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BIOGRAPHISCHES JAHRBUCH
UND
DEUTSCHER NEKROLOG
UNTER STÄNDIGER iMITWIRKUNG
VON
GUIDO ADLER, F. VON BEZOLD, ALOIS BRANDL, ERNST ELSTER,
AUGUST FOURNIER, ADOLF FREY, HEINRICH FRIED JUNG, LUDWIG
GEIGER, KARL GLOSSY, MAX GRUBER, SIGMUND GÜNTHER,
EUGEN GUGLIA, ALFRED FREIHERRN VON MENSI, JACOB MINOR,
PAUL SCHLENTHER, ERICH SCHMIDT, ANTON E. SCHÖNBACH,
GEORG WOLFF U. A.
HERAUSGEGEBEN
VON
ANTON BETTELHEIM
IX. BAND
VOM I. JANUAR BIS 31. DEZEMBER 1904
MIT DEM BILDNIS VON FRIEDRICH RATZEL IN HELIOGRAVÜRE
BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1906.
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In halt.
Seite
Vorrede v — vi
Deutscher Nekrolog vom i. Januar bis 31. Januar 1904 i — 347
Ergänzungen und Nachträge 348 — 517
Alphabetisches Namenverzeichnis I 518
Alphabetisches Namenverzeichnis II 520
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Vo r wo r t.
Band IX ist wiederum die Gunst berufenster Mitarbeiter zugute
gekommen. Die Biographien Waldersees und Herbert Bismarcks
hat Hugo Jacobi übernommen. Stremayr würdigt sein namhaftester
vertrauter Unterstaatssekretär Lemayer. Den badischen Finanzminister
Buchenberger charakterisiert Nicolai. Lenbach fand einen un-
befangenen Richter in Bredt. Von Naturforschern wurden His durch
Spalteholz, Seegen durch J. Mauthner porträtiert. Den Nekrolog
von Ottokar Lorenz schrieb August Fournier. Das Gedenkblatt
für Alexander Meyer Cohn überließ Erich Schmidt. Eduard
Hanslicks Lebenslauf wird von Guido Adler gezeichnet, Ratzen-
hofers Wirken von Ludwig Stein dargestellt.
Ebenso reich, als der Text für das Berichtsjahr 19O4 sind die
Nachträge ausgefallen. Ludo M. Hartmann hat sich mit der Biographie
Mommsens, Helfferich mit der Würdigung Delbrücks, Spiro mit
dem Bildnis Malvida von Meysenbugs, Alfred Klaar mit dem
Nekrolog von Hieronymus Lorm eingestellt.
Das Ebenmaß in der Raumverteilung einzuhalten, bleibt ein Haupt-
gebot; dessen Einlösung wird dem Herausgeber wesentlich erleichtert
durch die von Georg Wolff mit liebreicher, treuer Sorgfalt gearbeiteten
Totenlisten, die das feste Rückgrat des Jahrbuches bilden und mit
ihren zuverlässigen lebensgeschichtlichen Angaben und Quellennach-
weisen auch in Fällen Ersatz bieten, in denen es dem Herausgeber
trotz mannigfaltiger Bemühungen nicht oder noch nicht gelang, selb-
ständige Nekrologe zu erhalten. Die Totenliste für 1904 hat Dr. Wolff
leider trotz allem Zuwarten nicht mehr vor dem Erscheinen dieses
Bandes der Druckerei vollständig zu Gebote stellen können; sie folgt
mit der Totenliste für 1905 im X. Band.
VI Vorwort.
Die Winke wohlwollender Beurteiler, die dem Unternehmen seit
seinem Beginn treu geblieben sind, werden ebensowohl erwogen, wie die
neuerer Kritiker, unter denen mit besonderem Dank Georg Kaufmanns
jüngste Anzeige in Sybels Historischer Zeitschrift sowie die beherzigens-
werten Fingerzeige im Literarischen Centralblatt hervorzuheben sind.
Wieviel trotz alledem noch zu lernen und zu bessern bleibt, ist dem
Herausgeber wohl bewußt, der biographische Kunst und Forschung
in der unscheinbarsten Lebensbeschreibung gepflegt sehen möchte.
Wünsche und Gedanken, die mit Immermanns »Tagebuchblättern
über Goethes Haus und Goethes Grab« vielfach zusammentreffen: »Wir
sind weit mehr in Andern vorhanden, als in dem, was wir unser Selbst
nennen. Die ganze Bedeutung des höheren Lebens ist aber, aus uns
herauszugelangen und in Anderen eine verklärte Persönlichkeit zu ge-
winnen. Denkt man dies recht durch, so verliert der Tod den größten
Teil seiner Schaurigkeit, selbst wenn man die Hoffnung persönlicher
Fortdauer auf sich beruhen läßt.« »Nur verliert sich alle ängstliche
und ausmalende Betrachtung dieses Punktes an den Särgen so hoher
Menschen, wo man mit einem Blicke ihre verstäubende Asche und ihr
ewiges wesenhaftes Fortleben auf der Oberwelt umfaßt. Dann erscheint
ein unvergängliches Leben schon hienieden verbürgt.«
Wien. Anton Bettelheim.
Nachschrift. Wiederum hat das Biographische Jahrbuch den
Heimgang eines seiner wärmsten Fürsprecher und treuesten Mitarbeiter
zu beklagen: Friedrich von Weech ist geschieden. Nicht zum
wenigsten seiner Tatkraft war es zuzuschreiben, daß unser Unternehmen
in seinem Bestände erhalten und befestigt wurde. Seinem gütigen
Entgegenkommen war es auch zu danken, daß sein Name das Titelblatt
des Biographischen Jahrbuchs zieren durfte.
Der Herausgeber.
DEUTSCHER NEKROLOG
VOM I. JANUAR BIS 3i. DEZEMBER
1904
Homo liber de nulla re minus quam
de morte cogitat et ejus sapientia non
mortis» sed vitae meditatio est.
Spinoza. Ethices pars IV. Propos.
LXVII.
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd
Deutscher Nekrolog vom i. Januar bis 31. Dezember 1904.
Waldersee, Alfred Ludwig Heinrich Karl Graf von, Generalf eldmarschall,
♦ 8. April 1832 zu Potsdam, f Hannover 5. Mai 1904. — Sein Vater war
der verstorbene General der Kavallerie und Chef des 4. Dragoner-Regiments
Graf Franz Waldersee, seine Mutter eine geborene von Hünerbein, eine
Tochter des bekannten Kavallerieführers der Befreiungskriege und späteren
kommandierenden Generals des VI. Armeekorps. Seine erste Erziehung genoß
der Knabe im elterlichen Hause und in den Kadettenhäusern von Potsdam
und Berlin; er gehört somit zu denjenigen Führern des preußischen Heeres,
die ihre Tüchtigkeit zum wesentlichen Teil diesen Anstalten verdanken, aus
welchen dem Heere so viele hervorragende Männer zugewachsen sind. Mit
achtzehn Jahren trat er als Leutnant in das damalige Garde-Artillerie-Regiment
zu Berlin ein, wurde 1852, nach absolviertem Besuch der Artillerie- und
Ingenieurschule, zum Artillerieoffizier ernannt und legte während der folgenden
sechs Jahre seine dienstliche Laufbahn als Abteilungsadjutant und als Feuer-
werksleutnant zurück. Im Jahre 1858 wurde er Adjutant der i. Artillerie-
Inspektion und bald darauf als Begleiter des Generalleutnants von Hermann,
Kommandeurs der 3. Division, kommandiert, der mit der Inspektion des
württembergischen Bundeskontingents beauftragt war. Als Generalfeldmarschall
ist Graf Waldersee dann am Abend seines Lebens zu den württembergischen
Truppen abermals in dienstliche Beziehungen, und zwar als Generalinspekteur,
getreten. Im Jahre 1860 wurde er als Premierleutnant auf zwei Jahre zum
Gouverneur des Prinzen Albert von Sachsen -Altenburg ernannt. Während
dieses Kommandos tat er neun Monate lang Dienst bei dem 5. Ulanen-Regi-
ment. 1862 wurde er Hauptmann, 1864, während der damaligen Kriegsbereit-
schaft, Kommandeur der sechsten reitenden Gardebatterie, später Chef der
Garde -Handwerks -Kompagnie, im folgenden Jahre Adjutant beim General-
feldzeugmeister, dem Prinzen Karl von Preußen, in dieser Stellung auch
bereits zum Mitglied der Artillerie-Prüfungskommission ernannt. Er begleitete
den Prinzen in den Feldzug von 1866 und in die Schlacht von Königgrätz.
Während des weiteren Vormarsches der Armee auf Wien wurde er von
diesem Verhältnis entbunden und am 16. Juli dem großen Generalstab zu-
geteilt; am 28. Juli wurde er Major und wenige Tage später, am i. August,
als Generalstabsoffizier zum damaligen Generalgouvernement des Königreichs
Hannover kommandiert. Bei der bald darauf erfolgten Formierung des
10. Armeekorps trat er als erster Generalstabsoffizier zum Generalkommando
!•
A von VValdersce.
über. Mit dieser Kommandierung nach Hannover hat die Laufbahn des
Grafen Waldersee ihre eigentliche Richtung erhalten. In seiner Eigenschaft
als erster Generalstabsoffizier fiel ihm die Ordnung der Angelegenheiten
der ehemaligen Hannoverschen Offiziere zu, und es zeugte für ein hohes
Maß von Takt und Gewandtheit, daß der damals 34jährige Major diese
schwierige Aufgabe zu voller Zufriedenheit löste. König Wilhelm hatte seine
hervorragende Eigenschaft, sich für jede Aufgabe den richtigen Mann heraus-
zusuchen, auch in diesem Falle betätigt, wo an die Umsicht des Betreffen-
den, seinen Charakter, seine Fähigkeiten, Menschen zu beurteilen und zu
behandeln, große Ansprüche gestellt werden mußten. Dieses Kommando
knüpfte den Grafen Waldersee auch zuerst an die Provinz Hannover, mit
der er in vielfachen Stellungen verbunden bleiben sollte, und in deren
Hauptstadt er hochgeehrt seine Tage beschlossen hat. Im Jahre 1867 ward
er dann in den Generalstab der Armee einrangiert. Auf seiner damaligen
Dienstleistung in Hannover, die ihn mit so vielen Menschen in Berührung
gebracht hatte, auf seinem dabei bekundeten Billigkeitssinn, seiner vornehmen
Denkungsart und seiner Geschicklichkeit, beruhen zum nicht geringen Teil
das Ansehen und die Popularität, deren er bis an sein Lebensende in
Hannover sich erfreut hat. Gleichzeitig bot die ihm gestellte Aufgabe mannig-
fache Gelegenheit, mit dem Ministerpräsidenten und Bundeskanzler, Grafen
Bismarck, in Verbindung zu treten, ebenso wie sie auch zu vielfachen Ein-
blicken in die Zivilverwaltung und zugleich in die weifischen Bestrebungen führte,
deren entschiedener Gegner er bis an sein Lebensende geblieben ist. Durch
seine Tätigkeit erwarb er sich die Anerkennung des Königs und des Minister-
präsidenten sowie die seines kommandierenden Generals, des sonst so gefürch-
teten Voigts -Rhetz, der vor der Berufung Moltkes allgemein als der künftige
Chef des Generalstabes der Armee gegolten hatte. Dem General v. Voigts-
Rhetz war Waldersee auch menschlich näher getreten und hatte sich sein
volles Vertrauen erworben. Der spätere Briefwechsel zwischen beiden spricht
dafür.
Es konnte unter diesen Umständen nicht weiter auffallen, daß Graf
Waldersee im Januar 1870 zur Botschaft in Paris kommandiert und in dieser
Stellung am 2. Mai zum Flügeladjutanten des Königs ernannt wurde. In
Paris hatte er von neuem Gelegenheit, in dieser, dem Kriege unmittelbar
vorangehenden Periode wertvolle Dienste zu leisten. Mit großer Umsicht
hatte er sich sehr bald Einblicke in die französischen Armee Verhältnisse ver-
schafft, und als im Anfang Juli die ersten Rüstungen Frankreichs begannen,
war Graf Waldersee in der Lage, sie von Schritt zu Schritt aufmerksam
überwachen zu können. Das im Herbst 1904 vom preußischen Kriegs-
ministerium herausgegebene Werk über die Mobilmachung von 1870 enthält
wertvolle Aufschlüsse über Waldersees Berichterstattung aus jener Zeit,
die wesentlich dazu beitrug, daß die deutschen Gegenmaßregeln rechtzeitig
und umfassend getroffen wurden. Bereits am 9. Juli hatte er in einem Bericht
an den König ausgesprochen, daß er den Krieg für eine beschlossene
Sache halte upd am 11. Juli traf in Ems ein tags zuvor von ihm abge-
sandter Bericht ein, der in zwölf Punkten die begonnenen Rüstungen fest-
stellte. Außerdem verfaßte Graf Waldersee eine populäre Zusammenstellung
über die Marsch- und Gefechtsweise der französischen Armee, die Handhabung
von Waldersee. c
des Lagerdienstes usw., die in den Tagen nach der Kriegserklärung vom 19. Juli
in Berlin zur Veröffentlichung gelangte und dann in vielen Tausenden von
Exemplaren als Leitfaden für den Sieg mit nach Frankreich gewandert ist.
Von Waldersees Berichten aus Paris, die sich alle durch besonnene Klarheit
auszeichneten, sind diejenigen von besonderer Wichtigkeit gewesen, welche
sich auf die Bewaffnung der französischen Infanterie bezogen. An höherer Stelle
in Berlin bestand vor dem Kriege geringe Neigung, an die Überlegenheit
des Chassepotgewehres zu glauben, wiewohl Warnungen von einsichtigen
Leuten nicht ausgeblieben waren. Graf Waldersee machte darauf aufmerksam,
daß und wie die Fechtweise unserer Infanterie sich nach der Wirkung des
Chassepots einzurichten habe, seine Angaben haben sich als richtig und wert-
voll erwiesen. Bei der Mobilmachung wurde Graf Waldersee in das große
Hauptquartier zur Dienstleistung bei dem Könige kommandiert und gleich-
zeitig zum Oberstleutnant befördert. Während des langen Aufenthalts in
Versailles trat er in häufige Verbindung mit Bismarck, an dessen Tisch er,
wie die Aufzeichnungen von Busch ergeben, ein häufiger Gast war, im
Gefolge des Königs hatte er an den Schlachten von Gravelotte, Beaumont
und Sedan teilgenommen. Als im November 1870 die Verhältnisse an der
Loire schwierig wurden, ward Graf Waldersee im speziellen Auftrage des
Königs zum Prinzen Friedrich Karl kommandiert. Er nahm in dieser Stellung
an allen Schlachten und größeren Gefechten der 2. Armee teil. Der Krieg
war deutscherseits dort nicht mit dem Grade von Umsicht und Energie be-
trieben worden, den die Kriegslage verlangte. In einem Aufsatz der »Grenz-
boten«, Märzheft 1904, finden wir darüber folgende Darstellung:
»Man begann in Versailles wegen der weiteren Entwicklung der Dinge
Besorgnis zu empfinden, und der König, der den Optimismus seiner mili-
tärischen Umgebung seit Sedan ohnehin nicht zu teilen vermochte, mit
der einlaufenden Berichterstattung des Oberkommandos der 2. Armee sowie
der Armeeabteilung des Großherzogs von Mecklenburg auch wenig zufrieden
war, beschloß, einen Offizier dorthin zu entsenden, der in unabhängiger
Stellung die Sachlage prüfen, ihm Bericht erstatten und zumal bei dem
Prinzen Friedrich Karl die Anschauungen des Königs vertreten sollte. Die
Wahl war nicht leicht zu treffen. Es mußte die Empfindlichkeit des Prinzen
geschont, auf die souveraine Stellung des Großherzogs, nicht minder auf
Moltke und den großen Generalstab Rücksicht genommen, dennoch im Sinne
des Königs mit Energie gehandelt werden. Schließlich fiel die Wahl auf den
Grafen Waldersee, dem der König mit der ihm eigenen, ruhigen Klarheit
auseinandersetzte, um was es sich handelte, ihm auch ein Schreiben an den
Prinzen behändigte, worin die Ansichten des Königs entwickelt waren, die
Waldersee seinerseits mündlich erläutern sollte. Die Abreise mußte ohne
vorherige Meldung oder Rücksprache bei Moltke oder dem Generalstab er-
folgen, damit Graf Waldersee die Anschauungen des Königs in voller Un-
abhängigkeit und unbeeinflußt vertreten konnte. Er erhielt zudem den Befehl,
bis zu seiner Abberufung bei dem Prinzen zu bleiben und dem König täglich
zu berichten.«
Fritz Honigs Buch »Der Volkskrieg an der Loire« enthält über diese
Mission sehr eingehende und interessante Einzelheiten, namentlich auch die
mündlichen Instruktionen des Königs. Prinz Friedrich Karl, dem Waldersee
6 von Walderscc.
schon als Adjutant seines Vaters bekannt gewesen war, empfing ihn sehr
freundlich und erleichterte ihm seine delikate Mission auf jede Weise, indem
er ihn zugleich für Unterkunft und Verpflegung seinem Hauptquartier attachierte.
Graf Waldersee erfüllte auch diese schwierige Aufgabe mit Auszeichnung und
unter wiederholten Beweisen großer persönlicher Bravour. Er führte bei Beaune
la Rolande »als alter Artillerist« auf Wunsch des kommandierenden Generals
die erste auffahrende Batterie des 3. Armeekorps in Stellung, nachdem er,
das im Vormarsch begriffene Korps durch einen schnellen Ritt von drei
Meilen überholend, dem im verzweifelten Ringen begriffenen 10. Armeekorps
die Kunde überbracht hatte, daß die Ankunft der Brandenburger binnen drei
Stunden zu erwarten sei. Er hat dadurch nicht wenig dazu beigetragen, die
braven Truppen des 10. Armeekorps zum Ausharren zu ermuntern, auch konnte
er den anrückenden Truppen der 5. und 6. Division die geeignetste Richtung
zum Angriff geben. In der Schlacht bei Loigny sprang er vom Pferde und
ging mit einer Pionierkompagnie zur Besetzung der entblößten Südspitze des
Ortes vor, sich persönlich an dem dort erforderlichen Schnellfeuer beteili-
gend. Sein Aufenthalt beim Prinzen Friedrich Karl und dem Großherzog
von Mecklenburg brachte ihn an 14 verschiedenen Gefechtstagen ins Feuer.
Nach Versailles zurückgekehrt, empfing er aus der Hand des Königs das
Eiserne Kreuz i. Klasse, das der Monarch ihm selbst an den Rock heftete.
Vom 2. bis 31. Januar 1870 wurde er als Chef des Generalstabes beim Großherzog
von Mecklenburg kommandiert. Seine Tätigkeit in dieser Stellung ist eine sehr
ersprießliche gewesen und brachte ihm die Anerkennung und Zuneigung dieses
vortrefflichen Fürsten ein. Mit Eintritt des Waffenstillstandes trat Waldersee in
das große Hauptquartier zurück, und als vor dem Einzug in Paris General von
Kamecke zum Kommandanten des von den Deutschen zu besetzenden Teiles
der französischen Hauptstadt ernannt worden war, wurde Graf Waldersee zu
ihm, »zur Kommandantur in Paris« kommandiert, das er sechs Monate zuvor als
preußischer Militärbevollmächtigter verlassen hatte. In dem zahlreichen Stabe
des Generals von Kamecke war er der einzige Generalstabsoffizier und der
Chef des Stabes. Über dieses Kommando berichten die »Grenzboten« : »Bevor
er sich nach Paris begab, meldete Graf Waldersee sich bei Bismarck. Auf
die Frage über das Verhalten bei eintretenden Unruhen entgegnete der
Kanzler, daß Schreien, Schimpfen und einzelne Steinwürfe von Straßenjungen
ignoriert werden sollten, würden dagegen die deutschen Truppen ernstlich
angegriffen, »so schießen Sie dazwischen, daß die Knochen fliegen«. —
Bekanntlich dauerte die Besetzung von Paris nur drei Tage. Als bei dem
großen Zapfenstreich am Abend des dritten Tages das Kommando »Helm
ab zum Gebet!« gegeben wurde, entblößten mit den Truppen auch viele
Pariser das Haupt, und Graf Waldersee hörte aus ihren Reihen das Wort:
»Voi/a fe qui fioNS manqucf^. Ähnlich berichtet auch Graf Fred Frankenberg in
seinem Kriegstagebuche über die Äußerung : »f"« a iti une bonne Ufon pour nousl^^
Alsbald nach dem Friedensschluß ergab sich das Bedürfnis, die diplomatischen
Beziehungen zur französischen Regierung wieder aufzunehmen, Graf Waldersee
wurde am 12. Juni zum Geschäftsträger bei der französischen Republik ernannt,
wiederum ein Beweis für das Vertrauen in seine vielseitige Befähigung. Er
trat damit vorübergehend in den diplomatischen Dienst und wurde so der
Untergebene Bismarcks. Von dem amerikanischen Gesandten Washburne,
von Waldersee. 7
der während des Krieges sich der in Paris zuriickgebliebenen Deutschen mit
großer Hingebung angenommen hatte, übernahm er mit Überreichung eines
Schreibens des Bundeskanzlers das Botschaftsarchiv.
Es waren zu jener Zeit mancherlei Schwierigkeiten durch die Stellung
des Oberbefehlshabers der Okkupationsarmee, Generals von Manteuffel, und
dessen eigenmächtige Verhandlungen mit der französischen Regierung ent-
standen. Waldersees Ernennung zum Geschäftsträger beruhte wesentlich
darauf, diese Situation vom Standpunkt des deutschen diplomatischen Inter-
esses aus zu überwachen, und er kam in die Lage, dem Oberbefehlshaber
der Okkupations- Armee gegenüber ziemlich bestimmt Stellung zu nehmen.
Manteuffel trieb damals seine eigene Politik, der amtlichen Politik Bismarcks
entgegengesetzt, die bei den Franzosen zu befehden er keinen Anstand
nahm.*) Waldersee trat, obwohl nur Oberstleutnant, dem General hierbei
mit Takt und Energie entgfegen und beantwortete dessen Aufforderung,
ihn in seiner militärischen Eigenschaft zu unterstützen, mit einem entschie-
denen Hinweis auf seine diplomatische Stellung. Selbstverständlich ging das
nicht ohne Reibungen ab. Die Stellung war somit eine sehr interessante,
aber auch — wie Waldersee selbst sagte — eine der anstrengendsten Tätig-
keiten seines Lebens. Es leuchtet ein, daß schon die Wiederanknüpfung der
Beziehungen in Paris keine leichte und das Leben mühsam war. Mit den
maßgebenden Persönlichkeiten der französischen Regierung stellte er jedoch
— soweit das bei den eigenartigen Verhältnissen möglich war — bald die
besten Beziehungen her, namentlich zu den Herren Thiers und Pouyer-Quertier,
dem Finanzminister.
Die Verhältnisse brachten für Waldersee eine ziemlich rege diplomatische
Berichterstattung mit sich. Bei Busch (»Bismarck und seine Leute«) findet
sich aus einem Erlaß Bismarcks an Waldersee vom 25. Juli 1871 der Satz
wiedergegeben: »Die Erhaltung der Gesandtschaften von Bundesstaaten im
Auslande liegt nicht im Interesse des Reichs. Wir können aber ihr allmäh-
liches Verschwinden von der Zeit und den Budget -Debatten der Einzel-
staaten erwarten«. — Am ersten Jahrestage von Gravelotte war Waldersee
zum Oberst befördert worden. Wenige Tage später wurde er von seinem
Kommando nach Paris unter ehrender Anerkennung des Kaisers ent-
bunden, nachdem sich namentlich den Man teuff eischen Seitensprüngen
gegenüber die Notwendigkeit ergeben hatte, die dortige diplomatische
Vertretung des Deutschen Reiches wieder endgültig durch Ernennung eines
Botschafters zu besetzen. Graf Waldersee wurde zum Kommandeur des
13. Ulanen-Regiments in Hannover, den heutigen Königsulanen, ernannt und
verblieb in dieser Stellung bis zum 9. Dezember 1873, an welchem Tage
seine Ernennung zum Chef des Generalstabes des 10. Armeekorps unter Ver-
setzung in den Generalstab erfolgte. In der Stellung als Chef des General-
stabes des 10. Armeekorps in Hannover, dessen kommandierender General
Prinz Albrecht von Preußen (der jetzige Regent von Braunschweig) war, ist
Waldersee auch als General bis zum Dezember 1881 verblieben. Zuvor war
er sowohl während der Berliner Drei-Kaiser-Zusammenkunft als auch für die
«) Thiers' hinterlassene, von seiner Nichte Fräulein Dosne veröffentlichte Aufzeichnungen
verbreiten hierüber volle Klarheit. Vgl. auch Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck S. 480/83.
8 von Waldersee.
Reise des Kaisers nach St. Petersburg im Frühjahr 1873 zur Dienstleistung
bei dem Monarchen befohlen worden. Das Gleiche war im Jahre 1875 während
der großen Herbstübungen der Fall, am 10. August 1876 erfolgte die Beför-
derung zum Generalmajor. Das Jahr 1879 brachte zwei neue Kommandos,
zum Ehrendienst zunächst vom 9. bis 14. Juni bei dem Prinzen Arnulf von
Bayern und vom 16. September bis 14. Oktober zur Beiwohnung der Manöver
des 3. und 12. französischen Armeekorps. Im Jahre 1880 lag ihm die Leitung
der Übungen im Festungskriege bei Königsberg ob, im September hatte er
abermals ein Ehrendienstkommando bei der Person des Herzogs von Connaught,
dem Schwiegersohn des Prinzen Friedrich Karl, am 18. September erfolgte
die Ernennung zum General ä la suite. Im Januar 1881 ward General Graf
Waldersee zunächst mit einer Mission bei dem Herzog von Braunschweig
beauftragt, sodann vom 23. Februar bis 2. März zum Dienst beim Kaiser
während der damaligen Vermählungsfeierlichkeiien am Berliner Hofe befohlen,
ebenso im September zur Flottenrevue in Kiel. Gegen Ende des Jahres
wurde er zum Generalquartiermeister ernannt, er trat damit als Adlatus des
Feldmarschalls v. Moltke in den großen Generalstab nach Berlin zurück.
Am II. Juni 1882 zum Generalleutnant befördert — im Alter von 50 Jahren
— trat er während der nun folgenden Zeit der Person des Prinzen Wilhelm,
des jetzigen Kaisers, näher, den er auch im Mai 1884 auf einer Reise nach
Petersburg anläßlich der Großjährigkeitserklärung des Großfürsten Thron-
folgers, des heutigen Kaisers von Rußland, begleitete. Am 22. März 1885
wurde er zum General-Adjutanten des Kaisers ernannt, im August 1887 zur
Beiwohnung der österreichischen Manöver bei Olmütz und im November
zum Ehrendienst beim Großfürsten Thronfolger von Rußland kommandiert.
Im Jahre 1888 erfolgte im Juni seine Entsendung nach Pest, um dem Kaiser
Franz Josef die Notifikation der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. zu
überbringen, Kaiser Friedrich hatte zuvor während seiner kurzen Regierung
den Grafen Waldersee unterm 23. April zum General der Kavallerie befördert.
In Hofkreisen hatte damals die Absicht bestanden, den General aus Berlin
zu entfernen. Der Plan scheiterte aber an dem entschlossenen Widerspruch
des Feldmarschalls Moltke, der mit aller Entschiedenheit seinen Abschied in
Aussicht stellte, falls man ihm diesen seinen Mitarbeiter entziehen würde. Als
Moltke dann am 10. August 1888 seinen Abschied nahm, wurde Waldersee
sein Nachfolger unter Belassung in seinem Verhältnis als Generaladjutant und
unter Stellung ä la suite des Ulanenregiments Nr. 13. An der Spitze des
Generalstabes verblieb Graf Waldersee bis zum 2. Februar 1891. Wenn man
von der Leitung der chinesischen Expedition absieht, so bezeichnen diese
Jahre für den Grafen Waldersee den eigentlichen Höhepunkt seines Wirkens.
Durch ihn wurde der große Generalstab auf eine Höhe gehoben, die er selbst
unter Moltke nicht erreicht hatte und die ihm ein Ansehen wie in keiner
anderen europäischen Armee gab. Auf Wunsch Italiens hatten die Dreibund-
mächte besondere militärische Verabredungen für den Fall beschlossen, daß
ihre politischen Bündnisse in praktische Wirksamkeit zu treten hätten. Es
wurden damals italienische und österreichische Offiziere in den Generalstab
nach Berlin kommandiert, Verabredungen über Mobilmachung und Aufmarsch
getroffen, die seitdem, unter wesentlich veränderten Verhältnissen, freilich
längst hinfällig geworden sind. Die Gestaltung der Beziehungen zu Rußland
von VValdersee. q
erforderte damals mancherlei Vorbereitungen. Schon die russischen Drohungen
im Jahre 1879 hatten die militärische Aufmerksamkeit auf die Ostgrenze
gelenkt. Es ist behauptet worden, daß namentlich Moltke die damalige
militärische Überlegenheit Deutschlands über Rußland habe ausgenutzt wissen
wollen. Bei dem hohen Lebensalter Kaiser Wilhelms I. und der schweren
Erkrankung des Kronprinzen hätte aber für Deutschland nichts unerwünschter
sein können als ein Krieg mit einer europäischen Großmacht oder gar
mehreren Großmächten, wobei der kaiserliche Oberbefehl gefehlt haben würde.
Auch ist Bismarck bekanntlich ein entschiedener Gegner von Präventivkriegen
gewesen; er hat sich im Jahre 1888 in seiner damaligen berühmten Reichstags-
rede mit großer Bestimmtheit darüber ausgesprochen. Im Laufe des Jahres 1890
geriet Graf Waldersee gelegentlich der schlesischen Manöver durch seine
am Schluß derselben gehaltene Kritik sowie auch noch bei späteren An-
lässen in militärische Differenzen mit dem Kaiser und reichte infolgedessen
Ende Januar 1891 seine Entlassung ein. Unter dem 2. Februar wurde er,
nach Ablehnung seines wiederholten Abschiedsgesuchs, zum kommandierenden
General des 9. Armeekorps ernannt. Eine sehr schmeichelhafte Kabinetsordre
sprach aus, daß er im Kriegsfalle zur Führung einer Armee ausersehen sei,
und aus diesem Grunde, da er bisher ein Armeekorps noch nicht geführt
habe, ein solches kommandieren solle. Graf Waldersee hat das Korps dann
sieben Jahre lang geführt und ist unermüdlich darauf bedacht gewesen, es
in allen Waffen auf die höchste Höhe der Ausbildung und Vervollkomm-
nung zu heben, sich auch das Wohlergehen von Offizieren und Mannschaften
nach jeder Richtung hin angelegen sein zu lassen. Was er dem Korps
gewesen ist, hat dieses im Nachrufe beim Hinscheiden des Feldmarschalls
dankbar anerkannt. Auch in dieser neuen Stellung ward er wiederholt zu
Ehrendiensten berufen, so im September beim König Albert von Sachsen und
im Juni folgenden Jahres beim König Umberto von Italien. Am 1 2. September
1895 erfolgte nach den damaligen Manövern in Pommern seine Beförderung
zum Generaloberst mit dem Range eines Generalfeldmarschalls. Im Jahre 1896
führte er den Oberbefehl über das 5. und 6. Armeekorps während der großen
Manöver bei Bautzen; nach dem Abschlüsse erfolgte seine Ernennung zum
Chef des 9. Feld- Artillerie-Regiments, in beiden Fällen hatte er als Ober-
befehlshaber einer Armee eine bedeutende Geschicklichkeit in der Führung
großer Truppenmassen bewiesen. In der Stellung als kommandierender General
verblieb Graf Waldersee bis zum Jahre 1898. Aus seiner Wirksamkeit in Altona
ist noch das Cholerajahr 1892 hervorzuheben. Der ruhigen Entschlossenheit
des Generals ist es zu danken, daß der gesamte Behördenapparat kaltes
Blut bewahrte und der Verbreitung der Seuche ein Riegel vorgeschoben
wurde. Eine besondere kaiserliche Ordre erkannte diese Haltung in warmen
Ausdrücken an. Am i. April jenes Jahres erfolgte die Ernennung zum
Generalinspekteur der 3. Armee-Inspektion mit Anweisung des Wohnsitzes in
Hannover. Im Mai wurde er mit der Besichtigung der württembergischen
Truppen und des 7. Armeekorps für den Herbst beauftragt, während der
Kaisermanöver des 7. und 10. Armeekorps fungierte er als Schiedsrichter.
Im folgenden Jahre war er gleichfalls mit Besichtigungen, diesmal des
8. Armeekorps und der württembergischen Truppen beauftragt, bei den
großen Herbstmanövern des 13., 14. und 15. Armeekorps bekleidete er
10 von Waldersee.
wiederum das Schiedsrichteramt. Im Jahre 1900 ward ihm die Besichtigung
des 18. und des 11. Armeekorps übertragen. Unter dem 6. Mai erfolgte seine
Ernennung zum Generalfeldmarschall. Als bald darauf die Wirren in China
die Entsendung eines Expeditionskorps erforderlich machten, welchem Truppen
dreier Weltteile angehörten, wurde Graf Waldersee unter dem 6. August zum
Oberbefehlshaber ernannt. Nach der Heimkehr im Sommer des folgenden
Jahres trat er wieder in seine Stellung als Generalinspekteur der 3. Armee-
Inspektion zurück, in welcher Stellung er aus dem Leben geschieden ist.
Seine Inspektionen in Süddeutschland brachten ihn in häufige Berührung mit
den Höfen von Württemberg und Baden und führten namentlich zur Wieder-
aufnahme alter vertraulicher Beziehungen zum Grofiherzog Friedrich, dessen
Gast er auch nach der Rückkehr aus China noch wiederholt gewesen ist.
Vorübergehende Verstimmungen zwischen den Höfen von Karlsruhe und
Berlin, die in Vorgängen militärischer Natur wurzelten, sind dabei wohl
durch ihn beglichen worden.
Graf Waldersee gehört der Kategorie der preußischen Generale an,
denen neben hohen militärischen Würden gleichzeitig große politische Ver-
trauensstellungen übertragen worden sind. Am nächsten läge der Vergleich
mit dem Feldmarschall Edwin Manteuffel, aber Graf Waldersee hat diesen
an militärischem Urteil, an Umsicht und Bedeutung in der praktischen Be-
urteilung von Menschen und Dingen sowie an Dienstkenntnis weit über-
ragt. Der Unterschied in dem Unterbau der militärischen Laufbalm beider
Generale erklärt neben den Charakterverschiedenheiten diesen Umstand zur
Genüge. W^aldersee hat in seinem Dienstleben den Truppen ungleich näher
gestanden als Manteuffel, war mehr Praktiker, jener mehr Theoretiker; auch
hatte Waldersee namentlich während seines Kommandos zum Prinzen Friedrich
Karl im Jahre 1870 auf den Schlachtfeldern im feindlichen Feuer Studien ge-
macht, zu denen Manteuffel keine Gelegenheit gehabt hatte, und woran ihn
auch als Feldherrn seine Kurzsichtigkeit behinderte. Dazu kam, daß Graf
Waldersec einen stählernen, abgehärteten, unermüdlichen Körper besaß, ein vor-
trefflicher Reiter war und sich namentlich im schnellen Erfassen von Situationen
und durch einen großen Überblick auszeichnete, so daß er jede ihm zugewiesene
Stellung bald aus eigenem Wissen und Können beherrschte und ihr neue und
wertvolle Gesichtspunkte abzugewinnen wußte. W^aldersee war weit mehr wie
Manteuffel mit Leib und Seele Soldat. Eigen war ihm auch die Fähigkeit,
sich in alles hineinzudenken, sowie die Motive der Menschen zu ergründen
und zu würdigen. Seine Interessen waren sehr umfassende, aber in allem,
was an ihn herantrat, verstand er sehr schnell das Unwesentliche vom Wesent-
lichen zu unterscheiden. Wo immer er zur Wirksamkeit berufen war, hat
sich das betätigt, und die zahlreichen und wertvollen persönlichen Beziehungen
seines vielseitigen Dienstlebens leisteten ihm dabei großen Vorschub. So war
er während seiner Stellung als kommandierender General des 9. Armeekorps
auch in engere Beziehungen zur Marine und zu den Hansestädten, namentlich
zu Hamburg getreten, wo er eine durchaus populäre Persönlichkeit geworden
ist, ebenso wie in Hannover; die Hamburg-Amerika-Linie taufte einen ihrer
neueren Schnelldampfer auf seinen Namen. Die Reise nach China brachte
ihn gleichfalls mit dem Seewesen in enge Berührung, mit der Flotte in
unmittelbar dienstliche Beziehungen. Obwohl es für die letztere sicherlich
von Waldersee. 1 1
nichts Geringes war, bei ihrer ersten überseeischen größeren Tätigkeit unter den
Oberbefehl eines Landsoldaten gestellt zu sein, hat Graf Waldersees große Ge-
schicklichkeit dennoch nicht nur jede Friktion, die sich aus solchem Verhältnis
leicht hätte ergeben können, vermieden, sondern es haben zwischen ihm und
der Marine in China unausgesetzt stets die allerbesten persönlichen und dienst-
lichen Beziehungen bestanden. — Der Umstand, daß er die verschiedensten
Teile des Heeres auf den Schlachtfeldern persönlich kennen gelernt hatte,
in den Kämpfen an der Loire sich wiederholt mit Erfolg an der Führung
beteiligen konnte, sich dort auch in einer Stellung befand, die ihm einen
großen Überblick und einen Einblick in den Zusammenhang der Dinge ge-
währte, ist ihm für die Schärfung seines Verständnisses für die praktischen
Verhältnisse und Bedürfnisse des Feldlebens von ganz außerordentlichem
Vorteil gewesen und hat ihn namentlich die Grenze des Erreichbaren in den
Anforderungen an die Truppen überall mit Sicherheit finden gelehrt. So konnte
er während der chinesischen Expedition namentlich an die deutschen Regimenter
selbst sehr weitgehende Zumutungen mit der vollsten Sicherheit ihrer Ausführ-
barkeit stellen. Er erwarb sich dadurch sowie durch das Beispiel, das die
Deutschen gaben, zugleich das Vertrauen der fremden Kommandanten, zumal
der Franzosen, die freilich aus politischen Gründen äußerlich eine gewisse
Zurückhaltung beobachten mußten, innerlich ihm jedoch mit vollstem Ver-
trauen anhingen. Seine Stellung in China war neben der militärischen zu-
gleich eine politische und diplomatische in einem Umfange und von einer
Bedeutung, wie sie vordem in der Geschichte vielleicht noch nicht bestanden
hat, und dennoch war es ihm gelungen, sowohl mit der heimatlichen Leitung
der Politik als auch mit den militärischen und politischen Vertretern der
anderen Nationen im besten Einvernehmen zu bleiben. Jedenfalls war er
für diese Stellung wie geschaffen. Es hätte vielleicht keinen zweiten Lebenden
gegeben, der sie erfolgreicher wahrgenommen und trotz aller bestehenden
Schwierigkeiten das Ansehen Deutschlands in solcher Weise zu wahren gewußt
hätte. Es fällt dabei in Betracht, daß die erste der ihm gestellten Aufgaben
für China, die Wegnahme von Peking und die Befreiung der Gesandtschaften,
schon bald nach Beginn seiner Ausreise zur Lösung gelangt war, so daß die
Frage entstehen konnte, ob seine Weiterreise sowie der Antritt des Ober-
befehlshaberpostens überhaupt noch nötig sei. Waldersee hat durch seine
Leistungen diese PVage in der ausgiebigsten Weise bejaht. Nur durch die
von ihm mit großer Mühe aufrecht erhaltene Einheitlichkeit der Interessen
der Mächte gelang es ihm, auf den chinesischen Hof den für dessen Nach-«
giebigkeit erforderlichen Druck zu üben.
Auf innerpolitischem Gebiet ist Graf Waldersee äußerlich wenig hervor-
getreten. Als Mitglied des Herrenhauses, in welches er in den neunziger
Jahren berufen worden, hat er nur in seltenen Fällen das Wort ergriffen.
Bekannt war, daß er der Kreuz-Zeitung näherstand, ohne die von ihr ver-
tretenen Anschauungen durchweg zu teilen. Namentlich mißbilligte er — im
Gegensatz zur Kreuz-Zeitung — die verunglückten politischen Experimente,
die in der Provinz Hannover seitens der altpreußischen Konservativen unter-
nommen wurden. Er hatte diese Provinz seit ihrem Eintritt in den preußischen
Staatsverband eingehend kennen gelernt, kannte die meisten bedeutenderen
Persönlichkeiten und wußte genau, daß die Versuche, das feindliche Welfentum
1 2 von Waldersee.
auf Kosten der nationalliberalen Partei in das altpreuflische konservative Lager
tiberzuführen, mißglücken mußten. Solche Experimente konnten nur dem
Welfentum, dem ihm nahestehenden Zentrum oder den Sozialdemokraten zu-
gute kommen. Nach Waldersees oft ausgesprochener Überzeugung hatte der
preußische Staat in der Provinz Hannover noch auf lange Zeit hinaus nur auf
die nationalliberale Partei und mit dieser zu rechnen.
In einer ihm sehr unerwünschten Weise war im Jahre 1887 sein Name
und seine Person mit der sogenannten Walderseeversammlung in Berlin
in Verbindung gebracht worden. Wie bereits erwähnt, war Graf Walder-
see seit dem Jahre 1884 dem damaligen Prinzen Wilhelm, dem heutigen
Deutschen Kaiser, näher getreten. Ein Gleiches war mit der Gräfin Waldersee
und der Prinzeß Wilhelm der Fall, zu welcher die Gräfin durch ihren ersten
Gemahl, einen Prinzen zu Schleswig-Holstein-Noer, in einem entfernten ver-
wandtschaftlichen Verhältnis steht. Prinz und Prinzessin Wilhelm interessierten
sich damals für die vom Hofprediger Stöcker geleitete Berliner Stadtmission,
ebenso die Gräfin Waldersee, die von jeher allen Werken frommer Wohl-
tätigkeit um derer selbst willen große Opfer an Zeit und Geld widmet. In
diesem Kreise war beschlossen worden, eine Veranstaltung zugunsten der
Berliner Stadtmission zu arrangieren, das Nähere sollte Gegenstand einer
Besprechung sein, zu der absichtlich Personen der verschiedensten politischen
und konfessionellen Richtungen eingeladen wurden. Diese Besprechung sollte
ursprünglich bei dem prinzlichen Paare stattfinden, es stellten sich aber
Schwierigkeiten infolge von Renovierungsarbeiten heraus und der Hofmarschall
bat den Grafen Waldersee seine Wohnräume für diesen Zweck zur Verfügung
zu stellen. Da hierauf die Versammlung in seiner Wohnung abgehalten wurde,
erschien selbstverständlich Graf Waldersee als Hausherr und begrüßte die
Anwesenden. Daß ihm dabei irgendwelche kirchlichen oder politischen Ziele
vorgeschwebt hätten, hat er später auf das entschiedenste in Abrede gestellt.
Die Sache machte jedoch, wesentlich durch die Übertreibungen in der Presse,
ein sehr unliebsames Aufsehen. Dem Fürsten Bismarck war es vom Stand-
punkte des Staatsinteresses nicht erwünscht, einen dem Thron damals schon so
nahe stehenden Prinzen mit einer bestimmten kirchlichen Richtung verquickt
zu sehen, das Gleiche war in bezug auf einen so hochgestellten Militär wie
Graf Waldersee der Fall. Es entspann sich eine heftige Preßpolemik, auch
die Regierungsorgane beteiligten sich an einer scharfen Kritik der Versammlung.
Bei Beurteilung jener Periode und ihrer Strömungen darf nicht außer-
'acht gelassen werden, daß infolge der unheilbaren Erkrankung des damaligen
Kronprinzen und des schnell sinkenden Kräftezustandes des 90jährigen
Kaisers schon im Spätherbst 1887 in den Berliner politischen Kreisen eine
Art Übergangszustand Platz zu greifen begann, wobei allerlei Elemente sich
in den Vordergrund drängten, die davon zu profitieren hofften, wenn Prinz
Wilhelm in naher Zeit der Nachfolger seines Großvaters würde. Es begann ein
Intriguenspiel in großem Umfange, dessen Fäden schwer zu entwirren sind.
Vielen galt die Nachfolge des Fürsten Bismarck schon damals als eröffnet,
wenigstens geschah das Mögliche, um ihre Eröffnung herbeizuführen oder
doch vorzubereiten. Der Umstand, daß Kaiser Friedrich wider Erwarten, wenn
auch nur auf kurze Zeit, zur Regierung kam, hat viele dieser Bestrebungen
durchkreuzt, vereitelt oder doch aufgeschoben, aber die Jahre 1888/89 sind
von VValdersee, I 7
daran kaum minder reich gewesen. * So ist es zu verstehen, wenn Kaiserin
Augusta nach dem Tode ihres Gemahls es ablehnte, Berlin zu verlassen,
vielmehr solchen Ratschlägen den Ausspruch entgegensetzte: »es ist notwendig,
daß jetzt ein jeder auf seinem Posten bleibe«, ebenso wie sie in ihrem letzten
dankerfüllten Briefe an den Fürsten Bismarck vom 24. Dezember 1888 von
den »Widerwärtigkeiten einer vielbewegten Zeit« sprach. — Was die Be-
ziehungen zwischen Waldersee und Bismarck anbelangt, die in den Jahren
1887/90 starke Spannungen aufwiesen, so ist Graf Waldersee später von Altona
aus dem im Ruhestande befindlichen Fürsten wieder näher getreten, er
überbrachte ihm u. a. im Jahre 1892 auch Grüße Kaiser Alexanders III. von
Rußland, die dieser ihm bei der Anwesenheit in Kiel aufgetragen hatte.
Persönlich hat Waldersee seinen Einfluß beim Kaiser während dieser Jahre im
Sinne einer wenigstens äußeren Aussöhnung mit dem Kanzler zur Geltung
gebracht.
Neben der durch die Waldersee- Versammlung erzeugten Zeitungspolemik
ging noch eine andere Strömung einher, die sich auf militärisch-politischem
Gebiet geltend zu machen suchte und namentlich bestrebt war, militärische
Anschauungen bei politischen Entschließungen zur Mitwirkung oder zum
Ausschlag zu bringen. Während der achtziger Jahre entstand wiederholt ein
ziemlich lebhafter publizistischer Kriegslärm, bei welchem eine militärische
Mitwirkung unverkennbar war und der durch die Boulanger-Periode, durch
die Häufung von landesverräterischen Vorgängen in Elsaß -Lothringen, den
Schnäbelefall usw. einen ernsteren Hintergrund erhalten hatte. Die eigent-
lichen Vorgänge, um die es sich dabei handelte, sind bis heute vor der
Öffentlichkeit nicht klar gestellt. Bismarck war bekanntlich kein Freund
militärischer Nebenströmungen in der Politik, weil aus solchen leicht
Konsequenzen entstehen, die auf die verantwortliche Leitung der Politik
drücken und die Ziele weiter stecken als im Interesse der Erhaltung des
Friedens wünschenswert ist. Schon die auf Crispis Verlangen getroffenen
militärischen Dreibundabmachungen waren aus diesem Grunde nicht nach
seinem Geschmack gewesen. Die Erfahrung gab ihm darin recht. Beim
Besuch des Kaisers in Petersburg im Frühjahr 1873 war von russischer Seite
eine Abmachung vorgeschlagen worden, an der Bismarck sich nicht zu be-
teiligen wünschte, um sich nicht politisch die Hände zu binden. So war
ein rein militärisches Abkommen zustande gekommen, das von Moltke und
dem russischen Feldmarschall Fürsten Bariatinski unterzeichnet worden war
und das auch die Ratifikation beider Kaiser empfangen hatte. Dieses Ab-
kommen war es hauptsächlich gewesen, das dem Kaiser Wilhelm I. bei Ab-
schluß des Bündnisses mit Österreich im Jahre 1879 so schwere Gewissens-
bedrängnis verursacht hatte, wie sich denn auch wohl Kaiser Alexander II.
auf Grund jener Abmachungen im Sommer 1879 zu seiner fast drohenden
Sprache berechtigt geglaubt hatte. Doch das nebenbei. — Die auf publi-
zistischem Gebiet bei der Wende der achtziger Jahre in Zeitungsartikeln und
Broschüren ausgefochtenen Kämpfe waren Symptome tiefer liegender Span-
nungen und haben gleich diesen selbst heute nur noch historisches Interesse.
Wenden wir uns nunmehr zu der Tätigkeit Waldersees in China.
Wie bereits erwähnt, hatte die Notwendigkeit, der internationalen Expedition
eine einheitliche Spitze zu geben, zu seiner Ernennung zum Oberbefehls-
14
von VValdersee.
haber geführt. Kaiser Wilhelm hatte diese Notwendigkeit zuerst erkannt,
sie beim Kaiser Nikolaus vertreten und diesen ersucht, den Oberbefehl
russischerseits in die Hand zu nehmen. Kaiser Nikolaus stimmte der Richtig-
keit des Gedankens zu, lehnte jedoch den Oberbefehl für Rußland sowohl
um der Beziehungen zu China willen als auch mit Rücksicht darauf ab, daß
England in einen russischen Oberbefehl schwerlich willigen würde. Er
brachte den Oberbefehl für Deutschland, als der an der Expedition am
stärksten beteiligten Macht, in Vorschlag und da war Graf Waldersee die
gegebene Persönlichkeit.
Auf Einzelheiten der chinesischen Expedition einzugehen, würde hier zu
weit führen und den Rahmen der Aufgabe überschreiten. Bei der Formierung
der internationalen Streitkräfte und der Berufung Waldersees an ihre Spitze, war
der Gedanke maßgebend gewesen, daß Peking nicht nur zu erobern, sondern
möglicher Weise ein Krieg mit China zu führen sein werde. Graf Waldersee
hatte am 22. August 1900 in Neapel den Reichspostdampfer »Sachsen«
bestiegen, der ihn und das Armee-Oberkommando nach Ostasien bringen sollte.
Inzwischen war Peking am 15. August bereits besetzt worden, die dort be-
lagerten Gesandtschaften waren befreit, die Expedition erhielt damit gewisser-
maßen einen anderen Charakter. Die Ausreise von Berlin über Leipzig und
München nach Rom und Neapel hatte Anlaß zu lebhaften Ovationen der
Bevölkerungen gegeben, an denen Waldersee selbstverständlich unschuldig
war und die zum größten Teil auf die Initiative der Behörden zurückzuführen
waren, denen die Bevölkerung sich dann in warmer Teilnahme anschloß.
So war der Feldmarschall in Leipzig vom kommandierenden General von
Treitschke im Namen des Königs von Sachsen begrüßt worden, in München
von allen daselbst anwesenden Königlichen Prinzen, dem Offizierkorps und
einer ungezählten Volksmenge. An der österreichischen Grenze empfing ihn
der kommandierende General von Tyrol und begleitete ihn bis Innsbruck,
wo noch um Mittemacht das Offizierkorps der Garnison zu seinem Empfange
bereit stand. Auf allen italienischen Stationen fand ebenfalls großer offizieller
Empfang mit daran anschließenden Ovationen der Bevölkerung statt. Graf
Waldersee reiste mit wenigen Offizieren über Rom, weil König Viktor Emanuel
ihn dort zu empfangen gewünscht hatte, das Oberkommando ging direkt
nach Genua auf dem Dampfer »Sachsen«. Auch in Rom fehlte es nicht an
stürmischen Begrüßungen, die bis Neapel anhielten, und, wie der Feld-
marschall in einem Telegramm an den Kaiser hervorhob, Zeugnis von dem
internationalen Verständnis der weitesten Volksschichten der drei verbündeten
Nationen für die hohe politische Bedeutung dieser Expedition und die deutsche
Oberleitung ablegten. Es bedarf, wie gesagt, keines Hervorhebens, daß Graf
Waldersee persönlich den Ovationen, die ihm bei seinem Auszuge in drei
Ländern bereitet wurden, völlig fern stand. Wenn die Überschwänglichkeit
dieser Kundgebungen zum Teil mit Recht eine scharfe Kritik erfahren hat,
so konnte diese nicht den Feldmarschall treffen, der die Kundgebungen über
sich ergehen lassen mußte und persönlich sehr froh war, als er endlich, mit dem
Betreten des Dampfers »Sachsen«, die ersehnte Ruhe fand. Es war einerseits
gewiß viel von ihm, daß er im Alter von 68 Jahren dem Rufe noch gefolgt
war, andererseits ist es das ehrenvollste Zeugnis des Vertrauens, das in seine
Leistungsfähigkeit gesetzt wurde, wenn sein Souverän ihn unter Zustimmung
von Waldersee.
15
der andern Regierungen in diesem Lebensalter vor eine durch Schwierigkeiten
aller Art so sehr komplizierte Aufgabe stellte. Vor der Abreise hatte der
Kaiser den Feldmarschall auf Wilhelmshöhe empfangen und ihm dort den
Marschallsstab mit einer Ansprache überreicht.
Mit der Einnahme von Peking am 14. August war der erste Abschnitt der
Expedition beendigt. Es kam nun darauf an, den chinesischen Hof dem
Willen der verbündeten Mächte zu unterwerfen, oder, wenn man die Aufgabe
in diplomatische Form kleiden will, ihm diese Unterwerfung zu ermöglichen.
In Hongkong übernahm Graf Waldersee, der Bestimmung des Kaisers gemäß,
den Oberbefehl über die deutschen Land- und Seestreitkräfte und begab sich
zu diesem Zweck dort auf den Kreuzer »Hertha«, der die Kommandoflagge
des Feldmarschalls hißte. Auf der Reede von Wusung besichtigte er am
21. September das vor der Yangtsemündung liegende deutsche Panzer-
geschwader und begab sich unterm Salut der Kriegsschiffe aller Nationen
nach Shanghai, woselbst großer Empfang durch Ehrenwachen der deutschen,
französischen, englischen und japanischen Truppen stattfand. Eine große
Parade der in Shanghai anwesenden Truppen aller Nationen vor dem Feld-
marschall bezeichnete am nächsten Tage auch äußerlich die Übernahme des
Oberbefehls. Die Ausschiffung des allmählich auf der Reede von Taku ein-
treffenden deutschen Expeditionskorps bot außerordentliche Schwierigkeiten,
die auch unter Mitwirkung der Flotte nur sehr allmählich gehoben werden
konnten. Die Ausschiffung war im vollen Gange, als der Feldmarschall am
25. September an Bord der »Hertha« auf Taku-Reede eintraf, woselbst General
von Schwarzhoff sich zur Übernahme der Geschäfte als Chef des Generalstabes
meldete.
Der Gang der Ereignisse bis zur Einnahme von Peking hatte es mit
sich gebracht, daß der Machtbereich der verbündeten Truppen sich auf den
unmittelbaren Besitz der Straße von Peking bis Tschungtschu und weiter bis
Yangtson längs des Peiho sowie der Eisenbahn über Tientsin nach der Küste
beschränkte. Die rückwärtige Verbindung knüpfte an der See nur an den
einzigen Punkt Tongku an, der zunächst von den durch die chinesischen
Truppen noch besetzten Peitang-Forts bedroht wurde. Bereits am 10. September
hatte der die deutschen Seestreitkräfte kommandierende Vizeadmiral Bende-
mann dem Feldmarschall nach Singapore telegraphiert, daß die Peitang-Forts
sowie die Befestigungen bei Peitaho und Shanhaikwan als nächstes Angriffs-
ziel anzusehen seien, um den Zugang von der See nach Peking auch während
der Frostzeit frei zu bekommen. Auch in einer an den Kaiser übersandten
und dem Feldmarschall bei seiner Ankunft in Hongkong abschriftlich be-
händigten Denkschrift waren diese Ziele klar gelegt mit dem Hinzufügen,
daß die Operationen nach einstimmiger Ansicht der verbündeten Admirale
nicht über den Anfang November hinaus verschoben werden dürften. Graf
Waldersee antwortete aus Singapore, daß er mit den Plänen einverstanden
sei, indes bäte, wenn keine anderen Befehle aus Berlin vorlägen, mit der
Ausführung der Operationen bis zu seiner Ankunft zu warten. Nach seinem
Eintreffen fanden Ende September Beratungen der verbündeten Admirale
über dieses Vorgehen statt, das im Laufe der ersten Oktobertage in un-
blutiger Weise durchgeführt wurde. .
Die letzte militärische Stellung der Chinesen zwischen der Küste und
1 6 von Waldersee.
Peking war damit beseitigt, für die deutsche Armee-Oberleitung zugleich der
Hafen von Tschingwangtau als Ausschiffungspunkt für das deutsche Expe-
ditionskorps gewonnen. Die Peitang- Forts waren bereits am 21. September
vor der Ankunft des Feldmarschalls in die Hände der Verbündeten gefallen.
Die Wegnahme wurde hauptsächlich von russischer Seite betrieben, deutscher-
seits beteiligte sich namentlich die i. Batterie schwerer Haubitzen, Haupt-
mann Kremkow, in hervorragender Weise. Deutsche Infanterie- Abteilungen
drangen gemeinsam mit den Russen in die Forts ein, die von der chinesi-
schen Besatzung ohne erheblichen Widerstand unter dem Eindruck der
Beschießung geräumt wurden. Deutscherseits war als politisches Ziel von
Anfang an ins Auge gefaßt, die Wiederherstellung geordneter Zustände
durchzusetzen, die Bestrafung der Hauptübeltäter herbeizuführen und eine
bestimmte Garantie dafür zu erhalten, daß ähnlichen Vorkommnissen für die
Zukunft vorgebeugt werde. Den Gedanken an Landerwerb lehnte man ab,
weil damit die anderen Mächte zu einem gleichen Vorgehen veranlaßt worden
wären und die Einigkeit notwendigerweise darunter gelitten hätte. Nur wenn
die Mächte einig blieben, durfte man hoffen, den Aufstand auf die Provinz
Tschili zu beschränken und die chinesische Regierung, der nichts erwünschter
sein konnte als ein Zerwürfnis innerhalb der Mächte, zur baldigen Annahme
der ihr gemeinsam aufzuerlegenden Bedingungen zu bringen. Letzteres konnte
aber nur geschehen durch einen starken militärischen Druck, der dem Ränke-
spiel der chinesischen Diplomaten gegenüber von einer Stelle aus einheitlich
geleitet werden und in der Hand eines Mannes liegen mußte, der fähig war,
die Forderungen nötigenfalls mit dem Schwert durchzusetzen. Der Initiative
Kaiser Wilhelms war es zu verdanken, daß dieser einheitliche Oberbefehl,
die unerläßliche Vorbedingung jedes politischen Erfolges, geschaffen worden,
ebenso daß die Leitung in die Hände des Grafen Waldersee gelegt worden war.
Letzterer hatte, das Kommando über Truppen aus drei Weltteilen, deren
Unterstellung jedoch zum Teil eine örtlich begrenzte, zum anderen Teil
ein rechtlose war. Nur reiches militärisches Können, verbunden mit
hohem staatsmännischem Geschick, zielbewußter Energie des Willens, mit
Menschenkenntnis, feinem Takt und weltmännischen Formen vereinigt, konnten
die Durchführung der eigenartigen Aufgabe sichern. Diese war nach der
politischen Seite hin einerseits erleichtert, andererseits aber auch erschwert
durch den Umstand, daß Deutschland für sich nichts erreichen wollte, sondern
daß das Ziel der deutschen Politik dahin ging, das Ansehen Deutschlands
zu heben, zugleich aber zu . verhindern, daß irgend eine Nation sich aus-
schließliche Vorteile sichere. Dies galt namentlich mit bezug auf den Yangtse.
Außer den deutschen Land- und Seestreitkräften waren dem Feldmarschall
nur die ca. 2500 Mann starken Italiener und das kaum 300 Mann starke
österreichische Landungsdetachement völlig unterstellt; die Japaner, Engländer
und Russen nur für Operationen in der Provinz Tschili, die Amerikaner
lediglich bei gemeinsamen Operationen, an denen sich amerikanische Truppen
beteiligen würden, und für die Franzosen war nur vorgesehen, daß ihr Komman-
deur, General Voyron, die Autorität des Feldmarschalls im Kriegsrat der
Generale anzuerkennen hätte. Da ein solcher Kriegsrat vom Feldmarschall
begreiflicherweise niemals berufen wurde, so blieb nichts übrig als sich
in jedem einzelnen Falle mit dem amerikanischen und dem französischen
von Waldersce. 17
Befehlshaber besonders zu verständigen. Den zeitweise sogar bedrohlichen
Meinungsverschiedenheiten oder Ansprüchen der Mächte konnte Graf Walder-
see nur dadurch entgegentreten, daß er an dem Standpunkt festhielt, für den
Oberbefehlshaber bei seinen Entscheidungen lediglich die rein militärischen
Gesichtspunkte den Ausschlag geben zu lassen, alle politischen und privaten
Ansprüche oder Wünsche dagegen an die Diplomaten zu verweisen. Auf
diese Weise erlangte er über sämtliche Kontingente eine solche Autorität,
daß seine Vermittlung von der englischen und der russischen Regierung,
ebenso vom General Voyron bei einem zwischen französischen und englischen
Truppen in Tientsin ausgebrochenen Konflikt in Anspruch genommen wurde.
Voyron erklärte dabei ausdrücklich, die Autorität des Feldmarschalls sei so
groß und von allen Kontingenten so anerkannt, daß ein jeder sich gern
seinen Entscheidungen unterwerfen werde. Bereits nach der Einnahme von
Peking war erkennbar, daß volle Übereinstimmung unter den Mächten nicht
mehr bestand, Rußland machte sehr bald den Vorschlag, die chinesische
Hauptstadt wieder zu räumen. Um diese verwirrende Lage mehr zu klären
und den Sonderbestrebungen der Diplomaten ein Ende zu machen, war es
wichtig, die völlig ins Stocken geratenen militärischen Operationen bald
wieder in Gang zu bringen und Truppen möglichst vieler Mächte dazu
heranzuziehen, um den Chinesen gegenüber den einmütigen Willen der Ver-
bündeten zum Ausdruck zu bringen. Nach eingehender Erwägung der Sachlage
mit den Land- und Seebefehlshabem der verschiedenen Kontingente stellte
Graf Waldersee sich folgende Aufgaben: i. Erweiterung der Operationsbasis und
Sicherung der Verbindung mit der Heimat; 2. Ausdehnung des Okkupations-
gebietes; 3. Feststellung des Verbleibens der chinesischen Truppen und Ver-
drängung derselben mit oder ohne Kampf aus der Provinz Tschili; 4. Be-
ruhigung des insurgierten Landes, Schutz der friedlichen Bevölkerung, strenge
Bestrafung der Boxer und Räuber. Nachdem das bis zum Dezember im
wesentlichen erreicht war, gesellte sich hierzu die Beschleunigung der
Friedensverhandlungen unter steter Ausübung eines militärischen Druckes,
sobald die Forderungen der verbündeten Mächte von den Chinesen nicht
unverzüglich angenommen und erfüllt wurden. Das Bedürfnis, Klarheit über
den Verbleib und das weitere Verhalten der regulären chinesischen Truppen
zu schaffen, führte zu den beiden internationalen Expeditionen auf Poatingfu
und Kaigan, zu der Einteilung des erweiterten Okkupationgebietes in be-
stimmte Abschnitte, die einzelnen Kontingenten zur Aufrechthaltung der
Sicherheit und Ordnung überwiesen wurden, sowie zur Einsetzung von Zivil-
verwaltungen in den drei großen Städten Peking, Tientsin und Poatingfu,
wohin deutscherseits je eine gemischte Brigade verlegt wurde. Graf Walder-
see hatte am 17. Oktober seinen Einzug in Peking gehalten und im Winter-
palast sein Hauptquartier genommen. Letzteres war notwendig, um damit
den Chinesen gegenüber die Macht und die Autorität des Oberbefehlshabers
der Verbündeten zum Ausdruck zu bringen. Beim Einzug in Peking wurde
der Feldmarschall von den Generalen aller Nationen und allen dienstfreien
deutschen Offizieren begrüßt; eine Eskadron indischer Reiter eröffnete den
Zug, eine Eskadron japanischer Kavallerie schloß ihn. Deutsche Artillerie
schoß aus chinesischen Geschützen Salut, beim Eintritt in den Winterpalast
leistete eine japanische Batterie diesen Dienst; daselbst standen auch Ehren-
Biogr« Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd. 2
l3 ^on Waldersee.
kompagnien aller Kontingente, mit Ausnahme des russischen, aufgestellt. Graf
Waldersee bezog zunächst die Zimmer der Kaiserinwitwe, die allerdings in-
folge ihrer durchbrochenen Holzschnitzereiwände so unwohnlich wurden, daß
mit zunehmender Kälte nichts übrig blieb, als auf dem Hofe das von der
Hamburg -Amerika -Linie dem Feldmarschall zur Verfügung gestellte Asbest-
haus zu beziehen, das bis zu dem großen Brande behagliche Unterkunft bot.
Eine Arbeit von großer Bedeutung für den Feldmarschall war die Bericht-
erstattung an den Kaiser, die nicht nur den Gang der Ereignisse, sondern
auch die Erfahrungen, Beobachtungen und Urteile über die Entwicklung der
Dinge in Ostasien betraf, sowohl militärischer als politischer Art. Es sind
nicht weniger als 64 solcher Berichte und 270 Telegramme abgesandt worden.
Der telegraphische Verkehr wurde schließlich zu einer solchen Vollendung
gebracht, daß zwischen Absendung der Anfrage in Peking und Absendung
der Antwort von Berlin nur sechs Stunden Zwischenraum lagen. Ein besonderer
Tag war der 26. Dezember 1900, als Graf Waldersee den deutschen Truppen
die ihnen verliehenen Fahnen übergab, den Reichsadler im weißen Felde.
Es war das erste Mal, daß deutschen Landtruppen Fahnen mit den Reichs-
insignien verliehen wurden. Am 15. November waren die chinesischen Friedens-
unterhändler im Winterpalast empfangen worden, nachdem sie allerlei Ver-
suche gemacht hatten, eine Begegnung an einer anderen Stelle herbeizuführen.
Von einer schweren Katastrophe war das Oberkommando bei dem Brande
des Winterpalastes in der Nacht vom 17. zum 18. April 1901 bedroht. Be-
kanntlich fiel der Chef des Generalstabes, Generalmajor von Schwarzhoff, der
Katastrophe zum Opfer; mit der Bergung von Papieren beschäftigt, erstickte
und verbrannte er. Graf Waldersee hatte bei dem Brande nur mit Not und
Mühe die notwendigsten Papiere und sonst nichts retten können, als was er
auf dem Leibe trug, so daß für seine Bekleidung die Seebataillone, die
deutschen Reiter, die Amerikaner mit Stiefeln und die Inder mit Kakistoff
für Anfertigung neuer Uniformen in Anspruch genommen werden mußten.
Somit war an der Neueinkleidung des Oberbefehlshabers in Ostasien buchstäb-
lich beinahe die ganze Welt beteiligt. Einen zweiten größeren Verlust erlitt
das Expeditionskorps bekanntlich dadurch, daß der Führer der Expedition
nach Kaigan, Oberst Graf Yorck von Wartenburg, infolge des Heizens mit
glühenden Kohlen im offenen Becken in Hualai erstickte. Alle Rettungs-
versuche waren erfolglos geblieben.
Die Friedensverhandlungen hatten teils infolge der chinesischen Ränke,
teils infolge der Uneinigkeit der Mächte nur sehr langsame Fortschritte ge-
macht. Als eine der wichtigsten Friedensbedingungen, die Bestrafung der
an dem Aufstande und der Bedrohung der Gesandten hauptsächlich schuldigen
Würdenträger, nicht zur Ausführung zu kommen schien, ordnete Graf Walder-
see zum I. März Marschbereitschaft aller ihm zur Verfügung stehenden
Truppen an und ließ Vorbereitungen zu einem Einmarsch in die Provinz
Tschansi treffen, wohin .der Hof sich zurückgezogen hatte. Damit verbunden
werden sollte eine Demonstration längs des Kaiser-Kanals gegen die Provinz
Schantung und ein Einlaufen von Kriegsschiffen in den Yangtse. Der deutsche
Gesandte machte Mitte Februar dem Führer der chinesischen Verhandlungen,
Lihungtschang, davon amtlich Mitteilung, der dann den Feldmarschall sofort
beschwor, zu warten, und nach drei Tagen die amtliche Mitteilung machen
von Waldersee.
19
konnte, daß die Bestrafung der meisten Übeltäter verfügt, zum Teil auch
schon vollstreckt sei. Für alle Fälle ließ Graf Waldersee sämtliche über das
Gebirge führende Pfade rekognoszieren, so daß die Meinung der Chinesen,
daß eine einheitliche Verbindung von Truppen sieben verschiedener Staaten
undenkbar sei und bald zu Konflikten führen würde, schließlich hinfällig
wurde, ein Umstand, der vielleicht am meisten dazu beigetragen hat, sie
zum Frieden geneigt zu machen. Mit der grundsätzlichen Annahme der
Friedensbedingungen, zu denen die Zahlung der Expeditionskosten und der
Entschädigung an die Missionare usw. gehörten, war nach Waldersees Ansicht
die Grundlage für den Frieden geschaffen, China bewies damit, daß es tat-
sächlich den Frieden herbeiführen wolle. Militärische Operationen größeren
Stils waren somit fortan nicht mehr in Aussicht zu nehmen. Nunmehr konnte
an die Reduktion der in Tschili versammelten 60000 Mann Truppen heran-
getreten werden. Graf Waldersee veranlaßte eine gemeinsame Besprechung
dieser Frage mit den Befehlshabern der verschiedenen Kontingente und setzte
mit diesen die Zahl der Truppen fest, die in der Provinz Tschili zurückzu-
lassen seien, um den Fortgang der Friedensverhandlungen zu verbürgen.
Die Hauptschwierigkeiten ergaben sich bei der Festsetzung des Zahlungs-
modus, so daß es oft kaum möglich war, eine Einigung der Mächte unter
einander über die von jeder einzelnen zu fordernde Summe herbeizuführen,
während die chinesischen Unterhändler inständigst baten und auch wieder-
holt den Feldmarschall angingen, ihnen doch nur zu sagen, was sie zahlen
sollten. Die Räumung von Peking wurde notwendig, um die Rückkehr des
Hofes dorthin zu ermöglichen, der wiederum das Einrücken zuverlässiger
chinesischer Truppen vorangehen mußte. Die Befestigung des Gesandtschafts-
viertels war in Angriff genommen und speziell für die deutsche Gesandt-
schaft die Unterbringung einer 300 Mann starken Schutzwache durchgeführt.
Die ausgezeichneten Anlagen erregten die Bewunderung der anderen Mächte,
von denen mehrere noch keinen Spatenstich getan hatten, als die deutsche
Anlage, zu der auch eine angemessene Erweiterung der deutschen Gesandt-
schaft gehörte, bereits fertig geworden war. Von der Mauer über der Gesandt-
schaft blickte eine Batterie 12 cm-Schnellfeuergeschütze in nicht mißzuver-
stehender Deutlichkeit nach dem Winterpalast. Mit der Abnahme der euro-
päischen Besatzung nahte der Augenblick, in welchem auch Graf Waldersee
an seine Abreise denken mußte. Es hätte der Würde seiner Stellung nicht
entsprochen, an der Spitze eines kleinen Truppenteils in Peking zu bleiben.
Die dort anwesenden Diplomaten, auch die Chinesen, wünschten freilich
seine Anwesenheit zu verlängern. Einer der in Peking wohnenden fremden
Bischöfe äußerte zu ihm: »Schicken Sie 30000 Mann nach Hause, aber
bleiben Sie bei uns«. Ende Mai traf vom Kriegsministerium die Mitteilung
ein, daß der Kaiser die Rückkehr des Armee-Oberkommandos in die Heimat
befohlen habe und gleichzeitig dem Feldmarschall gestatte, einer Einladung
des Kaisers von Japan Folge zu leisten. Am 3. Juni verließ der Oberbefehls-
haber Peking, bis zum Bahnhof geleitet von je einer Eskadron deutscher
Reiter und bengalischer Lancers. Am Bahnhof selbst waren die deutschen,
japanischen, italienischen und indischen Truppen der Garnison aufgestellt.
Das gesamte diplomatische Korps einschließlich des Personals der deutschen
Gesandtschaft, die Generalität und hohen Offiziere aller Nationen, die
2'
20 ^'on Waldersee.
katholische Geistlichkeit und chinesischen Würdenträger waren zum Abschiede
versammelt. Der englische General Ghaselee brachte auf den Scheidenden
ein Hoch aus, und unter dem Salut einer japanischen Batterie verließ der
Zug Peking. In Tientsin, wo tags zuvor ein blutiger Zusammenstoß zwischen
englischen und französischen Mannschaften stattgefunden hatte, bei dem auch
japanische Patrouillen beteiligt und deutsche Soldaten verwundet worden
waren, wurde der Feldmarschall von den beteiligten Generalen mit der Bitte
empfangen, zum letzten Male seine Autorität geltend zu machen. Er konnte
so am letzten Tage seines Aufenthalts in China in der mehrfach ausgeübten
Tätigkeit als Friedensstifter zur Befriedigung aller Beteiligten wirk.sam sein.
Der Feldmarschall wohnte dem Begräbnis der getöteten französischen
Soldaten bei, eine französische Ehrenkompagnie erwies ihm dann den Ab-
schiedsgruß. Am Bahnhof stand eine englische Ehrenkompagnie und dort, um
den Generalleutnant von Lessei versammelt, die Generale aller Kontingente,
mit dem General Voyron auch das gesamte französische Offizierkorps. Zuvor
hatte sich der Feldmarschall noch von der aufgestellten deutschen Garnison
verabschiedet. Am 8. Juni landete Graf Waldersee mit der »Hertha« im
japanischen Hafen von Kobe, traf am lo. Juni in Tokio ein, wurde dort
mit fürstlichen Ehren empfangen und von der Bevölkerung, besonders von
den dort ansässigen Fremden aller Nationen, mit großem Jubel begrüßt.
Graf Waldersee blieb zehn Tage als Gast des Kaisers in Japan, wobei ihm
reiche Gelegenheit gegeben wurde, die Errungenschaften dieses aufstrebenden
Volkes kennen zu lernen. Bei Ausbruch des russisch -japanischen Krieges
hat infolge dessen Graf Waldersee über den voraussichtlichen Verlauf des-
selben ein sehr richtiges Urteil gefällt. Reich beschenkt verließ der Feld-
marschall das Kaiserliche Hoflager in Tokio und kam nach weiteren Aus-
flügen durch das Land am 21. Juni in Nagasaki an, wo sich inzwischen
Vizeadmiral Bendemann mit seinem Flaggschiff S. M. S. »Fürst Bismarck«
eingefunden hatte. Nach herzlicher Verabschiedung von den Deutschen in
Nagasaki, dem Admiral Bendemann, den Offizieren und Mannschaften des
»Fürst Bismarck« und des Kreuzers »Hertha« verließ Graf Waldersee am 23. Juni
unter dem Salut der deutschen, amerikanischen, französischen und italienischen
Kriegsschiffe den Hafen von Nagasaki, um auf der »Gera« die Heimreise über
Batavia anzutreten. Kurz vor der Abfahrt erreichte ihn noch ein Telegramm
des Kaisers, worin er in den anerkennendsten Worten und in Übereinstimmung
mit den verbündeten Souveränen des Oberbefehls enthoben wurde. Am 25. Juli
wurde Algier angelaufen, woselbst seitens der französischen Behörden großer
Empfang stattfand, am 6. August kam Helgoland in Sicht, am Nachmittag
lief die »Gera« in den dortigen Hafen ein. Am 8. August erfolgte die An-
kunft in Hamburg. Dort wurde Graf Waldensee im Auftrage des durch den
Tod seiner Mutter fern gehaltenen Kaisers durch General von Wittich an der
Spitze eines zahlreichen Offizierkorps und einer Abordnung des Hamburger
Senats begrüßt. General von Wittich überreichte eine kaiserliche Kabinetts-
order, die den Dank für alle Leistungen aussprach. Außerdem wurde dem
Feldmarschall der Orden pour h mir'tte mit Eichenlaub verliehen, das
9. Feld-Artillerie- Regiment, dessen Chef er seit 1896 war, erhielt seinen
Namen. Von Hamburg aus begab der Feldmarschall sich nach Homburg,
dort vom Kaiser auf das herzlichste empfangen. Von den heimkehrenden
von Waldersee. 2 1
Truppen ging ein Bataillon unter Major von Foerster auf Wunsch des Kaisers
Franz Josef über Triest und Wien nach Hause und hatte die Auszeichnung,
nach feierlichem Einzüge in Wien dort von Kaiser Franz Josef in Parade
besichtigt zu werden.
Graf Waldersee war fast neun Monate in China gewesen. Bei seiner
Landung betrat er den chinesischen Boden mit dem Bewußtsein, vor
einer dornenvollen Aufgabe voller unberechenbarer Schwierigkeiten zu
stehen, bei seinem Scheiden konnte er die Überzeugung mitnehmen, daß
ihm sein Werk gelungen war, sowohl im Hinblick auf die den Chinesen
gegenüber erreichbaren militärischen und diplomatischen Erfolge als auch
im Hinblick auf die Beziehungen zu den Befehlshabern der verschiedenen
Kontingente. Tatsächlich ist auch nicht einmal von irgendeiner der be-
teiligten Mächte eine Beschwerde nach Berlin gelangt; im Gegenteil haben
sich diese im hohen Maße anerkennend über seine Tätigkeit geäußert. Von
den Chinesen als Vertreter der höchsten Gewalt zunächst gefürchtet, wurde
Graf W^aldersee seiner Gerechtigkeitsliebe wegen bald geschätzt, so daß sie
ihn, wie erwähnt, ungern scheiden sahen. In gleicher Weise waren auch alle
Deutschen in Ostasien davon durchdrungen, daß sie dem Ansehen, das der
Feldmarschall dem deutschen Namen gegeben, viel zu danken hatten. Was
die militärischen Leistungen anbelangt, so haben nach dem Eintreffen des
deutschen Expeditionskorps noch achtzehn Gefechte oder Scharmützel gegen
Boxer stattgefunden, an denen deutsche Truppen beteiligt waren. Die Zahl
der nach dem Eintreffen des Feldmarschalls und meist auf seine Anregung
ausgeführten Expeditionen beläuft sich auf 76; an 51 davon haben deutsche
Truppen teilgenommen. Die deutsche Infanterie bewies dabei eine Marsch-
fähigkeit, die geradezu hervorragend war. Es sind tägliche Marschleistungen
von 40 bis 50 Kilometer wochenlang hintereinander in einem Gebirge auf-
zuweisen, dessen Paßhöhe 1300 Meter und mehr betrug. Dabei waren Tag
und Nacht die größten Hindernisse aller Art, auch hinsichtlich der Witterung,
zu überwinden. Die Kavallerie hatte die großartigsten Leistungen auf dem
Gebiete des Aufklärungsdienstes aufzuweisen, Offiziere und Mannschaften
haben darin in einer Weise gewetteifert, die ihrem Reitergeist, ihrem Wage-
mut und ihrer Ausbildung große Ehre macht. Es sind Patrouillenritte aus-
geführt worden, die sich den kühnsten Aufklärungsritten aller Zeiten würdig
zur Seite stellen. Ähnlich bei den anderen Waffen; den deutschen Eisenbahn-
truppen ist die unbedingte Anerkennung aller Nationen zuteil geworden.
Die Deutschen haben mit allen Kontingenten gute Kameradschaft gehalten,
mit den Russen in traditioneller Waffenbrüderschaft gelebt, bei den Franzosen
waren es namentlich die Mannschaften, die mit unseren Soldaten harmo-
nierten, zumal beiderseits viele vorhanden waren, die sich auch sprachlich ver-
ständigen konnten. Es ist in der ganzen Zeit zwischen deutschen Offizieren und
Mannschaften und denen anderer Kontingente fast niemals zu irgendwelchen
ernsteren Reibungen oder Zerwürfnissen gekommen; in Peking und Tientsin
hatte sich durch die Gastlichkeit des Grafen Waldersee sowie der Generale
von Lessei und Trotha bald ein internationaler V^erkehr von geradezu herz-
lichem Charakter entwickelt. Offiziere und Mannschaften der fremden Nationen
sind von ihrem deutschen Oberbefehlshaber und den deutschen Truppen
jedenfalls mit der höchsten Achtung geschieden.
22 von VValdersee.
Einem Soldatenleben wie dem des Grafen Waldersee,* wäre es wohl zu
gönnen gewesen, daß es seinen Abschluß unter voller Einsetzung aller in
ihm ruhenden Kräfte, in einem großen Kriege gefunden hätte. Das war dem
Feldmarschall nicht beschieden. Aber er hat in China so hervorragende
Eigenschaften betätigt, daß die Anerkennung, die er dafür nicht nur an
berufener Stelle in der eigenen Heimat, sondern in allen beteiligten Ländern
erntete, immerhin als ein ehrenvoller Ausgang eines an Ehren so reichen
Lebens angesehen werden darf; auch war der deutsche Oberbefehl in China
eine so eigenartige Stellung, wie die Geschichte sie bisher noch nicht auf-
zuweisen hatte. Es kam auf den Mann an, der sich die Stellung, zu der
er eigentlich nichts mitbrachte als den Titel, erst schaffen mußte und das
hat Graf Waldersee innerhalb des gegebenen Rahmens nach Möglichkeit
getan. In späteren Zeiten wird das, wie so vieles andere aus seinem viel-
bewegten Dienstleben, klarer werden. Jedenfalls war er die gegebene Persön-
lichkeit, der großen Schwierigkeiten Herr zu werden, die mit dem deutschen
Oberbefehl in China verknüpft waren. Die damit verbundene Gefahr schreckte
seinen tapfern Mut nicht, den klimatischen Verhältnissen hoffte er mit seinem,
ungeachtet seiner 68 Jahre noch rüstigen und gestählten Körper gewachsen
zu sein. Gerade diese Zuversicht ist die einzige gewesen, die ihn getäuscht
hat. Schwere Dysenterien, von denen er in China wiederholt heimgesucht
wurde, haben wohl den Grund zu dem Leiden gelegt, das ihn unerwartet
mit 72 Jahren schnell hin wegraffte, obwohl er sich seine große Rüstigkeit
und Frische bis in seine letzten Lebenstage bewahrt hatte. Nach der Heim-
kehr aus China hatte er seine Geschäfte als Armeeinspekteur wieder auf-
genommen, am 8. April 1902 beging er seinen 70. Geburtstag, erfreut
durch zahlreiche Sympathiebeweise aus allen Teilen des Heeres und des
Vaterlandes.
Deutschland hat in dem Grafen Waldersee einen hochbegabten Soldaten
verloren, auf den die Armee mit berechtigter Zuversicht blickte. Sein stetes
Bestreben war es, als Soldat das Höchste zu leisten und für die Armee die
größtmögliche Leistungsfähigkeit zu erreichen. Daneben hat es eine Zeit
des politischen Ehrgeizes gegeben, wie dies bei anderen, mit politischen
Aufgaben befaßten Generalen auch der Fall gewesen ist, eine Zeit, in der
er sich füT berechtigt und befähigt genug gehalten hat, nach dem höchsten
politischen Amt zu trachten. Die Ernennung des Generals von Caprivi zum
Reichskanzler hat er als eine Zurücksetzung empfunden, umsomehr als sein
Verbleiben an der Spitze des Generalstabes neben dem General v. Caprivi
als Kanzler bei dem seit langen Jahren zwischen beiden Männern bestandenen
Gegensatze auf die Dauer ohnehin nicht möglich gewesen wäre. Auf allerlei
Enthüllungen von zweifelhaftem Wert, die in jüngster Zeit über seine politi-
schen Bestrebungen an die Öffentlichkeit gebracht worden sind, braucht
hier nicht weiter eingegangen zu werden. Nach seinem Ableben ist berichtet
worden, er habe im Jahre 1889 zu dem nationalliberalen Abgeordneten
Bürgermeister Fischer von Augsburg geäußert, als dieser ihn auf die Nach-
folge Bismarcks ansprach: »Wer einmal Nachfolger des toten Bismarck wird,
ist schon nicht zu beneiden, aber Nachfolger des lebendigen Bismarck werden
zu wollen, für so dumm werden Sie mich nicht halten.« Je höher Graf Waldcrsec
später in Rang und Ehren stieg, desto demutsvoller ist er geworden. Seine
von Waldersee. Georg von Sachsen. ' 2^
Ehe war kinderlos. Um so hingebender widmete er sich dem engen Kreise
der Seinen. Den ihm nahestehenden Freunden hat er sich in guten und in
bösen Tagen in erprobter Treue und unbedingter Zuverlässigkeit, auch auf
die Gefahr persönlicher Unannehmlichkeiten hin, voll bewährt. Mit Rat und
Tat hat er vielen beigestanden, sein im Stillen reich betätigter Wohltätig-
keitssinn, in welchem ihm seine Gemahlin wetteifernd zur Seite stand, fügt
sich harmonisch dem Bilde eines seltenen, glücklichen Lebensganges ein.
Wenn diesem, wie allem Menschlichen, auch Schatten und Irrtümer nicht
gefehlt haben, so überstrahlt hier doch bei weitem das helle Licht seiner
großen Begabung und seiner hervorragenden Leistungen, die ihn, auch ohne
die ihm reichlich zuteil gewordenen äußeren Ehren, den bedeutendsten Männern
des jungen Reiches beigesellen.
Quellen: Personalbogen, sowie persönliche Mitteilungen des Feldmarschalls an den
Verfasser und im Freundeskreise. — Honig, »Volkskrieg an der Loire«. Berlin. E. S. Mittler
& Sohn. Bd. I S. 336 fF. — »Grenzboten«. Leipzig. F. W. Grunow. 63 Jg., 1904, H. 11.
— »Deutschland in China.« Aug. Bagel. Düsseldorf 1903. — »Die Kaiserliche Marine
während der Wirren in China.« Herausgegeben vom Admiralstabe der Marine. Berlin.
E. S. Mittler & Sohn. — Keudell, »Fürst und Fürstin Bismarck«. Berlin und Stuttgart.
\V. Spemann. 1901. — Moritz Busch, »Tagebuchblätter«. Leipzig. F. \V. Grunow.
Hugo Jacobi.
Georg Friedrich August, König von Sachsen, * 8. August 1832 in
PillnitZy f 15. Oktober 1904 in Schloß Pillnitz, der dritte Sohn seiner Eltern,
des Prinzen Johann und der Prinzessin Amalia von Bayern, wuchs in dem-
selben innig verbundenen Familienkreise auf, wie sein älterer Bruder Albert
(s. Bd. VII, S. 3 ff.) und wurde nach denselben Grundsätzen erzogen. Sein
Erzieher war seit 1839 Albert von Langenn, derselbe, der schon die Jugend-
entwicklung Alberts geleitet hatte, sein militärischer Begleiter erst August
von Minckwitz, seit 1843 der Oberstleutnant Maximilian von Engel, der den
Prinzen zu strengster Pflichterfüllung anhielt. Seit 9. Juni 1836 formell der
Armee angehörig, trat er im März 1846 als Leutnant im 2. Infanterieregiment
Prinz Maximilian ein, ging aber schon 1847 zum Gardereiterregiment über.
Doch seine Neigung richtete sich mehr auf wissenschaftliche und künst-
lerische Interessen, und früh entwickelte sich bei ihm eine ernste, innige,
fast zur Mystik neigende Religiosität. Sein eigener Vater nannte ihn eine
ernst angelegte Natur mit einer starken Neigung zum kontemplativen Leben,
auch wohl einen »Träumer«. Welche Einflüsse die politische Entwicklung
dieser Jahre auf den Knaben und den angehenden Jüngling ausübten, ist
schwer zu sagen; er war in Dresden, als der Maiaufstand 1849 ausbrach, und
mußte mit seiner Familie erst nach Schloß Weesenstein im Müglitztale, aber
schon am Abend des 3. Mai nach der Festung Königstein flüchten, wo er
mit den Seinen bis zum 5. Juli blieb. Im Herbst desselben Jahres bezog er
die Universität Bonn und hörte dieselben Professoren wie sein Bruder ein
Jahr zuvor unter der Oberleitung des Professors Clemens Theodor Perthes;
von den damals dort anwesenden Prinzen erschien er dem Begleiter des
künftigen Kronprinzen von Preußen, Ernst Curtius, als der begabteste, »leicht
beweglich und gewandt, von sehr angenehmem Äußern, viel fragend und
wohl unterrichtet«. Mit dem Ende des Sommersemesters 1850 in die Heimat
zurückgekehrt, erlebte er den Abfall Sachsens von dem Dreikönigsbündnis
2J. Georg von Sachsen.
und die Mobilisierung der sächsischen Armee gegen Preußen, die im November
auf der Linie Großenhain — Meißen — Dresden — Pirna zusammengezogen wurde,
um die Vorhut der Österreicher beim Marsche auf Berlin zu bilden; Prinz
Georg stand damals bei der reitenden Artillerie. Nur die Demütigung Preußens
in Olmütz wandte damals den Bruderkrieg ab; aber die Politik Beusts setzte
seitdem das gefährliche Spiel fort, durch den Zollverein in der engsten wirt-
schaftlichen Verbindung mit Preußen zu stehen und politisch im Bunde mit
Österreich zu gehen, eine widerspruchsvolle Politik, die Sachsen 1866 beinahe
seine staatliche Existenz gekostet hat. Das Verhältnis des sächsischen zum
preußischen Hofe blieb trotzdem ungestört; doch enger gestalteten sich die
Beziehungen zum österreichischen Hofe. Albert war in enger Freundschaft mit
seinem wenig jüngeren Vetter Kaiser Franz Joseph verbunden, Georg stand
dessen Bruder, dem Erzherzog Maximilian, dem späteren unglücklichen Kaiser
von Mexiko (f 1867), näher. Eine längere italienische Reise Herbst 1853 bis
Mai 1854 erfüllte einen Herzenswunsch Georgs. Nach seiner Rückkehr über-
nahm er als Major das Kommando des 3. Jägerbataillons. Mit dem Tode
König Friedrich August II. am 9. August 1854 und der Thronbesteigung
seines Vaters Johann trat Georg dem Thron um so näher, als die Ehe seines
Bruders Albert kinderlos blieb, und kam in den Besitz der Sekundogenitur,
die ihm ein Einkommen von 85000 Talern gewährte. Am 3. März 1857 zum
Obersten des Gardereiterregiments befördert, hatte er jetzt auch nach außen
seinen Hof gelegentlich zu vertreten, so im März 1858 in Paris bei Napo-
leon III. in Erwiderung eines Besuchs, den dessen Vetter Prinz Jeröme
Napoleon im März 1856 in Dresden abgestattet hatte. Von Paris ging er
im April über London nach Lissabon zum Besuche des portugiesischen
Hofes. Hier verlobte er sich am 17. April mit der jugendlichen Prinzessin
Maria Anna (* 21. Juli 1843), ^^^ Tochter König Ferdinands (von Sachsen-
Koburg) und der Königin Maria da Gloria; am 11. Mai 1859 feierte er in
Lissabon seine Vermählung, am 26. Mai zog das junge Paar in Dresden ein.
Der italienische Krieg 1859 brachte auch für den sächsischen Hof große
Aufregung, noch größere die folgende Zeit, in der die Frage der Bundesreform
wieder aufgerollt wurde und die Mittelstaaten, an ihrer Spitze Sachsen, im
schleswig-holsteinischen Kriege ihren Versuch zu einer selbständigen Politik
in einer großen, zugleich europäischen Frage mit einer empfindlichen Nieder-
lage büßten. Daß Georg mit der Politik seines Vaters einverstanden war,
darf man voraussetzen; er hat auch mit seinem Bruder Albert in der ersten
Kammer im Juni 1862 für den französischen Handelsvertrag gestimmt und
damit die Erneuerung des Zollvereins herbeiführen helfen, über die dann
der Vertrag mit Preußen am ii. Mai 1864 für Sachsen entschied. Wie ge-
deihlich die sächsische Industrie im Zollverein sich entwickelt hatte, das zeigte
beiden Brüdern der Besuch der Londoner Weltausstellung im Juli 1862. Als
nun trotz dieses engen wirtschaftlichen Anschlusses der politische Gegensatz
Sachsen 1866 auf die Seite Österreichs trieb, da zog unter dem Oberbefehle
des Kronprinzen Albert auch Prinz Georg als Generalmajor und Kommandeur
der I. sächsischen Reiterbrigade mit ins Feld, und auch er hat in diesem
unglücklichen Feldzuge, der die Tüchtigkeit und Ausdauer der Trappen in
fortgesetzten Niederlagen und Rückzügen auf die schwerste Probe stellte,
bei Königgrätz am 3. Juli wie auf dem schwierigen Marsche durch das
Georg von Sachsen. 25
ungarische Waagtal nach der Donau die Ehre der sächsischen Waffen um-
sichtig und tapfer gewahrt und alle Entbehrungen und Strapazen getragen
wie jeder andere. Eine schönere und lohnendere Aufgabe stellte ihm der
Krieg gegen Frankreich 1870/71. Als Generalleutnant und Kommandeur der
I. sächsischen Division Nr. 23 ging er am 28. Juli nach Mainz ab, über-
schritt am II. August von der bayrischen Pfalz aus die französische Grenze
und nahm am 18. August ruhmvollen Anteil an dem Siege von St. Privat,
das seine Division zusammen mit der Garde erstürmte; am folgenden Tage
ging auf dem Schlachtfelde der Oberbefehl über das ganze XII. Armeekorps
auf ihn über, nachdem Kronprinz Albert das Kommando über die neuge-
bildcte Maasarmee erhalten hatte, und er hat es seitdem während des ganzen
Feldzuges geführt, bei Sedan am i. September, wo dicht neben ihm der
englische Oberst Pemberton fiel, und während der langen Einschließung von
Paris, wo er seit dem 19. September sein Hauptquartier in Le Vert-galant
bei Livry hatte und wo die Sachsen in den blutigen Tagen des 30. November
und des 2. Dezember bei Brie und Champigny dem Andrängen der Franzosen
widerstanden. Nach dem Abschluß des Präliminarfriedens nahm er sein Quartier
für längere Zeit in Laon; als Führer seines Korps ist er dann am 16. Juni
1871 im Triumphzuge mit in Berlin eingeritten und am 11. Juli in Dresden.
Dann übernahm er wieder das Kommando seiner Division, bis er es
nach der Thronbesteigung seines Bruders 1873 "^'^ dem Oberbefehl des
ganzen Korps vertauschte. Zugleich wurde er vom Kaiser zum General-
inspekteur des V. und VI. Armeekorps ernannt, eine Aufgabe, die ihn all-
jährlich nach Schlesien und Posen führte. Genau und streng im Dienst, ein
scharfer Kritiker, dem keine Einzelheit entging und der auch für die einzelnen
Persönlichkeiten ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte — noch nach Jahren
pflegte er einzelne Leute wiederzuerkennen — , hat er für die sorgfältigste
Ausbildung der Armee bei einer in fortwährender Umwandlung begriffenen
Bewaffnung und Taktik das Trefflichste geleistet und wurde vom Kaiser 1888
zum Generalfeldmarschall befördert, wie er denn auch Chef des berühmten
altmärkischen Ulanenregiments Nr. 16 war. Proben seines Könnens hat er
noch bei dem großen Kaisermanöver in der Oberlausitz 1896 abgelegt, wo
er die zwei Armeekorps der Westarmee gegen den Feldmarschall Grafen
Waldersee kommandierte. Auf die Zusammengehörigkeit mit der Armee legte
er allezeit großen Wert; er blieb auch als König Chef der Regimenter, bei
denen er als Prinz gewesen war.
Dieselbe peinliche Gewissenhaftigkeit wie im militärischen Dienst zeigte
er in der politischen Arbeit. Seit 1858 war er Mitglied des Staatsrats, am
21. Mai 1862 trat er nach den Bestimmungen der sächsischen Verfassung
in die Forste Kammer ein. Er hat ihr mehr als vierzig Jahre hindurch
angehört und an allen den gesetzgeberischen Arbeiten, die seit den fünfziger
Jahren die Organisation der Gerichte, der Behörden, der Landeskirche, der
Schule gründlich umgestalteten, eifrigen Anteil genommen, vor allem, als er
1873 Vorsitzender der Finanzdeputation der Ersten Kammer geworden war,
an der neuen Ordnung des Steuerwesens 1878, die von der Einführung einer
Einkommensteuer ausging, indem er für diese als die gerechteste und den
modernen Verhältnissen am meisten entsprechende persönlich eintrat. Er tat
auch hier, obwohl er selten als Redner auftrat, gründliche und gewissenhafte
26 Georg von Sachsen.
Arbeit. Von der modernen Gesetzmacherei, die oft nicht schnell genug ein-
schneidende Bestimmungen erlassen kann, wenn es ein neu aufsteigendes
Bedürfnis zu fordern scheint, war er gar kein Freund; er bemerkte einmal,
früher habe man die Dinge gründlicher erwogen als heute und deshalb auch
bessere Gesetze gemacht, womit er wohl recht gehabt haben wird. Im regen,
ungezwungenen persönlichen Verkehr mit den Landtagsmitgliedern lernte er
auch die Anschauungen und die Bedürfnisse der Bevölkerung in allen Kreisen
und Schichten kennen, und er erwarb sich durch das alles eine Vertrautheit
mit den Verhältnissen und mit der Staatsverwaltung, wie sie selten gefunden
werden wird und wie sie die beste Vorbereitung für seine leider so kurze
Regierung gewesen ist. So konnte er bei seiner Thronbesteigung am 19. Juni
1902 mit gutem Gewissen versprechen, daß er im Sinne und Greiste seines
Bruders regieren werde, und er hat das treulich gehalten, auch auf den beiden
Gebieten, die heute zu den schwierigsten gehören, der Schule und der Kirche.
Die oft so hart und ungerecht angegriffenen humanistischen Gymnasien
haben an ihm denselben gütigen und verständnisvollen Schirmherrn gefunden
wie an König Albert; er hat allen seinen Söhnen die volle humanistische
Bildung geben lassen, er hat auch noch bei seinen Enkeln dafür gesorgt,
und ein neugegründetes humanistisches Gymnasium in Dresden trägt seinen
Namen. In kirchlicher Beziehung hielt er sich sehr zurück. Er war ein
strenggläubiger katholischer Christ, der seine Konfession ernst und ge-
wissenhaft nahm wie alles andere, der auch nach katholischer Auffassung
dem Staate keinen Einfluß auf die Kirche verstatten wollte, und er stand
deshalb wohl im Rufe der Bigotterie. Aber wenn man unter Bigotterie
Frömmelei und Unduldsamkeit versteht, so war dieser Vorwurf ungerecht,
ebenso wie bei seinem Vater, dem König Johann, dem er auch in dieser
Beziehung besonders ähnelte. Er hat niemals vergessen, daß er ein ganz
überwiegend protestantisches Land beherrschte, er hat bei seinem Regierungs-
antritt der evangelischen Landeskirche versprochen, sie solle es unter ihm
nicht anders haben wie unter seinem Vorgänger, und die sächsischen Stimmen
im Bundesrate hat er 1903 gegen die teilweise Aufhebung des Jesuiten-
gesetzes von 1872 abgeben lassen. Er war eben ein viel zu fein und viel-
seitig gebildeter Mann, als daß er nicht die historische Berechtigung der
verschiedenen Konfessionen rückhaltlos anerkannt hätte. In so regem geistigem
Interesse nahm er auch die engen persönlichen Beziehungen seines Bruders
zur Universität Leipzig wieder auf. Er wurde ihr Rector magnificentissimus wie
dieser es gewesen war, er besuchte sie wie dieser 1903 und würde das sicher
ebenso regelmäßig wiederholt haben wie König Albert, wenn ihm eine längere
Regierung vergönnt gewesen wäre. Als Prinz führte er seit 1855 das Protek-
torat des Königl. sächsischen Altertumsverein in Dresden, und zwar nicht nur
dem Namen nach; er wohnte vielmehr den Sitzungen fast regelmäßig bei und
war auch Protektor der Königl. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften in
Leipzig. Ebenso brachte er der Akademie der bildenden Künste in Dresden,
deren Kurator er war, reges, vorurteilsfreies Interesse entgegen, und bei großen
wissenschaftlichen Versammlungen, wie z. B. 1897 bei der Dresdner Ver-
sammlung der deutschen Philologen und Schulmänner, erschien er gern selbst.
Sein besonderes Interesse galt der Musik; er spielte vortrefflich Klavier und
hatte eine schöne Baritonstimme; selten versäumte er während des Winters
Georg von Sachsen. 27
den Besuch der Symphoniekonzerte in Dresden. Bei seiner Sachkenntnis und
Pflichttreue hatte er über die verschiedensten Dinge ein festes und begründetes
Urteil, das er als König auch seinen Ministern gegenüber energisch vertrat;
nur besseren Gründen war er zugänglich. Da er sich bewußt war, daß er
das Beste, was er war und besaß, seinem Volke gab, so war es ihm ein
lebhaft empfundenes Bedürfnis, sich mit ihm in Harmonie zu fühlen. Gerade
aber das ist ihm auch als König versagt geblieben. Er übernahm eine schlimme
Erbschaft in der schlechten Finanzlage, die durch eine Überspannung
unrentabler Eisenbahnbauten, kolossale Überschreitungen der Voranschläge bei
Staatsbauten und die gewaltige Konkurrenz der preußischen Staatseisenbahnen
herbeigeführt worden war, und er sah sich trotzdem gezwungen, eine
Erhöhung seiner Zivilliste zu fordern. Der Wahlsieg der Sozialdemokratie
bei den Reichstagswahlen von 1903 erschien vielen geradezu als Ausdruck
der dadurch veranlaßten Mißstimmung.
Wenn sein Volk etwas mehr in sein eigenes Familienleben hätte hinein-
sehen können, so würde es doch mit einiger Beschämung erkannt haben, daß es
geradezu musterhaft und vorbildlich im schönsten Sinne war. Seine Ehe war
glücklich und gesegnet, einfach und anspruchslos das Familienleben in dem
schlichten, von einem Schüler des großen Gottfried Semper, Nicolai, um-
gebauten Palais an der Langen Gasse mit seinem prachtvollen, ausgedehnten,
parkartigen Garten, im Sommer in der bürgerlich einfachen Villa im idylli-
schen Hosterwitz bei Pillnitz, wo Georg noch als König am liebsten verweilte.
Vier Söhne und zwei Töchter erblühten ihm; liebevoll, aber einfach und
streng sind sie alle erzogen worden, auch sein ältester Sohn, König Friedrich
August III. Aber wie er in seiner Familie das beste Glück fand, so hat er
an ihr auch das schwerste Herzeleid erfahren. Wenige Monate vor der
silbernen Hochzeit, am 5. Februar 1884, wurde seine Gemahlin vom Typhus
hin weggerafft; sein jüngster Sohn, Prinz Albert, der immer das ängstlich
gehütete Sorgenkind der Mutter gewesen war, für den sie in der Angst ihres
Herzens, wie andere arme Mütter ihres Glaubens, einmal sogar eine Wallfahrt
nach dem böhmischen Gnadenorte Philippsdorf gewagt hatte, verunglückte wäh-
rend der Herbstmanöver am 17, September 1900 durch einen Sturz aus dem Wagen
im blühenden Jünglingsalter von 25 Jahren; seine ältere Schwiegertochter,
die höchst populäre Kronprinzessin, Luise von Toskana (seit 1892), brachte
schweren Kummer über sein Haus, als sie in unbegreiflicher Verblendung
im Dezember 1902 ihre Familie plötzlich verließ, so daß die Ehe am 11. Februar
1903 gerichtlich geschieden werden mußte und die unverhohlenen Sympathien,
die namentlich in Dresden dieser »längst tief gefallenen Fraö« entgegengebracht
wurden, verletzten den gebeugten König aufs tiefste. Die jüngere Schwieger-
tochter (seit 1894), die Gemahlin seines zweiten Sohnes, des Prinzen Johann
Georg, Isabella von Württemberg, starb am 24. Mai 1904. Er hatte alle diese
Schicksalsschläge mit der Ergebenheit des wahren Christen getragen, so
schwer sie waren. Als ihn die furchtbare Kunde vom jähen Tode seines
jüngsten Sohnes traf, wenige Stunden, nachdem er ihn gesund und fröhlich
hatte scheiden sehen, da schrieb er an einen Vertrauten: »Ich war wie vom
Schlage getroffen und meinte es nicht überleben zu können«, aber er über-
wand auch das, und er fand in einer aufblühenden Enkelschar, deren ältester,
der gegenwärtige Kronprinz, den Namen des Großvaters erhielt, so manchen
28 Georg von Sachsen.
Ersatz für die herben Verluste, aber er wurde doch mehr und mehr zu einem
innerlich einsamen Manne. Die Gemahlin seiner Jugend hatte ihn als Witwer
zurückgelassen, sein dritter Sohn, Prinz Max, trat 1896 in den geistlichen
Stand und entfremdete sich der Heimat; auch seine zweite Tochter, Josepha,
war als Gemahlin des Erzherzogs Otto 1886 in die Fremde gezogen. Da ist
es wohl erklärlich, daß er allmählich noch ernster, stiller, zurückhaltender,
resignierter wurde, als es ohnehin in seinem Wesen lag. Zeit seines Lebens
hatte er an zweiter Stelle gestanden; jetzt, als sich die Königskrone auf das
Haupt des fast Siebzigjährigen senkte, war es ergraut, und er hatte das
Gefühl, das er auch aussprach: »Es ist zu spät«. Er konnte in vertrautem
Kreise leutselig sein, und es fehlte ihm auch keineswegs an Humor, aber
das trat für Fernerstehende nicht hervor, und das war seiner Popularität
hinderlich. Auch diesen Mangel an Popularität hat er bitter empfunden.
»Warum können mich die Leute eigentlich nicht leiden?« hat er einmal noch
als Prinz gefragt. Er gehörte eben zu den tiefangelegten Naturen, die man
näher kennen muß, um sie zu würdigen, und wie wenige konnten das! Gewiß,
er war voll fürstlichen Selbstgefühls, das zuweilen etwas Herbes hatte, aber
er war vor allem ein reiner, durch und durch wahrhaftiger Mensch voll
tiefer und feiner Empfindung und von makelloser Pflichttreue. Das gilt auch
von seinem Verhältnis zum Reiche, indem er ganz und gar den Bahnen
seines Bruders folgte. Mit Kaiser Wilhelm IL verbanden ihn die herzlichsten
Beziehungen. König Georg machte ihm bald nach seinem Regierungsantritte
seinen Besuch, empfing im März 1903 den Gegenbesuch und hatte noch
die Freude, ihn bei den Kaisermanövern des Jahres 1903 in Dresden zu
begrüßen und ihm in glänzender Parade bei Leipzig am 5. September das
neugebildete XIX. Armeekorps vorzuführen.
Er war als fester Soldat und passionierter Jäger bis ins Alter hinein
rüstig und beweglich, aber schon vor seinem Regierungsantritt traten die
ersten Anzeichen eines Herzleidens (Arterienverkalkung) auf, dem auch sein
Vater, König Johann, erlegen war, und in vertrauten Kreisen wußte man, daß
er schwerer leidend sei als König Albert. Die tiefen seelischen Erschütte-
rungen konnten diesen Zustand nur ungünstig beeinflussen. Zur Erholung
ging er im Frühjahr 1903 nach Gardone am Gardasee und fühlte sich da-
nach so weit gekräftigt, daß er auf der Rückreise über Venedig die Höfe
von Wien und München besuchen konnte; auch den Anstrengungen der
Paraden und Manöver im Herbst 1903 zeigte er sich noch gewachsen. Aber
von einem Influenzaanfall im Januar 1904 erholte er sich nicht wieder trotz
einer Kur in Ems und Gastein, vielmehr quälten ihn nach der Rückkehr
ein nervöser Husten und zunehmende Atemnot. Seinen 72. Geburtstag, den
man überalF im Lande mit dem Gefühle ernster Sorge beging, verbrachte er
selbst noch leidlich, und er konnte in Pillnitz noch oft im Freien sein oder
kurze Ausfahrten machen. Aber er selbst wußte genau, wie es mit ihm stand,
und er forderte auch vom Arzte die ganze Wahrheit. Seinen Pflichten genügte
er mit schwindenden Kräften bis zum 14. Oktober; erst an diesem Tage, als
er das Ende nahen fühlte, übertrug er dem Kronprinzen die Regentschaft.
An demselben Abend gegen acht Uhr empfing er die Sterbesakramente, all-
mählich aber schlummerte er in Bewußtlosigkeit hinüber, und in den ersten
Morgenstunden des 15. Oktober, 2 Uhr 25 Minuten, entschlief er sanft. Am
Georg von Sachsen. Buchenberger. 20
Abend des 17. Oktober trug ein schwarz verhangener Dampfer die Leiche
nach Dresden; hier wurde sie in der Schloßkirche aufgebahrt und am 19. Oktober
inmitten einer glänzenden Trauerversammlung beigesetzt
Vgl. V. Falkenstein, Johann, König von Sachsen. — v. Schimpff, Prinz Georg von
Sachsen. — P. Hassel, König Albert von Sachsen. — Eine zusammenfassende Darstellung
des gesamten Lebensganges gibt Konrad Sturmhoefel, Zu König Georgs Gedächtnis (mit
Forträt), Dresden 1905. Eine kürzere Charakteristik habe ich versucht in meiner Gedächtnis-
rede am 19. Oktober 1904, abgedruckt im Jahresbericht des Nikolaigymnasiums in Leipzig
1905, der ein Teil des vorstehenden Abrisses mit einigen Zusätzen und anderen Verände-
rungen entnommen ist. Otto Kaemmel.
Biichenberger, Adolf, Großh. Badisch. Finanzminister und Nationalökonom,
Dr. pkitos, hon, causa^ Dr. jur. hon. causa ^ * 18. Mai 1848 in Mosbach (Baden),
t 20. Februar 1904 in Karlsruhe. — Ein reiches Leben ist mit dem Ver-
storbenen dahingegangen, reich an Arbeit und Erfolgen auf politisch -staats-
männischem Gebiete wie dem der Wissenschaft, eine selten harmonische
Verbindung in sich schließend zwischen politischem Geschick und strenger
Gel ehrten arbeit.
Als das vierte Kind von sechs Abkömmlingen eines praktischen, später
auch im Staatsdienste tätigen Arztes in einem kleineren Landstädtchen ge-
boren, mußte B. daß elterliche Haus schon frühzeitig verlassen, um eine
Mittelschule zu besuchen. Er fand liebevolle Aufnahme in der anmutig
gelegenen alten Mainstadt Wertheim bei seinen Großeltern mütterlicherseits,
einer hier alteingesessenen Fürstlich Löwensteinschen Beamtenfamilie. Wert-
heim wurde ihm zur zweiten, ja zur eigentlichen Heimat. Er verlebte hier
eine sehr glückliche Jugendzeit, auf die nur der frühe Verlust beider Eltern
trübe Schatten warf. Der Vater starb 1859, als B. erst elf Jahre alt war, die
Mutter, die nach dem Tode ihres Mannes mit ihren fünf anderen Kindern
in die alte Heimatstadt Wertheim gezogen war, im Jahre i866, kurz bevor B.
das Reifezeugnis des dortigen Gymnasiums erlangte. Mit zahlreichen Wert-
heimer Jugendgenossen verband B. innige Freundschaft bis an sein Lebens-
ende. Aus ihren Berichten wissen wir, daß er schon von früher Jugend an
ein heiterer und sehr umgänglicher, auf alle Interessen der Freunde gerne
eingehender Mensch gewesen ist, kein Spaßverderber, dabei doch stets
ruhig und besonnen, von großem Wissensdrang beseelt und deshalb mit
seiner Zeit immer rechnend. Sehr fühlte er sich von früher Jugend an zur
Natur hingezogen durch ihre landschaftliche Schönheit wie durch ihre natur-
wissenschaftliche Wunderbarkeit. Aber von allen diesen Neigungen hat sich
nach dem Berichte eines Jugendfreundes doch nur eine bis zur Leidenschaft
gesteigert, die Freude am Lesen. Ganze Berge von Büchern soll schon der
Gymnasiast B. hinter sich gebracht haben, und wo er nur wieder eines hab-
haft werden konnte, habe er sich mit regem Eifer daraufgestürzt. Sein Lesen
war nicht durch dunkle Triebe oder um einer Schülereitelkeit zu fröhnen
eingegeben, sondern entsprang wahrer Lernbegierde, und diesem Beweggrund
entsprach auch der Erfolg. Mit einer selten leichten Auffassung verband
B. eine hervorragende Kraft des Gedächtnisses, so daß er kein Buch ohne
dauernden Nutzen aus der Hand gelegt hat. Früh zeigten sich auch die
ersten Regungen der Vaterlandsfreude. In den Jahren der Reaktion, die den
^O Buchenberger.
Bewegungen seines Geburtsjahres folgten, mag er, sobald Empfinden und
Erkenntnis in dem ziemlich frühreifen Knaben sich regten, manch stillen
Traum von politischer Freiheit und einem großen deutschen Vaterlande mit-
geträumt haben. Er hat beim Abschluß einer vortrefflichen humanistischen
Bildung den zur Neugestaltung des Vaterlandes notwendig gewordenen
deutschen Bruderkrieg miterlebt, nicht nur zeitlich, sondern in Erkenntnis
seiner Ursachen und Folgen. Und als junger hoffnungsvoller Staatsbeamter
war er verständnisvoller Zeuge des großen deutsch-französischen Krieges und
der Begründung des heutigen Deutschen Reiches. Hell lodernde patriotische
Begeisterung hat auch ihn in diesen Jünglings- und ersten Mannesjahren
beseelt, aber frühzeitig zeigte sich in ihm schon ein stark ausgeprägtes
Gefühl für das in Wirklichkeit Erreichbare, und so hat er bald in strenger
Selbstzucht seiner leichtbeschwingten Einbildungskraft die Zügel praktischer
Erwägungen angelegt. Alle diese Eigenschaften des Knaben und Jünglings
sind B. in der mit den zunehmenden Jahren gegebenen reicheren Entwicklung
treu geblieben bis an sein Lebensende.
Im Spätherbst 1866 bezog B. zusammen mit seinem um ein Jahr älteren
Bruder die Universität Freiburg. Recht eigentlich seinen Neigungen folgend
erwählte er das Kameralfach, eine badische Spezialität. Den Rückgrat dieses
Studiums bildeten die volkswirtschaftlichen Fächer (Allgemeine oder theo-
retische und spezielle Nationalökonomie — Volkswirtschaftslehre und -pflege
— sowie Finanzwissenschaft). Zu ihnen traten hinzu einige juristische Haupt-
disziplinen des öffentlichen und des Privatrechtes, einige mathematische
Fächer, insbesondere politische Arithmetik, und als Hilfswissenschaften einige
technische Disziplinen (Landwirtschaftslehre, Technologie und einige Fächer
aus der Erdkunde). Von diesem neben dem juristischen eingerichteten
besonderen kameralistischen Studium versprach man sich in Baden die Heran-
ziehung eines tüchtigen Stammes von brauchbaren Beamten für die Finanz-
und volkswirtschaftliche Verwaltung, und daß diese Hoffnungen nicht ganz
unbegründete waren, dafür lieferte gerade die Tätigkeit B.s den besten Beweis.
Das besondere kameralistische Studium ist denn auch unter verschiedenen
Wandlungen, stärkerer Betonung des juristischen Elementes und einem Zurück-
tretenlassen der mathematischen und technischen Fächer in Baden bis zum
heutigen Tage aufrecht erhalten geblieben. Und als Ende der neunziger
Jahre mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich
die Frage erneut zur Erörterung stand, ob das kameralistische Studium nicht
mit dem juristischen verschmolzen werden solle, da ist es der Finanzminister
B. gewesen, der in entscheidender Weise seine Stimme für die fernere Aufrecht-
erhaltung des Sonderstudiums abgab. — Dem studentischen Treiben mit
seinem jugendlichen Frohsinn und seiner guten erzieherischen Wirkung für
die Charakterbildung »im Strom der Welt« blieb B. durchaus nicht fern. Er
gehörte die zwei ersten Semester in Freiburg dem Korps Rhenania und
die zwei folgenden in München den Korps Franconia an und soll hier in
allen Lagen, insbesondere auch auf dem Fechtboden, nach dem Zeugnis von
Altersgenossen seinen Mann vortrefflich gestellt haben. Auch sind zu den
Wertheimer Jugendgenossen während der Universitätszeit, die mit zwei weiteren
Semestern in Heidelberg, also im ganzen schon mit sechs Semestern abschloß,
zahlreiche ihm treu ergebene Freunde hinzugetreten, die er sich durch seine
Buchenberger. ^ £
geistige Bedeutung, sein leutseliges Wesen und seine angenehmen Umgangs-
formen spielend gewann. Bei alledem wurde aber nichts versäumt zur Bildung
»des Talentes in der Stille«. Nach den noch vorhandenen Kollegienheften
hat B. alle belegten Vorlesungen ohne Unterschied mit nie versagendem
Fleiße gehört und zu Hause verarbeitet. Nach Art und Umfang dieser Lern-
tätigkeit hat er damit offenbar nicht nur bezweckt, das bevorstehende Staats-
examen ablegen zu können, sondern er war dabei geleitet von äußerst regem
Wissensdrang in dem von ihm erwählten Fache. Bei solch ernster und wahr-
haft wissenschaftlicher Arbeit konnte es nicht ausbleiben, daß B. schon nach
dreijähriger Universitätszeit das kameralistische Staatsexamen mit gutem
Erfolge als der erste sämtlicher Prüflinge bestand.
Gleich darauf, im November 1869, fand B., 21 Jahre alt, seine erste Ver-
wendung im staatlichen Dienste, und zwar als Gehilfe bei der Bezirksdomänen-
und Steuerverwaltung in Müllheim und Lörrach im badischen Oberland. Er
ging auch nicht nur vorübergehend, wie so mancher junge Beamte, seiner akade-
mischen Studien ganz vergessend, in der Fülle der zu erlernenden praktischen
Einzelheiten unter, sondern trat an alles von der höheren Warte wissen-
schaftlicher Ergründung und Kritik heran. Trotz der mühsamen und spröden
Rechnungsführung, die er zunächst zu übernehmen hatte, fand er Lust und
Zeit zu einer aus eigenem Antrieb abgefaßten domänenpolitischen Denkschrift
über die schädlichen Wirkungen des staatlichen Parzellenbesitzes auf die
heimische Landwirtschaft, einer Arbeit, der er viel später, als erste größere
Tat seiner Finanzministerschaft praktische Folgen gab. Von dieser ersten
nicht erhalten gebliebenen Schrift an faßte er die große Vorliebe für das
Studium der Landwirtschaft und die öffentliche Landwirtschaftspflege, denen
er später durch lange Jahre seine Hauptkraft widmen sollte.
Kein Wunder, daß man bei den Zentralstellen bald auf den befähigten
und strebsamen Praktikanten aufmerksam wurde. Am i. Januar 1872 wurde
der Kameralpraktikant B. in das Sekretariat des Handelsministeriums in
Karlsruhe einberufen, in welcher Stadt er von da an ohne Unterbrechung
bis zu seinem Tode beamtet war. Das Handelsministerium, das 1881 infolge
einer Änderung in der Behördenorganisation unter Verteilung seiner Geschäfte
auf die Ministerien des Innern und der Finanzen aufgehoben worden ist,
hatte zur Geschäftsaufgabe die öffentliche Pflege von Landwirtschaft, Handel
und Gewerbe, den Wasser- und Straßenbau, die Eisenbahnverwaltung sowie
das Post- und Telegraphenwesen. Dieses Ministerium der volkswirtschaftlichen
Verwaltung umfaßte also recht eigentlich das Gebiet, auf dem B. seine haupt-
sächlichsten Studien gemacht hatte und dem seine vorzugsweisen Neigungen
zugewendet waren. Er hatte somit hier die beste Gelegenheit, seine Studien
im Lichte der praktischen Staatsverwaltung nachzuprüfen und sie dadurch
zu erweitem und zu vertiefen. Schon zweieinhalb Jahre später (August 1874)
wurde der Kameralpraktikant B. unter etatmäßiger Anstellung mit dem Titel
Regierungsassessor als vortragender Rat in die Oberdirektion des Wasser-
und Straßenbaues berufen, einer dem damaligen Handelsministerium, jetzt
dem Ministerium des Innern, unmittelbar unterstellten Zentralmittelbehörde.
Hier waren es wiederum die in engem Zusammenhang mit der Landwirtschaft
stehenden Geschäfte, die sein ganz besonderes Interesse in Anspruch nahmen;
die Aufgaben der Landeskultur, so insbesondere die Durchführung einer
32 Buchenberger.
zweckmäßigen Feldbereinigung, Aufhebung der Gemengelage, Durchführung
von Ent- und Bewässerungen usw. Hierbei kamen ihm seine gründlichen
theoretischen Kenntnisse sehr zustatten ; aber auch in der praktischen Durch-
führung dieser Regierungsmaßnahmen legte ,er ein bemerkenswertes Geschick
an den Tag. Mit seinem Eintritt in das Kollegium der Oberdirektion des
Wasser- und Straßenbaues beginnt auch die umfassende journalistische und
schriftstellerische Tätigkeit, die B. fast ohne Unterbrechung bis an seines
Lebens Ziel auf den verschiedensten volkswirtschaftlichen Gebieten fortgesetzt
hat. Er führte eine ungemein leichte Feder und besaß die seltene Gabe, alle
seine Gedanken sofort zutreffend und in gefälliger Form zu Papier zu bringen.
So allein ist es zu erklären, wie ein durch seinen Beruf sein ganzes Leben
hindurch in ungewöhnlichem Maße in Anspruch genommener Beamter neben-
her eine so umfassende schriftstellerische Betätigung entwickeln konnte. In
den siebziger Jahren waren es hauptsächlich volkswirtschaftliche Tagesfragen
aller Art, denen er seine Feder lieh, und entsprechend der aktuellen Bedeutung
seiner Darlegungen ließ er diese Aufsätze in der Tagespresse (zumeist der
in Karlsruhe herausgegebenen »Badischen Landeszeitung«) erscheinen. Diese
journalistische Tätigkeit setzte er auch späterhin, nachdem er sich der Ab-
fa.ssung von Kommentaren, Lehrbüchern, Kompendien usw. zugewendet hatte,
nebenher ständig fort. Und noch als Finanzminister bediente er sich häufig
und gerne der Tagespresse, um auf die öffentliche Meinung aufklärend zu
wirken.
Bald nach seinem Eintritt bei der Oberdirektion (Oktober 1874) trat für
ihn in seinem persönlichen Leben eine sehr erfreuliche und ihn hochbe-
glückende Wendung ein. Er führte die Tochter des damaligen Bezirksförsters
in Pforzheim, späteren Forstmeisters Hoffmann, Klara, als Gattin heim, mit
der er bis zu seinem Tode in glücklichster Ehe verbunden blieb. Was ihm
diese treue Lebensgefährtin gewesen ist, welches behagliche Heim sie ihm
geschaffen hat, das kann man am besten an dem außerordentlichen Umfang
seiner Berufsarbeit und sonstigen öffentlichen Tätigkeit ermessen, die auch
dem fähigsten und leistungsfähigsten Manne ohne ein glückliches Heim, in
dem er auszuruhen und Kräfte zu sammeln vermag, nicht möglich gewesen
wäre. Mit gerechtem Stolze darf diese vortreffliche deutsche Frau auf die
Erfolge ihres Gatten blicken; sie hat auch ihren guten Anteil daran. Drei
Töchter entsprossen dem Ehebunde, an denen der Vater mit zärtlicher Liebe
hing und mit denen er, als sie herangewachsen waren, dank ihrer sehr
guten Befähigung und dem erwachenden Verständnis für die geistigen Inter-
essen des Vaters mehr in kameradschaftlicher Weise über Gegenstände der
schönen Literatur, des öffentlichen Lebens und der Wissenschaft sich unter-
halten konnte.
Die amtliche Laufbahn B.s hatte sehr günstig begonnen und in glänzender
Weise setzte sie sich fort. Dreieinhalb Jahre nach seinem Eintritt bei der
Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaues wurde B. (März 1878) mit dem
Titel Ministerialassessor als Rat in das Handelsministerium selbst berufen
und erhielt hier das Landwirtschaftsrespiziat. In dieser Stellung verblieb er
gerade fünfzehn Jahre bis zu seiner Berufung an die Spitze des Finanzmini-
steriums, 1881 mit der Aufhebung des Handelsministeriums in gleicher Stellung
zum Ministerium des Innern übertretend (s. o.) und seit diesem Jahre mit
Buchenberger. ^ ^
dem Titel Ministerialrat bedacht. Auf diesem Posten schuf er sein Haupt-
lebenswerk. Es würde für den hier beabsichtigten kurzen Lebensriß viel zu
weit führen, auf die Tätigkeit B.s als Landwirtschaftsreferent im einzelnen
näher einzugehen. Es müßte sonst die Geschichte der badisch -deutschen
Agrarpolitik in ihrer wichtigsten Entwicklungsepoche hier Aufnahme finden.
Mit seinem tiefgründigen und lückenlosen natiönalökonomischen Wissen
besonders auf dem Gebiete der Agrarpolitik verband B. eine ganz hervor-
ragende Initiative. Die Wissenschaft blieb für ihn kein toter Buchstabe,
sondern er wußte seine Kenntnisse und Erfahrungen mit feinem Verständnis
für die Produktionsbedürfnisse der Landwirtschaft treibenden Bevölkerung
in die lebendige Tat umzusetzen. So erwuchsen durch seine schöpferische
Kraft nach und nach eine Fülle von Anordnungen staatlicher Fürsorge für
die badische landwirtschaftliche Produktion, bei denen der Kenner des
Landes das intime Eingehen auf die Lage und Bedürfnisse der einzelnen
Produktionszweige und ihre Verteilung auf die einzelnen Landesteile nicht
genug bewundern kann. Dabei wollte B. die Staatsfürsorge, insbesondere die
Unterstützung der landwirtschaftlichen Produktion mit staatlichen Mitteln
keineswegs als eine dauernde Einrichtung angesehen wissen; sie sollte nur
als ein erzieherisches Mittel vorübergehend bis zur Erstarkung des gepflegten
Produktionszweiges zur Anwendung kommen. Er, der sich in der Neuein-
führung von Akten staatlicher Landwirtschaftspflege nicht genugtun konnte und
damit besonders die bäuerliche Bevölkerung verwöhnt hat, rief in einer seiner
mit recht gerühmten Gelegenheitsreden später seinen Hörern ermahnend zu,
sie sollten bei Notlagen zunächst auf Selbsthilfe bedacht sein und nicht gleich
den bequemen Ruf nach staatlichem Eingreifen ertönen lassen. B. war in
seiner Landwirtschaftspflege vorzugsweise der Mann der »kleinen Mittel«,
die aber bei ihrer großen Mannigfaltigkeit und systematisch richtigen Zu-
sammensetzung in ihrer Gesamtwirkung doch sehr erheblich waren und reichen
Segen besonders über die kleinbäuerliche Bevölkerung ausgegossen haben.
Die kleinen Mittel waren auch für das Großherzogtum Baden bei seiner Be-
siedlungsweise mit einer sehr weitgehenden Bodenparzellierung und ganz
vorherrschendem bäuerlichem Kleinbesitz offenbar das Nächstliegende und
zur Förderung der Volkswohlfahrt Wirksamste. Aber auch den sog. großen
Mitteln, insonderheit der Frage des Zollschutzes für Getreide, Vieh, Holz
usw. ist er in sachlicher Würdigung der zeitlich gegebenen Verhältnisse gerecht
geworden. Den in der Jugendzeit mit ihrem überschäumenden Kraftgefühl
aufs lebhafteste mitempfundenen Freiheitsdrang, an dem er sich dem Zuge
der Zeit folgend auch berauscht hatte, und die damit zumeist verbundene
Huldigung vor der unbedingten Freihandelslehre hatte der gereifte Beamte
wesentlich modifiziert. Die Kinderschuhe des laissez faire laissez passer waren
für den gewiegten, statistisch wie wirtschaftsgeschichtlich wohlunterrichteten
Nationalökonomen ausgetreten. Die durch günstigere Produktionsbedingungen
und Ermäßigung der Frachtsätze mehr und mehr erdrückend gewordene
Konkurrenz der transatlantischen und osteuropäischen Brotfrucht hatte ihm
reichlich zu denken gegeben und ihm einen mäßigen Zollschutz für die
heimische Erzeugung angezeigt erscheinen lassen. In das extrem schutzzöllne-
rische Lager der ostelbischen Agrarier ist er freilich nie abgeschwenkt.
Davor schützte ihn, so sehr er auch vom nationalen Standpunkt für eine
Biog-r. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog:. 9. Bd. 3
34 Buchenberger.
möglichst zureichende Getreideproduktion im eigenen Vaterlande und für die
hohe politische Bedeutung der Erhaltung eines lebensfähigen konservativen
Bevölkerurtgsteils eingenommen war, die durch eingehende nationalökono-
mische Studien und reiche Erfahrungen gewonnene, über die Tageskämpfe
hinaushebende Objektivität des Urteils verbunden mit einem ausgeprägten
Gerechtigkeitsgefühl. Die gebotene Rücksichtsnahme auf die Lebensverhält-
nisse der nicht ackerbautreibenden Bevölkerung, insbesondere der breiten
Massen der Industriearbeiter ließ der Landwirtschaftreferent bei Beurteilung
der angemessenen Höhe des Zollschutzes nie außer Betracht. B. ver-
kannte nicht, daß an dem höheren Zollschutze der gerade in Baden nur
sehr wenig vertretene Großgrundbesitz ganz vorzugsweise interessiert sei, da
der Kleinbauer nur wenig Getreide über den eigenen Bedarf hinaus zu bauen
vermag. Immerhin hat er in den letzten Zolltarif kämpfen von 1902 sowohl
im badischen Landtage wie im Reichstage hervorheben können, daß der
Nutzen an einem durch Schutzzoll gehobenen Getreidepreis schon bei Land-
wirtschaftsbetrieben von etwa fünf Hektar einsetze.
Die beste und zuverlässigste Grundlage für alle agrarpolitischen Maß-
nahmen des Staates hatte B. wenige Jahre nach seiner Übernahme des Land-
wirtschaftsdezernats geschaffen, nachdem er mit dem Gegenstand völlig ver-
traut geworden war. Eine drückende Notlage mancher Kreise der landwirt-
schafttreibenden Bevölkerung, wie sie in Baden nach langer andauernder
Aufwärtsbewegung Ende der siebenziger und Anfang der achtziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts in die Erscheinung trat, gaben in Regierungskreisen wie
auch bei der Volksvertretung zu dem Gedanken Anlaß, Erhebungen zu ver-
anstalten insbesondere über die Höhe der Verschuldung des kleinen und
mittleren Grundbesitzes, um danach die Wege zu finden, die zu einer Besse-
rung führen könnten. In beiden Kammern der Landstände hatten sich diese
Erwägungen im Jahre 1882 zu einer Interpellation verdichtet. B. nahm diesen
ihm selbst vertrauten Gedanken freudig auf und führte ihn mit wesentlich
weiter gesteckten Zielen und in größtem Stile durch. Er veranstaltete die
geradezu klassischen, für manche Staaten vorbildlich gewordenen Erhebungen
nicht nur über die Verschuldung, sondern über die Gesamtlage der land-
wirtschaftlichen Bevölkerung. Da diese Enquete ein Eindringen bis in alle
Einzelheiten der Wirtschafts Verhältnisse der ländlichen Bevölkerung erforderte,
sah er voraus, daß das Werk, wenn es überhaupt in befriedigender Weise
vollendet werden könnte, jedenfalls nicht vor Umlauf mehrerer Jahre zu
Ende käme. Er wählte deshalb 37 für alle Lagen und Verhältnisse der badi-
schen Landwirtschaft typische Erhebungsgemeinden in glücklichster Weise
aus und gewann sich durch eigene geschickte Beteiligung an den Erhebungen
und durch eine sehr gute Wahl von Mitarbeitern in hohem Maße das Ver-
trauen der bäuerlichen Bevölkerung, so daß das Ergebnis als ein sehr zu-
verlässiges betrachtet werden konnte. Er wußte diese äußerst schwierigen und
umfangreichen Arbeiten so sehr zu beschleunigen, daß er schon nach einem
Jahre (1883) die Ergebnisse der Erhebungen über die Lage der Landwirt-
schaft in drei starken Quartbänden der Öffentlichkeit unterbreiten konnte.
Hierzu schrieb er — in einem vierten Band abgedruckt — einen eingehen-
den zusammenfassenden Bericht über die Ergebnisse, der in mustergültiger
Weise fast alle agrarpolitischen Fragen an der Hand der Erhebungsergebnisse
Buchenberger. 9 j
erörtert. Dieser Bericht hat in weiten Kreisen praktisch tätiger Volkswirte und
Staatsmänner wie auch bei den Gelehrten vorzugsweise den Nationalökonomen
das gröfite Aufsehen erregt und dabei ungeteilte Anerkennung gefunden.
Der Ruf B.s als einer agrarpoli tischen Autorität war damit in weitesten
Kreisen begründet.
Die Erhebungen hatten sich auf alle für die Gesamtlage dieses Volks-
wirtschaftszweiges ausschlaggebenden Verhältnisse erstreckt. Erhoben und
in dem zusammenfassenden Bericht dargestellt wurden in der Hauptsache
die allgemeinen Bewirtschaftungsverhältnisse, Besitzverteilung und Erbrecht,
Kaufpreise und Liegenschaftsumsatz, Versicherungswesen, Pachtwesen, Ge-
legenheit zum Nebenverdienst, Kreditwesen, Haushaltsverbrauch und Ertrags-
verhältnisse und endlich Verschuldung. Die kritische Würdigung aller dieser
Verhältnisse in ihrem tatsächlichen Bestände gab der badischen Landwirt-
schaftspflege von da an Richtung und Ziel und es war B. zu seiner inneren
Befriedigung und zum Wohle des Vaterlandes vergönnt, den Boden, den
seine verdienstvolle Enquete so wohl vorbereitet hatte, in seinem ganzen
Umfange persönlich reich zu bestellen. Kein einziges der in der umfassenden
Enquete allgemein-theoretisch und historisch-statistisch ergründeten Gebiete
ist unbeackert geblieben und gerade hierbei kam in B. die wunderbar harmo-
nische Verbindung zwischen gediegenem theoretischem Wissen und politischem
Geschick für praktische Betätigung zur reichsten Entfaltung. Das Haupt-
augenmerk war, wie B. später selber ausgeführt hat, stets auf das erziehliche
Moment gerichtet durch amtliches Hinwirken auf betriebstechnische Fort-
schritte neben Herbeiführung einer geeigneten standschaftlichen Vertretung
und Schulung des genossenschaftlichen Sinnes. Was durch die Staatsfürsorge
für die Landwirtschaft unter B. zur Hebung des Roh- und Reinertrags und
damit der allgemeinen wirtschaftlichen Lage der bäuerlichen Bevölkerung
geleistet worden ist durch Einrichtung von Fachschulen und landwirtschaft-
lichen Versuchsanstalten und noch mehr durch die Einführung eines auf die
Masse wirkenden Anschauungsunterrichts, verbunden mit einer auf alle Ge-
meinden des Landes sich erstreckenden Wanderlehrtätigkeit, durch Förderung
des landwirtschaftlichen Vereinswesens, durch Bildung von Ein- und Verkaufs-
sowie von Produktivgenossenschaften, denen man, solange sie selbst nicht
stark genug waren, in irgendeiner Form die Staatshilfe angedeihen ließ,
durch Bekämpfung des Wuchers auf dem Lande, durch Einführung von
Staatsprämien in erzieherischem Sinne für besonders gute Erzeugnisse und
in Verbindung damit durch Pflege des Ausstellungswesens, durch Unter-
stützung von Meliorationen und Erschließung billiger Kaufquellen für Dünge-
mittel, durch mittelbare und unmittelbare Förderung des Obstbaues und
landwirtschaftlicher Nebengewerbe, durch Neuordnung des Kreditwesens nicht
mit einer staatlichen Landeskreditkasse, sondern durch Bildung eines im
wesentlichen auf Selbsthilfe beruhenden, über das ganze Land sich erstrecken-
den Verbandes, durch Förderung des Versicherungwesens, besonders der
Versicherung gegen Hagelschlag, die gleichfalls auf privatwirtschaftlicher
Grundlage eingerichtet wurde, usw. usw., das alles steht mit unvergäng-
lichen Lettern auf den Tafeln der badischen Agrargeschichte eingegraben.
Ganz besonderer Hervorhebung wert ist, was unter B. zur Hebung der heimi-
schen Tierzucht, vornehmlich der für Baden mit seinem überwiegend klein-
st
2 6 Buchenberger.
bäuerlichen Betriebe so wichtigen Rindviehzucht geleistet wurde. Durch
Bezug reiner Rassetiere aus verschiedenen Ländern, besonders der Schweiz
(Simmental), den Betrieb von Rinderstammzuchtstationen, durch Bildung von
Viehzuchtgenossenschaften, durch staatliche Prämiierung guter Zuchtprodukte,
durch eine großzügig angelegte Rindviehversicherung mit Staatsunterstützung,
die in Ortsviehversicherungsanstalten gegliedert, durch Zulassung eines Mehr-
heitsbeschlusses zu einer zwangsweisen wurde usw., ist es erreicht worden,
daß sich die Produkte mancher badischer Tierzuchtgenossenschaften heute
eines Weltrufs zu erfreuen haben und daß der Wohlstand der bäuerlichen
Bevölkerung gerade durch den Erfolg der Tierzucht eine merkliche Aufwärts-
bewegung eingeschlagen hat.
Natürlich hat B. diese fast zahllosen Einrichtungen staatlicher Land-
wirtschaftspflege nicht alle allein und persönlich ausarbeiten und durchführen
können. Er hat sich dabei der Mitwirkung einiger vortrefflicher Mitarbeiter
zu erfreuen gehabt. So hat er es insbesondere verstanden, die wertvollen
Dienste einer Autorität auf veterinärtechnischem Gebiete für die gute Sache
nutzbar zu machen. Aber die geistige Urheberschaft der meisten, besonders
der umfassenderen Maßnahmen ist doch auf ihn selbst zurückzuführen. Als
eine besonders glückliche Fügung muß es betrachtet werden, daß B. als
Landwirtschaftsreferent unter Ministern gestanden hat, die seiner Befähigung
und seinem Wirken volles Verständnis entgegengebracht haben. Besonders
der in den Hauptjahren von B.s landwirtschaftspfleglicher Wirksamkeit
amtierende Minister des Innern Eisenlohr war ein großzügiger, mit einem
außerordentlichen praktischen Blick für die Bedürfnisse des Volkslebens be-
gabter und entschlossener Mann, der die hervorragende Befähigung seines
Land Wirtschaftsreferenten wohl zu schätzen und ihm die für ein Land von
der Größe Badens recht bedeutenden Mittel durchzusetzen wußte, welche
die Staatsfürsorge für die Landwirtschaft verschlang. Wohl mit im Hinblick
auf diese intensive und in jede Einzelheit eingehende pflegliche Wirksamkeit
der staatlichen Verwaltung, wie sie B. auf dem Gebiete der Landwirtschaft
inauguriert hat und wie sie auch auf manchen anderen Gebieten der volks-
wirtschaftlichen und sonstigen inneren Verwaltung in Baden Übung geworden
ist, sind die Worte von dem »wohlregierten Mittelstaat«, von dem »Muster-
lande« ausgeprägt worden. Man wird freilich nicht verkennen dürfen, daß
eine solch umfassende und eindringliche Verwaltungstätigkeit in einem Groß-
staate überhaupt nicht wohl möglich ist, sondern höchstens noch in einem
Mittelstaate. Bei seinen enger gezogenen Landesgrenzen kann er möglicher-
weise auch in den Ministerien über Beamte verfügen, die mit den Verhält-
nissen des Landes in allen seinen Teilen und mit allen seinen noch so
kleinen Berufsständen genau vertraut sind und bei sehr guter Befähigung
diese eingehenden Kenntnisse in gleichmäßiger Berücksichtigung aller Orte
und Stände in der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung zu verwerten
wissen.
Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als langjähriger Landwirtschafts-
referent kam auch der Literat und agrarpoli tische Gelehrte B. zur vollen
Entfaltung. Durch sein wichtiges Staatsamt wohl in überdurchschnittlichem
Maße in Anspruch genommen, ist es ihm bei seiner nie versagenden Arbeits-
kraft und bei seiner ungewöhnlich leichten Feder doch gelungen, nebenher
Buchenberger. 97
noch in einer dem Umfang wie dem Inhalt nach bedeutenden Weise schrift-
stellerisch sich zu betätigen. Ein glücklicher Umstand war es, daß trotz der
sehr umfassenden Dienstaufgaben es ein abgerundetes, in sich geschlossenes
Gebiet gewesen ist, auf dem er seines Amtes zu walten hatte, so daß er
seine Kräfte für praktische und theoretische Betätigung auf einen Gegenstand
sammeln konnte. Neben einer fast unausgesetzten journalistischen Tätigkeit
und zahlreichen Veröffentlichungen in den Fachzeitschriften, von denen er
besonders die Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, das Jahrbuch
für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, die Schriften des Vereins
für Sozialpolitik, die Zeitschrift für Sozialwissenschaft u. a. m., auch manche
landwirtschaftlichen Organe mit wissenschaftlichen Beiträgen bedacht hat, ließ
er eine ganze Reihe von Kommentaren und Monographien auf agrar-
politischem Gebiete erscheinen. In dem größeren im Jahre 1885 (Karlsruhe
bei Bielefeld) erschienenen Sammelwerke, »Das Großherzogtum Baden in
geographischer, naturwissenschaftlicher, geschichtlicher, wirtschaftlicher und
staatlicher Hinsicht dargestellt«, übernahm B. die Abschnitte über Landwirt-
schaft und Fischerei, die zu den besten des Werkes zählen. Dann kam 1887
ein Kommentar zum badischen Gesetz über die Verbesserung der Feld-
einteilung (Feldbereinigung) heraus (Tauberbischofsheim und Karlsruhe bei
Lang), den er zusammen mit einem Berufskollegen bei der Oberdirektion
des Wasser- und Straßenbaues bearbeitet hatte. Ebenfalls 1887 in Leipzig
bei Duncker und Humblot eine kleine Monographie »Zur landwirtschaftlichen
Frage der Gegenwart«, die Ergebnisse der landwirtschaftlichen Erhebungen
von 1883 und den Wucher in den Landgemeinden behandelnd (vorher als
zwei getrennte Aufsätze im Schmollerschen Jahrbuch für Gesetzgebung, Ver-
waltung und Volkswirtschaft und in den Schriften des Vereins für Sozial-
politik erschienen). Auch noch im Jahre 1887 konnte er einen umfangreichen
Kommentar fertigstellen unter dem Titel »Das Verwaltungsrecht der Land-
wirtschaft und die Pflege der Landwirtschaft im Großherzogtum Baden«
(Tauberbischofsheim-Karlsruhe bei Lang), worin er die Darstellung der ge-
samten im Bereich der Landwirtschaft sich betätigenden Staatsfürsorge sich
zur Aufgabe gestellt hatte, und wozu 1891 im gleichen Verlage ein Ergänzungs-
band erschien »Das Verwaltungsrecht der Landwirtschaft und Fischerei«. Schon
vorher (1888 ebenfalls im Langschen Verlage) hatte er einen kleineren Kom-
mentar »Fischereirecht und Fischereipflege im Großherzogtum Baden« ('1903
II. Aufl.) erscheinen lassen, ein Gegenstand, dem er zeitlebens viel Aufmerk-
samkeit und Neigung entgegengebracht hat. Alle diese Veröffentlichungen
treten in ihrer Bedeutung weit zurück hinter einem groß angelegten, rein
wissenschaftlichen Lehr- und Handbuch über »Agrarwesen und Agrarpolitik«,
das er in zwei umfangreichen Bänden in zwei aufeinanderfolgenden Jahren
1892/93 als Abteilung in dem Lehr- und Handbuch der politischen Ökonomie
von Adolf Wagner (Leipzig: Winter*scher Verlag) hat erscheinen lassen können.
Es ist dies die reife Frucht, die B. vermöge seiner langjährigen Tätigkeit als
Land Wirtschaftsreferent und der eingehenden agrarpolitischen Studien, die
bei ihm ständig damit verbunden gewesen sind, zum Schlüsse dieser seiner
Wirksamkeit (der zweite Band erschien ein halbes Jahr nach seiner Berufung
an die Spitze des Finanzministeriums) der zünftigen Nationalökonomie und
der ganzen gebildeten Welt zu Füßen legen konnte. Mit diesem für einen
^g Buchenberger.
mit einem vollgerüttelten Maß von Berufearbeit bedachten Beamten geradezu
monumentalen Werke ist B. aus der Reihe der verdienstvollen Kommentatoren,
zu denen kenntnisreiche und arbeitsame Beamte das Hauptkontingent stellen,
weit hinausgetreten. Nun war er auch als nationalökonomischer Forscher
und Gelehrter anzusprechen. Mit dem vollen Rüstzeug des zünftigen Ge-
lehrten, wie sich schon aus den gegebenen Literaturausweisen und ihrer
Verarbeitung ergibt, ist B. mit diesem Werke auf den Plan streng wissen-
schaftlicher Arbeit getreten und hat das Feld mit Ehren behauptet. Mag
sein, daß, wenn er nur die Luft der Gelehrtenstube einzuatmen gehabt hätte,
er zu einem noch strafferen, systematischen Aufbau und damit zu kürzerem
Ausdruck gekommen wäre; auch hätten dann vielleicht die historisch-statisti-
schen und die kritisch-polemischen Ausführungen einen noch etwas breiteren
Raum beansprucht. Dafür brachte aber B. für die Schöpfung dieses Werkes
etwas mit, was dem Kathedergelehrten gewöhnlich abgeht, für diesen Teil
der Wirtschaftswissenschaft, die ein gutes Stück Politik in sich schließt, aber
von hoher Bedeutung ist: die politische Erfahrung des auf diesem Gebiete
lange Jahre hindurch mit seltenem Erfolg tätig gewesenen Staatsbeamten.
Und so wird die B.sche Agrarpolitik sicher stets einen ersten Platz einnehmen
unter den klassischen einschlägigen Arbeiten eines Röscher, v. d. Goltz,
Brentano, Conrad, Ruhland u. a. Es war mit diesem Werke offensichtlich
geworden, daß B. auch jedem nationalökonomischen Lehrstuhl zur Zierde
gereicht hätte. Es ist kein Zufall, daß B. seine Agrarpolitik als Teil
gerade des Lehrbuchs der politischen Ökonomie von Adolf Wagner
hat erscheinen lassen. Von allen zeitgenössischen Nationalökonomen war
B. ihm in der Auffassung über Aufgabe und Ziel dieser Wissenschaft
besonders nahe verwandt. Zunächst in methodologischer Hinsicht. Er, der
selber durch seine klassische Agrarenquete von 1883 auf induktivem Wege
so wertvolle Bausteine für die Wirtschaftswissenschaft beigebracht hatte, ver-
trat doch die Meinung, daß mit der historisch-statistischen Ergründung örtlich
und zeitlich vorhandener Wirtschaftskörper, auch wenn sie in noch so voll-
kommener Weise erfolgte, die Aufgabe der Nationalökonomie noch keines-
wegs erfüllt sei. Dieser Beibringung von historisch-statistischem Material
auf dem Wege der Induktion erkannte er, so sehr er von seinem Werte
durchdrungen war, für die nationalökonomische Wissenschaft doch nur eine
vorbereitende Bedeutung zu. Nach seiner wie nach Wagners Meinung bildete
es aber die vornehmste Aufgabe der Nationalökonomie, auf Grund dieses
historisch-statistischen Materials mehr auf deduktivem Wege zu allgemeinen
wissenschaftlichen Leitsätzen zu gelangen, die unter den gegebenen Voraus-
setzungen für jede Zeit und jeden Ort ihre Richtigkeit behalten. Darin unter-
scheiden sich Wagner und B. von den englischen Klassikern und ihren Epi-
gonen, daß sie sich nicht in spekulativen Deduktionen bewegen, die in der
Luft schweben, sondern sie fassen stets festen Fuß auf dem Boden des wirk-
lichen Volkswirtschaftslebens. Aber auch in der Richtung der Nationalöko-
nomie, besonders ihres politischen Bestandteiles, findet sich eine weitgehende
Übereinstimmung zwischen Wagner und B. Wagner kann man wohl als den
Theoretiker der sozialen Reform bezeichnen, wie sie sich in ihrer historisch-
rechtlichen Form vornehmlich im neuen Deutschen Reich herausgebildet hat.
