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Full text of "Bilder aus dem Leben in England"

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BILDER 



AUS DEM 



LEBEN IN ENGLAND 



VON 



Ludwig Freiherrn von Ompteda. 



Wir lernen die Menschen nicht kennen, 
wenn sit* zu uns kommen; wir roiissen zu 
ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit 
ihnen steht. 

Goethe. - 



BRESLAU. 

Druck und Verlag von S. Schottlaender. 
i ; I88l. 






■: 13 APR. 15 






Ihrer 



kaiserlichen und königlichen Hoheit 

VICTORIA 

Kronprinzessin 

f 

des deutschen Reiches und von Preussen 

Princess Royal von Grossbritannien und Irland 



in tiefster Ehrfurcht gewidmet 



vom 



Verfasser und Verleger. 



Inhalt. 



Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

I. Einleitung l 

II. Hatfield Ilousei der Landsitz des Marquis von Salisbury ... 5 

m. Eine moderne Cottage 28 

IV. Windsor Castle und die königlichen Hausgärten 42 

V. Die botanischen Gärten in Kew 54 

VI. Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute 66 

VII. Wobum Abbey, der Landsitz des Herzogs von Bedford .... 78 

Vni. Die Blumenausstellungen 99 

Die Trinkkrankheit in England 121 

Irrfahrten in London • 179 

Ein Tag in Oxford ; 209 

I. London und Oxford . . .• . 211 

II. Magdalen College 223 

III. High Street 234 

IV. St. Mary the Virgin 245 

V. Englische Bildungsmittel zu Lande. Cricket Match. Debattirclub 257 

VI. Englische Bildungsmittel zu Wasser. Ein Bumping Racc . . . 269 
VII. Dinner in Christ Church Hall 279 

VIII. Common Room und Kathedrale in Christ Church College . . . 290 

IX. Eine oxforder Studentenkneipe 303 



Englische 
Landsitze, Gärten und Gärtner. 



Vor- und Fürwort. 



Jün Theil der nachstehenden Aufsätze ist bereits in der 
Monatsschrift „Nord und Süd" erschienen. Die freundliche und 
ermunternde Aufnahme, welche diese Versuche eines unbe- 
kannten schriftstellerischen Dilettanten fanden, ermuthigt mich, 
meine „Bilder aus dem Leben in England" jetzt dem günstigen 
Leser in geschlossener, überarbeiteter und vervollständigter 
Reihefolge vorzulegen. 

Diese Bilder sind aufgezeichnet worden, wie sie sich in der 
Erinnerung des Heimgekehrten wiederspiegelten ; es sind keine 
Photographien, die den Augenblick peinlich genau abschreiben. 
Ich strebte, als ich sie schuf, nach der höheren Wahrheit der 
Darstellung, die durch geordnete Gruppirung der einzelnen zer- 
streuten Erlebnisse zu einem Gesammtbilde erreicht wird — 
falls Zeichnung und Farben richtig und treu sind — gegenüber 
der mechanischen Genauigkeit des Reisetagebuchs mit seinen 
vereinzelten, lückenhaften Wahrnehmungen, mit seinen unver- 
meidlichen Alltäglichkeiten. 

Ich wünsche und hoffe, dass die folgenden Blätter meine 
Leser unterhalten werden. 

Zugleich aber hoffe und wünsche ich auch, dass meine 
Skizzen nicht ohne ein wenig bleibenden Nutzen gelesen 
werden mögen. 

Es war mein Bestreben, das Leben unserer englischen 
Vettern von einigen neuen Seiten und auf einigen Gebieten 
vorzuführen, die — wie ich glaube — meinen verehrten Lands- 
leuten im grossen Ganzen weniger bekannt sind. Ich wählte 
dafür sowohl Licht- als Schattenseiten, denn beide ziehen an 



und fesseln durch die Eigenartigkeit der englischen Ent- 
wickelung und durch die Grossartigkeit der dortigen Lebens- 
verhältnisse. 

Vor allem ist der, in England vorwiegende, Typus des 
tüchtigen Massenhaften uns Deutschen, die wir meistens 
in engeren Verhältnissen leben, fremdartig und ungeläufig. 
Dieser Eindruck überwältigt uns daher regelmässig, wenn wir 
Englands Boden zum ersten Male betreten, und selbst auf die 
Dauer wirkt diese durchgängige, tüchtige Massenhaftigkeit in 
allen Verhältnissen immer von neuem imponirend. 

Treten wir dann allmälig auch den Schattenseiten näher 
so werden wir bald erkennen, dass die überwiegende Mehrheit 
der scharf ausgeprägten englischen Sitten und Unsitten natur- 
gemäss aus löblichen und, namentlich für uns Deutsche, grössten 
Theils nachahmenswerthen Eigenthümlichkeiten des National- 
chärakters entspring^; es sind natürliche Kehrseiten. 

Zu diesen Eigenthümlichkeiten rechne ich: die insulare 
Conc^ntrirung auf sich selbst, verbunden mit einem klarsichtigen, 
unbefangenen, praktischen Nationalegoismus ; den zuver- 
sichtlichen Respect vor sich selbst und die daraus kategorisch 
folgende, ungeschminkte Einfachheit, Gradheit und Wahr- 
haftigkeit im geselligen wie im geschäftlichen Verkehr; die 
ruhige, stetige Umbildung aller Zustände durch den unzerrissenen 
Zusammenhang von Neu und Alt; den gesunden Conservatismus 
in der Sitte und in den äusseren Lebensformen; die freie Be- 
handlung und stetige Ausscheidung des Abgestorbenen, und 
zwar, ohne jede doctrinäre Systemmacherei, ohne alle springende 
Hast; die gesunde Abwesenheit aller kosmopolitischen Ver- 
schwommenheit und aller confessionellen Vaterlandslosigkeit — 
beide stets das Kennzeichen einer unfertigen Nation. 

Femer müssen wir hieher den grossen Grundsatz für alle 
öffentliche Thätigkeit zählen: die organisirte Selbsthülfe, welche 
alle allgemeinen Missstände, die Mängel der Gesetzgebung wie 
die Schäden der nationalen Moral, mit Zähigkeit und mit 
meistens langsamem aber desto nachhaltigeren Erfolge bekämpft 

Mit am höchsten aber schätze ich in der englischen 
Nationalsitte: die allgemeine Vorliebe für das Landleben. 
Denn diese ist eine der wesentlichsten Stützen für das politische 
und sociale Uebergewicht des Landes über die grosse Stadt. — 



Beide Erscheinungen aber sind stets sichere Zeichen der Volks- 
gesundheit, ein reinigendes Reagens gegen die häufig trübe 
und gefälschte politische Intelligenz der Grossstädte. — 

Wahrhaftig! ich wüsste keine Nation, aus deren Beispiel 
gerade wir Deutsche, die wir jetzt endlich ernsthaft begonnen 
haben, auch eine Nation werden zu wollen, so viele heilsame 
und fördernde Lehren gewinnen können, als England uns 
bietet; sowohl in demjenigen, was wir zu erstreben, als was 
wir zu vermeiden haben! 

Denn der englische Volkscharakter, wenn schon ein fremder, 
ist dennoch für uns keineswegs ein völlig fremdartiger, wie 
der slavische und der jetzt sogenannte „lateinische". In seinen 
Grundzügen hat er sich, unter dem Einflüsse ähnlichen Klimas 
und Bodens, sowie gleicher Sprachwurzeln, denselben ursprüng- 
lichen Typus bewahrt, den wir noch heute in der ländlichen 
Bevölkerung erkennen, welche in den alten angelsächsischen Ur- 
sprungsstätten sitzt. Besonders der Norddeutsche, der in unseren 
niedersächsisch -friesischen Küstenländern heimisch ist, findet 
überall im englischen Wesen und vor allem im älteren 
sächsischen Theile der Sprache, zahlreiche verwandte Berührungs- 
punkte. Die heutigen Unterschiede der beiden Vettern liegen 
w^esentlich in der dortigen kraftvollen, einheitlichen Entwickelung, 
die unserer politisch zersplitterten Heimath versagt blieb. — 

Hoffentlich wird es mir auch gelingen, durch meine 
Schilderungen englischen Lebens, Strebens und namentlich 
englischer Gastfreundschaft in Stadt und Land, einige der Vor- 
urtheile zu lockern, die sich bei uns, in Beziehung auf England, 
festgewurzelt haben. Diese Vorurtheile sind wesentlich wohl 
aus unserer einseitigen Bekanntschaft mit der Species des 
„reisenden Engländers" entsprungen, allerdings kein normaler 
Repräsentant seines Vaterlandes. Oder sie erwuchsen aus 
unsrer allzu oberflächlichen Berührung mit der ablehnenden 
Zurückhaltung gegen alles Fremdartige und Unbekannte, hinter 
der das englische Wesen, auch 'zu Hause, sich anfangs verbirgt. 

Ohne Zweifel ist jene abgeschlossene Zurückhaltung für 
den Fremden weder anziehend, noch bequem. In Deutschland 
jedoch existirt über diesen Punkt eine Art hergebrachter 
öffentlicher Meinung, welche die Schale für den Kern nimmt. 
Und diese, immerhin erklärliche Voreingenommenheit verhindert 



dann uns, die wir doch selbst — namentlich nördlich der Älainlinie 
— keineswegs frei von würdevoller Steifheit sind, die zu- 
verlässige Tüchtigkeit und einfache, ruhige Liebenswürdigkeit 
des gebildeten Engländers aufzusuchen, die hinter der an- 
scheinenden Unnahbarkeit wohnt. 

Diese weit verbreitete Ansicht also fühle ich mich, in 
Dankbarkeit gegen das mir so gastfreundliche England, ver- 
pflichtet nach Kräften zu widerlegen. 

Dabei „aufrichtig zu sein kann ich versprechen, unparteiisch 
zu sein aber nicht" ; das bekenne ich mit den goldenen Worten 
unseres grossen, weisen Altmeisters. 

Vielleicht gelingt es mir sogar, einige meiner jüngeren 
Landsleute zum eingehenderen Besuche Englands und zu 
näherer Bekanntschaft mit dem Leben in England zu bewegen. 
Sie würden von dort ohne allen Zweifel einen reicheren Schatz 
gesunder Anschauungen und praktisch forderlicher Lebens- 
erfahrungen heimbringen, als aus den gewissen grossen inter- 
nationalen Vergnügungsanstalten Europas, in denen man sich 
zwar sehr angenehm zerstreut, aber nicht sammelt. — 

Da ich im allgemeinen auf meiner bescheidenen Lebens- 
reise kein schweres Bündel von Gelehrsamkeit mit mir trage, 
so darf auch der geneigte Leser in diesen Bildern tiefe Weis- 
heit und hohen Gedankenflug nicht suchen. Ich bitte daher 
meine werthen Genossen auf unserer bevorstehenden Fahrt vor 
allem um gute Reiselaune und um verständnissvolle Nachsicht 
gegen den Reisemarschall, denn — um ein bekanntes, kluges 
Wort nachzubilden — : „Ein jeder giebt nur, was er geben 
kann". 

Unter einer Voraussetzung allerdings würde ich sogar 
mit einiger Sicherheit darauf hoffen, bei meinen geneigten Reise- 
gefährten diese gut gelaunte Nachsicht hervor zu rufen: wenn 
mir nämlich gelungen wäre, wonach ich beim Schaff'en meiner 
Bilder vor allem gestrebt habe: 

dass ein Hauch von dem mächtigen Strome 
frischer, englischer Lebensluft dem Leser auch aus 
diesen Blättern entgegen wehen möge. 



I. 



Einleitung. 



l_Jem deutschen Reisenden, welcher England besucht, steht 
dort ein Freund und Führer von seltener Zuverlässigkeit zur 
Seite. Sicher geleitet er uns über das Meer und zeigt uns 
Weg und Steg durch das fremde Land. Er bereitet uns sorg- 
sam vor auf die riesige Weltstadt, ihre Gasthäuser und Sehens- 
würdigkeiten, ihre Verbindungen und Verkehrsmittel, ihre 
Unterhaltungen und Gefahren. Er führt uns durch das be- 
täubende Gedränge der City, durch das schwarze Wirrsal der 
unterirdischen Eisenbahnen; er erleichtert uns die schwere Last 
der Museen und Sammlungen; er lichtet uns das Dunkel der 
englischen Geschichte; er enthüllt uns die Mysterien der eng- 
lischen Küche. An jedem Morgen weckt er uns zeitig; er weist 
uns an, die kurz gemessenen, hier doppelt kostbaren Stunden 
jedes Tages auszunutzen; er weiss sogar Rath und Trost in 
der unendlichen Oede des Londoner Sonntags und flüchtet mit 
uns nach Hampton Court oder Greenwich- Das Alles thut der 
rothe Bädeker für Alle, die sich ihm anvertrauen. Jeder wird 
ihn loben, der an seiner Hand Städte und Landschaften durch- 
wandert hat und mit erweitertem Blicke, gereiften Lebens- 
anschauungen und nicht fruchtlos erschöpfter Börse aus dem 
gTossartigen Altengland heimgekehrt ist. 

Zu Hause blättern wir die vertrauten Seiten wieder durch 
und besprechen mit des Landes Kundigen die Fülle unserer 
Erinnerungen. Erst dann erkennen wir vielleicht, dass wir doch 
vielfach nur die äusseren Mauern der grossen Inselfestung 
umgangen haben. Die Städte und Häfen, die Kirchen und 
Museen in England haben wir kennen gelernt, nicht aber das 

Oxnptcda, L. v. Bilder. 1 



2 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

lebendige England selbst, jedenfalls nicht einen wichtigen und 
hervorragenden Theil seiner Bewohner und ihr Leben. 

Denn der Engländer der höheren Klassen wohnt und lebt 
nicht in der grossen Stadt, dort arbeitet er nur; er schlendert 
nicht auf Boulevards und sitzt nicht um Mittemacht vor Caf6s, 
denn das verbietet das Klima; er sucht nicht seine Erholung 
mit Frau und Kindern in nahegelegenen öffentlichen Ver- 
gtiügungsgärten, denn solche gibt es für die höheren Stände 
nicht: des Engländers Heimat ist auf dem Lande, in den 
Schlössern und Cottages, in den Parks, Gärten und Gärtchen. 
Den Weg nach dieser Seite des englischen Lebens weist uns 
der getreue Bädeker zwar aus der Feme, aber er verschafft uns 
nicht den Schlüssel, um in die wohlverwahrte Burg einzudringen. 

Der Engländer hat sein Daheim auf dem Lande. Dort 
müssen wir ihn aufsuchen, um seine besten Seiten, die liebens- 
würdigen Eigenschaften zu entdecken, die er hinter einem 
tüchtigen aber ungelenken und abweisenden Aeussem verbirgt; 
denn nur hier öffnet sich diese spröde verschlossene Natur zu 
echter Höflichkeit und herzlicher Gastfreiheit. 

Dieses Daheim will er in Haus und Garten geschmückt 
sehen, er studirt darauf, es mit allem Comfort und aller Cultur 
auszustatten, die der Boden, das Klima und der nationale 
Reichthum entwickelt haben. 

Nur dann also besitzen wir eine volle Anschauung des 
englischen Lebens, wenn wir Englands Landsitze und Gärten 
kennen lernten. Zugleich aber werden wir dort in ein uns 
neues Culturgebiet, in die englische Gartenkunst eingeführt. 
Die Pflege und Ausschmückung der Landsitze, unter Bedin- 
gungen, die von den Linien unseres continentalen Lebens wesent- 
lich abweichen, hat die Gärtnerei in England zu einer eigen- 
thümlichen und hochentwickelten Luxusindustrie ausgestaltet. 

Zunächst erlaubt das sonnenarme feuchte Klima nicht ein 
anhaltendes ruhiges Verweilen im Freien; es gestattet den 
reichlichen Genuss der frischen Luft nur in lebhafter Bewegung. 

Dieses kühle Klima reift auch in einem grossen Theile 
Englands viele von den edleren Früchten nicht, an denen bei uns 
jedes Gärtchen selbst dem Unbemittelteren seinen Antheil gibt 

Andrerseits gewähren die wärmeren, in der Regel frost- 
freien englischen Winter einer grossen Zahl von Gewächsen, 
die unser härteres Klima vernichtet, das Fortkommen im Freien. 



Einleitung. O 

Hierzu gesellt sich noch der meistens leichte und dabei 
frische Boden in einem grossen Theile von England. Dieser, 
in Verbindung mit dem feuchten Klima, erzeugt oder gestattet 
die saftigen reinen smaragdgrünen Rasenflächen, die dem eng- 
lischen Garten seinen Grrundzug geben und deren glückliche 
Nachahmung bei uns so selten gelingt. 

Endlich führt die bestehende politische und soziale Ein- 
theilung des Jahres den Engländer während der schönsten 
Monate des Frühlings und Sommers in die Stadt; auf dem 
Lande lebt er im Spätherbst und Winter, 

Diese Umstände sind es hauptsächlich, die, unterstützt von 
dem hohen durchschnittlichen Reichthum der grösseren Grund- 
eigenthümer und der zahlreichen kleineren Landhausbesitzer, 
zu einer völlig eigenthümlichen Methode in der Behandlung und 
Cultur der Parks und Gärten führten. 

Die Parks sollen möglichst weit, dabei bäum- und wild- 
reich sein, um Raum für energische Bewegung im Freien, für 
die Jagd und den nationalen Sport zu schaffen. Die Gärten 
sollen im kurzen. Sommer dichtes Laub und heitere Blumen 
tragen, sie sollen aber vor Allem in der rauhen Jahreszeit keine 
blätterlose Oede, sie sollen immer grün sein. Das Haus soll 
während dieser Zeit im Wohnzimmer und im Wintergarten 
einen stets blühenden Blumenfrühling zeigen. Die Tafel ver- 
langt frische Früchte und junge Gemüse das ganze Jahr hindurch. 
Es soll mithin der englische Landsitz nicht etwa nur dem 
Stadtbewohner einen nothdürftigen Behelf für den Sommer 
liefern, er soll vielmehr dem Besitzer und seinen zahlreichen 
Gästen einen geräumigen warmen reichen, einen „comfortablen" 
Aufenthalt im Herbste und Winter bieten. Hier will der Eigen- 
thümer sich durch Gärtnerei, Landwirthschaft, Pflege des 
Forstes und durch die Anstrengung der Jagd wieder für die 
heisse gehetzte Season in London stärken, hier will er in aus- 
reichenden Räumen bequeme Geselligkeit üben, hier will er als 
Gutsherr seinen politischen und sozialen Einfluss geltend machen 
und geniessen. 

So hat sich die heutige englische hohe Gärtnerei ent- 
wickelt aus einem Kampfe gegen die Ungunst des Klimas und 
aus einer künstlichen Verschiebung der Jahreszeiten. Der 
schwere Streit ist siegreich durchgefochten vermöge der 



4 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

charakteristischen Rücksichtslosigkeit des Engländers gegen 
den Kostenpunkt, wenn ein bestimmter, nothw endiger oder 
Wünschenswerther Zweck erreicht werden soll. Es bildete 
sich eine besondere Schule der Gärtnerei, die, zugleich mit 
dem bunten Teppiche der Sommerblumen, den Garten der 
immergrüjien Gewächse um das Haus legt; die aber vor Allem 
im Treibhause zu jeder Jahreszeit das beste Obst, die seltensten 
Blumen für Tisch und Wohnzimmer hervorbringt und daneben 
im Wintergarten einen erfreulichen, reich geschmückten 
Aufenthalt für die Hausgenossen schafft. 

Es ist also, wie wir sehen, das Treibhaus die nothwendige 
Grundlage dieses weitverbreiteten grossartigen gärtnerischen 
Comforts. 

Vereinzelte Ansätze und unvollkommene Nachahmungen 
dieser englischen Treibhausgärtnerei treffen wir auch in der 
Heimat; aber nur in seltenen einzelnen Fällen ist diese Kunst 
bei uns zu einer ähnlichen Stufe der Vielseitigkeit und Vollendung 
entwickelt w^ie sie in England den Durchschnitt der Leistungen 
bildet. 

Diese hohe englische Gärtnerschule fand ihre Zusammen- 
fassung in dem grossartigen botanisch-gärtnerischen Institute 
zu Kew; von dort aus entwickelten sich, dem Gesetze der 
Arbeitstheilung folgend, die riesenhaften Warmhausbetriebe 
der grossen Handelsgärtner. 

In diese Welt lade ich meine Leser ein, mir zu folgen. 
Unsere Wanderung wird uns nicht mit einem Ballaste lehrhafter 
Beschreibungen, nicht mit photographisch genauen Wiedergaben 
technischer Einzelheiten beladen; sie bietet nur wechselnde 
Bilder, die sich dem reisenden Gartenfreunde als Gast auf eng- 
lischen Landsitzen und als Besucher englischer Gärten entrollten. 

Die nachfolgenden Blätter sollen daher oberflächlich sein. 
Falls sie sich wider Willen irgendwo in der Ueberfulle des 
Stoffes verlieren, bitte ich den Sachkundigen wegen der un- 
vermeidlichen dilettantischen Mängel und Lücken um Nachsicht; 
mit den übrigen geneigten Lesern aber bin ich vollständig 
einverstanden, wenn sie ermüdende Aufzählungen und Schilde- 
rungen fremdartiger Einzelheiten wohlwollend überschlagen. 



IL 

Hatfleld House, der Landsitz des 
Marquis von Salisbury. 



/\us der langen Reihe jener bemerkenswerthen Eigen- 
thümlichkeiten des englischen Volkscharakters, welche wesent- 
lich dazu mitgewirkt haben, das Inselreich so frühzeitig auf 
seine Hohe zu fuhren und dort bis jetzt dauernd und fest zu 
erhalten, tritt, verwandt mit dem allgemeinen Geiste der Gesetz- 
lichkeit, ganz besonders der historische conservative Sinn des 
Engländers hervor. Dieser Sinn zeigt sich namentlich auch 
in der weit verbreiteten Bekanntschaft mit der vaterländischen 
Geschichte, in dem warmen Interesse für die Denkmale und 
für die bedeutenden wirkungsvollen Menschen der Vorzeit. 
Jeder Lebende fuWt sich in traditionellem Respecte mit seiner 
Vorgeschichte und ihren hervorragenden Vertretern verbunden; 
er sieht die Entwickelung seines Landes durch die Jahr- 
hunderte greifbar vor seinen Augen entrollt, und naturgemäss 
vereinigt sich in ihm die erhaltende Neigung mit der ange- 
borenen weiterbildenden Thätigkeit. 

So genährt und erzogen strebt der englische Volksgeist, 
von positiven Gesichtspunkten ausgehend, stets nur nach den 
nächsten praktischen Zielen und schweift nicht haltungslos 
nach willkürlichen doctrinären Theoremen in die Irre. 

Allerdings konnte sich dieser glückliche historische Sinn 
des Volkes im Wesentlichen ungestört entwickeln. Es ist Eng- 
land stets vergönnt gewesen, ruhig an sich weiter zu bauen und 
die Fäden seiner Vergangenheit stetig vom Vater durch den 
Sohn zum Enkel fortzuspinnen. Kein dreissigjähriges Kriegs- 



6 



Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 



elend hat die hohe Kultur und Blüthe des Landes unter Schutt, 
Thränen und Blut auf fast zwei Jahrhunderte begraben, hat die 
stärksten Wurzeln der nationalen Kraft zerstört und die geistig" 
wie materiell verarmten Nachkommen, jenseit einer weiten 
Kluft, ihren Vor£ahren und ihrer eigenen Vergangenheit ent- 
fremdet gegenüber gestellt. Nie ist England zum Spielballe 
und Tummelplatze jedes raubgierigen Nachbars erniedrigt 
gewesen; nie ist die imponirende Entfaltung seiner nationalen 
Wehrkraft, das nothwendigste Schutzmittel für den nationalen 
Wohlstand, durch ein verfassungsmässig gelähmtes, organisch 
auseinander strebendes föderatives Regiment unterdrückt worden. 
Endlich drang auch die englische Kirchenreformation, getragen 
von der starken Staatsgewalt, zur Einheit durch; es ent- 
stand kein Riss inmitten der Nation, in den fremde Gewalten 
ihre Hebel mit Erfolg hätten einsetzen können. 

Unter allen Figuren in der Geschichte Englands, welche 
sich über das gewöhnliche menschliche Maass, der Herrscher 
wie der Beherrschten, erheben und um so grösser erscheinen, 
je tiefer im Laufe der Jahrhunderte alle umgebenden, ehedem 
hervorragenden Spitzen in Vergessenheit versunken sind, — unter 
allen nimmt im Herzen jedes Engländers die Königin Elisabeth 
den ersten Platz ein. Sie ist in der Erinnerung ihres Volkes 
lebendig geblieben ; nicht wandelt sie nur als blutloser Schatten 
durch die Schlösser, Gallerien und Bibliotheken. Der stetig 
fortgesponnene Faden der geschichtlichen Entwickelung ver- 
bindet noch immer »Good Queen Bess« mit denen, die drei Jahr- 
hunderte nach ihr leben. 

Zu dieser Wahrnehmung gelangt man schon wenn, man in 
englischer Gesellschaft die Kapelle Heinrichs VII. in der West- 
m inster Abtei betritt und bemerkt, wie dort der ehrfurchtsvoll 
schweigende Kreis das Monument der Königin umsteht, allen 
ihren Nachbarn gleichgültig vorbeigehend; oder wenn der 
Beefeater im Bell Tower das Gefangniss der jungen Prinzess 
Elisabeth zeigt und daneben vom schönen Essex und der armen 
zehntägfigen Königin Lady Jane Grey erzählt. Ebenso ver- 
schwindet in White Hall Karl I., in St. James's Palast die „blutige 
Mary", in Hampton Court Wolsey und Heinrich VIII., ja! es 
verblasst, zwischen allen starken Tudors und schwachen Stuarts, 
selbst der grosse Protector Cromwell vor dieser einzigen 



Hatfield House, der Landsitz des Marquis von Salisbury, 7 

erhabenen und volksthümlichen Gestalt. ,Und es ist nicht nur 
märchenhafte femabliegende Romantik di^ sie umgibt, ^wie 
unsere Kaiser: den „Rothbart" und* den „letzten Ritter"; nein! 
der englische Protestant jeder Partei und Sekte sah und sieht 
noch heute in ihr die endliche Befreierin von der Herrschaft 
Roms, die Vorkämpferin fiir Gewissensfreiheit, die Beschützerin 
Englands gegen den spanischen Kreuzzug und gegen die 
schottische katholische Prätendentin, die Erwerberin Irlands, 
die Begründerin der Macht und Grosse des britischen Volkes. 
Man hat ihr noch nicht die weise Selbstüberwindung vergessen, 
mit der sie in der Frage wegen des königlichen Monopolrechtes 
dem energischen Widerstände des Unterhauses nachgab und 
wie sie hernach sogar den Gemeinen in würdigen und warmen 
Worten für ihre Pflichttreue in der Vertheidigung des Volks- 
wohles dankte. ^ 

So fühlt die. Gegenwart sich der Königin Bess als ihrer 
direkten Erblasserin dankbar verbunden ; längst sind die kleinen 
Schwächen der Frau vergessen, die als Königin schon bei 
ihren zeitgenössischen Widersachern so hoch stand, dass die 
Puritaner, die sie selbst hatte in's Gefangniss werfen lassen, 
dort für ihre Errettung von jesuitischen Mordanschlägen beteten, 
und dass ein besonders fanatischer Sektirer dem soeben auf dem 
Schaffote die rechte Hand abgeschlagen war, mit der Linken 
seinen Hut schwenkte und laut rief: „God save the Queen !" 

Solche und ähnliche, durch den Vergleich mit den leider! 
weit verschiedenen Schicksalen des eigenen Vaterlandes nicht 
erheiternde Betrachtungen werden dem deutschen Reisenden 
häufig das Geleit geben, wohin er auch in England seine 
Schritte wendet. Ueberall hier findet er Vergangenheit und 
Gegenwart friedlich nebeneinander und in harmonischer Folge 
vereinigt , überall stellt sich aus Erhaltung und Fortbildung ein 
einheitliches Ganzes zusammen. — 

Wir verlassen nach kaum einstündiger Fahrt unsem Zug 
auf einer Station der Grossen Nordbahn, die uns von King's 
Gross dem dunstigen London entfuhrt hat. Schon wenige 
Schritte ausserhalb des Bahnhofes haben wir ein Stück Mittel- 
alter vor uns. Wir betreten ein Städtchen, dessen malerische 
weissgetünchte Fachwerkhäuser sich mit ihren spitzen Giebeln 
und ihren kleinen tiefen Fenstern der Strasse zuwenden und 



8 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner» 

die mit dem übergebauten, Sonne und Luft' suchenden Sommer- 
zimnier die schmale Gasse überragen. Sie versetzen uns in die 
Zeiten der ersten Tudors, \vo der Haustein noch den Kirchen 
und Herrenhäusern vorbehalten und der rothe Backstein ein 
neuer Luxus war. Das Städtchen lag ursprünglich nur im 
Thale; die Kirche allein, älter als Wilhelm der Eroberer, stand 
darüber erhöht. An dieser vorbei zog sich später die neuere 
Hochstrasse, dem Wege nach London entlang, den Hügel 
hinan und mündete unter dem alten Sommerpalaste der frommen 
Bischöfe von Ely. Vielleicht war dieser neue Stadttheil noch 
nicht ganz oben angelangt, als die Bischöfe den Hügel schon 
wieder hinabstiegen um dem zweiten Tudor, Heinrich VIIL, 
in ihrer Sommerfrische Platz zu machen. Hernach wurde es 
dann zu spät die Höhe vollends zu erklimmen, denn als auch 
Jakob I. den alten Bischofspalast wieder verliess, schied der 
neue Eigenthümer, Robert Cecil erster Earl von Salisbury, 
Elisabeths zweiter grosser Minister, sich und sein „Haus" 
durch die heute noch stehende hohe Parkmauer von dem 
emporstrebenden Städtchen ab. Zwei und ein halbes Jahr- 
hundert lag der Ort alsdann ruhig in seinem alten Weichbilde, 
bis wieder ein Grosser des Reiches, dieses Mal ein ganz 
moderner, der Direktor der ^„Grossen Nordbahn", sich auf 
dessen anderer Seite ansiedelte, der nun die neuesten Häuser 
sich zuwenden. 

Das Städtchen heisst Hatfield und war schon eine erwähnens- 
werthe Niederlassung, als es unter dem Namen „Hetfelle" in das 
Doomsdaybook (1086) eingetragen wurde. Hier sassen Benedik- 
tiner von der Abtei Ely und verwalteten ihr schönes Gut, ein 
Geschenk des sächsischen Königs Edgar aus den Tagen des 
heiligen Dunstan. Es umfasste etwa viertausend Morgen. 
Später ward aus der Abtei zu Ely ein Bischofssitz und aus 
dem Meierhofe zu Hatfield eine Sommerresidenz der Bischöfe. 
Um das Jahr 1480 bauten diese sich dort einen „Palast**, von 
dem wir ein herrliches Stück Ueberrest näher kennen lernen 
werden. Jedoch sollten die geistlichen Herren sich des so ver- 
schönerten Besitzes nicht mehr lange erfreuen, denn im Jahre 1534 
mussteder neue Bischof vom König HeinrichVIIL seine Ernennung 
mit der Abtretung von Hatfield bezahlen. Wie beide hohe 
Herren sich wegen dieser Sünde der Simonie vor ihren Gewissen 



Hatfield House, der Landsitz des Marquis von Salisbury. 9 

absolvirten, weiss man jetzt nicht mehr genau. Vermuthlich 
verfuhr Heinrich VIII. hier ähnlich wie gegen die Gläubiger 
des Cardinais Wolsey, als er dessen ungjeheures Vermögen 
einzog. Er überwies den Berechtigten als Vergütung eine 
Reihe von Forderungen der Krone, die aber schon lange 
notorisch „nothleidend", nicht mehr realisirbar waren. Leider 
ist ja zu allen Zeiten und aller Orten das Gut der Kirche, 
deren Reich nicht von dieser Welt sein soll, von den frommen 
Grossen dieser Erde als passende Beute angesehen. Auch die 
mächtigen rechtgläubigen Laien hatten stets nicht minder „einen 
guten Magen" als Mephisto ihn, in seiner tadelnswerthen par- 
teiischen Einseitigkeit, der Kirche zuschreibt und konnten „un- 
gerechtes Gut verdauen". 

So wurde Hatfield eine königliche Residenz und sogar 
eine sehr beliebte und viel bewohnte. Eduard VI. und seine 
Schwester Elisabeth verlebten hier einen Theil ihrer Jugend 
imd letztere bestieg von hier Englands Thron. Ihrem Nach- 
folger jedoch, Jakob L, gefiel Teobalds, das grossartigere Schloss 
seines Ministers Robert Cecil, besser und er tauschte es im 
Jahre 1607 gegen Hatfield ein. Mit diesem Wechsel stieg der 
Bischofs- und Königssitz zu frischem und dauernden Glänze empor, 
denn der neue Eigenthümer baute in den alten Park das 
prächtige „Haus", welches wir, nebst den weiten Gärten, mit 
denen er es umgab, heute durchwandern wollen. 

Indessen begann die Verbindung der Cecils mit Hatfield 
nicht erst damals, als sie dessen Besitzer wurden. Schon 
Robert Cecils, des ersten Earls von Salisbury, Vater William 
Cecil, der berühmte erste Minister Elisabeths während vierzig 
Jahren, uns Deutschen aus Schillers Maria Stuart als Lord 
Burghley wohl bekannt, liess die Spuren seines Wirkens hier 
zurück. Er besass eine hervorragende klassische Bildung und 
gab, erst neunzehn Jahre alt, den Studenten von St. John's 
College zu Cambridge schon griechischen Unterricht. Bereits 
unter Eduard VI. war er Sekretär des Lord Protector, des 
Herzogs von Somerset; nach dessen Sturze wurde er zwar 
zuerst in den Tower gesetzt aber bald darauf zum Staats- 
secretär befördert. Als die „blutige" Mary zur Regierung kam, 
stellte er sich zwar an die Spitze der Opposition im Unterhause, 
gleichzeitig aber bewahrte er sich die Gnade der Königin, 



10 Englische Landsitze» Gärten und Gärtner. 

indem er sich wieder öffentlich zum Katholicismus bekannte 
und — wie es die Königin verlangte — einen Hauskaplan 
hielt Er war ein verständiger Mann, verspürte daher keinen 
Beruf zum Märtyrer. Als Elisabeth im Jahre 1558 aus ihrer 
Gefangenschaft in Hatfield den Thron bestieg, ernannte sie 
noch hier William Cecil, ihren bewährten geheimen Rathgeber, 
zu ihrem Ersten Staatssecretär. Er blieb in dieser Stellung 
und in der noch höheren als Lord High Treasurer bis zu seinem 
Tode im Jahre 1598. Augenscheinlich war er der Mann, der 
von Allen, welche Elisabeth und ihre königliche Macht um- 
warben, die meisten von den Eigenschaften vereinigte, deren 
der erste Diener und Rath der energischen Selbstherrscherin 
bedurfte. Nach längerem Schwanken hat sein geschichtliches 
Bild sich etwa dahin festgestellt: dass er, wenn auch kein 
grosser Mann und kein sogenannter edler heroischer Charakter, 
jedenfalls ein grosser Minister war. — Vielleicht bedingt das 
Eine nicht immer nothwendig das Andere. 

Und niemals verliess das Vertrauen der Königin ihren 
treuen Diener. Ihrem Herzen standen der hofmännische ge- 
wandte Leicester und der schöne glänzende Essex näher, 
Burghley aber wurde stets gegen die Intriguen und Angriffe 
aller Nebenbuhler in den höchsten Ehren erhalten. Für ihn 
galt die damalige strenge Etikette nicht, nach welcher Jeder- 
mann, den die Königin anredete oder auch nur ansah, sofort 
auf die Kniee sinken musste; Jiir Burghley war in Gegenwart 
der Majestät stets ein Sessel vorhanden. Auch ihre Sparsam- 
keit in Ehren und Geldbelohnungen vergass sie für William 
Cecil. Er hinterliess, nach Macaulay, etwa dreihundert ver- 
schiedene Landgüter. Zwölf königlicher Besuche hatte er 
sich zu erfreuen; jeder dauerte mehrere Wochen und kostete 
dem Wirthe vierzig- bis sechzigtausend Mark. Indessen war 
der ganze Zuschnitt seines Haushaltes oder richtiger: Hof- 
staates diesem königlichen Luxus gewachsen. Er hatte zwei 
Residenzen in London und zwei auf dem Lande. In der Stadt 
kostete sein Haushalt wöchentlich sechshundert Mark, wenn 
er abwesend und achthundert bis tausend Mark, wenn er 
anwesend war. Dort hielt er stets drei offene Tafeln. Sein 
Gefolge bestand aus zwanzig angesessenen bemittelten Edel- 
leuten. Er war ein sehr vornehmer und stolzer aber auch, was 



Hatfield Hotise, der Landsitz des Marquis von Salislury, 11 

noch mehr ist, ein sehr kluger und scharfsinniger Mann. 
England verdankt William Cecil, wie seinem jüngeren Sohne 
und Nachfolger Robert Cecil, seinen grossen Aufschwung unter 
Elisabeths langer Regierung und die endliche feste Gründung 
des protestantischen Glaubens. Dieser Sohn war sein un- 
mittelbarer Nachfolger als Elisabeths erster Minister. Das 
Aeussere des jüngeren Cecil konnte die Königin nicht be- 
stochen haben. Er war kränklich, seine Gestalt verwachsen 
und zwerghaft, aber in diesem elenden Körper lebte ein starker, 
thätiger, geduldiger, kluger Geist und eine zuverlässige, muthige 
Pflichttreue. Robert Cecil ererbte in Wirklichkeit von seinem 
Vater die Eigenschaften, die einen bedeutenden Staats- und 
Geschäftsmann ausmachen — eine Erbschaft, welche immer noch 
häufiger eröffnet als angetreten wird. 

Nicht ohne Grund wird ihm die kluge und diskrete Art, 
in welcher er den Uebergang der Krone von der alternden 
Elisabeth auf ihren unruhigen ungeduldigen schottischen Gross- 
neffen vermittelte, zum Verdienste gerechnet. Er traf im 
Stillen alle Vorbereitungen für einen Wechsel ohne Störungen 
und stand an Elisabeths Seite als sie starb (1603). Sie hatte ihn 
stets gern mit seiner körperlichen Missgestalt geneckt und auch wol 
in ihren Briefen „Pigmäe", „kleines Männlein" angeredet. Als es 
nun an's Sterben ging und sie irreredend mit starrem Blicke im 
Garten von Richmond dasass, von ihrem rathlosen Hofe um- 
standen, sagte Cecil: „Euer Majestät müssen jetzt zu Bette 
gehen". „Müssen"! stiess die Königin hervor, „müssen! Ist 
„müssen" ein Wort für eine Fürstin? Oh, Männlein, Männlein! 
Dein Vater hätte sich ein solches Wort nicht erlaubt, aber 
Du wirst jetzt unverschämt, weil Du weisst, dass ich sterben 
werde". — Das unglückliche Wort „müssen" war wol des 
armen Cecils einzige Pfiichtvergessenheit gegen seine Gebieterin 
während seiner langen Dienstzeit. 

Jakob I. zeigte sich nicht undankbar gegen Cecil. Nach 
zwei Jahren war dieser Earl of Salisbury, Ritter des Hosen- 
bandes und bald darauf Lord High Treasurer. Aber der Herr 
selbst war ein Anderer. Er war kein Selbstherrscher wie 
Elisabeth und verlangte keine äussere ceremoniöse Unter- 
würfigkeit. Es regierte sich ganz bequem unter ihm, falls er 
nur hinreichend Freiheit und Geld fand, um die neuen grossen 



12 Englische Landsitze , Gärten und Gärtner, 

Verhältnisse mit seinen „hungrigen** schottischen Günstlingen 
zu geniessen. Man beglückwünschte eines Tages Cecil, dass 
er nun nicht mehr zu knieen brauche; er erwiderte: „Wollte 
Gott, ich spräche noch auf meinen Knieen". Er hatte hart 
zu kämpfen gegen des Königs Verschwendung und Haltlosig- 
keit und mit Schmerz sah er England von der hohen Stellung 
herabgleiten, die es unter Elisabeth in Europa eingenommen 
hatte. Um so weniger wol mochte er sich weigern, dem 
Könige zu Willen zu sein, als Jakob wünschte, Robert Cecils 
schönen Landsitz Teobalds bei Cheshunt, in nächster Nähe 
von London, gegen das entferntere Hatfield einzutauschen. 

Jedoch dem Minister genügte der „Palast" in Hatfield 
ebenso wenig als dem Könige und da er zudem die Bauleiden- 
schaft hatte, so benutzte er Ort und Gelegenheit, vermuthlich 
auch günstige Tauschbedingungen, um sich ein neues „Haus" 
neben dem alten „Palaste" und diesen weit überragend, zu bauen. 

Das neue „Haus" krönt, weithin sichtbar, die Anhöhe, 
welche wir vom Bahnhofe aus hinansteigen. Durch den Um- 
schwung der Zeiten und Communicationen kehrt jetzt das 
Schloss dem Ankömmlinge seine nördliche Rückfront zu, während 
die südliche Vorderseite, der alten Heerstrasse von London 
zugewandt und mit ihr durch eine grossartige Allee verbunden, 
in einsamer Hoheit die Gärten überragt. Nach Nord und 
Nordost dehnt sich der Park aus; nicht sehr gross, seine Um- 
fassungsmauer misst nur eine deutsche Meile. Ein neuer Weg 
leitet uns vom kürzlich eröffneten Parkthore am Bahnhofe nach 
Osten und biegt in die Hauptallee ein, die südlich zum 
Schlosse führt Der Park tritt hier unmittelbar an das Haus 
heran. Das Schloss bildet drei Seiten eines offenen Vierecks. 
Die ungebrochene nördliche Rückfront, in ihrer Mitte durch 
einen hohen Uhrthurm gekrönt, hat eine Länge von etwa 
achtzig Metern; die nach Süden vorspringenden Seitenflügel sind 
etwa sechsundvierzig Meter lang. Das Haus ist aus rothem 
Backstein aufgeführt, die Einfassungen der Fenster und Thüren, 
die Mauerkanten und Krenelirungen sind von dunklem Hau- 
stein. Die vordere südliche Front ist eine der grossartigsten 
Schöpfungen der englischen Architektur in jener eigenthümlichen 
Mischung des späteren gothischen oder perpendikulären Stils 
mit der Renaissance welche man den »Elisabethstil< genannt, 



Hatfield HousCf der Landsitz des Marquis von Salishury. 13 

• 

hat. Die beiden auf dieser südlichen Seite weit vortretenden 
Flügel sind jeder mit zwei ausspringenden viereckigen Thürmen 
abgeschlossen, zwischen denen doppelte Freitreppen zu weiten 
mit Glas geschlossenen Pforten führen. Längs der, zwischen 
diesen beiden Flügeln weit zurücktretenden südlichen Front 
des Hauptgebäudes, welches zwei Stockwerke enthält, während 
die Flügel es mit einem dritten überragen, zieht sich eine 
doppelte Reihe aufeinander gestellter dorischer Säulen hin. 
Der grosse Haupteingang, dessen Ueberbau, der Uhrthurm, in 
mehreren Stockwerken emporstrebt und mit einer zwiebeiför- 
migen Kuppel abschliesst, zeigt nach damaligem Geschmacke 
eine aufsteigende Zusammenstellung von Säulen dorischer, 
jonischer und korinthischer Ordnung. An jeder Seite des 
mittleren erhöhten Hauptportals, welches das kolossale Wappen 
der Cecils: den von Löwen gehaltenen und mit Löwen be- 
säeten Schild trägt, erheben sich auf dem Dache zwei niedrige 
geschweifte Giebel. Das Ganze bringt durch seine edlen Ver- 
hältnisse, mannigfaltigen Verzierungen und durch den Gegensatz, 
in welchem sich der rothe Backsteinbau von dem üppigen 
Grün der Landschaft abhebt, eine aussergewöhnlich grossartige 
Wirkung hervor. 

Der Hof zwischen den beiden Flügeln ist ganz frei; eine 
breite Terrasse, deren dichter grüner Rasen durch blühende 
Büsche und Blumenbeete unterbrochen wird, erstreckt sich vor 
der Hauptfront längs dem Schlosse. Von ihr aus fuhren nach 
vorn und nach den Seiten schwere Sandsteintreppen in die 
Gärten hinab. Hier mündet auch, vor der Hauptfront, die 
grosse etwa fünfzig Meter breite Einfahrtsallee von mächtigen 
Linden, an deren fernem nicht absehbaren südlichen Ende der 
Park durch ein reich vergoldetes Eisengitter sich gegen die alte 
Heerstrasse nach London abschliesst. 

Da ich den Vorzug genoss, Hatfield House als Gast zu be- 
treten und der Hausherr heute durch Geschäfte in Downing- 
street gefesselt war, so empfing mich sein ältester Sohn, der 
junge Lord Cranbome und erbot sich mir das „Haus" und die 
Gärten zu zeigen. Nach den ungezwungenen Gewohnheiten, die 
auf den grossen englischen Landsitzen jedem Gaste, und auch 
den Wirthen, möglichst selbständige Bewegung gestatten, 
wusste ich, dass ich die Dame des Hauses erst Abends beim 



14 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

Dinner begrüssen wurde. Wir begaben uns daher sofort auf 
die Wanderung. 

Der erste Robert Cecil war sein eigner Baumeister und 
wahrhaftig! er hatte einen grossartigen Begriff von seiner Auf- 
gabe; er wusste, wie ein prächtiger ländlicher Herrensitz zu- 
geschnitten und ausgestattet sein muss, um nicht nur seines 
vornehmen Eigenthümers würdig zu erscheinen, sondern auch 
den Souverain und seinen Hof festlich zu empfangen und zu 
bewirthen. 

Sehen wir jetzt, wie er seine Aufgabe gelost hat. 

In jedem Flügel des Schlosses führt eine Treppe zum 
ersten Stocke empor. Beide sind in Eichenholz schwer ge- 
schnitzt, die östliche jedoch ist reicher mit allerlei Figuren 
verziert, da sie zu denjenigen Gemächern des ersten Stockes 
führt, die für die Majestät bestimmt waren. Diesen oberen 
Stock füllt in der ganzen Länge der Hauptfront des Mittel- 
baues eine Gallerie aus, sechsundfünfzig Meter lang. Sie ist 
an Decken und Wänden mit reichem eichenen Täfelwerke be- 
kleidet, das durch silberne Armleuchter unterbrochen wird, 
Grrosse, bis beinahe auf den Fussboden gehende Fenster führen 
genügendes Licht zu, auch wird der allgemeine dunkle Ton 
des Raumes durch rothe Vorhänge und durch eine Waffen- 
sammlung belebt. Auf der westlichen Seite stösst diese Gallerie 
an einen, jetzt als Bibliothek reich und bequem eingerichteten 
saalartigen Raum. Auf der anderen Seite der Gallerie ist ein 
gleich grosses Gemach, The King's Chamber, denn hier und in 
den anstossenden Schlafzimmern sollten die Majestäten wohnen, 
in der Gallerie aber und jenseit derselben, in der jetzigen 
Bibliothek, die Feste sich entwickeln. Die Verbindungen sind 
durch die zwei Treppen aufs Beste hergestellt und zugleich 
ist die Raumverschwendung für ein übergrosses Staatstreppen- 
haus in der Mitte des Schlosses vermieden, welches sich oft 
wie ein riesiges fremdartiges Ungeheuer in's Unendliche breit 
macht und ein halbes Dutzend unentbehrlicher Zimmer zum 
Fenster hinauswirft. 

Auf die königlichen Wohnräume ist selbstverständlich aller 
Glanz und Reichthum verwendet, den die damalige Zeit zu er- 
sinnen vermochte. Aus den Kassettirungen des Plafonds 
hängen metallene Verzierungen herab, die Wände sind (wol 



Hatfietd House, der Landsitz des Marquis von Saiisöurv, 15 

erst später) mit weissem Atlas bespannt, die Möbel mit rothem 
Sammet und Gold überzogen. Ein bis an die Decke ragender 
Kamin wird durch die Bronzestatue Jakobs I. gekrönt. 

Die Arbeiten der Holztäfelung, womit das Schloss hier und 
in vielen anderen seiner Räume verziert ist, sind von seltener 
Schönheit und verdienen eine nähere Betrachtung. Man weiss 
aus den Bauakten, dass der Bauherr den Entwürfen zu diesen 
Decorationen ganz besondere Aufmerksamkeit widmete. Er ver- 
mied thunlichst die grossen ebenen Flächen, verschmähte alle 
überladene Vergoldung, ebenso die dem englischen Klima nicht 
Stand haltenden Wandmalereien und wendete auch keine Leder- 
tapeten an. Dafür bekleidete er das Haus mit einem seltenen 
Reichthum von Holzsculptur. 

Dorische und ionische Halbsäulen mit reichen Laubkränzen 
an den Kapitalen schmücken die königlichen Schlafzimmer; 
in der Kapelle und in der grossen Speisehalle, beide zu ebener 
Erde, sind die Wände in einfachere grosse Fächer eingetheilt, 
hier abgerundet, dort rechteckig. Diese Fächer sind dann 
wieder mit Arabesken von zartester Arbeit verziert. Ueberall 
begegnet man reichen Friesen und Architraven, Blumen- 
gewinden und Pfeilern. Aber trotz der Zartheit in der Aus- 
führung erweckt diese Decoration den Eindruck des Warmen, 
Massiven, Dauerhaften — des Einheimischen. Sie entspricht 
durchaus dem vornehmen ernsten Stile des Hauses und dem 
nicht weniger ernsten Charakter der umgebenden englischen 
Landschaft, in welcher dieses reich gemaserte und kräftig 
gefärbte Eichenholz gewachsen ist. 

Als wir in der Reihenfolge dieser grossartigen Staats- 
gemächer den ers^ten Stock fast durchmessen hatten, öffnete 
mein junger Führer eine kleine Thür. Wir traten in eine 
Art von Gallerie oder Prieche ein, welche als hohe Empore die 
eine Breitseite eines kirchenhaft langen und weiten, zwei Stock- 
werke hohen Eaumes einnimmt. Durch Oeffnungen, die mit 
Flügeln aus durchbrochenem Holzwerke verschliessbar sind, 
sahen wir hinab in die grosse »Hall«, den Speiseraum. 

„Wir wollen die Hall heute Abend von unten genauer be- 
sehen", sagte der junge Lord, „ich brachte Sie jetzt nur hier- 
her, damit Sie die Fahnen betrachten, die vor dieser Empore 
aufgehängt sind. Es sind Franzosen aus der Schlacht bei 



Ib Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

Waterloo: der Herzog von Wellington schenkte sie hierher. 
Ich dachte mir, diese Erinnerung müsste Sie als Hannoveraner 
besonders interessiren. Bei grossen Festen wird hier oben 
Musik gemacht und sie klingt an der flachen weissen kasset- 
tirten Gipsdecke über uns recht kräftig wieder. — Jetzt haben 
wir Alles im ersten Stock gesehen". 

„Aber", frug ich, „wo wohnten und schliefen denn wohl 
die Gäste, die zu den grossen Festen hier erschienen und 
wo wurde das königliche Gefolge untergebracht?" 

„Ich weiss es eigentlich nicht recht", erwiderte Lord 
Cranbome, „denn zu ebener Erde sind ausser dieser Hall und 
der Kapelle nur die Drawingrooms und die Wohnzimmer meiner 
Eltern und oben, im zweiten Stock der Flügel, wo ich mit 
meinen fünf Brüdern und zwei Schwestern hause, da sieht es 
nur bescheiden aus. Auch nimmt unser grosses Familienarchiv, 
das die bekannten „Hatfield Papers" enthält, dort viel Raum 
ein. Indessen", fuhr er fort, „hörte ich oft sagen, dass man in 
früheren Zeiten nicht so viel Ansprüche und auch nicht so viel 
Umstände gemacht hat wie jetzt. Es erschienen auf den grossen 
Festen nicht so zahlreiche Damen, überwiegend Herren. Die 
Kammerjungfem schliefen mit im Zimmer ihrer Lady und die 
vornehmen Diener stellten eine Pritsche vor die Thür ihres 
Herrn. Von letzteren wurden auch wohl mehrere in ein 
Zimmer gelegt. Für die untere Dienerschaft war ausreichender 
Raum im Pferdestalle; davon werden Sie sich hernach selbst 
überzeugen". 

„Eine schöne bescheidene Zeit, die »gute alte«, bemerkte 
ich, „räumen wir das ein; aber wie stand es damals wohl mit 
den Bade- und Waschapparaten, die in unseren jetzigen Schlaf- 
und Ankleidezimmern einen so bedeutenden Raum verlangen?^* 

„Das weiss ich nicht", erwiderte mein junger Führer, „jetzt 
aber ist diese Schwierigkeit gehoben, da das ganze Schloss 
mit heissem Wasser geheizt wird". — 

Wir durchwanderten nun die Wohnräume zu ebener Erde. 
Sie sind stattlich, herrschaftlich und ihre reiche schwere Einrichtung 
entspricht in den Maassen wie in den Stoffen dem Stile des Hauses. 
Ihre schönste Zierde jedoch besteht in den hier vereinigten histo- 
rischen Porträts, deren Originale zum grössten Theile durch 
personliche Beziehungen mit dem Hause Cecil verknüpft sind. 



Hatfield House, der Landsitz des Älarquis von Salisbury. 17 

Heinrich VIII. erscheint mehrfach, darunter einmal von 
Holbeins Meisterhand, mit prachtvollem täuschend gemalten 
Schmucke ; ^ das Bild ist ausgezeichnet durch die Frische der 
Farben. Der dicke polygamische Herr mit seinem etwas rohen 
und grobsinnlichen Ausdrucke erinnert unwillkürlich an den 
^lärchenhelden Blaubart. 

Mary Tudor ist nicht vertreten ; wir wissen, dass ihr Ver- 
hältniss zu William Cecil kein sehr inniges war. Sie traute 
seiner Orthodoxie nicht und er — temporisirte. Auch dauerte 
ihr finsteres Regiment nur fünf Jahre. 

Die Königin Elisabeth erscheint hier in zwei bemerkens- 
werthen Porträts. Einmal jung, als Diana mit der Mondsichel 
und entsprechend durchgeführtem Kostüm. Sie ist in ihrer 
Blüthe dargestellt, etwas fade und weisslich mit blassröthlichem 
Haar. Sie blickt freundlich, aber das helle Auge, fast ohne 
Brauen, ist nicht gerade gewinnend. Das andere Bild, aus 
späterer Zeit, ist ernster: ein stechendes Auge, scharfe Züge 
und harter Ausdruck. Sehr merkwürdig ist ihr reiches Gewand. 
Das schwere Stoffkleid ist übersäet mit eingestickten mensch- 
lichen Augen und Ohren, also wohl die Allwissenheit dar- 
stellend. Wenn sie das Kleid wirklich jemals trug, so haben 
diese unendlich vervielfältigten Organe des Allsehens und All- 
hörens auf die officiellen königlichen Verehrer, deren heim- 
liche kleine Erholungen ja nicht unbekannt geblieben sind, einen 
etwas . unheimlichen Eindruck machen müssen — falls nicht 
etwa diese Herren es besser wussten, wie es mit der königlichen 
Allwissenheit bestellt war. 

Es ist nicht zu leugnen, dass die Königin uns in diesen 
Darstellungen ihrer äusseren Erscheinung unendlich weniger 
gross und imponirend entgegentritt, als in ihrem geschichtlichen 
Charakterbilde. Sie hatte als Frau mancherlei weibliche 
Schwächen und Schatten, als Englands Beherrscherin jedoch 
war sie — „jeder Zoll eine Königin" ! und so bezeichnet sie auch 
Robert Cecils Nachruf: „Wollte Gott, ich müsste noch knieen". 

Zwischen der keuschen Diana und der Allwissenheit 
fesselt uns ein Bild von seltener Lieblichkeit: die poetisch ver- 
klärte Gestalt, die wir „Maria Stuart", die Engländer „Mary 
Queen of Scots" nennen. Es stammt aus ihrer Jugend, so wie 
sie uns Deutschen, wenn auch mit einiger dichterischer Freiheit, 

Omptcda, L. v., Bilder. 2 



18 Englische Landsitte, Gärten und Gärtner. 

auf immer bekannt und vertraut ist. Ein frischer duftiger 
Schmelz ruht auf diesem Bilde; es ist ein echt französisches Ge- 
sicht mit feiner Nase, reizvoll lieblichem Munde, etwas schmach- 
tenden Augen, die nicht gerade einschüchternd wirken imd mit 
ausserordentlich schönen Händen. Ihr Anzug, obschon in der 
fremdartigen Tracht jener Zeit, ist so harmonisch in den 
Farben und der Anordnung, dass man auch hierin die Fran- 
zösin zu erkennen glaubt. Ein solches Bild zu besitzen, wäre 
ohne Zweifel eine seltene Gunst des Geschickes; vielleicht 
würde man sogar dieses Porträt — dem Originale vorziehen, 
welches denn doch seinen verschiedenen Gatten etwas allzuviel 
zu schaffen gemacht hat Zu ihrer Rechten und Linken sehen 
wir zwei vornehme Herren. Rechts der junge, verliebte, un- 
widerstehliche Dudley, der „zu Schiff nach Frankreich" ging, 
imd links derselbe Graf Leicester, lange nach seiner Rück- 
kehr; ein vornehmer, schöner, starker, alter Herr, mit wohl- 
gepflegtem weissen Barte; nicht sehr klug ausschauend, aber 
recht würdevoll. 

Wir verlassen die Drawingrooms im östlichen Flügel durch 
eine der grossen Glasthüren, in England »French Windows^ 
genannt, und stehen auf den breiten Gartenterrassen, die sich 
mit stattlichen Treppenfluchten bis zum Flüsschen Lea hinab 
ziehen, das den Park durchschneidet Auch diese Anlagen sind 
vom Erbauer des Schlosses entworfen ; in einer späteren Genera- 
tion wurden wohl einzelne Aenderungen in der Benutzung 
getroffen. 

Die Gartencultur nahm in England erst zur Zeit der Königin 
Elisabeth einen neuen Aufschwung, gleichzeitig mit dem 
Wechsel in der Bauart der Herrenhäuser auf den grossen 
Landsitzen, die, nach dem Frieden der beiden Rosen, nicht 
mehr befestigte Burgen, sondern frei zugängliche Häuser sein 
sollten. Bis dahin muss der Gartenbau wenig gepflegt worden 
sein. Noch im Jahre 1550 schreibt Roger Asham, Elisabeths 
bekannter Lehrer in den alten Sprachen ^ aus Gent seinen 
Freunden in Oxford: „Wenn man doch allein auf den wüsten 
Plätzen innerhalb Londons solche Gärten anlegen wollte, wie 
sie hier jede Stadt, auf eine Meile hinaus, voll Kraut und Ge- 
müse umgeben; zuvörderst für die Fremden, die diese Kost 
gewohnt sind; nach und nach würde auch die grosse Menge 



Hatfield Hotise, der Landsitz des Marquis von Salisbury. 19 

der Einheimischen aus Noth, Sparsamkeit oder Massigkeit 
davon Gebrauch machen und dann dürften sich in England die 
Lebensmittel bald billiger stellen als es jetzt der Fall ist". 

Wir werden nun sehen, welche riesige Fortschritte die 
Gartenkunst in England in einem halben Jahrhundert gemacht 
hatte; wie es scheint, wesentlich unter dem Einflüsse franzosischer 
Lehrer, denn solche sind auch in Hatfield gewesen. 

Es gibt wol wenige Orte, die dem Gartenfreunde und 
dem Landschaftsgärtner ein grosseres Interesse bieten, als die 
Gärten von Hatfield House. Alle Vergangenheit und die 
neueste Gegenwart bilden hier die stärksten Gegensätze und 
sind dennoch, jede in vollkommener Leistung, zu einem schönen^ 
gTOSsartigen und gefälligen Ganzen verschmolzen. Auch hier 
ist der historische Faden der Entwickelung nie zerrissen; diese 
Gärten und der umschliessende Park bilden ein Stück englischer 
Geschichte. Sie sind zum Theil älter als das „Haus", grösseren 
Theils gleichaltrig. 

Durch einen stolzen, alten Baumgang von Linden und 
Eichen nähern wir uns dem „Weinberge", ein grosses nicht 
übersehbares Terrain, das sich östlich vom Schlosse an das 
Flüsschen Lea hinunterzieht. Aber der Weinberg, für den 
Sir Robert fünfzigtausend Reben und zwei Gärtner aus Frank- 
reich verschrieb, ist längst verschwunden. Sehr wahrschein- 
lich wurde der Weinbau im Freien sehr bald wieder aufgegeben 
als ein hoffnungsloses Beginnen unter dem englischen bedeckten 
Himmel. Wir sehen jetzt hier Le Nötre's Gartenkunst in un- 
gewöhnlich grossartiger, seltsamer Anwendung. Man betritt 
den Weinberg zwischen soliden dunkelgrünen Mauern und 
befindet sich bald in einem weitläufigen verwickelten Systeme 
von Thürmen, bedeckten Wegen, Bögen, Schiessscharten und 
Zinnen. Alle diese Werke sind aus verschnittenem Taxus 
hergestellt. Wir wandern durch riesige Gallerien und gewölbte 
Gänge mit dichten undurchdringlichen Dächern; an den 
Kreuzungen stehen schwere Pfeiler, aus verschlungenen Stämmen 
gebildet. Der nach dem Flusse abfallende Boden hat zu den 
originellsten Abwechselungen Anlass gegeben. Die unteren 
Aeste der Bäume sind zur Erde herabgebogen und bilden 
eine dichte Decke, einen weit herabwallenden Schleppmantel 
um den Stamm, während der obere Theil sich zu einer frei 



20 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

und breit wachsenden Krone schliesst. Es gibt keine ange- 
nehmere Wandelbahn an einem heissen Sommertage. Der 
Anblick ist märchenhaft und feierlich, eine etwas prosaische 
Poesie ; leider ist er wegen seiner Absonderlichkeit im Einzelnen 
und wegen der Grossartigkeit seiner Ausdehnung sehr schwer 
beschreiblich: er allein lohnt dem Gärtner eine Reise nach 
Hatfield. Eine Schilderung dieser Gärten sollte, bei richtiger 
Vertheilung des Stoffes, eigentlich mit dem Weinberge schliessen, 
denn alles andere ist geringer, mag auch einiges noch älter 
sein. In diesem Zauberwalde steigt man zum Flüsschen hinab, 
an dessen anderem Ufer der alte von hohen Mauern ein- 
geschlossene Küchengarten, jetzt zeitgemäss cultivirt, sich erhebt 

Am entgegengesetzten westlichen Ende des Parkes . liegen 
die neuen Küchengärten. Sie geben uns, in vollkommenem 
Gegensatze, auf ihrem Gebiete von etwa zwölf Morgen ein 
Bild neuester englischer Hochcultur. Im Vorübergehen er- 
staunen wir über die aussergewöhnliche Menge von verschie- 
denen Salatarten, die hier mefirere Morgen bedecken. 

„Wie ist es nur möglich, dass das Alles verzehrt wird?** 

„Möglich?** sagte der Obergärtner Mr. Normann, „Sie sollen 
sogleich noch mehr erstaunen! Ich liefere für den Haushalt 
jährlich 5000 Stück Sellerie; Endivien und Kopfsalat in die Zehn- 
tausende. Vor zwei Jahren wurden einmal binnen fünf Tagen 
800 Köpfe Endiviensalat verbraucht!** 

Indessen drängt die Zeit und wir treten unter der Führung 
des Obergärtners in das anstossende Gebiet der Treibhäuser. 
Hier reift die Traube für den Tisch, vom April bis in den 
Februar hinein, in sieben verschiedenen Häusern von insgesammt 
einhundert Metern Länge. In vier Häusern, von zusammen 
dreissig Metern Front, werden Gurken, Melonen und Bohnen 
getrieben. Daneben stehen zwei Ananashäuser, es folgen zwei 
Pfirsichhäuser, jedes zwanzig Meter lang und zwei andere 
Gebäude, mit je fünfzehn Metern Front, für Erdbeeren. Aus 
den letzteren waren zwei Tage zuvor vierzig Pfund Erdbeeren 
für die Tafel geliefert und trotzdem hing eine neue reichliche 
reife Ernte an den Büschen. Für die Ausschmückung des 
Schlosses und des Stadthauses mit Blumen ist durch ein Kalt- 
und ein Warmhaus gesorgt; zugleich steht hier ein reich 
decorirter Wintergarten. Dann folgen nochmals ein Pfirsich- 



Hatßeld House, der Landsitz des Marquis von Salisbury. 21 

und ein Feigenhaus, beide achtzehn auf sechs Meter enthaltend, 
endh'ch zwei Ananashäuser und eine Treiberei, in der nur Trauben 
in Töpfen gezogen werden. Ausserdem fehlen die Vermehrungs- 
häuser und der übrige nothwendige Zubehör an Räumen nicht. 
Doch genug, — vielleicht zuviel — der Aufzählung und Be- 
schreibung! 

Ich kann indessen nicht schliessen, ohne des Heizapparates 
zu erwähnen. Hier haben wir ein Stück allermodernster 
Gartenindustrie. Der grosse Wasserkessel für alle diese Häuser 
wird nicht direct durch Kohlenfeuerung geheizt, sondern er 
ruht auf einem Ofen, in welchem eine Kalkbrennerei betrieben 
wird und empfängt so die vom Kalke entweichende hoch- 
gradige Hitze. Die Idee ist ganz neu und hier zuerst praktisch 
ausgeführt. Mr. Normann sprach sich völlig zufrieden über das 
Ergebniss aus und bemerkte: dass bei durchschnittlichen Kalk- 
und Kohlenpreisen die gesammte erforderliche Wärme kosten- 
frei erzeugt und daneben an der täglichen Kalkproduction 
noch fünf bis zehn Mark verdient wird. 

Wir nähern uns nun wieder dem Schlosse und gelangen 
an dessen südwestliche Ecke. Hier verändert der Garten seinen 
landschaftlichen Charakter. Er erscheint ungepflegter, verlassen, 
veraltet. Eine niedrige Mauer schliesst einen geräumigen quadra- 
tischen gegen die Umgebung vertieften Platz ein, wir steigen 
zu ihm auf halbverfallenen Stufen hinab. Rundum läuft ein 
Laubgang von alten knorrigen, verschnittenen und verschränkten 
Linden. In der Mitte ist ein grosses Wasserbecken, von ge- 
schorenen Juniperus umgeben, an welche sich schnörkelhafte 
Beete schliessen. Diese Beete, sind mit einfachen veralteten 
Sommerblumen und mit Gemüsen besetzt. In jeder der vier 
Ecken steht ein nicht grosser aber sehr alter Maulbeerbaum. 
Es ist ein Stück mittelalterlicher Gärtnerei, in das wir ein- 
traten. Dieser Garten gehört zum alten Tudorpalaste und 
ward wahrscheinlich in seiner jetzigen allgemeinen Anlage zu 
der Zeit hergestellt, als die junge Prinzess Elisabeth hier die 
Maulbeeren pflanzte. 

Aus dieser merkwürdigen Gartenruine fuhren uns wenige 
Schritte in den »Garten der wohlriechenden Pflanzen«. 

Die Blumenbeete hier, in eleganten einfachen gradlinigen 
und runden Figuren, sind mit Buchsbaum eingefasst und aus- 



22 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

schliesslich mit wohlriechenden Blumen bepflanzt. Um den 
Mangel an Farben in den Mustern der Beete zu ersetzen, sind 
alle Wege mit lebhaft buntem Sande beschüttet. Hier finden 
wir in reichem Wechsel, je nach der Jahreszeit: Heliotrop 
und Nelken, Thymian, Lavendel, Rosmarin und Reseda, 
' Levkoien und Nachtviolen, Maiblümchen und Veilchen. 

Wir umwandem jetzt einen stattlichen See mit freien grünen 
Ufern und stehen vor einer Trauerweide von aussergewohnlicher 
Entw^ickelung. Sie stammt aus St. Helena vom Grrabe Napoleons I. 
Ganz nahe diesem lebendigen Monumente gefallener 
irdischer Grosse gelangen wir in den unmittelbar anstossenden 
Rosengarten; ein geräumiges Quadrat, dessen Hintergrund 
der alte »Palast« bildet. Als die Tudors hier noch Hof 
hielten, war das jetzt blühende und duftende Rosenfeld ein 
kahler innerer Hof, welchen der Palast mit vier Flügeln umgab. 
Die Stellen, an denen ehemals die Eckthürme standen, sind durch 
erhöhteBeete bezeichnet. Die Rosen gedeihen hier prachtvoll; 
sie geniessen den doppelten Vortheil der niederen schattigen 
Lage und einer Bewässerung durch unterirdische Rohren. 
In der Mitte sprudelt ein erfrischender Springbrunnen unter 
einem offenen Dache von Kletterrosen. Die Hauptfront des 
alten Palastes, auf dessen Grunde wir stehen, lief dem jetzigen 
westlichen Flügel des neuen Schlosses parallel und lag an der 
alten Heerstrasse von London. Diese Front und die beiden 
Seiten wurden niedergerissen; man bedurfte des Bauplatzes 
und benutzte das erst einhundert und zwanzig Jahre alte Material. 
Zum Glück blieb das rückwärtige Gebäude verschont. Es ent- 
hält eine einzige grosse Halle, in deren Mitte ein Thurm den 
Eingang überhöht Der Bau ist im reichen englisch-gothischen, 
dem sogenannten Tudorstile aus Back- und Hausteinen aus- 
geführt, die noch keine Spuren des Verfalls tragen. Die er- 
habenen Arbeiten an den Gesimsen und die Zierrathe an den 
Rahmen und Kreuzen der Fenster sind besonders kunstreich 
gearbeitet. Das Gebäude ist künstlerisch wol schöner zu nennen 
als das neue weit höhere Schloss und könnte ihm durch den 
Reichthum seiner stilvolleren Formen und durch den warmen 
dunklen Ton seiner Steine Eintrag thun. Die Halle ist über- 
wölbt mit einer nach Innen offenen und reich ornamentirten 
Holzdecke, ähnlich dem berühmten Dachstuhle in der West- 



Hatfield House, der Landsitz des Marquis von Salishury* 23 

minster HalL Einst gab es hier hohe königliche Feste, von 
denen eines noch nicht ganz vergessen ist. Nachdem die junge 
Prinzess Elisabeth, aus dem Tower entlassen war, beschränkte die 
Eifersucht der Königin ihren Aufenthalt auf Hatfield, das 
Eduard VI. der Schwester Elisabeth geschenkt hatte. Als 
Wächter ward ihr Sir Thomas Pope bestellt, der jedoch an- 
scheinend keinen Beruf fiihlte, es mit seiner Gefangenen durch 
Strenge zu verderben. Denn in der Fastenzeit des Jahres 1556 
gab er auf seine Kosten der Lady Elisabeth eine glänzende 
Maskerade in der grossen Halle zu Hatfield, mit prächtigen 
Aufzügen und Belustigungen. Da erschienen zwölf alterthüm- 
liche Minstrels, femer achtundvierzig Herren und Damen, ge- 
kleidet in rothen Atlas mit Gold, Spitzen und Perlen. Es war ein 
Kastell dargestellt aus goldgestickten Stoffen, dessen Zinnen mit 
Granatbäumen besetzt und mit den Schildern der sechs Ritter 
behängt waren, die davor in reicher Rüstung tumierten. Der 
Kredenz in der Halle hatte zwölf Stufen übereinander, alle ge- 
schmückt mit Gold- und Silbergeschirr. Beim Bankette waren 
siebzig Plätze gelegt und es gab dreissig verschiedene Speisen 
mit Zwischengängen von gewürzten Süssigkeiten und feinem 
Backwerke. Alles ging auf Kosten von Sir Thomas. Am 
folgenden Tage wurde, zum Schlüsse des Festes, das Schau- 
spiel vom Holofemes aufgeführt. Indessen die strenge und 
eifrige Majestät gab dem armen Sir Thomas hinterher das 
allerhöchste Missfallen über diese Fastnachtsscherze in einem 
sehr ungnädigen Handschreiben zu erkennen und so hatte das 
Maskiren furder zu unterbleiben. 

Jetzt ist jede Erinnerung an die frühere Herrlichkeit in der 
neueren Einrichtung verschwunden, denn diese königliche 
Banketthalle dient als hoher, luftiger, ganz modern eingerichteter 
— Pferdestall. Sic transit! 

Vom früheren Abschlüsse des Palastes gegen das Städt- 
chen ist nur noch ein Thorhaus vorhanden. Neben diesem 
sieht man einen hohen, mit Epheu dicht bewachsenen Schornstein. 
Die Königin Mary soll auf diese Esse, die den Zimmern ihrer 
Halbschwester gegenüberstand, eine spitzige eiserne Stange 
haben befestigen und die Gefangene bedeuten lassen: es 
sei dort der Platz für ihren Kopf, falls dieser etwa unruhig 
und unbequem würde. — 



24 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

Inzwischen mahnte die sinkende Sonne sich zum Dinner 
anzukleiden. Um acht Uhr erscholl die Hausglocke und man 
versammelte sich im Drawingroom neben der grossen Speise- 
halle. In diesen Räumen waltet in England der weibliche 
Genius und bethätigt sich vor Allem in der zarten und geschmack- 
vollen Anordnung der reichen Blumenpracht, die, in den Treib- 
häusern vorbereitet, Wohnzimmer und Tafel stets mit frischem 
blühenden Leben schmückt. Dadurch gewinnt das schwere 
stilvolle Gemach des alten Schlosses ein heiteres und die häus- 
liche Familientafel ein festliches Ansehen. Die Blumen bewill- 
kommnen auch den ausgezeichneten Gast auf seinem Zimmer 
und ehren ihn jeden Tag neu in frischen Sträussen. So hat sich 
in England die Neignng für die Blumen in der pflegenden 
Hand der Frauen zu einer liebenswürdigen Seite des National- 
charakters entwickelt. 

Leider war der Herr des Hauses durch die Vorbereitungen 
für seine Congressreise nach Berlin verhindert worden, die 
Stadt heute zu verlassen, und ich genoss daher den Vorzug, 
im engsten Kreise der Damen und Kinder des Hauses zu 
speisen. Eine nicht grosse, prunklos reiche und mit Pflanzen 
und Blumen heiter verzierte Tafel stand in der Mitte des 
riesigen hell erleuchteten Raumes, und die wohlwollende 
einfach höfliche Aufnahme, die der Fremde an diesem Familien- 
tische fand, entsprach der echten Vornehmheit des Hauses. 
Mir gegenüber thürmte sich an der Wand ein mächtiges 
Büffet von dunklem Eichenholze, auf welchem schwere Schau- 
stücke des viel gepriesenen alten englischen Silbers das Licht 
der Wachskerzen zurückwarfen. Zur Rechten des Büffets 
tritt aus goldenem Renaissance -Rahmen ein Bild hervor: der 
Gründer des .,Hauses", in ganzer, lebensgrosser Figur, gemalt 
von Hilliard. Eine seltsame Erscheinung. In dem schonen 
blassen Gesichte schwarze, grosse, tiefe melancholische Augen ; 
ein zu grosser Kopf unmittelbar auf die Schultern gesetzt; diese, 
rund und unverhältnissmässig, geben der Gestalt den unver- 
kennbaren Typus des Verwachsenen. Dazu trägst die Kleidung 
bei: grosse Halskrause, über dem Knie gebundene Pluderhosen, 
lange enge gelbe Strümpfe an zu schwachen Beinea. Es fehlt 
dem Körper das sichere Fundament; der Schwerpunkt erscheint 
zu weit nach oben gerückt. Allerdings war bei dem ersten 



Ilatfield House, der Landsitz des Marquis von Salishxir^', 2o 

• 

Robert Cecil dieses „Oben" erheblich schwerer als bei der 
gTossten Zahl seiner Zeitgenossen. 

Zur Linken des Büffets erscheint ein modernes Bild. Eine 
kräftige Gestalt über Mittelgrosse. Die Haltung ist leicht vorn- 
übergebeugt; eine nicht sehr hohe aber bedeutend entwickelte, 
v^ denkende Stirn; kluge, ruhige, feste Augen; dunkler Vollbart, 
schwarzes, gelocktes Haar, um den Scheitel schon stark gelichtet. 
Es ist der jüngste Robert Cecil Marquis of SaHsbury, der jetzige 
Herr dieses Hauses, dessen schon langjährige öffentliche Lauf- 
bahn gerade jetzt der Welt in neuem energischen Aufschwünge 
erscheint*), der sich inzwischen den schonen reinen Ruhm er- 
worben hat, durch seine Festigkeit und Mässigung Europa den 
lange bedrohten Frieden gesichert zu haben und dafür den 
wohlverdienten Lohn in der höchsten Auszeichnung empfing, 
welche die englische Krone einem Engländer gewähren kann. 
„Sero sed serio", „langsam aber sicher", so lautet das Wappen- 
motto, welches der Ahnherr Robert Cecil seinem Geschlechte 
vererbte. — 

Als wir nach Tische wieder hinaus auf die Terrasse traten, 
erglänzten die Gärten im Schimmer des klaren Vollmondes. 
Die Jugend war bereit, mir den nördlichen Park und besonders 
seinen „ältesten Baum" bei Mondschein zu zeigen. Bald traten 
wir in den alten Baumgang ein, dessen vielhundertjährige 
Eichen schon Eduard VL Schatten spendeten, der als Kind 
unter ihnen spielte. Mit feinem historischen Takte ist dieser 
nördliche Theil des Parkes nie umgestaltet; der Boden zu 
beiden Seiten der Bäume ist forstartig mit hohem Farrenkraute 
bedeckt, über welchem in unregelmässigem lichten Bestände 
alte 'Baumriesen sich breiten. 

Das junge Geschlecht der Cecils schritt, heiter und unbe- 
fangen plaudernd, auf dem gewohnten Wege dahin, der den 
Fremden durch die Fülle der geschichtlichen Erinnerung und 
durch den lebendigen Zusammenhang dieser Gegenwart mit 
ihrer Vorzeit zu ernsteren Betrachtungen anregte. Wir bogen 
in einen Seitengang ein, an dessen Ende uns bald gespensterhaft 
ein riesiger Eichenstumpf im weissen ungewissen Mondlichte 
entgegentrat. Seine Krone ist längst gebrochen und lebt nur 



*) Geschrieben im Herbst 1878. 



26 Englische Landsitze, Gürten und Gärtner» 

noch scheinbar, indem einige in den hohlen Stamm eingesäete 
Eicheln junge grüne Loden getrieben haben. Zu seinen beiden 
Seiten grünt und wächst die Gegenwart in zwei anderen 
kräftigen Eichen, von der jetzt regierenden Königin und dem 
nie genug betrauerten Prinzen Gemahl vor Jahren eigen- 
händig gepflanzt. 

Wir stehen vor dem ältesten Baume von Hatfield House, 
vor der »Eiche der Konigin Elisabeth«. Hier liebte die junge 
Prinzessin im Schatten des damals in seiner Vollkraft treiben- 
den Baumes zu sitzen und mit Roger Asham griechische 
und lateinische Klassiker zu lesen. Hier sass sie auch am 
17. November 1558, voll ängstlicher Spannung wegen der Nach- 
richten, die ihr William Cecil über die tödtliche Erkrankung 
ihrer Schwester hatte zugehen lassen. Schon war ihr von 
anderer Seite eine Todesbotschaft hinterbracht worden. Sie 
jedoch fürchtete eine Falle der grimmen Schwester — und 
dachte dabei vielleicht an den Schornstein. Sie verlangte 
daher, zum Zeichen der Wahrheit, dass man ihr einen gewissen 
Ring von schwarzer Emaille bringe, der die Hand der lebenden 
Königin Mary nie verliess. Indessen noch vor diesem Zeichen 
erschien auf der Strasse von London her vor dem Palaste ein 
Trupp Reiter, welcher der Prinzess in den Park nachfolgte. 
Es waren Mitglieder des Geheimrathes; sie kamen, ihr den Tod 
der Königin Mary anzuzeigen und der neuen Herrin zu huldigen. 
Da löste sich ihre quälende Spannung „zwischen Axt und 
Krone" ; im überwältigenden Gefühle der Befreiung sank sie in 
die Kniee und rief laut mit dem Psalmisten: „Das ist vom 
Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen"; 
und die Nachlebenden können wol den voraufgehenden Vers 
desselben Psalms hinzufügen : „Der Stein, den die Bauleute ver- 
worfen haben, ist zum Eckstein geworden". 

Es ist nun allerdings nicht gewöhnlich, dass junge Prin- 
zessinnen im Monate November im Freien unter entlaubten 
Eichen sitzen. Aber Elisabeth war auch keine gewöhnliche 
Frau. Sie besass eine ungewöhnliche Stärke des Körpers wie 
des Geistes. Noch sechs Monate vor ihrem Tode, in ihrem 
siebzigsten Lebensjahre, einsam und leidend, ging sie täglich 
Stunden lang im Park von Windsor spazieren und ritt auch 
noch einmal auf einer Jagd zehn englische Meilen, Eine 



Hatfield House, der Landsit% des Marquis von Salisbury. 27 

echte Engländerin, berufen: Engländer zu beherrschen. Sie 
starb, wie wir wissen, beinahe im Freien, im Garten von 
Richmond und ihr Lebensende fiel in den Winter. 

Unter dieser alten Eiche gab sie auch später noch Audienzen 
und erledigte die Staatsgeschäfte. An diesem 17. November 
aber ernannte sie hier sofort ihren getreuen Freund in ihrer 
Niedrigkeit, William Cecil, zu ihrem Ersten Minister. Durch 
ihn schloss sie noch in Hatfield, als praktische Frau und 
Regentin, mit einem der damaligen Grossen von Lombardstreet, 
dem noch bekannten Sir Thomas Gresham, ein Anlehn ab 
von 500,000 Mark zur Bestreitung ihrer Krönung und von 
anderen 500,000 Mark, um ihre leere Kasse mit Betriebsmitteln 
zu füllen. Sir Thomas erwies sich hierbei als guter Patriot. 
Er nahm, wie er selbst erzählt, nur zwölf Procent von der 
jungen Königin, während ihre Vorgängerin stets vierzehn hatte 
bezahlen .müssen. 



Die vorgerückte Stunde mahnt zum Heimwege, den wir 
zögernd antreten. Unwillkürlich begleitet der grosse Schatten, 
den wir hier heraufbeschworen haben, noch unsere Schritte, 
als wir schon weit von der berühmten Eiche entfernt sind und 
uns der Gegenwart, dem erleuchteten Hause nähern. Er wandelt 
vor uns auf im ungewissen Mondlichte, das spärlich durch 
die Wipfel der Eichen dringt. Jetzt nicht mehr allein; der 
Königin zur Seite schreiten ihre beiden grossen Minister, 
William und Robert Cecil; und wol sind sie würdig, den 
Nachkommen neben der Majestät zu erscheinen. Durch sie 
wurde Elisabeth aus Hatfield auf den Thron gefuhrt, durch sie 
auf dem Throne über das gewöhnliche Maass menschlicher 
Grösse emporgehoben. Sie lehrten ihre Herrin die grosse Kunst, 
ihr Volk stark und fest zu machen und dadurch zugleich die 
eigene Macht zu stärken. So ist durch die Cecils, im Laufe 
der Zeiten, die Königm mehr und mehr hinausgewachsen 
über die Frau. 

Und so waren auch die Cecils Elisabeths würdigste Nach- 
folger in Hatfield House. 



III. 



Eine moderne Cottage. 



Wir stehen auf der Zinne des hohen Steinriesen, welcher 
die majestätische Konigsburg Englands überragt, des mächtigen 
runden Thurmes von Windsor Castle. Zu unseren Füssen liegt 
die Residenz der erhabenen Frau, in deren Reiche die Sonne 
nicht untergeht. Das stolze Schloss erglänzt im klaren Lichte 
eines wolkenlosen Frühlingsmorgens und die helle Umgegend 
streckt sich unabsehbar fem hinaus. Es giebt wohl keine 
Landschaft Englands, die in ihrer eigenthümlichen Schönheit 
englischer ist als das Bild, welches sich vor unseren Augen 
entrollt. Im Norden und Osten windet sich das silberne Band 
der Themse um die Höhe, auf derer! breiter Kuppe Windsor 
Castle um weite Höfe emporstrebt. Jenseit des Flusses, gegen 
Norden, liegt tief unter uns, das alte stets jugendfrische 
Eaton, darüber hinaus sucht der Blick das ehrwürdige Oxford. 
Im Westen und Osten drängen sich Städte, Dörfer, Herren- 
sitze und Cottages in der frischen grünen baumreichen Ebene; 
am fernsten östlichen Horizonte zeichnet sich dem scharfen 
Auge die mächtige Kuppel von St. Paul. Die ganze süd- 
liche Hälfte des Gesichtskreises aber ist mit einem unendlichen 
Meere von Baumgipfeln bedeckt; einzelne Riesen, Gruppen, 
ganze Wälder. Zwischen ihnen glänzt der wunderbare Smaragd 
der englischen Grasflächen, von seltenen musterhaft gepflegten 
Wegen durchschnitten. Diese grüne Welt ist der meilenweite 
»Grosse Park« und der »Forst« von Windsor, ernst und lachend, 
überwältigend grossartig und zugleich heimlich und herzerfreuend. 
Der Grosse Park enthält zweitausend vierhundert Morgen; 
hinter ihm verliert sich der Forst am südlichen Horizonte 



Eine moderne Cottage, 23 

in grünen Wellen, deren Rücken hier ganz besonders scharf aus- 
gesprochen sind. Es scheint, als wirke in dem Ungeheuern 
Ganzen jeder einzelne Baum wie eine besondere Halbkugel 
bemerklich zu dem Gesammtbilde mit, weil die Kronen der 
Waldriesen hier zu einer Entwickelung gelangt sind, wie man 
ihr wol selten anderswo wieder begegnet. 

Wenden wir imsem Blick genau nach Süden, so wird er 
durch Linien gefesselt, welche die ungezwungene Natürlichkeit 
der Landschaft in strenger Ordnung unterbrechen. Wir sehen 
eine gewaltige Schneide entlang, die sich in mächtiger Breite 
und kaum zu ermessender Länge vom Thore König Georgs IV. 
am südlichen Fusse des Schlosshügels durch den Grossen Park 
zieht und in ihrem letzen Auslaufe wieder aufsteigt. In ihrer 
Mitte dehnt sich eine geräumige Fahrstrasse, jedoch erscheint 
sie nur als helle Linie, denn auf beiden Seiten nimmt der 
freie grüne Rasen, der sie begleitet, wol den vierfachen Raum 
des Weges ein. Diese gesammte Fläche ist wieder hüben 
und drüben durch zwei Reihen hoher alter Ulmen eingefasst, 
weite schattige Alleen für Fussgänger und Reiter. Das ist 
der berühmte Long Walk, eine in ihrer einfachen Grösse wahr- 
haft geniale Schöpfung. Die riesigen Rüstern sind zur Zeit der 
Königin Anna gepflanzt und stehen jetzt noch in der vollen 
Kraft ihrer Jahre. 

Unser heutiger Weg führt uns durch dieses Meisterstück 
der englischen Parkkunst; während wir seine ganze Ausdehnung 
von beinahe vier Kilometern durchmessen, öffnen sich uns zu 
beiden Seiten liebliche wechselnde Durchblicke. Rechts zeigen 
sich zunächst die Landhäuser des Städtchens Windsor, die sich 
dem Parke hier bescheiden anschmiegen; links trennen uns 
leichte Gatter yon dem, den Reisenden nicht zugänglichen 
Hausparke und den grossartigen königlichen Obst- und Küchen- 
gärten zu Frogmore. Dann erweitert sich die Aussicht, wir 
fahren zwischen geräumigen Weidegründen hin, belebt durch 
Heerden von Schafen, Angoraziegen und vertrautem Damm- 
wilde, das» am Wege grasend, dem vorübereilenden menschlichen 
Verkehre gleichmüthig zusieht. Am Schlüsse der Allee wächst 
nach und nach das Reiterstandbild König Georgs III. auf 
dem Hügel empor, den wir jetzt hinansteigen. Vor dem Denk- 
male theilt sich der Weg; rechts erreicht man bald das Sport- 



t 



30 Eyiglische Landsitze, Gärten und Gärbier. 

berühmte Ascot; unsere Fahrt jedoch biegt links zur Seite, wir 
verlassen nach kurzer Zeit die grosse Strasse und gelangen 
bald auf Waldwegen in einen blühenden Garten. Doch nein! 
wir sind noch im Walde, die grossen lichten Eichen über uns 
bezeugen es; aber unter ihnen nimmt jetzt unsem Weg von 
beiden Seiten ein wol sechs Meter hohes dichtes Gebüsch auf, 
dessen kräftiges immergrünes Blattwerk in einem bläulichen 
Meere der frischesten üppigsten Blüthen fast verschwindet. 
xV Wir sind in den, allen Pflanzen- und Gartenfreunden wohl- 

bekannten »Rhododendron Walk« eingetreten. Ein wunderbarer 
Anblick gerade in dieser Blüthezeit; dem Fremden, der nie 
einen farbenreichen Wald gesehen, doppelt wunderbar. Wol 
länger als eine Viertelstunde begleitet uns diese Pracht, dann 
erreichen vfix wieder die nach Osten führende Landstrasse und 
halten an der Grenze des Parkes vor dem Bishops Gate. 

Aus einem von blühenden Glycinien völlig bedeckten 
Häuschen en^idert die stattliche Frau des Thorwärters den 
lauten Ruf unseres Kutschers: »Gate! Gate!« und wir biegen 
in einen sanft gewundenen Gartenpfad ein. 

Wie durch einen Zauberschlag sind wir plötzlich in eine 
andere Welt versetzt. Eben noch Waldeinsamkeit unter Eichen, 
Gebüsch und Farrenkraut, nun vollendete ländliche Hochcultur. 
Auf beiden Seiten ist der Fahrweg von tadellosem Rasen 
eingeschlossen, auf welchem einzelne ausgewählte kleinere 
Coniferen: Cypressen, Retinosporen, Taxus und die goldgrüne 
Thuja aurea vertheilt sind; dazwischen die helle scheckige 
Aucuba mit tiefrothen Beeren und die gezackte Aralie aus Japan. 
Hinter diesen Rasenflächen begrenzen dichte Wände von immer- 
grünem Evonymus, Laurustinus und bunter Stechpalme, mit 
wildem Rhododendron und buschigem Buchsbaum unterpflanzt, 
den Garten. Zu unserer Linken erscheinen über dem Gebüsche 
die spitzen Giebel ländlicher Gebäude; zur Rechten blicken wir 
hinauf in die Wipfel mächtiger Cedem, die aus der Feme her- 
überragen. 

Wir halten jetzt an dem Eingange des Wohnhauses; ein 
niedriges Gebäude von zwei Geschossen, in sauberer, hellgrauer 
Oelfarbe gestrichen. Das Dach ist durch verschiedenartige 
spitze vorspringende Giebel gebrochen, deren innere Aus- 
kleidung mit dunkelbraunem Holze gefallig von dem lichten 



Eine moderne Cotta^e, 31 



•d 



Grundtone absticht Obenauf sind die weissen, als ver- 
zierte kurze Säulen behandelten Schornsteine in Bündel ver- 
einigt, so dass sie das Gebäude schmücken und erhöhen. Die 
Mauerfläche des Hauses ist durch schmale Dachrinnen abge- 
theilt, deren obere OefFnungen mil kleinen Kapitalen verhüllt 
und deren eiserne Beschläge gefallig verziert sind. 

Ein kleiner Vorraum empfängt die Eintretenden, nicht ein 
unbequemes gelecktes „Rühr* mich nicht an", sondern er dient 
zur Aufbewahrung aller Mäntel, Peitschen, Schirme und Hüte; 
den letzteren nimmt im praktischen England der Gast nicht mit 
sich in das Wohnzimmer, hat ihn also auch beim Abschiede 
dort nicht ängstlich und vergeblich zu suchen. Hier liegt auch 
das grosse Fremdenbuch auf, nebst allem Material für das 
Briefschreiben. Das vorzügliche Papier trägt in Stempel und 
Aufschrift den Namen des Hauses, jedem Gaste eine doppelt 
willkommene Gabe für seine Korrespondenz in die Heimat. 
Die Patentdintenfässer sind stets gefüllt und jede Feder ist 
diensttüchtig. Von der hinteren Wand herab überwacht der 
Hausherr, im rothen Frack auf einem edlen braunen Hunter, 
aus einem schweren gekehlten schwarzen Holzrahmen hervor- 
tretend, sein Hausrecht. Im Originale ist er jedoch schon 
mitten unter uns und bewillkommnet die Landsleute mit herz- 
lichen Worten. Denn wir befinden uns hier in der Cottage 
des Barons Henry Schröder, des ältesten Sohnes des grossen 
Hauses Schröder in Hamburg, schon seit länger als zwanzig 
Jahren in England ansässig, jetzt in der vordersten Reihe 
unter den Magnaten der City stehend und eines der Häupter 
unserer deutschen Colonie in London. Aber der grosse Kauf- 
herr ist zugleich ein vortrefflicher Reiter, ein unermüdlicher 
Jäger und ein Mann, der mit gebildetem Geschmacke und 
feinem Verständnisse reiche Mittel auf die Ausstattung dieser 
Perle einer modernen englischen Cottage, „die Dell" genannt, 
verwendet und hier, mit seiner liebenswürdigen Gattin, eine 
reiche gemüthliche herzliche Gastfreundschaft übt. 

Die Dell ist kein neu gemachtes, sie ist ein altes im Laufe 
der Zeit gewordenes, ein gewachsenes Haus, und gerade da- 
durch in ihrer scheinbaren Unregelmässigkeit malerisch und 
heimlich. Die vordere Front zerfallt in zwei Theile; vor dem 
älteren, niederen läuft zu ebener Erde eine breite mit Glas ge- 



1 



Ö2 Englische Landsitze^ Gärten und Gärtner, 

schlossene Vorhalle, in die wir nun eintreten. Sie ist als Winter- 
garten behandelt. Der Fussboden ist mit bunten Thonfüesen 
heiter musivisch eingelegt, an der inneren Hauswand ranken 
zierliche, gesund wuchernde Kletterpflanzen empor. Die Seite, 
durch welche wir eingehet, ist mit einer mächtigen Baum- 
farre in einem riesigen Kübel von Gien ausgefüllt, von 
hohen pyramidalisch gezogenen indischen Azaleen in voller 
Blüthenpracht umringt. In der Mitte des Wintergartens sehen 
wir eine der kolossalen hochaufgebauten Majoliken von Minton, 
phantastisches derbes Blätterwerk von bunten Delphinen und 
Figuren getragen; sie ist mit seltenen Treibhauspflanzen be- 
setzt. Den Abschluss der Vorhalle bildet eine einzige grosse 
Glasscheibe, welche den sich nähernden Fremden durch das 
Entgegenkommen des eigenen Bildes überraischt und verwirrt. 
Die Wohnzimmer der Hausfrau münden auf diese blühende 
Vorhalle, erhalten dadurch Schutz gegen die äussere Luft 
und gewähren, da gleichwohl hinreichendes Licht eintritt, einen 
freien Durchblick in den Garten. Die Einrichtung der Räume 
ist bequem, zierlich, landhausmässig. Ihr Schmuck besteht in 
seltenen Blumen, kostbaren chinesischen Emaillen und einigen 
Familienbildern. Wir begegn^i unter diesen der ehrwürdigen 
Gestalt. des Hauptes der Familie Schröder, jetzt ein rüstiger 
Greis von vierundneunzig Jahren, nicht nur in weiten Kreisen 
der grossen Welt hochangesehen, sondern auch von jedem Kinde 
in Hamburg als der Giiinder des „Schröderstiftes" und der uner- 
müdliche, freigebige Wohlthäter aller Armen und Kranken 
gekannt und verehrt. 

Allein es leidet uns nicht länger in diesen wohnlichen 
Zimmern ; der schöne Tag und die Blicke, welche wir heimlich 
in den Garten geworfen haben, die dort immer mehr gefesselt 
wurden, immer verwunderter und bewundernder dahin zurück- 
kehrten, — sie ziehen yins unwiderstehlich hinaus. 

Der Garten um die Cottage ist achtzehn Morgen gross. 
Er macht zunächst den allgemeinen unbestimmten Eindruck 
von etwas Besonderem, Seltsamem ; er ist in seinem dunkel- 
grünen Grundtone ernster als unsere Hausgärten und zugleich 
weit farbenreicher. Es ist ein immergrüner Garten. Ausser 
einigen alten Eichen auf seinen Grenzen enthält er keine 
perennirende Pflanze, die im Winter ihre Blätter verliert. 



Eine moderne Cottage^ 33 

Die Durchfuhrung dieses Systems ist streng und das Ergebniss 
ein anfangs fremdartiger, dann erfreulicher, ruhiger und heiterer, 
ein vornehmer Effect. Der ganze Garten liegt in dichtem 
reinen sammtartigen Rasen, der aus einem älteren, zu diesem 
Zwecke angekauften Grundstücke abgeschält und hier wieder 
zusammen gelegt ist. Denn je langjähriger die Grasnarbe, 
desto schöner. Nur ein einziger Kiesweg führt an der äusseren 
Grenze entlang, übrigens bildet die grüne Fläche selbst das 
Verkehrsmittel. Dieser Gegensatz zu unseren, oft übermässig 
mit hellen Kieswegen durchschnittenen Gärten trägt zu dem 
ruhigen und vornehmen Eindrucke wesentlich bei. 

Die Peripherie ist mit verschiedenartigen ausgewählten 
hohen und mittelhohen Coniferen besetzt, die, mit immergrünen 
Sträuchem unterpfianzt, eine dichte Schutzwand gegen die 
Aussenwelt bilden. Die weite Rasenfläche enthält eine reiche 
Sammlung der ausgesuchtesten fremden Nadelhölzer. Jeder 
Baum steht allein, in ausreichendem Boden und Lufträume; da- 
durch sind die untersten Aeste zu ihrer vollen natürlichen Ent- 
wickelung gelangt und breiten sich weit umher, den Stamm 
mit einem riesigen Schleppmantel umgebend. So sind Baum- 
bilder erzielt, wie sie nicht schöner und regelmässiger gedacht 
werden können. Das Geschlecht der Pinus ist in etwa einem 
Dutzend Arten vertreten, die Cypresse in vier; der Juniperus, 
die Retinosporen, der Taxus, die Thuja: sie alle erscheinen 
in den interessantesten Varietäten, in regelmässigen und üppig 
entwickelten zum Theil grossartigen Individuen. Des Gartens 
schönste Zierden sind jedoch seine Wellingtonien, welche, bis 
zu achtzehn Meter hoch, normale Pyramiden bilden; mit ihnen 
die Araucarien, von denen eine über dreizehn Meter hinaus- 
ragt und den sehr seltenen Anblick ihrer grossen Früchte 
g-ewährt. Ueber alle diese schönen und bedeutenden Bäume 
erheben sich die Cedem vom Libanon und die heiligen 
Deodaren. Sie sind hier von ungewöhnlicher Grossartigkeit 
und erreichen die Höhe unserer grossen alten Waldfichten. 
Die untersten Zweige ruhen weitgestreckt auf dem Grase, die 
über den mächtigen Stämmen frei entwickelten Kronen breiten 

sich weit in die Lüfle. 

» 

So beherrscht das Dunkelgrün den Garten und doch ist 
er nicht dunkel, nicht eintönig grün. Eine Fluth von Rhodo- 

Ompteda, L. v., Bilder. 3 



1 



34 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

dendren ist in kleinen und grossen Gruppen über den Rasen 
ausgegossen; ein unendlicher Reichthum kräftig ausgeprägter 
Formen und leuchtender Farben, hervorgegangen aus den seit 
fünfzig Jahren unablässig fortgesetzten Kreuzungen des alten 
pontischen Rhododendron mit dem Catawbiense aus Nordamerika 
und dem feurig rothen Baumrhododendron vom Himalaya. 
Der Garten enthält mehrere Tausende von Rhododendren in 
etwa zweihundert Arten und diese Sammlung, wol eine der 
schönsten in ganz England, war jetzt im Monate Mai in voller 
Blüthe. Ein kaum zu beschreibendes Bild. Anfangs bewundert 
man still das Ganze, dann, eine nach der anderen, die zahl- 
losen Verschiedenheiten in Bau, Grösse und Farbe. Die meisten 
dieser wunderbaren Erzeugnisse der englischen Kunstgärtnerei 
stammen von dem grossen Rhododendron -Specialisten, Mr. 
Waterer im benachbarten Woking. Hier finden wir die Queen, 
eine der grössten, stark gefüllt und ganz weiss; dort den Kron- 
prinzen, dieselbe Grösse in feurigem Dunkelroth; weiterhin 
Kate Waterer, dunkles Rosa mit gelblicher Zeichnung im 
Innern; Baroness Schröder, lebhaftes Scharlachroth um eine 
hellere Mitte, xmd so fort im unendlichen Wechsel hybrider 
Spielarten. 

Die Beete der Sommerblumen sind hier, wie häufig in 
England, untergeordnet behandelt; sie sind nie sehr gross, nur 
so zahlreich als die Belebung des Rasens es erfordert und 
meistens einfarbig; Pelargonien und Geranien, eingefasst mit 
blauen Lobelien, gelblichem Pyrethrum, grauer Gnaphalie; auch 
mit einer niedrigen geschorenen Kante von Erica, Epheu oder 
buntem Buchsbaum. Man wählt gern lebhafte Farbentöne, 
man vermeidet jedoch alles Unruhige und Verwirrte, Aufgeputzte 
und Ueberladene. Namentlich erfreuen sich die gekünstelten 
Teppichbeete vor dem, der Natürlichkeit nachstrebenden eng- 
lischen Geschmacke keines grossen Beifalls. Man meint, dass 
sie in der Vermehrung einen übermässigen Raum einnehmen und 
die Frühgemüse aus den Mistbeeten verdrängen. Auch findet 
man die Kunstprodukte dieser Pflanzen-Teppichindustrie einiger- 
massen zopfig, da sie nicht dem ersten Grundsatze jeder gxiten 
Gärtnerei entsprechen: veredelte idealisirte Natur darzustellen. 
„Ich weiss nicht, warum die Leute das Teppichbeete nennen", 
bemerkte ein anwesender Gartenfreund, „ich würde sie: Salade 



Eine moderne Cottage, «j5 

a ritalienne heissen. Mich erinnern sie stets an die grossen 
Schüsseln mit kunstvoll gamirtem italienischen Salat, dem 
Stolze jedes guten BallbufFets, auf welchem Eigelb, Petersilie, 
rothe Rüben und graugrüne Kapern ganz ähnliche Muster 
bilden". 

Wir hatten uns inzwischen den ostlichen Randgebüschen 
g-enähert. 

„Jetzt, meine Herrn Gärtner, will ich Ihnen noch zum Schlüsse 
den Stolz meines Gartens zeigen", knüpfte Baron Schröder an, 
„sehen Sie hier!" Wir standen vor einem riesigen Camelien- 
baume, der mit Tausenden gefüllter weisser Blumen übersäet 
Tvar. „Die Pflanze ist gegen fiinf Meter hoch und etwa acht Meter 
breit; ihr Alter übersteigt wahrscheinlich schon einhundert Jahre". 

„Wird der Baum im Winter überbauet?" 

„Durchaus nicht; wir bedecken nur den Fuss dieses und 
aller anderen zarteren Bäume mit einer dicken breiten Dünger- 
schicht; das genügt. So hat diese Camelie ohne Schaden ein- 
mal eine Wintemacht mit zwölf Grad Kälte R6aumur ertragen ; 
aber nur eine, am nächsten Tage war wieder Thauwetter. 
Ausserdem ist der ganze Garten drainirt, so dass keine stockende 
Nässe um die Wurzeln frieren kann. Endlich schützt uns 
auch der umschliessende Park im Norden, Westen und Osten 
gegen die rauhen Stürme". 

