Jahre alte Material.
Zum Glück blieb das rückwärtige Gebäude verschont. Es ent-
hält eine einzige grosse Halle, in deren Mitte ein Thurm den
Eingang überhöht Der Bau ist im reichen englisch-gothischen,
dem sogenannten Tudorstile aus Back- und Hausteinen aus-
geführt, die noch keine Spuren des Verfalls tragen. Die er-
habenen Arbeiten an den Gesimsen und die Zierrathe an den
Rahmen und Kreuzen der Fenster sind besonders kunstreich
gearbeitet. Das Gebäude ist künstlerisch wol schöner zu nennen
als das neue weit höhere Schloss und könnte ihm durch den
Reichthum seiner stilvolleren Formen und durch den warmen
dunklen Ton seiner Steine Eintrag thun. Die Halle ist über-
wölbt mit einer nach Innen offenen und reich ornamentirten
Holzdecke, ähnlich dem berühmten Dachstuhle in der West-
Hatfield House, der Landsitz des Marquis von Salishury* 23
minster HalL Einst gab es hier hohe königliche Feste, von
denen eines noch nicht ganz vergessen ist. Nachdem die junge
Prinzess Elisabeth, aus dem Tower entlassen war, beschränkte die
Eifersucht der Königin ihren Aufenthalt auf Hatfield, das
Eduard VI. der Schwester Elisabeth geschenkt hatte. Als
Wächter ward ihr Sir Thomas Pope bestellt, der jedoch an-
scheinend keinen Beruf fiihlte, es mit seiner Gefangenen durch
Strenge zu verderben. Denn in der Fastenzeit des Jahres 1556
gab er auf seine Kosten der Lady Elisabeth eine glänzende
Maskerade in der grossen Halle zu Hatfield, mit prächtigen
Aufzügen und Belustigungen. Da erschienen zwölf alterthüm-
liche Minstrels, femer achtundvierzig Herren und Damen, ge-
kleidet in rothen Atlas mit Gold, Spitzen und Perlen. Es war ein
Kastell dargestellt aus goldgestickten Stoffen, dessen Zinnen mit
Granatbäumen besetzt und mit den Schildern der sechs Ritter
behängt waren, die davor in reicher Rüstung tumierten. Der
Kredenz in der Halle hatte zwölf Stufen übereinander, alle ge-
schmückt mit Gold- und Silbergeschirr. Beim Bankette waren
siebzig Plätze gelegt und es gab dreissig verschiedene Speisen
mit Zwischengängen von gewürzten Süssigkeiten und feinem
Backwerke. Alles ging auf Kosten von Sir Thomas. Am
folgenden Tage wurde, zum Schlüsse des Festes, das Schau-
spiel vom Holofemes aufgeführt. Indessen die strenge und
eifrige Majestät gab dem armen Sir Thomas hinterher das
allerhöchste Missfallen über diese Fastnachtsscherze in einem
sehr ungnädigen Handschreiben zu erkennen und so hatte das
Maskiren furder zu unterbleiben.
Jetzt ist jede Erinnerung an die frühere Herrlichkeit in der
neueren Einrichtung verschwunden, denn diese königliche
Banketthalle dient als hoher, luftiger, ganz modern eingerichteter
— Pferdestall. Sic transit!
Vom früheren Abschlüsse des Palastes gegen das Städt-
chen ist nur noch ein Thorhaus vorhanden. Neben diesem
sieht man einen hohen, mit Epheu dicht bewachsenen Schornstein.
Die Königin Mary soll auf diese Esse, die den Zimmern ihrer
Halbschwester gegenüberstand, eine spitzige eiserne Stange
haben befestigen und die Gefangene bedeuten lassen: es
sei dort der Platz für ihren Kopf, falls dieser etwa unruhig
und unbequem würde. —
24 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
Inzwischen mahnte die sinkende Sonne sich zum Dinner
anzukleiden. Um acht Uhr erscholl die Hausglocke und man
versammelte sich im Drawingroom neben der grossen Speise-
halle. In diesen Räumen waltet in England der weibliche
Genius und bethätigt sich vor Allem in der zarten und geschmack-
vollen Anordnung der reichen Blumenpracht, die, in den Treib-
häusern vorbereitet, Wohnzimmer und Tafel stets mit frischem
blühenden Leben schmückt. Dadurch gewinnt das schwere
stilvolle Gemach des alten Schlosses ein heiteres und die häus-
liche Familientafel ein festliches Ansehen. Die Blumen bewill-
kommnen auch den ausgezeichneten Gast auf seinem Zimmer
und ehren ihn jeden Tag neu in frischen Sträussen. So hat sich
in England die Neignng für die Blumen in der pflegenden
Hand der Frauen zu einer liebenswürdigen Seite des National-
charakters entwickelt.
Leider war der Herr des Hauses durch die Vorbereitungen
für seine Congressreise nach Berlin verhindert worden, die
Stadt heute zu verlassen, und ich genoss daher den Vorzug,
im engsten Kreise der Damen und Kinder des Hauses zu
speisen. Eine nicht grosse, prunklos reiche und mit Pflanzen
und Blumen heiter verzierte Tafel stand in der Mitte des
riesigen hell erleuchteten Raumes, und die wohlwollende
einfach höfliche Aufnahme, die der Fremde an diesem Familien-
tische fand, entsprach der echten Vornehmheit des Hauses.
Mir gegenüber thürmte sich an der Wand ein mächtiges
Büffet von dunklem Eichenholze, auf welchem schwere Schau-
stücke des viel gepriesenen alten englischen Silbers das Licht
der Wachskerzen zurückwarfen. Zur Rechten des Büffets
tritt aus goldenem Renaissance -Rahmen ein Bild hervor: der
Gründer des .,Hauses", in ganzer, lebensgrosser Figur, gemalt
von Hilliard. Eine seltsame Erscheinung. In dem schonen
blassen Gesichte schwarze, grosse, tiefe melancholische Augen ;
ein zu grosser Kopf unmittelbar auf die Schultern gesetzt; diese,
rund und unverhältnissmässig, geben der Gestalt den unver-
kennbaren Typus des Verwachsenen. Dazu trägst die Kleidung
bei: grosse Halskrause, über dem Knie gebundene Pluderhosen,
lange enge gelbe Strümpfe an zu schwachen Beinea. Es fehlt
dem Körper das sichere Fundament; der Schwerpunkt erscheint
zu weit nach oben gerückt. Allerdings war bei dem ersten
Ilatfield House, der Landsitz des Marquis von Salishxir^', 2o
•
Robert Cecil dieses „Oben" erheblich schwerer als bei der
gTossten Zahl seiner Zeitgenossen.
Zur Linken des Büffets erscheint ein modernes Bild. Eine
kräftige Gestalt über Mittelgrosse. Die Haltung ist leicht vorn-
übergebeugt; eine nicht sehr hohe aber bedeutend entwickelte,
v^ denkende Stirn; kluge, ruhige, feste Augen; dunkler Vollbart,
schwarzes, gelocktes Haar, um den Scheitel schon stark gelichtet.
Es ist der jüngste Robert Cecil Marquis of SaHsbury, der jetzige
Herr dieses Hauses, dessen schon langjährige öffentliche Lauf-
bahn gerade jetzt der Welt in neuem energischen Aufschwünge
erscheint*), der sich inzwischen den schonen reinen Ruhm er-
worben hat, durch seine Festigkeit und Mässigung Europa den
lange bedrohten Frieden gesichert zu haben und dafür den
wohlverdienten Lohn in der höchsten Auszeichnung empfing,
welche die englische Krone einem Engländer gewähren kann.
„Sero sed serio", „langsam aber sicher", so lautet das Wappen-
motto, welches der Ahnherr Robert Cecil seinem Geschlechte
vererbte. —
Als wir nach Tische wieder hinaus auf die Terrasse traten,
erglänzten die Gärten im Schimmer des klaren Vollmondes.
Die Jugend war bereit, mir den nördlichen Park und besonders
seinen „ältesten Baum" bei Mondschein zu zeigen. Bald traten
wir in den alten Baumgang ein, dessen vielhundertjährige
Eichen schon Eduard VL Schatten spendeten, der als Kind
unter ihnen spielte. Mit feinem historischen Takte ist dieser
nördliche Theil des Parkes nie umgestaltet; der Boden zu
beiden Seiten der Bäume ist forstartig mit hohem Farrenkraute
bedeckt, über welchem in unregelmässigem lichten Bestände
alte 'Baumriesen sich breiten.
Das junge Geschlecht der Cecils schritt, heiter und unbe-
fangen plaudernd, auf dem gewohnten Wege dahin, der den
Fremden durch die Fülle der geschichtlichen Erinnerung und
durch den lebendigen Zusammenhang dieser Gegenwart mit
ihrer Vorzeit zu ernsteren Betrachtungen anregte. Wir bogen
in einen Seitengang ein, an dessen Ende uns bald gespensterhaft
ein riesiger Eichenstumpf im weissen ungewissen Mondlichte
entgegentrat. Seine Krone ist längst gebrochen und lebt nur
*) Geschrieben im Herbst 1878.
26 Englische Landsitze, Gürten und Gärtner»
noch scheinbar, indem einige in den hohlen Stamm eingesäete
Eicheln junge grüne Loden getrieben haben. Zu seinen beiden
Seiten grünt und wächst die Gegenwart in zwei anderen
kräftigen Eichen, von der jetzt regierenden Königin und dem
nie genug betrauerten Prinzen Gemahl vor Jahren eigen-
händig gepflanzt.
Wir stehen vor dem ältesten Baume von Hatfield House,
vor der »Eiche der Konigin Elisabeth«. Hier liebte die junge
Prinzessin im Schatten des damals in seiner Vollkraft treiben-
den Baumes zu sitzen und mit Roger Asham griechische
und lateinische Klassiker zu lesen. Hier sass sie auch am
17. November 1558, voll ängstlicher Spannung wegen der Nach-
richten, die ihr William Cecil über die tödtliche Erkrankung
ihrer Schwester hatte zugehen lassen. Schon war ihr von
anderer Seite eine Todesbotschaft hinterbracht worden. Sie
jedoch fürchtete eine Falle der grimmen Schwester — und
dachte dabei vielleicht an den Schornstein. Sie verlangte
daher, zum Zeichen der Wahrheit, dass man ihr einen gewissen
Ring von schwarzer Emaille bringe, der die Hand der lebenden
Königin Mary nie verliess. Indessen noch vor diesem Zeichen
erschien auf der Strasse von London her vor dem Palaste ein
Trupp Reiter, welcher der Prinzess in den Park nachfolgte.
Es waren Mitglieder des Geheimrathes; sie kamen, ihr den Tod
der Königin Mary anzuzeigen und der neuen Herrin zu huldigen.
Da löste sich ihre quälende Spannung „zwischen Axt und
Krone" ; im überwältigenden Gefühle der Befreiung sank sie in
die Kniee und rief laut mit dem Psalmisten: „Das ist vom
Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen";
und die Nachlebenden können wol den voraufgehenden Vers
desselben Psalms hinzufügen : „Der Stein, den die Bauleute ver-
worfen haben, ist zum Eckstein geworden".
Es ist nun allerdings nicht gewöhnlich, dass junge Prin-
zessinnen im Monate November im Freien unter entlaubten
Eichen sitzen. Aber Elisabeth war auch keine gewöhnliche
Frau. Sie besass eine ungewöhnliche Stärke des Körpers wie
des Geistes. Noch sechs Monate vor ihrem Tode, in ihrem
siebzigsten Lebensjahre, einsam und leidend, ging sie täglich
Stunden lang im Park von Windsor spazieren und ritt auch
noch einmal auf einer Jagd zehn englische Meilen, Eine
Hatfield House, der Landsit% des Marquis von Salisbury. 27
echte Engländerin, berufen: Engländer zu beherrschen. Sie
starb, wie wir wissen, beinahe im Freien, im Garten von
Richmond und ihr Lebensende fiel in den Winter.
Unter dieser alten Eiche gab sie auch später noch Audienzen
und erledigte die Staatsgeschäfte. An diesem 17. November
aber ernannte sie hier sofort ihren getreuen Freund in ihrer
Niedrigkeit, William Cecil, zu ihrem Ersten Minister. Durch
ihn schloss sie noch in Hatfield, als praktische Frau und
Regentin, mit einem der damaligen Grossen von Lombardstreet,
dem noch bekannten Sir Thomas Gresham, ein Anlehn ab
von 500,000 Mark zur Bestreitung ihrer Krönung und von
anderen 500,000 Mark, um ihre leere Kasse mit Betriebsmitteln
zu füllen. Sir Thomas erwies sich hierbei als guter Patriot.
Er nahm, wie er selbst erzählt, nur zwölf Procent von der
jungen Königin, während ihre Vorgängerin stets vierzehn hatte
bezahlen .müssen.
Die vorgerückte Stunde mahnt zum Heimwege, den wir
zögernd antreten. Unwillkürlich begleitet der grosse Schatten,
den wir hier heraufbeschworen haben, noch unsere Schritte,
als wir schon weit von der berühmten Eiche entfernt sind und
uns der Gegenwart, dem erleuchteten Hause nähern. Er wandelt
vor uns auf im ungewissen Mondlichte, das spärlich durch
die Wipfel der Eichen dringt. Jetzt nicht mehr allein; der
Königin zur Seite schreiten ihre beiden grossen Minister,
William und Robert Cecil; und wol sind sie würdig, den
Nachkommen neben der Majestät zu erscheinen. Durch sie
wurde Elisabeth aus Hatfield auf den Thron gefuhrt, durch sie
auf dem Throne über das gewöhnliche Maass menschlicher
Grösse emporgehoben. Sie lehrten ihre Herrin die grosse Kunst,
ihr Volk stark und fest zu machen und dadurch zugleich die
eigene Macht zu stärken. So ist durch die Cecils, im Laufe
der Zeiten, die Königm mehr und mehr hinausgewachsen
über die Frau.
Und so waren auch die Cecils Elisabeths würdigste Nach-
folger in Hatfield House.
III.
Eine moderne Cottage.
Wir stehen auf der Zinne des hohen Steinriesen, welcher
die majestätische Konigsburg Englands überragt, des mächtigen
runden Thurmes von Windsor Castle. Zu unseren Füssen liegt
die Residenz der erhabenen Frau, in deren Reiche die Sonne
nicht untergeht. Das stolze Schloss erglänzt im klaren Lichte
eines wolkenlosen Frühlingsmorgens und die helle Umgegend
streckt sich unabsehbar fem hinaus. Es giebt wohl keine
Landschaft Englands, die in ihrer eigenthümlichen Schönheit
englischer ist als das Bild, welches sich vor unseren Augen
entrollt. Im Norden und Osten windet sich das silberne Band
der Themse um die Höhe, auf derer! breiter Kuppe Windsor
Castle um weite Höfe emporstrebt. Jenseit des Flusses, gegen
Norden, liegt tief unter uns, das alte stets jugendfrische
Eaton, darüber hinaus sucht der Blick das ehrwürdige Oxford.
Im Westen und Osten drängen sich Städte, Dörfer, Herren-
sitze und Cottages in der frischen grünen baumreichen Ebene;
am fernsten östlichen Horizonte zeichnet sich dem scharfen
Auge die mächtige Kuppel von St. Paul. Die ganze süd-
liche Hälfte des Gesichtskreises aber ist mit einem unendlichen
Meere von Baumgipfeln bedeckt; einzelne Riesen, Gruppen,
ganze Wälder. Zwischen ihnen glänzt der wunderbare Smaragd
der englischen Grasflächen, von seltenen musterhaft gepflegten
Wegen durchschnitten. Diese grüne Welt ist der meilenweite
»Grosse Park« und der »Forst« von Windsor, ernst und lachend,
überwältigend grossartig und zugleich heimlich und herzerfreuend.
Der Grosse Park enthält zweitausend vierhundert Morgen;
hinter ihm verliert sich der Forst am südlichen Horizonte
Eine moderne Cottage, 23
in grünen Wellen, deren Rücken hier ganz besonders scharf aus-
gesprochen sind. Es scheint, als wirke in dem Ungeheuern
Ganzen jeder einzelne Baum wie eine besondere Halbkugel
bemerklich zu dem Gesammtbilde mit, weil die Kronen der
Waldriesen hier zu einer Entwickelung gelangt sind, wie man
ihr wol selten anderswo wieder begegnet.
Wenden wir imsem Blick genau nach Süden, so wird er
durch Linien gefesselt, welche die ungezwungene Natürlichkeit
der Landschaft in strenger Ordnung unterbrechen. Wir sehen
eine gewaltige Schneide entlang, die sich in mächtiger Breite
und kaum zu ermessender Länge vom Thore König Georgs IV.
am südlichen Fusse des Schlosshügels durch den Grossen Park
zieht und in ihrem letzen Auslaufe wieder aufsteigt. In ihrer
Mitte dehnt sich eine geräumige Fahrstrasse, jedoch erscheint
sie nur als helle Linie, denn auf beiden Seiten nimmt der
freie grüne Rasen, der sie begleitet, wol den vierfachen Raum
des Weges ein. Diese gesammte Fläche ist wieder hüben
und drüben durch zwei Reihen hoher alter Ulmen eingefasst,
weite schattige Alleen für Fussgänger und Reiter. Das ist
der berühmte Long Walk, eine in ihrer einfachen Grösse wahr-
haft geniale Schöpfung. Die riesigen Rüstern sind zur Zeit der
Königin Anna gepflanzt und stehen jetzt noch in der vollen
Kraft ihrer Jahre.
Unser heutiger Weg führt uns durch dieses Meisterstück
der englischen Parkkunst; während wir seine ganze Ausdehnung
von beinahe vier Kilometern durchmessen, öffnen sich uns zu
beiden Seiten liebliche wechselnde Durchblicke. Rechts zeigen
sich zunächst die Landhäuser des Städtchens Windsor, die sich
dem Parke hier bescheiden anschmiegen; links trennen uns
leichte Gatter yon dem, den Reisenden nicht zugänglichen
Hausparke und den grossartigen königlichen Obst- und Küchen-
gärten zu Frogmore. Dann erweitert sich die Aussicht, wir
fahren zwischen geräumigen Weidegründen hin, belebt durch
Heerden von Schafen, Angoraziegen und vertrautem Damm-
wilde, das» am Wege grasend, dem vorübereilenden menschlichen
Verkehre gleichmüthig zusieht. Am Schlüsse der Allee wächst
nach und nach das Reiterstandbild König Georgs III. auf
dem Hügel empor, den wir jetzt hinansteigen. Vor dem Denk-
male theilt sich der Weg; rechts erreicht man bald das Sport-
t
30 Eyiglische Landsitze, Gärten und Gärbier.
berühmte Ascot; unsere Fahrt jedoch biegt links zur Seite, wir
verlassen nach kurzer Zeit die grosse Strasse und gelangen
bald auf Waldwegen in einen blühenden Garten. Doch nein!
wir sind noch im Walde, die grossen lichten Eichen über uns
bezeugen es; aber unter ihnen nimmt jetzt unsem Weg von
beiden Seiten ein wol sechs Meter hohes dichtes Gebüsch auf,
dessen kräftiges immergrünes Blattwerk in einem bläulichen
Meere der frischesten üppigsten Blüthen fast verschwindet.
xV Wir sind in den, allen Pflanzen- und Gartenfreunden wohl-
bekannten »Rhododendron Walk« eingetreten. Ein wunderbarer
Anblick gerade in dieser Blüthezeit; dem Fremden, der nie
einen farbenreichen Wald gesehen, doppelt wunderbar. Wol
länger als eine Viertelstunde begleitet uns diese Pracht, dann
erreichen vfix wieder die nach Osten führende Landstrasse und
halten an der Grenze des Parkes vor dem Bishops Gate.
Aus einem von blühenden Glycinien völlig bedeckten
Häuschen en^idert die stattliche Frau des Thorwärters den
lauten Ruf unseres Kutschers: »Gate! Gate!« und wir biegen
in einen sanft gewundenen Gartenpfad ein.
Wie durch einen Zauberschlag sind wir plötzlich in eine
andere Welt versetzt. Eben noch Waldeinsamkeit unter Eichen,
Gebüsch und Farrenkraut, nun vollendete ländliche Hochcultur.
Auf beiden Seiten ist der Fahrweg von tadellosem Rasen
eingeschlossen, auf welchem einzelne ausgewählte kleinere
Coniferen: Cypressen, Retinosporen, Taxus und die goldgrüne
Thuja aurea vertheilt sind; dazwischen die helle scheckige
Aucuba mit tiefrothen Beeren und die gezackte Aralie aus Japan.
Hinter diesen Rasenflächen begrenzen dichte Wände von immer-
grünem Evonymus, Laurustinus und bunter Stechpalme, mit
wildem Rhododendron und buschigem Buchsbaum unterpflanzt,
den Garten. Zu unserer Linken erscheinen über dem Gebüsche
die spitzen Giebel ländlicher Gebäude; zur Rechten blicken wir
hinauf in die Wipfel mächtiger Cedem, die aus der Feme her-
überragen.
Wir halten jetzt an dem Eingange des Wohnhauses; ein
niedriges Gebäude von zwei Geschossen, in sauberer, hellgrauer
Oelfarbe gestrichen. Das Dach ist durch verschiedenartige
spitze vorspringende Giebel gebrochen, deren innere Aus-
kleidung mit dunkelbraunem Holze gefallig von dem lichten
Eine moderne Cotta^e, 31
•d
Grundtone absticht Obenauf sind die weissen, als ver-
zierte kurze Säulen behandelten Schornsteine in Bündel ver-
einigt, so dass sie das Gebäude schmücken und erhöhen. Die
Mauerfläche des Hauses ist durch schmale Dachrinnen abge-
theilt, deren obere OefFnungen mil kleinen Kapitalen verhüllt
und deren eiserne Beschläge gefallig verziert sind.
Ein kleiner Vorraum empfängt die Eintretenden, nicht ein
unbequemes gelecktes „Rühr* mich nicht an", sondern er dient
zur Aufbewahrung aller Mäntel, Peitschen, Schirme und Hüte;
den letzteren nimmt im praktischen England der Gast nicht mit
sich in das Wohnzimmer, hat ihn also auch beim Abschiede
dort nicht ängstlich und vergeblich zu suchen. Hier liegt auch
das grosse Fremdenbuch auf, nebst allem Material für das
Briefschreiben. Das vorzügliche Papier trägt in Stempel und
Aufschrift den Namen des Hauses, jedem Gaste eine doppelt
willkommene Gabe für seine Korrespondenz in die Heimat.
Die Patentdintenfässer sind stets gefüllt und jede Feder ist
diensttüchtig. Von der hinteren Wand herab überwacht der
Hausherr, im rothen Frack auf einem edlen braunen Hunter,
aus einem schweren gekehlten schwarzen Holzrahmen hervor-
tretend, sein Hausrecht. Im Originale ist er jedoch schon
mitten unter uns und bewillkommnet die Landsleute mit herz-
lichen Worten. Denn wir befinden uns hier in der Cottage
des Barons Henry Schröder, des ältesten Sohnes des grossen
Hauses Schröder in Hamburg, schon seit länger als zwanzig
Jahren in England ansässig, jetzt in der vordersten Reihe
unter den Magnaten der City stehend und eines der Häupter
unserer deutschen Colonie in London. Aber der grosse Kauf-
herr ist zugleich ein vortrefflicher Reiter, ein unermüdlicher
Jäger und ein Mann, der mit gebildetem Geschmacke und
feinem Verständnisse reiche Mittel auf die Ausstattung dieser
Perle einer modernen englischen Cottage, „die Dell" genannt,
verwendet und hier, mit seiner liebenswürdigen Gattin, eine
reiche gemüthliche herzliche Gastfreundschaft übt.
Die Dell ist kein neu gemachtes, sie ist ein altes im Laufe
der Zeit gewordenes, ein gewachsenes Haus, und gerade da-
durch in ihrer scheinbaren Unregelmässigkeit malerisch und
heimlich. Die vordere Front zerfallt in zwei Theile; vor dem
älteren, niederen läuft zu ebener Erde eine breite mit Glas ge-
1
Ö2 Englische Landsitze^ Gärten und Gärtner,
schlossene Vorhalle, in die wir nun eintreten. Sie ist als Winter-
garten behandelt. Der Fussboden ist mit bunten Thonfüesen
heiter musivisch eingelegt, an der inneren Hauswand ranken
zierliche, gesund wuchernde Kletterpflanzen empor. Die Seite,
durch welche wir eingehet, ist mit einer mächtigen Baum-
farre in einem riesigen Kübel von Gien ausgefüllt, von
hohen pyramidalisch gezogenen indischen Azaleen in voller
Blüthenpracht umringt. In der Mitte des Wintergartens sehen
wir eine der kolossalen hochaufgebauten Majoliken von Minton,
phantastisches derbes Blätterwerk von bunten Delphinen und
Figuren getragen; sie ist mit seltenen Treibhauspflanzen be-
setzt. Den Abschluss der Vorhalle bildet eine einzige grosse
Glasscheibe, welche den sich nähernden Fremden durch das
Entgegenkommen des eigenen Bildes überraischt und verwirrt.
Die Wohnzimmer der Hausfrau münden auf diese blühende
Vorhalle, erhalten dadurch Schutz gegen die äussere Luft
und gewähren, da gleichwohl hinreichendes Licht eintritt, einen
freien Durchblick in den Garten. Die Einrichtung der Räume
ist bequem, zierlich, landhausmässig. Ihr Schmuck besteht in
seltenen Blumen, kostbaren chinesischen Emaillen und einigen
Familienbildern. Wir begegn^i unter diesen der ehrwürdigen
Gestalt. des Hauptes der Familie Schröder, jetzt ein rüstiger
Greis von vierundneunzig Jahren, nicht nur in weiten Kreisen
der grossen Welt hochangesehen, sondern auch von jedem Kinde
in Hamburg als der Giiinder des „Schröderstiftes" und der uner-
müdliche, freigebige Wohlthäter aller Armen und Kranken
gekannt und verehrt.
Allein es leidet uns nicht länger in diesen wohnlichen
Zimmern ; der schöne Tag und die Blicke, welche wir heimlich
in den Garten geworfen haben, die dort immer mehr gefesselt
wurden, immer verwunderter und bewundernder dahin zurück-
kehrten, — sie ziehen yins unwiderstehlich hinaus.
Der Garten um die Cottage ist achtzehn Morgen gross.
Er macht zunächst den allgemeinen unbestimmten Eindruck
von etwas Besonderem, Seltsamem ; er ist in seinem dunkel-
grünen Grundtone ernster als unsere Hausgärten und zugleich
weit farbenreicher. Es ist ein immergrüner Garten. Ausser
einigen alten Eichen auf seinen Grenzen enthält er keine
perennirende Pflanze, die im Winter ihre Blätter verliert.
Eine moderne Cottage^ 33
Die Durchfuhrung dieses Systems ist streng und das Ergebniss
ein anfangs fremdartiger, dann erfreulicher, ruhiger und heiterer,
ein vornehmer Effect. Der ganze Garten liegt in dichtem
reinen sammtartigen Rasen, der aus einem älteren, zu diesem
Zwecke angekauften Grundstücke abgeschält und hier wieder
zusammen gelegt ist. Denn je langjähriger die Grasnarbe,
desto schöner. Nur ein einziger Kiesweg führt an der äusseren
Grenze entlang, übrigens bildet die grüne Fläche selbst das
Verkehrsmittel. Dieser Gegensatz zu unseren, oft übermässig
mit hellen Kieswegen durchschnittenen Gärten trägt zu dem
ruhigen und vornehmen Eindrucke wesentlich bei.
Die Peripherie ist mit verschiedenartigen ausgewählten
hohen und mittelhohen Coniferen besetzt, die, mit immergrünen
Sträuchem unterpfianzt, eine dichte Schutzwand gegen die
Aussenwelt bilden. Die weite Rasenfläche enthält eine reiche
Sammlung der ausgesuchtesten fremden Nadelhölzer. Jeder
Baum steht allein, in ausreichendem Boden und Lufträume; da-
durch sind die untersten Aeste zu ihrer vollen natürlichen Ent-
wickelung gelangt und breiten sich weit umher, den Stamm
mit einem riesigen Schleppmantel umgebend. So sind Baum-
bilder erzielt, wie sie nicht schöner und regelmässiger gedacht
werden können. Das Geschlecht der Pinus ist in etwa einem
Dutzend Arten vertreten, die Cypresse in vier; der Juniperus,
die Retinosporen, der Taxus, die Thuja: sie alle erscheinen
in den interessantesten Varietäten, in regelmässigen und üppig
entwickelten zum Theil grossartigen Individuen. Des Gartens
schönste Zierden sind jedoch seine Wellingtonien, welche, bis
zu achtzehn Meter hoch, normale Pyramiden bilden; mit ihnen
die Araucarien, von denen eine über dreizehn Meter hinaus-
ragt und den sehr seltenen Anblick ihrer grossen Früchte
g-ewährt. Ueber alle diese schönen und bedeutenden Bäume
erheben sich die Cedem vom Libanon und die heiligen
Deodaren. Sie sind hier von ungewöhnlicher Grossartigkeit
und erreichen die Höhe unserer grossen alten Waldfichten.
Die untersten Zweige ruhen weitgestreckt auf dem Grase, die
über den mächtigen Stämmen frei entwickelten Kronen breiten
sich weit in die Lüfle.
»
So beherrscht das Dunkelgrün den Garten und doch ist
er nicht dunkel, nicht eintönig grün. Eine Fluth von Rhodo-
Ompteda, L. v., Bilder. 3
1
34 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
dendren ist in kleinen und grossen Gruppen über den Rasen
ausgegossen; ein unendlicher Reichthum kräftig ausgeprägter
Formen und leuchtender Farben, hervorgegangen aus den seit
fünfzig Jahren unablässig fortgesetzten Kreuzungen des alten
pontischen Rhododendron mit dem Catawbiense aus Nordamerika
und dem feurig rothen Baumrhododendron vom Himalaya.
Der Garten enthält mehrere Tausende von Rhododendren in
etwa zweihundert Arten und diese Sammlung, wol eine der
schönsten in ganz England, war jetzt im Monate Mai in voller
Blüthe. Ein kaum zu beschreibendes Bild. Anfangs bewundert
man still das Ganze, dann, eine nach der anderen, die zahl-
losen Verschiedenheiten in Bau, Grösse und Farbe. Die meisten
dieser wunderbaren Erzeugnisse der englischen Kunstgärtnerei
stammen von dem grossen Rhododendron -Specialisten, Mr.
Waterer im benachbarten Woking. Hier finden wir die Queen,
eine der grössten, stark gefüllt und ganz weiss; dort den Kron-
prinzen, dieselbe Grösse in feurigem Dunkelroth; weiterhin
Kate Waterer, dunkles Rosa mit gelblicher Zeichnung im
Innern; Baroness Schröder, lebhaftes Scharlachroth um eine
hellere Mitte, xmd so fort im unendlichen Wechsel hybrider
Spielarten.
Die Beete der Sommerblumen sind hier, wie häufig in
England, untergeordnet behandelt; sie sind nie sehr gross, nur
so zahlreich als die Belebung des Rasens es erfordert und
meistens einfarbig; Pelargonien und Geranien, eingefasst mit
blauen Lobelien, gelblichem Pyrethrum, grauer Gnaphalie; auch
mit einer niedrigen geschorenen Kante von Erica, Epheu oder
buntem Buchsbaum. Man wählt gern lebhafte Farbentöne,
man vermeidet jedoch alles Unruhige und Verwirrte, Aufgeputzte
und Ueberladene. Namentlich erfreuen sich die gekünstelten
Teppichbeete vor dem, der Natürlichkeit nachstrebenden eng-
lischen Geschmacke keines grossen Beifalls. Man meint, dass
sie in der Vermehrung einen übermässigen Raum einnehmen und
die Frühgemüse aus den Mistbeeten verdrängen. Auch findet
man die Kunstprodukte dieser Pflanzen-Teppichindustrie einiger-
massen zopfig, da sie nicht dem ersten Grundsatze jeder gxiten
Gärtnerei entsprechen: veredelte idealisirte Natur darzustellen.
„Ich weiss nicht, warum die Leute das Teppichbeete nennen",
bemerkte ein anwesender Gartenfreund, „ich würde sie: Salade
Eine moderne Cottage, «j5
a ritalienne heissen. Mich erinnern sie stets an die grossen
Schüsseln mit kunstvoll gamirtem italienischen Salat, dem
Stolze jedes guten BallbufFets, auf welchem Eigelb, Petersilie,
rothe Rüben und graugrüne Kapern ganz ähnliche Muster
bilden".
Wir hatten uns inzwischen den ostlichen Randgebüschen
g-enähert.
„Jetzt, meine Herrn Gärtner, will ich Ihnen noch zum Schlüsse
den Stolz meines Gartens zeigen", knüpfte Baron Schröder an,
„sehen Sie hier!" Wir standen vor einem riesigen Camelien-
baume, der mit Tausenden gefüllter weisser Blumen übersäet
Tvar. „Die Pflanze ist gegen fiinf Meter hoch und etwa acht Meter
breit; ihr Alter übersteigt wahrscheinlich schon einhundert Jahre".
„Wird der Baum im Winter überbauet?"
„Durchaus nicht; wir bedecken nur den Fuss dieses und
aller anderen zarteren Bäume mit einer dicken breiten Dünger-
schicht; das genügt. So hat diese Camelie ohne Schaden ein-
mal eine Wintemacht mit zwölf Grad Kälte R6aumur ertragen ;
aber nur eine, am nächsten Tage war wieder Thauwetter.
Ausserdem ist der ganze Garten drainirt, so dass keine stockende
Nässe um die Wurzeln frieren kann. Endlich schützt uns
auch der umschliessende Park im Norden, Westen und Osten
gegen die rauhen Stürme".
„Es ist wirklich", bemerkte der Erfinder des italienischen
Salates, „die ganze gemässigte Zone des Erdballs in Contribution
gesetzt, um dieses immergrüne Eden zu schaffen wie es auf
dem Continente nördlich der Alpen unbekannt und auch un-
möglich ist".
,Ja", erwiderte der Hausherr, „die Engländer schätzten und
pflegten die Evergreens schon in früheren Zeiten. Sie werden
grosse Anlagen davon in den alten Parks finden; aber seit
etwa fünfundzwanzig Jahren wird eine wahre Jagd um die ganze
Erde auf sie gemacht, und namentlich seit Japan erschlossen
ist, diese unerschöpfliche Fundgrube".
„Wir aber, verehrter Gastfireund, fühlen uns Ihnen hoch-
verpflichtet für dieses schöne, seltne Bild. Den immergrünen
Garten der Dell werden wir stets als einen unserer werthvollsten
Reiseeindrücke bewahren".
36 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
Die Strasse, auf welcher wir anlangten, trennt Cottage
und Garten von den Glashäusern. Wir treten in das Gebiet
der letzteren hinüber und stehen vor einem allerliebsten
Häuschen, der Wohnung des Obergärtners Mr. Ballantine.
Die innere saubere zweckmässige und comfortable Einrichtung
entspricht dem gefalligen grünbewachsenen Aeussem. Einen
höchst seltenen Schmuck erhält die Cottage durch zwei, ihr
unmittelbar benachbarte alte hochstämmige Magnolienbäimie.
Von hier aus übersieht man das benachbarte Gebiet der Treib-
häuser vollständig, und wahrlich ! es ist nicht klein.
Zuerst das lange niedrige Hauptgebäude; in seiner Mitte
liegen zwei Dampfkessel, welche sämmtliche Treibhäuser heizen;
ausserdem befinden sich hier die Schlafzimmer und die gemein-
samen Wohnräume für die Gärtner, ferner das Obstzimmer,
Saatzimmer, Pack- und Pflanzzimmer, die Räume für die ver-
schiedenen Erdsorten, Töpfe und Geräthschaften. Auch sind
hier zwei Abtheilungen der Champignonzucht gewidmet.
Die Treibhäuser selbst bilden eine kleine Welt für sich.
Wir zählen sechs Abtheilungen für Trauben, jede elf Meter
lang; femer drei Häuser für Ananas, zwei für Melonen und
Gurken, zwei Häuser für Erdbeeren; zwei grosse Warmhäuser
für tropische Pflanzen, zwei Orchideenhäuser, vier Kalthäuser
für Zierpflanzen, ein Haus für Farren und Eriken; zusammen
etwa zwanzig Häuser. Ausserdem ist die Gartenmauer auf
einer Länge von hundertundzwanzig Meter mit Glas für die
kalte Obstcultur bedeckt. Diese gesammten Anlagen nehmen
eine Fläche von vier Morgen ein und die Kosten ihrer
Herstellung betrugen über 200,000 Mark.
Wir beobachteten hier mit Interesse die Art und Weise,
wie ein solches Gebäude hergestellt wird, an einem noch im
Bau befindlichen Weinhause. Es wird zunächt eine Grube
von drei Metern Tiefe in der für das Haus beabsichtigten
Länge ausgehoben. Ihre Breite beträgt fünf Meter. Zu unterst
in diese Grube bringt man eine Lage von Kalk und Stein-
brocken, dann eine Schicht Backsteine, hierauf füllt man die
Grube aus mit der besten alten Düngererde und mit Soden
von abgestochenem Rasen. Dieses Erdmaterial wird nur nach
und nach, in vertikalen Schichten, eingesetzt und jeder Schicht
Zeit gelassen, sich unter dem Einflüsse von Luft und Sonne
Eine moderne Cottage, 37
ZU entsäuern. Die ganze Masse ist mit Drains durchzogen.
Die äussere Schrägwand des Treibhauses steht über der Mitte
der Grube, so dass die Wurzeln der Reben, innen und aussen,
je drittehalb Meter Raum finden. Die Lüftung wird durch
obere und untere verstellbare Fenster geregelt, die gemein-
schaftlich der Drehung eines kleinen Steuerrades leicht ge-
horchen. Röhren mit kaltem und heissem Wasser laufen im
Erdboden und über demselben hin und wieder. Die Knochen-
düngung wird sehr stark angewendet, wir fanden für eine Ab-
theilung von zehn Rebstöcken zwanzig Centner zerschlagene
Xnochen bestimmt. Die Reben und Pfirsichstämme sind, wie
schon erwähnt, auf die Mittellinie der Grube gepflanzt und
laufen in den Warmhäusern unter dem schrägen Dache hinauf;
nur in den ersten Jahren des Betriebes in einem neuen Hause,
wenn die definitiven Pflanzen noch klein sind, duldet man
ältere interimistische an der geraden Wand; diese werden später
beseitigt. Nach der strengen Observanz soll jedes Haus nicht
etwa nur eine Gattung von Früchten, sondern sogar nur eine
Sorte derselben enthalten, da die richtige Temperatur und der
unausgesetzte Kampf mit den Pilzen und Insekten, durch
Spritzen und Tabakräuchern, sonst gestört werden. Für die
Topferdbeeren wird wol eine Ausnahme zugestanden, denn von
ihnen kann man bekanntlich nie genug aufstellen um der
Nachfrage völlig zu entsprechen.
Der Erdboden innerhalb und ausserhalb des Hauses wird
mit altem Dünger gedeckt, stets nur vorsichtig gelockert, nie
gegraben und bepflanzt, um die flach unter der Oberfläche
laufenden feinen Wurzeln nicht zu schädigen. Einen eigen-
thümlichen Anblick gewährt das Gurkenhaus. Auch diese
Pflanzen werden an Drähten imter den schrägen Glasfenstem
sorgfältig in die Höhe geleitet Da die getriebenen, vierzig
bis fünfzig Centimeter langen Früchte ihrer Reife ent-
gegen gingen, so hingen sie dicht und tief herab und erinnerten
unwillkürlich an eine heimatliche mit aufgehängten ge-
räucherten Würsten wohlgefüllte ländliche Vorrathskammer.
An die Treibereien schliessen sich die überglasten Spalier-
mauem, mit Wein, Pfirsichen, Aprikosen, Kirschen und Pflaumen
besetzt.
Dieses ganze System der warmen und kalten Obsthäuser
38 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
ist darauf berechnet: den Tisch möglichst zu jeder Jahreszeit
mit reichlichem Obste zu versorgen. Es werden geliefert:
Trauben das ganze Jahr hindurch, die spätesten dickschaligen
erhalten sich, nach dem Blätterfalle, an den Stöcken bis in den
Monat März und die frühesten neuen reifen im April; ebenso
sind Gurken stets vorhanden, auch Ananas; Erdbeeren von
März bis tief in den Juli, Pfirsiche und Melonen vom Anfang
des Mai bis in den Oktober. Dazwischen treten vom Mai
an Kirschen und Pflaumen, dann die Gartenfriichte aus dem freien
Lande und das Winterobst. Alle Häuserüberraschen und erfreuen
durch die -Gesundheit sämmtlicher Pflanzen; kein Kräuseln,
keine Bleichsucht, keine Ameise und rothe Spinne, kein
Schimmel und vor allem keine Blattläuse, diese Pest unserer
Obstgärten im Freien. So weit ist man hier zu Lande durch
Intelligenz und nachhaltige Energie gelangt, aber auch mit An-
wendung von Geldmitteln, die allerdings bei uns nur in den
seltensten Ausnahmen zur Verfügung stehen.
Das Betriebspersonal in den Gärten der Dell besteht:
aus dem Obergärtner, welcher neben freier Wohnung und
Feuerung alle Lebensmittel, ausgenommen Fleisch, und an
Gehalt wöchentlich vierzig Mark erhält. Femer sind fünf
Untergärtner vorhanden, die zusammen, neben freier Wohnung
und Kost, ebenfalls etwa vierzig Mark für die Woche bekommen;
dazu acht Tagelöhner mit etwa hundert Mark wöchentlich und
ein Tischler mit dreissig Mark. So stellen sich allein die
baaren Löhne des Gartenpersonals auf beinahe elftausend Mark
im Jahre.
Wir durchschritten die warmen und kalten Blumenhäuser
flüchtig, da hier die Aufstellung durch den Fortgang der noch
nicht vollendeten Bauten gestört ist. Bei den Orchideen fiel
es auf, dass man sämmtliche Tische mit grossen flachen Blech-
schüsseln besetzt hatte; sie waren mit Wasser gefüllt, im Wasser
standen umgekehrte leere Blumentöpfe und auf diesen kleinen
Inseln erst die Töpfe mit den Pflanzen. Die Ursache dieser
ungewöhnlichen und mühsamen Vorrichtungen ist eine winzige
hellgrüne Ameise, die vor einigen Jahren mit Orchideen aus
den Tropen eingeschleppt wurde und bis jetzt noch nicht gänz-
lich hat vertilgt werden können. Mit der ihrem Geschlechte
eigenen Energie versuchen die Thierchen freilich die Wasser-
Eine moderne Cottage. 39
fluth ZU Überspringen; sie gelangen aber doch nur sehr ver-
einzelt an die Pflanzen und können wenigstens nicht mehr im
Grossen vernichtend wirken.
Damit dem ländlichen Idyll der Dell zu seiner Vollendung
nichts fehle, schliesst sich an die Obstgärten eine kleine Müster-
farm mit etwa zweihundert Morgen Wiesen und Weiden. Die
niedrigen Häuschen und Stallungen sind sämmtUch niedlich und
kokett, von höchster Sauberkeit und nach den neuesten
rationellen Principien hergestellt. Sie beherbergen zwanzig
edle, im Heerdbuche verzeichnete Aldemeykühe von der Insel
Jersey, unvergleichlich im Zucker- und Fettgehalte ihrer Milch
und dabei in voller Leistung fünfzehn Liter im Tage liefernd.
In der Mitte des Gehöftes wühlen unter langem Stroh schwarze
Berkshireschweine von ungewöhnlicher Grösse. Absichtlich ist
hier der Stammbaum nicht ganz rein gehalten, um grössere
Figuren, weniger Speck und zahlreichere Nachzucht zu gewinnen.
Der Hof und seine Umgebung sind von gewählten Hühner-
rassen sowie von Gold- und Silberfasanen belebt, alle in wohl
umhegten Abtheilungen.
Eine abgeschiedene vornehme Niederlassung fiir sich bilden
die Pferdeställe, deren Giebel wir bei unserer Einfahrt, links
hinter dem immergrünen Gebüsche, wahrnahmen. Hier stehen
sechs Vollblutpferde für den Hunt, ein Viererzug und^mehrere
andere Dienstpferde.
Eine Fülle der Anschauungen, wie sie uns heute geboten
worden, erschöpft die Kraft und die Zeit einer Tagesarbeit; so
waren wir froh, uns beim Untergange der Sonne zum Dinner zu
setzen, das, mit dem Luxus reicher Einfachheit ausgestattet, durch
die herzlichste Gastfreundschaft einen wohlthuenden familien-
haften Charakter gewann. Auch muthete die vorzügliche hamburger
Kochkünstlerin die schon seit Wochen mit englischer Hotelkost
geprüften Reisenden heimatlich an. Nach Tische betraten wir
die uns noch unbekannten Räume der Cottage: einen grossen
State Drawingroom und hinter ihm eine kleine Gallerie mit
mehreren werthvollen Marmorwerken von Eduard Müller in
Rom, unter denen das schlafende Kind, sowie die Unschuld in
Gefahr und im Siege besonders ansprechen. Den ersten Platz
nimmt hier mit Recht die ähnliche und ausdruckvolle Porträt-
büste der Hausfrau ein. Dieser kleine Raum führt in die grosse
40 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner*
Bildergallerie, ein weiter stattlicher mit geblendetem 'Gasober-
lichte erhellter Saal. Durch seine Einrichtung als abendliches
Familien- und Musikzimmer wird er angenehm belebt und zeigt
nichts von der gewohnlichen Steifheit und Geschäftsmässigkeit
der Gallerien. Eine auserwählte Sammlung neuerer Meister
ist hier mit feinem Geschmacke und echtem Kunstsinne zu-
sammengestellt.
Wir erinnern uns aus den zahlreichen Franzosen vor Allen
an Paul de Laroches Napoleon in Fontainebleau {1814),
Meissonniers Schachspieler, Ary Scheffers Franzeska di Rimini,
an Rosa Bonheurs schottischen Schäfer; diese Meisterwerke
sind auch durch den Stich bekannt geworden. Ihnen schliesst
sich Gallait mit den »letzten Augenblicken Egmonts» an. Unsere
deutsche Kunst ist vertreten durch zwei Bilder von Knaus, dar-
unter der berühmte Orgeldreher, durch zwei Andreas Achen-
bachsche Marinen, Vautiers Jahrmarkt, zwei Schreiers und einen
Pettenkofer. Perlen der Gallerie sind auch vier der jetzt in
England sehr hochgeschätzten Genrebilder von Alma Tadema,
Illustrationen zur antiken Culturgeschichte.
Unter Betrachten und Besprechen dieser Schätze schwanden
die letzten Abendstunden rasch dahin und man trennte sich
mit dem Bedauern, schon am anderen Tage die liebliche Dell
verlassen und nach London, „ein Jeglicher an sein Geschäft"
zurückkehren zu müssen.
Als wir am nächsten Morgen im Esszimmer die Damen
erwarteten und uns an der schonen Täfelung der Wände und
an der reichen Kassettirung der Decke erfreuten, dabei unsere
gestrigen Eindrücke durchsprachen und über vieles, was wir
gesehen und nicht genau eingesehen hatten, um Belehrung baten,
fragte einer der Reisegefährten:
„Weswegen heisst denn dieses kleine Paradies »die Dell?«
Das Wort hat wol eine besondere Bedeutung?"
„Diesen Namen hat dem Platze schon der erste Erbauer
gegeben", erwiderte unser Hausherr, „und dieser war kein ge-
ringerer als König Georg III. Ursprünglich stand hier nur
ein königliches Kaffeehäuschen, später ging dieses in Privat-
besitz über, denn es liegt freilich hart am Parke aber nicht
darin; ich kaufte es im Jahre 1864 und habe das Haus dann
Eine fnoderne Cottage. 41
durch verschieden^ Anbauten wohl um das Doppelte ver-
gTÖssert".
„Und den sonderbaren Namen haben Sie beibehalten?"
„Beibehalten, gewiss! Der Name ist zudem uns Nieder-
sachsen nicht ungeläufig, denn eine »Delle« heisst im Platt-
deutschen eine Bodensenkung, ein Thal. Das Wort ist auch
altenglisch; im modernen Lexikon finden Sie statt seiner »Dale«.
Nun aber genug der vergleichenden Grammatik; Sie sollen
selber sehen, was der Name meiner Dell bedeutet".
Er öffnete das grosse, nördliche Bogenfenster: „Das be-
deutet die Dell!"
Wir sahen hier die alten Bäume des Windsor- Parkes un-
mittelbar vor uns, nur in der Mitte der Waldwand eine schmale
Lichtung oder Schneide. In dieser Lichtung zog sich eine Schlucht,
eine »Delle« abwärts, und jenseits dieser Schlucht, weit, weit
hinaus stieg im Rahmen der beiden Waldsäume die mächtige
Königsburg Windsor Castle vor unseren überraschten und
geblendeten Augen im goldenen Morgenlichte riesenhaft empor.
Und deshalb nannte König Georg IIL dieses Häuschen
über der Delle, welche dem glücklichen Besitzer und seinen
bevorzugten Gästen die schönste aller Aussichten auf Schloss
Windsor darbietet: die Dell.
IV.
Windsor Castle und die königliehen Hausgärten,
Unser Weg von der Dell nach Windsor führt uns an den
rothen, unregelmässigen Gebäuden von Cumberland Lodge vor-
über, der Residenz des Forst- und Wildmeisters von Windsor
Park, des Prinzen Christian von Holstein, Schwiegersohns der
Königin. Wir verweilen hier, um eine der grössten gärtnerischen
Sehenswürdigkeiten zu begrüssen, die England aufzuweisen hat,
den „Alten Weinstock". Er ist in vielen Beziehungen ein
wirkliches Original, ein „selbstgemachter Mann". Er gehört zu
keiner der bei seiner Entstehung bekannten Rebsorten, sondern
wurde im Jahre 1800 als zufalliger Sämling in einem Gurken-
treibbeete gefunden und weiter gezogen. Im Jahre 1850 war
seine Ueberdachung schon fünfundvierzig Meter lang und fünf
Meter breit. Im Jahre 1859 ^^^S ^^ zweitausend grosse schwarze
Trauben. Später ist das Haus nochmals erweitert und jetzt
füllt die Pflanze über dreihundert Quadratmeter Glasfläche,
welche mit gesundem Blattwerke und reichlichen schönen blauen
Trauben erstön Ranges bedeckt war. -Der Stamm misst wohl
einen Aleter im Umfange. Der Weinstock von Cumberland
Lodge ist bedeutend grösser als sein dem reisenden Publikum
zugänglicherer und dadurch viel weiter bekannt gewordener
Rival in Hampton Court.
Noch eine andere berühmt gewordene Grösse erblickte in
Cumberland Lodge das Licht der Welt. Hier wurde im Jahre
1764 der Eclypse während einer grossen Sonnenfinstemiss
geboren und nach ihr getauft, das beste und rascheste Voll-
blutpferd, welches je die englische Rennbahn betreten hat. Ein
IVindsor Castle und die königlichen Hausgärten, 43
Stallbedienter erkannte die vom Herrn, dem damaligen Herzog
von Cumberland, nicht gewürdigten grossen Anlagen des Jähr-
lings und kaufte ihn gemeinschaftlich mit einem Schafhändler
auf der Versteigerung fiir 1 500 Mark. Eclypse und sein Ruhm
gehören der englischen Geschichte an. Er starb, an Ehren,
Siegen und Nachkommen reich, als ein Patriarch von fünfund-
zwanzig Jahren am 27. Februar 1789.
Die Zeit drängte jetzt zur Abreise und wir eilten den Long
Walk hinab dem Städtchen Windsor und dem Bahnhofe zu.
Jedoch sollte ich diesen heute nicht erreichen, denn unverhofft
begegnete mir vor dem Wirthshause zum „Weissen Hirsch"
das Glück in Gestalt der Erlaubniss: heute einen Blick in die
dem grossen Publikum streng verschlossenen königlichen
Privatgärten von Windsor thun zu dürfen.
Freudig wandte ich meine Schritte und vor mir stiegen die
gebieterischen westlichen Mauern der Königsburg steil und
ernst zwischen den drei uralten runden Thürmen empor, die
wohl noch aus der ersten Gründung des Schlosses durch
Wilhelm den Eroberer stammen. Man weiss, dass König
Eduard HL sie verschonte, als er, nach der Schlacht bei Crecy,
etwa im Jahre 1350 den Umbau der alten Feste damit begann,
dass er fast das ganze Schloss niederriss. Der Umbau wurde
von dem Lösegelde bestritten, welches des Königs zwei erlauchte
Gefangene in Windsor Castle: Johann von Frankreich und
David von Schottland, zu erlegen hatten. Auch verwertheten
beide hohe Herren hier ihre Müsse und ihren Geschmack, indem
sie dem Bauherrn guten Rath ertheilten. Eine schroffe unnah-
bare Felsmauer, nur auf ihrer Höhe belebt durch die einsame
rothe Gestalt des schottischen Gardefüsiliers, der, ein unbewegtes
Bild, in einer Lücke der Zinnenkrönung auf sein Gewehr lehnt.
Wir betreten jetzt den unteren Schlosshof durch das Thor
König Heinrichs VIII. und schreiten weiter an der prächtigen
St. Georgs Kapelle und an den Mauern des alten Klosters
von Windsor vorüber, in denen heute die Chorknaben und die
„Armen Ritter von Windsor" (eine Stiftung für verdiente
invalide Offiziere) hausen. Dann wird uns durch die Gefälligkeit
des Decans von Windsor Mr. Wellesley, eines Verwandten
des Eisernen Herzogs, ein Blick in die berühmte Wolsey-Kapelle
vergönnt. Sie ist jetzt mit dem höchsten Aufwände von
44 Englische Landsitte, Gärten und Gärtner.
Geschmack und Pracht nach zehnjähriger Arbeit unter der
Leitung des berühmten Baumeisters Sir Gilbert Scott in ein
Mausoleum des Prinz-Gemahls verwandelt worden.
Das Ergebniss der langjährigen mühevollen Thätigkeit ist
ein Inneres von nie gesehenem Glänze; Fussboden, Wände,
Fenster und Wölbung sind sämmtlich im höchsten Grade
prachtvoll und grossartig. Das Gewölbe und das westliche
blinde Fenster sind mit Glasmosaik aus der berühmten Fabrik
von Salviati in Murano bekleidet, deren Leistungen wir auf
der Ausstellung in Paris so sehr bewundert haben. Die fünf
Fenster in der Apsis enthalten Glasmalereien, Scenen aus der
heiligen Schrift darstellend; die übrigen Fenster der Langseite
illustriren die Geschlechtsfolge des Prinzen Albert bis hinauf
zum Stammvater Wittekind.
Unter den Fenstern sind Marmorreliefs von dem ver-
storbenen Bildhauer Baron Trinquetti eingelassen; von ihm ist
auch die Skulptur am Altar, die Auferstehung darstellend.
Im Mittelpunkte des fast überreich eingelegten, spiegelnden
Fussbodens ruht das Mamiorbild des Prinzen auf einem hohen,
reichgeschmückten Cenotaph, ebenfalls von Trinquetti. Die
Kapelle ist, ausser bei grossen Trauerfeiern, nur durch die
Wohnräume des geistlichen Herrn zugänglich.
Wir umgehen dann den Runden Thurm und treten durch
das enge Norman Gate in den oberen Schlosshof ein.
Unwillkürlich bleiben wir hier gefesselt stehen unter der
Wirkung des ungeheueren Werkes, das uns umgibt. Wir
finden wol kaum eine zweite Schöpfung der Menschenkunst,
die so klar und grossartig, so genial den Charakter ihrer
Bestimmung ausspricht, wie Windsor Castle. Die Franzosen
freilich erzählten sich und uns seit zweihundert Jahren so oft
und so siegesgewiss: das Schloss von Versailles sei der erste
und vollendetste unter allen Repräsentanten der monarchischen
Grösse, dass wir Deutsche, denen Paris von jeher ein beliebter
Ausflug, London ein seltenes und ernstes Reiseuntemehmen
war, ihnen schliesslich auch hierin geglaubt haben.
Versailles ist gross; es ist weitläufig und prunkend; es
steht da ohne lebendige Geschichte, das willkürlich gemachte
Monument einer, damals schon alternden, jetzt längst abge-
storbenen künstlichen, Glanzperiode. Was ist heute Versailles?
Ein verödeter Königspalast in einer Todtenstadt, ein „allen
Winds0r Castle und die königlichen flausgärten, 45
(traurigen) Glorien Frankreichs" errichtetes Museum, eine
geschichtswidrige Schule der Nationaleitelkeit.
Windsor Castle zeigt uns dieEntwickelung der monarchischen
nationalen Grösse Englands von ihrem geschichtlichen Ur-
sprünge, der Eroberung, durch achthundert Jahre stetig fort-
schreitend und wachsend, heute grösser als gestern, altehr-
würdig und jugendkräftig. Windsor Castle trägt in seinen
Bauwerken Erinnerungen an fast jeden Herrscher Englands,
von Wilhelm dem Eroberer beginnend; namentlich Hessen
Eduard III. und Heinrich VIII. hier bedeutende und
dauernde Spuren ihres Wirkens zurück, später Elisabeth und
das Haus Hannover. Es kamen auch Zeiten der Vernach-
lässigung und des Verfalls, besonders unter den Stuarts.
König Georg III. restaurirte und schmückte die St. Georgs-
Xapelle; Georg IV. ward der Wiedererbauer des Schlosses in
allen seinen wesentlichen Theilen so wie es jetzt dasteht,
durch den Genius seines grossenBaumeisters Sir Jeffrey Wyatville.
So begleitet hier jeden unserer Schritte nicht etwa eine
nebelhafte Erinnerung an ein verschollenes „Es war einmal",
sondern die lebendige Vergangenheit, als Mutter der noch
grösseren Gegenwart. Im Normannen-Thore sehen wir noch heute
die Reste der Fallgatter, mit denen die alten normannischen
Barone ihren Burgfrieden wahrten, und oberhalb dieses Thors
breitet sich, unter dem Schutze des Runden Thurms, die
neuste Entwickelung der Königsburg, der grosse viereckige
Obere Hof mit seinen fünfhundert Zimmern vor uns aus in
hoheitvoller Ruhe und schwerer, würdiger Pracht Hier spricht
die Majestät der lebendigen Grösse, ohne Prunk und
Schnörkel, in einfachen aber riesigen Schriftzügen; sie gebietet
Ehrfurcht durch sich selbst, durch ihre erhabene, stolze, fest-
gegliederte Masse. In Versailles spreizt sich der hyper-
trophische Dünkel des „Grand Monarque" in baroker Unnatur, der
sicheren Signatur des beginnenden Verfalls. Windsor steht auf
seiner natürlich gegebenen, gewachsenen, festen, beherrschenden
Höhe, von der Themse umflossen, mitten in der englischen
fruchtbaren Landschaft. Versailles lieg^ in gesuchter Ab-
sonderung und ohne jedes andere Motiv seines Daseins als
eine Laune, in der sterilen Sandebene. Dort ist Oede, Künstelei,
Verfall; hier Entwickelung, Natur, Leben.
46 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner*
Wir verlassen jetzt die grossartige Terrasse, die an der
ganzen nordlichen Front des Schlosses entlang läuft — sie
trägt den Namen ihrer Erbauerin, der Konigin Elisabeth — ,
und betreten das Schloss durch den grossen „Staats-Eingang**
gegenüber dem Thore König Georgs IV. Wahrhaft überraschend
grossartig ist hier das Vestibül und die Staatstreppe. Man
könnte sich hier in den Eingang eines majestätischen Tempels
versetzt fühlen unter dieser doppelten Reihe von Säulen,
auf welche ein gedämpftes Tageslicht fällt.
Indem wir aufwärts schreiten, sehen wir Treppen, Zimmer-
nischen, Tische alle Räume hier in dichter Fülle mit den
herrlichsten grünenden und blühenden Gewächsen geziert-
Dieser Festschmuck steigert sich bis zum Eingange der grossen
Waterloo-Gallerie. Ein mächtiger Raum, der sein Licht von
oben durch die in der Mitte erhöhte, von Gurtbögen getragene
Decke empfängt. Bis zur Höhe von sieben Metern etwa sind
die Wände in Holz getäfelt und auf dieser Bekleidung reihen
sich die Portraits der bedeutenderen Persönlichkeiten aus den
Befreiungskriegen, fast alle von Sir Thomas Lawrence gemalt.
Ein geschäftiges Treiben bewegt sich im Saale. In der Mitte
wird eine grosse Tafel von siebzig Gedecken hergerichtet und
auf ihr, wie auf den zahlreichen hohen und schweren Schank-
tischen und Büffets leuchtet schon das berühmte goldene Service
von Windsor. Nur in Zwischenräumen langer Jahre verlässt
dieser Schatz die Gewölbe der Silberkammer; heute soll er die
Anwesenheit der ältesten Tochter des Hauses und ihres Ge-
mahls, unserer deutschen kronprinzlichen Herrschaften, ver-
herrlichen.
Aus der Waterloo-Gallerie gelangen wir in den Ballsaal,
dessen Wände mit Vergoldung und Spiegeln vollständig bedeckt
sind, und weiter in den Thronsaal. Hier fesselt uns ein merk-
würdiges Bild von West: die Stiftung des Hosenbandordens
durch Eduard III. in der St. Georgs-Kapelle. Der Bischof von
Winchester, des Königs berühmter Kanzler und Oberbaudirector
William von Wykeham, celebrirt das Hochamt, der König die
Königin Philippa und die Ritter knieen rings um den Altar.
Auf der anderen Seite der Waterloo-Gallerie liegt die
St. Georgs -Halle. Diese vier Räume zusammen bilden eine
Scene für die Entwickelung königlicher Feste, die wohl in
l^lndsor Castle und die königlichen Hauswarten. 47
Europa kaum ihres Gleichen haben dürfte. St. George's Hall
hat eine flachgewölbte gothische netzförmige Decke, deren un*
endliche Winkel mit den Wappen aller Hosenbandritter seit
der Stiftung des Ordens geschmückt sind. An der Südseite
dieser majestätischen Halle lassen dreizehn riesige gothische
Fenster das Licht ein; correspondirende Nischen in der gegen-
überliegenden Wand sind ausgefüllt mit den Bildern der
dreizehn letzten Sou veraine, von Jacob I. bis zu Ihrer jetzt
regierenden Majestät.
Kein Fremder wird wohl die St. Georgs-Halle durchmessen,
ohne sich der Sage zu erinnern, in welche die jetzt fünfhundert-
jährige Stiftung des Ordens sich gekleidet hat. Diese Legende
ist indessen von verschiedenen zuverlässigen Geschichtsforschern
und Historikern des Ordens als dessen unwürdig verworfen
lÄ-orden. Wir dürfen daher wohl über die schöne Gräfin Johanne
von Salisbury — ungläubig lächeln, die hier beim Tanze auf
dem Hofballe ihr mangelhaft befestigtes Strumpfband verlor,
das dann der König Eduard III. aufhob ; denn sogar die damaligen
Hofherren sollen ja über diese verliebte Demonstration des
Monarchen gelächelt haben.
Aber es giebt noch eine andere Legende, die vielleicht
nicht so allgemein bekannt ist und die mir wenigstens weit
mehr zusagt. Denn sie zeigt uns den König und die ganze
Situation in einem weit passenderen und würdigeren Lichte. Nach
dieser Ueberlieferung zog sich, gegen den Schluss des Festes,
die Königfin aus dem Ballsale in ihre Gemächer zurück; der
K-önig folgte ihr bald und erblickte in einem Vorzimmer auf
dem Fussboden ein blaues Strumpfband, welches er als das
Eigenthum seiner Gemahlin zu erkennen glaubte. Einige Herren
seines „Cortege" waren über das Band bereits hinweggeschritten,
zu vornehm um sich nach einem so unbedeutenden Dinge zu
bücken. Der König aber hob es auf und sagte: „Ihr scheint
dieses Strumpfband nur gering zu schätzen, aber ich will es zu
hohen Ehren unter Euch bringen".
Und, wie die Sage weiter berichtet, sei das Motto des
Ordens die Antwort der Königin gewesen, als der König sie
fragte: „was die Leute von ihr denken sollten — dass sie ihr
Strumpfband so verlöre?" „Hony soit qui vial y pcnse".
4o Englische Landsitze , Gärten und Gärtner,
Jetzt aber müssen wir vorwärts eilen durch die Säle,
Hallen und Gallerien, bis wir eine Terrasse erreichen, die am
östlichen, von der Königin bewohnten Flügel des Schlosses
entlang läuft und unter dem Victoria-Thurm endigt. Hier
liegen die Privatgemächer Ihrer Majestät, die bei Allerhöchster
Anwesenheit, selbstverständlich dem Publikum verschlossen
sind. Im Vorübergehen werfen wir noch durch eine
mächtige gewölbte Thür einen neugierigen Blick in die
grosse Küche. In ihren allgemeinen Verhältnissen und
namentlich in ihrem hohen hölzernen, rauchgeschwärzten
Dachstuhle soll wenig geändert sein seit sie von Eduards III.
grossem Baumeister William von Wykeham geschaffen wurde.
Die riesigen Herde indessen, an denen früher halbe Ochsen
vor offenem Kohlenfeuer brieten, sind jetzt mit modernen
Kochapparaten besetzt. Endlich erreichen wir durch ein
Labyrinth von Thüren, Treppen und Gängen die ostliche
Terrasse und betreten den vor dieser Fronte liegenden
Blumengarten. Seine Fläche enthält etwa sechs Morgen, sie
ist gegen das umgebende Terrain, namentlich gegen die Schloss-
terrasse, erheblich vertieft und zum grösseren Theile durch
eine umlaufende Orangerie abgeschlossen, so dass kein unbe-
rufenes Auge eindringen kann. Ein Wassßrbassin steht im
Mittelpunkte; von dort aus ist der Garten in ziemlich regel-
mässige Kreisabschnitte zerlegt und mit Rasen bedeckt, in
welchen die Blumenbeete in entsprechenden, meist länglich
laufenden Formen eingeschnitten sind. Die Anlage stammt
zwar schon aus der Zeit König Georgs IV., ihre jetzige Voll-
endung jedoch verdankt sie, wie so unendlich Vieles, was wir
heute in Windsor bewundem, der still schaffenden Thätigkeit
und dem hochgebildeten Schönheitssinne des Prinzen Albert.
Der bedeutendste und eigenthümliche Schmuck des Gartens
besteht in der vollendeten Verbindung des lebenden Blumen-
flors mit den Meisterwerken der Erzbildnerei, die als schöne
Statuen und prächtige Vasen im Garten vertheilt sind. Sie
geben ihm den echt italienischen Charakter, dessen Nachahmung
diesseit der Alpen kaum je mit solchem meisterlichen Ver-
ständnisse durchgeführt ist, ausser etwa in den Gärten von
Sanssouci; Dank dem Kunstsinne Friedrichs des Grossen imd
später des Königs Friedrich Wilhelm IV.
JVinäsor Castle und die kömglichen Haiisgärten^ 49
Jenseit dieses Terrassengartens fallt der Schlossberg ab
und wir steigen in den Hauspark hinunter. Dieser soge-r
nannte „kleine Park" enthält auf sieben- bis achthundert Morgen
einen grossen Reichthum an schönen Bäumen, reizenden Cottages
und gewählten künstlerischen Gartenbildem. Ueberall der
herrliche Rasen und alles in musterhafter Pflege. Wir gehen
unter schattigen Ulmenalleen entlang und bewundem, etwas
weiter hin, zwei mächtige immergrüne Eichen, zusammen über
hundert Meter Umkreis haltend. Hier dürfen wir auch die
uns allen befreundete Heme's Eiche suchen, unter welcher der
spukhafte Schlussact der „Lustigen Weiber von Windsor** sich
so oft vor uns entwickelt hat. An die Königin Adelheid,
Gemahlin Wilhelms IV., erinnert eine zierliche, ihren Namen
tragende Cottage, an den Prinzen Albert ein hochgelegenes
Sommerhäuschen ; dann gelangen wir an ein niedriges Gebäude
orientalischen Charakters, das uns als „der Königin Frühstücks-
raiun" bezeichnet wird. Eine wilde Felspartie mit fallendem
Wasser und entsprechender reicher Vegetation ist kl grossen
Verhältnissen dargestellt, und nicht weit von ihr finden wir die
Lutherbuche, ein Ableger des bekannten gleichnamigen Baumes
bei Altenstein in Thüringen, an dem Platze, von welchem der
Doctor Martin im Jahre 1521 als Junker Georg auf die Wart-
burg entfuhrt wurde. Der Baum ist jetzt etwa fünfzig Jahre
alt und ein Zeugniss für die ausserordentliche Wüchsigkeit des
englischen Bodens und Klimas.
Wir haben uns inzwischen einer Gegend der königlichen
Hausgärten genähert, wo lange hohe Mauern die Femsicht
abschneiden. Durch ein geräumiges Thor treten wir jetzt in
den sogenannten „Küchengarten von Frogmore" ein. Der
Garten leistet jedoch weit mehr als sein Name verspricht, denn
hier ist auf einem durch solide Steinwände eingeschlossenen,
weiten Gebiete die gesammte Obst- und Gemüsezucht für den
königlichen Hof halt vereinigt. Man darf wohl anerkennen, dass
dieser „Küchengarten" zur Zeit in ganz Europa seines Gleichen
sucht, denn seine Anlage wie seine Leistungen sind in allen
Zweigen gleich unübertrefflich und der allerhöchsten Eigen-
thümerin würdig. Auch dieser Garten ist eine Schöpfung des
Prinzen Albert aus dem Jahre 1848. Vorher war die Erzeugung
des königlichen Bedarfs in sechs älteren Gärten zerstreut,
Ompteda, L. ▼. Bilder. 4
&0 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
daher ungleich, ohne System, ohne Controle und auf döm aus-
gebauten, erschöpften Boden ohne befriedigendes Ergebniss.
Alle diese mangelhaften kleinen Betriebe wurden aufgehoben
und dafür Frogmore eingerichtet mit einem Kostenaufwande
von 900,000 Mark.
Sofort bei unserem Eintritte werden wir durch die Gross»
artigkeit und Weite des Anblickes gefesselt, dann erkennen
wir im Fortgange der Besichtigung die vollendete Zweck-
mässigkeit der Disposition und den vorzüglichen Culturzustand
aller Abtheilungen. Der gesammte Betrieb deckt funfundvierzig
Morgen; diese Grundfläche bildet nahezu ein Quadrat Der
Gartendirector Mr. Jones, dem ich empfohlen war, hatte die
Güte, mich selbst zu führen. Er wies zunächst darauf hin,
dass der Garten durch eine lange Gebäudereihe von Ost
nach West in zwei ungleiche Theile zerlegt wird. In dem
nördlichen kleineren Reviere befinden sich die Pflanz- und
Vorrathshäuser, die Magazine, Stallimgen und Schuppen jeder
Art. Die südliche grössere Hälfte ist wiederum durch vielfache
Quermauem zerschnitten. Jede so gebildete Abtheilung trägt
den Namen derjenigen Obstsorte, die ausschliesslich an ihren
Mauern gezogen wird: Kirschen, Pflaumen, Johannisbeeren,
Aprikosen, Birnen u. s. w. Alle Wege sind mit Cordons von
Aepfeln und Birnen eingefasst; hinter diesen breiten sich freie
Spaliere in verschiedenen, jedoch immer ungekünstelten, Formen
an eisernen Gestellen aus. Alle Bäume, alle Beete sind sauber
gehalten und in einem üppigen Stande der Vegetation. Zahl-
reiche Arbeiter sind mit Reinigen der Wege, Lockern des
Bodens, Giessen, Ausjäten des Unkrautes, Sammeln des Unge-
ziefers u. s. w. beschäftigt; genug: das Ganze muss jedem
gärtnerischen Auge die vollste Befriedigung gewähren.
Dennoch übt die grosse, den Garten durchschneidende
Gebäudereihe eine mächtigere Anziehungskraft und wir werden
ungeduldig, sie zu betreten. Sie besteht aus einem Mittelhause,
einer zweistöckigen Giebelcottage in rothem Backstein, von
allen Seiten grün und bunt bewachsen; namentlich zeichnen
sich auf der Südseite die bis unter das Dach kletternden
Jasmine und die Bignonia grandiflora aus. Hier ist die Wohnung
des Directors; zu jeder ihrer beiden Seiten erstreckt sich eine
Reihe von sieben grossen, in Eisen ausgeführten Glashäusern.
Windsor Castle und die königlichen Hausgärten, 51
Diese fünfzehn Gebäude haben eine Frontlänge von beinahe
vierhundert Metern und jedes Haus ist über sechs Meter tief.
"Wir durchschreiten sechs Weinhäuser, von denen zwei je
vierunddreissig Meter lang sind. Die Reben stehen in
Zwischenräumen von 1,30 Metern und eines der beiden Häuser
gab im Jahre 1877 im Laufe eines Monates etwa eintausend
Stück reife Trauben von Foster Seedling und Black Hamburgh,
Femer zählen wir vier Pfirsichhäuser, zwei Pflaumenhäuser
mit Queen Victoria und Golden Drop besetzt, und an jedem
Flügel zwei grosse Warmhäuser für Blumen und Zierpflanzen.
Die Art des Betriebes in diesen Häusern wollen wir hier nicht
nochmals betrachten; sie verläuft im grossen nach denselben
Grundsätzen, die wir gestern schon auf der Dell angewendet
fanden. Die Gärtnerei von Frogmore ist bereits seit einem
Menschenalter ein Vorbild geworden, welches in der Nähe und
Feme als mustergiltig nachgeahmt wird und Schule ge-
macht hat
Auf der nördUchen Fronte dieser langen Reihe finden wir
die geräumigen Wohnungen der zahlreichen Gärtner und Lehr-»
linge, denen ein Lesezimmer nebst Bibliothek nicht fehlt;
hier liegen die Dampfkessel, Pflanzräume und die Champignon*
zucht. Uns gegenüber sehen wir jetzt ein ganzes Dorf von
hohen und niederen Glashäusern für die grossartigen Treibereien
aller möglichen Früchte und Gemüse. Die grosseren Gebäude
sind auch hier wieder der Traube und dem Pfirsich gewidmet,
eine lange Reihe niederer Häuser enthält die Ananaszucht in
reicher Vollendung, sie bringen im Jahre über viertausend
Früchte. Die Erdbeere wird hier jährlich in neuntausend Topfen
getrieben, die Häuser lieferten in diesen Tagen, während des
höchsten Besuches im Schlosse, täglich fünfundsiebzig Pfund
in die Küche. Schnittbohnen und Blumenkohl dürfen das ganze
Jahr über nicht ausgehen; drei Monate lang bringt sie der
offene Garten, die übrige Zeit müssen die Glashäuser ausfüllen.
Zwei grosse Räume sind mit frühen Kirschen in Töpfen besetzt,
dann folgen Gurken, Melonen, wieder Trauben und Pfirsiche,
endlich ganze Wälder von decorativen Pflanzen und Blumen,
wie sie das grosse Schloss für unzählige Räume, für die Tafel
und für massenhafte Bouquets täglich frisch bedarf.
Nach einer stxmdenlangen Fahrt durch dieses Wunderland
4
52' Englische Landsitze, Gärten und Gärtner*
ruhten wir gern in Mr. Jones' freundlichem Wohnzimmer aus;
jedoch noch keineswegs zu ermüdet: wir zu fragen, er xms zu
belehren.
„Wir dürfen", sprach er, „das Lob, welches Sie unseren
Culturen ertheilen, wohl annehmen; wenigstens bemühen "»tt
uns unausgesetzt, in jedem Zweige unserer Gärtnerei nur das
Beste zu leisten. Wir setzen unsere Ehre darin, unsere aller-
höchste Herrin zu bedienen wie die erstien Marktgärtner von
London bei schärfster Concurrenz, jeder in seiner Specialität
producirend. Wir fühlen uns gewissermassen an der Spitze dei*
englischen Gärtnerei und also auch unter ihrer allgemeinen
Controle. Das schützt uns vor der Erschlaifung, die so oft die
Leistungen grosser Administrationen auf die Mittelmässigkeit
herabdrückt.
„Die an uns gestellten Ansprüche sind allerdings zuweilen
in Beziehxmg auf Massenhaftigkeit kaum glaublich. Vor einigen
Jahren befand sich während acht Tagen ein ziemlich zahlreicher-
Besuch fremder höchster Herrschaften im Schlosse. Die damals
von uns gelieferten jungen Erbsen verzehrten die Ernte von
soviel Reihen, dass deren Gesammtlänge beinahe fünf Kilometer
betrug. Auch ist unsere Thätigkeit nicht nur auf die Zeit
beschränkt, in welcher der Hof l;ier residirt. Das ganze Jahr
hindurch senden wir täglich alles, was die Hofhaltung bedarf,
nach Osbome und Balmoral.
„Unsere grosse Maschine muss daher mit militärischer
Pünktlichkeit und Genauigkeit arbeiten. Werfen Sie einen
Blick in diese Bücher hier. Wir führen darin genaue Ver-
zeichnisse über alles und jedes, was die Gärten producirt haben,
sowie darüber: wann und wohin es abgeliefert wurde: zugleich
eine Berechnung unserer Erzeugungskosten in jeder Jahrfeszeit
Verkauft wird gar nichts. Die Resultate früherer Jahre stellen
wir dann mit den neuesten zusammen und suchen so, an der
Hand vergleichender Erfahrungen, vorwärts zu kommen und
stets mehr, besser und billiger zu produciren.
„Diese gesammte umständliche, aber durchaus nothwendige
Organisation und Selbstcontrole unserer Verwaltung^*, ftihr
Mr. Jones fort, als er sah, wie eifrig wir ihm zuhörten, „fand
ich bereits vor, als ich meine hiesige Stellung im Jahre 1872
antrat. Ihre Schöpfung ist das Verdienst meines ausgezeichneten
JVindsor Castle und die königlichen Hauswarten. 53
Vorgängers, Mr. Thomas Ingram. Ich hatte nichts zu thun
als in seinen Spuren weiter zu gehen. Nur nicht selbstgefällig
stehen bleiben; das fuhrt zum Schlendrian und Rückschritt.
Auch tragen wir uns mit neuen grossen Ideen. Zur Sicherung
und Vereinfachung unserer Frühculturen habe ich den Plan
ausgearbeitet: eine ganze Abtheilung, wie Sie solche in den
Gemüsegärten gesehen haben, von Mauer zu Mauer mit Glas
zu decken. Im Principe ist mein Project genehmigt worden;
die Ausführung stosst sich bis jetzt noch an den Kostenpunkt,
denn mein Anschlag beläuft sich allerdings auf hundertachtzig-
tausend Mark. Aber ich hoife bestimmt, das Geld wird sich
nächstens finden".
Unser Rückweg nach Windsor führte uns an der Muster-
farm von Frogmore und an der Dairy (Milchwirthschaft) vorüber.
Auch hier durften wir eintreten. Die Farm, nebst drei anderen
im Windsor -Parke, ist ebenfalls vom Prinzen Albert erbaut
und eingerichtet Sie zeigt im grossen dieselbe Vollendung,
die wir gßstern in ihrer verkleinerten Nachahmung auf der
Dell bewunderten. Neben den zierlichen Aldemeys sind hier
prächtige Exemplare der Shorthoms und zu Züchtungsversuchen
auch hochedle Schweizer aufgestellt.
Der Milchkeller der Dairy ist nicht allein ein Muster von
grossartiger, rationeller Einrichtung, sondern auch durch die
reiche decorative Ausstattung seines Innern ausgezeichnet.
Seine schönste Zierde bilden die umlaufenden, künstlerisch
höchst werthvoUen Friese aus bunter Majolika, in der berühmten
Fabrik von Minton für diesen Raum und Zweck besonders
entworfen und in der bekannten Vollendung ausgeführt.
Als wir uns jetzt auf dein Heimwege den Privatgärten der
königlichen Cottage Frogmore näherten, begegnete uns ein
zierliches einspänniges Wägelchen, begleitet von einem Reit-
knechte auf hochedlem Schimmel. Eine einzelne Dame, in
tiefes Schwarz gekleidet, führte darin nach guter englischer
Sitte selbst die Zügel. Wir blieben stehen und verbeugten
uns tief und ehrfurchtsvoll vor der erhabenen Herrin von
Windsor Castle, die heute, wie schon seit langen leidvollen
Jahren, in den einsamen Weg zu dem königlichen Mausoleum
einbog, in welchem ihr bestes irdisches Glück ruht
1
V.
Die botanischen Gärten in Kew.
Jün langentbehrter sonniger Junimorgen weckte uns zu
früher Stunde und lockte, Londons Museen den Rücken zu
kehren und hinaus in's freie Land zu fliehen. Die welt-
berühmten botanischen Gärten von Kew waren schon seit
"Wochen eines der auswärtigen Ziele unserer Sehnsucht ge-
wesen, aber englischer Nebel und allgemein europäischer Regen
verboten seither, die Flügel zu entfalten. Heute galt es, die
Göttin Gelegenheit beim Schöpfe zu erwischen. "Wir verliessea
die Eisenbahn in den lieblichen vereinigten Villendörfern
Surbiton-Kingston. Hier, zwischen den dichtbelaubten Gärten,
in denen die sauberen, beschfeidenen, etwas altmodischen Cottages
wie in einem grünen Neste liegen, erwachten in mir Erinne-
rungen aus der Kindheit, die manches Jahr geschlummert
hatten. In längst vergangene Zeiten, als es noch keine Eisen*
bahn von London nach allen Punkten der Ost- und Südküste
gab, da war das nähere Surbiton ein fashionabler Sommer-
aufenthalt und derzeit lebte hier auch mein Grossvater, der
damalige hannoversche Cabinetsminister, um auf den Befehl
des hannoverschen Königs Wilhelm IV., der in Windsor Castle
residirte, stets zur Hand zu sein. Heute klingt xms diese
seltsame Verbindung und Wirkung in die Feme wie ein
Märchen, aber ich habe sie noch selbst mit erlebt, als kleiner
Knabe in Surbiton.
Doch jetzt zurück in die Gegenwart. Dieser schöne, freie
Tag soll zunächst einer Wanderung durch das „Land der
königlichen Parks" gewidmet sein.
Die botanischen Gärten in Kew, 55
Zuerst Hampton Court; heute jedoch wenden wir dem
stolzen Palaste des Cardinais Wolsey den Rücken und durch-
streifen nur die feierlichen, strahlenförmig" laufenden Alleen
und das berühmte Labyrinth von geschorenen Hecken um den
alten, jetzt verlassenen Königssitz. Von hier betreten wir den
g"egenüber liegenden ehrwürdigen und melancholischen Bushy
Park, dessen prachtvolle, berühmte uralte Kastanienalleen
zwischen den grünen Weiden des königlichen Gestütes unab*
sehbar und vereinsamt verlaufen. Dann durchwandern wir
Richmond Park, 3400 Morgen gross, in seiner ganzen Aus-
dehnung von Süden nach Norden. Das alte Stuartschloss
wurde durch den Hass des Protectors Cromwell dem Erdboden
gleich gemacht, aber der Park blieb ewig jung und grün. Er
ist dem von Windsor nicht unebenbürtig, jedoch wilder und
waldähnlicher. Von dem hohen Hügelrücken, an dem wir ent-
lang wandern, öffnen sich weite herrliche Blicke auf die
niedrigere, hügelige Baumlandschaft im Westen.
Am nördlichen Parkthore nimmt uns der „Star and Garter"*
auf, ein durch Leistungen, Preise und englisch -gothischen
Hotelstyl gleich ausgezeichnetes vornehmes Wirthshaus. Von
seiner Terrasse blicken wir unter uns auf die Windungen der
Themse und weit hinaus in die üppige, grüne Landschaft.
Wir werden hier an die berühmte Terrasse von St. Germain
erinnert, mit ihrem nicht minder berühmten Restaurant. Gegen-
über liegt das gartenreiche Twickenham. Dort hat sich, in
einem der schönsten alten Parks, früher der Zufluchtsort
eines vertriebenen fürstlichen Geschlechtes, unter gleichem
Namen der Orleansclub niedergelassen. Seine Mitglieder sind
gTosstentheils die beneidenswerthen Besitzer der berühmten
Londoner „Four-in-hands" der „Coaching Club". Eigenhändig
fahren diese Herren sich und ihre bevorzugten Gäste an schönen
Sommertagen auf ihren hocheleganten vierspännigen Coaches
von London hierher zu klassischen Lunches. Auch mir wollte
eines Tages das Schicksal wohl und setzte mich auf eine der
schönsten dieser Coaches, derjenigen unseres Landmannes, des
Herrn Adolf Deichmann aus Cöln, zu einem der berühmten
Clubmeetings in Hy depark. Wir musterten an jenem Tage
fünfunddreissig dieser hochveredelten, höchst originellen Post-
kutschen, sämmtlich von den Mitgliedern des Clubs in ihrer
OD Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
Clübuniform unter der Leitung ihres Präsidenten, des Herzogs
von Beaufort, eigenhändig gefahren. Die klare Maisonne
glänzte auf dem saftigen Grün des Parkes, auf den bunten
Blumenbeeten und den frischen heiteren Frühjahrstoiletten der
schönen und der vornehmen Welt. Hunderte von eleganten Zwei-
spännern, Hunderte von Reiterinnen mit Gefolge waren am
„Magazin" und am nördlichen Ufer des Serpentine versammelt
Der Zudrang der Fussgänger, die ganze Fahrt entlang, war
zahllos, die Ordnung und namentlich die Ruhe bei Menschen
und Pferden tadellos. Ein wirklich grossartiges, in der übrigen
Welt unbekanntes Schauspiel. Jede Coach nebst vier Pferden
und allem Undsoweiter kostet, nach der Berechnung eines
erfahrenen Praktikers, dreissig bis sechs und dreissigtausend
Mark. —
Heute aber fahren wir im allerbescheidensten Einspänner
von Richmond nach Kew und halten am nordöstlichen reich-
verzierten eisernen Gitterthore der Gärten, das auf Kew
Grreen, einen weiten Viehanger, umgeben von AiVirthshäusem
und allerlei bescheidenen Cottages, mündet. Freundschaftliche Ver-
mittelung hatte uns einem der Oberbeamten, Mr. J., empfohlen.
Wir stellten uns ihm als botanisch ungebildete Gartenfreunde
vor und mit dem offenen, warmen Entgegenkommen, welches
jeden gut empfohlenen Fremden in England so wohlthuend
empfangt, erklärte er sich bereit, uns zu zeigen, was ims
interessiren möge.
„Und", fügten wir hinzu, „was wir begreifen können; denn
oft möchten wir hier den Wald vor lauter fremden Bäumen
nicht erkennen".
Der Garten war schon von Menschen belebt und noch
mehr strömten mit uns zu. „Sie sehen", bemerkte Mr. J., auf
die umherziehenden kinderreichen Familien weisend, es sind
nicht alle, die uns hier besuchen, Botaniker oder Gärtner.
Nach unserer Bestimmung und unserem Namen sind wir kein
Vergnügungsort; auch sind Picknicks und Tabak — das heisst:
brennender — aus dem Garten verbannt, und dennoch hatten wir
im vorigen Jahre gegen siebenhundert tausend Besucher. So gross
ist das Interesse am Pflanzenreiche und an der Gärtnerei, %vie
sie sich hier darstellen. Allerdings haben wir den Laien einige
Concessionen gemacht. Es erschien billig und zweckmässig,
Die botanischen Gärten in Kew* 57
dem englischen Steuerzahler auch etwas zu zeigen. Sie werden
es schon selber herausfinden. Aber hauptsächlich soll in unse-
ren Gärten ein grosser Unterrichtsstoff, ein lebendiges Buch
zum Lesen und Nachschlagen geboten werden: für den
Botaniker, den Gärtner, den Forstmann, den Landschaftsmaler
und in unseren Museen auch für den Industriellen und den
Kaufmann.
„Sie sehen daher bei uns keine für die Ausstellung
dressirten, blendenden Pflanzen, sondern eine gleichmässig zahl-
reiche Sammlung in einer •durchschnittlich guten Entwickelung
und Haltung. Nur diejenigen grossen Pflanzen, die über die
Räumlichkeiten des Privatmannes hinauswachsen, wie die
Palmen und Cykaden, diese finden Sie hier in möglichster
Vollzähligkeit,
„Im Allgemeinen ist unser Garten, in den Häusern wie im
Freien nach geographischen und botanischen Gruppen geordnet.
Wenigstens streben wir danach, soweit die Pflanzen selbst, der
historisch überkommene Zustand des erst seit dem Jahre 1841
aus einem königlichen Privatbesitze wissenschaftlich entwickelten
Geirtens und unser sehr armer sandiger Boden mit kiesigem
Untergrunde es erlauben. Wir machen keine eleganten
Decorationsgruppen und keine gekünstelten Teppichbeete.
Nur eine Art von studirter Gruppirung finden Sie, aber auch
diese hat einen lehrhaften Zweck. Wir versuchen in solchen
Gruppen von zumeist örtlich zusammenlebenden Pflanzen das-
jenige nachahmend darzustellen, was Ihr grosser Landsmann
Humboldt , Ansichten der Natur* nennt.
„Hier vor uns sehen Sie das Schloss. Es ist jetzt dem
Publikum nicht zugänglich; auch meine Vermittelung würde
Ihnen keinen Einlass verschaffen, da es von der verwittweten
Frau Herzogin von Cambridge bewohnt wird. Lassen Sie uns
also aufbrechen und diesen breiten Hauptweg vor uns ver-
folgen. Er durchschneidet die Gärten von Norden nach Süden
in einer Länge von fünfhundert Metern und endet am See
neben dem Palmenhause. Zu seinen beiden Seiten werden wir
nach und nach die Gewächshäuser finden. Rechts, unserem
Hauptwege entlang, haben wir den Park oder Vergnügungs-
garten die „Pleasure Grounds" bis zur Themse hinab, und links
in's Land hinein ziehen sich die botanischen Gärten".
58 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
Wir betraten zuerst ein grosses Haus, welches in dem
Winkel steht, den der nordostliche Eingangsweg* von Kew Green
her mit unserem Hauptwege bildet' „Sie bemerken wohl",
sagte unser Führer, „die stattliche Ausfuhrung dieses Gebäudes
in künstlerisch behauenen Werksteinen imd Glas. Wir sind
sonst nicht so luxuriös, aber dieses Haus stand ursprünglich
im Garten von Buckingham Palace. Wegen seiner archi-
tektonischen Ansprüche hat man es hier an den Eingang gestellt.
Es ist eines von unseren „Show Houses". Sein Name ist
„Aroideenhaus", jedoch enthält es ausser den Kolbenblüthlem,
den Philodendren, Monsteren und den Anthurien auch andere
Warmhauspflanzen. Bemerken Sie jene Farre in der Mitte,
ihr Schaft misst gegen neun Meter, sie ist umgeben von Palmen,
dem nützlichen Drachenblut - Kalmus und dem Kanonen-
baum geräuschvollen Namens. Mit der Aufzählung der
anderen Bewohner will ich Sie nicht ermüden, da Sie keine
Botaniker sind. Sie finden sie alle in unseres Professors Oliver:
„Führer durch die Gärten von Kew". Der Zweck dieses Hauses
ist wesentlich: malerische Grruppirung schöner Pflanzen für die
„Steuerzahler**.