B. hat in einer öffentlichen Rede bekannt, daß er auch als Finanzminister
Buchenberger. ^g
nie aufgehört habe, mit einem Tropfen sozialpolitischen Öles gesalbt zu sein
und danach hat der Gelehrte B. stets geschrieben und der praktische Staats-
mann B. immer gehandelt. Und noch in einer anderen Hinsicht kann diese
Parallele zwischen Wagner und B. wohl gezogen werden. Wagner und mit
ihm Schäffle sind die Hauptvertreter des neuzeitlichen deutschen Staatssozia-
lismus: B. war stets auf eine möglichste Ausdehnung der Staatstätigkeit
bedacht, auch wenn dadurch auf manchen Gebieten eine höhere steuer-
liche Belastung untrennbar verbunden war. Deshalb fühlte sich B. mit den
politischen Bestrebungen von Wagner und Schäffle in weitgehendster Über-
einstimmung. — So groß der wissenschaftliche Erfolg der zweibändigen
Agrarpolitik gewesen ist, so vermochte das Werk schon wegen seines Umfangs
und seiner schweren wissenschaftlichen Rüstung nicht in weitere Kreise,
besonders nicht in die Reihe der praktischen Wirtschafter zu dringen. Der
Umstand, daß auf das große Lehrbuch sowohl in der Tagespresse wie in den
parlamentarischen Verhandlungen in der Folge sehr häuüg Bezug genommen
wurde, brachte B. später auf den Gedanken, die Quintessenz des Werkes
einem weiteren Leserkreis leichter zugänglich zu machen. Von diesen Ge-
sichtspunkten geleitet ließ er im Jahre 1897 (Berlin bei Paul Parey) ein
Buch erscheinen mit dem Titel »Grundzüge der deutschen Agrarpolitik
unter besonderer Würdigung der kleinen und großen Mittel«, in dem er in
viel gedrängterer Fassung und ohne das mehr nur für den Fachgelehrten
bestimmte literarische Beiwerk besonders die Streitfragen der zeitgenössischen
agrarischen Tagespolitik in einer durch Wissenschaftlichkeit und reiche staats-
männische Erfahrung gewährleisteten Objektivität des Urteils dargelegt hat.
Daß er sich in der Beurteilung des Bedürfnisses nach einem solchen Buche
nicht geirrt hat, geht daraus hervor, daß schon nach Jahresfrist eine zweite
Auflage davon nötig geworden ist. Sie ist vom gleichen Verlage im Jahre 1899
unter dem Titel »Grundzüge der deutschen Agrarpolitik« ausgegeben worden.
Endlich wäre von schriftstellerischer Betätigung aus dem Gebiete des Agrar-
wesens noch der Abschnitt »Fischerei« in Schönbergs Handbuch der politi-
schen Ökonomie (IV. Aufl. 1896, Tübingen bei Laupp) zu erwähnen, der aus
der sachkundigen Feder B.s herrührt und den er als kürzer gefaßten Aufsatz
noch in andere Sammelwerke und Zeitschriften geliefert hat, so z. B. in das
Handwörterbuch der Staats Wissenschaften. — Man wird staunen, wie es einem
vielbeschäftigten Beamten möglich gewesen ist, nebenher eine solch um-
fassende literarische und Gelehrtenarbeit zu bewältigen; man kann sich das
nur erklären, wenn man sich ins Gedächtnis zurückruft, daß B. von früher
Jugend an eine äußerst leichte Auffassungskraft an den Tag legte, verbunden
mit einer außergewöhnlichen Gedächtnisschärfe, daß er in seinen Mannes-
jahren geradezu rastlos tätig war, alle Gedanken sehr leicht zu Papier brachte
und eine geradezu erstaunliche Belesenheit besonders auf dem Gebiete volks-
wirtschaftlicher Wissenschaft und Politik jederzeit bereit hatte. Statt weiterer
Einzelheiten sei zum Belege erwähnt, daß Adolf Wagner im Frühjahr 1891
an B. die Einladung erließ, in das von ihm herausgegebene Lehrbuch der
politischen Ökonomie den Teil über Agrarwesen und Agrarpolitik zu
liefern und daß B. den ersten Band mit 615 Druckseiten im Jahre 1892, den
zweiten mit 641 Druckseiten im nächstfolgenden Jahre erscheinen ließ, wie-
wohl er inzwischen mit der Leitung des Finanzressorts betraut worden war,
40 Buchenberger.
mit dessen hauptsächlichsten Arbeitsgebieten er sich erst vertraut zu machen
hatte.
Großherzog Friedrich, der während seiner langjährigen gesegneten Regie-
rungszeit alle Vorgänge des öffentlichen Lebens genauestens verfolgte und
bei wichtigen Entscheidungen immer selbst der Politik die Richtung vor-
geschrieben hat, war auf den hervorragend befähigten und erfolgreichen
Ministerialbeamten, der sich auf allen Gebieten mit spielender Leichtigkeit
zurechtfand, schon längst aufmerksam geworden. Als im Frühjahr 1893 durch
den Rücktritt des Finanzministers EUstätter, der über 25 Jahre an der Spitze
des Finanzministeriums gestanden hatte, das Portefeuille der Finanzen in
Erledigung kam, berief der Großherzog den noch nicht 45 Jahre alten, aber
schon eine reiche Lebensarbeit hinter sich habenden Ministerialrat B. als
Präsidenten des Finanzministeriums in den obersten Rat der Krone. Im
ganzen Land fand diese Wahl den freudigsten Widerhall, zumal B. sein
agrarpolitisches Programm in den Hauptpunkten als Landwirtschaftsreferent
noch selbst hatte durchführen können. Etwas über ein Jahrzehnt, bis zu
seinem frühzeitig erfolgten Tode, ist es B. vergönnt gewesen, die leitende
Stelle in der badischen Staatsfinanzverwaltung zu bekleiden, gehoben durch
das nie erschütterte und unerschütterliche Vertrauen seines Landesherrn und
beschwingt durch die Verehrung zahlreicher Berufsgenossen, man kann fast
sagen der ganzen Beamtenschaft sowie vieler Parlamentarier aus allen Parteien.
Er war durch sein vorhergegangenes Wirken ein Liebling des ganzen, am
öffentlichen Leben teilnehmenden Volkes geworden. Und er hat die hohen
Erwartungen, die man allseits auf seine Tätigkeit als Finanzminister setzte,
nicht enttäuscht. Auch hier auf dem viel weiteren Gebiete hat er eine
höchst erfolgreiche, durch feines Verständnis für alle Seiten des staatlichen
Lebens und eine an ihm von früher gewohnte hervorragende schöpferische
Kraft ausgezeichnete Tätigkeit entfaltet. Den häufig im öffentlichen Leben
befolgten Grundsatz des quicta non mattere, nach dem unliebsame und die
obersten Vertreter der Regierung mitunter aufreibende Entscheidungen des
parlamentarischen Kampfes hinausgeschoben und damit abgemildert zu werden
pflegen, ließ er nicht gelten. Alles griff der rastlos tätige Minister auf, wo
er glaubte die bessernde Hand anlegen und seiner sozialpolitischen Über-
zeugung sowie seinem Standpunkte im Sinne eines gemäßigten Staatssozialismus
kräftiger Geltung verschaffen zu können. In kürzester Frist hatte er sich mit
allen Zweigen seines Ressorts vertraut gemacht und so griff er von Anfang
an in allen wichtigeren Fragen selbst entscheidend ein. Ja, die wichtigsten
Gesetzesvorlagcn und vorbereitenden Aktionen hat er zu einem großen Teil
persönlich ausgearbeitet. — B. ist keineswegs ein ängstlicher und zurück-
haltender Finanzminister gewesen, er sah auch dann hoffnungsvoll in die
Zukunft, wenn dunklere Wolken am Finanzhimmel aufzusteigen begannen.
Man kann wohl sagen, daß, wenn sich in seiner Person hin und wieder ein
Widerstreit auftat' zwischen dem Finanzminister und dem Volkswirtschafts-
minister, der er in seinem Empfinden und Handeln geblieben ist, der erstere
zumeist ins Hintertreffen geriet. Nach seiner nationalökonomisch-politischen
Überzeugung scheute er auch vor einer weiteren Anspannung der in Baden
schon damals ziemlich stark in Anspruch genommenen direkten Steuerkraft
nicht zurück, wenn es galt, damit eine von ihm für ersprießlich erfundene
Buchenberger. • 4 1
Staatsfürsorge auf irgendeinem Gebiete, besonders aber auf dem der volks-
wirtschaftlichen Verwaltung zu finanzieren. Ein glücklicher Umstand für B.
und das Land, daß als Vorgänger im Amte über ein Vierteljahrhundert ein
Minister gewaltet hat, der als sehr gewiegter und vorsichtig zurückhaltender
Finanzmann die Kräftigung der Staatsfinanzen und ihre Erhaltung auf diesem
Stande mehr in den Vordergrund gerückt hatte. Nach einem Buchenberger
hätte B. wohl kaum eine so reiche Tätigkeit auf dem Gebiete der staatlichen
Ausgabegebarung entfalten können. Zwar hatte er den von seinem Vorgänger
am Schlüsse seiner Amtszeit aus Anlaß erheblicher aufgelaufener Überschüsse
unternommenen Schritt einer teil weisen Steuerermäßigung infolge einer plötz-
lich auftretenden Verschlechterung der Finanzlage besonders in den Beziehungen
zum Reich gleich nach seinem Amtsantritt zurücktun müssen. Aber er fand
im allgemeinen besonders durch die im Betriebsfonds angesammelten Reserven
doch wohlgefüllte Kassen vor. Andererseits wird der Nachfolger B.s, wenn
er noch so sehr von seinem Geiste durchtränkt ist, infolge des mit der Wende
des Jahrhunderts eingetretenen empfindlichen Rückschlags in der Lage des
volkswirtschaftlichen Lebens und damit auch der Staatsfinanzen zunächst vor-
nehmlich auf eine Sammlung der finanziellen Kräfte des Landes Bedacht
nehmen müssen. Daraus wird die kritisch -objektive Betrachtung B. keinen
Vorwurf machen; er hat seine Zeit verstanden und die vorgefundene Lage
der Staatsfinanzen in einer seinem politischen Programme entsprechenden
Weise auszunützen gewußt. Auch ist ihm die wahre Lage der Staatsfinanzen
zu keiner Zeit entgangen. Dafür sprechen am besten die Finanzexposes, mit
denen er jedesmal den Staats Voranschlag beim Landtage eingebracht hat.
Er bekennt sich darin ganz offen als ein ausgesprochener Gegner jeder
»Admassierung« staatlicher Mittel über die notwendigen Reserven hinaus.
In der Ansammlung großer Reserven erblickte er eine Belastung der Gegen-
wart zugunsten der Zukunft, die nicht am Platze sei, so lange es staat-
liche Aufgaben gibt, die noch nicht oder nicht in dem wünschenswerten
Maße gelöst sind. Dieser Zustand wird aber nie auch nur vorübergehend
eintreten, so lange zu seiner Beurteilung Männer von der Initiative eines
B. berufen sind. B. war sich über die Folgen der von ihm heraufgeführten
freigebigeren Finanzpolitik wohl im klaren, und so hat auch er gewisse
Grenzen nie überschritten, die nach seiner Auffassung und politischen Über-
zeugung richtig gezogen waren. Auch er hat in drastischer Weise im
Landtag erklärt, daß der Weg zur Inanspruchnahme des Staatskredits
zur Deckung ordentlicher oder außerordentlicher Bedürfnisse der allgemeinen
Staatsverwaltung »nur über seine Leiche führe«. Er hätte darin eine
ungerechtfertigte Belastung künftiger Generationen erblickt zugunsten der
Gegenwart, da auch die Forderungen des außerordentlichen Etats im
badischen Budget mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehren und, von
verschwindenden Ausnahmen abgesehen, keine rentierenden Kapitalanlagen
darstellen. Anders bei den Eisenbahnen, die in Baden aus dem allgemeinen
Staatsvoranschlag ausgeschieden sind. Hier hat unter B.s Amtsführung die
Schuld wesentlich zugenommen, was er für unbedenklich hielt, so lange durch
die Eisenbahn Verwaltung eine angemessene, d. h. eine Rente erwirtschaftet
wird, die wenigstens zur Verzinsung und planmäßigen Tilgung der Schulden
hinreicht. Bei seiner Finanzpolitik war sich B. auch wohl bewußt, daß die
A2 * Buchenberger.
Verantwortung für die Erhaltung guter Staatsfinanzen in letzter Linie doch
nur bei der Person des Finanzministers ruht. Die Anhänger, die beifalls-
freudig jeder Ausgabe mit dem Hintergedanken zugestimmt haben, der Finanz-
minister werde für die Erhaltung des Gleichgewichts in den Staatsfinanzen
schon Sorge tragen, fallen zumeist ab, sobald die Finanzen auf abschüssige
Bahnen geraten, von denen sie nur durch weiteres Anziehen der Steuer-
schraube heraufgeholt werden können. B. hat während seiner Leitung der
Finanzverwaltung Ebbe und Flut erlebt. Im allgemeinen ist ihm aber eine
Zeit günstiger Entwicklung der Staatsfinanzen beschieden gewesen, ein Um-
stand, welcher der Durchführung seiner Programmpunkte und der Bewährung
seiner eigenartigen Vorzüge sehr zu statten kam. Nach einem vorübergehenden
Rückschlag gleich nach seinem Amtsantritt setzte in allen deutschen Landen
wie in der Weltwirtschaft überhaupt Mitte der neunziger Jahre jener kräftige
Aufschwung in Handel und Wandel ein, der gegen die Wende des Jahr-
hunderts plötzlich zum Stillstand kam und sich vorübergehend in sein Gegen-
teil verkehrte. Da die allgemeine Wirtschaftslage auf die Steuerkataster nur
allmählich einzuwirken pflegt, so konnte B. während der längsten Dauer seiner
Finanztätigkeit sehr reichlich ausgestattete Budgets vorlegen, ohne neue Ein-
nahmequellen erschließen oder bestehende reichlicher ausnützen zu müssen.
Dies galt noch für den Staatsvoranschlag für die Jahre 1902 und 1903. Im
Budget für 1904/05, das er gegen Ende des Jahres 1903 im Landtag vorgelegt
hat, konnte er das Gleichgewicht, da er sich zu stärkeren Einschränkungen
im ordentlichen und außerordentlichen Etat nicht entschließen mochte, ohne
eine teilweise Erhöhung der direkten Steuern nicht mehr herstellen. Das
Finanzexpos^, in dem er diese Aufstellung des Staatsvoranschlags rechtfertigte,
war sein Schwanengesang — er sollte die Verabschiedung des Finanzgesetz-
entwurfs für 1904/05 nicht mehr erleben. — Wie auf dem Gebiete der Staats-
ausgaben, so war B. auch hinsichtlich der Gestaltung der Staatseinnahmen
unermüdlich tätig. Hierbei gab zumeist nicht die Absicht einer Vermehrung
der Staatseinnahmen den Anlaß zu reformatorischer Arbeit, sondern das Be-
streben, auch den Ausbau der Staatseinnahmen seinem sozialpolitischen Pro-
gramm mehr anzupassen. Kaum ein für die Einnahmegebarung wichtiges
Gebiet ist unter B.s Finanzleitung ganz unberührt geblieben, überall suchte
er im Sinne seiner politischen Überzeugung die bessernde Hand anzulegen.
Und so gab es für ihn auch auf diesem Gebiete eine fast unermeßliche Fülle
von Arbeit. Fast möchte man wähnen, es hätten ihn in seinen letzten Lebens-
jahren trübe Vorahnungen beschlichen, es könnte die Spanne Zeit, die ihm
nach seinem Empfinden noch zugemessen sei, zu kurz sein, um sein ganzes
Finanzprogramm selbst durchzuführen. Denn mit einer sonst schwer erklär-
lichen, manchmal fast an nervöse Hast streifenden Eile suchte er manche
Dinge unter Dach zu bringen.
Es ist im Rahmen dieses Lebensabrisses nicht möglich, auf alle Einzelheiten
der praktischen Finanzpolitik, wie sie B. betätigt hat, einzugehen. Es muß
genügen, auf einige Maßnahmen von größerer Bedeutung kurz hinzuweisen.
Sonst wäre es erforderlich, eine ziemlich umfangreiche Geschichte des badischen
Staatshaushalts während des Jahrzehnts B.scher Verwaltung zu schreiben.
Hierfür liegt um so weniger ein dringendes Bedürfnis vor, als B. auch diese
schriftstellerische Arbeit in der Hauptsache selbst übernommen hat. Zum
Buchenberger. a7
fünfzigjährigen Regieningsjubiläum Großherzog Friedrichs von Baden (25. April
1902) hat B. seinem Landesherm ein Werk gewidmet, »Finanzpolitik und
Staatshaushalt im Grofiherzogtum Baden in den Jahren 1850 bis 1900« (Heidel-
berg bei Winter), das er in seinen Hauptteilen während eines Sommerurlaubs
von 4 bis 5 Wochen niedergeschrieben hatte. Über alle wichtigeren Begeben-
heiten in der badischen Staatshaushaltsführung in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts, worunter auch der größere Teil der Finanzleitung B.s
fällt, gibt dieses vortreffliche Werk dank einer sehr übersichtlichen Gruppierung
des Stoffes und einer sehr flüssigen Darstellung den leichtesten und zugleich
zuverlässigsten Aufschluß.
Eine besonders warme Fürsorge wandte B., seinen ausgesprochenen Nei-
gungen und seiner bisherigen Tätigkeit entsprechend, der staatlichen Domänen-
politik zu. Da waren es zunächst Fragen der Bewirtschaftung des ärarischen
Besitzes, die ihn während der ganzen Dauer seiner Ministertätigkeit lebhaft
beschäftigten. Der Einrichtung der Forsten wie einer möglichst guten und
vorbildlichen Bewirtschaftung der Feldgüter lieh er ständig sein reges Inter-
esse. Besonders wurde auf seine Anregungen hin der Reinertrag des staat-
lichen Wiesenbesitzes wesentlich gehoben durch systematisch durchgeführte
Bewässerungsanlagen, Verwendung künstlicher Dünger u. dergl. mehr. Auch
einzelne Musterbetriebe wußte er zu schaffen, so u. a. auf dem ihm seit
langer Zeit besonders vertrauten Gebiete der Fischereipflege durch Anlage
von Fischteichen. B.s Domänenpolitik erschöpfte sich aber keineswegs in
solchen Fragen der Bewirtschaftung, vielmehr wandte er sein Hauptinteresse
der Eigentumsfrage zu. Schon ein Jahr nach Übernahme der Finanzleitung
erließ er Normativbestimmungen über Veräußerung und Verpachtung des
domänenärarischen landwirtschaftlich genutzten Grundbesitzes. In wahrhaft
großzügigem Aufbau wurde er darin vorzugsweise volkswirtschaftlichen For-
derungen gerecht, in gleichem Maße dem volkswirtschaftlichen Produktions-
wie dem Verteilungsinteresse Rechnung tragend. Landwirtschaftlicher Par-
zellenbesitz des Staates sollte grundsätzlich abgestoßen werden, wenn tunlich
an die bisherigen Pächter, denen der Eigentumserwerb durch die Zulassung
von Annuitätenzahlung erleichtert wurde. Hierdurch ist der in manchen
stärker bevölkerten Gegenden des Landes hervorgetretene »Landhunger«
zu einem guten Teile gestillt und zur Erhaltung eines seßhaften Bauern-
standes beigetragen worden. Das Gegenstück zu dieser Veräußerungspolitik
des Domänenärars in Gegenden stark parzellierten Grundbesitzes mit Streu-
lage bildete eine staatliche Erwerbungspolitik, wo nach Klima und Boden-
beschaffenheit die Interessen der allgemeinen Landeskultur für staatlichen
Besitz sprachen. So insbesondere bei unbedingtem Waldboden auf dem
Schwarz wald, den B. gewiß mit Recht im staatlichen Betriebe für besser
aufgehoben hielt. Auch zur Intervention, wo in ihren wirtschaftlichen Ver-
hältnissen zurückgekommene Eigentümer, besonders größere Hofbauem, Güter-
schlächtem und Wucherern in die Hände zu fallen drohten, griff die staatliche
Erwerbungspolitik ein, um die geschwächten Bauern zunächst als Pächter auf
der Scholle zu halten. Und bisweilen ist es gelungen, sie nach einiger Zeit
auf dem umgekehrten Wege der Veräußerungspolitik wieder zu freien Eigen-
tümern kleinerer und abgerundeter Güter zu machen. — Den vielen und
großen Lasten des zu einem großen Teil aus säkularisiertem Kirchengut her-
AA Buchenberger.
rührenden staatlichen Domänenbesitzes, wie sie sich aus Patronatsverpflich-
tungen usw. herausgebildet hatten, suchte B. in einer möglichst weitherzigen
Weise gerecht zu werden. Zahlreiche schöne Kirchenbauten und weitreichende
Restaurierungen im Lande legen davon beredtes Zeugnis ab. Ebenso wid-
mete er einigen im Besitz des Domänenärars befindlichen Kleinodien eine
besonders warme P'ürsorge. Er scheute keine Mittel, um die prächtigen
Barock- und Rokokoschlösser in Mannheim, Bruchsal und Rastatt wieder in
einen guten, ihrer einstigen Bedeutung würdigen Zustand zu versetzen. Ihm
oblag auch die wichtige Entscheidung in einer Frage, um die noch heute die
heftigsten Kämpfe toben und in der die Gegensätze schärfer denn je auf-
einanderplatzen, die Frage der Restaurierung oder vielmehr Erhaltung des
Heidelberger Schlosses. In seiner ruhigen, auf rein sachlichen Erwägungen
ruhenden Art ließ er sich von keinerlei noch so schwungvoll vorgetragenen
Tagesmeinung beirren: »Wir wollen an der Ruine, die als solche einen einzig-
artigen Zauber ausübt, so wenig wie möglich ändern, aber wir sind ver-
pflichtet, diesen hehren Zeugen alter deutscher Kunst und Macht auch den
kommenden Geschlechtern zu erhalten. Und soweit die Erhaltung ohne teil-
weise Restaurierung nicht möglich ist, dürfen wir vor dieser nicht zurück-
schrecken.« So sehr sich B. sonst zur Gelehrten weit hingezogen fühlte, so
fehlte ihm jedes Verständnis dafür, wenn in dieser Frage ein Professor in
traumverlorener, schwärmerischer Weise ausrufen konnte: Und wenn das
Schloß ohne Restaurierung noch so bald einstürzen muß, so laßt gewähren,
wir haben dann doch so lange noch etwas Wahres, Echtes gehabt — und
mit dieser Parole manchen Anhänger gewann. — Bei Leitung des ihm unter-
stellten staatlichen Hochbauwesens ließ sich B. angelegen sein, auf eine
gewisse Großzügigkeit und Monumentalität wenigstens der wichtigeren Bauten
hinzuwirken, soweit das die Finanzkräfte eines kleineren Landes irgend zu-
ließen.
Auch auf einem anderen besonders wichtigen Gebiete der Finanzver-
waltung, der Steuergesetzgebung, entfaltete B. eine sehr regsame und um-
fassende Tätigkeit, und zwar gleich vom Beginn seiner Finanzleitung an,
wiewohl dieses Gebiet seiner früheren Wirksamkeit ferne lag und er darauf
keineswegs veraltete, dringend reformbedürftige Zustände vorfand. Baden
besaß beim Amtsantritt B.s schon ein völlig ausgebildetes Steuersystem,
eine allgemeine Einkommensteuer mit degressiver Skala und daneben zur
stärkeren Belastung des fundierten Einkommens vier Ertragssteuern (Grund-,
Häuser-, Gewerbe- und Kapitalrentensteuer), ferner eine Reihe von Ver-
brauchs- und Verkehrssteuern, soweit darin die Finanzhoheit nicht an
das Reich übergegangen war, und ein wohl ausgebildetes Gebührensystem.
Trotzdem griff B. fast auf allen diesen Gebieten im Sinne seines volks-
wirtschaftlich-sozialpolitischen Programms reformierend ein. Bei der Ein-
kommensteuer gesellte er zu der degressiven Skala einen progressiven
Steuerfuß für größere Einkommen und verschärfte die Strafbestimmungen für
Steuerhinterziehungen. Später rückte er die Grenze der Steuerfreiheit von
bisherigen 500 auf 900 Mark hinauf, wiewohl damit für den Staatshaushalt
eine recht empfindliche Einbuße verbunden war. Zum Zwecke eines stärkeren
Schutzes des stehenden Gewerbes gegenüber den Wahdergewerbtreibenden
setzte er ein Wandergewerbsteuergesetz durch, an dessen Ertrag er auch die
Buchenberger. a^
Gemeinden teilnehmen ließ. Nicht die Unterdrückung volkstümlicher Ein-
richtungen durch die Steuergesetzgebung war hier das Ziel, sondern nur die
stärkere Heranziehung größerer Leistungsfähigkeit. Diese Erwägung war für
ihn auch ausschlaggebend in der Frage der Warenhaussteuer, für die er sich
auch der steuertechnischen Schwierigkeiten wegen nicht sonderlich begeistern
konnte und die er später ganz den Stadtgemeinden überließ. Von wichtigeren
Umgestaltungen mag noch die Ersetzung der steuertechnisch veralteten Bier-
steuer (Kesselsteuer) durch eine Braumalzsteuer nach bayerischem Vorbild
Erwähnung finden. Dabei führte er auf diesem der indirekten Verbrauchs-
besteuerung angehörigen Gebiete eine bisher hier fast unbekannte starke
Steuerprogression nach der Größe des Malzverbrauches ein, um den kleineren
Brauereien einen steuerlichen Schutz angedeihen zu lassen gegenüber den
leistungsfähigeren Großbetrieben. Mit der Einführung eines neuen bürger-
lichen Einheitsrechtes wurde die völlige Umarbeitung einiger Verkehrssteuer-
gesetze erforderlich, insbesondere derjenigen über die Grundstücksverkehrs- und
die Erbschaftssteuer. Diesen Anlaß benutzte B. zu einigen steuerreformatorischen
Änderungen; so führte er bei der Erbschaftssteuer eine Steuerprogression nach
der Höhe der Erbschaft ein und verschärfte die nach dem Grade der Ver-
wandtschaft. Alle diese Gesetzgebungsakte treten aber in ihrer Bedeutung
zurück hinter einer großen Reformarbeit, die eine völlige Neuordnung des
direkten Steuerwesens erstrebte. Wiewohl Theorie und Praxis auch den
Ertragssteuem, sofern sie wie in Baden nur als Ergänzungssteuem neben
einer allgemeinen Einkommensteuer fungieren, mancherlei eigenartige Vor-
züge nachrühmen, schätzte B. die besonders in neuerer Zeit auch als Er-
gänzungssteuer noch mehr bevorzugte Subjektsteuer, die Vermögenssteuer,
doch noch höher ein. Deshalb wollte er die vier Ertragssteuem (Objekt-
steuern) vermögenssteuerartig fortbilden, d. h. durch eine allgemeine Ver-
mögenssteuer oder vielmehr durch ein System von Vermögenssteuern ersetzen,
um die sozialpolitisch ausbildungsfähigste direkte Besteuerung zu erlangen.
Es ist außerordentlich kennzeichnend für B., daß er, um die doch nicht allzu
erheblichen Vorzüge der Vermögenssteuer als Ergänzungssteuer zu erzielen,
vor den großen Kämpfen nicht zurückschreckte, die mit jeder grundlegenden
Änderung des Steuersystems und der daraus folgenden Lastenverschiebung
untrennbar verbunden sind. B. hat die völlige Durchführung dieser großen
Reformarbeit nicht mehr erlebt, er hat ihr aber durch mehrere Denkschriften
und vorläufige Gesetzentwürfe in scharfen Linien die Richtung genau vor-
gezeichnet. So hat er insbesondere noch ein neues Veranlagungsgesetz für
die Neu auf Stellung der Kataster nach dem Verkehrswerte als hauptsächlichste
Grundlage für eine künftige Vermögenssteuer selber durchgesetzt und die
Neueinschätzung eingeleitet.
Auch auf dem Gebiete der Beamtenfürsorge war B. rastlos tätig. Zwar
war erst kurz vor seinem Amtsantritt ein neues einheitliches Beamtenrecht
geschaffen worden, allein er fand doch reichlich Gelegenheit, die bessernde
Hand anzulegen. Wiewohl er statistisch festgestellt hatte, daß schon zur
Zeit seines Amtsantritts in Baden die unteren und mittleren Beamten im
Vergleich zu anderen deutschen Staaten recht günstig, die oberen Beamten
ziemlich schlecht gestellt waren, hielt er es nach seinem Programm doch für
die nächstliegende Aufgabe, die Mängel, die bei der Lage der unteren und
^5 Buchenberger.
mittleren Beamten noch zutage getreten waren, zuerst zu beseitigen und diese
Beamten aufzubessern. Zu einer allgemeinen Erhöhung des Gehaltstarifs, die
nach seiner Ansicht hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt einer Aufbesserung
der höheren akademisch gebildeten Beamten stattfinden sollte, ist er bei der
in den späteren Jahren seiner Amtszeit eingetretenen Verschlechterung der
Finanzlage nicht mehr gekommen. Besonders hervorzuheben ist aus diesem
Gebiete noch die weitgehende Wohnungsfürsorge für die Beamtenschaft nicht
nur durch die Gewährung eines verhältnismäßig reichlichen Wohnungsgeldes,
sondern auch unmittelbar durch Beschaffung zahlreicher ausreichender und
gesunder Dienstwohnungen hauptsächlich für niedere Beamte.
Bei der Verwaltung staatlicher Vermögensbestände ließ sich B. nicht
ausschließlich, ja nicht einmal hauptsächlich von fiskalischen Rücksichten
leiten. Auch dieser sonst gewöhnlich rein finanziell gestalteten Verwaltung
gab er eine sozialpolitische Mission durch Zulassung der Gewährung lang-
fristiger und nieder verzinslicher Darlehen an Gemeinden, besonders an ärmere
Landgemeinden und sonstige öffentliche Körperschaften des öffentlichen
Lebens, an landwirtschaftliche Genossenschaften und dergleichen mehr.
Endlich war es noch ein Zweig der Finanzverwaltung, der er seine
besondere Aufmerksamkeit ständig zuwandte: die finanziellen Beziehungen
Badens zum Reich und zu ihrer Verbesserung die Anbahnung einer von ihm für
sehr dringend erachteten Reichsfinanzreform. In den Matrikularbei trägen der
Einzelstaaten an das Reich erblickte er in offenbarer Übereinstimmung mit
der Absicht des Gründers des Reichs nur einen vorübergehenden Notbehelf;
als dauernde Einrichtung glaubte er sie aus allgemein politischen wie aus
finanziellen Erwägungen verwerfen zu müssen. Ebensowenig konnte er sich
für die mit der Frankensteinschen Klausel im Jahre 1879 eingeführten Über-
weisungen vom Reich an die Einzelstaaten erwärmen, die in den Einzel-
staaten, wenn sie vorübergehend anschwollen, leicht zu einer ungesunden
Ausgabepolitik verleiteten und die so mißlichen Schwankungen im einzel-
staatlichen Haushalt wesentlich steigerten. Mit seiner ganzen Kraft betrieb
B. bis zu seinem letzten Atemzug das Zustandekommen einer grundlegenden
Reichsfinanzreform. Ihr Ziel sollte eine möglichst weitgehende finanzielle
Selbständigkeit des Reiches sein, die Überweisungen ganz, die Matrikular-
beiträge wenigstens für die Regel verschwinden, die Schwankungen im Reichs-
haushalt nicht auf die Einzelstaaten ausgeschlagen, sondern vom Reiche selbst
mittels eines Reservefonds oder in Verbindung mit einer nachgerade sehr
dringlich gewordenen Anbahnung einer planmäßigen Schuldentilgung aus-
geglichen werden. B. übersah nicht, daß, um dies zu erreichen, nach der
Gestaltung des Reichsetats vor allem weitere Reichseinnahmen geschaffen
werden müßten. Auf allen Finanzministerkonferenzen hat er Vorschläge in
dieser Richtung gemacht und als praktischer Realpolitiker war er, um über-
haupt etwas zustande zu bringen, auch zu weitgehenden Konzessionen an
den Reichstag bereit. Einen entscheidenden Erfolg dieser Bestrebungen, die
immer wieder an vermeintlichen oder wirklichen parlamentarischen Macht-
fragen abprallten, hat er leider nicht mehr erlebt.
Gleich auf der ersten dieser Finanzministerkonferenzen, die bald nach
seinem Amtsantritte als Finanzminister im Sommer 1893 in Frankfurt a. M.
stattfand, trat B. einem Mann näher, den er schon früher hatte kennen lernen
Buchenberger. 4J
und für den er zeitlebens eine besondere. Verehrung hegte, dem damaligen
preußischen Finanzminister v. Miquel. Diesem hochbedeutenden Staatsmanne
mit dem beweglichen Geiste brachte er immer vollstes Verständnis entgegen.
Und selbst wenn die Wege der Miquelschen Politik ganz ungeahnte, plötz-
liche Wendungen annahmen, die bis in die Kreise seiner Verehrer hinein
Staunen, ja Befremden hervorriefen, so wurde B. in keinem Augenblick an
ihm irre. Er war im voraus überzeugt, daß dieser immer aus dem Vollen
schöpfende, ungemein kluge Mann stets genau wußte, was er tat und daß jede
Wendung und jeder Schachzug auf eine neue souveräne Beherrschung der
augenblicklichen politischen Situation hinauslief. Kein Wunder, daß sich
die beiden sehr geistesverwandten Männer enge aneinander anschlössen,
zumal sich ihr politisches Programm, besonders auf sozialpolitischem Gebiete,
fast völlig deckte, nur daß auf der Miquelschen Fahne daneben die fiskali-
schen Rücksichten sehr viel stärker unterstrichen waren. Diesen freundschaft-
lichen Beziehungen zwischen den beiden Staatsmännern ist es wohl zuzu-
schreiben, wenn an B. von Berlin aus nach dem Übertritt des Grafen Posa-
dowsky zum Reichsamt des Innern der Ruf erging, an die Spitze des Reichs-
schatzamts zu treten. B. hat diesen Ruf aus Gesundheitsrücksichten, die wohl
mehr in dem Befinden seiner Frau als dem von ihm selbst begründet waren,
abgelehnt. War diese Entschließung zu beklagen? Niemand, der B.s staats-
männische Tätigkeit etwas näher verfolgt hat, wird bezweifeln, daß er auch
auf der höheren Warte des Reichsamtes dem weiteren Vaterlande vortreffliche
Dienste hätte leisten können. Und doch ruhten die stärksten Wurzeln seiner
Kraft im heimatlichen Boden, auf dem er vermöge seiner intimen Vertrautheit
mit Land und Leuten eigen-, ja einzigartiges zu leisten vermochte. Das
Land Baden wird es B. deshalb stets zu Dank wissen, daß er in seinem
Dienste verblieben ist.
An äußeren Ehren hat es B. nicht gefehlt. Entsprechend seiner Laufbahn
sind sie ihm in reichem Maße zuteil geworden und den Minister schmückten
zuletzt mehrere in- und ausländische Großkreuze. Die beiden Landesuniversi-
täten hatten ihn in Anerkennung seiner großen Verdienste um die Wissen-
schaft die Würde eines Ehrendoktors übertragen. Er war nicht unempfänglich
für solche Auszeichnungen, er konnte sie aber auch in dem stolzen Bewußt-
sein hinnehmen, sie ausschließlich seiner eigenen Lebensarbeit zu verdanken
zu haben.
Und fragen wir uns nun im Rückblick auf die Ergebnisse von B.s Tätig-
keit, wodurch ihm die vielen und großen Erfolge beschieden gewesen sind,
so spielte neben seiner hervorragenden Befähigung, seinem gediegenen Wissen
und seinem eisernen Fleiße zweifellos seine Persönlichkeit und sein Auftreten
eine sehr gewichtige Rolle. Die liebenswürdigen und gewinnenden, von
wahrer Nächstenliebe getragenen Eigenschaften der Jugendzeit sind ihm durchs
ganze Leben erhalten geblieben. Vermöge ihrer verfügte er über eine sehr
große Zahl von Freunden und hatte fast keine Feinde. Den ernsten gelehrten
Mann nie verleugnend, ging er im Gespräch doch gerne auf jedermanns Inter-
essen ein und ließ ihnen Gerechtigkeit widerfahren, auch wenn sie dem
eigenen Gedankenkreise femer lagen. — In seiner amtlichen Wirksamkeit war
er nichts weniger als bureaukratisch angehaucht und folgte darin ganz den
Spuren des ihm nahe befreundeten Ministerkollegen Dr. v. Brauer, der in den
aS Buchenbergcr.
letzten Lebensjahren B.s den Vorsitz im Staatsministerium führte. Leicht
von Entschluß, offen und in verbindlicher Form sich erklärend, verbarg er
sich nie hinter amtlich-bureaukratische Schranken. Die fernere Einhaltung
bisher festgehaltener Grundsätze wog bei ihm weniger schwer als die Er-
zielung eines augenblicklichen zweckmäßigen Ergebnisses und er konnte
seinem politischen Geschick wohl vertrauen, daß, wenn sich aus der abge-
sonderten Regelung einer Angelegenheit späterhin irgendwie mißliche Folgen
ergaben, es ihm wieder gelingen werde, der neuen Schwierigkeit Herr zu
werden. Er war Opportunist in gutem Sinne und dieser Eigenschaft ver-
dankte er bei der Zusammensetzung, welche die badische Volksvertretung
gefunden hatte, gar manchen Erfolg. Eine allein entscheidende Partei war
nicht mehr vorhanden, und so galt es, zwischen den ausschlaggebenden
Fraktionen hindurch zu lavieren und das Gute zu nehmen, von wo es kam.
Hierin zeigte er ein ganz außerordentliches Geschick. Er war geradezu ein
Meister des Kompromisses. Nie an starren Grundsätzen haftend, wußte er
durch rechtzeitig gemachte, mitunter anscheinend recht weitgehende Zu-
geständnisse an die Gegenpartei immer noch die wichtigsten Teile seiner
Vorlagen glücklich zu retten, selbst dann, wenn sie nach der Parteikon-
stellation gänzlich gefährdet erschienen. Er war zwar nicht der wetterfeste,
im Kampfe erst recht wohl sich fühlende Mann, welcher der Führer
einer großen Partei sein soll; dazu war er von Natur zu weich gestimmt. Um
so mehr war er für eine Stelle im Rate der Krone vereigen seh aftet, zumal
er mit sehr feinem politischem Takt begabt war. Eine mächtige Unterstützung
lieh ihm seine hervorragende Rednergabe. Nicht ein dithyrambischer Schwung,
der die Freunde mitreißt und die Gegner verstummen macht, auch wo sach-
liche Gründe versagen, verlieh seiner öffentlichen Rede den reichen Erfolg.
Der gründete sich vielmehr auf das reiche Wissen, die volle Beherrschung
des Stoffes, den systematisch richtigen und vollständigen Aufbau der Rede,
die gedrängte Gerfankenfülle und die angenehme Form des Vortrags, der
durch den reichlichen Gebrauch kennzeichnender Bilder höchst anschaulich und
plastisch zum Ausdruck kam. Er sprach nicht sehr rasch und fließend, die
Ausgestaltung der Rede im einzelnen war vielmehr das Ergebnis augenblick-
licher Gedankenarbeit und kam entsprechend bedächtig heraus. Sife war
deshalb nur um so wirkungsvoller, da man nie den Eindruck der vorgefaßten,
von dem Ergebnis der parlamentarischen Debatte unbeeinflußten Meinung
haben konnte. B. liebte wie im Schriftsatz so auch in der Rede die langen
Perioden und doch hat er sie immer vollständig und richtig zu Ende geführt.
Auch bei der Rede erweckte er stets den Eindruck eines Mannes, der aus
dem Vollen schöpft, alle Für und Wider wohl erwogen hat und noch viel
mehr zur Sache vorbringen könnte. Und wenn einmal die Wogen des par-
lamentarischen Kampfes besonders hoch gingen, so wußte er sie mit bemer-
kenswertem Geschick durch das Öl der verbindlichen Form und des ver-
ständnisvollen Eingehens auf den Gedankengang des Gegners fast immer zu
beschwichtigen. So hat nach einem sachlich harten Zusammenstoß in der
Zolltariffrage ein Gegner bekannt: Die Reden des Finanzministers seien ihm
immer lehrreich und bereiteten ihm stets einen ästhetischen Genuß.
Nie ermüdend, nie versagend, war B. bis zu seinem Sterbelager rastlos
tätig. Wenn ihm seine sehr umfangreichen und schweren Berufspflichten
Buchenberger. von Heinemann. aq
etwas freie Zeit ließen, so widmete er sie literarischen Arbeiten. Was er
dann noch an Muße erübrigen konnte, füllte er mit einer überaus reichlichen,
teilweise sehr anstrengenden Lektüre aus. Daneben pflegte er noch einen
großen geselligen Verkehr, und so waren einige Ausflüge in die heimatlichen
Berge und in den letzten Lebensjahren die I3eteiligung an Jagden, die ihn
sehr anzogen, sowie kürzere Sommerreisen alles, was er der Erholung gönnte,
und auch hier waren es zumeist gelehrte und politische Gespräche, in denen
er sich erging. Dieser außergewöhnliche geistige Tätigkeitsdrang war sein
Dämon im goethischen Sinne. B. stand immerfort, besonders aber in seinen
letzten Lebensjahren, unter einer derart hohen geistigen Spannung, daß ihm
Nahestehende sich schon länger Sorgen machten, ob seine Nervenkraft und
sein nicht sehr starker Körper — er war ein ziemlich großer aber sehr hagerer
Mann mit einem feinen durchgeistigten Kopfe — dem auf die Dauer gewachsen
wären. Jedenfalls war dadurch die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten
erheblich geschwächt.
Am Weihnachtsfeste 1903 warf ihn ein plötzlich auftretendes schweres
Darmleiden auf ein qualvolles Krankenlager, von dem er nicht mehr auf-
stehen sollte. Mehrere umfassende Operationen konnten keine Rettung mehr
bringen und so hauchte er nach zweimonatiger schwerer Leidenszeit am
20. Februar 1904, noch nicht 56 Jahre alt, sein Leben aus, beklagt von seinen
schwer betroffenen nächsten Angehörigen und seinen zahlreichen Freunden
und Anhängern, betrauert von einem ihm unerschütterlich geneigten Fürsten
und einem ganzen dankbaren Volke. Versöhnend bei diesem frühzeitigen Ende
eines großen und verdienten Mannes wirkt der Gedanke, daß die Vorsehung es
gut mit ihm gemeint hatte. Sie hat ihm häusliches Glück beschert und ihn
im öffentlichen Leben ganz an den richtigen Platz gestellt, auf dem er alle
seine Gaben reich entfalten konnte, sich selbst zu wahrer innerer Befriedi-
gung, seinem Vaterlande zum Wohl. Auf seinem Grabmal, das seine zahl-
reichen Verehrer eben mit einem Reliefporträt zu schmücken sich anschicken,
dürften die Worte Platz finden: •Patriae serviendo consumptus*.
Friedrich Nicolai.
von Heinemann, Otto, * 7. März 1824 zu Helmstedt im Herzogtum
Braunschweig als jüngster Sohn des Kreisgerichtsdirektors v. H. und seiner
Ehefrau Charlotte L. Carol. Meinders, f 7- Juni 1904 als Herzoglicher Ge-
heimer Hofrat und Oberbibliothekar in Wolfenbüttel. — Sein Leben hat er
selbst anmutig in seiner Schrift »Aus vergangenen Tagen« 1902 erzählt, die
in behaglicher Darstellung das volle Glück seiner im Eltemhause wohl-
behüteten und doch frei sich bewegenden Jugend schildert und das treue
Gepräge seiner klaren Denkungsart und seines harmonischen Gemütes trägt.
Der Vater, ernst und zurückhaltend, bei wichtigen Vorgängen doch bestim-
mend, die Mutter, das gesamte Hauswesen und die Erziehung der Kinder
nach den Eingebungen ihres reichen Herzens und ihrer sicheren Menschen-
kenntnis leitend, so konnten die fünf Söhne für den öffentlichen Beruf, die
drei Töchter in der Stille des Hauses sich glücklich entwickeln und die
ersten ihre Kräfte dem Staat, der Schule, der Wissenschaft, zwei unter ihnen
dem Waffendienst im preußischen Heere widmen, in dem beide bis zum
Range eines Generals aufstiegen, alle in Dankbarkeit zu dem elterlichen
Biop-. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog:. 9. Bd. a
50
von Heinemann.
Vorbilde aufschauend. Über den günstigen Einfluß, den das Gymnasium in
Helmstedt auf das geistige Leben seiner Zöglinge ausübte, urteilt v. H. (Aus
verg. T. S. 35 ff.) im ganzen wie ich (Schrader, Erfahrungen u. Bekennt-
nisse S. 25 — 34); über einzelne Lehrer herber, was sich aus der Abnahme
ihrer Wirksamkeit während der Zwischenzeit erklären mag. Wohl vorbereitet,
bezog V. H. 1843 ^i® Universität in Bonn, hauptsächlich um Dahlmanns
ernste Mahnungen zu vaterländischer Gesinnung zu hören, auch wohl, um
der schönen Landschaft und der akademischen Freuden teilhaft zu werden,
dann nach einem Zwischenhalbjahr, das an dem Collegium CaroUnum in
Braunschweig den neueren Sprachen gewidmet wurde, die Berliner Uni-
versität, um der wissenschaftlichen Zucht des Rankeschen Seminars innezu-
werden.
Der Studienzeit folgte eine kurze Lehrtätigkeit, querst an der alten
Helmstedter Bildungsstätte, dann an einer wohlgeordneten Erziehungsanstalt
in Altona, von wo v. H. anfangs 1848 nach Paris in das Haus eines dort
wohnenden livländischen Edelmannes zur Beaufsichtigung und Erziehung des
Sohnes übersiedelte. Hier wurde er im Februar der tiefbewegte Zuschauer
der staatlichen Umwälzung, die nicht nur Frankreich in unabsehbare, noch
jetzt nicht ausgeglichene Unruhen stürzte, sondern auch Deutschland tief
aufregte. Für die Bildung des jungen Historikers war dieses blutige Schau-
spiel von größter Bedeutung, ohne ihn jedoch, wie damals so viele, zu einer
grundsätzlichen Änderung seiner Sinnesweise fortzureißen. Die fortgesetzten
Straßenwirren veranlaßten den Vater seines Zöglings, mit den Seinigen Paris
zu verlassen und einen fast zweijährigen Aufenthalt in Belgien, Mittelfrank-
reich und der Schweiz zu nehmen. Auch dieser Wechsel war für den begleiten-
den Hauslehrer von hohem Werte, sofern ihm hierdurch die ausgiebig be-
nutzte Möglichkeit wurde, nicht nur die landschaftlichen Reize jener Länder,
sondern auch die Kunstschätze der belgischen Städte zu schauen und in
mannigfachem gesellschaftlichem Verkehr an Menschenkenntnis zu reifen,
einem Besitz, den der Geschichtsforscher so wenig wie der Lehrer missen
kann. Seine Schilderung dieser Jahre läßt schon für jene Zeit den Trieb zu
besonnener Beschaulichkeit erkennen, die später der Stetigkeit seines Fleißes
und der Reife seines Urteils zugute kommen sollte und ihm das Gleich-
gewicht des Gemüts selbst unter schweren Heimsuchungen erhielt. Nach
Ablauf dieser fruchtreichen Wanderjahre kehrte er in die Heimat zurück, um
sich der Prüfung für das Lehramt zu unterziehen und in diesem eine feste
Stellung zu gewinnen. Jene bestand er 185 1 im ehrenvollsten Grade für
den Unterricht in der Geschichte und den neueren Sprachen; mit der An-
stellung sollte es bei der Überfülle der Anwärter in dem kleinen Staate
nicht so rasch gehen. So verstand er sich denn zu unbesoldeter Hilfsarbeit
an der großen Bibliothek zu Wolfenbüttel und gewann hier unter der An-
weisung des geschickten, aber schon halberblindeten Oberbibliothekars
Schönemann einen Einblick in die Verwaltung einer so vielgestaltigen
Sammlung, der ihm nicht nur später seine damals noch ungeahnte Amtsaufgabe
an eben dieser Anstalt erleichtern, sondern sogar seiner Anstellung an ihr Vor-
schub leisten sollte. Endlich wurde er zu Neujahr 1853 zum Kollaborator an
einer Lehranstalt ernannt, was ihn doch nur mäßig befriedigte nicht nur wegen
des kärglichen Gehalts, sondern noch mehr, weil er mit der realistischen Richtung
von Heinemann.
51
dieser Schule wenig einverstanden war. Allein schon zu Ostem desselben
Jahres erhielt er einen Ruf an das Karlsgymnasium in Bernburg,* dem er um
so lieber folgte, als er hierdurch die Möglichkeit gewann, die ihm seit kurzem
verlobte Braut Helene von Brandenstein heimzuführen und als der Direktor
jener Anstalt ein Helmstedter und ein genauer Bekannter seiner Eltern war.
Die neue Lage war allerdings günstig; seine Lehraufgabe bewegte sich in
seinen eigentlichen Studienfächern, die Anstalt stand unter guter Leitung, die
in Lehrern und Schülern die Gewähr befriedigender Tätigkeit zu versprechen
schien, und die kleine Residenz bot die Möglichkeit angenehmen Verkehrs,
ja, wie sich bald zeigen sollte, die Anregung wie die Mittel zu einer wissen-
schaftlichen Tätigkeit, die ganz mit seiner Neigung zusammenfiel und somit
auch für seine späteren Arbeiten maßgebend wurde. Für diese lieferte ihm
das Bernburger Staatsarchiv, desgleichen ein Bauwerk der Umgegend Stoff
und Anregung; sie sollen hier nur genannt und später im Zusammenhange
mit anderem gewürdigt werden. So entstanden hier 'oder doch von hier
aus die Schriften über den Markgrafen Gero 1860, über Albrecht den Bären
1864, (^ic Geschichte der Abtei und die Beschreibung der Stiftskirche von
Gemrode (2. Aufl. 1877) und sein Codex diplomaticus Anhaitinus\ auch die
mehr volkstümliche Erzählung über Lothar von Sachsen und Konrad IIL
1869 zeigt anhaltinische Beziehungen. Wie sehr v. H. der Bemburger
Aufenthalt zusagte, hat er selbst mit sichtlicher Glücksempfindung geschildert,
ebenso wie das kleine Land, das unter dem kräftigen Minister v. Schützeil
die üblen Nachwirkungen des Jahres 1848 abschüttelte, 1863 durch den
Heimfall an Dessau-Köthen zu einem größeren Gebilde erwuchs. Auch
fehlte ihm äußere Anerkennung nicht; abgesehen von anderen Ehren wurde
er 1868 zum korrespondierenden Mitgliede der bayrischen Akademie der
Wissenschaften ernannt. Da bot ihm der allzu frühe Tod des vortrefflichen
Wolfenbütteler Bibliothekars Ludw. Bethmann die Möglichkeit, in sein Ge-
burtsland zurückzukehren; nicht ohne Bedenken folgte er dem dringenden
Zureden alter Freunde, auch wohl dem eigenen Heimatsgefühl, sich und zwar
mit vollem Erfolge um die erledigte Stelle zu bewerben, zumal ihn Beth-
mann selbst zu seinem Nachfolger gewünscht hatte. Er trat das neue Amt
zum I. Juli 1868 an.
Die Bibliothek war eigentlich nicht eine Landesanstalt, sondern fürst-
liche Stiftung; ihre bedeutendsten Bestandteile waren herzogliche Schen-
kungen, zuerst die alte Wolfenbütteler Sammlung, die besonders für das
römische Recht und für die Geschichte der Kirchenreformation namentlich
durch den Besitz des Flacianischen Nachlasses von Wert war und nach der Be-
stimmung des Herzogs Heinrich Julius 1613 der Universität in Helmstedt
überwiesen, nach deren Aufhebung 1810 aber nach Wolfenbüttel verpflanzt
wurde, und zweitens die Augusteische Sammlung, die früher im Besitz des
feinsinnigen Herzogs August des Jüngeren mit ihm 1642 nach Wolfenbüttel
übersiedelte und durch ihren Reichtum an alten Handschriften alle übrigen
Bibliotheken in Deutschland überragte. Hierzu waren einzelne bedeutende
Ankäufe, so namentlich der Weißenburger und der Gudianischen Sammlung,
und Schenkungen getreten. Aber auch in ihrem früheren Bestände recht-
fertigte sie das Lob des großen Leibniz, der sie une des plus fameuses de
tEurope nannte und in ihr une assemblie des plus grands hommes de tous les sUcles
4*
52
von Heinemann.
et de ioutes les nations sah, qui naus disent leurs pensies les plus choisies (O. v. H.,
Aus verg. Tag. S. 315). Unter ihren Bibliothekaren hatte sie zwei der
größten deutschen Gelehrten gezählt, Leibniz, 1699 — 17 16, und Lessing,
1770 — 1781, beide freilich zur Mehrung ihres Ruhms, aber weniger zum
Vorteil ihrer inneren Verwaltung. Namentlich Lessing folgte dem Worte
seines Fürsten, das ihn mehr zur Benutzung als zur Förderung der Bibliothek
berufen hatte, und lebte mehr in ihr als für sie. Neben diesen standen
andere, wohl von geringerem Rufe in der Gelehrsamkeit, aber von größerem
Nutzen für die ihnen anvertraute Sammlung, so der uns aus Goethes Wahr-
heit und Dichtung bekannte Langer, den Lessing sich als seinen Nachfolger
gewünscht hatte, und aus neuester Zeit Schönemann und L. Bethmann, dessen
Verwaltungsgrundsätze v. H., wenn auch in freier Anwendung, zur Durch-
führung brachte. Daß Heinemanns Berufung für ihn wie für die Sammlung
die richtige war, zeigt die anziehende Schilderung, die ihm sein Amtsnach-
folger gewidmet hat '(Milchsack, O. v. Heinemann, Braunschweig 1904), ein
ehrendes Zeugnis sowohl für den Verfasser wie für den Verstorbenen. Aus
dieser kleinen, aber inhaltreichen Schrift erhellt auch die Größe der Auf-
gabe, die seiner wartete, wie die Tatkraft und die Besonnenheit, mit der er
sie gelöst hat. Dieser Aufgaben waren mannigfache und schwere und ließen
sich nur in geraumer Zeit bei großer Stetigkeit unter Aufschub der minder
wichtigen bewältigen. So schloß sich denn v. H. in der Aufstellung der
Bücher, die ja verschiedene Methoden zuläßt, seinem unmittelbaren Vor-
gänger an, zumal dieser mit großer Mühewaltung endlich die Verschmelzung
der verschiedenen oben bezeichneten Teilsammlungen zu einem einheitlichen
Ganzen zustande gebracht und dieses in die einzelnen Raumabschnitte des
großen, nach italienischem Muster errichteten Rundbaus hineingepaßt hatte.
Allein eben dieser Rundbau verbürgte als Fachwerksbau keineswegs die für
einen so unermeßlichen Schatz unentbehrliche Sicherheit gegen Feuersgefahr;
V. H. bewog also in wiederholten Anträgen die Staatsbehörden zur Aufführung
eines völligen Neubaues 1882/86, der jener Vorschrift entsprach und doch
die Vorzüge des alten Hauses, namentlich einen großen Mittelsaal für die
auserlesenen Kostbarkeiten der Sammlung, aufrecht erhielt und im übrigen
weit zuträglicher für die Benutzung ausfiel. Die Bausumme überstieg
700000 M., für ein kleines, wenn auch wohlhabendes Land immerhin ein
Aufwand, der an den entscheidenden Stellen ein seltenes Verständnis für den
Bauzweck voraussetzt. Zu den Schätzen der Bibliothek gehörte auch eine
große Zahl von Holzschnitten und Kupferstichen, deren Aussonderung und
Zusammenstellung von Bethmann begonnen war, und v. H. mit gleichem
Eifer und einem durch die Anschauung niederländischer Kunstwerke ge-
klärten Geschmack fortgesetzt wurde. Wichtiger war aber eine durchgreifende
und den wissenschaftlichen Anforderungen genügende Katalogisierung der
Handschriften, in deren Besitze gerade die Bedeutung dieser Bibliothek be-
stand; von diesem schwierigen und nur bei stetigstem Fleiße und genauer
Kenntnis der Paläographie möglichen Werke erschien im Jahre 1884 der
erste Band, dem im Verlauf der Jahre acht weitere folgten. Endlich fand
sich in der Bibliothek eine übergroße Anzahl von Büchern, die ihr seit dem
18. Jahrhundert zugeflossen, bis dahin aber überhaupt nicht verzeichnet
waren. Auch diese Arbeit griff v. H. so umsichtig an, daß bei seinem Tode die
von Heinemann. c^
Verzettelung zu zwei Dritteln vollendet war. Ebenso hatte es bisher an einer
Benutzungsordnung gemangelt; diese Lücke empfand er um so schmerzlicher,
als er beim Ausleihen der Bücher und auch der Handschriften die Rück-
sichtslosigkeit der Entleiher zur vollen Genüge erfahren hatte. Jene Verord-
nung erlangte er fast beiläufig, als eine fremdstaatliche Regierung die Mit-
teilung der in Wolfenbüttel bestehenden Ordnung erbat, die jetzt erst von
der bis dahin zögernden heimischen Behörde zugelassen und nunmehr in
aller Eile aufgestellt wurde. Um jene von auswärtigen Lesern ohne Scheu selbst
gegen Handschriften und seltene Drucke bewiesene Schonungslosigkeit soviel
wie möglich abzuschneiden, bewog er die Staatsbehörde zu der einschränkenden
Bestimmung, daß diese überhaupt nicht mehr ausgeliehen, sondern nur inner-
halb der Bibliothek benutzt werden dürften. Diese Einschränkung widerstritt
allerdings dem Bedürfnis der Gelehrten, die gleichzeitig Handschriften aus
verschiedenen Bibliotheken untereinander vergleichen müssen; sie erregte
daher große Entrüstung, die sich in Zuschriften und Zeitungen zum Teil in
ungebührlichem Tone entlud. Allein v. H. beharrte im wesentlichen bei seiner
Auffassung, da er nach dem Lessingschen Wort nicht der Stallknecht sei,
der jedem hungrigen Pferde das Heu in die Raufe trage. Und da ungefähr
gleichzeitig einem berühmten Gelehrten das Unglück widerfuhr, daß in seiner
Wohnung eine seltene Wiener Handschrift verbrannte, so rettete v. H. wenig-
stens die wesentliche Bestimmung, daß die nach auswärts verschickten Hand-
schriften nur in staatlich behüteten Räumen, z. B. in der betreffenden
Bibliothek, nicht aber in Privatwohnungen benutzt werden sollten. Dieser
Bestimmung schloß sich die preußische Unterrichtsverwaltung an, womit ihre
Berechtigung anerkannt wurde. So durfte v. H. sich denn mit einiger Ge-
nugtuung auf die Schlußverse der von dem unvergeßlichen Herzog August
erlassenen Ordnung berufen:
Hanc quisquis legem contemnes, bibliotheca
Abstine ab alierius, vohe, revolve Tuaml
Ich übergehe die zum Teil reichlichen Schenkungen und Ankäufe zur
Ergänzung der Bibliothek; aus allem erhellt aber, daß v. H. mit voller Be-
friedigung auf die Zeit seiner Verwaltung zurückblicken durfte.
Alle diese Arbeit in Bernburg und Wolfenbüttel hatte v. H. nicht ge-
hindert, sich auch als Forscher und Schriftsteller in ausgedehntem Maße zu
betätigen; vielmehr hat er ihr vielfache Anregung und Unterstützung ent-
nommen. Denn es ist schon angedeutet, daß die Eigenart seines jeweiligen
Wohnsitzes und seiner amtlichen Aufgaben von maßgebendem Einfluß auf
die Wahl der von ihm wissenschaftlich behandelten Gegenstände war. Er
war sich seiner niedersächsischen Abstammung wohl bewußt; sein Blick und
seine Liebe wendeten sich gern der Bedeutung dieses Volksstammes in der
vaterländischen Entwicklung zu. Daher während seines anhaltinischen
Schuldienstes seine Schriften über den Markgrafen Gero, über die Abtei in
Gemrode und Albrecht den Bären, alle quellenmäßig und nach den in der
Rankeschen Schule geltenden Grundsätzen gearbeitet. In dem letztgenannten
Werke löste er die Aufgabe, die sein berühmter Lehrer einst den Mitgliedern
seines Seminars für die Zeit der sächsischen Kaiser gestellt hatte und die
demzufolge für die gesamte ältere Kaiserzeit in den Jahrbüchern des Deutschen
CA von Heinemann.
Reichs, dem von der bayerischen Akademie eingeleiteten, auf kritische
Durchforschung der Quellen gerichteten Sammelwerke durchgeführt worden
ist. In der Behandlung des Stoffes hat sich der Verf. aber, was seinem
Buche sehr zugute gekommen ist, nicht an das für die Jahrbücher vor-
geschriebene annalistische Schema gebunden, sondern seine Darstellung nach
allgemeinen Gesichtspunkten gruppiert. Bei seinem Erscheinen als epoche-
machend für die Studien zur älteren brandenburgischen Geschichte begrüßt,
bildet dieses Werk noch heute dank seiner exakten Forschung die feste
Grundlage für alle weiteren Untersuchungen; es wurde zugleich der Aus-
gangspunkt des großen Unternehmens, das v. H. während der beiden
nächsten Jahrzehnte mit unermüdlichem Fleiße zum Abschluß gebracht hat,
zu dem nach den von G. Waitz aufgestellten, für die Herausgabe von
Urkundenbüchem damals maßgebenden Grundsätzen bearbeiteten Codex
diplomaficus Anhaltinus (6 Teile, Dessau 1867 — 83). Auch seine für jüngere
Leser berechnete Erzählung über Lothar von Sachsen und Konrad IIL (Er-
zählungen aus dem deutschen Mittelalter, herausg. von Nasemann 1869)
gehört im wesentlichen derselben geschichtlichen Entwicklungsstufe an.
Anders nach Anlage und Art ist die bis auf die Gegenwart herabgeführte
Geschichte von Braunschweig und Hannover, die O. v. H. in drei Bänden
1884 — 92 herausgab. Hier galt es ihm die Geschichte der weifischen Lande
nicht in gleichmäßiger Ausführlichkeit, sondern in Umrissen und Ausführungen
unter Hervorhebung bedeutender Männer und Ereignisse vorzutragen, für die
die Beibringung urkundlicher Beläge entbehrlich sei. Auch für dieses Werk
glaubte der Verfasser die Anerkennung erwarten zu dürfen, daß die Dar-
stellung auf gewissenhafter Forschung beruhe, und hierin hat er sich nicht
geirrt. Ein in jeder Beziehung zuständiger Rezensent (H. Bresslau, Mitteilungen
aus der historischen Litteratur Bd. 13), der bald zustimmend, bald mit Vor-
behalt die Stellungnahme des Verf. zu den in der älteren sächsischen Ge-
schichte streitigen Fragen erörtert, erkennt die wissenschaftliche Gründlich-
keit des Buchs durchaus an und lobt besonders die gut geschriebenen
kulturgeschichtlichen Überblicke und die klare Behandlung der verfassungs-
geschichtlichen Entwicklung, bedauert aber, zweifelsohne in Übereinstimmung
mit zahlreichen Lesern, den Verzicht auf jede quellenkritische Zutat. Mir
erscheint diese Entsagung aus dem eigentlichen Zwecke des Verfassers zu
folgen; eher möchte ich meinen, daß die Durchsichtigkeit der Darstellung
unter der Masse des Stoffs gelitten hat. Auch die unter dem Titel »Aus der
wel fischen Vergangenheit« gesammelten sechs Vorträge 1881 bekunden ge-
naue Sachkenntnis und psychologische Erwägung; der sechste: »Karl Wilhelm
Ferdinand und dfe französische Revolution«, bringt die überraschende und
wenig gekannte Tatsache, daß diesem begabten Feldherrn von hervorragen-
den Staatsmännern aus der Revolutionszeit die Führerschaft des französischen
Heeres angetragen worden ist. Von gleicher Heimatsliebe ist die kleine
Schrift über die verfallene Burg Thankwarderode in Braunschweig eingegeben;
ihr und der durch sie angeregten hochherzigen Gabe des Prinzregenten
Albrecht wird die schöne Wiederherstellung des stattlichen Bauwerks verdankt.
Drei andere Werke stehen in nächster Beziehung zu der von ihm ver-
walteten Bibliothek, zuerst die zur Erinnerung an G. E. Lessing 1870 ver-
öffentlichten Briefe und Aktenstücke. Sie bringen zunächst die wichtigen
von Heinemaxm. c^
Entscheidungen des Herzogs in dem Streite über den Wolfenbütteler Frag-
mentisten, der freilich mit der Bibliothek eigentlich nichts zu tun hat, und
zeigen in ihnen die milde Vorsicht des herzoglichen Urteils; dann in der
zweiten Hälfte Briefe von Gleim und anderen Zeitgenossen, die deren große
Verehrung Lessings dartun. Zweitens die lichtvolle Geschichte der Herzog-
lichen Bibliothek zu Wolfenbüttel (2. Aufl. 1894), die nach den unvollstän-
digen Darstellungen seiner Vorgänger Burckhart und Schönemaun den all-
mählichen Anwachs der Sammlung berichtet, wobei beiläufig, S. 169, der
unzuverlässigen Schrift Stahrs über Lessing die erborgte Hülle abgezogen
wird. Endlich sein Hauptwerk, dem er während der letzten Jahrzehnte seines
Lebens neben seinen Dienstgeschäften alle seine Kraft gewidmet hat: der
große, fast ausschließlich von ihm gearbeitete Katalog der Wolfenbütteler
Handschriften, der seit 1881 in neun stattlichen, musterhaft gedruckten
Bänden die Handschriften der Helmstedter und der Augusteischen Sammlung
beschreibt. Die Beachtung, die dieser seines Gegenstandes würdige Katalog
w^eit über die deutschen Grenzen hinaus fand, gewährte ihm große Genugtuung.
»Von der Anordnung und der Druckeinrichtung,« so liest man in der Vorrede
des vierten Bandes, »wie sie für die bisherigen Bände dieses Katalogs maß-
gebend gewesen sind, abzuweichen, habe ich keine Veranlassung gehabt und
dieses um so weniger, als man sie anderwärts, z. B. in Kopenhagen, zum
Vorbilde genommen hat.« Meine Darstellung dieser* wissenschaftlichen
Werke stützt sich auf die Mitteilungen eines fachkundigen und nächstberufe-
nen Historikers, dessen Urteile sich das meine, so weit mir ein solches zu-
steht, durchaus anschließt. Sie alle, zu denen sich neben zahlreichen Bei-
trägen für Zeitschriften schließlich auch seine obengenannte, nur für seine
Angehörigen und Freunde bestimmte Selbstbiographie gesellt, zeugen von
warmer Heimatsliebe und einem bei aller Klarheit billigen Urteil, das seinen
Schmerz über manchen Vorgang eher verbirgt als betont. Die Sprache in
ihnen ist fließend und gefällig, eher gemächlich als knapp und läßt überall
seine gemütvolle Teilnahme an dem Gegenstande erkennen.
Diese Sammlung seines tiefen Gemüts spiegelt sich auch in seinem
Verhalten zu den gewaltigen Vorgängen seiner Zeit wieder. Ein treuer Sohn
des großen Vaterlandes und mit warmem Verlangen nach der deutscl>en
Einigung, konnte er sich doch mit den Mitteln, durch die sie erreicht wurde,
nicht durchweg befreunden (vgl. den Schluß seiner Geschichte Braunschweigs).
Namentlich vertrug sich die Einverleibung ganzer Staaten und die Entsetzung
ihrer Fürstenhäuser durch Preußen nicht mit der konservativen Grund-
anschauung, die aus seinen geschichtlichen Studien, seinen Lebenserfahrungen,
wohl auch aus seiner niedersächsischen Stammesart erwachsen war. Aber er
erkannte die unvergleichliche Staatskunst, welche jene Umwälzungen herbei-
geführt und bemeistert hatte, ohne Rückhalt an; er verehrte unsem alten
Kaiser persönlich, und er wankte in seiner Treue selbst in seinen Gedanken
keinen Augenblick, als ausländischer Frevelmut 1870 Deutschland zu den
Waffen rief. Ohne Versuchung, gegen die 1866 geschaffenen Zustände mit
der Feder oder Rede einzugreifen, trat er in sie als stiller, aber gewissen-
hafter Mitarbeiter ein, zumal er für sein Land und seine geliebte Bibliothek
ohne Sorge sein durfte, und trug alles für sein Empfinden Schwere mit der-
selben Fassung, wie die großen Leiden, die über sein häusliches Leben ver-
c() von Heinemann. Asmussen.
hängt wurden. Seine überaus geliebte Frau verlor er nach langjähriger,
schmerzhafter Krankheit; mit ihr hat er den Tod einer Tochter und zweier
Söhne erfahren müssen, alle reich begabt und liebenswürdig, der zweite
Sohn gleich ihm Historiker und anerkannter Universitätslehrer. Tief ergreifend
ist, wie sich der Vater an das Gebet der Niobe erinnert Unam minitnomqu^
relinque, und der Christ sich dem Willen des barmherzigen Gottes unterwirft
(Aus verg. T. S. 389 ff.), und wie in dem Glück seiner jüngsten Tochter,
des einzig ihm gebliebenen Kindes, und im Anschauen seiner aufblühenden
Enkel seine Tragekraft wieder erstarkt. Denn er war aufrichtiger und schlichter
Christ, der weit entfernt von pietistischer Rührseli'gkeit in seinem Glauben
den Antrieb und die Wurzel neuen Handelns für sich und seinen Nächsten
b&saß. So fand er neben seinen umfangreichen amtlichen und wissenschaft-
lichen Arbeiten immer noch Zeit und Neigung, sei es dem Staate als Lehrer
an dem Colkgium Carolinum wie als Mitglied der staatlichen Prüfungs-
behörde, seinen Mitbürgern durch anregende Vorträge, ja selbst einer in
Blüte stehenden höheren Töchterschule durch langjährigen Unterricht zu
dienen. Durch alles dieses erhielt er sich den Mut in einer Zeit, deren
bunten und bedenklichen Wechsel in Literatur und Kunst, im wirtschaft-
lichen und sittlich-religiösen Leben er (a. a. O. S. 386) mit lebhaften, aber
treuen Farben malt, als aufrechter und gottvertrauender Mann, der unab-
wendig seiner Christenpflicht zugetan bleibt.
O. V. Heinemann, Aus vergangenen Tagen. 1902. — Milchsack, O. v. Heinemann.
1 904. — P. Zimmermann, O. v. Heinemann, im Braunschweig. Magazin 1 904, X. 11.
Halle a. S. Wilh. Schrader.
Asmussen, Claus Anton Christian, Maler, * 23. März 1857 in IHensburg,
t infolge eines Unglücksfalles am 12. November 1904 in Hamburg. — A. gehörte
incht zu jenen Auserwählten, die unbekümmert um äußere Sorgen ganz ihrer
Kunst und der Ausbildung ihres Talentes leben können. Immer mußte er
zuerst an den Erwerb denken. Trotzdem hat er sich zur echten Künstler-
schaft durchgerungen. Sein starkes Können bahnte ihm den Weg. Der erste
Schritt zum Ziel war seine Aufnahme in die Hamburger Gewerbeschule gegen
Ende der siebziger Jahre. 1884 ging er nach München und bald darauf nach
Karlsruhe, wo er Meisterschüler von Gustav Schönleber wurde. Nach einem
vorübergehenden Aufenthalt in Rotenburg o. d. Tauber kehrte A. um 1890
nach Hamburg zurück, wo er nun allmählich festen Boden gewann und in
weiten Kreisen immer reichere Anerkennung fand. Unter den Interieurs, die
A. in früheren Jahren mit Vorliebe malte, verdient ein in Hamburger Privat-
besitz befindliches Bild, welches das Innere der Lübecker Marienkirche dar-
stellt, besonders rühmende Erwähnung. Sein Bestes aber hat er in seinen zahl-
reichen Landschaftsbildern gegeben. Sie spiegeln tief erfaßte Naturstimmungen
in so reiner Schönheit und Wahrheit wieder, daß niemand sich ihrem Zauber
zu entziehen vermag. Ein warmherziger Künstler, dem es heiliger Ernst war
um seine Kunst, ist mit A. dahingegangen. Das bezeugte auch die Aus-
stellung seines künstlerischen Nachlasses, die seine Freunde und Verehrer
bald nach seinem Tode in Hamburg veranstalteten.
Asmussen. Seegen. c 7
Vgl. >Hainb. Correspondent«, Morg.-Ausg. v. 25., Ab.- Ausg. v. 30. Dezember 1904. —
Nachlafi-Ausstellung des Hamburger Malers Anton Asmussen. Kunstsäle L. Bock & Sohn,
Hamburg, Februar — März 1905. (Der Katalog umfaßt 86 Nummern und enthält auch ein
Bildnis A.s.) Job. Sass.
Seegen, Josef, Universitätsprofessor der Balneologie, * 20. Mai 1822 zu
Polna in Böhmen, f i4- Januar 1904 in Wien. — Sohn eines angesehenen
Kaufmannes, der später in mißliche Verhältnisse geriet, war S. gezwungen,
frühzeitig das Elternhaus zu verlassen und sich durch Unterricht in kümmer-
licher Weise zu erhalten. Das Gymnasium und die ersten Jahre des medi-
zinischen Studiums absolvierte S. in Prag, dann ging er nach Wien; hier
wurde er 1847 promoviert und blieb darauf zur Fortsetzung seiner Studien im
Krankenhaus. Doch nicht lange: an der Bewegung des Jahres 1848 nahm
er lebhaften Anteil; mit besonderem Eifer war er für Aufklärung des Volkes
über politische Dinge tätig. Er war Mitbegründer einer Volksbibliothek, für
die der Unterrichtsminister, dessen Interesse für die Sache gewonnen wurde,
das alte Liguorianer-Kloster bei »Maria Stiegen« überließ. In Gemeinschaft
mit Max Schlesinger gab S. ein kleines »Populäres Staats-Lexikon (politisches
ABC für's Volk)« heraus, das bei Lechner erschien. »Das Volk muß lernen,
was ihm fehlt, es muß wissen, was es erlangt hat, es muß wissen, was es zu
erhalten hat, es muß endlich wissen, wofür es sein Blut verspritzen will,
wenn es, was Gott verhüte, wieder zum Kampfe kommen sollte« heißt es in
der Einleitung. Das Werk beginnt mit dem Artikel »Constitution«; da es
in Heften erschien, wären bei alphabetischer Reihenfolge manche wichtige
Begriffe zu spät gekommen. Während des Reichstages in Kremsier war S.
Berichterstatter für ein politisches Blatt. Nach den Oktobertagen sah er
sich genötigt, Österreich zu verlassen ; aus Briefen von Schlesinger geht hervor,
daß die Veranlassung zur Flucht ein von S. abgefeuerter Schuß war; er ging
nach Paris, wo er ungefähr i'/i Jahre blieb, unter Entbehrungen und harten
Kämpfen seine medizinischen Studien am Hotel Dieu fortsetzend. So schwer ihm
auch diese Zeit wurde — er erhielt sich durch Korrespondenzen für öster-
reichische Blätter — sie war für ihn ein Gewinn. Er fand Anschluß und Freund-
schaft in den literarischen Kreisen, Beziehungen, die sich in spätere Jahre fort-
setzten; neben seiner Medizin konnte er sich einem Studium hingeben, das ihn
schon seit lange anzog: dem der Geologie, das er in der Reale des mines mit
Eifer betrieb. Schon in seiner Doktordissertation war diese Neigung hervor-
getreten ; sie behandelte »Die Mineralquellen in geologisch-chemischer Bezie-
hung«. Auch später spielte die Vorliebe für Geologie eine Rolle in S.s Leben,
als es sich um die Niederlassung zur Ausübung der ärztlichen Praxis handelte.
In Karlsbad mit dem noch unerfaßten Wunder seines Sprudels, das dem
Geologen unerschöpfliche Anregung gibt, hoffte S., seinem Lieblingsstudium
nicht ganz entsagen zu müssen. Doch kam es nach der Rückkehr von
Paris, die um 1850 erfolgte, nicht sofort zur Niederlassung als Badearzt.
Es trat vorher noch eine Wendung ein, die wieder für das spätere Leben
S.s von Bedeutung wurde; er übernahm es, einen nervenkranken, jungen
Mann auf seinen ausgedehnten Reisen zu begleiten. Ein langer Aufenthalt
in Rom, Fahrten durch ganz Italien, Südfrankreich, England und Deutsch-
land brachten dem lebhaften, für alles Schöne empfänglichen Geiste S.s die
58 Seegen.
mannigfaltigste Anregung; aus dieser Zeit stammte wohl sein mit feinem
Verständnis verbundenes, geradezu leidenschaftliches Interesse für bildende
Kunst, das sich sowie die innigste Freude an der Musik, vor allem am
Gesang, durch sein ganzes Leben wach erhielt und ihm eine Fülle des Ge-
nusses brachte. Im Jahre 1853 begann S. die ärztliche Tätigkeit in Karlsbad,
die er mehr als 30 Jahre fortsetzte. Schon 1854 habilitierte er sich an der
Universität Wien mit einer Schrift über die naturwissenschaftliche Bedeutung
der Thermen. Allmählich trat dann ein Umschwung in der Richtung seiner
Studien ein. Zunächst blieben sie dem speziellen Gebiete der Balneologie
gewidmet; ihr Ergebnis war ein im Jahre 1857 erschienenes Kompendium
der Heilquellenlehre, deren zweite Auflage unter dem Namen »Lehrbuch der
allgemeinen und speziellen Heilquellenlehre« 1862 erschien. Bald aber ge-
wann das Interesse an klinischen Beobachtungen die Oberhand und leitete
später zu allgemein physiologischen Fragen hinüber.
Die Art der Krankheitsfälle, die in Karlsbad zusammenströmen, die
Wirkung der Thermen auf den kranken Organismus mußten die Gedanken
des forschenden Arztes auf die Probleme des Stoffumsatzes im Gesunden
und Kranken lenken. So kam es, daß S. nach beendigter Sommerpraxis
das physiologische Institut von Karl Ludwig, das chemische Laboratorium
von F. Schneider aufsuchte, um experimentell zu arbeiten. Erst waren es
Stoffwechsel -Versuche über die Wirkung des Karlsbader Wassers und des
Glaubersalzes, um die es sich handelte, dann aber griffen diese Arbeiten
weiter aus und wendeten sich den wichtigsten, aber auch den schwierigsten
Fragen der Stoffwechsellehre zu, bei deren Studium oft erst neue Methoden
geschaffen werden mußten. Eine Reihe dieser Arbeiten befaßte sich mit
der physiologischen Zersetzung der Eiweißkörper und namentlich mit der
Frage, ob der Stickstoff, der bei dieser Zerlegung den Körper verläßt, nur
in Form chemischer Verbindungen austritt oder ob ein Teil auch in gas-
förmigem Zustand durch Haut und Lunge ausgeatmet wird. In Gemein-
schaft mit J. Nowak verteidigte S. die letztere Anschauung, die von Petten-
kofer und Voit auf Grund ihrer Erfahrungen zurückgewiesen und später von
Gruber durch exakte Versuche widerlegt wurde. Es ergab sich eine heftige
Polemik; daß S. sich nicht geschlagen gab, seine Anschauung aber noch
weiterer Stützen für bedürftig hielt, zeigt eine von ihm bei der Kaiserl.
Akademie der Wissenschaften errichtete Stiftung für eine Arbeit, die den an-
gestrebten Beweis erbringen soll.
Die große Zahl von Diabetesfällen, die S. beobachtete, gab die Anregung
zu einem genaueren Studium dieser damals noch wenig erforschten, das In-
teresse der Physiologen und Kliniker in gleich hohem Grade erregenden
rätselhaften Stoffwechselstörung. S. war wohl der erste, der sich eingehend
mit diesem Gegenstand befaßte, eine große Zahl von Beobachtungen sam-
melte und in einer Reihe von Abhandlungen mitteilte, daneben immer wieder
die Methodik der Untersuchung kritisch prüfend und erweiternd. Es ergab
sich, daß der Reichtum an Beobachtungsmaterial nach Zusammenfassung und
klinischer Verwertung verlangte; so entstand das Buch: Hex Diabetes mellitus^
das in drei Auflagen, 1870, 1875 ^"^ ^^93 erschien und allgemein freudige
Aufnahme fand.
Bei der Art S.s, von seinen ärztlichen Erfahrungen aus zu physiolo-
Seegen. cq
gischen Gesetzmäßigkeiten, vom speziellen zum allgemeinen vorzudringen,
mußte die Beschäftigung mit dem Diabetes zum Studium der Kohlehydrat-
ökonomie im lebenden Organismus führen, zu Fragen, die unter dem Ein-
flüsse Claude Bernards schon früh rege geworden waren, deren eingehende
Bearbeitung aber in eine spätere Periode fiel und vom Beginn der achtziger
Jahre an das Leben S.s bis an sein Ende ausfüllte.
Inzwischen hatten sich die äußeren Verhältnisse S.s immer günstiger
gestaltet. Schon im Jahre 1859 würde er zum außerordentlichen Universitäts-
professor für Balneologie ernannt, wohl der erste Badearzt, der je diese
Würde erreichte. In Karlsbad war er bald der angesehenste und unbestritten
berühmteste unter den Ärzten. Die Leidenden, welche ihn in großer Zahl
aufsuchten, lernten in ihrem Arzt einen hochgebildeten, mit allen Gebieten
der Kunst und der Literatur vertrauten, feinsinnigen und liebenswürdigen
Mann kennen, den mit Vielen von ihnen bald nahe Freundschaft verband.
Das Haus, das S. und seine Gattin führten, wurde berühmt durch seine
Gastlichkeit wie durch die Namen derer, die dort verkehrten. Adalbert
Stifter, Berth. Auerbach, Gervinus, Sabatier, Clara Schumann, Fanny Lewald,
Stahr, Turgenjew, Laube, Lübke, Tolstoi, Graf Harry Arnim, Gust. Richter,
Lord Amthill und viele andere waren seine Gäste, die immer wiederkehrten.
Im Frühjahr und Herbst unternahm S. Reisen nach Italien, der Schweiz, an
die See — Kunst- und Naturgenuß suchend und eine erfrischende Pause ein-
schaltend zwischen der anstrengenden praktischen Tätigkeit des Sommers und
der Vertiefung in seine wissenschaftlichen Studien. Die Wintermonate boten
ihm die erforderliche Sammlung für diese Arbeiten, aber auch die Freude an
der Musik und der Geselligkeit in einem trefflichen Freundeskreise, der
Männer einschloß wie Hasner, Unger, Glaser, Arneth, Adolf Beer, Moritz
Hartmann und den S. besonders nahe stehenden Th. Billroth.
Im Jahre 1884 verließ S. Karlsbad gänzlich, um sich uneingeschränkt der
Arbeit zu widmen. Diese hatte immer dringlicher die Mittel eines eigenen
Laboratoriums gefordert; zuerst in einem Räume der Universität, dann in
einem Miethause richtete S. sich sein Wiener Privatlaboratorium ein; auch in
der herrlich gelegenen Villa in Alt-Aussee, die S. nach dem Abschluß seiner
Praxis erworben hatte, und in der er dann den Sommer zubrachte, mußte ein
Zimmer diesem Zweck gewidmet werden.
Die Untersuchungen, welche S. am intensivsten beschäftigten und seine
eigentliche Lebensarbeit ausmachten, stehen alle in Beziehung zu der Frage
über die Bildung von Zucker im Tierkörper, einer der wichtigsten auf dem
schwierigen Gebiete der chemischen Umsetzungen im lebenden Organismus. Sie
steht in nahem Zusammenhange mit der weiteren Frage, welches Material es
ist, das in den Muskeln bei ihrer Leistung, d. i. der Zusammenziehung, zer-
setzt wird, das ihnen also fortwährend durch den Blutstrom zugeführt werden
muß. S. vertrat die Anschauung, daß die Leber ununterbrochen Zucker
bildet, daß dieser in großer Menge dem Blute, welches die Leber durch-
strömt, mitgeteilt und so zu den Muskeln befördert wird. So einfach diese
Lehre zu sein scheint, so schwierig war der Weg, der zu ihrer Festi-
gung notwendig war. Sie rührt ursprünglich von Claude Bemard her, der
in der Leber eine stärkemehlartige Substanz, das Glycogen, entdeckte, und
dieses, das leicht in Zucker übergeht, als die Quelle des Leberzuckers ansah.
6o Seegen.
Unter dem Einflüsse der Arbeiten Pavys war diese Anschauung wieder ver-
lassen worden; S., anfangs selbst ein Anhänger Pavys, durch eigene Beob-
achtungen aber von der Zuckerbildung in der Leber als vitaler Funktion
überzeugt, suchte sie auf dem Wege des Tierversuchs zu stützen und un-
angreifbar zu machen. Dabei zeigte sich die Unhaltbarkeit der Bernardschen
Lehre von der Rolle des Glycogens bei der physiologischen Zuckerbildung
und S. stellte die neuen Sätze auf: »i. Das Material für die Zuckerbildung
sind die mit der Nahrung eingeführten Eiweißkörper und Fette; 2. der in
der Leber gebildete Zucker bildet die ausschließliche Quelle für die Lei-
stungen des Tierkörpers, für mechanische Arbeit und Wärmebildung.« Der
Begründung dieser Lehrsätze war die mühevolle Arbeit voller zwanzig Jahre
gewidmet; mit bewunderungswürdiger Ausdauer immer neue Seiten dem
Problem abgewinnend, unendliche Schwierigkeiten überwindend und die
zahlreichen Einwände durch stets erneute Versuche bekämpfend, bot S. noch
in seinem Alter das Bild eines von jugendlichem Eifer erfüllten, von seinem
hohen Ziel begeisterten Forschers. In der Form von Vorlesungen teilte er
die Ergebnisse seiner Studien zusammenfassend in dem Buche: »Die Zucker-
bildung im Tierkörper, ihr Umfang und ihre Bedeutung« mit. Das AVerk
erschien 1890 in erster, 1900 in zweiter Auflage. Ein kleiner Teil der die
Zuckerfrage berührenden Originalabhandlungen war zusammen mit früheren
Publikationen schon 1887 in dem starken Bande: »Studien über Stoffwechsel
im Tierkörper« abgedruckt; eine neue Zusammenfassung mit den in verschie-
denen Archiven zerstreuten späteren Arbeiten war daher erwünscht; sie er-
schien 1904 unter dem Titel: »Gesammelte Abhandlungen über Zuckerbildung
in der Leber« und enthält 36 Arbeiten aus den Jahren 1877 — 1903, von denen
die älteren (bis 1881) in Gemeinschaft mit F. Kratschmer ausgeführt sind.
Die höchste Befriedigung für den Forscher: allgemeine, unbeschränkte
Annahme seiner Lehren blieb S. versagt; seine Arbeiten sind wiederholt be-
kämpft worden und noch sind nicht alle Zweifel besiegt. Physiologische
Fragen wie die vorliegende lassen sich eben nicht immer mit derselben über-
zeugenden Sicherheit beantworten, wie dies etwa bei physikalischen oder
rein chemischen Problemen möglich ist; bei Versuchen am Lebenden wird
die Klarheit der Ergebnisse nur zu leicht durch die Reaktion des Organis-
mus verschleiert und dem Bedenken, die beobachteten Erscheinungen könnten
durch den Eingriff des Versuches beeinflußt sein, ist oft nur schwer zu be-
gegnen. Die Arbeiten S.s werden trotzdem für die Frage der vitalen Zucker-
bildung für alle Zeiten von der höchsten Bedeutung bleiben und auf diesem
Gebiete muß sein Name neben den des großen Meisters Bernard gestellt
werden. So wie diesem die Entdeckung des Glykogens, gelang S. noch in
den letzten Jahren die Auffindung einer bisher nicht bekannten Substanz in
der Leber, die mit der Zuckerbildung in naher Beziehung zu stehen scheint.
Den 1904 erschienenen gesammelten Abhandlungen schickt S. eine Ein-
leitung voraus, die von allgemeinem Interesse ist; ihr seien einzelne Stellen
entnommen. »Als ich vor mehr als einem Jahre meinen 80. Geburtstag
feierte, schrieb mir ein befreundeter, hochgeschätzter Physiologe, die Natur
sei mir ein hohes Alter schuldig gewesen, damit ich die volle Würdigung
meiner ungewöhnlich lange verkannt gebliebenen wissenschaftlichen Errungen-
schaften erleben konnte. Und ein französischer Kollege, der auf dem Ge-
Seegen. von Holst. 6l
biete der Zuckerbildung im Tierkörper zahlreiche und wertvolle Arbeiten
ausgeführt hat, schrieb mir, ich habe das Schicksal eines »Vorläufers« gehabt,
der mit vielen herrschenden und oft klassischen Ansichten in Konflikt gerät;
jetzt sei mir das Glück beschieden, daß die Anderen mir nachgekommen
sind und das von mir Gelehrte als richtig anerkennen. Und so könnte ich
mich meines Triumphes freuen, wenn das alles, was liebenswürdige Freunde
mir sagen, seine volle Richtigkeit hätte. Aber dem ist nicht so. Es ist zwar
eine mächtige Wandlung in den Anschauungen der Physiologen eingetreten,
aber sie ist noch lange nicht so allgemein, wie es im Interesse der Wahrheit
zu wünschen wäre.« »Ein englischer Schriftsteller schrieb einmal: »M^ Para-
doxes of to-day are the Commonplaces of to-morrow^f^ speziell meine
Lehre über das Bildungsmaterial des Zuckers, wiewohl sie auf zahlreiche
Beweise sich stützte, wurde als paradox verschrien. Und heute nimmt das
Thema über die Zuckerbildung aus Eiweißkörpern einen breiten Raum in
den Forschungen der Physiologen und Chemiker ein; und die noch para-
doxer erschienene Lehre, daß Zucker aus Fett gebildet wird, die ich durch
Versuche, die ich mit Lebern anstellte, zu erhärten suchte, und die ihre
kräftigste Stütze in unbezweifelten Vorgängen im Pflanzenleben fand, wird
in Bezug auf die Leber durch vereinzelte positive Versuche bestätigt, während
die parallelen Vorgänge im Pflanzenleben nicht als Stütze gelten gelassen
werden, weil, was für die Pflanzen zu Recht besteht, nicht auch für den
Tierkörper seine Geltung haben könne. Als ob die organischen Vorgänge
nicht da und dort die gleichen wären und als ob die chemischen Bedenken
nicht für den pflanzlichen Organismus ebenso berechtigt oder unberechtigt
wären, wie für den Tierkörper.« »Die volle Erkenntnis meiner Lehre ist auf
gutem Wege; die Einwürfe werden schüchterner und viele Lehrsätze, die
von mir ihre Prägung erhielten, kursieren schon heute als gute Münze.«
Im hohen Alter von 79 Jahren erlebte S. die Freude, zum korrespon-
dierenden Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften gewählt zu
werden (1901). Im Herbst 1903 wollte er nach einem Aufenthalt in Meran
wieder an die Arbeit gehen ; eine Lungenentzündung warf ihn auf das Kranken-
lager; er überstand sie und schien völliger Genesung entgegenzugehen, doch
seine Lebenskraft war gebrochen; langsam versagte der Körper immer mehr,
und noch erfüllt von der Genugtuung, sein eben vollendetes letztes Werk
selbst an die Freunde senden zu können, beendete S. sein arbeitsreiches
Leben.
Nekrologe: Wiener klin. VVochenschr. 1904 Nr. 4 (Kolisch). — Wiener klin. Rundschau
1 904 Nr. 4 (Strasser). — Ber. d. Kais. Akad. d. Wiss. über ihre W^irksamkeit und Verände-
rungen 28. Mai 1903 bis 21. Mai 1904 (S. Exner). J. Mauthner.
V. Holst, Hermann Eduard, Universitätsprofessor der Geschichte,
♦ 19. Juni 1841 in Fellin in Livland, f 20. Januar 1904 in Freiburg i. B. —
V. H. war der Sohn eines baltischen Pfarrherm aus alter livländischer Adels-
familie. Frühzeitig zeigten sich bei ihm überaus rege geistige Fähigkeiten,
aber auch die schwache Gesundheit, die ihn Zeit seines Lebens hemmen
sollte. Er erhielt seine Schulbildung auf der Lateinschule seiner Vaterstadt.
Die üniversitätsjahre verlebte er in Dorpat (1860 — 1863) und Heidelberg,
wo er sich besonders an L. Häußer anschloß und wo er 1865 promovierte.
02 ^'^^ Holst.
Durch harte Arbeit und Entbehrungen erschöpft, hatte er 1864 seine Studien
unterbrechen und Heilung von einem schweren Leiden in Algier suchen
müssen. Nach seiner Promotion nahm er eine Hauslehrerstelle in einer
deutschen Familie in Petersburg an, reiste aber in jenen Jahren viel, vor
allem in Frankreich und Italien und zwar z. T. zu Studienzwecken, z. T.
wegen seiner Gesundheit. Im Jahre 1867 machte er seiner Stimmung gegen
den russischen Despotismus Luft, indem er eine Broschüre über das Attentat
veröffentlichte, welches am 4./ 16. April 1866 gegen das Leben des Zaren
unternommen worden war. In dieser Schrift wurden die russischen Zustände
sehr offen gegeißelt und vor allem das Ministerium heftig getadelt. Sie
wurde entscheidend für die zukünftige Gestaltung von v. H.s Leben. Er geriet
nämlich durch sie in die Gefahr einer Versendung nach Sibirien, der er sich
nur durch die Flucht entzog, und nun wendete er seine Schritte nach Ame-
rika, dem Lande, dem in Zukunft der größte Teil seiner wissenschaftlichen
Arbeit, viele Jahre praktischer Tätigkeit und sein halbes Herz gehören
sollten. Im Juli 1867 traf er, arm, ohne Verbindungen, mit gebrochener
Gesundheit in New York ein. Die ersten Zeiten seines amerikanischen
Aufenthalts waren sehr harte. -Um des Lebensunterhaltes willen mußte er,
wie so viele Auswanderer, die gewöhnlichsten Arbeiten verrichten. Ja, nicht
immer glückte es ihm, solche zu erlangen. Einmal, als er sich als Last-
träger verdingen wollte, wurde er als zu schwach abgewiesen. Mit drei an-
deren Tagelöhnern teilte er dann ein dürftig möbliertes Zimmer. Er erzählte
im späteren Leben ger^i von dieser Zeit, so z. B., daß er nur ein Hemd be-
sessen und deswegen, so oft es gewaschen wurde, im Bett bleiben mußte.
Eine Besserung seiner äußeren Verhältnisse trat ein, als er zunächst in sehr
bescheidenem Umfang Zeitungskorrespondenzen zu verfassen bekam und vor
allem, als er in einer Privatschule in Höboken Lehrer der neueren Sprachen
geworden war. Sogleich nahm er nun seine historisch-politische Tätigkeit
wieder auf. Er begann an ein größeres Werk heranzutreten, das die Schand-
taten des Absolutismus ins rechte Licht stellen sollte. Es erschien indessen
nur ein Teil davon unter dem Titel »Federzeichnungen aus der Geschichte
des Absolutismus« (Heidelberg 1868), in dem Ludwig XIV. behandelt wird.
Es läßt sich bei der Lektüre dieses Schriftchens nicht verkennen, daß der
Haß des Balten gegen den Zarismus es ihm damals noch erschwert hat, ab-
soluten Monarchien überhaupt gerecht zu werden. Nach dieser Veröffent-
lichung trat übrigens das unmittelbare politische Urteil in seinen Werken
mehr zurück. Von r869 an ging es .mit der äußeren Lebenstellung v. H.s
schnell aufwärts. Er wurde Mit-Herausgeber von Schems Deutsch-Amerika-
nischem Konversations-Lexikon und ein sehr angesehener Zeitungskorre-
spondent; vor allem arbeitete er für die Kölnische Zeitung, daneben für den
JVt7v Englander und die Nation. In jener Zeit unternahm er auch die große
wissenschaftliche Arbeit, welche sein Leben zum guten Teile ausfüllen sollte.
Drei Bremer Kaufleute hatten damals den Gedanken ergriffen, auf literarischem
Wege einen richtigeren Begriff von amerikanischem Leben und amerikanischen
Einrichtungen in Deutschland zu verbreiten, als er sich gemeiniglich fand.
Sie dachten dabei an einige solide Zeitungs- oder. Zeitschriften-Aufsätze.
Mit ihrer Abfassung sollte der bekannte Deutsch-Amerikaner Friedrich Kapp,
ein Freund v. H.s, betraut werden. Er lehnte aber ab und empfahl, ebenso
von Holst
63
wie Heinrich von Sybel, auch er ein Freund v. H.s, letzteren für diese Auf-
gabe. •An Stelle dieser Aufsätze aber entstand allmählich v. H.s Lebenswerk,
»Verfassung und Demokratie der Vereinigten Staaten«, welches leider Frag-
ment geblieben ist. Mit deutscher Gründlichkeit nämlich erkannte v. H.
immer deutlicher, daß es ihm durchaus unmöglich sei, über das Amerika
der Gegenwart bestimmte Urteile abzugeben, ohne seine Geschichte aufs ge-
naueste studiert zu haben. Das aber führte ihn immer weiter und schließlich
zu den außerordentlich umfassenden und gründlichen Studien, deren Früchte
wir nun besitzen. — Inzwischen hatte sich v. H. auch am politischen Leben
der Vereinigten Staaten mit der ihm eigenen Energie und Leidenschaftlich-
keit beteiligt.
Da, als er gerade im Begriff war, das amerikanische Bürgerrecht zu er-
werben, trat, etwa fünf Jahre nachdem er in New York gelandet war, wieder
eine bedeutsame Wendung in seiner Laufbahn ein: Im Jahre 1872 erhielt
er ein Extraordinariat für amerikanische Geschichte und Verfassungsgeschichte
in Straßburg. Zwei Tage, ehe er Amerika verließ, vermählte er sich mit
Miß Anna Isabella Hatt, der Tochter eines Baptistenpredigers, und schuf so
die Grundlage für sein häusliches Glück, das ihm den Rest seines Lebens
treu blieb. In Straßburg verfaßte v. H. den ersten Band seines Lebenswerks.
Kurz nach seinem Erscheinen erhielt er einen Ruf als Ordinarius der neueren
Geschichte nach Freiburg i. B., den er annahm (1874). Hier gründete er sich
auf lange Jahre ein Heim. Freiburg war damals noch ungefähr auf dem Tief-
stand seiner Frequenz und zählte nur gegen 300 Studenten. Es begann aber
gerade damals das rapide Wachstum dieser Universität, welches v. H. während
seiner 18 jährigen Wirksamkeit an ihr beobachten und befördern konnte. In
Freiburg entfaltete er eine sehr fruchtbare akademische und literarische
Tätigkeit. Hier sammelte er eine stets wachsende Zahl von Zuhörern um
sich. Hier verfaßte er, abgesehen vom ersten Bande, sein Lebenswerk.
1887/88 war er Prorektor. Seit 1881 war er Mitglied der badischen ersten
Kammer, zuerst durch das Vertrauen des Großherzogs berufen, seit 1883 als
Vertreter der Universität. Zeitweilig war er Vizepräsident dieser Kammer.
Die Pflichten, die ihm als Kammermitglied erwuchsen, nahm er außerordent-
lich ernst. Mehrfach kam es vor, daß er, entgegen dem Rate des Arztes,
sich von seinem Krankenlager erhob, um nach Karlsruhe zu reisen und dort
eine Kammerrede zu halten. Auch so hat er rücksichtslos das Opfer seiner
Gesundheit gebracht. Die Beziehungen zu Amerika aber wurden mit Eifer
aufrecht erhalten. Einerseits zog v. H. eine Reihe amerikanischer Studenten
nach Freiburg, anderseits besuchte er von hier aus zwei Mal die Vereinigten
Staaten, und zwar zum ersten Male 1878/79, nachdem ihm die Königl.
Akademie der Wissenschaften in Berlin eine bedeutende Summe für Studien
für sein großes Werk bewilligt hatte. Damals wurde er überall sehr warm
aufgenommen und erfreuliche Vergleiche mit seiner ersten Ankunft in Ame-
rika, elf Jahre vorher, drängten sich ihm auf. 1883 dann weilte er als gelade-
ner Gast in den Vereinigten Staaten, um der Vollendung der Northern
Pacific Eisenbahn beizuwohnen. Bei beiden Gelegenheiten hielt er einige
Vorlesungen an amerikanischen Universitäten (Johns Hopkins, Cornell, Harvard).
Lange Zeit konnte er sich indessen nicht entschließen, die Berufungen, welche
aus Amerika an ihn drangen, anzunehmen. Zwei Mal (1879 ""^ 1880) suchte
64 vo^ Holst
die Johns Hopkins Universität ihn zu gewinnen und im Jahre 1881 auch die
Clark Universität unter sehr günstigen Bedingungen. In den letzten* Jahren
seiner Freiburger Tätigkeit wandte er sein Interesse in noch verstärktem
Maße der Politik zu. 1890 kandidierte er sogar in Freiburg für den Reichs-
tag, wobei er indessen, wie er vorausgesehen hatte, gegenüber dem Zentrums-
kandidaten unterlag. — Endlich im Jahre 1892 gelang es einer amerikani-
schen Universität, v. H. zu gewinnen. Es war die von Chicago, die ihm
sehr günstige Bedingungen bot. Nach langem Zweifeln nahm er den Ruf
an. In Chicago war er in denselben Richtungen tätig, wie in der alten
Heimat, nur daß wohl das Politische noch mehr hervortrat. Wie das in
Amerika nicht anders zu erwarten war, machte er dabei mit dem Verhalten
anders gesinnter Blätter üble Erfahrungen. Er vertrat, wie billig, besonders
energisch die Aufrechterhaltung der staatlichen Autorität, so z. B. 1895 den
Arbeiterorganisationen gegenüber, denen er vor allem vorwarf, daß sie das
positive Recht mißachteten und also einen neuen Despotismus einzuführen
trachteten. Sodann ergriff er in eindrucksvoller Weise Partei in der aus-
wärtigen Politik, als Gegner des Imperialismus. Er kämpfte hier in den
vordersten Reihen einen verlorenen Kampf. Gelegenheit dazu bot ihm die
Frage der Annexion von Hawaii. Ebenso tadelte er heftig die venezolanische
Politik Clevelands. Alles dies geschah aus den Gedankengängen eines Libe-
ralen der alten Schule heraus. Unter allen Anstrengungen seiner amtlichen
und der freiwillig übernommenen Tätigkeit brach aber sein von Jugend an
zarter Körper frühzeitig zusammen. Schon 1896/97 mußte er sich zum Zwecke
der Erholung auf ein Jahr beurlauben lassen. Allein er kehrte fast schwächer
nach Chicago zurück, als er es verlassen hatte. In der Folge verließ er sein
Krankenlager oft nur, um seine Vorlesungen zu halten. 1899 mußte er um
seinen Abschied einkommen, da an ein weiteres Arbeiten für ihn nicht zu
denken war. Die Universität Chicago ehrte ihn aber dadurch, daß sie ihn
zwar von seinen Pflichten entband, ihm aber den Abschied nicht bewilligte.
1900 kehrte v. H. nach Freiburg zurück. Seine dortigen Freunde konnten
aber, abgesehen von gelegentlicher kurzer Besserung, doch nur Zeugen seiner
mannigfaltigen und schmerzhaften Leiden und seines langsamen Endes sein.
In Momenten, in denen ihm seine Krankheit einige Ruhe ließ, freilich zeigte
er die alte geistige Frische und sein vielseitiges Interesse. Am 20. Jan. 1904
erlöste ihn, für die Angehörigen fast unmerklich, ein sanfter Tod von seinen
Leiden.
V. H.s Bedeutung als akademischer Lehrer beruhte in erster Linie auf
seiner eindrucksvollen und feurigen Beredsamkeit. Durch sie ward es ihm
zuteil, daß er, gerade auch in seinen großen Vorlesungen, Zuhörer in so
außerordentlich hoher Zahl um sich versammelte, wie es in diesen Zeiten
des abnehmenden historischen Interesses selbst an größeren Universitäten nur
ganz wenigen Fachgenossen beschieden war oder ist. Aus allem, was er
sagte, sprach seine kernige, etwas eckige Persönlichkeit, welche in reizvoller
Weise die Art des Balten mit ausgeprägter Eigenart verband. Der Zuhörer
hatte vor allem den Eindruck von unerschrockener Wahrheitsliebe und großer
Kampfesfreudigkeit. >>Der eine bedeutende Eindruck, den er hinterließ,«
urteilt sein Chicagoer Freund und Kollege, der Nationalökonom Laughlin,
»innerhalb und außerhalb der Universität, war der einer großen moralischen
von Holst.
65
Kraft.« — V. H.s Bedeutung als Historiker liegt hauptsächlich auf dem Gebiete
der Geschichte der Vereinigten Staaten. Ihr widmete er, wie schon hervor-
gehoben wurde, den weitaus größten Teil seiner Arbeitskraft. Sein Lebenswerk
ist freilich leider Fragment geblieben. Während das Ganze ursprünglich drei
Teile umfassen sollte, hat v. H. nur einen Teil des ersten Teils in fünf Bänden
hinterlassen unter dem Titel: »Verfassung und Demokratie der Vereinigten
Staaten von Amerika« (1873 bis 1891); die letzten vier Bände führen außer-
dem den Untertitel: »Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika
seit der Administration Jacksons i — 4«. Die Erzählung führt bis 1860/61,
d. h. bis zur Zerreißung der Union vor dem Bürgerkrieg. Das Werk behandelt
hauptsächlich zwei Fragen von kapitaler Wichtigkeit für die Vereinigten Staaten :
Die Frage des Verhältnisses der Einzelstaaten zur Union und die Sklavenfrage,
Seiner Persönlichkeit entsprechend, ergriff v. H. in beiden Fragen energisch
Partei und zwar aus den Ideenkreisen des Liberalen, des Kämpfers für die
Einheit und die Freiheit heraus, also für die zentralistische Richtung des Ver-
fassungslebens einerseits, gegen die Sklaverei anderseits. Nach dem Urteil
amerikanischer Historiker, so z. B. seines Nachfolgers Jameson, hat er die
historische Kraft und den politischen Wert des »einzelstaatlichen« Standpunktes
unterschätzt, und die Vorliebe der Staatsmänner des Südens für die Sklaverei
überschätzt, d. h. ihre Handlungen zu ausschließlich aus diesem Motive herge-
leitet. Das kann natürlich den hohen Wert dieses bedeutenden Werkes nur
wenig beeinträchtigen, das schon durch die Bezwingung eines ungeheuren
Materials, z. B. auch die systematische Heranziehung der sonst so oft ver-
nachlässigten Zeitungen, grundlegend bleiben wird, wenn es auch, schon weil es
Fragment geblieben ist, als abschließend nicht bezeichnet werden kann. Wie
gut V. H. bei aller Lebhaftigkeit des Empfindens es verstand, auch dem Anders-
denkenden gerecht zu werden, zeigt seine Monographie über John C. Calhoun
(1882), den konsequenten, ja leidenschaftlichen Verteidiger der Sklaverei und
Anhänger der Staatensouveränität, dessen geistige und sittliche Bedeutung
er durchaus anerkennt und mit Wärme schildert, v. H. gehört als Historiker
wie Sybel, mit dem er befreundet war, durchaus in die Reihe derjenigen
Männer, welche vom lebendigen politischen Interesse aus an die Geschichte
herantreten. Auch er hat seinen Stoff nach politischen und sittlichen Gesichts-
punkten verarbeitet. Daß mit einer derartigen Richtung sich der ernsteste
Drang nach reiner Erkenntnis verbinden kann, wenn er sich damit auch
nicht zu verbinden braucht, liegt auf der Hand. — Mit der Erforschung der
Geschichte der Vereinigten Staaten wird v. H.s Name dauernd verknüpft
bleiben.
Es folgt ein Verzeichnis der nichtigsten historischen und historisch-politischen Arbeiten
V. H.s, dem der Anspruch auf Vollständigkeit aber ferne liegt: Das Attentat vom 4. April
1866 (16. April) in seiner Bedeutung für die Kulturgeschichte Rußlands. Eine kultur-
historisch-politische Studie. Leipzig (Petersburg) 1867. — Federzeichnungen aus der Ge-
schichte des Despotismus I. Heidelberg 1868. — Verfassung und Demokratie der Ver-
einigten Staaten von Amerika, I. Teil. Staatensouveränität und Sklaverei. Düsseldorf 1873.
— I. Teil, 2. Abteilung. Von der Administration Jacksons bis zur Annexion von Texas.
Berlin 1878. — I. Teil, 3. Abteilung. Von der Annexion von Texas bis zum Kompromiß
von 1850. Berlin 1881. — I. Teil, 4. Abteilung. Vom Kompromiß von 1850 bis zur
Wahl Buchanans. Berlin 1884. — I. Teil, 5. Abteilung. Von der Inauguration Bucha-
nans bis zur Zerreißung der Union. Berlin 1891. — Band II — V führen den Nebentitel:
BxogT, Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog'. 9. Bd. c
^5 ^^^ Holst Tanera.
Verfassungsg[eschichte der Vereinigten Staaten von Amerika seit der Administration Jacksons.
Band I — IV. — Engl. Übersetzung unter dem irreführenden Titel : Constitutional and PolUical
History of ihe UniUd StaUs of America. 5 Bde. Chicago 1876 ff. — Charles Sumner, Preufl.
Jahrb. 1875. — Das Anckn Regime in Canada. Ebd. 1876. — Zur Jubelfeier der Ver-
einigten Staaten von Amerika. Ebd. 1876. — Toussaint l'Ouverture. Ebd. 1877. —
John Brown. Ebd. 1878. — Zur Geschichte und politischen Bedeutung des Bland-
sehen Silbergesetres. Ebd. 1878. — John C. Calhoun. Boston 1882. — Franz Lieber.
PreuÖ. Jahrb. 1883. — Friedrich Kapp. Ebd. 1885. — Das Staatsrecht der Vereinigten
Staaten von Amerika. Freiburg i. B. 1885 [in Marquardsens Handbuch des öff. Rechts
(IV, Halbbd. I, Abt. 3)]. — Was ist und wie entsteht Verfassungsrecht in den Ver. St
von Amerika? Archiv für öff. Recht 1887. — Das Verfassungsrecht der Ver. St im
Lichte des englischen Parlamentarismus. Freib. Progr. 1887. — Über eine Reform des
Universitätsstudiums in »Reden, gehalten bei der Prorektorats-Übergabec, Freiburg 1887. —
Die amerikanische Demokratie in Staat u. Gesellschaft Histor. Zeitschr. Bd. 64 (1890). —
The French Revolution tesied by Mirabeaus career, m2 leciures delivered ai thc Lowell In-
stitute Boston Mass, 2 Bde. Chicago 1894.
Quellen: Mitteilungen, welche mir die Witwe v. Holsts freundlichst machte, sowie hand-
schriftliches Material, das sie mir zur Verfügung stellte, darunter u. a. Trauerreden, gehalten
am 22. Jan. 1904 in Freiburg von Herrn Dekan Hasenclever u. Herrn Hofrat Himstedt,
Dekan der philosophischen Fakultät; Worte, gesprochen am Sarge Holsts auf dem Heidel-
berger Friedhof am 23. Jan. 1904 von Erich Marcks in nachträglicher Niederschrift Femer
zahlreiche Mitteilungen von v. H.s Freiburger Kollegen und Freunden. Rede, gehalten in
der badischen ersten Kammer am 23. Januar 1904 von Herrn Geh. Hofrat Rümelin, Ver-
treter der Universität Freiburg. Schliefllich die Reden, welche bei der Überreichung des
Porträts v. H.s an die Universität Chicago am 14. Oktober 1903 gehalten wurden; darunter
vor allem die des Historikers Jameson (^Professor v. Holst as Historian*) und die des
Nationalökonomen Laughlin (*Li/e and Character of Professor v, Holst*)^ gedruckt in Unv-
versity Record of the University of Chicago ^ vol, 8, Ao, 6 (Oktober 1903).
Adalbert Wahl.
Tanera, Karl, Königlich bayerischer Hauptmann, Schriftsteller und Tou-
rist, * 9. Juni 1849 z^ Landshut, f 5. Oktober 1904 in Lindau. — T. besuchte
die Gymnasien zu Regensburg und Speyer, trat 1866 bei Ausbruch des Krieges
gegen den Wunsch seiner Eltern in das königlich bayerische Heer, wurde
wegen seiner Jugend nicht in die Feldarmee, sondern in Germersheim ein-
gereiht, hatte aber bei Ausbruch des französischen Krieges 1870 als Leutnant
reichlich Gelegenheit, beim Armeekorps von der Tann an 19 Schlachten und
Gefechten, bei Weißenburg, Wörth, Spichern, bei Beaumont und Sedan, teil-
zunehmen, wo er den bayerischen Militärverdienstorden erhielt. Bei Orleans
und Coulmiers kam T. als Ordonnanzoffizier beim Brigadestab tüchtig ins
Feuer, wofür er an seinem »schwersten und schönsten Tag« das eiserne Kreuz,
aber bald darauf vor Paris einen schweren Schuß in den linken Arm bekam.
Leidlich hergestellt, war T. bei der Kapitulation von Paris und dem Einzug
in die Stadt, welche ihm so gut gefiel, daß er bis 1893 fünfundzwanzigmal
dieselbe besuchte. Mit ganzer Seele Soldat und im Vollgefühl der »schönen,
charakterbildenden Seite des Krieges« genoß nun T. bei der anderthalbjäh-
rigen Okkupation in Sedan und Rocroi die »fröhliche, lustige Leutnantszeit«
in vollen Zügen mit dem sonnenhellen Sinne der Jugend, welche er, ebenso
wie seine Kriegserlebnisse, in flüssiger Weise und blühender Darstellung schil-
derte. Sein »Ernste und heitere Erinnerungen eines Ordonnanzoffiziers« (zu-
erst 1887 bei C. H. Beck in München) betiteltes Buch machte ungewöhnliches
Tanenu ^j
Glück und erlebte bis 1902 neun Auflagen (darunter auch eine von Ernst
Zimmer 1895 illustrierte Edition), womit er seinen wohlverdienten Schrift-
stellerruhm begründete. Dadurch erwarb T. die Mittel, seinem Drang, die
Welt kennen zu lernen, zu genügen und auf immer weiter ausgedehnten
Fahrten und Reisen durch Frankreich, Italien, England, Belgien, Holland,
Österreich, Ungarn, Polen und Nordafrika, zuletzt noch nach Indien und
Japan und dann Rund um die Welt, seiner nimmermüden Feder neue Stoffe
zuzuführen. Nach 1873 trat T. in württembergische Dienste, besuchte die
preußische Kriegsakademie, worauf nach dreijährigem Aufenthalt in Berlin
1882 eine Berufung zur kriegsgeschichtlichen Abteilung des großen Greneral-
stabs in der deutschen Reichshauptstadt erfolgte. Inzwischen war T. zum
Hauptmann und Kompagniechef befördert worden, doch ließ er sich 1887
zur Disposition stellen, behielt seinen Wohnsitz meistenteils in Berlin, erwarb
ein hübsches Landhaus an den Ufern des Stambergersees, von wo aus T.
auf immer neuen Reisen der stets wachsenden Wanderlust folgte. In dieser
reizenden Muße verfaßte er nicht allein eine Reihe kriegsgeschichtlicher
Arbeiten, sondern verbuchte auch seine touristischen Eindrücke, sogar in
Romanform und betätigte sich mit umfangreichen Beiträgen zur »Bildung
und Belehrung der Jugend.« So entstanden z. B. »Der Roman eines Lieute-
nants« (1889), »Offizierleben in Krieg und Frieden« (1889), »Die Kunst-
schützin« (1890), »Aus dem Soldatenleben« (1892), »Heiteres und Ernstes aus
Altbaiem« (1895), dann begründete er unter Beihilfe von Mitkämpfern und
Autoren (wie Steinbeck und Pressentin) eine in sieben Abteilungen und in
fünf Auflagen vorliegende Volks-, Schul- und Militär-Bibliothek (München
bei Beck) und bearbeitete in gleicher Weise die »Kriege Deutschlands von
Fehrbellin bis Königgrätz«.') Andere Arbeiten T.s waren der Bericht über
»Die erste französische Loire- Armee« (Berlin und Leipzig 1878), »Die Schlach-
ten von Beaumont und Sedan« (mit i Karte, 2. Aufl. 1888), »Weißenburg,
Wörth, Spichern« (mit 4 Karten, Nördlingen 1888 — 1896 in 5 Auflagen); »An
der Loire und Sarthe« (mit i Karte, Nördlingen 1889 — 96 in 4 Auflagen), das
Lebensbild »Von der Tann, ein deutscher Held« (Regensburg 1896, im Auf-
trage des Komitees für die »Errichtung eines General Ludwig v. d. Tann-
Denkmals« zu Tann im Rhöngebirge). In rein belletristischer Weise betätigte
sich T. mit den »Manöverskizzen aus dem friedlichen Krieg« (2. Aufl. 1891)
und mit dem im französischen Kriege spielenden Roman »Schwere Kämpfe«
(Hof. 1897). Dann löste er die von Hirths »Jugend« gestellte seltsame Preis-
aufgabe, die »Geschichte des Krieges 1870 — 71« in achtzehnhundert und
siebenzig Worten zu schreiben (abgedruckt 1896 in Nr. 3 der genannten
illustrierten Zeitschrift). Schließlich ging T. auch noch auf das ohnehin
schon sehr üppig bebaute Gebiet der belehrenden Leseliteratur »Für die
*
') Eine vaterländische Bibliothek für das deutsche Volk und Heer (München bei Beck)
I: Deutschlands Mißhandlung durch Ludwig XIV. (1672 — 17 14, mit 3 Karten und 3 Schlacht-
plänen 1871). II. III: Die Kriege Friedrichs des Großen, i. Erster und zweiter schlesi-
,scher Krieg. 2. Der siebenjährige Krieg. IV. V: Die Revolution und napoleonischen
Kriege, i. Von Valmy bis Austerlitz (1792 — 1803). 2. Von Jena bis Moskau (1806 bis
181 2). 1893. VI. VII: Die Befreiungskriege, i. 18 13 (mit 2 Karten). 2. 18 14 und 181 5
(mit I Karte). 1893. VIII. IX: Die deutschen Einigungskriege. i. Schleswig-Holstein
meerimischlungen (1848 — 64) mit 2 Karten. 2. Der Krieg von 1866 (mit 2 Karten). 1894,
5*
58 Tanera.
reifere Jugend« über und- verfaßte eine ganze Bibliothek dickbändiger Erzäh-
lungen, deren Tendenz gewiß wohlwollend, die Ausführung aber eine zu red-
selige und breite wurde, so daß der Verfasser in den naheliegenden Verdacht
der geschäftsmäßigen Vielschreiberei geriet. Dazu gehören z. B. »Hans von
Dornen, des Kronprinzen Kadett«, »Raupenhelm und Pickelhaube«, »Heinz,
der Brasilianer«, »Deutschlands Kämpfe in Ostasien», »Rastlos vorwärts«
(Erlebnisse eines jungen Luftschiffers in Europa und Amerika), »Nser-ben-
Abdallah, der Araberfritz, Erlebnisse eines deutschen Knaben unter den
Arabern«, »Kismet Kurt Röders, Erlebnisse eines jungen deutschen Malers
in Ägypten, Palästina und Syrien« — alle mit Karten und Illustrationen aus-
gestattet »I« ustsm Delphini^. Während T. in bester Absicht seine Autopsie
zur Belehrung junger Leser zu verwerten, dort mehr oder minder in die Fuß-
stapfen von Jules Veme und Karl May trat und mit unerhörten Ereignissen
die hungernde Neugierde fütterte, sammelte er in den vornehm, mit geist-
reichen Croquis von Damenhand (Henny Deppermann) ausgestatteten Reise-
skizzen »Aus drei Weltteilen« (Berlin 1898, Verlag des Allgemeinen Vereins
für Deutsche Literatur) eine bunt zusammengewürfelte, ansprechende, oft sehr
anmutende Reihe von Tagebuchblättern, Eindrücken (auch in gebundener
Form) aus seinen auf Streifzügen in Europa, Asien und Afrika eingeheimsten
Erfahrungen, denn »Reisen erquickt, macht gesund, lehrt und erzieht«. Sprung-
haft geht es die Kreuz und Quer vom Kochel- und Walchensee zur Via maloy
in den Schloßpark von Berg, zur Walhalla (wo der treffliche Freiherr von
Warsberg einmal, unvorsichtig eingeschlossen, unfreiwillig eine Sommernacht
verbrachte),') vom Nordkap nach Abbazia, auf die Akropolis von Athen, nach
Amalfi und in die Certosa bei Florenz (wo T. einen alten Garibaldianer als
Mönch gefunden haben will, also ganz ähnlich, wie Adolf Pichler in seiner
herrlichen in Pistoja spielenden Epe ^^Fra Seraficoo^ 1879 berichtet), nach
Verona und die einzige *Fmzza derbe* — deren Zauber Adolf Menzel und
der leider schon am 24. Dezember 1904 verstorbene Gustav Bauernfeind mit
farbiger Kunst im Bilde festhielt*) — über Venedig nach Capri (wo
eine Künstlemovelle erzählt wird) nach den »Schätzen des Sultans«: ein
reichliches ^Pele-nule^ für literarische Feinschmecker. Dann wendet er sich
nach Algier, das T. neunmal besucht haben will: er schildert die französische
Saharabahn, welche der Schlachtenmaler Theodor Horschelt freilich nimmer
erlebte; wie dieser besuchte auch T. die Oase el Kantara und den tiFum-es-
Sahara« (den »Mund der Wüste«, wo Ludwig Schneller 3) eine so denkwürdige
Begegnung erlebte), das farbige Tunis und das Museum Alaoni im Bardo^
das Felsennest Constantine, den Jardin d'Essai mit seinen erquicklichen
Brunnen und schönen Frauen ; darauf folgt ein Wettrennen von Eseln, Negern,
Kamelen und Pferden in Luxor und ein poetisch angehauchter »Abend bei
Assuan« am ersten Nilkatarakt. In »Asien« berichtet T. vom Auszug der
Mekka-Karawane aus Damaskus, besuchte Baalbek, verlebte einen Morgen
») Vgl. Alex. Frhr. v. VVarsberg (* 30. März 1836, f 28. Mai 1889), Nachgelassene
Schriften, Wien 1892 und »Allgemeine Deutsche Biographie«, 1896, 41, 182 ff.
*) ^^&1' dessen Nekrolog in diesem Jahrgang.
3) Vgl. das lehrreiche Buch »Bis zur Sahara« von Ludwig Schneller (Leipzig 1905)»
S. 52 ff.
Tanenu
69
»Am Fuße des Hermon« und besichtigte das neuerdings zur kunsthistorischen
Kenntnis gebrachte Pergamon. Dann folgen die zuerst in den »Münchener
Neuesten Nachrichten« publizierten Reisebriefe seiner Fahrt nach Indien usw.
Gleichsam als erweiterte Fortsetzung erschien T.s »Weltreise«, abermals mit
Illustrationen der Henny Deppermann (Berlin 1903 im Allgemeinen Verein
für Deutsche Literatur). Diesmal wurde Indien eingehender und auf weiteren
Wegen besucht, auch China und Japan. In Tokio sah er den Einzug des
Kaisers, fuhr nach Nikko und an den Chuzenji-See, welcher unseren Bericht-
erstatter ganz an den baiwarischen Walchensee mit dem Urfeld-Gasthaus und
den obligaten Saiblingen erinnerte; in Yokohama erlebte T. ein Erdbeben,
auch tanzte er auf einem flotten Ball. Die Ansichten des Reisenden über
die Charaktereigenschaften der Japaner — T. machte allerlei, nicht immer
angenehme Erfahrungen über den Hochmut und die Unwissenheit der dorti-
gen Beamten — mögen sich seit 1902 wohl rektifiziert haben; dagegen rühmt
er das Ansehen, welches die deutschen Kaufleute in Asien genießen. Die
Reinlichkeit und Tapferkeit der Japaner wird gelobt und ihr praktischer Sinn
und Fleiß; Yokohama war vor fünfzig Jahren noch ein versumpftes Fischer-
dorf, nun eine blühende Handelsstadt mit 200 000 Einwohnern. Wie würde
erst heute sein Urteil lauten I Die darauf folgende Fahrt nach Amerika, über
den »stillen Ozean«, der gerade in stürmischer Laune, den schroffsten Gegen-
satz seines Namens bildete, war mehr als unerquicklich. In Kalifornien wurde
der in der Heimat als Alpinist wenig bekannte T., stehend auf einer in das
Yosemite-Tal hinausragenden 1443 Meter hohen Steinplatte auf dem schönsten
Aussichtspunkt über den Gl€u:ier Point photographiert; eine Kopie davon ist
seinem Buche beigegeben. Daß er unter den Niagarafällen eine Promenade
machte, ist selbstverständlich. — Während ihn die landschaftliche Großartig-
keit entzückte, ist er weniger von den Amerikanern erbaut. Die Rückreise
und Heimkehr bietet gerade nichts Neues. T. sieht vorwiegend mit dem
Auge des Poeten und Malers, des Naturfreundes und Ethnographen — bis-
weilen dilettiert er sich in die frühere historische Vergangenheit zurück,
kommt aber über Hackländer, Gerstäcker und Hesse- Wartegg nicht hinaus.
Damit war sein Programm erschöpft. Ein projektiertes Buch über Italien,
Spanien, Portugal, Norwegen blieb er uns schuldig, kaum zum Schaden der
Leser. > Ultra posse nemo obligatur^. Seine in unmittelbarer Frische erzählten
Kriegserlebnisse hatten ihm einen Namen gemacht; von der Gegenwart über
anderen Erscheinungen schon wieder vergessen und später vielleicht wieder
ausgegraben zur wärmeren Ergänzung der lapidaren Geschichte gewann T.
einen Namen, welcher den auf das touristische Gebiet übersiedelnden Autor
begleitete; aber derselbe war hier ohne alle wissenschaftliche Vorbildung
ausgezogen, keines bestimmten Faches Meister oder auch nur beiläufiger
Kenner, nur als ritraveller<i mit dem roten Bädeker, um auch mal nett darüber
plaudern und erzählen zu können. Eine gewisse Reisemüdigkeit bemächtigte
sich des immer zu weiteren Radien ausfliegenden Wanderers. Er war, ob-
wohl immer noch frisch, aber doch nicht mehr neu genug, die Leser anzu-
regen und zu unterhalten. Ein echter Globetrotter. Hatte er doch, wie er
beinahe wehmütig klagt, alles gesehen. T. »fuhr oftmals durch den Suez-
kanal, durchwanderte Sizilien, kannte Genua von außen und innen, war
dutzendmale in Neapel, in Paris, Algier, hatte die Alpen nach allen Seiten
70
Taneia. Zettel.
kennen gelernt, den Atlas, den Libanon und asiatischen Olymp, sah die Ge*
birge Norwegens in fast allen Teilen des Landes, dann 1897 die Himalaya-
gnippe vom Gaurisankar (Afount Everest) über den Kanchinjanga bis zum
Donkia und Chumalari, hatte auf dem reizenden, von den Engländern 1835
gegründeten Kurort Darjeeling Luft gekneipt, alle Menschenschattieningen
beschaut, sogar die häßlichen zur mongolisch-tartarischen Familie gehörigen
Bhutias, die aus Nepal, Sikkim und Tibet stammenden Lepchas und Limbus,
arme Leute, aber immer heiter, zufrieden und fröhlich, »weil es dort keine
Tiger mehr gibt, dafür aber — die wunderbarste Aussicht«; erst wie ein
*povero pittort^^ der jede Lira sechsmal umdreht — und dann als Sybarit,
»Erstklassiker in Bahn, Schiff und Hotel«. Und das alles dankte T., wie er
in seiner »Weltreise« (1903 S. 249) ruhmredig verkündet, einzig — »seiner
Feder». Und zwar ohne Vaudeville-Lustspiele oder Tragödien geliefert zu
haben — auch mit Nekrologen befaßte er sich niemals! Doch betätigte er
sich auch journalistisch und durch Wandervorträge, wozu er von allen Seiten
wetteifernde Einladungen erhielt, wie ehedem auch Karl Stieler. Er trug
dann unermüdlich seine Erzeugnisse und Erlebnisse vor, immer in neuer
Form, als wäre die Buchdruckerkunst noch nicht erfunden. Ein übrigens an
die Zeit der Minstrels erinnernder modemer Modus. Auf einer solchen Fahrt
nach Lindau, wo T. über seinen Ritt durch die Mandschurei »vortragen«
wollte, berührte den Rastlosen ein Schlaganfall, man fand ihn sprach- und
bewußtlos im Coup^. Zu Lindau veratmete er trotz aller ärztlichen Kunst.
Feierlichst und unter militärischen Ehren und patriotischen Deputationen
wurde der Sarg von der Inselstadt nach St. Gallen zur Feuerbestattung ge-
bracht und, nach einer nicht unglaublichen Version, die Aschenurne still im
Stambergersee versenkt! — Seine Ehe mit Johanna Junge blieb kinderlos. Er
war eine schöne, würdevolle, selbstbewußte Erscheinung, ein Selfmademan mit
dem ganzen Aplomb eines literarischen Parvenü. Er gab sich, gleich Franz
Dingeisted t, im Bewußtsein seines Wertes mit huldvollem Herablassen, wie
ein mediatisierter Fürst. Daß er am Stambergersee unter seinem indischen
Tropenhelm prunkte, gehört zur Vervollständigung des Porträts. Hatte denn
auch ehedem Emanuel Geibel an die übrigen »Zwanglosen« das Ansinnen
gestellt, sich bei seinem Eintritt in den Saal von ihren Sitzen zu erheben I
T.s letzte Arbeit behandelte den »Russisch-japanischen Kampf um die Vor-
herrschaft im Osten« und zwar »Das Vorgehen der Japaner gegen Port Arthur
und die Besetzung von Korea« (Lahr in Baden bei Groß und Schauenburg)
mit Illustrationen von E. Zimmer und dem Portrait des inzwischen verstor-
benen Verfassers; die Fortsetzung ist einer bemfenen Feder anvertraut.
Hyac. Holland.
Zettel, Karl, Prof. Dr., Dichter, * 22. April 1831 in München, f 3^. De-
zember 1904 ebendaselbst. — Als der Sohn schlichter Bürgersleute, welche
das Gewerbe von Hans Sachs* Eltern, die bekanntlich keine Schuhmacher waren^
ausübten, kam Z. zum Studium, absolvierte Lateinschule und Gymnasium mit
erster Note, trieb philosophische Studien an der Universität, bei dem später
noch mit dankbarster Erinnerung gefeierten Ernst von Lasaulx, welcher ihm
die innere Schönheit der Antike gründlichst erschloß, und verlegte sich bei
Thiersch, Spengel und Prantl ganz auf die klassische Philologie, in deren
ZctteL ^ I
grammatikalische Tricks Z. seminaristisch eingedrillt wurde — ein Verfahren,
welches ihm um so weniger genügte, als der junge Poet damals schon seine
Schwingen zu erproben versuchte. Indeß bestand der angehende, zeitweise
auch sehr sarkastische Lyriker, glückhaft das Staatsexamen, durchkostete, da
der üppige Vorrat von Lehramtsaspiranten genügend Zeit bot, die Süßigkeiten
eines hofmeisterlichen Pädagogen, bis er als Assistent (1856) und Studien-
lehrer (1859) am Gymnasium zu Eichstätt die ersehnte Verwendung fand.
Erst 1870 erfolgte die lang gewünschte Übersiedelung nach München, worauf
Z. 1871 zum Professor für deutsche Sprache und Literatur an das Real-
gymnasium nach Regensbur^ befördert und durch Aufhebung dieser Anstalt
zum Professor am neuen humanistischen Gymnasium daselbst ernannt wurde.
Dort entwickelte der fleißige und ehrgeizige Mann eine vielseitige Tätigkeit,
bis ihm ein schweres, chronisches Leiden die erbetene Pensionierung 1886
mit dem Ausdruck der allerhöchsten Anerkennung brachte. Als Fachschrift-
steller beschäftigte sich Z. an den 1864 von Wolf gang Bauer (f 31. Dezember
1880) begründeten »Blättern für das bayerische Gymnasialschulwesen«, schrieb
1864 ein heute noch beachtenswertes Programm »Über Pflege des mündlichen
Vortrags« und publizierte über seinen Lieblingsschriftsteller die Abhandlung
^QuaesHontim Theocritearum spectmtn^t^ (1867), welche durch das Elaborat üb e
»Theokrits Humor« in dessen mimischen und bukolischen Dichtungen (1883)
eine Fortsetzung erhielt, nachdem er schon 1856 mit einem Programm über
»Hippokrates« diese literar-historische Bahn betreten hatte. Als gewiegter
Praktiker verfaßte Z. vielfache Lehr- und Musterbücher, als erwünschtes Hand-
material für Schulen, darunter ein in sechs Auflagen (187 1 — 84) bewährtes
»Deutsches Lesebuch« (1892 umgearbeitet von Joh. Nicklas) und die »Dekla-
mationsstücke für Mittelschulen« (1887 und 1898) und bearbeitete Alexander
Schöppners handsame allgemeine »Literaturkunde« (1888 und 1899 in 5. und
6. Aufl.). Einen länger bleibenden Namen errang Z. durch seine lyrischen
Dichtungen, welche, mit einer kurzen Einleitung von Hermann Lingg ausge-
stattet, unter dem Titel »Erste Klänge« (Eichstätt und Stuttgart 1869) in die
Welt traten und seitdem in fünf immer umgearbeiteten und vermehrten Auf-
lagen sich gründlich Bahn brachen. Seine schwungvolle Diktion, die strenge
Formgebung und Reinheit des Reimes dienen dem wirklich edlen Inhalt zur
glänzenden Folie. Z. hat sich, an Geibel, Lingg, Rückert und zuletzt auch
an Scheffels Vorbild gründlich geschult, außerdem vielfach als feinempfinden-
der Nachdichter und Übersetzer (insbesondere mit Jacob Baldes kunstreichen •
Oden) sattsam als bügelfester Reiter seines Pegasus bewährt, auf welchem ihm
der Aufstieg nach höheren Regionen immer gelang. Weichliche Sentimentali-
tät lag ihm, wie seinem vielfach geistverwandten Freunde Johannes Schrott
(vgl. Biograph. Jahrbuch V., Jahrg. 1900, S. 51), trotz der beide gleich aus-
zeichnenden zartesten Empfindung, ferne. Weltschmerz und höhnische
Frivolität kennt keiner von beiden, ebenso wenig die aus dem Innersten
jubelnde Freude. Das Minnelied bringt bei Z. nur treue, sehnsüchtige Er-
innerung; hier ist sein Repertoire eng begrenzt. Seine heiligsten Emp-
findungen begrub er stumm in tiefster Seele. Dafür quillt aus dem vollen
Herzen ungekünstelt sein, das deutsche Vaterland und die engere Heimat
warm umschließender, klar und erfrischend aufsprudelnder Patriotismus: Ein
ganzer, echter Mann, voll Würde, Ernst und Feuer. Bei allen Trauer-, Feier-
72
Zettel.
und Freudentagen ist seine Lyra immer wohlgestimmt, sie klingt bei Ehren-
festen zum Ruhme der besten Namen von Tondichtem, Poeten, Künstlern
und Staatsbaumeistem. Bei der dritten Säkularfeier der Würzburger i^alma
mater Julia*' stellt er sich grüßend ein und bei dem vierhundertjährigen Be-
stehen der Ingolstädter-Landshuter- Münchener Universität wählte er die
Maske eines Scholaren aus der Zeit der Gründung und imitiert in Ton und
Sprache einen schalkischen Bursen-Stil. Alle diese Bühnenprologe, Becher-
und Tafelreden, sind mit reichem Gedankengehalt schwer befrachtet: »Tief-
sinnig sucht er die Rätselworte der Welt und Weltgeschichte auszusprechen,
die Göttersagen des Nordens philosophisch im modernen Geiste zu deuten,
gewisse Erscheinungen der Völkergeschichte von den urältesten Anfängen der
Überlieferung bis auf die jüngsten Tage, von der Scheidung der Noachiden
in sprachlich und räumlich getrennte Stämme, bis auf den Tod Livingstones,
poetisch auszumalen. So regt in ihm auch die gesamte Natur, wenn er sie
reisend durchstreift, ihre Reize enthüllt, mehr weittragende Gedanken als
gewaltige Empfindungen an.« Aber auch heiteren Stimmungen wird Z. ge-
recht. Die »lachenden Bilder aus dem alten Hellas« liegen ihm handsam,
so daß die Muse des Humors mitunter ihr Schellenhaupt klingen läßt Von
den »Liedern« sind vielleicht die am besten gelungen, welche aus der An-
schauung und Vorstellung fremder Völkerschaften herausgedichtet sind, wie
der »Japanesenfischersang«, das »Russische Husarenlied«, der »Tscherk essen-
ruf«, und ähnliche, wobei er sich mit Bodenstedt und Graf Schack, weniger
mit Freiligrath berührt.
Z.s kleines Epos »Gela, ein Sang von Kaiser Rotbarts Lieb«, erhielt
1877 — 1891 vier Auflagen (letztere bei Greiner und Pfeiffer in Stuttgart, mit
Bildern von E. Klein in schöner typographischer Ausstattung), erreicht zwar
nicht den hinreißenden Fluß von Kinkels »Otto der Schütz«, ist aber in der
Originalität der Erfindung seinem Vorbild ebenbürtig an echter Düsseldorfer-
Romantik.
Eine andere, sehr vielseitige, freilich auf selbsteigenes Schaffen verzichtende
Tätigkeit entfaltete Z. durch seine lyrischen Mustersammlungen und Schatz-
kästchen der deutschen Lyrik, die er fortwährend ergänzend aus den Er-
zeugnissen und Schöpfungen seiner jüngsten Zeitgenossen zusammentrug. Er
scheute keine Mühen und Kosten, korrespondierte nach allen Seiten, um auch
von den neuesten Poeten solche Kleinode zusammenzubringen. Diese Antho-
logien erfuhren durch die Gunst des dankbaren Publikums eine vordem uner-
hörte Fülle von Auflagen. Seine durch Illustrationen und Ausstattung zu wahren
Prachtbänden gestalteten, immer wieder vermehrten Bücher »Edelweiß« (47. Aufl.),
«Ich denke Dein« (43. Aufl.), »Frühlingsgrüße« (44. Aufl.), »Haideröslein«
(30. Aufl.), »In zarte Frauenhand« (13. Aufl.) drangen in tausenden und tausen-
den von Exemplaren in die weitesten Kreise. Als poetisches Gedenkbuch zur
Feier des siebenhundertjährigen Jubiläums des bayerischen Herrscherhauses
publizierte Z. mit seinen Freunden das »Witteisbacher Album« (1886), welchem
1895 in gleich prächtiger Leistung, unter Mitwirkung von Felix Dahn,
M. Ehrmann, Martin Greif, J. Hecher, Maximilian Schmidt, A. Steinberger,
Karl Tanera, Fr. Teicher und F. Wilferth das von E. Zimmer illustrierte
»Bayern — unser Panier« folgte: Eine Sammlung von Dichtungen, Erzählungen,
kulturhistorischen und geschichtlichen Schilderungen. Während seines Regens-
Zettel.
73
burger Aufenthaltes hatte Z. mit Franz Xaver Seidel eine »Literarische Ver-
einigung« gegründet, eine poetische Tafelrunde, aus deren Beiträgen ein »Aus
schöner Zeit« betiteltes Gedenkbuch zur Feier des 25. Stiftungs Jahres erschien
(1885), nachdem Z. allerlei lyrische Einfälle und Humoresken als »Lachende
Bilder« (187 1) zur »Erheiterung und Erbauung« verarbeitet hatte. Ähnlichen
Zwecken dienten die »Monacensia« (1895, 1897 und 1904 in 3 Bändchen)
mit selbsteigenen, auf allerlei Streifzügen aus Alt- und Jungmünchen ge-
sammelten kleinen historischen Erinnerungen und Erlebnissen. Es sind an-
ziehende Stimmungen und leichte Umrisse, eine wahre Blau -Weiß-Aus-
stellung in Prosa und Versen. Im leichten Bummel der Erzählung berichtet
Z. aus jener der Gründung von München vorhergehenden Urzeit; wie die
Zünfte durch ihre den Herzögen geleisteten treuen Dienste allerlei Privilegien
und Bannerrechte erwarben, vom Einzug Kaiser Karl V. zu München (1530),
über den im XVL Säculum florierenden »Lateinischen Schulmeister« Lorenz
Kastner, ein Meer- und Weltwunder seiner Zeit an Gelahrtheit und Reimkunst;
über die erste Aufführung der »Emilia Galotti« 1773 zu München, die alten Jahr-
märkte und »Dulten« (ein übrigens ganz altdeutsches, als dulps für Fest und
Jahrmarkt schon dem westgotischen Bibelübersetzer Ulfilas geläufiges Wort),
über Künstlerloos und Dichterschicksale, Kamevalstreiben usw. Das letzte nach
Z.s Ableben edierte Bändchen — in seiner Weise auch ein y> Memoire (Tautre
tombeo- — erzählt von den früheren Münchener Hofburgen und Residenzen,
alten »Kleiderordnungen«, von dem neuerdings wieder ausgegrabenen und
durch Professor Sandberger zu verdienten Ehren gebrachten Tonkünstler
Ludwig Senffl, der am Hofe Wilhelm IV., damals als ein »/« musica totius
Germaniae pHnceps* galt; wie die alten ehrsamen Ratsherren auf einmal gar
dem Sport der Schlittenfahrten fröhnten; von früheren Brunnen und Bade-
anstalten, Lebensmittelfälschung und deren Verpönung; von der »hochnot-
peinlichen Justiz-Malefiz- und Halsgerichtsordnung«, von Hexen, Truden- und
Spukgeschichten, Friedhöfen und Begräbnissen, dann biographische Skizzen
von neueren Zeitgenossen, wie Franz von Kobell, dem anziehenden Ästhetiker
Ernst von Lasaulx, die durch Schwinds Zeichnungen in der jüngst edierten
»Lachner-Rolle« gefeierte hellstimmige Nachtigall Hetznecker-Mangstl, die
Heroine Clara Ziegler und unzählige andere, eine wahre Fundgrube und
Trödelbude von buntscheckig aneinander geflickten Erinnerungen. Leider trieb
Z. keinen systematischen Erzbau, er schürfte sein kulturhistorisches Metall
nicht aus den unterirdischen Stollen und Bergteufen der Archive und Grund-
bücher, sondern verhämmerte nur, was er gelegentlich am Wege fand.
Z. schreibt bei ruhiger Tagbeleuchtung der Sprache, während der viel besser
beschlagene, tieferdringende Franz Trautmann (181 5 — 1887) in einem furcht-
bar geschraubten, schwerfällig gedrechselten, angeblich chronikalen Ton seine
geduldigen Leser erfreute und mißhandelte. Z.s weitzerstreute ästhetische
Abhandlungen und Essais, z. B. über Walters von der Vogelweide Frauensang,
Lenau, Scheffel, Eichendorff, Lingg usw. wären wohl noch einer Sammlung
wert. Im Manuskript hinterließ Z. eine Kollektion über »Das klassische
Altertum im Spiegel deutscher Dichtung«, also wohl das Material zu einer
neuen Anthologie.
Z. war kein bahnbrechender Dichter, der den Originalstempel der Sprache
wie Platen, Rückert oder Chamisso u. a. seinen Erzeugnissen aufprägt. Er
74
Zettel. Seidel.
sang mit seiner verfügbaren Stimme laut und erkennbar genug im Chor des
deutschen Dichterwaldes; das wohllautende musikalische Element seiner sub-
jektiven Kunst, das Cantabile seiner Muse, veranlafite manchen Tondichter,
seinen Versen neue Schwungkraft zu verleihen. Er wurde mehrfach kompo-
niert und lebt auch auf den bekannten Flügeln des Gesanges weiter. Für
Max Winkler (Komponist und Musikprofessor, * lo. März 1810 zu Günzburg
an der Donau; f 20. Juni 1884 zu Rosenheim) lieferte Z. den Opern text zur
»Meister-Probe«. — Z.s prägnanter Kopf wurde mehrfach gemalt, auch gute
Photographien überlieferten uns seine treuherzigen Züge, die der geistreiche
Bildhauer Franz Schneider in einer prachtvoll und verständnisinnig durch-
gebildeten lebensgroßen Marmorbüste auf der Münchener Kunstausstellung
des Jahres 1893 verewigte. König Ludwig II. dekorierte ihn 1877 mit der
Medaille für Kunst und Wissenschaft, die Universität Tübingen verlieh ihm
i88i den Doktorhut, das Frankfurter Freie Deutsche Hochstift erhob ihn
zum Ehrenmitglied. Sein 70. Geburtstag bot den zahlreichen Freunden
erwünschten Anlaß zu einer feierlichen Ovation.
Vgl. Franz Muncker in BeUage 117 zur »Allgemeinen Zeitung« 28. April 1886 (Zur
neuesten deutschen Lyrik), Nr. 187. Mttnchener »Neueste Nacbrichtenc 23. April 1901 und
den Nachruf ebendaselbst in Nr. 156 vom 2. April 1904. Franz Brummer, Lexikon. 4. Aufl.
IV, 410. Hyac. Holland.
Seidel, August, Landschaftsmaler, * 5. Oktober 1820 zu München,
t 2. September 1904 ebendaselbst. — Als echtes Münchener Kind war S.
unter der Anregung seines älteren Bruders Franz (welcher, geboren 1818,
nach langer Krankheit und trauriger Verdämmerung 14. Juni 1903 aus dem
Leben schied) die Schönheit der altbayerischen Lande mit ihren Wäldern
und Bergen aufgegangen. Eigentlich war es der Zittauer Albert Zimmer-
mann (• 20. September 1809, f 18. Oktober 1888 in München. Vgl. Allgem.
Deutsche Biographie 1890, 45, 248 — 251) mit seinen Brüdern Max (• 7. Juli
181 1 zu Zittau, t 30- Dezember 1878 in München. Vgl. ebendas.) und
Richard (• 2. März 1820 zu Zittau, f 4- Februar 1875. Vgl. ebendas.),
welche das südlich von der Donau gelegene und von den nördlichen
Alpen begrenzte Vorland entdeckten und zu Ehren brachten — längst vor
Eduard Schleich (1812 — 1874) und den erst in neuerer Zeit nachfolgenden
»Dachauern«. Mit heiteren, gleichgestimmten Genossen und Scholaren,
wovon noch heute der liebenswürdige Tiermaler Ludwig Foltz (• 28. April
1825 zu Augsburg) erzählen kann, siedelten sich die »Zimmerleute«, wie
damals die treu verbundenen Brüder benannt wurden, in den schön ge-
legenen, zu wahren Aussichtspunkten dienenden Dörfern von Eberfing und
dem altehrwürdigen Fölling fest, malten wetteifernd nach der freien Natur
ihre Studien, schwelgend im hellen Glast des Sonnenlichtes, in poetischen
Stimmungen, in der entzückenden Harmonie von Farbenzauber und Schön-
heit der in blauer Feme verlaufenden Bergzügel Neidlos untereinander, einig
im begeisterten Schaffen, bevölkerten sie die damals noch mageren Säle des
kurz vorher gegründeten Münchener Kunstvereins und brachten ihre ehrlichen
Namen bald zur weiteren Kenntnis des übrigen deutschen Vaterlandes.
Manchem glückte es auch, darüber hinaus bekannt zu werden, obwohl der
Kunsthandel noch als ein ziemlich unmündiges Kindlein in der Wiege
Seidel.