„Es ist wirklich", bemerkte der Erfinder des italienischen 
Salates, „die ganze gemässigte Zone des Erdballs in Contribution 
gesetzt, um dieses immergrüne Eden zu schaffen wie es auf 
dem Continente nördlich der Alpen unbekannt und auch un- 
möglich ist". 

,Ja", erwiderte der Hausherr, „die Engländer schätzten und 
pflegten die Evergreens schon in früheren Zeiten. Sie werden 
grosse Anlagen davon in den alten Parks finden; aber seit 
etwa fünfundzwanzig Jahren wird eine wahre Jagd um die ganze 
Erde auf sie gemacht, und namentlich seit Japan erschlossen 
ist, diese unerschöpfliche Fundgrube". 

„Wir aber, verehrter Gastfireund, fühlen uns Ihnen hoch- 
verpflichtet für dieses schöne, seltne Bild. Den immergrünen 
Garten der Dell werden wir stets als einen unserer werthvollsten 
Reiseeindrücke bewahren". 



36 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

Die Strasse, auf welcher wir anlangten, trennt Cottage 
und Garten von den Glashäusern. Wir treten in das Gebiet 
der letzteren hinüber und stehen vor einem allerliebsten 
Häuschen, der Wohnung des Obergärtners Mr. Ballantine. 
Die innere saubere zweckmässige und comfortable Einrichtung 
entspricht dem gefalligen grünbewachsenen Aeussem. Einen 
höchst seltenen Schmuck erhält die Cottage durch zwei, ihr 
unmittelbar benachbarte alte hochstämmige Magnolienbäimie. 
Von hier aus übersieht man das benachbarte Gebiet der Treib- 
häuser vollständig, und wahrlich ! es ist nicht klein. 

Zuerst das lange niedrige Hauptgebäude; in seiner Mitte 
liegen zwei Dampfkessel, welche sämmtliche Treibhäuser heizen; 
ausserdem befinden sich hier die Schlafzimmer und die gemein- 
samen Wohnräume für die Gärtner, ferner das Obstzimmer, 
Saatzimmer, Pack- und Pflanzzimmer, die Räume für die ver- 
schiedenen Erdsorten, Töpfe und Geräthschaften. Auch sind 
hier zwei Abtheilungen der Champignonzucht gewidmet. 

Die Treibhäuser selbst bilden eine kleine Welt für sich. 
Wir zählen sechs Abtheilungen für Trauben, jede elf Meter 
lang; femer drei Häuser für Ananas, zwei für Melonen und 
Gurken, zwei Häuser für Erdbeeren; zwei grosse Warmhäuser 
für tropische Pflanzen, zwei Orchideenhäuser, vier Kalthäuser 
für Zierpflanzen, ein Haus für Farren und Eriken; zusammen 
etwa zwanzig Häuser. Ausserdem ist die Gartenmauer auf 
einer Länge von hundertundzwanzig Meter mit Glas für die 
kalte Obstcultur bedeckt. Diese gesammten Anlagen nehmen 
eine Fläche von vier Morgen ein und die Kosten ihrer 
Herstellung betrugen über 200,000 Mark. 

Wir beobachteten hier mit Interesse die Art und Weise, 
wie ein solches Gebäude hergestellt wird, an einem noch im 
Bau befindlichen Weinhause. Es wird zunächt eine Grube 
von drei Metern Tiefe in der für das Haus beabsichtigten 
Länge ausgehoben. Ihre Breite beträgt fünf Meter. Zu unterst 
in diese Grube bringt man eine Lage von Kalk und Stein- 
brocken, dann eine Schicht Backsteine, hierauf füllt man die 
Grube aus mit der besten alten Düngererde und mit Soden 
von abgestochenem Rasen. Dieses Erdmaterial wird nur nach 
und nach, in vertikalen Schichten, eingesetzt und jeder Schicht 
Zeit gelassen, sich unter dem Einflüsse von Luft und Sonne 



Eine moderne Cottage, 37 

ZU entsäuern. Die ganze Masse ist mit Drains durchzogen. 
Die äussere Schrägwand des Treibhauses steht über der Mitte 
der Grube, so dass die Wurzeln der Reben, innen und aussen, 
je drittehalb Meter Raum finden. Die Lüftung wird durch 
obere und untere verstellbare Fenster geregelt, die gemein- 
schaftlich der Drehung eines kleinen Steuerrades leicht ge- 
horchen. Röhren mit kaltem und heissem Wasser laufen im 
Erdboden und über demselben hin und wieder. Die Knochen- 
düngung wird sehr stark angewendet, wir fanden für eine Ab- 
theilung von zehn Rebstöcken zwanzig Centner zerschlagene 
Xnochen bestimmt. Die Reben und Pfirsichstämme sind, wie 
schon erwähnt, auf die Mittellinie der Grube gepflanzt und 
laufen in den Warmhäusern unter dem schrägen Dache hinauf; 
nur in den ersten Jahren des Betriebes in einem neuen Hause, 
wenn die definitiven Pflanzen noch klein sind, duldet man 
ältere interimistische an der geraden Wand; diese werden später 
beseitigt. Nach der strengen Observanz soll jedes Haus nicht 
etwa nur eine Gattung von Früchten, sondern sogar nur eine 
Sorte derselben enthalten, da die richtige Temperatur und der 
unausgesetzte Kampf mit den Pilzen und Insekten, durch 
Spritzen und Tabakräuchern, sonst gestört werden. Für die 
Topferdbeeren wird wol eine Ausnahme zugestanden, denn von 
ihnen kann man bekanntlich nie genug aufstellen um der 
Nachfrage völlig zu entsprechen. 

Der Erdboden innerhalb und ausserhalb des Hauses wird 
mit altem Dünger gedeckt, stets nur vorsichtig gelockert, nie 
gegraben und bepflanzt, um die flach unter der Oberfläche 
laufenden feinen Wurzeln nicht zu schädigen. Einen eigen- 
thümlichen Anblick gewährt das Gurkenhaus. Auch diese 
Pflanzen werden an Drähten imter den schrägen Glasfenstem 
sorgfältig in die Höhe geleitet Da die getriebenen, vierzig 
bis fünfzig Centimeter langen Früchte ihrer Reife ent- 
gegen gingen, so hingen sie dicht und tief herab und erinnerten 
unwillkürlich an eine heimatliche mit aufgehängten ge- 
räucherten Würsten wohlgefüllte ländliche Vorrathskammer. 

An die Treibereien schliessen sich die überglasten Spalier- 
mauem, mit Wein, Pfirsichen, Aprikosen, Kirschen und Pflaumen 
besetzt. 

Dieses ganze System der warmen und kalten Obsthäuser 



38 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

ist darauf berechnet: den Tisch möglichst zu jeder Jahreszeit 
mit reichlichem Obste zu versorgen. Es werden geliefert: 
Trauben das ganze Jahr hindurch, die spätesten dickschaligen 
erhalten sich, nach dem Blätterfalle, an den Stöcken bis in den 
Monat März und die frühesten neuen reifen im April; ebenso 
sind Gurken stets vorhanden, auch Ananas; Erdbeeren von 
März bis tief in den Juli, Pfirsiche und Melonen vom Anfang 
des Mai bis in den Oktober. Dazwischen treten vom Mai 
an Kirschen und Pflaumen, dann die Gartenfriichte aus dem freien 
Lande und das Winterobst. Alle Häuserüberraschen und erfreuen 
durch die -Gesundheit sämmtlicher Pflanzen; kein Kräuseln, 
keine Bleichsucht, keine Ameise und rothe Spinne, kein 
Schimmel und vor allem keine Blattläuse, diese Pest unserer 
Obstgärten im Freien. So weit ist man hier zu Lande durch 
Intelligenz und nachhaltige Energie gelangt, aber auch mit An- 
wendung von Geldmitteln, die allerdings bei uns nur in den 
seltensten Ausnahmen zur Verfügung stehen. 

Das Betriebspersonal in den Gärten der Dell besteht: 
aus dem Obergärtner, welcher neben freier Wohnung und 
Feuerung alle Lebensmittel, ausgenommen Fleisch, und an 
Gehalt wöchentlich vierzig Mark erhält. Femer sind fünf 
Untergärtner vorhanden, die zusammen, neben freier Wohnung 
und Kost, ebenfalls etwa vierzig Mark für die Woche bekommen; 
dazu acht Tagelöhner mit etwa hundert Mark wöchentlich und 
ein Tischler mit dreissig Mark. So stellen sich allein die 
baaren Löhne des Gartenpersonals auf beinahe elftausend Mark 
im Jahre. 

Wir durchschritten die warmen und kalten Blumenhäuser 
flüchtig, da hier die Aufstellung durch den Fortgang der noch 
nicht vollendeten Bauten gestört ist. Bei den Orchideen fiel 
es auf, dass man sämmtliche Tische mit grossen flachen Blech- 
schüsseln besetzt hatte; sie waren mit Wasser gefüllt, im Wasser 
standen umgekehrte leere Blumentöpfe und auf diesen kleinen 
Inseln erst die Töpfe mit den Pflanzen. Die Ursache dieser 
ungewöhnlichen und mühsamen Vorrichtungen ist eine winzige 
hellgrüne Ameise, die vor einigen Jahren mit Orchideen aus 
den Tropen eingeschleppt wurde und bis jetzt noch nicht gänz- 
lich hat vertilgt werden können. Mit der ihrem Geschlechte 
eigenen Energie versuchen die Thierchen freilich die Wasser- 



Eine moderne Cottage. 39 

fluth ZU Überspringen; sie gelangen aber doch nur sehr ver- 
einzelt an die Pflanzen und können wenigstens nicht mehr im 
Grossen vernichtend wirken. 

Damit dem ländlichen Idyll der Dell zu seiner Vollendung 
nichts fehle, schliesst sich an die Obstgärten eine kleine Müster- 
farm mit etwa zweihundert Morgen Wiesen und Weiden. Die 
niedrigen Häuschen und Stallungen sind sämmtUch niedlich und 
kokett, von höchster Sauberkeit und nach den neuesten 
rationellen Principien hergestellt. Sie beherbergen zwanzig 
edle, im Heerdbuche verzeichnete Aldemeykühe von der Insel 
Jersey, unvergleichlich im Zucker- und Fettgehalte ihrer Milch 
und dabei in voller Leistung fünfzehn Liter im Tage liefernd. 
In der Mitte des Gehöftes wühlen unter langem Stroh schwarze 
Berkshireschweine von ungewöhnlicher Grösse. Absichtlich ist 
hier der Stammbaum nicht ganz rein gehalten, um grössere 
Figuren, weniger Speck und zahlreichere Nachzucht zu gewinnen. 
Der Hof und seine Umgebung sind von gewählten Hühner- 
rassen sowie von Gold- und Silberfasanen belebt, alle in wohl 
umhegten Abtheilungen. 

Eine abgeschiedene vornehme Niederlassung fiir sich bilden 
die Pferdeställe, deren Giebel wir bei unserer Einfahrt, links 
hinter dem immergrünen Gebüsche, wahrnahmen. Hier stehen 
sechs Vollblutpferde für den Hunt, ein Viererzug und^mehrere 
andere Dienstpferde. 

Eine Fülle der Anschauungen, wie sie uns heute geboten 
worden, erschöpft die Kraft und die Zeit einer Tagesarbeit; so 
waren wir froh, uns beim Untergange der Sonne zum Dinner zu 
setzen, das, mit dem Luxus reicher Einfachheit ausgestattet, durch 
die herzlichste Gastfreundschaft einen wohlthuenden familien- 
haften Charakter gewann. Auch muthete die vorzügliche hamburger 
Kochkünstlerin die schon seit Wochen mit englischer Hotelkost 
geprüften Reisenden heimatlich an. Nach Tische betraten wir 
die uns noch unbekannten Räume der Cottage: einen grossen 
State Drawingroom und hinter ihm eine kleine Gallerie mit 
mehreren werthvollen Marmorwerken von Eduard Müller in 
Rom, unter denen das schlafende Kind, sowie die Unschuld in 
Gefahr und im Siege besonders ansprechen. Den ersten Platz 
nimmt hier mit Recht die ähnliche und ausdruckvolle Porträt- 
büste der Hausfrau ein. Dieser kleine Raum führt in die grosse 



40 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner* 

Bildergallerie, ein weiter stattlicher mit geblendetem 'Gasober- 
lichte erhellter Saal. Durch seine Einrichtung als abendliches 
Familien- und Musikzimmer wird er angenehm belebt und zeigt 
nichts von der gewohnlichen Steifheit und Geschäftsmässigkeit 
der Gallerien. Eine auserwählte Sammlung neuerer Meister 
ist hier mit feinem Geschmacke und echtem Kunstsinne zu- 
sammengestellt. 

Wir erinnern uns aus den zahlreichen Franzosen vor Allen 
an Paul de Laroches Napoleon in Fontainebleau {1814), 
Meissonniers Schachspieler, Ary Scheffers Franzeska di Rimini, 
an Rosa Bonheurs schottischen Schäfer; diese Meisterwerke 
sind auch durch den Stich bekannt geworden. Ihnen schliesst 
sich Gallait mit den »letzten Augenblicken Egmonts» an. Unsere 
deutsche Kunst ist vertreten durch zwei Bilder von Knaus, dar- 
unter der berühmte Orgeldreher, durch zwei Andreas Achen- 
bachsche Marinen, Vautiers Jahrmarkt, zwei Schreiers und einen 
Pettenkofer. Perlen der Gallerie sind auch vier der jetzt in 
England sehr hochgeschätzten Genrebilder von Alma Tadema, 
Illustrationen zur antiken Culturgeschichte. 

Unter Betrachten und Besprechen dieser Schätze schwanden 
die letzten Abendstunden rasch dahin und man trennte sich 
mit dem Bedauern, schon am anderen Tage die liebliche Dell 
verlassen und nach London, „ein Jeglicher an sein Geschäft" 
zurückkehren zu müssen. 

Als wir am nächsten Morgen im Esszimmer die Damen 
erwarteten und uns an der schonen Täfelung der Wände und 
an der reichen Kassettirung der Decke erfreuten, dabei unsere 
gestrigen Eindrücke durchsprachen und über vieles, was wir 
gesehen und nicht genau eingesehen hatten, um Belehrung baten, 
fragte einer der Reisegefährten: 

„Weswegen heisst denn dieses kleine Paradies »die Dell?« 
Das Wort hat wol eine besondere Bedeutung?" 

„Diesen Namen hat dem Platze schon der erste Erbauer 
gegeben", erwiderte unser Hausherr, „und dieser war kein ge- 
ringerer als König Georg III. Ursprünglich stand hier nur 
ein königliches Kaffeehäuschen, später ging dieses in Privat- 
besitz über, denn es liegt freilich hart am Parke aber nicht 
darin; ich kaufte es im Jahre 1864 und habe das Haus dann 



Eine fnoderne Cottage. 41 

durch verschieden^ Anbauten wohl um das Doppelte ver- 
gTÖssert". 

„Und den sonderbaren Namen haben Sie beibehalten?" 

„Beibehalten, gewiss! Der Name ist zudem uns Nieder- 
sachsen nicht ungeläufig, denn eine »Delle« heisst im Platt- 
deutschen eine Bodensenkung, ein Thal. Das Wort ist auch 
altenglisch; im modernen Lexikon finden Sie statt seiner »Dale«. 
Nun aber genug der vergleichenden Grammatik; Sie sollen 
selber sehen, was der Name meiner Dell bedeutet". 

Er öffnete das grosse, nördliche Bogenfenster: „Das be- 
deutet die Dell!" 

Wir sahen hier die alten Bäume des Windsor- Parkes un- 
mittelbar vor uns, nur in der Mitte der Waldwand eine schmale 
Lichtung oder Schneide. In dieser Lichtung zog sich eine Schlucht, 
eine »Delle« abwärts, und jenseits dieser Schlucht, weit, weit 
hinaus stieg im Rahmen der beiden Waldsäume die mächtige 
Königsburg Windsor Castle vor unseren überraschten und 
geblendeten Augen im goldenen Morgenlichte riesenhaft empor. 

Und deshalb nannte König Georg IIL dieses Häuschen 
über der Delle, welche dem glücklichen Besitzer und seinen 
bevorzugten Gästen die schönste aller Aussichten auf Schloss 
Windsor darbietet: die Dell. 



IV. 



Windsor Castle und die königliehen Hausgärten, 



Unser Weg von der Dell nach Windsor führt uns an den 
rothen, unregelmässigen Gebäuden von Cumberland Lodge vor- 
über, der Residenz des Forst- und Wildmeisters von Windsor 
Park, des Prinzen Christian von Holstein, Schwiegersohns der 
Königin. Wir verweilen hier, um eine der grössten gärtnerischen 
Sehenswürdigkeiten zu begrüssen, die England aufzuweisen hat, 
den „Alten Weinstock". Er ist in vielen Beziehungen ein 
wirkliches Original, ein „selbstgemachter Mann". Er gehört zu 
keiner der bei seiner Entstehung bekannten Rebsorten, sondern 
wurde im Jahre 1800 als zufalliger Sämling in einem Gurken- 
treibbeete gefunden und weiter gezogen. Im Jahre 1850 war 
seine Ueberdachung schon fünfundvierzig Meter lang und fünf 
Meter breit. Im Jahre 1859 ^^^S ^^ zweitausend grosse schwarze 
Trauben. Später ist das Haus nochmals erweitert und jetzt 
füllt die Pflanze über dreihundert Quadratmeter Glasfläche, 
welche mit gesundem Blattwerke und reichlichen schönen blauen 
Trauben erstön Ranges bedeckt war. -Der Stamm misst wohl 
einen Aleter im Umfange. Der Weinstock von Cumberland 
Lodge ist bedeutend grösser als sein dem reisenden Publikum 
zugänglicherer und dadurch viel weiter bekannt gewordener 
Rival in Hampton Court. 

Noch eine andere berühmt gewordene Grösse erblickte in 
Cumberland Lodge das Licht der Welt. Hier wurde im Jahre 
1764 der Eclypse während einer grossen Sonnenfinstemiss 
geboren und nach ihr getauft, das beste und rascheste Voll- 
blutpferd, welches je die englische Rennbahn betreten hat. Ein 



IVindsor Castle und die königlichen Hausgärten, 43 

Stallbedienter erkannte die vom Herrn, dem damaligen Herzog 
von Cumberland, nicht gewürdigten grossen Anlagen des Jähr- 
lings und kaufte ihn gemeinschaftlich mit einem Schafhändler 
auf der Versteigerung fiir 1 500 Mark. Eclypse und sein Ruhm 
gehören der englischen Geschichte an. Er starb, an Ehren, 
Siegen und Nachkommen reich, als ein Patriarch von fünfund- 
zwanzig Jahren am 27. Februar 1789. 

Die Zeit drängte jetzt zur Abreise und wir eilten den Long 
Walk hinab dem Städtchen Windsor und dem Bahnhofe zu. 
Jedoch sollte ich diesen heute nicht erreichen, denn unverhofft 
begegnete mir vor dem Wirthshause zum „Weissen Hirsch" 
das Glück in Gestalt der Erlaubniss: heute einen Blick in die 
dem grossen Publikum streng verschlossenen königlichen 
Privatgärten von Windsor thun zu dürfen. 

Freudig wandte ich meine Schritte und vor mir stiegen die 
gebieterischen westlichen Mauern der Königsburg steil und 
ernst zwischen den drei uralten runden Thürmen empor, die 
wohl noch aus der ersten Gründung des Schlosses durch 
Wilhelm den Eroberer stammen. Man weiss, dass König 
Eduard HL sie verschonte, als er, nach der Schlacht bei Crecy, 
etwa im Jahre 1350 den Umbau der alten Feste damit begann, 
dass er fast das ganze Schloss niederriss. Der Umbau wurde 
von dem Lösegelde bestritten, welches des Königs zwei erlauchte 
Gefangene in Windsor Castle: Johann von Frankreich und 
David von Schottland, zu erlegen hatten. Auch verwertheten 
beide hohe Herren hier ihre Müsse und ihren Geschmack, indem 
sie dem Bauherrn guten Rath ertheilten. Eine schroffe unnah- 
bare Felsmauer, nur auf ihrer Höhe belebt durch die einsame 
rothe Gestalt des schottischen Gardefüsiliers, der, ein unbewegtes 
Bild, in einer Lücke der Zinnenkrönung auf sein Gewehr lehnt. 
Wir betreten jetzt den unteren Schlosshof durch das Thor 
König Heinrichs VIII. und schreiten weiter an der prächtigen 
St. Georgs Kapelle und an den Mauern des alten Klosters 
von Windsor vorüber, in denen heute die Chorknaben und die 
„Armen Ritter von Windsor" (eine Stiftung für verdiente 
invalide Offiziere) hausen. Dann wird uns durch die Gefälligkeit 
des Decans von Windsor Mr. Wellesley, eines Verwandten 
des Eisernen Herzogs, ein Blick in die berühmte Wolsey-Kapelle 
vergönnt. Sie ist jetzt mit dem höchsten Aufwände von 



44 Englische Landsitte, Gärten und Gärtner. 

Geschmack und Pracht nach zehnjähriger Arbeit unter der 
Leitung des berühmten Baumeisters Sir Gilbert Scott in ein 
Mausoleum des Prinz-Gemahls verwandelt worden. 

Das Ergebniss der langjährigen mühevollen Thätigkeit ist 
ein Inneres von nie gesehenem Glänze; Fussboden, Wände, 
Fenster und Wölbung sind sämmtlich im höchsten Grade 
prachtvoll und grossartig. Das Gewölbe und das westliche 
blinde Fenster sind mit Glasmosaik aus der berühmten Fabrik 
von Salviati in Murano bekleidet, deren Leistungen wir auf 
der Ausstellung in Paris so sehr bewundert haben. Die fünf 
Fenster in der Apsis enthalten Glasmalereien, Scenen aus der 
heiligen Schrift darstellend; die übrigen Fenster der Langseite 
illustriren die Geschlechtsfolge des Prinzen Albert bis hinauf 
zum Stammvater Wittekind. 

Unter den Fenstern sind Marmorreliefs von dem ver- 
storbenen Bildhauer Baron Trinquetti eingelassen; von ihm ist 
auch die Skulptur am Altar, die Auferstehung darstellend. 

Im Mittelpunkte des fast überreich eingelegten, spiegelnden 
Fussbodens ruht das Mamiorbild des Prinzen auf einem hohen, 
reichgeschmückten Cenotaph, ebenfalls von Trinquetti. Die 
Kapelle ist, ausser bei grossen Trauerfeiern, nur durch die 
Wohnräume des geistlichen Herrn zugänglich. 

Wir umgehen dann den Runden Thurm und treten durch 
das enge Norman Gate in den oberen Schlosshof ein. 
Unwillkürlich bleiben wir hier gefesselt stehen unter der 
Wirkung des ungeheueren Werkes, das uns umgibt. Wir 
finden wol kaum eine zweite Schöpfung der Menschenkunst, 
die so klar und grossartig, so genial den Charakter ihrer 
Bestimmung ausspricht, wie Windsor Castle. Die Franzosen 
freilich erzählten sich und uns seit zweihundert Jahren so oft 
und so siegesgewiss: das Schloss von Versailles sei der erste 
und vollendetste unter allen Repräsentanten der monarchischen 
Grösse, dass wir Deutsche, denen Paris von jeher ein beliebter 
Ausflug, London ein seltenes und ernstes Reiseuntemehmen 
war, ihnen schliesslich auch hierin geglaubt haben. 

Versailles ist gross; es ist weitläufig und prunkend; es 
steht da ohne lebendige Geschichte, das willkürlich gemachte 
Monument einer, damals schon alternden, jetzt längst abge- 
storbenen künstlichen, Glanzperiode. Was ist heute Versailles? 
Ein verödeter Königspalast in einer Todtenstadt, ein „allen 



Winds0r Castle und die königlichen flausgärten, 45 

(traurigen) Glorien Frankreichs" errichtetes Museum, eine 
geschichtswidrige Schule der Nationaleitelkeit. 

Windsor Castle zeigt uns dieEntwickelung der monarchischen 
nationalen Grösse Englands von ihrem geschichtlichen Ur- 
sprünge, der Eroberung, durch achthundert Jahre stetig fort- 
schreitend und wachsend, heute grösser als gestern, altehr- 
würdig und jugendkräftig. Windsor Castle trägt in seinen 
Bauwerken Erinnerungen an fast jeden Herrscher Englands, 
von Wilhelm dem Eroberer beginnend; namentlich Hessen 
Eduard III. und Heinrich VIII. hier bedeutende und 
dauernde Spuren ihres Wirkens zurück, später Elisabeth und 
das Haus Hannover. Es kamen auch Zeiten der Vernach- 
lässigung und des Verfalls, besonders unter den Stuarts. 
König Georg III. restaurirte und schmückte die St. Georgs- 
Xapelle; Georg IV. ward der Wiedererbauer des Schlosses in 
allen seinen wesentlichen Theilen so wie es jetzt dasteht, 
durch den Genius seines grossenBaumeisters Sir Jeffrey Wyatville. 

So begleitet hier jeden unserer Schritte nicht etwa eine 
nebelhafte Erinnerung an ein verschollenes „Es war einmal", 
sondern die lebendige Vergangenheit, als Mutter der noch 
grösseren Gegenwart. Im Normannen-Thore sehen wir noch heute 
die Reste der Fallgatter, mit denen die alten normannischen 
Barone ihren Burgfrieden wahrten, und oberhalb dieses Thors 
breitet sich, unter dem Schutze des Runden Thurms, die 
neuste Entwickelung der Königsburg, der grosse viereckige 
Obere Hof mit seinen fünfhundert Zimmern vor uns aus in 
hoheitvoller Ruhe und schwerer, würdiger Pracht Hier spricht 
die Majestät der lebendigen Grösse, ohne Prunk und 
Schnörkel, in einfachen aber riesigen Schriftzügen; sie gebietet 
Ehrfurcht durch sich selbst, durch ihre erhabene, stolze, fest- 
gegliederte Masse. In Versailles spreizt sich der hyper- 
trophische Dünkel des „Grand Monarque" in baroker Unnatur, der 
sicheren Signatur des beginnenden Verfalls. Windsor steht auf 
seiner natürlich gegebenen, gewachsenen, festen, beherrschenden 
Höhe, von der Themse umflossen, mitten in der englischen 
fruchtbaren Landschaft. Versailles lieg^ in gesuchter Ab- 
sonderung und ohne jedes andere Motiv seines Daseins als 
eine Laune, in der sterilen Sandebene. Dort ist Oede, Künstelei, 
Verfall; hier Entwickelung, Natur, Leben. 



46 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner* 

Wir verlassen jetzt die grossartige Terrasse, die an der 
ganzen nordlichen Front des Schlosses entlang läuft — sie 
trägt den Namen ihrer Erbauerin, der Konigin Elisabeth — , 
und betreten das Schloss durch den grossen „Staats-Eingang** 
gegenüber dem Thore König Georgs IV. Wahrhaft überraschend 
grossartig ist hier das Vestibül und die Staatstreppe. Man 
könnte sich hier in den Eingang eines majestätischen Tempels 
versetzt fühlen unter dieser doppelten Reihe von Säulen, 
auf welche ein gedämpftes Tageslicht fällt. 

Indem wir aufwärts schreiten, sehen wir Treppen, Zimmer- 
nischen, Tische alle Räume hier in dichter Fülle mit den 
herrlichsten grünenden und blühenden Gewächsen geziert- 
Dieser Festschmuck steigert sich bis zum Eingange der grossen 
Waterloo-Gallerie. Ein mächtiger Raum, der sein Licht von 
oben durch die in der Mitte erhöhte, von Gurtbögen getragene 
Decke empfängt. Bis zur Höhe von sieben Metern etwa sind 
die Wände in Holz getäfelt und auf dieser Bekleidung reihen 
sich die Portraits der bedeutenderen Persönlichkeiten aus den 
Befreiungskriegen, fast alle von Sir Thomas Lawrence gemalt. 
Ein geschäftiges Treiben bewegt sich im Saale. In der Mitte 
wird eine grosse Tafel von siebzig Gedecken hergerichtet und 
auf ihr, wie auf den zahlreichen hohen und schweren Schank- 
tischen und Büffets leuchtet schon das berühmte goldene Service 
von Windsor. Nur in Zwischenräumen langer Jahre verlässt 
dieser Schatz die Gewölbe der Silberkammer; heute soll er die 
Anwesenheit der ältesten Tochter des Hauses und ihres Ge- 
mahls, unserer deutschen kronprinzlichen Herrschaften, ver- 
herrlichen. 

Aus der Waterloo-Gallerie gelangen wir in den Ballsaal, 
dessen Wände mit Vergoldung und Spiegeln vollständig bedeckt 
sind, und weiter in den Thronsaal. Hier fesselt uns ein merk- 
würdiges Bild von West: die Stiftung des Hosenbandordens 
durch Eduard III. in der St. Georgs-Kapelle. Der Bischof von 
Winchester, des Königs berühmter Kanzler und Oberbaudirector 
William von Wykeham, celebrirt das Hochamt, der König die 
Königin Philippa und die Ritter knieen rings um den Altar. 

Auf der anderen Seite der Waterloo-Gallerie liegt die 
St. Georgs -Halle. Diese vier Räume zusammen bilden eine 
Scene für die Entwickelung königlicher Feste, die wohl in 



l^lndsor Castle und die königlichen Hauswarten. 47 

Europa kaum ihres Gleichen haben dürfte. St. George's Hall 
hat eine flachgewölbte gothische netzförmige Decke, deren un* 
endliche Winkel mit den Wappen aller Hosenbandritter seit 
der Stiftung des Ordens geschmückt sind. An der Südseite 
dieser majestätischen Halle lassen dreizehn riesige gothische 
Fenster das Licht ein; correspondirende Nischen in der gegen- 
überliegenden Wand sind ausgefüllt mit den Bildern der 
dreizehn letzten Sou veraine, von Jacob I. bis zu Ihrer jetzt 
regierenden Majestät. 

Kein Fremder wird wohl die St. Georgs-Halle durchmessen, 
ohne sich der Sage zu erinnern, in welche die jetzt fünfhundert- 
jährige Stiftung des Ordens sich gekleidet hat. Diese Legende 
ist indessen von verschiedenen zuverlässigen Geschichtsforschern 
und Historikern des Ordens als dessen unwürdig verworfen 
lÄ-orden. Wir dürfen daher wohl über die schöne Gräfin Johanne 
von Salisbury — ungläubig lächeln, die hier beim Tanze auf 
dem Hofballe ihr mangelhaft befestigtes Strumpfband verlor, 
das dann der König Eduard III. aufhob ; denn sogar die damaligen 
Hofherren sollen ja über diese verliebte Demonstration des 
Monarchen gelächelt haben. 

Aber es giebt noch eine andere Legende, die vielleicht 
nicht so allgemein bekannt ist und die mir wenigstens weit 
mehr zusagt. Denn sie zeigt uns den König und die ganze 
Situation in einem weit passenderen und würdigeren Lichte. Nach 
dieser Ueberlieferung zog sich, gegen den Schluss des Festes, 
die Königfin aus dem Ballsale in ihre Gemächer zurück; der 
K-önig folgte ihr bald und erblickte in einem Vorzimmer auf 
dem Fussboden ein blaues Strumpfband, welches er als das 
Eigenthum seiner Gemahlin zu erkennen glaubte. Einige Herren 
seines „Cortege" waren über das Band bereits hinweggeschritten, 
zu vornehm um sich nach einem so unbedeutenden Dinge zu 
bücken. Der König aber hob es auf und sagte: „Ihr scheint 
dieses Strumpfband nur gering zu schätzen, aber ich will es zu 
hohen Ehren unter Euch bringen". 

Und, wie die Sage weiter berichtet, sei das Motto des 
Ordens die Antwort der Königin gewesen, als der König sie 
fragte: „was die Leute von ihr denken sollten — dass sie ihr 
Strumpfband so verlöre?" „Hony soit qui vial y pcnse". 



4o Englische Landsitze , Gärten und Gärtner, 

Jetzt aber müssen wir vorwärts eilen durch die Säle, 
Hallen und Gallerien, bis wir eine Terrasse erreichen, die am 
östlichen, von der Königin bewohnten Flügel des Schlosses 
entlang läuft und unter dem Victoria-Thurm endigt. Hier 
liegen die Privatgemächer Ihrer Majestät, die bei Allerhöchster 
Anwesenheit, selbstverständlich dem Publikum verschlossen 
sind. Im Vorübergehen werfen wir noch durch eine 
mächtige gewölbte Thür einen neugierigen Blick in die 
grosse Küche. In ihren allgemeinen Verhältnissen und 
namentlich in ihrem hohen hölzernen, rauchgeschwärzten 
Dachstuhle soll wenig geändert sein seit sie von Eduards III. 
grossem Baumeister William von Wykeham geschaffen wurde. 
Die riesigen Herde indessen, an denen früher halbe Ochsen 
vor offenem Kohlenfeuer brieten, sind jetzt mit modernen 
Kochapparaten besetzt. Endlich erreichen wir durch ein 
Labyrinth von Thüren, Treppen und Gängen die ostliche 
Terrasse und betreten den vor dieser Fronte liegenden 
Blumengarten. Seine Fläche enthält etwa sechs Morgen, sie 
ist gegen das umgebende Terrain, namentlich gegen die Schloss- 
terrasse, erheblich vertieft und zum grösseren Theile durch 
eine umlaufende Orangerie abgeschlossen, so dass kein unbe- 
rufenes Auge eindringen kann. Ein Wassßrbassin steht im 
Mittelpunkte; von dort aus ist der Garten in ziemlich regel- 
mässige Kreisabschnitte zerlegt und mit Rasen bedeckt, in 
welchen die Blumenbeete in entsprechenden, meist länglich 
laufenden Formen eingeschnitten sind. Die Anlage stammt 
zwar schon aus der Zeit König Georgs IV., ihre jetzige Voll- 
endung jedoch verdankt sie, wie so unendlich Vieles, was wir 
heute in Windsor bewundem, der still schaffenden Thätigkeit 
und dem hochgebildeten Schönheitssinne des Prinzen Albert. 
Der bedeutendste und eigenthümliche Schmuck des Gartens 
besteht in der vollendeten Verbindung des lebenden Blumen- 
flors mit den Meisterwerken der Erzbildnerei, die als schöne 
Statuen und prächtige Vasen im Garten vertheilt sind. Sie 
geben ihm den echt italienischen Charakter, dessen Nachahmung 
diesseit der Alpen kaum je mit solchem meisterlichen Ver- 
ständnisse durchgeführt ist, ausser etwa in den Gärten von 
Sanssouci; Dank dem Kunstsinne Friedrichs des Grossen imd 
später des Königs Friedrich Wilhelm IV. 



JVinäsor Castle und die kömglichen Haiisgärten^ 49 

Jenseit dieses Terrassengartens fallt der Schlossberg ab 
und wir steigen in den Hauspark hinunter. Dieser soge-r 
nannte „kleine Park" enthält auf sieben- bis achthundert Morgen 
einen grossen Reichthum an schönen Bäumen, reizenden Cottages 
und gewählten künstlerischen Gartenbildem. Ueberall der 
herrliche Rasen und alles in musterhafter Pflege. Wir gehen 
unter schattigen Ulmenalleen entlang und bewundem, etwas 
weiter hin, zwei mächtige immergrüne Eichen, zusammen über 
hundert Meter Umkreis haltend. Hier dürfen wir auch die 
uns allen befreundete Heme's Eiche suchen, unter welcher der 
spukhafte Schlussact der „Lustigen Weiber von Windsor** sich 
so oft vor uns entwickelt hat. An die Königin Adelheid, 
Gemahlin Wilhelms IV., erinnert eine zierliche, ihren Namen 
tragende Cottage, an den Prinzen Albert ein hochgelegenes 
Sommerhäuschen ; dann gelangen wir an ein niedriges Gebäude 
orientalischen Charakters, das uns als „der Königin Frühstücks- 
raiun" bezeichnet wird. Eine wilde Felspartie mit fallendem 
Wasser und entsprechender reicher Vegetation ist kl grossen 
Verhältnissen dargestellt, und nicht weit von ihr finden wir die 
Lutherbuche, ein Ableger des bekannten gleichnamigen Baumes 
bei Altenstein in Thüringen, an dem Platze, von welchem der 
Doctor Martin im Jahre 1521 als Junker Georg auf die Wart- 
burg entfuhrt wurde. Der Baum ist jetzt etwa fünfzig Jahre 
alt und ein Zeugniss für die ausserordentliche Wüchsigkeit des 
englischen Bodens und Klimas. 

Wir haben uns inzwischen einer Gegend der königlichen 
Hausgärten genähert, wo lange hohe Mauern die Femsicht 
abschneiden. Durch ein geräumiges Thor treten wir jetzt in 
den sogenannten „Küchengarten von Frogmore" ein. Der 
Garten leistet jedoch weit mehr als sein Name verspricht, denn 
hier ist auf einem durch solide Steinwände eingeschlossenen, 
weiten Gebiete die gesammte Obst- und Gemüsezucht für den 
königlichen Hof halt vereinigt. Man darf wohl anerkennen, dass 
dieser „Küchengarten" zur Zeit in ganz Europa seines Gleichen 
sucht, denn seine Anlage wie seine Leistungen sind in allen 
Zweigen gleich unübertrefflich und der allerhöchsten Eigen- 
thümerin würdig. Auch dieser Garten ist eine Schöpfung des 
Prinzen Albert aus dem Jahre 1848. Vorher war die Erzeugung 
des königlichen Bedarfs in sechs älteren Gärten zerstreut, 

Ompteda, L. ▼. Bilder. 4 



&0 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

daher ungleich, ohne System, ohne Controle und auf döm aus- 
gebauten, erschöpften Boden ohne befriedigendes Ergebniss. 
Alle diese mangelhaften kleinen Betriebe wurden aufgehoben 
und dafür Frogmore eingerichtet mit einem Kostenaufwande 
von 900,000 Mark. 

Sofort bei unserem Eintritte werden wir durch die Gross» 
artigkeit und Weite des Anblickes gefesselt, dann erkennen 
wir im Fortgange der Besichtigung die vollendete Zweck- 
mässigkeit der Disposition und den vorzüglichen Culturzustand 
aller Abtheilungen. Der gesammte Betrieb deckt funfundvierzig 
Morgen; diese Grundfläche bildet nahezu ein Quadrat Der 
Gartendirector Mr. Jones, dem ich empfohlen war, hatte die 
Güte, mich selbst zu führen. Er wies zunächst darauf hin, 
dass der Garten durch eine lange Gebäudereihe von Ost 
nach West in zwei ungleiche Theile zerlegt wird. In dem 
nördlichen kleineren Reviere befinden sich die Pflanz- und 
Vorrathshäuser, die Magazine, Stallimgen und Schuppen jeder 
Art. Die südliche grössere Hälfte ist wiederum durch vielfache 
Quermauem zerschnitten. Jede so gebildete Abtheilung trägt 
den Namen derjenigen Obstsorte, die ausschliesslich an ihren 
Mauern gezogen wird: Kirschen, Pflaumen, Johannisbeeren, 
Aprikosen, Birnen u. s. w. Alle Wege sind mit Cordons von 
Aepfeln und Birnen eingefasst; hinter diesen breiten sich freie 
Spaliere in verschiedenen, jedoch immer ungekünstelten, Formen 
an eisernen Gestellen aus. Alle Bäume, alle Beete sind sauber 
gehalten und in einem üppigen Stande der Vegetation. Zahl- 
reiche Arbeiter sind mit Reinigen der Wege, Lockern des 
Bodens, Giessen, Ausjäten des Unkrautes, Sammeln des Unge- 
ziefers u. s. w. beschäftigt; genug: das Ganze muss jedem 
gärtnerischen Auge die vollste Befriedigung gewähren. 

Dennoch übt die grosse, den Garten durchschneidende 
Gebäudereihe eine mächtigere Anziehungskraft und wir werden 
ungeduldig, sie zu betreten. Sie besteht aus einem Mittelhause, 
einer zweistöckigen Giebelcottage in rothem Backstein, von 
allen Seiten grün und bunt bewachsen; namentlich zeichnen 
sich auf der Südseite die bis unter das Dach kletternden 
Jasmine und die Bignonia grandiflora aus. Hier ist die Wohnung 
des Directors; zu jeder ihrer beiden Seiten erstreckt sich eine 
Reihe von sieben grossen, in Eisen ausgeführten Glashäusern. 



Windsor Castle und die königlichen Hausgärten, 51 

Diese fünfzehn Gebäude haben eine Frontlänge von beinahe 
vierhundert Metern und jedes Haus ist über sechs Meter tief. 
"Wir durchschreiten sechs Weinhäuser, von denen zwei je 
vierunddreissig Meter lang sind. Die Reben stehen in 
Zwischenräumen von 1,30 Metern und eines der beiden Häuser 
gab im Jahre 1877 im Laufe eines Monates etwa eintausend 
Stück reife Trauben von Foster Seedling und Black Hamburgh, 
Femer zählen wir vier Pfirsichhäuser, zwei Pflaumenhäuser 
mit Queen Victoria und Golden Drop besetzt, und an jedem 
Flügel zwei grosse Warmhäuser für Blumen und Zierpflanzen. 
Die Art des Betriebes in diesen Häusern wollen wir hier nicht 
nochmals betrachten; sie verläuft im grossen nach denselben 
Grundsätzen, die wir gestern schon auf der Dell angewendet 
fanden. Die Gärtnerei von Frogmore ist bereits seit einem 
Menschenalter ein Vorbild geworden, welches in der Nähe und 
Feme als mustergiltig nachgeahmt wird und Schule ge- 
macht hat 

Auf der nördUchen Fronte dieser langen Reihe finden wir 
die geräumigen Wohnungen der zahlreichen Gärtner und Lehr-» 
linge, denen ein Lesezimmer nebst Bibliothek nicht fehlt; 
hier liegen die Dampfkessel, Pflanzräume und die Champignon* 
zucht. Uns gegenüber sehen wir jetzt ein ganzes Dorf von 
hohen und niederen Glashäusern für die grossartigen Treibereien 
aller möglichen Früchte und Gemüse. Die grosseren Gebäude 
sind auch hier wieder der Traube und dem Pfirsich gewidmet, 
eine lange Reihe niederer Häuser enthält die Ananaszucht in 
reicher Vollendung, sie bringen im Jahre über viertausend 
Früchte. Die Erdbeere wird hier jährlich in neuntausend Topfen 
getrieben, die Häuser lieferten in diesen Tagen, während des 
höchsten Besuches im Schlosse, täglich fünfundsiebzig Pfund 
in die Küche. Schnittbohnen und Blumenkohl dürfen das ganze 
Jahr über nicht ausgehen; drei Monate lang bringt sie der 
offene Garten, die übrige Zeit müssen die Glashäuser ausfüllen. 
Zwei grosse Räume sind mit frühen Kirschen in Töpfen besetzt, 
dann folgen Gurken, Melonen, wieder Trauben und Pfirsiche, 
endlich ganze Wälder von decorativen Pflanzen und Blumen, 
wie sie das grosse Schloss für unzählige Räume, für die Tafel 
und für massenhafte Bouquets täglich frisch bedarf. 

Nach einer stxmdenlangen Fahrt durch dieses Wunderland 

4 



52' Englische Landsitze, Gärten und Gärtner* 

ruhten wir gern in Mr. Jones' freundlichem Wohnzimmer aus; 
jedoch noch keineswegs zu ermüdet: wir zu fragen, er xms zu 
belehren. 

„Wir dürfen", sprach er, „das Lob, welches Sie unseren 
Culturen ertheilen, wohl annehmen; wenigstens bemühen "»tt 
uns unausgesetzt, in jedem Zweige unserer Gärtnerei nur das 
Beste zu leisten. Wir setzen unsere Ehre darin, unsere aller- 
höchste Herrin zu bedienen wie die erstien Marktgärtner von 
London bei schärfster Concurrenz, jeder in seiner Specialität 
producirend. Wir fühlen uns gewissermassen an der Spitze dei* 
englischen Gärtnerei und also auch unter ihrer allgemeinen 
Controle. Das schützt uns vor der Erschlaifung, die so oft die 
Leistungen grosser Administrationen auf die Mittelmässigkeit 
herabdrückt. 

„Die an uns gestellten Ansprüche sind allerdings zuweilen 
in Beziehxmg auf Massenhaftigkeit kaum glaublich. Vor einigen 
Jahren befand sich während acht Tagen ein ziemlich zahlreicher- 
Besuch fremder höchster Herrschaften im Schlosse. Die damals 
von uns gelieferten jungen Erbsen verzehrten die Ernte von 
soviel Reihen, dass deren Gesammtlänge beinahe fünf Kilometer 
betrug. Auch ist unsere Thätigkeit nicht nur auf die Zeit 
beschränkt, in welcher der Hof l;ier residirt. Das ganze Jahr 
hindurch senden wir täglich alles, was die Hofhaltung bedarf, 
nach Osbome und Balmoral. 

„Unsere grosse Maschine muss daher mit militärischer 
Pünktlichkeit und Genauigkeit arbeiten. Werfen Sie einen 
Blick in diese Bücher hier. Wir führen darin genaue Ver- 
zeichnisse über alles und jedes, was die Gärten producirt haben, 
sowie darüber: wann und wohin es abgeliefert wurde: zugleich 
eine Berechnung unserer Erzeugungskosten in jeder Jahrfeszeit 
Verkauft wird gar nichts. Die Resultate früherer Jahre stellen 
wir dann mit den neuesten zusammen und suchen so, an der 
Hand vergleichender Erfahrungen, vorwärts zu kommen und 
stets mehr, besser und billiger zu produciren. 

„Diese gesammte umständliche, aber durchaus nothwendige 
Organisation und Selbstcontrole unserer Verwaltung^*, ftihr 
Mr. Jones fort, als er sah, wie eifrig wir ihm zuhörten, „fand 
ich bereits vor, als ich meine hiesige Stellung im Jahre 1872 
antrat. Ihre Schöpfung ist das Verdienst meines ausgezeichneten 



JVindsor Castle und die königlichen Hauswarten. 53 

Vorgängers, Mr. Thomas Ingram. Ich hatte nichts zu thun 
als in seinen Spuren weiter zu gehen. Nur nicht selbstgefällig 
stehen bleiben; das fuhrt zum Schlendrian und Rückschritt. 
Auch tragen wir uns mit neuen grossen Ideen. Zur Sicherung 
und Vereinfachung unserer Frühculturen habe ich den Plan 
ausgearbeitet: eine ganze Abtheilung, wie Sie solche in den 
Gemüsegärten gesehen haben, von Mauer zu Mauer mit Glas 
zu decken. Im Principe ist mein Project genehmigt worden; 
die Ausführung stosst sich bis jetzt noch an den Kostenpunkt, 
denn mein Anschlag beläuft sich allerdings auf hundertachtzig- 
tausend Mark. Aber ich hoife bestimmt, das Geld wird sich 
nächstens finden". 

Unser Rückweg nach Windsor führte uns an der Muster- 
farm von Frogmore und an der Dairy (Milchwirthschaft) vorüber. 
Auch hier durften wir eintreten. Die Farm, nebst drei anderen 
im Windsor -Parke, ist ebenfalls vom Prinzen Albert erbaut 
und eingerichtet Sie zeigt im grossen dieselbe Vollendung, 
die wir gßstern in ihrer verkleinerten Nachahmung auf der 
Dell bewunderten. Neben den zierlichen Aldemeys sind hier 
prächtige Exemplare der Shorthoms und zu Züchtungsversuchen 
auch hochedle Schweizer aufgestellt. 

Der Milchkeller der Dairy ist nicht allein ein Muster von 
grossartiger, rationeller Einrichtung, sondern auch durch die 
reiche decorative Ausstattung seines Innern ausgezeichnet. 
Seine schönste Zierde bilden die umlaufenden, künstlerisch 
höchst werthvoUen Friese aus bunter Majolika, in der berühmten 
Fabrik von Minton für diesen Raum und Zweck besonders 
entworfen und in der bekannten Vollendung ausgeführt. 

Als wir uns jetzt auf dein Heimwege den Privatgärten der 
königlichen Cottage Frogmore näherten, begegnete uns ein 
zierliches einspänniges Wägelchen, begleitet von einem Reit- 
knechte auf hochedlem Schimmel. Eine einzelne Dame, in 
tiefes Schwarz gekleidet, führte darin nach guter englischer 
Sitte selbst die Zügel. Wir blieben stehen und verbeugten 
uns tief und ehrfurchtsvoll vor der erhabenen Herrin von 
Windsor Castle, die heute, wie schon seit langen leidvollen 
Jahren, in den einsamen Weg zu dem königlichen Mausoleum 
einbog, in welchem ihr bestes irdisches Glück ruht 



1 



V. 

Die botanischen Gärten in Kew. 



Jün langentbehrter sonniger Junimorgen weckte uns zu 
früher Stunde und lockte, Londons Museen den Rücken zu 
kehren und hinaus in's freie Land zu fliehen. Die welt- 
berühmten botanischen Gärten von Kew waren schon seit 
"Wochen eines der auswärtigen Ziele unserer Sehnsucht ge- 
wesen, aber englischer Nebel und allgemein europäischer Regen 
verboten seither, die Flügel zu entfalten. Heute galt es, die 
Göttin Gelegenheit beim Schöpfe zu erwischen. "Wir verliessea 
die Eisenbahn in den lieblichen vereinigten Villendörfern 
Surbiton-Kingston. Hier, zwischen den dichtbelaubten Gärten, 
in denen die sauberen, beschfeidenen, etwas altmodischen Cottages 
wie in einem grünen Neste liegen, erwachten in mir Erinne- 
rungen aus der Kindheit, die manches Jahr geschlummert 
hatten. In längst vergangene Zeiten, als es noch keine Eisen* 
bahn von London nach allen Punkten der Ost- und Südküste 
gab, da war das nähere Surbiton ein fashionabler Sommer- 
aufenthalt und derzeit lebte hier auch mein Grossvater, der 
damalige hannoversche Cabinetsminister, um auf den Befehl 
des hannoverschen Königs Wilhelm IV., der in Windsor Castle 
residirte, stets zur Hand zu sein. Heute klingt xms diese 
seltsame Verbindung und Wirkung in die Feme wie ein 
Märchen, aber ich habe sie noch selbst mit erlebt, als kleiner 
Knabe in Surbiton. 

Doch jetzt zurück in die Gegenwart. Dieser schöne, freie 
Tag soll zunächst einer Wanderung durch das „Land der 
königlichen Parks" gewidmet sein. 



Die botanischen Gärten in Kew, 55 

Zuerst Hampton Court; heute jedoch wenden wir dem 
stolzen Palaste des Cardinais Wolsey den Rücken und durch- 
streifen nur die feierlichen, strahlenförmig" laufenden Alleen 
und das berühmte Labyrinth von geschorenen Hecken um den 
alten, jetzt verlassenen Königssitz. Von hier betreten wir den 
g"egenüber liegenden ehrwürdigen und melancholischen Bushy 
Park, dessen prachtvolle, berühmte uralte Kastanienalleen 
zwischen den grünen Weiden des königlichen Gestütes unab* 
sehbar und vereinsamt verlaufen. Dann durchwandern wir 
Richmond Park, 3400 Morgen gross, in seiner ganzen Aus- 
dehnung von Süden nach Norden. Das alte Stuartschloss 
wurde durch den Hass des Protectors Cromwell dem Erdboden 
gleich gemacht, aber der Park blieb ewig jung und grün. Er 
ist dem von Windsor nicht unebenbürtig, jedoch wilder und 
waldähnlicher. Von dem hohen Hügelrücken, an dem wir ent- 
lang wandern, öffnen sich weite herrliche Blicke auf die 
niedrigere, hügelige Baumlandschaft im Westen. 

Am nördlichen Parkthore nimmt uns der „Star and Garter"* 
auf, ein durch Leistungen, Preise und englisch -gothischen 
Hotelstyl gleich ausgezeichnetes vornehmes Wirthshaus. Von 
seiner Terrasse blicken wir unter uns auf die Windungen der 
Themse und weit hinaus in die üppige, grüne Landschaft. 
Wir werden hier an die berühmte Terrasse von St. Germain 
erinnert, mit ihrem nicht minder berühmten Restaurant. Gegen- 
über liegt das gartenreiche Twickenham. Dort hat sich, in 
einem der schönsten alten Parks, früher der Zufluchtsort 
eines vertriebenen fürstlichen Geschlechtes, unter gleichem 
Namen der Orleansclub niedergelassen. Seine Mitglieder sind 
gTosstentheils die beneidenswerthen Besitzer der berühmten 
Londoner „Four-in-hands" der „Coaching Club". Eigenhändig 
fahren diese Herren sich und ihre bevorzugten Gäste an schönen 
Sommertagen auf ihren hocheleganten vierspännigen Coaches 
von London hierher zu klassischen Lunches. Auch mir wollte 
eines Tages das Schicksal wohl und setzte mich auf eine der 
schönsten dieser Coaches, derjenigen unseres Landmannes, des 
Herrn Adolf Deichmann aus Cöln, zu einem der berühmten 
Clubmeetings in Hy depark. Wir musterten an jenem Tage 
fünfunddreissig dieser hochveredelten, höchst originellen Post- 
kutschen, sämmtlich von den Mitgliedern des Clubs in ihrer 



OD Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

Clübuniform unter der Leitung ihres Präsidenten, des Herzogs 
von Beaufort, eigenhändig gefahren. Die klare Maisonne 
glänzte auf dem saftigen Grün des Parkes, auf den bunten 
Blumenbeeten und den frischen heiteren Frühjahrstoiletten der 
schönen und der vornehmen Welt. Hunderte von eleganten Zwei- 
spännern, Hunderte von Reiterinnen mit Gefolge waren am 
„Magazin" und am nördlichen Ufer des Serpentine versammelt 
Der Zudrang der Fussgänger, die ganze Fahrt entlang, war 
zahllos, die Ordnung und namentlich die Ruhe bei Menschen 
und Pferden tadellos. Ein wirklich grossartiges, in der übrigen 
Welt unbekanntes Schauspiel. Jede Coach nebst vier Pferden 
und allem Undsoweiter kostet, nach der Berechnung eines 
erfahrenen Praktikers, dreissig bis sechs und dreissigtausend 
Mark. — 

Heute aber fahren wir im allerbescheidensten Einspänner 
von Richmond nach Kew und halten am nordöstlichen reich- 
verzierten eisernen Gitterthore der Gärten, das auf Kew 
Grreen, einen weiten Viehanger, umgeben von AiVirthshäusem 
und allerlei bescheidenen Cottages, mündet. Freundschaftliche Ver- 
mittelung hatte uns einem der Oberbeamten, Mr. J., empfohlen. 
Wir stellten uns ihm als botanisch ungebildete Gartenfreunde 
vor und mit dem offenen, warmen Entgegenkommen, welches 
jeden gut empfohlenen Fremden in England so wohlthuend 
empfangt, erklärte er sich bereit, uns zu zeigen, was ims 
interessiren möge. 

„Und", fügten wir hinzu, „was wir begreifen können; denn 
oft möchten wir hier den Wald vor lauter fremden Bäumen 
nicht erkennen". 

Der Garten war schon von Menschen belebt und noch 
mehr strömten mit uns zu. „Sie sehen", bemerkte Mr. J., auf 
die umherziehenden kinderreichen Familien weisend, es sind 
nicht alle, die uns hier besuchen, Botaniker oder Gärtner. 
Nach unserer Bestimmung und unserem Namen sind wir kein 
Vergnügungsort; auch sind Picknicks und Tabak — das heisst: 
brennender — aus dem Garten verbannt, und dennoch hatten wir 
im vorigen Jahre gegen siebenhundert tausend Besucher. So gross 
ist das Interesse am Pflanzenreiche und an der Gärtnerei, %vie 
sie sich hier darstellen. Allerdings haben wir den Laien einige 
Concessionen gemacht. Es erschien billig und zweckmässig, 



Die botanischen Gärten in Kew* 57 

dem englischen Steuerzahler auch etwas zu zeigen. Sie werden 
es schon selber herausfinden. Aber hauptsächlich soll in unse- 
ren Gärten ein grosser Unterrichtsstoff, ein lebendiges Buch 
zum Lesen und Nachschlagen geboten werden: für den 
Botaniker, den Gärtner, den Forstmann, den Landschaftsmaler 
und in unseren Museen auch für den Industriellen und den 
Kaufmann. 

„Sie sehen daher bei uns keine für die Ausstellung 
dressirten, blendenden Pflanzen, sondern eine gleichmässig zahl- 
reiche Sammlung in einer •durchschnittlich guten Entwickelung 
und Haltung. Nur diejenigen grossen Pflanzen, die über die 
Räumlichkeiten des Privatmannes hinauswachsen, wie die 
Palmen und Cykaden, diese finden Sie hier in möglichster 
Vollzähligkeit, 

„Im Allgemeinen ist unser Garten, in den Häusern wie im 
Freien nach geographischen und botanischen Gruppen geordnet. 
Wenigstens streben wir danach, soweit die Pflanzen selbst, der 
historisch überkommene Zustand des erst seit dem Jahre 1841 
aus einem königlichen Privatbesitze wissenschaftlich entwickelten 
Geirtens und unser sehr armer sandiger Boden mit kiesigem 
Untergrunde es erlauben. Wir machen keine eleganten 
Decorationsgruppen und keine gekünstelten Teppichbeete. 
Nur eine Art von studirter Gruppirung finden Sie, aber auch 
diese hat einen lehrhaften Zweck. Wir versuchen in solchen 
Gruppen von zumeist örtlich zusammenlebenden Pflanzen das- 
jenige nachahmend darzustellen, was Ihr grosser Landsmann 
Humboldt , Ansichten der Natur* nennt. 

„Hier vor uns sehen Sie das Schloss. Es ist jetzt dem 
Publikum nicht zugänglich; auch meine Vermittelung würde 
Ihnen keinen Einlass verschaffen, da es von der verwittweten 
Frau Herzogin von Cambridge bewohnt wird. Lassen Sie uns 
also aufbrechen und diesen breiten Hauptweg vor uns ver- 
folgen. Er durchschneidet die Gärten von Norden nach Süden 
in einer Länge von fünfhundert Metern und endet am See 
neben dem Palmenhause. Zu seinen beiden Seiten werden wir 
nach und nach die Gewächshäuser finden. Rechts, unserem 
Hauptwege entlang, haben wir den Park oder Vergnügungs- 
garten die „Pleasure Grounds" bis zur Themse hinab, und links 
in's Land hinein ziehen sich die botanischen Gärten". 



58 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

Wir betraten zuerst ein grosses Haus, welches in dem 
Winkel steht, den der nordostliche Eingangsweg* von Kew Green 
her mit unserem Hauptwege bildet' „Sie bemerken wohl", 
sagte unser Führer, „die stattliche Ausfuhrung dieses Gebäudes 
in künstlerisch behauenen Werksteinen imd Glas. Wir sind 
sonst nicht so luxuriös, aber dieses Haus stand ursprünglich 
im Garten von Buckingham Palace. Wegen seiner archi- 
tektonischen Ansprüche hat man es hier an den Eingang gestellt. 
Es ist eines von unseren „Show Houses". Sein Name ist 
„Aroideenhaus", jedoch enthält es ausser den Kolbenblüthlem, 
den Philodendren, Monsteren und den Anthurien auch andere 
Warmhauspflanzen. Bemerken Sie jene Farre in der Mitte, 
ihr Schaft misst gegen neun Meter, sie ist umgeben von Palmen, 
dem nützlichen Drachenblut - Kalmus und dem Kanonen- 
baum geräuschvollen Namens. Mit der Aufzählung der 
anderen Bewohner will ich Sie nicht ermüden, da Sie keine 
Botaniker sind. Sie finden sie alle in unseres Professors Oliver: 
„Führer durch die Gärten von Kew". Der Zweck dieses Hauses 
ist wesentlich: malerische Grruppirung schöner Pflanzen für die 
„Steuerzahler**. 

Mr. J. liess uns alsdann einen Blick in das Kalt- 
haus für die zahlreiche Familie der Farren und in das daneben- 
stehende Warmhaus für die tropischen Mitglieder dieses Ge- 
schlechtes werfen. Es waren dichte Wälder. „Die Sammlung 
ist leider sehr vollständig**, bemerkte er, „und dadurch 
stehen sie zu gedrängt, trotzdem jedes Haus achtund vierzig 
Meter lang und zehn Meter breit ist". 

Weiter verfolgten wir den Hauptweg, den auf beiden Seiten 
grosse Deodaren begleiten. Unter diesen wechseln Gruppen 
blühender Rhododendren mit frisch besetzten Beeten von 
Sommerblumen ab und unterbrechen bescheiden die schönen 
Grasplätze. Aehnliche weite grüne Flächen umgeben alle 
folgenden Häuser, sie sind mit stattlichen, seltenen Bäumen 
aller Gattungen besetzt; Prachtexemplare, deren Grösse, Ueppig- 
keit und vollendete Form sich auch dem unkundigsten Auge 
unvergänglich einprägt 

Wir betreten jetzt ein Haus, welches, dem ersten „Show 
House** dem Aroideenhause entsprechend, als ein Wintergarten für 
Kalthauspflanzen eingerichtet und wesentlich auf die Unterhaltung 



Die botanischen Gärten in Kew* 59 

des Publikums berechnet ist Hier winden sich blähende Kletter- 
und Schlingflanzen: Bigtionien, Jasmine, Clematiden und Mimosen^ 
bis unter das Glasdach hinauf. Jedoch werden sie eingeschränkt, 
um genügendes Licht auf zwei grosse Beete fallen zu lassen, 
in denen CameUen als Sträucher und Bäume ihr dunkles Grün 
entfalten. Daneben prangen die Azaleen in voller Blüthe. 
Alle Pflanzen hier sind kräftig und interessant und immer ist 
etwas Buntes vorhanden. 

Das nächste Haus der saftreichen (succulent) Pflanzen hat 
in leichter Eisen^ und Glasconstruction die bedeutende Aus- 
dehnimg von siebzig auf zehn Meter. Trotzdem ist es dicht 
gefüllt mit Agaven, Aloes, Yuccas, Dracänen und vor allem 
mit dem reichen und grotesken Typus der Cacteen. Ein Wald 
von riesenhaften mehrseitigen Säulen strebt neben- und durch? 
einander empor; dazwischen melonenartige und igelähnliche 
Erscheinungen, Am' Gewölbe kriechen schlangengleiche Cereus 
mit kugel- und scheibenförmigen Gliedern. 

„Sehen Sie dort" bemerkte Mr. Jones „den baroken Cereus, 
dessen oberes Stammende langes, drahtiges, graues Haar ver- 
hüllt; jedoch trägt er es nur in seiner Jugend und daher ist 
sein Name: „Alter Mann" eigentlich nicht ganz zutreffend". 

„Ueberhaupt" fuhr er fort, „wohnt in diesem Hause eine 
sonderbare Gesellschaft; es giebt hier allerlei Ueberraschungen. 
Sehen Sie hier diese fette, gichtisch geschwollene Weinrebe, 
der unsere Reben gleichen wie die Eidechse dem Elephanten. 
Hier steht ein Pelargonium mit einem Stengel so dick wie eine 
massige Futterrübe. Daraus folgt, dass die Familienähnlichkeit 
nicht immer nothwendig für die Verwandtschaft ist. Boden und 
Klima verändern Thiere und Pflanzen, namentlich, wenn man 
in verschiedenen Welttheilen lebt. Alle diese seltsamen Gäste 
hier bewohnen heisse trockene Länder mit wenig Regen, starker 
Verdunstung und sehr bedeutender Wärmestrahlung bei Nacht 
Dagegen schützt diese Wüsten- und Felsenkinder ein sehr 
„dickes Fell" und ein ausserordentlicher Wasservorrath, den 
sie in ihren Geweben für sich und die animalischen Mitbewohner 
ihrer Heimat anscmimeln. 

„Lassen Sie uns", schlug Mr J. vor, als wir wieder in's 
Freie traten, „das nächste Haus, nach seinem Grundrisse das 
T-Haus genannt, rasch durchschreiten. Es enthält eine reich- 



€0 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

haltige Vereinigung von Bigonien, Eriken, Caphaiden und ausser- 
dem eine ziemlich vollständige Sammlung von wirthschaftlich 
pützlichen Bäumen: den indischen Butterbaum, den Brotbaum, 
den Kapembusch, den Cacaobaum, den Citronenbaimi, den 
Kaffeebaum, die BaumwoUenstaude, die Nux vomica, das Pat- 
chouli u. s. w. In der Mitte die Ihnen wohlbekannte Victoria 
regia; dann folgen die Orchideen, über eintausend Varietäten, 
und die Fleischfresser, diese weit interessanteren Antipoden 
der auch in Deutschland gedeihenden Secte der Vegetarianer, 
die wir fleischessende Spotter hier „Gemüseheilige" nennea 
Jedoch sehen Sie alle jene Pflanzen bequemer bei den Specialisten 
und in den Ausstellungen. Folgen Sie mir lieber in die beiden 
gegenüberliegenden Häuser, sie enthalten unsere Museen I. 
und II." 

Wir traten in eine Reihe grosser Räume, in denen Glas- 
schränke und Kästen zwischen den Fenstern entlang standen^ 
während in der Mitte ein freier Gang gelassen war. Endlich 
hielten wir in einer grossen. Halle an, mit Oberlicht und einer 
umlaufenden Gallerie. 

„Hier", sprach Mr. J., auf die zahlreichen Behälter ringsum 
zeigend, „hier können disr Kaufmann und der Industrielle die 
in ihr Fach schlagenden Erzeugnisse des Pflanzenreichs studiren. 
Sie finden hier alles übersichtlich geordnet und auf den bei- 
liegenden Täf eichen erklärt; ich will indessen für heute nur 
einiges hervorheben. Vielleicht kommen Sie wieder und ver- 
tiefen sich dann in das Studium der unendlichen Einzelheiten. 
Noch eines! Am Ausgange des Parkes steht ein drittes 
Museum; es enthält alle Holzarten, die in England xmd seinen 
Cplonien wachsen. Dort sehen Sie polirtes Palmenholz, Bretter 
und Querschnitte von Libanoncedem und von einem Drachen- 
baum aus Teneriffa, der dort schon im Anfange des fünfzehnten 
Jahrhunderts als ein sehr alter Baum berühmt war. Gehen Sie 
ja hinein und wenn Sie einen reiselustigen Freimd haben, der 
Forstmann oder Drechsler ist, so schicken Sie ihn mir. Die 
Sammlung hat wohl in der Welt nicht ihres Gleichen". — „Hier 
also", fuhr er fort, mit uns an einen der unzähligen breiten 
und tiefen Glaskästen tretend, „stehen wir vor dem bedenklichen 
Producte des Mohns: dem Opium und dem Processe seiner 
Herstellung. Diese Köpfe sind vielfach eingeritzt, ein weisslicher 



Die botanischen Gärten in Kew* 61 

Saft fliesst aus den Wunden hinab in diese eisernen kleinen 
Schaufeln, aus ihnen wird er in diese Schüsseln gesammelt; et 
verliert darin einen Theil seiner Feuchtigkeit, wird durch an- 
haltendes Rühren eingedickt und endlich zu Kugeln geballt. 
Letztere werden in den irdenen Formen, die Sie sehen, gepresst 
und schliesslich in die daneben liegenden getrockneten Mohn- 
blätter verpackt. — In diesem hohen Glaskasten haben Sie 
alle Sorten des Cacao in seinen Stadien von der Bohne in det 
Schale bis zum gerösteten Pulver. — Hier ist die Jute, jetzt 
ein wichtiger Rohstoff für die Weberei, durch den die Stadt 
Dundee reich geworden ist; — hier der Thee; — dort die 
Legfuminosen für die Nahrung und Färberei ; — hier die harzigen 
und öligen Producte des Eukalyptus; — weiter die wohlthätige 
Ipecacuanha und — das Beste zuletzt — der Kaffee und der 
Tabak«. — 

Als wir diese grossartige Schaustellung von Gegenständen 
verHessen, die uns im Leben alltäglich begegnen und dennoch 
in ihren Einzelheiten uns fremd und neu erschienen, standen 
wir am See, auf dessen entgegengesetztem Ufer das Palmen- 
haus über einer breit gelagerten Terrasse mächtig emporstrebt. 
Indem wir vorwärts schritten, sagte Mr. J.: „Wir wenden nun 
zwei höchst interessanten Abtheilungen der Gärten unbesehen 
den Rücken. Dort, hinter den Museen, ist der Garten unserer 
heimatlichen Haushaltpflanzungen, nützlich zum Unterrichte fut 
Schule und Küche, und daneben ist das Reich der krautartigen 
Gewächse. Letztere sind nach ihrer natürlichen botanischen 
Ordnung in streng geschiedene lange rechteckige Beete ein* 
getheilt, der Anblick ist daher nicht gerade decorativ. Einmal 
belauschte ich hier einen imwissenden Spötter, der behauptete, 
das Ganze gleiche einem ungeheuren Bratroste. Kein wissen- 
schaftlicher Mann und kein „gelernter" Gärtner wird versäumen, 
diese Sammlung zu besehen, indessen ich denke", schloss er> 
wohlwollend lächelnd, „wir gehen vorwärts". 

Wir stimmten ihm ehrlich bei, umschritten den schönen See, in 
dessen stüler, durchlnselchen von Wasserpflanzen unterbrochener 
Fläche sich prächtige alte Bäume spiegeln, und betraten am 
jenseitigen Ufer die grosse mit geschnörkelten Blumenbeeten aus- 
gelegte Terrasse, in deren Mitte das grosse Palmenhaus steht. 
Daa Gebäude ist einhundertdreissig Meter lang, im Mittelschiffe 



62 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

dreissig Meter breit und vierundzwanzig Meter hoch; die beiden 
Seitenschiffe sind siebzehn Meter breit und zehn Meter hoch. 
Zur Heizung dienen zehn verschiedene Kessel, welche ein 
System von etwa sieben Kilometer Röhren speisen. Das 
Wasser fallt aus Sammelteichen auf den Höhen von Richmond 
Park hieher. Das Glas des Daches ist durch Kupferoxyd leicht 
grün gefärbt, und wirft dadurch einen Theil der Wärme- und 
Lichtstrahlen zurück. Dieser ungeheure Raum ist ausgefüllt 
mit der vollständigsten Sammlung aller Palmen und mit un- 
zähligen anderen, ihnen verwandten oder in der Heimat benach- 
barten Pflanzen, Musen, Cykaden und Dracänen. Wir durch- 
wandern still und staunend die vielfach verschlungenen Pfade 
in diesem seltenen, tropischen Walde, dann besteigen wir 
die ringsum laufende Gallerie und tauchen in andächtiger 
Bewunderung unsere Blicke in das unbeschreibliche Blätter- 
meer! 

Damit verlassen wir die botanischen Gärten und betreten 
die „Pleasure Groxmds". Sie erstrecken sich, in der Ver- 
längerung des grossen Hauptweges, jenseit des Sees bis an 
das südliche Ausgangsthor nach Richmond zu; ausserdem 
nehmen sie den ganzen westlichen Theil der Gärten ein. 
Dieses weite Revier, zusammen etwa vierhundert Morgen, ist 
zum Theil mit Gruppen von Verwandten besetzt, zum grösseren 
Theil jedoch ist es ganz als Forst und Wald behandelt Es 
gehört zu dem Schönsten unter allem, was England an 
schönen Parks aufzuweisen hat. Ein breiter Grasplatz, oder 
wie der Engländer sagt: Gxaspfad, läuft vom Palmen- 
hause zum indischen Pagodenthurme am südlichen Aus- 
gange. Die ebene, reine, grüne Fläche liegt in der Mitte 
auf etwa zwanzig Meter Breite frei, an beiden Seiten ist sie 
mit einer seKr vornehmen Allee von Deodaren eingefasst, 
hinter der sich auf beiden Seiten einzelstehende Pracht- 
exemplare von Cedem und schottische Fichten, gemischt mit 
Linden, Ahorn und anderen Laubbäumen in tiefer Aufstellung 
gruppiren. Wir Fremde fanden in- dem ungestörten sanften 
Gehen auf dem nach allen Seiten weit erstreckten, von keinem 
Kieswege durchschnittenen Rasen einen seltenen Genuss, der 
hier überall in Parks und Gärten frei gewährt wird; nur die 
vorspringenden Winkel des Rasens an den Kreuzwegen sind 



Die botanischen Gärten, in Kew. 63 

gegen die Unart des Vertretens durch kleine eiserne Gitter 
geschützt. 

Indem wir uns durch diese ideale Waldlichtung westwärts 
schlagen, nimmt uns ein Rosengarten auf, dessen zahlreiche 
Beete unter riesigen Blutbuchen und immergrünen Eichen in 
den Rasen eingeschnitten sind. Er geleitet uns bis an den 
letzten der Glaspaläste, das „Temperate House", also das Haus 
für Pflanzen der gemässigten Klimate. Ein grosses stattliches 
Gebäude von Eisen und Glas, das Dach ist zum Abdecken 
im Sommer eingerichtet. Jedoch vergisst man die Ueber- 
dachung vollständig, sobald man eingetreten ist. Die normale 
trockene Atmosphäre, die uns erfrischend umgiebt und frei 
zu athmen gestattet, trägt hierzu wesentlich bei. 

,3ier, meine Herren", begann Mr. J. "wieder, „ist eine Gesell- 
schaft von Pflanzen vereinigt, die weiter nichts verlangen 
als einen Stand, der sie vor Frost und Sonnenbrand schützt 
Diesen sichert ihnen die grünliche trlasbedeckung und die 
Wasserheizung; übrigens stehen und wachsen sie hier wie im 
Freien. Kein Topf oder Kübel engt sie ein und dadurch er- 
reichen wir die völlige Gesundheit und Natürlichkeit der Ent- 
wickelung, die jedem Besucher dieses bedeckten kleinen Parkes 
einen so besonders einladenden und behaglichen Eindruck 
hinterlässt. Die Pflanzen hier sind Bewohner von Südeuropa, 
von Neuholland, Japan, China, dem Cap und den tropischen 
Bergzonen. Sie sind nach den Ländern ihrer Herkunft 
gesondert, so dass wir, den breiten Hauptweg entlang 
schreitend, rechts und links alle fünf Welttheile im Fluge 
durchmustern. Ich nenne Ihnen, damit nicht der • Belehrung 
zuviel werde, heute nur folgende: hier die Akazien aus 
Australien, die Rhododendren vom Himalaya, chinesische 
Kamelien, Araucarien von der Norfolkinsel, die wilde Thee- 
staude aus den Djungeln von Assam, die jetzt mit Erfolg in 
Indien cultivirt wird und dem himmlischen Reiche hoffentlich 
bald scharfe Concurrenz machen wird. Hier sehen Sie auch 
den fiebervertreibenden Eucalyptus globulus und den motten- 
vertreibenden Kampherbaum: dort neben der Pinie steht der, 
einer alten Weide gleichende Oelbaum aus Griechenland. Auch 
bemerken Sie hier Baumfarren, die das gemässigte Klima vor- 
züglich vertragen und nicht so getrieben und schlaff erscheinen 



64 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

als in ihren gewöhnlichen Warmhäusern. Vor Allem betrachten 
Sie sich die seltenen und selten schönen Araucarien. Die Imbricata, 
deren schuppige Nadeln wie Dachziegel gestellt sind, kennen 
Sie schon aus den Parks; hier haben Sie eine Bidwillii mit 
blätterartigen, breiten, flachen Nadeln. Sie ist neun Meter 
hoch und ihre stärksten Zweige lagern, wie Sie sehen, auf dem 
Boden, wo sie einen Kreis von sieben Metern Durchmesser 
bedecken; ihre Fruchtzapfen dort oben haben die Stärke eines 
Kinderkopfes. Dort steht die Excelsa mit feinen, hellgrünen 
Nadeln; der ganze Zweig gleicht einer Straussenfeder; sie misst 
jetzt vierzehn Meter bis zur Spitze. Diese hier, die Araucaria 
Cuninghamii von Queensland trägt von allen die kleinsten und 
feinsten Nadeln an ihren seltsam gewundenen, dünnen weisslichen 
Zweigen". 

„Ich freue mich, Ihnen dieses Haus gerade jetzt zeigen zu 
können; denn die überall vertheilten blühenden Azaleen, Fuchsien, 
Rhododendren geben dem Bilde einen seltenen Reichth\im an 
heiteren Farben. Später im Jahre ist der durchgängige grüne 
Ton des Ganzen ernst und fast dunkel. In ihm schliesst sich 
indessen das Haus harmonisch seiner Umgebung an, dem Forste, 
durch welchen ich Sie jetzt noch führen will". 

Wir schritten durch ein Gitterthor, welches hier die 
Pleasure'Grounds mit dem botanischen Garten verbindet, und 
näherten uns dem Forste auf einem langen, schnurgraden 
Wege, der mit schönen Coniferen und den glänzenden Stech- 
palmen eingefasst ist, die in England so sehr für die immer- 
grünen Gärten geschätzt werden und von denen man bereits 
hundertvierundvierzig Arten und Spielarten kennt. In der Nähe 
befindet^^ sich eine Cottage, nicht zugänglich, da sie von 
der Königin zur Privatbenutzung vorbehalten ist. Wir vertiefen 
uns weiter in die Gründe des Waldes, dessen herrliche Baum- 
gruppen keine andere pflegende Hand verrathen als die des 
Forstmannes, und dennoch sind sie sämmtlich geographisch 
oder botanisch geordnet Der Boden wird bewegter und ver- 
räth durch Hügel und Thal die Nähe der Themse. An Baum- 
schulen vorbei und einem Maschinenhause für die Bewässerung, 
gelangen wir an einen grossen Teich, in welchem die Wasser- 
pflanzen versammelt sind. Sein Uferrand ist mit Weiden ein- 
gefasst, das südliche höhere Ufer ist mit einer vollständigen 



Die botanischen Gärten in Ke^v, 60 

Zusammenstellung aller Species und Varietäten des Geschlechtes 
Pinus bestanden, unter denen die schöne dunkle Douglas-Fichte 
aus den Felsengebirgen sich auszeichnet. Am anderen nördlichen 
Ufer nimmt uns nochmals eine reiche Sammlung von Eichen 
auf und durch diese steigen wir hinab in ein tiefes Thal; es 
ist gegen den nahen Fluss durch einen hohen Damm geschlitzt 
und mit blühenden Rhododendren -rings eingefas^t. In der 
Mitte Steht eine Rosskastanie, nicht ungewöhnlich hoch, aber 
von mächtiger Ausbreitung der Zweige, die auf dem Boden 
Wurzeln geschlagen und neue Schösslinge getrieben haben. 
Der Stamm hat in Brusthöhe einen Umiang von nahezu »sechs 
Metern und beim Umschreiten der Zweige zählen wir sieben- 
undneunzig Schritte. 

Wir erklettern jetzt den Damm und stehen an der Themse. 
Vom jenseitigen Ufer winkt das schöne Sion-House, Landsitz des 
Herzogs von Northumberland, zum Besuche seiner berühmten 
Gärten. 

Auf ein anderes Mal ! heute wandern wir den Strom hinab, 
der Brücke vorbei, dem schon sichtbaren Dampfboote zu. 



Ompteda, L. v., Bilder. 



VI. 

Gärtnerei 
für die armen und für die reichen Leute. 



LLs war jetzt Zeit geworden, uns mit wärmstem Danke von 
unserem nachsichtigen und unermüdlichen Führer durch die 
Gärten von Kew zu verabschieden. 

„Da Sie", so entliess er uns, unsem Händedruck erwidernd» 
an der Landungsbrücke, „da Sie, wenn auch nicht Botaniker 
und kaum Gärtner, dennoch recht fleissige Hospitanten in 
meiner Vorlesung waren, so möchte ich Ihnen noch einen Weg- 
weiser geben, damit Sie auch Ihre Rückfahrt nützlich ver- 
wenden können. Sie haben hier vieles gesehen und glauben 
vielleicht, so ziemlich alles gesehen zu haben, was die 
englische hohe Gärtnerei bietet. Es fehlt aber doch noch 
einiges". 

„Und was fehlt? Wo gibt es noch Reicheres und VoU- 
kommneres, als bei Ihnen?" 

„Nun, meine Herren, erinnern Sie sich nur, was ich Ihnen 
schon im Beginne unserer Wanderung bemerkte. Die botanischen 
Gärten von Kew sollen ein möglichst vollständiges Gesammt- 
bild der cultivirten Pflanzenwelt und der Art und Weise ihrer 
Cultur geben. Wir überlassen daneben die Ausbildung einzelner 
interessanter Gruppen und Familien, sowie die Durchfuhrung 
einzelner besonderer Zweige der Gärtnerei den Speci allsten". 

„Den Specialisten? Natürlich müssen wir sie kennen 
lernen, aber wo sie finden? Bitte, weisen Sie uns zu ihnen, 
Mr. J., wenigstens zu einigen, dann gehen wir nicht fehl und 
erhalten auch leichter Einlass". 



Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute. oT 

„Sie finden zwei ihrer grössten Leistungen, und zwar in 
ganz entgegengesetzten Richtungen, auf Ihrem heutigen Rück- 
wege zur Stadt Wollen Sie die Bekanntschaft machen, so 
verlassen Sie Ihr Schiff am Landungsplatze von Battersea oder 
Chelsea; dann haben Sie rechts der Themse den grössten 
Gärtner in der Specialität für die kleinen und armen 
Leute. Ihm gegenüber auf dem linken Ufer sitzt der grösste 
Handelsgärtner für die Reichen". 

„Und die Namen? Wie heisst die Firma des Armen- 
gärtners?" 

„Nun, der ist leidlich bekannt in den drei Königreichen 
und wol noch weiter. Den Namen des anderen schreibe ich 
auf diese Karte. Sehen Sie sich nur um und — leben Sie 
wohl". — 

Diese geheimnissvolle Weisung spannt unsere Erwartung, 
so dass wir stromabwärts dem gartenberühmten Chiswik und 
den lieblichen Villencolonien von Putney und Fulham vorbei- 
eilen und unser Schiff erst in Battersea verlassen. Wir landen 
hier an einer der neuen Vorstädte Londons, auf dem rechten 
Ufer der Themse und nur von einer ärmeren, arbeitenden 
Bevölkerung bewohnt. Nach den ersten Schritten am Ufer 
aufwärts erscheinen hinter dem Quai starke Bäume, deren 
Reihen uud Gruppen sich, je mehr wir uns nähern, desto femer 
nach beiden Seiten hinausziehen. Hinter ihnen öffnet sich der 
Blick auf weite Grasfiächen, die durch mehrere bewegte 
Gruppen von Fussball- und Cricketspielem, umlagert von theil- 
nehmenden Zuschauem, belebt sind. Alle diese fröhlichen 
Menschen gehören, nach der äusseren Erscheinung, den unbe- 
mittelten hart arbeitenden Klassen an. Wir treten von da 
durch eine Gitterthür in den Battersea-Park ein und gelangen 
bald auf einen freien Platz, mit Buschwerk und Bäumen einge- 
fasst, in ihrem Schatten zahlreiche Ruhesitze. Nach drei Seiten 
gehen von hier breite Wege aus. Wir folgen dem nach rechts 
laufenden, sauber gehaltenen Kiespfade und gelangen nach 
längerer Wanderung durch stets wechselnde Parkbilder an eine 
bedeutende, in bewegten Windungen ausgelegte Wasserfläche. 
Ihre mit grünem festen Rasen eingefassten Ufer umgehen wir, 
bis eine Felswand unsere Schritte hemmt; wir ersteigen sie und 
befinden uns auf einem schmalen künstlichen Hügelrücken, der 

5* 



68 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

sich in unregelmässigem Bogen nach beiden Seiten hinzieht. 
Sein jenseitiger Abhang ist mit Coniferen und immergrünen 
Sträuchern dicht bepflanzt. Wir steigen hinab und betreten 
den „subtropischen Garten", Seine Fläche enthält gegen sieben 
Morgen, ringsum ist er durch den Höhenzug und den Baum- 
mantel geschützt und unter diesem Schutze konnte der Gärtner 
ein seltenes Bild entwickeln, das den „subtropischen" Namen 
völlig rechtfertigt. Der Gegensatz zwischen der nordischen 
äusseren und der subtropischen inneren Vegetation ist von 
wahrhaft überraschender Wirkung. Auf der einen Seite ein- 
heimische ausgewählte Laub- und Nadelbäume mit Felsge- 
wächsen und hohen Farren unterpflanzt, auf der anderen Seite 
die Palme und die Musa des Paradieses, abwechselnd mit 
Gruppen von Cannas, Aralien, edlem Lorbeer, Oleander und 
ähnlichen halbsüdlichen Gewächsen. Dieses Gartenbild trägt in 
seiner Fremdartigkeit den ausgeprägten Charakter des Ge- 
wählten und Verfeinerten. Die Mitte des subtropischen Eilandes 
wird von Teppichbeeten eingenommen die theils selbstständig 
von Wegen eingeschlossen, und in grösseren Mustern angelegt, 
theils als kleine Ornamente in die sorgfältig gepflegte, reine 
Rasenfläche eingelassen sind. In den Mittelpunkten der ver- 
schiedenen Figuren breiten sich schön entwickelte Agaven und 
Yuccas mit den scharfbewehrten Blattspitzen. Wohl nirgends 
in einem Garten Englands finden wir die Industrie der 
botanischen Teppichweberei so gepflegt und entwickelt, wie 
gerade hier, und gerade hier lassen wir diese einigermassen 
zopfigen Künsteleien vorzugsweise gern gelten, da ihre mühe- 
volle Vorbereitung, Pflanzung und Unterhaltung einen be- 
sonderen Beweis für die unausgesetzte und kostspielige Pflege 
dieses Gartens der armen Leute gpiebt. 

Nachdem das subtropische Thal durchmessen ist, gehen wir 
nochmals an verschiedenen kleinen, in bewegten Figuren ge- 
zeichneten Wasserflächen hin und langen nach einer Wanderung 
von etwa zwei Stunden wiederum am Ufer der Themse an. 

Der Park von Battersea umfasst eine Grrundfläche von 
nahezu dreihundert Morgen, er ist also etwa dreimal so gross 
als der bekannte und einst in Deutschland mit Recht 
bewunderte Park zu Biebrich. Vor dem Jahre 1852 befand 
sich hier eine öde, schattenlose und prosaische Fläche, Weide 



Gärtnerei für die armen und Jür die reichen Leute. 69 

und Acker. Da fasste ein Mann, dessen hervorragendem 
Geiste, warmem Herzen und stiller, stetiger Thätigkeit England 
so viel Schönes und Grosses verdankt, der in seinem Leben 
viel verkannt und erst nach seinem frühen Tode von England 
und der Welt in seinem ganzen Werthe erkannt wurde: der 
Prinz Albert, Gemahl der Konigin, fasste die hochherzige Idee: 
hier eine neue Specialität der Gärtnerei, einen „Park der 
armen Leute" in's Leben zu rufen. Er stellte sich an die 
Spitze dieses riesenhaften Unternehmens, welches unter der 
technischen Leitung von Mr. John Gibson in sechs Jahren 
vollendet wurde und 6 Millionen Mark kostete. Daneben 
muss noch ein bedeutender Fond vorhanden sein, aus welchem 
die jährlichen Mittel für die tadellos sorgfaltige Unterhaltung 
des Parkes fliessen. 

Mit Bewunderung und Wehmuth scheiden wir von dem 
Denkmale, welches der grosse Armengärtner sich hier selbst 
errichtet hat. Wahrlich, nicht minder eindringlich und nach- 
haltig spricht diese grossartige Wohlthat, diese milde Stiftimg 
fär frische ländliche Luft zu den Herzen eines dankbaren Volkes 
als das prächtige Monument, welches die englische Nation ihrem 
verstorbenen besten Freunde im Hydepark errichtet hat. 



Eine leichte, elegante Hängebrücke fuhrt uns über die 
Themse nach dem gegenüberliegenden Chelsea. Wir biegen 
in eine lange Vorstadtstrasse ein, den Kings Road, an welcher 
ländliche Gärten mit den vordringenden städtischen Wohn- 
häusern, Fabriken und Geschäftsgebäuden abwechseln. Gegen- 
über etwa den bekannten und nicht sehr fein berufenen 
Cremorne Gardens — ein vergröbertes Mabille — wandern wir 
eine hohe Mauer entlang, die endlich durch ein niedriges 
cottageartiges Wohngebäude unterbrochen wird. Ueber dem 
Eingange steht zu lesen: „James Veitch & Sons". Der Name 
ist nicht in England geboren, so auch nicht sein Träger Herr 
Jakob Veitch, der als junger Mann Deutschland verliess und in 
England die gegenwärtig grossartigste Handelsgärtnerei gründete. 
In diese treten wir jetzt ein. Die uns von Mr. J. in Kew aus- 
gestellte Empfehlung sichert uns eine wohlwollende Aufnahme. 
Unter der Führung eines älteren Obergärtners gelangen wir in 



70 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

den inneren Garten und sehen, jenseit eines freien mit Pflanzen 
geschmückten Platzes, eine kleine Welt von Glashäusern vor 
uns, getheilt durch breite gerade Wege, auf denen Menschen 
und Karren geschäftig hin und her eilen. Zunächst zu unserer 
Rechten der Packraum, ein weiter, mit Glas bedeckter 
Hof; dann folgen eine Reihe von Gebäuden, welche die 
Magazine für die verschiedenen Erdsorten und die Blumentöpfe, 
sowie die Anstalten für das Ein- und Umpflanzen enthalten. 
Nun beginnt die Wanderung durch die unendlichen Warm- 
und Kalthäuser, von denen stets mehrere für dieselbe Pflanzen- 
familie in getrennten grossen Abtheilungen, je nach dem heimat- 
lichen Klima und den Stadien der Entwickelung der einzelnen 
Individuen, bestimmt ist. 

Wir baten unseren Führer um einige allgemeine Anhalts- 
punkte über unsere Umgebung. Wir würden uns sonst unfehl- 
bar in diesem Labyrinthe von Pflanzen und Hausem verlieren. 
Er war hiezu gern bereit. Was er uns während unserer mehr- 
stündigen Wanderung durch die Glashäuser mittheilte, war 
jedoch so neu und reichhaltig, dass nur folgende wenige Einzel- 
heiten im Gedächtnisse und Notizbuche gehaftet haben. 

„Der Raum, auf dem unsere hiesige Niederlassung steht", so 
begann sein durch unsere Fragen stetig fortgesponnener Vortrag, 
unser Ariadnefaden — „beträgt etwa zehn Morgen. Sie finden 
fast alle Luxusgewächse bei uns vertreten, aber in verschiede- 
nem Grrade. Das Hauptgewicht in unserem Betriebe legen wir 
in die Versorgung der zahlreichen Glashäuser und Winter- 
gärten auf den zahllosen grösseren und kleineren reichen Land- 
sitzen in England mit schonen Exemplaren der selteneren 
heueren und der gesuchtesten älteren Treibhauspflanzen. Be- 
merken Sie über dieser Thür die Nummer 105; es ist eine • 
unserer neuesten, daher höchst nummerirten Abtheilungen. 
Jedes Haus hat deren drei, macht also dreissig bis vierzig 
Treibhäuser. Für die Wasserheizung und den Druck, der das 
heisse und kalte Wasser in den Röhren circuliren macht, sind 
sechzehn Wasser- und Dampfkessel in Thätigkeit. Hier in 
Chelsea ist ein Personal von sechzig Ober- und Unter- 
gärtnern beschäftigt, dazu noch zwölf bis zwanzig Tagelöhner, 
je nach Bedürfniss. 



Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute, 7 1 

„Sie Stehen gerade jetzt vor den Eriken. Die Sammlung 
ist durch die zahhreichen Ausländer, namentlich die Caphaiden, 
auf etwa hundert Varietäten angewachsen. Bei unserem CoUegen, 
Mr. William Cutbush und Söhne in Highgate, finden Sie sogar 
hundertundfunfzig Nummern. Ihre Preise schwanken sehr; diese 
Erica gracilis kostet 75 Pfennige, aus jener Gruppe der 
Cavendishiana können Sie das Stück für 1,50 Mark bis zu 
105 Mark kaufen; jene Erica depressa bewegt sich zwischen 
2 und 210 Mark. 

„Unsere Azaleen nummeriren jetzt schon bis zu einhundert- 
zwanzig. Von Camelien fuhren wir sechzig Nummern, ihre 
Preise bewegen sich von 30 Mark fiir das Dutzend bis zu 
400 Mark für das Stück. Von Rhododendren haben wir nur 
einen bescheidenen Bestand, etwa dreissig Nummern. Wir 
sind hierin keine Specialisten. Versäumen Sie aber ja nicht, 
Mr. Waterer in Woking zu besuchen; dort finden Sie eine 
grosse Gärtnerei, die sich ausschliesslich mit Rhododendren 
beschäftigt. 

„Coniferen fuhren wir eigentlich nicht, Diese Specialität 
bearbeitet unser College, Mr. Thomas Jackson und Söhne in 
Kingston. Sie finden dort über einhundertunddreissig ver- 
schiedene Arten. 

„Dagegen",' fuhr unser Führer fort, „sind wir stark in den 
Farren. Sie finden sie in der Reihe von Häusern, die wir jetzt 
betreten. — 

„Sehen Sie hier diese baumhohe Alsophila Australis mit 
drei Fuss langen Wedeln; unter ihr steht eine Sammlung der 
kleinsten Adianthen, das falschlich sogenannte Frauenhaar. Die 
Preise schwanken dem entsprechend von 1,50 Mark bis zu 
63 Mark für das Stück. Wir zählen jetzt gegen dreihundert 
Nummern, wovon die Hälfte Warmhauspflanzen. 

„Von den Palmen haben wir zweiundfünfzig Arten, vom 
Epheu zweiundsechzig, nebst einhundertundzwanzig anderen 
Kletterpflanzen. Die Kletterer sind bei uns in den ver- 
schiedensten Klimaten zerstreut, vom Warmhause bis zur nörd- 
lichen Mauer im Freien. 

„Aber**, setzte der Obergärtner bescheiden hinzu, „alle diese 
Gruppen sind nicht unsere eigentliche Specialität. Aehnliche 
und reichere Sortimente treffen Sie bei unseren Collegen eben- 



12 Englische Landsitze ^ Gärten und Gärtner, 

falls an. Jeder legt sich auf eine Besonderheit: Charles Turner 
in Slough bei Windsor bevorzugt die hochstämmigen Rosen und 
Rosenbäume, welche Sie allemächstens auf den Blumenaus- 
stellimgen in Regent's Park und South-Kensington bewundem 
werden ; nebenbei nehmen in seinem Kataloge die Pelarg'onien 
vierzehn Seiten ein. William Cutbush ist besonders stark in 
den Eriken, Thomas Jackson hat die schönsten Coniferen u. s. \v. 

„Unsere Specialität sind die Orchideen und in neuerer Zeit 
die fleischfressenden Pflanzen. Seit Mr. Darwin die Welt auf 
diese interessanten Mörder aufmerksam gemacht hat, machen 
wir Jagd auf sie in allen Welttheilen". 

„Wie so, in allen Welttheilen? Haben Sie denn überall 
gefallige Freunde, die für Sie sammeln?" 

„Damit würden wir nicht weit kommen; wir betreiben die 
Sache rein geschäftsmässig. Wir halten sechs Gärtner, die 
jahraus jahrein für James Veitch & Sons die Länder in den 
Tropen und im Innern von Asien und Südamerika durchstreifen 
und dort in den Djungeln und Sümpfen, in den Wäldern 
der Ebene, bis hoch in den Himalaya hinauf und in den Anden 
von Peru, Jagd auf alles Neue und Interessante machen. 

„Sie stehen hier in der Abtheilung", in welcher die Fremdlinge 
zuerst Aufnahme finden. Hier werden sie ausgepackt, gepflegt, 
zu neuem Leben erweckt, beobachtet, bestimmt \md müssen 
auch Quarantaine halten. Denn mit ihnen kommen, wie Sie 
wol wissen, oft ihre gefährlichsten Feinde als Eier und Larven 
zu uns. Auch diesen lassen wir Zeit, sich hier in der Abge- 
schiedenheit zu erholen und zu entwickeln, lun sie dann sofort 
zu vertilgen, ehe sie sich verbreiten, vermehren und un- 
ermessliches Unheil anrichten. So kam vor einigen Jahren mit 
der Nepenthes eine kleine 'grünliche, beinahe durchsichtige 
Ameise zu uns, die sich stark vermehrte, beflügelte, allem 
Räuchern und Spritzen widerstand und heute noch nicht ganz 
vernichtet ist". — Es war unsere Bekannte von der Dell, 

„Lassen Sie uns also jetzt", fuhr der Obergärtner fort, „noch 
die Häuser der Orchideen durchwandern, der ausländischen 
Vettern unseres heimatlichen Knabenkrautes. Wir haben 
deren drei verschiedene Klassen: Kalthäuser für einheimische 
und andere harte Orchideen, wie z. B. verschiedene Arten 
des Odontoglossum; hier befinden wir uns in der zweiten 



Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute» i 3 

Klasse, den Catleyahäusem, mit einer angenehm gemässigten 
Temperatur von 20 — 25 Graden Reaumur. Sie finden hier 
einige der grössten und prächtigsten Blumen, die an seltsamer 
Originalität des Baues und brennendem Farbenschmelze nicht 
ihres Gleichen in der gesammten Pflanzenwelt haben; — mit 
den Namen will ich Sie nicht plagen. 

„Hier im Warmhause finden Sie ebenfalls eine Reihe 
schöner, interessanter Wunder unter den Laelias und Vandas. 
Betrachten Sie einmal die Farbenpracht und die extravaganten, 
aber stets graziösen Formen: diese rothviolette Masdevilla 
gleicht einem Herzen, jene weisse einem Damenpantoffel; diese 
weisse hier mit dem breiten Purpurstreif sieht aus wie ein 
feenhafter Schmetterling, der gerade davon fliegen will. Und 
dann der wunderbare, feine narkotische Geruch! Sie sind 
geradezu raffinirt schön! — 

„Wir haben von den Orchideen zweihundertacht und siebzig 
Arten, zum Preise von 7,50 Mark bis zu 168 Mark für das 
Stück. Die Sammlung stammt aus aller Herren Ländern. Jch 
beklage nur, dass auch hier, wie aus allen unseren Häusern, 
heute die schönsten Exemplare fehlen. Doch Sie werden dieselben 
ja in den beiden grossen Blumenausstellungen antreffen". 

Wir durchschritten staunend und be^vundemd die lange Reihe 
dieser Häuser, deren tropische feuchte Luft, verbunden mit dem 
feinen stark gewürzten Dufte und den seltsamen Erscheinungen 
der Pflanzen, nebst ihren nicht minder fremdartigen Namen, uns be- 
täubend und beklemmend umgab. So stimmten wir denn auch auf- 
richtig in den sachverständigen Enthusiasmus unseres Führers ein. 

Am Schlüsse gelangten wir endlich zu den berühmten 
Fleischfressern. Ihre Zahl ist durch die Jagderfolge der sechs 
reisenden Herren schon recht stattlich herangewachsen. Am 
anziehendsten wirkten, zunächst durch ihr schönes Aeussere, 
die Nepenthes Carnivora und sanguinea. Es sind Verwandte 
der bekannteren Nepenthes phillamphora, die an einer ranken- 
artigen, benachbarte Gegenstände spiralisch umschlingenden, 
Verlängerung des Blattes einen Schlauch trägt, ähnlich einer 
schmalen Kanne. Das Gefass ist oben an seiner Mündung 
mit einem beweglichen Deckel versehen, wie ein Bier- 
seidel. An der inneren Seite des Schlauches stehen Warzen, 
die eine wasserähnliche Flüssigkeit ausscheiden, eine Labung 



J 



74 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

für Vögel und kleinere Thiere. Unsere Nepenthes entbehren, 
wie schon ihr Name anzeigt, dieses gemeinnützigen Charakters 
leider vollständig. Die unsrigen scheiden an dem verdickten 
Rande des Kelches und an der unteren Seite des Deckels 
Honig aus, der auf dem Boden des Gefasses sich ansammelt. 
Die hierdurch angelockten Insekten werden in der klebrigen 
Feuchtigkeit festgehalten und ausgesogen, wie eine Stachel- 
beere. Auf dem Tische unter den Kelchen lag eine grosse 
Anzahl armer, ausgepresster und vertrockneter Fliegenskelette! 

Weit unscheinbarer stellt sich Dionea muscipula dar, 
die bekannte Venus -Fliegenfalle. Ihr Blatt besteht aus 
zwei Klappen, ähnlich den Schalen der kleinen, geöffneten 
Muscheln. Am äusseren Rande befinden sich Haare, die in 
einander greifen und einen festen Verschluss bilden. In der 
Tiefe des Blattes bemerkt man auf der Spitze vieler rother 
Drüsen winzige Tröpfchen einer honigsüssen Flüssigkeit; sie 
sind bestimmt das Opfer anzulocken. Durch das sich auf- 
setzende Thier entsteht eine Reizung, die beiden Blatthälften 
schlagen zusammen, die Haare an den Rändern greifen in 
einander und das Insekt ist rettungslos zerquetscht. — 

Wir wünschten sehr, die seltsame Camivore in der Arbeit 
zu sehen. Da keine Fliege zur Hand war, berührte der Gärtner 
das Innere des Blatttrichters mit der Spitze eines Stäbchens. 
Sofort setzten sich beide Klappen in Bewegung und binnen 
vier Secunden etwa war die Falle geschlossen. Aber auch 
diese kurze Spanne Zeit ist der armen Fliege im Jnnem nicht 
zum Rückzuge freigelassen. Denn beide innere Flächen des 
Blattes sind ebenfalls mit Haaren besetzt, deren Richtung gegen 
die Mitte wol den Eintritt gestattet, die sich aber durch die 
Reizung aufrichten, wie ein Wald von Pallisaden den Rückzug 
versperren und das gefangene Opfer aufspiessen. Eine andere 
dieser Mörderinnen, die Drosera capensis, eine vornehme Ver- 
wandte des auf unseren europäischen Torfmooren lebenden, 
ebenfalls fleischfressenden, rundblätterigen Sonnenthaues, lockt 
die Insekten herein, indem sie ihren honigartigen Saft an der 
Spitze jedes der kleinen Stacheln im Innern derBlüthe ausscheidet. 
Der Anblick dieser winzigen hellen Tröpfchen, wenn die Blume, 
so zu sagen geladen ist, gewährt grosses Interesse. Wir be- 
trachteten die gefährliche Schönheit genau und es gelang uns 



Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute, 7d 

auch, den Honig zu kosten, indem wir vorsichtig und rasch mit 
dem Finger über die Stacheln hinstrichen. 

„Man muss billig sein", bemerkte mein jüngerer Begleiter 
nach eingehender Prüfung, „der zarte, süsse, aromatische 
Geschmack der Venusfalle, wahrscheinlich mit einem für uns 
nicht wahrnehmbaren pikanten Dufte verbunden, ist für eine 
etwas leichtsinnige Fliege immer schon einer kleinen Sünde 
werth". 

„Leider fehlt nur", erwiderte der lebenserfahrene, ältere 
Gefahrte, „die Zeit zur Busse und Umkehr. — Eigentlich aber 
benehmen sich diese armen Fliegen genau so wie die Menschen 
in gleicher Versuchung. Sie sind ganz in derselben Lage wie etwa 
eine durstige Mannesseele, welche ihr Weg durch eine Strasse 
fuhrt, die auf beiden Seiten mit gut renommirten Trinklokalen 
besetzt ist. Sie wird einkehren und sich sehr leicht „fest- 
kneipen". 

„Oder**, ergänzte mein Begleiter, „wie eine junge Frau in 
einer Gasse von Putzläden, die sämmtlich die reizendsten neuen 
Hüte ausstellen". 