Mr. J. liess uns alsdann einen Blick in das Kalt-
haus für die zahlreiche Familie der Farren und in das daneben-
stehende Warmhaus für die tropischen Mitglieder dieses Ge-
schlechtes werfen. Es waren dichte Wälder. „Die Sammlung
ist leider sehr vollständig**, bemerkte er, „und dadurch
stehen sie zu gedrängt, trotzdem jedes Haus achtund vierzig
Meter lang und zehn Meter breit ist".
Weiter verfolgten wir den Hauptweg, den auf beiden Seiten
grosse Deodaren begleiten. Unter diesen wechseln Gruppen
blühender Rhododendren mit frisch besetzten Beeten von
Sommerblumen ab und unterbrechen bescheiden die schönen
Grasplätze. Aehnliche weite grüne Flächen umgeben alle
folgenden Häuser, sie sind mit stattlichen, seltenen Bäumen
aller Gattungen besetzt; Prachtexemplare, deren Grösse, Ueppig-
keit und vollendete Form sich auch dem unkundigsten Auge
unvergänglich einprägt
Wir betreten jetzt ein Haus, welches, dem ersten „Show
House** dem Aroideenhause entsprechend, als ein Wintergarten für
Kalthauspflanzen eingerichtet und wesentlich auf die Unterhaltung
Die botanischen Gärten in Kew* 59
des Publikums berechnet ist Hier winden sich blähende Kletter-
und Schlingflanzen: Bigtionien, Jasmine, Clematiden und Mimosen^
bis unter das Glasdach hinauf. Jedoch werden sie eingeschränkt,
um genügendes Licht auf zwei grosse Beete fallen zu lassen,
in denen CameUen als Sträucher und Bäume ihr dunkles Grün
entfalten. Daneben prangen die Azaleen in voller Blüthe.
Alle Pflanzen hier sind kräftig und interessant und immer ist
etwas Buntes vorhanden.
Das nächste Haus der saftreichen (succulent) Pflanzen hat
in leichter Eisen^ und Glasconstruction die bedeutende Aus-
dehnimg von siebzig auf zehn Meter. Trotzdem ist es dicht
gefüllt mit Agaven, Aloes, Yuccas, Dracänen und vor allem
mit dem reichen und grotesken Typus der Cacteen. Ein Wald
von riesenhaften mehrseitigen Säulen strebt neben- und durch?
einander empor; dazwischen melonenartige und igelähnliche
Erscheinungen, Am' Gewölbe kriechen schlangengleiche Cereus
mit kugel- und scheibenförmigen Gliedern.
„Sehen Sie dort" bemerkte Mr. Jones „den baroken Cereus,
dessen oberes Stammende langes, drahtiges, graues Haar ver-
hüllt; jedoch trägt er es nur in seiner Jugend und daher ist
sein Name: „Alter Mann" eigentlich nicht ganz zutreffend".
„Ueberhaupt" fuhr er fort, „wohnt in diesem Hause eine
sonderbare Gesellschaft; es giebt hier allerlei Ueberraschungen.
Sehen Sie hier diese fette, gichtisch geschwollene Weinrebe,
der unsere Reben gleichen wie die Eidechse dem Elephanten.
Hier steht ein Pelargonium mit einem Stengel so dick wie eine
massige Futterrübe. Daraus folgt, dass die Familienähnlichkeit
nicht immer nothwendig für die Verwandtschaft ist. Boden und
Klima verändern Thiere und Pflanzen, namentlich, wenn man
in verschiedenen Welttheilen lebt. Alle diese seltsamen Gäste
hier bewohnen heisse trockene Länder mit wenig Regen, starker
Verdunstung und sehr bedeutender Wärmestrahlung bei Nacht
Dagegen schützt diese Wüsten- und Felsenkinder ein sehr
„dickes Fell" und ein ausserordentlicher Wasservorrath, den
sie in ihren Geweben für sich und die animalischen Mitbewohner
ihrer Heimat anscmimeln.
„Lassen Sie uns", schlug Mr J. vor, als wir wieder in's
Freie traten, „das nächste Haus, nach seinem Grundrisse das
T-Haus genannt, rasch durchschreiten. Es enthält eine reich-
€0 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
haltige Vereinigung von Bigonien, Eriken, Caphaiden und ausser-
dem eine ziemlich vollständige Sammlung von wirthschaftlich
pützlichen Bäumen: den indischen Butterbaum, den Brotbaum,
den Kapembusch, den Cacaobaum, den Citronenbaimi, den
Kaffeebaum, die BaumwoUenstaude, die Nux vomica, das Pat-
chouli u. s. w. In der Mitte die Ihnen wohlbekannte Victoria
regia; dann folgen die Orchideen, über eintausend Varietäten,
und die Fleischfresser, diese weit interessanteren Antipoden
der auch in Deutschland gedeihenden Secte der Vegetarianer,
die wir fleischessende Spotter hier „Gemüseheilige" nennea
Jedoch sehen Sie alle jene Pflanzen bequemer bei den Specialisten
und in den Ausstellungen. Folgen Sie mir lieber in die beiden
gegenüberliegenden Häuser, sie enthalten unsere Museen I.
und II."
Wir traten in eine Reihe grosser Räume, in denen Glas-
schränke und Kästen zwischen den Fenstern entlang standen^
während in der Mitte ein freier Gang gelassen war. Endlich
hielten wir in einer grossen. Halle an, mit Oberlicht und einer
umlaufenden Gallerie.
„Hier", sprach Mr. J., auf die zahlreichen Behälter ringsum
zeigend, „hier können disr Kaufmann und der Industrielle die
in ihr Fach schlagenden Erzeugnisse des Pflanzenreichs studiren.
Sie finden hier alles übersichtlich geordnet und auf den bei-
liegenden Täf eichen erklärt; ich will indessen für heute nur
einiges hervorheben. Vielleicht kommen Sie wieder und ver-
tiefen sich dann in das Studium der unendlichen Einzelheiten.
Noch eines! Am Ausgange des Parkes steht ein drittes
Museum; es enthält alle Holzarten, die in England xmd seinen
Cplonien wachsen. Dort sehen Sie polirtes Palmenholz, Bretter
und Querschnitte von Libanoncedem und von einem Drachen-
baum aus Teneriffa, der dort schon im Anfange des fünfzehnten
Jahrhunderts als ein sehr alter Baum berühmt war. Gehen Sie
ja hinein und wenn Sie einen reiselustigen Freimd haben, der
Forstmann oder Drechsler ist, so schicken Sie ihn mir. Die
Sammlung hat wohl in der Welt nicht ihres Gleichen". — „Hier
also", fuhr er fort, mit uns an einen der unzähligen breiten
und tiefen Glaskästen tretend, „stehen wir vor dem bedenklichen
Producte des Mohns: dem Opium und dem Processe seiner
Herstellung. Diese Köpfe sind vielfach eingeritzt, ein weisslicher
Die botanischen Gärten in Kew* 61
Saft fliesst aus den Wunden hinab in diese eisernen kleinen
Schaufeln, aus ihnen wird er in diese Schüsseln gesammelt; et
verliert darin einen Theil seiner Feuchtigkeit, wird durch an-
haltendes Rühren eingedickt und endlich zu Kugeln geballt.
Letztere werden in den irdenen Formen, die Sie sehen, gepresst
und schliesslich in die daneben liegenden getrockneten Mohn-
blätter verpackt. — In diesem hohen Glaskasten haben Sie
alle Sorten des Cacao in seinen Stadien von der Bohne in det
Schale bis zum gerösteten Pulver. — Hier ist die Jute, jetzt
ein wichtiger Rohstoff für die Weberei, durch den die Stadt
Dundee reich geworden ist; — hier der Thee; — dort die
Legfuminosen für die Nahrung und Färberei ; — hier die harzigen
und öligen Producte des Eukalyptus; — weiter die wohlthätige
Ipecacuanha und — das Beste zuletzt — der Kaffee und der
Tabak«. —
Als wir diese grossartige Schaustellung von Gegenständen
verHessen, die uns im Leben alltäglich begegnen und dennoch
in ihren Einzelheiten uns fremd und neu erschienen, standen
wir am See, auf dessen entgegengesetztem Ufer das Palmen-
haus über einer breit gelagerten Terrasse mächtig emporstrebt.
Indem wir vorwärts schritten, sagte Mr. J.: „Wir wenden nun
zwei höchst interessanten Abtheilungen der Gärten unbesehen
den Rücken. Dort, hinter den Museen, ist der Garten unserer
heimatlichen Haushaltpflanzungen, nützlich zum Unterrichte fut
Schule und Küche, und daneben ist das Reich der krautartigen
Gewächse. Letztere sind nach ihrer natürlichen botanischen
Ordnung in streng geschiedene lange rechteckige Beete ein*
getheilt, der Anblick ist daher nicht gerade decorativ. Einmal
belauschte ich hier einen imwissenden Spötter, der behauptete,
das Ganze gleiche einem ungeheuren Bratroste. Kein wissen-
schaftlicher Mann und kein „gelernter" Gärtner wird versäumen,
diese Sammlung zu besehen, indessen ich denke", schloss er>
wohlwollend lächelnd, „wir gehen vorwärts".
Wir stimmten ihm ehrlich bei, umschritten den schönen See, in
dessen stüler, durchlnselchen von Wasserpflanzen unterbrochener
Fläche sich prächtige alte Bäume spiegeln, und betraten am
jenseitigen Ufer die grosse mit geschnörkelten Blumenbeeten aus-
gelegte Terrasse, in deren Mitte das grosse Palmenhaus steht.
Daa Gebäude ist einhundertdreissig Meter lang, im Mittelschiffe
62 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
dreissig Meter breit und vierundzwanzig Meter hoch; die beiden
Seitenschiffe sind siebzehn Meter breit und zehn Meter hoch.
Zur Heizung dienen zehn verschiedene Kessel, welche ein
System von etwa sieben Kilometer Röhren speisen. Das
Wasser fallt aus Sammelteichen auf den Höhen von Richmond
Park hieher. Das Glas des Daches ist durch Kupferoxyd leicht
grün gefärbt, und wirft dadurch einen Theil der Wärme- und
Lichtstrahlen zurück. Dieser ungeheure Raum ist ausgefüllt
mit der vollständigsten Sammlung aller Palmen und mit un-
zähligen anderen, ihnen verwandten oder in der Heimat benach-
barten Pflanzen, Musen, Cykaden und Dracänen. Wir durch-
wandern still und staunend die vielfach verschlungenen Pfade
in diesem seltenen, tropischen Walde, dann besteigen wir
die ringsum laufende Gallerie und tauchen in andächtiger
Bewunderung unsere Blicke in das unbeschreibliche Blätter-
meer!
Damit verlassen wir die botanischen Gärten und betreten
die „Pleasure Groxmds". Sie erstrecken sich, in der Ver-
längerung des grossen Hauptweges, jenseit des Sees bis an
das südliche Ausgangsthor nach Richmond zu; ausserdem
nehmen sie den ganzen westlichen Theil der Gärten ein.
Dieses weite Revier, zusammen etwa vierhundert Morgen, ist
zum Theil mit Gruppen von Verwandten besetzt, zum grösseren
Theil jedoch ist es ganz als Forst und Wald behandelt Es
gehört zu dem Schönsten unter allem, was England an
schönen Parks aufzuweisen hat. Ein breiter Grasplatz, oder
wie der Engländer sagt: Gxaspfad, läuft vom Palmen-
hause zum indischen Pagodenthurme am südlichen Aus-
gange. Die ebene, reine, grüne Fläche liegt in der Mitte
auf etwa zwanzig Meter Breite frei, an beiden Seiten ist sie
mit einer seKr vornehmen Allee von Deodaren eingefasst,
hinter der sich auf beiden Seiten einzelstehende Pracht-
exemplare von Cedem und schottische Fichten, gemischt mit
Linden, Ahorn und anderen Laubbäumen in tiefer Aufstellung
gruppiren. Wir Fremde fanden in- dem ungestörten sanften
Gehen auf dem nach allen Seiten weit erstreckten, von keinem
Kieswege durchschnittenen Rasen einen seltenen Genuss, der
hier überall in Parks und Gärten frei gewährt wird; nur die
vorspringenden Winkel des Rasens an den Kreuzwegen sind
Die botanischen Gärten, in Kew. 63
gegen die Unart des Vertretens durch kleine eiserne Gitter
geschützt.
Indem wir uns durch diese ideale Waldlichtung westwärts
schlagen, nimmt uns ein Rosengarten auf, dessen zahlreiche
Beete unter riesigen Blutbuchen und immergrünen Eichen in
den Rasen eingeschnitten sind. Er geleitet uns bis an den
letzten der Glaspaläste, das „Temperate House", also das Haus
für Pflanzen der gemässigten Klimate. Ein grosses stattliches
Gebäude von Eisen und Glas, das Dach ist zum Abdecken
im Sommer eingerichtet. Jedoch vergisst man die Ueber-
dachung vollständig, sobald man eingetreten ist. Die normale
trockene Atmosphäre, die uns erfrischend umgiebt und frei
zu athmen gestattet, trägt hierzu wesentlich bei.
,3ier, meine Herren", begann Mr. J. "wieder, „ist eine Gesell-
schaft von Pflanzen vereinigt, die weiter nichts verlangen
als einen Stand, der sie vor Frost und Sonnenbrand schützt
Diesen sichert ihnen die grünliche trlasbedeckung und die
Wasserheizung; übrigens stehen und wachsen sie hier wie im
Freien. Kein Topf oder Kübel engt sie ein und dadurch er-
reichen wir die völlige Gesundheit und Natürlichkeit der Ent-
wickelung, die jedem Besucher dieses bedeckten kleinen Parkes
einen so besonders einladenden und behaglichen Eindruck
hinterlässt. Die Pflanzen hier sind Bewohner von Südeuropa,
von Neuholland, Japan, China, dem Cap und den tropischen
Bergzonen. Sie sind nach den Ländern ihrer Herkunft
gesondert, so dass wir, den breiten Hauptweg entlang
schreitend, rechts und links alle fünf Welttheile im Fluge
durchmustern. Ich nenne Ihnen, damit nicht der • Belehrung
zuviel werde, heute nur folgende: hier die Akazien aus
Australien, die Rhododendren vom Himalaya, chinesische
Kamelien, Araucarien von der Norfolkinsel, die wilde Thee-
staude aus den Djungeln von Assam, die jetzt mit Erfolg in
Indien cultivirt wird und dem himmlischen Reiche hoffentlich
bald scharfe Concurrenz machen wird. Hier sehen Sie auch
den fiebervertreibenden Eucalyptus globulus und den motten-
vertreibenden Kampherbaum: dort neben der Pinie steht der,
einer alten Weide gleichende Oelbaum aus Griechenland. Auch
bemerken Sie hier Baumfarren, die das gemässigte Klima vor-
züglich vertragen und nicht so getrieben und schlaff erscheinen
64 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
als in ihren gewöhnlichen Warmhäusern. Vor Allem betrachten
Sie sich die seltenen und selten schönen Araucarien. Die Imbricata,
deren schuppige Nadeln wie Dachziegel gestellt sind, kennen
Sie schon aus den Parks; hier haben Sie eine Bidwillii mit
blätterartigen, breiten, flachen Nadeln. Sie ist neun Meter
hoch und ihre stärksten Zweige lagern, wie Sie sehen, auf dem
Boden, wo sie einen Kreis von sieben Metern Durchmesser
bedecken; ihre Fruchtzapfen dort oben haben die Stärke eines
Kinderkopfes. Dort steht die Excelsa mit feinen, hellgrünen
Nadeln; der ganze Zweig gleicht einer Straussenfeder; sie misst
jetzt vierzehn Meter bis zur Spitze. Diese hier, die Araucaria
Cuninghamii von Queensland trägt von allen die kleinsten und
feinsten Nadeln an ihren seltsam gewundenen, dünnen weisslichen
Zweigen".
„Ich freue mich, Ihnen dieses Haus gerade jetzt zeigen zu
können; denn die überall vertheilten blühenden Azaleen, Fuchsien,
Rhododendren geben dem Bilde einen seltenen Reichth\im an
heiteren Farben. Später im Jahre ist der durchgängige grüne
Ton des Ganzen ernst und fast dunkel. In ihm schliesst sich
indessen das Haus harmonisch seiner Umgebung an, dem Forste,
durch welchen ich Sie jetzt noch führen will".
Wir schritten durch ein Gitterthor, welches hier die
Pleasure'Grounds mit dem botanischen Garten verbindet, und
näherten uns dem Forste auf einem langen, schnurgraden
Wege, der mit schönen Coniferen und den glänzenden Stech-
palmen eingefasst ist, die in England so sehr für die immer-
grünen Gärten geschätzt werden und von denen man bereits
hundertvierundvierzig Arten und Spielarten kennt. In der Nähe
befindet^^ sich eine Cottage, nicht zugänglich, da sie von
der Königin zur Privatbenutzung vorbehalten ist. Wir vertiefen
uns weiter in die Gründe des Waldes, dessen herrliche Baum-
gruppen keine andere pflegende Hand verrathen als die des
Forstmannes, und dennoch sind sie sämmtlich geographisch
oder botanisch geordnet Der Boden wird bewegter und ver-
räth durch Hügel und Thal die Nähe der Themse. An Baum-
schulen vorbei und einem Maschinenhause für die Bewässerung,
gelangen wir an einen grossen Teich, in welchem die Wasser-
pflanzen versammelt sind. Sein Uferrand ist mit Weiden ein-
gefasst, das südliche höhere Ufer ist mit einer vollständigen
Die botanischen Gärten in Ke^v, 60
Zusammenstellung aller Species und Varietäten des Geschlechtes
Pinus bestanden, unter denen die schöne dunkle Douglas-Fichte
aus den Felsengebirgen sich auszeichnet. Am anderen nördlichen
Ufer nimmt uns nochmals eine reiche Sammlung von Eichen
auf und durch diese steigen wir hinab in ein tiefes Thal; es
ist gegen den nahen Fluss durch einen hohen Damm geschlitzt
und mit blühenden Rhododendren -rings eingefas^t. In der
Mitte Steht eine Rosskastanie, nicht ungewöhnlich hoch, aber
von mächtiger Ausbreitung der Zweige, die auf dem Boden
Wurzeln geschlagen und neue Schösslinge getrieben haben.
Der Stamm hat in Brusthöhe einen Umiang von nahezu »sechs
Metern und beim Umschreiten der Zweige zählen wir sieben-
undneunzig Schritte.
Wir erklettern jetzt den Damm und stehen an der Themse.
Vom jenseitigen Ufer winkt das schöne Sion-House, Landsitz des
Herzogs von Northumberland, zum Besuche seiner berühmten
Gärten.
Auf ein anderes Mal ! heute wandern wir den Strom hinab,
der Brücke vorbei, dem schon sichtbaren Dampfboote zu.
Ompteda, L. v., Bilder.
VI.
Gärtnerei
für die armen und für die reichen Leute.
LLs war jetzt Zeit geworden, uns mit wärmstem Danke von
unserem nachsichtigen und unermüdlichen Führer durch die
Gärten von Kew zu verabschieden.
„Da Sie", so entliess er uns, unsem Händedruck erwidernd»
an der Landungsbrücke, „da Sie, wenn auch nicht Botaniker
und kaum Gärtner, dennoch recht fleissige Hospitanten in
meiner Vorlesung waren, so möchte ich Ihnen noch einen Weg-
weiser geben, damit Sie auch Ihre Rückfahrt nützlich ver-
wenden können. Sie haben hier vieles gesehen und glauben
vielleicht, so ziemlich alles gesehen zu haben, was die
englische hohe Gärtnerei bietet. Es fehlt aber doch noch
einiges".
„Und was fehlt? Wo gibt es noch Reicheres und VoU-
kommneres, als bei Ihnen?"
„Nun, meine Herren, erinnern Sie sich nur, was ich Ihnen
schon im Beginne unserer Wanderung bemerkte. Die botanischen
Gärten von Kew sollen ein möglichst vollständiges Gesammt-
bild der cultivirten Pflanzenwelt und der Art und Weise ihrer
Cultur geben. Wir überlassen daneben die Ausbildung einzelner
interessanter Gruppen und Familien, sowie die Durchfuhrung
einzelner besonderer Zweige der Gärtnerei den Speci allsten".
„Den Specialisten? Natürlich müssen wir sie kennen
lernen, aber wo sie finden? Bitte, weisen Sie uns zu ihnen,
Mr. J., wenigstens zu einigen, dann gehen wir nicht fehl und
erhalten auch leichter Einlass".
Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute. oT
„Sie finden zwei ihrer grössten Leistungen, und zwar in
ganz entgegengesetzten Richtungen, auf Ihrem heutigen Rück-
wege zur Stadt Wollen Sie die Bekanntschaft machen, so
verlassen Sie Ihr Schiff am Landungsplatze von Battersea oder
Chelsea; dann haben Sie rechts der Themse den grössten
Gärtner in der Specialität für die kleinen und armen
Leute. Ihm gegenüber auf dem linken Ufer sitzt der grösste
Handelsgärtner für die Reichen".
„Und die Namen? Wie heisst die Firma des Armen-
gärtners?"
„Nun, der ist leidlich bekannt in den drei Königreichen
und wol noch weiter. Den Namen des anderen schreibe ich
auf diese Karte. Sehen Sie sich nur um und — leben Sie
wohl". —
Diese geheimnissvolle Weisung spannt unsere Erwartung,
so dass wir stromabwärts dem gartenberühmten Chiswik und
den lieblichen Villencolonien von Putney und Fulham vorbei-
eilen und unser Schiff erst in Battersea verlassen. Wir landen
hier an einer der neuen Vorstädte Londons, auf dem rechten
Ufer der Themse und nur von einer ärmeren, arbeitenden
Bevölkerung bewohnt. Nach den ersten Schritten am Ufer
aufwärts erscheinen hinter dem Quai starke Bäume, deren
Reihen uud Gruppen sich, je mehr wir uns nähern, desto femer
nach beiden Seiten hinausziehen. Hinter ihnen öffnet sich der
Blick auf weite Grasfiächen, die durch mehrere bewegte
Gruppen von Fussball- und Cricketspielem, umlagert von theil-
nehmenden Zuschauem, belebt sind. Alle diese fröhlichen
Menschen gehören, nach der äusseren Erscheinung, den unbe-
mittelten hart arbeitenden Klassen an. Wir treten von da
durch eine Gitterthür in den Battersea-Park ein und gelangen
bald auf einen freien Platz, mit Buschwerk und Bäumen einge-
fasst, in ihrem Schatten zahlreiche Ruhesitze. Nach drei Seiten
gehen von hier breite Wege aus. Wir folgen dem nach rechts
laufenden, sauber gehaltenen Kiespfade und gelangen nach
längerer Wanderung durch stets wechselnde Parkbilder an eine
bedeutende, in bewegten Windungen ausgelegte Wasserfläche.
Ihre mit grünem festen Rasen eingefassten Ufer umgehen wir,
bis eine Felswand unsere Schritte hemmt; wir ersteigen sie und
befinden uns auf einem schmalen künstlichen Hügelrücken, der
5*
68 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
sich in unregelmässigem Bogen nach beiden Seiten hinzieht.
Sein jenseitiger Abhang ist mit Coniferen und immergrünen
Sträuchern dicht bepflanzt. Wir steigen hinab und betreten
den „subtropischen Garten", Seine Fläche enthält gegen sieben
Morgen, ringsum ist er durch den Höhenzug und den Baum-
mantel geschützt und unter diesem Schutze konnte der Gärtner
ein seltenes Bild entwickeln, das den „subtropischen" Namen
völlig rechtfertigt. Der Gegensatz zwischen der nordischen
äusseren und der subtropischen inneren Vegetation ist von
wahrhaft überraschender Wirkung. Auf der einen Seite ein-
heimische ausgewählte Laub- und Nadelbäume mit Felsge-
wächsen und hohen Farren unterpflanzt, auf der anderen Seite
die Palme und die Musa des Paradieses, abwechselnd mit
Gruppen von Cannas, Aralien, edlem Lorbeer, Oleander und
ähnlichen halbsüdlichen Gewächsen. Dieses Gartenbild trägt in
seiner Fremdartigkeit den ausgeprägten Charakter des Ge-
wählten und Verfeinerten. Die Mitte des subtropischen Eilandes
wird von Teppichbeeten eingenommen die theils selbstständig
von Wegen eingeschlossen, und in grösseren Mustern angelegt,
theils als kleine Ornamente in die sorgfältig gepflegte, reine
Rasenfläche eingelassen sind. In den Mittelpunkten der ver-
schiedenen Figuren breiten sich schön entwickelte Agaven und
Yuccas mit den scharfbewehrten Blattspitzen. Wohl nirgends
in einem Garten Englands finden wir die Industrie der
botanischen Teppichweberei so gepflegt und entwickelt, wie
gerade hier, und gerade hier lassen wir diese einigermassen
zopfigen Künsteleien vorzugsweise gern gelten, da ihre mühe-
volle Vorbereitung, Pflanzung und Unterhaltung einen be-
sonderen Beweis für die unausgesetzte und kostspielige Pflege
dieses Gartens der armen Leute gpiebt.
Nachdem das subtropische Thal durchmessen ist, gehen wir
nochmals an verschiedenen kleinen, in bewegten Figuren ge-
zeichneten Wasserflächen hin und langen nach einer Wanderung
von etwa zwei Stunden wiederum am Ufer der Themse an.
Der Park von Battersea umfasst eine Grrundfläche von
nahezu dreihundert Morgen, er ist also etwa dreimal so gross
als der bekannte und einst in Deutschland mit Recht
bewunderte Park zu Biebrich. Vor dem Jahre 1852 befand
sich hier eine öde, schattenlose und prosaische Fläche, Weide
Gärtnerei für die armen und Jür die reichen Leute. 69
und Acker. Da fasste ein Mann, dessen hervorragendem
Geiste, warmem Herzen und stiller, stetiger Thätigkeit England
so viel Schönes und Grosses verdankt, der in seinem Leben
viel verkannt und erst nach seinem frühen Tode von England
und der Welt in seinem ganzen Werthe erkannt wurde: der
Prinz Albert, Gemahl der Konigin, fasste die hochherzige Idee:
hier eine neue Specialität der Gärtnerei, einen „Park der
armen Leute" in's Leben zu rufen. Er stellte sich an die
Spitze dieses riesenhaften Unternehmens, welches unter der
technischen Leitung von Mr. John Gibson in sechs Jahren
vollendet wurde und 6 Millionen Mark kostete. Daneben
muss noch ein bedeutender Fond vorhanden sein, aus welchem
die jährlichen Mittel für die tadellos sorgfaltige Unterhaltung
des Parkes fliessen.
Mit Bewunderung und Wehmuth scheiden wir von dem
Denkmale, welches der grosse Armengärtner sich hier selbst
errichtet hat. Wahrlich, nicht minder eindringlich und nach-
haltig spricht diese grossartige Wohlthat, diese milde Stiftimg
fär frische ländliche Luft zu den Herzen eines dankbaren Volkes
als das prächtige Monument, welches die englische Nation ihrem
verstorbenen besten Freunde im Hydepark errichtet hat.
Eine leichte, elegante Hängebrücke fuhrt uns über die
Themse nach dem gegenüberliegenden Chelsea. Wir biegen
in eine lange Vorstadtstrasse ein, den Kings Road, an welcher
ländliche Gärten mit den vordringenden städtischen Wohn-
häusern, Fabriken und Geschäftsgebäuden abwechseln. Gegen-
über etwa den bekannten und nicht sehr fein berufenen
Cremorne Gardens — ein vergröbertes Mabille — wandern wir
eine hohe Mauer entlang, die endlich durch ein niedriges
cottageartiges Wohngebäude unterbrochen wird. Ueber dem
Eingange steht zu lesen: „James Veitch & Sons". Der Name
ist nicht in England geboren, so auch nicht sein Träger Herr
Jakob Veitch, der als junger Mann Deutschland verliess und in
England die gegenwärtig grossartigste Handelsgärtnerei gründete.
In diese treten wir jetzt ein. Die uns von Mr. J. in Kew aus-
gestellte Empfehlung sichert uns eine wohlwollende Aufnahme.
Unter der Führung eines älteren Obergärtners gelangen wir in
70 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
den inneren Garten und sehen, jenseit eines freien mit Pflanzen
geschmückten Platzes, eine kleine Welt von Glashäusern vor
uns, getheilt durch breite gerade Wege, auf denen Menschen
und Karren geschäftig hin und her eilen. Zunächst zu unserer
Rechten der Packraum, ein weiter, mit Glas bedeckter
Hof; dann folgen eine Reihe von Gebäuden, welche die
Magazine für die verschiedenen Erdsorten und die Blumentöpfe,
sowie die Anstalten für das Ein- und Umpflanzen enthalten.
Nun beginnt die Wanderung durch die unendlichen Warm-
und Kalthäuser, von denen stets mehrere für dieselbe Pflanzen-
familie in getrennten grossen Abtheilungen, je nach dem heimat-
lichen Klima und den Stadien der Entwickelung der einzelnen
Individuen, bestimmt ist.
Wir baten unseren Führer um einige allgemeine Anhalts-
punkte über unsere Umgebung. Wir würden uns sonst unfehl-
bar in diesem Labyrinthe von Pflanzen und Hausem verlieren.
Er war hiezu gern bereit. Was er uns während unserer mehr-
stündigen Wanderung durch die Glashäuser mittheilte, war
jedoch so neu und reichhaltig, dass nur folgende wenige Einzel-
heiten im Gedächtnisse und Notizbuche gehaftet haben.
„Der Raum, auf dem unsere hiesige Niederlassung steht", so
begann sein durch unsere Fragen stetig fortgesponnener Vortrag,
unser Ariadnefaden — „beträgt etwa zehn Morgen. Sie finden
fast alle Luxusgewächse bei uns vertreten, aber in verschiede-
nem Grrade. Das Hauptgewicht in unserem Betriebe legen wir
in die Versorgung der zahlreichen Glashäuser und Winter-
gärten auf den zahllosen grösseren und kleineren reichen Land-
sitzen in England mit schonen Exemplaren der selteneren
heueren und der gesuchtesten älteren Treibhauspflanzen. Be-
merken Sie über dieser Thür die Nummer 105; es ist eine •
unserer neuesten, daher höchst nummerirten Abtheilungen.
Jedes Haus hat deren drei, macht also dreissig bis vierzig
Treibhäuser. Für die Wasserheizung und den Druck, der das
heisse und kalte Wasser in den Röhren circuliren macht, sind
sechzehn Wasser- und Dampfkessel in Thätigkeit. Hier in
Chelsea ist ein Personal von sechzig Ober- und Unter-
gärtnern beschäftigt, dazu noch zwölf bis zwanzig Tagelöhner,
je nach Bedürfniss.
Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute, 7 1
„Sie Stehen gerade jetzt vor den Eriken. Die Sammlung
ist durch die zahhreichen Ausländer, namentlich die Caphaiden,
auf etwa hundert Varietäten angewachsen. Bei unserem CoUegen,
Mr. William Cutbush und Söhne in Highgate, finden Sie sogar
hundertundfunfzig Nummern. Ihre Preise schwanken sehr; diese
Erica gracilis kostet 75 Pfennige, aus jener Gruppe der
Cavendishiana können Sie das Stück für 1,50 Mark bis zu
105 Mark kaufen; jene Erica depressa bewegt sich zwischen
2 und 210 Mark.
„Unsere Azaleen nummeriren jetzt schon bis zu einhundert-
zwanzig. Von Camelien fuhren wir sechzig Nummern, ihre
Preise bewegen sich von 30 Mark fiir das Dutzend bis zu
400 Mark für das Stück. Von Rhododendren haben wir nur
einen bescheidenen Bestand, etwa dreissig Nummern. Wir
sind hierin keine Specialisten. Versäumen Sie aber ja nicht,
Mr. Waterer in Woking zu besuchen; dort finden Sie eine
grosse Gärtnerei, die sich ausschliesslich mit Rhododendren
beschäftigt.
„Coniferen fuhren wir eigentlich nicht, Diese Specialität
bearbeitet unser College, Mr. Thomas Jackson und Söhne in
Kingston. Sie finden dort über einhundertunddreissig ver-
schiedene Arten.
„Dagegen",' fuhr unser Führer fort, „sind wir stark in den
Farren. Sie finden sie in der Reihe von Häusern, die wir jetzt
betreten. —
„Sehen Sie hier diese baumhohe Alsophila Australis mit
drei Fuss langen Wedeln; unter ihr steht eine Sammlung der
kleinsten Adianthen, das falschlich sogenannte Frauenhaar. Die
Preise schwanken dem entsprechend von 1,50 Mark bis zu
63 Mark für das Stück. Wir zählen jetzt gegen dreihundert
Nummern, wovon die Hälfte Warmhauspflanzen.
„Von den Palmen haben wir zweiundfünfzig Arten, vom
Epheu zweiundsechzig, nebst einhundertundzwanzig anderen
Kletterpflanzen. Die Kletterer sind bei uns in den ver-
schiedensten Klimaten zerstreut, vom Warmhause bis zur nörd-
lichen Mauer im Freien.
„Aber**, setzte der Obergärtner bescheiden hinzu, „alle diese
Gruppen sind nicht unsere eigentliche Specialität. Aehnliche
und reichere Sortimente treffen Sie bei unseren Collegen eben-
12 Englische Landsitze ^ Gärten und Gärtner,
falls an. Jeder legt sich auf eine Besonderheit: Charles Turner
in Slough bei Windsor bevorzugt die hochstämmigen Rosen und
Rosenbäume, welche Sie allemächstens auf den Blumenaus-
stellimgen in Regent's Park und South-Kensington bewundem
werden ; nebenbei nehmen in seinem Kataloge die Pelarg'onien
vierzehn Seiten ein. William Cutbush ist besonders stark in
den Eriken, Thomas Jackson hat die schönsten Coniferen u. s. \v.
„Unsere Specialität sind die Orchideen und in neuerer Zeit
die fleischfressenden Pflanzen. Seit Mr. Darwin die Welt auf
diese interessanten Mörder aufmerksam gemacht hat, machen
wir Jagd auf sie in allen Welttheilen".
„Wie so, in allen Welttheilen? Haben Sie denn überall
gefallige Freunde, die für Sie sammeln?"
„Damit würden wir nicht weit kommen; wir betreiben die
Sache rein geschäftsmässig. Wir halten sechs Gärtner, die
jahraus jahrein für James Veitch & Sons die Länder in den
Tropen und im Innern von Asien und Südamerika durchstreifen
und dort in den Djungeln und Sümpfen, in den Wäldern
der Ebene, bis hoch in den Himalaya hinauf und in den Anden
von Peru, Jagd auf alles Neue und Interessante machen.
„Sie stehen hier in der Abtheilung", in welcher die Fremdlinge
zuerst Aufnahme finden. Hier werden sie ausgepackt, gepflegt,
zu neuem Leben erweckt, beobachtet, bestimmt \md müssen
auch Quarantaine halten. Denn mit ihnen kommen, wie Sie
wol wissen, oft ihre gefährlichsten Feinde als Eier und Larven
zu uns. Auch diesen lassen wir Zeit, sich hier in der Abge-
schiedenheit zu erholen und zu entwickeln, lun sie dann sofort
zu vertilgen, ehe sie sich verbreiten, vermehren und un-
ermessliches Unheil anrichten. So kam vor einigen Jahren mit
der Nepenthes eine kleine 'grünliche, beinahe durchsichtige
Ameise zu uns, die sich stark vermehrte, beflügelte, allem
Räuchern und Spritzen widerstand und heute noch nicht ganz
vernichtet ist". — Es war unsere Bekannte von der Dell,
„Lassen Sie uns also jetzt", fuhr der Obergärtner fort, „noch
die Häuser der Orchideen durchwandern, der ausländischen
Vettern unseres heimatlichen Knabenkrautes. Wir haben
deren drei verschiedene Klassen: Kalthäuser für einheimische
und andere harte Orchideen, wie z. B. verschiedene Arten
des Odontoglossum; hier befinden wir uns in der zweiten
Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute» i 3
Klasse, den Catleyahäusem, mit einer angenehm gemässigten
Temperatur von 20 — 25 Graden Reaumur. Sie finden hier
einige der grössten und prächtigsten Blumen, die an seltsamer
Originalität des Baues und brennendem Farbenschmelze nicht
ihres Gleichen in der gesammten Pflanzenwelt haben; — mit
den Namen will ich Sie nicht plagen.
„Hier im Warmhause finden Sie ebenfalls eine Reihe
schöner, interessanter Wunder unter den Laelias und Vandas.
Betrachten Sie einmal die Farbenpracht und die extravaganten,
aber stets graziösen Formen: diese rothviolette Masdevilla
gleicht einem Herzen, jene weisse einem Damenpantoffel; diese
weisse hier mit dem breiten Purpurstreif sieht aus wie ein
feenhafter Schmetterling, der gerade davon fliegen will. Und
dann der wunderbare, feine narkotische Geruch! Sie sind
geradezu raffinirt schön! —
„Wir haben von den Orchideen zweihundertacht und siebzig
Arten, zum Preise von 7,50 Mark bis zu 168 Mark für das
Stück. Die Sammlung stammt aus aller Herren Ländern. Jch
beklage nur, dass auch hier, wie aus allen unseren Häusern,
heute die schönsten Exemplare fehlen. Doch Sie werden dieselben
ja in den beiden grossen Blumenausstellungen antreffen".
Wir durchschritten staunend und be^vundemd die lange Reihe
dieser Häuser, deren tropische feuchte Luft, verbunden mit dem
feinen stark gewürzten Dufte und den seltsamen Erscheinungen
der Pflanzen, nebst ihren nicht minder fremdartigen Namen, uns be-
täubend und beklemmend umgab. So stimmten wir denn auch auf-
richtig in den sachverständigen Enthusiasmus unseres Führers ein.
Am Schlüsse gelangten wir endlich zu den berühmten
Fleischfressern. Ihre Zahl ist durch die Jagderfolge der sechs
reisenden Herren schon recht stattlich herangewachsen. Am
anziehendsten wirkten, zunächst durch ihr schönes Aeussere,
die Nepenthes Carnivora und sanguinea. Es sind Verwandte
der bekannteren Nepenthes phillamphora, die an einer ranken-
artigen, benachbarte Gegenstände spiralisch umschlingenden,
Verlängerung des Blattes einen Schlauch trägt, ähnlich einer
schmalen Kanne. Das Gefass ist oben an seiner Mündung
mit einem beweglichen Deckel versehen, wie ein Bier-
seidel. An der inneren Seite des Schlauches stehen Warzen,
die eine wasserähnliche Flüssigkeit ausscheiden, eine Labung
J
74 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
für Vögel und kleinere Thiere. Unsere Nepenthes entbehren,
wie schon ihr Name anzeigt, dieses gemeinnützigen Charakters
leider vollständig. Die unsrigen scheiden an dem verdickten
Rande des Kelches und an der unteren Seite des Deckels
Honig aus, der auf dem Boden des Gefasses sich ansammelt.
Die hierdurch angelockten Insekten werden in der klebrigen
Feuchtigkeit festgehalten und ausgesogen, wie eine Stachel-
beere. Auf dem Tische unter den Kelchen lag eine grosse
Anzahl armer, ausgepresster und vertrockneter Fliegenskelette!
Weit unscheinbarer stellt sich Dionea muscipula dar,
die bekannte Venus -Fliegenfalle. Ihr Blatt besteht aus
zwei Klappen, ähnlich den Schalen der kleinen, geöffneten
Muscheln. Am äusseren Rande befinden sich Haare, die in
einander greifen und einen festen Verschluss bilden. In der
Tiefe des Blattes bemerkt man auf der Spitze vieler rother
Drüsen winzige Tröpfchen einer honigsüssen Flüssigkeit; sie
sind bestimmt das Opfer anzulocken. Durch das sich auf-
setzende Thier entsteht eine Reizung, die beiden Blatthälften
schlagen zusammen, die Haare an den Rändern greifen in
einander und das Insekt ist rettungslos zerquetscht. —
Wir wünschten sehr, die seltsame Camivore in der Arbeit
zu sehen. Da keine Fliege zur Hand war, berührte der Gärtner
das Innere des Blatttrichters mit der Spitze eines Stäbchens.
Sofort setzten sich beide Klappen in Bewegung und binnen
vier Secunden etwa war die Falle geschlossen. Aber auch
diese kurze Spanne Zeit ist der armen Fliege im Jnnem nicht
zum Rückzuge freigelassen. Denn beide innere Flächen des
Blattes sind ebenfalls mit Haaren besetzt, deren Richtung gegen
die Mitte wol den Eintritt gestattet, die sich aber durch die
Reizung aufrichten, wie ein Wald von Pallisaden den Rückzug
versperren und das gefangene Opfer aufspiessen. Eine andere
dieser Mörderinnen, die Drosera capensis, eine vornehme Ver-
wandte des auf unseren europäischen Torfmooren lebenden,
ebenfalls fleischfressenden, rundblätterigen Sonnenthaues, lockt
die Insekten herein, indem sie ihren honigartigen Saft an der
Spitze jedes der kleinen Stacheln im Innern derBlüthe ausscheidet.
Der Anblick dieser winzigen hellen Tröpfchen, wenn die Blume,
so zu sagen geladen ist, gewährt grosses Interesse. Wir be-
trachteten die gefährliche Schönheit genau und es gelang uns
Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute, 7d
auch, den Honig zu kosten, indem wir vorsichtig und rasch mit
dem Finger über die Stacheln hinstrichen.
„Man muss billig sein", bemerkte mein jüngerer Begleiter
nach eingehender Prüfung, „der zarte, süsse, aromatische
Geschmack der Venusfalle, wahrscheinlich mit einem für uns
nicht wahrnehmbaren pikanten Dufte verbunden, ist für eine
etwas leichtsinnige Fliege immer schon einer kleinen Sünde
werth".
„Leider fehlt nur", erwiderte der lebenserfahrene, ältere
Gefahrte, „die Zeit zur Busse und Umkehr. — Eigentlich aber
benehmen sich diese armen Fliegen genau so wie die Menschen
in gleicher Versuchung. Sie sind ganz in derselben Lage wie etwa
eine durstige Mannesseele, welche ihr Weg durch eine Strasse
fuhrt, die auf beiden Seiten mit gut renommirten Trinklokalen
besetzt ist. Sie wird einkehren und sich sehr leicht „fest-
kneipen".
„Oder**, ergänzte mein Begleiter, „wie eine junge Frau in
einer Gasse von Putzläden, die sämmtlich die reizendsten neuen
Hüte ausstellen".
„O ja!" erwiderte ich „und dazu ohne einen Gemahl, der
hinterher über die Rechnungen brummt. — Alle wir armen
Sterblichen haben doch ein jeder einen schwachen Punkt, wo
es uns »gelüstet« und wir »hineinfallen«. Das ist der Lauf der
Welt!"
„Uebrigens", bemerkte der Obergärtner, „ist es nicht nur
Bosheit oder Reizbarkeit, welche die Fleischfresser bewegt; sie
handeln durchaus zweckmässig, denn sie bedürfen der thierischen
Nahrung für ihren Kampf um's Dasein. Diese Frage hat
kürzlich Mr. Francis Darwin, der Sohn, durch einen höchst
sinnreichen und gelungenen Versuch entschieden. Er setzte
200 Pflanzen unseres kleinen, rundblättrigen Sonnenthaues in
verschiedene, grössere Kasten, und theilte jeden dieser letzteren
durch eine Holzwand in der Mitte ab. Um die Insekten abzu-
halten, wurden Drahtglocken über die Kasten gestellt. Nun
futterte Darwin in jedem Kasten die eine Abtheilung, also die
eine Hälfte der Pflanzen, mit ganz kleinen Schnittchen ge-
bratenen Fleisches, während die andere Hälfte fastete. Dieses
Experiment wurde durchgeführt vom Juni bis zum September.
Dann wog man die sämmtlichen gefutterten und die sämmtlichen
• b EngliscJie Landsitze, Gärten und Gärtner*
ungefütterten Pflanzen. Erstere hatten das doppelte Gewicht
Sie trugen ausserdem fast noch einmal so viel Samenkapseln
und ihr Samen hatte insgesammt das vierfache Gewicht des
Samens der unfreiwilligen Asceten". —
So belehrt und gewarnt, verlassen wir diesen neuen Venus-
berg und treten mit unserem Führer wieder hinaus in die
frische englische Luft. Zum Schlüsse bitten wir, nach all' den
ausländischen Bekanntschaften, auch unserer heimathlichen
Blumenkönigin huldigen zu dürfen.
„Bedauere sehr**, erwiderte unser Obergärtner, „aber die
Rose gedeiht in der Luft von London nicht Wir haben unsere
Rosenschulen auf dem Lande, die eine in Coombe Wood für
Pflanzen in Töpfen, die andere bei Putney Vale für ausge-
pflanzte Stöcke**.
„Und Ihre Obsttreibereien?**
„Befinden sich ebenfalls in Putney Vale. Dann haben wir
noch eine Niederlassung bei Fulham, die zu Versuchen mit
Sämereien bestimmt ist. Dort werden die Kreuzungen unserer
Pflanzen durch künstliche Befruchtungen bearbeitet. Aus dem
hiervon entwickelten Samen ziehen wir die neuen Varietäten.
Es ist das ein mühevolles Geschäft, eine Art von Lotteriespiel.
Oft gewinnen wir aus tausend Pflanzen nur eine einzige schöne
und constante neue Spielart. Deren Preis ist dann natürlich
entsprechend hoch. Auch mit Verbesserung aller Gemüse be-
fassen wir uns dort eifrig. Dabei muss man aber sehr vor-
sichtig sein. Oft geräth die neue Sorte bei uns im milden
Sandboden vorzüglich und würde hernach bei den Käufern
zurückschlagen. Wir versenden sie daher zunächst an Ver-
trauensmänner in Yorkshire und anderen Gegenden, wo sie auf
Kalk-, Lehm- und Thonboden im Grossen angebaut und geprüft
wird. Ohne Zweifel haben Sie schon mit einigen unserer be-
währtesten Züchtungen, zum Beispiel : »Veitch's Herbst-Riesen-
Blumenkohl« und Veitch's »Sich selbst schützenden Blumenkohl«
Bekanntschaft gemacht.
Ohne Zweifel kannten wir beide, ihre Grösse, Schönheit, Zart-
heit und ihre vorzügliche Widerstandsfähigkeit gegen Herbstfröste ;
es ist mit einem Worte: »Alles was man verlangen kann!« —
Inzwischen waren wir den breiten Hauptpfad hinabgegangen,
der den ganzen Garten vom Wohnhause her durchschneidet
Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute, 7 7
Wir hatten nun die Region der Gewächshäuser verlassen und
es umgaben uns zu beiden Seiten Blumenbeete und harte
Gartenpflanzen.
„Es ist nichts bedeutendes", bemerkte unser Führer halb
entschuldigend, „aber man muss doch von allem etwas haben".
Unser Weg mündet in ein geräumiges Glashaus, das
den hinteren Eingang der Gärten, von Fulham Road her, bildet.
Eine Ausstellung von Dracänen, blühenden Rhododendren,
Fuchsien und Azaleen, die uns bei unserem Abschiede das
Geleit giebt, berechtigt keineswegs zu der Wahrnehmung, dass
die besten Exemplare augenblicklich fehlen und nur „zweite
Güte" hier zurückgeblieben ist.
VII.
Woburn Abbey.
An der Eisenbahn, die von Oxford über Bedford nach
Cambridge führt, liegt die kleine Station Woburn in einem
grünen wohlgepflegten Thale. Die Felder und Wiesen sind
hier vielfach mit Hecken eingefasst und mit Bäumen bepflanzt.
Sie würden Gärten gleichen, wäre nicht so viel Bewegung in
den Linien ihrer Grenzen, mögen diese auch nur aus Gebüsch
oder kleinen gewundenen Wasserläufen bestehen, soviel sanfte
Bogenschwingung in den Fahrwegen und natürliche Unregel-
mässigkeit in der Stellung der Bäume, sodass 'die Monotonie
unserer deutschen begradigten und geregelten rechteckigen
Flurbilder hier nirgends den Wanderer ermüdet. Die Ver-
meidung der graden Linien in der Anordnung der nahen land-
schaftlichen Gegenstände wie in den Femsichten, die Schonimg
aller schönen alten Bäume, auch wo sie wirthschaftlich zum
Schaden stehen, und die überwiegende Benutzung des Bodens
als Wiese und Weide, also die Herrschaft der grünen Farbe:
alle diese Eigenthümlichkeiten bilden charakteristische Grund-
züge in der ruhigen und heiteren, hochcultivirten und doch
natürlichen englischen Landschaft. Die Fahrwege tragen nicht
minder zu dem gartenhaften Eindrucke bei. Sie sind meistens
vorzüglich angelegt und sorgsam unterhalten. Als Bau-
materialien werden nur harter Kies und Schlagsteine benutzt.
Der Weg ist nie breiter als erforderlich und kaum merklich
gewölbt, so dass er fast eben erscheint. Sehr häufig giebt
man der ganzen Fahrbahn eine leichte Abdachung, abwechelnd
1
JVoburn Abbey, 79
nach der einen oder anderen Seite. Statt der bei uns üblichen
Einfassung durch offene Gräben, läuft vielfach auf beiden Seiten
ein vertiefter Streifen, durchlässig mit Bruchsteinen und Stein-
schlag gefüllt Ausserdem wird das Wasser durch schmale
Rinnen abgeführt, die sich im schiefen Winkel in das anliegende
Grundstück verlieren und dort entleeren.
Der kleine Ort Wobum wird das Auge jedes Reisenden
durch seine Sauberkeit und Ordnung, durch ein unverkennbares
Gepräge veredelter Ländlichkeit erfreuen. Zu beiden Seiten
der Strasse liegen zierliche Arbeiterhäuser und grössere
Cottages, alle nach denselben Rücksichten der Zweckmässig-
keit eingetheilt, aber fast alle verschieden in ihrer äusseren
Erscheinung. Einige sind alt, wie das verwitterte, den grauen Gips-
bewurf unterbrechende dunkle Eichenholz ihres Fachwerks zeigt,
aber sie machen einen rüstigen, wohlerhaltenen Eindruck. Die
jüngeren sind aus rothen Backsteinen; die Inschriften über ihrer
Thür, welche das B unter der Herzogskrone umgeben, zeigen
ein Alter von zwanzig bis dreissig Jahren. Diese neueren Ge-
bäude geben uns wahre Modelle einer englischen Cottage.
Der architektonischen Schönheit und dem Stile ist durch
gefällige Giebeldächer, geräumige Hausthüren, gegitterte
Rautenfenster entsprochen, sowie durch Büschel sechseckiger,
hoher Schonsteine, welche die englischen Häuser so ganz be-
sonders zieren und ihnen gewissermassen eine Krone aufsetzen.
Aber neben dem malerischen Typus der Vorzeit hat man den moder-
nen Anforderungen an Luft, Licht, Wärme und Trockenheit zu
genügen verstanden. Jedes Häuschen steht in einem sauberen
Gärtchen, in welchem jetzt, im Juni, gefüllte Levkojen, Stief-
mütterchen und Rosen blühen. Hinter oder neben dem Hause
erstreckt sich ein kleiner, üppig wachsender und reinlich ge-
haltener Gemüsegarten mit allerlei Obstbäumen besetzt.
Im Mittelpunkte des Städtchens, auf dem Markte, prangt,
frisch angestrichen, das Wirlhshaus mit dem Wappen der
Russells, dem rothen steigenden Löwen und den drei Muscheln
über der gastlichen Hausthür. Umgeben ist es von bürger-
lichen, sauber bemalten Fachwerkhäusern, dazwischen die Schule
und etwas abseits, in würdiger Zurückgezogenheit, die ungewöhn-
lich stattliche Kirche, für deren Bau im vorigen Jahrhunderte der
damalige grosse Grundherr, auf dessen Familiensitze wir uns
bO Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
befinden, der vierte Herzog von Bedford — wie man erzäWt —
vierzigtausend Pfund Sterling (achthunderttausend Mark)
ausgab.
Jenseit des Oertchens zieht sich der Weg die Höhe hinan,
die das Thal in langem gleichmässigem Zuge überragt. Bald
tauchen wir in einen Hohlweg ein, der zu beiden Seiten mit
Nadelholz und immergrünen Blattpflanzen eingefasst ist Er
führt auf die Hochebene und an das nächstliegende Thor des
Parkes von Wobum Abbey, eines Parkes, dessen drei Meter
hohe Umfassungsmauer eine Länge von vier deutschen
Meilen hat.
Nachdem wir das Thor durchschritten, nimmt uns der
„Evergreen Drive" auf, ein Weg, der zwischen breiten Gras-
streifen hinführt, deren jeder auf seiner anderen Seite durch
Gebüsch abgeschlossen ist. Dieses besteht nur aus immer-
grünen Gewächsen. Den Hintergrund bilden hohe Nadelbäume,
vor ihnen drängen sich grüne und scheckige Stechpalmen,
kräftiger Laurustinus und hochgewachsener Evonjrmus, mit
dunklen Cypressen und helleren Lärchen untermischt. Des
Weges grösster Schmuck jedoch besteht in den herrlichen
alten Cedem, die unter die schönsten in ganz England gezählt
werden. Der vordere untere Rand des Busches ist sorgfältig
mit wildem Rhododendron » ausgepflanzt, das gerade jetzt
die Pracht seiner lilafarbigen Blüthen trägt. In sanft ge-
schwungenen Wellenlinien, hie und da durch kurze Lücken
unterbrochen, begleitet dieses wunderbare Gebüsch unseren
Weg eine lange Strecke, bis derselbe in den offnen Park
mündet. Man sieht auf Weideland und Bäume, einzeln und in
Gruppen; den Hintergrund schliessen überall dichtere oder
doch perspectivisch so erscheinende Bestände ab. Zu unseren
beiden Seiten zeigen sich stattliche Cottages, von hohen Eichen
und Ulmen beschattet, mit blühenden Glycinien und dunklem
Epheu bewachsen, von niedlichen Gärtchen eingefasst. Es sind
die Wohnungen der herzoglichen Beamten. Dann tritt rechts
der grosse Wirthschaftshof der „Home Farm" hfervor, links die
Meierei, die „Dairy". Hinter diesen Gehöften biegt der Weg
vor einer weiten, von Geflügel belebten Wasserfläche nach
rechts aus und vor uns sehen wir das Schloss.
IVoburn Abbey. 81
Wobuni Abbey ist um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
im italienischen Geschmacke einfach und edel aufgeführt. Das
Schloss bildet ein regelmässiges Viereck um einen inneren
Hof Nicht erhöht gegen die Umgebung, erscheint es durch
die langen Linien seiner Seitenflügel auf den ersten Anblick
etwas gedrückt. Die uns jetzt zugewendete hintere Front
trägt in ihrer Mitte einen von vier ionischen Säulen gestützten
mächtigen Giebel, das Erdgeschoss ist von unbehauenen
Steinen. Der Park tritt auf dieser Seite unmittelbar an das
Schloss heran ohne die Vermittlung gartenmässig behandelter
Zwischenstücke. So bewegen sich denn auch die verschiedenen
Gruppen des Weideviehs und des zahmen Damwildes in
nächster Nähe der herrschaftlichen Wohnung. Diese unmittel-
bare Nachbarschaft giebt der Umgebung des Hauses eine
natürliche Einfachheit und vornehme Ruhe, Eigenschaften, die
namentlich bei den grossen Herrensitzen eine bedeutende
Wirkung erzielen.
Wir wenden uns nur zögernd ab von diesem wohlthuenden
Bilde ländlichen Genügens und treten durch die weite Glasthür
unmittelbar in die grosse Speisehalle, ein beinahe quadratischer,
von Säulen getragener Raum, dessen Wände mit figuren-
reichen, wohlerhaltenen Gobelins mythologischen Gegenstandes
geziert sind. Eine Treppe führt uns hinauf in den ersten
Stock. Hier läuft ein breiter Corridor an der inneren Seite
des Schlosses durch sämmtliche vier Flügel. Diese zweck-
mässige Anlage dient, da überall Wasserheizung besteht, im
Winter als Spaziergang und man verweilt um so lieber darin,
als sie uns zugleich die Geschichte des grossen Hauses Russell
in einer Reihe von Portraits und Büsten der besten Meister
vorfuhrt. Holbein, Van Dyck, Sir Joshua Reynolds, Gains-
borough, Sir Thomas Lawrence haben nacheinander dazu mit-
gewirkt, der Erinnerung an diese zum nicht geringen Theile
bedeutenden Männer und Frauen, von denen viele einen
dauernden Platz in der Geschichte Englands einnehmen, auch
eine hohe künstlerische Weihe zu verleihen.
Die Russells, bis dahin einfache wohlhabende Landedelleute,
treten zuerst im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts in die
politische OeflFentlichkeit. Mit diesem Zeitpunkte beginnt auch
die Gallerie der Portraits. Wir sehen hier, im schwarzen
Ompteda, L. v., Bilder. O
82 Englische Landsitzet Gärten und Gärtner.
Sammtgewande des Staatsmanns, John Russell, den ersten Earl
of Bedford. Er wohnte der Schlacht von Pavia bei und
hinterliess einen der besten Berichte über diesen merkwürdigen
Sieg. Er war auch Zeuge bei der Vermählung Heinrich VIII.
mit Anna Boleyn und schrieb darüber: „sie ist eine so liebens-
würdige „gentille** Dame, als ich eine kenne und ebensoviel
Königin als irgend eine in der Christenheit". Nachher war er,
gewiss zu seinem Bedauern, auch einer ihrer Richter. Der
Eindruck, den ihre Liebenswürdigkeit auf Russell gemacht
hatte, wirkte, wie es scheint, dabei noch fort, denn die arme
Königin, welche sich von ihren Richtern, namentlich von ihrem
Verwandten, dem Herzoge von Norfolk, grausam behandelt
fühlte, nahm davon Russell aus, der sich als „echter Edelmann
(a very gentleman)** gezeigt habe. Durch verschiedene könig-
liche Schenkungen erwarb er die unermesslichen Besitzungen,
meistens eingezogenes geistliches Gut, welche — nebst den
Stadtvierteln in London, in der Gegend von Coventgarden,
Longacre, und um Bedford-, Rüssel- und Tavistock- Square
über zweitausend Häuser einschliessend — noch jetzt den Reich-
thum des Familienhauptes ausmachen. Die jährliche Einnahme
des Herzogs von Bedford bewegt sich, nach allgemeiner
Schätzung, zwischen drei bis vierhunderttausend L. (sechs bis
acht Millionen Mark). — Im Jahre 1550 wurde John Russell
vom Könige Eduard VL zum ersten Earl von Bedford erhoben.
Sein Sohn, der zweite Earl, zeichnete sich in der Schlacht
von St. Quentin aus. Trotz dieser Verdienste aber wurde er, als
standhafter Protestant von der Königin Mary in's Gefangniss
geworfen. Er war jedoch ein Mann ohne Furcht und Tadel
und wankte nicht. Freigelassen zog er sich nach Genf zurück
bis zum Tode der Königin (1558). Dann wurde er einer der
vertrauten Rathgeber der Königin Elisabeth, welche ihn der,
zu allen Zeiten seltenen und hochgeschätzten Ehre eines Be-
suches auf seiner Besitzung Chenies würdigte. Indessen scheint
diese Gnadenbezeugung zu jener Zeit etwas kostspielig gewesen
zu sein, denn als ihre Wiederholung in Woburn in Aussicht
stand, bat Russell den Minister Cecil: „er möge doch dahin
wirken, dass der Besuch möglichst kurz ausfalle". —
Wir gehen weiter zum Bilde des vierten Earl, Francis,
wohl einer der bedeutendsten Männer dieses befähigten Hauses.
fVoburn Abbey, 83
Er gab demselben zuerst die ausgesprochene politische Ge-
sinnung und Richtung, die es seitdem mit Auszeichnung und
Ehre verfolgt hat. . Nachdem er in Grays Inn die Rechte
studirt, wurde er einer der besten Kenner des Verfassungs-
rechtes und der Praxis des Parlamentes, und einer der Vor-
kämpfer der Volkspartei gegen die beiden ersten Stuarts.
Nachhaltiger noch hat er gewirkt als der Unternehmer einer
nicht nur fiir jene Zeit, grossartigen landwirthschaftlichen,
Melioration, mit welcher sein Name immer verbunden bleiben
wird. Eines seiner Güter, Thomey Abbey, lag in der Nach-
barschaft eines Ungeheuern Sumpfes welcher, etwa 600,000
Morgen gross, sich über verschiedene Theile der Grafschaften
Norfolk, SuflFolk und Huntingdon erstreckte. Das Land war
ursprünglich trocken gewesen, aber im Laufe der Zeit durch
Nachlässigkeit und Ueberschwemmung ein unnahbarer Morast
geworden. Nach* vielseitigen verunglückten Versuchen unter-
nahm Bedford im Jahre 1631 mit einigen anderen grösseren
Grundbesitzern das Riesenwerk gegen die Zusicherung von
etwa 140,000 Morgen aus dem zu gewinnenden Lande. Als
die Arbeit nach fünf Jahren fertig war, suchte der Konig
Karl L durch einen Gewaltakt deren Früchte an sich zu reissen;
Bedford verlor seine Auslagen und die Entschädigung. Im
Jahre 1641 starb „der kluge (the wise) Earl", wie ihn seine
Zeitgenossen nannten. Erst im Jahre 1649, nach des Königs
Tode, wurde des Unternehmers Sohn, der fünfte Earl, mit seinen
Genossen in alle Rechte seines Vaters an der „Bedford-Ebene"
wieder eingesetzt und gelangte in den eigenthümlichen Besitz
von etwa 120,000 Morgen. Das Werk hatte den Unternehmern
ungefähr 400,000 L. (8 Millionen Mark) gekostet und viele von
ihnen waren durch den so lange vorenthaltenen Genuss der
Entschädigung ruinirt. Aber der grösste Lord hatte es ausge-
halten und durchgeführt.
Auch diese Neigung für landwirthschaftlichen Fortschritt
ist in der Familie vererbt worden und wird uns heute wohl
noch wieder begegnen.
Auf den glücklichen Landvermehrer folgt in der Gallerie
ein Paar, welchem in der Geschichte Englands wie in dessen
Kunst und Literatur ein unsterblicher Name und ein Andenken
bewundernden Mitleids bewahrt ist. Es sind des fünften Earls
ö4 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
Sohn, Lord William Russell und seine Gemahlin, Lady Rahel
Wriothesley. Sie war eine an Geist und Herz hervorragend
begabte Frau, deren Einfluss aus dem jungen und, wde es
scheint, geistig gerade nicht ausgezeichnet befähigten Lebe-
manne Russell einen ernsten, politischen Character und frommen,
standhaften Christen entwickelte. Seine Stellung als einer der
Führer der Volkspartei im Unterhause und seine festen An-
sichten über die englische Verfassung und Kirche missfielen
dem Könige Karl II. im höchsten Grade. Als Russell im
Jahre 1680 seine Entlassung als Mitglied des Geheimefh Raths
einreichte, wurde die Bewilligung in der „Gazette" mit dem
allerhöchsten, sonst durchaus nicht gebräuchlichen, besonderen
Zusätze veröffentlicht: „With all my heart". Eine Aufrichtigkeit,
die, ihrer Seltenheit wegen, immerhin Anerkennung verdient!
Zwei Jahre darauf wurde Lord William in die sogenannte
Rye-House Verschwörung verwickelt und nach einem kurzen
unregelmässigen Verfahren ohne jeden gesetzlichen Beweis
des Hochverrathes und beabsichtigten Königsmordes schuldig
erkannt. Ein neueres Bild von Hayter, in einem der grossen
Empfangzimmer zu Woburn Abbey, zeigt uns die Gerichts-
sitzung in der Old Bailey. Links die Richter, unter denen
Lord Jeffreys blutigen Andenkens gebührend hervortritt.
Rechts steht Russell, zu ihnen sprechend. In der Mitte sitzt
zu ihres Gatten Füssen Lady Rahel an einem Tische mit
Papieren, den ausdrucksvollen Kopf halb zurück gegen den
Angeklagten und uns zugewandt. Der Künstler hat in sehr
gelungener Weise ihre lieblich-ernsten, geistvollen Züge gegen
den streng-todesmuthigen Ausdruck ihres Gatten gesetzt. Sie
erscheint nicht allein als Sekretair, sondern auch als Beistand
thätig. Nach dem Urtheile warf sie sich dem Könige zu
Füssen und flehte seine Gnade an. Vergebens! Dann über-
wand sie jede berechtigte weibliche Schwäche und stärkte
sich im Gefühle der Pflicht: durch ihr Beispiel des Unglücklichen
Kraft zu unterstützen. Ihr Abschied von ihm ist, unter den
grossen Momenten der englischen Geschichte, im Westminster
Palaste durch ein ergreifendes Wandgemälde verewigt. Russell
ging mit Fassung und, wie es scheint, mit einer gewissen
christlichen Heiterkeit zum Blocke. Am Tage vor der Hin-
richtung befiel ihn ein starkes Nasenbluten. Der Arzt wollte
U'oburn Abbey, 85
ihm dagegen zur Ader lassen. „Lassen wir es heute gut sein**,
wehrte Russell ab, „morgen bekomme ich ja einen ausreichenden
Aderlass". Ehe die SherifFs ihn auf das Blutgerüst in Lincoln's
Inn Fields geleiteten, versicherte er ihnen nochmals feierlich:
dass er niemals auf des Königs Tod gesonnen habe, dass er
jedoch weitere Aufklärungen zu seiner Vertheidigung nicht
habe geben können, ohne Freunde blosszustellen. Dann zog er
seine Taschenuhr auf, mit den Worten: „Nun habe ich mit
der Zeit abgeschlossen und darf nur noch an die Ewigkeit
denken". Mit fester Haltung legte er sein Haupt auf den
Block und durch zwei Hiebe wurde es vom Körper getrennt.
Wenige Jahre darauf stand Jakob IL, dessen Einflüsse
auf seinen Bruder, den König Karl IL, die Zeitgenossen einen
grossen Theil des damals so reichlich vergossenen unschuldigen
Blutes aufs Gewissen legten, selbst am Rande des Abgrundes.
Nun, „zu spät" ging er auch den Earl von Bedford um Rath
und Hilfe an. Doch der alte Mann soll dem Könige nur ge-
antwortet haben: „Ich hatte einst einen Sohn, welcher Euer
Majestät in Ihrer jetzigen Lage von grossem Nutzen gewesen
sein würde". —
Unzweifelhaft war es wesentlich dem Einflüsse des grossen
Hauses Russell zu verdanken, dass die Mehrheit der Engländer
damals, wo man noch an die Göttlichkeit des Erbrechts
glaubte, sich dem Jüngern protestantischen Zweige der Stuarts
und Wilhelm HL zuw^andte.
Im Jahre 1694 wurde dem Hause die Herzogskrone
verliehen.
Die nun folgenden beiden Häupter der Familie aus dem
vorigen Jahrhundert, der zweite und dritte Herzog, die
directen Nachkommen der Lady Rahel, zogen das stille
Leben grosser Landedelleute zu Wobum Abbey den
öffentlichen Geschäften vor. Jedoch vergassen sie und der
vierte Herzog, wieder ein Staatsmann, niemals ihren historischen
Beruf als Kämpfer für politische Freiheit und religiöse
Duldsamkeit. Eben dieser vierte Herzog erbaute Wobum
Abbey in seiner jetzigen Gestalt und legte die schönen
Pflanzungen in Garten und Park an. Er schuf auch den
Evergpreen Drive, durch den wir in den Park eintraten; jedoch
hatte er sich in seinen Neuerungen nicht immer des Ein-
86 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
Verständnisses seines conservativen Obergärtners zu erfreuen.
Eines Tages protestirte dieser gegen gewisse Räumungen und
Lichtungen im Waldbestande, als dem Garten und dem Rufe
des Gärtners schädlich. Der Herzog antwortete: „Thut Ihr
was ich wünsche, und ich will Euem Ruf vertreten". Als
alles fertig war, setzte der Herzog an den „Immergrünen
Weg** folgende Inschrift: „Diese Pflanzung ist gelichtet von
John Herzog von Bedford gegen den Rath und die Ansicht
seines Gärtners".
Sein Enkel und Nachfolger, der fünfte Herzog, im Costüm
aus der Wende des vorigen Jahrhunderts und mit sehr
energischem Ausdrucke in den kräftigen Zügen, war einer
der treuesten Anhänger von Charles Fox und der beständigste
Gegner des Ministeriums Pitt. Unablässig bekämpfte er im
Oberhause dessen Kriegspolitik. Als aber 1796 Pitt eine vom
Parlamente bewilligte Kriegsanleihe von 18 Millionen L.
öffentlich auflegte, zeichnete der patriotische Bedford allein
100,000 L.
Nach seinem frühen Tode folgte ihm sein Nachbar in der
Gallerie, sein Bruder, als sechster Herzog. Er fügte den
Schätzen Wobums die bedeutende Sammlung italienischer
Bildhauerwerke hinzu, baute die grosse Markthalle von
Coventgarden in London, welche 800,000 Mark kostete, und
die Kirche in Wobum, an welcher wir heute Morgen vorüber-
fuhren. Nach zuverlässigen Mittheilungen giebt der Markt
von Coventgarden eine jährliche Pachtrente von 5000 L.
100,000 M.). In dem königlichen Verleihungsbriefe über
Coventgarden war dem Herzoge die Verpflichtung auferlegt,
dass er dort frische Erbsen, das „Peck" zu 4d (33,3 Pf.) ver-
kaufen lasse; augenscheinlich um dadurch, im Interesse der
Käufer, die Preise zu regeln. Und bis auf den heutigen Tag
wird dort in der Erbsenzeit ein Peck einmal im Jahre zu 4 d
verkauft, gemäss dem Wortlaute, wenn auch vielleicht nicht
ganz dem Sinne des „Charter** entsprechend.
Ausserdem begann dieser sechste Herzog den Um- und
Neubau der Cottages für die Arbeiter, deren Proben an
unserem Wege standen. Ein grosses Werk: „denn" bemerkte
der jetzige Herzog, als wir die Häuschen lobten, „eintausend
IVoburn Abbey. 87
Cottages haben wir jetzt freilich umgebaut, aber ebensoviel
alte stehen noch da". —
Am Schlüsse der langen Reihe tritt uns nochmals einer
der bedeutendsten Sprösslinge dieser begabten Familie ent-
gegen, im Bilde als junger, in einer gelungenen Portraitbüste
als älterer Mann. Earl Russell of Kingston-Russell, der Welt
bekannter als Lord John Russell. Mit um so grosserem Antheile
betrachten wir die letzten beiden Darstellungen als erst wenige
Tage zuvor der dreiundachtzigjährige bedeutende Staatsmann,
dessen die Konigin Victoria in den eben erschienenen „Aufzeich-
nungen aus dem Leben des Prinzen Albert" oft in dankbarer An-
erkennung gedenkt, lebensmüde seine lange Laufbahn vollendet
hatte und in der Kirche zu Chenies neben seinem ihm voran-
gegangenen ältesten Sohne und seinem Enkel beigesetzt war.
Er wollte lieber hier in der Stille mit sechzig anderen Russells
und ihren Frauen ruhen als in der geräuschvollen Westminster-
Abtey. —
Wir haben jetzt in der Gallerie das Schloss rings
durchwandert, und stehen vor dem letzten Bilde, das uns an
hervorragender Stelle in Hoheitsglanz und Jugendschönheit
entgegentritt. Es ist das Portrait der regierenden Königin,
ein Geschenk zur Erinnerung an einen königlichen Besuch
zu Wobum Abbey im Jahre 1841.
Nun betreten wir die Empfangsräume (State. Drawing
Rooms), eine Reihe grosser stattlicher Säle und Zimmer.
Decken und Thüren sind aus weissem Stuck mit Vergoldung
oder aus seltenem geschnitzten Holzwerke. Ebenso sind die
Wände in Stuck oder mit schweren Stofftapeten überzogen.
Die Kamine sind in vergoldetem Metall mit hohen kunstreich
gearbeiteten Marmormänteln. Die Möbel entsprechen dem
Stile des Hauses, schwer und gediegen, mit reichen Stoffen.
Majoliken, Porzellan, alte Bronzen und Emaillen fehlen nicht
auf den Schränken, Tischen und an den Wänden. Ueberall
herrscht Pracht und Reichthum, aber auch überall reiner,
guter Geschmack; nirgends stören die geleckten modernen
Erzeugnisse des französischen Kunstgewerbes, der schwäch-
liche sogenannte »Stil Ludwigs XVI.« Den schönsten Schmuck
jedoch aller dieser Gemächer bilden die werthvoUen Gemälde.
Wir nennen hier nur die Namen der besten Meister, die in
bo Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
unzweifelhaft echten Werken vertreten sind: Rubens, Van
Dyck, Velasquez, Ruysdael, Wouvermans, Teniers, Cuyp,
Poussin, Claude Lorrain, Philipp de Champagne, Salvator
Rosa und eine Madonna mit dem Kinde von Murillo. Vor
allem fesselte unser Auge ein Portrait des schönen und
unglücklichen Grafen Essex, des letzten Geliebten der altern-
den Elisabeth. Eine tadellos gewachsene sehr schlanke
Gestalt, ein reiches, sehr knapp anschliessendes Wamms,
das Gesicht unbedeutend, kleine Züge, wenig Ausdruck,
kleine Augen, dunkles Haar und rother Bart. Der schone
Essex macht entschieden den Eindruck eines sehr eleganten
und um seine äussere Erscheinung ängstlich bemühten und
besorgten jungen Herrn, eines »Swell«, wie jetzt die Engländer
sagen würden.
Wir ruhen eine kurze Weile im sogenannten kleinen
Speisezimmer und bewundern hier die schönen Van Dyks,
vor Allem das lebensgrosse Portrait von Francis Earl Russell,
dem glücklichen Landverm ehrer; das Bild ist herrlich er-
halten und sicher in seiner ganzen Ausdehnung vom Meister
selbst gemalt. Im anstossenden grossen Drawingroom tritt
ganz besonders hervor das schöne, auch durch den Stich
bekannte Portrait der Lady Tavistock, Hofdame der Königin
Caroline, von Sir Joshua Reynolds.
Den Schluss dieser glänzenden Zimmerreihe bildet die
Bibliothek. Sie umfasst zwei Räume, deren zweiter, das
Eckzimmer, vierundzwanzig Veduten aus Venedig enthält,
von Canaletti fiir Bedford House in London gemalt Aus
der Bibliothek führen Glasthüren in die Blumengärten. Man
tritt zuerst unter die breite Arkade, welche hier ununter-
brochen an der Gartenseite des Schlosses entlang läuft.
Dieser Gang ist, in steter Abwechselung, mit Rosen und
anderen Schlinggewächsen überzogen; von Zeit zu Zeit unter-
bricht eine Blumengruppe, ein Springbrunnen, ein Marmor-
werk oder eine der kolossalen Majolikavasen von Minton
die Einförmigkeit des langen Weges. Ueber dem Gange
befinden sich Wohnräume neben Gewächshäusern für einzelne
Blumengattungen. Von dieser Arkade aus erstrecken sich
die Blumengärten nach den verschiedensten Richtungen.
Auch in ihnen wiegt der, von nur wenigen Hauptwegen
li'oburn Abbev. S9
durchschnittene, dichte, kurze, reine Rasen vor. Kleine
Wasserflächen, besetzt mit GoldoriFen und Goldschleien,
beleben ihn und kleine verstreute Blumenbeete, einfach in
Zeichnung und Auswahl der Pflanzen, wirken, in bescheide-
ner Unterordnung, die bunten Farben in den grünen Teppich.
Gruppen von Rhododendren und pontischen Azaleen weichen
etwas zurück und hinter diesen bilden immergrüne Strauch-
gewächse den Uebergang zu den grösseren baumreichen
Theilen des Gartens. An einer etwas erhöhten Stelle tritt
uns ein lebensgrosses Standbild der jetzigen Herzogin ent-
gegen aus vergoldetem Kupfer, vom Bildhauer Böhm. Auch
durch die weiteren Gärten führen nur .wenige sanft gewundene
Wege. Wo ein Baumgang pder eine andere gradlinige
Anlage der Vorzeit zu verwerthen war, hat man sie mit
Rasen umgeben und dadurch die Steifheit des Kiesweges
vermieden. Einen seltenen Anblick gewährt dem Fest-
länder eine lange Allee grosser, üppig wachsender Araucarien
(imbricata). Mit ihren dunklen Zweigen langgestreckt auf
dem Hellgrün des Rasens lagernd, rufen sie einen ungewöhn-
lich ernsten Contrast hervor. Die Gärten zieren viele
mehrhundertjährige Eichen von sehr starker und gesunder
Entwickelung, zwischen ihnen auf Felsgruppen fröhlich ge-
deihende Alpenrosen, Edelweiss und verwandte Bergbewohner.
Näher am Schlosse stehen einige junge Eichbäume an ge-
sicherter Stelle. Einer schönen alten Sitte folgend, pflanzte
sie die Prinzess Royal von England, Deutschlands Kron-
prinzessin, zur dauernden Erinnerung an einen Besuch des
Ortes im Jahre 1874 mit eigener Hand. Ueberall bildet der
immergrüne Busch den Abschluss.
Dass einem so grossen Landsitze ein reichbesetzter Winter-
garten nicht fehlt, ist selbstverständlich. Hier wirkt er um so
anziehender als er in unmittelbarer Verbindung mit der
Statuengalerie steht, einer Sammlung werthvoller italienischer
und anderer Arbeiten. An jedem Ende der Gallerie befindet
sich ein kleiner Tempel, links der Freiheit gewidmet, mit Büsten
von Fox und Canning, rechts den Grazien geweiht, mit einer
reizenden Gruppe der drei Charitinnen von Canova. —
Die Wanderung- durch Woburn Abbey und alle seine
Herrlichkeiten hatte bereits einige Stunden in Anspruch
90 Englische Landsitzef Gärten und Gärtner,
genommen; Augen und Füsse fühlten das Bedürfniss nach
Ausruhen und so folgten wir willig unserem gastfreien Haus-
herrn zum Lunch in die uns bekannte grosse Speisehalle. Dort
hatte sich inzwischen eine zahlreiche Gesellschaft von Herren
zusammengefunden, meistens Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft.
Jedoch auch diese nur als Nebenfiguren um eine interessante
und gelehrte aus London angekommene Mittelgruppe, deren
Thätigkeit uns am Nachmittage belehren und erfreuen sollte.
Die Vereinigung zum Lunch ist eine der angenehmsten
englischen Institutionen, da sie gesellige Zwanglosigkeit,
frischen Appetit und gute Kost verbindet. Es waren zwei
runde grosse Tische gedeckt, an deren einem man sich um den
Hausherrn, am andern um dessen ältesten Sohn, den Marquis
von Tavistock, nach Gefallen niederliess. In den grossen
und guten englischen Häusern ist — jedenfalls zum Heile der
Fremden — die nationale englische Küche ein überwundener
Standpunkt, und eine gebildetere Verbindung' der französischen
Kochkunst mit dem vortrefflichen englischen Rohmateriale ent-
spricht unserm heutigen Geschmacke in wohlthuender Weise.
Die nur in Wasser gekochten oder im eigenen Fette ohne
ausreichende Würze gebratenen, für unsere Zunge einiger-
massen unfertigen Speisen, sowie die oft etwas eigenthümlichen
süssen Schüsseln Altenglands sind hier verschwunden. Auch
wird weder des Hausherrn noch des Gastes Kunstfertigkeit
und Arbeitskraft durch Vorschneiden und Vorlegen in Anspruch
genommen. Man servirt ä la Russe; ein stattlicher Haushof-
meister in schwarzen Kniehosen, unterstützt von gepuderten
Bedienten in reicher Livree, nennt die verschiedenen auf
Schanktischen und Büffets aufgestellten Gerichte und bringt,
was wir gewählt haben.
Ein ebenso aufmerksamer Kellermeister schänkt dem
Gaste Bordeaux, Portwein oder Sherry und bietet natürliches
kohlensaures Wasser an, von welchem jetzt die Apollinaris-
Quelle zu Remagen und das „Taunuswasser", vermuthlich ein
coUectiver Handelsname, besonders geschätzt werden. Gegen
das Ende des Mahles wechselt man wohl den Platz, um aus-
gezeichneten oder sonstwie anziehenden Persönlichkeiten näher
zu treten, und so vergeht die Zeit in behaglicher Thätigkeit
Woburn Abbey, 91
und Ruhe bis die anfahrenden herzoglichen Wagen uns
zu neuen Bildern entfuhren.
Wir halten zunächst bei der Home-Farm an, demjenigen
Hofe, welchen der Gutsherr selbst zu bewirthschaften pflegt
und der sich daher meistens durch einen gewissen Luxus in
Gebäuden und Maschinen, in den Viehständen und in allerlei
landwirthschaftlichen Versuchen auszuzeichnen pflegt. Hier
finden wir funfunddreissig schone hirschköpfige Alderneykühe
aufgfestellt, von der Insel Jersey stammend und wegen der
Zierlichkeit und Regelmässigkeit in Figur und Farbe, sowie
weg*en des reichen Fettgehaltes ihrer Milch jetzt als Park- und
Luxusvieh am meisten geschätzt Der Hof enthält geräumige
Werkstätten für Schmied und Schreiner, welche hier, mit Unter-
stützung einer Locomobile, die Reparaturen für alle die grossen
und kleinen Gebäude des weiten Gutscomplexes von Woburn
herstellen. Wir besuchen von da aus die an der anderen
Seite des grossen Fahrwegs belegene Dairy, den Milchkeller.
Der innere Raum ist mit bunten Kacheln bekleidet, zwischen
denen Friese von Majolika umlaufen, welche Allegorien der
Jahreszeiten und Bilder aus der milchwirthschaftlichen Thätig-
keit darstellen. Ein Springbrunnen regelt den nöthigen
Feuchtigkeitsgehalt und eine Wasserheizung die Temperatur
der Luft. Die Milchgefässe sind hier aus Glas, anderswo auch
aus Porzellan oder emaillirtem Eisen, je nach dem wissen-
schaftlichen Standpunkte der herrschenden Meierin hinsichtlich
ihrer vorzüglicheren Eigenschaften für das Ausrahmen der
Milch. Schöne alte chinesische und japanische Schüsseln sind
an passenden Plätzen als homogene Verzierung des Ortes auf-
g-estellt.
Nachdem wir dieses, Kühle und Sauberkeit athmende
Heiligthum nur ungern verlassen, führt unser Weg uns durch
ein nahe gelegenes Parkthor hinaus in das freie Feld, zugleich
in das Feld für die Thätigkeit der gelehrten Londoner Herren,
deren vorläufige Bekanntschaft wir beim Lunch gemacht
haben.
Während der Fahrt gelang es mir, mein Gegenüber im
Brake, einen Gutsbesitzer aus dem benachbarten Warwickshire
mittheilsam zu machen, indem ich zunächst die uns umgebende
t)2 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
und alsdann die englische Landschaft und Landwirthschaft im
allgemeinen lobte.
„Sie waren vermuthlich niemals in Holstein?" fragte ich,
„dort finden Sie ganz ähnliche Hecken wie wir sie hier sehen;
namentlich auch diese hohen Baumhecken auf breitem Erd-
rücken, mit einzelnen überragenden Hochstämmen; man nennt
sie dort: Knicke; nur innerhalb der Koppeln duldet man dort
keine Bäume, man hält sie fiir schädlich".
„Dieser Hecken- und Baumreichthum in unseren Feldern",
erwiderte der Squire, „mag immerhin ein Stück alter angel-
sächsischer Gewohnheit sein, gehegt durch das ähnliche feuchte
Klima, das beide Länder auf Viehzucht hinweist und durch den
Wind. Ich war nicht im alten Angeln, aber ich kenne Frankreich,
Belgien und Deutschland. Ich leugne nicht, trotz der Berge
kommt uns in jenen Ländern die Gegend vielfach recht flach
und unerfreulich vor**. —
„Uebrigens", fuhr er fort, „erscheint unsere englische Land-
schaft dem durchreisenden Fremden immer etwas grüner und
laubreicher, als sie es im durchschnittlichen Ganzen ist; denn
in der Nähe der grossen Städte und längs der Eisenbahnlinien
wieg^ die Milchwirthschaft und die Viehmästung vor, das
weidende Vieh aber bedarf der Hecken und Bäume zum
Schutze und zur Hut, es bedarf auch der vielen kleinen
Wasserläufe".
„Indessen haben Sie deswegen noch keine Campagna um
London zu befürchten", bemerkte ich, „wie einst im alten
Italien als der Pflug sich von Rom zurückzog; dafür sorg^en,
unsere heutigen Führer, die Herren Agriculturchemiker". —
„O nein!" bestätigte mein Squire vertrauensvoll, „aber Land-
rente und Arbeitslöhne sind um die Verkehrscentren sehr hoch,
und Halmfrüchte, namentlich Weizen sind hier zu Lande nie so
sicher als in den neuen grossen Exportländern; das beweisen
unsere häufigen Fehlernten in unseren ebenfalls häufigen nassen
Jahren ; und dabei" — seufzte er — „die trostlosen Kompreise !"
„Um Ihnen jedoch ein möglichst vollständiges Bild zu
geben", hob er wieder an, „muss ich noch hinzufügen, dass auch
hier die Ansichten über diese Frage getheilt sind. Noch kürzlich
ist in der „Königlichen Ackerbaugesellschaft" ein „Paper"
verlesen, in welchem ernstlich darauf hingewiesen wurde, dass
IVoburn Abhey, Ud
wir zuviel Bäume, Hecken, Feldwege und Wasserläufe haben.
Namentlich, so wurde ausgeführt, sind die isolirt stehenden hohen
Bäume ein schädlicher Luxus; sie halten um ihren Standort
die überflüssige Feuchtigkeit fest, wehren die Sonne ab, nutzen
den Boden stark aus und geben selbst kein gutes Nutzholz. In
ihrer Gesammtheit begünstigen die Bäume entschieden die
Feuchtigkeit unseres Klimas. Die unregelmässigen Koppeln
erfordern eine Menge von Wegen; die Hecken sind nicht ein-
mal wirklich malerisch.
„Auf einer Feldmark von 4500 Morgen wurden in jenem
Vertrage berechnet: 45 Kilometer Feldwege und 3000 Kilo-
meter Hecken, von denen die meisten hohe Knicke sind. Es
ergebe sich daraus im Ganzen immerhin ein Verlust von zehn
Procent des ertragsfahigen Landes!
„Doch hier müssen wir aussteigen". — Sämmtliche Gäste
verliessen die Wagen und sammelten sich um unseren
gelehrten Mittelpunkt. Was ich dort hörte und sah, will ich
versuchen, in nachstehender Skizze möglichst kurz wiederzu-
geben :
Im Jahre 1875 beauftragte die Königliche Landwirthschafts-
gesellschaft von England ihre chemische Abtheilung: durch eine
längere Reihe praktischer Versuche den verhältnissmässigen
Werth des Stalldüngers und verschiedener käuflicher künst-
licher Düngerarten festzustellen.
Die Frage war praktisch geworden durch die neuere
englische Gesetzgebung, die dem abziehenden Pächter eine
Entschädigung zuspricht für die im Boden aufgesammelte,
von ihm selbst nicht mehr ausgenutzte Dungkraft (Gail und
Gaare) aus solchen Stoffen, die der Pächter zum Vortheile
der Wirthschaft aus seiner eigenen Tasche zugekauft hatte.
Die Ziele dieser Versuche und die Wege dahin waren von
den Gelehrten rasch gefunden, leider aber mussten sie den
Acker für die Ausführung lange vergebens suchen, denn
man sah ein, dass es zu keinem sicheren, brauchbaren
Ergebnisse führen würde, derartige Versuche vereinzelt an
verschiedenen Orten von verschiedenen praktischen Land-
wirthen anstellen zu lassen. Da erklärte der Herzog von
Bedford: er wünsche, dass diese Versuche auf seine Kosten
gemacht würden. Er überwies dem chemischen Ausschusse
94 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
eine Fläche von etwa 150 Morgen und einen seiner Pacht-
höfe mit dem nöthigen lebenden und todten Inventare zur
Wohnung für den örtlichen Leiter der Arbeiten und zur
Aufstellung des beneidenswerthen Viehes, an welchem die
Fütterungsversuche nach wissenschaftlichen Recepten gemacht
werden sollten. Für dieses richtete der Herzog acht Boxes
mit beweglichen Krippen ein, so dass mit der erhöhten
Stellung des Thieres bei fortschreitender Ansammlung des
Düngers unter ihm, im Verlaufe der Versuchsperiode, auch
die Krippe entsprechend erhöht wird.
Nachdem wir die Räume der Versuchstation, der Crawly
Mill Farm, durchwandert haben, betreten wir jetzt die Ver-
suchsfelder selbst, unter der Führung der Gelehrten, an deren
Spitze der Professor der Chemie, Dr. Völker, steht, ein
Frankfurter von Geburt, jedoch schon so lange Jahre in
England ansässig, dass es ihm nicht mehr ganz geläufig war,
seine wohlwollenden Gesinnungen für den Landsmann in
der Muttersprache vollkommen rein auszudrücken.
Das Versuchsfeld vor uns, sehen wir in regelmässige
Vierecke von etwa je einem Viertelmorgen eingetheilt, die
von Wegen begränzt sind. Die Versuche selbst laufen in
verschiedenen Richtungen. Ihr Zweck ist, wie gesagt, den
relativen Nutzwerth von Ställdünger, und künstlichem Dünger
zu ermitteln. Zur Erbauung meiner landwirthschaftlichen
Leser will ich mir einige möglichst sparsame Andeutungen
über die Ausführung dieser Versuche gestatten, da dieselben
immerhin interessante Vergleichungspunkte mit unseren
gleichartigen Bestrebungen bieten möchten. Verschiedene
Versuchsreihen waren gebildet, im Allgemeinen mit der
Fruchtfolge". Weizen, Tumips, Gerste, Klee. Mit je einer
dieser Früchte war eine zusammenliegende Reihe von
Blöcken bestellt, jeder einzelne Block aber hatte seine
besondere Düngung. Allen war animalischer Stalldünger
gegeben, das Product der Verbitterung von Gewächsen
(Wicken, Turnips, Klee), die im Vorjahre auf demselben
Viertelmorgen geemtet waren. Diesem selbst gewonnenen
Stalldünger waren nun die verschiedensten gekauften Zu-
sätze beigefügt, dem einen Blocke Rapskuchen, dem zweiten
Baumwollenkuchen, dem dritten Maisschrot, welche Stoffe,
IVoburn Abbey. tiO
mit jenen Gewächsen gemischt, verfüttert waren. Gegenüber
diesen letzteren Zusätzen an Kraftfutter waren den anderen
Blocken chemisch gleichwerthe mineralische Düngersorten
(Guano, Phosphate und Sulphate) eingestreut. Endlich hatte
man auch berechnete Mischungen beider Gruppen nach den
mannigfachsten verwickelten Recepten verwendet.