75
träumte. Außer Hochwind, Wimmer (nachmals Humplmayr), den Italienern
Restalino und Bolgiano, wozu noch der Hofjuwelier Trautmann gehörte, be-
faßte sich niemand mit Bilderhandel; die Maler und Künstler galten über-
haupt für »Hungerleider«. Auch die damals die öffentliche Meinung bear-
beitenden, sich vorsichtig hervorwagenden Kritiker in den Stuttgarter und in
den späteren Berliner Kunstblättern, in der Augsburger »Allgemeinen Zeitung«,
sogar auch in Lützows »Zeitschrift«, begannen die Brüder Seidel in warme
AfEektion zu nehmen, um so williger, als August Seidel auch gelegentlich
zur Feder griff und mit kollegialer Freundlichkeit vielen wackern abtretenden
Zeitgenossen die verdiente Palme oder einen echten Eichenkranz auf den
frühen Hügel legte. Wie schüchtern und mit gründlich-sorgfältiger Erwägung
man damals solch einen Nachruf ausklügelte!
Vom Fichtelgebirge bis zum Kochelsee, von Gastein und dem Zillertal
bis an das schwäbische Meer, mit beiläufigen Abstechern nach der Ostsee
und Berlin oder dem Dachauer Moos, reichte August Seidels Domäne, von
wo er seine Stoffe einheimste. Er liebte den mit goldenen Strahlen umsäum-
ten, am frühen Morgen von Wassern umspielten jungen Birkenwald; den
zitternden Sonnenglanz des Mittags; die schwellende moosige Haide mit den
in weiter Feme aufblauenden Alpen; den farbigen Zauber des Herbstes oder
hochsommerliche Gewitterbildung, mit schwankenden, hochbeladenen Ernte-
wagen staffiert. Er war ein Dichter in Stimmungsbildern wie Adalbert
Stifter, welchen er vermutlich gar nicht kannte. Auch die seine Vaterstadt
umrahmenden Isarauen und der Englische Garten daselbst boten abwechs-
lungsreiche Ausbeute. Kurz, die »intime Landschaft«, die lange schon reich-
lich in Bildern zur Darstellung kam, ehe dieser später erst entdeckte und
seitdem bis zum Überdruß mißbrauchte technische terminus durch den Kunst-
skribenten A. Teichlein (1820 — 1879) ^^^ "^^^ ^"^ Frankreich importiert und
mundgerecht wurde. — Dann folgte aber nebenbei für Seidel noch ein an-
derer Sport: Er reagierte auf die neuere »belgisch-französische Schule« und
schuf in ihrer clair-obscuren Methode landschaftliche Extemporale aus dem
Abhub seiner Palette, ganz ä la Charles Francois Daubigny und Jean Bap-
tiste Camille Corot, keine Falsifikate, sondern vergnügliche Herzensnach-
empfindungen ihrer Lucubrationen. Es erging ihm dabei, wie dem wackem
Heinrich Bürkel, welcher sich einst hinreißen ließ, nach Vorgang der Düssel-
dorfer ein — Wüstenbild aus der Sahara in feinster, hinreißender Stimmung
zu konstruieren. Als eine Lordschaft dasselbe »i tout prix« erstehen wollte,
sagte der ehrliche Maler: er sei nie über Italien hinausgekommen. Der
begeisterte Käufer verschwand und das Bild blieb über Bürkels Atelier-
türe hängen Ein älterer »Corot« dieser Art von Seidel ziert heute noch
meine kleine Kollektion, immer bewundert und der Besitzer darob be-
neidet. Eine andere, näher liegende Seite S.s war: Er hatte das alte München
mit seinen täglich mehr verschwindenden malerischen Winkelchen ins Herz
geschlossen. Wie ehedem schon der höchst vielseitige Johann Georg von
Dillis (1759 — 1^41» dessen hierauf bezüglicher Nachlaß durch Dr. Karl
Trautmanns Betreiben glücklich in den Besitz des Historischen Vereins von
Oberbayem gelangte), und der zeitlebens nie nach Verdienst beachtete Carl
August Lebsch^e (1800— 1877) die früheren Tore, Türme und Festungswerke,
das wimmelnde Straßengewirr in treuer Erinnerung festhielten und in
f^5 Seidel. Schirrmacher.
ihre Mappen bannten, so warf auch Seidel sein Künstlerauge und zwar
bei aller Wahrheit doch ohne jede Vedutenhaftigkeit auf die Physiognomie
des früheren kleinbürgerlichen Stadtbildes. Dazu gehörten beispielsweise
die kleinen, den echten Philister so anheimelnden, jetzt ganz verschollenen
Wirtschaften, Gastgeber und »Herbergen« (wo oft viele Familien unter
einem Dache auf ihrem eigenen Grundbesitz saßen), die Tagwerker- und
Wäscherinnen - Häuschen in den jetzt ganz abrasierten ehemaligen »Vor-
städten«, und die letzten jener erquicklichen »Bier- Keller«, wo die Halle
so schmucklos, der Garten so schattig und der »Stoff« noch so billig und
gut war, die keiner rauschenden »Konzerte« bedurften, um ihre Stamm-
gäste anzuziehen und festzuhalten. Über zweihundert solcher, jetzt ganz
kulturhistorischer Blätter zeichnete Seidel für die umfangreiche Kollektion
»Monacensia« des Regierungsrates und Gutsbesitzers Philipp Pfister (f 4. No-
vember 1889), aus welcher Otto Aufleger und Karl Trautmann in ihrem
quellenmäßigen Prachtwerk »Altmünchen in Bild und Wort« (1898) eine Aus-
wahl reproduzierten und schilderten. So schlicht, gemütvoll und so ganz
erfüllt von Liebe zu ihrem Gegenstande hat außer Karl Spitzweg kein anderer
derartiges geschaffen. Als Künstler blieb S. bis in seine letzten Jahre frisch
und tätig; ein »ächter Seidel« übte immer seine Zugkraft; auch fand er einen
stillen Mäcen, welcher immer noch neue Bilder bestellte, der nur die ge-
wünschten Leinwandformate sendete, aber die Wahl der Stoffe völlig dem
Maler überließ. Der Impresario machte kein schlechtes Geschäft nach
Amerika, der Lohn für den Maler war freilich bescheiden, wie überhaupt
der ganze Mann, aber viele Bächlein bilden doch auch einen Fluß. — Seine
Kinder bereiteten ihm nur Freude. Eine hochgebildete Tochter schuf sich
als Erzieherin im Ausland eine geachtete Stellung, sein Sohn als Okonomierat
und Rentenverwalter eines Gutsbesitzers. — Bei S.s Begräbnis zeigte sich, daß
der Künstler den jüngeren Kollegen in guter Erinnerung stand: Sie erwiesen
ihm mit zahlreichem Geleite die letzte Ehre. Aus seinem Nachlaß erwarb
der Prinzregent einen aus letzter Zeit stammenden, sein Gespann kraftvoll
über die harten Ackerschollen lenkenden, in Farbe und Zeichnung gleich
vortrefflichen »Pflüger«. Wohl dem Maler, der sich so wacker bewährt bis
zum Ende.
Vgl. Nr. 402 »Allgem. Ztg.« 4. September 1904. Fr. v. Bötticher 1901, II. 726.
Hyac. Holland.
Schirrmacher, Friedrich Wilhelm, ordentlicher Professor der Geschichte
an der Universität Rostock, * 28. April 1824 zu Danzig, f 'i- J^^^ ^9^4 zu
Rostock. — Sch.s Vater war in Danzig Oberlehrer an der städtischen Petri-
schule. Da die Mutter früh gestorben war, wurde der Knabe bis zu seinem
achten Jahr in Breslau bei den Großeltern erzogen, kam dann auf die Petri-
schule und darauf auf das Gymnasium seiner Heimatstadt, wo er 1845 ^i^
Reifeprüfung bestand. Darauf studierte er in Berlin vornehmlich Geschichte.
Ranke trat ihm dort von anfang an näher, und S. gehörte immer zu seinen
ausgewählten Schülern und Freunden. Außer Ranke hörte er die Historiker
Siegfried Hirsch, Adolf Schmidt, Gneist und Geizer, sowie die Philosophen
Trendelenburg und Werder. Nach einem Jahre bezog er die Universität
Bonn und war hier Schüler von Urlichs, Dahlmann, Ernst Moritz Arndt,
Schirrmacher.
n
Loebell, Aschbach und Weicker. Nach zwei Semestern kehrte er nach Berlin
zurück und hörte aufier den dort schon Genannten den Philologen Boeckh,
den Historiker Köpke und den Geographen Ritter. Am 2. Dezember 1848
bestand er die Doktorprüfung und war nach bestandener Staatsprüfung von
Michaelis 1849 ^^^ 1854 unter Direktor Bonneil am Friedrich-Werderschen
Gymnasium tätig. Darauf wurde er an die Ritterakademie Liegnitz unter
Direktor Stechow berufen und von hier 1866 als ordentlicher Professor der
Geschichte an die Universität Rostock. Hier, wo er, nachdem er in Liegnitz
Witwer geworden, ein neues Familienglück fand, ist er dann bis zu seinem
Tode geblieben. 38 Jahre lang hat er in Rostock als einziger ordentlicher
Professor das weite Gebiet der CJeschichte vertreten, bis ihm in den letzten
Jahren ein Privatdozent zur Seite trat. Daneben war er lange Jahre hindurch
der Reihe nach IL, I. und Ober-Bibliothekar der Universitätsbibliothek, ge-
hörte auch der Prüfungskommission für das Lehramt an höheren Schulen an.
Er bekleidete auch das Rektorat der Universität. — Was S.s Publikationen
anbelangt, so lautet seine Dissertation: Commentarii de rebus a Johanne rege
Bohemiae gesHs. In Liegnitz ließ er in den Jahren 1859 bis 1865 in vier
Bänden seinen »Kaiser Friedrich IL« erscheinen, der ihm den Preis der Göt-
tinger Wedekind-Stiftung und den Ruf nach Rostock verschaffte, und begann
die Herausgabe des Urkundenbuchs der Stadt Liegnitz und ihres Weichbildes
bis zum Jahre 1455, ein Werk, das er 1866 in Rostock beendete. An das-
selbe schließt sich an »Ambrosius Bitschen, der Stadtschreibjer von Liegnitz,
und der Liegnitzer Lehnsstreit«. In Rostock ließ er 187 1 »Die letzten Hohen-
staufen (Manfred, Konrad IV., Konradin)« und »Albert von Possemünster,
genannt der Böhme« erscheinen. 1874 faßte er »Friedrich II.« und »Die
letzten Hohenstaufen« nochmals kürzer zusammen für die »Deutsche National-
bibliothek«. Mit den Studien über die Hohenstaufen hängt auch die Schrift
»Die Entstehung des Kuriürstenkollegiums« (1874) zusammen. Mit der Her-
ausgabe seiner »Briefe und Akten zur Geschichte des Religionsgesprächs zu
Marburg 1529 und des Augsburger Reichstages 1530« (1876) betrat er das
Gebiet der Reformationsgeschichte. Hierher gehört auch sein mit auf
Wunsch des Großherzogs Friedrich Franz IL von Mecklenburg-Schwerin ge-
schriebenes zweibändiges Werk »Johann Albrecht L, Herzog von Mecklenburg.«
(1885). ^^^ mecklenburgischen Geschichte, über die er aber niemals gelesen
hat, dienen noch die in seinem historischen Seminar entstandenen »Beiträge
zur Geschichte Mecklenburgs, vornehmlich im 13. und 14. Jahrhundert«, die
er 1872 und 1875 herausgab. Daneben aber hatte er sich spanischen For-
schungen zugewendet, und so erschien 1881 der I. Band seiner Geschichte
von Spanien in der Heeren-Ukertschen Sammlung, der mit dem 12. Jahr-
hundert beginnt; 1890 bis 1902 folgten Band II bis IV, welche die spanische
Geschichte bis 15 16 fortführten. S. wollte sein' Werk abschließen mit der
Herausgabe von Spaniens Geschichtsquellen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert,
ist aber nicht mehr dazu gekommen. Ebenso liegt es mit einer Untersuchung
über den vielgesuchten Verfasser der Vita Henrich IV, imperatoris, mit einer
Arbeit über die Geschichte der Klosterkirche zum Heiligen Kreuz in Rostock
und mit den Aufzeichnungen seiner Lebenserinnerungen. Eine Reihe von
Vorträgen und Reden hat er absichtlich nicht drucken lassen, während aus
seiner Berliner Lehrerzeit ein gedruckter Vortrag Ȇber Bentleys Predigten
^g Schirrmacher. Kirchhoff. Wolters dorf.
gegen den Atheismus« vorliegt, den er anläßlich des Falles Ladenburg neu
herausgeben wollte. Endlich hat er in den sechziger Jahren mehrere von
ihm wesentlich veränderte Ausgaben der v. Seydlitzschen Schulgeographie
herausgegeben. — Mit S. ist einer der letzten Schüler und Freunde Rankes
dahingegangen, der auch vollständig an der Geschichtsauffassung seines ver-
ehrten Meisters festhielt. Bis in die letzte Zeit seines Lebens hatte »der
alte Schirrmacher« sich eine staunenswerte Arbeitsfreudigkeit und Rüstigkeit
bewahrt, was sich besonders an seinem 80. Geburtstage zeigte. Bald darauf
aber wurde er nach kurzer Krankheit hinweggenommen.
Nach Mitteilung^en des Sohnes Oberlehrer Dr. B. Schimnacher in Hambui^. Nekrolog
in der Historischen Vierteljahrsschrift, Bd. III (1904), A. Vorberg.
Kirchhoffy Gustav, Jurist und Historiker, * 18. Juli 1828 in Grimmen bei
Greif swald, f 4- April 1904 in Locarno. — Sohn des Bürgermeisters seines
Geburtsortes Dr. Joh. Heinr. Wilhelm Kirchhoff, besuchte K. das Gymnasium
und die Universität zu Greifswald, wirkte dann als Rechtsanwalt in Bergen a. R.
und in Greifswald, erhielt (1879) die Ernennung zum Justizrat und (1900)
zum Geheimen Justizrat und starb am 4. April 1904 am Lago maggiore, wo
er Heilung von seinem langjährigen asthmatischen Leiden suchte. Seine
Tätigkeit war in zweifacher Weise von Bedeutung, einerseits auf praktischem
Gebiete, indem er als Rechtsanwalt und Mitglied des bürgerschaftlichen
Kollegiums teils in der Verwaltung, teils in der Führung schwieriger Prozesse
seine reichen juristischen Kenntnisse verwertete, andererseits, als Historiker
und Kunstfreund, auf theoretischem Gebiete schriftstellerisch die Heimats-
kunde förderte. Schon von Seinem wissenschaftlich und künstlerisch gebildeten
und gleichfalls als Schriftsteller tätigen Vater frühzeitig für Literatur, Musik
und die bildenden Künste erwärmt, bewahrte er für letztere und die histori-
schen Wissenschaften nicht nur ein reges Interesse, sondern veröffentlichte
auf diesem Gebiete auch mehrere Schriften: Greifswalds erste Besetzung durch
die Preußen im siebenjährigen Kriege, 1886; der Stadtkure von Greifswald,
in welchen Schriften er zugleich auch ausführlich über die Pflege der Musik
in Greifswald in älterer Zeit handelte, und die Greifswalder Wallpromenade.
Von besonderer Bedeutung ist sein Rechtsgutachten über die Erbfolge der
Töchter und deren Descendenz in den Tertialgütern, in welchem er eine
Darstellung des in den früher unter schwedischer Herrschaft stehenden
Ländern, d. h. in Pommern und den russischen Ostseeprovinzen, geltenden
und fast in Vergessenheit geratenen Tertialrechtes gab, welche den Gerichten
als Hülfsmittel für mehrere wichtige Prozesse, betr. die Erbfolge in ver-
schiedenen Tertialgütern, diente. In Anerkennung dieser für die pommersche
Rechtsgeschichte besonders wichtigen Schrift erteilte ihm die Juristische
Fakultät der Universität Greifs wald die Doktorwürde.
»Quellen«: Greifswalder Tageblatt, 1904, Nr. 81, April 7. — »Pommersche Monats-
blättere, Stettin 1904, Nr. 5, S. 78. — Pyl, »Entwicklung der kirchl. und weltl. Musik in
Greifswalds Vergangenheit«, Pomm. Jahrb., Greifswald, 1904, S. 63. Persönl. Mitteil.
Pyl.
Woltersdorf, Theodor, Theologe und Kirchenhistoriker, ♦ am 22. De-
zember 1834 in Berlin, f am 3. Oktober 1904 in Weimar. — Widmete sich,
nachdem er Anfangs im technischen und kaufmännischen Fache tätig gewesen
Woltersdorf. Evelt
79
war, dem Studium der Theologie, namentlich in Jena unter Hases Leitung.
Die edle, humane Persönlichkeit und die wissenschaftliche Richtung dieses
hervorragenden Theologen, welche, im Gegensatze zu der Orthodoxie, die
altchristlichen Dogmen mit dem religiösen Bewußtsein der Gegenwart zu
vermitteln sucht, behielt auf W.s eigene theologische Entwicklung einen
dauernden Einfluß, dessen wohltätige Folgen bald darauf in der Führung
seines geistlichen Amtes zur Geltung gelangten. Denn ein reiches Arbeitsfeld,
auf dem er die Erfahrungen seiner Studienzeit, nach Hases Vorbilde, zu
werten vermochte, wurde ihm durch die Übertragung des Archidiakonats oder
ersten Pastorates an der Nikolaikirche zu Greifswald im Jahre 1866 zuteil,
welches er 33 Jahre bis zum Jahre 1899 segensreich verwaltete. In seinen
Predigten legte er vorzugsweise Gewicht auf die sittlichen Anforderungen des
Christentums, während die Wärme des Gemüts mehr in seinen zahlreichen
Standreden zur Geltung kam. Außer dieser praktischen Tätigkeit als Prediger
und Seelsorger, sowie in den Verhandlungen des Gemeinde-Kirchenrats und
der Synode, widmete er sich auch mit großem Eifer gelehrten Forschungen, die
sich namentlich auf kirchenrechtliche Verhältnisse bezogen, und veröffentlichte
als Früchte dieser Studien, abgesehen von zahlreichen kleineren Aufsätzen in
theologischen Zeitschriften, als selbständige Arbeiten : »Das Preußische Staats-
grundgesetz und die Kirche, 1873«; »Die Rechtsverhältnisse der Greifswalder
Pfarrkirchen im Mittelalter, 1888«, in welcher Schrift er die verwickelten
Patronatsrechte, welche der Universität, der Geistlichkeit und dem Rate der
Stadt über die Kirchen zustanden, nach den Urkunden erläuterte; endlich
»Zur Geschichte und Verfassung der evangelischen Landeskirche in Preußen,
189 1«. In Anerkennung dieser Schriften verlieh ihm die theologische Fakultät
der Universität Jena, mit deren Mitgliedern, u. a. mit Hilgenfeld, Lipsius und
Nippold, W. in reger Korrespondenz stand, die theologische Doktorwürde.
Neben dieser gelehrten literarischen Tätigkeit veröffentlichte er noch auf
einem anderen Gebiete eine Reihe von homiletischen Schriften, welche uns
einen Einblick in sein Wirken als Seelsorger gewähren, d. h. zwei Sammlungen
von 30 und 25 Grabreden (1888 — 1900), welche durch ihre biographischen
Nachrichten über zahlreiche namhafte Persönlichkeiten auch einen Beitrag
zur Greifswalder Stadtgeschichte liefern. Die zweite Sammlung »Abschieds-
grüße« benannt, enthält auch W.s Antritts- und Abschiedspredigt vom Jahre
1866 und 1899, und ist der Nikolai-Gemeinde beim Scheiden aus seinem
Amte gewidmet. Denn wiederholte schwere Erkrankungen brachten ihn zu
der Überzeugung, daß er den Pflichten seiner Stellung nicht mehr gewachsen
sei. Er siedelte daher nach kürzerem Aufenthalte in Arnstadt nach Weimar
über, wo ihm die schöne Natur und die geistige Anregung eine wohltuende
Erholung gewährten, doch nur zu bald wurde er durch eine schwere Krank-
heit, kurz vor Vollendung des 70. Jahres, aus dem Leben abgerufen. Wie
treu sein Gedächtnis in Greifswald bewahrt worden ist, davon geben die
warm empfundenen Worte des Nachrufes in den Greifswalder Blättern Kunde.
Quellen. Kürschner, L. K., Nachruf im Greifswalder Tagebl. u. Gr. Zeit. 1904, Nr. 235.
Abschiedsgrüfle 1900, Vorrede u. Porträt. Fers. Erinnerung. Th. Pyl.
Evelt, August Alexander Oskar, höherer Justizbeamter und Politiker,
• 21. Januar 1828 in Dorsten an der Lippe, f i'- Dezember 1904 zu Hechingen
So Evelt. Kanoldt
in Hohenzollem. — E. war der Sohn eines Kreisgerichtsdirektors, bestand
schon 1849 die erste juristische Staatsprüfung zum Auskultator, 1851 die
zweite zum Referendar. 1854 zum Gerichtsassessor ernannt, wurde er Hilfs-
richter in Hechingen, war 1857 — 1858 Hilfsarbeiter im preuflischen Justiz-
ministerium, sodann Staatsanwaltsgehilfe in Warendorf und wurde 1860 Staats-
anwalt in Hechingen, das er bis zu seinem Tode nicht wieder verlassen sollte.
Er wurde dort 1869 Kreisgerichtsdirektor, 1879 ^^i ^^^ neuen Organisation der
Cxerichtsbehörden Landgerichtspräsident, erhielt 1887 den Titel eines Geheimen
Oberjustizrats und wurde 1900 in den Ruhestand versetzt. Wegen seiner
Verdienste um eine Eisenbahnverbindung wurde ihm schon 1865 von der
Stadt Hechingen das Ehrenbürgerrecht verliehen. 1866 zeichnete er sich bei
der württembergischen Okkupation Hohenzollems durch tapferes Verhalten
gegenüber dem als Bundes -Kommissär auftretenden Grafen Leutrum aus.
1867 — 1876 vertrat er als Mitglied der nationalliberalen Partei die Hohen-
zoUerischen Lande im Reichstag und Landtag. Ein Glanztag in seinem Leben
war der 19. Juni 1870, wo die württembergische Deutsche Partei der Zollem-
burg einen Besuch machte. Er war ein Mann des praktischen Wirkens. Die
Hohenzollerischen Lande wurden ihm, dem Sohn der Roten Erde, eine zweite
Heimat, und er hat sich um diese letzte gröflere Erwerbung Preußens nie
genug zu rühmende Verdienste erworben. Er veranlaßte im Jahre 1873 die
Schaffung des Hohenzollerischen Kommunallandtags, dessen Vorsitzender er
dann 1874 — 1899 gewesen ist. Er war ein Freund des Fürsten Karl Anton
von Hohenzollem, dessen Sohn Fürst Leopold an seinem Grabe einen präch-
tigen Kranz niederlegen ließ.
Hauptquelle für sein Leben sind die in Hechingen erscheinenden Hohenzollerischen
Blätter, die auch viele Artikel aus seiner Feder enthalten. — Nekrolog (von A. Zander) in
Nr. 288, 2. Blatt der Hohenzollerischen Blätter vom 12. Dezember 1904. — Er wird erwähnt
in den >Persönlichen Erinnerungen an den Fürsten Bismarck« von Hans Blum. (Die dort
sich findende Bemerkung, daß Evelt die Verwendung des Waldmeisters zur Bereitung von
Bowlen im Schwabenlande eingeführt habe, ist irrig.)
Hechingen. Anton Zander.
Kanoldt, Edmund, Maler, * 13. März 1845 ^^ Grofirudestedt in Thüringen,
f 27. Juni 1904 in Nauheim. — K.s Vater, Apotheker Christian Kanoldt,
wünschte, daß er den Beruf eines Buchhändlers ergreifen solle, aber frühzeitig
regte sich in dem für alles Schöne empfänglichen Gemüte des Knaben die
Liebe zur Kunst. Die erste Anregung hierzu erhielt K., als er im Alter von
zwölf Jahren in Weimar die Kunstausstellung besuchte, wo zwei Gemälde
von Friedrich Preller d. ä. »Leukothea« und »Kalypso« seine Begeisterung
erweckten und in ihm den Wunsch erregten, Maler und Schüler Prellers
werden zu dürfen. Vorerst mußte er aber dem Wunsche seines Vaters folgend,
der von der künstlerischen Laufbahn nichts wissen wollte, zu einem Buch-
händler in die Lehre gehen. Endlich 18I54 erlangte er die Erlaubnis bei dem
so hochverehrten Meister Preller als Schüler einzutreten, bei dem er auch
wohnte und wegen seines liebenswürdigen W^esens bald wie ein Mitglied der
Familie betrachtet wurde. Vier und ein halbes Jahr verbrachte K. in Weimar,
und daß er seine Zeit hier gründlich zu ernsten Studien ausgenützt hat und
sich die Liebe seiner Umgebung in hohem Maße zu erwerben wußte, bezeugen
Kanoldt. 8 1
besonders die Briefe Prellers an K.s Eltern. Am i. Mai 1865 schrieb der
Meister unter anderem Folgendes: »Die bevorstehende Studienreise Ihres
Sohnes gibt mir Veranlassung Ihnen zu sagen, daß ich bisher nur Freude
an seinem Eifer und den dabei gemachten Fortschritten habe. Möge er in
gleicher Weise fortschreiten! Das Resultat kann dann nur ein Erfreuliches
{sie) sein.« Einen anderen zwei Jahre später geschriebenen Brief möchte ich
wegen seines herzlichen Tones ganz hierhersetzen; er lautet: »Verehrte Frau!
Erlauben Sie, Ihnen, bei Vollendung der ersten selbständigen Arbeit Ihres
Sohnes, die V.ersicherung meiner ganzen Zufriedenheit über Verwendung seiner
Zeit und seines Strebens auszusprechen. Möge es ihm vom Schicksale be-
stimmt sein, ohne Störung auf dem betretenen Wege weiter zu gehen, eine
Anerkennung seiner ernsten Tätigkeit wird dann gewiß nicht ausbleiben.
Noch freue ich mich, Ihnen versichern zu können, daß er als Mensch von
den meinigen allen geachtet und geliebt ist. Hochachtungsvoll ergeben
Friedrich Preller.« Weimar, 20. Mai 1867. 1867 erhielt K. auch bereits seine
erste, ehrenvolle Bestellung. Als er nämlich in Ilmenau Studien malte, kam
die Großherzogin von Weimar gerade dazu und bestellte sofort das begonnene
Bild bei ihm. Im Jahre 1869 verließ K. Weimar um sich nach Rom zu begeben,
woselbst er sich während seines dreijährigen Aufenthaltes besonders an
Dreber, ebenso wie Preller einen Vertreter der heroischen oder idealen Land-
schaft, anschloß und mit gleichgesinnten deutschen Künstlern, viele genuß-
reiche und arbeitsvolle Stunden in dem romantischen kleinen Bergstädtchen
Olevano im Sabinergebirge verbrachte. In Rom entstand auch sein erstes Meister-
werk »Odysseus auf der Ziegenjagd«, mit dem er 1873 d^" Ehrenpreis der
Goethestiftung in Weimar errang. Unter elf eingesandten Werken wurde dieses
Gemälde von den Preisrichtern einstimmig als das beste anerkannt. Eine
nicht minder hohe Befriedigung mag dem jungen Künstler das Lob seines
verehrten Lehrers gewesen sein, der, ehe noch die Namen bekannt waren,
sofort auf K.s Bild deutete mit den Worten: »Das ist das beste«. Jetzt
hängt dieses Bild in der Gallerie zu Weimar zwischen den beiden Gemälden
Prellers, die K. die erste Anregung zur Kunst gaben. Das Jahr 1872/73
verbrachte K. in München. Im Sommer 1873 war er aber schon wieder in
seinem geliebten Italien in Terracina mit Landschaftsstudien beschäftigte,
als ein Brief des Wiener Malers Carl Schuch, datiert Olevano 4. Juni, ihm
einen jähen Schrecken einjagte. Die Serpen tara, der herrliche Eichenwald bei
Olevano, der seit fast hundert Jahren vielen deutschen Künstlern Anregungen,
zu Studien und Gemälden gegeben hatte, und auch durch V. Scheffels Gedicht
»Abschied von Olevano« weiten Kreisen bekannt ist, sollte verschwinden, das
Holz an die Eisenbahn verkauft werden. Mit Feuereifer widmete sich K. der
Aufgabe, diesem Vandalismus zu wehren, und nach rastlosen Bemühungen gelang
es ihm endlich die verlangte Kaufsumme von 2500 Liren durch freiwillige Bei-
träge von Künstlern und Kunstfreunden aufzubringen und die Serpentara
rechtskräftig zu kaufen. Kaiser Wilhelm I., dem nun dieser historische Eichen-
wald behufs dauernder Erhaltung zum Geschenk angeboten wurde, verzichtete
wohl selbst auf diese Gabe, gab aber zugleich die Anregung das Stück Land
dem Deutschen Reiche zu schenken. So befindet sich der Wanderer jetzt
mitten im Herzen Italiens im phantastischen Sabinergebirge plötzlich auf
deutschem Boden, und der Reichsadler blickt auf einer Tafel am Eingange
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog:. 9. Bd. 6
g2 Kanoldt.
dem Besucher entgegen. Der preußische Kronenorden 4. Klasse belohnte K.
für diese ideale Tat.
Doch noch ein anderes Glück sollte der junge Künstler auf italienischem
Boden finden. 1874 lernte er in Rom Fräulein Sophie Hellwig aus Moskau
kennen, und bald gelang es ihm durch sein bescheidenes, heiteres Wesen auf
seine Werbung um ihre Hand ihr Jawort zu erhalten. Zu Moskau fand am
II. Juli (29. Juni) 1875 ^>^ Hochzeit statt, und das junge Paar verlebte daselbst
das erste Jahr seiner Ehe. Im Jahre 1876 ging K., wiewohl der Großherzog
von Weimar ihn gerne an seine Residenz fesseln wollte, doch lieber nach
Karlsruhe, wohin er einen Ruf als Lehrer an der Prinzenschule angenommen
hatte, da ihn der Wunsch, bei Ferdinand Keller, der seit 1870 dort Professor
an der Kunstschule ist, noch als Meisterschüler einzutreten, dahin trieb. Mit
diesem verband ihn fortan eine herzliche Freundschaft und auch seine einstige
Schülerin aus der Prinzenschule, die jetzige Frau Herzogin Marie von Anhalt-
Dessau, blieb Zeit seines Lebens in wohlwollender, freundschaftlicher Bezie-
hung zu K. Karlsruhe blieb nun bis zu seinem Tode der ständige Aufent-
haltsort des Meisters, und er lebte hier von seinen Mitkünstlern und allen,
die ihn kannten, hochgeehrt ausschließlich seiner Familie und seiner Kunst,
die beide ihm den schönsten Lebensinhalt boten. Aber dieses Familienglück
ward durch langjährige Krankheiten seiner Frau und durch den frühen Tod
des ältesten Sohnes Franz, der nur ein halbes Jahr lebte, öfters von schweren
Sorgen getrübt. Erholung von der Arbeit boten ihm häufige Studienreisen in
Deutschland und nach Italien, wo er Rapallo, Rom und die Serpentara
immer wieder besuchte.
1898 sah K. seine geliebte Serpen tara zum letzten Male. Er war zu
einer zweiten rettenden Tat dahin geeilt. Im Laufe der Jahre war nämlich
so viel Strauchwerk und Unterholz emporgewuchert, daß der Wald undurch-
dringlich und die Ausblicke nach den malerischen Felspartien, denen so viele
Künstler ihre Anregung verdankten, ganz verschwunden waren. Um nun den
alten historischen Zustand wiederherzustellen, hatte K. sich von der Botschaft
die Erlaubnis erwirkt, von dem neuen Nachwüchse so viel wieder schlagen
zu lassen, daß die alten, malerischen Motive, die die romantische Schönheit
dieses Fleckchens Erde ausmachen, wieder deutlich und schön zum Vorschein
kamen. Unermüdlich war er hier tätig, die Arbeiten von Früh bis Abends
zu leiten und nach alten Skizzen und Studien die frei zu legenden Teile zu
bestimmen. Dies und die Herstellung einer Ansichtspostkarte von Olevano,
die er nach eigener photographischer Aufnahme anfertigen ließ und den
Besitzern von Casa Baldi, dem durch Scheffel berühmt gewordenen Gasthofe,
in einer großen Anzahl von Stücken schenkte, war das letzte, was K. für diese
Gegend, in der er so oft mit Vergnügen geweilt, und mit empfänglichem
Gemüte viel des Schönen genossen hatte, tun konnte. Er sollte nicht wieder
hinkommen. Im Jahre 1900 ward es ihm vergönnt im Kreise seiner Familie
das schöne Fest der silbernen Hochzeit zu begehen; und eine letzte Freude
und Ehre wurde ihm noch kurz vor seinem Tode zuteil, indem er dazu
erwählt wurde, bei der Feier des hundertsten Geburtstages seines verehrten
Meisters Preller am 25. April 1904 an dessen Grabe die Feierrede zu halten.
Inzwischen hatte sich ein Herzleiden, das ihn seit längerer Zeit plagte,
immer mehr verschlimmert, so daß er im Juni 1904 sich einer Kur in Bad
Kanoldt. 83
Nauheim unterziehen mußte. Hier glaubte er bald völlige Genesung zu finden
und nach achttägigem Aufenthalte am Morgen des 27. Juni schrieb er an seine
Lieben in Karlsruhe eine Karte, daß es ihm bedeutend besser gehe; es war
eine Täuschung, noch am Abende desselben Tages traf die Trauerkunde von
seinem Hinscheiden in Karlsruhe ein. Er hinterließ außer seiner trauernden
Gattin eine Tochter Johanna und einen Sohn Alexander, der angeregt durch
das schöne väterliche Beispiel sich ebenfalls der Malerei gewidmet hat.
Mit K. ist nicht nur ein großer Künstler, sondern auch ein wahrhaft
edler Mensch aus diesem Leben geschieden. Alle, die das Glück hatten, mit
ihm persönlich zu verkehren, nahm er durch sein stets heiteres, freundliches
Wesen für sich ein. Er war erfüllt von einem innigen Streben nach dem
Edlen und Schönen, das den hervorstechendsten Zug seines Wesens bildete.
Die Kunst ward ihm ein heiliges Amt, und rührend war seine ständige Hilfs-
bereitschaft. Wo er Not zu lindern wußte, da war er auch gewiß dabei,
und so manche in Not geratene Künstlerfamilie weiß nicht nur von seinem
freundlichen Tröste, sondern auch von seiner werktätigen Hilfe zu erzählen.
Aus diesem Bedürfnisse, Hilfe zu spenden, entsprang ihm auch der Gedanke
zugunsten der »Renten- und Pensionsanstalt für bildende Künstler« im Jahre 1901
ein großes Künstler-Kostümfest zu veranstalten, das unter dem Namen »Drei
Tage im Morgenlande« vom 10 — 12. März in Karlsruhe stattfand und eine nam-
hafte Summe dem wohltätigen Zwecke zuführte. Ebenso war K. auch ein treues
und eifriges Mitglied der Kunstgenossenschaft, die stets auf seine Arbeits-
kraft rechnen durfte. Doch war er niemals einseitig, sondern wußte auch
bei Vertretern von gegnerischen Richtungen das darin steckende Gute zu
erkennen und zu verteidigen; in Zorn konnte er nur geraten, wenn er jemand
im Leben oder in der Kunst selbsüchtige, nicht dem Ideate dienende Ziele
verfolgen sah, und gerade in solchen gelegentlichen Zomesausbrüchen zeigte
sich die ganze edle Seele des Mannes. In der Familie war er stets liebreich
und aufopfernd, was er in den vielen Krankheiten, die seine Frau und Kinder
betroffen, unzählige Male bewährt hat. So hat K. sein ganzes Leben hin-
durch seinen schönen Wahlspruch: »Das Wahre durch das Schöne« auch
wirklich durch seine ganze Art und Weise in die Tat umgesetzt. Er war
eine tief gemütvolle und nach Gutem und Schönem dürstende Natur.
Diese Charaktereigenschaften spiegeln sich auch in seinen Gemälden
wieder, von denen ein ganz besonderer poetischer Hauch dem Beschauer
entgegenweht. Seiner Richtung nach gehörte er, wie sein Lehrer Preller, der
heroischen Landschaft an, deren letzter Vertreter von Bedeutung er gewesen.
Von Preller unterscheidet er sich in der Komposition und Auffassung dadurch,
daß, während dieser es liebte, seine Landschaften mit Szenen von zahlreichen
Personen zu bevölkern, bei K. immer die Poesie oder Großartigkeit der
Landschaft das Hauptmotiv blieb, und er dann nur eine oder zwei Figuren
einsetzte, die durch ihre Haltung und Handlung den Stimmungsgehalt der
Gegend im menschlichen Gemüte wiederspiegeln. Außerdem hat K. auch
sehr viele reine Landschaftsbilder ohne Staffage gefertigt, die deutsche
Wälder oder Burgen und die italienische Küste, oder interessante Blicke in
den Parks alter Renaissanceschlösser darstellen.
In allen Werken empfindet man schon in der Auswahl der Stoffe das
feine, poetische Gemüt, das überall das Schöne zu sehen und zu finden wußte.
6*
84
Kanoldt.
Schier zahllos sind die Gemälde, die von dem rastlosen Fleiße ihres Schöpfers
erzählen. Werke von K.s Hand besitzen die Gemäldegallerien von Karlsruhe,
Freiburg i. B., Weimar, Halle, München und die Nationalgallerie in Berlin.
In Privatbesitz sind Bilder in Leipzig, Dresden, Karlsruhe, Düsseldorf, Düren,
Stollberg, München, Magdeburg, Stuttgart, Koblenz, Brüssel, Buenos Ayres,
Chicago, New York, Moskau, Charkow.
Für Herrn Ackermann in Leipzig fertigte K. einen Zyklus von acht
Bildern, »Amor und Psyche«. In anderen Werken spiegelt sich die ganze
Reihe der menschlichen Gemütsempfindungen einmal in der Landschaft,
dann auch in der eingesetzten mythologischen Szene wieder. »Dido und
Aeneas« sehen wir in wilder Gebirgslandschaft unter schroffen Felsen und
sturmgepeitschten Bäumen, worüber sich ein schweres Gewitter entladet, auf
ihren Pferden dahinstürmen. Der heiter idyllischen Szene entsprechend finden
wir auch entzückende, sonnenbeglänzende Landschaft oder trauliches Waldes-
dämmern in den Bildern »Orpheus und die Nymphen«, »Thetis und Achilleus«,
»Echo und Narciss« und »Psyche«, während bei »Kassandra«, »Sappho« und
»Antigone« auch die umgebende Natur die düstere Stimmung der Klage und
Trauer wiedergibt. Der Sehnsucht gab K. in zwei Werken herrlichen Aus-
druck »Iphigenie« und »Hero«, und doch wie verschieden wußte er diesen
Inhalt zu gestalten. Für das Palais Bürklin in Karlsruhe malte K. vier Wand-
gemälde, die für einen Musiksaal bestimmt, in mythologischen Figuren »Or-
pheus und Eurydike«, »Echo und Narciss«, »Ibykus« und »Arion« die
verschiedenen musikalischen Stimmungen schön verkörpern.
Außer solchen mythologischen Gemälden stammen auch viele reine Land-
schaftsbilder von des Meisters Hand, die aber auch alle einen starken
poetisch-romantischen Zug haben, der leider in der Kunst unserer Tage
sonst immer weniger zur Geltung gelangt. Der deutschen Heimat entnommen
sind die deutschen, durch Sage und Geschichte berühmten. Berge und Burgen
»Hohenzollern«, »Hohenstaufen«, »Hohentwiel«, »Wartburg«, »Nürnberg« und
»Heidelberg«, in der Karlsburg bei Düren a. Rh. Die vier Stilarten sind in
vier Wandgemälden in der Villa Kerler zu Karlsruhe durch vier bekannte,
prächtige Gebäude vom Altertum bis zur Renaissance zur Anschauung gebracht.
Sehr groß ist die Zahl jener Gemälde, die uns poetische oder idyllische
italienische Parkansichten und Villen aus der Renaissance vor Augen führen,
zumeist Motive aus der Villa d'Este, Frascati und aus Toskana, ferner die
italienische Küste bei Rapallo, Stimmungen aus der Campagna und Partien
aus der Serpentara und den Sabiner Bergen oder aus deutschen Wäldern
und Hainen.
Zahlreiche Mappen mit Skizzen und Studien in Farbe oder Blei zeugen
von dem rastlosen Fleiße K.s, der auph im kleinsten Detail poetischen Inhalt
zu finden wußte.
Auch als Illustrator war K. mehrfach tätig. In den Hallbergerschen
illustrierten Goethe- und Schillerausgaben sind mehrere Bilder von seiner
Hand, ebenso wie in Engelhorns Prachtwerk »Italien«. Für Roquettes »Reise
ins Blaue« fertigte er das Titelbild und eine Illustration, in Gemeinschaft
mit Voß illustrierte er Shakespeares »Sommernachtstraum«, mit W. Hasemann
Storms »Immensee« und mit J. Grot Eichendorffs »Aus dem Leben eines
Taugenichts«. Im Verlage von Amelang in Leipzig erschienen ferner noch
Kanoldt. Volck.
85
die von ihm allein illustrierten Werke: Georg Scherer »Dichter«, Elise Polko
'Dichtergrüße« und »Album für Deutschlands Töchter«. In demselben Ver-
lage erschien auch ein Band »Mythologische Landschaften«, der mehrere
Hauptwerke K.s in vortrefflicher Wiedergabe einem großen kunstsinnigen
Publikum zugänglich macht.
Welch reichem Künstlerschaffen hat der Tod hier ein Ende gesetzt!
Liebe und Poesie waren es, wonach K. sein Leben lang strebte, die er als
Mensch reichlich um sich zu verbreiten wußte, und die auch nach seinem
Tode sich noch allen empfänglichen Gemütern aus seinen Werken mitteilen
werden. R. Frhr. v. Lichtenberg.
Volck, Wilhelm, ordentlicher Professor der alttestamentlichen Theologie
an der Universität Rostock, * 18. November 1835 zu Nürnberg, f 29. Mai 1904
zu Rostock. — V. besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt und studierte
nach bestandenem Abiturientenexamen Theologie und orientalische Philologie
an den Universitäten Erlangen und Leipzig. Bei seiner großen Sprach-
begabung hätte er gern ausschließlich Orientalia studiert, ergriff aber auf
den W^unsch seines Vaters die Theologie als Berufsstudium. Von seinen
akademischen Lehrern übten den meisten Einfluß auf ihn aus Fleischer in
Leipzig sowie Hofmann und Delitzsch in Erlangen. Nach Beendigung seiner
Studien und Ablegung der theologischen Prüfungen war V. ein halbes Jahr
Vikar bei Wilhelm Lohe, seinem Paten, in Neuendettelsau und wollte sich
darauf in Erlangen habilitieren. Jedoch wurde er durch das bayerische Ober-
konsistorium zunächst als Adjunkt, dann als Pfarrverweser an der Neustädter
Kirche in Erlangen angestellt, und war so ein Jahr lang im praktischen
Kirchendienst tätig, bis er im Wintersemester 1859/60 Privatdozent in Erlangen
wurde. Durch Professor Alexander von Oettingens Vermittlung wurde er
aber bereits nach kurzer Zeit für Dorpat gewonnen und siedelte im Mai 1862
dorthin über, zunächst als Dozent, d. h. nach deutschen Universitätsbegriffen
als außerordentlicher Professor. In dieser Stellung verblieb er ein Jahr, um
dann ordentlicher Professor zu werden. Während der nun folgenden 35 Jahre,
die er unter besonderen Vergünstigungen in Dorpat verblieb, hat er dort als
Mitglied der theologischen Fakultät eine allgemein anerkannte und segens-
reiche Tätigkeit entwickelt. Auch an äußerer Anerkennung seiner Wirksam-
keit hat es ihm nicht gefehlt: wie er russischer Staatsrat und durch hohe
Orden ausgezeichnet wurde, so verlieh ihm die Erlanger theologische Fakul-
tät 187 1 die Würde eines doctor theologine h, c, Dr. phil. war er schon früher
in Erlangen geworden. 1898 mußte er den russischen Universitätsbestimmungen
entsprechend aus seinem akademischen Lehramt ausscheiden. Aber sofort
bot sich ihm ein neuer Wirkungskreis: die Greifswalder theologische Fakul-
tät forderte ihn auf, an ihrer Hochschule vertretungsweise Vorlesungen zu
halten. Aber erst kurze Zeit wirkte V. hier als Honorarprofessor, als er einen
Ruf an die Rostocker Universität erhielt, an der er dann bis zu seinem Tode
als ordentlicher Professor wie in Dorpat als gefeierter Universitätslehrer
gewirkt hat. Kurz vor seinem Tode wurde er auch noch Senior der
Rostocker Universität. — V.s theologischer Standpunkt war ein streng positiver,
der mit den modernen liberalen und liberalisierenden Richtungen in keiner
VV^eise paktierte. In diesem Sinne erhob er auch noch zuletzt als überzeugter
85 Volck. Büttel.
Christ und gläubiger Theologe seine Stimme in dem Bibel-Babel-Streit. —
V. war aber nicht nur ein anerkannt tüchtiger Gelehrter, sondern auch ein
liebenswürdiger Mensch, der sich durch sein persönliches Wesen leicht Sympa-
thien gewann und als heiterer und anregender Gesellschafter überall gern
gesehen war. So erregte denn sein infolge eines Herzleidens rasch erfolgter
Tod allgemeine Teilnahme, zumal V. bis zuletzt einen anscheinend rüstigen
Eindruck gemacht hatte.
Was V.s Schriften anbelanget, so mögen folgende genannt werden : Calendarhtm syria-
cum ttuctore Ca%winio arabice latintque tdidit et notis instruxit, Lipsiac iSjg. Mosis
canticum cygneum^ Nürdlingen 1861; Ibn Mätriks Lamiyat af A* ä mit Badraddins Kommen-
tar .. . Übersetzt und mit kritischen Anmerkungen versehen von Rellgren. Auf Grund des
handschriftlichen Nachlasses Rellgrens bearbeitet . . . herausgegeben, St. Petersburg 1864;
Vindiciae Danielicaty Dorpat 1866; Ibn Mätriks Lamiyat af Ä ä mit Badraddins Kommen-
tar. Revidierte Textausgabe. I^eipzig 1866; Der Chiliasmus seiner neuesten Bekämpfung
gegenüber, Dorpat 1869; De summa carminis Jobi sententia^ Dorpati iSyo; Der Segen
Mosis, Erlangen 1873; Über die Bedeutung der semitisclfen Philologie für die alttestament-
liche Exegese, Dorpat 1874; Zur Erinnerung an J. Chr. K. v. Hofmann, Erlangen 1878;
Welches ist der Charakter der semitischen Völker und welches ihre Stellung in der Welt-
und Kulturgeschichte? Dorpat 1884; Inwieweit ist der Bibel Irrtumslosigkeit zuzuschrei-
ben? Dorpat 1885; Die Bibel als Canon, Dorpat 1885; Zur Lehre von der heiligen Schrift,
Dorpat 1885; Die rechte Feier des Bibelfestes (Predigt), Dorpat 1886; — Was lernen wir
aus der Geschichte der Auslegung der heiligen Schrift? Jurjew (Dorpat) 1894; Die
Urgeschichte nach Genesis Kap. 7 — 11, Barmen 1897; Heilige Schrift und Kritik, Leipzig
1897; Christi und der Apostel Stellung zum Alten Testament, Leipzig 1900; Die alttesta-
mentliche Heilsgeschichte, Gütersloh 1903; De nonnullis Veteris Testamenti Prophetarum
locis ad saerificia spectantibus, Dorpati iS^j; Zum Kampf um Bibel und Babel, Rostock
1903. Unter der angeführten Literatur befinden sich mehrere Vorträge. Einige weitere
veröffentlichte er femer noch, so »Der Messias im Alten Testament« und »Der Tod und
die Fortdauer nach dem Tode nach der Lehre des Alten Testaments«. Für Zöcklcrs Hand-
buch der theologischen Wissenschaft lieferte V. den Beitrag »Die I^ehre vom Schriftganzen«,
erklärte 1889 mit Oettli zusammen die poetischen Hagiographen und steuerte 1898 die
Abhandlung »Zur Erklärung des mosaischen Segens, Deut. K. 33« bei zu der Festschrift
für den ihm eng befreundeten Professor Alexander von Octtingen in Dorpat. Weiter war
V. außer bei den schon erwähnten arabischen und syrischen Werken auch sonst noch als
Herausgeber tätig, indem er Ausgaben folgender Werke besorgte: Gesenius, Hebräisches
und chaldäisches Wörterbuch, und von seinen verehrten Lehrern Hofmann und Delitzsch
von Hofmann folgende Schriften: »Zusammenfassende Untersuchung der neutestamentlichen
Schriften«, »Die biblische Geschichte Neuen Testaments«, »Biblische Geschichte des Neuen
Testaments«, »Biblische Hermeneutik« und »Theologische Briefe der Professoren Delitzsch
und V. Hofmann«. Endlich war V. Mitarbeiter an folgenden Zeitschriften: Zeitschrift der
deutschen morgenländischen Gesellschaft und an der Luthardtschen Kirchenzeitung sowie
während seiner Dorpater Zeit an der Baltischen Monatsschrift und an den Mitteilungen aus
der evangelischen Kirche Rußlands. A. Vorberg.
Büttel, Theodor Heinrich Julius Paul, ausgezeichneter Schulmann,
* 24. Juni 1826 in Neustrelitz, f i3- J^^i ^9^A i" Segeberg. — Nachdem B. auf
dem Gymnasium seiner Vaterstadt das Reifezeugnis erworben hatte, bezog er
Michaelis 1846 die Universität Halle, um Mathematik und Naturwissenschaften
zu studieren, und bestand 1849 das Oberlehrer-Examen. Er war dann in
verschiedenen Stellungen als Lehrer tätig, promovierte 1853 in Rostock zum
Dr.phiL und habilitierte sich Michaelis 1854 als Privatdozent der Mathematik
Büttel. Giese. Stabenow. 87
in Kiel. 1857 ging er als Lehrer an das Realgymnasium in Rendsburg und
im nächsten Jahre an die Gelehrtenschule zu Meldorf. Von hier folgte er
im Dezember 1865 einem Ruf an das Lehrerseminar in Segeberg, dem er
dann über 30 Jahre angehört hat, bis er im Herbst 1897 seines hohen Alters
wegen von seinem Amte zurücktreten mußte. An allen Orten, wohin sein
Lebensweg ihn führte, hat B. sich in wissenschaftlicher Hinsicht äußerst
verdient gemacht und die fruchtbarsten Anregungen gegeben. So sorgte er
für die Einrichtung physikalischer Kabinette, für die Ordnung und Erweite-
rung naturwissenschaftlicher Sammlungen, vor allem hat er auch die meteoro-
logische Forschung durch Jahrzehnte lang fortgesetzte Beobachtungen gründlich
gefördert. Seine eigentliche Bedeutung aber liegt auf pädagogischem Gebiet.
B. war der geborene Lehrer, ein berufener Führer für Geist und Herz, dem
jene zwingende Seelenkraft in hohem Maße verliehen war, die allein dazu
befähigt, wahrhaft bildend und bestimmend auf die Entwicklung der Zöglinge
einzuwirken. Zahlreiche tüchtige Männer sind aus B.s Schule hervorgegangen,
und sie alle segnen das Andenken des Mannes, dem sie das Beste verdanken,
was sie in der Zeit des Lernens für die Zeit des Lehrens, für Beruf und
Leben gewonnen haben.
Vgl. Alberti, Schriftstellerlexikon, 1829— 1866, I, S. to6; 1866— 1882, I, S. 95/96.
— »Kieler Zeitung«, Morg.-Ausg. v. i6. Juli 1904, Morg.- u. Ab.-Ausg. v. 24., Morg.-Ausg.
V. 25. Juni 1905. — »Schleswig-Holsteinische Schulzeitung«, Jg. 52, Nr. 46 v. 17. November
1904 (Nekrolog v. L. Denkert), 1905, Nr. 28 v. 13. Juli. Joh. Sass.
Giese, Otto, Dr.jur.y Oberbürgermeister von Altona, * 3. Dezember 1855
in Rostock, wo sein Vater Bürgermeister war, f 30. Dezember 1904 in Altona.
— Auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt vorgebildet, widmete sich G. dem
Studium der Rechtswissenschaft und ließ sich nach bestandenem Staatsexamen
in Rostock als Rechtsanwalt und Notar nieder. 1884 erhielt er die Stelle
eines besoldeten Senators in Altona, wo er sich durch seine tüchtigen
Leistungen sehr bald allseitiges Vertrauen erwarb. So geschah es, daß man
ihn allgemein als den Nachfolger des Oberbürgermeisters Adickes ansah, als
dieser im Jahre 1891 die Berufung nach Frankfurt a. M. angenommen hatte.
G. wurde dann auch mit einer Mehrheit von 2376 gegen 257 Stimmen auf
die Dauer von 12 Jahren zum ersten Bürgermeister von Altona gewählt und
am 13. Juni 1891 in sein neues Amt eingeführt. Bald darauf erfolgte seine
Ernennung zum Oberbürgermeister. Mit weitschauendem Blick und fester, ziel-
bewußter Hand hat er die Entwicklung der Stadt geleitet und gefördert.
Auf allen Gebieten begegnet man den Spuren seines segensreichen Wirkens.
Die Altonaer Bürgerschaft erkannte immer klarer, was sie an ihrem Oberhaupt
hatte, und um sich eine so hervorragende Kraft dauernd zu erhalten, erwählte
sie G. nach Ablauf seiner ersten Amtsperiode im Jahre 1902 zum Oberbürger-
meister auf Lebenszeit. Es war dies zugleich die schönste Anerkennung der
außerordentlichen Bedeutung G.s, die ihm zu teil werden konnte.
Vgl. »Hamb. Correspondent« , Ab.-Ausg. v. 31. Dezember 1904, Morg.-Ausg. v. i.,
Ab.-Ausg. V. 3. Januar 1905. — »Kieler Zeitung«, Morg.-Ausg. v. 1. Januar 1905.
Job. Sass.
Stabenow, Louis Karl Christian, plattdeutscher Schriftsteller, * 19. Juni
1838 in Schleswig, f 16. Oktober 1904 in Stafstedt bei Rendsburg. — S., der
38 Stabenow. Hachmazm. Knabl.
von 1870 bis zu seiner Pensionierung ira Jahre 1901 als Lehrer in Gammen-
dorf auf Fehmarn wirkte, nachdem er vorher schon verschiedene andere
Lehrerstellen bekleidet hatte, ist in ganz Schleswig-Holstein durch seine platt-
deutschen Schriften gegen die Sozialdemokratie bekannt geworden. Sein am
meisten gelesenes Buch erschien 1874 unter dem Titel »Wordennig as Hinnerk
un Krüschan op Fehmarn över de Socialdemocraten snackt«. (Kiel, Druck
von C. F. Mohr; 2. Aufl. 1877.)
Vgl. Alberti, Schriftstellerlexikon, 1866 — 1882, Bd. 2, S. 273. — »Jahrbuch des Vereins
f. niederdeutsche Sprachforschung«, Jg. 1896, XXII, S. 115. — »Kieler Zeitung«, Ab.-Ausg.
V. 20. Okt. 1904. Job. Sass.
Hachmann, Gerhard, Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg,
* 10. Mai 1838 in Hamburg als Sohn eines Arztes, f daselbst am 5. Juli 1904.
— H. besuchte die Gelehrtenschule des Johanneums, studierte in Leipzig
und Heidelberg die Rechte und ließ sich, nachdem« er seine Studien mit der
Promotion zum Dr, jur. abgeschlossen hatte, in seiner Vaterstadt als Rechts-
anwalt nieder. Bereits 1868 wurde er in die Bürgerschaft gewählt, die ihn
1877 zu ihrem Präsidenten berief. Am 12. Januar 1885 erfolgte H.s Wahl
zum Senator. Als solcher übernahm er im folgenden Jahre das wichtige
Amt des ersten Polizeiherm. Große Aufgaben traten damit an ihn heran,
das gesamte Polizeiwesen mußte von Grund aus reorganisiert werden. H.
ist es gewesen, der dies schwierige Werk in glänzender Weise durchgeführt
hat. Vom ersten Augenblick seiner Tätigkeit an bewährte er sich als ein
Mann von außerordentlichen organisatorischen Fähigkeiten. Mit rastloser
Energie verband er einen milden, humanen Sinn, der ihm das Vertrauen
aller gewann. Ganz besondere Verdienste um das öffentliche Wohl Ham-
burgs erwarb er sich zur Zeit der Choleranot im Jahre 1892. Auch die Neu-
ordnung des hamburgischen Armenwesens ist sein Werk, ebenso die Umbildung
und Erweiterung des gesamten Unterrichtswesens. »Suchet der Stadt Bestes«,
dies kurze Wort drückt schlicht und wahr die Gesinnung aus, in der H.
während seines ganzen Lebens mit unermüdlicher Hingebung und Treue
seiner Vaterstadt gedient hat, Hamburg betrauert in ihm einen seiner
edelsten Söhne.
Vgl. »Hamb. Correspondent«, Ab.-Ausg. v. 5. u. 6., Morg.-Ausg. v. 8. u. 9., Ab.-
Ausg. V. 9. u. II. Juli 1904 (Nr. 310, 312, 315, 317, 318, 320). — »Hamb. Nachrichten«,
Ab.-Ausg. V. 5., 2te Morg.-Ausg. v. 9., Ab.-Ausg. v. 9. Juli 1904 (Nr. 466, 477, 478). —
»Illustrierte Zeitung« (Leipzig), Bd. 123, Juli bis Dezember 1904, S. 50 (Nekrolog v.
K. Hesselbarth, Bildnis). Joh. Sass.
Knabl, Karl, Genremaler, * 26. Januar 1850 zu München, f i5- Juni 1904
ebendaselbst. — Als der Sohn des nachmals so berühmten Plastikers und
Akademie-Professors Jos. Knabl (* 17. Juli 18 19 zu Fließ bei Landeck in
Tirol, t 3. November 1881 in München. Vgl. Liliencrons »Allg. Deutsche
Biographie« 1882. XVI, 260) entwickelte der vielfach Begabte einen über-
raschenden Sinn, alles nachzubilden, zeichnete als helläugiger, scharfer Beob-
achter nach den Werken seines Vaters und nach der Natur, erhielt auch den
Schulunterricht im Hause; nebenbei trat hier sein Farbensinn, ebenso wie die
Neigung zur Musik frühzeitig hervor. Keine förderliche Unterweisung wurde
versäumt, um seine Wege zu bahnen, nur das rechtzeitige Studium der Literatur
Knabl.
89
und Geschichte wurde vernachlässigt, wodurch eine zeitlebens fühlbare Lücke
entstand, während sein Schönheitssinn eine absonderliche Zukunft versprach.
Anfangs wendete sich K. nach dem väterlichen Vorbilde zur Skulptur, er
schnitt äußerst gewandt und mit sicherer Empfindung kleine Köpfe und
Figuren in Lindenholz, ging aber bald, seinem eminenten Farbensinn
folgend, zur Malerei über, beschäftigte sich jedoch ebenso mit Zither und Harfe.
Karl von Piloty, welcher große Erwartungen auf ihn setzte, nahm sich liebe-
voll des frühreifen Jünglings an, welcher das Geheimnis seiner Palette schnell
erfaßte und durch prächtige Studien bewährte. Doch gelangte erst 1874 ein
durchgearbeitetes Werk in den Kunstverein: »Der bestohlene Geizhals«,
welchem die Diebe — man denkt unwillkürlich an Lessings gleichlautende
Fabel — einen »verdammten Stein« an die Stelle seines vergrabenen Schatzes
legten. Dann kam eine » Schuster werkstätte« (1875), ein »Junger Zither-
spieler« (1878) und das »Verborgene Genie«, eines in seine Holzschnitzerei
ganz versunkenen Hirtenknaben (1881, als Holzschnitt im Dezemberheft 1884
»Vom Fels zum Meer«); so mochte Giotto über der ersten Zeichnung eines
Lammes weltvergessen sitzen, als Cimabue staunend den Pastorello von
Vespignano entdeckte 1 In ähnlicher Weise hatte K.s Vater die ersten
plastischen Versuche mit seinem Taschenschnitzer gemacht und Josef Anton
Koch in den Alpen den Rotstift auf den leeren Rückseiten einer alten Folio-
bilderbibel gehandhabt. Was im Menschen steckt, muß heraus und »sich
herrlich offenbaren«. Jedes ehrliche Streben reißt sich durch und bricht die
eigene Bahn. Man denke an Defregger, dessen Vorbild indessen erkennbar
auf K. wirkte, z. B. mit dem »Fingerhakeln« (1878), wo der blutjunge
schneidige Jäger den alten hartgesottenen Robbler lauernd herausfordert; wie
verwunderlich blickt die ungläubige »Dirn«, während der alte Schnapsbruder
gentlemanlike ein »Glasel Kerschengeist« zur Wette setzt. In diesen an Ein-
fachheit und Wahrheit mit den Erzählungen eines Joseph Schöpf oder dem
Vorarlberger Michel Felder wetteifernden »Dorfgeschichten« entfaltete K.
eine Reihe sehr anziehender Darstellungen aus dem Volksleben, keine
»Salon tiroler«, sondern echte Menschen mit ihren Leiden und Freuden, im
harten Kampf mit der Natur, in fröhlichem, herzerfreuendem Mutwillen, mit
dem ganzen, den Bergbewohnern eigenen neckischen Humor. Dazu gehört
z. B. eine herzig frische Sennerin, die auf der Alm den Festkranz für die
heimkehrende Kuh bindet; ein Wilderer, der mit Todesverachtung einer erlegten
Gemse über die steile Wand hinab nachklettert; eine schwarzgallige Eifer-
suchtsszene; der im Ringkampf »Besiegte Herkules«; auch »Steierische Flößer
auf der Mur« (1882; in »Der gute Kamerad«, IV. Jahrgang 1890, i. Heft);
ein Thema, welches der Maler schließlich in eine »Floßfahrt auf der Isar«
übersetzte, wo die wettergebräunten Gesellen mit ihrem Fahrzeug über die
»Fälle« hinabschießen (vgl. Pecht in »Kunst für Alle« 1886, S. 316); ferner
ein »Heuschlitten«, worauf der Älpler das im Sommer eingeheimste Vieh-
futter im Winter in sausender Fahrt zu Tal fördert; eine »Überschlächtige
Mühle«, deren Wasserfall lustige Buben zu ihrer Badegelegenheit benützen —
alles in unermüdlich beobachtenden Wanderungen dem Volkstreiben abge-
lauscht. Dabei tat er sich nie genug und schwelgte in einer Unzahl von
Studien, ehe er an die Arbeit ging. Dann zog er auch das Porträt und die
Landschaft in sein Bereich, malte sich selbst in ganzer, lebensgroßer Figur
90
Knabl. Godin.
und die Häupter »seiner Lieben« und seiner Freunde, darunter ein höchst
ansprechendes Knabenbildnis von gewinnend schalkischem Ausdruck (1896);
zu landschaftlichen Naturstudien durchstreifte K. u. a. das ganze Gebiet des
»Wilden Kaiser«, ebenso die Salzach- und Inn-Gelände und viele von
Touristenmalem nicht allzu häufig besuchte Ferner- und Gletschergegenden.
In den lachenden Fluren des nahen Kufstein baute er sich ein flottes Atelier
und Künstlerheim und stattete dasselbe zu einem wahren Bijou aus mit
eigenen Schöpfungen und seltenem von weit und breit eingeheimsten »Ur-
väterhausrat«. Als emsiger Radler durchstreifte er ganz Italien mit einem
Trio von gleichgemuteten Kunstgenossen, wobei er den erstaunt aufhorchenden
Bewohnern der Romagna, Apuliens und Calabriens altbayerische Weisen,
Schnaderhüpfel und Jodler zum besten gab. Hierbei begleitete ihn immer
die Zither, während in der Heimat, insbesondere bei Künstlerfesten, die
Freude an der Harfe überwog, die K. mit einer mehr als dilettantischen
Bravour zu seinem Lieblingsinstrument erwählte. Nächtelang die Freunde
durch sein tiefgefühltes Spiel zu fesseln oder durch Imitation berühmter
Virtuosen und andere Kunstfertigkeiten zu entzücken, zu erheitern und
enthusiasmieren, gehörte zu den stillen Freuden des sonst so ruhig angelegten
Mannes. Hier lohnten ihn Ruhm und Beifall, ganze Lachsalven von dank-
baren, immer neu überraschten Zuhörern. Daß solche im Grunde doch
aufregenden Exkursionen durch das Gebiet der musikalischen Produktion für
die Ausdauer fordernden Sitzungen hinter der Staffelei nicht immer förderlich
wirkten, war leicht begreiflich. K. saß etwas zu behaglich im väterlich
ererbten Hanfsamen, sorglose Mühe ist nicht immer ein Glück für den
Künstler, ebenso wie das Gegenteil immer auch ein Übel ist. Seit 1879
glücklich verheiratet, freute er sich, daß seine beiden Töchter das artistische
Ingenium teilten, während sein einziger Sohn zum Eintritt in die Marine sich
vorbereitete. Dieser schwamm zum ersten Male über den Ozean, als der
Vater einer längst geahnten Krankheit erlag, und in den Arkaden des süd-
lichen Camposanto, unter der von Josef Leonhard Mayer (* 3. Juli 1845 zu
München, f 30. November 1898, wurde nach Joseph Knabls Ableben der
artistische Leiter der von dessen Vater Josef Gabriel Mayer, * 18. März
1808 zu Gebrazhofen, f 16. April 1883 in München, gegründeten Kunstanstalt;
dieselbe, verbunden mit einer großartigen Glasmalerei, erfreut sich, heute
unter der umsichtigen Direktion des Kommerzienrats Franz Mayer stehend,
eines wohlbewährten Weltrufes) gemeißelten imposanten Statue Joseph Knabls
die letzte stille Rast fand. Dem völlig anspruchslosen Maler wären wohl
noch viele Dezennien seiner erfreulichen Wirksamkeit gewünscht und gegönnt
gewesen. Eine teilweise Ausstellung seines Nachlasses erfolgte Ende Dezember
1904 im Münchener Kunstverein.
Vgl. Nr. 283 »Neueste Nachrichten«, 20; Juni 1904 und Nr. 276 »Allgemeine Zeitung«,
21. Juni 1904. Hyac. Holland.
Godin, Amelie, Roman- und Novellendichterin, * 22. Mai 1824 zu Bam-
berg, t 24. April 1904 in München. — Im väterlichen Hause erhielt die
Tochter des hochgebildeten praktischen Arztes Dr. Friedrich Speyer, unter
der Leitung ihrer geistvollen Mutter, einer geborenen Baronin von Godin —
deren Namen die dankbare Dichterin später allen ihren poetischen Schöp-
Godin.
91
fungen vorsetzte — den ersten, ihre ganze folgende Herzens- und Geistes-
bildung bestimmenden Unterricht. Nach dem Tode ihres Vaters übersiedelte
sie nach München, wo sie in der Familie des auch durch seine Sagen-
forschungen hochverdienten Oberbaurats Friedrich Panzer mit den damals
hervorragenden Geistern, wie Franz Graf von Pocci, Fr. von Kobell, Wilhelm
von Kaulbach, Fr. von Thiersch und anderen Koryphäen, reiche, fördernde
Fühlung und lebhafte Anregung für ihre poetische Begabung erhielt. Auf
einer Rheinreise lernte sie den preußischen Ingenieuroffizier Franz Linz kennen,
welcher ihr im Frühjahr 1844 die Hand zu einem glücklichen Ehebund
reichte, dem freilich auch vielfache Krankheiten mit schweren Prüfungen
folgten. Zuerst wurde die Gattin von nervösen Leiden plötzlich befallen,
welche die junge Frau zwangen, auf ihre häusliche Tätigkeit vorläufig zu ver-
zichten und in dem stillen Wallauf des Rheingau Kräftigung der Gesundheit
zu suchen. Hier entstanden in idyllischer Einsamkeit die anfangs nur für
ihre Kinder verfaßten »Märchen«, welche glücklicherweise den Weg in die
Öffentlichkeit fanden und der unter dem Namen ihrer Mutter schreibenden
Dichterin die Bahn zur weiteren Tätigkeit auf dem Gebiete der Erzählungen
und Novellen bereiteten. Sie erhielten alsbald in illustrierten Zeitschriften,
insbesondere in der »Gartenlaube«, »Über Land und Meer« und später in
»Schorers Familienblatt« usw. die freudigste Aufnahme und Anerkennung.
Infolge davon wagte sich G. auch an größere, in Romanform durchgeführte
Probleme, darunter z. B. die Aufsehen erregenden Bücher »Eine Katastrophe«
(neuerdings in der Reclam-Bibl. Nr. 1842 und 1843) und die meisterhafte Er-
zählung »Ein Orangenzweig« (Gartenlaube 1872, Nr. 33 — 39), Schöpfungen,
welche den Vergleich mit George Eliot (vgl. Lord Actons schöne Studie über
diese große englische Dichterin, Berlin 1886) nicht zu scheuen haben.
Ihr Gatte, welcher in verschiedenen Garnisonen, in Koblenz, Mainz,
Saarlouis und Stettin im Dienste gestanden und zum Oberst avanciert war,
wurde 1864 während des dänischen Krieges beauftragt, die Armierung der
Stadt Stralsund und der Insel Rügen auszuführen. Infolge dieser anstrengenden
Obliegenheiten entwickelte sich bei dem äußerst kräftigen Mann eine schleichende
Krankheit, welche ihn nötigte, außer Dienst zu treten. Die Gatten zogen
nach Trier, woselbst Oberst Linz kurz vor Ausbruch des deutsch-französi-
schen Krieges seinen qualvollen Leiden erlag.
Bald darauf übersiedelte sie nach München, wo sie mit Hermann Kurz,
Paul Heyse, Hermann von Lingg und deren weiterem Dichterkreis in ehrende,
zu neuen Arbeiten reizende Beziehung trat und zu frischen, neuen Problemen
Ermutigung erfuhr, während sie in rührendster Weise der Pflege ihrer Mutter
Klara oblag, die, 83 Jahre alt, am 20. April 1881 aus dem Leben schied.
Indessen hatte die vielgeprüfte Dichterin auch einer Tochter und einem Sohne
Karl, welcher am 6. Februar 1879 zu Berlin plötzlich an Herzschlag starb,
ins Grab zu schauen. Unermüdlich tätig, übernahm sie noch die Leitung
der Erziehung zweier Töchter eines teuren Freundes und hochachtbaren Ge-
lehrten. Trotz ihres schwer gefährdeten Augenlichts ließ sie die Feder nicht
ruhen, schuf immer noch Neues, sammelte kleinere Erzählungen zu neuen
Ausgaben, überarbeitete frühere Werke und blieb ihrer immer wohlgcstimmten,
zartbesaiteten lyrischen Muse getreu. Ihre »Gedichte« erschienen in München
1888, »Lieder und Weisen« 1892, »Freudvoll und Leidvoll«, »Herzensworte«,
92
Godin.
»Magdborn« und eine Anthologie »Blumengrüße« (München 1884 bei Ströfer)
und »Aus großer Zeit« (Glogau 1873). Ihre »Märchen von einer Mutter
erdacht« liegen in vierter Auflage (Stuttgart 1897) vor; dazu kommen das
von Leopold Venus (ein nach seinem wahren Verdienst nur zu wenig
bekannter Künstler, welcher * 1843 zu Dresden, am 23. Dezember 1886 nach
zehnjährigem Leiden in Sonnenstein bei Pirna starb; vgl. »Kunst für Alle«
1887, II, 121) reich illustrierte »Märchenbuch« (4. Aufl. bei Flemming in
Glogau), femer »Neue Märchen für die Jugend«, ein »Märchenkranz« und
»Märchenreigen«, außerdem eine Auswahl und Bearbeitung von slavischen
und polnischen Volksmärchen (nach Glinski), auch »Märchen aus aller Herren
Länder« und »Aus Feld und Wiese«. Unter den Novellen stehen in erster
Reihe die mit dem Titel »Die Madonna mit den Lilien« gesammelten kleinen
Künstlergeschichten (Reclam-Bibl. Nr. 2087), »Frauenliebe und Leben« (1874
in fünf Bänden), »Historische Novellen« (1863); »Kleine Geschichten« und neue
»Novellen« (1876, in drei Bänden) und die größeren Romane »Ein Ehren-
wort«, »Gräfin Lenore«, »Mutter und Sohn« (in zwei Bänden, 2. Aufl. 1888),
»Schicksale«, »Sturm und Frieden«, »Wally« (Berlin bei Janke), »Fahr wohl!«,
»Eine schwarze Kugel« (1890) u. a. m.
Ihr siebzigster Geburtstag wurde festlich begangen und durch ein von
Paul Heyse fein erdachtes und »gesammeltes sinniges Ehrengeschenk ihrer
näheren Freunde verschönt (Nr. 236 »Neueste Nachrichten«, 24. Mai 1894).
Vier Wochen vor ihrem achtzigsten Jahre riß ihr Lebensfaden entzwei. Kurz
vorher hatte sie noch, rasch und sicher, auf ihrem Krankenlager, unter dem
Klang der Osterglocken, die letzten Verse einem Freunde diktiert, welche
Dr. Oswald Schmidt als letzte Gabe dieser schönen Seele in Nr. 235 »All-
gemeine Zeitung«, 26. Mai 1904 veröffentlichte. An ihrem Grabe trauerten
mit ihren beiden edlen Söhnen (wovon der Oberpostrat Richard Linz schon
am 18. Februar 1905 der Mutter folgte), welche die Freude und den Stolz
der Dichterin bildeten, die besten Männer und Frauen Münchens und die
gleiche stille Teilnahme pflanzte sich fort, wohin die Trauerkunde kam. Der
wohlverdiente Dichterlorbeer und die unvergängliche Palme treuer Erinnerung
schmücken immergrünend ihren Namen!
Sehr zutreffend zeichnet ihr ganzes Wesen ein würdiger Nachruf:
»Am^lie Godin war eine ungemein sympathische Frauengestalt, eine überaus
zarte und dabei doch so willenskräftige Natur, die das Leben liebte und ihm
ein stetes »Und dennoch« entgegensetzte, auch wenn das Schicksal sie oft
hart traf. Sie war eine begeisterte Dichterin des Schönen und der göttlichen
Kraft des Lebens. Der Oberflächlichste, der Unbedeutendste bekam in ihrer
Nähe eine Ahnung von der strahlenden Höhe des Schaffens. In ihrem .
Königreich adelte sie jeden, den ihr liebliches Lächeln traf. Sie war etwas, f
diese kleine, vornehme, alte Frau mit den altmodischen, schwarzen,
rauschenden, seidenen Gewändern, mit den schönen schneeweißen Locken,
den feurigen, dunklen Augen, der raschen Inbrunst der Sprache, der
Schwermut derer, die um das Leben wissen.« Eine reine, vielgeprüfte Seele,
die nie untergetaucht in den trübsten Erfahrungen, doch immer den unermüd-
lichen Mut, anderen zu helfen, hatte und nie den Glauben an die Menschen
verlor.«
Vgl. Paul Sirano, »Im Salon Amdlie Godin« in Nr. 45 »Über Land und Meer« 1877.
\
Godin. Arnold.
93
XXXVIII. 918. — Dietrich Theden, Amdie Godin, ein I.iteraturbild (mit Porträt) in Nr. 10
»Gartenlaube« 1882. S. iS9ff- — »Deut, lllustr. Ztg.« 1885. II. 85 (mit Porträt). —
>Vom Fels zum Meer« 1887/88. IX. Heft. — Georg Westenberger, Zum siebenzigsten Ge-
burtstag in Nr. 233 »Neueste Nachrichten«, 22. Mai 1894. — Sophie Pataky, Lexikon deut-
scher Frauen der Feder. Berlin 1898. I. 265 und 509. — »Allgem. Ztg.« Nr. 189, 27. April
1904. — Nr. 3177 »Illustrierte Zeitung« Leipzig. 19. Mai 1904 (mit Porträt). — Ein
Porträt von M. Krüger im MUnchener Kunstverein, Oktober 1896.
Hyac. Holland.
Arnold, Hugo, k. bayer. Hauptmann, historischer Schriftsteller, * 12. Mai
1842 in München, f 3. Oktober 1904 ebendaselbst. — Sohn eines Oberbeamten
der Hypotheken- und Wechselbank, studierte am Gymnasium seiner Heimat,
trat in die 6. Klasse des Kadettenkorps, wurde 1860 Junker im Inf. -Leib-
regiment, 1861 Unter- und 1866 Oberleutnant im 11. Inf.-Regiment, bei
welchem sich A. sowohl 1866 wie auch im deutsch-französischen Kriege 1870/71
durch Heldenmut und Tüchtigkeit hervortat, namentlich in den Dezember-
schlachten. Bei Villepion am i. Dezember rettete er im heftigsten feindlichen
Feuer unter Mitwirkung seiner Abteilung und in Verbindung mit Artillerie-
mannschaften und Pferden ein vor der Gefechtsfront gebliebenes Geschütz;
in den blutigen Tagen von Loigny und Cravant führte er seine Mannschaft
mit besonderer Bravour; das Eiserne Kreuz und der Militär- Verdienstorden
waren sein Lohn. Seit 1875 Hauptmann im 7. Jägerbataillon, trat der an den
Folgen des Feldzuges schwer leidende Mann 1887 in Pension, griff aber dann
zur Feder, um seine schönen historischen Kenntnisse und später auch seine
Feldzugserinnerungen zu verwerten. Vorwiegend betätigte sich A. auf dem
geschichtlichen, ethnographischen und anthropologischen Gebiet, betrieb mit
großem Geschick und ebenso umfassender Sorgfalt im Auftrag von Privaten und
gelehrten Gesellschaften, Untersuchungen über römische Lagerplätze, Straßen-
züge und Standquartiere, leitete und führte die Aufdeckung und Ausgrabung
prähistorischer Gräber und Hügel, z. B. bei Auing am Wörthsee (1879), am
Auerberg im Lechrain (zwischen Wertach und Lech, 1881), der alten Akro-
polis der Licatier Damasia, 1889 entdeckte er die letzten Reste der von
Heinrich dem Löwen erbauten Münchener Stadtmauer, brachte neues Material
zur Limesforschung (1891), unterzog die im bayerischen Armeemuseum
befindlichen Fahnen und Standarten einer neuen Untersuchung, ebenso den
Umfang und das Terrain der Stadt München einer geologisch-historischen
Beleuchtung, machte Ausflüge nach alten Burgstätten und kleineren Besiede-
lungen in Altbayern an der Isar, Amper, am Inn und im Salzach gebiet,
welches er mit offenem Auge für volkstümliches Leben, für Sitte und Tracht,
Sage und Herkommen durchwanderte. Die Resultate verarbeitete A. in an-
ziehender, streng sachlicher Darstellung für süddeutsche Fach- und Tages-
blätter, auch für illustrierte Zeitungen, wozu befreundete Künstler ihre artistisch-
malerischen Aufnahmen gaben. Auch die oberbayerischen Seen zog er in den
Kreis seiner historischen Betrachtung und schuf heitere, kulturhistorische
Landschaftsbiider aus der Urzeit mit der Staffage von Pfahlbaubewohnern
und bronzekundigen Kelten, die letzten Nachklänge ihres ganzen habituellen
Befindens aus der vorliegenden Gegenwart erkennend und nachweisend,
wobei nicht selten ein schalkisch lächelnder, an Ludwig Steub erinnernder
Humor zur wohltätigen Erwärmung dem Autor die Feder führte. Als ein
94
Arnold.
Muster dieser Art dürfen auch die Erlebnisse mit seinen Pferden dienen, wo
die verschiedenen Tiere nach ihren bewiesenen Fähigkeiten und Charakter-
eigenschaften hübsch gezeichnet erscheinen. Mit großem Geschick verstand
A. die gelehrten Ergebnisse von Riezlers und Baumanns Forschungen in
volkstümlicher Form einem weiteren Leserkreise zu vermitteln und mund-
gerecht zu machen; seine Referate darüber waren immer originell gefaßt
und sozusagen mit seiner eigenen Auffassung sehr geschickt vereinbart, als
wenn er von der Priorität derselben vollständig überzeugt gewesen. Der-
gleichen kleine Eskamotagen gelangen ihm zur zufälligen Überraschung.
Ziemlich spät kam er darauf, Selbsterlebtes aufzuzeichnen. So entstanden,
offenbar angeregt durch Taneras Schriftstellererfolge, die hinter Detlef von
Liliencrons Verve freilich zurückstehenden Feldzugserinnerungen »Unter General
von der Tann« (München 1895 und 1896 bei C. H. Beck) in zwei Bändchen.
Mit sachverständigen Strichen zeichnet A. die strategischen Verhältnisse,
welche die verwickelt gewordene Kriegslage schuf. Die deutschen Heere an
der Loire hatten vorwiegend operative Aufgaben zu lösen. Die Darstellung
der Ereignisse während des furchtbaren Winterfeldzugs an der Loire, diese
scheinbar wirren Märsche in ihrem Zusammenhange klarzumachen, war
seine schwere Aufgabe und erforderte besonderes Talent. Wer diesen Be-
richten an der Hand der Karte zwischen Paris und der Loire folgt, wird
die Operationen in der Beauce und am Perch erst verstehen und mit Bewun-
derung und Stolz die Taten des ersten bayerischen Armeekorps vernehmen.
Die Schwierigkeit, hierin das richtige Maß zu treffen, hat A. mit großem
Geschick überwunden und dabei bewiesen, daß er ein nicht minder kriegs-
wissenschaftlich geschulter wie zugleich auf der vollen Höhe allgemeiner
Bildung stehender und mit einem seltenen Schriftstellertalent begabter Autor
ist. Die Schilderung der persönlichen Erlebnisse gewinnt wirklich geschicht-
lichen Wert und um so mehr, als die Umstände, unter denen die tapferen
Truppen an der Loire den Sieg an ihre Fahne fesselten, mit wahrhaft plasti-
scher Anschaulichkeit vor Augen geführt werden: die Strapazen und Be-
schwerden des Winterfeldzugs, die Schrecken des Volkskrieges, die Hemmnisse
und Reibungen der Heerführung. Großes Interesse erregen die auf bestimmte
Verhältnisse und Personen fallenden Streiflichter, z. B. das Hauptquartier des
Großherzogs von Mecklenburg, den Bischof Dupanloup (de.ssen Vergleich mit
dem gelehrten Döllinger ein gewiß nicht zutreffender ist), die französische
Bevölkerung mit Einschluß des Klerus; klar tritt der Opfermut und die Aus-
dauer der deutschen Truppen hervor, auf den anstrengenden Märschen, in
den Gefechten, wovon beispielsweise die Schlacht von Beaugency am 8. De-
zember ein erlesenes, ergreifendes Bild bietet. Dazu kommen die Vorzüge
des Autors, Klarheit der Darstellung, möglichste Objektivität, die auch dem
Feinde die gebührende Anerkennung zugesteht, die Fehler im eigenen Lager
nicht vertuscht, die überall durchquellende Liebe zum Vaterlande und den
Kameraden offenbart. Schade, daß A. seine Wahrnehmungen vor Paris zur
Zeit der Kommune nicht eingehender berichtet, vielleicht nur um seine Arbeit
nicht anschwellen zu lassen. Ein anderer hätte überhaupt aus diesem dank-
baren Stoff mehr Kapitel zu ziehen gestrebt.
Meist führte ein launiger Humor dem Verfasser die Feder; da sein Auge
nach allen Radien das pulsierende Leben erfaßte, übersetzte A. die früheren
Arnold.
95
strategischen Berichte, das Leben und Treiben in den alten Legionen, Lagern
und Kriegsleben der Römer in gleiche Beleuchtung, wobei sich durch A.s
Ausgrabungen, Bodenstudien und Terrainforschungen die verdeutschenden
naheliegenden Analogien von selbst ergeben. Dabei gebraucht er dann nach
Vorgang seines Lieblingsvorbildes Mommsen das zutreffendste moderne Wort,
wodurch Farbe, Leben, Stimmung in seine neckischen kulturhistorischen Dar-
stellungen kommt. Darin ist A. seinem immer leichtlebigen, aber nur touristi-
schen Kollegen Tanera weit überlegen und näher an Liliencron gerückt,
der seinen harnischtragenden Marsenritter gelegentlich heranrasseln läßt. Eine
Musterleistung dieser Art war ein Vortrag am 26. Oktober 1900 in den Sit-
zungen der Münchener anthropologischen Gesellschaft: »Herr Claudius Paternus
Clementianus, ein Nachfolger des Pontius Pilatus und ein oberbayerischer
Landsmann aus Epfach«. Letzteres ist eine uralte Ortschaft, deren Bestand
weit über die Römerzeit zurückreicht, wie die Grabhügelgruppen mit Schmuck
und Geräten aus der Bronze- und Hallstattzeit und die hochgewellten Hoch-
ackerbeete in der weiten Umgebung beweisen. Neben Marmorplatten, Säulen-
stücken, Quadern fanden sich in der Umfassungsmauer auf dem Lorenzhügel
bei Epfach (Abodiacum^ Abuzacum, Eptaticum) Denkmäler mit wichtigen, in
wenigen Worten viel erzählenden Inschriften, welche die Namen städtischer
Beamten tragen und deren Würde bezeichnen, woraus der Schluß erlaubt ist,
daß Abodiacum wie Bregenz, Kempten und Augsburg eine »«V/äw« war.
Drei Steine beziehen sich auf den genannten Gentleman. Nun wagte A. die
gar nicht unwahrscheinliche Annahme, daß der Ahnherr des besagten Claudius
Patenius Clementianus, der sich, wie Augsburger Inskriptionen beweisen,
zuerst in der alten Keltenstadt am Lech niederließ, ein Veteran oder ein im
Gefolge des Heeres zugewanderter Bürger oder Handelsmann, vielleicht sogar
ritterlichen Ranges gewesen ist, der als »römischer Bürger« von Haus aus
sich unter den Ortseinwohnern eines großen Ansehens erfreute. Der Name
mit keltischem Klang des mütterlichen Großvaters »/«//ä/jw« erlaubt den
Schluß, daß der Vater sich mit einer keltischen Jungfrau verheiratete. Der
demnach sicherlich in Epfach geborene Cl. P. Clementian scheint nicht von
der Picke auf gedient zu haben, er absolvierte sofort die Vorstufe für die
Prokuratur, die -»tres militiae egtuslreso^. Als y^Tribunus militum«. stand er
bei der -»Ugio XI. Claudia<><. Hierauf wurde er Kommandeur des Silianischen
Reiterregiments römischer Bürger, das den Beinamen Tf^torquata<f^ trug, weil
ihm die f>torques« (man denkt dabei unwillkürlich an das früher von unseren
Offizieren im Dienst getragene y>Hausse-<oh) als Auszeichnung für Tapfer-
keit verliehen worden waren. Den Schluß der Militärlaufbahn des Cl. P. Cle-
mentian bildete die Befehlshaberstelle eines vermutlich der Donauflottille
zugeteilten Seebataillons. Dann trat er in den Verwaltungsdienst über, wurde
kaiserlicher Prokurator in den Provinzen Afrika, Sardinien und Judäa, in
letzterer als Vertreter des syrischen Legaten — eine in der Zeit von 138 bis
192 n. Chr. abgesponnene gloriose Karriere! — In ähnlichen kulturhistorischen
Perspektiven behandelte A. noch viele andere Stoffe, z. B. die deutsche
Königshufe »Königs wiesen«, die römischen Heerverhältnisse im bayerischen
Rhätien, die Ortsnamen der Münchener Gegend, den uralten Pferdemarkt zu
Keferlohe, die Gräber der alten Giesinger, die Gegend von Laim, die Tölzer
Leonhardfahrten, die Römerstätte zu Icking, die Schanzen zu Deisenhofen,
q6 Arnold. Bittong.
alte Schiffergebräuche auf Inn und Salzach, die Familie der Agilolfinger,
Tassilos Politik und Sturz. In allen gelehrten Gesellschaften und Zeitschriften
waren seine Vorträge willkommen; freilich wußten die wenigsten Zuhörer
und Leser, unter welchen peinigenden Leiden diese erfreulichen Elaborate
entstanden. Die Folgen der Feldzugstrapazen machten sich, anfänglich noch
weniger beachtet, immer mehr geltend. Im Jahre 1880 vermählte er sich
mit einer Baronin von Crailsheim, welche ihm Jedoch schon 1898 durch den
Tod entrissen wurde. Von 1892 — 1895 arbeitete A. in der Redaktion der
»Allgemeinen Zeitung«, ohne auffällige Störungen in seiner schriftstellerischen
Tätigkeit. Dann kamen schwere Augentrübungen, lähmende Erscheinungen
und andere böse Vorboten. Auch jetzt gönnte sich der energische Mann
keine Ruhe, obwohl ihm das neue Material nur durch Vorlesen vermittelt
werden konnte und der rastlose Denker mit schweren Mühen seinem Schreiber
die wohldurchfeilten Sätze in die Feder diktieren mußte, bis auch dieser
letzte Trost mit geistigem und körperlichem Zerfall endete. Welche Fülle
des Wissens blieb unausgenützt und unvererbbar, zum Jammer seiner beiden
Töchter, welche dem Vater bis zum letzten Augenblicke als treueste Pflege-
rinnen beistanden. Eine Sammlung oder Auswahl seiner weitzerstreuten
Elaborate wäre ein höchst wünschenswertes und verdientes Denkmal.
Vgl. Nr. 465 »Neueste Nachrichten« 5. Oktober und ebendaselbst Nr. 470 vom 7. Ok-
tober 1904. Alex Braun in Nr. 236 Unterhaltungsbeilage zur »Norddeutsch. Allgem. Ztg.« vom
7. Oktober 1904. (Ein jüngerer Bruder, Hermann Arnold, der sich gleichfalls als Krieger
und Schriftsteller, insbesondere aber als Maler hervortat, geb. 6. Mai 1846 zu Mttnchen,
war ihm gleichfalls nach schwerem Leiden schon am 25. Juni 1896 zu Jena im Tode
vorausgegangen. Vgl. unser »Biogr. Jahrbuch« 1897 S. 47 und »Allgem. Deutsche Biographie«
1902. XXXXVI, 51.) Hyac. Holland.
Bittong, Franz, Direktor der vereinigten Theater von Hamburg und
Altona, * 2. November 1842 in Mainz, f 8. Oktober 1904 in Hamburg. —
B., der ursprünglich für die kaufmännische Laufbahn bestimmt und mehrere
Jahre als Beamter einer französischen Eisenbahngesellschaft in Paris tätig
war, hegte von jeher ein lefdenschaftliches Interesse für das Theater.
Nachdem er den deutsch-französischen Krieg als freiwilliger Krankenpfleger
mitgemacht hatte und nach Mainz zurückgekehrt war, trat er hier in Be-
ziehung zu dem Direktor des Stadttheaters Th. L'Arronge, der sich sehr bald
von der außerordentlichen Begabung B.s überzeugte und ihn, der nie Schau-
spieler gewesen war und die Bühne praktisch gar nicht kannte, als Regisseur
für sein Theater verpflichtete. 1872 ging B. in gleicher Eigenschaft nach
Stettin, von 1873 — 1876 wirkte er in Bremen, um im August 1876 einem Ruf
des Direktors Ch^ri Maurice an das Thalia-Theater in Hamburg zu folgen.
Durchdrungen von dem Gedanken einer notwendigen Reform des Bühnen-
wesens, hatte B. bereits einige Jahre zuvor die kleine Schrift »Plaudereien
über die Reform der deutschen Bühne« (Stettin 1873) veröffentlicht. In
Hamburg bot sich ihm jetzt Gelegenheit, seine Ideen zu verwirklichen.
»Seine Bestrebungen richteten sich in erster Linie darauf, mit gewissen ver-
alteten Bühnenformen zu brechen, die weder den Anforderungen eines
ästhetisch gebildeten Geschmacks, noch den unveränderlichen Grundgesetzen
der Schauspielkunst entsprachen, deren Beseitigung aber noch von niemandem
BittODg. Lehmann. m
vorher versucht worden war. Ausgehend von dem Grundsatz, daß die Schau-
bühne nicht nur dem Geiste, sondern auch der Tat nach ein bis in die
Einzelheiten getreues Bild des wirklichen Lebens sein müsse, warf B. das
ganze barocke Herkommen, welches in bezug auf die Einrichtung der Szene,
auf die Front- und Halbkreisstellungen der Schauspieler usw. herrschte, mit
einem Schlage über Bord und richtete sowohl das Äußere der Bühne wie.
die Bewegungen und Gruppierungen der Darsteller in einer den Gebräuchen
und Umgangsformen des Lebens völlig entsprechenden Weise ein. Schön-
heit, Einfachheit und Wahrheit! Das waren die drei Hauptforderungen,
welche er von vornherein an die Leistungen der Bühne stellte; aber er über-
trug diese Forderungen mit vollem Recht auch auf jene Äußerlichkeiten, in
denen die alte Schule zwar die Einfachheit immer sehr nachdrücklich betont,
auf Schönheit und Wahrheit aber ein viel zu geringes Gewicht gelegt hatte.
Das Publikum war erstaunt und freudig überrascht, als es unter B.s Regie
statt der herkömmlichen Bühnenzimmer und Bühnensalons mit einem Male
wirkliche, behaglich und geschmackvoll eingerichtete Wohnräume vor sich
sah. Es wurde urplötzlich jedem klar, daß nur auf diese Weise allen An-
forderungen der Schönheit und der Wahrscheinlichkeit zugleich Rechnung
getragen werden könne, und die Wirkung, welche durch die scheinbar rein
äußerliche Reform auch auf die Natürlichkeit der einzelnen schauspieleri-
schen Leistungen und auf den Eindruck der ganzen Bühnenwerke geübt
wurde, war eine überraschend große.« (Ortmann, S. 320/21.)
1885 erhielt B. die Stelle eines Oberregisseurs am Hamburger Stadt-
theater, und im Januar 1898 übernahm er nach dem Tode des Direktors
Pollini im Verein mit dessen Geschäftsführer M. Bachur die Direktion des
Hamburger Stadttheaters, des Stadttheaters in Altona und des Hamburger
Thalia-Theaters. Wenn die Hamburger Bühne in der Folge den großen Ruf
behauptete, den sie sich unter Pollini erworben hatte, so war das nicht zum
wenigsten B.s Verdienst. Ganz besondere Aufmerksamkeit widmete er der
Pflege der großen Oper und erzielte auch damit reichen Erfolg. Auch als
Bühnenschriftsteller hat er sich einen guten Namen gemacht; freudigste An-
erkennung fanden vor allem seine poesievollen Weihnachtsmärchen.
Mit aller Kraft hat B. bis zuletzt seine idealen Ziele verfolgt, die Liebe
zur Kunst war der Leitstern seines Lebens, mit tiefem Ernst faßte er jede
Aufgabe an, mit feinem Takt, mit umfassendem Wissen und klugem Können
führte er sie zu Ende, ein kühner Vorkämpfer für alles Neue, das einen
wahren, gesunden Fortschritt bedeutete, in der lebendigen Fülle seines
künstlerischen Wirkens ein Vorbild für alle, die gleich ihm streben und
arbeiten im Dienste des Schönen.
Vgl. »Hamb. Conrespondent«, Morg.-Ausg. v. 9., Ab.-Ausg. v. 10., 11. u. 12. Oktober
1904. — »Bühne und Weite, Jg. 7, Nr. 2, 1904, S. 85 (Nekrolog v. P. Rache, Bildnis);
vgl. auch Jg. I, Halbjahr i, 1898/99, S. 128 f. — Brummer, Lexikon d. deutschen Dichter
d. 19. Jahrb., 5. Ausg., Bd. i, S. 132, 474. — R. Ortmann, Fünfzig Jahre eines deutschen
Theaterdirektors. Erinnerungen, Skizzen und Biographien aus d. Geschichte des Hamburger
Thalia-Theaters. Hamburg 1881, S. 3i8ff. Joh. Sass.
Lehmann, Heinrich Otto, Geheimer Justizrat, ordentlicher Professor
der Rechte an der Universität Marburg, * 28. Oktober 1852 in Kiel als Sohn
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog-. 9. Bd y
q8 Lehmann.
des Advokaten Theodor Lehmann, t 27. Januar 1904 in Marburg. — L., der
seine Eltern früh verlor, wurde im Hause seines Onkels, des Apothekers
J. Lehmann in Rendsburg, erzogen. Nachdem er das Gymnasium daselbst
im Herbst 187 1 mit dem Zeugnis der Reife verlassen hatte, begann er in
Berlin die Apothekerlaufbahn, die er jedoch bald wieder aufgab, da sie seinen
Neigungen nicht entsprach. Er wandte sich dem juristischen Studium zu,
das er 1872 in Greifswald begann, in Heidelberg fortsetzte und in Berlin
zum Abschluß brachte. Hier bestand er im Januar 1877 das Referendar-
examen, war dann eine Zeitlang als Referendar in Rendsburg tätig und ging
darauf nach Göttingen, um seine Habilitation in die Wege /u leiten. Ein
ernster Unfall aber, bei dem er sich infolge eines Sturzes eine innere Ver-
letzung zuzog, zwang ihn, alle Vorbereitungen für die akademische Karriere
abzubrechen und mehrere Jahre nur seiner Gesundheit zu leben. Erst 1881
war L. so weit wieder hergestellt, daß er sich von neuem einer festen Berufs-
tätigkeit hingeben konnte. Er wurde zunächst als LTniversitätsrichter in Kiel
angestellt. 1882 habilitierte er sich hier als Privatdozent und wurde 1885'
zum außerordentlichen Professor daselbst ernannt. Im Jahre 1888 folgte er
einem Ruf als ordentlicher Professor nach Gießen, von wo er 1889 nach
Marburg übersiedelte.
Angesichts der schweren körperlichen Leiden, mit denen L. fast drei
Jahrzehnte lang zu ringen hatte, verdienen seine bedeutenden Leistungen um
so uneingeschränktere Bewunderung. Seine Haupttätigkeit galt dem deutschen
Recht einschließlich des Handelsrechts. 1886 erschien sein mit ausgezeich-
neter Sorgfalt gearbeitetes »Lehrbuch des deutschen Wechselrechts«, von
1896 — 1900 die wichtige Neubearbeitung von Stobbes »Handbuch des
deutschen Privatrechts« (Bd. 2 — 4), das L.s tief eindringende Behandlung des
Gegenstandes zu einem durchaus neuen, selbständigen Werke gestaltete. Mit
gleicher Energie und gleichem Erfolge trat er in den letzten Jahren an die
großen Aufgaben heran, welche der deutschen Rechtswissenschaft aus
der Fertigstellung des Bürgerlichen Gesetzbuchs erwuchsen. In dem Lehr-
buch »Das Bürgerliche Recht« (2. Aufl. 1901), das er im Verein mit Enneccerus
herausgab, bearbeitete L. das Sachenrecht sowie das Familien- und Erbrecht.
Als Dozent besaß der Heimgegangene eine außerordentliche Anziehungskraft.
»Seine Vorlesungen und Übungen waren packend und belehrend zugleich;
was er lehrte, war das Produkt einer kräftigen, individuellen, von warmer
Begeisterung für ihre Wissenschaft getragenen Natur.«
Das reiche Lebenswerk des Mannes ist aber damit noch nicht erschöpft.
Noch fehlt ein wesentlicher Zug in dem Bild seines Wirkens, L.s öffentliche
Tätigkeit außerhalb seines akademischen Berufs. »Starkes nationales Emp-
finden trieb ihn ins politische Leben, sein Gemeinsinn zur Mitarbeit an der
städtischen Verwaltung Marburgs.« Die lautere Größe seines Charakters,
seine unermüdliche Pflichttreue, der frische, lebendige Hauch seines Wesens
verschafften ihm überall Geltung und Einfluß. Alle sahen in ihm den klugen,
zielbewußten Führer zum Rechten und Guten. Als solcher erscheint er auch
in den zahlreichen trefflichen, nationalen Fragen gewidmeten Aufsätzen, die
er in den »Grenzboten«, der »National-Zeitung« und vor allem in der »Neuen
Züricher Zeitung« veröffentlicht hat.
Vgl. »Chronik der Universität Marburg« für 1903,04, Jg. 17, S. 6 — 8 (Xckrolog und
Lehmann. Wannenmacber.
99
Schriftenverzeichnis). — »Deutsche Juristen-Zeitung«, Jg. 9, 1904, Sp. 202/203 (Nekrolog
von Arthur Schmidt). — »Zeitschrift f. das Gesamte Handelsrecht, Bd. 55, 1904, S. 385/86
(Nekrolog von K.Lehmann). — Alberti, Schriftsteller-Lexikon, 1866 — 1882, i, S. 428/29.
— »Kieler Zeitung«, Ab.-Ausg. v. 28. Januar 1904. Toh. Sass.
Wannenmacher, Franz Xaver, Gymnasiallehrer und Schriftsteller, * 8. Mai
1839 in Owingen in HohenzoUern, f 21. Oktober 1904 in Straßburg i. E. —
Ein Sohn wohlhabender Bauersleute, war er zuerst Volksschullehrer, später
Gymnasiallehrer in Köln. Frühzeitig aus dem Dienst geschieden, ergab er
sich mit leidenschaftlichem Eifer den verschiedenartigsten Studien, erwarb
die philosophische Doktorwürde, bereiste fast alle europäischen Länder, ver-
öffentlichte Jugendschriften und Übersetzungen, namentlich aus dem Spanischen.
Als er beim Kultusminister v. Zedlitz-Trützschler Beiträge für eine von ihm
in der Nähe seiner Heimat, in Haigerloch, gegründete Privatschule nach-
suchen wollte, fand er bei diesem schlechte Aufnahme; sein Besuch hatte nur
die Folge, daß die. Schule geschlossen wurde. Doch es war seine Art nicht,
ein Erlebnis schwer zu nehmen; wie der weitumgetriebene Odysseus konnte
er von sich sagen, daß er schon Hundemäßigeres ertragen habe. Er ließ sich
so leicht nicht unterkriegen. Er hatte Geist und Humor genug, das Erlebnis
zu einem künstlerischen Versuch auszubeuten. Wo ein anderer in seiner
Qual verstummt wäre, da gab ihm ein Gott zu sagen, was er leide. In einem
kleinen Lustspiel »Ohne Titel« brachte er einen Gymnasiallehrer a. D. Franz
Werner auf die Bühne, dem alles das begegnet, was er selbst durchgemacht
hatte. Im Jahre 1898 wurde das Stück in Hechingen und Sigmaringen unter
dem Beifall der ganzen Bevölkerung aufgeführt. Er schrieb noch ein zweites
Lustspiel »Fürst Kr^potkin«, worin ebenfalls ein eignes Erlebnis verarbeitet
ist. Der Held des Stückes, Professor Walther, wird bei einem Besuch in der
Reichshauptstadt von einem Geheimpolizisten für den berühmten Anarchisten
Fürsten Krapotkin gehalten und deshalb verhaftet. Nachher klärt sich das
Mißverständnis auf. Das Stück ging 1899 in Hechingen über die Bühne, und
der Verfasser wurde in humoristischer Weise gefeiert. Es darf an dieser
Stelle wohl gesagt werden, daß W. in seinem ursprünglichen Berufe gescheitert
war. Aber er war ein Mann von seltenem Wissensdrang und ungemein reger
geistiger Energie. Kurz vor seinem Tode war er noch von Hechingen nach
Straßburg gezogen, um an der dortigen Universität Vorlesungen zu hören.
Ein redlicher Mann ohne Falsch, hatte er keine Feinde. Sein Humor machte
ihn überall beliebt. Auch er war ein echter Schwabe, ohne die harten
Tugenden, die den Menschen heute in der Welt vorwärts bringen, ohne Miß-
trauen, ohne Schneidigkeit, wie ein Original aus der Rokokozeit in unsere
Zeit verschlagen, so mild und würdevoll in seinem Wesen, daß manche über
ihn lächeln zu dürfen glaubten, die ihm bei weitem nicht ebenbürtig waren.
Er schrieb, zum Teil unter dem Pseudooym Franz v. Aubingen (nach O.wingen, seinem
Geburtsort): Jugendschriften: Bamba Zamba 1871. In der Fremde 1872. Irrfahrten in
London 1873. — Fremdsprachliche Hilfsbücher: Vocabulare CastcUano y Gramatica sin
Reglas 1878. Der geschickte Franzose 1880. Der geschickte Engländer 1880. — Griseldis-
sage auf der iberischen Halbinsel 1895. — Lustspiele: Ohne Titel 1897. Fürst Krapotkin
1897. — Übersetzungen: Sokrates und Jesus Christus 1864. Erinnerungen aus dem Leben
eines Handwerkers 187 1. Lazarillo von Tormes 1881.
7*
lOO Wannenmacher. Heiberg. Sauerniann.
Nekrolog (von A. Zander) in Nr. 1 68 der in Hechingen erscheinenden HohenzoUerischen
Blätter vom 24. Oktober 1904.
Hechingen. Anton Zander.
Heibergy Asta Sophie Charlotte, geb. Gräfin Baudissin, die Mutter des
Dichters Hermann Heiberg, * 7. Mai 18 17 in Greif swald, f 28, Januar 1904
in Schleswig. — Ihre Jugend verlebte A. H. auf dem in Jütland zwischen
Horsens und Aarhus gelegenen Landgut Hovedgaard, welches der Vater bald
nach ihrer Geburt erwarb. 1825 zog sie mit ihren Eltern nach Horsens und
1831 nach Rendsburg. Die Mädchenjahre führten sie nach Kiel, wo sie von
Claus Harms eingesegnet wurde, und später nach Dresden. Am 15. Sep-
tember 1835 heiratete die 18 jährige Komtesse den Advokaten Dr. Karl
Friedrich Heiberg in Schleswig (f 16. August 1872), einen der besten Männer
Schleswig-Holsteins, der seine Heimat über alles liebte und unter den mut-
vollen Kämpfern für Recht und Freiheit immer in erster Reihe stand. An
der Seite ihres Mannes hat die treffliche Frau dann alle Wandlungen der
politischen Geschicke der Herzogtümer miterlebt, in harten, schweren Zeiten
war sie ihm eine unerschrockene, tatkräftige Helferin, sein »guter Kamerad«
im besten Sinne des Worts. So hat sie, man darf es getrost sagen, in
Wahrheit an der Geschichte ihres Landes mitgearbeitet und mitgeholfen,
daß ihm »ein schön'rer Morgen tagte«. Als bleibendes Denkmal dieses
bewegten, reichgesegneten Frauenlebens besitzen wir die »Erinnerungen«, die
A. H. in ihrem 80. Lebensjahre veröffentlichte. Ein Hauch jener wunderbaren
Jugendfrische, welche die Verfasserin sich bis an ihr Ende zu bewahren
wußte, weht durch dies köstliche Buch, das dem Leser längt vergangene
Tage in lebendigster Wirklichkeit vor die Seele führt und mit seiner Fülle
interessanter Schilderungen der politischen und gesellschaftlichen Zustände
einen wichtigen Beitrag zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte bildet.
Mit inniger Teilnahme begleiten wir den Lebensweg der tapferen Frau, die
um so liebenswerter und verehrungswürdiger erscheint, als sie bei allem
Tüchtigen und Großen, das ihr innewohnte, stets auch die feine Bescljeiden-
heit echten Seelenadels bewies.
Vgl. Asta Heiberg, »Erinnerungen aus meinem Leben«. 2. Aufl. Berlin 1897. —
»Die Grenzboien«, Jg. 57, 1898, i. Vierteljahr, S. 319 — 322. — »Die Frau«, Jg. 5, 1898,
S. 613 — 618 (F. Poppenberg, Frau Asta Heibergs Erinnerungen). — Sonntagsbeilage zur
»Vossiscfaen Zeitung«, Nr. 18 v. i. Mai 1898 (E. Schulte, Die »Erinnerungen« der Frau
A. H.). — Alberti, Schriftstellerlexikon, 1866 — 1882, i, S. 277. — »Schleswiger Nach>
richten« v. 30. Januar 1904. — »Kieler Zeitung«, Ab.-Ausg. v. 30. Januar 1904.
Joh. Sass.
Sauermann, Heinrich, Direktor des Flensburger Kunstgewerbemuseums,
* 12. März 1842 in Flensburg, f 3. Oktober 1904 daselbst. — Vor vielen ver-
dient es dieser ausgezeichnete Mann, daß er »nicht ungerühmt zu den Schatten
hinabgehe«. Der Sohn eines Handwerksmeisters, erlernte S. das Tischler-
handwerk und • zog als junger Geselle in die Fremde, um sich in seinem
Spezialfach, der Kunsttischlerei und Bildschnitzerei, weiter zu vervollkommnen.
Namentlich Paris, wo er sich längere Zeit aufhielt, bot ihm reiche Anregung
und Förderung. Anfang der 70er Jahre kehrte er nach Flensburg zurück,
Sauennann. von Bismarck. 101
und bald erwarben sich die Erzeugnisse seiner Werkstatt und der von ihm
ins Leben gerufenen Fachschule für Bildschnitzerei allgemeine Anerkennung.
Seine Haupttätigkeit jedoch galt der im Jahre 1874 von ihm begründeten
Sammlung kunstgewerblicher Altertümer, aus der allmählich dank dem uner-
müdlichen Eifer S.s das Flensburger Kunstgewerbemuseum erwachsen ist.
Die reichhaltige Sammlung, die sehr bald von der Stadt übernommen wurde,
genießt heute als Mittelpunkt der kunstgewerblichen Interessen in Schleswig-
Holstein mit Recht einen bedeutenden Ruf. In allen ihren Teilen zeigt sie
den genialen Sinn ihres Schöpfers und seine warme Begeisterung für die
heimatliche Kunst, der in uneigennützigster Hingebung zu dienen die tiefste
Freude seines Lebens war.
Vgl. »Kieler Zeitung«, Ab.-Ausg. v. 5., Morg.-Ausg. v. 8. Oktober 1904. — Führer
durch das Kunstgewerbemuseum der Stadt Flensburg (von H. Sauermann). Flensburg 1903.
Joh. Sass.
Bismarck» Nikolaus Heinrich Ferdinand Herbert, Fürst von, * 28. De-
zember 1849 zu Berlin, f 18. September 1904 zu Friedrichsruh, Fideikommißherr
auf Schwarzenbeck, erbliches Mitglied des preußischen Herrenhauses, König-
lich Preußischer Staatsminister und Generalmajor ä la suite der Armee, Kaiser-
licher Wirklicher Geheimer Rat und Staatssekretär a. D., Mitglied des Deutschen
Reichstags, Kreisdeputierter des Kreises Lauenburg. — B. erblickte das Licht
der Welt in dem Hause Dorotheenstraße 37 zu Berlin, wo sein Vater damals
als Mitglied der Zweiten Kammer wohnte. Die Geburt erfolgte am Nach-
mittag des 28. Dezember, was dem elterlichen Bekanntenkreise Tags darauf
durch eine Anzeige in der Kreuz-Zeitung wie folgt mitgeteilt wurde: Die gestern
Nachmittag erfolgte glückliche Entbindung meiner lieben Frau Johanna geb.
V. Puttkamer von einem gesunden Sohne zeige ich ergebenst an.
Berlin, 29. Dezember 1849. von Bismarck-Schönhausen.
Am 13. Februar 1850 wurde der Knabe in der elterlichen Wohnung durch
den Prediger Goßner, wie aus dem noch erhaltenen Schreiben des Vaters
an diesen hervorgeht, getauft. Zu den Paten gehörten der Präsident von Gerlach
und der damalige Landrat, spätere Oberpräsident der Rheinprovinz, von Kleist-
Retzow. Der junge Bismarck hat seine ersten Kinderjahre teils in Berlin, teils
auf dem Lande, überwiegend aber in Frankfurt a. M. verlebt, wohin sein Vater
bekanntlich im Jahre 1851 als preußischer Bundestagsgesandter berufen wurde
und dort bis zum Frühjahr 1858 verblieb. In Frankfurt a. M. hat der junge
Herbert v. Bismarck mit seiner Schwester Marie und seinem jüngeren Bruder
Wilhelm zunächst häuslichen Unterricht empfangen, der dann während der
folgenden Jahre in Petersburg und auf dem Lande fortgesetzt wurde, bis
endlich mit der Ernennung des Vaters zum Ministerpräsidenten im Jahre
1862 wieder die erwünschte Stabilität, über deren Mangel Jener so oft und
bitter geklagt hat, in die häuslichen Verhältnisse der Bismarckschen Familie
kam. Am 31. März 1865 wurde Herbert Bismarck in der Dreifaltigkeitskirche
zu Berlin von dem Konsistorialrat Souchon eingesegnet. Der häusliche Unter-
richt wurde bis zum Jahre 1866 den beiden Brüdern von einem Predigtamts-
kandidaten Braune erteilt, den Bismarck Vater in einem Briefe also kenn-
zeichnet: »Etwas Pedant, läßt aber mit sich reden, Berliner von Natur«.
Es sind manche Einzelheiten darüber vorhanden, in wie eingehender Weise
102 von Bismarck.
der Vater sich um den Unterricht der Söhne kümmerte, die, wenn es seine
Zeit irgend gestattete, an jedem Sonnabend mit ihren Heften vor ihm er-
scheinen mußten. Der ehemalige Lehrer erzählt folgenden Vorfall, der ihm
aus dieser Bismarckschen Schulrevision in Erinnerung geblieben ist. Er hatte in
der Geschichte zwei Wochen hintereinander den Jugurthinischen Krieg durchge-
nommen. Bismarck sprach dem Lehrer unter vier Augen seine Verwunderung
darüber aus, der indessen dabei blieb, daß man solche geschichtlichen Vorgänge,
wenn die Schüler sie behalten sollen, gründlich mit ihnen durchgehen müsse.
Der Vater entgegnete : »Sie haben ja von Ihrem Standpunkt ganz recht, aber
die Kerls sind schon so furchtbar lange tot. Nun machen Sie aber, daß Sie
weiter kommen.« Zu Ostern 1866 traten die beiden Brüder in die Ober-
sekunda des Friedrich Werderschen Gymnasiums in Berlin ein. Noch war
Professor Dr. Bonnell, derselbe, bei dem Bismarck Vater während seines
letzten Schuljahres, von Ostern 1832 bis Ostern 1833, in Pension gewesen
war, an der Spitze der Anstalt, ein Umstand, der zu näheren persönlichen Be-
ziehungen zwischen dem Minister und dem bereits bejahrten Schulmanne
führte. Als die Söhne am 3. März 1869 die Abiturientenprüfung bestanden
hatten, bei der Herbert sich in der Geschichte besonders auszeichnete, lud
der Vater die Prüfungskommission einige Tage später zu Tisch, mit dieser
auch den früheren Hauslehrer, nunmehrigen Pastor Braune zu Straußberg.
In dem Trinkspruch, den er »auf seinen alten lieben Lehrer, den Direktor
Bonnell«, ausbrachte, bemerkte er: »Vor 37 Jahren um dieselbe Zeit habe
ich das Abiturientenexamen bestariden, und zwar vor demselben Manne
und unter Leitung desselben Mannes, der jetzt meine beiden Söhne zu
gleichen Zielen geleitet hat. Ich weiß, was ich ihm verdanke. Mögen auch
meine Söhne ihm ein dankbares Andenken bewahren.« In seiner Erwiderung
hob Bonnell hervor, wie viel zur Erreichung des Zieles für die Söhne die
Mutter beigetragen, sowie die richtige Pflege im Elternhause, die ihnen unter
den mannigfaltigen Eindrücken und Zerstreuungen doch den unbefangenen
Sinn und die strenge Pünktlichkeit im Eintreffen nach jeder Ferienzeit be-
wahrt habe. Das einflußreiche Wirken der Mutter sei dabei unverkennbar
gewesen. — Mit Beginn des Sommersemesters 1869 wurde die Universität Bonn
bezogen. Im Laufe des Sommers unternahmen die beiden Brüder eine Reise
nach England, Schottland, Paris und Brüssel, besuchten das Schlachtfeld
von Belle-Alliance und wurden von dem preußischen Gesandten in Brüssel,
Herrn v. Balan, der über den Besuch hocherfreut war, durch Veranstaltung
einer Festlichkeit geehrt. Durch einen Bericht in den Zeitungen kam diese
Reise zur Kenntnis der Bonner Universitätsbehörde, und als die beiden Brüder
nach Bonn zurückkehrten, wurden sie vor Rektor und Senat geladen, die
ihnen feierlich eröffneten, daß eine längeres Verlassen der Universität ohne
Urlaub mit den Universitätsgesetzen nicht vereinbar sei. Am i. Oktober
traten beide Brüder bei den Bonner Husaren als Einjährig-Freiwillige ein,
der Dienst wurde aber für Herbert sehr bald dadurch unterbrochen, daß er
Ende November bei einer Mensur einige »Blutige« davontrug, deren schlechte
Behandlung ihm eine Kopf rose zuzog, so daß sein Zustand einige Tage hin-
durch Gegenstand schwerer Besorgnis der Eltern war. Die Mutter eilte nach
Bonn, um den Kranken zu pflegen, was bis dahin der jüngere Bruder mit
großer Aufopferung getan hatte. Am 20. Dezember erschien der Bundes-
von Bismarck.
103
kanzler selbst in Bonn. Zur Beruhigung der Mutter und auch wohl um die
Söhne in größerer Nähe zu haben, veranlaßte Bismarck deren Versetzung
von den Bonner Königs-Husaren zum I. Garde-Dragoner-Regiment nach Berlin.
Versetzungen von Einjährig-Freiwilligen sind im großen und ganzen selten,
aber Bismarck selbst hatte sich im Jahre 1838 vom Garde-Jäger-Bataillon als
Einjährig-Freiwilliger zur damaligen zweiten Jäger- Abteilung nach Greifswald
versetzen lassen, um auf der Akademie in Eldena landwirtschaftliche Studien
zu betreiben. Jetzt setzte er nun auch die Versetzung seiner Söhne nach
Berlin durch. In dem genannten Regiment machten beide den Feldzug von
1870 mit, Herbert als Fähnrich, Wilhelm Bismarck zunächst als Gefreiter.
Am 31. Juli, einem sehr heißen Tage, wurde Berlin verlassen. Für den
Bismarckschen Familiensinn ist es bezeichnend, daß der Vater von Mainz aus
seinem Sohne Herbert schrieb; »Wird einer von Euch beiden blessiert, so
telegraphiert mir nach des Königs Hauptquartier, Euerer Mutter aber nichts
vorher.« Herbert B. hat über seine Feldzugserlebnisse sehr genaues Tage-
buch geführt, in welchem er auch seine bei der Attacke seines Regiments
am 16. August bei Mars la Tour erlittene Verwundung eingehend beschreibt. ')
Eine Kugel zerschlug ihm die Uhr, eine zweite den Rockschoß, ein Granat-
splitter endlich fuhr ihm in den linken Oberschenkel, zum Glück, ohne den
Knochen zu verletzen. Bekannt ist, daß der Vater am folgenden Tage den
verwundeten Sohn aufsuchte und seine Überführung nach Nauheim veranlaßte,
wohin die Mutter sich zu seiner Pflege begab. Die Zeit vom 19. bis 23. August
konnte Herbert beim Vater im Hauptquartier zu Pont ä Mousson zubringen.
Am 24. August trat er die Reise von dort nach Nauheim an. Der Vater
berichtete der Mutter: »Herbert war sehr wohl und guter Dinge. Ich mußte
ihm heute noch Hosen besorgen, deren er gar keine besaß.« Unterm 7. Sep-
tember wurde Herbert zum Offizier ernannt, sein Bruder zum Fähnrich, was
der König dem Vater an der Tafel in Rheims mitteilte. In einem Briefe
aus Ferneres vom 23. September schreibt der Vater an Gattin und Sohn:
»Die Kränkung über Wilhelmshöhe begreife ich, die Küche, Stall und Li-
vreen sind gegen den Willen des Königs von Berlin geschickt worden, und
Napoleon hat darauf seine eigene schnell entlassen und verkauft, um zu
sparen. Im übrigen ist uns ein gut behandelter Napoleon nützlich. Und
darauf allein kommt es mir an. Die Rache ist Gottes. Die Franzosen müssen
ungewiß bleiben, ob sie ihn wiederbekommen, das fördert ihre Zwistigkeiten.
Wir haben nicht die Aufgabe, sie gegen uns zu einigen.« Rührend ist die
väterliche Sorge, den Söhnen das Eiserne Kreuz zu sichern. Bismarck spricht
sich in verschiedenen Briefen an die Mutter darüber aus, und sagt darin u. a.:
'^Ich selbst trage es natürlich unverdient, kann es dem Könige aber doch
nicht zurückgeben.« Ende Oktober war Herbert bereits wieder so weit her-
gestellt, daß er an seine Equipierung und Ausrüstung für die Rückkehr zum
Regiment denken konnte. Der Vater schreibt der Mutter: »Gib Herbert das
Geld, was er zu seiner Equipierung braucht, und für ein gutes Pferd«, fügte
aber hinzu, Herbert solle sich mit dem Reiten noch vorsehen und nicht zu
früh gesund fühlen. Das Regiment liege still in Villette, exerziere und reite
*) Abgedruckt in »Schönhausen und die Familie Bismarck.« Von Dr. Georg Schmidt P.
Berlin 1888. E. S. Mittler & Sohn.
104
von Bismarck.
Remonten bei Regenwetter. Anfang November wurde Herbert zur Depot-
schwadron versetzt. Der Vater schreibt ihm: »Ich hätte mich gefreut, wenn
Du gekommen wärest, aber ich bin ein zu abergläubischer Vater, um etwas
dafür zu tun und nehme die Dinge, wie Gott sie fügt. Dienstlich bist Du
dort jetzt nützlicher als hier.« Der Mutter schickte er dabei gleichzeitig
einige Blätter von einem Blumenstrauß, »welchen mir gestern ein 47er Unter-
offizier, von seinen Schlesiem im Feuer der Franzosen für mich gepflückt, dienst-
lich mit strammer Meldung von den Vorposten brachte«. Am 12. Dezember
schreibt Bismarck ihr: »Herbert möchte ich eine schöne Säbelklinge zu Weih-
nachten schenken, auch Bill, aber es muß die übliche zulässige Form sein.
Wenn ich sage Klinge, so meine ich Säbel mit Scheide, aber der Wert muß in
der Klinge liegen.« Unterm 26. Dezember gratuliert der Vater ihm zum
Geburtstag: »Danke Gott mit mir für seine Gnade, für die Freude, mit der
ich Deiner gedenke. Ich habe Mama geschrieben? daß ich Dir ein Gewehr
schenken wollte, suche es selbst aus, mit Einlageröhren als Büchsflinte, Kasten,
Wappen und die Jahreszahl 1870 unter letzterem auf der Platte.« Unterm
4. Februar meldet Bismarck seiner Gattin aus Versailles das Eintreffen Herberts,
der mit einem Ersatztransport zum Regiment kommandirt war, und am
folgenden Tage wird aus dem Militärkabinett die Verleihung des Eisernen
Kreuzes zweiter Klasse für Herbert dem Vater mitgeteilt unter gleichzeitiger
Übersendung des Kreuzes zur Aushändigung an den Sohn.
Am 16. Juni 187 1 zog Graf Herbert Bismarck mit seinem Regimente wieder
in Berlin ein. Zunächst war es sein Wunsch, die militärische Laufbahn weiter
zu verfolgen und beim Regiment zu bleiben. Er gab diese Absicht jedoch
später auf, wandte sich staatsrechtlichen Studien zu und legte das diplomati-
sche Examen ab. Damit betrat er die Laufbahn des Staatsmannes, die ihn
binnen vierzehn Jahren bis zur höchsten Sprosse der amtlichen Stufenleiter
führte. Ihr äußerer Gang gestaltete sich wie folgt:
Am 15. Januar 1874 wurde Herbert Bismarck zunächst noch als Offizier
zum Auswärtigen Amte kommandiert und nach Attachierung bei den Gesandt-
schaften in Dresden und in München am 14. April 1875 zur diplomatischen
Laufbahn in das Auswärtige Amt einberufen. Während des Sommers 1874
hatte er bei seinem Vater während eines siebenwöchigen Aufenthaltes in
Kissingen den ausschließlichen Dienst als Sekretär versehen; die gleiche
Stellung nahm er im folgenden Jahre von Mai bis Oktober wahr. Im
Oktober 1875 war er im Gefolge des Kaisers auf dessen Reise nach Mailand,
im März 1876 legte er das diplomatische Examen ab, worauf seine Ernennung
zum Legationssekretär erfolgte. Als solcher gehörte er nominell den Gesandt-
schaften in Bern und später in Dresden an, war jedoch mit Ausnahme weniger
Monate zu Anfang 1878 bei der Botschaft in Wien, fast ausschließlich in der
unmittelbaren Umgebung seines Vaters als dessen Sekretär tätig. Der Reichs-
kanzler hatte das begreifliche Bedürfnis, in seiner nächsten Umgebung Organe
zu besitzen, auf deren Treue, Hingebung und Verschwiegenheit er sich un-
bedingt verlassen konnte. Graf Herbert nahm im Sommer 1878 an den
Arbeiten des Berliner Kongresses als dessen Sekretär teil und ward am 22. März
1880 Legationsrat. Militärisch war er als Rittmeister zu den Offizieren von
der Armee versetzt worden. Im Januar 1881 wurde Herbert in die politische
Abteilung des Auswärtigen Amtes versetzt, begleitete aber auch in der
von Bismarck.
105
der Folgezeit seinen Vater nach Kissingen, Friedrichsruh und Varzin. Im
November wurde er der Botschaft in London als zweiter Sekretär zugeteilt,
im Dezember 1882 mit einer außerordentlichen Mission nach Wien betraut,
im Januar 1883 zum Botschaftsrat in London ernannt. Im Januar 1884 ging
er als Vertreter des beurlaubten Botschafters nach Petersburg, und dort
knüpften sich die erste intimen Beziehungen zu dem damaligen Prinzen,
jetzigen Kaiser Wilhelm IL, der im Mai anläßlich der Großjährigkeitserklärung
des jetzigen Kaisers von Rußland zur Überbringung des Schwarzen Adler-
ordens an diesen nach Petersburg gesandt worden war. Am 15. Juli 1884
zum Gesandten im Haag ernannt, nahm Graf Bismarck an der Dreikaiser-
zusammenkunft in Skiernewice teil und wurde bei diesem Anlaß am 16. Sep-
tember zum Major ä la suite der Armee befördert. Am 28. Oktober erfolgte
im 10. schleswig-holsteinschen Wahlkreise seine Wahl in den Reichstag. Bei
einer früheren Bewerbung um das Mandat zum Reichstage im Juli 1878 war
er mit 3894 Stimmen gegen den Nationalliberalen Dr. Hammacher unterlegen,
der 3899 Stimmen auf sich vereinigte. Das Wort im Reichstage nahm er
zuerst am 4. Dezember 1884 zur Befürwortung einer Gehaltserhöhung der
Subalternbeamten der Reichskanzlei, am 7. Mai 1885 in Sachen der Mahl- und
Schlachtsteuer und am 6. März 1886 zur Berichtigung einer unrichtig wieder-
gegebenen Äußerung über das Branntweinmonopol. Am 70. Geburtstage seines
Vaters, i. April 1885, erhielt er den Roten Adlerorden zweiter Klasse, am
II. Mai desselben Jahres wurde er zum Unterstaatssekretär im Auswärtigen
Amt ernannt, am 17. Mai 1886 zum Staatssekretär. Mit dieser Stellung über-
^siedelte Graf Herbert an den Bundesratstisch und legte infolgedessen sein
Mandat zum Reichstage nieder. Am 17. September wurde er auch mit der
Stellvertretung des Reichskanzlers im Auswärtigen Amt betraut und zugleich
ermächtigt, innerhalb seines Ressorts die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit
durch Unterzeichnung zu übernehmen.
Am 23. Dezember 1887 fügte Kaiser Wilhelm I. in einem Schreiben an
den Reichskanzler die Ernennung des Grafen Herbert zum Wirklichen Ge-
heimen Rat mit dem Prädikat Excellenz hinzu. Der Brief fängt mit den
Worten an: »Anliegend sende ich Ihnen die Ernennung Ihres Sohnes zum
Wirklichen Geheimen Rat mit dem Prädikat Excellenz, um dieselbe Ihrem
Sohn zu übergeben, eine Freude, die ich Ihnen nicht versagen wollte. Ich
denke, die Freude wird eine dreifache sein, für Sie, für Ihren Sohn und für
mich.« Am Schlüsse des langen Schreibens, das im übrigen die Frage der
Unterschriftserteilung an den Prinzen Wilhelm, den jetzigen Kaiser, be-
handelte, bemerkte der Kaiser noch sorgfältig: »Das beifolgende Patent
wollen Sie gefälligst vor der Übergabe kontrasignieren!« Abgesehen davon,
daß Kaiser Wilhelm gern jede Gelegenheit benutzte, namentlich hohe Fest-
tage, um dem Reichskanzler durch Beförderung oder Auszeichnung der
Söhne eine Freude zu machen, darf in bezug auf Herbert Bismarck doch
aus den eigenen Niederschriften des Kaisers hinzugefügt werden, daß der
junge Staatsmann persönlich in hohem Grade das Vertrauen dieses seltenen
Monarchen gewonnen hatte. So schrieb der Kaiser an seinem Geburtstage
1880 an den Reichskanzler: »Ich benutze den heutigen Tag, um mir und
hoffentlich auch Ihnen die Freude zu bereiten, Ihren ältesten Sohn, Graf Her-
bert, zum Legationsrat hiermit zu ernennen. Seine vielfache Beschäftigung in
I06 von Bismarck.
Ihrer unmittelbarsten Nähe, die er zu Ihrer und meiner Zufriedenheit voll-
führt, geben ihm ein Anrecht auf diese Beförderung, die Jedermann ver-
stehen wird. Ihr dankbarer König Wilhelm.« In einem Briefe vom 30. Ok-
tober 1882 an den Kanzler heißt es: »Die Mitteilungen Ihres Sohnes aus
London sind ungemein interessant und das Vertrauen, welches die englischen
Staatsmänner ihm beweisen, ist ein Grund mehr, ihm die dauernde höhere
Rolle bei der Botschaft anzuweisen, deren Ernennung ich in den nächsten
Tagen entgegensehen kann, wie mir Graf Hatzfeld heute sagte.« Unter dem
13. Januar 1884: »Vielfache Störungen zur Vollendung dieses Schreibens
fielen zusammen mit der Durchreise Ihres Sohnes nach Petersburg Ich
habe mich nur freuen können, was Sie mit dieser momentanen Vertretung
bezwecken, und nach einer Unterredung mit Ihrem Sohn habe ich noch
mehr uns gratulieren können zu dieser Sendung, denn ich habe ihn so voll-
kommen tanti zur Befestigung — wenn dies überhaupt möglich sein wird —
der jetzt angebahnten Besserung unserer Verhältnisse mit Rußland gefunden,
daß ich das Beste hoffe.« Über die vorletzte Begegnung, welche Graf Herbert
Bismarck mit dem verewigten Kaiser gehabt hat, hat Graf James Pourtales-
Glumbowitz, der Jugendfreund Herberts, in einer am i. April 1905 zu Wohlau
in Schlesien gehaltenen Festrede berichtet. Am 23. Dezember 1887 war Graf
Herbert Bismarck zum Vortrag bei Sr. Majestät, an dessen Schlüsse er sich
für die auf den nächsten Morgen anberaumte Weihnachtsreise nach Friedrichs-
ruh beurlaubte. Der Kaiser händigte ihm bei dieser Gelegenheit den umstehend
bereits erwähnten Brief an den Reichskanzler vom gleichen Tage ein, der in
dem Anhang zu den »Gedanken und Erinnerungen« (Band I) als letzter abge-
druckt und autographiert steht. Der Kaiser bemerkte noch: »Der Brief ist
schlecht geschrieben, bitte entschuldigen Sie mich bei Ihrem Vater, aber ich
bin ein alter Mann un^ ich kann ihn nicht wieder abschreiben». Dann wurde
der Monarch sehr gerührt und sagte: »Ich habe ihn oft bekämpft und oft
nicht verstanden, aber jetzt am Ende meines Lebens sage ich Ihnen als seinem
Sohne: Er hat immer Recht gehabt«. Damit umarmte er den Grafen Herbert,
was er nie vorher oder nachher getan hat. Die letzte Begegnung mit dem
Kaiser fand am 27. Febrnar 1888 bei der Abmeldung vor Antritt einer Dienst-
reise nach London statt.
An diese Zeugnisse seines Königs reihen sich zwei des Auslandes, die
ihm bei seinem Scheiden von London zuteil geworden sind. Als er Ende
März 1882 anläßlich des Geburtstages seines Vaters London für einige Zeit
verließ, äußerte sich Lord Granville, der Staatssekretär des Auswärtigen, in
einem Schreiben an den britischen Botschafter in Berlin, Lord Amphthill,
über den jungen deutschen Diplomaten wie folgt: »Graf Herbert Bismarck
reist morgen, und es heißt, er werde wahrscheinlich nicht wiederkommen oder
doch nur für kurze Zeit. Das müssen wir aufrichtig bedauern. Er hat sich
außerordentlich beliebt gemacht, und es gibt hier Viele, Lady Granville und ich
mit eingeschlossen, die in der Tat sehr traurig sein würden, ihn zu verlieren.
Er hatte Erfolg in Kreisen, in denen das schwierig und nicht zu erwarten war.
Er zeigt großes Interesse, und sucht energisch die Bekanntschaft mit allen Kreisen
der Bevölkerung — aber, wie Sie wissen, braucht man Zeit, um auf den
Kern zu kommen, und da er vermutlich in der Politik seines Heimatlandes
noch eine sehr beträchtliche Rolle spielen wird, und eins der Hindernisse
von Bismarck.
107
für das bessere Verständnis der beiden Nationen der Mangel an gegenseitigem
Sichkennen gewesen ist, den einige Politiker an den Tag legen, so möchte
ich seine vorzeitige Abberufung für einen Mißgriff halten und die ernsteste
Hoffnung hegen, er werde zu uns zurückkehren und so lange als möglich bei
uns bleiben.« Lord Amphthill teilte dieses Schreiben mit großer Delikatesse
dem Reichskanzler an dessen Geburtstag am i. April 1882 mit, indem er
zugleich dem Fürsten Gesundheit zur Freude seiner Familie und zum Glück
seines großen Vaterlandes wünschte. Er schrieb: indem er diese Indiskretion
begehe, sei es nur seine Absicht, darzutun, wie sehr Graf Herbert in England
geschätzt werde. Als dieser dann im Januar 1884 London verließ, um die
Geschäftsführung in Petersburg zu übernehmen, richtete Lord Granville den
folgenden Brief an ihn:
Private. 18 Carl ton House Terrace
S. W.
Jan. 15/84.
My dear Bismarck!
It is not usual to express one*s regrets in writing to a Secretary of Em-
bassy on his change of post. But the case is different of one who partly
from his personal position, but still more from his abilities and personal
qualities, has done so much to strengthen the good relations of two coun-
tries which have so many interests in common and as far as I know none
which are opposed.
I was truly sorry to hear of your leaving us, and have been pleased to
hear from Odo that your place will not be filled up, and that there is a
Chance of your Coming back to us soon.
I am not very confident of your not being wanted else-where.
You know the welcome you will receive from all, if you return. — If
duty keeps you away, you will have the good wishes of London*s political
and social society, especially of
Yours sincerely
Granville.
(Zu Deutsch:)
Privat. 18 Carlton House Terrace
S. W.
Jan. 15/84.
Mein lieber Bismarck !
Es ist nicht gebräuchlich, einem Botschaftssekretär das Bedauern bei
dem Scheiden von seinem Posten schriftlich zum Ausdruck zu bringen.
Aber der Fall ist ein anderer bei Jemandem, der zum Teil durch seine
persönliche Stellung, aber noch viel mehr durch seine Fähigkeiten und
persönlichen Eigenschaften soviel getan hat, die guten Beziehungen zweier
Länder zu festigen, die so zahlreiche Interessen gemeinsam haben und
soweit als ich es übersehe keine, die einander entgegengesetzt sind.
Ich war aufrichtig betrübt, zu hören, daß Sie uns verlassen, und war sehr
froh, von Odo zu hören, daß Ihr Platz nicht besetzt werden soll und daii
darin eine Chance für Ihre baldige Rückkehr zu uns liegt.
Ich bin indes nicht sehr vertrauensselig, daß Sie nicht irgendwo anders
gebraucht werden.
I08 ^^^ Bismarck.
Sie wissen, welchen Willkommen Sie von Allen bei Ihrer Rückkehr
finden werden. Wenn die Pflicht Sie fernhält, so werden Sie die guten
Wünsche der Londoner politischen und sozialen Gesellschaft haben, ins-
besondere X • 1- •
Ihres aufrichtigen
Granville
Auf dieses — soviel bekannt — bisher unveröffentlichte Schreiben Lord
Granvilles, ist bereits im ersten Band des »Anhangs« zu den »Gedanken
und Erinnerungen« Seite 325 verwiesen. Fürst Bismarck hatte diesen Brief
dem Kaiser mitgeteilt, der ihm darauf unter dem 9. März antwortete: »Das
Billet von Granville ist für Ihr Vaterherz gewiß äußerst genugtuend und
gratuliere ich zu diesem kompetenten Urteil über seine Fähigkeiten. Ich
freue mich daher ganz besonders über seine Sendung nach Petersburg, wo
er in kurzer Zeit eine gleich bedeutende Rolle spielt und ausgezeichnet wird,
wie erst kürzlich auf dem Privatball in Jelagin als einziger Diplomat. Ich
wundere mich daher, daß Sie mir Ihren Sohn unter den mir durch Graf
Hatzfeld genannten Kandidaten für Karlsruhe vorschlagen ließen. Ich sollte
glauben, er würde in Petersburg viel größeren Dienst leisten können als in
Karlsruhe, wo der Gesichtskreis sehr gering gegen Petersburg erscheint.«
Was es mit dem Vorschlage mit Karlsruhe für eine Bewandtnis hatte, erhellt
aus dem Antwortschreiben Bismarcks, worin dieser hervorhebt, daß ihm selbst
im Interesse des Sohnes erwünscht wäre, wenn dieser Petersburg nicht ver-
ließe, ohne wenigstens eine Zeitlang dort Geschäftsträger gewesen zu sein.
Sicherlich würde es dem Wunsche des Sohnes nicht entsprechen, wenn er
durch die Ernennung in Karlsruhe den größeren politischen Kreisen, in denen
er sich bisher bewegt habe, entzogen würde. Die Nennung seines Namens sei
nur in der Absicht geschehen, um ihn, den Vater, durch Rangerhöhung des
Sohnes dahin zu bringen, ihn in ähnlicher Form, wie früher z. B. Herrn von
Radowitz neben Herrn von Bülow, zur Assistenz in den ministeriellen Ge-
schäften heranziehen zu können. »Dadurch daß ich ihn jahrelang als ver-
trauten Sekretär in den wichtigsten Geschäften benutzt habe, ist er ebenso wie
durch seine im Auslande • geknüpften persönlichen Beziehungen für die Mit-
wirkung in der Zentralstelle besonders gut vorbereitet. Doch wird sich
dieser Zweck auch auf anderem Wege mit Eurer Majestät Allerhöchster Ge-
nehmigung erreichen lassen, ohne den älteren Bewerbern Derenthall und
Berchem einen Einschub zu bringen, für den man bei mir persönliche und
nicht sachliche Gründe suchen könnte.« Die Angelegenheit fand später
durch Ernennung des Grafen Herbert Bismarck zum Unterstaatssekretär ihre
Lösung.
Kaiser Friedrich hat die Wertschätzung, in der Graf Herbert bei Kaiser
Wilhelm I. stand, seinerseits fortgesetzt, indem er ihn im Mai 1888 zum
preußischen Staatsminister ernannte, bekanntlich die einzige Ministerer-
nennung, die Kaiser Friedrich vollzogen hat. Die Kaiserin Friedrich hatte
die Anregung gegeben, dem Grafen Herbert den Prinzentitel zu verleihen,
Fürst Bismarck aber hatte gebeten, davon abzusehen, da seine Vermögens-
verhältnisse kaum für eine fürstliche Existenz ausreichend seien, geschweige
denn für eine prinzliche Haushaltung der Söhne, die er über den bisherigen
Existenzfuß nicht hinauswachsen zu sehen wünsche. Wolle der Kaiser ihm
von Bismarck.
109
und zugleich Herbert eine Gnade erweisen, so würde er für die Be-
rufung Herberts in das Staatsministerium dankbar sein, um in dessen
Mitte dauernd einen zuverlässigen Vertreter seiner Anschauungen zu haben.
Diesem Wunsche ist dann seitens des Kaisers umgehend entsprochen
worden.
Die Beziehungen Herberts zu dem jetzt regierenden Kaiser knüpften sich,
wie bereits erwähnt, im Mai 1884 in Petersburg, als der damalige Prinz
Wilhelm dort erschien, um den jetzigen russischen Kaiser zu dessen Groß-
jährigkeit den Schwarzen Adlerorden zu überbringen. Als Herbert später
nach Berlin zurückberufen war und den Dienst im Auswärtigen Amt wieder
angetreten hatte, war es der Wunsch des Prinzen, durch ihn, soweit es der
Fürst nicht selbst konnte, in die Geschäfte des Auswärtigen Amts eingeführt
zu werden, wozu er beim Kaiser die Erlaubnis erbat und erhielt. Es ent-
wickelte sich daraus ein fast täglicher Verkehr, der bald einen persönlich
freundschaftlichen Charakter annahm und auch nach der Thronbesteigung
fortdauerte. Graf Herbert Bismarck begleitete in Vertretung seines Vaters den
jungen Kaiser in den Jahren 1888/89 bei seinen Antrittsbesuchen in Peters-
burg, Kopenhagen und Stockholm, später an die süddeutschen Höfe und
nach Wien, Rom, London, Athen und Konstantinopel. Beim Rücktritt des
Reichskanzlers im März 1890 war es der Wunsch des Kaisers, daß Graf
Herbert im Amt bleiben sollte. Dieser aber war der Ansicht, daß er dadurch
in ein schiefes Verhältnis zu dem neuen Reichskanzler geraten müsse, und
daß ebenso die dienstlichen Interessen wie seine- Pflicht gegen seinen Vater
ihm geböten, diesem zu folgen. Der damalige Entschluß des Grafen Herbert
ist auch nach seinem Ableben oft Gegenstand der Erörterung geworden, und es
gibt heute noch sehr urteilsfähige Männer, die ihn nicht für richtig halten,
sondern der Meinung sind, Herbert hätte im Amt bleiben müssen, er würde
dadurch viel unerwünschte Dinge im Innern und Äußern verhütet haben.
Diese Ansicht hat ja manches für sich, in den Kreisen der damals in Berlin
akkreditierten Diplomatie ist man im Frühling 1890 ohnehin der Meinung
gewesen, daß Grai Herbert in nicht allzu langer Zeit in die Geschäfte zurück-
kehren werde. Heute darüber zu diskutieren, erscheint müßig. Der Erfolg
Herberts wäre davon abhängig gewesen, in welchem Maße der Kaiser ihm sein
Vertrauen erhalten hätte, und ob nicht unvermeidliche Gegensätze zwischen
dem Nachfolger des ersten Reichskanzlers und dem Sohne den Kaiser zu
einer Entscheidung gezwungen hätten, die ein Verbleiben Herberts im Amt
doch zu einem Mißerfolg gestaltet haben würden. Schon der Umstand, daß
er vor der Welt als Dollmetscher der Ansichten seines Vaters im Gegensatz
zu denen des Nachfolgers gegolten haben würde, hätte seine Stellung äußerst
schwierig gemacht. Bismarck selbst lehnte eine ihm nahegelegte Einwirkung
auf die Entschließungen des Sohnes mit den Worten Octavio Piccolominis
in Schillers Wallenstein ab: »Mein Sohn ist mündig.« Die Resignation ist
Herbert sicherlich nicht leicht geworden. Er hing mit voller Hingebung und
Freudigkeit an seinem Amte, um so mehr war es ein harter, aber von Charakter
zeugender Entschluß, daß er so frühzeitig auf eine Berufstätigkeit verzichtete,
der er nicht nur mit ganzer Seele ergeben war, sondern der er sich auch
durch Wissen und Können gewachsen wußte und die ihn mit Ehren, Ansehen
und weitreichendem Einfluß umgab. — Der Kaiser ehrte ihn beim Scheiden
Xio von Bismarck.
durch Verleihung der Kette des Hohenzollern-Ordens und lud sich bei ihm
zu einem Abschiedsmahl zu Gaste.
Zum Nachfolger wurde, nachdem Verhandlungen mit dem damaligen
Gesandten in Brüssel, Grafen Alvensleben, der dazu nach Berlin berufen
worden, an dessen entschiedener Weigerung gescheitert waren, der badische
Gesandte in Berlin, Freiherr v. Marschall, ernannt.
Es ist begreiflich, daß die glänzende Laufbahn des Grafen Herbert Bismarck
mancherlei Neid und Mißgunst herausgefordert hat und man in amtlichen
wie in außergewöhnlichen Kreisen geneigt war, seine schnelle Beförderung
weniger seinen Fähigkeiten als dem Umstände zuzuschreiben, daß sie eben
dem Sohne seines Vaters galt. Bei dieser Beurteilung ist es meist übersehen
worden, daß Herbert in ganz außergewöhnlicher Weise für seinen Beruf heran-
gebildet worden ist, und daß er als vertrauter Sekretär des großen Reichs-
kanzlers ganz anders in der Lage war, Verhältnisse und Persönlichkeiten
kennen und beurteilen zu lernen, als dies sonst bei jungen Diplomaten
der Fall zu sein pflegt. Bismarck pflegte seine Mitarbeiter nicht gerade
zu schonen, und er hat auch an die Arbeitskraft des ältesten Sohnes,
den er sehr bald zu seinem politischen Schüler machte, sehr weitgehende
Anforderungen gestellt. Sowohl bei vertraulichen Missionen nach Wien,
Petersburg und London wie auch während des Berliner Kongresses war er
in einer Weise der Vertraute des größten Staatsmanns unserer Zeit, wie es
ein Sekretär, der eben nicht der Sohn ist, niemals sein kann. Der Vater,
der absoluten Diskretion des Sohnes sicher, konnte mit ihm femliegende
Ziele und die Mittel und Wege zu ihrer Erreichung rückhaltlos besprechen,
ebenso die Art, wie die dabei in Betracht kommenden Persönlichkeiten
Deutschlands und des Auslandes zu behandeln oder zur Mitwirkung heran-
zuziehen wären. Nicht minder wiederum war es für den Sohn und seine
berufliche Ausbildung wertvoll, durch die Vertrauensstellung bei seinem Vater
in der Gesellschaft wie in der politischen Welt eine über sein Lebensalter
weit hinausgreifende Position zu haben und mit einer großen Zahl hervor-
ragender Persönlichkeiten des In- und Auslandes in engeren Verkehr zu
treten. Wenn er ins Ausland und an fremde Höfe gesandt wurde, so öffneten
sich ihm dort viele Türen, die jedem anderen verschlossen geblieben wären,
er trat den leitenden politischen Persönlichkeiten des Auslandes in ganz anderer
Weise nahe, wie sich das auch aus Granvilles Brief ergibt, als es sonst einem
jungen Staatsmann seines Alters und Ranges möglich gewesen sein würde.
Während des Berliner Kongresses nahm Herbert als vertrauter Sekretär seines
Vaters eineganz besondere Stellung ein, die wesentlich darauf beruhte, daß die
vertraulichen Verhandlungen, die Bismarck mit Disraeli, Schuwalow und
Andrassy pflegte, durch Herbert gingen, der nicht selten noch in vorgerückter
Nachtstunde oder am frühen Morgen die fremden Minister im Auftrage seines
Vaters aufzusuchen hatte. Überall im Auslande wurde ihm daher neben der
Achtung, auf die er als Sohn seines Vaters Anspruch machen konnte, auch eine
weitgehende persönliche Wertschätzung entgegengebracht, die auf seinem
Charakter, seinen Fähigkeiten und seinen Kenntnissen beruhte. In Wien war er
als Sohn des Staatsmanns, der das deutsch-österreichische Bündnis geknüpft
hatte, hochwillkommen, an der Einbeziehung Italiens in dieses Bündnis hatte
er bei seiner Mission nach Wien im Jahre 1882 einen hervorragenden Anteil
von Bismarck. XII
nehmen können. Ebenso war seine Sendung nach Petersburg im Früh-
jahr 1884, bei der es sich im wesentlichen um die Verlängerung des be-
stehenden Abkommens mit Rußland und um die Vorbereitung der Drei-
Kaiserbegegnung von Skiernewice handelte, von großer Bedeutung gewesen.