„O ja!" erwiderte ich „und dazu ohne einen Gemahl, der 
hinterher über die Rechnungen brummt. — Alle wir armen 
Sterblichen haben doch ein jeder einen schwachen Punkt, wo 
es uns »gelüstet« und wir »hineinfallen«. Das ist der Lauf der 
Welt!" 

„Uebrigens", bemerkte der Obergärtner, „ist es nicht nur 
Bosheit oder Reizbarkeit, welche die Fleischfresser bewegt; sie 
handeln durchaus zweckmässig, denn sie bedürfen der thierischen 
Nahrung für ihren Kampf um's Dasein. Diese Frage hat 
kürzlich Mr. Francis Darwin, der Sohn, durch einen höchst 
sinnreichen und gelungenen Versuch entschieden. Er setzte 
200 Pflanzen unseres kleinen, rundblättrigen Sonnenthaues in 
verschiedene, grössere Kasten, und theilte jeden dieser letzteren 
durch eine Holzwand in der Mitte ab. Um die Insekten abzu- 
halten, wurden Drahtglocken über die Kasten gestellt. Nun 
futterte Darwin in jedem Kasten die eine Abtheilung, also die 
eine Hälfte der Pflanzen, mit ganz kleinen Schnittchen ge- 
bratenen Fleisches, während die andere Hälfte fastete. Dieses 
Experiment wurde durchgeführt vom Juni bis zum September. 
Dann wog man die sämmtlichen gefutterten und die sämmtlichen 



• b EngliscJie Landsitze, Gärten und Gärtner* 

ungefütterten Pflanzen. Erstere hatten das doppelte Gewicht 
Sie trugen ausserdem fast noch einmal so viel Samenkapseln 
und ihr Samen hatte insgesammt das vierfache Gewicht des 
Samens der unfreiwilligen Asceten". — 

So belehrt und gewarnt, verlassen wir diesen neuen Venus- 
berg und treten mit unserem Führer wieder hinaus in die 
frische englische Luft. Zum Schlüsse bitten wir, nach all' den 
ausländischen Bekanntschaften, auch unserer heimathlichen 
Blumenkönigin huldigen zu dürfen. 

„Bedauere sehr**, erwiderte unser Obergärtner, „aber die 
Rose gedeiht in der Luft von London nicht Wir haben unsere 
Rosenschulen auf dem Lande, die eine in Coombe Wood für 
Pflanzen in Töpfen, die andere bei Putney Vale für ausge- 
pflanzte Stöcke**. 

„Und Ihre Obsttreibereien?** 

„Befinden sich ebenfalls in Putney Vale. Dann haben wir 
noch eine Niederlassung bei Fulham, die zu Versuchen mit 
Sämereien bestimmt ist. Dort werden die Kreuzungen unserer 
Pflanzen durch künstliche Befruchtungen bearbeitet. Aus dem 
hiervon entwickelten Samen ziehen wir die neuen Varietäten. 
Es ist das ein mühevolles Geschäft, eine Art von Lotteriespiel. 
Oft gewinnen wir aus tausend Pflanzen nur eine einzige schöne 
und constante neue Spielart. Deren Preis ist dann natürlich 
entsprechend hoch. Auch mit Verbesserung aller Gemüse be- 
fassen wir uns dort eifrig. Dabei muss man aber sehr vor- 
sichtig sein. Oft geräth die neue Sorte bei uns im milden 
Sandboden vorzüglich und würde hernach bei den Käufern 
zurückschlagen. Wir versenden sie daher zunächst an Ver- 
trauensmänner in Yorkshire und anderen Gegenden, wo sie auf 
Kalk-, Lehm- und Thonboden im Grossen angebaut und geprüft 
wird. Ohne Zweifel haben Sie schon mit einigen unserer be- 
währtesten Züchtungen, zum Beispiel : »Veitch's Herbst-Riesen- 
Blumenkohl« und Veitch's »Sich selbst schützenden Blumenkohl« 
Bekanntschaft gemacht. 

Ohne Zweifel kannten wir beide, ihre Grösse, Schönheit, Zart- 
heit und ihre vorzügliche Widerstandsfähigkeit gegen Herbstfröste ; 
es ist mit einem Worte: »Alles was man verlangen kann!« — 

Inzwischen waren wir den breiten Hauptpfad hinabgegangen, 
der den ganzen Garten vom Wohnhause her durchschneidet 



Gärtnerei für die armen und für die reichen Leute, 7 7 

Wir hatten nun die Region der Gewächshäuser verlassen und 
es umgaben uns zu beiden Seiten Blumenbeete und harte 
Gartenpflanzen. 

„Es ist nichts bedeutendes", bemerkte unser Führer halb 
entschuldigend, „aber man muss doch von allem etwas haben". 

Unser Weg mündet in ein geräumiges Glashaus, das 
den hinteren Eingang der Gärten, von Fulham Road her, bildet. 
Eine Ausstellung von Dracänen, blühenden Rhododendren, 
Fuchsien und Azaleen, die uns bei unserem Abschiede das 
Geleit giebt, berechtigt keineswegs zu der Wahrnehmung, dass 
die besten Exemplare augenblicklich fehlen und nur „zweite 
Güte" hier zurückgeblieben ist. 



VII. 



Woburn Abbey. 



An der Eisenbahn, die von Oxford über Bedford nach 
Cambridge führt, liegt die kleine Station Woburn in einem 
grünen wohlgepflegten Thale. Die Felder und Wiesen sind 
hier vielfach mit Hecken eingefasst und mit Bäumen bepflanzt. 
Sie würden Gärten gleichen, wäre nicht so viel Bewegung in 
den Linien ihrer Grenzen, mögen diese auch nur aus Gebüsch 
oder kleinen gewundenen Wasserläufen bestehen, soviel sanfte 
Bogenschwingung in den Fahrwegen und natürliche Unregel- 
mässigkeit in der Stellung der Bäume, sodass 'die Monotonie 
unserer deutschen begradigten und geregelten rechteckigen 
Flurbilder hier nirgends den Wanderer ermüdet. Die Ver- 
meidung der graden Linien in der Anordnung der nahen land- 
schaftlichen Gegenstände wie in den Femsichten, die Schonimg 
aller schönen alten Bäume, auch wo sie wirthschaftlich zum 
Schaden stehen, und die überwiegende Benutzung des Bodens 
als Wiese und Weide, also die Herrschaft der grünen Farbe: 
alle diese Eigenthümlichkeiten bilden charakteristische Grund- 
züge in der ruhigen und heiteren, hochcultivirten und doch 
natürlichen englischen Landschaft. Die Fahrwege tragen nicht 
minder zu dem gartenhaften Eindrucke bei. Sie sind meistens 
vorzüglich angelegt und sorgsam unterhalten. Als Bau- 
materialien werden nur harter Kies und Schlagsteine benutzt. 
Der Weg ist nie breiter als erforderlich und kaum merklich 
gewölbt, so dass er fast eben erscheint. Sehr häufig giebt 
man der ganzen Fahrbahn eine leichte Abdachung, abwechelnd 



1 



JVoburn Abbey, 79 

nach der einen oder anderen Seite. Statt der bei uns üblichen 
Einfassung durch offene Gräben, läuft vielfach auf beiden Seiten 
ein vertiefter Streifen, durchlässig mit Bruchsteinen und Stein- 
schlag gefüllt Ausserdem wird das Wasser durch schmale 
Rinnen abgeführt, die sich im schiefen Winkel in das anliegende 
Grundstück verlieren und dort entleeren. 

Der kleine Ort Wobum wird das Auge jedes Reisenden 
durch seine Sauberkeit und Ordnung, durch ein unverkennbares 
Gepräge veredelter Ländlichkeit erfreuen. Zu beiden Seiten 
der Strasse liegen zierliche Arbeiterhäuser und grössere 
Cottages, alle nach denselben Rücksichten der Zweckmässig- 
keit eingetheilt, aber fast alle verschieden in ihrer äusseren 
Erscheinung. Einige sind alt, wie das verwitterte, den grauen Gips- 
bewurf unterbrechende dunkle Eichenholz ihres Fachwerks zeigt, 
aber sie machen einen rüstigen, wohlerhaltenen Eindruck. Die 
jüngeren sind aus rothen Backsteinen; die Inschriften über ihrer 
Thür, welche das B unter der Herzogskrone umgeben, zeigen 
ein Alter von zwanzig bis dreissig Jahren. Diese neueren Ge- 
bäude geben uns wahre Modelle einer englischen Cottage. 
Der architektonischen Schönheit und dem Stile ist durch 
gefällige Giebeldächer, geräumige Hausthüren, gegitterte 
Rautenfenster entsprochen, sowie durch Büschel sechseckiger, 
hoher Schonsteine, welche die englischen Häuser so ganz be- 
sonders zieren und ihnen gewissermassen eine Krone aufsetzen. 
Aber neben dem malerischen Typus der Vorzeit hat man den moder- 
nen Anforderungen an Luft, Licht, Wärme und Trockenheit zu 
genügen verstanden. Jedes Häuschen steht in einem sauberen 
Gärtchen, in welchem jetzt, im Juni, gefüllte Levkojen, Stief- 
mütterchen und Rosen blühen. Hinter oder neben dem Hause 
erstreckt sich ein kleiner, üppig wachsender und reinlich ge- 
haltener Gemüsegarten mit allerlei Obstbäumen besetzt. 

Im Mittelpunkte des Städtchens, auf dem Markte, prangt, 
frisch angestrichen, das Wirlhshaus mit dem Wappen der 
Russells, dem rothen steigenden Löwen und den drei Muscheln 
über der gastlichen Hausthür. Umgeben ist es von bürger- 
lichen, sauber bemalten Fachwerkhäusern, dazwischen die Schule 
und etwas abseits, in würdiger Zurückgezogenheit, die ungewöhn- 
lich stattliche Kirche, für deren Bau im vorigen Jahrhunderte der 
damalige grosse Grundherr, auf dessen Familiensitze wir uns 



bO Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

befinden, der vierte Herzog von Bedford — wie man erzäWt — 
vierzigtausend Pfund Sterling (achthunderttausend Mark) 
ausgab. 

Jenseit des Oertchens zieht sich der Weg die Höhe hinan, 
die das Thal in langem gleichmässigem Zuge überragt. Bald 
tauchen wir in einen Hohlweg ein, der zu beiden Seiten mit 
Nadelholz und immergrünen Blattpflanzen eingefasst ist Er 
führt auf die Hochebene und an das nächstliegende Thor des 
Parkes von Wobum Abbey, eines Parkes, dessen drei Meter 
hohe Umfassungsmauer eine Länge von vier deutschen 
Meilen hat. 

Nachdem wir das Thor durchschritten, nimmt uns der 
„Evergreen Drive" auf, ein Weg, der zwischen breiten Gras- 
streifen hinführt, deren jeder auf seiner anderen Seite durch 
Gebüsch abgeschlossen ist. Dieses besteht nur aus immer- 
grünen Gewächsen. Den Hintergrund bilden hohe Nadelbäume, 
vor ihnen drängen sich grüne und scheckige Stechpalmen, 
kräftiger Laurustinus und hochgewachsener Evonjrmus, mit 
dunklen Cypressen und helleren Lärchen untermischt. Des 
Weges grösster Schmuck jedoch besteht in den herrlichen 
alten Cedem, die unter die schönsten in ganz England gezählt 
werden. Der vordere untere Rand des Busches ist sorgfältig 
mit wildem Rhododendron » ausgepflanzt, das gerade jetzt 
die Pracht seiner lilafarbigen Blüthen trägt. In sanft ge- 
schwungenen Wellenlinien, hie und da durch kurze Lücken 
unterbrochen, begleitet dieses wunderbare Gebüsch unseren 
Weg eine lange Strecke, bis derselbe in den offnen Park 
mündet. Man sieht auf Weideland und Bäume, einzeln und in 
Gruppen; den Hintergrund schliessen überall dichtere oder 
doch perspectivisch so erscheinende Bestände ab. Zu unseren 
beiden Seiten zeigen sich stattliche Cottages, von hohen Eichen 
und Ulmen beschattet, mit blühenden Glycinien und dunklem 
Epheu bewachsen, von niedlichen Gärtchen eingefasst. Es sind 
die Wohnungen der herzoglichen Beamten. Dann tritt rechts 
der grosse Wirthschaftshof der „Home Farm" hfervor, links die 
Meierei, die „Dairy". Hinter diesen Gehöften biegt der Weg 
vor einer weiten, von Geflügel belebten Wasserfläche nach 
rechts aus und vor uns sehen wir das Schloss. 



IVoburn Abbey. 81 

Wobuni Abbey ist um die Mitte des vorigen Jahrhunderts 
im italienischen Geschmacke einfach und edel aufgeführt. Das 
Schloss bildet ein regelmässiges Viereck um einen inneren 
Hof Nicht erhöht gegen die Umgebung, erscheint es durch 
die langen Linien seiner Seitenflügel auf den ersten Anblick 
etwas gedrückt. Die uns jetzt zugewendete hintere Front 
trägt in ihrer Mitte einen von vier ionischen Säulen gestützten 
mächtigen Giebel, das Erdgeschoss ist von unbehauenen 
Steinen. Der Park tritt auf dieser Seite unmittelbar an das 
Schloss heran ohne die Vermittlung gartenmässig behandelter 
Zwischenstücke. So bewegen sich denn auch die verschiedenen 
Gruppen des Weideviehs und des zahmen Damwildes in 
nächster Nähe der herrschaftlichen Wohnung. Diese unmittel- 
bare Nachbarschaft giebt der Umgebung des Hauses eine 
natürliche Einfachheit und vornehme Ruhe, Eigenschaften, die 
namentlich bei den grossen Herrensitzen eine bedeutende 
Wirkung erzielen. 

Wir wenden uns nur zögernd ab von diesem wohlthuenden 
Bilde ländlichen Genügens und treten durch die weite Glasthür 
unmittelbar in die grosse Speisehalle, ein beinahe quadratischer, 
von Säulen getragener Raum, dessen Wände mit figuren- 
reichen, wohlerhaltenen Gobelins mythologischen Gegenstandes 
geziert sind. Eine Treppe führt uns hinauf in den ersten 
Stock. Hier läuft ein breiter Corridor an der inneren Seite 
des Schlosses durch sämmtliche vier Flügel. Diese zweck- 
mässige Anlage dient, da überall Wasserheizung besteht, im 
Winter als Spaziergang und man verweilt um so lieber darin, 
als sie uns zugleich die Geschichte des grossen Hauses Russell 
in einer Reihe von Portraits und Büsten der besten Meister 
vorfuhrt. Holbein, Van Dyck, Sir Joshua Reynolds, Gains- 
borough, Sir Thomas Lawrence haben nacheinander dazu mit- 
gewirkt, der Erinnerung an diese zum nicht geringen Theile 
bedeutenden Männer und Frauen, von denen viele einen 
dauernden Platz in der Geschichte Englands einnehmen, auch 
eine hohe künstlerische Weihe zu verleihen. 

Die Russells, bis dahin einfache wohlhabende Landedelleute, 
treten zuerst im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts in die 
politische OeflFentlichkeit. Mit diesem Zeitpunkte beginnt auch 
die Gallerie der Portraits. Wir sehen hier, im schwarzen 

Ompteda, L. v., Bilder. O 



82 Englische Landsitzet Gärten und Gärtner. 

Sammtgewande des Staatsmanns, John Russell, den ersten Earl 
of Bedford. Er wohnte der Schlacht von Pavia bei und 
hinterliess einen der besten Berichte über diesen merkwürdigen 
Sieg. Er war auch Zeuge bei der Vermählung Heinrich VIII. 
mit Anna Boleyn und schrieb darüber: „sie ist eine so liebens- 
würdige „gentille** Dame, als ich eine kenne und ebensoviel 
Königin als irgend eine in der Christenheit". Nachher war er, 
gewiss zu seinem Bedauern, auch einer ihrer Richter. Der 
Eindruck, den ihre Liebenswürdigkeit auf Russell gemacht 
hatte, wirkte, wie es scheint, dabei noch fort, denn die arme 
Königin, welche sich von ihren Richtern, namentlich von ihrem 
Verwandten, dem Herzoge von Norfolk, grausam behandelt 
fühlte, nahm davon Russell aus, der sich als „echter Edelmann 
(a very gentleman)** gezeigt habe. Durch verschiedene könig- 
liche Schenkungen erwarb er die unermesslichen Besitzungen, 
meistens eingezogenes geistliches Gut, welche — nebst den 
Stadtvierteln in London, in der Gegend von Coventgarden, 
Longacre, und um Bedford-, Rüssel- und Tavistock- Square 
über zweitausend Häuser einschliessend — noch jetzt den Reich- 
thum des Familienhauptes ausmachen. Die jährliche Einnahme 
des Herzogs von Bedford bewegt sich, nach allgemeiner 
Schätzung, zwischen drei bis vierhunderttausend L. (sechs bis 
acht Millionen Mark). — Im Jahre 1550 wurde John Russell 
vom Könige Eduard VL zum ersten Earl von Bedford erhoben. 

Sein Sohn, der zweite Earl, zeichnete sich in der Schlacht 
von St. Quentin aus. Trotz dieser Verdienste aber wurde er, als 
standhafter Protestant von der Königin Mary in's Gefangniss 
geworfen. Er war jedoch ein Mann ohne Furcht und Tadel 
und wankte nicht. Freigelassen zog er sich nach Genf zurück 
bis zum Tode der Königin (1558). Dann wurde er einer der 
vertrauten Rathgeber der Königin Elisabeth, welche ihn der, 
zu allen Zeiten seltenen und hochgeschätzten Ehre eines Be- 
suches auf seiner Besitzung Chenies würdigte. Indessen scheint 
diese Gnadenbezeugung zu jener Zeit etwas kostspielig gewesen 
zu sein, denn als ihre Wiederholung in Woburn in Aussicht 
stand, bat Russell den Minister Cecil: „er möge doch dahin 
wirken, dass der Besuch möglichst kurz ausfalle". — 

Wir gehen weiter zum Bilde des vierten Earl, Francis, 
wohl einer der bedeutendsten Männer dieses befähigten Hauses. 



fVoburn Abbey, 83 

Er gab demselben zuerst die ausgesprochene politische Ge- 
sinnung und Richtung, die es seitdem mit Auszeichnung und 
Ehre verfolgt hat. . Nachdem er in Grays Inn die Rechte 
studirt, wurde er einer der besten Kenner des Verfassungs- 
rechtes und der Praxis des Parlamentes, und einer der Vor- 
kämpfer der Volkspartei gegen die beiden ersten Stuarts. 
Nachhaltiger noch hat er gewirkt als der Unternehmer einer 
nicht nur fiir jene Zeit, grossartigen landwirthschaftlichen, 
Melioration, mit welcher sein Name immer verbunden bleiben 
wird. Eines seiner Güter, Thomey Abbey, lag in der Nach- 
barschaft eines Ungeheuern Sumpfes welcher, etwa 600,000 
Morgen gross, sich über verschiedene Theile der Grafschaften 
Norfolk, SuflFolk und Huntingdon erstreckte. Das Land war 
ursprünglich trocken gewesen, aber im Laufe der Zeit durch 
Nachlässigkeit und Ueberschwemmung ein unnahbarer Morast 
geworden. Nach* vielseitigen verunglückten Versuchen unter- 
nahm Bedford im Jahre 1631 mit einigen anderen grösseren 
Grundbesitzern das Riesenwerk gegen die Zusicherung von 
etwa 140,000 Morgen aus dem zu gewinnenden Lande. Als 
die Arbeit nach fünf Jahren fertig war, suchte der Konig 
Karl L durch einen Gewaltakt deren Früchte an sich zu reissen; 
Bedford verlor seine Auslagen und die Entschädigung. Im 
Jahre 1641 starb „der kluge (the wise) Earl", wie ihn seine 
Zeitgenossen nannten. Erst im Jahre 1649, nach des Königs 
Tode, wurde des Unternehmers Sohn, der fünfte Earl, mit seinen 
Genossen in alle Rechte seines Vaters an der „Bedford-Ebene" 
wieder eingesetzt und gelangte in den eigenthümlichen Besitz 
von etwa 120,000 Morgen. Das Werk hatte den Unternehmern 
ungefähr 400,000 L. (8 Millionen Mark) gekostet und viele von 
ihnen waren durch den so lange vorenthaltenen Genuss der 
Entschädigung ruinirt. Aber der grösste Lord hatte es ausge- 
halten und durchgeführt. 

Auch diese Neigung für landwirthschaftlichen Fortschritt 
ist in der Familie vererbt worden und wird uns heute wohl 
noch wieder begegnen. 

Auf den glücklichen Landvermehrer folgt in der Gallerie 
ein Paar, welchem in der Geschichte Englands wie in dessen 
Kunst und Literatur ein unsterblicher Name und ein Andenken 
bewundernden Mitleids bewahrt ist. Es sind des fünften Earls 



ö4 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

Sohn, Lord William Russell und seine Gemahlin, Lady Rahel 
Wriothesley. Sie war eine an Geist und Herz hervorragend 
begabte Frau, deren Einfluss aus dem jungen und, wde es 
scheint, geistig gerade nicht ausgezeichnet befähigten Lebe- 
manne Russell einen ernsten, politischen Character und frommen, 
standhaften Christen entwickelte. Seine Stellung als einer der 
Führer der Volkspartei im Unterhause und seine festen An- 
sichten über die englische Verfassung und Kirche missfielen 
dem Könige Karl II. im höchsten Grade. Als Russell im 
Jahre 1680 seine Entlassung als Mitglied des Geheimefh Raths 
einreichte, wurde die Bewilligung in der „Gazette" mit dem 
allerhöchsten, sonst durchaus nicht gebräuchlichen, besonderen 
Zusätze veröffentlicht: „With all my heart". Eine Aufrichtigkeit, 
die, ihrer Seltenheit wegen, immerhin Anerkennung verdient! 
Zwei Jahre darauf wurde Lord William in die sogenannte 
Rye-House Verschwörung verwickelt und nach einem kurzen 
unregelmässigen Verfahren ohne jeden gesetzlichen Beweis 
des Hochverrathes und beabsichtigten Königsmordes schuldig 
erkannt. Ein neueres Bild von Hayter, in einem der grossen 
Empfangzimmer zu Woburn Abbey, zeigt uns die Gerichts- 
sitzung in der Old Bailey. Links die Richter, unter denen 
Lord Jeffreys blutigen Andenkens gebührend hervortritt. 
Rechts steht Russell, zu ihnen sprechend. In der Mitte sitzt 
zu ihres Gatten Füssen Lady Rahel an einem Tische mit 
Papieren, den ausdrucksvollen Kopf halb zurück gegen den 
Angeklagten und uns zugewandt. Der Künstler hat in sehr 
gelungener Weise ihre lieblich-ernsten, geistvollen Züge gegen 
den streng-todesmuthigen Ausdruck ihres Gatten gesetzt. Sie 
erscheint nicht allein als Sekretair, sondern auch als Beistand 
thätig. Nach dem Urtheile warf sie sich dem Könige zu 
Füssen und flehte seine Gnade an. Vergebens! Dann über- 
wand sie jede berechtigte weibliche Schwäche und stärkte 
sich im Gefühle der Pflicht: durch ihr Beispiel des Unglücklichen 
Kraft zu unterstützen. Ihr Abschied von ihm ist, unter den 
grossen Momenten der englischen Geschichte, im Westminster 
Palaste durch ein ergreifendes Wandgemälde verewigt. Russell 
ging mit Fassung und, wie es scheint, mit einer gewissen 
christlichen Heiterkeit zum Blocke. Am Tage vor der Hin- 
richtung befiel ihn ein starkes Nasenbluten. Der Arzt wollte 



U'oburn Abbey, 85 

ihm dagegen zur Ader lassen. „Lassen wir es heute gut sein**, 
wehrte Russell ab, „morgen bekomme ich ja einen ausreichenden 
Aderlass". Ehe die SherifFs ihn auf das Blutgerüst in Lincoln's 
Inn Fields geleiteten, versicherte er ihnen nochmals feierlich: 
dass er niemals auf des Königs Tod gesonnen habe, dass er 
jedoch weitere Aufklärungen zu seiner Vertheidigung nicht 
habe geben können, ohne Freunde blosszustellen. Dann zog er 
seine Taschenuhr auf, mit den Worten: „Nun habe ich mit 
der Zeit abgeschlossen und darf nur noch an die Ewigkeit 
denken". Mit fester Haltung legte er sein Haupt auf den 
Block und durch zwei Hiebe wurde es vom Körper getrennt. 

Wenige Jahre darauf stand Jakob IL, dessen Einflüsse 
auf seinen Bruder, den König Karl IL, die Zeitgenossen einen 
grossen Theil des damals so reichlich vergossenen unschuldigen 
Blutes aufs Gewissen legten, selbst am Rande des Abgrundes. 
Nun, „zu spät" ging er auch den Earl von Bedford um Rath 
und Hilfe an. Doch der alte Mann soll dem Könige nur ge- 
antwortet haben: „Ich hatte einst einen Sohn, welcher Euer 
Majestät in Ihrer jetzigen Lage von grossem Nutzen gewesen 
sein würde". — 

Unzweifelhaft war es wesentlich dem Einflüsse des grossen 
Hauses Russell zu verdanken, dass die Mehrheit der Engländer 
damals, wo man noch an die Göttlichkeit des Erbrechts 
glaubte, sich dem Jüngern protestantischen Zweige der Stuarts 
und Wilhelm HL zuw^andte. 

Im Jahre 1694 wurde dem Hause die Herzogskrone 
verliehen. 

Die nun folgenden beiden Häupter der Familie aus dem 
vorigen Jahrhundert, der zweite und dritte Herzog, die 
directen Nachkommen der Lady Rahel, zogen das stille 
Leben grosser Landedelleute zu Wobum Abbey den 
öffentlichen Geschäften vor. Jedoch vergassen sie und der 
vierte Herzog, wieder ein Staatsmann, niemals ihren historischen 
Beruf als Kämpfer für politische Freiheit und religiöse 
Duldsamkeit. Eben dieser vierte Herzog erbaute Wobum 
Abbey in seiner jetzigen Gestalt und legte die schönen 
Pflanzungen in Garten und Park an. Er schuf auch den 
Evergpreen Drive, durch den wir in den Park eintraten; jedoch 
hatte er sich in seinen Neuerungen nicht immer des Ein- 



86 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

Verständnisses seines conservativen Obergärtners zu erfreuen. 
Eines Tages protestirte dieser gegen gewisse Räumungen und 
Lichtungen im Waldbestande, als dem Garten und dem Rufe 
des Gärtners schädlich. Der Herzog antwortete: „Thut Ihr 
was ich wünsche, und ich will Euem Ruf vertreten". Als 
alles fertig war, setzte der Herzog an den „Immergrünen 
Weg** folgende Inschrift: „Diese Pflanzung ist gelichtet von 
John Herzog von Bedford gegen den Rath und die Ansicht 
seines Gärtners". 

Sein Enkel und Nachfolger, der fünfte Herzog, im Costüm 
aus der Wende des vorigen Jahrhunderts und mit sehr 
energischem Ausdrucke in den kräftigen Zügen, war einer 
der treuesten Anhänger von Charles Fox und der beständigste 
Gegner des Ministeriums Pitt. Unablässig bekämpfte er im 
Oberhause dessen Kriegspolitik. Als aber 1796 Pitt eine vom 
Parlamente bewilligte Kriegsanleihe von 18 Millionen L. 
öffentlich auflegte, zeichnete der patriotische Bedford allein 
100,000 L. 

Nach seinem frühen Tode folgte ihm sein Nachbar in der 
Gallerie, sein Bruder, als sechster Herzog. Er fügte den 
Schätzen Wobums die bedeutende Sammlung italienischer 
Bildhauerwerke hinzu, baute die grosse Markthalle von 
Coventgarden in London, welche 800,000 Mark kostete, und 
die Kirche in Wobum, an welcher wir heute Morgen vorüber- 
fuhren. Nach zuverlässigen Mittheilungen giebt der Markt 
von Coventgarden eine jährliche Pachtrente von 5000 L. 
100,000 M.). In dem königlichen Verleihungsbriefe über 
Coventgarden war dem Herzoge die Verpflichtung auferlegt, 
dass er dort frische Erbsen, das „Peck" zu 4d (33,3 Pf.) ver- 
kaufen lasse; augenscheinlich um dadurch, im Interesse der 
Käufer, die Preise zu regeln. Und bis auf den heutigen Tag 
wird dort in der Erbsenzeit ein Peck einmal im Jahre zu 4 d 
verkauft, gemäss dem Wortlaute, wenn auch vielleicht nicht 
ganz dem Sinne des „Charter** entsprechend. 

Ausserdem begann dieser sechste Herzog den Um- und 
Neubau der Cottages für die Arbeiter, deren Proben an 
unserem Wege standen. Ein grosses Werk: „denn" bemerkte 
der jetzige Herzog, als wir die Häuschen lobten, „eintausend 



IVoburn Abbey. 87 

Cottages haben wir jetzt freilich umgebaut, aber ebensoviel 
alte stehen noch da". — 

Am Schlüsse der langen Reihe tritt uns nochmals einer 
der bedeutendsten Sprösslinge dieser begabten Familie ent- 
gegen, im Bilde als junger, in einer gelungenen Portraitbüste 
als älterer Mann. Earl Russell of Kingston-Russell, der Welt 
bekannter als Lord John Russell. Mit um so grosserem Antheile 
betrachten wir die letzten beiden Darstellungen als erst wenige 
Tage zuvor der dreiundachtzigjährige bedeutende Staatsmann, 
dessen die Konigin Victoria in den eben erschienenen „Aufzeich- 
nungen aus dem Leben des Prinzen Albert" oft in dankbarer An- 
erkennung gedenkt, lebensmüde seine lange Laufbahn vollendet 
hatte und in der Kirche zu Chenies neben seinem ihm voran- 
gegangenen ältesten Sohne und seinem Enkel beigesetzt war. 
Er wollte lieber hier in der Stille mit sechzig anderen Russells 
und ihren Frauen ruhen als in der geräuschvollen Westminster- 
Abtey. — 

Wir haben jetzt in der Gallerie das Schloss rings 
durchwandert, und stehen vor dem letzten Bilde, das uns an 
hervorragender Stelle in Hoheitsglanz und Jugendschönheit 
entgegentritt. Es ist das Portrait der regierenden Königin, 
ein Geschenk zur Erinnerung an einen königlichen Besuch 
zu Wobum Abbey im Jahre 1841. 

Nun betreten wir die Empfangsräume (State. Drawing 
Rooms), eine Reihe grosser stattlicher Säle und Zimmer. 
Decken und Thüren sind aus weissem Stuck mit Vergoldung 
oder aus seltenem geschnitzten Holzwerke. Ebenso sind die 
Wände in Stuck oder mit schweren Stofftapeten überzogen. 
Die Kamine sind in vergoldetem Metall mit hohen kunstreich 
gearbeiteten Marmormänteln. Die Möbel entsprechen dem 
Stile des Hauses, schwer und gediegen, mit reichen Stoffen. 
Majoliken, Porzellan, alte Bronzen und Emaillen fehlen nicht 
auf den Schränken, Tischen und an den Wänden. Ueberall 
herrscht Pracht und Reichthum, aber auch überall reiner, 
guter Geschmack; nirgends stören die geleckten modernen 
Erzeugnisse des französischen Kunstgewerbes, der schwäch- 
liche sogenannte »Stil Ludwigs XVI.« Den schönsten Schmuck 
jedoch aller dieser Gemächer bilden die werthvoUen Gemälde. 
Wir nennen hier nur die Namen der besten Meister, die in 



bo Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

unzweifelhaft echten Werken vertreten sind: Rubens, Van 
Dyck, Velasquez, Ruysdael, Wouvermans, Teniers, Cuyp, 
Poussin, Claude Lorrain, Philipp de Champagne, Salvator 
Rosa und eine Madonna mit dem Kinde von Murillo. Vor 
allem fesselte unser Auge ein Portrait des schönen und 
unglücklichen Grafen Essex, des letzten Geliebten der altern- 
den Elisabeth. Eine tadellos gewachsene sehr schlanke 
Gestalt, ein reiches, sehr knapp anschliessendes Wamms, 
das Gesicht unbedeutend, kleine Züge, wenig Ausdruck, 
kleine Augen, dunkles Haar und rother Bart. Der schone 
Essex macht entschieden den Eindruck eines sehr eleganten 
und um seine äussere Erscheinung ängstlich bemühten und 
besorgten jungen Herrn, eines »Swell«, wie jetzt die Engländer 
sagen würden. 

Wir ruhen eine kurze Weile im sogenannten kleinen 
Speisezimmer und bewundern hier die schönen Van Dyks, 
vor Allem das lebensgrosse Portrait von Francis Earl Russell, 
dem glücklichen Landverm ehrer; das Bild ist herrlich er- 
halten und sicher in seiner ganzen Ausdehnung vom Meister 
selbst gemalt. Im anstossenden grossen Drawingroom tritt 
ganz besonders hervor das schöne, auch durch den Stich 
bekannte Portrait der Lady Tavistock, Hofdame der Königin 
Caroline, von Sir Joshua Reynolds. 

Den Schluss dieser glänzenden Zimmerreihe bildet die 
Bibliothek. Sie umfasst zwei Räume, deren zweiter, das 
Eckzimmer, vierundzwanzig Veduten aus Venedig enthält, 
von Canaletti fiir Bedford House in London gemalt Aus 
der Bibliothek führen Glasthüren in die Blumengärten. Man 
tritt zuerst unter die breite Arkade, welche hier ununter- 
brochen an der Gartenseite des Schlosses entlang läuft. 
Dieser Gang ist, in steter Abwechselung, mit Rosen und 
anderen Schlinggewächsen überzogen; von Zeit zu Zeit unter- 
bricht eine Blumengruppe, ein Springbrunnen, ein Marmor- 
werk oder eine der kolossalen Majolikavasen von Minton 
die Einförmigkeit des langen Weges. Ueber dem Gange 
befinden sich Wohnräume neben Gewächshäusern für einzelne 
Blumengattungen. Von dieser Arkade aus erstrecken sich 
die Blumengärten nach den verschiedensten Richtungen. 
Auch in ihnen wiegt der, von nur wenigen Hauptwegen 



li'oburn Abbev. S9 

durchschnittene, dichte, kurze, reine Rasen vor. Kleine 
Wasserflächen, besetzt mit GoldoriFen und Goldschleien, 
beleben ihn und kleine verstreute Blumenbeete, einfach in 
Zeichnung und Auswahl der Pflanzen, wirken, in bescheide- 
ner Unterordnung, die bunten Farben in den grünen Teppich. 
Gruppen von Rhododendren und pontischen Azaleen weichen 
etwas zurück und hinter diesen bilden immergrüne Strauch- 
gewächse den Uebergang zu den grösseren baumreichen 
Theilen des Gartens. An einer etwas erhöhten Stelle tritt 
uns ein lebensgrosses Standbild der jetzigen Herzogin ent- 
gegen aus vergoldetem Kupfer, vom Bildhauer Böhm. Auch 
durch die weiteren Gärten führen nur .wenige sanft gewundene 
Wege. Wo ein Baumgang pder eine andere gradlinige 
Anlage der Vorzeit zu verwerthen war, hat man sie mit 
Rasen umgeben und dadurch die Steifheit des Kiesweges 
vermieden. Einen seltenen Anblick gewährt dem Fest- 
länder eine lange Allee grosser, üppig wachsender Araucarien 
(imbricata). Mit ihren dunklen Zweigen langgestreckt auf 
dem Hellgrün des Rasens lagernd, rufen sie einen ungewöhn- 
lich ernsten Contrast hervor. Die Gärten zieren viele 
mehrhundertjährige Eichen von sehr starker und gesunder 
Entwickelung, zwischen ihnen auf Felsgruppen fröhlich ge- 
deihende Alpenrosen, Edelweiss und verwandte Bergbewohner. 
Näher am Schlosse stehen einige junge Eichbäume an ge- 
sicherter Stelle. Einer schönen alten Sitte folgend, pflanzte 
sie die Prinzess Royal von England, Deutschlands Kron- 
prinzessin, zur dauernden Erinnerung an einen Besuch des 
Ortes im Jahre 1874 mit eigener Hand. Ueberall bildet der 
immergrüne Busch den Abschluss. 

Dass einem so grossen Landsitze ein reichbesetzter Winter- 
garten nicht fehlt, ist selbstverständlich. Hier wirkt er um so 
anziehender als er in unmittelbarer Verbindung mit der 
Statuengalerie steht, einer Sammlung werthvoller italienischer 
und anderer Arbeiten. An jedem Ende der Gallerie befindet 
sich ein kleiner Tempel, links der Freiheit gewidmet, mit Büsten 
von Fox und Canning, rechts den Grazien geweiht, mit einer 
reizenden Gruppe der drei Charitinnen von Canova. — 

Die Wanderung- durch Woburn Abbey und alle seine 
Herrlichkeiten hatte bereits einige Stunden in Anspruch 



90 Englische Landsitzef Gärten und Gärtner, 

genommen; Augen und Füsse fühlten das Bedürfniss nach 
Ausruhen und so folgten wir willig unserem gastfreien Haus- 
herrn zum Lunch in die uns bekannte grosse Speisehalle. Dort 
hatte sich inzwischen eine zahlreiche Gesellschaft von Herren 
zusammengefunden, meistens Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft. 
Jedoch auch diese nur als Nebenfiguren um eine interessante 
und gelehrte aus London angekommene Mittelgruppe, deren 
Thätigkeit uns am Nachmittage belehren und erfreuen sollte. 

Die Vereinigung zum Lunch ist eine der angenehmsten 
englischen Institutionen, da sie gesellige Zwanglosigkeit, 
frischen Appetit und gute Kost verbindet. Es waren zwei 
runde grosse Tische gedeckt, an deren einem man sich um den 
Hausherrn, am andern um dessen ältesten Sohn, den Marquis 
von Tavistock, nach Gefallen niederliess. In den grossen 
und guten englischen Häusern ist — jedenfalls zum Heile der 
Fremden — die nationale englische Küche ein überwundener 
Standpunkt, und eine gebildetere Verbindung' der französischen 
Kochkunst mit dem vortrefflichen englischen Rohmateriale ent- 
spricht unserm heutigen Geschmacke in wohlthuender Weise. 

Die nur in Wasser gekochten oder im eigenen Fette ohne 
ausreichende Würze gebratenen, für unsere Zunge einiger- 
massen unfertigen Speisen, sowie die oft etwas eigenthümlichen 
süssen Schüsseln Altenglands sind hier verschwunden. Auch 
wird weder des Hausherrn noch des Gastes Kunstfertigkeit 
und Arbeitskraft durch Vorschneiden und Vorlegen in Anspruch 
genommen. Man servirt ä la Russe; ein stattlicher Haushof- 
meister in schwarzen Kniehosen, unterstützt von gepuderten 
Bedienten in reicher Livree, nennt die verschiedenen auf 
Schanktischen und Büffets aufgestellten Gerichte und bringt, 
was wir gewählt haben. 

Ein ebenso aufmerksamer Kellermeister schänkt dem 
Gaste Bordeaux, Portwein oder Sherry und bietet natürliches 
kohlensaures Wasser an, von welchem jetzt die Apollinaris- 
Quelle zu Remagen und das „Taunuswasser", vermuthlich ein 
coUectiver Handelsname, besonders geschätzt werden. Gegen 
das Ende des Mahles wechselt man wohl den Platz, um aus- 
gezeichneten oder sonstwie anziehenden Persönlichkeiten näher 
zu treten, und so vergeht die Zeit in behaglicher Thätigkeit 



Woburn Abbey, 91 

und Ruhe bis die anfahrenden herzoglichen Wagen uns 

zu neuen Bildern entfuhren. 

Wir halten zunächst bei der Home-Farm an, demjenigen 
Hofe, welchen der Gutsherr selbst zu bewirthschaften pflegt 
und der sich daher meistens durch einen gewissen Luxus in 
Gebäuden und Maschinen, in den Viehständen und in allerlei 
landwirthschaftlichen Versuchen auszuzeichnen pflegt. Hier 
finden wir funfunddreissig schone hirschköpfige Alderneykühe 
aufgfestellt, von der Insel Jersey stammend und wegen der 
Zierlichkeit und Regelmässigkeit in Figur und Farbe, sowie 
weg*en des reichen Fettgehaltes ihrer Milch jetzt als Park- und 
Luxusvieh am meisten geschätzt Der Hof enthält geräumige 
Werkstätten für Schmied und Schreiner, welche hier, mit Unter- 
stützung einer Locomobile, die Reparaturen für alle die grossen 
und kleinen Gebäude des weiten Gutscomplexes von Woburn 
herstellen. Wir besuchen von da aus die an der anderen 
Seite des grossen Fahrwegs belegene Dairy, den Milchkeller. 
Der innere Raum ist mit bunten Kacheln bekleidet, zwischen 
denen Friese von Majolika umlaufen, welche Allegorien der 
Jahreszeiten und Bilder aus der milchwirthschaftlichen Thätig- 
keit darstellen. Ein Springbrunnen regelt den nöthigen 
Feuchtigkeitsgehalt und eine Wasserheizung die Temperatur 
der Luft. Die Milchgefässe sind hier aus Glas, anderswo auch 
aus Porzellan oder emaillirtem Eisen, je nach dem wissen- 
schaftlichen Standpunkte der herrschenden Meierin hinsichtlich 
ihrer vorzüglicheren Eigenschaften für das Ausrahmen der 
Milch. Schöne alte chinesische und japanische Schüsseln sind 
an passenden Plätzen als homogene Verzierung des Ortes auf- 
g-estellt. 

Nachdem wir dieses, Kühle und Sauberkeit athmende 
Heiligthum nur ungern verlassen, führt unser Weg uns durch 
ein nahe gelegenes Parkthor hinaus in das freie Feld, zugleich 
in das Feld für die Thätigkeit der gelehrten Londoner Herren, 
deren vorläufige Bekanntschaft wir beim Lunch gemacht 
haben. 

Während der Fahrt gelang es mir, mein Gegenüber im 
Brake, einen Gutsbesitzer aus dem benachbarten Warwickshire 
mittheilsam zu machen, indem ich zunächst die uns umgebende 



t)2 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

und alsdann die englische Landschaft und Landwirthschaft im 
allgemeinen lobte. 

„Sie waren vermuthlich niemals in Holstein?" fragte ich, 
„dort finden Sie ganz ähnliche Hecken wie wir sie hier sehen; 
namentlich auch diese hohen Baumhecken auf breitem Erd- 
rücken, mit einzelnen überragenden Hochstämmen; man nennt 
sie dort: Knicke; nur innerhalb der Koppeln duldet man dort 
keine Bäume, man hält sie fiir schädlich". 

„Dieser Hecken- und Baumreichthum in unseren Feldern", 
erwiderte der Squire, „mag immerhin ein Stück alter angel- 
sächsischer Gewohnheit sein, gehegt durch das ähnliche feuchte 
Klima, das beide Länder auf Viehzucht hinweist und durch den 
Wind. Ich war nicht im alten Angeln, aber ich kenne Frankreich, 
Belgien und Deutschland. Ich leugne nicht, trotz der Berge 
kommt uns in jenen Ländern die Gegend vielfach recht flach 
und unerfreulich vor**. — 

„Uebrigens", fuhr er fort, „erscheint unsere englische Land- 
schaft dem durchreisenden Fremden immer etwas grüner und 
laubreicher, als sie es im durchschnittlichen Ganzen ist; denn 
in der Nähe der grossen Städte und längs der Eisenbahnlinien 
wieg^ die Milchwirthschaft und die Viehmästung vor, das 
weidende Vieh aber bedarf der Hecken und Bäume zum 
Schutze und zur Hut, es bedarf auch der vielen kleinen 
Wasserläufe". 

„Indessen haben Sie deswegen noch keine Campagna um 
London zu befürchten", bemerkte ich, „wie einst im alten 
Italien als der Pflug sich von Rom zurückzog; dafür sorg^en, 
unsere heutigen Führer, die Herren Agriculturchemiker". — 

„O nein!" bestätigte mein Squire vertrauensvoll, „aber Land- 
rente und Arbeitslöhne sind um die Verkehrscentren sehr hoch, 
und Halmfrüchte, namentlich Weizen sind hier zu Lande nie so 
sicher als in den neuen grossen Exportländern; das beweisen 
unsere häufigen Fehlernten in unseren ebenfalls häufigen nassen 
Jahren ; und dabei" — seufzte er — „die trostlosen Kompreise !" 

„Um Ihnen jedoch ein möglichst vollständiges Bild zu 
geben", hob er wieder an, „muss ich noch hinzufügen, dass auch 
hier die Ansichten über diese Frage getheilt sind. Noch kürzlich 
ist in der „Königlichen Ackerbaugesellschaft" ein „Paper" 
verlesen, in welchem ernstlich darauf hingewiesen wurde, dass 



IVoburn Abhey, Ud 

wir zuviel Bäume, Hecken, Feldwege und Wasserläufe haben. 
Namentlich, so wurde ausgeführt, sind die isolirt stehenden hohen 
Bäume ein schädlicher Luxus; sie halten um ihren Standort 
die überflüssige Feuchtigkeit fest, wehren die Sonne ab, nutzen 
den Boden stark aus und geben selbst kein gutes Nutzholz. In 
ihrer Gesammtheit begünstigen die Bäume entschieden die 
Feuchtigkeit unseres Klimas. Die unregelmässigen Koppeln 
erfordern eine Menge von Wegen; die Hecken sind nicht ein- 
mal wirklich malerisch. 

„Auf einer Feldmark von 4500 Morgen wurden in jenem 
Vertrage berechnet: 45 Kilometer Feldwege und 3000 Kilo- 
meter Hecken, von denen die meisten hohe Knicke sind. Es 
ergebe sich daraus im Ganzen immerhin ein Verlust von zehn 
Procent des ertragsfahigen Landes! 

„Doch hier müssen wir aussteigen". — Sämmtliche Gäste 
verliessen die Wagen und sammelten sich um unseren 
gelehrten Mittelpunkt. Was ich dort hörte und sah, will ich 
versuchen, in nachstehender Skizze möglichst kurz wiederzu- 
geben : 

Im Jahre 1875 beauftragte die Königliche Landwirthschafts- 
gesellschaft von England ihre chemische Abtheilung: durch eine 
längere Reihe praktischer Versuche den verhältnissmässigen 
Werth des Stalldüngers und verschiedener käuflicher künst- 
licher Düngerarten festzustellen. 

Die Frage war praktisch geworden durch die neuere 
englische Gesetzgebung, die dem abziehenden Pächter eine 
Entschädigung zuspricht für die im Boden aufgesammelte, 
von ihm selbst nicht mehr ausgenutzte Dungkraft (Gail und 
Gaare) aus solchen Stoffen, die der Pächter zum Vortheile 
der Wirthschaft aus seiner eigenen Tasche zugekauft hatte. 
Die Ziele dieser Versuche und die Wege dahin waren von 
den Gelehrten rasch gefunden, leider aber mussten sie den 
Acker für die Ausführung lange vergebens suchen, denn 
man sah ein, dass es zu keinem sicheren, brauchbaren 
Ergebnisse führen würde, derartige Versuche vereinzelt an 
verschiedenen Orten von verschiedenen praktischen Land- 
wirthen anstellen zu lassen. Da erklärte der Herzog von 
Bedford: er wünsche, dass diese Versuche auf seine Kosten 
gemacht würden. Er überwies dem chemischen Ausschusse 



94 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

eine Fläche von etwa 150 Morgen und einen seiner Pacht- 
höfe mit dem nöthigen lebenden und todten Inventare zur 
Wohnung für den örtlichen Leiter der Arbeiten und zur 
Aufstellung des beneidenswerthen Viehes, an welchem die 
Fütterungsversuche nach wissenschaftlichen Recepten gemacht 
werden sollten. Für dieses richtete der Herzog acht Boxes 
mit beweglichen Krippen ein, so dass mit der erhöhten 
Stellung des Thieres bei fortschreitender Ansammlung des 
Düngers unter ihm, im Verlaufe der Versuchsperiode, auch 
die Krippe entsprechend erhöht wird. 

Nachdem wir die Räume der Versuchstation, der Crawly 
Mill Farm, durchwandert haben, betreten wir jetzt die Ver- 
suchsfelder selbst, unter der Führung der Gelehrten, an deren 
Spitze der Professor der Chemie, Dr. Völker, steht, ein 
Frankfurter von Geburt, jedoch schon so lange Jahre in 
England ansässig, dass es ihm nicht mehr ganz geläufig war, 
seine wohlwollenden Gesinnungen für den Landsmann in 
der Muttersprache vollkommen rein auszudrücken. 

Das Versuchsfeld vor uns, sehen wir in regelmässige 
Vierecke von etwa je einem Viertelmorgen eingetheilt, die 
von Wegen begränzt sind. Die Versuche selbst laufen in 
verschiedenen Richtungen. Ihr Zweck ist, wie gesagt, den 
relativen Nutzwerth von Ställdünger, und künstlichem Dünger 
zu ermitteln. Zur Erbauung meiner landwirthschaftlichen 
Leser will ich mir einige möglichst sparsame Andeutungen 
über die Ausführung dieser Versuche gestatten, da dieselben 
immerhin interessante Vergleichungspunkte mit unseren 
gleichartigen Bestrebungen bieten möchten. Verschiedene 
Versuchsreihen waren gebildet, im Allgemeinen mit der 
Fruchtfolge". Weizen, Tumips, Gerste, Klee. Mit je einer 
dieser Früchte war eine zusammenliegende Reihe von 
Blöcken bestellt, jeder einzelne Block aber hatte seine 
besondere Düngung. Allen war animalischer Stalldünger 
gegeben, das Product der Verbitterung von Gewächsen 
(Wicken, Turnips, Klee), die im Vorjahre auf demselben 
Viertelmorgen geemtet waren. Diesem selbst gewonnenen 
Stalldünger waren nun die verschiedensten gekauften Zu- 
sätze beigefügt, dem einen Blocke Rapskuchen, dem zweiten 
Baumwollenkuchen, dem dritten Maisschrot, welche Stoffe, 



IVoburn Abbey. tiO 

mit jenen Gewächsen gemischt, verfüttert waren. Gegenüber 
diesen letzteren Zusätzen an Kraftfutter waren den anderen 
Blocken chemisch gleichwerthe mineralische Düngersorten 
(Guano, Phosphate und Sulphate) eingestreut. Endlich hatte 
man auch berechnete Mischungen beider Gruppen nach den 
mannigfachsten verwickelten Recepten verwendet. 

Eine andere Rotation war in der Weise behandelt, dass 
man denselben Blöcken Jahr auf Jahr dieselbe chemisch 
gleichwerthige Dungmenge zuführt, und zwar dem einen 
Theile von ihnen ausschliesslich als Stalldung, dem anderen 
ausschliesslich in der Gestalt verschiedener mineralischer 
Düngerarten. Endlich bestellt man eine Reihe von Viertel- 
morgen Jahr für Jahr mit Weizen, eine andere ebenso mit 
Gerste, beide theils ohne jeden Dünger, theils nach ver- 
schiedenen complicirten Recepten gedüngt. 

Der Boden der Versuchsfelder besteht bis zu etwa 30 Ctm. 
Tiefe in einem schwach lehmigen Sande, unter diesem steht 
reiner Grünsand. Man kann sich also leicht vergegenwärtigen, 
in welchem bedauerlichen Zustande der Erschöpfung, in ver- 
schiedenen Stadien, diese natürlich armen, jetzt nachhaltig 
ohne alle oder doch ohne richtige Düngung und ohne Frucht- 
wechsel bestellten Felder dem landwirthschaftlichen Auge sich 
blossstellten. Um so grösser war selbstverständlich die 
Genugthuung der Herren Chemiker und ihr Eifer — auf diesem 
Wege fortzufahren. Es konnte nicht wohl zweifelhaft sein, 
dass am Schlüsse der, auf sechs bis sieben Jahre berechneten 
Versuchsreihen, das ganze Feld „in Grund und Boden" ruinirt 
und auf lange Zeit für die wirthschaftliche Benutzung un- 
brauchbar sein wird. Der Herzog, der neben mir still den 
Erklärungen des Professors Völker gefolgt war, sah sich 
dieses Schachbrett von wenigen guten, meistens sogar höchst 
mangelhaften Beständen mit kopfschüttelndem Lächeln an. 
„Sehr interessant", meinte er; „für mich ist zwar die Frage 
nicht so praktisch, denn meine Pächter haben sämmtlich lang- 
jährige feste Contracte; ich bin indessen wirklich neugierig, 
was dabei herauskommen wird. Aber das sehen Sie, wenn 
wir so etwas hier machen, ein deutscher Professor muss 
stets dabei sein". 



"O Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

'Man wusste nicht ganz genau, wie die letzten Worte 
gemeint waren. Dass der Herzog jedoch die „deutschen 
Professoren" hochstellt, dafür spricht wohl seine langjährige 
Erziehung in Deutschland, seine völlige Beherrschung unserer 
Sprache und kenntnissreiche Vorliebe für unsere Literatur. 
Diesen Bildungsgang theilte mit ihm sein jüngerer Bruder, 
Lord Odo Russell, welcher dadurch ohne Zweifel einen nicht 
geringen Theil der hervorragenden Eigenschaften entwickelt 
hat, die ihn dazu beriefen, England mit so hoher Auszeichnung 
schon seit einer Reihe von Jahren als Botschafter in Berlin 
zu vertreten. 

Noch deutlicher aber hat der Herzog seine Anerkennung 
der deutschen Wissenschaft eben dadurch bethätigt, dass er 
dem „deutschen Professor" auf eine Reihe von Jahren einen 
Pachthof mit 150 Morgen Land und die gesammten Geldmittel 
für eine kostspielige Versuchswirthschaft zur freien Verfügung 
stellte. — *) 

Von dieser hochwissenschaftlichen Farm aus wandte sich 
unsere Fahrt nach dem Parke zurück, der jetzt nochmals in 
bedeutender Ausdehnung durchmessen wurde. Sein Umfang 
von vier deutschen Meilen enthält selbstverständlich sehr ver- 
schieden behandelte Abtheilungen, nicht allein Weidegrund 
mit Bäumen, wir fahren auch durch weite, forstmässig gepflegte 
Flächen. Ein besonders eingezäumter Bezirk, The Thomery 
(die Dörnerei), genannt, zeigt sich als ein wilder mit Dornen 
und Gestrüpp bewachsener Waldplatz. In seiner Mitte steht 
ein Häuschen von einem Blumengärtchen umgeben. Wir 
könnten unsere Prinzessin Domröschen hier suchen, wenn 
nicht mehrere offene Wege ungehindert hinein und hindurch 
führten. In diesen entfernten dichten Waldbeständen des 
Parkes steht das Rothwild so zahlreich, dass jährlich vierzig 
Stück abgeschossen werden. Die dem Walddickicht sich an- 
schliessenden freieren Flächen, Blossen mit einzelnen Baumriesen 
über hohen Farren, bilden den Aufenthalt der Kaninchen 
und Fasanen — des Wilddiebs Reineke Jagdbezirk. Jetzt 

*) Für das laufende Jahr 1879/80 ist der Herzog von Bedford, als Nachfolger 
des Prinzen von Wales, zum Präsidenten der „Royal AgricuUural Society** gewählt 
worden. 



Woburn Abbey, 97 

nahen die grünen Weideflächen wieder heran, von den mächtig 
aufstrebenden und breitästigen Gestalten einzelstehender Eichen, 
Ulmen, Buchen und Tannen unterbrochen. Diese Bäume, • die 
niemals durch gedrängten Stand in die Höhe getrieben und 
in der Bewurzelung gehindert waren, breiten ihre untersten 
und mächtigsten Zweige auf dem grünen Grunde aus. Es 
sind Baumtypen von seltener Schönheit der natürlichen Ent- 
wickelung, unserem festländischen Auge ungewohnt. Zugleich 
aber unterbrechen diese mächtigen Stämme die Femsichten 
und umrahmen einzelne Ausschnitte des weiten Bildes. Man 
vermeidet hier die langen, schmalen, ununterbrochenen Aus- 
sichten über ebenen Rasen, welche die Ferne künstlich 
näher rücken, immer schimmert die Entfernung, von Bäumen 
halbverdeckt, nur ungewiss durch. Es giebt nur wenige 
grosse Wege, man geht, reitet und fährt auf der Grasnarbe. 
Beletfte Wasserflächen sind durch Abdämmungen des ab- 
fallenden vertieften Grundes an seiner Thalseite geschaffen, 
dann wieder durch Ueberfalle verbunden. Die Ufer liegen 
offen in Rasen, nur mit vereinzelten Trauerweiden und 
anderen Freunden des feuchten Untergrundes besetzt. Eine 
sehr schöne Wirkung rufen einzelne sorgfältig zusammenge- 
stellte Gruppen von gleichartigen blühenden Bäumen, Roth- 
oder Weissdom, hervor, oder Gewächse helleren Grünes, die 
sich um eine riesige Blutbuche drängen. So ist man überall 
bemüht, durch harmonische Zusammenstellung in Form und 
Farbe, veredelte natürliche Bilder zu schaffen. Die leichten 
Drahtgitter, Welche diese Pflanzungen gegen das Weidevieh 
und Damwild schützen, stören das Auge nicht. Ebenso werden 
die geschlossenen Weiden der Pferde durch einen unsichtbaren 
Drahtzaun umhegt. In unmittelbarster Nähe des Hauses er- 
streckt sich nun die Lawn, ein grosser freier, ebener, besonders 
gepflegter Rasenplatz, auf welchem Foot Ball, Cricket, das all- 
mälig aus der Mode verschwindende Croquet und das alte, jetzt 
wieder beliebte Lawn Tennis von Damen und Herren geübt 
werden. 

Die grosse Kunst der Parkgärtnerei in England — so 
belehren uns die wechselnden Musterstücke, die heute an uns 
Torüberzogen — strebt also dahin: jede Erinnerung an künstliche 
Anlage zu verwischen und nur die veredelte natürliche Land- 

Ompteda, L. v., Bilder. 7 



98 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

Schaft darzustellen, sehr verschieden von dem, was man aut dem 
Continente so vielfach unter „Park" versteht und, namentlich 
frühßr, missverstand. Nur in der Nähe will man einen farbigen 
Blumengarten, von bunten Wegen durchzogen und mit zierenden 
Vasen geschmückt, einem Teppiche ähnlich, der sich um das 
Haus legt Nirgendwo sieht man die Umfassungsmauer des 
Parkes, sie verbirgt sich hinter einer dichten hohen Wand von 
Tannen und Lärchen. Alle die kleinen Wohn- und Wirthschafts- 
gebäude der Thorwächter und Parkhüter stellen die veredelte 
Hütte, nicht aber die carrikirte Miniatur eines gothischen 
Schlosses, oder eine ähnliche Geschmacksverirrung dar. Licht, 
Schatten und Luft sind in der Landschaft weise vertheilt Einzel- 
schönheiten und Massenwirkungen wechseln ab und überall 
waltet eine grossartige, wohlthätige, frische, grüne Ruhe. Der 
englische Park ist die veredelte englische Landschaft und die 
englische Landschaft strebt, sich dem Parke nachzubilden. 

Unter solchen Betrachtungen waren wir wieder in den 
schönen Evergreen Drive eingebogen und näherten uns dem 
Thore, das sich uns heute Morgen zu so grossartiger Gast- 
freundschaft geöffnet hatte. Im Scheiden suchte ich nach den 
unverzeihlichen Lücken, die der eigenwillige Herzog John hier 
in den Bestand hatte hauen lassen, und nach der Ehrenrettung 
seines Gärtners vor Mit- und Nachwelt. Beide waren ver- 
schwunden. Die alles versöhnende und ausgleichende Zeit hatte 
auch diese schmerzhaften Wunden längst geheilt. 



VIIL 

Die Blumenausstellungen. 



Uie allgemeine Neigung für Gärtnerei und Blumenzucht 
in Stadt und Land sowie der, zum nationalen Bedürfnisse ent- 
wickelte, massenhafte Verbrauch von Blumen und Zierpflanzen 
im geselligen und häuslichen Leben haben in England zahl- 
reiche Vereine und Gesellschaften in's Leben gerufen, die, 
unter den verschiedenartigsten Modificationen in ihren be- 
sonderen Richtungen und Zwecken, sämmtlich diesen nationalen 
Bedürfnissen dienen. 

Die beiden bedeutendsten dieser Gesellschaften sind: die 
„Royal Botanic Society" die königliche botanische Gesellschaft 
und die „RoyarHorticultural Society'' die königliche Gartenbau- 
gesellschaft, beide in London domicilirt. 

Die erstere besitzt den botanischen Garten in Regent's 
Park und veranstaltet dort in jedem Frühlinge und Sommer 
mehrere grosse gärtnerische Ausstellungen. , 

Ihre friedliche Concurrentin, die Gartenbaugesellschaft, 
besitzt schon seit 1804 ihren etwa fünfzig Morgen enthaltenden 
Garten zu Chiswik, am linken Ufer der Themse zwischen 
London imd Kew. Ausserdem hat sie im Jahre 1851 einen 
zweiten etwa dreissig Morgen grossen, reich und geschmack- 
voll geschmückten Garten in London selbst neben dem South 
Kensington Museum angelegt. Auch hierzu ist die Initiative 
dem Prinzen Albert zu verdanken, der selbst die Pläne der 
Anlage zeichnete. Hier hält sie ihre grossen Ausstellungen, 
die „Flowershows". 

Beide Gesellschaften sind sehr zahlreich und bilden für ganz 
England die Mittelpunkte aller Thätigkeit auf diesem Felde; 



^ 



100 ^ Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

beide verfugen über sehr bedeutende Geldmittel. Die Garten- 
baugesellschaft hat etwa fünftausend Mitglieder, ihre jährliche 
Einnahme aus Beiträgen beläuft sich auf mehr als 160,000 Mark- 

Dem allen entsprechend sind auch die grossen Blumen- 
schauen ausgestattet. Ein Blick auf die Preise, welche dabei 
vertheilt werden, mag hiervon Zeugniss ablegen. 

Für die Ausstellungen im diesjährigen Frühlinge hatten 
beide Gesellschaften, mit unwesentlichen Abweichungen, etwa 
folgende Preise ausgesetzt: 

für neun grösste Rosen in Töpfen und für zwölf Warm- und 
Kalthauspflanzen: je drei Preise von 400, 240, 160 Mark; 

für zwölf Pelargonien und zwölf Orchideen: je drei 
Preise von 240, 160, 80 Mark; 

für die halbe Zahl dieser Blumen: je drei Preise zum 
halben Betrage; 
also im Ganzen ausschliesslich für diese vier Klassen: bei- 
nahe 4000 Mark. 

Daneben besondere entsprechende Preise, in Geld oder 
goldenen und silbernen Medaillen, für bestimmte Stückzahlen 
von: Azaleen, Eriken, Farren, Rhododendren, schönen Blatt- 
pflanzen, Fuchsien; für Stiefmütterchen und Maiblumen; für 
abgeschnittene Rosen u. s. w. 

Sodann waren beträchtliche Preise ausgelobt: für die 
efFectvoUste Gruppirung gemischter Pflanzen, ohne Rücksicht 
auf die Qualität der Individuen; daneben für Obst und Gemüse; 
endlich erhalten die grossen Handelsgärtner Diplome für neu 
gezüchtete gder neu eingeführte ausgezeichnete Pflanzen. — 

Diese Preise sprechen schon hinlänglich für die bedeutenden 
Mittel der Gesellschaft, für die Wichtigkeit, welche in den 
leitenden gärtnerischen Kreisen diesen Ausstellungen beigelegt 
wird, endlich auch für die Mannigfaltigkeit und hohe Ent- 
wickelung der gärtnerischen Production in England. 

Noch schlagender jedoch erscheinen mir folgende Be- 
sonderheiten, indem sie die grossartige Ausbildung der Arbeits- 
theilung — das sichere Zeichen einer hohen Culturstufe — 
auch auf diesem Felde in einem auf dem ganzen Continente 
nicht bloss in Deutschland, unerreichten und kaum bekannten 
Grade darthun. 

Für fast alle diese Preisklassen existiren zwei parallele 



Die Blumenausstellungen. 101 

Abtheilungen, also fast alle Preise sind doppelt ausgesetzt: 
einmal für Handelsgartner und gewerbsmässige Pflanzenzüchter 
(nurserymen); daneben laufen Preise für Liebhaber der Gärtnerei 
{amateurs). 

In letzterer Abtheilung treten die grossen Gartenbesitzer 
mit ihren Obergärtnem, zugleich aber auch kleine, selbst 
arbeitende Gartenfreunde auf. 

Femer erscheinen, bei den Ausstellungen im Somme^, 
Preise für die Gemüsegärtner (market gardeners), die im freien 
Lande wirthschaften. 

Auch hat man, um junge Anfänger aufkommen zu lassen, 
besondere Prämien für solche Bewerber ausgelobt, die noch 
keinen ersten Preis errungen hatten. Im Laufe der Zeit waren 
nämlich einzelne übermächtige, so zu sagen: gewerbsmässige 
Aussteller emporgekommen, die \Yährend einiger Jahre überall 
sämmtliche grosste Preise davontrugen. 

Zu diesen Prämien der Gesellschaften treten noch eine Reihe 
interessanter und charakteristischer, besonderer Belohnungen, 
die von reichen Mitgliedern und Gönnern ausgesetzt sind, 

Opferwillige Gemüsefreunde geben bedeutende Geldpreise 
für Erbsen, Gurken und andere Vegetabilien des allgemeinen 
Verbrauchs. 

Grrosse Handelsgärtner setzen, zur Aufmunterung ihrer 
eigenen Kunden, Preise aus, bestehend in silbernen Pokalen, 
seltenen Pflanzen oder auch in Geld, für schöne Pflanzen, 
sowie für Früchte und Gemüse, in solchen Varietäten, die vom 
Geber selbst, während der letzten Jahre in den Handel gebracht 
sind, also von ihm bezogen sein müssen. So eröfl&iet Mr. James 
Carter, königliche Hof-Samenhandlung, jährlich eine Bewerbung 
um den „Carter Pokal" zum Werthe von looo Mark nebst 
600 Mark in Geldpreisen, für die beste Auswahl von Gemüsen, 
vierundzwanzig verschiedene Sorten, von denen- neun Sorten 
solche sein müssen die er selbst gezogen hat. Mr. James Veitch, 
den wir als den grössten Blumenzüchter kennen lernten, macht 
nicht einmal Einschränkungen zu gunsten seiner eigenen 
Züchtungen, sondern giebt eine Reihe von Preisen, im Gesammt-' 
betrage von 2220 Mark, für Obst. 

Erhebliche Preise bestehen für den mit den besten Früchten 



IvJ Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

geschmackvoll gezierten Frühstückstisch; andere für den mit 
schönsten Blumenschmuck grösserer und kleinerer Mittagstafeln* 

Endlich hat eine wohlthätige Dame, um eine schmerzlich 
empfundene Leere auszufüllen, einen Preis von 200 Mark aus- 
gesetzt: für das eleganteste neue Kjiopflochsträusschen (button 
hole), eine dem vollendeten männlichen Abendanzuge in 
diesem so betrübend ordensarmen Lande unbedingt noth- 
wendige Zier. 

Mit solchen Mitteln arbeitet man in den reichen Central- 
stellen. Die Gartenbaugesellschaft, die zudem noch mit einer 
schweren Schuldenlast von beinahe einer Million Mark zu 
kämpfen hat, giebt etwa 60,000 Mark jährlich für Preise aus; 
die Botanische wohl noch mehr. 

Hören wir, zum Vergleiche, wie dieselben Ziele in den 
kleinen Verhältnissen der Provinz verfolgt werden. 

Die Gartenbaugesellschaft zu Richmond, Kew und Twicken- 
ham hatte im Jahre 1877 eine Einnahme von: 9840 Mark. 

Ihre Ausgabe betrug: 

für 300 Preise 4940 Mark 

für die Kosten ihrer Ausstellung 2640 * 

daneben für Papier, Druck und Porto etwa 1700 ^ 
Die 300 Preise werden auf 136 verschiedene Klassen von 
Gegenständen vertheilt; sie sinken von 100 Mark bis auf 
4 Mark. Diese kleinsten Prämien sind sehr zahlreich, sie sind 
wesentlich auf die Cottagers im Vereinsbezirke berechnet d. h. 
auf die sogenannten kleinen Leute, die mit eigener Hand ein 
Gärtchen bearbeiten; z. B. für 12 Zwiebeln, 4 Salatkopfe 
60 Schoten Erbsen. 

Von diesen 136 Klassenpreisen giebt die Gesellschaft 88; 
es geben Privatpersonen 48 Preise, nämlich 1340 Mark an 
baarem Gelde, silberne Pokale, verschiedene Medaillen, seltene 
Treibhauspflanzen. 

Auch hier begegnen wir sechs verschiedenen Prämien für 
Tafeldecorationen und einer für den Schmuck des Knopfloches. 
Um diese Preise können nur Damen aus dem Vereinsbezirke 
Jcämpfen, welche die Gärtnerei nicht geschäftsmässig betreiben» 

Endlich finden wir vier Preise für Pflanzengruppen zum 
Schmuck der äusseren Fensterbretter, eine hübsche und diu^ch 
ganz England in Palästen und Hütten, in Stadt und Land ver- 



m Die Blume naussteUungen. 103 

breitete Sitte. Diese letzteren Preise sind nun wiederum nur 
zugänglich für Arbeiter, Handwerker und Bahnwärter, nicht 
einmal für Hausbediente. 

Wir dürfen wohl in dieser Anordnung der Preise ein sehr 
lehrreiches Beispiel der Entwicklung durch Arbeitstheilung 
erkennen; zugleich auch eine praktische Uebertragung des, 
auf der Rennbahn entstandenen Systems des sogenannten 
„Handicappens**, welches den Schwachem gegen die „freie" 
Concurrenz des Stärkeren schützt 



Die Blumensehau in Regent's Park. 

Kehren wir jetzt wieder nach London zurück und treten in 
die beiden grossen Ausstellungen ein, welche beide Gesell- 
schaften gewohnlich zu Ende des Mai veranstalten. 

Die Anordnung ist in beiden „Flowershows" verschieden. 
Die Gartenbaugesellschaft in South Kensington begnügt sich 
mit mehreren langen Zelten, die wieder durch bedeckte Gänge 
verbunden sind. He Pflanzen stehen hier, in etwas markt- 
mässiger Einfachheit, auf anspruchslosen langen Tischen oder 
auf dem natürlichen Erdboden, ohne jede Rücksicht auf Ge- 
sammtefFect durch Gruppirung. 

Die botanische Gesellschaft in Regent's Park legt dagegen 
ein wesentliches Gewicht auf die Anordnung und den Gesammt- 
eindnick ihrer Ausstellung. Ein ausgedehnter beinahe kreis- 
runder Raum ist mit einem hohen Zelte bedeckt. Unter diesem 
ist der Erdboden nach der Mitte zu trichterförmig flach ver- 
tieft. Am tiefsten Punkte, also im Centrum, finden wir eine 
Fontaine, mit einer Vorrichtung für die Bespritzung aller Theile 
des Zeltes verbunden. Sie ist mit Felsgestein gefasst, das durch 
entsprechende Pflanzen belebt wird. Um diese centrale Gruppe 
führt ein ringförmiger Weg. Die äussere Seite dieses Weges 
wird durch eine erhöhte, nach innen sanft abgedachte, ebenfalls 
ringförmige Böschung eingefasst, an welcher zahlreiche Gruppen 
kleinerer Pflanzen ausgestellt sind. Um die äussere höhere 
Seite dieser Böschung läuft wiederum ein breiterer ringförmiger 
Weg. Von dieser Hauptstrasse strahlen, in Form eines recht- 
winkligen ELreuzes, vier Wege aus, die zu den Ein- imd Aus- 
gängen führen. Diese gekreuzten Wege theilen den grossen. 



104 Englische Landsitie, Gärten und Gärtner, ^ 

breitesten, äusseren Kreisring der ganzen Grundfläche in vier 
Abschnitte, deren jeder in sanftem, in sich wiederum mehrfach 
geschwungenen Bogen nach der Mitte zu vortritt. Auch diese 
vier grossen Abschnitte steigen in allmäliger Erhöhung zur 
äusseren Zeltwand hinan. Diese Anordnung des Raumes 
gewährt von fast allen Punkten aus einen umfassenden Ueber- 
blick, sowohl nach der Peripherie hinauf, als in den Mittelpunkt 
hinab; sie gestattet eine bequeme Bewegung und Zugänglichkeit 
und sie bietet an den convexen, mit vorspringenden Zungen 
versehenen inneren Rändern der vier grossen äussersten Ab- 
theilungen möglichst viel Raum für zahlreiche Beschauer. 

Letztere waren heute bereits vollzählig eingetroffen obgleich 
der Eintritt an diesem ersten Tage der Ausstellung 7,50 Mark 
kostete. Viele unter den anwesenden Pflanzenfreunden widmeten 
immerhin den grosseren Theil ihrer Thätigkeit dem Ausruhen 
auf den schonen Rasenflächen vor dem Zelte und erfreuten 
sich der musikalischen Leistungen, welche die Kapellen zw^eier 
Garderegimenter abwechselnd vorführten. Dennoch enthielt 
auch das Zelt selbst eine dichte Meng# die mit ernstem 
Interesse und mit der echten Sachkunde, welche nur durch eigene 
Praxis erworben wird, sich der Besichtigung und Beurtheilung 
des Bekannten und des Neuen unterzog. 

Zu diesen Eingeweihten durfte auch ich mich heute aus- 
nahmsweise rechnen, gedeckt durch die Führung, unter deren 
Flagge und Schutz ich diese Räume betrat Beim Lunch, in 
einem befreundeten Hause in Hanover-Square, hatte ich die 
Bekanntschaft eines liebenswürdigen Ehepaars gemacht; das 
Gespräch fiel bald auf die grosse Nummer der heutigen Tages- 
ordnung, den Flowershow in Regent's Park und es ergab sich, 
dass Mr. und Mrs. F., vorzugsweise zu diesem Zwecke aus ihrer 
ländlichen Einsamkeit auf der Insel Wight, in die heisse, volle, 
lärmende Stadt gekommen waren. 

„Ich rathe Ihnen sehr", sagte mein Gastfreund, „sich meinem 
Vetter F. anzuschliessen. Er ist der Schöpfer und Eigenthümer 
eines der schönsten Landsitze bei Sandownava, ein durchgebildeter 
Gärtner und nebenbei ein gescheiter origineller Kauz. Mrs. F. 
ergänzt ihren Gatten sehr glücklich; sie ist, trotz ihrer mittleren 
Jahre, immer noch die warme und leichtherzige Irländerin, voll 
Enthusiasmus für alles „Gute und Schöne"; nebenbei etwas 



Die ßlumenaussteüunpen, 105 



•ö 



Blaustrumpf, es werden ihr sogar gedruckte Verse nachgesagt. 
Sie würden also Gelegenheit haben, nicht nur zu sehen, sondern 
auch einen doppelten Commentar über alles, was Sie sehen, zu 
hören'*. 

Meiner Bitte, mich anschliessen zu dürfen, kam Mr. F. mit 
einer freundlichen Aufforderung zuvor und so — waren wir hier. 

„Sehr gut gemacht", sagte Mr. F., nachdem wir einen all- 
gemeinen Ueberblick gewonnen hatten, „der GesammtefFect ist 
wirklich sehr gut, man darf zunächst die Herren Directoren, 
wegen ihres Antheils an den Leistungen hier, beglückwünschen. 
Die Bekleidung aller "Wände mit dichtem Grün ist neu und die 
hohen Palmen und Dracänen mildem und heben die Farben 
der Blumenmassen". 

War nun schon bei dem einheimischen, des Anblicks ge- 
wohnten Publikum, die Anerkennung vorherrschend, so musste 
der Fremde umsomehr von Bewunderung der meisterhaften 
Leistungen erfüllt werden, die hier in der Blumenzucht vorge- 
führt wurden. 

Mrs. F. war so liebenswürdig meinem Enthusiasmus Worte 
zu leihen: 

„Meinen Sie nicht, dass das schon allein eine Reise werth 
ist? Wo wäre sonst Gelegenheit so etwas zu sehen? Hier finden 
Sie die Wunder des Pflanzenreichs und die schönsten Blumen 
jedes Erdtheils versammelt, die seltsam schönen Orchideen aus 
den Wäldern von Brasilien, die Rhododendren und Azaleen des 
Himalayas, die schlanken Palmen aus den Ländern der Sonne, 
die Wasserwunder aus den Teichen von Madagaskar" — — ! 

„Liebe", unterbrach sie der Gatte, „verzeihe, wenn ich den 
Flug Deiner Empfindungen einen Augenblick anhalte, aber 
erinnere Dich doch des Palmenhauses in Frankfurt und des 
Flors von Camelien und Azaleen, die wir dort im vorigen März 
sahen; das war doch auch nicht so ganz übel". 

Es wäre unritterlich gewesen, meiner Gönnerin nicht zu 
Hilfe zu kommen. 

„Frankfurt und auch die Flora in Köln", bemerkte ich 
bescheiden, ,J?:önnen sich allerdings in diesen Punkten wohl sehen 
lassen; aber im allgemeinen müssen wir der englischen Blumen- 
zucht als Kunst weit den Vorrang, nicht nur vor der deutschen, 
sondern vor der gesammten Continentalen zuerkennen". 



106 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner. 

„Ist das Ihr Ernst?" fragte Mrs. F., mich halb befriedigt 
halb noch zweifelhaft ansehend. 

„:?>!Mit Ladies soll man sich nie unterstehen zu scherzen 
sagt eine bekannte hohe Persönlichkeit«", beeilte ich mich zu 
betheuern. „Wir waren ja so ziemlich alle im vorigfen Jahre 
in Paris; die Ausstellung der Blumen und Pflanzen, die sich 
dort dem linken Ufer der Seine entlang zog, war gewiss aus- 
gedehnt und auch inhaltreich, aber sie kann doch nicht im 
allerentfemtesten einen Vergleich mit diesem Schauspiele vor 
uns bestehen; wahrhaftig nicht!" 

„Für den Anfang", erklärte Mr. F. „kann meine Frau wohl 
zufrieden mit Ihnen sein; sehen wir uns jetzt einmal die 
einzelnen Klassen an, hoffentlich bestätigen sie den günstigen 
ersten Eindruck". 

In Worten ein vollständiges Bild der gesammten Schau- 
stellung zu geben dürfte schwierig und würde ermüdend sein. 
Wir werden uns daher begnügen müssen, bei den Erscheinungen 
die unter allem durchgängig vorzüglichen, ganz besonders 
hervorragen, einige kurze Augenblicke zu verweilen.. 

Zuerst die riesenhaften Rosenstöcke, welche Mr. Charles 
Turner, der grosse Handelsgärtner in Slough bei Windsor, 
ausstellt Wunder von Leistungen! Eine Gruppe von neun 
Pflanzen in schweren Kübeln, die starken Stämme etwa einen 
Meter hoch, darüber eine Krone, deren Durchmesser in der 
Breite etwa zwei, in der Höhe etwa anderthalb Meter ausmacht. 
Die ganze Form ist flach gedrückt und nähert sich einer Halb- 
kugel. Die gutbelaubten, gerade gestreckten Zweige streben 
strahlenförmig nach allen Richtungen hinaus, sie sind innerhalb 
des ganzen mit grosser Gleichmässigkeit vertheilt Schon 
dadurch erhält die Pflanze für das, an den natürlichen winkeligen 
Wuchs unsrer hochstämmigen Rosen gewöhnte Auge etwas 
imponirend Fremdartiges. Die Bäume sehen etwa einem in 
Kugelform gezogenen Lorbeer ähnlich oder, noch besser, den 
Phantasiebildem der Rosen- und Apfelbäume wie wir sie in 
den Bilderbüchern unserer Kinder finden. Richtung imd 
Streckung erhalten die Zweige durch sehr dünne schwarze 
Stäbchen, denen entlang sie geführt sind. Augenscheinlich 
wurden aber bei der Jugenderziehung der Pflanzen noch 
andere Mittel angewendet, um jeden Zweig, durch Feststellen 



Die BlumenaussUUungen, 107 

mittelst Fäden, in die ihm angewiesene Lage zu gewöhnen. 
Auf der Oberfläche der Pflanzen jedoch, an welche man 
unmittelbar herantreten konnte, waren diese letzteren Unter- 
stützungen nicht mehr sichtbar. Die, an sich schon aus- 
gezeichneten, trotz ihrer beträchtlichen Anzahl sehr gleich- 
massigen neun Rosenbäume waren bedeckt mit einer über- 
raschenden Fülle der grössten, schönsten, vollkommensten, 
frisch erblühten Rosen. Ich zählte auf der, meinem unverrückten 
Auge zugewandten Hälfte der Oberfläche siebzig volle aufge- 
blühte Rosen und etwa dreissig in der Entfaltung begriffene 
Knospen! 

„Das wären zweihundert Stück" berechnete Mrs, F. „aber 
das ist durchaus noch nicht Mr. Turners grösste Leistung. 
Im vorigen Jahre stellte er einen Charles Lawson aus, dessen 
Krone über zwei Meter Durchmesser hatte und der dreihundert 
aufgeblühte Rosen trug. Ihm gegenüber stand eine Coline 
Forestier von ähnlicher Grösse, auf der mehr als dreihundert 
Blumen in voller Blüthe prangten". 

An den neun Rosenbäumen vor uns waren alle Farben 
vertreten: dunkelroth, rosa, weiss und feuriges gelb. Man 
hatte die Gruppe so geschickt an die leicht erhöhte Böschung 
gelehnt, dass jede einzelne Pflanze für sich hervortrat und 
zugleich alle sich zu dem wirkungsvollsten Ganzen vereinigten. 
Hiezu trug auch die Färbung der Kübel wirksam bei. Diese 
waren nämlich nicht, wie bei uns allgemein üblich — einfach 
aber gedankenlos, — grün gestrichen sondern ahmten dunkles 
kräftig gemasertes Eichenholz nach, auf dem die schweren 
Eisenbeschläge schwarz abgesetzt waren. 

„Das ist wirklich sehr wunderbar und grossartig", erwiederte 
ich „und mir, als wissbegierigem Reisenden, liegt dabei dieTrage 
ganz besonders nahe: wie wird es gemacht?" 

Mr. F. lächelte bedeutsam. „Wir haben es auch versucht, 
denn meine Frau träumte einige Zeit nur von »Riesenrosen«. — 
Von ihr können Sie daher ganz genau erfahren wie die Sache 
— nicht geht". 

Ja", gestand Mrs. F. aufrichtig, „wir kauften vier solcher 
junger Pflanzen und thaten unser bestes an ihnen; ich sah 
schon erste Preise auf unseren Obergärtner herabregnen — 
er selbst sah allerdings keine — und richtig: es mislang 



1 Oo Englische Landsitze, Gärten und Gärtner , 

vollständig! Zu dieser Vollkommenheit, so behauptet mein 
Gärtner, gelange man nur durch langjährige, unendlich 
detaillirte Mühe und Arbeit. Die Anzucht der Individuen, ihre 
Behandlung mit Wärme, Licht, "Wasser und Dünger, das Ver- 
setzen, der Schutz, die Entwickelung der Holzaugen, die mehr- 
jährige Unterdrückung der Blüthen, endlich das Antreiben zum 
gleichzeitigen Blühen am bestimmten Tage der Ausstellung: 
das alles erfordere alte, traditionelle Erfahrungen, unausgesetzte 
Sorgfalt und weite Räumlichkeiten. — Ueber alle diese 
Voraussetzungen zusammen hat auch der grösste Privatgarten 
nicht zu verfügen. Aber Turners Rosen", so schloss Mrs. F. 
mit Emphase, „sind und bleiben der Triumph unsrer Gärtnerei". 

„O ja!" setzte der Gatte kaltblütig hinzu, „es sind kapitale 
Kunststücke. Man sieht daran, was die Natur sich abnöthigen 
lässt. Eine schöne, hochstämmige Gloire de Dijon in meinem 
Rosengarten bringt es nicht über dreissig Blumen und auf- 
blühende Knospen zu gleicher Zeit". — 

Nach den Rosen fesselten die Azaleen unsere Aufmerk- 
samkeit. Diese Klasse war sehr zahlreich beschickt, aus 
Handels- wie aus Privatgärten. Auch hier standen wir vor 
Wundem der gärtnerischen Kunst. Bei dieser Blume ist es 
nicht so schwierig, der Vorstellung des Lesers zu Hilfe zu 
kommen, da die Azalee auch auf unseren heimischen Aus- 
stellungen häufig in einzelnen ausgezeichneten, künstlich ge- 
zogenen Exemplaren zu sehen ist. Hier aber treten grosse 
Gruppen auf, in den prächtigsten Farben: dunkelroth, orange, 
lachsfarbig, rosa, scheckig, weiss. Die kreisförmige Pyramide 
wiegt vor, vollendet regelmässig und ausschliesslich mit Blumen 
bedeckt, eine geschlossene dichte Oberfläche, kein Blatt 
sichtbar. Dutzende von kegelförmigen Pflanzen stehen auf dem 
grünen Rasen vor uns, etwa 1,50 Meter hoch und 0,75 Meter 
im Durchmesser der Grundfläche. Daneben breitet sich eine 
Gruppe von sechs Pflanzen, die w4e ein flacher Sonnenschirm 
gezogen sind, der Bogen über die Oberfläche misst 1,60 
Meter. Auch hier ist das Kunststück des gleichzeitigen Auf- 
blühens überall vollständig gelungen. 

.,Sind sie nicht herrlich, diese Wunder der veredelten 
Natur?** fragte mich Mrs. F. strahlend, „mich entzücken sie 
stets von neuem ; welchen Eindruck müssen diese Prachtstücke 



Die Bluinenausstellungen, 109 

nun gar auf einen Fremden machen, der sie zum ersten Male 
sieht". 

„Allerdings", bestätigte ich, „es sind grossartige Kunst- 
leistungen, die man bei uns eigentlich nicht kennt". 

„Da sind Sie glücklich!" platzte Mr. F. heraus. „Ich sehe 
jetzt dieselbe Collection bereits seit Jahren auf jeder Aus- 
ztellung; Blumenscheiben und farbige Bälle, Sonnenschirme 
von hypertrophischen Pelargonien', Pyramiden von Azaleen: 
Zopf! Zopf! keine einzige natürliche Pflanze!" 

„Ich gebe zu", stimmte ich ein, „sie erinnern etwas an 
Lenötre's geschnittene Taxusburgen und an die holländischen 
Schiffe und Gänse von Buchsbaum". 

„Wollte sie mir Jemand schenken", fuhr Mr. F. gering- 
schätzig fort, „ich würde mich schön dafür bedanken ; denn ein 
halbes Dutzend würde meinen Wintergarten vollständig aus- 
füllen". 

„Ich weiss. Du würdest anbauen, — mir zu Liebe", ver- 
sicherte die Gattin. 

„Nun, ich frage Sie" wandte sich Mr. F. zu mir „ob diese 
Verstümmelung schön ist?" 

„Im frankfurter Palmengarten", erwiderte ich, „lässt man 
die Azaleen als freie Büsche wachsen". 

„Und hier", fuhr er fort, „nicht ein einziges Blatt am 
ganzen Baum, als ob Blätter eine Un Vollkommenheit der 
Xatur wären". 

„Aber lieber George", erwiderte die optimistische Irländerin 
ganz ernsthaft, „die Blätter sind ja durch die Veredlung in 
Blüthen verwandelt". 

Ich blieb ganz ernsthaft. 

„Die Dinger sehen aus", erklärte jetzt ziemlich energisch 
Mr. F., um die Diskussion wirksam abzuschliessen, da ihm diese 
letzte physiologische Ansicht seiner Gattin offenbar bedenklich 
wurde, „sie sehen- gerade aus wie eine schöne Frau, die 
— kahlköpfig ist Glauben Sie, dass der Lovelace Paris einer 
solchen Venus den Apfel gereicht hätte?" 

„Oh, schäme Dich, George", rief jetzt Mrs. F., sich anstands- 
voll abwendend, „schäme Dich!" — 

„Lassen Sie uns zu den Pelargonien gehen", bat ich um 
die Besichtigung wieder in Fluss zu bringen. „Ich las häufig 



110 Englische Landsitze^ Gärten und Gärtner* 

in Gardener's Chronicle, zu welch hoher Vollendung man sie 
hier entwickelt hat". — 

Die dreimal zwölf Exemplare welche die oben erwähnten 
grossen Preise von 240, 160 und 80 Mark erhielten, waren 
gezogen und gebunden wie flache Schirme, der Bogen über 
den Scheitelpunkt 1,30 Meter messend, bedeckt mit Blumen in 
voller Entfaltung. 

„Die nennt man Ausstellungs-Pelargonien (Show pelargoniums)" 
sagte der unerbittliche Mr. F. ziemlich verächtlich. „Betrachten 
Sie lieber hier das alte echte Zonale und dort die sogenannten 
Phantasie -Pelargonien; es ist eine reiche Auswahl buntge- 
färbter Spielarten, erzeugt durch unendliche Kreuzungen 
mittelst künstlicher Bestäubung; diese Gruppe hier durchläuft 
von links nach rechts alle Schattirungen , vom dunkelsten 
Braunroth bis fast zum reinen Weiss". 

In der Klasse der Eriken begegnen wir mächtigen Pflanzen 
mit grossen, lebhaft gefärbten Blüthen. Sie stammen vom 
Cap der guten Hoffnung. Daneben erfreuen uns unsere ein- 
facheren kleinen europäischen Haiden. Alle Pflanzen sind mit 
feinen schwarzen Fäden aufgebunden, so dass die Zweige locker 
und gleichmässig nach allen Richtungen hin auseinander 
streben. 

Verweilen wir jetzt noch kurz bei den Orchideen, diesen 
interessantesten aller Warmhauspflanzen. Wir begegneten 
ihnen schon in Kew, in den Handels- und in den Privatgärten; 
ein Orchideenhaus fehlt heut zu Tage in England auf keinem 
grösseren Landsitze. Ist es nicHt Selbstzweck, als Sammlung 
oder für das Studium, so dienen doch diese, durch Form, Farbe 
und Geruch so seltsamen schönen Kinder der tropischen Sonne 
als Zierde der Blumentische und der geschmückten Mittags- 
tafel, wo sie dann allerdings in der ihnen tödtlichen trocknen 
Atmosphäre nur ein kuzes Dasein fuhren. 

„Bitte, sehen Sie", rief mich Mrs. F. heran, „hier in dieser 
reichen Gruppe, diese Cattleya Leopoldi mit acht Trieben und 
diese Laelia purpurata mit neun wunderbaren grossen Blumen. 
Sie kennen den Eigenthümer jedenfalls — vom Ansehen?" 

„Nein, ich hatte noch nicht die Ehre'*. 

„Haben Sie nie Nachmittags um 6 Uhr die Satge Coach 
von Brighton an Hyde Park Corner vorüber fahren und in 



DU Blutnenausstellungen. 111 

Piccadilly vor dem alten Ausspannhause, dem „White Horse 
Cellar** anhalten sehen, mit dem fröhlichen Hornbläser auf dem 
hinteren Decksitze? Der lange Gentleman mit dem mächtigen 
rothen Bart, der sie so kunstgerecht fiihrt, istLord Londesborough, 
der Eigenthümer dieser herrlichen Orchideen. — Das wundert 
Sie? — Was wollen Sie? — es ist nun einmal sein Beruf — 
ich meine die Coach — nicht: die Orchideen. Sie sollten doch 
an einem schönen Tage mitfahren nach Brighton, dabei sehen 
und erleben Sie noch — ein Stück Altengland" 

„Allen Respekt", imterbrach uns hier Mr. F., „vor diesem 
Odontoglossum vexillarium mit 26 Blumenstielen und 160 wohl- 
gezählte Blumen daran; der Aussteller ist natürlich der 
Baron Rothschild. Das ist einmal eine, dieses Eigenthümers 
würdige, Abundantia; gewöhnliche Sterbliche bringen dieses 
Odontoglossum kaum höher als auf 30 bis 40 Blumen". 

Die gemischten Pflanzengruppen boten eine Reihe fesselnder 
kleiner „Ansichten der Natur". Die Kunst strebt hier dahin, 
sich selber vergessen zu machen und möglichst eine ideale 
Natürlichkeit darzustellen. Einer jeden von diesen grossen 
Gruppen ist ein Raum von etwa 30 Quadratmetern angewiesen. 
Womit dieser Platz ausgefüllt wird, möge folgender Blick auf 
diejenige Gruppe zeigen, die den ersten Preis erhielt: 

Palmen, Dracänen und hochstämmige Farren sind in 
flachem offenen Bogen weit gesetzt; die Zwischenräume sind 
ausgefüllt mit hohen mittleren und niedrigen blühenden Fuchsien, 
Azaleen, Pelargonien, Spiräen, dem feurigen Anthurium 
Scherzerianum und Lilium auratum. Das ganze zeigt eine 
wohl abgemessene Harmonie in den allgemeinen Conturen 
und grosse Abwechslung in den einzelnen Gliedern der Gruppe. 
Von brillanter malerischer Wirkung sind die lebhaften Farben 
der bunten Blüthen auf dem dunklen Grün der Palmen, 
Dracänen und Baumfarren. Ganz allmählich senkt sich diese 
wellenförmig bewegte Oberfläche leise zum Vordergrunde 
herab. 

Ich wartete auf Mr. F's. Kritik. 

„Das ist nicht übel", bemerkte er, „ein wenig gedrängt 
und das Bunte etwas unruhig. Uebrigens sind diese Gruppen 
von sechs auf fünf Meter Grundfläche ziemlich unpraktisch. 
In keinem englischen Hause von durchschnittlicher Grösse 



112 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

kann man für diesen Zweck einen Raum von auch nur 
annäherndem Inhalte anweisen. Für unsere Wohnungen und 
Wintergärten sollte man das System der kleinen Gruppen 
mehr cultiviren: sehr sparsam sein mit den grossen Pflanzen; 
ein dichter Hintergrund von grünem Blattwerke; davor kein 
Gedränge, hübsch locker; ja nicht zu vielerlei buntscheckige 
Farben; reichliche Verwendung niedriger und kleiner Gewächse; 
alle Töpfe verstecken und die vordere Grundlinie mit Lycopo- 
dium überziehen. So lasse ich es bei mir machen und mein 
Gärtner gewinnt, so oft er will, den ersten Preis auf der 
Blumenschau in Ventnor". 

„Sie wenden ein weises Wort an, Mr. F.", erwiderte ich, 
„ohne es vielleicht je gehört oder gelesen zu haben: „In der 
Beschränkung zeigt sich der Meister". — 



Die Blumensehau in South Kensington. 

Mr. F.'s unterhaltende und belehrende Führung regte 
natürlich in mir den Wunsch an, auch die Ausstellung der 
Gartenbaugesellschaft, einige Tage später, unter seiner Leitung 
zu besuchen. Wir fanden uns zur guten Stunde am Hyde 
Park Corner und schritten dem Garten von South Kensing- 
ton zu. 

„Heute", begann Mr. F. „will ich Ihnen allerlei zeigen, was 
mir gefällt und mich interessirt. Zunächst aber muss ich Ihnen 
von einigem erzählen, was Sie heute nicht sehen werden. Die 
heutige Schau ist nur beschickt und besucht von den Vornehmen 
und Reichen. Es giebt aber auch Ausstellungen für die Geringen 
und Armen und das ist eine wirklich erfreulich^ Seite der 
Sache, mit der ich gerade einen Fremden gern bekannt machen 
möchte". 

„Ganz in der Nähe von hier, in Brompton in der Pfarrei 
von Holy Trinity, wird alljährlich eine Schau gehalten, auf der 
nur Kinder aus der arbeitenden Bevölkerung ausstellen. Es 
sind zwei Klassen gebildet, die eine von solchen Blumen, 
welche seit zwei Monaten in des kleinen Ausstellers Besitz sind, 
die andere von solchen Pflanzen, welche schon im vorigen Jahre 
in der ersten Klasse erschienen waren und inzwischen ein 
Jahr lang in der Pflege desselben Kindes sich befunden haben. 



Die Bhitnenaussteüungen. 11 

Die Pflanzen der ersten Klasse werden den Kindern geliefert 
und die Identität wird von einem Damencomit6 festgestellt, 
welches die Kinder in ihren Wohnungen aufsucht und die 
Topfe mit einem Siegel versieht. Jedes auszustellende Loos 
enthält drei Pflanzen. Fuchsien, Pelargonien, Balsaminen 
blühendes Immergrün und Lysimachia Mummularia, das Pfennig- 
kraut, sind die hauptsächlichsten Arten. Sie glauben nicht, 
welche schone, kräftige, gut gehaltene Pflanzen oft in einem 
Jahre in den kleinen dürftigen, sonnenarmen Wohnungen 
gezogen werden. Noch erfreulicher aber sind die erwartungs- 
vollen, leuchtenden Gesichter der Kinder, der Jubel der Preis- 
gewinner und schliesslich die Fröhlichkeit aller, wenn sie nach 
der Preisvertheilimg von den Damen bewirthet werden. Die 
Preise bestehen in Büchern und hübschen nützlichen Gegen- 
ständen für den Gebrauch der Kinder selbst; nicht in Geld, 
das würde leicht in die elterliche Tasche und von da in den 
— „Barroom" wandern. Es ist ein Sonnentag im Leben dieser 
Kleinen, dessen Abglanz, denke ich, bei vielen so bald nicht 
erlischt. 

„Im Osten von London besteht eine Blumenausstellung nur 
für Arbeiter, und zwar fiir solche, die innerhalb der Stadt 
wohnen. Dadurch erklären sich folgende Preise: für die beste 
Gruppe von Pflanzen, gezogen in London innerhalb eines 
Radius von drei (englischen) Meilen vom Generalpostamt (nahe der 
St. Paul's Kathedrale); oder bei ausgedehnterem Wettbewerb: 
für Pflanzen, gezogen innerhalb acht Meilen von Charing Gross. 

„Und innerhalb dieses Radius erhalten auch die Kinder der 
Elementarschule wieder besondere Preise: für die besten Sträusse 
wilder Blumen. 

„Man beabsichtigt hierbei, durch die Anregung des Sinnes 
für Blumenzucht etwas Luft, Licht und Sauberkeit in die 
ärmlichen Wohnungen zu bringen und zugleich dort den leider 
so engen Kreis der häuslichen Lebensfreuden ein wenig aus- 
zudehnen. Es steckt darin also ein Stückchen praktischer 
Armenpflege: nicht viel, aber — die kleinen Bäche machen 
den grossen Strom". — 

Wir waren inzwischen eingetreten und wanderten die 
Tische entlang, auf und zwischen denen sich die buntesten 
Farben drängten. Plötzlich blieb Mr. F. vor einer Abtheilung 

Ompteda, L. t. Bilder. 8 



114 



Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 



Stehen, die verschiedenartige, schmale und breitere, niedrige 
Behälter von Holz, Korbgeflecht und Metall umfasste, besetzt 
mit einer reichen Auswahl kleiner Blumen und Zierpflanzen. 

„Sehen Sie hier diese verschiedenartigen Kästen", bemerkte 
Mr. F., „sie schliessen sich gewissermassen an das eben 
behandelte Capitel von der Blumenzucht der Armen, in der 
grossen Stadt an: es sind sogenannte Balcon- und P'enster- 
gärtchen. Das ist eine englische Specialität, auf die wir wirk- 
lich Ursache haben stolz zu sein. Wie hübsch sind diese 
einfachen Zusammenstellungen Von Levkojen, Reseda, Vergiss- 
meinnicht, kleinen Gummibäumen und Wälschkom, umschlungen 
von wildem Wein und Epheu. Solche Fenster- und Balcon- 
zierden sind nicht blos ein Luxus der wohlhabenden Leute; 
ich bin schon oft durch derartige irische bunte Blumengruppen 
in den schmutzigsten, trübsten Strassen von London überrascht 
worden". 

Wir unterzogen jetzt das ausgestellte Obst einer kurzen 
Besichtigung. Unter den Trauben sind der grosse Black 
Hamburgh und der grüne Foster Seedling in dieser Jahreszeit 
hauptsächlich vertreten. Die einzelnen Trauben sind über 
30 Centimeter lang, die Beeren haben die Grosse einer 
mittleren englischen Stachelbeere. Diese vollkommene Aus- 
bildung wird wesentlich mit dadurch erreicht, dass man aus 
der Traube die Hälfte der Beeren, wenn diese die Grrosse 
einer starken Erbse erreicht haben, mit einer feinen Scheere 
ausschneidet. Was sonst noch geschehen muss, um zu diesen 
Dimensionen zu gelangen, darüber haben wir schon in den 
Treibhäusern der Dell einigen Aufschluss erhalten. Indessen 
wachsen solche Prachtstücke nicht allein in den Treibereien 
reicher Privatleute, sie werden auch viel für die Märkte 
gezogen und sind schon im April in Coventgarden \yie in den 
Obstläden von Piccadilly und Regent'street käuflich; — für 
Jedermann? Schwerlich! Im April, in der Zeit \vo die Season 
und die eleganten Dinners beginnen, wird eine solche Traube 
erster Grösse, Güte und Schönheit mit 15 bis 20 Mark für das 
Pfund bezahlt! 

Ebenso erzielt eine der neben ihnen ausgestellten Pfirsiche: 
Stirling-Castle, Early Louise (Rivers) und Nectarine Einige, 



Die Blumenausstellun^en, 115 



•ö 



zuerst 8 bis lo Mark und später immer noch 5 Mark, wenn 
sie erster Grösse, schön gefärbt und ohne jeden Makel sind. 

Dann folgen sehr achtungswerthe Erdbeeren, riesige dunkle 
Kirschen (von der Königin aus dem Küchengarten zu 
Frogmore gesendet) und zum Schlüsse erstaunen wir noch über 
zwei Gurken mit dem anziehenden Namen: „Zart und echt* 
Tender and true. Sie sind grün, ganz grade gewachsen, glatt^ 
vollschäftig und jede gegen 90 Centimeter lang. 

Mr. F. zog mich weiter. 

,JH[alten wir uns hier nicht auf*, sagte er, „das sind ganz 
gewöhnliche Dinge. Ich will Ihnen jetzt ein ferneres Capitel 
unserer »high life« Blumenzucht aufschlagen, das Sie ganz gewiss 
noch nicht studirt haben; es ist die Lehre von den Knopflochr 
sträuschen, den Buttonholes. Sehen Sie sich einmal diese lange 
Reihe von kleinen Sträuschen und einzelnen Blumen an; man 
könnte an ihnen den Standpunkt und Charakter der Leute er- 
kennen je nachdem sie die verschiedenen Typen wählen und 
tragen. Hier dieser volle Paul N6ron und Mar^chal Niel bezeich- 
nen den Rosenfanatiker und Züchter, der sich gewissermassen 
das Grosskreuz seines Hausordens selbst anheftet; der gebildete 
Gentleman zieht stets jene würzig duftende eben aufbrechende 
Knospe der Theerose oder jene bescheidene Noisetterose vor. 
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Wahl des Blattes auf dem 
die Blume ruhen soll. Hier sehen Sie meistens Adianthum- 
zweige; das ist allerdings die neueste feinste Mode aber eine 
Veriming des Geschmackes; man glaubt jetzt, Adianthum 
gehöre in jedes Knopfloch wie Petersilie auf jede Schüssel 
mit kaltem Fleisch. Die allein richtige, weil natürliche Unter- 
lage ist das Blatt der Rose selbst. Alle diese gekünstelten 
Bouquets mit Orchideen u. s. w. sind selbstverständlich ver- 
werflich »snobbish«. Jetzt kommen wir zum Kapitel von der 
Farbe der Ros^. Für den schwarzen Abendanzug ist leicht 
gewählt, da passen dunkle und helle, weisse und gelbe Knospen. 
Aber der richtige Rosenschwärmer trägt seine Rose den 
ganzen Tag über. Er schneidet sie sich selbst, Morgens vor 
dem Frühstück, ehe er zur Stadt fahrt. Nun denken Sie an 
alle die Farbennüancen unserer jetzigen Morgenanzüge, von 
gelbgrün bis blaubraun, das macht diese Frage äusserst 
complicirt. Indessen man hat sie dennoch gelöst, man hat die 

8* 



116 Englische Landsitze, Gärten und Gärtner, 

, Sache in ein System und in eine Tabelle gebracht, für jede 
Schattirung sogar zwei Farben. Auswendig weiss ich es 
nicht mehr, aber Sie können die ganze Weisheit im Gardener's 
Chronicle nachlesen". 