Eine andere Rotation war in der Weise behandelt, dass
man denselben Blöcken Jahr auf Jahr dieselbe chemisch
gleichwerthige Dungmenge zuführt, und zwar dem einen
Theile von ihnen ausschliesslich als Stalldung, dem anderen
ausschliesslich in der Gestalt verschiedener mineralischer
Düngerarten. Endlich bestellt man eine Reihe von Viertel-
morgen Jahr für Jahr mit Weizen, eine andere ebenso mit
Gerste, beide theils ohne jeden Dünger, theils nach ver-
schiedenen complicirten Recepten gedüngt.
Der Boden der Versuchsfelder besteht bis zu etwa 30 Ctm.
Tiefe in einem schwach lehmigen Sande, unter diesem steht
reiner Grünsand. Man kann sich also leicht vergegenwärtigen,
in welchem bedauerlichen Zustande der Erschöpfung, in ver-
schiedenen Stadien, diese natürlich armen, jetzt nachhaltig
ohne alle oder doch ohne richtige Düngung und ohne Frucht-
wechsel bestellten Felder dem landwirthschaftlichen Auge sich
blossstellten. Um so grösser war selbstverständlich die
Genugthuung der Herren Chemiker und ihr Eifer — auf diesem
Wege fortzufahren. Es konnte nicht wohl zweifelhaft sein,
dass am Schlüsse der, auf sechs bis sieben Jahre berechneten
Versuchsreihen, das ganze Feld „in Grund und Boden" ruinirt
und auf lange Zeit für die wirthschaftliche Benutzung un-
brauchbar sein wird. Der Herzog, der neben mir still den
Erklärungen des Professors Völker gefolgt war, sah sich
dieses Schachbrett von wenigen guten, meistens sogar höchst
mangelhaften Beständen mit kopfschüttelndem Lächeln an.
„Sehr interessant", meinte er; „für mich ist zwar die Frage
nicht so praktisch, denn meine Pächter haben sämmtlich lang-
jährige feste Contracte; ich bin indessen wirklich neugierig,
was dabei herauskommen wird. Aber das sehen Sie, wenn
wir so etwas hier machen, ein deutscher Professor muss
stets dabei sein".
"O Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
'Man wusste nicht ganz genau, wie die letzten Worte
gemeint waren. Dass der Herzog jedoch die „deutschen
Professoren" hochstellt, dafür spricht wohl seine langjährige
Erziehung in Deutschland, seine völlige Beherrschung unserer
Sprache und kenntnissreiche Vorliebe für unsere Literatur.
Diesen Bildungsgang theilte mit ihm sein jüngerer Bruder,
Lord Odo Russell, welcher dadurch ohne Zweifel einen nicht
geringen Theil der hervorragenden Eigenschaften entwickelt
hat, die ihn dazu beriefen, England mit so hoher Auszeichnung
schon seit einer Reihe von Jahren als Botschafter in Berlin
zu vertreten.
Noch deutlicher aber hat der Herzog seine Anerkennung
der deutschen Wissenschaft eben dadurch bethätigt, dass er
dem „deutschen Professor" auf eine Reihe von Jahren einen
Pachthof mit 150 Morgen Land und die gesammten Geldmittel
für eine kostspielige Versuchswirthschaft zur freien Verfügung
stellte. — *)
Von dieser hochwissenschaftlichen Farm aus wandte sich
unsere Fahrt nach dem Parke zurück, der jetzt nochmals in
bedeutender Ausdehnung durchmessen wurde. Sein Umfang
von vier deutschen Meilen enthält selbstverständlich sehr ver-
schieden behandelte Abtheilungen, nicht allein Weidegrund
mit Bäumen, wir fahren auch durch weite, forstmässig gepflegte
Flächen. Ein besonders eingezäumter Bezirk, The Thomery
(die Dörnerei), genannt, zeigt sich als ein wilder mit Dornen
und Gestrüpp bewachsener Waldplatz. In seiner Mitte steht
ein Häuschen von einem Blumengärtchen umgeben. Wir
könnten unsere Prinzessin Domröschen hier suchen, wenn
nicht mehrere offene Wege ungehindert hinein und hindurch
führten. In diesen entfernten dichten Waldbeständen des
Parkes steht das Rothwild so zahlreich, dass jährlich vierzig
Stück abgeschossen werden. Die dem Walddickicht sich an-
schliessenden freieren Flächen, Blossen mit einzelnen Baumriesen
über hohen Farren, bilden den Aufenthalt der Kaninchen
und Fasanen — des Wilddiebs Reineke Jagdbezirk. Jetzt
*) Für das laufende Jahr 1879/80 ist der Herzog von Bedford, als Nachfolger
des Prinzen von Wales, zum Präsidenten der „Royal AgricuUural Society** gewählt
worden.
Woburn Abbey, 97
nahen die grünen Weideflächen wieder heran, von den mächtig
aufstrebenden und breitästigen Gestalten einzelstehender Eichen,
Ulmen, Buchen und Tannen unterbrochen. Diese Bäume, • die
niemals durch gedrängten Stand in die Höhe getrieben und
in der Bewurzelung gehindert waren, breiten ihre untersten
und mächtigsten Zweige auf dem grünen Grunde aus. Es
sind Baumtypen von seltener Schönheit der natürlichen Ent-
wickelung, unserem festländischen Auge ungewohnt. Zugleich
aber unterbrechen diese mächtigen Stämme die Femsichten
und umrahmen einzelne Ausschnitte des weiten Bildes. Man
vermeidet hier die langen, schmalen, ununterbrochenen Aus-
sichten über ebenen Rasen, welche die Ferne künstlich
näher rücken, immer schimmert die Entfernung, von Bäumen
halbverdeckt, nur ungewiss durch. Es giebt nur wenige
grosse Wege, man geht, reitet und fährt auf der Grasnarbe.
Beletfte Wasserflächen sind durch Abdämmungen des ab-
fallenden vertieften Grundes an seiner Thalseite geschaffen,
dann wieder durch Ueberfalle verbunden. Die Ufer liegen
offen in Rasen, nur mit vereinzelten Trauerweiden und
anderen Freunden des feuchten Untergrundes besetzt. Eine
sehr schöne Wirkung rufen einzelne sorgfältig zusammenge-
stellte Gruppen von gleichartigen blühenden Bäumen, Roth-
oder Weissdom, hervor, oder Gewächse helleren Grünes, die
sich um eine riesige Blutbuche drängen. So ist man überall
bemüht, durch harmonische Zusammenstellung in Form und
Farbe, veredelte natürliche Bilder zu schaffen. Die leichten
Drahtgitter, Welche diese Pflanzungen gegen das Weidevieh
und Damwild schützen, stören das Auge nicht. Ebenso werden
die geschlossenen Weiden der Pferde durch einen unsichtbaren
Drahtzaun umhegt. In unmittelbarster Nähe des Hauses er-
streckt sich nun die Lawn, ein grosser freier, ebener, besonders
gepflegter Rasenplatz, auf welchem Foot Ball, Cricket, das all-
mälig aus der Mode verschwindende Croquet und das alte, jetzt
wieder beliebte Lawn Tennis von Damen und Herren geübt
werden.
Die grosse Kunst der Parkgärtnerei in England — so
belehren uns die wechselnden Musterstücke, die heute an uns
Torüberzogen — strebt also dahin: jede Erinnerung an künstliche
Anlage zu verwischen und nur die veredelte natürliche Land-
Ompteda, L. v., Bilder. 7
98 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
Schaft darzustellen, sehr verschieden von dem, was man aut dem
Continente so vielfach unter „Park" versteht und, namentlich
frühßr, missverstand. Nur in der Nähe will man einen farbigen
Blumengarten, von bunten Wegen durchzogen und mit zierenden
Vasen geschmückt, einem Teppiche ähnlich, der sich um das
Haus legt Nirgendwo sieht man die Umfassungsmauer des
Parkes, sie verbirgt sich hinter einer dichten hohen Wand von
Tannen und Lärchen. Alle die kleinen Wohn- und Wirthschafts-
gebäude der Thorwächter und Parkhüter stellen die veredelte
Hütte, nicht aber die carrikirte Miniatur eines gothischen
Schlosses, oder eine ähnliche Geschmacksverirrung dar. Licht,
Schatten und Luft sind in der Landschaft weise vertheilt Einzel-
schönheiten und Massenwirkungen wechseln ab und überall
waltet eine grossartige, wohlthätige, frische, grüne Ruhe. Der
englische Park ist die veredelte englische Landschaft und die
englische Landschaft strebt, sich dem Parke nachzubilden.
Unter solchen Betrachtungen waren wir wieder in den
schönen Evergreen Drive eingebogen und näherten uns dem
Thore, das sich uns heute Morgen zu so grossartiger Gast-
freundschaft geöffnet hatte. Im Scheiden suchte ich nach den
unverzeihlichen Lücken, die der eigenwillige Herzog John hier
in den Bestand hatte hauen lassen, und nach der Ehrenrettung
seines Gärtners vor Mit- und Nachwelt. Beide waren ver-
schwunden. Die alles versöhnende und ausgleichende Zeit hatte
auch diese schmerzhaften Wunden längst geheilt.
VIIL
Die Blumenausstellungen.
Uie allgemeine Neigung für Gärtnerei und Blumenzucht
in Stadt und Land sowie der, zum nationalen Bedürfnisse ent-
wickelte, massenhafte Verbrauch von Blumen und Zierpflanzen
im geselligen und häuslichen Leben haben in England zahl-
reiche Vereine und Gesellschaften in's Leben gerufen, die,
unter den verschiedenartigsten Modificationen in ihren be-
sonderen Richtungen und Zwecken, sämmtlich diesen nationalen
Bedürfnissen dienen.
Die beiden bedeutendsten dieser Gesellschaften sind: die
„Royal Botanic Society" die königliche botanische Gesellschaft
und die „RoyarHorticultural Society'' die königliche Gartenbau-
gesellschaft, beide in London domicilirt.
Die erstere besitzt den botanischen Garten in Regent's
Park und veranstaltet dort in jedem Frühlinge und Sommer
mehrere grosse gärtnerische Ausstellungen. ,
Ihre friedliche Concurrentin, die Gartenbaugesellschaft,
besitzt schon seit 1804 ihren etwa fünfzig Morgen enthaltenden
Garten zu Chiswik, am linken Ufer der Themse zwischen
London imd Kew. Ausserdem hat sie im Jahre 1851 einen
zweiten etwa dreissig Morgen grossen, reich und geschmack-
voll geschmückten Garten in London selbst neben dem South
Kensington Museum angelegt. Auch hierzu ist die Initiative
dem Prinzen Albert zu verdanken, der selbst die Pläne der
Anlage zeichnete. Hier hält sie ihre grossen Ausstellungen,
die „Flowershows".
Beide Gesellschaften sind sehr zahlreich und bilden für ganz
England die Mittelpunkte aller Thätigkeit auf diesem Felde;
^
100 ^ Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
beide verfugen über sehr bedeutende Geldmittel. Die Garten-
baugesellschaft hat etwa fünftausend Mitglieder, ihre jährliche
Einnahme aus Beiträgen beläuft sich auf mehr als 160,000 Mark-
Dem allen entsprechend sind auch die grossen Blumen-
schauen ausgestattet. Ein Blick auf die Preise, welche dabei
vertheilt werden, mag hiervon Zeugniss ablegen.
Für die Ausstellungen im diesjährigen Frühlinge hatten
beide Gesellschaften, mit unwesentlichen Abweichungen, etwa
folgende Preise ausgesetzt:
für neun grösste Rosen in Töpfen und für zwölf Warm- und
Kalthauspflanzen: je drei Preise von 400, 240, 160 Mark;
für zwölf Pelargonien und zwölf Orchideen: je drei
Preise von 240, 160, 80 Mark;
für die halbe Zahl dieser Blumen: je drei Preise zum
halben Betrage;
also im Ganzen ausschliesslich für diese vier Klassen: bei-
nahe 4000 Mark.
Daneben besondere entsprechende Preise, in Geld oder
goldenen und silbernen Medaillen, für bestimmte Stückzahlen
von: Azaleen, Eriken, Farren, Rhododendren, schönen Blatt-
pflanzen, Fuchsien; für Stiefmütterchen und Maiblumen; für
abgeschnittene Rosen u. s. w.
Sodann waren beträchtliche Preise ausgelobt: für die
efFectvoUste Gruppirung gemischter Pflanzen, ohne Rücksicht
auf die Qualität der Individuen; daneben für Obst und Gemüse;
endlich erhalten die grossen Handelsgärtner Diplome für neu
gezüchtete gder neu eingeführte ausgezeichnete Pflanzen. —
Diese Preise sprechen schon hinlänglich für die bedeutenden
Mittel der Gesellschaft, für die Wichtigkeit, welche in den
leitenden gärtnerischen Kreisen diesen Ausstellungen beigelegt
wird, endlich auch für die Mannigfaltigkeit und hohe Ent-
wickelung der gärtnerischen Production in England.
Noch schlagender jedoch erscheinen mir folgende Be-
sonderheiten, indem sie die grossartige Ausbildung der Arbeits-
theilung — das sichere Zeichen einer hohen Culturstufe —
auch auf diesem Felde in einem auf dem ganzen Continente
nicht bloss in Deutschland, unerreichten und kaum bekannten
Grade darthun.
Für fast alle diese Preisklassen existiren zwei parallele
Die Blumenausstellungen. 101
Abtheilungen, also fast alle Preise sind doppelt ausgesetzt:
einmal für Handelsgartner und gewerbsmässige Pflanzenzüchter
(nurserymen); daneben laufen Preise für Liebhaber der Gärtnerei
{amateurs).
In letzterer Abtheilung treten die grossen Gartenbesitzer
mit ihren Obergärtnem, zugleich aber auch kleine, selbst
arbeitende Gartenfreunde auf.
Femer erscheinen, bei den Ausstellungen im Somme^,
Preise für die Gemüsegärtner (market gardeners), die im freien
Lande wirthschaften.
Auch hat man, um junge Anfänger aufkommen zu lassen,
besondere Prämien für solche Bewerber ausgelobt, die noch
keinen ersten Preis errungen hatten. Im Laufe der Zeit waren
nämlich einzelne übermächtige, so zu sagen: gewerbsmässige
Aussteller emporgekommen, die \Yährend einiger Jahre überall
sämmtliche grosste Preise davontrugen.
Zu diesen Prämien der Gesellschaften treten noch eine Reihe
interessanter und charakteristischer, besonderer Belohnungen,
die von reichen Mitgliedern und Gönnern ausgesetzt sind,
Opferwillige Gemüsefreunde geben bedeutende Geldpreise
für Erbsen, Gurken und andere Vegetabilien des allgemeinen
Verbrauchs.
Grrosse Handelsgärtner setzen, zur Aufmunterung ihrer
eigenen Kunden, Preise aus, bestehend in silbernen Pokalen,
seltenen Pflanzen oder auch in Geld, für schöne Pflanzen,
sowie für Früchte und Gemüse, in solchen Varietäten, die vom
Geber selbst, während der letzten Jahre in den Handel gebracht
sind, also von ihm bezogen sein müssen. So eröfl&iet Mr. James
Carter, königliche Hof-Samenhandlung, jährlich eine Bewerbung
um den „Carter Pokal" zum Werthe von looo Mark nebst
600 Mark in Geldpreisen, für die beste Auswahl von Gemüsen,
vierundzwanzig verschiedene Sorten, von denen- neun Sorten
solche sein müssen die er selbst gezogen hat. Mr. James Veitch,
den wir als den grössten Blumenzüchter kennen lernten, macht
nicht einmal Einschränkungen zu gunsten seiner eigenen
Züchtungen, sondern giebt eine Reihe von Preisen, im Gesammt-'
betrage von 2220 Mark, für Obst.
Erhebliche Preise bestehen für den mit den besten Früchten
IvJ Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
geschmackvoll gezierten Frühstückstisch; andere für den mit
schönsten Blumenschmuck grösserer und kleinerer Mittagstafeln*
Endlich hat eine wohlthätige Dame, um eine schmerzlich
empfundene Leere auszufüllen, einen Preis von 200 Mark aus-
gesetzt: für das eleganteste neue Kjiopflochsträusschen (button
hole), eine dem vollendeten männlichen Abendanzuge in
diesem so betrübend ordensarmen Lande unbedingt noth-
wendige Zier.
Mit solchen Mitteln arbeitet man in den reichen Central-
stellen. Die Gartenbaugesellschaft, die zudem noch mit einer
schweren Schuldenlast von beinahe einer Million Mark zu
kämpfen hat, giebt etwa 60,000 Mark jährlich für Preise aus;
die Botanische wohl noch mehr.
Hören wir, zum Vergleiche, wie dieselben Ziele in den
kleinen Verhältnissen der Provinz verfolgt werden.
Die Gartenbaugesellschaft zu Richmond, Kew und Twicken-
ham hatte im Jahre 1877 eine Einnahme von: 9840 Mark.
Ihre Ausgabe betrug:
für 300 Preise 4940 Mark
für die Kosten ihrer Ausstellung 2640 *
daneben für Papier, Druck und Porto etwa 1700 ^
Die 300 Preise werden auf 136 verschiedene Klassen von
Gegenständen vertheilt; sie sinken von 100 Mark bis auf
4 Mark. Diese kleinsten Prämien sind sehr zahlreich, sie sind
wesentlich auf die Cottagers im Vereinsbezirke berechnet d. h.
auf die sogenannten kleinen Leute, die mit eigener Hand ein
Gärtchen bearbeiten; z. B. für 12 Zwiebeln, 4 Salatkopfe
60 Schoten Erbsen.
Von diesen 136 Klassenpreisen giebt die Gesellschaft 88;
es geben Privatpersonen 48 Preise, nämlich 1340 Mark an
baarem Gelde, silberne Pokale, verschiedene Medaillen, seltene
Treibhauspflanzen.
Auch hier begegnen wir sechs verschiedenen Prämien für
Tafeldecorationen und einer für den Schmuck des Knopfloches.
Um diese Preise können nur Damen aus dem Vereinsbezirke
Jcämpfen, welche die Gärtnerei nicht geschäftsmässig betreiben»
Endlich finden wir vier Preise für Pflanzengruppen zum
Schmuck der äusseren Fensterbretter, eine hübsche und diu^ch
ganz England in Palästen und Hütten, in Stadt und Land ver-
m Die Blume naussteUungen. 103
breitete Sitte. Diese letzteren Preise sind nun wiederum nur
zugänglich für Arbeiter, Handwerker und Bahnwärter, nicht
einmal für Hausbediente.
Wir dürfen wohl in dieser Anordnung der Preise ein sehr
lehrreiches Beispiel der Entwicklung durch Arbeitstheilung
erkennen; zugleich auch eine praktische Uebertragung des,
auf der Rennbahn entstandenen Systems des sogenannten
„Handicappens**, welches den Schwachem gegen die „freie"
Concurrenz des Stärkeren schützt
Die Blumensehau in Regent's Park.
Kehren wir jetzt wieder nach London zurück und treten in
die beiden grossen Ausstellungen ein, welche beide Gesell-
schaften gewohnlich zu Ende des Mai veranstalten.
Die Anordnung ist in beiden „Flowershows" verschieden.
Die Gartenbaugesellschaft in South Kensington begnügt sich
mit mehreren langen Zelten, die wieder durch bedeckte Gänge
verbunden sind. He Pflanzen stehen hier, in etwas markt-
mässiger Einfachheit, auf anspruchslosen langen Tischen oder
auf dem natürlichen Erdboden, ohne jede Rücksicht auf Ge-
sammtefFect durch Gruppirung.
Die botanische Gesellschaft in Regent's Park legt dagegen
ein wesentliches Gewicht auf die Anordnung und den Gesammt-
eindnick ihrer Ausstellung. Ein ausgedehnter beinahe kreis-
runder Raum ist mit einem hohen Zelte bedeckt. Unter diesem
ist der Erdboden nach der Mitte zu trichterförmig flach ver-
tieft. Am tiefsten Punkte, also im Centrum, finden wir eine
Fontaine, mit einer Vorrichtung für die Bespritzung aller Theile
des Zeltes verbunden. Sie ist mit Felsgestein gefasst, das durch
entsprechende Pflanzen belebt wird. Um diese centrale Gruppe
führt ein ringförmiger Weg. Die äussere Seite dieses Weges
wird durch eine erhöhte, nach innen sanft abgedachte, ebenfalls
ringförmige Böschung eingefasst, an welcher zahlreiche Gruppen
kleinerer Pflanzen ausgestellt sind. Um die äussere höhere
Seite dieser Böschung läuft wiederum ein breiterer ringförmiger
Weg. Von dieser Hauptstrasse strahlen, in Form eines recht-
winkligen ELreuzes, vier Wege aus, die zu den Ein- imd Aus-
gängen führen. Diese gekreuzten Wege theilen den grossen.
104 Englische Landsitie, Gärten und Gärtner, ^
breitesten, äusseren Kreisring der ganzen Grundfläche in vier
Abschnitte, deren jeder in sanftem, in sich wiederum mehrfach
geschwungenen Bogen nach der Mitte zu vortritt. Auch diese
vier grossen Abschnitte steigen in allmäliger Erhöhung zur
äusseren Zeltwand hinan. Diese Anordnung des Raumes
gewährt von fast allen Punkten aus einen umfassenden Ueber-
blick, sowohl nach der Peripherie hinauf, als in den Mittelpunkt
hinab; sie gestattet eine bequeme Bewegung und Zugänglichkeit
und sie bietet an den convexen, mit vorspringenden Zungen
versehenen inneren Rändern der vier grossen äussersten Ab-
theilungen möglichst viel Raum für zahlreiche Beschauer.
Letztere waren heute bereits vollzählig eingetroffen obgleich
der Eintritt an diesem ersten Tage der Ausstellung 7,50 Mark
kostete. Viele unter den anwesenden Pflanzenfreunden widmeten
immerhin den grosseren Theil ihrer Thätigkeit dem Ausruhen
auf den schonen Rasenflächen vor dem Zelte und erfreuten
sich der musikalischen Leistungen, welche die Kapellen zw^eier
Garderegimenter abwechselnd vorführten. Dennoch enthielt
auch das Zelt selbst eine dichte Meng# die mit ernstem
Interesse und mit der echten Sachkunde, welche nur durch eigene
Praxis erworben wird, sich der Besichtigung und Beurtheilung
des Bekannten und des Neuen unterzog.
Zu diesen Eingeweihten durfte auch ich mich heute aus-
nahmsweise rechnen, gedeckt durch die Führung, unter deren
Flagge und Schutz ich diese Räume betrat Beim Lunch, in
einem befreundeten Hause in Hanover-Square, hatte ich die
Bekanntschaft eines liebenswürdigen Ehepaars gemacht; das
Gespräch fiel bald auf die grosse Nummer der heutigen Tages-
ordnung, den Flowershow in Regent's Park und es ergab sich,
dass Mr. und Mrs. F., vorzugsweise zu diesem Zwecke aus ihrer
ländlichen Einsamkeit auf der Insel Wight, in die heisse, volle,
lärmende Stadt gekommen waren.
„Ich rathe Ihnen sehr", sagte mein Gastfreund, „sich meinem
Vetter F. anzuschliessen. Er ist der Schöpfer und Eigenthümer
eines der schönsten Landsitze bei Sandownava, ein durchgebildeter
Gärtner und nebenbei ein gescheiter origineller Kauz. Mrs. F.
ergänzt ihren Gatten sehr glücklich; sie ist, trotz ihrer mittleren
Jahre, immer noch die warme und leichtherzige Irländerin, voll
Enthusiasmus für alles „Gute und Schöne"; nebenbei etwas
Die ßlumenaussteüunpen, 105
•ö
Blaustrumpf, es werden ihr sogar gedruckte Verse nachgesagt.
Sie würden also Gelegenheit haben, nicht nur zu sehen, sondern
auch einen doppelten Commentar über alles, was Sie sehen, zu
hören'*.
Meiner Bitte, mich anschliessen zu dürfen, kam Mr. F. mit
einer freundlichen Aufforderung zuvor und so — waren wir hier.
„Sehr gut gemacht", sagte Mr. F., nachdem wir einen all-
gemeinen Ueberblick gewonnen hatten, „der GesammtefFect ist
wirklich sehr gut, man darf zunächst die Herren Directoren,
wegen ihres Antheils an den Leistungen hier, beglückwünschen.
Die Bekleidung aller "Wände mit dichtem Grün ist neu und die
hohen Palmen und Dracänen mildem und heben die Farben
der Blumenmassen".
War nun schon bei dem einheimischen, des Anblicks ge-
wohnten Publikum, die Anerkennung vorherrschend, so musste
der Fremde umsomehr von Bewunderung der meisterhaften
Leistungen erfüllt werden, die hier in der Blumenzucht vorge-
führt wurden.
Mrs. F. war so liebenswürdig meinem Enthusiasmus Worte
zu leihen:
„Meinen Sie nicht, dass das schon allein eine Reise werth
ist? Wo wäre sonst Gelegenheit so etwas zu sehen? Hier finden
Sie die Wunder des Pflanzenreichs und die schönsten Blumen
jedes Erdtheils versammelt, die seltsam schönen Orchideen aus
den Wäldern von Brasilien, die Rhododendren und Azaleen des
Himalayas, die schlanken Palmen aus den Ländern der Sonne,
die Wasserwunder aus den Teichen von Madagaskar" — — !
„Liebe", unterbrach sie der Gatte, „verzeihe, wenn ich den
Flug Deiner Empfindungen einen Augenblick anhalte, aber
erinnere Dich doch des Palmenhauses in Frankfurt und des
Flors von Camelien und Azaleen, die wir dort im vorigen März
sahen; das war doch auch nicht so ganz übel".
Es wäre unritterlich gewesen, meiner Gönnerin nicht zu
Hilfe zu kommen.
„Frankfurt und auch die Flora in Köln", bemerkte ich
bescheiden, ,J?:önnen sich allerdings in diesen Punkten wohl sehen
lassen; aber im allgemeinen müssen wir der englischen Blumen-
zucht als Kunst weit den Vorrang, nicht nur vor der deutschen,
sondern vor der gesammten Continentalen zuerkennen".
106 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner.
„Ist das Ihr Ernst?" fragte Mrs. F., mich halb befriedigt
halb noch zweifelhaft ansehend.
„:?>!Mit Ladies soll man sich nie unterstehen zu scherzen
sagt eine bekannte hohe Persönlichkeit«", beeilte ich mich zu
betheuern. „Wir waren ja so ziemlich alle im vorigfen Jahre
in Paris; die Ausstellung der Blumen und Pflanzen, die sich
dort dem linken Ufer der Seine entlang zog, war gewiss aus-
gedehnt und auch inhaltreich, aber sie kann doch nicht im
allerentfemtesten einen Vergleich mit diesem Schauspiele vor
uns bestehen; wahrhaftig nicht!"
„Für den Anfang", erklärte Mr. F. „kann meine Frau wohl
zufrieden mit Ihnen sein; sehen wir uns jetzt einmal die
einzelnen Klassen an, hoffentlich bestätigen sie den günstigen
ersten Eindruck".
In Worten ein vollständiges Bild der gesammten Schau-
stellung zu geben dürfte schwierig und würde ermüdend sein.
Wir werden uns daher begnügen müssen, bei den Erscheinungen
die unter allem durchgängig vorzüglichen, ganz besonders
hervorragen, einige kurze Augenblicke zu verweilen..
Zuerst die riesenhaften Rosenstöcke, welche Mr. Charles
Turner, der grosse Handelsgärtner in Slough bei Windsor,
ausstellt Wunder von Leistungen! Eine Gruppe von neun
Pflanzen in schweren Kübeln, die starken Stämme etwa einen
Meter hoch, darüber eine Krone, deren Durchmesser in der
Breite etwa zwei, in der Höhe etwa anderthalb Meter ausmacht.
Die ganze Form ist flach gedrückt und nähert sich einer Halb-
kugel. Die gutbelaubten, gerade gestreckten Zweige streben
strahlenförmig nach allen Richtungen hinaus, sie sind innerhalb
des ganzen mit grosser Gleichmässigkeit vertheilt Schon
dadurch erhält die Pflanze für das, an den natürlichen winkeligen
Wuchs unsrer hochstämmigen Rosen gewöhnte Auge etwas
imponirend Fremdartiges. Die Bäume sehen etwa einem in
Kugelform gezogenen Lorbeer ähnlich oder, noch besser, den
Phantasiebildem der Rosen- und Apfelbäume wie wir sie in
den Bilderbüchern unserer Kinder finden. Richtung imd
Streckung erhalten die Zweige durch sehr dünne schwarze
Stäbchen, denen entlang sie geführt sind. Augenscheinlich
wurden aber bei der Jugenderziehung der Pflanzen noch
andere Mittel angewendet, um jeden Zweig, durch Feststellen
Die BlumenaussUUungen, 107
mittelst Fäden, in die ihm angewiesene Lage zu gewöhnen.
Auf der Oberfläche der Pflanzen jedoch, an welche man
unmittelbar herantreten konnte, waren diese letzteren Unter-
stützungen nicht mehr sichtbar. Die, an sich schon aus-
gezeichneten, trotz ihrer beträchtlichen Anzahl sehr gleich-
massigen neun Rosenbäume waren bedeckt mit einer über-
raschenden Fülle der grössten, schönsten, vollkommensten,
frisch erblühten Rosen. Ich zählte auf der, meinem unverrückten
Auge zugewandten Hälfte der Oberfläche siebzig volle aufge-
blühte Rosen und etwa dreissig in der Entfaltung begriffene
Knospen!
„Das wären zweihundert Stück" berechnete Mrs, F. „aber
das ist durchaus noch nicht Mr. Turners grösste Leistung.
Im vorigen Jahre stellte er einen Charles Lawson aus, dessen
Krone über zwei Meter Durchmesser hatte und der dreihundert
aufgeblühte Rosen trug. Ihm gegenüber stand eine Coline
Forestier von ähnlicher Grösse, auf der mehr als dreihundert
Blumen in voller Blüthe prangten".
An den neun Rosenbäumen vor uns waren alle Farben
vertreten: dunkelroth, rosa, weiss und feuriges gelb. Man
hatte die Gruppe so geschickt an die leicht erhöhte Böschung
gelehnt, dass jede einzelne Pflanze für sich hervortrat und
zugleich alle sich zu dem wirkungsvollsten Ganzen vereinigten.
Hiezu trug auch die Färbung der Kübel wirksam bei. Diese
waren nämlich nicht, wie bei uns allgemein üblich — einfach
aber gedankenlos, — grün gestrichen sondern ahmten dunkles
kräftig gemasertes Eichenholz nach, auf dem die schweren
Eisenbeschläge schwarz abgesetzt waren.
„Das ist wirklich sehr wunderbar und grossartig", erwiederte
ich „und mir, als wissbegierigem Reisenden, liegt dabei dieTrage
ganz besonders nahe: wie wird es gemacht?"
Mr. F. lächelte bedeutsam. „Wir haben es auch versucht,
denn meine Frau träumte einige Zeit nur von »Riesenrosen«. —
Von ihr können Sie daher ganz genau erfahren wie die Sache
— nicht geht".
Ja", gestand Mrs. F. aufrichtig, „wir kauften vier solcher
junger Pflanzen und thaten unser bestes an ihnen; ich sah
schon erste Preise auf unseren Obergärtner herabregnen —
er selbst sah allerdings keine — und richtig: es mislang
1 Oo Englische Landsitze, Gärten und Gärtner ,
vollständig! Zu dieser Vollkommenheit, so behauptet mein
Gärtner, gelange man nur durch langjährige, unendlich
detaillirte Mühe und Arbeit. Die Anzucht der Individuen, ihre
Behandlung mit Wärme, Licht, "Wasser und Dünger, das Ver-
setzen, der Schutz, die Entwickelung der Holzaugen, die mehr-
jährige Unterdrückung der Blüthen, endlich das Antreiben zum
gleichzeitigen Blühen am bestimmten Tage der Ausstellung:
das alles erfordere alte, traditionelle Erfahrungen, unausgesetzte
Sorgfalt und weite Räumlichkeiten. — Ueber alle diese
Voraussetzungen zusammen hat auch der grösste Privatgarten
nicht zu verfügen. Aber Turners Rosen", so schloss Mrs. F.
mit Emphase, „sind und bleiben der Triumph unsrer Gärtnerei".
„O ja!" setzte der Gatte kaltblütig hinzu, „es sind kapitale
Kunststücke. Man sieht daran, was die Natur sich abnöthigen
lässt. Eine schöne, hochstämmige Gloire de Dijon in meinem
Rosengarten bringt es nicht über dreissig Blumen und auf-
blühende Knospen zu gleicher Zeit". —
Nach den Rosen fesselten die Azaleen unsere Aufmerk-
samkeit. Diese Klasse war sehr zahlreich beschickt, aus
Handels- wie aus Privatgärten. Auch hier standen wir vor
Wundem der gärtnerischen Kunst. Bei dieser Blume ist es
nicht so schwierig, der Vorstellung des Lesers zu Hilfe zu
kommen, da die Azalee auch auf unseren heimischen Aus-
stellungen häufig in einzelnen ausgezeichneten, künstlich ge-
zogenen Exemplaren zu sehen ist. Hier aber treten grosse
Gruppen auf, in den prächtigsten Farben: dunkelroth, orange,
lachsfarbig, rosa, scheckig, weiss. Die kreisförmige Pyramide
wiegt vor, vollendet regelmässig und ausschliesslich mit Blumen
bedeckt, eine geschlossene dichte Oberfläche, kein Blatt
sichtbar. Dutzende von kegelförmigen Pflanzen stehen auf dem
grünen Rasen vor uns, etwa 1,50 Meter hoch und 0,75 Meter
im Durchmesser der Grundfläche. Daneben breitet sich eine
Gruppe von sechs Pflanzen, die w4e ein flacher Sonnenschirm
gezogen sind, der Bogen über die Oberfläche misst 1,60
Meter. Auch hier ist das Kunststück des gleichzeitigen Auf-
blühens überall vollständig gelungen.
.,Sind sie nicht herrlich, diese Wunder der veredelten
Natur?** fragte mich Mrs. F. strahlend, „mich entzücken sie
stets von neuem ; welchen Eindruck müssen diese Prachtstücke
Die Bluinenausstellungen, 109
nun gar auf einen Fremden machen, der sie zum ersten Male
sieht".
„Allerdings", bestätigte ich, „es sind grossartige Kunst-
leistungen, die man bei uns eigentlich nicht kennt".
„Da sind Sie glücklich!" platzte Mr. F. heraus. „Ich sehe
jetzt dieselbe Collection bereits seit Jahren auf jeder Aus-
ztellung; Blumenscheiben und farbige Bälle, Sonnenschirme
von hypertrophischen Pelargonien', Pyramiden von Azaleen:
Zopf! Zopf! keine einzige natürliche Pflanze!"
„Ich gebe zu", stimmte ich ein, „sie erinnern etwas an
Lenötre's geschnittene Taxusburgen und an die holländischen
Schiffe und Gänse von Buchsbaum".
„Wollte sie mir Jemand schenken", fuhr Mr. F. gering-
schätzig fort, „ich würde mich schön dafür bedanken ; denn ein
halbes Dutzend würde meinen Wintergarten vollständig aus-
füllen".
„Ich weiss. Du würdest anbauen, — mir zu Liebe", ver-
sicherte die Gattin.
„Nun, ich frage Sie" wandte sich Mr. F. zu mir „ob diese
Verstümmelung schön ist?"
„Im frankfurter Palmengarten", erwiderte ich, „lässt man
die Azaleen als freie Büsche wachsen".
„Und hier", fuhr er fort, „nicht ein einziges Blatt am
ganzen Baum, als ob Blätter eine Un Vollkommenheit der
Xatur wären".
„Aber lieber George", erwiderte die optimistische Irländerin
ganz ernsthaft, „die Blätter sind ja durch die Veredlung in
Blüthen verwandelt".
Ich blieb ganz ernsthaft.
„Die Dinger sehen aus", erklärte jetzt ziemlich energisch
Mr. F., um die Diskussion wirksam abzuschliessen, da ihm diese
letzte physiologische Ansicht seiner Gattin offenbar bedenklich
wurde, „sie sehen- gerade aus wie eine schöne Frau, die
— kahlköpfig ist Glauben Sie, dass der Lovelace Paris einer
solchen Venus den Apfel gereicht hätte?"
„Oh, schäme Dich, George", rief jetzt Mrs. F., sich anstands-
voll abwendend, „schäme Dich!" —
„Lassen Sie uns zu den Pelargonien gehen", bat ich um
die Besichtigung wieder in Fluss zu bringen. „Ich las häufig
110 Englische Landsitze^ Gärten und Gärtner*
in Gardener's Chronicle, zu welch hoher Vollendung man sie
hier entwickelt hat". —
Die dreimal zwölf Exemplare welche die oben erwähnten
grossen Preise von 240, 160 und 80 Mark erhielten, waren
gezogen und gebunden wie flache Schirme, der Bogen über
den Scheitelpunkt 1,30 Meter messend, bedeckt mit Blumen in
voller Entfaltung.
„Die nennt man Ausstellungs-Pelargonien (Show pelargoniums)"
sagte der unerbittliche Mr. F. ziemlich verächtlich. „Betrachten
Sie lieber hier das alte echte Zonale und dort die sogenannten
Phantasie -Pelargonien; es ist eine reiche Auswahl buntge-
färbter Spielarten, erzeugt durch unendliche Kreuzungen
mittelst künstlicher Bestäubung; diese Gruppe hier durchläuft
von links nach rechts alle Schattirungen , vom dunkelsten
Braunroth bis fast zum reinen Weiss".
In der Klasse der Eriken begegnen wir mächtigen Pflanzen
mit grossen, lebhaft gefärbten Blüthen. Sie stammen vom
Cap der guten Hoffnung. Daneben erfreuen uns unsere ein-
facheren kleinen europäischen Haiden. Alle Pflanzen sind mit
feinen schwarzen Fäden aufgebunden, so dass die Zweige locker
und gleichmässig nach allen Richtungen hin auseinander
streben.
Verweilen wir jetzt noch kurz bei den Orchideen, diesen
interessantesten aller Warmhauspflanzen. Wir begegneten
ihnen schon in Kew, in den Handels- und in den Privatgärten;
ein Orchideenhaus fehlt heut zu Tage in England auf keinem
grösseren Landsitze. Ist es nicHt Selbstzweck, als Sammlung
oder für das Studium, so dienen doch diese, durch Form, Farbe
und Geruch so seltsamen schönen Kinder der tropischen Sonne
als Zierde der Blumentische und der geschmückten Mittags-
tafel, wo sie dann allerdings in der ihnen tödtlichen trocknen
Atmosphäre nur ein kuzes Dasein fuhren.
„Bitte, sehen Sie", rief mich Mrs. F. heran, „hier in dieser
reichen Gruppe, diese Cattleya Leopoldi mit acht Trieben und
diese Laelia purpurata mit neun wunderbaren grossen Blumen.
Sie kennen den Eigenthümer jedenfalls — vom Ansehen?"
„Nein, ich hatte noch nicht die Ehre'*.
„Haben Sie nie Nachmittags um 6 Uhr die Satge Coach
von Brighton an Hyde Park Corner vorüber fahren und in
DU Blutnenausstellungen. 111
Piccadilly vor dem alten Ausspannhause, dem „White Horse
Cellar** anhalten sehen, mit dem fröhlichen Hornbläser auf dem
hinteren Decksitze? Der lange Gentleman mit dem mächtigen
rothen Bart, der sie so kunstgerecht fiihrt, istLord Londesborough,
der Eigenthümer dieser herrlichen Orchideen. — Das wundert
Sie? — Was wollen Sie? — es ist nun einmal sein Beruf —
ich meine die Coach — nicht: die Orchideen. Sie sollten doch
an einem schönen Tage mitfahren nach Brighton, dabei sehen
und erleben Sie noch — ein Stück Altengland"
„Allen Respekt", imterbrach uns hier Mr. F., „vor diesem
Odontoglossum vexillarium mit 26 Blumenstielen und 160 wohl-
gezählte Blumen daran; der Aussteller ist natürlich der
Baron Rothschild. Das ist einmal eine, dieses Eigenthümers
würdige, Abundantia; gewöhnliche Sterbliche bringen dieses
Odontoglossum kaum höher als auf 30 bis 40 Blumen".
Die gemischten Pflanzengruppen boten eine Reihe fesselnder
kleiner „Ansichten der Natur". Die Kunst strebt hier dahin,
sich selber vergessen zu machen und möglichst eine ideale
Natürlichkeit darzustellen. Einer jeden von diesen grossen
Gruppen ist ein Raum von etwa 30 Quadratmetern angewiesen.
Womit dieser Platz ausgefüllt wird, möge folgender Blick auf
diejenige Gruppe zeigen, die den ersten Preis erhielt:
Palmen, Dracänen und hochstämmige Farren sind in
flachem offenen Bogen weit gesetzt; die Zwischenräume sind
ausgefüllt mit hohen mittleren und niedrigen blühenden Fuchsien,
Azaleen, Pelargonien, Spiräen, dem feurigen Anthurium
Scherzerianum und Lilium auratum. Das ganze zeigt eine
wohl abgemessene Harmonie in den allgemeinen Conturen
und grosse Abwechslung in den einzelnen Gliedern der Gruppe.
Von brillanter malerischer Wirkung sind die lebhaften Farben
der bunten Blüthen auf dem dunklen Grün der Palmen,
Dracänen und Baumfarren. Ganz allmählich senkt sich diese
wellenförmig bewegte Oberfläche leise zum Vordergrunde
herab.
Ich wartete auf Mr. F's. Kritik.
„Das ist nicht übel", bemerkte er, „ein wenig gedrängt
und das Bunte etwas unruhig. Uebrigens sind diese Gruppen
von sechs auf fünf Meter Grundfläche ziemlich unpraktisch.
In keinem englischen Hause von durchschnittlicher Grösse
112 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
kann man für diesen Zweck einen Raum von auch nur
annäherndem Inhalte anweisen. Für unsere Wohnungen und
Wintergärten sollte man das System der kleinen Gruppen
mehr cultiviren: sehr sparsam sein mit den grossen Pflanzen;
ein dichter Hintergrund von grünem Blattwerke; davor kein
Gedränge, hübsch locker; ja nicht zu vielerlei buntscheckige
Farben; reichliche Verwendung niedriger und kleiner Gewächse;
alle Töpfe verstecken und die vordere Grundlinie mit Lycopo-
dium überziehen. So lasse ich es bei mir machen und mein
Gärtner gewinnt, so oft er will, den ersten Preis auf der
Blumenschau in Ventnor".
„Sie wenden ein weises Wort an, Mr. F.", erwiderte ich,
„ohne es vielleicht je gehört oder gelesen zu haben: „In der
Beschränkung zeigt sich der Meister". —
Die Blumensehau in South Kensington.
Mr. F.'s unterhaltende und belehrende Führung regte
natürlich in mir den Wunsch an, auch die Ausstellung der
Gartenbaugesellschaft, einige Tage später, unter seiner Leitung
zu besuchen. Wir fanden uns zur guten Stunde am Hyde
Park Corner und schritten dem Garten von South Kensing-
ton zu.
„Heute", begann Mr. F. „will ich Ihnen allerlei zeigen, was
mir gefällt und mich interessirt. Zunächst aber muss ich Ihnen
von einigem erzählen, was Sie heute nicht sehen werden. Die
heutige Schau ist nur beschickt und besucht von den Vornehmen
und Reichen. Es giebt aber auch Ausstellungen für die Geringen
und Armen und das ist eine wirklich erfreulich^ Seite der
Sache, mit der ich gerade einen Fremden gern bekannt machen
möchte".
„Ganz in der Nähe von hier, in Brompton in der Pfarrei
von Holy Trinity, wird alljährlich eine Schau gehalten, auf der
nur Kinder aus der arbeitenden Bevölkerung ausstellen. Es
sind zwei Klassen gebildet, die eine von solchen Blumen,
welche seit zwei Monaten in des kleinen Ausstellers Besitz sind,
die andere von solchen Pflanzen, welche schon im vorigen Jahre
in der ersten Klasse erschienen waren und inzwischen ein
Jahr lang in der Pflege desselben Kindes sich befunden haben.
Die Bhitnenaussteüungen. 11
Die Pflanzen der ersten Klasse werden den Kindern geliefert
und die Identität wird von einem Damencomit6 festgestellt,
welches die Kinder in ihren Wohnungen aufsucht und die
Topfe mit einem Siegel versieht. Jedes auszustellende Loos
enthält drei Pflanzen. Fuchsien, Pelargonien, Balsaminen
blühendes Immergrün und Lysimachia Mummularia, das Pfennig-
kraut, sind die hauptsächlichsten Arten. Sie glauben nicht,
welche schone, kräftige, gut gehaltene Pflanzen oft in einem
Jahre in den kleinen dürftigen, sonnenarmen Wohnungen
gezogen werden. Noch erfreulicher aber sind die erwartungs-
vollen, leuchtenden Gesichter der Kinder, der Jubel der Preis-
gewinner und schliesslich die Fröhlichkeit aller, wenn sie nach
der Preisvertheilimg von den Damen bewirthet werden. Die
Preise bestehen in Büchern und hübschen nützlichen Gegen-
ständen für den Gebrauch der Kinder selbst; nicht in Geld,
das würde leicht in die elterliche Tasche und von da in den
— „Barroom" wandern. Es ist ein Sonnentag im Leben dieser
Kleinen, dessen Abglanz, denke ich, bei vielen so bald nicht
erlischt.
„Im Osten von London besteht eine Blumenausstellung nur
für Arbeiter, und zwar fiir solche, die innerhalb der Stadt
wohnen. Dadurch erklären sich folgende Preise: für die beste
Gruppe von Pflanzen, gezogen in London innerhalb eines
Radius von drei (englischen) Meilen vom Generalpostamt (nahe der
St. Paul's Kathedrale); oder bei ausgedehnterem Wettbewerb:
für Pflanzen, gezogen innerhalb acht Meilen von Charing Gross.
„Und innerhalb dieses Radius erhalten auch die Kinder der
Elementarschule wieder besondere Preise: für die besten Sträusse
wilder Blumen.
„Man beabsichtigt hierbei, durch die Anregung des Sinnes
für Blumenzucht etwas Luft, Licht und Sauberkeit in die
ärmlichen Wohnungen zu bringen und zugleich dort den leider
so engen Kreis der häuslichen Lebensfreuden ein wenig aus-
zudehnen. Es steckt darin also ein Stückchen praktischer
Armenpflege: nicht viel, aber — die kleinen Bäche machen
den grossen Strom". —
Wir waren inzwischen eingetreten und wanderten die
Tische entlang, auf und zwischen denen sich die buntesten
Farben drängten. Plötzlich blieb Mr. F. vor einer Abtheilung
Ompteda, L. t. Bilder. 8
114
Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
Stehen, die verschiedenartige, schmale und breitere, niedrige
Behälter von Holz, Korbgeflecht und Metall umfasste, besetzt
mit einer reichen Auswahl kleiner Blumen und Zierpflanzen.
„Sehen Sie hier diese verschiedenartigen Kästen", bemerkte
Mr. F., „sie schliessen sich gewissermassen an das eben
behandelte Capitel von der Blumenzucht der Armen, in der
grossen Stadt an: es sind sogenannte Balcon- und P'enster-
gärtchen. Das ist eine englische Specialität, auf die wir wirk-
lich Ursache haben stolz zu sein. Wie hübsch sind diese
einfachen Zusammenstellungen Von Levkojen, Reseda, Vergiss-
meinnicht, kleinen Gummibäumen und Wälschkom, umschlungen
von wildem Wein und Epheu. Solche Fenster- und Balcon-
zierden sind nicht blos ein Luxus der wohlhabenden Leute;
ich bin schon oft durch derartige irische bunte Blumengruppen
in den schmutzigsten, trübsten Strassen von London überrascht
worden".
Wir unterzogen jetzt das ausgestellte Obst einer kurzen
Besichtigung. Unter den Trauben sind der grosse Black
Hamburgh und der grüne Foster Seedling in dieser Jahreszeit
hauptsächlich vertreten. Die einzelnen Trauben sind über
30 Centimeter lang, die Beeren haben die Grosse einer
mittleren englischen Stachelbeere. Diese vollkommene Aus-
bildung wird wesentlich mit dadurch erreicht, dass man aus
der Traube die Hälfte der Beeren, wenn diese die Grrosse
einer starken Erbse erreicht haben, mit einer feinen Scheere
ausschneidet. Was sonst noch geschehen muss, um zu diesen
Dimensionen zu gelangen, darüber haben wir schon in den
Treibhäusern der Dell einigen Aufschluss erhalten. Indessen
wachsen solche Prachtstücke nicht allein in den Treibereien
reicher Privatleute, sie werden auch viel für die Märkte
gezogen und sind schon im April in Coventgarden \yie in den
Obstläden von Piccadilly und Regent'street käuflich; — für
Jedermann? Schwerlich! Im April, in der Zeit \vo die Season
und die eleganten Dinners beginnen, wird eine solche Traube
erster Grösse, Güte und Schönheit mit 15 bis 20 Mark für das
Pfund bezahlt!
Ebenso erzielt eine der neben ihnen ausgestellten Pfirsiche:
Stirling-Castle, Early Louise (Rivers) und Nectarine Einige,
Die Blumenausstellun^en, 115
•ö
zuerst 8 bis lo Mark und später immer noch 5 Mark, wenn
sie erster Grösse, schön gefärbt und ohne jeden Makel sind.
Dann folgen sehr achtungswerthe Erdbeeren, riesige dunkle
Kirschen (von der Königin aus dem Küchengarten zu
Frogmore gesendet) und zum Schlüsse erstaunen wir noch über
zwei Gurken mit dem anziehenden Namen: „Zart und echt*
Tender and true. Sie sind grün, ganz grade gewachsen, glatt^
vollschäftig und jede gegen 90 Centimeter lang.
Mr. F. zog mich weiter.
,JH[alten wir uns hier nicht auf*, sagte er, „das sind ganz
gewöhnliche Dinge. Ich will Ihnen jetzt ein ferneres Capitel
unserer »high life« Blumenzucht aufschlagen, das Sie ganz gewiss
noch nicht studirt haben; es ist die Lehre von den Knopflochr
sträuschen, den Buttonholes. Sehen Sie sich einmal diese lange
Reihe von kleinen Sträuschen und einzelnen Blumen an; man
könnte an ihnen den Standpunkt und Charakter der Leute er-
kennen je nachdem sie die verschiedenen Typen wählen und
tragen. Hier dieser volle Paul N6ron und Mar^chal Niel bezeich-
nen den Rosenfanatiker und Züchter, der sich gewissermassen
das Grosskreuz seines Hausordens selbst anheftet; der gebildete
Gentleman zieht stets jene würzig duftende eben aufbrechende
Knospe der Theerose oder jene bescheidene Noisetterose vor.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Wahl des Blattes auf dem
die Blume ruhen soll. Hier sehen Sie meistens Adianthum-
zweige; das ist allerdings die neueste feinste Mode aber eine
Veriming des Geschmackes; man glaubt jetzt, Adianthum
gehöre in jedes Knopfloch wie Petersilie auf jede Schüssel
mit kaltem Fleisch. Die allein richtige, weil natürliche Unter-
lage ist das Blatt der Rose selbst. Alle diese gekünstelten
Bouquets mit Orchideen u. s. w. sind selbstverständlich ver-
werflich »snobbish«. Jetzt kommen wir zum Kapitel von der
Farbe der Ros^. Für den schwarzen Abendanzug ist leicht
gewählt, da passen dunkle und helle, weisse und gelbe Knospen.
Aber der richtige Rosenschwärmer trägt seine Rose den
ganzen Tag über. Er schneidet sie sich selbst, Morgens vor
dem Frühstück, ehe er zur Stadt fahrt. Nun denken Sie an
alle die Farbennüancen unserer jetzigen Morgenanzüge, von
gelbgrün bis blaubraun, das macht diese Frage äusserst
complicirt. Indessen man hat sie dennoch gelöst, man hat die
8*
116 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner,
, Sache in ein System und in eine Tabelle gebracht, für jede
Schattirung sogar zwei Farben. Auswendig weiss ich es
nicht mehr, aber Sie können die ganze Weisheit im Gardener's
Chronicle nachlesen".
Ich war sehr dankbar für den bibliographischen Nachw^eis
und so schieden wir endlich von allen diesen Herrlichkeiten.
Hungrig und müde — ich für mein Theil jedoch sehr befriedigt
und reich belehrt — verlassen wir die Ausstellung durch die
breite Gallerie, die den Garten g^en Osten abschliesst und
treten in das Hauptgebäude ein.
Zu meiner angenehmsten Ueberraschung stehen wir hier
plötzlich in einem grossen, kühlen, luftigen Gartensaale vor
einer Reihe von Tafeln, zierlich gedeckt und mit Glas, Blumen,
Früchten reich geschmückt.
Leider nicht zu unserer eigenen Leibesstärkung und Er-
frischung! Wir sind in die Klasse der Preise für „Tafel-
decoration" eingetreten. Aber auch ohne persönliche Be-
ziehungen ist der Anblick erquickend und erfreulich.
In der Aufstellung des Obstes finden wir alle soeben
gemachten Bekanntschaften wieder. Auf einem der Frühstücks-
tische sind die Früchte leicht und natürlich um den Fuss und
Stamm einer Palme gelagert.
Die Tischaufsätze der Mittagstafeln bestehen nur aus
geschliffenem Kry stallglase; höhere und mittlere Vasen und
Schalen, umgeben von niedrigen, schmalen, langen, in S Form
oder ähnlich gewundenen Glasbehältem.
Zunächst vor uns haben wir eine grosse Tafel, augen-
scheinlich' für ein Staatsdinner bestimmt; Teller und Gläser
sind nicht aufgestellt. Im Centrum der mittleren Längslinie
steht eine leichte gefiederte Palme, zu ihren Seiten zwei
trompetenförmige Glasvasen, die aus geräumigen, dicht mit
Blumen gefüllten Schalen schlank emporsteigen. Nach den
Flügeln zu folgt je eine kleinere Vase. In allen Gefassen
bunte Blumen, deren Feuer durch leichtes Blätterwerk abgetönt
wird. Wir erblicken eine reiche Abwechselung von : Orchideen,
Wasserlilien, Cacteen, Anthurien, rosa Pelargonien, Gloxinien
und kletternden Farren.
„Es sieht etwas überladen aus", erläuterte Mr. F., „aber
diese Decoration ist eigentlich für eine doppelt so grosse Tafel
Die Blumenausstellungen, 117
bestimmt; dann fallt das Gedränge von glitzerndem Krystall
und gehäuften Farben besser auseinander. Betrachten wir uns
einmal die kleinen Tische**.
Es waren ihrer etwa zehn; völlig mit Tellern, Gläsern und
silbernen Armleuchtern ausgerüstet. — Beschäftigen wir uns
beispielsweise mit demjenigen Tische etwas eingehender, der
durch den ersten Preis ausgezeichnet worden war.
Das Mittelstück ist eine schlanke trompetenformige Vase;
sie steigt empor aus einer Hülle von vier Farn- und vier
Caladiumblättern; darin befinden sich weisse Campanulas, kirsch-
rothe Begonien, gefiederte Gräser und Famzweige. Die
Unterschale ist gefüllt mit drei weissen Cactusblüthen, drei
Büscheln aus rothem Geranium, neun weissen Campanulas und
Frauenhaarfarren; um den Stamm der Vase schmiegt sich ein
kleiner, dunkelblättriger Zweig von Cissus discolor. Diese grosse
Vase ist umgeben von vier kleineren, ebenfalls trompeten-
formigen. In jeder steht eine Esche veria, eingefasst von
blühender Deuzia grazilis, Zittergras und den Blättern der
scheckigen Spiräa ulmaria. In den schmalen S förmigen Glas-
gefassen, die in verschiedenen gefälligen Figuren rundumher
laufen, wechseln grosse dunkle Stiefmütterchen mit rothen und
weissen Marienröschen und Vergissmeinnicht, hie imd da unter-
brochen durch dunkle Epheublätter.
„Das lobe ich mir**, rief Mr. F. erfreut, „das ist wirkliche
Kunst! das ist so heimlich und natürlich in seiner raffinirten
Einfachheit, als ob die Töchter des Hauses das ganze Material
auf dem Spaziergange in Wiese und Wald gesammelt hätten;
die schönste Wirkung ist hier erzielt mit den einfachsten Mitteln.
Fast alle die anderen Tische sind überladen mit gedrängten
hochfarbigen Blumenmassen!**
Vor jedem Sitze steht abwechselnd ein schöner duftender
Handstrauss für die Ladies imd ein vornehmes Knopfloch-
sträusschen für die Herren.
Diese Ausstattung des Tisches ist frisch, zart und doch wirkungs-
voll glänzend durch die Reflexe der im Krystallglase unendlich
gebrochenen Lichtstrahlen.
Der Engländer legt ein sehr grosses Gewicht auf die Ver-
zierung seines Mittagstisches mit Blumen, da die echt nationale
Tafel das Auge des Gastes, nicht, wie bei uns, von Anfang an
118 Englische Landsitze , Gärten und Gärtner.
durch die Früchte und Süssigkeiten des Nachtisches erfreut.
Nach dem Gemüse, dem Nachfolger des Bratens, wird diese
Blumenherrlichkeit mit allen Weingläsern und dem Tischtuche
abgeräumt. Unter dem letzteren erscheint die glatte Fläche
des schweren alten mahagoni Speisetisches, je älter x desto
dunkler, desto schöner, und nicht eher gilt er als zur Vollendung
gereift, bevor die Platte nicht durch zwanzigjähriges Bürsten
und Reiben spiegelblank und beinahe schwarz gearbeitet ist
Die freie Tafel wird rasch und gewandt mit ausgewähltem
Obste und den nationalen Süssigkeiten aus allen Welttheilen
besetzt; jeder Gast erhält drei frische Gläser und mit dem Käse
hebt eine ganz neue Schlacht an; der Nachtisch. Die Damen
nehmen an diesen Bestrebungen noch einige Zeit Theil, dann
werden sie vom Hausherrn mit formlicher Höflichkeit hinaus-
geleitet Alsbald schliessen die Herren zusammen und es beginnt
der Kreislauf der drei grossen Krystallflaschen, gefallt mit
Bordeaux, Portwein und Sherry, die in silbernen, mit grünem
Flanell gefutterten, Untersätzen geräuschlos links herum von
Nachbar zu Nachbar gleiten. In alten englischen Häusern
werden diese drei »Decanters« auch wohl auf kleinen silbernen
Wagen rastlos auf der Tafel weiter gerollt. Zwischen Ingwer
und Nüssen entspinnt sich ein zwangloses, durch die vorbei-
ziehenden Flaschen stets angefrischtes Gespräch, fast immer
über Tagespolitik, an welchem der fremde Gast, im fremden
Idiome, nur zurückhaltend Theil nimmt. Statt dessen überlässt
er sich gern, in der wohlwollenden Stimmung des „Afterdinner",
allerlei volkswirthschaftlichen Betrachtungen, zu denen Ort imd
Gelegenheit ihn anregen. Er w^eiss vom Aussteller in South
Kensington, dass die Blumengamitur des heutigen Dinners so
etwas wie vierhundert Mark kostet; er addirt dazu im Stillen
den Preis der vor ihm aufgethürmten Kalebstrauben und der
Pfirsichpyramide, die jene hohe Schale füllt, und sagt sich als
Facit: „welch' ein reiches Land, in dem Hunderte von Haus-
haltungen, die zur Season in London zusammen strömen und
dort glänzende Gastfreundschaft üben, in der Lage sind, die
Blumen und das Obst für eines ihrer Dinners mit fünf- bis sechs-
hundert Mark zu bezahlen".
Treten wir dann später in die Drawingrooms um neben
den Damen den Thee zu nehmen, so sehen wir auch diese
Die Blumenaussteüungen. 119
Räume reich mit seltenen und stets frischen Pflanzen geschmückt.
Wir rechnen diesen Posten zu den vorigen. Endlich gedenken
wir der Hunderte von Blumenhäusern und Wintergärten auf
den unzähligen grossen und kleinen Landsitzen.
Wir Summiren —
Dann gelangen wir wohl auf dem Heimwege, auch zu
einigem Verständnisse über den Umsatz und die Bilanz der
grossen Handelsgärtner, deren riesige Betriebsanlagen zu Hause
und deren kostspielige Schaustücke in den Ausstellungen uns
mit bewunderndem Staunen erfüllt hatten.
Die
Trinkkrankheit in England.
Wir hatten» uns während des ganzen Vormittags auf der
hohen Fluth des Citygedränges treiben lassen, deren unwider-
stehliche Wirbel uns von St. Pauls Kathedrale bis zur Bank
und weiter durch Lombardstreet und Gast Cheap, wo in der
klassischen „Boar's Head Tavem" noch immer Prinz Heinz mit
dem dicken Sir John Sect trinkt, bis nach Great Towerstreet
hinabspülten. Dann waren, unter der belehrenden Führung
des würdigen Beefeaters, der noch heute die Uniform der
Leibgarde Heinrichs VIII trägt, die blutigen Erinnerungen
der seltsamen alten, jetzt vielleicht etwas zu sauber und
nüchtern gehaltenen Zwingburg Londons, des Towers, in langer
Reihe vor uns aufgestiegen. "So verlangten Leib und Seele
mit vollem Rechte die Ergänzung ihres stofflichen Bindemittels
in der Gestalt eines guten Steaks und einer Pinte (Y2 Liter)
des berühmten Londoner „Bitter*'-Bieres.
Aber wo einkehren? Zeit ist Geld für den Reisenden,
zumal in London. Da unsere Pläne für den Nachmittag uns
noch weiter östlich führen sollten, so war das weitbekannte
Royal Hotel de Keyser's in Blackfriars ausser Frage, ebenso
lag Krehl, in Colemanstreet hinter der Bank, wo die in den
Citygeschäften arbeitenden Deutschen sich der Kölnischen
Zeitung und des Kladderadatsch zu ihrem hastigen Lunch
erfreuen, zu sehr aus dem Wege.
„Ich kenne wohl hier in der Nähe ein Unterkommen",
sagte mein Begleiter zögernd, „wo ich selbst schon eingefallen
bin, wenn ich im Customhouse zu thun hatte; aber ich weiss
nicht: ob ich Sie hineinführen soll? es ist ein »Public house* und
die Gesellschaft sehr gemischt".
124 Die Trinkkrankheit in England.
„Ich bin nicht nach London gekommen", versicherte ich,
„um nur Rotten Row, den Travellers* Club oder die Schreckens-
kammer in Madame Tüssaud's Wachsfigurenkabinet kennen zu
lernen; also lassen Sie uns getrost in das Public house ein-
dringen«.
Wir befanden uns bald in einem hofartigen Sackgässchen
zwischen Mark Lane und Mincing Lane, den Sitzen der Kom-
borse und des Importes der Colonialwaaren; durch eine enge
Hausthür traten wir in einen feuchten, niedrigen, mit Fässchen
und Schankgeräthen gefüllten Gang, der uns an eine innere
schmale Thür führte. Verworrenes Geräusch durcheinander
redender Stimmen und klappernder Zinngeräthe strömte uns
warm entgegen, eingehüllt in veraltete Speisegerüche und
dichten Tabaksqualm. Ein niedriger Raum nimmt uns auf,
dicht mit Männern gefüllt, welche lebhaft einen hufeisen-
förmigen Schanktisch, die „Bar", umdrängen. Alle eilfertig,
stehend, trinkend und rauchend, nur wenige hastig eine Fleisch-
speise verschlingend. Eine handfeste, derbe Gesellschaft aus
dem umliegenden Babel der Comptoire, Magazine, Waaren-
speicher, aus den mehr als zweitausend Beamten des Custom-
house und den Interessenten des benachbarten Fischmarktes
vor Billingsgate; flotte junge Commis, Makler und andere
kleine Geschäftsleute, breite, schwielige, bestaubte Arbeiter. Inner-
halb des Hufeisens hantirt der Wirth mit Frau und Gehülfen;
an der Rückwand thürmt sich ein hoher offener Schrank auf,
unten gefüllt mit Fässchen, weiter oben dickbäuchige Flaschen,
Steinkrüge und zinnerne Kannen. Ein erstickender, trüber,
heisser Brodem erfüllt und verschleiert den Raum; wir eilen
eine kleine Wendeltreppe hinan, um dort vielleicht freier zu
athmen, wenigstens einen Tisch, Stuhl und etwas Raum fiir
unsere Ellenbogen zu gewinnen. Oben gelangen wir in ein
schmales, schmuckloses Zimmer, wo wenige stille Gäste, auf
Holzbänken an nackten Tischen frühstücken. —
Während wir hier unser etwas zähes Steak nebst den
riesigen Wasserkartoffeln mit einer der brennend scharfen
nationalen Saucen würzten und daneben dem vortrefflichen
„Bitter" aus der berühmten Brauerei von Bass und Co. zusprachen,
sagte mein Begleiter, jetzt ein Londoner, aber von deutscher
Herkunft:
Die Trinkkrankkeit in England, 125
„Sie werden doch etwas erstaunt sein über den Bar Room
unten. Auch in Deutschland haben wir, wie ich mich recht
wohl erinnere, Bierkeller, Kaffeehäuser und Restaurationen, in
denen Reinlichkeit, Luft und gute Manieren, zu wünschen
übrig lassen, aber die dortige Art der Consumtion ist doch
eine völlig andere; ich meine: sie ist weit gemüthUcher.
Sehen Sie, wie hier ein Jeder rastlos ein- und ausgeht; keine
Tische und Stühle, keine Zeitungen, keine frische Luft, kein
Domino; so ungesellig wie nur möglich. Der Branntwein
verdrängt das Bier, namentüch in den Abendstunden. Auch
kommen die Leute nicht nur ein Mal, wie bei uns, zum Früh-
oder Abendschoppen. — —
„Beides freilich", schob ich ein, „auch keine löbliche Ge-
wohnheit, für Jung und Alt. Besonders der Frühschoppen
wirkt so merkwürdig verdummend; das hat wohl in den soge-
nannten ,gemüthlichen* Biergegenden unseres lieben Vaterlandes
ein jeder, an sich selbst — und anderen, erfahren".
„Aber am Abend?" — fragte mein, über diese veralteten
Anschauungen etwas verwunderter Begleiter zögernd und halb
entschuldigend.
„Das mag für junge Leute noch hingehen, vielleicht ist
es gar ein nothwendiger Behelf*, gestand ich halbwillig zu,
»jedoch der Hausvater sollte das Geld, das er allabendlich in's
Wirthshaus trägt, auf seine Familie verwenden. Dabei würde
nicht nur der Wohlstand, es würden auch Geselligkeit, Erziehung
und Familiensinn entschieden gewinnen".
„Nun ja", fuhr mein Begleiter fort, „es ist auch bei uns zu
Hause wohl nicht alles wie es sein sollte; aber hier zu Lande
gehen die Menschen während des ganzen Tages regelmässig
ab und zu; sehr bald wird ihnen dann das Leben am Schank-
tische zur Gewohnheit und zum Bedürfnisse. Uebrigens sind
wir* hier noch in einem der anständigsten Locale, man sieht
nur Männer und jetzt um Mittag noch keine Betrunkene. Noch
überwiegt das Bier. Anderswo und Abends würden Sie ganz
andere Bilder vom englischen Bar Room und von den traurigen
und furchtbaren Wirkungen des Gin erhalten". —
Wir brachen auf und verweilten während einer kurzen
Ruhepause, in der reineren Luft des grünen Trinity- Square;
jetzt ein friedlicher schattiger Platz, einst ein Theil des blut-
126 Die Trinkkrankheit in England,
getränkten Bodens von Towerhill. Denn hier fanden während
mehrerer Jahrhunderte die Hinrichtungen der Gefangenen des
Towers statt. Nur für die Königinnen und wenige andere
bevorzugte Personen stand der Block im Tower selbst
Durch diese Rast erfrischt, zogen wir Towerhill hinab und
den London Docks zu. Während einiger Stunden fesselte uns
hier das grossartige Leben und Treiben in und an den Schiffen.
Dann stiegen wir in die endlosen Weinkeller hinunter. Wie
in einem unabsehbaren Bergwerke streckten sich die dunklen
w^eiten Räume und die geraden Linien der schwach glimmenden
Oellämpchen, welche die weiten Strassen zwischen den Wein-
fassem bezeichnen, nach allen Seiten rings um uns hinaus.
Eine Wachsfackel in der Hand, durchmassen wir diese, mit
fremden, edlen Weinen in unzähligen Gebinden gefüllten
Hallen; fast bis an unsere Kniee reichte die mit Kohlensäure
geschwängerte Luftschicht, in der die, im Weindunste rothlich
scheinende, gesenkte Fackel zu verlöschen drohte. Ueber uns
traten am niedrigen, dunkelen, feuchten Gewölbe die seltsamen
tief herabhangenden Fungusgebilde hervor, die mich beim
ersten Anblicke lebhaft an die phantastischen Tropfsteinformen der
fränkischen Jurakalkhöhlen erinnerten. Betrachtet man sie
näher, so sind es lange, rankige, klebrige Wuchergebilde, zu
Guirlanden verschlungen, hie und da zu weichselzöpfigen
Klumpen geballt. Ich bat, mir eine Probe dieses gespenstischen
Gewächses mitnehmen zu dürfen, aber der Führer schlug
meine Wunsch rund ab. Es soll nämlich ein Aberglaube damit
verknüpft sein, in Beziehung auf das Blühen und Reifen des
Weines unter diesem in der Finstemiss vegetirenden Schutz-
dache; daher hüten die Küfer die Pflanzen ängstlich, als wären
sie die Wohnstätte eines guten Hausgeistes.
Zu unserem Heile gedachten wir vor diesen einladenden
Fässern, gewisser Erfahrungen, die bei früheren Keller-
proben im schönen Rheingau erworben waren, und machten
von unserem »Tasting order«, der Erlaubniss zum Kosten
des vorzüglichen Portweins oder Sherry, welche meinem
Wegiveiser ein befreundeter Weinhändler ausgestellt hatte,
nur den allerbescheidensten Gebrauch.
Erst mit der sinkenden Sonne stiegen wir wieder zum
Tageslicht empor und betraten den grossen Hof zwischen dem
Die Trinkkrankheit in England. 127
Eingange der Docks und der stark dampfenden >Pfeife der
Königin«, dem grossen Schornstein in dem alle verdorbenen,
gefälschten und confiscirten Waaren, namentlich Tabak, ver-
brannt werden. Der weite Platz war dicht gefüllt mit ge-
drängten Gruppen von Arbeitern die hier ausgelohnt 'wurden-
Etwa dreitausend Männer samriieln sich an jedem Morgen vor
dem Tliore der London Docks: jeder Geschäftsherr miethet
die ihm für den Tag nothigen Kräfte; gegen Abend werden
sie ausgelohnt und vor Dunkelwerden müssen die Docks von
allen Fremden geräumt sein.
So strömten diese verschiedenen Menschenknäuel jetzt
gleichzeitig hinaus und wir folgten dem dichten Schwärme der
kraftvollen, rauhen, wilden, aber auch verwüsteten und unheim-
lichen Gestalten. Langsam zogen wir so wieder Towerhill
hinan, links die thurmhohen Mauern der St. Katharine Docks,
rechts eine lange Reihe schmaler Häuser, deren untere Geschosse
fast ausschliesslich von Schanklocalen eingenommen werden:
grosse und kleine, saubere und schmutzige, theils noch dunkel
theils in eben aufflammender Gasbeleuchtung. An den Thüren
blieben die Arbeiter in Haufen stehen, zählten ihr Geld, Weiber
gesellten sich zu ihnen, mit und ohne Kinder; nach und nach
vertheilten sich alle in die lange Reihe der Bier- un^ Brannt-
weinschänken, aus denen bereits verworrener Lärm hervorquoll.
Still betrachtete ich dieses traurige Schauspiel; die systematische
Versuchung und Ausplünderung hier so unmittelbar und unaus-
weichlich an den Weg gelegt. Ein giftiger Pfuhl, in dem die
Väter und die jungen Männer schon mit Behagen schwimmen
und, wie sie selbst hineingezogen wurden, nun Frauen und
Kinder nach sich ziehen.
„Wollen wir nicht einmal eintreten?" fragte mein Begleiter.
„Hier sehen Sie die Branntweinpest in ihrer vollsten Blüthe;
es giebt wohl nirgends in England furchtbarere Zustände als
hier in den Umgebungen der Docks. Zu der sesshaften, hart
arbeitenden rohen und gesetzlosen Bevölkerung an den beiden
Themseufem gesellen sich die frisch ausgelohnten Mannschaften
der unzähligen, einlaufenden Seeschiffe; weisse, gelbe und
schwarze Menschen, von allen Winden zusammengefegt, die
sich, wie die wilden Thiere aus den Käfigen, in den wüsten
12o Die Trinkkrankheit in England,
Rausch der langentbehrten Freuden und Genüsse des uner-
schöpflichen Welthafens stürzen".
Wir traten in ein geräumiges Schankzimmer, in dessen
Hintergründe eine dichte Menschenmauer von Männern und
Weibern die Bar umdrängte, trinkend, schreiend, lachend,
streitend. Alle in ihrer Art Bilder der Verwahrlosung, mehr
oder minder gezeichnet mit der Blässe und Röthe gewohnheits-
mässiger alkoholischer Ausschweifung.
„Hier werden Sie kaum eine für Sie geniessbare Er-
frischung finden", flüsterte mir mein Führer in diesen Ort der
Verdammten zu, „hier giebt es nur Gin mit 65 Procenten
Alkohol, das Liter kostet 3 Mark. Das mildere Getränk, ,Gin
und Wasser* hat immer noch 50 Procente Alkohol imd kostet
2 Mark 50 Pfg. Für schwache Gemüther und verzärtelte
Gaumen • giebt es hier auch ein scharf gewürztes und stark
alkoholisirtes sogenanntes Ingwerbier**.
Im vojderen Theile des Raumes, wo wir standen, sassen
auf Bänken und Fässern einzelne Gruppen, die jetzt anfingen uns
zu beachten. Wüste Gesellen, bleiche hagere Gesichter, schmale
Trinkerstimen, schlaffe Züge, blutunterlaufene gläserne Augen;
narbig, einäugig, verstümmelt, von Schmutz starrend — noch
wüster ihre bedenklichen Begleiterinnen. Ihr Willkommen glich
etwa dem wohlwollenden Ausdrucke, mit dem der Stier dem un-
gebetenen Besucher seiner Weidekgppel entgegenstarrt, bevor er
anläuft. Jeder Fremde, der das Aeussere der besseren Stände
trägt, ist hier verdächtig, mindestens lästig. Mir drängte sich
entschieden das Bedürfniss nach einem rechtzeitigen Rückzuge
jenseit des Thorwegs der Koppel auf Hat man sich jedoch
durch einen unbedachten Schritt vorwärts in eine falsche
Stellung gebracht und möchte nun gern mit guter Manier
wieder heraus, ohne seinen Fehler einzuräumen, so kann man
bekanntlich ziemlich sicher darauf rechnen, nochmals etwas
Ungeschicktes oder Lächerliches zu begehen. Auch ich gerieth,
fürchte ich, in diesen Fall.
Ich zog nämlich möglichst unbefangen meine Taschenuhr
heraus und stellte sie nach dem grossen Zifferblatte über dem
Schanktische, als ob dieses Geschäft der eigentliche Zweck
meiner Anwesenheit sei. Dann verliess ich mit gemessener
Würde — wie ich hoffe — das Lokal.
Die Trinkkrankheit in England, 129
Als wir draussen standen, fragte mein Begleiter lächelnd:
„es war Ihnen wohl nicht ganz heimlich da drinnen?'*
„Sie meinen: ob ich Furcht hatte? — wenigstens war ich
auf dem besten Wege dazu. Das Schauspiel an sich war mir
ekelhaft und grausig; nebenbei überkam mich das Gefühl,
persönlich unwillkommen zu sein und es drängte mich, dem
thatsächlichen Ausdrucke dieser bedenklichen Stimmung zeitig
vorzubeugen imd auszuweichen".
„Nun", beruhigte mich mein Gefahrte, „in jetziger Tages-
zeit hat es wohl keine Gefahr, falls man sich still verhält;
einige Stunden später jedoch, wenn der grösste Theil dieser
Schänken mit mehr oder weniger viehisch betrunkenen Männern
und Weibern gefüllt ist, würde ich, ohne die Begleitung eines
Policeman, Sie nicht dort hinein, nicht einmal durch diese
Strassen führen. Schon mancher Fremde ist hier Nachts ver-
schwunden und später ausgeraubt in der Themse aufgefischt
oder, um die Sache »aktenmässig« zu erledigen, in der Polizei-
liste als »heimlich an Bord eines Westindienfahrers gegangen«
aus der Reihe der Lebendigen gelöscht worden". —
Wir wanderten inzwischen die lange, enge, dunkle Thames-
street hinauf, an deren Eingange die endlosen Gebäude des
Custojnhouse und der neuen eleganten Fischhalle von Billings-
gate hervorragen, einer sehr vergrösserten Nachahmung der
Loggia dei Lanzi und berühmt als die Pflanzschule des ur-
wüchsigen, kernigen „Billingsgate-Englisch", eine der mannig-
fachen Kraftleistungen der hier regierenden Fischdamen. Die
ganze Gegend ringsum ist eingehüllt in eine ewige Dunstwolke
von condensirtem Seefischgeruch. Nur langsam konnten wir
uns vor\^^ärts schieben, denn Thamesstreet ist der Mittelpunkt
des geschäftlichen Strudels. Vor jedem der hohen Waaren-
speicher mit den engen Fensterspalten und weiten Luken
fahren am schweren Krahne die rasselnden Ketten auf und
nieder und beladen die cyclopischen Rollwagen, mit den
titanischen Clydesdalepf erden bespannt. Und jetzt ist diese
ganze lärmende Welt doppelt hastig und treibend, denn auch
hier nahet der Feierabend.
Es ward inzwischen dunkel und das Gas begann zu
herrschen.
„Sehen Sie dort?" sagte mein Führer, rechts und links in
Ompteda, L. v., Bilder. 9
130 Die Trinkkrankheit in England,
die Nebenstrassen weisend, „überall Schänken! Namentlich
verkriechen sie sich gern in die noch schmäleren Zwischen-
gässchen, Durchgänge und Höfe. Hier ist noch Matrosen-
quartier. Hören Sie das wüste Toben? Ein wahrer Hexen-
sabbath. Es erinnert an den Hamburger Berg, aber hier wird
nicht getanzt Hier ziehen die ausgelohnten Matrosen mit
elenden Weibern, die sich an sie hängen, von einer Kneipe
zur andern ; die verderbliche, amerikanische Sitte des „Traktirens"
verdoppelt die Consumtion; so — und anders — werden die
Theerjacken hier ausgeplündert, verthieren förmlich durch die,
Tage lang fortgesetzte, alkoholische Vergiftung und endlich
kommt das Messer an die Arbeit! — — "
, Jetzt", unterbrach ich ihn, mich umsehend, „jetzt wird mir
ein schauderhafter Bericht klar, den ich dieser Tage in der
Times las, über eine Sitzung des Central-Criminalgerichtes; denn
hier ist die leibhaftige Bühne, auf welcher die drei blutigen
Acte spielten, die dort an einem einzigen Morgen ihre juristische
tragische Vergeltung fanden. Solche Schauergeschichten ge-
winnen einen eigenen, gruselnden Reiz, wenn man auf dem
Flecke steht, wo sie verliefen. Eine rohe, schwere Verwundung
im Rausche: fünf Jahr Zuchthaus; ein Mordanfall im Rausche:
zehn Jahr Zuchthaus; ein Mord: Todesstrafe. Der Mörder war
ein amerikanischer Matrose, gar nicht mehr jung, schon 34 Jahre
alt, der im Wahnsinne fortgesetzter Alkoholvergiftung, übrigens
aber eigentlich mit kaltem Blute, einem schlechten Weibe, mit
dem er Tage lang umhergezogen war und das ihn völlig aus-
geraubt hatte, während sie am Schanktische standen und zu-
sammen tranken, unversehens mit seinem Rasirmesser den Hals
bis zum Wirbel abschnitt. Der Mann blieb ganz ruhig am Orte
der That, es war Nachmittags zwei Uhr, und erwiderte dem
Policeman: „Ich that es, weil sie mich ausgeplündert hatte und
mich nun nicht freihalten wollte!"
„Der unglückliche Bursche, James Simms war sein Name,
ist bereits in Newgate gehängt worden", ergänzte mein Be-
gleiter, „und zwar: »an seinem Halse bis er todt ist«, so heisst
es hier in den Urtheilen, mit der lobenswerthen, wörtlichen
Genauigkeit und Vorsicht der englischen Jurisprudenz'*.
Inzwischen waren wir bei Londonbridge an Bord des kleinen
Dampfers gegangen, der uns rasch zum Westminster Pier
Die Trinkkrankheit in England» 131
brachte. Mit beträchtlichem Behagen, mit dem erquickenden,
Oefuhle der Befreiung, wie wenn ich einer dunstigen schlammigen
Höhle entstiegen wäre, erfreute ich mich der reineren Atmo-
sphäre auf dem nebel- und raucherfüllten Strome, dieser ältesten
und immer noch grossten und belebtesten Strasse der Weltstadt.
Andere, gesundere Bilder traten vor das Auge und ihr reicher
Wechsel verwischte die tiefen Schlagschatten des unheimlichen
Nachtstückes, welches hinter uns versunken war. Rings um
uns das wimmelnde Gedränge der zahllosen, vollbesetzten
pfeilschnellen, in allen Richtungen vorüberschiessenden Dampf-
boote; über unseren Häuptern der Donner der auf den eisernen
Brücken hin und wieder jagenden Züge; rechts die Hunderte
von Kirchthürmen auf der dichten unabsehbaren Fläche der
Hausdächer, und über allen die Kuppel von St. Paul; am Ufer
die alten Speicherhäuser mit ihren nie rastenden Krahnen;
dann der Tempelgarten, in welchem die für England so ver-
hängnissvollen weissen und rothen Rosen gepflückt wurden;
darauf weithingestreckt das riesige Somersethouse, das in einem
seiner Flügel eine ganze Universität, Kings College, ausreichend
beherbergt. In den Kellern befindet sich eine Bibliothek kost-
barer Riesenfolianten, wie wohl keine zweite in der Welt.
Es sind die Archive der General-Registratur des Königreiches
für alle Geburten, Heirathen und Sterbefälle in Grossbritannien
und Irland seit mehr als hundert Jahren. Endlich die breiten,
gartenartigen und doch vom städtischen Leben eng erfüllten
neuen Themsequais, die Albert Embankments, über denen die
eben aus tausendjährigem Schlafe erwachte Nadel der Kleo-
patra sich verwundert umschaut, während unter ihnen die
städtische Untergrund -Eisenbahn entlang donnert. Im Schatten
der monumentalen reichen Gothik von Westminster Palace,
einst die Residenz der Könige, von Edward dem Bekenner
{1045) ^is zu Heinrich VIII. (1509), jetzt des Parlamentes,
stiegen wir an's Land, als die erleuchteten, blau und goldenen
Zifferblätter des Victoriathurms bereits im hellen Glänze die
Stunde des Dinners im Westend anzeigten. —
Es war Mittemacht geworden, als wir das Covent- Garden
Theater verliessen, wo die Patti mit Nicolini die ausgewählteste
Gesellschaft Londons im Troubadour begeistert hatte. Langsam
schlenderten wir mit dem Menschenstrome Long Acre, Leicester
9*
132 Die Trinkkrankheit in England,
Square und Coventrystreet entlang. Um diese Stunde sind
auch im eleganten Westend, selbst während der Season, die
Strassen dunkel imd einsam; die reichen Läden werden schon
gegen acht Uhr geschlossen und heitere BoulevardkaiFees g^ebt
es in London nicht Plötzlich fallen unsere Augen auf eine
himmelhohe, schwarze Erscheinung, die neben dem Trottoir in
die Nacht emporragt. Es sind die Rettungsleitem der Feuer-
wehr, die an jedem Abende an den bestimmten Plätzen aut-
gefahren werden. Daneben sitzen die Wächter in kleinen
Holzhiitten, die ebenfalls allnächtlich auf Rollen herbeikommen
und Morgens wieder verschwinden. Nur hie und da, nament-
lich an den Strassenecken, strahlt uns Lichtglanz entgegen;
ein unruhiger Menschenknäuel schwärmt dort, wie ein Bienen-
volk, am weit geöffneten Eingange geräumiger, erleuchteter
Lokale, Hohe Krystallscheiben, innen zuviel Vergoldung,
Thüren aus mattgeschUffenem Glase, überladene Candelaber.
Das sind die modernen eleganten Trinkhäuser, die „Ginpaläste".
Am stärksten ist das Gedränge in Haymarket und am Eingange
von Windmillstreet, bis vor kurzem übelberufen durch die
bekannten Argyllrooms, eine importirte grobe Nachahmung
von Mabille.
Hier werden unsere Schritte gehemmt durch Ansammlungen
armer, verlorener Menschenkinder mit getünchter Jugend und
abgelebten Flittem, die hier, hoffnungslos und „gerichtet", in
Nacht und Elend umherschweifen. Jeder Vorübergehende wird
angesprochen und, falls er nicht stumm ausbiegt, durch allerlei
zudringliche Listen, namentlich durch plötzliches Entführen des
'Hutes, festgehalten, um die elenden Wesen in die glänzende
Schnapsschänke, vor der wir stehen, zu geleiten und dort zu
„traktiren". Eine dichte Menge, meistens im Nebel eines ekel-
haften Halbrausches, strömt um uns aus und ein. Wir kaufen
uns mit einigen Schillingen los, die sofort in den Ginpalast
getragen und dem Moloch geopfert werden. Wir aber flüchten
in unseren stillen Club in King Street St. James's und ruhen
hier am Kamine in den tiefen, lederbezogenen Lehnstühlen von
den Strapazen und Vergnügungen des Tages aus, behaglich
eine Sodalimonade schlürfend.
Nachdem die, uns schon von Alters her bekannte Diva
Die Trinkkrankheit in England. 133
und ihr neuester Gatte bald erledigt waren, sagte mein freund-
licher Wegweiser anknüpfend an die heutigen Tagesfahrten:
„Ja, London ist die Heimath der Contraste. Und alles
tritt hier riesenhaft auf, so auch die Laster. Wir haben heute
im Osten und im Westen der Metropole Blicke auf eine der
dunkelsten Stellen des englischen Lebens geworfen. Was wir
sahen, hat ja bereits eine traurige Weltberühmtheit erlangt.
Die Kanzel brandmarkt es donnernd als „Nationalsünde"; die
Politiker und Volkswirthe bezeichnen es in etwas verweltlichter
Form als: die „Nationalkrankheit", als: „das grösste Hindemiss
auf dem Wege der Nation zum Fortschritte und zum Wohl-
ergehen". Die „Trinkfrage" ist eine der bedeutendsten Partei-
fragen im Parlamente geworden, eine der unangenehmsten
Schwierigkeiten für die jetzige Regierung. Sie beschäftigt
einen nicht geringen Theil aller öffentlichen Meetings, sie wird
ein Kampfruf für die nächsten Wahlen sein und eine harte
Nuss, wohl auch ein „stumbling-stone" für manchen Candidaten!
„Sie sagen da etwas", warf ich ein, „was mich erstaunt.
„Wie kann ein Streit der Meinungen bestehen über die Frage :
dass die Nation erkrankt ist und dass diese nationale Trink-
krankheit, die ärger wüthet als die Pest, mit allen Waffen be-
kämpft werden muss?"
„Ein Streit der Meinungen wohl kaum", erwiderte mein
Führer, „abÄ* ein Streit der materiellen Interessen. Und das
sind heut zu Tage die ernsten, die am schwersten zu lösenden
Confiicte. Wir führen ja wohl keine sogenannten Religions-
kriege mehr? — Denken Sie nur an die vielen reichen Brauer
und Branntweinbrenner, an die Hunderttausende von Schänk-
wirthen in den drei vereinigten Königreichen! Reichthum ist
Macht! In diesen Geschäften sind ungezählte Millionen, nach
unserem Gelde: Milliarden, angelegt; geht die Consumtion
rückwärts, so sind diese gefährdet, vielleicht verloren. Kürzlich
wurde der jährliche Nettogewinn für 1878 der grossen Brauer-
iirraa „Bass und Co.", deren Leistungen wir ja heute gewürdigt
haben, unter die acht Theilhaber vertheilt; er betrug: acht
Millionen viermal hunderttausend Mark. Etwa die
Jahreseinahme der königlichen Civilliste und der reichsten
Peers, der Herzöge von Westminster, Northumberland und
Bedfort — wie man sagt. Das sind die Feldherren der Ligue.
134 Die Trinkkrankheit in England,
Und die Armee? In der Stadt Birmingham leben 190a
Familien, in Manchester deren 2567 allein vom Getränk-
geschäfte. Dort hat jedes zwei und dreissigste Haus eine
Schankconcession; es fallt also je eine auf einhundert funf-
unddreissig Einwohner. In Bristol hat jedes dreiundzwanzigste
Haus eine Schanklicenz, darunter viele Schneider und Schuster,
selbst Pfandleiher. Und sie alle kämpfen selbstredend gegen
jede Verminderung ihres Absatzes".
„Gewiss", räumte ich ein, „die Partei der erhaltenden
Kräfte in dieser Frage muss ein riesenhaftes Beharrungsver-
mögen entwickeln können: die Brauer- und Brennerfiirsten mit
der ganzen Heeresfolge der Schänkwirthe".
„Und die Gäste nicht zu vergessen", ergänzte der londoner
Landsmann.
„Seltsam ist es nur**, warf ich ein, „wie diese mächtigen
Herren so häufig gegen ihr eigenes Interesse predigen".
„Predigen?" fragte mein Führer verwundert, „das ist
mir neu".
„Nun", erklärte ich, „nicht in den Meetings der Temperance-
•Vereine; aber wenn sie in den Zeitungen einen Brauknecht
oder Fuhrmann suchen, so verlangen sie gewiss allemal
einen „nüchternen" zuverlässigen Mann. Mir scheint, sie
spotten ihrer selbst und wissen nicht: wie?" •
„Und", fuhr der Freund fort, „die Sache hat auch noch
einen anderen bösen Haken. Sie heisst nicht umsonst: »The
drink difficulty«. Sie hängt in gewisser Weise mit der nationalen
englischen Sabbathfeier zusammen, insofern als die Be-
strebungen der Temperenzler auch in der Richtung gehen:
am Sonntage die Trinklocale völUg zu schliessen. Nun kann
man aber doch auf die Länge den arbeitenden Klassen nicht
jedes Vergnügen am Sonntage entziehen; schliesst man die
Schänken, so wird desto eher anderes geöffnet werden müssen.
Schon jetzt klopft eine nicht unbeträchtliche, öffentliche
Meinung an die Thüren der Museen, Bibliotheken, Theater
und Concerthallen. Diese Milderung der strengen Sabbathfeier
bekämpft nun wieder die streng kirchliche Partei auf das
äusserste! Sie nennen das einen »continentalen Sonntag«.