Zu Anfang des Jahres 1885 ^^^ Deutschland in allerlei koloniale Differenzen
mit England geraten, die auch im Schriftwechsel einen verstimmenden
Charakter angenommen hatten und ebenso in den Parlamentsverhandlungen
zum Ausdruck kamen. Am 3. März 1885 sah der Reichskanzler sich genötigt,
im Reichstage gegen das Verfahren, das Lord Granville Deutschland gegen-
über seit einiger Zeit eingeschlagen hatte, öffentlich Verwahrung einzulegen.
Lord Granville hatte in öffentlicher Parlamentsrede den Fürsten Bismarck
als den schlimmen Ratgeber und Verführer zur Annexion Ägyptens hingestellt,
ihm die Äußerung zugeschoben: »to take it«. Bismarck ging in seiner gleich-
falls parlamentarischen Erwiderung sehr ernst und zurückweisend darauf ein.
Seine Rede war eine scharfe sachliche und persönliche Kritik, die unter
anderem auch darüber klagte, daß die Verhandlungen englischerseits aus-
schließlich schriftlich betrieben würden, ein System, welches die ganze
Diplomatie überflüssig mache. Es seien seit dem Sommer 1884 im ganzen
128 schriftliche Noten vom englischen Kabinet eingelaufen, zusammen 700 ois
800 Seiten lang, die sämtlich zu beantworten waren. Bismarck fügte hinzu:
'>so viel haben wir von allen übrigen Regierungen in den 23 Jahren, daß
ich Auswärtiger Minister bin, nicht bekommen.« Unmittelbar nach der be-
treffenden Reichstagssitzung begab Herbert Bismarck sich zum Vortrag zum
Kaiser und reiste dann am Abend nach London ab, formell einer Einladung
Lord Roseberys folgend. Bereits am 6. März entschuldigte sich Lord Granville
im Oberhause in einer Rede, die in ihren Hauptpunkten zuvor mit Herbert
Bismarck und dann im Kabinetsrat festgestellt worden war; England wollte
in seinen damaligen Schwierigkeiten mit Rußland nicht auch zu Deutschland
in solche geraten. Am 12. März begrüßte der Premierminister Gladstone im
Unterhause Deutschland als Genossen Englands auf dem Gebiete der zivilisa-
torischen und kolonisatorischen Bestrebungen. Die Mission Herberts hatte
Erfolg gehabt. Die »Times *< nannten den Grafen Herbert damals - »den
sprechenden Mund seines Vaters«, aber er hatte sich als solcher durchaus
bewährt. Speziell seine Beziehungen zu Lord Rosebery sind bis zum Lebens-
ende sehr enge und freundschaftliche geblieben, Rosebery ist auch Pate des
ältesten Sohnes Herberts, des jetzigen jungen Fürsten Otto Bismarck.
Während der letzten Lebensjahre Kaiser Wilhelms L war der politische
Horizont, wenn auch nicht völlig aufgehellt, wie sich schon aus der Rüstungs-
periode 1887/88 ergibt, so doch insoweit klar, daß die kolonialen Angelegen-
heiten in den Geschäften des Auswärtigen Amtes überwiegen konnten. Die
durch internationale Verhandlungen viel beanspruchte Tätigkeit des Staats-
sekretärseHerbert Bismarck ist denn auch wesentlich auf diesem Gebiete zu
suchen. Auf Einzelheiten einzugehen, gestattet der Raum nicht, ist auch nicht
Aufgabe dieser biographischen Darstellung, ist auch deshalb unmöglich, weil
zu einer völlig objektiven Beurteilung eine Kenntnis der Akten erforderlich
wäre, auf die aus naheliegenden Gründen noch auf eine längere Reihe von
Jahrennicht zu rechnen ist. Persönlich trat Herbert in der Samoa- Angelegen-
heit in den Vordergrund, namentlich bei der Konferenz, die zur Regelung der
112 von Bismarck.
Samoa-Frage im Frühjahr 1889 in Berlin zusammentrat. Der auf dieser Kon-
ferenz erzielte Erfolg der deutschen Diplomatie war sein persönliches Verdienst.
Es erübrigt nun noch einen kurzen Rückblick auf die parlamentarische
Tätigkeit Herberts von Bismarck zu werfen. Er hatte als Staatssekretär
wiederholt im Reichstage koloniale Fragen zu vertreten, mehr das Detail als
die generelle Seite der Sache, für die der Reichskanzler doch meist persön-
lich einstand. Es ist begreiflich, daß innerhalb dieses engens Rahmens große
parlamentarische Lorbeern nicht zu pflücken und viele Erfolge bei einem
Reichstage nicht zu erzielen waren, in welchem eine große Minderheit —
bis 1888 war es die Mehrheit — zusammengesetzt aus Zentrum, Freisinnigen
und Sozialdemokraten, in allen kolonialen Angelegenheiten prinzipiell Oppo-
sition machte.
Nach seinem Rücktritt vom Amt hatte Herbert allmählig den Vorsatz
gefaßt, die politische Laufbahn von neuem und zwar auf parlamentarischem
Gebiet zu beginnen. Er wollte zu diesem Zweck ein Mandat sowohl
zum Reichstag wie zum Abgeordnetenhause annehmen. Den letzten Gedanken
ließ er fallen, obgleich dieses Mandat mit ungleich weniger Schwierigkeiten
als das Reichstagsmandat zu erlangen gewesen wäre. Herbert wollte sich
jedoch auf keine Partei einschwören, und er hätte im Abgeordnetenhaus
unabweislich einer Fraktion beitreten müssen. Für den Reichstag hatte ei
bekanntlich in den Jahren 1884 bis 1886 das Lauenburger Mandat bekleidet.
Vom Jahre 1893 an nahm er das des dritten Magdeburgischen Wahl-
kreises (Jerichow I und II), das ihm bis zu seinem Ableben volle zehn Jahre
hindurch trotz freisinniger und sozialdemokratischer Anfechtung erhalten
geblieben ist. Bei der Absicht, die Mandate anzustreben, mögen dem Grafen
Herbert wohl auch englische Verhältnisse vorgeschwebt haben, wo es nicht
nur nichts Außergewöhnliches, sondern die Regel ist, daß ein Minister nach
seiner Entlassung in das Parlament zurücktritt, aus dem er hervorgegangen.
Denn die Minister in England gehören ja mit geringen Ausnahmen stets
der Volksvertretung in einem der beiden Häuser an. Für Deutschland hat die
parlamentarische Tätigkeit eines früheren Ministers größere Schwierigkeiten,
weil bei der wesentlich verschiedenen Stellung, die in Deutschland die Krone
in bezug auf die Ernennung der Minister einnimmt, die oppositionelle Hal-
tung eines ihrer ehemaligen Berater diesen leicht in eine unbequeme und
schiefe Stellung bringt, und ganz besonders mußte dies für Herbert Bismarck
der Fall sein, namentlich solange sein Vater lebte und bei den vielen Emp-
fängen in Friedrichsruh persönlich einen starken Einfluß auf die Tagesfragen
nahm. Herbert Bismarcks parlamentarische Tätigkeit ist daher von so vielen
Rücksichten eingeengt gewesen, zu denen nach der Entlassung Caprivis auch
noch die persönlichen auf die beiden Nachfolger kamen, daß man auch
an diese Seite seiner öffentlichen Wirksamkeit den Maßstab wie sonst an
einen im politischen Leben stehenden Mann nicht anlegen kann. Alle diese
Rücksichten waren für ihn auch bestimmend gewesen, sich im Reichstage
keiner Partei anzuschließen, die etwas isolierte Stellung, in der er sich da-
durch befand, war gleichfalls hemmend für seine Tätigkeit als Abgeordneter.
Nach dem Tode seines Vaters beschränkte er sich denn auch mehr und
mehr darauf, der Wächter seines großen Andenkens zu sein, er hat in der
Zeit von 1898 bis 1904 nur noch fünfzehn Male das Wort genommen.
von Bismarck.
"3
Das Reden wurde ihm nicht leicht. Die reiche oratorische Begabung des
Vaters war auf ihn nicht übergegangen, aber dennoch fesselte er den Reichs-
tag, so oft er das Wort nahm. Dem ernsten Inhalt seiner Reden war
stets die volle Beachtung bei Freund und Feind gesichert. Denn auch in
der Beschränkung, die er sich selbst auferlegte, ist er eines der bedeu-
tendsten Mitglieder des Reichstags gewesen, als staatsmännische Kapazität
war wohl keiner ihm gleichwertig. Nach dem Tode des Vaters trat er als
dessen Nachfolger auch in das Herrenhaus. Auch dort hat er in der Zeit
von 1899 bis 1904 noch sechsmal das Wort ergriffen. Zum letzten Male am
3. März 1904 zur Polenfrage; diese Rede ist sein politisches Testament
geworden, im Reichstage hat er zum letzten Male am 3. Februar 1903 zur
Diätenfrage gesprochen. (Die im Winter 1904 bei Spemann, Berlin und
Stuttgart, erschienene Sammlung seiner Reden verzeichnet einschließlich der
vor den Wählern gehaltenen von 1878 bis 1904 im Ganzen 65 Nummern.)
Wie glaubwürdig verlautet, wäre ihm der Rücktritt in den diplomatischen
Dienst wiederholt möglich gewesen und ernstlich nahegelegt worden. Aber
obwohl er die Untätigkeit, zu der er sich in verhältnismäßig jungen Jahren
verurteilt sah, schwer empfand und ihm das Landleben nur allmählich Ersatz
für die verlassene große Wirksamkeit bot, zog er es doch vor, im Ruhe-
stande zu bleiben, weil er es nicht über sich gewinnen konnte unter den Nach-
folgern seines Vaters zu dienen. Die Sohnespflicht, wie er sie auffaßte, stand
ihm über Allem. Dementsprechend war es auch sein Wunsch, seine Kinder in
dem historischen Schatten von Friedrichsruh aufwachsen und erziehen zu lassen.
Neidlos hatte er dem jetzigen Reichskanzler, mit dem er aus der Frankfurter
Kinderzeit befreundet war, zu dessen Amtsantritt als erster die wärmsten
Glückwünsche gesandt.
Von Interesse ist eine Äußerung des Reichskanzlers Fürsten Bismarck zu
dem ihm wie dem Sohne befreundeten Abgeordneten von Kardorff, der darüber
berichtet: »Als der Altreichskanzler in Friedrichsruh gelegentlich mir gegen-
über einmal darüber klagte, daß es ihm, nachdem er so lange mitten in der
großen Weltpolitik gestanden, so schwer falle, sich jetzt wieder intensiv für
Land- und Forstwirtschaft zu interessieren, fügte er hinzu: »Meinem Sohne
Herbert wird das ja zum Teil auch so gehen, aber er ist jung, kann mög-
licherweise doch noch einmal herangezogen werden, und er sitzt ja auch im
Reichstage. Ich hätte vielleicht mehr in seinem eigenen Interesse gehandelt,
wenn ich, statt ihn als Staatssekretär des Auswärtigen nach Berlin zu berufen,
ihn länger in der Gesandtenkarriere belassen hätte; ^r hatte wiederholt in
diplomatischen Verhandlungen hervorragendes Geschick bewiesen: im Reichs-
tage bildete er die Zielscheibe, gegen welche meine Gegner ihre Geschosse
richteten, wenn sie mich zu verletzen trachteten. Aber bei den außerordent-
lich diskreten Dingen, welche ich im auswärtigen Dienst und als Reichs-
kanzler unter umständen zu behandeln hatte, war es für mich sehr ver-
führerisch, mich im gegebenen Falle keiner anderen Beihilfe als der meines
Sohnes bedienen zu dürfen.«
Das Fazit seines Lebens hat am treffendsten von allen den zahlreichen
Nekrologen, die dem Fürsten Herbert Bismarck nach seinem Tode gewidmet
worden sind, der »Reichsanzeiger« in dem amtlichen Nachruf, wohl aus der
Feder des jetzigen Reichskanzlers, gezogen. Er hob in würdiger Sprache
Bio^rr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrulo^. 9. Bd. 8
114
von Hismarck.
hervor, daß, als Herbert noch ein Knabe war, der Vater die höchste Staffel des
Ruhmes und der Erfolge erstieg, daß er dann selbst als Jüngling an dem
großen Kriege teilnahm, bei der historischen Attacke von Mars -la- Tour
schwer verwundet, dann noch bei jungen Jahren schnell auf des Lebens
Gipfel hingetragen wurde. »Wenn die ganze Nation voll stolzem Hoch-
gefühl ihrem Pfadfinder, dem eisernen Kanzler, zujubelte, wie hätte sich der
Sohn nicht mit unbegrenzter Verehrung und Bewunderung für den Vater erfüllen
sollen! Was der Staatssekretär und Staats min ister Graf Bismarck an der Seite
des ersten Reichskanzlers als dessen vertrauter Berater für unsere auswärtige
Politik geleistet hat, das wissen bis jetzt nur wenige eingeweihte
Mitarbeiter. Sein Verdienst wird voll erst gewürdigt werden können, wenn
dereinst die urkundlichen Zeugnisse der diplomatischen Geschichte jener
Jahre dem Historiker vorliegen. Mit berechtigter Genugtuung durfte der
Sohn sich sagen, daß er, wie kaum ein anderer, dem Gedankenfluge des
Genius zu folgen und die Ausgestaltung der großen Entwürfe zu fördern
verstand. Ganz ging der Sohn in dem Vater, der Jünger in dem Meister
auf, und der Rücktritt des großen Kanzlers wurde nach des Grafen Herbert
eigner Wahl auch der Abschluß seiner eigenen ministeriellen Wirksamkeit.
— Fürst Herbert Bismarck nahm nach des großen Kanzlers Rücktritt seine
Stellung im öffentlichen Leben mit Folgerichtigkeit und Würde. Die Lebens-
aufgabe, die ihm blieb, dünkte ihm groß und schön genug, dankbar für den
Patrioten und tröstlich für den Sohn, die Aufgabe, eine heilige Flamme zu
hüten, immer wieder auf die nationalen Ideale und auf den Schatz staats-
männischer Weisheit des großen Vaters hinzuweisen. Die Liebe und Be-
wunderung, die jeder deutschgesinnte Deutsche dem Andenken des nationalen
Helden im Herzen bewahrt, potenzierte sich in dem Herzen des Sohnes.
Wenn ein Patriot, der sich als der Träger einer großen nationalen Über-
lieferung fühlte, aus unserer Mitte scheidet, so ist ein solcher Verlust für die
Überlebenden eine neue Mahnung, das unsterbliche Verdienst des unersetz-
lichen Mannes, dessen Namen jener trug und dessen Schild er allzeit in Ehren
hoch hielt, niemals zu vergessen."
Zu seinem Regiment ist Herbert Bismarck bis zu seinem Lebensende in
engen Beziehungen geblieben, bei der Enthüllung des Denkmals seines Vaters
in Berlin war ihm noch die Uniform der Gardedragoner verliehen worden.
Den Jahrestag von Mars-la-Tour beging er fast alljährlich im Kreise des
Offizierkorps, das ihn stets mit Stolz in seinen Reihen sah. In der Verwaltung
seiner Besitzungen ließ Herbert Bismarck es sich angelegen sein, nach jeder
Richtung — sachverständigem Rate gern folgend — fördernd und verbessernd
einzugreifen. Eine seiner ersten Handlungen nach Übernahme des väterlichen
Besitzes war die Aufbesserung der Einkünfte der Angestellten. An dem
Friedrichsruher Schloß hat er einen geschmackvollen Umbau vollzogen und
seinem Vater auf freier Waldeshöhe, die dieser selbst als seine Ruhestätte
bestimmt hatte, ein einfaches, aber würdiges und namentlich den klimatischen
Verhältnissen angepaßtes Mausoleum errichtet. An der großen Völkerstraße
zwischen Berlin und Hamburg belegen, sieht dieses Mausoleum den Welt-
verkehr ununterbrochen an sich vorübersausen, der Deutschlands größten
Hafen mit der Reichshaupstadt verbindet. Auf der einen Seite der Bahn
das in Trauer versenkte Schloß, jenseit das Grufthaus, das auch den gottes-
von Bismarck.
115
dienstlichen Zwecken von Friedrichsruh dient, jedem Vorbeireisenden eine
große geschichtliche Erinnerung. Dort .fluten der wachsende Riesenverkehr
und der Welthandel Deutschlands an der Gruft ihres Bahnbrechers vorüber,
jeder Güterzug eine Huldigung.
Vielen Anfeindungen ist Herbert Bismarck in Bezug auf die von ihm
festgehaltene Abschließung des Friedrichsruher Mausoleums gegen Neugierige,
Ausflügler usw. ausgesetzt gewesen. Ihm war das Mausoleum als die Ruhe-
stätte seiner Eltern ein Heiligtum, als dessen Wächter er sich betrachtete.
Er war bereit, diesen Familienschatz würdigen Besuchern zu öffnen, aber
nicht zum Ausflugsziel von Massen mit pietätlosen Bemerkungen und be
kritzelten Wänden werden zu lassen. Da nicht wie im Charlottenburger
Mausoleum die Sarkophage leer sind, wo die Särge darunter in einem für
das Publikum unzugänglichen Gruftraum stehen, sondern Fürst und Fürstin
Bismarck in den Sarkophagen selbst ruhen, an welche der Beschauer dicht
herantritt, so ist es begreiflich, daß der Sohn die Heiligkeit der Stätte und ihren
Frieden nicht entweiht wissen wollte. Es war ihm ein kostbares Vermächtnis
gewesen, daß der Vater letztwillig seine Ruhestätte dorthin in die Waldes-
stille verlegt hatte und daß er, der Sohn, diesen letzten Willen des Vaters
würdig ausführen konnte. Aus solchen Empfindungen heraus blieb er auf
Eilbotenbriefe oder Telegramme, die von Ausflüglem auf dem Friedrichsruher
Postamt mit Gesuchen um Eintritt in das Mausoleum an ihn gerichtet wurden,
meist unzugänglich. Die Gruft der Eltern sollte der Andacht, aber nicht der
Befriedigung der Neugier dienen.
Im Frühjahr 1892 hatte Graf Herbert Bismarck sich mit der Gräfin
Marguerite Hoyos verlobt, wenige Monate später fand in Wien die Ver-
mählung statt, die durch bekannte Vorgänge einen eigenartigen politischen
Charakter erhielt. Bei aller Freude über die Vermählung des Sohnes war es
für die Eltern doch ein Schmerz, ihn nun endgiltig aus dem gemeinsamen
Haushalt zu verlieren. Namentlich der Vater hätte am liebsten Herbert
dauernd um sich gesehen, aber dennoch hat er dem Selbständigkeitsbedürf-
nis des Sohnes Rechnung getragen und diesem im Jahre 1891 Schönhausen
zu eignem Besitz eingeräumt. Dort etablierte sich das junge Paar in dem
alten Stammsitz, dessen innere Einrichtungen zwar den heutigen Lebens-
anforderungen eines vornehmen Hauses anfänglich wenig entsprachen.
Dennoch haben Herbert und Marguerite Bismarck dort in inniger Behaglichkeit
die größere Hälfte der wenigen Jahre, die ihrem Ehebunde vergönnt waren,
durchlebt. Während der Reichstagszeit von Neujahr bis Ostern nahm Herbert
mit seiner Gemahlin in Berlin Wohnung und pflegte dort im engeren
Kreise mit politisch oder sonst geistig bedeutenden Männern einen regen,
geselligen Verkehr, der von derselben vornehmen Gastlichkeit durchweht
war, wie sie ehedem die Eltern in Friedrichsruh geübt hatten. Persön-
lich einfach und bedürfnislos, wußte er doch seinem Hauswesen ein vornehmes
und behagliches Gepräge zu geben. Nach außen hin Fremden gegenüber
nicht ohne Herbheit, zuweilen selbst schroff erscheinend, war er in seinem
Hause nicht nur der liebevollste Gatte und zärtlichste Vater, sondern auch
der liebenswürdigste und zuvorkommendste Wirt, in dem weltmännische Ge-
wandtheit sich mit der Gastlichkeit des Landedelmannes vereinte. Die Ab-
neigung gegen Scheinwesen, Protzentum, gegen das rein Dekorative, teilte er
8»
1 1 6 von Bismarck.
mit seinem Vater. Deshalb hat er sich auch, wie er später einmal ausge-
sprochen, im Jahre 1888 mit aller Energie gegen den Prinzentitel gewehrt. Er
äußerte später gelegentlich: »Wäre ich nicht so stramm dagegen gewesen, so
würde mein Vater ihn dem damaligen Kaiserpaare doch wohl konzediert
haben.« Seine Liebenswürdigkeit war eine ungesuchte und ungekünstelte, wie
denn überhaupt Schlichtheit des Charakters und klare Nüchternheit als ernster
Grundzug seines Wesens auch in der Unterhaltung hervortraten. Die fröhliche
Lustigkeit, die den Jüngern Bruder auszeichnete, hatte er nicht. Man könnte
fast sagen, daß beiden Brüdern ihre Geburtsstätte den Charakter aufgeprägt
haben : Herbert das herbe, arbeitsame Berlin, Bill das heitere, fröhliche Frank-
furt. Bei Herbert war selbst die Heiterkeit einem gewissen Ernste unter-
geordnet, bei Bill eher der Ernst von einer sonnigeren Lebensauffassung durch-
leuchtet. Dennoch war auch Herberts Temperament nicht ohne Leiden-
schaftlichkeit, bei beiden Brüdern mußte der brausende Most sich erst
abklären, bevor er guten Wein gab. Für das Landleben ursprünglich nicht
erzogen, hatte er, so lange er im Dienst war, wenig Neigung, auch wenig Zeit
dafür gehabt. Nachdem er sich aber in Schönhausen den eigenen Herd
begründet hatte, widmete er sich seiner neuen Aufgabe, Landwirtschaft zu
treiben, mit der ihm eigenen Pflichttreue und geschäftlichen Sorgfalt. Jedes
Ackerstück war Gegenstand seines Interesses, die Freude des Vaters an den
Bäumen lebte auch in ihm auf, er fand sich schnell in alle Zweige des
dortigen landwirtschaftlichen Betriebes hinein. Tief und schmerzlich bewegte
ihn der unerwartete Tod des Bruders. Beide Brüder waren einander in
brüderlicher Liebe zugetan gewesen, sie hatten bis zum Ende Bills in leb-
haftem Briefwechsel miteinander gestanden. Bill war im besten Sinne des
Wortes ein guter Kamerad und hatte sich als solcher auch dem Bruder nach
dessen Verwundung in Bonn, ebenso nach der Verwundung bei Mars-la-Tour
erwiesen, wo er für Herbert und andere Verwundete unermüdlich Eimer Wasser
herantrug. Einige hundert Telegramme und fast eben so viele Beileidsbriefe,
die aus Deutschland und Österreich an Herbert gelangt sind, waren diesem
eine trostreiche Wertschätzung des Verstorbenen.
Dem schriftlichen Nachlaß seines Vaters hat Fürst Herbert Bismarck die
innigste Sorgfalt gewidmet, wie er seiner Zeit auch der Hauptförderer der
»Gedanken und Erinnerungen« bei ihrer Bearbeitung durch Lothar Bucher
gewesen war. Die Angaben in der Schrift Schweningers: »Dem Andenken
Bismarcks« (Leipzig 1899, S. Hirzel) sind da nicht ganz zutreffend. Die
erste Anknüpfung seitens der Cottaschen Buchhandlung war bereits gegen Ende
Januar 1890, also noch während der Amtstätigkeit Bismarcks, erfolgt. Herbert
erteilte damals Namens seines Vaters den Bescheid, »daß dieser Auf-
zeichnungen nicht habe und so lange er im Amte sei, auch nicht daran
denken könne.« An diese Antwort ist dann im Frühsommer 1890 wieder
angeknüpft worden, Bucher hat aber damit nichts zu tun gehabt, auch
Schweninger nicht. Herbert hat sich über seinen persönlichen Anteil an der
Ermöglichung der Arbeit für Bucher später folgendermaßen ausgesprochen:
»Grade im Jahre 1890 war ich wochenlang in Fried richsruh. Bucher kam
dort eines Tages im Frühjahr (Mai oder Juni) zu mir und klagte: mein
Vater sei gelangweilt durch Diktieren, er nehme mehr Interesse an der aktuellen
Politik und er (Bucher) wüßte nicht mehr, wie vorankommen. Darauf sagte
von Bismarck. I 1 7
ich ihm, wir wollen meinen Vater auf bestimmte Themata bringen, oder
knüpfen Sie an Gespräche an, die er beginnt, abgesehen von der Chrono-
logie, heute 1848, morgen Versailles, übermorgen Krimkrieg: Da können
Sie dann gleich notieren und später ordnen. Ist mein Vater im Fluß, so
lassen meine Mutter und ich Sie beide leise im Frühstückszimmer allein. —
So geschah es, und Bucher war mir sehr dankbar für meinen Rat und mein
Eingreifen . . . .« Abends, wenn man um den runden Tisch im Salon
rauchend und lesend versammelt war, saß Bucher meist mit geschlossenen
Augen. Begann ein Gespräch, so war wohl zu merken, wie er aufhorchte.
Sobald Bismarck dann etwas sagte, was Bucher brauchen konnte, so hatte
dieser blitzschnell einen Zettel und Bleistift zur Hand und stenographierte.
Diese Zettel wurden dann chronologisch geordnet, inhaltlich in Übereinstimmung
gebracht, so entstand das Buch im Rohbau, den Bismarck dann jahrelang
mit Künstlerhand architektonisch ausgestaltet hat. Drohte die Unterhaltung
zu stocken und Bucher hatte noch nicht, was er brauchte, so warf er aus der
Fülle seines reichen Gedächtnisses und seines immensen Wissens schnell ein
Stichwort hinein, um über die Stockung hinwegzuhelfen. Eigenes gab er
nicht, das Buch sollte geistig Bismarcks Arbeit sein. Mit der Hingebung,
die ihm eigen war, diente er dem Großen nur als Feder. Ebenso lehnte er
bescheiden die glänzendsten buchhändlerischen Angebote für eine von ihm
zu verfassende Biographie Bismarcks ab, den Hinweis auf die Nachwelt, der
er das schuldig sei, schlug er mit den Worten ab: »Die Nachwelt ist mir
nichts schuldig und ich bin der Nachwelt nichts schuldig.« Einer großen Zeit
in Hingebung und Treue gedient und dadurch noch als gereifter Mann an
der Verwirklichung der besten Ideale seiner Jugend mitgeholfen zu haben,
war sein selbstloser Stolz, mit dem er in das Grab stieg. Herbert hat die
»Gedanken und Erinnerungen« wohl in einzelnen Bruchstücken gekannt, aber
im wirklichen Zusammenhang die Arbeit erst gelesen, als ihm nach des Vaters
Hinscheiden der Probeband vorgelegt wurde, zugleich mit den ihm bis dahin
unbekannten Bestimmungen über die Veröffentlichung. Er hat den Inhalt
dann noch einmal einer genauen Nachprüfung unterzogen. Auf seine Veran-
lassung sind sodann die Briefe seines Vaters an die Mutter in einem stattlichen
Bande erschienen, der seitdem in ganz Deutschland Familienbesitz geworden ist.
Als Nachtrag wurden später die anfangs verloren geglaubten, dann aber in Frie-
drichsruh aufgefundenen Briefe aus dem Feldzug von 1870 hinzugefügt, während
die Briefe aus dem Jahre 1866 namentlich während der kritischen Nikolsburger
Tage noch eine große Lücke aufweisen. Für die Geschichte unserer Zeit aller-
dings noch ungleich wertvoller sind die beiden Anlagebände zu den »Gedanken
und Erinnerungen«, den Briefwechsel zwischen Bismarck und Kaiser Wilhelm I.
sowie mit vielen anderen bedeutenden Zeitgenossen enthaltend. Wenngleich
die ursprüngliche Anordnung für die Veröffentlichung dieses Briefwechsels
noch vom Vater selbst ausgegangen war, hat Herbert auf diese Publikation
doch noch große Mühe verwendet. Für die Briefe seines Vaters an die Mutter
hat er selbst als Herausgeber gezeichnet. Seine eigene literarische Be-
tätigung im Kampfe der Tagesmeinungen ist dagegen eine ungleich geringere
gewesen, als bis in die höchsten Kreise des In- und Auslandes hinein vielfach
angenommen wurde; wo es geschah, galt es fast immer nur dem Andenken
seines Vaters und der von diesem inaugurierten Politik. Nur im Zusammen-
1 1 8 >^on Bismarck. von Stremayr.
hang mit dieser hatten die öffentlichen Vorgänge für ihn noch Interesse, das
allerdings durch die Pflege der geselligen Beziehungen zu den seit alter Zeit
näher bekannten Mitgliedern der deutschen wie der fremden Diplomatie und
der vornehmen Berliner Gesellschaft, durch Reisen nach England, Italien usw.
lebendig erhalten wurde. Wohl befiel ihn nach des Vaters und des Bruders
Tode wiederholt die Neigung, das Mandat niederzulegen und sich aus dem
öffentlichen Leben völlig zurückzuziehen. Aber die Mahnung, daß ein großer
Name große Pflichten auferlege und daß der Name Bismarck aus dem poli-
tischen Leben der Nation nicht verschwinden dürfe, ist in solchen Momenten
des Wehmuts niemals ohne Eindruck auf ihn geblieben. Nun ist doch alles
anders gekommen. Arceol — was er sich jung zum Schiedsspruch auserkoren,
ist der Inhalt seiner Lebensbetätigung gewesen bis zum frühen Ende.
Die Nation soll in ihm das Andenken eines Mannes in Ehren halten,
dessen Arbeit ihrem Dienst und ihrer Größe geweiht war. Schüler des
größten Staatsmannes seiner Zeit hat er sich früh die Anerkennung dreier
Monarchen erworben. Es war ein tragischer Ausgang, als er sich freiwillig von
dem in so jungen Jahren erreichten hohen Amte trennte, an dem er mit ganzer
Seele hing und für welches er durch seinen ganzen Lebensgang prädestiniert
erschien. Es gehörte viel Charakter dazu, in der Entscheidung nicht zu
schwanken und dem dringenden Wunsche des Kaisers zuwider dem Vater in
die Waldeinsamkeit von Friedrichsruh zu folgen, wo der arbeitgewohnte
Vierziger nichts fand, was ihn geistig auszufüllen und seinen Trieb nach arbeit-
samer Betätigung zu befriedigen vermochte. Auf Reisen hat er vergeblich
Ersatz gesucht, bis er im Quarnero den Hafen fand, in dem sein Lebensschiff
für die kurze Spanne, die ihm noch vergönnt war, vor Anker gehen sollte.
Noch tragischer als sein Scheiden aus dem Amte ist dann sein Scheiden aus
dem Leben gewesen, an welches ihn länger zu fesseln die innigsten und zärt-
lichsten Liebesbande vergeblich Alles aufgeboten haben. Darf man von dem
Vater sagen, daß er in seiner ganzen Größe und Heldenhaftigkeit bis an sein
Ende dem innersten Wesen nach der fürsorgliche, umsichtige und im Wogen-
sturm unerschütterliche Deichhauptmann geblieben, so war Herbert bis zu
seinem vielbetrauerten Hinscheiden in Pflicht, Treue und Hingebung wie in
Zorn und Streitbarkeit — der tapfere Dragoner von Mars-la-Tour, dem
sein dort mit seinem Blute erworbenes Eisernes Kreuz zeitlebens die Lieb-
lingszier geblieben ist. Hugo Jacobi.
Stremayr, Karl Anton Franz von, österreichischer Minister für Kultus
und Unterricht, dann Erster Präsident des k. k. obersten Gerichts- und Kassa-
tionshofs, Kurator-Stellvertreter der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften,
* 30. Oktober 1823 in Graz, f 22. Mai 1904 zu Pottschach. — St. war der Sohn
eines Beamten der k. k. Feldapothekenverwaltung, er studierte die Rechte an der
Universität Graz, wo er 1846 den juristischen Doktorgrad erlangte. Nachdem
er 1845 — 1^4^ d^^ Justizpraxis bei dem Grazer Magistrate genommen hatte,
trat er bei der Grazer Finanzprokuratur als Praktikant in den Staatsdienst.
1848 von einem steiermärkischen Wahlbezirke (Kindberg) in die Frankfurter
Nationalversammlung gewählt, schloß er sich dort einem Klub des liberalen
Zentrums (dem »Württemberger Hof«) an und verblieb in der Nationalver-
sammlung bis zur Abberufung der österreichischen Abgeordneten im April
von Stremavr.
119
1849. Nach Graz zurückgekehrt, erlangte er nach vielfachen Schwierigkeiten,
welche ihm — als bemakelten »Liberalen« und »Reichsdeutschen« — das
Mißtrauen der damaligen reaktionären Regierung bereitete, schließlich die
kärglich dotierte Stellung eines Staatsanwaltsubstituten, über welche er —
eben infolge seiner Mißliebigkeit — durch volle 14 Jahre — bis zu seiner
1864 erfolgten Ernennung zum Landesgerichtsrate in Graz — nicht hinaus-
kam. Hauptsächlich zur Verbesserung seiner bedrängten materiellen Lage,
als mit Kindern gesegneter Familienvater, war er damals auch journalistisch —
insbesondere als Mitarbeiter, dann unter fremdem Namen als Redakteur der
»Grazer Zeitung« — tätig, daneben habilitierte er sich als Privatdozent für
römisches Recht an der Grazer rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät,
an welcher er schon 1849 als Supplent dieses Faches gewirkt hatte. Eine
durchgreifende Wendung in seinen Schicksalen brachte St. der Wiederanbruch
einer liberalen Ära und der Wechsel des Regierungssystems nach dem un-
glücklichen Feldzuge von 1859. Im Jahre 1861 wurde er zum Landtagsab-
geordneten für die Vororte von Graz und dann von dem Landtage sofort in
den Landesausschuß gewählt, an welcher Stelle er — nunmehr auch der
materiellen Sorgen ledig — durch eine Reihe von Jahren eine sehr ersprießliche
Tätigkeit — als Organisator der neugeschaffenen oder vom Staate über-
nommenen landschaftlichen Institute, dann als Leiter der Unterrichtsanstalten
des Landes — entfaltete. Aus dieser Stellung berief der Minister des Innern
in dem »Bürgerministerium«, Dr. Giskra, 1869 den ehemaligen Frankfurter
Kollegen als Ministerialrat in das Ministerium des Innern, zugleich erhielt
er von dem steiermärkischen Landtage das Mandat als Abgeordneter zum
Reichsrate. Bei der Rekonstruktion des Ministeriums im Jahre 1870 wurde
sodann St. — wieder auf Giskras Vorschlag — zum Minister für Kultus und
Unterricht ernannt, gab allerdings schon nach kaum zweimonatlicher Tätig-
keit mit dem ganzen Kabinett seine Demission, trat aber wenige Wochen
später abermals als Minister für Kultus und Unterricht in das Ministerium
Potocki. Als auch dieses nach kaum halbjähriger Amtsführung durch das
föderalistische Ministerium Hohen wart abgelöst wurde, trat St. — wie auch schon
nach seinem ersten Rücktritte der Fall gewesen war — als Rat zum obersten
Gerichtshofe über, wurde aber nach dem Sturze Hohenwarts im Dezember
187 1 zum dritten Male als Unterrichtsminister in das neugebildete liberale
Ministerium Auersperg berufen. In dieser Stellung — dem Höhepunkt seiner
Laufbahn — verblieb er durch nahezu 8 Jahre, bei der teilweisen Rekonstruktion
des Kabinetts im Februar 1879 — Austritt der Minister Fürst Auersperg und
Unger, Eintritt des Grafen Taaffe als Minister des Innern — vorübergehend mit
dem Vorsitze im Ministerrat betraut, trat er dann im August dieses Jahres in das
neugebildete Kabinett des Grafen Taaffe, und zwar als Justizminister, während
ihm die gleichzeitige Leitung des Unterrichtsministeriums nur noch provisorisch
für eine kurze Zeit belassen wurde. Allein diese letzte Wandlung war nur der Vor-
bote des Endes seiner politischen Laufbahn: je deutlicher das Regierungssystem
des Grafen Taaffe sich entfaltete, desto unhaltbarer erschien der anfängliche
»Koalitionscharakter« des Kabinetts, der St. den Eintritt ermöglicht hatte;
srhon im Juni 1880 sah er sich genötigt zu demissionieren, worauf er als
II. Präsident in den obersten Gerichtshof übertrat; später — 1891 — wurde
er nach Schmerlings Rücktritt zum I. Präsidenten dieses Tribunals ernannt.
120 ^'®^ Stremayr.
1889 erfolgte seine Berufung in das Herrenhaus, wo er sich der liberalen
Gruppe, der » Verfassungspartei <^, anschloß, 1893 wurde er zum Kurator-
Stellvertreter der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ernannt. Sein
oberstrichterliches Amt führte St. bis 1899, in welchem Jahre er aus Gesund-
heitsrücksichten, infolge eines vieljährigen schmerzhaften Gichtleidens, seine
Versetzung in den Ruhestand erbat und erhielt.
Dieser kurze Umriß seines Lebens und Wirkens läßt bereits erkennen,
daß in St. eine Persönlichkeit auf der Bühne des Lebens stand, welcher be-
schieden gewesen ist, an bedeutenden politischen Hergängen Anteil zu
nehmen und welcher insbesondere ein nicht unwesentlicher Einfluß auf die
politische Entwicklung in Österreich in der zweiten Hälfte des verflossenen
Jahrhunderts vergönnt war. In der Tat spiegeln sich in diesem Lebenslaufe
wie in einem kaleidoskopischen Bilde alle Peripetien ab, durch welche
Österreich in dieser Epoche hindurchgegangen ist, alle die tiefgreifenden
Umwälzungen, welche dieses alte Staatswesen seit einem halben Jahrhundert
durchgemacht hat und deren Kataklysmus wohl auch heute noch nicht
gekommen ist. In der Morgenröte seiner Jugend, als kaum zum Manne ge-
reifter Jüngling saß St. in der Paulskirche und träumte dort mit so vielen
anderen edlen Geistern den Traum von einem mächtigen, einheitlichen, alle
Deutschen umfassenden, von dem Lichte der Freiheit durchströmten Deutsch-
land, als müder Greis, enttäuscht und längst zurückgekommen von den Hoff-
nungen seiner Jugend, irregemacht auch in dem Vertrauen auf die Geschicke
seines österreichischen Vaterlandes, betrübt und geängstigt durch das beständige
Übergreifen gefährlicher, den alten einheitlichen Staatsverband unaufhörlich
auflockernder Strömungen — so ist er dahingegangen.
St.s Lebenslauf scheidet sich im wesentlichen in vier Epochen : die Frank-
furter Zeit, das Dezennium der Reaktion von 1850 — 1860, die Periode seiner
erfolgreichen Tätigkeit als Politiker und Minister (1861 — 1880), endlich die
Zeit, in welcher er nach dem Sturze der liberalen Parteien sein oberstrichter-
liches Amt verwaltete.
1848 — 1850. Niemals war '^ein Mann geeigneter, die eine historische
Epoche bewegenden Ideen in sich aufzunehmen, wie St. in diesem ersten Ab-
schnitte seiner politischen Laufbahn. Er war eine ideal veranlagte, überaus
begeisterungsfähige Natur, von einer Frische, Lebhaftigkeit und Jugend-
lichkeit der Auffassung, die er bis in sein hohes Alter bewahrte. So traf der
Frühlings- und Freiheitssturm, der im Jahre 1848 durch die Welt ging, hier
ein besonders empfängliches Gemüt. In die Frankfurter Reichsversammlung
berufen, nahm er an allen Peripetien dieser in ihrer Art in der Geschichte
einzig dastehenden Versammlung Anteil. Die überströmende nationale
Begeisterung, der doktrinäre Liberalismus, das hochgesteigerte Bewußtsein
und Souveränitätsgefühl dieser Volksvertreter, welches in seiner Selbstgenüg-
samkeit alle realen Machtfaktoren übersah oder vernachlässigte, der völlige
Mangel an praktischem Sinn, an jener Einsicht in die Wirklichkeit der Dinge,
von welcher allein in dieser harten Welt der Erfolg abhängt — dies waren
die typischen Züge des Frankfurter Parlaments, die Ursachen des kurzen
Glanzes und des beispiellosen Zusammenbruchs dieser durch alle großen und
berühmten Namen der deutschen Nation geschmückten Versammlung. In
dieser politischen Atmosphäre, deren Überschwenglichkeit und naive Unkenntnis
von Stremayr. 121
der politischen Realitäten dem Sinne der Jugend entsprach, war St. mit voller
Hingabe tätig. Er war von den 586 Abgeordneten der jüngste, fungierte
deshalb in der Eröffnungssitzung als »Jugendschriftführer« und betrat in dieser
Eigenschaft als Erster die Rednertribüne in der Paulskirche, um die Be-
grüßungsadresse des den Platz räumenden Bundestags an die Nationalver-
sammlung zu verlesen. Mit der Begeisterung der Jugend nahm er an jener
Rheinfahrt zum Kölner Dombaufeste im August 1848 teil, in welcher alle
politischen Differenzen in einer glücklichen Flitterwochenstimmung gelöst
schienen, mit der Beredsamkeit des Herzens vertrat er mit seinen Parteigenossen
einen vorgeschrittenen Liberalismus und die Idee einer starken Zentral gewalt,
der alle Einzelstaaten als Glieder des Reichskörpers sich unterzuordnen hätten.
Um so empfindlicher traf ihn der Zusammenbruch all dieser »Hoffnungen und
Entwürfe,« als inmitten dieses politischen Schattenspiels, in dem sich seine
ehrliche Begeisterung gefiel, die harte Wirklichkeit emporstieg, die Idylle sich
immer mehr zum Drama gestaltete, die unüberbrückbaren Gegensätze unter
den sich immer leidenschaftlicher befehdenden Parteien erkennbar wurden,
immer wieder, insbesondere in dem Streite über das »Erbkaisertum«, der durch
keine politische Theorie zu überwindende Antagonismus der führenden Groß-
mächte zutage trat, überall endlich, wo die Doktrin der Versammlung sich
praktisch betätigen wollte, klar wurde, daß die reale Macht bei den Staats-
gewalten zurückgeblieben war, an welcher, wie an einem Felsen, die Woge der
nationalen Begeisterung sich brach.
1850 — 1861. Enttäuscht und ernüchtert kehrte St, nach Graz zurück.
Das kärglich besoldete Amt eines Staatsanwaltsubsti tuten, das ihm, dem mit
Mißtrauen betrachteten liberalen Frankfurter Abgeordneten, nach vielen frucht-
losen Bemühungen endlich zuteil wurde, stellte seine Standhaftigkeit auf harte
Proben. Dem revolutionären Ausbruche, welcher mit so viel Mühe nieder-
geworfen worden war, war eine harte Anwendung der Gewalt gefolgt: jede
liberale Regung schien den damaligen Autoritäten in Widerstand und Umsturz
auszumünden, jedes Mittel der Repression schien hiernach gerechtfertigt. Und
wie dies immer und überall der P'all ist, fand diese Politik der Regierung
auch noch übereifrige Organe, welche, päpstlicher als der Papst, stets noch
einige Schritte weitergingen, als von ihnen verlangt wurde. Was damals
bureaukratische Engherzigkeit und Willkür, Wohldienerei und Servilismus zu
leisten vermochten, ist heute kaum mehr begreiflich; um so verständlicher
ist, daß ein Mann, der nicht nur ein ehrlicher Liberaler, sondern auch ein
guter und wohlwollender Mensch war, es damals nicht leicht hatte, das Amt des
öffentlichen Anklägers zu führen. Denn Organ und Arm der Regierungs-
politik war ja in erster Linie der Staatsanwalt. Daß St.s Amtsführung damals
nicht befriedigte, daß er bei jeder Gelegenheit zurückgesetzt wurde und durch
14 Jahre über seine subalterne Stellung nicht hinaus kam, erklärt sich hiernach
von selbst. Es war dies wohl die härteste Zeit in St.s Leben: zu den
Schwierigkeiten seiner amtlichen Stellung gesellten sich bittere Nahrungs-
sorgen und Unglücksfälle in seiner Familie, an der er mit rührender Zärt-
lichkeit hing.
1860 — 1880. Diese drangsalvolle Epoche in St.s Leben nahm ihr Ende, als
er beim Wiedereintritt verfassungsmäßiger Zustände zu der obenerwähnten
Wirksamkeit im steiermärkischen Landtage und Landesausschusse berufen
122 ^'on Stremayr.
wurde. Die hierbei an den Tag gekommene hervorragende administrative
Begabung St.s veranlaflte seine Berufung als Ministerialrat in das Ministerium
des Innern, aus welcher Stellung er in dem Ministerium Hasner auf die Re-
gierungsbank gelangte. Dieses Kabinett war nun allerdings nur ein kurzer
Epilog des »Bürgerministeriums« ; in dem »Memorandenstreite« hatte die
zentralistische Majorität des Kabinetts die dissentierenden Minister zum
Austritt gezwungen und sich in dem Ministerium Hasner rekonstruiert, allein
die Zustände, in denen die Regierung verblieb, waren so unhaltbare, daß
schon nach wenigen Monaten der Kurs geändert und den Vertretern jener
kaum erst zurückgedrängten Richtung das Staatsruder in die Hand gegeben
wurde. Es kam das Ministerium Potocki, welches mit dem Schlagworte:
»Dezentralisation und Erweiterung der Autonomie der Länder« den födera-
listischen Aspirationen entgegenkam, zugleich aber auch die Deutschen durch
ein liberales Regiment gewinnen wollte. Daß St. sich nachträglich zum
Eintritt in dieses Kabinett bestimmen ließ, wurde ihm von seinen Parteige-
nossen arg verdacht; vielehielten damals das Ende seiner politischen Laufbahn
für gekommen. Daß dem nicht so war, hatte seinen Grund darin, daß dieses
»Koalitionsministerium« zu kurz regierte, um seine liberalen Mitglieder — St.
und den Justizminister Tschabuschnigg politisch zu kompromittieren und daß
seine Lebensdauer doch lange genug war, um St. Zeit zu einer Aktion zu
lassen, welche ihm mit einem Schlage den begeisterten Dank aller freisinnigen
Österreicher erwarb. Dieses war die Kündigung des Konkordats vom
i8. August 1855 aus Anlaß des durch das vatikanische Konzil proklamierten
Unfehlbarkeitsdogmas. Durch fast 10 Jahre, seitdem verfassungsmäßige
Zustände bestanden, war versucht worden, diesen auf den Völkern Österreichs
wie ein Alb lastenden Vertrag abzuschütteln: Schmerling hatte dies im Wege
der Verhandlung mit der Kurie — selbstverständlich erfolglos — angestrebt,
das Bürgerministerium hatte einzelne im Konkordate preisgegebene Lebens-
gebiete wieder der staatlichen Gesetzgebung unterstellt (das Ehewesen, das
Verhältnis von Kirche und Schule, die interkonfessionellen Verhältnisse),
allein obwohl beständig angefochten, zum Teil auch schon durchlöchert, war
das Konkordat doch in Kraft geblieben — jetzt erst gelang es dasselbe mit
einem Schlage zu beseitigen.
Es bleibt St.s Verdienst, den günstigen Augenblick hierfür erfaßt und benutzt
zu haben. Die Beustsche Revanchepolitik hatte in ihrem verschlungenen
Gespinnste auch eine Falte, in welcher ein gutes Vernehmen mit der italienischen
Regierung — wenn nötig auch mit Preisgebung des Patrimoniums St. Petri —
vorausgesetzt, jedenfalls auf ein solches mehr Gewicht gelegt war, als auf
das Verhältnis zur Kurie, die Regierung ihrerseits war bestrebt, die Völker
Österreichs von ihrem programmatischen, jedoch vielfach bezweifelten Liberalis-
mus zu überzeugen, endlich und hauptsächlich lieferten die vatikanischen
Beschlüsse eine unanfechtbare staatsrechtliche Basis der Aktion. Die öster-
reichische Regierung stellte sich auf den — seither leider oft mißverstandenen —
Standpunkt, daß ein Vertragsverhältnis, welches als solches die gleiche
rechtliche Stellung der Kompaziszenten zur selbstverständlichen Voraussetzung
hat, nicht länger mit einer Macht aufrechterhalten werden könne, welche sich
unfehlbar, ihre Aussprüche also als unbedingt bindend und inappellabel erklärt,
während sie zugleich — wie erst kurz vorher in der Enzyklika und dem
von Stremavr.
123
Syllabus Pius IX. geschehen war — nahezu alle göttlichen und menschlichen
Dinge, insbesondere auch eine große Anzahl staatlicher Belange und vor
allem solche, welche Gegenstand der konkordatlichen Regelung waren, in
ihre ausschließliche Kompetenz und höchste Judikatur einbezog.
Auf Grund dieser Rechtsdeduktion erfolgte die Kündigung des Vertrags
in Rom im August 1870. Damit war allerdings nur der Vertrag, nicht auch
das Patent vom 5. November 1855, welches den Inhalt des Vertrages als
Staatsgesetz promulgiert hatte, aufgehoben. Allein St. war es beschieden,
sein Werk zu Ende zu führen. Im Februar 1871 fiel das zwischen unverein-
baren Gegensätzen hin- und herschwankende, zugleich liberal und föderalistisch
schillernde Kabinett Potocki, und eine ausgesprochen föderalistische Regierung
trat unter dem Vorsitze des Grafen Hohen wart ins Amt. Allein schon nach
7 Monaten war diese Regierung an der schreienden Unvernunft ihrer Politik,
welche in den phantastischen »Fundamentalartikeln« des böhmischen Land-
tags gipfelte, an dem einmütigen Widerstände der Deutschen und an dem
heftigen Einsprüche der ungarischen Politiker gescheitert, und es trat abermals
eine deutsch-liberale Regierung — das Kabinett des Fürsten Auersperg —
ins Amt, in welchem St. — nun schon fast selbstverständlich — abermals
das Kultus- und Unterrichtsportefeuille erhielt (November 187 1). Jetzt erst
war es ihm vergönnt — in einer verhältnismäßig langen Amtsdauer — die
Tätigkeit zu entfalten, welche ihm ein dauerndes Andenken in der Geschichte
der österreichischen Verwaltung sichert. Seine erste und wohl auch be-
deutendste Leitung war der Ausbau der kirchenpolitischen Gesetzgebung.
Auf der durch die Kündigung des Konkordates freigelegten Rechtsbasis wurde
das Verhältnis von Staat und Kirche durch staatliche Gesetze geregelt, deren
maßvolle Weisheit seither die Anerkennung der ganzen Welt gefunden hat.
In kluger Abwägung der staatlichen und kirchlichen Exigenzen, mit vor-
sichtiger Berechnung der beiderseitigen Machtsphären und in besonnener
Abwehr sowohl der klerikalen Übergriffe wie der gerade auf diesem
Gebiete oft zu einem unklaren Radikalismus neigenden Forderungen der
liberalen Parteien wurde hier das schwierige Thema einer solchen Gesetz-
gebung: die Wahrung der staatlichen Machtvollkommenheit einer- und der
Freiheit und Selbstbestimmung der Kirche andererseits, in denkbar glück-
lichster Weise behandelt. Wie eine dunkle Folie dieser Aktion erschien der
fast gleichzeitig von der preußischen Regierung mit dem Aufgebote aller
staatlichen Machtmittel und doch ganz erfolglos geführte »Kulturkampf»,
welcher, obwohl unter den Auspizien des größten Staatsmanns vor sich gehend,
an der unrichtigen Beurteilung der Verhältnisse und der Unvernunft der
staatlichen Maßregeln vollständig scheiterte.
Auf demselben Gebiete gab St. einen anderen Beweis überlegener
Staatskunst durch die Besonnenheit, mit welcher er der damals hochgehenden
altkatholischen Bewegung gegenübertrat. Wieder im Unterschied von den
deutschen Regierungen (Preußen, Bayern, Baden) widerstand St., die Aus-
sichtslosigkeit dieser Bewegung erkennend, der Aufforderung einer Konstituierung
altkatholischer Kirchengemeinden innerhalb des Verbandes der katholischen
Kirche, förderte dagegen und erzielte auch schließlich die gesetzliche An-
erkennung des in einigen wenigen Gemeinden selbständig organisierten
altkatholischen Bekenntnisses.
1 24 ^'^^ Stremayr.
Ebenso wie als Kultus-, war St. auch als Unterrichtsminister schöpferisch
tätig. Selbst geistig auf der vollen Höhe der Zeit stehend, ein Freund der
Musen, allen Bestrebungen in Wissenschaft und Kunst mit vollem Verständnisse
entgegenkommend, hat er während seiner letzten Amtsführung seinen Namen
mit einer fast unübersehbaren Reihe bedeutender Aktionen auf dem Gebiete
des öffentlichen Unterrichts verknüpft. Die größten Verdienste erwarb er
sich um das Hochschulwesen: die Gründung der Universität Czemowitz,
welche innerhalb eines halben Jahres wie aus dem Nichts geschaffen wurde,
die Errichtung der rechts- und staatswissenschaftlichen Seminare, die Organi-
sierung des seminaristischen Unterrichts überhaupt, die Wiederbelebung der
stark verödeten akademischen Lehrkanzeln durch ein System von Unter-
stützungen der Kandidaten des akademischen Lehramts, die Reform und
Modernisierung der Doktoratsprüfungen, die Errichtung zahlloser neuer
Lehrstühle und Lehrinstitute (insbesondere auch für die nicht deutschen
Nationalitäten), die Errichtung oder Reorganisierung mehrerer technischer
Hochschulen sowie der Hochschule für Bodenkultur — dieses und vieles
andere war auf diesem Gebiete sein Werk. Im Bereiche des Mittelschul-
wesens wurde die Schulaufsicht reorganisiert und eine große Anzahl Gymnasien
und Realschulen errichtet. Mit zielbewußter Energie führte St. femer die
Organisation des Volksschulwesens auf Grund des eben erst ins Leben getretenen
Reichsvolksschulgesetzes durch, welch letzteres, nur allgemeine Grundsätze
enthaltend, erst noch der Ausführung durch ein System von Landesgesetzen und
Ministerialverordnungen bedurfte. Mit wahrer Begeisterung endlich und
gewissermaßen als Herzenssache behandelte er alle Angelegenheiten der
schönen Künste. Durch Berufung hervorragender Künstler wurde Rang und Ruf
der Akademie der bildenden Künste gehoben : ein ganz besonderes, nicht genug
hochzuschätzendes Verdienst aber erwarb sich St. durch die Organisierung des
gewerblichen, insbesondere des kunstgewerblichen Unterrichts. Hier hat seine
Initiative ein ganz neues Gebiet des öffentlichen Unterrichtswesens erschlossen,
auf welchem der Vorgang der österreichischen Regierung für alle anderen
Staaten bahnbrechend und maßgebend gewoiden ist und welches seither eine
so mächtige Entwicklung erfahren hat, daß dieses Schaffen heute zur Signatur
unserer Zeit gehört.
Es versteht sich von selbst, daß St. bei dieser umfassenden Wirksamkeit
eines Stabes von Mitarbeitern bedurfte. Insbesondere bei seiner schöpferischen
Tätigkeit im gewerblichen Schulwesen war er von den Kunstgelehrten
Professor Eitelberger und Freiherr von Dumreicher wirksamst unterstützt.
Als Beirat in kirchlichen Angelegenheiten fungierte durch eine Reihe von
Jahren der nachmalige Kardinal und Fürsterzbischof von Wien J. Kutschker,
ein Kirchenfürst von seltener Weisheit und Milde der Gesinnung. Bei der
Aktion auf dem kirchenpolitischen Gebiete war der Verfasser dieser Zeilen
tätig, der zuletzt als Sektionschef die Kultusangelegenheiten, das Hochschul-
wesen und die administrative Judikatur des Ministeriums leitete. Der dermalige
österreichische Ministerpräsident Freiherr von Gautsch fungierte als St.'s
Präsidialsekretär.
Leider schloß St.s Ministerlaufbahn mit seiner Wirksamkeit als Justiz-
minister in dem Kabinett des Grafen Taaffe in unerfreulicher Weise ab. Der
Kurs war ein anderer geworden, ohne daß St. dies sofort b'^griff. Und doch
von Stremayr. 1 2 r
war eines der deutlichsten Anzeichen hierfür gerade der Umstand, daß St.
von dem so erfolgreich geführten Unterrichtsressort weggedrängt und auf das von
der politischen Strömung weniger heftig umspülte Portefeuille der Justiz
gewiesen worden war. Auch in diesem Ressort kam aber die geänderte
Richtung des Regierungsschiffes bald zum Vorschein und so wurde St.s Name
insbesondere mit jener vielberufenen, die erste wichtigere Konzession an die
nationalen Aspirationen enthaltenden Sprachenverordnung für die böhmischen
Gerichte verknüpft, welche St. noch kurz vor seiner Demission unterzeichnete,
ohne sich bestimmt zu sehen, das zweifelhafte Verdienst dieser Maßregel
seinem schon bereitstehenden Nachfolger zu überlassen.
1880 — 1904. St. trat von der politischen Wirksamkeit zurück, als er mit
der Richtung, welche die Regierung einschlug, nicht länger einverstanden
sein konnte. Es folgte die Zeit, in welcher die führenden Staatsmänner auf
eine grundsätzliche, von einem leitenden Gedanken ausgehende Regierungs-
politik verzichteten und ihre Aufgabe nicht mehr in erster Linie in den
der Natur und geschichtlich erwachsenen Struktur unseres Staatswesens ent-
sprechenden Exigenzen, sondern nur darin erblickten, zwischen den hadernden
Nationalitäten zu vermitteln. Damit hat zwar die nächstfolgende Regierung,
die des Grafen Taaffe, sich durch 14 Jahre am Staatsruder zu behaupten
vermocht, allein dem aufmerksamen Beobachter konnte auch in dieser Epoche
nicht entgehen, daß die Politik des Kabinetts eine leise, aber sicher destruierende
war, welche die überlieferten Grundlagen des staatlichen Bestandes aufgab,
ohne ein anderes politisches System von gleicher Tragkraft an ihre Stelle
setzen zu können. Eine schiefe Ebene war betreten, auf welcher es keinen Halt
mehr gab: dem kurzen Zwischenspiele des »Koalitionsministeriums« Windisch-
graetz folgte die aggressive Politik des Grafen Badeni, welcher die Deutschen,
die durch die Politik des Grafen Taaffe zu einer nationalen Partei neben den
andern nationalen Parteien gemacht worden waren, das Gewaltmittel der Ob-
struktion entgegensetzten, es folgten dann die trostlosen Jahre, in denen die parla-
mentarische Maschine still stand, während die einander ablösenden Regierungen
nach wie vor ein eigenes grundsätzliches Programm, eine objektive Grund-
ansicht von der Aufgabe der Regierungspolitik, an welcher die subjektiven
Aspirationen der hadernden Nationalitäten abzuschätzen waren, vermissen
ließen. Dies war wenigstens St.s Ansicht von der Politik des Tages, und sie
bestimmte ihn, der übrigens in diesem letzten Abschnitte seines Lebens von
körperlichen Leiden schwer heimgesucht war, sich jeder politischen Wirk-
samkeit, auch der im Herrenhause, zu enthalten und sich nur den Aufgaben
seines hohen richterlichen Amtes — bis zu seinem Rücktritte von demselben
1899 — 2:u widmen. Die letzte Wendung in der österreichischen Politik,
mit welcher der unbefriedigende Verlauf der Dinge wenigstens vorläufig zu
einem gewissen Stillstand gekommen zu sein scheint, indes freilich wieder
in dem anderen Staate der Monarchie die schwersten Stürme toben, hat er
nicht mehr erlebt.
Überblicken wir zum Schlüsse das Leben und Wirken dieses Staatsmanns,
so müssen wir wohl zu der Überzeugung gelangen, daß nicht allzu viele unserer
Zeitgenossen eine so fruchtbare Wirksamkeit entfaltet und in so hohem Grade
Anspruch auf den Dank der Mitlebenden wie der kommenden Geschlechter
erworben haben. St. war gewiß keiner jener genial veranlagten Staatsmänner,
1 26 ^'O^ Stremayr. Meyer Cohn.
welche, ihrer unbedingten Überlegenheit sicher, kühn durchgreifend ihre Ideen
zum Siege führen: er war eine feine, weiche, stets zu milden und versöhn-
lichen Maßregeln neigende Natur, welche erst hart werden konnte, wenn alle
Mittel, ohne Härte durchzukommen, erschöpft waren, welche den Gegner erst
zu gewinnen oder durch eine kluge Taktik zu entwaffnen suchte, bevor sie
den Kampf aufnahm, welche in der Front erst angriff, wenn kein Umgehungs-
manöver mehr gelingen konnte. Allein mit dieser Veranlagung verband er
eine überall sich bewährende Einsicht und Sachkenntnis, einen unermüdlichen
Arbeitseifer, eine ganz besondere, geradezu »diplomatisclie« Geschicklichkeit
in der Behandlung und Ausnützung schwieriger Situationen und — bei aller
Nachgiebigkeit und Versöhnlichkeit in der Form — zähe Ausdauer in der
Sache. Stets endlich und auf jeder Stufe seiner Laufbahn blieb er seinen
politischen Grundsätzen treu, niemals hat er in dem verschlungenen Gewebe
der Politik, durch das ihn sein Lebensweg führte, seine liberalen Anschauungen,
seine gut deutsche und gut österreichische Gesinnung verleugnet oder einem
persönlichen Vorteil zum Opfer gebracht, noch in seinen letzten Lebenstagen
leuchteten ihm — wenn auch mit der durch Alter und Erfahrung bewirkten
Abklärung — die Ideale seiner jungen Jahre.
Daß seine Veranlagung, wie sie ihre Vorzüge hatte, auch die denselben
entsprechenden Schwächen aufwies, ist ja selbstverständlich. Dieselben Eigen-
schaften, welche ihm für seine Erfolge zustatten kamen: die gewinnende
Liebenswürdigkeit des Auftretens, das Bestreben, dem Gegner entgegenzu-
kommen und jedermann gerecht zu werden, jene Milde und Versöhnlichkeit
seines Wesens, welche auch zwischen den schroffsten Gegensätzen zu ver-
mitteln suchte, eben diese Eigenschaften haben wohl auch bewirkt, daß er
mitunter mehr zugestand, als gerechtfertigt war, auch dort nachgab, wo er
standzuhalten hatte, sich mit einem halben Erfolge begnügte, wo bei schärferem
Auftreten ein ganzer erzielt werden konnte. Allein eben diese seine Eigenart,
welche ihm bisweilen über dem »suainter in modo^ das y>forttt€r in re^ vergessen
ließ, hat ihm, wie die Dinge lagen, auch Erfolge ermöglicht, welche bei einer
anderen Veranlagung vielleicht nicht zu erzielen waren, so daß er schließlich
doch mehr als mancher andere, ihn vielleicht persönlich überragende
Politiker erreicht, unvergängliche Früchte seines Staatsmann ischen Wirkens
hinterlassen und sich einen rühmlichen Platz in der Geschichte unserer Zeit
gesichert hat.
Mit teilweiser Benutzung eines Artikels des Verfassers in der »Neuen Freien Presse«
vom 30. Oktober 1903. Karl Freiherr v. Lemayer.
Cohn, Mcycr Alexander, Bankier, Sammler, • Berlin i. Mai 1853,
f II. August 1904 ebenda. — Dies schlichte Geleitwort schreibt der Freund
dem Freunde.
Alexander Meyer Cohn war ein Berliner Kind, der Sohn eines klugen
und tatkräftigen Mannes, der sich vom bescheidenen Schriftsetzer an die
Spitze des hervorragenden Bankhauses aufgeschwungen hatte und namentlich
das wohlbelohnte Vertrauen märkischer Adeligen genoß. »Alex« durchlief
die Klassen des französischen Gymnasiums und erwarb sich eine gediegene
humanistische Bildung. Nachdem er sein Militärjahr abgedient, ein strammer
Soldat, ein eifriger Turner, ein treuer Patriot, rüstete er sich in Frankfurt
Mever Cohn.
127
und Basel, Brüssel und London zum Eintritt in das väterliche Geschäft, mehr
aus willig geübter Pflicht, denn aus innerer Neigung zu diesem Beruf, über
dessen Plagen er später manchmal geseufzt hat. Er erfüllte ihn, das letzte
Jahrzehnt als Chef neben seinem Bruder Justizrat Dr. Heinrich Cohn, mit
steter Umsicht und unbedingter Zuverlässigkeit, jedem Spekulantentum
abhold. An der Seite einer feingebildeten Gattin österreichisch-polnischer
Herkunft fand er das häusliche Glück und war seinen beiden Töchtern der
liebreichste Vater, dem alten und jungen Freundeskreis ein wundermilder
Wirt.
Wer mit ihm in Berührung kam, erkannte bald als herrschenden Zug
seines W^esens die Güte. Er gab gern, reichlich und freundlich, am liebsten
ungebeten in der Stille. Auch mancher junge Künstler hat solche Wohl-
tätigkeit erfahren, und seinen Vertrauten ist kaum ein Festtag ohne ein
sinnig gewähltes Geschenk aus dieser offenen Hand vorbeigegangen. Der
immer gleichen Herzenswärme war eine starke Mischung berlinischen Humors
beigesellt, nie verletzend und nicht bloß oberflächlich spaßend, wie gern unser
Freund sich auch in drolligen, zeitweise stereotypen Redensarten erging,
sondern als Ausfluß tiefer Heiterkeit. Alles, was nur von fern an Protzen-
tum streifte, stieß ihn ab. Er schmückte seine Wohnung mit erlesenen Kunst-
werken deutscher und ausländischer Meister, wich aber jeder prunkvollen
großen Geselligkeit aus und mied Premieren und dergleichen Stelldichein
für Berlin W. so gut wie in den Ferien die vornehmen Modeorte. Der kleine
untersetzte Mann wanderte lieber mit dem Rucksack an einen stillen Platz
im bayerischen Gebirge. Alljährlich, nicht bloß zu Pfingsten, wo das Gewühl
der Festversammlung die reine Andacht hemmt, zog es ihn nach Weimar.
Dann besuchte er wieder und wieder alle ihm heiligen Stätten und sprach
als willkommener Gast im Goethe-Schiller-Archiv vor, das seiner Liberalität
so viel verdankt: außer kostbaren Handschriften zwei große Reihen von
cditiones principes deutscher Dichtwerke in Prachtbänden. Neben der Berufs-
arbeit lief eine unermüdliche Tätigkeit für zahlreiche Vereine, die seines
Beirats und seiner stets bereiten Hilfe bedurften. Gar manchem ist er wirk-
lich ein Schatzmeister gewesen. Literatur, Volks- und Völkerkunde, ger-
manische Altertümer, Geschichte Berlins haben seine fördernde Hand gespürt;
das Museum für deutsche Trachten zumal wäre ohne diesen so unterrichteten
wie opferwilligen Mann nicht zustande gekommen. Ein voller Chor dank-
barer Anerkennung hat den Lebenden, der äußeren Ehren niemals nachging,
erfreut, den früh Verschiedenen betrauert.
Lange schon zehrte die Zuckerkrankheit an seinem Dasein. Im Früh-
jahr 1904 kam er schwer leidend aus Bozen heim und hatte nun Monate
hindurch mit furchtbaren Schmerzen zu kämpfen, die sich doch im Juli
so weit milderten, daß er getrost in die nächste Zukunft blickte und auf einer
notwendigen Erholungsreise seiner Familie bestand. Ich seh* ihn vor mir,
den rührenden guten Dulder, wie er in einem stillen Garten des Grunewalds
vom Lager aus dem Besucher freundlich zuwinkte und ihm dann wohl auf
dem Seitentischchen ein paar schöne Handschriften wies, an denen sein
Auge sich eben geweidet hatte. Die Hoffnung war trügerisch, eine jähe
Wendung trat ein, am 11. August 1Q04 ist Alexander Meyer Cohn sanft
entschlafen.
128 Meyer Cohn.
Ihm bleibt für weite Kreise der Ruhm des größten deutschen Auto-
graphensammlers und -kenners. Wiederholt, noch in letzter Zeit, hab* ich
ihn klagen hören, daß er trotz allem Wohlstand nicht in der Lage sei, die
angehäuften Schätze den Seinen als unveräußerliches Erbe zu hinterlassen
oder sie gar insgesamt einem öffentlichen Institut wie dem Goethe-Schiller-
Archiv zu vermachen. So zerstiebt denn diese kostbare Fülle, wie das sin-
kende Jahr die Blätter des Baums herabstört.
Noch auf der Schule hatte er vom Vater einen Schillerbrief als Geschenk
erhalten, woran sein Sammeleifer sich entzündete. Anfangs wuchs der Besitz
langsam; dann konnte die immer leidenschaftlichere Liebe allgemach im
Vollgewinn schwelgen. Der 1886, wohl nicht zufällig ein Jahr nach Er-
schließung des Goethischen Archivs, in zweihundert Exemplaren verteilte
stattliche Quartband »Katalog einer Autographensammlung zur Geschichte
der deutschen Literatur seit Beginn des 18. Jahrhunderts« ließ den Haupt-
teil, Charavays und Thibaudeaus Mustern gemäß, in streng chronologischer
Folge von H. S. Reimarus bis herab zu R. Voß überblicken; beinahe vier-
einhalbhundert Namen, manche und gerade die vornehmsten durch größere
Serien, keiner unbedeutend vertreten. Regesten und Teildrucke bereicherten
unsere Literaturgeschichte sehr erheblich, so daß der Katalog eifrig zitiert
ward und Anfragen über Anfragen, verschämte und unverschämte Bitten über
Bitten bei dem Herausgeber einliefen. Alexander betrieb seit geraumer Zeit
eine Neubearbeitung, die nun seine* ganze Habe umfassen sollte; daneben
schwebte ihm ein Autographenkommentar zu »Dichtung und Wahrheit« vor.
Als Privatdrucke ließ er Goethiana und zu Kaiser Wilhelms hundertstem
Geburtstage eine Reihe höchst wertvoller Briefe an den Prinzen Karl aus-
gehn. Auch der Säkularfeier Schillers war schon eine würdige Gabe
zugedacht. Wer jenes alte Verzeichnis an dem vorliegenden mißt, erkennt
sowohl, wie ungemein die Sammlung seither im Gebiete der deutschen
Literatur, besonders des weimarischen Klassizismus nebst seinen persön-
lichen Zusammenhängen, angeschwollen ist, als auch ihren dieses Feld über-
schreitenden Reichtum. Sie schließt grundsätzlich alle Fachgelehrten aus,
gesellt aber die bildenden Künstler zu den Schriftstellern Europas, Urkunden
alter deutscher Kaiser, spanischer Könige usw. zur Korrespondenz politischer
Persönlichkeiten. Tadelloser Zustand, inhaltliche Bedeutung gaben bei jedem
Erwerb den Ausschlag. Vieles gewann er einzeln durch massenhaftes privates
Angebot oder auf Auktionen; manchmal glückte ein großer Fischzug wie
Hemsens Nachlaß, Kleists Blätter an seine Braut mit herrlichem Zuwachs von
Aufsätzen und Lebensdokumenten aus Dessau, Goethes Briefe an F. H. Ja-
cobi, an Reinhard. Aus dem Geheimschatze, den Maltzahn aufgebracht
hatte, ging auch eines der umfangreichsten und inhaltschwersten Bekennt-
nisse des jungen Goethe vom Juni 1774 in diese Sammlung ein, und endlich
wurde ebendaher, doch erst nach strengster Zwischenhaft bei dem unzugäng-
lichen Posonyi, das Kleinod der Shakespeare-Rede erobert. Als der Ober-
hofmeister V. Donop in Weimar starb, kaufte Alexander alles, was sich an
Schriftstücken und Bildern auf Goethe bezog, und nicht zuletzt jene brüder-
lichen Mitteilungen Kaiser Wilhelms, die von den Freiheitskriegen bis nach
Versailles reichen.
Vergessen wir endlich nicht, wie oft er auf Versteigerungen vorläufig
Meyer Cohn. Motz. I2Q
zugegriffen hat, um einer fremden Interessensphäre selbstlos zu dienen und
etwa einen Folianten des Hans Sachs, den er nur in Nürnberg geborgen
sehen wollte, den Klauen Harpagons zu entreißen. ¥a verachtete die gierigen
Egoisten, die alles bloß für sich allein besitzen und nach Lessings Wort wie
der Hund vor dem Heu liegen. Er hielt es vielmehr mit den weitherzigen,
der Wissenschaft holden Männern vom Schlag C. Meinerts, R. Brockhaus,
ließ z. B. die weimarische Goetheausgabe auch mit seinem Pfunde wuchern
und förderte gern sowohl das von unserer Akademie geplante Korpus der
Briefe Wielands als die Edition aller Briefe Heinrich v. Kleists. Das Buch-
zeichen A/M et amicis war auch seine Losung. Wehmütig sehen die Freunde
nun diese von kenntnisreicher Liebe vereinten Blätter zerflattern. Mögen sie
in die rechten Hände kommen!
Von^'ort zum Katalog der »Autographcn-Samralung Alexander Meyer Cohns«. Erster
Teil. Berlin. J. A. Stargardt 1905. Mit Genehmigung des Verfassers wiederholt.
Berlin. Erich Schmidt.
Motz, Paul, hennebergischer Dialektdichter, • 1817 in Ritschenhausen bei
Meiningen, f 3. Mai 1904 in Meiningen. — M. besuchte das Gymnasium zu
Meiningen, wandte sich dann, von Liebe zur Natur und besonders zum Wald
erfüllt, dem Forstfache zu und empfing seine Ausbildung dafür auf der Forst-
lehranstalt zu Dreißigacker bei Meiningen. Als er 1839 — 1840 das praktische
Lehrjahr in Henneberg erledigt hatte, übernahm er zunächst die Privatstellung
eines Gutsförsters in Ellinghausen bei Meiningen, trat aber 1843 als Forst-
assessor in den herzoglichen Staatsdienst zurück. Von Henneberg, wo er nun
wieder zuerst angestellt war, wurde er 1846 nach Kloster Veilsdorf, von da
1849 nach Heinersdorf bei Sonneberg, 1857 nach Heldburg, 1866 nach
Schmiedefeld bei Gräfenthal versetzt. Die Ernennung zum Oberförster führte
ihn 1870 nach Reichenbach bei Saalfeld. Dort verblieb er bis zu seiner
Pensionierung 1881 und verlebte dann den Rest seiner Jahre im Ruhestande
zu Meiningen.
M. besaß viel Gemüt, Humor und poetisches Empfinden. Da er auch
über Gewandtheit im Versbau verfügte, ward er durch das Leben in der
Natur und durch den Verkehr mit sympathischen Menschen leicht zu dichteri-
schem Schaffen angeregt. Die Umstände ließen sich freilich nicht immer
danach an, sein Talent zur Betätigung zu bringen. Bald waren es häusliche
Sorgen, bald dienstliche Widerwärtigkeiten, bald die Vereinsamung in ent-
legenen Dörfern, bald die Trennung von der hennebergischen Heimat, die
seine dichterische Schaffenskraft jahrelang unterdrückten. Trotzdem hat M.
eine große Menge von Gedichten hervorgebracht, die bisher nur zum kleineren
Teile gedruckt worden sind. Er stellte seine Muse in den Dienst des heimat-
lichen hennebergischen Dialektes, auf dessen Eigenart Männer wie Reinwald,
Sterzing, Brückner u. a. durch wissenschaftliche Untersuchungen teils früher
teils gleichzeitig hingewiesen hatten. In dieser Mundart hat M. manches
köstliche Stück von urwüchsiger Kraft gedichtet. Seine ersten Gedichte ent-
standen schon 1843 in Henneberg, und die anregende Zeit in Kloster
Veilsdorf 1846— 1849 brachte ebenfalls reichen poetischen Ertrag. Zur größten
Fruchtbarkeit aber gelangte sein Talent 1857—1866 in Heldburg, wo er die
Rto^r. Jahrbuch u. Deutlicher Nekrolog^. 9. Bd. 9
j^O Motz, von Angeli.
angenehmste und glücklichste Zeit seines Lebens genoß. Eine kleine Samm-
lung seiner »Gedichte in Henneberger Mundart« erschien zuerst 1848 in Hild-
burghausen und später neu aufgelegt in Saalfeld. Unter dem Titel »Jokes-
Äpfel« gab M. eine weitere Sammlung seiner Dialektdichtungen heraus. Das
I. Bändchen davon wurde 1853 in Gotha, das 2. Bändchen 1858 in Hildburg-
hausen veröffentlicht; zu einem angekündigten 3. Bändchen und einer
wünschenswerten Auswahl aus den ungedruckten späteren Gedichten ist es
bisher nicht gekommen.
A. Richter, P. Motz, in der »ITiüringer Warte« II, Nr. 4 (Juli 1905), S. 158—166
mit Porträt des Dichters. — Vgl. »Thüringer Warte« I, Nr. 10, S. 462 und zweite üm-
schlagseite; 11, Nr. 5, S. 214 f. P. Mitzschke.
Angeliy Moriz Edler von, österreichisch-ungarischer Oberst, • zu Wien
1829, f 3. Oktober 1904 ebenda. — A. stammte aus einer alten venezianischen
Patrizierfamilie, kam 1841 als zwölfjähriger Knabe in die Wiener-Neustädter
Akademie, wo es sechs Jahre verblieb, worauf er die Pionierschule zu Tulln
besuchte. Bald aber wurde er auf das Schlachtfeld geworfen, da die Be-
wegungen der Jahre 1848 und 1849 den Abschluß theoretischer Studien
nicht zuließen. Im Januar 1849 wurde er als Kadett in das 10. Infanterie-
regiment Graf Mazzuchelli eingereiht und kam bald auf dem ungarischen
Kriegsschauplatze ins Feuer. Das Korps Wohlgemuth, dem sein Regiment
angehörte, wurde am 19. April bei Nagy-Sarlo mit überlegener Macht von
den Ungarn unter Klapka angegriffen und zum Rückzuge gezwungen ; es war
dies eines der Gefechte, durch die der Rückzug der Armee des Fürsten
Windisch-Graetz aus Ungarn notwendig wurde. Dann aber ging es unter
Haynau wieder vorwärts. A., am i. Juli 1849 zum Unterleutnant ernannt, nahm
an den Kämpfen von Komorn, zumal an den Gefechten im Acser Wald am
3. August und an dem Vormarsche gegen die Theiß teil; bald darauf wurde
er in das 37. Infanterieregiment versetzt, in dem er bis 1870 verblieb.
Auch die Friedensjahre bis 1859 gestalteten sich für den jungen A. lebhaft
genug. Galizische und italienische Garnisonen wechselten, und 1850 wurde
sein Regiment in die militärische Aufstellung gegen Preußen einbezogen. Als
1854 die Rüstungen gegen Rußland ins Werk gesetzt wurden, gehörte das
37. Regiment zu den Truppen, die nach der Moldau und Walachei kommandiert
wurden, um den Rückzug der Russen von der unteren Donau zu erzwingen.
Reich bewegte zwei Jahre folgten für A., der die in der Moldau gewonnenen
Eindrücke in seinem Buche »Altes Eisen« anschaulich wiedergab. Im Februar
1857 verließ sein Regiment Jassy und er kam nach Peterwardein in Südungam,
wo er seine Braut kennen lernte.
Doch gab es für ihn nur kurze Rast. Er stand zu Prag in Ganiison,
als das in Böhmen liegende erste Korps, Befehlshaber Graf Clam-Gallas, den
Befehl erhielt, nach Italien abzugehen. Die Eisenbahnfahrt ging durch das
verbündete Süddeutschland und Südtirol nach Mailand, wo er mit seinen
Kampfgenossen am i. Juni eintraf. Schon am nächsten Tag ging der Marsch
zur Tessinbrücke bei Magenta, wo man den Angriff des Feindes erwartete.
Die Schlacht vom 4. Juni fand ihn so unter den Kämpfern. Am 20. Juni
erfuhr er im Lager vor Verona seine Beförderung zum Hauptmann und vier
Tage darauf kam er bei Solferino neuerlich ins Feuer. Er stand am linken
von Angeli. j^j
Flügel, der, ohne besiegt zu sein, vom Feldzeugmeister Wimpffen den Befehl
zum vorzeitigen Rückzug erhielt, was dann den Verlust der Schlacht auch
auf dem siegreichen rechten Flügel zur Folge hatte. — Als er 1863 zu Lem-
berg in Garnison lag, erhielt er den Befehl, mit seiner Kompagnie an der
Grenzbewachung teilzunehmen, die Galizien von dem aufständischen Russisch-
Polen zu trennen hatte. Diese mühsame Aufgabe beschäftigte ihn von April
1863 bis Oktober 1864; es war nicht immer möglich, in dem breiten, ihm
zugewiesenen Raum den Übertritt von Banden von und nach Rußland zu
verhindern, zumal da diese in genauer Verbindung mit den Besitzern der
Adelshöfe standen. Die halb ernsten, halb launigen Schilderungen A.s in
dem bereits genannten Buche gewähren lebendigen Einblick in dieses bunte
Treiben. — Unter allen kriegerischen Verwickelungen Österreichs von 1848
bis 1866 war der dänische Krieg der einzige, von dem A. persönlich nicht
berührt wurde. Der Krieg von 1866 fand ihn wieder auf dem Kampfplatze.
Das 37. Regiment stand in der Brigade des Erzherzogs Joseph und gehörte
zum vierten Korps unter General Graf Festetics. Er kämpfte bei Schwein-
schädel am 29. Juni und in der Schlacht von Königgrätz; sein Regiment
gehölte zu den Truppenkörpern, die den blutigen Sturm auf den Swiepwald
mitmachten.
Noch weitere vier Jahre gehörte A. dem streitbaren Stande an. Ein
Zeichen des Vertrauens in seinen Takt und seine Tüchtigkeit war es, daß
man ihm, der sich mit seinem Bataillon in Budapest in Garnison befand, im
Jahre 1869 die Ausbildung der ersten Einjährig-Freiwilligenabteilung von etwa
300 jungen Soldaten anvertraute, was bei den damaligen Strömungen in Ungarn
keine leichte Aufgabe war. Die ungarischen Freiwilligen zeigten sich zuerst
stutzig, wollten mit der Disziplin spielen, aber die Festigkeit und Biederkeit
ihres Hauptmannes gewann sie vollständig für ihre Pflicht. Kurze Zeit darauf
aber schloß der dem Waffendienste gewidmete Teil seine Tätigkeit. Seine
(jesundheit hatte durch die Strapazen des Dienstes wie durch den Sturz eines
Wagens, auf dem er 1859 ^^^^ dienstliche Obliegenheit zu erfüllen hatte,
gelitten, und er trat 187 1 mit Majorscharakter in den Ruhestand.
Damit beginnt seine ausgebreitete Tätigkeit als militärischer Schriftsteller,
durch die er sich ein dauerndes Andenken sicherte. Schon früher hatte er
sich als solcher versucht und 1869 ein Buch, »Taktische Thematik«, heraus-
gegeben, das sich die Anwendung der allgemeinen Regeln der Kriegskunst
auf den einzelnen Fall zum Ziel setzte. -Bei seinem Rücktritte vom aktiven
Dienste war er wohl körperlich angegriffen, doch geistig regsam und über-
nahm die Redaktion der militärischen Zeitschrift »Vedette«, in der er für die
Reformen eintrat, durch die die Neuorganisation der Armee herbeigeführt
wurde, ohne sich den Drängern anzuschließen, die auch an alte liebgewordene
Traditionen rühren wollten. Sein gerader und streitbarer Sinn führte manchen
scharfen Federkampf herbei, der, ebenso wie eine Anklage wegen Ehrenbe-
leidigung vor dem Schwurgerichte, ehrenvoll für ihn verlief. Die Beschäftigung
mit der militärischen Journalistik behagte ihm wenig, und es konnte ihm
nichts willkommener sein, als daß er am i. Januar 1875 in den aktiven
Dienst zurücktrat, wobei er der Abteilung für Kriegsgeschichte des k. u. k.
Kriegsarchives zugeteilt wurde. Dieser Dienstzweig war kurz vorher von
Friedrich von Fischer, dem hochverdienten Redakteur des offiziellen Werkes
9*
1^2 ^'0^^ Angel i.
über den Krieg von 1866, neu organisiert worden. Die Leitung der Abteilung
des Kriegsarchivs wurde von dem Nachfolger Fischers, Oberst von Sacken,
in dessen Geiste weitergeführt. A. fand in ihm einen ihn hochschätzenden
Vorgesetzten und erwies sich bald durch seine Arbeitskraft, sein militärisches
Wissen und durch seine Gewandtheit in der Darstellung als einen der ver-
dientesten Vertreter der Kriegswissenschaft in Österreich. Er beteiligte sich
zunächst an dem großen Werke über die Feldzüge des Prinzen Eugen, indem
er den Teil über die Kriegsjahre 1697 und 1698 bearbeitete. Eine interessante
Aufgabe fiel ihm zu, als die kriegsgeschichtliche Abteilung den Plan faßte, zur
Aufhellung der Geschichte Wallensteins die Archive derjenigen Adelsfamilien
durchforschen zu lassen, deren Ahnherren an dem Aufstiege und Falle des Fried-
länders in irgendeiner Weise beteiligt waren. Zu diesem Ende wurde ihm die
eingehende Durchsicht des Schlickschen Archivs in Kopidlno übertragen, dann
das des Fürsten Colloredo in Opotschno, endlich des Grafen Clam-Gallas in
Friedland. Das Ergebnis hat A. in seinen Berichten an die Kriegsgeschichtliche
Abteilung niedergelegt. Daneben ging die fleißige Mitarbeiterschaft in den
»Mitteilungen des k. u. k. Kriegsarchivs«, wo er zahlreiche Arbeiten über
Kriegsgeschichte veröffentlichte. Dazu gehören seine Aufsätze über »Die
Heere des Kaisers und der französischen Revolution«, »Ulm und Austerlitz
1805«, »Wagram«, »Die Teilnahme des k. k. österreichischen Auxiliarkorps
unter dem Kommando des Fürsten Karl Schwarzenberg gegen Rußland 181 2«.
Daß er daneben auf Anregung des Kriegsministeriums durch' einige Zeit auch
die Redaktion der Streffleurschen Militärischen Zeitschrift führte, gehört nicht
zu seinen angenehmsten Erinnerungen. Es zog ihn immer wieder zu seinen
historischen Arbeiten, für die sich um diese Zeit eine weitere Perspektive
eröffnete. Er trat damit an das Hauptwerk seines Lebens.
Die Söhne des Erzherzogs Karl, die Erzherzoge Albrecht und Wilhelm,
faßten den Plan zu einer wissenschaftlichen Biographie ihres berühmten Vaters,
des Siegers in den Feldzügen von 1796, 1799 und in der Schlacht bei Aspem.
Die umfassende Aufgabe wurde in zwei Teile zerlegt, derart, daß der Pro-
fessor an der Wiener Universität, Zeißberg, die Geschichte des Lebens und
mit ihr die politische Tätigkeit Karls schildern sollte, während A. mit der
Aufgabe betraut wurde, dem Erzherzog-Feldmarschall in seiner Eigenschaft
als Feldherr gerecht zu werden. Es stellten sich ihm aber vom Anfange an
große Schwierigkeiten in den Weg. Sie werden sich immer einfinden, wenn
eine offene, wahrheitsliebende Natur zu einer Arbeit eingespannt wird, die
der Individualität des Verfassers naturgemäß eine Schranke zieht. Hemmungen
dieser Art bei offiziellen und halboffiziellen Werken werden am besten durch
den Hinweis darauf gekennzeichnet, daß Moltke, gewissermaßen als Weisung
bei Abfassung des deutschen Generalstabswerkes über den Krieg von 1870,
die Äußerung fallen ließ: »Die Prestigen (der deutschen Heerführer) müssen
geschont werden.« Für A. war noch der Umstand wichtig, daß die Pietät
der Söhne des Erzherzogs Karl sorgsam über dessen Andenken wachte,
ferner, daß der Erzherzog selbst die Feldzüge von 1796 und 1799 ^^ Werken
geschildert hatte, die zwar mit Recht hohes Ansehen genießen, die aber den
Nachteil besitzen, daß der Verfasser die offiziellen österreichischen Dokumente
nicht vollständig, die französischen aber gar nicht benützt hatte. Erschien
doch vom Marschall Jourdan, seinem Gegner im Kriege von 1796, eine Wider-
von Angeli. I ^ ^
legung der Annahmen, die der Erzherzog in seinem Buche über die Absichten
dieses französischen Generals ausgesprochen hatte. Es war nicht anders
möglich, als daß das Werk A.s die Darstellung des Erzherzogs nicht bloß
ergänzte, sondern auch berichtigte. Er vermochte ihn in manchen Punkten gegen
die Strenge der von ihm geübten Selbstkritik zu verteidigen, konnte sich aber
auch manchen Widerspruch gegen die Angaben seines Helden nicht ersparen.
Die Erzherzoge Albrecht und Wilhelm waren zu sachkundig, um diese
Schwierigkeiten zu verkennen, und A. hat stets anerkannt, daß ihm in der
Feststellung der Tatsachen vollständig freie Hand gelassen wurde. Manches
hätte sich ruhiger und für A. erquicklicher schlichten lassen, wenn sich nicht
zwischen ihm und dem Nachfolger Sackens in der Leitung der Kriegsge-
schichtlichen Abteilung und des Kriegsarchivs, dem Obersten, späteren
Feldmarschalleutnant Freiherrn von Wetzer, sachliche und persönliche Miß-
helligkeiten eingestellt hätten. Wetzer entwarf eine Art Programm für die
Abfassung des ersten Teiles der Arbeit A.s, mit der dieser in mancher
Beziehung nicht einverstanden war. Ihm, der bereits im Kriegsarchiv die
Quellen durchforscht hatte, schien manche Annahme Wetzers nicht haltbar,
und er konnte sie nicht zur Richtschnur nehmen. Der Gegensatz verschärfte
sich, da die Gradheit A.s sich in der Diskussion nicht verleugnete. Er rückte
zwar 1888 zum Oberstleutnant vor, das Verhältnis drängte aber zu einer
Lösung und A. verzeichnet in seinem Diarium zum 10. September 1890, er
sei »infolge der vielfachen Reibungen mit der Archivdirektion, welche aus
meiner selbständigen Stellung als Verfasser des Erzherzog Karl-Werkes hervor-
gingen«, aus dem Verbände der Kriegsgeschichtlichen Abteilung ausgeschieden,
so zwar, daß er dem Familienarchiv des Erzherzogs Albrecht zugeteilt wurde.
Der Austritt aus seiner früheren Stellung mochte ihm aus manchen Gründen
unwillkommen sein, dafür aber wurde ihm größere Freiheit der Bewegung
zuteil, die er zur Vollendung seines Werkes benützte. Die Söhne Erzherzog
Karls wurden indessen durch den Tod abberufen und ihre Neffen, die Erz-
herzoge Friedrich und Eugen, verfügten, daß, während die Arbeit des Professors
Zeißberg nur langsam vorschritt, mit der Herausgabe des Werkes A.s vorgegangen
werde. Und so erschienen 1896 — 1897 dessen fünf Bände »Erzherzog Karl
als Feldherr und Heeresorganisator«, die der Reihe nach die Feldzüge von
1796 in Deutschland und 1797 in Italien, 1799 in Deutschland, 1805 in Italien,
1809 in Deutschland und Osterreich und als Schluß die Würdigung des
Erzherzogs Karl als Heeresorganisator umfaßten. A. war unterdessen 1895
als Oberst aus dem aktiven Dienste in den Ruhestand getreten, ohne sich
aber in seiner Arbeit beirren zu lassen. Nach ihrem Abschluß wurde ihm
Mn Anerkennung seiner Verdienste auf historischem Gebiete« vom Kaiser der
Orden der Eisernen Krone dritter Klasse verliehen und auch die beiden
überlebenden Erzherzoge haben persönlich den Dank für seine Mühewaltung
aufs wärmste betätigt.
Berufene Beurteiler haben anerkannt, daß A. mit unermüdlichem Fleiß
und mit vollei* Wahrheitsliebe den Stoff zusammengefaßt und lichtvoll dargestellt
hat. Man konnte aber von seinem Werke nicht eine scharfe, unumwundene
Kritik der militärischen und politischen Ereignisse erwarten. Eine solche
war weder beabsichtigt, noch unter den obwaltenden Umständen möglich.
Man wird aber solche abschließende Urteile auch nicht in den Arbeiten
l'3A von Angeli. Roth.
deutscher und französischer Darsteller finden, die eine Art offizieller Mission
übernommen haben.
Nach so viel Lebensarbeit hätte Oberst von A., nahezu siebzigjährig, das
Recht gehabt, sich Ruhe zu gönnen. Aber er war an Tätigkeit gewöhnt
und so schritt er an die Lösung neuer Aufgaben. Auf Anregung des Prinzen
Ludwig Windisch-Graetz, General-Truppen-Inspektors, veranlaßte ihn die
Familie des Generals Grafen Clam-Gallas zur Abfassung der militärischen
Biographie des letzteren, eine Arbeit, die ihn schon deshalb interessierte, weil
er an den Feldzügen des Grafen Clam-Gallas als Offizier teilgenommen hatte.
Es war A.s Absicht, mit der Veröffentlichung seines Buches vorzugehen ; das
Manuskript wurde auch nach dem Tode des Verfassers dem Sohne des Ge-
nerals vollständig übergeben und harrt noch der Veröffentlichung. Daneben
beschäftigte sich A. in den letzten Jahren seines Lebens damit, seine Er-
innerungen niederzuschreiben. Er wählte dazu nicht die Form einer zusammen-
fassenden Selbstbiographie, sondern zog es vor, einzelne Stücke der Reihe
nach herauszuheben. So erschien das Buch »Altes Eisen« (Stuttgart, Cotta,
1900), dem er ein zweites »Wien nach 1848« folgen lassen wollte. Als ihn
der Tod darüber überraschte, wurde dieses als nachgelassenes Werk herausge-
geben, (Wien, Braumüller, 1905). Wer diese Arbeiten in die Hand nimmt, dem
wird daraus der gerade schlichte Sinn des Verfassers entgegenblicken ; nicht
Prunk und Schliff, sondern volle Natürlichkeit lag in dem Charakter Angel is.
Die vorstehende Biographie ist nahezu gleichlautend als Einleitung zu dem nach-
gelassenen Werke Angelis »Wien nach 1848« erschienen.
Heinrich Friedjung.
Roth, Arnold, schweizerischer Gesandter, * 24. Januar 1836 zu Teufen
(Kanton Appenzell), f am 7. April 1904. — R. wurde als der Sohn des appen-
zellischen Landammanns und schweizerischen National- und Ständerates Johannes
Roth geboren. Sein Vater, ein biederer Bürger, war ökonomisch unabhängig
und widmete sich gänzlich der Öffentlichkeit und seinen Liebhabereien, be-
sonders der Musik, die er mit Leidenschaft pflegte, seine Mutter, Emilie Schieß
von Herisau, war eine fein gebildete Frau mit praktisch häuslichem Sinn. R.
bekam zu Hause eine sorgfältige Erziehung, besuchte dann, um sich für die
Universitätsstudien vorzubereiten, die Kantonschule in Trogen, das Institut
Münz und das Gymnasium in St. Gallen. Im Frühjahr 1854 bezog er die
Hochschule in Zürich, 1855 diejenige Heidelbergs, um Jurisprudenz zu studieren.
Nachdem er 1857 doktoriert hatte, wirkte er kurze Zeit als Auditor (Anwalt)
am Bezirksgericht in Zürich. Dann siedelte R. nach Paris über, wo er zehn
Jahre lang als Sekretär des schweizerischen Gesandten, Ministers Kern, arbei-
tete; es war die Zeit der Höhe und des allmählichen Falles Napoleons III.
(1859 — 1869). Dann wurde R. kurze Zeit Sekretär des politischen Departementes
in Bern und siedelte darauf in seine Heimat Teufen über. Das appenzellische
Volk betraute ihn bald mit vielen Ämtern, die er alle als fleißiger Arbeiter
mit gewissenhafter Sorgfalt verwaltete. So war R. Ständerat, Statthalter
(Regierungsrat), Landammann und Präsident eines Verfassungsrates des Kantons
Appenzell a. Rh. Daneben widmete er sich auch dem Militär, indem er als
Artillerieoffizier Dienste tat. Im Dezember 1876 nahm er einen Ruf des
schweizerischen Bundesrates an, als Gesandter der schweizerischen Eidge-
Roth, von MoUinary. I^c
nossenschaft nach Berlin zu gehen. 1877 trat R. seinen neuen Posten an,
den er bis zu seinem Tode 1904 bekleidete. Neben den üblichen Gesandt-
schaftsgeschäften traten verschiedene größere Aufgaben an R. heran, so beteiligte
er sich in hohem Maße an den deutsch-schweizerischen Handelsverträgen der
Jahre 1881, 1888, 1891 und 1904, an der Wohlgemuthaff äre 1889 und an der
Haager Friedenskonferenz 1899. In allen seinen Handlungen kamen ihm
große juristische und nationalökonomische Kenntnisse, politischer Scharfblick,
feiner Takt und eine ausgebildete diplomatische Kunst zu statten. Diese
Eigenschaften, die mit Liebenswürdigkeit und Einfachheit des Benehmens
verbunden waren, machten ihn auch zum Liebling der Schweizerkolonie in
Berlin, sowie zu einem angesehenen Mitglied des dortigen diplomatischen
Korps. So genoß R. das Wohlwollen der Kaiser Wilhelms L, Friedrichs IIL
und Wilhelms IL; gute und zum Teil freundschaftliche Beziehungen unterhielt
R. mit Bismarck, Caprivi, Hohenlohe, Bülow, Moltke, Stephan, Helmholtz,
Marschall, Zeppelin u. a. R.s Privatleben floß einfach und glücklich dahin.
Er war mit Aline Zollinger aus Zürich vermählt und genoß mit ihr, zwei
Töchtern und einem Sohne ein glückliches Familienleben, das nur dadurch
getrübt wurde, daß die jüngere Tochter bei einem Eisenbahnunglück im Haag
1899 auf tragische Weise ums Leben kam. R. hatte das Glück, bis zu seinem
Tode rüstig zu bleiben und in seinem Amte wirken zu können. In den letzten
Jahren litt er an einer Arterienverkalkung. Im März 1904 packte ihn eine
Lungenentzündung, der er am 7. April erlag. Nach seinem Wunsch liegt er
in seinem Heimatdorfe Teufen begraben.
Vgl. Minister Arnold Roth, ein Lebensbild von Dr. W. Nef, Trogen. Druck und
Verlag von U. Kubier 1905. 8°. 116 Seiten. Auch abgedruckt in: Appenzellische Jahr-
bücher, 4. Folge, 2. Heft. Trogen. Druck von U. Kubier. 1905. W. Nef.
Mollinary Freiherr von Monte Pastello, Anton, k. k. Wirkl. Geh. Rat,
Feldzeugmeister, Inhaber des 38. Inf. Rgts., ♦ 9. Oktober 1820 zu Titel (Militär-
grenze), f 26. Oktober 1904 zu Villa Soave bei Como (Italien). — Einer der
verdientesten Generale der österr. Armee wurde mit M. zu Grabe getragen;
ein Mann, dessen Name, in Österreich von jeher populär, in Deutschland
hauptsächlich erst durch sein Verhalten als Kommandant des 4. Armeekorps
bei Königgrätz, wo er durch viele Stunden den Swiepwald gegen Fransecky
siegreich verteidigte und erst über Benedeks dreimalige Aufforderung zurück-
ging, allseitig bekannt geworden ist. Dieses springenden Punktes seiner
kriegerischen Tätigkeit sei denn hier auch mit besonderer Ausführlichkeit
gedacht, obgleich sein friedliches Wirken als militärischer Organisator und
Landesgouverneur kaum geringere Aufmerksamkeit verdient.
Durch Familientradition wie Neigung von Kind auf zur Soldatenlauf-
bahn bestimmt, trat M. noch als Knabe in die berühmte Tullner Korps-
schule der Pioniere ein, wurde 1837 Kaiserkadett beim 16. Infanterieregiment
in Treviso, 1838 F'ähnrich bei Nr. 45 in Zara, bald darauf Unterleutnant und
Brigade- Adjutant ebenda; 1839 erfolgte seine Einteilung zum Pionierkorps
in Wien.
Damit eröffneten sich dem an die Eintönigkeit kleiner Garnisonen Ge-
wöhnten die Herrlichkeiten der Kaiserstadt, ganz besonders aber die Kunst-
1^6 von Mollinary.
genüsse des Burgtheaters, in dem er keinen Abend fehlte und dessen damalige
Sterne seine schwärmerische Bewunderung erregten. Aber darüber vergaß der
Aufstrebende, hochgradig Ehrgeizige den Ernst des Lebens nicht. Sein heißer
Wunsch war, in den Generalstab zu kommen. Zu diesem Zwecke, das fühlte
er wohl, galt es noch manche Lücke seines Wissens auszufüllen. Jeder
erübrigte Gulden wanderte in Braumüllers Buchhandlung. Geschichte, Mathe-
matik, Geographie, Sprachen wurden eifrigst betrieben. Rührend ist es, in
seinen Aufzeichnungen zu lesen, wie er, um billig zu französischen Stunden
zu kommen, im strengsten Winter allmorgendlich mit einem Freunde (dem
nachmaligen Feldzeugmeister Philippovich) nach der fernen Vorstadtwohnung
eines Professors, der nur die frühesten Morgenstunden zur Verfügung hatte,
hinauswanderte, um dort im eiskalten Zimmer beim Scheine einer Unschlitt-
kerze zähneklappernd die Lektion entgegenzunehmen.
Zu jener Zeit hatte Birago seine berühmte Reform der Kriegsbrücken
angeregt, und damit neben anderen Gegnerschaften auch jene des Komman-
danten der Pioniertruppe, Oberst Mühlwerth, hervorgerufen. Strengstens
verbot dieser seinen Offizieren die Teilnahme an den bei Tulln stattfinden-
den ersten Versuchen mit dem projektierten Material. Alle fügten sich, bis
auf M. und einen Oberleutnant Loibl. Unter dem Vorwande einer Land-
partie nahmen die beiden Urlaub und wanderten zu Fuß (einen Wagen hätte
es nicht getragen) nach Tulln hinaus.
Die Brückenschläge gelangen aufs beste, das neue System wurde in der
Armee eingeführt. Birago, der an dem jungen, begeisterten Anhänger Wohl-
gefallen gefunden, veranlaßte M.s Zuteilung in sein Bureau. M. wurde Bira-
gos rechte Hand und blieb drei Jahre an seiner Seite. Das väterliche Wohl-
wollen des neuen Chefs äußerte sich auch durch Einsetzen seiner mächtigen
Protektion. Im Herbst 1842 wurde M. vom 8. Unterleutnant 2. Klasse,
unter Überspringung der i. Klasse, Oberleutnant, und kurz darauf erfolgte
auch seine ersehnte Versetzung in den Generalstab. Chef letzteren Korps
war Feldzeugmeister Heß, der bald auch M.s eifriger Gönner wurde.
Eine dienstliche Kommandierung in Pest brachte M. in Beziehungen
zum damaligen Leiter der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft, Baron Ku-
driaffsky. Als dieser letztere 1847 nach London mußte, um ein dort
neuerbautes Schiff der Gesellschaft zu übernehmen, bot er dem jungen Offizier
für den Fall, als er die Hinreise auf eigene Kosten unternähme, freie Rückfahrt
auf eben jenem Schiffe, »Metternich«, durch das Mittelländische und
Schwarze Meer bis an die Donau. So kam M. unverhofft zu dem für dama-
lige Verhältnisse fabelhaften Glück einer kostenlosen Rundfahrt von ca.
IG 000 Kilometern, auf welcher er England, Frankreich, Griechenland und
die Türkei kennen lernte.
Das Jahr 1848 war gekommen. Radetzky hatte sich Heß als General-
stabschef erbeten. Um die Mittagsstunde des 8. Mai tritt beim nichts ahnen-
den M. Heß' Personaladjutant ein und teilt dem freudigst Überraschten den
Befehl des Korpschefs mit, am selben Abend mit ihm nach Verona ab-
zugehen.
Interessant ist sein erstes Zusammentreffen mit Radetzkys Hauptquartier.
Unter dem bisherigen Generalstabschef war es ziemlich sorglos hergegangen.
M. trifft die ganze Gesellschaft, hoch und nieder, im raucherfüllten Zimmer
von MoUinary. I -i 7
beim Kartenspiel beisammensitzend. Sein Erscheinen wirkt verblüffend.
Aufspringend tritt ihm Oberleutnant John mit der Frage entgegen, woher er
komme? »Von Wien mit Heß!« Auf diese unter lautloser Stille gegebene
Antwort schnellt alles von den Sitzen auf, reißt Säbel und Mütze von den
Ständern, und eine Sekunde später ist das Zimmer leer. — Von dem Tage
an war es mit der »Gemütlichkeit« vorbei
Die Feldzugserlebnisse M.s hier zu schildern, würde zu weit führen.
Genug, daß er bald auch ein Liebling Radetzkys wurde und wiederholt
Gelegenheit fand, sich auszuzeichnen. Er armierte Torbole mit auf Segel-
booten verladenen Geschützen und sicherte dadurch das Sarcatal, sprengte
am 7. Juni mit einem Streif kommando bei Po Jana eine Eisenbahnbrücke, so
die Verbindung zwischen Vicenza und Venedig unterbrechend, kam bei
Vicenza (Monte Berico) zum erstenmal ins eigentliche Feuer, schleppte im
Juli unter unendlichen Schwierigkeiten einen Achtzehnpfünder und mehrere
leichtere Geschütze mittels Ochsen den Monte Pastello hinauf und bewirkte
durch das unerwartete Feuer dieser improvisierten, dominierenden Batterie,
daß sich das Thunsche Korps im Etschtal gegen die piemontesische Über-
macht halten konnte, bis die Siege von Sona und Sommacampagna letz-
tere zum Rückzuge zwangen. Der junge Hauptmann erhielt den Leopolds-
orden, und Heß schenkte ihm das Kreuz, das er selbst 1809 erhalten. Eine
ganz besondere Auszeichnung wurde ihm später dadurch zuteil, daß das auf
dem Monte Pastello neuerbaute Fort seinen Namen »Mollinary« erhielt.
In den Pausen zwischen den beiden Feldzügen wurd^ er zu vielen
selbständigen Arbeiten verwendet, von denen die Errichtung von Militär-
flottillen auf den drei großen Seen die wichtigste ist. Februar 1849 wurde
er, der 1847 noch Oberleutnant gewesen. Major. Die Nachricht von der
Kündigung des Waffenstillstandes traf ihn in Zürich, wo er sich behufs Ab-
schluß eines Schiffsbauvertrages mit der Firma Escher Wyß & Co. befand.
Sofort mit Kurierwagen abreisend, traf er 48 Stunden vor Ablauf der Frist
in Mailand ein, und wurde noch am selben Tage von Heß in Spezialmission
nach Pavia übersendet, um dort Vorbereitungen für den Flußübergang der
Armee zu treffen. Kam der Tag von Novara. M. hatte Gelegenheit, eine
Kolonne des 20. Infanterieregiments im Rückzuge aufzuhalten, neu zu sammeln
und persönlich zum Sturm gegen die Bicocca zu führen. Kurz vor dem
Ziele durch eine Gewehrkugel in der linken Hüfte schwer verwundet, hatte
er noch die Freude, vom vollen Gelingen des Angriffs Kunde zu bekommen,
ehe er sich den Händen des Arztes übergab.
Die Genesung erfolgte binnen wenigen Wochen. Bis zur Einnahme von
Venedig war M. fast ununterbrochen mit selbständigen Missionen betraut.
Kr gehörte der Deputation an, welche Radetzky nach dem Fall der
Lagunenstadt mit den Arsenalschlüsseln nach Wien sandte. Während eines
Aufenthaltes in Riva lernte er die verwitwete Baronin Torresani kennen und
vermählte sich mit ihr am 4. November, kurz nachdem er zum Komman-
danten des von ihm errichteten »Flottillenkorps« ernannt worden. Kaum
zwei Monate nach seiner Beförderung zum Oberstleutnant, und eben erst
30 Jahr alt geworden, wurde ihm die größte Überraschung seines Lebens
durch die Ernennung zum Oberst und Kommandanten des Pionierkorps mit
dem Sitz in Klosterneuburg bei Wien, unter gleichzeitiger Belassung des
IßS von Mollinary.
Kommandos über das Flottillenkorps zuteil. Er war der jüngste und zugleich
der mächtigste Oberst der Armee und stand auf dem Gipfel seines Sol-
datenglücks.
Nun beginnt eine achtjährige Periode organisatorischer Tätigkeit, deren
Details, so sehr sie für das Pionierkorps epochemachend geworden sind, aus
Rücksicht auf die Raum Verhältnisse hier nicht aufgezählt werden können;
wir verweisen diesbezüglich auf Brünners »Geschichte des Pionierkorps«.
1858 wurde M. Generalmajor und Brigadier in Mailand, und schon
wenige Monate später Festungskommandant in Ancona, in welcher päpst-
lichen Festung Österreich das Besatzungsrecht besaß. Der Krieg stand vor
der Tür und M.s erste Sorge war es, die vernachlässigte Festung durch Aus-
besserungen und Zubauten verteidigungsfähig zu machen. Die Arbeiten
wurden mit solcher Intensität betrieben, daß die Zahl der Werkleute zeit-
weise bis auf 3000 stieg. Groß war daher M.s Bestürzung, als er nach der
unglücklichen Schlacht von Magenta den telegraphischen Auftrag erhielt, all
das mit solchen Anstrengungen und Kosten F>rungene im Stich zu lassen und
mit seiner Brigade in Eilmärschen nach Rovigo einzurücken. Es ist inter-
essant, in seinen Memoiren (»Vierzig Jahre«, Zürich, Grell Füßli, 1904) nach-
zulesen, mit welcher Energie und diplomatischen Klugheit zugleich M. den
fatalen Auftrag auszuführen und doch die voraussichtlichen Folgen der plötz-
lichen Preisgebung (Heimfali der Festung an die aufständische Bevölkerung,
Verlust des Artilleriegutes und der großen Lebensmittelvorräte) zu hinter-
treiben wußte^ In Eilmärschen und geschickt den Feind vermeidend,
erreichte er mit der Brigade in 9 Tagen glücklich Rovigo, wo ihn der Befehl
erwartete, für seine Person sofort in das Hauptquartier nach Villafranca zu
kommen.
Es war wenige Tage vor der Schlacht von Solferino. M. wurde mit
der Mitteilung empfangen, er sei zum Generalstabschef eines Armeekorps
ausersehen, welches den aus Toskana vorrückenden Franzosen auf dem
rechten Poufer entgegentreten sollte. Zu dieser Verwendung kam es jedoch
nicht, da die Schlacht von Solferino alle Pläne über den Haufen warf und
den Waffenstillstand herbeiführte.
Nach dem Abschluß des letzteren wurde M. General Stabschef der
II. Armee in Verona. Er hatte bald Gelegenheit, seine charakteristische
Energie zu bewähren, indem er einem vertragswidrigen Vorgehen der Fran-
zosen (eigenmächtige Demolierung des Brückenkopfes von Borgoforte) kurz
entschlossen durch gewagte Repressalien ein Ende machte. Zu Wien, wohin
erst die vollzogene Tatsache berichtet wurde, geriet man über die dadurch
hervorgerufene Gefahr eines Konfliktes noch nachträglich in Aufregung; die
Sache trug M.s Chef, dem Armeekommandanten Grafen Degenfeld, einen
scharfen Verweis ein. Und doch war es das einzige Mittel gewesen; denn
diplomatische Verhandlungen hätten den übermütigen Sieger nie zur Nach-
giebigkeit vermocht.
M.s Verwendung als Generalstabschef dauerte nur 3 Monate. Sein
Tätigkeitsdrang, die Energie, mit der er ihm nötig scheinende Reformen
durchsetzte, hatten ihm Feinde gemacht, welche nicht ruhten, bis ihm der,
seiner Individualität so durchaus zusagende Wirkungskreis entzogen wurde.
Er bekam eine Brigade zu Görz, dann zu Triest, und kam schließlich wieder
von MoUinarv.
139
nach Verona, diesmal zum 5. Koq>skommando als »zugeteilter General«,
d. h. Gehilfe und eventueller Stellvertreter des Kommandanten; eine Stellung,
die ihn sozusagen zum fünften Rad am Wagen machte und darauf berech-
net war, ihn »kaltzustellen«. Allein das Glück meinte es mit ihm besser, als die
Vorgesetzten. Der Korpskommandant, Feldmarschalleutnant Baron Gablenz,
wurde durch seine Verwendung als Statthalter von Holstein fast die ganze Zeit
über fern gehalten, und M. durfte durch mehr als 17 Monate selbständig das Korps-
kommando führen. Er entledigte sich seiner Obliegenheiten mit dem gewöhn-
lichen Feuereifer, ging mit ganzer Kraft dem traditionellen »Schimmel«, dem
er zum Teil die 1859 er Niederlagen zuschrieb, zu Leibe, und machte sich
dadurch, sowie durch eine gewisse Schroffheit seiner nie verheimlichten An-
sichten dem Armeekommandanten lästig, welcher Schritte tat, um sich M.s zu
entledigen. Aber infolge einer Ironie des Schicksals wurde Benedek, gerade
als sein Wunsch erfüllt und M. zum 4. Armeekorps nach Mähren versetzt
worden, das Kommando über die Nordarmee zuteil, und seine Maßnahmen
hatten nur bewirkt, daß er den unbequemen General, statt ihn loszuwerden,
wieder unter seine Befehle bekam.
Das 4. Korps formierte sich zu Littau. Korpskommandant war Feld-
marschalleutnant Graf Festetits, Generalstabschef Oberst v. Goertz. M.s
Stellung war wieder die ebenso überflüssige wie unbestimmte eines »Zu-
geteilten« ; und obwohl er mit Festetits wie mit Goertz auf dem besten Fuße
stand, hatte er es doch nur der gewaltsamen Unterdrückung des ihm eigenen
Tätigkeitsdranges zu danken, daß es zwischen ihm und Jenen bis zu dem
Augenblick, wo ihm am 4. Juli das selbständige Kommando zufiel, inbetreff
der Genzen der gegenseitigen Wirkungskreise zu keinem Konflikt kiam.
Am 18. Juni begann das Korps den Vormarsch nach Böhmen, und traf
am 26. in der ihm zugewiesenen Stellung am rechten B^lbeufer bei den Orten
Liebthal und Lanzau ein.
Gleich am nächsten Tage erhielt es Befehl, vorzurücken und hinter dem
8. Korps, welches bei Dolan als Unterstützung des 6. stand, ein Lager zu
beziehen. Als man aber am 28. gegen 9 Uhr vormittags dortselbst eintraf,
war das 8. Korps schon wieder weiter nach vorn, auf Skalitz zu, ab-
marschiert. Um 12^2 Uhr, als gerade mit dem Abkochen begonnen werden
sollte, machte sich von der Front her Kanonendonner bemerkbar, welcher
den Beginn des Gefechts von Skalitz bezeichnete. In einer vor dem Lager
beim Dorfe Schweinschädl bezogenen Stellung war man Zeuge des Rück-
zugs des 6. und kurz darauf des 8. Korps über die Elbe, ohne an jenem
Tage selbst anders als durch Vorpostenscharmützel in das Gefecht einzu-
greifen.
Nun wurde das 4. Korps angewiesen, »sich nicht in nutzlose Kämpfe
einzulassen, sondern, wenn mit Überlegenheit angegriffen, am rechten Klbe-
ufer bei Palei Stellung zu nehmen«.
Dieser Disposition entgegen beschloß jedoch Festetits, als am folgenden
Tage (29.) die preußische Vorrückung gegen den rechten Flügel seines Korps
begann, wenigstens den ersten Anprall zurückzuweisen, und zwar in der Be-
fürchtung, durch sofortiges Weichen seine Truppen zu demoralisieren. So
entwickelte sich das blutige Gefecht bei Schweinschädl, welches, nach tapfer-
ster Gegenwehr, mit dem (unverfolgten) Rückzug des 4. Korps über die Elbe
140
von Mollinan'.
endete. M., ohne spezielles Kommando wie er war, wohnte demselben nur
in der Rolle eines Zusehers bei.
Tags darauf, am 30., erfolgte der Rückzug der Armee vor Königgrätz.
Das 4. Korps kam nach Nedielischt.
Durch die am 2. Juli ergangenen Verfügungen für die erwartete Ent-
scheidungsschlacht wurde für den Fall, daß der feindliche Angriff sich auch
gegen unseren rechten Flügel richten sollte, dem 4. Korps der Platz in erster
Linie rechts vom 3. und links von dem am äußersten rechten Flügel stehen-
den 2. »auf den Höhen zwischen Chlum und Nedielischt« zugewiesen . . .
Letzterer Passus erwies sich als folgenschwer; denn da zwischen genannten
Orten durchaus keine »Höhen« entdeckt werden konnten, so legte ihn Festetits
und gleicherweise M. dahin aus, daß damit nur die dominierende und gut
verteidigungsfähige Höhe von Maslowed gemeint sein könne. Nach dieser wurde
denn auch beim ersten Geschützdonner am Morgen des 3. Juli das Gros des
Korps disponiert; und dort entwickelte sich der erste, hartnäckige und für
die österreichischen Waffen erfolgreiche Kampf mit der Division Fransecky.
Noch war derselbe nicht zu voller Stärke entbrannt, als ein explodieren-
des Hohlgeschoß dem Grafen Festetits den linken Fuß wegriß. M., eben auf
einer Rekognoszierung auswärts, eilte auf die Unglückskunde herbei und
konnte dem Schwerverwundeten noch die Hand drücken, bevor er aus dem
Gefechte getragen wurde.
Nun hatte M. das so heiß ersehnte Kommando; allein tieferschüttert
durch den Vorfall, trat er es ohne jedes Gefühl der Freude an. Die ersten
Ereignisse nach der Kommandoübemahme waren auch nicht darnach an-
getan, um ihn fröhlicher zu stimmen; bei einem Inspizierungsritt wurde der
Generalstabschef, Oberst Goertz, an seiner Seite durch einen Schuß getötet, er
selbst verlor das Pferd unter dem Leibe
Das Gefecht ging seinen Gang. Das 4. Korps stand im Swiepwalde dem
äußersten linken Flügel der Preußen, der Division Fransecky, gegenüber,
während unser eigener äußerster rechter Flügel, das 2. Korps, nur mit klei-
neren feindlichen Abteilungen zu tun hatte. M. sagte sich, daß eine Um-
fassung der Preußen durch jenes so gut wie unbeschäftigte Korps und die
hinter ihm aufgestellte 2. leichte Kavalleriedivision die größten Chancen
hätte. Demgemäß richtete er an das 2. Korps das Ersuchen, es möge gegen
die linke Flanke der vor Maslowed kämpfenden Preußen vorgehen. Gleich-
zeitig ließ er eine dritte Brigade des eigenen Korps aus der Reserve zwischen
die beiden im Swiepwald kämpfenden Brigaden einrücken.
Eben während dieser Befehl ausgeführt wurde (nach 11 Uhr vormittags)
überbrachte ein Ordonnanzoffizier des Hauptquartiers Benedeks Befehl, das
4. Korps habe in die ihm durch die Disposition angewiesene Stellung Chlum —
Nedielischt zurückzugehen.
So wie er war, ohne jede hinzugefügte Begründung, erschien dieser
Befehl unverständlich. Er forderte das Aufgeben einer guten, hochgelegenen,
mit Erfolg behaupteten Stellung zugunsten einer weit schwächeren, schwerer
verteidigbaren. Überdies war M. fest überzeugt, seine Stellung im Sinne
der Disposition bezogen zu haben. Er ließ den Armeekommandanten auf
diese Umstände aufmerksam machen und ihm melden, er erwarte, bevor er
zurückgehe, erst einen zweiten ausdrücklichen Befehl hierzu.
von Mollinary. I^I
Dieser Befehl ließ lange auf sich warten. Endlich erfolgte er in kate-
gorischer Fassung, diesmal mit der Begründung, in der jetzigen Stellung
erscheine unser äußerster rechter Flügel stark bedroht durch ein preußisches
Armeekorps (das 5.), dessen Vormarsch soeben telegraphisch von Josefstadt
gemeldet worden sei.
Allein M. war zu fest überzeugt von der Richtigkeit der eigenen Auf-
fassung der Lage, als daß er sich zur Folgeleistung hätte entschließen können.
Er benutzte eine eingetretene Pause im Gefecht, um sich persönlich zum
Armeekommandanten zu verfügen und ihm seine Gesichtspunkte auseinander-
zusetzen.
Er traf Benedek mit seinem Stabe abgesessen am Nordende von Chlum
stehen. In kurzer, erregter Rede setzte er ihm die Gefahren eines Rück-
zuges in die hintere Linie, die Vorteile auseinander, welche die von ihm
geplante Umfassung des Gegners böte; was das gemeldete preußische Korps
anbeträfe, so sei es noch bei 7 Kilometer entfernt, und nichts hindere ihn,
den Armeekommandanten, demselben an der Trotina eines seiner beiden
verfügbaren Reservekorps entgegenzustellen ....
Benedek hörte ihn ruhig bis zu Ende an; allein seine Entscheidung
lautete: »Ich kann nicht helfen — Sie müssen zurückgehen.« Er winkte
dem Salutierenden beim Abreiten noch freundlich mit der Hand zu. Dies
war die vielbesprochene Unterredung bei Chlum. Die »scharfe Abweisung«,
von der Sybel berichtet, ist nicht erfolgt; vielmehr bewies Benedek bei dieser
Gelegenheit M. ein freundliches Wohlwollen, wie schon lange nicht.
Zum Korps zurückgekehrt, gab M. den ihm bitter schwer fallenden
Befehl zum Rückzug in die Linie Chlum — Nedielischt (1^/4 Uhr nachmittags).
Derselbe erfolgte in der Form einer Frontveränderung vom rechten Flügel
rückwärts mit gleichzeitigem Wechsel der Treffen. Glücklicherweise folgte
der Gegner aus dem Swiepwalde nicht nach; und da auch der aus nörd-
licher Richtung angesagte noch nicht zu sehen war, so kostete das fatale
Manöver verhältnismäßig geringe Opfer.
Daß aber M. die Nachteile der Stellung Chlum — Nedielischt richtig be-
urteilt, sollte sich nur zu bald herausstellen. Auf der nun ihnen überlassenen
Höhe von Maslowed setzten die Preußen allmählich 48 Geschütze ins Feuer.
Unter dem Schutze desselben und durch Terrainwellen gedeckt, rückten
13 Gardebataillone vor, und eröffneten gegen den linken Flügel der nun-
mehrigen Aufstellung des 4. Korps ein verheerendes Schnellfeuer, gegen
welches ein Widerstand unmöglich war. In den Ort Chlum eingedrungen,
befand sich der Feind nun im Rücken des rechten Flügels des österreichi-
schen Zentrums, womit die Katastrophe eingeleitet war. Das Zurückgehen
des rechts von ihm befindlichen 2. Korps zwang M. nunmehr, auch mit
seinem rechten Flügel, vorläufig in eine Zwischenstellung bei Swety, zurück-
zugehen.
Die Schlacht war verloren. Obschon das Korps in dieser neuen Stellung
keinen Angriff auszuhalten hatte, mußte es sich doch in den allgemeinen
Rückzug einfügen.
Während letzterer Bewegung wurde M. durch einen Schuß in die
Schulter schwer verwundet. Er gab das Kommando an Erzherzog Josef ab
und hatte noch die Kraft, die Nacht durch bis Holic zu reiten, wo er seine
IA2 von Mollinary.
Feldkalesche fand. Diese brachte ihn nach Kostinetz, von wo er mittels
Bahn nach Wien fuhr. Seine Heilung nahm 3 Monate in Anspruch.
Wir sind absichtlich länger bei Königgrätz verweilt; einmal weil M. da
Gelegenheit hatte, unmittelbar in die Weltgeschichte einzugreifen; und dann,
weil sein Verhalten im Swiepwalde Anlaß zu langwierigen Polemiken gab,
und die Streitfrage, ob sein Widerstand gegen Benedek gerechtfertigt war
oder nicht, eigentlich auch heute noch nicht entschieden ist.
Um so kürzer werden wir im folgenden sein.
Nach seiner Genesung wurde M. Divisionär in Wien und hatte in dieser
Stellung viel unter den Vorurteilen zu leiden, welche damals gegen alle
jene herrschten, die ihr Schicksal zu Kämpfern im Norden der Monarchie
gemacht hatte.
Diesem unerquicklichen Verhältnis setzte die Ernennung des Feld-
marschalleutnants Kuhn, bisher Militär- und Landesverteidigungskomman-
danten in Tirol und Vorarlberg, ein Ende. Ein warmer Freund und Ver-
ehrer M.s, meinte er in ihm die richtige Persönlichkeit zur Besetzung des
eben von ihm selbst verlassenen Postens gefunden zu haben. Die Stelle
wurde M. angetragen, der mit Freuden einwilligte.
Auf dem ihm in jeder Beziehung zusagenden Innsbrucker Posten ver-
brachte M. zwei schöne, ungetrübte Jahre, eifrig bemüht um die Wehrfähigkeit
nicht nur seiner Truppen, sondern auch des Landes mit seinem eigentüm-
lichen Schützenwesen. Die Provinz in allen ihren Teilen bereisend, im
steten Verkehr mit der Bevölkerung, sah er was not tat, und setzte sich kraft-
voll für die Einführung von Verbesserungen ein. Ihm verdankten die Tiroler
Landesschützen u. a. die erste Beteilung mit Hinterladern, eine Neuerung, die
ihm ihre begeisterte Anhänglichkeit eintrug.
Mittlerweile war die Aufhebung der kroatisch-slavonischen Militärgrenze
und deren Angliederung an Kroatien bezw. Ungarn eine beschlossene Sache
geworden, und es handelte sich darum, einen Mann zu finden, der nicht
nur die organisatorischen Fähigkeiten zur Durchführung des äußerst ver-
wickelten Überganges aus der Militär- in die Zivilverwaltung, sondern auch
das Vertrauen der Grenzbevölkerung und damit die Eignung besaß, deren
tiefsitzendes Mißtrauen gegen Ungarn zu beschwichtigen. M. war ein
Landeskind, die Grenzer konnten an seinem Wohlwollen nicht zweifeln;
seine Verwaltungstalente hatte er, wie in den fünfziger Jahren als Chef der
Pioniere und Flottillen, so auch jüngst in Tirol zur Genüge bewiesen. Auf
ihn fiel die Wahl, und sie beglückte ihn um so mehr, als ihm mit dem neuen
Posten zugleich die Anwartschaft auf das Oberkommando bei der bevor-
stehenden, unvermeidlichen Okkupation Bosniens, und damit auf die Ver-
wirklichung eines Lieblingtraums seiner Jugend: die Befreiung der Christen
vom türkischen Joch, geboten war.
Die »Entmilitarisierung« sollte nicht plötzlich vor sich gehen; es war
eine mehrjährige Vorbereitungsfrist zur allmählichen Einführung der betreffen-
Neuerungen, als: Aufstellung autonomer Gemeinden, bürgerlicher Komitats-
behörden, ziviler Rechtspflege, Neueinrichtung und Vermehrung der Schulen,
dann Vornahme durchgreifender Meliorationen, wie Eisenbahnbauten, Gewässer-
Regulierungen, Karstaufforstungen u. dgl., bewilligt. All dies zu organisieren,
klug und umsichtig zwischen den Ungarn und der Grenzbevölkerung zu
von MoUinary. iA7
vermitteln, den Übergang in einer Weise zu bewerkstelligen, daß beiden Teilen
gedient, war M.s Aufgabe, an die er mit Energie, Lust und Liebe, mit wirk-
licher Begeisterung ging.
In den ersten Jahren gelang ihm alles über Erwartung gut. Nicht nur,
daß die Bevölkerung ihn liebte und seinen Absichten das größte Verständnis
entgegenbrachte, fand er auch beim damaligen ungarischen Ministerium bereit-
willigste Unterstützung, ja in einzelnen von dessen Mitgliedern: Andrdssy und
dem damaligen Unterrichtsminister Kerkdpoly, wirkliche Gönner. Jeder
seiner Vorschläge wurde ohne weiteres genehmigt. Auch hatte ihm das
Kriegsministerium einen Teil seiner Vorbehaltsrechte abgetreten und so seine
Selbständigkeit bedeutend erhöht. Die fast unblutige Unterdrückung eines
panslavistischen Aufstandes in der Likka hob ihn auf den Gipfel der Po-
pularität. In jene Zeit fällt seine Ernennung zum Feldzeugmeister und seine
Dekorierung mit dem Großkreuz der Eisernen Krone.
Aber schon begann in der Frage der Verwendung der gewaltigen Reich-
tümer, welche die Grenze in ihren Waldungen besaß, eine Streitfrage zu
reifen, welche M.s Verhältnis zur ungarischen Regierung allmählich trüben
und schließlich zerstören sollte. M. wollte die Einkünfte jener Wälder aus-
schließlich im Interesse des Grenzlandes, vor allem zum Bau von Eisen-
bahnen im Lande verwendet wissen; die Ungarn wieder hatten in erster
Linie das magyarische Interesse vor Augen. Die Energie, mit welcher M.
ein ungarisches, zur Ausbeutung genannter Wälder gebildetes Konsortium,
als es seine Vertragspflichten nicht erfüllte, gerichtlich . verfolgte und,
nach zugunsten der Grenze gefälltem Urteil, das verfallene Vadium von
3 Millionen Gulden mit Beschlag nahm, vollendete die Entfremdung zwischen
ihm und dem Ministerium, dessen ihm wohlgesinnte Mitglieder längst anderen
Platz gemacht hatten. Immer mehr wurde ihm seine Amtswirksamkeit er-
schwert, immer mehr Prügel ihm vor die Füße geworfen. Ohne weitere
Aussichten auf ersprießliches Wirken, entmutigt, verbittert, reichte er im Juli
1877 seine Entlassung vom Posten ein, damit auch seinen Lieblingswunsch,
die Hoffnung auf das Okkupationskommando, endgültig zum Opfer bringend.
Er schied von Agram, ein gebrochener Mann. Er trug sich mit Pensions-
gedanken, die ihm aber von berufener Seite ausgeredet wurden. Noch ein-
mal erwachte die alte Lebens- und Tatkraft in ihm, als er, nach kurzer
Übergangsstellung als kommandierender General in Brunn, das weit größere,
wichtigere Lemberger Generalkommando mit dem Oberbefehl über sämtliche
Truppen in Galizien und der Bukowina bekam. Ein Krieg mit Rußland
schien damals unvermeidlich; ihm, M., wäre im Fall eines solchen die erste
Aktion gegen das mächtige Nachbarland zugefallen. Mit neuerwachtem
Eifer warf er sich auf das Studium der ins Spiel kommenden politischen wie
strategisch-taktischen Verhältnisse. Die grosse Rolle, die gleich zu Beginn
des Krieges der Kavallerie zufallen mußte, bewog ihn, für die 6 ihm unter-
stehenden Kavallerieregimenter eine Instruktion ad hoc auszuarbeiten. Sie
wurde den Regimentern zugestellt und der Zeitpunkt für eine Konzentrierung
bestimmt, in welcher deren Bestimmungen praktisch eingeübt werden sollten.
Dies selbständige Vorgehen M.s in Angelegenheiten, welche in den
Wirkungskreis des General-Kavallerie-Inspektors fielen, erregte das Miß-
vergnügen des damaligen Inhabers dieses Postens. Er steckte sich hinter
IAA von Mollinary. Ratzel.
mächtige Persönlichkeiten, und kurz vor Beginn der betreffenden Manöver
erhielt M. von Wien aus den Befehl, die betreffende Instruktion zu wider-
rufen, die ausgegebene Anleitung von den Regimentern zurückzuverlangen
und dem Kriegsministerium einzuschicken.
Er tat es, legte die eingelangten Hefte in einen Stoß zusammen und
obenauf sein Pensionierungsgesuch. Zweimal nach Wien berufen und zur
Zurücknahme oder wenigstens Aufschiebung seines Gesuchs ermahnt — binnen
wenigen Monaten sollte er sein 40Jähriges Dienstjubiläum begehen — blieb
er hartnäckig bei seinem Begehren. Nach einem solchen Stoß, seiner Autorität
versetzt, wollte und konnte er nicht länger sein Amt bekleiden ....
Im Herbst 1879 trat er in den Ruhestand.
Die Verbitterung, mit der er aus dem aktiven Dienst geschieden, mil-
derte die Zeit. M. war ein zu aufrichtiger Patriot, um dauernd zu grollen;
auch war ihm von der eigentlich maßgebenden Stelle im Staat nie eine Un-
annehmlichkeit, vielmehr in guten wie schlimmen Tagen immer nur Huld
und Güte zuteil geworden. Nach einigen Jahren war seine Stimmung soweit
überwunden, daß er die Vorgänge im Vaterlande wieder mit teilnehmendem
Interesse zu verfolgen begann. Viel Erfreuliches war es freilich nicht, was
ihm Zeitung und Freundesbriefe nach seinem italienischen Landsitze ver-
mittelten; und die immer weiterschreitende Zerstückelung Österreichs war so
ziemlich der einzige Kummer eines sonst durchaus sonnigen, im Schöße
einer geliebten Familie verlebten Greisenalters. Volle 25 Jahre waren ihm noch
vergönnt, bevor, er, 84 Jahre alt, auf seinem Landsitze bei Como für immer
die Augen schloß. Mit ihm starb einer der letzten Radetzkyaner der Armee
und der fähigsten, strebsamsten Generale, die Österreich je gehabt hat.
Er hinterließ außer mehreren Werken militärwissenschaftlichen Inhalts
2 Bände Lebenserinnerungen, welche soeben in die Welt treten und innerhalb
wie außer Österreich hohes Interesse erwecken dürften.
Carl V. Torresani.
Ratzel, Friedrich, einer der bedeutendsten Geographen Deutschlands,
* den 30. August 1844 zu Karlsruhe, f am 9. August 1904 auf seinem Sommer-
sitze Ammerland am Starnberger See. — Aus wenig bemittelter Familie
stammend (sein Vater war Kammerdiener des Großherzogs von Baden), wuchs
R. in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Da die Eltern schon früh seine
Liebe für die Naturwissenschaften erkannten, wollten sie ihn nach dem Be-
suche der Realschule seiner Vaterstadt dem Apothekerberuf zuführen. In
der altertümlichen Dorfapotheke zu Eichtersheim im Heidelberger Kreise
verbrachte er seine Lehrjahre. Nachdem er die pharmazeutische Staats-
prüfung bestanden hatte, war er noch ein Jahr lang in dem badischen
Pfarrdorfe Morsch am Rhein und in dem schweizerischen Städtchen Rappers-
wyl am Züricher See als Gehilfe tätig. Aber bald erkannte er, daß sein
Beruf jedes freie und selbständige wissenschaftliche Forschen und Schaffen
ausschloß und ihm deshalb niemals volle Befriedigung gewähren würde.
Deshalb bereitete er sich mit zielbewußtem Eifer, oft unter Zuhilfenahme der
Nacht, auf das Gymnasialabgangsexamen vor, das ihm den Weg zur Hoch-
schule Öffnen sollte. Nach Überwindung mannigfacher Schwierigkeiten be-
gann er 1866 am Polytechnikum seiner Vaterstadt mit dem Studium der
Rntzel.
J45
Naturwissenschaften, das er in den folgenden Semestern an den Universitäten
zu Heidelberg, Jena und Berlin fortsetzte. Schon 1868 erwarb er in Heidel-
berg durch einen Beitrag zur anatomischen und systematischen Kenntnis der
Oligochäten, einer Gruppe der Ringelwürmer, den philosophischen Doktor-
titel. Um diese Zeit empfand er einen unwiderstehlichen Drang, fremde
Länder und Völker zu sehen. Anfangs beabsichtigte er, da es ihm an
Geldmitteln zu selbständigen größeren Reisen fehlte, sich den württem-
bergischen Templern anzuschließen, die damals in Scharen nach Palästina
zogen und hier blühende Ackerbaukolonien anlegten. Aber trotzdem er sich
zeitlebens ein warmes Interesse für diese Pietisten bewahrte, scheint ihn
doch schließlich ihre allzu einseitig ausgeprägte Glaubensrichtung von
seinem Plan abgeschreckt zu haben. Um wenigstens etwas von der Welt
zu sehen, verlebte er den Winter von 1868 auf 1869, mit zoologischen Unter-
suchungen beschäftigt, teils in Montpellier, wo er durch den Naturforscher
Charles Martins, den Direktor des botanischen Gartens, mancherlei An-
regungen empfing, teils in Cette. Als endlich trotz äußerster Sparsamkeit Seine
bescheidenen Hilfsquellen zu versiegen drohten, kam ihm der glückliche Ge-
danke, die vielen neuen Eindrücke, die im sonnigen Südfrankreich von
allen Seiten auf ihn einströmten, zu einigen Feuilletonartikeln zu ver-
arbeiten und unter dem Titel »Zoologische Briefe vom Mittelmeer« der
Kölnischen Zeitung einzuschicken. Die Redaktion erkannte sogleich die
journalistische Befähigung ihres jungen Mitarbeiters und lud ihn zu weiteren
Beiträgen ein. Rasch knüpften sich enge Beziehungen an, und schon nach
wenig Monaten zog R. als Berichterstatter des rheinischen Weltblattes durch
Ungarn, Siebenbürgen, Italien und Sizilien. Aber der Ausbruch des Krieges
gegen Frankreich veranlafite ihn, schleunigst nach der Heimat zurückzukehren.
Er trat beim 5. badischen Infanterieregiment als Freiwilliger ein und nahm
im Werderschen Korps an der ersten Periode des Feldzugs teil. Wiederholt
fand er Gelegenheit, sein Blut fürs Vaterland zu vergießen. In dem heißen
Gefecht bei Auxonne erhielt er eine schwere Kopfwunde, die das linke
Ohr hart beschädigte, so daß er längere Zeit im Lazarett lag und im No-
vember als kriegsuntauglich 1 und mit verminderter Hörfähigkeit, aber mit
dem eisernen Kreuz geschmückt, entlassen wurde. Da er sich nach seiner
Wiederherstellung noch zu schwach zum Reisen fühlte, ging er nach München,
um an der dortigen Hochschule seine naturwissenschaftlichen Studien zu
ergänzen. Hier hatte er das Glück, von zwei bedeutenden Gelehrten, dem
Geologen und Paläontologen Karl Alfred von Zittel und dem weitgereisten
Naturforscher Moritz Wagner, viele Beweise freundschaftlicher Gesinnung und
mannigfache Anregungen zu empfangen. Als er wieder in den Vollbesitz
seiner Kraft und Gesundheit gelangt war, ging er abermals als Bericht-
erstatter der Kölnischen Zeitung nach dem Auslande. Zunächst besuchte er
zum zweiten Male Italien bis nach Sizilien, dann die Karpathen und die
Alpen, Schließlich trat er eine mehrjährige Reise nach Amerika an, die
ihn durch die Vereinigten Staaten bis an die Gestade des Stillen Ozeans,
dann durch Mexiko, Kuba und Westindien führte. Die bedeutsamsten Ein-
drücke gewann er in Kalifornien. Eine Zeitlang trug er sich mit dem Ge-
danken, hier als Farmer ein neues Leben zu beginnen, aber schließlich
siegte doch die Liebe zur alten Heimat. Im Herbst 1875 kehrte er, reich
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog^. 9. Bd. lO
146 Rateel.
ausgestattet mit Kenntnissen und Erfahrungen aller Art, nach Deutschland
zurück. Sein Hauptinteresse galt jetzt nicht mehr der Zoologie. Vielmehr war
er in der Fremde zum Geographen herangereift. Deshalb habilitierte er
sich noch gegen Ende des Jahres auf den Rat seines späteren Amtsnachfolgers
Siegmund Günther an der Technischen Hochschule in München als Privat-
dozent für Geographie. In seiner Probevorlesung behandelte er das nord-
amerikanische Felsengebirge, in seiner Habilitationsschrift die damals im
Vordergrunde des öffentlichen Interesses stehende chinesische Auswanderung.
Bereits 187 6, wurde er nach dem Erscheinen seines ersten großen Werkes über
die Vereinigten Staaten zum außerordentlichen und vier Jahre später, als er
einen Ruf nach Leipzig als Nachfolger Oskar Peschels abgelehnt hatte, zum
ordentlichen Professor ernannt. Diese Münchener Jahre waren reich an
-wissenschaftlichen und literarischen Ergebnissen. Neben mehreren selb-
ständigen Werken entstanden zahlreiche kleinere Abhandlungen. Auch leitete
er in den Jahren 1882 — 1884 die vorher durch Friedrich von Hellwald
herausgegebene Wochenschrift »Das Ausland«, bis ihn die zunehmende Über-
häufung mit andern Arbeiten zur Aufgabe der Redaktionstätigkeit zwang.
Zu vielen geistig hervorragenden Männern der bayrischen Hauptstadt unter-
hielt er freundschaftliche Beziehungen. Besonders nahe standen ihm Heinrich
Noe, der treffliche Schilderer der Alpenlandschaft, und Karl Stieler, der
gemütvolle Hochlandsdichter. Auch sonst gestalteten sich seine Verhältnisse
in München so behaglich, daß er mehrere Berufungen ausschlug, die von
auswärts an ihn gelangten, selbst einen ehrenvollen Antrag der weltberühmten
Firma Justus Perthes in Gotha, die wissenschaftliche Oberleitung ihrer
geographischen Anstalt und der von ihr verlegten angesehenen Zeitschrift
»Petermanns Mitteilungen« zu übernehmen. Erst als er im Sommer 1886 auf
Empfehlung des Nationalökonomen Wilhelm Röscher von der Universität
Leipzig eingeladen wurde, den durch den Weggang Ferdinands von Richt-
hofen nach Berlin erledigten Lehrstuhl der Geographie zu übernehmen,
stimmte er freudig zu. 18 Jahre hat er dieser altberühmten Hochschule an-
gehört, und mit Recht wird er unter ihre hervorragendsten Zierden gerechnet.
Hier in Leipzig entstanden in rascher Folge jene bedeutsamen Werke, die
seinen Weltruf begründeten und ihm für alle Zeiten einen ehrenvollen
Namen unter den Klassikern der Erdkunde sichern: Völkerkunde, Anthropo-
geographie, Politische Geographie, Erde und Leben, Naturschilderung. Die
Zahl seiner Schüler wuchs schnell an. Selbst aus Amerika, Rußland, Bulgarien
und Armenien kamen sie herbei. Gegen 200 Dissertationen, darunter aller-
dings auch manche minder gelungene, sind auf seine Anregung hin ent-
standen, und das vom ihm geleitete, wiederholt umgestaltete und musterhaft
eingerichtete geographische Seminar gelangte allmählich zu hoher Blüte. Bei
seinen Schülern hat er viel Liebe geerntet. Zu seinem 25 jährigen Professor-
jubiläum im Dezember 1901 überreichten sie ihm eine kleine Festschrift und
eine Stiftung, deren Zinsen zur Unterstützung junger Geographen der Leip-
ziger Universität verwendet werden sollten. Auch zu seinem 60. Geburtstage
gedachten sie ihn mit einer Huldigungsschrift größeren Umfangs zu über-
raschen, aber sie konnte infolge seines plötzlichen Todes nur als Gedächtnis-
schrift Verwendung finden. An Auszeichnungen und Anerkennungen hat es
ihm nicht gefehlt. Der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften
Ratzel.
147
zu Leipzig und der Kgl. Kommission für sächsische Geschichte gehörte er
als ordentliches Mitglied an. Auch mehrere geographische Gesellschaften
(zu München, Leipzig, Halle, Frankfurt, Hamburg, Bern, London, Rom und
Bukarest) wählten ihn zum Ehrenmitglied. Der König von Sachsen ernannte
ihn zum Geheimen Hofrat, doch legte er Wert darauf, von Schülern und
Freunden nicht mit diesem Titel, sondern als Professor angeredet zu werden.
In den letzten Jahren seines Lebens wurde er wiederholt von langwierigen
Krankheiten heimgesucht, die zwar seine fast wunderbare Arbeitskraft nicht
lähmten, aber allmählich seine Stimmung verdüsterten. Ein Kehlkopf übel
zwang ihn mehrfach, Südfrankreich, Italien und Korsika aufzusuchen. Sonst
verbrachte er die Ferien gern in seinem behaglich eingerichteten Sommer-
hause zu Ammerland, das ihm namentlich wegen des herrlichen Ausblicks
auf die geliebte Alpenkette wert war. Während er sich früher als rüstiger
Bergsteiger hervorgetan hatte, mußte er zuletzt auf jede körperliche An-
strengung verzichten, da ein Herzleiden erst langsam, dann immer bedroh-
licher um sich griff. Ihm ist er auch schließlich erlegen. Auf einem Abend-
spaziergange am See sank er, vom Herzschlag getroffen, plötzlich zu Boden,
und ein schmerzloser Tod endigte wenige Minuten später sein an Arbeit
und Erfolgen reiches Leben.
Wie R. als akademischer Lehrer in Vorlesungen und Seminarübungen
fast alle Gebiete der Geographie behandelt hat, so ist er auch als Schrift-
steller in nahezu allen Zweigen der Erdkunde schöpferisch hervorgetreten.
Nur die mathematischen und astronomischen Grenzgebiete lagen ihm fern.
Im ganzen hat er 18 selbständige Werke, davon einige in mehreren Auf-
lagen, und weit über 500 Abhandlungen verschiedensten Umfangs ver-
öffentlicht. Sie aufzuzählen ist hier nicht der Ort. Eine wohl nahezu voll-
ständige Liste bietet die am Schlüsse dieses Nachrufs unter den Literatur-
angaben verzeichnete Bibliographie. Seinem Bildungsgange entsprechend
ging er bei seiner literarischen Produktion von den Naturwissenschaften,
namentlich von der Zoologie aus. Seine Dissertation (1868) behandelt ein
zoologisches Thema. Auch die zuerst in der Kölnischen Zeitung, dann in
Buchform erschienenen »Zoologischen Briefe vom Mittelmeer«, verschiedene
Aufsätze in der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie und eine Reihe
von Berichten über die Ergebnisse neuer biologischer Forschungen in den
ersten Bänden von Meyers Ergänzungsblättern zur Kenntnis der Gegenwart
und in Meyers Deutschem Jahrbuch gehören hierher. Den Höhepunkt dieser
naturwissenschaftlichen Richtung bildet das zur Verteidigung der Entwick-
lungslehre geschriebene Buch »Sein und Werden der organischen Welt« (1869),
das eine populäre Schöpfungsgeschichte enthält, den Schlußstein die »Vor-
geschichte des europäischen Menschen« (1874). Einen völligen Umschwung
führten die großen Reisen im Dienste der Kölnischen Zeitung herbei. Die
mannigfachen Eindrücke, die fremde Länder und Völker in ihm erweckten,
ließen seine naturwissenschaftlichen Interessen allmählich zurücktreten. Zwar
nannte er die in Buchform erschienene Sammlung seiner europäischen Reise-
briefe noch immer »Wandertage eines Naturforschers« (1873 — 1874), aber
schon seine nächsten Werke, die Früchte der großen amerikanischen Reise,
zeigten deutlich, daß er sein bisheriges Studiengebiet verlassen hatte und
aus einem Zoologen ein Geograph und Ethnolog geworden war. In den
lO*
148 Ratzel.
»Städte- und Kulturbildern aus Nordamerika« (1876), der Studie über »Die
chinesische Auswanderung« (1876), deren rasches Anwachsen damals die
Politiker der Vereinigten Staaten mit Besorgnis erfüllte und zu Abwehrmaß-
regeln zwang, und den »Reiseskizzen aus Mexiko« (1878) offenbarte er sich
als scharfer Beobachter und als Meister der Naturschilderung, aber erst sein
grundlegendes Buch über »Die Vereinigten Staaten von Nordamerika« (1878
bis 1880) stellte ihn mit einem Schlage in die Reihe der bedeutendsten
Vertreter der wissenschaftlichen Länderkunde. Daß er indessen auch
die Geophysik nicht vernachlässigte, bewies er durch seinen Leitfaden
»Die Erde in 24 gemeinverständlichen Vorträgen über allgemeine Erdkunde«
(1881). Sein Hauptinteresse aber wendete sich allmählich der Geographie
des Menschen zu, und diesem Sondergebiete widmete er seine nächsten
großen Werke, die »Anthropogeographie« (1882, 2. Teil 1891, 2. Auflage 1899),
welche im Anschluß an die Grundgedanken Karl Ritters die Wechselwir-
kungen zwischen Natur, Geschichte und Menschheit klarzulegen beabsichtigte,
und die prächtig ausgestattete »Völkerkunde« (1885 — 1888, 2. Auflage 1894
bis 1895), die eine Anwendung der anthropogeographischen Gesichtspunkte
auf die Natur- und Kulturvölker der alten und neuen Welt versucht. Aber
nicht nur die körperliche und geistige Eigenart der Völker wurzelte seiner An-
sicht nach im Boden, sondern auch ihr politisches Leben. Der Staat erschien
ihm als ein bodenständiger Organismus, nicht als ein Grebilde, das durch
gegenseitiges Übereinkommen der Menschen entstanden ist. Diesen Grund-
gedanken führte er in seiner überaus anregenden, wenn auch nicht immer
leicht verständlichen, »Politischen Geographie« (1897, 2. Auflage 1903) näher
aus. Er zeigte darin, wie das Entstehen, Blühen und Vergehen der Staaten
geographisch bedingt ist und wie sich eine gesunde und zukunftsreiche
innere und äußere Politik einschließlich der Handels- und Kolonialpolitik
den gegebenen Verhältnissen des Bodens anpassen muß. Aber die Geographie
des Menschen war in seinen Augen nur ein Teil der allgemeinen Bio-
geographie, welche das gesamte organische Leben als eine unaufhörlich
wechselnde Erscheinungsform der Erdoberfläche betrachtet. Dieser allum-
fassenden Wissenschaft widmete er das letzte zu seinen Lebzeiten erschienene
Werk »Die Erde und das Leben« (1901 — 1902), das von der Kritik als ein
modernes Gegenstück zu Humboldts Kosmos bezeichnet wurde. Auch nach
dem Abschluß dieser »vergleichenden Erdkunde« war er noch unermüdlich
tätig. Neue Ziele tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Vor allem zog
ihn die allmählich immer weitere Kreise erfassende Bewegung an, welche
eine künstlerische Erziehung der Jugend anbahnen und damit Freude an
allem Großen und Schönen in Natur und Kunst und liebevolles Verständnis
dafür auch in den breiten Schichten des Volkes erwecken wollte. Diese Bestre-
bungen suchte er durch das liebenswürdige Büchlein »Über Naturschildening«
zu unterstützen, das wenige Wochen nach seinem Tode erschien und nach
Inhalt und Form mit Recht als die Perle unter seinen Werken betrachtet
wird. Zu beklagen ist es, daß er seine Absicht, eine ausführliche Schilderung
seines Lebensganges und seiner geistigen Entwicklung abzufassen, nicht zu
Ende führen konnte. Einige Vorstudien, die mit dichterischer Freiheit Er-
innerungen aus der Jugendzeit und dem Feldzuge gegen Frankreich wieder-
geben, erschienen ohne seinen Namen in den »Grenzboten« und wurden auch
Ratzel.