Ich war sehr dankbar für den bibliographischen Nachw^eis 
und so schieden wir endlich von allen diesen Herrlichkeiten. 
Hungrig und müde — ich für mein Theil jedoch sehr befriedigt 
und reich belehrt — verlassen wir die Ausstellung durch die 
breite Gallerie, die den Garten g^en Osten abschliesst und 
treten in das Hauptgebäude ein. 

Zu meiner angenehmsten Ueberraschung stehen wir hier 
plötzlich in einem grossen, kühlen, luftigen Gartensaale vor 
einer Reihe von Tafeln, zierlich gedeckt und mit Glas, Blumen, 
Früchten reich geschmückt. 

Leider nicht zu unserer eigenen Leibesstärkung und Er- 
frischung! Wir sind in die Klasse der Preise für „Tafel- 
decoration" eingetreten. Aber auch ohne persönliche Be- 
ziehungen ist der Anblick erquickend und erfreulich. 

In der Aufstellung des Obstes finden wir alle soeben 
gemachten Bekanntschaften wieder. Auf einem der Frühstücks- 
tische sind die Früchte leicht und natürlich um den Fuss und 
Stamm einer Palme gelagert. 

Die Tischaufsätze der Mittagstafeln bestehen nur aus 
geschliffenem Kry stallglase; höhere und mittlere Vasen und 
Schalen, umgeben von niedrigen, schmalen, langen, in S Form 
oder ähnlich gewundenen Glasbehältem. 

Zunächst vor uns haben wir eine grosse Tafel, augen- 
scheinlich' für ein Staatsdinner bestimmt; Teller und Gläser 
sind nicht aufgestellt. Im Centrum der mittleren Längslinie 
steht eine leichte gefiederte Palme, zu ihren Seiten zwei 
trompetenförmige Glasvasen, die aus geräumigen, dicht mit 
Blumen gefüllten Schalen schlank emporsteigen. Nach den 
Flügeln zu folgt je eine kleinere Vase. In allen Gefassen 
bunte Blumen, deren Feuer durch leichtes Blätterwerk abgetönt 
wird. Wir erblicken eine reiche Abwechselung von : Orchideen, 
Wasserlilien, Cacteen, Anthurien, rosa Pelargonien, Gloxinien 
und kletternden Farren. 

„Es sieht etwas überladen aus", erläuterte Mr. F., „aber 
diese Decoration ist eigentlich für eine doppelt so grosse Tafel 



Die Blumenausstellungen, 117 

bestimmt; dann fallt das Gedränge von glitzerndem Krystall 
und gehäuften Farben besser auseinander. Betrachten wir uns 
einmal die kleinen Tische**. 

Es waren ihrer etwa zehn; völlig mit Tellern, Gläsern und 
silbernen Armleuchtern ausgerüstet. — Beschäftigen wir uns 
beispielsweise mit demjenigen Tische etwas eingehender, der 
durch den ersten Preis ausgezeichnet worden war. 

Das Mittelstück ist eine schlanke trompetenformige Vase; 
sie steigt empor aus einer Hülle von vier Farn- und vier 
Caladiumblättern; darin befinden sich weisse Campanulas, kirsch- 
rothe Begonien, gefiederte Gräser und Famzweige. Die 
Unterschale ist gefüllt mit drei weissen Cactusblüthen, drei 
Büscheln aus rothem Geranium, neun weissen Campanulas und 
Frauenhaarfarren; um den Stamm der Vase schmiegt sich ein 
kleiner, dunkelblättriger Zweig von Cissus discolor. Diese grosse 
Vase ist umgeben von vier kleineren, ebenfalls trompeten- 
formigen. In jeder steht eine Esche veria, eingefasst von 
blühender Deuzia grazilis, Zittergras und den Blättern der 
scheckigen Spiräa ulmaria. In den schmalen S förmigen Glas- 
gefassen, die in verschiedenen gefälligen Figuren rundumher 
laufen, wechseln grosse dunkle Stiefmütterchen mit rothen und 
weissen Marienröschen und Vergissmeinnicht, hie imd da unter- 
brochen durch dunkle Epheublätter. 

„Das lobe ich mir**, rief Mr. F. erfreut, „das ist wirkliche 
Kunst! das ist so heimlich und natürlich in seiner raffinirten 
Einfachheit, als ob die Töchter des Hauses das ganze Material 
auf dem Spaziergange in Wiese und Wald gesammelt hätten; 
die schönste Wirkung ist hier erzielt mit den einfachsten Mitteln. 
Fast alle die anderen Tische sind überladen mit gedrängten 
hochfarbigen Blumenmassen!** 

Vor jedem Sitze steht abwechselnd ein schöner duftender 
Handstrauss für die Ladies imd ein vornehmes Knopfloch- 
sträusschen für die Herren. 

Diese Ausstattung des Tisches ist frisch, zart und doch wirkungs- 
voll glänzend durch die Reflexe der im Krystallglase unendlich 
gebrochenen Lichtstrahlen. 

Der Engländer legt ein sehr grosses Gewicht auf die Ver- 
zierung seines Mittagstisches mit Blumen, da die echt nationale 
Tafel das Auge des Gastes, nicht, wie bei uns, von Anfang an 



118 Englische Landsitze , Gärten und Gärtner. 

durch die Früchte und Süssigkeiten des Nachtisches erfreut. 
Nach dem Gemüse, dem Nachfolger des Bratens, wird diese 
Blumenherrlichkeit mit allen Weingläsern und dem Tischtuche 
abgeräumt. Unter dem letzteren erscheint die glatte Fläche 
des schweren alten mahagoni Speisetisches, je älter x desto 
dunkler, desto schöner, und nicht eher gilt er als zur Vollendung 
gereift, bevor die Platte nicht durch zwanzigjähriges Bürsten 
und Reiben spiegelblank und beinahe schwarz gearbeitet ist 

Die freie Tafel wird rasch und gewandt mit ausgewähltem 
Obste und den nationalen Süssigkeiten aus allen Welttheilen 
besetzt; jeder Gast erhält drei frische Gläser und mit dem Käse 
hebt eine ganz neue Schlacht an; der Nachtisch. Die Damen 
nehmen an diesen Bestrebungen noch einige Zeit Theil, dann 
werden sie vom Hausherrn mit formlicher Höflichkeit hinaus- 
geleitet Alsbald schliessen die Herren zusammen und es beginnt 
der Kreislauf der drei grossen Krystallflaschen, gefallt mit 
Bordeaux, Portwein und Sherry, die in silbernen, mit grünem 
Flanell gefutterten, Untersätzen geräuschlos links herum von 
Nachbar zu Nachbar gleiten. In alten englischen Häusern 
werden diese drei »Decanters« auch wohl auf kleinen silbernen 
Wagen rastlos auf der Tafel weiter gerollt. Zwischen Ingwer 
und Nüssen entspinnt sich ein zwangloses, durch die vorbei- 
ziehenden Flaschen stets angefrischtes Gespräch, fast immer 
über Tagespolitik, an welchem der fremde Gast, im fremden 
Idiome, nur zurückhaltend Theil nimmt. Statt dessen überlässt 
er sich gern, in der wohlwollenden Stimmung des „Afterdinner", 
allerlei volkswirthschaftlichen Betrachtungen, zu denen Ort imd 
Gelegenheit ihn anregen. Er w^eiss vom Aussteller in South 
Kensington, dass die Blumengamitur des heutigen Dinners so 
etwas wie vierhundert Mark kostet; er addirt dazu im Stillen 
den Preis der vor ihm aufgethürmten Kalebstrauben und der 
Pfirsichpyramide, die jene hohe Schale füllt, und sagt sich als 
Facit: „welch' ein reiches Land, in dem Hunderte von Haus- 
haltungen, die zur Season in London zusammen strömen und 
dort glänzende Gastfreundschaft üben, in der Lage sind, die 
Blumen und das Obst für eines ihrer Dinners mit fünf- bis sechs- 
hundert Mark zu bezahlen". 

Treten wir dann später in die Drawingrooms um neben 
den Damen den Thee zu nehmen, so sehen wir auch diese 



Die Blumenaussteüungen. 119 

Räume reich mit seltenen und stets frischen Pflanzen geschmückt. 
Wir rechnen diesen Posten zu den vorigen. Endlich gedenken 
wir der Hunderte von Blumenhäusern und Wintergärten auf 
den unzähligen grossen und kleinen Landsitzen. 

Wir Summiren — 

Dann gelangen wir wohl auf dem Heimwege, auch zu 
einigem Verständnisse über den Umsatz und die Bilanz der 
grossen Handelsgärtner, deren riesige Betriebsanlagen zu Hause 
und deren kostspielige Schaustücke in den Ausstellungen uns 
mit bewunderndem Staunen erfüllt hatten. 



Die 



Trinkkrankheit in England. 



Wir hatten» uns während des ganzen Vormittags auf der 
hohen Fluth des Citygedränges treiben lassen, deren unwider- 
stehliche Wirbel uns von St. Pauls Kathedrale bis zur Bank 
und weiter durch Lombardstreet und Gast Cheap, wo in der 
klassischen „Boar's Head Tavem" noch immer Prinz Heinz mit 
dem dicken Sir John Sect trinkt, bis nach Great Towerstreet 
hinabspülten. Dann waren, unter der belehrenden Führung 
des würdigen Beefeaters, der noch heute die Uniform der 
Leibgarde Heinrichs VIII trägt, die blutigen Erinnerungen 
der seltsamen alten, jetzt vielleicht etwas zu sauber und 
nüchtern gehaltenen Zwingburg Londons, des Towers, in langer 
Reihe vor uns aufgestiegen. "So verlangten Leib und Seele 
mit vollem Rechte die Ergänzung ihres stofflichen Bindemittels 
in der Gestalt eines guten Steaks und einer Pinte (Y2 Liter) 
des berühmten Londoner „Bitter*'-Bieres. 

Aber wo einkehren? Zeit ist Geld für den Reisenden, 
zumal in London. Da unsere Pläne für den Nachmittag uns 
noch weiter östlich führen sollten, so war das weitbekannte 
Royal Hotel de Keyser's in Blackfriars ausser Frage, ebenso 
lag Krehl, in Colemanstreet hinter der Bank, wo die in den 
Citygeschäften arbeitenden Deutschen sich der Kölnischen 
Zeitung und des Kladderadatsch zu ihrem hastigen Lunch 
erfreuen, zu sehr aus dem Wege. 

„Ich kenne wohl hier in der Nähe ein Unterkommen", 
sagte mein Begleiter zögernd, „wo ich selbst schon eingefallen 
bin, wenn ich im Customhouse zu thun hatte; aber ich weiss 
nicht: ob ich Sie hineinführen soll? es ist ein »Public house* und 
die Gesellschaft sehr gemischt". 



124 Die Trinkkrankheit in England. 

„Ich bin nicht nach London gekommen", versicherte ich, 
„um nur Rotten Row, den Travellers* Club oder die Schreckens- 
kammer in Madame Tüssaud's Wachsfigurenkabinet kennen zu 
lernen; also lassen Sie uns getrost in das Public house ein- 
dringen«. 

Wir befanden uns bald in einem hofartigen Sackgässchen 
zwischen Mark Lane und Mincing Lane, den Sitzen der Kom- 
borse und des Importes der Colonialwaaren; durch eine enge 
Hausthür traten wir in einen feuchten, niedrigen, mit Fässchen 
und Schankgeräthen gefüllten Gang, der uns an eine innere 
schmale Thür führte. Verworrenes Geräusch durcheinander 
redender Stimmen und klappernder Zinngeräthe strömte uns 
warm entgegen, eingehüllt in veraltete Speisegerüche und 
dichten Tabaksqualm. Ein niedriger Raum nimmt uns auf, 
dicht mit Männern gefüllt, welche lebhaft einen hufeisen- 
förmigen Schanktisch, die „Bar", umdrängen. Alle eilfertig, 
stehend, trinkend und rauchend, nur wenige hastig eine Fleisch- 
speise verschlingend. Eine handfeste, derbe Gesellschaft aus 
dem umliegenden Babel der Comptoire, Magazine, Waaren- 
speicher, aus den mehr als zweitausend Beamten des Custom- 
house und den Interessenten des benachbarten Fischmarktes 
vor Billingsgate; flotte junge Commis, Makler und andere 
kleine Geschäftsleute, breite, schwielige, bestaubte Arbeiter. Inner- 
halb des Hufeisens hantirt der Wirth mit Frau und Gehülfen; 
an der Rückwand thürmt sich ein hoher offener Schrank auf, 
unten gefüllt mit Fässchen, weiter oben dickbäuchige Flaschen, 
Steinkrüge und zinnerne Kannen. Ein erstickender, trüber, 
heisser Brodem erfüllt und verschleiert den Raum; wir eilen 
eine kleine Wendeltreppe hinan, um dort vielleicht freier zu 
athmen, wenigstens einen Tisch, Stuhl und etwas Raum fiir 
unsere Ellenbogen zu gewinnen. Oben gelangen wir in ein 
schmales, schmuckloses Zimmer, wo wenige stille Gäste, auf 
Holzbänken an nackten Tischen frühstücken. — 

Während wir hier unser etwas zähes Steak nebst den 
riesigen Wasserkartoffeln mit einer der brennend scharfen 
nationalen Saucen würzten und daneben dem vortrefflichen 
„Bitter" aus der berühmten Brauerei von Bass und Co. zusprachen, 
sagte mein Begleiter, jetzt ein Londoner, aber von deutscher 
Herkunft: 



Die Trinkkrankkeit in England, 125 

„Sie werden doch etwas erstaunt sein über den Bar Room 
unten. Auch in Deutschland haben wir, wie ich mich recht 
wohl erinnere, Bierkeller, Kaffeehäuser und Restaurationen, in 
denen Reinlichkeit, Luft und gute Manieren, zu wünschen 
übrig lassen, aber die dortige Art der Consumtion ist doch 
eine völlig andere; ich meine: sie ist weit gemüthUcher. 
Sehen Sie, wie hier ein Jeder rastlos ein- und ausgeht; keine 
Tische und Stühle, keine Zeitungen, keine frische Luft, kein 
Domino; so ungesellig wie nur möglich. Der Branntwein 
verdrängt das Bier, namentüch in den Abendstunden. Auch 
kommen die Leute nicht nur ein Mal, wie bei uns, zum Früh- 
oder Abendschoppen. — — 

„Beides freilich", schob ich ein, „auch keine löbliche Ge- 
wohnheit, für Jung und Alt. Besonders der Frühschoppen 
wirkt so merkwürdig verdummend; das hat wohl in den soge- 
nannten ,gemüthlichen* Biergegenden unseres lieben Vaterlandes 
ein jeder, an sich selbst — und anderen, erfahren". 

„Aber am Abend?" — fragte mein, über diese veralteten 
Anschauungen etwas verwunderter Begleiter zögernd und halb 
entschuldigend. 

„Das mag für junge Leute noch hingehen, vielleicht ist 
es gar ein nothwendiger Behelf*, gestand ich halbwillig zu, 
»jedoch der Hausvater sollte das Geld, das er allabendlich in's 
Wirthshaus trägt, auf seine Familie verwenden. Dabei würde 
nicht nur der Wohlstand, es würden auch Geselligkeit, Erziehung 
und Familiensinn entschieden gewinnen". 

„Nun ja", fuhr mein Begleiter fort, „es ist auch bei uns zu 
Hause wohl nicht alles wie es sein sollte; aber hier zu Lande 
gehen die Menschen während des ganzen Tages regelmässig 
ab und zu; sehr bald wird ihnen dann das Leben am Schank- 
tische zur Gewohnheit und zum Bedürfnisse. Uebrigens sind 
wir* hier noch in einem der anständigsten Locale, man sieht 
nur Männer und jetzt um Mittag noch keine Betrunkene. Noch 
überwiegt das Bier. Anderswo und Abends würden Sie ganz 
andere Bilder vom englischen Bar Room und von den traurigen 
und furchtbaren Wirkungen des Gin erhalten". — 

Wir brachen auf und verweilten während einer kurzen 
Ruhepause, in der reineren Luft des grünen Trinity- Square; 
jetzt ein friedlicher schattiger Platz, einst ein Theil des blut- 



126 Die Trinkkrankheit in England, 

getränkten Bodens von Towerhill. Denn hier fanden während 
mehrerer Jahrhunderte die Hinrichtungen der Gefangenen des 
Towers statt. Nur für die Königinnen und wenige andere 
bevorzugte Personen stand der Block im Tower selbst 

Durch diese Rast erfrischt, zogen wir Towerhill hinab und 
den London Docks zu. Während einiger Stunden fesselte uns 
hier das grossartige Leben und Treiben in und an den Schiffen. 
Dann stiegen wir in die endlosen Weinkeller hinunter. Wie 
in einem unabsehbaren Bergwerke streckten sich die dunklen 
w^eiten Räume und die geraden Linien der schwach glimmenden 
Oellämpchen, welche die weiten Strassen zwischen den Wein- 
fassem bezeichnen, nach allen Seiten rings um uns hinaus. 
Eine Wachsfackel in der Hand, durchmassen wir diese, mit 
fremden, edlen Weinen in unzähligen Gebinden gefüllten 
Hallen; fast bis an unsere Kniee reichte die mit Kohlensäure 
geschwängerte Luftschicht, in der die, im Weindunste rothlich 
scheinende, gesenkte Fackel zu verlöschen drohte. Ueber uns 
traten am niedrigen, dunkelen, feuchten Gewölbe die seltsamen 
tief herabhangenden Fungusgebilde hervor, die mich beim 
ersten Anblicke lebhaft an die phantastischen Tropfsteinformen der 
fränkischen Jurakalkhöhlen erinnerten. Betrachtet man sie 
näher, so sind es lange, rankige, klebrige Wuchergebilde, zu 
Guirlanden verschlungen, hie und da zu weichselzöpfigen 
Klumpen geballt. Ich bat, mir eine Probe dieses gespenstischen 
Gewächses mitnehmen zu dürfen, aber der Führer schlug 
meine Wunsch rund ab. Es soll nämlich ein Aberglaube damit 
verknüpft sein, in Beziehung auf das Blühen und Reifen des 
Weines unter diesem in der Finstemiss vegetirenden Schutz- 
dache; daher hüten die Küfer die Pflanzen ängstlich, als wären 
sie die Wohnstätte eines guten Hausgeistes. 

Zu unserem Heile gedachten wir vor diesen einladenden 
Fässern, gewisser Erfahrungen, die bei früheren Keller- 
proben im schönen Rheingau erworben waren, und machten 
von unserem »Tasting order«, der Erlaubniss zum Kosten 
des vorzüglichen Portweins oder Sherry, welche meinem 
Wegiveiser ein befreundeter Weinhändler ausgestellt hatte, 
nur den allerbescheidensten Gebrauch. 

Erst mit der sinkenden Sonne stiegen wir wieder zum 
Tageslicht empor und betraten den grossen Hof zwischen dem 



Die Trinkkrankheit in England. 127 

Eingange der Docks und der stark dampfenden >Pfeife der 
Königin«, dem grossen Schornstein in dem alle verdorbenen, 
gefälschten und confiscirten Waaren, namentlich Tabak, ver- 
brannt werden. Der weite Platz war dicht gefüllt mit ge- 
drängten Gruppen von Arbeitern die hier ausgelohnt 'wurden- 
Etwa dreitausend Männer samriieln sich an jedem Morgen vor 
dem Tliore der London Docks: jeder Geschäftsherr miethet 
die ihm für den Tag nothigen Kräfte; gegen Abend werden 
sie ausgelohnt und vor Dunkelwerden müssen die Docks von 
allen Fremden geräumt sein. 

So strömten diese verschiedenen Menschenknäuel jetzt 
gleichzeitig hinaus und wir folgten dem dichten Schwärme der 
kraftvollen, rauhen, wilden, aber auch verwüsteten und unheim- 
lichen Gestalten. Langsam zogen wir so wieder Towerhill 
hinan, links die thurmhohen Mauern der St. Katharine Docks, 
rechts eine lange Reihe schmaler Häuser, deren untere Geschosse 
fast ausschliesslich von Schanklocalen eingenommen werden: 
grosse und kleine, saubere und schmutzige, theils noch dunkel 
theils in eben aufflammender Gasbeleuchtung. An den Thüren 
blieben die Arbeiter in Haufen stehen, zählten ihr Geld, Weiber 
gesellten sich zu ihnen, mit und ohne Kinder; nach und nach 
vertheilten sich alle in die lange Reihe der Bier- un^ Brannt- 
weinschänken, aus denen bereits verworrener Lärm hervorquoll. 
Still betrachtete ich dieses traurige Schauspiel; die systematische 
Versuchung und Ausplünderung hier so unmittelbar und unaus- 
weichlich an den Weg gelegt. Ein giftiger Pfuhl, in dem die 
Väter und die jungen Männer schon mit Behagen schwimmen 
und, wie sie selbst hineingezogen wurden, nun Frauen und 
Kinder nach sich ziehen. 

„Wollen wir nicht einmal eintreten?" fragte mein Begleiter. 
„Hier sehen Sie die Branntweinpest in ihrer vollsten Blüthe; 
es giebt wohl nirgends in England furchtbarere Zustände als 
hier in den Umgebungen der Docks. Zu der sesshaften, hart 
arbeitenden rohen und gesetzlosen Bevölkerung an den beiden 
Themseufem gesellen sich die frisch ausgelohnten Mannschaften 
der unzähligen, einlaufenden Seeschiffe; weisse, gelbe und 
schwarze Menschen, von allen Winden zusammengefegt, die 
sich, wie die wilden Thiere aus den Käfigen, in den wüsten 



12o Die Trinkkrankheit in England, 

Rausch der langentbehrten Freuden und Genüsse des uner- 
schöpflichen Welthafens stürzen". 

Wir traten in ein geräumiges Schankzimmer, in dessen 
Hintergründe eine dichte Menschenmauer von Männern und 
Weibern die Bar umdrängte, trinkend, schreiend, lachend, 
streitend. Alle in ihrer Art Bilder der Verwahrlosung, mehr 
oder minder gezeichnet mit der Blässe und Röthe gewohnheits- 
mässiger alkoholischer Ausschweifung. 

„Hier werden Sie kaum eine für Sie geniessbare Er- 
frischung finden", flüsterte mir mein Führer in diesen Ort der 
Verdammten zu, „hier giebt es nur Gin mit 65 Procenten 
Alkohol, das Liter kostet 3 Mark. Das mildere Getränk, ,Gin 
und Wasser* hat immer noch 50 Procente Alkohol imd kostet 
2 Mark 50 Pfg. Für schwache Gemüther und verzärtelte 
Gaumen • giebt es hier auch ein scharf gewürztes und stark 
alkoholisirtes sogenanntes Ingwerbier**. 

Im vojderen Theile des Raumes, wo wir standen, sassen 
auf Bänken und Fässern einzelne Gruppen, die jetzt anfingen uns 
zu beachten. Wüste Gesellen, bleiche hagere Gesichter, schmale 
Trinkerstimen, schlaffe Züge, blutunterlaufene gläserne Augen; 
narbig, einäugig, verstümmelt, von Schmutz starrend — noch 
wüster ihre bedenklichen Begleiterinnen. Ihr Willkommen glich 
etwa dem wohlwollenden Ausdrucke, mit dem der Stier dem un- 
gebetenen Besucher seiner Weidekgppel entgegenstarrt, bevor er 
anläuft. Jeder Fremde, der das Aeussere der besseren Stände 
trägt, ist hier verdächtig, mindestens lästig. Mir drängte sich 
entschieden das Bedürfniss nach einem rechtzeitigen Rückzuge 
jenseit des Thorwegs der Koppel auf Hat man sich jedoch 
durch einen unbedachten Schritt vorwärts in eine falsche 
Stellung gebracht und möchte nun gern mit guter Manier 
wieder heraus, ohne seinen Fehler einzuräumen, so kann man 
bekanntlich ziemlich sicher darauf rechnen, nochmals etwas 
Ungeschicktes oder Lächerliches zu begehen. Auch ich gerieth, 
fürchte ich, in diesen Fall. 

Ich zog nämlich möglichst unbefangen meine Taschenuhr 
heraus und stellte sie nach dem grossen Zifferblatte über dem 
Schanktische, als ob dieses Geschäft der eigentliche Zweck 
meiner Anwesenheit sei. Dann verliess ich mit gemessener 
Würde — wie ich hoffe — das Lokal. 



Die Trinkkrankheit in England, 129 

Als wir draussen standen, fragte mein Begleiter lächelnd: 
„es war Ihnen wohl nicht ganz heimlich da drinnen?'* 

„Sie meinen: ob ich Furcht hatte? — wenigstens war ich 
auf dem besten Wege dazu. Das Schauspiel an sich war mir 
ekelhaft und grausig; nebenbei überkam mich das Gefühl, 
persönlich unwillkommen zu sein und es drängte mich, dem 
thatsächlichen Ausdrucke dieser bedenklichen Stimmung zeitig 
vorzubeugen imd auszuweichen". 

„Nun", beruhigte mich mein Gefahrte, „in jetziger Tages- 
zeit hat es wohl keine Gefahr, falls man sich still verhält; 
einige Stunden später jedoch, wenn der grösste Theil dieser 
Schänken mit mehr oder weniger viehisch betrunkenen Männern 
und Weibern gefüllt ist, würde ich, ohne die Begleitung eines 
Policeman, Sie nicht dort hinein, nicht einmal durch diese 
Strassen führen. Schon mancher Fremde ist hier Nachts ver- 
schwunden und später ausgeraubt in der Themse aufgefischt 
oder, um die Sache »aktenmässig« zu erledigen, in der Polizei- 
liste als »heimlich an Bord eines Westindienfahrers gegangen« 
aus der Reihe der Lebendigen gelöscht worden". — 

Wir wanderten inzwischen die lange, enge, dunkle Thames- 
street hinauf, an deren Eingange die endlosen Gebäude des 
Custojnhouse und der neuen eleganten Fischhalle von Billings- 
gate hervorragen, einer sehr vergrösserten Nachahmung der 
Loggia dei Lanzi und berühmt als die Pflanzschule des ur- 
wüchsigen, kernigen „Billingsgate-Englisch", eine der mannig- 
fachen Kraftleistungen der hier regierenden Fischdamen. Die 
ganze Gegend ringsum ist eingehüllt in eine ewige Dunstwolke 
von condensirtem Seefischgeruch. Nur langsam konnten wir 
uns vor\^^ärts schieben, denn Thamesstreet ist der Mittelpunkt 
des geschäftlichen Strudels. Vor jedem der hohen Waaren- 
speicher mit den engen Fensterspalten und weiten Luken 
fahren am schweren Krahne die rasselnden Ketten auf und 
nieder und beladen die cyclopischen Rollwagen, mit den 
titanischen Clydesdalepf erden bespannt. Und jetzt ist diese 
ganze lärmende Welt doppelt hastig und treibend, denn auch 
hier nahet der Feierabend. 

Es ward inzwischen dunkel und das Gas begann zu 
herrschen. 

„Sehen Sie dort?" sagte mein Führer, rechts und links in 

Ompteda, L. v., Bilder. 9 



130 Die Trinkkrankheit in England, 

die Nebenstrassen weisend, „überall Schänken! Namentlich 
verkriechen sie sich gern in die noch schmäleren Zwischen- 
gässchen, Durchgänge und Höfe. Hier ist noch Matrosen- 
quartier. Hören Sie das wüste Toben? Ein wahrer Hexen- 
sabbath. Es erinnert an den Hamburger Berg, aber hier wird 
nicht getanzt Hier ziehen die ausgelohnten Matrosen mit 
elenden Weibern, die sich an sie hängen, von einer Kneipe 
zur andern ; die verderbliche, amerikanische Sitte des „Traktirens" 
verdoppelt die Consumtion; so — und anders — werden die 
Theerjacken hier ausgeplündert, verthieren förmlich durch die, 
Tage lang fortgesetzte, alkoholische Vergiftung und endlich 
kommt das Messer an die Arbeit! — — " 

, Jetzt", unterbrach ich ihn, mich umsehend, „jetzt wird mir 
ein schauderhafter Bericht klar, den ich dieser Tage in der 
Times las, über eine Sitzung des Central-Criminalgerichtes; denn 
hier ist die leibhaftige Bühne, auf welcher die drei blutigen 
Acte spielten, die dort an einem einzigen Morgen ihre juristische 
tragische Vergeltung fanden. Solche Schauergeschichten ge- 
winnen einen eigenen, gruselnden Reiz, wenn man auf dem 
Flecke steht, wo sie verliefen. Eine rohe, schwere Verwundung 
im Rausche: fünf Jahr Zuchthaus; ein Mordanfall im Rausche: 
zehn Jahr Zuchthaus; ein Mord: Todesstrafe. Der Mörder war 
ein amerikanischer Matrose, gar nicht mehr jung, schon 34 Jahre 
alt, der im Wahnsinne fortgesetzter Alkoholvergiftung, übrigens 
aber eigentlich mit kaltem Blute, einem schlechten Weibe, mit 
dem er Tage lang umhergezogen war und das ihn völlig aus- 
geraubt hatte, während sie am Schanktische standen und zu- 
sammen tranken, unversehens mit seinem Rasirmesser den Hals 
bis zum Wirbel abschnitt. Der Mann blieb ganz ruhig am Orte 
der That, es war Nachmittags zwei Uhr, und erwiderte dem 
Policeman: „Ich that es, weil sie mich ausgeplündert hatte und 
mich nun nicht freihalten wollte!" 

„Der unglückliche Bursche, James Simms war sein Name, 
ist bereits in Newgate gehängt worden", ergänzte mein Be- 
gleiter, „und zwar: »an seinem Halse bis er todt ist«, so heisst 
es hier in den Urtheilen, mit der lobenswerthen, wörtlichen 
Genauigkeit und Vorsicht der englischen Jurisprudenz'*. 

Inzwischen waren wir bei Londonbridge an Bord des kleinen 
Dampfers gegangen, der uns rasch zum Westminster Pier 



Die Trinkkrankheit in England» 131 

brachte. Mit beträchtlichem Behagen, mit dem erquickenden, 
Oefuhle der Befreiung, wie wenn ich einer dunstigen schlammigen 
Höhle entstiegen wäre, erfreute ich mich der reineren Atmo- 
sphäre auf dem nebel- und raucherfüllten Strome, dieser ältesten 
und immer noch grossten und belebtesten Strasse der Weltstadt. 
Andere, gesundere Bilder traten vor das Auge und ihr reicher 
Wechsel verwischte die tiefen Schlagschatten des unheimlichen 
Nachtstückes, welches hinter uns versunken war. Rings um 
uns das wimmelnde Gedränge der zahllosen, vollbesetzten 
pfeilschnellen, in allen Richtungen vorüberschiessenden Dampf- 
boote; über unseren Häuptern der Donner der auf den eisernen 
Brücken hin und wieder jagenden Züge; rechts die Hunderte 
von Kirchthürmen auf der dichten unabsehbaren Fläche der 
Hausdächer, und über allen die Kuppel von St. Paul; am Ufer 
die alten Speicherhäuser mit ihren nie rastenden Krahnen; 
dann der Tempelgarten, in welchem die für England so ver- 
hängnissvollen weissen und rothen Rosen gepflückt wurden; 
darauf weithingestreckt das riesige Somersethouse, das in einem 
seiner Flügel eine ganze Universität, Kings College, ausreichend 
beherbergt. In den Kellern befindet sich eine Bibliothek kost- 
barer Riesenfolianten, wie wohl keine zweite in der Welt. 
Es sind die Archive der General-Registratur des Königreiches 
für alle Geburten, Heirathen und Sterbefälle in Grossbritannien 
und Irland seit mehr als hundert Jahren. Endlich die breiten, 
gartenartigen und doch vom städtischen Leben eng erfüllten 
neuen Themsequais, die Albert Embankments, über denen die 
eben aus tausendjährigem Schlafe erwachte Nadel der Kleo- 
patra sich verwundert umschaut, während unter ihnen die 
städtische Untergrund -Eisenbahn entlang donnert. Im Schatten 
der monumentalen reichen Gothik von Westminster Palace, 
einst die Residenz der Könige, von Edward dem Bekenner 
{1045) ^is zu Heinrich VIII. (1509), jetzt des Parlamentes, 
stiegen wir an's Land, als die erleuchteten, blau und goldenen 
Zifferblätter des Victoriathurms bereits im hellen Glänze die 
Stunde des Dinners im Westend anzeigten. — 

Es war Mittemacht geworden, als wir das Covent- Garden 
Theater verliessen, wo die Patti mit Nicolini die ausgewählteste 
Gesellschaft Londons im Troubadour begeistert hatte. Langsam 
schlenderten wir mit dem Menschenstrome Long Acre, Leicester 

9* 



132 Die Trinkkrankheit in England, 

Square und Coventrystreet entlang. Um diese Stunde sind 
auch im eleganten Westend, selbst während der Season, die 
Strassen dunkel imd einsam; die reichen Läden werden schon 
gegen acht Uhr geschlossen und heitere BoulevardkaiFees g^ebt 
es in London nicht Plötzlich fallen unsere Augen auf eine 
himmelhohe, schwarze Erscheinung, die neben dem Trottoir in 
die Nacht emporragt. Es sind die Rettungsleitem der Feuer- 
wehr, die an jedem Abende an den bestimmten Plätzen aut- 
gefahren werden. Daneben sitzen die Wächter in kleinen 
Holzhiitten, die ebenfalls allnächtlich auf Rollen herbeikommen 
und Morgens wieder verschwinden. Nur hie und da, nament- 
lich an den Strassenecken, strahlt uns Lichtglanz entgegen; 
ein unruhiger Menschenknäuel schwärmt dort, wie ein Bienen- 
volk, am weit geöffneten Eingange geräumiger, erleuchteter 
Lokale, Hohe Krystallscheiben, innen zuviel Vergoldung, 
Thüren aus mattgeschUffenem Glase, überladene Candelaber. 
Das sind die modernen eleganten Trinkhäuser, die „Ginpaläste". 
Am stärksten ist das Gedränge in Haymarket und am Eingange 
von Windmillstreet, bis vor kurzem übelberufen durch die 
bekannten Argyllrooms, eine importirte grobe Nachahmung 
von Mabille. 

Hier werden unsere Schritte gehemmt durch Ansammlungen 
armer, verlorener Menschenkinder mit getünchter Jugend und 
abgelebten Flittem, die hier, hoffnungslos und „gerichtet", in 
Nacht und Elend umherschweifen. Jeder Vorübergehende wird 
angesprochen und, falls er nicht stumm ausbiegt, durch allerlei 
zudringliche Listen, namentlich durch plötzliches Entführen des 
'Hutes, festgehalten, um die elenden Wesen in die glänzende 
Schnapsschänke, vor der wir stehen, zu geleiten und dort zu 
„traktiren". Eine dichte Menge, meistens im Nebel eines ekel- 
haften Halbrausches, strömt um uns aus und ein. Wir kaufen 
uns mit einigen Schillingen los, die sofort in den Ginpalast 
getragen und dem Moloch geopfert werden. Wir aber flüchten 
in unseren stillen Club in King Street St. James's und ruhen 
hier am Kamine in den tiefen, lederbezogenen Lehnstühlen von 
den Strapazen und Vergnügungen des Tages aus, behaglich 
eine Sodalimonade schlürfend. 

Nachdem die, uns schon von Alters her bekannte Diva 



Die Trinkkrankheit in England. 133 

und ihr neuester Gatte bald erledigt waren, sagte mein freund- 
licher Wegweiser anknüpfend an die heutigen Tagesfahrten: 

„Ja, London ist die Heimath der Contraste. Und alles 
tritt hier riesenhaft auf, so auch die Laster. Wir haben heute 
im Osten und im Westen der Metropole Blicke auf eine der 
dunkelsten Stellen des englischen Lebens geworfen. Was wir 
sahen, hat ja bereits eine traurige Weltberühmtheit erlangt. 
Die Kanzel brandmarkt es donnernd als „Nationalsünde"; die 
Politiker und Volkswirthe bezeichnen es in etwas verweltlichter 
Form als: die „Nationalkrankheit", als: „das grösste Hindemiss 
auf dem Wege der Nation zum Fortschritte und zum Wohl- 
ergehen". Die „Trinkfrage" ist eine der bedeutendsten Partei- 
fragen im Parlamente geworden, eine der unangenehmsten 
Schwierigkeiten für die jetzige Regierung. Sie beschäftigt 
einen nicht geringen Theil aller öffentlichen Meetings, sie wird 
ein Kampfruf für die nächsten Wahlen sein und eine harte 
Nuss, wohl auch ein „stumbling-stone" für manchen Candidaten! 

„Sie sagen da etwas", warf ich ein, „was mich erstaunt. 
„Wie kann ein Streit der Meinungen bestehen über die Frage : 
dass die Nation erkrankt ist und dass diese nationale Trink- 
krankheit, die ärger wüthet als die Pest, mit allen Waffen be- 
kämpft werden muss?" 

„Ein Streit der Meinungen wohl kaum", erwiderte mein 
Führer, „abÄ* ein Streit der materiellen Interessen. Und das 
sind heut zu Tage die ernsten, die am schwersten zu lösenden 
Confiicte. Wir führen ja wohl keine sogenannten Religions- 
kriege mehr? — Denken Sie nur an die vielen reichen Brauer 
und Branntweinbrenner, an die Hunderttausende von Schänk- 
wirthen in den drei vereinigten Königreichen! Reichthum ist 
Macht! In diesen Geschäften sind ungezählte Millionen, nach 
unserem Gelde: Milliarden, angelegt; geht die Consumtion 
rückwärts, so sind diese gefährdet, vielleicht verloren. Kürzlich 
wurde der jährliche Nettogewinn für 1878 der grossen Brauer- 
iirraa „Bass und Co.", deren Leistungen wir ja heute gewürdigt 
haben, unter die acht Theilhaber vertheilt; er betrug: acht 
Millionen viermal hunderttausend Mark. Etwa die 
Jahreseinahme der königlichen Civilliste und der reichsten 
Peers, der Herzöge von Westminster, Northumberland und 
Bedfort — wie man sagt. Das sind die Feldherren der Ligue. 



134 Die Trinkkrankheit in England, 

Und die Armee? In der Stadt Birmingham leben 190a 
Familien, in Manchester deren 2567 allein vom Getränk- 
geschäfte. Dort hat jedes zwei und dreissigste Haus eine 
Schankconcession; es fallt also je eine auf einhundert funf- 
unddreissig Einwohner. In Bristol hat jedes dreiundzwanzigste 
Haus eine Schanklicenz, darunter viele Schneider und Schuster, 
selbst Pfandleiher. Und sie alle kämpfen selbstredend gegen 
jede Verminderung ihres Absatzes". 

„Gewiss", räumte ich ein, „die Partei der erhaltenden 
Kräfte in dieser Frage muss ein riesenhaftes Beharrungsver- 
mögen entwickeln können: die Brauer- und Brennerfiirsten mit 
der ganzen Heeresfolge der Schänkwirthe". 

„Und die Gäste nicht zu vergessen", ergänzte der londoner 
Landsmann. 

„Seltsam ist es nur**, warf ich ein, „wie diese mächtigen 
Herren so häufig gegen ihr eigenes Interesse predigen". 

„Predigen?" fragte mein Führer verwundert, „das ist 



mir neu". 



„Nun", erklärte ich, „nicht in den Meetings der Temperance- 
•Vereine; aber wenn sie in den Zeitungen einen Brauknecht 
oder Fuhrmann suchen, so verlangen sie gewiss allemal 
einen „nüchternen" zuverlässigen Mann. Mir scheint, sie 
spotten ihrer selbst und wissen nicht: wie?" • 

„Und", fuhr der Freund fort, „die Sache hat auch noch 
einen anderen bösen Haken. Sie heisst nicht umsonst: »The 
drink difficulty«. Sie hängt in gewisser Weise mit der nationalen 
englischen Sabbathfeier zusammen, insofern als die Be- 
strebungen der Temperenzler auch in der Richtung gehen: 
am Sonntage die Trinklocale völUg zu schliessen. Nun kann 
man aber doch auf die Länge den arbeitenden Klassen nicht 
jedes Vergnügen am Sonntage entziehen; schliesst man die 
Schänken, so wird desto eher anderes geöffnet werden müssen. 
Schon jetzt klopft eine nicht unbeträchtliche, öffentliche 
Meinung an die Thüren der Museen, Bibliotheken, Theater 
und Concerthallen. Diese Milderung der strengen Sabbathfeier 
bekämpft nun wieder die streng kirchliche Partei auf das 
äusserste! Sie nennen das einen »continentalen Sonntag«. 
Darunter versteht man hier ein ziemlich confuses und ein- 



Die Trinkkrankheit in England, 135 

seitiges Zerrbild unseres Lebens am Sonntage, womit man dann 
sich selbst und seinen gläubigen Zuhörern bange macht". 

„Aber warum eigentlich?" unterbrach ich. „Gewiss will 
ich das leidige deutsche Kneipenleben, und die entsittlichenden 
sonntäglichen Tanzböden nicht in Schutz nehmen. Warum 
aber will man jene unschuldigen Vergnügungen nicht erlauben, 
die wir anderswo als naturgemäss und heilsam befördern?" 

,Ja, warum?** frug mein landeskundiger Freund zurück. 
Dann fuhr er fort: 

„Eigentlich wohl aus principiellem ConserTOtismus, um 
überhaupt nicht an irgend einer einmal bestehenden kirchlichen 
Einrichtung zu rütteln. Vielleicht gestehen, Ihnen gegenüber, 
wenige Vollblut-Engländer offen ein — jedenfalls nicht gern — 
dass der Sonntag in London nachgerade unerträglich geworden 
ist; aber sehen Sie nur die Hunderttausende, die ihm auf allen 
Wegen, zu Wasser und zu Lande, entfliehen. Zuweilen giebt 
es aber dennoch Leute, die den Muth haben, dieses öffentliche 
Geheimniss zu verrathen. Kürzlich las ich darüber in der 
Times eine Aeusserung von einem sehr angesehenen und 
wohlwollenden Manne, Mr. Clarke Aspinall, dem Coroner von 
Liverpool. „Ich kenne kein Land", sagte er, „wo die Volks- 
belustigungen so sparsam und so wenig anziehend sind als in 
England. Auf dem jetzigen Standpunkte der geistigen und 
künstlerischen Volksbildung", so heisst es dann weiter, „ist der 
Geschmack unseres Volkes so roh und ungebildet, dass seine 
Belustigungen fast nothwendig gemein werden und den 
Anstand verletzen müssen. Es ist kein richtiges Verhältniss 
zwischen der Einfuhr materieller und derjenigen intellectueller, 
ausländischer Nahrungsmittel in unsere Häfen. — Wir Aus- 
länder begreifen das alles nicht recht, ebensowenig wie vieles 
andere hier zu Lande; ebensowenig wie wir etwa die hart- 
näckige Abneigung der englischen Gesetzgebung verstehen, 
die Ehe mit der Schwester der verstorbenen Frau zu gestatten". 

„Allerdings, das ist wirklich sonderbar", stimmte ich zu, 
„und allen anderen christlichen Völkern, so viel ich weiss, 
eigentlich unverständlich. Nach unserer Anschauung ist ja die 
Schwester die berufenste und natürlichste Stiefmutter. 
Uebrigens habe ich in den, seit Jahren häufig wiederholten, 
Parlamentsdebatten innere Gründe dagegen, die mir ernsthaft 



136 Die Trinkkrankkeit in England, 

erschienen wären, kaum gefunden. Denn die Berufung auf 
das alte jüdische Gesetz reicht doch wohl nicht aus; dort, im 
Leviticus i8, i8. steht nämlich: „Dusollst auch deines Weibes 
Schwester nicht nehmen, neben ihr . . ."; dieser Vers beweist 
also zuviel, er beweist eigentlich das Gegentheil. — 

„Auch die Debatten über die Bekämpfung der Trunksucht", 
fuhr mein Führer durch London fort, „sind nicht völlig ver- 
ständlich, wenn man sich nicht dabei stets erinnert dass die 
Auflösungf des Parlamentes in nicht ferner Zeit, spätestens am 
Ende der nächsten Session in Aussicht steht. Da gehen nun 
Conservative und Liberale schon jetzt mit sich zu Rathe: wie 
sie sich die günstigste Stellung vor ihren gestrengen Wählern 
schaffen wollen? Viele Anträge und Debatten über gewisse 
wichtige und bestrittene Fragen bezwecken, schon jetzt nicht 
sowohl ein sachliches Resultat als ein Manöver für den Wahl- 
kampf. Man will sich selbst stärken und seine Gegner in 
Verlegenheit bringen. So auch bei der Trinkfrage, also der 
Frage nach den geeignetsten Massregeln, um dem allgemein 
anerkannten Uebel der übermässigen Trunksucht, der „Trink- 
krankheit" zu steuern. Die Betreibung dieser Massregeln liegt 
jetzt wesentlich in den Händen der liberalen Partei, der 
jetzigen Opposition. Ihre Stellung zu dieser Frage ist eine 
sehr vortheilhafte denn im Principe widerspricht eigentlich 
niemand: jeder wohldenkende Mann erkennt das Uebel an. 
In vielen Wahlbezirken soll sogar eine bedeutende Majorität 
vorhanden sein, die nur einen solchen Candidaten annehmen 
wird der sich für bestimmte „Mässigkeits-" wenn auch nicht 
gerade für die strengsten „Enthaltsamkeits"-Mas5regeln ver- 
pflichtet. Hier also fallen die Forderungen des Gewissens mit 
dem politischen Vortheile zusammen. Aber ebenso hoch, ja 
noch weit bedeutender wird in vielen Wahlbezirken der 
Einfiuss der Brauer und Brenner und der Schankwirthe nebst 
ihren unzähligen Kunden mit Recht geschätzt. Bei diesen fallt 
natürlich ein Candidat, der für wesentliche Beschränkungen 
ihres Absatzes oder ihrer Neigungen gestimmt hat, ohne 
Gnade durch. Im Laufe des letzten Jahres fanden vierund- 
zwanzig Nachwahlen zum Parlamente statt. Bei einundzwanzig 
Wahlen wurden von dem Candidaten bestimmte Erklärungen 
über seine Stellung zur Temperance- Gesetzgebung gefordert 



Die Trinkkrankheit in England. \oi 

und gegeben. Bedenkt man diese fatale Zwangslage, so ver- 
steht man erst die seltsame Erscheinung, dass in den letzten 
Jahren die Redner der Majorität des Unterhauses stets mit 
dem edlen Zwecke der Anträge gegen die „Trinkkrankheit" 
übereinstimmten, aber leider immer just diejenigen Mittel und 
Wege, welche grade vorgeschlagen wurden, aus allerlei 
praktischen, speziellen, technischen, finanziellen Erwägungen 
nicht vollständig zu billigen vermochten. — Da glaubt man 
denn oft eine Rede über das bekannte Thema zu hören: 
„Wasch* mir den Pelz und mach' mich nicht nass". — Sie 
sehen, für diese armen Parlamentarier ist die Trinkfrage 
wirklich eine „Trinkschwierigkeit". Was soll da ein gewissen- 
hafter Mann und praktischer Charakter, der gern wieder 
gewählt sein mochte, thun? Zu welchem Heiligen soll er 
beten? Was soll die Regiemngspartei im Ganzen thun? — 
Es ist daher höchst wahrscheinlich, dass die entscheidende 
Schlacht über die „Trinkfi*age" erst im nächsten Parlameftte 
geliefert werden wird". — 

„Auch gewonnen für die Temperenzler?" fragte ich. 

„Das scheint mir zweifellos. Die englische Nation ist in 
ihrem Kerne so kräftig und so gesund in ihren Wurzeln, dass 
sie ganz aus sich selbst den Heilungsprocess entwickelt hat. 
Das Uebel ist freilich ein sehr tief eingewurzeltes; es ist schon 
viele Generationen alt und ganz unglaublich verbreitet. Man 
hat berechnet, dass allein durch die Schanklokale in London 
die Strasse von hier nach Oxford, 75 Km., mit einer ge- 
schlossenen Häuserreihe besetzt werden könnte. — Und dabei 
bringt die Getränksteuer dem Staate jährlich etwa 650 Millionen 
Mark ein ! Wie soll sich nun ein gewissenhafter Finanzminister 
dazu stellen, wie das ersetzen? Was Wunder also, dass die 
Heilung noch aussteht, trotzdem die ersten Symptome der 
Besserung schon vor mehr denn dreissig Jahren auftraten". 

„Und wie begann es, bitte?" fragte ich weiter. 

„Der erste Keim war recht unbedeutend. Am nächsten 
war die Hilfe dort, wo die Noth am grössten war: in Irland. 
Für England bildete sich der Kern der Bewegung in Man- 
chester und jetzt ist diese „Temperance-Bewegung" unter der 
Führung des mächtigen Centralvereins, der »United Kingdom 



V 



138 Die Trinkkrankheit in England, 

Alliance«, durch die drei vereinigten Königreiche überall hin 
verbreitet". — 

„Gewiss", erwiderte ich, „auch im Auslande ist die englische 
Trinkfrage keinem Zeitungsleser völlig fremd; hat man aber 
solche Krankheitsbilder gesehen wie ich heute, dann wird die 
Frage noch ganz anders gegenständlich. Ich meine, solcher 
Augenschein muss das Interesse eines jeden reizen, dieser 
nationalen Lebensfrage, die auch bei uns in Deutschland noch 
keineswegs ausreichend beantwortet ist, näher zu treten. Sie, 
verehrter Landsmann, scheinen mir ziemlich tief eingeweiht 
zu sein?" 

„Mich hat", so schloss mein Wegweiser diese anziehende 
und belehrende Unterhaltung am Kamin, „mich hat zunächst 
die Art und Weise angezogen, in der hier gegen diesen Feind 
gerüstet und mobil gemacht wird. Sie ist völlig abweichend 
von dem Ausgangspunkte und dem Verlaufe, den solche Be- 
wTBgungen, wenigstens zu meiner Zeit, in Deutschland zu haben 
pflegten; ich meine: von oben her und officiell. Oder ist das 
jetzt etwa anders geworden?" 

„Nun", antwortete ich bescheiden, „wir haben uns doch in- 
zwischen bemüht, selbständig gehen zu lernen. Ohne einiges Irren 
und Stolpern und ohne unseren grossen wegkundigen Führer 
geht es dabei natürlich auch bei uns noch nicht vorwärts. Wir 
sind ja leider! von Urväter Zeiten her zu sehr gewöhnt: ein 
jeder „selbständig" seinen Weg schlendern und sein Princip 
reiten zu wollen. 

„Zufällig", so fuhr der Landsmann in seiner Schlussrede 
fort, „kenne ich den Secretär der »United Kingdom Alliance«, 
Mr. Barker. Durch seine Gefälligkeit habe ich mir eine ziemlich 
vollständige Uebersicht verschafft über die Thätigkeit der 
Temperenzler: in der Presse, in Vereinen, Gesellschaften, 
Meetings und im Parlamente. Ich bin dabei einer tief be- 
trübenden Erscheinung, aber auch einer Leistung von seltener 
Grossartigkeit begegnet. — 

„Indessen jetzt ist es Ein Uhr Nachts", schloss er, aufstehend, 
.,und »wir müssen's diesmal wirklich unterbrechen«. Ich schicke 
Ihnen lieber meinen Papiervorrath in Ihr Hotel; vielleicht sehen 
Sie ihn an einem der nächsten Regentage einmal durch". — 

Glücklicherweise trat diese Gelegenheit zu häuslichem 



Die Trinkkrankheit in England, lo9 

Fleisse während meines Aufenthaltes in England nicht mehr 
ein. Ich nahm daher die Papiere mit in die Heimath und will 
nun versuchen, hier eine Uebersicht ihres überraschenden, ihres 
traurigen aber grossartigen Inhaltes zu geben. 

I. Die Krankheit. 

Die englische Gesetzgebung über den Verkauf alkoholischer 
Getränke ist so aussergewohnlich verwickelt, dass selbst die 
officiellen Aktenstücke kaum ausreichen, um dieses Chaos völlig 
klar zu stellen. Lange Reihen von Gesetzen, beginnend im 
Jahre 1 504, werden aufgezählt, die den Verkauf von Wein, Bier 
und Branntwein zum besten Vortheile des Fiskus und zum 
geringsten Nachtheile für die Producenten und Consumenten 
regeln sollen. Diese Vorschriften stimmen in den drei König- 
reichen keineswegs überein, sie verbieten in Irland oder Schott- 
land was wiederum in England erlaubt ist. Bedeutende Kenner 
dieser Gesetze schätzen dieselben auf sechshundert Nummern. 
Jedenfalls kann man nicht behaupten: die Staats -Heilkünstler 
seien auf diesem Felde unthätig gewesen. 

Fragen wir also nach den Früchten dieser Thätigkeit, 
betrachten wir den gegenwärtigen Stand der Trinkkrankheit. 

Nach dem neuesten Berichte des vom Oberhause fiir deren 
Beobachtung eingesetzten Ausschusses, vom März 1879, waren 
im vereinigten Königreiche concessionirt : 

im Jahre 1860: 156,700 SchaDklokale 
• » 1870: 185,100 • 

- • I876: 216,000 

In der letzteren Zahl sind 36,000 Licenzen für den Ver- 
kauf ausser dem Hause einbegriffen. 

Grossbritannien und Irland hat 33 Millionen Einwohner, es 
fönt daher auf 150 Einwohner eine Schanklicenz. Diese 
Concessionen wurden früher ohne Zeiteinschränkung ertheilt; 
eine jede wird zwar alle drei Jahre obrigkeitlich geprüft, falls 
aber nicht gegen den Wirth bereits drei Verurtheilungen vor- 
liegen, läuft sein Licenz stetig weiter. Seit den letzten Jahren 
erst werden neue Concessionen fast nur »auf Zeit« gegeben, 
meistens auf ein Jahr, dann werden sie zwar geprüft aber fast 
stets erneuert. Als wesentlicher Punkt des ganzen Systems 
is>t hervorzuheben : dass die Bedürfnissfragein grossen Städten 



140 



Die Trinkkrankheit in England, 



gar nicht, auf dem Lande im allgemeinen nur sehr beiläufig 
erörtert wird. In der neueren Gesetzgebung ist ein gewisses 
Schwanken und Tasten bei diesem Concessionswesen nicht zu 
verkennen. Man hat gesetzliche Einschränkungen nach und 
nach in den verschiedensten Formen angewandt, aber immer 
zeigte sich wieder, dass man nicht an die Wurzel des Uebels 
gelangt war, das man nur hie und da einen Missbrauch beschnitten 
habe neben dem dann ein anderer, durch irgend eine neue 
entdeckte Lücke im Gesetz, wieder frei und fröhlich empor- 
schoss. 

Die officiellen Listen über die Einnahmen aus den Ein- 
gangszöllen und aus der inländischen Getränksteuer ergeben 
folgende 

Consumtion von Spirituosen: 



1860. 

Millionen 
Liter. 



1870. 1876. 1877. . 1878. 



Millionen 
Liter. 



Millionen Millionen 1 Millionen 
Liter. ' Liter. Liter. 



Englischer Branntwein 

Fremder Branntwein 

Englischer Wein und Cider, 

Fremder Wein 

Biere 



' 96.30 


101,70 


135,00 


134,46 


24,75 


37.80 


51,75 


• 48,37 


56,25 


67,50 


78,75 


78.75 


30,50 


68,00 


83,70 


76,50 


3033.90 


4255,30 


5100,00 


4901,85 



132,08 

46,89 

72,90 
5027,85 



3241,70 ; 4530,30 j 5449,20 I 5239,93 , 5358,47 



Im Jahre 1878 entfiel also auf jeden Kopf der Bevölkerung 
{11,2 Millionen) ein Consum von 162 Litern. 
Die Ausgabe hierfür betrug: 

im Jahre 1860: 1684 Mill. Mk.; Einwohner: 28,7 Mill.; auf den Kopf: 58 Mk. 

* * 3^,2 ■ • » • 76 • 

« * 32,4 * « • « 92 » 

» t 33,0 « » • » 86 • 

33,2 . . . . 86 '*» 

Der Zuwachs der Bevölkerung betrug von 1860 — 1878: 
17 Procent. 



1870: 2376 
1876: 2944 
1877: 2840 
1878: 2844 



♦) Im Jahre 1879 sank die 

Consumtion 

von englischem Branntwein auf 

s fremdem s • 

s 9 Wein s 

s Bier s 



125,77 Mill. Liter 
42,97 ' 
67,27 = 
4134,65 * 



Die Ausgabe fiel auf 2563 Millionen Mark; also 77 Mark auf den Kopf. 



Die Trinhkrankkeit in England, 141 

■ 

Der Zuwachs der Ausgaben für berauschende Getränke 
betrug: 60 Procent. 

Nun aber weisen die vereinigten Temperance-Gesellschaften 
eine Mitgliederzahl von 4,7 Millionen Köpfen auf; es beträgt 
also die Alkohol trinkende Bevölkerung nur 29 Millionen. 
Wir wollen mit dieser letzteren Nettozahl der Trinker die 
vorstehenden procentischen Rechnungen nicht wiederholen, 
die gefiindenen Zahlen sprechen wohl schon ohnehin deutlich 
genug. Fragen wir aber: was trinken denn die 4,7 Millionen 
Temperenzler? so giebt die Antwort der 

Theeconsum 

der von 2,5 Pfd. auf den Kopf im Jahre 1860 

gestiegen ist auf 4,5 • » • • • • 1878.*) 



Damit wir jedoch nicht in Versuchung gerathen, das Dankgebet des Pharisäers 
anzustimmen, bitte ich nachstehende kleine Tabelle über den Bierconsum in der 

Stadt München zu vergleichen. 

Ertrag' der Staats- Steuerlast 
Getrunkenes Geldaufwand Einwohner- auf den Kopf u. Gemeindesteuern per Kopf 

Bier Liter Mk. zahl Liter Mk. *Mk. Mk. 

1876 95,94 Mill. 24,86 Mill. 198,000 484 125,84 2,5 Millionen 12,5 

1877 95.13 ' 24,26 . 215,000 441 112,40 — . . — 

(einschliessl. neue 
Vorstadt Sendung.) 

*) Im Jahre 1879 betrug die Ausgabe für Thee: 321 Mill. Mark. 

Die Minderausgabe für alkoholische Getränke war: 280 Mill. Mark = 9,8^/0; 
dagegen ergab sich eine Mehrausgabe fiir Thee, Kaffee und Cacao: 8,4 Mill. Mark 
= 2,3<>/o. Die Steigerung des Verbrauchs von Thee war: 1,5 Mill. K; von Kaffee: 
650,000 K; von Cacao: 100,000 K. 

Eis hat sich nun neuerdings ein Streit darüber entsponnen: ob diese Minder- 
und Mehrausgabe den steigenden Mässigkeitsgewohnheiten oder dem Zwange der 
gesunkenen Kaufkraft der Consumenten zuzuschreiben sei ? Die Verfechter der letzteren 
Ansicht behaupten; i) seit vierzig Jahren sei der Verbrauch von Fleisch und 
Spirituosen immer mit den sogenannten guten und schlechten Zeiten gestiegen und 
gefallen; 2) der Verbrauch von Thee (Zucker und Tabak) sei stetig gestiegen, denn 
die Pinte Bier (= 16 Pfennige) werde bereits ersetzt durch eine Ausgabe von 
4 Pfennigen für Thee und Zucker. 3) Zutreffender als Massstab für die Nüchternheit 
eines Volkes, als der Verbrauch des Thees, sei der des Kaffees. Letzterer betrage 
raf den Kopf der Bevölkenmg: in den Vereinigten Staaten = 3 K; in England 
= 0,56 K; in Frankreich = 1,25 K; in Deutschland und Oesterreich = 2,25 K; 
in den Niederlanden = 4,50 K (?). — Diese Frage wird sich aus der Statistik 
allein nicht entscheiden lassen, da auch hier ohne Zweifel eine Mischung zusammen- 
gesetzter Motive wirkt. Immerhin darf man hoffen: die zunächst aus Zwang geübte 
Massigkeit werde vielfach zur besseren Gewohnheit werden durch die zunehmende 
Erkenntniss, dass Alkohol zwar ein ganz brauchbarer Diener aber ein 
gefährlicher Herr ist. (Mai, 1880.) 



142 Die Trinkkrankheit in England. 

Forschen wir nach den Wirkungen des Alkoholconsums, 
so liefert uns die Kriminalstatistik erschreckende Antworten, 
aus denen ich nur folgende sporadische Notizen hier wieder- 
geben will: 

1. Die Polizei hat aufgegriffen in England und Wales: 

im Jahre 1860 etwa 88,000 TrunklalUge 

1870 « 131,000 
« • I875 « 204,000 « « 

2. In London wurden im Jahre 1875 arretirt: 

wegen einfacher Trunkenheit ) \'\ ,,^ .P ^ 

^ ^ \ 7525 \Veiber 

wegen Vergehens in der Trunkenheit < ^ ^ ^JJ '\^^ 

In Liverpool (520,000 Einwohner) wurden aus denselben 
Veranlassungen 

in den Jahren 1872 und 1873 arretirt j '3438 Männer 

In Edinburgh (jetzt 200,000 Einwohner) w^urden wegen 
Trunkenheit arretirt: 

im Jahre 1871 5400 Personen 
• 1877 7733 

Hier fand also eine Steigerung statt von 33 Procent, die 
Bevölkerung war inzwischen gestiegen um 5 Procent. 

Im Jahre 1876 wurde in der Stadt Limerick, in Irland, 
wegen Trunkenheit arretirt: je der zwölfte Einwohner; im 
Jahre 1877: je der sechzehnte. 

3. Seit 1860 bis 1876 sind gestiegen: 

die Trunkfälligkeit der Kinder iinter 16 Jahren um: 130 Procent. 

der Säuferwahnsinn um : 67 

die Verarmung um 78 > 

andere Verbrechen etwa um 40 Procent. *) 

4. Binnen 18 Jahren hat sich die Steuerlast des Landes 
für Gefangnisse und Irrenhäuser verdoppelt. 

5. Und woher erklärt sich diese furchtbare Steigerung der 
„Trinkkrankheit"? Die Trinkgelegenheiten waren binnen 16 

Jahren von 156,700 vermehrt auf 216,200. Im Jahre 1860 

*) Die genaue Uebersicht der Steigerung ist folgende: 

x86o 1870 I876 

Trunkfälligkeit 88,361 I3ii370 203,989 

Angriffe auf die Polizei 86,448 107,127 122,913 

Säuferw'ahnsinn ^. . 38,058 54.723 63,793 

212,867 293,210 390,595- 



Die Trinkkranbheü in England, 143 

existirte erst auf 184 Köpfe, im Jahre 1876 schon auf 134 Köpfe 
eine Concession: die Orte der Versuchung waren vermehrt um 
38 Procent 

Diese einfachen nackten Ziffern sind das Ergebniss ziemlich 
mühevoller Ermittelungen. Ich habe sie grösstentheils ent- 
nommen aus dem im März 1879 erschienenen Berichte 
des Ausschusses des Oberhauses. Dieser Bericht enthält 
56 Quartseiten Text und 4 Foliobände Anlagen, mit insgesammt 
1680 Seiten. Der Ausschuss hat 108 Zeugen und Sachver- 
ständige protokollarisch vernommen; es fliesst hier also eine 
fast überreiche Quelle, an der schöpfend man grosse Enthalt- 
samkeit üben muss. 

Indessen giebt es auch in dieser Frage Statistiker, die 
anders rechnen und zu dem Resultate kommen möchten: die 
That Sache des übermässigen Genusses von Spirituosen 
überhaupt zu leugnen. Einer dieser sonderbaren Heiligen 
schreibt neulich an die Times: „Wenn man die gesammte 
jährliche Consumtion von Spirituosen unter die erwachsene 
Bevölkerung vertheilt, so kommt auf den Kopf täglich nicht 
mehr Alkohol, als drei Gläser Sherry (ein starker Import- und 
noch stärkerer Fabrikationsartikel in England) enthalten, was 
doch gewiss nur ein massiger Genuss ist". Ein anderer 
erzählt von der Massigkeit, welche er und seine Freunde beim 
Lunch in ihrem Club entfalten ; dann berechnet er die jährliche 
Ausgabe eines jeden von ihnen für diese massige Consumtion 
auf etwa 200 Mark und gelangt von da aus zu dem über- 
raschenden Ergebnisse: dass eigentlich etwa erst 7000 Millionen 
Mark (Statt 2844 Millionen) diejenige Summe sei, die alljährlich 
vernünftiger und massiger Weise in den vereinigten König- 
reichen vertrunken werden dürfe I 

6. Als die United Kingdom AUiance anfing Statistik zu 
machen, standen deren Ergebnisse häufig im grellsten Wider- 
spruche mit denen der Polizeibehörden. Die letzteren con- 
statirten damals regelmässig: Abnahme der Krankheit. Die 
United Kingdom Alliance organisirte daher eine besondere 
Ueberwachung der Trinker und der Trunkfalligkeit, zunächst 
in Birmingham. Diese Controle gab folgende seltsame Re- 
sultate. Die Gesellschaft liess 35 Trinklokale in verschiedenen 
Stadttheilen durch intelligente und zuverlässige Männer an 



144 



Die Trinkkrankheit in England, 



einem Sonnabend überwachen. Es traten an diesem Tage aus 
diesen Trinkstellen: 

9159 Männer und 5006 Frauen 
davon waren 662 * » 176 

also zusammen 838 Personen zweifellos schwer betrunken. 
An diesem nämlichen Tage arretirten die Beamten der regel- 
mässigen Polizei in ganz Birmingham (360,000 Einwohner): 29 
Betrunkene. 

In diesem Falle darf indessen nicht übersehen werden, dass 
nicht nur von den Besuchern im allgemeinen sondern auch 
von den 838 Schwertrunkenen viele die Trinklokale mehrere 
Male verliessen, indem sie sich inzwischen umhertrieben und 
ab und zuliefen. 

Eine zweite interessante Probe wurde, ebenfalls in 
Birmingham, mit 51 Schanklokalen angestellt, auch an einem 
Sonnabend, während dreier Abendstunden. Man zählte aus 
diesen Lokalen heraus: 1 5,096 Personen, darunter 1436 Schwer- 
trunkene. An demselben Sonnabend arretirte die Polizei wegen 
Trunkenheit: ein Individuum! 

Femer haben dieselben Auszähler festgestellt, dass das 
Verhältniss der Frequenz in den Schänken vom Sonnabend 
zum Montag steht wie 2:1 und vom Montag zum Dinstag 
wieder wie 2:1. 

In Salford, einer Vorstadt von Manchester mit 122,000 
Einwohnern, wurden arretirt: 



am Sonntag von 8 — 12 Uhr Abends: 


128 Trunkene 


am Montag während des ganzen Tages 


207 


• Dinstag > . « • 


T40 


• Mittwoch . • . » 


87 ' 


• Donnerstag . . « • 


87 . 


» Freitag . « » . 


125 


• Sonnabend .... 


562 



Also am Abend des Sonnabends, des Lohntages, 
zeigt die Trinkkrankheit den Höhepunkt ihres 
Paroxismus. 

7. Sehr merkwürdige Ergebnisse liefert die nachstehende 
tabellarische Zusammenstellung, welche die gleichzeitige auf- 
steigende Bewegung veranschaulicht: 



Die Trifikkrankheit in England, 14ö 





1 

a. 
der Ansgaben für 


b. 
der bestraften 


c. 
der Armen Steuer 


d. 

der von der Polizei 

aufgegriffenen 

Trunkenbolde. 




berauschende Getränke 


Verbrecher 


und Polizeikosten 


1869.. 


. 2256 


Mill. 


Mk, 


373.000 


260 Mül. Mk. 


122,310. 


1870.. 


. 2376 






390,000 


268 « 


131,800. 


I87I.. 


. 2378 




1 


408,000 


276 


142,300. 


1872.. 


2632 






424,000 


284 . 


151,000. 


1873.. 


2800 






457,000 


284 . 


1 83,000. 


1874.. 


2826 






487,000 


294 . 


186,000. . 


1875.. 

r 


. 2856 


^ • 




512,000 


290 » 


204,000. 



8. Mit diesen und ähnlichen statistischen Ermittelungen 
sind nun allerlei Betrachtungen angestellt, um den riesenhaften 
und auf die Länge tödtlichen Blutverlust am Nationalvermögen 
grell vor die Augen zu führen, den die Trinkkrankheit unfehl- 
bar in ihrem Gefolge haben müsse. 

Zum Beispiel: 

a) der Werth des gesammten englischen Exportes wahrend der 

vier Jahre 1875 — 7^ beträgt 16,200 Mill. Mk. 

die Ausgabe für alkoholische Getränke in den sieben Jahren 

von 1872 — 78 beträgt 19,740 

mithin letztere mehr: 3,540 « •' 

b] Der gesammte materielle, directe und indirecte (sehr umständ- 
lich berechnete) Verlust der Nation durch die Consumtion 
der berauschenden Getränke ist veranschlagt fiir die Jahre 

von 1872 — 1878 auf: 36,000 Mill. Mk, 

„Hierfür", heisst es weiter in dem Centralorgane der 
United Kingdom AUiance, der Alliance News, „hierfür hätten 
wir folgendes leisten können: wir hätten unsere National- 
schuld (Capital: 15,500 Millionen Mark) bezahlen können, dazu 
hätten wir sämmtliche vorhandene Eisenbahnen für den Staat 
ankaufen und das vorhandene Eisenbahnnetz beinahe ver- 
doppeln können! Was haben wir statt alles dessen für unsere 
36,000 Millionen Mark gewonnen? 

Mehr Verbrecher, Arme und Irrsinnige; das bedeutet: 
mehr Polizei, Gefängnisse, Arbeitshäuser und Krankenhäuser. 
Femer eine durchschnittliche Verkürzung der Lebensdauer, 
welche eine Autorität, der sehr angesehene Arzt Dr. William 
Richardson, im Jahre 1875 vor einem wissenschaftlichen 
Congresse zu Brighton auf ein Drittel geschätzt hat". — 

„In jetziger Zeit", so schliesst eine Zuschrift von 
Mr. William Hoyle, einem der unermüdlichsten Führer der 
United Kingdom Alliance an die Times, „forschen unsere Kauf- 

Ompteda, L. v., Bilder. 10 



146 Die Trinkkrankheit in England, 

leute und Fabrikanten ängstlich nach neuen Absatzgebieten 
in allen Welttheilen. Würden wir nicht gut thun, unsere 
Aufmerksamkeit ernstlicher unserem einheimischen Markte zu- 
zuwenden? Denn da wir durch unser Trinklaster direct und 
indirect eine grossere Summe verschwenden als den Betrag 
unseres ganzen Exportes, so hätten wir ja ein bereites und 
sicheres Mittel gegen die Geschäftsstockungen in unserer 
eigenen Hand, wenn wir jene Siimme dem Alkoholgeschäfte 
entziehen, wenn wir namentlich die so ausserordentlich 
gestiegenen Arbeitslöhne vernünftig verwenden, indem wir sie 
für Kleider, Schuhe und Hausrath ausgeben". 

„Und", so heisst es weiter, „wenn wir auch im Jahre 1878 
4 Millionen Liter fremde Weine und ebensoviel Branntwein 
weniger getrunken haben als 1877, so beweist das durchaus 
keine Besserung der Krankheit; es beweist nur die Ver- 
minderung des Einkommens in den mittleren Klassen durch 
unsere jetzige traurige Geschäftslage. Denn wir haben zwar 
im Jahre 1878: 8 Millionen Liter Wein und Branntwein 
weniger, dafür aber 126 Millionen Liter Bier mehr getrunken. 

Der amerikanische Consul in Sheffield entwirft in einem 
dienstlichen Berichte von den Gewohnheiten der dortigen 
Arbeiter folgendes Bild, welches wohl auf die meisten englischen 
grossen Städte zutreffen möchte. 

„Unter der arbeitenden Bevölkerung von Sheffield herrscht 
eine höchst unvernünftige Sorglosigkeit in Beziehung auf ihre 
Einnahmen und Ausgaben. Mancher Arbeiter, der 60 bis 80 Mark 
in der Woche verdienen könnte, wird sich mit der Hälfte 
begnügen, oder genau mit soviel als er für Nahrung, Bier und 
Vergnügungen bedarf; für Frau und Kinder fallt von seinem 
Verdienste nur eine erbärmliche Kleinigkeit ab. Eine grosse 
Anzahl von Arbeitern, die sich im Laufe der Zeit in eine unab- 
hängige, wenigstens gesicherte Lage hinaufschwingen könnte, 
macht keinerlei Ersparnisse, ausser dass sie wöchentlich i bis 
2 Mark in ihre Vereinskasse bezahlen, als Versicherung in 
Kj-ankheitsfällen. Diese an sich gute Einrichtimg, scheint 
übrigens in gewisser Weise den Ersparungstrieb zu lähmen". 

„Soviel ist sicher: trotz der schlechten Geschäftslage in 
Sheffield würde nur wenig Armuth unter den Arbeitern herrschen, 
wäre nicht die Gewohnheit des starken Trinkens. Ein 



Die Trinkkrankheit in England, 147 

Gang durch die Strassen lehrt sofort: wohin der Verdienst der 
Arbeiter wandert, und in vielen Fällen auch derjenige der hier 
sehr zahlreichen Arbeiterinnen. Auch deren Verdienst ist be- 
deutend höher, als man nach den allgemeinen häuslichen Zu- 
ständen annehmen möchte. — Die meisten Leiden der englischen 
arbeitenden Klasse sind auf die Trunksucht zurückzufiihren. 
Denn in Sheffield versäumt durchschnittlich jeder Arbeiter 
einen Arbeitstag in der Woche mit Trinken. Das giebt einen 
Ausfall von einem Sechstel der gesammten Productionskraft. 
Es leuchtet wohl ein, dass eine Nation — sei sie übrigens noch 
so sehr bevorzugt — deren Arbeiter zum Trünke und Striken 
neigen, auf die Dauer nicht auf dem Weltmarkte mit anderen 
Ländern concurriren kann, deren Arbeiter massig, fleissig und 
sparsam sind". 

IL Die ersten Heilungsversuohe. 

Es ist wohl selbstverständlich, dass dieses Elend, diese 
»Nationalkrankheit« schon seit längerer Zeit die Besorgniss 
und das Mitleiden aller christlichen, philanthropischen und 
patriotischen Beobachter wach rief, so dass nach und nach 
alle guten Bürger, alle rechtlich und sittlich denkenden Menschen, 
vom Seelsorger bis zum Statistiker, begannen sich irgendwie 
mit der Trinkfrage zu beschäftigen. 

Am frühesten und tÖdtlichsten wüthete die Krankheit unter 
der verarmten Bevölkerung Irlands, und hier wurde auch, schon 
vor mehr als vierzig Jahren, der erste bedeutende Versuch 
gemacht, sie zu bekämpfen. Als ein besonders greifbares unter 
den Symptomen der damaligen Zustände will ich hervorheben, 
dass schon im Jahre 1833 in Irland für den dort nationalen 
Whiskey (Haferbranntwein) mehr als 140 Millionen Mark 

• 

Jährlich ausgegeben wurden, doppelt soviel als die gesammte 
damalige Armensteuer im Vereinigten Königreiche betrug. 
Damals nahm die „Gesellschaft der Freunde" (die Quäker) in 
Cork die Sache in die Hand und gründete den ersten Enthalt- 
samkeitsverein. Unter ihren verschiedenen Agitationsmitteln 
erscheint mir folgendes besonders originell. Bei Gelegenheit 
eines grossen öffentlichen Festes stellten sie eine Menge riesiger 
Plakate aus, die überall sichtbar waren, nachstehenden Inhalts: 

10* 



148 Die Trinkkrankheit in England, 

Billiger Whiskey. 
Tod & Co. 

empfiehlt sich zur Ausbildung von Trunkenbolden, Bettlern 
und Vagabonden auf raschestem und billigstem Wege. 

Niemand verkauft stärkeres Gift, bricht besser Herzen 
und macht Familien elender als 

Tod & Co. 

Jedoch hätten die eifrigen, menschenfreundlichen Bestre- 
bungen der Quäker bei der grossen Menge wohl keinen Em- 
gang gefunden, denn sie belehrten im Grrunde die Blinden über 
die Farben, ohne die Mitwirkung eines katholischen Geistlichen,, 
des Vater Mathew. Dieser berief eine Versammlung, predigte 
dem Volke und wusste seine katholischen Zuhörer durch An- 
wendung der ihnen verständlichen religiösen Formen und Cere- 
monien zu fesseln und zu gewinnen. Er nahm die zur Ent- 
haltsamkeit vom Whiskey Bekehrten durch ein feierliches 
Gelübde in seinen Bund auf, dann segnete er sie. Anfangs 
kamen auch zu ihm nur wenige. Indessen das Beispiel wirkte 
anziehend auf die grosse zum Glauben geneigte Menge, und 
der Anschein des Geheimnissvollen und des AYunderkräftigen 
fesselte. Die Wunder bestanden einfach darin, dass einige 
notorisch durch den Trunk herabgekommene Arbeiter durch 
die Nüchternheit wieder zu gesunden, kräftigen, arbeitsamen 
Menschen wurden. Die grosse Menge jedoch glaubte an die 
zauberhafte Wirkung des Segens. Aus allen Kräften 
suchte Vater Mathew diese Auffassung zu bekämpfen. Ver- 
gebens: der katholische Priester hatte, diesmal für den edelsten 
Zweck, die Phantasie der abergläubischen Masse gereizt: das 
Wunder, des Glaubens liebstes Kind, war die nothwendige Folge. 

Die frohe Botschaft verbreitete sich rasch: von nah und 
fem strömten alle Kranken und Elenden herbei, um durch 
Vater Mathews wunderthätigen Segen geheilt zu werden, und 
alle legten das Gelübde ab. 

Bald erschien der »Vater« in Limerick, von dort zog er 
weiter umher, und so ergriff die Bewegung, wie ein Lauffeuer, 
nach und nach ganz Irland. Im Jahre 1840 hatte Vater Mathews 
Verein schon 500,000 Mitglieder und in Limerick mussten 
80 Whiskey schänken schliessen. Im Jahre 1845 war die Mit- 
gliederzahl auf 800,000 gestiegen und die Gefängnisse leerten 



Die Trinkkrankheit in England. 149 

sich Stetig. Jetzt ist die ganze Insel mit einem dichten Netze 
von Enthaltsamkeits-Vereinen überzogen, die unter der ge- 
wandten Leitung der katholischen Geistlichkeit mit grossem 
Erfolge arbeiten und bereits wichtige heilsame Reformen in 
der Gesetzgebung für Irland durch das Parlament gebracht haben. 
Von dort aus pflanzte sich die Bewegung nach England 
fort. Es bildeten sich eine grosse Menge von Vereinen mit 
verschieden abgestufter Strenge der Anforderungen. Da die- 
selben aber vereinzelt und nur ortlich arbeiteten, so war ihre 
Wirkung nach aussen sehr gering; zu einem Drucke auf die 
Regierung und Gesetzgebung erwiesen sie sich völlig unver- 
mögend. Das grosse Publikum betrachtete ihre Thätigkeit mit 
platonischem Wohlwollen als seltsame aber unschädliche 
menschenfreundliche Bestrebungen, etwa wie den Vegetarianis- 
mus und das Naturheilverfahren. Der etwas sectenhafte An- 
strich ihres Gebahrens stiess, nach rechts und links, eher ab als 
dass er anzog. 

Man erkannte diese Mängel und schritt zur Abhilfe. Im 
Jahre 1853 wurde in Manchester die grosse Central- Mässig- 
keits-Gesellschaft gestiftet, deren vollständiger Titel ihren 
Zweck folgendermassen ausdrückt: 

United Kingdom Alliance 
for the total and immediate suppression of the traffic in 
intoxicating liquors and beverages; — also: die gänzliche 
und sofortige Unterdrückung des Handels mit berau- 
schenden Getränken. 
Diese Centralstelle fasste nun sämmtliche kleine Vereine 
zusammen. Sie fiisst vor allem auf dem Grundsatze: dass in 
ihr von jeder religiösen oder politischen Parteistellung völlig 
abgesehen wird. Zu ihren thätigsten Mitgliedern gehören der 
Cardinal Manning und sein jüngster College, der berühmtere 
Dr. Newman, neben vielen hohen und niederen Geistlichen der 
Steiatskirche, neben Wesleyanem und Quäkern, sowie Laien 
aus allen politischen Lagern. 

Die United Kingdom Alliance verwandelte also die bis 
dahin religiös- sittliche Bestrebung in eine politisch-nationale. 
Indem sie alle die zerstreuten kleinen Vereine unter sich zu- 
sammenfasste, hob sie jeden einzelnen im Ansehen und führte 
ihm Mitglieder zu, -die bis dahin gleichgiltig vorübergegangen 



loO Die Trinkkrankheit in England, 

waren. Neue Gesellschaften der verschiedensten Ordnungen 
bildeten sich und jetzt überdeckt ein riesiges Netz das Ver» 
einigte Königreich und die Colonien unter den mannigfachsten 
Formen und Namen: National Temperance League, Giood 
Templars (mit freimaurerischer Organisation); Band of hope 
Unions (Hoffhungsvereine) ; Ragged Schools (Armenschulen); 
der Orden der Rechabiten; die Sons of Temperance und viele 
andere. Der Temperance Guide, ein Jahreskalender für 1879, 
zählt die Hauptgesellschaften vollständig auf; ihre Namen füllen 
2 — 3 enggedruckte Seiten. 

Es giebt keine Religionsgesellschaft und wenige Kirch- 
spiele, die nicht ihre Hoffhungsvereine für Kinder, Enthaltsam- 
keitsvereine für die Jugend und für Erwachsene, Meetings für 
Jedermann und besondere Vereine für Frauen hätten. Alle 
diese Verbindungen stehen unter der Fahne völliger confessions- 
loser Neutralität. Daneben bestehen auch confessionelle Ver- 
eine; namentlich hat die Staatskirche, unter der Führung ihrer 
hohen Würdenträger, einen ausserordentlichen Eifer für das 
Werk der Rettung entwickelt, so dass sogar die Königin die 
„Church of England Temperance Society" der Ehre würdigte, 
selbst das Protectorat und die „Patronage" dieser Gesellschaft 
anzunehmen. 

So arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren die United Kingdom 
AUiance als bewegender Mittelpunkt einer gewaltigen, das 
Königreich überfluthenden, immer höher schwellenden Bewegung. 

Mit welchen Mitteln? 

Während der ersten vier Jahre ihres Bestehens beschränkte 
sich die United Kingdom Alliance darauf, die öffentliche 
Meinung durch Meetings, Zeitschriften und Tractate zu bear- 
beiten. Zunächst musste die Einsicht imd Theilnahme der 
herrschenden Klassen aufgeklärt und erregt werden, das 
arbeitende Volk musste belehrt und zum Bewusstsein seiner 
Krankheit erweckt werden. Femer genügte es nicht, gewisse 
einfache, mehr oder minder bekannte, sittliche, sanitätische und 
ökonomische Wahrheiten vor einem Kreise geneigter Leser 
oder Zuhörer wiederholt auszusprechen. Damit allein bewirkt 
man keine socialen Reformen. Diese Wahrheiten müssen den 
Massen beigebracht, imprägnirt, von ihnen aufgesogen werden. 



Die Trinkkrankheit in England, 151 

Sie müssen landläufige, triviale Gemeinplätze werden. Ein 
jeder musste den Schaden erkennen und ausserdem noch die 
Vortheile, welche die Erreichung des Zweckes der United 
Kingdom AUiance: „das Verbot des Handels mit berauschenden 
Getränken", mit sich fuhren würde. 

Diese Propaganda wird nun durch die United Kingdom 
Alliance und durch alle kleineren Gesellschaften betrieben. 
Zunächst und hauptsächlich vermittelst der Presse. Jetzt 
erscheinen für diesen Zweck mehr als sechzig periodische 
Blätter, davon zwanzig in London. Das Centralorgan der 
United Kingdom Alliance ist die „Alliance News". Die „guten 
Templer" geben sieben solcher Zeitschriften heraus, verschieden 
in Form, Preis und Adresse. Auch eine ärztliche Zeitschrift 
erscheint: „The Medical Temperance Journal". Daneben 
werden Broschüren und kleine Flugblätter mit stets variirtem 
Inhalt in ungezählten Massen vertheilt. Der erste Preis-Essay 
über „Verbot des Handels mit Spirituosen" erschien schon 
1857 ^^d wurde damals in 47,000 Exemplaren abgesetzt. Er 
enthält 320 enggedruckte Seiten. Leider erlaubt es der Raum 
nicht, auf seinen reichen und mannigfachen Inhalt hier einzu- 
gehen. Die „Band of Hope Union" hat erst kürzlich wieder 
einen Preis von 1000 Mark gegeben für die beste Temperance- 
Novelle: „Lionel Franklins Sieg" von E. van Sommer, ein 
eleganter Band mit 6 Illustrationen; Preis: 3,50 Mrk. 

In dieser Presse also werden die Hebel von allen Seiten 
angesetzt: Geschichte, Polemik, Romane, Lieder, Statistik über 
Verbrechen und Unglücksfalle sowie über die Verschlimmerung 
der gedrückten Lage der Fabrikation und des Exportes — 
und alles mit Beziehung auf die Trunksucht. Die Lieder 
sind in Musik gesetzt und werden von der Jugend der Hoffnungs- 
vereine gesungen. Man hat sogar besondere Sammlungen von 
Hymnen für die grossen Mässigkeitsfeste herausgegeben. In 
dem oben schon erwähnten Temperance-Kalender nimmt das 
Verzeichniss der Druckschriften siebzehn enggedruckte Seiten 
em. Femer arbeitet die United Kingdom Alliance durch 
Vorlesimgen, Versammlungen und Abendimterhaltungen. Sie 
bezahlt fünfzig reisende Vorleser und hielt im Jahre 1878: 
925 Meeting^. Die United Kingdom Alliance erscheint auf 



. l52 Die Trinkkrankheit in England. 

jeder ärztlichen und naturwissenschaftlichen Versammlung und 
betont dort ihre Seite der behandelten Fragen. 

Die United Kingdom Alliance und ihre Waffenbrüder sind 
sich jedoch sehr wohl bewusst, dass es nicht möglich ist, den 
arbeitenden Klassen einfach das Schanklocal, ihre einzige 
Stätte der Unterhaltung und Geselligkeit, zu schliessen, dass 
man vielmehr anderes, besseres an dessen Stelle setzen müsse. 
Es bedarf kräftiger „Gegen-Anziehungen". Sie gingen also 
gleichzeitig an's Schaffen. Hiervon einige wenige Beispiele. 
Man gründete in Dublin den grossen „Dublin Coffee Palace" 
mit einem Lesezimmer und Arbeiterclub. Der jährliche Um- 
satz dieses Institutes beträgt schon jetzt 80,000 Mark. In der- 
selben Strasse entstand St. Andrews Temperance-Hall, wo man 
an jedem Abende in den Lese- und Clubzimmem Hunderte 
junger Leute aus dem Arbeiterstande finden kann, die sich mit 
Lesen, Billard und anderen Spielen unterhalten. Und dieser 
Institute sind in Dublin noch mehrere. 

In Birmingham wirkt eine Kaffeehaus-Gesellschaft. Jüngst 
schenkte dieser eine wohlthätige Dame, Miss Ryland, ein neu- 
erbautes Kaffeehaus, umgeben von sieben Häuschen mit 
Wohnungen fiir kleinere Handwerker. Das Ganze hatte der 
Wohlthäterin, ohne den Bauplatz, 60,000 Mark gekostet. 

Ganz kürzlich wurde im Osten von London ein Arbeiter- 
club mit 130 Mitgliedern eröffiiet, auf dessen Ausstattung 24,000 
Mark verwendet waren. Er nimmt Beiträge von seinen Mit- 
gliedern und soll nach der Absicht seiner Gründer, haupt- 
sächlich des Herzogs von Bedford und des örtlichen Pfarr- 
geistlichen, finanziell auf eigenen Füssen stehen. Alle 
berauschenden Getränke sind dort ausgeschlossen. 

Der Earl Brownlow Hess ein ähnliches Kaffeehaus in 
Rockhamstead herstellen. Auf dem Schilde erschlägt der 
Ritter St. George den Drachen. Das Haus haben drei Herren 
in Pacht genommen, der eine von ihnen ist der Pfarrer des 
Kirchspiels. Der Betrieb ist ganz geschäftsmässig eingerichtet 
und man arbeitet auf Verzinsung des angelegten Capitals. 

Ein Geistlicher schreibt über diese Bestrebimgen an die 
Times: „Ich lebte etwa sieben Jahre lang in dem Theile von 
London, wo die Schänken am dichtesten gesäet sind; ich habe 
also die nächtlichen Schauer und Schrecken der Trunksucht 



Die Trinkkrankheit in England. 153 

kennen gelernt. Dennoch möchte ich nicht sagen, dass wir zu 
viele Trinkiocale haben. Die armen Leute müssen doch 
irgendwo hingehen können, sie müssen ein Obdach, eine Unter- 
haltung finden, eine Abwechselung von ihrer elenden zwei- 
raumigen Familienwohnung. Daher sind in grösseren Städten 
Schanklokale ein Bedürfniss. Sir Wilfrid Lawson und die- 
jenigen, die wie er denken, sollten daher ihre Kraft auf die 
Einrichtung derartiger Häuser verwenden. Ich, damals Hilfs- 
geistlicher in London, habe zwei solche eingerichtet; nach 
dem Zeugnisse der benachbarten Schankwirthe, wie nach dem- 
jenigen der Frauen unserer Besucher, waren unsere Institute 
das mächtigste Mittel gegen die Trunkenheit. Von unserem 
kleinen Hause aus sahen wir fünf Bar-rooms. Drei davon 
waren nach einem Jahr geschlossen; der Wirth des vierten 
wünschte mir öffentlich: „dass doch irgend jemand mich zu 
Boden schlagen möge"; der fünfte Wirth machte uns Concurrenz: 
er schaffte Stühle, Tische, Zeitungen und Ventilation an: Dinge, 
von denen man aus Erfahrung weiss, dass sie am Trinken 
hinderlich sind. Wir erlaubten Bier, Karten, Domino, Thee 
und Kaffee — keinen Branntwein. Nach sechs Monaten 
hatten wir hundert regelmässige Mitglieder; Ruhe und Ordnung 
herrschte, höchstens ein oder zwei Mal im Jahre eine richtige 
Rauferei; in den anderen Localen aber eine solche beinahe an 
jedem Abende". 

In London hat sich jetzt eine besondere „Kaffeehaus- 
Gesellschaft" gebildet, die bereits fünfzehn Anstalten gegründet 
hat. Sie verbannt alle berauschenden Getränke und giebt für 
48 Pfennige eine reichliche Portion Beef, Brot, Butter und 
Kaffee. Auch kann ein jeder seine Mahlzeit mitbringen und 
unentgeltlich dort verzehren. Eines dieser Kaffeehäuser enthält 
einen Billardraum und einen Concertsaal. Die Gesellschaft 
vertheilte bisher vier Procent Dividende, sie ist also keine 
wohlthätige Anstalt, die von Unterstützungen lebt.*) 

In Liverpool hat die „Gesellschaft fiir Wirthshäuser für 



'*') Ganz kürzlich ist eine Nachahmung dieser Häuser in Berlin eröffnet, in der 
Chausseestrasse, als Kaffee-, Thee- und Speisehaus. Wünschen wir ihr das beste 
Gedeihen, indessen — aller Anfang ist schwer! Die Gesdiichte der United Kingdom 
ABiance ist ein grosses Beispiel für die weise Lehre: man muss das Warten 
gelernt haben. 



154 Die Trinkkrankheit in England, 

den englischen Arbeiter" seit 1875:31 solche Häuser erofifeet 
Ihr Capital von 400,000 Mark hat drei Jahre hintereinander 
10 Procent getragen. Im Jahre 1878 musste es verdoppelt 
werden. 

Bei den grossen Eisenbahngesellschaften hat die United 
Kingdom Alliance mit Erfolg darauf gedrungen, dass man dort 
Rücksicht auf die wachsende Zahl der enthaltsamen Reisenden 
nehmen und Kaffee und Thee besser und billiger liefere, als 
bisher. 

Endlich hat die United Kingdom Alliance sich auch auf 
das Wasser, an Bord von J. M. Kriegsschiffen gewagt 
Sonderbarer — oder vielleicht: sehr zweckmässiger — Weise 
ist der Missionär hier eine Dame, Miss Weston. Aus ihrem 
Berichte entnehme ich folgendes: Die »National Temperance 
League«, für welche sie arbeitet, hat bereits Zweigvereine 
gestiftet auf 202 Schiffen, von den 230, welche in Diensten 
stehen; unter dem Effectivbestande von 55,000 Mann zählt sie 
8000 Mitglieder. Vier Admirale und 162 Offiziere be- 
fleissigen sich völliger Enthaltsamkeit Den Mitgliedern der 
Zweigvereine auf den Schiffen wird die Durchfiihnmg ihres 
Gelübdes durch verschiedene dienstliche Einrichtungen recht 
schwer gemacht. Diese Mannschaften nehmen zwar ihren 
Grogg aus der Cantine, aber sie verkaufen ihn, da die 
Regierung ihnen für nicht genommenen Grogg keinerlei Ent- 
schädigung giebt Auf mehreren Schiffen ist allerdings der 
Bierschank bereits durch einen Kaffeeschank ersetzt. Der 
Präsident der Gesellschaft, ein Admiral, der bereits seit 20 Jahren 
ein sogenannter Teetotaller ist, legte zum Schlüsse den Offizieren 
dringend an's Herz, ihren Mannschaften ein gutes Beispiel zu 
geben, indem sie sich in ihren Messen (Speiseanstalten) des 
Weines enthielten. 

In dem Theile der Armee, der in England steht, soll etwa 
der fünfzehnte Mann »enthaltsam« sein; in der indischen Armee 
befinden sich unter 62,600 Mann aller Grade, 10,886 einge- 
schriebene »Abstainers«. 

Die Kanzel ist selbstverständlich nicht stumm, sie liefert 
häufige und energische Strafpredigten gegen die »National- 
sünde«; die Wahlredner, die fliegenden Buchhändler auf den 
Bahnhöfen, die Temperance Hotels, in denen keine berauschenden 



Die Trinkkrankheit in England, 155 

Getränke geschänkt werden: alle diese Thätigkeiten und Ein- 
richtungen sind Missionare der riesenhaften Propaganda, welche 
von der United Kingdom AUiance ausgeht. 

Man trifft bereits viele sogenannte Teetotallers in den 
höheren Klassen der Gesellschaft. Im Unterhause sollen jetzt 
etwa zwanzig sitzen. Ihren Gästen geben sie Wein, trinken 
ihn aber niemals selbst; im strengeren Schottland bekommt der 
Gast nur Kaffee und Thee. — 

Es giebt indessen eine Klasse von Trinkern, für die es 
nicht ausreicht, dass man ihnen anstatt eines wüsten Bar room 
ein comfortables Kaffeehaus bietet Diese Unglücklichen, die 
man wohl »constitutionelle« Trinker genannt hat, bilden eine 
Klasse von geistig und körperlich halbkranken Menschen; sie 
unterliegen gewohnheitsmässig — häufig wider besseres Wissen 
und Wollen — der Versuchimg des Alkohols, w^ie die Con- 
sumenten von Opium und Morphium den Reizen dieser Gifte 
immer von neuem verfallen. Für diese Schwachen \ind 
Elenden hat man auf Rettung gesonnen und geglaubt, dass 
sie diese nur in einer Heilanstalt finden können. 

Am 8. Mai I879 wurde im Oberhause ein Gesetz ange- 
nommen, welches bereits durch das Unterhaus gegangen war: 
^The Habitual Drunkards Bill« also: das Gesetz betreffend die 
Gewohnheitssäufer. 

Auf Grrund dieses Gesetzes erklärt ein, in solchem traurigen 
Zustande befindlicher Kranker schriftlich vor der Obrigkeit; 
dass er fiir eine bestimmte Zeit in ein Asyl für Trunkfällige 
aufgenommen werden wolle. Der Eintritt ist also freiwillig aber 
wenn einmal darin, ist der Kranke den Statuten und der Haus- 
ordnung unterworfen; er kann sogar im Asyle zurückgehalten 
werden, bis die von ihm selbst bestimmte Zeit abgelaufen ist". 

Der durch seine Bestrebungen auf dem Felde der Wohl- 
thätigkeit bekannte Earl of Shaftesbury befürwortete die Bill. 
Er ging davon aus, dass Trunksucht als eine Krankheit 
betrachtet werden dürfe, in sofern als in sehr vielen Fällen 
angeborene Prädisposition dafür nachweislich vorhanden sei. 
Alsdann könne aber das Uebel nicht allein durch Strafen 
beseitigt werden. Die Veranlassungen, welche diese angeborene 
Disposition in Wirksamkeit setzten, seien, nach den Be- 
obachtungen des Vorstehers eines solchen »Hauses für Trinker« 



156 Die Trinkkrankheit in England, 

in New- York, sehr vielfache: einige schwache Kopfe trinken 
aus Höflichkeit zu viel (man hat hier wohl an die amerikanische 
Unsitte des gegenseitigen Traktirens an der Bar zu denken). 
Andere nehmen den Alkohol als geistiges Stimulans, so nament- 
lich Gelehrte und Literaten; andere wollen einen schweren 
Kummer ertränken, schwemmen aber ihr Bischen brauchbares 
Gehirn mit fort; noch andere wollen sich Energie fiir's Ge- 
schäft oder fiir's Verbrechen suchen . Für die Erblich- 
keit führte ein Dr. Hare, Idiotenarzt im Staate Massachusetts, 
folgende Beobachtungen an: „Von 300 Idioten wurden die Ge- 
wohnheiten der Eltern constatirt, 145 von diesen waren Trinker. 
Die schlaffe, schwächliche Nachkommenschaft des Trinkers, 
wenn auch noch nicht selbst idiot, hat einen angeborenen Hang 
zu Stimulantien und vererbt diese Disposition in verschiedenem 
Grade weiter. Ein einziges Trinkerpaar hatte sieben idiote 
Kinder in die Anstalt geliefert 

Diese verderbliche Erbschaft wird von den unglücklichen 
Nachkommen sehr häufig als solche erkannt; aber sie können 
sich ebensowenig aus eigener Kraft davon befreien, als von 
anderen ererbten persönlichen Eigenschaften. Solche Menschen 
bedürften daher zu ihrer Unterstützung eines geeigneten 
Zwanges". — 

Die Times bemerkt zu diesem Gesetz: die Absicht desselben 
sei ohne Zweifel höchst lobenswerth, aber — eine solche An- 
stalt sei doch immer nur für Bemittelte zugänglich. Nun sei 
aber unter den höheren Klassen in England das Trinklaster 
entschieden im Abnehmen, namentlich im Vergleiche mit den 
Zuständen vor hundert und vor fünfzig Jahren. Man habe ein 
Gesetz gegeben »fiir die wenigen, nicht für die vielem. Ein 
Jahr, verbracht ohne Arbeit in einer Cur von Selterswasser 
und Limonade möge Wunder wirken, aber es koste Geld! Arme 
Arbeiter und Handwerker würden daher wohl vergebens an 
die Thür dieser, durch freiwillige Wohlthätigkeit gegründeten 
Asyle, klopfen. — 

Werde die Sache gelingen, so liege die Grösse der Wohl- 
that auf der Hand ; wenn nicht — so sei es immer besser, einen 
verfehlten Versuch gemacht zu haben als gar keinen. 
Aber das Nationalübel der Unmässigkeit sei ein Ding, von dem 



Die Trinkkrankheit in England, lo7 

die englische Welt sich nicht auf so leichte Weise befreien 
werde. — *) 

Wir finden begreiflicher Weise gerade in England viele 
Männer und Frauen, die ganz persönlich und im stillen diese 
innere Mission als erwählten Beruf ausüben und oft gewiss 
mit mehr Eifer als Verständniss an's Werk gehen. In ihrem 
geschäftigen, aufdringlichen Treiben steckt ohne Zweifel ein 
Theil Uebertreibung, Eitelkeit, Heuchelei, auch wohl Eigennutz. 
Aber diese Motive hängen sich an jede religiöse, politische, 
humanitäre Tagesbewegung, ohne dass dadurch deren Berech- 
tigung an sich in Frage gestellt wird. Zuweilen erfahren die 
Strassenapostel und Wanderprediger auch wohl Unerwartetes. 

So erzählt ein strenger Teetotaller und hervorragender 
Arbeiter auf diesem Felde folgende Ueberraschung: Er geht 
im Batterseaparke spazieren (dem Parke der armen Leute, 
welchen ich in diesen Bildern, S. 66 geschildert habe). Ein Arbeiter 
hegegnet ihm und grüsst; unser Herr glaubt einen seiner An- 
hänger vor sich zu sehen. 

»Mein Freund, kennt Ihr mich?« 

»Ja, Herr«. 

»Irländer?« 

»Ja«. 

)»Nun, Ihr habt doch auch Euer »pledge?« (Eigentlich: Ge- 
lübde, dann auch Mitgliedskarte des Enthaltsamkeitsvereins). 

»Nein, Herr«. 

»Warum nicht, mein Freund?« 

»Mein Geistlicher meinte nicht, dass es nöthig wäre«. 

»Nun, nicht gerade nöthig, aber doch recht gut. Ich habe 
auch meine Karte«. 

»Sie? — Ja, wenn Sie es nöthig hatten!« 

Wir sehen also, wie die United Kingdom AUiance nichts 
Erdenkliches versäumte, um eine Strömung hervorzurufen, durch 
welche sie die öffentliche Meinung Englands unwiderstehlich 
mit sich fortreissen kann. Und alle diese Anstrengungen 



*) Ein ganz ähnliches Asyl fiir Trunkfalllge aus den höheren Ständen, das erste 
und einzige in Deutschland, ist am 27. Novb. 1 879 in Lintorf bei Düsseldorf eröffnet. 
Jedoch wird dort wohl der Ein- und Austritt freiwillig sein, da es zu einem 
bindenden Verzichte auf die eigene persönliche Freiheit eines Aktes der Gesetz- 
gebung bedurft haben würde. 



158 Die Trinkkrankheit in England» 

streben in ihrem letzten Ausgange nur auf den einzigen Zweck 
hin: Aenderung der Gesetzgebung; also: Majorität im Unter- 
hause. Denn in England bleibt man stets der — bei uns leider 
zu Zeiten vergessenen — Wahrheit eingedenk, dass die Nation 
nicht sowohl aus den gezählten 33 Millionen Menschen der Be- 
völkerung besteht, als vielmehr — und ganz vorzugsweise — 
aus denjenigen Klassen und Individuen, die sich der Aufgaben 
der Nation bewusst sind, die an der Erfüllung dieser Aufgaben 
arbeiten und dadurch als bedeutungsvolle Ziffern vor die 
Millionen Nullen treten und ihnen erst einen wirklichen geistigen 
Inhalt geben. 