Darunter versteht man hier ein ziemlich confuses und ein-
Die Trinkkrankheit in England, 135
seitiges Zerrbild unseres Lebens am Sonntage, womit man dann
sich selbst und seinen gläubigen Zuhörern bange macht".
„Aber warum eigentlich?" unterbrach ich. „Gewiss will
ich das leidige deutsche Kneipenleben, und die entsittlichenden
sonntäglichen Tanzböden nicht in Schutz nehmen. Warum
aber will man jene unschuldigen Vergnügungen nicht erlauben,
die wir anderswo als naturgemäss und heilsam befördern?"
,Ja, warum?** frug mein landeskundiger Freund zurück.
Dann fuhr er fort:
„Eigentlich wohl aus principiellem ConserTOtismus, um
überhaupt nicht an irgend einer einmal bestehenden kirchlichen
Einrichtung zu rütteln. Vielleicht gestehen, Ihnen gegenüber,
wenige Vollblut-Engländer offen ein — jedenfalls nicht gern —
dass der Sonntag in London nachgerade unerträglich geworden
ist; aber sehen Sie nur die Hunderttausende, die ihm auf allen
Wegen, zu Wasser und zu Lande, entfliehen. Zuweilen giebt
es aber dennoch Leute, die den Muth haben, dieses öffentliche
Geheimniss zu verrathen. Kürzlich las ich darüber in der
Times eine Aeusserung von einem sehr angesehenen und
wohlwollenden Manne, Mr. Clarke Aspinall, dem Coroner von
Liverpool. „Ich kenne kein Land", sagte er, „wo die Volks-
belustigungen so sparsam und so wenig anziehend sind als in
England. Auf dem jetzigen Standpunkte der geistigen und
künstlerischen Volksbildung", so heisst es dann weiter, „ist der
Geschmack unseres Volkes so roh und ungebildet, dass seine
Belustigungen fast nothwendig gemein werden und den
Anstand verletzen müssen. Es ist kein richtiges Verhältniss
zwischen der Einfuhr materieller und derjenigen intellectueller,
ausländischer Nahrungsmittel in unsere Häfen. — Wir Aus-
länder begreifen das alles nicht recht, ebensowenig wie vieles
andere hier zu Lande; ebensowenig wie wir etwa die hart-
näckige Abneigung der englischen Gesetzgebung verstehen,
die Ehe mit der Schwester der verstorbenen Frau zu gestatten".
„Allerdings, das ist wirklich sonderbar", stimmte ich zu,
„und allen anderen christlichen Völkern, so viel ich weiss,
eigentlich unverständlich. Nach unserer Anschauung ist ja die
Schwester die berufenste und natürlichste Stiefmutter.
Uebrigens habe ich in den, seit Jahren häufig wiederholten,
Parlamentsdebatten innere Gründe dagegen, die mir ernsthaft
136 Die Trinkkrankkeit in England,
erschienen wären, kaum gefunden. Denn die Berufung auf
das alte jüdische Gesetz reicht doch wohl nicht aus; dort, im
Leviticus i8, i8. steht nämlich: „Dusollst auch deines Weibes
Schwester nicht nehmen, neben ihr . . ."; dieser Vers beweist
also zuviel, er beweist eigentlich das Gegentheil. —
„Auch die Debatten über die Bekämpfung der Trunksucht",
fuhr mein Führer durch London fort, „sind nicht völlig ver-
ständlich, wenn man sich nicht dabei stets erinnert dass die
Auflösungf des Parlamentes in nicht ferner Zeit, spätestens am
Ende der nächsten Session in Aussicht steht. Da gehen nun
Conservative und Liberale schon jetzt mit sich zu Rathe: wie
sie sich die günstigste Stellung vor ihren gestrengen Wählern
schaffen wollen? Viele Anträge und Debatten über gewisse
wichtige und bestrittene Fragen bezwecken, schon jetzt nicht
sowohl ein sachliches Resultat als ein Manöver für den Wahl-
kampf. Man will sich selbst stärken und seine Gegner in
Verlegenheit bringen. So auch bei der Trinkfrage, also der
Frage nach den geeignetsten Massregeln, um dem allgemein
anerkannten Uebel der übermässigen Trunksucht, der „Trink-
krankheit" zu steuern. Die Betreibung dieser Massregeln liegt
jetzt wesentlich in den Händen der liberalen Partei, der
jetzigen Opposition. Ihre Stellung zu dieser Frage ist eine
sehr vortheilhafte denn im Principe widerspricht eigentlich
niemand: jeder wohldenkende Mann erkennt das Uebel an.
In vielen Wahlbezirken soll sogar eine bedeutende Majorität
vorhanden sein, die nur einen solchen Candidaten annehmen
wird der sich für bestimmte „Mässigkeits-" wenn auch nicht
gerade für die strengsten „Enthaltsamkeits"-Mas5regeln ver-
pflichtet. Hier also fallen die Forderungen des Gewissens mit
dem politischen Vortheile zusammen. Aber ebenso hoch, ja
noch weit bedeutender wird in vielen Wahlbezirken der
Einfiuss der Brauer und Brenner und der Schankwirthe nebst
ihren unzähligen Kunden mit Recht geschätzt. Bei diesen fallt
natürlich ein Candidat, der für wesentliche Beschränkungen
ihres Absatzes oder ihrer Neigungen gestimmt hat, ohne
Gnade durch. Im Laufe des letzten Jahres fanden vierund-
zwanzig Nachwahlen zum Parlamente statt. Bei einundzwanzig
Wahlen wurden von dem Candidaten bestimmte Erklärungen
über seine Stellung zur Temperance- Gesetzgebung gefordert
Die Trinkkrankheit in England. \oi
und gegeben. Bedenkt man diese fatale Zwangslage, so ver-
steht man erst die seltsame Erscheinung, dass in den letzten
Jahren die Redner der Majorität des Unterhauses stets mit
dem edlen Zwecke der Anträge gegen die „Trinkkrankheit"
übereinstimmten, aber leider immer just diejenigen Mittel und
Wege, welche grade vorgeschlagen wurden, aus allerlei
praktischen, speziellen, technischen, finanziellen Erwägungen
nicht vollständig zu billigen vermochten. — Da glaubt man
denn oft eine Rede über das bekannte Thema zu hören:
„Wasch* mir den Pelz und mach' mich nicht nass". — Sie
sehen, für diese armen Parlamentarier ist die Trinkfrage
wirklich eine „Trinkschwierigkeit". Was soll da ein gewissen-
hafter Mann und praktischer Charakter, der gern wieder
gewählt sein mochte, thun? Zu welchem Heiligen soll er
beten? Was soll die Regiemngspartei im Ganzen thun? —
Es ist daher höchst wahrscheinlich, dass die entscheidende
Schlacht über die „Trinkfi*age" erst im nächsten Parlameftte
geliefert werden wird". —
„Auch gewonnen für die Temperenzler?" fragte ich.
„Das scheint mir zweifellos. Die englische Nation ist in
ihrem Kerne so kräftig und so gesund in ihren Wurzeln, dass
sie ganz aus sich selbst den Heilungsprocess entwickelt hat.
Das Uebel ist freilich ein sehr tief eingewurzeltes; es ist schon
viele Generationen alt und ganz unglaublich verbreitet. Man
hat berechnet, dass allein durch die Schanklokale in London
die Strasse von hier nach Oxford, 75 Km., mit einer ge-
schlossenen Häuserreihe besetzt werden könnte. — Und dabei
bringt die Getränksteuer dem Staate jährlich etwa 650 Millionen
Mark ein ! Wie soll sich nun ein gewissenhafter Finanzminister
dazu stellen, wie das ersetzen? Was Wunder also, dass die
Heilung noch aussteht, trotzdem die ersten Symptome der
Besserung schon vor mehr denn dreissig Jahren auftraten".
„Und wie begann es, bitte?" fragte ich weiter.
„Der erste Keim war recht unbedeutend. Am nächsten
war die Hilfe dort, wo die Noth am grössten war: in Irland.
Für England bildete sich der Kern der Bewegung in Man-
chester und jetzt ist diese „Temperance-Bewegung" unter der
Führung des mächtigen Centralvereins, der »United Kingdom
V
138 Die Trinkkrankheit in England,
Alliance«, durch die drei vereinigten Königreiche überall hin
verbreitet". —
„Gewiss", erwiderte ich, „auch im Auslande ist die englische
Trinkfrage keinem Zeitungsleser völlig fremd; hat man aber
solche Krankheitsbilder gesehen wie ich heute, dann wird die
Frage noch ganz anders gegenständlich. Ich meine, solcher
Augenschein muss das Interesse eines jeden reizen, dieser
nationalen Lebensfrage, die auch bei uns in Deutschland noch
keineswegs ausreichend beantwortet ist, näher zu treten. Sie,
verehrter Landsmann, scheinen mir ziemlich tief eingeweiht
zu sein?"
„Mich hat", so schloss mein Wegweiser diese anziehende
und belehrende Unterhaltung am Kamin, „mich hat zunächst
die Art und Weise angezogen, in der hier gegen diesen Feind
gerüstet und mobil gemacht wird. Sie ist völlig abweichend
von dem Ausgangspunkte und dem Verlaufe, den solche Be-
wTBgungen, wenigstens zu meiner Zeit, in Deutschland zu haben
pflegten; ich meine: von oben her und officiell. Oder ist das
jetzt etwa anders geworden?"
„Nun", antwortete ich bescheiden, „wir haben uns doch in-
zwischen bemüht, selbständig gehen zu lernen. Ohne einiges Irren
und Stolpern und ohne unseren grossen wegkundigen Führer
geht es dabei natürlich auch bei uns noch nicht vorwärts. Wir
sind ja leider! von Urväter Zeiten her zu sehr gewöhnt: ein
jeder „selbständig" seinen Weg schlendern und sein Princip
reiten zu wollen.
„Zufällig", so fuhr der Landsmann in seiner Schlussrede
fort, „kenne ich den Secretär der »United Kingdom Alliance«,
Mr. Barker. Durch seine Gefälligkeit habe ich mir eine ziemlich
vollständige Uebersicht verschafft über die Thätigkeit der
Temperenzler: in der Presse, in Vereinen, Gesellschaften,
Meetings und im Parlamente. Ich bin dabei einer tief be-
trübenden Erscheinung, aber auch einer Leistung von seltener
Grossartigkeit begegnet. —
„Indessen jetzt ist es Ein Uhr Nachts", schloss er, aufstehend,
.,und »wir müssen's diesmal wirklich unterbrechen«. Ich schicke
Ihnen lieber meinen Papiervorrath in Ihr Hotel; vielleicht sehen
Sie ihn an einem der nächsten Regentage einmal durch". —
Glücklicherweise trat diese Gelegenheit zu häuslichem
Die Trinkkrankheit in England, lo9
Fleisse während meines Aufenthaltes in England nicht mehr
ein. Ich nahm daher die Papiere mit in die Heimath und will
nun versuchen, hier eine Uebersicht ihres überraschenden, ihres
traurigen aber grossartigen Inhaltes zu geben.
I. Die Krankheit.
Die englische Gesetzgebung über den Verkauf alkoholischer
Getränke ist so aussergewohnlich verwickelt, dass selbst die
officiellen Aktenstücke kaum ausreichen, um dieses Chaos völlig
klar zu stellen. Lange Reihen von Gesetzen, beginnend im
Jahre 1 504, werden aufgezählt, die den Verkauf von Wein, Bier
und Branntwein zum besten Vortheile des Fiskus und zum
geringsten Nachtheile für die Producenten und Consumenten
regeln sollen. Diese Vorschriften stimmen in den drei König-
reichen keineswegs überein, sie verbieten in Irland oder Schott-
land was wiederum in England erlaubt ist. Bedeutende Kenner
dieser Gesetze schätzen dieselben auf sechshundert Nummern.
Jedenfalls kann man nicht behaupten: die Staats -Heilkünstler
seien auf diesem Felde unthätig gewesen.
Fragen wir also nach den Früchten dieser Thätigkeit,
betrachten wir den gegenwärtigen Stand der Trinkkrankheit.
Nach dem neuesten Berichte des vom Oberhause fiir deren
Beobachtung eingesetzten Ausschusses, vom März 1879, waren
im vereinigten Königreiche concessionirt :
im Jahre 1860: 156,700 SchaDklokale
• » 1870: 185,100 •
- • I876: 216,000
In der letzteren Zahl sind 36,000 Licenzen für den Ver-
kauf ausser dem Hause einbegriffen.
Grossbritannien und Irland hat 33 Millionen Einwohner, es
fönt daher auf 150 Einwohner eine Schanklicenz. Diese
Concessionen wurden früher ohne Zeiteinschränkung ertheilt;
eine jede wird zwar alle drei Jahre obrigkeitlich geprüft, falls
aber nicht gegen den Wirth bereits drei Verurtheilungen vor-
liegen, läuft sein Licenz stetig weiter. Seit den letzten Jahren
erst werden neue Concessionen fast nur »auf Zeit« gegeben,
meistens auf ein Jahr, dann werden sie zwar geprüft aber fast
stets erneuert. Als wesentlicher Punkt des ganzen Systems
is>t hervorzuheben : dass die Bedürfnissfragein grossen Städten
140
Die Trinkkrankheit in England,
gar nicht, auf dem Lande im allgemeinen nur sehr beiläufig
erörtert wird. In der neueren Gesetzgebung ist ein gewisses
Schwanken und Tasten bei diesem Concessionswesen nicht zu
verkennen. Man hat gesetzliche Einschränkungen nach und
nach in den verschiedensten Formen angewandt, aber immer
zeigte sich wieder, dass man nicht an die Wurzel des Uebels
gelangt war, das man nur hie und da einen Missbrauch beschnitten
habe neben dem dann ein anderer, durch irgend eine neue
entdeckte Lücke im Gesetz, wieder frei und fröhlich empor-
schoss.
Die officiellen Listen über die Einnahmen aus den Ein-
gangszöllen und aus der inländischen Getränksteuer ergeben
folgende
Consumtion von Spirituosen:
1860.
Millionen
Liter.
1870. 1876. 1877. . 1878.
Millionen
Liter.
Millionen Millionen 1 Millionen
Liter. ' Liter. Liter.
Englischer Branntwein
Fremder Branntwein
Englischer Wein und Cider,
Fremder Wein
Biere
' 96.30
101,70
135,00
134,46
24,75
37.80
51,75
• 48,37
56,25
67,50
78,75
78.75
30,50
68,00
83,70
76,50
3033.90
4255,30
5100,00
4901,85
132,08
46,89
72,90
5027,85
3241,70 ; 4530,30 j 5449,20 I 5239,93 , 5358,47
Im Jahre 1878 entfiel also auf jeden Kopf der Bevölkerung
{11,2 Millionen) ein Consum von 162 Litern.
Die Ausgabe hierfür betrug:
im Jahre 1860: 1684 Mill. Mk.; Einwohner: 28,7 Mill.; auf den Kopf: 58 Mk.
* * 3^,2 ■ • » • 76 •
« * 32,4 * « • « 92 »
» t 33,0 « » • » 86 •
33,2 . . . . 86 '*»
Der Zuwachs der Bevölkerung betrug von 1860 — 1878:
17 Procent.
1870: 2376
1876: 2944
1877: 2840
1878: 2844
♦) Im Jahre 1879 sank die
Consumtion
von englischem Branntwein auf
s fremdem s •
s 9 Wein s
s Bier s
125,77 Mill. Liter
42,97 '
67,27 =
4134,65 *
Die Ausgabe fiel auf 2563 Millionen Mark; also 77 Mark auf den Kopf.
Die Trinhkrankkeit in England, 141
■
Der Zuwachs der Ausgaben für berauschende Getränke
betrug: 60 Procent.
Nun aber weisen die vereinigten Temperance-Gesellschaften
eine Mitgliederzahl von 4,7 Millionen Köpfen auf; es beträgt
also die Alkohol trinkende Bevölkerung nur 29 Millionen.
Wir wollen mit dieser letzteren Nettozahl der Trinker die
vorstehenden procentischen Rechnungen nicht wiederholen,
die gefiindenen Zahlen sprechen wohl schon ohnehin deutlich
genug. Fragen wir aber: was trinken denn die 4,7 Millionen
Temperenzler? so giebt die Antwort der
Theeconsum
der von 2,5 Pfd. auf den Kopf im Jahre 1860
gestiegen ist auf 4,5 • » • • • • 1878.*)
Damit wir jedoch nicht in Versuchung gerathen, das Dankgebet des Pharisäers
anzustimmen, bitte ich nachstehende kleine Tabelle über den Bierconsum in der
Stadt München zu vergleichen.
Ertrag' der Staats- Steuerlast
Getrunkenes Geldaufwand Einwohner- auf den Kopf u. Gemeindesteuern per Kopf
Bier Liter Mk. zahl Liter Mk. *Mk. Mk.
1876 95,94 Mill. 24,86 Mill. 198,000 484 125,84 2,5 Millionen 12,5
1877 95.13 ' 24,26 . 215,000 441 112,40 — . . —
(einschliessl. neue
Vorstadt Sendung.)
*) Im Jahre 1879 betrug die Ausgabe für Thee: 321 Mill. Mark.
Die Minderausgabe für alkoholische Getränke war: 280 Mill. Mark = 9,8^/0;
dagegen ergab sich eine Mehrausgabe fiir Thee, Kaffee und Cacao: 8,4 Mill. Mark
= 2,3<>/o. Die Steigerung des Verbrauchs von Thee war: 1,5 Mill. K; von Kaffee:
650,000 K; von Cacao: 100,000 K.
Eis hat sich nun neuerdings ein Streit darüber entsponnen: ob diese Minder-
und Mehrausgabe den steigenden Mässigkeitsgewohnheiten oder dem Zwange der
gesunkenen Kaufkraft der Consumenten zuzuschreiben sei ? Die Verfechter der letzteren
Ansicht behaupten; i) seit vierzig Jahren sei der Verbrauch von Fleisch und
Spirituosen immer mit den sogenannten guten und schlechten Zeiten gestiegen und
gefallen; 2) der Verbrauch von Thee (Zucker und Tabak) sei stetig gestiegen, denn
die Pinte Bier (= 16 Pfennige) werde bereits ersetzt durch eine Ausgabe von
4 Pfennigen für Thee und Zucker. 3) Zutreffender als Massstab für die Nüchternheit
eines Volkes, als der Verbrauch des Thees, sei der des Kaffees. Letzterer betrage
raf den Kopf der Bevölkenmg: in den Vereinigten Staaten = 3 K; in England
= 0,56 K; in Frankreich = 1,25 K; in Deutschland und Oesterreich = 2,25 K;
in den Niederlanden = 4,50 K (?). — Diese Frage wird sich aus der Statistik
allein nicht entscheiden lassen, da auch hier ohne Zweifel eine Mischung zusammen-
gesetzter Motive wirkt. Immerhin darf man hoffen: die zunächst aus Zwang geübte
Massigkeit werde vielfach zur besseren Gewohnheit werden durch die zunehmende
Erkenntniss, dass Alkohol zwar ein ganz brauchbarer Diener aber ein
gefährlicher Herr ist. (Mai, 1880.)
142 Die Trinkkrankheit in England.
Forschen wir nach den Wirkungen des Alkoholconsums,
so liefert uns die Kriminalstatistik erschreckende Antworten,
aus denen ich nur folgende sporadische Notizen hier wieder-
geben will:
1. Die Polizei hat aufgegriffen in England und Wales:
im Jahre 1860 etwa 88,000 TrunklalUge
1870 « 131,000
« • I875 « 204,000 « «
2. In London wurden im Jahre 1875 arretirt:
wegen einfacher Trunkenheit ) \'\ ,,^ .P ^
^ ^ \ 7525 \Veiber
wegen Vergehens in der Trunkenheit < ^ ^ ^JJ '\^^
In Liverpool (520,000 Einwohner) wurden aus denselben
Veranlassungen
in den Jahren 1872 und 1873 arretirt j '3438 Männer
In Edinburgh (jetzt 200,000 Einwohner) w^urden wegen
Trunkenheit arretirt:
im Jahre 1871 5400 Personen
• 1877 7733
Hier fand also eine Steigerung statt von 33 Procent, die
Bevölkerung war inzwischen gestiegen um 5 Procent.
Im Jahre 1876 wurde in der Stadt Limerick, in Irland,
wegen Trunkenheit arretirt: je der zwölfte Einwohner; im
Jahre 1877: je der sechzehnte.
3. Seit 1860 bis 1876 sind gestiegen:
die Trunkfälligkeit der Kinder iinter 16 Jahren um: 130 Procent.
der Säuferwahnsinn um : 67
die Verarmung um 78 >
andere Verbrechen etwa um 40 Procent. *)
4. Binnen 18 Jahren hat sich die Steuerlast des Landes
für Gefangnisse und Irrenhäuser verdoppelt.
5. Und woher erklärt sich diese furchtbare Steigerung der
„Trinkkrankheit"? Die Trinkgelegenheiten waren binnen 16
Jahren von 156,700 vermehrt auf 216,200. Im Jahre 1860
*) Die genaue Uebersicht der Steigerung ist folgende:
x86o 1870 I876
Trunkfälligkeit 88,361 I3ii370 203,989
Angriffe auf die Polizei 86,448 107,127 122,913
Säuferw'ahnsinn ^. . 38,058 54.723 63,793
212,867 293,210 390,595-
Die Trinkkranbheü in England, 143
existirte erst auf 184 Köpfe, im Jahre 1876 schon auf 134 Köpfe
eine Concession: die Orte der Versuchung waren vermehrt um
38 Procent
Diese einfachen nackten Ziffern sind das Ergebniss ziemlich
mühevoller Ermittelungen. Ich habe sie grösstentheils ent-
nommen aus dem im März 1879 erschienenen Berichte
des Ausschusses des Oberhauses. Dieser Bericht enthält
56 Quartseiten Text und 4 Foliobände Anlagen, mit insgesammt
1680 Seiten. Der Ausschuss hat 108 Zeugen und Sachver-
ständige protokollarisch vernommen; es fliesst hier also eine
fast überreiche Quelle, an der schöpfend man grosse Enthalt-
samkeit üben muss.
Indessen giebt es auch in dieser Frage Statistiker, die
anders rechnen und zu dem Resultate kommen möchten: die
That Sache des übermässigen Genusses von Spirituosen
überhaupt zu leugnen. Einer dieser sonderbaren Heiligen
schreibt neulich an die Times: „Wenn man die gesammte
jährliche Consumtion von Spirituosen unter die erwachsene
Bevölkerung vertheilt, so kommt auf den Kopf täglich nicht
mehr Alkohol, als drei Gläser Sherry (ein starker Import- und
noch stärkerer Fabrikationsartikel in England) enthalten, was
doch gewiss nur ein massiger Genuss ist". Ein anderer
erzählt von der Massigkeit, welche er und seine Freunde beim
Lunch in ihrem Club entfalten ; dann berechnet er die jährliche
Ausgabe eines jeden von ihnen für diese massige Consumtion
auf etwa 200 Mark und gelangt von da aus zu dem über-
raschenden Ergebnisse: dass eigentlich etwa erst 7000 Millionen
Mark (Statt 2844 Millionen) diejenige Summe sei, die alljährlich
vernünftiger und massiger Weise in den vereinigten König-
reichen vertrunken werden dürfe I
6. Als die United Kingdom AUiance anfing Statistik zu
machen, standen deren Ergebnisse häufig im grellsten Wider-
spruche mit denen der Polizeibehörden. Die letzteren con-
statirten damals regelmässig: Abnahme der Krankheit. Die
United Kingdom Alliance organisirte daher eine besondere
Ueberwachung der Trinker und der Trunkfalligkeit, zunächst
in Birmingham. Diese Controle gab folgende seltsame Re-
sultate. Die Gesellschaft liess 35 Trinklokale in verschiedenen
Stadttheilen durch intelligente und zuverlässige Männer an
144
Die Trinkkrankheit in England,
einem Sonnabend überwachen. Es traten an diesem Tage aus
diesen Trinkstellen:
9159 Männer und 5006 Frauen
davon waren 662 * » 176
also zusammen 838 Personen zweifellos schwer betrunken.
An diesem nämlichen Tage arretirten die Beamten der regel-
mässigen Polizei in ganz Birmingham (360,000 Einwohner): 29
Betrunkene.
In diesem Falle darf indessen nicht übersehen werden, dass
nicht nur von den Besuchern im allgemeinen sondern auch
von den 838 Schwertrunkenen viele die Trinklokale mehrere
Male verliessen, indem sie sich inzwischen umhertrieben und
ab und zuliefen.
Eine zweite interessante Probe wurde, ebenfalls in
Birmingham, mit 51 Schanklokalen angestellt, auch an einem
Sonnabend, während dreier Abendstunden. Man zählte aus
diesen Lokalen heraus: 1 5,096 Personen, darunter 1436 Schwer-
trunkene. An demselben Sonnabend arretirte die Polizei wegen
Trunkenheit: ein Individuum!
Femer haben dieselben Auszähler festgestellt, dass das
Verhältniss der Frequenz in den Schänken vom Sonnabend
zum Montag steht wie 2:1 und vom Montag zum Dinstag
wieder wie 2:1.
In Salford, einer Vorstadt von Manchester mit 122,000
Einwohnern, wurden arretirt:
am Sonntag von 8 — 12 Uhr Abends:
128 Trunkene
am Montag während des ganzen Tages
207
• Dinstag > . « •
T40
• Mittwoch . • . »
87 '
• Donnerstag . . « •
87 .
» Freitag . « » .
125
• Sonnabend ....
562
Also am Abend des Sonnabends, des Lohntages,
zeigt die Trinkkrankheit den Höhepunkt ihres
Paroxismus.
7. Sehr merkwürdige Ergebnisse liefert die nachstehende
tabellarische Zusammenstellung, welche die gleichzeitige auf-
steigende Bewegung veranschaulicht:
Die Trifikkrankheit in England, 14ö
1
a.
der Ansgaben für
b.
der bestraften
c.
der Armen Steuer
d.
der von der Polizei
aufgegriffenen
Trunkenbolde.
berauschende Getränke
Verbrecher
und Polizeikosten
1869..
. 2256
Mill.
Mk,
373.000
260 Mül. Mk.
122,310.
1870..
. 2376
390,000
268 «
131,800.
I87I..
. 2378
1
408,000
276
142,300.
1872..
2632
424,000
284 .
151,000.
1873..
2800
457,000
284 .
1 83,000.
1874..
2826
487,000
294 .
186,000. .
1875..
r
. 2856
^ •
512,000
290 »
204,000.
8. Mit diesen und ähnlichen statistischen Ermittelungen
sind nun allerlei Betrachtungen angestellt, um den riesenhaften
und auf die Länge tödtlichen Blutverlust am Nationalvermögen
grell vor die Augen zu führen, den die Trinkkrankheit unfehl-
bar in ihrem Gefolge haben müsse.
Zum Beispiel:
a) der Werth des gesammten englischen Exportes wahrend der
vier Jahre 1875 — 7^ beträgt 16,200 Mill. Mk.
die Ausgabe für alkoholische Getränke in den sieben Jahren
von 1872 — 78 beträgt 19,740
mithin letztere mehr: 3,540 « •'
b] Der gesammte materielle, directe und indirecte (sehr umständ-
lich berechnete) Verlust der Nation durch die Consumtion
der berauschenden Getränke ist veranschlagt fiir die Jahre
von 1872 — 1878 auf: 36,000 Mill. Mk,
„Hierfür", heisst es weiter in dem Centralorgane der
United Kingdom AUiance, der Alliance News, „hierfür hätten
wir folgendes leisten können: wir hätten unsere National-
schuld (Capital: 15,500 Millionen Mark) bezahlen können, dazu
hätten wir sämmtliche vorhandene Eisenbahnen für den Staat
ankaufen und das vorhandene Eisenbahnnetz beinahe ver-
doppeln können! Was haben wir statt alles dessen für unsere
36,000 Millionen Mark gewonnen?
Mehr Verbrecher, Arme und Irrsinnige; das bedeutet:
mehr Polizei, Gefängnisse, Arbeitshäuser und Krankenhäuser.
Femer eine durchschnittliche Verkürzung der Lebensdauer,
welche eine Autorität, der sehr angesehene Arzt Dr. William
Richardson, im Jahre 1875 vor einem wissenschaftlichen
Congresse zu Brighton auf ein Drittel geschätzt hat". —
„In jetziger Zeit", so schliesst eine Zuschrift von
Mr. William Hoyle, einem der unermüdlichsten Führer der
United Kingdom Alliance an die Times, „forschen unsere Kauf-
Ompteda, L. v., Bilder. 10
146 Die Trinkkrankheit in England,
leute und Fabrikanten ängstlich nach neuen Absatzgebieten
in allen Welttheilen. Würden wir nicht gut thun, unsere
Aufmerksamkeit ernstlicher unserem einheimischen Markte zu-
zuwenden? Denn da wir durch unser Trinklaster direct und
indirect eine grossere Summe verschwenden als den Betrag
unseres ganzen Exportes, so hätten wir ja ein bereites und
sicheres Mittel gegen die Geschäftsstockungen in unserer
eigenen Hand, wenn wir jene Siimme dem Alkoholgeschäfte
entziehen, wenn wir namentlich die so ausserordentlich
gestiegenen Arbeitslöhne vernünftig verwenden, indem wir sie
für Kleider, Schuhe und Hausrath ausgeben".
„Und", so heisst es weiter, „wenn wir auch im Jahre 1878
4 Millionen Liter fremde Weine und ebensoviel Branntwein
weniger getrunken haben als 1877, so beweist das durchaus
keine Besserung der Krankheit; es beweist nur die Ver-
minderung des Einkommens in den mittleren Klassen durch
unsere jetzige traurige Geschäftslage. Denn wir haben zwar
im Jahre 1878: 8 Millionen Liter Wein und Branntwein
weniger, dafür aber 126 Millionen Liter Bier mehr getrunken.
Der amerikanische Consul in Sheffield entwirft in einem
dienstlichen Berichte von den Gewohnheiten der dortigen
Arbeiter folgendes Bild, welches wohl auf die meisten englischen
grossen Städte zutreffen möchte.
„Unter der arbeitenden Bevölkerung von Sheffield herrscht
eine höchst unvernünftige Sorglosigkeit in Beziehung auf ihre
Einnahmen und Ausgaben. Mancher Arbeiter, der 60 bis 80 Mark
in der Woche verdienen könnte, wird sich mit der Hälfte
begnügen, oder genau mit soviel als er für Nahrung, Bier und
Vergnügungen bedarf; für Frau und Kinder fallt von seinem
Verdienste nur eine erbärmliche Kleinigkeit ab. Eine grosse
Anzahl von Arbeitern, die sich im Laufe der Zeit in eine unab-
hängige, wenigstens gesicherte Lage hinaufschwingen könnte,
macht keinerlei Ersparnisse, ausser dass sie wöchentlich i bis
2 Mark in ihre Vereinskasse bezahlen, als Versicherung in
Kj-ankheitsfällen. Diese an sich gute Einrichtimg, scheint
übrigens in gewisser Weise den Ersparungstrieb zu lähmen".
„Soviel ist sicher: trotz der schlechten Geschäftslage in
Sheffield würde nur wenig Armuth unter den Arbeitern herrschen,
wäre nicht die Gewohnheit des starken Trinkens. Ein
Die Trinkkrankheit in England, 147
Gang durch die Strassen lehrt sofort: wohin der Verdienst der
Arbeiter wandert, und in vielen Fällen auch derjenige der hier
sehr zahlreichen Arbeiterinnen. Auch deren Verdienst ist be-
deutend höher, als man nach den allgemeinen häuslichen Zu-
ständen annehmen möchte. — Die meisten Leiden der englischen
arbeitenden Klasse sind auf die Trunksucht zurückzufiihren.
Denn in Sheffield versäumt durchschnittlich jeder Arbeiter
einen Arbeitstag in der Woche mit Trinken. Das giebt einen
Ausfall von einem Sechstel der gesammten Productionskraft.
Es leuchtet wohl ein, dass eine Nation — sei sie übrigens noch
so sehr bevorzugt — deren Arbeiter zum Trünke und Striken
neigen, auf die Dauer nicht auf dem Weltmarkte mit anderen
Ländern concurriren kann, deren Arbeiter massig, fleissig und
sparsam sind".
IL Die ersten Heilungsversuohe.
Es ist wohl selbstverständlich, dass dieses Elend, diese
»Nationalkrankheit« schon seit längerer Zeit die Besorgniss
und das Mitleiden aller christlichen, philanthropischen und
patriotischen Beobachter wach rief, so dass nach und nach
alle guten Bürger, alle rechtlich und sittlich denkenden Menschen,
vom Seelsorger bis zum Statistiker, begannen sich irgendwie
mit der Trinkfrage zu beschäftigen.
Am frühesten und tÖdtlichsten wüthete die Krankheit unter
der verarmten Bevölkerung Irlands, und hier wurde auch, schon
vor mehr als vierzig Jahren, der erste bedeutende Versuch
gemacht, sie zu bekämpfen. Als ein besonders greifbares unter
den Symptomen der damaligen Zustände will ich hervorheben,
dass schon im Jahre 1833 in Irland für den dort nationalen
Whiskey (Haferbranntwein) mehr als 140 Millionen Mark
•
Jährlich ausgegeben wurden, doppelt soviel als die gesammte
damalige Armensteuer im Vereinigten Königreiche betrug.
Damals nahm die „Gesellschaft der Freunde" (die Quäker) in
Cork die Sache in die Hand und gründete den ersten Enthalt-
samkeitsverein. Unter ihren verschiedenen Agitationsmitteln
erscheint mir folgendes besonders originell. Bei Gelegenheit
eines grossen öffentlichen Festes stellten sie eine Menge riesiger
Plakate aus, die überall sichtbar waren, nachstehenden Inhalts:
10*
148 Die Trinkkrankheit in England,
Billiger Whiskey.
Tod & Co.
empfiehlt sich zur Ausbildung von Trunkenbolden, Bettlern
und Vagabonden auf raschestem und billigstem Wege.
Niemand verkauft stärkeres Gift, bricht besser Herzen
und macht Familien elender als
Tod & Co.
Jedoch hätten die eifrigen, menschenfreundlichen Bestre-
bungen der Quäker bei der grossen Menge wohl keinen Em-
gang gefunden, denn sie belehrten im Grrunde die Blinden über
die Farben, ohne die Mitwirkung eines katholischen Geistlichen,,
des Vater Mathew. Dieser berief eine Versammlung, predigte
dem Volke und wusste seine katholischen Zuhörer durch An-
wendung der ihnen verständlichen religiösen Formen und Cere-
monien zu fesseln und zu gewinnen. Er nahm die zur Ent-
haltsamkeit vom Whiskey Bekehrten durch ein feierliches
Gelübde in seinen Bund auf, dann segnete er sie. Anfangs
kamen auch zu ihm nur wenige. Indessen das Beispiel wirkte
anziehend auf die grosse zum Glauben geneigte Menge, und
der Anschein des Geheimnissvollen und des AYunderkräftigen
fesselte. Die Wunder bestanden einfach darin, dass einige
notorisch durch den Trunk herabgekommene Arbeiter durch
die Nüchternheit wieder zu gesunden, kräftigen, arbeitsamen
Menschen wurden. Die grosse Menge jedoch glaubte an die
zauberhafte Wirkung des Segens. Aus allen Kräften
suchte Vater Mathew diese Auffassung zu bekämpfen. Ver-
gebens: der katholische Priester hatte, diesmal für den edelsten
Zweck, die Phantasie der abergläubischen Masse gereizt: das
Wunder, des Glaubens liebstes Kind, war die nothwendige Folge.
Die frohe Botschaft verbreitete sich rasch: von nah und
fem strömten alle Kranken und Elenden herbei, um durch
Vater Mathews wunderthätigen Segen geheilt zu werden, und
alle legten das Gelübde ab.
Bald erschien der »Vater« in Limerick, von dort zog er
weiter umher, und so ergriff die Bewegung, wie ein Lauffeuer,
nach und nach ganz Irland. Im Jahre 1840 hatte Vater Mathews
Verein schon 500,000 Mitglieder und in Limerick mussten
80 Whiskey schänken schliessen. Im Jahre 1845 war die Mit-
gliederzahl auf 800,000 gestiegen und die Gefängnisse leerten
Die Trinkkrankheit in England. 149
sich Stetig. Jetzt ist die ganze Insel mit einem dichten Netze
von Enthaltsamkeits-Vereinen überzogen, die unter der ge-
wandten Leitung der katholischen Geistlichkeit mit grossem
Erfolge arbeiten und bereits wichtige heilsame Reformen in
der Gesetzgebung für Irland durch das Parlament gebracht haben.
Von dort aus pflanzte sich die Bewegung nach England
fort. Es bildeten sich eine grosse Menge von Vereinen mit
verschieden abgestufter Strenge der Anforderungen. Da die-
selben aber vereinzelt und nur ortlich arbeiteten, so war ihre
Wirkung nach aussen sehr gering; zu einem Drucke auf die
Regierung und Gesetzgebung erwiesen sie sich völlig unver-
mögend. Das grosse Publikum betrachtete ihre Thätigkeit mit
platonischem Wohlwollen als seltsame aber unschädliche
menschenfreundliche Bestrebungen, etwa wie den Vegetarianis-
mus und das Naturheilverfahren. Der etwas sectenhafte An-
strich ihres Gebahrens stiess, nach rechts und links, eher ab als
dass er anzog.
Man erkannte diese Mängel und schritt zur Abhilfe. Im
Jahre 1853 wurde in Manchester die grosse Central- Mässig-
keits-Gesellschaft gestiftet, deren vollständiger Titel ihren
Zweck folgendermassen ausdrückt:
United Kingdom Alliance
for the total and immediate suppression of the traffic in
intoxicating liquors and beverages; — also: die gänzliche
und sofortige Unterdrückung des Handels mit berau-
schenden Getränken.
Diese Centralstelle fasste nun sämmtliche kleine Vereine
zusammen. Sie fiisst vor allem auf dem Grundsatze: dass in
ihr von jeder religiösen oder politischen Parteistellung völlig
abgesehen wird. Zu ihren thätigsten Mitgliedern gehören der
Cardinal Manning und sein jüngster College, der berühmtere
Dr. Newman, neben vielen hohen und niederen Geistlichen der
Steiatskirche, neben Wesleyanem und Quäkern, sowie Laien
aus allen politischen Lagern.
Die United Kingdom Alliance verwandelte also die bis
dahin religiös- sittliche Bestrebung in eine politisch-nationale.
Indem sie alle die zerstreuten kleinen Vereine unter sich zu-
sammenfasste, hob sie jeden einzelnen im Ansehen und führte
ihm Mitglieder zu, -die bis dahin gleichgiltig vorübergegangen
loO Die Trinkkrankheit in England,
waren. Neue Gesellschaften der verschiedensten Ordnungen
bildeten sich und jetzt überdeckt ein riesiges Netz das Ver»
einigte Königreich und die Colonien unter den mannigfachsten
Formen und Namen: National Temperance League, Giood
Templars (mit freimaurerischer Organisation); Band of hope
Unions (Hoffhungsvereine) ; Ragged Schools (Armenschulen);
der Orden der Rechabiten; die Sons of Temperance und viele
andere. Der Temperance Guide, ein Jahreskalender für 1879,
zählt die Hauptgesellschaften vollständig auf; ihre Namen füllen
2 — 3 enggedruckte Seiten.
Es giebt keine Religionsgesellschaft und wenige Kirch-
spiele, die nicht ihre Hoffhungsvereine für Kinder, Enthaltsam-
keitsvereine für die Jugend und für Erwachsene, Meetings für
Jedermann und besondere Vereine für Frauen hätten. Alle
diese Verbindungen stehen unter der Fahne völliger confessions-
loser Neutralität. Daneben bestehen auch confessionelle Ver-
eine; namentlich hat die Staatskirche, unter der Führung ihrer
hohen Würdenträger, einen ausserordentlichen Eifer für das
Werk der Rettung entwickelt, so dass sogar die Königin die
„Church of England Temperance Society" der Ehre würdigte,
selbst das Protectorat und die „Patronage" dieser Gesellschaft
anzunehmen.
So arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren die United Kingdom
AUiance als bewegender Mittelpunkt einer gewaltigen, das
Königreich überfluthenden, immer höher schwellenden Bewegung.
Mit welchen Mitteln?
Während der ersten vier Jahre ihres Bestehens beschränkte
sich die United Kingdom Alliance darauf, die öffentliche
Meinung durch Meetings, Zeitschriften und Tractate zu bear-
beiten. Zunächst musste die Einsicht imd Theilnahme der
herrschenden Klassen aufgeklärt und erregt werden, das
arbeitende Volk musste belehrt und zum Bewusstsein seiner
Krankheit erweckt werden. Femer genügte es nicht, gewisse
einfache, mehr oder minder bekannte, sittliche, sanitätische und
ökonomische Wahrheiten vor einem Kreise geneigter Leser
oder Zuhörer wiederholt auszusprechen. Damit allein bewirkt
man keine socialen Reformen. Diese Wahrheiten müssen den
Massen beigebracht, imprägnirt, von ihnen aufgesogen werden.
Die Trinkkrankheit in England, 151
Sie müssen landläufige, triviale Gemeinplätze werden. Ein
jeder musste den Schaden erkennen und ausserdem noch die
Vortheile, welche die Erreichung des Zweckes der United
Kingdom AUiance: „das Verbot des Handels mit berauschenden
Getränken", mit sich fuhren würde.
Diese Propaganda wird nun durch die United Kingdom
Alliance und durch alle kleineren Gesellschaften betrieben.
Zunächst und hauptsächlich vermittelst der Presse. Jetzt
erscheinen für diesen Zweck mehr als sechzig periodische
Blätter, davon zwanzig in London. Das Centralorgan der
United Kingdom Alliance ist die „Alliance News". Die „guten
Templer" geben sieben solcher Zeitschriften heraus, verschieden
in Form, Preis und Adresse. Auch eine ärztliche Zeitschrift
erscheint: „The Medical Temperance Journal". Daneben
werden Broschüren und kleine Flugblätter mit stets variirtem
Inhalt in ungezählten Massen vertheilt. Der erste Preis-Essay
über „Verbot des Handels mit Spirituosen" erschien schon
1857 ^^d wurde damals in 47,000 Exemplaren abgesetzt. Er
enthält 320 enggedruckte Seiten. Leider erlaubt es der Raum
nicht, auf seinen reichen und mannigfachen Inhalt hier einzu-
gehen. Die „Band of Hope Union" hat erst kürzlich wieder
einen Preis von 1000 Mark gegeben für die beste Temperance-
Novelle: „Lionel Franklins Sieg" von E. van Sommer, ein
eleganter Band mit 6 Illustrationen; Preis: 3,50 Mrk.
In dieser Presse also werden die Hebel von allen Seiten
angesetzt: Geschichte, Polemik, Romane, Lieder, Statistik über
Verbrechen und Unglücksfalle sowie über die Verschlimmerung
der gedrückten Lage der Fabrikation und des Exportes —
und alles mit Beziehung auf die Trunksucht. Die Lieder
sind in Musik gesetzt und werden von der Jugend der Hoffnungs-
vereine gesungen. Man hat sogar besondere Sammlungen von
Hymnen für die grossen Mässigkeitsfeste herausgegeben. In
dem oben schon erwähnten Temperance-Kalender nimmt das
Verzeichniss der Druckschriften siebzehn enggedruckte Seiten
em. Femer arbeitet die United Kingdom Alliance durch
Vorlesimgen, Versammlungen und Abendimterhaltungen. Sie
bezahlt fünfzig reisende Vorleser und hielt im Jahre 1878:
925 Meeting^. Die United Kingdom Alliance erscheint auf
. l52 Die Trinkkrankheit in England.
jeder ärztlichen und naturwissenschaftlichen Versammlung und
betont dort ihre Seite der behandelten Fragen.
Die United Kingdom Alliance und ihre Waffenbrüder sind
sich jedoch sehr wohl bewusst, dass es nicht möglich ist, den
arbeitenden Klassen einfach das Schanklocal, ihre einzige
Stätte der Unterhaltung und Geselligkeit, zu schliessen, dass
man vielmehr anderes, besseres an dessen Stelle setzen müsse.
Es bedarf kräftiger „Gegen-Anziehungen". Sie gingen also
gleichzeitig an's Schaffen. Hiervon einige wenige Beispiele.
Man gründete in Dublin den grossen „Dublin Coffee Palace"
mit einem Lesezimmer und Arbeiterclub. Der jährliche Um-
satz dieses Institutes beträgt schon jetzt 80,000 Mark. In der-
selben Strasse entstand St. Andrews Temperance-Hall, wo man
an jedem Abende in den Lese- und Clubzimmem Hunderte
junger Leute aus dem Arbeiterstande finden kann, die sich mit
Lesen, Billard und anderen Spielen unterhalten. Und dieser
Institute sind in Dublin noch mehrere.
In Birmingham wirkt eine Kaffeehaus-Gesellschaft. Jüngst
schenkte dieser eine wohlthätige Dame, Miss Ryland, ein neu-
erbautes Kaffeehaus, umgeben von sieben Häuschen mit
Wohnungen fiir kleinere Handwerker. Das Ganze hatte der
Wohlthäterin, ohne den Bauplatz, 60,000 Mark gekostet.
Ganz kürzlich wurde im Osten von London ein Arbeiter-
club mit 130 Mitgliedern eröffiiet, auf dessen Ausstattung 24,000
Mark verwendet waren. Er nimmt Beiträge von seinen Mit-
gliedern und soll nach der Absicht seiner Gründer, haupt-
sächlich des Herzogs von Bedford und des örtlichen Pfarr-
geistlichen, finanziell auf eigenen Füssen stehen. Alle
berauschenden Getränke sind dort ausgeschlossen.
Der Earl Brownlow Hess ein ähnliches Kaffeehaus in
Rockhamstead herstellen. Auf dem Schilde erschlägt der
Ritter St. George den Drachen. Das Haus haben drei Herren
in Pacht genommen, der eine von ihnen ist der Pfarrer des
Kirchspiels. Der Betrieb ist ganz geschäftsmässig eingerichtet
und man arbeitet auf Verzinsung des angelegten Capitals.
Ein Geistlicher schreibt über diese Bestrebimgen an die
Times: „Ich lebte etwa sieben Jahre lang in dem Theile von
London, wo die Schänken am dichtesten gesäet sind; ich habe
also die nächtlichen Schauer und Schrecken der Trunksucht
Die Trinkkrankheit in England. 153
kennen gelernt. Dennoch möchte ich nicht sagen, dass wir zu
viele Trinkiocale haben. Die armen Leute müssen doch
irgendwo hingehen können, sie müssen ein Obdach, eine Unter-
haltung finden, eine Abwechselung von ihrer elenden zwei-
raumigen Familienwohnung. Daher sind in grösseren Städten
Schanklokale ein Bedürfniss. Sir Wilfrid Lawson und die-
jenigen, die wie er denken, sollten daher ihre Kraft auf die
Einrichtung derartiger Häuser verwenden. Ich, damals Hilfs-
geistlicher in London, habe zwei solche eingerichtet; nach
dem Zeugnisse der benachbarten Schankwirthe, wie nach dem-
jenigen der Frauen unserer Besucher, waren unsere Institute
das mächtigste Mittel gegen die Trunkenheit. Von unserem
kleinen Hause aus sahen wir fünf Bar-rooms. Drei davon
waren nach einem Jahr geschlossen; der Wirth des vierten
wünschte mir öffentlich: „dass doch irgend jemand mich zu
Boden schlagen möge"; der fünfte Wirth machte uns Concurrenz:
er schaffte Stühle, Tische, Zeitungen und Ventilation an: Dinge,
von denen man aus Erfahrung weiss, dass sie am Trinken
hinderlich sind. Wir erlaubten Bier, Karten, Domino, Thee
und Kaffee — keinen Branntwein. Nach sechs Monaten
hatten wir hundert regelmässige Mitglieder; Ruhe und Ordnung
herrschte, höchstens ein oder zwei Mal im Jahre eine richtige
Rauferei; in den anderen Localen aber eine solche beinahe an
jedem Abende".
In London hat sich jetzt eine besondere „Kaffeehaus-
Gesellschaft" gebildet, die bereits fünfzehn Anstalten gegründet
hat. Sie verbannt alle berauschenden Getränke und giebt für
48 Pfennige eine reichliche Portion Beef, Brot, Butter und
Kaffee. Auch kann ein jeder seine Mahlzeit mitbringen und
unentgeltlich dort verzehren. Eines dieser Kaffeehäuser enthält
einen Billardraum und einen Concertsaal. Die Gesellschaft
vertheilte bisher vier Procent Dividende, sie ist also keine
wohlthätige Anstalt, die von Unterstützungen lebt.*)
In Liverpool hat die „Gesellschaft fiir Wirthshäuser für
'*') Ganz kürzlich ist eine Nachahmung dieser Häuser in Berlin eröffnet, in der
Chausseestrasse, als Kaffee-, Thee- und Speisehaus. Wünschen wir ihr das beste
Gedeihen, indessen — aller Anfang ist schwer! Die Gesdiichte der United Kingdom
ABiance ist ein grosses Beispiel für die weise Lehre: man muss das Warten
gelernt haben.
154 Die Trinkkrankheit in England,
den englischen Arbeiter" seit 1875:31 solche Häuser erofifeet
Ihr Capital von 400,000 Mark hat drei Jahre hintereinander
10 Procent getragen. Im Jahre 1878 musste es verdoppelt
werden.
Bei den grossen Eisenbahngesellschaften hat die United
Kingdom Alliance mit Erfolg darauf gedrungen, dass man dort
Rücksicht auf die wachsende Zahl der enthaltsamen Reisenden
nehmen und Kaffee und Thee besser und billiger liefere, als
bisher.
Endlich hat die United Kingdom Alliance sich auch auf
das Wasser, an Bord von J. M. Kriegsschiffen gewagt
Sonderbarer — oder vielleicht: sehr zweckmässiger — Weise
ist der Missionär hier eine Dame, Miss Weston. Aus ihrem
Berichte entnehme ich folgendes: Die »National Temperance
League«, für welche sie arbeitet, hat bereits Zweigvereine
gestiftet auf 202 Schiffen, von den 230, welche in Diensten
stehen; unter dem Effectivbestande von 55,000 Mann zählt sie
8000 Mitglieder. Vier Admirale und 162 Offiziere be-
fleissigen sich völliger Enthaltsamkeit Den Mitgliedern der
Zweigvereine auf den Schiffen wird die Durchfiihnmg ihres
Gelübdes durch verschiedene dienstliche Einrichtungen recht
schwer gemacht. Diese Mannschaften nehmen zwar ihren
Grogg aus der Cantine, aber sie verkaufen ihn, da die
Regierung ihnen für nicht genommenen Grogg keinerlei Ent-
schädigung giebt Auf mehreren Schiffen ist allerdings der
Bierschank bereits durch einen Kaffeeschank ersetzt. Der
Präsident der Gesellschaft, ein Admiral, der bereits seit 20 Jahren
ein sogenannter Teetotaller ist, legte zum Schlüsse den Offizieren
dringend an's Herz, ihren Mannschaften ein gutes Beispiel zu
geben, indem sie sich in ihren Messen (Speiseanstalten) des
Weines enthielten.
In dem Theile der Armee, der in England steht, soll etwa
der fünfzehnte Mann »enthaltsam« sein; in der indischen Armee
befinden sich unter 62,600 Mann aller Grade, 10,886 einge-
schriebene »Abstainers«.
Die Kanzel ist selbstverständlich nicht stumm, sie liefert
häufige und energische Strafpredigten gegen die »National-
sünde«; die Wahlredner, die fliegenden Buchhändler auf den
Bahnhöfen, die Temperance Hotels, in denen keine berauschenden
Die Trinkkrankheit in England, 155
Getränke geschänkt werden: alle diese Thätigkeiten und Ein-
richtungen sind Missionare der riesenhaften Propaganda, welche
von der United Kingdom AUiance ausgeht.
Man trifft bereits viele sogenannte Teetotallers in den
höheren Klassen der Gesellschaft. Im Unterhause sollen jetzt
etwa zwanzig sitzen. Ihren Gästen geben sie Wein, trinken
ihn aber niemals selbst; im strengeren Schottland bekommt der
Gast nur Kaffee und Thee. —
Es giebt indessen eine Klasse von Trinkern, für die es
nicht ausreicht, dass man ihnen anstatt eines wüsten Bar room
ein comfortables Kaffeehaus bietet Diese Unglücklichen, die
man wohl »constitutionelle« Trinker genannt hat, bilden eine
Klasse von geistig und körperlich halbkranken Menschen; sie
unterliegen gewohnheitsmässig — häufig wider besseres Wissen
und Wollen — der Versuchimg des Alkohols, w^ie die Con-
sumenten von Opium und Morphium den Reizen dieser Gifte
immer von neuem verfallen. Für diese Schwachen \ind
Elenden hat man auf Rettung gesonnen und geglaubt, dass
sie diese nur in einer Heilanstalt finden können.
Am 8. Mai I879 wurde im Oberhause ein Gesetz ange-
nommen, welches bereits durch das Unterhaus gegangen war:
^The Habitual Drunkards Bill« also: das Gesetz betreffend die
Gewohnheitssäufer.
Auf Grrund dieses Gesetzes erklärt ein, in solchem traurigen
Zustande befindlicher Kranker schriftlich vor der Obrigkeit;
dass er fiir eine bestimmte Zeit in ein Asyl für Trunkfällige
aufgenommen werden wolle. Der Eintritt ist also freiwillig aber
wenn einmal darin, ist der Kranke den Statuten und der Haus-
ordnung unterworfen; er kann sogar im Asyle zurückgehalten
werden, bis die von ihm selbst bestimmte Zeit abgelaufen ist".
Der durch seine Bestrebungen auf dem Felde der Wohl-
thätigkeit bekannte Earl of Shaftesbury befürwortete die Bill.
Er ging davon aus, dass Trunksucht als eine Krankheit
betrachtet werden dürfe, in sofern als in sehr vielen Fällen
angeborene Prädisposition dafür nachweislich vorhanden sei.
Alsdann könne aber das Uebel nicht allein durch Strafen
beseitigt werden. Die Veranlassungen, welche diese angeborene
Disposition in Wirksamkeit setzten, seien, nach den Be-
obachtungen des Vorstehers eines solchen »Hauses für Trinker«
156 Die Trinkkrankheit in England,
in New- York, sehr vielfache: einige schwache Kopfe trinken
aus Höflichkeit zu viel (man hat hier wohl an die amerikanische
Unsitte des gegenseitigen Traktirens an der Bar zu denken).
Andere nehmen den Alkohol als geistiges Stimulans, so nament-
lich Gelehrte und Literaten; andere wollen einen schweren
Kummer ertränken, schwemmen aber ihr Bischen brauchbares
Gehirn mit fort; noch andere wollen sich Energie fiir's Ge-
schäft oder fiir's Verbrechen suchen . Für die Erblich-
keit führte ein Dr. Hare, Idiotenarzt im Staate Massachusetts,
folgende Beobachtungen an: „Von 300 Idioten wurden die Ge-
wohnheiten der Eltern constatirt, 145 von diesen waren Trinker.
Die schlaffe, schwächliche Nachkommenschaft des Trinkers,
wenn auch noch nicht selbst idiot, hat einen angeborenen Hang
zu Stimulantien und vererbt diese Disposition in verschiedenem
Grade weiter. Ein einziges Trinkerpaar hatte sieben idiote
Kinder in die Anstalt geliefert
Diese verderbliche Erbschaft wird von den unglücklichen
Nachkommen sehr häufig als solche erkannt; aber sie können
sich ebensowenig aus eigener Kraft davon befreien, als von
anderen ererbten persönlichen Eigenschaften. Solche Menschen
bedürften daher zu ihrer Unterstützung eines geeigneten
Zwanges". —
Die Times bemerkt zu diesem Gesetz: die Absicht desselben
sei ohne Zweifel höchst lobenswerth, aber — eine solche An-
stalt sei doch immer nur für Bemittelte zugänglich. Nun sei
aber unter den höheren Klassen in England das Trinklaster
entschieden im Abnehmen, namentlich im Vergleiche mit den
Zuständen vor hundert und vor fünfzig Jahren. Man habe ein
Gesetz gegeben »fiir die wenigen, nicht für die vielem. Ein
Jahr, verbracht ohne Arbeit in einer Cur von Selterswasser
und Limonade möge Wunder wirken, aber es koste Geld! Arme
Arbeiter und Handwerker würden daher wohl vergebens an
die Thür dieser, durch freiwillige Wohlthätigkeit gegründeten
Asyle, klopfen. —
Werde die Sache gelingen, so liege die Grösse der Wohl-
that auf der Hand ; wenn nicht — so sei es immer besser, einen
verfehlten Versuch gemacht zu haben als gar keinen.
Aber das Nationalübel der Unmässigkeit sei ein Ding, von dem
Die Trinkkrankheit in England, lo7
die englische Welt sich nicht auf so leichte Weise befreien
werde. — *)
Wir finden begreiflicher Weise gerade in England viele
Männer und Frauen, die ganz persönlich und im stillen diese
innere Mission als erwählten Beruf ausüben und oft gewiss
mit mehr Eifer als Verständniss an's Werk gehen. In ihrem
geschäftigen, aufdringlichen Treiben steckt ohne Zweifel ein
Theil Uebertreibung, Eitelkeit, Heuchelei, auch wohl Eigennutz.
Aber diese Motive hängen sich an jede religiöse, politische,
humanitäre Tagesbewegung, ohne dass dadurch deren Berech-
tigung an sich in Frage gestellt wird. Zuweilen erfahren die
Strassenapostel und Wanderprediger auch wohl Unerwartetes.
So erzählt ein strenger Teetotaller und hervorragender
Arbeiter auf diesem Felde folgende Ueberraschung: Er geht
im Batterseaparke spazieren (dem Parke der armen Leute,
welchen ich in diesen Bildern, S. 66 geschildert habe). Ein Arbeiter
hegegnet ihm und grüsst; unser Herr glaubt einen seiner An-
hänger vor sich zu sehen.
»Mein Freund, kennt Ihr mich?«
»Ja, Herr«.
»Irländer?«
»Ja«.
)»Nun, Ihr habt doch auch Euer »pledge?« (Eigentlich: Ge-
lübde, dann auch Mitgliedskarte des Enthaltsamkeitsvereins).
»Nein, Herr«.
»Warum nicht, mein Freund?«
»Mein Geistlicher meinte nicht, dass es nöthig wäre«.
»Nun, nicht gerade nöthig, aber doch recht gut. Ich habe
auch meine Karte«.
»Sie? — Ja, wenn Sie es nöthig hatten!«
Wir sehen also, wie die United Kingdom AUiance nichts
Erdenkliches versäumte, um eine Strömung hervorzurufen, durch
welche sie die öffentliche Meinung Englands unwiderstehlich
mit sich fortreissen kann. Und alle diese Anstrengungen
*) Ein ganz ähnliches Asyl fiir Trunkfalllge aus den höheren Ständen, das erste
und einzige in Deutschland, ist am 27. Novb. 1 879 in Lintorf bei Düsseldorf eröffnet.
Jedoch wird dort wohl der Ein- und Austritt freiwillig sein, da es zu einem
bindenden Verzichte auf die eigene persönliche Freiheit eines Aktes der Gesetz-
gebung bedurft haben würde.
158 Die Trinkkrankheit in England»
streben in ihrem letzten Ausgange nur auf den einzigen Zweck
hin: Aenderung der Gesetzgebung; also: Majorität im Unter-
hause. Denn in England bleibt man stets der — bei uns leider
zu Zeiten vergessenen — Wahrheit eingedenk, dass die Nation
nicht sowohl aus den gezählten 33 Millionen Menschen der Be-
völkerung besteht, als vielmehr — und ganz vorzugsweise —
aus denjenigen Klassen und Individuen, die sich der Aufgaben
der Nation bewusst sind, die an der Erfüllung dieser Aufgaben
arbeiten und dadurch als bedeutungsvolle Ziffern vor die
Millionen Nullen treten und ihnen erst einen wirklichen geistigen
Inhalt geben.
Es ist wohl kaum möglich, die gesammten Geldmittel,
welche fiir diese Zwecke jährlich verwandt werden, auf eine
bestimmte Summe zu berechnen; in meinen Quellen finde ich
darüber keine erschöpfenden Zusammenstellungen. Die
unzähligen kleinen Gesellschaften arbeiten unabhängig. Die
directen Einnahmen der United Kingdom AUiance betragen
jährlich etwa 400,000 Mark. Das Centralorgan »The Alliance
News« und die Presserzeugnisse stehen in Einnahme und Aus-
gabe mit etwa 100,000 Mark. Die Hunderte verschiedener
kleiner Flugblätter kosten 12,000 Mark. Die Reisenden,
Meetings und Agenturen beanspruchen 200,000 Mark. Im
Oktober 1879 fand die jährliche Generalversammlung der
Alliance statt, unter dem Vorsitze ihres neu erwählten Präsi-
denten, Sir Wilfrid Lawson's. Man besprach die bevorstehenden
Wahlen und das Bedürfniss aussergewöhnlicher Geldmittel
wurde anerkannt. Am Schlüsse der Sitzung waren bereits
ausserordentliche Beiträge zum Belaufe von 100,000 Mark
gezeichnet, darunter vom Präsidenten: 20,000 Mark!
Natürlich sind auch die Gegner mobil geworden. Sie haben
sich ebenfalls zu einer streitenden Gesellschaft organisirt, der
»Licensed Victuallers' National Defence League«; auch sie geben
eine Wochenschrift heraus, den »Wächter«. Sie besolden
Agenten und einen grossen defensiven Apparat. Ihre Mittel
sind selbstverständlich sehr bedeutend und fliessen reichlich,
da es sich für sie um ihre Existenz, um die wichtigste aller
Fragen: die Magenfrage handelt.
Jedoch giebt es auch auf dieser Seite unparteiische und
uninteressirte Leute. Kürzlich wurde in der Sitzung des
Die Trinkkrankheit in England, 159
Magistrates zu Preston beantragt, dass es dem dortigen
Hoffhungsvereine erlaubt werden möge, im städtischen Werk-
hause Vorträge über Enthaltsamkeit zu halten. Einer der
Herren bemerkte: »der Herr College Ashcroft (ein Schankwirth
und während seines ganzen Lebens in diesem Geschäfte) werde
dem Antrage wohl nicht günstig gestimmt sein«.
„Günstiger als Sie", erwiderte der würdige Magistratsrath,
„ich bin fi'eilich Schankwirth, aber selbst streng enthaltsam
(a total abstainer) und in meinem Hause sind wir unserer neun,
die nie ein berauschendes Getränk gekostet haben".
Ein College: „Aber weshalb verkaufen Sie es denn?"
Mr. Ashcroft: „Das ist mein Geschäft".
III. Thätigkeit und Erfolge der United Kingdom AUianoe
im Parlamente.
Vier Jahre lang hatte die United Kingdom AUiance die
öffentliche Meinung mit allen Mittehi bearbeitet und dadurch
den Boden für die Saat vorbereitet, deren Frucht sie im
Parlamente ernten wollte. Im Jahre 1857 hielt man endlich
die Zeit gekommen, der bisherigen allgemeinen Propaganda
eine bestimmte Form und Richtung zu geben. Es geschah dieses in
Gestalt eines Gesetzwurfes, welcher jetzt jedem Engländer unter
dem Namen: „Sir Wilfrid Lawson's Permissive Bill" geläufig
ist. Noch weitere sieben Jahre hindurch wurde dieser Entwurf
auf die uns bekannte Weise verbreitet, erörtert, verarbeitet,
„trivial gemacht". Dann erst hielt man die öffentliche Meinung
für hinreichend kräftig, um die neue Idee vor das Parlament
bringen zu dürfen. Sir Wilfrid Lawson, liberaler Abgeordneter
für Carlisle, unterzog sich diesem schwierigen Geschäfte,
welches er bis auf den heutigen Tag mit niemals rastendem
Eifer forttreibt. Er besitzt, wie kürzlich die bedeutendste Zeit-
schrift des feindlichen Lagers „The Licensed Victualler's
Guardian" mit anerkennendem Bedauern ausführte, eine Reihe
sehr glücklicher Eigenschaften für diese Agitatorenrolle: ange-
sehen, unabhängig, ein vornehmer Mann, eine kräftige, impo-
nirende, durch einen langen grauen Vollbart gehobene Erschei-
nung, ein schlagfertiger Redner voll frischen Humors, nicht
ohne einen trocknen Sarkasmus und, wie der Verlauf seiner
160 Die Trinkkrankheit in England.
Thätigkeit während der letzten fünfzehn Jahre beweist, ein Partei-
mann von unverwüstlicher, kaltblütiger, englischer Zähigkeit.
Es ist sehr merkwürdig und für uns Deutsche sehr lehr-
reich, an dem Lebenslaufe dieser „Permissive Bill" zu sehen,
wie die Engländer es anfassen, um politische oder sociale
Reformen durchzusetzen, die, seit Anfang her und noch jetzt,
von den mächtigsten Factoren des Staatslebens mit offenem
oder geheimem Widerwillen betrachtet und bekämpft werden.
Man will also gelangen: zur allgemeinen Unter-
drückung des Handels mit berauschenden Getränken.
Ein hierauf direct zielender Antrag würde ohne allen Zweifel
allgemein abgelehnt worden sein. Man verlangte daher die
Erlaubnis s für jeden einzelnen städtischen oder ländlichen
Gemeindebezirk, diesen Verkauf bei sich zu untersagen; daher
der Name „Permissive BiU" (erlaubendes Gesetz) oder „Local
Option Prohibitive Bill" (ein absichtlich allgemein gehaltener
Ausdruck, etwa: ein, nach Giitbefinden der localen Organe —
insbesondere: der Steuerzahler — verbietendes Gesetz). Der
Eingang des Entwurfes lautet:
„In Erwägung, dass der Verkauf berauschender Getränke
eine fruchtbare Quelle der Unsittlichkeit, Verarmung, der
Krankheiten, des Wahnsinns, des frühen Todes ist;
in Erwägung, dass die gewohnheitsmässigen Trinker
nicht nur selbst in's Elend versinken, sondern dass auch die
Personen und das Vermögen der Unterthanen Ihrer Majestät
' durch die Erhöhung der Zölle und Steuern zu leiden haben;
in Erwägung, dass es demnach gerecht und billig ist,
den Steuerzahlern der Städte, Flecken und Kirch-
spiele die Gewalt zu verleihen, den Verkauf der
gedachten Flüssigkeiten zu verbieten" — —
Es wird dann gesetzlich bestimmt, dass eine gewisse Anzahl
von Steuerzahlern bei der Behörde den Antrag auf Abstimmung
über die Einführung der Permissive Bill stellen kann; stimm-
fähig hierbei sind alle diejenigen, welche Armensteuer bezahlen;
für die Einführung der Bill ist eine Majorität von zwei
Dritteln erforderlich; wird der Antrag abgelehnt, so darf er
erst nach einem Jahre erneuert werden; nach drei Jahren kann
eine neue Abstimmung beantragt und alsdann die Permissive
Die Trinltkrankheit in England, 161
Bill mit derselben Mehrheit von zwei Dritteln wieder abgeschaft
werden.
Es ist wohl zweifellos ein sehr gesunder Gedanke, dass,
nach den Trunkenbolden selbst, am meisten die Steuerzahler
leiden, welche die Armen, die Gefangnisse, die Waisenhäuser,
Irrenhäuser und die Polizei unterhalten müssen. Die Tabelle
auf S. 145 ist wesentlich aus diesem Gesichtspunkte aufgestellt.
Femer liegt in der Permissive BiU der weitere gesunde
Gedanke, dass die angestrebte Reform nur schrittweise, nach
und nach, durchgeführt werden soll, je nachdem die Majorität
der Interessenten Ort und Zeit für gegeben erachtet Diese
Majorität wird voraussichtlich nicht sofort, sie wird nicht über-
all hervortreten. So können der Finanzminister, wegen der
jährlichen Einnahme von 650 Millionen Mark, und die im
Getränkehandel umlaufenden Privatcapitalien, — sie betrugen
1878; 2840 Millionen Mark — sich vorbereiten und einrichten.
Denn der praktische Politiker darf doch nie vergessen, dass
hier für die Regierung und noch mehr für die grosse Armee
der „Publicans" eine ernste materielle Interessenfrage vor-
liegt. Hier kämpft das stärkste aller menschlichen Motive, der
Trieb der Selbsterhaltung, wenn auch nicht »pro aris« so doch »pro
focis«. — Daher wagte es denn bisher noch keine jeweilige
Majorität des Unterhauses, gegenüber dieser mächtigen Wähler-
masse, ein für deren Geschäft, Capital und Genuss, ernstlich
gefahrliches Gesetz anzunehmen. Denn jene Majorität wäre
bei den nächsten Wahlen zweifellos zerschmolzen. Die Wahl-
campagne von 1874 hat das hinreichend klar gelegt und der
Marquis von Hartington, der Führer der liberalen Opposition
im Unterhause, wies noch jüngst in der Debatte darauf hin;
wie wegen einer Bill von 1872 — welche verschiedene gröbste
Excesse des Spirituosengeschäftes beschnitt — die Liberalen
bei den Wahlen von 1874 (wo sie geschlagen wurden) der
rücksichtslosesten Feindschaft aller Schänkwirthe ausgesetzt
gewesen seien.*)
*; Bei den neuesten Wahlen hat die »Licensed Victuallers Defence League«', nach
ihren eigenen Erklärungen, die Stellung jedes einzelnen Candidaten zu ihren
Interessen geprüft und stets für den ihnen günstigeren gestimmt, ohne Rücksicht auf
den Parteistandpunkt — also in der Mehrheit fiir die Conservativen. So war — \Aq
die Times bezeugt — kaum eine Schankwirtschaft in England zu finden, die nicht
Ompteda, L. v., Bilder. 11
162 Die Trinkkrankheii in England.
Wir dürfen uns daher nicht wundem, dass die Permissive
Bill, trotzdem sie seit 15 Jahren ein stehender Artikel auf der
Tagesordnung fast jeder Session war, sich noch immer im Zu-
stande des Werdens befindet Im Gegentheil! Ihre Fort-
schritte sind fast überraschend und beweisen: wie imwider-
stehlich auf die Länge die Macht der kämpfenden Wahrheit ist
Im Jahre 1864 wurde die Permissive Bill von ihrem
getreuen und standhaften Adoptivvater Sir Wilfrid Lawson
zuerst im Unterhause eingebracht; sie erhielt fär die zweite
Lesung: 40 Stimmen.
Von da an erschien sie in jeder Sitzung wieder. Im
Jahre 1869, unter dem Ministerium Gladstone, erhielt sie 94
gegen 200 Stimmen, im Jahre 1870: 115 gegen 140 Stimmen.
Also eine sehr bedeutende Entwickelung. In den Jahren
1871 — 1873 machte die Bill im Parlamente selbst keine
erheblichen Fortschritte; die Petitionen jedoch, welche dort
überreicht wurden, beweisen die zunehmende Gunst der
öffentlichen Meinung. Im Jahre 1864 zählten diese Petitionen
482,000 Unterschriften, im Jahre 1872: 4,000,000 Unterschriften,
die sich auf 6500 Eingaben vertheilten; unter diesen waren
1853 Stück von Corporationeh, Gesellschaften imd öffentlichen
Instituten ausgegangen.
Im Jahre 1874 trat das liberale Ministerium nach den
Wahlen ab. Das neue Parlament war unter dem Einflüsse
einer so mächtigen Bewegung, gerade in Beziehung auf unseren
Gegenstand, die Trinkgesetzgebung, gewählt, dass bereits
UebelwoUende sich erlaubten, ihm den Spottnamen „Publican
Parliament" (Parlament der Schänkwirthe) anzuhängen.
Trotzdem hat die Permissive Bill auch seitdem in der
>
öffentlichen Meinung bemerkenswerthe Fortschritte gemacht
Im Jahre 1875 wuchsen die g^stigen Stimmen so sehr, dass
der grosse, feinfühlige Barometer des jeweiligen Standes der
öffentlichen Meinung, die Times, einen Alarmruf erhob. Sie
machte den Getränkhändlern bemerklich, dass in dieser Frage
das Parlament nicht die Ansicht des Landes repräsentire.
j von der Thür bis zum Giebel die conservativen Farben trug. Jedoch war — wie
Mr. Hoyle schreibt — das öffentliche Gewissen in der Trinkfrage schon so weit
geweckt und ausserdem die Bewegung des Wahlkampfes so gewaltig, dass man im
ganzen wenig Rücksicht auf das Gewicht der Schänkwirthe nahm (Mai, 1880).
Die Trinkkrankheit in England. 163
Wollte man ein Plebiscit über die Bill veranstalten, so würden
ihre Gegner nur noch wie drei zu fünf stehen.
Im Jahre 1876 war ein bedeutender Erfolg zu verzeichnen.
Am II. Mai überreichten 14,000 englische Geistliche dem
Primas von England, Erzbischof von Canterbury, eine Adresse;
in dieser wurde gebeten: „Die Aufmerksamkeit der Gesetz-
gebung auf den verderblichen Getränkhandel zu richten".
Man muss, um das volle Gewicht einer solchen Kundgebung
.zu ermessen, der Stellung eingedenk sein, welche der
englische Klerus im politischen, noch mehr im socialen Leben
einnimmt. Wir können das etwa mit einer Meinungsäusserung,
ausgehend von einer überwältigenden Mehrheit der deutschen
Generale und hohen Militärs vergleichen. Bei jedem Dinner
auf dem Lande hat der Clergyman den Ehrenplatz neben der
Hausfrau und spricht das Tischgebet. — Der Erzbischof über-
reichte diese Adresse im Oberhause und erwirkte dort die
Niedersetzung eines Ausschusses, unter dem Vorsitze des
Herzogs von Westminster, welcher Alles zu beobachten, zu
sammeln, zu studiren hat, was sich auf die Frage der Temperance-
Bewegnng bezieht Die Ergebnisse dieser Thätigkeit werden
uns noch später beschäftigen.
Es erklärt sich wohl ziemlich einfach, dass die conservative
Regierung sich den Bestrebungen der United Kingdom AUiance,
soweit dieselben in der Permissive Bill formulirt sind, nicht
forderlich gezeigt hat. Bekanntlich ist das jeweilige englische
Ministerium in Wirklichkeit nur ein Executiv-Ausschuss der
jeweiligen Majorität des Unterhauses. Dennoch ist, wider
Willen oder doch ohne eigene Initiative, die regierende Partei
nach und nach zu einer Reihe von Concessionen getrieben
worden. Denn die „Trinkfrage" ist nun einmal eine der wich-
tigsten, schwierigsten und durch ihre stete Erneuerung eine der
unbequemsten Fragen. Davon zeugt die grosse Anzahl von
zwölf Gesetzen, welche in den Jahren 1877 und 1878 ein- und
durchgebracht sind.
Für Schottland ist eine Bill erlassen, welche die
personliche Qualification der Wirthe einer schärferen Prüfung
unterzieht. Hier waltet übrigens bereits seit längerer Zeit ein
strengeres System mit zweifellosem Erfolge. Schon im Jahre
1853 war für Schottland die, nach ihrem Urheber genannte
164 Die Trinkkrankheit in England,
»Forbes-Mackenzie Bill« erlassen, welche alle Schanklocale
während des Sonntags schliesst. Nur Hotels dürfen Spirituosen
geben an ihre Bewohner und an den „bona fide Reisenden"
d. h. dessen letztes Nachtlager mehr als drei englische Meilen
(4,5 Kilometer) entfernt war. Dieser „bona fide'* Reisende
erscheint übrigens in der englischen Trinkgesetzgebung als
ein etwas mystischer Proteus, der sich namentlich einer zu-
treflfenden legalen Definition, welche dem Missbrauche seines
Namens durch nichtreisende Sonntagsdurstige wirksam ^vor-
beugte, stets zu entziehen gewusst hat. — Zu jener Zeit waren
für Schottland 240,000 Mk. bewilligt worden, um die über-
füllten Gefängnisse zu vergrossem; namentlich gebrach es an
Raum für trunkfällige Frauen aus den besseren Ständen.
In Folge des Gesetzes von 1853 nahm die Zahl der Trunk-
falligen so ab, dass die projectirte Vergrösserung unterblieb.
Für Irland ist im Jahre 1878 die ausserordentlich wichtige
Irtsh Sunday closing Bill erlassen, welche also alle Trinkiocale
während des Sonntags schliesst. Dieses Gesetz gilt indessen
nicht in Dublin und vier anderen grössten Städten. Schon im
Jahre 1877 schien die Annahme dieses Gesetzes ziemlich ge-
sichert, sie wurde augenscheinlich nur verhindert durch das
seltsame, parlamentarische Manöver des „talking out"; das
heisst: die Gegner einer Privatbill sprechen so lange, bis die
Wanduhr im Sitzungssaale sechs Uhr schlägt; dann ist keine
Möglichkeit mehr, zur Abstimmung zu gelangen, weil alsdann
andere Geschäfte beginnen und die Sache wird aufs Ungewisse
hin vertagt. Auch im Jahre 1878 machten die Gegner die
äussersten Anstrengungen, um die Annahme des Gesetzes zu
verzögern, womöglich zu hintertreiben. Vom 22^* Januar bis
31. Mai wurde die Bill in 10 Committee- Sitzungen des ganzen
Hauses berathen, von denen zwei die ganze Nacht hindurch,
eine bis 9^/2 Uhr am andern Morgen dauerte. Es fanden
mehr als 40 Abstimmungen statt, hauptsächlich über Anträge,
welche den Zweck hatten, des Durchgehen der Bill zu hindern
oder hinzuhalten. Diese energische, verhindernde Thätigkeit trug
den Gegnern den wohlklingenden Namen: „Obstructionists**
ein. „Es ist jedoch", sagt die Times, „das Manöver des Vogels
Strauss, der den Kopf in den Sand steckt".
Auch die ausserparlamentarische Agitation war hoch erregt
Die Trinkkrankheit in England, 165
So vertheilten die Anglikaner Gebetsformulare, in denen Gott
angefleht wurde: die Irish Sunday closing Bill durchgehen zu
lassen. In Exeter Hall hielt die United Kingdom AUiance ein
Meeting, in welchem der Cardinal Manning und mehrere
Parlamentsmitglieder als Redner auftraten. Die angesehensten
Zeitschriften brachten Artikel aus der Feder hervorragender
Persönlichkeiten. Genug, der Druck war so hoch gespannt,
dass die Gegner widerwillig nachgaben, „weil die Irländer es
durchaus nicht besser haben wollten". Aber jedermann fühlte,
dass der Sonntagsschluss in England jetzt nur noch eine Frage
kurzer Zeit sei.
Für England und Wales hat selbst diese vorläufige Mass-
regel des Sonntagsschlusses bis jetzt noch nicht durchgesetzt
werden können*).
Sehr charakteristisch für die eiserne Beharrlichkeit, mit
welcher die Engländer derartige Ziele verfolgen, ist die Ueber-
sicht der eingebrachten Bills. Sie zeigen eine lange vorbereitete
Minirarbeit von Seiten der Reformer. Wir dürfen nämlich
nicht übersehen, dass nicht alle Gegner der jetzigen Zustände
deswegen auch Parteigänger des ihnen zu radicalen Heilmittels
der Permissive Bill sind. Man möchte nicht sofort den kranken
Zahn mit der Wurzel ausreissen, sondern lieber versuchen, mit
Feilen und Plombiren einen erträglichen, hinhaltenden Mittel-
zustand zu schaffen. Um nun diese gemässigten Stimmen
zu gewinnen, hat man folgende Stufenleiter von Gesetz vor-
schlagen aufgestellt, in der Voraussetzung, dass der erste
Schritt der schwierigste ist, und dass die zum Beharren ge-
neigten Stimmen, wenn einmal in leise Bewegiing gesetzt^
durch eigene Logik und äusseren Druck weiter geschoben
werden würden.
Für Irland fordert man jetzt, als Consequenz des Sonntags-
schlusses, einen frühen Schluss am Sonnabend Abend. Man
stützt sich dabei auf die Erfahrung, dass der höchste Paroxismus
der Krankheit am Sonnabend Abend, unmittelbar nach der
wöchentlichen Auslohnung, eintritt.
*) Für die wohlthätige Wirkung des Sonntagsschlusses in Irland wird die Ab-
nahme des Alkoholconsums im vereinigten Königreiche während des Jahres 1879 an-
geführt Diese vertheilt sich nämlich so, dass auf England und Wales: 2,3^/0, auf
Schottland: 4,1 O/o, auf Irland: 12,50/0 Rückgang fallen. (Mai 1880.)
166 Die Trinkkrankheit in England.
Für England fordert man zunächst den gesetzlichen Schluss
am Sonntage. Dieser soll für's Erste facultativ sein, um die
Schwierigkeiten wegen der nothwendigen Erweiterung der
öffentlichen Vergnügen am Sonntage zu umgehen*).
Dann will man für Irland die fünf grossen Städte unter
■
Sonntagsscbluss stellen, dann den Schluss am Sonnabend Abend
für England erstreben u. s. w. —
Inzwischen ist auch Sir Wilfrid Lawson nicht unthätig
gewesen.
Am 12, März 1879 stand er wieder auf seiner alten Mensur
im Unterhause. Diesmal jedoch war nicht die Permissive Bill
auf der Tagesordnung, sondern Sir Wilfrid hatte eine „Resolution"
eingebracht folgenden Inhalts:
„Dass eine gesetzliche Befugniss, die Ertheilung oder Er-
neuerung von Schankconcessionen zu verweigern, in die Hände
der am stärksten hiebei interessirten und hievon berührten
Personen, also der Einwohner selbst, welche Anspruch auf den
Schutz gegen die Folgen des jetzigen Systems haben, gelegt
werden solle, und zwar durch eine wirksame Anwendung des
Rechtes der örtlichen Selbstbestunmung**.
Ich bedaure, dass der Rahmen dieses Berichtes mir nicht
gestattet, die Einzelheiten der durch schlagfertigen Hiunor
gewürzten Rede Sir Wilfrids wiederzugeben, die vom stark
gefüllten Hause mit ernstem Interesse gehört und von seiner
Partei mit lebhaftem Beifalle begleitet wurde. Er erklärte
offen, dass seine Resolution auf die Grrundsätze der Permissiv»
Bill hinsteuere, dass er aber absichtlich alle Einzelheiten bei
Seite gelassen habe, um allen denjenigen, die den von ihm
vertretenen allgemeinen Principe beipflichteten, Gelegenheit zu
geben, sich vorläufig für dieses Princip auszusprechen. Die
Resolution wurde von Mr. Birley, dem conservativen MitgUede
*) Kürzlich besprach in der »Church of England Temperance Society« der
Bischof von London die oben erwähnte erfreuliche Wirkung des Sonntagsschlusses in
Irland und fügte hinzu: „es ist daher nicht nur möglich, sondern sogar wünschens-
werth, das Gesetz in England und Wales durchzuführen'*. Dagegen werden allerdings
Gründe »so reichlich wie Brombeeren« vorgebracht werden, aber ich vennag nicht
einzusehen: warum nicht?"
Wie es mit den »Gegen-Anziehungen«, mit der Oefl&iung der Museen, Lese-
zimmer und Concerthallen gehalten werden solle, darüber sprach sich der Redner
nicht aus. (Mai, 1880.)
Die Trinkkrankheit in England, 167
für Manchester, unterstützt. Die Argiimente, welche die Gegner
der Resolution vorbrachten, lassen sich etwa unter folgende
Gesichtspunkte zusammenfassen:
1. Die Resolution sei zu allgemein und unbestimmt; man
wolle allerdings das vorhandene Uebel bekämpfen, jedoch
müsse ein darauf zielender, durchgearbeiteter Gesetzentwurf zu
richtiger Zeit, in richtiger Weise, von der richtigen Person ein-
gebracht werden.
2. Die Resolution laufe auf Teetotallism, nicht auf Massig-
keit hinaus; sie werde schwere Unbilligkeiten gegen Diejenigen
nothwendig machen, welche Capitalien im Getränkehandel an-
gelegt haben; sie sei ein Eingriff der Teetotallers in die
personliche Freiheit aller nüchternen Leute, denen man aus-
schliessliches Wassertrinken aufdrängen wolle, insbesondere
sei das Bier ein- nothwendiges Lebensmittel für die
arbeitenden Klassen.
3. Ein Gemeindebeschluss als entscheidende Instanz sei zu
schwankend; man solle die Entscheidung über die Concessionen
den Obrigkeiten belassen, bei denen sie seit 300 Jahren gewesen ;
der Einfluss der Brauer auf den gewählten Ausschuss werde
in kleinen Orten zu mächtig sein; es werde Unfrieden und
Unruhe geben; selbst alle gntgehaltenen Schanklocale würden
jedes Jahr von neuem Gefahr laufen, durch eine Majorität von
zwei und drei Teetotallers die Concession zu verlieren, das
sehe aber einer Confiscation sehr ähnlich. Uebrigens hätten
ja die gesammten Wahlkorperschaffcen des Königreiches bereits
über diese Frage abgestimmt und sie verworfen, indem sie
eine Majorität dagegen in das Parlament schickten.
4. Die Massregel würde in der Praxis unwirksam sein,
denn alle Trinker würden in die Nachbargemeinde laufen, wo
noch nicht geschlossen sei; der heimliche, gesetzwidrige Getränk-
handel werde blühen.
5. Man solle der fortschreitenden Volkserziehung Zeit
zur Wirksamkeit gönnen; die Trunkfälligkeit nehme bereits
sichtlich ab: man solle die Heilung der Krankheit der öffent-
lichen Meinimg überlassen. —
Die Regierung adoptirte .zwar diese Ansichten im wesent-
lichen ; sie erklärte sich indessen damit einverstanden, dass die
Gesetzgebung insoweit einer Verbesserung bedürfe, als bei
168 Die Trinkkrankheit in England,
neuen Concessionen die Bedürfniss frage strenger als bisher
geprüft werden müsse.
Die Resolution wurde mit einer Mehrheit von 88 Stimmen
abgelehnt. Die früheren Majoritäten gegen die Permissive Bill
waren gewesen: 1874: 226; 1875: 285; 1876: 218; 1877 wurde
die Bill zurückgezogen; 1878: 194 Stimmen.
Die Times weist auf diesen grossen Fortschritt hin. Femer,
so hebt sie hervor, hätten dieses Mal die Parteien keineswegs
geschlossen gestimmt, vielmehr 16 Conservative dafür und 34
Liberale dagegen, imter diesen allerdings auch der Führer der
Partei, der Marquis von Hartington. Der ganze Verlauf
zeige Symptome einer herannahenden Auflösung des Par-
lamentes. Die Resolution sowohl als die Gegenanträge und
die Debatten seien offenbar nicht auf ein sofortiges Resultat,
sie seien vor allem auf bevorstehenden Wahlkampf berechnet
gewesen.
Unter den im Parlamente zur Resolution gestellten
Amendements wurde auch geltend gemacht: dass man vor
weiteren Beschlüssen den Bericht abwarten solle, welchen der
vom Oberhause niedergesetzte Ausschuss baldigst erstatten
werde. — Dieser Bericht liegt, wie wir bereits wissen, jetzt
vor. Er ist von hervorragendem Interesse, sowohl wegen der
hohen Stellung und persönlichen Bedeutung seiner Verfasser,
als auch weil er versucht, von einem ruhigeren und gewisser-
massen imparteiischen Standpunkte aus, in dem wogenden
unversöhnlichen Widerstreite der Meinungen und Interessen
einen Mittelweg zu eröffnen.
Diesen Mittelweg soll die Empfehlung des sogenannten
Gothenburger Systems bilden, mit dessen Verbesserung durch
Mr. Joseph Chamberlain: also das sogenannte Birmingham
System.
Ein schwedisches Gesetz von 1855 ermächtigte jede Ge-
meindebehörde: den ausschliesslichen Verkauf der alkoholischen
Getränke einer Gesellschaft zu übertragen auf Grundlage des
Prinzipes: dass kein Privatmann irgend einen Gewinn aus dem
Verkaufe von Spirituosen ziehen soll. Gothenburg war die
erste Stadt Schwedens, in welcher sich nach diesem Gesetze
im Jahre 1866 eine solche Gesellschaft aus den angesehensten
Männern der Stadt bildete. Sie verpflichtete sich, den ganzen
.Die Trinkkrankheit in England. 15 J
Gewinn aus dem Unternehmen an die Stadtkasse abzuliefern
unter alleinigem Abzüge der billigen Verzinsung des ange-
legten Capitals zu 6 Prozent.
Letzteres betrug 114,000 Mark; der Gewinn im Jahre 1876
800,000 Mark; Gothenburg hat 65,000 Einwohner. Die Com-
pagnie verringerte die Schankconcessionen von 119 auf 56;
davon fallen 13 auf Weinhändler für Verkauf feinerer Spirituosen,
mit Ausschluss von »Bränwin", aus dem Hause; 10 Concessionen
wurden an Hotels, Clubs und Restaurationen vertheilt, 7 für
Verkauf aus dem Hause und nur 29 für Schänken. Letztere
sind geschlossen vom Sonnabend Abend sechs Uhr bis
Montag Morgen acht Uhr. „Es scheint", so bemerkt der Be-
richt der Lords ziemlich vorsichtig, „dass dieses System wohl-
thätig gewirkt habe. Jedoch herrsche in Gothenburg die Un-
mässigkeit immer noch in beträchtlichem Grade, und wenn auch
in geringerem als vor 1866, so sei doch, nach den Wahr-
nehmungen der Polizei, in neuerer Zeit die Trunkenheit dort
wieder gestiegen. Diese Steigerung erkläre sich indessen aus
der erhöhten, übervs'^achenden Thätigkeit der Polizeiorgane selbst,
aus der Erhöhung der Arbeitslöhne und aus dem sehr niedrigen
Preise der Getränke. Trotzdem stehe die Sache in Gothenburg
günstig, denn während von 1865 bis 1875 die aufgegriffenen
Trunkfalligen in Stockholm um 60 Procent, in Christiania um
122 Procent stiegen, fielen sie in Gothenburg um 21 Procent"'
Ein Engländer, der im vorigen Sommer Schweden bereiste,
schreibt aus Gothenburg an die Times: von den 56
concessionirten Schankstätten sind jetzt nur 37 offen; es fehlt
an Bewerbern um den Betrieb der Geschäfte. In den Wirth-
schaften bekommt man dort auch Speisen, Wein und Bier. Um
9 Uhr Abends werden sie sämmtlich geschlossen. Ich ass in
einer, welche im verrufensten Matrosenviertel liegt: die Speisen
waren gut, ich bekam ein frisches, weisses Tischtuch, meine
Gesellschaft waren Seeleute. Ich wanderte mehrere Tage lang
durch alle Strassen und konnte nur drei Betrunkene entdecken.
Soweit ist alles gut, die Sache hat aber ihre Kehrseite.
Trunkenheit ist unterdrückt aber Trinken ist anständig
geworden. Die Obrigkeit ist selbst der Wirth, also gehen
alle respectablen Leute jetzt ohne Bedenken in's Wirthshaus. —
Uebrigens ist die Stadtverwaltung entzückt über die Ein-
170 Die Trinkkrankheit in England,
richtung; Schulen, Armenhäuser, Hospitäler, öffentliche Gärten:
alles blüht auf, trotzdem dass man im Jahre 1854 22 Liter auf
den Kopf trank, im Jahre 1876 nur 10 Liter.