149
in die vom Grunowschen Verlage unter dem Titel »Glücksinseln und
Träume« (1905) veranstaltete Auswahl seiner kleinen Aufsätze übernommen.
Eine andere Sammlung seiner wichtigsten Abhandlungen, besorgt von Hans
Heimelt, soll im Herbst 1905 bei Oldenbourg in München herauskommen.
Diese Abhandlungen geben einen guten Überblick über die außerordentliche
Vielseitigkeit ihres Verfassers. Sie zeigen, daß er kaum eine Seite der aus-
gebreiteten geographischen Wissenschaft unangebaut gelassen hat. Bleibend
Wertvolles hat er namentlich auf dem Gebiete der Geschichte der Erdkunde
geleistet. Für die Allgemeine deutsche Biographie hat er von 1878 — 1904
gegen 150 Lebensbeschreibungen namhafter Geographen, Forschungsreisender
und Missionare verfaßt, darunter die bedeutsamen und umfangreichen Ar-
tikel über Junghuhn, Leichhardt, Nachtigal, Olearius, Pallas, Peschel, Pöppig,
Ritter, Vogel und Emin Pascha. Auch dem Biographischen Jahrbuch war
er ein treuer Berater und Mitarbeiter, wie der Herausgeber in der Beilage
zur Allgemeinen Zeitung 1904, Nr. 197 näher dargelegt hat. Andere Aufsätze,
die er namentlich im »Globus« und während seiner Redaktionstätigkeit auch
im »Ausland« veröffentlichte, berichten über ältere und neuere Entdeckungs-
reisen und über die Ergebnisse geographischer Forschungen. Drei Forschungs-
gebiete verfolgte er mit andauerndem Interesse: Afrika, die Nordpolarländer
und die Antarktis. Mit vielen bedeutenden Fachgenossen, vor allem mit
den namhaftesten Afrikareisenden unterhielt er freundschaftliche Beziehungen,
und manchem hat er ein würdiges literarisches Denkmal gesetzt, vor allem
Emin Pascha durch die Herausgabe seiner Briefe. Viele seiner kleineren
Arbeiten wurden durch seine eigenen Reisen veranlaßt. Namentlich von
einzelnen Gegenden Korsikas und der Riviera hat er glänzende Schilderungen
entworfen. Seine ganze Liebe aber gehörte den Alpen, die er in gesunden
Tagen als rüstiger Wanderer nach allen Richtungen durchstreifte. Darum
zählen auch seine Hochgebirgsstudien, seine Untersuchungen über Wasser-
fälle, über die Schnee Verhältnisse, über die Schneegrenze und die Schnee-
decke der Gebirge, über Eis- und Fimschutt, über Höhengrenzen und Höhen-
gürtel, über Karrenfelder, über einige dunkle Punkte der Gletscherkunde,
sowie seine Monographie über den Wendelstein zu dem Besten, was er
geschrieben hat. Das Gleiche gilt auch von den kleinen Arbeiten völker-
kundlichen und anthropogeographischen Inhalts (über die geographische Ver-
breitung des Bogens und der Pfeile in Afrika, über Stäbchenpanzer und ihre
Verbreitung im nordpazifischen Gebiet, über die Anwendung des Begriffs
Ökumene auf geographische Probleme der Gegenwart, über die anthropo-
geographischen Begriffe Geschichtliche Tiefe und Tiefe der Menschheit, über
die afrikanischen Bögen, ihre Verbreitung und Verwandtschaft, Beiträge zur
Kenntnis der Verbreitung des Bogens und des Speeres im indo-afrikanischen
Völkerkreis, der Staat und sein Boden geographisch betrachtet, der Ursprung
und das Wandern der Völker, sämtlich in den Schriften der Kgl. Sächsischen
Gesellschaft der Wissenschaften erschienen), sowie auch von dem einleitenden
Abschnitt zu Helmolts Weltgeschichte, den er »Die Menschheit als Lebens-
erscheinung der Erde« überschrieb, und den tief eindringenden Unter-
suchungen über den Ursprung der Arier, die er in seinen letzten Jahren
in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte. Einen noch viel weiter
reichenden Einfluß als durch diese streng wissenschaftlichen Arbeiten, die
150
Ratzel.
sich zum Teil nur an enge Fachkreise wendeten, übte er durch seine zahl-
reichen Beiträge für populäre Zeitschriften aus. In Meyers und Brockhaus*
Konversationslexikon, in der Kölnischen und Allgemeinen Zeitung, in den
Münchener Neuesten Nachrichten und der Karlsruher Zeitung, in den Leip-
ziger Tagesblättern, namentlich in der wissenschaftlichen Beilage zur Leipziger
Zeitung, in Westermanns Monatsheften und im Daheim, in der Deutschen
Rundschau, der Gegenwart und der Deutschen Monatsschrift findet man viele
seiner kleineren Aufsätze verstreut. Das Blatt, das er am liebsten und aus-
giebigsten benutzte, um das von sich zu geben, was ihm das Herz bewegte,
waren die Grenzboten, zu deren Herausgeber und Verleger er viele Jahre
hindurch freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Für diese Zeitschrift hat
er eine unübersehbare Menge von anonymen Notizen und Mitteilungen ge-
liefert, die oft nur wenige Zeilen umfassen, aber überraschende Einblicke
in das eigenartige Geistes- und Gemütsleben ihres Verfassers eröffnen.
Auch als Kritiker hat er eine überaus vielseitige Tätigkeit ausgeübt, haupt-
sächlich im Literarischen Zentralblatt und im Literaturbericht zu Petermanns
Mitteilungen, aber auch in andern geographischen, ethnologischen und natur-
wissenschaftlichen Fachzeitschriften und gelegentlich selbst in Tagesblättern.
Es steckt eine Unsumme von Arbeit in diesen mehr als 700 Anzeigen, die
häufig eingehende Sprachkenntnisse voraussetzen. In seinen Rezensionen
war er stets bemüht, große leitende Gesichtspunkte herauszuheben. Das
kleinliche Aufstechen von . Druckfehlem und nebensächlichen Irrtümern lag
ihm völlig fem. Wo er tadeln mußte, geschah es in verbindlicher Form
ohne persönliche Schärfe.
Die wissenschaftlichen Verdienste R.s sind aber nicht allein nach dem
zu bemessen, was er selbst als Schriftsteller leistete, sondem auch nach
dem, was er anregte. An den Bestrebungen zur gründlichen geographischen
Erforschung Deutschlands nahm er als langjähriges Mitglied des Zentral-
ausschusses für deutsche Landes- und Volkskunde lebhaften Anteil. Durch
die von ihm herausgegebene, von den besten Sachkennem bearbeitete
»Bibliothek geographischer Handbücher«, welche eine Auswahl der hervor-
ragendsten geographischen Kompendien umfaßt, fülltie er eine längst empfun-
dene Lücke in der Literatur seines Faches aus. Als akademischer Lehrer
hat er Hunderte von Schülern herangebildet, von denen einige zu den
Zierden der jüngeren Geographengeneration gehören, andere als tüchtige
Lehrer den geographischen Unterricht in den sächsischen Schulen auf eine
erfreuliche Höhe gehoben haben. Mit vielen seiner Schüler verbanden ihn
enge freundschaftliche Beziehungen, und wem es vergönnt war, häufiger
mit ihm zu verkehren, der lernte bald die vortrefflichen Eigenschaften
seines Geistes und Herzens schätzen. Als einen besonderen Genuß empfand
er es, in angeregtem Gespräche mit Freunden Wald und Feld zu durch-
streifen. Das Fußwandern war seine Leidenschaft. Noch in seinen letzten
Jahren betrieb er es mit einer Ausdauer, die manchen Jüngeren beschämte,
und selbst im Winter und bei entschieden schlechtem Wetter eilte er, meist
ohne schützende Überkleidung, mit raschen elastischen Schritten stundenlang
umher. Es ist kein Zufall, daß er Frommanns »Taschenbuch für angehende
Fußreisende« mehrmals neu herausgab und der deutschen Jugend widmete.
Auch das prächtige Büchlein »Deutschland« (1898), das dem Deutschen
Ratzel.
151
zeigen will, was er an seiner Heimat hat, und das eine unerschöpfliche
Quelle für die Belebung des heimatkundlichen Unterrichts bildet, ist eine
Frucht solcher Wanderungen. Gern unterhielt er sich auf seinen Spazier-
gängen über politische, philosophische und religiöse Probleme. Als Politiker
gehörte er zu den Vertretern eines gemäßigten nationalen Liberalismus, doch
ist er niemals im Parteileben hervorgetreten. Mit Begeisterung verteidigte
er die Weltmachtbestrebungen des Deutschen Reiches. Die Gegner der
Kolonialpolitik bekämpfte er durch seine kräftige Fehdeschrift »Wider die
Reichsnörgler« (1884) und durch zahlreiche Aufsätze in den Grenzboten.
Auf die Notwendigkeit einer starken Flotte wies er in der glänzend ge-
schriebenen Studie »Das Meer als Quelle der Völkergröße« (1900) hin. In
Sachen der Weltanschauung wurde er durch Erfahrungen, über die er sich
Dritten gegenüber nur selten und dann auch nur andeutungsweise äußerte, ganz
langsam und allmählich nach rechts gedrängt. Als Student hatte er dem Mate-
rialismus jener Tage gehuldigt. Später war er, wohl hauptsächlich durch per-
sönlichen Verkehr mit kirchlichen Separatisten seiner schwäbischen Heimat,
zu andern Ansichten gekommen. In Leipzig besuchte er fleißig den evan-
gelischen Gottesdienst, und in seinen letzten Jahren lieferte er Beiträge für
die fromme Zeitschrift Glauben und Wissen und für das auf streng christ-
lichen Grundlagen ruhende Volks- und Universallexikon von Dennert. Neben
diesen religiösen Neigungen entwickelten sich gegen Ende seines Lebens
auch philosophische, aus denen heraus mehrere tief durchdachte Aufsätze in
den von seinem Freunde und Kollegen Ostwald herausgegebenen »Annalen
der Naturphilosophie« entstanden sind, und vor allem künstlerische Interessen,
die namentlich dem Buche über Naturschilderung seinen eigenartigen Reiz
verleihen. So war der Verstorbene ein Mann von universaler Vielseitigkeit,
erstaunlichem Wissen, seltener Schaffenskraft und ungewöhnlicher literarischer
Fruchtbarkeit, ein bedeutender ideenreicher Gelehrter in mehr als einem Ge-
biete der Wissenschaft, eine feinsinnige Künstlernatur und nicht zuletzt auch
ein Meister des deutschen Stils. Noch in Jahrhunderten wird ihn die dank-
bare Nachwelt unter die führenden Geister unserer Zeit rechnen.
Eine eingehende treffliche Studie über R. verdankt man seinem Schüler K. Hassert:
Geographische Zeitschrift XI (1905), Heft 6 — 7. Kürzere biographische Artikel und Nach-
rufe von selbständigem Werte veröffentiichten Th. Achelis: Nord und Süd LXXXIV (1898),
263 — 276 (mit Bildnis), VVestermanns illustrierte deutsche Monatshefte XC (1901), 223 bis
229 (mit Bildnis) und Geographischer Anzeiger V (1904), 265; G. Antze: Politisch-anthropo-
logische Revue III (1904), 517; J. Brunhes: La Geographie X (1904), 103—108; M. Eckert:
Illustrierte Zeitung 1901, Nr. 3049, S. 851 — 853 (mit Bildnis) und Wissenschaftliche Beilage
der Leipziger Zeitung 1904, Nr. 103; C. Gruber: Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1901,
Nr. 282; S. Günther: ebenda 1904, Nr. 195; H. Haack: Geographenkalender III (1905),
201 — 203; K. Hassert: Geographischer Anzeiger II (190 1), 161 — 163 und Deutsche Monats-
schrift VII (1905), 695—706; H. Heine: Neue Bahnen XV (1904), 668ff., 726ff.; H. Hei-
molt: Deutsche Rundschau XXXI (1904), Heft i; O. Kämme!: Die Grenzboten LXIII
(1904), Nr. 33; E. Kaiser: Pädagogische Blätter XXXIII (1904), 492 ff., 545 ff»; R- Kittel:
Die Grenzboten LXIII (1904), Nr. 35; M. Krug-Genthe und C. F. Semple: Bull. Amer.
Geogr, Soc, XXXVI (1904), 550—553; K. Lamprecht: Berichte über die Verhandlungen
der pbil.-hist. Klasse der Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wiss. 1904, 13 S.; H. Lindau:
Die Nation XXII (1904), Nr. 3—4; O. Marinelli: Rivista geogr, Italiana XII (1905).
8—18; F. Ntichter: Blätter für die Schulpraxis 1904, S. 293 ff; E. Oppermann: Zeitschrift
für Schulgcographie XXVI (1904/05), 1—7; A. Penck: Die Zeit 1904, Nr. 675; H. Reis-
IC2 Ratrel. Egger von Möllwald.
hauer: Mitteilungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins 1904, Nr. 16; Schulze:
Pädagogische Studien 1904, Nr. 6; M. Spahn: Der Tag (1904), 30. August; K. Weule:
Deutsche Erde III (1904), 150 f. und Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Leipzig
1905, 29 S. (mit Bildnis); Kölnische Zeitung 1904, Nr. 1062. — V. Hantzsch, Ratzel-Biblio-
graphie 1867 — 1905. Verzeichnis der selbständigen Werke, Abhandlungen und Bücher-
besprechungen Friedrich Ratzeis, München und Berlin 1905. Viktor Hantzsch.
Egger von Möllwald, Alois, Schulmann, * 5. Januar 1829 zu Flattach in
Kärnten, f 16. März 1904 zu Lovrana. — E.s Vater Alois war Wirtschafts-
besitzer und lebte mit seiner aus fünf Söhnen und drei Töchtern bestehenden
Familie in auskömmlichen Verhältnissen. Unser Alois war das älteste der
Kinder und verlebte in der von ihm zeitlebens schwärmerich geliebten
Heimat seine Knaben jähre. Unterricht genoß er in seinem Geburtsort (1840)
und zu Lienz. E. war noch durch das alte Jesuitengymnasium gegangen
und konnte später den Fortschritt der neuen Gymnasialorganisation an den
Erfahrungen der eigenen Schuljahre abschätzen. Seine Zeugnisse aus der
Gymnasialzeit reihen ihn durchwegs unter die »Eminentisten«. Im Herbste
1849 wanderte er mit seinem P'reunde und Landsmanne, dem österreichischen
Dichter Johann Fercher von Stein wand, nach der steirischen Hauptstadt.
»Noch schwebt der regnerische Novembertag 1849 vor meinem Geiste« —
also schreibt E. in einem Tagebuche aus dem Jahre 1860 — , »an welchem
ich mit Kleinfercher (so hieß eigentlich der Dichter) auf der Voitsberger
Straße nach Graz wanderte, die Brust voll Plänen, aber im Beutel nur 8 fl.
Auf diesen Tag folgten Tage der Not und des Hungers, bis es mir gelang,
durch Unterricht etwas zu erwerben.« 1849/50 gehörte E. der juridischen
Fakultät an, doch hörte er bereits im ersten Semester ein Kolleg über Ge-
schichte der altklassischen Literatur und im zweiten ein Kolleg über Er-
ziehungslehre und neuere Philosophie. Einem inneren Drange folgend, trat
er bereits im Wintersemester 1850/51 an die philosophische Fakultät über
und begann unter Weinholds Leitung seine germanistischen Studien. In dieser
ersten Grazer Zeit wohnte E. mit Kleinfercher und seinem späteren Amts-
genossen Karl Greistorf er zusammen, eine Zeit sorgenvoller Bedrängnis, in
der die jungen Freunde »vereint das Elend ihrer materiellen Existenz hin-
wegjubelten oder zerphilosophierten« (Tagebuch 1860). Bald nach seinem
Übertritt an die philosophische Fakultät, im Herbst 1851, sehen wir E. als
Supplenten am Staatsgymnasium in Graz und außerdem im Neujahr 1852 als
Lehrer am Institute Blumenfeld in Graz. Auf die Empfehlung seines Direktors
Kaltenbrunner und des Schulrates Rigler konnte E. mit Beibehaltung seiner
Supplentengebühr zur Vorbereitung auf die Ablegung der Lehramtsprüfung
nach Wien übersiedeln. Im Sommersemester 1853 an der philosophischen
Fakultät in Wien inskribiert, hörte er Jaeger, Aschbach, Simony, Hahn,
Linker, Arneth, Eitelberger und lenkte bald im historischen Seminar, wo
er an der Seite Ottokar Lorenz' saß, und im germanistischen die Aufmerk-
samkeit seiner Professoren auf sich. Im Herbste 1854 nahm er eine Supplentur
am Staatsgymnasium in Olmütz, 1855 eine Lehrstelle in Laibach an, von
wo er nach Verlauf von zwei Jahren als Lehrer ans akademische Gymnasium
in Wien berufen wurde, dem er 1857 — 1874 angehörte. Daß ihm wie in
Olmütz so manches auch in Wien nicht gefiel, macht dem Charakter des
Egger von MöUwald. 153
Mannes Ehre, der seine heimatlichen Berge ebensowenig vergaß wie Freiheit
und Biederkeit der heimischen Sitten. Im Kreise gleichgesinnter Freunde —
außer seinen Amtsgenossen vom akademischen Gymnasium und dessen
Direktor Hochegger noch Mitteis, Klun, Warhanek, der Mineraloge Peters,
der Germanist Lexer, der Tonkünstler Mair — fehlte es nicht an reichlicher
Anregung. Ein Leben trotz materieller Beengung reich an innerem Behagen,
dem sich eine neue glückverheißende Zukunft erschloß, als E. 1863 seiner
Braut Laura Moser die Hand reichte zu einem Bunde treuester Seelengemein-
schaft.
Die naturgemäße Sorge für den eigenen Herd spornte nunmehr seine
Arbeitskraft und Schaffenslust noch mächtiger an, und so erschien bereits
fünf Jahre nach seiner Verheiratung (1868) der I. Band seines deutschen
Lehr- und Lesebuches für Obergymnasien. Im Mai 1869 wurde ihm das
Amt eines provisorischen Bezirksschulinspektors übertragen. Von dieser
Stelle wie von seinem Lehramte am akademischen Gymnasium mußte er
zurücktreten, um seine ganze Kraft der Lösung einer verantwortungsvollen
Ehrenaufgabe zu widmen. Sein Lebensweg führte ihn nämlich im Oktober
1869 in die Wiener Hofburg, wohin er berufen wurde, den Unterricht des
Kronprinzen Rudolf in der deutschen Sprache und der Erzherzogin Gisela
in der deutschen Sprache und in Geographie und Geschichte .zu leiten. Den
Kronprinzen unterrichtete E. nur ein Jahr; als er im Oktober 1870 der Erz-
herzogin Gisela nach Meran als Lehrer folgen mußte, wurde für den Kron-
prinzen, der in Wien verblieb, in Professor Karl Greistorf er E.s Nachfolger
gefunden. Es gereicht E. zur Ehre, daß er, der Vielbeneidete, des Standes
nicht vergaß, in dem die Wurzeln seiner Kraft lagen. In Anerkennung seiner
bei dem Unterrichte der Erzherzogin Gisela geleisteten Dienste wurde ihm
1873 ^^r Orden der Eisernen Krone III. Klasse und der Ritterstand mit dem
Prädikate »Möllwald« verliehen.
Das Jahr der Wiener Weltausstellung 1873 zeigt E., der inzwischen (1872)
in Würdigung seiner verschiedenen literarischen Leistungen von der philo-
sophischen Fakultät der Universität in Tübingen den Doktortitel erhalten
hatte, in erhöhter Tätigkeit auf literarischem und praktischem Schulgebiete.
Nebst der Redaktion des offiziellen Ausstellungsberichtes über das österreichi-
sche Schulwesen wirkte E, auch in einem Komitee, das sich die dankenswerte
Aufgabe gestellt hatte, auf dem Ausstellungsplatze ein modernes Schulhaus
samt Zubehör herzustellen, das den durch Wissenschaft und Erfahrung
geläuterten Anschauungen über den Volksunterricht entspräche. Dieses »öster-
reichische Musterschulhaus« fand nebst großem Beifall vielfache Nachahmung.
Im Herbste 1873 wurde E. von den Städten und Märkten Oberkärntens
zum Reichsratsabgeordneten gewählt. E.s erste Rede handelte über die Her-
anbildung des Klerus (1874), eine zweite betraf die permanente Unterrichts
ausstellung, später abgedruckt im pädagogischen Literaturberichte von Dr. Kraus
(1894). Ende September 1874 finden wir ihn als Teilnehmer an der Philo-
logenversammlung in Innsbruck, ein Beweis, daß die Politik ihn nicht aus
der Fühlung mit der Wissenschaft und der Schule brachte. Ja wie innig diese
Beziehung verblieb, beweist eine Stelle seines obenerwähnten Tagebuches
vom 15. April, wo er klagt, daß der Reichsrat und verschiedene Vereine
seine Zeit so sehr in Anspruch nehmen, daß er zu literarischer Tätigkeit
I 54 Egger von Möllwald.
nicht die nötige Sammlung gewinne. »Daraus ergibt sich eine Zersplitterung
der Zeit, die mir unbehaglich zu werden beginnt« — setzt er hinzu. Auch
manche Enttäuschung brachte ihm seine neue Stellung. »Im Abgeordneten-
hause bot sich mir kein befriedigender Wirkungskreis« — schreibt er in
einem selbstverfaßten curricuium vitae — »und ich benützte die erste Differenz
mit den Ansichten meiner Wähler, um mich zurückzuziehen.« Am 19. De-
zember 1875, *lso nach zweijähriger Tätigkeit im Parlamente, teilte er in
einem Rundschreiben seinen Wählern mit, daß er sein Mandat niederlege,
denn er sei nicht in der Lage, für die Predilbahn zu stimmen, wie es Villach
wünsche. So ward in dem Parlamentarier die Rückkehr zu dem eigentlichen
Lebensberufe beschleunigt, dem wiedergegeben er sich um die freigewordene
Direktorstelle an der k. k. Lehrerinnenbildungsanstalt St. Anna in Wien bewarb.
Diese Anstalt sollte er nur ein Jahr leiten. Denn als im Herbste 1878 dem
Theresianischen Gymnasium nach dem Ableben seines Direktors Dr. Heinrich
Mitteis ein würdiger Nachfolger gegeben werden sollte, fiel die Wahl auf E.
Im September 1878 wurde er zum Direktor des Theresianischen Gymnasiums
ernannt. Was ihn bewog, nach so kurzer Zeit die Bildungsstätte zu St. Anna
zu verlassen, gesteht er ehrlich in seinem curricuium vitae i »Obwohl mich
mein Wirkungskreis am Pädagogium St. Anna in jeder Richtung befriedigte,
so fühle ich mich doch in der Sphäre des Gymnasial Unterrichtes, in der ich
so lange Jahre gewirkt, heimischer.«
Im kräftigsten Mannesalter trat E. seinen neuen Dienstposten an, der bei
der eigenartigen Organisation der Theresianischen Akademie, ihren Zielen
und den hierzu gebotenen Mitteln dem Gymnasialdirektor, der zugleich
Vizedirektor der Akademie ist, keine leichten Aufgaben stellt. Doch dem
Arbeitsfrohen, der wiederholt, auch durch längere Zeit die Leitung der Ge-
samtakademie übernehmen mußte und an der Seite von vier Akademiedirek-
toren wirkte, versagte auch jetzt nicht Tatkraft noch Tatenlust, nicht Inter-
esse noch Einsicht, und er durfte sich mit Recht der Anerkennung erfreuen,
die ihm durch die Verleihung des Titels eines Regierungsrates ausgesprochen
ward. An der Spitze eines trefflichen Lehrkörpers wirkte E. mit dem vollen
Einsätze seiner reichen Erfahrung, seines umfassenden Wissens, seines vor-
bildlichen Lehrgeschickes, bis die zunehmenden Jahre, insbesondere ein fühl-
barer werdendes Gehörgebrechen ihn nach fünfzehnjähriger, dem Theresianum
1878 — 1893 gewidmeter Dienstzeit zwang, um seine Versetzung in den
bleibenden Ruhestand einzuschreiten. Unmittelbar vor seinem Scheiden aus
der Aktivität konnte E., mit sich bereits vollständig einig abzutreten, in
glänzender Weise zeigen, über welch organisatorisches Geschick, über welchen
Reichtum an Erfahrung und über welche Arbeitskraft er verfüge. Denn als
zu Pfingsten 1893 die 42. Versammlung deutscher Philologen und Schul-
männer in Wien tagte, war E. trotz seiner 64 Jahre mit jugendlicher Rüstig-
keit als zweiter Präsident unermüdlich tätig, nachdem er schon vorher für
das Gelingen dieses Kongresses sich an den schwierigen Vorarbeiten in Wort
und Schrift erfolgreich beteiligt hatte. Kaum war die Festesfreude jener
schönen Tage verrauscht, da reichte E. sein Pensionsgesuch ein. In einer
besonderen Abschiedsfeier ehrte die Theresianische Akademie ihren Gymnasial-
und Vizedirektor, dessen Bildnis zu dauernder Erinnerung das Konferenz-
zimmer des Gymnasiums ziert.
Egger von MöUwald. I55
Doch ganz zu feiern, fühlte sich der zeitlebens Nimmermüde nicht ver-
anlaßt, vielmehr trat er neuerdings an die Arbeit als Obmann der öster-
reichischen Gruppe der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schul-
geschichte sowie als Mitglied der Leitung des Vereines Carnuntum, bis ihn
die Zunahme körperlicher Beschwerden und Leiden zu ernstlichem Stillstande
zwang. Wie er auch dort der Schule nicht vergaß, so vergaßen seiner nicht
seine ehemaligen Schüler, seine Freunde, seine Berufsgenossen. Denn als er
in Lovrana sein siebzigstes Geburtsfest 1899 feierte, da wollten im Kreise
seiner Familie die nicht fehlen, die ihn dankbaren Herzens als ihren unver-
geßlichen Lehrer verehrten, als treuen Freund mit unverminderter Herzens-
wärme liebten, als vorbildlichen Berufsgenossen hochschätzten. Dem Jubilar
wurde nebst einer von nahezu 300 Teilnehmern aus den verschiedensten
Ständen unterzeichneten Glückwunschadresse eine Denkmünze verehrt, die
auf der Vorderseite das von Scharffs Meisterhand modellierte Bildnis des
Siebzigjährigen trug, während die Rückseite — um mit der Adresse zu
zu sprechen — »in nüchternen Namen und nüchternen Zahlen die Erinnerung
an die Stätten seiner Lebenswirksamkeit« wecken sollte. Wie diese Kund-
gebung vom Herzen kam, so fand sie auch den Weg zum Herzen; sie
durfte noch einmal mit aller Lebensfreude den Lebensmüden durchsonnen,
in dem zwar der Geist mit erstaunlicher Frische regsam blieb, die leiblichen
Kräfte aber immer drohender den Dienst versagten. Eine Änderung in der
ärztlichen Behandlung und deren unerwarteter Erfolg vermochte allerdings
für eine kurze Spanne Zeit die Hoffnung neu zu beleben, daß noch in weiter
Feme das Ende sei. Doch sein 75. Geburtstag, den er 1904 von Leiden
gequält erlebte, war sein letzter — nach wenigen Wochen stand sein edles
Herz stille zu ewiger Rast. Von Lovrana wurde der Leichnam nach Wien
gebracht und unter ehrender Teilnahme auf dem Grinzinger Friedhofe am
20. März 1904 in die Erde gebettet.
So einfach sich der äußere Lebensgang E.s darstellt, so schwierig ist
eine erschöpfende Darstellung des Lebenswerkes des Heimgegangenen, dessen
Geiste ein merkwürdige, von gelehrtenhafter Einseitigkeit völlig abgekehrte
Empfänglichkeit eigen war für alles Schöne und Wissenswerte, für Ideales
und Praktisches.
Was ihm die österreichische Mittelschule verdanken sollte, ward günstig
vorbereitet durch äußere Umstände. Aus bäuerlichen Verhältnissen ent-
sprossen, verbrachte er in Klagenfurt und Graz, in Olmütz und Wien seine
Lehrjahre in einer Zeit gärender Umformung der alten, abgelebten Schul-
einrichtungen. In der alten Schule unterwiesen, konnte er wie die übrigen
Pioniere des neuen Gymnasiums nicht nach bewährten Mustern sich seine
Methode einrichten, sondern durch liebevolles Vertiefen in die vielfach neuen,
von so mancher Seite als unausführbar verworfenen und bekämpften Grund-
sätze des Organisationsentwurfes vom Jahre 1849 mußte eine entsprechende
neue Methode erst gefunden und durch wachsame Beobachtung erprobt
werden. Hierin war es für einzelne Gegenstände, z. B. die klassischen
Sprachen, gleich anfangs nicht so schlimm bestellt; hingegen die Behandlung
der deutschen Sprache als Unterrichtssprache, die bekanntlich vor 1849
keinen selbständigen Lehrgegenstand des österreichischen Gymnasiums bildete,
war besonders in den oberen Klassen den bedenklichsten Mißdeutungen und
ic6 Eggcr von Möllwald.
Schwankungen ausgesetzt, die durch das Erscheinen des dreibändigen Lese-
buches für die oberen Klassen von dem Sektionsrate im Unterrichtsmini-
sterium J. Mozart (1851 — 53) zwar gemildert, aber nicht beseitigt wurden.
Über diese Verhältnisse verdanken wir ein maßgebendes Urteil E. selber in
dem Berichte über österreichisches Unterrichtswesen anläßlich der Wiener
Weltausstellung 1873 (»Mittelschulen II, deutsche Sprache und Literatur«).
Nicht das geringste Verdienst E.s war es, daß sein eigenes dreiteiliges Lehr-
und Lesebuch für Obergymnasien die anziehenden Uhlandschen Darstellungen
bezw. Inhaltsangaben der Dichtungen aus alter Zeit zuerst für die Schule
und in ausgiebiger Weise verwertet hat. Der erste Band des E.schen Lese-
buches erschien 1868 — er sollte die für das Studium der Literaturgeschichte
notwendigen Vorbegriffe erläutern — , ihm folgte des zweiten Bandes erste
Abteilung 1869, zweite Abteilung 1870 — dieser Band sollte die Literatur-
geschichte selbst in streng schulgemäßer Form bieten — und endlich der
dritte Band 1872, der entgegen dem Mozartschen Schlußbande zu einer Vor-
schule der allgemeinen Ästhetik unter Ausschluß des rein Abstrakten erweitert
wurde. Wohl sind E.s Lesebücher heute außer Gebrauch, trotzdem die ein-
zelnen Bände bis in die achtziger Jahre hinein an sieben Auflagen erlebten.
Ein Schulbuch, das zwanzig Jahre und darüber erlebt, muß sein hohes Alter
durch oft tief eingreifende Umarbeitungen erkaufen; dazu war aber E. nicht
zu bewegen, trotzdem ihm in der Approbationserledigung der achten Auflage
des ersten Bandes im trockenen Amtsstil angedeutet wurde, daß »für die
Zukunft die Approbation neuer Auflagen nur nach gründlicher Umarbeitung
des Buches, durch welche die Abweichungen vom vorgeschriebenen Lehrplane
und den bezüglichen Instruktionen beseitigt wurden, in Aussicht genommen
werde«, und wir bleiben ihm auch dafür zu Dank verpflichtet, daß sein Werk
ein unverändertes Denkmal der Bedürfnisse seiner Zeit geblieben ist.
1877 — 1880 entstanden die vier Bände des E.schen Lesebuches für die
unteren Klassen österreichischer Mittelschulen, die, zwar allseitig auf das
freudigste begrüßt, sich neben den immer wieder aufgelegten Lesebüchern
von Mozart und von Neumann-Gehlen nicht so recht durchzusetzen ver-
mochten.
Um dieses Schulbuch, die Frucht zwölfjähriger Arbeit, lassen sich die in
Zeitschriften, Broschüren und in Buchform veröffentlichten literarischen Ar-
beiten und die zahlreichen Vorträge über mannigfache Stoffe zu einem Ge-
samtbilde seines äußerst fruchtbaren Wirkens vereinen. Kurz nach der
Gründung des Vereines »Mittelschule« (1860) wurde über E.s Antrag die
Verfassung einer »Denkschrift« beschlossen, die den neuen Lehrplan gegen
die unberechtigten und unbefugten Angriffe der Gegner verteidigen, zugleich
aber auch manchen fachgemäßen Wünschen der Lehrer Ausdruck geben
sollte. Mit der Ausarbeitung dieser dem Ministerium vorgelegten Denkschrift
wurde der Antragsteller selber betraut. Über die Land tags Verhandlungen
in Krain vom 12. Februar 1866 betreffs der Unterrichtssprache an den Mittel
schulen hielt er einen Vortrag im Vereine »Mittelschule«, dann 1869 »Über
Reformbestrebungen auf dem Gebiete der deutschen Rechtschreibung«. In
das Jahr 1872 fällt sein Vortrag in der »Mittelschule«: »Über die deutschen
Schulen in Wälschtirol« , 1875 »Über die Industrie im Dienste der öster-
reichischen Schule«, 1876 »Bericht über die orthographische Ministerial-
Egger von MöUwald. * I c 7
kommission in Berlin« und »Über deutsche Aufsätze von Abiturienten öster-
reichischer Mittelschulen«, 1877 »Die Überbürdungsfrage« u. a. Ihm, dem
Mitbegründer des Vereines »Mittelschule«, an dessen Spitze er wiederholt,
zuletzt 1876/77, gestanden war, fiel verdientermaßen die Aufgabe zu, 1887
anläßlich des fünfundzwanzigjährigen Bestandes den Festvortrag zu halten
und ein Jahr später 1888 zur Eröffnung des I. deutsch-österreichischen
Mittelschultages in Wien die Versammlung in einer Ansprache zu begrüßen.
Im Vereins jähre 1895 sprach er zum letzten Male in diesem Kreise, als er
seinem Freunde Schulrat Dr. Hermann Pick ergreifende Worte der Erinnerung
widmete und endlich der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schul-
geschichte und ihre österreichische Gruppe Teilnahme und Förderung zu
wecken suchte.
Einzelne der angeführten Vereinsvorträge wurden in der Zeitschrift für
österreichische Gymnasien abgedruckt, an der mitzuarbeiten ihn bereits Bonitz
aufgefordert hatte. Von selbständigen, in dieser Zeitschrift veröffentlichten
Aufsätzen möge erwähnt sein »Über polyglotte Mittelschulen vom didakti-
schen Standpunkte«, »Das Deutsche bei der österreichischen Maturitäts-
prüfung«, »Akzent und Quantität in der Theorie der deutschen Verskunst«,
»Zur Geschichte der Romanze und Ballade in der deutschen Literatur«, »Der
Nachmittagsunterricht in Deutschland«. Außerdem lieferte E. von 1864 bis
1896 eine stattliche Reihe Anzeigen und Besprechungen von Büchern für
den deutschen Sprachunterricht, von Schriften zur deutschen Literatur, die
österreichische Dialektforschung inbegriffen, und von geographischen Er-
scheinungen, insbesondere über die heimatlichen Berge und den Groß-
glockner. E. war ein verläßlicher Kenner der Herrlichkeit unserer Alpen-
welt, die er mit edler Begeisterung zu schildern verstand. Das hat er
glänzend bewiesen als Mitarbeiter des Kronprinzenwerkes »Die österreichisch-
ungarische Monarchie in Wort und Bild«, für das er 1890 zum Bande
»Kärnten« die landschaftliche Schilderung des Tauerngebietes, des Moll-,
Lieser- und Maltatales 1888 lieferte. Schließlich sei noch der Mitwirkung
E.s an der Zeitschrift für das Realschulwesen gedacht, die wiederholt Bei-
träge aus seiner Feder veröffentlichte.
Den Übergang zu den in Buchform erschienenen Schriften E.s mögen
seine Gymnasialprogramme bilden und zwar: »Zur Geschichte des Vertrages
von Verdun« (Olmütz 1855), »Abraham a Sancta Claras Redliche Red für die
krainerische Nation« (Laibach 1857), »Geschichte der Glocknerfahrten« (Wien,
akademisches Gymnasium 1861) und ebenda 1868 »Schiller in Marbach«, eine
Arbeit, die er zum besten der Schillerdenkmale in Wien und in Marbach in
demselben Jahre auch in Broschürenform erscheinen ließ. 1872 erschien seine
»Vorschule der Ästhetik«, 1874 begründete E. unter dem Titel »Volksbildung
und Schulwesen« eine Sammlung von Schriften, die gründlich und fach-
männisch Angelegenheiten der Bildung und der Schule behandeln sollten in
einer auch für das gebildete Publikum berechneten Weise. E. eröffnete diese
bei Holder in Wien erschienene Sammlung mit der kulturpolitischen Studie
»Industrie und Schule in Österreich«, der er als drittes Heft in demselben
Jahre seinen weitausblickenden Aufsatz »Ein österreichisches Schulmuseum«
folgen ließ. Im Jahre 1875 erschien »Zur Geschichte der österreichischen
Schulreform«, 1876 gab er Stelzhamers Liebesgürtel heraus, 1877 begründete
jc8 Kgg^cr von Möllwald. Fellner.
er Hölders historische Bibliothek für die Jugend, 1878 folgte die anläßlich
der Pariser Weltausstellung im Auftrage des österreichischen Unterrichtsmini-
steriums verfaßte »Übersichtliche Darstellung des österreichischen Volks- und
Mittelschulwescns 1867 — 1877«, 1893 bot er eine orientierende Übersicht über
die »Wanderversammlungen deutscher Philologen und Schulmänner« und
1894 eine Übersicht über »die Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und
Schulgeschichte«.
Seine Kenntnisse der alpinen Gebirgswelt machten ihn zu einem
geschätzten Beiträger usw. der Jahrbücher bezw. der Mitteilungen des öster-
reichischen Alpenvereines. Erwähnt werde sein Aufsatz »Goethe in den
Alpen« (Jahrbuch des österreichischen Alpenvereines 1866), dem ein Jahr
später die Studie »Schiller in den Alpen« folgte. Ein bleibendes Verdienst
E.s ist die fruchtbare Anregung zur Herausgabe einer Chronik durch den
Wiener Goethe-Verein, in deren Spalten er zur Förderung der Bestrebungen
dieses Vereines wiederholt sein maßgebendes Wort vernehmen ließ.
E. wirkte rege mit zur Errichtung des Schillcrdenkmals in Wien und
im Wiener Goethe-Verein, zu dessen Gründern er sich mit Stolz zählte und
dessen Schriftführer er viele Jahre war.
Auszug aus Karl Ziwsa: Alois Egger von Möllwald. Ein Lebensbild. Sonderabdruck
aus dem Jahresbericht des Gymnasiums der k. k. Theresianischen Akademie 1905. — Vgl.
Wilhelm Scherer, Kleine Schriften. 1. 748—758.
Fellner, Thomas, Dr. phil.^ k. k. Regierungsrat und Archivdirektor im
Ministerium des Innern, Privatdozent an der Universität Wien, ♦17. April
1852 zu Schwancnstadt in Oberösterreich, f 22. April 1904 zu Wien. — Nach
Beendigung seiner akademischen Studien in Wien, Berlin und Bonn widmete
F. sich vorübergehend der Mittelschullauf bahn (1877 — 1879), ^^^^ hernach in
den staatlichen Archivdienst über (24. P'ebruar 1878) und wurde am 20. Juni
1886 zum Direktor des Archivs des k. k. Ministeriums des Innern ernannt,
in welcher Stellung er, am 8. Februar 1901 mit Titel und Charakter eines
Regierungsrates ausgestattet, bis zu seinem Tode verblieb. Nebenher hat er
durch einige Jahre die Bibliothek des k. k. Unterrichtsministeriums verwaltet
und sich im Jahre 1880 als Privatdozent für alte Geschichte an der Wiener
Universität habilitiert. Themen der alten Geschichte, vornehmlich der Ge-
schichte des perikleischen Zeitalters, galten auch seine früheren Arbeiten:
»Zur Chronologie und Pragmatik des Hermokopidenprozesses.« (Wiener Studien
1879.) »Zur Geschichte der attischen Finanzverwaltung im fünften und vierten
Jahrhundert.« (Sitz.-Ber. der phil.-hist. Kl. der Ak. d. Wiss. 95, 1879.) »For-
schung und Darstellungsweise des Thukydides, gezeigt an einer Kritik des
achten Buches« (Wien 1880). »Zu Xenophons Hellenika.« (Histor. Unter-
suchungen, Arnold Schäfer gewidmet. Bonn 1882.) Dann brachte ihn seine
archivalische Tätigkeit dem Studium der österreichischen Verwaltungsgeschichte,
des österreichischen und ungarischen Staatsrechts näher und er vertiefte sich
darin so sehr, daß er wohl als der gründlichste Kenner dieser Materien
gelten konnte. Einige kleine, aber belangvolle Arbeiten sind im Zusammen-
hange mit diesen Studien erwachsen: »Zur Geschichte der österreichischen
Zenträlverwaltung« I. (1493 — 1848). (Mitteilungen d. Instit. f. österr. Geschichts-
forschung. VIII. 1887). Eine Rezension des Buches von Bidermann, Geschichte
Fellner. von der Embde.
159
der österreichischen Gesamtstaatsidee, (ebenda XV. 1894), die den Wert einer
selbständigen Abhandlung besitzt. »Über einen Widerspruch zwischen dem
^Pactum mutuae 5uccessionis<t^ von 1703 und der pragmatischen Sanktion von
17 13«. (Festgaben für Büdingen Innsbruck 1898.) Seine Haupttätigkeit ver-
einigte F. aber Jahre hindurch auf Sammlung von Material und vorbereitende
Studien zu einer zusammenfassenden, eingehenden Geschichte der Zentral-
verwaltung von Österreich, deren erster Teil die Zeit bis zur Vereinigung
der böhmischen und österreichischen Hofkanzlei unter Maria Theresia 1749,
der zweite Teil die Zeit von 1749 — 1848 hätte umfassen sollen. Schon hatte
er das Material zu jenem ersten Teile fast vollständig gesammelt oder
sammeln lassen und auch den größeren Teil der Darstellung vollendet, da
fällte den bis dahin kerngesunden Mann ein mit schrecklicher Plötzlichkeit
hereinbrechendes Nervenleiden.
F. war eine selten liebenswürdige Natur voll herzlicher Natürlichkeit
und allem gemachtem Wesen durchaus abhold; frisch und lebhaft in Auf-
fassung und Rede; dabei voll bescheidenen Lerneifers bis in die letzten Tage.
Seiner Eigenart entsprach es mehr, sich rezeptiv als produktiv zu betätigen; seine
Belesenheit auf allen Gebieten der Geschichte und der damit verwandten,
namentlich juristischen und nationalökonomischen Disziplinen war erstaun-
lich. Seine an Pedanterie grenzenden Anforderungen an Verläßlichkeit und
Genauigkeit schriftlicher Darstellung ließen es ihn namentlich in zunehmenden
Lebensjahren schwer über sich bringen, selbst nur einen Aufsatz, geschweige
denn ein Buch aus der Hand zu geben. So hat er sich zum Schaden der
Wissenschaft nur wenig literarisch betätigt. Erst nach der Vollendung und
Veröffentlichung seines großangelegten Werkes von befreundeter Seite, die
für das Folgejahr zu erwarten steht, wird Thomas Fellners wissenschaftliche
Bedeutung recht gewürdigt werden können.
Dr. Heinrich Kretschmayr.
Embde, Ernestine EmiHe Marie von der, Malerin, * 10. Dezember 18 16
zu Kassel, t '4* Mai 1904 daselbst. — Sie war die Tochter des Kasseler
Malers August v. d. E., der ursprünglich nur Emden hieß, seit 1830 aber
seine Bilder mit dem volleren Namen v. d. E. bezeichnete. Ihre Mutter war
Charlotte Henschel, eine Schwester des Bildhauers Werner Henschel, der
besonders durch sein Fuldaer Bonifaciusdenkmal sich einen Namen gemacht
hat. Wie ihre ältere Schwester Karoline, die später den Juristen Klauhold
heiratete und auch als Malerin hervorgetreten ist, wurde sie schon früh die
Schülerin ihres Vaters und später seine Gehülfin im Atelier. In ihrer Jugend
machte sie verschiedene Kunstreisen nach Dresden und München, kehrte dann
aber dauernd zu ihrem Vater zurück, dem sie bei seinen Arbeiten zuletzt
unentbehrlich war. So folgte sie als seine treue Mitarbeiterin, die dem älter
werdenden Maler die mechanischen Arbeiten mehr und mehr abnahm, auch
ganz seinen künstlerischen Spuren. August v. d. E. war anfangs Porträtmaler
gewesen (die Bilder mehrerer hessischer Landgrafen in der Schloßkuppel zu
Wilhelmshöhe sind z. B. von ihm gemalt), warf sich dann aber auf das Fach
des Genrebildes, in dem er Vortreffliches, besonders in seinen Szenen aus
dem oberhessischen Volksleben, geleistet hat. Auch seine Tochter Emilie
widmete sich der Bildnismalerei, wobei ihr namentlich zahlreiche Kinder-
1 6o ^'O" ^^^ Embdc. Schell. • Sallmann.
porträts wohl gelangen. In ihren Genrebildern bevorzugte sie gleichfalls
Kinderszenen und ländliche Charakterstudien aus der Umgegend von Kassel.
Mit besonderer Vorliebe und gewissenhaftem Fleiße wandte sie sich später
der Blumenmalerei zu und hinterließ als hauptsächliche Frucht dieser Tätig-
keit ein ungemein gewissenhaft ausgearbeitetes umfangreiches Album der
hessischen Flora in Wasserfarben. Nach dem Tode ihres Vaters (1862) lebte
sie mit zwei jüngeren, gleichfalls unverheirateten Schwestern zusammen, die
sie beide überlebte. In ihrem Heim sammelte sie die Gipsabgüsse der
Werke ihres Oheims Henschel, der schon 1850 in Rom verstorben war, neben
sonstigen Kunstschätzen, die zum Teil nach ihrem Tode in den Besitz der
Murhardbibliothek der Stadt Kassel übergingen.
Strieder, Hess. Gelehrtengeschichte 20, 94. — Casseler Tageblatt vom 19. Mai 1904.
— Hessenland 18, 174. Ph. Losch.
Schell, Wilhelm Joseph Friedrich Nikolaus, Mathematiker, ♦31. Oktober
1826 zu Fulda, t 13- Februar 1904 zu Karlsruhe. — S. war der Sohn des
Domkapitularsyndikus Jakob S. in Fulda. Er besuchte das Gymnasium seiner
Vaterstadt bis Ostern 1846 und studierte darauf in Marburg und Berlin Natur-
wissenschaften und Mathematik. 1851 erwarb er sich zu Marburg die philo-
sophische Doktorwürde und habilitierte sich noch im selben Jahre in der
philosophischen Fakultät dieser Universität für Mathematik. 1856 zum außer-
ordentlichen Professor ernannt, nahm er 1861 einen Ruf an das Polytechnikum
zu Karlsruhe an, wo er als Prof. ord, theoretische Mechanik und synthetische
Geometrie zu lehren hatte. Dieser Anstalt, die 1865 den Charakter und 1885
auch den Namen einer technischen Hochschule erhielt, ist er bis an sein
Lebensende treu geblieben. Für das Studienjahr 1871/72 wurde er zu ihrem
Direktor gewählt. Daneben war er seit 1868 außerordentliches Mitglied des
Großherzogl. Oberschulrats und zugleich seit dieser Zeit Bibliothekar der
Hochschule. 1872 erfolgte seine Ernennung zum Hof rat, 1880 zum Geheimen
Hof rat. Im August 1901 wurde er auf sein Ansuchen unter Anerkennung
seiner vierzigjährigen ausgezeichneten Dienste in den Ruhestand versetzt,
blieb aber Mitglied der Abteilung für Mathematik und allgem. bildenden
Fächer der Techn. Hochschule. S.s Hauptschriften sind: »Allgemeine Theorie
der Kurven doppelter Krümmung in rein geometrischer Darstellung.« Leipzig
1859. 2. Auflage 1898, und »Theorie der Bewegung und der Kräfte. Ein
Lehrbuch der theoretischen Mechanik.« Leipzig 1870. 2. Auflage in 2 Bdn.
1879. Daneben gab er eine Bearbeitung der Reichsgewerbeordnung (Düssel-
dorf 1883) heraus und veröffentlichte in Fachzeitschriften eine Reihe von
Aufsätzen aus dem Gebiete der Mathematik und musikalischen Akustik.
Progr. d, Techn. Hochschule zu Karisnihc 1904/05 S. 83. — PoggcndorfF, Biogr.-
lit. Handwörterb. 2, 785. 3, 1181. 4, 1319. Ph. Losch.
Sallmann, Carl Johann Ernst Bernhard, Pfarrer, * 20. Januar 1837 zu
Kassel, f 25. Juni 1904 zu Kirchhain in Oberhessen. — S., dessen Vater
Pfarrer Ernst S. eine angesehene Privatschule in Kassel leitete, studierte in
Marburg und Göttingen Theologie und Philologie und erhielt nach Bestehen
des theologischen Examens 1859 eine Stelle als Hilfspfarrer an der lutherischen
Kirche zu Kassel. Zu gleicher Zeit fragte das Kuratorium der Esthländischen
Sallmann. Schneider. igl
Ritter- und Domschule zu Reval bei den theologischen Fakultäten zu Mar-
burg und Göttingen an, ob sie aus den letzten Jahrgängen der theologischen
Kandidaten einen geeigneten Religionslehrer namhaft machen könnten. Von
beiden Seiten wurde S. empfohlen und erhielt darauf unter günstigen Bedin-
gungen die Stelle eines Oberlehrers an dem genannten Institute, die er im
folgenden Jahre antrat. Mehr als 25 Jahre war er in dieser Stellung in der
Hauptstadt Esthlands tätig, indem er zugleich eifrig für das schon damals
hart bedrohte Deutschtum der Ostseeprovinzen wirkte. Mit besonderer Liebe
warf er sich auf das Studium der deutschen Sprache in diesen Landen und
hat die Resultate seines Forschens in mehreren fleißigen Arbeiten über die
deutsch -esthnische Mundart niedergelegt. Seine »Lexikalischen Beiträge
zur deutschen Mundart in Esthland«, die er 1877 veröffentlichte, trugen ihm
die philosophische Doktorwürde der Universität Jena ein. Schon vorher hatte
er sich mit der Persönlichkeit seines hessischen Landsmannes Burkard Waldis
beschäftigt, der zu den Zeiten der Revolution nach den Ostseeprovinzen aus-
gewandert war und nach mancherlei Schicksalen zu Riga später wieder nach
Hessen zurückkehrte und dort evangelischer Pfarrer wurde. S. folgte den
Bahnen seines Landsmannes und Kollegen, über den er 1874 ein kleines
Schriftchen veröffentlichte, insofern, als auch er im Jahre 1886 seine Stellung
an der Revaler Ritterschule aufgab und in die Heimat zurückkehrte. Fünf
Jahre lebte er dann als Privatmann in seiner Heimatsstadt Kassel, bis er
im Jahre 1891 die lutherische Pfarrstelle zu Kirchhain bei Marburg übernahm,
die er noch 13 Jahre bis zu seinem Tode verwaltete. S. war ein fleißiger
Schriftsteller auf verschiedenen Gebieten. Er gab u. a. ein mehrfach aufgelegtes
»Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten« heraus, veröffentlichte volks-
kundliche und literar-historische Arbeiten und mehrere theologische Schriften,
in denen er u. a. gegen Majunkes fragwürdige Entdeckung von »Luthers
angeblichem Selbstmord« und gegen die Jesuiten polemisierte.
Familiennachrichten. — Hessenland 18, 183. — Kasseler Tageblatt vom 29. Juni 1904.
— Kürschners Literatur-Kalender. Ph. Losch.
Schneider, Heinrich Justus Joseph, Geheimer Sanitätsrat, * 15. Februar
1842 zu Fulda, f 8. April 1904 daselbst. — S. entstammte einer alten ful-
dischen Ärztefamilie. Sein Großvater war der Hofchirurg Johann Matthias S.,
sein Vater der Geheime Medizinalrat Joseph S., - der sich als Landphysikus
durch die Einführung der Blatternimpfung im Bistum Fulda verdient gemacht
hat. Auch Justus S. widmete sich dem ärztlichen Berufe. Er studierte in
Würzburg, München, Wien und Marburg und ließ sich dann in seiner Vater-
stadt Fulda als Arzt nieder. Später wurde er zum Kreisphysikus, dann 1886
zum Direktor des Landkrankenhauses zu Fulda ernannt, das unter seiner
Leitung bedeutend erweitert und in seinen Einrichtungen vervollkommnet
wurde. S. war ein sehr gesuchter Arzt und trotz seiner derben, manchmal
sogar schroffen Art den Patienten gegenüber eine sehr beliebte und populäre
Persönlichkeit. Eines besonderen Rufes erfreute er sich als tüchtiger Chirurg,
dessen Operationen fast immer gelangen. Neben seiner ärztlichen Berufs-
tätigkeit, in der er 1894 den Titel Sanitätsrat und später den Geheimratstitel
erhielt, wirkte der vielseitige Mann auch noch auf verschiedenen anderen
Gebieten. Wie sein Vater, der als Herausgeber der Buchonia zu den besten
Bio^. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog-, 9. Bd. 1 1
j 52 Schneider. Vogt
Kennern der Fulder Geschichte gehört hatte, trieb er eifrig historische
Studien mit besonderer Berücksichtigung seines buchonischen Heimatlandes.
Von seinen geschichtlichen Arbeiten sei der Aufsatz über »Die Ritterburgen
der Abtei Fulda« in der Zeitschrift des hessischen Geschichtsvereins Bd. 27
(1892) erwähnt, der Landaus Werk über die hessischen Ritterburgen ergänzt.
Noch in anderer Beziehung trat S. in die Fußstapfen seines Vaters, den man
den »Rhönvater« genannt hatte, ein Ehrenname, der mit wohlverdientem Recht
auf den Sohn überging. Wie kein anderer sorgte und wirkte er für die
Durchforschung und Erschließung des einst so verschrieenen Rhöngebirges.
Wenn jetzt die wirtschaftliche Lage des dortigen armen Gebirgsvolkes beson-
ders durch den alljährlich sich steigernden Fremdenverkehr sich erheblich
gebessert hat, so darf man S. getrost das Hauptverdienst an dieser Bewegung
zuschreiben. Im Jahre 1876 begründete er zu Gersfeld den Rhönklub, der
aus kleinen Anfängen zu einem großen Verein erwuchs und dafür gesorgt
hat, daß die früher vom Verkehr ganz abgeschlossene Rhön jetzt alljährlich
das Ziel vieler Tausende von Reisenden und Touristen geworden ist. Manche
Ursprünglichkeit und Einfachheit der Sitte und des Volkslebens, wie sie
W. H. Riehl einst aus diesem Land der armen Leute so schön geschildert hat,
ist freilich dabei verloren gegangen, aber es läßt sich nicht leugnen, daß sich
die soziale Lage der Bevölkerung durch die neuere Entwicklung entschieden
gebessert hat. S. war 28 Jahre lang Präsident des Rhönklubs und arbeitete
dabei noch mit der Feder fleißig für die Erschließung des Gebirges. Sein
trefflicher Rhönführer erschien zuerst 1877 und erlebte mehrere Auflagen.
Daneben beschrieb er einzelne Punkte genauer wie die Kurorte Kissingen,
Gersfeld und Salzschlirf. Auch von seiner Vaterstadt Fulda gab er 1881
einen Führer heraus und widmete seiner geliebten Milseburg, »der Perle der
Rhön«, eine besondere kleine Schrift (1892). An ihrem Fuße gedenkt der
Rhönklub ein Denkmal zu Ehren seines Begründers und langjährigen Vor-
sitzenden zu errichten. Die Persönlichkeit S.s wird aber auch ohne Denkmal
im Buchenlande so bald nicht vergessen werden.
Üngednickte Autobiographie. — Nekrol. von H. Schoen in Hessenland 18, 115.
Ph. Losch.
Vogt, Karl Johann Wilhelm Philipp Gideon, Gymnasialdirektor a. D.,
♦31. Dezember 1830 zu Kassel, f 30. April 1904 daselbst. — V. war ein Sohn
des aus Eisenach stammenden kurhessischen Seminarinspektors August Wil-
helm Jakob V., der sich als Schulreferent im Ministerium des Innern große
Verdienste um das hessische Volksschulwesen erworben hat und 1863 als
Archivrat in Kassel gestorben ist. Gideon V. besuchte von 1840 — 1849 ^^
Kasseler Gymnasium und studierte sodann in Marburg Philologie. Nach
Bestehen seines Staatsexamens war er ein Jahr lang, von 1853 — 1854, als
Praktikant am Kasseler Gymnasium beschäftigt und nahm dann eine Stelle
an der Institution Dor zu Vevey in der Schweiz an. Nach zwei Jahren kehrte
er in seine Vaterstadt zurück und wirkte an dem Kasseler Gymnasium als
beauftragter Lehrer bis zum Jahre 1858, wo er an das Gymnasium zu Elber-
feld berufen wurde. Inzwischen hatte er im Jahre 1857 durch die Dissertation
^De rebus Megarensibus mque ad bella Pers,«^ sich die philosophische Doktor-
würde errungen. Seine hervorragende pädagogische Befähigung veranlaßte
Vogt. 163
schon 1862 die Berufung des kaum 31jährigen zum Direktor des fürstlichen
Gymnasiums in Korbach, eine Stellung, die er 1867 mit der gleichen am
Gymnasium zu Wetzlar vertauschte. Drei Jahre später wurde er als Nach-
folger von Georg Matthias zum Gymnasialdirektor in Kassel ernannt und
kehrte somit an dieselbe Anstalt zurück, der er seine Ausbildung verdankte
und an der er seine Laufbahn als Schulmann begonnen hatte. V. besaß in
hohem Grade alle die Eigenschaften, die für seine Stellung als Leiter einer
altrenommierten Gelehrtenschule wie auch speziell für ihn als selbstunter-
richtenden Lehrer erforderlich waren. Das von Landgraf Friedrich IL von
Hessen 1779 'als ^y^^um Fridericianum begründete Kasseler Gymnasium hatte
von jeher einen guten Ruf genossen namentlich seit seiner Reorganisation
im Jahre 1835. V. machte es sich zur Aufgabe, diesen Ruf aufs neue zu
gründen und zu befestigen, und das ist ihm in seiner fast 23 jährigen Tätig-
keit als Leiter der Anstalt auch wohl gelungen. Er hatte eine besondere
Gabe, sich Autorität zu verschaffen, ohne daß etwa seine Schüler vor über-
triebener Strenge sich zu fürchten brauchten, und da er das Glück hatte,
ein mit wenigen Ausnahmen vortreffliches Lehrerkollegium zur Seite zu haben,
das ihn willig und gerne in seinem Streben unterstützte, so konnte er mit
der größten Befriedigung auf die Resultate seiner segensreichen Amtstätig-
keit blicken. Welch hohes Vertrauen in seine pädagogischen Fähigkeiten
und die Arbeit der von ihm geleiteten Schule gesetzt wurde, zeigt am deut-
lichsten der Umstand, daß im Jahre 1874 der damalige Kronprinz von
Preußen seinen ältesten Sohn Wilhelm, den jetzt regierenden deutschen
Kaiser, dem Lyceum Fridericianum in Kassel anvertraute. Vielleicht mag bei
dieser Wahl etwas die Absicht mitgesprochen haben, der annektierten Stadt
Kassel einen Ersatz für den verbannten kurfürstlichen Hof durch die prinz-
liche Hofhaltung zu gewähren — auch Prinz Heinrich von Preußen besuchte
damals eine Kasseler Schule — , ausschlaggebend war aber gewiß die Über-
zeugung, daß der künftige Erbe der preußischen Krone in der von V. gelei-
teten Anstalt in besonders guten Händen und sein Bildungsgang Fachleuten
ersten Ranges anvertraut war. Vom Herbst 1874 bis zum Januar 1877 besuchte
der Prinz die Klassen Obersekunda bis Oberprima des Gymnasiums, und V.
hielt streng darauf, daß er ebenso wie die anderen Schüler behandelt wurde
und in der Schule nicht etwa um seines Standes willen außerordentliche
Vergünstigungen genoß. V. selbst unterrichtete in den von dem Prinzen
besuchten Klassen im Lateinischen und Griechischen und las mit seinen
Schülern den Horaz, Sophokles und griechische Lyriker. Als Prinz Wilhelm
im Januar 1877 das Abiturientenexamen bestanden und am 23. Januar aus
der Schule entlassen wurde, der er 2 '/»Jahre angehört hatte, da fehlte es
nicht an Auszeichnungen für V. und das Lehrerkollegium, und die hohen
Eltern des Prinzen sprachen insbesondere dem Direktor ihre »dankbare An-
erkennung« aus für die »günstigen Ergebnisse, welche der Besuch des Kasseler
Gymnasiums für die geistige Entwicklung und Bildung ihres ältesten Sohnes
gehabt«. Es läßt sich denken, daß dieses Zeugnis wie überhaupt der Besuch
dieses hohen Schülers den Ruf des Kasseler Gymnasiums für die Folgezeit
nicht wenig steigerten. Eine ganze Reihe von Familien aus den fürstlichen
und hochadeligen Häusern Deutschlands folgten dem Beispiel des preußischen
Kronprinzenpaares und vertrauten ihre Söhne dem Lyceum Fridericianum an.
II*
1 64 ^'og*-
Abgesehen von dem Zuzug dieser fürstlichen Schüler (es seien u. a. nur die
Prinzen von Waldeck, Sachsen-Weimar, Soims, Hessen-Philippsthal-Barchfeld,
Stolberg, Wied, Schönburg genannt), steigerte sich der Besuch des Gym-
nasiums derartig, daß im Jahre 1886 ein Teil der Anstalt von ihr getrennt
und als ein neues »Wilhelmsgymnasium« begründet werden mußte. V. behielt
die Leitung der alten Stammschule, die seit der Spaltung den Namen
»Friedrichsgymnasium« führte und von ihm in der alten bewährten Weise
weiter geleitet wurde. So ehrenvoll das Vertrauen so vieler hohen Eltern
auch für den Direktor und seine Anstalt sein mußte, so sollte doch eine
Zeit kommen, in der gerade die Erinnerung an den Schulbesuoh seines vor-
nehmsten Schülers zu einem kritischen Umschwung in der öffentlichen
Meinung weiter Kreise über das Kasseler Gymnasium führte. Im Dezember
1890 fand in Berlin die Konferenz zur Beratung einer Reform des höheren
Schulwesens statt. Kaiser Wilhelm II. eröffnete die Verhandlungen in eigner
Person mit einer Rede, in der er dem humanistischen Gymnasium in seiner
jetzigen Form gewissermaßen den Krieg erklärte und zwar unter Berufung auf
seine eigenen, auf dem Gymnasium gemachten Erfahrungen. Die Einzelheiten
dieser Rede, verbunden mit anderen, damals bekannt werdenden scharfen
Äußerungen des Kaisers über seine Gymnasialzeit, erregten großes Aufeehen
und führten zu einer wahren Hetze in der Presse gegen das Kasseler G)rm-
nasium und seinen hochverdienten Leiter. Ohne jegliche Kritik nahm man
nun in weiten Kreisen an, daß an dem Kasseler Gymnasium wahrhaft
ungeheuerliche Zustände herrschten oder wenigstens geherrscht haben mußten,
und selbst die Kreise, die den kaiserlichen Reformideen gegenüber das alte
humanistische Gymnasium im allgemeinen verteidigten, benutzten dabei das
Kasseler Gymnasium als willkommenen Sündenbock, der zur Rettung der
anderen geopfert werden sollte. Man bedauerte schmerzlich, daß Se. Majestät
als Prinz Wilhelm das Gymnasium in einem besonders schlechten Exemplar
kennen gelernt habe, das sich von den altpreußischen Schulen auf das auf-
fallendste unterschieden haben müsse. Ja man ging so weit, dem Direktor
Taktlosigkeit und pädagogische Pedanterie vorzuwerfen, weil er beim Eintritt
des preußischen Prinzen die Forderung der »unbedingt gleichmäßigen Be-
handlung« gestellt und nachher dies Prinzip dem hohen Schüler gegenüber
bis zum Extrem durchgeführt habe. Diese gewiß unbeabsichtigte Wirkung
der kaiserlichen Rede hatte zur Folge, daß im weiteren Verlauf der Schul-
konferenz Geh. Rat Hinzpeter, der ehemalige Erzieher des Kaisers, ein amt-
liches Telegramm an den Direktor V. veranlaßte mit der feierlichen Erklärung,
»daß das Kasseler Gymnasium an seinem kaiserlichen Zögling seine Schuldig-
keit voll getan und die in dasselbe gesetzten Erwartungen in hohem Maße
erfüllt habe«. Damit war aber die Tatsache nicht aus der Welt geschafft,
daß die von der Öffentlichkeit maßlos angegriffenen Kasseler Lehrer und
insbesondere ihr Direktor schwer unter diesen Angriffen leiden und mit Recht
eine Erschütterung ihrer Autorität und Disziplin befürchten mußten. Der am
meisten angegriffene Direktor V. war eine viel zu taktvolle und noble Natur,
um sich gegen diese Verunglimpfungen öffentlich zu verteidigen und damit
gewissermaßen auch gegen seinen ehemaligen hohen Schüler Stellung zu
nehmen, und er sorgte auch dafür, daß aus dem Kreise seiner mit ihm
angegriffenen Mitarbeiter keiner das Wort zu einer öffentlichen Abwehr ergriff,
Vogt. Fellner. ige
so erwünscht das vielleicht auch manchem gewesen wäre. So war es nur
ein ehemaliger Schüler der siebziger Jahre, der in einer anonymen Schrift
»Das Kasseler Gymnasium« (1891) eine Lanze für das alte Lyceum Fridericianum
brach und mit warmen Worten seinen Direktor und seine Lehrer gegen die
unverdienten Angriffe in Schutz nahm. Seine Ausführungen durften um so
mehr Anspruch auf Gültigkeit machen, als sie von einem Vertreter der exakten
Wissenschaften herrührten, der die Vortrefflichkeit des realistischen Unter-
richts in dem humanistischen Gymnasium dankbar anerkannte.
Die Wogen der Aufregung glätteten sich bald wieder, aber ein Stachel
mochte doch in der Brust des in seinem ehrlichen Streben zuletzt einseitig
verkannten Schulmannes zurückgeblieben sein. Als im nächsten Jahre 1891
Kaiser Wilhelm U. nach Kassel kam (kurz vorher hatte er sein lebensgroßes
Bild dem Gymnasium übersenden lassen), da sprach er sein Bedauern aus,
daß sein ehemaliger Direktor aus Gesundheitsrücksichten einen längeren
Urlaub angetreten hatte und nicht anwesend war. Der Kaiser war auch in
der Folgezeit bemüht, V. zu zeigen, daß seine frühere Kritik ohne jede
Spitze gegen seinen ehemaligen Lehrer geschehen sei. Er erteilte ihm mehr-
fache Auszeichnungen als Beweise seines Wohlwollens, gab ihm den Geheim-
ratstitel und zog ihn bei späteren Besuchen in Kassel öfters zur Tafel. V.
hatte aber inzwischen mehrmals seine Pensionierung beantragt und am i. April
1893 nach fast 23 jähriger gesegneter Tätigkeit sein Amt wirklich nieder-
gelegt. Noch elf Jahre lebte er im Ruhestand in seiner Vaterstadt, bis er
am 30. April 1904 daselbst verschied, betrauert von seinen Mitarbeitern und
zahlreichen Schülern, die seiner vornehmen, gerechten und edlen Persönlich-
keit in Dankbarkeit und Hochachtung gedenken.
Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten sind zu nennen seine umfangreiche,
gediegene Monographie über »Das Leben und die pädagogischen Bestrebungen
des Wolf gang Ratichius«, die er in mehreren Programmen 1876 — 1882 heraus-
gab, außerdem seine »Statistischen Rückblicke auf die Geschichte des
Kasseler Gymnasiums«, Kassel 1885, die als Festschrift zur 50jährigen Feier
der Reorganisation der Schule erschienen. Seine wertvolle pädagogische
Bibliothek wurde 1903 von Jacques Rosenthal in München erworben.
Kasseler Gyxnn.-Programme. — Hessenland 7, 93. 18, 126. — (Th. Descoudres)
Das Kasseler Gymnasium der siebziger Jahre. Berlin 1891 S. 49 fr. — Flach, Ein Erinne-
rangsblatt in: Nordd. AUgem. Zeitung v. 15. Mai 1904. — Poitr. in Weltspiegel (Beil. z.
Bcrl. Tagebl.) 1904 Nr. 41. Ph. Losch.
Fellner, Stephan Karl, Schotten -Prior, ♦ 15. Oktober 1848 zu Wien,
f I. April 1904 ebenda. — F.s Vater war Oberlehrer zu Weinhaus (jetzt XVIII. Be-
zirk Wiens). Die Gymnasialstudien machte der auf den Namen Karl getaufte
Knabe am Schotten-Gymnasium und trat nach Vollendung derselben in das
Stift Schotten ein, wo er bei der Einkleidung am 21. September 1867 den
Namen Stephan erhielt.
Am I. Oktober 1871 legte F. Stephan die feierlichen Gelübde ab und
am 21. Juli 1872 wurde er nach Vollendung der theologischen Studien an
der Wiener Universität zum Priester geweiht. Die Primiz feierte F. Stephan
am 4. August desselben Jahres in der Stiftskirche.
I
i
l66 Fellner, Hofmeister.
Vom Herbste 1872 an widmete sich F. natunvissenschaftlichen Studien |
an der Wiener Universität und legte 1877 die Gymnasiallehramtsprüfung ab. j
Im September dieses Jahres begann er am Schotten-Gymnasium seine Tätig- |
keit als Professor für Naturgeschichte. Als solcher tat er besonders viel für
das naturhistorische Kabinett. Tiefgehend war der Eindruck, den Person
und Vortrag dieses Lehrers auf die Schüler übten. Von 1900 — 1903 besuchte
seine Unterrichtsstunden in der öffentlichen Schule Erzherzog Karl Franz
Joseph. Privat unterrichtete er in den realistischen Fächern die Mitglieder des
kaiserlichen Hauses: Maria Theresia, Franz Salvator, Carolina, Albrecht Sal-
vator, Maria Raineria, Maria Immaculata und Herzog Ulrich von Württemberg.
Seit 1887 war F. der Reihe nach Mitglied des Orts-, Bezirks-, Landes-
schulrates. Doch blieb er nur von 1887 — 1891 Mitglied des Gemeinderates
der Stadt Wien und infolge Scheidens aus demselben erlosch 1892 auch seine
Mitgliedschaft im Landesschulrat.
Zeugen des wissenschaftlichen Arbeitens F.s sind: die Gymnasialpro-
gramme »Albertus Magnus als Botaniker«, 1881, und »Die geographische
Verbreitung der Pflanzen und Tiere«, 1885; die Abhandlungen in der Zeit-
schrift für österreichische Gymnasien: »Der Homerische Bogen«, 1895 und
»Naturgeschichtliche Bemerkungen zu Homers II. II. 305 ff.« 1896. Als selb-
ständige Verlagsschriften erschienen: »Kompendium der Naturwissenschaften
an der Schule zu Fulda im 9. Jahrhundert«, Berlin 1879, und »Die Home-
rische Flora«, Wien 1897.
Am 18. Mai 1901 wurde P. Stephan zum Prior des Stiftes Schotten von
dem neugewählten Abte Leopold Rost ernannt, behielt aber, um nicht ganz
von dem ihm lieben Verkehr mit der studierenden Jugend zu scheiden, noch
fünf Stunden Gymnasialunterricht bei. Doch der irdische Gefährte des so
strebsamen Geistes war erschöpft. Seit 17, September 1903 schwer leidend,
vertauschte P. Stephan am i. April 1904 das Zeitliche mit dem Ewigen. Auf
seinen und seiner Brüder besonderen Wunsch wurde der Leib im Grabe der
Eltern auf dem Zentralfriedhofe beigelegt.
Leben und Wirken des hochwürdigen Herrn P. Stephan wurden von der geist-
lichen und weltlichen Obrigkeit gewürdigt. Kardinal Gruscha zeichnete ihn
am 3. Dezember 1902 durch die Ernennung zum f. e. geistlichen Rat aus und
Se. Majestät ernannte ihn am 20. Oktober 1903 zum Ritter des Ordens der
Eisernen Krone III. Klasse. Einen Nachruf an den Seligen enthält der
Jahresbericht des Schotten-Gymnasiums 1904. S. 26 — 33.
C. Wolfsgruber.
Hofmeister, Gotthilf Christian Adolph, I. Bibliothekar der Großher-
zoglichen Universitätsbibliothek zu Rostock, * 21. September 1848 zu Gera,
t 29. Dezember 1904 zu Rostock. -— H. besuchte das Gymnasium seiner
Vaterstadt, das Rutheneum zu Schleiz, und seit Ostern 1867 das Kgl. Stifts-
gymnasium zu Zeitz, wo er unter dem 21. September 187 1 das Reifezeugnis
erhielt. Hierauf studierte H. sechs Semester in Halle, wo er auch aktiv war,
klassische und germanische Philologie, war dann längere Zeit Hauslehrer in
der Provinz Posen, erhielt am 16. Dezember 1876 von der Rostocker philo-
sophischen Fakultät das Doktordiplom und bestand am 12. Januar 1878 in
Halle die mündliche Prüfung pro facultate docefidi. Nachdem er bereits
Hofmeister. iQy
Michaelis 1876 als Volontär bei der Universitätsbibliothek in Halle ein-
getreten war, ging er Neujahr 1878 in gleicher Eigenschaft an die Rostocker
Universitätsbibliothek. Hier wurde er am 20. Juni 1878 IL, am i8. April
1894 I. Kustos und am 18. März 1896 I. Universitätsbibliothekar. — H. hat
eine umfassende literarische Tätigkeit entfaltet. Seine Dissertation (1877)
behandelt ein Thema aus der klassischen Philologie: Ȇber Gebrauch und
Bedeutung des /ofa demonstrativurn bei den attischen Rednern«. Auf dem-
selben Gebiet liegen: »Zu Ciceros De natura deorttm III, 84« (Hermes, II)
und »Zur Handschriftenkunde des Sallustius« (Philologus, Jahrg. 39). Nach
seiner Übersiedelung nach Rostock aber zog ihn, den Thüringer, nieder-
deutsche Geschichte, Sprache und Literatur ganz besonders an. So bewegen
sich in der Folge seine Arbeiten durchaus in dieser Richtung. In den
früheren Jahren seiner Rostocker Tätigkeit stehen sie meist in Zusammenhang
mit seiner Bearbeitung von Wiechmanns »Mecklenburgs altniedersächsische
Literatur«, ein 'Werk, das er neu herausgab und von dem einzelnes separat
erschienen ist, in späterer Zeit mit der Herausgabe der Rostocker Universi-
täts-Matrikel, von der er von 1889 — 1904 vier Bände hat erscheinen lassen,
welche den Zeitraum 1419 — 1798 umfassen. An einer zusammenhängenden
Geschichte des Rostocker Studentenlebens und der Universität Rostock in
größerem Maßstabe hat ihn der Tod gehindert. Immerhin aber verdanken
wir H. außer der erwähnten Matrikelherausgabe die Schriften: den Artikel
»Rostock« in Fick, Auf Deutschlands hohen Schulen, Berlin 1901; »Die Ge-
schichte und Entwicklung der Landesuniversität« in Festschrift der XXVI. Ver-
sammlung des deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege gewidmet
von der Stadt Rostock, Rostock 1901; »Die Großherzoglich Mecklenburg-
Schwerinsche Universität Rostock« in: Das Unterrichtswesen im Deutschen
Reich. Aus Anlaß der Weltausstellung in St. Louis herausgegeben von
W. Lexis. Band I: Die Universitäten. Berlin 1904. Femer ist H. Heraus-
geber von »Ein Loszbuch aus der Karten gemacht«, Rostock 1890 und war
weiter betätigt an dem mehrbändigen Werk von Schlie, Die Kunst- und
Geschichtsdenkmäler des Grofiherzogtums Mecklenburg -Schwerin. Seine
sonstigen zahlreichen wertvollen, auf Mecklenburg und Niederdeutschland
bezüglichen Arbeiten, deren Aufzählung im einzelnen zu umfangreich sein
würde, hat er in folgenden Zeitschriften veröffentlicht: Rostocker Zeitung,
Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde,
Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock, Jahrbuch des Vereins für nieder-
deutsche Sprachforschung, Mecklenburgische Anzeigen, Korrespondenzblatt
des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung, Hansische Geschichtsblätter,
Rostocker Anzeiger, Quartalsberichte des Vereins für mecklenburgische Ge-
schichte und Altertumskunde, Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Hol-
steinische Geschichte. Hier sind auch die gehaltvollen, meist in Zeitschriften
veröffentlichten Vorträge zu erwähnen, die H. in den Sitzungen des Vereins
für Rostocker Altertümer hielt, zu dessen Vorstand er seit 1893 gehörte.
Auch sonst war H. literarisch tätig: von 1883 — 1887 zeichnete er für die
literarische Rubrik der in Schwerin erscheinenden Mecklenburgischen Anzeigen
und veröffentlichte hier, wie schon erwähnt, zahlreiche größere und kleinere
Artikel, gab aber ferner fortlaufende Übersichten »zur mecklenburgischen
Literatur«, die er nach dem Eingehen der Zeitung in dem Rostocker Anzeiger
1 68 Hofmeister. Rettich.
fortsetzte. Dort erschien sein letzter Beitrag gerade an seinem Todestage.
Femer lieferte er viele Jahre hindurch allein oder mit anderen zusammen
für die Jahresberichte der Geschichtswissenschaft die Referate über Schleswig-
Holstein, Mecklenburg und Pommern sowie für die Jahresberichte für neuere
deutsche Literaturgeschichte den Abschnitt »Didaktik des 15. und 16. Jahr-
hunderts«. Auch für sonstige Zeitschriften lieferte er noch Beiträge, so für
die Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, für die Sitzungsberichte
der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen
Rußlands, für Tewes Numismatischen Anzeiger und für die Grenzboten.
Auch die Allgemeine Deutsche Biographie verdankt ihm eine Reihe von
Artikeln, wie er auch eine Reihe von Rezensionen geschrieben hat. Auf dem
Gebiet der niederdeutschen und mecklenburgischen Geschichte und Literatur
galt er als Autorität, wovon zeugt, daß eine Reihe von Vereinen (die rügisch-
pommersche Abteilung der Gesellschaft für pommersche Geschichte und
Altertumskunde, die Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der
Ostseeprovinzen in Rußland, die Gesellschaft für pommersche Geschichte
und Altertumskunde) ihn zum korrespondierenden Mitgliede gewählt haben,
während er anderen Vereinigungen (Verein für mecklenburgische Geschichte
und Altertumskunde, Verein für Rostocks Altertümer, Hansischer Geschichts-
verein, Verein für niederdeutsche Sprachforschung) als Mitglied bezw. Vor-
standsmitglied angehörte. — H. war aber nicht nur ein gründlicher Kenner
der von ihm kultivierten Gebiete, sondern auch ein hervorragender Bibliothekar,
ausgestattet mit einer umfassenden Gelehrsamkeit, mit einem staunenswerten
Gedächtnis, mit einer nie versagenden Bereitwilligkeit, sein Wissen anderen
nutzbar zu machen. Mit der Rostocker Universitätsbibliothek war er aufs
engste verwachsen und widmete ihr bis kurz vor seinem Tode seine Arbeits-
kraft, obwohl schon längere Zeit von schwerer Krankheit heimgesucht, die
auch unerwartet rasch zum Tode führte. An allen bibliothekarischen Fragen
nahm er lebhaften Anteil, und es war ihm immer eine besondere Freude,
den deutschen Bibliothekarversammlungen beiwohnen zu können. Bei dieser
Hingabe an seinen Beruf ist es eigentlich selbstverständlich, daß er auch an
Fachzeitschriften mitgearbeitet hat, an dem Zentralblatt für Bibliothekwesen
und an Petzholdts Neuem Anzeiger für Bibliotheken und Bibliothekswissen-
schaft. — Und ebenso hervorragend wie der Gelehrte und der Bibliothekar
war auch der Mensch, in dessen Herzen kein Falsch war: ein zärtlicher Gatte
und Vater, ein treuer Freund, ein liebenswürdiger Kollege, ein wohlwollender
Vorgesetzter. Leider wurden H.s Verdienste bei seinen Lebzeiten nicht ge-
bührend anerkannt, so daß eine an Freuden arme Jugend, die allerdings durch
eine glückliche Studentenzeit unterbrochen wurde, durch spätere berufliche
Erfolge nicht aufgewogen wurde.
Nach Mitteilungen des Sohnes Dr, phil, Adolf Hofmeister in Steglitz. Nekrologe in:
Rostocker Anzeiger, 1904 Nr. 305; Zentralblatt für Bibliothekswesen, Bd. 22, Heft 2.
A. Vorberg.
Rettich, Karl Lorenz, Landschaftsmaler, * 10. Juni 1841 auf dem an
der Travemünder Bucht gelegenen Gute Rosenhagen in Mecklenburg-Schwerin,
t 12. September 1904 in Lübeck. — R. bezog, nachdem er die Gelehrten-
schule des Katharineums in Lübeck absolviert hatte, die Universität München,
Rettich. Krug. Nirschl. l6o
um Jura zu studieren. Er gab das Studium aber sehr bald auf, wandte sich
ganz der Kunst zu und wurde einer der ersten Schüler des Landschaftsmalers
A. Lier. 1862 ging er nach Düsseldorf, wo er sich an A. Flamm und
Th. Hagen anschloß. Von hier siedelte er 1867 nach Dresden über, das er
187 1 mit Weimar vertauschte. 1885 ließ er sich in München und Anfang
der 90 er Jahre in Lübeck nieder. Inzwischen unternahm er vielfach Studien-
reisen, die ihn unter anderm nach Italien, sowie nach Schweden und Nor-
wegen führten. Seine besten Motive verdankt er jedoch den heimatlichen
buchengekrönten Gestaden der Ostsee, zu denen es ihn immer wieder zog
und die ihn stets zu neuem Schaffen begeisterten. »Um ein guter Maler zu
sein, braucht es — nach Anselm Feuerbach — vier Dinge: ein weiches
Herz, ein feines Auge, eine leichte Hand und immer frisch gewaschene
Pinsel.« R. besaß diese Vierzahl in hohem Maße, seine tief empfundenen
Bilder bezeugen es jedem, der sich in sie versenkt.
Vgl. H. W. SiÄger, Allgem. Künstler-Lexikon, Bd. 4, S. 46 — 47. — Fr. v. Boetticher,
Malerwerke des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 394 — 396. — Hamb. Correspondent, Ab.- Ausg.
V. 13. Sept. 1904. Joh. Sass.
Krug, Arnold, Professor, Musiker und Komponist, * 16. Oktober 1849
als Sohn des Musiklehrers Dietrich Krug in Hamburg, f daselbst am
4. August 1904. — K. genoß zuerst den Unterricht seines Vaters, wurde
dann von Gurlitt weitergebildet und bezog 1868 das Konservatorium in
Leipzig. Im folgenden Jahre errang er das Stipendium der Frankfurter
Mozartstiftung und wurde Schüler von Karl Reinecke und Friedrich Kiel.
Nach glänzend bestandenem Abgangsexamen war er von 1872 — 1877 als
Lehrer des Klavierspiels am Sternschen Konservatorium in Berlin tätig,
unternahm 1877 als Stipendiat der Meyerbeerstiftung eine Reise nach Italien
und Frankreich und kehrte im folgenden Jahre in seine Vaterstadt Hamburg
zurück, wo er sich nunmehr dauernd niederließ. Er trat hier an die Spitze
eines Männergesangvereins, war seit 1885 Lehrer am Hamburger Konservatorium
und dirigierte mehrere Jahre auch die Altonaer Singakademie. Die Pflege des
Männergesangs ließ er sich besonders angelegen sein und erzielte mit seinen
Bestrebungen ausgezeichnete Erfolge. K.s Kompositionen haben großen An-
klang gefunden. Seine Musik ist gesund, frei von aller Effekthascherei und
bei formaler Vollendung in jeder Weise ansprechend und zum Herzen
dringend. Außer einer Symphonie schrieb er unter anderem einen »Sym-
phonischen Prolog zu Othello« und »Romanische Tänze« für Orchester,
femer ein Violinkonzert sowie die Chorwerke »Sigurd«, »An die Hoffnung«,
»Der Sohn der Rose« und »Fingal«. Ein weiter Kreis von Schülern und
Freunden wird dem allverehrten, liebenswürdigen Künstler und Menschen
allzeit ein treues Gedenken bewahren.
Vgl. Hamb. Correspondent, Ab.-Ausg. v. 5. August 1904. — Neue Zeitschrift f.
Musik, 19041 Jg. 71. S. 586. — Neue Musik-Zeitung (Stuttgart), Jg. 25, 1904, S. 469. —
H. Riemann, Musik-Lexikon, 6. Aufl. 1905, S. 717. Joh. Sass.
Nirschl, Joseph, Domdekan von Würzburg, * 24. Februar 1823 zu
Durchfurth in Niederbayern, f 17. Januar 1904 zu Würzburg. — N. wurde
nach Vollendung seiner Studien 185 1 in Passau zum Priester geweiht. Nach
170 Nirschl.
kurzer Wirksamkeit in der Seelsorge setzte er an der Universität München
seine theologischen Studien fort und wurde daselbst 1854 Dr, theoL Hierauf
wurde er Seminarpräfekt und Religionslehrer am Gymnasium in Passau,
1861 Professor der Kirchengeschichte und Patrologie am Lyzeum daselbst,
1879 ordentlicher Professor der Kirchengeschichte an der Universität Würz-
burg als Nachfolger Hergen röthers, 1892 Domdekan daselbst. — Die fleißige
und verdienstvolle wissenschaftliche Tätigkeit N.s bewegt sich zum größten
Teil auf patristischem Gebiete. Von seinen zahlreichen hierher gehörigen,
einzeln und in Zeitschriften erschienenen Arbeiten sind als die größeren zu
nennen: »Ursprung und Wesen des Bösen nach der Lehre des heiligen
Augustinus. Eine philosophisch-theologische Abhandlung« (Regensburg 1854);
»Das Zeugnis des heiligen Ignatius von Antiochien für den Primat der
römischen Kirche« (Katholik 1868, II, S. 152 — 173); »Das Todesjahr des heiligen
Ignatius von Antiochien und die drei orientalischen Feldzüge des Kaisers
Trajan. Eine chronologisch-historische, kritische Untersuchung« (Passau 1869);
»Die Briefe des heiligen Ignatius von Antiochien und sein Martyrium. Aus
dem Urtext übersetzt« (Passau 1870); »Des heiligen Cyrillus, Erzbischofs von
Jerusalem und Kirchenvaters, Katechesen, nach dem Urtext übersetzt«
(Kempten 1871); »Die Frage über das 25 jährige- Pontifikat Petri in Rom«
(Histor.-polit. Blätter, 72. Band 1873, S. 657 — 679, 745 — 760); »Das Zeugnis
des Irenäus für den Primat und die normgebende Lehrautorität der
römischen Kirche« (Histor.-polit. Blätter, 73. Band 1874, S. 253 — 266,
333 — 360); »Der Hirt des Hermas. Eine historisch-kritische Untersuchung«
(Passau 1879); »Das Martyrium des Ignatius von Antiochien« (Histor.-polit.
Blätter, 84. Band 1879, S. 89 — 102, 193 — 206, 636); »Die Theologie des
heiligen Ignatius, des Apostelschülers und Bischofs von Antiochien, aus
seinen Briefen dargestellt« (Mainz 1880; eine kürzere Darstellung hatte N.
früher als Programm der Studienanstalt Passau für das Jahr 1867/68, Passau
1868, erscheinen lassen). Diesen Spezialuntersuchungen folgte das drei-
bändige Hauptwerk N.s: »Lehrbuch der Patrologie und Patristik« (Mainz
1881 — 1885; der Abschnitt über die armenische patristische Literatur in
Bd. III, S. 215 — 262 ist von P. Vetter verfaßt). Sodann neben kleineren
Arbeiten die größeren kirchengeschichtlichen Schriften: »Propädeutik der
Kirchengeschichte für kirchenhistorische Seminare und zum Selbstunterrichte«
(Mainz 1888); »Die Therapeuten« (Mainz 1890; vorher im Katholik 1890, II);
»Die Universitätskirche in Würzburg« (1892). In einer Reihe von Arbeiten
aus seinem letzten Jahrzehnt beschäftigte sich N. sodann mit dfer Streitfrage
über das Grab der Gottesmutter, indem er mit Entschiedenheit gegen Ephesus
und für Jerusalem eintrat: »Das Mariengrab in Ephesus« (Katholik 1894, II, S. 385
bis 407); »Das Mariengrab zu Jerusalem« (Katholik 1895, II, S. 154 — 179, 246 bis
262, 324 — 340); »Das Grab der heiligen Jungfrau Maria. Eine historisch-kritische
Studie« (Mainz 1896); »Panagia Capuli bei Ephesus« (Katholik 1897, II,
S. 309 — 324, 423 — 440, 528 — 553); zuletzt die größere Schrift: »Das Haus
und Grab der heiligen Jungfrau Maria. Neue Untersuchungen« (Mainz 1900).
In nicht sehr glücklicher Weise greift N. mit der Arbeit: »Dionysius der
Areopagita. Eine Ehrenrettung« (Katholik 1898, I, S. 267 — 278, 348 — 365,
432 — 452, 532 — 557; dazu Histor.-polit. Blätter, 121. Bd. 1898, S. 820 — 824)
in die Pseudo-Dionysius-Frage ein, um vom Standpunkt der Hypothese
Nirschl. Frieß. 1 7 1
Hiplers, an dem er festhalten will, den Forschungen von Stiglmayr und
Hugo Koch entgegenzutreten. Zu nennen ist endlich noch das aus seiner
früheren Tätigkeit als Religionslehrer hervorgegangene, für weitere Kreise be-
stimmte Werk: »Gedanken über Religion und religiöses Leben in freien Vor-
trägen« (Landshut 1862; 2. Auflage Würzburg 1894).
Vgl. »AugsbuTger Postzeitung« 1903, Nr. 49 v. i. März; 1904, Nr. 15 v. 20. Jan. —
»Litterar. Handweiser« 1904, Nr. i, Sp. 39. F. Lau eher t.
Friefi, Gottfried Edmund, O. S. Ä, Professor und Stiftsbibliothekar in
Seitenstetten, Historiker, * i. Oktober 1836 zu Waidhof en an der Ybbs,
t 18. Januar 1904 im Stift Seitenstetten. — F. besuchte das Gymnasium zu
Kremsmünster, trat dann 1857 als Novize in das Benediktinerstift Seiten-
stetten ein, legte nach Vollendung der Studien 1862 die feierlichen Ordens-
gelübde ab und empfing 1862 in St. Polten die Priesterweihe. Hierauf war
er zunächst zwei Jahre als Supplent für Geschichte und Geographie am
Gymnasium zu Seitenstetten tätig, begab sich dann zu weiteren historischen
Studien an die Universität Wien und wurde nach der Rückkehr in das Stift
1866 Professor der Geschichte und Geographie am Gymnasium, in welcher
Eigenschaft er bis zu seinem Tode wirkte. Seit 1873 war er zugleich Stifts-
bibliothekar, seit 1879 auch Stiftsarchivar. 1875 wurde er zum Konservator
der k. k. Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmäler Nieder-
österreichs ernannt. 1879 ^''* P^^^' 1885/86 hielt er sich während eines
Jahres in Rom auf, wohin er zu archivalischen Arbeiten berufen wurde. —
Als Historiker hat sich F. durch zahlreiche wertvolle gelehrte Arbeiten um
die Ordensgeschichte wie um die österreichische Geschichte, besonders die
Landesgeschichte Niederösterreichs, große Verdienste erworben Außer vielen
kleineren Studien, die in Zeitschriften erschienen (die frühesten im Hippolytus
[St. Polten], 1861 ff., dann vieles in den Blättern des Vereins für Landes-
kunde von Niederösterreich, 1868 ff.) sind als größere Werke und Arbeiten
von allgemeinerem Interesse zu nennen: »Geschichte der Stadt Waidhofen an
der Ybbs von der Zeit ihres Entstehens bis 1820« (Jahrbuch des Vereins für
Landeskunde von Niederösterreich, Jahrg. 1867); »Studien über das Wirken
der Benediktiner in Österreich für Kultur, Wissenschaft und Kunst« (5 Pro-
gramme des k. k. Obergymnasiums zu Seitenstetten, 1868 — 1872); »Geschichte
des einstigen Kollegiat-Stifts Ardagger in Niederösterreich« (Archiv für öster-
reichische Geschichte, 46. Bd. 1871, S. 419 — 561; auch separat, Wien 1871);
»Patarener, Begharden und Waldenser in Österreich während des Mittel-
alters« (österreichische Vierteljahresschrift für katholische Theologie, 11. Jahrg.
1872, S. 209 — 272); »Die Herren von Chuenring. Ein Beitrag zur Adels-
geschichte des Erzherzogtums Österreich unter der Enns« (Wien 1874);
»Fünf unedierte Ehrenreden Peter Suchenwirts« (Sitzungsberichte der philos.-
hist. Klasse der k. Akademie der Wissenschaften in Wien, 88. Bd. 1877,
S. 99 — 126; auch separat, Wien 1878); »Geschichte des Benediktiner-Stiftes
Garsten in Oberösterreich« (Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner-
Orden, I. Jahrg. 1880, 2. Heft, S. 88—106; 3. Heft, S. 28—49; 4- Heft
S. 74 — 94; 2. Jahrg. 1881, L Bd., S. 5 — 28, 235 — 252; IL Bd., S. 40—65,
251 — 266; 3. Jahrg. 1882, IL Bd., S. 6 — 26, 241 — 248); »Dietrich, der Marschall
von Pilichdorf« (Programm des k. k. Obergymnasiums Seitenstetten i88i);
172
Fließ. Detmer.
»Geschichte der österreichischen Minoritenprovinz« (Archiv für Österreichische
Geschichte, 64. Bd. 1882; auch separat, Wien 1882); »Herzog Albrecht V.
von Österreich und die Hussiten« (Programm von Seitenstetten 1883); »Die
ältesten Totenbücher des Benediktiner-Stiftes Admont in Steiermark« (Archiv
für österreichische Geschichte, 66. Bd. 1885, S. 315 — 506; auch separat,
Wien 1885); »Das Nekrologium des Benediktiner-Nonnenstiftes der heiligen
Erentrudis auf dem Nonnberg zu Salzburg« (Archiv für österreichische Ge-
schichte, 71. Bd. 1887, S. I — 209; auch separat, Wien 1887); »Geschichte des
ehemaligen Nonnenklosters O, S. B. zu Traunkirchen in Oberösterreich«
(Archiv für österreichische Geschichte, 82. Bd. 1895, S. 181 — 326; auch separat,
Wien 1895); »Der Aufstand der Bauern in Niederösterreich am Schlüsse des
XVI. Jahrhunderts« (Wien 1897; vorher in den Blättern des Vereins für
Landeskunde von Niederösterreich 1897). Für Sebastian Brunners Benediktiner-
buch (Würzburg 1880), schrieb F. den Abriß der Geschichte des Stifts Seiten-
stetten (S. 425 — 449), für das Werk: Scriptores Ordinis S. BentdicH gut 1750—
1880 fuerunt in Itnperio austriaco-hungarko (Wien 1881) als Einleitung eine
kurze Geschichte des Benediktinerordens in Österreich-Ungarn (p. V. — CXIX).
Vgl. Scriptores O. S. Ä qui lyjo — 1880 fuerunt in Imperic ttustr,-kung, {Vin€lobanac
1881), p. 102 — 104. — Ant. ErdiDger, Bibliographie des Klerus der Diözese St. Polten,
2. Auflage (St. Polten 1889), S. 83 — 85. — Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner-
Orden, 25. Jahrg. 1904, S. 44of. F. Lau eher t
Detmer, Heinrich Paul Alexander, Oberbibliothekar an der König-
lichen Universitäts-Bibliothek zu Münster i. W., Geschichtsforscher, ♦21. März
1853 in Hamburg, f 25. Januar 1904 in Münster. — D., der Sohn eines
Geistlichen, besuchte zunächst eine höhere Bürgerschule und darauf von 187 1 bis
1874 die Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg. Er studierte dann
Geschichte in Göttingen und Leipzig, wo er mit seiner Dissertation »Otto IL
bis zum Tode seines Vaters am 7. Mai 973« (Leipzig 1878) zum Dr. phiL
promovierte. Im Mai 1878 trat er als Volontär bei der Universitäts
Bibliothek in Jena ein und ging im Januar 1879 ^^ Hilfsarbeiter an die
Universitäts-Bibliothek (damals Paulinische Bibliothek) in Münster, wo er am
I. Juli 1886 zum Bibliothekar und am 21. Dezember 1898 zum Ober-
bibliothekar ernannt wurde. 25 Jahre hindurch hat er der Bibliothek in
aufopfernder Treue und Hingebung gedient..
D.s historische Forschungen galten in erster Linie der Reformationszeit,
sein Spezialgebiet waren die Wiedertäufer-Unruhen in Münster, deren Ge-
schichte er durch ausgezeichnete Werke bedeutend gefördert hat. Hierher
gehört namentlich seine wertvolle Ausgabe von Hermann von Kerssenbrochs
f> AnabapHstici Furoris Monasttrium inclitam Westphaliae metropolim evertentis
historica narratio^f^ (= Die Geschichtsquellen des Bistums Münster, Bd. 5 — 6,
Münster 1899 — 1900). Die vortreffliche umfangreiche Einleitung zu dieser
Ausgabe erschien auch besonders unter dem Titel »Hermann von Kerssen
brochs Leben und Schriften« (Münster i. W. 1900). Auf tiefer Durchdringung
des Stoffes beruhen femer die glänzend geschriebenen »Bilder aus den reli-
giösen und sozialen Unruhen in Münster während des 16. Jahrhunderts«
(i. Johann von Leiden, 2. Bernhard Rothmann, Münster 1903 — 1904). Auch
eine kritische Neuausgabe der geschichtlichen Werke Hermann Hamelmanns
Detmer. Jessen. 1 7 j
hat D. in Angriff genommen. Doch vermochte er nur das erste Heft des
ersten Bandes zu veröffentlichen (Münster 1902). Ein zweites Heft ist 1905
aus seinem Nachlaß herausgegeben worden.
Vgl. D.s » Vita* am Schlufl seiner oben erwähnten Dissertation. — MUnsterischer An-
zeiger, 1904, Nr. 51 vom 27. Januar. — Zeitschrift f. vaterländ. Geschichte und Altertums-
kunde (Westfalens), 1904, S. 2 54 f. — Jahresbericht des Westfäl. Pro vinzial- Vereins f.
1903/04, S. 184 f. — Beilage zur Allgem. Zeitung, Jg. 1904, Nr. 23 v. 29. Januar, S. 183.
Joh. Sass.
Jessen, Hans Otto, Direktor der i. Berliner Handwerkerschule, * 26. De-
zember 1826 in Schleswig, f 28. März 1904 in Berlin. — J.s Vater, Peter
Willers Jessen, ein namhafter Psychiater (f 29. September 1875, vgl. Allgem.
Deutsche Biogr., Bd. 13, S. 786/787), war von 1820 — 1845 erster Arzt an der
Landes-Irrenanstalt zu Schleswig und begründete darauf die Privatheilanstalt
Hornheim bei Kiel, wo er gleichzeitig als außerordentlicher Professor an der
Universität wirkte. Der Sohn genoß im Elternhause das Glück einer frohen
Jugend. Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahre besuchte er eine Privatschule
und wurde dann von Privatlehrern weitergebildet, während der Vater selbst
ihm Unterricht in der Zoologie und Botanik erteilte. Lebhaftes Interesse für
Zeichnen, Mathematik und Naturwissenschaften ließ den Entschluß in ihm reifen,
sich einem technischen Berufe zu widmen. Als Fachstudium erwählte er den
Wege- und Wasserbau, trat, 17 Jahre alt, bei dem Landmesser Trede in Schleswig
ein und war 1844 und 1845 ^^^ ^^" großen Eindeichungsarbeiten in Ditmar-
sehen beschäftigt. Von 1845 — ^^47 finden wir J. als Studenten der Mathematik
in Kiel, wohin inzwischen auch die Eltern übergesiedelt waren. Nachdem
er die Landmesserprüfung bestanden hatte, bezog er im Wintersemester
1847/48 zur weiteren Ausbildung die Universität und Kunstakademie in
Berlin. Als er dann im Begriff stand, die erworbenen Kenntnisse praktisch
zu verwerten und eine Stellung als Ingenieurgehilfe beim Eisenbahnbau zu
übernehmen, brach das Jahr 1848 herein, das auch J.s Leben in ganz andere
Bahnen lenkte und ihn auf Umwegen seinem eigentlichen Berufe zuführte.
Begeistert scharte sich Schleswig-Holsteins Jugend um die Fahnen. J. schloß
sich zunächst einem Freikorps an, ging aber sehr bald als Freiwilliger zur
Artillerie, wurde 1849 2""™ Offizier befördert und war darauf längere Zeit
Adjutant des Majors Liebert bei der Festungs-Artillerie in Rendsburg. Hier
unterrichtete er mehrfach junge Offiziers- Aspiranten in den mathematischen
Fächern, und bei dieser Gelegenheit kam ihm seine ausgesprochene Neigung
zum Lehrberuf zum erstenmal klar zum Bewußtsein. Im weiteren Verlaufe
des Kampfes machte J. die unglückliche Schlacht bei Idstedt mit und erhielt
dann im Februar 185 1 den erbetenen Abschied. Auch die folgenden Jahre
brachten ihn seinem Ziele nicht näher. Zunächst galt es der Familie eines
Verwandten, der eine Dampfmühle besaß und von den Dänen des Landes
verwiesen war, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Hilfsbereit übernahm
J. bis zur Gewinnung einer anderen Kraft die Leitung des Unternehmens.
Eine Verkettung von Umständen, besonders der Tod des Verwandten, zwang
ihn jedoch, drei Jahre in dieser unbefriedigenden Stellung auszuharren. Dann
erst machte er sich nach Zeiten schwerer Arbeit und Sorge auf den Rat
seines Vaters von den übernommenen Verpflichtungen frei, um sich nunmehr
1 74 Jessen.
mit aller Energie dem erwählten Lebensberuf, der Lehrtätigkeit auf tech-
nischem Gebiete, zuzuwenden. Damit beschritt er den Weg, auf dem er als
geistvoller Pfadfinder Großes leisten und zum Organisator des gesamten
deutschen technischen und gewerblichen Fortbildungsschulwesens werden sollte.
J. hatte längst erkannt, daß es an Schulen fehlte, die angehenden Poly-
techniken! die Möglichkeit einer gründlichen wissenschaftlichen und zeich-
nerischen Vorbildung gewährten. Er beschloß daher in seiner Heimat eine
derartige polytechnische Vorbereitungs-Anstalt ins Leben zu rufen. Mit
größter Gewissenhaftigkeit und Strenge gegen sich selbst begann er die Vor-
bereitungen, die ihn nicht weniger als 2^/2 Jahre in Anspruch nahmen. Er
suchte den Rat ausgezeichneter und bewährter Fachleute, namentlich trat er
in Beziehung zu dem Mathematiker Lübsen und dem Maler Heimerdinger
in Hamburg, deren Lehrmethoden er von Grund aus studierte. Femer unter-
nahm er eine neunmonatliche Studienreise durch Deutschland und die Schweiz.
Zurückgekehrt ließ er sich im Oktober 1856 dauernd in Altona nieder, das
ihm besonders auch wegen der Nähe Hamburgs als der geeignetste Platz
für die beabsichtigte Gründung erschien. Welches Vertrauen er bereits genoß,
erhellt aus der Tatsache, daß die Direktion der Altonaer Sonntagsschule ihm
sofort den Unterricht in der Mathematik und im Freihandzeichnen übertrug,
während die Gewerbeschule der Patriotischen Gesellschaft in Hamburg ihn
gleichzeitig an Lübsens Stelle auf dessen eigenen Rat hin als Lehrer der
Mathematik und Mechanik berief. Inzwischen wurden die Vorbereitungen
für die eigene Schule eifrigst gefördert, und im Mai 1857 konnte J. seine
polytechnische Vorbildungsanstalt in Altona eröffnen. Reicher Erfolg lohnte
binnen kurzem alle aufgewandte Mühe. Die Zahl der Schüler wuchs von
Jahr zu Jahr, namentlich aus Hamburg stellten sich allmählich so viele ein,
daß das Institut 1860 dorthin verlegt wurde.
In Hamburg entstanden in den folgenden Jahren verschiedene Pläne zur
weiteren Ausgestaltung des Gewerbeschulwesens, Die Patriotische Gesellschaft
nahm die Angelegenheit in die Hand, bald traten auch Senat und Bürger-
schaft der Frage näher. J. war bei den Vorbereitungen in hervorragender
Weise beteiligt, unternahm Informationsreisen und stellte seine ganze Kraft
in den Dienst der Sache. Am 5. Oktober 1864 beschloß der hamburgische
Staat die Errichtung einer allgemeinen Gewerbeschule sowie einer Schule für
Bauhandwerker, und am 13. Februar 1865 wurde J. zum Direktor beider
Schulen erwählt. Am 7. Mai 1865 wurde die Gewerbeschule mit 190 Schülern
eröffnet, nach fünf Jahren zählte sie bereits 1000, im Wintersemester 1879/80
über 2000 Schüler. Diesen glänzenden Erfolg verdankte die Anstalt in
erster Linie ihrem genialen Direktor, der »unermüdet das Nützliche, Rechte
schuf«. Seine allumfassende Tüchtigkeit, seine strenge Ausbildung der
Unterrichtsmethoden sowie die Art und Weise, wie er sie den praktischen
Bedürfnissen anzupassen verstand, die mit sicherem Blick getroffene Auswahl
geeigneter Lehrkräfte, vor allem aber der tief sittliche, urgesunde Geist, der
von der Persönlichkeit des Leiters ausgehend die Schule in allen ihren
Gliedern mit lebendiger Kraft durchdrang, dies alles bewirkte, daß die Saat,
die J. gesät, so tausendfältige Frucht trug. Die allergrößte Sorgfalt ver-
wandte er von jeher auf den Zeichenunterricht, und die von ihm aus-
gearbeitete Methode hat vielfach als Muster und Vorbild gedient. Auch
' Jesseu. 175
außerhalb seines eigentlichen Berufes wirkte er, wo er konnte, im Dienst
seiner Sache. Lebhafte Teilnahme brachte er der Bewegung entgegen, die
sich die Förderung weiblicher Erwerbstätigkeit zum Ziel setzte, und die im
Mai 1867 in Hamburg errichtete Gewerbeschule für Mädchen verdankt ihre
Entstehung hauptsächlich seiner Initiative. Auch zahlreichen gemeinnützigen
Vereinen, wie dem »Gewerbeverein«, dem »Bildungsverein für Arbeiter«
lieh er seine bewährte Kraft und leistete ihnen unschätzbare Dienste. Ham-
burg war mit Recht stolz auf diesen hervorragenden Mann und hat ihn sehr
ungern hergegeben, als im Jahre 1880 der ehrenvolle Ruf an ihn erging, als
Direktor der in Berlin zu gründenden Handwerkerschule dorthin über-
zusiedeln. Auch J. wurde das Scheiden von Hamburg nicht leicht, die Aus-
sicht aber, sein Lebenswerk in einem noch größeren Wirkungskreise unter
den denkbar günstigsten Verhältnissen weiterzuführen und seinen Ideen in
einem Zentrum deutscher Bildung weiteste Geltung zu verschaffen, bestimmte
ihn schließlich, dem Ruf nach Berlin zu folgen. Der Anfang war nicht
leicht, doch mit jugendfrischem Mut überwand J. alle Schwierigkeiten, und
im Oktober 1880 konnte die nach seinen Grundsätzen eingerichtete Anstalt
mit 268 Schülern eröffnet werden. Auch hier blieb der Erfolg nicht aus,
rasch blühte die junge Schule empor, von allen Seiten strömten die Lernen-
den ihr zu, bald wuchs ihre Zahl auf mehr als 2000 und nahm auch dann
noch zu, als im Jahre 1892 eine zweite Handwerkerschule für den Südosten
Berlins ins Leben gerufen wurde. Mit unvergleichlicher Elastizität und nie
versagender Treue bewältigte J. die stets sich mehrende Arbeitslast, von früh
bis spät der erste und letzte am Platz. Nebenher erledigte er noch die
gleichfalls im Jahre 1880 im Auftrage des Kultusministeriums übernommene
Inspektion des Zeichenunterrichts in den preußischen Gewerbeschulen.
Außerdienstlich konnte er sich nach wie vor trotz seiner vorgerückten
Lebensjahre in fürsorgender Tätigkeit nie genug tun. Es mag nur an seine
Verdienste um den Verband deutscher Gewerbeschulmänner erinnert werden,
dessen Griindung von ihm ausging, in dem er lange Jahre den Vorsitz führte,
und der ihn dann später zu seinem Ehrenvorsitzenden ernannte. Auch sonst
hat es J. an mancherlei Auszeichnungen nicht gefehlt. 1899 erhielt er vom
König von Preußen die »Medaille für Verdienst um die Gewerbe in Gold«.
Welches Maß von Liebe und Verehrung er überall genoß, bewies besonders
die Feier seines 70. Geburtstages am 26. Dezember 1896, die sich zu einer
begeisterten Huldigung gestaltete. Und fürwahr, wer, der diesen Mann
kannte, sei es, daß er als Schüler zu seinen Füßen gesessen, daß er als
Lehrer mit ihm gearbeitet, oder daß er sonst in den Kreis seines Lebens
getreten, wer hätte ihm nicht Liebe und Verehrung entgegenbringen sollen 1
»Einfach und schlicht im Denken und Fühlen, ein echter Sohn seiner
nordischen Heimat, übte er durch die ruhige Klarheit und die ernste Be-
stimmtheit seines Wesens, gepaart mit einem Wohlwollen, das ihm aus den
Augen abzulesen war, eine große Anziehungskraft auf jüngere und ältere
Menschen aus, und die Macht, die dann von seinem Wort und von der ihm
innewohnenden Energie ausging, war so stark, daß nicht viele sich ihr ent-
ziehen konnten. Er betrat mit seiner Arbeit ein wenig bebautes Gebiet.
Wie er seine Aufgabe auffaßte, hatte er keine Vorgänger, mußte sich
selbst die Wege schaffen. Seine eigenartige Entwicklung kam ihm dabei
I ^6 Jessen. Watterich.
besonders glücklich zustatten. Nur ein Mann, der aus einer so trefflich ge-
bildeten Familie kam und in seinem Wissen und Können so über der Sache
stand, der ohne Voreingenommenheit und ohne Selbstsucht nur der Sache
dienen wollte, konnte auf dem neuen Gebiete solche Erfolge haben. Sein
Wollen und Vollbringen war durch und durch von sittlichen Triebkräften
bewegt. Er lebte der Überzeugung, daß unter den Mitteln der Erziehung
keines höher stehe als die Arbeit, und daß der Erfolg dem Erzieher nicht
fehlen könne, der es verstehe, seiner Jugend die Liebe zur Arbeit an sich
und die Freude an ihr einzuflößen. Der talentvolle, kenntnisreiche, an-
spruchslose und reinsittliche Mann predigte so lange er lebte, das hohe Lied
der Arbeit, der Arbeit für den Beruf, der Arbeit für andere, der Arbeit an
sich selbst.« (Glinzer.)
Ein gütiges Geschick hat J. davor bewahrt, schwindender Kräfte halber
der Arbeit, die sein Leben war, entsagen zu müssen. Ein sanfter, rascher
Tod nahm ihn mitten aus seiner Tätigkeit hinweg. Die Ideale aber, die
das Ziel seines Strebens waren und die er in lebendige, festgegründete
Wirklichkeiten umgesetzt hat, sie wirken fort und fort, ein Segen für Tausende.
Vgl. E. Glinzer, Lebensbild von Olto Jessen. (15 S., Sep.-Abdr. aus der »Zeitschrift
f. gewerblichen Unterricht«, Jg. 19, Nr. 9); 2. Aufl. (32 S. mit 2 Bildnissen aus J.s 54. u.
70. Lebensjahre) Leipzig 1904. — O. Fache, Handbuch des deutschen Fortbildungsschul-
wesens. Teil I. Wittenberg 1896, S. i — 20 (»Direktor Otto Jessen« mit Bildn.). — »Monats-
hefte für graphisches Kunstgewerbe«, Jg. 2, 1904, S, 56 (Nekrolog v. \V. Geißler). —
»Pädagogische Zeitung«, Jg. 33, 1904, S. 279. — »Der Mechaniker«, Jg. 5, 1897, S- 5/^
(L. Levy, O. J.). — O. W. Beyer, Deutsche Schul weit des 19. Jahrh, Leipzig und Wien
1903, S. 131/132 (Bildn.). — Alberti, Schriftstelleriexikon, 1866 — 1882, i, S. 334/335.
Joh. Sass.
Watterich, Johann Baptist Matthias, katholischer Theologe und Historiker,
* 21. Dezember 1826 zu Trier, f 10. Januar 1904 im Kloster Beuron. ^
W. besuchte das Gymnasium zu Trier und machte am Seminar daselbst die
philosophischen und theologischen Studien, bis 1848. Im Oktober 1849
wurde er in Trier zum Priester geweiht, nachdem er inzwischen 1848 die
Universität Bonn bezogen hatte, wo er noch sieben Jahre zuerst philo-
sophische, dann besonders historische Studien betrieb. Während dieser Zeit
promovierte er 1853 in Münster zum Dr. phii. 1855 wurde er zum außer-
ordentlichen Professor der Geschichte am Lyceum Hosianum in Braunsberg
ernannt, wo er Ostern 1856 seine Vorlesungen begann. 1857 — 1858 weilte
er, zu Studienzwecken auf ein Jahr beurlaubt, in Rom, mit der Vorbereitung
der Herausgabe der Vitae Pontificum beschäftigt. 1863 legte er als Ordinarius
seine Professur nieder und war von da bis 1870 Pfarrer zu Andernach am
Rhein, 1870 — 1871 Bibliothekar an der Paulinischen Bibliothek zu Münster i. W.
1872 wurde er Feldgeistlicher in Diedenhofen, dann Divisionspfarrer in
Straßburg. Seit den Jahren seines Bonner Aufenthalts mit dem nachmaligen
altkatholischen Bischof Reinkens und dessen Kreise intim befreundet, schloß
er sich im Frühjahr 1874 dem Altkatholizismus an; 1875 wurde er altkatholischer
Pfarrer in Basel, 1879 — 1887 war er als solcher in Baden-Baden tätig, worauf
er das Amt niederlegte und seitdem dort privatisierte. Anfang 1902 kehrte
er im Kloster Beuron zur katholischen Kirche zurück, wurde April 1902
unter die Oblaten des Benediktinerordens aufgenommen und verbrachte
Watterich. FuX.
177
daselbst nach einem vielbewegten Leben seine letzten Lebenstage in
stillem Frieden. — W.s wertvollste wissenschaftliche Leistung ist das Quellen-
werk: ^Pantificum Romanorum qiu fuerunt inde ab exeunte scteculo IX usque
ad finem saeculi XIII Vitae ah aequalibus canscriptae^ quas ex Archivi P&ntificit,
Bibliothecae Vaticanae aliarumque codicibus adiectis suis cuique et annalibus et
documentts gravioribus ed. J. M. Watterich<i. (Bd. I und II, Leipzig 1862, von
Johannes VIII. bis Cölestin IlL, 872 — 1198, gehend; der noch fehlende
3. Band ist nicht erschienen). Die übrigen Schriften aus seiner katholischen
Zeit waren vorzugsweise der deutschen Geschichte gewidmet: ^De veterum
Germanorum nobilitate^f^ (Diss., Münster 1853); »Die Gründung des deutschen
Ordensstaates in Preußen« (Habilitationsschrift, Leipzig 1857); ^De Lucae
Watzelrode Episcopi Warmiensis in N'uolaum Copemicum meritis<i^ (Antrittsrede,
Königsberg 1856); »Gottfried von Straßburg, ein Sänger der Gottesminne«
(Leipzig 1858); »Nikolaus Koppemik ein Deutscher« (Zeitschrift für die Ge-
schichts- und Altertumskunde Ermlands, i. Bd., 2. Heft, 1859); »Bonizos
Schrift ad amia4m<^ (im Braunsberger Index lectianum 1862); »Der deutsche
Name Germanen und die ethnographische Frage vom linken Rheinufer.
Eine historische Untersuchung« (Paderborn 1870); »Die Germanen des Rheins,
ihr Kampf mit Rom und der Bundesgedanke. (Die Sigambern und die An-
fänge der Franken)« (Leipzig 1872). Aus seiner altkatholischen Periode sind
als wichtigere Arbeiten zu nennen: »Die Ehe, populärwissenschaftlich
dargestellt von einem katholischen Theologen« (anonym, Nördlingen 1874);
2. Auflage unter seinem Namen mit dem Titel: »Die Ehe, ihr Ursprung, ihr
Wesen, und ihre Weihe, nach Gottes Wort und Tat dargestellt« (1876); »Das
Neue Testament, aus dem Griechischen übersetzt« (Baden-Baden 1887); »Die
Psalmen, aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt und erläutert« (Baden-
Baden 1890); »Das Passah des neuen Bundes. Eine theologische Be-
trachtung« (Baden-Baden 1889); »Der Konsekrationsmoment im heiligen
Abendmahl und seine Geschichte« (Heidelberg 1896); »Die Gegenwart des
Herrn im heiligen Abendmahl. Eine biblisch-exegetische Untersuchung«
(Heidelberg 1900).
Vgl. C. Weite, Prof. J. B. Watterich; »Katholik« 1904, I, S. 161 — 175. — »Literarischer
Handweiser« 1904, Nr. i, Sp. 38 f. — J. Bender, »Geschichte der philos. u. theol. Studien
in Ermland« (Braunsberg 1868), S. 174. — E. Raßmann, »Nachrichten von dem Leben
und den Schriften Münsteriändischer Schriftsteller«, Neue Folge (Münster 1881), S. 236.
F. Lauchert.
Fux, Josef, Maler, * 1842 zu Steinhof in Niederösterreich, f 30. März 1904
in Wien. — An der Wiener Akademie studierte F. seit 1856 unter Rüben,
Engerth, Mayer und Wurzinger, seine eigentlichen künstlerischen Vorbilder
waren aber die Werke von Makart und Matejko; seine Vorliebe für Kostüm-
pracht und Farbenglanz im Verein mit einer Begabung für das Dekorative
heßen ihn als hervorragende Kraft auf dem Gebiete der Theaterausstattung
erscheinen, wo er auch in der Tat seine schönsten Erfolge feiern sollte.
Anfangs machte er sich durch mehrere Genrebilder bekannt, z. B. »Tauben-
opfer«, »Savoyarde mit Affen«, »Hofkonzert bei Kaiser Leopold«, sowie auch
durch einige lebensvolle Porträts. Sein Talent für Kostümarrangements kam
glänzend zur Geltung, als ihn Makart mit einem Teile der Arbeit an dem
Bio^. Jahrbuch u. Deutscher Nekroloj^. 9. Bd. 12
178
Fux. Afimus.
Festzug zur silbernen Hochzeit des österreichischen Kaiserpaares (1879) be-
traute. Eine Gruppe aus dem Zuge, den Jagdzug mit den Grafen Wilczek
und Breuner als Führer, malte F. als großen Fries in Aquarell, der sich im
Besitze des Kaisers befindet. Seine Haupttätigkeit begann, als er von Dingel-
stedt zum Leiter des Ausstattungswesens am Burgtheater gewählt wurde.
Gestützt auf sorgfältiges Studium der Architektur und Kostümgeschichte,
führte sein dekoratives Geschick eine künstlerische Renaissance auf dem
Gebiete der Dekorationen und Kostüme herbei. Das Bedeutendste schuf er
in den Entwürfen zu den Königsdramen Shakespeares. Allgemein bekannt
ist der Hauptvorhang des Burgtheaters, den er mit Hilfe seines Schülers
Leopold Burger ausführte, eine allegorische Darstellung mit Frau Wolter als
tragischer und Frau Schratt als heiterer Muse. Auch für die Reorganisation
der Porträtgalerie des Burgtheaters war F. tätig und malte drei Porträts für
dieselbe : Bernhard Baumeister als Richter von Zalamea, Ernst Hartmann als
Prinz in »Emilia Galotti« und Karl Meixner als Schneider Vansen in »Eg-
mont«. In der Galerie in Wien befindet sich von ihm ein Kostümporträt
als Rokokoszene, »Dame am Schloßteich«, im kunsthistorischen Museum ein
Aquarell »Zur Jagd«, das er für das Kronprinz Rudolf-Album malte. In
den letzten Jahren war er infolge eines schweren Gehimleidens nicht mehr
künstlerisch tätig.
Hevesi, Österreichische Kunst im 19. Jahrhundert. 1903. — Kunstchronik XV. —
Kunst für Alle XIX. — Boetticher, Malerwerke des 19. Jahrhunderts. 1895 — 1901. —
Eisenberg, Das geistige Wien. 1893. — Neue Freie Presse. 31. März 1904.
Hugo Schmerber.
Afimus, Robert, Architektur- und Landschaftsmaler, * 25. Dezember 1837
zu Stuhm (Westpreußen), f 30. Mai 1904 zu Dießen (Ammersee). — A. lernte als
Knabe die weit gedehnten, stillen Heiden und einsamen Föhrenwaldungen
Polens kennen, welche (ebenso wie früher die böhmischen Wälder auf Moritz
von Schwind) bei einem längeren Ferienaufenthalte einen unvergeßlichen
Eindruck übten und in beiden die Vorliebe für Stimmungsbilder ä la Adalbert
Stifter begründeten. Zu Thom besuchte A. das Gymnasium, dabei erteilte
ihm der Stillebenmaler F. W. Völcker (Sohn des Blumenmalers G. W. Völcker)
Unterricht im Zeichnen und Malen, welches A. alsbald auf eigene Faust
draußen im Fischerdorf e, am Waldsee oder am Mühlteich weiter betrieb.
Als in kurzem Zwischenräume die Eltern starben, galt es eine Brotlaufbahn
einzuschlagen ; so erlernte er nicht ohne Widerstreben den Buchhandel, arbeitete
jedoch in seinen Freistunden, brach sich an Schlaf ab, um in stillen Nächten
Calamesche Blätter zu kopieren und die Mittel zu erwerben, um sich 1859 ^^
Berlin, insbesondere in den kostbaren Galerien von Kavent und des Konsul
Wagner, künstlerisch zu fördern. Noch in demselben Jahre besuchte A.
Halberstadt, durchwanderte die Felsen- und Waldtäler des Harzes, saß in
den Bildersammlungen des Dr. Lucanus und Freiherm von Spiegel, wobei
K. F. Lessings Landschaften ihn ganz gefangen nahmen. Endlich übersiedelte er
zum Studium der Architektur nach Prag, wo er 1862 zugleich die journalistische
Tätigkeit begann. In Bild und Wort gleich mächtig, legte er die Resultate
seiner artistischen Streifzüge in von erklärenden Texten begleiteten Holz-
schnittzeichnungen in der »Gartenlaube«, in der »Illustrierten Zeitung«, im
Aßmus.
179
»Daheim« und bald in anderen Zeitschriften nieder — überall ein gern ge-
sehener und ständiger Mitarbeiter. Über Dresden, wo ihn insbesondere
Ruysdael fesselte, übersiedelte A. nach Leipzig (1863), dann nach Stuttgart,
von wo aus seine Exkursionen an den Bodensee, in die Alpen und nach Nord-
italien gingen: Überall fand der sinnige Künstler reichlichen Stoff für seine
Mappen und stilgerechten Schilderungen. Durchweg Autodidakt, hatte A.
anfänglich in seinen Ölbildern mit einer gewissen Härte zu kämpfen, die
jedoch bald, insbesondere bei den feingestimmten Aquarellen, einer klaren,
harmonischen Färbung wich. Für die »Gartenlaube« lieferte A. eine
Partie aus dem alten Judenfriedhof in Prag (1862), das sagenumsponnene
Schloß Lichtenstein (1864), die Tamina-Schlucht (1866), eine Außen- und
Innen- Ansicht des neurestaurierten Ulmer Münsters (1868), die »Neue Schyn-
straße in Graubünden (1869); im »Daheim« viele zierliche Croquis aus der
Roßtrappe und Teufelsbrücke des Harzes (1866), aus der berühmten »Bau-
mannshöhle« (1867), aus dem Halberstädter Dom und Marktplatz (1869), von
Rigi-Kulm (1869). Erwünschten Raum zu größeren, auch doppelspaltigen
Blättern bot ihm die »Illustrierte Zeitung« in Leipzig, darunter die Neue
Markthalle in Stuttgart (1864) die Kleinseite und der Hradschin zu Prag
(1866), die neue evangelische Kirche zu Stuttgart (1866), auch zeichnete er,
eine wahre xylographische Musterleistung, »Die Strandpartie an der Küste von
Helgoland« nach dem damals sensationellen Effektbilde Christian Morgensterns
(1867), den Dom und Kreuzgang zu Konstanz (1868), abermals, und zwar nach
seinem eigenen ülbilde, die Partie am Regenstein im Harz (1868), und die
»Gemmi-Passage im Kanton Wallis«, eine Partie aus der Stuttgarter Solitude
(1869) und nach E. Hildebrandts Aquarell eine malerische »Straße in Kairo«
(1869) usw. Und alle diese Leistungen bei höchster Wahrheit mit einer ge-
winnenden, an Riefstahls freien Vortrag erinnernden Delikatesse, welche den
Namen des Künstlers unvergeßlich machte und was er berührte, zum Kunst-
werke erhob. Im Jahre 1870 begab sich A. im Auftrag des Verlegers
J. J. Weber auf den Kriegsschauplatz, von wo aus er Bilder und Berichte
für die Leipziger »Illustrierte Zeitung« veröffentlichte. Während des Krieges
reifte bei A. die Idee, die alten Reichslande Elsaß-Lothringen mit ihren
Ruinen, Burgen, Schlössern, Städten und Tälern in einem Prachtwerk dar-
zustellen, das bei Paul Neff in Stuttgart 187 1 lieferungsweise erschien, aus-
gestattet mit 45 ganzseitigen Blättern in Tondruck und 166 Illustrationen,
wozu Karl Stieler den beschreibenden Text lieferte. Drei Jahre lang hatte
A. sein dazu benötigtes Material auf seinen Studien gesammelt. Seit 187 1 in
München seßhaft, bereiste A. in der Folge die Karpathen, den Schwarzwald,
die Vogesen, Oberitalien, die Schweiz, Tirol und Süddeutschland, die ganze
Nord- und Ostseeküste (188 1) usw., überall köstliche Stoffe für Bilder und
Holzschnitt-Zeichnungen einheimsend, welche letztere der ebenso mit Stift
wie Feder gewandte Künstler mit gleich anziehenden Reise-Eindrücken und
Erinnerungen versah. Seine Aquarelle und Ölbilder hatten Glück und fanden
stete und freundliche Aufnahme in Norddeutschland, England und Amerika.
Schon 1873 machte er sich durch ein »Karpathendori« im Münchener Kunst-
verein bekannt, darauf folgte das »Innere der Kathedrale zu Metz« und eine
»Christmesse im Straßburger Münster« (auch in Nr. 1642 der »Illustr. Ztg.«
vom 19. Dezember 1874, S. 493), gleichzeitig erschien »Der Tanzsaal im Salz-
12*
1 8o Aßmus. Bauemfeind.
bergwerk Wieliezka« (auch im »Daheim« 1874, S. 317), eine »Partie im kgl.
Hirschpark Solitude bei Stuttgart« (auch in den Meisterwerken der Holz-
Schneidekunst« IV. Bd., 12. Lief., Nr. 77); sieben Bilder von der »Über-
schwemmung im Tiroler Tauferertal« (Nr. 1838 »lUustr. Ztg.« 21. September
1878, S. 216 u. 217), gleich darauf (Nr. 1841 ebendas. 12. Oktober 1878) eine
»Innenansicht des neurestaurierten Münchener Hof- und National-Theaters«,
des »Neptun-Saal in der Internationalen Kunstausstellung« (mit der Statue
des jetzt im Bassin des Botanischen Gartens zu München sitzenden, seine
Zinkengabel schwingenden Wassergottes von dem leider schon 1890 ver-
storbenen Paul Sayer, vgl. Nr. 1895 »lUustr. Ztg.« 25. Oktober 1879 S. 338),
»Bilder aus dem Schwarzwald« (»Deutscher Hausschatz« 1881, S. 472 u. 473)
und die »Ruine des Klosters Allerheiligen im Schwarzwald« (ebendas. 1881,
S. 261). Inzwischen hatte A. einen Abstecher nach Mi tau, Riga und
Reval gemacht und reiche Ausbeute für die »Gartenlaube« heimgebracht.
Der Ruhm von Josef Victor von Scheffels »Trompeter« führte ihn nach
Säkkingen, welches ihm Stoff zu zwei allerliebsten Ölbildern lieferte: den
»Abschied« (»Zur guten Stunde« i. Heft 1890 und Nr. 2586 »lUustr. Ztg.«
21. Jan. 1893) und die mit besagter Dichtung freilich nicht zusammenhängende
»Einkehr am Krug zum grünen Kranze« (1891 ebendas.). Auch aus dem
Münchener Leben brachte er viele Szenen, von der neuen Isartalbahn, den
Geländen des Starnbergersees, von der Donau, dem Salzburgerlande (1894),
vom Schafberg und den neuentdeckten »Wetterlochhöhlen« (1897 »Für Alle
Welt« 3. Heft), von dem auch durch Scheffel in dessen »Bergpsalmen« be-
sungenen St. Wolfgang usw. Das nimmermüde, stets neue Schätze hebende
Wanderleben endete unerwartet am Ammersee. — Eine überraschende
Menge von ganz vollendeten Handzeichnungen wurde, zugleich mit Robert
Beyschlags Nachlaß, durch Karl Maurer im November 1904 versteigert.
Vgl. Nagler-Meyer 1878, II, 354. Fr. v. Bötticher 1895, h 42. Singer 1895, I. 44
(8 Zeilen). »Das geistige Deutschland« 1898, S. 17. H. A. L. Degener »Wer ist's?«
Leipzig 1905, S. 17 (wo der Künstler als noch lebend aufgeführt ist).
Hyac. Holland.
Bauernfeind, Gustav, Architektur- und Historienmaler, * 4. September
1848 als der Sohn eines Apothekers zu Sulz (am Neckar), f 24. Dezember
1904 in Jerusalem. — B. kam dreijährig mit seinen Eltern nach Stuttgart,
erhielt eine gründliche Bildung daselbst in den Schulen, insbesondere am
Polytechnikum, wo er er sich der Architektur widmete und mit Abschluß
des Staatsexamens in Praxis trat. Frühzeitig zeichnend nach dem Vorbilde
seines Landsmannes G. Schönleber, brachte B. von einer Schweizerreise eine
stattliche Reihe von Aufnahmen und Studien mit, welche er teilweise zu
Bildern und Holzschnittzeichnungen verwendete, die bald zur weiteren ver-
dienten Geltung gelangten und später noch fleißig in illustrierten Zeitschriften
reproduziert wurden. Darunter eine mittelalterliche »Ritterburg« (in »Deutscher
Hausschatz« 1880, VI, 24); »Hof des Rathauses in Basel« (ebendas. VI, 473);
das »Spalentor und der Holbein-Brunnen in Basel« (ebendas. VI, 469); ein
»Städtebild im XV. Jahrhundert« (nachmals im »Kränzchen« 1890, S. 189) —
die man geradezu als architektonische Novellen bezeichnen könnte. Von
weiteren, in immer größeren Radien unternommenen Ausflügen und Studien-
Bauemfeind. I g I
reisen, insbesondere nach Italien, die früheren Denkmale der Baukunst mit
dem heutigen Volksleben in ihrer vereinenden Wechselwirkung in glück-
lichster Weise scharf beobachtend, gestaltete er diese Eindrücke als gründ-
licher Zeichner und virtuoser Kolorist zu neuen, höchst anziehenden Bildern.
Herrliche Beiträge lieferte B. zu dem von den besten Zeitgenossen, darunter
E. Kirchner, L. Passini, Riefstahl, Kaulbach und vielen anderen reich
illustrierten Prachtwerke »Italien von den Alpen bis zum Ätna« (mit Schilde-
rungen von Karl Stieler, C. Paulus und W. Kaden (Stuttgart 1876 bei
J. Engelhorn, mit Holzschnitten von A. Cloß). Noch schneller errang B.
die verdiente Popularität durch die überraschend durchgeführten Ölbilder,
welche namentlich mittels seiner bei L. von Loefftz in München erhaltenen
technischen Schulung und Anregung seinen Namen begründeten. Wirklich
epochemachend wirkte die Darstellung der »Piazza d* Erbe in Verona« (1879),
staffiert mit dem dort wogenden Volksleben, welches auch Adolf Menzel zu
einem Bilde erwählte. Der unerschöpfliche Stoff gestattete ja auch die
weiteste Konkurrenz. Wärmer noch und womöglich anmutender wirkt bei B.
diese berückende S)rmphonie des alle unsere Sinne gefangen nehmenden,
pochend vorüberrauschenden Menschentreibens: Man glaubt das tolle,
schnatternde Gewirr aller möglichen Stimmen, das betäubende Geknäufe und
lachende Scherzo dieser Weiber und Mädchen, Händler und Verkäufer, die
inmitten der aufgestappelten Küchenschätze unter einem Meer von riesigen,
zeltartigen Sonnenschirmen sitzen, nicht allein zu hören, sondern auch die
ganze morgenfrische Atmosphäre des Obst- und Blumenduftes einzuatmen.
Und darüber diese hochragende, architektonische Umrahmung der alten
Häuser und stolzen Paläste, vom italienischen Himmel überblaut: Eine un-
vergeßliche Leistung! — In der auserlesenen Sammlung von Lichtdrucken
nach »Handzeichnungen deutscher Meister« (Stuttgart 1878) erschien neben
Meyerheim, Vautier und Werner ebenbürtig unser B., welcher sich immer
tiefer in Italien akklimatisierte: Welch lauschiges Winkelwerk hatte er in
Venedig entdeckt! Und mit welcher Verve von Stift und Farbe wußte er
diese Fundstücke aus Florenz, der Certosa di Pavia wiederzugeben. Auch
auf das Kleinste drückte er den Stempel seiner originellen Sprache. So
wählte er als Titelblatt für die neue Auflage von Franz von Rebers »Ruinen
Roms« (Leipzig 1879) die restaurierte Ansicht des Forums in der Kaiserzeit.
Mit einem Ölbilde der »Kathedrale von Palermo« (später in Nr. 27 »Über
Land und Meer« 1889, Bd. 62, S. 580) nahm B. längeren Abschied von
Italien. Die Sehnsucht nach dem Orient trieb ihn 1880 — 82 zu ein^r Reise
nach Ägypten, Palästina und Syrien, welche er 1888 wiederholte und auch
auf Damaskus mit einem sechsmonatlichen Aufenthalte ausdehnte. Neue
überraschende Proben seiner weitergereiften Kunst erschienen im Münchener
Kunstverein. B. begann sein neues Programm mit einer »Straßenansicht aus
Kairo« (1881): Das tiefe, flimmernde, sprichwörtliche Blau des südlichen
Himmels, das blendende Licht auf den grell weißen Mauerflächen der Häuser,
die dunklen, blauschwarzen Schlagschatten, die jeder Gegenstand wirft mit-
samt der schreienden Farbigkeit der Staffage ist köstlich, mit exakter
Sicherheit und genialer Leichtigkeit wiedergegeben. Schon 1882 folgte die
»Tempelruine in Baalbeck« (welche in der Neuen Pinakothek eine würdige,
bleibende Aufnahme fand), eine elegisch erschütternde Rhapsodie aus der
l82 Bauemfeind.
Weltgeschichte: Die wie für die Ewigkeit gebaute Säulenkolonnade ist nur
noch teilweise mit den Kapitalen bekrönt; einer dieser Riesenmonolithe hat
sich (ein ähnliches Motiv bietet sich ja auch in Kamak) dienstmüde an die
Mauer gelehnt, die wie der geborstene Giebel über Nacht stürzen kann;
ein ungestalter Trümmerhauf umlagert die Sockel und heiligen Stufen; im
fernen Hintergrunde ist eine weißblendende moslemitische Stadt an einem
kahlen Bergzug gelagert. ^Sic transit gloriaW In solch lapidaren Welt-
rätseln spricht die Weltgeschichte! Darauf erwarb die Pinakothek fünfzehn
ausgeführte Aquarelle aus Jerusalem; die gestürzte Königin des »heiligen
Landes« fesselte damals schon das Herz des Malers. Seit Ulrich Halb-
reiter (vgl. Allg. Deut. Biogr. X, 403) hatte sich kein Künstler mit diesem
Lande befaßt, welches neben seiner überwältigenden historischen Ver-
gangenheit eine solche Fülle malerischer Ausbeute bietet. B. zeichnete
und malte das. Straßenlabyrinth, die Bauwerke des Tempelplatzes (Nr. 4
»Über Land und Meer« 1891, Bd. 65, S. 572), den mit Steingeröll umgebenen
Teich Bethesda, die Golgatha-Kapelle, die in frühere Bäder eingenisteten
Kafeebuden — alles mit den merkwürdigsten Staffagen und charakteristischen
Gestalten bevölkert. Eine Anzahl solcher Typen, Figuren und Trachten
lieferte B. später in sorgfältigster Ausführung für England — eine bisher
völlig unbekannt gebliebene Kollektion. Dann folgten Ansichten und Details
aus der großen »Moschee in Damaskus« (Nr. 35 »Über Land und Meer« 1894,
Bd. 72, S. 717) mit der von Kaiser Arkadius 395 — 408 erbauten, seit dieser (aus
dem Jahre 1889 stammenden) Aufnahme 1892 gänzlich abgebrannten Basilika,
enge Brunnen, Tore und andere unser lebhaftes Interesse beanspruchende
Bauüberreste und sinnberückende »Straßenszenen aus Damaskus« (Nr. 29
»Über Land und Meer« 1896 Bd. 76 und Nr. 26 »Illustr. Welt« 1897, S. 629);
ein »Markt in Jaffa« und die »Einschiffung türkischer Truppen« im dortigen
Hafen, mit abschiedklagenden Soldatenweibem und jammernden Kindern im
Vordergrunde. Dann kamen Ansichten der neuen Schwaben-Kolonien, wobei
die Landschaft an der Bahnlinie Jaffa- Jerusalem, die Hauptstraße in Haifa
und Rephaim, die Ankunft der ersten Lokomotive in der heiligen Stadt
(Nr. 23 »Gartenlaube« 1898, S. 379 — 385 mit begleitendem Text von Schmidt-
Weißenfels) immer neue Stoffe boten. Ist ja doch durch die jüngsten An-
siedelungen der wackeren Schwaben in Jaffa und Tiberias, durch Kaiser
Wilhelms Besuch im alten Zion und durch neuere Reisende aller Art erhöhtes
Augenmerk auf dieses Land gerichtet, wo sogar beturbante Bahnwärter
und nimmermüde Lastträger und Dolmetscher mit den breiten, langgezogenen
Vokalen und dem unnachahmlichen Verschlucken der arabischen Endsilben
ihre acht alemanisch-suevische Abstammung beweisen. — Nachdem B. im
Jahre 1888 einen neuen sechsmonatigen Abstecher nach Damaskus und das
in seinen grandiosen Ruinen staunenswerte Palmyra unternommen hatte,
ließ er sich im folgenden Jahre in München nieder, baute seinen eigenen
Herd und ging, von treuen Freunden und in erster Reihe durch Prof. von
Loefftz mit Rat und Tat unterstützt, an die Ausarbeitung seiner massenhaft
eingeheimsten Studien, unterstützt durch eine Menge von Kostümen, Waffen,
kulturhistorischen Geräten und photographischen Behülfen. Ein volles De-
zennium hielt er wacker aus, schuf mit ausdauerndem Fleiße, seine Schätze
und Ausbeute verwertend, entzückende Bilder, bis ihn die Sehnsucht nach
Bauernfeind. jg^
dem gelobten Lande neuerdings packte und er mit Frau und Kind nach
Jerusalem übersiedelte, wo er, nicht nur seinen deutschen Landsleuten ein
treuer Handweiser und Berater, sondern ein unermüdlicher Sammler, Zeichner
und Maler, an der unerschöpflichen Quelle seiner Kunst sitzend, das Abend-
land mit seinen artistischen Schätze bereicherte und erfreute. Viele Zeit
verwendete B. auf ein vom ölberge aus aulgenommenes, im Frühmorgen-
licht prangendes großes Ölbild von Jerusalem mit den schweren Römer-
türmen und Toren, mit den kuppelbekrönten Moscheen, ragenden schlanken
Minarets und dem flachgedachten Häusermeer (im Format von 2,0X1,25).
Als Gegenstück diente eine vom Johanniterhospiz über die Dächer der Alt-
stadt gehende Ansicht. Insbesondere aber reizte ihn die Landschaft am
Toten Meer, welches er gerne an den Ost- und Westgeländen durchstreifte;
die mit von mumienhaften Anachoreten behausten Höhlen-Klausen am Bache
Krit (Wadi Kelt) ; das einsame Jericho ; die Jordanufer mit Beduinenlagern usw.
Dann unternahm B. 1890 wieder einen vierzigtägigen Ausflug nach Baalbeck,
um den Jupitertempel vor dessen Ausgrabung, im gräulichen Schutt und Zerfall
auf der Leinwand festzuhalten, ehe die rettende Hand der Archäologie ihre
pietätvollen Forschungen inszenierte. Die Stoffe und dankbarsten Motive
häuften sich, es genügte ihm die ersten Eindrücke festzuhalten und die
Ausführung späterer Gelegenheit zu überlassen. Man könnte sie »Seelen zu
künftigen Gedichten« nennen. In meisterlicher Durchbildung vollendet wurde
nur mehr in ungewöhnlichem Format (2,50X1,50) die »Klage an den Tempel-
mauem«, ein mit Alexandre Bidas Darstellung um die Palme nngendes,
farbenprächtiges, stimmungsreiches Ölgemälde (bezeichnet 1904), welches als
neue Zierde in Heinemanns Kunstsalon zu München gerade ausgepackt wurde,
als der Maler am freudenreichen Vorabend des Christtages, nach längerem
Leiden einer Herzlähmung erlag. — Diese mit Lord B)rrons »Hebräischen
Melodien« verwandte »Klage« war das Schwanenlied des Malers: Lasset uns
beten und weinen um alle uns vorausgegangenen Altväter und Propheten,
die Zeugen unseres Glaubens; in litaneienhaften Responsorien antworten die
trauernden Männer und Frauen: »Wo findet Israel ein Bad für seinen
wunden Fuß^
Wilde Taub* hat ihr Nest, Fuchs seine Schluft,
Mensch seine Heimat — Israel nur die Gruft.
Lasset uns beten, weinen und klagen, um alle unsere Vorväter, die nicht
mehr sind.«
Wie vielversprechend war das Programm seines künftigen Schaffens.
Aber i^Media in vUa<i> wurde er dahingerafft, gleich Theodor Horschelt
(A. D. B. .XIII, 160) und Wilhelm Riefstahl (A. D. B. XXVIII, 839), alles
geistverwandte Naturen, welche in Farbe und Zeichnung gleich prägnant ihre
Erlebnisse zum scharf akzentuierten Ausdruck brachten, namentlich Riefstahl,
welcher die jeweilige Landschaft, die betreffende Architektur und den Volks-
charakter ebenso sicher als würdevoll wiederzugeben verstand: sie sind
inmitten ihrer glänzenden Vollkraft aus dem Leben geschieden!
Bauemfeinds reicher Nachlaß, die vorgenannten »Seelen zu künftigen
Gedichten«, welche nimmer ihre Vollendung zum Durchbruch brachten, die
zahllosen Studien und schätzebergenden Skizzenbücher sollen alsbald bei
uns zu einer Ausstellung gelangen, dann aber wahrscheinlich durch eine
1 34 Bauemfeind. Kanitz.
Auktion nach bisher landläufiger Sitte in alle Winde zerstreut werden,
statt selbe (wie es löblicher Weise mit Baischs Nachlaß geschah) in einem
Museum zur vollgültigen Kenntnißnahme des ganzen Mannes vereint zu
bleiben. Ist ja auch Dürers, Holbeins Nachlaß — bei Rembrandt noch zu
dessen Lebzeiten — vertrödelt worden. Heutzutage müßte so etwas später ein
unbezahlbares Kapital repräsentieren. Freilich würden viele brave Sammler
des Vergnügens und der Freude beraubt, ihre Kollektion zu bereichern und
auszuschmücken. Erste Pflicht der Kunsthistoriker indessen muß es sein, ihre
bisherige an Bauemfeinds Namen begangene Säumnis nachzutragen.
Die sonst viel Minderwertiges sorgfältigst in ihren Kompendien verbuchenden Lexiko-
graphen kennen den Maler kaum oberflächlich. Pecht in seiner »Geschichte der Münchener
Kunst« (1888 S. 446) hat nur wenige Zeilen, ebenso Singers Lexikon (1895 h ^^) und
der fast nie versagende Fr. von Bötticher (1895 I, 51), wirklich ironisch aber ist es, wenn
»Das geistige Deutschland« (1S98) gar keine Kunde hat. Hoffentlich wird eine würdige
Darstellung und Reproduktion seiner Schöpfungen nicht zu lange auf sich warten lassen 1
Hyac. Holland.