Es ist wohl kaum möglich, die gesammten Geldmittel, 
welche fiir diese Zwecke jährlich verwandt werden, auf eine 
bestimmte Summe zu berechnen; in meinen Quellen finde ich 
darüber keine erschöpfenden Zusammenstellungen. Die 
unzähligen kleinen Gesellschaften arbeiten unabhängig. Die 
directen Einnahmen der United Kingdom AUiance betragen 
jährlich etwa 400,000 Mark. Das Centralorgan »The Alliance 
News« und die Presserzeugnisse stehen in Einnahme und Aus- 
gabe mit etwa 100,000 Mark. Die Hunderte verschiedener 
kleiner Flugblätter kosten 12,000 Mark. Die Reisenden, 
Meetings und Agenturen beanspruchen 200,000 Mark. Im 
Oktober 1879 fand die jährliche Generalversammlung der 
Alliance statt, unter dem Vorsitze ihres neu erwählten Präsi- 
denten, Sir Wilfrid Lawson's. Man besprach die bevorstehenden 
Wahlen und das Bedürfniss aussergewöhnlicher Geldmittel 
wurde anerkannt. Am Schlüsse der Sitzung waren bereits 
ausserordentliche Beiträge zum Belaufe von 100,000 Mark 
gezeichnet, darunter vom Präsidenten: 20,000 Mark! 

Natürlich sind auch die Gegner mobil geworden. Sie haben 
sich ebenfalls zu einer streitenden Gesellschaft organisirt, der 
»Licensed Victuallers' National Defence League«; auch sie geben 
eine Wochenschrift heraus, den »Wächter«. Sie besolden 
Agenten und einen grossen defensiven Apparat. Ihre Mittel 
sind selbstverständlich sehr bedeutend und fliessen reichlich, 
da es sich für sie um ihre Existenz, um die wichtigste aller 
Fragen: die Magenfrage handelt. 

Jedoch giebt es auch auf dieser Seite unparteiische und 
uninteressirte Leute. Kürzlich wurde in der Sitzung des 



Die Trinkkrankheit in England, 159 

Magistrates zu Preston beantragt, dass es dem dortigen 
Hoffhungsvereine erlaubt werden möge, im städtischen Werk- 
hause Vorträge über Enthaltsamkeit zu halten. Einer der 
Herren bemerkte: »der Herr College Ashcroft (ein Schankwirth 
und während seines ganzen Lebens in diesem Geschäfte) werde 
dem Antrage wohl nicht günstig gestimmt sein«. 

„Günstiger als Sie", erwiderte der würdige Magistratsrath, 
„ich bin fi'eilich Schankwirth, aber selbst streng enthaltsam 
(a total abstainer) und in meinem Hause sind wir unserer neun, 
die nie ein berauschendes Getränk gekostet haben". 

Ein College: „Aber weshalb verkaufen Sie es denn?" 

Mr. Ashcroft: „Das ist mein Geschäft". 



III. Thätigkeit und Erfolge der United Kingdom AUianoe 

im Parlamente. 

Vier Jahre lang hatte die United Kingdom AUiance die 
öffentliche Meinung mit allen Mittehi bearbeitet und dadurch 
den Boden für die Saat vorbereitet, deren Frucht sie im 
Parlamente ernten wollte. Im Jahre 1857 hielt man endlich 
die Zeit gekommen, der bisherigen allgemeinen Propaganda 
eine bestimmte Form und Richtung zu geben. Es geschah dieses in 
Gestalt eines Gesetzwurfes, welcher jetzt jedem Engländer unter 
dem Namen: „Sir Wilfrid Lawson's Permissive Bill" geläufig 
ist. Noch weitere sieben Jahre hindurch wurde dieser Entwurf 
auf die uns bekannte Weise verbreitet, erörtert, verarbeitet, 
„trivial gemacht". Dann erst hielt man die öffentliche Meinung 
für hinreichend kräftig, um die neue Idee vor das Parlament 
bringen zu dürfen. Sir Wilfrid Lawson, liberaler Abgeordneter 
für Carlisle, unterzog sich diesem schwierigen Geschäfte, 
welches er bis auf den heutigen Tag mit niemals rastendem 
Eifer forttreibt. Er besitzt, wie kürzlich die bedeutendste Zeit- 
schrift des feindlichen Lagers „The Licensed Victualler's 
Guardian" mit anerkennendem Bedauern ausführte, eine Reihe 
sehr glücklicher Eigenschaften für diese Agitatorenrolle: ange- 
sehen, unabhängig, ein vornehmer Mann, eine kräftige, impo- 
nirende, durch einen langen grauen Vollbart gehobene Erschei- 
nung, ein schlagfertiger Redner voll frischen Humors, nicht 
ohne einen trocknen Sarkasmus und, wie der Verlauf seiner 



160 Die Trinkkrankheit in England. 

Thätigkeit während der letzten fünfzehn Jahre beweist, ein Partei- 
mann von unverwüstlicher, kaltblütiger, englischer Zähigkeit. 

Es ist sehr merkwürdig und für uns Deutsche sehr lehr- 
reich, an dem Lebenslaufe dieser „Permissive Bill" zu sehen, 
wie die Engländer es anfassen, um politische oder sociale 
Reformen durchzusetzen, die, seit Anfang her und noch jetzt, 
von den mächtigsten Factoren des Staatslebens mit offenem 
oder geheimem Widerwillen betrachtet und bekämpft werden. 

Man will also gelangen: zur allgemeinen Unter- 
drückung des Handels mit berauschenden Getränken. 
Ein hierauf direct zielender Antrag würde ohne allen Zweifel 
allgemein abgelehnt worden sein. Man verlangte daher die 
Erlaubnis s für jeden einzelnen städtischen oder ländlichen 
Gemeindebezirk, diesen Verkauf bei sich zu untersagen; daher 
der Name „Permissive BiU" (erlaubendes Gesetz) oder „Local 
Option Prohibitive Bill" (ein absichtlich allgemein gehaltener 
Ausdruck, etwa: ein, nach Giitbefinden der localen Organe — 
insbesondere: der Steuerzahler — verbietendes Gesetz). Der 
Eingang des Entwurfes lautet: 

„In Erwägung, dass der Verkauf berauschender Getränke 
eine fruchtbare Quelle der Unsittlichkeit, Verarmung, der 
Krankheiten, des Wahnsinns, des frühen Todes ist; 

in Erwägung, dass die gewohnheitsmässigen Trinker 

nicht nur selbst in's Elend versinken, sondern dass auch die 

Personen und das Vermögen der Unterthanen Ihrer Majestät 

' durch die Erhöhung der Zölle und Steuern zu leiden haben; 

in Erwägung, dass es demnach gerecht und billig ist, 
den Steuerzahlern der Städte, Flecken und Kirch- 
spiele die Gewalt zu verleihen, den Verkauf der 
gedachten Flüssigkeiten zu verbieten" — — 

Es wird dann gesetzlich bestimmt, dass eine gewisse Anzahl 
von Steuerzahlern bei der Behörde den Antrag auf Abstimmung 
über die Einführung der Permissive Bill stellen kann; stimm- 
fähig hierbei sind alle diejenigen, welche Armensteuer bezahlen; 
für die Einführung der Bill ist eine Majorität von zwei 
Dritteln erforderlich; wird der Antrag abgelehnt, so darf er 
erst nach einem Jahre erneuert werden; nach drei Jahren kann 
eine neue Abstimmung beantragt und alsdann die Permissive 



Die Trinltkrankheit in England, 161 

Bill mit derselben Mehrheit von zwei Dritteln wieder abgeschaft 
werden. 

Es ist wohl zweifellos ein sehr gesunder Gedanke, dass, 
nach den Trunkenbolden selbst, am meisten die Steuerzahler 
leiden, welche die Armen, die Gefangnisse, die Waisenhäuser, 
Irrenhäuser und die Polizei unterhalten müssen. Die Tabelle 
auf S. 145 ist wesentlich aus diesem Gesichtspunkte aufgestellt. 
Femer liegt in der Permissive BiU der weitere gesunde 
Gedanke, dass die angestrebte Reform nur schrittweise, nach 
und nach, durchgeführt werden soll, je nachdem die Majorität 
der Interessenten Ort und Zeit für gegeben erachtet Diese 
Majorität wird voraussichtlich nicht sofort, sie wird nicht über- 
all hervortreten. So können der Finanzminister, wegen der 
jährlichen Einnahme von 650 Millionen Mark, und die im 
Getränkehandel umlaufenden Privatcapitalien, — sie betrugen 
1878; 2840 Millionen Mark — sich vorbereiten und einrichten. 
Denn der praktische Politiker darf doch nie vergessen, dass 
hier für die Regierung und noch mehr für die grosse Armee 
der „Publicans" eine ernste materielle Interessenfrage vor- 
liegt. Hier kämpft das stärkste aller menschlichen Motive, der 
Trieb der Selbsterhaltung, wenn auch nicht »pro aris« so doch »pro 
focis«. — Daher wagte es denn bisher noch keine jeweilige 
Majorität des Unterhauses, gegenüber dieser mächtigen Wähler- 
masse, ein für deren Geschäft, Capital und Genuss, ernstlich 
gefahrliches Gesetz anzunehmen. Denn jene Majorität wäre 
bei den nächsten Wahlen zweifellos zerschmolzen. Die Wahl- 
campagne von 1874 hat das hinreichend klar gelegt und der 
Marquis von Hartington, der Führer der liberalen Opposition 
im Unterhause, wies noch jüngst in der Debatte darauf hin; 
wie wegen einer Bill von 1872 — welche verschiedene gröbste 
Excesse des Spirituosengeschäftes beschnitt — die Liberalen 
bei den Wahlen von 1874 (wo sie geschlagen wurden) der 
rücksichtslosesten Feindschaft aller Schänkwirthe ausgesetzt 
gewesen seien.*) 



*; Bei den neuesten Wahlen hat die »Licensed Victuallers Defence League«', nach 
ihren eigenen Erklärungen, die Stellung jedes einzelnen Candidaten zu ihren 
Interessen geprüft und stets für den ihnen günstigeren gestimmt, ohne Rücksicht auf 
den Parteistandpunkt — also in der Mehrheit fiir die Conservativen. So war — \Aq 
die Times bezeugt — kaum eine Schankwirtschaft in England zu finden, die nicht 

Ompteda, L. v., Bilder. 11 



162 Die Trinkkrankheii in England. 

Wir dürfen uns daher nicht wundem, dass die Permissive 
Bill, trotzdem sie seit 15 Jahren ein stehender Artikel auf der 
Tagesordnung fast jeder Session war, sich noch immer im Zu- 
stande des Werdens befindet Im Gegentheil! Ihre Fort- 
schritte sind fast überraschend und beweisen: wie imwider- 
stehlich auf die Länge die Macht der kämpfenden Wahrheit ist 

Im Jahre 1864 wurde die Permissive Bill von ihrem 
getreuen und standhaften Adoptivvater Sir Wilfrid Lawson 
zuerst im Unterhause eingebracht; sie erhielt fär die zweite 
Lesung: 40 Stimmen. 

Von da an erschien sie in jeder Sitzung wieder. Im 
Jahre 1869, unter dem Ministerium Gladstone, erhielt sie 94 
gegen 200 Stimmen, im Jahre 1870: 115 gegen 140 Stimmen. 
Also eine sehr bedeutende Entwickelung. In den Jahren 
1871 — 1873 machte die Bill im Parlamente selbst keine 
erheblichen Fortschritte; die Petitionen jedoch, welche dort 
überreicht wurden, beweisen die zunehmende Gunst der 
öffentlichen Meinung. Im Jahre 1864 zählten diese Petitionen 
482,000 Unterschriften, im Jahre 1872: 4,000,000 Unterschriften, 
die sich auf 6500 Eingaben vertheilten; unter diesen waren 
1853 Stück von Corporationeh, Gesellschaften imd öffentlichen 
Instituten ausgegangen. 

Im Jahre 1874 trat das liberale Ministerium nach den 
Wahlen ab. Das neue Parlament war unter dem Einflüsse 
einer so mächtigen Bewegung, gerade in Beziehung auf unseren 
Gegenstand, die Trinkgesetzgebung, gewählt, dass bereits 
UebelwoUende sich erlaubten, ihm den Spottnamen „Publican 
Parliament" (Parlament der Schänkwirthe) anzuhängen. 

Trotzdem hat die Permissive Bill auch seitdem in der 

> 

öffentlichen Meinung bemerkenswerthe Fortschritte gemacht 
Im Jahre 1875 wuchsen die g^stigen Stimmen so sehr, dass 
der grosse, feinfühlige Barometer des jeweiligen Standes der 
öffentlichen Meinung, die Times, einen Alarmruf erhob. Sie 
machte den Getränkhändlern bemerklich, dass in dieser Frage 
das Parlament nicht die Ansicht des Landes repräsentire. 



j von der Thür bis zum Giebel die conservativen Farben trug. Jedoch war — wie 

Mr. Hoyle schreibt — das öffentliche Gewissen in der Trinkfrage schon so weit 
geweckt und ausserdem die Bewegung des Wahlkampfes so gewaltig, dass man im 
ganzen wenig Rücksicht auf das Gewicht der Schänkwirthe nahm (Mai, 1880). 



Die Trinkkrankheit in England. 163 

Wollte man ein Plebiscit über die Bill veranstalten, so würden 
ihre Gegner nur noch wie drei zu fünf stehen. 

Im Jahre 1876 war ein bedeutender Erfolg zu verzeichnen. 
Am II. Mai überreichten 14,000 englische Geistliche dem 
Primas von England, Erzbischof von Canterbury, eine Adresse; 
in dieser wurde gebeten: „Die Aufmerksamkeit der Gesetz- 
gebung auf den verderblichen Getränkhandel zu richten". 
Man muss, um das volle Gewicht einer solchen Kundgebung 
.zu ermessen, der Stellung eingedenk sein, welche der 
englische Klerus im politischen, noch mehr im socialen Leben 
einnimmt. Wir können das etwa mit einer Meinungsäusserung, 
ausgehend von einer überwältigenden Mehrheit der deutschen 
Generale und hohen Militärs vergleichen. Bei jedem Dinner 
auf dem Lande hat der Clergyman den Ehrenplatz neben der 
Hausfrau und spricht das Tischgebet. — Der Erzbischof über- 
reichte diese Adresse im Oberhause und erwirkte dort die 
Niedersetzung eines Ausschusses, unter dem Vorsitze des 
Herzogs von Westminster, welcher Alles zu beobachten, zu 
sammeln, zu studiren hat, was sich auf die Frage der Temperance- 
Bewegnng bezieht Die Ergebnisse dieser Thätigkeit werden 
uns noch später beschäftigen. 

Es erklärt sich wohl ziemlich einfach, dass die conservative 
Regierung sich den Bestrebungen der United Kingdom AUiance, 
soweit dieselben in der Permissive Bill formulirt sind, nicht 
forderlich gezeigt hat. Bekanntlich ist das jeweilige englische 
Ministerium in Wirklichkeit nur ein Executiv-Ausschuss der 
jeweiligen Majorität des Unterhauses. Dennoch ist, wider 
Willen oder doch ohne eigene Initiative, die regierende Partei 
nach und nach zu einer Reihe von Concessionen getrieben 
worden. Denn die „Trinkfrage" ist nun einmal eine der wich- 
tigsten, schwierigsten und durch ihre stete Erneuerung eine der 
unbequemsten Fragen. Davon zeugt die grosse Anzahl von 
zwölf Gesetzen, welche in den Jahren 1877 und 1878 ein- und 
durchgebracht sind. 

Für Schottland ist eine Bill erlassen, welche die 
personliche Qualification der Wirthe einer schärferen Prüfung 
unterzieht. Hier waltet übrigens bereits seit längerer Zeit ein 
strengeres System mit zweifellosem Erfolge. Schon im Jahre 
1853 war für Schottland die, nach ihrem Urheber genannte 



164 Die Trinkkrankheit in England, 

»Forbes-Mackenzie Bill« erlassen, welche alle Schanklocale 
während des Sonntags schliesst. Nur Hotels dürfen Spirituosen 
geben an ihre Bewohner und an den „bona fide Reisenden" 
d. h. dessen letztes Nachtlager mehr als drei englische Meilen 
(4,5 Kilometer) entfernt war. Dieser „bona fide'* Reisende 
erscheint übrigens in der englischen Trinkgesetzgebung als 
ein etwas mystischer Proteus, der sich namentlich einer zu- 
treflfenden legalen Definition, welche dem Missbrauche seines 
Namens durch nichtreisende Sonntagsdurstige wirksam ^vor- 
beugte, stets zu entziehen gewusst hat. — Zu jener Zeit waren 
für Schottland 240,000 Mk. bewilligt worden, um die über- 
füllten Gefängnisse zu vergrossem; namentlich gebrach es an 
Raum für trunkfällige Frauen aus den besseren Ständen. 
In Folge des Gesetzes von 1853 nahm die Zahl der Trunk- 
falligen so ab, dass die projectirte Vergrösserung unterblieb. 

Für Irland ist im Jahre 1878 die ausserordentlich wichtige 
Irtsh Sunday closing Bill erlassen, welche also alle Trinkiocale 
während des Sonntags schliesst. Dieses Gesetz gilt indessen 
nicht in Dublin und vier anderen grössten Städten. Schon im 
Jahre 1877 schien die Annahme dieses Gesetzes ziemlich ge- 
sichert, sie wurde augenscheinlich nur verhindert durch das 
seltsame, parlamentarische Manöver des „talking out"; das 
heisst: die Gegner einer Privatbill sprechen so lange, bis die 
Wanduhr im Sitzungssaale sechs Uhr schlägt; dann ist keine 
Möglichkeit mehr, zur Abstimmung zu gelangen, weil alsdann 
andere Geschäfte beginnen und die Sache wird aufs Ungewisse 
hin vertagt. Auch im Jahre 1878 machten die Gegner die 
äussersten Anstrengungen, um die Annahme des Gesetzes zu 
verzögern, womöglich zu hintertreiben. Vom 22^* Januar bis 
31. Mai wurde die Bill in 10 Committee- Sitzungen des ganzen 
Hauses berathen, von denen zwei die ganze Nacht hindurch, 
eine bis 9^/2 Uhr am andern Morgen dauerte. Es fanden 
mehr als 40 Abstimmungen statt, hauptsächlich über Anträge, 
welche den Zweck hatten, des Durchgehen der Bill zu hindern 
oder hinzuhalten. Diese energische, verhindernde Thätigkeit trug 
den Gegnern den wohlklingenden Namen: „Obstructionists** 
ein. „Es ist jedoch", sagt die Times, „das Manöver des Vogels 
Strauss, der den Kopf in den Sand steckt". 

Auch die ausserparlamentarische Agitation war hoch erregt 



Die Trinkkrankheit in England, 165 

So vertheilten die Anglikaner Gebetsformulare, in denen Gott 
angefleht wurde: die Irish Sunday closing Bill durchgehen zu 
lassen. In Exeter Hall hielt die United Kingdom AUiance ein 
Meeting, in welchem der Cardinal Manning und mehrere 
Parlamentsmitglieder als Redner auftraten. Die angesehensten 
Zeitschriften brachten Artikel aus der Feder hervorragender 
Persönlichkeiten. Genug, der Druck war so hoch gespannt, 
dass die Gegner widerwillig nachgaben, „weil die Irländer es 
durchaus nicht besser haben wollten". Aber jedermann fühlte, 
dass der Sonntagsschluss in England jetzt nur noch eine Frage 
kurzer Zeit sei. 

Für England und Wales hat selbst diese vorläufige Mass- 
regel des Sonntagsschlusses bis jetzt noch nicht durchgesetzt 
werden können*). 

Sehr charakteristisch für die eiserne Beharrlichkeit, mit 
welcher die Engländer derartige Ziele verfolgen, ist die Ueber- 
sicht der eingebrachten Bills. Sie zeigen eine lange vorbereitete 
Minirarbeit von Seiten der Reformer. Wir dürfen nämlich 
nicht übersehen, dass nicht alle Gegner der jetzigen Zustände 
deswegen auch Parteigänger des ihnen zu radicalen Heilmittels 
der Permissive Bill sind. Man möchte nicht sofort den kranken 
Zahn mit der Wurzel ausreissen, sondern lieber versuchen, mit 
Feilen und Plombiren einen erträglichen, hinhaltenden Mittel- 
zustand zu schaffen. Um nun diese gemässigten Stimmen 
zu gewinnen, hat man folgende Stufenleiter von Gesetz vor- 
schlagen aufgestellt, in der Voraussetzung, dass der erste 
Schritt der schwierigste ist, und dass die zum Beharren ge- 
neigten Stimmen, wenn einmal in leise Bewegiing gesetzt^ 
durch eigene Logik und äusseren Druck weiter geschoben 
werden würden. 

Für Irland fordert man jetzt, als Consequenz des Sonntags- 
schlusses, einen frühen Schluss am Sonnabend Abend. Man 
stützt sich dabei auf die Erfahrung, dass der höchste Paroxismus 
der Krankheit am Sonnabend Abend, unmittelbar nach der 
wöchentlichen Auslohnung, eintritt. 



*) Für die wohlthätige Wirkung des Sonntagsschlusses in Irland wird die Ab- 
nahme des Alkoholconsums im vereinigten Königreiche während des Jahres 1879 an- 
geführt Diese vertheilt sich nämlich so, dass auf England und Wales: 2,3^/0, auf 
Schottland: 4,1 O/o, auf Irland: 12,50/0 Rückgang fallen. (Mai 1880.) 



166 Die Trinkkrankheit in England. 

Für England fordert man zunächst den gesetzlichen Schluss 
am Sonntage. Dieser soll für's Erste facultativ sein, um die 
Schwierigkeiten wegen der nothwendigen Erweiterung der 
öffentlichen Vergnügen am Sonntage zu umgehen*). 

Dann will man für Irland die fünf grossen Städte unter 

■ 

Sonntagsscbluss stellen, dann den Schluss am Sonnabend Abend 
für England erstreben u. s. w. — 

Inzwischen ist auch Sir Wilfrid Lawson nicht unthätig 
gewesen. 

Am 12, März 1879 stand er wieder auf seiner alten Mensur 
im Unterhause. Diesmal jedoch war nicht die Permissive Bill 
auf der Tagesordnung, sondern Sir Wilfrid hatte eine „Resolution" 
eingebracht folgenden Inhalts: 

„Dass eine gesetzliche Befugniss, die Ertheilung oder Er- 
neuerung von Schankconcessionen zu verweigern, in die Hände 
der am stärksten hiebei interessirten und hievon berührten 
Personen, also der Einwohner selbst, welche Anspruch auf den 
Schutz gegen die Folgen des jetzigen Systems haben, gelegt 
werden solle, und zwar durch eine wirksame Anwendung des 
Rechtes der örtlichen Selbstbestunmung**. 

Ich bedaure, dass der Rahmen dieses Berichtes mir nicht 
gestattet, die Einzelheiten der durch schlagfertigen Hiunor 
gewürzten Rede Sir Wilfrids wiederzugeben, die vom stark 
gefüllten Hause mit ernstem Interesse gehört und von seiner 
Partei mit lebhaftem Beifalle begleitet wurde. Er erklärte 
offen, dass seine Resolution auf die Grrundsätze der Permissiv» 
Bill hinsteuere, dass er aber absichtlich alle Einzelheiten bei 
Seite gelassen habe, um allen denjenigen, die den von ihm 
vertretenen allgemeinen Principe beipflichteten, Gelegenheit zu 
geben, sich vorläufig für dieses Princip auszusprechen. Die 
Resolution wurde von Mr. Birley, dem conservativen MitgUede 

*) Kürzlich besprach in der »Church of England Temperance Society« der 
Bischof von London die oben erwähnte erfreuliche Wirkung des Sonntagsschlusses in 
Irland und fügte hinzu: „es ist daher nicht nur möglich, sondern sogar wünschens- 
werth, das Gesetz in England und Wales durchzuführen'*. Dagegen werden allerdings 
Gründe »so reichlich wie Brombeeren« vorgebracht werden, aber ich vennag nicht 
einzusehen: warum nicht?" 

Wie es mit den »Gegen-Anziehungen«, mit der Oefl&iung der Museen, Lese- 
zimmer und Concerthallen gehalten werden solle, darüber sprach sich der Redner 
nicht aus. (Mai, 1880.) 



Die Trinkkrankheit in England, 167 

für Manchester, unterstützt. Die Argiimente, welche die Gegner 
der Resolution vorbrachten, lassen sich etwa unter folgende 
Gesichtspunkte zusammenfassen: 

1. Die Resolution sei zu allgemein und unbestimmt; man 
wolle allerdings das vorhandene Uebel bekämpfen, jedoch 
müsse ein darauf zielender, durchgearbeiteter Gesetzentwurf zu 
richtiger Zeit, in richtiger Weise, von der richtigen Person ein- 
gebracht werden. 

2. Die Resolution laufe auf Teetotallism, nicht auf Massig- 
keit hinaus; sie werde schwere Unbilligkeiten gegen Diejenigen 
nothwendig machen, welche Capitalien im Getränkehandel an- 
gelegt haben; sie sei ein Eingriff der Teetotallers in die 
personliche Freiheit aller nüchternen Leute, denen man aus- 
schliessliches Wassertrinken aufdrängen wolle, insbesondere 
sei das Bier ein- nothwendiges Lebensmittel für die 
arbeitenden Klassen. 

3. Ein Gemeindebeschluss als entscheidende Instanz sei zu 
schwankend; man solle die Entscheidung über die Concessionen 
den Obrigkeiten belassen, bei denen sie seit 300 Jahren gewesen ; 
der Einfluss der Brauer auf den gewählten Ausschuss werde 
in kleinen Orten zu mächtig sein; es werde Unfrieden und 
Unruhe geben; selbst alle gntgehaltenen Schanklocale würden 
jedes Jahr von neuem Gefahr laufen, durch eine Majorität von 
zwei und drei Teetotallers die Concession zu verlieren, das 
sehe aber einer Confiscation sehr ähnlich. Uebrigens hätten 
ja die gesammten Wahlkorperschaffcen des Königreiches bereits 
über diese Frage abgestimmt und sie verworfen, indem sie 
eine Majorität dagegen in das Parlament schickten. 

4. Die Massregel würde in der Praxis unwirksam sein, 
denn alle Trinker würden in die Nachbargemeinde laufen, wo 
noch nicht geschlossen sei; der heimliche, gesetzwidrige Getränk- 
handel werde blühen. 

5. Man solle der fortschreitenden Volkserziehung Zeit 
zur Wirksamkeit gönnen; die Trunkfälligkeit nehme bereits 
sichtlich ab: man solle die Heilung der Krankheit der öffent- 
lichen Meinimg überlassen. — 

Die Regierung adoptirte .zwar diese Ansichten im wesent- 
lichen ; sie erklärte sich indessen damit einverstanden, dass die 
Gesetzgebung insoweit einer Verbesserung bedürfe, als bei 



168 Die Trinkkrankheit in England, 

neuen Concessionen die Bedürfniss frage strenger als bisher 
geprüft werden müsse. 

Die Resolution wurde mit einer Mehrheit von 88 Stimmen 
abgelehnt. Die früheren Majoritäten gegen die Permissive Bill 
waren gewesen: 1874: 226; 1875: 285; 1876: 218; 1877 wurde 
die Bill zurückgezogen; 1878: 194 Stimmen. 

Die Times weist auf diesen grossen Fortschritt hin. Femer, 
so hebt sie hervor, hätten dieses Mal die Parteien keineswegs 
geschlossen gestimmt, vielmehr 16 Conservative dafür und 34 
Liberale dagegen, imter diesen allerdings auch der Führer der 
Partei, der Marquis von Hartington. Der ganze Verlauf 
zeige Symptome einer herannahenden Auflösung des Par- 
lamentes. Die Resolution sowohl als die Gegenanträge und 
die Debatten seien offenbar nicht auf ein sofortiges Resultat, 
sie seien vor allem auf bevorstehenden Wahlkampf berechnet 
gewesen. 

Unter den im Parlamente zur Resolution gestellten 
Amendements wurde auch geltend gemacht: dass man vor 
weiteren Beschlüssen den Bericht abwarten solle, welchen der 
vom Oberhause niedergesetzte Ausschuss baldigst erstatten 
werde. — Dieser Bericht liegt, wie wir bereits wissen, jetzt 
vor. Er ist von hervorragendem Interesse, sowohl wegen der 
hohen Stellung und persönlichen Bedeutung seiner Verfasser, 
als auch weil er versucht, von einem ruhigeren und gewisser- 
massen imparteiischen Standpunkte aus, in dem wogenden 
unversöhnlichen Widerstreite der Meinungen und Interessen 
einen Mittelweg zu eröffnen. 

Diesen Mittelweg soll die Empfehlung des sogenannten 
Gothenburger Systems bilden, mit dessen Verbesserung durch 
Mr. Joseph Chamberlain: also das sogenannte Birmingham 
System. 

Ein schwedisches Gesetz von 1855 ermächtigte jede Ge- 
meindebehörde: den ausschliesslichen Verkauf der alkoholischen 
Getränke einer Gesellschaft zu übertragen auf Grundlage des 
Prinzipes: dass kein Privatmann irgend einen Gewinn aus dem 
Verkaufe von Spirituosen ziehen soll. Gothenburg war die 
erste Stadt Schwedens, in welcher sich nach diesem Gesetze 
im Jahre 1866 eine solche Gesellschaft aus den angesehensten 
Männern der Stadt bildete. Sie verpflichtete sich, den ganzen 



.Die Trinkkrankheit in England. 15 J 

Gewinn aus dem Unternehmen an die Stadtkasse abzuliefern 
unter alleinigem Abzüge der billigen Verzinsung des ange- 
legten Capitals zu 6 Prozent. 

Letzteres betrug 114,000 Mark; der Gewinn im Jahre 1876 
800,000 Mark; Gothenburg hat 65,000 Einwohner. Die Com- 
pagnie verringerte die Schankconcessionen von 119 auf 56; 
davon fallen 13 auf Weinhändler für Verkauf feinerer Spirituosen, 
mit Ausschluss von »Bränwin", aus dem Hause; 10 Concessionen 
wurden an Hotels, Clubs und Restaurationen vertheilt, 7 für 
Verkauf aus dem Hause und nur 29 für Schänken. Letztere 
sind geschlossen vom Sonnabend Abend sechs Uhr bis 
Montag Morgen acht Uhr. „Es scheint", so bemerkt der Be- 
richt der Lords ziemlich vorsichtig, „dass dieses System wohl- 
thätig gewirkt habe. Jedoch herrsche in Gothenburg die Un- 
mässigkeit immer noch in beträchtlichem Grade, und wenn auch 
in geringerem als vor 1866, so sei doch, nach den Wahr- 
nehmungen der Polizei, in neuerer Zeit die Trunkenheit dort 
wieder gestiegen. Diese Steigerung erkläre sich indessen aus 
der erhöhten, übervs'^achenden Thätigkeit der Polizeiorgane selbst, 
aus der Erhöhung der Arbeitslöhne und aus dem sehr niedrigen 
Preise der Getränke. Trotzdem stehe die Sache in Gothenburg 
günstig, denn während von 1865 bis 1875 die aufgegriffenen 
Trunkfalligen in Stockholm um 60 Procent, in Christiania um 
122 Procent stiegen, fielen sie in Gothenburg um 21 Procent"' 

Ein Engländer, der im vorigen Sommer Schweden bereiste, 
schreibt aus Gothenburg an die Times: von den 56 
concessionirten Schankstätten sind jetzt nur 37 offen; es fehlt 
an Bewerbern um den Betrieb der Geschäfte. In den Wirth- 
schaften bekommt man dort auch Speisen, Wein und Bier. Um 
9 Uhr Abends werden sie sämmtlich geschlossen. Ich ass in 
einer, welche im verrufensten Matrosenviertel liegt: die Speisen 
waren gut, ich bekam ein frisches, weisses Tischtuch, meine 
Gesellschaft waren Seeleute. Ich wanderte mehrere Tage lang 
durch alle Strassen und konnte nur drei Betrunkene entdecken. 
Soweit ist alles gut, die Sache hat aber ihre Kehrseite. 
Trunkenheit ist unterdrückt aber Trinken ist anständig 
geworden. Die Obrigkeit ist selbst der Wirth, also gehen 
alle respectablen Leute jetzt ohne Bedenken in's Wirthshaus. — 
Uebrigens ist die Stadtverwaltung entzückt über die Ein- 



170 Die Trinkkrankheit in England, 

richtung; Schulen, Armenhäuser, Hospitäler, öffentliche Gärten: 
alles blüht auf, trotzdem dass man im Jahre 1854 22 Liter auf 
den Kopf trank, im Jahre 1876 nur 10 Liter. 

Zur Zeit ist das Gothenburger System in Schweden von 
46 grösseren und kleineren Städten angenommen; nur eine 
einzige Stadt mit mehr als 5000 Einwohnern steht noch zurück. 
Die rasche Verbreitung entwickelte sich jedoch wohl nicht 
allein aus dem Wunsche: der Unmässigkeit zusteuern, sondern 
auch aus der Absicht: den grossen Gewinn zur Erleichterung 
der Gemeindelasten zu verwerthen. 

In ganz Schweden gab es 1 8 7 1 auf dem flachen Lande nur 
324 Schanklokale und 136 Concessionen für Branntweinhandel 
im kleinen. So fallen in diesem dünn bevölkerten Lande 
auf I Schanklocal: 10,500 Einwohner, auf eine Handelslicenz : 
25,000 Einwohner. Der gesammte Handel mit Spirituosen con- 
centrirt sich demnach in den Städten. 

Im Jahre 1877 brachte Mr. Chamberlain einen Gesetzent- 
wurf ein, welchem das Gothenburger System zu Grunde liegt, 
jedoch mit der Abändenmg, dass die Gemeindebehörde den 
Getränkhandel nicht einer Gesellschaft überlässt, sondern in 
eigene Verwaltung nimmt. Dieses sogenannte »Birmingham 
System« soll sich auf Städte beschränken, es soll die Gemeinde- 
behörde, auf Grund einer Abstimmung in der Gemeinde, 
ermächtigen: freiwillig oder durch Enteignung das Eigenthum 
aller Schanklocale zu erwerben; die Behörde kann diese 
schliessen bis auf einen gewissen Minimalsatz im Verhältnisse 
zur Einwohnerzahl, oder sie kann sie weiter betreiben lassen, 
jedoch nur so, dass kein Privatmann irgend einen Gewinn aus 
dem Handel zieht; in jeder Schänke sollen gleichzeitig warme 
Speisen, Thee und Kaffee verabreicht werden; die Gemeinde 
darf für diesen Zweck Geld aufnehmen; der Reingewinn soll 
zur Hälfte der Schulsteuer, zur anderen Hälfte der Armensteuer 
gutgeschrieben werden. 

Der Bericht des Oberhauses theilt femer mit, dass die 
Gemeindevertretung von Birmingham (400,000 Einwohner) sich 
nahezu einstimmig bereit gezeigt habe, dcts Experiment zu 
wagen. Dagegen erklärt nun aber der Vorstand der „Nationalen 
Vertheidigungsligxie der concessionirten Schänkwirthe" in der 
Times: dass die öffentliche Meinung in Birmingham sich durch- 



Die Trinkkrankheit in England* 171 • 

aus gegen Mr. Chamberlains Projecte wende und dass der Be- 
richt der Lords sich in Illusion über dessen praktische Durch- 
führbarkeit wiege! 

Der Bericht gedenkt dann auch der Einwürfe gegen das 
Gothenburger und das Birmingham System: principielle Un- 
sittlichkeit des Getränkhandels für die Obrigkeit; Unfähigkeit 
derselben zur Durchführung eines so umfassenden Unter- 
nehmens; Belastung der Stadt durch schwere Schulden; Un- 
wahrscheinlichkeit — im Falle des Gothenburger Systems — 
eine Gesellschaft zu finden, die aus reiner Philanthropie, ohne 
jeden Untemehmergewinn, das nöthige Geld schaffen und die 
Verwaltung gut führen würde. 

„Jedoch", meint der Bericht weiter, „sei die leider! zweifel- 
lose Wahrnehmung: dass die Trunksucht sich trotz aller 
einschränkenden Gesetze in den letzten Jahren nicht ver- 
mindert habe, wohl geeignet, den grossen städtischen Ver- 
waltungen über die soeben hervorgehobenen Bedenken 
hinwegzuhelfen". 

Die Empfehlung der Permissive Bill wird von den Lords 
ausdrücklich abgelehnt. 

Am meisten scheint der Ausschussbericht dem Sonntags- 
schlusse geneigt zu sein. Er erwähnt, dass die „Gesellschaft 
für Sonntagsschluss" eine freiwillige Abstimmung hierüber in 
England und Wales mittelst Fragebogen veranlasst habe. 
Dabei stimmten für den Schluss: 443,406 Familienväter; 
dagegen: 56,173; neutral blieben: 32,100. Auch weisen die 
Lords darauf hin, dass es eine Ungerechtigkeit sei, dem Dienst- 
personale der Schänkwirthe die Sonntagsruhe zu entziehen, die 
man allen anderen Aufwärtem (in Museen, Gallerien etc.) so 
ängstlich und eifrig wahre. Es handle sich hiebei um 340,000 
Männer und Mädchen in England und Irland. Während 
Weiber imd jugendliche Personen in den Fabriken gesetzlich 
nicht mehr als 56 Stunden wöchentlich arbeiten dürften, sei 
dieses Schankpersonal in der Woche 108 Stunden, in London 
sogar 123 1/2 Stunden, also mehr als 5 volle Tage in der 
Arbeit 

Die Kämpfer der United Kingdom Alliance haben 
natürlich diesen schwachen Punkt in der englischen Sonntags- 
feier sehr wohl erkannt: „Woher haben denn", so fragen sie, 



172 Die Trinkkrankheit in England. 

„in unserem frommen Lande die Trinkiocale allein das 
Privilegium: am Sonntage geöffiiet zu sein?" 

„Jedoch", so lautet die einigermassen überraschende 
Conclusion der Lords, „ist die öffentliche Meinung zur Zeit 
noch nicht reif ftir den Sonntagsschluss". 

IV. Die Aussichten auf Heilung der Trinkkrankheit. 

Im Vereinigten Königreiche werden, wie wir gehört haben, 
jährlich für berauschende Getränke 

2800 Millionen Mark 
ausgegeben, also auf jeden Kopf der 33 Millionen Bevölkerung 
84 Mark. Das wäre schon, selbst in einem verhältnissmässig 
so reichen Lande und selbst für einen unschädlichen Luxus 
eine sehr grosse Ausgabe. Aber diese Ausgabe wird von 
allen einsichtigen und unparteiischen Beobachtern als die 
hauptsächlichste Ursache der Verarmung und des Verbrechens 
bezeichnet. Jeder Staatsmann also, jeder Patriot, der seinem 
Vaterlande die grösste Wohlthat erweisen möchte, wird sich 
mit der Frage zu beschäftigen haben: wie diese böseste aller 
Pestilenzen aus der Welt geschafft werden kann? 

Der einzige Weg, auf welchem sie aus der Welt geschafft 
werden kann, geht, nach der festen Ueberzeugiing der Heil- 
künstler in der United Kingdom AUiance, durch das Parlament 

Es wird sich daher, für jetzt und für uns, diese Frage 
praktisch dahin abschliessen: 

Welche unter den zur Zeit im Parlamente für die Heilung 
der Trinkkrankheit vorgeschlagenen Methoden hat die grosste 
Aussicht auf praktische Anwendung und auf Erfolg? 

I. 

Lange Jahre hindurch wurde von den Anhängern des be- 
stehenden Zustandes der Grundsatz geltend gemacht: „Man 
kann die Menschen nicht mittelst einer Parlamentsacte nüchtern 
machen". 

Die Reformer antworten: „Wozu dann überhaupt ein- 
schränkende Gesetze? Hebt sie doch auf und überlasst die 
Heilung der alleinseliginachenden regelnden Wirksamkeit des 
Freihandels und der Gewerbefreiheit. Hebt dann aber auch 
die Einschränkungen des Giftverkaufes in den Apotheken auf, 



Die Trinkkrankheit in England. 173 

beseitigt die Schutzdeiche, die Hausthürriegel, deckt die 
Brunnen auf und lasst die Blinden und die Kinder im Wege 
der freien Concurrenz hineinfallen!" 

Die Heilung durch freie Bewegung wurde in der Praxis 
bereits versucht. Im Jahre 1830 schob man die Trinkkrankheit 
dem Monopol der Schanklocale zu (es waren damals in Eng- 
land und Wales etwa 50,000 Licenzen vorhanden) und gab, um 
den Branntwein zu verdrängen, den Bierhandel in England und 
Wales frei. Der damalige Premierminister, der Herzog von 
Wellington, erklärte: dieser Triumph über die Interessen der 
Monopolisten sei ein ebenso grosser Sieg als Waterloo. Was war 
der Erfolg? Der bekannte Sydney Smith, der für die Bill ge- 
stimmt hatte, schrieb einige Monate darauf: „Das neue Bier- 
gesetz hat seine Wirksamkeit begonnen. Jetzt ist jedermann 
betrunken. Alle brüllen und johlen, ausser diejenigen, die 
sich bereits am Boden wälzen. Das souveraine Volk ist in 
einem viehischen Zustande". 

Im Jahre 1860 versuchte Mr. Gladstone die Branntwein- 
vöUerei durch Herabsetzung der Weinzölle zu bekämpfen. 

Und das Ergebniss dieser beiden Versuche mit der ge- 
werblichen Freiheit? Im Jahre 1869 mussten Bier und Wein 
wieder unter Concessionszwang gestellt werden. 

So findet das System der freien Bewegung heute keinen 
offenen Vertreter mehr im Parlamente. Verschämt erscheint 
es wohl noch in dem Argumente: man solle die Heilung der 
Trinkkrankheit der fortschreitenden Volkserziehung und der 
geläuterten, öffentlichen ^Meinung überlassen. Allerdings hat 
sich noch kürzlich eine Stimme von grossem Gewichte, die des 
Lord Kanzlers Earl Caims in diesem Sinne ausgesprochen. 
Wenige Tage vor der letzten grossen Debatte im Unterhause 
präsidirte Lord Cairns einer Vorlesung des bekannten 
amerikanischen Mässigkeitsapostels, Mr. Gough, im „Christlichen 
Jünglingsvereine" und schloss seine einleitenden Worte wie 
^^Ig^- »Ich selber hege nur geringe Hoffnung, dass man die 
Menschen durch ein Gesetz nüchtern machen wird. Ich hoffe 
mehr auf die Wirkung anderer Ursachen und Einflüsse: auf 
cKe Macht der Ueberredung und des Beispiels; auf einen 
Wechsel der Gewohnheiten, Ueberzeugungen und des 
Geschmackes, welcher eintritt, sobald man das Licht und die 



1 74 Die Trinkkrankheit in England. 

Macht des Evangeliums in den Herzen der Menschen zur 
Wirksamkeit bringt". 

Dass die AUiance News und die anderen Organe der 
United Kingdom AUiance mit diesem quietistischen Stand- 
punkte des Lord Kanzlers einigermassen unsanft umspringen, 
können wir uns wohl vorstellen. 

2. 

Die gegenwärtige Majorität des Unterhauses hat sich, wie 
wir gesehen haben, seit den letzten Jahren schrittweise zu einer 
polizeilichen Regnlirung des Getränkhandels in der be-' 
schränkenden Richtung veranlasst gefunden. 

Die United Kingdom AUiance weist auf diesen Verlauf 
hin. „Die Politik der gesetzlichen Regulirung hat jetzt 
fünfzig Jahre lang freies Spiel gehabt — seht die traurigen 
Resultate! Sie ist vollständig niedergebrochen. Daneben hat 
es an Erziehung und Belehrung durch Geistliche und Laien, 
Templer, Teetotaller und Cacaopalast-Gesellschaften wahrhaftig 
nicht gefehlt! 

„Aber eines wissen wir jetzt alle: sobald der Getränk- 
handel und das Trinken erleichtert wurden, nahm die Trunk- 
sucht zu; sobald erschwert, nahm sie ab. 

„Auch Vater Mathews erziehender Einfluss war in gewissem 
Grade nur ein vorübergehender. Nicht etwa, dass die öffent- 
liche Meinung in Irland gewechselt hätte, aber in der Bewegung 
der Gemüther entstand ein Rückstau. Die vom Gesetze ge- 
billigten Versuchungen waren geblieben; die schwachen 
Menschen wurden bei Tausenden rückfällig. — Im Jahre 1867 
war der Erwerb gedrückt, der Alkoholconsum fiel um 80 MiUionen 
Mark; bessere Zeiten folgten, in neun Jahren stieg er um 
750 Millionen Mark; durch die jetzigen schlechten Zeiten ist er 
wieder im Sinken. — Wir Menschen werden nicht, wie etwa 
logische Maschinen, nur durch Gründe und Thatsachen geleitet 
sondern weit mehr durch den Einfluss der xms umgebenden 
Verhältnisse. Daher muss vor aUem die Gelegenheit beseitigt 
werden, welche »die Diebe macht«. Wir haben jetzt im Ver- 
einigten Königreiche über 200,000 Concessionen und ein Gang 
durch eine der grossen Verkehrsadern von London kann dar- 
über nicht zweifelhaft lassen: dass unter sechs Schanklocalen 



Die Trinkkrankheit in England. 175 

fünf jedenfalls überflüssig und schädlich sind. — Ein sehr 
wahres Wort sprach neulich Mr. Gladstone: „wir müssen vor 
allem es den Menschen leicht machen: Recht zu thun, und 
schwer: Unrecht zu thun, 

„Warum gleitet die vielseitige Belehrung und der Reiz 
der einladenden Kaifeehäuser von dem echten, eingefleischten 
Trinker ab, wie ein Spritzregen von einem Kautschukmantel? 
Darum: die einzige und wahre Ursache, weswegen die Menschen 
Alkohol trinken und sich damit vergiften, ist: dass ihnen das 
Getränk verführerisch wohlschmeckt! Ein Quäker sass einst 
in einem Bar room. Da kam ein Mann herein, blies in seine 
Hände und rief: »ein Glas Branntwein! mir ist so kalt«. Dann 
kam ein anderer gelaufen, trocknete sich den Schweiss von 
der Stirn und rief: »ein Glas Branntwein! mir ist so heiss«. 
Darauf sprach der Quäker ruhig aus seiner Ecke: »ein Glas 
Branntwein! es schmeckt mir so gilt«. Der Quäker allein 
redete die Wahrheit". 

3- 
Wenn wir die Ergebnisse erwägen, zu denen der Bericht 

der Lords gelangt, welche sind sie? 

Es wird constatirt, dass die Krankheit nicht abgenommen hat. 

Es wird angerathen, das ausländische Gothenburg-System 
mit der von Mr. Chamberlain vorgeschlagenen Verbesserung 
zu versuchen. Dieser Massregel wird nachgerühmt, dass man 
alsdann unverfälschte Getränke zu billigem Preise erhalten 
würde, und dass die beim Gewinne unbetheiligten Verwalter 
der Schanklocale ihre Kunden nicht zum Trinken anreizen würden. 

„Sollten", so fragt die United Kingdom AUiance, „die 
beiden ersteren Erwartungen wohl wirklich geeignet sein, das 
Trinken zu vermin dern? sollte die Anreizung durch die Wirthe 
wohl jetzt so hervorragend wdrken, neben der eigenen Neigung 
der Trinker?" 

Die „Alliance News" erklärt einfach: die Unmöglichkeit 
der praktischen Ausführung des Gothenburg-Chamberlain- 
Systems sei ja im Berichte des Lords selbst schon völlig 
schlagend dargethan; der ganze Vorschlag sei werthlos, 
das Ergebniss eines Compromisses zwischen den Parteien inner- 
halb der Commission und nur gemacht, um überhaupt irgend 
etwas gemeinschaftlich vorzuschlagen. 



1 i 6 Dte Trinkkrankheit in England, 

4. 

„Es bleibt daher*', so schliesst die United Kingdom AUiance, 
„von allen legislatorischen Vorschlägen nur der unsrige übrig: 
Verbot des Getränkhandels durch autonomischen Beschluss 
der Gemeinde, also Sir Wilfrid Lawsons Permissive Bill". 

Kürzlich erzählte Sir Wilfrid, ein Mann von sehr gesundem 
Humor, auf einem grossen Temperance-Meeting in Nottingham 
seinen Zuhörern folgendes Gleichniss: 

„Wir waren auf einer Versammlung im Norden und einige 
würdige Geistliche predigten über „Massigkeit", wie sie der 
Apostel Paulus in seiner diätetischen Ermahnung dem 
Timotheus empfiehlt, (i Tim. 5, 2^: „Trinke nicht mehr 
Wasser, sondern brauche ein wenig Wein um deines Magens 
willen und dass du oft krank bist**.) Völlige Enthaltsamkeit 
verwarfen die Reverends demnach. Da erhob sich ein alter 
Farmer und sagte: derartige Reden höre ich schon seit 
40 Jahren, aber die Leute sind dadurch auch nicht ein bischen 
nüchterner geworden. Es fallt mir dabei immer ein, was ich 
einmal in einer Heilanstalt für Schwachsinnige mit ansah. Von 
Zeit zu Zeit werden die Patienten dort geprüft: ob sie im 
Stande sind, ausserhalb des Asyls zu leben? Man führt sie an 
einen grossen Trog voll Wasser, der durch ein kleines stets 
laufendes Rohr gespeist und gefüllt erhalten wird; dann gibt 
man ihnen einen Schöpflöffel in die Hand und weist sie an: den 
Trog zu leeren. Wer noch nicht wieder hinreichend vernünftig 
geworden ist, löffelt nun darauf los, während das Wasser aus 
dem Rohre ebenso stark zuläuft, als sie es auslöffeln: wer aber 
kein Idiot ist, der verstopft zuerst und vor allem das 
Zulaufrohr". 

Als wir vor 25 Jahren anfingen, so fahrt die United 
Kingdom AUiance fort, die öffentliche Meinung zu bearbeiten^ 
erklärte man uns für irreligiös, die wir die Vorsehung corrigiren 
und die gute Gottesgabe: „Alkohol" wieder aus der Welt 
schaffen wollten. Jetzt haben wir schon eine der mächtigsten 
Klassen Englands gewonnen, die Aristokratie der Arbeiter. 
Nicht so fruchtbar allerdings war unsere Propaganda im eigent- 
lichen Mittelstande und in den höchsten socialen Schichten. 



Die Trinkkrankheit in England, 177 

Wir knüpfen einfach an die Lehre des Erlösers an. Was 
soll, neben dem täglichen Brote und der Sündenvergebung, 
unsere vornehmste Bitte sein? »führe uns nicht in Versuchung^ 
Dieses grösste Anliegen der schwachen Menschenkinder ist der 
Ausgangspunkt unserer Arbeit. 

Und das ist nicht etwa eitel fromme Theorie; hört nur, 
wie es wirkt, wenn die Versuchung fem gehalten wird: 

Vor dreissig Jahren schon ermittelte die Generalsynode der 
schottischen Kirche : dass dort von 478 Kirchspielen 40 ohne 
Schänken waren und dass in diesen 40 Bezirken keine Trunken- 
heit vorkam. 

Vor zehn Jahren wurden in der südlichen Kirchenprovinz 
Englands, der Erzdiöcese Canterbury, über 1000 solcher von 
Schänken freier Kirchspiele ermittelt und zugleich der hervor- 
ragende Stand der Sittlichkeit in ihnen constatirt. 

In Irland hat die Stadt Bessbrook 3000 Einwohner, aber 
kein Schanklocal und die Trunksucht ist dort unbekannt. 

Im Jahre 1870 berichtete Lord Claud Hamilton, einer der 
Vicepräsidenten der United Kingdom AUiance und M. P. für 
die Grafschaft Tyrone in Irland, (mit 10,000 Einwohnern): „dort 
giebt es jetzt keinen Handel mit berauschenden Getränken 
mehr; früher waren die öffentlichen Wege stets durch trunkenes 
Gesindel unsicher und daher ein grosser Aufwand von Polizei- 
mannschaft erforderlich. Jetzt ist kein einziger Polizeimann im 
Districte und die Armensteuer ist auf die Hälfte gesunken". 

Wir besitzen ferner ein Schreiben vom Gouverneur des 
Staates Maine in Nordamerika, vom 24. April 1878, folgenden 
Inhaltes: „Nach einer Erfahrung von 25 Jahren wird das ge- 
setzliche Verbot der alkoholischen Getränke von unseren beiden 
politischen Parteien als ein wohlthätiges anerkannt. Das Ge- 
setz wird mit derselben Leichtigkeit angewendet wie jedes 
andere Strafgesetz. Ich denke nicht, dass die Bevölkerung von 
Maine aus irgend einem Grunde wünschen könnte, zum alten 
System der Schankconcessionen zurückzukehren". 

Im Mai 1878 ist in Canada ein Temperaneegesetz erlassen, 
im wesentlichen auf der Grundlage unserer Permissive Bill; 
in den Städten und Grafschaften wird davon der ausgedehnteste 
Gebrauch gemacht. 

„Wie kann man nun", so folgert die United Kingdom 

Ompteda, L. v., Bilder. 12 



178 Die Trinkkrankheit in England. 

AUiance, „wie kann man den Einwohnern von England ver- 
weigern, was ihren Brüdern in Canada gewährt ist? Wie kann 
man es den Einwohnern jeder einzelnen Stadt und jedes Kirch- 
spiels verweigern, wenn sie den Versuch machen wollen, sich 
und die Ihrigen gegen die verderblichen Folgen des jetzigen 
Systems der Schankconcessionen, gleichwie in Canada, zu 
schützen?" 

„Man sollte doch denken", sagte Sir Wilfrid kürzlich m 
einer Rede, „das sei keine politische Parteifrage! Vor einiger 
Zeit feierten wir die Vollendung einer Abtheilung von neuen 
Bauquartieren in einer der Vorstädte Londons; sie enthält 
I200 Häuser und 8000 Einwohner. Es befindet sich darin kein 
einziges Schanklocal. Der Premierminister (Lord Beaconsfield) 
war auch gegenwärtig und sprach in Beziehung hierauf 
Folgendes: „Der Versuch, den Sie gemacht haben, ist gelungen 
xmd kann daher kaum mehr »Versuch« genannt werden; es ist 
ein Erfolg, es ist ein Triumph der sittlichen Erhebung einer 
ganzen communalen Körperschaft". 

„Nun*', fragt Sir Wilfrid, „warum sollen denn andere Ge- 
meinden diesen Versuch, der bereits ein Erfolg ist, nicht machen 
dürfen? Die richtige Antwort darauf ist: weil imsere 
moralischen und christlichen Männer sich nicht entschliessen 
können, ihre Moral und ihr Christenthum auch in ihrer Politik 
zur Anwendung zu bringen; weil sie ihre Parteipolitik über das 
wahre Interesse des Landes stellen. Die grossen Brauer und 
Getränkhändler sind sehr reich — Reichthum ist Macht — 
diese Macht schickt ihre Majorität in's Unterhaus". 



Ein strenges Urtheil. Ob es ein gerechtes ist? Erst die 
nächsten Wahlen werden darüber die praktische Entscheidung 
geben. Augenblicklich also kann niemand sagen: wann und 
wie dieser grosse Streit ausgetragen werden wird. Wird die 
United Kingdom AUiance siegen? Wird die »Schankwirth- 
partei« nochmals die Oberhand behalten? Wird man einen der 
vielen vorgeschlagenen Mittelwege betreten? Der letzte Jahres- 
bericht der United Kingdom AUiance lautet sehr hoffnungsvoll: 
„Kommende Ereignisse werfen ihren Schatten vor sich her, 
und wir können nicht verkennen, dass wir während des letzten 
Jahres (1878) in der Gesetzgebung viel Feld gewonnen haben. 



Die Trinkkrankheit in England, 179 

Wir müssen aber, das wissen wir wohl, nicht nur eine einfache 
Majorität im Parlamente, wir müssen die überwältigende 
Mehrheit der Nation für uns haben. Die öffentliche Mei- 
nung aber wächst nur langsam, daher werden wir unablässig 
%vrühlen, bis wir den grossen Freudentag erleben, an 
welchem sich unsere Alliance wird auflösen können*). 

Wenn dieHeilung der Trinkkrankheit wirklich gelänge, 
so würde damit England allen andern Nationen, die mehr oder 
weniger an demselben Uebel leiden, ein neues, grosses Beispiel 
der Selbsthülfe geben. Nach den uns bekannt gewordenen 
Symptomen dürfen wir wohl die Prognose stellen: England ist 
schwer krank, aber es trägt die starke Lebenskraft und die 
volle Fähigkeit zur Reaction gegen den KrankheitsstofF aus- 
reichend in sich, um wieder zu gesunden. 

Jedenfalls aber weisen die 14,000 englischen Geistlichen, 
welche die Adresse wegen der „Nationalsünde" überreichten, 
auf den rechten Weg zur Genesung, da jeder von ihnen an 
jedem Sonntage mehre Male vor versammelter Gemeinde betet: 

„Führe uns nicht in Versuchung!" 



*) Die Entscheidung des Kampfes ist allerdings aus dem Ergebnisse der letzten 
Neuwahlen heute noch nicht direct abzuleiten; auch stellt die neueste Thronrede 
keine Gesetzgebung über die Xrinkkrankheit für die laufende kurze Sitzung in 
Aussicht. Jedoch ist die siegreiche liberale Partei dem Interesse der Schankwirthe 
entschieden so wenig günstig gesinnt — wie ihnen Mr. Bright kürzlich ziemlich un- 
Terblümt erklärt hat — dass die Regierung wohl höchst wahrscheinlich im nächsten 
Jahre mit reformatorischen Vorschlägen her\'ortreten wird, wenn diese vielleicht auch nicht 
ganz so weit gehen werden als Sir Wilfrid Lawsons »Local Option Bill«. (Mai, 1880). 



12" 



Irrfahrten in London. 



I. Das unterirdische Labyrinth. 

VV eit ab vom grossen Strome des Lebens, der London von 
Osten nach Westen durchbraust, liegt der Regent's Park. Er 
macht einen veralteten Eindruck, wie eine gefallene, zur Ruhe 
gesetzte Grosse und doch ist er unter den g^rossen Parks 
im Westend der jüngste. Hier rauschte Jahrhunderte lang ein 
weiter königlicher Jagdforst; zu Cromwells Zeiten wurde er 
niedergeschlagen; dann lag die Gegend viele Generationen 
hindurch als wüste Weide. Vor sechzig Jahren etwa, als das 
heutige Westend noch kaum begonnen hatte, sich um 
Hyde Park zu krystallisiren, damals sollte hier ein vornehmer, 
architektonisch grossartiger Stadttheil gegründet werden, fem 
vom Lärm der City, der bereits über den Strand hinaus bis 
Leicester Square vordrang; ein Stadttheil von Palästen, welche 
drei Seiten eines Parkes von etwa siebenhundert Morgen 
Grundfläche einfassen. Aber diese Paläste bestehen eigentlich 
nur in breiten anspruchsvollen Fassaden, die mit einem üppigen 
Reich thum von Stilmengerei ausgeführt sind. Fast ein jeder 
von ihnen zerfallt im Innern m eine Anzahl schmaler Häuser 
von drei bis vier Fenstern Front, echte englische Wohnhäuser. 
Ein mächtiger Herr, König Georg IV, wollte das aristokratische 
London hier niederlassen, aber eine noch mächtigere Dame: 
die Fashion, siedelte das High Life um Hyde Park an, in 
Belgravia und Tybumia. 

So liegt der grosse Park mit seinem langgestreckten und 
gewundenen See, der einem breiten, hie und da um Inseln 
stromenden Flusse gleicht, mit seinen jetzt herangewachsenen 
dichtbelaubten Baumgruppen einsam da. Nur fröhliche 



184 Irrfahrten in London. 

Kinder und stille Menschen beleben ihn. Gegen Norden 
schweift der Blick über die entfernte hügelige, jetzt schon 
halb städtische Landschaft von Primrose Hill. 

In der Peripherie von Regent's Park stossen wir an 
einigen Punkten auf verstreute Niederlassungen: parkähnliche, 
schattige, alte Gärten um kleine Schlösschen, im Stile der 
Gothik vor fünfzig Jahren. Hier führen die Bewohner zu allen 
Jahreszeiten eine stille träumerische halb ländliche Existenz, 
und es ist von hier eine Reise bis zur „Stadt". — 

Mit meinem Freunde R., der mich vor zwei Tagen durch 
sein Erscheinen in London angenehm überraschte, während ich ihn 
noch, auf den Spuren Schliemanns, im fernen Osten wähnte, hatte 
ich schon am frühen Vormittage hieher einen Ausflug gemacht 
Wir durchwanderten den im Norden von Regent's Park ge- 
legenen Zoologischen Garten, wo ich der einzigen Gelegenheit 
in meinem Leben: auf einem zahmen Elephanten zu reiten, nur 
schwer widerstand. Freund R., den vielgewanderten Orient- 
reisenden, Hess diese Versuchung selbstverständlich kalt Dann 
sprachen wir in einem der stattlichsten jener halb ländlichen 
Landsitze, der Abbey Lodge am Hannover Gate, bei einem 
gastfreien deutschen Landsmanne, wohlbekannten Namens, vor. 

Im Scheiden fragten wir nach der nächsten Station der 
Metropolitan Eisenbahn, oder wie ihr populärer Name lautet: 
des „Underground". Wir wurden nach Bakerstreet gewiesen. 

„Achten Sie aber wohl darauf, dass Sie in den richtigen 
Zug kommen und richtig wieder aussteigen. Auf der nächsten 
Station „Edgeware Road" theilt sich die Bahn. Der „Under- 
ground" hat vielfaltige Verzweigungen. Sie sind beide erst kurze 
Zeit hier und schon mancher Fremdling ist in dieser hastigen 
dunklen Welt auf Irrwege gerathen". — 

Wir traten in das Haus ein, das sich durch sein Schild als 
„Bakerstreet District Metropolitan Railway Station" auswies — 
und lösten unser Billet nach Victoria Station, wo R^ im 
Terminus-Hotel wohnte; Auf einem Absätze der dunklen Treppe, 
die wir jetzt hinabstiegen, controlirte ein Beamter unser 
Billet und murmelte dabei eine kurze Phrase, die höchst 
%yahrscheinlich zu unserer weiteren Direction dienen sollte. 
Wir verstehen etwa soviel als: „auf dieser Seite bleiben". 

Unten gelangen wir in eine Glashalle, die durch ein- 



Irrfahrten in London, 185 

fallendes Oberlicht spärlich erhellt wird und von Schienen 
durchzogen ist. Diese verschwinden zu beiden Seiten in die 
Stollenmündungen dunkler weiter Tunnels. In der Höhe fuhrt 
eine Brücke quer über die Gleise auf den gegenüberliegenden 
Perron hinab. 

Wir bleiben diesseits. 

Zur gprösseren Sicherheit wende ich mich nochmals wegen 
des richtigen Zuges an den dienstthuenden Portier. Die 
Antwort lautet: „In zwei Minuten". Jetzt erhebt sich ein 
rasch anschwellender Donner und ein Zug schiesst aus dem 
Tunnel links hervor. Er hält am jenseitigen Perron. — Ein 
kleiner Anfall von Eisenbahnfieber erfasst uns, wider besseres 
Wissen eilen wir dem Fusse der Brücke zu — der Zug ist 
schon wieder nach rechts verschwunden. 

Also unsere Richtung ist in den Tunnel links. 

Ueber uns zeigen drei grosse, in weiten Zwischenräumen 
vorspringende Schilder die Plätze an für das Einsteigen in 
Klasse I — II — IIL Wir stellen uns gehorsam bei 
,JClasse I" auf. 

Jetzt schiesst ein donnernder Zug aus dem Tunnel rechts 
hervor. Noch hält er nicht, so öffnet man schon eilfertig von 
innen die Thüren, Menschen stürzen heraus — andere hinein. 
Vor uns weit und breit kein Wagen erster Klasse zu sehen. — . 
„Wo sind sie?" — Vermuthlich dort ganz hinten — »Wo ist der 
Conducteur?" — Wir irren die Reihe entlang. • Da geräth der 
Zug bereits wieder in Bewegung, ein Portier schlägt jede an ihm 
vorbeifahrende Thür zu ! — Fort ist der Zug — wir bleiben sitzen. 

„Aber wir wollten mitfahren, nach Victoria Station, wir 
konnten den richtigen Waggon nicht finden, es war ja gar keine 
Zeit einzusteigen, niemand öffnete"» . . 

Antwort: „In sechs Minuten". 

Wir fassen uns in Geduld, gehen eine kurze Strecke auf 
und ab und studiren einstweilen im Halbdunkel die unzähligen 
grossen Placate an den Wänden: Annoncen jeder Art, und 
über der grössten Gruppe ragt auch hier, wie überall in 
London, in rothen Riesenlettem: „Willing & Co." empor. 

Jetzt wieder ein nahender Donner, unser Zug stürmt 
herein — hält -* wir stürzen blindlings in's nächste Coupe, 



186 Irrfahrten in London, 

ohne Ansehen der Klasse — fort, — hinein in den finsteren 
Tunnel links! 

Einmal in Bewegxing, ist es nicht so schlimm; die Waggons 
sind mit Gas erleuchtet, das auf der Locomotive bereitet wird; 
es ist hell genug zum Lesen und natürlich liest jedermann. 
Zuweilen sausen wir durch einen Schein von oberem Tages- 
lichte, dann sieht man wohl auf Nebengleisen Wagen stehen 
oder in einer Aushöhlung der Wand fliegt ein Wärter mit 
Laterne vorbei, aber alles ist schatten- und traumhaft 

Der Zug fahrt in eine Halle ein und steht. 

— „Station Edgeware Road" — ! 

Fast alle Fahrgäste steigen aus, wir bleiben, wir sind ja 
im richtigen Zuge nach Victoria Station; wir vertiefen uns also 
mit Seelenruhe in Willing & Co. und die Neuigkeiten der Fall- 
Mall Gazette. 

Der Zug fahrt imd hält — fahrt und hält — Nach einiger 
Zeit bemerke ich beim Lesen — bereits war ich auf der 
vierten Seite des Blattes angekommen — , dass das Tageslicht 
im Coup6 die Oberhand gewinnt; ich sehe mich um, wir ver- 
lassen soeben eine offene heitere Halle, links und rechts 
erfrischt grüne halb ländliche Umgebung unsere überreizten 
Augen. 

„Wo sind wir denn wohl?" fragt Freimd R., der am 
Fenster sitzt. 

„Ich denke, zwischen Kensington Palace und dem Museum 
von South Kensington. Wir haben jetzt Hyde Park in 
grossem Bogen rechts umfahren. Ich dachte nicht, dass die 
Gegend hier noch so ländlich offen sei. 

„Ich sehe nichts von einem Palace", erwiderte R. umher- 
blickend, „weder rechts noch links. — Was ist denn wohl dort 
oben rechts? ein Friedhof! wie es scheint sehr ausgedehnt; 
gieb einmal den Bädeker her". 

„Allerdings", stimme ich zu, „ein sehr grosser Friedhof*. 

Wir Studiren die flatternde dreigetheilte Karte. „Hier 
steht's: „Kensal Green Cemetery". 

Der Zug hält Wir recken die Hälse, um unter den 
unzähligen Placaten, die das Auge verwirren, den Namen der 
Station aufzufinden. Auch hier drängt sich wieder der rothe 



Irrfahrten iit^ondon. 187 

„WilHng & Co." vor, die Firma des grossen Generalagenten 
für Riesenplacate. — 

Endlich finde ich den Namen: „Notting Hill Station". 

».Aussteigen!" rief ich, »»aussteigen! wir sind ja gar nicht 
mehr in London» sondern schon auf dem halben Wege nach 
Windsor!" 

Glücklich springen wir noch auf den Perron und der Zug 
saust davon. — 

Wir tragen dem nächsten Beamten unsem Fall vor. 
Zufallig hatte er Zeit zu hören und zu antworten: 

»»Ueber die Brücke, das andere Gleis, nächster Zug". Das 
gelang; — in einer Viert elsturifle waren wir wieder richtig 
über Bishops Road in Edgeware Road, auf der Hauptlinie 
für Victoria Station eingetroffen. 

„Jetzt werde ich die Leitung in die Hand nehmen, Du ver- 
stehst das noch nicht recht", erklärte Freund R. mit der 
Sicherheit eines Vielgereisten. 

Er trat zum Beamten, kam zurück und winkte mir: 
„Ueber die Brücke, andere Seite". 

Nach wenigen Minuten rollten wir wieder vorwärts, ge- 
hoben durch das angenehme, sichere Gefühl, jetzt auf der 
richtigen Spur zu sein: Bald sollten uns nun die alten Bäume 
von Kensington Gardens winken — es war wirklich sehr wohl- 
thuend. — 

!Mein Auge verlässt jetzt Bädekers rothe Linien nicht 
mehr — 

Station. — 

„Das muss Paddington Praed Station sein, nach der Karte". 

Ich suche das Schild: — „Willing & Co.!" Hol' ihn . . . 
Hier: »»Bishops Road!" Hinaus sprang ich» ärgerlich und 
lachend. 

„Oho, grosser Reiseführer, komm heraus!" rief ich, „wir 
sind wieder auf der falschen Linie!" 

Er sah mir ungläubig nach und — folgte. Da standen 
wir nun wie die Oh! — 

,Jetzt hab' ich's aber satt", erklärte ich. „Vor allem hinaus 
aus diesem verdammten Labyrinthe von Stationen; wir müssen 
den Zauberring durchbrechen, in dem ein böser Geist uns auf 
Irrwegen im Kreise, herumführt. Draussen finden wir wohl ein 



188 IrrfaU0ftn in London. 

Cab oder einen menschenfreundlichen Omnibus, die uns wieder 
in bekannte Gegenden bringen". 

Wir stiegen zunächst die grosse Treppe vor uns hinauf, 
an' welcher der „Way out'* zu lesen war. Oben standen wir 
wiederum rathlos da, denn wiederum fuhrt vor uns nach jeder 
Seite eine breite Treppe hinunter. — 

Dem Himmel sei Dank! ein Billetcontroleur nähert sich. 

Wir klagen ihm unser Leid, so kurz und bündig als möglich. 

Er lächelt sachverständig überlegen aber nicht ohne Wohl- 
wollen. 

„Sie sind jetzt zum zweiten Male auf der falschen Linie, 
aber das Unglück ist hier niCht so gross. Die breite Treppe, 
rechts vor uns, fuhrt Sie hinab in die gprosse Halle der 
Paddington Station der Great- Western -Bahn. Kreuzen Sie 
diese Halle und gehen dann quer über die Strasse; dann haben 
Sie Paddington Praed Station der Metropolitan -Eisenbahn 
vor sich". 

„Vielen Dank!" betheuerten wir; „haben wij^ nachzuzahlen 
für die Excursion der letzten Stunde?" 

„Nichts, es ist nicht der Rede werth; ich nehme an, Sie 
irrten sich nicht mit ^^r Absicht: die Gesellschaft zu be- 
schädigen". — 

Und richtig, alles traf ein wie der kluge Mann prophezeit hatte. 
Auch Freund Bädecker drohte von hier aus mit keiner Zweig- 
bahn mehr und wir rollten jetzt in dem beruhigenden Gefiihle 
baldiger Erlösung durch die Schrecken des Underground dahin. 

„Nun, grosser Orientreisender^S interpellirte ich Freund R., 
„Du siehst, ich bin gerechtfertigt; das geht hier doch ein wenig 
anders zu als am goldnen Hom". 

„Sage lieber**, erwiderte R. bedächtig, „wir sind beide 
gleich ungerechtfertigt. Aber die Sache ist die: im Orient 
wissen die Menschen heute noch nicht: was Zeit ist? und hier 
— haben sie es beinahe schon wieder vergessen!" 

„O ja!" stimmte ich bei, „aber nur für andere — nämlich 
dass zu gewissen Dingen doch ein gewisses Minimum von Zeit 
erforderlich ist. Mich wundert, dass die Züge des Underground 
überhaupt noch die Zeit finden zu halten; man sollte irgend 
eine Maschine aufstellen um die Menschen, wie die Postbrief- 



Irrfahrten in London, 189 

beutel, in den fahrenden Zug hinein und wieder hinaus zu 
expediren". < — 

Wir lachten beide; es war so erfreulich, beinahe rührend, 
wieder mit Gemüthsruhe lachen zu können. 

„Uebrigens", fuhr ich fort, „kommt doch noch hinzu, dass 
die Directiven der Beamten für uns ganz speciell unverständ- 
lich sind. Die Männer sind gewohnt, Ortskundigen zu ant- 
worten. Für diese genügt das einzige kurze Wort. Deshalb 
wird auch nie ein.e Station oder ein Wagen Wechsel ausgerufen. 
Wir Fremde sind natürlich unbehülflich und können nicht fertig 
werden ohne einen wortreichen Führer, womöglich gar einen 
„gemüthlichen" Sachsen. 

»Victoria Station!« 

„Endlich; wir fühlten uns hier beinahe wie zu Hause, denn 
Victoria Station war bis jetzt der einzige Punkt, der in unserer 
Topographie von London völlig festlag und um den wir uns 
daher mit Vorliebe drehten. 

„Jetzt rasch die Billets nach Alexandra Palace; er steht 
auf dem heutigen Programme als Nachmittagsvergnügen". 

Am Ausgange der Halle nimmt man uns die alten Billets: 
„Bakerstreet — Victoria Station" ab. 

Wir erkundigen uns dabei über Weg und Zeit zum Alexandra 
Palace. 
^ Der Beamte sieht uns verwundert an. 

„Sie wollen dort hin?" fragt er mit Betonung. 

„Allerdings; über King's Gross Station, nicht wahr?" 

„Gewiss, das ist^der Weg; aber — Sie kommen ja jetzt 
beinahe von King's Gross her. Von Bakerstreet hätten Sie bis 
dort nur zwei kleine Stationen gehabt". 

„Und wir fahren von Bakerstreet hierher jetzt bald zwei 
Stunden !" 

Der Mann antwortete nicht weiter, aber ich wusste — was 
er von den »Fremden« dachte. — Well, never mind! 

„Nein, nicht zurück", rief jetzt R., als wir zum Billet- 
hureau hinaufstiegen, „vorwärts, gen Osten; ich dächte, den 
»näheren« Weg nach King's Gross kannten wir jetzt gerade 
ausreichend". 

Nach Bädekers Karte bildet die Metropolitan-Eisenbahn, 
welche wir heute zu erforschen verurtheilt scheinen, eine 



190 Irrfahrten in London. 

geschlossene Ellipsoide auf dem linken Ufer der Themse, deren 
südlichster Punkt etwa Victoria Station ist, der nordlichste 
King's Gross. Wir kamen also von Bakerstreet aus dem 
Norden durch den äussersten Westen nach Süden; nun müssen 
wir durch Osten nach Norden zurück, eine vollständige Windrose. 

Von Victoria Station geht es jetzt zur Westminster Brücke 
und von dort, unter dem prachtvollen neuen Themse-Quai, dem 
Albert Embankment entlang, den Strom hinab bis zur Blackfriars 
Brücke. 

Hier verlassen wir den unterirdischen Zug, der bis zum 
Mansion House weiter rollt, und steigen eine hohe Treppe 
hinan zur Oberwelt. Zu Fusse erreichen wir reisch die Station 
Ludgate Hill neben St. Paul's Kathedrale und fahren nun auf 
dieser Linie quer durch die City, von Süden nach Norden, zum 
Bahnhofe von King's Gross. 

Die Bahn durchschneidet dia Hügel und Thäler von High 
Holbom; sie läuft nur in Tunneln und tief versenkten engen 
dunklen Einschnitten, abwechselnd mit hoch aufgemauerten 
Viaducten. Zu beiden Seiten bemerkt man, dass — überhaupt 
gar keine Aussicht ist und — liest weiter in der Pall-Mall. 

Hinter King's Gross geht die gedrängte Gity in die lockere 
geräumige Vorstadt über; jetzt wird die Gegend halb, dann 
ganz ländlich. Wir steigen die grünen buschigen Hügel von 
Middlesex liinan und halten, nach einer weiteren halben 
Stunde, an der Station von Alexandra Palace. 



n. Bauernfänger. 

Hier verlassen wir den Zug am Fusse eines breiten, sanft 
abfallenden Hügels und betreten einen offenen Park; weite, 
wenig gepflegte Grasflächen mit kurzem festgetretenen Rasen, 
wenige und noch junge Bäume, einige immergrüne Gruppen; 
Gesammteindruck : kahl. 

Auf der Höhe sehen wir eines der modernen architektonischen 
Ungethüme liegen, aus der Familie: Industriepalast; hyper- 
trophisch in jeder Dimension; über dem Mastodon schwebt 
eine mächtige flache Glaskuppel hoch im blauen Aether, flan- 
kirt von vier viereckigen Eckthürmen. 

„Wohin jetzt?" fragte R., indem er zweifelhaft umherblickte* 



Irrfahrten in London» 191 

„Lassen wir uns von unseren eingeborenen Reisegefährten 
in's Schlepptau nehmen*' schlug ich vor. 

Wir durchschnitten zunächst eine unabsehbare Rennbahn 
und kamen an einen kleineren abgegrenzten Platz, zu Füssen 
einer langen und tiefen Zuschauertribüne. Der Platz ist von 
Grräben, Hecken, niedrigen Backsteinmauem und hohen irischen 
Wällen durchschnitten: ein Springgarten. 

Die Einzäumung war rings mit Menschen dünn besetzt; in 
der Mitte, auf dem Sattelplatze, sah man einzelne Pferde unter 
Decken, Reiter und sonstiges Turf- und Stallpersonal. 

„Das wird der Horse Show sein, von dem im Waggon die 
Rede war*', bemerkte R. 

„Vor Taschendieben wird gewarnt**, citirte ich unwillkürlich, 
meine Nachbarn betrachtend. 

Jetzt setzt sich einer der Jockeys in Galopp und reitet 
gegen eine hohe Hecke an, in der sich jedoch ein breiter 
niedriger Ausschnitt befindet. 

— Allgemeine Spannung. — 

Reiter und Pferd entwickeln sehr viel Schneide im Anlaufe, 
aber im entscheidenden Augenblicke, dicht vor dem Hinder- 
nisse, reisst der Nerv, beide drehen kurz um und kantern ruhig 
wieder zurück. < 

— Murren im sachverständigen Publikum. — 
Nochmaliges x\nreiten — derselbe Erfolg. — Das Murren 

geht in Grunzen über. — 

Nun setzt derReiter zum dritten Male an, der Gaul erhält 
einige kräftige Hülfen, er soll und muss hinüber, die 
Reputation — oder sonst etwas — steht auf dem Spiele. 

Dieses Mal hebt sich das Pferd, es will hinüber, aber der 
Sprung ist zu kurz, die Hinterfüsse bleiben hangen, das Thier 
überschlägt sich nach vom, der Reiter trennt sich rechtzeitig 
und fliegt, in seinem heftigen Schwünge beharrend, mehrere 
Schritte vorwärts in eine weiche, nachgiebige Schmutzlache. 

Jedoch scheint diese Extraleistung weder dem Manne un- 
gewohnt, noch dem Publicum unerwartet oder gar aufregend 
zu sein. Der Reiter springt auf seine Füsse wie eine Katze, 
schüttelt sich ein wenig, reisst den Gaul in die Höhe, sitzt auf 
und galoppirt kaltblütig um die Hecke herum zum Sattelplatze 
zurück. 



iV2 Irrfahrten in London, 

Jetzt nimmt eine Dame in dunkelblauer Amazone und mit 
tadelloser Taille die Backsteinmauer; diese Künstlerin aber 
macht die Sache etwas zu glatt, man merkt die einstudirte 
Circusfertigkeit zu deutlich und das Kunststück imponirt den 
Kennern nicht mehr. — 

„Gehen wir weiter", schlug ich vor, „diese Vorstellung ist 
mir zu aufregend". 

Wir kommen an einem Erfrischungshause vorüber — es 
ist geschlossen; über einen grossen Cricketplatz — keine Seele 
zu sehen. Dann erscheint ein japanisches Dorf, es stand im 
Jahre 1873 in Wien auf der Ausstellung — vermuthlich sind 
inzwischen die Eingeborenen in ihre östliche Heimath zurück' 
gekehrt, denn es ist still und öde darin. — 

AUmälig steigen wir den breiten Hügel hinan, dem Palaste 
entgegen. 

„Gross ist er wirklich", bemerkt R., nachdem er den Freund 
Bädeker consultirt hat, „die Grundfläche des Gebäudes beträgt 
zwölf Morgen. Die Mauern sind aus gelbem Backstein aufge- 
führt in allerlei Mustern; dazwischen Friese, Risalite, Fenster- 
einfassungen und sonstige Decoratiönen aus Portland-Cement 
— Echt modern". 

Wir betreten zunächst eine breite, leere, etwas mangelhaft 
gekehrte Terrasse, gewiss über hundert Meter lang. Die weite 
Fläche vor uns ist nur ein einziges Mal unterbrochen, dort 
hinten, durch drei einsame eiserne Gartenstühle, auf denen 
zwei Damen, und ein Mops ausruhen. 

Längs der Gartenmauer trauern in den Zwischenräumen 
der grossen Glasthüren einige trockene, vernachlässigte Oleander 
in verwitterten Holzkübeln. 

Die Aussicht hier ist weit und erfrischend, die grüne 
hüglige Landschaft von Middlesex erstreckt sich in ungemessene, 
wellige Femen. 

„Wir wollen hineingehen", meinte ich, „wahrscheinlich 
ist drinnen etwas ganz besonderes los, da niemand hier 
draussen ist". 

Nach verschiedenen Irrwegen gelangen wir in die riesige 
Central Hall. An der Wand uns gegenüber ein riesiger 
erhöheter Orchesterplatz. In seiner Mitte hockt ein winziges 
Häuflein von etwa dreissig bis vierzig Musikern, die hier sind 



Irrfahrten in London. \do 

„versammelt zum fröhlichen Thun". Daneben steht eine 
riesige Orgel, davor ungezählte Reihen leerer Rohrstühle. 

„Was sagt Bädeker?" frug ich. 

„Das Orchester hat Platz für zweitausend Musikanten und 
Sänger", belehrte mich R., „die Orgel ist die grösste der Welt ; 
es giebt hier Sitzplätze für zwölftausend Zuhörer". 

„Letztere scheinen augenblicklich nicht ganz vollständig 
versammelt zu sein", bemerkte ich bedauernd. 

Hinter uns ertönte jetzt Blechmusik, mit Pauken und 
Cymbeln, und dann ein bekanntes „Heeh! — Hopp!" 

Erfreut wenden wir uns um, zu dieser ferneren anziehenden 
Schaustellung. Wir sehen — eine hohe Teppichwand. Das 
He — eh! Hopp! verstärkt sich, jetzt geräth die Musik in's 
Prestissimo — Tusch — begeistertes Händeklatschen! 

Also Kunstreiter in der Musikhalle! — — 

„Hier rechts", trug R. weiter aus Bädeker vor, „ist der 
italienische Garten, dann folgt das Palmenhaus". 

,, Gehen wir einmal dorthin", schlug ich vor, „das ist mehr 
mein Fall, als schlechte Pferde und schlechte Musik". 

Im italienischen Garten Oede, zerbröckelnde Cementvasen, 
Schmutz, verdurstete Fontainen und Verkommenheit; im Palmen- 
hause ein dürftiger, lückenhafter Bestand kränklicher, bestaubter 
blätterloser Pflanzen. 

„Besuchen wir den Bazar", schlug der standhafte Orient- 
reisende vor, „vielleicht ist dort mehr Handel und Wandel". 

Wiederum eine riesige Halle, gefüllt mit endlosen Reihen 
von Buden und Läden. Von je zehn ist etwa einer geöf&iet, 
darinnen liegt einiger vergriffener Plunder feil. Die wenigen 
Verkäufer sehen so gelangweilt und stumpf drein, als ob sie 
das Geschäft längst in Verzweiflung aufgegeben hätten und 
nur noch als Staffage hier sässen. Die Käufer bildeten ver- 
muthlich das dichte Gedränge in der Musikhalle, aus dem wir 
soeben geflüchtet waren. 

An den Ein- und Ausgängen sieht man vielfache 
Erfrischungsanstalten vorgerichtet, aber sämmtliche Büffets 
stehen geschlossen und leer da. 

„Jetzt noch die Bildergallerie", bemerkte R., in den Bädeker 
sehend, pflichtgetreu und unerschrocken. 

„Ich danke!" protestirte ich, „ich habe genug von dieser 

Ompteda, L. ▼. Bilder. 13 



iy4 Irrfahrten in London, 

lebendigen Ruine; ich bin hungrig von allem was ich nicht 
gesehen habe und durstig wie ein Wüstenpilger. Was wollen 
wir noch weiter der Fata Morgana nachlaufen, die uns Freund 
Bädeker vorspiegelt? Gehen wir lieber in die Refreshment 
Rooms; hoffentlich sind die Steaks nicht auch schon ausge- 
wandert". 

Nochmals ein unabsehbarer Raum; an einer Langseite 
Büffets von der Erstreckung einer tüchtigen Kegelbahn, an 
der anderen die Glasthüren auf die Terrasse. Im Saale über- 
schlug ich, soweit mein Auge reichte, etwa hundert gedeckte 
kleine Tische. Einer von ihnen war bereits besetzt; selbstver- 
ständlich eilten wir, uns den zweiten zu sichern. 

Während das Steak geröstet wird, sehen wir uns rings 
um, dann begegnen sich unsere stummen Blicke und wir 
brechen gleichzeitig in ein erlösendes Geläcjiter aus. 

„Das nennt man ja wohl hier zu Lande „Humbug**, sagte 
R.; „offenbar eine „verkrachte Gründung**. 

„Meine erste Enttäuschung hier in England**, stimmte ich 
ein, „der erste „Showplace**, der schlecht gehalten und ver- 
kommen ist. Aus allen Ecken stiert der Bankrott. Die armen 
Actionäre!** 

„Sage lieber: die armen Reisenden**, entgegnete mein härterer 
Leidensgefährte, „die an solchen Schwindel ihren Nachmittag 
verschwendet haben. Mein Bädecker von 1875 muss hier noch 
andere Zeiten gesehen haben, denn er hat Alexandra Palace 
mit einem * decorirt. Dieser Todtenpalast ist entschieden die 
ärgste unsrer heutigen Verirrungen**. 

„Unberufen!** rief ich schnell drei Mal unter den Tisch 
klopfend, „möge es dabei bleiben! Mir grauet vor der Gotter 
Neide!** 

Wir traten wieder auf die Terrasse. Die Gegend war von 
der Nachmittagssonne günstig beleuchtet, aber alles ringsum 
leer und öde; auch im Hippodrom dort unten hatte man aus- 
gesprungen. 

Nur ein einsamer Fremdling lehnte auf der Ballustrade, 
jetzt näherte er sich, ungewiss umher blickend. 

„Wissen Sie nicht**, frug er höflich den Hut ziehend, „ob 
die Pferdeschau schon zu Ende ist?** 

„Weiss nicht*', erwiderte R. kurz auf die augenscheinlich 



Irrfahrten in London, 195 

Überflüssige Frage, denn man konnte den leeren Springgarten 
deutlich übersehen. 

Nach einer kleinen Pause begann der Mann wieder: 

„Es ist heute recht langweilig hier". 

Ich sah mir den Sprecher an, wie man eine interessante 
Seltenheit betrachtet, denn ein Engländer, der Fremde anredet, 
ist schon seiner Seltenheit wegen interessant. Die äussere 
Erscheinung des Fremdlings empfahl sich nicht: schäbiger 
Anzug, mangelhafte Wäsche, zweifelhafte Nägel, struppiger 
grauer Vollbart und Brille. Kein Gentleman. 

,J.ass Dich mit dem Kerl nicht ein", rieth ich, „er gefallt 
mir nicht". 

„Mir auch nicht", erwiderte R. „aber auf Reisen spreche 
ich stets mit allerlei Leuten". 

„Dann lass mich wenigstens aus dem Spiele'S bat ich, 
„Alexandra Palace ist besonders verrufen als Tummelplatz des 
Gaunergesindels, das sich hier zu Lande wie Schmutz an alles 
Pferde- und Rennwesen hängt'*. 

„Nur keine Angst", entgegnete R. zuversichtlich. — 

„Sie sind wohl Fremde?" begann jetzt plötzlich der Gesell, 
der scharf auf unsere Unterredung gehorcht hatte, in unvoll- 
kommenem Französisch, „ich bin auch fremd". 

„Franzose?" fragte R. entgegenkommend. 

„Nein, Kanadier aus Montreal; dort sind wir immer noch 
so halbe Franzosen. Kam herüber wegen Baumwolle, wissen 
Sie, kenne niemand in London". 

„Wir auch nicht", erwiderte R. „Es ist so schwer in England 
anständige Bekanntschaften zu machen — für uns zumal, da mein 
Freund hier leider I weder englisch noch französisch spricht". 

Der Kanadier war augenscheinlich erfreut, auf so leichte 
angenehme Weise mit „Europens übertünchter Höflichkeit" in 
Berührung zu kommen. 

„Ich wohne im Golden Cross-Hotel, Strand", setzte er seine 
Versuche zur Annäherung fort, „recht gutes Hotel, etwas theuer. — 
Wo wohnen Sie?" 

„In der New Hummums, Piazza Coventgarden", erwiderte 
mein schlagfertiger Freund genau nach Bädeker. „Hotel nur 
für Herren, sehr comfortabel, wissen Sie". 

13* 



IJO Irrfahrten in London, 

Dann wandte er sich zu mir und flüsterte: „Bauernfanger! 
— er soll uns nur morgen dort aufsuchen'*. 

„Lass doch den Kerl laufen", gab ich zurück. 

„Warum ? der Bursche unterhält mich, vielleicht entschädigt 
er uns noch für xmsere Irrfahrt hierher". 

Das Gespräch der beiden, abwechselnd französisch und 
englisch geführt, wurde jetzt immer fliessender und das Glück 
wollte sogar, dass unser Kanadier zur selbigen Zeit wie wir 
nach London zurückkehrte. 

Im Bahnhofe, am Fusse des Hügels, war der Zug gerade 
vorgefahren. Wir drei stiegen einträchtig in ein leeres Coupe 
erster Klasse. Bald fand sich ein Vierter ein und im letzten 
Augenblicke schwang sich auch noch ein Fünfter herein, ein 
ziemlich ruppig aussehender junger Bursch, dessen dunkle 
Züge meinen orientkundigen Freund R. besonders anheimeln 
mussten. 

Kaum war der Zug im Gange, so fragte schon der Ab- 
kömmling des Orients — vielleicht etwas zu eilfertig — den 
Kanadier auf englisch: 

„Haben Sie von dem neuen Spiele gehört, welches jetzt 
aufgekommen ist? Es ist sehr interessant imd wird auf dem 
nächsten Derby enorme Sensation machen". 

„Nein", erwiderte der Kanadier und fügte kühl abweisend 
hinzu: „ich spiele überhaupt gar nicht". 

„Schlepper**, flüsterte R. 

Jetzt mischte sich unser Mitreisender Nr. 4 ein. 
„Wie ist denn das neue Spiel? können Sie es mir nicht 
ein wenig expliciren?" 

„Mit Vergnügen", erwiderte der gewandte Alttestamentliche; 
er zog ein schmutziges Spiel Karten heraus, mischte und 
erklärte : 

„Hier drei Karten; Sie wählen davon eine, dann verdecke 
ich sie und mische ; — so !" — er rührte auf einem Pappendeckel 
die drei verdeckten Karten langsam um. ,Jetzt bezeichnen 
Sie Ihre Karte; rathen Sie richtig, so gewinnen Sie, wenn nicht, 
gewinne ich". 

„Kümmelblättchen", flüsterte R., „alte Bekanntschaft". 

Der brünette Jüngling machte das Spiel einige Male lang- 



Irrfahrten in London. 197 

sam und ziemlich unbehilflich vor. Nr. 4 rieth und — stets 
richtig. 

In Nr. 4 regte sich jetzt anscheinend der Versucher, der 
Spielteufel; er setzte zögernd einen halben Sovereign; rieth und 
— gewann; der Bankhalter zahlte prompt aus. 

„Dieses Spiel", theilte er uns während der Arbeit zuvor- 
kommend mit, „wird jetzt im Criterion (grosser Restaurant in 
Piccadilly) jeden Abend gespielt; vielleicht kommen die Herren 
nach dem Theater dorthin; sehr feine Gesellschaft". 

„Wollen Sie es nicht auch einmal versuchen?" wandte sich 
jetzt unser Freund aus Montreal in seiner französischen Stief- 
muttersprache zu R. 

„Ach nein, ich danke für jetzt", erwiderte dieser verbind- 
lich, „vielleicht heute Abend; ich kenne das Spiel schon; es 
ist auch in Berlin bereits in der besten Gesellschaft eingeführt, 
man spielt es dort auf den ersten Clubs". 

„Hören Sie", bemerkte jetzt der ehrliche Kanadier dem 
betriebsamen Orientalen auf englisch, „dieser Herr sagt, in 
Berlin sei dieses Spiel schon bekannt". 

Der Jungling aus dem Osten und Nr. 4 setzten inzwischen 
die Vorstellung fort; sie gewannen, verloren und zahlten, ganz 
wie es sich gehört. 

Ein Pfiff! der Zug fuhr langsamer — 

R. sah mich schlau und bedeutungsvoll an, die Krisis 
nahete. 

„Wissen Sie", sprach er dann vertrauensvoll zum Kanadier, 
wieder in dessen geliebter Muttersprache, „verrathen Sie mich 
nicht an jenen Herrn, es konnte ihn vielleicht kränken — aber 
der junge Gentleman ist auf dem Irrwege, wenn er uns hier 
etwas neues lehren will, denn in Berlin — " 

— „Station King's Gross", der Zug hielt — 

„nennt man dieses schöne Spiel schon lange die »Bauern- 
falle«, »la trappe des paysans« 

Wir hatten den ThürgriflF bereits in der Hand und, ehe 
der Rauch von R.'s platzender Bombe im Coup6 verflogen war, 
standen wir draussen und eilten lachend in den, drüben schon 
w'artenden Zug der Metropolitan Eisenbahn. 

Der Kanadier aber „schlug sich seitwärts in die Büsche". — 



198 Irrfahrten in London. 

III. Im Nebenhause. ^ 

Unsere Rückfahrt, quer von Norden nach Süden durch die 
City, erheiterten wir sehr beträchtlich, indem wir uns den Ge- 
müthszustand unserer drei in die Irre gegangenen Bauernfanger 
und ihre verdutzten Gesichter ausmalten. 

Aber die Strafe für diese unchristliche Schadenfreude 
folgte auf dem Fusse, denn wir vergassen richtig, in Ludgate 
Hill auszusteigen und wieder in den Underground unter dem 
Themsequai bei Blackfriars Bridge hinabzutauchen. Plötzlich 
lichtete sich jetzt im Fahren der Horizont zu beiden Seiten und 
wir donnerten hoch oben auf einer kühnen Gitterbrücke, über 
dem mächtigen Strom* Ein prächtiges Bild entrollte sich hier 
dem überraschten Auge; dieses Mal jedoch verspürte ich wenig 
Neigung, in der Aussicht auf das unabsehbare Getümmel der 
Schiffe unter uns, stromauf und stromab, zu schwelgen; ich 
flüchtete mich sofort zu Freund Bädekers rother Eisenbahnkarte. 

„Neue Irrfahrten, lieber R.", unterbrach ich seine still- 
vergnügte Umschau, „wir betreten jetzt sogleich das rechte 
Themseufer und werden dort das Vergnügen haben, während der 
nächsten Stunde auf der Metropolitan Extension-Bahn ein 
höchst bemerkenswerthes Stück der schönen Grafschaft Surrey 
zu durchreisen". 

„Keine Umkehr mehr?" fragte R. ruhig und resignirL 

„Keine; wir machen zunächst einen ausgiebigen Vorstoss 
nach Süden, schwenken dann gegen Westen und kommen erst 
bei Battersea wieder nördlich über den Fluss zurück in die 
ersehnte Victoria Station". 

„Eigentlich wundert mich das gar nicht", erwiderte R. 
gelassen, „die Irrfahrten sind heute unser Kismet; was hilft es 
dagegen zu kämpfen". 

„Möge es wenigstens bei dieser bleiben", wünschte ich — 
zweifelnd. 

So ergaben wir uns in unser Schicksal, beobachteten den 
steten Ab- und Zugang der Mitreisenden und betrachteten die 
Scenen , die im raschesten Wechsel an uns vorüberflogen. 
Zuerst dicht bevölkerte Fabrikorte, dann ländliche Quartiere, 
zuletzt Battersea und sein grossartiger Park. Am lebhaftesten 
beschäftigte uns der Wirrwarr der unzähligen, hier parallel 



Irrfahrten in London, 199 

laufenden : Eisenbahnen über, neben und unter uns; überall un- 
aufhörliche, unendliche, unermüdlich hin und wieder schiessende 
Züge. 

Endlich ist, mit der sinkenden Sonne, Victoria Station 
erreicht. R. wohnt hier im Grosvenor, dem sogenannten 
Terminushotel, ich in Jermynstreet, St. James's; so trennen 
wir uns für einige Stunden der nothwendigen Ruhe. 

Im Scheiden ruft R. mir nach: 

„Also heute Abend auf der N.'schen Botschaft! Es ist 
doch Eaton Square, Nr. 28?" 

„Richtig", erwiderte ich, „grosser Rout zu Ehren eines 
höchsten Herrn, „to meet Royalty" wie man hier sagt, — und 
noch dazu mit Musik. Wir fahren wohl besser nicht zusammen, 
für mich wäre es ein Umweg, da Du ganz auf der entgegen- 
gesetzten Seite von Eaton Square wohnst. — Also! Nr. 28, 
Eaton- Square, elf Uhr. — Leb' wohl". 

Die Wogen der Strassenfluth trennten uns jetzt und trugen 
mich, wie fast täglich, nach Hyde Park Corner. Hier streckte 
ich mich auf einen der Pennystühle und erfrischte meine 
ermüdeten Sinne im Anschauen der alten Bäume und der 
jungen Reiterinnen, die hier in Rotten Row so froh und frei 
auf und ab kantern. 



Es schlug gerade elf Uhr, als ich von Grosvenor Place aus 
in Eaton Square einbog. Bekanntlich ist an diesem grossten der 
londoner Squares die N*sche Botschaft eines der stattlichsten 
Gebäude und berühmt wegen des Glanzes ihrer Festräume. 

Bereits hundert Schritte diesseits gerieth ich in die Wagen- 
reihe und rückte nun langsam. Schritt vor Schritt, auf. Endlich 
erscheint der beleuchtete Eingang, Ein zeltartiger vor- 
springender Baldachin, auf beiden Seiten tief herabhangend, 
überdacht die Hausthür und den breiten Fusssteig vor ihr; 
Gassterne geben blendende. Helle. Mir vorauf fahrt eine 
prächtige, geräumige Staatskutsche; auf dem Gallabocke ein 
wohlgenährter Kutscher mit weisser Flügelperrücke, hinten 
schweben zwei gepuderte Lakaien in rothen Kniehosen, jeder eine 
Wachsfackel in der Hand. 

Eine entsprechend vornehme Gesellschaft entladet sich aus 
dem gehaltvollen Kasten und steigt die Stufen zur Hausthür hinan *» 



200 Irrfahrten in London. 

ich schlüpfe bescheiden hinterdrein. Die grosse Eintrittshalle ist 
mit grünen Gewächsen und glitzernden Bedienten reich decorirt. 
Langsam schieben wir uns die Treppe hinauf; kurz vor ihrem 
oberen Ende steht ein würdevoller Haushofmeistr. Ich gebe 
ihm- meine Karte, mein Name wird, laut und völlig entstellt 
ausgerufen und ich lande glücklich auf dem Vorplatze im 
ersten Stock. 

Aber nicht weiter, — eine feste Mauer von schwarz-weissen 
Herren steht vor mir, fast alle grösser als ich; so sehe ich 
nur gutgewachsene schwarze Rücken und tadellose blonde 
angelsächsische Nackenscheitel, sonst nichts. 

In der Entfernung ertönt Musik; es klingt wie ein Streich- 
quartett. — 

Ich mache einem Attache Raum, der sich bemüht, an- 
kommende Damen durch's Gedränge zu bringen. — 

Die Musik verstummt, ein dumpfes summendes Gemurmel 
vieler Menschen, die sämmtlich mit gedämpfter Stimme reden, 
setzt ein. — 

Das Gemurmel erstirbt vor dem Geschmetter eines 
steirischen Liedes mit Jodler. — 

Jetzt begrüsse ich einen Botschafts-Secretär, der aus dem 
inneren Heiligthume kommt, um an der Treppe die Honneurs 
zu machen. 7— 

Sonst keine bekannte Seele, von R. nichts zu sehen. — 

Diese erfrischende Uebung im schweigsamen Stillestehn 
dauert etwa eine halbe Stunde. Niemand geht fort, denn die 
Anwesenheit der höchsten Perso fesselt magnetisch allen 

anderen Sterblichen. — 

Um mich zu unterhalten, stelle ich neidische Betrachtungen 
über R.'s jetzige bevorzugte Lage an, der augenscheinlich in 
den Musiksaal eingedrungen ist; dann besichtige ich einen 
alten italienischen Schrank, Cinquecento, Ebenholz mit Elfen- 
bein eingelegt, vorzüglich restaurirt. Hierauf bewundere ich 
zwei klassische niederländische Bürgermeister, die heute Abend, 
trotz ihrem frischen Fimiss, ganz ungewöhnlich finster aus- 
sehen. — — Nun schweigt die Musik zum letzten Male, es 
entsteht eine kleine Schwankung in der lebendigen Mauer, die 
mich einschliesst. Vermuthlich wird jetzt der hohe Gast von 
Sr. Excellenz dem Botschafter in's Büffetzimmer zum Souper 



Irrfahrten in London, ^01 

geführt. Lange Zeit ^vird das wohl nicht wegnehmen, denn 
dem Concerte ging bereits ein ausgiebiges „State Dinner'* 
vorauf. — 

Wiederum eine Meeresstille von einer Viertelstunde. — 

Endlich hören wir das bekannte Klopfen mit dem 
Marschallstabe auf dem Parket. Alles schiebt auf beide Seiten 
zurück, um die Gasse zu bilden. 

Der Cortege erscheint, unter Vortritt einiger Herren mit 
ernster Dienstmiene; — wir verneigen uns tief; — alles vorüber. 

Jetzt gelange auch ich in's BüfFetzimmer und melde mich 
beim Hausherrn; die Excellenz lächelt etwas erschöpft, übrigens 
aber befriedigt durch den Verlauf des Abends. Excellenz hofft, 
dass ich die Musik gilt habe hören können. 

„Vorzüglich! ich habe sogar eine von den eigenen 
Compositionen Sr. Excellenz erkannt und bewundert". (Das 
Programm liess über den hohen Componisten nicht in Zweifel). 

— Gnädiger Dank. — . 

Somit hätte ich denn einige Caviar Sandwiches und ein 
Glas Sparkling Hock redlich verdient; ich geselle mich zu 
einer Gruppe von Bekannten und gehe an*s Geschäft. 

Aber wo ist R.? — nirgendwo zu sehen. — Der Musik- 
saal bereits verödet. — Er kann doch nicht schon wieder 
fort sein? — 

Die gfrosse Wanduhr schlägt Mittemacht, da erscheint R. 
in der Thür, wie ein pünktliches Gespenst. Er verbeugt sich 
vor dem Hausherrn, stellt sich vor und spricht etwas, das wie 
Entschuldigung aussieht. Excellenz lächelt und antwortet; 
beruhigender Händedruck; nochmalige Reverenz. Entlassen. — 

Darauf tritt Freund R. an uns heran. 

„Kommst Du erst jetzt?" frage ich. 

„Nachher", raunt er mir zu. 

„Wo warst Du denn?" 

„Nachher!" 

Er sieht verstimmt und hungrig aus. 

Ich schweige discret. — 

Endlich ziehen wir uns zurück. 

Auf der Treppe frage ich wieder: „Nun sage mir aber 
doch: wo warst Du denn so lange?" 



202 Irrfahrten in London, 

„Wo ich war? auch auf einem Feste", erwidert er kurz 
und etwas schnippisch. 

„Aber bei wem?" forschte ich weiter. „Du kennst ja 
keine Katze in London". 