Zur Zeit ist das Gothenburger System in Schweden von
46 grösseren und kleineren Städten angenommen; nur eine
einzige Stadt mit mehr als 5000 Einwohnern steht noch zurück.
Die rasche Verbreitung entwickelte sich jedoch wohl nicht
allein aus dem Wunsche: der Unmässigkeit zusteuern, sondern
auch aus der Absicht: den grossen Gewinn zur Erleichterung
der Gemeindelasten zu verwerthen.
In ganz Schweden gab es 1 8 7 1 auf dem flachen Lande nur
324 Schanklokale und 136 Concessionen für Branntweinhandel
im kleinen. So fallen in diesem dünn bevölkerten Lande
auf I Schanklocal: 10,500 Einwohner, auf eine Handelslicenz :
25,000 Einwohner. Der gesammte Handel mit Spirituosen con-
centrirt sich demnach in den Städten.
Im Jahre 1877 brachte Mr. Chamberlain einen Gesetzent-
wurf ein, welchem das Gothenburger System zu Grunde liegt,
jedoch mit der Abändenmg, dass die Gemeindebehörde den
Getränkhandel nicht einer Gesellschaft überlässt, sondern in
eigene Verwaltung nimmt. Dieses sogenannte »Birmingham
System« soll sich auf Städte beschränken, es soll die Gemeinde-
behörde, auf Grund einer Abstimmung in der Gemeinde,
ermächtigen: freiwillig oder durch Enteignung das Eigenthum
aller Schanklocale zu erwerben; die Behörde kann diese
schliessen bis auf einen gewissen Minimalsatz im Verhältnisse
zur Einwohnerzahl, oder sie kann sie weiter betreiben lassen,
jedoch nur so, dass kein Privatmann irgend einen Gewinn aus
dem Handel zieht; in jeder Schänke sollen gleichzeitig warme
Speisen, Thee und Kaffee verabreicht werden; die Gemeinde
darf für diesen Zweck Geld aufnehmen; der Reingewinn soll
zur Hälfte der Schulsteuer, zur anderen Hälfte der Armensteuer
gutgeschrieben werden.
Der Bericht des Oberhauses theilt femer mit, dass die
Gemeindevertretung von Birmingham (400,000 Einwohner) sich
nahezu einstimmig bereit gezeigt habe, dcts Experiment zu
wagen. Dagegen erklärt nun aber der Vorstand der „Nationalen
Vertheidigungsligxie der concessionirten Schänkwirthe" in der
Times: dass die öffentliche Meinung in Birmingham sich durch-
Die Trinkkrankheit in England* 171 •
aus gegen Mr. Chamberlains Projecte wende und dass der Be-
richt der Lords sich in Illusion über dessen praktische Durch-
führbarkeit wiege!
Der Bericht gedenkt dann auch der Einwürfe gegen das
Gothenburger und das Birmingham System: principielle Un-
sittlichkeit des Getränkhandels für die Obrigkeit; Unfähigkeit
derselben zur Durchführung eines so umfassenden Unter-
nehmens; Belastung der Stadt durch schwere Schulden; Un-
wahrscheinlichkeit — im Falle des Gothenburger Systems —
eine Gesellschaft zu finden, die aus reiner Philanthropie, ohne
jeden Untemehmergewinn, das nöthige Geld schaffen und die
Verwaltung gut führen würde.
„Jedoch", meint der Bericht weiter, „sei die leider! zweifel-
lose Wahrnehmung: dass die Trunksucht sich trotz aller
einschränkenden Gesetze in den letzten Jahren nicht ver-
mindert habe, wohl geeignet, den grossen städtischen Ver-
waltungen über die soeben hervorgehobenen Bedenken
hinwegzuhelfen".
Die Empfehlung der Permissive Bill wird von den Lords
ausdrücklich abgelehnt.
Am meisten scheint der Ausschussbericht dem Sonntags-
schlusse geneigt zu sein. Er erwähnt, dass die „Gesellschaft
für Sonntagsschluss" eine freiwillige Abstimmung hierüber in
England und Wales mittelst Fragebogen veranlasst habe.
Dabei stimmten für den Schluss: 443,406 Familienväter;
dagegen: 56,173; neutral blieben: 32,100. Auch weisen die
Lords darauf hin, dass es eine Ungerechtigkeit sei, dem Dienst-
personale der Schänkwirthe die Sonntagsruhe zu entziehen, die
man allen anderen Aufwärtem (in Museen, Gallerien etc.) so
ängstlich und eifrig wahre. Es handle sich hiebei um 340,000
Männer und Mädchen in England und Irland. Während
Weiber imd jugendliche Personen in den Fabriken gesetzlich
nicht mehr als 56 Stunden wöchentlich arbeiten dürften, sei
dieses Schankpersonal in der Woche 108 Stunden, in London
sogar 123 1/2 Stunden, also mehr als 5 volle Tage in der
Arbeit
Die Kämpfer der United Kingdom Alliance haben
natürlich diesen schwachen Punkt in der englischen Sonntags-
feier sehr wohl erkannt: „Woher haben denn", so fragen sie,
172 Die Trinkkrankheit in England.
„in unserem frommen Lande die Trinkiocale allein das
Privilegium: am Sonntage geöffiiet zu sein?"
„Jedoch", so lautet die einigermassen überraschende
Conclusion der Lords, „ist die öffentliche Meinung zur Zeit
noch nicht reif ftir den Sonntagsschluss".
IV. Die Aussichten auf Heilung der Trinkkrankheit.
Im Vereinigten Königreiche werden, wie wir gehört haben,
jährlich für berauschende Getränke
2800 Millionen Mark
ausgegeben, also auf jeden Kopf der 33 Millionen Bevölkerung
84 Mark. Das wäre schon, selbst in einem verhältnissmässig
so reichen Lande und selbst für einen unschädlichen Luxus
eine sehr grosse Ausgabe. Aber diese Ausgabe wird von
allen einsichtigen und unparteiischen Beobachtern als die
hauptsächlichste Ursache der Verarmung und des Verbrechens
bezeichnet. Jeder Staatsmann also, jeder Patriot, der seinem
Vaterlande die grösste Wohlthat erweisen möchte, wird sich
mit der Frage zu beschäftigen haben: wie diese böseste aller
Pestilenzen aus der Welt geschafft werden kann?
Der einzige Weg, auf welchem sie aus der Welt geschafft
werden kann, geht, nach der festen Ueberzeugiing der Heil-
künstler in der United Kingdom AUiance, durch das Parlament
Es wird sich daher, für jetzt und für uns, diese Frage
praktisch dahin abschliessen:
Welche unter den zur Zeit im Parlamente für die Heilung
der Trinkkrankheit vorgeschlagenen Methoden hat die grosste
Aussicht auf praktische Anwendung und auf Erfolg?
I.
Lange Jahre hindurch wurde von den Anhängern des be-
stehenden Zustandes der Grundsatz geltend gemacht: „Man
kann die Menschen nicht mittelst einer Parlamentsacte nüchtern
machen".
Die Reformer antworten: „Wozu dann überhaupt ein-
schränkende Gesetze? Hebt sie doch auf und überlasst die
Heilung der alleinseliginachenden regelnden Wirksamkeit des
Freihandels und der Gewerbefreiheit. Hebt dann aber auch
die Einschränkungen des Giftverkaufes in den Apotheken auf,
Die Trinkkrankheit in England. 173
beseitigt die Schutzdeiche, die Hausthürriegel, deckt die
Brunnen auf und lasst die Blinden und die Kinder im Wege
der freien Concurrenz hineinfallen!"
Die Heilung durch freie Bewegung wurde in der Praxis
bereits versucht. Im Jahre 1830 schob man die Trinkkrankheit
dem Monopol der Schanklocale zu (es waren damals in Eng-
land und Wales etwa 50,000 Licenzen vorhanden) und gab, um
den Branntwein zu verdrängen, den Bierhandel in England und
Wales frei. Der damalige Premierminister, der Herzog von
Wellington, erklärte: dieser Triumph über die Interessen der
Monopolisten sei ein ebenso grosser Sieg als Waterloo. Was war
der Erfolg? Der bekannte Sydney Smith, der für die Bill ge-
stimmt hatte, schrieb einige Monate darauf: „Das neue Bier-
gesetz hat seine Wirksamkeit begonnen. Jetzt ist jedermann
betrunken. Alle brüllen und johlen, ausser diejenigen, die
sich bereits am Boden wälzen. Das souveraine Volk ist in
einem viehischen Zustande".
Im Jahre 1860 versuchte Mr. Gladstone die Branntwein-
vöUerei durch Herabsetzung der Weinzölle zu bekämpfen.
Und das Ergebniss dieser beiden Versuche mit der ge-
werblichen Freiheit? Im Jahre 1869 mussten Bier und Wein
wieder unter Concessionszwang gestellt werden.
So findet das System der freien Bewegung heute keinen
offenen Vertreter mehr im Parlamente. Verschämt erscheint
es wohl noch in dem Argumente: man solle die Heilung der
Trinkkrankheit der fortschreitenden Volkserziehung und der
geläuterten, öffentlichen ^Meinung überlassen. Allerdings hat
sich noch kürzlich eine Stimme von grossem Gewichte, die des
Lord Kanzlers Earl Caims in diesem Sinne ausgesprochen.
Wenige Tage vor der letzten grossen Debatte im Unterhause
präsidirte Lord Cairns einer Vorlesung des bekannten
amerikanischen Mässigkeitsapostels, Mr. Gough, im „Christlichen
Jünglingsvereine" und schloss seine einleitenden Worte wie
^^Ig^- »Ich selber hege nur geringe Hoffnung, dass man die
Menschen durch ein Gesetz nüchtern machen wird. Ich hoffe
mehr auf die Wirkung anderer Ursachen und Einflüsse: auf
cKe Macht der Ueberredung und des Beispiels; auf einen
Wechsel der Gewohnheiten, Ueberzeugungen und des
Geschmackes, welcher eintritt, sobald man das Licht und die
1 74 Die Trinkkrankheit in England.
Macht des Evangeliums in den Herzen der Menschen zur
Wirksamkeit bringt".
Dass die AUiance News und die anderen Organe der
United Kingdom AUiance mit diesem quietistischen Stand-
punkte des Lord Kanzlers einigermassen unsanft umspringen,
können wir uns wohl vorstellen.
2.
Die gegenwärtige Majorität des Unterhauses hat sich, wie
wir gesehen haben, seit den letzten Jahren schrittweise zu einer
polizeilichen Regnlirung des Getränkhandels in der be-'
schränkenden Richtung veranlasst gefunden.
Die United Kingdom AUiance weist auf diesen Verlauf
hin. „Die Politik der gesetzlichen Regulirung hat jetzt
fünfzig Jahre lang freies Spiel gehabt — seht die traurigen
Resultate! Sie ist vollständig niedergebrochen. Daneben hat
es an Erziehung und Belehrung durch Geistliche und Laien,
Templer, Teetotaller und Cacaopalast-Gesellschaften wahrhaftig
nicht gefehlt!
„Aber eines wissen wir jetzt alle: sobald der Getränk-
handel und das Trinken erleichtert wurden, nahm die Trunk-
sucht zu; sobald erschwert, nahm sie ab.
„Auch Vater Mathews erziehender Einfluss war in gewissem
Grade nur ein vorübergehender. Nicht etwa, dass die öffent-
liche Meinung in Irland gewechselt hätte, aber in der Bewegung
der Gemüther entstand ein Rückstau. Die vom Gesetze ge-
billigten Versuchungen waren geblieben; die schwachen
Menschen wurden bei Tausenden rückfällig. — Im Jahre 1867
war der Erwerb gedrückt, der Alkoholconsum fiel um 80 MiUionen
Mark; bessere Zeiten folgten, in neun Jahren stieg er um
750 Millionen Mark; durch die jetzigen schlechten Zeiten ist er
wieder im Sinken. — Wir Menschen werden nicht, wie etwa
logische Maschinen, nur durch Gründe und Thatsachen geleitet
sondern weit mehr durch den Einfluss der xms umgebenden
Verhältnisse. Daher muss vor aUem die Gelegenheit beseitigt
werden, welche »die Diebe macht«. Wir haben jetzt im Ver-
einigten Königreiche über 200,000 Concessionen und ein Gang
durch eine der grossen Verkehrsadern von London kann dar-
über nicht zweifelhaft lassen: dass unter sechs Schanklocalen
Die Trinkkrankheit in England. 175
fünf jedenfalls überflüssig und schädlich sind. — Ein sehr
wahres Wort sprach neulich Mr. Gladstone: „wir müssen vor
allem es den Menschen leicht machen: Recht zu thun, und
schwer: Unrecht zu thun,
„Warum gleitet die vielseitige Belehrung und der Reiz
der einladenden Kaifeehäuser von dem echten, eingefleischten
Trinker ab, wie ein Spritzregen von einem Kautschukmantel?
Darum: die einzige und wahre Ursache, weswegen die Menschen
Alkohol trinken und sich damit vergiften, ist: dass ihnen das
Getränk verführerisch wohlschmeckt! Ein Quäker sass einst
in einem Bar room. Da kam ein Mann herein, blies in seine
Hände und rief: »ein Glas Branntwein! mir ist so kalt«. Dann
kam ein anderer gelaufen, trocknete sich den Schweiss von
der Stirn und rief: »ein Glas Branntwein! mir ist so heiss«.
Darauf sprach der Quäker ruhig aus seiner Ecke: »ein Glas
Branntwein! es schmeckt mir so gilt«. Der Quäker allein
redete die Wahrheit".
3-
Wenn wir die Ergebnisse erwägen, zu denen der Bericht
der Lords gelangt, welche sind sie?
Es wird constatirt, dass die Krankheit nicht abgenommen hat.
Es wird angerathen, das ausländische Gothenburg-System
mit der von Mr. Chamberlain vorgeschlagenen Verbesserung
zu versuchen. Dieser Massregel wird nachgerühmt, dass man
alsdann unverfälschte Getränke zu billigem Preise erhalten
würde, und dass die beim Gewinne unbetheiligten Verwalter
der Schanklocale ihre Kunden nicht zum Trinken anreizen würden.
„Sollten", so fragt die United Kingdom AUiance, „die
beiden ersteren Erwartungen wohl wirklich geeignet sein, das
Trinken zu vermin dern? sollte die Anreizung durch die Wirthe
wohl jetzt so hervorragend wdrken, neben der eigenen Neigung
der Trinker?"
Die „Alliance News" erklärt einfach: die Unmöglichkeit
der praktischen Ausführung des Gothenburg-Chamberlain-
Systems sei ja im Berichte des Lords selbst schon völlig
schlagend dargethan; der ganze Vorschlag sei werthlos,
das Ergebniss eines Compromisses zwischen den Parteien inner-
halb der Commission und nur gemacht, um überhaupt irgend
etwas gemeinschaftlich vorzuschlagen.
1 i 6 Dte Trinkkrankheit in England,
4.
„Es bleibt daher*', so schliesst die United Kingdom AUiance,
„von allen legislatorischen Vorschlägen nur der unsrige übrig:
Verbot des Getränkhandels durch autonomischen Beschluss
der Gemeinde, also Sir Wilfrid Lawsons Permissive Bill".
Kürzlich erzählte Sir Wilfrid, ein Mann von sehr gesundem
Humor, auf einem grossen Temperance-Meeting in Nottingham
seinen Zuhörern folgendes Gleichniss:
„Wir waren auf einer Versammlung im Norden und einige
würdige Geistliche predigten über „Massigkeit", wie sie der
Apostel Paulus in seiner diätetischen Ermahnung dem
Timotheus empfiehlt, (i Tim. 5, 2^: „Trinke nicht mehr
Wasser, sondern brauche ein wenig Wein um deines Magens
willen und dass du oft krank bist**.) Völlige Enthaltsamkeit
verwarfen die Reverends demnach. Da erhob sich ein alter
Farmer und sagte: derartige Reden höre ich schon seit
40 Jahren, aber die Leute sind dadurch auch nicht ein bischen
nüchterner geworden. Es fallt mir dabei immer ein, was ich
einmal in einer Heilanstalt für Schwachsinnige mit ansah. Von
Zeit zu Zeit werden die Patienten dort geprüft: ob sie im
Stande sind, ausserhalb des Asyls zu leben? Man führt sie an
einen grossen Trog voll Wasser, der durch ein kleines stets
laufendes Rohr gespeist und gefüllt erhalten wird; dann gibt
man ihnen einen Schöpflöffel in die Hand und weist sie an: den
Trog zu leeren. Wer noch nicht wieder hinreichend vernünftig
geworden ist, löffelt nun darauf los, während das Wasser aus
dem Rohre ebenso stark zuläuft, als sie es auslöffeln: wer aber
kein Idiot ist, der verstopft zuerst und vor allem das
Zulaufrohr".
Als wir vor 25 Jahren anfingen, so fahrt die United
Kingdom AUiance fort, die öffentliche Meinung zu bearbeiten^
erklärte man uns für irreligiös, die wir die Vorsehung corrigiren
und die gute Gottesgabe: „Alkohol" wieder aus der Welt
schaffen wollten. Jetzt haben wir schon eine der mächtigsten
Klassen Englands gewonnen, die Aristokratie der Arbeiter.
Nicht so fruchtbar allerdings war unsere Propaganda im eigent-
lichen Mittelstande und in den höchsten socialen Schichten.
Die Trinkkrankheit in England, 177
Wir knüpfen einfach an die Lehre des Erlösers an. Was
soll, neben dem täglichen Brote und der Sündenvergebung,
unsere vornehmste Bitte sein? »führe uns nicht in Versuchung^
Dieses grösste Anliegen der schwachen Menschenkinder ist der
Ausgangspunkt unserer Arbeit.
Und das ist nicht etwa eitel fromme Theorie; hört nur,
wie es wirkt, wenn die Versuchung fem gehalten wird:
Vor dreissig Jahren schon ermittelte die Generalsynode der
schottischen Kirche : dass dort von 478 Kirchspielen 40 ohne
Schänken waren und dass in diesen 40 Bezirken keine Trunken-
heit vorkam.
Vor zehn Jahren wurden in der südlichen Kirchenprovinz
Englands, der Erzdiöcese Canterbury, über 1000 solcher von
Schänken freier Kirchspiele ermittelt und zugleich der hervor-
ragende Stand der Sittlichkeit in ihnen constatirt.
In Irland hat die Stadt Bessbrook 3000 Einwohner, aber
kein Schanklocal und die Trunksucht ist dort unbekannt.
Im Jahre 1870 berichtete Lord Claud Hamilton, einer der
Vicepräsidenten der United Kingdom AUiance und M. P. für
die Grafschaft Tyrone in Irland, (mit 10,000 Einwohnern): „dort
giebt es jetzt keinen Handel mit berauschenden Getränken
mehr; früher waren die öffentlichen Wege stets durch trunkenes
Gesindel unsicher und daher ein grosser Aufwand von Polizei-
mannschaft erforderlich. Jetzt ist kein einziger Polizeimann im
Districte und die Armensteuer ist auf die Hälfte gesunken".
Wir besitzen ferner ein Schreiben vom Gouverneur des
Staates Maine in Nordamerika, vom 24. April 1878, folgenden
Inhaltes: „Nach einer Erfahrung von 25 Jahren wird das ge-
setzliche Verbot der alkoholischen Getränke von unseren beiden
politischen Parteien als ein wohlthätiges anerkannt. Das Ge-
setz wird mit derselben Leichtigkeit angewendet wie jedes
andere Strafgesetz. Ich denke nicht, dass die Bevölkerung von
Maine aus irgend einem Grunde wünschen könnte, zum alten
System der Schankconcessionen zurückzukehren".
Im Mai 1878 ist in Canada ein Temperaneegesetz erlassen,
im wesentlichen auf der Grundlage unserer Permissive Bill;
in den Städten und Grafschaften wird davon der ausgedehnteste
Gebrauch gemacht.
„Wie kann man nun", so folgert die United Kingdom
Ompteda, L. v., Bilder. 12
178 Die Trinkkrankheit in England.
AUiance, „wie kann man den Einwohnern von England ver-
weigern, was ihren Brüdern in Canada gewährt ist? Wie kann
man es den Einwohnern jeder einzelnen Stadt und jedes Kirch-
spiels verweigern, wenn sie den Versuch machen wollen, sich
und die Ihrigen gegen die verderblichen Folgen des jetzigen
Systems der Schankconcessionen, gleichwie in Canada, zu
schützen?"
„Man sollte doch denken", sagte Sir Wilfrid kürzlich m
einer Rede, „das sei keine politische Parteifrage! Vor einiger
Zeit feierten wir die Vollendung einer Abtheilung von neuen
Bauquartieren in einer der Vorstädte Londons; sie enthält
I200 Häuser und 8000 Einwohner. Es befindet sich darin kein
einziges Schanklocal. Der Premierminister (Lord Beaconsfield)
war auch gegenwärtig und sprach in Beziehung hierauf
Folgendes: „Der Versuch, den Sie gemacht haben, ist gelungen
xmd kann daher kaum mehr »Versuch« genannt werden; es ist
ein Erfolg, es ist ein Triumph der sittlichen Erhebung einer
ganzen communalen Körperschaft".
„Nun*', fragt Sir Wilfrid, „warum sollen denn andere Ge-
meinden diesen Versuch, der bereits ein Erfolg ist, nicht machen
dürfen? Die richtige Antwort darauf ist: weil imsere
moralischen und christlichen Männer sich nicht entschliessen
können, ihre Moral und ihr Christenthum auch in ihrer Politik
zur Anwendung zu bringen; weil sie ihre Parteipolitik über das
wahre Interesse des Landes stellen. Die grossen Brauer und
Getränkhändler sind sehr reich — Reichthum ist Macht —
diese Macht schickt ihre Majorität in's Unterhaus".
Ein strenges Urtheil. Ob es ein gerechtes ist? Erst die
nächsten Wahlen werden darüber die praktische Entscheidung
geben. Augenblicklich also kann niemand sagen: wann und
wie dieser grosse Streit ausgetragen werden wird. Wird die
United Kingdom AUiance siegen? Wird die »Schankwirth-
partei« nochmals die Oberhand behalten? Wird man einen der
vielen vorgeschlagenen Mittelwege betreten? Der letzte Jahres-
bericht der United Kingdom AUiance lautet sehr hoffnungsvoll:
„Kommende Ereignisse werfen ihren Schatten vor sich her,
und wir können nicht verkennen, dass wir während des letzten
Jahres (1878) in der Gesetzgebung viel Feld gewonnen haben.
Die Trinkkrankheit in England, 179
Wir müssen aber, das wissen wir wohl, nicht nur eine einfache
Majorität im Parlamente, wir müssen die überwältigende
Mehrheit der Nation für uns haben. Die öffentliche Mei-
nung aber wächst nur langsam, daher werden wir unablässig
%vrühlen, bis wir den grossen Freudentag erleben, an
welchem sich unsere Alliance wird auflösen können*).
Wenn dieHeilung der Trinkkrankheit wirklich gelänge,
so würde damit England allen andern Nationen, die mehr oder
weniger an demselben Uebel leiden, ein neues, grosses Beispiel
der Selbsthülfe geben. Nach den uns bekannt gewordenen
Symptomen dürfen wir wohl die Prognose stellen: England ist
schwer krank, aber es trägt die starke Lebenskraft und die
volle Fähigkeit zur Reaction gegen den KrankheitsstofF aus-
reichend in sich, um wieder zu gesunden.
Jedenfalls aber weisen die 14,000 englischen Geistlichen,
welche die Adresse wegen der „Nationalsünde" überreichten,
auf den rechten Weg zur Genesung, da jeder von ihnen an
jedem Sonntage mehre Male vor versammelter Gemeinde betet:
„Führe uns nicht in Versuchung!"
*) Die Entscheidung des Kampfes ist allerdings aus dem Ergebnisse der letzten
Neuwahlen heute noch nicht direct abzuleiten; auch stellt die neueste Thronrede
keine Gesetzgebung über die Xrinkkrankheit für die laufende kurze Sitzung in
Aussicht. Jedoch ist die siegreiche liberale Partei dem Interesse der Schankwirthe
entschieden so wenig günstig gesinnt — wie ihnen Mr. Bright kürzlich ziemlich un-
Terblümt erklärt hat — dass die Regierung wohl höchst wahrscheinlich im nächsten
Jahre mit reformatorischen Vorschlägen her\'ortreten wird, wenn diese vielleicht auch nicht
ganz so weit gehen werden als Sir Wilfrid Lawsons »Local Option Bill«. (Mai, 1880).
12"
Irrfahrten in London.
I. Das unterirdische Labyrinth.
VV eit ab vom grossen Strome des Lebens, der London von
Osten nach Westen durchbraust, liegt der Regent's Park. Er
macht einen veralteten Eindruck, wie eine gefallene, zur Ruhe
gesetzte Grosse und doch ist er unter den g^rossen Parks
im Westend der jüngste. Hier rauschte Jahrhunderte lang ein
weiter königlicher Jagdforst; zu Cromwells Zeiten wurde er
niedergeschlagen; dann lag die Gegend viele Generationen
hindurch als wüste Weide. Vor sechzig Jahren etwa, als das
heutige Westend noch kaum begonnen hatte, sich um
Hyde Park zu krystallisiren, damals sollte hier ein vornehmer,
architektonisch grossartiger Stadttheil gegründet werden, fem
vom Lärm der City, der bereits über den Strand hinaus bis
Leicester Square vordrang; ein Stadttheil von Palästen, welche
drei Seiten eines Parkes von etwa siebenhundert Morgen
Grundfläche einfassen. Aber diese Paläste bestehen eigentlich
nur in breiten anspruchsvollen Fassaden, die mit einem üppigen
Reich thum von Stilmengerei ausgeführt sind. Fast ein jeder
von ihnen zerfallt im Innern m eine Anzahl schmaler Häuser
von drei bis vier Fenstern Front, echte englische Wohnhäuser.
Ein mächtiger Herr, König Georg IV, wollte das aristokratische
London hier niederlassen, aber eine noch mächtigere Dame:
die Fashion, siedelte das High Life um Hyde Park an, in
Belgravia und Tybumia.
So liegt der grosse Park mit seinem langgestreckten und
gewundenen See, der einem breiten, hie und da um Inseln
stromenden Flusse gleicht, mit seinen jetzt herangewachsenen
dichtbelaubten Baumgruppen einsam da. Nur fröhliche
184 Irrfahrten in London.
Kinder und stille Menschen beleben ihn. Gegen Norden
schweift der Blick über die entfernte hügelige, jetzt schon
halb städtische Landschaft von Primrose Hill.
In der Peripherie von Regent's Park stossen wir an
einigen Punkten auf verstreute Niederlassungen: parkähnliche,
schattige, alte Gärten um kleine Schlösschen, im Stile der
Gothik vor fünfzig Jahren. Hier führen die Bewohner zu allen
Jahreszeiten eine stille träumerische halb ländliche Existenz,
und es ist von hier eine Reise bis zur „Stadt". —
Mit meinem Freunde R., der mich vor zwei Tagen durch
sein Erscheinen in London angenehm überraschte, während ich ihn
noch, auf den Spuren Schliemanns, im fernen Osten wähnte, hatte
ich schon am frühen Vormittage hieher einen Ausflug gemacht
Wir durchwanderten den im Norden von Regent's Park ge-
legenen Zoologischen Garten, wo ich der einzigen Gelegenheit
in meinem Leben: auf einem zahmen Elephanten zu reiten, nur
schwer widerstand. Freund R., den vielgewanderten Orient-
reisenden, Hess diese Versuchung selbstverständlich kalt Dann
sprachen wir in einem der stattlichsten jener halb ländlichen
Landsitze, der Abbey Lodge am Hannover Gate, bei einem
gastfreien deutschen Landsmanne, wohlbekannten Namens, vor.
Im Scheiden fragten wir nach der nächsten Station der
Metropolitan Eisenbahn, oder wie ihr populärer Name lautet:
des „Underground". Wir wurden nach Bakerstreet gewiesen.
„Achten Sie aber wohl darauf, dass Sie in den richtigen
Zug kommen und richtig wieder aussteigen. Auf der nächsten
Station „Edgeware Road" theilt sich die Bahn. Der „Under-
ground" hat vielfaltige Verzweigungen. Sie sind beide erst kurze
Zeit hier und schon mancher Fremdling ist in dieser hastigen
dunklen Welt auf Irrwege gerathen". —
Wir traten in das Haus ein, das sich durch sein Schild als
„Bakerstreet District Metropolitan Railway Station" auswies —
und lösten unser Billet nach Victoria Station, wo R^ im
Terminus-Hotel wohnte; Auf einem Absätze der dunklen Treppe,
die wir jetzt hinabstiegen, controlirte ein Beamter unser
Billet und murmelte dabei eine kurze Phrase, die höchst
%yahrscheinlich zu unserer weiteren Direction dienen sollte.
Wir verstehen etwa soviel als: „auf dieser Seite bleiben".
Unten gelangen wir in eine Glashalle, die durch ein-
Irrfahrten in London, 185
fallendes Oberlicht spärlich erhellt wird und von Schienen
durchzogen ist. Diese verschwinden zu beiden Seiten in die
Stollenmündungen dunkler weiter Tunnels. In der Höhe fuhrt
eine Brücke quer über die Gleise auf den gegenüberliegenden
Perron hinab.
Wir bleiben diesseits.
Zur gprösseren Sicherheit wende ich mich nochmals wegen
des richtigen Zuges an den dienstthuenden Portier. Die
Antwort lautet: „In zwei Minuten". Jetzt erhebt sich ein
rasch anschwellender Donner und ein Zug schiesst aus dem
Tunnel links hervor. Er hält am jenseitigen Perron. — Ein
kleiner Anfall von Eisenbahnfieber erfasst uns, wider besseres
Wissen eilen wir dem Fusse der Brücke zu — der Zug ist
schon wieder nach rechts verschwunden.
Also unsere Richtung ist in den Tunnel links.
Ueber uns zeigen drei grosse, in weiten Zwischenräumen
vorspringende Schilder die Plätze an für das Einsteigen in
Klasse I — II — IIL Wir stellen uns gehorsam bei
,JClasse I" auf.
Jetzt schiesst ein donnernder Zug aus dem Tunnel rechts
hervor. Noch hält er nicht, so öffnet man schon eilfertig von
innen die Thüren, Menschen stürzen heraus — andere hinein.
Vor uns weit und breit kein Wagen erster Klasse zu sehen. — .
„Wo sind sie?" — Vermuthlich dort ganz hinten — »Wo ist der
Conducteur?" — Wir irren die Reihe entlang. • Da geräth der
Zug bereits wieder in Bewegung, ein Portier schlägt jede an ihm
vorbeifahrende Thür zu ! — Fort ist der Zug — wir bleiben sitzen.
„Aber wir wollten mitfahren, nach Victoria Station, wir
konnten den richtigen Waggon nicht finden, es war ja gar keine
Zeit einzusteigen, niemand öffnete"» . .
Antwort: „In sechs Minuten".
Wir fassen uns in Geduld, gehen eine kurze Strecke auf
und ab und studiren einstweilen im Halbdunkel die unzähligen
grossen Placate an den Wänden: Annoncen jeder Art, und
über der grössten Gruppe ragt auch hier, wie überall in
London, in rothen Riesenlettem: „Willing & Co." empor.
Jetzt wieder ein nahender Donner, unser Zug stürmt
herein — hält -* wir stürzen blindlings in's nächste Coupe,
186 Irrfahrten in London,
ohne Ansehen der Klasse — fort, — hinein in den finsteren
Tunnel links!
Einmal in Bewegxing, ist es nicht so schlimm; die Waggons
sind mit Gas erleuchtet, das auf der Locomotive bereitet wird;
es ist hell genug zum Lesen und natürlich liest jedermann.
Zuweilen sausen wir durch einen Schein von oberem Tages-
lichte, dann sieht man wohl auf Nebengleisen Wagen stehen
oder in einer Aushöhlung der Wand fliegt ein Wärter mit
Laterne vorbei, aber alles ist schatten- und traumhaft
Der Zug fahrt in eine Halle ein und steht.
— „Station Edgeware Road" — !
Fast alle Fahrgäste steigen aus, wir bleiben, wir sind ja
im richtigen Zuge nach Victoria Station; wir vertiefen uns also
mit Seelenruhe in Willing & Co. und die Neuigkeiten der Fall-
Mall Gazette.
Der Zug fahrt imd hält — fahrt und hält — Nach einiger
Zeit bemerke ich beim Lesen — bereits war ich auf der
vierten Seite des Blattes angekommen — , dass das Tageslicht
im Coup6 die Oberhand gewinnt; ich sehe mich um, wir ver-
lassen soeben eine offene heitere Halle, links und rechts
erfrischt grüne halb ländliche Umgebung unsere überreizten
Augen.
„Wo sind wir denn wohl?" fragt Freimd R., der am
Fenster sitzt.
„Ich denke, zwischen Kensington Palace und dem Museum
von South Kensington. Wir haben jetzt Hyde Park in
grossem Bogen rechts umfahren. Ich dachte nicht, dass die
Gegend hier noch so ländlich offen sei.
„Ich sehe nichts von einem Palace", erwiderte R. umher-
blickend, „weder rechts noch links. — Was ist denn wohl dort
oben rechts? ein Friedhof! wie es scheint sehr ausgedehnt;
gieb einmal den Bädeker her".
„Allerdings", stimme ich zu, „ein sehr grosser Friedhof*.
Wir Studiren die flatternde dreigetheilte Karte. „Hier
steht's: „Kensal Green Cemetery".
Der Zug hält Wir recken die Hälse, um unter den
unzähligen Placaten, die das Auge verwirren, den Namen der
Station aufzufinden. Auch hier drängt sich wieder der rothe
Irrfahrten iit^ondon. 187
„WilHng & Co." vor, die Firma des grossen Generalagenten
für Riesenplacate. —
Endlich finde ich den Namen: „Notting Hill Station".
».Aussteigen!" rief ich, »»aussteigen! wir sind ja gar nicht
mehr in London» sondern schon auf dem halben Wege nach
Windsor!"
Glücklich springen wir noch auf den Perron und der Zug
saust davon. —
Wir tragen dem nächsten Beamten unsem Fall vor.
Zufallig hatte er Zeit zu hören und zu antworten:
»»Ueber die Brücke, das andere Gleis, nächster Zug". Das
gelang; — in einer Viert elsturifle waren wir wieder richtig
über Bishops Road in Edgeware Road, auf der Hauptlinie
für Victoria Station eingetroffen.
„Jetzt werde ich die Leitung in die Hand nehmen, Du ver-
stehst das noch nicht recht", erklärte Freund R. mit der
Sicherheit eines Vielgereisten.
Er trat zum Beamten, kam zurück und winkte mir:
„Ueber die Brücke, andere Seite".
Nach wenigen Minuten rollten wir wieder vorwärts, ge-
hoben durch das angenehme, sichere Gefühl, jetzt auf der
richtigen Spur zu sein: Bald sollten uns nun die alten Bäume
von Kensington Gardens winken — es war wirklich sehr wohl-
thuend. —
!Mein Auge verlässt jetzt Bädekers rothe Linien nicht
mehr —
Station. —
„Das muss Paddington Praed Station sein, nach der Karte".
Ich suche das Schild: — „Willing & Co.!" Hol' ihn . . .
Hier: »»Bishops Road!" Hinaus sprang ich» ärgerlich und
lachend.
„Oho, grosser Reiseführer, komm heraus!" rief ich, „wir
sind wieder auf der falschen Linie!"
Er sah mir ungläubig nach und — folgte. Da standen
wir nun wie die Oh! —
,Jetzt hab' ich's aber satt", erklärte ich. „Vor allem hinaus
aus diesem verdammten Labyrinthe von Stationen; wir müssen
den Zauberring durchbrechen, in dem ein böser Geist uns auf
Irrwegen im Kreise, herumführt. Draussen finden wir wohl ein
188 IrrfaU0ftn in London.
Cab oder einen menschenfreundlichen Omnibus, die uns wieder
in bekannte Gegenden bringen".
Wir stiegen zunächst die grosse Treppe vor uns hinauf,
an' welcher der „Way out'* zu lesen war. Oben standen wir
wiederum rathlos da, denn wiederum fuhrt vor uns nach jeder
Seite eine breite Treppe hinunter. —
Dem Himmel sei Dank! ein Billetcontroleur nähert sich.
Wir klagen ihm unser Leid, so kurz und bündig als möglich.
Er lächelt sachverständig überlegen aber nicht ohne Wohl-
wollen.
„Sie sind jetzt zum zweiten Male auf der falschen Linie,
aber das Unglück ist hier niCht so gross. Die breite Treppe,
rechts vor uns, fuhrt Sie hinab in die gprosse Halle der
Paddington Station der Great- Western -Bahn. Kreuzen Sie
diese Halle und gehen dann quer über die Strasse; dann haben
Sie Paddington Praed Station der Metropolitan -Eisenbahn
vor sich".
„Vielen Dank!" betheuerten wir; „haben wij^ nachzuzahlen
für die Excursion der letzten Stunde?"
„Nichts, es ist nicht der Rede werth; ich nehme an, Sie
irrten sich nicht mit ^^r Absicht: die Gesellschaft zu be-
schädigen". —
Und richtig, alles traf ein wie der kluge Mann prophezeit hatte.
Auch Freund Bädecker drohte von hier aus mit keiner Zweig-
bahn mehr und wir rollten jetzt in dem beruhigenden Gefiihle
baldiger Erlösung durch die Schrecken des Underground dahin.
„Nun, grosser Orientreisender^S interpellirte ich Freund R.,
„Du siehst, ich bin gerechtfertigt; das geht hier doch ein wenig
anders zu als am goldnen Hom".
„Sage lieber**, erwiderte R. bedächtig, „wir sind beide
gleich ungerechtfertigt. Aber die Sache ist die: im Orient
wissen die Menschen heute noch nicht: was Zeit ist? und hier
— haben sie es beinahe schon wieder vergessen!"
„O ja!" stimmte ich bei, „aber nur für andere — nämlich
dass zu gewissen Dingen doch ein gewisses Minimum von Zeit
erforderlich ist. Mich wundert, dass die Züge des Underground
überhaupt noch die Zeit finden zu halten; man sollte irgend
eine Maschine aufstellen um die Menschen, wie die Postbrief-
Irrfahrten in London, 189
beutel, in den fahrenden Zug hinein und wieder hinaus zu
expediren". < —
Wir lachten beide; es war so erfreulich, beinahe rührend,
wieder mit Gemüthsruhe lachen zu können.
„Uebrigens", fuhr ich fort, „kommt doch noch hinzu, dass
die Directiven der Beamten für uns ganz speciell unverständ-
lich sind. Die Männer sind gewohnt, Ortskundigen zu ant-
worten. Für diese genügt das einzige kurze Wort. Deshalb
wird auch nie ein.e Station oder ein Wagen Wechsel ausgerufen.
Wir Fremde sind natürlich unbehülflich und können nicht fertig
werden ohne einen wortreichen Führer, womöglich gar einen
„gemüthlichen" Sachsen.
»Victoria Station!«
„Endlich; wir fühlten uns hier beinahe wie zu Hause, denn
Victoria Station war bis jetzt der einzige Punkt, der in unserer
Topographie von London völlig festlag und um den wir uns
daher mit Vorliebe drehten.
„Jetzt rasch die Billets nach Alexandra Palace; er steht
auf dem heutigen Programme als Nachmittagsvergnügen".
Am Ausgange der Halle nimmt man uns die alten Billets:
„Bakerstreet — Victoria Station" ab.
Wir erkundigen uns dabei über Weg und Zeit zum Alexandra
Palace.
^ Der Beamte sieht uns verwundert an.
„Sie wollen dort hin?" fragt er mit Betonung.
„Allerdings; über King's Gross Station, nicht wahr?"
„Gewiss, das ist^der Weg; aber — Sie kommen ja jetzt
beinahe von King's Gross her. Von Bakerstreet hätten Sie bis
dort nur zwei kleine Stationen gehabt".
„Und wir fahren von Bakerstreet hierher jetzt bald zwei
Stunden !"
Der Mann antwortete nicht weiter, aber ich wusste — was
er von den »Fremden« dachte. — Well, never mind!
„Nein, nicht zurück", rief jetzt R., als wir zum Billet-
hureau hinaufstiegen, „vorwärts, gen Osten; ich dächte, den
»näheren« Weg nach King's Gross kannten wir jetzt gerade
ausreichend".
Nach Bädekers Karte bildet die Metropolitan-Eisenbahn,
welche wir heute zu erforschen verurtheilt scheinen, eine
190 Irrfahrten in London.
geschlossene Ellipsoide auf dem linken Ufer der Themse, deren
südlichster Punkt etwa Victoria Station ist, der nordlichste
King's Gross. Wir kamen also von Bakerstreet aus dem
Norden durch den äussersten Westen nach Süden; nun müssen
wir durch Osten nach Norden zurück, eine vollständige Windrose.
Von Victoria Station geht es jetzt zur Westminster Brücke
und von dort, unter dem prachtvollen neuen Themse-Quai, dem
Albert Embankment entlang, den Strom hinab bis zur Blackfriars
Brücke.
Hier verlassen wir den unterirdischen Zug, der bis zum
Mansion House weiter rollt, und steigen eine hohe Treppe
hinan zur Oberwelt. Zu Fusse erreichen wir reisch die Station
Ludgate Hill neben St. Paul's Kathedrale und fahren nun auf
dieser Linie quer durch die City, von Süden nach Norden, zum
Bahnhofe von King's Gross.
Die Bahn durchschneidet dia Hügel und Thäler von High
Holbom; sie läuft nur in Tunneln und tief versenkten engen
dunklen Einschnitten, abwechselnd mit hoch aufgemauerten
Viaducten. Zu beiden Seiten bemerkt man, dass — überhaupt
gar keine Aussicht ist und — liest weiter in der Pall-Mall.
Hinter King's Gross geht die gedrängte Gity in die lockere
geräumige Vorstadt über; jetzt wird die Gegend halb, dann
ganz ländlich. Wir steigen die grünen buschigen Hügel von
Middlesex liinan und halten, nach einer weiteren halben
Stunde, an der Station von Alexandra Palace.
n. Bauernfänger.
Hier verlassen wir den Zug am Fusse eines breiten, sanft
abfallenden Hügels und betreten einen offenen Park; weite,
wenig gepflegte Grasflächen mit kurzem festgetretenen Rasen,
wenige und noch junge Bäume, einige immergrüne Gruppen;
Gesammteindruck : kahl.
Auf der Höhe sehen wir eines der modernen architektonischen
Ungethüme liegen, aus der Familie: Industriepalast; hyper-
trophisch in jeder Dimension; über dem Mastodon schwebt
eine mächtige flache Glaskuppel hoch im blauen Aether, flan-
kirt von vier viereckigen Eckthürmen.
„Wohin jetzt?" fragte R., indem er zweifelhaft umherblickte*
Irrfahrten in London» 191
„Lassen wir uns von unseren eingeborenen Reisegefährten
in's Schlepptau nehmen*' schlug ich vor.
Wir durchschnitten zunächst eine unabsehbare Rennbahn
und kamen an einen kleineren abgegrenzten Platz, zu Füssen
einer langen und tiefen Zuschauertribüne. Der Platz ist von
Grräben, Hecken, niedrigen Backsteinmauem und hohen irischen
Wällen durchschnitten: ein Springgarten.
Die Einzäumung war rings mit Menschen dünn besetzt; in
der Mitte, auf dem Sattelplatze, sah man einzelne Pferde unter
Decken, Reiter und sonstiges Turf- und Stallpersonal.
„Das wird der Horse Show sein, von dem im Waggon die
Rede war*', bemerkte R.
„Vor Taschendieben wird gewarnt**, citirte ich unwillkürlich,
meine Nachbarn betrachtend.
Jetzt setzt sich einer der Jockeys in Galopp und reitet
gegen eine hohe Hecke an, in der sich jedoch ein breiter
niedriger Ausschnitt befindet.
— Allgemeine Spannung. —
Reiter und Pferd entwickeln sehr viel Schneide im Anlaufe,
aber im entscheidenden Augenblicke, dicht vor dem Hinder-
nisse, reisst der Nerv, beide drehen kurz um und kantern ruhig
wieder zurück. <
— Murren im sachverständigen Publikum. —
Nochmaliges x\nreiten — derselbe Erfolg. — Das Murren
geht in Grunzen über. —
Nun setzt derReiter zum dritten Male an, der Gaul erhält
einige kräftige Hülfen, er soll und muss hinüber, die
Reputation — oder sonst etwas — steht auf dem Spiele.
Dieses Mal hebt sich das Pferd, es will hinüber, aber der
Sprung ist zu kurz, die Hinterfüsse bleiben hangen, das Thier
überschlägt sich nach vom, der Reiter trennt sich rechtzeitig
und fliegt, in seinem heftigen Schwünge beharrend, mehrere
Schritte vorwärts in eine weiche, nachgiebige Schmutzlache.
Jedoch scheint diese Extraleistung weder dem Manne un-
gewohnt, noch dem Publicum unerwartet oder gar aufregend
zu sein. Der Reiter springt auf seine Füsse wie eine Katze,
schüttelt sich ein wenig, reisst den Gaul in die Höhe, sitzt auf
und galoppirt kaltblütig um die Hecke herum zum Sattelplatze
zurück.
iV2 Irrfahrten in London,
Jetzt nimmt eine Dame in dunkelblauer Amazone und mit
tadelloser Taille die Backsteinmauer; diese Künstlerin aber
macht die Sache etwas zu glatt, man merkt die einstudirte
Circusfertigkeit zu deutlich und das Kunststück imponirt den
Kennern nicht mehr. —
„Gehen wir weiter", schlug ich vor, „diese Vorstellung ist
mir zu aufregend".
Wir kommen an einem Erfrischungshause vorüber — es
ist geschlossen; über einen grossen Cricketplatz — keine Seele
zu sehen. Dann erscheint ein japanisches Dorf, es stand im
Jahre 1873 in Wien auf der Ausstellung — vermuthlich sind
inzwischen die Eingeborenen in ihre östliche Heimath zurück'
gekehrt, denn es ist still und öde darin. —
AUmälig steigen wir den breiten Hügel hinan, dem Palaste
entgegen.
„Gross ist er wirklich", bemerkt R., nachdem er den Freund
Bädeker consultirt hat, „die Grundfläche des Gebäudes beträgt
zwölf Morgen. Die Mauern sind aus gelbem Backstein aufge-
führt in allerlei Mustern; dazwischen Friese, Risalite, Fenster-
einfassungen und sonstige Decoratiönen aus Portland-Cement
— Echt modern".
Wir betreten zunächst eine breite, leere, etwas mangelhaft
gekehrte Terrasse, gewiss über hundert Meter lang. Die weite
Fläche vor uns ist nur ein einziges Mal unterbrochen, dort
hinten, durch drei einsame eiserne Gartenstühle, auf denen
zwei Damen, und ein Mops ausruhen.
Längs der Gartenmauer trauern in den Zwischenräumen
der grossen Glasthüren einige trockene, vernachlässigte Oleander
in verwitterten Holzkübeln.
Die Aussicht hier ist weit und erfrischend, die grüne
hüglige Landschaft von Middlesex erstreckt sich in ungemessene,
wellige Femen.
„Wir wollen hineingehen", meinte ich, „wahrscheinlich
ist drinnen etwas ganz besonderes los, da niemand hier
draussen ist".
Nach verschiedenen Irrwegen gelangen wir in die riesige
Central Hall. An der Wand uns gegenüber ein riesiger
erhöheter Orchesterplatz. In seiner Mitte hockt ein winziges
Häuflein von etwa dreissig bis vierzig Musikern, die hier sind
Irrfahrten in London. \do
„versammelt zum fröhlichen Thun". Daneben steht eine
riesige Orgel, davor ungezählte Reihen leerer Rohrstühle.
„Was sagt Bädeker?" frug ich.
„Das Orchester hat Platz für zweitausend Musikanten und
Sänger", belehrte mich R., „die Orgel ist die grösste der Welt ;
es giebt hier Sitzplätze für zwölftausend Zuhörer".
„Letztere scheinen augenblicklich nicht ganz vollständig
versammelt zu sein", bemerkte ich bedauernd.
Hinter uns ertönte jetzt Blechmusik, mit Pauken und
Cymbeln, und dann ein bekanntes „Heeh! — Hopp!"
Erfreut wenden wir uns um, zu dieser ferneren anziehenden
Schaustellung. Wir sehen — eine hohe Teppichwand. Das
He — eh! Hopp! verstärkt sich, jetzt geräth die Musik in's
Prestissimo — Tusch — begeistertes Händeklatschen!
Also Kunstreiter in der Musikhalle! — —
„Hier rechts", trug R. weiter aus Bädeker vor, „ist der
italienische Garten, dann folgt das Palmenhaus".
,, Gehen wir einmal dorthin", schlug ich vor, „das ist mehr
mein Fall, als schlechte Pferde und schlechte Musik".
Im italienischen Garten Oede, zerbröckelnde Cementvasen,
Schmutz, verdurstete Fontainen und Verkommenheit; im Palmen-
hause ein dürftiger, lückenhafter Bestand kränklicher, bestaubter
blätterloser Pflanzen.
„Besuchen wir den Bazar", schlug der standhafte Orient-
reisende vor, „vielleicht ist dort mehr Handel und Wandel".
Wiederum eine riesige Halle, gefüllt mit endlosen Reihen
von Buden und Läden. Von je zehn ist etwa einer geöf&iet,
darinnen liegt einiger vergriffener Plunder feil. Die wenigen
Verkäufer sehen so gelangweilt und stumpf drein, als ob sie
das Geschäft längst in Verzweiflung aufgegeben hätten und
nur noch als Staffage hier sässen. Die Käufer bildeten ver-
muthlich das dichte Gedränge in der Musikhalle, aus dem wir
soeben geflüchtet waren.
An den Ein- und Ausgängen sieht man vielfache
Erfrischungsanstalten vorgerichtet, aber sämmtliche Büffets
stehen geschlossen und leer da.
„Jetzt noch die Bildergallerie", bemerkte R., in den Bädeker
sehend, pflichtgetreu und unerschrocken.
„Ich danke!" protestirte ich, „ich habe genug von dieser
Ompteda, L. ▼. Bilder. 13
iy4 Irrfahrten in London,
lebendigen Ruine; ich bin hungrig von allem was ich nicht
gesehen habe und durstig wie ein Wüstenpilger. Was wollen
wir noch weiter der Fata Morgana nachlaufen, die uns Freund
Bädeker vorspiegelt? Gehen wir lieber in die Refreshment
Rooms; hoffentlich sind die Steaks nicht auch schon ausge-
wandert".
Nochmals ein unabsehbarer Raum; an einer Langseite
Büffets von der Erstreckung einer tüchtigen Kegelbahn, an
der anderen die Glasthüren auf die Terrasse. Im Saale über-
schlug ich, soweit mein Auge reichte, etwa hundert gedeckte
kleine Tische. Einer von ihnen war bereits besetzt; selbstver-
ständlich eilten wir, uns den zweiten zu sichern.
Während das Steak geröstet wird, sehen wir uns rings
um, dann begegnen sich unsere stummen Blicke und wir
brechen gleichzeitig in ein erlösendes Geläcjiter aus.
„Das nennt man ja wohl hier zu Lande „Humbug**, sagte
R.; „offenbar eine „verkrachte Gründung**.
„Meine erste Enttäuschung hier in England**, stimmte ich
ein, „der erste „Showplace**, der schlecht gehalten und ver-
kommen ist. Aus allen Ecken stiert der Bankrott. Die armen
Actionäre!**
„Sage lieber: die armen Reisenden**, entgegnete mein härterer
Leidensgefährte, „die an solchen Schwindel ihren Nachmittag
verschwendet haben. Mein Bädecker von 1875 muss hier noch
andere Zeiten gesehen haben, denn er hat Alexandra Palace
mit einem * decorirt. Dieser Todtenpalast ist entschieden die
ärgste unsrer heutigen Verirrungen**.
„Unberufen!** rief ich schnell drei Mal unter den Tisch
klopfend, „möge es dabei bleiben! Mir grauet vor der Gotter
Neide!**
Wir traten wieder auf die Terrasse. Die Gegend war von
der Nachmittagssonne günstig beleuchtet, aber alles ringsum
leer und öde; auch im Hippodrom dort unten hatte man aus-
gesprungen.
Nur ein einsamer Fremdling lehnte auf der Ballustrade,
jetzt näherte er sich, ungewiss umher blickend.
„Wissen Sie nicht**, frug er höflich den Hut ziehend, „ob
die Pferdeschau schon zu Ende ist?**
„Weiss nicht*', erwiderte R. kurz auf die augenscheinlich
Irrfahrten in London, 195
Überflüssige Frage, denn man konnte den leeren Springgarten
deutlich übersehen.
Nach einer kleinen Pause begann der Mann wieder:
„Es ist heute recht langweilig hier".
Ich sah mir den Sprecher an, wie man eine interessante
Seltenheit betrachtet, denn ein Engländer, der Fremde anredet,
ist schon seiner Seltenheit wegen interessant. Die äussere
Erscheinung des Fremdlings empfahl sich nicht: schäbiger
Anzug, mangelhafte Wäsche, zweifelhafte Nägel, struppiger
grauer Vollbart und Brille. Kein Gentleman.
,J.ass Dich mit dem Kerl nicht ein", rieth ich, „er gefallt
mir nicht".
„Mir auch nicht", erwiderte R. „aber auf Reisen spreche
ich stets mit allerlei Leuten".
„Dann lass mich wenigstens aus dem Spiele'S bat ich,
„Alexandra Palace ist besonders verrufen als Tummelplatz des
Gaunergesindels, das sich hier zu Lande wie Schmutz an alles
Pferde- und Rennwesen hängt'*.
„Nur keine Angst", entgegnete R. zuversichtlich. —
„Sie sind wohl Fremde?" begann jetzt plötzlich der Gesell,
der scharf auf unsere Unterredung gehorcht hatte, in unvoll-
kommenem Französisch, „ich bin auch fremd".
„Franzose?" fragte R. entgegenkommend.
„Nein, Kanadier aus Montreal; dort sind wir immer noch
so halbe Franzosen. Kam herüber wegen Baumwolle, wissen
Sie, kenne niemand in London".
„Wir auch nicht", erwiderte R. „Es ist so schwer in England
anständige Bekanntschaften zu machen — für uns zumal, da mein
Freund hier leider I weder englisch noch französisch spricht".
Der Kanadier war augenscheinlich erfreut, auf so leichte
angenehme Weise mit „Europens übertünchter Höflichkeit" in
Berührung zu kommen.
„Ich wohne im Golden Cross-Hotel, Strand", setzte er seine
Versuche zur Annäherung fort, „recht gutes Hotel, etwas theuer. —
Wo wohnen Sie?"
„In der New Hummums, Piazza Coventgarden", erwiderte
mein schlagfertiger Freund genau nach Bädeker. „Hotel nur
für Herren, sehr comfortabel, wissen Sie".
13*
IJO Irrfahrten in London,
Dann wandte er sich zu mir und flüsterte: „Bauernfanger!
— er soll uns nur morgen dort aufsuchen'*.
„Lass doch den Kerl laufen", gab ich zurück.
„Warum ? der Bursche unterhält mich, vielleicht entschädigt
er uns noch für xmsere Irrfahrt hierher".
Das Gespräch der beiden, abwechselnd französisch und
englisch geführt, wurde jetzt immer fliessender und das Glück
wollte sogar, dass unser Kanadier zur selbigen Zeit wie wir
nach London zurückkehrte.
Im Bahnhofe, am Fusse des Hügels, war der Zug gerade
vorgefahren. Wir drei stiegen einträchtig in ein leeres Coupe
erster Klasse. Bald fand sich ein Vierter ein und im letzten
Augenblicke schwang sich auch noch ein Fünfter herein, ein
ziemlich ruppig aussehender junger Bursch, dessen dunkle
Züge meinen orientkundigen Freund R. besonders anheimeln
mussten.
Kaum war der Zug im Gange, so fragte schon der Ab-
kömmling des Orients — vielleicht etwas zu eilfertig — den
Kanadier auf englisch:
„Haben Sie von dem neuen Spiele gehört, welches jetzt
aufgekommen ist? Es ist sehr interessant imd wird auf dem
nächsten Derby enorme Sensation machen".
„Nein", erwiderte der Kanadier und fügte kühl abweisend
hinzu: „ich spiele überhaupt gar nicht".
„Schlepper**, flüsterte R.
Jetzt mischte sich unser Mitreisender Nr. 4 ein.
„Wie ist denn das neue Spiel? können Sie es mir nicht
ein wenig expliciren?"
„Mit Vergnügen", erwiderte der gewandte Alttestamentliche;
er zog ein schmutziges Spiel Karten heraus, mischte und
erklärte :
„Hier drei Karten; Sie wählen davon eine, dann verdecke
ich sie und mische ; — so !" — er rührte auf einem Pappendeckel
die drei verdeckten Karten langsam um. ,Jetzt bezeichnen
Sie Ihre Karte; rathen Sie richtig, so gewinnen Sie, wenn nicht,
gewinne ich".
„Kümmelblättchen", flüsterte R., „alte Bekanntschaft".
Der brünette Jüngling machte das Spiel einige Male lang-
Irrfahrten in London. 197
sam und ziemlich unbehilflich vor. Nr. 4 rieth und — stets
richtig.
In Nr. 4 regte sich jetzt anscheinend der Versucher, der
Spielteufel; er setzte zögernd einen halben Sovereign; rieth und
— gewann; der Bankhalter zahlte prompt aus.
„Dieses Spiel", theilte er uns während der Arbeit zuvor-
kommend mit, „wird jetzt im Criterion (grosser Restaurant in
Piccadilly) jeden Abend gespielt; vielleicht kommen die Herren
nach dem Theater dorthin; sehr feine Gesellschaft".
„Wollen Sie es nicht auch einmal versuchen?" wandte sich
jetzt unser Freund aus Montreal in seiner französischen Stief-
muttersprache zu R.
„Ach nein, ich danke für jetzt", erwiderte dieser verbind-
lich, „vielleicht heute Abend; ich kenne das Spiel schon; es
ist auch in Berlin bereits in der besten Gesellschaft eingeführt,
man spielt es dort auf den ersten Clubs".
„Hören Sie", bemerkte jetzt der ehrliche Kanadier dem
betriebsamen Orientalen auf englisch, „dieser Herr sagt, in
Berlin sei dieses Spiel schon bekannt".
Der Jungling aus dem Osten und Nr. 4 setzten inzwischen
die Vorstellung fort; sie gewannen, verloren und zahlten, ganz
wie es sich gehört.
Ein Pfiff! der Zug fuhr langsamer —
R. sah mich schlau und bedeutungsvoll an, die Krisis
nahete.
„Wissen Sie", sprach er dann vertrauensvoll zum Kanadier,
wieder in dessen geliebter Muttersprache, „verrathen Sie mich
nicht an jenen Herrn, es konnte ihn vielleicht kränken — aber
der junge Gentleman ist auf dem Irrwege, wenn er uns hier
etwas neues lehren will, denn in Berlin — "
— „Station King's Gross", der Zug hielt —
„nennt man dieses schöne Spiel schon lange die »Bauern-
falle«, »la trappe des paysans«
Wir hatten den ThürgriflF bereits in der Hand und, ehe
der Rauch von R.'s platzender Bombe im Coup6 verflogen war,
standen wir draussen und eilten lachend in den, drüben schon
w'artenden Zug der Metropolitan Eisenbahn.
Der Kanadier aber „schlug sich seitwärts in die Büsche". —
198 Irrfahrten in London.
III. Im Nebenhause. ^
Unsere Rückfahrt, quer von Norden nach Süden durch die
City, erheiterten wir sehr beträchtlich, indem wir uns den Ge-
müthszustand unserer drei in die Irre gegangenen Bauernfanger
und ihre verdutzten Gesichter ausmalten.
Aber die Strafe für diese unchristliche Schadenfreude
folgte auf dem Fusse, denn wir vergassen richtig, in Ludgate
Hill auszusteigen und wieder in den Underground unter dem
Themsequai bei Blackfriars Bridge hinabzutauchen. Plötzlich
lichtete sich jetzt im Fahren der Horizont zu beiden Seiten und
wir donnerten hoch oben auf einer kühnen Gitterbrücke, über
dem mächtigen Strom* Ein prächtiges Bild entrollte sich hier
dem überraschten Auge; dieses Mal jedoch verspürte ich wenig
Neigung, in der Aussicht auf das unabsehbare Getümmel der
Schiffe unter uns, stromauf und stromab, zu schwelgen; ich
flüchtete mich sofort zu Freund Bädekers rother Eisenbahnkarte.
„Neue Irrfahrten, lieber R.", unterbrach ich seine still-
vergnügte Umschau, „wir betreten jetzt sogleich das rechte
Themseufer und werden dort das Vergnügen haben, während der
nächsten Stunde auf der Metropolitan Extension-Bahn ein
höchst bemerkenswerthes Stück der schönen Grafschaft Surrey
zu durchreisen".
„Keine Umkehr mehr?" fragte R. ruhig und resignirL
„Keine; wir machen zunächst einen ausgiebigen Vorstoss
nach Süden, schwenken dann gegen Westen und kommen erst
bei Battersea wieder nördlich über den Fluss zurück in die
ersehnte Victoria Station".
„Eigentlich wundert mich das gar nicht", erwiderte R.
gelassen, „die Irrfahrten sind heute unser Kismet; was hilft es
dagegen zu kämpfen".
„Möge es wenigstens bei dieser bleiben", wünschte ich —
zweifelnd.
So ergaben wir uns in unser Schicksal, beobachteten den
steten Ab- und Zugang der Mitreisenden und betrachteten die
Scenen , die im raschesten Wechsel an uns vorüberflogen.
Zuerst dicht bevölkerte Fabrikorte, dann ländliche Quartiere,
zuletzt Battersea und sein grossartiger Park. Am lebhaftesten
beschäftigte uns der Wirrwarr der unzähligen, hier parallel
Irrfahrten in London, 199
laufenden : Eisenbahnen über, neben und unter uns; überall un-
aufhörliche, unendliche, unermüdlich hin und wieder schiessende
Züge.
Endlich ist, mit der sinkenden Sonne, Victoria Station
erreicht. R. wohnt hier im Grosvenor, dem sogenannten
Terminushotel, ich in Jermynstreet, St. James's; so trennen
wir uns für einige Stunden der nothwendigen Ruhe.
Im Scheiden ruft R. mir nach:
„Also heute Abend auf der N.'schen Botschaft! Es ist
doch Eaton Square, Nr. 28?"
„Richtig", erwiderte ich, „grosser Rout zu Ehren eines
höchsten Herrn, „to meet Royalty" wie man hier sagt, — und
noch dazu mit Musik. Wir fahren wohl besser nicht zusammen,
für mich wäre es ein Umweg, da Du ganz auf der entgegen-
gesetzten Seite von Eaton Square wohnst. — Also! Nr. 28,
Eaton- Square, elf Uhr. — Leb' wohl".
Die Wogen der Strassenfluth trennten uns jetzt und trugen
mich, wie fast täglich, nach Hyde Park Corner. Hier streckte
ich mich auf einen der Pennystühle und erfrischte meine
ermüdeten Sinne im Anschauen der alten Bäume und der
jungen Reiterinnen, die hier in Rotten Row so froh und frei
auf und ab kantern.
Es schlug gerade elf Uhr, als ich von Grosvenor Place aus
in Eaton Square einbog. Bekanntlich ist an diesem grossten der
londoner Squares die N*sche Botschaft eines der stattlichsten
Gebäude und berühmt wegen des Glanzes ihrer Festräume.
Bereits hundert Schritte diesseits gerieth ich in die Wagen-
reihe und rückte nun langsam. Schritt vor Schritt, auf. Endlich
erscheint der beleuchtete Eingang, Ein zeltartiger vor-
springender Baldachin, auf beiden Seiten tief herabhangend,
überdacht die Hausthür und den breiten Fusssteig vor ihr;
Gassterne geben blendende. Helle. Mir vorauf fahrt eine
prächtige, geräumige Staatskutsche; auf dem Gallabocke ein
wohlgenährter Kutscher mit weisser Flügelperrücke, hinten
schweben zwei gepuderte Lakaien in rothen Kniehosen, jeder eine
Wachsfackel in der Hand.
Eine entsprechend vornehme Gesellschaft entladet sich aus
dem gehaltvollen Kasten und steigt die Stufen zur Hausthür hinan *»
200 Irrfahrten in London.
ich schlüpfe bescheiden hinterdrein. Die grosse Eintrittshalle ist
mit grünen Gewächsen und glitzernden Bedienten reich decorirt.
Langsam schieben wir uns die Treppe hinauf; kurz vor ihrem
oberen Ende steht ein würdevoller Haushofmeistr. Ich gebe
ihm- meine Karte, mein Name wird, laut und völlig entstellt
ausgerufen und ich lande glücklich auf dem Vorplatze im
ersten Stock.
Aber nicht weiter, — eine feste Mauer von schwarz-weissen
Herren steht vor mir, fast alle grösser als ich; so sehe ich
nur gutgewachsene schwarze Rücken und tadellose blonde
angelsächsische Nackenscheitel, sonst nichts.
In der Entfernung ertönt Musik; es klingt wie ein Streich-
quartett. —
Ich mache einem Attache Raum, der sich bemüht, an-
kommende Damen durch's Gedränge zu bringen. —
Die Musik verstummt, ein dumpfes summendes Gemurmel
vieler Menschen, die sämmtlich mit gedämpfter Stimme reden,
setzt ein. —
Das Gemurmel erstirbt vor dem Geschmetter eines
steirischen Liedes mit Jodler. —
Jetzt begrüsse ich einen Botschafts-Secretär, der aus dem
inneren Heiligthume kommt, um an der Treppe die Honneurs
zu machen. 7—
Sonst keine bekannte Seele, von R. nichts zu sehen. —
Diese erfrischende Uebung im schweigsamen Stillestehn
dauert etwa eine halbe Stunde. Niemand geht fort, denn die
Anwesenheit der höchsten Perso fesselt magnetisch allen
anderen Sterblichen. —
Um mich zu unterhalten, stelle ich neidische Betrachtungen
über R.'s jetzige bevorzugte Lage an, der augenscheinlich in
den Musiksaal eingedrungen ist; dann besichtige ich einen
alten italienischen Schrank, Cinquecento, Ebenholz mit Elfen-
bein eingelegt, vorzüglich restaurirt. Hierauf bewundere ich
zwei klassische niederländische Bürgermeister, die heute Abend,
trotz ihrem frischen Fimiss, ganz ungewöhnlich finster aus-
sehen. — — Nun schweigt die Musik zum letzten Male, es
entsteht eine kleine Schwankung in der lebendigen Mauer, die
mich einschliesst. Vermuthlich wird jetzt der hohe Gast von
Sr. Excellenz dem Botschafter in's Büffetzimmer zum Souper
Irrfahrten in London, ^01
geführt. Lange Zeit ^vird das wohl nicht wegnehmen, denn
dem Concerte ging bereits ein ausgiebiges „State Dinner'*
vorauf. —
Wiederum eine Meeresstille von einer Viertelstunde. —
Endlich hören wir das bekannte Klopfen mit dem
Marschallstabe auf dem Parket. Alles schiebt auf beide Seiten
zurück, um die Gasse zu bilden.
Der Cortege erscheint, unter Vortritt einiger Herren mit
ernster Dienstmiene; — wir verneigen uns tief; — alles vorüber.
Jetzt gelange auch ich in's BüfFetzimmer und melde mich
beim Hausherrn; die Excellenz lächelt etwas erschöpft, übrigens
aber befriedigt durch den Verlauf des Abends. Excellenz hofft,
dass ich die Musik gilt habe hören können.
„Vorzüglich! ich habe sogar eine von den eigenen
Compositionen Sr. Excellenz erkannt und bewundert". (Das
Programm liess über den hohen Componisten nicht in Zweifel).
— Gnädiger Dank. — .
Somit hätte ich denn einige Caviar Sandwiches und ein
Glas Sparkling Hock redlich verdient; ich geselle mich zu
einer Gruppe von Bekannten und gehe an*s Geschäft.
Aber wo ist R.? — nirgendwo zu sehen. — Der Musik-
saal bereits verödet. — Er kann doch nicht schon wieder
fort sein? —
Die gfrosse Wanduhr schlägt Mittemacht, da erscheint R.
in der Thür, wie ein pünktliches Gespenst. Er verbeugt sich
vor dem Hausherrn, stellt sich vor und spricht etwas, das wie
Entschuldigung aussieht. Excellenz lächelt und antwortet;
beruhigender Händedruck; nochmalige Reverenz. Entlassen. —
Darauf tritt Freund R. an uns heran.
„Kommst Du erst jetzt?" frage ich.
„Nachher", raunt er mir zu.
„Wo warst Du denn?"
„Nachher!"
Er sieht verstimmt und hungrig aus.
Ich schweige discret. —
Endlich ziehen wir uns zurück.
Auf der Treppe frage ich wieder: „Nun sage mir aber
doch: wo warst Du denn so lange?"
202 Irrfahrten in London,
„Wo ich war? auch auf einem Feste", erwidert er kurz
und etwas schnippisch.
„Aber bei wem?" forschte ich weiter. „Du kennst ja
keine Katze in London".
Freund R. bleibt stehen , sieht mir fest in's Gesicht und sagt:
„Bei wem?! — wenn ich das wüsstel Ich habe keine
Ahnung! — Komm einmal mit mir**. —
Wir verlassen das Hotel, R. geht quer über die Strasse;
am Gitter des Square dreht er sich auf dem Absätze herum,
zeigt auf die Thür des Hotels, das wir eben verlassen haben
und ruft mit einer gewissen, mir unverständlichen Indignation
im Tone:
„Dort war ich!"
„Wo? in der Botschaft?"
,,Nein! im Nebenhause!"
„Wie ist das möglich?" frage ich weiter.
„Ganz einfach", erwidert er, „sieh es Dir nur an!"
Soweit ich in der Nacht erkennen konnte , waren beide
Häuser, Xr. 28 und Nr. 27 völlig gleichartig, jedoch umg'ekehrt,
gebaut und zwar in der Art, dass beide Hausthüren unmittel-
bar neben einander lagen.
Aber — was ist denn das? auch am Nebenhause, Nr. 27
schwebt ein Baldachin über der Thür und auf das Pflaster
herab, Teppiche laufen die Stufen herunter über den Fussteig,
Gassterne strahlen um den geöffneten Eingang und die Halle
zieren Gewächse und Bediente! —
»Jetzt lass Dir erzählen", begann R. wieder, als wir weiter
gingen.
Er schwieg einen Augenblick und rief dann, von seinen
Gefühlen überwältigt, verdriesslich und zugleich lachend:
„Diese war wirklich die tollste unserer Irrfahrten ! — Nachdem
wir uns heute getrennt hatten", fuhr er darauf ruhiger fort,
„ging ich, als vorsichtiger Mann, hierher, um die Lage des
Hauses Nr. 28, in dem ich nie gewesen war, noch bei Tageshelle
zu recognosciren".
„Da sieht man sogleich den praktischen Reisenden",
bemerkte ich anerkennend.
R. schien meine Liebenswürdigkeit nicht völlig zu würdigen,
er fuhr fort:
Irrfahrten in London, 203
„Also um elf Uhr breche ich vorschriftsmässig aus meinem
Victoria Terminus Hotel auf und mache mich auf die
Pilgerfahrt".
„Ah, ich verstehe*', unterbrach ich, „auf diese Weise kamst
Du aus der entgegengesetzten Richtung wie ich, nämlich von
Süden her an das Hotel".
, Ja", erwiderte R. mit komischem Pathos, „von Süden her !
»und das war mein Verderben!« — Als ich mich der Botschaft
nähere, sehe ich Lichtglanz auf die Strasse fallen und gehe an
einer Reihe langsam vorrückender Equipagen entlang. Ueber
der Hausthür breitet sich ein Baldachin, der tief herab rollt,
Teppiche liegen quer über dem Fusssteig, — Alles in schönster
Ordnung. Zwei Reihen Bummler bilden Spalier, ich breche
durch, Dienerschaft in Galla öffnet die Wagenschläge. Ich
sehe eine grossartige Karosse anfahren, Kutscher mit Perrücke,
zwei fackeltragende Bediente in schwarzsammtenen Knieehosen
hinten auf"
„Meine waren von rothem Plüsch", schob ich ein.
„Entsprechend grossartige Persönlichkeiten steigen aus ;
gewandt schlüpfe ich in ihrem Gefolge in's Hotel*'.
„Aber ganz wie ich!*' bemerkte ich, überrascht durch den
fast vollständigen Parallelismus unserer Erlebnisse.
„Ich steige die breite Treppe hinan, überreiche einem
feierlichen Buttler meine Karte, mein Name — oder etwas
Entsprechendes — wird verkündet.
„Oben an der Treppe empfangt mich eine freundliche
ältere Lady, drückt mir die Hand und ist »glücklich mich zu
sehen«.
„Ich erwidere diese Gefühle und dringe vor bis zum Ein-
gange eines grossen Salons, aus dem Musik ertönt. In der
Thür steht eine feste Mauer breitschultriger, schwarz -weisser
Engländer mit tadellosen Nackenscheiteln; sie nehmen just
mit Andacht eine italienische Arie entgegen. Von Ein-
dringen keine Idee.
„Auch gut**, denke ich, „da drinnen ist's heiss — alles
stauet sich um die höchste Herrschaft — bleiben wir draussen.
Wie sagt mein alter Förster in seinem schwäbischen Hoch-
deutsch? »Gehe nicht zu Deinem Forscht, wenn Du nicht
J
20 ± Irrfahrten in London,
gerufen wörscht!« Der Botschafter ist natürlich jetzt unzu- !
^anglich, Vorstellung für's erste unmöglich.
„Ich sehe mich nach Dir um".
„Der steckt natürlich fest dadrinnen", denke ich schaden- j
froh, — „Du weisst ja, dass selbst die beste Musik bei schlechter
Ventilation mir ein Greuel ist. Es ist nun einmal meiner i
Natur zuwider.
„Ich finde ringsum nicht ein bekanntes Gesicht, auch gar
keine continentalen Orden; überall leere Knopfiocher oder ein
einsames Röslein darin.
„Natürlich", beruhige ich mich selbst, „die Höflinge stecken
auch alle drinnen im musikalischen Fegefeuer. Hoffahrt muss
Zwang leiden.
„Die italienische Arie ist schliesslich vollständig abgerollt
und wird nach Verdienst beklatscht. — Kurze Erholungs-
pause der Zuhörer. —
„Jetzt folgt ein, nicht minder halsbrechendes Violinsolo. —
,.Herren und Damen kommen noch immer an; sehr feine
Leute, „with handles at their names". Den Ladies hilft ein
höflicher junger Herr durch die „drangvoll fürchterliche Enge"
und hinein in den Musikhimmel.
„Aha!" denke ich, „der Attache vom Dienst!"
„Ich nähere mich , dem jungen Diplomaten und stelle
mich vor.
„Beg your pardon", erwiderte er sehr höflich, „I don't
speak German".
„Merktest Du denn noch nichts?" frug ich mit steigender
Spannung.
„Nein! — was sollte ich denn daran merken? Allerdings
wunderte mich der Attache, der nicht die officielle Sprache
seines Staates sprach; aber, lieber Himmel, bei deii dortigen
polyglotten Zuständen — —
.,Gut, — es vergeht wohl eine volle Viertelstunde; vom
Saale aus brummt jetzt ein Violoncell; es kommen noch einige
Herren die Treppe herauf; immer noch keine Ausländer, nur
englisches Vollblut. Sie schütteln der freundlichen älteren Lady
die Hand und murmeln einige Entschuldigungen wegen zu
Irrfahrten in London, 20o
späten Erscheinens, dabei höre ich mehrere Male das Wort
„next door" fallen. — —
„Ich weiss nicht warum? aber allgemach beschleicht mich
ein gewisses Unbehagen in dieser trostlosen Oede. Es über-
läuft mich so, als ob irgend etwas nicht in Ordnung wäre:
Ich manövrire also unwillkürlich wieder der Treppe zu.
„Das Violoncell hat inzwischen — mit obligatem Schluss-
beifall — ausgelitten.
„Einige Ladies gehen fort; eine von ihnen lässt dasMusik-
programm liegen. Ich bemerke hübsche Vignetten darauf,
spitzbübische Amoretten, die mich auszulachen scheinen, — ich
habe es zum ewigen Andenken eingesteckt. — Um die Zeit
hinzubringen, verfolge ich die schon genossenen Nummern des
italienischen Musiksalates von unten herauf; wir arbeiteten
soeben drinnen bereits an Nr. 14; ich steige endlich bis zu
Nr. I hinauf — — jetzt fällt mein Blick zufallig auf die aller-
oberste Reihe — es flimmert mir vor den Augen ! meine Stirn
wird kalt — feucht! — — da steht: »Nr 27 Eaton Square!«"
„Kein Irrthum: Nr. 27! — — —
„Also darum hatte mich die freundliche ältere Lady mehrere
Male so sonderbar gemustert, ohne mich weiter anzureden!
„Darum konnte der Attache kein Deutsch!!
„Ich war seit einer Stunde ein ungebetener Gast in einem
wildfremden Hause!!! — Ohü! -^
, Jetzt die Treppe hinab; auf halber Höhe begegnet mir
unser Botschaftssecretär F."
„Wo ist denn eigentlich die Hoheit und das ganze hohe
Gefolge?" frug ich thörichter Weise, in meiner äussersten
Verwirrung,
„Er sieht mich verdutzt an und sagt langsam: „Im Neben-
hause sind sie, in der N'schen Botschaft, Nr. 28. Uebrigens
geht dort alles soeben fort, desshalb komme ich noch rasch
hierher, konnte natürlich nicht früher — wegen der Hoheit.
„Aber um's Himmels Willen", frage ich ängstlich weiter^
„wo bin ich denn hier?"
„Im Nebenhause, in Nr. 27, mein Bester, bei Mrs. T.;
sehr liebenswürdige gastfreie Frau, giebt mit Vorliebe musi-
^
206 Irrfahrten in London»
kaiische Monsterrouts mit Italienern. Dort oben steht sie und
lächelt wohlwollend auf uns herab".
„Der Secretair sah dabei so fürchterlich trocken und kühl
aus — mir perlte der Schweiss auf der Stirn.
„Soll ich zurück und mich entschuldigen? oder soll ich ihr
lieber morgen einen Besuch machen?"
„Ei» das ist nicht nöthig; so etwas kommt in London öfters
vor. Sie sind der Erste nicht. Lassen Sie sich morgen bei
Mrs. T. melden, so riskiren Sie noch eine liebenswürdige Ein-
ladung zum Dinner; — man ist hier so gastfrei".
„Nein, ich danke schon", rief ich, „ich will mich hier nicht
zum zweiten Male als »stolid German« auslachen lassen. Gute
Nacht.
„Ich flog die Treppe hinab mit einem sehr unsicheren
Gefühle in Betreff meiner Rückendeckung. Unten wollte mich
der Buttler durchaus an das Büffet geleiten, das mir aus dem
geöffneten Diningroom entgegenstrahlte".
„Das ist nicht für mich!" rief ich und stürmte aus dem Hause".
Ich liess dem armen Freunde zunächst Zeit, um Athem zu
schöpfen.
„Was sagte denn der Botschafter**? frug ich darauf weiter,
„ich sah, wie Du ihm Dein Missgeschick beichtetest".
„Nun, er sagte: es müsste eigentlich polizeilich verboten
sein, in zw^ei solchen Nachbarhäusern, wie Nr. 27 und 28, gleich-
zeitig einen grossen Rout zu geben. Während des ganzen
Abends seien die Wagen aus den beiden entgegengesetzten
Richtungen durch einander gefahren, die Kutscher hätten ge-
schimpft und die Policemen nicht gewusst, wo ihnen der Kopf
stehe! Uebrigens seien auch bei ihm einige fremde Gesichter
aufgetaucht, aber sofort wieder unter — da sie ortskundiger
gewesen". —
„Diese letztere Mittheilung: dass ich Leidensgenossen gehabt,
beruhigte mich etwas, wenigstens so weit, dass ich wieder zu-
gänglich für Sandwiches und kalten Sekt wurde.
„Armer Freund, Du thust mir wirklich leid", sagte ich
tröstend, um den guten R. noch kräftiger in seiner Selbst-
achtung wieder herzustellen, fügte ich milde hinzu: „das hätte
mir eben so gut passiren können, wenn ich nicht zufallig von
Norden hergekommen wäre". —
Irrfahrten in London, 20 <
„Wenn nur nicht die verd — Baldachine und die Bummler
gewesen wären", grollte R., „denn die beiden zusammen
schlössen jede Aussicht ab, so dass man keine Ahnung vom
Nebenhause hatte". —
Wir standen am Kreuzwege in Buckingham Palace Road.
„Soll ich Dich bis an Dein Hotel bringen?" frug ich
gutmüthig.
„Nein, ich danke", erwiderte er lachend, aber doch ein
wenig empfindlich, „ich bin zwar heute sehr confus, und dazu
todtmüde, indessen mein Hotel und mein Bett denke ich trotz-
dem nicht zu verfehlen. — Aber diese letzte war doch die
allertollste von allen unseren heutigen Irrfahrten!"
Ein Tag in Oxford.
Ompteda, L. x., Bilder. 14
V
I
I
!t
I.
London und Oxford.
Uer Abend dunkelte bereits, als der Schnellzug der Great
Western Bahn die riesige Halle der Paddington Station ver-
liess. Noch in der letzten Minute war ich hastig hineinge-
schlüpft. Denn heute abermals, wie fast täglich während der
letzten Wochen, hatte ich mich in dem drangvollen rauschenden
Wirrwar verloren, der an jedem schönen Nachmittage des
Frühlings und der Season zwischen fünf und sieben Uhr am
Hyde Park Corner aus- und einrollt.
Indessen — um ehrlich zu sein — die eigentlichen Magnete,
die mich hier unwiderstehlich anzogen, waren die dichten
Reiterschwärme der schlanken jungen Misses und der präch-
tigen blonden Kinder. — Ein völlig neues und darum doppelt
fesselndes Bild für den Festländer! Vom dunklen Reitkleide
knapp umspannt und, die jungen Damen, das volle glatt
gescheitelte Haar in dickem Zopfe unter dem hohen schwarzen
Hute einfach aufgesteckt, die Kinder mit frei nachflattemden
Locken, so tummelte sich dieser lachende Frühling in Rotten
Row, dem breiten, fast unabsehbar langen Reitwege durch
Hyde Park, im flottesten Tempo, fast ohne jede Zügelführung,
lustig und lebensfrisch auf und ab. Als sei der Sattel ihr
natürliches Element, so völlig unbefangen, ja! unbewusst, ent-
faltet hier die junge Engländerin ihre kräftige sichere biegsame
Grazie. Dieses Landes schöne Kinder muss man zu Pferde
sehen, um sie voll bewundern zu können, gleich wie der
Schwan sein Element begehrt: den Wasserspiegel! Als Folie
dienen dieser frischen rosigen Jugend die scharf gezeichneten
Typen des aristokratischen männlichen Englands, die sich an
14*
212 Ein Tag in Oxford,
dem sonnigen Juninachmittage auf dem weltbekannten
schmalen Streifen zwischen Rotten Row und dem südlichen
Fahrwege von Hyde Park zusammenfinden. Auf den Penny-
stühlen sich wiegend oder über die Eisenstange der Ballustrade
gelehnt, schauen sie hier den, mit ihrem männlichen Gefolge
oder auch allein, hin und wieder kantemden Reiterinnen nach
\md kritisiren mit Kennermiene die werthvoUen bedächtigen
Park-Hacks der älteren Gentlemen oder das hochedle Vollblut,
auf dem hinter seinem Herrn der Groom im gelben Ledergurte
Parade trabt. Drüben werden dann die, in endlosen geschlossenen
Reihen vom Albert Memorial her langsam vorrückenden
schweren und leichten Equipagen und ihre stattlich reizvollen
wie ihre imposant würdevollen Insassinnen: der, zur reifen
Pracht entwickelte Sommer und der fruchtschwere Herbst eng-
lischer Frauenschönheit — mit kühler Höflichkeit gleichmüthig—
begrüsst oder stumm und ernst angestarrt und gemustert. —
Plötzlich wurde ich jetzt der nahenden Abfahrtsstunde
gewahr und eilte, mich widerwillig losreissend, heimwärts, die
glänzende Piccadilly Strasse hinauf, meinem gastlichen Hotel,
dem Brunswick in Jermynstreet zu. Auch hier in Piccadilly ein
voller hochgeschwollener, dumpf brausender Strom, welcher die
gleichen endlosen Menschenwellen hin und her treibt Ich
stehe am Ufer, rathlos und hülflos. Drüben winken St. James s
und Jermyn Street. Kein Steg und kein Nachen. Aber mitten
im Strome ragt, ernst und einsam, ein dunkler Pfeiler, an dem
sich die unendlichen Wogen willig und fügsam theilen. Die
stille Figur erhebt die Hand mit dem weithin sichtbaren weissen
baumwollenen Handschuh und, wie durch einen Zauberschlag
steht jedes Pferd und jedes Rad in ruhigem Gehorsam still, zu
beiden Seiten weit hinaus. Es bildet sich vor uns eine trockne
Fürth, die sichtbare Vorsehung geleitet uns selbst hindurch und
hinter uns, wie einst hinter den Kindern Israel, branden die
unendlichen Wogen wieder durcheinander. Der londoner
Policeman! mir stets eine der imposantesten Erscheinungen in
dem imporiirenden England; wahrhaft gross durch die Einfach-
heit seiner Mittel und die Unwiderstehlichkeit seiner Wirkung;
die verkörperte Macht des Gesetses, durch die ein freies Volk
sich selbst beherrscht.
Aufathmend stehe ich am anderen Ufer, nochmals im
London und Oxford, 213
Scheiden auf die glänzenden rollenden Fluthen zurückblickend
und abermals erneuert sich mir mit unverminderter Stärke der
Eindruck, den ich schon am ersten Tage in diesem Central-
strudel des englischen Highlife empfangen hatte:
„Vieles, das Meiste von dem, was England Schönes und
Grosses zeigt, mag auch anderswo angetroffen, auch wohl
übertroffen werden^ Rotten Row an einem schönen Nachmittage
in der vollen Season steht einzig da in der Welt!"
Aber alle diese Massenhaftigkeit in ihren ununterbrochenen
Wirbeln wirkt — gleich der vielberufenen „unendlichen Melodie"
von Bayreuth — verwirrend, überwältigend, erlahmend. Nach
einigen Wochen steten Umhertreibens, unausgesetzten Sehens,
Hörens und Lernens, tritt Sättigung ein, die bald zur abge-
stumpften Uebersättigung werden würde. Die geistige Badekur,
die den verschlafenen deutschen Kleinstädter erfrischte und
wieder belebte, ist vorläufig beendigt; der angehäufte Stoff
muss jetzt in Ruhe verdauet und angeeignet werden. Uns
befallt Londonmüdigkeit und wir verlangen nach einfacherer
Nahrung, nach geistiger Landluft, nach einer abschliessenden
Pause in diesem Ungeheuern hastigen Durcheinander des endlosen
fieberhaft gehetzten Tontumultes, in dem die Millionen ringender
Stimmen der Riesenstadt zusammenbrausen. Also: »change of
air«! das grosse englische Heilmittel gegen jede Verstimmung
des Körpers wie der Seele. —
So folgte ich gern der Aufforderung: liebe, alte Freunde
in Oxford wiederzusehen und dort eine Erinnerung aus der
Kindheit aufzufrischen, die, wie ein geträumtes Wunder in
zauberischem Glänze viele Jahre und viele spätere mächtige
Eindrücke überdauert hatte. —
Mit dem rollenden Zuge war ich jetzt der Station glücklich
entrückt, trotzdem aber noch längere Zeit hindurch im Bereiche
der Metropole, noch nicht »auf dem Lande«. Bekanntlich fährt
ein Schnellzug der Great Western etwa sechzig Kilometer in
der Stunde und dennoch raseten wir wohl noch eine volle
Viertelstunde durch Tunnel unter Kellern hin und durch enge,
tiefe gemauerte Einschnitte, über denen die Häuser thurmhoch
emporragten; über Hausdächer fort, zwischen einem Walde
schlanker gebündelter Schornsteine; durch Aussenbahnhöfe ;
über oder unter uns eine andere, ebenfalls durch hin- und her-
^14 Ein Tag in Oxford,
schiessende Züge belebte Bahn. Wir durchschneiden jetzt die
bekannte^ unaufhörlich im Zickzack vorwärts wandernde Zone,
auf welcher Stadt und Land den nie rastenden Orenzkrieg
führen; ihre Signatur ist ein breiter Wall von Schmutz und
Unordnung, unter dem die vorrückende Stadt das saubere,
grüne, gartenreiche Land nach und nach begräbt und erstickt
AUmälig lockert sich das Gedränge der Gebäude; Gärten,
Felder, Weideflächen schieben sich ein, mit Hecken umschlossen
und von einzelnen breitästigen alten Bäumen beschattet Jetzt
durchfliegen wir kleine Stationen, vorbei an langgestreckten
niedrigen Tribünen für den massenhaften . localen Verkehr der
Vorstädter, die an jedem Morgen mit dem bekannten schwarzen
Reisetäschchen in die City und Abends wieder herausfahren.
Dann folgen suburbane Colonien von Villen, wo die Familien
jener, täglich zwischen Land und Stadt hin und wieder schwingen-
den Geschäftsleute in frischer Luft zu frischen Menschen auf-
wachsen. Weiterhin zeigen sich Wiese, Wald und Wasser in
ungestörter Naturfrische und nun erscheint endlich auch die
grossartige Mischung dieser Drei : der Park, der den erleuchteten
Herrensitz, am Ende jener vornehmen zweihundertjährigen
Ulmenallee, breit umlagert. Jetzt sind wir wirklich auf dem
Lande — wir sind im Freien.
Der Vollmond überfluthete die gartenhafte, baumreiche
Landschaft um Oxford, als ich auf der Station von meinem
Gastfreunde empfangen wurde. Unser Weg, in die ziemlich
entlegene Vicarage (Pfiarrhaus) von St. Paul, führte uns sofort
zu jenen wunderbaren Bildern der Vergangenheit, die Oxford
einzig in seiner Art bewahrt hat. Die Strassen, schon still und leer,
verlieren rasch das moderne Gesicht der Bahnhofsvorstadt; bald
sehen wir zurrechten die grauen, achthundertjährigen Thürme des
normannischen Kastells, erbaut im Jahre 107 1 auf den Grund-
mauern eines noch älteren sächsischen Königspalastes; im
bleichenden Mondlichte steigen sie starr und drohend empor.