Kanitz, Felix Philipp, Erforscher der Balkanländer, Ethnograph und
Archäolog, * 2. August 1829 in Budapest, f an den Folgen eines Schlag-
anfalles 5. Januar 1904 in Wien. — K. stammte von deutschen Eltern, deren
Vorfahren während des 18. Jahrhunderts in Ungarn eingewandert waren. Da
er in früher Jugend eine ausgesprochene Begabung für Musik an den Tag
legte, ließ ihn sein Vater, ein wohlhabender Fabrikant, im Violinspiel aus-
bilden. Sein Mitschüler war der später berühmt gewordene Virtuos Joseph
Joachim. Nach dem Tode des Vaters wünschte die Mutter lieber das bei
dem Knaben gleichfalls hervortretende Zeichentalent entwickelt zu sehen.
Im Alter von 14 Jahren kam er deshalb auf die Kunstschule nach Kassel,
wo er ein Schüler des damals geschätzten Malers Ludwig Emil Grimm
wurde. Unter dessen Anleitung übte er sich im Zeichnen und ölmalen.
Auch erlernte er das Radieren und die Lithographie. Nachdem er die
Anfangsgründe überwunden hatte, beschloß er den Beruf eines Zeichners für
illustrierte Zeitschriften zu ergreifen. 1847 ließ er sich in Wien nieder und
entwarf namentlich während der Revolutionszeit zahlreiche Abbildungen
der politischen Ereignisse, die zum Teil in der Leipziger Illustrierten
Zeitung veröffentlicht wurden. Später begab er sich zu Studienzwecken
nach den wichtigsten Kunststädten Deutschlands. Längere Zeit hielt er sich
namentlich in München und Dresden auf, wo er in den Galerien Gemälde
kopierte, ferner in Nürnberg, wo ihn der Architekt Alexander Heideloff in
das Verständnis der mittelalterlichen Bau- und Kunstdenkmäler einführte.
Nach einem Besuche in Paris kehrte er 1856 nach Wien zurück. In den
nächsten Jahren unternahm er mehrere Reisen, um Zeichnungen für die Illustrierte
Zeitung aufzunehmen. 1857 besuchte er zu diesem Zwecke Oberitalien und 1858
Montenegro, als dort die Kämpfe der Eingeborenen gegen die Türken aus-
gebrochen waren. Der eigenartige Reiz, den die großartige Natur dieses
Ländchens und seine Bewohner auf ihn ausübten, veranlaßte ihn zu dem
Vorsatz, sich ganz der wissenschaftlichen und künstlerischen Erforschung der
Balkanhalbinsel zu widmen. Einige schon bewährte Balkanforscher, wie
Ami Boue und der Generalkonsul v. Hahn, bestärkten ihn in dieser Absicht.
Kanitz. j 3
f
17 Jahre lang, von 1859 ^^^ '^76, hat er auf zahlreichen Reisen durch
Serbien, Bulgarien, Montenegro und die Herzegowina dieses Ziel zu er-
reichen gesucht und viele Teile dieser Länder als erster der deutschen
Wissenschaft erschlossen. Vor allem verdankt man ihm hinreichend zu-
verlässige kartographische Aufnahmen der Gebiete zwischen Donau und
Balkan. Dieses Gebirge, das damals in seinen Einzelheiten noch nahezu
unbekannt war, hat er 18 mal auf Pässen überschritten, die vor ihm noch
keines Forschers Fuß betreten hatte, und viele Ketten, Gipfel und Täler
erhielten erst durch ihn die noch heute üblichen Namen. Auch die Ethno-
graphie förderte er, indem er die Unterscheidungsmerkmale der einzelnen
Balkanvölker schärfer hervorhob als dies bisher geschehen war. Ebenso
bereicherte er die Kunstgeschichte, indem er die in jenen Ländern trotz
der jahrhundertelangen Türkenherrschaft noch immer zahlreich vorhandenen
Reste antiker und mittelalterlicher Bauwerke und Kunstdenkmäler aufsuchte,
beschrieb und abzeichnete. Als Früchte dieser Reisen entstanden in rascher
Folge zahlreiche literarische Arbeiten. Die größeren erschienen als selb-
ständige Werke, die kleineren, von denen hier nur eine Auswahl der
wichtigsten verzeichnet werden kann, in den Sitzungsberichten und Denk-
schriften der philosophisch-historischen Klasse der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften zu Wien, den Mitteilungen der Wiener Geographischen
Gesellschaft, der österreichischen Revue und andern geographischen, histo-
rischen und archäologischen Zeitschriften. Die frühesten beschäftigen sich
ausschließlich mit Serbien: »Die römischen Funde in Serbien« (Sitzungs-
berichte XXXVI, 1861, S. 195 — 203), »Serbiens byzantinische Monumente«
(Wien 1862, später auch ins Serbische übersetzt durch Alexander Sandiö),
»Beiträge zur Kartographie des Fürstentums Serbien, gesammelt auf Reisen
in den Jahren 1859 — 1861« (Wien 1863, mit i Karte), »Die Zinzaren« (Mit-
teilungen VII, 1863, S. 44), »Über alt- und neuserbische Kirchenbaukunst«
(Sitzungsberichte XLV, 1864, S. 3 — 13), »Reise in Südserbien und Nord-
bulgarien, ausgeführt im Jahre 1864« (Denkschriften XVII, 1864, 2. Ab-
handlung, S. I — 66, mit I Karte) und »Das serbisch-türkische Kopavnik-
Gebiet« (Mitteilungen XI, Neue Folge I, 1868, S. 49). Den Abschluß dieser
serbischen Studien bildete das umfangreiche Werk »Serbien, historisch-ethno-
graphische Reisestudien in den Jahren 1859 ^^^ 1868« (Leipzig 1868, mit
I Karte, 20 Tafeln und vielen von K. selbst gezeichneten Abbildungen im
Text, 2. Auflage ebd. 1877), das die erste erschöpfende Schilderung jenes
Donaulandes bietet. Später folgten dann verschiedene Abhandlungen über
das benachbarte Bulgarien: »Reise im bulgarischen Donau-, Timok-, Sveti-
Nikola-Balkan-Gebiet« (Mitteilungen XV, N. F. V, 1872, S. 61, 106), »Zur
Synonymik der Ortsnomenklatur Bulgariens« (ebd. S. 217; XVI, N. F. VI,
1873, S. 170), »Tirnovos altbulgarische Baudenkmale« (Sitzungsberichte
LXXXII, 1876, S. 269—288) und »Der Balkanpaß von Elena« (Mitteilungen
XX, N. F. X, 1877, S. 537), die endlich zu dem Hauptwerke seines Lebens
hinüberleiteten: »Donau-Bulgarien und der Balkan, historisch-geographisch-
ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1860 — 1876« (3 Bände mit
vielen Tafeln und Abbildungen, Leipzig 1875 — 1879, 2. Auflage ebd. 1879
bis 1880, neue Ausgabe ebd. 1882). Dieser wichtigen Arbeit, für die ihm die
bulgarische Nationalversammlung einstimmig ihren Dank votierte, ist eine
j36 Kanitz. Philippi.
wertvolle »Original karte von Donau-Bulgarien und dem Balkan« im Mafi-
stabe von 1:420000 beigegeben, die in einer vom russischen Generalstab
veranstalteten Ausgabe den russischen Truppen während des türkischen
Krieges von 1877 — 1878 wesentliche Dienste leistete. Auch bei den Friedens-
verhandlungen des Jahres 1878 wurden die kartographischen Auhiahmen K.s
wiederholt herangezogen. Nach dem Kriege unternahm er noch wiederholt
ausgedehnte Reisen durch die Balkanländer. Vor allem bemühte er sich
um die Untersuchung der vorgeschichtlichen und römischen Denkmäler,
doch fehlte es ihm hierzu an hinlänglicher Sachkenntnis. Als Ergebnis
dieser Forschungen veröffentlichte er zwei Schriften: »Die prähistorischen
Funde in Serbien bis 1889« (Wien 1889) und »Römische Studien in Serbien:
der Donau-Grenzwall, das Straßennetz, die Städte, ~ Kastelle, Denkmale,
Thermen und Bergwerke zur Römerzeit im Königreich Serbien« (Denk-
schriften XLI, 1892, 2. Abhandlung, S. i— 158, mit i Karte und vielen Ab-
bildungen), die allerdings von der Kritik wenig günstig aufgenommen
wurden. Die letzten Jahre seines Lebens beschäftigte er sich mit der Aus-
arbeitung eines umfassenden Werkes über »Das Königreich Serbien und das
Serben volk von der Römerzeit bis zur Gegenwart«. Der i. Band, der ein Bildnis
des Verfassers enthält, trat unmittelbar nach seinem Tode in der von
Wilhelm Ruland herausgegebenen Sammlung »Monographien der Balkan-
staaten« (Leipzig 1904) an die Öffentlichkeit, das Manuskript der beiden
übrigen Bände hinterließ er in druckfertigem Zustande.
Wurzbach, »Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich« X, 1863, S. 435 — 438.
— »Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik« XII, 1890, S. 571 — 573 (mit
Bildnis). — »Globus« LXXXV, 1904, S. 162. — »Geographen-Kalender« III, 1905, S. 189.
Viktor Hantzsch.
Philippi, Rudolf Amandas, Naturforscher und Vorkämpfer des Deutsch-
tums in Chile, * 14. September 1808 zu Charlottenburg, f 23. Juli 1904 zu
Santiago de Chile. — Schon von Jugend an war das Sammeln von Natur-
gegenständen seine Lieblingsbeschäftigung. Nach dem frühen Tode des
Vaters, eines alten Soldaten aus den Freiheitskriegen, der zuletzt Revisor
an der preußischen Oberrechnungskammer war, zog die Mutter 181 8 nach
Ifferten (Yverdun) in der französischen Schweiz. Hier wurde der Knabe
dem berühmten Erziehungsinstitut des großen Pädagogen Heinrich Pestalozzi
übergeben, wo er seine schwache Gesundheit kräftigte und namentlich durch
seine Lehrer Johannes Niederer und Joseph Schmid mannigfache und nach-
haltige Anregungen empfing. Als aber die Anstalt 1822 infolge unliebsamer
Streitigkeiten unter den Lehrern ihrer Auflösung entgegenging, kehrte die
Familie nach Berlin zurück. Ph. besuchte zunächst das Gymnasium zum Grauen
Kloster und studierte dann an der Berliner Universität Medizin und Natur-
wissenschaften. Daneben hörte er auch geographische Vorlesungen bei
Alexander von Humboldt und Karl Ritter. 1830 erwarb er durch eine
Dissertation über die r>Orthoptera Beroiinensia<ii den philosophischen Doktor-
titel. Da sich bald darauf die Anzeichen eines beginnenden Lungenleidens
bemerklich machten, unternahm er eine längere Erholungs- und Studienreise
nach Italien. Hier traf er mit den beiden Geologen Friedrich Hoffmann
und Arnold Escher von der Linth zusammen, die ihn so für ihre Wissen-
Philippi. 187
Schaft zu begeistern wußten, daß er sich eifrig mit umfassenden geognostischen
Untersuchungen in Neapel, Sizilien und auf den Liparischen Inseln be-
schäftigte. Gleichzeitig sammelte er allerlei Pflanzen und Tiere, namentlich
Schnecken und Muscheln. Nachdem er im Herbst 1832 nach Deutschland
zurückgekehrt war, bestand er die medizinische Staatsprüfung, wendete sich
aber nicht dem ärztlichem Berufe zu, sondern nahm 1835 ^^^^ Stelle als
Lehrer der Zoologie und Botanik an der höheren Gewerbeschule in Kassel
an, wo damals bedeutende Gelehrte, wie der Paläontolog Wilhelm Dunker
und die beiden Chemiker Friedrich Wöhler und Robert Bunsen, wirkten.
Die Mußestunden, die ihm sein Beruf ließ, benutzte er zu umfassender
literarischer Tätigkeit. Als erstes großes Werk und zugleich als Frucht
seiner italienischen Reise erschien die »Enumeraäo Molluscontm Siciliae cum
vwentium tum in tellure iertiaria fossilium, quae in iiinere suo observaviH (Berlin
1836) mit zahlreichen von ihm selbst gezeichneten und lithographierten Tafeln.
Aber die mit der Herstellung dieses Werkes verbundene Überanstrengung
hatte seine Gesundheit so geschädigt, daß sich völlige Heiserkeit und be-
drohliche Lungenblutungen einstellten. Er nahm deshalb Ende 18^7 einen
längeren Urlaub und begab sich abermals auf reichlich zwei Jahre nach
Italien und Sizilien. Glücklicherweise führte das milde Klima allmählich
eine völlige Heilung herbei, so daß er Ostern 1840 neugestärkt und
frohen Mutes nach Kassel zurückkehrte. Hier nahm er sogleich seine
pädagogische und wissenschaftliche Tätigkeit wieder auf. In den nächsten
Jahren ließ er mehrere umfangreiche und kostspielige Werke mit vielen
Tafeln vorwiegend malakozoologischen Inhalts erscheinen, die ihm bald in
den Fachkreisen einen guten Ruf verschafften: »Abbildungen und Be-
schreibungen neuer oder wenig gekannter Conchylien, unter Mithilfe mehrerer
Conchyliologen herausgegeben. Mit Beiträgen von Anton, von der Bisch,
Dunker, Koch, Pfeiffer und Troschel«, 3 Bände (Kassel 1842 — 185 1), »Beiträge
zur Kenntnis der Tertiärversteinerungen des nordwestlichen Deutschlands«
(Kassel 1843), sowie einen 2. Band seiner y^Enunuratio Molluscorum Siciliae*^
(Halle 1844). Auch an zwei großen naturwissenschaftlichen Sammelwerken
war er ein eifriger Mitarbeiter. Für das von Martini und Chemnitz be-
gründete, dann von H. C. Küster herausgegebene und nach dessen Tode
von W. Kobelt fortgesetzte, in Nürnberg erscheinende »Systematische Con-
chylien-Kabinett« lieferte er in den Jahren 1846 bis 1853 Monographien über
die Gattungen Turbo, Trochus, NaHca^ Amaura, Ampullaria, Adearbis, Solarium,
Risella, Delphinula, Scissurella^ Globulus, Phasianella, Bankivia und Lacuna mit
vielen naturgetreuen Abbildungen. Ebenso veröffentlichte er in den von
Wilhelm Dunker und Hermann von Meyer redigierten Beiträgen zur Natur-
geschichte der Vorwelt, die 1846 bis 185 1 in Kassel unter dem Titel Palaeonto-
graphica herauskamen, mehrere Abhandlungen über die Spezies Tomatella
abbreviata, Otodos milis, O. catticus, Myliobates Testaty Clypeaster altus^ CL
iurritus, CL Scillae und Astrophyton Antoni, sowie ein Verzeichnis der in der
Gegend von Magdeburg aufgefundenen Tertiärversteinerungen. Daneben
fand er aber auch noch Zeit, sich mit öffentlichen Angelegenheiten zu be-
schäftigen. 1848 entfaltete er eine umfassende politische Tätigkeit im
Sinne des gemäßigten Liberalismus. Im folgenden Jahre wurde er seiner
wissenschaftlichen Verdienste wegen zum Direktor der höheren Gewerbe-
i88 Phiiippi.
schule in Kassel ernannt. Da ihn jedoch die verfassungswidrige reaktionäre
Gewaltherrschaft des Ministers Hassenpflug empörte, nahm er wie so viele
andere freiheitlich gesinnte hessische Staatsbeamte seinen Abschied und
folgte einer Einladung seines Bruders Bernhard, der seit 1840 als Oberst-
leutnant und wohlhabender Grundbesitzer in Chile lebte und später im
November 1852 nahe der Magalhäestraße von patagonischen Indianern er-
mordet wurde.
185 1 landete er mit seinem Schüler und Freunde Karl Ochsenius in
Valparaiso. Zunächst widmete er sich zwei Jahre lang der Landwirtschaft,
sowie der geographischen und naturwissenschaftlichen Erforschung der damals
noch wenig bekannten Provinz Valdivia. 1853 wurde er zum Direktor des
Lyzeums in der gleichnamigen Hafenstadt ernannt. Noch in demselben
Jahre erhielt er einen Ruf als Professor der Zoologie und Botanik an die
Landesuniversität Santiago. Gleichzeitig übertrug man ihm daselbst die
Leitung des 1830 begründeten Museo Nacional. Um diese Anstalt, die sich
im Zustande tiefen Verfalls befand, hat er sich während eines Zeitraumes
von 50 Jahren die größten Verdienste erworben. Ihm verdankt sie es in
erster Linie, daß sie heute unter den wissenschaftlichen Instituten Süd-
amerikas einen hervorragenden Rang einnimmt. Unter Überwindung vieler
Schwierigkeiten sorgte er für ausreichende und zweckmäßig eingerichtete
Räume, für übersichtliche und geschmackvolle Aufstellung, für Erweckung
des Interesses bei den maßgebenden Persönlichkeiten und in den breiten
Schichten des Volkes, endlich auch für Herbeischaffung der nötigen Geld-
mittel. Die meisten Objekte, nicht nur Tiere, Pflanzen, Mineralien und Ver-
steinerungen, sondern auch ethnographische Gegenstände, Altertümer und
Kunstwerke, hat er auf seinen vielen und ausgedehnten Reisen, die er fast
alljährlich während der akademischen Ferien durch ganz Chile und die an-
grenzenden Staaten unternahm, selbst gesammelt oder durch Tausch er-
worben. 1873 legte er sein Lehramt an der Universität nieder, um sich
ganz dem Museum zu widmen. Daneben setzte er auch seine literarische
Tätigkeit fort und gab eine Anzahl mehr oder minder umfangreicher, fast
sämtlich durch Tafeln erläuterter Werke heraus, die zum Teil in Deutsch-
land erschienen: »Handbuch der Conchyliologie und Malakozoologie« (Halle
1853), »Reise durch die Wüste Atacama, auf Befehl der chilenischen Re-
gierung im Sommer 1853/54 unternommen und beschrieben« (Halle 1860),
t*Florula Atacamensis seu enumeratio plantar um^ quas in itinere per desertum
Atacamcnse obsen^avtt* (Halle 1860, 2. Ausgabe 1870), ^Elementos de Historia
Naturah< (Santiago 1860, 4. Auflage 1885), >>Eiemenios de Botanica* (Santiago
1864), *La Isla de Pascua y sus habitantes* (Santiago 1873), )»Los fdsiles
terciarios y cuartarios de Chiles (Santiago 1887), auch deutsch als »Die
tertiären und quartären Versteinerungen Chiles« (Leipzig 1887), »Über meso-
zoische Fossilien in Chile« (Santiago 1889), ^> Planlos nuevas chilenas<^ (Santiago
1893), ein sechsbändiges Werk, das 2000 neue Pflanzen beschreibt, endlich
*Sol>re el verdadera signtficado de la palabra Cordillera<^ (Santiago 1898).
Neben diesen selbständigen Werken hat er noch eine unübersehbare
Menge von Aufsätzen verschiedensten Inhalts und Umfangs in zahlreichen
deutschen, englischen und chilenischen Zeitschriften veröffentlicht, vor allem
in Wiegmann's Archiv für Naturgeschichte (Über das Tier der Solenomya
Philippi. iSg
tnediterranea : I, 1835, S. 271 — 276; Über Verettllum pusillum: ebd. S. 277 — 280),
in der Zeitschrift für die gesamten Naturwissenschaften, der Botanischen
Zeitung, den Malakozoologischen Blättern, der Stettiner Entomologischen
Zeitung, in Petermanns Mitteilungen (Die sogenannte Wüste Atacama: 1856,
S. 52 — 71, mit Karte; die Provinz Valdivia und die deutschen Ansiedlungen
daselbst und im Territorium von Llanquihue: 1860, S. 125 — 139, mit Karte;
Exkursion nach den Bädern und dem neuen Vulkan von Chillan in Chile:
1863, S. 241 — 257, mit Karte; Die heißen Quellen am Puyehue- und
Llanquihue-See in Chile: 1869, S. 459 — 461; Ein neuer Vulkan in Chile:
^^73» S. 6 — 7; Bemerkungen über die chilenische Provinz Arauco und
namentlich über das Departement gleichen Namens: 1883, S. 453 — 460; Ver-
änderungen, welche der Mensch in der Flora Chiles bewirkt hat: 1886, S. 294
bis 307, 326 — 331; Andesbahnen: 1892, S. 290 — 291; Analogien zwischen der
chilenischen und europäischen Flora: 1892, S. 292 — 294), in den Monatsberichten
der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Bemerkungen
über die chilenischen Flußfische: 1866, S. 708 — 717; Über eine für Chile
neue Art von Otaria: 187 1, S. 558 — 562), im Ausland, im Globus (Über das
Vorkommen von Torf in Chile: XVIII, 1870, S. 31 — 32; Ein Wort über die
Herkunft der Bohne: LI, 1887, S. 157 — 158; Die Eisenbahn von Antafagasta
de la Costa nach Uyuni in Bolivien: LVII, 1890, S. 334 — 335; Erdbeben in
Südchile und Patagonien: LXII, 1892, S. 205 — 206; Über die Nationalität
der Südamerikaner, besonders der Chilenen: LXXXV, 1904, S. 126), der
Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin (Bemerkungen über die
orographische und geologische Verschiedenheit zwischen Patagonien und
Chile: XXXI, 1896, S. 50 — 63; Einige Worte über den unrichtigen Gebrauch
des Wortes Cordillera in Chile: XXXIII, 1898, S. 393 — 398), den Abhand-
lungen und Berichten des Vereins für Naturkunde zu Kassel (Botanische
Exkursionen in das Araukanerland : XLI, 1896, S. i — 31), der Zeitschrift der
deutschen geologischen Gesellschaft (Vorläufige Nachricht über fossile Säuge-
tierknochen von Ullumo, Bolivia: XLV, 1893, S. 87 — 96; Berichtigung eines
geologischen Irrtums: L, 1898, S. 207 — 208), der Zeitschrift für Ethnologie,
der Deutschen Erde (Zur Gründungsgeschichte der ersten deutschen Kolonien
in Chile: II, 1903, S. 16 — 17), im Scottish Geographkai Museum (Patagania and
Chile, their Orography and Geology contrasted: XII, 1896, S. 303 — 309), in den
Anales de la CJniversidad de Chile (De la escritura jerografica de los indtjenas de la
isla de Pascua: LXV, 1875, S. 670 — 683; Comparacion de las floras i faunas de las
RepubUcas de Chile i Arjentina: LXXXIV, 1893, S. 529 — 555; Plantas nueims
chilenas: LXXXIV, 1893, S. 5—32, 265—289, 433—444, 619—634, 743—762,
975—983» LXXXV, 1893, S. 5—18, 167—195, 299—324, 491—514, 699—749,
813 — 844), den Anales del Museo Nacional de Chile {Seccion I: Zoolojia.
* Algunos peces de Chile ^ 1892, 16 S.; * I^s zoofitos chilenos del Museo Nadanal,
1892, 9 S. ; * Las focas chilenas del Museo Nacional, 1892, 48 S.; * -£"/ guemul
de Chile, 1892, 9 S.; * Los delfinos de la Punta Austral de la America del Sur,
1893, 17 S.; * Las especies chilenas del jenero Mactra, 1893, 12 S.; * Cenms
antisensis, chilensis, brachyceros, 1894, 16 S. — Seccion II: Botanica, * Catalogus
praevius plantarum in itinere ad Tarapaca a Friderico Philippi lectarum, 1891,
96 S.; La Alcayota de los Chilenos^ Cidracayote de los Espaholes, 1892, 4 S.;
Epipetrum bilobum Ph„ 1892, 3 S.; Stipa amphicarpa Ph., 1892, 3 S.; Elymus
190 Phüippi.
ermnthus Ph,, 1892, 3 S. — Seccion III: Mineralojia, Jeohjia, Pahontolojta,
* Descripdon de algunos fosiles terciarios de la Republica Arjentina, 1893, 15 S.),
endlich in den Verhandlungen des deutschen wissenschaftlichen Vereins zu
Santiago (Vorläufige Nachricht über einige Schildkröten und Fische der
chilenischen Küste: I, 1887, Heft 5, S. 210 — 213; Verzeichnis der von D. Fran-
cisco Vidal Gormaz an den Küsten des nördlichen Chile gesammelten
Gefäßpflanzen: II, 1890, Heft 2, S. 106 — 108; Über einige Versteinerungen
der Anden von Vallenar: ebd. S. 109 — iio; fÜber die Cucurbita mammeata
und C. siceraria des Molina: II, 1891, Heft 3, S. 150 — 154; f Aphorismen
über die Sklaverei und den Sklavenhandel in den christlichen europäischen
Staaten während des Mittelalters bis in die Neuzeit: ebd. S. 155 — 160;
f Bemerkungen über die Versteinerungen von La Bajada in Corrientes: ebd.
S. 161 — 164; f Einige Worte über die chilenischen Mäuse: ebd. S. 173 — 176;
f Bemerkungen über die Flora bei den Bädern von Chillan: II, 1892, Heft 4,
S. 196 — 208; t Albinismus unter den Vögeln Chiles: ebd. S. 231 — 234;
f Über die chilenischen Seeigel: ebd. S. 246 — 247; f Analogien zwischen der
chilenischen und europäischen Flora: II, 1893, Heft 5 — 6, S. 255—261; fWann
ist die Cordillere von Chile und Argentinien entstanden? ebd. S. 262 — 265;
f Über Phalaropus antarcticus und Ph. Wilsoni: ebd. S. 266 — 271; Neue Tiere
Chiles: III, 1895, Heft i, S. 9 — 13; Über einige Vogelknochen aus dem Guano:
ebd. S. 14 — 16; Die chilenischen Arten von Galaxias: ebd. S. 17 — 23). Die
meisten dieser Aufsätze sind durch Abbildungen und Tafeln erläutert, die P.
als geschickter Zeichner selbst entwarf. Um seine in Chile erschienenen Ab-
handlungen auch den Fachgenossen in Deutschland bekannt zu machen, ließ
er die oben mit * bezeichneten in deutscher Übersetzung, die mit f ver-
sehenen in Sonderdrucken teils in Leipzig, teils in Berlin nochmals veröffent-
lichen. Außerdem gab er unter dem Titel »Botanische Abhandlungen«
(Leipzig 1893) eine Sammlung kleiner Arbeiten über einzelne chilenische
Pflanzengattungen heraus. So gewann er auch in der alten Heimat einen
guten Ruf als bester Kenner der lebenden und fossilen Flora und Fauna
Chiles.
Auch um das Deutschtum dieses Freistaates erwarb er sich namhafte
Verdienste. Er selbst fühlte sich immer als guter Deutscher und unterhielt
bis an seinen Tod rege Beziehungen zum alten Vaterlande. Viele Lands-
leute bewog er durch seine wiederholten Empfehlungen Südchiles zur Aus-
wanderung dahin, und den neuen Ankömmlingen erwies er sich mit Rat
und Tat hilfreich. Gern und oft weilte er in den von Deutschen stark be-
siedelten Provinzen Puerto Montt, Llanquihue, Osorno, Union und Valdivia,
um im Kreise der Volksgenossen alte Erinnerungen auszutauschen und neue
Anregungen zu empfangen. Den Zusammenschluß der chilenischen Deutschen
suchte er auf alle Weise zu fördern, ebenso ihre geistigen Bestrebungen, die
in dem 1883 begründeten deutschen wissenschaftlichen Verein zu Santiago
eine Pflegestätte fanden, dem er bis zu seinem Tode als Ehrenvorsitzender
angehörte. 1888 wurde unter allgemeinem Anteil sein 80., 1898 sein 90. Ge-
burtstag gefeiert. Zwar begannen Gesicht und Gehör allmählich abzunehmen,
so daß er 1897 sein Amt als Museumsdirektor niederlegte. Bald stellte sich
auch der graue Star ein, der schließlich zu völliger Erblindung führte. Aber
seine Schaffensfreudigkeit erhielt sich unvermindert, bis er im 96. Jahre einer
Philippi. Holaus. Joder. igi
Lungenentzündung erlag, tief betrauert von seinen Landsleuten, die ihn seit
Jahrzehnten als ihren Patriarchen verehrten.
»Nachrichtsblatt der deutschen malakozoologischen Gesellschaft« 1S89, Nr. i — 2. —
»Export« XX, 1898, S. 402 — 405 (Selbstbiographie mit Bildnis). — »Deutsche Erde« 1904,
S. 148 — 149 (Karl Ochsenius). — Diego Barros Arana^ El Doctor Don Rodolfo Amando
Pßulippi, SU vida i sus obras, Santiago de Chile 1904, 248 S., mit Bildnis. — »Leipziger
Illustrierte Zeitung« 1904, Nr. 3195, S. 426, mit Bildnis (Th. Lincke). — »Globus« LXXXVI,
1904, S. 239. — »Geographen-Kalender« III, 1905, S. 199 — 200.
Viktor Hantzsch.
Hol)äuSy Blasius, Dompropst von Salzburg, * 30. Januar 1825 zu Hippach
im Zillertal, f 24. Januar 1904 zu Salzburg. — H. wirkte, nachdem er 1849
die Priesterweihe empfangen hatte, viele Jahre in der Seelsorge, als Hilfs-
priester zu Neukirchen im Pinzgau, dann zu Hopfgarten und Oberau in Tirol,
Vikariatsprovisor zu Niederau und Ellmau, Stadtkooperator zu Kitzbüchel,
dann zu St. Andrä in Salzburg, Dechant und Pfarrer zu Stuhlfelden und zu
Reit bei Rattenberg. 1877 wurde er Domkapitular in Salzburg, während
beinahe zehn Jahren zugleich Stadtdechant und Dompfarrer; 1885 Domkustos,
1891 infulierter Domdechant, seit 1891 auch Präses des fürsterzbischöflichen
Konsistoriums und seit 1892 Vorsitzender des Diözesan- und Metropolitan-
gerich tes. 1901 wurde er von Papst Leo XIII. zum Domprapst ernannt.
Förderer sozialer und wissenschaftlicher Bestrebungen, besonders auch des
Missionswesens.
Vgl. Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, 44. Vereinsjahr 1904,
S. 397f. F. Lauchert.
Joder, Julian Chrysostomus, Generalvikar des Bistums Straßburg,
* 27. Januar 1850 zu Mitzach (Oberelsaß), f 3. Februar 1904 zu Straßburg.
— J. erhielt seine Gymnasialbildung im petit seminaire zu Straßburg, studierte
dann Theologie im Straßburger Priesterseminar seit 1867 und empfing 1872
die Priesterweihe. Hierauf war er zunächst Hauskaplan und Hauslehrer in
der Familie des Grafen Ivry in Noiay (Cöte d'or), 1873 wurde er Vikar in
Neubreisach, 1877 Prosekretär, 1884 Generalsekretär des Bistums Straßburg,
1889 Ehrendomherr, 1893 Dr. jur, can., 1897 Titulardomherr, 1903 General-
vikar. Mit seiner hervorragenden Begabung für die Verwaltung und seinem
reichen kanonistischen und juristischen Wissen machte sich J. bei unermüd-
licher Tätigkeit um die Diözesanverwaltung sehr verdient. Daneben wirkte
er auch viele Jahre als Seelsorger der Waisenanstalt St. Joseph in Neudorf
bei Strafiburg, wo er nach seinem Wunsche auch begraben wurde. —
Literarisch tätig war J. besonders auf dem Gebiete des Kirchenrechts, auch
auf dem der Asketik. Von seinen selbständig erschienenen Schriften ist das
Hauptwerk: -»Fommlaire matrimonial. Guide pratiqut du curi pour tout ce qui
conctme le sacremtnt du mariage^ (Paris 1885, 3. Aufl. 1891). 1884 übernahm
er auf Wunsch des damaligen Bischofs Stumpf nach dem Tode des Be-
gründers, des Domkapitulars Mury, die Redaktion des offiziellen Diözesan-
organs, des früheren -n Bulletin eccUsiastique de Strasbourg *f^y das er von 1884 bis
1898 unter dem Titel: y^Ecclesiasticum Argentinense<t^y von 1899 bis zu seinem
Tode in neuer Folge unter dem Titel: »Strafiburger Diözesanblatt« heraus-
gab. Dasselbe enthält zahlreiche Beiträge von seiner Hand, darunter Denk-
IQ2 Joder. Zenetti. Braun.
Schriften von bleibendem Interesse, von denen genannt seien: »Die rechtliche
Stellung der nicht anerkannten religiösen Genossenschaften in Elsaß-Lothringen«
(1895, auch separat); »Das Beichtsiegel vor dem Schwurgericht zu Mül-
hausen i. E.« (1895, auch separat); »Der konfessionelle Kirchhof nach den
kirchlichen Regeln und den für Elsaß -Lothringen geltenden Zivil gesetzen«
(1897, auch separat). Im »Archiv für katholisches Kirchenrecht« erschien
von ihm; y> Index casuum et censurarum in universa Ecclesia iure nmnssimo
vigentium« (74. Bd. 1895, S. 18 — 35); »Das Beichtvateramt in Frauenklöstern«
(78. Bd. 1898, S. 668 — 710; 79. Bd. 1899, S. 451 — 483, 709 — 735).
Vgl. »Der Elsässische Volksbote« 1904, Nr. 29 v. 4. Febr. [J. Gaß]. — »Dei Elsässer«
1904, Nr. 37 V. 4. Febr. — »Elsässer Kurier« 1904, 3. Febr. — ^tjournal de ColmarK 1904,
7. Febr. — »Straßburger Diözesanblatt«, 23. Jahrg. 1904, S. i, S. 4. — Eine eingehendere
biographische Arbeit über J. ist von dem Bibliothekar des Straßburger Priesterseminars,
Herrn Dr. J. Gaß, zu erwarten. Dem genannten Herrn, sowie Herrn Dr. L. Pfleger in
Münster i. W. bin ich für gefällige Mitteilungen und Nachweise zu Dank verpflichtet.
F. Lauchert.
Zenetti, Benedikt, O. S. B.^ Abt von St. Bonifaz in München, * 13. Mai
1821 zu Speier, f 18. Februar 1904 zu München. — Wilhelm Z., wie er vor
seinem Eintritt in den Orden hieß, der Sohn des späteren Regierungspräsidenten
J. B. V. Zenetti, absolvierte das Gymnasium zu Passau, wohin sein Vater als
Regierungsdirektor versetzt worden war, studierte dann an der Universität
München Philosophie, Jurisprudenz und Theologie und empfing 1847 ^i^
Priesterweihe. Zuerst in der Seelsorge tätig, trat er nach der Eröffnung des
neu gegründeten Benediktinerstifts St. Bonifaz in München als einer der
ersten Novizen zugleich mit dem späteren Abte und nachmaligen Bischof
Haneberg im Dezember 1850 in dasselbe ein und legte 1851 die Ordens-
gelübde ab. Nachdem er nacheinander verschiedene Ämter bekleidet hatte,
wurde er am Anfang der sechziger Jahre Direktor des k. Erziehungsinstituts
für Studierende (des sog. Hollandschen Instituts) in München, 1866 Prior
des neu errichteten Klosters Schäftlarn. Nachdem Abt Haneberg Bischof
von Speier geworden war, wurde Z. 1872 zum Abt von St. Bonifaz gewählt
und erhielt durch Erzbischof v. Scherr die feierliche Benediktion. Obwohl
in den 31 Jahren seiner Regierung wenig an die Öffentlichkeit tretend,
erfreute sich Abt Z. in allen Kreisen großen Ansehens. Kunstsinnig
und besonders in der Pflege der klassischen Musik und Literatur seine
Freude findend, hat er jederzeit auch die wissenschaftlichen Bestrebungen
unterstützt und sich um die Förderung der ausgezeichneten Stiftsbibliothek,
der so viele gleich dem Unterzeichneten zum größten Dank verpflichtet sind,
große Verdienste erworben.
Vgl. »Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und dem Zisterzienser-Orden«,
25. Jahrg. 1904, S. 426 — 429, mit Porträt. — »Augsburger Postzeitung« 1904, Nr. 41
V. 20. Febr. F. Lauchert.
Braun, Karl Otto, Genre- und Landschaftsmaler, * 24. Dezember 1852 in
München, f 8. Febr. 1904 ebendas. — B. erhielt, sobald seine künstlerische
Begabung frühzeitig hervortrat, im Hause und unter der Schulung des Vaters,
des als Xylograph und Maler so wohlbekannten Kaspar Braun (A. D. B.XXXXVII,
198), des Schöpfers der »Fliegenden Blätter« und Begründers der weltberühmten
Braun. Maison.
193
Firma »Braun und Schneider« den ersten grundlegenden Unterricht nebst einer
vortrefflichen, allseitigen Bildung. Weitere Förderung wurde auf der Akademie
unter Arthur von Rambergs (A, D. B. XXVII, 203) Leitung, woselbst B. längere
Zeit nach dem Vorbild des trefflichen, im koloristischen Sinne mit Karl von
Piloty rivalisierenden Meister zum Genrefach sich bekannte, dann aber, seiner
inneren Veranlagung folgend, gänzlich zur Landschaft überging, ohne sich
einem bestimmten Vorbilde anzuschließen. Auf beiden Gebieten erreichte
er gleich ehrenvolle Anerkennung, trotz seines immer bescheidenen Rück-
haltens. Er drängte sich nicht in die Ausstellungen, schwur auch zu keiner
der Parteien, förderte aber mit aufopfernder Mühewaltung und unermüdlicher
Ausdauer alle Interessen der Künstlerschaft, verschönte ihre festlichen Ver-
anstaltungen mit geschickten und humoristischen Inszenierungen. — In
seinen landschaftlichen Bildern »zeigte er eine stille, gediegene, freilich auf
wenige Töne gestimmte, immer aber liebenswürdige Individualität«; »seine
nebelfeuchten Tage und wohligen stillen Nächte erwecken einen stark natur-
haftträumerischen Eindruck«. In den weichen, duftigen Stimmungen, in
denen er am liebsten die scheidende Stunde des Tages und die Dämmerung
mit dem aufsteigenden, durch den jungen Birkenbestand schimmernden Mond
schildert, athmet eine leise klingende, sanfte lyrische Schwermut. Es war
ein guter Teil Eichendorff in ihnen, freilich wenig von dessen fröhlicher
Wanderlust. In rein malerischer Beziehung blendeten die Werke nicht; sie
waren weder virtuos gemalt — getreu der Dichterregel, daß »Natur und
rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vortrage« — noch großartig ge-
zeichnet, sondern bescheidene, anspruchslose symphonische Sätze lieblicher
Innigkeit.
Bei seinem Begräbnis ergab sich eine überraschende Teilnahme als
sprechender Beweis, daß der zeitlebens immer bescheidene Mann aufrichtige
Freunde und Verehrer in den weitesten Kreisen besaß.
Eine Ausstellung seines Nachlasses im Münchener Kunstverein machte
den größeren Teil der Beschauer erst mit den hochachtungswerten Be-
strebungen und Leistungen dieses Künstlers nachträglich bekannt.
Vgl« Nr. 44 und 71 »Bayer. Kurier« 13. Februar und 11. März 1904. Nr. 59 »Augs-
burger Postzeitung« 12, März 1904. Nr. 35 »Mttnchener Zeitung« 12. Febr. 1904. —
Brauns Name fehlt bei Singer und Fr. v« Bötticher, auch im Bericht des MUnchener Kunst-
vereins, welcher, gegen seine bisherige Gepflogenheit, keinem seiner im Jahre 1904 ver-
storbenen Mitglieder einen Nachruf widmete. Hyac. Holland.
Maison, Rudolf, Bildhauer, k. Professor, * 29. Juli 1854 zu Regensburg,
t 12. Februar 1904 in München. — Der aus einer französischen Emigranten-
familie stammende Vater wirtschaftete als tüchtiger Tischler und Zimmer-
mann in der alten Donaustadt, wo sich auch seine Söhne mit allerlei ein-
schlägigem Schreiner -Handwerk übten» Rudolf M. pflog allerlei Kunst-
hantierung auf eigene Faust. Über führerlosem Tasten und Suchen geht
freilich viel kostbare Zeit unausgenützt verloren; doch schadet es nicht,
nach Andersens tröstlicher Erfahrung, in einem Entenhofe zur Welt zu kommen,
wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat. Schließlich fand M. den
Weg nach dem Münchener Polytechnikum, um sich zum Baufach auszubilden,
blieb zwar nicht lange, beim leichtbegreiflichen Mangel weiterer Mittel,
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog*. 9. Bd. Xß
194
Maison.
guckte aber seinen Lehrern mancherlei ab, was er später bei den architek-
tonischen Hintergründen und Sockeln seiner Denkmale wohl verwerten konnte.
Auch das Zeichnen und Modellieren betrieb er, das ihn rechtzeitig zu Bild-
hauern brachte, wobei viel Dekoratives für Fabriken und Kunsthandwerk
entstand, auch für die Bauten König Ludwigs IL, wobei er freilich allerlei
Vorbildnern wie Perron und anderen Handdienste leistete, doch soll er die
Pegasus-Fontäne für Herrenchiemsee allein ausgeführt haben. Nach der bei
Bildhauern nicht ungewöhnlichen Sitte, »um Kondition zu suchen«, mag er
zu Ruemann und Wagmüller gekommen, auf seinen Wanderungen mit Begas
in Berlin und Tilgner in Wien, auch etwas mit französischer Plastik in
Fühlung geraten sein. Von allen diesen Vorbildern machte er sich etwas zu
eigen, behielt aber, nicht immer zum eigenen Frommen, eine große Dosis
des besser-wissen-woUenden Autodidakten, der sich gleich im voraus mit der
Antike auf einen feindlichen Fuß stellte. Er haßte alle Stilistik, wie man
denn auch an mancher Akademie die Klassiker aus den Sälen in die
Korridore verbannte. Dafür blieb M. eine Zeitlang mehr Sklave denn nach-
bildender Verehrer der Natur, wobei er frühzeitig an die heilsame Beihilfe
der Farbe dachte, ohne die jedweder Kunst zukommenden Grenzen mit
Lessings Scharfsinn zu erwägen. Mit verzweifelter Kraft rang M. nach
Wahrheit, immer in Angst, der Schönheit in Form und Linie etwa weiter-
greifende Zugeständnisse zu machen.
Der keinen anderen Ausweg findende Kunstjünger begann das »positi-
vistische« Naturstudium, ganz im Sinne der modernsten Naturforscher, klam-
merte sich an die fast photographische Wiedergabe' von Einzelheiten, konnte
sich mit Fältchen, Wülsten, Narben und Zufälligkeiten nicht genug tun,
selbst auf Kosten des tektonischen Baues des Körpers. Bei den Tierbildem
quälte er sich mit der genauesten Charakterisierung, kennzeichnete bei
seinen Pferden alle Eigentümlichkeiten der Rasse, sogar der Färbung der
Haare, die er, wie man behauptete, seinen Rossen überklebte, ebenso wie er
die Nymphen und Wasserweiber mit wirklichen Haaren ausstattete. Um
kaum fixirbare Eindrücke festzuhalten, diente ihm die Farbe. So besetzte
er die Nägel seiner Neger mit Trauerrändern und formte ihre Zähne aus
Elfenbein. Infolge davon wagte er sich mit der übermütigen Kühnheit der
Jugend an immer neue Stoffe, bei deren Bewältigung er seine bisher er-
rungene Technik zu Markt brachte. Dabei bewies sich die ganze ehrliche
Spannkraft seiner schöpferischen Phantasie, welche nur zu leicht die mittlere
Linie zwischen Idee und Darstellbarkeit überschritt. Die Plastik »war für
ihn ein Gebiet unbegrenzter Möglichkeiten«. Das Titanische seines Wollens
war ebenso anerkennenswert wie bei Klingers Experimenten. Auch M. wagte
sich an schwere, auf solchem Wege kaum überwindliche Stoffe, dazu zählt
z. B. die Ausgrabung eines »Verschütteten Arbeiters«, die Darstellung einer
streikenden »Arbeiterfamilie«, eine Gruppe mit »Caesars Ermordung«, wobei
der Imperator auf einer durch Stufen erhöhten »j^//ö curuiis* sitzend
gedacht war; der Künstler vergriff sich mit der Statuette eines »Philo-
sophen«, welcher, schnäbelnden Tauben zuschauend, eher einem Fabrik-
arbeiter als einem Jünger der Stoa gleichen mochte, der ebensowenig wie
der Sonderling Diogenes über ein geistiges Problem zu sinnen vermochte;
auch sein mit Weinkrug und Entenbraten befrachteter »Augur« war nur ein
Maison. Ip^
schmieriger Schmutzfink, ebenso wie der Knackwurst kauende, den Bierkrug
zwischen den Beinen haltende »Kunst jünger«, welcher höchstens die Züge
einer jovialen Hebe mit dem Griffel festzuhalten trachtet. Dafi man an
solche Erzeugnisse, Kneip- und Bummelwitze eines überquellenden Humors,
keine kritische Sonde legen darf, ist begreiflich; wie M. dieselben aber doch
ernsthaft behandelte, war für den Künstler charakteristisch. Noch besser ge-
lang ihm eine mit den neuesten Berichten hausierende »Zeitungsfrau« oder ein
übrigens von der witzigen Verschlagenheit seiner Kollegen wenig besitzender,
roh einherschlariender »Schusterjunge« — Einfälle, die selbst durch die ent-
sprechende Farbengebung nicht liebenswürdiger erscheinen konnten. Auch
das vor dem gefräßigen Vogel der Juno angstvoll ihr Brot schützende
hä^iche »Faunmädchen« erwarb schwerlich das teilnehmende Interesse des
Beschauers, der jedoch auch nicht immer Grund hatte, mit M.s. Porträt-
büsten von höchst achtbaren Staatsmännern und Gelehrten zufrieden zu sein, da
der Bildner an kleinlichen, subjektiven Zufälligkeiten sich einklammerte, ohne
die geistige Individualität zum vorherrschenden Ausdruck zu bringen. Auch
das Gebiet der religiösen Kunst betrat M. als einer der entschiedensten
Naturalisten. Er wählte den Augenblick, wie das aus rohgezimmerten
Stämmen bestehende Kreuz mit dem angenagelten Heiland von wilden
Schergen gewaltsam aufgerichtet wird: rückwärts stemmt sich ein römischer
Soldat an das Marterholz, seitwärts ein stupider Neger, während vorne ein
häßlicher jüdischer Büttel an einem langen Strick die schwere Last mit dem
zwar nicht idealen, aber doch immerhin menschlich edlen, etwas hebräischen
Typus tragenden, angenagelten Dulder in gleichhastender Eile in die Höhe zu
ziehen strebt. Die jammernd über den Anblick zusammenbrechende Gestalt der
Gottesmutter nebst dem Lieblings jünger Johannes runden das Ganze möglichst
ab. Es sind lebensgroße Figuren mit höchster dramatischer Wirkung und
einer weit über das Gewöhnliche hinausgehenden Feinheit des Studiums in
den Gewändern und nackten Teilen, wobei ein teilweise an die Altdeutschen
erinnernder Zug durchweg sympathisch berührt: Die Arbeit eines begabten
Mannes, welcher das volle Recht hatte, seine eigene Auffassung auch energisch
geltend zu machen und unser Gefühl zu empören gegen die Verhöhnung aller
Menschlichkeit, die hier im Namen des Rechts begangen wird. Durchweg
anerkennend und günstig lautete die Aufnahme in der Presse (vgl. Lützows
Zeitschrift 1885. XX, 464, 1886. XXI. 560. Nr. 82 Münchener Fremdenblatt
23. März 1885. Nr. 71 Augsburger Postzeitung 28. März 1885. Pecht in
»Kunst für Alle« 1886, I, 238 und dessen »Geschichte der Münchener
Kunst« 1888. S. 307).
Eine Zeitlang mühte er sich mit dem zufällig gefundenen Modell eines
Negers, der korbtragend als »Tafelaufsatz« oder gar als »Elektrische Lampe«
dienen sollte, dagegen als gequälter Reiter eines hinterlistig bockenden
Grauohrs (angekauft vom Münchener Kunstverein, Abbildung in R. Bongs
»Moderne Kunst« XIII. Bd., Tafel 16) doch durch die eminente Mache unsere
freilich nur vorübergehende Heiterkeit erregen konnte.
Ein prinzipieller Gegner der Antike, nahm M. die deutsche Mythologie
in^Affektion; aber sein »Wuotan« (Nr. 3021 »Illustr. Ztg.« 23. Mai 1901)
war doch nicht der allgütige Vater der Götter und Menschen,^ sondern ein
in brutaler Bärbeißigkeit gnadenlos prunkender Wikinger; auch die Gestalt
13*
ipö
Maison.
des unter dem glänzenden Giftwurm angeketteten »Loki« verdarb er sich
durch willkürliche Behandlung des gemarteten Götterfeindes, wozu ihn nur
sein ungestümes Hasten nach Originalität verleitete. Ein Beispiel phan-
tastischer Ungeheuerlichkeit ergab der mit plastischer Unmöglichkeit equili-
brierende, von einem Panther Überfallene, mit Karawanen-Gepäck beladene,
wehrlose Neger — der schreiendste Gegensatz zu Laokoons grandioser Wür-
digkeit — eine unbewußt ironische Revanche gegen Friedrich Pecht, welcher
Lessings Kunsttheorie als das Produkt eines Ignoranten abstempelte. An Un-
geheuerlichkeit litt auch der »Entwurf zu einem Friedensdenkmal«, womit
M. bei einem Münchener Projekt vergeblich konkurrierte (vgl. »Kunst für
Alle« XVI. Jahrgang, 6. Heft, 15. Dezember 1900), ein wildverworrenes Ge-
knäuel von abgehetzten Rossen und daherstürmenden Menschen. Auf dißser
kaum einen festen Halt gewährenden Ruhelosigkeit basierte auch ein großer Teil
von M.s Mißerfolgen. Erst betäubte er die Beschauer und Schiedsrichter, dann
kam ruhigere Erwägung, Bedenken, Unbehaglichkeit, Zweifel und berechtigter
Einspruch — der Schluß fiel meist mit abweisendem Ermessen und klügelnden
Erwägungen zugunsten eines anderen. Unbeirrt durch solche Enttäuschungen
ging M. mit unermüdlicher Schöpferkraft an einen neuen Ringkampf, sein ge-
dankengequälter Geist ersann abermals Projekte und Probleme mit wachsender
Zuversicht. Nicht besser glückte es bei der Konkurrenz des Monumental-
brunnens für den Münchener Maximiliansplatz, obwohl das Siegfriedmotiv aus
naheliegenden Beziehungen zu Wagners Tondichtungen ein günstiger Griff
schien, aber die dazu beanspruchte Anlage eines Seebeckens, in welchem ein
kompliziertes Drachenungeheuer hauste, stand in zu weitläufiger Fühlung mit
der gar nicht bedrohten Jungfrau und dem in weiter Feme erscheinenden
Retter, obwohl die umgebende Landschaft das Ganze überraschend abgerundet
hätte. Es »zog« aber nicht und die wispernde Rede ging im voraus zu
Adolf Hildebrands Gunsten. Ebenso mißglückte es mit dem Berliner Bismarck-
Denkmal, wofür Reinhold Begas prädestiniert war. Der »Kaiser Wilhelm«
für Stuttgart erweckte sichere Erwartung, scheiterte aber an den gigantischen
Felsenmassen des Unterbaues; für Aachen standen die Aussichten günstig,
nur mißverstand das Komitee die Beziehung des Heldenkaisers zu den
mit Haaren herbeigezogenen » Rhein töchtem«. Überhaupt scheint es auf-
fällig, warum so viele Bildhauer das Pferd des so festgegossen im Sattel
sitzenden alten Recken von tubablasenden und kriegerische Emblemata
tragenden Frauengestalten am Zügel führen ließen, als ob der Kaiser ein
schlechter Reiter gewesen, nicht imstande, sein Staatsroß selbst zu regieren.
Dergleichen stallmeisternde Frauenhilfe wäre den alten römischen Bildhauern
nie beigefallen! auch nicht dem Meister Donatello bei seinem Gattamelata
vor S, Antonio in Padua oder dem unübertrefflichen Andrea Verocchio mit
dem stolzen, seine Söldner zum Siege heischenden Colleoni in Venedig. Die
Skizze zum Wörther Denkmal des »Deutschen Kronprinzen« wurde preis-
gekrönt — aber, wie gewöhnlich, ein anderer mit der Ausführung betraut.
Dergleichen Unbegreiflichkeiten hätten jeden anderen Künstler in den Sand
gestreckt. Günstigere Sterne walteten über den die »Bändigung der Natur-
kräfte« symbolisierenden Brunnen in Fürth: wie der riesige Zentaur kühn
und trotzig über den »Fluß« hinwegsetzt, um seinerseits augenblicklich
von dem auf rollendem Rade einherbrausenden '»Dampf« überholt und ge-
Maison.
197
bändigt zu werden, so daß der sich unüberwindlich bedünkende Pferdmensch
auf einmal gefesselt fühlt und darob wild aufbäumt: Eine voll Feuer und
Leben trefflich "aufgebaute Gruppe (vgl. »Kunst für Alle« i888. IV, 72). Noch
durchschlagender gelang es ihm mit Bremen. Hier hatte ein reicher Bürger,
Gustav Teichroann, die nötigen Mittel für ein Werk ausgesetzt, wozu M.s
überquellende Phantasie einzig paßte. Mit dieser hier völlig berechtigten Alle-
gorie auf die Schiffahrt und den Seehandel, nebst den Feinden und Schrecken
des wilden Elements, erreichte M. eine überraschende, wenn auch nicht
einwandfreie Wirkiyig. Auf einem von gefräßigen Haien, fanggierig tastenden
Kracken und anderen Meerungeheuern umwimmelten felsblöckigen Unterbau
trägt ein riesenhafter, das sturmgepeitschte Meer repräsentierender, mit Wal-
roßkörper und Hippokampenhufen ausgerüsteter Triton ein Boot wie ein
Spielzeug auf seinem breiten Rücken, während eine Nixe, die verderbliche
Macht der Fluten, das Fahrzeug hinabzuziehen trachtet. Im Boote sitzend
rudert die stämmige Gestalt eines Fergen, der die Warenballen vor sich auf-
gestapelt hat, auf welchen ein jugendlicher Merkur mit dem gewinnver-
heißenden grünen Reis und dem vollen Beutel, leichtfüßig flatternd balanciert.
Das ganze Werk, wuchtig und zierlich zugleich, überrascht durch seine
originelle Erfindung, zeigt in der Technik jene Mischung idealer Auffassung
und realistischer Durchbildung, in welcher M.s besondere titanische Stärke
lag. Man hat, nicht mit Unrecht, den Teichmann-Brunnen »eine Feerie
am Meeresgrund« genannt. Sein unermüdlicher Geist schwelgte in immer
neuen, sein ganzes Kraftbewußtsein herausfordernden Kompositionen und
Ideen, zu deren Verwirklichung sein treuer Vater mit großem, schnellen Er-
fassen zum inneren Geripp und dem ganzen konstruktiven Aufbau die helfenden
Hände bot. Mit einer den meisten seiner Schöpfungen eigenen Hetze und
ihr mögliches Ziel häufig überschießenden Rastlosigkeit häufte er neue ver-
bessernde Projekte, oftmals in der zuversichtlichen Täuschung, das Unmögliche
überwinden zu wollen: ein gedankengequälter, vom Ehrgeiz abgehetzter Geist,
der mit Verschiebung aller herkömmlichen statuarischen Gesetze seine Ideale
verfolgte. So schuf er sich, wie Bonaventura Genelli, der übrigens ein durchweg
plastisch denkender Maler war, unsägliche Schwierigkeiten, immer neue Mo-
tive seinem Stoffe einverleibend, nie mit der einfachen Tatsache zufrieden,
wovon z. B. sein friedloser »Loki« mit der hilfreich den Schlangengeifer
abhaltenden Frau zeugt. Einen wohltuenden Rückweg von der Überbietung
des Buonarotten — der diesen Bestrebungen gegenüber erst recht in voller
Grandiosität erscheint — und ein neues Gebiet betrat M. mit der massigen
Wucht seiner Standbilder und Reiterstatuen. Er kam erst darauf, als
ihm Paul Wallot einige Aufträge zur Ausschmückung des Berliner Reichs-
tagsbaues zuwies, darunter zwei standartentragende Reiter. Mit der
ihm eigenen Leidenschaft hatte M. längst schon das Studium des Pferdes
betrieben. Er begnügte sich nicht mit der Darstellung eines Prototyps,
sondern erfaßte alle Eigentümlichkeiten der Rassen. Mit welch feueriger
Wut stürmen die abgehetzten Kriegsrosse einher, am Wagen des verworfenen
Siegesdenkmals (»Kunst für Alle« 1900, XVI. Bd., 6. Heft), während hier
die eisernen lanzentragenden Kerle auf ihren Turnierpferden wie in den
Sattel gegossen sitzen, wobei ihnen die Farbe in günstigster Wirkung bei-
hilft. Zwei stehende, Lanze und Schwert tragende Ritter bilden (als Geschenk
198
Maison. Bninner.
eines in Bremen geborenen, im Auslande lebenden Herrn Harrjes, vgl. Nr. 3197
»Illustr. Ztg.«, 6. August 1904) eine neue Gesellschaft des schon seit Urzeiten
sagenbekannten »Roland der Riese vorm Rathaus zu Bremen.« Ihnen folgte die
Kolossalstatue Kaiser Otto I. für den Reichstagsbau — ein kurzweg drohender
Herrscher, mit der Streitaxt in der Rechten und der nicht mißverständlich
heischenden Handbewegung, wobei ihm der im Reichstag zomsprühende,
gereizte »eiserne Kanzler« als Vorbild gedient haben mag. Dagegen blieben
wieder zwei für die Isarbrücke bestimmte Statuen unausgeführt, die des ratlos
in seinem schweren Eisenpanzer steckenden Herzog Christoph des »Kämpfers«
und des ein Madonnenbild modellierenden, bisher als angeblicher Erzgießer
eine Rolle in der Münchener Kunstgeschichte spielenden Hans Krumpper.
Doch wurde M. mit der Ausführung des Friedrich-Denkmals für Berlin
(Nr. 3167 »Illustr. Zeitung«, 10. März 1904), dieses Mal ohne Wettbewerb,
betraut, einer Reiterstatue, welche den vollen Beifall seines kaiserlichen
Sohnes errang, während der Künstler, weniger zufrieden, immer noch über
neue Lösungen brütete. Der rastlose Bildner quälte sich darüber, so daß
dieses Werk wirklich ein Nagel seines Sarges wurde. Zu seinen letzten
Leistungen zählte ein Nomenbild und ein Grabdenkmal. Die drei Schicksals-
Schwestern sind in ruhender Gruppe gedacht: die »Gegenwart« in reizloser
Stellung stehend und schauend, die »Zukunft« sitzend, in die Feme aus-
lugend, das die Stime verhüllende Tuch mit beiden Händen umfassend;
die »Vergangenheit«, wohl die anmutendste Figur, schlafend hingegossen
(Nr. 3189 »Illustr. Zeitung« n. August 1904). Das letzte Werk, ein Fried-
hofsdenkmal, zeigt eine vom Haupt bis zu den Füßen verschleierte geheimnis-
volle, ein großes Kreuz mit erhobenenen Armen haltende Gestalt (der
Glaube); an den Hauptstamm klammert sich ein hingesunkener, im Todes-
kampfe ringender, die Porträtzüge des Entschlafenen tragender Jüngling.
Mit diesem nicht völlig vollendeten Standbild ist M.s ganze vielseitige
Tätigkeit charakteristisch abgeschlossen, deren Programm dahin lautete:
»Die Wahrheit steht mir am höchsten, nicht die nackte und gesuchte, sondern
die vornehm geschaute Wahrheit.«
Abgearbeitet war M., als er nach kurzer Krankheit ins frühe Grab sank,
aber noch nicht vollendet und durchgeklärt. Er hätte gewiß noch andere
Wege eingeschlagen. Sein sich Niegenugtun wetteiferte mit dem exzentrischen
Hasten und Streben Salvator Rosas, alles Herkommen zu überbieten und
neue, vordem nie behandelte Stoffe zu finden. Mit vierzig seiner Werke
war M. 1904 im Vestibül der Münchener Ausstellung im Glaspalast vertreten
— eine seltene ehrende Ovation für den Künstler, welchem durch sein
frühes Ende die letzte weit ausschauende Höhe zu erklimmen versagt
blieb.
Vgl. zu der im Text erwähnten Literatur die Artikel von F. von Ostini in »Kunst für
Alle« 15. Dezember 1900 und in Nr. 88 »Neueste Nachrichten« 18. Februar 1904. Alex
Braun »Moderne Kunst« XVIII (mit Porträt). A. G. Hartmann in Nr. 466 »Allgero. Ztg.«
12. Oktober 1904. Ettlinger in »Hochland« September 1904, S. 762, Nr. 80. Alexander
Heilmeyer in »Die Kunst unserer Zeit« 1904 (XV, 186) Hyac. Holland.
Brunner, Johann Paul, Seminar-Regens in Regensburg, ♦ 25. Januar 1846
zu St. Nikola bei Landshut, f 22. Februar 1904 zu Regensburg. — B. wurde
Brunner. Ehrensberger. X OO
1871 zum Priester geweiht und wirkte über 25 Jahre in der Seelsorge;
Pfarrer zu Obertraubling bei Regensburg. 1896 wurde er Regens des Klerikal-
Seminars zu Regensburg; bischöflicher geistlicher Rat. Wenige Tage vor.
seinem Tode erfolgte seine Ernennung zum Domkapitular. — B. redigierte
von 1890 bis zu seinem Tode (40. — 54. Jahrg.) die praktisch-theologische
Monatsschrift: »Der Prediger und Katechet«.
Vgl. »Augsburger Postzeitung« 1904, Nr. 44 v. 24. Febr. F. Lauchert.
Ehrensberger, Hugo, Gymnasialprofessor in Bruchsal, Historiker, * 2 1 . Sep-
tember 1841 zu Engen im Hegau, f 24. Februar 1904 zu Bruchsal. — E. besuchte
die Gymnasien zu Konstanz und Freiburg i. Br., studierte dann Theologie
und Philologie in Freiburg und wurde 1865 zum Priester geweiht. Hierauf
wurde er zunächst Vikar zu Haslasch im Kinzigtal, 1868 Pfarrverweser zu
Möggingen (Amt Konstanz). Im Dezember 1869 erbat er sich Urlaub zur
Fortsetzung seiner philologischen Studien, bestand 1871 das philologische
Staatsexamen und wurde er als Gymnasiallehrer in Rastatt angestellt, 1875
zum Professor ernannt; 1879 Professor am Gymnasium in Offenburg,
i88i in Tauberbischofsheim, 1894 in Bruchsal. 1871 wurde er von der theo-
logischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. zum Dr. theoL promoviert;
1891 — 1893 zu einer Studienreise nach Rom beurlaubt; 1897 päpstlicher
Geheimkämmerer; 1898 wurde ihm vom Großherzog von Baden das Ritter-
kreuz I. Klasse des Ordens vom Zähringer Löwen verliehen. — E.s wissen-
schaftliche Hauptwerke, an denen, wie an allen seinen Arbeiten, die große
Sorgfalt und Zuverlässigkeit allgemein anerkannt wurde, sind die Beschreibungen
der liturgischen Handschriften der Hof- und Landesbibliothek zu Karlsruhe
und der vatikanischen Bibliothek: ^Bibliotheca Itturgica manuscripta). Nach
Handschriften der grofiherzoglich badischen Hof- und Landesbibliothek. Mit
einem Vorwort von Wilh. Brambach« (Karlsruhe 1889); ^Libri liturgici
BibliothecM Apostolicae Vaticanae manuscripth (Freiburg i. Br. 1897). Daneben
machte er sich besonders um die badische Landesgeschichte verdient. 1887
übernahm er für die Badische Historische Kommission die Pflegschaft im
Amtsbezirk Tauberbischofsheim und verzeichnete für dieselbe die Archivalien
des Bezirks; seit 1895 war er zugleich Pfleger des Amtsbezirks Bruchsal, und
1903 leistete er noch Aushilfe für den Amtsbezirk Sinsheim. Die von ihm
bearbeiteten Verzeichnisse und Beschreibungen von Archivalien sind gedruckt
in den »Mitteilungen der Badischen Historischen Kommission« Nr. 12, 13, 20.
An dem 4. Bande der »Kunstdenkmäler des Großherzogtums Baden«, Kreis
Mosbach, 2. und 3. Abteilung (1898 und 1901), bearbeitet von Oechelhäuser,
wirkte er mit durch Bearbeitung der lokalgeschichtlichen Nachweise. Im
»Freiburger Diözesan-Archiv« erschienen seine Arbeiten: »Beiträge zur Ge-
schichte der Abtei Gengenbach« (20. Bd. 1889, S. 257 — 275); »Zur Geschichte
der Benefizien in Bischofsheim a. T.« (23. Bd. 1893, S. 121 — 214); »Zur Ge-
schichte der Türkensteuer, insbesondere in Franken, und das Subsid'tum
charUatwum des Kapitels Taubergau« (N. F. i. Bd. [28. Bd.] 1900, S. 396 bis
433); »Zur Geschichte der Landkapitel Buchen und Mergentheim (Lauda)«
(N. F. 3. Bd. [30. Bd.] 1902, S. 325 — 371; N. F. 4. Bd. [31. Bd.] 1903, S. 322
bis 357). Um die katholische Presse Badens machte E. sich verdient als
200 Ehrensberger. Dietrich. Hoflfmann.
Mitbegründer des »Tauberboten» und besonders als Begründer und lang-
jähriger Redakteur des »St. Liobablattes«.
Vgl. »Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins«, N. F. 19. Bd. (58. Bd.), 1904,
m 33 — m 36 (v. Weech). — »Freiburgcr Diözesan-Archiv«, N. F. 5. Bd. (32. Bd.), 1904,
S. 437— 440 (Jul- Mayer). F. Laudiert.
Dietrich, Anton, Maler, Professor, ♦27. Mai 1833 in Meißen, f 4- August
1904 in Leipzig. — Als Schüler von Bendemann und Julius Schnorr von
Carolsfeld an der Kunstakademie in Dresden blieb D. zeitlebens der alten
historischen Richtung in seiner Kunst treu. Er lebte einige Jahre in Düssel-
dorf und darauf acht Jahre in Italien und ließ sich 1868 in Dresden nieder.
Später wurde er als Professor an die Kunstakademie in Leipzig berufen.
Seine Hauptwerke sind große Freskenzyklen historischen und lehrhaften Inhalts.
In der Aula der Kreuzschule in Dresden malte er eine Reihe von Wand-
bildern, die in historischer Folge die bedeutendsten Vertreter der sittlichen
und geistigen Bildung vorführen, Sokrates, Curtius, Luther usw. Die Fresken
in der Aula der Technischen Hochschule in Dresden stellen die Taten des
Prometheus als Sinnbild des schöpferischen Menschengeistes dar. Femer
stammen von ihm mehrere Wandbilder in der Albrechtsburg bei Meißen, die
Fresken in der Aula des Johanneums in Zittau mit dem Hauptbilde »Paulus
predigt in Athen«, in Wachsfarben ausgeführt, das Altarbild in der Dres-
dener Kreuzkirche, sowie der Entwurf für das Giebelfeld des Finanzministe-
riums in Dresden, »Saxonia als Schützerin von Technik, Bergbau, Landwirt-
schaft und Industrie«.
Kunstchronik XV. — Kunst für Alle XIX. — Boetticher, Malerwerke des 19. Jahr-
hunderts. 1895 — 1901. — Chronique des Arts et de la Curiosiü, 1^04.
Hugo Schmerber.
Hoff mann, Joseph, Maler, * 22. Juli 1831 in Wien, f 31. Januar 1904 in
Wien. — Mit H.s Tode hat ein in künstlerischer und mehr noch in rein
menschlicher Beziehung höchst originelles Leben seinen Abschluß gefunden.
Am bekanntesten wurde sein Name durch seine weltumspannenden Reisen,
von denen er tausende von Studien und Skizzen heimbrachte, interessant
als geographische, ethnographische, kulturgeschichtliche Dokumente ; er suchte
in seinen naturgetreuen Darstellungen der klassischen Landschaften den Geist
der Antike festzuhalten und zu gleicher Zeit entstanden unter seiner Hand
phantastische Dekorationen zu romantischen Opern. Schon im Anfang ge-
staltete sich sein Lebenslauf ungewöhnlich. Als Sohn eines Schlossers setzte
er mit Mühe den Wunsch durch, an die Kunstakademie zu kommen und
schon im fünfzehnten Jahre veröffentlichte er eine Sammlung von lithogra-
phierten Naturstudien aus dem Prater. Im Jahre 1848 mußte er infolge seiner
Teilnahme an der akademischen Legion fliehen und ging nach Serbien, wo
er sich mit Zimmermalerei fortbrachte und daneben Landschaften malte.
Nach seiner Rückkehr wurde er in Wien durch mehrere Jahre ein Schüler
Rahls, begann aber schon um diese Zeit die weiten Reisen zu unternehmen,
die später seine Spezialität werden sollten. Nach Aufenthalten in Tirol und
Oberitalien ging er 1857 nach Griechenland, wo sich seine Hauptneigung für
HolTmann. 201
die klassische Landschaft festigte, und von 1858 an war er sechs Jahre lang
in Rom tätig. Hier entstanden mehrere Bilder nach griechischen Skizzen und
italienische Studien, z. B. »Die Reste des Venusheiligtums an der Straße nach
Eleusis« und die »altgriechische Landschaft mit dem Grabe Anakreons (1865)«,
beide jetzt in der Galerie der Wiener Akademie befindlich, sowie die Bilder
»Athen zur Zeit des Perikles« (Besitzer Baron Sina), »Küste von Salamis« u.a.m.
Als H. 1864 nach Wien zurückkehrte, wartete seiner eine neue Tätigkeit,
indem er an der im Bau begriffenen Hofoper zum Vorstand des Ausstattungs-
wesens ernannt werden sollte; er nahm die Stelle zwar nicht an, malte aber
mehrere Dekorationen zu den Opern »Zauberflöte«, »Romeo und Julie«,
»Freischütz«. Eine grofie Aufgabe eröfhiete sich dem Künstler in dieser
Richtung, als ihm Richard Wagner die Dekorationen für den Ring der Nibe-
lungen in Bayreuth übertrug. Es entstand aus diesem Auftrag aber eine
unerquickliche Intriguengeschichte, die ungünstig für H. endete; die Skizzen
und Farbenentwürfe, die er 1874 vollendet hatte, wurden von anderen benützt
und kamen nicht durch ihn selbst zur Ausführung. In der Wiener Hofoper
gelangte die Dekoration zur Walküre zur Verwendung. Seinen Wiener Auf-
enthalt unterbrach der Künstler fortwährend durch Reisen, die sich mit der
Zeit immer weiter erstreckten, er kam durch ganz Europa, nach Nordafrika,
China, Japan, Indien, Nordamerika, Ceylon, Java usw. Stets brachte er eine
Unzahl von Studien und Skizzen heim, es wurden mehr als 10.000. Um sie
öffentlich vorführen zu können, baute er sich in Wien eine eigene Aus-
stellungshalle, wo er Vorträge hielt und die Skizzen serienweise nach Ländern
geordnet ausstellte. Zwischen den Reisen entstand eine Reihe von zyklischen
Werken großen Umfangs. Für das Naturhistorische Hofmuseum malte er acht
Wandbilder, welche die geologischen Bildungsepochen der Erde charak-
terisieren, femer im Wiener Kursalon vier Landschaften, sowie acht Zonen-
bilder im Palais Epstein am Burgring, 1871 beendet, mit Ansichten von
Athen, Corfu, Capri, Rom u. a. Originelle Wandbilder schuf er im Garten-
saale des Schlosses Hömstein für den Erzherzog Leopold, eine Darstellung
von Jagdabenteuern, die über Wände und Türen hinweg gemalt ist, außerdem
auch landschaftliche Fresken daselbst. Für den Baron Sina, der einen großen
Teil seiner griechischen Skizzen erwarb, malte er 1876 einen Zyklus von fünf
Bildern aus dem alten Athen, die oft in Reproduktion zu sehen sind. Drei
andere Landschaftsfresken heißen: »Drama, Idylle und Tragödie«. Das Kunst-
historische Museum in Wien besitzt von H. ein Aquarell, »Das Mädchen aus
der Fremde«, welches für das Kronprinz Rudolf- Album gemalt wurde.
Nach seinem Tode erregten die Verfügungen des Künstlers einige Auf-
merksamkeit, denen zufolge sein Besitztum in der Schweiz am Vierwald-
stättersee, »Zwing-Uri« genannt, als Vermächtnis an die Allgemeine deutsche
Kunstgenossenschaft fallen sollte, sowie die gesamten Reiseskizzen an die
Gemeinde Wien unter der Bedingung, daß ein eigenes Museum dafür bestehen
müßte. Die letztere Anordnung wurde nicht erfüllt.
Kunstchronik XV. — Kunst für Alle XIX. — L. Eisenberg, Das geistige Wien.
1893. — Neue Freie Presse, i. Februar 1904. — Boetticher, Malerwerke des 19. Jahr-
hunderts 1895 — 1901. — Hevesi, Österreiche Kunst im 19. Jahrhundert. 1903. — Chronique
da Aris et de la Curiosiü, 1^04^
Hugo Schmerber.
202 Aldenkirchen, Keller. Silbemagl.
Aldenkirchen, Joseph, Domkapitular in Trier, Kunsthistoriker, * 6. Januar
1844 zu Bonn, f iri der Nacht vom 4. zum 5. März 1904 zu Trier. — A. be-
suchte das Gymnasium zu Bonn, studierte dann an der dortigen Universität,
sowie in Tübingen und Münster Theologie und empfing i868 in Köln die
Priesterweihe. Er wirkte dann 24 Jahre in Viersen als Pfarrkapitular und
Deservitor der Hospitalkirche, später auch als Rektor des katholischen
Waisenhauses und städtischer Schulinspektor. 1892 wurde er Domvikar in
Trier. A. war als feinsinniger Kenner und Förderer der christlichen Kunst
bekannt, auf diesem Gebiete auch literarisch tätig. Besonders zu erwähnen
ist die Schrift: »Die mittelalterliche Kunst in Soest. Ein Beitrag zur
rheinisch-westfälischen Kunstgeschichte« (Festprogramm zu Winckelmanns
Geburtstage, Bonn 1875); von seinen Beiträgen zu den Jahrbüchern des
Vereins von Altertumsfreunden im Rheinlande die größeren Arbeiten: »Drei
liturgische Schüsseln des Mittelalters« (75. Heft, 1883, S. 54 — 78; auch separat,
Bonn 1883), und »Früh-mittelalterliche Leinen-Stickereien« (79. Heft 1885,
S. 256 — 272; auch separat, Bonn 1885).
Vgl. »Kölnische Volkszeitung« 1904, Nr. 191 v. 5. März; Nr. 197 v. 7. März. —
»Literar. Handweiser« 1904, Nr. i, Sp. 40. F. Lau eher t.
Keller, Pius, O. S. Aug.^ Prior in Münnerstadt und früherer Provinzial,
* 30. September 1825 zu Bailingshausen in Unterfranken, f i5- März 1904
zu Münnerstadt. — K. besuchte das Gymnasium zu Münnerstadt, studierte
Theologie und Philologie zu Würzburg, machte das philologische Staats-
examen und wurde 1849 ^^™ Priester geweiht. Noch in demselben Jahre
trat er als Novize in das Augustinerkloster zu Münnerstadt ein, wo er 1850
Profeß ablegte. Hierauf war er eine lange Reihe von Jahren, 1850 — 1865
und 1870 — 1896, als Professor am k. Gymnasium zu Münnerstadt tätig. Zu-
gleich bekleidete er wichtige Ämter im Orden; öfter war er Prior im Kloster
zu Münnerstadt, zum erstenmal schon 1850 gewählt; 1859 — 1895 General-
Kommissär des Ordens in Bayern; 1895 — 1902 erster Provinzial der neu er-
richteten deutschen Augustiner-Ordensprovinz; als ihn 1902 die zunehmende
Körperschwäche bei dem hohen Alter nötigte, auf dieses Amt zu resignieren,
übernahm er nochmals die Leitung des Münnerstädter Klosters bis zu seinem
Tode. — K. schrieb: ^ Index Episcoporum Ordtnis Er^m. S. Augustini Germanorum<t
(Programm der k. Studienanstalt zu Münnerstadt 1875/76). Die 2. Auflage
des Kirchenlexikons von Wetzer und Weite enthält von seiner Hand eine
Anzahl von Artikeln zur Gelehrtengeschichte und Hagiographie des Augustiner-
Ordens.
Vgl. »Maria vom guten Rat« (Fortsetzung der »Stimmen vom Berge Kännel«), 14. Jahrg.
*905i 8. Heft. S. 218 — 221. — »Augsburger Postzeitung« 1899, Nr. 82 v. 11. April; 1904,
Nr. 64 V. 18. März. F. Lauchert.
Silbemagl, Isidor, Professor des Kirchenrechts in München, * 12. Oktober
183 1 zu Landshut, f 6. April 1904 zu München. — S. machte seine Gym-
nasialstudien in Landshut, studierte dann 1849 — 1853 Theologie in München,
wo besonders Döllinger und der Kanonist Permaneder die Richtung seiner
Studien beeinflußten, trat 1853 in das Klerikalseminar zu Freising ein und
wurde daselbst 1854 zum Priester geweiht. Hierauf war er mehrere Jahre
Silbemag^l. 203
in verschiedenen Stellungen in der Seelsorge tätig, während welcher Zeit er
von der philosophischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. 1856 zum
Dr. phil. promoviert wurde, auf Grund der Dissertation: »Albrecht IV., der
Weise, Herzog von Bayern, und seine Regierung (München 1857)«. Da ihn
seine ganze Veranlagung weniger zu historischen Studien hinzog, widmete
er sich von da an vorzugsweise kirchenrechtlichen Studien und wurde 1860
in München Dr, theoL mit der Dissertation: »Die Eides-Entbindung nach
dem kanonischen Rechte« (München 1860). Mit der Schrift: »Das Eherecht
nach den Gesetzen der griechischen Kirche« (München 1862) habilitierte er
sich 1862 an der theologischen Fakultät der Universität München als Privat-
dozent für Kirchenrecht. Nachdem noch in demselben Jahre der Ordinarius
dieses Faches, Permaneder, gestorben war, wurde S. 1863 zum außerordentlichen
Professor für Kirchenrecht ernannt. 1870 wurde er ordentlicher Professor
dieses Faches. Seit 1865 war er auch mit Abhaltung von Vorlesungen über
die bayerischen Volksschulgesetze betraut. 1872 wurde ihm, zum Ersatz für
Döllinger, zum Kirchenrecht auch die Kirchengeschichte als Nominalfach
übertragen, bis i886 die Professur der Kirchengeschichte wieder mit einem
eigenen Vertreter (Alois Knöpfler) besetzt wurde. Seit 1887 hielt er auch
Vorlesungen über den Buddhismus, mit apologetischer Tendenz, und öfter
auch solche über die Kirchengescbichte des 19. Jahrhunderts. S. war ein
hervorragender, anregender und beliebter akademischer Lehrer. — Von seinen
nach den bereits erwähnten Dissertationen erschienenen Arbeiten sind zu-
nächst die kirchen rechtlichen Hauptwerke zu nennen: »Verfassung und gegen-
wärtiger Bestand sämtlicher Kirchen des Orients« (Landshut 1865; 2. Aufl.
nach seinem Tode herausgegeben von J. Schnitzer, Regensburg 1904); »Ver-
fassung und Verwaltung sämtlicher Religionsgenossenschaften in Bayern. Nach
den gegenwärtigen Gesetzen und Verordnungen dargestellt« (Landshut 1870;
2. Aufl. Regensburg 1883; 3. Aufl. 1892; 4. Aufl. 1900); »Lehrbuch des
katholischen Kirchenrechts zugleich mit Rücksicht auf das im jetzigen
Deutschen Reiche geltende Staatskirchenrecht« (Regensburg 1880; 2. Aufl.
1890; 3. Aufl. 1895; 4. Aufl. 1903). Diese Werke zeichnen sich aus durch
praktische Brauchbarkeit, durch die genaue Darstellung des geltenden Rechts,
während S. auf die geschichtliche Entwicklung weniger Gewicht legte.
Vorher hatte er die 4. Auflage von Permaneders »Handbuch des gemein-
gültigen katholischen Kirchenrechts« herausgegeben (Landshut 1865). Für
Döllingers »Beiträge zur politischen, kirchlichen und Kulturgeschichte der
letzten sechs Jahrhunderte« Bd. IL (Regensburg 1863) verfaßte er den
Kommentar zu den dort veröffentlichten »Römischen Annaten-Taxrollen aus
dem 15. Jahrhundert« (S. i — 276). Noch immer wertvoll ist auch seine
Monographie: »Johannes Trithemius« (Landshut 1868; 2. Aufl. Regensburg 1885).
Aus seinen Vorlesungen über den Buddhismus ging die Schrift hervor: »Der
Buddhismus nach seiner Entstehung, Fortbildung und Verbreitung. Eine
kulturhistorische Studie« (München 1891 ; 2. Aufl. 1903). Sein letztes größeres
Werk: »Die kirchenpolitischen und religiösen Zustände im 19. Jahrhundert«
(Landshut 1901), nach seinen Vorlesungen über die Kirchengeschichte des
19. Jahrhunderts zusammengestellt, zeigt in seiner stark subjektiven Fassung
nur, daß S. zum Historiker seiner Zeit nicht berufen war und läßt vielfach
die Mißstimmung zum Ausbruch kommen, die in ihm seit der Zeit des
204 Silbemagl. von Montbach. Schlumprecht.
vatikanischen Konzils zurückgeblieben war. Von kleineren Arbeiten sind
noch zu nennen: »Die Aufsicht über die Volksschulen in Bayern. Ein Beitrag
zum Kulturkampf« (München 1876); »Wilhelms v. Ockam Ansichten über
Kirche und Staat« (Histor. Jahrbuch, 7. Bd. 1886, S. 423 — 433); »Zur vier-
hundertjährigen Geburtstagsfeier des Dr. Johann Eck« (Histor.-polit. Blätter,
98. Bd. 1886, S. 747 — 761); »Die geheimen politischen Verbindungen der
Deutschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« (Histor. Jahrbuch,
14. Bd. 1893, S. 775 — 813); »Zum hundertjährigen Todestag des Dr. Benedikt
Stattler« (Beilage zur Augsburger Postzeitung 1897, Nr. 47 und 48). Kleinere
Artikel kirchenrechtlichen Inhalts im »Archiv für katholisches Kirchenrecht«
Bd. 44, 1880; 47, 1882; 56, 1886; 57, 1887; 59, 1888; 60, 1888; 70, 1893;
77, 1897. Beiträge zur 2. Auflage von Stadlers Heiligenlexikon.
Vgl. J. Schnitzer im Vorwort der 2. Aufl. von Silbemagl, Verfassung und gegen-
wärtiger Bestand sämtl. Kirchen des Orients (Regensburg 1904), S. III. — XIV. — »Augs-
burger Postzeitung« 1904, Nr. 77 v. 7. April. F. Lauchert.
Montbach, Mortimer von, Domkapitular in Breslau, * 13. Januar 1828
zu Breslau, f daselbst 7. Juni 1904. — M. wurde nach Vollendung seiner
Studien 185 1 Priester, Dr, jur. et theol., 1853 Sekretär des Fürstbischofs
Förster von Breslau, 1858 Domkapitular; er starb als Canonicus senior des
Domkapitels, apostolischer Protonotar und päpstlicher Hausprälat. — M. über-
setzte aus dem Italienischen: Baldeschi, »Ausführliche Darstellung des römi-
schen Ritus« (Regensburg 1856); Bolgeni, »Untersuchungen über den Besitz als
Fundamentalprinzip für Entscheidung von Fällen aus dem Gebiete der Moral«
(Regensburg 1857), und verschiedene Erbauungsbücher. Femer gab er heraus:
t> Statuta synodalia s. Ecclesiae Gratis iaviensis<>^; Bzovius, -»Tutelaris SiUsiae seu
de vita rebusque praeclare gestis Beati Ceslai Odrovansii^ Ordinis Praedicatorum,
cammentarius<*^ (Breslau 1862), und schrieb selbst ein kleines »Leben des
seligen Ceslaus« (Regensburg 1862) und viele Artikel historischen und theo-
logischen, besonders liturgischen Inhalts im »Schlesischen Kirchenblatt« und
»Schlesischen Pastoralblatt«.
Vgl, »Literar. Handweiser« 1904, Nr. 12, Sp. 580. F. Lauchert.
Schlumprecht, Rupert, ausgezeichneter Xylograph, * 24. März 1854 in
München, f 7. August 1904 ebendas., besuchte die Volks- und Kreisgewerk-
schule, widmete sich, nachdem er in einer Privatanstalt Zeichnungs-Unter-
richt erhalten hatte, der Holzschneidekunst unter der Leitung von Hans
Wolf (z. Z. Professor an der Kunstgewerbeschule zu München), ging nach
vierjähriger Lehrzeit im Zeichner- und Faksimile-Schnitt zu Kaspar Oertel nach
Leipzig, wo er Gelegenheit hatte, prächtige Xylographien nach Schnorr,
Führich und Preller (Odyssee-Landschaften) auszuführen. Nach zweijähriger
Arbeit rief ihn die Militärpflicht in die Heimat zurück, nach deren Ableistung
Seh. in das Atelier von Wilhelm Hecht (z. Z. k. k. Professor in Wien) eintrat.
Hier lieferte er viele Blätter zu Liezen - Mayers »Faust« und »Glocke« für
Ströfers Verlag und Fr. Schwörers »Teil« (bei Bruckmann). Von 1879 ^^^
1880 arbeitete Seh. bei Adolf Cloß in Stuttgart für die von Spemann,
Gebrüder Kröner, Engelhorn herausgegebenen Prachtwerke. Seit 1880 aber-
mals in München, wurde Seh. 1881 ständiger Mitarbeiter von Braun und
Schlumprecht. Brausewetter. Voche^er. 205
Schneiders weltbekannten »Fliegenden Blättern«, wo Seh. vollauf Gelegenheit
hatte, sein virtuoses Können ganz zu entwickeln. Für diese Firma schuf unser
Künstler eine Reihe von meisterlichen, in freier, rein malerischer Wirkung behan-
delten Blättern nach Hermann Vogel von Plauen, L. M. Marold, A, B. Wenzell,
Fr. Wähle, Ren^ Reinicke, Fr. Stahl, Franz Simm u. a. mit dem treuesten
feinsten Verständnis und völliger Wiedergabe ihrer charakteristischen Vor-
tragsweise, ihrer ganzen »Handschrift«. Leistungen dieser Art erschienen auf
den Münchener Kunstausstellungen 1901 — 1904, wo sie mit der goldenen
Medaille ausgezeichnet wurden. Leider unterbrach ein schweres Nervenleiden
seine Tätigkeit öfters, bis ein Gehirnschlag zu Geitau am Fuße des Wendel-
steins ihn nach längerem Siechtum von seinen Qualen erlöste.
Sein Bruder und Schüler Heinrich Seh. (* 4. Januar 1859) trat mit
gleicher Genialität in dieselbe artistische Richtung der neuesten Xylographie.
Hyac. Holland.
Brausewetter, Otto, Maler, Professor, •11. September 1835 zu Saalfeld
in Ostpreußen, f 8. August 1904 in Berlin. — B. besuchte die Akademie
zu Königsberg, lebte einige Zeit in Frankfurt a. M. und in München und
ging dann nach Berlin, wo er in den achtziger Jahren Lehrer an der
Kunstakademie als Nachfolger Ed. Hübners wurde. Er malte fast ausschließ-
lich historische und Genrebilder, die innerhalb der konventionellen Schablone
seiner Zeit immerhin einen guten Rang einnehmen. Das Stadtmuseum in
Danzig besitzt mehrere Bilder von ihm, u. a. »Dem König Richard IIL
erscheinen die Geister der gemordeten Söhne Eduards« (1860). Zu den be-
kanntesten seiner Werke gehört das Bild »Yorks Ansprache an die ostpreußi-
schen Stände 1813«, ^^ ^^^ ^^^ Sitzungssaal des ostpreußischen Provinzial-
landtages in Königsberg gemalt wurde, sowie »Gustav Adolf in der Schlacht
bei Lützen«.
Kunstchronik XV. — Kunst für Alle XIX. — Boetticher, Malerwerke des 19. Jahr-
hunderts. 1895 — 1901. — Chronique des Aris et de la CuriosüL 1904,
Hugo Schmerber.
Vochezcr, Joseph, katholischer Pfarrer von Enkenhofen (Württemberg),
Historiker, ♦ 26. Februar 1849 zu Hauerz (Württemberg), \ \i, Juli 1904 zu
Enkenhofen. — V. studierte Theologie in Tübingen, wo er 1870 den Preis
der philosophischen, 1872 den der katholisch-theologischen Fakultät erhielt,
wurde Dr, phil. und empfing 1873 die Priesterweihe. Hierauf wurde er zu-
nächst Vikar in Christazhofen, dann in Aichstetten, 1875 Repetent am Konvikt
in Rottweil, dann Repetent am Wilhelmsstift in Tübingen. Im Sommer-
semester 1876 machte er an der Universität Berlin weitere historische Studien
und wurde hierauf drei Jahre beurlaubt, um für die im Auftrage des Fürsten
von Waldburg-Wolfegg-Waldsee übernommene Geschichte des Hauses Wald-
burg in Schwaben die vorbereitenden Arbeiten zu machen. Zu diesem Zwecke
durchforschte er von Frühjahr 1877 bis Herbst 1879 eine große Anzahl von
Archiven in Württemberg, Bayern, Baden, der Schweiz und Österreich. 1879
wurde er Kaplaneiverweser in Neuthann, 1881 Pfarrverweserin Egelfingen, 1881
Pfarrer in Schweinhausen, 1893 Pfarrer in Hofs, 1900 Pfarrer in Enkenhofen. Seit
2o6 Vocherer. Grillenberger.
1891 war er ordentliches Mitglied der württembergischen Kommission für Landes-
geschichte, deren Tätigkeit er durch eifrige Mitarbeit unterstützte. — Sein Haupt-
werk ist die »Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg in Schwaben«, von der
er zwei umfangreiche Bände erscheinen lassen konnte (Kempten 1888, 1900;
die Fortsetzung des Werkes nach den hinterlassenen Manuskripten und Vor-
arbeiten ist von Subregens Dr. Sproll in Rottenburg zu erwarten). Von
kleineren Arbeiten sind zu nennen : »Zur Geschichte des schwäbischen Städte-
bundes der Jahre 1376 — 1389« (Forschungen zur deutschen Geschichte,
15. Bd., Göttingen 1875, S. 1 — 17), die in verschiedenen Jahrgängen (i888£f)
des »Diözesan-Archivs von Schwaben« zerstreuten »Kleinen Beiträge zur
Geschichte einzelner Pfarreien«, und die Beiträge zur allgemeinen deutschen
Biographie: »Heinrich L, Bischof von Konstanz« (11. Bd., i88o, S. 509 — 511);
»Waldburg, Georg III., Truchseß v.« (40. Bd., 1896, S. 660 — 665).
Vgl. Neher, Personal-Katalog der Geistlichen des Bistums Rottenburg, 3. Aufl. (Schw.
Gmünd 1894), S. 191. F. Lauchert.
Grillenberger, Otto, O, Cist. in Wilhering (Oberösterreich), Historiker,
♦ 10. März i86i zu Schauerschlag in der Pfarre Oberneukirchen (Ober-
österreich), t 16. August 1904 im Stift Wilhering. — G. absolvierte das
Gymnasium in Freistadt, trat dann 1881 in das Zisterzienser-Stift Wilhering
als Novize ein, studierte nach Ablauf des Noviziatsjahres vier Jahre Theologie
an der theologischen Hauslehranstalt des Stifts St. Florian, legte 1885 Profefl
ab und wurde 1886 zum Priester geweiht. Hierauf wirkte er zunächst als
Kooperator an der Stiftspfarre Leonfelden im Mühl kreis, bis er 1888 in das
Stift zurückberufen wurde. Zur weiteren Ausbildung wurde er 1889 an die
Universität Wien gesandt, wo er während vier Jahren besonders historische
Studien machte und 1893 zum Dr. phil, promoviert wurde. Nach seiner
Rückkehr in das Stift mit historischen Forschungen beschäftigt, war er seit
1896 auch an der Privatlehranstalt des Stifts tätig; 1897 wurde er auch
Generalvikariatssekretär der österreichisch-ungarischen Zisterzienserprovinz,
1900 Bibliothekar und Archivar des Stifts. — G. war ein rastlos tätiger,
gründlicher Geschichtsforscher und ein sehr tüchtiger Philologe. Durch eine
große Zahl von Arbeiten hat er sich in seinem leider so kurzen Leben
bleibende Verdienste insbesondere um die Geschichte seines Ordens und
speziell des Stiftes Wilhering erworben. Nach einigen vorausgehenden kleineren
Arbeiten war er ein tätiger Mitarbeiter Janauscheks bei der Herausgabe von
S. Bemardi Sermanes de tempore (= Kenia Bemardina I, i, Wien 1891). Für den
2. Teil der Kenia Bemardina lieferte er das beschreibende Verzeichnis der
Handschriften der Stiftsbibliothek zu Wilhering (II, 2, S. i — 114), für den
3. Teil: »Quellen zur Geschichte des Stiftes Wilhering« (III, S. 191 — 210).
Demnächst erschien seine Übersetzung: »Ein Buch von der Liebe Gottes.
Vom hl. Bernhard von Clairvaux« (Paderborn 1892); dann sein Hauptwerk:
»Die ältesten Totenbücher des Zisterzienser-Stiftes Wilhering in Österreich
ob der Enns« (Graz 1896; = Quellen und Forschungen zur Geschichte,
Sprache und Literatur Österreichs und seiner Kronländer, Bd. 11). Es folgten
die weiteren Arbeiten (mit Übergehung der kleineren): »Das älteste Urbar
des Zisterzienserstiftes Wilhering« (54. Jahresbericht des Museums Francisco-
Carolinum in Linz, 1896, S. 121 — 174); »Beiträge zur Geschichte der Pfarre
Grillenberger. Flock. 207
Theras. Aus P. Bernhard Söllingers Nachlaß« (Geschichtliche Beilagen zu
dem St. Pöltner Diözesanblatt, VI, 1896, S. i — 109); »Zur Pflege der Briel-
steller- und Formularbücher-Literatur im Zisterzienserorden« (Mitteilungen
der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte, 8. Jahrg.
1898, S. 97 — 126); »Das Wilheringer Formelbuch« (Studien und Mit-
teilungen aus dem Benediktiner-Orden, 19. — 21. Jahrg., (1898 — 1900); »Die
Anfänge des Zisterzienser-Stiftes Wilhering in Österreich ob der £nns«
(Studien und Mitteilungen, 24. Jahrg. 1903, S. 92 — 99, 303 — 321, 652 — 659);
»P. Cölestin Weinbergers Compendium chronologicum de ortu et progressu
monasterii B, M. V, de Cella Angelomm vulgo Engelszell ord. Ost in Austria
Superiore ex chartario et chromeis mss. dicti monasterii^ (Archiv für die Ge-
schichte der Diözese Linz, i. Jahrg. 1904, S. 14^45); »Beiträge zur inneren
Geschichte des Zisterzienserordens im 17. Jahrhundert« (Studien und Mit-
teilungen, 25. Jahrg. 1904, S. 465 — 480, 711 — 717). »Kleinere Quellen und
Forschungen zur Geschichte des Zisterzienserordens« waren in den Jahr-
gängen 1891, 1892, 1895 — 1897 der Studien und Mitteilungen erschienen,
andere kleine Beiträge in dieser und anderen Zeitschriften. Nach dem Tode
des Ordenshistorikers Dr. P. Leopold Janauschek (f 23. Juli 1898; vgl. über
ihn meinen Artikel in der Allgemeinen deutschen Biographie, 50. Bd.,
S. 629!.) übernahm G. die Riesenarbeit, aus dem von diesem gesammelten
gewaltigen Material den 2. Band der T^Origines Cistercienses^ zu bearbeiten;
leider sollte es ihm nicht mehr vergönnt sein, über die vorbereitenden
Arbeiten hinauszukommen. Als eine Frucht dieser mühevollen Forschungs-
arbeit konnte er nur noch seine letzte Schrift erscheinen lassen: »Die Catalogi
abbcUiarum ordinis Cisterciensis. Nachträge zu Dr. L. Janauscheks Originum
Cisterciensium tomus /. 1. Die Gruppe B i und P« (Wien 1904; auch als
Beilage zum Jahresbericht des Privat-Untergymnasiums des Stiftes Wilhering
für das Schuljahr 1903/04). Von früheren Arbeiten seien noch genannt seine
»Studien zur Philosophie der patristischen Zeit. i. Der Oktavius des
M. Minucius Felix, keine heidnisch -philosophische Auffassung des Christen-
tums« (Commers Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie, 3. Jahrg.
1888, S. 102 — 128, 145 — 162, 259 — 270); »2. Die Unsterblichkeitslehre des
Amobius« (ebd. 5. Jahrg. 1890, S. i — 15), und die philologischen Arbeiten:
»Praxitas' Kämpfe um die Schenkelmauern Korinths« (Zeitschrift für die
österreichischen Gymnasien, 39. Jahrg. i888, S. 193 — 212) und »Polykrates
und Xenophon« (ebd. 41. Jahrg. 1890, S. i — 16).
Vgl. »Studien trnd Mitteilungen aus dem Benediktiner- und dem Zisterzienser-Orden«,
25. Jahrg. 1904, S. 905 — 908 (F. Justin Wöhrer). — Zisterzienser-Chronik, 16. Jahrg. 1904,
S. 350— 352. F. Lauchert.
Flöcky Joseph, S, y., Prokurator am Collegium Germanicum in Rom,
• 31. Januar 1845 zu Koblenz, f 23. September 1904 zu Rom. — F. ab-
solvierte das Gymnasium in Koblenz, begann die theologischen Studien im
Seminar zu Trier und trat dann 1864 in die Gesellschaft Jesu ein. Nachdem
er noch fünf Semester in München und Tübingen studiert hatte, wo er sich
besonders auch in den orientalischen Sprachen ausbildete, machte er das
Noviziat in Gorheim bei Sigmaringen, studierte dann Rhetorik in Münster
und zwei Jahre Philosophie in Maria-Laach. Hierauf wirkte er erst zwei
2o8 Flock. Ribarz. Baumgartner.
Jahre im Lehramt in Feldkirch und lehrte dann Theologie in Maria-Laach,
später in Ditton Hall und in Mold in England. Seit dem Jahre 1878 bis
zu seinem Tode wirkte er am Colkgtum Germanicum in Rom, neun Jahre als
Studienpräfekt, 3^/2 Jahre als Rektor, worauf er als Prokurator die Ökonomie
des Kollegs übernahm.
Vgl. »Kölnische Volkszeitung« 1904, Nr. 821 v. 3. Okt. F. Lauchert.
Ribarz, Rudolf, Maler, Professor, ♦ 30. Mai 1848 in Wien, f 12. November
1904 in Wien. — Als Schüler der Wiener Akademie und Professor Albert
Zimmermanns wandte sich R. vom Anfang an hauptsächlich der Landschafts-
malerei zu und früh trat auch der starke Zug seiner Begabung zum Deko-
rativen in mancherlei kunstgewerblichen Arbeiten hervor, in denen gleichfalls
die Landschaft eine Hauptrolle spielte. Die ihm zusagenden Motive fand er
während einer langen Periode in Holland, Belgien und Nordfrankreich; 1875
ging er nach Brüssel, später schloß er sich gleich seinem Freunde Jettel der
kleinen Gruppe von Österreichern an, die in Frankreich wirkten und über-
siedelte nach Paris, wo er 19 Jahre lang lebte und eine Reihe von Gemälden
in den Salons der Societe Nationale des Beaux-Arts ausstellte. Auch in Tirol
und in Venedig entstanden mehrere Bilder. Im Jahre 1892 kehrte er dauernd
nach Wien zurück und brachte seine von Manets Lichtfülle berührten Werke
bald zu allgemeiner Beliebtheit. Kurze Zeit darauf erhielt er eine Professur
an der Kunstgewerbeschule des österreichischen Museums in Wien. Wenige
Monate vor seinem Tode verfiel er in unheilbaren Irrsinn. Einige Zeit hin-
durch, während der ersten Jahre nach der Rückkehr, liebte er eine spezielle
Anordnung in seinen Landschaftsbildem, ein Mittelding zwischen realistischer
Freilichtauffassung und omamentaler Raumverteilung, die sich im Format und
in der dekorativen Wirkung auch gut für kunstgewerbliche Zwecke eignete
und für Wandschirme, Panneaux von ihm viel angewendet wurde. Den
Vordergrund bilden große Blumen und Früchte, z. B. hochstengelige Iris,
oder ein Küchengarten, durch die man in einen hellen Landschaftsausschnitt
hindurchsieht. Die moderne Galerie in Wien besitzt von ihm ein Bild
»Straße bei Deutsch-Altenburg«.
Hevesi, Österreichische Kunst im 19. Jahrhundert. 1903. — Kunstchronik. XVI. —
Kunst für Alle. XIX. XX. — Chronique des Arts et de la Curiosüc, jgo4, — Boetticher,
Malerwerke des 19. Jahrhunderts. 1895 — 1901. — Neue Freie Presse. 14. Nov. 1904.
Hugo Schmerber.
Baumgartner, Heinrich, Seminardirektor in Zug, * 24. Mai 1846 zu
Cham, Kanton Zug, f i3- Oktober 1904 zu Zug. — B. erhielt seine Gym-
nasialbildung in Zug und im Lyzeum des Benediktinerstiftes Einsiedeln,
studierte dann Theologie am Collegium Borromäum in Mailand, an der
Universität Tübingen und an der theologischen Lehranstalt zu Luzem, trat
im Herbst 1869 in das Priesterseminar zu Solothurn und wurde 1870 von
Bischof Bagnoud, Abt von St. Maurice, zum Priester geweiht. Hierauf war
er zuerst Kaplan in Steinhausen, 1871 — 1874 Gymnasiallehrer in Zug. 1874
gründete er mit seinen Freunden, den geistlichen Lehrern H. A. Keiser und
A. Meienberg, das Kollegium St. Michael in Zug, Pensionat und Realschule.
1879 wurde hauptsächlich durch B.s Bemühungen durch den schweizerischen
Baumgartner. Stengele. 200
katholischen Erziehungsverein das freie katholische Lehrerseminar daselbst
gegründet, in Verbindung mit dem Kollegium St. Michael. B. wurde
Direktor des Seminars, das er in rastlos eifriger Tätigkeit zu Ansehen und
Blüte brachte. Als Mitglied des kantonalen Erziehungsrates seit 1887, lang-
jähriger Vizepräsident desselben, kantonaler Schulinspektor und Präsident der
Lehrmittelkommission für die Volksschulen erwarb er sich große Verdienste
um das Schulwesen des Kantons. — Von seiner schriftstellerischen Tätigkeit
sind besonders die bewährten und beliebten Lehrbücher zu nennen:
»Psychologie oder Seelenlehre, mit besonderer Berücksichtigung der Schul-
praxis für Lehrer und Erzieher« (4. Aufl. Freiburg i. Br. 1899; i. Aufl.: »Leit-
faden der Seelenlehre oder Psychologie«, Zug 1884); »Pädagogik oder
Erziehungslehre, mit besonderer Berücksichtigung der psychologischen Grund-
lagen für Lehrer und Erzieher« (4. Aufl. Freiburg i. Br. 1902; i. Aufl.: »Leit-
faden der Erziehungslehre«, Zug 1885); »Unterrichtslehre, besonders für
Lehrer und die es werden wollen. Dazu als Anhang: Abriß der Denklehre«
(2. Aufl. Freiburg i. Br. 1898; i. Aufl.: »Leitfaden der Unterrichtslehre« 1890);
»Geschichte der Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung des Volksschul-
wesens. Für Lehrerseminarien und zur Fortbildung der Lehrer« (Freiburg i. Br.
1902). Femer die biographischen Schriften: »J. A. Comenius« (1892);
»J. H. Pestalozzis Leben, Wirken und Bedeutung« (1896). i886 — 1890 redi-
gierte B. die »Katholischen Seminarblätter zur Beförderung der intellektuellen
und moralischen Fortbildung katholischer Lehrer« (Zug), von November 1890
bis 1893 den »Schweizerischen Erziehungsfreund« (Gossau), 1893 mit F. Noser
und F. X. Kunz die »Pädagogische Monatsschrift. Organ des Vereins
katholischer Lehrer und Schulmänner der Schweiz« (Zug), die seit 1894, mit
dem »Erziehungsfreund« vereinigt, unter dem Titel: »Pädagogische Blätter«
(Zug) unter seiner Mitarbeit fortgesetzt wurde.
Vgl. A. Wyfi, Blätter der Erinnerang an H. Baumgartner, Seminardirektor in Zug
(1-rUzem 1904; als Separatabdruck aus dem »Vaterland«, 20. — 22. Okt. 1904). — »Augs-
burger Postzeitung« 1904, Nr. 240 v. 25. Okt. — Ein eingehenderes Lebensbild ist von
Herrn Rektor H. A. Keiser in Zug zu erwarten. F. Lau che rt.
Stengele, Benvenut, O. S. /r., Historiker, * 5. April 1842 zu Altheim
in Baden (Amt Überlingen), f ^i- November 1904 zu Würzburg. — St. trat
1869 2U Würzburg in das Noviziat der Minoriten-Konventualen, legte 1870
Profeß ab und wurde 1873 zum Priester geweiht. Er war hierauf in ver-
schiedenen Klöstern des Ordens in der Seelsorge tätig, zu Oggersheim (Pfalz),
Schönau (Unterfranken), Schwarzenberg (Mittelfranken), zuletzt nahezu 25 Jahre
in Würzburg, als Beichtvater sehr beliebt. Im Würzburger Kloster war er
auch viele Jahre lang Bibliothekar. 1902 wurde er zum Vikar des Klosters
gewählt. — St. war ein ungemein fleißiger Forscher auf dem Gebiete der
Ordensgeschichte und der kirchlichen Lokalgeschichte, sowohl für seine
engere Heimat, den badischen Linzgau, als für das bayerische Franken, dem
er in seinem Ordensleben angehörte. Eine große Menge von Arbeiten zur
kirchlichen Lokalgeschichte des Linzgaus veröffentlichte er in verschiedenen
Zeitschriften seit 1882, insbesondere im »Freiburger Diözesan-Archiv«, im
»Diözesan-Archiv von Schwaben«, im »Freiburger katholischen Kirchenblatt«
und in der Radolfzeller Zeitung »Freie Stimme«. Aus einer Anzahl von
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog:. 9. Bd. 14
2 1 o Stcngele. Kaiser.
solchen früher zerstreut gedruckten Einzelstudien ging mit entsprechenden
Ergänzungen sein erstes größeres Werk hervor: y^Ltnsgaina sacra, Beiträge
zur Geschichte der ehemaligen Klöster und Wallfahrtsorte des jetzigen Land-
kapitels Linzgau« (Überlingen 1887). Von den Einzelarbeiten können hier
nur die größeren genannt werden. Im »Freiburger Diözesan-Archiv« : »Proto-
kolle über die Inventaraufnahme der dem deutschen Orden als Entschädigung
im Jahre 1802 zugewiesenen Klöster des Linzgaues« (16. Bd. 1883, S. 136
bis 156; 18. Bd. 1886, S. 315 — 321); »Beiträge zur Chronik des P. Berard
Müller« (17. Bd. 1885, S. 292 — 298); Lokalgeschichten einer Anzahl von
Orten und Pfarreien im Linzgau, nämlich: Groflschönach (19. Bd. 1887,
S. 265 — 295, und 25. Bd. 1896, S. 267 — 290), Altheim (20. Bd. 1889, S. 219
bis 256), Oberhomberg (21. Bd. 1890, S. 285 — 302), Lippertsreuthe (22. Bd.
1892, S. 289—313), Denkingen (23. Bd. 1893, S. 287—328), Andelshofen
(24. Bd. 1895, S. 291 — 304), Frickingen (29. Bd., N. F. 2. Bd., 1901, S. 199
bis 244); »Die ehemaligen Augustiner-Nonnenklöster in der Diözese Konstanz«
(20. Bd. 1889, S. 307 — 313); »Das ehemalige Franziskaner-Minoriten-Kloster
in Villingen« (30. Bd., N. F. 3. Bd., 1902, S. 193 — 218); »Verzeichnis der
Dekane, Kammerer und Pfarrer im jetzigen Landkapitel Linzgau« (31. Bd.,
N. F. 4. Bd., 1903, S. 198 — 235; 32. Bd., N. F. 5. Bd., 1904, S. 140 — 167).
Aus dem »Diözesan-Archiv von Schwaben« sei nur genannt: »Jahresgeschichten
der Franziskanerkonventualen in Württemberg. Aus der handschriftlichen
Chronik des P. Berard Müller 1703« (6. Jahrg. 1889, Nr. 10 — 23; 7. Jahrg.
1890, Nr. I und 2). In den »Schriften des Vereins für Geschichte des Boden-
sees und seiner Umgebung« erschienen die Arbeiten: »Das ehemalige
Franziskaner-Minoriten-Kloster zu Konstanz« (18. Heft 1889, S. 91 — 99); ^
»Das ehemalige Augustiner-Kloster zu Konstanz« (21. Heft 1892, S. 183 bis
198); »Die Einquartierungen im Linzgau während der Kriegszeiten von 1792
bis 1800« (21. Heft 1892, S. 199 — 207). Für das fränkische Gebiet die Schriften:
»Geschichte des Franziskaner-Klosters Schönau« (1899); »Geschichtliches über
das Franziskaner-Minoriten-Kloster in Würzburg« (Sulzbach und Würzburg
1900), und zahlreiche lokalgeschichtliche Artikel in vielen Jahrgängen des
Sulzbacher »Kalenders für katholische Christen«.
Vgl. »Augsburger Postzeitung« 1904, Nr. 259 v. 17. Nov.; 1905, Nr. 12 v. 15. Jan.
— Das Bibliographische nach meinen eigenen Sammlungen.
F. Lauchert.
Kaiser, Pius, O. S. Fr., Guardian in Würzburg, •13. Dezember 1849 zu
Dettelbach in Unterfranken, f 14. November 1904. — K. trat im Jahre 1870
nach Vollendung der Gymnasialstudien in den Orden der Minoriten-
Konventualen, legte im folgenden Jahre Profeß ab und wurde nach Vollendung
der theologischen Studien 1874 zum Priester geweiht. In der Folge weilte
er in den Klöstern Schönau, Würzburg und Oggersheim und wurde öfter
Guardian und Vikar; zuletzt seit 1902 Guardian des Klosters zu Würzburg.
Das Hauptgewicht seiner Tätigkeit lag in der Abhaltung von Volksmissionen,
in denen er als weithin bekannter, populärer und eindrucksvoller Prediger
sehr erfolgreich wirkte.
Vgl. »Augsburger Postzeitung« 1904, Nr. 258 v. 16. Nov.; 1905, Nr. 12 v. 15. Jan.
F. Lauchert.
Jciler. 2 1 1
Jeiler, Ignatius, O, S, Fr.^ Präfekt des Colltgium S. Bonaventurae zu
Quaracchi bei Florenz, • 4. Dezember 1823 zu Havixbeck bei Münster i. W.,
f 9. Dezember 1904 zu Quaracchi. — J. besuchte 1836 — 1843 das Gymnasium
zu Münster und studierte dann zwei Jahre Philosophie und Theologie an
der Akademie daselbst. 1845 trat er zu Warendorf in das Noviziat des
Franziskaner-Ordens, legte 1846 die Ordensgelübde ab, vollendete hierauf die
theologischen Studien in Paderborn und wurde 1848 zum Priester geweiht.
Hierauf wirkte er zunächst mehrere Jahre in verschiedenen deutschen
Klöstern des Ordens. 1854 — 1861 hielt er sich in Italien auf, wo er be-
sonders scholastische Theologie studierte. Nach seiner Rückkehr nach
Deutschland lehrte er zunächst vier Jahre Philosophie im Kloster zu Düssel-
dorf; seit 1865 war er Lektor der Theologie im Kloster zu Paderborn; seit
187 1 zugleich Kustos der sächsischen Ordensprovinz. Neben dem Lehramte
war er auch als Prediger, Beichtvater und Exerzitienmeister vielfach tätig.
Im Kriege 1870/71 war er mehrere Monate als Seelsorger auf den Schlacht-
feldern in Frankreich. Schon seit 1875 an den Vorarbeiten für die von den
Franziskanern in Angriff genommene neue kritische Ausgabe der Werke des
hl. Bonaventura beteiligt, wofür er zahlreiche Bibliotheken bereiste, und nach-
dem er noch 1878 das Amt des Präses in dem Franziskaner-Konvent zu
Brunssum in der holländischen Provinz Limburg bekleidet hatte, wurde er
1879 in das neugegründete Collegiwn S. Bonaventurae zu Quaracchi (ad Claras
Aquas) berufen, das sich speziell dieser großen Aufgabe widmete. Nach dem
Tode des ersten Präfekten, des P. Fidelis a Fanna (f 12. August 1881, vgl.
dessen von J. verfaßten Nekrolog im »Literarischen Hand weiser« 1882,
Nr. 312, Sp. 289 — 292), wurde J. von den Ordensobern zum Präfekten des
Kollegiums ernannt und übernahm damit die Oberleitung der Bonaventura-
Ausgabe. Diese Riesenarbeit, seine eigentliche Lebensarbeit, die seinem Namen
ein unvergängliches Denkmal setzt, konnte er unter der Mitarbeit seiner jüngeren
Ordensbrüder glücklich zu Ende führen; in den zwanzig Jahren 1882 — 1902
erschien die Ausgabe in zehn Bänden und einem Index->Band (^Doctoris
Seraphici S. Bonaventurae S. H. E. Episcopi Cardinalis Opera omnia, edita studio
et cura Patrum Collegii a S. Bonaventura, ad plurimos Codices mss, emendata,
anecdotis aucta, prolegomenis, scholiis notisque illustrata; Ad Claras Aquas
[Quaracchii] prope Florentiam, ex typogr. Collegii S. Bonaventurae^). Seine Ver-
trautheit mit der scholastischen Theologie und Philosophie und insbesondere
mit dem hl. Bonaventura hatte J. schon vorher in einer Reihe von kleineren
Arbeiten bewiesen: »Die Lehre des hl. Bonaventura in betreff des Ontologis-
mus« (Katholik 1870, I, S. 404 — 420, 583 — 593, 655 — 686); »Zur Verständigung
über die thomistische Lehre von der praemotio physicao^ (Katholik 1873, II,
S. 129 — 149, 277 — 290; »Zu dem sechsten Zentenarium des heiligen seraphischen
Kirchenlehrers Bonaventura« (Katholik 1874, I, S. 653 — 667; II, S. 8 — 22);
»Der Ursprung und die Entwickelung der Gotteserkenntnis im Menschen.
Eine dogmatische Studie über die betreffende Lehre des hl. Bonaventura
und anderer Meister des 13. Jahrhunderts« (Katholik 1877, I, S. 113 — 147,
225 — 269, 337 — 353); »Zu der katholischen Lehre von der substantiellen Ein-
heit der menschlichen Natur« (Katholik 1878, II, S. i — 21); »Die sogenannte
Summa de virtutibus des Alexander von Haies« (Katholik 1879, I, S. 38 — 54).
Dazu kam später noch die Schrift: »5. Bonaventurae principia de concursu Dei
14*
212 Jeiler. Stttbel.
generali ad actiones causarum secundarum collecta et S. Thamai doctrina canfirmata^
(Ad Claras Aquas 1897). Von seiner sonstigen schriftstellerischen Tätigkeit
sind hervorzuheben die beiden Biographien: »Leben der ehrwürdigen [seit
der 5. Aufl.: der seligen] Klosterfrau Maria Crescentia Höfi von Kaufbeuren
aus dem dritten Orden des hl. Franziskus, nach den Akten ihrer Seligsprechung
und anderen zuverlässigen Quellen bearbeitet (Dülmen 1874; 5. Aufl. 1900;
6. Aufl. 1901) und: »Die selige Mutter Franziska Schervier, Stifterin der
Genossenschaft der Armenschwestern vom hl. Franziskus, dargestellt in ihrem
Leben und Wirken« (Freiburg i. Br. 1893; 2. Aufl. 1897); femer das aus
dem Italienischen des P. Anton Maria da Vicenza übersezte Werk: »Der
hl. Bonaventura aus dem Orden des hl. Franziskus, Bischof, Kardinal und
Kirchenlehrer in seinem Leben und Wirken dargestellt« (Paderborn 1874),
und aus der Zahl seiner asketischen Schriften das in vielen Auflagen (Waren-
dorf 1865 und öfter und Dülmen) gedruckte »Normalbuch für die Brüder
und Schwestern des dritten Ordens des hl. Franziskus«. Aus der Zahl seiner
über 60 Beiträge zur 2. Aufl. des Kirchenlexikons von Wetzer und Weite
(besonders zur Geschichte seines Ordens, darunter viele kleinere biographische
Artikel zur Gelehrtengeschichte desselben; einiges auch zur Dogmatik und
Asketik) sind als größere Arbeiten besonders zu nennen: Bonaventura, der hl.
(II, 1017 — 1027); Franziskanerorden (IV, 1650 — 1683); Franz von Assisi, der hl.
(IV, 1799 — 1815); Fraticellen (IV, 1926 — 1936); Observanten (IX, 632 — 640);
Portiuncula (X, 194 — 203); Spiritualen (XI, 635 — 645).
Vgl. M. Grabxnann, P. Ignatus Jeiler und die neue Bonaventura- Ausgabe; »Literar.
Beilage der Kölnischen Volkszeitung« 1905, Nr. 3, Sp. 11 — 13. — »Kölnische Volks-
zeitung« 1903, Nr. 1017 V. 4. Dez.; 1904, Nr. 1032 v. 13. Dez. — »Literar. Handweiser«
1905, Nr. 5, Sp. 176 (Httlskamp). — £. Raßmann, Nachrichten von dem Leben und den
Schriften Mtinsterländi scher Schriftsteller. Neue Folge (Münster 1881), S. iiof.
F. Lauchert.
Stübel, Moritz Alfons, wissenschaftlicher Reisender und Vulkanforscher,
• 26. Juli 1835 in Leipzig, f 10. November 1904 in Dresden. St. war der
Sohn eines Rechtsanwalts und Stadtrats und stammte aus einer begüterten
Gelehrtenfamilie. Da beide Eltern frühzeitig starben, entwickelte sich schon
in der Jugend eine große Selbständigkeit seines Charakters. Er besuchte
keine öffentliche Schule, sondern wurde im Hause eines Verwandten in
Dresden durch Privatlehrer unterrichtet. 1854 bezog er die Universität seiner
Vaterstadt, um Naturwissenschaften zu studieren. Bei Otto Erdmann hörte
er Chemie, bei Karl Friedrich Naumann Mineralogie und Geologie. Daneben
arbeitete er eifrig im Laboratorium. Aber sein schwacher Körper war den
Anstrengungen des intensiven Studiums nicht gewachsen. Die Anzeichen
eines beginnenden Lungenleidens stellten sich ein, und so sah sich der junge
Student genötigt, zu seiner Wiederherstellung ein mildes Klima aufzusuchen.
Er begab sich 1855 nach Ägypten, hielt sich längere Zeit in Kairo auf und
unternahm größere Ausflüge nach Chartum, in das Gebiet des Blauen Nils
und in die Nubische Wüste. Dann verweilte er seit 1858 fast ein volles
Jahr in Italien, hauptsächlich in Rom und Neapel. Eine Besteigung des
Vesuvs regte ihn zu näherer Beschäftigung mit den Problemen de's Vulka-
nismus an. Um seine Ansichten darüber zu klären, besuchte er auch den
Stübel. 2 1 3
Ätna, die Liparischen Inseln und die Solfataren Toskanas. Als wissenschaft-
liches Ergebnis dieser Reise erschienen später drei kleine Abhandlungen
in den Sitzungsberichten der naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis in
Dresden: »Die Laven der Somma bei Neapel und einige ägyptische Mine-
ralien« (1861, S. 113 — 114), »Mitteilungen aus Toskana« (1862, S. 40 — 48) und
»Organische Einschlüsse im vulkanischen Tuff von der Insel Lipari« (1862,
S. 52). 1859 ^^^ seine Gesundheit wieder soweit gekräftigt, daß er nach
Deutschland zurückkehren konnte. Nun studierte er in Heidelberg bei Johann
Ferdinand Blum Mineralogie, bei Robert Wilhelm Bunsen Chemie und bei
Gustav Robert Kirchhoff Physik und erwarb 1860 den philosophischen
Doktortitel. Da er sich unterdessen für den schweren, aber dankbaren Beruf
des Forschungsreisenden entschieden hatte, vervollständigte er seine wissen-
schaftliche Ausbildung noch auf der Bergakademie in Freiberg, wo er Be-
ziehungen zu Friedrich Breithaupt, dem berühmten Förderer der Krystallo-
graphie anknüpfte, und in Berlin, wo er sich mit geodätischen, topographischen
und astronomischen Arbeiten beschäftigte. Um seine Kenntnisse und Fertig-
keiten zu prüfen, begab er sich im Sommer 1862 zunächst nach wohldurch-
forschten Gegenden, nach Schottland, den Orkney- und Shetlands-Inseln.
Den nächsten Winter verbrachte er auf Madeira, um den geologischen Bau
dieser Insel eingehend zu untersuchen. 1863 verweilte er zu gleichem Zwecke
sechs Monate auf den Kapverden. Dann kehrte er nach Madeira zurück,
um seine Studien fortzusetzen. Da ihm die vorhandenen Karten zur Ver-
anschaulichung der Bodenplastik nicht genügten, fertigte er auf Grund un-
zähliger Aufnahmen und Messungen in zweijähriger mühsamer Arbeit erst
in Ton, dann in Wachs ein Relief der Insel. Auch veröffentlichte er ein
paar kleine Aufsätze über seine Beobachtungen (Neues Jahrbuch für Mine-
ralogie 1863, S. 561 und 811, Sitzungsberichte der Isis 1864, S. 238). Bei
diesen Studien stiegen zuerst erhebliche Zweifel in ihm auf, ob die damals
herrschende Lehre der Plutonisten von der Entstehung der Gebirge wissen-
schaftlich berechtigt sei. Im Sommer 1865 kehrte er nach einem Besuch der
Kanarischen Inseln durch Marokko und Spanien nach Deutschland zurück.
Während er noch mit der Bearbeitung der wissenschaftlichen Ergebnisse
seiner Reise beschäftigt war, begannen jene denkwürdigen Naturereignisse
auf Santorin, welche das lebhafte Interesse aller Vulkanforscher erregten.
St. beschloß sofort, eine Studienfahrt nach jener Insel anzutreten, um die
weitere Wirksamkeit der vulkanischen Kräfte dort zu beobachten. Er ver-
einigte sich mit den Privatdozenten Karl von Fritsch aus Zürich und Wilhelm
Reiß aus Heidelberg und hatte das Glück, an Ort und Stelle einen neuen
Vulkanberg, den bis zu 200 m hohen Georgios, ohne Aschenkegel und Krater
aufsteigen zu sehen. Dieser Anblick gab seinen Ansichten über die Gebirgs-
bildung eine neue Richtung. Nachdem sich die vulkanischen Kräfte auf
Santorin beruhigt hatten, besuchten die Reisenden noch die Vulkangebiete
auf der griechischen Halbinsel Methana und auf der Insel Ägina und kehrten
dann nach der Heimat zurück. Hier begann sogleich die Bearbeitung der
wissenschaftlichen Ergebnisse. Zunächst veröffentlichten alle drei gemeinsam
zwei Werke geringeren Umfangs: »Santorin. Die Kaimeni-Inseln dargestellt
nach Beobachtungen« (Heidelberg 1867, ™i^ 4 Tafeln, auch ins Englische
übersetzt: TAe Kaimeni Islands front observations, Heidelberg und London 1867)
214
Stttbel.
und »Ausflug nach den vulkanischen Gebirgen von Ägina und Methana im
Jahre 1866« (Heidelberg 1867, mit einer Karte). Dann folgte ein aus-
führlicheres Buch von Reiß und St.: »Geschichte und Beschreibung der
vulkanischen Ausbrüche bei Santorin von der ältesten Zeit bis auf die
Gegenwart nach vorhandenen Quellen und eigenen Beobachtungen dar-
gestellt« (Heidelberg 1868), endlich von St allein, der die vulkanischen Er-
eignisse auf der Inselgruppe in einer Folge von acht Reliefs veranschaulicht
hatte : »Das supra- und submarine Gebirge von Santorin in photographischen
Nachbildungen der an Ort und Stelle gefertigten Reliefkarten, mit er-
läuterndem Text, Höhen Verzeichnis und einer Abhandlung über Reliefkarten«
(Leipzig i868, mit 4 Tafeln).
Während dieser Arbeiten planten Reiß und St. eine neue Studienfahrt.
Als Ziel faßten sie Hawaii mit seinen Riesenvulkanen ins Auge, doch sollte
unterwegs eine Durchquerung des nördlichen Südamerika unternommen
werden. Im Frühjahr 1868 landeten sie in Santa Marta an der Küste der
Republik Colombia. Zunächst besuchten sie die nahegelegenen, tief im
Urwald versteckten Schlammvulkane von Galera Zamba und Turbaco, fuhren
dann den Magdalenenstrom aufwärts, erstiegen die Cordillere und ließen sich
zu längerem Aufenthalte in der Hauptstadt Bogota nieder. Von hier aus
unternahmen sie zahlreiche Ausflüge in die nähere uud weitere Umgegend,
namentlich in die weiten Grasebenen am Rio Meta. Bald gewannen sie die
Überzeugung, daß ihnen das noch wenig erforschte Land reiche wissen-
schaftliche Ausbeute gewähren würde. Sie verzichteten deshalb auf Hawaii
und blieben zwei Jahre lang in Colombia, untersuchten teils gemeinsam,
teils einzeln die Vulkanberge der Anden, nahmen astronomische, trigono-
metrische und barometrische Messungen vor, entwarfen Zeichnungen und
legten reiche Sammlungen von Gesteinsproben, Pflanzen, Tieren und ethno-
graphischen Gegenständen an. Im März 1870 begaben sie sich nach dem
Nachbarstaate Ecuador, dem klassischen Lande der Vulkane, um dort
ihre Studien meist getrennt von einander fortzusetzen. In Quito schlugen
sie ihr Hauptquartier auf. Hier lernten sie Theodor Wolf, einen Landsmann
und Fachgenossen kennen, der als Professor der Geologie an der Universität
und der polytechnischen Schule wirkte. Dieser gründliche Landeskenner
und tüchtige Kartograph, der später sein Amt aufgab und nach Dresden
übersiedelte, wo er mit St. jahrelang freundschaftliche Beziehungen unterhielt
und sich wesentlich an seinen Arbeiten beteiligte, unterstützte sie in förder-
lichster Weise mit Rat und Tat. St. durchzog nun vier Jahre lang sammelnd,
beobachtend, messend und zeichnend die Cordillere von Ecuador nach
allen Richtungen. Er untersuchte und bestieg, oft unter schweren Strapazen
und bei ungünstigen Witterungsverhältnissen, eine Reihe von wichtigen
Vulkanen, darunter den Sangay, Chimborazo, Carihuairazo, Tunguragua und
Cotopaxi, und entwarf von diesen Bergen große, in Bleistift gezeichnete
Panoramen von seltener Naturtreue. Um auch farbige Bilder zu erhalten,
nahm er einen jungen einheimischen Künstler, Namens Rafael Troya in
seine Dienste, der ihn zwei Jahre hindurch auf allen Wanderungen begleitete
und ihm zahlreiche charakteristische Landschaften in öl malte. Einige
längere Ruhepausen, welche die beiden Forscher in Quito verlebten, be-
nutzten sie zur gemeinsamen Veröffentlichung ihrer barometrischen und
Stttbel.
215
trigonometrischen Höhenmessungen in zwei kleinen, aber inhaltreichen Werken:
^Alturas principales tomadas en la Republica del Ecuador en los anos de i8yo —
iSjj: I. Las Provincitis de Imbabura y Pichincha, IL Las Provincias de
PicMncka, Leon y Tunguragua, de los RioSy del Chimborazo y Aztiayv. (Quito
1S71 — ys) und ^Alturas tomadas en la Republica de Cohmbia en los anos de
1868 y i86g^ (Quito 1872), Außerdem erschien um diese Zeit noch im
Druck eine t^Carta del Dr, Alfonso Stuebel a S. E. el Presidente de la
Republica sobre sus viajes a las montahas Chimborazo^ Altar etc. y en especial
sobre sus ascensumes al Tunguragua y Cotopaxi<s^ (Quito 1873, deutsch in der
Zeitschrift für die gesamten Naturwissenschaften XLII, 1873, S. 476 ff,
französisch im Bull, soc, giogr. Paris 1874, S. 258 ff).
Im Herbst 1874 trafen die beiden Reisegefährten nach längerer
Trennung am Fuße des Chimborazo zusammen. Sie wanderten gemeinsam
nach der Küste und fuhren von Guayaquil aus nach Lima. Wenige Meilen
nördlich von dieser Stadt liegt nahe der Küste das Indianerdorf Ancon.
Hier war einst Jahrhunderte hindurch eine ausgedehnte altperuanische
Siedelung. Der Boden bewahrt deshalb zahlreiche Gräber und andere
Überreste dieser hochkultivierten Epoche. Die beiden Forscher nahmen
nun 1875 eine systematische Ausgrabung des Totenfeldes vor und förderten
Tausende von Gebrauchsgegenständen und Schmucksachen zutage, die sie
später meist den Kgl. Museen zu Berlin überwiesen. Nach Vollendung
dieses Werkes überstiegen sie gemeinsam die Cordillere, und während Reiß
noch einen Ausflug nach dem Ucayali unternahm, fuhr St. den Amazonenstrom
abwärts bis zur Mündung bei Para, wo er seinen Gefährten erwartete. Dann
begaben sich beide gemeinsam zur See nach Rio de Janeiro. Von hier
aus kehrte Reiß seiner geschwächten Gesundheit wegen nach Europa zurück,
St. dagegen besuchte die deutschen Kolonien in Südbrasilien, hielt sich
einige Zeit in Montevideo auf und durchquerte dann abermals den süd-
amerikanischen Kontinent von Buenos Aires bis Santiago de Chile. Darauf
untersuchte er mehrere interessante Vulkane der chilenischen Cordillere,
namentlich die von Cauqu^nes, und legte seine Erlebnisse in einer kleinen
Schrift ^Antigua erupcion volcanica en la vecindad de los bonos de Cauquenes,
situados en el valle del Cachapual al lado austrat de este rio<s^ (Santiago 1878,
mit Karte) nieder. Dann zog er nordwärts längs der Küste hin durch die
Atacama nach dem bolivianischen Hochlande. Er verweilte mehrere Monate
in der Umgegend von La Paz, untersuchte den Titicaca-See, namentlich die
an dessen Südende gelegene, an Kunstdenkmälem reiche altperuanische
Ruinenstätte von Tiahuanaco, deren Baureste er bildlich aufnahm und
vermaß, und wanderte dann durch Peru nach Callao. Von hier aus fuhr
er über Panama nach S. Francisco, durchquerte in genußreicher Muße die
Vereinigten Staaten und traf im Hochsommer 1877 nach zehnjähriger Ab-
wesenheit wieder in Deutschland ein. Er ließ sich in Dresden nieder, schuf
sich ein behagliches Heim und begann mit der Ausarbeitung seiner Reise-
ergebnisse. Da seine überaus umfangreichen und wertvollen Sammlungen
alle Gebiete der Naturwissenschaften, der Geologie und Ethnologie umfaßten,
sah er sich nach geeigneten Mitarbeitern um. Ihre Ermittlung verursachte
viele Schwierigkeiten, und manche haben ihren Anteil noch immer nicht zu
Ende geführt. Doch ist im Laufe der letzten 25 Jahre eine Reihe von
2l6 Stübel.
inhaltreichen Veröffentlichungen erschienen, die sich an St.s Sammlungen
anschließen. Zuerst vollendete er gemeinsam mit Reiß und mit finanzieller
Unterstützung der Generalverwaltung der Kgl. Museen zu Berlin das kost-
bare Tafel werk größten Formats: »Das Totenfeld von Ancon in Peru. Ein
Beitrag zur Kenntnis der Kultur und Industrie des Inka-Reiches. Nach den
Ergebnissen eigener Ausgrabungen« (Berlin 1880 — 1887, 3 Bände mit 140
Tafeln, auch englisch: The necropolis of Ancon in Peru, A series of
illustrations of the cwilisation and industry of the empire of the Incas.
Being the results of excavatians made on the spot, Berlin 1880 — 1887,
3 Bände). Um sich während der überaus mühseligen Arbeit an diesem
Monumental werk einige Erholung zu gönnen und um zugleich seine An-
sichten über den Ursprung der vulkanischen Kräfte zu vertiefen, unternahm
St. in diesen Jahren mehrere Reisen nach berühmten Vulkangebieten, so
1880 nach der Auvergne, 1883 nach Nordsyrien und dem Ostjordanland,
1885 nach Unteritalien und Sizilien. Auch verschiedene kleine Schriften,
die er wissenschaftlichen Vereinen und Versammlungen überreichte, ent-
standen um diese Zeit: »Skizzen aus Ecuador, dem 6. deutschen Geographen-
tage gewidmet« (Berlin 1886, ein illustrierter Katalog seiner ausgestellten
Gemälde), »Über altperuanische Gewebemuster und ihnen analoge Ornamente
der altklassischen Kunst« (Festschrift zur Jubelfeier des 25 jährigen Be-
stehens des Vereins für Erdkunde zu Dresden 1888, S. 35 — 56), sowie »Indianer-
typen aus Ecuador und Colombia. 28 Lichtdruckbilder, den Mitgliedern
des 7. internationalen Amerikanistenkongresses gewidmet« (Berlin 1888).
Nachdein er sich 1889 durch einen längeren Aufenthalt in Äg)rpten zu neuen
Arbeiten gekräftigt hatte, begann er im folgenden Jahre gemeinsam mit
Reiß und einigen jüngeren Fachgelehrten die Veröffentlichung des viel-
bändigen Werkes »Reisen in Südamerika« (Berlin 1890 ff). Bisher sind
folgende Abteilungen erschienen: Lepidopteren, bearbeitet von G. Weymer
und P. Maaßen (1890), Geologische Studien in der Republik Colombia
(I. Petrographie : i. Die vulkanischen Gesteine, bearbeitet von R. Küch, 1892;
2. Die älteren Massengesteine, krystallinen Schiefer und Sedimente, bearbeitet
von W. Bergt, 1899; III. Astronomische Ortsbestimmungen, bearbeitet von
B. Peter, 1893) und Das Hochgebirge der Republik Ecuador (I. Petrographische
Untersuchungen, bearbeitet im mineralogisch-petrographischen Institut der
Universität Berlin: i. West-Cordillere, 1892 — 1898; 2. Ost-Cordillere, 1896
bis 1902). Neben diesem Riesenwerk erschienen noch einige andere minder
umfangreiche, aber gleichfalls sehr bedeutsame Arbeiten: »Die Ruinenstätte
von Tiahuanaco im Hochland des alten Peru. Eine kulturgeschichtliche
Studie auf Grund selbständiger Aufnahmen. Mit i Karte und 42 Tafeln in
Lichtdruck« (Breslau 1892, gemeinsam mit M. Uhle verfaßt), dann »Ein-
führung in die Bildersammlung der Vulkanberge von Ecuador« (Leipzig 1896),
daran anschließend »Die Vulkanberge von Ecuador, geologisch-topographisch
aufgenommen und beschrieben« (Berlin 1897, mit i Karte), sowie »Er-
läuterungen zu den auf 8 Tafeln zusammengestellten Charakterpflanzen aus
dem Hochlande von Ecuador und Colombia« (Leipzig 1899). ^" ^^" letzten
Jahren seines Lebens kehrte er wieder zu den Studien über Vulkanismus
zurück, von denen er einst ausgegangen war. Nachdem er im Frühjahr 1900
auf einer italienischen Reise noch einmal den Vesuv gründlich untersucht
Stübel.
217
hatte, veröffentlichte er in rascher Folge mehrere bedeutsame Arbeiten, die
seine Vulkantheorie enthalten: »Ein Wort über den Sitz vulkanischer Kräfte
in der Gegenwart« (Leipzig 1901), »Über die Verbreitung der haupt-
sächlichsten Eruptionszentren und der sie kennzeichnenden Vulkanberge in
Südamerika« (Petermanns Mitteilungen 1902, S. i — 9) und »Über die
genetische Verschiedenheit vulkanischer Berge« (Leipzig 1903). Daran
schlössen sich noch als Früchte seiner Reisen eine Monographie über »Das
nordsyrische Vulkangebiet Diret et-Tulul, Hauran, Dschebel Mani und
Dscholan« (Leipzig 1903) und eine »Karte der Vulkanberge Antisana, Chacana,
Sincholagua, Quilindana, Cotopaxi, Ruminahui und Pasochoa« (Leipzig 1903).
Noch einmal wurde er veranlaßt, die Feder zu ergreifen, als 1902 eine
langandauemde Periode vulkanischer Ausbrüche in Westindien begann. So
entstanden die beiden Broschüren »Martinique und St. Vincent« (Leipzig
1903) und »Rückblick auf die Ausbruchsperiode des Mont Pel^ auf
Martinique 1902 — 1903 vom theoretischen Gesichtspunkte aus« (Leizig 1904).
Diese letzten Arbeiten seit 1902 erschienen als Veröffentlichungen der
vulkanologischen Abteilung des Grassi-Museums zu Leipzig. Aber noch
war sein Arbeitsprogramm nicht erschöpft. Gemeinsam mit seinem Freunde
Theodor Wolf, der ihm schon seit seiner Übersiedelung nach Plauen bei
Dresden 1891 dauernd seinen wertvollen wissenschaftlichen Beistand geleistet
hatte, wollte er ein großes zusammenfassendes Werk über die geologischen
Verhältnisse von Colombia abfassen. Aber der durch Alter und An-
strengungen geschwächte Körper versagte den Dienst. Wiederholte Auf-
enthalte in Kurorten brachten keine Besserung mehr, und so starb er nach
langen, qualvollen Leiden wenige Monate vor seinem 70. Geburtstage zu
Dresden in seinem Hause, das wie eine stille Oase inmitten des lauten
Getriebes der Großstadt liegt. Auf seinen Wunsch wurde er in Gotha mit
Feuer bestattet.
St. war ein überaus bescheidener, fast ängstlich sich zurückhaltender
Mann von unermüdlichem Fleiß, seltener Gewissenhaftigkeit und wahrhaft
vornehmer und selbstloser Gesinnung. Seine von Jugend auf schwache
Konstitution zwang er mit Energie durch eine streng geregelte einfache
Lebensweise zu bedeutenden Leistungen. Dem öffentlichen Leben, ins-
besondere der Politik blieb er grundsätzlich fem, doch verfolgte er beide
mit scharfer Kritik. Orden, Titel und Auszeichnungen lehnte er dankend
ab. Sein großes Vermögen verwendete er lediglich zu wissenschaftlichen
und menschenfreundlichen Zwecken. Der goldene Fluß der Rede war ihm
versagt. Deshalb trat er selten als Vortragender auf. Auch der schriftliche
Ausdruck entquoll nur langsam seiner Feder, und trotz vielfachen Feilens
und Verbesserns empfand er selten Befriedigung über das, was er geschrieben
hatte. Für das wertvollste Ergebnis seiner Studien hielt er seine Theorie
der vulkanischen Erscheinungen. Er nahm an, daß der Ausgangspunkt der
vulkanischen Kräfte in der Gegenwart nicht mehr der von einer überaus
dicken Panzerkruste umgebene glutflüssige Erdkern, sondern eine große
Zahl in geringer Tiefe unter der erstarrten Erdrinde vorhandener »periphe-
rischer Herde« sei, aus denen das Magma dann, wenn es erstarrt und sich
infolgedessen ausdehnt, einen Ausweg sucht und ihn naturgemäß dort ge-
winnt, wo die Widerstände am geringsten sind. Meist erschöpft sich der
2 1 8 Stübel. Berger.
Magmaherd in einem einmaligen Ausbruch, der dann einen domförmigen
»monogenen« Vulkan, meist ohne Krateröffnung, hervorbringt. Zuweilen aber
entläßt er von Zeit zu Zeit einen Teil seines Inhalts, so daß periodische
Ausbrüche erfolgen, die dann einen »polygenen« Berg entstehen lassen, der
immer eine Krateröffnung zeigt. Allerdings fand diese Hypothese in den
Kreisen der Fachgenossen mancherlei Widerspruch.
Die von seinen Reisen mitgebrachten überaus reichen Sammlungen
übergab St. den- Museen zu Berlin, Leipzig und Dresden. Dem Grassi-
Museum seiner Vaterstadt überwies er schon bei Lebzeiten als Grundstock
einer geplanten Abteilung für vergleichende Länderkunde 82 Ölgemälde und
Reliefs, über 100 Handzeichnungen, gegen 2000 Photographien, eine Anzahl
Karten, sowie viele Gesteinshandstücke und Dünnschliffe, die zusammen
zwei große Säle anfüllen. Außerdem hinterließ er diesem Museum testamen-
tarisch seine Bibliothek und seine Reisetagebücher. Seine Verwandten
fügten diesen Gaben noch eine Marmorbüste des Verstorbenen bei, die an
seinem 70. Geburtstage feierlich enthüllt wurde. Soweit er die Bestände
seiner Sammlungen nicht selbst literarisch ausbeuten konnte, dienten sie
anderen Forschern als wichtige Fundgrube. Aber bisher ist nur ein Teil
benutzt, ein bedeutender Rest harrt noch der Verwertung. Die Höhen-
messungen bearbeitete M. F. Kunze, die astronomischen Ortsbestimmungen
B. Peter, die meteorologischen Beobachtungen M. F. Krause, die Vögel
A. B. Meyer, die Fische F. Stein und Dachner, die Weichtiere E. v. Martens,
die Käfer Th. Kirsch, die Zweiflügler V. v. Röder, die neuen Pflanzen
G. Hieronymus, einzelne Versteinerungen H. Engelhardt. Über die Gesteine
veröffentlichten C. Höpfner, W. Branco, R. Küch, F. H. Hatch, B. Doß,
F. Rudolph und W. Bergt selbständige Werke oder größere Abhandlungen.
Die ethnographischen Gegenstände endlich veranlaßten die zweibändige
Publikation von M. Uhle »Kultur und Industrie südamerikanischer Völker«
(Berlin 1889— 1890).
»Petermanns Mitteilungen« XXIV, 1878, S. 30 — ^2' — »Deutsche Rundschau für
Geographie und Statistik« XVIII, 1896, S. 517 — 518 (mit Bildnis). — A. Bergeat, Die
Stübelsche Vulkantheorie: »Geographische Zeitschrift« X, 1904, S. 225 — 227. — »Globus«
LXXXVI, 1904, S. 383. — »Leipziger Illustrierte Zeitung« 1904, Nr. 3203, S. 736 — 737
(mit Bildnis). — Leopoldina XL, 1904, S. iii — 112. — »Zeitung für Literatur, Kunst und
Wissenschaft« (Beilage des Hamburger Korrespondenten) 1904, Nr. 24. — Nachrufe von
Paul Wagner: »Dresdner Anzeiger« vom 11. Nov. 1904; »Sitzungsberichte und Ab-
handlungen der naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis zu Dresden« 1904, Heft II,
S. V — XIV (mit Bildnis und Bibliographie); Beilage zur »Allgemeinen Zeitung« 1905,
Nr. 27; »Geographische Zeitschrift« XI, 1905, S. 129 — 134; »Illustrierter Führer durch das
Museum für Länderkunde«, Leipzig 1905, S. 59 — 66. — Hans Meyer, AJphons Stübel f.
(Leipzig 1905, mit 2 Bildnissen.) Viktor Hantzsch.
Berger, Ernst Hugo, einer der besten Kenner der antiken Geographie
• 6. Oktober 1836 in Gera als Sohn eines Steindruckers, f 27. September 1904
in Leipzig. — Wenige Jahre nach B.s Geburt siedelten seine Eltern nach
Leipzig über, das ihm eine zweite Heimat wurde. Der Knabe besuchte hier
zunächst die i. Bürgerschule, dann das Thomasgymnasium. Hier eignete er
sich die Anfänge jener gründlichen philologischen Bildung an, die später
Bcrger. 219
in seinen Werken so glänzend hervortrat Seit 1856 studierte er in Leipzig
zunächst Theologie. Bald aber fühlte er sich mehr zur klassischen und ger-
manischen Philologie hingezogen. Nachdem er die Staatsprüfung für das höhere
Schulamt bestanden hatte, versuchte er sich einige Zeit als Lehrer, zunächst seit
1862 an der von dem Privatdocenten Tuiskon Ziller, einem eifrigen Herbartianer,
begründeten Ubungsschule, die mit dem pädagogischen Seminar der
Universität Leipzig verbunden war, dann an dem gleichfalls nach den
pädagogischen Grundsätzen Herbarts geleiteten Barthschen Erziehungs-
institut. Da er aber von Jugend auf Neigung für ein beschauliches Leben
empfand, sagte ihm die Schultätigkeit auf die Dauer nicht zu. Als er
daher 1866 durch eine Heirat zu hinreichendem Wohlstand gelangt war, gab
er den Lehrerberuf auf und beschäftigte sich nun mehr als 30 Jahre hindurch
als Privatgelehrter ausschliefilich mit seinen wissenschaftlichen Studien.
Das Spezialgebiet, das er anbaute, war die wissenschaftliche Erdkunde der
Griechen. Als Erstlingswerk veröffentlichte er »Die geographischen Frag-
mente des Hipparch« (Leipzig i86q), jenes großen Astronomen und Mathe-
matikers aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert, von dessen drei Büchern sich
vereinzelte Bruchstücke bei Strabo erhalten haben. In dieser scharfsinnigen
kritischen Untersuchung zeigt B. bereits alle Vorzüge seiner wissenschaft-
lichen Arbeitsweise: umsichtige Heranziehung aller erreichbaren Quellen,
auch der scheinbar unbedeutendsten, eingehende kritische Würdigung und
Vergleichung des so gewonnenen Materials, geschickte Gruppierung des als
gesichert erkannten Stoffes und möglichste Erweiterung desselben auf dem
Wege streng logischer Schlußfolgerungen. Erst 11 Jahre später gab er eine
ähnliche, ebenso sorgfältig gearbeitete, aber weit umfangreichere Sammlung:
»Die geographischen Fragmente des Eratosthenes« (Leipzig 1880) heraus.
Aus diesen beiden Studien, denen sich in den nächsten Jahren noch
mehrere kleinere, meist in Zeitschriften zerstreute anschlössen, erwuchs all-
mählich nach langer Arbeit das Hauptwerk seines Lebens, die mit Recht
als klassisch anerkannte »Geschichte der wissenschaftliche Erdkunde der
Griechen« (Leipzig 1887 — 1893). Dieses bewunderungswürdige Zeugnis gründ-
licher Gelehrsamkeit, das alles zusammenfaßt, was die alten Griechen für
die Kenntnis der Erde in systematischer Entwicklung der geographischen
Begriffe geleistet haben, zerfällt in vier Abteilungen. In der ersten behandelt
er die geographischen Vorstellungen der lonier, in der zweiten die Grund-
legung der Lehre von der Kugelgestalt der Erde von den Pythagoräem an
bis auf Aristoteles, in der dritten die weitere Ausbildung dieser Lehre durch
Dikäarch, Eratosthenes und Hipparch. In der letzten endlich legt er dar,
wie unter dem Einfluß der Römer eine Reaktion gegen die mathematische
Geographie erfolgt und die Beschreibung der Ökumene aufblüht, wie dagegen
Marinus von Tyrus und Ptolemäus die Geographie der Erdkugel wieder
aufnehmen und vor allem die Kartographie zu fördern suchen. An dieses
grundlegende Werk schlössen sich in den nächsten Jahren noch einige er-
gänzende Spezialuntersuchungen über das kosmische System des Diophantes,
die Zonenlehre des Parmenides, die Stellung des Posidonius zur Erdmessungs-
frage und die Grundlagen des Marinisch-Ptolemäischen Erdbildes (in den
Berichten über die Verhandlungen des Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Leipzig, philologisch-historische Klasse, Band XLVI bis L),
2 20 Berger. Rollett
sowie über die Entstehung der Lehre von den Polarzonen (Geographische
Zeitschrift Band III). Mehrere kürzere Abhandlungen aus dem Gebiete der
antiken Geographie steuerte er außerdem zu den ersten Bänden der von
Georg Wissowa herausgegebenen Neubearbeitung von Paulys Real- Enzy-
klopädie der klassischen Altertumswissenschaft (Stuttgart 1894 ff.) bei. Infolge
dieser verdienstlichen Leistungen wurde ihm ganz ohne sein Zutun, namentlich
durch den Einfluß Friedrich Ratzeis, 1899 die neu begründete außer-
ordentliche Professur für Geschichte der Erdkunde und historische Geographie
an der Universität Leipzig nebst der Leitung des historisch-geographischen
Seminars übertragen. Leider war es ihm nur wenige Jahre vergönnt in
diesem Amte zu wirken. Es stellten sich Lähmungserscheinungen ein, die
erst die Augen, dann die Zunge, allmählich auch andere Glieder ergriffen.