Freund R. bleibt stehen , sieht mir fest in's Gesicht und sagt: 

„Bei wem?! — wenn ich das wüsstel Ich habe keine 
Ahnung! — Komm einmal mit mir**. — 

Wir verlassen das Hotel, R. geht quer über die Strasse; 
am Gitter des Square dreht er sich auf dem Absätze herum, 
zeigt auf die Thür des Hotels, das wir eben verlassen haben 
und ruft mit einer gewissen, mir unverständlichen Indignation 
im Tone: 

„Dort war ich!" 

„Wo? in der Botschaft?" 

,,Nein! im Nebenhause!" 

„Wie ist das möglich?" frage ich weiter. 

„Ganz einfach", erwidert er, „sieh es Dir nur an!" 

Soweit ich in der Nacht erkennen konnte , waren beide 
Häuser, Xr. 28 und Nr. 27 völlig gleichartig, jedoch umg'ekehrt, 
gebaut und zwar in der Art, dass beide Hausthüren unmittel- 
bar neben einander lagen. 

Aber — was ist denn das? auch am Nebenhause, Nr. 27 
schwebt ein Baldachin über der Thür und auf das Pflaster 
herab, Teppiche laufen die Stufen herunter über den Fussteig, 
Gassterne strahlen um den geöffneten Eingang und die Halle 
zieren Gewächse und Bediente! — 

»Jetzt lass Dir erzählen", begann R. wieder, als wir weiter 
gingen. 

Er schwieg einen Augenblick und rief dann, von seinen 
Gefühlen überwältigt, verdriesslich und zugleich lachend: 
„Diese war wirklich die tollste unserer Irrfahrten ! — Nachdem 
wir uns heute getrennt hatten", fuhr er darauf ruhiger fort, 
„ging ich, als vorsichtiger Mann, hierher, um die Lage des 
Hauses Nr. 28, in dem ich nie gewesen war, noch bei Tageshelle 
zu recognosciren". 

„Da sieht man sogleich den praktischen Reisenden", 
bemerkte ich anerkennend. 

R. schien meine Liebenswürdigkeit nicht völlig zu würdigen, 
er fuhr fort: 



Irrfahrten in London, 203 

„Also um elf Uhr breche ich vorschriftsmässig aus meinem 
Victoria Terminus Hotel auf und mache mich auf die 
Pilgerfahrt". 

„Ah, ich verstehe*', unterbrach ich, „auf diese Weise kamst 
Du aus der entgegengesetzten Richtung wie ich, nämlich von 
Süden her an das Hotel". 

, Ja", erwiderte R. mit komischem Pathos, „von Süden her ! 
»und das war mein Verderben!« — Als ich mich der Botschaft 
nähere, sehe ich Lichtglanz auf die Strasse fallen und gehe an 
einer Reihe langsam vorrückender Equipagen entlang. Ueber 
der Hausthür breitet sich ein Baldachin, der tief herab rollt, 
Teppiche liegen quer über dem Fusssteig, — Alles in schönster 
Ordnung. Zwei Reihen Bummler bilden Spalier, ich breche 
durch, Dienerschaft in Galla öffnet die Wagenschläge. Ich 
sehe eine grossartige Karosse anfahren, Kutscher mit Perrücke, 
zwei fackeltragende Bediente in schwarzsammtenen Knieehosen 
hinten auf" 

„Meine waren von rothem Plüsch", schob ich ein. 

„Entsprechend grossartige Persönlichkeiten steigen aus ; 
gewandt schlüpfe ich in ihrem Gefolge in's Hotel*'. 

„Aber ganz wie ich!*' bemerkte ich, überrascht durch den 
fast vollständigen Parallelismus unserer Erlebnisse. 

„Ich steige die breite Treppe hinan, überreiche einem 
feierlichen Buttler meine Karte, mein Name — oder etwas 
Entsprechendes — wird verkündet. 

„Oben an der Treppe empfangt mich eine freundliche 
ältere Lady, drückt mir die Hand und ist »glücklich mich zu 
sehen«. 

„Ich erwidere diese Gefühle und dringe vor bis zum Ein- 
gange eines grossen Salons, aus dem Musik ertönt. In der 
Thür steht eine feste Mauer breitschultriger, schwarz -weisser 
Engländer mit tadellosen Nackenscheiteln; sie nehmen just 
mit Andacht eine italienische Arie entgegen. Von Ein- 
dringen keine Idee. 

„Auch gut**, denke ich, „da drinnen ist's heiss — alles 
stauet sich um die höchste Herrschaft — bleiben wir draussen. 
Wie sagt mein alter Förster in seinem schwäbischen Hoch- 
deutsch? »Gehe nicht zu Deinem Forscht, wenn Du nicht 



J 



20 ± Irrfahrten in London, 

gerufen wörscht!« Der Botschafter ist natürlich jetzt unzu- ! 

^anglich, Vorstellung für's erste unmöglich. 

„Ich sehe mich nach Dir um". 

„Der steckt natürlich fest dadrinnen", denke ich schaden- j 

froh, — „Du weisst ja, dass selbst die beste Musik bei schlechter 
Ventilation mir ein Greuel ist. Es ist nun einmal meiner i 

Natur zuwider. 

„Ich finde ringsum nicht ein bekanntes Gesicht, auch gar 
keine continentalen Orden; überall leere Knopfiocher oder ein 
einsames Röslein darin. 

„Natürlich", beruhige ich mich selbst, „die Höflinge stecken 
auch alle drinnen im musikalischen Fegefeuer. Hoffahrt muss 
Zwang leiden. 

„Die italienische Arie ist schliesslich vollständig abgerollt 
und wird nach Verdienst beklatscht. — Kurze Erholungs- 
pause der Zuhörer. — 

„Jetzt folgt ein, nicht minder halsbrechendes Violinsolo. — 

,.Herren und Damen kommen noch immer an; sehr feine 
Leute, „with handles at their names". Den Ladies hilft ein 
höflicher junger Herr durch die „drangvoll fürchterliche Enge" 
und hinein in den Musikhimmel. 

„Aha!" denke ich, „der Attache vom Dienst!" 

„Ich nähere mich , dem jungen Diplomaten und stelle 
mich vor. 

„Beg your pardon", erwiderte er sehr höflich, „I don't 
speak German". 

„Merktest Du denn noch nichts?" frug ich mit steigender 
Spannung. 

„Nein! — was sollte ich denn daran merken? Allerdings 
wunderte mich der Attache, der nicht die officielle Sprache 
seines Staates sprach; aber, lieber Himmel, bei deii dortigen 
polyglotten Zuständen — — 

.,Gut, — es vergeht wohl eine volle Viertelstunde; vom 
Saale aus brummt jetzt ein Violoncell; es kommen noch einige 
Herren die Treppe herauf; immer noch keine Ausländer, nur 
englisches Vollblut. Sie schütteln der freundlichen älteren Lady 
die Hand und murmeln einige Entschuldigungen wegen zu 



Irrfahrten in London, 20o 

späten Erscheinens, dabei höre ich mehrere Male das Wort 
„next door" fallen. — — 

„Ich weiss nicht warum? aber allgemach beschleicht mich 
ein gewisses Unbehagen in dieser trostlosen Oede. Es über- 
läuft mich so, als ob irgend etwas nicht in Ordnung wäre: 
Ich manövrire also unwillkürlich wieder der Treppe zu. 

„Das Violoncell hat inzwischen — mit obligatem Schluss- 
beifall — ausgelitten. 

„Einige Ladies gehen fort; eine von ihnen lässt dasMusik- 
programm liegen. Ich bemerke hübsche Vignetten darauf, 
spitzbübische Amoretten, die mich auszulachen scheinen, — ich 
habe es zum ewigen Andenken eingesteckt. — Um die Zeit 
hinzubringen, verfolge ich die schon genossenen Nummern des 
italienischen Musiksalates von unten herauf; wir arbeiteten 
soeben drinnen bereits an Nr. 14; ich steige endlich bis zu 
Nr. I hinauf — — jetzt fällt mein Blick zufallig auf die aller- 
oberste Reihe — es flimmert mir vor den Augen ! meine Stirn 
wird kalt — feucht! — — da steht: »Nr 27 Eaton Square!«" 

„Kein Irrthum: Nr. 27! — — — 

„Also darum hatte mich die freundliche ältere Lady mehrere 
Male so sonderbar gemustert, ohne mich weiter anzureden! 

„Darum konnte der Attache kein Deutsch!! 

„Ich war seit einer Stunde ein ungebetener Gast in einem 
wildfremden Hause!!! — Ohü! -^ 

, Jetzt die Treppe hinab; auf halber Höhe begegnet mir 
unser Botschaftssecretär F." 

„Wo ist denn eigentlich die Hoheit und das ganze hohe 
Gefolge?" frug ich thörichter Weise, in meiner äussersten 
Verwirrung, 

„Er sieht mich verdutzt an und sagt langsam: „Im Neben- 
hause sind sie, in der N'schen Botschaft, Nr. 28. Uebrigens 
geht dort alles soeben fort, desshalb komme ich noch rasch 
hierher, konnte natürlich nicht früher — wegen der Hoheit. 

„Aber um's Himmels Willen", frage ich ängstlich weiter^ 
„wo bin ich denn hier?" 

„Im Nebenhause, in Nr. 27, mein Bester, bei Mrs. T.; 
sehr liebenswürdige gastfreie Frau, giebt mit Vorliebe musi- 



^ 



206 Irrfahrten in London» 

kaiische Monsterrouts mit Italienern. Dort oben steht sie und 
lächelt wohlwollend auf uns herab". 

„Der Secretair sah dabei so fürchterlich trocken und kühl 
aus — mir perlte der Schweiss auf der Stirn. 

„Soll ich zurück und mich entschuldigen? oder soll ich ihr 
lieber morgen einen Besuch machen?" 

„Ei» das ist nicht nöthig; so etwas kommt in London öfters 
vor. Sie sind der Erste nicht. Lassen Sie sich morgen bei 
Mrs. T. melden, so riskiren Sie noch eine liebenswürdige Ein- 
ladung zum Dinner; — man ist hier so gastfrei". 

„Nein, ich danke schon", rief ich, „ich will mich hier nicht 
zum zweiten Male als »stolid German« auslachen lassen. Gute 
Nacht. 

„Ich flog die Treppe hinab mit einem sehr unsicheren 
Gefühle in Betreff meiner Rückendeckung. Unten wollte mich 
der Buttler durchaus an das Büffet geleiten, das mir aus dem 
geöffneten Diningroom entgegenstrahlte". 

„Das ist nicht für mich!" rief ich und stürmte aus dem Hause". 

Ich liess dem armen Freunde zunächst Zeit, um Athem zu 
schöpfen. 

„Was sagte denn der Botschafter**? frug ich darauf weiter, 
„ich sah, wie Du ihm Dein Missgeschick beichtetest". 

„Nun, er sagte: es müsste eigentlich polizeilich verboten 
sein, in zw^ei solchen Nachbarhäusern, wie Nr. 27 und 28, gleich- 
zeitig einen grossen Rout zu geben. Während des ganzen 
Abends seien die Wagen aus den beiden entgegengesetzten 
Richtungen durch einander gefahren, die Kutscher hätten ge- 
schimpft und die Policemen nicht gewusst, wo ihnen der Kopf 
stehe! Uebrigens seien auch bei ihm einige fremde Gesichter 
aufgetaucht, aber sofort wieder unter — da sie ortskundiger 
gewesen". — 

„Diese letztere Mittheilung: dass ich Leidensgenossen gehabt, 
beruhigte mich etwas, wenigstens so weit, dass ich wieder zu- 
gänglich für Sandwiches und kalten Sekt wurde. 

„Armer Freund, Du thust mir wirklich leid", sagte ich 
tröstend, um den guten R. noch kräftiger in seiner Selbst- 
achtung wieder herzustellen, fügte ich milde hinzu: „das hätte 
mir eben so gut passiren können, wenn ich nicht zufallig von 
Norden hergekommen wäre". — 



Irrfahrten in London, 20 < 

„Wenn nur nicht die verd — Baldachine und die Bummler 
gewesen wären", grollte R., „denn die beiden zusammen 
schlössen jede Aussicht ab, so dass man keine Ahnung vom 
Nebenhause hatte". — 

Wir standen am Kreuzwege in Buckingham Palace Road. 

„Soll ich Dich bis an Dein Hotel bringen?" frug ich 
gutmüthig. 

„Nein, ich danke", erwiderte er lachend, aber doch ein 
wenig empfindlich, „ich bin zwar heute sehr confus, und dazu 
todtmüde, indessen mein Hotel und mein Bett denke ich trotz- 
dem nicht zu verfehlen. — Aber diese letzte war doch die 
allertollste von allen unseren heutigen Irrfahrten!" 



Ein Tag in Oxford. 



Ompteda, L. x., Bilder. 14 



V 



I 
I 
!t 



I. 

London und Oxford. 



Uer Abend dunkelte bereits, als der Schnellzug der Great 
Western Bahn die riesige Halle der Paddington Station ver- 
liess. Noch in der letzten Minute war ich hastig hineinge- 
schlüpft. Denn heute abermals, wie fast täglich während der 
letzten Wochen, hatte ich mich in dem drangvollen rauschenden 
Wirrwar verloren, der an jedem schönen Nachmittage des 
Frühlings und der Season zwischen fünf und sieben Uhr am 
Hyde Park Corner aus- und einrollt. 

Indessen — um ehrlich zu sein — die eigentlichen Magnete, 
die mich hier unwiderstehlich anzogen, waren die dichten 
Reiterschwärme der schlanken jungen Misses und der präch- 
tigen blonden Kinder. — Ein völlig neues und darum doppelt 
fesselndes Bild für den Festländer! Vom dunklen Reitkleide 
knapp umspannt und, die jungen Damen, das volle glatt 
gescheitelte Haar in dickem Zopfe unter dem hohen schwarzen 
Hute einfach aufgesteckt, die Kinder mit frei nachflattemden 
Locken, so tummelte sich dieser lachende Frühling in Rotten 
Row, dem breiten, fast unabsehbar langen Reitwege durch 
Hyde Park, im flottesten Tempo, fast ohne jede Zügelführung, 
lustig und lebensfrisch auf und ab. Als sei der Sattel ihr 
natürliches Element, so völlig unbefangen, ja! unbewusst, ent- 
faltet hier die junge Engländerin ihre kräftige sichere biegsame 
Grazie. Dieses Landes schöne Kinder muss man zu Pferde 
sehen, um sie voll bewundern zu können, gleich wie der 
Schwan sein Element begehrt: den Wasserspiegel! Als Folie 
dienen dieser frischen rosigen Jugend die scharf gezeichneten 
Typen des aristokratischen männlichen Englands, die sich an 

14* 



212 Ein Tag in Oxford, 

dem sonnigen Juninachmittage auf dem weltbekannten 
schmalen Streifen zwischen Rotten Row und dem südlichen 
Fahrwege von Hyde Park zusammenfinden. Auf den Penny- 
stühlen sich wiegend oder über die Eisenstange der Ballustrade 
gelehnt, schauen sie hier den, mit ihrem männlichen Gefolge 
oder auch allein, hin und wieder kantemden Reiterinnen nach 
\md kritisiren mit Kennermiene die werthvoUen bedächtigen 
Park-Hacks der älteren Gentlemen oder das hochedle Vollblut, 
auf dem hinter seinem Herrn der Groom im gelben Ledergurte 
Parade trabt. Drüben werden dann die, in endlosen geschlossenen 
Reihen vom Albert Memorial her langsam vorrückenden 
schweren und leichten Equipagen und ihre stattlich reizvollen 
wie ihre imposant würdevollen Insassinnen: der, zur reifen 
Pracht entwickelte Sommer und der fruchtschwere Herbst eng- 
lischer Frauenschönheit — mit kühler Höflichkeit gleichmüthig— 
begrüsst oder stumm und ernst angestarrt und gemustert. — 

Plötzlich wurde ich jetzt der nahenden Abfahrtsstunde 
gewahr und eilte, mich widerwillig losreissend, heimwärts, die 
glänzende Piccadilly Strasse hinauf, meinem gastlichen Hotel, 
dem Brunswick in Jermynstreet zu. Auch hier in Piccadilly ein 
voller hochgeschwollener, dumpf brausender Strom, welcher die 
gleichen endlosen Menschenwellen hin und her treibt Ich 
stehe am Ufer, rathlos und hülflos. Drüben winken St. James s 
und Jermyn Street. Kein Steg und kein Nachen. Aber mitten 
im Strome ragt, ernst und einsam, ein dunkler Pfeiler, an dem 
sich die unendlichen Wogen willig und fügsam theilen. Die 
stille Figur erhebt die Hand mit dem weithin sichtbaren weissen 
baumwollenen Handschuh und, wie durch einen Zauberschlag 
steht jedes Pferd und jedes Rad in ruhigem Gehorsam still, zu 
beiden Seiten weit hinaus. Es bildet sich vor uns eine trockne 
Fürth, die sichtbare Vorsehung geleitet uns selbst hindurch und 
hinter uns, wie einst hinter den Kindern Israel, branden die 
unendlichen Wogen wieder durcheinander. Der londoner 
Policeman! mir stets eine der imposantesten Erscheinungen in 
dem imporiirenden England; wahrhaft gross durch die Einfach- 
heit seiner Mittel und die Unwiderstehlichkeit seiner Wirkung; 
die verkörperte Macht des Gesetses, durch die ein freies Volk 
sich selbst beherrscht. 

Aufathmend stehe ich am anderen Ufer, nochmals im 



London und Oxford, 213 

Scheiden auf die glänzenden rollenden Fluthen zurückblickend 
und abermals erneuert sich mir mit unverminderter Stärke der 
Eindruck, den ich schon am ersten Tage in diesem Central- 
strudel des englischen Highlife empfangen hatte: 

„Vieles, das Meiste von dem, was England Schönes und 
Grosses zeigt, mag auch anderswo angetroffen, auch wohl 
übertroffen werden^ Rotten Row an einem schönen Nachmittage 
in der vollen Season steht einzig da in der Welt!" 

Aber alle diese Massenhaftigkeit in ihren ununterbrochenen 
Wirbeln wirkt — gleich der vielberufenen „unendlichen Melodie" 
von Bayreuth — verwirrend, überwältigend, erlahmend. Nach 
einigen Wochen steten Umhertreibens, unausgesetzten Sehens, 
Hörens und Lernens, tritt Sättigung ein, die bald zur abge- 
stumpften Uebersättigung werden würde. Die geistige Badekur, 
die den verschlafenen deutschen Kleinstädter erfrischte und 
wieder belebte, ist vorläufig beendigt; der angehäufte Stoff 
muss jetzt in Ruhe verdauet und angeeignet werden. Uns 
befallt Londonmüdigkeit und wir verlangen nach einfacherer 
Nahrung, nach geistiger Landluft, nach einer abschliessenden 
Pause in diesem Ungeheuern hastigen Durcheinander des endlosen 
fieberhaft gehetzten Tontumultes, in dem die Millionen ringender 
Stimmen der Riesenstadt zusammenbrausen. Also: »change of 
air«! das grosse englische Heilmittel gegen jede Verstimmung 
des Körpers wie der Seele. — 

So folgte ich gern der Aufforderung: liebe, alte Freunde 
in Oxford wiederzusehen und dort eine Erinnerung aus der 
Kindheit aufzufrischen, die, wie ein geträumtes Wunder in 
zauberischem Glänze viele Jahre und viele spätere mächtige 
Eindrücke überdauert hatte. — 

Mit dem rollenden Zuge war ich jetzt der Station glücklich 
entrückt, trotzdem aber noch längere Zeit hindurch im Bereiche 
der Metropole, noch nicht »auf dem Lande«. Bekanntlich fährt 
ein Schnellzug der Great Western etwa sechzig Kilometer in 
der Stunde und dennoch raseten wir wohl noch eine volle 
Viertelstunde durch Tunnel unter Kellern hin und durch enge, 
tiefe gemauerte Einschnitte, über denen die Häuser thurmhoch 
emporragten; über Hausdächer fort, zwischen einem Walde 
schlanker gebündelter Schornsteine; durch Aussenbahnhöfe ; 
über oder unter uns eine andere, ebenfalls durch hin- und her- 



^14 Ein Tag in Oxford, 

schiessende Züge belebte Bahn. Wir durchschneiden jetzt die 
bekannte^ unaufhörlich im Zickzack vorwärts wandernde Zone, 
auf welcher Stadt und Land den nie rastenden Orenzkrieg 
führen; ihre Signatur ist ein breiter Wall von Schmutz und 
Unordnung, unter dem die vorrückende Stadt das saubere, 
grüne, gartenreiche Land nach und nach begräbt und erstickt 
AUmälig lockert sich das Gedränge der Gebäude; Gärten, 
Felder, Weideflächen schieben sich ein, mit Hecken umschlossen 
und von einzelnen breitästigen alten Bäumen beschattet Jetzt 
durchfliegen wir kleine Stationen, vorbei an langgestreckten 
niedrigen Tribünen für den massenhaften . localen Verkehr der 
Vorstädter, die an jedem Morgen mit dem bekannten schwarzen 
Reisetäschchen in die City und Abends wieder herausfahren. 
Dann folgen suburbane Colonien von Villen, wo die Familien 
jener, täglich zwischen Land und Stadt hin und wieder schwingen- 
den Geschäftsleute in frischer Luft zu frischen Menschen auf- 
wachsen. Weiterhin zeigen sich Wiese, Wald und Wasser in 
ungestörter Naturfrische und nun erscheint endlich auch die 
grossartige Mischung dieser Drei : der Park, der den erleuchteten 
Herrensitz, am Ende jener vornehmen zweihundertjährigen 
Ulmenallee, breit umlagert. Jetzt sind wir wirklich auf dem 
Lande — wir sind im Freien. 

Der Vollmond überfluthete die gartenhafte, baumreiche 
Landschaft um Oxford, als ich auf der Station von meinem 
Gastfreunde empfangen wurde. Unser Weg, in die ziemlich 
entlegene Vicarage (Pfiarrhaus) von St. Paul, führte uns sofort 
zu jenen wunderbaren Bildern der Vergangenheit, die Oxford 
einzig in seiner Art bewahrt hat. Die Strassen, schon still und leer, 
verlieren rasch das moderne Gesicht der Bahnhofsvorstadt; bald 
sehen wir zurrechten die grauen, achthundertjährigen Thürme des 
normannischen Kastells, erbaut im Jahre 107 1 auf den Grund- 
mauern eines noch älteren sächsischen Königspalastes; im 
bleichenden Mondlichte steigen sie starr und drohend empor. 
Hüben und drüben treten Kirchen heran: St. Michael, ein 
sächsisches Bauwerk, älter als die Eroberung von 1066, und 
St. Mary Magdalen, noch im normannischen Baustyle des 
zwölften Jahrhunderts; schwere einschiffige Hallen, mit dem uns 
fremd gewordenen, viereckigen, stumpfen, ursprünglich durch ein 
hölzernes Spitzdach abgeschlossenen, erst in späterer gothischer 



London und Oxford, 2l0 

Zeit krenelirten Thurme; mit den kleinen, besser zur Ver- 
theidigTing als zur Beleuchtung geeigneten Fenstern, in ihren vor- 
gothischen, noch nicht durch Strebepfeiler belebten Mauern. 
Dann rückt links eine graue, zugleich schloss- und klosterartige 
Sandsteinmasse heran: Balliol College, gestiftet schon um 1200, 
mit spitzen Giebeln, entlang dem Kranzgesimse und mit breiten 
Zinnen auf dem schweren Eingangsthurm. Die Hauptfront ist 
durch reiche, dreiseitig vorspringende Erker verziert, die kunst- 
volles Masswerk zeigen, ähnlich den schonen Chörlein zu Nürn- 
berg. Daneben Trinity College, mit römischen Säulen und einem 
hohen Thurme geschmückt, dessen Plattform wiederum colossale 
Steinfiguren überragen, die im Mondlichte wie frei schwebend 
erscheinen; ein Bau der italienischen Spätrenaissance. 

' Und nun schliesst sich hier, in Broad Street, rechts und 
links, ein wunderbarer Reichthum mittelalterlicher Architektur 
zusammen, umgeben von grünen baumbeschatteten Gärten und 
alten breiten dunklen Alleen; eine einzig originelle Reihefolge^ 
die im ungewissen nächtlichen Lichte uns der nüchternen 
Wirklichkeit entrückt und zurückversetzt in die romantischen 
Zeiten der Tudors und Stuarts. Alte^ und Neues fliesst in der 
»mondbeglänzten Zaubernacht« verwirrend in einander und hält 
Sinn und Urtheil gefangen. Denn gerade die neueste Archi- 
tektur kehrt am täuschendsten zu den alten classischen Formen 
des englisch-gothischen Baustils zurück. Der stolze Thurm zu 
unserer Rechten über der Einfahrt von Exeter College und das 
ganze Gebäude, ein imposantes englisch -gothisches Schloss, 
sind erst in den Jahren 1855 bis 1858 gebaut, aber auf dieser 
Stelle hausten schon vor vier Jahrhunderten die Studirenden 
der »deutschen Nation« in ihrer Hall (Herberge). 

Daneben folgt ein Gebäude im Elisabethstile, dieser 
originellen Mischung der perpendikulären Linien der Spätgothik 
mit dem Schmucke der Renaissance: das reiche Ashmolean 
Museum. Ihm schliesst sich ein überragender Halbrundbau 
an aus der Roccocoperiode ; sein Name ist Sheldonian Theater, 
im Innern ein weiter kirchenhafter Raum, der bei den jährlichen 
grossen akademischen Feierlichkeiten der »Commemoration« 
mehr als dreitausend Theilnehmer fasst 

Vom reichvergoldeten Gitter vor dem Hauptportale, an 
dem wir entlang fahren, starrt uns auf schweren Pfeilern eine 



^14 Ein Tag in Oxford, 

schiessende Züge belebte Bahn. Wir durchschneiden jetzt die 
bekannte^ unaufhörlich im Zickzack vorwärts wandernde Zone, 
auf welcher Stadt und Land den nie rastenden Grenzkrieg 
führen; ihre Signatur ist ein breiter Wall von Schmutz und 
Unordnung, unter dem die vorrückende Stadt das saubere, 
grüne, gartenreiche Land nach und nach begräbt und erstickt 
AUmälig lockert sich das Gedränge der Gebäude; Gärten, 
Felder, Weideflächen schieben sich ein, mit Hecken imischlossen 
und von einzelnen breitästigen alten Bäumen beschattet Jetzt 
durchfliegen wir kleine Stationen, vorbei an langgestreckten 
niedrigen Tribünen für den massenhaften . localen Verkehr der 
Vorstädter, die an jedem Morgen mit dem bekannten schwarzen 
Reisetäschchen in die City und Abends wieder herausfahren. 
Dann folgen suburbane Colonien von Villen, wo die Familien 
jener, täglich zwischen Land und Stadt hin und wieder schwingen- 
den Geschäftsleute in frischer Luft zu frischen Menschen auf- 
wachsen. Weiterhin zeigen sich Wiese, Wald und Wasser in 
ungestörter Naturfrische und nun erscheint endlich auch die 
grossartige Mischung dieser Drei : der Park, der den erleuchteten 
Herrensitz, am Ende jener vornehmen zweihundertjährigen 
Ulmenallee, breit umlagert. Jetzt sind wir wirklich auf dem 
Lande — wir sind im Freien. 

Der Vollmond überfluthete die gartenhafte, baumreiche 
Landschaft um Oxford, als ich auf der Station von meinem 
Gastfreunde empfangen wurde. Unser Weg, in die ziemlich 
entlegene Vicarage (Pfiarrhaus) von St. Paul, führte uns sofort 
zu jenen wunderbaren Bildern der Vergangenheit, die Oxford 
einzig in seiner Art bewahrt hat. Die Strassen, schon still und leer, 
verlieren rasch das moderne Gesicht der Bahnhofsvorstadt; bald 
sehen wir zur rechten die grauen, achthundertjährigen Thürme des 
normannischen Kastells, erbaut im Jahre 1071 auf den Grund- 
mauern eines noch älteren sächsischen Königspalastes; im 
bleichenden Mondlichte steigen sie starr und drohend empor. 
Hüben und drüben treten Kirchen heran: St. Michael, ein 
sächsisches Bauwerk, älter als die Eroberung von 1066, und 
St. Mary Magdalen, noch im normannischen Baustyle des 
zwölften Jahrhunderts; schwere einschiffige Hallen, mit dem uns 
fremd gewordenen, viereckigen, stumpfen, ursprünglich durch ein 
hölzernes Spitzdach abgeschlossenen, erst in späterer gothischer 



London und Oxford. 215 

Zeit krenelirten Thurme; mit den kleinen, besser zur Ver- 
theidigung als zur Beleuchtung geeigneten Fenstern, in ihren vor- 
gothischen, noch nicht durch Strebepfeiler belebten Mauern. 
Dann rückt links eine graue, zugleich schloss- und klosterartige 
Sandsteinmasse heran: Balliol College, gestiftet schon um 1200, 
mit spitzen Giebeln, entlang dem Kranzgesimse und mit breiten 
Zinnen auf dem schweren Eingangsthurm. Die Hauptfront ist 
durch reiche, dreiseitig vorspringende Erker verziert, die kunst- 
volles Masswerk zeigen, ähnlich den schonen Chorlein zu Nürn- 
berg. Daneben Trinity College, mit römischen Säulen und einem 
hohen Thurme geschmückt, dessen Plattform wiederum colossale 
Steinfiguren überragen, die im Mondlichte wie frei schwebend 
erscheinen; ein Bau der italienischen Spätrenaissance. 

Und nun schliesst sich hier, in Broad Street, rechts und 
links, ein wunderbarer Reichthum mittelalterlicher Architektur 
zusammen, umgeben von grünen baumbeschatteten Gärten und 
alten breiten dunklen Alleen; eine einzig originelle Reihefolge^ 
die im ungewissen nächtlichen Lichte uns der nüchternen 
Wirklichkeit entrückt und zurückversetzt in die romantischen 
Zeiten der Tudors und Stuarts. Alte^ und Neues fliesst in der 
»mondbeglänzten Zaubernacht« verwirrend in einander und hält 
Sinn und Urtheil gefangen. Denn gerade die neueste Archi- 
tektur kehrt am täuschendsten zu den alten classischen Formen 
des englisch-gothischen Baustils zurück. Der stolze Thurm zu 
unserer Rechten über der Einfahrt von Exeter College und das 
ganze Gebäude, ein imposantes englisch -gothisches Schloss, 
sind erst in den Jahren 1855 bis 1858 gebaut, aber auf dieser 
Stelle hausten schon vor vier Jahrhunderten die Studirenden 
der »deutschen Nation« in ihrer Hall (Herberge). 

Daneben folgt ein Gebäude im Elisabethstile, dieser 
originellen Mischung der perpendikulären Linien der Spätgothik 
mit dem Schmucke der Renaissance: das reiche Ashmolean 
Museum. Ihm schliesst sich ein überragender Halbrundbau 
an aus der Roccocoperiode ; sein Name ist Sheldonian Theater, 
im Innern ein weiter kirchenhafter Raum, der bei den jährlichen 
grossen akademischen Feierlichkeiten der »Commemoration« 
mehr als dreitausend Theilnehmer fasst. 

Vom reichvergoldeten Gitter vor dem Hauptportale, an 
dem wir entlang fahren, starrt uns auf schweren Pfeilern eine 



214 Ein Tag in Oxford. 

schiessende Züge belebte Bahn. Wir durchschneiden jetzt die 
bekannte^ unaufhörlich im Zickzack vorwärts wandernde Zone, 
auf welcher Stadt und Land den nie rastenden Grenzkrieg 
führen; ihre Signatur ist ein breiter Wall von Schmutz und 
Unordnung, unter dem die vorrückende Stadt das saubere, 
grüne, gartenreiche Land nach und nach begräbt und erstickt. 
AUmälig lockert sich das Gedränge der Gebäude; Gärten, 
Felder, Weideflächen schieben sich ein, mit Hecken umschlossen 
und von einzelnen breitästigen alten Bäumen beschattet- Jetzt 
durchfliegen wir kleine Stationen, vorbei an langgestreckten 
niedrigen Tribünen für den massenhaften localen Verkehr der 
Vorstädter, die an jedem Morgen mit dem bekannten schwarzen 
Reisetäschchen in die City und Abends wieder herausfahren. 
Dann folgen suburbane Colonien von Villen, wo die Familien 
jener, täglich zwischen Land und Stadt hin und wieder schwingen- 
den Geschäftsleute in frischer Luft zu frischen Menschen auf- 
wachsen. Weiterhin zeigen sich Wiese, Wald und Wasser in 
ungestörter Naturfrische und nun erscheint endlich auch die 
grossartige Mischung dieser Drei : der Park, der den erleuchteten 
Herrensitz, am Ende jener vornehmen zweihundertjährigen 
Ulmenallee, breit umlagert. Jetzt sind wir wirklich auf dem 
Lande — wir sind im Freien. 

Der Vollmond überfluthete die gartenhafte, baumreiche 
Landschaft um Oxford, als ich auf der Station von meinem 
Gastfreunde empfangen wurde. Unser Weg, in die ziemlich 
entlegene Vicarage (Pfarrhaus) von St. Paul, führte uns sofort 
zu jenen wunderbaren Bildern der Vergangenheit, die Oxford 
einzig in seiner Art bewahrt hat. Die Strassen, schon still und leer, 
verlieren rasch das moderne Gesicht der Bahnhofs vorstadt; bald 
sehen wir zur rechten diegrauen, achthundertjährigen Thürme des 
normannischen Kastells, erbaut im Jahre 1071 auf den Grund- 
mauern eines noch älteren sächsischen Konigspalastes; im 
bleichenden Mondlichte steigen sie starr und drohend empor. 
Hüben und drüben treten Kirchen heran: St. Michael, ein 
sächsisches Bauwerk, älter als die Eroberung von 1066, und 
St. Mary Magdalen, noch im normannischen Baustyle des 
zwölften Jahrhunderts; schwere einschiffige Hallen, mit dem uns 
fremd gewordenen, viereckigen, stumpfen, ursprünglich durch ein 
hölzernes Spitzdach abgeschlossenen, erst in späterer gothischer 



London und Oxford. 215 

Zeit krenelirten Thurme; mit den kleinen, besser zur Ver- 
theidigung als zur Beleuchtung geeigneten Fenstern, in ihren vor- 
gothischen, noch nicht durch Strebepfeiler belebten Mauern. 
Dann rückt links eine graue, zugleich schloss- und klosterartige 
Sandsteinmasse heran: Balliol College, gestiftet schon um 1200, 
mit spitzen Giebeln, entlang dem Kranzgesimse und mit breiten 
Zinnen auf dem schweren Eingangsthurm. Die Hauptfront ist 
durch reiche, dreiseitig vorspringende Erker verziert, die kunst- 
volles Masswerk zeigen, ähnlich den schonen Chörlein zu Nürn- 
berg. Daneben Trinity College, mit romischen Säulen und einem 
hohen Thurme geschmückt, dessen Plattform wiederum colossale 
Steinfiguren überragen, die im Mondlichte wie frei schwebend 
erscheinen; ein Bau der italienischen Spätrenaissance. 

Und nun schliesst sich hier, in Broad Street, rechts und 
links, ein wunderbarer Reichthum mittelalterlicher Architektur 
zusammen, umgeben von grünen baumbeschatteten Gärten und 
alten breiten dunklen Alleen; eine einzig originelle Reihefolge^ 
die im ungewissen nächtlichen Lichte uns der nüchternen 
Wirklichkeit entrückt und zurückversetzt in die romantischen 
Zeiten der Tudors und Stuarts. Alte^ und Neues fliesst in der 
»mondbeglänzten Zaubemacht« verwirrend in einander und hält 
Sinn und Urtheil gefangen. Denn gerade die neueste Archi- 
tektur kehrt am täuschendsten zu den alten classischen Formen 
des englisch-gothischen Baustils zurück. Der stolze Thurm zu 
unserer Rechten über der Einfahrt von Exeter College und das 
ganze Gebäude, ein imposantes englisch -gothisches Schloss, 
sind erst in den Jahren 1855 bis 1858 gebaut, aber auf dieser 
Stelle hausten schon vor vier Jahrhunderten die Studirenden 
der »deutschen Nation« in ihrer Hall (Herberge). 

Daneben folgt ein Gebäude im Elisabethstile, dieser 
originellen Mischung der perpendikulären Linien der Spätgothik 
mit dem Schmucke der Renaissance: das reiche Ashmolean 
^luseum. Ihm schliesst sich ein überragender Halbrundbau 
an aus der Roccocoperiode; sein Name ist Sheldonian Theater, 
im Innern ein weiter kirchenhafter Raum, der bei den jährlichen 
grossen akademischen Feierlichkeiten der »Commemoration« 
mehr als dreitausend Theilnehmer fasst. 

Vom reichvergoldeten Gitter vor dem Hauptportale, an 
dem wir entlang fahren, starrt uns auf schweren Pfeilern eine 



214 Ein Tag in Oxford, 

schiessende Züge belebte Bahn. Wir durchschneiden jetzt die 
bekannte, unaufhörlich im Zickzack vorwärts wandernde Zone, 
auf welcher Stadt und Land den nie rastenden Grenzkrieg 
führen; ihre Signatur ist ein breiter Wall von Schmutz und 
Unordnung, unter dem die vorrückende Stadt das saubere, 
grüne, gartenreiche Land nach und nach begräbt und erstickt 
AUmälig lockert sich das Gedränge der Gebäude; Gärten, 
Felder, Weideflächen schieben sich ein, mit Hecken umschlossen 
und von einzelnen breitästigen alten Bäumen beschattet Jetzt 
durchfliegen wir kleine Stationen, vorbei an langgestreckten 
niedrigen Tribünen für den massenhaften . localen Verkehr der 
Vorstädter, die an jedem Morgen mit dem bekannten schwarzen 
Reisetäschchen in die City und Abends wieder herausfahren. 
Dann folgen suburbane Colonien von Villen, wo die Familien 
jener, täglich zwischen Land und Stadt hin und wieder schwingen- 
den Geschäftsleute in frischer Luft zu frischen Menschen auf- 
wachsen. Weiterhin zeigen sich Wiese, Wald und Wasser in 
ungestörter Naturfrische und nun erscheint endlich auch die 
grossartige Mischung dieser Drei : der Park, der den erleuchteten 
Herrensitz, am Ende jener vornehmen zweihundertjährigen 
Ulmenallee, breit umlagert. Jetzt sind wir wirklich auf dem 
Lande — wir sind im Freien. 

Der Vollmond überfluthete die gartenhafte, baumreiche 
Landschaft um Oxford, als ich auf der Station von meinem 
Gastfreunde empfangen wurde. Unser Weg, in die ziemlich 
entlegene Vicarage (Pfarrhaus) von St. Paul, führte uns sofort 
zu jenen wunderbaren Bildern der Vergangenheit, die Oxford 
einzig in seiner Art bewahrt hat. Die Strassen, schon still und leer, 
verlieren rasch das moderne Gesicht der Bahnhofsvorstadt; bzdd 
sehen wir zurrechten diegrauen, achthundertjährigen Thürme des 
normannischen Kastells, erbaut im Jahre 1071 auf den Grund- 
mauern eines noch älteren sächsischen Konigspalastes; im 
bleichenden Mondlichte steigen sie starr und drohend empor. 
Hüben und drüben treten Kirchen heran: St. Michael, ein 
sächsisches Bauwerk, älter als die Eroberung von 1066, und 
St. Mary Magdalen, noch im normannischen Baustyle des 
zwölften Jahrhunderts ; schwere einschiffige Hallen, mit dem uns 
fremd gewordenen, viereckigen, stumpfen, ursprünglich durch ein 
hölzernes Spitzdach abgeschlossenen, erst in späterer gothischer 



London und Oxford. 21d 

Zeit krenelirten Thurme; mit den kleinen, besser zur Ver- 
theidigung als zur Beleuchtung geeigneten Fenstern, in ihren vor- 
gothischen, noch nicht durch Strebepfeiler belebten Mauern. 
Dann rückt links eine graue, zugleich schloss- und klosterartige 
Sandsteinmasse heran: Balliol College, gestiftet schon um 1200, 
mit spitzen Giebeln, entlang dem Kranzgesimse und mit breiten 
Zinnen auf dem schweren Eingangsthurm. Die Hauptfront ist 
durch reiche, dreiseitig vorspringende Erker verziert, die kunst- 
volles Masswerk zeigen, ähnlich den schönen Chorlein zu Nürn- 
berg. Daneben Trinity College, mit römischen Säulen und einem 
hohen Thurme geschmückt, dessen Plattform wiederum colossale 
Steinfiguren überragen, die im Mondlichte wie frei schwebend 
erscheinen; ein Bau der italienischen Spätrenaissance, 

' Und nun schliesst sich hier, in Broad Street, rechts und 
links, ein wunderbarer Reichthum mittelalterlicher Architektur 
zusammen, umgeben von grünen baumbeschatteten Gärten und 
alten breiten dunklen Alleen; eine einzig originelle Reihefolge^ 
die im ungewissen nächtlichen Lichte uns der nüchternen 
Wirklichkeit entrückt und zurückversetzt in die romantischen 
Zeiten der Tudors und Stuarts. Alte^ und Neues fliesst in der 
»mondbeglänzten Zaubernacht« verwirrend in einander und hält 
Sinn und Urtheil gefangen. Denn gerade die neueste Archi- 
tektur kehrt am täuschendsten zu den alten classischen Formen 
des englisch-gothischen Baustils zurück. Der stolze Thurm zu 
unserer Rechten über der Einfahrt von Exeter College und das 
ganze Gebäude, ein imposantes englisch -gothisches Schloss, 
sind erst in den Jahren 1855 bis 1858 gebaut, aber auf dieser 
Stelle hausten schon vor vier Jahrhunderten die Studirenden 
der »deutschen Nation« in ihrer Hall (Herberge). 

Daneben folgt ein Gebäude im Elisabethstile, dieser 
originellen Mischung der perpendikulären Linien der Spätgothik 
mit dem Schmucke der Renaissance: das reiche Ashmolean 
Museum. Ihm schliesst sich ein überragender Halbrundbau 
an aus der Roccocoperiode ; sein Name ist Sheldonian Theater, 
im Innern ein weiter kirchenhafter Raum, der bei den jährlichen 
grossen akademischen Feierlichkeiten der »Commemoration« 
mehr als dreitausend Theilnehmer fasst. 

Vom reichvergoldeten Gitter vor dem Hauptportale, an 
dem wir entlang fahren, starrt uns auf schweren Pfeilern eine 



216 Ein Tag in Oxford. 

Reihe antiker Hermen, griechische Weise und romische 
Caesaren, geisterhaft entgegen. 

Den Schluss dieser wundersamen Denkmälerstrasse aus 
acht Jahrhunderten bildet wiederum ein dorisch-italienischer 
Palast des Roccoco mit hochaufstrebendem Säulenportale: 
Clarendon Building, mehrere Generationen hindurch die Her- 
berge des Verkündigers und Verewigers der oxonischen Weis- 
heit: des Universitäts -Buchdruckers. Die Kosten dieses statt- 
lichen Bauwerks wurden zum grössten Theile aus dem Ertrage 
von Lord Ciarendons einst berühmten Buche „Geschichte der 
Rebellion" bestritten. 

Wir verlassen jetzt Broad Street und eine dunkle Allee 
uralter Linden nimmt uns in Parkstreet auf; zu beiden Seiten 
sehen wir weite Gärten, in denen die, vom ungewissen fahlen 
Mondlichte übergossenen grauen College -Fassaden sich grell 
gegen die scharfen tiefen Schatten der dichten Baum- und 
Buschgruppen und der mächtig überragenden schwärzlichen 
Libanoncedem absetzen. Nochmals tritt uns ein massives von 
einem kräftigen, viereckigen, spitz zulaufenden Thurme über- 
ragtes gothisches Bauwerk entgegen, dessen Front an die 
herrlichen Stadthäuser von Brügge und Brüssel erinnert: das 
University -Museum. Dann folgt, dem weiterstreckten neuen 
städtischen Parke entlang, eine Reihe rother spitzgiebliger 
ganz modemer Cottages, jede in einem Gärtchen, und vor einer 
der stattlichsten, der Vicarage von St, Paul, erfreut mich der 
herzlichste Willkommen. — 

Als ich am andern Morgen, durch die frühe Sonne geweckt, 
mein Giebelzimmer verliess, erwarteten meine freundlichen 
Wirthe mich schon beim Frühstücke auf der Terrasse über dem 
Hausgarten hinter der Cottage. Ein auserwähltes Plätzchen 
und eine überraschende, grossartige Aussicht. Unmittelbar zu 
unseren Füssen das saubere Gärtchen der Vicarage, ein fi-ischer 
Rasenplatz mit blühenden Rhododendren, gelben pontischen 
Azaleen und einzelnen fast kugelförmigen Exemplaren der 
Thuja aurea besetzt. Darüber hinaus fällt der Boden westlich 
nach deni Flussthale ab und wir übersehen ein Stück des herr- 
lichen alten Parkes von Wadham College, mit stillem Busch- 
werke, rauschenden alten Hochstämmen und offenen grünen 
Plätzen, auf denen buntscheckige schwere Milchkühe üppig 



London und Oxford, 2\i 

grasen und beschaulich wiederkäuen. Aber das alles ist nur unter- 
geordneter Vorder- und Mittelgrund. Denn diese idyllische Land- 
schaft wird von einem Walde der wunderbarsten Architektur über- 
ragt, die hier unseren Gesichtskreis rings einfasst und abschliesst. 

Zur Rechten des Bildes: Wadham College, der Nachbar 
der Vicarage, ein stattlicher Gebäudecomplex mit Spitzgiebeln, 
viereckigen gothischen Fenstern und hohen Schornsteinbündeln. 
Nur die peinlich regelmässigen Krenelirungen des Gesimses 
und des hohen breiten Thurms verrathen ein wenig den zu 
abstrakten Idealismus der neuesten Restauration. Daneben 
tritt, nach links, aus einer Gruppe erhabener Cedern und 
Douglasfichten ein mächtiges gothisches Castell hervor. Seine 
Zinnen sind durch zahlreiche hohe schlanke, spitz auslaufende und 
mit dem bekannten gothischen Blattwerke, den sogenannten 
Bossen oder Frauenschuhen verzierte Fialen unterbrochen und 
von einem mächtigen Bergfried (Keep) beherrscht, dessen Platt- 
form dann wieder mit spitzen Pfeilerthürmen verschiedener 
Grösse gekrönt ist. Dieses reiche schlossartige Gebäude ist 
die „Divinity School" und unter den vielen prächtigen Hallen 
Oxfords ist die von Divinity School eine der prächtigsten, vor 
allem wegen ihrer kunstreichen Decke. Das Licht fällt durch 
hohe breite mit perpendiculärem Maasswerke verstabte Fenster, 
die mit niedrigen Spitzbogen überwölbt sind. Die gesprengte 
flache Decke wird von gedrückten Tudorbögen getragen. Die 
Schlusssteine der Gewölbekappen zwischen diesen starken 
Quergurten sind tief herabgesenkt; sie bilden eine lange 
Folge schwerer Zapfen, die sich im Aufsteigen fächerartig mit 
vielfach getheilten Rippen ausbreiten und durch ihre anscheinende 
Kühnheit, vereint mit gediegener Festigkeit, eine feierliche 
Wirkung hervorrufen. Oben im Gewölbe sind reiche stern- 
förmige Maasswerkmuster ausgeführt. Die tief herabhangenden 
Zapfen sind an ihrer Spitze wiederum mit Figürchen in Bilder- 
blenden unter kleinen Baldachinen verziert. Die Thüren sind 
mit dem geschweiften Spitzbogen, dem sogenannten Eselsrücken, 
überwölbt, der den spätgothischen reichen Blätterfries der 
Tudorblume (Eppichblatt) trägt und bis zur Stärke einer 
Wimberge vortritt. 

Diese berühmte Hall stammt aus der besten Zeit der 
englischen Späthgothik (1450). Als das Parlament durch die 



äIo Ein Tag in Oxford, 

Pest aus London vertrieben war, sass hier das Unterhaus. 
Während mehrer Jahrhunderte hielten die vier Facultäten der 
Universität in diesem Prachtbaue ihre Prüfungen: Theologie 
(Divinity), Medicin, Jurisprudenz (Law) und die „freien Künste" 
(Arts), letztere etwa gleichbedeutend mit unsrer philologischen 
und philosophischen Facultät. 

Links neben Divinity School erhebt sich die stolze, über 
fünfundvierzig Meter hohe Kuppel der Radcliffe Bibliothek. 
Sie deckt eine Rotunde von mehr als dreissig Metern 
Durchmesser, reich geschmückt mit korinthischen Säulen. 
Doctor Radcliffe, der Leibarzt König Wilhelm IIL, liess diesen 
mächtigen Kuppelbau im Jahre 1740 für 800,000 Mark zum 
Besten seiner Facultät aufführen; jetzt ist die Bibliothek ent- 
fernt und die ganze innere monumentale Rotunde dient, ähnlich 
der des Britisch Museum zu London, den Medicinem als 
Lesezimmer. Nur fünfzigtausend Bände sind zum Handgebrauche 
zurück geblieben. 

Einen schlagenden Gegensatz zu diesem Riesen des 
Roccoco bildet sein Nachbar zur Linken, die schlanke hohe 
Spitze des edlen gothischen Thurms der schönen Universitäts- 
kirche St Mary the Virgin aus dem Jahre 1300; diese hoffen 
w^ir heute noch näher kennen zu lernen. Hinter ihr ragt aus der 
Entfernung der stumpfe, in viele zierlichß Fialen auslaufende 
Thurm der Chapel des alten Merton College. Noch weiter zur 
Linken streben die zahlreichen vielgestaltigen Thürme von 
All Souls College empor und mit ihnen schliesst das wunder- 
bare Bild. — 

Mein freundlicher Wirth, Mr. L., der Vicar von St. Pauls 
Kirche, beobachtete mit sichtlicher Befriedigung die Wirkung 
dieses ausserordentlichen, zugleich friedlichen und grossartigen 
Anblicks. 

„Sie -werden einen starken Contrast finden", begann er, 
„zwischen der wogenden Unruhe von London und der halb 
ländlichen, halb ehrwürdigen Stille von Oxford. Wir sind hier 
ein Stück Mittelalter, auf eine Insel gerettet und vom reissenden 
Strome der Gegenwart verschont: Häuser wie Menschen". 

„Noch ist bei mir dieser Gegensatz allerdings nicht völlig 
durchgedrungen", erwiderte ich; „bis jetzt überwiegt noch die 
Bezauberung des Auges. Wie fremdartig reizvoll, wie wunder- 



London ttnd Oxford, 219 

sam erscheint diese innige lebendige Vereinigung der heitereii 
grünen englischen Baum- und Parklandschaft, mit dieser dichten 
Anhäufung von Thürmen, Spitzen, Kuppeln und Zinnen, von 
düsteren grauen mit Epheu überrankten Gebäudemassen, so 
reich und fein verziert und dabei tüchtig und solide wie fuy 
die Ewigkeit". 

„Nun ja", stimmte Mr. L. ein, „in England steht Oxford 
ohne Gleichen da, sowohl was seine Architektur, als was seine 
Geschichte betrifft. Und auch der Continent, soweit ich ihn 
kenne, bietet kaum etwas Aehnliches, mit Ausnahme vielleicht 
der grossen italienischen Städte. Bekannt sind w^ir allerdings 
weit weniger in der Welt als Florenz und Venedig, trotz 
Bädekers warmer Empfehlung; das habe ich wahrgenommen, 
als ich vor Jahren in Leipzig während einiger Sommermonate 
deutsche und klassische Philologie trieb. Man weiss bei Ihnen 
nur, dass wir in Oxford — sowohl Stadt als Universität — sehr 
mittelalterlich sind, und man meint nebenher, dass wir hier in 
allerlei sonderbaren protestantischen Klöstern lustig leben aber 
— eigentlich nicht übermässig viel studiren". 

Ich glaubte widersprechen zu sollen, jedoch Mr. L. fuhr 
fort: „Alt ist unsere Stadt nun freilich, wenn ich auch nicht 
unbedingt für die Entdeckungen eines localpatriotischen 
Forschers einstehen möchte, nach dessen Berechnungen Oxford 
von einem alten Britenkönig Memphric im Jahre 1009 vor 
Christi Geburt, also noch 38 Jahre vor der Erbauung des 
Tempels Salomonis, gegründet ist. Dass aber König Alfred 
während der Jahre 870 bis 886 in Oxford residirte, ist eine 
beglaubigte, geschichtliche Thatsache". 

„Ist denn König Alfred wirklich der Stifter der Universität?" 

,Ja, der Sage nach", erwiderte Mr. L. „und allerdings hat 
man im Jahre 1872 den tausendjährigen Geburtstag der ,,Alma 
Mater" gebührend gefeiert. Ijidessen waren es wohl nur einige 
Schulen, die Oxford Alfred dem Grossen verdankte. Die 
Gründung der eigentlichen Universität jedoch fällt nicht früher 
als in das Jahr 1250, wo „University College" gestiftet wurde". 

„Und" fragte ich weiter, „ist aus diesem ersten und 
ältesten University College die Universität Oxford hervor- 
gegangen?" 

„Da muss ich Sie von vornherein vor einem, im Auslande 



220 Ein Tag in Oxford, 

sehr verbreiteten Irrthum warnen, nämlich vor der Verwechselung 
der Universität und der Colleges. Die „Universität Oxford** 
ist eine Corporation ähnlich den deutschen Universitäten. Sie 
bietet den Studirenden Unterrichtsmittel durch die Vorlesungen 
ihrer Facujtätsprofessoren, durch ihre Bibliotheken, Anstalten 
und Sammlungen; sie examinirt und ertheilt akademische 
Würden und Grade (degrees). Auch übt sie die allgemeine 
Polizei aus, nicht nur über die Akademiker, sondern auch viel- 
fach über die Einwohner. Die „Colleges", die CoUegienhäuser» 
bieten den Studenten Wohnung, Ernährung, Stipendien, passende 
Gesellschaft, disciplinarische Aufsicht, Unterricht, und später 
Nachhülfe in ihren selbstständigen Studien". 

„Also wäre", warf ich fragend ein, „das College etwa einem 
Convicte zu vergleichen, wie es bei uns in Tübingen für 
protestantische, anderswo für katholische Theologen besteht?" 

„Immerhin", erwiderte mein Gastfreund, „es umfasst jedoch 
eine weit vielseitigere Gemeinschaft als jene: es ist zugleich 
ein protestantisches weltliches Stift, am ähnlichsten vielleicht 
den ehemaligen grossen Abteien der Benedictiner. „Qui non 
religiosi, religiosi viverent"; klösterliches Leben ohne Gelübde 
setzte der Stifter von Merton College als Zweck seiner 
Schöpfung. Die Colleges haben ihre, von der Universitäts- 
behörde völlig unabhängige Verfassung und Verwaltung. Ihr 
gewähltes Haupt heisst Rector, Master, Präsident oder Dean 
(Dekan). Die Mitglieder des Kapitels sind die Fellows". 

„Indessen", unterbrach sich Mr. L. hier selbst „das alles 
möchte ich Ihnen lieber durch die Anschauung erklären. An 
Ort und Stelle werden Sie viel leichter ein klares Bild davon 
bekommen: was ein College ist. Wir wollen jetzt das alte 
Oxford bei Tage und im Sonnenschein sehen und sie sollen 
sich überzeugen, dass das mittelalterliche Gespenst von gestern 
Abend noch lebt und Fleisch und Blut hat". 

Während wir gingen, nahm mein Gastfreund von neuem 
das Wort: 

„Ich führe Sie hier auf Feldwegen zur Stadt, denn ich 
möchte Ihnen zum Beginn unserer Wanderung sogleich eines 
der schönsten uhd bedeutendsten Bilder zeigen unter allen, die 
das malerische Oxford aufzuweisen hat. — Sehen Sie hier!" 
rief er, als wir aus einer schmalen Allee auf die grosse Heer- 



London und Oxford. 221 

Strasse einbogen, welche früher der belebte Weg von London 
her war: „das ist Magdalen College, eine der edelsten^ 
Perlen der alten Oxonia!" 

Wir näherten uns dem kleinen Flusse Cherwell, welcher 
hier getheilt eine grüne Insel umfasst und weiter unten an der 
Stadt mit dem grosseren Isis zur Themse zusammenfliesst. Vor 
uns führt eine lange stattliche alte Steinbrücke über beide 
Flussarme und unmittelbar am jenseitigen Ufer steigt rechts 
ein mächtiger viereckiger Thurm stolz in die Luft, wohl fünfzig 
Meter hoch; seine stumpfe Plattform ist mit kleinen, spitz zu- 
laufenden Pfeilerthürmchen reich verziert. 

Links der Brücke streckt sich einft lange tiefe Terrasse 
über dem Flusse hin, beschattet von ungewöhnlich grossen 
weit herabhangenden Trauerweiden, die wieder von noch 
höheren Bäumen überragt werden: der botanische Garten. 

„Nicht wahr, das ist schön!" sagte mein Führer, „mich 
ergreift es jedes Mal mächtig, wenn ich vor dieses Bild trete 
und deshalb bringe ich gern jeden Fremden zuerst hierher. Der 
Thurm vor uns ist nun bald vierhundert Jahre alt und ebenso alt 
ist das grossartige Magdalen College, das im Jahre 1456 von 
William von Waynflete, Bischof von Winchester, gestiftet 
wurde. Er war Lord Kanzler von England unter dem Könige 
Eduard IV., dessen Söhne ihr schlimmer Onkel Richard III. im 
Tower von London bekanntlich ermorden Hess. Die 180 Fuss 
lange Brücke, auf der wir stehen, ist jünger, aber die Ueber- 
brückung hier ist sehr alt, denn sie wird bereits im Jahre 1004 
erwähnt. Wären Sie einige Wochen früher hier gewesen, am 
I. Mai, so hätten Sie schon Morgens 5 Uhr mit mir hierher 
wandern müssen und dann die Brücke und die ganze 
Umgebung dicht von Menschen besetzt gefunden. Alsdann geht 
nämlich auf der Plattform des Thurras eine sehr merkwürdige, 
unvordenklich alte Ceremonie vor sich: der „Maimorgen- 
Hymnus" wird dort oben gesungen. Diese Feier war schon 
uralt, als König Heinrich VII. um 1480 für dieselbe eine jähr- 
liche Rente von 200 Mark stiftete. Der jetzige lateinische 
Text des Gesanges stammt aus dem Anfange des vorigen 
Jahrhunderts, aber zu Grunde liegt wahrscheinlich noch die 
Erinnerung an die alte heidnische Sonnenfeier unserer gemein- 
schaftlichen Vorväter". 



ä22 Ein Tag in Oxford, 

„Sehr wahrscheinlich", bemerkte ich, „denn auch in vielen 
Gegenden Deutschlands knüpft der zähe Conservatismus der 
Volkserinnerung heute noch Maifeste an die alten heidnischen 
Cultusstätten : vor allen die berühmte Hexenfahrt auf den 
Brocken in der Mainacht. Im Maimorgen-Hymnus also besässen 
wir ein Stück alter gemeinsamer angelsächsischer Tradition" — 

„Zum Schlüsse", unterbrach mein Führer diese prä- 
historischen Reminiscenzen, „blasen alle Zuhörer auf traditionellen 
kleinen Blechtrorapeten und vollführen damit eine gräuliche 
Katzenmusik. Darin liegt ebenfalls eine geschichtliche 
Erinnerung, nämlich an die Alarmhömer der Bürger und 
Lehrlinge von Oxford bei ihren grossen historischen Riots 
(»Keilereien") mit den Studenten: Town versus Gown, Stadt 
gegen Chorrock. Letztere gaben ihr Signal „Gown into Town 
Bursche heraus", mit den Collegeglocken". — 

Jetzt aber wollen wir eintreten, damit Sie endlich erfahren, 
wie ein College von innen aussieht. 



IL 

Magdalen College. 



JDas tiefe, gewölbte Eingangsthor von Magdalen College 
fuhrt uns in einen grossen, viereckigen Hof, den Great Qua- 
drangle, umgeben von der edelsten Architektur des fünfzehnten 
Jahrhunderts. Rings herum läuft der Kreuzgang, erhellt durch 
niedrige, breite, von flachen Spitzbogen überwölbte Fenster; 
über ihm steht zu unsrer Linken die Capelle, auf den drei 
anderen Seiten ruht ein Stockwerk mit den Wohnungen des 
President und der Fellows. Die lange Flucht vor uns wird 
durch einen kurzen, schweren, mit Zinnen und Fialen gekrönten 
Thurm unterbrochen, den uralter Epheu bis oben hinauf über- 
wuchert hat. Zwischen je zwei Fenstern des Kreuzganges 
springen schmale Pfeiler vor, welche Steinfiguren tragen. 
Indem ich näher heran ging, überraschten diese Bildwerke mich, 
nach der Reihe, durch ihre fremdartige und unverständliche 
Erscheinung. 

„Was bedeuten denn jene grotesken Ornamente?" musste 
ich fragen, „ich sehe wohl, es sind Menschenzerrbilder und 
Fabelthiere, aber alles ist so fratzenhaft und närrisch-seltsam 
dargestellt". 

,Ja", erwiderte mein Führer lächelnd, „was bedeuten die 
wohl? Sie stehen hier vor einem der grossen Geheimnisse von 
Oxford. Ueber die Auslegung dieser Steinpuppen tobt schon 
seit Jahrhunderten heisser Streit unter den Kunstgelehrten. 
Man hat sie studirt wie Hieroglyphen. Einige Skeptiker 
behaupten zwar: sie seien weiter nichts, als schlechte Witze 
des Steinmetzen, aber ein patriotischer Fellow von Magdalen 
hat, jetzt gerade vor zweihundert Jahren, über diese Ungethüme 



224 Ein Tag in Oxford, 

ein dickes, gelehrtes Buch geschrieben, dessen langer Titel 
also beginnt: »Oedipus Magdalensis, Explicatio Figurarum etc.« 
Dieser Oedipus packt nun die Sphinx folgendermassen an: »hier 
dieser Narr mit Schellenkappe zeigt uns das Schicksal des 
Studenten, der es nicht zu einer der drei vorhergehenden 
Figuren gebracht hat, nämlich: Advocat, Arzt, Geistlicher; hier 
das schwimmende Hypopotamos mit seinem Jungen auf dem 
Rücken, ist das Sinnbild des sorgsamen Tutors oder Lehrers, 
der seinen Zögling sicher durch die Sümpfe der academischen 
Versuchungen trägt«. Dann folgen die Laster, welche der 
studirende Jüngling zu fliehen hat: der Wähnvolf — Gewalt- 
thätigkeit, der Greif — Habsucht, der Hund — Schmeichelei, 
diese beiden Boxer — Streitsucht und so fort. „Tiefer Sinn 
liegt oft im kindischen Spiele!** sagt nicht so einer Ihrer grossen 
Dichter?" 

,JEs sind Hieroglyphenbilder ohne Text, diese gothischen 
Caricaturen" , bemerkte ich, „man könnte sie auch einfach: 
xRebus« nennen ; ich wusste allerdings nicht, dass deren Erfindung 
so alt sei". 

„Dort, in dem epheubewachsenen Thurme vor uns*S fuhr 
Mr. L. fort, „befinden sich noch die Wohnzimmer des Stifters, 
des Bischofs Wayuflete, mit herrlichen, alten Arrastapeten, nach 
Entwürfen von Hans Holbein d. J. Lassen sie uns jetzt für 
einige Minuten in die Kapelle treten". 

„Sie bemerken", begann mein Führer wieder, nachdem 
unsere Augen sich an das gedämpfte Licht gewohnt hatten, 
das durch die prächtigen Glasmalereien der breiten verstabten 
Fenster fiel, „Sie bemerken wohl jene kunstreiche, durchbrochene 
Steinbrüstung, die den geräumigen hohen Chor von der ver- 
hältnissmässig beschränkten Antechapel, hier streng abscheidet 
Dort oben in den reichgeschnitzten, eichenen Chorstühlen, zu 
beiden Seiten der korinthischen Säulen des Altars aus der 
Renaissance, sitzen die hohen Häupter des College. Hier unten 
hat die Gemeinde freien Zutritt. Dieser wird fleissig benützt, 
denn Magdalen Chapel ist berühmt wegen seines vorzüglichen 
Chorgesanges, der auf einer alten Stiftung für sechszehn Sänger 
beruht. Durch die kunstvollen Stein- und Holzarbeiten, die 
musterhaften Glasmalereien der Fenster, die sihr grossen und 
schweren alten Messingleuchter und eine Reihe älterer spanischer 



Magdalen College. 225 

Gemälde, macht das ganze Schiff wirklich einen vornehmen, 
warmen, harmonischen Eindruck". 

„Es ist alles so besonders wohl erhalten und sauber hier**, 
bemerkte ich, 

„Die Bilderstürmerei der Puritaner" erv^'iderte der Reverend, 
„hatte auch hier zu Cromwells Zeiten viel zerschlagen und ver- 
wüstet. Vor einigen Jahren Hess das College die Chapel 
restauriren. Kenner behaupten: die Vorzüglichkeit der alten 
Arbeit trete jetzt erst recht hervor; die Rechnung betrug gegen 
600,000 Mark". 

Von der Chapel aus betraten wir den sogenannten Vorhof, 
an welchen die Wohnungen der Undergraduates liegen. So 
heissen die Studenten, so lange sie noch nicht den ersten 
akademischen Grad eines „Bachelor of Arts" erworben haben. 
Am entgegengesetzten Ende dieses Hofes führt ein enger 
Ausgang in die Gärten. 

„Betrachten Sie ja die schwerfallige, steinerne Kanzel hier 
im Winkel" sagte mein Führer. „Sie ist achtes Alterthum, 
denn sie stammt vom Bischof Waynflete selbst. Hier wurde 
jährlich am Johannistage zu Ehren des Heiligen der Wildniss 
eine Predigt gehalten und dafür der ganze Hof mit Binsen 
und Gras bestreut, um die Wüste zu versinnlichen. Ob es 
dabei auch Honig und Heuschrecken für die Zuhörer gab, 
weiss ich nicht". 

„In die sehenswerthe Hall von Magdalen, den grossen 
Esssaal, führe ich Sie nicht, da Sie in einer ähnlichen heute 
speisen werden; wir wollen lieber einen Gang durch die 
Gärten von Magdalen und die berühmten Water Walks am 
Cherwell machen. Ihr Areal ist ungewöhnlich für einen Stadt- 
garten: 150 Morgen; noch sehenswerther sind sie wegen ihrer 
alten Baumriesen, malerisch üppigen Gruppen und schönen 
Wasserpartien. Das ist ja wohl Ihre specielle Schwärmerei?" 

Ein weiter Park nahm uns auf und zeigte uns alle die 
wechselnden Schönheiten, die mich in den englischen Gärten 
stets mit frischer Bewunderung und stärkender Erfrischung 
erfüllen. Vor der südlichen Gartenfront des College liegt hier 
eine breite Terrasse. Von dieser führen Stufen in ein Blumen- 
parterre hinab, dessen Mittelpunkt, ein ehemaliges, geräumiges 
Wasserbecken, zu einer Felsgruppe aufgewölbt und mit den 

Ompteda, L. v., Bilder. 15 



226 Ein Ta£' in Oxford, 

jetzt SO modernen Saxifragen, mit Sempervivum, Escheverien 
und ähnlichen interessanten Berg- und Steinbewohnem reich 
besetzt ist. Diese Mittelgruppe ist bewacht von vier, ziemlich 
sechs Fuss hohen, mächtigen kugelförmigen Thujas. Von hier 
aus laufen, um den kurzen, dichten Rasen die schmalen 
Blumenbeete, ein weites doppeltes Quadrat bildend, jetzt in der 
Frühjahrspracht der blauen Vergissmeinnicht, eingefasst mit rothen 
Silenen und von breiten Streifen weisser Vergissmeinnicht 
quer durchkreuzt. In der Mitte von jedem .der beiden 
Quadrate glüht auf einem grossen gewölbten, sternförmigen Beete 
das kräftige, warme Roth der Tausendschön. Die umgebende 
geräumige Rasenfläche ist mit hohen Dracaenen und mit den 
lang- und breitblätterigen Musen des Paradieses verziert. 

„Jene Glasthüren", erklärte mein Gastfreund, „führen von 
der Terrasse in den Common Room, das grosse Clubzimmer der 
Fellows und Tutors; ein geheiligter Raum, den kein Under- 
graduate betreten darf. Nicht wahr, die gelehrte Colonie ist 
nicht so übel untergebracht?** 

„Das Bild der vornehmen, gesicherten Zurückgezogenheit**, 
erwiderte ich, „ein wahrer Luxus an Ruhe und Beschaulichkeit; 
das verkörperte Ideal des klösterlichen Gelehrtenlebens in 
den ehemaligen, reichen, jetzt schon sagenhaft gewordenen 
Abteien !** 

An den Blumengarten schliesst sich eine ausgebreitete, 
kaum absehbare Lawn; die offene Grasfläche ist mit einzelnen, 
hohen Araucarien und Wellingtonien besetzt, deren unterste, 
breiteste Aeste auf dem Rasen ruhen. Bald aber nehmen uns 
dichtere, dunkle Waldgruppen auf, dazwischen Weideplätze für 
vertrautes Roth- und Damm wild, friedlich daneben zahmes 
buntes Hornvieh von Hirten gehütet; rieselnde Bäche; ein 
stiller See. Hie und da akademische Jugend; einige einsied- 
lerisch im Grase oder im flachen Boote ausgestreckt und im 
Schatten eines weitästigen Uferbaumes lesend; andere in leb- 
haft bewegten, heiteren Gruppen auf einer offenen Lawn mit 
Bogen nach grossen Scheiben schiessend, ein sehr beliebter 
nationaler Sport. 

Nachdem wir wohl eine halbe Stunde gewandert waren, 
blieb Mr. L. stehen. 

„Hier ist gut ruhen, meinen Sie nicht? hier wollen wir im 



Magdale n College, 22 i 

Schatten jener herabhangenden, mächtigen Eschen rasten und 
uns an der murmelnden Kühlung dieses eiligen Arms des 
Cherwell erfrischen. Der Fleck hier ist geweihter Boden; er 
heisst „Addison's Walk", nach unserem berühmten Dichter und 
Essayisten, dem Herausgeber des klassischen „Spectator", der 
um das Jahr 1700 hier studirte. — Betrachten Sie jene 
bukolische Idylle vor uns, es sind ächte Alderneykühe von der 
Insel Jersey; man sieht es an den schmalen, hirschartigen 
Köpfen. — Dort im Hintergrunde überragt der hohe Thurm, 
unser alter Bekannter, selbst die höchsten Baumgipfel". 

Als wir uns gelagert hatten, begann ich wieder j „Sie 
müssen mir noch einige Fragen gestatten. Ich weiss jetzt 
freilich: wie ein College von aussen aussieht, aber die innere 
Einrichtung und das Leben darin, ich möchte sagen: der Be- 
trieb des College ist mir noch nicht ganz klar**. 

„Ich hoffe, das alles wird Ihnen durch den Anschauungs- 
unterricht während des heutigen Tages verständlich Werden", 
erwiderte mein Gastfreund. — »Nun, was wünschen Sie zu 
wissen?" 

„Znnächst also: wohnt und lebt jeder Student in einem 
solchen College?" 

„Nicht alle, aber weitaus der grösste Theil. In den 
ältesten Zeiten der Universität gab es keine Colleges. Die 
Studenten wohnten in kleinen Herbergen (Halls) zusammen. 
Es sollen deren einmal zweihundert hier gewesen sein; die 
Frequenz der Universität war schon früh sehr bedeutend; 
aus dem Jahre 1209 werden dreitausend Studenten gemeldet. 
Nach und nach wurden, um Zucht und Ordnung in das wilde 
Leben zu bringen, die Colleges gestiftet, das älteste »University 
'College« im Jahre 1250, das jüngste »Keble College« erst 1868, 
Sie sehen also: der Werdeprocess von Oxford ist noch nicht 
erschöpft Von den alten Halls bestehen nur noch vier, als 
Ueberreste der früheren grösseren »akademischen Freiheit«, 
wie man in Deutschland sagt". 

„Bis vor zehn Jahren nun musste, während vier Jahr- 
hunderten, jeder Studirende einem dieser Convicte angehören; 
jetzt dürfen sie auch in gewissen bürgeriichen Häusern der 
Stadt, welche dafür vom Vicekanzler concessionirt sind, wohnen. 
Diese »Unattached« oder Wilden stehen indessen ebenfalls unter 

15* 



22o Ein Tag in Oxford, 

disciplinarischer Aufsicht. Um lo Uhr Abends muss jeder 
Studiosus in der Regel zu Hause sein. Der verantwortliche Wirth 
hat darüber eine Liste zu fuhren. Solcher Wilden haben wir be- 
reits einige Hunderte. Sie schlagen sich so im ganzen billiger 
durch, als in den Colleges, wo meistens zu viel Comfort und 
Luxus herrscht, namentlich fallen dort zu viele unvermeidliche 
Vergnügnngs- und Ehrenausgaben vor. Man schätzt den 
/Bedarf eines anständig, ohne Extravaganzen, lebenden Studenten 
in Oxford auf 5 bis 6000 Mark. Dazu kommt aber noch, dass 
das akademische Jahr eigentlich nur sieben bis acht Monate 
dauert, während der übrigen Zeit sind Ferien. Ein flotter 
oxforder Student ist also ein Luxus, den sich nur wohlhabende 
Väter gestatten können. Diesen Missstand hat man sehr wohl 
empfunden und auf Abhülfe gesonnen. So wurde Keble College 
gegründet für eine ärmere Klasse von Studenten, »welche dort 
wirklich ernstlich studiren sollen bei einfacher und religiöser 
Lebensweise« so heisst es im Stiftungsbriefe. Nebenbei waltet 
aber auch die extrem hochkirchliche Richtung in Keble vor> 
entsprechend seinem Namen, denn Dr. Keble war eines der 
Häupter unserer Extremen und vor vierzig Jahren einer der 
Führer des bekannten »Tractarian Movement«. — Was man 
aber hier unter »ärmerer Klasse« versteht, können Sie daraus 
abnehmen, dass jeder Student in Keble über 1600 Mark für 
Wohnung, Unterhalt und Unterricht bezahlt, immer nur während 
sieben und einem halben Monat. — Und wie kam das Geld 
für Keble College zusammen? Das ist charakteristisch und 
wird Sie interessiren. Zunächst brachten Beiträge von frommen^ 
wohlthätigen Privatleuten über eine Million Mark. Ein reicher 
Rheder, Mr. Gibbs, baute die Chapel, sie kostete ebenfalls mehr 
als eine Million. Einer anonymen Wohlthäterin war bald die" 
ursprüngliche Esshalle zu klein , sie bauete eine neue auf ihre 
Kosten und fügte eine Bibliothek hinzu, beide in den grössten 
Dimensionen. Mrs. Combe gab zweimal hunderttausend Mark 
für ein grosses Bild von Holman Hunt »Christus, das Licht der 
Welt« zur Ausschmückung der Bibliothek. Die Erben des 
Feldmarschalls Gomm stifteten ein Kapital von dreimal hundert- 
tausend Mark für Stipendien. Das alles geschah für hundert 
und fünfzig »ärmere Studenten«", 

„Halten Sie ein", bat ich, ,imir schwindelt! Das nennt man 



Magdalen College, 229 

^^bescheidene Verhältnisse«? England ist wirklich zu reich ge- 
worden! — Wie viel Mitglieder zählt denn überhaupt die 
Universität Oxford?" 

„Studenten", meinte Mr. L. „werden wir etwa 2500 haben; 
aber dazu die Mitglieder der »University«, die 48 Professoren, 
und die eingeschriebenen Angehörigen sämmtlicher Colleges, 
also die Fellows, femer die Tutors und die Lecturers (beauf- 
sichtigende Lehrer und Fachlehrer): alle .diese rechnen sich 
gewiss auf mehr als 9000 Kopfe zusammen". 

„Wieder eine der grossen Ziffern, an die man sich in 
Eng'land erst zu gewöhnen hat", unterbrach ich erstaunt, „die 
Universität muss doch ungeheuer reich sein, da so viele 
Menschen auf ihr und von ihr reichlich leben. Wie verhält es 
sich wohl damit?" 

„Dabei müssen wir wieder unterscheiden", erklärte Mr. L. 
„Die »University« hat nur eine jährliche Einnahme von etwa 
600,000 Mark. Weit grösser aber ist der Reichthum der 
Colleges. Sie besitzen zusammen eine Grundfläche von etwa 
200,000 Morgen und beziehen eine Rente von etwa 
4^/2 Millionen Mark. Die gesammte jährliche Einnahme der 
Universität Oxford, in Ihrem deutschen Sinne, also ein- 
schliesslich aller Colleges, wird sich auf etwa 9,200,000 Mark 
belaufen". 

„Das sind Summen", musste ich bekennen, „von denen wir 
für deutsche Verhältnisse einfach keinen Begriff haben". 

,Ja, es ist etwa der Betrag unserer königlichen Civilliste", 
bemerkte Mr. L. zur Vergleichung. „Uebrigens dürfen Sie auch 
den grossen Unterschied nicht vergessen, dass die Colleges von 
Oxford nach dem Willen ihrer Stifter nicht allein Studirende 
ausbilden sollen. Sie sind namentlich auch bestimmt, älteren 
bereits graduirten Männern, die im reiferen Alter ihre Studien 
fortsetzen, eine auskömmliche, förderliche Existenz zu geben. 
So nimmt das, im Jahre 1437 gegründete All Souls College 
stiftungsmässig gar keine Studenten auf, sondern nur Graduirte ; 
.dabei hat es ein. jährliches Einkommen von etwa 360,000 Mark. 
Früher waren zu den meisten dieser Präbenden (Fellowships) 
nur jüngere Mitglieder des College selbst berufen, seit neuerer 
Zeit findet aber fast überall freier Wettbewerb durch Prüfungen 
statt. Diese Fellows also wohnen ujid leben im College und 



230 Ein Tag in Oxford. 

haben nebenbei eine bescheidene baare Einnahme von 4000 
bis 8000, selbst bis 11,000 Mark; ein Theil von ihnen ist zu- 
gleich als Tutors (beaufsichtigende Lehrer) thätig und verdoppelt 
dadurch etwa sein Einkommen, Einige übernehmen auch wohl 
benachbarte Pfarreien. Von den übrigen wird vorausgesetzt, 
dass sie ihre Müsse gelehrten Studien widmen". 

„Gestern Abend habe ich, in Voraussicht Ihrer Wiss- 
begierde, einige Notizen üher diese Finanzfrage zusammen- 
gestellt, die Ihnen vielleicht die Sache veranschaulichen werden. 
Danach hat: Magdalen College 

1. jährliche Einnahme 480,000 Mark 

2. der Gehalt des President beträgt 50,000 „ 

3. Gehalt der 30 Fellows, jeder, 6 bis 8,000 „ 

4. Ausgabe für Stipendiaten, Scholars 56,000 „ 

5. Zahl der Studenten (1878) loi Studenten 

6. Patronatspfarren des College 42 Pfarren 

7. deren Jahreseinkommen 490,000 Mark 

8. Landbesitz des College 16,800 Morgen 

Während ich noch mit diesen überraschenden Zahlen 
kämpfte, nahmen Mr. L.'s Mittheilungen eine andere Gedanken- 
reihe auf. 

„Es ist eine merkwürdige Continuität", so begann er 
wieder, „in dem Leben und der Lebensfähigkeit eines solchen 
College. Was ist nicht alles gleichzeitig mit Magdalen »fiir 
die Dauer« gegründet und gestiftet worden und was steht 
davon noch heute lebendig aufrecht? Selbstverständlich zeigt 
diese selten zähe, lange, und im ganzen aufsteigende Lebens- 
linie auch mannigfache vorübergehende Depressionen, sie 
bewegt sich in Curven von guten und schlechten Zeiten. 
Und wie sich alles in unserer kleinen Welt hier wiederholt! 
Im Jahre 1500 wüthete in Oxford die Pest und Magdalen 
stand beinahe verlassen; dazu kam die allgemeine Verwilderung 
aus den erst kürzlich beendigten, hundertjährigen Rosenkriegen. 
So entspann sich unter anderem damals auch eine pädagogische 
Bewegung unter den Studenten gegen das Griechische. Die 
Gegner nannten sich »Trojaner« und lieferten als schlagende 
»argumenta ad hominem« den Griechen ernste Strassengefechje 
um diese hier noch heute vielumstrittene Frage". — 



j^Iagdalen College. 231 

„Auch die englischen Könige hatten, namentlich in früheren 
Jahrhunderten, vielfache Beziehungen zu Magdalen. Später 
erhob sich Christ Church College zu vornehmerer Stellung als 
Heinrich VIII. es mit der bischöflichen Kathedrale verband. 
Unter den verschiedenen königlichen Besuchen macht mir 
immer die Erinnerung an den armen Prinzen Arthur, Sohn 
Heinrich VII. und Zögling von Magdalen, einen wehmüthigen 
Eindruck. Sein Leben verlief so furchtbar hastig. Mit 
1 2 Jahren war er Student in Magdalen, erst 1 4 Jahre alt wurde 
er mit Katharina von Arragonien vermählt und kaum 1 5 Jahre 
alt starb er schon. Seine Wittwe wurde die Gemahlin seines 
Bruders, Heinrichs VIII., der dann plötzlich wegen dieser Ehe 
die bekannten Gewissensbisse bekam — als er das liebenswürdige 
HofSräulein Anna Boleyn kennen lernte". 

„Und diese königlichen Gewissensbisse", wagte ich vor- 
sichtig zu fragen, „waren ja wohl der erste Anstoss zur 
Trennung der englischen Kirghe von Rom?" 

„Nun", erwiderte mein geistlicher Freund, „UebelwoUende 
haben das allerdings behauptet, aber die Bewegung hatte doch 
einen tieferen Ursprung; sie lag in der aus Wittenberg herüber- 
wehenden Luft und im englischen Volkscharakter. Wir ertragen 
nun einmal keine Art von Fremdherrschaft". „Auch wir 
Deutschen nicht" stimmte ich ein, „so wenig jetzt »italienische« 
wie ehedem »französische«". — 

„Also, dieser arme Prinz Arthur kam durch Oxford und 
wohnte als Gast des President in den schönen Thurmzimmem 
von Magdalen. Seltsam erscheint uns heute die Bewirthung, 
mit der er hier gefeiert wurde. Des Prinzen Schlafzimmer 
war sorgfaltig mit frischen Binsen gestreut; man setzte ihm vor: 
ein Gericht Hechte und ein Gericht Schleien; als Gastgeschenk 
erhielt er ein Paar Handschuhe; die Erfrischung bestand in 
Rothwein, Ciaret und Sect". Es war dieses im Jahre 1501, 
vermuthlich während der Fasten, einige Monate vor seinem 
jähen Tode. — 

„Weniger erfreulich verliefen die Beziehungen des College 
zu König Jakob II., der sich bei seiner Thronbesteigung (1685) 
als römischer Katholik bekannt hatte. Er befahl dem College : 
einen notorischen Papisten Namens Farmer zum President zu 
wählen. Dieses wurde verweigert und Dr. Hough gewählt. 



232 Ein Tag in Oxford, 

Darauf erneuerter Befehl statt des letzteren: den katholischen 
Dr. Parker zu wählen. Gleicher Widerstand. Der aller- 
ungnädigste Herr citirte nun (1687) sämmtliche dreissig FeUows 
von Magdalen vor sein königliches Antlitz und hielt ihnen 
folgende fulminante Standrede: „Ihr seid ein widerspenstiges 
aufrührerisches College, Ihr! Ist das die vielberühmte Loyalität 
Eurer englischen Staatskirche? Macht, dass Ihr fortkommt — 
und merkt's Euch: Ich, der Konig, will dass Ihr gehorcht!" 

„Fünfundzwanzig FeUows blieben fest und wurden verjagt, 
ebenso ihr standhafter President. Der nun gewählte President 
Parker hatte indessen wenig Freude an seiner neuen Würde. 
Allgemeiner passiver Widerstand im College. Der Thürhüter 
warf die Schlüssel zur Erde, der Haushofmeister wollte 
Dr. Houghs Namen nicht aus dem Speisebuche streichen, kein 
Schlosser fand sich in Oxford, um die verschlossene Wohnung 
des President zu offnen. Niemand wollte die Messe lesen 
und bedienen. Die Undergraduates — jugendliche Märtyrer — 
wurden mit Ruthen gestäupt und im Speisebuche gestrichen, 
wodurch sie ihren Term (ihr Präsenzzeugniss für eine gewisse 
Zeit) verloren. Eine komische Berühmtheit erlangte einer von 
ihnen: Edward Anne. Er hatte in jugendlichem Feuereifer 
eine versificirte nachhorazische Satyre auf das Messopfer in 
lateinischen Hexametern verbrochen. Zur Strafe wurde er in 
der Hall öffentlich gepeitscht und erlitt einen Streich für jeden 
Vers. Gewiss bereute es der arme Edward jetzt schmerzlich, 
dass er sich nicht mit einem bissigen Epigramm oder einem 
spitzigen Vierzeiler begnügt hatte". 

„Wie tiefsinnig**, citirte ich unwillkürlich, „ist doch Goethes 
weise Regel : „In der Beschränkung zeigt sich der Meister**. — 

„Nach sechs Monaten papistischen Gewaltregiments*', fuhr 
Mr. L. fort, „war der arme Parker richtig todt geärgert! Zwei 
Jahre darauf ging es mit dem papistischen Könige ebenfalls 
zu Ende; der standhafte Hough zog wieder ein und wurde 
bald auch Bischof von Oxford'*. 

Mein hochwürdiger, staatskirchlicher Freund verweilte 
augenscheinlich bei dieser kleinen Märtyrerhistorie mit 
besonderer Genugthuung. — 

Nach einigem Schweigen, während dessen wir das in der 
Entfernung äsende Wild beobachteten, fuhr er fort: 



Magdalen College, 233 

„Der Wildstand, der uns hier so vertraut umgiebt, erinnert 
mich an eine komische Wilddiebsgeschichte aus Magdalen. Im 
Jahre 1556 — Sie sehen wie lebendig uns hier die Vergangenheit 
ist — also, im Jahre 1556 hatten einige Studenten des College 
im nahen Schotover Forest Hirsche gewilddiebt. Lord Norreys, 
der Lord Lieutenant der Grafschaft, sperrte sie dafür ein, von 
Rechtswegen. Ihre Commilitonen sannen trotzdem auf Rache. 
Lord Norreys kam einige Zeit darauf nach O^^ford und wohnte 
im Gasthaus zum Bären. Die Studiosen machten vorläufig 
einen Angriff auf sein Gefolge und bearbeiteten dasselbe mit 
eichenen Prügeln — die persönliche Abrechnung mit Sr. l^ord- 
schaft blieb vorbehalten. Der Vicekanzler und hohe Senat 
warfen sich energisch zwischen die Streitenden und schickten 
die Magdalen Männer in ihr College zurück. Ruhe herrschte 
wieder in Oxford. 

Einige Tage darauf zog Lord Norreys nach London weiter; 
er musste also Magdalen passiren, um die lange Brücke über 
den Cher«\ell zu gewinnen. Jetzt kam die Rache. Die Studios 
standen oben auf ihrem hohen Thurme und hatten dort Erd- 
klösse, Rasenstücke und Steine aufgehäuft. Diese Wurf- 
geschosse flogen plötzlich hageldicht auf die, unten gedrängt 
und wehrlos vorbeiziehenden Mannen herab; viele wurden 
getroffen und beschädigt. Lord Norreys sass zu seinem Heile 
in einem gedeckten Wagen und kam glücklich hindurch. — 
Nun aber folgte auch die Strafe; sie fiel eigenthümlich aus: 
ein Theil der Missethäter wurde relegirt, oder wie man hier 
officiell sagt: „rusticated", aufs Land geschickt; die anderen 
mussten zur Busse ein Jahr länger studiren als in ihrem Plane 
lag. So lebte das lustige Altengland in Oxford. — 



III. 

High Street. 

JNur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von 
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High 
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die 
wunderbare, sechshundertfiinfzig Meter lange Strasse wie ein 
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von 
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte 
Fernsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz 
I der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der 
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — : 
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross- 
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der 
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter- 
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in 
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England" 
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in 
der Welt*'. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen 
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht 
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene", 
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen 
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es 
giebt hier Stellen, w^o man sich ganz in*s fünfzehnte Jahrhundert 
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser 
Zeit um sich versammelt sieht". 

Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor 
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein 
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit- 
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster, 



High Street. 235 

Castelle, Schlösser und Kirchen, lauter grossartige und 
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige, 
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude 
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der 
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver- 
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest 
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen 
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco; beides 
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford, 
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent- 
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und 
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach- 
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr- 
hunderts, Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich- 
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen 
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille 
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige 
Spaziergänge; im Hintergrunde hohe graue Thürme und dichte 
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und 
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend 
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in 
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden, 
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch 
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden 
Niederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine 
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000 
Einwohner. 

In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch 
hohe, von schweren, beinahe würfelformigen, stumpfen Thürmen 
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe 
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an 
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt. 
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben 
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte, 
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem 
Kleiderschnitt und grellen Farben, begleitet von zahlreichen, 
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor 
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche, 
officielle Tracht der Universität: „der Gown'*, vom kurzen, 



III. 

High Street. 



JNur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von 
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High 
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die 
wunderbare, sechshundertfönfzig Meter lange Strasse wie ein 
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von 
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte 
Femsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz 
( der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der 
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — : 
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross- 
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der 
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter- 
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in 
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England" 
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in 
der Welt**. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen 
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht 
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene", 
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen 
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es 
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in's fünfzehnte Jahrhundert 
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser 
Zeit um sich versammelt sieht". 

Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor 
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein 
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit- 
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Kloster, 



r 



High Street 235 

Castelle, Schlösser und Kirchen, lauter grossartige und 
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige, 
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude 
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der 
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver- 
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest 
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen 
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco; beides 
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford, 
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent- 
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und 
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach- 
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr- 
hunderts, Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich- 
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen 
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille 
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige 
Spaziergänge; im Hintergrunde hohe graue Thürme und dichte 
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und 
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend 
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in 
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden, 
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch 
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden 
^'iederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine 
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000 
Einwohner. 

In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch 
hohe, von schweren, beinahe würfelförmigen, stumpfen Thürmen 
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe 
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an 
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt. 
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben 
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte, 
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem 
Kleiderschnitt und grellen Farben, begleitet von zahlreichen, 
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor 
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche, 
officielle Tracht der Universität: „der Gown**, vom kurzen. 



III. 

High Street. 



JNur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von 
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High 
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die 
wunderbare, sechshundertfunfzig Meter lange Strasse wie ein 
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von 
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte 
Fernsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz 
der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der 
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — : 
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross- 
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der 
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter- 
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in 
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England" 
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in 
der Welt**. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen 
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht 
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene", 
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen 
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es 
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in's fünfzehnte Jahrhundert 
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser 
Zeit um sich versammelt sieht". 

Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor 
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein 
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit- 
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster, 



High Street. 235 

Castelle, Schlosser und Kirchen, lauter grossartige und 
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige, 
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude 
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der 
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver- 
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest 
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen 
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco ; beides 
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford, 
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent- 
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und 
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach- 
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr- 
hunderts. Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich- 
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen 
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille 
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige 
Speiziergänge; im Hintergründe hohe graue Thürme und dichte 
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und 
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend 
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in 
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden, 
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch 
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden 
Niederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine 
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000 
Einwohner. 

In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch 
hohe, von schweren, beinahe würfelförmigen, stumpfen Thürmen 
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe 
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an 
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt. 
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben 
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte, 
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem 
Kleiderschnitt und grellen Farben, begleitet von zahlreichen, 
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor 
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche, 
officielle Tracht der Universität: „der Gown", vom kurzen. 



III. 

High Street. 



JN ur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von 
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High 
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die 
wunderbare, sechshundertfunfzig Meter lange Strasse wie ein 
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von 
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte 
Femsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz 
I der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der 
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — : 
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross- 
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der 
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter- 
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in 
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England" 
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in 
der Welt**. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen 
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht 
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene", 
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen 
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es 
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in*s fünfzehnte Jahrhundert 
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser 
Zeit um sich versammelt sieht". 

Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor 
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein 
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit- 
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster, 



High Street. 235 

Castelle, Schlosser und Kirchen, lauter grossartige und 
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige, 
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude 
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der 
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver- 
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest 
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen 
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco ; beides 
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford, 
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent- 
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und 
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach- 
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr- 
hunderts. Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich- 
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen 
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille 
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige 
Spaziergänge; im Hintergrunde hohe graue Thürme und dichte 
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und 
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend 
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in 
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden, 
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch 
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden 
Niederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine 
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000 
Einwohner, 

In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch 
hohe, von schweren, beinahe würfelförmigen, stumpfen Thürmen 
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe 
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an 
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt. 
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben 
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte, 
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem 
Kleiderschnitt und grellen Farben, begleitet von zahlreichen, 
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor 
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche, 
officielle Tracht der Universität: „der Gown", vom kurzen. 



III. 

High Street. 



JN ur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von 
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords: High 
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die 
wunderbare, sechshundertfunfzig Meter lange Strasse wie ein 
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von 
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte 
Femsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz 
der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der 
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — : 
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross- 
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der 
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter- 
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in 
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England" 
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in 
der Welt**. Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen 
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht 
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene", 
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen 
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es 
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in*s fünfzehnte Jahrhundert 
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser 
Zeit um sich versammelt sieht". 

Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor 
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein 
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit- 
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster, 



r 



High Street, 235 

Castelle, Schlosser und Kirchen, lauter grossartige und 
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige, 
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude 
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der 
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver- 
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest 
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen 
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco ; beides 
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxfgi^d, 
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent- 
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und 
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach- 
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr- 
hunderts. Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich- 
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen 
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille 
Gärten hinter schweren, alten Eisengittern, auf schattige 
Spaziergänge; im Hintergründe hohe graue Thürme und dichte 
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und 
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend 
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie in 
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden, 
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch 
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden 
Niederlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine 
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000 
Einwohner, 

In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch 
hohe, von schweren, beinahe würfelförmigen, stumpfen Thürmen 
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe 
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an 
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt. 
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben 
anstandig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte, 
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem 
Kleiderschnitt und grellen P'arben, begleitet von zahlreichen, 
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor 
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche, 
officielle Tracht der Universität: „der Gown", vom kurzen, 



III. 

High Street. 



JN ur widerwillig verliessen wir die kühlen Water Walks von 
Magdalen und betraten die grosse Verkehrsader Oxfords; High 
Street. In einer kaum merklichen Curve durchschneidet die 
wunderbare, sechshundertfunfzig Meter lange Strasse wie ein 
mächtiger Strom die Stadt und gewährt durch ihre Breite von 
etwa dreissig Metern dem Wanderer stets eine weiterstreckte 
Femsicht. Englands Dichter haben diesen „majestätischen Stolz 
der Stadt" vielfach besungen und selbst Walter Scott der 
schottische Patriot, erklärt — von der Wahrheit überwältigt — : 
„Ohne Zweifel ist die High Street von Edinburgh die gross- 
artigste Strasse in Grossbritannien, mit Ausnahme jedoch der 
High Street von Oxford". Aber auch das unparteiische, inter- 
nationale Urtheil unseres berühmten Landsmann Wagen in 
seinem classischen Werke: „Kunst und Künstler in England" 
lautet: „die High Street in Oxford hat nicht ihres Gleichen in 
der Welt". Noch ein anderer Reisender, der vieler Menschen 
Länder gesehen hatte und jedenfalls ein Mann von nicht 
gewöhnlichem Geschmack und Kunstsinn war, der „Verstorbene", 
schreibt in seinen einst so berühmten, jetzt vergessenen Briefen 
an die „Freundin Julie": „Oxford ist eine originelle Stadt Es 
giebt hier Stellen, wo man sich ganz in*s fünfzehnte Jahrhundert 
versetzt glaubt, weil man durchaus nichts als Denkmale dieser 
Zeit um sich versammelt sieht". 

Während wir langsam vorwärts wandern, entrollt sich vor 
uns ein immer reicheres, ungewöhnlicheres, in Wahrheit ein 
einziges Bild : längs den beiden Strassenfronten sehen wir weit- 
hinaus eine Reihenfolge nebeneinander gerückter Klöster, 



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High Street. 235 

Castelle, Schlosser und Kirchen, lauter grossartige und 
vornehme Bauten der Vergangenheit; dazwischen behäbige, 
meist stattliche, moderne Wohnhäuser. Fast alle diese Gebäude 
stehen geräumig frei, umgeben von schönen, alten Gärten. Der 
durchschlagende Charakter des Baustils ist der rüstige und ver- 
ständige, solide Monumentalbau der englischen Gothik, fest 
gelagert unter der Herrschaft der Horizontallinie. Dazwischen 
schiebt sich etwas Renaissance ein, auch wohl Roccoco ; beides 
jedoch ist in England, namentlich aber im eigenartigen Oxford, 
nie völlig zur Herrschaft oder nur zur selbständigen Ent- 
wickelung gelangt und die neuesten Neubauten und 
Restaurationen des Alten tragen wieder in strenger Nach- 
ahmung den Typus des vierzehnten und fünfzehnten Jahr- 
hunderts. Die Strasse vor uns ist ein Muster von Reinlich- 
keit und Ruhe; zu beiden Seiten öffnen sich Nebengassen 
und gewähren Ausblicke auf weite Grasflächen, auf stille 
Gärten hinter schweren, alten Eisengittem, auf schattige 
Spaziergänge; im Hintergrunde hohe graue Thürme und dichte 
mehrhundertjährige Rüsteralleen. Alle diese Strassen und 
Gassen sind nicht gradlinig regelmässig, wie im neuen Westend 
von London, sie sind aber auch nicht bedrängend eng wie * in 
der City; massig breit und fast stets anmuthig sanft gewunden, 
geben sie der Stadt das Gepräge der alten, historisch 
gewordenen, natürlich gewachsenen und noch wachsenden 
>Jied erlassung. Nirgends Fabriken, kein Geräusch, keine 
hässlichen, rauchenden Essen, keine Armuth und dabei 44,000 
Einwohner. 

In der Hauptstrasse weiter wandernd, blicken wir durch 
hohe, von schweren, beinahe würfelfönuigen, stumpfen Thürmen 
beherrschte Thore in weite viereckige, grasbewachsene Höfe 
oder hinauf in einen Wald von Fialen und Kreuzrosen, der an 
den Portalen und Thürmen gothischer Kirchen emporklimmt. 
Die Staffage zu diesem mittelalterlichen Stadtbilde geben 
anständig gekleidete Männer und Frauen, ruhige Bürger, flotte, 
frische, kräftige, junge Studiosen, in mehr oder weniger gewagtem 
Kleiderschnitt und grellen P'arben, begleitet von zahlreichen, 
sehr kleinen und sehr grossen Hunden reinster Rasse. Vor 
allem aber beschäftigt uns die mittelalterliche, halbgeistliche, 
officielle Tracht der Universität: „der Gown", vom kurzen, 



236 Ein Ta^ in Oxford, 

schwarzen, ärmellosen, fliegenden Mäntelchen des Studenten, 
bis zu den langen, weiten, würdigen, mit verschiedenfarbigen 
Aufschlägen und Litzen in Sammet und Seide verbrämten 
Chorröcken, der zu akademischen Graden und Würden ge- 
reiften Herren. Alle tragen die bekannte „Trenchercap", 
bestehend aus einer, dem Kopfe eng anliegenden, schwarzen, 
schirmlosen Haube, mit in die Stirn herabschiessender Schnippe 
und darüber ein viereckiger, brettartiger Deckel, einem flach- 
gedrückten Ulanentschapka nicht unähnlich, von dessen Mittel- 
punkte, die schwere, schwarze Quaste herabschwingt Einige 
dieser gelehrten Würdenträger grüssten meinen Begleiter im 
Vorbeigehen. 

„Bitte, sagen Sie mir", frug ich wissbegierig, „was bedeuten 
die verschiedenen Abzeichen an den Costümen dieser Herren?** 

„Oh, weh!" erwiderte Mr. L. lachend, „plagen Sie sich 
damit ja nicht. Die Costümgesetze von Oxford sind äusserst 
verwickelt: nach Graden, Facultäten, Gelegenheiten und sogar 
nach Oertlichkeiten und Jahreszeiten. Sie würden da in ein 
wahres Labyrinth von Stofi" und Schnitt, von Besatz und Auf- 
schlag in allen Farben des Regenbogens gerathen. »Selbst die 
Studenten haben unterschiedliche Abzeichen an Mantel undKappe. 
Die Commoners sind einfach schwarz; die Gentleman-Commoners, 
solche die in einigen Colleges eine höhere Pension bezahlen, 
tragen einen Litzenbesatz und ein Futter von rosa Seide; die 
Noblemen, nämlich die Söhne eines Herzogs, Marquis oder 
Earl, welche noch schwerer bezahlen müssen, sind durch goldene 
Litzen und Goldquasten an der Kappe ausgezeichnet. 

„Das reizt nun den Witz der anderen und so pflegen sie 
den jungen Füchsen (freshmen, also wörtlich: Frischlinge) auf- 
zubinden: diese Goldquasten seien Strafabzeichen für hart- 
näckige Trunkfalligkeit". 

In nächster Nähe von Magdalen gelangten wir an einen 
ausgedehnten Neubau, der sich schon in seinen Grundwerken, 
als ein bedeutender monumentaler Schmuck für High Street 
darstellte. 

„Hier sehen Sie", bemerkte Mr. L., „ein Gebäude, welches 
die arme Universität selbst, nicht eines der reichen Colleges, 
errichten lässt. Es soll ausschliesslich zur Abhaltung der 
Examina dienen, mit denen wir hier sehr reichlich gesegnet 



High Street, 237 

sind; man kommt eigentlich gar nicht aus ihnen heraus, bis 
man nicht in den Ruhehafen eines Fellowship eingelaufen ist 
Doch davon später, wir wollen jetzt fiirbass gehen. Uebrigens 
sind jedenfalls die Kosten dieses Gebäudes seinem wichtigen 
Zwecke entsprechend, denn der bewilligte Anschlag beläuft 
sich auf 1,260,000 Mark". 

Ich nahm jetzt unsere frühere Unterhaltung im Garten von 
Magdalen College wieder auf; „Sie haben mich bereits einige 
Blicke in die grosse Lehranstalt Oxford thun lassen und ich 
kann mir nun die allgemeinen Umrisse eines College ungefähr 
feststellen. Aber welche Stellung hat denn zu und über diesen 
neunzehn grossartigen Stiftungen die eigentliche Universität? 
Darüber bitte ich noch um eine kurze Belehrung**. 

„Das Verhältniss einem Fremden klar zu machen, ist 
vielleicht nicht so ganz leicht", erwiderte mein liebenswürdiger 
Führer. „Oxfords Organismus ist oft mit .einem planlos ge- 
wachsenen, verwickelten und verzwickten, gothischen Gebäude 
verglichen, in welchem man allein durch Einleben heimisch, 
ja! auch nur orientirt wird. Indessen ich verspreche mit Ihrem 
Mephisto, als er den jungen Schüler so wirksam über die 
Geheimnisse der Fausf sehen Universität aufklärte: „Was ich 
vermag", soll gern geschehen". Also, ich möchte sagen: die 
Universität steht nicht eigentlich über den Colleges; es sind 
sogar Stimmen laut geworden, welche beklagen, dass sie von 
ihnen überwuchert sei ! Aber dennoch umfasst sie die Colleges, 
vereinigt und ergänzt sie, ja! setzt sie auch, als Bildungs- 
mittel, fort". 