Hüben und drüben treten Kirchen heran: St. Michael, ein
sächsisches Bauwerk, älter als die Eroberung von 1066, und
St. Mary Magdalen, noch im normannischen Baustyle des
zwölften Jahrhunderts; schwere einschiffige Hallen, mit dem uns
fremd gewordenen, viereckigen, stumpfen, ursprünglich durch ein
hölzernes Spitzdach abgeschlossenen, erst in späterer gothischer
London und Oxford, 2l0
Zeit krenelirten Thurme; mit den kleinen, besser zur Ver-
theidigTing als zur Beleuchtung geeigneten Fenstern, in ihren vor-
gothischen, noch nicht durch Strebepfeiler belebten Mauern.
Dann rückt links eine graue, zugleich schloss- und klosterartige
Sandsteinmasse heran: Balliol College, gestiftet schon um 1200,
mit spitzen Giebeln, entlang dem Kranzgesimse und mit breiten
Zinnen auf dem schweren Eingangsthurm. Die Hauptfront ist
durch reiche, dreiseitig vorspringende Erker verziert, die kunst-
volles Masswerk zeigen, ähnlich den schonen Chörlein zu Nürn-
berg. Daneben Trinity College, mit römischen Säulen und einem
hohen Thurme geschmückt, dessen Plattform wiederum colossale
Steinfiguren überragen, die im Mondlichte wie frei schwebend
erscheinen; ein Bau der italienischen Spätrenaissance.
' Und nun schliesst sich hier, in Broad Street, rechts und
links, ein wunderbarer Reichthum mittelalterlicher Architektur
zusammen, umgeben von grünen baumbeschatteten Gärten und
alten breiten dunklen Alleen; eine einzig originelle Reihefolge^
die im ungewissen nächtlichen Lichte uns der nüchternen
Wirklichkeit entrückt und zurückversetzt in die romantischen
Zeiten der Tudors und Stuarts. Alte^ und Neues fliesst in der
»mondbeglänzten Zaubernacht« verwirrend in einander und hält
Sinn und Urtheil gefangen. Denn gerade die neueste Archi-
tektur kehrt am täuschendsten zu den alten classischen Formen
des englisch-gothischen Baustils zurück. Der stolze Thurm zu
unserer Rechten über der Einfahrt von Exeter College und das
ganze Gebäude, ein imposantes englisch -gothisches Schloss,
sind erst in den Jahren 1855 bis 1858 gebaut, aber auf dieser
Stelle hausten schon vor vier Jahrhunderten die Studirenden
der »deutschen Nation« in ihrer Hall (Herberge).
Daneben folgt ein Gebäude im Elisabethstile, dieser
originellen Mischung der perpendikulären Linien der Spätgothik
mit dem Schmucke der Renaissance: das reiche Ashmolean
Museum. Ihm schliesst sich ein überragender Halbrundbau
an aus der Roccocoperiode ; sein Name ist Sheldonian Theater,
im Innern ein weiter kirchenhafter Raum, der bei den jährlichen
grossen akademischen Feierlichkeiten der »Commemoration«
mehr als dreitausend Theilnehmer fasst
Vom reichvergoldeten Gitter vor dem Hauptportale, an
dem wir entlang fahren, starrt uns auf schweren Pfeilern eine
^14 Ein Tag in Oxford,
schiessende Züge belebte Bahn. Wir durchschneiden jetzt die
bekannte^ unaufhörlich im Zickzack vorwärts wandernde Zone,
auf welcher Stadt und Land den nie rastenden Grenzkrieg
führen; ihre Signatur ist ein breiter Wall von Schmutz und
Unordnung, unter dem die vorrückende Stadt das saubere,
grüne, gartenreiche Land nach und nach begräbt und erstickt
AUmälig lockert sich das Gedränge der Gebäude; Gärten,
Felder, Weideflächen schieben sich ein, mit Hecken imischlossen
und von einzelnen breitästigen alten Bäumen beschattet Jetzt
durchfliegen wir kleine Stationen, vorbei an langgestreckten
niedrigen Tribünen für den massenhaften . localen Verkehr der
Vorstädter, die an jedem Morgen mit dem bekannten schwarzen
Reisetäschchen in die City und Abends wieder herausfahren.
Dann folgen suburbane Colonien von Villen, wo die Familien
jener, täglich zwischen Land und Stadt hin und wieder schwingen-
den Geschäftsleute in frischer Luft zu frischen Menschen auf-
wachsen. Weiterhin zeigen sich Wiese, Wald und Wasser in
ungestörter Naturfrische und nun erscheint endlich auch die
grossartige Mischung dieser Drei : der Park, der den erleuchteten
Herrensitz, am Ende jener vornehmen zweihundertjährigen
Ulmenallee, breit umlagert. Jetzt sind wir wirklich auf dem
Lande — wir sind im Freien.
Der Vollmond überfluthete die gartenhafte, baumreiche
Landschaft um Oxford, als ich auf der Station von meinem
Gastfreunde empfangen wurde. Unser Weg, in die ziemlich
entlegene Vicarage (Pfiarrhaus) von St. Paul, führte uns sofort
zu jenen wunderbaren Bildern der Vergangenheit, die Oxford
einzig in seiner Art bewahrt hat. Die Strassen, schon still und leer,
verlieren rasch das moderne Gesicht der Bahnhofsvorstadt; bald
sehen wir zur rechten die grauen, achthundertjährigen Thürme des
normannischen Kastells, erbaut im Jahre 1071 auf den Grund-
mauern eines noch älteren sächsischen Königspalastes; im
bleichenden Mondlichte steigen sie starr und drohend empor.
Hüben und drüben treten Kirchen heran: St. Michael, ein
sächsisches Bauwerk, älter als die Eroberung von 1066, und
St. Mary Magdalen, noch im normannischen Baustyle des
zwölften Jahrhunderts; schwere einschiffige Hallen, mit dem uns
fremd gewordenen, viereckigen, stumpfen, ursprünglich durch ein
hölzernes Spitzdach abgeschlossenen, erst in späterer gothischer
London und Oxford. 215
Zeit krenelirten Thurme; mit den kleinen, besser zur Ver-
theidigung als zur Beleuchtung geeigneten Fenstern, in ihren vor-
gothischen, noch nicht durch Strebepfeiler belebten Mauern.
Dann rückt links eine graue, zugleich schloss- und klosterartige
Sandsteinmasse heran: Balliol College, gestiftet schon um 1200,
mit spitzen Giebeln, entlang dem Kranzgesimse und mit breiten
Zinnen auf dem schweren Eingangsthurm. Die Hauptfront ist
durch reiche, dreiseitig vorspringende Erker verziert, die kunst-
volles Masswerk zeigen, ähnlich den schonen Chorlein zu Nürn-
berg. Daneben Trinity College, mit römischen Säulen und einem
hohen Thurme geschmückt, dessen Plattform wiederum colossale
Steinfiguren überragen, die im Mondlichte wie frei schwebend
erscheinen; ein Bau der italienischen Spätrenaissance.
Und nun schliesst sich hier, in Broad Street, rechts und
links, ein wunderbarer Reichthum mittelalterlicher Architektur
zusammen, umgeben von grünen baumbeschatteten Gärten und
alten breiten dunklen Alleen; eine einzig originelle Reihefolge^
die im ungewissen nächtlichen Lichte uns der nüchternen
Wirklichkeit entrückt und zurückversetzt in die romantischen
Zeiten der Tudors und Stuarts. Alte^ und Neues fliesst in der
»mondbeglänzten Zaubernacht« verwirrend in einander und hält
Sinn und Urtheil gefangen. Denn gerade die neueste Archi-
tektur kehrt am täuschendsten zu den alten classischen Formen
des englisch-gothischen Baustils zurück. Der stolze Thurm zu
unserer Rechten über der Einfahrt von Exeter College und das
ganze Gebäude, ein imposantes englisch -gothisches Schloss,
sind erst in den Jahren 1855 bis 1858 gebaut, aber auf dieser
Stelle hausten schon vor vier Jahrhunderten die Studirenden
der »deutschen Nation« in ihrer Hall (Herberge).
Daneben folgt ein Gebäude im Elisabethstile, dieser
originellen Mischung der perpendikulären Linien der Spätgothik
mit dem Schmucke der Renaissance: das reiche Ashmolean
Museum. Ihm schliesst sich ein überragender Halbrundbau
an aus der Roccocoperiode ; sein Name ist Sheldonian Theater,
im Innern ein weiter kirchenhafter Raum, der bei den jährlichen
grossen akademischen Feierlichkeiten der »Commemoration«
mehr als dreitausend Theilnehmer fasst.
Vom reichvergoldeten Gitter vor dem Hauptportale, an
dem wir entlang fahren, starrt uns auf schweren Pfeilern eine
214 Ein Tag in Oxford.
schiessende Züge belebte Bahn. Wir durchschneiden jetzt die
bekannte^ unaufhörlich im Zickzack vorwärts wandernde Zone,
auf welcher Stadt und Land den nie rastenden Grenzkrieg
führen; ihre Signatur ist ein breiter Wall von Schmutz und
Unordnung, unter dem die vorrückende Stadt das saubere,
grüne, gartenreiche Land nach und nach begräbt und erstickt.
AUmälig lockert sich das Gedränge der Gebäude; Gärten,
Felder, Weideflächen schieben sich ein, mit Hecken umschlossen
und von einzelnen breitästigen alten Bäumen beschattet- Jetzt
durchfliegen wir kleine Stationen, vorbei an langgestreckten
niedrigen Tribünen für den massenhaften localen Verkehr der
Vorstädter, die an jedem Morgen mit dem bekannten schwarzen
Reisetäschchen in die City und Abends wieder herausfahren.
Dann folgen suburbane Colonien von Villen, wo die Familien
jener, täglich zwischen Land und Stadt hin und wieder schwingen-
den Geschäftsleute in frischer Luft zu frischen Menschen auf-
wachsen. Weiterhin zeigen sich Wiese, Wald und Wasser in
ungestörter Naturfrische und nun erscheint endlich auch die
grossartige Mischung dieser Drei : der Park, der den erleuchteten
Herrensitz, am Ende jener vornehmen zweihundertjährigen
Ulmenallee, breit umlagert. Jetzt sind wir wirklich auf dem
Lande — wir sind im Freien.
Der Vollmond überfluthete die gartenhafte, baumreiche
Landschaft um Oxford, als ich auf der Station von meinem
Gastfreunde empfangen wurde. Unser Weg, in die ziemlich
entlegene Vicarage (Pfarrhaus) von St. Paul, führte uns sofort
zu jenen wunderbaren Bildern der Vergangenheit, die Oxford
einzig in seiner Art bewahrt hat. Die Strassen, schon still und leer,
verlieren rasch das moderne Gesicht der Bahnhofs vorstadt; bald
sehen wir zur rechten diegrauen, achthundertjährigen Thürme des
normannischen Kastells, erbaut im Jahre 1071 auf den Grund-
mauern eines noch älteren sächsischen Konigspalastes; im
bleichenden Mondlichte steigen sie starr und drohend empor.
Hüben und drüben treten Kirchen heran: St. Michael, ein
sächsisches Bauwerk, älter als die Eroberung von 1066, und
St. Mary Magdalen, noch im normannischen Baustyle des
zwölften Jahrhunderts; schwere einschiffige Hallen, mit dem uns
fremd gewordenen, viereckigen, stumpfen, ursprünglich durch ein
hölzernes Spitzdach abgeschlossenen, erst in späterer gothischer
London und Oxford. 215
Zeit krenelirten Thurme; mit den kleinen, besser zur Ver-
theidigung als zur Beleuchtung geeigneten Fenstern, in ihren vor-
gothischen, noch nicht durch Strebepfeiler belebten Mauern.
Dann rückt links eine graue, zugleich schloss- und klosterartige
Sandsteinmasse heran: Balliol College, gestiftet schon um 1200,
mit spitzen Giebeln, entlang dem Kranzgesimse und mit breiten
Zinnen auf dem schweren Eingangsthurm. Die Hauptfront ist
durch reiche, dreiseitig vorspringende Erker verziert, die kunst-
volles Masswerk zeigen, ähnlich den schonen Chörlein zu Nürn-
berg. Daneben Trinity College, mit romischen Säulen und einem
hohen Thurme geschmückt, dessen Plattform wiederum colossale
Steinfiguren überragen, die im Mondlichte wie frei schwebend
erscheinen; ein Bau der italienischen Spätrenaissance.
Und nun schliesst sich hier, in Broad Street, rechts und
links, ein wunderbarer Reichthum mittelalterlicher Architektur
zusammen, umgeben von grünen baumbeschatteten Gärten und
alten breiten dunklen Alleen; eine einzig originelle Reihefolge^
die im ungewissen nächtlichen Lichte uns der nüchternen
Wirklichkeit entrückt und zurückversetzt in die romantischen
Zeiten der Tudors und Stuarts. Alte^ und Neues fliesst in der
»mondbeglänzten Zaubemacht« verwirrend in einander und hält
Sinn und Urtheil gefangen. Denn gerade die neueste Archi-
tektur kehrt am täuschendsten zu den alten classischen Formen
des englisch-gothischen Baustils zurück. Der stolze Thurm zu
unserer Rechten über der Einfahrt von Exeter College und das
ganze Gebäude, ein imposantes englisch -gothisches Schloss,
sind erst in den Jahren 1855 bis 1858 gebaut, aber auf dieser
Stelle hausten schon vor vier Jahrhunderten die Studirenden
der »deutschen Nation« in ihrer Hall (Herberge).
Daneben folgt ein Gebäude im Elisabethstile, dieser
originellen Mischung der perpendikulären Linien der Spätgothik
mit dem Schmucke der Renaissance: das reiche Ashmolean
^luseum. Ihm schliesst sich ein überragender Halbrundbau
an aus der Roccocoperiode; sein Name ist Sheldonian Theater,
im Innern ein weiter kirchenhafter Raum, der bei den jährlichen
grossen akademischen Feierlichkeiten der »Commemoration«
mehr als dreitausend Theilnehmer fasst.
Vom reichvergoldeten Gitter vor dem Hauptportale, an
dem wir entlang fahren, starrt uns auf schweren Pfeilern eine
214 Ein Tag in Oxford,
schiessende Züge belebte Bahn. Wir durchschneiden jetzt die
bekannte, unaufhörlich im Zickzack vorwärts wandernde Zone,
auf welcher Stadt und Land den nie rastenden Grenzkrieg
führen; ihre Signatur ist ein breiter Wall von Schmutz und
Unordnung, unter dem die vorrückende Stadt das saubere,
grüne, gartenreiche Land nach und nach begräbt und erstickt
AUmälig lockert sich das Gedränge der Gebäude; Gärten,
Felder, Weideflächen schieben sich ein, mit Hecken umschlossen
und von einzelnen breitästigen alten Bäumen beschattet Jetzt
durchfliegen wir kleine Stationen, vorbei an langgestreckten
niedrigen Tribünen für den massenhaften . localen Verkehr der
Vorstädter, die an jedem Morgen mit dem bekannten schwarzen
Reisetäschchen in die City und Abends wieder herausfahren.
Dann folgen suburbane Colonien von Villen, wo die Familien
jener, täglich zwischen Land und Stadt hin und wieder schwingen-
den Geschäftsleute in frischer Luft zu frischen Menschen auf-
wachsen. Weiterhin zeigen sich Wiese, Wald und Wasser in
ungestörter Naturfrische und nun erscheint endlich auch die
grossartige Mischung dieser Drei : der Park, der den erleuchteten
Herrensitz, am Ende jener vornehmen zweihundertjährigen
Ulmenallee, breit umlagert. Jetzt sind wir wirklich auf dem
Lande — wir sind im Freien.
Der Vollmond überfluthete die gartenhafte, baumreiche
Landschaft um Oxford, als ich auf der Station von meinem
Gastfreunde empfangen wurde. Unser Weg, in die ziemlich
entlegene Vicarage (Pfarrhaus) von St. Paul, führte uns sofort
zu jenen wunderbaren Bildern der Vergangenheit, die Oxford
einzig in seiner Art bewahrt hat. Die Strassen, schon still und leer,
verlieren rasch das moderne Gesicht der Bahnhofsvorstadt; bzdd
sehen wir zurrechten diegrauen, achthundertjährigen Thürme des
normannischen Kastells, erbaut im Jahre 1071 auf den Grund-
mauern eines noch älteren sächsischen Konigspalastes; im
bleichenden Mondlichte steigen sie starr und drohend empor.
Hüben und drüben treten Kirchen heran: St. Michael, ein
sächsisches Bauwerk, älter als die Eroberung von 1066, und
St. Mary Magdalen, noch im normannischen Baustyle des
zwölften Jahrhunderts ; schwere einschiffige Hallen, mit dem uns
fremd gewordenen, viereckigen, stumpfen, ursprünglich durch ein
hölzernes Spitzdach abgeschlossenen, erst in späterer gothischer
London und Oxford. 21d
Zeit krenelirten Thurme; mit den kleinen, besser zur Ver-
theidigung als zur Beleuchtung geeigneten Fenstern, in ihren vor-
gothischen, noch nicht durch Strebepfeiler belebten Mauern.
Dann rückt links eine graue, zugleich schloss- und klosterartige
Sandsteinmasse heran: Balliol College, gestiftet schon um 1200,
mit spitzen Giebeln, entlang dem Kranzgesimse und mit breiten
Zinnen auf dem schweren Eingangsthurm. Die Hauptfront ist
durch reiche, dreiseitig vorspringende Erker verziert, die kunst-
volles Masswerk zeigen, ähnlich den schönen Chorlein zu Nürn-
berg. Daneben Trinity College, mit römischen Säulen und einem
hohen Thurme geschmückt, dessen Plattform wiederum colossale
Steinfiguren überragen, die im Mondlichte wie frei schwebend
erscheinen; ein Bau der italienischen Spätrenaissance,
' Und nun schliesst sich hier, in Broad Street, rechts und
links, ein wunderbarer Reichthum mittelalterlicher Architektur
zusammen, umgeben von grünen baumbeschatteten Gärten und
alten breiten dunklen Alleen; eine einzig originelle Reihefolge^
die im ungewissen nächtlichen Lichte uns der nüchternen
Wirklichkeit entrückt und zurückversetzt in die romantischen
Zeiten der Tudors und Stuarts. Alte^ und Neues fliesst in der
»mondbeglänzten Zaubernacht« verwirrend in einander und hält
Sinn und Urtheil gefangen. Denn gerade die neueste Archi-
tektur kehrt am täuschendsten zu den alten classischen Formen
des englisch-gothischen Baustils zurück. Der stolze Thurm zu
unserer Rechten über der Einfahrt von Exeter College und das
ganze Gebäude, ein imposantes englisch -gothisches Schloss,
sind erst in den Jahren 1855 bis 1858 gebaut, aber auf dieser
Stelle hausten schon vor vier Jahrhunderten die Studirenden
der »deutschen Nation« in ihrer Hall (Herberge).
Daneben folgt ein Gebäude im Elisabethstile, dieser
originellen Mischung der perpendikulären Linien der Spätgothik
mit dem Schmucke der Renaissance: das reiche Ashmolean
Museum. Ihm schliesst sich ein überragender Halbrundbau
an aus der Roccocoperiode ; sein Name ist Sheldonian Theater,
im Innern ein weiter kirchenhafter Raum, der bei den jährlichen
grossen akademischen Feierlichkeiten der »Commemoration«
mehr als dreitausend Theilnehmer fasst.
Vom reichvergoldeten Gitter vor dem Hauptportale, an
dem wir entlang fahren, starrt uns auf schweren Pfeilern eine
216 Ein Tag in Oxford.
Reihe antiker Hermen, griechische Weise und romische
Caesaren, geisterhaft entgegen.
Den Schluss dieser wundersamen Denkmälerstrasse aus
acht Jahrhunderten bildet wiederum ein dorisch-italienischer
Palast des Roccoco mit hochaufstrebendem Säulenportale:
Clarendon Building, mehrere Generationen hindurch die Her-
berge des Verkündigers und Verewigers der oxonischen Weis-
heit: des Universitäts -Buchdruckers. Die Kosten dieses statt-
lichen Bauwerks wurden zum grössten Theile aus dem Ertrage
von Lord Ciarendons einst berühmten Buche „Geschichte der
Rebellion" bestritten.
Wir verlassen jetzt Broad Street und eine dunkle Allee
uralter Linden nimmt uns in Parkstreet auf; zu beiden Seiten
sehen wir weite Gärten, in denen die, vom ungewissen fahlen
Mondlichte übergossenen grauen College -Fassaden sich grell
gegen die scharfen tiefen Schatten der dichten Baum- und
Buschgruppen und der mächtig überragenden schwärzlichen
Libanoncedem absetzen. Nochmals tritt uns ein massives von
einem kräftigen, viereckigen, spitz zulaufenden Thurme über-
ragtes gothisches Bauwerk entgegen, dessen Front an die
herrlichen Stadthäuser von Brügge und Brüssel erinnert: das
University -Museum. Dann folgt, dem weiterstreckten neuen
städtischen Parke entlang, eine Reihe rother spitzgiebliger
ganz modemer Cottages, jede in einem Gärtchen, und vor einer
der stattlichsten, der Vicarage von St, Paul, erfreut mich der
herzlichste Willkommen. —
Als ich am andern Morgen, durch die frühe Sonne geweckt,
mein Giebelzimmer verliess, erwarteten meine freundlichen
Wirthe mich schon beim Frühstücke auf der Terrasse über dem
Hausgarten hinter der Cottage. Ein auserwähltes Plätzchen
und eine überraschende, grossartige Aussicht. Unmittelbar zu
unseren Füssen das saubere Gärtchen der Vicarage, ein fi-ischer
Rasenplatz mit blühenden Rhododendren, gelben pontischen
Azaleen und einzelnen fast kugelförmigen Exemplaren der
Thuja aurea besetzt. Darüber hinaus fällt der Boden westlich
nach deni Flussthale ab und wir übersehen ein Stück des herr-
lichen alten Parkes von Wadham College, mit stillem Busch-
werke, rauschenden alten Hochstämmen und offenen grünen
Plätzen, auf denen buntscheckige schwere Milchkühe üppig
London und Oxford, 2\i
grasen und beschaulich wiederkäuen. Aber das alles ist nur unter-
geordneter Vorder- und Mittelgrund. Denn diese idyllische Land-
schaft wird von einem Walde der wunderbarsten Architektur über-
ragt, die hier unseren Gesichtskreis rings einfasst und abschliesst.
Zur Rechten des Bildes: Wadham College, der Nachbar
der Vicarage, ein stattlicher Gebäudecomplex mit Spitzgiebeln,
viereckigen gothischen Fenstern und hohen Schornsteinbündeln.
Nur die peinlich regelmässigen Krenelirungen des Gesimses
und des hohen breiten Thurms verrathen ein wenig den zu
abstrakten Idealismus der neuesten Restauration. Daneben
tritt, nach links, aus einer Gruppe erhabener Cedern und
Douglasfichten ein mächtiges gothisches Castell hervor. Seine
Zinnen sind durch zahlreiche hohe schlanke, spitz auslaufende und
mit dem bekannten gothischen Blattwerke, den sogenannten
Bossen oder Frauenschuhen verzierte Fialen unterbrochen und
von einem mächtigen Bergfried (Keep) beherrscht, dessen Platt-
form dann wieder mit spitzen Pfeilerthürmen verschiedener
Grösse gekrönt ist. Dieses reiche schlossartige Gebäude ist
die „Divinity School" und unter den vielen prächtigen Hallen
Oxfords ist die von Divinity School eine der prächtigsten, vor
allem wegen ihrer kunstreichen Decke. Das Licht fällt durch
hohe breite mit perpendiculärem Maasswerke verstabte Fenster,
die mit niedrigen Spitzbogen überwölbt sind. Die gesprengte
flache Decke wird von gedrückten Tudorbögen getragen. Die
Schlusssteine der Gewölbekappen zwischen diesen starken
Quergurten sind tief herabgesenkt; sie bilden eine lange
Folge schwerer Zapfen, die sich im Aufsteigen fächerartig mit
vielfach getheilten Rippen ausbreiten und durch ihre anscheinende
Kühnheit, vereint mit gediegener Festigkeit, eine feierliche
Wirkung hervorrufen. Oben im Gewölbe sind reiche stern-
förmige Maasswerkmuster ausgeführt. Die tief herabhangenden
Zapfen sind an ihrer Spitze wiederum mit Figürchen in Bilder-
blenden unter kleinen Baldachinen verziert. Die Thüren sind
mit dem geschweiften Spitzbogen, dem sogenannten Eselsrücken,
überwölbt, der den spätgothischen reichen Blätterfries der
Tudorblume (Eppichblatt) trägt und bis zur Stärke einer
Wimberge vortritt.
Diese berühmte Hall stammt aus der besten Zeit der
englischen Späthgothik (1450). Als das Parlament durch die
äIo Ein Tag in Oxford,
Pest aus London vertrieben war, sass hier das Unterhaus.
Während mehrer Jahrhunderte hielten die vier Facultäten der
Universität in diesem Prachtbaue ihre Prüfungen: Theologie
(Divinity), Medicin, Jurisprudenz (Law) und die „freien Künste"
(Arts), letztere etwa gleichbedeutend mit unsrer philologischen
und philosophischen Facultät.
Links neben Divinity School erhebt sich die stolze, über
fünfundvierzig Meter hohe Kuppel der Radcliffe Bibliothek.
Sie deckt eine Rotunde von mehr als dreissig Metern
Durchmesser, reich geschmückt mit korinthischen Säulen.
Doctor Radcliffe, der Leibarzt König Wilhelm IIL, liess diesen
mächtigen Kuppelbau im Jahre 1740 für 800,000 Mark zum
Besten seiner Facultät aufführen; jetzt ist die Bibliothek ent-
fernt und die ganze innere monumentale Rotunde dient, ähnlich
der des Britisch Museum zu London, den Medicinem als
Lesezimmer. Nur fünfzigtausend Bände sind zum Handgebrauche
zurück geblieben.
Einen schlagenden Gegensatz zu diesem Riesen des
Roccoco bildet sein Nachbar zur Linken, die schlanke hohe
Spitze des edlen gothischen Thurms der schönen Universitäts-
kirche St Mary the Virgin aus dem Jahre 1300; diese hoffen
w^ir heute noch näher kennen zu lernen. Hinter ihr ragt aus der
Entfernung der stumpfe, in viele zierlichß Fialen auslaufende
Thurm der Chapel des alten Merton College. Noch weiter zur
Linken streben die zahlreichen vielgestaltigen Thürme von
All Souls College empor und mit ihnen schliesst das wunder-
bare Bild. —
Mein freundlicher Wirth, Mr. L., der Vicar von St. Pauls
Kirche, beobachtete mit sichtlicher Befriedigung die Wirkung
dieses ausserordentlichen, zugleich friedlichen und grossartigen
Anblicks.
„Sie -werden einen starken Contrast finden", begann er,
„zwischen der wogenden Unruhe von London und der halb
ländlichen, halb ehrwürdigen Stille von Oxford. Wir sind hier
ein Stück Mittelalter, auf eine Insel gerettet und vom reissenden
Strome der Gegenwart verschont: Häuser wie Menschen".
„Noch ist bei mir dieser Gegensatz allerdings nicht völlig
durchgedrungen", erwiderte ich; „bis jetzt überwiegt noch die
Bezauberung des Auges. Wie fremdartig reizvoll, wie wunder-
London ttnd Oxford, 219
sam erscheint diese innige lebendige Vereinigung der heitereii
grünen englischen Baum- und Parklandschaft, mit dieser dichten
Anhäufung von Thürmen, Spitzen, Kuppeln und Zinnen, von
düsteren grauen mit Epheu überrankten Gebäudemassen, so
reich und fein verziert und dabei tüchtig und solide wie fuy
die Ewigkeit".
„Nun ja", stimmte Mr. L. ein, „in England steht Oxford
ohne Gleichen da, sowohl was seine Architektur, als was seine
Geschichte betrifft. Und auch der Continent, soweit ich ihn
kenne, bietet kaum etwas Aehnliches, mit Ausnahme vielleicht
der grossen italienischen Städte. Bekannt sind w^ir allerdings
weit weniger in der Welt als Florenz und Venedig, trotz
Bädekers warmer Empfehlung; das habe ich wahrgenommen,
als ich vor Jahren in Leipzig während einiger Sommermonate
deutsche und klassische Philologie trieb. Man weiss bei Ihnen
nur, dass wir in Oxford — sowohl Stadt als Universität — sehr
mittelalterlich sind, und man meint nebenher, dass wir hier in
allerlei sonderbaren protestantischen Klöstern lustig leben aber
— eigentlich nicht übermässig viel studiren".
Ich glaubte widersprechen zu sollen, jedoch Mr. L. fuhr
fort: „Alt ist unsere Stadt nun freilich, wenn ich auch nicht
unbedingt für die Entdeckungen eines localpatriotischen
Forschers einstehen möchte, nach dessen Berechnungen Oxford
von einem alten Britenkönig Memphric im Jahre 1009 vor
Christi Geburt, also noch 38 Jahre vor der Erbauung des
Tempels Salomonis, gegründet ist. Dass aber König Alfred
während der Jahre 870 bis 886 in Oxford residirte, ist eine
beglaubigte, geschichtliche Thatsache".
„Ist denn König Alfred wirklich der Stifter der Universität?"
,Ja, der Sage nach", erwiderte Mr. L. „und allerdings hat
man im Jahre 1872 den tausendjährigen Geburtstag der ,,Alma
Mater" gebührend gefeiert. Ijidessen waren es wohl nur einige
Schulen, die Oxford Alfred dem Grossen verdankte. Die
Gründung der eigentlichen Universität jedoch fällt nicht früher
als in das Jahr 1250, wo „University College" gestiftet wurde".
„Und" fragte ich weiter, „ist aus diesem ersten und
ältesten University College die Universität Oxford hervor-
gegangen?"
„Da muss ich Sie von vornherein vor einem, im Auslande
220 Ein Tag in Oxford,
sehr verbreiteten Irrthum warnen, nämlich vor der Verwechselung
der Universität und der Colleges. Die „Universität Oxford**
ist eine Corporation ähnlich den deutschen Universitäten. Sie
bietet den Studirenden Unterrichtsmittel durch die Vorlesungen
ihrer Facujtätsprofessoren, durch ihre Bibliotheken, Anstalten
und Sammlungen; sie examinirt und ertheilt akademische
Würden und Grade (degrees). Auch übt sie die allgemeine
Polizei aus, nicht nur über die Akademiker, sondern auch viel-
fach über die Einwohner. Die „Colleges", die CoUegienhäuser»
bieten den Studenten Wohnung, Ernährung, Stipendien, passende
Gesellschaft, disciplinarische Aufsicht, Unterricht, und später
Nachhülfe in ihren selbstständigen Studien".
„Also wäre", warf ich fragend ein, „das College etwa einem
Convicte zu vergleichen, wie es bei uns in Tübingen für
protestantische, anderswo für katholische Theologen besteht?"
„Immerhin", erwiderte mein Gastfreund, „es umfasst jedoch
eine weit vielseitigere Gemeinschaft als jene: es ist zugleich
ein protestantisches weltliches Stift, am ähnlichsten vielleicht
den ehemaligen grossen Abteien der Benedictiner. „Qui non
religiosi, religiosi viverent"; klösterliches Leben ohne Gelübde
setzte der Stifter von Merton College als Zweck seiner
Schöpfung. Die Colleges haben ihre, von der Universitäts-
behörde völlig unabhängige Verfassung und Verwaltung. Ihr
gewähltes Haupt heisst Rector, Master, Präsident oder Dean
(Dekan). Die Mitglieder des Kapitels sind die Fellows".
„Indessen", unterbrach sich Mr. L. hier selbst „das alles
möchte ich Ihnen lieber durch die Anschauung erklären. An
Ort und Stelle werden Sie viel leichter ein klares Bild davon
bekommen: was ein College ist. Wir wollen jetzt das alte
Oxford bei Tage und im Sonnenschein sehen und sie sollen
sich überzeugen, dass das mittelalterliche Gespenst von gestern
Abend noch lebt und Fleisch und Blut hat".
Während wir gingen, nahm mein Gastfreund von neuem
das Wort:
„Ich führe Sie hier auf Feldwegen zur Stadt, denn ich
möchte Ihnen zum Beginn unserer Wanderung sogleich eines
der schönsten uhd bedeutendsten Bilder zeigen unter allen, die
das malerische Oxford aufzuweisen hat. — Sehen Sie hier!"
rief er, als wir aus einer schmalen Allee auf die grosse Heer-
London und Oxford. 221
Strasse einbogen, welche früher der belebte Weg von London
her war: „das ist Magdalen College, eine der edelsten^
Perlen der alten Oxonia!"
Wir näherten uns dem kleinen Flusse Cherwell, welcher
hier getheilt eine grüne Insel umfasst und weiter unten an der
Stadt mit dem grosseren Isis zur Themse zusammenfliesst. Vor
uns führt eine lange stattliche alte Steinbrücke über beide
Flussarme und unmittelbar am jenseitigen Ufer steigt rechts
ein mächtiger viereckiger Thurm stolz in die Luft, wohl fünfzig
Meter hoch; seine stumpfe Plattform ist mit kleinen, spitz zu-
laufenden Pfeilerthürmchen reich verziert.
Links der Brücke streckt sich einft lange tiefe Terrasse
über dem Flusse hin, beschattet von ungewöhnlich grossen
weit herabhangenden Trauerweiden, die wieder von noch
höheren Bäumen überragt werden: der botanische Garten.
„Nicht wahr, das ist schön!" sagte mein Führer, „mich
ergreift es jedes Mal mächtig, wenn ich vor dieses Bild trete
und deshalb bringe ich gern jeden Fremden zuerst hierher. Der
Thurm vor uns ist nun bald vierhundert Jahre alt und ebenso alt
ist das grossartige Magdalen College, das im Jahre 1456 von
William von Waynflete, Bischof von Winchester, gestiftet
wurde. Er war Lord Kanzler von England unter dem Könige
Eduard IV., dessen Söhne ihr schlimmer Onkel Richard III. im
Tower von London bekanntlich ermorden Hess. Die 180 Fuss
lange Brücke, auf der wir stehen, ist jünger, aber die Ueber-
brückung hier ist sehr alt, denn sie wird bereits im Jahre 1004
erwähnt. Wären Sie einige Wochen früher hier gewesen, am
I. Mai, so hätten Sie schon Morgens 5 Uhr mit mir hierher
wandern müssen und dann die Brücke und die ganze
Umgebung dicht von Menschen besetzt gefunden. Alsdann geht
nämlich auf der Plattform des Thurras eine sehr merkwürdige,
unvordenklich alte Ceremonie vor sich: der „Maimorgen-
Hymnus" wird dort oben gesungen. Diese Feier war schon
uralt, als König Heinrich VII. um 1480 für dieselbe eine jähr-
liche Rente von 200 Mark stiftete. Der jetzige lateinische
Text des Gesanges stammt aus dem Anfange des vorigen
Jahrhunderts, aber zu Grunde liegt wahrscheinlich noch die
Erinnerung an die alte heidnische Sonnenfeier unserer gemein-
schaftlichen Vorväter".
ä22 Ein Tag in Oxford,
„Sehr wahrscheinlich", bemerkte ich, „denn auch in vielen
Gegenden Deutschlands knüpft der zähe Conservatismus der
Volkserinnerung heute noch Maifeste an die alten heidnischen
Cultusstätten : vor allen die berühmte Hexenfahrt auf den
Brocken in der Mainacht. Im Maimorgen-Hymnus also besässen
wir ein Stück alter gemeinsamer angelsächsischer Tradition" —
„Zum Schlüsse", unterbrach mein Führer diese prä-
historischen Reminiscenzen, „blasen alle Zuhörer auf traditionellen
kleinen Blechtrorapeten und vollführen damit eine gräuliche
Katzenmusik. Darin liegt ebenfalls eine geschichtliche
Erinnerung, nämlich an die Alarmhömer der Bürger und
Lehrlinge von Oxford bei ihren grossen historischen Riots
(»Keilereien") mit den Studenten: Town versus Gown, Stadt
gegen Chorrock. Letztere gaben ihr Signal „Gown into Town
Bursche heraus", mit den Collegeglocken". —
Jetzt aber wollen wir eintreten, damit Sie endlich erfahren,
wie ein College von innen aussieht.
IL
Magdalen College.
JDas tiefe, gewölbte Eingangsthor von Magdalen College
fuhrt uns in einen grossen, viereckigen Hof, den Great Qua-
drangle, umgeben von der edelsten Architektur des fünfzehnten
Jahrhunderts. Rings herum läuft der Kreuzgang, erhellt durch
niedrige, breite, von flachen Spitzbogen überwölbte Fenster;
über ihm steht zu unsrer Linken die Capelle, auf den drei
anderen Seiten ruht ein Stockwerk mit den Wohnungen des
President und der Fellows. Die lange Flucht vor uns wird
durch einen kurzen, schweren, mit Zinnen und Fialen gekrönten
Thurm unterbrochen, den uralter Epheu bis oben hinauf über-
wuchert hat. Zwischen je zwei Fenstern des Kreuzganges
springen schmale Pfeiler vor, welche Steinfiguren tragen.
Indem ich näher heran ging, überraschten diese Bildwerke mich,
nach der Reihe, durch ihre fremdartige und unverständliche
Erscheinung.
„Was bedeuten denn jene grotesken Ornamente?" musste
ich fragen, „ich sehe wohl, es sind Menschenzerrbilder und
Fabelthiere, aber alles ist so fratzenhaft und närrisch-seltsam
dargestellt".
,Ja", erwiderte mein Führer lächelnd, „was bedeuten die
wohl? Sie stehen hier vor einem der grossen Geheimnisse von
Oxford. Ueber die Auslegung dieser Steinpuppen tobt schon
seit Jahrhunderten heisser Streit unter den Kunstgelehrten.
Man hat sie studirt wie Hieroglyphen. Einige Skeptiker
behaupten zwar: sie seien weiter nichts, als schlechte Witze
des Steinmetzen, aber ein patriotischer Fellow von Magdalen
hat, jetzt gerade vor zweihundert Jahren, über diese Ungethüme
224 Ein Tag in Oxford,
ein dickes, gelehrtes Buch geschrieben, dessen langer Titel
also beginnt: »Oedipus Magdalensis, Explicatio Figurarum etc.«
Dieser Oedipus packt nun die Sphinx folgendermassen an: »hier
dieser Narr mit Schellenkappe zeigt uns das Schicksal des
Studenten, der es nicht zu einer der drei vorhergehenden
Figuren gebracht hat, nämlich: Advocat, Arzt, Geistlicher; hier
das schwimmende Hypopotamos mit seinem Jungen auf dem
Rücken, ist das Sinnbild des sorgsamen Tutors oder Lehrers,
der seinen Zögling sicher durch die Sümpfe der academischen
Versuchungen trägt«. Dann folgen die Laster, welche der
studirende Jüngling zu fliehen hat: der Wähnvolf — Gewalt-
thätigkeit, der Greif — Habsucht, der Hund — Schmeichelei,
diese beiden Boxer — Streitsucht und so fort. „Tiefer Sinn
liegt oft im kindischen Spiele!** sagt nicht so einer Ihrer grossen
Dichter?"
,JEs sind Hieroglyphenbilder ohne Text, diese gothischen
Caricaturen" , bemerkte ich, „man könnte sie auch einfach:
xRebus« nennen ; ich wusste allerdings nicht, dass deren Erfindung
so alt sei".
„Dort, in dem epheubewachsenen Thurme vor uns*S fuhr
Mr. L. fort, „befinden sich noch die Wohnzimmer des Stifters,
des Bischofs Wayuflete, mit herrlichen, alten Arrastapeten, nach
Entwürfen von Hans Holbein d. J. Lassen sie uns jetzt für
einige Minuten in die Kapelle treten".
„Sie bemerken", begann mein Führer wieder, nachdem
unsere Augen sich an das gedämpfte Licht gewohnt hatten,
das durch die prächtigen Glasmalereien der breiten verstabten
Fenster fiel, „Sie bemerken wohl jene kunstreiche, durchbrochene
Steinbrüstung, die den geräumigen hohen Chor von der ver-
hältnissmässig beschränkten Antechapel, hier streng abscheidet
Dort oben in den reichgeschnitzten, eichenen Chorstühlen, zu
beiden Seiten der korinthischen Säulen des Altars aus der
Renaissance, sitzen die hohen Häupter des College. Hier unten
hat die Gemeinde freien Zutritt. Dieser wird fleissig benützt,
denn Magdalen Chapel ist berühmt wegen seines vorzüglichen
Chorgesanges, der auf einer alten Stiftung für sechszehn Sänger
beruht. Durch die kunstvollen Stein- und Holzarbeiten, die
musterhaften Glasmalereien der Fenster, die sihr grossen und
schweren alten Messingleuchter und eine Reihe älterer spanischer
Magdalen College. 225
Gemälde, macht das ganze Schiff wirklich einen vornehmen,
warmen, harmonischen Eindruck".
„Es ist alles so besonders wohl erhalten und sauber hier**,
bemerkte ich,
„Die Bilderstürmerei der Puritaner" erv^'iderte der Reverend,
„hatte auch hier zu Cromwells Zeiten viel zerschlagen und ver-
wüstet. Vor einigen Jahren Hess das College die Chapel
restauriren. Kenner behaupten: die Vorzüglichkeit der alten
Arbeit trete jetzt erst recht hervor; die Rechnung betrug gegen
600,000 Mark".
Von der Chapel aus betraten wir den sogenannten Vorhof,
an welchen die Wohnungen der Undergraduates liegen. So
heissen die Studenten, so lange sie noch nicht den ersten
akademischen Grad eines „Bachelor of Arts" erworben haben.
Am entgegengesetzten Ende dieses Hofes führt ein enger
Ausgang in die Gärten.
„Betrachten Sie ja die schwerfallige, steinerne Kanzel hier
im Winkel" sagte mein Führer. „Sie ist achtes Alterthum,
denn sie stammt vom Bischof Waynflete selbst. Hier wurde
jährlich am Johannistage zu Ehren des Heiligen der Wildniss
eine Predigt gehalten und dafür der ganze Hof mit Binsen
und Gras bestreut, um die Wüste zu versinnlichen. Ob es
dabei auch Honig und Heuschrecken für die Zuhörer gab,
weiss ich nicht".
„In die sehenswerthe Hall von Magdalen, den grossen
Esssaal, führe ich Sie nicht, da Sie in einer ähnlichen heute
speisen werden; wir wollen lieber einen Gang durch die
Gärten von Magdalen und die berühmten Water Walks am
Cherwell machen. Ihr Areal ist ungewöhnlich für einen Stadt-
garten: 150 Morgen; noch sehenswerther sind sie wegen ihrer
alten Baumriesen, malerisch üppigen Gruppen und schönen
Wasserpartien. Das ist ja wohl Ihre specielle Schwärmerei?"
Ein weiter Park nahm uns auf und zeigte uns alle die
wechselnden Schönheiten, die mich in den englischen Gärten
stets mit frischer Bewunderung und stärkender Erfrischung
erfüllen. Vor der südlichen Gartenfront des College liegt hier
eine breite Terrasse. Von dieser führen Stufen in ein Blumen-
parterre hinab, dessen Mittelpunkt, ein ehemaliges, geräumiges
Wasserbecken, zu einer Felsgruppe aufgewölbt und mit den
Ompteda, L. v., Bilder. 15
226 Ein Ta£' in Oxford,
jetzt SO modernen Saxifragen, mit Sempervivum, Escheverien
und ähnlichen interessanten Berg- und Steinbewohnem reich
besetzt ist. Diese Mittelgruppe ist bewacht von vier, ziemlich
sechs Fuss hohen, mächtigen kugelförmigen Thujas. Von hier
aus laufen, um den kurzen, dichten Rasen die schmalen
Blumenbeete, ein weites doppeltes Quadrat bildend, jetzt in der
Frühjahrspracht der blauen Vergissmeinnicht, eingefasst mit rothen
Silenen und von breiten Streifen weisser Vergissmeinnicht
quer durchkreuzt. In der Mitte von jedem .der beiden
Quadrate glüht auf einem grossen gewölbten, sternförmigen Beete
das kräftige, warme Roth der Tausendschön. Die umgebende
geräumige Rasenfläche ist mit hohen Dracaenen und mit den
lang- und breitblätterigen Musen des Paradieses verziert.
„Jene Glasthüren", erklärte mein Gastfreund, „führen von
der Terrasse in den Common Room, das grosse Clubzimmer der
Fellows und Tutors; ein geheiligter Raum, den kein Under-
graduate betreten darf. Nicht wahr, die gelehrte Colonie ist
nicht so übel untergebracht?**
„Das Bild der vornehmen, gesicherten Zurückgezogenheit**,
erwiderte ich, „ein wahrer Luxus an Ruhe und Beschaulichkeit;
das verkörperte Ideal des klösterlichen Gelehrtenlebens in
den ehemaligen, reichen, jetzt schon sagenhaft gewordenen
Abteien !**
An den Blumengarten schliesst sich eine ausgebreitete,
kaum absehbare Lawn; die offene Grasfläche ist mit einzelnen,
hohen Araucarien und Wellingtonien besetzt, deren unterste,
breiteste Aeste auf dem Rasen ruhen. Bald aber nehmen uns
dichtere, dunkle Waldgruppen auf, dazwischen Weideplätze für
vertrautes Roth- und Damm wild, friedlich daneben zahmes
buntes Hornvieh von Hirten gehütet; rieselnde Bäche; ein
stiller See. Hie und da akademische Jugend; einige einsied-
lerisch im Grase oder im flachen Boote ausgestreckt und im
Schatten eines weitästigen Uferbaumes lesend; andere in leb-
haft bewegten, heiteren Gruppen auf einer offenen Lawn mit
Bogen nach grossen Scheiben schiessend, ein sehr beliebter
nationaler Sport.
Nachdem wir wohl eine halbe Stunde gewandert waren,
blieb Mr. L. stehen.
„Hier ist gut ruhen, meinen Sie nicht? hier wollen wir im
Magdale n College, 22 i
Schatten jener herabhangenden, mächtigen Eschen rasten und
uns an der murmelnden Kühlung dieses eiligen Arms des
Cherwell erfrischen. Der Fleck hier ist geweihter Boden; er
heisst „Addison's Walk", nach unserem berühmten Dichter und
Essayisten, dem Herausgeber des klassischen „Spectator", der
um das Jahr 1700 hier studirte. — Betrachten Sie jene
bukolische Idylle vor uns, es sind ächte Alderneykühe von der
Insel Jersey; man sieht es an den schmalen, hirschartigen
Köpfen. — Dort im Hintergrunde überragt der hohe Thurm,
unser alter Bekannter, selbst die höchsten Baumgipfel".
Als wir uns gelagert hatten, begann ich wieder j „Sie
müssen mir noch einige Fragen gestatten. Ich weiss jetzt
freilich: wie ein College von aussen aussieht, aber die innere
Einrichtung und das Leben darin, ich möchte sagen: der Be-
trieb des College ist mir noch nicht ganz klar**.
„Ich hoffe, das alles wird Ihnen durch den Anschauungs-
unterricht während des heutigen Tages verständlich Werden",
erwiderte mein Gastfreund. — »Nun, was wünschen Sie zu
wissen?"
„Znnächst also: wohnt und lebt jeder Student in einem
solchen College?"
„Nicht alle, aber weitaus der grösste Theil. In den
ältesten Zeiten der Universität gab es keine Colleges. Die
Studenten wohnten in kleinen Herbergen (Halls) zusammen.
Es sollen deren einmal zweihundert hier gewesen sein; die
Frequenz der Universität war schon früh sehr bedeutend;
aus dem Jahre 1209 werden dreitausend Studenten gemeldet.
Nach und nach wurden, um Zucht und Ordnung in das wilde
Leben zu bringen, die Colleges gestiftet, das älteste »University
'College« im Jahre 1250, das jüngste »Keble College« erst 1868,
Sie sehen also: der Werdeprocess von Oxford ist noch nicht
erschöpft Von den alten Halls bestehen nur noch vier, als
Ueberreste der früheren grösseren »akademischen Freiheit«,
wie man in Deutschland sagt".
„Bis vor zehn Jahren nun musste, während vier Jahr-
hunderten, jeder Studirende einem dieser Convicte angehören;
jetzt dürfen sie auch in gewissen bürgeriichen Häusern der
Stadt, welche dafür vom Vicekanzler concessionirt sind, wohnen.
Diese »Unattached« oder Wilden stehen indessen ebenfalls unter
15*
22o Ein Tag in Oxford,
disciplinarischer Aufsicht. Um lo Uhr Abends muss jeder
Studiosus in der Regel zu Hause sein. Der verantwortliche Wirth
hat darüber eine Liste zu fuhren. Solcher Wilden haben wir be-
reits einige Hunderte. Sie schlagen sich so im ganzen billiger
durch, als in den Colleges, wo meistens zu viel Comfort und
Luxus herrscht, namentlich fallen dort zu viele unvermeidliche
Vergnügnngs- und Ehrenausgaben vor. Man schätzt den
/Bedarf eines anständig, ohne Extravaganzen, lebenden Studenten
in Oxford auf 5 bis 6000 Mark. Dazu kommt aber noch, dass
das akademische Jahr eigentlich nur sieben bis acht Monate
dauert, während der übrigen Zeit sind Ferien. Ein flotter
oxforder Student ist also ein Luxus, den sich nur wohlhabende
Väter gestatten können. Diesen Missstand hat man sehr wohl
empfunden und auf Abhülfe gesonnen. So wurde Keble College
gegründet für eine ärmere Klasse von Studenten, »welche dort
wirklich ernstlich studiren sollen bei einfacher und religiöser
Lebensweise« so heisst es im Stiftungsbriefe. Nebenbei waltet
aber auch die extrem hochkirchliche Richtung in Keble vor>
entsprechend seinem Namen, denn Dr. Keble war eines der
Häupter unserer Extremen und vor vierzig Jahren einer der
Führer des bekannten »Tractarian Movement«. — Was man
aber hier unter »ärmerer Klasse« versteht, können Sie daraus
abnehmen, dass jeder Student in Keble über 1600 Mark für
Wohnung, Unterhalt und Unterricht bezahlt, immer nur während
sieben und einem halben Monat. — Und wie kam das Geld
für Keble College zusammen? Das ist charakteristisch und
wird Sie interessiren. Zunächst brachten Beiträge von frommen^
wohlthätigen Privatleuten über eine Million Mark. Ein reicher
Rheder, Mr. Gibbs, baute die Chapel, sie kostete ebenfalls mehr
als eine Million. Einer anonymen Wohlthäterin war bald die"
ursprüngliche Esshalle zu klein , sie bauete eine neue auf ihre
Kosten und fügte eine Bibliothek hinzu, beide in den grössten
Dimensionen. Mrs. Combe gab zweimal hunderttausend Mark
für ein grosses Bild von Holman Hunt »Christus, das Licht der
Welt« zur Ausschmückung der Bibliothek. Die Erben des
Feldmarschalls Gomm stifteten ein Kapital von dreimal hundert-
tausend Mark für Stipendien. Das alles geschah für hundert
und fünfzig »ärmere Studenten«",
„Halten Sie ein", bat ich, ,imir schwindelt! Das nennt man
Magdalen College, 229
^^bescheidene Verhältnisse«? England ist wirklich zu reich ge-
worden! — Wie viel Mitglieder zählt denn überhaupt die
Universität Oxford?"
„Studenten", meinte Mr. L. „werden wir etwa 2500 haben;
aber dazu die Mitglieder der »University«, die 48 Professoren,
und die eingeschriebenen Angehörigen sämmtlicher Colleges,
also die Fellows, femer die Tutors und die Lecturers (beauf-
sichtigende Lehrer und Fachlehrer): alle .diese rechnen sich
gewiss auf mehr als 9000 Kopfe zusammen".
„Wieder eine der grossen Ziffern, an die man sich in
Eng'land erst zu gewöhnen hat", unterbrach ich erstaunt, „die
Universität muss doch ungeheuer reich sein, da so viele
Menschen auf ihr und von ihr reichlich leben. Wie verhält es
sich wohl damit?"
„Dabei müssen wir wieder unterscheiden", erklärte Mr. L.
„Die »University« hat nur eine jährliche Einnahme von etwa
600,000 Mark. Weit grösser aber ist der Reichthum der
Colleges. Sie besitzen zusammen eine Grundfläche von etwa
200,000 Morgen und beziehen eine Rente von etwa
4^/2 Millionen Mark. Die gesammte jährliche Einnahme der
Universität Oxford, in Ihrem deutschen Sinne, also ein-
schliesslich aller Colleges, wird sich auf etwa 9,200,000 Mark
belaufen".
„Das sind Summen", musste ich bekennen, „von denen wir
für deutsche Verhältnisse einfach keinen Begriff haben".
,Ja, es ist etwa der Betrag unserer königlichen Civilliste",
bemerkte Mr. L. zur Vergleichung. „Uebrigens dürfen Sie auch
den grossen Unterschied nicht vergessen, dass die Colleges von
Oxford nach dem Willen ihrer Stifter nicht allein Studirende
ausbilden sollen. Sie sind namentlich auch bestimmt, älteren
bereits graduirten Männern, die im reiferen Alter ihre Studien
fortsetzen, eine auskömmliche, förderliche Existenz zu geben.
So nimmt das, im Jahre 1437 gegründete All Souls College
stiftungsmässig gar keine Studenten auf, sondern nur Graduirte ;
.dabei hat es ein. jährliches Einkommen von etwa 360,000 Mark.
Früher waren zu den meisten dieser Präbenden (Fellowships)
nur jüngere Mitglieder des College selbst berufen, seit neuerer
Zeit findet aber fast überall freier Wettbewerb durch Prüfungen
statt. Diese Fellows also wohnen ujid leben im College und
230 Ein Tag in Oxford.
haben nebenbei eine bescheidene baare Einnahme von 4000
bis 8000, selbst bis 11,000 Mark; ein Theil von ihnen ist zu-
gleich als Tutors (beaufsichtigende Lehrer) thätig und verdoppelt
dadurch etwa sein Einkommen, Einige übernehmen auch wohl
benachbarte Pfarreien. Von den übrigen wird vorausgesetzt,
dass sie ihre Müsse gelehrten Studien widmen".
„Gestern Abend habe ich, in Voraussicht Ihrer Wiss-
begierde, einige Notizen üher diese Finanzfrage zusammen-
gestellt, die Ihnen vielleicht die Sache veranschaulichen werden.
Danach hat: Magdalen College
1. jährliche Einnahme 480,000 Mark
2. der Gehalt des President beträgt 50,000 „
3. Gehalt der 30 Fellows, jeder, 6 bis 8,000 „
4. Ausgabe für Stipendiaten, Scholars 56,000 „
5. Zahl der Studenten (1878) loi Studenten
6. Patronatspfarren des College 42 Pfarren
7. deren Jahreseinkommen 490,000 Mark
8. Landbesitz des College 16,800 Morgen
Während ich noch mit diesen überraschenden Zahlen
kämpfte, nahmen Mr. L.'s Mittheilungen eine andere Gedanken-
reihe auf.
„Es ist eine merkwürdige Continuität", so begann er
wieder, „in dem Leben und der Lebensfähigkeit eines solchen
College. Was ist nicht alles gleichzeitig mit Magdalen »fiir
die Dauer« gegründet und gestiftet worden und was steht
davon noch heute lebendig aufrecht? Selbstverständlich zeigt
diese selten zähe, lange, und im ganzen aufsteigende Lebens-
linie auch mannigfache vorübergehende Depressionen, sie
bewegt sich in Curven von guten und schlechten Zeiten.
Und wie sich alles in unserer kleinen Welt hier wiederholt!
Im Jahre 1500 wüthete in Oxford die Pest und Magdalen
stand beinahe verlassen; dazu kam die allgemeine Verwilderung
aus den erst kürzlich beendigten, hundertjährigen Rosenkriegen.
So entspann sich unter anderem damals auch eine pädagogische
Bewegung unter den Studenten gegen das Griechische. Die
Gegner nannten sich »Trojaner« und lieferten als schlagende
»argumenta ad hominem« den Griechen ernste Strassengefechje
um diese hier noch heute vielumstrittene Frage". —
j^Iagdalen College. 231
„Auch die englischen Könige hatten, namentlich in früheren
Jahrhunderten, vielfache Beziehungen zu Magdalen. Später
erhob sich Christ Church College zu vornehmerer Stellung als
Heinrich VIII. es mit der bischöflichen Kathedrale verband.
Unter den verschiedenen königlichen Besuchen macht mir
immer die Erinnerung an den armen Prinzen Arthur, Sohn
Heinrich VII. und Zögling von Magdalen, einen wehmüthigen
Eindruck. Sein Leben verlief so furchtbar hastig. Mit
1 2 Jahren war er Student in Magdalen, erst 1 4 Jahre alt wurde
er mit Katharina von Arragonien vermählt und kaum 1 5 Jahre
alt starb er schon. Seine Wittwe wurde die Gemahlin seines
Bruders, Heinrichs VIII., der dann plötzlich wegen dieser Ehe
die bekannten Gewissensbisse bekam — als er das liebenswürdige
HofSräulein Anna Boleyn kennen lernte".
„Und diese königlichen Gewissensbisse", wagte ich vor-
sichtig zu fragen, „waren ja wohl der erste Anstoss zur
Trennung der englischen Kirghe von Rom?"
„Nun", erwiderte mein geistlicher Freund, „UebelwoUende
haben das allerdings behauptet, aber die Bewegung hatte doch
einen tieferen Ursprung; sie lag in der aus Wittenberg herüber-
wehenden Luft und im englischen Volkscharakter. Wir ertragen
nun einmal keine Art von Fremdherrschaft". „Auch wir
Deutschen nicht" stimmte ich ein, „so wenig jetzt »italienische«
wie ehedem »französische«". —
„Also, dieser arme Prinz Arthur kam durch Oxford und
wohnte als Gast des President in den schönen Thurmzimmem
von Magdalen. Seltsam erscheint uns heute die Bewirthung,
mit der er hier gefeiert wurde. Des Prinzen Schlafzimmer
war sorgfaltig mit frischen Binsen gestreut; man setzte ihm vor:
ein Gericht Hechte und ein Gericht Schleien; als Gastgeschenk
erhielt er ein Paar Handschuhe; die Erfrischung bestand in
Rothwein, Ciaret und Sect". Es war dieses im Jahre 1501,
vermuthlich während der Fasten, einige Monate vor seinem
jähen Tode. —
„Weniger erfreulich verliefen die Beziehungen des College
zu König Jakob II., der sich bei seiner Thronbesteigung (1685)
als römischer Katholik bekannt hatte. Er befahl dem College :
einen notorischen Papisten Namens Farmer zum President zu
wählen. Dieses wurde verweigert und Dr. Hough gewählt.
232 Ein Tag in Oxford,
Darauf erneuerter Befehl statt des letzteren: den katholischen
Dr. Parker zu wählen. Gleicher Widerstand. Der aller-
ungnädigste Herr citirte nun (1687) sämmtliche dreissig FeUows
von Magdalen vor sein königliches Antlitz und hielt ihnen
folgende fulminante Standrede: „Ihr seid ein widerspenstiges
aufrührerisches College, Ihr! Ist das die vielberühmte Loyalität
Eurer englischen Staatskirche? Macht, dass Ihr fortkommt —
und merkt's Euch: Ich, der Konig, will dass Ihr gehorcht!"
„Fünfundzwanzig FeUows blieben fest und wurden verjagt,
ebenso ihr standhafter President. Der nun gewählte President
Parker hatte indessen wenig Freude an seiner neuen Würde.
Allgemeiner passiver Widerstand im College. Der Thürhüter
warf die Schlüssel zur Erde, der Haushofmeister wollte
Dr. Houghs Namen nicht aus dem Speisebuche streichen, kein
Schlosser fand sich in Oxford, um die verschlossene Wohnung
des President zu offnen. Niemand wollte die Messe lesen
und bedienen. Die Undergraduates — jugendliche Märtyrer —
wurden mit Ruthen gestäupt und im Speisebuche gestrichen,
wodurch sie ihren Term (ihr Präsenzzeugniss für eine gewisse
Zeit) verloren. Eine komische Berühmtheit erlangte einer von
ihnen: Edward Anne. Er hatte in jugendlichem Feuereifer
eine versificirte nachhorazische Satyre auf das Messopfer in
lateinischen Hexametern verbrochen. Zur Strafe wurde er in
der Hall öffentlich gepeitscht und erlitt einen Streich für jeden
Vers. Gewiss bereute es der arme Edward jetzt schmerzlich,
dass er sich nicht mit einem bissigen Epigramm oder einem
spitzigen Vierzeiler begnügt hatte".
„Wie tiefsinnig**, citirte ich unwillkürlich, „ist doch Goethes
weise Regel : „In der Beschränkung zeigt sich der Meister**. —
„Nach sechs Monaten papistischen Gewaltregiments*', fuhr
Mr. L. fort, „war der arme Parker richtig todt geärgert! Zwei
Jahre darauf ging es mit dem papistischen Könige ebenfalls
zu Ende; der standhafte Hough zog wieder ein und wurde
bald auch Bischof von Oxford'*.
Mein hochwürdiger, staatskirchlicher Freund verweilte
augenscheinlich bei dieser kleinen Märtyrerhistorie mit
besonderer Genugthuung. —
Nach einigem Schweigen, während dessen wir das in der
Entfernung äsende Wild beobachteten, fuhr er fort:
Magdalen College, 233
„Der Wildstand, der uns hier so vertraut umgiebt, erinnert
mich an eine komische Wilddiebsgeschichte aus Magdalen. Im
Jahre 1556 — Sie sehen wie lebendig uns hier die Vergangenheit
ist — also, im Jahre 1556 hatten einige Studenten des College
im nahen Schotover Forest Hirsche gewilddiebt. Lord Norreys,
der Lord Lieutenant der Grafschaft, sperrte sie dafür ein, von
Rechtswegen. Ihre Commilitonen sannen trotzdem auf Rache.
Lord Norreys kam einige Zeit darauf nach O^^ford und wohnte
im Gasthaus zum Bären. Die Studiosen machten vorläufig
einen Angriff auf sein Gefolge und bearbeiteten dasselbe mit
eichenen Prügeln — die persönliche Abrechnung mit Sr. l^ord-
schaft blieb vorbehalten. Der Vicekanzler und hohe Senat
warfen sich energisch zwischen die Streitenden und schickten
die Magdalen Männer in ihr College zurück. Ruhe herrschte
wieder in Oxford.
Einige Tage darauf zog Lord Norreys nach London weiter;
er musste also Magdalen passiren, um die lange Brücke über
den Cher«\ell zu gewinnen. Jetzt kam die Rache. Die Studios
standen oben auf ihrem hohen Thurme und hatten dort Erd-
klösse, Rasenstücke und Steine aufgehäuft. Diese Wurf-
geschosse flogen plötzlich hageldicht auf die, unten gedrängt
und wehrlos vorbeiziehenden Mannen herab; viele wurden
getroffen und beschädigt. Lord Norreys sass zu seinem Heile
in einem gedeckten Wagen und kam glücklich hindurch. —
Nun aber folgte auch die Strafe; sie fiel eigenthümlich aus:
ein Theil der Missethäter wurde relegirt, oder wie man hier
officiell sagt: „rusticated", aufs Land geschickt; die anderen
mussten zur Busse ein Jahr länger studiren als in ihrem Plane
lag. So lebte das lustige Altengland in Oxford. —
III.
High Street.
JNur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die
wunderbare, sechshundertfiinfzig Meter lange Strasse wie ein
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte
Fernsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz
I der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — :
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross-
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter-
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England"
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in
der Welt*'. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene",
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es
giebt hier Stellen, w^o man sich ganz in*s fünfzehnte Jahrhundert
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser
Zeit um sich versammelt sieht".
Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit-
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster,
High Street. 235
Castelle, Schlösser und Kirchen, lauter grossartige und
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige,
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver-
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco; beides
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford,
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent-
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach-
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hunderts, Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich-
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige
Spaziergänge; im Hintergrunde hohe graue Thürme und dichte
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden,
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden
Niederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000
Einwohner.
In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch
hohe, von schweren, beinahe würfelformigen, stumpfen Thürmen
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt.
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte,
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem
Kleiderschnitt und grellen Farben, begleitet von zahlreichen,
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche,
officielle Tracht der Universität: „der Gown'*, vom kurzen,
III.
High Street.
JNur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die
wunderbare, sechshundertfönfzig Meter lange Strasse wie ein
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte
Femsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz
( der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — :
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross-
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter-
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England"
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in
der Welt**. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene",
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in's fünfzehnte Jahrhundert
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser
Zeit um sich versammelt sieht".
Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit-
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Kloster,
r
High Street 235
Castelle, Schlösser und Kirchen, lauter grossartige und
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige,
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver-
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco; beides
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford,
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent-
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach-
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hunderts, Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich-
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige
Spaziergänge; im Hintergrunde hohe graue Thürme und dichte
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden,
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden
^'iederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000
Einwohner.
In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch
hohe, von schweren, beinahe würfelförmigen, stumpfen Thürmen
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt.
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte,
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem
Kleiderschnitt und grellen Farben, begleitet von zahlreichen,
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche,
officielle Tracht der Universität: „der Gown**, vom kurzen.
III.
High Street.
JNur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die
wunderbare, sechshundertfunfzig Meter lange Strasse wie ein
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte
Fernsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz
der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — :
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross-
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter-
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England"
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in
der Welt**. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene",
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in's fünfzehnte Jahrhundert
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser
Zeit um sich versammelt sieht".
Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit-
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster,
High Street. 235
Castelle, Schlosser und Kirchen, lauter grossartige und
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige,
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver-
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco ; beides
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford,
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent-
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach-
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hunderts. Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich-
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige
Speiziergänge; im Hintergründe hohe graue Thürme und dichte
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden,
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden
Niederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000
Einwohner.
In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch
hohe, von schweren, beinahe würfelförmigen, stumpfen Thürmen
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt.
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte,
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem
Kleiderschnitt und grellen Farben, begleitet von zahlreichen,
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche,
officielle Tracht der Universität: „der Gown", vom kurzen.
III.
High Street.
JN ur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die
wunderbare, sechshundertfunfzig Meter lange Strasse wie ein
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte
Femsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz
I der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — :
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross-
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter-
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England"
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in
der Welt**. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene",
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in*s fünfzehnte Jahrhundert
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser
Zeit um sich versammelt sieht".
Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit-
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster,
High Street. 235
Castelle, Schlosser und Kirchen, lauter grossartige und
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige,
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver-
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco ; beides
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford,
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent-
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach-
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hunderts. Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich-
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige
Spaziergänge; im Hintergrunde hohe graue Thürme und dichte
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden,
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden
Niederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000
Einwohner,
In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch
hohe, von schweren, beinahe würfelförmigen, stumpfen Thürmen
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt.
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte,
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem
Kleiderschnitt und grellen Farben, begleitet von zahlreichen,
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche,
officielle Tracht der Universität: „der Gown", vom kurzen.
III.
High Street.
JN ur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords: High
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die
wunderbare, sechshundertfunfzig Meter lange Strasse wie ein
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte
Femsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz
der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — :
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross-
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter-
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England"
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in
der Welt**. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene",
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in*s fünfzehnte Jahrhundert
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser
Zeit um sich versammelt sieht".
Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit-
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster,
r
High Street, 235
Castelle, Schlosser und Kirchen, lauter grossartige und
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige,
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver-
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco ; beides
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxfgi^d,
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent-
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach-
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hunderts. Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich-
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille
Gärten hinter schweren, alten Eisengittern, auf schattige
Spaziergänge; im Hintergründe hohe graue Thürme und dichte
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden,
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden
Niederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000
Einwohner,
In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch
hohe, von schweren, beinahe würfelförmigen, stumpfen Thürmen
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt.
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben
anstandig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte,
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem
Kleiderschnitt und grellen P'arben, begleitet von zahlreichen,
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche,
officielle Tracht der Universität: „der Gown", vom kurzen,
III.
High Street.
JN ur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die
wunderbare, sechshundertfunfzig Meter lange Strasse wie ein
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte
Femsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz
der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — :
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross-
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter-
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England"
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in
der Welt". Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene",
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in*s fünfzehnte Jahrhundert
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser
Zeit um sich versammelt sieht".
Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit-
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster,
r
High Street. 235
Castelle, Schlosser und Kirchen, lauter grossartige und
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige,
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver-
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco ; beides
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford,
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent-
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach-
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hunderts. Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich-
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige
Spaziergänge; im Hintergrunde hohe graue Thürme und dichte
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie * in
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden,
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden
>Jied erlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000
Einwohner.
In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch
hohe, von schweren, beinahe würfelfönuigen, stumpfen Thürmen
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt.
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte,
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem
Kleiderschnitt und grellen P'arben, begleitet von zahlreichen,
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche,
officielle Tracht der Universität: „der Gown", vom kurzen,
236 Ein Ta^ in Oxford,
schwarzen, ärmellosen, fliegenden Mäntelchen des Studenten,
bis zu den langen, weiten, würdigen, mit verschiedenfarbigen
Aufschlägen und Litzen in Sammet und Seide verbrämten
Chorröcken, der zu akademischen Graden und Würden ge-
reiften Herren. Alle tragen die bekannte „Trenchercap",
bestehend aus einer, dem Kopfe eng anliegenden, schwarzen,
schirmlosen Haube, mit in die Stirn herabschiessender Schnippe
und darüber ein viereckiger, brettartiger Deckel, einem flach-
gedrückten Ulanentschapka nicht unähnlich, von dessen Mittel-
punkte, die schwere, schwarze Quaste herabschwingt Einige
dieser gelehrten Würdenträger grüssten meinen Begleiter im
Vorbeigehen.
„Bitte, sagen Sie mir", frug ich wissbegierig, „was bedeuten
die verschiedenen Abzeichen an den Costümen dieser Herren?**
„Oh, weh!" erwiderte Mr. L. lachend, „plagen Sie sich
damit ja nicht. Die Costümgesetze von Oxford sind äusserst
verwickelt: nach Graden, Facultäten, Gelegenheiten und sogar
nach Oertlichkeiten und Jahreszeiten. Sie würden da in ein
wahres Labyrinth von Stofi" und Schnitt, von Besatz und Auf-
schlag in allen Farben des Regenbogens gerathen. »Selbst die
Studenten haben unterschiedliche Abzeichen an Mantel undKappe.
Die Commoners sind einfach schwarz; die Gentleman-Commoners,
solche die in einigen Colleges eine höhere Pension bezahlen,
tragen einen Litzenbesatz und ein Futter von rosa Seide; die
Noblemen, nämlich die Söhne eines Herzogs, Marquis oder
Earl, welche noch schwerer bezahlen müssen, sind durch goldene
Litzen und Goldquasten an der Kappe ausgezeichnet.
„Das reizt nun den Witz der anderen und so pflegen sie
den jungen Füchsen (freshmen, also wörtlich: Frischlinge) auf-
zubinden: diese Goldquasten seien Strafabzeichen für hart-
näckige Trunkfalligkeit".
In nächster Nähe von Magdalen gelangten wir an einen
ausgedehnten Neubau, der sich schon in seinen Grundwerken,
als ein bedeutender monumentaler Schmuck für High Street
darstellte.
„Hier sehen Sie", bemerkte Mr. L., „ein Gebäude, welches
die arme Universität selbst, nicht eines der reichen Colleges,
errichten lässt. Es soll ausschliesslich zur Abhaltung der
Examina dienen, mit denen wir hier sehr reichlich gesegnet
High Street, 237
sind; man kommt eigentlich gar nicht aus ihnen heraus, bis
man nicht in den Ruhehafen eines Fellowship eingelaufen ist
Doch davon später, wir wollen jetzt fiirbass gehen. Uebrigens
sind jedenfalls die Kosten dieses Gebäudes seinem wichtigen
Zwecke entsprechend, denn der bewilligte Anschlag beläuft
sich auf 1,260,000 Mark".
Ich nahm jetzt unsere frühere Unterhaltung im Garten von
Magdalen College wieder auf; „Sie haben mich bereits einige
Blicke in die grosse Lehranstalt Oxford thun lassen und ich
kann mir nun die allgemeinen Umrisse eines College ungefähr
feststellen. Aber welche Stellung hat denn zu und über diesen
neunzehn grossartigen Stiftungen die eigentliche Universität?
Darüber bitte ich noch um eine kurze Belehrung**.
„Das Verhältniss einem Fremden klar zu machen, ist
vielleicht nicht so ganz leicht", erwiderte mein liebenswürdiger
Führer. „Oxfords Organismus ist oft mit .einem planlos ge-
wachsenen, verwickelten und verzwickten, gothischen Gebäude
verglichen, in welchem man allein durch Einleben heimisch,
ja! auch nur orientirt wird. Indessen ich verspreche mit Ihrem
Mephisto, als er den jungen Schüler so wirksam über die
Geheimnisse der Fausf sehen Universität aufklärte: „Was ich
vermag", soll gern geschehen". Also, ich möchte sagen: die
Universität steht nicht eigentlich über den Colleges; es sind
sogar Stimmen laut geworden, welche beklagen, dass sie von
ihnen überwuchert sei ! Aber dennoch umfasst sie die Colleges,
vereinigt und ergänzt sie, ja! setzt sie auch, als Bildungs-
mittel, fort".
„Die Universität hat an ihrer Spitze den Kanzler. Es ist
ein Ehrenposten, den fast immer ein sehr vornehmer Edelmann
inne hat, jetzt der Marquis von Salisbury. Das sichtbar
regierende Haupt ist der Vicekanzler, den der Kanzler jährlich
aus den Häuptern der Colleges wählt. Unter ihm fungirt ein
zahlreicher Stab von Beamten. Bei diesen befinden sich, bereits
seit 1355, sogar zwei „Marktaufseher**, welche die Nahrungs-
mittel, nebst den Maassen und Gewichten, auf dem Fleisch- und
Gemüsemarkte controUiren. In Oxford sind selbst hierzu nur
graduirte Gelehrte brauchbar. Nun kommen wir endlich zu
dem eigentlich lehrenden Körper; er besteht jetzt aus achtund-
vierzig Professoren. Diese sind indessen sehr ungleich auf die
2öo Ein Tag in Oxford.
verschiedenen Facultäten vertheilt, denn alle diese Professuren
beruhen im wesentlichen auf Stiftungen aus ältester bis in die
neueste Zeit. In den letzten dreissig Jahren wurden diese
Professuren etwa auf das doppelte vermehrt; für einige benutzte
man die Einkünfte von gerade frei werdenden Fellowships in
überreichen Colleges. Aus diesen Ursprüngen erklären sich
auch die seltsamen, nur dem Eingeweihten verständlichen Namen.
So giebt es mehrere „Regius Professuren", nämlich solche, die
von verschiedenen englischen Königen gestiftet wurden : die
älteste, von Heinrich VIII. (1535), die jüngste, von der Konigin
Victoria (1842). Der Gehalt ist anständig: 30,000 Mark. Dann
hören Sie vom „Lady Margaret Professor** reden; er ist ein
Theologe, im Jahre 1502 von Margaret, Gräfin von Richmond,
Mutter Konig Heinrich VIL, gestiftet und ebenfalls mit 30,000
Mark dotirt. Ich will Ihnen nun noch beispielsweise den
„Ireland Professor** nennen, er wurde für Exegese der
heiligen Schrift von einem Dr. Ireland im Jahre 1847
gestiftet, mit etwa 6300 Mark Einkommen; femer den „Corpus
Professor**, der vom Corpus Christi College für lateinische
Literatur gegründet ist; den „Laudian Professor**, im Jahre 1636
vom Erzbischof Laud für das Arabische gestiftet, den „Slade
Professor**, für die schonen Künste, nebst dem „Heather
Professor** für Musik.
„Die Vertheilung der Professoren auf die verschiedenen
Facultäten konnte Ihnen verwunderlich erscheinen; es gibt
nämlich nur \ juristische und 5 mediciniscbe, daneben 9 theo-
logische Professuren. In dieser Beziehung werden allerdings
jetzt Reformen angestrebt, durch welche der Stab der Professoren
systematisch verstärkt werden soll. Ueber die Bedürfnissirage
sind alle einverstanden, denn der College-Unterricht ist doch
immerhin sehr theuer und in manchen Fächern, z. B. in der
Jurisprudenz und den Naturwissenschaften, nothwendig unzu-
reichend**.
„Es ist wohl im grossen etwa derselbe Fehler, wie wenn jeder
junge Mensch seine völlige gelehrte Ausbildung durch einen
oder zwei besondere Hauslehrer bekäme?" warf ich fragend ein.
„Nicht ganz so schlimm**, stimmte Mr. L. im allgemeinen
zu, „aber in vielen Punkten verstösst die alte klosterliche
Einrichtung des Unterrichts gegen die natürlichen Gesetze
High Street, 239
einer vernünftigen Arbeitstheilung. Deshalb haben sich auch
in neuester Zeit viele Colleges soweit zusammengethan, dass
die Undergraduates des einen den Unterricht im andern
benutzen können. Dadurch wird der Wetteifer tüchtiger
Lehrer angeregt, namentlich wird jungen strebsamen Tutors ein
kleines Feld der Concurrenz eröffnet. — Nun kommt aber die
leidige Geldfrage! Die Colleges sollen nämlich zur Durch-
führung der Lehrreform einen Theil ihrer Einnahmen, etwa
1 2 Procent, opfern und in die Universitätskasse einzahlen ! Be-
kanntlich ist Selbstreform für Corporationen eine noch weit
schwierigere Aufgabe als für Individuen. Sie können sich
also leicht vorstellen, dass und warum die Colleges über diesen
Geldpunkt schon seit einer Reihe von Jahren eifrig und ge-
wissenhaft nachdenken, ohne bis jetzt zum Beschlüsse
gekommen zu sein".
,Ja", stimmte ich verständnissvoll ein, „das kann ich mir
sehr deutlich vorstellen. Ein orthodoxer Conservativer würde
es sogar als eine Immoralität bekämpfen müssen, dass der letzte
Wille frommer Stifter durch solche Neuerungen missachtet wird !"
„Bis jetzt also", fuhr Mr. L. in seiner Auseinandersetzung
fort, „bis jetzt hört der eigentliche College-Student so gut wie
gar keine öffentlichen Vorlesungen; die Undergraduates werden
schulmässig nach ihrer Reife in Klassen eingetheilt und von
den Tutors des College nach bestimmten Büchern, gewisser-
massen privatim, in demjenigen unterrichtet, was sie für ihr
zeitweilig bevorstehendes Examen bedürfen. Diese Examina
folg'en, wie Stationen, in bestimmten Zeiträumen. Zunächst
wird , vor der Immatriculation , eine sehr leichte Auf-
nahmepi::üfung verlangt. Dann folgen im ersten Term die
„Responsions", in der akademischen Sprache auch „Smalls" oder
„Littlego, kleiner Gang" genannt. Nach einem Studium von
anderthalb bis zwei Jahren, also von sechs bis acht Terms,
macht man die „Moderations'*, auch kurzweg „Mods" genannt,
und zwar nach eigener Wahl: entweder in den klassischen
oder in den mathematisch naturwissenschaftlichen Fächern".
„Nach drei Jahren droht dann das Schlussexamen, „Greats"
oder „Great Go, grosser Gang". Für dieses giebt es eine
Reihe verschiedener Fächer oder „Schools". Alte Geschichte
und Philosophie, die sogenannten Literae humaniores; neuere
240 Ein Tag in Oxford,
Geschichte ; Mathematik ; Jurisprudenz ; Naturwissenschaften ;
Theologie. Das Examen braucht nur in einer „School"
bestanden zu werden, jedoch befassen sich Studenten von
wirklich wissenschaftlichem Streben gewohnlich mit ver-
schiedenen Fächern, gleichzeitig oder nacheinander.
„Auf diese drei Examina nun: Smalls, Mods und Greats
kann man von zwei verschiedenen Standpunkten aus hinarbeiten.
Entweder man will nur einfach durchkommen und seinen
Grad als Bachelor of Arts schlicht und recht erwerben, dann
begnügt man sich mit einem „Pass" Examen und enthält den
Grad eines B. A. als „Pass Degree". Oder aber man strebt in
jedem Examen neben dem „Degree" nach Honours". Dafür
unterwirft man sich einer schwereren Prüfung und kämpft um
die Ehre von Nummern: I, II, III; man wird klassificirt; alsdann
heisst das Examen: „Class" oder „Honour Examination". Wer
nun die „Greats" mit „Honours" besteht, wird ein „First" oder
ein „Second" oder, wenn er sich in mehreren Fächern prüfen
liess, wohl auch beides zugleich, z. B. First in neuerer
Geschichte und Second in Mathematik. Höchst selten ist ein
„Double First", eine Nr. I in zwei Fächern zugleich; dieser
Erfolg ist ein so grosser, dass er den Examinirten durch sein
ganzes späteres Leben begleitet. Gelegentlich werden Sie von
diesem oder jenem bedeutenden älteren Manne immer noch
wieder rühmend erwähnt finden: „er war in Oxford ein
Double First".
„Nebenbei haben wir nun noch Examina für Freistellen
und Stipendien „Scholarships oder Exhibitions", später dann
für die Fellowships in den Colleges u. s. w. — "
„Sie sehen wohl: der, unseren Studenten genau vorge-
schriebene Bildungs- und Leidensweg ist ein ziemlich ver-
wickelter und weicht wesentlich ab von den freieren Bahnen
auf deutschen Universitäten".
„Im späteren Laufe unseres Gelehrtenlebens werden wir
auch noch „Bachelor of Civil Law, of Medicine, of Divinity";
höher hinauf: „Master of Arts" oder Doctor in einer der drei
anderen Facultäten. Besonders begnadigten Talenten winkt
nebenher noch der „Bachelor und Doctor of Music", eine Ehre,
welcher Ihr unsterblicher Mozart und selbst Ihr zukünftiger
Wagfner zu Hause nicht theilhaftig werden kann".
High Street, 241
„Leider aber", fuhr Freund L. fort, „geben sich viele unserer
jungen Leute nicht einmal die Mühe, ihr^n Grad als B. A. zu
erwerben. Sie begnügen sich mit den »Preisen«, für welche die
Examina begrenzter und leichter sind. Von diesen Preisen
kann ich Ihnen nur sagen, dass ihre Zahl Legion ist, dass sie
sämmtlich auf wohlgemeinten Stiftungen beruhen, unendlich ver-
schieden sind und zusammen eine sehr bedeutende Summe
Geldes betragen; wie man sagt etwa siebzigtausend Mark
jährlich. Ueber die Zweckmässigkeit ihrer Wirkung sind die
Meinungen getheilt. Man klagt wohl, dass sie ihre Bestimmungen
als Mittel zum Lernen verloren haben und ein unberechtigter
Selbstzweck geworden sind.
„Doch nun genug von diesen trockenen Geschichten.
Wir sind jetzt in High Street und wollen vor allem unsere
Augen gebrauchen.
„Betrachten Sie zunächst drüben auf der linken Seite jenes
langgestreckte Gebäude. Die zwei schweren Zinnenthürme»
welche seine drei Stockwerke — eine seltene Höhe in Oxford
— überragen und die gleichmässige Verzierung des Dachge-
simses mit kleinen halbrunden Giebelchen geben ihm völlig
das Aussehen eines burgartigen Schlosses. Wir nennen das
„Castellated style"; es fehlt zum feudalen Herrensitze nur der
hohe Bergfried. Die letzte gothisirende Restauration dieser
imponirenden , sanft gebrochenen, 90 Meter langen Front ist
noch nicht alt, sie wurde erst 1877 beendigt; das Gebäude
stammt aus Cromwells Zeit; desto älter aber ist das College
selbst. Es rühmt sich der Gründung durch König Alfred den
Grrossen und feierte im Jahre 1872 sein tausendjähriges Stiftungs-
fest. Unsere Historiker freilich schütteln dazu ihre Köpfe
und setzen den Geburtstag von „University College" in das
Jahr 1250. Aber sonderbarer Weise haben die Tausendjährigen
ein richterliches Erkenntniss der King's Bench für sich".
„Wie so?" fragte ich, „der King*s Bench? das ist ja höchst
interessant; vielleicht Hesse sich diese Art, historische Streit-
fragen aufzuklären, mit grossem Nutzen für die Wissenschaft
verallgemeinern* *.
„Die Sache machte sich ganz einfach", erläuterte Mr. L.,
„Jedes College hat nämlich einen Visitator, welcher meistens
vom Stifter designirt ist. Bei königlichen Stiftungen steht die
Omptcda, L. v. Bilder. 16
242 Ein Tag in Oxford.
Visitation der Krone zu. Letztere nahm im Jahre 1726 dieses
Patronatrecht auch bei University in Anspruch wegen der
Stiftung durch König Alfred. Damals remonstrirte University,
da sein urkundlicher Stiftei: William von Durham (1250) sei.
Die King's Bench entschied jedoch fiir die Krone. So steht
nun König Alfred rechtskräftig fest und im Jahre 1872 wurde
das Millennium gefeiert".
„Ein vorzüglicher Präcedenzfall", musste ich anerkennen.
„Es ist wirklich Schade, dass die jetzige Queen's Bench diesen
Zweig der Jurisprudenz nicht mehr cultivirt. Wie angenehm
wäre das fiir die vielerlei historischen Fragezeichen, z. B.
Romulus und Remus, Schliemanns Troja, das Bisthum des
h. Petrus, den biederen Wilhelm Teil und ähnliche blutlose
Schatten, die noch immer ohne richtige Legitimationspapiere
durch die Weltgeschichte schwanken. Sie alle könnten dann
„rechtskräftig" festgestellt werden und der gelehrte Streit hätte
endlich einmal ein Ende".
„Wenden wir uns jetzt auf die rechte Seite", fuhr mein
geistlicher Freund fort, ohne seine Theilnahme an meinem '
wissenschaftlichen Bedauern zu bezeugen. — „Hier werden
wir aus der Gothik in das vorige Jahrhundert versetzt. Dieser
griechisch-italienische Palast, University grade gegenüber, mit
den zwei vorspringenden Seitenflügeln und der sonderbaren
Kuppellaterne über dem mittleren Eingänge, ist „Queens
College". Aber in diesem modernen Hause wohnen ebenfalls
mehr als fünfhundert Jahre Collegegeschichte. Als die Stifterin
(1340) gilt die Königin Philippa, Gemahlin Eduard III., die —
wie die Sage geht — das berühmte blaue Strumpfband verlor,
aus welchem sich durch die eheliche Galanterie des Königs
der Hosenbandorden entspann. Uebrigens ist das Gebäude in
seiner Art reich und grossartig; leider! fehlt uns hier in Oxford
der Geschmack daran ; indessen als Gegensatz zu den umliegenden
Burgen ist der italienische Palast immer eine Zierde fiir
Highstreet. Und die alten Sitten sind hier in dem neuen
Gebäude ganz besonders treu bew^ahrt worden. Bei Tafel
präsidirt noch heute, nach Urväter Brauch, der Provost in
der Mitte und an ihn schliessen sich zu beiden Seiten, nach der
„Anciennetät", die Fellows und Scholars (Stipendiaten). Zum
Mahle ruft sie noch heute ein kriegerisches Trompetensignal.
High Street, 243
Der Bläser, eines der Mitglieder, heisst noch jetzt „der Herold",
weil er ehemals bei dieser feierlichen Handlung ein Herolds-
wamms trug. Früher fanden sich täglich Tischgäste ein, stets
dreizehn ; nur Bettler, Blinde, Taube und Lahme waren geladen ;
sie wurden mit Brot, Bier, Suppe und Fisch gespeist.
„An jedem Weihnachtstage öfihet sich die grosse Hall von
Queen's für jedermann. Mit Trompetenschall wird ein riesiger.
Eberkopf hereingetragen, bekränzt mit vergoldeten Lorbeer-
zweigen. Der Provost und die Fellows ziehen feierlich vorauf.
Der Vorsänger stimmt ein altes englisch-lateinisches Lied an;
wir nennen diese Mischlieder: »maccaronische« Poesie. Es ist
eine Art Glosse über folgenden Vers:
Caput apri defero Den Kopf des Ebers bring ich hier
Reddens laudes domino. Und danke Gott dem Herrn dafür.
Qui estis in convivio Die Ihr erschienen seid zum Feste,
Servite cum cantico ! Singt mit uns : ,,Lob dem Herrn", Ihr Gäste !
Der un ehrerbietige Studiosus ändert die letzte Strophe so:
Servitur cum siuapio Schweinskopf mit Senfsauce ist das beste".
„Ueber die Entstehung dieses uralten Gebrauches geht
folgende Sage. Ein Schüler von Queen's ging im Jahre 1376 —
Sie sehen hier wiederum, wie genau wir unsere Vorgeschichte
kennnen — im Shotover Forest bei Oxford spazieren und
studirte aus einer mächtigen Pergamentrolle den Aristoteles.
Da wurde er von einem wilden Eber angegriffen; waffenlos,
in der höchsten Noth, stiess er der Bestie seine Pergamentrolle
in den Rachen bis tief in den Schlund hinab mit dem lauten
Rufe: »Graecum est, das ist Griechisch«! Und das Ungeheuer
erstickte an der überwältigenden Deduction des Weisen von
Stagyra. Ein altes Kirchenfenster bewahrt noch in einem
Gemälde diesen klassischen Vorgang.
„Wahrscheinlich jedoch haben wir hier abermals ein
interessantes Ueberbleibsel des uralten, vielleicht gar des
babylonischen Sonnendienstes. Bei diesem wurde bekanntlich
zum Feste der Winter-Sonnenwende dem Sonnengotte Adonis
ein Ebeir geopfert, weil Adonis an diesem Tage von einem
Eber zerrissen war. Unsere heidnischen Voreltern feierten ja
ebenfalls diese Wintersonnenfeste — den Jul — und erst im
vierten Jahrhundert setzte sich unser christlicher Weihnachten
an diese, von Urzeit her bereitete, festliche Stätte".
„Man muss gestehen", erkannte ich an, „Sie sind hier
16*
244
Ein Tag in Oxford*
conservativ; das ist schon das zweite heidnische Fest, dem wir
heute im allerchristlichsten Oxford begegnen. — Und welch em
herrlicher Fall wäre das für die Queen's Bench: »Aristoteles
gegen Adonis«!"
„Am Schlüsse des Festes", so beendigte der Freund dieses
merkwürdige Kapitel über Queens College, „wird von allen
Anwesenden folgender origineller alter Weihnachtsgesang ge-
sungen, dessen Urtext sonderbarer Weise zuerst in einem
alten deutschen Choralbuche aus dem Jahre 1570 aufgefunden
ist. Die Rückübersetzung in's Deutsche würde etwa lauten:
I.
In dulci jubilo
Lasst uns anbeten froh.
Seht unseres Herzens Herrn
In praesepio;
Hell leuchtet unser Stern
Matris in gremio.
Alpha es et O»
Alpha es et O.
2.
Ü Jesu parvule!
Mein Herz verlangt nach Dir,
Hör* mich, ich fleh* zu Dir
O puer optime.
Mein Gebet komm zu Dir:
O princeps gloriae,
Trahe me post te.
3.
O patris Caritas,
O nati lenitas!