Doch erlebte er noch die Freude, daß eine verbesserte und ergänzte
2. Auflage seiner »Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen«
(Leipzig 1903) nötig wurde, die seinem Namen für alle Zeiten ein ehren-
volles Andenken sichert. Bald nach dem Abschluß dieses letzten Werkes
nahmen die Krankheitserscheinungen derart zu, daß eine Wiederherstellung
nicht mehr zu erhoffen war. Schließlich trat noch eine Lungenentzündung
ein, die rasch den Tod herbeiführte. Obwohl B. in der Öffentlichkeit
niemals hervorgetreten ist, fehlte es ihm nicht an Ehrungen und An-
erkennungen. Die Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig ernannte ihn
zu ihrem ordentlichen, die zu Göttingen zum korrespondierenden Mitglied,
und die Vereine für Erdkunde zu Leipzig und Halle nahmen ihn unter die
Zahl ihrer Ehrenmitglieder auf.
Beilage zur »Allgemeinen Zeitung« 1904, Nr. 255, S. 244 — 246 (Siegmund Günther).
— »Globus« LXXXVI, 1904, S. 336. — »Geographen-Kalender« III, 1905, S. 176 — 177.
— »Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Leipzig« 1905 (W. Rüge).
Viktor Hantzsch.
Rollett, Hermann, (deutsch- österreichischer Dichter, .Kunstschriftsteller
und Lokalhistoriker, Dr. phil. et ckttn, • 20. August 1819 zu Baden bei Wien,
t 30. Mai 1904 ebenda). — Der Stammbaum der Familie R. reicht mit seinen
Wurzeln bis an den Anfang des 17. Jahrhunderts zurück, zu welcher Zeit sie
aus Savoyen nach Österreich auswanderte, um in der Quellenstadt Baden
festen Fuß zu fassen. Während die älteren Zweige der Familie sich auf ge-
werblichen Gebieten, vorzüglich der Gerberei und Müllerei, betätigten, wählte
sich Anton Franz Rollett, der Ururenkel des Stammvaters Anselm, die Medizin
und Naturwissenschaften zu seinem Berufe und erfreute sich bis zu seinem
Tode (1842) eines weit über die Grenzen seiner Vaterstadt reichenden Rufes
als Landgerichtsarzt und gelehrter Sammler kunst- und naturhistorischer Gegen-
stände. Hermann wurde als sein ältester Sohn aus zweiter Ehe mit Josepha
Anger geboren (des Dichters Stiefbruder Karl (f 1869) war ebenfalls Arzt,
desgleichen dessen beide Söhne Alexander (f 1903) und Emil) und fand in
dem frühzeitigen Verkehre mit den berühmten Patienten seines vielgesuchten
Vaters reiche Anregung in seinem Lerneifer und Wissensdrang. Zu den
treuesten Besuchern der noch heute bestehenden »Villa Rollett« am Eingange
des romantischen Helenentales zählten in den zwanziger und dreißiger Jahren
Rollett 22 1
Schillers Jugendfreund Andreas Streicher, Vamhagen v. Ense, Mendelssohn
u. V. a. Auch mit dem Herzog von Reichstadt, Kaiser Franz, Beethoven, dem
Maler Lampi und vielen anderen aus der Welt des Geistes und der Künste
kam R. schon als Knabe in mehr oder weniger nahe Berührung, die in mancher-
lei Richtung auf sein damals »stilles, nicht verschlossenes, aber zu heiterer
Einsamkeit geneigtes Wesen« nicht ohne Einfluß war. Nach Absolvierung
der Volksschule in Baden, legte er als Privatschüler die Prüfung bei St. Anna
in Wien ab und besuchte daselbst das Piaristengymnasium, wo er durch seine
Erfolge in allen Gegenständen sich rasch die Liebe und Achtung seiner
Professoren errang. Nach recht peinlichen Auseinandersetzungen mit seinem
Vater, der ihn für den ärztlichen Stand bestimmt hatte, während er selbst
weniger aus Neigung als aus seinem Hang zu stiller ungestörter geistiger
Beschäftigung Geistlicher werden wollte, wählte R. einen Ausweg, indem er
sich dem pharmazeutischen Fache zuwandte. Mit großer Selbstverleugnung
übte er diesen Beruf, zuerst in einer Badener und dann in einer Wiener
Apotheke aus. Das Magisterium der Pharmazie erwarb er übrigens erst in
den sechziger Jahren. Nach einer ungefähr vierjährigen pharmazeutischen
Praxis oblag er an der Wiener Universität philosophischen Studien. Hier
wurde er mit Vogl, Lenau und Feuchtersieben bekannt, drei Poeten, die
auf seine Muse nachhaltigsten Einfluß übten. Schon im elterlichen Hause
hatte er sich in kleineren poetischen Arbeiten versucht, aber alle unreifen
Erstlinge bis auf ein »An Grillparzer« betiteltes Poem, das als erstes im
Jahre 1837 in der »Wiener Theaterzeitung« erschien, vernichtet. Feuchters-
ieben, dem er einige Jahre später eine stattliche Reihe von Gedichten zur
Begutachtung vorlegte, riet dem jungen Poeten bei aller Anerkennung seiner
gewiß vorhandenen Begabung ab, mit einer solchen lyrischen Sammlung vors
Publikum zu treten. Dieses Urteil hielt jedoch R. nicht ab, die ersten Blüten
seiner Poesie im Jahre 1842 als »Liederkränze«, »Justinus Kemer gewidmet«,
erscheinen zu lassen.
Die angenehmen Erinnerungen an eine im Jahre 1843 über Bayern
nach Schwaben zu dem von ihm verehrten Justinus Kemer unternommene
Reise und der immer beengender auf dem geistigen Leben Österreichs
lastende Druck der Zensur ließen in R. den Entschluß reifen, sein Vater-
land bis zum Eintritte günstigerer Verhältnisse ganz zu verlassen und sich
hinaus »ins Reich« auf die Wanderschaft zu begeben. Das fast vollendete
Manuskript seiner politiech gefährlichen »Frühlingsboten aus Österreich«
in der Tasche, begann er im Frühjahre 1845 seine mehr als zehn Jahre
währende Fahrt, die — anfangs eine freiwillige — sich später ins Gegen-
teil verkehrte. Sie führte ihn kreuz und quer durch ganz Deutschland und
endlich sogar in die Schweiz. Seine ausgesprochen demokratisch-freiheit-
liche, jedoch nicht hyperradikale Gesinnung, die sich in wachsender Schärfe
in seinen Dichtungen widerspiegelte, machten ihn, besonders in Sachsen-
Weimar und Koburg, später während des Jahres 1848 fast überall zu einer
von den Behörden nur ungern gesehenen Persönlichkeit. Mit einem Emp-
fehlungsschreiben Ludwig August Frankls ausgerüstet, reiste R. über Brunn
und Prag, wo er Alfred Meißner besuchte, nach Dresden und von dort nach
Leipzig, wo er gerade an dem Tage ankam, da Prinz Johann auf die Bürger-
schaft schießen ließ. Von hier aus ging es über Hamburg, wo er bereits
222 Rollett.
durch seine für dortige Blätter von Wien aus geschriebenen Korrespondenzen
kein Unbekannter mehr war, nach Helgoland. Hier traf er mit dem als Ver-
fasser des »Nordseebesens« bekannten Helgoländer Stadtsekretär Siemens zu-
sammen. Sein Rückweg führte ihn nach Jena zu seinem Freunde Schuselka,
wo er gleich diesem das schwarz-rot-goldene Band der ersten Jenenser Burschen-
schaft erhielt. In Jena hörte R. Kollegien aus allen Fakultäten und gab
(1845) seine »Frühlingsboten aus Österreich« als vorgeschriebenes Zwanzig-
bogenbändchen heraus.
Da er in Wort und Lied für den Deutschkatholizismus, der damals durch
Ronges und Schuselkas Propaganda Anhänger warb, eingetreten war (»Wander-
buch« S. 168 »Ein Grottesdienst«, S. 176 »Die neue Kirche«), entstand das
Gerücht, er sei deutschkatholischer Prediger geworden. Der Sommer 1846
sieht ihn in Frankfurt a. M. in regem Verkehre mit Gutzkow und dem übrigen
»Jungen Deutschland« ; auch mit Jenny Lind, mit der er späterhin in Weimar
nochmals zusammentreffen sollte, knüpfte er eine interessante Bekanntschaft
an und vollendete hier sein »Lyrisches Wanderbuch eines Wiener Poeten«,
das in geschlossener Reihe seine bisherigen Reiseerlebnisse schildert (Frank-
furt, Lit.-Anstalt, 1846). Nach einer Rheinfahrt zu Ernst Moriz Arndt nach
Bonn, zog er über Weinsberg, wo er auf einem echt schwäbischen Weinlese-
» Herbst« den Theologen David Strauß und seine Gattin Agnese Schebest
kennen lernte, nach Ulm. Eine hier ins Leben gerufene Wochenschrift »Die
Zeitgenossen« wurde bereits nach dem Erscheinen der ersten Nummer ver-
boten. Darauf begann R. die Herausgabe einer Anthologie in Heftform unter
dem Titel »Lyrische Blätter« mit Beiträgen der hervorragendsten deutschen
und österreichischen Poeten, erreichte jedoch auch damit nicht mehr als
sechs Nummern. In München zeichnet 1847 Moritz von Schwind für R.s
Zyklus »Herr Winter« seine weltbekannten Illustrationen für die »Fliegenden
Blätter«; der Dichter selbst ist damals mit einem Drama »Eine Schwester«
beschäftigt, das im November desselben Jahres in Oldenburg aufgeführt wurde,
sich aber nicht auf der Bühne zu behaupten vermochte. Gegen Ende dieses
Jahres nach Leipzig verschlagen, schrieb er hier sein tendenziös -satirisches
»Waldmärchen« und verkehrte viel mit Robert Blum, Arnold Rüge, Althaus
und den anderen Vorkämpfern der Revolution. Sein um dieselbe Zeit (1848)
entstandenes »Republikanisches Liederbuch« wurde stark gekauft, einzelnes
daraus vielfach komponiert, von der Preßbehörde jedoch mit unnachsicht-
licher Strenge verfolgt. Nachdem er den historischen Zug der Studenten-
schaft auf die Wartburg mitgemacht hatte, nahm R. dauernden Wohnsitz in
Weimar. Hier traf er mit den wenigen noch Überlebenden aus Groethes
Lebenskreise, mit den Riemer, Kräuter, Schwerdgeburth u. e. a. zusammen,
pflog eifrigen Umgang mit Franz Liszt, Jenny Lind und Andersen. Wie er
mit beiden letzteren unter Führung des Kanzlers Müller die Fürstengruft
besuchte, hat er in seinen »Begegnungen« (1903) erzählt.
Auch während seines unstäten Zugvogellebens war R. keineswegs
untätig geblieben und hatte nach einem bereits in Ulm erschienenen Bande
»Frische Lieder« seine vielbeachteten »Kampflieder« . herausgegeben. Mit
ihrem Erscheinen beginnt der unfreiwillige Teil von R.s Wanderschaft.
Von Weimar aus wurde er in preußische Requisition gezogen, saß, jeg-
licher Geldmittel beraubt, kurze Zeitlang sogar im Arrest, wohnte im Lenze
Rollett.
223
1849 ZU Wenigen- Jena zufällig in Goethes einstigem Wohnräume »auf der
Tanne« — und hetzte sich durch seine aufreizenden drei Revolutions-
dramen »Thomas Münzer«, »Flamingo« und »Die Ralunken« vollends die
Häscher des preußischen Ministerpräsidenten Manteuffel auf den Hals. Die
ebengenannten Dramen wurden, ebenso wie seinerzeit das »Wanderbuch«,
strenge verboten und alle greifbaren Exemplare vernichtet. Aus Jena aus-
gewiesen, wurde er über Rudolstadt, Remda und Saalfeld nach Hildburg-
hausen gejagt und erhielt in Nürnberg einen Zwangspafi nach Wien an das
dortige Militärgericht aufgenötigt, entkam jedoch bei Donauwörth und
gelangte mit heiler Haut an den Bodensee und mit Hilfe des »Flüchtlings-
schiffes« in die Schweiz.
Von Mitte 185 1 bis Ende 1854 lebte er in Zürich, wo er Medizin studierte,
in Gesellschaft Kudlichs, Herweghs und Richard Wagners, später auch im
Appenzellerlande mit dem Naturforscher Tschudi, bis es ihm die allmählich
ruhiger und gesicherter gewordenen Zustände in Österreich erlaubten, Ende
1854 über Wien in seine Vaterstadt Baden zurückzukehren, wo er pro forma
noch ein Jahr lang konfiniert blieb. Nach Ablauf dieser Frist übersiedelte
er nach Wien, wo er sich im Jahre 1859 mit Meta von Scheidlin, die ihm
i86o eine Tochter, Lina, schenkte, vermählte. Fünf Jahre später kehrte er
nach Baden zurück, blieb fortan daselbst ansässig und bekleidete nachein-
ander, hervorragende Stellen in der Gemeindevertretung. Im Jahre 1876 schuf
er das stadtische Archiv und widmete sich bis zu seinem Tode vorzüglich
stadtgeschichtlichen Forschungen, deren Früchte er in den 13 Teilen der »Bei-
träge zur Chronik der Stadt Baden« (1880 — 1900) und in der Monographie
»Beethoven in Baden« (1870, 2. Auü. 1902) niederlegte. Das von seinem Vater
begründete und von dessen Erben der Stadt geschenkte »Rollett-Museum« hat
er bis zu seinem Tode als Kustos verwaltet.
Noch während seines Schweizer AiÄenthaltes hatte R. die sentimental-
romantische Novelle »Jucunde« geschrieben, in die er seine besten Lieder
hineinverflocht. Die Romanzen und Balladen (»Heldenbilder und Sagen«,
St. Gallen, 1854) verarbeiten in nicht immer glücklichster Behandlung hi-
storische Stoffe. Die relativ meiste Verbreitung fand die 1865 veranstaltete
»Auswahl« aus seinen sämtlichen Dichtungen, während der 1869 veröffentlichte,
in Form und Inhalt das Reifste und Beste in sich vereinigende Ghaselen-Zyklus
»Offenbarungen« nicht weniger Beachtung fand. Die »Märchengeschichten
aus dem Leben« 1894, (»Knirps der Große«, »Der Neujahrstag« und »Der
Minnehof«) erzählen in durchwegs anmutiger Form eine von stimmungsvollen
Liedern begleitete anspruchslose Handlung. Außer etwa 30 selbständigen
Publikationen schrieb R. eine große Anzahl von zerstreut gedruckten Ge-
dichten und literarischen, politischen und kulturhistorischen Artikeln für die
meisten Tagesblätter und periodisch erscheinenden Zeitschriften.
Als Dramatiker und Epiker kaum von Erfolg gekrönt, gehört R. als
Lyriker zur zweiten Reihe der nach Grün, Lenau und Gilm zu stellenden
Poeten Karl Beck, Carlopago-Ziegler u. a. Gedrungene, freilich auch oftmals
allzu unfreie Sprache, leichtes, müheloses Produzieren und nicht besonders
reiche Wahl des Stoffes, ein in pantheistischer Naturanschauung aufgehendes
Gemüt voll Innigkeit, gepaart mit echtem, durchaus nicht gekünsteltem
Empfinden des spezifisch niederösterreichischen Sängers und ein bis ins
224
Rollett. Sauerwein.
höchste Alter ungestillt gebliebener Drang nach Freiheit im Leben und in
der Poesie geben fast allen seinen Dichtungen das Gepräge. Er hat sich
an Goethe, Uhland und Herwegh gebildet, ohne einen der Drei erreicht zu
haben, doch verraten gerade seine bekanntesten Dichtungen eine von jeder
Nachahmung freie Individualitat.
Als Kunsthistoriker hat er sich auf einem eng begrenzten Gebiete, dem
der Steinschneidekunst, neben Brunn, Furtwängler und anderen einen geachteten
Namen erworben. Seine Monographie über die drei Pichler (Wien 1874) sowie
die von ihm verfaßte Abteilung »Glyptik« in B. Buchers »Geschichte der
technischen Künste« (Stuttgart 1875) fanden den Beifall der Fachmänner.
Fast bekannter als durch seine poetischen und kunstgeschichtlichen
Arbeiten wurde R. durch das Werk »Die Goethe -Bildnisse, biographisch-
kunstgeschichtlich dargestellt«, das der Braumüllersche Verlag 1883 in
glänzender Ausstattung, mit Radierungen von William Unger, herausgab.
Bei ihrem Erscheinen stießen R.s »Goethe -Bildnisse« auf den heftigsten
Widerspruch Friedrich Zamckes, dessen »Kurzgefaßtes Verzeichnis der
Originalaufnahmen von Goethes Bildnis« (Leipzig 1888) heute gewissermaßen
als Kanon gilt, R.s Werk jedoch mit seinen zahlreichen Quellennachweisen
auch heute noch nicht dem Forscher entbehrlich machen kann. Jedenfalls
bleibt es R.s unbestrittenes Verdienst, dem Gedanken eines Goethebildnis-
werkes als erster eine würdige, greifbare Gestalt verliehen zu haben.
Wiewohl sich R. Zeit seines Lebens niemals aktiv am politischen Leben
beteiligte, bewahrte er sich dennoch seinen demokratisch gefärbten Freisinn
und freiheitlichen Optimismus mit zäher Ausdauer, blieb aber hauptsächlich
durch seine Zurückgezogenheit in einer Provinzstadt dem modernen Zuge im
Weltgetriebe fem.
Es verdient schließlich noch der Erwähnung, daß R., dessen Wesen sich
in den engen Schranken einer KircRlichkeit nicht behaglich fühlen konnte,
auf einem in seinem Nachlasse vorgefundenen Blatte andeutete, daß seiner
inneren Natur die Konfessionslosigkeit als das einzig Befreiende entspreche.
Bildnisse von Schustler, E. Ender, L. Fischer, Schramm, Kriehuber, Romako, George-
Mayer, St.-Genois, u. v. a.; Büsten von Schrödl, Schröer, Glank, Meisel; Medaille von Rad-
nitzky; Plaquette von Breithut.
Quellen zur Biographie: »Hermann Rollett«, biographische Skizze (aus dem
19. und 20. Bogen des XXVI. Bandes von Wurzbachs »Biographischem Lexikon«, welche
in ihrem ersten, bereits vollendet gewesenen Druck nicht ausgegeben wurde), Wien 1874.
— »Hermann Rollett«, zu seinem 75. Geburtstage verf. von Leopold Katscher, Wien 1894.
— »Begegnungen«, Erinnerungsblätter (181 9 — 1899) von Hermann Rollett, VV^icn 1903. —
Selbstbiographie des Dichters aus dem Jahre 1862, im Manuskript. — Briefwechsel Rolletts
mit seinem Jugendfreund Anton Josephy (die Jahre 1837 bis 1889 umfassend). — Über
R.s Liter. Nachlaß s. »Neues Wr. Tagblatt« v. 11. X. 1905. Paul Tausig.
Sauerwein, Georg Julius Justus, Linguist, * 15. Januar 1831 in Hannover,
1 16. Dezember 1904 in Christiania. — Wohl mag es Gelehrte gegeben haben, die
sich mit noch mehr Sprachen beschäftigt haben, aber es hat keinen gegeben,
der so viele Sprachen wirklich beherrscht hätte, so viele gewandt gesprochen,
in so vielen selbständig, insbesondere poetisch produktiv gewesen wäre. Dabei
hat S. eigentlich wissenschaftliche Arbeiten so gut wie gar keine geleistet.
Ihn erfüllte geradezu ein Heißhunger nach immer neuen Sprachen und dabei
Sauerwein. 22 5
stürzte er sich sogleich in die volle lebendige Literatur oder sog in der Unter-
haltung diejenigen aus, die ihm neue Sprachen bieten konnten.
Sein Vater, August Philipp Ludwig Sauerwein, war Lazarett -Prediger
und auch Lehrer am Lyzeum in Hannover, von wo er aber noch im Jahre
183 1 als Prediger nach Schmedenstedt bei Peine und von hier nach etwa zehn
Jahren als Pastor Primarius nach Gronau an der Leine versetzt wurde. Er
war ein sehr unterrichteter Mann, der sich auch der wissenschaftlichen Welt,
und zwar durch Herausgabe der dritten Auflage (Hannover 1828) des ur-
sprünglich von Christian Reineccius herausgegebenen kleinen hebräisch-latei-
nischen Wörterbuchs bekannt gemacht hat. Den ersten Unterricht seines
ältesten Sohnes Georg leitete er selbst, bis letzterer im Alter von zwölf Jahren
Aufnahme im Lyzeum zu Hannover fand, und zwar in Untersekunda. Bei
seiner ganz ungewöhnlichen Begabung und namentlich seinem ganz erstaunlichen
Gedächtnis verließ S. jede zu überwindende Klasse als Primus und so auch
schließlich die ganze Schule als primus omnium. Namentlich alle Sprachen,
die auf der Schule gelehrt wurden, machte er sich vollständig zu eigen und
beherrschte zum Beispiel das Hebräische so, daß er im Maturitätsexamen
ein besonders schwieriges Kapitel eines Propheten in einem Text ohne Vokal-
bezeichnung leicht herunterlas, als wäre es deutsch. Mit Eifer las er die
alten Klassiker für sich, und ganz ohne Lehrer lernte er schon in der Schul-
zeit Italienisch und las mit Leichtigkeit Petrarcas Sonette und Kanzonen.
Michaelis 1848 bezog S. die Universität Göttingen. Er wurde für Theo-
logie immatrikuliert, ließ aber alles speziell Theologische bald ganz zur Seite
liegen. Seine Hauptstudien bildeten wie schon auf dem Lyzeum die Sprachen
und so wurden seine Hauptlehrer Ewald und Benfey. Bei dem letzteren lernte
er Sanskrit, bei Ewald hörte er alles, was er an Sprachlichem bot. Hebräisch,
Arabisch, Syrisch, Äthiopisch, Persisch, Armenisch, Türkisch. Daneben ließ
er sich die Gelegenheit nicht entgehen, die nähere Bekanntschaft der in
Göttingen studierenden Engländer, Ungarn und eines Spaniers zu machen,
um bald mit ihnen in ihrer Sprache sich zu unterhalten. Am Ende seines
zweiten Semesters trieb es ihn nach Wien, um dort namentlich mit Türken
und Montenegrinern mündlich zu verkehren. Neben all solchen Studien aber
hat er im Hinblick auf etwaige spätere größere Reisen auch noch medi-
zinische, chemische und botanische Vorlesungen mit Eifer besucht.
Schon am Ende seines sechsten Semesters verließ er die Universität
und ist dann bald nach England gegangen. Er hatte gehofft, etwa in Indien
eine vorteilhafte Stellung zu finden, damit aber wurde es nichts. Alles was
ihm der bekannte Max Müller glaubte in Aussicht stellen zu können, schien
ihm sehr wenig empfehlenswert. Es bildete sich gar kein näheres Verhältnis
zu dem genannten Gelehrten, und in seinem späteren Leben hat S. stets
nur sehr kühl, um nicht geradezu zu sagen unfreundlich, von ihm gesprochen.
Er wurde zunächst Hauslehrer in einem wohlhabenden Hause in der
Nähe von Conway. Llandrillo hieß sein Wohnsitz, der im welschen Sprach-
gebiet liegt und so ihm die erwünschteste Gelegenheit bot, sich die welsche
Sprache ganz zu eigen zu machen, was ihm in wenigen Monaten gelang,
und zwar in so vollkommener Weise, daß er bei einer besonderen Gelegen-
heit einen auf ihn ausgebrachten Toast aus dem Stegreif in einer langen
Rede in welscher Sprache erwidern konnte. Es ist bemerkt worden, daß
Riogrr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog:. 9. Bd. I^
226 Sauerwein.
noch nie ein »Kontinentaler« in ähnlicher Weise die welsche Sprache be-
herrscht habe.
In England machte S. noch manche wertvolle Bekanntschaft, kehrte
aber im Jahre 1855 zunächst nach Deutschland zurück und lebte teils in
Gronau, teils in Göttingen und Hannover, diese ganze Zeit mit eifrigsten
Sprachstudien beschäftigt.
Im Winter 1857 ging er als Lehrer und Erzieher der Prinzessin Elisabeth
von Wied, der späteren Königin von Rumänien, nach Neuwied, wo man all
seine Leistungen wie seine ganze eigenartige Persönlichkeit in hohem Grade
zu schätzen gewußt hat. Leider nötigte ihn ein sehr bedenkliches Nerven-
leiden aber im Frühjahr 1860 seine Stellung aufzugeben und in seinem heimat-
lichen Gronau Erholung zu suchen, wo er bis zum Winter 1868 verblieb.
Er fand dann bis zum Jahre 1870 ein Unterkommen als Hilfsarbeiter an der
Königlichen Bibliothek in Göttingen. Seine Besoldung war hier eine sehr
kümmerliche und dazu war er als Bibliotheksarbeiter gar nicht sehr geschätzt.
Er konnte sich schwer an die notwendige Ordnung gewöhnen, las die fremd-
sprachigen Bücher, deren Titel er zu deuten und einzutragen hatte, lieber
ganz durch, als daß er sich auf ihren Titel beschränkte, und schrieb dazu
eine sehr wenig schöne Hand. Zurückgelieferte und wieder einzustellende Bücher
ließ er oft bis zu bedeutender Zahl sich ansammeln, weil er sich vor dem
Besteigen der Leitern und drohendem Schwindel fürchtete. Man war auf der
Bibliothek ganz zufrieden, als er sich aus seiner Stellung nach verhältnis-
mäßig kurzer Zeit wieder zurückzog. Später hat er nie wieder eine feste
Stellung angenommen. Es traf sich für ihn sehr günstig, daß er schon als
26 jähriger junger Mann mit der großen britischen Bibelgesellschaft in Zu-
sammenhang kam. Für sie übernahm er bald bestimmte Arbeiten und bezog
dafür einen reichlichen Gehalt, den man sogar zu verdoppeln versprach,
wenn er seinen festen Wohnsitz in England zu nehmen bereit gewesen wäre.
Dazu aber konnte er sich nicht entschließen. Bei einem wilden Drange
nach Freiheit ist er viel hin- und hergezogen, hat sich in späteren Jahren
mit Vorliebe bei den Litauern, in Norwegen, in der wendischen Lausitz auf-
gehalten.
Seine Arbeiten für die große britische Bibelgesellschaft haben hohe An-
erkennung gefunden. Es ist ausgesprochen, daß Edwin Norris und Georg
Sauerwein als Arbeiter für die Bibelgesellschaft die erste Stelle einnehmen.
Nach einer gefälligen Mitteilung der betreffenden Abteilung der britischen
Bibelgesellschaft waren S.s Arbeiten die folgenden. Er besorgte das bulga-
rische Neue Testament, von dessen Bearbeitung Norris seines Augenleidens
wegen zurückgetreten war, und bald darauf das armenische Neue Testament,
wobei hervorgehoben wird, daß ein nachprüfender Gelehrter in Konstantinopel
auch nicht ein einziges Versehen darin entdeckt habe. Im Jahre 1859 gab
S. den Psalter im Armenischen heraus. Mitbeteiligt war er an der Heraus-
gabe der portugiesischen Bibel, sowie dann an der Herausgabe der Genesis
im Neu - Russischen. Im Jahre 1872 bezog sich seine Arbeit auf das
Neue Testament in griechisch-türkischer Sprache, im Griechischen und Eng-
lischen. In das Madagassische hat er fast das ganze Alte Testament über-
setzt. Dann hat er Kobylanskis ruthenische Übersetzung des Lukas zu beur-
teilen gehabt. — Im folgenden Jahre besuchte er Ruthenien und schickte
Sauerwein.
227
1874 eine Kritik des Kobylanskischen Werkes ein. Im Jahre 1875 prüfte er
Dr. Bruses persisches Neues Testament und bald darauf hatte er die Druck-
bogen der vier Evangelien und der Apostelgeschichte im Transkaukasisch-
Türkischen zu korrigieren. Im Jahre 1878 begann er die Ausgabe der neu-
griechischen Bibel mit Randbemerkungen. Drei Jahre später besorgte er die
Durchsicht von Amirchaninantz' Übersetzung des Alten Testaments ins Trans-
kaukasisch-Türkische.
Im Jahre 1884 schickte ihn die Bibelgesellschaft nach Algier mit dem
Auftrage, biblischen Text ins Kabylische zu übersetzen. Nach Vollendung
des kabylischen Johannes-Evangeliums aber kehrte S. nach Europa zurück,
wo seiner schon neue Arbeit wartete. Neue Ausgaben des Neuen Testaments
und des Markus-Evangeliums im Neupersischen waren zu besorgen; das kaby-
lische Johannes-Evangelium zu drucken. Dann war er längere Zeit beschäftigt
an der transkaukasisch-türkischen Bibel, an der Usbek-türkischen Übersetzung
der Evangelien und des Matthäus-Evangeliums im Kumykischen. Im Jahre
1890 war er mitbeschäftigt an der prüfenden Durchsicht der revidierten Aus-
gabe des transkaukasisch- türkischen Neuen Testaments. Im Jahre 1892 er-
hielt er den Auftrag die Bergpredigt ins Kaschgar-Türkische zu übersetzen,
worüber er dann bald berichten konnte. Die Übersetzung des ganzen Matthäus-
Evangeliums folgte in kurzer Zeit.
Im selben Jahre erhielt er den Auftrag, die Durchsicht der tschuwaschischen
Übersetzung der Evangelien zu besorgen, und dazu die Herausgabe der pol-
nischen Bibelübersetzung.
Im Jahre 1894 sandte er eine Abschrift seiner Ausgabe von Bezas lateini-
scher Übersetzung mit Korrekturen und kritischen Bemerkungen ein. Nach
der Vollendung der polnischen Bibel aber, April 1896, entband ihn die Bibel-
gesellschaft seiner Verpflichtungen und zahlte ihm von da an bis zu seinem
Tode eine Pension. Nach seiner Rückkehr aus Algier hat er auch noch
einige Stücke des Alten Testaments ins Kabylische übersetzt, von denen aber
nichts gedruckt worden ist, und ist auch an der Übersetzung der Bibel ins
Ungarische beteiligt gewesen.
Was noch einige der genannten Sprachen insbesondere anbetrifft, so mag
angeführt sein, daß er 1886 zu Neujahr seinem früheren Lehrer, Professor
Wüstenfeld in Göttingen, ein arabisches Gedicht zugesandt hat, daß er in
seinen Briefen auch später noch vom Dichten arabischer Makamen spricht
und sich äußert, wie er sich eine große Leichtigkeit im Schreiben des Neu-
arabischen erworben habe. Einem Briefe von 1886 war ein persisches und
ein russisches Gedicht beigelegt. Zu Neujahr 1886 schickte er ein freundlichst
aufgenommenes persisches Gedicht an Mirza-Schaffy. Bei einem Besuch in
Dorpat im Jahre 1874 wurde ihm unerwartet ein junger Armenier vorgestellt,
mit dem er auf der Stelle eine Unterhaltung in dessen Muttersprache an-
knüpfte. Als er den bekannten ungarischen Gelehrten und Politiker Paul Hun-
falvy persönlich kennen gelernt hatte, sprach er ungarisch mit ihm. Im Jahre
1901 spricht er vom Schreiben eines ungarischen Briefes an ein ungarisches
Patenkind. Im Jahre 1903 hat er einige Gedichte in welscher Sprache ver-
faßt, die von welschen Zeitungen gern aufgenommen wurden.
Im April 1875 schreibt er, daß er gelesenes Russisch ganz geläufig ver-
stehe. Bei einer späteren Gelegenheit führte er mit dem Fürsten Lobanow
15*
228 Sauerwein.
sehr geläufig eine russische Unterhaltung. Ein von ihm angeredeter Grieche
hielt ihn für einen Landsmann. Im Jahre 1897 hat er einige neugriechische
Gedichte gemacht. Die Übersetzung der madagassischen Bibel übernahm er,
da, der sie übernommen hatte, schwer erkrankt war. Es wurde eine »mehr-
jährige angreifende Arbeit«. Das Ruthenische wurde so weit geläufig an-
geeignet, um ein darüber verlangtes Gutachten abgeben zu können. Auch
wurden darin eine Menge kleiner Dichtungen verfaßt, die ziemlich viel Auf-
merksamkeit auf sich zogen. Im Jahre 1882 hatte er eine transkaukasisch-
türkische Übertragung der Bücher Moses daraufhin zu beurteilen, ob sie mit
dem Original übereinstimme. Im Jahre 1889 hatte er in verschiedenen türki-
schen Dialekten Korrekturen zu besorgen. Bei den Kabylen sprach er im
Jahre 1884 ihre Sprache auf der Straße, was das höchste Interesse der Straßen-
jugend erweckte. Er bezeichnete das Kabylische als fast unau.ssp rechbar,
aber als sehr interessant. Auch polnische Gedichte hat er gelegentlich ver-
faßt. Die lange und schwere Arbeit an der polnischen Bibel wurde im
Januar 1895 vollendet.
Von weiteren Sprachen, die S. vollständig beherrschte, sind noch be-
sonders hervorzuheben: das Litauische, das Wendische der Lausitz und das
Norwegische. In ihren Gebieten hat er sich zu wiederholten Malen und
auch längere Zeit aufgehalten und lebte dort ganz als Litauer, als Wende,
als Norweger.
Im Jahre 1887 hat er einen fast zweistündigen litauischen Vortrag in
der litauischen Gesellschaft Birute gehalten, 1895 in derselben Gesellschaft
am Johannisfest die Festrede, die großen Eindruck machte. Im Jahre 1897
ward er von den Litauern, allerdings ohne Erfolg, als Reichstagskandidat
aufgestellt und hielt stundenlange litauische Vorträge.
Das dem Litauischen nächstverwandte Lettische wurde von S. auch früh in
sein Studiengebiet hereingezogen.
Von noch nicht genannten slavischen Sprachen verstand er namentlich
Serbisch.
Neben dem Norwegischen verstand S. auch das ihm nächstverwandte
Dänisch, sowie auch Isländisch und Schwedisch.
Von weiteren Sprachen, die S. sich zu eigen machte, ist das dem Welschen
nahe verwandte Gälische (Schottische, »Die Sprache Ossians«) noch zu nennen.
In London fand er Gelegenheit die Sprache der Fidschi-Inseln sich bekannt
zu machen. Das Samoanische kam erst später an die Reihe.
Chinesisch etwas gründlicher zu treiben und namentlich auch zu sprechen,
bot sich ihm erwünschteste Gelegenheit, als ein englischer Reisender namens
Alexander Wylee, der sich lange in China aufgehalten und in London einen
zum Scherz geschriebenen chinesischen Brief S.s zu Gesicht bekommen hatte,
ihn in Gronau aufgesucht und dort mehrere Wochen mit ihm zusammen blieb.
In London lernte er auch Hindostanisch, so daß er mit gelegentlich an-
wesenden Bewohnern Indiens sich unterhalten konnte. Die alte Sprache
Indiens, das Sanskrit, war ihm schon von der Universität her so vertraut,
daß er mehrfach längere Gedichte in ihr zu verfassen wagte.
Als es gegen Ende der sechziger Jahre zwischen England und Abessinien
zum Kriege kam, erwachte lebhaft der Wunsch, sich die Erlaubnis zu erwirken,
an der englischen Expedition teilzunehmen, und so warf er sich mit allem
^auerwein. 220
Eifer auf das Studium der Sprache von Tigr6 und des Amharischen, die
beide ihren Ursprung vom alten Äthiopischen genommen "haben. Er lernte
beide Sprachen in kurzer Zeit gründlich, sein Wunsch aber blieb doch unerfüllt.
Als aber später König Theodors Nachfolger Kassai verschiedene offizielle,
amharisch verfaßte Schriftstücke nach England geschickt hatte, die niemand in
England verstand, erinnerte man sich S.s und rief ihn zu Hilfe, der dann
auch alsbald alles übersetzte. Auch später wurden noch mehrere Schrift-
stücke König Theodors ihm nach Gronau nachgeschickt, wo sie bald ihre Er-
klärung fanden. »Wie gern«, schreibt er einmal im Jahre 1903 aus Norwegen,
»würde ich über die im Amharischen sich darstellende eigentümliche
Entwicklung des Semitischen Vorlesungen halten«, ein scheinbarer An-
lauf zu wissenschaftlicher Arbeit, zu der er in Wirklichkeit aber nie ge-
kommen ist.
Auch zur Erklärung neusyrischer Schriftstücke suchte man in England
mehrfach seine Hilfe, die er bereitwilligst gewährte. Das Altsyrische war
ihm schon von der Universität her geläufig. Wie das Syrische, so war ihm
auch das Altarabische von der Universität her vertraut.
Während seiner Göttinger Bibliothekarzeit studierte S. unter anderm Alt-
ägyptisch und auch dessen jüngere Form, das Koptische. Im März des
Jahres 1873 schreibt er, daß er nach Berlin wolle, um etwas Zend zu
studieren, also die alte Form des Persischen, von dem dann aber weiter
keine Rede ist.
Nach einer ganz andern Seite weist das Finnische. S. kam im Spät-
sommer des Jahres 1874 von Schweden her nach Finnland, wo er sich eine
Reihe von Wochen aufhielt und in dieser kurzen Zeit sich das Finnische so
zu eigen machte, daß lange finnische Gedichte von ihm in finnischen
Zeitungen Aufnahme fanden. Von Finnland führte ihn sein Weg über Peters-
burg nach Dorpat. Hier war es ihm ein großes Vergnügen, sich mit dem,
dem Finnischen so nahe verwandten Estnischen gründlich bekannt machen
zu können. Er fand alsbald Gelegenheit sich mit einer Estin in eine
Unterhaltung hineinwagen zu können, und las daneben einen großen Teil
des Kalewipoeg durch, den die Esten gern als ihr großes Nationalepos
ansehen, das aber nur in kleineren einzelnen Stücken, die großenteils gar
nicht untereinander zusammenhängen, von einem Doktor Kreutzwald zu-
sammengefügt worden ist. Dabei geschah nun das Wunderbare, daß S. bei
seinem Lesen und Studium bald die Entdeckung gemacht zu haben er-
klärte, daß viele Formen in dem »Epos« ganz unrichtig gebraucht sein
müßten. Tüchtige Kenner des Estnischen gaben die Endeckung sogleich
zu. Die Sache erklärte sich so, daß Kreutzwald, der viele Stücke im
Volke als prosaische aufgenommen, dieselben aber bei seiner Umarbeitung
in die poetische Form dadurch vielfach entstellt hatte, daß er die älteren
Sprachformen zum Teil gar nicht verstanden, sondern sie wie nur dekorativ
behandelt hatte. Neben dem Finnischen darf auch noch das Lappische
erwähnt werden.
Besondere Erwähnung verdient noch das Aneiteum, die Sprache, die auf
der gewöhnlich Annätom geschriebenen Insel, einer der Neuen Hebriden,
gesprochen wird. Im Jahre 1870 hatte die britische Bibelgesellschaft schon
das ganze Neue Testament im Aneiteum.
230
Sauerweiiu
Im Jahre 1869 erwähnt S. in einem Briefe, daß er Tamulisch verstehe.
Er hatte es schon* in der Mitte der fünfziger Jahre gelernt.
Unmittelbar neben dem Tamulischen nennt S. das Baskische, dem er bei
zeitweiligem Aufenthalt im elterlichen Hause in den fünfziger Jahren eifriges
Studium gewidmet.
Aus London schreibt er im Juli 1878 »Georgisch habe ich ziemlich ein-
gehend getrieben«. Eine Reihe von Jahren früher, Mai 1870, schreibt er aus
Göttingen, daß er eben mit Nachdruck, an ein neues Studium der mela-
nesischen und malaiisch-polynesischen Sprache gegangen sei, auch darüber
etwas zu schreiben gedenke. Eben darauf bezieht sich, was er schon aus
seiner ersten Zeit in England über Studien der Südseesprachen berichtete.
Dann heißt es wieder in einem Briefe von 1899 aus Bückeburg »lerne beizu
etwas Malaiisch — hier ist eine Dame aus Java«.
Aus einem Briefe vom 18. Oktober 1900 ergibt sich seine Bekanntschaft
mit dem Rumänischen und Albanesischen.
Ohne genauere Datierung, etwa im Anfang der sechziger Jahre, spricht
er davon, daß er nach Berlin wolle, »um Japanisch gründlich zu lernen <s
wovon dann aber weiter keine Rede ist in den Briefen. Es darf dabei noch
bemerkt werden, daß in den zu Rate gezogenen Briefen auch die eine oder •
andere Sprache ganz unerwähnt geblieben ist, die er in den Bereich seiner
Studien hereingezogen hat, wie zum Beispiel das Holländische und die beiden
keltischen Idiome: das Irische und das Manxische (die Sprache der Insel
Man), von denen Proben in seinen Druckwerken entgegentreten. Es ist auch
noch anzuführen, daß er nirgends seines heimischen Niederdeutsch Erwähnung
tut, das er aber vollständig beherrschte und sehr geläufig sprach. Er pflegte
wohl einmal zu erzählen, daß er in der vierten Wagenklasse der Eisenbahn,
die er, weil er hier »mit dem Volke« in engste Beziehung kam, immer zu
bevorzugen pflegte, seine Reisegefährten öfters durch plötzliche niederdeutsche
Ansprache in Verwunderung gesetzt habe, da man seine unmittelbare Zu-
gehörigkeit zu vermuten doch nicht gewagt habe.
Bei dieser so ganz ungewöhnlichen und einzigartigen Begabung S.s,
sich fremde Sprachen ganz anzueignen, ist von besonderem Interesse, noch
einige eigene Äußerungen über seine Art des Sprachenlemens zu hören. Er
schreibt am 22. Oktober 1866: »So mitten unter einem Volke lernt man die
Sprache spielend, wie ich aus früherer Erfahrung weiß; das strengt den Kopf
nicht an und gibt doch ganz von selbst viel interessantes und reiches philo-
logisches Material, was man später gut benutzen kann. Unterhalte dich nur
recht viel mit den originellen alten Esthinnen und Lettinnen dort und laß
dir's nicht unangenehm ankommen, wenn es erst langsam mit dem Vorschreiten
geht; man glaubt gewöhnlich zuerst, man käme gar nicht zum Ziele; und
ehe man sichs versieht, kann man so eine Sprache, und um so besser und
natürlicher, je weniger unnatürlichen Zwang man sich quälend auferlegt hat.
Und so eine Sprache von einem neuen Sprachstamm, so spielend erlernt und
dann später gründlich erforscht, ist einem dann eine Repräsentantin des
ganzen Stammes, an die die übrigen Glieder von selbst sich anschließen.
Das erweitert den sprachlichen Gesichtskreis auf eine fruchtbarere und leben-
digere Weise, als wenn man sechs Sprachen auf einmal nur mit Büchern und
Papier zu erobern versucht, und einem dann doch keine so recht natürlich
Sauerwein. His.
231
vertraut werden kann. Hast du dich so ohne Anstrengung des nahen Esth-
nischen bemächtigt, werden sicherlich die anderen Dialekte dann mit der
größten Leichtigkeit sich spielend anschließen.«
Ein ander Mal schreibt er (20. Mai 1875): »um diese Gewandtheit in
derselben [Sprache] zu erreichen, ist das beste Mittel, so viel als möglich zu
lesen . . . aber weniger das Augenmerk auf das massenhafte Lernen neuer Aus-
drücke ... als auf das Einleben in das ganze Sein und das Eigentümliche
der Sprache in deren Anschauungsweise zu richten«, und wieder (am 10. Sep-
tember 1883): »Die Grammatik — in der gewöhnlichen Weise getrieben —
ist zum Ordnen des bereits Gelernten da. Wer aber durch dieselbe in die
Sprache erst eindringen will, verfehlt seine Absicht. Das Schwimmen im
Meere einer Sprache und ihres Formenschwalles lernt sich besser in diesem
vollen freien Meere selber, als, man könnte sagen, in einer solchen engen
Badewanne.«
Dann ist auch noch anzuführen vom 17. November 18^6: »Es ist das
Verkehrteste, was man sich denken kann, das Leben einer Sprache gram-
matisch fassen zu wollen. Die Grammatik muß nachher das aufgehäufte
wilde Material ordnen, aber sie kann's nicht geben« und etwas später »das
Sprachenlernen ist viel weniger schwer, als man meint, man muß es nur
richtig anfangen . . .«
Alle gegebenen Ausführungen beruhen auf intimster persönlicher Bekanntschaft und
einer reichen Fülle von Briefen, die der Göttinger Universitätsbibliothek übergeben zu
werden bestimmt sind. Im Nachlaß S.s soll sich noch ein ausführliches, vielfach in un-
deutscher Sprache geführtes Tagebuch befinden, das noch nicht zugänglich und noch nicht
geordnet ist, später hoffentlich auch noch in den Besitz der Göttinger Bibliothek übergeht.
Durch den Druck veröffentlicht hat S. außerordentlich vieles, das meiste wohl in
Zeitungen, vieles auch in kleinen Heften und auf losen Blättern. An etwas umfangreicheren
Werken können noch genannt werden:
A Pocket Dictionary of the English and Turkish Languages by G. Sauerwein. London-
Leipzig i8sj.
Frie Viso ifraa Vigguin sungje i Nördre-Gudbrandsdalsk Dölamaal taa Dr. G. y. J.
Sauerwein. Kristiania t88s.
Le Lvure des Salutations adressdes aux Nations Orientales et Occidentales representecs
au Congrh des Orientalistes a Stockholm par Girinas (mit diesem litauischen Namen »Wald-
roensch« hat S. sich oft bezeichnet). Leipzig 1888. (Enthält Gedichte in 30 verschiedenen
Sprachen.)
West-östliches Stammbuch zu Mirza-Schaffys siebzigstem Geburtstage 22. April 1889
von GirSnas. Leipzig 1889. (Enthält Gedichte in 25 verschiedenen Sprachen.)
From jirya io Etre^ front Manu to Man. The Queen Victoria Birth-Day Polyglot
Peace Album by Pacificus. Leipzig i8gg. (Enthält Gedichte in 38 Sprachen.)
Leo Meyer.
His, Wilhelm, Universitätsprofessor der Anatomie, * 9. Juli 1831 in
Basel, t I- Mai 1904 in Leipzig. — H. war einer der bedeutendsten Vertreter
seines Faches in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Von maß-
gebendem Einfluß auf die Entwicklung des von ihm vertretenen engeren
Faches, sowie von großer Bedeutung für darüber hinausgehende Gebiete, ist
er auch bei verschiedenen Gelegenheiten weit über die Kreise der engeren
und weiteren Fachgenossen hinaus bekannt geworden. H. entstammt einer
alten angesehenen Basler Familie und war ein Enkel des bekannten schweize-
232
His.
Tischen Staatsmannes der Revolutionszeit Peter Ochs, Sein Vater war Kauf-
mann und Mitinhaber des alten Seidenbandgeschäftes H. Fr. Särasin und er-
freute sich des besonderen Vertrauens seiner Mitbürger, die ihn zu einer
Reihe von Ehrenämtern merkantiler und richterlicher Natur beriefen. Von
seinem Vater waren H. diejenigen Eigenschaften überkommen, die er selbst
in seinen »Lebenserinnerungen« als dessen bezeichnende Grundzüge rühmt:
»Einfachheit und Klarheit der Denkweise und ernste Lebensauffassung«, und
mit diesen vereinte er den Erbteil seiner Mutter, die nach seinem Zeugnis
mit großer Pflichttreue eine ungewöhnliche geistige Regsamkeit und Durch-
bildung verband.
Nach Absolvierung des Gymnasiums seiner Vaterstadt widmete sich H.
von Ostern 1849 ^^^ Michaelis 1854 dem Studium der Medizin, doch fesselten
ihn, seinen naturwissenschaftlichen Neigungen entsprechend, dabei die
theoretischen Teile viel mehr als die klinischen, und der Eifer für die letz-
teren kam niemals recht in Gang. Die ersten drei Semester brachte er teils
in Basel, teils in Bern zu ; dann zog es ihn aber nach Deutschland, und er
siedelte für drei Semester nach Berlin über, angelockt hauptsächlich durch
Johannes Müller, der, als Forscher und Lehrer gleichbedeutend, einer der her-
vorragendsten Biologen aller Zeiten und für eine große Schar von Studie-
renden und Naturforschern ein besonderer Anziehungspunkt war.
Wie stark dieser geniale Mensch auch auf H. wirkte, geht am klarsten
aus dessen Schilderung in den »Lebenserinnerungen« hervor. »Gleich die
ersten Vorlesungen Müllers wirkten auf mich wie eine Offenbarung, und ich
habe je länger je mehr erkannt, was es heißen will, unter dem Einfluß einer
so mächtigen Persönlichkeit zu stehen. Müllers Erscheinung und Vortrags-
weise sind oft geschildert worden, der Ernst seines Wesens, sein tiefer, durch-
dringender Blick, seine etwas zögernde, mit dem Gedanken ringende Sprache.
Wie belebten sich in seiner Darstellung die ödesten und schwierigsten Kapitel
der Anatomie, wie durchsichtig gestaltete sich bei ihm der verwickelte Bau
des Gehirns, und wie verstand er es, alle komplizierten Gestaltungen auf ihre
einfachsten Grundformen zurückzuführen!«
Hat auch der Einfluß Müllers nicht ausgereicht, H. dem Hauptforschungs-
gebiet seines Lehrers, der vergleichenden Anatomie, zuzuführen, so hat er ihn
doch zweifellos auf das eine Arbeitsfeld seines I^ebens hingeführt: die ver-
wickelten Formen des Körpers und der Organe durch einfachere zu erklären.
Die Mittel und Wege dafür fand H. in der Entwicklungsgeschichte. Und das
dankt er vornehmlich einem anderen Lehrer seiner Berliner Zeit, R. Remak,
der, bei seinen Lebzeiten stark unterschätzt, als Begründer der neueren Ent-
wicklungsgeschichte erst allmählich zur vollen Anerkennung gelangt ist. Bei
Remak hörte H. über Entwicklungsgeschichte und wurde in deren Arbeits-
methoden eingeweiht; bei ihm bekam er Einblick in eine im Werden be-
griffene Wissenschaft und in neue große Probleme, die ihn in hohem Grade
fesselten. H. schreibt darüber: »Ich selber danke Remak Anregungen, die
einen großen Teil meiner eigenen Lebensarbeit bestimmt haben.«
Der aufsteigende Ruhm Virchows zog H. dann im Frühjahr 1852 nach
Würzburg, dessen medizinische Fakultät damals am Beginn einer neuen glanz-
vollen Zeit stand. Eine Reihe jüngerer und bedeutender Kräfte, unter denen
ich außer Virchow nur noch Kölliker und Scanzoni nennen will, gaben dem
His.
233
wissenschaftlichen Leben einen mächtigen Anstoß und wirkten anregend und
befruchtend auf die zahlreich herbeieilenden Schüler. Auch für H. wurde
die Würzburger Zeit von besonderer Bedeutung. Sie brachte ihm nicht nur
eine Vertiefung und Erweiterung seiner allgemeinen medizinischen Ausbildung,
namentlich gefördert durch den freien Verkehr zwischen jüngeren Professoren
und Studierenden, sondern führte ihn auch in das Laboratorium Virchows
und dort zu seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit. Virchow, der kurz vor-
her seine neue »Bindegewebslehre« aufgestellt hatte und deswegen von Henle
und anderen heftig angegriffen wurde, forderte H. zu einer Nachprüfung
dieser Frage an der Hornhaut auf. H. unterzog sich der gestellten Aufgabe
mit großem Eifer und Geschick und konnte Resultate von bleibendem wissen-
schaftlichen Werte zutage fördern. Sie waren auch deshalb besonders
interessant, weil sie bewiesen, daß die Virchowsche Lehre in manchen
Punkten nicht mit den Tatsachen übereinstimmte und dementsprechend ge-
ändert werden mußte. Daß solche Ergebnisse im eigenen Laboratorium
Virchows gewonnen werden konnten, ist ein schönes Zeichen für die Objek-
tivität des Schülers sowohl wie des Lehrers. y>Ex ungut leonem« darf man
beim Lesen dieser Erstlingsarbeit von H. sagen! Sie verrät schon alle Eigen-
schaften, welche die Arbeiten unseres Autors sämtlich so vorteilhaft aus-
zeichnen: eigene Forschungswege, Originalität im Erfassen und Beurteilen,
bestimmtes Ziel, klare, logisch folgerichtige Darstellung in einfacher, unge-
künstelter Form, Vorsicht in den etwa anzuschließenden Hypothesen.« Dieses
Urteil Waldeyers ist eine treffliche Würdigung des kurzen, aber inhalt-
reichen Aufsatzes.
»Es war zu Anfang der fünfziger Jahre bei den schweizerischen und viel-
fach auch bei deutschen Medizinern der Brauch, nach Abschluß der Studien,
kurz vor oder nach soeben absolvierten Prüfungen einige Monate in Prag
und in Wien und meistens auch noch in Paris zuzubringen.« So wandte sich
auch H. im August 1853 zunächst für ein halbes Jahr nach Prag, dann für
ebensolange nach Wien, um an beiden Orten namentlich klinischen Studien
obzuliegen. In Prag zog ihn besonders Arlt an, in Wien E. Brücke, Oppolzer
und Eduard Jäger.
In die Heimat zurückgekehrt, bestand H. Ende des Sommers 1854 sein
Doktorexamen, mit dessen Ablegung man damals noch das Recht der Praxis
erwarb, und verwandte das folgende Jahr zur Fertigstellung seiner Disser-
tation, die eine Fortsetzung und Erweiterung seiner in Würzburg begonnenen
Untersuchungen enthielt. Im Herbst 1855 konnte er diese Arbeit unter
dem Titel: »Beiträge zur normalen und pathologischen Histologie der
Cornea« in den Druck geben.
Zum Abschluß seiner auswärtigen Studienzeit ging dann H. nach Paris
und verbrachte dort den Winter 1855—56. Er verkehrte dort in den Labo-
ratorien von Claude Bernard und von Brown-Sequard und hörte Vorlesungen
einiger bedeutender Physiker und Chemiker; als wichtigstes Ergebnis jenes
Aufenthaltes bezeichnet er aber selbst, daß er ihm die dauernde Freundschaft
zu Ed. Hagenbach und zu Fr. Horner gebracht hat.
Zu Beginn des Winters 1856—57 habilitierte sich H. an der Basler Uni-
versität für Anatomie und Physiologie und begann auch, Vorlesungen zu
halten, doch befriedigte ihn seine Tätigkeit so wenig, daß er Ostern 1857
234
His.
wieder auf die Wanderschalt zog. Er wandte sich nochmals auf ein halbes
Jahr nach Berlin mit dem Wunsche, an der Graefeschen Klinik eine histo-
logische Assistentenstelle zu erhalten. Diese Hoffnung allerdings ging nicht
in Erfüllung, dafür aber entschädigten ihn reichlich die freundschaftlichen
Beziehungen, in die er zu Theodor Billroth, damals erstem Assistenten
an der Langenbeckschen Klinik, treten konnte. Zunächst durch gleiche
wissenschaftliche Interessen zusammengeführt, trafen sich die beiden eine Zeit-
lang täglich zu gemeinsamer Arbeit und schlössen gute Kameradschaft, die
sich während Billroths Züricher Zeit zu inniger Freundschaft ausgestaltete.
Zahlreiche Briefe, in denen die Freunde alles, was sie bewegte, miteinander
erörterten, geben Zeugnis von dem idealen Verhältnis zwischen beiden, das
erst durch den Tod gelöst wurde.
Als im Herbst 1857 in Basel die Professur für Anatomie und Physiologie
durch Georg Meißners Berufung nach Freiburg i. Br. frei wurde, hatte H. das
Glück, zu dessen Nachfolger ernannt zu werden. Damit war der damals erst
26 jährige vor eine schwere Aufgabe gestellt, da er weder als Anatom, noch
als Physiolog geschult war. Die Folge bewies, daß er die Fähigkeit und
den zähen Willen hatte, sich in seine Stellung einzuarbeiten, und daß seine
Kräfte mit der Größe der Aufgabe wuchsen. Trotz angestrengter Lehrtätig-
keit in zwei Fächern fand er noch die Muße zu reicher wissenschaftlicher
Arbeit und zu lebhafter Beteiligung am öffentlichen Leben seiner Vaterstadt.
15 Jahre lang wirkte er .so mit zunehmendem Erfolg, bis er 1872 namentlich
auf Betreiben von C. Ludwig nach dem Rücktritte von E. H. Weber nach
Leipzig als ordentlicher Professor der Anatomie und Direktor der anatomi-
schen Anstalt berufen wurde. Mag ihm auch der Entschluß nicht leicht ge-
worden sein, altgewohnte Verhältnisse mit neuen, fremden zu vertauschen und
aus seiner Vaterstadt und der Nähe seiner geliebten Schweizer Berge nach
dem Norden in das flache Land zu ziehen, so traten doch diese kleinlichen
Bedenken zurück, und es überwog die Freude, an die Stelle eines weitbe-
rühmten Gelehrten berufen zu sein und an einer reichdotierten vielbesuchten
Universität eine weit einflußreichere Tätigkeit ausüben zu können. Anfangs
wirkte er in Leipzig noch in dem alten, später (von 1875 an) in dem neuen,
nach seinen Angaben erbauten Institute, dessen Grundriß und Einrichtungen
seinerzeit allseitig als mustergültig anerkannt wurden und bei vielen Neu-
bauten als Vorbild gedient haben. Gleichzeitig mit seiner Ernennung er-
folgte auch die von Wilhelm Braune zum ordentlichen Professor der topo-
graphischen Anatomie, für welche eine besondere Abteilung des Institutes
geschaffen wurde. Beide Männer, im Alter nur wenige Tage auseinander,
waren in wissenschaftlicher Ausbildung und Neigung grundverschieden, lernten
sich aber, durch ihre Stellungen auf ein Zusammenwirken angewiesen, sehr
bald gegenseitig hochschätzen und arbeiteten sich so ineinander ein, daß der
Tod Braunes im April 1892 den Überlebenden traf, »als habe er eine schwere
Verstümmelung erlitten«, und eine schmerzliche Lücke in seinen engeren
Freundeskreis riß. Zwanzig Jahre lang haben beide gemeinsam in Leipzig
die Lehrtätigkeit ausgeübt und mit C. Ludwig, Cohnheim, Thiersch,
Wagner usw. zu den Zierden der Fakultät gehört. Nach Braunes Tode wurde
dessen Stelle eingezogen, und H. führte den Unterricht mit Hilfe jüngerer
Kräfte weiter.
His.
235
In umfassender Lehrtätigkeit, jede freie Minute des Semesters und den
größten Teil der Ferien für wissenschaftliche Untersuchungen ausnützend, war
H. 32 Jahre lang an der Leipziger Universität tätig, von großem Einfluß auf
die Studierenden, hochgeschätzt von seinen Schülern und Kollegen. Groß
war auch allezeit sein Interesse für die Angelegenheiten der Universität, an
deren Spitze er 1882 als Rector magnificus berufen wurde. Die Huldigungen,
welche ihm beim 25 jährigen Jubiläum seiner Leipziger Professur und bei
seinem 70 jährigen Geburtstag von nah und fern dargebracht wurden, waren
Zeichen der hohen Achtung und der großen Beliebtheit, deren er sich aller-
seits erfreute. Hatte er an seinem 70 jährigen Geburtstage neben geistiger
Frische noch das Bild voller körperlicher Gesundheit geboten, so machten
sich ungefähr ein Jahr später die ersten Zeichen eines Magenleidens bemerk-
bar. Mit gewaltiger Zähigkeit stemmte sich sein Körper gegen die Krank-
heit, aber unaufhaltsam schritt sie weiter. Die Schwäche nahm zu, und die
Schmerzen häuften sich; immer klarer ward er sich über seinen Zustand, und
so war der Tod schließlich eine willkommene Erlösung für ihn, der geistig
ungebrochen erst wenige Wochen vorher seine letzten wissenschaftlichen
Arbeiten zum Abschluß gebracht hatte. Er war, wie die Sektion ergab, einem
Magensarkom erlegen.
H. liebte als geborener Schweizer seine Heimat über alles, und jedes
Jahr zog es ihn zu ihren Bergen und Seen. Wenn irgend möglich, beteiligte
er sich auch an den wissenschaftlichen Versammlungen seiner Landsleute;
kein Wunder, daß er auch da zu den alten Beziehungen stets neue knüpfte,
so daß ihn die alte Heimat über der neuen nicht verlor. Der Kreis seiner
Bekannten war ungemein groß ; es gibt wohl kaum ein Land, in dem er nicht
Freunde oder frühere Zuhörer besaß. Mit vielen Geistesgenossen stand er
in regem schriftlichen Verkehr. Auf den Kongressen der in- und ausländi-
schen gelehrten Gesellschaften, die er häufig besuchte, war er ein gern ge-
sehener Gast.
H. war eine groß angelegte Gelehrtennatur durch und durch. Er konzen-
trierte zwar sein großes Wissen und Können auf das Spezialfach seiner Wahl ;
sein Interesse ging jedoch weit über dieses hinaus, ließ ihn immer Anschluß
an die Gesamtbiologie suchen und erstreckte sich auch auf Fragen allge-
meinerer Art. Er hatte einen offenen Blick für die Schäden und Mängel
seiner Zeit und wurde nicht müde, für deren Beseitigung oder Besserung ein-
zutreten. So hat er unter anderem mehrfach das Wort ergriffen zur Frage
des akademischen Unterrichts und ist wiederholt eingetreten für die Schaffung
^wissenschaftlicher Zentralanstalten« für die biologischen Wissenschaften, die
er sich nach dem Vorbild der zoologischen Station in Neapel dachte, und die
ausschließlich der wissenschaftlichen Forschung dienen sollten. H. war auch
einer der Hauptreformatoren der »Gesellschaft deutscher Naturforscher und
Ärzte« und bei der Gründung des »Deutschen Kartells« und der »Inter-
nationalen Assoziation der Akademien« an erster Stelle beteiligt.
Die wissenschaftliche Tätigkeit von H. hat sich über sehr verschiedene
Teile seines Faches erstreckt, ohne daß sich jedoch eine Periodizität in der
Reihenfolge der Arbeiten erkennen ließe. Es empfiehlt sich, die große Zahl
(179) seiner Veröffentlichungen nach den Hauptgebieten, welche sie behan-
deln, zusammenzufassen und die wichtigsten von ihnen gruppenweise zu
236
His.
besprechen. Ich beginne mit den Arbeiten über mikroskopische Anatomie (ein-
schließlich allgemeiner Anatomie), lasse dann die Aufsätze zur makroskopi-
schen Anatomie und Anthropologie, dann die zur allgemeinen und speziellen
Entwicklungsgeschichte (einschließlich allgemeiner Biologie) folgen und fasse
die übrigen in einem Schlußkapitel zusammen.
Zu den Arbeiten über spezielle mikroskopische Anatomie, die fast alle
in die Basler Zeit fallen, gehört die bereits erwähnte Dissertation über die
Hornhaut. Von dieser wurde er auf die Bearbeitung der lymphoiden Organe
(Lymphdrüsen, Thymus, Lymphknötchen des Darmes) und der Lymphwege
geführt, der er sich (anfangs gemeinsam mit Billroth) mehrere Jahre lang
widmete. Durch systematisch ausgeführte Untersuchungen und durch ein
neues originelles Verfahren in der Behandlung der dünnen Schnitte gelang
es ihm, weiter zu kommen, als seine Vorgänger und den wesentlichen Aufbau
dieser Organe klarzustellen. An diese Arbeiten schlössen sich »Beob-
achtungen über den Bau des Säugetiereierstockes« an, die für den wissen-
schaftlichen Werdegang von H. deshalb von Bedeutung sind, weil sie ihn,
wie er selbst sagt, zum erstenmal vollständig in das Gebiet der Entwicklungs-
geschichte hineinführten, dem er dann für lange Jahre fast ausschließlich
.treu blieb.
Erst in seinen späten Lebensjahren wandte er sich wieder histologischen
Fragen zu und zwar solchen der allgemeinen Anatomie. Im Anschluß an
entwicklungsgeschichtliche Fragen nahm er das Studium über die feineren ^
Strukturen der Zelle und über gewisse Vorgänge bei der Zellteilung auf,
eines der schwierigsten Gebiete der Biologie überhaupt. Mit jugendlicher
Frische arbeitete er sich in die ihm anfänglich fremde Materie ein, und
es gelang ihm, eine große Reihe interessanter und wertvoller Beobachtungen
zu machen. Seine Untersuchungen sind namentlich auch dadurch vielen
ähnlichen anderen weit überlegen, daß er sie in ausgedehntem Maße am
lebenden Material (sich entwickelnden Fischkeimen) anstellte. So selbst-
verständlich es scheint, daß für das Studium des feineren Aufbaues der Zelle
zunächst von lebendem Gewebe ausgegangen werden muß, so ist in den
letzten 20 Jahren doch von den meisten Autoren ausschließlich oder vorzugs-
weise abgetötetes Material verwendet worden, bei dem man nicht ohne
weiteres sagen kann, ob die sichtbaren Strukturen bereits im Leben vorhanden
waren oder erst durch das Abtöten entstanden sind.
Auf dem Gebiete der makroskopischen Anatomie heute noch Originelles
und Bedeutendes zu leisten, scheint dem Uneingeweihten unmöglich zu sein,
und doch hat dies H. fertiggebracht!
In der zweiten Hälfte der 70 er Jahre begann er Präparate über die Form
und die Lagebeziehungen der Organe des menschlichen Körpers in neuer
eigenartiger und einwandfreier Form herzustellen. Durch Injektion mit Chrom-
säurelösung und nachträgliche Behandlung mit Alkohol wurden die Körper
und die einzelnen Organe so gut gehärtet, daß sie schichtenweise präpariert
und abgegipst werden konnten, ohne ihre ursprüngliche Lage zu verlieren.
Anfangs mehr für Unterrichtszwecke hergestellt, brachten die Präparate eine
große Menge neuer und überraschender Anschauungen und sind seitdem in
großer Zahl angefertigt und vervielfältigt worden. Kann sich auch in neuerer
Zeit durch eine vereinfachte Technik jedes Institut solche Präparate mit
His.
237
Leichtigkeit herstellen, so haben doch die Hisschen Modelle wegen ihrer
Exaktheit, genauen Durcharbeitung und leichten Handhabung den Weg über
die ganze Erde gefunden und den Namen von H. überall verbreitet. Die
ganze jüngere Generation von Medizinern hat sich an diesen Modellen leichter
klare Vorstellungen von der Form und von dem verwickelten räumlichen
Ineinandergreifen der Organe verschaffen können, als es vordem der Fall
war. Wir können uns heute keinen guten Unterricht ohne diese Gipsabgüsse
denken.
Mit anthropologischen Problemen beschäftigte sich H. zweimal. In seiner
Basler Zeit gab er mit Rütimeyer zusammen unter dem Titel »Crania
hehettca*^ ein großes Tafel werk über die Schweizerschädel heraus, in dem er
zur Aufstellung von vier verschiedenen Typen für die Schweizer Bevölkerung
gelangt. Das Buch gehört zweifellos zu den besten seiner Art! 30 Jahre
später wurde H. in Leipzig vor eine andere eigenartige Aufgabe anthropolo-
gischer Natur gestellt, an deren Lösung er in höchst origineller Weise her-
anging. Es handelte sich dabei um die Frage, ob Skeletteile, welche an dem
nur traditionell bekannten Begräbnisplatz Joh. Seb. Bachs gefunden worden
waren, diesem zugehören konnten oder nicht. Die Anhaltspunkte waren
sehr gering: das Alter konnte stimmen, und der Schädel besaß eine auffällig
»fliehende Stirn«. Weiteres war unmittelbar nicht festzustellen. H. versuchte
deshalb das interessante Problem auf einem Umweg zu lösen. Er veranlaßte
den Leipziger Bildhauer Prof. K. Seffner, über den mutmaßlichen Schädel
eine Büste zu formen, dabei aber die durch Messungen gefundenen Mittelzahlen
der Dicke der Weichteile auf den Schädel aufzutragen und für die Herstellung
zugrunde zu legen. Die so entstandene, lebenswahre Büste vereinigte die
wesentlichen Eigenschaften der bekannten Bilder von Joh. Seb. Bach, und
die zur Prüfung der Frage niedergesetzte Kommission konnte »mit gutem
Gewissen ihr Urteil dahin abgeben, daß die aufgefundenen Gebeine höchst-
wahrscheinlich die von Joh. Seb. Bach seien«. Die Methode hat namentlich
bei Anthropologen großen Anklang gefunden und ist u. a. von J. Kollmann
benutzt worden, um über dem aus einem Pfahlbau der Steinzeit stammenden
Schädel einer Frau deren Büste zu rekonstruieren.
Hat H. ohne Frage auch auf den bereits erwähnten Gebieten Großes
geleistet, seine größte Bedeutung liegt sicher in seinen Arbeiten über allge-
meine und spezielle Entwicklungsgeschichte. Ihr Anfang fällt in das Jahr
1865, wo er bei seiner Untersuchung über den Säugetiereierstock Gegensätze
im Verhalten verschiedener Gewebsteile bemerkte, die ihn an das bei Remak
Gehörte erinnerten. Dies war für ihn die Veranlassung, dessen Lehre durch
eigene Untersuchungen jüngster Stadien von Hühnerembryonen nachzuprüfen.
Die ersten Resultate dieser Untersuchungen sind niedergelegt in einem aka-
demischen Programm »Über die Häute und Höhlen des Körpers«, in dem
die Bedeutung der Remakschen Keimblattlehre für das Verständnis der ein-
zelnen Gewerbsarten erörtert wird. Ausgehend von der Bichatschen Auf-
stellung der drei Hauptsysteme von »Häuten« des Körpers suchte er die
Beziehungen auf, die sich ergeben zwischen deren anatomischem Verhalten
und ihrer Entwicklung, d. h. ihrer Abstammung von einem der drei Keim-
blätter. Der Vergeh, neue große Gesichtspunkte in die histologische Betrach-
tungsweise einzuführen, gelang vollständig. Er suchte die der Remakschen
238 • His.
Lehre anhaftenden Widersprüche zu lösen und gab für das Verhalten der
verschiedenen Gewebe zueinander Erklärungen, die sich in der Folge als
äußerst fruchtbar erwiesen. Der durch seinen Gesichtspunkt interessante und
an neuen Gedanken reiche, großzügige Aufsatz, der nach dem eigenen Ge-
ständnis des Verfassers »nur ein flüchtig hingeworfenes Gelegenheitsprodukt«
war, wirkt auch heute noch in hohem Grade anregend. Es war ein Programm
auch für die Wissenschaft! Manches ist daran jetzt veraltet, manches ist als
sicherer Besitzstand aufgenommen, manches ist zur Klärung noch der Zukunft
überlassen !
Bei der Fortsetzung seiner entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen
erkannte H. sehr bald, daß sich neue große Fortschritte nur durch Verbesse-
rung der alten Methoden erzielen ließen. So suchte er zunächst die Technik
zur Herstellung feiner Schnitte zu vervollkommnen und gelangte 1866 zur
Konstruktion eines eigenartigen Mikrotoms, das zwar nicht das erste seiner
Art war, das ihm aber erst die Möglichkeit gab, lückenlose Reihen gleich-
dicker Schnitte herzustellen; nur an solchen konnte er bestimmte Gebilde
mit Sicherheit in ihrer ganzen Ausdehnung verfolgen. Die erste Frucht dieser
Untersuchungen war seine große Monographie »Über die Entwicklung des
Hühnchens im Ei« (1868), die eine Fülle von wertvollen Einzelbeobachtungen
enthielt, besonders aber bekannt ist durch den Nachweis, daß die Blutgefäße
des Wirbeltierembr>'o nicht innerhalb seiner Körperanlage entstehen, sondern
am äußeren Umfange derselben und erst später in die Körperanlage
hinein wachsen. Diese an und für sich richtige Beobachtung führte
H. zur Aufstellung seiner in den folgenden Jahren mit großer Heftigkeit dis-
kutierten Parablasttheorie, nach der die Blutgefäße und die Gewebe der
Bindesubstanz von dem Parablast (Nebenkeim) abstammen, der sich in der
Umgebung des Ar chibl ast es (Hauptkeimes), getrennt von diesem, aus dem
weißen Dotter bilde. Dieser Gegensatz in der Herkunft sollte sich das ganze
Leben hindurch in dem Verhalten der Gewebe bemerkbar machen. So ein-
fach diese Lehre das gestellte Problem zu lösen schien, so wenig stimmten
doch später bekannt werdende Tatsachen mit ihr überein; sie wurde all-
mählich unhaltbar. H. hat seine Theorie in verschiedenen Schriften zu
stützen versucht, sie aber im Jahre 1900 nach erneuten Untersuchungen selbst
fallen lassen.
Schon in seinen ersten Arbeiten über das Hühnchen wurde H. durch
das Kausalitätsbedürfnis auf eine mechanische Betrachtungsweise für die Er-
klärung entwicklungsgeschichlicher Vorgänge hingeleitet. Er fand sehr bald,
daß gewisse Formveränderungen der Embryoanlage während der Entwicklung
auffallende Ähnlichkeiten besitzen mit denjenigen Umbildungen, welche bieg-
same Platten und Röhren durch Horizontalschub erleiden und sah die Ursache
der wirkenden Kräfte im ungleichen Wachstum der verschiedenen Ab.schnittc
und Schichten der Anlage. Diese durchaus originelle Auffassung, die sich
wie ein roter Faden durch seine sämtlichen cntwicklungsgeschichtlichen
Schriften hindurchzieht, wurde im Anfang außerordentlich bekämpft, hat
sich aber in ihren Grundzügen allmählich immer mehr Anhänger erworben.
Sie hat H. unzweifelhaft zu einem der bedeutendsten Vertreter derjenigen
Richtung in der Entwicklungsgeschichte gemacht, für welche später die Be-
zeichnung »Entwicklungsmechanik« geschaffen worden ist.
His.
239
Auch ein zweiter, charakteristischer Zug tritt uns schon in den frühesten
Arbeiten entgegen, das Bestreben, sich möglichst klare räumliche Vorstellungen
von den behandelten Objekten zu verschaffen. Dies führte ihn sehr bald
dazu, als Erster plastische Rekonstruktionen ganzer Keimscheiben und Em-
bryonen oder einzelner Teile derselben im vergrößerten Maßstabe zu versuchen.
War er auch anfangs nur auf die freie Modellierung angewiesen, deren
Genauigkeit von fortwährenden kontrollierenden Messungen des Objektes
und seiner Durchschnitte unter dem Mikroskop abhing, so ergab sie doch
sofort überraschende Aufschlüsse und ist für die Folge von weittragender
Bedeutung für die verschiedensten Gebiete geworden. Born hat schließlich
der Methode eine einfachere und sichere Form gegeben, und in dieser Form
ist sie heute unentbehrlich geworden. H. ließ für genaue zeichnerische
Wiedergabe der Schnitte den Embryograph konstruieren und wandte als einer
der Ersten auch die Photographie in ausgedehntem Maße für diese Zwecke an.
Vom Jahre 1866 an hat H. auf dem Gebiete der tierischen Entwicklungs-
geschichte eine große Reihe von Untersuchungen ausgeführt und hat außer
dem Hühnchen namentlich Knochenfische und Haifische herangezogen, um
besonders die Verhältnisse der unbebrüteten Keime und die Vorgänge
während der frühesten Entwicklungstufen klarzulegen. Seine Beobachtungen
an den Keimscheiben des Lachses führten ihn dabei zur Aufstellung seiner
Konkreszenzlehre, nach der der Rumpf des Embryos durch eine allmählich
von vorn nach hinten fortschreitende axiale Verwachsung zweier symme-
trischer Hälften des Randwulstes entsteht. Diese hochwichtige Theorie ist
ähnlich wie die Parablastlehre heiß umstritten worden; sie scheint auch das
Schicksal der letzteren teilen zu sollen.
Auf Grund eines reichhaltigen und sorgfältig gesichteten Materiales,
welches er nach und nach gesammelt hatte, begann H. 1880 die Herausgabe
seiner: Anatomie menschlicher Embryonen, deren 2. und 3. Lieferung
1882 und 1885 folgten. Mit diesem groß angelegten Werk, in welchem zum
ersten Male die embryonale Entwicklung der Körperformen und der Organe
des Menschen in zusammenhängender Weise an der Hand vorzüglicher Ab-
bildungen und Modelle dargestellt wurden, schuf er eigentlich erst die
menschliche Entwicklungsgeschichte, von der bis dahin nur einzelne Kapitel
in wenig ausführlicher Form bearbeitet waren. Das Buch ist ein Meisterwerk,
sein Wert unvergänglich!
Ein besonderes Interesse wandte H. auch stets der Entwicklung der
einzelnen Organe zu und behandelte sie außer in dem eben genannten
Werke noch in einer Reihe gesonderter Abhandlungen. In allen diesen
Arbeiten versuchte er unter anderem auch die postembryonalen Formen auf
die embryonalen zurückzuführen und das Verständnis jener dadurch zu fördern.
Als die wichtigsten sind unter diesen Veröffentlichungen wohl diejenigen über
die Entwicklung des Hirns und Nervensystems zu bezeichnen, führten sie
ihn doch im Jahre 1886 dazu, seine schon mehrfach geäußerte Ansicht über
die Histogenese des Nervensystems ausführlich zu begründen. Sämtliche
Nervenzellen und Nervenfasern stammen von dem äußeren Keimblatt, dem
Ektoderm. Jede Nervenfaser geht aus einer einzigen Zelle als Ausläufer
hervor und wächst von dieser auf kürzere oder längere Strecken aus. »Diese
Zelle ist ihr genetisches, ihr nutritives und ihr funktionelles Zentrum, alle
240
His.
anderen Verbindungen der Faser sind entweder nur mittelbare oder sie sind
sekundär entstanden.« Diese Lehre, die H. noch in mehreren späteren
Arbeiten weiter ausführte, hat für die Folge große Bedeutung dadurch erlangt,
daß sie die durch Ramon y Cajal u. a. auf Grund andersartiger Untersuchungen
über die Verknüpfung der einzelnen Nervenelemente gewonnenen Anschauungen
wesentlich stützte. Sie ist als sogenannte Neuronenlehre bekannt. Auch
diese Lehre ist heftig angegriffen worden, und der Kampf um sie tobt heute
heftiger denn je. Die Zukunft wird entscheiden, ob sie zu Recht bestehen
bleibt oder ganz oder teilweise fallen muß. Mag in solchen wissenschaft-
lichen Fehden auch ein Forscher eine Lieblingsidee auf dem Kampfplatz
hinsinken sehen, die Wahrheit jedenfalls gewinnt dabei ! Jeder solcher Streit
führt zu einer vertieften Bearbeitung eines Gebietes von verschiedenen Seiten,
wie sie sonst wohl nur ausnahmsweise durchgeführt wird. Auch kann es nie
einem Naturforscher als Makel angehangen werden, wenn nach ihm andere
mit besseren Methoden mehr sehen, als er sehen konnte, und wenn sie da-
durch seinen Deutungen den Boden entziehen.
Zu den großen Fragen über die mutmaßliche Entstehung des körperlichen
und geistigen Lebens hat H. nur ausnahmsweise das Wort ergriffen, im
Zusammenhang eigentlich nur in seinen Briefen über »Unsere Körperform
und das physiologische Problem ihrer Entstehung«, in denen er sich über
den engen Kreis der Fachgenossen hinaus an ein breiteres Publikum
wandte. So große Hochachtung er auch dem »mächtigen Geist von
Charles Darwin« zollte, und so sehr er auch das allgemeine Prinzip von dem
genetischen Zusammenhang aller Lebewesen anerkennen mußte, so trug er
doch Bedenken, dieser Lehre in alle Einzelheiten zu folgen. Vor allem be-
zweifelte er, daß die morphologische Verwandtschaft unter allen Umständen
die genetische beweisen müsse. Man wird sich daher nicht wundern, daß
sich H. dem Ausbau der Darwinschen Lehre durch Haeckel, der in seinem
sogenannten »biogenetischen Grundgesetz« den Satz von der kurzen Wieder-
holung der Stammesentwicklung in der des Individuums aufgestellt hatte,
nicht ohne weiteres anschließen konnte. Seine scharfe Kritik der ungerecht-
fertigten Übertreibungen dieser Hypothese und der von Haeckel zur Beweis-
führung gegebenen Abbildungen führte zu einer heftigen Polemik, die heute
glücklicherweise fast vergessen ist.
H. besaß auch ein großes Interesse für die Geschichte seines Faches,
von dem der Student durch die ausführlichen historischen Einleitungen zu
den Vorlesungen Kenntnis erhielt. Außerdem verdanken wir ihm eine Reihe
anregender Aufsätze über die Geschichte von wissenschaftlichen Problemen
und vom Unterrichtswesen. Auch die Gedächtnisreden und Nekrologe auf
mehrere verstorbene Kollegen gehören hierher; sie geben uns ein getreues
Bild von dem herzlichen Verhältnis, welches ihn mit diesen verband, und
sind alle gekennzeichnet durch das Bestreben, von den Verstorbenen ein
objektives Bild zu geben und der eigenartigen Begabung eines jeden gerecht
zu werden.
Von großer Bedeutung für die anatomische Literatur und für den ana-
tomischen Unterricht war die Anregung von H., eine einheitliche anatomische
Nomenklatur zu schaffen, die an die Stelle der bisherigen, bei verschiedenen
Autoren und Völkern stark differierenden treten sollte. Er hat dieser
His.
241
Arbeit, die mit ihren vielen Korrekturen und Korrespondenzen oft herzlich
langweilig war, mehrere Jahre lang sehr viel Zeit gewidmet und hat sie 1895
mit Erläuterungen versehen herausgegeben. Ist diese Nomenklatur, bei der
es sich meistens darum handelte, aus mehreren Ausdrücken einen auszu-
wählen, wie jedes an Kompromissen reiche Werk auch nicht fehlerlos, so
hat sie sich doch im wesentlichen bewährt. Sie hat bereits ihren Weg ins
Ausland gefunden und hat auch in der Zoologie und Botanik ähnliche Be-
strebungen hervorgerufen. Für den Studierenden bedeutet sie eine wesent-
liche Vereinfachung und wird dies noch mehr tun, wenn auch alle Lehrer
klinischer Fächer sie sich zu eigen gemacht haben werden. H. brachte das
große Opfer, im Interesse der Einführung der Nomenklatur im Alter von 60
Jahren noch einmal »umzulernen« !
H. war ein großer Freund wissenschaftlicher Gesellschaften und versäumte
nicht gern eine Versammlung derselben; mit besonderer Liebe gehörte er
der Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften an und war mehrere Jahre
bis zu seinem Tode der Sekretär ihrer mathematisch -physikalischen Klasse.
In ihren Schriften hat er auch eine Reihe seiner Arbeiten veröffentlicht;
andere erschienen in dem von ihm fast 30 Jahre lang, anfangs mit W. Braune
gemeinsam, dann allein geleiteten anatomischen Teile des Archivs für Ana-
tomie und Physiologie.
Die Lehrtätigkeit von H. war namentlich an der Leipziger Universität,
deren Größe entsprechend, eine sehr ausgedehnte. Seine Vorlesungen
zeichneten sich durch große Klarheit und das Streben nach Objektivität aus.
Dadurch, daß er es peinlich vermied, in ihnen zu polemisieren und überhaupt
die Zuhörer etwas von dem heftigen Streit ahnen zu lassen, der über einzelne
Probleme noch tobte, und an dem der Vortragende selbst lebhaft beteiligt
war, wirkten sie vielleicht manchmal etwas trocken, doch wurde der Student
dafür reichlich entschädigt durch die klaren, mit großer Kunstfertigkeit vor
seinen Augen entworfenen Zeichnungen, in denen sich H. immer mehr vervoll-
kommnete, und die alle einen eigenartigen Charakter trugen. Dem praktischen
Unterricht auf dem Präpariersaal widmete er sehr viel Zeit. Für einen
künstlerisch veranlagten Menschen, wie es H. zweifellos gewesen, war ein
peinlich und sauber ausgearbeitetes Präparat auch ein ästhetisch befriedigender
Anblick, ein anderes dagegen wirkte abstoßend; und so stellte er auch an
die Technik seiner Schüler dieselben hohen Anforderungen, denen er selbst
genügte. Schüler im engeren Sinne hat H. nur wenige gehabt. Seinem
etwas zurückhaltenden Wesen nach war er nicht dafür geeignet, Schüler her-
anzuziehen und eine »Schule« zu gründen.
H. war eine einfache Natur bis an sein Lebensende; die vielen äußeren
Erfolge und Ehren konnten nichts daran ändern. Er lebte allein seiner Wissen-
schaft als Forscher und als Lehrer. Gleich groß war sein Interesse für
speziellere und allgemeine Fragen, und in allen suchte er sich mit scharfem
Verstand zur Klarheit durchzuringen. Originelle Ideen in der Methodik
und in der Betrachtungsweise, große Exaktheit und künstlerischer Sinn in
der Ausführung, unermüdlicher Fleiß im Sammeln des Materials und in der
Ausarbeitung waren ihm Helfer bei seinem Werk. Genaue Beobachtung
charakterisiert seine wissenschaftliche Arbeit.
H. war eine große, starke Natur! Daß er aber noch mehr war, dafür
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd. 16
242
His. Lorenz.
legen am besten Zeugnis ab seine »Lebenserinnerungen« (1831- -1857, als Manu-
skript gedruckt), in denen er »der Familie und den Freunden« nicht nur
interessante Bilder aus seiner frühen Jugend vorführt, sowie über seine wissen-
schaftlichen Lehrjahre und über sein Leben berichtet, sondern in denen er
auch einen Einblick in seine Entwicklung als Mensch tun läßt und sein
tiefes Gemüt offenbart.
Literatur: Rud. Burckhardt. Zum 70. Geburtstage von W. His. Korrespondenz-
blatt f. Schweizer Ärzte 1901 Nr. 13. — W. Spalteholz. Zum 70jährigen Geburtstag von
W. His. Münchener medizinische Wochenschr. 1901 Nr. 28. — Lebenserinnerungen von
Wilhelm His. Als Manuskript gedruckt. Leipzig, Dezember 1903. — Femer Nekrologe von
Dixon {Journal of Anaiomy and Physiology^ Vol. 38, 1904) — R. Fick (Anatom. Anzeiger,
25. Bd. 1904) — H. Held (Berliner klinische Wochenschr. 1904, Nr. 25) — Rollmann,
(Verhandlungen d. naturforschenden Gesellsch. in Basel. Bd. 15. Heft 3) — Mall,
(American Journal of Anatomy. Vol. IV. Nr. 2. 1905) — Marchand (Berichte d. math.-
phys. Klasse d. Königl. Sachs. Ges. d. Wiss. v. 14. Nov. 1904) — Nicolas {BibliografhU
anatomique, T. XIII. fasc. 3) — Rawitz (Naturwissenschaft!. Rundschau 1904, Nr. 24) —
W. Spalteholz (Illustrierte Zeitung Nr. 3176, 12. Mai 1904 und Mttnchener medizin.
Wochenschr. 1904, Nr. 22) — Stirling {Tht I^neet, May 21, 1904) — Waldcyer
(Deutsche medizin. Wochenschr. 1904, Nr. 39 — 41).
Werner Spalteholz (Leipzig).
Lorenz, Ottokar, Historiker, * 17. September 1832 in Iglau, t i3- Mai 1904
in Jena. — Ein deutscher Gelehrter, den wir unbedenklich zu den geistvollsten
Geschichtschreibern, zu den »historischen Denkern«, wie er selbst es nannte,
zählen dürfen. Ottokar Lorenz war ein Österreicher. Er war in Iglau zur
Welt gekommen, hat dann über ein Viertel] ahrhundert in Wien als Lehrer
und Forscher gewirkt, um erst in späteren Lebensjahren nach der thüringi-
schen Musenstadt zu übersiedeln, wo er, nach weiteren zwei Dezennien frucht-
bringender wissenschaftlicher Tätigkeit, einem ihn lange quälenden Leiden
erlag.
L.s geistige Entwicklung war die eines durchaus selbständigen Kopfes.
Er war, so wie Ranke und Mommsen, für die ihn immer hohe Verehrung
erfüllte und mit denen ihn lange Zeit die freundlichsten Beziehungen ver-
knüpften, kein Fachschüler gewesen, hatte sich nicht nach den Winken eines
Meisters gebildet, sondern sich seinen Weg allein gesucht. Seinen Lehrern
der Geschichte an der Wiener Universität, Aschbach und Jäger, brachte er
zwar die verdiente Achtung entgegen, Dankbarkeit aber für tiefer gehende
Anregung zollte er anderen Männern: namentlich dem Philologen Bonitz, der
in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Wien lehrte,
und dem Herbartianer Lott, dessen Tochter Marie L. später zur Frau
nehmen sollte. Jenem las er seine ersten kleinen Werke vor und nahm von
ihm manchen guten Wink entgegen, namentlich wenn ihn sein rasches Tem-
perament in der Polemik nach allzu scharfen Waffen greifen ließ; dem zweiten
widmete er sein Buch über die »Deutsche Geschichte im XIIL und XIV. Jahr-
hundert« als ein Zeichen der Erkenntlichkeit für viel im Gespräch empfangene
Unterweisung. Und doch hat er sich weder von dem einen für die Philologie
noch von dem andern für die Weltweisheit als Berufsstudium gewinnen lassen,
sondern sich, einer starken Neigung folgend, für die Geschichte entschieden,
an der sich gerade damals auch bei den österreichischen Regierungsbehörden
Lorenz.
243
ein lebhafterer Anteil kundgab. Um die Mitte der fünfziger Jahre wurde
das »Institut für österreichische Geschichtsforschung« gegründet, und Lorenz
war vom Herbst 1855 bis in den September 1856 unter dessen ersten Mit-
gliedern. Während dieses Jahres hatte es seine Bemühung erreicht, daß
Theodor Sickel, der sich damals archivalischer Studien halber in Wien auf-
hielt, ein Privatissimum über Paläographie an der neuen Anstalt las und mit
so schönem Erfolge, daß es der Unterrichts Verwaltung wünschenswert erschien,
den jungen Gelehrten dauernd an Wien zu fesseln. Der Dienst, den L. der
historischen Forschung in Österreich erwies, indem er durch seine Anregung
die Gewinnung Sickels ermöglichte, soll ihm unvergessen bleiben.
Als er das Institut verließ — er hatte 1855 bereits eine Studie über das
Konsulartribunat veröffentlicht — , war er entschlossen, sich historischen Stoffen
aus der mittleren Zeit, die mit der österreichischen Geschichte zusammen-
hingen, zuzuwenden. Nach einer Studie über »Die siebente Kurstimme bei
Rudolfs I. Königswahl« veröffentlichte er weitere über Ottokar IL, über die
Sempacher Schlachtlieder u. m. a., bis 1863 der erste Band der »Deutschen
Geschichte« erschien, dem drei Jahre später ein zweiter folgte, der die Er-
zählung bis ins Jahr 1293 führte. Obgleich nur ein Rumpf, in manchen
Einzelheiten schon damals bestritten, heute überholt, war das Werk dennoch
für jene Zeit eine überaus wertvolle Leistung«; durch seinen Reichtum an geist-
vollen Aus- und Überblicken gewährt es auch jetzt noch viel Genuß. Der
Beginn des 5. Kapitels im zweiten Bande z. B. über die Verschiedenheit des
deutschen Ostens und Westens wird stets zu dem Besten gehören, das je an
knapper und doch dabei die größten historischen Verhältnisse im Grunde
berührender Darstellung geleistet wurde. Was das Verdienst des Autors
besonders hoch stellte, war, daß er damit ein Feld bebaute, das dazumal,
wenn man von Kopps und Böhmers hilfreichen Leistungen absah, von der
Geschichtschreibung noch wenig beachtet worden war und wo die wichtig-
sten Quellen noch unaufgeschlossen lagen. War doch auch das ganze große
Gebiet des wirtschaftlichen Lebens vor L. fast noch gar nicht in Betracht
gezogen worden. Der angesehene Platz, den wir ihn seitdem unter den Histo-
rikern der Nation einnehmen sehen, und die Achtung, die ihm gerade die
Besten unter ihnen entgegenbrachten, waren daher wohl erworben. Was sich
der Fortsetzung des Werkes hindernd in den Weg stellte, war einmal der —
übrigens heute noch fühlbare — Mangel an guten Editionen der Quellen des
XIV. Jahrhunderts und nicht minder der eines zureichenden Wegweisers zu
ihnen, da Wattenbachs klassisches Buch über Deutschlands Geschichtsquellen
nur bis in die Mitte des XIII. Jahrhunderts führte. Da faßte denn L. den
Plan, zunächst diese Lücke auszufüllen, der Fortsetzer Wattenbachs zu werden.
Obgleich er ehedem in einem Exkurs zu einem Aufsatz über »Leopold III.
und die Schweizer Bünde« sich durchaus der Ansicht Kopps vom Vorzug der
urkundlichen vor den chronistischen Denkmälern angeschlossen hatte, fand
er später doch, durch Rankes Urteile belehrt, daß die Erzählung des einzel-
nen, der die empfangenen Eindrücke seiner Zeit mit Empfindung wiedergibt,
nicht zu entraten und keineswegs zu tief zu stellen sei, und so entstanden
die zwei Bände »Deutschlands Geschichtsquellen seit der Mitte des XIII. Jahr-
hunderts« in der von Wattenbach gefundenen Form und Ordnung. Allerdings
hatte L. dabei, was Jenem vielfach erspart worden war, in den meisten Fällen
i6*
244
Lorenz.
die ganze kritische Arbeit allein zu leisten. War es im Unmut darüber, wenn
er in der Vorrede zur dritten Auflage einen mit Grund vorgebrachten Ein-
wand gegen gewisse Ausartungen einer gedankenlosen Geschäftigkeit im
Editionswesen sehr scharf, und dadurch, daß er ihn generalisierte, geradezu
verletzend zum Ausdruck brachte, so daß ihm auch mancher Freund darin
nicht beipflichten konnte?
Das Jahr 1885, in welchem die dritte Auflage erschien, war freilich eins
voll Aufregungen für das an sich leicht erregbare Wesen des im Grunde gut
und gütig gearteten Gelehrten: es brachte sein Scheiden von Wien mit sich.
Hier, wo er sich 1856 habilitiert hatte, war er 1860 zum außerordentlichen
und schon im Jahre darauf, nachdem er einen Ruf nach Freiburg aus-
geschlagen, zum ordentlichen Professor ernannt worden. Nebenbei hatte er
1857, als Zögling des »Instituts«, am Haus-, Hof- und Staatsarchiv eine Stelle
erhalten. Diese war ihm dann allerdings schon 1866, infolge eines Preßprozesses,
wieder verloren gegangen. Denn L. hatte es über seinem gelehrten Wirken
nicht versäumt, den Geschehnissen des Tages mit hohem Interesse zu folgen
und namentlich in staatskirchenrechtlichen und in ünterrichtsfragen im Sinne
einer fortgeschrittenen Überzeugung mit seinem Urteil hervorzutreten. (Derlei
Arbeiten über »Kaiser Friedrich II. und sein Verhältnis zur römischen Kirche«^,
»Kirchenfreiheit und Bischofswahlen«, »Die Jesuiten und die Gründung der
österreichischen Staatsschule«, »Über Papstwahl und Kaisertum« sind später
mit anderen Abhandlungen in »Drei Büchern Geschichte und Politik«, fSyö,
gesammelt erschienen, »Papstwahl und Kaisertum« erweitert als Buch.) Diese
seine Haltung war für ihn zur Zeit, da Schmerling die Regierung führte, ohne
Nachteil gewesen; hatte dieser selbst ihn doch in seinem Kampfe mit Deäk
zu publizistischer Tätigkeit angeregt, unter deren Früchten eine Schrift
»Gegen Deäks Adreßentwurf« (1861) noch heute lesenswert ist. Als dann
aber die junge Verfassung sistiert wurde und eine rückläufige Bewegung ein-
trat, genügte L.s Hinweis auf Karl X. in einem Artikel der »Presse«, um ihn
mit den Gerichten zu bedrohen, ihn jedenfalls aber seine Stelle am Archiv
einbüßen zu lassen. Den Studenten freilich war er durch solch freisinniges
Wesen, das sich auch in seinen Vorlesungen zum Ausdruck brachte, nur
sympathischer geworden, was namentlich bei seiner Wahl zum Rektor, 1880,
deutlich kund wurde. Aber schon wenige Jahre später sollte ein einziges Vor-
kommnis ihm diese Gunst entfremden. 1885 hatte sich der damalige Rektor,
Maaßen, im niederösterreichischen Landtag in einer Frage des nationalen
Konfliktes nicht so geäußert, wie es die deutschen Studierenden von ihrem
akademischen Oberhaupte erwartet haben mochten, und Maaßen wurde von
ihnen hart bedrängt. Als da nun L., gestützt auf seine persönliche Beliebt-
heit, für den Angegriffenen und seine Würde eine scharfe Lanze einlegte,
wandte sich der Unmut der Kommilitonen in offenem Aufruhr gegen ihn.
FAn Konflikt mit mehreren Kollegen und dem neuen Rektor trat dazu und
verleidete ihm den weiteren Aufenthalt in Österreich. Der ihm persönlich
befreundete Herzog Ernst von Coburg, mit dessen Denkwürdigkeiten er sich
schon seit Jahren beschäftigte, war einer der Kuratoren der Jenenser Uni-
versität; er verschaffte ihm die Berufung an diese Hochschule, und noch im
selben Jahre machte sich L. in Jena seßhaft. Er war damit — so tief hatte
das letzte Erlebnis auf ihn eingewirkt — auch innerlich verändert; aus dem
Lorenz.
245
freigesinnten Manne war ein Konservativer geworden, mit Anschauungen, die
jeden überraschen mußten, der ihn ehedem gekannt hatte.
Hier in Jena war es nun nicht mehr die Geschichte der mittleren Jahr-
hunderte, die seine Arbeiten fesselte. Er hatte sich schon in Wien wieder-
holt mit Themen neuerer Zeit befaßt — namentlich eine Arbeit über »Joseph II.
und die belgische Revolution« an der Hand Murrayscher Papiere, und eine
andere über »Wallenstein« hatten Aufmerksamkeit erregt — , jetzt beschäftigte
ihn vorzugsweise die Geschichte neuester Jahrzehnte, und ein Reihe von Auf-
sätzen über »Staatsmänner und Geschichtschreiber des XIX. Jahrhunderts«,
unter denen sich insbesondere eine Studie über Metternich dauernde Geltung
erworben hat, konnte bald in einem stattlichen Bande gesammelt erscheinen.
Vorher schon, in den Jahren 1887 bis 1889, waren Herzog Krnsts Memoiren
publiziert worden, deren Redaktion L. übernommen hatte. Daneben gewann
bei diesem das Interesse an Fragen der Historik eine besondere Intensität.
Er hatte schon lange zuvor, in Karl Tomascheks »Schillerbuch«, ein Kapitel
über »Schiller als Historiker« verfaßt, dann war eine Arbeit über Schlosser
entstanden, dann ein abwehrender Aufsatz gegen Du Bois-Reymonds Idee
einer naturwissenschaftlichen Geschichtschreibung in der »Historischen Zeit-
schrift«, dann die Rektoratsrede über »Die Politik als historische Wissen-
schaft« — alles noch in Wien. Jetzt nahm er diese grundsätzlichen Fragen
aufs neue vor, zunächst das Gebiet der Geschichte unter vorwiegender Be-
tonung des staatlichen Momentes begrenzend, die zeitliche Einteilung des
historischen Stoffes unter neuen Gesichtspunkten untersuchend. Nachdem er,
mit Recht, die heute geltende Periodisierung nach Altertum, Mittelalter und
Neuzeit als unwissenschaftlich verworfen hatte, drängte sich ihm der Gedanke
auf, ob nicht in anderen »natürlichen« Perioden die Ideen, in denen er mit
Ranke das treibende Element der Menschengeschichte erkannte, in ihrer
Wirksamkeit nachgewiesen werden könnten. Er kam, von dem Beispiel seines
Freundes Wilhelm Scherer, der die deutsche Literaturgeschichte in Abschnitte
von dreihundert Jahren eingeteilt hatte, und von einem gelegentlichen Worte
Rankes angeregt, dazu, in der Generation und in deren Verdreifachung, d. i.
im Jahrhundert, diese Maßstäbe zu finden, denn »die Ideen hängen quali-
tativ an den einzelnen Menschen und an ganzen Generationen«. Diese
Studien, die 1886 unter dem Gesamttitel »Die Geschichtswissenschaft in
Hauptrichtungen und Aufgaben« erschienen, führten ihn dazu, der Genealogie
ein besonderes Aufmerken zu widmen und sich eingehender mit dem Pro-
blem der Vererbung zu befassen, namentlich nachdem ich ihn gelegentlich
eines Besuches in Jena auf Ribots y>VhMdite<^ aufmerksam gemacht hatte,
worin er einige seiner eigenen Behauptungen wiederfand. Nun entstand das
Buch »Leopold von Ranke, die Generationenlehre und der Geschieh tsunter-
richt^< (1891), dann das »Genealogische Handbuch der europäischen
Staatengeschichte«, das in der zweiten Auflage (1895) ein nützlicher
Behelf geworden ist, endlich das »Lehrbuch der gesamten wissenschaft-
lichen Genealogie« (1898). Diese Werke zur Historik haben manchen Wider-
spruch erfahren, wenn sie gleich viel Beachtenswertes enthielten; sie sind
von der großen Kontroverse über die historische Geltung von Persönlichkeit
und Masse wohl auch nur vorübergehend in den Hintergrund geschoben
worden.
246 Lorenz. Waetzoldt.
Inzwischen war das Interesse weiter Kreise durch einige hervorragende
historiographische Leistungen auf die Vorgänge der sechziger Jahre des
XIX. Jahrhunderts und die Vorgeschichte des deutsch-französischen Krieges
gelenkt worden. Hier konnte auch L. ein Wort mitreden, und er tat es.
Seine Beziehungen zu Herzog Ernst und dessen Gemahlin, der Schwester des
Großherzogs von Baden, hatten ihm mancherlei Quellen aus fürstlichen Haus-
archiven zugänglich gemacht, die ihm jene Zeit in einem anderen Licht er-
scheinen ließen, als man sie anzusehen sich gewöhnt hatte. Er verwertete
sie in einem Werke über »Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reiches,
1866 — 187 1« (1902). Es war das letzte umfängliche Buch, das er, bereits
von körperlichen Leiden geplagt und auf die Mithilfe anderer angewiesen,
verfaßt hat. Es lief in seinen Ergebnissen darauf hinaus, daß sein Verfasser
den Anteil Bismarcks an der Reichsgründung zugunsten desjenigen der
deutschen Fürsten einigermaßen einschränken zu sollen glaubte. Das war
nun freilich der herkömmlichen Meinung stark entgegen. Aber gerade dazu,
sich dem Herkommen kritisch zu widersetzen, hat L. stets eine große Neigung
und einen nicht geringen Mut besessen. Hier traf er auf kräftigen Wider-
stand, den er noch durch eine letzte Schrift »Gegen Bismarcks Verkleinercr-
(1903) zu bekämpfen strebte. Völlig unbefangene Kritik wird jenem Buche
die Anerkennung nicht versagen dürfen, daß es — namentlich in den Noten
— ein reiches Material enthält und daß an ihm kein Darsteller dieser Dinge
wird vorbeigehen dürfen. Im übrigen aber zeigt es, wie die Schrift über
Joseph II. aus seiner frühesten Zeit und eine spätere über »Goethes politische
Lehrjahre« (1893), einen überaus lebendigen, expansiven Geist, der sich hie
und da von seinen Quellen über jene Grenze hinaus verlocken läßt, die ein
bedächtigerer Forscher nicht überschreiten würde. Kann man diesen Vor-
wurf nicht unterdrücken, so wird man anderseits doch wieder zugeben
müssen, daß gerade solche temperamentvolle Behandlung historischer Stoffe,
verbunden mit einer ansprechenden, an klassischen Mustern gebildeten Dar-
stellungsweise, anregend wirkte, viel geistiges Gut in dauernde Sicherheit
brachte und, vielleicht gerade durch den Widerspruch, den sie entgegentrug
oder hervorrief, der Wissenschaft manche Förderung zuteil werden ließ.
In Österreich, wo L. eine ganze »Generation« von Geschichtslehreni
heranbilden half, besaß er viele warme Anhänger, die noch heute sein An-
denken ehren. Wer ihm aber als Freund näher getreten war und einen
tieferen Blick in diese volle Hingebung an die Sache des Lebensberufs, in
diese edle, aus allen Wissensgebieten geschöpfte Bildung, in dieses, trotz der
streitbaren Außenseite, innige Gemüt tun durfte, der wird sich der Erinne-
rung an ihn, wenn er ihn auch in dem einen und anderen etwas anders ge-
wünscht hätte, wie eines reichen Besitzes freuen, den er um alles nicht missen
möchte.
Durchgesehener S.-A. aus den Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichi>-
forschung XXVI. Band. August Fournier.
Waetzoldt, Christian Stephan, Geheimer Oberregierungsrat und vor-
tragender Rat im preußischen Kultusministerium, ♦ 3. Juni 1849 ^^^ Sohn
des Pfarrers Gustav Adolf Waetzoldt zu Hennersdorf in Schlesien, f r. Juni
1904 in Berlin. — W. genoß zuerst den Unterricht seines Vaters, trat 1865
Waetzoldt.
247
in die Sekunda des Gymnasiums zu Bunzlau ein, besuchte dann das Gymnasium
in Breslau und schließlich das Berliner Wilhelmsgymnasium, das er 1869
mit dem Zeugnis der Reife verließ, um germanische Philologie zu studieren.
Der mehrfache Schulwechsel war durch die Laufbahn des Vaters bedingt,
der das geistliche Amt mit dem Schuldienst vertauschte, Seminardirektor in
Bunzlau, Regienmgs- und Schulrat in Breslau und 1868 vortragender Rat im
preußischen Kultusministerium wurde. Während seines ersten Semesters blieb
W. in Berlin, dann ging er nach Marburg, doch nicht zu langem Verweilen.
Der deutsch-französische Krieg brach aus —
„Die Männer fassen an die blanke Wehre;
Da sollten wir im Bücherstaub erschlaffen
Und, müßig selbst, der Starken Werk begaffen,
Im Arm die Kraft — und fem dem deutschen Heere ?*^
Als Freiwilliger bei den elften ^ Jägern nahm er am Kampfe gegen
Frankreich teil und kehrte erst nach Beendigung des Feldzuges zu seinen
Studien und zwar nach Berlin zurück.
„Nun kommt, ihr alten Freunde,
Herr Wolfram, tritt herfür,
Du, tugendreicher Walther,
Beut deine Lieder mirl"
Neben der deutschen wandte sich W. in den folgenden drei Semestern
besonders auch der romanischen Philologie und vor allem dem Studium des
Französischen zu, für das er während seines Aufenthalts in Frankreich leben-
digstes Interesse gewonnen hatte. Tobler und Herrig wurden seine Lehrer.
In der festen Überzeugung jedoch, daß man das Beste und Letzte einer
fremden Sprache nur in dem betreffenden Lande erwerben könne, zog er im
September 1872 aufs neue nach Paris, wo er bis zum November 1873 als
Hauslehrer und Journalist tätig war und französisches Leben und Wesen von
Grund aus studierte und kennen lernte. In der Beherrschung der Sprache
erreichte er die höchste für einen Nichtfranzosen überhaupt mögliche Voll-
kommenheit. Nach Deutschland zurückgekehrt promovierte er am 9. Januar
1875 in Halle zum Dr. phiL Seine Dissertation behandelte die »Pariser
Tagezeiten«, ein mittelhochdeutsches Reimwerk von 4062 Versen, das er in
der Bibliotheque nationale entdeckt und abgeschrieben hatte. Eine vollständige
Ausgabe der Dichtung ließ er im Jahre 1880 erscheinen, in dem er auch die
»Niederdeutschen Denkmäler« durch eine Ausgabe von -»Flos unde Blankßos«
bereicherte.
Bald nach seiner Promotion wurde W. Erzieher des Herzogs Georg
Ludwig von Oldenburg, den er auf Schloß Schaumburg unterrichtete, auf
größeren Reisen durch die Schweiz und Oberitalien und schließlich auch
zur Leitung seiner Studien auf die Universität Bonn begleitete — glückliche
Jahre, die dem jungen Gelehrten eine Fülle von Anregungen und in der
rheinischen Musenstadt manche Stunde frischen, fröhlichen Erlebens brachten.
Das Jahr 1878 führte W. nach Hamburg. Er wurde als Oberlehrer an der
Klosterschule zu St. Johannis angestellt und hatte hauptsächlich an dem
Lehrerinnenseminar dieser Anstalt zu unterrichten. Auch die Hamburger
Zeit gestaltete sich für ihn zu einer an edelstem Gehalt überaus reichen und
bedeutenden.. Die besten Kreise erschlossen sich ihm. Er empfing viel, denn
248 Waetzoldt.
er hatte viel zu geben. Und nicht anders war es in Berlin, wohin er 1886
als Direktor der Elisabethschule übersiedelte. Die Jahre seines Direktorats
zählen zu den erfolgreichsten des berühmten Instituts. Das Schulamt allein
aber genügte seiner Arbeitskraft und Arbeitsfreudigkeit bei weitem nicht.
Er war gleichzeitig, um nur einiges zu nennen, Mitglied verschiedener
Prüfungskommissionen, Dozent an der Kriegsakademie und Mitherausgeber
von »Herrigs Archiv«. Dazu kam noch eine außerordentliche Professur für
französische Sprache und die Mitdirektion des romanischen Seminars an der
Berliner Universität. Alle diese Aufgaben bewältigte W. mit unvergleich-
licher Frische und Energie, dabei mit einer das Kleinste beachtenden
Gewissenhaftigkeit und Treue, die sich nie genug tun konnte. Immer weiter
dehnte sich der Kreis seines Wirkens, immer größer wurde die Zahl derer,
die ihm unverlierbaren geistigen Besitz zu danken hatten. Eine bedeutungs-
volle Unterbrechung erfuhr seine Berliner Tätigkeit im Jahre 1893. Er wurde
zum Generalkommissar der deutschen Unterrichtsausstellung in Chicago er-
nannt, eine schwierige Mission, die er aber mit bewundernswertem Geschick
in jeder Beziehung erfolgreich zu Ende führte. Neun Monate, vom März bis
zum November, weilte er in Amerika, dessen Unterrichtsverhältnisse er
gleichzeitig aufs eingehendste studierte. Zurückgekehrt aus »weiter Welt und
breitem Leben« sollte er sich nicht mehr lange der Ruhe seines Berliner
Heims erfreuen. Vom Kultusministerium für die Verwaltungslaufbahn in
Aussicht genommen, wurde er 1894 als Regierungs- und Schulrat nach
Magdeburg und 1897 als Provinzialschulrat in seine Heimatprovinz Schlesien
nach Breslau berufen. Magdeburg und Breslau dienten natürlich nur als
Vorbereitung auf das eigentliche Ziel, das W. im Jahre 1899 mit seiner Er-
nennung zum Geheimen Regierungsrat und vortragenden Rat im Ministerium
der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten erreichte. 1902
wurde er zum Geheimen Oberregierungsrat befördert. W^ übernahm im
Ministerium das Dezernat für das höhere Mädchenschulwesen, bald übertrug
man ihm noch das Blinden- und Taubstummenwesen und außerdem im Jahre
1902 das Direktorat der Turnlehrcrbildungsanstalt in Berlin.
Die fünf Jahre seiner Verwaltungstätigkeit im Kultusministerium be-
deuten einen der glänzendsten Abschnitte in der Geschichte des von ihm
vertretenen Ressorts. »In der Geschichte der deutschen Bildung hat er sich
eine dauernde Stellung erworben, indem er der wissenschaftlichen Frauen-
bildung ihren Platz im preußischen Unterrichtswesen eroberte«. Seine außer-
ordentlichen Verdienste um das höhere Mädchenschulwesen sind vonWychgram
ausführlich und sachkundig gewürdigt worden. »Eine organische Neugestal-
tung des ganzen höheren Mädchenschulwesens war W.s Ziel«, eine Riesen-
aufgabe, deren Schwierigkeiten niemand klarer erkannte, als er selbst.
Dennoch nahm er mutig und fest das Werk in Angriff und gönnte sich nicht
Ruhe noch Rast, das hohe Ziel, welches ihm vorschwebte, zu erreichen. V^-o
lange Verwirrung geherrscht hatte, schuf er Klarheit, mit kluger Mäßigung
und feinem Takt bahnte er die Neuerungen an, die ihm unerläßlich erschienen,
wo Hindernisse entgegenstanden, scheute er selbst schwere Kämpfe nicht,
sie zu beseitigen. Wie einen neuen Lebensstrom spürte man sein Wirken,
wie ein Befreier erschien er allen. Durch ihn erst wurde der tote Buch-
stabe der Verfügungen und Erlasse lebendig. In den Prüfungen, die er
Waetzoldt.
249
leitete und die er durch seine Teilnahme mit einem Schlage auf eine höhere
Stufe weit über das Gewöhnliche hinaushob, zeigte er dann praktisch, worauf
es ihm ankam, nicht auf Gedächtnisparaden und geistlosen Wissenskram,
sondern einzig darauf, die Lehrerinnen zu Persönlichkeiten heranzubilden und
sie zu jenem Unterrichten zu befähigen, das lebendiges Ausströmen der Per-
sönlichkeit und allein imstande ist, junge Menschenseelen auf den Pfad
wahrer und echter Bildung zu leiten. Nur die Anfänge seines großen
Reformwerkes durfte W. erleben. Aber schon in diesen Anfängen steckt soviel
Gutes und Gesundes, daß sie eine glückliche Entwicklung des Ganzen ver-
bürgen, wenn man nur die von ihm gewiesenen Wege nicht wieder verläßt,
sondern auf dem Grunde weiterbaut, den er gelegt hat. Einen besseren kann
es nicht geben.
Trotz der übergroßen Last von Amtspflichten, die auf seinen Schultern
ruhte, fand W. dank seiner ungeheuren Leistungsfähigkeit doch immer noch
Muße, sich auch schriftstellerisch zu betätigen. In zahlreichen kleineren
Aufsätzen und Vorträgen behandelte er die verschiedensten Fragen des
Unterrichtswesens, namentlich auch der Frauenbildung. Mit Vorliebe berichtete
er auf Grund seiner reichen persönlichen Erfahrung über die Schulver-
hältnisse des Auslands und wies auf das Gute und Nachahmenswerte, das
er dort gefunden, nachdrücklich hin. W.s geistvolle und anregende Arbeiten
bilden einen wertvollen Schatz unserer pädagogischen Literatur. Es wäre
dringend zu wünschen, daß sie, die an so vielen Stellen zerstreut und daher
bis jetzt keineswegs allgemein zugänglich sind, sobald wie möglich gesammelt
dargeboten würden. Ein solcher Band »kleine Schriften«, der sich natürlich
nicht auf das Pädagogische allein beschränken dürfte, sondern das ganze
Gebiet von W.s schriftstellerischem Wirken umspannen müßte, würde zugleich
ein schönes Denkmal für den Heimgegangenen sein und einen Schlüssel zu
seiner reichen und reinen Gedankenwelt bieten, in die Einkehr zu halten
Lehrenden und Lernenden zu bleibendem Gewinn werden muß. Auf einzel-
nes einzugehen würde in diesem Rahmen zu weit führen. Ausdrücklich aber
sei wenigstens auf den meisterlichen Vortrag W.s auf dem fünften Neu-
philologentag »Die Aufgabe des neusprachlichen Unterrichts und die Vor-
bildung der Lehrer« (Berlin 18Q2) hingewiesen. Für die Festschrift, die bei
Gelegenheit derselben Philologenzusammenkunft herausgegeben wurde, steuerte
er eine überaus feinsinnige Abhandlung über Paul Verlaine bei, die als ganz
besonderes Zeugnis dafür gelten kann, in wie hohem Maße W. die wunder-
bare Gabe besaß, durch tiefes Eindringen in das Empfindungsleben und die
Psyche der Franzosen das volle Verständnis ihrer Dichter zu vermitteln. Sein
Bestes aber, weil es ihm so ganz aus dem Herzen kam, hat er doch in
seinen Beiträgen zur deutschen Literaturgeschichte gegeben. Seiner Seele
Heimat war Goethe. Mit seinem ganzen Leben hat er es bewiesen. An
Goetheschriften besitzen wir von W. außer einer vortrefflichen Ausgabe der
»Iphigenie« (Velhagen und Klasings Sammlung deutscher Schulausgaben,
Lfg. 2, 1889), »Zwei Goethe vortrage. Die Jugendsprache Goethes — Goethe
und die Romantik« (Berlin 1888), die 1903 in zweiter, durch einen Vortrag über
»Goethes Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen« vermehrter
Auflage erschienen. Dies Goethebüchlein hebt sich aus der großen Masse der
Goetheliteratur leuchtend heraus. Die künstlerisch vollendeten Vorträge werden
250
Waetzoldt.
nicht veralten und den Zweck, den ihr Schöpfer im Auge hatte, »Verständnis
und Liebe für Goethes Art und Kunst zu nähren«, immer wieder vollauf er-
füllen, und zwar nicht nur »an ein und der andern Stelle«, sondern weit
umher und überall, wo immer Goethe lebendig ist. Früher schon hatte W.
auch Geibel einen gehaltvollen Essay gewidmet (Hamburg 1885). Damit
schließt sich die kleine Reihe seiner Schriften zur deutschen Literatur. Doch
dies Wenige ist viel und läßt ahnen, was er uns hätte geben können, wenn
nicht andere Aufgaben alle seine Kräfte in Anspruch genommen hätten.
Was seinen Werken einen so ganz besonderen Reiz verleiht, ist die Schön-
heit und künstlerische Behandlung der Sprache. Er war ein Meister und
Bildner der deutschen Sprache, wie es nicht viele gibt. Die feinsten
Schwingungen, der zarteste Stimmungsgehalt der Worte erschloß sich seinem
tiefd ringen den Sprachgefühl. »Das Geheimnis dieser Sprache ist ihre innere
Wahrheit« — dies Wort, mit dem W. die Sprache Goethes kennzeichnet,
darf man getrost auf seine eigene anwenden.
Und wie seine Sprache, so war sein ganzes Wesen von innerer Wahrheit
durchdrungen. Jeder Schein, alle Unnatur war ihm von Grund aus verhaßt.
Ihr besonderes Gepräge empfing seine Persönlichkeit von dem »tiefinnern
Zug zum Künstlerischen und eng damit verbunden zum allgemein Mensch-
lichen«, der ihm innewohnte. Er war es, »der ihn weit über alle Schranken
des Beamtentums hinweghob und unter seiner Hand alles lebendig werden
ließ, was sonst als starres Schema erscheint. Sein Streben war durchaus
darauf gerichtet, in der Bildung unseres Volkes die Werte zur Geltung zu
bringen, die ihm als die höchsten und fruchtbarsten galten.« Zu eigener
dichterisch- künstlerischer Produktion fühlte er sich trotz "eines starken Talentes
doch nicht berufen. Auch die beiden poetischen Schöpfungen, die er in
früheren Jahren veröffentlichte — »Heimat und Fremde. Ein Märchen und
Lieder« (Oldenburg 1876) und »Ein Wintermärchen «• (Hamburg 1880) — er-
heben nicht irgendwelchen Anspruch auf Künstlerschaft, so lieb sie uns sind
um ihres persönlichen Wertes willen. Um so künstlerischer lebte W. durch
die Tat, in heißem Bemühn, das Seinsollende, das so rein vor seinem Geiste
stand, auch für andere zur lebendigen Macht zu erwecken, alles zeitliche
Sein auf Ewigkeitswerte zu gründen. In seiner Seele glühte »die große
Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem Schönen, nach der Kunst als einem
Lebensgut«. Diese Sehnsucht wieder zu entfachen, betrachtete er als eine
der wichtigsten Aufgaben aller künstlerischen Erziehung. So mag es ver-
ständlich werden, daß er, der schönheitsfrohe Idealist, der Mann der Wissen-
schaft, der nach dem Urteil aller zum Universitätslehrer wie kaum ein
anderer berufen war, schließlich die Bürde eines praktischen Amtes auf sich
nahm, das zunächst so ganz abseits von seinen Neigungen zu liegen schien.
Aber eben dieses Amt bot ihm wie kein zweites Gelegenheit, in führender
Stellung seine Erziehungs- und Bildungspläne zu verwirklichen. Und so
ließen sein Tatendrang, seine Menschenliebe und sein unerschütterlicher
Glaube an das Gute ihn den Schritt tun, freilich nicht leichten Herzens und
nicht ohne inneren Widerstreit. Das Wort, welches er der zweiten Auflage
seiner Goethevorträge voranschickt: »Nur gelegentlich ist es mir noch
verstattet, alte liebe Wege zu wandeln«, verrät dem Kundigen manches.
Doch auch auf der neuen Bahn gelangte er allmählich zur Höhe des Lebens,
VVaetroldt.
251
zu einem Gefühl tiefinnerster Befriedigung auf sicherstem Grunde. Nur aus
solchem Gefühl, aus solcher Seelenstimmung heraus konnte er auf dem
zweiten Kunsterziehungstage in Weimar im Oktober 1903 jene herrlichen,
ergreifenden Worte sprechen, mit denen er seinen Vortrag »Der Deutsche
und seine Muttersprache« schloß. Nichts offenbart den Kern seines Wesens
so tief und rein wie diese Worte, und so mögen sie auch hier ihre Stelle
finden :
»Die Muttersprache schlingt ihr Band um alle ■ Kinder des Volkes in
Höhen und Tiefen. Wünschen wollen wir, daß ihre Schönheit und die
Schönheit ihrer Werke von allen wieder gesucht und empfunden werde.
Dazu seien unserm Volke auch stille Stunden beschieden im Hasten und
Treiben seiner Zeit. Wir wollen arbeiten, ihm eins der höchsten Lebens-
güter zu gewinnen, eine der höchsten Lebensäußerungen ihm zu erschließen,
die Kunst in seiner Sprache, die Neuschaffung der Welt durch seine
Dichter. Die Kunst wollen wir ehren und lieben lehren!
Ich stand gestern in dämmernder Abendstunde des warmen, weichen
Oktobertages vor Goethes Gartenhause, an dem Orte Weimars, der mir der
liebste ist, und wo ich glaube, die Nähe des Großen am innigsten zu fühlen.
In den tieferen Laubmassen des Parkes schon die Nacht. Die Umrisse der
Bäume waren gegen den Abendhimmel noch klar abgezeichnet, und noch
der hellere Glanz des Himmels im stillen Flusse. Jenseits die weiße Garten-
pforte und sein Haus, das nicht übermütig aussieht mit dem Schindeldache;
darüber, kaum über die Bäume des Parkes erhoben, der Abendstern. Es
war eine einsame Stunde der tiefsten Erhebung, und mir war, als ob um
dieses Haus, um diesen Ort und um diese Bäume ein großes Licht schwebte
und weit hinausstrahlte von der Stätte, wo einmal so Wunderbares durch das
Labyrinth seiner Brust gewandelt ist. Ich empfand, daß wir alle die Pflicht
haben, dieses Licht zu hüten, diese Flamme zu nähren, diese Fackel weiter-
zugeben :
Damit das Gute wachse, wirke, fromme.
Damit der Tag dem Edlen endlich komme!«
Wie einzig hat W. solcher Pflicht nachgelebt, wie ist das Gute unter
seinen Händen gewachsen! Mit schmerzlicher Wehmut packt uns das
Bewußtsein, daß er nun nicht mehr unter uns weilt, daß er im Kampfe für
das Gute seine Kräfte verzehrt hat, bis er zusammenbrach. Doch nicht der
Klage geben wir Raum. Erhebend steht das hehre Bild seiner Persönlich-
keit uns vor Augen, eine heilige Mahnung für alle, denen es Herzenssache
ist, die deutsche Jugend in wahrhaft nationalem Sinne zu erziehen und dem
deutschen Volke seine höchsten und edelsten Güter zu erhalten. »Von seinem
Grabe her stärkt uns der Anhauch seiner Kraft und erregt in uns den leb-
haftesten Drang, das, was er begonnen, mit Eifer und Liebe fort und immer
fortzusetzen«.
Vgl. W.s »FxVtf« am Schluß seiner oben erwähnten Dissertation. — Frauenbildung,
Jg. 4, 1905, S. 193 — 208 (J. Wychgram, St. VVaetzoldt, auch separat erschienen: Leipzig,
Teubner, 1905); vgl. auch Jg. 3, 1904, Hft. 6 u. 9. — Archiv für das Studium der neueren
Sprachen, Jg. 58, Bd. 113, 1904, S. i— 12 (Nekrolog v. H. Löschhom, Bildnis). — Zeit-
schrift für den deutschen Unterricht, Jg. 18, 1904, S. 406—413 (Nekr. v. O. Lyon). —
Goethe-Jahrbuch, Bd. 26, 1905, S. 305—308 (Nekr. v. R. Lehmann). — Zeitschrift für
252
Waetzoldt. Reuter.
franzüs. ii. engl. Unterricht, Bd. 3, 1904, S. 496 — 497 (Nekr. v. M. Kaluza). — Die Frau,
1904, S. 588 — 589 (Nekr. v. Helene Lange). — Monatsschrift f. katholische Lehrerinnen,
1904, Hft. 8 (J. Mausbach, Geheimrat W. und die Oberiehrerinnenbildung). — Die deutsche
Schule, Jg. 8, Heft 6, Juni 1904, S. 391/92. — Haus und Schule, Jg. 35, 1904, Nr. 26 v. 29. Juni
(Geheimrat W.s Tod. Ansprache am 6. Juni 1904 in der Aula der Kgl. Augustaschule von Direktor
Wychgram). — Pädagogische Zeitung, Jg. 33, 1904, Nr. 23 v, 9. Juni. — Monatlicher
Anzeiger des Vereins Berliner Volksschullehrerinnen, Jg. 5, Nr. 6 v. 16. Juni 1904. —
Monatsschrift für das Tumwesen, Jg. 23, 1904, Hft. 6, S. 188 — 189. — Deutsche Tum-
Zeitung, 1904, Nr. 26 v. 23. Juni (Bildnis). — Körper und Geist, 1904, S. 113 — 116. —
Comenius-Blätter für Volkserziehung, Jg. 12, Hft. 3 v. 15. Juni 1904, S. 95. — Daheim,
Jg. 40, 1904, Nr. 38 (Bildnis). — Deutscher Reichsanzeiger u. Kgl. Preußischer Staats-
anzeiger, 1904, Nr. 129 V. 3. Juni. — National-Zeitung, Morg.-Ausg. v. 8. Juni 1904. —
Tägliche Rundschau, Morg.-Blatt v. 11. Juni 1904. — Nachrichten f. Stadt u. Land,
Oldenburg, v. 3. Juni 1904. — Jahresbericht d. Kgl. Elisabeth-Schule zu Berlin, 1904/1905.
XXVIII, S. 15. — O. W. Beyer, Deutsche Schulwelt des 19. Jahrh., Lcipz. u. Wien 1903,
S. 338 (Bildnis). — Kalender für Lehrer u. Lehrerinnen an deutschen höheren Mädchen-
schulen. Bcarb. v. Schröter, Jg. 8, 1905/ 1906, Vorwort (Bildnis). — Posteis Deutscher
Lehrerkalender f. d. J. 1906, Jg. ^3^ T^'il ^ (Bildnis), T. 2, S. 59 — 61 (Biogr. Skizze). —
Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des 2. Kunsterziehungstages in Weimar, 1903,
Deutsche Sprache und Dichtung. Leipzig, Voigtländcr 1904, S. 24 — 32, 250 — 265. —
Monatsschrift f. höhere Schulen, Jg. 3, 1904, S. 486. — Für persönliche Mitteilungen
bin ich Frau Geheimrat Waetzoldt zu herzlichem Danke verpflichtet. Joh. Sass.
Reuter, Richard, politischer Schriftsteller, * 26. Februar 1840 in München,
t 9. Dezember 1904 in Naumburg a. d. Saale. — Sein Vater war der Geh.
Regierungsrat Ludwig Reuter, der als preußi.scher Zollvereinsbevollmächtigter
in München lebte, seine Mutter eine Tochter des verdienten Magdeburgischen
Oberbürgermeisters Franke. Nach Besuch einer Volksschule empfing der
reichbegabte Knabe seine Bildung zunächst auf einem Gymnasium und einem
Privatinstitut in München, bis der frühe Tod des Vaters 1853 ^^^ Mutter
veranlaßte, mit ihren drei Kindern nach der norddeutschen Heimat zurück-
zukehren. Sie wählte zum Wohnsitz Naumburg a. d. Saale, wo Verwandte von
ihr lebten, und ließ ihren ältesten Sohn Richard sogleich als Alumnus in die
benachbarte Landesschule Pforte eintreten. Lebenslang blieb R. dieser An-
stalt, die er 1859 mit dem Reifezeugnis verließ, in großer Anhänglichkeit und
Liebe zugetan. In München, Heidelberg und Berlin widmete er sich dem
Studium der Rechtswissenschaft und ward nach abgelegter erster Prüfung
Gerichtsauskultator in Naumburg a. d. Saale. Dort lebte damals auch die
befreundete Familie Nietzsche, und R. hat später einmal (1895 in der »Kritik«)
in einem Aufsatz »Besuch bei dem jungen Nietzsche« über seine Beziehungen
zu Friedrich Nietzsche berichtet. Nach der zweiten Prüfung trat R. zur
Regierungslaufbahn über und arbeitete 1866 als Regierungsreferendar in Stral-
sund. Der Krieg mit Osterreich rief ihn zu den Waffen; er nahm beim
42. Infanterieregiment am Feldzug teil und stand insbesondere bei Gitschin
mit im Feuer. Als Regierungsassessor fand er nacheinander in Berlin, Posen
und Merseburg Beschäftigung. Durch den deutsch-französischen Krieg ward
er seinem Beruf abermals für längere Zeit entzogen, doch nahm er an dem
eigentlichen Feldzuge keinen tätigen Anteil, sondern wurde zur Bewachung
gefangener Franzosen nach Jüterbog, Torgau und Wittenberg kommandiert.
Als der Friede geschlossen war, kehrte R. zur königlichen Regierung nach
Reuter.
253
Merseburg zurück und arbeitete dort in der Spezialkommission. Schon da-
mals befand er sich in keinem rechten Einverständnis mit der preußischen
Politik und begann, abweichenden Anschauungen in Broschüren und Zeitungs-
aufsätzen Ausdruck zu verleihen. Seine erste Veröffentlichung war »Der hohe
Hof des Parlaments von Deutschland« (1873); ^^^ folgte die Broschüre
»Nationalliberale Partei, nationalliberale Presse und höheres Gentleman tum.
Von einem Nichtreichsfeinde« (1874), die in rascher Folge fünf Auflagen er-
lebte. Diese Broschüren erregten durch ihre Klarheit und Schärfe die Auf-
merksamkeit weiterer Kreise und bewogen den Verleger der »Kölnischen
Zeitung« Dumont-Schauberg 1874 nach Merseburg zu reisen, um den jungen
Politiker für seine Zeitung zu gewinnen. Die Verhandlungen führten zum
Ziele: R. nahm den Abschied aus dem Staatsdienst und trat unter sehr
vorteilhaften Bedingungen bei der Redaktion der »Kölnischen Zeitung« ein.
Hier fühlte er sich sehr befriedigt und konnte seine Anschauungen in freierer
Weise durch Leitartikel und sonstige Aufsätze zum Ausdruck bringen. Aber
nach zwei Jahren nahm die »Kölnische Zeitung« eine regierungsfreundlichere
Haltung an und verlangte auch von R. Einlenken in das neue Fahrwasser.
Da R. an dieser Schwenkung nicht teilnehmen konnte, blieb ihm nur übrig,
1876 aus der Redaktion wieder auszuscheiden. Ein Rücktritt in die ver-
lassene Staatslaufbahn war ausgeschlossen, denn R. hatte sich mehr und mehr
in Gegensatz zu der Bismarckschen Politik gestellt. So bedeutete für ihn
die Treue gegenüber der eigenen Überzeugung den Verzicht auf eine ge-
sicherte Existenz und das Hinausgehen in eine ungewisse Zukunft. Daß er
seiner Überzeugung dieses Opfer ohne Zögern brachte, muß auch den Gegner
seiner Anschauungen mit Hochachtung vor seinem Charakter erfüllen.
In der Tat glückte es ihm nicht wieder, eine befriedigende dauernde
Lebensstellung zu gewinnen, obschon der Ertrag seiner politischen Schrift-
stellerei immer für die Bedürfnisse des unverheirateten Mannes ausreichte.
In den Jahren 1877 und 1878 arbeitete R. für die »Bürgerzeitung« in Berlin
und siedelte dann nach St. Petersburg über, um bei der Redaktion des
»St. Petersburger Herolds« einzutreten. Aber bereits 1880 gab er diese
Stellung wieder auf und kehrte nach Deutschland zurück. In der Folgezeit
unternahm er verschiedene Studienreisen, so nach England, dessen politische
Einrichtungen ihn besonders interessierten. Zwischendurch hatte er 1878 eine
Broschüre über »Die Parteilage«, ferner in der »Neuyorker Staatszeitung«
einen Aufsatz über »Die politische Lage Deutschlands« und in Rudolf Gott-
schalls »Politischer Monatsschrift« 1878 — 79 Abhandlungen über »Die französi-
sche Verfassungskrise« erscheinen lassen. Sein politischer Standpunkt war
in jener Zeit kaum von dem der Fortschrittspartei verschieden, wie er denn
in späteren Jahren ganz zur deutsch-freisinnigen Partei gehörte und von dieser
zu Agitationsreisen verwandt und als Reichstagskandidat aufgestellt wurde.
Von 1882 bis 1884 veröffentlichte R. seine Artikel in der Berliner »Volks-
zeitung«, 1884 schrieb er im »Demokratischen Blatt« Aufsätze über Boden-
reform und lieferte 1885 Beiträge für den »Pester Lloyd«. Die letztgenannte
Mitarbeiterschaft führte 1886 zu einer Anstellung in der Redaktion des > Pester
Lloyd«, die aber 1889 ihr Ende erreichte. Im Jahre 1890 ließ sich R. dauernd
in Naumburg a. d. Saale nieder und lebte dort fortab mit Mutter und Schwester
gemeinsam.
254
Reuter.
Einen festeren Mittelpunkt für seine Tätigkeit fand R. 1892 wieder mit
dem Anschluß an die »Friedensgesellschaft«, der er sich mit ganzem Herzen
zuwandte und für die er bis zu seinem Tod unermüdlich eifrig und erfolg-
reich in Wort und Schrift mit der ihm eigenen Entschiedenheit und Schärfe
gewirkt hat. Er wurde bald in den Vorstand der »Friedensgesellschaft« ge-
wählt und gehörte ihm bis zum Lebensende an. Außer der Mitarbeiterschaft
(1892 — 1899) an Berta v. Suttners Zeitschrift »Die Waffen nieder«, an den
»Friedensblättern« (seit 1900) und an der »Friedenswarte« (seit 1903) ver-
öffentlichte R. viele Aufsätze über die Friedensbewegung in verschiedenen
Tageszeitungen und gab 1893 eine Broschüre heraus unter dem Titel »Was
will das Volk? Weder Krieg noch Militarismus«, die weite Verbreitung fand.
Noch größer war ein anderer literarischer Erfolg: im Jahre 1894 wurde R.s
Abhandlung »Wie kann eine kräftige internationale Strömung gegen den
herrschenden Militarismus auf passendste Weise hervorgerufen werden .»'s
von der Stockholmer Friedensgesellschaft mit dem durch den Grafen Björk-
lund gestifteten Preise gekrönt. Die Arbeit erschien noch 1894 in »Friede
und Abrüstung«, das Jahr darauf auch besonders. Im Jahre 1896 unternahm
R. mit einem Gesinnungsgenossen eine Agitationsreise für die Friedenssache
durch die Rheinpfalz und Rheinhessen und gründete dabei mehrere Orts-
gruppen der »Friedensgesellschaft«. Später hielt er in verschiedenen Gegenden
Deutschlands Vorträge über die Friedensbewegung und gab dadurch Anlaß
zur Bildung von vielen Ortsgruppen z. B. in Dresden, Elberfeld, Erfurt,
Gotha, Kassel, Magdeburg, Sebnitz, Stendal. Seine Reden waren immer von
großer Klarheit und Schärfe, sein Auftreten überall entschieden bis zu den
letzten Folgerungen, sodaß ihm das gemäßigtere Verhalten mancher Friedens-
vereinigungen Worte des Widerspruchs und der Unzufriedenheit entlockte.
An zahlreichen Generalversammlungen der deutschen Friedensgesellschaft nahm
er tätigen Anteil, ebenso an den Weltfriedenskongressen zu Budapest r896
und zu Hamburg 1897. Daß der Weltkongreß 1897 in einer deutschen Stadt
tagte, ist auf R.s Anregung zurückzuführen. Über die geschichtliche Entwicke-
lung des Friedensgedankens veröffentlichte er 1899 einen Aufsatz im »Türmer«.
Durch zunehmende Kränklichkeit, in der die treue Pflege der einzigen
Schwester dem Leidenden nur Erleichterung, aber keine Besserung schaffen
konnte, sah sich R. mehr und mehr gezwungen, auf ein tätiges Hinaustreten
in die Öffentlichkeit zu verzichten und die schriftstellerische Wirksamkeit
sehr einzuschränken. Dennoch ergaben sich ihm aus der Durchsicht alter
Briefe, die seine Mutter einst als junge Frau aus München an ihre Angehörigen
nach Magdeburg geschrieben hatte, noch zwei größere Aufsätze »Aus den
Tagen der Lola Montez« und »Vormärzliche Briefe«, die 1901 und 1902 in
der »Neuen deutschen Rundschau« erschienen. Seine letzte selbständige
Broschüre beschäftigte sich mit dem »Militarismus insonderheit in der Militär-
rechtspflege« (1902). Im Hause seiner hochbetagten Mutter erlag R. nach
längerem Siechtum der Zuckerkrankheit.
Mitteilungen der Familie. — Hoffmann, Pförtner Stammbuch S. 432 Nr. 10340. —
Kcce der Landesschule Pforte 1905 S. 26 Nr. 27. — E. Gramatzki, Staatswissenschaftlicher
Literatur- und Schriftsteller-Kalender L Jahrg. (1904) S. 244 f. — A. H. Fried, Handbuch
der Friedensbewegung (1905) S. 272 und 421. — Die Friedenswarte 1905 Nr. i. — Fricdens-
blätter 1905 Nr. 2 S. f4. P. Mitzschke.
Grob. Szanto.
255
Grob, Konrady Schweizer Genremaler, ♦ 3. September 1828 in Andelfingen,
Kanton Zürich; f 9. Januar 1904 in München. — Aus kleinsten bäuerlichen
Verhältnissen stammend — der Vater ein heruntergekommener Weinbauer,
die Mutter aber eine arbeitsame, intelligente Frau — kommt G. mit 14 Jahren
zu einem Lithographen in Winterthur in die Lehre. Nach langen Wander-
jahren durch Deutschland und Italien, wobei er sich durch größten Fleiß und
äußerste Sparsamkeit ein kleines Vermögen erwirbt, bezieht er noch mit
37 Jahren die Akademie in München. Studien bei Ramberg, unter dessen
Leitung er auch seine ersten Bilder malte: »Der Maler auf der Studienreise«,
»Die Meisenfalle« — Bilder, die mehr gefällig als tief empfunden sind, die
ihn aber sofort in der Schweiz bekannt machen.
Einen großen Fortschritt bildet das »Tätschschießen« (1874) und das
>> Schwingfest vom Hasleberg« — figurenreiche Bilder mit vielen charakte-
ristischen aus dem Leben gegriffenen Typen. Sein bedeutendstes Werk ist
die »Schlacht von Sempach« (1878), eine vorzügliche Komposition voll
wuchtiger Kraft und dramatischer Wirkung. — Später ging er wieder zur
Genremalerei zurück und schuf eine Reihe gefühlstiefer, einfach komponierter,
auch in der Farbe sehr glücklicher Bilder: »Das Tischgebet« 1885, »Häus-
liche Andacht«, »Sonntagnachmittag auf der Alp«. —
Auf langen Umwegen ohne Stipendien oder jegliche andere Hilfe hat
sich G. allein durch eigene Kraft und eiserne Energie zu einem anerkannten
Künstler durchgerungen. Seinen Wohnsitz hat er in München behalten, seine
Werke aber sind fast alle wieder nach der Heimat zurückgewandert und die
besten in Museumsbesitz übergegangen. W. L. Lehmann.
Szanto, Emil, Professor der klassischen Philologie an der Universität Wien,
♦22. November 1857 zu Wien, f i4- Dezember 1904 ebenda. — S.s Vater
war Schriftsteller und Redakteur der »Neuzeit«. Nach Absolvierung der
Gymnasialstudien bezog S. die Wiener Universität, widmete sich daselbst dem
Studium der Philosophie und war als Student Mitglied des archäologisch-
epigraphischen Seminars. Er war ein Schüler der Professoren Benndorf,
Gomperz, Hartel und Hirschfeld. Im Jahre 1880 wurde er zum Doktor der
Philosophie promoviert, 1884 habilitierte er sich an der Universität für alte
Geschichte und wurde im Jahre 1893 zum außerordentlichen Professor für griechi-
sche Geschichte und Altertumskunde, 1899 zum ordentlichen Professor an der
philosophischen Fakultät ernannt, an der er als Nachfolger von Theodor Gomperz
die klassischen Altertumswissenschaften lehrte. Er las im Wintersemester 1904
ein vierstündiges Kollegium über griechische Geschichte und ein zweites
Kollegium über Plutarchs Perikles. Im Sommersemester 1904 las er über
römische Munizipal- und Kolonialverfassung, über die »Ritter« des Aristophanes
und über attische Inschriften.
Wiederholt hat er Studienreisen nach Griechenland unternommen. Des
öfteren weilte S. zu Forschungszwecken auch in Rom. Die Ergebnisse einer
Expedition nach Karien legte er in einem Werke »Reise in Karien« nieder,
welches im Jahre 1892 erschienen ist. Er veröffentlichte ferner »Unter-
suchungen über das klassische Bürgerrecht« (1881); »Platäa und Athen« (1884);
»Anleihen griechischer Staaten« (1885); »Hypothek und Scheinkauf im griechi-
schen Rechte« (1887); »Das griechische Bürgerrecht« (1892). 1902 erschien
256 Szanto.
das Werk »Die griechischen Phylen«. Im Jahre 1887 hat S. das Handbuch
der griechischen Antiquitäten von Bojesen in zweiter Auflage herausgegeben.
In der Neuen Freien Presse widmete ihm Theodor Gomperz am
18. Dezember 1904 folgenden, mit Zustimmung des Verfassers wiederholten
Nachruf.
»Ach, unerforschlich sind sie fürwahr, die Wege der Vorsehung! Wäre
es nicht töricht und vermessen, wollte der Teil mit dem Ganzen, das Sand-
korn mit dem Universum rechten, man wäre bisweilen versucht, mit dem
Schicksal zu hadern! Eine rüstig aufstrebende, voll entfaltete, aber noch
lange nicht erschöpfte Kraft, die plötzlich dahinsinkt; ein Schnitter, im
Begriff, die Ernte eines arbeitsreichen Lebens einzubringen, der mitten im
freudigen Schaffen jählings gefällt wird — das war das Geschick unseres
einstigen Schülers, späteren Kollegen und Freundes Emil Szanto.
Noch sehe ich ihn vor mir, wie er vor etwa dreißig Jahren zuerst in
meinem Hörsaal auftauchte — ein Jüngling von fast mädchenhafter Schüchtern-
heit, voll emsigen Eifers, durchglüht von Wissens- und Bildungsdrang. Er
kam frisch vom Gymnasium und schwankte noch zwischen orientalischen und
klassischen Studien. Aber er war für diese vorher bestimmt: »das Land der
Griechen mit der Seele suchend«, mit der feinsinnigen, nach Klarheit ringen-
den, nach Schönheit durstenden Seele. Kaum war er in die Antike eingeführt,
so hatte er sich ihr zu eigen gegeben. Auch innerhalb des Kreises klassi-
scher Studien war seine Wahl bald getroffen. Das Interesse an den realen
Lebensverhältnissen, ein starker, strenger Verstand, die Freude an der un-
mittelbaren Berührung mit den Resten des Altertums bestimmten seine Wahl.
Er ward Realphilologe, Erforscher des griechischen Rechtes, Althistoriker
und Epigraphiker. Schon seine erste größere Arbeit, des Vierundzwanzigjährigen
»Untersuchungen über das attische Bürgerrecht«, zogen die Aufmerksamkeit
auch der außerösterreichischen Fachmänner auf sich. Es folgten »Platäa und
Athen« (1884), »Anleihen griechischer Staaten (1885), »Hypothek und Schein-
kauf im griechischen Recht« (1887), »Das griechische Bürgerrecht« (1892),
mannigfache Berichte über die Bereisung Griechenlands und Kleinasiens, eine
Neubearbeitung von Bojesen-Hoffas Handbuch der griechischen Antiquitäten,
die Herstellung zahlloser Inschriften, darunter derjenigen des neuentdeckten
Kabirenheiligtums in Böotien, zuletzt das zusammenfassende Werk über die
griechischen Phylen (in den Denkschriften der kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften). Doch mit S.s Publikationen ist nur ein kleiner Teil seiner
Forscherarbeit umschrieben. In selbstloser, unermüdlicher Hingabe half er das
von Benndorf geplante und geleitete kleinasiatische Inschriftenwerk vorbereiten
und fördern. Noch ein paar Jahre, und ein Riesenband dieser Sammlung, die
Bearbeitung der Inschriften Kariens, hätte von seiner Sachkunde, seiner Aus-
dauer, seinem Scharfsinn ein monumentales Zeugnis abgelegt, desgleichen
ein Band der K. F. Hermannschen Antiquitäten, dessen Neubearbeitung ihm
anvertraut war.
Doch vielleicht noch mehr als der gelehrte Forscher hat der Lehrer S.
bedeutet. So oft er in unserem philologisch-archäologischen Vereine, »Eranos«
genannt, das Wort ergriff, war es eine Freude, ihm zu lauschen. So volle
Beherrschung des jeweiligen Themas, so lichtvolle Klarheit, ein .so künstle-
risch abgerundeter und zugleich so unpersönlich bescheidener Vortrag sind
Szanto. Strauch.
257
nur wenigen gegeben. Das künstlerische Element war in ihm so stark ent-
wickelt wie die juristische Denkschärfe. Jenes hat ihn zum Goethe-Kultus
und auch zu Goethe-Studien geführt, welche die Literarhistoriker dankbar
genossen und anerkannten; diese hat ihn zur Durchforschung und Beleuch-
tung der aus Ägypten stammenden Papyrusdokumente gezogen, für die er
in seminaristischen Übungen Bearbeiter gewann und heranbildete, eine Rich-
tung seiner Studien, die ihn Ludwig Mitteis nahebrachte. So hat S. als
Forscher, Lehrer, Schriftsteller — die Leser dieses Blattes erinnern sich des
vor Jahresfrist erschienenen trefflichen Nachrufs auf Theodor Mommsen —
Vorzügliches geleistet. Als Mensch wird er allen, die ihm näher traten, un-
vergeßlich bleiben. Er war einer der höchstgebildeten, weitsinnigsten, warm-
und zartfühlendsten Menschen, ein treuer Freund, ein dankbarer Schüler, ein
stets von den lautersten Gesinnungen beseelter, liebenswerter Kollege, die
Stütze der Seinigen, ein Vorkämpfer alles dessen, was er als gut und recht
erkannt hatte! An seiner Bahre trauern die greise Mutter, tiefgebeugte
Schwestern, seine Lehrer, Schüler, Kollegen und ein weiter Kreis schwer
getroffener Freunde.«
Über Szantos Leichenbegängnis vgl. Neue Freie Presse vom 17. Dezember 1904
Morgenblatt mit der Grabrede von Bormann. Theodor Gomperz.