„Die Universität hat an ihrer Spitze den Kanzler. Es ist 
ein Ehrenposten, den fast immer ein sehr vornehmer Edelmann 
inne hat, jetzt der Marquis von Salisbury. Das sichtbar 
regierende Haupt ist der Vicekanzler, den der Kanzler jährlich 
aus den Häuptern der Colleges wählt. Unter ihm fungirt ein 
zahlreicher Stab von Beamten. Bei diesen befinden sich, bereits 
seit 1355, sogar zwei „Marktaufseher**, welche die Nahrungs- 
mittel, nebst den Maassen und Gewichten, auf dem Fleisch- und 
Gemüsemarkte controUiren. In Oxford sind selbst hierzu nur 
graduirte Gelehrte brauchbar. Nun kommen wir endlich zu 
dem eigentlich lehrenden Körper; er besteht jetzt aus achtund- 
vierzig Professoren. Diese sind indessen sehr ungleich auf die 



2öo Ein Tag in Oxford. 

verschiedenen Facultäten vertheilt, denn alle diese Professuren 
beruhen im wesentlichen auf Stiftungen aus ältester bis in die 
neueste Zeit. In den letzten dreissig Jahren wurden diese 
Professuren etwa auf das doppelte vermehrt; für einige benutzte 
man die Einkünfte von gerade frei werdenden Fellowships in 
überreichen Colleges. Aus diesen Ursprüngen erklären sich 
auch die seltsamen, nur dem Eingeweihten verständlichen Namen. 
So giebt es mehrere „Regius Professuren", nämlich solche, die 
von verschiedenen englischen Königen gestiftet wurden : die 
älteste, von Heinrich VIII. (1535), die jüngste, von der Konigin 
Victoria (1842). Der Gehalt ist anständig: 30,000 Mark. Dann 
hören Sie vom „Lady Margaret Professor** reden; er ist ein 
Theologe, im Jahre 1502 von Margaret, Gräfin von Richmond, 
Mutter Konig Heinrich VIL, gestiftet und ebenfalls mit 30,000 
Mark dotirt. Ich will Ihnen nun noch beispielsweise den 
„Ireland Professor** nennen, er wurde für Exegese der 
heiligen Schrift von einem Dr. Ireland im Jahre 1847 
gestiftet, mit etwa 6300 Mark Einkommen; femer den „Corpus 
Professor**, der vom Corpus Christi College für lateinische 
Literatur gegründet ist; den „Laudian Professor**, im Jahre 1636 
vom Erzbischof Laud für das Arabische gestiftet, den „Slade 
Professor**, für die schonen Künste, nebst dem „Heather 
Professor** für Musik. 

„Die Vertheilung der Professoren auf die verschiedenen 
Facultäten konnte Ihnen verwunderlich erscheinen; es gibt 
nämlich nur \ juristische und 5 mediciniscbe, daneben 9 theo- 
logische Professuren. In dieser Beziehung werden allerdings 
jetzt Reformen angestrebt, durch welche der Stab der Professoren 
systematisch verstärkt werden soll. Ueber die Bedürfnissirage 
sind alle einverstanden, denn der College-Unterricht ist doch 
immerhin sehr theuer und in manchen Fächern, z. B. in der 
Jurisprudenz und den Naturwissenschaften, nothwendig unzu- 
reichend**. 

„Es ist wohl im grossen etwa derselbe Fehler, wie wenn jeder 
junge Mensch seine völlige gelehrte Ausbildung durch einen 
oder zwei besondere Hauslehrer bekäme?" warf ich fragend ein. 

„Nicht ganz so schlimm**, stimmte Mr. L. im allgemeinen 
zu, „aber in vielen Punkten verstösst die alte klosterliche 
Einrichtung des Unterrichts gegen die natürlichen Gesetze 



High Street, 239 

einer vernünftigen Arbeitstheilung. Deshalb haben sich auch 
in neuester Zeit viele Colleges soweit zusammengethan, dass 
die Undergraduates des einen den Unterricht im andern 
benutzen können. Dadurch wird der Wetteifer tüchtiger 
Lehrer angeregt, namentlich wird jungen strebsamen Tutors ein 
kleines Feld der Concurrenz eröffnet. — Nun kommt aber die 
leidige Geldfrage! Die Colleges sollen nämlich zur Durch- 
führung der Lehrreform einen Theil ihrer Einnahmen, etwa 
1 2 Procent, opfern und in die Universitätskasse einzahlen ! Be- 
kanntlich ist Selbstreform für Corporationen eine noch weit 
schwierigere Aufgabe als für Individuen. Sie können sich 
also leicht vorstellen, dass und warum die Colleges über diesen 
Geldpunkt schon seit einer Reihe von Jahren eifrig und ge- 
wissenhaft nachdenken, ohne bis jetzt zum Beschlüsse 
gekommen zu sein". 

,Ja", stimmte ich verständnissvoll ein, „das kann ich mir 
sehr deutlich vorstellen. Ein orthodoxer Conservativer würde 
es sogar als eine Immoralität bekämpfen müssen, dass der letzte 
Wille frommer Stifter durch solche Neuerungen missachtet wird !" 

„Bis jetzt also", fuhr Mr. L. in seiner Auseinandersetzung 
fort, „bis jetzt hört der eigentliche College-Student so gut wie 
gar keine öffentlichen Vorlesungen; die Undergraduates werden 
schulmässig nach ihrer Reife in Klassen eingetheilt und von 
den Tutors des College nach bestimmten Büchern, gewisser- 
massen privatim, in demjenigen unterrichtet, was sie für ihr 
zeitweilig bevorstehendes Examen bedürfen. Diese Examina 
folg'en, wie Stationen, in bestimmten Zeiträumen. Zunächst 
wird , vor der Immatriculation , eine sehr leichte Auf- 
nahmepi::üfung verlangt. Dann folgen im ersten Term die 
„Responsions", in der akademischen Sprache auch „Smalls" oder 
„Littlego, kleiner Gang" genannt. Nach einem Studium von 
anderthalb bis zwei Jahren, also von sechs bis acht Terms, 
macht man die „Moderations'*, auch kurzweg „Mods" genannt, 
und zwar nach eigener Wahl: entweder in den klassischen 
oder in den mathematisch naturwissenschaftlichen Fächern". 

„Nach drei Jahren droht dann das Schlussexamen, „Greats" 
oder „Great Go, grosser Gang". Für dieses giebt es eine 
Reihe verschiedener Fächer oder „Schools". Alte Geschichte 
und Philosophie, die sogenannten Literae humaniores; neuere 



240 Ein Tag in Oxford, 

Geschichte ; Mathematik ; Jurisprudenz ; Naturwissenschaften ; 
Theologie. Das Examen braucht nur in einer „School" 
bestanden zu werden, jedoch befassen sich Studenten von 
wirklich wissenschaftlichem Streben gewohnlich mit ver- 
schiedenen Fächern, gleichzeitig oder nacheinander. 

„Auf diese drei Examina nun: Smalls, Mods und Greats 
kann man von zwei verschiedenen Standpunkten aus hinarbeiten. 
Entweder man will nur einfach durchkommen und seinen 
Grad als Bachelor of Arts schlicht und recht erwerben, dann 
begnügt man sich mit einem „Pass" Examen und enthält den 
Grad eines B. A. als „Pass Degree". Oder aber man strebt in 
jedem Examen neben dem „Degree" nach Honours". Dafür 
unterwirft man sich einer schwereren Prüfung und kämpft um 
die Ehre von Nummern: I, II, III; man wird klassificirt; alsdann 
heisst das Examen: „Class" oder „Honour Examination". Wer 
nun die „Greats" mit „Honours" besteht, wird ein „First" oder 
ein „Second" oder, wenn er sich in mehreren Fächern prüfen 
liess, wohl auch beides zugleich, z. B. First in neuerer 
Geschichte und Second in Mathematik. Höchst selten ist ein 
„Double First", eine Nr. I in zwei Fächern zugleich; dieser 
Erfolg ist ein so grosser, dass er den Examinirten durch sein 
ganzes späteres Leben begleitet. Gelegentlich werden Sie von 
diesem oder jenem bedeutenden älteren Manne immer noch 
wieder rühmend erwähnt finden: „er war in Oxford ein 
Double First". 

„Nebenbei haben wir nun noch Examina für Freistellen 
und Stipendien „Scholarships oder Exhibitions", später dann 
für die Fellowships in den Colleges u. s. w. — " 

„Sie sehen wohl: der, unseren Studenten genau vorge- 
schriebene Bildungs- und Leidensweg ist ein ziemlich ver- 
wickelter und weicht wesentlich ab von den freieren Bahnen 
auf deutschen Universitäten". 

„Im späteren Laufe unseres Gelehrtenlebens werden wir 
auch noch „Bachelor of Civil Law, of Medicine, of Divinity"; 
höher hinauf: „Master of Arts" oder Doctor in einer der drei 
anderen Facultäten. Besonders begnadigten Talenten winkt 
nebenher noch der „Bachelor und Doctor of Music", eine Ehre, 
welcher Ihr unsterblicher Mozart und selbst Ihr zukünftiger 
Wagfner zu Hause nicht theilhaftig werden kann". 



High Street, 241 

„Leider aber", fuhr Freund L. fort, „geben sich viele unserer 
jungen Leute nicht einmal die Mühe, ihr^n Grad als B. A. zu 
erwerben. Sie begnügen sich mit den »Preisen«, für welche die 
Examina begrenzter und leichter sind. Von diesen Preisen 
kann ich Ihnen nur sagen, dass ihre Zahl Legion ist, dass sie 
sämmtlich auf wohlgemeinten Stiftungen beruhen, unendlich ver- 
schieden sind und zusammen eine sehr bedeutende Summe 
Geldes betragen; wie man sagt etwa siebzigtausend Mark 
jährlich. Ueber die Zweckmässigkeit ihrer Wirkung sind die 
Meinungen getheilt. Man klagt wohl, dass sie ihre Bestimmungen 
als Mittel zum Lernen verloren haben und ein unberechtigter 
Selbstzweck geworden sind. 

„Doch nun genug von diesen trockenen Geschichten. 
Wir sind jetzt in High Street und wollen vor allem unsere 
Augen gebrauchen. 

„Betrachten Sie zunächst drüben auf der linken Seite jenes 
langgestreckte Gebäude. Die zwei schweren Zinnenthürme» 
welche seine drei Stockwerke — eine seltene Höhe in Oxford 
— überragen und die gleichmässige Verzierung des Dachge- 
simses mit kleinen halbrunden Giebelchen geben ihm völlig 
das Aussehen eines burgartigen Schlosses. Wir nennen das 
„Castellated style"; es fehlt zum feudalen Herrensitze nur der 
hohe Bergfried. Die letzte gothisirende Restauration dieser 
imponirenden , sanft gebrochenen, 90 Meter langen Front ist 
noch nicht alt, sie wurde erst 1877 beendigt; das Gebäude 
stammt aus Cromwells Zeit; desto älter aber ist das College 
selbst. Es rühmt sich der Gründung durch König Alfred den 
Grrossen und feierte im Jahre 1872 sein tausendjähriges Stiftungs- 
fest. Unsere Historiker freilich schütteln dazu ihre Köpfe 
und setzen den Geburtstag von „University College" in das 
Jahr 1250. Aber sonderbarer Weise haben die Tausendjährigen 
ein richterliches Erkenntniss der King's Bench für sich". 

„Wie so?" fragte ich, „der King*s Bench? das ist ja höchst 
interessant; vielleicht Hesse sich diese Art, historische Streit- 
fragen aufzuklären, mit grossem Nutzen für die Wissenschaft 
verallgemeinern* *. 

„Die Sache machte sich ganz einfach", erläuterte Mr. L., 
„Jedes College hat nämlich einen Visitator, welcher meistens 
vom Stifter designirt ist. Bei königlichen Stiftungen steht die 

Omptcda, L. v. Bilder. 16 



242 Ein Tag in Oxford. 

Visitation der Krone zu. Letztere nahm im Jahre 1726 dieses 
Patronatrecht auch bei University in Anspruch wegen der 
Stiftung durch König Alfred. Damals remonstrirte University, 
da sein urkundlicher Stiftei: William von Durham (1250) sei. 
Die King's Bench entschied jedoch fiir die Krone. So steht 
nun König Alfred rechtskräftig fest und im Jahre 1872 wurde 
das Millennium gefeiert". 

„Ein vorzüglicher Präcedenzfall", musste ich anerkennen. 
„Es ist wirklich Schade, dass die jetzige Queen's Bench diesen 
Zweig der Jurisprudenz nicht mehr cultivirt. Wie angenehm 
wäre das fiir die vielerlei historischen Fragezeichen, z. B. 
Romulus und Remus, Schliemanns Troja, das Bisthum des 
h. Petrus, den biederen Wilhelm Teil und ähnliche blutlose 
Schatten, die noch immer ohne richtige Legitimationspapiere 
durch die Weltgeschichte schwanken. Sie alle könnten dann 
„rechtskräftig" festgestellt werden und der gelehrte Streit hätte 
endlich einmal ein Ende". 

„Wenden wir uns jetzt auf die rechte Seite", fuhr mein 
geistlicher Freund fort, ohne seine Theilnahme an meinem ' 
wissenschaftlichen Bedauern zu bezeugen. — „Hier werden 
wir aus der Gothik in das vorige Jahrhundert versetzt. Dieser 
griechisch-italienische Palast, University grade gegenüber, mit 
den zwei vorspringenden Seitenflügeln und der sonderbaren 
Kuppellaterne über dem mittleren Eingänge, ist „Queens 
College". Aber in diesem modernen Hause wohnen ebenfalls 
mehr als fünfhundert Jahre Collegegeschichte. Als die Stifterin 
(1340) gilt die Königin Philippa, Gemahlin Eduard III., die — 
wie die Sage geht — das berühmte blaue Strumpfband verlor, 
aus welchem sich durch die eheliche Galanterie des Königs 
der Hosenbandorden entspann. Uebrigens ist das Gebäude in 
seiner Art reich und grossartig; leider! fehlt uns hier in Oxford 
der Geschmack daran ; indessen als Gegensatz zu den umliegenden 
Burgen ist der italienische Palast immer eine Zierde fiir 
Highstreet. Und die alten Sitten sind hier in dem neuen 
Gebäude ganz besonders treu bew^ahrt worden. Bei Tafel 
präsidirt noch heute, nach Urväter Brauch, der Provost in 
der Mitte und an ihn schliessen sich zu beiden Seiten, nach der 
„Anciennetät", die Fellows und Scholars (Stipendiaten). Zum 
Mahle ruft sie noch heute ein kriegerisches Trompetensignal. 



High Street, 243 

Der Bläser, eines der Mitglieder, heisst noch jetzt „der Herold", 
weil er ehemals bei dieser feierlichen Handlung ein Herolds- 
wamms trug. Früher fanden sich täglich Tischgäste ein, stets 
dreizehn ; nur Bettler, Blinde, Taube und Lahme waren geladen ; 
sie wurden mit Brot, Bier, Suppe und Fisch gespeist. 

„An jedem Weihnachtstage öfihet sich die grosse Hall von 
Queen's für jedermann. Mit Trompetenschall wird ein riesiger. 
Eberkopf hereingetragen, bekränzt mit vergoldeten Lorbeer- 
zweigen. Der Provost und die Fellows ziehen feierlich vorauf. 
Der Vorsänger stimmt ein altes englisch-lateinisches Lied an; 
wir nennen diese Mischlieder: »maccaronische« Poesie. Es ist 
eine Art Glosse über folgenden Vers: 

Caput apri defero Den Kopf des Ebers bring ich hier 

Reddens laudes domino. Und danke Gott dem Herrn dafür. 

Qui estis in convivio Die Ihr erschienen seid zum Feste, 

Servite cum cantico ! Singt mit uns : ,,Lob dem Herrn", Ihr Gäste ! 

Der un ehrerbietige Studiosus ändert die letzte Strophe so: 

Servitur cum siuapio Schweinskopf mit Senfsauce ist das beste". 

„Ueber die Entstehung dieses uralten Gebrauches geht 
folgende Sage. Ein Schüler von Queen's ging im Jahre 1376 — 
Sie sehen hier wiederum, wie genau wir unsere Vorgeschichte 
kennnen — im Shotover Forest bei Oxford spazieren und 
studirte aus einer mächtigen Pergamentrolle den Aristoteles. 
Da wurde er von einem wilden Eber angegriffen; waffenlos, 
in der höchsten Noth, stiess er der Bestie seine Pergamentrolle 
in den Rachen bis tief in den Schlund hinab mit dem lauten 
Rufe: »Graecum est, das ist Griechisch«! Und das Ungeheuer 
erstickte an der überwältigenden Deduction des Weisen von 
Stagyra. Ein altes Kirchenfenster bewahrt noch in einem 
Gemälde diesen klassischen Vorgang. 

„Wahrscheinlich jedoch haben wir hier abermals ein 
interessantes Ueberbleibsel des uralten, vielleicht gar des 
babylonischen Sonnendienstes. Bei diesem wurde bekanntlich 
zum Feste der Winter-Sonnenwende dem Sonnengotte Adonis 
ein Ebeir geopfert, weil Adonis an diesem Tage von einem 
Eber zerrissen war. Unsere heidnischen Voreltern feierten ja 
ebenfalls diese Wintersonnenfeste — den Jul — und erst im 
vierten Jahrhundert setzte sich unser christlicher Weihnachten 
an diese, von Urzeit her bereitete, festliche Stätte". 

„Man muss gestehen", erkannte ich an, „Sie sind hier 

16* 



244 



Ein Tag in Oxford* 



conservativ; das ist schon das zweite heidnische Fest, dem wir 
heute im allerchristlichsten Oxford begegnen. — Und welch em 
herrlicher Fall wäre das für die Queen's Bench: »Aristoteles 
gegen Adonis«!" 

„Am Schlüsse des Festes", so beendigte der Freund dieses 
merkwürdige Kapitel über Queens College, „wird von allen 
Anwesenden folgender origineller alter Weihnachtsgesang ge- 
sungen, dessen Urtext sonderbarer Weise zuerst in einem 
alten deutschen Choralbuche aus dem Jahre 1570 aufgefunden 
ist. Die Rückübersetzung in's Deutsche würde etwa lauten: 



I. 

In dulci jubilo 
Lasst uns anbeten froh. 
Seht unseres Herzens Herrn 

In praesepio; 
Hell leuchtet unser Stern 

Matris in gremio. 

Alpha es et O» 

Alpha es et O. 

2. 

Ü Jesu parvule! 
Mein Herz verlangt nach Dir, 
Hör* mich, ich fleh* zu Dir 

O puer optime. 
Mein Gebet komm zu Dir: 

O princeps gloriae, 

Trahe me post te. 



3. 
O patris Caritas, 

O nati lenitas! 
Alle sind wir verdorben 

Per nostra crimina, 
Doch Du hast uns erworben 

Coelorum gaudia. 
O wären wir dort oben, 
O wären wir dort oben. 

4. 
Ubi sunt gaudia? 

Wo, wenn nicht dort? 

Höret der Engel Sang, 

Nova cantica, 
Höret der Glocken Klang 

In regis curia. 
O, dass wir wären dort, 
O, dass ^vir wären dort. 



IV. 

St. Mary the Virgin. 

Inzwischen waren wir die Strasse weiter hinauf geschritten 
und standen abermals vor einem gothischen Kastelle. 

„Dieses ist »All Souls College«, gestiftet nach der Schlacht 
von Agincourt (14 15) für die Seelen aller, in dem hundert- 
jährigen Kriege mit Frankreich gefallenen Engländer**. 

Ich betrachtete die Verhältnisse des stattlichen Gebäudes, 
das sich entschieden durch die Reinheit seines Stiles aus- 
zeichnet: nur zwei Stockwerke also Ueberwiegen der 
Horizontallinie; ein schwerer, stumpfer mit Zinnen gekrönter 
Thurm, übrigens aber spitze Giebel auf dem Dache; verzierte 
vorspringende Erker; unregelmässig vertheilte, einzelne und 
gekuppelte, viereckige Fenster, deren Umfassung die gothische 
Gliederung der Rundstäbe und Hohlkehlen zeigt. 

„Das College ist im Jahre 1438 von einem Erzbischof 
Chichele von Canterbury gestiftet**, erläuterte mein Führer. 
„Es ist reich dotirt, mit etwa 400,000 Mark jährlich, alles aus 
Grundbesitz. Hier giebt es gar keine Studenten; die Stiftung 
ist nur für genossenschaftliches Zusammenleben graduirter 
Gelehrter bestimmt, für einen „Warden** und siebenundzwanzig 
Fellows. Eine besondere Eigenthümlichkeit der Statuten ist, 
dass bei den Präbenden zunächst Nachkommen des Stifters 
und seines Bruders berücksichtigt werden sollen. Das giebt 
nun unglaubliche Schwierigkeiten und endlosen Streit. Die 
Familie der Chichele ward fruchtbar und mehrte sich; im Jahre 
1765 wurden diese bevorzugten Nachkommen bereits von 
beinahe 1200 Familien aufgewiesen. — Das College hat jetzt 
die Ehre, Ihren ausgezeichneten Landsmann, den grossen 



246 Ein Tag in Oxford, 

Sprachforscher Max Müller zu seinen Mitgliedern zu zählen — 
aber nicht, weil er zur Chichele- Sippe gehörte. — Doch ich 
bemerke, Sie folgen mir nur noch mit getheilter Aufmerk- 
samkeit, ihre Augen schweifen bereits weiter hinaus". 

„Allerdings", gestand ich ehrlich ein, „und ich rechne dafür 
auf Ihre Nachsicht. Die Menge der bedeutenden Eindrücke 
an diesem Platze überwältigt und zerstreuet; jetzt eben fesselte 
mich die seltsam schöne Kirche dort vor uns". 

„Sie haben Recht", bestätigte Mr. L., „St Mary the Virgin 
ist ein merkwürdiges Gebäude. Zunächst schon die Stellung 
von Süden nach Norden und mit der westlichen Langseite hart 
an der Strasse. Hier stand bereits seit 1139 eine normannische 
Kirche. Der nördliche hohe Chor mit den langgestreckten 
schlichten Lanzetfenstem wurde 1460 fertig und zu Ende des 
fünfzehnten Jahrhunderts war die dreischifRge Halle vollendet. 
Die starken Zinnenbrüstungen, welche die Horizontalgesimse, 
sowohl des hohen Mittelschiffs, als der niedrigen Seitenschiffe 
krönen, erinnern eigentlich an den Profanbau. Das bis an die 
Deckbögen aufsteigende gegitterte Stabwerk der Fenster, von 
denen die unteren — die der Seitenschiffe — geblendet sind, 
charakterisirt bereits den sogenannten perpendiculären Stil der 
Spätgothik. Das riesige Fenster dort an der Nordseite über 
dem niedrigen ursprünglichen Eingange ist durch die Fülle 
seines reichen Masswerkes von grosser decorativer Schönheit. 
Das Juwel von St. Mary ist indessen der Thurm, erbauet im 
Jahre 1300. Sehen Sie nur wie schlank sein achteckiger, lang 
ausgezogener Helm aus dem wechselvollen Fialenspiele des 
vierseitigen Unterbaues himmelan schiesst, bei 70 Meter hoch; 
und die reichen Zierrathe: Bögen, Wimberge, Fialen. Alles ist 
mit unendlichem Blattwerke — das Handwerk nennt es: 
Krabben oder Bossen — überwuchert und überall spriesst die 
vierflügelige Kreuzblume hervor!" 

„Der Baustein muss vorzüglich sein" bemerkte ich, in den 
Ausbruch der* gerechten Bewunderung einstimmend, „man sieht 
keine Verwitterung". 

„Das ist wieder eine der ausserordentlichen Leistungen 
unseres grossen neugothischen Meisters Sir Gilbert Scott 
Grade hier hatte die Verwitterung im höchsten Masse Ueber- 
hand genommen. Man entschloss sich daher, die ganze Kirchß 



Sf, Mary the Virgin. 247 

abzuschälen. Der alte Stein wurde Stück für Stück, etwa 
35 Ctm. tief weggehauen und kunstvoll durch eine neue fest- 
gefugte Decke ersetzt. Das grosse Werk ist erst im vorigen 
Jahre vollendet. Gelungen ist's, aber es kostete auch 
400,000 Mark". 

Unsere Augen verweilten lange auf dem prächtigen 
imposanten Bau; endlich suchte mein Blick den Eingang. 
Ausserordentlich überrascht rief ich aus: 

„Wie sonderbar nimmt sich gegen diese reiche Gothik der 
grosse Eingang hier an der Strassenseite aus: der reinste 
italienische Zopf! Stören Sie diese gewundenen Säulen nicht, 
die den grossen Barokschnörkel des Portals tragen? Und 
dazwischen, von einem zopfigen Architravgiebel überragt, das 
unschöne Steinbild: die Jungfrau mit dem Kinde, das wiederum 
sein eigenes Crucifix in der Hand hält"! 

„Das hässliche Portal ist bei der Restauration sorgfältig 
conservirt worden", erwiderte mein Führer, denn es ist ein 
Stück unserer Geschichte. Es* wurde errichtet im Jahre 1637 
unter dem Erzbischof Laud. Einige Jahre später machten ihm 
die Puritaner den Prozess wegen Verdachts des Papismus und 
diese Jungfrau mit dem Kinde, deren Gegenwart an der, wenn 
auch protestantischen, Marienkirche völlig motivirt war, bildete 
einen der schwersten Anklagepunkte. Wie Sie wissen, wurde 
Laud von den bilderstürmenden Eiferern verurtheilt und auf 
Tower Hill hingerichtet; er war bereits einundsiebzig 
Jahre alt". 

,,!Man sieht: Intra peccatur et extra", bemerkte ich, „keine 
religiöse Partei ist sicher vor verrücktem Fanatismus und vor 
Inquisitionsgelüsten". 

Der Reverend schüttelte sanft misbilHgend den Kopf. 
„Lassen Sie uns jetzt eintreten; in der Kirche werde ich Ihnen 
eine Gegenrechnung machen gegen die Excesse der Ultra- 
reformirten, bei der Ihre deutsche latitudinarische Unparteilich- 
keit doch etwas zu kurz kommen möchte". 

Die' hohe, kühle, halbdunkle Halle nahm uns auf und wir 
schritten das Schiff entlang bis an die Stufen, die zum Chore 
hinauiFühren. Ein breiter Stein, in den eine grosse Metallplatte 
eingelassen war, fesselte hier meine Aufmerksamkeit. Ich 



^4?5 Ein Ta^ in Oxford. 

bückte mich und las: „Hier ist beigesetzt Amy Robsart, die 
Gemahlin von Lord Robert Dudley, am 22. September 1560. 

„Wie?" fragte ich erstaunt, „ruht hier wirklich die viel- 
bevveinte Heldin von „Kenilworth", die ihr herzloser Gatte, der 
schöne Leicester, so heimtückisch ermorden Hess?" 

„Nun", beruhigte mich mein Führer, „ganz so schlimm war 
der Handel nicht. Walter Scott legt freilich dem Gatten diese 
Blutschuld aufs Gewissen, jedoch irrthümlich; die geschichtliche 
Forschung hat ihn davon freigesprochen, diesmal ohne die 
Queen's Bench. Die arme Amy stürzte allerdings durch die 
aufgezogene Fallbrücke hinab und kam um, es geschah 
indessen lediglich durch ihre eigene Unvorsichtigkeit. Lord 
Leicester war verzweifelt über ihren jähen Tod und liess sie 
hier — er war damals Kanzler der Universität — mit grossem 
Pompe begraben". 

„Aber ich hatte eigentlich eine andere Tragödie im Sinne", 
fuhr mein geistlicher Freund fort, „die sich hier in der Universitäts- 
kirche abspielte. Es war im Jahre 1555 zur Zeit der »blutigem 
Mary. Diese nationale Schreckgestalt war im Grunde eine 
durchaus rechtschaffene und keineswegs einfältige Frau, aber 
eine leidenschaftlich bigotte, spanische Papistin, gestachelt durch 
ihre Anhänglichkeit an die Sache ihrer Mutter, der verstossenen 
Konigfin Katharina von Arragonien, und an ihre eigene — 
Geburt, deren Rechtmässigkeit mit der alten Lehre stand und 
fiel. In nicht ganz vier Jahren kamen durch ihre religiösen 
Verfolgungen beinahe vierhundert Protestanten in England um's 
Leben. Den Schluss dieses massenhaften Autodafe's bildeten die 
»edlen drei Märtyrer« die Bischöfe Cranmer, Latimer und Ridley. 
Hierauf dieser Stelle standen sie vor dem Inquisitionstribunale und 
bekannten, den sicheren Tod vor Augen, furchtlos ihren Glauben. 
Granmer hatte vorher eine Zeit lang geschwankt und bedenkliche 
Zugeständnisse gemacht. Hier aber entlastete er sein Gewissen 
durch seinen berühmt gewordenen Widerruf Eineni^solchen Sturm 
erregten seine Worte unter den Zuhörern, dass sein geistlicher 
Richter, der Cardinal Pole ihm endlich mit dem durchschlagendsten 
aller Argumente dazwischen fuhr: »Stopft dem Ketzer den 
Mund und führt ihn ab !« Dann folgte die grosse Excommunica- 
tion und die drei wurden dem weltlichen Gerichte überliefert. 



St. Mar)' the Virgin. 249 

denn das canonische Recht sagt, in seiner bekannten christ- 
lichen Milde gegen alle Ketzer: »Ecclesia non sitit sanguiiiem, 
die Kirche dürstet nicht nach Blut«. Einige Wochen später 
bestiegen sie den Scheiterhaufen, Ridley zuerst. Als die 
Flammen bereits emporzüngelten rief Latimer: "»Seid getrost, 
Master Ridley, und haltet Euch wie ein Mann. Wir werden 
heute ein Licht anzünden, das, mit Gottes Hilfe, in England 
niemals wieder verlöschen soll!« Und dies Wort wurde er- 
füllt. — Da haben Sie die Gegenrechnung"*. 

„Einen seltsamen Eindruck macht das Kostenverzeichniss 
der Execution; es ist bei den Acten aufbewahrt worden. Das 
Holz für die Scheiterhaufen kostete 37 Mark; die Henkers- 
mahlzeit machte ausserdem eine bescheidene Zeche von 2 Mark 
für Brot, Bier, Austern, Salm, Wein, Käse und Birnen. Im 
ganzen hatte die Stadt Oxford für das ihr aufgedrängte Auto- 
dafe, das sie mit Thränen und Jammern ausrichtete, über 
1 200 Mark ausgelegt und obendrein hinterher die grösste Noth 
ihren Vorschuss von der glaubenseifrigen Regierung ersetzt 
zu bekommen". — 

Nach einer stummen Pause der Betrachtung fuhr mein 
geistlicher Freund in seinen Erinnerungen fort: „Was ist alles 
schon in dieser Kirche vorgegangen. Hipr predigte vor jetzt 
gerade fünfhundert Jahren John WicliflF, der grosse Bibel- 
übersetzer und Doctor Evangelicus, der Morgenstern der 
Reformation, seine ketzerischen Sätze: »dass die heilige Schrift 
über der Lehre der Kirche stehe, dass der Apostel Petrus 
nicht höher stehe als die anderen, dass der Papst nicht mehr 
Gewalt habe als jeder Priester". Fünf donnernde Bullen 
schleuderte Gregor XL gegen ihn ; WiclifF jedoch starb ruhig 
in seiner Pfarrei Lutterworth und wurde in der dortigen statt- 
lichen Kirche feierlich beigesetzt. Aber sein sterbliches Theil 
wenigstens sollte nicht in geweihtem F*rieden ruhen. Nach " 
beinahe fünfzig Jahren wurden seine Gebeine wieder heraus- 
gerissen, verbrannt und der vorbeifliessende Avon entführte 
die Asche". — 

So endete der grosse Vorläufer der Reformation, ohne 
nachhaltigen Erfolg, denn es fehlte seiner Bibelübersetzung ein 
wesentlicher Bundesgenosse: Der Buchdrucker! 



250 Ein Tag in Oxford, 

„Auf derselben Kanzel von St Mary stand, vier Jahrhundert 
später im Jahre 1 734, ein nachreformatischer und erfolg- 
reicherer Reformator: John Wesley, in Christ Church erzogen, 
damals ein hochkirchlicher Tory und Jacobit. Mit seinem 
Bruder Charles und einigen anderen jungen, gleich ihnen Beiden 
erweckten Männern bildete er bald darauf eine Gesellschaft, 
welcher die innere Wiederbelebung der damals stark ver- 
äusserlichten Kirche von England am Herzen lag. Die Spotter 
nannten sie: »der heilige Club«, und später: »die Methodisten«, 
weil sie die in den Statuten der Universität vorgeschriebene 
Studien -Methode pünktlich innehielten. Aus dieser religiösen 
Vereinigung innerhalb der Kirche entwickelte sich allmälig, haupt- 
sächlich durch die unvernünftige Opposition der Bischöfe, welche 
sie aus der Mutterkirche hinaustrieb, die Secte der Wesleyaner 
oder Methodisten. Einen Grundzug ihrer Richtung bildete 
die Lehre von unserer Wiedergeburt zum Christen durch die 
innere Bekehrung und Heiligung, im Gegensatze zu der 
mystischen Wirkung der rein äusserlichen Taufe. Es sind stille, 
beschauliche gottesfürchtige übrigens kirchlich liberale Leute, 
diese Wesleyaner, die sich vielleicht am meisten mit den ehe- 
maligen deutschen Pietisten berühren". 

„Diese Bewegung hatte, wie Sie wohl wissen, einen unge- 
heuren , einen weltweiten Erfolg. Vor gerade hundert Jahren 
{1777) wurde hier die erste Wesleyan Chapel gebaut, zu Anfang 
dieses Jahrhunderts zählte die Gesellschaft etwa achtzigftausend 
Mitglieder, jetzt rechnet sich diese vollständig organisirte Kirche 
in ihren verschiedenen Schattirungen auf etwa vierzehn Millionen 
Seelen in allen Welttheilen; in den Vereinigten Staaten leben, 
nach der letzten Zählung, etwa zehn Millionen. In England 
ist es eine Kirche hauptsächlich der armen und bescheidenen 
Leute, in den oberen Klassen ist sie wenig verbreitet. Sie 
ist kein Wallfahrtsort für Pilger, Prinzen und Touristen, denn 
sie ist weder romantisch noch pittoresk; eine flache, etwas 
nüchterne Landschaft, aber ausserordentlich fruchtbar und 
fleissig angebaut. Die Zahl ihrer Anhänger hier zu Lande ist 
sicher auf drei und eine halbe Million anzuschlagen. Ihr Budget 
enthielt im Jahre 1876 folgende Ausgabeposten: 



St. Mary the Virgin. 251 

für auswärtige Mission 3,000,000 Mark 

für innere Mission * . . 800,000 „ 

für Ausbildung von Geistlichen 

in drei Colleges 300,000 „ 

für Erziehung von Kindern der Geistlichen 450,000 „ 

für Kapellenbauten 5,500,000 „ 

zusammen 10,050,000 Mark 
„Das ist jedenfalls kein todter Glaube, der solche Werke 
thut", erwiderte ich. „Wie gross ist denn jetzt wohl die Zahl 
der Wesleyan Chapels in Grossbrittanien?" 

„Man findet sie überall, namentlich in den grossen Städten", 
erwiderte Mr. L. „kürzlich las ich irgendwo ihre Zahl auf etwa 
dreizehntausend Kapellen und Betsäle berechnet". 

„Nun wahrhaftig", unterbrach ich ihn. „Die Brüder 
Wesley können mit vollstem Rechte sagen: 

„Es kann die Spur von meinen Erdetagen 
Nicht in Aeonen untergehn!" — 

„Ganz gewiss", bestätigte der Reverend, „der Austritt der 
Wesleys aus der englischen Kirche war ohne allen Zweifel die 
nachhaltigste und folgenreichste Bewegung, welche wir seit 
der Reformation durchgemacht haben". — 

„Noch von einem anderen Pfarrer von St. Mary, der uns 
ebenfalls verlassen hat", fuhr er fort, „will ich Ihnen zum 
Schlüsse erzählen. Fünfzehn Jahre hindurch stand er auf dieser 
Kanzel hier über uns, von 1828 bis 1843, ^^^^ predigte mit 
unwiderstehlicher Logik das Credo der Kirche von England: 
der Doctor Newman. Seine ehemaligen Freunde und jetzigen 
Gegner halten ihn immer noch für einen der begabtesten und 
persönlich wirkungsvollsten Männer seines Zeitalters, obschon 
sie den abnormen Ausgang seiner theologischen Entwickelung 
tief beklagen. Allerdings konnten sich seine Erfolge niemals 
auch nur entfernt mit den Spuren messen, die John und Charles 
Wesley der Kirche so tief eingedrückt haben. Bekanntlich 
gehorte Newman vor fünf und vierzig Jahren zu den Führern 
der hochkirchlichen „Tractaten-Bewegung". Diese entwickelte 
sich zunächst streng dogmatisch gegen das protestantische 
Princip der freien Forschung und gegen die steigenden Reform- 
bestrebungen der liberalen kirchlichen Partei. Die „Tractarians" 
vertraten mit Geist und Energie die göttliche Natur und 



1 



252 Ein Tag in Oxford, 

Autorität der Kirche. Zuletzt aber richteten sich diese Tractate 
auch gegen die* neununddreissig Artikel unserer Kirche und 
wurden daher, mit der von Newman geschriebenen berühmten 
Nr. XC, durch die kirchlichen Oberen verboten. Ihn selbst 
führte diese Hochfluth von dem ursprünglichen, rationalistisch- 
calvinistischen Ausgangspunkte seiner Jugend, im Jahre 1845 
bis nach Rom und in den Vatican". 

„Es fuhrt zjvar nicht", unterbrach ich, „wie man wohl 
behauptet hat, ein jeder Weg nach Rom, dieser aber sehr 
leicht. Gewissen, schroff dogmatisch angelegten Köpfen und 
von Natur intoleranten Gemüthem erscheint schliesslich, im 
Wirbelsturme der Theologien, der ihnen den Leitstern des 
einfachen Christenthums verdunkelte, der absolute St. Petrus 
als der einzig sichere Steuermann, der sie in den ersehnten 
Hafen der Gewissheit — über das ewig Ungewisse — führen 
könne; — — bei Ihnen indessen noch häufiger als bei uns in 
Deutschland". 

Der Reverend ging auf diese kleine polemische Schluss- 
bemerkung nicht w^eiter ein, sondern fuhr fort: 

„Im Jahre 1834 als Vicar von St. Mary war Doctor Newman 
noch so correct staatskirchlich, dass er sich weigerte, eine junge 
Dame zu trauen, weil sie eine Baptistin und nicht orthodox 
nach den Vorschriften der englischen Kirche getauft war. Als 
er später übertrat, wurde er, wir hier verlautete, selber nochmals 
getauft »der Sicherheit wegen«. Schon in seiner Jugendzeit 
hiess der streitbare Theologe der „alte Löwe von Oriel College". 

„Im vorigen Jahre (1878) sah er Oxford nach mehr als 
dreissig Jahren zum ersten Male wieder; sein ursprüngliches 
College „Trinity" hatte ihn zum Ehren-Fellow ernannt. Er 
besuchte auch seinen alten Streitgenossen im Tractatenkampfe, 
den Doctor Pusey. Dieser jedoch ist bekanntlich auf halbem 
Wege, noch innerhalb unserer Kirche, stehen geblieben und 
verwirft jetzt seine Nachkommenschaft, die Ritualisten, die aus 
seinen Lehren das Bedürfhiss eines sinnlich ausgeführten und 
wirkungsvoll geschmückten Gottesdienstes ableiten". 

„Nun ist der ehemalige Pfarrer der Universitätskirche von 
Oxford — römischer Cardinal!" 

„Und wahrscheinlich ein »liberaler«, fügte ich hinzu „der 
im Conclave auf der »äussersten Linken« sitzt". 



Ä. Mary the Virgin, ' 253 

„Dem vorigen Papste Pius IX war er stets verdächtig'*, 
fuhr Mr. L. bestätigend fort; „er hatte sich erlaubt, in einer 
seiner bereits katholischen Schriften von „Mariolatrie" zu reden 
und Bedenken gegen die Moral des heiligen Alphons von Liguori 
zu äussern. Denn dieser jüngste und jetzt gewichtigste „Doctor 
Ecclesiae" lehrt bekanntlich die Zulässigkeit der Lüge und des 
Meineids. Nur mit knapper Noth entging Newman dafür dem 
Index. Man sieht: er ist eben, trotz alledem, ein Engländer 
und ein Gentleman geblieben; diese Zwei stecken ihm doch zu 
tief im Blute und solch eine angeborene Einseitigkeit schlägt dann 
immer wieder heraus und durchbricht den aufgesetzten päpst- 
lichen Kosmopolitismus". 

„Goethe sagt irgendwo", erwiderte ich — abermals meinem 
üblen Hange zum Citiren nachgebend — : „Was einem angehört, 
wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe".* Uebrigens ver- 
stehe ich sehr wohl, dass man sich in Rom scheuete, gegen 
einen Convertiten aufzutreten, der bei einer grossen Zahl gebildeter 
Engländer als hohe Autorität für geistliche Fragen galt und 
der — ansteckend wirkte. Sie erinnern sich wohl, was kürzlich 
Döllinger von Newman gesagt hat: »er ist ohne Zweifel die 
glänzendste und werthvollste Erwerbung, welche die römische 
Kirche seit der Reformation gemacht hat«. — Nun, wer weiss? 
die Reihe der römischen Heiligen ist noch nicht geschlossen; 
jedenfalls giebt es darunter manche, die es wahrhaftig weit 
weniger verdienten. — Aber man sieht doch wieder, dass es, 
trotz allen »sacrifici dell* intelletto« im Grrunde unmöglich bleibt : 
das Selbstdenken völlig abzuthun, wenn wir es einmal von 
Jugend auf betrieben hatten — und nun gar so eifrig betrieben 
hatten und mit so hervorragenden Mitteln". — — 

Draussen vor der Kirche empfing uns bereits die volle 
Mittagssonne eines in diesem Jahre seltenen klaren Juni- 
tages; die Strasse lag glänzend, aber still und leer vor uns. 

Während wir noch im Schatten des hohen Zopfportales 
verweilten, sagte Mr. L., sich umschauend : „Nicht wahr, High 
Street sieht recht respectabel aus? und im ganzen macht es 
. diesem Aussehen Ehre. In früheren Jahren ging es indessen 
mitunter auch laut und unfriedlich zu und namentlich die Stelle 
hier vor St. Mary's Kirche war häufig der Schauplatz heftiger 
Kämpfe zwischen »Gown und Town«". 



A.54 Ein Tag in Oxford. 

»Zwischen Studenten und Knoten«, übersetzte ich in's 
heidelberger Deutsch; „ich kenne das aus Erfahrung, wir 
nannten das eine „Holzerei". Es setzte dabei oft blutige 
Köpfe". 

„Hier in Oxford gab es mehr „schwarze und blaue Augen", 
denn diese „Riots" werden meistens kunstgemäss mit unserer 
nationalen Duellwaffe, der Faust, ausgefochten. In alten 
Zeiten schlug man sich jedoch nicht blos nach den Regeln 
>,der edlen Kunst der Selbstvertheidigung", sondern in todtlichem 
Ernst mit blanker Waffe. 

So geschah es am lo. Februar 1354 am Feste der heiligen 
Scholastica. Einige Studenten, es waren Mitglieder der Lands- 
mannschaft „Süd-Nation" und sie hassten demnach die „Schotten** 
und die „Welschen"; — also einige „Southemers" bummelten 
an diesem Feiertage Highstreet entlang. Unter ihnen sind die 
Namen von Walter de Springhouse, Will de la Hyde, David 
Stoke und Roger de Chesterfield der Nachwelt aufbewahrt 
worden. Sie trugen — vermuthlich wegen der Camevalszeit — 
„bachische Masken" mit Hörnern, die aus dicken Wergperrücken 
hervorragten; an der Seite führten sie kurze gebogene Hirsch- 
fänger und einige hatten musikalische Instrumente mit sich: 
Dudelsäcke und Guitarren. Singend und spielend zogen die 
fidelen Brüder daher und fielen endlich dort hinten in Carfax — 
ein Quadrivium oder Vierort, wo die Kornmarktstrasse High 
durchschneidet — in eine Weinkneipe ein, genannt: der Swindle- 
stock, bei John Croyden, etwa dort, wo jetzt das Wirthshaus 
zum Goldenen Kreuz steht. Sie Hessen sich nieder, wurden 
bald guter Dinge und sangen unter Begleitung ihrer Instrumente 
folgendes uraltes Lied: 

„Mihi est propositum in tabema mori", 
„Vinum sit appositum morientis ori — ". 

„Das uralte Lied ist mir bekannt", fiel ich ein, „vor dreissig 
Jahren sangen wir es noch in Heidelberg. Es geht so weiter: 

,,Ut dicant, cum venerint, angelonim chori: 
„Deus sit propitius huic potatori!" 

„Ich kenne sogar eine Uebersetzung davon, die also lautet; . 

„Freunde hört ! beschlossen ist's ! ' hier sterb' ich, in der Schänke ; 
„Stellet dann zu Raupten mir 'nen Humpen mit Getränke, 
„Dass der Engel seVger Chor, findend mich beim Becher, 
„Singe : Herr ! sieh gnädiglich auf den frommen Zecher ! — " 



St, Mary the Virgin. 255 

Mein Zuhörer bewunderte gebührend die gelungene Ueber- 
tragung und fuhr dann in Prosa fort: 

„Wirkten nun die schönen Gedanken über das baldige 
selige Abscheiden zu kräftig erhebend oder lag es im schwindel- 
haften Namen der Schenke — genug, der Wein behagte der 
Gesellschaft bald nicht mehr, sie hiessen ihn „Krätzer" und 
dann den Wirth einen „Schmierer". Dieser remonstrirte ent- 
rüstet und, nachdem der aufrichtigen Worte genug gewechselt 
waren, wollte man „endlich Thaten sehen": die flotten Bursche 
machten kurzen Prozess und warfen dem Weinzapf ihre schweren 
zinnernen Trinkkannen an den Kopf! 

„Jetzt erwachte der gekränkte Bürgerstolz. Die Alarm- 
hömer ertönten, die Glocken läuteten Sturm und eine der 
furchtbarsten „Town und Gown" Schlachten, welche die Ge- 
schichte Oxfords kennt, hub an. Als es Abend wurde, hatte 
Gown die Oberhand. Aber am anderen Morgen erhielt Town 
Succurs aus den umliegenden Ortschaften, die Schlacht begann 
von neuem und endete — wie die Chronik so poetisch schreibt: — 
>um die Zeit, wo man die Zugochsen aus dem Joche spannt«, 
mit einer vollständigen Niederlage der Universität unter den 
härteren Fäusten der Bauern. Die Studenten zählten vierzig 
Todte, die „Philister" deren drei und zwanzig. So gross war 
die Wuth der letzteren, dass sie, umgekehrt wie ihre Vorväter 
einst dem Simson thaten, alle Cleriker, die in ihre Hände fielen, 
skalpirten, soweit deren Tonsur reichte, während sie das 
männliche Haupthaar verschonten. Es war jedoch für die Stadt 
ein Pyrrhussieg. König Eduard III. hielt strenges Gericht. Er 
belastete sie mit einer langen Reihe von Leistungen und Ab- 
tretungen zu gunsten der Universität. Fortan bekam diese 
auch die Strassen- und Marktpolizei. Zur Sühne für die drei 
und sechzig Todten musste femer der Mayor von Oxford mit 
zwei und sechzig Bürgern jedes Jahr am Scholasticatage in der 
Universitätskirche einer Seelenmesse für die vierzig gefallenen 
Studenten beiwohnen und dazu vierzig Pfennige erlegen. Und 
diese Demüthigung der besiegten Sieger erhielt sich bis in 
unser Jahrhundert, abgesehen natürlich von der Todtenmesse". 

„Das nenne ich historische Continuität!" erwiderte ich, 
„und wie erlosch dieser ehrwürdige Gebrauch? — " 

„Er wurde im Jahre 1825 aufgehoben, aber nur gegen einen, 



2oG Ein Tag in Oxford, 

von jedem neuen Mayor zu leistenden Eiä, »dass die Stadt die 
alten Privilegiert der Universität respectiren wolle«. Und diese 
allerletzte Spur der „Holzerei" von 1346 ist erst 1854 abgeschafft". 

„Man sieht doch", bemerkte ich scherzend, „welch unbe- 
rechenbares Unheil aus dem abscheulichen Weinschmieren ent- 
stehet; freilich hätte ich nicht gedacht, dass diese, angeblich 
moderne Industrie schon vor fünfhundert Jahren im soliden 
Oxford betrieben wäre". 

„Aber", fiigfte ich hinzu, „ernstlich gesprochen, ich beneide 
Sie um den starken lebensfähigen Conservatismus, der sich 
auch in solchen, Jahrhunderte alten und noch lebenden Tra- 
ditionen zeigt. Ja! ich beneide und beglückwünsche Sie 
aufrichtig darum: denn diese unzerrissene Continuität der 
Generationen und Jahrhunderte ist zweifellos eine der stärksten 
Wurzeln robuster und ausdauernder nationaler Gesundheit". 

„Nun", erwiederte mein englischer Gastfreund, sichtlich 
angenehm durch meine Worte berührt, „unter Ihren Ansichten 
über England gefällt mir diese jedenfalls viel besser, als was 
Sie vorhin über unsere Neigung zum Convertitenthum an- 
deuteten. Und, glauben Sie mir, alle diese nach Rom „Zurück- 
kehrenden" sehen wir ohne Sorge für uns davonziehen, wenn 
auch nicht ohne Bedauern für sie selbst". 

„Jetzt aber wollen wir die heisse Strasse überschreiten — 
und drüben im kühlen grünen Hofe von St. Mary Hall unseren 
gemeinschaftlichen Freund seinen Studien entführen". 



V. 

Englische Bildungsmittel zu Lande. 
Crieket Mateh und Debattir^lub. 



In dem traulichen, gartenhaften Hofe von St. Mary Hall 
trat uns der Freund entgegen, den ich bereits in der Heimath 
kennen und schätzen gelernt hatte. Nach dem ersten herz- 
lichen Händeschütteln sagte Mr. D., ebenfalls ein Reverend und 
einer der Tutors in der Hall: 

„Wie bedaure ich es, dass Sie diesesmal nur einen Tag 
bei uns verweilen können; Oxford gewinnt wirklich bei näherer 
Bekanntschaft. Um so fleissiger wollen wir aber unseren 
einzigen Tag ausnützen. Was wollen Sie sehen? Ich zeige 
Ihnen unser weltbekanntes Ashmolean Museum, in dem Sie 
sich wochenlang mit iCunstwerken und Curiositäten unterhalten 
können. Oder wollen Sie in die Bodleian Library? Sie ent- 
hält jetzt etwa vierhunderttausend Bände. Kein Wunder; denn 
die Sammlung begann im Jahre 1320 und wird noch jetzt 
progressiv fortgeführt. Seit 1709 läuft von jedem in England 
gedruckten Buche ein Pflichtexemplar hier ein. Dieser jährliche 
Zuwachs allein beträgt sechstausend Bände, Dank unserer 
gesegneten literarischen Fruchtbarkeit". — 

„Halten Sie ein", bat ich abwehrend, „Sie wissen, ich bin 
weder Kunstkenner noch Gelehrter; zeigen Sie mir das lebendige 
Oxford, verständlich für einfach menschliche Reisende und 
lassen wir Ihre todten Unsterblichen ruhen". 

„Gut, lassen wir sie ruhen", beruhigte mich Mr. D. „Dann 
wollen wir zunächst unsere lebendige Jugend in ihren nationalen 
Spielen zu Lande und zu Wasser kennen lernen. Später essen 
wir in der grossen Hall von Christ Church College, wohin ich 

Ompteda, L. v., Bilder. 17 



258 Ein Tag in Oxford. 

für Sie und mich zum heutigen Strangersday (Gasttage) von 
meinem Vetter, der dort Senior Student ist, eine Einladung 
erhalten habe und den Abend — werden wir wohl irgendwie 
in akademischer Weise beschliessen". 

„Sehr gern", stimmte ich ein ; „als alter heidelberger Corps- 
bursch habe ich über diesen letzten Punkt noch einige sach- 
verständige Erinnerungen und werde also einer oxforder 
Studentenkneipe mit Nutzen und Interesse beiwohnen können"- 

„Hier in St. Mary Hall", fuhr Mr. D. fort, die freundlich 
anheimelnde Umgebung rund umher vorstellend, „kann ich 
Ihnen ausser diesem frischen grünen Hofchen nichts besonderes 
zeigen. Wir rechnen uns zwar, was das urkundliche Alter 
betrifft, zu den Vornehmsten in Oxford, denn wir sind noch 
eine der alten „Herbergen" aus der Jugendzeit der Universität 
Im Stillen betrachten wir daher die meisten der reichen Colleges 
als Emporkömmlinge, denn unsere Geschichte als Pfarrhaus von 
"St. Mary's Kirche beginnt 1229 und eine akademische Hall 
sind wir seit 1333. Leider! aber war, trotz dieser ehrwürdigen, 
altersgrauen Erinnerungen, unsere Entwickelung nur bescheiden,, 
und jetzt sind wir nicht viel mehr als ein Anhängsel, eine Art 
Lehnsmann von Oriel College. Sehen Sie sich unser Mutter- 
haus einmal äusserlich an, es ist der Mühe werth. Ich will 
unterdessen meinen Dienst als Tutor hier rasch erledigen, dann 
bin ich sogleich bei Ihnen". 

Wir betraten jetzt Oriel Street, High Street den Rücken 
wendend, und standen bald auf einem kleinen unregelmässigen 
Platze vor der Strassenfront des Collegegebäudes. Ein 
origineller Anblick. Der fast dreieckige Platz ist eingefasst 
"von alten verwetterten Giebelhäusern mit schiefen Dächern, 
hohen Schornsteinen, niedrigen Nebengebäuden. In der Mitte 
zwei windgebeugte Linden, die den einzigen hier sichtbaren 
lebenden Erscheinungen, dem Kutscher und Pferde eines 
Hansom Cab, nothdürftigen Schutz vor der Sonne gewährten. 

Ueber dem Eingange des College fiel mir ein besonders 
grosses und stark hervortretendes Erkerfenster auf, in England 
„Oriel Window" genannt. 

„Gab vielleicht dieses stattliche Fenster dem College den 
Namen: Oriel?" fragte ich. 

„Ich denke nicht", erwiderte Mr. L., „denn der Name 



Englische Bildungsmittel zu Lande. 25 J 

kommt schon im vierzehnten Jahrhundert vor, das Gebäude 
hier wurde erst um's Jahr 1820 aufgeführt. Die eigentliche 
Ableitung der sonderbaren Beziehung des College kennt 
niemand. Wir stehen hier wieder vor einem der Räthsel von 
Oxford; erinnern Sie sich noch der Ungethüme am Kreuzgange 
im Magdalen?" Einige rathen auf „Aul Royal", andere auf 
„oratoriolum" , noch andere haben eine wohlthätige Dame 
„Alienore" ermittelt". — 

Wir hatten inzwischen den Eingang durchschritten und 
standen der Nordseite eines viereckigen Hofes gegenüber: ein 
Prachtstück der englischen spätesten Gothik, schon gemischt 
mit dem Stile der Elisabethzeit, in welcher der Bau entstand. 
Das Gebäude ist einstockig mit breiten Spitzbogenfenstem. 
Ueber dem niedrigen, aufgetreppten und bedeckten Portale stehen 
in Nischen die beiden Könige Eduard IL und III. als Stifter. 
Darüber die Jungfrau Maria, auf deren Namen als St Mary's 
das College ursprünglich getauft wurde. Später erst schlich 
sich unvermerkt „Oriel" ein. Der hohe Giebel über der Nische 
der Muttergottes gehört schon völlig der Renaissance an. 
Eigentümlich sind die grossen, ovalen, mit sogenannten Esels- 
rücken abschliessenden Zinnen des Gesimses. Hoch über dem 
Dachfirste ragt zu unserer Rechten der imponirende Thurm 
der Chapel von Merton College empor. Der Stein auf den 
Mauerflächen des Hofes ist stark verwittert und giebt, wie 
eine edle Patina, dem Gebäude einen besonders alten echten 
Ton. — 

Unsere andächtigen architektonischen Betrachtungen in 
dem stillen ungewöhnlich menschenleeren Hofe wurden durch 
unseren jungen Reverend aus St. Mary unterbrochen. 

„Ich bin jetzt bereit, Sie abzulösen", sprach er, zum Freunde 
L. gewandt, „da ich weiss, dass Ihr Amt Sie ruft; unsern 
Fremden führe ich einstweilen weiter. Inzwischen ist es bereits 
zwei Uhr geworden und die Zeit drängt, wenn wir das grosse 
Cricket Match nicht versäumen wollen , welches heute auf den 
Merton Meadows zwischen Merton und Oriel College ausge- 
fochten wird. Wie Sie sehen, ist hier bereits alles davon 
geflogen". 

Demnach verabschiedete ich mich bis zum Abende von 
meinem Gastfreunde und wir eilten auf Richtwegen durch enge 

17* 



260 Ein Tag in Oxford, 

gewundene Gässchen vorwärts. So wirkte das heitere und 
originelle Schauspiel doppelt überraschend, welches mich 
empfing, als wir plötzlich am Eingange der grossartigen alten 
Ulmenallee standen, die sich im Süden der Stadt vom Cherwell 
zur Isis hinzieht. Wir fanden den hoch überwölbten schattigen 
»Broad Walk von Christ Church« trotz seiner beträchtlichen 
Breite von etwa fünfzehn Metern, gefüllt mit einer lebhaft aut 
und ab wogenden Menge, welche mich hinderte, die ganze 
Länge der Allee, mindestens fünfhundert Meter, mit einem 
Blicke zu übersehen. 

„Hier kommen Sie mitten in das High Life von Oxford", 
flüsterte mir Mr. D. zu: „Da wir uns dem Schlüsse des 
akademischen Jahres nähern, der zu Anfang Juli eintritt, so 
führt alte Sitte die schöne, die gelehrte und die bürgerliche 
Welt Oxfords hier in dieser Stunde zusammen. Namentlich 
sind bei günstigem Wetter die Seiden- und Sammttalare der 
Professoren und der grossen Würdenträger der Colleges hier 
stark vertreten". 

Wir wandelten gemächlich vorwärts, schiebend und 
geschoben, unter den uns umgebenden charakteristischen Ge- 
stalten, deren scharf ausgearbeitete Züge und friedlich würde- 
volle Haltung das Gepräge der langjährigen getreuen Aus- 
übung ihres gelehrten Berufes trugen. Erfreulicher Weise war 
der, Ehrfurcht gebietende Grundton der schwarzen Chorröcke 
hinreichend belebt durch die mannigfachen heiteren Frühlings- 
farben der schönen und der respectablen weiblichen Welt von 
Oxford. Jedoch die viereckige Trenchercap überwiegt und 
bestimmt durch ihre ebene Gesammtoberfläche, nur überragt von 
einzelnen schwarzen und weissen Cy linderhüten, den allge- 
meinen, sehr originellen Eindruck des Bildes. 

„Wo sind denn aber die Studenten?" frug ich, „die 
männliche Jugend ist hier ja ausserordentlich in der Minderheit". 

„Treten wir dort rechts zwischen den Bäumen hinaus", 
schlug Mr. D. vor, vielleicht finden wir sie". — 

Vor uns lag ein ebener grüner Platz, der sich in 
bedeutender Breite längs dem Broad Walk erstreckte und 
jenseit dieser weiten Fläche bot sich wieder eines jener eigen- 
artig schönen Bilder dar, an denen Oxford so reich ist. Eine 
uralte graue Mauer fasst die grosse Rasenfläche auf der uns 



Englische Bildungsmittel zu Lande, 261 

gegenüberliegenden Langseite ein. Der massive verwitterte 
Steinwall ist mehrere Male unterbrochen von halbrunden niedrigen 
Thürmen und gekrönt mit dichtem alten geschnittenen Hecken- 
werke, über welchem die grossartigen Linien von Merton 
College sich in die Luft erheben. 

Als eine der ältesten Gründungen, von 1264, zeigen die 
beiden uns zugekehrten langen Fronten das typische Bild des 
grossen altenglischen Hauses: stattliche, kräftig profilirte 
Giebeldächer und zwischen Je zweien der hohe, nicht ent- 
stellende, sondern verzierende Schornstein. Der viereckige 
stumpfe, mit zahlreichen schlanken Fialen gekrönte Thurm der 
CoUegechapel überragt das langgestreckte Gebäude. Im 
Hintergründe erheben sich Oxfords überall sichtbare Wahr- 
zeichen: der spitze Thurm von St. Mary the Virgin und die 
mächtige Kuppel der Radcliffe Library. Ihnen zur Rechten 
schliesst eine Gruppe breitästiger alter Cedem das prächtige 
Bild ab. 

Auf dem saftig grünen, im hellen Sonnenschein glänzenden 
Rasengrunde vor uns herrschte das regste Leben. In der 
Mitte ein freier Raum von etwa 80 Metern im Geviert, abge- 
steckt durch bunte Fähnleia: die Arena des heutigen Cricket 
Match. Jenseit dieser Grenzzeichen dichte Gruppen von Zu- 
schauem über die grüne Fläche hin vertheilt und gelagert. 
Das Spiel war bereits in lebhaftem Gange. Wir wählten 
unseren Standpunkt im Schatten einer hohen Ulme, zur Seite 
des hier aufgeschlagenen buntbewipfelten Zeltes. Ich suchte 
mich auf der weiten Et)ene ein wenig zurecht zu finden und 
verfolgte jeinige Zeit die raschen Bewegungen der Spieler. 

Dann bat ich: „Nun erklären Sie mir, aber kurz und fass- 
lich, was hier vorgeht". 

„Gern", erwiderte mein Führer, „ich werde versuchen, Sie 
in unser grosses Nationalspiel einzuweihen. Cricket wird von 
zwei Parteien gespielt; die normale Stärke der Theilnehmer 
auf jeder Seite ist: elf. Sie sehen wohl dort in der Mitte des 
freien Raumes die zwei Spieler, die sich auf eine Entfernung 
von etwa 20 Metern gegenüberstehen. Sie tragen, w^ie alle 
übrigen Theilnehmer, ein Flanellhemd, gleiche Beinkleider und 
einen Strohhut, alles in vorgeschriebenen Farben und Abzeichen; 
schwere mit Nägeln beschlagene Schuhe und dicke lederne 



262 Ein Tag in Oxford. 

Handschuhe vollenden den Anzug. Jeder dieser beiden Kämpfer 
führt in der Hand eine breite flache Keule: Bat oder Schläger 
genannt. Etwa ein Meter hinter jedem stecken drei rundliche, 
wohl 80 Centimeter hohe Stäbe, Stumps, nebeneinander mit je 
9 Centimetern Abstand. Auf je zweien von ihnen ruhet quer 
ein rundes kurzes Stäbchen, Bail genannt Diese, aus gekreuzten 
Stäben gebildete Figur hiess cross-wicket (Kreuz-Pfortchenj 
und gab, in cr-icket zusammengezogen, dem Spiele den Namen. 
Diese Wickets zu vertheidigen ist die Aufgabe der beiden 
Batsmen oder Schläger. Beide gehören derselben Partei an, 
wie ihre Abzeichen kundgeben. Die übrigen neun Mitglieder 
dieser Seite bleiben einstweilen unthätig. 

Die Gegenpartei spielt mit dem Ball. Ihre Aufgabe ist: 
mit diesem die Wickets umzuwerfen. Hiefür stellt sie zunächst 
zwei Ballwerfer, Bowlers. Jeder von diesen steht dem von ihm 
anzugreifenden Wicket auf etwa 20 Meter gegenüber und zwar 
etwa einen Meter rechts hinter dem gegenüberliegenden 
Gestecke, also beide Bowlers über's Kreuz. 

Die übrigen Mitglieder der angreifenden, ballwerfenden 
Partei vertheilen sich nach bestimmten Regeln über den 
Cricketground, um den, in verschiedenen Richtungen davon- 
fliegenden Ball möglichst rasch wieder in die Hände des Bowlers 
zu spielen. 

Der Schläger, welcher das Wicket gegen den vom 
Bowler geworfenen Ball vertheidigt, sucht diesen zu treffen 
und vermittelst seiner Keule möglichst weit in das Feld hinaus 
zu treiben. Sobald der Ball weit genug entfernt ist, wechseln 
beide Schläger laufend ihre Plätze; einmal — wenn möglich: 
mehrere Male. Jeder Lauf zählt fiir sie einen „Point". 

„Die Bowler und ihre Genossen suchen dagegen die 
Wickets umzuwerfen, denn der Vertheidiger jedes fallenden 
muss abtreten und scheidet einstweilen aus dem Spiele. Ausser- 
dem aber ist es die Aufgabe der ballwerfenden Partei, durch 
geschicktes Zuwerfen und Fangen des Balles die beiden 
Batsmen im Laufen zu hindern". 

„Beachten Sie einmal genauer die eigenthümliche Art, in 
welcher der Ball gegen die Wickets geschleudert wird. Es ist ver- 
boten, ihn im Bogen durch die Luft zu werfen, das wäre zu gefahr- 
lich für die Batsmen welche nur unten durch dicke lederne 



Englische Bildungsmittel zu Lande, 263 

Beinschienen geschützt sind. Trotzdem setzt es nicht selten 
schmerzhafte Treffer und auch wohl ernste Verletzungen. 
Denn der Ball ist aus Leder sehr fest gearbeitet, hart wie 
Stein und wiegt immerhin gegen fünfhundert Gramm. Der 
Ball wird daher geschleudert wie eine Kegelkugel, jedoch ohne 
den Boden zu berühren. Dieser Wurf in horizontaler rasanter 
Flugbahn erfordert viel Kraft und Geschick und begründet 
hauptsächlich den Ruhm und Erfolg des Cricketspielers*'. 

Es war in der That ein fesselndes Bild. Mit welcher 
Spannung wird der Wurf erwartet 1 geht er fehl — allgemeines 
Gelächter; fährt er in*s Wicket oder wird er durch einen wohl- 
^ezielten kräftigen Schlag abgewiesen — lauter Beifall und 
anhaltendes Händeklatschen. Gelingt den Schlägern ein kühner, 
fortgesetzter Lauf, trotz der behenden Anstrengungen der 
Gegner — lebhafte jubelnde Anerkennung. Wird das Wicket 
mit dem zu früh zurückgebrachten Ball umgeworfen und der 
-ZU langsame oder zu waghalsige Batsman findet es schon am 
Boden, so folgt Spott dem Schaden und die trockene Be- 
merkung des Gegners, der ihn auf die zerstreuten Holzer mit 
ernster Miene hinweist: „Es scheint mir einige Unordnung in 
Ihrem Holzhofe zu herrschen", ist stets des allgemeinen beifalligen 
Gelächters der Zuschauer sicher. — 

„Hier neben uns und vor dem Zelte, das zum An- und 
Auskleiden der Spieler dient", bemerkte Freund D., „stehen die 
beiden Unparteiischen, die Kampfrichter. Neben ihnen sehen 
Sie eine grosse, schwarze Tafel, auf dieser werden die Runs 
der beiden Parteien und die umgeworfenen Wickets notirt". — 

„Over**, rufen die Unparteiischen. 

„Ist es zu Ende?" fragte ich. 

„Nein", erwiderte D., „es sind jetzt von demselben Bowler 
vier Bälle auf das gegenüber stehende Wicket geworfen; nun 
tritt eine kurze Pause ein und die Spieler wechseln ihre 
Stellungen". 

Jetzt ein neuer Wurf und Schlag! Die Batsmen laufen wieder, 
aber zu lange; die Gehilfen des Bowlers haben den Ball zurück- 
gebracht, ehe der Schläger am Male war; jetzt ist er »out«, er 
muss abtreten und ein anderer von seiner Partei nimmt seinen 
Platz ein. Das Spiel gehet nun fort, bis zehn Mitglieder der 
Partei »out» geworden sind. Dieser Abschnitt heisst ein »Innings« 



1 



264 • £m Tag in Oxford,, 

Alsdann wechseln die Rollen, die Werfer werden Schläger und 
es handelt sich darum, sie ebenfalls »out« zu machen. Die 
Zahlen der beiderseitigen Runs entscheiden endlich den Sieg. 

Das ist die einfachste Partie, bestehend aus zwei Innings; 
sie dauert, je nach Glück und Geschick, einige Stunden. 

„Leider können wir den Schluss nicht erwarten", erklärte 
mein Führer, nach der Uhr sehend, „wir müssen jetzt zum Wett- 
rudern an die Gestade der Isis eilen". 

Während wir die kühlen, schattigen Uferpfade des Cher- 
well entlang gingen, fuhr D. in seiner Vorlesung fort: 

„Was wir gesehen haben, ist nur ein kleines, einfaches 
Match. Es wird hier auf den Merton Meadows gespielt 
zur Unterhaltung der feinen Welt von Oxford und weil 
Merton College der Herausforderer ist. Der ernsthafte Cricket- 
sport jedoch wird auf den Cricketgrounds geübt, die in der 
Gegend liegen, wo Sie heute Magdalen College betraten. Dort 
haben die meisten Colleges ihre Plätze und für einen Kenner 
des edlen Spiels giebt es dort stets Unterhaltung. Denn, wie 
Sie wissen, ist Cricket nicht etwa ein speciell akademischer 
Sport. Jeder Knabe von acht Jahren ruhet nicht, ehe er nicht 
seinen Ball und Schläger hat, die Schulen üben es, die grossen 
Clubs und Gesellschaften spielen es, alle Stände betreiben es, 
von den königlichen Prinzen durch Ober- und Unterhaus bk in 
jedes Dorf hinab. Seine Geschichte verliert sich in das Dunkel 
der Vergangenheit, seine Literatur ist reichhaltig. Es existirt 
ein Codex der Cricketgesetze; grosse Principienfragen werden 
von der Centralstelle des Cricketspiels, der Generalversammlung 
des Marylebone Clubs in London, unfehlbar entschieden. Be- 
achteten Sie wohl die Berichte in der Times während der 
Cricketseason, von Mai bis September? Sie sind nicht minder fach- 
männisch als das seltsame Rothwelsch der Rennberichte. Da 
ficht Oxford gegen Cambridge, Yorkshire gegen Kent, Süd- 
england gegen Nordengland. Es existirt ein ambulanter Club 
von Gentlemen, die sich selbst »I Zingari« nennen, welcher 
umherreist und Gastrollen giebt. Ebenso ziehen die berühmten 
professionellen Spieler »All England Eleven« von Mai bis August 
umher. Sie werden von Provinzialclubs eingeladen, die gegen 
sie spielen und ihnen Honorar zahlen. Im Jahre 1861 gingen diese 
»All England Eleven« nach Australien und spielten gegen die 



Englische Bildungsmittel zu Lande, 2oO 

achtzehn besten Spieler in Melbourne. Der Kampf dauerte 
vier Tage, die Elf siegten. Dann durchzogen sie Monate lang 
in fortwährenden Triumphen alle grosen Städte Australiens. — 
Auch bei jeder Kaserne finden Sie einen Cricketground. 
Kürzlich spielte die Household Brigade gegen die Division 
Aldershott in Chelsea. Auf beiden Seiten fochten Stabs- 
offiziere, Corporale und Gemeine Schulter an Schulter. Auf 
dem Plateau von Sebastopol spielten unsere Soldaten Cricket 
unter dem begleitenden Donner der russischen Geschütze". 

„Ich danke Ihnen aufrichtig", versicherte ich , „dass Sie 
mich hierher brachten. Alle nationalen Eigen thümlichkeiten 
sind ja dem Fremden vorzugsweise interessant. Besonders 
aber erfreute mich das Aussehen der Jugend, die wir soeben 
in Thätigkeit sahen. So frisch, leicht und kräftig, nachlässig 
und entschlossen, ruhig und keck ist die Haltung. Die ganze 
Erscheinung dieser jungen Leute ist aristokratisch im besten 
Sinne des Wortes. Aber! — jetzt kommt doch ein „Aber" — 
meinen Sie nicht, dass diese Spiele und daneben noch die 
sogenannten „athletischen Sports": Werfen, Rennen, Springen 
u. s. w., ausserordentlich zeitraubend sind? Der jetzige kurze 
»Summerterm« dürfte daneben wohl in den Studien wenig 
Früchte tragen". 

„Allerdings", entgegnete Freund D. , „aber wir halten 
dennoch diese Zeit für wohl angewandt. Schon Lord Chesterfield 
sag^: „active sports are not to be reckoned idleness in young 
people". Wir wollen unsere jungen Leute hier nicht zu voll- 
kommenen Philologen und Fachgelehrten oder zu jungen 
Beamten, fertig für das Staatsexamen, machen. Einige Lücken 
im Wissen des einzelnen halten wir daher für kein Unglück, 
denn — nicht wahr? — sie alle schon auf der Universität und 
in diesem jugendlichen Alter ausfüllen zu wollen, wäre doch 
etwas verfrüht ? Der letzte Zweck unserer Erziehung ist vielmehr: 
unserer Jugend die Fähigkeit zum selbständigen Auftreten 
und Handeln im öffentlichen Leben beizubringen. 
„Lass Dein erstes Studium sein", so etwa predigte einer unserer 
grössten Pädagogen, der Dr. Arnold, seinen Schülern, „der Welt 
zu zeigen, dass Du nicht von Holz und Stroh bist, sondern dass 
etwas Eisen in Dir steckt". — Da ich, nach meiner hiesigen 
Universitätszeit fast ein Jahr in Göttingen lebte und in späteren 



266 Ein Tag in Oxford. 

Ferien noch häufig auf dem Continente war, so weiss ich wohl, 
dass diese Erziehung ein gut Theil unserer insularen eckigen 
Schärfe und Einseitigkeit, unserer übel berufenen Selbst — — 
Schätzung ausbildet, jedenfalls sie nicht abschleift. Diese 
englische „Steifheit" wirkt allerdings auf Fremde anfangs nicht 
gerade anziehend; später erkennt man dann wohl den meistens 
echten, soliden, zuverlässigen Kern unter der rauhen und 
harten Schale. — Aber, was schadet das alles uns selbst? 
Wir wollen ja gar nicht internationale, inteUectuell und universell 
abgeschliffene Individuen sein und ausbilden, sondern sittliche, 
christliche, vor allem: englische Gentlemen. Wir arbeiten 
deshalb auf ein historisch nationales Ziel hin: jeder junge Alann 
soll dazu erzogen werden: ifi die Reihen der erwachsenen 
Engländer, wie sie nun einmal sind, einzutreten mit dem 
Bewusstsein der grossen Vorzüge, die ihm durch die Zugehörig- 
keit zu unserer Nation und zu unserer Kirche erwachsen". 

„Diese Anpassung des studentischen an das öffentliche, 
politische und kirchliche Leben des Landes zeigt sich in dem 
ganzen hiesigen Thun und Treiben, wie die Studenten es sich 
selbst geschaffen haben, in ihren Vergnügungen wie in ihren 
ernsteren Bestrebungen. Ganz besonders schlagend tritt diese 
Nachbildung in. einem der bedeutendsten und merkwürdigsten 
akademischen Institute, der „Oxford Union Spciety", zu Tage. 
Diese Gesellschaft ist zunächst ein grosser literarischer 
Universitätsclub. Sie finden dort sechs oder sieben geräumige 
Lesezimmer für die verschiedenen Zweige unserer und der aus- 
ländischen Literatur; eine reich ausgestattete Bibliothek, Schreib- 
zimmer, Kaffe- und Rauchzimmer. Alles dieses ist sehr statt- 
lich, aber es ist nicht einzig in seiner Art, es ist auch anderswo 
zu finden. Die besondere Eigenthümlichkeit dieser Union ist 
das »Debattirzimmer«. Denken Sie sich einen hallenartigen 
Raum, i6 Meter hoch, 21 Meter lang und ii Meter breit. 
Die innere Einrichtung dieses Raumes entspricht möglichst 
genau der Ihnen bekannten Ansicht des Unterhauses in West- 
mmsterpalace : in der Mitte der »Tisch des Hauses«, zu beiden 
Langseiten aufsteigende Bankreihen, darüber thront an der 
Stelle des „Mr. Speaker", hier der Präsident. Rund um den 
Saal läuft eine Gallerie für die Zuhörer". 

„Einmal wöchentlich, leider nicht heute, hält der Debattir- 



Englische Bildungsmittel zu Lande. 267 

club hier seine Sitzung. Die Verhandlungen verlaufen voll- 
ständig in den Formen unseres Parlamentes. Die Gegenstände 
der Tagesordnung reflectiren stets das jeweilige öffentliche 
Tagesinteresse im Lande. Man redet über die irische Kirche, 
die Rinderpest, den Suezkanal, über das richtige Verhalten 
der einheimischen Regierung zum schlechten Erntewetter und 
über die Politik der indischen Regierung gegenüber dem Rajah 
von Bamgungewollah der, unter Missachtung der heiligsten 
Satzungen des Völkerrechtes, den englischen Unterthanen Messrs. 
Brown und Jones ihre Rechnungen nicht bezahlen will, s^urz, 
man redet über alles mögliche — und nebenher noch über ver- 
schiedene andere Dinge". 

„Es ist wirklich originell, diese jungen Cannings und 
Gladstones an der Arbeit zu sehen; zu hören, mit welch jugend- 
licher Schnellfertigkeit des Wortes sie die grossen Lebensfragen 
der Nation lösen, über welche die gereiften Staatsmänner 
Englands stolpern und häufig — fallen. Die Debatten sind 
selbstverständlich viel lebhafter als in Westminster, denn der 
Alangel an positiver Sachkenntniss befördert bekanntlich die 
Unbefangenheit des Urtheils, nicht minder auch die Sicherheit 
und Schwungkraft des Gedankenfluges. Natürlich laufen viele 
schönrednerische Phrasen und viele confuse Argumente unter; 
die besten der letzteren sind noch immer diejenigen, welche 
aus dem neuesten Leitartikel eines extremen Blattes entlehnt 
wurden. Aber diese Fechtübungen gewähren eine aus- 
gezeichnete Schulung: sie geben die Gewöhnung und Sicher- 
heit frei zu reden und zwar vor einer grossen gemischten 
Zuhörerschaft, die, in Beziehung auf Mängel in der Form, keines- 
wegs nachsichtig ist, sondern den unglücklichen stockenden und 
stammelnden Demosthenes baldigst erbarmungslos niederhustet". 

„Der Club besteht bereits seit dem Jahre 1823. Anfangs 
war er der Behörde bedenklich und man nahm verschiedene 
Anläufe, um ihn zu schliessen. Jetzt ist er völlig gleichberechtigt 
in die Reihe der akademischen Bildungsmittel aufgenommen. 
Im Jahre 1873 feierte er sein fünfzigjähriges Jubiläum; dazu 
erschien eine lange Reihe bedeutender und hochstehender 
Männer, alte Oxonians, die sich mit Dankbarkeit des werth- 
voUen „Trainings" erinnerten, das sie hier genossen hatten und 
das sich ihnen später im öffentlichen Leben so forderlich erwies". 



268 Ein Tag in Oxford» 

„Ich bedauere aufrichtig", konnte ich nur erwidern, „da^s ich 
mich fiir dieses Mal mit Ihrer anziehenden Schilderung* begnügen 
muss. Der Debattirclub gefallt mir sehr; ör füllt in praktischer 
Weise eine Lücke aus, die ich in unserer deutschen Erziehung 
für das öffentliche Leben stets schmerzlich vermisst habe — 
an mir selber wie an anderen, besseren Männern. Bei uns 
schreibt man durchgängig immer noch viel leichter und gewandter 
als man spricht. Daher kommt es, dass so häufig in unserem 
politischen Leben praktischere Kräfte und reifere Köpfe gegen 
gewisse doctrinäre parlamentarische Klopffechter zurückstehen 
müssen, deren Gedanken oft recht — leicht bei einander 
wohnen". 

„Sie sehen, lieber Freund", fuhr ich fort, „ich habe für 
England und englisches Wesen ein reichliches Maass von 
Anerkennung. Trotzdem aber dürfen Sie nicht, wenn ich 
Ihren Auseinandersetzungen über die Principien der englischen 
Erziehung bis jetzt ruhig gefolgt bin, daraus meine unbedingte 
Zustimmung ableiten. Erlauben Sie mir also jetzt, Ihrer, doch 
etwas zu einseitigen Betonung des nationalen Elementes, vom 
Standpunkte meiner deutschen, universell humanistischen Bildung 
aus ein weniges entgegen zu treten: 

„In Deutschland nämlich " 

Zu meinem grössten Bedauern wurde hier meine Gegen- 
rede, schon in ihrem Beginnen, abgeschnitten durch ein neues 
anziehendes Bild aus dem oxforder Leben. 



VI. 



Englische Bildungsmittel zu Wasser. 

Ein Bumping Race. 



Wir hatten uns während jener Rede ohne Gegenrede dem 
Punkte genähert, wo der Cherwell sich mit der Isis vereinigt. 
Zwischen beiden Flüsschen breiten sich die grossartigen baum- 
reichen Christ-Church Meadows; wir durchschnitten diese, um 
an die ausgedehnte Niederlassung zu gelangen, die hier, von 
FoUybridge bis zum Einflüsse des Cherwell, am linken Ufer der 
Isis den Hafen von Oxford bildet. 

Je mehr wir uns dem Ufer näherten, desto lebhafter wurde 
der Andrang der mit uns zuströmenden Menschen. Die tiefer 
liegende Wasserfläche der schmalen Isis war noch verdeckt 
durch eine lange Reihe, längs dem Ufer liegender, flacher, 
breiter, schwerfälliger Barken, nicht unähnlich den Archen Noah, 
welche auf den Werften von Nürnberg vom Stapel laufen. 
Das Mitteldeck ist mit einer niedrigen Holzhütte überbaut. 
Etwa im Centrum der Aufstellung liegt die grösste Barke, über 
alle anderen weit hervorragend; sie träg^ einen stattlichen 
verglasten Oberbau, ähnlich denen unserer Rheindampfer. Am 
hohen Mäste wehet eine stolze Flagge mit dem Wappen der 
Universität, im blauen Felde ein offenes goldenes Buch mit 
sieben Siegeln. Auf den beiden Blättern steht: Der Herr ist — 
Mein Licht. 

Längs dem Ufer ziehet sich ein breiter von Ulmen be- 
schatteter Kai hin, heute bedeckt mit Gruppen schaulustiger 
Spaziergänger, unter denen hier die jungen, hübschen und 
heiteren Zuschauerinnen die erfreuliche Mehrzahl bilden. 



270 Ein Tag in Oxford, 

„Lassen sie uns auf jene grösste Barke hinübergehen'* 
schlug- Mr. D. vor, als wir auf dem hölzernen Uferbollwerk 
standen, „sie ist das Hauptquartier des „Oxford United Boating* 
Club". Die kleinen Barken aufwärts und abwärts, gehören 
den einzelnen Colleges oder den verschiedenen Bootvermiethem. 
Es liegen hier wohl gegen fünfzig Stück — Von hieraus 
können sie den Fluss, auf und ab, am besten übersehen". 

Und wirklich, er war des Sehens werth! Die lang ge- 
streckte Wasserfläche wimmelte von Booten und Schiffchen 
jeder Art; schwere kleine trogähnliche Zweiruderer, Tubs genannt, 
für die Anfanger; lange schmale Wiffs und ScuUingboats mit 
vertieftem Sitze, der Schwerpunkt so schwankend dass sie nur 
durch beständiges Ruhen der flachen Ruder zu beiden Seiten 
auf dem Wasser vor sofortigem Umschlagen bewahrt werden 
können; grössere Fahrzeuge für zwei und vier Ruderer; kleine 
Segelboote; breite flache kleine Schauken (Punts), die mit einer 
langen Stange fortgestossen werden. Alles trieb sich fröhlich 
durcheinander und ich bewunderte die Geschicklichkeit wie den 
guten Willen der Insassen, die sich auf der schmalen Strasse 
ohne jedes Anrennen oder „Rempeln" auswichen. 

Plötzlich stieben alle auseinander, um die Bahn frei zu 
machen, denn ein mächtiger Achtruderer schiesst von einer 
der Collegebarken in den Strom. Ein schmales sehr scharfes 
Schiff, etwa 70 Ctm. breit und über 20 Meter lang. Bemannt 
ist es mit acht Ruderern, die, hinter einander sitzend, jeder einen 
langen schmalen Riemen führen. Ihnen gegenüber sitzt ein 
neunter Mann am Stern, der Coxswain, und regiert vermittelst 
zweier Stricke das, wohl drei Meter von ihm entfernte Steuer 
am Ende der hinteren Spitze. 

„Das ist Brazenose", rief D. „blau und weiss gestreifte 
Jerseys (Flanelljacken) mit gelber Einfassung. Am Bugspriet 
wehet die Collegeflagge". 

Das Boot stand einen Augenblick im Wasser still, dann 
gab der Vorruderer (Stroke, Schlag) das Zeichen und im gleich- 
massigen Tacte fuhr das schneidige Fahrzeug stromabwärts- 

„Die anderen Boote werden bereits unten sein", bemerkte 
Mr. D. und das „Bumping Race" wird gleich beginnen". 

„Bitte, was wird beginnen?" fragte ich, überrascht durch 



Englische Bildungsmittel zu Wasser, 271 

diesen mir neuen nautischen Ausdruck, dessen energischer Klang* 
mich wahrhaft erfrischte. 

,Ja so", lachte er, „das bedarf allerdings der Erläuterung;, 
es ist eine unserer berechtigtsten oxforder Eigenthümlichkeiten. 
Also: in jedem College bestehet ein Ruderclub; dieser besetzt 
vor allem einen Achtruderer, wie Sie ihn eben sahen, mit 
seinen besten „Männern". Kräftige Füchse werden zunächst 
im Tub, dann im Zwei -und Vierruderer gedrillt, bis sie im 
nächsten Frühjahre im Stande sind, mit einem Achtruderer in 
den „Torpid Races" der Juniors mitzugehen. Aus diesen 
Recruten werden dann die besten auserwählt, um die Lücken 
im Achtruderer des College zu besetzen, die kräftigsten Arme 
kommen an die Riemen, ein leichter aber gewandter Mann an 
das Steuer. Nun folgt das „Coaching" dieser Acht nach den 
strengen Grundsätzen der edlen Kunst und jetzt, gegen das 
Ende des »Summerterm« der von Pfingsten bis zum Anfange 
des Juli läuft, finden die grossen Races statt, durch welche 
festgestellt wird: welches der Colleges „auf dem Plusse an der 
Spitze stehet". Und zwar »an der Spitze« im strengsten Wortsinne. 
Denn der schmale Fluss 'erlaubt, wie Sie bemerken, keine 
breite, sondern nur eine tiefe Aufstellung der langen Boote. 
Wie das gemacht wird, sollen Sie sogleich selbst sehen. In- 
zwischen will ich suchen mit meiner Vorlesung schleunigst zu 
Ende zu kommen". 

„Sämmtliche Ruderclubs der einzelnen Colleges sind nur 
Unterabtheilungen des „Vereinigten Universitäts- Ruderclubs", 
der hier auf dieser grossen Barke residirt. In ihm concentrirt 

■ 

sich die Leitung der gesammten „aquatischen" Interessen und 
Bestrebungen der Universität Natürlich begreift er in seinem 
Vorstande die bewährtesten Autoritäten des Rudersports und 
ihm liegt vor allem die grosse nationale Aufgabe ob: diejenigen 
Acht auszuwählen und zusammenzustellen, welche im Universitäts- 
boote der „Varsity" die weltberühmte Wettfahrt gegen die 
Universität Cambridge, das „Wasser Derby", weiter abwärts 
auf der Themse zwischen Putney und Mortlake, auszufechten 
haben". — „Sie wissen ja, wie dort Hunderttausende von Zu- 
schauem sich versammeln; alles strömt hinaus: zu Wagen, zu 
Pferdei mit den Bahnen, auf unzähligen Dampfern. Und wenn 
nicht def Himmel so ist doch jedenfalls an diesem Tage die ganze 



272 Ein Tag in Oxford, 

Landschaft blau : Kleider, Cravatten und Schleifen an Menschen, 
Pferden und Peitschen; Flaggen auf den Schiffen; dunkelblau 
Jür Oxford, hellblau für Cambridge. Von der leidenschaftlichen 
Erregung, welche dort meine sonst so gefassten kühlen Lands- 
leute ergreift, kann man sich nur aus eigener Theilnahme einen 
Begriff machen. Aber auch schon wochenlang vorher wird die 
Einübung, das »Coaching«, der Eight unter ihrem professionellen 
Trainer mit dem gespanntesten Interesse verfolgt Ein technisch 
gebildeter Berichterstatter giebt in der Times an jedem 
Tage eine genaue kritische Mittheilung darüber: was die Acht 
heute geleistet haben, wieviel Ruderschläge in der Minute, ob 
der Takt fest und gleichmässig war, ob die Ruder noch zu 
stark unter dem Wasser „federten", ob nach dem Durchziehen 
des Ruders die Arme wieder rasch genug die Brust verliessen — 
und endlich: die Abnahme des Gewichtes bei einem jeden: ob 
nur fünf oder schon sechs Pfund in den letzten vierzehn Tagen. 
Dadurch erhält das Publikum, welches selbst im schlechtesten 
Wetter den täglichen Uebungen in der Nähe von Hampton 
Court und Richmond beiwohnt, schon im voraus die genauesten 
Anhaltspunkte für die Berechnung der Wetten". 

So ist es denn ohne Zweifel eine hohe Auszeichnung, zu 
den „Varsity Eight" zu gehören, aber sie wird auch theuer 
erkauft. Monate lange, unausgesetzte, systematisch gesteigerte 
Abrichtung geht vorauf, bei rauhem Wetter im Februar und 
März. Während dieser Zeit grosse Massigkeit im Essen, keine 
Fettbildner; kein Rauchen und kein Alkohol; dadurch würde 
der Athem leiden. Nach genauen Regeln wird so die möglichst 
vollkommene Rudermaschine ausgebildet. Die Wissenschaften 
stehen während dieser Zeit nicht minder zurück als die Ver- 
gnügungen, überhaupt alle anderen Interessen sind absorbirt- 
Der yarsity Mann bringt willig jedes Opfer, dessen ein 
entschlossener Wille und ein enthusiastischer Ehrgeiz fähig 
ist, um die höchste Ehre für seine Universität zu gewinnen**. 

„Ich selbst bin nicht zu dieser hohen Würde gelangt; nur 
zum Coxswain meines Collegebootes berief mich mein leichtes 
Gewicht, denn dieses soll 1 1 1 Pfund nicht übersteigen, während 
das Durchschnittsgewicht eines „Oarsman** zu etwa 150 Pfund 
angenommen wird". — 

Hier wurden wir durch einen entfernten Kanonenschuss, 



Englische Bildungs mittel zu Wasser, 2rf3 

von stromabwärts her, unterbrochen, dem eine gemeinsame 
Bewegung aller Zuschauer nach dem Strande des Ufers zu 
folgte. Dann trat plötzliche Stille ein und alle Blicke wandten 
sich stromabwärts. 

„Was Sie hier sehen werden, ist folgendes", flüsterte D. 
mir zu, augenscheinlich selbst ergriffen von der Bedeutung des 
Momentes; „wir stehen also vor einem „Bumping Race"; das 
ist schwer zu übersetzen, vielleicht w^äre ein „Rempel-Rennen" 
keine schlechte Bezeichnung dafür. Es findet nämlich ein nie 
erlöschender Wettstreit statt, um die Stellung der Collegeboote 
auf dem Flusse. Ein jedes strebt unaufhörlich, in der Reihen- 
folge aufzurücken und an die Spitze zu gelangen. Um 
diesen Kampf aller gegen alle auszufechten, werden die 
etwa 20 'Meter langen Boote in einem Abstände von je 
20 Metern, also von Bootslänge, hinter einander aufgestellt, 
und es gilt dann für jedes einzelne Collegeboot: diesen Abstand 
zu gewinnen und dem vorauf eilenden Vorderboote so nahe 
zu kommen, dass man es im Stern, hinten am Steuer, anrennt, 
„bumpt oder rempelt". Das so geschlagene Boot verliert seinen 
Platz und muss sich hintenan setzen oder erscheint auch wohl 
während desselben Terms gar nicht mehr auf dem Flusse. 
Uebrigens sind jetzt die »Collegeachter« in zwei Divisionen 
getheilt, da, wenn sämmtliche Boote zugleich liefen, die Bahn 
für das vorderste zu kurz werden würde. Heute werden sieben 
oder acht Boote beim Start erschienen sein, jedoch das all- 
gemeine Interesse concentrirt sich auf den Kampf zwischen 
Brasenose, welches jetzt an der Spitze stehet, und meinem alten 
College „New", das durch seinen ausgezeichneten Vorruderer 
Mr. Robinson rasch bis in die zweite Stelle vorgerückt ist. 
Der Brazenose Stroke, Mr. Marriot ist jedoch nicht minder 
gross an seinem Platze; beide waren im diesjährigen Varsity- 
Boote und dort Nebenbuhler um den Ehrensitz Nr. 8, den des 
Vorruderers. Sie werden also jedenfalls heute eine Leistung 

sehen, bei welcher beide Parteien alle Kräfte zusammennehmen". 

• 

Inzwischen erhob sich, stromabwärts ein murmelndes 
Geräusch zusammentönender Menschenstimmen, es lief dem 
Ufer entlang, wuchs und wuchs, und schwoll endlich zu lautem 
Brausen hinauf als das erste Boot, das von Brazenose, hinter 

Omptcda, L. v., Bilder. lo 



1 



274 Ein Tag in Oxford. 

einer sanften Biegung des Ufers hervorschoss und sich mit 
Pfeilgeschwindigkeit näherte; ihm folgte in ganz kurzem Ab- 
stände das zweite Boot, dasjenige von New. Die Mannschaft 
trug weisse Jerseys mit Violet und Orange eingefasst imd das 
Boot führte dieselben Farben in der Flagge am Bugspriet. 

„New ist bereits bedeutend aufgerückt", bemerkte mein 
Nachbar, ohne den gespannten Blick von den Schiffen abzu- 
wenden, „wohl schon um ein Drittel des Abstandes". 

Jetzt konnte auch ich die Einzelheiten des Vorganges 
unterscheiden, denn die Boote flogen rasch heran. Mit voll- 
kommenster Regfelmässigkeit bewegten sich die Ruderer 
vor- und rückwärts, strichen die Riemen durch das Wasser, 
etwa 35 Schläge in der Minute, dabei kein Ueberhasten, 
Rucken und Plätschern. Immer lauter schwollen die Zurufe, 
immer erregter wurden die Zuschauer. Und so ergreifend war 
selbst für den unbetheiligten und sachunkundigen Fremden die 
Spannung des Augenblicks, so unwillkürlich ansteckend die 
Theilnahme an dieser Leistung jugendlicher männlicher Energie 
und Geschicklichkeit, dass auch ich mit schnelleren Herzschlägen 
der nahenden Entscheidung entgegensah. Die Boote waren 
nun beinahe vor uns angelangt und die Ueberlegenheit von 
New wurde augenscheinlich. Nur noch ein Drittel Bootslänge 
trennte beide Kämpfer, immer fester legten die Mannschaften 
sich in die Riemen, als ob der letzte Athemzug, die letzte 
Muskelspannung nicht zu theuer wären für das grosse Ziel. 

Da — war es nun, dass die Brazenose Männer die beim 
Rudern rückwärts blickten, ihr herannahendes Schicksal er- 
kannten und, dadurch entmuthigt, instinctiv nachliessen — 
plötzlich, wie von einer neuen, unsichtbaren hilfreichen Kraft 
gestossen, sprang New in wenigen Ruderschlägen gegen 
Brazenose vor und versetzte ihm durch eine geschickte Be- 
w^egung des Steuermannes einen streifenden Stoss am äussersten 
Ende des Sterns, so stark, dass beide Boote schwankten und 
in drehende Bewegfung geriethen! 

Ungeheurer brausender Jubel von allen Seiten füllte die 
Luft; New war also dennoch »an die Spitze« gelangt und die 
grosse Frage, die schon seit Wochen Oxford in Bewegung er- 
halten hatte, war entschieden. Die Leistungen der nachfolgenden 
Boote blieben daneben von der grossen Masse der Zuschauer 



Englische Bildungsmittel zu TVasser, 27 D 

unbeachtet und nur die Schiedsrichter erfuhren, was zwischen 
ihnen vorgegangen war. — 

„Nachher wollen wir uns die Sieger in der Nähe ansehen", 
sagte mein Führer, „wenn sie sich in ihrer Barke umgekleidet 
haben; lassen Sie uns inzwischen noch einen Blick hier in die 
grosse Hütte der Universitätsbarke werfen". 

Wir traten in ein geräumiges, mit allem Comfort ausge- 
stattetes Lesezimmer. Der mittlere grosse Tisch war ringsum 
mit schweigenden lesenden Gentlemen besetzt, andere lagen 
auf den schmalen, gepolsterten Bänken unter den Fenstern und 
betrachteten mit unverwüstlichem Ernste die stets wechselnden 
heiteren Bilder des Lebens und Treibens auf dem Flusse. 

„Hier also tagt der hohe Rath", erklärte mein Führer, 
„ausserdem ist dieser Raum ein sehr beliebtes und gut aus- 
gestattetes Clublocal. Hier arbeitet der Generalstab die 
Feldzugspläne gegen die »Cantabs« aus, deren Ergebnisse für 
Sieger wie Besiegte stets gleich ehrenvoll sind. Bis jetzt 
spielte das Zünglein der Waage ziemlich gleichmässig hin und 
her. Siebenzehn. Male hat Oxford gesiegt, ebenso oft Cambridge. 
Vor zwei Jahren (1877) war ein todtes Rennen. Den ruhm- 
vollsten Sieg erfochten die Oxonians ohne Zweifel im Jahre 1843. 
Eines ihrer Ruder brach und dennoch kamen sie zuerst durch's 
Ziel. Sehen Sie hier diesen Armstuhl, er ist aus dem Holze 
des siegreichen Bootes gemacht. Die Rücklehne besteht aus 
den Blättern der sieben Ruder. — Alle diese Bilder an den 
Wänden sind Portraits berühmter »Oarsmen". 

Alein Blick fiel auf zwei grosse Sevresvasen von besonderer 
Schönheit. 

„Es ist ein Preis, den Oxford im Jahre 1867 mit seinem 
Vierruderer auf der Seine bei Paris gewann. Er vertritt eigent- 
lich einen doppelten Sieg, denn diese internationalen Lorbeeren 
Hessen unsere Vettern in Amerika nicht schlafen. Noch in 
demselben Jahre erhielt Oxford eine Herausforderung von der 
Universität Harward in den Vereinigten Staaten. Zwei Jahre 
dauerten die Verhandlungen; der 27. August 1869 war der 
grosse Tag, an dem das Race auf der classischen Arena 
zwischen Mortlake und Putney vor einer Million Menschen 
gerudert wurde, über 6 Kilometer in 22 Minuten 50 Secunden. 
Oxford siegte nach sehr hartem Kampfe; der Start fand um 

18* 



27b Ein Tag in Oxford, 

5 Uhr 14 Minuten Nachmittags statt; vor 6 Uhr schon flog* das 
Siegestelegramm »hinüber«". 

Als wir wieder hinaustraten, war der Fluss bereits leer 
geworden, nur einzelne Boote mit fröhlicher Damengesellschaft 
gingen noch langsam auf und ab. 

„Worin besteht der Preis", fragte ich, „um den die Achter 
der Colleges kämpfen; ich meine: das äussere sichtbare Zeichen 
des Sieges?" 

„Es ist ein Ehrenpreis", erwiderte D., „Am Montage in der 
letzten Woche des »Summerterm«, der festlichen »Commemoration 
Week«, stellt sich das siegreiche Boot hier längs der Universitäts- 
barke auf und alle andere salutiren des „Head boat« im Vorbei- 
fahren". 

Inzwischen war die Mannschaft von New herangekommen 
und mein Freund, ein ehemaliger Student des College, beglück- 
wünschte sie über den Sieg. Freude und Befriedigung strahlte 
aus den frischen, noch gerötheten jungen Gesichtern. Zu meiner 
Ueberraschung begrüsste mich der Coxswain als alter Bekannter, 
er war der Sohn einer mir befreundeten englischen Familie. 

„Ich wusste zwar, dass Sie kommen würden", sagte er, 
„habe aber nicht ervi'artet, Sie heute an dieser Stelle zu treffen. 
Da Sie nun Zeuge unseres Sieges waren, müssen Sie 
auch den Schluss des heutigen Festes mit uns erleben und 
unser Gast beim »Bumping Supper« sein. Mn D., unser alter 
Coxswain, kommt hoffentlich mit Ihnen". 

Wir nahmen dankend an und schieden schleunigst, denn 
mein Führer mahnte an die nahende Essensstunde. Rasch 
eilte ich nach Hause, mich festlich zu kleiden; an der »High 
Table« von Christ Church Hall erscheint man, wenn nicht im 
Gown, stets im »Evening Dress«, das heisst: Frack und weisse 
Halsbinde. 

Während wir gingen, kam Mr. D. nochmals auf unsere 
Erlebnisse am heutigen Tage zurück. 

„Es ist wahr**, gab er, auf meinen früheren Vorhalt zurück- 
kommend, nachträglich zu, „der kurze »Summerterm« von knapp 
zwei Monaten gieht in den Sports zu Wasser und zu Lande, 
in anderen Unterhaltungen der schonen Jahreszeit und endlich 
in den Festesfreuden der »Commemoration« so ziemlich auf. 
Aber wir Lehrer bedauern das nicht, denn diese Sports gehören 



Englische Bildungsmittel zu Wasser, 277 

ZU den nothwendigen Elementen einer vollendeten englischen 
Erziehung. Der natürliche Hang zu körperlichen Kraftleistungen 
und zu einem bewegten Leben, namentlich auf dem Wasser, 
liegt uns im Blute. Das ist zugleich angelsächsische und 
normannische Erbschaft. Das Wasser ist ja eines der wesent- 
lichsten Momente in der gesammten Entwicklung Englands; es 
giebt uns unsere unabhängige, insulare Stellung; zugleich bildet 
das befreundete Element in uns ein abgeschlossenes Selbst- 
vertrauen aus und den frischen, männlichen Sinn, den Sie selbst 
an unserer Jugend gelobt haben. — Ich könnte immerhin ein- 
räumen, dass Ihre jungen Leute im allgemeinen Wissen vor- 
aus sind, aber ich behaupte: unsere Erziehung ist wirksamer, 
sie giebt eine bessere Ausrüstung für das Können im Leben". 
„Vielleicht", erwiderte ich, „haben Sie in Ihren letzten 
Worten nicht so ganz Unrecht. — Unwillkürlich reihet sich 
bei mir hieran eine Beobachtung, die mich verfolgt hat seit 
ich mich in England umsehe, nämlich: die so sehr geringe 
Anzahl der Brillenträger in den hiesigen höheren Ständen. — 
Jedenfalls ist ein Volk, welches Muth, Kraft und Ausdauer so 
national ausbildet, in seinem Kern gesund; es ist berechtigt: an 
seine eigene Zukunft zu glauben. — Deshalb aber kann auch 
Ihre Pädagogik nicht von anderen Nationen einfach nach- 
geahmt werden, denn die Vordersätze ihres Systems liegen in 
Ihrem festgefugten öffentlichen Leben und in der glücklichen 
Entwickelung Ihrer Geschichte. Wir Deutschen sind zwar als 
„Römisches Reich deutscher Nation" bereits über tausend Jahre 
alt; aber Sie wissen ja: 

,.Das liebe heirge Röm'sche Reich. 
Wie hält*s nur noch zusammen?'* 

Als lebendiger Staat sind wir noch sehr jung und noch 
sehr unfertig. Bedenken Sie nur, dass noch in diesem Jahr- 
hunderte unsere Staats-Kunstschnitzer Deutschland glücklich 
bis zum »geographischen Begriffe« erniedrigt hatten, zum Hohn 
und Spott aller unserer uneigennützigen, wohlwollenden Freunde 
und lieben Nachbarn rechts und links ! — Es fehlt uns dadurch 
noch eine wesentliche Eigenschaft: das unbewusste, zweifel- 
lose, angeborene Staatsbewusstsein. Allerdings erscheint unser 
Nationalgefühl in der gegenwärtigen Generation schon bedeutend 
gehoben, aber diese Hebung hat sich wesentlich auf dem 



278 Ein Tag in Oxford. 

Umwege der Reflexion vollzogen, und zahlreiche achtbare 
Gruppen meiner Landsleute stehen noch verständnisslos oder 
schmollend bei Seite. Erst unseren Kindern wird — so hoffe 
und vertraue ich wenigstens — dieser nothwendige Kitt ange- 
boren sein, bei ihnen wird das Nationalgefühl naiv und unbewusst 
auftreten. Uns Aelteren ist es verkümmert und verkrüppelt 
hinter den leidigen gelb-grünen und grau-braunen Grenz- 
pfählen!" 