Alle sind wir verdorben
Per nostra crimina,
Doch Du hast uns erworben
Coelorum gaudia.
O wären wir dort oben,
O wären wir dort oben.
4.
Ubi sunt gaudia?
Wo, wenn nicht dort?
Höret der Engel Sang,
Nova cantica,
Höret der Glocken Klang
In regis curia.
O, dass wir wären dort,
O, dass ^vir wären dort.
IV.
St. Mary the Virgin.
Inzwischen waren wir die Strasse weiter hinauf geschritten
und standen abermals vor einem gothischen Kastelle.
„Dieses ist »All Souls College«, gestiftet nach der Schlacht
von Agincourt (14 15) für die Seelen aller, in dem hundert-
jährigen Kriege mit Frankreich gefallenen Engländer**.
Ich betrachtete die Verhältnisse des stattlichen Gebäudes,
das sich entschieden durch die Reinheit seines Stiles aus-
zeichnet: nur zwei Stockwerke also Ueberwiegen der
Horizontallinie; ein schwerer, stumpfer mit Zinnen gekrönter
Thurm, übrigens aber spitze Giebel auf dem Dache; verzierte
vorspringende Erker; unregelmässig vertheilte, einzelne und
gekuppelte, viereckige Fenster, deren Umfassung die gothische
Gliederung der Rundstäbe und Hohlkehlen zeigt.
„Das College ist im Jahre 1438 von einem Erzbischof
Chichele von Canterbury gestiftet**, erläuterte mein Führer.
„Es ist reich dotirt, mit etwa 400,000 Mark jährlich, alles aus
Grundbesitz. Hier giebt es gar keine Studenten; die Stiftung
ist nur für genossenschaftliches Zusammenleben graduirter
Gelehrter bestimmt, für einen „Warden** und siebenundzwanzig
Fellows. Eine besondere Eigenthümlichkeit der Statuten ist,
dass bei den Präbenden zunächst Nachkommen des Stifters
und seines Bruders berücksichtigt werden sollen. Das giebt
nun unglaubliche Schwierigkeiten und endlosen Streit. Die
Familie der Chichele ward fruchtbar und mehrte sich; im Jahre
1765 wurden diese bevorzugten Nachkommen bereits von
beinahe 1200 Familien aufgewiesen. — Das College hat jetzt
die Ehre, Ihren ausgezeichneten Landsmann, den grossen
246 Ein Tag in Oxford,
Sprachforscher Max Müller zu seinen Mitgliedern zu zählen —
aber nicht, weil er zur Chichele- Sippe gehörte. — Doch ich
bemerke, Sie folgen mir nur noch mit getheilter Aufmerk-
samkeit, ihre Augen schweifen bereits weiter hinaus".
„Allerdings", gestand ich ehrlich ein, „und ich rechne dafür
auf Ihre Nachsicht. Die Menge der bedeutenden Eindrücke
an diesem Platze überwältigt und zerstreuet; jetzt eben fesselte
mich die seltsam schöne Kirche dort vor uns".
„Sie haben Recht", bestätigte Mr. L., „St Mary the Virgin
ist ein merkwürdiges Gebäude. Zunächst schon die Stellung
von Süden nach Norden und mit der westlichen Langseite hart
an der Strasse. Hier stand bereits seit 1139 eine normannische
Kirche. Der nördliche hohe Chor mit den langgestreckten
schlichten Lanzetfenstem wurde 1460 fertig und zu Ende des
fünfzehnten Jahrhunderts war die dreischifRge Halle vollendet.
Die starken Zinnenbrüstungen, welche die Horizontalgesimse,
sowohl des hohen Mittelschiffs, als der niedrigen Seitenschiffe
krönen, erinnern eigentlich an den Profanbau. Das bis an die
Deckbögen aufsteigende gegitterte Stabwerk der Fenster, von
denen die unteren — die der Seitenschiffe — geblendet sind,
charakterisirt bereits den sogenannten perpendiculären Stil der
Spätgothik. Das riesige Fenster dort an der Nordseite über
dem niedrigen ursprünglichen Eingange ist durch die Fülle
seines reichen Masswerkes von grosser decorativer Schönheit.
Das Juwel von St. Mary ist indessen der Thurm, erbauet im
Jahre 1300. Sehen Sie nur wie schlank sein achteckiger, lang
ausgezogener Helm aus dem wechselvollen Fialenspiele des
vierseitigen Unterbaues himmelan schiesst, bei 70 Meter hoch;
und die reichen Zierrathe: Bögen, Wimberge, Fialen. Alles ist
mit unendlichem Blattwerke — das Handwerk nennt es:
Krabben oder Bossen — überwuchert und überall spriesst die
vierflügelige Kreuzblume hervor!"
„Der Baustein muss vorzüglich sein" bemerkte ich, in den
Ausbruch der* gerechten Bewunderung einstimmend, „man sieht
keine Verwitterung".
„Das ist wieder eine der ausserordentlichen Leistungen
unseres grossen neugothischen Meisters Sir Gilbert Scott
Grade hier hatte die Verwitterung im höchsten Masse Ueber-
hand genommen. Man entschloss sich daher, die ganze Kirchß
Sf, Mary the Virgin. 247
abzuschälen. Der alte Stein wurde Stück für Stück, etwa
35 Ctm. tief weggehauen und kunstvoll durch eine neue fest-
gefugte Decke ersetzt. Das grosse Werk ist erst im vorigen
Jahre vollendet. Gelungen ist's, aber es kostete auch
400,000 Mark".
Unsere Augen verweilten lange auf dem prächtigen
imposanten Bau; endlich suchte mein Blick den Eingang.
Ausserordentlich überrascht rief ich aus:
„Wie sonderbar nimmt sich gegen diese reiche Gothik der
grosse Eingang hier an der Strassenseite aus: der reinste
italienische Zopf! Stören Sie diese gewundenen Säulen nicht,
die den grossen Barokschnörkel des Portals tragen? Und
dazwischen, von einem zopfigen Architravgiebel überragt, das
unschöne Steinbild: die Jungfrau mit dem Kinde, das wiederum
sein eigenes Crucifix in der Hand hält"!
„Das hässliche Portal ist bei der Restauration sorgfältig
conservirt worden", erwiderte mein Führer, denn es ist ein
Stück unserer Geschichte. Es* wurde errichtet im Jahre 1637
unter dem Erzbischof Laud. Einige Jahre später machten ihm
die Puritaner den Prozess wegen Verdachts des Papismus und
diese Jungfrau mit dem Kinde, deren Gegenwart an der, wenn
auch protestantischen, Marienkirche völlig motivirt war, bildete
einen der schwersten Anklagepunkte. Wie Sie wissen, wurde
Laud von den bilderstürmenden Eiferern verurtheilt und auf
Tower Hill hingerichtet; er war bereits einundsiebzig
Jahre alt".
,,!Man sieht: Intra peccatur et extra", bemerkte ich, „keine
religiöse Partei ist sicher vor verrücktem Fanatismus und vor
Inquisitionsgelüsten".
Der Reverend schüttelte sanft misbilHgend den Kopf.
„Lassen Sie uns jetzt eintreten; in der Kirche werde ich Ihnen
eine Gegenrechnung machen gegen die Excesse der Ultra-
reformirten, bei der Ihre deutsche latitudinarische Unparteilich-
keit doch etwas zu kurz kommen möchte".
Die' hohe, kühle, halbdunkle Halle nahm uns auf und wir
schritten das Schiff entlang bis an die Stufen, die zum Chore
hinauiFühren. Ein breiter Stein, in den eine grosse Metallplatte
eingelassen war, fesselte hier meine Aufmerksamkeit. Ich
^4?5 Ein Ta^ in Oxford.
bückte mich und las: „Hier ist beigesetzt Amy Robsart, die
Gemahlin von Lord Robert Dudley, am 22. September 1560.
„Wie?" fragte ich erstaunt, „ruht hier wirklich die viel-
bevveinte Heldin von „Kenilworth", die ihr herzloser Gatte, der
schöne Leicester, so heimtückisch ermorden Hess?"
„Nun", beruhigte mich mein Führer, „ganz so schlimm war
der Handel nicht. Walter Scott legt freilich dem Gatten diese
Blutschuld aufs Gewissen, jedoch irrthümlich; die geschichtliche
Forschung hat ihn davon freigesprochen, diesmal ohne die
Queen's Bench. Die arme Amy stürzte allerdings durch die
aufgezogene Fallbrücke hinab und kam um, es geschah
indessen lediglich durch ihre eigene Unvorsichtigkeit. Lord
Leicester war verzweifelt über ihren jähen Tod und liess sie
hier — er war damals Kanzler der Universität — mit grossem
Pompe begraben".
„Aber ich hatte eigentlich eine andere Tragödie im Sinne",
fuhr mein geistlicher Freund fort, „die sich hier in der Universitäts-
kirche abspielte. Es war im Jahre 1555 zur Zeit der »blutigem
Mary. Diese nationale Schreckgestalt war im Grunde eine
durchaus rechtschaffene und keineswegs einfältige Frau, aber
eine leidenschaftlich bigotte, spanische Papistin, gestachelt durch
ihre Anhänglichkeit an die Sache ihrer Mutter, der verstossenen
Konigfin Katharina von Arragonien, und an ihre eigene —
Geburt, deren Rechtmässigkeit mit der alten Lehre stand und
fiel. In nicht ganz vier Jahren kamen durch ihre religiösen
Verfolgungen beinahe vierhundert Protestanten in England um's
Leben. Den Schluss dieses massenhaften Autodafe's bildeten die
»edlen drei Märtyrer« die Bischöfe Cranmer, Latimer und Ridley.
Hierauf dieser Stelle standen sie vor dem Inquisitionstribunale und
bekannten, den sicheren Tod vor Augen, furchtlos ihren Glauben.
Granmer hatte vorher eine Zeit lang geschwankt und bedenkliche
Zugeständnisse gemacht. Hier aber entlastete er sein Gewissen
durch seinen berühmt gewordenen Widerruf Eineni^solchen Sturm
erregten seine Worte unter den Zuhörern, dass sein geistlicher
Richter, der Cardinal Pole ihm endlich mit dem durchschlagendsten
aller Argumente dazwischen fuhr: »Stopft dem Ketzer den
Mund und führt ihn ab !« Dann folgte die grosse Excommunica-
tion und die drei wurden dem weltlichen Gerichte überliefert.
St. Mar)' the Virgin. 249
denn das canonische Recht sagt, in seiner bekannten christ-
lichen Milde gegen alle Ketzer: »Ecclesia non sitit sanguiiiem,
die Kirche dürstet nicht nach Blut«. Einige Wochen später
bestiegen sie den Scheiterhaufen, Ridley zuerst. Als die
Flammen bereits emporzüngelten rief Latimer: "»Seid getrost,
Master Ridley, und haltet Euch wie ein Mann. Wir werden
heute ein Licht anzünden, das, mit Gottes Hilfe, in England
niemals wieder verlöschen soll!« Und dies Wort wurde er-
füllt. — Da haben Sie die Gegenrechnung"*.
„Einen seltsamen Eindruck macht das Kostenverzeichniss
der Execution; es ist bei den Acten aufbewahrt worden. Das
Holz für die Scheiterhaufen kostete 37 Mark; die Henkers-
mahlzeit machte ausserdem eine bescheidene Zeche von 2 Mark
für Brot, Bier, Austern, Salm, Wein, Käse und Birnen. Im
ganzen hatte die Stadt Oxford für das ihr aufgedrängte Auto-
dafe, das sie mit Thränen und Jammern ausrichtete, über
1 200 Mark ausgelegt und obendrein hinterher die grösste Noth
ihren Vorschuss von der glaubenseifrigen Regierung ersetzt
zu bekommen". —
Nach einer stummen Pause der Betrachtung fuhr mein
geistlicher Freund in seinen Erinnerungen fort: „Was ist alles
schon in dieser Kirche vorgegangen. Hipr predigte vor jetzt
gerade fünfhundert Jahren John WicliflF, der grosse Bibel-
übersetzer und Doctor Evangelicus, der Morgenstern der
Reformation, seine ketzerischen Sätze: »dass die heilige Schrift
über der Lehre der Kirche stehe, dass der Apostel Petrus
nicht höher stehe als die anderen, dass der Papst nicht mehr
Gewalt habe als jeder Priester". Fünf donnernde Bullen
schleuderte Gregor XL gegen ihn ; WiclifF jedoch starb ruhig
in seiner Pfarrei Lutterworth und wurde in der dortigen statt-
lichen Kirche feierlich beigesetzt. Aber sein sterbliches Theil
wenigstens sollte nicht in geweihtem F*rieden ruhen. Nach "
beinahe fünfzig Jahren wurden seine Gebeine wieder heraus-
gerissen, verbrannt und der vorbeifliessende Avon entführte
die Asche". —
So endete der grosse Vorläufer der Reformation, ohne
nachhaltigen Erfolg, denn es fehlte seiner Bibelübersetzung ein
wesentlicher Bundesgenosse: Der Buchdrucker!
250 Ein Tag in Oxford,
„Auf derselben Kanzel von St Mary stand, vier Jahrhundert
später im Jahre 1 734, ein nachreformatischer und erfolg-
reicherer Reformator: John Wesley, in Christ Church erzogen,
damals ein hochkirchlicher Tory und Jacobit. Mit seinem
Bruder Charles und einigen anderen jungen, gleich ihnen Beiden
erweckten Männern bildete er bald darauf eine Gesellschaft,
welcher die innere Wiederbelebung der damals stark ver-
äusserlichten Kirche von England am Herzen lag. Die Spotter
nannten sie: »der heilige Club«, und später: »die Methodisten«,
weil sie die in den Statuten der Universität vorgeschriebene
Studien -Methode pünktlich innehielten. Aus dieser religiösen
Vereinigung innerhalb der Kirche entwickelte sich allmälig, haupt-
sächlich durch die unvernünftige Opposition der Bischöfe, welche
sie aus der Mutterkirche hinaustrieb, die Secte der Wesleyaner
oder Methodisten. Einen Grundzug ihrer Richtung bildete
die Lehre von unserer Wiedergeburt zum Christen durch die
innere Bekehrung und Heiligung, im Gegensatze zu der
mystischen Wirkung der rein äusserlichen Taufe. Es sind stille,
beschauliche gottesfürchtige übrigens kirchlich liberale Leute,
diese Wesleyaner, die sich vielleicht am meisten mit den ehe-
maligen deutschen Pietisten berühren".
„Diese Bewegung hatte, wie Sie wohl wissen, einen unge-
heuren , einen weltweiten Erfolg. Vor gerade hundert Jahren
{1777) wurde hier die erste Wesleyan Chapel gebaut, zu Anfang
dieses Jahrhunderts zählte die Gesellschaft etwa achtzigftausend
Mitglieder, jetzt rechnet sich diese vollständig organisirte Kirche
in ihren verschiedenen Schattirungen auf etwa vierzehn Millionen
Seelen in allen Welttheilen; in den Vereinigten Staaten leben,
nach der letzten Zählung, etwa zehn Millionen. In England
ist es eine Kirche hauptsächlich der armen und bescheidenen
Leute, in den oberen Klassen ist sie wenig verbreitet. Sie
ist kein Wallfahrtsort für Pilger, Prinzen und Touristen, denn
sie ist weder romantisch noch pittoresk; eine flache, etwas
nüchterne Landschaft, aber ausserordentlich fruchtbar und
fleissig angebaut. Die Zahl ihrer Anhänger hier zu Lande ist
sicher auf drei und eine halbe Million anzuschlagen. Ihr Budget
enthielt im Jahre 1876 folgende Ausgabeposten:
St. Mary the Virgin. 251
für auswärtige Mission 3,000,000 Mark
für innere Mission * . . 800,000 „
für Ausbildung von Geistlichen
in drei Colleges 300,000 „
für Erziehung von Kindern der Geistlichen 450,000 „
für Kapellenbauten 5,500,000 „
zusammen 10,050,000 Mark
„Das ist jedenfalls kein todter Glaube, der solche Werke
thut", erwiderte ich. „Wie gross ist denn jetzt wohl die Zahl
der Wesleyan Chapels in Grossbrittanien?"
„Man findet sie überall, namentlich in den grossen Städten",
erwiderte Mr. L. „kürzlich las ich irgendwo ihre Zahl auf etwa
dreizehntausend Kapellen und Betsäle berechnet".
„Nun wahrhaftig", unterbrach ich ihn. „Die Brüder
Wesley können mit vollstem Rechte sagen:
„Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn!" —
„Ganz gewiss", bestätigte der Reverend, „der Austritt der
Wesleys aus der englischen Kirche war ohne allen Zweifel die
nachhaltigste und folgenreichste Bewegung, welche wir seit
der Reformation durchgemacht haben". —
„Noch von einem anderen Pfarrer von St. Mary, der uns
ebenfalls verlassen hat", fuhr er fort, „will ich Ihnen zum
Schlüsse erzählen. Fünfzehn Jahre hindurch stand er auf dieser
Kanzel hier über uns, von 1828 bis 1843, ^^^^ predigte mit
unwiderstehlicher Logik das Credo der Kirche von England:
der Doctor Newman. Seine ehemaligen Freunde und jetzigen
Gegner halten ihn immer noch für einen der begabtesten und
persönlich wirkungsvollsten Männer seines Zeitalters, obschon
sie den abnormen Ausgang seiner theologischen Entwickelung
tief beklagen. Allerdings konnten sich seine Erfolge niemals
auch nur entfernt mit den Spuren messen, die John und Charles
Wesley der Kirche so tief eingedrückt haben. Bekanntlich
gehorte Newman vor fünf und vierzig Jahren zu den Führern
der hochkirchlichen „Tractaten-Bewegung". Diese entwickelte
sich zunächst streng dogmatisch gegen das protestantische
Princip der freien Forschung und gegen die steigenden Reform-
bestrebungen der liberalen kirchlichen Partei. Die „Tractarians"
vertraten mit Geist und Energie die göttliche Natur und
1
252 Ein Tag in Oxford,
Autorität der Kirche. Zuletzt aber richteten sich diese Tractate
auch gegen die* neununddreissig Artikel unserer Kirche und
wurden daher, mit der von Newman geschriebenen berühmten
Nr. XC, durch die kirchlichen Oberen verboten. Ihn selbst
führte diese Hochfluth von dem ursprünglichen, rationalistisch-
calvinistischen Ausgangspunkte seiner Jugend, im Jahre 1845
bis nach Rom und in den Vatican".
„Es fuhrt zjvar nicht", unterbrach ich, „wie man wohl
behauptet hat, ein jeder Weg nach Rom, dieser aber sehr
leicht. Gewissen, schroff dogmatisch angelegten Köpfen und
von Natur intoleranten Gemüthem erscheint schliesslich, im
Wirbelsturme der Theologien, der ihnen den Leitstern des
einfachen Christenthums verdunkelte, der absolute St. Petrus
als der einzig sichere Steuermann, der sie in den ersehnten
Hafen der Gewissheit — über das ewig Ungewisse — führen
könne; — — bei Ihnen indessen noch häufiger als bei uns in
Deutschland".
Der Reverend ging auf diese kleine polemische Schluss-
bemerkung nicht w^eiter ein, sondern fuhr fort:
„Im Jahre 1834 als Vicar von St. Mary war Doctor Newman
noch so correct staatskirchlich, dass er sich weigerte, eine junge
Dame zu trauen, weil sie eine Baptistin und nicht orthodox
nach den Vorschriften der englischen Kirche getauft war. Als
er später übertrat, wurde er, wir hier verlautete, selber nochmals
getauft »der Sicherheit wegen«. Schon in seiner Jugendzeit
hiess der streitbare Theologe der „alte Löwe von Oriel College".
„Im vorigen Jahre (1878) sah er Oxford nach mehr als
dreissig Jahren zum ersten Male wieder; sein ursprüngliches
College „Trinity" hatte ihn zum Ehren-Fellow ernannt. Er
besuchte auch seinen alten Streitgenossen im Tractatenkampfe,
den Doctor Pusey. Dieser jedoch ist bekanntlich auf halbem
Wege, noch innerhalb unserer Kirche, stehen geblieben und
verwirft jetzt seine Nachkommenschaft, die Ritualisten, die aus
seinen Lehren das Bedürfhiss eines sinnlich ausgeführten und
wirkungsvoll geschmückten Gottesdienstes ableiten".
„Nun ist der ehemalige Pfarrer der Universitätskirche von
Oxford — römischer Cardinal!"
„Und wahrscheinlich ein »liberaler«, fügte ich hinzu „der
im Conclave auf der »äussersten Linken« sitzt".
Ä. Mary the Virgin, ' 253
„Dem vorigen Papste Pius IX war er stets verdächtig'*,
fuhr Mr. L. bestätigend fort; „er hatte sich erlaubt, in einer
seiner bereits katholischen Schriften von „Mariolatrie" zu reden
und Bedenken gegen die Moral des heiligen Alphons von Liguori
zu äussern. Denn dieser jüngste und jetzt gewichtigste „Doctor
Ecclesiae" lehrt bekanntlich die Zulässigkeit der Lüge und des
Meineids. Nur mit knapper Noth entging Newman dafür dem
Index. Man sieht: er ist eben, trotz alledem, ein Engländer
und ein Gentleman geblieben; diese Zwei stecken ihm doch zu
tief im Blute und solch eine angeborene Einseitigkeit schlägt dann
immer wieder heraus und durchbricht den aufgesetzten päpst-
lichen Kosmopolitismus".
„Goethe sagt irgendwo", erwiderte ich — abermals meinem
üblen Hange zum Citiren nachgebend — : „Was einem angehört,
wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe".* Uebrigens ver-
stehe ich sehr wohl, dass man sich in Rom scheuete, gegen
einen Convertiten aufzutreten, der bei einer grossen Zahl gebildeter
Engländer als hohe Autorität für geistliche Fragen galt und
der — ansteckend wirkte. Sie erinnern sich wohl, was kürzlich
Döllinger von Newman gesagt hat: »er ist ohne Zweifel die
glänzendste und werthvollste Erwerbung, welche die römische
Kirche seit der Reformation gemacht hat«. — Nun, wer weiss?
die Reihe der römischen Heiligen ist noch nicht geschlossen;
jedenfalls giebt es darunter manche, die es wahrhaftig weit
weniger verdienten. — Aber man sieht doch wieder, dass es,
trotz allen »sacrifici dell* intelletto« im Grrunde unmöglich bleibt :
das Selbstdenken völlig abzuthun, wenn wir es einmal von
Jugend auf betrieben hatten — und nun gar so eifrig betrieben
hatten und mit so hervorragenden Mitteln". — —
Draussen vor der Kirche empfing uns bereits die volle
Mittagssonne eines in diesem Jahre seltenen klaren Juni-
tages; die Strasse lag glänzend, aber still und leer vor uns.
Während wir noch im Schatten des hohen Zopfportales
verweilten, sagte Mr. L., sich umschauend : „Nicht wahr, High
Street sieht recht respectabel aus? und im ganzen macht es
. diesem Aussehen Ehre. In früheren Jahren ging es indessen
mitunter auch laut und unfriedlich zu und namentlich die Stelle
hier vor St. Mary's Kirche war häufig der Schauplatz heftiger
Kämpfe zwischen »Gown und Town«".
A.54 Ein Tag in Oxford.
»Zwischen Studenten und Knoten«, übersetzte ich in's
heidelberger Deutsch; „ich kenne das aus Erfahrung, wir
nannten das eine „Holzerei". Es setzte dabei oft blutige
Köpfe".
„Hier in Oxford gab es mehr „schwarze und blaue Augen",
denn diese „Riots" werden meistens kunstgemäss mit unserer
nationalen Duellwaffe, der Faust, ausgefochten. In alten
Zeiten schlug man sich jedoch nicht blos nach den Regeln
>,der edlen Kunst der Selbstvertheidigung", sondern in todtlichem
Ernst mit blanker Waffe.
So geschah es am lo. Februar 1354 am Feste der heiligen
Scholastica. Einige Studenten, es waren Mitglieder der Lands-
mannschaft „Süd-Nation" und sie hassten demnach die „Schotten**
und die „Welschen"; — also einige „Southemers" bummelten
an diesem Feiertage Highstreet entlang. Unter ihnen sind die
Namen von Walter de Springhouse, Will de la Hyde, David
Stoke und Roger de Chesterfield der Nachwelt aufbewahrt
worden. Sie trugen — vermuthlich wegen der Camevalszeit —
„bachische Masken" mit Hörnern, die aus dicken Wergperrücken
hervorragten; an der Seite führten sie kurze gebogene Hirsch-
fänger und einige hatten musikalische Instrumente mit sich:
Dudelsäcke und Guitarren. Singend und spielend zogen die
fidelen Brüder daher und fielen endlich dort hinten in Carfax —
ein Quadrivium oder Vierort, wo die Kornmarktstrasse High
durchschneidet — in eine Weinkneipe ein, genannt: der Swindle-
stock, bei John Croyden, etwa dort, wo jetzt das Wirthshaus
zum Goldenen Kreuz steht. Sie Hessen sich nieder, wurden
bald guter Dinge und sangen unter Begleitung ihrer Instrumente
folgendes uraltes Lied:
„Mihi est propositum in tabema mori",
„Vinum sit appositum morientis ori — ".
„Das uralte Lied ist mir bekannt", fiel ich ein, „vor dreissig
Jahren sangen wir es noch in Heidelberg. Es geht so weiter:
,,Ut dicant, cum venerint, angelonim chori:
„Deus sit propitius huic potatori!"
„Ich kenne sogar eine Uebersetzung davon, die also lautet; .
„Freunde hört ! beschlossen ist's ! ' hier sterb' ich, in der Schänke ;
„Stellet dann zu Raupten mir 'nen Humpen mit Getränke,
„Dass der Engel seVger Chor, findend mich beim Becher,
„Singe : Herr ! sieh gnädiglich auf den frommen Zecher ! — "
St, Mary the Virgin. 255
Mein Zuhörer bewunderte gebührend die gelungene Ueber-
tragung und fuhr dann in Prosa fort:
„Wirkten nun die schönen Gedanken über das baldige
selige Abscheiden zu kräftig erhebend oder lag es im schwindel-
haften Namen der Schenke — genug, der Wein behagte der
Gesellschaft bald nicht mehr, sie hiessen ihn „Krätzer" und
dann den Wirth einen „Schmierer". Dieser remonstrirte ent-
rüstet und, nachdem der aufrichtigen Worte genug gewechselt
waren, wollte man „endlich Thaten sehen": die flotten Bursche
machten kurzen Prozess und warfen dem Weinzapf ihre schweren
zinnernen Trinkkannen an den Kopf!
„Jetzt erwachte der gekränkte Bürgerstolz. Die Alarm-
hömer ertönten, die Glocken läuteten Sturm und eine der
furchtbarsten „Town und Gown" Schlachten, welche die Ge-
schichte Oxfords kennt, hub an. Als es Abend wurde, hatte
Gown die Oberhand. Aber am anderen Morgen erhielt Town
Succurs aus den umliegenden Ortschaften, die Schlacht begann
von neuem und endete — wie die Chronik so poetisch schreibt: —
>um die Zeit, wo man die Zugochsen aus dem Joche spannt«,
mit einer vollständigen Niederlage der Universität unter den
härteren Fäusten der Bauern. Die Studenten zählten vierzig
Todte, die „Philister" deren drei und zwanzig. So gross war
die Wuth der letzteren, dass sie, umgekehrt wie ihre Vorväter
einst dem Simson thaten, alle Cleriker, die in ihre Hände fielen,
skalpirten, soweit deren Tonsur reichte, während sie das
männliche Haupthaar verschonten. Es war jedoch für die Stadt
ein Pyrrhussieg. König Eduard III. hielt strenges Gericht. Er
belastete sie mit einer langen Reihe von Leistungen und Ab-
tretungen zu gunsten der Universität. Fortan bekam diese
auch die Strassen- und Marktpolizei. Zur Sühne für die drei
und sechzig Todten musste femer der Mayor von Oxford mit
zwei und sechzig Bürgern jedes Jahr am Scholasticatage in der
Universitätskirche einer Seelenmesse für die vierzig gefallenen
Studenten beiwohnen und dazu vierzig Pfennige erlegen. Und
diese Demüthigung der besiegten Sieger erhielt sich bis in
unser Jahrhundert, abgesehen natürlich von der Todtenmesse".
„Das nenne ich historische Continuität!" erwiderte ich,
„und wie erlosch dieser ehrwürdige Gebrauch? — "
„Er wurde im Jahre 1825 aufgehoben, aber nur gegen einen,
2oG Ein Tag in Oxford,
von jedem neuen Mayor zu leistenden Eiä, »dass die Stadt die
alten Privilegiert der Universität respectiren wolle«. Und diese
allerletzte Spur der „Holzerei" von 1346 ist erst 1854 abgeschafft".
„Man sieht doch", bemerkte ich scherzend, „welch unbe-
rechenbares Unheil aus dem abscheulichen Weinschmieren ent-
stehet; freilich hätte ich nicht gedacht, dass diese, angeblich
moderne Industrie schon vor fünfhundert Jahren im soliden
Oxford betrieben wäre".
„Aber", fiigfte ich hinzu, „ernstlich gesprochen, ich beneide
Sie um den starken lebensfähigen Conservatismus, der sich
auch in solchen, Jahrhunderte alten und noch lebenden Tra-
ditionen zeigt. Ja! ich beneide und beglückwünsche Sie
aufrichtig darum: denn diese unzerrissene Continuität der
Generationen und Jahrhunderte ist zweifellos eine der stärksten
Wurzeln robuster und ausdauernder nationaler Gesundheit".
„Nun", erwiederte mein englischer Gastfreund, sichtlich
angenehm durch meine Worte berührt, „unter Ihren Ansichten
über England gefällt mir diese jedenfalls viel besser, als was
Sie vorhin über unsere Neigung zum Convertitenthum an-
deuteten. Und, glauben Sie mir, alle diese nach Rom „Zurück-
kehrenden" sehen wir ohne Sorge für uns davonziehen, wenn
auch nicht ohne Bedauern für sie selbst".
„Jetzt aber wollen wir die heisse Strasse überschreiten —
und drüben im kühlen grünen Hofe von St. Mary Hall unseren
gemeinschaftlichen Freund seinen Studien entführen".
V.
Englische Bildungsmittel zu Lande.
Crieket Mateh und Debattir^lub.
In dem traulichen, gartenhaften Hofe von St. Mary Hall
trat uns der Freund entgegen, den ich bereits in der Heimath
kennen und schätzen gelernt hatte. Nach dem ersten herz-
lichen Händeschütteln sagte Mr. D., ebenfalls ein Reverend und
einer der Tutors in der Hall:
„Wie bedaure ich es, dass Sie diesesmal nur einen Tag
bei uns verweilen können; Oxford gewinnt wirklich bei näherer
Bekanntschaft. Um so fleissiger wollen wir aber unseren
einzigen Tag ausnützen. Was wollen Sie sehen? Ich zeige
Ihnen unser weltbekanntes Ashmolean Museum, in dem Sie
sich wochenlang mit iCunstwerken und Curiositäten unterhalten
können. Oder wollen Sie in die Bodleian Library? Sie ent-
hält jetzt etwa vierhunderttausend Bände. Kein Wunder; denn
die Sammlung begann im Jahre 1320 und wird noch jetzt
progressiv fortgeführt. Seit 1709 läuft von jedem in England
gedruckten Buche ein Pflichtexemplar hier ein. Dieser jährliche
Zuwachs allein beträgt sechstausend Bände, Dank unserer
gesegneten literarischen Fruchtbarkeit". —
„Halten Sie ein", bat ich abwehrend, „Sie wissen, ich bin
weder Kunstkenner noch Gelehrter; zeigen Sie mir das lebendige
Oxford, verständlich für einfach menschliche Reisende und
lassen wir Ihre todten Unsterblichen ruhen".
„Gut, lassen wir sie ruhen", beruhigte mich Mr. D. „Dann
wollen wir zunächst unsere lebendige Jugend in ihren nationalen
Spielen zu Lande und zu Wasser kennen lernen. Später essen
wir in der grossen Hall von Christ Church College, wohin ich
Ompteda, L. v., Bilder. 17
258 Ein Tag in Oxford.
für Sie und mich zum heutigen Strangersday (Gasttage) von
meinem Vetter, der dort Senior Student ist, eine Einladung
erhalten habe und den Abend — werden wir wohl irgendwie
in akademischer Weise beschliessen".
„Sehr gern", stimmte ich ein ; „als alter heidelberger Corps-
bursch habe ich über diesen letzten Punkt noch einige sach-
verständige Erinnerungen und werde also einer oxforder
Studentenkneipe mit Nutzen und Interesse beiwohnen können"-
„Hier in St. Mary Hall", fuhr Mr. D. fort, die freundlich
anheimelnde Umgebung rund umher vorstellend, „kann ich
Ihnen ausser diesem frischen grünen Hofchen nichts besonderes
zeigen. Wir rechnen uns zwar, was das urkundliche Alter
betrifft, zu den Vornehmsten in Oxford, denn wir sind noch
eine der alten „Herbergen" aus der Jugendzeit der Universität
Im Stillen betrachten wir daher die meisten der reichen Colleges
als Emporkömmlinge, denn unsere Geschichte als Pfarrhaus von
"St. Mary's Kirche beginnt 1229 und eine akademische Hall
sind wir seit 1333. Leider! aber war, trotz dieser ehrwürdigen,
altersgrauen Erinnerungen, unsere Entwickelung nur bescheiden,,
und jetzt sind wir nicht viel mehr als ein Anhängsel, eine Art
Lehnsmann von Oriel College. Sehen Sie sich unser Mutter-
haus einmal äusserlich an, es ist der Mühe werth. Ich will
unterdessen meinen Dienst als Tutor hier rasch erledigen, dann
bin ich sogleich bei Ihnen".
Wir betraten jetzt Oriel Street, High Street den Rücken
wendend, und standen bald auf einem kleinen unregelmässigen
Platze vor der Strassenfront des Collegegebäudes. Ein
origineller Anblick. Der fast dreieckige Platz ist eingefasst
"von alten verwetterten Giebelhäusern mit schiefen Dächern,
hohen Schornsteinen, niedrigen Nebengebäuden. In der Mitte
zwei windgebeugte Linden, die den einzigen hier sichtbaren
lebenden Erscheinungen, dem Kutscher und Pferde eines
Hansom Cab, nothdürftigen Schutz vor der Sonne gewährten.
Ueber dem Eingange des College fiel mir ein besonders
grosses und stark hervortretendes Erkerfenster auf, in England
„Oriel Window" genannt.
„Gab vielleicht dieses stattliche Fenster dem College den
Namen: Oriel?" fragte ich.
„Ich denke nicht", erwiderte Mr. L., „denn der Name
Englische Bildungsmittel zu Lande. 25 J
kommt schon im vierzehnten Jahrhundert vor, das Gebäude
hier wurde erst um's Jahr 1820 aufgeführt. Die eigentliche
Ableitung der sonderbaren Beziehung des College kennt
niemand. Wir stehen hier wieder vor einem der Räthsel von
Oxford; erinnern Sie sich noch der Ungethüme am Kreuzgange
im Magdalen?" Einige rathen auf „Aul Royal", andere auf
„oratoriolum" , noch andere haben eine wohlthätige Dame
„Alienore" ermittelt". —
Wir hatten inzwischen den Eingang durchschritten und
standen der Nordseite eines viereckigen Hofes gegenüber: ein
Prachtstück der englischen spätesten Gothik, schon gemischt
mit dem Stile der Elisabethzeit, in welcher der Bau entstand.
Das Gebäude ist einstockig mit breiten Spitzbogenfenstem.
Ueber dem niedrigen, aufgetreppten und bedeckten Portale stehen
in Nischen die beiden Könige Eduard IL und III. als Stifter.
Darüber die Jungfrau Maria, auf deren Namen als St Mary's
das College ursprünglich getauft wurde. Später erst schlich
sich unvermerkt „Oriel" ein. Der hohe Giebel über der Nische
der Muttergottes gehört schon völlig der Renaissance an.
Eigentümlich sind die grossen, ovalen, mit sogenannten Esels-
rücken abschliessenden Zinnen des Gesimses. Hoch über dem
Dachfirste ragt zu unserer Rechten der imponirende Thurm
der Chapel von Merton College empor. Der Stein auf den
Mauerflächen des Hofes ist stark verwittert und giebt, wie
eine edle Patina, dem Gebäude einen besonders alten echten
Ton. —
Unsere andächtigen architektonischen Betrachtungen in
dem stillen ungewöhnlich menschenleeren Hofe wurden durch
unseren jungen Reverend aus St. Mary unterbrochen.
„Ich bin jetzt bereit, Sie abzulösen", sprach er, zum Freunde
L. gewandt, „da ich weiss, dass Ihr Amt Sie ruft; unsern
Fremden führe ich einstweilen weiter. Inzwischen ist es bereits
zwei Uhr geworden und die Zeit drängt, wenn wir das grosse
Cricket Match nicht versäumen wollen , welches heute auf den
Merton Meadows zwischen Merton und Oriel College ausge-
fochten wird. Wie Sie sehen, ist hier bereits alles davon
geflogen".
Demnach verabschiedete ich mich bis zum Abende von
meinem Gastfreunde und wir eilten auf Richtwegen durch enge
17*
260 Ein Tag in Oxford,
gewundene Gässchen vorwärts. So wirkte das heitere und
originelle Schauspiel doppelt überraschend, welches mich
empfing, als wir plötzlich am Eingange der grossartigen alten
Ulmenallee standen, die sich im Süden der Stadt vom Cherwell
zur Isis hinzieht. Wir fanden den hoch überwölbten schattigen
»Broad Walk von Christ Church« trotz seiner beträchtlichen
Breite von etwa fünfzehn Metern, gefüllt mit einer lebhaft aut
und ab wogenden Menge, welche mich hinderte, die ganze
Länge der Allee, mindestens fünfhundert Meter, mit einem
Blicke zu übersehen.
„Hier kommen Sie mitten in das High Life von Oxford",
flüsterte mir Mr. D. zu: „Da wir uns dem Schlüsse des
akademischen Jahres nähern, der zu Anfang Juli eintritt, so
führt alte Sitte die schöne, die gelehrte und die bürgerliche
Welt Oxfords hier in dieser Stunde zusammen. Namentlich
sind bei günstigem Wetter die Seiden- und Sammttalare der
Professoren und der grossen Würdenträger der Colleges hier
stark vertreten".
Wir wandelten gemächlich vorwärts, schiebend und
geschoben, unter den uns umgebenden charakteristischen Ge-
stalten, deren scharf ausgearbeitete Züge und friedlich würde-
volle Haltung das Gepräge der langjährigen getreuen Aus-
übung ihres gelehrten Berufes trugen. Erfreulicher Weise war
der, Ehrfurcht gebietende Grundton der schwarzen Chorröcke
hinreichend belebt durch die mannigfachen heiteren Frühlings-
farben der schönen und der respectablen weiblichen Welt von
Oxford. Jedoch die viereckige Trenchercap überwiegt und
bestimmt durch ihre ebene Gesammtoberfläche, nur überragt von
einzelnen schwarzen und weissen Cy linderhüten, den allge-
meinen, sehr originellen Eindruck des Bildes.
„Wo sind denn aber die Studenten?" frug ich, „die
männliche Jugend ist hier ja ausserordentlich in der Minderheit".
„Treten wir dort rechts zwischen den Bäumen hinaus",
schlug Mr. D. vor, vielleicht finden wir sie". —
Vor uns lag ein ebener grüner Platz, der sich in
bedeutender Breite längs dem Broad Walk erstreckte und
jenseit dieser weiten Fläche bot sich wieder eines jener eigen-
artig schönen Bilder dar, an denen Oxford so reich ist. Eine
uralte graue Mauer fasst die grosse Rasenfläche auf der uns
Englische Bildungsmittel zu Lande, 261
gegenüberliegenden Langseite ein. Der massive verwitterte
Steinwall ist mehrere Male unterbrochen von halbrunden niedrigen
Thürmen und gekrönt mit dichtem alten geschnittenen Hecken-
werke, über welchem die grossartigen Linien von Merton
College sich in die Luft erheben.
Als eine der ältesten Gründungen, von 1264, zeigen die
beiden uns zugekehrten langen Fronten das typische Bild des
grossen altenglischen Hauses: stattliche, kräftig profilirte
Giebeldächer und zwischen Je zweien der hohe, nicht ent-
stellende, sondern verzierende Schornstein. Der viereckige
stumpfe, mit zahlreichen schlanken Fialen gekrönte Thurm der
CoUegechapel überragt das langgestreckte Gebäude. Im
Hintergründe erheben sich Oxfords überall sichtbare Wahr-
zeichen: der spitze Thurm von St. Mary the Virgin und die
mächtige Kuppel der Radcliffe Library. Ihnen zur Rechten
schliesst eine Gruppe breitästiger alter Cedem das prächtige
Bild ab.
Auf dem saftig grünen, im hellen Sonnenschein glänzenden
Rasengrunde vor uns herrschte das regste Leben. In der
Mitte ein freier Raum von etwa 80 Metern im Geviert, abge-
steckt durch bunte Fähnleia: die Arena des heutigen Cricket
Match. Jenseit dieser Grenzzeichen dichte Gruppen von Zu-
schauem über die grüne Fläche hin vertheilt und gelagert.
Das Spiel war bereits in lebhaftem Gange. Wir wählten
unseren Standpunkt im Schatten einer hohen Ulme, zur Seite
des hier aufgeschlagenen buntbewipfelten Zeltes. Ich suchte
mich auf der weiten Et)ene ein wenig zurecht zu finden und
verfolgte jeinige Zeit die raschen Bewegungen der Spieler.
Dann bat ich: „Nun erklären Sie mir, aber kurz und fass-
lich, was hier vorgeht".
„Gern", erwiderte mein Führer, „ich werde versuchen, Sie
in unser grosses Nationalspiel einzuweihen. Cricket wird von
zwei Parteien gespielt; die normale Stärke der Theilnehmer
auf jeder Seite ist: elf. Sie sehen wohl dort in der Mitte des
freien Raumes die zwei Spieler, die sich auf eine Entfernung
von etwa 20 Metern gegenüberstehen. Sie tragen, w^ie alle
übrigen Theilnehmer, ein Flanellhemd, gleiche Beinkleider und
einen Strohhut, alles in vorgeschriebenen Farben und Abzeichen;
schwere mit Nägeln beschlagene Schuhe und dicke lederne
262 Ein Tag in Oxford.
Handschuhe vollenden den Anzug. Jeder dieser beiden Kämpfer
führt in der Hand eine breite flache Keule: Bat oder Schläger
genannt. Etwa ein Meter hinter jedem stecken drei rundliche,
wohl 80 Centimeter hohe Stäbe, Stumps, nebeneinander mit je
9 Centimetern Abstand. Auf je zweien von ihnen ruhet quer
ein rundes kurzes Stäbchen, Bail genannt Diese, aus gekreuzten
Stäben gebildete Figur hiess cross-wicket (Kreuz-Pfortchenj
und gab, in cr-icket zusammengezogen, dem Spiele den Namen.
Diese Wickets zu vertheidigen ist die Aufgabe der beiden
Batsmen oder Schläger. Beide gehören derselben Partei an,
wie ihre Abzeichen kundgeben. Die übrigen neun Mitglieder
dieser Seite bleiben einstweilen unthätig.
Die Gegenpartei spielt mit dem Ball. Ihre Aufgabe ist:
mit diesem die Wickets umzuwerfen. Hiefür stellt sie zunächst
zwei Ballwerfer, Bowlers. Jeder von diesen steht dem von ihm
anzugreifenden Wicket auf etwa 20 Meter gegenüber und zwar
etwa einen Meter rechts hinter dem gegenüberliegenden
Gestecke, also beide Bowlers über's Kreuz.
Die übrigen Mitglieder der angreifenden, ballwerfenden
Partei vertheilen sich nach bestimmten Regeln über den
Cricketground, um den, in verschiedenen Richtungen davon-
fliegenden Ball möglichst rasch wieder in die Hände des Bowlers
zu spielen.
Der Schläger, welcher das Wicket gegen den vom
Bowler geworfenen Ball vertheidigt, sucht diesen zu treffen
und vermittelst seiner Keule möglichst weit in das Feld hinaus
zu treiben. Sobald der Ball weit genug entfernt ist, wechseln
beide Schläger laufend ihre Plätze; einmal — wenn möglich:
mehrere Male. Jeder Lauf zählt fiir sie einen „Point".
„Die Bowler und ihre Genossen suchen dagegen die
Wickets umzuwerfen, denn der Vertheidiger jedes fallenden
muss abtreten und scheidet einstweilen aus dem Spiele. Ausser-
dem aber ist es die Aufgabe der ballwerfenden Partei, durch
geschicktes Zuwerfen und Fangen des Balles die beiden
Batsmen im Laufen zu hindern".
„Beachten Sie einmal genauer die eigenthümliche Art, in
welcher der Ball gegen die Wickets geschleudert wird. Es ist ver-
boten, ihn im Bogen durch die Luft zu werfen, das wäre zu gefahr-
lich für die Batsmen welche nur unten durch dicke lederne
Englische Bildungsmittel zu Lande, 263
Beinschienen geschützt sind. Trotzdem setzt es nicht selten
schmerzhafte Treffer und auch wohl ernste Verletzungen.
Denn der Ball ist aus Leder sehr fest gearbeitet, hart wie
Stein und wiegt immerhin gegen fünfhundert Gramm. Der
Ball wird daher geschleudert wie eine Kegelkugel, jedoch ohne
den Boden zu berühren. Dieser Wurf in horizontaler rasanter
Flugbahn erfordert viel Kraft und Geschick und begründet
hauptsächlich den Ruhm und Erfolg des Cricketspielers*'.
Es war in der That ein fesselndes Bild. Mit welcher
Spannung wird der Wurf erwartet 1 geht er fehl — allgemeines
Gelächter; fährt er in*s Wicket oder wird er durch einen wohl-
^ezielten kräftigen Schlag abgewiesen — lauter Beifall und
anhaltendes Händeklatschen. Gelingt den Schlägern ein kühner,
fortgesetzter Lauf, trotz der behenden Anstrengungen der
Gegner — lebhafte jubelnde Anerkennung. Wird das Wicket
mit dem zu früh zurückgebrachten Ball umgeworfen und der
-ZU langsame oder zu waghalsige Batsman findet es schon am
Boden, so folgt Spott dem Schaden und die trockene Be-
merkung des Gegners, der ihn auf die zerstreuten Holzer mit
ernster Miene hinweist: „Es scheint mir einige Unordnung in
Ihrem Holzhofe zu herrschen", ist stets des allgemeinen beifalligen
Gelächters der Zuschauer sicher. —
„Hier neben uns und vor dem Zelte, das zum An- und
Auskleiden der Spieler dient", bemerkte Freund D., „stehen die
beiden Unparteiischen, die Kampfrichter. Neben ihnen sehen
Sie eine grosse, schwarze Tafel, auf dieser werden die Runs
der beiden Parteien und die umgeworfenen Wickets notirt". —
„Over**, rufen die Unparteiischen.
„Ist es zu Ende?" fragte ich.
„Nein", erwiderte D., „es sind jetzt von demselben Bowler
vier Bälle auf das gegenüber stehende Wicket geworfen; nun
tritt eine kurze Pause ein und die Spieler wechseln ihre
Stellungen".
Jetzt ein neuer Wurf und Schlag! Die Batsmen laufen wieder,
aber zu lange; die Gehilfen des Bowlers haben den Ball zurück-
gebracht, ehe der Schläger am Male war; jetzt ist er »out«, er
muss abtreten und ein anderer von seiner Partei nimmt seinen
Platz ein. Das Spiel gehet nun fort, bis zehn Mitglieder der
Partei »out» geworden sind. Dieser Abschnitt heisst ein »Innings«
1
264 • £m Tag in Oxford,,
Alsdann wechseln die Rollen, die Werfer werden Schläger und
es handelt sich darum, sie ebenfalls »out« zu machen. Die
Zahlen der beiderseitigen Runs entscheiden endlich den Sieg.
Das ist die einfachste Partie, bestehend aus zwei Innings;
sie dauert, je nach Glück und Geschick, einige Stunden.
„Leider können wir den Schluss nicht erwarten", erklärte
mein Führer, nach der Uhr sehend, „wir müssen jetzt zum Wett-
rudern an die Gestade der Isis eilen".
Während wir die kühlen, schattigen Uferpfade des Cher-
well entlang gingen, fuhr D. in seiner Vorlesung fort:
„Was wir gesehen haben, ist nur ein kleines, einfaches
Match. Es wird hier auf den Merton Meadows gespielt
zur Unterhaltung der feinen Welt von Oxford und weil
Merton College der Herausforderer ist. Der ernsthafte Cricket-
sport jedoch wird auf den Cricketgrounds geübt, die in der
Gegend liegen, wo Sie heute Magdalen College betraten. Dort
haben die meisten Colleges ihre Plätze und für einen Kenner
des edlen Spiels giebt es dort stets Unterhaltung. Denn, wie
Sie wissen, ist Cricket nicht etwa ein speciell akademischer
Sport. Jeder Knabe von acht Jahren ruhet nicht, ehe er nicht
seinen Ball und Schläger hat, die Schulen üben es, die grossen
Clubs und Gesellschaften spielen es, alle Stände betreiben es,
von den königlichen Prinzen durch Ober- und Unterhaus bk in
jedes Dorf hinab. Seine Geschichte verliert sich in das Dunkel
der Vergangenheit, seine Literatur ist reichhaltig. Es existirt
ein Codex der Cricketgesetze; grosse Principienfragen werden
von der Centralstelle des Cricketspiels, der Generalversammlung
des Marylebone Clubs in London, unfehlbar entschieden. Be-
achteten Sie wohl die Berichte in der Times während der
Cricketseason, von Mai bis September? Sie sind nicht minder fach-
männisch als das seltsame Rothwelsch der Rennberichte. Da
ficht Oxford gegen Cambridge, Yorkshire gegen Kent, Süd-
england gegen Nordengland. Es existirt ein ambulanter Club
von Gentlemen, die sich selbst »I Zingari« nennen, welcher
umherreist und Gastrollen giebt. Ebenso ziehen die berühmten
professionellen Spieler »All England Eleven« von Mai bis August
umher. Sie werden von Provinzialclubs eingeladen, die gegen
sie spielen und ihnen Honorar zahlen. Im Jahre 1861 gingen diese
»All England Eleven« nach Australien und spielten gegen die
Englische Bildungsmittel zu Lande, 2oO
achtzehn besten Spieler in Melbourne. Der Kampf dauerte
vier Tage, die Elf siegten. Dann durchzogen sie Monate lang
in fortwährenden Triumphen alle grosen Städte Australiens. —
Auch bei jeder Kaserne finden Sie einen Cricketground.
Kürzlich spielte die Household Brigade gegen die Division
Aldershott in Chelsea. Auf beiden Seiten fochten Stabs-
offiziere, Corporale und Gemeine Schulter an Schulter. Auf
dem Plateau von Sebastopol spielten unsere Soldaten Cricket
unter dem begleitenden Donner der russischen Geschütze".
„Ich danke Ihnen aufrichtig", versicherte ich , „dass Sie
mich hierher brachten. Alle nationalen Eigen thümlichkeiten
sind ja dem Fremden vorzugsweise interessant. Besonders
aber erfreute mich das Aussehen der Jugend, die wir soeben
in Thätigkeit sahen. So frisch, leicht und kräftig, nachlässig
und entschlossen, ruhig und keck ist die Haltung. Die ganze
Erscheinung dieser jungen Leute ist aristokratisch im besten
Sinne des Wortes. Aber! — jetzt kommt doch ein „Aber" —
meinen Sie nicht, dass diese Spiele und daneben noch die
sogenannten „athletischen Sports": Werfen, Rennen, Springen
u. s. w., ausserordentlich zeitraubend sind? Der jetzige kurze
»Summerterm« dürfte daneben wohl in den Studien wenig
Früchte tragen".
„Allerdings", entgegnete Freund D. , „aber wir halten
dennoch diese Zeit für wohl angewandt. Schon Lord Chesterfield
sag^: „active sports are not to be reckoned idleness in young
people". Wir wollen unsere jungen Leute hier nicht zu voll-
kommenen Philologen und Fachgelehrten oder zu jungen
Beamten, fertig für das Staatsexamen, machen. Einige Lücken
im Wissen des einzelnen halten wir daher für kein Unglück,
denn — nicht wahr? — sie alle schon auf der Universität und
in diesem jugendlichen Alter ausfüllen zu wollen, wäre doch
etwas verfrüht ? Der letzte Zweck unserer Erziehung ist vielmehr:
unserer Jugend die Fähigkeit zum selbständigen Auftreten
und Handeln im öffentlichen Leben beizubringen.
„Lass Dein erstes Studium sein", so etwa predigte einer unserer
grössten Pädagogen, der Dr. Arnold, seinen Schülern, „der Welt
zu zeigen, dass Du nicht von Holz und Stroh bist, sondern dass
etwas Eisen in Dir steckt". — Da ich, nach meiner hiesigen
Universitätszeit fast ein Jahr in Göttingen lebte und in späteren
266 Ein Tag in Oxford.
Ferien noch häufig auf dem Continente war, so weiss ich wohl,
dass diese Erziehung ein gut Theil unserer insularen eckigen
Schärfe und Einseitigkeit, unserer übel berufenen Selbst — —
Schätzung ausbildet, jedenfalls sie nicht abschleift. Diese
englische „Steifheit" wirkt allerdings auf Fremde anfangs nicht
gerade anziehend; später erkennt man dann wohl den meistens
echten, soliden, zuverlässigen Kern unter der rauhen und
harten Schale. — Aber, was schadet das alles uns selbst?
Wir wollen ja gar nicht internationale, inteUectuell und universell
abgeschliffene Individuen sein und ausbilden, sondern sittliche,
christliche, vor allem: englische Gentlemen. Wir arbeiten
deshalb auf ein historisch nationales Ziel hin: jeder junge Alann
soll dazu erzogen werden: ifi die Reihen der erwachsenen
Engländer, wie sie nun einmal sind, einzutreten mit dem
Bewusstsein der grossen Vorzüge, die ihm durch die Zugehörig-
keit zu unserer Nation und zu unserer Kirche erwachsen".
„Diese Anpassung des studentischen an das öffentliche,
politische und kirchliche Leben des Landes zeigt sich in dem
ganzen hiesigen Thun und Treiben, wie die Studenten es sich
selbst geschaffen haben, in ihren Vergnügungen wie in ihren
ernsteren Bestrebungen. Ganz besonders schlagend tritt diese
Nachbildung in. einem der bedeutendsten und merkwürdigsten
akademischen Institute, der „Oxford Union Spciety", zu Tage.
Diese Gesellschaft ist zunächst ein grosser literarischer
Universitätsclub. Sie finden dort sechs oder sieben geräumige
Lesezimmer für die verschiedenen Zweige unserer und der aus-
ländischen Literatur; eine reich ausgestattete Bibliothek, Schreib-
zimmer, Kaffe- und Rauchzimmer. Alles dieses ist sehr statt-
lich, aber es ist nicht einzig in seiner Art, es ist auch anderswo
zu finden. Die besondere Eigenthümlichkeit dieser Union ist
das »Debattirzimmer«. Denken Sie sich einen hallenartigen
Raum, i6 Meter hoch, 21 Meter lang und ii Meter breit.
Die innere Einrichtung dieses Raumes entspricht möglichst
genau der Ihnen bekannten Ansicht des Unterhauses in West-
mmsterpalace : in der Mitte der »Tisch des Hauses«, zu beiden
Langseiten aufsteigende Bankreihen, darüber thront an der
Stelle des „Mr. Speaker", hier der Präsident. Rund um den
Saal läuft eine Gallerie für die Zuhörer".
„Einmal wöchentlich, leider nicht heute, hält der Debattir-
Englische Bildungsmittel zu Lande. 267
club hier seine Sitzung. Die Verhandlungen verlaufen voll-
ständig in den Formen unseres Parlamentes. Die Gegenstände
der Tagesordnung reflectiren stets das jeweilige öffentliche
Tagesinteresse im Lande. Man redet über die irische Kirche,
die Rinderpest, den Suezkanal, über das richtige Verhalten
der einheimischen Regierung zum schlechten Erntewetter und
über die Politik der indischen Regierung gegenüber dem Rajah
von Bamgungewollah der, unter Missachtung der heiligsten
Satzungen des Völkerrechtes, den englischen Unterthanen Messrs.
Brown und Jones ihre Rechnungen nicht bezahlen will, s^urz,
man redet über alles mögliche — und nebenher noch über ver-
schiedene andere Dinge".
„Es ist wirklich originell, diese jungen Cannings und
Gladstones an der Arbeit zu sehen; zu hören, mit welch jugend-
licher Schnellfertigkeit des Wortes sie die grossen Lebensfragen
der Nation lösen, über welche die gereiften Staatsmänner
Englands stolpern und häufig — fallen. Die Debatten sind
selbstverständlich viel lebhafter als in Westminster, denn der
Alangel an positiver Sachkenntniss befördert bekanntlich die
Unbefangenheit des Urtheils, nicht minder auch die Sicherheit
und Schwungkraft des Gedankenfluges. Natürlich laufen viele
schönrednerische Phrasen und viele confuse Argumente unter;
die besten der letzteren sind noch immer diejenigen, welche
aus dem neuesten Leitartikel eines extremen Blattes entlehnt
wurden. Aber diese Fechtübungen gewähren eine aus-
gezeichnete Schulung: sie geben die Gewöhnung und Sicher-
heit frei zu reden und zwar vor einer grossen gemischten
Zuhörerschaft, die, in Beziehung auf Mängel in der Form, keines-
wegs nachsichtig ist, sondern den unglücklichen stockenden und
stammelnden Demosthenes baldigst erbarmungslos niederhustet".
„Der Club besteht bereits seit dem Jahre 1823. Anfangs
war er der Behörde bedenklich und man nahm verschiedene
Anläufe, um ihn zu schliessen. Jetzt ist er völlig gleichberechtigt
in die Reihe der akademischen Bildungsmittel aufgenommen.
Im Jahre 1873 feierte er sein fünfzigjähriges Jubiläum; dazu
erschien eine lange Reihe bedeutender und hochstehender
Männer, alte Oxonians, die sich mit Dankbarkeit des werth-
voUen „Trainings" erinnerten, das sie hier genossen hatten und
das sich ihnen später im öffentlichen Leben so forderlich erwies".
268 Ein Tag in Oxford»
„Ich bedauere aufrichtig", konnte ich nur erwidern, „da^s ich
mich fiir dieses Mal mit Ihrer anziehenden Schilderung* begnügen
muss. Der Debattirclub gefallt mir sehr; ör füllt in praktischer
Weise eine Lücke aus, die ich in unserer deutschen Erziehung
für das öffentliche Leben stets schmerzlich vermisst habe —
an mir selber wie an anderen, besseren Männern. Bei uns
schreibt man durchgängig immer noch viel leichter und gewandter
als man spricht. Daher kommt es, dass so häufig in unserem
politischen Leben praktischere Kräfte und reifere Köpfe gegen
gewisse doctrinäre parlamentarische Klopffechter zurückstehen
müssen, deren Gedanken oft recht — leicht bei einander
wohnen".
„Sie sehen, lieber Freund", fuhr ich fort, „ich habe für
England und englisches Wesen ein reichliches Maass von
Anerkennung. Trotzdem aber dürfen Sie nicht, wenn ich
Ihren Auseinandersetzungen über die Principien der englischen
Erziehung bis jetzt ruhig gefolgt bin, daraus meine unbedingte
Zustimmung ableiten. Erlauben Sie mir also jetzt, Ihrer, doch
etwas zu einseitigen Betonung des nationalen Elementes, vom
Standpunkte meiner deutschen, universell humanistischen Bildung
aus ein weniges entgegen zu treten:
„In Deutschland nämlich "
Zu meinem grössten Bedauern wurde hier meine Gegen-
rede, schon in ihrem Beginnen, abgeschnitten durch ein neues
anziehendes Bild aus dem oxforder Leben.
VI.
Englische Bildungsmittel zu Wasser.
Ein Bumping Race.
Wir hatten uns während jener Rede ohne Gegenrede dem
Punkte genähert, wo der Cherwell sich mit der Isis vereinigt.
Zwischen beiden Flüsschen breiten sich die grossartigen baum-
reichen Christ-Church Meadows; wir durchschnitten diese, um
an die ausgedehnte Niederlassung zu gelangen, die hier, von
FoUybridge bis zum Einflüsse des Cherwell, am linken Ufer der
Isis den Hafen von Oxford bildet.
Je mehr wir uns dem Ufer näherten, desto lebhafter wurde
der Andrang der mit uns zuströmenden Menschen. Die tiefer
liegende Wasserfläche der schmalen Isis war noch verdeckt
durch eine lange Reihe, längs dem Ufer liegender, flacher,
breiter, schwerfälliger Barken, nicht unähnlich den Archen Noah,
welche auf den Werften von Nürnberg vom Stapel laufen.
Das Mitteldeck ist mit einer niedrigen Holzhütte überbaut.
Etwa im Centrum der Aufstellung liegt die grösste Barke, über
alle anderen weit hervorragend; sie träg^ einen stattlichen
verglasten Oberbau, ähnlich denen unserer Rheindampfer. Am
hohen Mäste wehet eine stolze Flagge mit dem Wappen der
Universität, im blauen Felde ein offenes goldenes Buch mit
sieben Siegeln. Auf den beiden Blättern steht: Der Herr ist —
Mein Licht.
Längs dem Ufer ziehet sich ein breiter von Ulmen be-
schatteter Kai hin, heute bedeckt mit Gruppen schaulustiger
Spaziergänger, unter denen hier die jungen, hübschen und
heiteren Zuschauerinnen die erfreuliche Mehrzahl bilden.
270 Ein Tag in Oxford,
„Lassen sie uns auf jene grösste Barke hinübergehen'*
schlug- Mr. D. vor, als wir auf dem hölzernen Uferbollwerk
standen, „sie ist das Hauptquartier des „Oxford United Boating*
Club". Die kleinen Barken aufwärts und abwärts, gehören
den einzelnen Colleges oder den verschiedenen Bootvermiethem.
Es liegen hier wohl gegen fünfzig Stück — Von hieraus
können sie den Fluss, auf und ab, am besten übersehen".
Und wirklich, er war des Sehens werth! Die lang ge-
streckte Wasserfläche wimmelte von Booten und Schiffchen
jeder Art; schwere kleine trogähnliche Zweiruderer, Tubs genannt,
für die Anfanger; lange schmale Wiffs und ScuUingboats mit
vertieftem Sitze, der Schwerpunkt so schwankend dass sie nur
durch beständiges Ruhen der flachen Ruder zu beiden Seiten
auf dem Wasser vor sofortigem Umschlagen bewahrt werden
können; grössere Fahrzeuge für zwei und vier Ruderer; kleine
Segelboote; breite flache kleine Schauken (Punts), die mit einer
langen Stange fortgestossen werden. Alles trieb sich fröhlich
durcheinander und ich bewunderte die Geschicklichkeit wie den
guten Willen der Insassen, die sich auf der schmalen Strasse
ohne jedes Anrennen oder „Rempeln" auswichen.
Plötzlich stieben alle auseinander, um die Bahn frei zu
machen, denn ein mächtiger Achtruderer schiesst von einer
der Collegebarken in den Strom. Ein schmales sehr scharfes
Schiff, etwa 70 Ctm. breit und über 20 Meter lang. Bemannt
ist es mit acht Ruderern, die, hinter einander sitzend, jeder einen
langen schmalen Riemen führen. Ihnen gegenüber sitzt ein
neunter Mann am Stern, der Coxswain, und regiert vermittelst
zweier Stricke das, wohl drei Meter von ihm entfernte Steuer
am Ende der hinteren Spitze.
„Das ist Brazenose", rief D. „blau und weiss gestreifte
Jerseys (Flanelljacken) mit gelber Einfassung. Am Bugspriet
wehet die Collegeflagge".
Das Boot stand einen Augenblick im Wasser still, dann
gab der Vorruderer (Stroke, Schlag) das Zeichen und im gleich-
massigen Tacte fuhr das schneidige Fahrzeug stromabwärts-
„Die anderen Boote werden bereits unten sein", bemerkte
Mr. D. und das „Bumping Race" wird gleich beginnen".
„Bitte, was wird beginnen?" fragte ich, überrascht durch
Englische Bildungsmittel zu Wasser, 271
diesen mir neuen nautischen Ausdruck, dessen energischer Klang*
mich wahrhaft erfrischte.
,Ja so", lachte er, „das bedarf allerdings der Erläuterung;,
es ist eine unserer berechtigtsten oxforder Eigenthümlichkeiten.
Also: in jedem College bestehet ein Ruderclub; dieser besetzt
vor allem einen Achtruderer, wie Sie ihn eben sahen, mit
seinen besten „Männern". Kräftige Füchse werden zunächst
im Tub, dann im Zwei -und Vierruderer gedrillt, bis sie im
nächsten Frühjahre im Stande sind, mit einem Achtruderer in
den „Torpid Races" der Juniors mitzugehen. Aus diesen
Recruten werden dann die besten auserwählt, um die Lücken
im Achtruderer des College zu besetzen, die kräftigsten Arme
kommen an die Riemen, ein leichter aber gewandter Mann an
das Steuer. Nun folgt das „Coaching" dieser Acht nach den
strengen Grundsätzen der edlen Kunst und jetzt, gegen das
Ende des »Summerterm« der von Pfingsten bis zum Anfange
des Juli läuft, finden die grossen Races statt, durch welche
festgestellt wird: welches der Colleges „auf dem Plusse an der
Spitze stehet". Und zwar »an der Spitze« im strengsten Wortsinne.
Denn der schmale Fluss 'erlaubt, wie Sie bemerken, keine
breite, sondern nur eine tiefe Aufstellung der langen Boote.
Wie das gemacht wird, sollen Sie sogleich selbst sehen. In-
zwischen will ich suchen mit meiner Vorlesung schleunigst zu
Ende zu kommen".
„Sämmtliche Ruderclubs der einzelnen Colleges sind nur
Unterabtheilungen des „Vereinigten Universitäts- Ruderclubs",
der hier auf dieser grossen Barke residirt. In ihm concentrirt
■
sich die Leitung der gesammten „aquatischen" Interessen und
Bestrebungen der Universität Natürlich begreift er in seinem
Vorstande die bewährtesten Autoritäten des Rudersports und
ihm liegt vor allem die grosse nationale Aufgabe ob: diejenigen
Acht auszuwählen und zusammenzustellen, welche im Universitäts-
boote der „Varsity" die weltberühmte Wettfahrt gegen die
Universität Cambridge, das „Wasser Derby", weiter abwärts
auf der Themse zwischen Putney und Mortlake, auszufechten
haben". — „Sie wissen ja, wie dort Hunderttausende von Zu-
schauem sich versammeln; alles strömt hinaus: zu Wagen, zu
Pferdei mit den Bahnen, auf unzähligen Dampfern. Und wenn
nicht def Himmel so ist doch jedenfalls an diesem Tage die ganze
272 Ein Tag in Oxford,
Landschaft blau : Kleider, Cravatten und Schleifen an Menschen,
Pferden und Peitschen; Flaggen auf den Schiffen; dunkelblau
Jür Oxford, hellblau für Cambridge. Von der leidenschaftlichen
Erregung, welche dort meine sonst so gefassten kühlen Lands-
leute ergreift, kann man sich nur aus eigener Theilnahme einen
Begriff machen. Aber auch schon wochenlang vorher wird die
Einübung, das »Coaching«, der Eight unter ihrem professionellen
Trainer mit dem gespanntesten Interesse verfolgt Ein technisch
gebildeter Berichterstatter giebt in der Times an jedem
Tage eine genaue kritische Mittheilung darüber: was die Acht
heute geleistet haben, wieviel Ruderschläge in der Minute, ob
der Takt fest und gleichmässig war, ob die Ruder noch zu
stark unter dem Wasser „federten", ob nach dem Durchziehen
des Ruders die Arme wieder rasch genug die Brust verliessen —
und endlich: die Abnahme des Gewichtes bei einem jeden: ob
nur fünf oder schon sechs Pfund in den letzten vierzehn Tagen.
Dadurch erhält das Publikum, welches selbst im schlechtesten
Wetter den täglichen Uebungen in der Nähe von Hampton
Court und Richmond beiwohnt, schon im voraus die genauesten
Anhaltspunkte für die Berechnung der Wetten".
So ist es denn ohne Zweifel eine hohe Auszeichnung, zu
den „Varsity Eight" zu gehören, aber sie wird auch theuer
erkauft. Monate lange, unausgesetzte, systematisch gesteigerte
Abrichtung geht vorauf, bei rauhem Wetter im Februar und
März. Während dieser Zeit grosse Massigkeit im Essen, keine
Fettbildner; kein Rauchen und kein Alkohol; dadurch würde
der Athem leiden. Nach genauen Regeln wird so die möglichst
vollkommene Rudermaschine ausgebildet. Die Wissenschaften
stehen während dieser Zeit nicht minder zurück als die Ver-
gnügungen, überhaupt alle anderen Interessen sind absorbirt-
Der yarsity Mann bringt willig jedes Opfer, dessen ein
entschlossener Wille und ein enthusiastischer Ehrgeiz fähig
ist, um die höchste Ehre für seine Universität zu gewinnen**.
„Ich selbst bin nicht zu dieser hohen Würde gelangt; nur
zum Coxswain meines Collegebootes berief mich mein leichtes
Gewicht, denn dieses soll 1 1 1 Pfund nicht übersteigen, während
das Durchschnittsgewicht eines „Oarsman** zu etwa 150 Pfund
angenommen wird". —
Hier wurden wir durch einen entfernten Kanonenschuss,
Englische Bildungs mittel zu Wasser, 2rf3
von stromabwärts her, unterbrochen, dem eine gemeinsame
Bewegung aller Zuschauer nach dem Strande des Ufers zu
folgte. Dann trat plötzliche Stille ein und alle Blicke wandten
sich stromabwärts.
„Was Sie hier sehen werden, ist folgendes", flüsterte D.
mir zu, augenscheinlich selbst ergriffen von der Bedeutung des
Momentes; „wir stehen also vor einem „Bumping Race"; das
ist schwer zu übersetzen, vielleicht w^äre ein „Rempel-Rennen"
keine schlechte Bezeichnung dafür. Es findet nämlich ein nie
erlöschender Wettstreit statt, um die Stellung der Collegeboote
auf dem Flusse. Ein jedes strebt unaufhörlich, in der Reihen-
folge aufzurücken und an die Spitze zu gelangen. Um
diesen Kampf aller gegen alle auszufechten, werden die
etwa 20 'Meter langen Boote in einem Abstände von je
20 Metern, also von Bootslänge, hinter einander aufgestellt,
und es gilt dann für jedes einzelne Collegeboot: diesen Abstand
zu gewinnen und dem vorauf eilenden Vorderboote so nahe
zu kommen, dass man es im Stern, hinten am Steuer, anrennt,
„bumpt oder rempelt". Das so geschlagene Boot verliert seinen
Platz und muss sich hintenan setzen oder erscheint auch wohl
während desselben Terms gar nicht mehr auf dem Flusse.
Uebrigens sind jetzt die »Collegeachter« in zwei Divisionen
getheilt, da, wenn sämmtliche Boote zugleich liefen, die Bahn
für das vorderste zu kurz werden würde. Heute werden sieben
oder acht Boote beim Start erschienen sein, jedoch das all-
gemeine Interesse concentrirt sich auf den Kampf zwischen
Brasenose, welches jetzt an der Spitze stehet, und meinem alten
College „New", das durch seinen ausgezeichneten Vorruderer
Mr. Robinson rasch bis in die zweite Stelle vorgerückt ist.
Der Brazenose Stroke, Mr. Marriot ist jedoch nicht minder
gross an seinem Platze; beide waren im diesjährigen Varsity-
Boote und dort Nebenbuhler um den Ehrensitz Nr. 8, den des
Vorruderers. Sie werden also jedenfalls heute eine Leistung
sehen, bei welcher beide Parteien alle Kräfte zusammennehmen".
•
Inzwischen erhob sich, stromabwärts ein murmelndes
Geräusch zusammentönender Menschenstimmen, es lief dem
Ufer entlang, wuchs und wuchs, und schwoll endlich zu lautem
Brausen hinauf als das erste Boot, das von Brazenose, hinter
Omptcda, L. v., Bilder. lo
1
274 Ein Tag in Oxford.
einer sanften Biegung des Ufers hervorschoss und sich mit
Pfeilgeschwindigkeit näherte; ihm folgte in ganz kurzem Ab-
stände das zweite Boot, dasjenige von New. Die Mannschaft
trug weisse Jerseys mit Violet und Orange eingefasst imd das
Boot führte dieselben Farben in der Flagge am Bugspriet.
„New ist bereits bedeutend aufgerückt", bemerkte mein
Nachbar, ohne den gespannten Blick von den Schiffen abzu-
wenden, „wohl schon um ein Drittel des Abstandes".
Jetzt konnte auch ich die Einzelheiten des Vorganges
unterscheiden, denn die Boote flogen rasch heran. Mit voll-
kommenster Regfelmässigkeit bewegten sich die Ruderer
vor- und rückwärts, strichen die Riemen durch das Wasser,
etwa 35 Schläge in der Minute, dabei kein Ueberhasten,
Rucken und Plätschern. Immer lauter schwollen die Zurufe,
immer erregter wurden die Zuschauer. Und so ergreifend war
selbst für den unbetheiligten und sachunkundigen Fremden die
Spannung des Augenblicks, so unwillkürlich ansteckend die
Theilnahme an dieser Leistung jugendlicher männlicher Energie
und Geschicklichkeit, dass auch ich mit schnelleren Herzschlägen
der nahenden Entscheidung entgegensah. Die Boote waren
nun beinahe vor uns angelangt und die Ueberlegenheit von
New wurde augenscheinlich. Nur noch ein Drittel Bootslänge
trennte beide Kämpfer, immer fester legten die Mannschaften
sich in die Riemen, als ob der letzte Athemzug, die letzte
Muskelspannung nicht zu theuer wären für das grosse Ziel.
Da — war es nun, dass die Brazenose Männer die beim
Rudern rückwärts blickten, ihr herannahendes Schicksal er-
kannten und, dadurch entmuthigt, instinctiv nachliessen —
plötzlich, wie von einer neuen, unsichtbaren hilfreichen Kraft
gestossen, sprang New in wenigen Ruderschlägen gegen
Brazenose vor und versetzte ihm durch eine geschickte Be-
w^egung des Steuermannes einen streifenden Stoss am äussersten
Ende des Sterns, so stark, dass beide Boote schwankten und
in drehende Bewegfung geriethen!
Ungeheurer brausender Jubel von allen Seiten füllte die
Luft; New war also dennoch »an die Spitze« gelangt und die
grosse Frage, die schon seit Wochen Oxford in Bewegung er-
halten hatte, war entschieden. Die Leistungen der nachfolgenden
Boote blieben daneben von der grossen Masse der Zuschauer
Englische Bildungsmittel zu TVasser, 27 D
unbeachtet und nur die Schiedsrichter erfuhren, was zwischen
ihnen vorgegangen war. —
„Nachher wollen wir uns die Sieger in der Nähe ansehen",
sagte mein Führer, „wenn sie sich in ihrer Barke umgekleidet
haben; lassen Sie uns inzwischen noch einen Blick hier in die
grosse Hütte der Universitätsbarke werfen".
Wir traten in ein geräumiges, mit allem Comfort ausge-
stattetes Lesezimmer. Der mittlere grosse Tisch war ringsum
mit schweigenden lesenden Gentlemen besetzt, andere lagen
auf den schmalen, gepolsterten Bänken unter den Fenstern und
betrachteten mit unverwüstlichem Ernste die stets wechselnden
heiteren Bilder des Lebens und Treibens auf dem Flusse.
„Hier also tagt der hohe Rath", erklärte mein Führer,
„ausserdem ist dieser Raum ein sehr beliebtes und gut aus-
gestattetes Clublocal. Hier arbeitet der Generalstab die
Feldzugspläne gegen die »Cantabs« aus, deren Ergebnisse für
Sieger wie Besiegte stets gleich ehrenvoll sind. Bis jetzt
spielte das Zünglein der Waage ziemlich gleichmässig hin und
her. Siebenzehn. Male hat Oxford gesiegt, ebenso oft Cambridge.
Vor zwei Jahren (1877) war ein todtes Rennen. Den ruhm-
vollsten Sieg erfochten die Oxonians ohne Zweifel im Jahre 1843.
Eines ihrer Ruder brach und dennoch kamen sie zuerst durch's
Ziel. Sehen Sie hier diesen Armstuhl, er ist aus dem Holze
des siegreichen Bootes gemacht. Die Rücklehne besteht aus
den Blättern der sieben Ruder. — Alle diese Bilder an den
Wänden sind Portraits berühmter »Oarsmen".
Alein Blick fiel auf zwei grosse Sevresvasen von besonderer
Schönheit.
„Es ist ein Preis, den Oxford im Jahre 1867 mit seinem
Vierruderer auf der Seine bei Paris gewann. Er vertritt eigent-
lich einen doppelten Sieg, denn diese internationalen Lorbeeren
Hessen unsere Vettern in Amerika nicht schlafen. Noch in
demselben Jahre erhielt Oxford eine Herausforderung von der
Universität Harward in den Vereinigten Staaten. Zwei Jahre
dauerten die Verhandlungen; der 27. August 1869 war der
grosse Tag, an dem das Race auf der classischen Arena
zwischen Mortlake und Putney vor einer Million Menschen
gerudert wurde, über 6 Kilometer in 22 Minuten 50 Secunden.
Oxford siegte nach sehr hartem Kampfe; der Start fand um
18*
27b Ein Tag in Oxford,
5 Uhr 14 Minuten Nachmittags statt; vor 6 Uhr schon flog* das
Siegestelegramm »hinüber«".
Als wir wieder hinaustraten, war der Fluss bereits leer
geworden, nur einzelne Boote mit fröhlicher Damengesellschaft
gingen noch langsam auf und ab.
„Worin besteht der Preis", fragte ich, „um den die Achter
der Colleges kämpfen; ich meine: das äussere sichtbare Zeichen
des Sieges?"
„Es ist ein Ehrenpreis", erwiderte D., „Am Montage in der
letzten Woche des »Summerterm«, der festlichen »Commemoration
Week«, stellt sich das siegreiche Boot hier längs der Universitäts-
barke auf und alle andere salutiren des „Head boat« im Vorbei-
fahren".
Inzwischen war die Mannschaft von New herangekommen
und mein Freund, ein ehemaliger Student des College, beglück-
wünschte sie über den Sieg. Freude und Befriedigung strahlte
aus den frischen, noch gerötheten jungen Gesichtern. Zu meiner
Ueberraschung begrüsste mich der Coxswain als alter Bekannter,
er war der Sohn einer mir befreundeten englischen Familie.
„Ich wusste zwar, dass Sie kommen würden", sagte er,
„habe aber nicht ervi'artet, Sie heute an dieser Stelle zu treffen.
Da Sie nun Zeuge unseres Sieges waren, müssen Sie
auch den Schluss des heutigen Festes mit uns erleben und
unser Gast beim »Bumping Supper« sein. Mn D., unser alter
Coxswain, kommt hoffentlich mit Ihnen".
Wir nahmen dankend an und schieden schleunigst, denn
mein Führer mahnte an die nahende Essensstunde. Rasch
eilte ich nach Hause, mich festlich zu kleiden; an der »High
Table« von Christ Church Hall erscheint man, wenn nicht im
Gown, stets im »Evening Dress«, das heisst: Frack und weisse
Halsbinde.
Während wir gingen, kam Mr. D. nochmals auf unsere
Erlebnisse am heutigen Tage zurück.
„Es ist wahr**, gab er, auf meinen früheren Vorhalt zurück-
kommend, nachträglich zu, „der kurze »Summerterm« von knapp
zwei Monaten gieht in den Sports zu Wasser und zu Lande,
in anderen Unterhaltungen der schonen Jahreszeit und endlich
in den Festesfreuden der »Commemoration« so ziemlich auf.
Aber wir Lehrer bedauern das nicht, denn diese Sports gehören
Englische Bildungsmittel zu Wasser, 277
ZU den nothwendigen Elementen einer vollendeten englischen
Erziehung. Der natürliche Hang zu körperlichen Kraftleistungen
und zu einem bewegten Leben, namentlich auf dem Wasser,
liegt uns im Blute. Das ist zugleich angelsächsische und
normannische Erbschaft. Das Wasser ist ja eines der wesent-
lichsten Momente in der gesammten Entwicklung Englands; es
giebt uns unsere unabhängige, insulare Stellung; zugleich bildet
das befreundete Element in uns ein abgeschlossenes Selbst-
vertrauen aus und den frischen, männlichen Sinn, den Sie selbst
an unserer Jugend gelobt haben. — Ich könnte immerhin ein-
räumen, dass Ihre jungen Leute im allgemeinen Wissen vor-
aus sind, aber ich behaupte: unsere Erziehung ist wirksamer,
sie giebt eine bessere Ausrüstung für das Können im Leben".
„Vielleicht", erwiderte ich, „haben Sie in Ihren letzten
Worten nicht so ganz Unrecht. — Unwillkürlich reihet sich
bei mir hieran eine Beobachtung, die mich verfolgt hat seit
ich mich in England umsehe, nämlich: die so sehr geringe
Anzahl der Brillenträger in den hiesigen höheren Ständen. —
Jedenfalls ist ein Volk, welches Muth, Kraft und Ausdauer so
national ausbildet, in seinem Kern gesund; es ist berechtigt: an
seine eigene Zukunft zu glauben. — Deshalb aber kann auch
Ihre Pädagogik nicht von anderen Nationen einfach nach-
geahmt werden, denn die Vordersätze ihres Systems liegen in
Ihrem festgefugten öffentlichen Leben und in der glücklichen
Entwickelung Ihrer Geschichte. Wir Deutschen sind zwar als
„Römisches Reich deutscher Nation" bereits über tausend Jahre
alt; aber Sie wissen ja:
,.Das liebe heirge Röm'sche Reich.
Wie hält*s nur noch zusammen?'*
Als lebendiger Staat sind wir noch sehr jung und noch
sehr unfertig. Bedenken Sie nur, dass noch in diesem Jahr-
hunderte unsere Staats-Kunstschnitzer Deutschland glücklich
bis zum »geographischen Begriffe« erniedrigt hatten, zum Hohn
und Spott aller unserer uneigennützigen, wohlwollenden Freunde
und lieben Nachbarn rechts und links ! — Es fehlt uns dadurch
noch eine wesentliche Eigenschaft: das unbewusste, zweifel-
lose, angeborene Staatsbewusstsein. Allerdings erscheint unser
Nationalgefühl in der gegenwärtigen Generation schon bedeutend
gehoben, aber diese Hebung hat sich wesentlich auf dem
278 Ein Tag in Oxford.
Umwege der Reflexion vollzogen, und zahlreiche achtbare
Gruppen meiner Landsleute stehen noch verständnisslos oder
schmollend bei Seite. Erst unseren Kindern wird — so hoffe
und vertraue ich wenigstens — dieser nothwendige Kitt ange-
boren sein, bei ihnen wird das Nationalgefühl naiv und unbewusst
auftreten. Uns Aelteren ist es verkümmert und verkrüppelt
hinter den leidigen gelb-grünen und grau-braunen Grenz-
pfählen!"
„Indessen", fuhr ich nach diesem Bekenntnisse fort, „Eines
ist mir doch immer noch nicht ganz begreiflich in Ihrem
akademischen Bildungsgange. Sie haben 4^2 Monate Ferien,
der „Summerterm" umfasst 2 Monate und ist wesentlich den
Sports und dem Leben im Freien gewidmet. Dann müssen
aber doch Ihre Studenten in den übrigen knappen 6 Monaten
ganz übermässig angestrengt arbeiten, um in dieser Zeit das
condensirte Jahrespensum zu bewältigen und zu verdauen, für
welches unsere Universitäten, auch während dreier Jahre
8 — 9 Monate jährlich bedürfen und verwenden?"
Freund D. lachte über meine pedantische Hartnäckigkeit,
verschob es aber einstweilen, diese mir unbegreifliche concen-
trirte Verdauungsfahigkeit des jungen Englands zu erläutern,
denn jetzt durchschritten wir den tiefen gewölbten Eingang
unter dem berühmten alten Glockenthurm* von Christ Church
und traten in den prächtigen ersten Hof, dieses vornehmsten
aller englischen Colleges, den „Great Tom Quadrangle".
VII.
Dinner in Christ Church Hall
Ljer grossartige Hof eines grössartigen burgähnlichen
Palastes! Ueber neunzig Meter im Geviert. Vor uns die
lange Front zeigt eine der reichsten und vornehmsten
Schöpfungen des Tudorstils. Zwei Stockwerke; die hohen
Zinnenbrüstungen des Gesimses verbergen das flache Dach, nur
die Schomsteinbündel treten hervor. Im oberen Stocke sehen
wir einen völlig freien Wechsel der verschiedenartigsten vier-
eckigen Fenster: einfach, gekuppelt, übereinander gestellt, je
nach dem Bedürfnisse der inneren Eintheilung. Alle tragen den
charakteristischen Ueberschlagsims, die sogenannte Traufleiste,
die sich vorspringend um die obere Hälfte des Fensters zieht
und, ursprünglich zur Ableitung des Regenwassers vorgerichtet,
ein so eigenthümlicher edler Schmuck für die Fronten des
gothischen Profanbaues in England geworden ist.
Im Erdgeschosse finden wir Fenster und Thüren nicht
minder in völlig ungebundener Anordnung. Zwei grössere
Bogenportale bezeichnen den Eingang zur Kathedrale, deren
spitzer achteckiger Thurm auf reichem viereckigen Unterbau
herüberragt. Auf dem südlichen Winkel des Hofes lagert ein
schwerer würfelförmiger gezinnter Glocken-Thurm, oben mit
zierlichen Fialen und kräftigen achteckigen, ebenfalls gezinnten
Eckpfeilern geschmückt.
Unsere Aufmerksamkeit wird zunächst durch die weitge-
spannten gedrückten Tudor-Blendbogen gefesselt, die den
ganzen grossen Hof umlaufen. Es sind die Ansätze des
Kreuzganges, der den Hof einfassen sollte und nie zur Aus-
führung gelangte.
280 Ein Tag in Oxford,
„Diese Blendbogen erzählen die Geschichte der Gründung
des „College", bemerkte Freund D. „Ursprünglich (1525) war
es eine Stiftung, in welcher der allmächtige Lord Kanzler
Heinrichs VIII., der Cardinal Wolsey sich verewigen wollte.
Es war im Beginn unserer Reformation und geistliches Gut
stand ihm reichlich zur Verfügung. Das neue College wurde
mit dem Vermögen von vierzig aufgehobenen Klöstern und
Stiftungen ausgestattet. Noch jetzt ist Christ Church der
Patron von neunzig Pfarren in allen Theilen Englands. Ehe
jedoch das grosse Werk vollendet war, fiel der allmächtige
Minister, weil er die Partei der verstossenen Königin Katharina
von Aragonien ergriff, und der Bau hier gerieth in's Stocken.
Später nahm der König selbst die Sache in die Hand; er ver-
band das unfertige »Cärdinal's College« mit der bischöflichen
Kathedrale und so entstand das jetzige grossartigste aller
englischen Colleges: »The Cathedral Church of Christ in
Oxford*«. Der Kreuzgang des Cardinais aber blieb unaus-
geführt".
Während wir uns an der Spiegelung der edlen Architectur
in dem kleinen klaren Weiher vor uns ergötzten, der die
Mitte des weiten mit schönen Grasflächen bedeckten Hofes
bildet, ertönte aus dem Flügel zu unserer Rechten das energische
anhaltende Geläut einer tiefen kräftigen Glocke.
„Das erste Zeichen zum Dinner", erklärte mein Führer.
„Sehen Sie hier rechts diesen höheren langgestreckten Bau mit
den breiten gestabten Fenstern, schon im Perpendikulärstile;
das Dach ist beinahe überreich mit Zinnen nnd Fialen
geschmückt. Dort ist die grosse Hall von Christ Chiirch, die
grösste in England nach der weltberühmten Westminster Hall".
„Machen wir jetzt rasch noch eine zweite Vierteldrehung
rechts, dem Eingange zu. Sie müssen nothwendig dem „Great
Tom" Ihren Respect bezeugen, denn er ist einer der „Löwen"
von Oxford. — Wie sie sehen, hat der hohe Thurm vor uns
seinen Abschluss erst sehr spät erhalten, erst durch Sir
Christopher Wren, den Erbauer der St. Pauls Kathedrale zu
London, im Jahre 1682; daher die hässliche längliche Zwiebel-
kuppel, die seine Spitze verunziert. Aber seine eigentliche Be-
rühmtheit steckt drinnen, nämlich seine grosse Glocke, der
„Great Tom". Wir Leute von Oxford sind sehr stolz auf
Dinner in Christ Church Hall. 281
unseren ehernen Riesen, obgleich derselbe in der Reihe seiner
Brüder nach seinem Gewichte erst Nr. 31 zählt, er wiegt
17,5 Centner. Die Kaiserglocke in Cöln hält, wie man mir dort
sagte, 50 Centner, und nimmt den siebenten Platz ein. „Great
Tom" existirt seit dem Jahre 1200, aber er feierte seitdem
bereits mehrere Auferstehungen. Fünfmal wurde er umge-
gossen, zuletzt im Jahre 1680. Jetzt trägt er die Aufschrift:
„Magnus Thomas Clusius Oxoniensis, renatus, April 8, 1680".
„Verzeihen Sie mein lückenhaft gewordenes Latein", unter-
brach ich, „aber was heisst: Clusius Oxoniensis?"
„Ich glaube nicht", erwiderte mein gelehrter Freund, „dass
es ciceronianisch ist; es soll heissen: der Thorschliesser von
Oxford. An jedem Abende nämlich um 9 Uhr 5 Minuten
ertönen vom Tom loi Glockenschläge, das Zeichen für das
Schliessen sämmtlicher Aussenthüren des College. Tom giebt
10 1 Schläge, weil ursprünglich das College stiftungsmässig aus
101 Mitgliedern bestand; jetzt sind deren weniger; es wurde
also ein jeder personlich zur Pünktlichkeit und Häuslichkeit
ermahnt".
„Wie Sie heute den Tag über gesehen und noch mehr
gehört haben, ist Oxford reichlich mit Glocken ausgestattet
und macht von ihnen einen höchst ausgiebigen Gebrauch. Das
Geläute geht fast ununterbrochen fort von Morgens bis Abends.
Die Christ Church Glocken jedoch sind von allen die
populärsten; selbst das Volkslied beschäftigt sich mit ihnen.
Ich erinnere mich, wenn ich sie läuten höre, stets eines alten
Liedchens, das meine Grossmutter uns Kindern gern vorsang.
Es geht so:
Hört die lieben Christ Church Glocken:
I, 2, 3, 4, 5, 6;
So wundertief, so wunderhell,
Wie sie so lustig rufen und locken
Hört! das erste — das zweite Läuten!
Um Vier und um Zehn, was mag es bedeuten?