„Indessen", fuhr ich nach diesem Bekenntnisse fort, „Eines 
ist mir doch immer noch nicht ganz begreiflich in Ihrem 
akademischen Bildungsgange. Sie haben 4^2 Monate Ferien, 
der „Summerterm" umfasst 2 Monate und ist wesentlich den 
Sports und dem Leben im Freien gewidmet. Dann müssen 
aber doch Ihre Studenten in den übrigen knappen 6 Monaten 
ganz übermässig angestrengt arbeiten, um in dieser Zeit das 
condensirte Jahrespensum zu bewältigen und zu verdauen, für 
welches unsere Universitäten, auch während dreier Jahre 
8 — 9 Monate jährlich bedürfen und verwenden?" 

Freund D. lachte über meine pedantische Hartnäckigkeit, 
verschob es aber einstweilen, diese mir unbegreifliche concen- 
trirte Verdauungsfahigkeit des jungen Englands zu erläutern, 
denn jetzt durchschritten wir den tiefen gewölbten Eingang 
unter dem berühmten alten Glockenthurm* von Christ Church 
und traten in den prächtigen ersten Hof, dieses vornehmsten 
aller englischen Colleges, den „Great Tom Quadrangle". 



VII. 

Dinner in Christ Church Hall 



Ljer grossartige Hof eines grössartigen burgähnlichen 
Palastes! Ueber neunzig Meter im Geviert. Vor uns die 
lange Front zeigt eine der reichsten und vornehmsten 
Schöpfungen des Tudorstils. Zwei Stockwerke; die hohen 
Zinnenbrüstungen des Gesimses verbergen das flache Dach, nur 
die Schomsteinbündel treten hervor. Im oberen Stocke sehen 
wir einen völlig freien Wechsel der verschiedenartigsten vier- 
eckigen Fenster: einfach, gekuppelt, übereinander gestellt, je 
nach dem Bedürfnisse der inneren Eintheilung. Alle tragen den 
charakteristischen Ueberschlagsims, die sogenannte Traufleiste, 
die sich vorspringend um die obere Hälfte des Fensters zieht 
und, ursprünglich zur Ableitung des Regenwassers vorgerichtet, 
ein so eigenthümlicher edler Schmuck für die Fronten des 
gothischen Profanbaues in England geworden ist. 

Im Erdgeschosse finden wir Fenster und Thüren nicht 
minder in völlig ungebundener Anordnung. Zwei grössere 
Bogenportale bezeichnen den Eingang zur Kathedrale, deren 
spitzer achteckiger Thurm auf reichem viereckigen Unterbau 
herüberragt. Auf dem südlichen Winkel des Hofes lagert ein 
schwerer würfelförmiger gezinnter Glocken-Thurm, oben mit 
zierlichen Fialen und kräftigen achteckigen, ebenfalls gezinnten 
Eckpfeilern geschmückt. 

Unsere Aufmerksamkeit wird zunächst durch die weitge- 
spannten gedrückten Tudor-Blendbogen gefesselt, die den 
ganzen grossen Hof umlaufen. Es sind die Ansätze des 
Kreuzganges, der den Hof einfassen sollte und nie zur Aus- 
führung gelangte. 



280 Ein Tag in Oxford, 

„Diese Blendbogen erzählen die Geschichte der Gründung 
des „College", bemerkte Freund D. „Ursprünglich (1525) war 
es eine Stiftung, in welcher der allmächtige Lord Kanzler 
Heinrichs VIII., der Cardinal Wolsey sich verewigen wollte. 
Es war im Beginn unserer Reformation und geistliches Gut 
stand ihm reichlich zur Verfügung. Das neue College wurde 
mit dem Vermögen von vierzig aufgehobenen Klöstern und 
Stiftungen ausgestattet. Noch jetzt ist Christ Church der 
Patron von neunzig Pfarren in allen Theilen Englands. Ehe 
jedoch das grosse Werk vollendet war, fiel der allmächtige 
Minister, weil er die Partei der verstossenen Königin Katharina 
von Aragonien ergriff, und der Bau hier gerieth in's Stocken. 
Später nahm der König selbst die Sache in die Hand; er ver- 
band das unfertige »Cärdinal's College« mit der bischöflichen 
Kathedrale und so entstand das jetzige grossartigste aller 
englischen Colleges: »The Cathedral Church of Christ in 
Oxford*«. Der Kreuzgang des Cardinais aber blieb unaus- 
geführt". 

Während wir uns an der Spiegelung der edlen Architectur 
in dem kleinen klaren Weiher vor uns ergötzten, der die 
Mitte des weiten mit schönen Grasflächen bedeckten Hofes 
bildet, ertönte aus dem Flügel zu unserer Rechten das energische 
anhaltende Geläut einer tiefen kräftigen Glocke. 

„Das erste Zeichen zum Dinner", erklärte mein Führer. 
„Sehen Sie hier rechts diesen höheren langgestreckten Bau mit 
den breiten gestabten Fenstern, schon im Perpendikulärstile; 
das Dach ist beinahe überreich mit Zinnen nnd Fialen 
geschmückt. Dort ist die grosse Hall von Christ Chiirch, die 
grösste in England nach der weltberühmten Westminster Hall". 

„Machen wir jetzt rasch noch eine zweite Vierteldrehung 
rechts, dem Eingange zu. Sie müssen nothwendig dem „Great 
Tom" Ihren Respect bezeugen, denn er ist einer der „Löwen" 
von Oxford. — Wie sie sehen, hat der hohe Thurm vor uns 
seinen Abschluss erst sehr spät erhalten, erst durch Sir 
Christopher Wren, den Erbauer der St. Pauls Kathedrale zu 
London, im Jahre 1682; daher die hässliche längliche Zwiebel- 
kuppel, die seine Spitze verunziert. Aber seine eigentliche Be- 
rühmtheit steckt drinnen, nämlich seine grosse Glocke, der 
„Great Tom". Wir Leute von Oxford sind sehr stolz auf 



Dinner in Christ Church Hall. 281 

unseren ehernen Riesen, obgleich derselbe in der Reihe seiner 
Brüder nach seinem Gewichte erst Nr. 31 zählt, er wiegt 
17,5 Centner. Die Kaiserglocke in Cöln hält, wie man mir dort 
sagte, 50 Centner, und nimmt den siebenten Platz ein. „Great 
Tom" existirt seit dem Jahre 1200, aber er feierte seitdem 
bereits mehrere Auferstehungen. Fünfmal wurde er umge- 
gossen, zuletzt im Jahre 1680. Jetzt trägt er die Aufschrift: 
„Magnus Thomas Clusius Oxoniensis, renatus, April 8, 1680". 

„Verzeihen Sie mein lückenhaft gewordenes Latein", unter- 
brach ich, „aber was heisst: Clusius Oxoniensis?" 

„Ich glaube nicht", erwiderte mein gelehrter Freund, „dass 
es ciceronianisch ist; es soll heissen: der Thorschliesser von 
Oxford. An jedem Abende nämlich um 9 Uhr 5 Minuten 
ertönen vom Tom loi Glockenschläge, das Zeichen für das 
Schliessen sämmtlicher Aussenthüren des College. Tom giebt 
10 1 Schläge, weil ursprünglich das College stiftungsmässig aus 
101 Mitgliedern bestand; jetzt sind deren weniger; es wurde 
also ein jeder personlich zur Pünktlichkeit und Häuslichkeit 
ermahnt". 

„Wie Sie heute den Tag über gesehen und noch mehr 
gehört haben, ist Oxford reichlich mit Glocken ausgestattet 
und macht von ihnen einen höchst ausgiebigen Gebrauch. Das 
Geläute geht fast ununterbrochen fort von Morgens bis Abends. 
Die Christ Church Glocken jedoch sind von allen die 
populärsten; selbst das Volkslied beschäftigt sich mit ihnen. 
Ich erinnere mich, wenn ich sie läuten höre, stets eines alten 
Liedchens, das meine Grossmutter uns Kindern gern vorsang. 
Es geht so: 

Hört die lieben Christ Church Glocken: 

I, 2, 3, 4, 5, 6; 

So wundertief, so wunderhell, 

Wie sie so lustig rufen und locken 

Hört! das erste — das zweite Läuten! 

Um Vier und um Zehn, was mag es bedeuten? 

„Kommt, kommt, kommt zum Gebete schnell!" 

Und vor dem Dean schreitet ernst der Pedell. 

Tingle, Tingle Ting! geht die kleine Glock um Acht, 

Sie ruft in alle Schenken: „jetzt Feierabend gemacht!" 

Doch, zum Teufel, kein Mann 

Lässt im Stich seine Kann 

Bis ihn ruft der gewaltige Tom. — 



282 Ein Tag in Oxford. 

„Die alte Melodie — " 

Ein zweites energisches Geläut aus der Hall unter- 
brach uns. 

„Kommen Sie", scWoss D. rasch sein Lied von der Glocke, 
„es ist das letzte Zeichen zum Dinner. Seien auch wir pünktlich, 
damit Sie den Verlauf des originellen Vorganges von Anfang 
an erleben. Ich kann Sie jetzt nicht mehr durch jenes ostliche 
Thor führen in den zweiten Hof, den Peckwater Quadrangle. 
Dort steht die grosse Bibliothek im Paladiostile. Jenes Thor 
hat übrigens einen üblen Ruf wegen der gefahrlichen Zugluft, 
die darin herrscht und heisst auch „the Kill-Canon" der „Dom- 
herrn Tod". Gehen wir also jetzt hinein, mein Vetter erwartet 
uns bereits in der Hall". 

Wir stiegen die breite Teri-asse hinan, die den „Tom Quad" 
rings umläuft, und betraten durch ein hohes Bogenthor den 
südlichen breiten Glockenthurm. Ueberrascht blieb ich stehen, 
gefesselt durch die Grossartigkeit des Raumes, der uns hier 
aufnahm. In seiner Mitte steigt ein schlanker Bündelpfeiler 
vor uns wohl dreissig Meter zur Decke empor. Oben breitet 
der Pfeiler sich in reichgemustertem zierlichen facherartigen 
Schwünge auseinander und trägt das ganze Gewölbe des 
Treppenhauses. Nach jeder der vier Wände strebt von ihm 
aus ein riesiger flacher Tudorbogen zur Mauer hin. Aus jeder 
Ecke steigen die Gewolbansätze ebenfalls in schwellender Be- 
wegung facherartig empor und stossen, gleich Palmenkronen 
aufwachsend, oben in der Kappe in Halbkreisen zusammen. 
Zwischen diesen liegen die Füllungen einer grossen zierlichen 
Rosette, deren Schlussstein sich wiederum traubenartig senkt. 
Eine kolossal breite und schwere Streintreppe fuhrt in zwei 
Absätzen um den Mittelpfeiler herum uiid hinauf zum Eingang 
der Hall. 

„Wahrhaftig, das ist die reichste und anmuthigste Blüthe 
der decorativen Fächerwölbung, die ich noch gesehen habe", 
rief ich bewundernd aus, indem wir langsam, ich mit andächtig 
aufwärts gewandten Augen, emporstiegen, „wie phantastisch 
und dabei doch welch klarre harmonischer Rhythmus". 

„Dieses Treppenhaus", stimmte mein Fühfer ein, „ist eine 
der edelsten Früchte, welche die Spät- oder richtiger noch, 
die Nachgothik in England hervorgebracht hat, denn dieser 



Dinner in Chrixt Chureh Hall. 283 

selten schöne Bau stammt aus dem Jahre 1640, als im übrigen 
Europa schon längst die Spätrenaissance herrschte". 

Am oberen Ende der Treppe öffnete sich uns eine tiefe, 
mächtige Flügelthür und ich stand am Eingange der berühmten 
Hall von Christ Chureh; das grossartigste Refectorium in dem 
an gothischen Hallen so reichen England. Jedoch war jetzt 
nicht der Augenblick, mich staunend in die imposanten Schön- 
heiten rund um mich und über mir zu vertiefen. Freund D. 
schob mich vorwärts. Wir schritten einen breiten mittleren 
Gang hinauf zwischen vier Reihen langer Tafeln hindurch, die 
bereits von hungrigen Tischgenossen umstanden wurden. Am 
entgegengesetzten oberen Ende der Hall zeigte sich eine 
Estrade, auf welcher an einer langen Quertafel etwa 30 Plätze 
gedeckt waren. Hier gesellten wir uns zu den bereits ver- 
sammelten Mitgliedern des College im schwarzen Gown und 
einigen eingeladenen Gästen in feierlichem „E venin g Dress". 
Rasch wurde ich dem Dean vorgestellt, der bereits, mit einem 
gewichtigen altehrwürdigen hölzernen Hammer in der Hand, 
am oberen Ende des Tisches stand. Alsbald gab er einige 
laute Schläge auf die Tafel; allgemeine achtungsvolle Stille. 
Einer der Studenten, ein „Bible Clerk" trat an das Betpult in 
der Mitte des breiten Ganges und sprach oder las der, mit 
entblösstem Haupte gesammelt dastehenden Tischgesellschaft 
ein lateinisches Gebet, von dessen Inhalte mir nur der Anfang 
im Gedächtnisse hangen geblieben ist: »Benedictus benedicat, 

per Jesum Christum dominum nostrum « Darauf nahmen 

sämmtliche hungrige Anwesende ihre Plätze ein „und sie 
erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle". 

„Welche Suppe wünschen Sie?" fragte mein Wirth, ein 
»♦Senior Student" von Christ Chureh, indem er mir das Menü 
vorlegte. „Man wählt hier aus jedem Gange eines der ver- 
schiedenen Gerichte, welches dann sofort gebracht wird. Also 
zunächst 

Suppe: Oxtail oder Mulligatowny?" 

Der letztere Name reizte mich. 

„Oxtail ist mir bekannt, ich bitte um Mulligatowny". 

Es war, dem äusseren Ansehn nach, eine etwas fette 
Bouillon mit Reis. Ich pröbirte herzhaft imd ein heftiges 
Brennen im Gaumen belehrte mich über das wirksame Ingrediens 



284 Ein Tag in Oxford, 

dieser anscheinend so unschuldigen Flüssigkeit. Es war, dem 
innern Wesen nach, eine concentrirte Lösung von Curry in 
Bouillon. Mit Vorsicht ass ich weiter und w^ar dankbar für 
den vortrefflichen alten Sherry, der wie ein linderndes Wund- 
wasser den heftigen Brand, des indischen Pfeffers allgemach 
wieder linderte. 

Jetzt gewann ich Zeit, die Tafel etwas näher zu betrachten. 
Ihre Ausschmückung war, nach unseren Begriffen, ziemlich 
dürftig und nüchtern; keine Aufsätze und Dessertschalen in 
der völlig kahlen Mitte, ringsum nur einige sehr grosse alte 
silberne Salzfasser und einige Ständer für Senf, Pfeffer und die 
Saucen. Zu meiner Verwunderung sah ich weder Tischwein 
in Krystallflaschen auf der Tafel noch die gewohnte Glas- 
garnitur vor meinem Platze; mein Sherryglas, stets frisch 
gefüllt, blieb einstweilen einsam; später wurde die Leere etwas 
durch silberne Tankards (Seidel mit Henkeln) ausgefüllt. 
Dagegen prangte der Reichthum des Collegesilbers auf einem 
hohen Büffet, welches in der Nische des grossen Erkerfensters 
hinter dem Platze des Dean stand. Silberne Schüsseln und 
Präsentirbretter, Spülgefässe, hohe Kannen und bauchige 
Flaschen glänzten mir von dort entgegen. Alles von besonderer 
Schwere und in alterthümlichen Formen; die Verzierungen, in 
Masken und Festons mehr oder weniger an Motive der 
Renaissance erinnernd. 

Nachdem ich das flüssige indische Feuer glücklich ge- 
löscht hatte, kam unter dem entfernten Suppenteller ein 
Untersatz zum Vorschein, von derselben Grösse und etwa zwei 
Fingerbreiten hoch, aus blankgeputztem Zinn. Ich berührte 
ihn zufallig, zog aber rasch meine unvorsichtigen Finger zurück: 
es war wiederum Feuer ! ' Der hohle Untersalz war mit 
kochendem Wasser gefüllt, um jeden nachfolgenden Teller 
schnell zu erwärmen. Auf der einen Seite dieses Wärmers 
lagen mehrere kolossale silberne Gabeln, auf der anderen 
mehrere Messer gleichen Wuchses in dem allgemein verbreiteten 
Muschelmuster, das wir als »Queens Patern« kennen. — 

Der weitere Verlauf des Menüs war nun folgender: 

Fisch: Steinbutt, Makrele, Kabeljau — in Wasser gekocht 
und von den nationalen riesigen ungesalzenen Wasserkartoffeln 
begleitet. Einem jeden Gaste bleibt es überlassen, sich das 



Dinner in Christ Church Hall, 285 

Gericht mit Salz sowie mit Worcester- oder Anchovissauce zu 
würzen. 

Entr^es: Leber mit gerösteten Schnitten von Dörrfleisch, 
Humraerpastetchen , Devilled Kiddneys (ein stark gepfeffertes 
Nierenragout); dazu Schnittbohnen in "Wasser gekocht, zu 
denen man Salz und frische Tafelbutter nach Belieben fügt, 
und zur Auswahl Wirsingkohl, ebenfalls nur in Wasser gekocht 
und allerdings etwas recht fade. 

J o i n t s : Roastbeef mit Yorkshire Pudding, letzterer ein dicker 
Pfannkuchen, der zugleich mit dem, am Spiesse, vor einem 
verticalen Kohlenfeuer bratenden Fleische und unter demselben 
gebacken wird, so dass die herabträufelnde Brühe den Pudding 
durchtränkt; sehr empfehlenswerth. Daneben Lammbraten, der 
„Sadle" (Ziemer) eines einjährigen Thieres, so gross, rosig und 
fett, wie ich ihm nur in meinen heimathlichen Seemarschen 
begegnet war. Hiezu eine „Tunke" von gehacktem Pfeffer- 
münzkraut, eine nationale Lieblingsspeise, dem Fremden aber 
doch wohl etwas officinell schmeckend. 

Braten: Puter, junge Gänse, Hühner; dazu ein kräftiger 
Selleriesalat. 

Süsse Speise: kleine Törtchen, gefüllt mit den in England 
ausserordentlich geschätzten schwarzen Johannisbeeren; Rhubarb 
Pie, eine feste gebackene Kruste und in dieser ein Compotte 
von jungen Rhabarberschösslingen, deren fein säuerlicher 
Geschmack demjenigen gekochter unreifer Stachelbeeren 
ähnelt. • 

Rechtzeitig war bereits mit dem Fische jedem Gaste eine 
Pinte „Bitter", eignes Gebräu des College, in einem schweren 
silbernen Tankard vorgesetzt worden. Sobald ich meine etwas 
ermatteten Lebensgeister hiedurch aufgefrischt hatte, wandte 
ich mich dem Schauspiele vor und unter mir zu. Mein freund- 
licher Gastgeber, der Senior Student, bemühete sich sofort 
meinem Auge als Führer zu dienen. 

„Ich sehe", begann er, „dass Sie das reiche zierliche 
Sprengwerk bewundem, das die Hall deckt: es ist von altem 
fast schwarzem irischen Eichenholze gemacht und stehet an 
Kühnheit der Construction und an Kunst der Arbeit nur der West- 
minster Hall nach. Jedoch sind die Dimensionen hier um ein 
gutes Drittel kleiner; unsere Hall ist vierzig Meter lang, vier- 



2 ob Ein Tag in Oxford* 

zehn Meter breit und achtzehn Meter hoch. Die grossen ge- 
stabten Fenster im oberen Theile der Wandmauem, an den 
Langseiten und hier über uns, zeichnen sich durch ihr schönes 
Masswerk aus. Die untere Hälfte der Wände ist getäfelt; an 
dem Karnie?se, der die Täfelung oben «.bschliesst, sehen Sie 
eine ausserordentlich schön und üppig geschnitzte Guirlande. 
Darunter laufen Schilde ringsum, welche die verschiedenen 
Wappen des Cardinais Wolsey und des Königs Heinrichs VIII. 
vorführen. Wie Sie wohl schon wissen, waren Beide die 
Stifter des College. Diese Hall ist 1529 vollendet, in demselben 
Jahre, in dem Wolsey gestürzt wurde. Hier über uns haben 
wir die beiden Portraits von Hans Holbein dem Jüngeren. 
Noch viele andere Meister sind hier durch die einundsiebzig 
Portraitbilder von Wohlthätern oder ausgezeichneten Mitgliedern 
des College, welche die Hall ringsum zieren, glänzend vertreten : 
Vandyk, Kneller, Sir Joshua Reynolds, Mengs, Hogarth, Sir 
Thomas Lawrence und andere". 

Mein Blick fiel auf das grosse farbenprächtige Erkerfenster 
zu unserer Rechten über dem Silberbüffet. 

„Das Fenster ist neu" erläuterte mein Wirth, „es ist vom 
Subdean Clerke im Jahre 1867 gestiftet zu Ehren des Prinzen 
von Wales und des Kronprinzen von Dänemark, die beide 
als Mitglieder des College hier studirten. In der Mitte des 
Fensters sehen »Sie die Federn des Prinzen von Wales mit dem 
berühmten Motto »Ich dien«. Bekanntlich entstammen diese 
Federn und dieses Motto dem Helm des blinden*Königs Johann 
von Böhmen, der in der Schlacht von Crecy (134.6) erschlagen 
wurde; sein Helm fiel als Beute dem »schwarzen Prinzen« zu". 

„Heizen Sie im Winter diese mächtige Halle mit jenen 
vier schwarzen Marmorcaminen ?" fragte ich bedenklich. 

„Allerdings ist Feuer darin, aber mehr zur Decoration, 
weil es freundlicher aussieht; die Heizung geschieht jetzt durch 
heisses Wasser; die frühere Generation hatte sicherlich ent- 
weder höhere Blutwärme oder — trug beim Dinner solide Pelze". 

Ich überblickte mit Interesse das belebte Bild der vier 
langen Tischreihen, besetzt mit eifrig schmausender Jugend. 
„Sie müssen hier sehr zahlreich sein", fragte ich „nach der Menge 
der Anwesenden zu schliessen". 

„Ja", erwiderte der Seliior Student, „wir bilden hier beinahe 



Dinner in Christ Church HalL 287 

eine kleine Universität für uns. Das Capitel unserer Kathedrale 
bestehet aus dem Dean mit sechzigtausend Mark, und sechs 
Canons mit je dreissigtausend Mark Einkommen. Wir Senior 
Students oder Fellows sind unser achtundzwanzig, jeder hat 
etwa viertausend Mark jährlich; die Junior Students, eine Art 
von Stipendiaten, sind zweiundfünfzig, sie erhalten etwa zwei- 
tausend Mark. Ausserdem hat jeder eine geräumige Wohnung. 
Unsere Tutors, zu denen ich ebenfalls gehöre, werden mit fünf 
bis acht Tausend Mark honorirt, und die Lecturers, Privatlehrer 
in Specialfach em, erhalten je nach Angebot und Nachfrage 
dreitausend bis achtzehntausend Mark. Wir haben hier etwa 
zweihundert und fünfzig Studenten, die Sie dort unten vor sich 
sehen. Die jährliche Gesammteinnahme von Christ Church 
College wird nicht viel unter zwei Millionen Mark geschätzt. 

„Indessen", unterbrach mein Wirth sich selbst, „ich störe 
Sie durch meine Statistik im Studium Ihrer »Devilled Kidneys". 
Meine Zahlen sind trocken, diese Nieren gut gepfeffert. Beides 
macht Durst. Ich möchte Ihnen deshalb einen anderen Trunk 
empfehlen, der hier sehr beliebt und im ganzen Süden von 
England ein Nationalgetränk ist". 

Ich nahm unbesehens dankbar an und rasch stand vor 
mir ein geräumiger, schwerer, silberner Humpen, gefüllt mit 
einer weingelben klaren Flüssigkeit. „Es ist ein „Cider-Cup", 
ermuthigte mich mein Wirth, „ein gewürzter Apfelwein; die 
Würze besteht hauptsächlich in Borretsch". 

Ich kostete das Getränk und es war kühl und flüssig, 
übrigens allerdings etwas allzu „national" für eine moderne 
Bordeaux- und Moselweinzunge. Indessen der interessante 
altvaterische Typus des Trankes half bei redlichem Willen 
über manches hinweg. 

Zwischen dem Trinken betrachtete ich meinen Humpen. 
Es war alte getriebene Arbeit, ein prächtiges solides Urväter- 
stück: reiche Blumen, Festons und verschiedenartige originelle 
Masken. Rundum lief ein Spruch der allen, die es angeht; 
nachstehende weise Lehre ertheilt: 

„Trink, lieber Herr, mit Massigkeit 
Und nicht aus trunkner Gierigkeit ; 
Schöpfst dann aus der Gesundheit Born, 
Vermeidest Zungenstreit und Zorn". 



28ö Ein Tag in Oxford, 

Als ich die Reihe meiner Mitgäste entlang blickte, stand 
vor jedem Platze ein ähnlicher schöner, alter Tankard. 

„Ihr reiches College", bemerkte ich, „hat augenscheinlich 
einen grossen Silberschatz", 

,J.eider besitzen wir nur noch so viel als in den letzten 
zweihundert Jahren angeschafft und geschenkt worden ist; denn 
in den unglücklichen Kämpfen Karls I. gegen das Parlament, 
in denen Oxford treu und standhaft zum Könige hielt, wurde 
fast alles Silber der Colleges dem Könige zum Einschmelzen 
dargebracht. Es waren etwa zwanzig Centner, von denen 
Christ Church beinahe zwei lieferte. Der König liess daraus 
die „Exsurgat"-Münzen schlagen, so benannt nach ihrer Umschrift: 
„Exsurgat Deus, dissipentur inimici" (Möge Gott sich erheben 
und seine Feinde zerstreuet werden.) Diese Münzen sind jetzt 
sehr gesucht und theuer, wir tragen sie hier gern an den Uhren 
wie man anderswo auf alte Georgithaler Jagd macht. Denn wir in 
Oxford und namentlich wir hier in Christ Church waren von 
jeher sehr conservativ und royalistisch gesinnt. Fast alle 
unsere Monarchen liebten auch wieder Oxford, hoben und 
beschützten es auf alle Weise, ehrten besonders Christ Church 
und hielten sich gern bei uns auf. Die Good Queen Bess war, 
zum Beispiel, so oft und so lange hier, dass die Ehrenausgabe 
für ihre verschiedenen Besuche schliesslich für sämmtliche 
Colleges zusammen auf etwa hundert und fünfzigtausend Mark 
anschwoll. "Während sie hier in dieser Hall speiste, wurde ihr 
eine eigenthümliche Tafelmusik gemacht: verschiedene Studenten 
hielten eine Art von Turnier vor ihr ab, nämlich theologische 
Disputationen, in denen selbstverständlich die orthodoxe Ansicht 
der englischen Kirche obsiegte". 

„Im Jahre 1621 wurde Jakob I. hier königlich bewirthet 
Ein Senior Student, Barton Holliday, hatte dafür ein Festspiel 
geschrieben: „Technogamia" oder „die Vermählung der Künste". 

„War nun das Stück zu gelehrt", so berichtet der wahrhafte 
Chronist des College „oder waren die Schauspieler bereits zu 
betrunken, genug: Se. Majestät wünschte mehrere Male sich 
zurückzuziehen und blieb nur auf dringendes Bitten bis zum 
Schlüsse, um die „Students" nicht zu entmuthigen. Uebrigens", fahrt 
die Chronik fort, „erkannte man allgemein an, dass weder Pointe 
noch Schneide, weder Sinn (ausgenommen Unsinn) noch sonst etwas 



Dinner in Christ Church I/aii. 289 

in dem Stücke sei". Am Schlüsse dieser bündigen Kritik 
steht folgendes hübsche Epigramm: 

„In Christ Church gab man vor dem Kön^g: „Die Vermählung". 
Im Wunsch, die Spieler nach Verdienst belohnt zu sehn, 
Wollt' Majestät geruhn — so lautet die Erzählung — 
Zweimal, dreimal sogar — schleunigst hinaus zu gehn". 

„Ein grosser Ehrentag**, fuhr mein liebenswürdiger Wirth 
fort 



Ompteda, L. v. Bilder. 10 



VIII. 

Common Room und Kathedrale. 



„hLin grosser Ehrentag", fuhr mein liebenswürdiger Wirth 
fort 

„Verzeihen Sie", unterbrach ich, auf einen der uns zunächst 
stehenden unteren Tische weisend, „aber dort geht, wie mir 
scheint, etwas Ausserordentliches vor. Jene jungen Herren 
sind besonders heiter, sie lachen viel und trinken mit unge- 
wöhnlichem Eifer aus einem ungewöhnlich grossen Humpen, der 
Reih* um geht". 

„Es wird dort wohl jemand gestraft „sconced" sein", erklärte 
mein Wirth. ,Jeder Tisch hat seinen President, der die Tisch- 
regeln handhabt und auf Anstand hält. Zu diesen gehört 
namentlich, dass kein „shop" geredet werden darf Hiezu 
rechnet man alle professionellen Gespräche, also hier auch 
lateinische und griechische Citate, ferner pointelose, sogenannte 
faule Witze und das, was Sie „Kalauer" nennen. Wer nun des 
„Shop talking" überwiesen ist, wird 2um „Cup" verurtheilt. 
Das ist, wie Sie sehen, ein grosser Humpen, ein oder mehrere 
Male gefüllt mit mehreren Litern Bier. Dem Sünder wird dieses 
Trankopfer auf die Rechnung gesetzt, dafür darf er aber auch 
zuerst aus dem Cup trinken. Natürlich sucht er einen möglichst 
tiefen Zug zu thun, um seinen Schaden, soweit thunlich, wieder 
einzubringen. Das möchten nun die anderen verhindern und 
daher der fröhliche Lärm". — 

„Nun also", lenkte der Senior Student ^vieder in sein Thema 
ein, „der grosse Ehrentag, von dem ich soeben erzählen w^oUte, 
fand am 14. Juni 18 14 statt. Damals speisten hier in der Hall 
neunhundert Personen; hier an der auserwählten High table auf 



Common Room. und Kathedrale, 2D1 

unseren Stühlen sassen: der Prinz Regent, der Kaiser von 
Russland, der König von Preussen; Fürst Mettemich, Blücher 
und Wellington. Der alte Blücher, dessen Gesundheit getrunken 
wurde, hielt einen „speech" in seinem originellen Deutsch mit 
seiner mächtigen volltönenden Stimme, der Prinz Regent selbst 
übersetzte sofort die Rede. Abends war auf deii Meadows ein 
prachtvolles Feuerwerk vorbereitet, das aber leider, wie so 
manches hier zu Lande, vollständig verregnete. Die vor- 
genannten allerhöchsten und berühmten Personen wurden 
dann sämmtlich zu Doctoren der Rechte, D. C. L. ernannt". — 

In diesem Augenblicke gebot, nachdem die riesigen Käse 
die Runde gemacht hatten, der schwere Hammer des Deans 
wiederum Stille; der Bible Clerk trat an das Betpult und 
sprach das Gx;acias, welches abermals begann mit „Benedicto 
"benedicamur". — Die Tische lichteten sich rasch, nur das Bier- 
gericht über den armen Shopsprecher sass noch mit Einziehung 
der Strafe beschäftigt. Auch die Genossen der High Table 
zogen in geschlossenen Reihen davon, ohne weitere Abschieds- 
förmlichkeiten. 

Ich blickte fragend auf Freund D. 

„Es ist hier Sitte", erklärte er, mir zu Hilfe kommend, 
„das Dessert in einem anderen Raum einzunehmen, dem Common 
Room, wo die Fellows und sonstigen Würdenträger ganz unter 
sich sind. Kein Undergraduate darf in dieses geheiligte Gemach 
eindringen". 

Wir folgten der Tischgesellschaft und betraten einen 
grossen Raum mit kassettirter Holzdecke, an den Wänden Ge- 
täfel und über ihm dunkelgrüne Ledertapeten. An der einen 
Langseite ein manneshoher altenglischer Marmorkamin, Einige 
lebensgrosse ältere Portraitbild er hoch würdiger geistlicher Herren 
in schwarzen schweren Holzrahmen unterbrachen die weiten 
Wandflächen. Das Ideal eines comfortablen Clubzimmers. 

In der Mitte des hohen saalartigen Raumes stand ein 
mächtiger alter Esstisch von spiegelblankem fast schwarzen 
Mahagoniholze, ringsum geräumige Armstühle. Auf ein Zeichen 
des Präsidenten Hessen sich alle nieder. Der Tisch selbst war 
mit hohen silbernen Dessertschalen besetzt, darin trockene 
Früchte, Kuchen und vor allem verzuckerte Ingwerknollen. 
Ein würdevoller Buttler (Haushofmeister) stellte vor jeden 

19* 



292 Ein Tag in Oxford, 

Gast drei tüchtige Weingläser. Vor dem Präsidenten erschien 
auf der Tafel ein geräumiger solid gebauter silberner Last- 
wagen, der drei weitbäuchige geschlossene Krystallflaschen mit 
silbernen Beschlägen und Deckeln trug. Ein jeder dieser drei 
„Decanters" führt an silberner Kette ein Brustschild, wie ehe- 
mals die baierischen Offiziere. Auch hier sind die Zierrathe 
zugleich Standesabzeichen, denn wir lesen darauf: Sherry Port 
Ciaret. Da ich zufällig rechts neben dem Präsidenten sass, so 
schob er, der Sitte gemäss, den Wagen ein wenig zu mir 
herüber, um mir den Vorzug der ersten Wahl zu geben. Dann 
rollte das Fuhrwerk, wieder und wieder, nach links unablässig 
rings um die Tafel. Jeder Gast hat dabei die Freiheit, sich 
einzuschenken und die Pflicht „to pass the bottle", die Flaschen 
ohne Zeitverlust dem Nachbar zuzuschieben. Die allgemeine 
ruhige Unterhaltung rund um den Tisch begann sich zu ent- 
wickeln und gruppirte sich nach und nach um gewisse aner- 
kannte und beliebte Führer. Bald erschien auch vor meinem 
Nachbar auf einem wahrhaft riesigen massiven silbernen Brette 
ein Kaffeegeschirr, dessen kunstvoll getriebene Kannen und 
Zuckerschalen den Dimensionen des Zimmers entsprachen. 
Nachdem ich wiederum den Vorrang genossen, glitt auch diese 
gewichtige Masse auf ihren niedrigen RoUfiissen geräusch- 
los nach links um den Tisch. Ihr folgte ein ähnliches Brett 
mit Cognac und Likören, die aus kleinen silbernen Becherchen, 
etwa vom sechsfachen Inhalte eines Fingerhutes, geschlürft 
werden. 

Freund D. erläuterte mir die originellen Umgebungen 
und Sitten. Zum Schlüsse sagte er, auf den würdevollen 
Haushofmeister zeigend: 

„Jetzt vollzieht sich dieser gemeinsame Trunk beim After- 
dinner nur mehr oberflächlich und zur Belebung der Gesellig- 
keit. Ehedem aber gab es hier bessere Männer; da war 
Trinken ein ernster Selbstzweck. Damals wurde zum Buttler 
nur ein besonders starker zuverlässiger Mann erwählt mit 
breiten Schultern, um — wenn nöthig — am Schlüsse der 
Sitzung die würdigen Fellows in ihre respectiven Schlaf- 
gemächer zu befördern. Doch die Zeiten solcher tüchtiger 
männlicher Leistungen sind längst entschwunden!" 



Common Room und Kathedrale, 2Jö 

„Aus jenen Zeiten", erwiderte ich, „kenne ich eine Schilde- 
rung* des oxforder Lebens und Treibens, die Sie vermuthlich 
interessiren wird. Ein- deutscher Geistlicher, Namens Moritz, ein 
origineller Kauz, bereiste vor gerade hundert Jahren England 
zu Fusse und schilderte seine Erlebnisse in Briefen an einen 
Amtsbruder. Eines Abends, schon gegen Mitternacht, kehrte 
er hier in Oxford im altberühmten Gasthaus zur Mitra ein. Er 
fand dort eine zahlreiche Gesellschaft von »Priestern mit ihren 
Mänteln und Kragen um einen grossen Tisch, jeder seinen 
Bierkrug vor sich«. Sein Reisegefährte,* Mr. Modd M. A. und 
Fellow von Corpus Christi College, führte ihn ein. Es entspann 
sich unter den Herrn Confratres eine halb ernste, halb launige 
theologische Disputation, namentlich wurden biblische Räthsel 
aufgegeben, »Bierräthsel« wie unsere jetzigen Studenten sagen 
würden. Moritz, der gut lateinisch und englisch sprach, be- 
theiligte sich mit Erfolg an deren Lösung. Er fand Beifall 
und es wurden ihm »viele Gesundheiten in dem starken Ale 
zugetrunken«. Als es nun gegen Morgen kam, sprang Mh Modd — 
er war zugleich Pfarrer für einige Nachbardörfer, und hielt in 
seinem College Vorlesungen über classische Autoren — plötz- 
lich auf mit dem Ausrufe: »D — me I must read Prayers in All 
Souls!« und eilt spornstreichs davon. Die Uebrigen verloren 
sich dann auch und mein Landsmann ging »etwas aufgeräumt« 
zu Bette. Am andern Tage konnte der Arme wegen eines 
fürchterlichen Katzenjammers von dem gestrigen starken Zu- 
trinken der ehrwürdigen Herren nicht aufstehen und hat seinen 
Tag in Oxford jedenfalls viel schlechter benutzt als ich den 
heutigen. Das waren die guten, alten Zeiten". — 

Nach einer Pause gemeinschaftlichen stummen Bedauerns 
über die Entartung der jetzigen Generation bemerkte ich, um 
den Freund zu weiteren Mittheilungen anzuregen: 

„Was ich jetzt in den letzten Stunden wiederum gesehen 
habe, bestätigt mir so recht lebhaft das Wort König Friedrich 
Wilhelm IV., als er in Oxford war: »Hier ist Alles alt und 
Alles neu". 

„Ich glaube wohl", erwiderte D., „dass ein solches Dinner 
in einer unserer grossen Halls jedem Fremden seltsam er- 
scheinen muss, zumal sehr wenige Ausländer Gelegenheit 
haben, daran Theil zu nehmen. Es ist so grundverschieden 



294 Ein Tag in Oxford, 

von aller modernen Eleganz und Verfeinerung; gar keine ge- 
künstelte französische Leckerei!" 

Das letztere konnte ich allerdings -mit gutem Gewissen 
bestätigen. — 

„Die echte alte englische Küche und Sitte. Und wir setzen 
einen ganz besonderen pädagogischen Werth in unsere alten 
Formen, in unsere feste, von Geschlecht zu Geschlecht über- 
lieferte Bildungsweise, die, trotz aller zweckmässigen Reformen 
in Einzelheiten, doch in ihrem Wesen seit Jahrhunderten unver- 
ändert blieb". 

„Wie beständig", fuhr er fort, „wir hier in den Formen 
unseres Lebens sind, dafür finden Sie einen schlagenden Beweis 
in den Papieren eines Deutschen, Paul Heutzner, der im 
Jahre 1598 England bereiste. »Die Studenten (im weiteren 
Sinne) zu Oxford«, schreibt er, »führen eigentlich ein mönchisches 
Leben: sie beten und studiren. Sie speisen an drei Tafeln. 
Zur ersten gehören: Grafen, Barone, Doctoren und Magister; 
sie ist reicher bestellt als die anderen. An der zweiten Tafel 
essen: Bachelors, Gentlemen (Commoners) und vornehme 
Bürgerliche; an der dritten diejenigen von niederer Stellung. 
Während dem Essen liest einer der Studenten laut die Bibel 
an einem Pulte in der Mitte der grossen Hall. Nach dem 
Gracias kann jeder in sein Zimmer oder in den, überall vor- 
handenen, prächtigen Garten gehen. Ihre Kleidung ist fast 
wie die der Jesuiten, Talare bis an die Knöchel, zuweilen mit 
Pelz verbrämt. Sie tragen viereckige Kappen. Die Doctoren 
und Professoren haben verschiedene Auszeichnungen an ihrem 
Gown. Jedes ältere Collegemitglied führt einen Schlüssel zur 
Bibliothek, denn kein College ist ohne eine solche". 

„Wollten Sie einmal", fügte der Freund, hinzu, „wollten 
Sie Ihren »Tag in Oxford« ebenfalls schildern, so würden 
Ihre Mitheilungen wohl kaum wesentlich von den jetzt drei- 
hundertjährigen Ihres Landsmanns abweichen". — 

Der Tutor von St Mary Hall nahm jetzt sein pädagogisches 
Thema wieder auf: „Unsere hiesige Jugend wächst schon im 
elterlichen Hause unter dem Segen einer festen Gewöhnung 
auf und bringt dadurch etwas mit, was vielleicht dem grösseren 
Theile Ihrer deutschen Studenten zu wünschen wäre: anerzogene 



Common Room. und Kathedrale, 2Jö 

religiöse, sittliche und politische Ueberzeugungen sowie Respect 
vor dem Bestehenden". 

„Leider", musste ich bestätigen, „lässt dieser Punkt bei uns 
sehr zu wünschen übrig. Ein gesinnungstüchtiger deutscher 
Liberaler würde einen solchen ererbten Conservatismus ziem- 
lich geringschätzig betrachten und ihn »anerzogene Vorurtheile« 
nennen". — „Hier in Oxford", fuhr D. fort, „wird dann 
jeder Geist in die bestehenden festen historischen Formen 
gemodelt Die Hindernisse auf der akademischen Laufbahn 
sind rationell für durchschnittliche Fähigkeiten bemessen; 
Niemand sucht eigene Wege, so zählen wir bei uns auch keine 
Irrenden und Verlorenen, wenigstens nicht durch die 
Wissenschaft, höchstens durch das Nichtsthun. Selbstverständ- 
lich haben wir mit Leichtsinn, mit Uebermuth, ja! mit uner- 
zogener Rohheit zu kämpfen, vielleicht nicht weniger als die 
deutschen Universitäten. Um so grösseren Werth legen wir 
gerade deshalb auf unsere alten feststehenden Formen, die eine 
tägliche Unterordnung unter die erziehende Autorität fordern; 
Erwerb umfassender Kenntnisse ist erst unsere zweite Aufgabe, 
auf Ausbildung unserer Studenten zu Gelehrten verzichten wir 
vollständig. Ich sagte Ihnen ja bereits: wir halten nun einmal 
den Baum der Erkenntniss nicht für den Baum des Lebens'*. 

„Ich bin hierher gekommen, um zu hören, nicht um Sie zu 
berichtigen", versetzte ich, indem ich den wieder vorüber 
rollenden silbernen Wagen dieses Mal ohne jeden Aufenthalt 
weiter schob, „daher denke ich nicht daran, Ihnen mit den 
Ansichten unserer deutschen Autoritäten über die verschiedenen 
Bildungssysteme zur Last zu fallen. Wir haben nun einmal 
eine von der Ihrigen verschiedene nationale Grundanschauung 
über das Wissen und Lernen, und diese findet sich vielleicht 
am idealsten in Lessings bekanntem Satze ausgedrückt: dass 
wenn ihm die Wahl zwischen dem sicheren Besitze der Wahr- 
heit und dem unausgesetzten Triebe nach deren Erforschung 
gelassen würde, er den letzteren wählen würde. — Vergessen 
Sie nicht, wie lange und wie weit die stürmischen Wellen der 
französischen Revolution über unsere Grenze hingeschlagen , 
sind, dass Deutschland niemals eine meerumgürtete Insel war 
und dass es gar so sehr „mitten in der Welt" liegt". 



296 Ein Tag in Oxford. 

„Brechen wir also ab", stimmte der Freund ein, „lassen 
Sie mich nur noch gegen Lessing eine andere deutsche 
Autorität anführen. In Göttingen studirte ich den alten 
Lichtenberg, dessen Schriften mich wegen seines Commentars 
zu Hogarths Bildern anzogen. Darin fand ich, unter vielen 
anderen witzigen und auch klugen Sachen, eine Bemerkung, die 
sich mir fest in das Gedächtniss eingeprägt hat, Lichtenberg 
beklagt einmal, dass der junge Student vermöge der univer- 
sitätischen wissenschaftlichen Freiheit und Vielseitigkeit zu 
rasch aus einem Schüler ein Kritiker und Richter seines 
Lehrers werde und drückt das in seiner spitzigen Weise so 
aus: dass auf diese Art die meisten Jungen eher lernten die 
Nase zu rümpfen als sie ordentlich zu schnauzen". 

Ich musste lachen, bemerkte aber doch: „Lichtenberg war 
zw^ar ein deutscher Professor, aber etwas ein Clericus irregularis, 
im Grunde ein geistreicher Schalk. — Sieht man jedoch die 
Reihe der seit Jahrhunderten von hier ausgegangenen 
bedeutenden Männer an, so darf man wohl sagen: alles, was 
die Colleges von Oxford etwa nicht leisten, wiegen sie reich- 
lich auf durch das, was sie für Englands nationale Grösse gethan 
haben und noch thun. — Jetzt aber müssen wir hier aufbrechen, 
denn bald beginnt es zu dämmern und ich habe die Kathedrale 
von Christ Church noch nicht gesehen". 

Ich dankte meinem gastfreien Senior Student, dann nahmen 
wir von der heiter bewegten Gesellschaft in aller Stille 
französischen Abschied. 

Während wir unsere Schritte beflügelten, um noch das 
Licht der untergehenden Sonne in den 'Wölbungen der Kirche 
anzutreffen, sagte mein Führer: 

„Unsere Kathedrale rühmt sich eine der ältesten in 
England zu sein. Sie stammt, so wie sie jetzt dasteht, noch 
aus der Uebergangsperiode des romanischen — wir nennen 
seine hiesige Abart; normannischen — zum frühen gothischen 
Baustile. 

Hier gründeten um das Jahr 740 ein sächsischer Vicekönig 
von Oxford, Didan, und seine Frau Saxfrida ein Kloster mit 
Kirche für ihre Tochter, die heilige Frideswide. Im Jahre 11 80 
wurde die jetzige Kathedrale geweihet. Bis 1520 blieb das 
Gebäude in seinem ursprünglichen Zustande wohl erhalten. 



4 



Common Room und Kathedrale. 297 

dann wurde es leider vom Cardinal Wolsey zur Ausführung 
seiner grossartigen Pläne, bös verstümmelt. Sir Gilbert Scott 
hat nun in allerneuester Zeit die Kirche wieder restaurirt, für 
etwa eine halbe Million Mark. Es ist eine dreischiffige Kreuz- 
kirche und der Thurm, der älteste in England, sitzt auf der 
Vierung", 

Wir standen im Langhause des Mittelschiffes, vor uns der 
hohe Chor. Die Gewölbdecke über ihm ist mit erhabenem 
Stern- und Netzwerk so reich und ungewöhnlich geschmückt, 
dass man sagen möchte: hier ist die Holzdecke in Stein nach- 
geahmt. 

Die Säulen und Rundbögen des alten normannischen Baues 
sind wohl erhalten. In den Zwickeln zwischen diesen Bögen 
steigen sogenannte Dienste (Rundstäbe) auf, über denen dann 
kräftige gegliederte Gewölbgurten ansetzen. Vor diesen An- 
sätzen senkt es sich wieder consolenartig und steigt dann 
ebenfalls in bunten Gurten empor, die sich in der Mitte des 
Raumes zu reichen sternförmigen Mustern vereinigen. 

Sämmtliche Fenster haben prächtige Glasmalereien; die 
Sitze des Deans und der Canons sind mit reichem Schnitzwerke 
in altem Nussholze an den Rückenlehnen und den überragenden 
Baldachinen ausgestattet; bewundernswerth kunstvolle Eisen- 
gitter bilden die Abschlüsse des hohen Chors. 

Die herrliche Orgel über uns ertönte und leitete den 
Abendgottesdienst ein, wir begannen daher uns bescheiden bei 
Seite zu ziehen. 

„Treten wir hier in St. Frideswide's Chapel", schlug mein 
Führer vor; „sie ist augenscheinlich der allerälteste Theil der 
Kirche". 

„Diese arme Heilige", fuhr er fort, „wenn überhaupt eine 
Heilige »arm« genannt werden darf — verdiente sich ihre Glorie 
vor allem durch Unruhe: Unruhe im Leben, Unruhe im Tode. 
Der König Algar von Mercia begehrte sie zur Ehe, sie aber, 
im Vorgefühle ihres höheren Berufes, schlug den Freier aus. 
Hier die Glasmalereien zeigen uns, wie hartnäckig sie vor ihm 
floh und wie zudringlich er sie mit seinen Werbungen verfolgte. 
Im Augenblicke der höchsten Noth thut, hier oben rechts, 
die Vorsehung ein Einsehen und blendet den Bösewicht durch 
einen Blitzstrahl". 



298 Ein Tag in Oxford. 

„Aber worin bestand denn sein Verbrechen?" fragte ich 
verwundert. 

„Vermuthiich im indiscreten Ungestüme seiner Bewerbungfen** 
meinte der Reverend, „denn seine Absichten waren ja durchaus — 
wie man zu sagen pflegt — ehrenhafte". 

„Darin ist keine poetische Gerechtigkeit", beharrte ich 
pedantisch, „denn die demnächstige Aufnahme seiner Erwählten 
in die höchste himmlische Hofordnung konnte der arme Halgar 
doch unmöglich vorhersehen". 

„Ganz unmöglich", stimmte Freund D. zuversichtlich ein; 
„indessen die Unruhe der armen Heiligen, die dann in reiferen 
Jahren hier als Aebtissin waltete und starb, war noch lange 
nicht zu Ende, nachdem sie zuerst in der Krypta, hier unter 
uns, später (1180) in diesem grossartigen gothischen Grabmale, 
hier vor uns, beigesetzt war. Sie wurde im Wechsel der Zeiten 
noch verschiedene Male ausgegraben und umgebettet 

„Zunächst unter Eduard VI. Damals brach eine engherzige, 
wahrhaft kindische Verfolgung und Vernichtung aller katholischen 
Symbolik aus. Namentlich wüthete eine unsinnige Idiosyn- 
krasie gegen die bunten Kirchenfenster sowie gegen die 
Miniaturen und Initialen der alten Evangelienbücher und Hand- 
schriften; die rothe Farbe galt als ganz besonders abergläubisch; 
fast Alles wurde hier zerstört. Auch die heilige Frideswide 
wurde damals aus ihrer sauer verdienten Ruhe gerissen und 
im Garten, hier neben der Kirche, vergfraben. Die fromme 
Ehegattin des gelehrten italienischen Doctors der Theologie 
Peter Martyre, des ersten verheiratheten protestantischen Canons 
von Christ Church, der dafür von den Anhängern der alten 
Ordnung schwere Unbill zu erleiden hatte, erhielt an Stelle der 
Heiligen diesen Ehrenplatz. 

„Unter der katholischen Maria änderte sich die AuflFassung 
wieder und natürlich wurde auch die Situation hier schleunigst 
umgedreht St. Frideswide zog wieder ein und ^Irs. Martyre, 
die Frau des nachträglich wieder ketzerisch gewordenen Canons, 
wanderte in den Garten. 

„Unter Elisabeth gelangte man endlich zu einem 
Compromisse, dem regelmässigen praktischen Austrage jedes 
grossen politischen und religiösen Principienstreites. Denn nun 
kamen beide, St. Frideswide und Mrs. Martyre hier in dieses 



Common Room und KathedraU, 2uJ 

geräumige Grabmal, wo sie noch heute einträchtig schlafen. — 
Lesen Sie einmal die Inschrift auf dieser Messingtafel: „Hier 
ruhen vereint Glaube und Aberglaube". Das kann nun jeder 
Leser beziehen, wie es ihm recht dünkt". 

„Wie sagt doch Goethe", musste ich wieder citiren: 

„Wie Einer ist, so ist sein Gott; 
Darum ward Gott so oft zum Spott!" 

Während v^r uns dem Ausgange der Kirche näherten, 
verstummte die Orgel und es erhob sich vom hohen Chor ein 
prächtiger mehrstimmiger acapella-Gesang, ein alter angli- 
kanischer »Chant«, ausgeführt von jugendlichen Sängern in 
weissen Chorhemden. Die meisterhafte Leistung der klangvollen 
frischen Stimmen rief in der ehrwürdigen, jetzt fast verdunkelten 
Kirche eine ergreifende Wirkung hervor und hob die inzwischen 
versammelte Gemeinde in reiner Andacht hoch über die 
thörichten Streitfragen empor, welche einstens den Grabstein 
der ruhelosen St. Frideswide umtobt hatten. 

Wir durchkreuzten jetzt wiederum den schönen Tom 
Quadrangle und nahmen unseren Rückweg nach St Paul's 
Vicarage quer durch die Stadt Als wir den Hof der Bodleion 
Library durchschritten, sagte mein Führer: 

„Diese berühmte Bibliothek und die Kunstsammlung bleibt 
Ihnen also einstweilen vorbehalten. Aber eines muss ich 
Ihnen doch erzählen, .was sich hier ereignet hat, da ich weiss, 
wie hoch Sie die Franzosen und namentlich den Humbug der 
franzosischen Revolutionshelden verehren. Nämlich der 
berüchtigte Marat, der grosse »Ami du peuple« lebte in 
jüngeren Jahren als französischer Sprachlehrer hier in Oxford. 
Bei guter Gelegenheit stahl er, es war am 5. Februar 1776, 
aus der Bodleian Library eine Reihe kostbarer Münzen und 
Medaillen zum Werthe von 4000 Mark. Er entfloh damit nach 
Dublin, wurde jedoch erwischt, hierher zurückgebracl\.t und zu 
fünf Jahren Zuchthaus verurtheilt Mit einigen anderen Spitz- 
buben machte er einen verzweifelten Versuch, hier aus dem 
alten Castell auszubrechen, musste jedoch seine Strafe in den 
schwimmenden Gefängnissen von London absitzen. Vermuthlich 
trug die dortige hohe Schule nicht unerheblich zur Entwickelung 
der Bestie in ihm bei. Dann zog er unter dem alias eines 
deutschen Grafen in Schottland umher und beschwindelte die 



300 Ein Tag in Oxford, 

Leute. Im Jahre 1787 verliess er England, in Frankreich 
wurde er der grosse Volksmann und Dictator während der 
Schreckenszeit, bis ihn endlich die strafende Gerechtigkeit in 
der Gestalt von Charlotte Corday erreichte". 

Wir gingen jetzt wieder das stattliche Gitter entlang, von 
dem die Hermen der Weisen und Caesaren als strenge Wächter 
des Heiligthums herabblickten. 

„Heute habe ich mehrere Male die^»Commemoration« 
erwähnen gehört", bemerkte ich fragend, „das Fest, welches 
hier im Sheldonian Theater in einigen Wochen gefeiert wdrd. 
Der Name klingt wie eine Erinnerungsfeier?" 

„Ganz richtig", erwiderte Freund D. „Diese Feier umfasst 
sogar eine volle Festwoche und schliesst unser akademisches 
Jahr. Der officielle Name ist „Commemoration of Founders*', 
ein Erinnerungsfest für alle Stifter der Universität. Aber dieses 
Erinnerungsfest hat nach und nach eine viel weitere und tiefere 
Bedeutung erhalten. Für diese Woche füllt sich Oxford mit 
Fremden, von denen die Mehrzahl langjährige Freunde sind. 
Alte Studenten, die sich durch fröhliche Jugenderinnerungen 
erfrischen wollen, kommen mit Frauen und Töchtern. Frühere 
Fellows und andere graduirte Männer in den verschiedensten 
Lebensstellungen erscheinen mit unverminderter Dankbarkeit 
gegen die Alma Mater regelmässig wieder. Eltern und Ge- 
schwister wollen mit dem Sohne und Bruder die Ertheilung des 
wohlverdienten Grades von B. A. feiern". 

„Nun kleidet sich die alte Stadt in ein heiteres Festgewand. 
Vortreffliche Lunches in den Collegewohnungen der Brüder und 
Vettern setzen schon Morgens die junge Welt in eine gehobene 
erwartungsvolle Stimmung; dann werden die schattigen Gärten im 
fröhlichen hellen Haufen — oder auch, von einzelnen weicher 
gestimmten Pärchen absichtlicher Nachzügler, nur zu Zweien- — 
durchstreift und bewundert. In der Townhall ist ein nationales 
Massenconcert; am Sonntage strömt alles nach St. Mary, um eine 
der berühmten Bamptonpredigten zu hören. Ein Rev. Bampton 
stiftete vor etwa hundert Jahren diese sechs Predigten über die 
wichtigsten Sätze der christlichen Lehre; der Lecturer, welcher 
mindestens ein Magister Artium und jedenfalls ein hervorragen- 
der Redner sein muss, wird dafür mit sechstausend Mark honorirt. 
Am Abend dieses „Show Sunday" strömt, wie heute Nachmittag, 



9 

Common Room und Kathedrale, oOl 

alles in den Broad Walk von Christ Church; jedoch ist die 
Scene viel heiterer, als wir sie heute erlebten, da alsdann der 
gelehrte dunkle Gown völlig gegen die frischen blonden und die 
feinen brünetten Gesichtchen in Weiss, Blau und Rosa zurücktritt. 
Montags fahrt man nach Woodstock und Blenheim, wo es 
unter alten Eichen ein Picknick mit Pasteten, kaltem Champagner 
und rührender Romantik giebt. Liebhaber klassischer Bildung 
erheben sich an der gelungenen Aufführung eines griechischen 
Trauerspiels: Agamemnon oder Oedipus auf Kolonos, in einem 
strebsamen College. Abends ist in einer der schönen Kollege Halls 
ein grosser Ball, dazwischen Blumenausstellungen und Concerte. 
So kommt der grosse Tag heran. Das weite Parterre des 
Theaters füllt sich mit „Dons" (Professoren und Graduirten), 
heute in prächtigen und heiteren Gowns von bunter Seide. Die 
obere Gallerie ist bereits von Damen und Studenten dicht 
besetzt. Die grosse Orgel, welche die Bühne dieses 
phantastischen Theaters einnimmt, erweckt zunächst durch 
ihre mächtigen Klänge eine weihevolle Stimmung. Inzwischen 
eröffnen die Undergraduates die Feier in ihrer Weise. Denn 
für diese Jugend geht heute, nach uraltem Herkommen, ein 
Tag auf, an dem sie ihrer fveiesten Kritik und ihrem fessel- 
losen Uebermuthe die Zügel schiessen lassen darf. Personen 
und Reden werden, je nach dem politischen und religiösen Stand- 
punkte und nach der akademischen Beliebtheit, mit Cheers und 
Klatschen oder mit Groans (Grunzen), Heulen und Stampfen 
begrüsst. 

Ein anerkannter Wortführer ruft: „The Queen!" — unend- 
liches Hurrah; ebenso erfolgt herzhafte Anerkennung für 
Lord Beaconsfield und für den Kanzler Lord Salisbury; denn 
wir sind hier sehr conservativ; nicht minder werden beliebte 
Professoren und Fellows mit betäubender Sympathie empfangen. 
Dann aber folgen: „drei Grunzer für den Senior Proctor" 
(Universitäts-Polizeidirector) und seine »Pro-Proctors«I welche 
allerdings sofort gemildert werden durch: „drei Cheers für die 
junge Dame neben dem Proctor!" Hierauf werden gefeiert 
„die drei jungen Damen in Weiss, die soeben eintraten!" und 
endlich: „alle Schwestern, Cousinen und Tanten". Selbst ein 
heute zu promovirender Ehrendoctor, der den Herren 
Studenten nicht gefallt, hat keine Schonung zu erwarten, sondern 



Ö02 £in Tag in Oxford, 

drei g^ndliche Grunzer. Nachdem die National-Hymne gesungfen 
ist, eröffnet nun auch der Vicekanzler die Feier auf seine 
Weise. Er proclamirt die heute zu ernennenden Ehrendoctoren 
der Rechte, die D. C. L. Diese werden jetzt, umwallt von 
prächtigen rothen Talaren, unter Ausrufung ihrer Namen in 
den Saal geführt, jeder wird vom »Regius Professor of Civil 
Law« mit einer eleganten lateinischen Lobrede apostrophirt, 
dann werden sie feierlich auf ihre Ehrenplätze geleitet. 

Alles unter der fortlaufenden Kritik der Gallerie. Zu- 
weilen werden von dieser riesige Illustrationen zu jenen Lob- 
reden herabgelassen, die jedoch immer nur kurze Zeit erheiternd 
wirken können, da die Pro-Proctors sofort auf diese Kunstwerke 
Jagd machen und sie entführen. Endlich redet der „Public 
Orator** der Universität von einer Art von Kanzel aus eine, 
meistens höchst interessante Rede, es werden gekrönte Preis- 
arbeiten in lateinischer Prosa und englischen Versen von den 
Verfassern selbst verlesen und mit einem brausenden Orgel- 
marsche schliesst das Fest, welchem die Studenten in der ernsten 
Stimmung zwischen zwei Monaten Summerterm — verbracht in 
Sport, athletischen Uebungen und „Bummeln" — und den 
unmittelbar folgenden vier Monaten grosser Ferien beiwohnen. 

„Die Mitglieder der königlichen Familie sind häufig bei 
der Commemoration anwesend; so im Jahre 1856 der Prinz 
Albert mit dem Prinzen Friedrich Wilhelm von Preussen, jetzt 
Ihrem deutschen Kronprinzen. Der hohe junge Herr, der 
bereits seine Studien in Bonn vollendet hatte, wurde damals, 
mit dem Grossherzoge von Baden, zum Ehrendoctor der Rechte 
ernannt. Auch Ihres berühmten alten Marschalls Vorwärts 
wollen wir gedenken, der hier im rothen Talare des Dr. jur. 
erschien und die dankbare Erwartung aussprach: „wenn ich 
Doctor werden soll, so muss Gneisenau doch mindestens zum 
Apotheker ernannt werden". 

„An derselben Stelle wurde auch Ihr ehrwürdiger Lands- 
mann Döllinger, nach seiner Excommunication im Jahre 1871, zum 
Ehrendoctor promovirt, — jedoch nicht ohne einige hochkirch- 
liche Opposition von sechszehn gegen fünfundsechzig Stimmen". 

„Doch hier**, unterbrach sich Freund D. selber, indem er 
das Gartenthor öffnete, ist unsere Vicarage von St Paul". 



IX. 

Eine oxforder Studentenkneipe. 



In der Vicarage erwartete die liebehswürdige Hausfrau 
uns schon beim Thee und bald fand sich auch der Hausherr 
ein, nachdem sein Abendgottesdienst beendet war. Ich musste 
berichten, was ich erlebt hatte; unwillkürlich rückte ich alsbald 
wieder mit allerlei Fragen und Bitten um Erläuterung heraus. 

„Es geht Ihnen wie jedem Fremden", bemerkte mein Gast- 
freund lächelnd, „Sie können sich doch nicht recht hineinfinden, 
dass wir hier für den stets wechselnden jungen Wein stets 
wieder die uralten Schläuche benutzen und sogar vorziehen. 
Ich weiss wohl, wir erscheinen dadurch immer noch etwas als 
protestantische Mönchsklöster. Der Student, welcher heute das 
Tischgebet in Christ Church Hall las, heisst „Bible Clerk" und 
„Clerks" Clerici hiessen im Anfange unserer Zeiten alle 
Studenten. Die urkundliche Geschichte der Universität beginnt 
im Jahre .1214 damit, dass die Stadt ein schweres Wehrgeld 
von 52 Schillingen zahlen musste, weil sie einige Clerks auf- 
zuhängen sich unterfangen hatte, »propter suspendium clericorum«. 
Der päpstliche Legat, damals unter dem traurigen Schatten- 
könige Johann ohne Land des Papstes Vicekönig in England, 
hatte die Blutstrafe auferlegt. Aber auch bei diesen alten 
Clerikem verläugnete sich unser Nationalcharakter nicht; sie 
waren zuerst Engländer und Liberale, hernach erst Katholiken. 
Denn zwanzig Jahre später geriethen sie selbst mit dem 
Legaten in Händel und erschossen sogar seinen Leibkoch; — 
wie ich annehme, war ihr Widerstand durchaus gerecht- 
fertigt, denn der Koch hatte ihnen zuvor kochende Fleisch- 
brühe auf die Köpfe gegossen". 



304 Ein Tag in Oxford, 

„Das nenne ich thatsächlichen Protestantismus", bemerkte 
ich anerkennend, „auf solchem Boden musste John Wycliff 
gedeihen". 

„Auch unsere jungen Füchse", fuhr Mr. L. fort, „sind 
meistens sehr verwundert über all die seltsamen Verpflichtungen, 
die sie bei der Immatriculation übernehmen und noch heute 
feierlich beschwören müssen. So z. B. im Huldigimgseide für 
die Königin: „dass er von Herzen verabscheuet, detestirt und 
abschwört, als sündhaft und ketzerisch die verdammenswerthe 
Lehre, dass Fürsten, welche vom Papste oder irgend einer 
römischen Autorität excommunicirt sind, von ihren Unterthanen 
oder sonst wem abgesetzt und ermordet werden dürfen! sowie: 
dass kein fremder Fürst, Prälat oder Potentat irgend eine 
weltliche oder geistliche Gewalt in diesem Reiche besitze". 

Bis vor zwanzig Jahren musste sogar ein jeder Ankömm- 
ling die neununddreissig Artikel der englischen Kirche unter- 
zeichnen. _ Der bekannte Humorist Theodor Hook liess sich 
durch seinen Humor verleiten, die Aufforderung hierzu mit der 
Erklärung zu beantworten: er sei völlig bereit, selbst vierzig 
zu unterzeichnen, wenn es gewünscht werde". Natürlich begann 
er seine akademische Laufbahn sofort mit einer längeren 
„Rustication" ; er wurde für ein Jahr „aufs Land" zurückge- 
schickt, um sich zunächst mehr Anstand und Ernst anzueignen". 

„Neulich hatte ich Gelegenheit", führte der Tutor von 
St. Mary Hall das unterhaltende und ergiebige Thema fort, 
„die alten Universitätsstatuten wieder durchzulesen und nament- 
lich den Titel XIV. „Ueber die Kleidung und äussere Haltung 
des Scholaren" und den Titel XV. „Ueber die Besserung der 
Sitten". Darin werden auch seltsame Pflichten auferlegt: der 
Studenten Kleider sollen nur von schwarzer oder dunkelbrauner 
Farbe sein — sie sollen sich des öffentlichen Erscheinens in 
„Stiefeln" enthalten, wie der lächerlichen Mode, ihr Haar lang 
zu tragen — sie sollen sich fern halten von allen Tavernen, 
Weinschenken und vom Kraute genannt Nicotiana oder 
„tobacco" — sie sollen nicht Wild mit Hunden oder Netzen 
jagen, keine Armbrüste oder andere „bombardirende" Waffen 
führen und keine Falken zur Vogelbeize; nur ein Bogen und 
Pfeile sind ihnen erlaubt zu anständiger Ergötzlichkeit. Und das 
alles ist heute noch Gegenstand der eidlichen Verpflichtung". 



Etn^ oxforder StudentenJtneipe, 305 

„Mephisto sagt", hub ich an — die Hausfrau lächelte still. 
„Ich sehe", unterbrach ich mich selbst, „Sie haben bereits 
meine Schwäche für Citate aus Goethe bemerkt, aber Mn D. 
ist nicht minder ein eifriger Verehrer unseres grossen Dichters 
und wir fanden uns zuerst in diesem Cultus — also: 
Mephisto sagt, und dieses Mal nicht ironisch: „Es erben 
sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort, — 
Vernunft wird Unsinn" — 

„Aber nicht Wohlthat: Plage", rief Freund D, abwehrend, 
„denn kein Mensch denkt hier an die Befolgung dieser Be- 
stinimungen". 

„Gewiss nicht", bestätigte mein Gastfreund, „indessen die 
alten äusseren Bezeichnungen und Formen der Dinge erhalten 
sich hier mit merkwürdiger Zähigkeit, wie bei gewissen Petre- 
fakten, nachdem das innere Wesen längst völlig umgewandelt 
ist. So begeht in den nächsten Tagen jedes College seine 
»CoUections«, seinen »Sammeltag«. Was geschieht alsdann dort? 
Alle Studenten erscheinen in der Hall vor dem Master des 
College und dem „Dean of Chapel". Die Prüfungsarbeiten 
liegen auf dem Tische, aber niemand kümmert sich gross 
darum. Die eigentliche ernste Prüfung (ist das persönliche 
Erscheinen vor den beiden gestrengen Herren Richtern. 

„Der Dean nimmt das Wort: „Mr. Brown, Ihre Arbeiten 
sind gut, aber Ihr Kirchenbesuch und Ihre Theilnahme an den 
Religionsübungen!! Für einen Stipendiaten geben Sie darin ein 
sehr schlechtes Beispiel! Im Sonntagsgottesdienste waren Sie 
nur ein einziges Mal und dazu noch im Paletot und hohen 
Stiefeln !" 

Darauf der finster blickende Master: „Mr. Brown, das 
College vernimmt mit Bedauern ein solches Verhalten von 
einem Stipendiaten. Sie haben Hausarrest für die ersten vier- 
zehn Tage des nächsten Terms". — Und so geht es fort". 

„Aber weswegen heisst dieser Gerichtstag: »Sammeltag?» 
frug ich, „doch nicht wegen der Gelegenheit zur moralischen 
Sammlung für die verlaufenen Schafe?" 

„O nein", erklärte Mr. L., „sondern weil im Jahre 1331 ein 
Statut erlassen ist: dass jeder Scholar jährlich mindestens 
zwölf Pfennige Honorar bezahlen muss für das „CoUegium 
logicum" und achtzehn Pfennige für das „CoUegium physicum" 

Ompteda, L. v., Bilder. 20 



306 Ein Tag in Oxford, 

und dass jeder Master of Arts verpflichtet sein solle, am 
Schlüsse des Terms sein Honorar selbst von den Studenten 
einzusammeln. Jetzt werden diese Honorare schon seit ein 
paar hundert Jahren durch den Cassirer zu Anfang des Terms 
erhoben, aber der Name „Collection" ist dem gefurchteten Ge- 
richtstage geblieben". 

„Der Fall ist recht charakteristisch, wie mir scheint*% 
erklärte ich, ,, namentlich aber: dass sich hier niemand darüber 
wundert. Bei uns wären aufgeklärte Geister schon längst mit 
ihrer Reformscheere über den »alten Zopf« hergefallen", 

„Wir könnten Ihnen derartige oxforder Eigenthümlichkeiten 
wohl noch die halbe Nacht hindurch erzählen", schloss Freund 
D., indem er sich erhob, dieses Capitel, „aber jetzt ist es 
höchste Zeit für das »Bumping Supper«. Wir kommen ohnehin 
nur noch zum Nachtische". 

Mit aufrichtiger Dankbarkeit, und beiderseitigen, herzlichen 
Wünschen für baldiges Wiedersehen trennte ich mich von den 
gastfreundlichen, liebenswürdigen Bewohnern der Vicarage und 
wir traten hinaus in die mondhelle Sommernacht 

Während wir Holywell Street hinauf wanderten, begann 
mein getreuer Führer abermals: 

„New College, in das wir jetzt gleich eintreten werden, ist 
trotz seines Namens eines der ältesten, von 1379; zugleich ist 
es eines der bedeutendsten Colleges in Oxford. Sein Stifter 
ist William of Wykeham, Bischof von Winchester, ein zu 
seiner Zeit sehr hervorragender Mann, der zugleich des Königs 
Edward III. Lord Kanzler und oberster Baumeister war. In letzerer 
Eigenschaft ist er Ihnen wohl schon in Windsor Castle bekannt 
geworden, das ihm seine jetzigen allgemeinen Grundmauern 
und manche noch bestehende Theile, namentlich die berühmte 
grosse Küche verdankt Auch New hat eine gewisse Gross- 
artigkeit durch die Einfachheit und Dauer seiner Architektur, 
es macht den Eindruck von halb Kloster und halb Festung; 
seit fünfhundert Jahren ist daran wenig verändert worden. Als 
es gegründet wurde, war die „Universität" als Lehrkörper hier 
allmächtig, die damals schon bestehenden Colleges: University, 
Merton, Balliol, Exeter, Oriel und Queens waren nicht viel 
mehr als unentgeltliche Herbergen für Unbemittelte, ausserdem 
konnte jeder Student leben und wohnen nach Belieben, wie 



Eine oxforder Studentenkneipe, OU7 

noch jetzt in Paris und Heidelberg. Das neue College, dessen 
officieller Name: St. Mary of Winchester war, eröffnete damals 
eine neue Aera im Leben der Universität. Es war nach der 
Absicht seines grossen Stifters eine wirkliche, in sich 
abgeschlossene, höhere Lehranstalt. Mit dem College gleich- 
zeitig schuf Bischof Wykeham die »Grammer School« in 
Winchester; diese nahm die Knaben auf und sandte später die 
tüchtigsten Jünglinge nach Oxford, wo sie selbstverständlich in 
das :>Neue College« eintraten. Auf diese Weise sollte die 
ganze Laufbahn der gelehrten Erziehung geregelt und 
umschlossen werden. Dieses Verhältniss hat seitdem fünf- 
hundert Jahre bestanden und besteht noch heute; noch immer 
rekrutirt sich New aus Winchester!" 

„Wieder diese beneidenswerthe Continuität in Ihrer ge- 
schichtlichen Entwicklung", rief ich bewundernd, „ich wüsste 
auch nicht eine einzige noch lebende Institution in meinem armen 
Deutschland, die heute fünfhundert Jahre alt wäre!" 

„Nach und nach gelangten viele dieser Zöglinge zu hohen 
Kirchenwürden und fuhren fort, im Sinne und Geiste ihres Meisters 
Colleges zu stiften. So wurde, in ganz ähnlicher Weise die Public 
School zu Eton mit King*s College in Cambridge verknüpft. 
Bald wurden dann die schon bestehenden Colleges nach dem 
Muster von New erweitert und reformirt; durch diesen Epoche 
machenden neuernden Einfluss erklärt sich auch das Aufkommen 
und Beibehalten des jetzt allerdings etwas sonderbaren Namens. 
Die Universität selbst sank durch diesen Umschwung nach und 
nach zu einer Ansammlung von Colleges herab und so blieb 
es bis vor zehn Jahren, als der Collegezwang aufgehoben und 
der »Unattached« zugelassen wurde. Aber ihre Erniedrigung 
gereichte der Universität zum Heile, denn diese klösterlichen 
Corporationen bildeten ein festes Knochengerüst, sie gaben 
ihr Halt in den Stürmen des sinkenden Mittelalters und in der 
Zeit der Wiedergeburt wurden sie die Pflanzschulen der neu 
auflebenden Wissenschaften". 

Wir durchschritten mehrere tiefe gewölbte Thore, zwischen 
denen lange, schmale Höfe sich hinzogen. Endlich erreichten 
wir den grossen Quadrangle. Ein zauberisches Bild im hellen 
Mondenlichte! Vor uns eine lange, zweistöckige, niedrige, 
gezinnte Front bis oben hin mit dichtem Epheu bewachsen, 

20=* 



308 Ein Tag in Oxford» 

zwischen dessen schwarzen Vorhängen die schmalen erleuchteten 
Fenster matt schimmern; zur Linken die Kapelle, belobt als 
eine der schönsten in Oxford. Für heute müssen wir uns an 
der Spiegelung des Mondes auf ihren bunten, gothischen 
Bogenfenstern und an den fahlen Lichtem genügen lassen, die 
auf ihrem alten Gemäuer, an den in die reine Luft ragenden 
Fialen und auf der noch höheren Plattform des schweren, alten 
Thurmes spielen, denn von der Thür neben diesem lost sich 
jetzt eine Gestalt ab, die uns erwartet, um uns in die Sitzung 
des Ruderclubs von New einzuführen. 

Während wir noch in Betrachtung der zauberhaften Be- 
leuchtung zögerten, fuhr Freund D. fort: 

„Am Schlüsse dieses Jahres begeht New sein fünfhundert- 
jähriges Stiftungsfest Man wird dieser seltenen Feier ein 
schönes, sinniges Denkmal setzen, nämlich: die innere Restaura- 
tion der alten Kapelle vor uns. Auch hier in Oxford war, 
wie überall in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten, das 
historische Gefühl und damit das künstlerische Verständniss für 
unsere herrlichen Bauten aus den Zeiten der Plantagenets ver- 
loren gegangen. Erst seit etwa zwanzig bis dreissig Jahren 
können wir sagen, dass der architektonische Gedanke des vier- 
zehnten und fünfzehnten Jahrhunderts in seiner ursprünglichen 
Reinheit wieder belebt ist. Wir dürfen diese Erweckung wohl 
an die allgemeine Vertiefung des kirchlichen Lebens anknüpfen, 
die wir der hochkirchlichen »Tractaten-Bewegung« verdanken, 
obgleich die Tractarians durchaus nicht mit Bewusstsein Kunst- 
historiker waren. Ich will nur sagen: der von ihnen gegebene 
Anstoss hat fortgezeugt. — Der verwitternde Zahn der Zeit 
und die Unruhen des siebzehnten Jahrhunderts hatten, wie Sie 
wissen, auch hier in Oxford vieles zerstört. Dann folgten die 
verflachte Bildung und der vernüchterte Geschmack des vorigen 
Jahrhunderts, die sich nicht scheueten, William von Wykehams 
Meisterwerk zuzustutzen und zu corrigiren. Die Kapelle trug 
ursprünglich einen offenen, spitzen Dachstuhl von herrlichem 
schwarzen Eichenholz — man zog unter ihm eine saubere flache 
Stuckdecke ein ; alles gothische reiche Maasswerk ^\1lrde nett 
weiss angestrichen und das noch sichtbare Holzwerk freundlich 
hell chokoladenbraun überpinselt. Alle diese frevelhaften 
Incrustationen werden jetzt, in demüthiger Pietät gegen den 




Eine oxforder Studentenkneipe. oOJ 

Genius Williams von Wykeham, wieder beseitigt und die 
moderne Kunstrichtung der Königin Victoria setzt die Zeiten 
Richard IL {1377 — 1399) wieder in ihre Rechte ein. — Wir 
lassen uns diese späte Genugthuung etwas kosten, denn die 
Rechnung für die Restauration, wenn sie im nächsten October 
zum Jubelfeste vollendet sein wird, beläuft sich gewiss auf mehr 
als vierhunderttausend Mark". 

„Und furchten Sie nicht", fragte ich bedenklich, „dass eine 
spätere Generation sich wieder unter dem ernsten, zugigen 
schwarzen Holzdache ungemüthlich fühlen und wieder Sehn- 
sucht nach der hübschen, warmen, hellen Stuckdecke aus der 
Zeit von Sir Josua Reynolds verspüren wird?" 

„Dann mögen sie einheizen, die Barbaren!" rief D., halb 
ärgerlich halb lachend; „jetzt aber ist es die höchste Zeit hinein- 
zugehen, denn unser Führer dort unter der Thür trippelt schon 
lange ungeduldig hin und her". 

Nachdem wir einige gewundene Steintreppen und gewölbte 
schmale Gänge zurückgelegt haben, öffnet sich eine Thür und 
wir treten in ein Zimmer, geräumig genug, um die Gesellschaft 
von etwa dreissig jungen Herren zu beherbergen, die hier um 
eine lange Tafel versammelt ist. 

Im Augenblick unseres Eintritts herrscht achtungsvolle 
Stille. Man lauscht den letzten Worten eines Redners, des 
Tischpräsidenten, deren Schluss ein Hoch auf die Mannschaft 
des heute siegreichen Bootes bildet. Der Toast wird selbstver- 
ständlich mit betäubenden anhaltenden „Cheers" aufgenommen. 

„Der Redner ist der Captain des College-Ruderclubs", 
flüsterte D. mir zu; „jetzt werde ich Sie einführen". Wir wurden 
sehr g^t empfangen und sassen bald auf den Ehrenplätzen zur 
Rechten und Linken des Captain. Freund D. war hier augen- 
scheinlich im besten Andenken, denn von allen Seiten flog ihm 
herzliches Begrüssen und Zutrinken entgegen. Neben mir sass 
der Coxswain, der mich heute eingeladen hatte; D.'s Nachbar 
war Mr. Robinson, der Stroke. 

Das Supper war bereits abgeräumt und die Tafel trug 
jetzt Trinkgefasse jeder Gattung: zwei geräumige Bowlen, 
Krystallkrüge mit Ciaret und Portwein, zinnerne Bierkannen, 
silberne Becher, viele grosse und einige noch grössere Kelch- 
gläser. Die akademische Nachtischfreiheit hatte schon eine 



310 Ein Tag in Oxford, 

malerische Unordnung in der Gruppirung der Gäste und in der 
vielleicht nicht ganz salonfähigen Schaustellung weisser Hemd- 
ärmel entwickelt; die Düfte der Cigarre wetteiferten bereits 
mit den massiven, blauen Wolken der Meerschaum-, Holz- und 
Thonpfeifen. Man sass in und auf den verschiedenartigsten 
Lehnstühlen umher, oder stand und ging nach Belieben und 
ein jed«r schien nur die einzige Pflicht zu fühlen: den Lärm 
zu vermehren und die Getränke auf Tisch und Büffet zu ver- 
mindern. Jedoch trugen dienstfertige „Scouts" (Stiefelfüchse) 
wie die Geister in Goethes Zauberlehrling, unausgesetzt neuen 
flüssigen Stoff herzu. 

„Was wollen Sie trinken?" fragte mich der Captain 
„vielleicht geeisten Sangaree oder Sherry Cobbler oder 
Champagne Cup?" 

Ich bat um letztere, die ich als eine verhältnissmässig 
unschuldige Mischung von Sekt, ApoUinariswasser und Zucker 
kannte. Sherry Cobbler namentlich mit dem Strohhalm ist, wie 
man weiss, etwas heimtückisch, und Sangaree nichts anderes 
als starker kalter Cognacgrog mit Citronen und Muskatnuss. 

Und wahrlich, ich that wohl, den leichtesten Stoff zu wählen, 
denn in der nächsten Viertelstunde hatte ich mein Glas bereits 
ein Dutzend Male geleert, und so ging es fort, da jeder Genoss 
der Tafelrunde dem Gaste den Vorzug erwies : „ein Glas Wein 
mit ihm zu trinken". 

Es war die geräumige Behausung eines Gentleman 
Commoners, in der die Sitzung stattfand, und die Aus- 
schmückung der Wände sprach für den Geschmack und die 
Neigungen des Bewohners. Der Spiegel über dem Kamine 
war gekrönt — mit einem Fuchskopfe und zwei Blumen, da- 
neben Peitschen, Sporen, Stöcke, Rappiere, Angeln, Cricket- 
schläger und Fechthandschuhe. An der Wand gegenüber ent- 
faltete sich ein reichhaltiges Pfeifensystem und darunter strebte 
eine stattliche Pyramide empor, deren bräunliche Bausteine die 
Stempel: „Regalia", „Dos Amigos", und, „Todos me elogian'' 
trugen. An den Wänden ringsum entdeckte ich, soweit die 
verdichtete Atmosphäre es zuliess, einige der bekannten 
schönen Landseers und die verbreiteten Sportbilder von Herring: 
der Start für*s Derby, die Royal Mail Coach und andere. 



Eine oxforder Studentenkneipe, 311 

Zu meiner Beruhigung erkannte ich bald, dass unsere 
Anwesenheit keinerlei Zwang ausübte; ausser unseren sehr 
artigen nächsten Nachbaren schien sich niemand um uns zu 
bekümmern, nachdem ich mit jedermann ein Glas getrunken 
hatte. Der Captain fragte mich nach dem Stande des Ruder- 
sports in Deutschland. Ich konnte ihm erzählen, dass gute 
Anfänge gemacht seien. »Aber«, fügte ich mit dem Tone 
inniger Ueberzeugung hinzu, „für eine Concurrenz mit englischen 
Booten sehe ich vorläufig noch keine Möglichkeit. Einmal 
bestehen unsere Ruderclubs nur vereinzelt und unsere Boots- 
mannschaften aus zufällig zusammengebrachten Liebhabern, 
nicht, wie hier, rationell ausgewählt aus hunderten, dann fehlt 
uns noch die Schule alter Erfahrung und das lange, harte 
Training". 

Mein Bericht, der zu befriedigen schien, wurde hier unter- 
brochen durch ein rasch anwachsendes, allgemeines Geschrei, 
Tischtrommeln und Gläserklingeln, das sich an den mir gegen- 
über sitzenden Stroke richtete. 

„Robinson! Ro — bin — sonü ein Lied! sing' uns ein Lied!" 

Der Stroke erhob mit grossem Ernste sein leeres Kelch- 
glas, sah missbilligend hinein und reichte es dem Bowlenver- 
walter hinüber, indem er in vorwurfsvollem Tone mit kräftigem 
Baryton sang: 

„Füll diese Bowle bis zum Rande! 
Füll rasch mein Glas, es war' 'ne Schande, 
Wenn alle tränken, nur nicht ich. 
Sprich, weiser Mann, warum denn nich*?" 

Allgemeiner Beifall folgte diesem anscheinend improvisirten 
Eingange. Nachdem der »weise Mann« der Beschwerde des 
Sängers thatsächlich abgeholfen hatte, trank Mr. Robinson 
zunächst gründlich und mit Bedacht. 

Wieder trat erwartungsvolle Stille ein, nun aber begann 
er zu hüsteln, zu prusten und rief mit halberstickter Stimme: 
„Macht doch ein Fenster auf, man kann ja den Tabaksqualm 
hier schneiden!" 

Seinem Verlangen wurde schleunigst entsprochen und jetzt, 
sichtlich erleichtert, sang er mit warnender Miene, indem er in 
der linken Hand einen geräumigen, braunen Meerschaumkopf 
schwang: 



öl2 Ein Tag in Oxford. 

,,Raiicht nicht! raucht nicht Cigarren schlecht und theuer, 
Raucht in der Pfeife nicht das Blatt der Rübe, 
Infames Zeug, das niemals zahlte Steuer; 
£s macht Euch Nicotin das Leben trübe! 
Raucht nicht! raucht nicht! 

Raucht nicht! rasch wird das Gift durch Eure Adern rinnen. 

In Euem Magen zieht der Jammer ein, 

Es schwimmt die Welt vor Euern trüben Sinnen, 

Eu*r letzter Seufzer ist: Allein zu sein! — — — 

Raucht nichM^ucht nicht !'< 

Der dramatisch bewegte Vortrag, unterbrochen und 
illustrirt durch mächtige Wolken aus dem Meerschaum, schloss 
unter fanatischem Jubel, aus dem sich alsbald folgender viel- 
stimmiger, ebenso energischer als unharmonischer und lang 
ausgesponnener Chorgesang losrang: 

„Denn er ist ein ganz famoser Kerl! 
Denn er ist ein ganz famoser Kerl! 
Unser Bruder soll er sein, 
Und ein H — sf — t, der sagt: Nein!" 

Nachdem Ruhe eingetreten, ausgetrunken und wieder ein- 
geschenkt war, nahm der Captain das Wort: 

„Gentlemen! Sie wissen, dass ich Sie selten mit einer 
wohlgesetzten Rede behellige. (Allgemeine bedauernde Zu- 
stimmung.) Aber bei einer festlichen Gelegenheit wie heute, wo 
wir zudem durch die Gegenwart eines ausgezeichneten Fremden 
geehrt werden, der an unserem Siege Theil ^nahm und jetzt 
dessen Feier erhöht, in einer solchen Stunde mache ich von 
meinem Vorrechte Gebrauch und schlage Ihnen die Gesundheit 
unseres Gastes vor. Er ist spät gekommen, so hoffe ich: er 
wird auch als der Letzte das Local verlassen. Und nun mit 
allen Ehren!" 

Der Club Hess seinen Captain nicht im Stiche. „Three 
times three", erscholl es, „ — hipp! hipp! hipp! hurrah! — one 
cheer more! — again and againi — one other little one! " 

Dann stimmte der officielle Chor wieder an: „Denn er ist 
ein ganz famoser" u. s. w. und auch ich wurde vermittelst 
dieses zwang- und endlosen Canons, der lebhaft an das „Uns 
ist, uns ist so kannibalisch wohl" in Auerbachs Keller 
erinnerte, als „Bruder" erklärt und gegen jeden verneinenden 
H — t in des Bundes Schutz aufgenommen. 



Eine oxforder Studentenkneipe, olo 

Endlich trat einige Ruhe ein, in der sich augenscheinlich 
die Erwartung meiner Erwiderung ausdrückte. 

Es half offenbar kein Sträuben noch Zögern, ich raifte 
daher allen Muth zusammen und wagte „Ehre und Reputation" 
an folgende englische Rede: 

„Gentlemen! ich danke Ihnen herzlich für Ihre gastfreund- 
lichen, gütigen Gesinnungen. Erlauben Sie zugleich, dass ich 
nach allem, was ich heute Morgen von Ihnen gesehen und 
heute Abend von Ihnen gehört habe, Ihnen meine aufrichtige 
Bewunderung für Ihre Lungen ausspreche! (Hört, Hört!) Möge 
das immer so bleiben, möge das jetzige „Headboat" der Isis 
niemals, niemals! wieder „gebumpt" werden!" 

Nun brach es wieder aus: „Denn er ist ein ganz famoser 
Kerl" und nach der Dauer des Canons zu schliessen, hatte ich 
den bescheidenen Erwartungen, die naturgemäss jeder Engländer 
von den Leistungen jedes Fremden hegt, leidlich entsprochen, — 

Inzwischen hatte sich eine ernste Discussion stofflichen 
Inhaltes in meiner Nähe erhoben. 

„Geht mir mit Euern Cobblers und Cups", rief mein Nachbar, 
ich bin für reinen, ungemischten Stoff. „Hoc genus omne" 
das ganze edle Geschlecht des „Hock" (Hochheimer, aber auch 
jeder weisse Rheinwein) namentlich wenn er schäumt, das lobe 
ich mir! „Hoc erat in votis", ich votirte stets für „Hock". 

Sein Gegner erwiderte ruhig: ,Jch bin für Bier, alles 
andere ist verwerflich; lateinische Argumente, zumal aus den 
Satiren des Horaz, habe ich nicht zur Verfügung. Das ist 
„Shop". Aber ich will Euch ein englisches geben". 

>Ja> ja", rief es ringsum, „das Argument, heraus mit dem 
Argument!" 

Der Vertheidiger des Bieres Hess sich nun also vernehmen: 

„Zwischen trocken und nass 

Ohn' Unterlass. 

Den Mittelweg suche ich mir". 

„Wer hat wohl betroffen 

Mich jemals be — unnüchtert? 

Doch lob' ich mir immer mein Bier. . 

Denn ich lieb' einen Tropfen gut Bier 

Ja! ich liebe zwei Tropfen gut Bier". 

„Limonade und Thee 

Machte stets mir Leib — liehe Sorgen 

Doch niemals geschieht das beim Bier!'* 



014 Ein Tag in Oxford. 

Zwischen trocken und nass, 

Ohn' Unterlass 

Den Mittelweg find ich — beim Bier". 

Allgemeiner Beifall; selbst der Gegner schien geschlagen, 
jedenfalls konnte er den Streit nicht verfolgen, denn am anderen 
Ende der Tafel hatte sich inzwischen ein Gesang erhoben, 
dessen Rundreim jetzt vom Chor kräftig aufgenommen wurde 
und der deutlich lautete: „How I should like the Pope to be". 
Erstaunt horchte ich weiter, und richtig! es war eine Ueber- 
setzung des berühmten alten Lessing'schen Liedes: 

„Der Papst lebt herrlich in der Welt!" 

„Wissen Sie", wandte ich mich zum „Chairman", „dass da 
ein Landsmann von mir gesungen wird. Das Lied ist von 
Lessing". 

„Das ist uns sehr interessant", erwiderte er, „das Lied 
singt man hier seit undenklichen Zeiten und wir lieben es sehr, 
aber niemand kannte den Dichter. Vermuthlich hat es einmal 
ein Engländer von einer deutschen Universität nach Hause 
gebracht". 

„Jetzt aber", fuhr er fort, „habe ich noch eine traurige 
Pflicht zu erfüllen. Verzeihen Sie". 

„Gentlemen", hub er an, nachdem er Ruhe geboten, 
„gedenken wir jetzt mit innigem Mitgefühle eines Scheidenden, 
der heute zum letzten Male in unserer Mitte weilt". 

Alle blickten auf den Bowlen Verwalter, der ernst, aber 
mit dem Schalk im Nacken, vor sich niedersah. 

„Wie Sie wissen, ist unser Freund hier „rusticirt" und wird 
den nächsten Term auf dem Lande, fem von uns, zubringen. 
Was ist die Ursache? Er hat ungerechter Hinterlist und 
Gewalt offenen, männlichen Widerstand geleistet! Gleiches hat 
er mit Gleichem vergolten ! Der Porter hatte ihn bei unserem 
Master angeschwärzt: er komme Abends regelmässig — 
un regelmässig nach Hause. Nun, er schwärzte den Porter 
wieder an: nämlich sein perfides Gesicht, mit gebranntem 
Kork!" (Bravo!) 

„Dem Master, ein neuer Besen, der anfangs etwas zu scharf 
kehrte, und der unserem armen Freunde die Stunden der 
abendlichen, freien Bewegung — im Wirthshause — verkürzen 
wollte, brachte er das Wirthshaus in's Haus; denn eines denk- 



Eine oxforder Studentenkneipe, 315 

würdigen Morgens sahen wir ein stattliches, anderswo ent- 
behrlich gewordenes, Wirthshausschild an des Masters Thür, 
worauf zu lesen war die Licenz: „Bier zu verseilen und 
oflFenen Schank im Locale selbst zu halten". (Verlängertes 
Bravo.) 

„An jenem Morgen hatte ich mich bereits zu meiner 
gewohnten frühen Stunde erhoben. Ich studirte in dem grossen 
deutschen Historiker Mommsen" (hier machte der Captain 
mir eine verbindliche Verbeugung, die ich dankbar erwiderte) 
„emsig die Manöver der beiden feindlichen Flotten in der 
denkwürdigen Seeschlacht bei Actium, von der Sie wohl 
meistens schon einmal gehört haben werden (Zustimmung), und 
dief das zukünftige Geschick dreier Welttheile definitiv ent- 
schied. Als Ihr Captain unterzog ich mich diesen schwierigen 
Studien, denn es geschah zur Vorbereitung für den genialen 
Schlachtplan, der heute Morgen den Sieg an unser Boot 
fesselte". (Allgemeines A — h! der Ueberraschung, dann 
stürmisches Bravo.) 

„Da — plötzlich — höre ich unter mir, in des Masters 
Wohnung, ein Fenster klirrend auffliegen und die von uns 
allen so gefürchtete Stimme ertönt: 

„HoUah ! Tomkins ! Tomkins !" 

„Alsbald erscheint drüben an der Thür seiner Lodge unser 
würdiger Porter im zartesten — Morgenanzuge. 

„Was wünschen Sie, Sir?" 

„Tomkins, komm herauf und öffne meine Thür! Sie ist 
von aussen verrammelt — ich bin eingesperrt!" 

„Sehr gut, Sir", erwiderte Tomkins, eilfertig seine Toilette 
vollendend. Dann setzte er diensteifrig hinzu: 

„Ich will nur sogleich zum. Schlosser Picklock laufen!" 

„Weshalb zum Schlosser Picklock?" kreischte es unter mir. 

„Nun Sir, ich vermuthe, irgend ein unverschämter Schlingel 
(Murren) hat Sie von aussen »eingeschraubt«! (mit einem Bohrer 
der durch beide Flügel der Thür getrieben und dann abge- 
brochen wird). 

„Eingeschraubt ? Unsinn !" 

„Ja", fuhr Tomkins fort, „und in diesen Fällen pflegte Ihr 
Herr Vorgänger mich stets zum Schlosser Picklock zu 
schicken!" — (Oh! Ob's! sittlicher Empörung.) 



316 Ein Tag in Oxford, 

„In diesem Augenblick zog ich mich tief gekränkt zurück. 

„Wie wir alle wissen, war Tomkins wieder einmal in bös- 
willigem Irrthume. (Ja! Ja!) 

„Ausserdem aber hatte er frech gelogen, denn — wie wir 
alle wissen, ist eine solche Missethat niemals — niemals! — 
in New verübt worden". (Entrüstete Bestätigung von allen 
Seiten.) 

„Und was war das Ende? 

„Unser Bruder „has been plucked", man hat ihn in 
den Mods schmähUch durchfallen lassen! Warum? weil er 
zu unwissend in der alten Geschichte, seinem Specialfache, ge- 
wesen! Hören Sie nun aber, Gentlemen, welch hinterlistige 
Fragen man ihm gestellt hat und urtheilen Sie dann selbst: 
ob er „fairly" behandelt ist". 

Der Captain zog mit grossem Ernste eine lange Liste 
hervor und las: 

„I. Geben Sie uns einen kurzen Abriss des vierten 
punischen Krieges. (Murren.) 

2. Ziehen Sie eine historische Parallele, in Plutarchs Manier, 
zwischen Alexander dem Grossen und Neil Gwynne. (Lachen.) 

3. Auf welche Weise versahen sich die Schatten am Ufer 
des Styx mit geistigen Getränken? (Bravo.) 

4. Zählen Sie die römischen Kaiser auf, welche die Ver- 
einigten Staaten besuchten und was sie dort ausrichteten. 
(Verstärktes Murren.) 

5. Man weiss, dass Ariadne, als sie von Theseus verlassen 
war, sich dem Bacchus vermählte. Ist dieses etwa eine mythisch- 
poetische Form, um auszudrücken, dass diese vereinsamte Schone 
sich aus Kummer dem Trünke ergab?" (Bravo, Bravo!) 

Der Schluss dieser Trauerrede erstarb unter dem steigenden, 
schallenden, homerischen Gelächter der Zuhörer. Endlich, nach- 
dem der „ganz famose Kerl" ausgetobt hatte, wandte man sich 
auch an den Bowlenverwalter wegen eines Abschiedsliedes. 

„Meinen Ausgang aus Oxford kennt Ihr bereits", erwiderte 
dieser bescheiden, „so will ich Euch denn meinen Eingang 
hierselbst erzählen". 

Und er stimmte, etwa nach der alten Melodie: „Fordere 
niemand mein Schicksal zu hören" folgendes hübsche Lied an: 



Eine oxforder Studentenkneipe, 317 

„Hier in Oxford, ein Füchslein bescheiden, 
Kam ich an eines Morgens im März! 
Das Gesicht, das ich schnitt, war sehr dümmlich, 
Vor Erwartung schlug ängstlich mein Herz. 

Chor: Owiedummderumdidumm 

Owiedummdenimdidnmm 

Owiedumm, derum, didumm, deri, dida! 
Ich zog ein auf dem Bocke der Stage Coach; 
Kutscher Adams der alte Gesell 
Setzt' mich ab in der prächtigen High Street, 
Vor dem würdigen Mitra-Hotel. 

Chor: Owie u. s. w. 

„Niemand hatte je besseren Eingang*' 

Rief ich, kletternd vom Bock mit Geschick, 

„Bin ich jetzt schon gelangt bis zur Mitra: 

In der Kirche blüht sicher mein Glück. 
Chor: Owie u. s. w. 

Der Schlussreim: „Owiedummderumdidumm" schien etwas 
von der Natur und Wirkung des Ariadnetrostes zu besitzen; nach 
und nach machte sich in ihm ein Polkarythmus geltend; die 
gesammte Gesellschaft gerieth mehr und mehr in einen flüssigen 
Zustand und, wer nur irgend Raum gewann, brach mit seinem 
Nachbar in einen höchst charaktervollen, bacchischen Sieges- 
tanz, rund um den langen Tisch herum, aus. 

„Ich hätte Lust nun abzufahren!" rief ich D. durch das 
Toben der Elemente zu, „um so mehr als auch mein Zug in 
einer halben Stunde abfahrt". 

Wir dankten dem Captain und verliessen still und unan- 
gefochten die oxforder Studentenkneipe. — 

Die frische Nachtluft, die uns in New College Lane ent- 
gegenwehte, that merklich wohl. 

Während wir Broad Street hinaufgingen, sagte D. : 

„Auf der Sachsenkneipe in Göttingen ging es freilich anders 
zu; hier haben wir kein specifisches Studentenleben; Sie sehen 
hier nur eine etwas derbe Nachahmung der Sitten und Unsitten 
unseres High Life. Daher überwiegen die Reden das Singen 
und gemeinschaftliche Lieder sind eigentlich unbekannt. — 
Auch unsere »Songs« werden Ihnen wohl reichlich verständig 
und im Grunde etwas nüchtern erscheinen, mehr trockner 
Humor als echte Poesie, wenn Sie dieselben mit dem herr- 
lichen Inhalte des »Deutschen Commersbuches« vergleichen, 



olb £in Tag in Oxford, 

das ich noch besitze und stets mit Vergnügen wieder durch- 
blättere". 

— Wir betraten den menschenleeren Perron. — 
„Allerdings", erwiderte ich mit bescheidenem Selbstgefühle, 

„wir haben zu Hause ein gewisses Etwas, welches wir :&das 
deutsche Lied« nennen. Aber das ist ein ererbtes Geheimniss 
des deutschen Volksgeistes und lässt sich Fremden nicht ent- 
hüllen, eben so wenig wie bei Ihnen das Cricket". 

Freund D. lachte herzlich über den schliesslichen Aus- 
bruch meines, bis dahin so weislich und consequent unter- 
drückten Nationalbewusstseins. 

— Der Zug fuhr in die Halle ein. — 

„Sie kennen nun ein Stück vom oxforder Leben", so 
lauteten des Freundes Abschiedsworte. „Auch hier haben wir, 
wie bei Ihnen, jugendlichen Leichtsinn neben ernster Arbeit, 
Anstand neben Rohheit, Verfehlung neben Erfolg, Lohn neben 
Strafe. Die Formen sind verschieden, aber hier wie dort ist 
kräftige, hoffnungsvolle Jugend in Gährung". 

„Und hierin liegt ja", fügte er halb entschuldigend hinzu, 
„die einzige Rechtfertigung für die Unbescheidenheit: ernst- 
hafte Menschen unversehens in solch lustige Gesellschaft 
gebracht zu haben". 

— Ich war bereits eingestiegen. — 

„Und jetzt", sprach er zu mir herein, im Abschiede meine 
Hand haltend, „lassen Sie mich zum Schlüsse noch einmal 
Ihren grossen Goethe citiren, als ein gutes Wort, eingelegt für 
Oxford und für Göttingen: 

„Wenn sich der Most auch ganz absurd gebürdet, 
Er giebt zuletzt doch noch *nen Wein!" 

„Leben Sie wohl!" 

— Der Zug war schon im Rollen. — 

„Auf baldiges Wiedersehen in Oxford" rief ich zurück. 



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