„Kommt, kommt, kommt zum Gebete schnell!"
Und vor dem Dean schreitet ernst der Pedell.
Tingle, Tingle Ting! geht die kleine Glock um Acht,
Sie ruft in alle Schenken: „jetzt Feierabend gemacht!"
Doch, zum Teufel, kein Mann
Lässt im Stich seine Kann
Bis ihn ruft der gewaltige Tom. —
282 Ein Tag in Oxford.
„Die alte Melodie — "
Ein zweites energisches Geläut aus der Hall unter-
brach uns.
„Kommen Sie", scWoss D. rasch sein Lied von der Glocke,
„es ist das letzte Zeichen zum Dinner. Seien auch wir pünktlich,
damit Sie den Verlauf des originellen Vorganges von Anfang
an erleben. Ich kann Sie jetzt nicht mehr durch jenes ostliche
Thor führen in den zweiten Hof, den Peckwater Quadrangle.
Dort steht die grosse Bibliothek im Paladiostile. Jenes Thor
hat übrigens einen üblen Ruf wegen der gefahrlichen Zugluft,
die darin herrscht und heisst auch „the Kill-Canon" der „Dom-
herrn Tod". Gehen wir also jetzt hinein, mein Vetter erwartet
uns bereits in der Hall".
Wir stiegen die breite Teri-asse hinan, die den „Tom Quad"
rings umläuft, und betraten durch ein hohes Bogenthor den
südlichen breiten Glockenthurm. Ueberrascht blieb ich stehen,
gefesselt durch die Grossartigkeit des Raumes, der uns hier
aufnahm. In seiner Mitte steigt ein schlanker Bündelpfeiler
vor uns wohl dreissig Meter zur Decke empor. Oben breitet
der Pfeiler sich in reichgemustertem zierlichen facherartigen
Schwünge auseinander und trägt das ganze Gewölbe des
Treppenhauses. Nach jeder der vier Wände strebt von ihm
aus ein riesiger flacher Tudorbogen zur Mauer hin. Aus jeder
Ecke steigen die Gewolbansätze ebenfalls in schwellender Be-
wegung facherartig empor und stossen, gleich Palmenkronen
aufwachsend, oben in der Kappe in Halbkreisen zusammen.
Zwischen diesen liegen die Füllungen einer grossen zierlichen
Rosette, deren Schlussstein sich wiederum traubenartig senkt.
Eine kolossal breite und schwere Streintreppe fuhrt in zwei
Absätzen um den Mittelpfeiler herum uiid hinauf zum Eingang
der Hall.
„Wahrhaftig, das ist die reichste und anmuthigste Blüthe
der decorativen Fächerwölbung, die ich noch gesehen habe",
rief ich bewundernd aus, indem wir langsam, ich mit andächtig
aufwärts gewandten Augen, emporstiegen, „wie phantastisch
und dabei doch welch klarre harmonischer Rhythmus".
„Dieses Treppenhaus", stimmte mein Fühfer ein, „ist eine
der edelsten Früchte, welche die Spät- oder richtiger noch,
die Nachgothik in England hervorgebracht hat, denn dieser
Dinner in Chrixt Chureh Hall. 283
selten schöne Bau stammt aus dem Jahre 1640, als im übrigen
Europa schon längst die Spätrenaissance herrschte".
Am oberen Ende der Treppe öffnete sich uns eine tiefe,
mächtige Flügelthür und ich stand am Eingange der berühmten
Hall von Christ Chureh; das grossartigste Refectorium in dem
an gothischen Hallen so reichen England. Jedoch war jetzt
nicht der Augenblick, mich staunend in die imposanten Schön-
heiten rund um mich und über mir zu vertiefen. Freund D.
schob mich vorwärts. Wir schritten einen breiten mittleren
Gang hinauf zwischen vier Reihen langer Tafeln hindurch, die
bereits von hungrigen Tischgenossen umstanden wurden. Am
entgegengesetzten oberen Ende der Hall zeigte sich eine
Estrade, auf welcher an einer langen Quertafel etwa 30 Plätze
gedeckt waren. Hier gesellten wir uns zu den bereits ver-
sammelten Mitgliedern des College im schwarzen Gown und
einigen eingeladenen Gästen in feierlichem „E venin g Dress".
Rasch wurde ich dem Dean vorgestellt, der bereits, mit einem
gewichtigen altehrwürdigen hölzernen Hammer in der Hand,
am oberen Ende des Tisches stand. Alsbald gab er einige
laute Schläge auf die Tafel; allgemeine achtungsvolle Stille.
Einer der Studenten, ein „Bible Clerk" trat an das Betpult in
der Mitte des breiten Ganges und sprach oder las der, mit
entblösstem Haupte gesammelt dastehenden Tischgesellschaft
ein lateinisches Gebet, von dessen Inhalte mir nur der Anfang
im Gedächtnisse hangen geblieben ist: »Benedictus benedicat,
per Jesum Christum dominum nostrum « Darauf nahmen
sämmtliche hungrige Anwesende ihre Plätze ein „und sie
erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle".
„Welche Suppe wünschen Sie?" fragte mein Wirth, ein
»♦Senior Student" von Christ Chureh, indem er mir das Menü
vorlegte. „Man wählt hier aus jedem Gange eines der ver-
schiedenen Gerichte, welches dann sofort gebracht wird. Also
zunächst
Suppe: Oxtail oder Mulligatowny?"
Der letztere Name reizte mich.
„Oxtail ist mir bekannt, ich bitte um Mulligatowny".
Es war, dem äusseren Ansehn nach, eine etwas fette
Bouillon mit Reis. Ich pröbirte herzhaft imd ein heftiges
Brennen im Gaumen belehrte mich über das wirksame Ingrediens
284 Ein Tag in Oxford,
dieser anscheinend so unschuldigen Flüssigkeit. Es war, dem
innern Wesen nach, eine concentrirte Lösung von Curry in
Bouillon. Mit Vorsicht ass ich weiter und w^ar dankbar für
den vortrefflichen alten Sherry, der wie ein linderndes Wund-
wasser den heftigen Brand, des indischen Pfeffers allgemach
wieder linderte.
Jetzt gewann ich Zeit, die Tafel etwas näher zu betrachten.
Ihre Ausschmückung war, nach unseren Begriffen, ziemlich
dürftig und nüchtern; keine Aufsätze und Dessertschalen in
der völlig kahlen Mitte, ringsum nur einige sehr grosse alte
silberne Salzfasser und einige Ständer für Senf, Pfeffer und die
Saucen. Zu meiner Verwunderung sah ich weder Tischwein
in Krystallflaschen auf der Tafel noch die gewohnte Glas-
garnitur vor meinem Platze; mein Sherryglas, stets frisch
gefüllt, blieb einstweilen einsam; später wurde die Leere etwas
durch silberne Tankards (Seidel mit Henkeln) ausgefüllt.
Dagegen prangte der Reichthum des Collegesilbers auf einem
hohen Büffet, welches in der Nische des grossen Erkerfensters
hinter dem Platze des Dean stand. Silberne Schüsseln und
Präsentirbretter, Spülgefässe, hohe Kannen und bauchige
Flaschen glänzten mir von dort entgegen. Alles von besonderer
Schwere und in alterthümlichen Formen; die Verzierungen, in
Masken und Festons mehr oder weniger an Motive der
Renaissance erinnernd.
Nachdem ich das flüssige indische Feuer glücklich ge-
löscht hatte, kam unter dem entfernten Suppenteller ein
Untersatz zum Vorschein, von derselben Grösse und etwa zwei
Fingerbreiten hoch, aus blankgeputztem Zinn. Ich berührte
ihn zufallig, zog aber rasch meine unvorsichtigen Finger zurück:
es war wiederum Feuer ! ' Der hohle Untersalz war mit
kochendem Wasser gefüllt, um jeden nachfolgenden Teller
schnell zu erwärmen. Auf der einen Seite dieses Wärmers
lagen mehrere kolossale silberne Gabeln, auf der anderen
mehrere Messer gleichen Wuchses in dem allgemein verbreiteten
Muschelmuster, das wir als »Queens Patern« kennen. —
Der weitere Verlauf des Menüs war nun folgender:
Fisch: Steinbutt, Makrele, Kabeljau — in Wasser gekocht
und von den nationalen riesigen ungesalzenen Wasserkartoffeln
begleitet. Einem jeden Gaste bleibt es überlassen, sich das
Dinner in Christ Church Hall, 285
Gericht mit Salz sowie mit Worcester- oder Anchovissauce zu
würzen.
Entr^es: Leber mit gerösteten Schnitten von Dörrfleisch,
Humraerpastetchen , Devilled Kiddneys (ein stark gepfeffertes
Nierenragout); dazu Schnittbohnen in "Wasser gekocht, zu
denen man Salz und frische Tafelbutter nach Belieben fügt,
und zur Auswahl Wirsingkohl, ebenfalls nur in Wasser gekocht
und allerdings etwas recht fade.
J o i n t s : Roastbeef mit Yorkshire Pudding, letzterer ein dicker
Pfannkuchen, der zugleich mit dem, am Spiesse, vor einem
verticalen Kohlenfeuer bratenden Fleische und unter demselben
gebacken wird, so dass die herabträufelnde Brühe den Pudding
durchtränkt; sehr empfehlenswerth. Daneben Lammbraten, der
„Sadle" (Ziemer) eines einjährigen Thieres, so gross, rosig und
fett, wie ich ihm nur in meinen heimathlichen Seemarschen
begegnet war. Hiezu eine „Tunke" von gehacktem Pfeffer-
münzkraut, eine nationale Lieblingsspeise, dem Fremden aber
doch wohl etwas officinell schmeckend.
Braten: Puter, junge Gänse, Hühner; dazu ein kräftiger
Selleriesalat.
Süsse Speise: kleine Törtchen, gefüllt mit den in England
ausserordentlich geschätzten schwarzen Johannisbeeren; Rhubarb
Pie, eine feste gebackene Kruste und in dieser ein Compotte
von jungen Rhabarberschösslingen, deren fein säuerlicher
Geschmack demjenigen gekochter unreifer Stachelbeeren
ähnelt. •
Rechtzeitig war bereits mit dem Fische jedem Gaste eine
Pinte „Bitter", eignes Gebräu des College, in einem schweren
silbernen Tankard vorgesetzt worden. Sobald ich meine etwas
ermatteten Lebensgeister hiedurch aufgefrischt hatte, wandte
ich mich dem Schauspiele vor und unter mir zu. Mein freund-
licher Gastgeber, der Senior Student, bemühete sich sofort
meinem Auge als Führer zu dienen.
„Ich sehe", begann er, „dass Sie das reiche zierliche
Sprengwerk bewundem, das die Hall deckt: es ist von altem
fast schwarzem irischen Eichenholze gemacht und stehet an
Kühnheit der Construction und an Kunst der Arbeit nur der West-
minster Hall nach. Jedoch sind die Dimensionen hier um ein
gutes Drittel kleiner; unsere Hall ist vierzig Meter lang, vier-
2 ob Ein Tag in Oxford*
zehn Meter breit und achtzehn Meter hoch. Die grossen ge-
stabten Fenster im oberen Theile der Wandmauem, an den
Langseiten und hier über uns, zeichnen sich durch ihr schönes
Masswerk aus. Die untere Hälfte der Wände ist getäfelt; an
dem Karnie?se, der die Täfelung oben «.bschliesst, sehen Sie
eine ausserordentlich schön und üppig geschnitzte Guirlande.
Darunter laufen Schilde ringsum, welche die verschiedenen
Wappen des Cardinais Wolsey und des Königs Heinrichs VIII.
vorführen. Wie Sie wohl schon wissen, waren Beide die
Stifter des College. Diese Hall ist 1529 vollendet, in demselben
Jahre, in dem Wolsey gestürzt wurde. Hier über uns haben
wir die beiden Portraits von Hans Holbein dem Jüngeren.
Noch viele andere Meister sind hier durch die einundsiebzig
Portraitbilder von Wohlthätern oder ausgezeichneten Mitgliedern
des College, welche die Hall ringsum zieren, glänzend vertreten :
Vandyk, Kneller, Sir Joshua Reynolds, Mengs, Hogarth, Sir
Thomas Lawrence und andere".
Mein Blick fiel auf das grosse farbenprächtige Erkerfenster
zu unserer Rechten über dem Silberbüffet.
„Das Fenster ist neu" erläuterte mein Wirth, „es ist vom
Subdean Clerke im Jahre 1867 gestiftet zu Ehren des Prinzen
von Wales und des Kronprinzen von Dänemark, die beide
als Mitglieder des College hier studirten. In der Mitte des
Fensters sehen »Sie die Federn des Prinzen von Wales mit dem
berühmten Motto »Ich dien«. Bekanntlich entstammen diese
Federn und dieses Motto dem Helm des blinden*Königs Johann
von Böhmen, der in der Schlacht von Crecy (134.6) erschlagen
wurde; sein Helm fiel als Beute dem »schwarzen Prinzen« zu".
„Heizen Sie im Winter diese mächtige Halle mit jenen
vier schwarzen Marmorcaminen ?" fragte ich bedenklich.
„Allerdings ist Feuer darin, aber mehr zur Decoration,
weil es freundlicher aussieht; die Heizung geschieht jetzt durch
heisses Wasser; die frühere Generation hatte sicherlich ent-
weder höhere Blutwärme oder — trug beim Dinner solide Pelze".
Ich überblickte mit Interesse das belebte Bild der vier
langen Tischreihen, besetzt mit eifrig schmausender Jugend.
„Sie müssen hier sehr zahlreich sein", fragte ich „nach der Menge
der Anwesenden zu schliessen".
„Ja", erwiderte der Seliior Student, „wir bilden hier beinahe
Dinner in Christ Church HalL 287
eine kleine Universität für uns. Das Capitel unserer Kathedrale
bestehet aus dem Dean mit sechzigtausend Mark, und sechs
Canons mit je dreissigtausend Mark Einkommen. Wir Senior
Students oder Fellows sind unser achtundzwanzig, jeder hat
etwa viertausend Mark jährlich; die Junior Students, eine Art
von Stipendiaten, sind zweiundfünfzig, sie erhalten etwa zwei-
tausend Mark. Ausserdem hat jeder eine geräumige Wohnung.
Unsere Tutors, zu denen ich ebenfalls gehöre, werden mit fünf
bis acht Tausend Mark honorirt, und die Lecturers, Privatlehrer
in Specialfach em, erhalten je nach Angebot und Nachfrage
dreitausend bis achtzehntausend Mark. Wir haben hier etwa
zweihundert und fünfzig Studenten, die Sie dort unten vor sich
sehen. Die jährliche Gesammteinnahme von Christ Church
College wird nicht viel unter zwei Millionen Mark geschätzt.
„Indessen", unterbrach mein Wirth sich selbst, „ich störe
Sie durch meine Statistik im Studium Ihrer »Devilled Kidneys".
Meine Zahlen sind trocken, diese Nieren gut gepfeffert. Beides
macht Durst. Ich möchte Ihnen deshalb einen anderen Trunk
empfehlen, der hier sehr beliebt und im ganzen Süden von
England ein Nationalgetränk ist".
Ich nahm unbesehens dankbar an und rasch stand vor
mir ein geräumiger, schwerer, silberner Humpen, gefüllt mit
einer weingelben klaren Flüssigkeit. „Es ist ein „Cider-Cup",
ermuthigte mich mein Wirth, „ein gewürzter Apfelwein; die
Würze besteht hauptsächlich in Borretsch".
Ich kostete das Getränk und es war kühl und flüssig,
übrigens allerdings etwas allzu „national" für eine moderne
Bordeaux- und Moselweinzunge. Indessen der interessante
altvaterische Typus des Trankes half bei redlichem Willen
über manches hinweg.
Zwischen dem Trinken betrachtete ich meinen Humpen.
Es war alte getriebene Arbeit, ein prächtiges solides Urväter-
stück: reiche Blumen, Festons und verschiedenartige originelle
Masken. Rundum lief ein Spruch der allen, die es angeht;
nachstehende weise Lehre ertheilt:
„Trink, lieber Herr, mit Massigkeit
Und nicht aus trunkner Gierigkeit ;
Schöpfst dann aus der Gesundheit Born,
Vermeidest Zungenstreit und Zorn".
28ö Ein Tag in Oxford,
Als ich die Reihe meiner Mitgäste entlang blickte, stand
vor jedem Platze ein ähnlicher schöner, alter Tankard.
„Ihr reiches College", bemerkte ich, „hat augenscheinlich
einen grossen Silberschatz",
,J.eider besitzen wir nur noch so viel als in den letzten
zweihundert Jahren angeschafft und geschenkt worden ist; denn
in den unglücklichen Kämpfen Karls I. gegen das Parlament,
in denen Oxford treu und standhaft zum Könige hielt, wurde
fast alles Silber der Colleges dem Könige zum Einschmelzen
dargebracht. Es waren etwa zwanzig Centner, von denen
Christ Church beinahe zwei lieferte. Der König liess daraus
die „Exsurgat"-Münzen schlagen, so benannt nach ihrer Umschrift:
„Exsurgat Deus, dissipentur inimici" (Möge Gott sich erheben
und seine Feinde zerstreuet werden.) Diese Münzen sind jetzt
sehr gesucht und theuer, wir tragen sie hier gern an den Uhren
wie man anderswo auf alte Georgithaler Jagd macht. Denn wir in
Oxford und namentlich wir hier in Christ Church waren von
jeher sehr conservativ und royalistisch gesinnt. Fast alle
unsere Monarchen liebten auch wieder Oxford, hoben und
beschützten es auf alle Weise, ehrten besonders Christ Church
und hielten sich gern bei uns auf. Die Good Queen Bess war,
zum Beispiel, so oft und so lange hier, dass die Ehrenausgabe
für ihre verschiedenen Besuche schliesslich für sämmtliche
Colleges zusammen auf etwa hundert und fünfzigtausend Mark
anschwoll. "Während sie hier in dieser Hall speiste, wurde ihr
eine eigenthümliche Tafelmusik gemacht: verschiedene Studenten
hielten eine Art von Turnier vor ihr ab, nämlich theologische
Disputationen, in denen selbstverständlich die orthodoxe Ansicht
der englischen Kirche obsiegte".
„Im Jahre 1621 wurde Jakob I. hier königlich bewirthet
Ein Senior Student, Barton Holliday, hatte dafür ein Festspiel
geschrieben: „Technogamia" oder „die Vermählung der Künste".
„War nun das Stück zu gelehrt", so berichtet der wahrhafte
Chronist des College „oder waren die Schauspieler bereits zu
betrunken, genug: Se. Majestät wünschte mehrere Male sich
zurückzuziehen und blieb nur auf dringendes Bitten bis zum
Schlüsse, um die „Students" nicht zu entmuthigen. Uebrigens", fahrt
die Chronik fort, „erkannte man allgemein an, dass weder Pointe
noch Schneide, weder Sinn (ausgenommen Unsinn) noch sonst etwas
Dinner in Christ Church I/aii. 289
in dem Stücke sei". Am Schlüsse dieser bündigen Kritik
steht folgendes hübsche Epigramm:
„In Christ Church gab man vor dem Kön^g: „Die Vermählung".
Im Wunsch, die Spieler nach Verdienst belohnt zu sehn,
Wollt' Majestät geruhn — so lautet die Erzählung —
Zweimal, dreimal sogar — schleunigst hinaus zu gehn".
„Ein grosser Ehrentag**, fuhr mein liebenswürdiger Wirth
fort
Ompteda, L. v. Bilder. 10
VIII.
Common Room und Kathedrale.
„hLin grosser Ehrentag", fuhr mein liebenswürdiger Wirth
fort
„Verzeihen Sie", unterbrach ich, auf einen der uns zunächst
stehenden unteren Tische weisend, „aber dort geht, wie mir
scheint, etwas Ausserordentliches vor. Jene jungen Herren
sind besonders heiter, sie lachen viel und trinken mit unge-
wöhnlichem Eifer aus einem ungewöhnlich grossen Humpen, der
Reih* um geht".
„Es wird dort wohl jemand gestraft „sconced" sein", erklärte
mein Wirth. ,Jeder Tisch hat seinen President, der die Tisch-
regeln handhabt und auf Anstand hält. Zu diesen gehört
namentlich, dass kein „shop" geredet werden darf Hiezu
rechnet man alle professionellen Gespräche, also hier auch
lateinische und griechische Citate, ferner pointelose, sogenannte
faule Witze und das, was Sie „Kalauer" nennen. Wer nun des
„Shop talking" überwiesen ist, wird 2um „Cup" verurtheilt.
Das ist, wie Sie sehen, ein grosser Humpen, ein oder mehrere
Male gefüllt mit mehreren Litern Bier. Dem Sünder wird dieses
Trankopfer auf die Rechnung gesetzt, dafür darf er aber auch
zuerst aus dem Cup trinken. Natürlich sucht er einen möglichst
tiefen Zug zu thun, um seinen Schaden, soweit thunlich, wieder
einzubringen. Das möchten nun die anderen verhindern und
daher der fröhliche Lärm". —
„Nun also", lenkte der Senior Student ^vieder in sein Thema
ein, „der grosse Ehrentag, von dem ich soeben erzählen w^oUte,
fand am 14. Juni 18 14 statt. Damals speisten hier in der Hall
neunhundert Personen; hier an der auserwählten High table auf
Common Room. und Kathedrale, 2D1
unseren Stühlen sassen: der Prinz Regent, der Kaiser von
Russland, der König von Preussen; Fürst Mettemich, Blücher
und Wellington. Der alte Blücher, dessen Gesundheit getrunken
wurde, hielt einen „speech" in seinem originellen Deutsch mit
seiner mächtigen volltönenden Stimme, der Prinz Regent selbst
übersetzte sofort die Rede. Abends war auf deii Meadows ein
prachtvolles Feuerwerk vorbereitet, das aber leider, wie so
manches hier zu Lande, vollständig verregnete. Die vor-
genannten allerhöchsten und berühmten Personen wurden
dann sämmtlich zu Doctoren der Rechte, D. C. L. ernannt". —
In diesem Augenblicke gebot, nachdem die riesigen Käse
die Runde gemacht hatten, der schwere Hammer des Deans
wiederum Stille; der Bible Clerk trat an das Betpult und
sprach das Gx;acias, welches abermals begann mit „Benedicto
"benedicamur". — Die Tische lichteten sich rasch, nur das Bier-
gericht über den armen Shopsprecher sass noch mit Einziehung
der Strafe beschäftigt. Auch die Genossen der High Table
zogen in geschlossenen Reihen davon, ohne weitere Abschieds-
förmlichkeiten.
Ich blickte fragend auf Freund D.
„Es ist hier Sitte", erklärte er, mir zu Hilfe kommend,
„das Dessert in einem anderen Raum einzunehmen, dem Common
Room, wo die Fellows und sonstigen Würdenträger ganz unter
sich sind. Kein Undergraduate darf in dieses geheiligte Gemach
eindringen".
Wir folgten der Tischgesellschaft und betraten einen
grossen Raum mit kassettirter Holzdecke, an den Wänden Ge-
täfel und über ihm dunkelgrüne Ledertapeten. An der einen
Langseite ein manneshoher altenglischer Marmorkamin, Einige
lebensgrosse ältere Portraitbild er hoch würdiger geistlicher Herren
in schwarzen schweren Holzrahmen unterbrachen die weiten
Wandflächen. Das Ideal eines comfortablen Clubzimmers.
In der Mitte des hohen saalartigen Raumes stand ein
mächtiger alter Esstisch von spiegelblankem fast schwarzen
Mahagoniholze, ringsum geräumige Armstühle. Auf ein Zeichen
des Präsidenten Hessen sich alle nieder. Der Tisch selbst war
mit hohen silbernen Dessertschalen besetzt, darin trockene
Früchte, Kuchen und vor allem verzuckerte Ingwerknollen.
Ein würdevoller Buttler (Haushofmeister) stellte vor jeden
19*
292 Ein Tag in Oxford,
Gast drei tüchtige Weingläser. Vor dem Präsidenten erschien
auf der Tafel ein geräumiger solid gebauter silberner Last-
wagen, der drei weitbäuchige geschlossene Krystallflaschen mit
silbernen Beschlägen und Deckeln trug. Ein jeder dieser drei
„Decanters" führt an silberner Kette ein Brustschild, wie ehe-
mals die baierischen Offiziere. Auch hier sind die Zierrathe
zugleich Standesabzeichen, denn wir lesen darauf: Sherry Port
Ciaret. Da ich zufällig rechts neben dem Präsidenten sass, so
schob er, der Sitte gemäss, den Wagen ein wenig zu mir
herüber, um mir den Vorzug der ersten Wahl zu geben. Dann
rollte das Fuhrwerk, wieder und wieder, nach links unablässig
rings um die Tafel. Jeder Gast hat dabei die Freiheit, sich
einzuschenken und die Pflicht „to pass the bottle", die Flaschen
ohne Zeitverlust dem Nachbar zuzuschieben. Die allgemeine
ruhige Unterhaltung rund um den Tisch begann sich zu ent-
wickeln und gruppirte sich nach und nach um gewisse aner-
kannte und beliebte Führer. Bald erschien auch vor meinem
Nachbar auf einem wahrhaft riesigen massiven silbernen Brette
ein Kaffeegeschirr, dessen kunstvoll getriebene Kannen und
Zuckerschalen den Dimensionen des Zimmers entsprachen.
Nachdem ich wiederum den Vorrang genossen, glitt auch diese
gewichtige Masse auf ihren niedrigen RoUfiissen geräusch-
los nach links um den Tisch. Ihr folgte ein ähnliches Brett
mit Cognac und Likören, die aus kleinen silbernen Becherchen,
etwa vom sechsfachen Inhalte eines Fingerhutes, geschlürft
werden.
Freund D. erläuterte mir die originellen Umgebungen
und Sitten. Zum Schlüsse sagte er, auf den würdevollen
Haushofmeister zeigend:
„Jetzt vollzieht sich dieser gemeinsame Trunk beim After-
dinner nur mehr oberflächlich und zur Belebung der Gesellig-
keit. Ehedem aber gab es hier bessere Männer; da war
Trinken ein ernster Selbstzweck. Damals wurde zum Buttler
nur ein besonders starker zuverlässiger Mann erwählt mit
breiten Schultern, um — wenn nöthig — am Schlüsse der
Sitzung die würdigen Fellows in ihre respectiven Schlaf-
gemächer zu befördern. Doch die Zeiten solcher tüchtiger
männlicher Leistungen sind längst entschwunden!"
Common Room und Kathedrale, 2Jö
„Aus jenen Zeiten", erwiderte ich, „kenne ich eine Schilde-
rung* des oxforder Lebens und Treibens, die Sie vermuthlich
interessiren wird. Ein- deutscher Geistlicher, Namens Moritz, ein
origineller Kauz, bereiste vor gerade hundert Jahren England
zu Fusse und schilderte seine Erlebnisse in Briefen an einen
Amtsbruder. Eines Abends, schon gegen Mitternacht, kehrte
er hier in Oxford im altberühmten Gasthaus zur Mitra ein. Er
fand dort eine zahlreiche Gesellschaft von »Priestern mit ihren
Mänteln und Kragen um einen grossen Tisch, jeder seinen
Bierkrug vor sich«. Sein Reisegefährte,* Mr. Modd M. A. und
Fellow von Corpus Christi College, führte ihn ein. Es entspann
sich unter den Herrn Confratres eine halb ernste, halb launige
theologische Disputation, namentlich wurden biblische Räthsel
aufgegeben, »Bierräthsel« wie unsere jetzigen Studenten sagen
würden. Moritz, der gut lateinisch und englisch sprach, be-
theiligte sich mit Erfolg an deren Lösung. Er fand Beifall
und es wurden ihm »viele Gesundheiten in dem starken Ale
zugetrunken«. Als es nun gegen Morgen kam, sprang Mh Modd —
er war zugleich Pfarrer für einige Nachbardörfer, und hielt in
seinem College Vorlesungen über classische Autoren — plötz-
lich auf mit dem Ausrufe: »D — me I must read Prayers in All
Souls!« und eilt spornstreichs davon. Die Uebrigen verloren
sich dann auch und mein Landsmann ging »etwas aufgeräumt«
zu Bette. Am andern Tage konnte der Arme wegen eines
fürchterlichen Katzenjammers von dem gestrigen starken Zu-
trinken der ehrwürdigen Herren nicht aufstehen und hat seinen
Tag in Oxford jedenfalls viel schlechter benutzt als ich den
heutigen. Das waren die guten, alten Zeiten". —
Nach einer Pause gemeinschaftlichen stummen Bedauerns
über die Entartung der jetzigen Generation bemerkte ich, um
den Freund zu weiteren Mittheilungen anzuregen:
„Was ich jetzt in den letzten Stunden wiederum gesehen
habe, bestätigt mir so recht lebhaft das Wort König Friedrich
Wilhelm IV., als er in Oxford war: »Hier ist Alles alt und
Alles neu".
„Ich glaube wohl", erwiderte D., „dass ein solches Dinner
in einer unserer grossen Halls jedem Fremden seltsam er-
scheinen muss, zumal sehr wenige Ausländer Gelegenheit
haben, daran Theil zu nehmen. Es ist so grundverschieden
294 Ein Tag in Oxford,
von aller modernen Eleganz und Verfeinerung; gar keine ge-
künstelte französische Leckerei!"
Das letztere konnte ich allerdings -mit gutem Gewissen
bestätigen. —
„Die echte alte englische Küche und Sitte. Und wir setzen
einen ganz besonderen pädagogischen Werth in unsere alten
Formen, in unsere feste, von Geschlecht zu Geschlecht über-
lieferte Bildungsweise, die, trotz aller zweckmässigen Reformen
in Einzelheiten, doch in ihrem Wesen seit Jahrhunderten unver-
ändert blieb".
„Wie beständig", fuhr er fort, „wir hier in den Formen
unseres Lebens sind, dafür finden Sie einen schlagenden Beweis
in den Papieren eines Deutschen, Paul Heutzner, der im
Jahre 1598 England bereiste. »Die Studenten (im weiteren
Sinne) zu Oxford«, schreibt er, »führen eigentlich ein mönchisches
Leben: sie beten und studiren. Sie speisen an drei Tafeln.
Zur ersten gehören: Grafen, Barone, Doctoren und Magister;
sie ist reicher bestellt als die anderen. An der zweiten Tafel
essen: Bachelors, Gentlemen (Commoners) und vornehme
Bürgerliche; an der dritten diejenigen von niederer Stellung.
Während dem Essen liest einer der Studenten laut die Bibel
an einem Pulte in der Mitte der grossen Hall. Nach dem
Gracias kann jeder in sein Zimmer oder in den, überall vor-
handenen, prächtigen Garten gehen. Ihre Kleidung ist fast
wie die der Jesuiten, Talare bis an die Knöchel, zuweilen mit
Pelz verbrämt. Sie tragen viereckige Kappen. Die Doctoren
und Professoren haben verschiedene Auszeichnungen an ihrem
Gown. Jedes ältere Collegemitglied führt einen Schlüssel zur
Bibliothek, denn kein College ist ohne eine solche".
„Wollten Sie einmal", fügte der Freund, hinzu, „wollten
Sie Ihren »Tag in Oxford« ebenfalls schildern, so würden
Ihre Mitheilungen wohl kaum wesentlich von den jetzt drei-
hundertjährigen Ihres Landsmanns abweichen". —
Der Tutor von St Mary Hall nahm jetzt sein pädagogisches
Thema wieder auf: „Unsere hiesige Jugend wächst schon im
elterlichen Hause unter dem Segen einer festen Gewöhnung
auf und bringt dadurch etwas mit, was vielleicht dem grösseren
Theile Ihrer deutschen Studenten zu wünschen wäre: anerzogene
Common Room. und Kathedrale, 2Jö
religiöse, sittliche und politische Ueberzeugungen sowie Respect
vor dem Bestehenden".
„Leider", musste ich bestätigen, „lässt dieser Punkt bei uns
sehr zu wünschen übrig. Ein gesinnungstüchtiger deutscher
Liberaler würde einen solchen ererbten Conservatismus ziem-
lich geringschätzig betrachten und ihn »anerzogene Vorurtheile«
nennen". — „Hier in Oxford", fuhr D. fort, „wird dann
jeder Geist in die bestehenden festen historischen Formen
gemodelt Die Hindernisse auf der akademischen Laufbahn
sind rationell für durchschnittliche Fähigkeiten bemessen;
Niemand sucht eigene Wege, so zählen wir bei uns auch keine
Irrenden und Verlorenen, wenigstens nicht durch die
Wissenschaft, höchstens durch das Nichtsthun. Selbstverständ-
lich haben wir mit Leichtsinn, mit Uebermuth, ja! mit uner-
zogener Rohheit zu kämpfen, vielleicht nicht weniger als die
deutschen Universitäten. Um so grösseren Werth legen wir
gerade deshalb auf unsere alten feststehenden Formen, die eine
tägliche Unterordnung unter die erziehende Autorität fordern;
Erwerb umfassender Kenntnisse ist erst unsere zweite Aufgabe,
auf Ausbildung unserer Studenten zu Gelehrten verzichten wir
vollständig. Ich sagte Ihnen ja bereits: wir halten nun einmal
den Baum der Erkenntniss nicht für den Baum des Lebens'*.
„Ich bin hierher gekommen, um zu hören, nicht um Sie zu
berichtigen", versetzte ich, indem ich den wieder vorüber
rollenden silbernen Wagen dieses Mal ohne jeden Aufenthalt
weiter schob, „daher denke ich nicht daran, Ihnen mit den
Ansichten unserer deutschen Autoritäten über die verschiedenen
Bildungssysteme zur Last zu fallen. Wir haben nun einmal
eine von der Ihrigen verschiedene nationale Grundanschauung
über das Wissen und Lernen, und diese findet sich vielleicht
am idealsten in Lessings bekanntem Satze ausgedrückt: dass
wenn ihm die Wahl zwischen dem sicheren Besitze der Wahr-
heit und dem unausgesetzten Triebe nach deren Erforschung
gelassen würde, er den letzteren wählen würde. — Vergessen
Sie nicht, wie lange und wie weit die stürmischen Wellen der
französischen Revolution über unsere Grenze hingeschlagen ,
sind, dass Deutschland niemals eine meerumgürtete Insel war
und dass es gar so sehr „mitten in der Welt" liegt".
296 Ein Tag in Oxford.
„Brechen wir also ab", stimmte der Freund ein, „lassen
Sie mich nur noch gegen Lessing eine andere deutsche
Autorität anführen. In Göttingen studirte ich den alten
Lichtenberg, dessen Schriften mich wegen seines Commentars
zu Hogarths Bildern anzogen. Darin fand ich, unter vielen
anderen witzigen und auch klugen Sachen, eine Bemerkung, die
sich mir fest in das Gedächtniss eingeprägt hat, Lichtenberg
beklagt einmal, dass der junge Student vermöge der univer-
sitätischen wissenschaftlichen Freiheit und Vielseitigkeit zu
rasch aus einem Schüler ein Kritiker und Richter seines
Lehrers werde und drückt das in seiner spitzigen Weise so
aus: dass auf diese Art die meisten Jungen eher lernten die
Nase zu rümpfen als sie ordentlich zu schnauzen".
Ich musste lachen, bemerkte aber doch: „Lichtenberg war
zw^ar ein deutscher Professor, aber etwas ein Clericus irregularis,
im Grunde ein geistreicher Schalk. — Sieht man jedoch die
Reihe der seit Jahrhunderten von hier ausgegangenen
bedeutenden Männer an, so darf man wohl sagen: alles, was
die Colleges von Oxford etwa nicht leisten, wiegen sie reich-
lich auf durch das, was sie für Englands nationale Grösse gethan
haben und noch thun. — Jetzt aber müssen wir hier aufbrechen,
denn bald beginnt es zu dämmern und ich habe die Kathedrale
von Christ Church noch nicht gesehen".
Ich dankte meinem gastfreien Senior Student, dann nahmen
wir von der heiter bewegten Gesellschaft in aller Stille
französischen Abschied.
Während wir unsere Schritte beflügelten, um noch das
Licht der untergehenden Sonne in den 'Wölbungen der Kirche
anzutreffen, sagte mein Führer:
„Unsere Kathedrale rühmt sich eine der ältesten in
England zu sein. Sie stammt, so wie sie jetzt dasteht, noch
aus der Uebergangsperiode des romanischen — wir nennen
seine hiesige Abart; normannischen — zum frühen gothischen
Baustile.
Hier gründeten um das Jahr 740 ein sächsischer Vicekönig
von Oxford, Didan, und seine Frau Saxfrida ein Kloster mit
Kirche für ihre Tochter, die heilige Frideswide. Im Jahre 11 80
wurde die jetzige Kathedrale geweihet. Bis 1520 blieb das
Gebäude in seinem ursprünglichen Zustande wohl erhalten.
4
Common Room und Kathedrale. 297
dann wurde es leider vom Cardinal Wolsey zur Ausführung
seiner grossartigen Pläne, bös verstümmelt. Sir Gilbert Scott
hat nun in allerneuester Zeit die Kirche wieder restaurirt, für
etwa eine halbe Million Mark. Es ist eine dreischiffige Kreuz-
kirche und der Thurm, der älteste in England, sitzt auf der
Vierung",
Wir standen im Langhause des Mittelschiffes, vor uns der
hohe Chor. Die Gewölbdecke über ihm ist mit erhabenem
Stern- und Netzwerk so reich und ungewöhnlich geschmückt,
dass man sagen möchte: hier ist die Holzdecke in Stein nach-
geahmt.
Die Säulen und Rundbögen des alten normannischen Baues
sind wohl erhalten. In den Zwickeln zwischen diesen Bögen
steigen sogenannte Dienste (Rundstäbe) auf, über denen dann
kräftige gegliederte Gewölbgurten ansetzen. Vor diesen An-
sätzen senkt es sich wieder consolenartig und steigt dann
ebenfalls in bunten Gurten empor, die sich in der Mitte des
Raumes zu reichen sternförmigen Mustern vereinigen.
Sämmtliche Fenster haben prächtige Glasmalereien; die
Sitze des Deans und der Canons sind mit reichem Schnitzwerke
in altem Nussholze an den Rückenlehnen und den überragenden
Baldachinen ausgestattet; bewundernswerth kunstvolle Eisen-
gitter bilden die Abschlüsse des hohen Chors.
Die herrliche Orgel über uns ertönte und leitete den
Abendgottesdienst ein, wir begannen daher uns bescheiden bei
Seite zu ziehen.
„Treten wir hier in St. Frideswide's Chapel", schlug mein
Führer vor; „sie ist augenscheinlich der allerälteste Theil der
Kirche".
„Diese arme Heilige", fuhr er fort, „wenn überhaupt eine
Heilige »arm« genannt werden darf — verdiente sich ihre Glorie
vor allem durch Unruhe: Unruhe im Leben, Unruhe im Tode.
Der König Algar von Mercia begehrte sie zur Ehe, sie aber,
im Vorgefühle ihres höheren Berufes, schlug den Freier aus.
Hier die Glasmalereien zeigen uns, wie hartnäckig sie vor ihm
floh und wie zudringlich er sie mit seinen Werbungen verfolgte.
Im Augenblicke der höchsten Noth thut, hier oben rechts,
die Vorsehung ein Einsehen und blendet den Bösewicht durch
einen Blitzstrahl".
298 Ein Tag in Oxford.
„Aber worin bestand denn sein Verbrechen?" fragte ich
verwundert.
„Vermuthiich im indiscreten Ungestüme seiner Bewerbungfen**
meinte der Reverend, „denn seine Absichten waren ja durchaus —
wie man zu sagen pflegt — ehrenhafte".
„Darin ist keine poetische Gerechtigkeit", beharrte ich
pedantisch, „denn die demnächstige Aufnahme seiner Erwählten
in die höchste himmlische Hofordnung konnte der arme Halgar
doch unmöglich vorhersehen".
„Ganz unmöglich", stimmte Freund D. zuversichtlich ein;
„indessen die Unruhe der armen Heiligen, die dann in reiferen
Jahren hier als Aebtissin waltete und starb, war noch lange
nicht zu Ende, nachdem sie zuerst in der Krypta, hier unter
uns, später (1180) in diesem grossartigen gothischen Grabmale,
hier vor uns, beigesetzt war. Sie wurde im Wechsel der Zeiten
noch verschiedene Male ausgegraben und umgebettet
„Zunächst unter Eduard VI. Damals brach eine engherzige,
wahrhaft kindische Verfolgung und Vernichtung aller katholischen
Symbolik aus. Namentlich wüthete eine unsinnige Idiosyn-
krasie gegen die bunten Kirchenfenster sowie gegen die
Miniaturen und Initialen der alten Evangelienbücher und Hand-
schriften; die rothe Farbe galt als ganz besonders abergläubisch;
fast Alles wurde hier zerstört. Auch die heilige Frideswide
wurde damals aus ihrer sauer verdienten Ruhe gerissen und
im Garten, hier neben der Kirche, vergfraben. Die fromme
Ehegattin des gelehrten italienischen Doctors der Theologie
Peter Martyre, des ersten verheiratheten protestantischen Canons
von Christ Church, der dafür von den Anhängern der alten
Ordnung schwere Unbill zu erleiden hatte, erhielt an Stelle der
Heiligen diesen Ehrenplatz.
„Unter der katholischen Maria änderte sich die AuflFassung
wieder und natürlich wurde auch die Situation hier schleunigst
umgedreht St. Frideswide zog wieder ein und ^Irs. Martyre,
die Frau des nachträglich wieder ketzerisch gewordenen Canons,
wanderte in den Garten.
„Unter Elisabeth gelangte man endlich zu einem
Compromisse, dem regelmässigen praktischen Austrage jedes
grossen politischen und religiösen Principienstreites. Denn nun
kamen beide, St. Frideswide und Mrs. Martyre hier in dieses
Common Room und KathedraU, 2uJ
geräumige Grabmal, wo sie noch heute einträchtig schlafen. —
Lesen Sie einmal die Inschrift auf dieser Messingtafel: „Hier
ruhen vereint Glaube und Aberglaube". Das kann nun jeder
Leser beziehen, wie es ihm recht dünkt".
„Wie sagt doch Goethe", musste ich wieder citiren:
„Wie Einer ist, so ist sein Gott;
Darum ward Gott so oft zum Spott!"
Während v^r uns dem Ausgange der Kirche näherten,
verstummte die Orgel und es erhob sich vom hohen Chor ein
prächtiger mehrstimmiger acapella-Gesang, ein alter angli-
kanischer »Chant«, ausgeführt von jugendlichen Sängern in
weissen Chorhemden. Die meisterhafte Leistung der klangvollen
frischen Stimmen rief in der ehrwürdigen, jetzt fast verdunkelten
Kirche eine ergreifende Wirkung hervor und hob die inzwischen
versammelte Gemeinde in reiner Andacht hoch über die
thörichten Streitfragen empor, welche einstens den Grabstein
der ruhelosen St. Frideswide umtobt hatten.
Wir durchkreuzten jetzt wiederum den schönen Tom
Quadrangle und nahmen unseren Rückweg nach St Paul's
Vicarage quer durch die Stadt Als wir den Hof der Bodleion
Library durchschritten, sagte mein Führer:
„Diese berühmte Bibliothek und die Kunstsammlung bleibt
Ihnen also einstweilen vorbehalten. Aber eines muss ich
Ihnen doch erzählen, .was sich hier ereignet hat, da ich weiss,
wie hoch Sie die Franzosen und namentlich den Humbug der
franzosischen Revolutionshelden verehren. Nämlich der
berüchtigte Marat, der grosse »Ami du peuple« lebte in
jüngeren Jahren als französischer Sprachlehrer hier in Oxford.
Bei guter Gelegenheit stahl er, es war am 5. Februar 1776,
aus der Bodleian Library eine Reihe kostbarer Münzen und
Medaillen zum Werthe von 4000 Mark. Er entfloh damit nach
Dublin, wurde jedoch erwischt, hierher zurückgebracl\.t und zu
fünf Jahren Zuchthaus verurtheilt Mit einigen anderen Spitz-
buben machte er einen verzweifelten Versuch, hier aus dem
alten Castell auszubrechen, musste jedoch seine Strafe in den
schwimmenden Gefängnissen von London absitzen. Vermuthlich
trug die dortige hohe Schule nicht unerheblich zur Entwickelung
der Bestie in ihm bei. Dann zog er unter dem alias eines
deutschen Grafen in Schottland umher und beschwindelte die
300 Ein Tag in Oxford,
Leute. Im Jahre 1787 verliess er England, in Frankreich
wurde er der grosse Volksmann und Dictator während der
Schreckenszeit, bis ihn endlich die strafende Gerechtigkeit in
der Gestalt von Charlotte Corday erreichte".
Wir gingen jetzt wieder das stattliche Gitter entlang, von
dem die Hermen der Weisen und Caesaren als strenge Wächter
des Heiligthums herabblickten.
„Heute habe ich mehrere Male die^»Commemoration«
erwähnen gehört", bemerkte ich fragend, „das Fest, welches
hier im Sheldonian Theater in einigen Wochen gefeiert wdrd.
Der Name klingt wie eine Erinnerungsfeier?"
„Ganz richtig", erwiderte Freund D. „Diese Feier umfasst
sogar eine volle Festwoche und schliesst unser akademisches
Jahr. Der officielle Name ist „Commemoration of Founders*',
ein Erinnerungsfest für alle Stifter der Universität. Aber dieses
Erinnerungsfest hat nach und nach eine viel weitere und tiefere
Bedeutung erhalten. Für diese Woche füllt sich Oxford mit
Fremden, von denen die Mehrzahl langjährige Freunde sind.
Alte Studenten, die sich durch fröhliche Jugenderinnerungen
erfrischen wollen, kommen mit Frauen und Töchtern. Frühere
Fellows und andere graduirte Männer in den verschiedensten
Lebensstellungen erscheinen mit unverminderter Dankbarkeit
gegen die Alma Mater regelmässig wieder. Eltern und Ge-
schwister wollen mit dem Sohne und Bruder die Ertheilung des
wohlverdienten Grades von B. A. feiern".
„Nun kleidet sich die alte Stadt in ein heiteres Festgewand.
Vortreffliche Lunches in den Collegewohnungen der Brüder und
Vettern setzen schon Morgens die junge Welt in eine gehobene
erwartungsvolle Stimmung; dann werden die schattigen Gärten im
fröhlichen hellen Haufen — oder auch, von einzelnen weicher
gestimmten Pärchen absichtlicher Nachzügler, nur zu Zweien- —
durchstreift und bewundert. In der Townhall ist ein nationales
Massenconcert; am Sonntage strömt alles nach St. Mary, um eine
der berühmten Bamptonpredigten zu hören. Ein Rev. Bampton
stiftete vor etwa hundert Jahren diese sechs Predigten über die
wichtigsten Sätze der christlichen Lehre; der Lecturer, welcher
mindestens ein Magister Artium und jedenfalls ein hervorragen-
der Redner sein muss, wird dafür mit sechstausend Mark honorirt.
Am Abend dieses „Show Sunday" strömt, wie heute Nachmittag,
9
Common Room und Kathedrale, oOl
alles in den Broad Walk von Christ Church; jedoch ist die
Scene viel heiterer, als wir sie heute erlebten, da alsdann der
gelehrte dunkle Gown völlig gegen die frischen blonden und die
feinen brünetten Gesichtchen in Weiss, Blau und Rosa zurücktritt.
Montags fahrt man nach Woodstock und Blenheim, wo es
unter alten Eichen ein Picknick mit Pasteten, kaltem Champagner
und rührender Romantik giebt. Liebhaber klassischer Bildung
erheben sich an der gelungenen Aufführung eines griechischen
Trauerspiels: Agamemnon oder Oedipus auf Kolonos, in einem
strebsamen College. Abends ist in einer der schönen Kollege Halls
ein grosser Ball, dazwischen Blumenausstellungen und Concerte.
So kommt der grosse Tag heran. Das weite Parterre des
Theaters füllt sich mit „Dons" (Professoren und Graduirten),
heute in prächtigen und heiteren Gowns von bunter Seide. Die
obere Gallerie ist bereits von Damen und Studenten dicht
besetzt. Die grosse Orgel, welche die Bühne dieses
phantastischen Theaters einnimmt, erweckt zunächst durch
ihre mächtigen Klänge eine weihevolle Stimmung. Inzwischen
eröffnen die Undergraduates die Feier in ihrer Weise. Denn
für diese Jugend geht heute, nach uraltem Herkommen, ein
Tag auf, an dem sie ihrer fveiesten Kritik und ihrem fessel-
losen Uebermuthe die Zügel schiessen lassen darf. Personen
und Reden werden, je nach dem politischen und religiösen Stand-
punkte und nach der akademischen Beliebtheit, mit Cheers und
Klatschen oder mit Groans (Grunzen), Heulen und Stampfen
begrüsst.
Ein anerkannter Wortführer ruft: „The Queen!" — unend-
liches Hurrah; ebenso erfolgt herzhafte Anerkennung für
Lord Beaconsfield und für den Kanzler Lord Salisbury; denn
wir sind hier sehr conservativ; nicht minder werden beliebte
Professoren und Fellows mit betäubender Sympathie empfangen.
Dann aber folgen: „drei Grunzer für den Senior Proctor"
(Universitäts-Polizeidirector) und seine »Pro-Proctors«I welche
allerdings sofort gemildert werden durch: „drei Cheers für die
junge Dame neben dem Proctor!" Hierauf werden gefeiert
„die drei jungen Damen in Weiss, die soeben eintraten!" und
endlich: „alle Schwestern, Cousinen und Tanten". Selbst ein
heute zu promovirender Ehrendoctor, der den Herren
Studenten nicht gefallt, hat keine Schonung zu erwarten, sondern
Ö02 £in Tag in Oxford,
drei g^ndliche Grunzer. Nachdem die National-Hymne gesungfen
ist, eröffnet nun auch der Vicekanzler die Feier auf seine
Weise. Er proclamirt die heute zu ernennenden Ehrendoctoren
der Rechte, die D. C. L. Diese werden jetzt, umwallt von
prächtigen rothen Talaren, unter Ausrufung ihrer Namen in
den Saal geführt, jeder wird vom »Regius Professor of Civil
Law« mit einer eleganten lateinischen Lobrede apostrophirt,
dann werden sie feierlich auf ihre Ehrenplätze geleitet.
Alles unter der fortlaufenden Kritik der Gallerie. Zu-
weilen werden von dieser riesige Illustrationen zu jenen Lob-
reden herabgelassen, die jedoch immer nur kurze Zeit erheiternd
wirken können, da die Pro-Proctors sofort auf diese Kunstwerke
Jagd machen und sie entführen. Endlich redet der „Public
Orator** der Universität von einer Art von Kanzel aus eine,
meistens höchst interessante Rede, es werden gekrönte Preis-
arbeiten in lateinischer Prosa und englischen Versen von den
Verfassern selbst verlesen und mit einem brausenden Orgel-
marsche schliesst das Fest, welchem die Studenten in der ernsten
Stimmung zwischen zwei Monaten Summerterm — verbracht in
Sport, athletischen Uebungen und „Bummeln" — und den
unmittelbar folgenden vier Monaten grosser Ferien beiwohnen.
„Die Mitglieder der königlichen Familie sind häufig bei
der Commemoration anwesend; so im Jahre 1856 der Prinz
Albert mit dem Prinzen Friedrich Wilhelm von Preussen, jetzt
Ihrem deutschen Kronprinzen. Der hohe junge Herr, der
bereits seine Studien in Bonn vollendet hatte, wurde damals,
mit dem Grossherzoge von Baden, zum Ehrendoctor der Rechte
ernannt. Auch Ihres berühmten alten Marschalls Vorwärts
wollen wir gedenken, der hier im rothen Talare des Dr. jur.
erschien und die dankbare Erwartung aussprach: „wenn ich
Doctor werden soll, so muss Gneisenau doch mindestens zum
Apotheker ernannt werden".
„An derselben Stelle wurde auch Ihr ehrwürdiger Lands-
mann Döllinger, nach seiner Excommunication im Jahre 1871, zum
Ehrendoctor promovirt, — jedoch nicht ohne einige hochkirch-
liche Opposition von sechszehn gegen fünfundsechzig Stimmen".
„Doch hier**, unterbrach sich Freund D. selber, indem er
das Gartenthor öffnete, ist unsere Vicarage von St Paul".
IX.
Eine oxforder Studentenkneipe.
In der Vicarage erwartete die liebehswürdige Hausfrau
uns schon beim Thee und bald fand sich auch der Hausherr
ein, nachdem sein Abendgottesdienst beendet war. Ich musste
berichten, was ich erlebt hatte; unwillkürlich rückte ich alsbald
wieder mit allerlei Fragen und Bitten um Erläuterung heraus.
„Es geht Ihnen wie jedem Fremden", bemerkte mein Gast-
freund lächelnd, „Sie können sich doch nicht recht hineinfinden,
dass wir hier für den stets wechselnden jungen Wein stets
wieder die uralten Schläuche benutzen und sogar vorziehen.
Ich weiss wohl, wir erscheinen dadurch immer noch etwas als
protestantische Mönchsklöster. Der Student, welcher heute das
Tischgebet in Christ Church Hall las, heisst „Bible Clerk" und
„Clerks" Clerici hiessen im Anfange unserer Zeiten alle
Studenten. Die urkundliche Geschichte der Universität beginnt
im Jahre .1214 damit, dass die Stadt ein schweres Wehrgeld
von 52 Schillingen zahlen musste, weil sie einige Clerks auf-
zuhängen sich unterfangen hatte, »propter suspendium clericorum«.
Der päpstliche Legat, damals unter dem traurigen Schatten-
könige Johann ohne Land des Papstes Vicekönig in England,
hatte die Blutstrafe auferlegt. Aber auch bei diesen alten
Clerikem verläugnete sich unser Nationalcharakter nicht; sie
waren zuerst Engländer und Liberale, hernach erst Katholiken.
Denn zwanzig Jahre später geriethen sie selbst mit dem
Legaten in Händel und erschossen sogar seinen Leibkoch; —
wie ich annehme, war ihr Widerstand durchaus gerecht-
fertigt, denn der Koch hatte ihnen zuvor kochende Fleisch-
brühe auf die Köpfe gegossen".
304 Ein Tag in Oxford,
„Das nenne ich thatsächlichen Protestantismus", bemerkte
ich anerkennend, „auf solchem Boden musste John Wycliff
gedeihen".
„Auch unsere jungen Füchse", fuhr Mr. L. fort, „sind
meistens sehr verwundert über all die seltsamen Verpflichtungen,
die sie bei der Immatriculation übernehmen und noch heute
feierlich beschwören müssen. So z. B. im Huldigimgseide für
die Königin: „dass er von Herzen verabscheuet, detestirt und
abschwört, als sündhaft und ketzerisch die verdammenswerthe
Lehre, dass Fürsten, welche vom Papste oder irgend einer
römischen Autorität excommunicirt sind, von ihren Unterthanen
oder sonst wem abgesetzt und ermordet werden dürfen! sowie:
dass kein fremder Fürst, Prälat oder Potentat irgend eine
weltliche oder geistliche Gewalt in diesem Reiche besitze".
Bis vor zwanzig Jahren musste sogar ein jeder Ankömm-
ling die neununddreissig Artikel der englischen Kirche unter-
zeichnen. _ Der bekannte Humorist Theodor Hook liess sich
durch seinen Humor verleiten, die Aufforderung hierzu mit der
Erklärung zu beantworten: er sei völlig bereit, selbst vierzig
zu unterzeichnen, wenn es gewünscht werde". Natürlich begann
er seine akademische Laufbahn sofort mit einer längeren
„Rustication" ; er wurde für ein Jahr „aufs Land" zurückge-
schickt, um sich zunächst mehr Anstand und Ernst anzueignen".
„Neulich hatte ich Gelegenheit", führte der Tutor von
St. Mary Hall das unterhaltende und ergiebige Thema fort,
„die alten Universitätsstatuten wieder durchzulesen und nament-
lich den Titel XIV. „Ueber die Kleidung und äussere Haltung
des Scholaren" und den Titel XV. „Ueber die Besserung der
Sitten". Darin werden auch seltsame Pflichten auferlegt: der
Studenten Kleider sollen nur von schwarzer oder dunkelbrauner
Farbe sein — sie sollen sich des öffentlichen Erscheinens in
„Stiefeln" enthalten, wie der lächerlichen Mode, ihr Haar lang
zu tragen — sie sollen sich fern halten von allen Tavernen,
Weinschenken und vom Kraute genannt Nicotiana oder
„tobacco" — sie sollen nicht Wild mit Hunden oder Netzen
jagen, keine Armbrüste oder andere „bombardirende" Waffen
führen und keine Falken zur Vogelbeize; nur ein Bogen und
Pfeile sind ihnen erlaubt zu anständiger Ergötzlichkeit. Und das
alles ist heute noch Gegenstand der eidlichen Verpflichtung".
Etn^ oxforder StudentenJtneipe, 305
„Mephisto sagt", hub ich an — die Hausfrau lächelte still.
„Ich sehe", unterbrach ich mich selbst, „Sie haben bereits
meine Schwäche für Citate aus Goethe bemerkt, aber Mn D.
ist nicht minder ein eifriger Verehrer unseres grossen Dichters
und wir fanden uns zuerst in diesem Cultus — also:
Mephisto sagt, und dieses Mal nicht ironisch: „Es erben
sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort, —
Vernunft wird Unsinn" —
„Aber nicht Wohlthat: Plage", rief Freund D, abwehrend,
„denn kein Mensch denkt hier an die Befolgung dieser Be-
stinimungen".
„Gewiss nicht", bestätigte mein Gastfreund, „indessen die
alten äusseren Bezeichnungen und Formen der Dinge erhalten
sich hier mit merkwürdiger Zähigkeit, wie bei gewissen Petre-
fakten, nachdem das innere Wesen längst völlig umgewandelt
ist. So begeht in den nächsten Tagen jedes College seine
»CoUections«, seinen »Sammeltag«. Was geschieht alsdann dort?
Alle Studenten erscheinen in der Hall vor dem Master des
College und dem „Dean of Chapel". Die Prüfungsarbeiten
liegen auf dem Tische, aber niemand kümmert sich gross
darum. Die eigentliche ernste Prüfung (ist das persönliche
Erscheinen vor den beiden gestrengen Herren Richtern.
„Der Dean nimmt das Wort: „Mr. Brown, Ihre Arbeiten
sind gut, aber Ihr Kirchenbesuch und Ihre Theilnahme an den
Religionsübungen!! Für einen Stipendiaten geben Sie darin ein
sehr schlechtes Beispiel! Im Sonntagsgottesdienste waren Sie
nur ein einziges Mal und dazu noch im Paletot und hohen
Stiefeln !"
Darauf der finster blickende Master: „Mr. Brown, das
College vernimmt mit Bedauern ein solches Verhalten von
einem Stipendiaten. Sie haben Hausarrest für die ersten vier-
zehn Tage des nächsten Terms". — Und so geht es fort".
„Aber weswegen heisst dieser Gerichtstag: »Sammeltag?»
frug ich, „doch nicht wegen der Gelegenheit zur moralischen
Sammlung für die verlaufenen Schafe?"
„O nein", erklärte Mr. L., „sondern weil im Jahre 1331 ein
Statut erlassen ist: dass jeder Scholar jährlich mindestens
zwölf Pfennige Honorar bezahlen muss für das „CoUegium
logicum" und achtzehn Pfennige für das „CoUegium physicum"
Ompteda, L. v., Bilder. 20
306 Ein Tag in Oxford,
und dass jeder Master of Arts verpflichtet sein solle, am
Schlüsse des Terms sein Honorar selbst von den Studenten
einzusammeln. Jetzt werden diese Honorare schon seit ein
paar hundert Jahren durch den Cassirer zu Anfang des Terms
erhoben, aber der Name „Collection" ist dem gefurchteten Ge-
richtstage geblieben".
„Der Fall ist recht charakteristisch, wie mir scheint*%
erklärte ich, ,, namentlich aber: dass sich hier niemand darüber
wundert. Bei uns wären aufgeklärte Geister schon längst mit
ihrer Reformscheere über den »alten Zopf« hergefallen",
„Wir könnten Ihnen derartige oxforder Eigenthümlichkeiten
wohl noch die halbe Nacht hindurch erzählen", schloss Freund
D., indem er sich erhob, dieses Capitel, „aber jetzt ist es
höchste Zeit für das »Bumping Supper«. Wir kommen ohnehin
nur noch zum Nachtische".
Mit aufrichtiger Dankbarkeit, und beiderseitigen, herzlichen
Wünschen für baldiges Wiedersehen trennte ich mich von den
gastfreundlichen, liebenswürdigen Bewohnern der Vicarage und
wir traten hinaus in die mondhelle Sommernacht
Während wir Holywell Street hinauf wanderten, begann
mein getreuer Führer abermals:
„New College, in das wir jetzt gleich eintreten werden, ist
trotz seines Namens eines der ältesten, von 1379; zugleich ist
es eines der bedeutendsten Colleges in Oxford. Sein Stifter
ist William of Wykeham, Bischof von Winchester, ein zu
seiner Zeit sehr hervorragender Mann, der zugleich des Königs
Edward III. Lord Kanzler und oberster Baumeister war. In letzerer
Eigenschaft ist er Ihnen wohl schon in Windsor Castle bekannt
geworden, das ihm seine jetzigen allgemeinen Grundmauern
und manche noch bestehende Theile, namentlich die berühmte
grosse Küche verdankt Auch New hat eine gewisse Gross-
artigkeit durch die Einfachheit und Dauer seiner Architektur,
es macht den Eindruck von halb Kloster und halb Festung;
seit fünfhundert Jahren ist daran wenig verändert worden. Als
es gegründet wurde, war die „Universität" als Lehrkörper hier
allmächtig, die damals schon bestehenden Colleges: University,
Merton, Balliol, Exeter, Oriel und Queens waren nicht viel
mehr als unentgeltliche Herbergen für Unbemittelte, ausserdem
konnte jeder Student leben und wohnen nach Belieben, wie
Eine oxforder Studentenkneipe, OU7
noch jetzt in Paris und Heidelberg. Das neue College, dessen
officieller Name: St. Mary of Winchester war, eröffnete damals
eine neue Aera im Leben der Universität. Es war nach der
Absicht seines grossen Stifters eine wirkliche, in sich
abgeschlossene, höhere Lehranstalt. Mit dem College gleich-
zeitig schuf Bischof Wykeham die »Grammer School« in
Winchester; diese nahm die Knaben auf und sandte später die
tüchtigsten Jünglinge nach Oxford, wo sie selbstverständlich in
das :>Neue College« eintraten. Auf diese Weise sollte die
ganze Laufbahn der gelehrten Erziehung geregelt und
umschlossen werden. Dieses Verhältniss hat seitdem fünf-
hundert Jahre bestanden und besteht noch heute; noch immer
rekrutirt sich New aus Winchester!"
„Wieder diese beneidenswerthe Continuität in Ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung", rief ich bewundernd, „ich wüsste
auch nicht eine einzige noch lebende Institution in meinem armen
Deutschland, die heute fünfhundert Jahre alt wäre!"
„Nach und nach gelangten viele dieser Zöglinge zu hohen
Kirchenwürden und fuhren fort, im Sinne und Geiste ihres Meisters
Colleges zu stiften. So wurde, in ganz ähnlicher Weise die Public
School zu Eton mit King*s College in Cambridge verknüpft.
Bald wurden dann die schon bestehenden Colleges nach dem
Muster von New erweitert und reformirt; durch diesen Epoche
machenden neuernden Einfluss erklärt sich auch das Aufkommen
und Beibehalten des jetzt allerdings etwas sonderbaren Namens.
Die Universität selbst sank durch diesen Umschwung nach und
nach zu einer Ansammlung von Colleges herab und so blieb
es bis vor zehn Jahren, als der Collegezwang aufgehoben und
der »Unattached« zugelassen wurde. Aber ihre Erniedrigung
gereichte der Universität zum Heile, denn diese klösterlichen
Corporationen bildeten ein festes Knochengerüst, sie gaben
ihr Halt in den Stürmen des sinkenden Mittelalters und in der
Zeit der Wiedergeburt wurden sie die Pflanzschulen der neu
auflebenden Wissenschaften".
Wir durchschritten mehrere tiefe gewölbte Thore, zwischen
denen lange, schmale Höfe sich hinzogen. Endlich erreichten
wir den grossen Quadrangle. Ein zauberisches Bild im hellen
Mondenlichte! Vor uns eine lange, zweistöckige, niedrige,
gezinnte Front bis oben hin mit dichtem Epheu bewachsen,
20=*
308 Ein Tag in Oxford»
zwischen dessen schwarzen Vorhängen die schmalen erleuchteten
Fenster matt schimmern; zur Linken die Kapelle, belobt als
eine der schönsten in Oxford. Für heute müssen wir uns an
der Spiegelung des Mondes auf ihren bunten, gothischen
Bogenfenstern und an den fahlen Lichtem genügen lassen, die
auf ihrem alten Gemäuer, an den in die reine Luft ragenden
Fialen und auf der noch höheren Plattform des schweren, alten
Thurmes spielen, denn von der Thür neben diesem lost sich
jetzt eine Gestalt ab, die uns erwartet, um uns in die Sitzung
des Ruderclubs von New einzuführen.
Während wir noch in Betrachtung der zauberhaften Be-
leuchtung zögerten, fuhr Freund D. fort:
„Am Schlüsse dieses Jahres begeht New sein fünfhundert-
jähriges Stiftungsfest Man wird dieser seltenen Feier ein
schönes, sinniges Denkmal setzen, nämlich: die innere Restaura-
tion der alten Kapelle vor uns. Auch hier in Oxford war,
wie überall in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten, das
historische Gefühl und damit das künstlerische Verständniss für
unsere herrlichen Bauten aus den Zeiten der Plantagenets ver-
loren gegangen. Erst seit etwa zwanzig bis dreissig Jahren
können wir sagen, dass der architektonische Gedanke des vier-
zehnten und fünfzehnten Jahrhunderts in seiner ursprünglichen
Reinheit wieder belebt ist. Wir dürfen diese Erweckung wohl
an die allgemeine Vertiefung des kirchlichen Lebens anknüpfen,
die wir der hochkirchlichen »Tractaten-Bewegung« verdanken,
obgleich die Tractarians durchaus nicht mit Bewusstsein Kunst-
historiker waren. Ich will nur sagen: der von ihnen gegebene
Anstoss hat fortgezeugt. — Der verwitternde Zahn der Zeit
und die Unruhen des siebzehnten Jahrhunderts hatten, wie Sie
wissen, auch hier in Oxford vieles zerstört. Dann folgten die
verflachte Bildung und der vernüchterte Geschmack des vorigen
Jahrhunderts, die sich nicht scheueten, William von Wykehams
Meisterwerk zuzustutzen und zu corrigiren. Die Kapelle trug
ursprünglich einen offenen, spitzen Dachstuhl von herrlichem
schwarzen Eichenholz — man zog unter ihm eine saubere flache
Stuckdecke ein ; alles gothische reiche Maasswerk ^\1lrde nett
weiss angestrichen und das noch sichtbare Holzwerk freundlich
hell chokoladenbraun überpinselt. Alle diese frevelhaften
Incrustationen werden jetzt, in demüthiger Pietät gegen den
Eine oxforder Studentenkneipe. oOJ
Genius Williams von Wykeham, wieder beseitigt und die
moderne Kunstrichtung der Königin Victoria setzt die Zeiten
Richard IL {1377 — 1399) wieder in ihre Rechte ein. — Wir
lassen uns diese späte Genugthuung etwas kosten, denn die
Rechnung für die Restauration, wenn sie im nächsten October
zum Jubelfeste vollendet sein wird, beläuft sich gewiss auf mehr
als vierhunderttausend Mark".
„Und furchten Sie nicht", fragte ich bedenklich, „dass eine
spätere Generation sich wieder unter dem ernsten, zugigen
schwarzen Holzdache ungemüthlich fühlen und wieder Sehn-
sucht nach der hübschen, warmen, hellen Stuckdecke aus der
Zeit von Sir Josua Reynolds verspüren wird?"
„Dann mögen sie einheizen, die Barbaren!" rief D., halb
ärgerlich halb lachend; „jetzt aber ist es die höchste Zeit hinein-
zugehen, denn unser Führer dort unter der Thür trippelt schon
lange ungeduldig hin und her".
Nachdem wir einige gewundene Steintreppen und gewölbte
schmale Gänge zurückgelegt haben, öffnet sich eine Thür und
wir treten in ein Zimmer, geräumig genug, um die Gesellschaft
von etwa dreissig jungen Herren zu beherbergen, die hier um
eine lange Tafel versammelt ist.
Im Augenblick unseres Eintritts herrscht achtungsvolle
Stille. Man lauscht den letzten Worten eines Redners, des
Tischpräsidenten, deren Schluss ein Hoch auf die Mannschaft
des heute siegreichen Bootes bildet. Der Toast wird selbstver-
ständlich mit betäubenden anhaltenden „Cheers" aufgenommen.
„Der Redner ist der Captain des College-Ruderclubs",
flüsterte D. mir zu; „jetzt werde ich Sie einführen". Wir wurden
sehr g^t empfangen und sassen bald auf den Ehrenplätzen zur
Rechten und Linken des Captain. Freund D. war hier augen-
scheinlich im besten Andenken, denn von allen Seiten flog ihm
herzliches Begrüssen und Zutrinken entgegen. Neben mir sass
der Coxswain, der mich heute eingeladen hatte; D.'s Nachbar
war Mr. Robinson, der Stroke.
Das Supper war bereits abgeräumt und die Tafel trug
jetzt Trinkgefasse jeder Gattung: zwei geräumige Bowlen,
Krystallkrüge mit Ciaret und Portwein, zinnerne Bierkannen,
silberne Becher, viele grosse und einige noch grössere Kelch-
gläser. Die akademische Nachtischfreiheit hatte schon eine
310 Ein Tag in Oxford,
malerische Unordnung in der Gruppirung der Gäste und in der
vielleicht nicht ganz salonfähigen Schaustellung weisser Hemd-
ärmel entwickelt; die Düfte der Cigarre wetteiferten bereits
mit den massiven, blauen Wolken der Meerschaum-, Holz- und
Thonpfeifen. Man sass in und auf den verschiedenartigsten
Lehnstühlen umher, oder stand und ging nach Belieben und
ein jed«r schien nur die einzige Pflicht zu fühlen: den Lärm
zu vermehren und die Getränke auf Tisch und Büffet zu ver-
mindern. Jedoch trugen dienstfertige „Scouts" (Stiefelfüchse)
wie die Geister in Goethes Zauberlehrling, unausgesetzt neuen
flüssigen Stoff herzu.
„Was wollen Sie trinken?" fragte mich der Captain
„vielleicht geeisten Sangaree oder Sherry Cobbler oder
Champagne Cup?"
Ich bat um letztere, die ich als eine verhältnissmässig
unschuldige Mischung von Sekt, ApoUinariswasser und Zucker
kannte. Sherry Cobbler namentlich mit dem Strohhalm ist, wie
man weiss, etwas heimtückisch, und Sangaree nichts anderes
als starker kalter Cognacgrog mit Citronen und Muskatnuss.
Und wahrlich, ich that wohl, den leichtesten Stoff zu wählen,
denn in der nächsten Viertelstunde hatte ich mein Glas bereits
ein Dutzend Male geleert, und so ging es fort, da jeder Genoss
der Tafelrunde dem Gaste den Vorzug erwies : „ein Glas Wein
mit ihm zu trinken".
Es war die geräumige Behausung eines Gentleman
Commoners, in der die Sitzung stattfand, und die Aus-
schmückung der Wände sprach für den Geschmack und die
Neigungen des Bewohners. Der Spiegel über dem Kamine
war gekrönt — mit einem Fuchskopfe und zwei Blumen, da-
neben Peitschen, Sporen, Stöcke, Rappiere, Angeln, Cricket-
schläger und Fechthandschuhe. An der Wand gegenüber ent-
faltete sich ein reichhaltiges Pfeifensystem und darunter strebte
eine stattliche Pyramide empor, deren bräunliche Bausteine die
Stempel: „Regalia", „Dos Amigos", und, „Todos me elogian''
trugen. An den Wänden ringsum entdeckte ich, soweit die
verdichtete Atmosphäre es zuliess, einige der bekannten
schönen Landseers und die verbreiteten Sportbilder von Herring:
der Start für*s Derby, die Royal Mail Coach und andere.
Eine oxforder Studentenkneipe, 311
Zu meiner Beruhigung erkannte ich bald, dass unsere
Anwesenheit keinerlei Zwang ausübte; ausser unseren sehr
artigen nächsten Nachbaren schien sich niemand um uns zu
bekümmern, nachdem ich mit jedermann ein Glas getrunken
hatte. Der Captain fragte mich nach dem Stande des Ruder-
sports in Deutschland. Ich konnte ihm erzählen, dass gute
Anfänge gemacht seien. »Aber«, fügte ich mit dem Tone
inniger Ueberzeugung hinzu, „für eine Concurrenz mit englischen
Booten sehe ich vorläufig noch keine Möglichkeit. Einmal
bestehen unsere Ruderclubs nur vereinzelt und unsere Boots-
mannschaften aus zufällig zusammengebrachten Liebhabern,
nicht, wie hier, rationell ausgewählt aus hunderten, dann fehlt
uns noch die Schule alter Erfahrung und das lange, harte
Training".
Mein Bericht, der zu befriedigen schien, wurde hier unter-
brochen durch ein rasch anwachsendes, allgemeines Geschrei,
Tischtrommeln und Gläserklingeln, das sich an den mir gegen-
über sitzenden Stroke richtete.
„Robinson! Ro — bin — sonü ein Lied! sing' uns ein Lied!"
Der Stroke erhob mit grossem Ernste sein leeres Kelch-
glas, sah missbilligend hinein und reichte es dem Bowlenver-
walter hinüber, indem er in vorwurfsvollem Tone mit kräftigem
Baryton sang:
„Füll diese Bowle bis zum Rande!
Füll rasch mein Glas, es war' 'ne Schande,
Wenn alle tränken, nur nicht ich.
Sprich, weiser Mann, warum denn nich*?"
Allgemeiner Beifall folgte diesem anscheinend improvisirten
Eingange. Nachdem der »weise Mann« der Beschwerde des
Sängers thatsächlich abgeholfen hatte, trank Mr. Robinson
zunächst gründlich und mit Bedacht.
Wieder trat erwartungsvolle Stille ein, nun aber begann
er zu hüsteln, zu prusten und rief mit halberstickter Stimme:
„Macht doch ein Fenster auf, man kann ja den Tabaksqualm
hier schneiden!"
Seinem Verlangen wurde schleunigst entsprochen und jetzt,
sichtlich erleichtert, sang er mit warnender Miene, indem er in
der linken Hand einen geräumigen, braunen Meerschaumkopf
schwang:
öl2 Ein Tag in Oxford.
,,Raiicht nicht! raucht nicht Cigarren schlecht und theuer,
Raucht in der Pfeife nicht das Blatt der Rübe,
Infames Zeug, das niemals zahlte Steuer;
£s macht Euch Nicotin das Leben trübe!
Raucht nicht! raucht nicht!
Raucht nicht! rasch wird das Gift durch Eure Adern rinnen.
In Euem Magen zieht der Jammer ein,
Es schwimmt die Welt vor Euern trüben Sinnen,
Eu*r letzter Seufzer ist: Allein zu sein! — — —
Raucht nichM^ucht nicht !'<
Der dramatisch bewegte Vortrag, unterbrochen und
illustrirt durch mächtige Wolken aus dem Meerschaum, schloss
unter fanatischem Jubel, aus dem sich alsbald folgender viel-
stimmiger, ebenso energischer als unharmonischer und lang
ausgesponnener Chorgesang losrang:
„Denn er ist ein ganz famoser Kerl!
Denn er ist ein ganz famoser Kerl!
Unser Bruder soll er sein,
Und ein H — sf — t, der sagt: Nein!"
Nachdem Ruhe eingetreten, ausgetrunken und wieder ein-
geschenkt war, nahm der Captain das Wort:
„Gentlemen! Sie wissen, dass ich Sie selten mit einer
wohlgesetzten Rede behellige. (Allgemeine bedauernde Zu-
stimmung.) Aber bei einer festlichen Gelegenheit wie heute, wo
wir zudem durch die Gegenwart eines ausgezeichneten Fremden
geehrt werden, der an unserem Siege Theil ^nahm und jetzt
dessen Feier erhöht, in einer solchen Stunde mache ich von
meinem Vorrechte Gebrauch und schlage Ihnen die Gesundheit
unseres Gastes vor. Er ist spät gekommen, so hoffe ich: er
wird auch als der Letzte das Local verlassen. Und nun mit
allen Ehren!"
Der Club Hess seinen Captain nicht im Stiche. „Three
times three", erscholl es, „ — hipp! hipp! hipp! hurrah! — one
cheer more! — again and againi — one other little one! "
Dann stimmte der officielle Chor wieder an: „Denn er ist
ein ganz famoser" u. s. w. und auch ich wurde vermittelst
dieses zwang- und endlosen Canons, der lebhaft an das „Uns
ist, uns ist so kannibalisch wohl" in Auerbachs Keller
erinnerte, als „Bruder" erklärt und gegen jeden verneinenden
H — t in des Bundes Schutz aufgenommen.
Eine oxforder Studentenkneipe, olo
Endlich trat einige Ruhe ein, in der sich augenscheinlich
die Erwartung meiner Erwiderung ausdrückte.
Es half offenbar kein Sträuben noch Zögern, ich raifte
daher allen Muth zusammen und wagte „Ehre und Reputation"
an folgende englische Rede:
„Gentlemen! ich danke Ihnen herzlich für Ihre gastfreund-
lichen, gütigen Gesinnungen. Erlauben Sie zugleich, dass ich
nach allem, was ich heute Morgen von Ihnen gesehen und
heute Abend von Ihnen gehört habe, Ihnen meine aufrichtige
Bewunderung für Ihre Lungen ausspreche! (Hört, Hört!) Möge
das immer so bleiben, möge das jetzige „Headboat" der Isis
niemals, niemals! wieder „gebumpt" werden!"
Nun brach es wieder aus: „Denn er ist ein ganz famoser
Kerl" und nach der Dauer des Canons zu schliessen, hatte ich
den bescheidenen Erwartungen, die naturgemäss jeder Engländer
von den Leistungen jedes Fremden hegt, leidlich entsprochen, —
Inzwischen hatte sich eine ernste Discussion stofflichen
Inhaltes in meiner Nähe erhoben.
„Geht mir mit Euern Cobblers und Cups", rief mein Nachbar,
ich bin für reinen, ungemischten Stoff. „Hoc genus omne"
das ganze edle Geschlecht des „Hock" (Hochheimer, aber auch
jeder weisse Rheinwein) namentlich wenn er schäumt, das lobe
ich mir! „Hoc erat in votis", ich votirte stets für „Hock".
Sein Gegner erwiderte ruhig: ,Jch bin für Bier, alles
andere ist verwerflich; lateinische Argumente, zumal aus den
Satiren des Horaz, habe ich nicht zur Verfügung. Das ist
„Shop". Aber ich will Euch ein englisches geben".
>Ja> ja", rief es ringsum, „das Argument, heraus mit dem
Argument!"
Der Vertheidiger des Bieres Hess sich nun also vernehmen:
„Zwischen trocken und nass
Ohn' Unterlass.
Den Mittelweg suche ich mir".
„Wer hat wohl betroffen
Mich jemals be — unnüchtert?
Doch lob' ich mir immer mein Bier. .
Denn ich lieb' einen Tropfen gut Bier
Ja! ich liebe zwei Tropfen gut Bier".
„Limonade und Thee
Machte stets mir Leib — liehe Sorgen
Doch niemals geschieht das beim Bier!'*
014 Ein Tag in Oxford.
Zwischen trocken und nass,
Ohn' Unterlass
Den Mittelweg find ich — beim Bier".
Allgemeiner Beifall; selbst der Gegner schien geschlagen,
jedenfalls konnte er den Streit nicht verfolgen, denn am anderen
Ende der Tafel hatte sich inzwischen ein Gesang erhoben,
dessen Rundreim jetzt vom Chor kräftig aufgenommen wurde
und der deutlich lautete: „How I should like the Pope to be".
Erstaunt horchte ich weiter, und richtig! es war eine Ueber-
setzung des berühmten alten Lessing'schen Liedes:
„Der Papst lebt herrlich in der Welt!"
„Wissen Sie", wandte ich mich zum „Chairman", „dass da
ein Landsmann von mir gesungen wird. Das Lied ist von
Lessing".
„Das ist uns sehr interessant", erwiderte er, „das Lied
singt man hier seit undenklichen Zeiten und wir lieben es sehr,
aber niemand kannte den Dichter. Vermuthlich hat es einmal
ein Engländer von einer deutschen Universität nach Hause
gebracht".
„Jetzt aber", fuhr er fort, „habe ich noch eine traurige
Pflicht zu erfüllen. Verzeihen Sie".
„Gentlemen", hub er an, nachdem er Ruhe geboten,
„gedenken wir jetzt mit innigem Mitgefühle eines Scheidenden,
der heute zum letzten Male in unserer Mitte weilt".
Alle blickten auf den Bowlen Verwalter, der ernst, aber
mit dem Schalk im Nacken, vor sich niedersah.
„Wie Sie wissen, ist unser Freund hier „rusticirt" und wird
den nächsten Term auf dem Lande, fem von uns, zubringen.
Was ist die Ursache? Er hat ungerechter Hinterlist und
Gewalt offenen, männlichen Widerstand geleistet! Gleiches hat
er mit Gleichem vergolten ! Der Porter hatte ihn bei unserem
Master angeschwärzt: er komme Abends regelmässig —
un regelmässig nach Hause. Nun, er schwärzte den Porter
wieder an: nämlich sein perfides Gesicht, mit gebranntem
Kork!" (Bravo!)
„Dem Master, ein neuer Besen, der anfangs etwas zu scharf
kehrte, und der unserem armen Freunde die Stunden der
abendlichen, freien Bewegung — im Wirthshause — verkürzen
wollte, brachte er das Wirthshaus in's Haus; denn eines denk-
Eine oxforder Studentenkneipe, 315
würdigen Morgens sahen wir ein stattliches, anderswo ent-
behrlich gewordenes, Wirthshausschild an des Masters Thür,
worauf zu lesen war die Licenz: „Bier zu verseilen und
oflFenen Schank im Locale selbst zu halten". (Verlängertes
Bravo.)
„An jenem Morgen hatte ich mich bereits zu meiner
gewohnten frühen Stunde erhoben. Ich studirte in dem grossen
deutschen Historiker Mommsen" (hier machte der Captain
mir eine verbindliche Verbeugung, die ich dankbar erwiderte)
„emsig die Manöver der beiden feindlichen Flotten in der
denkwürdigen Seeschlacht bei Actium, von der Sie wohl
meistens schon einmal gehört haben werden (Zustimmung), und
dief das zukünftige Geschick dreier Welttheile definitiv ent-
schied. Als Ihr Captain unterzog ich mich diesen schwierigen
Studien, denn es geschah zur Vorbereitung für den genialen
Schlachtplan, der heute Morgen den Sieg an unser Boot
fesselte". (Allgemeines A — h! der Ueberraschung, dann
stürmisches Bravo.)
„Da — plötzlich — höre ich unter mir, in des Masters
Wohnung, ein Fenster klirrend auffliegen und die von uns
allen so gefürchtete Stimme ertönt:
„HoUah ! Tomkins ! Tomkins !"
„Alsbald erscheint drüben an der Thür seiner Lodge unser
würdiger Porter im zartesten — Morgenanzuge.
„Was wünschen Sie, Sir?"
„Tomkins, komm herauf und öffne meine Thür! Sie ist
von aussen verrammelt — ich bin eingesperrt!"
„Sehr gut, Sir", erwiderte Tomkins, eilfertig seine Toilette
vollendend. Dann setzte er diensteifrig hinzu:
„Ich will nur sogleich zum. Schlosser Picklock laufen!"
„Weshalb zum Schlosser Picklock?" kreischte es unter mir.
„Nun Sir, ich vermuthe, irgend ein unverschämter Schlingel
(Murren) hat Sie von aussen »eingeschraubt«! (mit einem Bohrer
der durch beide Flügel der Thür getrieben und dann abge-
brochen wird).
„Eingeschraubt ? Unsinn !"
„Ja", fuhr Tomkins fort, „und in diesen Fällen pflegte Ihr
Herr Vorgänger mich stets zum Schlosser Picklock zu
schicken!" — (Oh! Ob's! sittlicher Empörung.)
316 Ein Tag in Oxford,
„In diesem Augenblick zog ich mich tief gekränkt zurück.
„Wie wir alle wissen, war Tomkins wieder einmal in bös-
willigem Irrthume. (Ja! Ja!)
„Ausserdem aber hatte er frech gelogen, denn — wie wir
alle wissen, ist eine solche Missethat niemals — niemals! —
in New verübt worden". (Entrüstete Bestätigung von allen
Seiten.)
„Und was war das Ende?
„Unser Bruder „has been plucked", man hat ihn in
den Mods schmähUch durchfallen lassen! Warum? weil er
zu unwissend in der alten Geschichte, seinem Specialfache, ge-
wesen! Hören Sie nun aber, Gentlemen, welch hinterlistige
Fragen man ihm gestellt hat und urtheilen Sie dann selbst:
ob er „fairly" behandelt ist".
Der Captain zog mit grossem Ernste eine lange Liste
hervor und las:
„I. Geben Sie uns einen kurzen Abriss des vierten
punischen Krieges. (Murren.)
2. Ziehen Sie eine historische Parallele, in Plutarchs Manier,
zwischen Alexander dem Grossen und Neil Gwynne. (Lachen.)
3. Auf welche Weise versahen sich die Schatten am Ufer
des Styx mit geistigen Getränken? (Bravo.)
4. Zählen Sie die römischen Kaiser auf, welche die Ver-
einigten Staaten besuchten und was sie dort ausrichteten.
(Verstärktes Murren.)
5. Man weiss, dass Ariadne, als sie von Theseus verlassen
war, sich dem Bacchus vermählte. Ist dieses etwa eine mythisch-
poetische Form, um auszudrücken, dass diese vereinsamte Schone
sich aus Kummer dem Trünke ergab?" (Bravo, Bravo!)
Der Schluss dieser Trauerrede erstarb unter dem steigenden,
schallenden, homerischen Gelächter der Zuhörer. Endlich, nach-
dem der „ganz famose Kerl" ausgetobt hatte, wandte man sich
auch an den Bowlenverwalter wegen eines Abschiedsliedes.
„Meinen Ausgang aus Oxford kennt Ihr bereits", erwiderte
dieser bescheiden, „so will ich Euch denn meinen Eingang
hierselbst erzählen".
Und er stimmte, etwa nach der alten Melodie: „Fordere
niemand mein Schicksal zu hören" folgendes hübsche Lied an:
Eine oxforder Studentenkneipe, 317
„Hier in Oxford, ein Füchslein bescheiden,
Kam ich an eines Morgens im März!
Das Gesicht, das ich schnitt, war sehr dümmlich,
Vor Erwartung schlug ängstlich mein Herz.
Chor: Owiedummderumdidumm
Owiedummdenimdidnmm
Owiedumm, derum, didumm, deri, dida!
Ich zog ein auf dem Bocke der Stage Coach;
Kutscher Adams der alte Gesell
Setzt' mich ab in der prächtigen High Street,
Vor dem würdigen Mitra-Hotel.
Chor: Owie u. s. w.
„Niemand hatte je besseren Eingang*'
Rief ich, kletternd vom Bock mit Geschick,
„Bin ich jetzt schon gelangt bis zur Mitra:
In der Kirche blüht sicher mein Glück.
Chor: Owie u. s. w.
Der Schlussreim: „Owiedummderumdidumm" schien etwas
von der Natur und Wirkung des Ariadnetrostes zu besitzen; nach
und nach machte sich in ihm ein Polkarythmus geltend; die
gesammte Gesellschaft gerieth mehr und mehr in einen flüssigen
Zustand und, wer nur irgend Raum gewann, brach mit seinem
Nachbar in einen höchst charaktervollen, bacchischen Sieges-
tanz, rund um den langen Tisch herum, aus.
„Ich hätte Lust nun abzufahren!" rief ich D. durch das
Toben der Elemente zu, „um so mehr als auch mein Zug in
einer halben Stunde abfahrt".
Wir dankten dem Captain und verliessen still und unan-
gefochten die oxforder Studentenkneipe. —
Die frische Nachtluft, die uns in New College Lane ent-
gegenwehte, that merklich wohl.
Während wir Broad Street hinaufgingen, sagte D. :
„Auf der Sachsenkneipe in Göttingen ging es freilich anders
zu; hier haben wir kein specifisches Studentenleben; Sie sehen
hier nur eine etwas derbe Nachahmung der Sitten und Unsitten
unseres High Life. Daher überwiegen die Reden das Singen
und gemeinschaftliche Lieder sind eigentlich unbekannt. —
Auch unsere »Songs« werden Ihnen wohl reichlich verständig
und im Grunde etwas nüchtern erscheinen, mehr trockner
Humor als echte Poesie, wenn Sie dieselben mit dem herr-
lichen Inhalte des »Deutschen Commersbuches« vergleichen,
olb £in Tag in Oxford,
das ich noch besitze und stets mit Vergnügen wieder durch-
blättere".
— Wir betraten den menschenleeren Perron. —
„Allerdings", erwiderte ich mit bescheidenem Selbstgefühle,
„wir haben zu Hause ein gewisses Etwas, welches wir :&das
deutsche Lied« nennen. Aber das ist ein ererbtes Geheimniss
des deutschen Volksgeistes und lässt sich Fremden nicht ent-
hüllen, eben so wenig wie bei Ihnen das Cricket".
Freund D. lachte herzlich über den schliesslichen Aus-
bruch meines, bis dahin so weislich und consequent unter-
drückten Nationalbewusstseins.
— Der Zug fuhr in die Halle ein. —
„Sie kennen nun ein Stück vom oxforder Leben", so
lauteten des Freundes Abschiedsworte. „Auch hier haben wir,
wie bei Ihnen, jugendlichen Leichtsinn neben ernster Arbeit,
Anstand neben Rohheit, Verfehlung neben Erfolg, Lohn neben
Strafe. Die Formen sind verschieden, aber hier wie dort ist
kräftige, hoffnungsvolle Jugend in Gährung".
„Und hierin liegt ja", fügte er halb entschuldigend hinzu,
„die einzige Rechtfertigung für die Unbescheidenheit: ernst-
hafte Menschen unversehens in solch lustige Gesellschaft
gebracht zu haben".
— Ich war bereits eingestiegen. —
„Und jetzt", sprach er zu mir herein, im Abschiede meine
Hand haltend, „lassen Sie mich zum Schlüsse noch einmal
Ihren grossen Goethe citiren, als ein gutes Wort, eingelegt für
Oxford und für Göttingen:
„Wenn sich der Most auch ganz absurd gebürdet,
Er giebt zuletzt doch noch *nen Wein!"
„Leben Sie wohl!"
— Der Zug war schon im Rollen. —
„Auf baldiges Wiedersehen in Oxford" rief ich zurück.
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