Strauch, Hermann, Jurist, * zu Frankfurt a. M. als Sohn des dortigen
Bürgers und Handelsmanns J.C.Strauch (nach Aschersons Universitäts-Kalender)
am 4. Dezember 1838, f am 28. September 1904 zu Heidelberg. — Er besuchte
1848 — 57 das Gymnasium der Vaterstadt und studierte dann die Rechte zu Bonn
und Heidelberg. Im Frühjahr 1859 ging er nach Wien, wo er die juristische
Staatsprüfung bestand, und trat am 8. April 1861 als Rechtspraktikant beim
Landesgericht ein. Nach einigen Monaten übernahm er eine Stelle zum Unter-
richt des Grafen Schönbom, promovierte am 15. Juli 1862 an der juristischen
Fakultät und war dann in der Kanzlei des Hof- und Gerichtsadvokaten
Dr. Franz Schmitt tätig, zugleich Mitredakteur der Allgemeinen österreichi-
schen Gerichtszeitung. Unbefriedigt von den Wiener Verhältnissen, ging er
nach Heidelberg, wo er auf eine Schrift über die Regalien am 28. Juli 1865
als Privatdozent zugelassen wurde. Am i. März 1873 erfolgte seine Ernen-
nung zum außerordentlichen Professor. Er las über Rechtsphilosophie, Ency-
klopädie und Methodologie der Rechtswissenschaft und Völkerrecht und hielt
auch Übungen ab. Später übernahm er die Bibliothekarstelle am juristischen
Seminar. Er blieb unverheiratet und pflog nur mit wenigen Kollegen Verkehr.
Als Schriftsteller trat er selten hervor, z. B. mit einem Beitrag zur Festschrift
für Bluntschli zum 3. August 1879 und Biographien von Röder und Zöpfl in
den Badischen Biographien von v. Weech, Bd. IIL Er erlag einem lang-
jährigen Nierenleiden. Um die Universität machte er sich verdient durch ein
Legat von gegen 18000 Mark für eine Strauch-Stiftung, aus der nach Er-
reichung des Betrages von 30000 Mark die Zinsen als jährliches Reisestipen-
dium an einen Dozenten oder unbesoldeten Extraordinarius der Universitäten
Bonn, Heidelberg, Freiburg, Strafiburg, Tübingen, die öffentliches Recht vor-
tragen, nach Ermessen über Würdigkeit des Kandidaten seitens der Heidel-
berger Fakultät, verwendet werden können.
Nach gef. Mitteilungen aus Universitätsakten. A. Teichmann.
B'iogT. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog^. 9. Bd. I y
258
Schirmer.
Schirmer, Johann Theodor, Geh. Justizrat und Professor der Rechte
an der Albertus-Universität zu Königsberg, ♦ am 15. Mai 1827 zu Breslau
als Sohn des Professors der Theologie August Schirmer, der bald darauf nach
Greifswald berufen wurde, und dessen Frau Emilie geb. Freiin von Richt-
hofen, t 2. April 1904 zu Blankenburg am Harz. — Er besuchte die Gymnasien
zu Greifswald und Schulpforta, leistete 1848 beim 2. Jägerbataillon Militär-
dienste, wofür er die Hohenzollerndenkmünze erhielt, und arbeitete nach
juristischen Studien zuerst als Auskultator beim Justizsenat in Ehrenb reitenstein,
dann beim Kreisgericht und Appellationsgericht in Greifswald, doktorierte
am I. August 1850 und habilitierte sich am 29. März 1852 als Privatdozent
an der juristischen Fakultät in Breslau, wo er am 23. April 1858 zum aufler-
ordentlichen Professor ernannt wurde. Für römisches Recht als ordentlicher
Professor nach Königsberg berufen, trat er dieses Lehramt am i. Oktober 1863
an und hat von da an bis zum Schlüsse des Sommersemesters 1901, wo er von
den Amtspflichten entbunden wurde, ununterbrochen in großer geistiger Frische
gelehrt. Ausgerüstet mit tiefem und vielseitigem juristischen und historischen
Wissen, scharfem kritischen Verstände und großer Lehrbegabung, betrachtete
er es als seine Lebensaufgabe, das Verständnis des römischen Rechts als der
wesentlichen Grundlage des juristischen Denkens und der modernen Rechts-
entwicklung durch scharfsinnige Interpretation der Quellen als einer der letzten
echten Pandektisten, was ihm besonders am Herzen lag, zu fördern. Er tat
dies in ausgedehnter schriftstellerischer Tätigkeit, sogar in steigendem Mafie
im höchsten Alter. Als selbständige Arbeiten sind zu nennen: »Über die
prätorischen Judizialstipulationen mit besonderer Berücksichtigung der stipu-
latio jtidicatum solvi. Eine rechtshistorische Abhandlung«. Greifswald 1853;
»Die Grundidee der Usukapion im römischen Recht. Ein historisch -dog-
matischer Versuch«, Berlin 1855; »Handbuch des römischen Erbrechts. Aus
den Quellen und mit Rücksicht auf die gemeinrechtliche Praxis bearbeitet«,
I. Teil, Leipzig 1863 (unvollendet). Er bearbeitete Puchtas Pandektenv in
12. Aufl. (1877), Marezolls Institutionen in 9. (1869), 10. (1875) und 11. Aufl.
(1881), Unterholzners Verjährungslehre in 2. Aufl. Leipzig 1858. Viele wichtige
Abhandlungen veröffentlichte er in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte Bd. 10,
II, 12, 15, 18, 20, 21, 24, 25, 28, 32 und ^^ (zuletzt hauptsächlich über die
Werke von Scävola und Quellenstellen), auch im Archiv f. zivil. Praxis Bd. 78,
79, 80, 81, 82, 84, 85, 86, 87 und 91, einen Nekrolog betr. Huschke, zu dem
er in Breslau in Beziehungen getreten war, in Bd. 70. Reiche Sach- und
Geschäftskenntnisse befähigten ihn zu reger Anteilnahme an den Verwaltungs-
geschäften der Universität. Das Vertrauen der Kollegen berief ihn zu einfluß-
reichen Stellungen; so leistete er als Prorektor (1869/70) der Albertina, als
Senatsmitglied, Kassenkurator und stellvertretender Universitätsrichter, auch
als Leiter der Rhesaschen Stiftung große Dienste. Dank hierfür wurde ihm
zuteil bei der Feier des 70. Geburtstages und des fünfzigjährigen Doktor-
jubiläums, zu dem Kollegen (v. Blume, Gareis, Gradenwitz und Güterbock)
namens der juristischen Fakultät durch Abfassung einer Festschrift (Festgabe
für ihren Senior Johann Theodor Schirmer zum i. VIII. 1900, Königsberg 1900)
ihn ehrten. Auch Ordensauszeichnungen mangelten nicht. In glücklicher
Ehe verbunden mit Helene geb. Le Sueur, genoß er einige Jahre der Ruhe in
seinem neuen Wohnsitz im Harz.
Schirmer. Staub.
259
Chronik und Statistik der Kgl. Universität zu Breslau von Bernhard Nadbyl (1861)
S. 41. — Chronik d. Kgl. Albertus-Universität, Königsberg 1904 S. 14/15 (erweiterter Nach-
ruf der Königsberger Hartungschen Zeitung 1904 Nr. 158). A. Teichmann.
Staub, Hermann, Justizrat, Rechtsanwalt und Notar, * 21. März 1856 zu
Nicolai in Oberschlesien, f 2. September 1904 zu Berlin. — Aus kümmer-
lichen Verhältnissen heraus — der Vater war Kaufmann in einer kleinen
Stadt — hat er sich als y>self made man<s^ zu einem der bedeutendsten und
einflußreichsten Advokaten Deutschlands emporgeschwungen. Er besuchte
die Universitäten zu Breslau und Leipzig, doktorierte und bestand 1882 das
Assessorexamen, worauf er sich in Berlin als Anwalt niederließ. Seine große
Gewissenhaftigkeit in Bearbeitung der ihm übertragenen Rechtssachen und
seine juristische Tüchtigkeit verschafften ihm bald in weiteren Kreisen großen
Ruf. Zahlreiche Beziehungen zur Handelswelt brachten ihm tiefe Kenntnis
und Erfahrung in Handelssachen wie im Börsenwesen. Zwar hatte er auf der
Universität nie eine handelsrechtliche Vorlesung gehört, und doch war er
bald als Autodidakt auf diesem Gebiete so bewandert, daß ein amtlicher Auf-
trag ihn dazu bestellte, den nach Berlin berufenen Lehrern der Fortbildungs
schulen Vorträge über das neue Handelsrecht zu halten. Andererseits konnte
er als Mitglied einer zur Umgestaltung des Börsengesetzes ernannten Kom-
mission seine erwünschte Mitwirkung leisten. Ausgestattet mit erstaunlichem
Gedächtnis und meisterhaft das Wort beherrschend, war er eine der beliebte-
sten und geachtetsten Persönlichkeiten auf Anwalt- und Juristen tagen, denen
er fleißig beiwohnte. Trotz allmählich eingetretener großer Arbeitslast als
einer der beschäftigsten Advokaten — versäumte er nicht, weiter juristische
Studien zu machen und überraschte plötzlich selbst ihn genau kennende
Freunde und Bekannte mit einem in gewissenhaftester, ernster Arbeit aus-
gearbeiteten Werke, das sofort von den berufensten Kennern dieses Gebietes
als eine hervorragende Leistung begrüßt wurde. Es ist dies der umfangreiche
»Kommentar zum allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuch (ohne Seerecht)«,
Berlin 1891 — 93, in 2. Aufl. 1893 — 94 (daraus »Kommentar zum Aktiengesetz«),
5. Aufl. mit Supplement 1897, endlich 6. und 7. Aufl. 1899, 1900. Von der
Verbreitung dieses Werkes kann man sich einen Begriff machen, wenn man
vernimmt, daß die letzte Auflage in 13000 Exemplaren gedruckt werden
mußte, zugleich von dem Werte daraus, daß eine besondere Ausgabe für
Österreich gewünscht wurde, deren Herstellung Oskar Pisko besorgte (Wien
1901 — 04). Eine ähnliche Arbeit ist der »Kommentar zur allgemeinen deut-
schen Wechselordnung«, Berlin 1895, 4. Aufl. 190 1. Weitere Schriften sind
»Kritische Betrachtungen zum Entwurf eines H.G.B. — Vortrag am Anwalts-
tag 12. September 1896«; »Der Begriff der Börsentermingeschäfte in $66 des
Börsengesetzes. Ein Rechtsgutachten«, Berlin 1899; »Kommentar zum Gesetz
betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haftung«, Berlin 1903; ein Beitrag
zu dem »Formularbuch für die freiwillige Gerichtsbarkeit« (von mehreren
Verfassern) 1901, wie ein anderer zur Festschrift für den XXVL deutschen
Juristentag 1902 (separat erschienen »Die positiven Vertragsverletzungen« 1904).
Große Verdienste erwarb er sich um den Anwaltstand und wurde schon früh-
zeitig zum Mitgliede des Vorstandes des Berliner Anwaltvercins und des Vor-
standes der Anwaltskammer im Bezirk des Kammergerichts geehrt. Rühmlich
17^
26o Staub, von Lenbach.
war die auch den jüngsten Kollegen freudig gewährte Unterstützung und sein
tapferes Eintreten für die Sache der freien Advokatur. Mit Laband und
Stenglein verband er sich zur Begründung der deutschen Juristen -Zeitung,
zu der er namentlich die stets interessant geschriebene Rubrik »Juristische
Rundschau« beitrug. Trotz großer Erfolge, die er in seinem Berufe erzielte,
blieb er in seinem Wesen stets einfach und bescheiden, harmlosen Gemütes,
humorvoll. Eine schöne, imponierende Erscheinung, hatte er sich stets bester
Gesundheit erfreut. Da befiel ihn plötzlich ein schweres Leiden, das ihn
auf das Krankenlager warf. Nach mehrmonatlicher Qual erlag er ihm.
Nekrolog von Otto Liebmann in der Deutschen Juristen-Zeitung 1904 Nr. 18 (Sp. 825
bis 834, auch 927, 931) mit Bild. — Dr. Max Hachenburg in der Monatsschrift für Handels-
recht und Bankwesen 1904 S. 237—239. A. Teichmann.
Lenbach, Franz von, Maler, Professor, Dr, phil. h. c, * 13. Dezember 1836
in Schrobenhausen (Ob.-Bayem), f 6. Mai 1904 in München. — Franz Lenbach
war der erste Sohn zweiter Ehe eines tüchtigen und angesehenen Maurer-
meisters in Schrobenhausen in Oberbayern. Die Lebensverhältnisse der
Familie L. waren recht gute; des Vaters Geschäft war einträglich und groß.
Auf der Gewerbeschule zu Landshut lernte der Junge Lesen, Schreiben,
Rechnen, Mathematik und Zeichnen. Nach den wenigen Schuljahren half
er dem Vater beim Plänezeichnen und lernte im Beruf seines Vaters mit
Farben und Pinsel umgehen. Dann ging er nach München zum Bildschnitzer
Sickinger, wo er modellieren und schnitzen lernte. Aber ihn erfüllte früh die
Architektur mehr als die Plastik. Als Erbe und Schüler räumlich schaffender
Kunst hatte er den Sinn für Großes und Freude am Ausgestalten großer Räume
empfangen. Die Lust zum Malen wurde ihm geweckt durch einen älteren
Bruder Karl, der früh verstarb. Sein erster und bester Lehrer war der Tier-
maler Hofner, der nur vier Jahre älter und in Aresing bei Schrobenhausen
heimisch war. L. erwarb sich sehr rasch das handwerklich Technische, und
die Lust an der malerischen Erfüllung auch geringster Aufgaben gab ihm
die feste und nährende Grundlage für sein späteres Schaffen. Durch das,
was er häufig für die Bauern und für die Kleinstädter malen mußte, Votiv-
bilder, Marterln u. dgl., durch seine Freude an der Scholle wurde er früher
als andere »Pleinairist«. Auch L. ist Beweis, wie weit zurück das dann
als akademisch-malerisches Dogma gehütete Malen unter freiem Himmel
geht und wie wenig solches Malen und das rasche Festhalten der Ein-
drücke mit breitem Pinsel allein etwas Meisterliches bezeichnet. L. malte
was er sah, zum Studium war ihm alles recht, und da er in den ersten
künstlerischen Entwicklungsjahren den Sommer meist auf dem Lande war,
malte er fast nur Menschen und Dinge im Freien, viel in voller Sonne,
und die Freilichtmalerei lehrte ihm das rasche Festhalten der Farben. —
Schon mit etwa 16 Jahren verdiente er sich durch Malen sein Brot. 1852,
im Todesjahre seines Vaters, der den Sohn für seinen Beruf hatte erziehen
wollen, kopierte er in Augsburg eine Kreuzabnahme des Christoph Schwarz.
Die Wahl dieses Meisters, aus gleicher Landschaft wie L., ist bezeichnend
für den großen neuen Meister des Portraits: Ein Maler wars, der die
Charakterschärfe deutscher Zeichnung durch venezianische Farbenschöne rassig
zu veredeln wußte. In Augsburgs Galerie kopierte er gern — der Besuch
von Lenbach. 201
der dortigen polytechnischen Schule brachte ihm Widerwillen gegen Akade-
mien bei. Immer wußte er Zeit und Zeiten auszunutzen zur Arbeit an sich
selbst. In diesen Jahren verwertete er den Winter in der Stadt zur Samm-
lung von Wissen, zur Vorbereitung auf neues. Im Sommer aber malte er in
Aresing mit Hofner. Da suchte er die Natureindrücke mit dem, was er von
den alten Meistern sich erworben, in Verbindung zu bringen. — Oft wohl
mag von ihm in diesen Jahren der zehnstündige Weg von München nach
Schrobenhausen zurückgelegt worden sein. Kurze Zeit war Hofmaler Gräfle,
ein Schüler Winterhalters, von dem übrigens auch später L. immerhin rüh-
mend sprach, L.s Lehrers; — aber Hofners Art gab ihm mehr — keinem
folgte er mehr, auch Piloty nicht, der L.s großes Talent sofort erkannte und
ihn in seinem Atelier im Wintersemester 1857/1858 aufnahm. 1858 bedeutete
den meisten L.s »Landleute vor einem Gewitter flüchtend« (Museum zu
Magdeburg), wegen seiner rücksichtslosen Mache, seinem resoluten Sehen,
eine Revolution in der Malerei. Daß L.s Sehen- und Malenkönnen auffiel,
war berechtigt, aber das Bild stellt doch nur eine mittlere Stufe in des
Meisters nun etwa sechsjähriger Kunst dar. Der »Titusbogen« (1860) (Preß-
burger Museum) und der »Hirtenknabe in der Sonne« (Galerie Schack) er-
hoben ihn zwar berechtigterweise noch mehr gegenüber seinen Altersgenossen,
aber beide Meisterbilder schließen nur die Zeit bedeutsam ab, in der er zum
Meister sich erhoben. 1860 vollendete er auch den »Hirtenjungen« und
nahm, wie Böcklin und Begas, einen Ruf als Lehrer an die Kunstschule in
Weimar an. Die kleinen Verhältnisse der Residenz verleideten ihm bald
Leben und Schaffen. Er folgte 1863 einem Auftrag des damaligen Freiherm
A. F. von Schack, und kopierte in Rom Tizians »Himmlische und irdische
Liebe«. Dann war er in Florenz und 1867 in Madrid tätig, um die Schack-
sche Galerie mit einer Reihe bedeutender Kopien und Bilder zu bereichern.
Diese Jahre sind für L. von größter Bedeutung. In ihnen trat er durch sein
geistvolles, treues Kopieren in die engste Beziehung zu den Aristokraten
unter den Malern, zu Tizian, Tintoretto, Rubens, van Dyk, Rembrandt und
Velasquez. — Wenn L. selbst seinem Gönner Schack keineswegs großen
Dank wissen wollte, so bleibt dem Münchener Mäcen doch das Verdienst,
daß er dem jungen Künstler früher ein näheres Bekanntwerden mit den großen
Malern ermöglichte, als dies dem Künstler ohne Schacks, allerdings sehr ge-
ringe materielle, Hilfe möglich gewesen wäre.
An bedeutenden Portraits waren in dieser Zeit bis zu seiner 1868 erfolg-
ten Rückkehr nach München u. a. entstanden das von Arnold Böcklin (1861),
V. Schack (1862), L. v. Hagn (1863), K. Geyer (1863), E. v. Liphart (1865),
J. V. Kopf (1865). — Das Bild eines anderen Großen, Richard Wagners, stellt
eines der ersten Portraits der beginnenden Ruhmesepoche L.s dar. —
Nach einem kurzen Aufenthalt in Wien (187 1) siedelte er 1872 ganz nach
der Kaiserstadt über, um nur den Winter 1873/ 1874 in Berlin zuzubringen.
Die Bildnisse L.s vom Kaiser Franz Joseph und Kaiser Wilhelm I. hatten
zwar auf der Wiener Weltausstellung 1873 ^icht den gedachten Erfolg. Sie
zeigten L.s Art und die war eine neue. Sein Ruf als Portaitmaler war aber
schon zu dieser Zeit durch Bildnisse hochstehender Persönlichkeiten gefestigt,
er überragte Angeli, der allerdings seiner Verschönerungen wegen in den
Salons der beliebtere Portraitmaler blieb. Gegenüber Angeli fällt L.s unver-
202 von Lenbach.
kennbares Hauptinteresse an den geistigen Werten der zu Portrai tierenden
schroff und außerordentlich bedeutend auf.
Gegen Ende des Jahres 1875 machte L. mit Makart und anderen Künst-
lern eine Reise nach Kairo. Die Reise hat wohl einige malerisch original
gesehene Bilder und Skizzen gezeitigt, aber bezeichnenderweise L. in keiner
Weise von dem mit Sicherheit beschrittenen, — und rein künstlerisch erfolg-
reichen Wege, seinem engen Gebiete, entfernt. 1882 verbrachte L. den
Winter in Rom, und wie in Wien war sein Atelier im Palazzo Borghese bald
der Ort, an dem sich die Größen der verschiedenen Berufswelten trafen, was
nun immer mehr von seinen Ateliers gilt. Ganz besonders von seinem Münche-
ner Heim an der Luisenstraße bei den Propyläen, das ihm Gabriel Seidl in
der Mitte der achtziger Jahre errichtete. Hier waren Fürsten und Große
immer anzutreffen und gar mancher hohen Namens kam nur um L. zu ehren
nach München. So Deutschlands erster Reichskanzler.
L.s erste Ehe mit einer Nichte des Feldmarschalls Grafen Moltke wurde
durch Scheidung gelöst. Eine zweite Ehe ging er mit Lolo Freiin von Hom-
stein ein. Rastlos schaffte L. bis zu seiner schweren Erkrankung. Dann, als
er wieder etwas erfrischt sich fühlte, war seine Schaffenskraft sehr beein-
trächtigt, und mehr noch litt er wohl psychisch unter diesem Bewußtsein.
Sein Tod mußte ihm, dem Arbeit im Dienste des Erkennens und des
Schönen als Höchstes galt, der den Bejahrten, die nichts mehr zu schaffen ver-
mögen, das Recht zu walten abgesprochen wissen wollte, eine willkommene
P^rlösung sein. Denn Herr sein oder Nichtsein, das war sein in Werken und
Wirken bekräftigtes Bekenntnis.
Während L.s neues Münchener Heim das Ziel vieler Großer und einer
ungezählten Schar Bewunderer und Neugieriger aus aller Herren Länder
war, wurde es nach und nach gerade in Münchens Kreisen, die um
Künstler herum sich zu bilden pflegen, als Charakteristikum eines eigenen
und verfeinerten Urteils angesehen, über L.s Portraits mehr oder weniger
abfällig zu urteilen, L.s historische Bedeutung als Portrai tmaler herabzu-
setzen, ja stark zu bezweifeln, und seine persönliche Art heftig zu tadeln.
Das letztere ist das am ehesten Begreifliche, denn an Neidern fehlte es den
Großen nie und immer hatten auch die Größten sehr anfechtbare Schwächen,
die von Kammerdienergeistern am nachhaltigsten bemerkt werden. Selbstver-
ständlich hat auch L. viel Flüchtiges geschaffen und es ist bedauerlich, daß
viele jener Pastellskizzen, die ihm nicht zur weiteren Ausführung genügten,
und die er sorglos darum Bittenden hergab, später in den Handel kamen.
L. war Herr durch und durch. Wie vielen hat er geholfen — ohne auf
Dank zu warten. Das Tüchtige zu fördern galt ihm als Pflicht des Ver-
mögenden. So mag auch seine Undankbarkeit dem Grafen Schack gegen-
über, seine Unzufriedenheit mit hohen Herren, die auch über ihm standen,
erklärt werden. Unleugbar ist er auch Schack gegenüber der Gebende ge-
wesen, nur hätte er nicht vergessen sollen, daß ihm durch Schack gerade die
Wege erleichtert wurden, die ihn zu seinem Ziele hinführten. Aber dieser
historische Erinnerungsfehler ist Schaffenden nur zu häufig eigen und L.
eher zu verzeihen als anderen. Bekräftigte doch L. durch sein Werk sehr
nachdrücklich seine eigene Meinung: bei der Beurteilung eines Künstlers
kommt es vor allen Dingen darauf an, was er in den reifsten Jahren, nicht
von Lenbach. 263
was er in der Jugend oder jüngeren Jahren geleistet. — Wenn L. Herr war,
so war er doch nicht zum Führer geboren. Wie er als bestellter Lehrer nicht
hervorgetreten, so verstand er es auch in freier Weise und selbst in jener
Zeit, da er als Künstler im lieben Münchens die herrschende Rolle spielte,
durchaus nicht, die Jugend fest um sich zu scharen. Doch wie er die ihm
Nahestehenden meisterlich anzuregen und zu begaben wußte, so wurde aus
all den künstlerischen Veranstaltungen und Festen, die seiner Freude am
Großen und Herrlichen entsprangen, ein Ereignis festfreudiger Art, dem
große Scharen sich hingaben. Diese von L. groß und reich inaugurierten
Feste haben der Kunststadt München sehr fruchtbare Anregungen gegeben,
ja auch L. selbst. Noch mehr als die Festveranstaltungen, die glänzen-
den Gestaltungen von Ausstellungsräumen für seine eigenen Bilder, sein
Künstlerheim, ist ganz besonders das Künstlerhaus in München, das wiederum
Gabriel v. Seidl erbaute, unbedingt wichtig bei einer Beurteilung von L.s
künstlerischer Art und Gabe. In diesen raumkünstlerischen Schöpfungen mit
Gabriel Seidl hat L. im besten Sinne des Wortes sich auszuleben versucht,
was mit einigen Worten über die Beurteilung des Ganzen L.s zu erklären ist.
L. gehörte zu den seltenen Künstlern, die merkwürdig genau und klar
sich selbst zu beurteilen vermögen, die sehr wohl wissen, was ihnen fehlt,
aber rastlos sich bemühen, das Fehlende zu ersetzen, die die für ein Gebiet
nur geringe Gabe dort wenigstens auszugestalten suchen, wo sie am reinsten
zur Geltung kommen kann; L. wußte z. B. sehr gut, daß ihm die Gabe großer
figürlicher Komposition gerade so gut fehlte, als jener Gruppe seiner Zeit-
genossen, die in Skizzen und Studien genug zu geben meinte. Wer L. fragte,
weshalb er nicht einmal in größeren Kompositionen, wie sie die gerade von
ihm meist verehrten alten Meister geschaffen, sich versuche, konnte ein er-
staunlich bescheidenes Selbstbekenntnis zu hören bekommen. Aber wenn so
viele Maler das für unsere Zeit charakterische Unvermögen gar nicht fühlten,
drängte es L. zu einer Betätigung »großkompositorischer Malerei« auf anderem,
auf »angewandtem« Gebiete. Das sind seine Wohnräume in der Luisenstraße,
die Festräume des Münchener Künstlerhauses. Hier komponierte L. rastlos
mit verfeinertem Gefühl in Farben, die die Stoffe und der Schmuck der
Räume gaben, Symphonien von ausgeglichenem Reichtum. In diesen Räumen
tritt deshalb die Wahl eines alten reichen Stiles als unwesentlich zurück, wie
auch die Formen, deren Wahl im einzelnen ja Sache der Architekten
war, nicht wesentlich für die Kritik sind. L. hat hier jedenfalls gezeigt, wie
er auch große kompositorische Aufgaben malerisch zu lösen wußte und wenn
das Ganze auch mehr eine Komposition vorhandener Mosaikteilchen bedeutet,
für L.s Streben sind diese immer glücklicheren Versuche, im Größeren eine
Abrundung des eigenen beengten Gebietes zu suchen, rühmlich und charak-
teristisch. Aber auch hier wurde ihm das Komponieren nicht leicht, auch
hier war er der ernste Künstler, nicht rasch zufriedener Dilettant.
L., der sich also hier als ein Meister angewandter Malerei zeigte, ist
von oberflächlichen Beurteilern gern als ein Nachahmer »alter Meister« kurz
abgefertigt worden. Vielleicht wird aber nach und nach auch an ihm das
was als charakteristisch für eine »moderne« Zeit gilt, die neuen Aufgaben
zuliebe sich mit Fragmenten und Skizzen begnügte, als auch ihn äußerlich
kennzeichnend erkannt. Doch wenn diese Wertung L.s einmal Geltung
264 ^^^ Lenbach.
bekommen wird, so wird er nicht mehr als bester Schüler alter Meister, sondern
als Sucher neuen festen Bodens, als ein großer Unzufriedener erkannt
werden, der nach Vollendung neuer Anfänge und alter Zusammenhänge strebte,
der trotz all seiner Schwächen, d,ie er mit den »Modernen« seiner Zeit teilte,
als Ragender über vielen stehen bleiben.
Wie L. nicht Bilder komponieren konnte wie andere, so folgte auch er
dem Reize des Unvollendeten. Das ist ihm ja oft genug zum Vorwurf ge-
macht worden. Wie oft wurde er getadelt, daß er nur auf das Gesicht des
Portraitierten Sorgfalt verwandt habe. Es war aber künstlerische Absicht,
die beim Portrait, soweit es sich nicht um Repräsentationsbilder handelt, viel
berechtigter noch ist, als bei anderen Bildern. Gerade L. kam es darauf an,
im Gesicht den ganzen Menschen zu geben, hierauf alles zu konzentrieren,
in Gesicht und Haltung den kristallisierten Menschen zu geben. Die Mehrzahl
seiner Portraits sind Köpfe oder Brustbilder ohne Hände, wo er die Hände
malte, waren sie ihm auch als Einzelerscheinung wichtig. — Hier ist zu er-
innern, daß L., weil ihm der Tag zu kurz, gern bei elektrischem Bogenlicht
arbeitete, fast von allen, die er portraitieren wollte, photographische Moment-
aufnahmen, meist in Bildgröße, machte und die beste Aufnahme bei der
ersten Anlage verwendete. Wäre es ihm darauf angekommen, sich die Zeich-
nung zu ersparen, oder mit zeichnerischem Können zu paradieren, so wären
wohl fast alle seine Bilder ganz anders geworden, als sie geworden sind; er
hätte alle Äußerlichkeiten, ganz gewiß auch die Hände kopiert, wogegen L.s
Bildnisse, was die äußerliche Portraitähnlichkeit, so weit sie von der Wieder-
gabe des Körperlichen, der Linien und der Farben abhängig ist, häufig genug
nicht treu genannt werden konnten. Das gilt von seinen Männer- wie von
seinen Frauenbildnissen im gleichen Maße. Die Bildnisse der geschichtlich
bedeutenden Persönlichkeiten bleiben aber für alle Zeiten ein Maßstab, wie
sehr überragend seine Kunst war im Kristallisieren des eigentlich Persön-
lichen. Hierin überragt L. die gefeiertsten Portraitisten seines Jahrhunderts.
Die äußerliche Untreue vieler L.scher Bildnisse wird durch des Meisters
Technik und seine ausgeprägte Wählerischkeit im Gebiete des Schönen er-
klärt. Unter Technik verstand er nicht etwa nur den bestmöglichen Gebrauch
der Hände und der Pinsel. Diese Technik hatte er, wie gesagt, frühzeitig
erworben und das war's, was er an den Tagesgrößen der jüngeren Generation
seiner Zeit tadelte, daß sie sich auf das äußerlich Technische, was unter Um-
ständen sogar unwesentlich für die Beurteilung eines Kunstwerkes ist, so viel
zugute tat. L. verstand unter Technik die Kunst, das gegenseitige Wertver-
hältnis der Farben zu beherrschen. Das Malen war ihm kein Abschreiben,
sondern Übersetzen. Mit Abschreiben fing er an und übte er sich. Des
Künstlers Vorrecht, wählerisch auch mit der Natur zu verfahren, verführte
ihn nur bei Frauenbildnissen. Häßliches verursachte ihm im Leben physisches
Übel, so ließ er denn häßliche Augen auf seinen Bildnissen schließen und
Haut- und Haarfarbe blieben wohl im Wertverhältnis zueinander und zur
Umgebung richtig, aber der bestimmende Farbfaktor wurde von L. so ge-
wählt, daß das, was ihn am meisten am Objekte störte, gemildert wurde. In
dieser Kunst der gegenseitigen Farbenbewertung erreichte L. eine Höhe, die
erst bei eingehendster Prüfung seiner Bilder, die in diesem Punkte bis in die
Mitte der neunziger Jahre an Wert stiegen, ganz erkannt werden kann. —
von I^enbach.
265
Bei solcher Meisterschaft, die nach der äußerst entschlossenen Frei luft maierei
seiner ersten Epoche, erst L.s Können bezeichnet, konnte der Künstler auf
Patzereien, auf dicken Farbenaufdruck, auf auffallend breite Pinselführung,
die eine Zeitlang für »geniale« Technik gehalten wurde, verzichten. Er korri-
gierte die sicher hingesetzten Farben nicht durch ein Übereinander, sondern
am liebsten durch ein Nebeneinander. — Gleichwohl dürften L.s Bilder an
Dauerhaftigkeit sehr zu -wünschen übrig lassen. Das liegt an seinen Mal-
mitteln. L. wußte das, und um diesem allgemeinen Übel zu steuern, zeigte
er ja in der Deutschen Gesellschaft zur Beförderung für rationelle Malver-
fahren, deren ersten Kongreß 1893 L. leitete, so regen Eifer.
Bei der Bewertung von L.s Gemälden ist sehr zu beachten, daß die
Portraits — wenigstens die in München entstandenen — bei Seitenlicht gemalt
und gern für eine bestimmte Umgebung von vornherein gedacht, farbig ge-
stimmt wurden. Daran zu denken ist wichtiger als die banale Erinnerung,
der oder der alte Meister sei ihm Vorbild gewesen. — Den alten meister-
lichen Sinn, daß auch höchste Malerei zuletzt doch eine angewandte Kunst
ist, vergaß L. nie und mit dieser Anschauung vereinigt er sich mit Whistler,
noch mehr mit jener ganzen führenden jugendlichen Richtung, die aufkam,
als L. bald gezwungen wurde, den Pinsel aus der Hand zu legen.
Auf diesem Gebiete war L. mehr Führer als rasch erkannt werden konnte;
denn die Formenwelt, mit der er sich am liebsten umgab, war eine alte, sie
war die der späten reichen italienischen Renaissance.
Mögen nun L.s Frauenbildnisse, von denen so viele einen versteckt sinn-
lichen, dekadenten Zug tragen, dem Meister den Titel eines einmal modern
gewesenen Bildnismalers eintragen, so wird man doch auch in diesen immer
die überlegene Malerei würdigen, so lange man den Maßstab seiner Zeit an
ihn legt, wie es Aufgabe der Geschichte bleibt. Tatsächlich zeigt L. in seiner
Kunst viele Vorzüge und manche Schwächen der Malerei seiner Zeit. Je mehr
aber auch diese Schwächen werden ins Auge gefaßt werden, um so mehr wird
L.s reges Verbundensein mit allen geistigen Faktoren seiner Zeit hervortreten,
er wird nicht mehr wie ein immer Rückwärtsschauender beurteilt werden,
sondern wie ein Vornehmer, der unbeirrt auf sicherem Wege vorausschritt.
L. war von Erscheinung groß, in der Bewegung hatte er natürliche Ele-
ganz, von natürlicher Vornehmheit war sein ganzes Benehmen erfüllt, er war
niemals Schmeichler, er hielt nicht mit Äußerungen der Freude oder der Zu-
stimmung zurück, wenn ihm etwas gefiel, aber sehr entschlossen gab er, ohne
Rücksicht auf seine Umgebung, dort heftigem und derbem Tadel prägnante
Worte, wo er Dünkel oder Bosheit oder Dummheit bemerkte. Er hat sich
auch vor höchsten Persönlichkeiten nicht gescheut Dinge und Menschen, die
ihm mißfielen, zu tadeln, und er war mit autokratischem Recht ein Maler der
Großen, weil er nicht Diener sondern Herr war. — Ihm war die Unverletz-
lichkeit und Bescheidenheit der Großen eigen, aber er paradierte in keiner
Weise mit ihnen. Merkwürdig, durch eigenen Unterricht und durch den Ver-
kehr aller Größen der Zeit gebildet, überraschte er immer wieder mit treffen-
den Bemerkungen und gesundem Witz. Er sah die Dinge mit eigenen Augen,
wie er auch die Menschen, die zu ihm als Berühmte kamen, nicht nach Büchern,
sondern aus Betrachtung und Umgang rasch treffender zu charakterisieren ver-
mochte, als andere Menschen und andere Maler vor und nach ihm.
266 ^'^^ Lenbach. Buchholz.
Hierfür sind die besten Beispiele die L.schen Bildnisse Kaiser Wilhelms I.
und des Fürsten Bismarck. Und wenn nun gerade diese Bildnisse L.s Ruhm
in die weitesten Kreise getragen und gerade diese die längste Zeit seinen
Namen rühmen sollten, so möge die weite Welt sich doch erinnern, daß das
Ansehen, das L. zumal beim großen Kanzler des neuen Deutschlands genoß,
sich nicht etwa auf seinen künstlerischen Ruhm, sondern in sicher noch
stärkerem Maße bei dem nüchternen Diplomaten auf die Vorzüglichkeit seines
Charakters, die ganze fesselnde, natürliche und reiche Persönlichkeit L.s er-
streckte. Die Kritik aber der Malerei L.s begnüge sich nie mit dem sehr
leichten Hinweis auf die alten Meister, die ihm als Lehrer gegolten. Viel
stärker als alles war in L.s Kunst die Auffassung des bleibend Charakte-
ristischen und die sichere Umwertung aller Farben, alles Wechselnden in der
Natur. Diese beiden Ziele waren es, die L. vom Anfang seiner malerischen
Versuche an verfolgte und mit immer größerer Sicherheit und Vollendung
erreichte.
Literatur: Eine auf sorgsam geprüftem Material beruhende ausführliche Lebens-
geschichte des Meisters erschien noch nicht. Wie die Äußerungen anderer Maler über ihre
Kollegen, sind die Urteile L.s über Künstler für die Literatur nur vorsichtig zu gebrauchen.
In" Urteilen über seine eigene Kunst und sich selbst war L. weniger vom Augenblick der
Stimmung abhängig. Außer verschiedenen Aufsätzen über L. in der »Kunst für Alle« u. a.
Zeitschriften seien hier hervorgehoben: Franz von Lenbach, Gespräche und Erinnerungen,
mitgeteilt von W. Wyl, Stuttgart 1904. — A. Spiers Aufsätze in »Kunst unserer Zeit« 1895
u. 1905. — A. Rosenberg, Lenbach (Künstler-Monographien hrsg. v. Knackfuö), Bielefeld 1899.
— Allgemeine Zeitung 1896, Feuilleton vom 12. März. — Zeitschrift für Innendekoration 1898,
Juliheft. — Ausschließlich Werke Lenbachs finden sich reproduziert in: Franz v. Lenbachs
zeitgenössische Bildnisse. 2 Bände mit je 40 Portraits in Photogravüre. München, Bruck-
mann. Folio (1888 u. 1895). — Lenbach, Fr. v., Schönheitsideale, 25 Heliogravüren. Mit
einleit. Text von Fritz v. Ostini. München o. J. (1904). 4°. — Lenbach, Frz. von, Bild-
nisse, 40 Gravüren nach Orig.-Gemälden des Meisters. München, Franz Hanfstängl. gr. Folio
(1897/98). — Aus Studienmappen deutscher Meister, herausg. v. Jul. Lohmeyer. Franz
v. Lenbach. 40 Studien, Skizzen und Werke des Künstlers. Text von A. Rosenberg, o. J.
(1899). Dr. E. W. Bredt.
Buchholz, Wilhelm, Dr.phiL, Dramaturg der Kgl. Theater in München,
• 10. November 1836 zai Lübeck, f 25. November 1904 in München. — B.
war als Sohn des Syndikus Dr. Buchholz in Lübeck geboren und absolvierte
dort auch das Gymnasium, worauf er in Leipzig und Jena studierte. Während
des Laubeschen Regimes schrieb er in der Leipziger Zeitung Kritiken über
das Stadttheater, und von da an hat ihn das Theater nicht mehr losgelassen.
August Förster und Angelo Neumann beschäftigten ihn als Dramaturgen.
Ersterem hat er zeitlebens eine dankbare Verehrung bewahrt, wie er denn
überhaupt gern über seine Leipziger Tage unter Förster sprach. Im Jahre
1882 wurde er von dem Generalintendanten Frhrn. v. Perfall als dramatur-
gischer Sekretär an das Münchener Hoftheater engagiert, an welcher Bühne
er 22 Jahre tätig war. Unter diesem Intendanten, dem er ein treuer Rat-
geber in allen Angelegenheiten des Kgl. Schauspiels war, kamen auch seine
literarischen Fähigkeiten zur Geltung. Seine Bühneneinrichtungen (I. L.
Kleins Zenobia 1884, Babos Otto von Witteisbach, Die Romanows, nach
Immermanns Alexis 1899, Otto Ludwigs Fräulein von Scud^ri 1891 und
Buchholz. Müller. Klopfer. 267
Shakespeares König Heinrich VI., 2 Teile 1895 bei Reclam) wurden alle in
München aufgeführt, haben sich aber freilich, wie ein eigenes Drama Dante
(1886), das Kürschner außerdem noch anführt, nicht halten können. Die
Gartenlaube und andere Zeitschriften brachten Gedichte von ihm, und der
Prinzregent von Bayern zeichnete den tüchtigen Beamten durch die goldene
Medaille für Kunst und Wissenschaft aus. Schon in Leipzig hatte er sich
mit Adelma Harry, Ehrenmitglied des Grazer Konservatoriums, verheiratet.
Unter Perfalls Nachfolger, Ernst v. Possart, sank die Bedeutung des Drama-
turgen auf ein Minimum, und Dr. Buchholz, eine stille, irenische Natur, war
nicht der Mann, seinen Posten eigenmächtig zu heben. In den letzten fünf
Jahren quälte ihn zudem ein schweres Kopfleiden, dem er schließlich auch
erlag. Seine Aschenume wurde in der Gruft seines Vaters in Lübeck bei-
gesetzt. Er selbst lebt in der Erinnerung derer, die ihn kannten als »ein
treuer Diener seines Herrn«, wie er im Kreise der Bühnenmitglieder schon
bei seinen Lebzeiten gerne genannt wurde.
München. Alfred Frhr. v. Mensi.
Müller, Robert, Kgl. Regisseur der Münchener Hofoper, * 11 Juli 1840
in Leipzig, f 17. Juli 1904 in München. — M. wurde als Sohn eines Leipziger
Buchhändlers geboren. Nachdem er bei Volkmar Kuhns dramatischen
Unterricht genossen, betrat er am i. Oktober 1860 in Greifswald die Bühne
und zwar als Schauspieler. Erst später wurde er auf seine schöne Stimme
aufmerksam und ging 1862 zur Oper über, nachdem er am Dresdner Konser-
vatorium einigen musikalischen Unterricht genossen hatte. M. wirkte in
seiner Doppeleigenschaft als Schauspieler und Sänger (Baßbuffo) in Basel,
Augsburg, Köln, Dresden, Leipzig, an der Komischen Oper in Wien und in
Stuttgart, wo er nebstbei auch als Regisseur und als Deklamationslehrer am
Konservatorium tätig war (von 1885 ab). Später ging er als Regisseur nach
Prag und Bremen und im Jahre 1892 an das Münchener Hoftheater, wo er
als Nachfolger Brulliots (s. Biogr. Jahrbuch II. Bd. pag. 237) ausschließlich
nur Opernregie führte, dann aber auch als Lehrer an der Kgl. Akademie der
Tonkunst wirkte. Jedem Komödiantentum gründlich abhold, trat M. nur
wenig an die Öffentlichkeit. Liebenswürdig, ehrlich und bescheiden, tat er
seine Pflicht, bis ihn schweres körperliches Leiden und traurige Familien-
verhältnisse von hinnen riefen. Dem Sänger wurden eine schöne, klangvolle
Stimme und gewandtes Spiel nachgerühmt. Zu seinen Hauptrollen aus jener
Zeit gehörten: van Bett, Masetto, Kellermeister (Undine), Bartolo, Plumket,
Leporello, Baculus, Beckmesser.
Eine kurze Biographie enthält Eisenbergs Bühnenlexikon.
München. Alfred Frhr. v. Mensi.
Klopfer, Victor, Kgl. Kammer- und Hof Opernsänger, ♦ 17. März 1869 in
Zürich, t 24. Juli 1904 in Tegernsee. — K. war in Zürich als Sohn eines
Möbelfabrikanten und Tapezierers geboren und wurde später Besitzer
des väterlichen Geschäfts. Bald kam er aber nach Bayern und setzte in
München die schon in der Heimat emsig betriebenen Gesangsstudien fort.
268 Klopfer. Rüdiger.
In einem Schülerkonzert seines Lehrers, des früheren lyrischen und Buffo-
tenors Hermann, fiel zum erstenmal K.s wundervolle Baßstimme öffentlich
auf. Vom I. September 1906 an wurde er an die Münchener Oper engagiert,
konnte sich aber geraume Zeit nicht recht durchsetzen, ja seine Stellung schien
anfangs ziemlich prekär zu sein. K. war ein fleißiger, überaus gewissenhafter,
aber auch pedantisch-ängstlicher Künstler. Er selbst klagte, daß ihn seine
nervöse Ängstlichkeit, die ihn auf der Bühne jedesmal überfalle, an der
vollen Entfaltung seiner Mittel hindere. Nur langsam und mühsam hat sich
K. die erste Stellung erobert, die er zuletzt doch einnahm. Völlig sicher
war sie ihm eigentlich erst, als er sich auch auswärts Ruhm und Ehren
geholt hatte. K. erschien wiederholt bei den Salzburger Musikfesten, in den
Konzerten der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, in der Royal Opera
in London, im New Yorker Metropolitan Opera House usw. K.s Stimme war
ein echter seriöser Baß von entzückendem Wohlklang und einem edlen,
vornehmen Timbre, der trefflich zu seiner großen, schlanken Erscheinung und
zu seinem immer etwas würdig gemessenen Spiel paßte, das in den ersten
Jahren noch etwas steif, später aber lebendiger wurde und stets wohldurch-
dacht war, denn K. war ein intelligenter Künstler, der fast ebensogut und
wirksam sprach wie sang. Er studierte nicht leicht und sein Repertoire war
noch nicht groß, aber er war auf dem besten Wege, der erste Bassist Deutsch-
lands zu werden, denn es konnte kaum eine schönere und edlere Baßstimme
gefunden werden. In den Münchener Wagner- und Mozartfestspielen sang er den
Fafner, Hunding, Marke, Daland, Pogner, Sarastro und Komthur. Aber er
besaß auch Humor und war ein vortrefflicher Barbier von Bagdad. In einer
neuen einaktigen Oper »Vaterunser«, zu der sein Intendant v. Possart nach
Frangois Copp^e den sentimentalen Text gedichtet, der Dirigent Röhr eine
lärmende Kapellmeistermusik komponiert hatte, trat K. als Priester ahnungs-
los mit den Schlußworten seiner Rolle »Gelobt sei Jesus Christus — beten
Sie!« von der Bühne. In den danach folgenden Theaterferien, kurz vor
Beginn der Festspiele, zu deren Hauptattraktionen K. stets gehört hatte,
starb er auf dem Lande, in Tegemsee, an den Folgen eines dummen Zufalls,
einer Sehnenzerreißung am Unterschenkel, die er sich beim Turnen zugezogen
hatte und die ihm zum tödlichen Verhängnis wurde. Ein für die junge
Wittwe Klopfers und sein Kind günstig verlaufender Unfallversicherungs-
prozeß brachte Klopfers Namen einige Zeit danach noch einmal an die
Öffentlichkeit. Die Münchener Oper hat aber neben dem Namen August
Kindermanns keinen glänzenderen unter ihren Bassisten zu verzeichnen und
zu beklagen als den Klopfers, dessen Wahlspruch und Richtschnur der
meist ernst blickende junge Mann früh schon aufgezeichnet hatte in den
Worten: »Ernst ist das Leben, heiter die Kunst — mit Vergunst: Heiter
das Leben, ernst ist die Kunst«.
München. Alfred Frhr. v. Mensi.
Rüdiger, Otto, hamburgischer Geschichtsforscher und Schriftsteller,
* 22. April 1845 i" Marienwerder, f 12. Januar 1904 in Hamburg. — R. be-
suchte zunächst die Volksschule und später das Gymnasium zu Pyritz in Pom-
mern, wohin die Eltern 1847 übergesiedelt waren. Trotz seiner bescheidenen
Rüdiger. 269
Verhältnisse gelang es dem Vater, der ein einfacher Schneider war, seinem
Sohne das Universitätsstudium zu ermöglichen. 1864 ging R. nach Halle,
um klassische Philologie und Germanistik zu studieren. Seit 1867 beschäftigte
er sich in Kiel vorzugsweise mit historischen Studien. Leider versagten die
Mittel vor der Zeit, so daß er sich gezwungen sah, einstweilen für seinen
Lebensunterhalt zu arbeiten. Er wandte sich nach Hamburg, wo er an einer
höheren Privatschule für Knaben angestellt wurde. Nach mehreren Jahren
erfolgreicher Tätigkeit brachte er dann in Kiel mit der Promotion zum Dr. phiL
und dem 1876 bestandenen Staatsexamen seine Studien zum Abschluß. Er
trat darauf in den hamburgischen Staatsdienst, den er aber schon nach Ver-
lauf eines Jahres verließ, um hinfort in unabhängiger Stellung als Privatlehrer
zu leben. Der Stadt Hamburg aber blieb er treu bis ans Ende, ihrer Geschichte
widmete er seine ganze Muße und die beste Kraft seines Lebens. Der reiche
Ertrag seiner wissenschaftlichen Arbeit bildet eine bedeutende Förderung
verschiedener Gebiete der hamburgischen Geschichte, wie sie nicht allzu oft
geleistet wird. R.s Forschungen bewegen sich im allgemeinen in zwiefacher
Richtung: sein erstes Ziel war die Geschichte der Zünfte, später beschäftigte
ihn ausschließlich die Schulgeschichte Hamburgs. Mit dem 1874 heraus-
gegebenen Werke »Die ältesten hamburgischen Zunftrollen und Brüderschafts-
statuten« schuf R. »eine hamburgische Geschichtsquelle ersten Ranges«. Ein
Nachtrag dazu erschien 1875 unter dem Titel Ȁltere hamburgische und
hansestädtische Handwerksgesellendokumente«. Aus der großen Zahl seiner
kleineren Beiträge zur Zunftgeschichte sei der Vortrag über »Böhnhasen und
Handwerksgesellen« hervorgehoben, der in der 1892 von Th. Schrader heraus-
gegebenen Sammlung »Hamburg vor 200 Jahren« abgedruckt ist. In engem
Zusammenhang mit den Studien zur Zunftgeschichte stehen auch die beiden
Romane »Siegfried Bunstorps Meisterstück« (Jena 1878) und »Die letzten
Marienbilder« (Hamburg 1886), deren Schwerpunkt nicht so sehr in ihrem
künstlerischen Wert, als vielmehr darin liegt, daß sie ein fein ausgeführtes,
überaus anschauliches und zuverlässiges Kulturbild vergangener Zeiten bieten.
Im Auftrage des »Vereins für Hamburgische Geschichte«, der in dem
Verstorbenen eins seiner verdientesten Mitglieder verloren hat, veröffentlichte
R. 1889 »Barbarossas Freibrief für Hamburg vom 7. Mai 11 89. Festschrift
zum siebenhundertjährigen Gedenktage«, eine Publikation, die eine lebhafte
literarische Fehde über die Echtheit der in Frage kommenden Urkunde her-
vorrief.
Während des letzten Jahrzehnts seines Lebens pflegte R. mit besonderem
Eifer das Gebiet der hamburgischen Schulgeschichte. Die erste Frucht seiner
ausgedehnten Forschungen war seine »Geschichte des hamburgischen Unter-
richtswesens«, welche die Entwicklung der hamburgischen Schulen zum ersten
Male im Zusammenhang schildert. Sie wurde den Teilnehmern der deutschen
Lehrerversammlung, die Pfingsten 1896 in Hamburg tagte, als Festschrift
überreicht. Sein letztes größeres Werk »Caroline Rudolphi. Eine deutsche
Dichterin und Erzieherin, Klopstocks Freundin« (Hamburg und Leipzig 1903),
das zum hundertjährigen Todestage des Messiassängers erschien, behandelt
in eingehender und liebevoller Weise die Lebensgeschichte jener hamburgi-
schen Schulvorsteherin, deren Name, heute fast vergessen, vor hundert Jahren
weit über Hamburgs Grenzen hinaus einen guten Klang hatte.
2 70 Rüdiger. Eckermann.
Vgl. Hamburger Nachrichten, 2. Morg.-Ausg. v. 14. Januar 1904 (Nekrolog v. G. Lcit-
häuser); i. Morg.-Ausg. v. 16. Januar 1904. — Hamburgischer Correspondent, Morg.-Ausg.
V. 13. Jan. 1904. — Mitteilungen des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 8, Jg. 24,
1904, S. 385 — 87. — Das literarische Echo, Jg. 7, Hft. 5. v. i. Dezember 1904 (F. Muncker,
Caroline Rudolphi). Joh. Sass.
Eckermann, Christian Hinrich, Landesbaurat der Provinz Schleswig-
Holstein, * 30. November 1833 in Elmshorn, f 8. Juni 1904 in Kiel. — Seine
Schulbildung empfing E. in der Volksschule und in dem Privatinstitut des
Dr. Stössiger in Elmshorn. Seit 1850 bereitete er sich in Dithmarschen
praktisch auf den Landmesserberuf vor und bestand im Frühling 1856 das
Landmesserexamen in Kiel. In den beiden folgenden Jahren war er bei
den Eindeichungsarbeiten und Stromvermessungen in Norderdithmarschen
beschäftigt. Von 1858 bis 1860 besuchte er das Polytechnikum in München,
arbeitete von 1861 — 1864 als Ingenieur im holstein-lauenburgischen Deich-
und Wasserbauwesen und wurde im Herbst 1864 als Kgl. Wegebauinspektor
ip Husum angestellt. Hier lernte er Theodor Storm kennen, und aus der
Bekanntschaft entwickelte sich eine Freundschaft fürs Leben. Als Storm den
»Schimmelreiter« schrieb, fand er in allen technischen, den Deichbau be-
treffenden Fragen in dem Freunde einen sachkundigen Berater. Am i. April
1869 wurde E. zum Kreis-Baubeamten für Norderdithmarschen ernannt und
verlegte seinen Wohnsitz nach Heide. Nachdem er im September 187 1 den
Amtscharakter als Königlicher Bauinspektor erhalten hatte, trat er am
I. April 1876 als Wegebauinspektor in den Dienst der Provinz, die ihn 1894
als Landesbaurat in die Provinzialvcrwaltung nach Kiel berief. Keinen
besseren Händen konnte die Leitung des gesamten Wegebauwesens anver-
traut werden, für dessen Förderung und Ausgestaltung E. bis in seine letzte
Leidenszeit hinein unermüdlich tätig gewesen ist.
Doch nicht in dem, was er als Beamter geleistet hat, liegt seine eigent-
liche Bedeutung. Sie ruht in dem stillen, aber um .so tieferen Wirken, das
von seiner Persönlichkeit ausging. Er war ein durchaus aufrechter Charakter,
aufrecht bis zum äußersten. Dieser Grundzug seines Wesens im Verein mit
außerordentlichen Geisteskräften verlieh ihm jenes Übergewicht, um dessen
willen er im ganzen Lande hohes Ansehen und das unbedingte Vertrauen
der Besten genoß. Sein Rat wurde viel begehrt. Der weite Blick, mit dem
er überall den großen Zusammenhang der Dinge sah, sein scharfer Verstand
und sein reiches, alles Menschliche so tief verstehendes Gemüt ließen ihn
auch in schwierigen P'ragen das Rechte treffen, während seine warme Herzens-
freundlichkeit und sein erquickender Humor ihm aller Herzen gewann. Eine
Natur von wahrhaft großer Schlichtheit, allen äußeren Ehren abhold, suchte
und fand er den Wert des Lebens einzig im Geistigen. Von Jugend auf er-
füllte eine starke Liebe zur Heimat sein Herz —
»O graue Woge, o grüner Strand,
Über alles mir teures Vaterland!«
In seinen Mußestunden trieb E. mit Vorliebe historische Studien. Mit
tiefdringendem, Grund und Folge der Erscheinungen scharf erfassendem Ver-
ständnis verfolgte er die großen Wandlungen in den Geschicken Schleswig-
Holsteins und Deutschlands, die so nahe miteinander verknüpft waren. Mit
Eckermann. Brosius. Holzmann.
271
Land und Leuten aufs engste vertraut, war er vor allem ein gründlicher
Kenner unserer Provinzialgeschichte, die er durch eine Anzahl eigener wert-
voller Forschungen bereichert hat. Sie beziehen sich durchweg auf die
Geschichte der Eindeichungen an der schleswig-holsteinischen Westküste und
sind in verschiedenen Bänden der »Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-
Holsteinische Geschichte« erschienen. E.s handschriftlicher Nachlaß wird in
der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek zu Kiel aufbewahrt.
Vgl. Zeitschrift d. Gesellschaft f. Schlesw.-Holst. Geschichte, Bd. 34, 1904, S. 187
bis 189 (Nekrolog nebst Schriftenverzeichnis). — Kieler Zeitung, Ab.-Ausg. v. S.u. 13 Juni
1904. — Alberti, Schriftstelleriexikon, 1866 — 1882, Bd. i, S. 147. Joh. Sass.
Brosius, Ignaz, Kgl. preuß. Eisenbahndirektor, * 29. Juli 1838 zu Burg-
steinfurt, t 31- August 1904 in Hannover. — B. hatte sich wissenschaftlich
und praktisch für den Eisenbahnmaschinendienst ausgebildet — wissenschaftlich
am Polytechnikum in Zürich, praktisch als Schlosser in der Eisenbahn Werk-
statt in Paderborn und als Lokomotivführer in Altenbecken, Holzminden und
Paderborn. Mit Koch, seinem langjährigen literarischen Mitarbeiter, kam er
im Jahre 1865 als Ingenieur zur Westfälischen Eisenbahn, später als Maschinen-
meister nach Hannover, 1883 als Vorstand des maschinentechnischen Bureaus
nach Magdeburg, wo er bis 1885 blieb. Nach mehrjähriger Beschäftigung
bei verschiedenen Betriebsämtern wurde er 1890 zum Eisenbahndirektor
ernannt und 1891 zum Vorstand der Eisenbahn-Hauptwerkstatt Breslau berufen:
schon im nächsten Jahre erfolgte seine Versetzung nach Harburg und 1895
seine Pensionierung. Er kehrte nach Hannover zurück, wo er denn auch
sein Leben beschloß. B. ist besonders bekannt geworden durch seine Ayerke;
»Die Schule des Lokomotivführers« und »Der äußere Eisenbahn-Betrieb«;
beide schrieb er gemeinsam mit R. Koch; viel verbreitet sind sein »Illustriertes
Wörterbuch der Eisenbahnmaterialien« und seine »Reiseerinnerungen an die
Eisenbahnen der Vereinigten Staaten von Nordamerika«; die »Schule des
Lokomotivführers« hat bisher zehn Auflagen erlebt. A. Birk.
Holzmann, Philipp, Baurat, * 10. Dezember 1836 zu Sprendlingen bei
Frankfurt a. M., t i4- Mai 1904 zu Frankfurt a. M., ist der bekannte Gründer und
langjährige Leiter des Baugeschäfts Philipp Holzmann u. Co. in Frankfurt a. M.,
das sich durch seine großen technischen Bauten in Deutschland, Österreich, in
der Schweiz und in Holland und durch den Bau der Anatolischen Eisenbahn,
wie auch durch die Mitwirkung bei den Ausstellungen in Chicago und Paris
einen Weltruf erworben hat. H. hat in Darmstadt und Karlsruhe studiert
und sich im Baugeschäfte seines Vaters praktisch ausgebildet. Im Jahre
1864 übernahm er selbst in Gemeinschaft mit seinem Bruder dieses Geschäft und
führte es nun in stets aufsteigender Linie seiner gegenwärtigen Bedeutung zu.
H. besaß einen weiten Blick für große, zeitgemäße Unternehmungen, Geschick-
lichkeit in der Wahl seiner Mitarbeiter und Beamten, gründliche Kenntnisse
in allen Zweigen der Technik und dabei besondere Liebenswürdigkeit und
Hilfsbereitschaft. Er war zuletzt Vorsitzender des Aufsichtsrates seiner Firma,
der er sein tatenreiches Leben so erfolgreich gewidmet hatte. A. Birk.
272 von Schüblcr. von Pichler.
Schübler, Adolf von, kaiserl. Geh. Regierungsrat a. D., * 20. Juli 1829 zu
Stuttgart, t 14- Januar 1904 ebenda, erwarb sich durch seine schriftstellerische
Tätigkeit auf bautechnischem Gebiete einen hervorragenden Namen. Seh.,
dessen Vater Bergrat in Stuttgart war, hatte daselbst das Gymnasium und
die polytechnische Schule besucht, ging dann nach Karlsruhe, um Redten-
bach zu hören und wandte sich zunächst dem Eisenbahnbau in Württemberg
und in der Schweiz zu. Studienreisen nach Frankreich und Belgien erwei-
terten seinen fachlichen Blick und erweckten sein Interesse für Brückenbau,
das sich in der — gemeinsam mit dem nachmaligen Professor Fr. Laissle in
Stuttgart unternommenen — Herausgabe eines großen Werkes über Brücken-
bau dokumentierte; dieses in vieler Beziehung grundlegende Werk machte
den Namen des jungen Mannes sofort in weiten Fachkreisen bekannt. Nach-
dem Seh. zwei Jahre bei Brückenbauten in Ungarn beschäftigt gewesen war,
trat er 1859 in den württembergischen Staatseisenbahndienst, in dem er bis
zum deutsch-französischen Kriege verblieb und zahlreiche Neubauten leitete.
Im Jahre 1870 wurde Seh. Eisenbahndirektor und Mitglied der Kaiserlichen
Generaldirektion der Eisenbahnen in Straßburg; in dieser Stellung entfaltete
er eine ungemein lebhafte und fachlich ersprießliche Tätigkeit bei dem Aus-
bau der wichtigsten Bahnhöfe und Werkstättenanlagen dieses Bahnnetzes,
sowie beim Bau neuer Nebenbahnen und der besonders wichtigen Erzbahnen
in Luxemburg, für welchen Direktionsbezirk ihm das technische Dezernat
übertragen worden war. Schon im Jahre 1872 hatte Seh. eine größere
Abhandlung über Nebenbahnen erscheinen lassen, in der er die große wirt-
schaftliche Bedeutung derartiger Bahnen eingehend nachwies. Dieser Schrift
folgten im »Zentralblatt der Bauverwaltung« und in der »Zeitschrift für Bau-
wesen« Untersuchungen über die Widerstände der Eisenbahnfahrzeuge im wag-
rechten Gleis (1881), über den Begriff der virtuellen Längen (1884 — eine sehr
bemerkenswerte Studie), über die Bestimmung der Festigkeitskoeffizienten für
Eisenbauten (1885, gemeinsam mit Laissle), über die Gefäll Verhältnisse auf Ablauf-
gleisen (1888), über die Berechnung von Eisenkonstruktionen (1889, in Verbindung
mit Laissle), über die Dauer von Eisenbahnschienen aus hartem und weichem
Stahl (1893) und über den Einfluß der Steigungsverhältnisse (1893). Körper-
liche Leiden zwangen Seh., der 1887 den Charakter als Geheimer Regierungs-
rat erhalten hatte und dem hohe württembergische und preußische Auszeich-
nungen, u. a. auch der persönliche Adel verliehen worden waren, schon 1897
in den Ruhestand zu treten. Seine literarischen Arbeiten zeugen gleich seiner
praktischen Tätigkeit für umfassendes Wissen und seltener Arbeitsfreudigkeit
— dagegen scheint es ihm im dienstlichen Verkehr, trotz seiner vornehmen
Gesinnung, versagt gewesen zu sein, die Zuneigung seiner Mitarbeiter und
Untergebenen zu gewinnen.
»Zentralbl. der Bauverw.« 1904, S. 36. A. Birk.
Pichler, Max Ritter von, k. k. Sektionschef, * 2. November 1839 zu Wien,
t 30. Mai 1904 ebenda. — Nach Zurücklegung der technischen Studien trat
P. im Jahre 1861 in den Dienst der österr. ungar. Staatseisenbahn-Gesellschaft,
wo sich seine ungewöhnliche technische und organisatorische Begabung sehr
bald Bahn brach und durch Berufung auf einen wichtigen Posten anerkannt
wurde. Dennoch verließ P. diese Bahngesellschaft und trat als Zentral-
von Pichlcr. von Ott.
273
Inspektor in den Dienst der ungarisch-galizischen Eisenbahn (187 1), deren
Verkehrsdienst er organisierte und deren gesamte Verwaltung er als Direktor
bis zu der im Jahre 1889 erfolgten Verstaatlichung leitete; in dieser Eigen-
schaft wurde ihm 1878 der Titel eines Regierungsrates, 1882 der Orden der
eisernen Krone III. Klasse, im selben Jahre der Ritterstand und 1884 der
Titel eines Hofrates verliehen
Mit dem Übertritt in den Staatseisenbahndienst eröffnete sich ihm sehr
bald durch seine Ernennung zum Vorstande der neugeschaffenen Lokalbahn-
abteilung ein ergiebiges Gebiet organisatorischer Tätigkeit, das sich noch
erweiterte, als er im Jahre 1896 mit der Leitung der technischen Sektion des
Eisenbahnministeriums betraut wurde. In dieser Stellung fand er vollauf
Gelegenheit, seine auf allen Gebieten des Eisenbahnwesens gesammelten
Erfahrungen und seine Kenntnis der Details der einzelnen Zweige desselben,
namentlich jener des technischen Verkehrsdienstes nachdrücklich und erfolg-
reich zur Geltung zu bringen, auf das richtige Ineinandergreifen der Tätig-
keit der ihm unterstellten technischen Ressorts und auf die zielbewußte
Zusammenfassung ihrer Funktionen mit kundigem Blicke hinzuwirken und
die durch den Verkehrsaufschwung gebotenen Reformen mit weiser Energie
durchzuführen. Auf seine Anregung und Mitwirkung sind zurückzuführen:
Die Einführung der Zugfolge im Raumabstand, die einheitlichen Bestimmungen
für die Bauart der Betriebsmittel, die Verbreitung der selbsttätigen Bremse
usw. Seine umfangreiche Wirksamkeit fand in der Verleihung des Eisernen
Kronenordens II. Klasse und des Kommandeurkreuzes des Leopoldordens
Allerhöchste Anerkennung. P. war auch literarisch tätig und hat in verschie-
denen Zeitschriften wiederholt Abhandlungen betriebstechnischen Inhaltes
veröffentlicht. Er war ein außerordentlich lauterer und liebenswürdiger
Charakter, der streng gegen sich selbst, immer nachsichtig gegen die Fehler
Anderer war und die Verdienste seiner Mitarbeiter stets freudig anerkannte.
Wochenschrift für den öffentlichen Baudienst 1904, S. 484; mit Bild. A. Birk.
Ott, Karl Edler von, Regierungsrat, ♦18. April 1835 in Chotka bei
Kiritein (Mähren), f 23. August 1904 in Brunn — ein Mann, der in den
weitesten Kreisen der Ingenieure Österreichs als Lehrer verehrt und geschätzt
wurde. Der Sohn eines Fürst Lichtfensteinschen Försters, absolvierte er die
Oberrealschule und die Technik in Wien, erwarb die Lehrbefähigung für
Physik und Maschinenlehre, darstellende Geometrie und Stenographie an
Oberrealschulen und wurde am i. Oktober 1856 Supplent an der Oberreal-
schule in Olmütz. Vom Februar 1862 an wirkte er als Professor an der
deutschen Oberrealschule in Prag, von wo er bei der Gründung der zweiten
deutschen Oberrealschule daselbst (1873) als Leiter beziehungsweise Direktor
an diese übertrat. Hier wirkte er bis zu seiner Pensionierung (1900) mit
größtem Erfolge. O. war im Jahre 1864 als honorierter Dozent für Bau-
mechanik an die deutsche technische Hochschule in Prag berufen worden
und übte diese Lehrtätigkeit bis zu seinem Tode aus, der ihn plötzlich in
voller Rüstigkeit auf einer Reise nach Brunn ereilte. In Anerkennung seiner
hervorragenden Leistungen auf dem Gebiete des Mittelschulunterrichtes
wurden ihm wiederholt ehrende und auszeichnende Anerkennungen zuteil.
O. war auch literarisch erfolgreich tätig; am bekanntesten sind seine »Bau-
Biosrr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd. 18
274
von Ott. Weitbrecht.
mechanik«, die zum Teile schon in dritter Auflage, und seine »Graphische
Statistik«, die bereits in vierter Auflage erschienen ist und in fremde Sprachen
übersetzt wurde. Ein großer Naturfreund und leidenschaftlicher Jäger bewahrte
er sich bis zu seinem Tode geistige Frische und Regsamkeit, seinen Schülern
brachte er stets großes Wohlwollen entgegen und ein lebhaftes Interesse, das
auch über die Hochschule hinaus andauerte.
Wochenschrift für den öffentlichen Baudienst 1904, S. 675. A. Birk
Weitbrecht, Karl, Dichter und Literarhistoriker, ♦ 8. Dezember 1847 in
Neu-Hengstett, f 10. Juni 1904 in Stuttgart. — Geboren als Sohn eines
Pfarrers in dem Waldenserdorf Neu-Hengstett bei Calw im württembergischen
Schwarzwald, wurde W. frühe zum Theologen bestimmt und erhielt seine
Ausbildung im niedern theologischen Seminar in Blaubeuren, von 1865 an
im »Stift« in Tübingen. Nach einigem Schwanken, ob er nicht zu einem
andern Fach übergehen solle, blieb er, dem Wunsch der Eltern entsprechend,
schließlich doch bei der Theologie, da die Mittel zum Studium außerhalb
des Stifts fehlten und er dort außer Theologie nur klassische Philologie hätte
studieren können; zu dieser aber hatte er »ungefähr gerade so viel oder
wenig Neigung wie zur Theologie«. Im Herbst 1869 erstand er das theo-
logische Examen und fand nun an verschiedenen Orten Württembergs
unständige Verwendung im Kirchendienst. In dieser Vikariatszeit entstanden
1870/71 seine »Lieder von einem, der nicht mitdarf«; weitere Gedichte
Weitbrechts, poetische Stimmungsbilder zu Zeichnungen von Hugo Knorr,
erschienen 1873 in dem Prachtwerk »Was der Mond bescheint«.
Eine feste Anstellung, die ihm die Begründung seines Hausstandes erlaubte,
erhielt er 1874 als zweiter Stadtpfarrer in Schwaigern bei Heilbronn. Die
12 Jahre, die er in dem stillen Landstädtchen zubrachte, verliefen ohne
bedeutendere äußere Anregung oder Abwechslung, aber sie waren reich an
innerem Erleben und der größere Teil seiner dichterischen Produktion fällt
in diese Zeit. Sein »Liederbuch« erschien, jedesmal vermehrt, in 3 Auflagen,
zuletzt (1880) unter dem Titel »Gedichte«. Mit Eduard Paulus zusammen
gab er 1883 ein »Schwäbisches Dichterbuch« heraus, in welchem das damalige
dichtende Schwaben ziemlich vollständig und zum Teil trefflich vertreten
war. Im Jahre 1876 übernahm er die Redaktion des »Neuen deutschen
Familienblatts«, die er bis zu seinem Weggang von Schwaigern besorgte. In
diesem Wochenblatt veröffentlichte er viele seiner Gedichte zum erstenmal,
vor allem aber eine ganze Reihe von Erzählungen, zum Teil unter dem
Namen Gerhard Sigfrid. Außerdem schrieb er für das »Familienblatt«
neben anderem die politische Wochenrundschau und eine Reihe von volks-
tümlich gehaltenen Artikeln über die Sozialdemokratie, die 1879 auch in
Buchform erschienen unter dem Titel »Was ist*s mit der Sozialdemokratie?«
Auch in »Kalendergeschichten« legte er den Beweis ab, daß er das Zeug zu
einem volkstümlichen Schriftsteller besaß, und noch im Jahr vdr seinem Tode
bereitete es ihm große Freude, daß ihm für eine Kalendergeschichte der
vom »Lahrer Hinkenden Boten« ausgeschriebene Preis zuerkannt wurde.
Noch in den Anfang der siebziger J?ihre fällt die Entstehung seiner
ersten Dialekterzählung »'s Burgamoischters Hansjörg«, angeregt durch die
in einem befreundeten Kreis aufgeworfene Frage, ob auch die schwäbische
Weitbrecht.
275
Mundart sich eigne zu erzählender Darstellung in der Art Fritz Reuters.
Bis dahin war das Schwäbische in Erzählungen nur im Munde der Sprechenden
und zu deren Charakteristik verwendet worden, und auch hier mit Rücksicht
auf die Allgemeinverständlichkeit meist nur in abgeschwächter, dem Schrift-
deutschen angenäherter Form ; die Brüder Weitbrecht waren die ersten, welche
die Erzählung selbst in der Mundart gaben. Bald folgten dieser ersten Geschichte
weitere, die dann zusammen mit den Erzählungen seines jüngeren Bruders
Richard als »Gschichta-n aus-em Schwöbaland« 1877 erschienen und
wiederholt aufgelegt wurden. 1884 folgten »Nohmöl Schwöbagschichta«
der beiden Brüder, in denen Karl aber nur mit 2 Erzählungen vertreten war,
darunter die rührende Kindergeschichte »Vom Lisle«.
Während sein Bruder Richard die Gattung der mundartlichen Erzählung
noch weiter pflegte, wandte sich Karl Weitbrecht nunmehr ausschließlich
der Erzählung in der Schriftsprache zu. Eine Anzahl der im »Deutschen
Familienblatt« erschienenen Erzählungen, die als gesunde Volkskost Verbrei-
tung verdienten, sammelte er 1884 in seinem »Greschichtenbuch«. Schon
1882 aber hatte er den Flug höher gewagt und unter dem Titel »Verirrte
Leute« sechs Novellen herausgegeben. 1885 folgte der ebenfalls im Familien-
blatt zuerst erschienene »Kalenderstreit von Sindringen«, dessen Inhalt zum
Teil auf handschriftlichen Quellen beruhte, und 1886 die Novellensammlung
»Heimkehr«.
Außer diesen Büchern fallen in die Pfarrzeit noch einzelne ungedruckt
gebliebene Dichtungen, wie die in der Reformationszeit spielende Erzählung
in Versen »Magister Ludwig« und außer einer Anzahl unvollendeter Dramen
und einem kleinen Lustspiel das Trauerspiel »Sigrun«. So erweisen sich
diese Jahre des Pfarramts als die produktivste Zeit seines Lebens. Sie waren
aber auch eine Zeit der Erweiterung und Vertiefung seiner literarischen,
philosophischen und theologischen Kenntnisse. Die Überzeugungen, welche
sich durch diese Studien immer mehr in ihm befestigten, brachten ihn in
tiefen inneren Zwiespalt mit dem ihm obliegenden kirchlichen Amt, der in
manchen seiner Gedichte ergreifenden Ausdruck gefunden hat und auch zu
Reibungen mit seinem nächsten kirchlichen Vorgesetzten führte, so daß er
sich mehr und mehr hinaussehnte aus einer ihm zur Qual gewordenen Lage.
So ergriff er mit Freuden die Gelegenheit, aus unbefriedigenden Verhält-
nissen wegzukommen, als sich ihm 1886 die Möglichkeit eröffnete, nach
Zürich überzusiedeln als Rektor der höheren Töchterschule und des Lehrerinnen-
seminars. Frei von kirchlichen Verpflichtungen hatte er dort in der Schule
beim Großmünster Unterricht zu erteilen in deutscher Sprache und Literatur,
sowie in Pädagogik. Nach der Enge aller Verhältnisse seines bisherigen
Wirkungskreises atmete er auf, als ihm vergönnt war, in das anregende
Leben der auch in landschaftlicher Hinsicht bevorzugten Stadt einzutreten.
Die freiere Luft, in der er sich in der Schweiz bewegen konnte, tat ihm
überaus wohl, und es ist kein Zweifel, daß er ihr viel verdankt. Von
dichterischen Werken veröffentlichte er in diesen Jahren 1890 die Sammlung
»Sonnenwende«, die außer neuen Gedichten das Trauerspiel »Sigrun« enthielt,
und 1892 die in Zürich entstandene »Phaläna« mit dem satirischen Anhang
»Seefahrt«. Bedeutete die Übersiedelung nach Zürich für W. unzweifelhaft
eine außerordentliche Förderung, so war doch seine Lage bei den an sich
i8*
276 Weitbrecht.
schon und vollends für eine große Familie sehr bescheidenen Gehalts-
verhältnissen nicht völlig befriedigend. Dazu kam, daß er, der Stock-
schwabe, eben ganz und gar in seiner Heimat wurzelte und wirklich engere
Beziehungen nur mit seinen Freunden in Schwaben unterhielt. So war es
wiederum eine erwünschte Wendung seines Geschicks, als W., der sich im
Herbst 1892 am Züricher Polytechnikum habilitiert und mit einer Antritts-
vorlesung über »Die Nibelungen im modernen Drama« eingeführt hatte, auf
den um dieselbe Zeit durch den Hingang von Julius Klaiber erledigten
Lehrstuhl für Ästhetik und deutsche Literaturgeschichte an der Technischen
Hochschule in Stuttgart berufen wurde.
Im Frühjahr 1893 begann er hier seine Vorlesungen, die auch von
Zuhörern aus der Stadt stark besucht waren. Er behandelte vornehmlich die
klassischen Dichtungen des Mittelalters, die Literatur der Reformationszeit,
Lessing, Goethe und vor allem Schiller und die Literatur des 19. Jahrhunderts;
außerdem hielt er Vorlesungen über die Ästhetik der Dichtkunst und Ein-
führung in die Ästhetik, sowie Redeübungen. Als Früchte seiner Studien
für diese Vorträge veröffentlichte er in der Folge eine Reihe literarhistorischer
und ästhetischer Schriften. Wie in den Vorlesungen so erwies er sich auch
in diesen als ein Mann der ausgesprochensten Sympathien und Antipathien»
die er mit starkem Wort zu vertreten liebte. Daß er in diesen Schriften
herrschenden Zeitströmungen entgegentrat, trug dazu bei, ihnen mehr oder
minder den Stempel von Kampfschriften aufzudrücken. Dieser Charakter
prägte sich noch schärfer aus durch den energischen Gang und Klang seiner
Prosa, der man anfühlt, daß hinter ihr ein Mann steht und nicht ein bloßer
Schreiber. Sie gehört zu der besten aus neuerer Zeit; klar und bestimmt
schreitet sie vorwärts und in veranschaulichenden Bildern und treffenden
Vergleichen verrät sie die dichterische Anlage des Verfassers.
Das erste dieser Werke »Diesseits von Weimar. Auch ein Buch über
Goethe« (1895) ließ schon im Titel den Geist des Widerspruchs verspüren.
»Wenn man den bestimmten und scharfen Eindruck davon haben will, was
der Genius der deutschen Nation mit Goethe und in Goethe wollte, so muß
man diesseits von Weimar bleiben. — Hier haben wir den Dichter Goethe,
wie ihn die Natur wollte und wie sein individuelles Naturell sich selbst wollte, ehe
der klassizistische Ästhetiker seiner Dichtung die Wege wies.« »Die ersten 10 Jahre
in Weimar haben den Dichter um sich selbst gebracht, und als er sich selbst wieder
suchte, hat ihn — grob gesagt — die Antike übertölpelt,« Unter diesem Gesichts-
punkt behandelt W. die »Diesseits von Weimar« entstandenen Dichtungen Goethes,
nachdem er vorausgeschickt hat: »Wer neue Forschungen nach der Methode
der modernen Goethephilologie erwartet, möge das Buch ungelesen lassen.
Der Verfasser ist ein altmodischer Mensch und meint, was man heute über
Goethe wisse, sei schon beträchtlich mehr, als man brauche, um ihn zu
verstehen.« Es geht nun freilich nicht an, die Entwicklung Goethes von
der Übersiedelung nach Weimar an als eine Entgleisung, eine Abirrung von
der ihm eigentlich gewiesenen Bahn zu bezeichnen, und die »Kärrnerarbeit«
der »zünftigen Goethegelehrsamkeit unserer Tage« darf doch nicht so gering ein-
geschätzt werden, wie hier von W. geschieht. Allein wenn dies auch gesagt
werden muß, so wird ein unbefangener Leser des Buches doch nicht ver-
kennen, daß selbst in manchen zu weit gehenden Aufstellungen ein gutes
Weitbrecht.
277
Stück Wahrheit steckt und daß hier über den Dichter Goethe ein Mann
urteilte, dem die Psychologie des dichterischen Schaffens nicht ein Buch mit
sieben Siegeln war und der sich gleich weit entfernt hielt von blofiem ästhe-
tischem Geschwätz wie von öder Mikrologie.
Sein nächstes Werk »Schiller in seinen Dramen« (1897), dem Schwäbischen
Schillerverein gewidmet, durfte sich ungeteilterer Zustimmung erfreuen, vor
allem in den Kreisen, die es begrüßten, auch einmal wieder ein entschiedenes
Wort für Schiller zu vernehmen, nachdem es lange genug zum guten Ton
gehört hatte, für Schiller nur noch frostige Höflichkeit übrig zu haben. W.
behandelt hier Schiller als Tragiker, der »sich in seiner eigentümlichen
Wucht und Größe nur dem Auge ganz offenbart, das ethische und ästhetische
Werte ungetrennt in Einem zu messen vermag«. Das Buch bleibt ein hoch
verdienstvolles Werk trotz einzelner Vorbehalte, die man da und dort wird
machen müssen. In einer Zeit des nervösen Feminismus wies es nachdrücklich
hin auf den Willensmenschen Schiller, eine Herrennatur im besten Sinne des
Wortes, dessen vielangefochtener Idealismus wesentlich auch darin bestand,
daß er die realen Lebensinteressen nicht unter dem engen Gesichtswinkel
des Alltags, der vorübergehenden Tendenzen einer kleinen Zeitspanne ansah.
In dem Buche »Schiller und die deutsche Gegenwart« (1901), einer Sammlung
von Reden und Aufsätzen, bejahte W. nochmals aufs energischste die von
mancher Seite verneinte Frage, ob Schiller für unsere Zeit noch etwas bedeute,
wenn er auch ruhig preisgibt, was auch an Schiller, wie an jedem Großen,
vergänglich ist, und durchaus nicht meint, Schiller müsse uns nun in seiner
dramatischen Technik und seinem dramatischen Stil schlechthin vorbildlich
sein. Es entströmt dem innersten Wesen W.s, wenn er ausführt, wie das
deutsche Volk angesichts seiner Weltaufgaben gerade jetzt einen Dichter
brauche wie Schiller, zu dem es auch immer wieder zurückgekehrt sei, wenn
es ihm nottat, sich in seinen besten Lebenskräften zu sammeln zu energischer
Selbstbehauptung. In dem Buch »Das deutsche Drama, Grundzüge seiner
Ästhetik« (1900) legte er seine Anschauungen über dramatische Stoffe und
Charaktere, über Komposition und Sprache des Dramas nieder und setzte
sich dabei auseinander mit dem zeitgenössischen Drama. Den modernen
Zustandsbildem in dialogisierter Form spricht er die Bezeichnung Drama
überhaupt ab, da sie nicht »einen zum Spiel gestalteten Willenskonflikt«
vorführen. Das Werk ist reich an feinen Hinweisungen darauf, wo es dem
modernen Drama im innersten Grunde fehlt.
1901 erschien in der Sammlung Göschen in 2 Bändchen eine »Deutsche
Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts«, 1902 eine »Deutsche Literatur-
geschichte der Klassikerzeit«. Übersichtlich gruppiert werden hier, bei aller
Knappheit, Richtungen und Persönlichkeiten scharf umrissen vorgeführt in
straffer, klarer und frischer Darstellung. Denen, die seine früheren Schriften
kannten, konnte es nicht unerwartet kommen, daß er in der »Literatur-
geschichte des 19. Jahrhunderts« aufs bestimmteste und mit starkem ethischen
Pathos sich gegen die naturalistische und die neurasthenisch dekadente
Literatur der neuesten Zeit wandte und gegen die Dichter, die keine wirklich
durchgebildeten ethischen Persönlichkeiten sind, denen die menschliche und
darum auch die künstlerische Wahrhaftigkeit fehlt. So sehr er aber im Recht
ist, wenn er vom Dichter inneres Anschauungsvermögen und schöpferische
278 Weitbrecht.
Phantasietätigkeit und dazu tief innerliches Erleben des Lebens verlangt und
nicht aus bloß äußerlicher Beobachtung hervorgezogene Milieuschilderung, so
erscheint sein Urteil über die neueste deutsche Literatur doch vielfach
allzu schroff. In herber Einseitigkeit verschließt er sein Auge gegen unzweifel-
haft vorhandene Ansätze zu neuem Guten und auch gegen unleugbare Fort-
schritte in der Technik der Darstellung.
Durch diese literarhistorischen Schriften ist W.s Name außerhalb Württem-
bergs weit mehr bekannt geworden als durch seine eigenen Dichtungen. Er
war geneigt, seinem streitbaren Auftreten gegen die zünftige Behandlung
der Literaturgeschichte und gegen die moderne Literaturbewegung einen
größeren Einfluß auf die Würdigung seines dichterischen, besonders seines
dramatischen Schaffens durch norddeutsche Kritiker zuzuschreiben, als tat-
sächlich angenommen werden darf, da auch die Aufführungen seiner Dramen
in der Heimat im wesentlichen das Urteil bestätigten, daß seinem heißen
Ringen auf diesem Gebiet ein voller Erfolg nicht beschieden sein könne.
Nach verschiedenen dramatischen Versuchen und Entwürfen behandelte er
1884 in dem Trauerspiel »Sigrun« einen Stoff, den er schon früher in einem
Zyklus von Gedichten gestaltet hatte. Zur Aufführung gelangte das 1886
als Manuskript gedruckte Trauerspiel 1895 in Stuttgart, 1896 auch in Hannover.
Es versetzt die sagenhafte Handlung in das Jahr 9 n. Chr. und auf suevischen
Boden und ist der Gruppe der Hermannsdramen in weiterem Sinne bei-
zuzählen. Gewaltige Leidenschaften schreiten durch dieses Drama der Blut-
rache, aber trotz einer Reihe packender und auch bühnenwirksamer Szenen
vermochte der dem modernen Empfinden allzu fern liegende Gegenstand
tiefere Anteilnahme doch nicht zu erwecken. — 1895 vollendete W. ein früher
begonnenes Lustspiel in Versen »Dr. Schmidt«, das im Jahr, darauf im
Berliner Schillertheater und im Stuttgarter Hoftheater aufgeführt wurde. Es
hat eine Episode aus Schillers Aufenthalt in Oggersheim bei Mannheim zum
Gegenstand. Schiller selbst bleibt fast ganz im Hintergrund; die Hauptfigur
ist ein Gewürzkrämer und Schillerenthusiast. Der Stoff, der freilich für ein
Lustspiel in 3 Akten doch zu wenig ergiebig war, bot W. Gelegenheit, das
Schwärmen für einen Dichter zu geißeln, das nicht fähig ist, etwas für ihn
zu tun und wenn er es noch so nötig hätte. Die Stimmung, aus der die
Novelle »Phaläna« erwuchs, hat hier in anderer Weise ihren Ausdruck
gefunden. — 1896/97 schrieb W. das Trauerspiel »Schwarmgeister«, das im
Jahre 1900 in Berlin und in Stuttgart zur Darstellung gelangte. Zugrunde liegt
derselbe Stoff, den Heinrich v. Kleist in seiner Erzählung »Michael Kohlhaas«
behandelt hatte und zu dem die von Burkhardt veröffentlichten Akten des
Kohlhaasprozesses neue Motive boten. Der Kampf des Kohlhaas um sein
Recht wächst empor zu einem Kampf ums Recht überhaupt, so daß er als
Vertreter aller um ihr Recht Kämpfenden erscheint Daß der Held immer
wieder von der hysterischen Wiedertäuferin Elsbeth angetrieben werden muß,
schädigt den Eindruck des Ganzen; doch übten bei der Aufführung einzelne
Szenen und besonders der 3. Akt eine starke Wirkung aus. — Sein letztes
Drama »Die Jagd im Schönbuch«, den Konflikt zwischen Herzog Ulrich
von Württemberg und Hans von Hütten behandelnd, einen Stoff, mit dem er
sich schon viele Jahre früher getragen, ist Manuskript geblieben.
Unbestrittener war sein Erfolg auf dem Gebiete der Erzählung. Seine
VVeitbrecht. Koester.
279
Novellen, die eine nicht geringe Kraft künstlerischer Gestaltung verraten,
sind vielfach aus den äußeren und inneren Erlebnissen seiner Pfarrzeit heraus-
gewachsen, wie »Das Grab in der Reihe«, »Des Bildhauers Lehrgeld«, »Der
zerrissene Kirchenrock«, die zu seinen besten Erzählungen gehören. Bei einzelnen
mag der Verbreitung über die Heimat des Dichters hinaus das im Wege stehen,
dafi sie sich ganz in der schwäbischen Kleinwelt bewegen. Die Krone seiner
erzählenden Poesie ist die in Zürich entstandene Novelle »Phaläna«. Es ist
ein Lebensbuch, sein Lebensbuch; auch wer das Autobiographische nicht
herauszulesen weifi, wird sich dem Eindruck nicht entziehen können, daß
warmes Lebensblut hier schmerzlich verströmt. Die einzelnen Szenen und
Persönlichkeiten in dieser Geschichte der »Leiden eines Buches« sind aufs
anschaulichste gegeben; die Sprache ist bald mit beißendem Hohn getränkt,
bald mit der weichsten Stimmung, in die auch die eingestreuten prächtigen
Gedichte getaucht sind. — 1898 ließ er nach längerer Pause noch die
»Geschichten eines Verstorbenen« erscheinen, drei Erzählungen, die er einem
im Jahr zuvor verstorbenen Freunde in den Mund legte.
Sein Vermächtnis als Lyriker hat W. selbst in einem Band »Gesammelte
Gedichte« (1903) vereinigt. Mit großer Strenge gegen sich und vor allem
darauf bedacht, nur das für ihn Charakteristische aufzunehmen, hat er aus
seinen früher erschienenen Gedichtsammlungen unter Hinzufügung einiger
wenigen neueren Gedichte diese Auswahl zusammengestellt, die sich dem Besten
der schwäbischen Lyrik des 19. Jahrhunderts an die Seite stellen darf.
Diese Gedichte erzählen uns von seines Lebens Freuden und Enttäuschungen,
Kämpfen und Nöten, von seinem Lieben und Hassen, seinem Zweifeln und
Glauben, seinem Hoffen und Entsagen. Es sind viele Töne und Tonarten,
die uns aus diesem Band entgegenklingen, doch hat seine Lyrik vorwiegend
einen starken metallischen Klang, von den schmetternden Trompetenstößen
seiner jugendlich vorstürmenden Kriegslieder bis zu dem ergreifenden, willens-
stark hervorgestoßenen Mahnruf an sich selbst: »An deine Arbeit, Mensch,
und hoch den Mut!«, mit welchem das Buch schließt, das seine letzte Gabe
werden sollte.
Denn die Krankheit, die er in diesem Gedicht nicht Wort haben wollte,
sollte ihn nicht mehr freigeben; langsam aber unaufhaltsam griff das schwere
Leiden um sich. Im Schwarzwald hoffte er Wiederherstellung seiner zusammen-
brechenden Kräfte zu finden. Nach einigen Wochen trat jedoch eine plötzliche
Verschlimmerung in seinem Befinden ein, so daß er als Sterbender nach
Stuttgart zurückgebracht wurde. In der Frühe des 10. Juni 1904 schlössen
sich für immer die einst so scharfen Augen mit dem eigentümlich funkelnden
Blick. Eine Säule mit seinem Reliefbild von der Hand seines Sohnes bezeichnet
W.s Ruhestätte auf dem Pragfriedhof in Stuttgart.
Schwäbische Chronik vom 13. Juni und 20. Juli 1904. — Deutsche Zeitung vom
II. Juni 1904 (Karl Berger). — Tägliche Rundschau vom 30. Juni 1904 (Th, Klaiber). —
Karl Weitbrecht (Reden am Grabe), Stuttgart, Steinkopf, 1904. Otto Güntter.
Koester, Karl, Professor der pathologischen Anatomie in Bonn, * 2. April
1843 zu Dürkheim a. d. H., f 2. Dezember 1904. — K. studierte in München,
Tübingen und in Würzburg, wo er v. Recklinghausens Schüler und — nach
der 1867 erfolgten Promotion — Assistent war. 1869 dortselbst habilitiert,
280 Koester. Spiess. Stemfeld. Bennecke.
wurde er 1872 als ordentlicher Professor der pathologischen Anatomie und all-
gemeinen Pathologie nach Gießen, 1874 in gleicher Eigenschaft nach Bonn
berufen. K. gehörte zu den angesehensten Pathologen der Neuzeit Seine
Hauptarbeiten sind: »Entwicklung der Karzinome« (Würzburg 1869) — »Über
tuberkulöse Gelenkentzündung« (Virchows Archiv XLVIII). Später veröffent-
lichte K. noch mehrere Abhandlungen über Tuberkulose im allgemeinen, über
Gefäßerkrankungen und die Entstehung des Aneurysmas, über chronische,
produktive Entzündung, Endokarditis, kompensatorische Hypertrophie, nament-
lich des Herzens und der Nieren, sowie die Monographie Ȇber Myokar-
ditis« (Bonn 1888).
Vergl. Virchows Jahresbericht von 1904, I, 470. Pagel.
Spiess^ Alexander, Hygieniker zu Frankfurt a. M., ♦ 6. April 1833,
f I. Februar 1904 daselbst. — S. war ein Sohn des hervorragenden Frank-
furter Arztes Gustav Adolf Spiess (1802 — 75). Er studierte in Göttingen, wurde
1856 Dr, med., wirkte 1859 — 83 als prakt. Arzt in Frankfurt, seit 1883 als
Stadtarzt, war außerdem ständiger Sekretär des Deutschen Vereins für öffent-
liche Gesundheitspflege seit dessen Gründung 1873, redigierte seit 1866 die
»Jahresberichte über die Verwaltung des Medizinalwesens der Stadt Frank-
furt« und die »Deutsche Viertel jahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege«,
1870 bis 1885 mit Varrentrapp, seit 1886 mit Pistor (Berlin). S. hat sich
besonders um die hygienischen Verhältnisse seiner Vaterstadt ein großes Ver-
dienst erworben und zur Hebung der Gesundheitspflege auch als Wissen-
schaft in Deutschland durch seine erwähnte literarische und Vereinstätigkeit
sehr viel beigetragen. Es finden sich von ihm zahlreiche medizinisch-stati-
stische und hygienische Aufsätze in beiden genannten Zeitschriften, seit 187 1
jährlich Repertorien der in- und ausländischen hygienischen Literatur in der
Deutschen Viertel jahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege u. v. a.
Vergl. Virchows Jahresbericht von 1904, I, 480. Pagel.
Sternfeld, Alfred, Zahnarzt in München, ♦ 1858, t ^S- Februar 1904, war
ein tüchtiger Literarhistoriker der Zahnheilkunde und einer der tüchdgsten
und bekanntesten Zahnärzte Münchens. Er veröffentlichte u. a. die Abhand-
lungen: »Bißarten und Bißanomalien« sowie »Über die sogenannte früh-
zeitige Extraktion des sechsjährigen Molaren«.
Vergl. Virchows Jahresbericht von 1904, 1, 481. Pagel.
Bennecke, Erich, Chirurg in Berlin, ♦ 1864 zu Karlsberg bei Mansfeld,
t 2. August 1904 in Berlin. — B. studierte seit 1883 in Halle, Marburg und
Berlin. 1889 approbiert, wurde er 1890 Assistent von Marchand in Marburg,
später bei König in Göttingen, mit dem er 1895 nach Berlin übersiedelte,
um hier 1899 als Nachfolger des nach Basel berufenen Hildebrand die chir.
Poliklinik an der Charit^ zu dirigieren. 1902 wurde B. zum Extraordinarius
befördert. Er starb an den Folgen der Blutvergiftung. B. publizierte: »Zur
Entstehungsweise der Kiefer-Cysten« (Diss. Halle 1891), Arbeiten über gonor-
rhoische Gelenksentzündung, über den feineren Bau der Kiefergeschwülste,
Unterleibshernien u. a. Für Unterrichtszwecke schrieb B. einen Leitfaden der
chirurgischen Operationen. Pagel.
Thierfelder. Bartels. 28 1
Thierfelder, Benjamin Theodor, Professor der Medizin in Rostock»
* am lo. Dezember 1824 in Meißen, f am 7. März 1904. — T. war ein
Sohn des bekannten, auch um die medizinische Geschichtspflege hochver-
dienten Meißner Arztes Johann Gottlieb Thierfelder (1799 bis 1867). Er
studierte seit 1846 in Leipzig, wurde daselbst Dr, phiL und 1848 Dr. med,
mit der Diss: »Leges cibariae complurtum nosocanuorum et ergastulorum praecipue
^uantitatis alimtntoram ratiaru habtta inter se comparatae*, war anfangs in Leipzig
Arzt und Kustos der Universitäts- Bibliothek, habilitierte sich 1850, wurde
185 1 Assistent der medizinischen Klinik, 1855 Professor e. o. der Medizin in
Rostock, 1856 Professor ord., 1858 Medizinalrat, 1860 Ober-Medizinalrat und
ordentliches Mitglied der Großherzogl. Medizinal-Kommission, schließlich Geh.
Medizinal rat, Direktor der medizinischen Klinik und Senior der Rostocker
medizinischen Fakultät. T. feierte 1898 sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum.
Die Titel einiger seiner literarischen Arbeiten sind: i^ Bronchitis crouposa^^
(Archiv für physiologische Heilkunde XII) — »Beiträge zur Lehre vom Typhus
mit vorzüglicher Berücksichtigung der Hautwärme der Typhuskranken« (Ib.
XIV) — »Ein Fall von Leukämie« (Ib. 1856, zusammen mit P. Uhle) —
»Über die Harnstoffausscheidung im Diabetes mellitus<^ (Ib. 1858) — »Gastro-
duodenalfistel infolge von corrosiv. Magengeschwür« (D. Arch. für klin. Med. IV)
u. a. m. Auch bearbeitete T. für v. Ziemssens Handbuch der speziellen Patho-
logie und Therapie (VIII, i. Abt.) den Abschnitt: »Physikalisch-diagnostische
Vorbemerkungen zu den Leberkrankheiten«. T. war ein tüchtiger Kliniker,
gleich verdienstvoll als Lehrer wie als Forscher.
Vergl. Virchows Jahresbericht von 1904, I, 481. Pagel.
Bartels, Max, Arzt und Anthropolog, ♦26. September 1843 in Berlin,
+ 22. Oktober 1904. — B. war der Sohn des dirigierenden Arztes von
Bethanien, Geh. Sanitätsrates Christian August B. (1805 — 1872) in Berlin,
beabsichtigte anfangs der Soldaten lauf bahn sich zu widmen, mufite ihr jedoch
aus Mangel an den erforderlichen körperlichen Eigenschaften entsagen. B. stu-
dierte Medizin in Berlin und erlangte daselbst 1867 die medizinische Doktor-
würde mit der Dissertation: »Über die Bauchblasengenitalspalte, einen
bestimmten Grad der sogenannten Inversion der Harnblase.« 1868 approbiert,
bildete er sich in Wien weiter aus und trat 1869 als Assistent in Bethanien ein,
wo er bis 1872 verblieb, um sich dann in Berlin als Praktiker ansässig zu
machen. Er erlangte eine ausgebreitete Praxis und gehörte zu den ange-
sehensten und beliebtesten Ärzten Berlins. 1899 wurde er zum Geheimen
Sanitätsrat und 1903 zum Professor ernannt. Wissenschaftlich arbeitete B.
besonders auf dem Gebiete der Anthropologie. Er veröffentlichte Abhandlungen
über abnorme Behaarung, geschwänzte Menschen u. a. Außerdem gab er
von der 2. Auflage ab das bekannte Werk von Ploss »Das Weib in der
Natur- und Völkerkunde« heraus, das er bis zur 8. Auflage unter stets
steigender Erweiterung und Verbesserung in zwei sehr voluminösen Bänden
mit Hunderten von Abbildungen fortführte. Das Erscheinen der 8. Auflage
(Leipzig 1905) hat er nicht mehr erlebt. Statt der Vorrede findet sich hier
ein pietätvoller Nekrolog aus der Feder des Sohnes von B., des ebenfalls
bereits mit geschätzten anthropologischen Arbeiten hervorgetretenen Dr. Paul
B., des gegenwärtigen Herausgebers des Werkes. — B. bekleidete zahlreiche
282 Bartels. Beschorner. Cnyrim. Dietz. Emminghaus.
Ehrenämter in der Gemeinde, wie in mehreren wissenschaftlichen Körper-
schaften und machte sich auch um die Förderung der ärztlichen Standes-
interessen verdient. Pagel.
Beschorner, Oskar, Halsarzt in Dresden, ♦ 20. März 1843, f nach langem
Leiden 27. Juli 1904. — B. studierte in Leipzig und Freiburg i. Br., nahm
1866 am Feldzuge teil, war Assistent von Walter und Fiedler in Dresden,
ließ sich hier 1869 nieder, anfangs als allgemeiner Praktiker, widmete sich
dann in Wien der Kehlkopfsheilkunde ««nter v. Schroetter und in Tübingen
unter v. Bruns und war einer der gesuchtesten Laryngologen, »der führende
Kehlkopf arzt Dresdens«, auch kgl. sächs. Hof rat. Er veröffentlichte mehrere
Abhandlungen als Vorträge, so über: Laryngoskopie, ein Vierteljahrhundert
Eigentum der praktischen Medizin 1883/84, über Husten, Heufieber, Bauch-
rednerkunst, essentielle fibrinöse Bronchitis, Diagnose des Larynxkarzinoms u. a.
Vergl. Virchows (Waldeyer-Posners) Jahresbericht über Fortschritte und Leistungen in
der gesamten Medizin, von 1904, I, 461. Pagel.
Cnyrim, * Victor, Arzt in Frankfurt a. M., ♦ 1831, f 7- ]^^^ 1904. —
C. studierte Medizin und erlangte in Würzburg die Doktorwürde mit einer
Dissertation über die entzündliche Zerstörung des Unterkieferknochens infolge
von Phosphorvergiftung. Seit 1857 Arzt ließ er sich in Frankfurt a. M.
nieder und war hier seit 1887 Chefarzt des Hospitals zum Heiligen Geist.
C. widmete sich mit großem Eifer den ärztlichen Standesangelegenheiten,
und zwar im Sinne einer freiheitlichen Entwickelung. Namentlich bekämpfte
er die sogenannten »Ehrengerichte«. Er gehörte zu den angesehensten und
beliebtesten Ärzten in Frankfurt a. M. C. verfaßte u. a. »Ethische Forderungen«
und war ein kräftiger Förderer der Abstinenzlerbewegung.
Virchows Jahresbericht der gesamten Medizin von 1904, I, 462. Pagel.
Dietz, Karl, Ober-Medizinalrat in Stuttgart, ♦ i. September 1859 in
Calw, f 21. Mai 1904. — D. studierte in Tübingen, erlangte 1883 die ärzt-
liche Approbation, war folgeweise Assistent der chirurgischen Abteilung am
Katharinen -Hospital in Stuttgart, 1885 Praktiker in Bietigheim, ging dann
zum SpezialStudium der Psychiatrie über, war bis 1888 Assistent an der psychia-
trischen Klinik in Leipzig, besuchte Wien, war auch Schiffsarzt, ordinierender
Arzt an der badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau unter Schule, erhielt
1895 die neu errichtete Stelle eines psychiatrischen Referenten im Medizinal-
Kollegium zu Stuttgart, erkrankte jedoch 1^/2 Jahre vor seinem Tode an
einem schweren Leiden. D. veröffentlichte mehrere Arbeiten über Hirn-
erweichung, Geistesstörungen in der Armee im Krieg und Frieden, Rücken-
markserkrankungen, Simulation u. a.
Vergl. Virchows Jahresbericht der gesamten Medizin von 1904, I, 463. Pagel,
Emminghaus, Hermann, Psychiater und emeritierter Direktor der Univer-
sitäts-Irrenklinik zu Freiburg i. Br., * 20. Mai 1845 zu Weimar, f am
17. Februar 1904. — E. studierte in Göttingen, Jena, Wien, Leipzig und gelangte
am 7. Juni 1870 zur Promotion mit der Dissertation: Ȇber das hysterische
Irresein.« Er widmete sich dann physiologischen Studien unter Ludwig in
EmmiDghaus. Dräsche, von Burk. 283
Leipzig und habilitierte sich 1873 als Privatdozent in Würzburg, wo er über
klinische Propädeutik, medizinische Elektrizität und Psychiatrie las. Von April
1880 wirkte er als ordentlicher Professor der Psychiatrie und Direktor der psy-
chiatrischen Klinik zu Dorpat, von Juli 1886 in gleicher Stellung an der Uni-
versität Freiburg i. Br., zugleich als Medizinalreferent am Großh. Landgericht
Freiburg. E. war ein bedeutender Psychiater. Neben zahlreichen auf das
Fach bezüglichen kasuistischen Mitteilungen veröffentlichte er eine »Allgemeine
Psychopathologie zur Einführung in das Studium der Geistesstörungen«
(Leipzig 1878), sowie Abhandlungen »Über Kinder und Unmündige, Schwach-
sinn und Blödsinn in forensischer Hinsicht« (Tübingen 1882), über »Behand-
lung des Irrsinns im Allgemeinen« (Jena 1895, 2. Aufl. 1898) u. a. m.
Vergl. Virchows Jahresbericht von 1904, I, 465. Pagel.
Dräsche, Anton, Professor der klinischen Medizin und Hofrat in Wien,
•11. Juli 1826 zu Lobendau (Böhmen), f in Vöslau am 23. August 1904. —
D. studierte in Prag, Leipzig und Wien, erlangte 1851 die Doktorwürde mit
der Dissertation: »Bekämpfung der Cholera«, übernahm 1855 die Cholera-
abteilung im Wiener allgemeinen Krankenhause, habilitierte sich 1858 als
Dozent für Epidemiologie, wurde 1872 Primarius am Rudolf-Spital, 1874 außer-
ordentlicher Professor, war auch Mitglied des obersten Sanitäts- und Gemeinde-
rates der Stadt Wien und zog sich 1900 ins Privatleben zurück. D. war eines
der ältesten Mitglieder der Wiener Fakultät und veröffentlichte mehrfach preis-
gekrönte Schriften über die Cholera im Sinne der vorbakteriellen Anschauung,
femer: »Über den Einfluß der Hochquellenleitung auf die Salubrität der
Bevölkerung Wiens«, zahlreiche klinische Abhandlungen über Kaltwasser-
behandlung bei Typhus, Pathologie des Herzens, Chloralhydrat, Salizylsäure,
Antipyrin und war zuletzt Herausgeber eines Sammelwerkes unter dem Titel :
»Bibliothek des gesamten medizinischen Wissens.«
Vergl. Virchows Jahresbericht von 1904, I, 464. Pagel.
Burk, Karl von, Oberkonsistorialrat, Stiftsprediger, Prälat, Dr, theoL,
* 19. Mai 1827 in Frauenzimmern, f i- Oktober 1904 in Stuttgart. — Nach
rascher Absolvierung des Gymnasiums bezog B. früher als viele andere die
Tübinger Universität und hat hier mit dem theologischen auch fleißiges
humanistisches und pädagogisches Studium verbunden. Nachdem er sich
noch weiter in der Welt umgesehen, wurde er 1855 zum Diakonus und gleich-
zeitig zum Lehrer an der Lateinschule in Weikersheim berufen und 1862 zum
Pfarrer und Bezirksschulinspektor in Schwäbisch-Hall befördert. Mit 40 Jahren
wurde er Dekan in Crailsheim, doch schon 4 Jahre darauf, 187 1, wurde ihm das
Rektorat am Landeslehrerseminar zu Eßlingen übertragen. Aber auch hier
war seines Bleibens nicht lange: 1873 wurde der bescheidene, aber hervor-
ragend tüchtige und vielseitig gebildete Theolog und Schulmann als Ober-
konsistorialrat nach Stuttgart gezogen und da er auch als Prediger bedeu-
tendes leistete, trat er 1879 in der Nachfolge des Prälaten Kapff in die
Stiftspredigerstelle ein. Eine weitreichende Tätigkeit im Dienste seiner
Landeskirche und des Württemberger Volksschulwesens ist ihm zu danken.
Daneben fand er doch noch Kraft und Muße zu gediegener schriftstellerischer
Arbeit: einer Biographie Philipp Jakob Speners (1864) folgte ein Leben Luthers,
284 ^^'^ Burk. Kariowa.
das 1888 in dritter Auflage erscheinen durfte; 1883 eine Sammlung »Evangelien-
predigten«; 1885 eine »Geschichte der christlichen Kirche bis zu ihrer
Pflanzung auf deutschem Boden«, eine kundige Darstellung der. 6 ersten
christlichen Jahrhunderte. 1897, zum 70. Geburtstage, ehrte ihn die theologische
Fakultät in Tübingen durch Verleihung ihrer Doktorwürde. Sein letztes
Schriftchen galt speziell der Hebung des kirchlichen Unterrichts in Württem-
berg: »Das württembergische Konfirmationsbüchlein als Grundlage für den
Konfirmandenunterricht des Geistlichen« (1898). Mit Beginn des neuen Jahr-
hunderts trat er von seinen zahlreichen, arbeitsvollen Ämtern in den Ruhe-
stand, dessen er sich noch 4 Jahre in beneidenswerter geistiger und körper-
licher Frische erfreuen durfte. Zuletzt aber führte eine Reihe von Schlag-
anfällen ihn dem stillen Ende zu. Kohlschmidt.
Kariowa, Otto, Romanist, ♦11. Februar 1836 zu Bückeburg, f 3. Januar i
1904 zu Leipzig. — Die Familie war böhmischer Herkunft; wegen Glaubens- '
Verfolgungen verließ sie im 16. Jahrhundert die alte Heimat und wandte sich
nach Niedersachsen. Den ursprünglichen Namen Capaun von Kariowa legte
der Vater, fürstlicher Regierungsrat in Bückeburg, später Oberappellationsrat
in Wolfenbüttel, für sich und die Nachkommen ab und nahm den Namen
»Kariowa« an. Die Mutter Sophie Kariowa, geb. Thomten, war Holsteinerin,
doch englischer Herkunft. Von den fünf Söhnen war Hermann Kariowa
seinerzeit ein geschätztes Mitglied des Kgl. Schauspielhauses in Berlin. Eine
einzige Tochter überlebte alle ihre Brüder. Otto K. besuchte das Gymnasium
in Wolfenbüttel und studierte dann unter Francke, Briegleb, Herrmann, Thöl
und Waitz Rechtswissenschaft und Geschichte in Göttingen, dann in Berlin
und Jena. Schon als Göttinger Student lieferte er eine gekrönte Preisarbeit
'»Juris ramani principta dt accessumibus possessionum, quae in ustuapiombus rerum
et in temporalibus praescriptiombus atqut in interdktis possessoriis locum habent*
Gott. 1858^ bestand 1859 das erste juristische Staatsexamen und war eineinhalb
Jahre Auditor bei der Justizkanzlei in Bückeburg. Er promovierte dann in
Bonn mit der Arbeit *De natura atque indole cjuvaXX^fjiaTo;, quod emptioni^
venditiani ceterisque obligationibus mutuis inesse dicitur^y Bonn 1862. Als Privat-
dozent des römischen Rechts in Bonn schloß er sich namentlich an Böcking,
unter den jüngeren Kollegen an F. P. Bremer und Richard Schröder an. Im
Herbst 1867 wurde er als ordentlicher Professor, zuerst als Nachfolger Wittes
für Zivilprozeß und Strafrecht, später für römisches Recht nach Greifswald
berufen, Ostern 1872 als Nachfolger von Goldschmidt nach Heidelberg, wo
er 31 Jahre lang die sämtlichen römisch-rechtlichen Vorlesungen, zuletzt auch
über die drei ersten Bücher des deutschen B.G.B.s gelesen hat. Er veröffent-
lichte »Beiträge zur Geschichte des römischen Zivilprozesses«, Bonn 1865;
»Die Formen der römischen Ehe und Manus«, Bonn 1868; »Der römische
Zivilprozeß zur Zeit der Legisaktionen«, Berlin 1872; »Das Rechtsgeschäft
und seine Wirkung«, Berlin 1877; »Über die Rezeption des römischen
Rechts in Deutschland, mit besonderer Rücksicht auf Churpfalz«, Pro-
rektoratsrede 1878. Sein hervorragendstes Werk »Römische Rechtsgeschichte«,
die Arbeit zweier Dezennien, erschien in zwei Bänden, Leipzig 1885 — 190 1,
leider nicht ganz vollendet. Für die Festgabe zur Feier des 70. Geburtstages
Sr. Kgl. Hoheit des Großherzogs Friedrich von Baden, dargebracht von
Kariowa. Kahn. Demelius. 285
den Mitgliedern der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg,
schrieb er einen Beitrag »/«/ra pamoerium und extra pomoerium. Ein Beitrag
zum römischen Staatsrecht«, 1896, einen weiteren über Thibaut für die
Heidelberger illustrierte Fest-Chronik »Ruperto- Carola« 1886 und »Miscel-
lanea« für die Heidelberger Festgabe für E. J. Bekker, Berlin 1899. Ein
Zeugnis seines tiefen Rechtsgefühles legte er ab in der Schrift »Maria Stuarts
angebliche Briefe an den Grafen J. Bothwell. Ein Beitrag zur Prüfung ihrer
Echtheit«, Heidelberg 1886, worin er seiner Ansicht nach geschehenes Un-
recht aufzudecken bezweckte. Gleiche Treue und Pflichtgefühl zeichneten
seine sorgfältig ausgearbeiteten Vorlesungen aus. Verheiratet seit 1873 ^^^
der Tochter des Leipziger Zoologen Leuckart, liebte er behagliche Häuslich-
keit, großer Geselligkeit abgeneigt. Ebenso blieb er dem öffentlichen Leben
femstehend, in nationalliberalem Sinne allerdings seine Wählerpflicht ver-
sehend. Einige Jahre war er Mitglied des Bezirksrates. Von seinen Kollegen
war er als edle und vornehme Natur hochverehrt, im engeren Kreise größte
Gastfreiheit gern übend. Am Schlüsse des Wintersemesters 1902/3 mußte er
auf ärztlichen Rat die Vorlesungen aufgeben und erlag dann bei Besuch in
Leipzig einer schweren Krankheit, die in letzter Zeit seine Tätigkeit beein-
trächtigt hatte.
Nach gef. Mitteilungen von Herrn Prof. Dr. R. Schröder in Heidelberg. — Deutsche
Juristen-Zeitung 1904 S. 153. A. Tei-chmann.
Kahn, Franz, Rechtsgelehrter, * 2. August 1861 zu Mannheim, f 6. Dezem-
ber 1904 zu Heidelberg. — Er studierte in Berlin, Heidelberg, München,
Leipzig und Freiburg, lieferte 1883 die Preisarbeit »Zur Geschichte des
römischen Frauen-Erbrechts« (umgearbeitet Leipzig 1884), mit der er sich auch
den Doktorgrad erwarb, bestand 1885 und 1888 die badischen Staatsprüfungen
und begab sich nach Paris und London zu Rechtsstudien. Gesundheitsrück-
sichten zwangen ihn, auf die akademische Laufbahn zu verzichten. Er wurde
Hilfsrichter in Karlsruhe, dann Amtsrichter in Bretten. 1891 mußte er krank-
heitshalber ausscheiden, machte im In- und Auslande Kuren, auch eine Reise
um die Welt und siedelte 1896 sich in Baden-Baden, 1900 in Heidelberg an.
Er hat sich in einer Reihe von gediegenen Abhandlungen um die Fortbildung
des internationalen Privatrechts, zuletzt um die Erörterung der Beschlüsse der
Haager Konferenzen verdient gemacht. In dieser Richtung sind zu nennen
die Beiträge zu Jherings Jahrbüchern Bd. XXX, XXXVI, XXXIX, XL, XLII
und XLIII und zur Zeitschrift für internationales Privat- und öffentliches Recht
Bd. VIII, X, XII, XIII und XV; dazu »Die einheitliche Kodifikation des
internationalen Privatrechts durch Staatsverträge«, Leipzig 1904.
Ernst Zitelmann in der Zeitschrift von Niemeyer XV i — 10.
A. Teichmann.
Demelius, Ernst, ordentlicher Professor des österreichischen Zivilrechts
und Rektor der Universität Innsbruck, ♦ 10. Juli 1859 zu Krakau als der
Sohn des Romanisten Gustav Demelius (1830 — 91), zufolge Hirnschlages am
Obergabelhorn der Schweizer Berge zu Tode gestürzt am 28, Juli 1904. So
tragisch endete die kurze, aber glänzende Laufbahn eines in den geistigen
Eigenschaften dem Vater sehr ähnlichen echt deutschen Mannes, dem die
286 Demelius.
Universität Innsbruck die Wahrung ihres deutschen Charakters im heißen
Kampfe mit den stürmischen Bestrebungen der Italienisierung zu verdanken
hat. In erster Jugend wegen Kränklichkeit durch Privatunterricht heran-
gebildet, zeichnete er sich dann nach völliger Gesundung als Turner und als
Gefährte seines Vaters auf Bergtouren in den nordsteirischen Bergen aus und
wandte sich mit Vorliebe und bestem Erfolge theoretischen wie praktischen
musikalischen Studien zu. Er bezog im Alter von i8 Jahren im Herbst 1877
die Universität Graz behufs juristischer Studien. Juristischer Scharfsinn und
feine Dialektik zogen die Aufmerksamkeit seiner Lehrer auf sich, namentlich
von Emil Strohal und Alexander Grawein, sodaß das Beschreiten der akademi-
schen Karriere in Aussicht genommen wurdfe. Am Ende des achten Semesters
stehend, zog er 1881 mit seinem damals nach Wien berufenen Vater dorthin,
trat beim Landesgericht als Rechtspraktikant ein, promovierte 1882 zu Graz
und war nach Leistung des Militärdienstes bei verschiedenen Gerichten zu Wien
und in Niederösterreich tätig, bis er 1889 Gerichtsadjunkt in Mödling wurde.
Der Gerichtsdienst zog ihn sehr an. Er verheiratete sich mit Paula Baronin
Bach und widmete die Muße ruhigen, häuslichen Lebens wissenschaftlicher
Arbeit. Diese wandte sich damals hauptsächlich der Gestaltung des Zivil-
prozesses zu und so entstand dann sein erstes größeres Werk »Zur Lehre
von der Rechtskraft des Zivilurteils nach geltendem österreichischen Rechte
und dem Entwürfe vom Jahre 188 1«, Wien und Leipzig 1892, dem dann
folgten »Kritische Studien zu den Gesetzentwürfen aus dem Jahre 1893, betr.
die Reform des zivilgerichtlichen Verfahrens in Österreich«, 2 Hefte 1894
und 1895, sowie »Der neue Zivilprozeß für den praktischen Gebrauch erörtert«
(Separatabdruck aus der »Gerichtshalle«) in 16 Heften 1898 — 1902. Nach Ver-
setzung an das Wiener Landesgericht habilitierte sich D. 1895 an der Juristen-
fakultät für österreichisches zivilgerichtliches Verfahren. InAbbazia geheilt von
einem nervösen Anfalle, konnte er 1897 die erste Abteilung eines groß angelegten
Werkes »Das Pfandrecht an beweglichen Sachen nach österreichischem bürger-
lichen Recht mit besonderer Berücksichtigung des bürgerlichen Gesetzbuches
für das deutsche Reich« (Wien und Leipzig) veröffentlichen, das von der Kritik
als eine wertvolle Leistung begrüßt wurde. Im Herbst des Jahres 1897 wurde
er als Nachfolger von Steinlechner nach Innsbruck als außerordentlicher
Professor berufen. Hier fesselte er sein Auditorium durch seine durchaus
moderne Darstellung des Privatrechts in Erörterung der Reformbedürftigkeit
des bürgerlichen Gesetzbuches im Vergleich mit dem neuen deutschen. Für
den »Grundriß des österreichischen Rechts von Finger, Frankl und Ullmann«
behandelte er das Sachenrecht, Leipzig 1900. Nach erlangtem Ordinariat
führte er 190 1/2 das Dekanat der juristischen Fakultät und wurde im Juni
1903 zum Rektor gewählt. Seine Rektoratsrede vom 30. Oktober 1903 be-
handelte sein Lieblingsthema »Wirtschaftsentfaltung und Rechtsentwicklung«
(Innsbruck). Seine Verdienste in diesem Amte wurden geehrt durch ein-
stimmige Neuwahl für ein zweites Jahr — das er freilich nicht antreten sollte.
Um von den Mühen des Amtes etwas auszuruhen, wandte er sich (wie schon
1902) nach der Schweiz, um in den Bergen frische Kraft für neue Arbeit zu
suchen. Begleitet von den erprobten Führern Josef Tembl und P. Dangl jun.
aus Fulden, wollte er mit dem Geschwisterpaar von Ficker und stud. phil.
Th. Mayer des Innsbrucker Alpenklubs das Matterhom am 28. Juli ersteigen;
Demelius. Dettweiler. 287
doch entschied man sich schließlich für das Obergabelhorn. Schon be-
fand man^sich in einer Höhe von 4000 Meter nahe der Spitze, als sich ein
Felsblock vom Gkbirgsstock löste und D. samt Tembl in die Tiefe riß. Auf dem
Gletscher fand man D. entseelt. Überall erregte die Kunde von dem schweren
Unglück, einem furchtbaren Schlag für Familie und Universität, Trauer und
Teilnahme. Der Zug mit der Leiche passierte am 4. August Innsbruck, wo
auf dem Bahnhof eine ergreifende Trauerfeier stattfand. Eine weitere studenti-
sche fand am 30. November statt. Auf dem stillen evangelischen Friedhofe
in Mödling wurde die irdische Hülle am 7. August beigesetzt. Aus den bei
jenen Anlässen gehaltenen Reden von Kollegen und Schülern (mitgeteilt in
dem unten genannten Nekrologe) kann man sich ein Bild von dem Wesen
und Wirken dieses Mannes gestalten, der namentlich auch auf musikalischem
Gebiete Treffliches geleistet hat.
Ernst Demelius. Sein Leben und Wirken 1859 — 1904. (Von Prof. Dr. Alfred
R. von Wretschko, dzt. Dekan d. rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Univer-
sität Innsbruck.) Innsbruck. Verlag der Wagnerischen Univ. -Buchhandlung 1905 (mit
Bildnis). A. Teichmann.
Dettweiler, Pctcr, Geheimer Sanitätsrat, langjähriger Leiter der Lungen-
heilanstalt Falkenstein im Taunus, • 4. August 1837 in Wintersheim a. Rh.,
f 12. Januar 1904 zu Cronberg am Taunus. Er starb nicht an den Folgen
seiner alten, längst schon geheilten Lungentuberkulose, sondern an einer
plötzlichen Herzlähmung, der nur ganz geringe Erscheinungen von Unwohl-
befinden vorausgingen. D. wurde so vom Tode ereilt, wie er es sich immer
gewünscht hatte, mitten in der Beschäftigung an seinem Schreibtische.
D., der Sohn eines Gutspächters in Wintersheim, genoß, bevor er die
Universität Gießen bezog, seine Ausbildung durch Privatunterricht bei einem
Pfarrer in Niederingelheim a. Rh. und durch Besuch des Gymnasiums zu
Darmstadt. Schon während seiner Universitätszeit (1860) erkrankte er an
Lungentuberkulose, wodurch er in seinen Studien einigermaßen behindert
war. Nach Absolvierung der Universität (1863) widmete er sich der weiteren
Ausbildung seiner Kenntnisse, studierte namentlich auch in Berlin. 1864,
1866 und 1870 nahm er an den Kriegen als Feldarzt teil und zeichnete sich
trotz dazwischen auftretender Störungen von Seiten seiner Lunge durch beson-
dere Unerschrockenheit und durch großen Pflichteifer aus. 1868, nachdem
D. kaum ein Jahr als Hessischer Militärarzt Dienste getan, war er durch
seine Lungenkrankheit genötigt, sich nach Görbersdorf zu Brehmer zu begeben.
Nach vorübergehendem günstigen Erfolge in dortiger Anstalt, kehrte D. im
Jahre 1869 ein zweites Mal nach Görbersdorf zurück, um nunmehr die Stelle
eines zweiten Arztes dort zu bekleiden. Von da ab war eigentlich die künftige
Laufbahn D.s eingeleitet, denn er überzeugte sich rasch von der Richtigkeit
der Brehmerschen Lehre, daß die damals »Schwindsucht« genannte Krankheit
heilbar sei.
1876 übernahm D. die Leitung der erst kurz vorher gegründeten Heilanstalt
Falkenstein im Taunus und brachte sie durch die hier erzielten Erfolge
zu außerordentlicher Blüte und zur Weltberühmtheit.
1895 zog sich D. von der Leitung der Anstalt zurück und verbrachte
den Rest seines Lebensabends in Cronberg am Taunus, in einer hübschen,
288 Dettweiler.
zum Teil nach seinen Angaben erbauten und von ihm selbst mit großem
Talent durch plastische Arbeiten aller Art ausgeschmückten Villa, die noch
unter dem Namen »Drachenhäuschen« bekannt ist.
Die Hauptverdienste D.s bestehen darin, daß er mit unermüdlicher Energie
die noch viel bezweifelte Lehre von der Heilbarkeit der Lungentuberkulose
verfocht und durch seine ausgezeichneten Erfolge in Falkenstein zur Aner-
kennung in den weitesten Ärztekreisen der ganzen Welt brachte, daß er die
Behandlungsmethode der Krankheit in eine strengere klinische Form brachte,
wie sie schließlich von jedem Arzte angewendet werden kann, vor allem auch
durch Einführung der nicht mehr zu entbehrenden Liegekur im Freien, und
darin, daß er das erste praktische Beispiel einer Heilstätte für Minderbemittelte
(erst in Falkenstein, dann nach Ruppertshain im Taunus verlegt) gab. Er
ist also tatsächlich der Vater der deutschen Volksheilstätten, deren ungeahnt
ausgedehnte Entwicklung er noch mit großem Interesse verfolgte und unter-
stützte, als er schon in seinem Drachenhäuschen sich zur Ruhe gesetzt hatte.
Als Arzt und als Gesellschafter war er stets von einer bezwingenden
Liebenswürdigkeit, und seine ungewöhnliche Energie und Zähigkeit ließen
ihn wie eigens geschaffen erscheinen zur Propagation einer neuen guten Idee.
Er hatte Interesse für alles Gute und Schöne in Literatur wie in Kunst, und
lieferte selbst nicht wenige plastische Arbeiten, namentlich getriebene und
geschnitzte Arbeiten in Metall.
Die hauptsächlichsten Veröffentlichungen D.s sind folgende:
1. Erfahrungen aus dem Kriege von 1866. Darmstadt — 2. Freiwillige Krankenpflege
im Krieg und Frieden. — 3. Feldbriefe 1870/71, — 4. Die rationelle Therapie der Lungen-
schwindsucht in Görbersdorf. (Berl. klin. Wochenschr. 1873, Nr. 30.) — 5. Zur Phthisio-
therapie der Gegenwart. (Berl. klin. Wochenschr. 1877, Nr. 35 f.) — 6. Die Behandlung
der Lungenschwindsucht in geschlossenen Heilanstalten. (Berlin 1880 und 1884. Georg
Reimer.) — 7. Ein antikritischer Gang, Antwort an Dr. Rhoden-Lippspringe. (Berlin i88c.
Georg Reimer.) — 8. Der Tuberkelbazillus und die chronische Lungenschwindsucht
(Dettweiler und Meissen, Berl. klin. Wochenschr. 1883, Nr. 7 u. ff.) — 9. Bericht Ober 72
seit drei bis neun Jahren völlig geheilte Fälle von Lungenschwindsucht. (Frankfurt 1886.
Joh. Alt) — 10. Die Therapie der Phthisis. (Penxoldt und Dettweiler, 6. Kongr. f. i. Med.,
1887. J. F. Bergmann.) — 11. Über das Taschenfläschchen für Hustende. (Therapeut. Monats-
hefte, Mai 1889.) — I2' Über Lungenschwindsucht (Korref. Internat. Kongr. Berlin 1890.)
— 13. Das Kochsche Verfahren im Verhältnis zur klimatischen und Anstaltsbehandlung.
(Wiesbaden 1891. J. F. Bergmann.) — 14. Mitteilungen über die erste deutsche Volksheil-
stätte für unbemittelte Lungenkranke in Falkenstein. (Deutsche med. Wochenschr. 1892,
Nr. 48.) — 15. Ernährungstherapie bei Lungenkrankheiten in v. Leyden, Handbuch der
Ernährungstherapie II. (Leipzig 1898. Georg Thieme.) — 16. Zur Errichtung einer Heilstätte
für minderbemittelte Lungenkranke in Wiesbaden. (Rotes Kreuz 1898, Nr. 7 u. 8.) —
17. Die hygienisch-dietätische Anstaltsbehandlung der Lungentuberkulose. Bericht über den
Kongr. z. Bekämpfg. der Tuberkulose als Volkskrankheit. Berlin 1899. — 18. Entstehung
und Verhütung der Tuberkulose als Volkskrankheit. (Nationalzeitung 5. Mai 1899.) —
19. Einige Bemerkungen zur Ruhe- und Liegekur bei Schwindsüchtigen. (Zeitschr. f. Tuber>
kulose und Heilstätten wesen. Leipzig 1900. Ambr. Barth.)
D.s Leichnam wurde seinem Wunsche gemäfi in Offenbach a. M. eingeäschert. Die
Urne ist in einem von D. schon Jahre vor seinem Tode im Entwürfe gefertigten Grab-
denkmale auf dem Kirchhofe zu Wintersheim a. Rh. aufbewahrt.
Die ausführlichste Beschreibung des Lebensganges D.s ist gelegentlich des Tuberkulose-
Kongresses in Berlin im Jahre 1899 durch Dr. Obertüschen-Wiesbaden im >Rheinischen
Kuriere veröffentlicht. •
Dettweiler. Ratzcnhofcr. 28q
Eine weitere Biographie erschien von Exzellenz Moritz Schmidt-Frankfurt a. M. in
Berl. klin. Wochenschr. 1904, Nr. 8 und eine kürzere durch Dr. Besold in Münchener
med. Wochenschr. 1904, Nr. 6.
Es existieren von erreichbaren Bildnissen D.s zwei: eines aus seinen mittleren Lebens-
jahren, von Hofphotograph Schilling in Königstein im Taunus, und eines aus den letzten
Lebensjahren, in Privatbesitz, Heilanstalt Falkenstein im Taunus.
Dr. Besold, Falkenstein im Taunus.
Ratzenhofer, Gustav, österreichischer Feldmarschall-Leutnant, Präsident
des Militär-Obergerichts in Wien, militärischer Schriftsteller, Philosoph und
Soziologe, ♦ 4. Juli 1842 in Wien, f an Bord »Wilhelm IL«, aus Amerika
heimkehrend, am 8. Oktober und den 14. Oktober 1904 in Wien bestattet.
— R., ein Uhrmachersohn, war ein seif -made- man in jeder Richtung. Der
vorzeitige Tod des Vaters, der die Familie in mißlichen Vermögensverhält-
nissen zurückließ, zwang den jungen R., das väterliche Handwerk zu erlernen,
um der Familie Halt und Stütze sein zu können. Sein innerer Hang zog
ihn jedoch zur Armee, in die er sechzehnjährig (am 22. Oktober 1859) ^^
Kadettgemeiner eintrat. Den italienischen Feldzug, an welchem sein Bio-
graph Otto Gramzow R. teilnehmen läßt, hat der Sechzehnjährige natürlich
nicht mitgemacht, zumal er erst drei Monate nach dem Präliminarfrieden von
Villafranca ins zweite Feldjägerbataillon eintrat, um nach fünf mühevollen
Jahren das goldene Portepee zu erhalten. Der selbstgemachte Weg vom
Kadettgemeinen zum Feldmarschall -Leutnant ist nicht minder weit und
dornenvoll, als die zurückgelegte Strecke vom Uhrmacherlehrling zum aner-
kannten Oberhaupt der österreichischen Soziologie, der auf dem wissenschaft-
lichen Weltkongreß zu St. Louis (Sommer 1904) vor einem Areopag von
Gelehrten die »Probleme der Soziologie« erörtern durfte. Eiserne Zähigkeit,
wind- und wetterfeste Charakterfestigkeit, unbeirrbares Verbohren und Ver-
beißen in das, was er als sein Lebensziel, seine Bestimmung und Aufgabe,
erkannt hat, sind unerläßliche Voraussetzungen eines so geradlinigen Auf-
stiegs. Wer in einem hierarchisch gegliederten Beamtenstaat, ohne blaues
Blut oder goldene Wiege, ohne fördernden Anhang und beziehungsreiche
Fürsprecher, die Unvorsichtigkeit begeht, sich ins Dasein zu drängen, muß
einen stählernen Willen oder ehernen Verstand mitbringen, um den »Erb-
fehler« seiner Geburt einigermaßen wettzumachen. R. hatte beides. Der
energetische Philosoph, als welchen wir R. kennen lernen werden, hat als
Wiegengeschenk seiner anonymen Vorfahren neben ungewöhnlicher Verstandes-
energie eine reich bemessene Dosis Willensenergie mit auf den Weg bekommen.
Und mit diesem Doppelrüstzeug bewaffnet, begann er den Ellbogenkampf
ums Dasein. In einem solchen Kampfe haben die Furien gewöhnlich das
Übergewicht über die Grazien. Wenn man sich Schritt vor Schritt, Stufe
für Stufe auf seiner Lebensleiter mit Zähnen und Nägeln alles gewaltsam
ertrotzen muß, verdüstert sich gar leicht selbst das ursprünglich sternhelle
Auge, und das anmutige Jugendlächeln weicht häufig genug einer kalten und
harten Mä/inerstrenge, einem herrisch -groben Befehlerblick. Daher mag es
kommen, daß R.s etwas scharfes, kantiges Wesen, sein Mangel an einfühlender
Milde in seiner unmittelbaren Umgebung, in Wien selbst, wo Liebenswürdig-
keit und Geschmeidigkeit entscheidende Lebenswerte darstellen, keine rechte
Biofr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog*. 9. Bd. I(^
200 Ratzenhofer.
Resonanz aufkommen ließ. Das Ausland mußte erst den Österreichern zum
Bewußtsein bringen, was sie an R. ihr eigen nennen.
Die militärische Laufbahn kann hier nur knapp berührt werden. Im
Kriege von 1866 hatte er Gelegenheit, sich persönlich auszuzeichnen, aber
der für Österreich so verhängnisvolle 3. Juli 1866 hinterließ tiefe Spuren in
seiner Seele. Jetzt erst stand es bei ihm fest, daß er seine Kräfte in den
Dienst der Armee stellen müsse. 1868 trat er in die Kriegsschule ein, 1872
ward er dem Generalstab zugeteilt, und drei Jahre später begründete er mit
Maria Josefa von Herget ein vorbildliches Heim, dem zwei Söhne beschieden
waren. Was Frau Marie ihrem Gatten war, schildert R. in den Widmungs-
worten seiner »Positiven Ethik« (1901): »Wenn ich dieses Buch der Erin-
nerung meiner dahingeschiedenen Gattin weihe, so hat dies wohl seinen subjek-
tiven Ursprung in der unsäglichen Dankbarkeit, welche mich für sie erfüllt; aber
die Berechtigung hierzu schöpfe ich vorwiegend aus objektiven Beweggründen.
So tief ich und meine Kinder ihr, der Edlen, verpflichtet sind, so bliebe
unsere Verehrung doch um so mehr eine intime Angelegenheit meiner Familie,
als eine positive Ethik die vollständigste Unterdrückung individueller Inter-
essen verlangt — wenn ich nicht die Erfahrung gemacht hätte, daß gerade
sie es war, welche mir das ethische Empfinden zum Bewußtsein brachte.
Denn, wenn die Ethik sich bemüht, Normen für die menschlichen Wechsel-
beziehungen zu vermitteln, so ist es klar, daß ihr Kernpunkt in den Bezie-
hungen beider Geschlechter zu suchen ist. In dieser Hinsicht ist also meine
Widmung weniger die Tilgung einer Schuld, als die Manifestation einer
wissenschaftlichen Überzeugung, ausgedrückt durch einen Hinblick des Ver-
fassers auf sein eigenes Lebensbild.« Aus diesen Widmungsworten spricht
eine Zartheit und Feinheit der Gesinnung, die wir zur Vervollständigung des
Charakterbildes von R. um so bereitwilliger herangezogen haben, als sie seine
etwas rauhe Außenseite mildernd zu glätten vermag. Diese Weichheit des
Gemütslebens kontrastiert sehr wohltuend gegen die soldatische Schärfe und
Unbekümmertheit, mit welcher R. nicht bloß seine Truppen zu befehligen
liebte, sondern auch der Philosoph in ihm die Gedankentruppen dialektisch
kommandierte. Auch im R.schen »System« steckt etwas von der Schroffheit
des Truppenführers und strenge Disziplin heischenden Organisators. Seine
Ideen müssen in Reih und Glied vorbeidefilieren, per fas et nefas dort
Unterkunft suchen, wo der philosophische Platzkommandant befohlen hat.
Und mag der philosophiegeschichtlich Versierte und Eingeschulte gar oft
ungläubig den Kopf schütteln und sich verwundert fragen, warum diese oder
jene Ideenfolge oder Gedankenreihe gerade an diesem, ganz und gar unge-
eigneten, allem Schulschema spottenden Ort untergebracht wird — einerlei!
Hier haben die Gedanken nun einmal zu stehen, weil ich, ihr Kommandant,
es so will und befehle. Eure schulmäßige Einkleidung mit ihrer pedantischen
Forderung nach System gerechter Gruppierung ist scholastische Tüftelei.
Meine Ideen haben Ordre zu parieren — Pardon wird nicht gegeben. Und
so begründet denn R. sein philosophisches System des monistischen Posi-
tivismus ohne alle Rücksicht auf Vorgänger und Zeitgenossen. Selbst die
naheliegende, für jeden Kenner kaum abweisliche Verwandtschaft mit Comte
oder Spencer lehnt R. mit der schroffen Motivierung ab, sein monistischer
Positivismus unterdrücke bewußt alles Subjektive und spreche nur aus.
Ratzcnhofer. 2Q1 ■
»was beweisbar, widerspruchslos und durch eine lückenlose Schlußfolgerung
geprüft ist« (Einleitung zu seinem letzten Werk, Kritik des Intellekts, 1902).
So spricht ein logischer Haudegen, ein dialektischer Willkürherrscher, der
alle Gegenargumente mit dem einzigen Keulenschlag eines /toc volo, sie
jubeo niederdonnernd zermalmt. Die fügsame Geschmeidigkeit des fachlich
Vorgebildeten, der im philosophiegeschichtlichen Arsenal bewandert ist und
für jedes Pro ein Contra kennt, geht R., dem Autodidakten, völlig ab. Mehr
Schulung hätte ihn toleranter und einfühlender für andere Gedankenbildungen,
für benachbarte Systeme oder verbündete "Weltanschauungen gemacht. In
die Armee ist R. als Kadettgemeiner eingetreten, um 41 Jahre lang Stufe
für Stufe emporzuklimmen; in die >^Grande Annee<s^ der Denker aber ist er
gleich als General eingesprungen — ein Marschall Ney der Philosophie. Da
geht es dann ohne Verhauen und Entgleisen im einzelnen und kleinen nicht ab.
Dafür aber entschädigt R. durch eine Kühnheit des Wurfs und Großzügigkeit der
Konzeption. Ohne von Fichte oder Schelling mehr zu wissen, als den bloßen
Namen, bildet er sich selbst zum Naturphilosophen großen Stils aus. Mit
neidenswert naiver Entdeckerfreude verkündet R. eine neue Weltanschauung,
die in Tat und Wahrheit eine Wiederbelebung der romantischen Philo-
sophie am Anfange des 19. Jahrhunderts bedeutet. Nur die Methode hat
inzwischen gewechselt. Da die beherrschende Wissenschaft unserer Ta^e
die Biologie ist, so bedient sich R. naturgemäß der biologischen Methode.
Während also die klassische Denkertrias: Fichte, Schelling und Hegel ihren
ethischen, ästhetischen beziehungsweise logischen Monismus fnore dialccttco^
nach dem Geschmacke jenes Zeitalters, entwickelten, hüllt R. seinen positiven
Monismus in einen biologischen Mantel und philosophiert more biologico.
Doch wollen wir zunächst an der Hand des anonymen, offenbar vortrefflich
eingeweihten und warmherzig empfindenden Biographen in Danzers »Armee-
Zeitung« Qahrgang 1904, Nr. 49, 50 und 51) die militärische Laufbahn R.s
kennzeichnen.
Das Jahr 1876 brachte dem nun Vierunddreißigjährigen die Hauptmanns-
charge, die Einteilung in das neugebildete Generalstabskorps und seine
Kommandierung ins Kriegsarchiv. Der Okkupationsfeldzug 1878 unterbrach
nur für kurze Zeit seine kriegsgeschichtlichen Arbeiten. In die Operations-
abteilung des 2. Armeekommandos eingeteilt, kehrte er nach Beendigung der
Kampagne wieder in das Kriegsarchiv zurück, um sich an der offiziellen
Darstellung der Okkupation zu beteiligen. Für besonders erfolgreiches
Wirken auf kriegsgeschichtlichem Gebiete wurde er dann 1880 mit dem
Militärverdienstkreuze ausgezeichnet. 1879 finden wir ihn im Generalstabs-
truppendienste (Budapest), 188 1 bei der Militärmappierung (Baja, Ungarn),
1882 als Generalstabschef der 34. Truppendivision (Temesvar), 1885 im Front-
dienste beim 100. (Teschen), 1886 (als Oberstleutnant) beim 92. Infanterie-
regiment (Theresienstadt), 1887 beim 15. Korpskommando (Sarajewo), 1888
als Generalstabschef des 14. Korps (Innsbruck); 1889 Oberst geworden, sieht
er sich 1891 durch Gesundheits- und andere Umstände veranlaßt, sich auf
ein Jahr beurlauben zu lassen. 1892 im Präsenzstande des 8. Infanterie-
regiments (Brunn), wird er im folgenden Jahre dessen Kommandant, übernimmt
1894 das 60. Infanteriebrigadekommando (Lemberg); 1895 Generalmajor,
wird er 1898 Präsident des Militär-Obergerichtes (Wien) und noch in dem-
19*
292
Ratzenhofer.
selben Jahre Feldmarschall -Leutnant. 1901 pensioniert, wählt er seine
Vaterstadt Wien als Domizil.
Die erste literarische Betätigung R.s fällt in das Jahr 187 1. Das außer-
ordentliche Interesse der Fachkreise an dem großen Kriegsdrama von 1870/71
hatte bald nach dessen Ende eine Preisausschreibung zur Folge, deren Thema
die »taktischen Lehren« dieses epochalen Krieges waren. Vier Autoritäten
auf taktischem Gebiete aus Österreich und Deutschland bildeten das Richter-
amt, welches R., damals Oberleutnant im 2. Feldjägerbataillon, unter anderen
ausgezeichneten Bewerbern den Preis zuerkannte.
Noch im Jahre 1873 veröffentlichte R. »Das Gefecht der Infanterie«;
1875 folgte die Gelegenheitsschrift »Zur Reduktion der kontinentalen Heere«
und »Die praktischen Übungen der Infanterie- und Jägertruppe«, ein Buch,
dessen Wert schon daraus erhellt, daß es mehrere Auflagen erlebte; 1877/78
schrieb er das unter dem Decknamen »Gustav Renehr« erschienene zwei-
bändige Werk »Im Donaureiche«, welches, wie die 1899, kurz nach dem
Rücktritte des Ministeriums Thun, anonym veröffentlichte Flugschrift »Was
wollen, was können, was sollen die Deutschen im Donaureiche?«, das
beherzigenswerte Mahnwort eines schwerbesorgten Patrioten war; 1879 »Die
Okkupation Bosniens und der Herzegowina«; 1881 »Die Staatswehr, wissen-
scliaftliche Untersuchung der öffentlichen Wehrangelegenheiten«, Lorenz von
Stein gewidmet und, wie Dr. Otto Gramzow uns erinnert, vom Fürsten
Bismarck angezogen, als er 1881 im Reichstage den Gesetzentwurf zur Ein-
führung einer »Wehrsteuer« als einer sachlichen Leistung der Wehrbefreiten
gegenüber der »Blutsteuer« der Dienstpflichtigen einbrachte; 1882 »Moltke
und Gambetta«.
Erwägt man, daß R. in diesen Jahren von Amts wegen für das monu-
mentale Werk »Feldzüge des Prinzen Eugen von Savoyen« das inhaltreiche
Jahr 1704 (Höchstädt und Blenheim) bearbeitete und an der offiziellen Dar-
stellung des Okkupationsfeldzuges teilhatte, sich im Generalstabs-Truppen-
dienste und bei der Militärmappierung betätigte, daß also alle vorgenannten
ernsten und originellen Arbeiten, von zahlreichen kleineren Abhandlungen
nicht zu sprechen, Nebenfrüchte einer vom Dienste stark in Anspruch
genommenen Arbeitskraft gewesen sind, so kann man nicht verkennen, daß
in R. ein energisches wissenschaftliches Ringen, ein ganz ungewöhnlicher
Betätigungsdrang und eine außerordentliche Arbeitspotenz in die Erscheinung
traten.
Den Übergang von der militärischen zur philosophischen Schriftstellerei
vermittelte die Politik. Durch eifrige Lektüre nationalökonomischer, natur-
wissenschaftlicher und philosophischer Werke, insbesondere durch das Studium
der positivistischen Trias: Comte, Mill, Spencer (die deutschen Positivisten
Laas, Göring, Dühring kannte R. gar nicht), eröffneten sich ihm philo-
sophische Femblicke in scheinbar unentdecktes Land. In Österreich war
gerade Ludwig Gumplowicz, der nachmalige Apologet R.s, mit dem schüch-
ternen Versuch einer deutschen Soziologie hervorgetreten. Die Theorie des
Rassenkampfes, welche Gumplowicz in den Mittelpunkt seines Systems gerückt
hatte, blieb nicht ohne Eindruck auf den empfänglichen und leicht zu
befeuernden Geist R.s. Noch die vorletzte Arbeit R.s, ein Vortrag in der
»Ethischen Gesellschaft« in Wien, behandelte die »Rassenfrage vom ethischen
Ratzenhofer.
293
Standpunkte« (abgedruckt im »Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie«,
I, H. 5, Sept. -Okt. 1904). Seine letzte Arbeit war der Vortrag in St. Louis,
in welchem er das Programm seiner Soziologie in großen Zügen entwickelt
hat (Auszüge brachten die Frankfurter »Umschau« vom i. Okt. 1904 und
Ludwig Gumplowicz, Geschichte der Staatstheorien 1905). R. trug sich,
wie aus Briefen an mich erhellt, mit einem fertigen System der Soziologie,
das der Serie seiner philosophischen Werke den krönenden Abschluß geben
sollte. Ein umfangreiches, unvollendetes Manuskript aus den Jahren 1903/4,
betitelt »Soziologie«, fand sich in seinem Nachlasse vor.
R. ist auf dem Wege der politisch-sozialen Probleme zur reinen
Philosophie gelangt. Sein erstes Werk: »Wesen und Zweck der Politik, als
Teil der Soziologie und Grundlage der Staatswissenschaften«, 3 Bände,
Leipzig 1893, steht unter dem Stembilde Comtes. Nur hat Comte sein
System der positiven Philosophie mit der Soziologie abgeschlossen, während
R. umgekehrt seine Weltanschauung auf Soziologie gründet. Das heraklitische
n«i>.efxo? rorVjp Trch^Twv steht an der Schwelle der R.schen »Politik«, die das
»Gesetz der absoluten Feindseligkeit« aufstellt, dessen Formel lautet: Die
absolute Feindseligkeit ist die Urkraft in der Politik. Schon aus dieser
Formel erhellt die naturalistische, an Macchiavelli orientierte Richtung R.s.
Ihm ist nicht, wie Goethe, Kunst und Natur Eines nur, sondern Geschichte
und Natur sind ihm, wie Herder, Eines nur. Denn hier erkennt R. schon eine
»Urkraft« der Politik an. Daraus ergibt sich die naturalistische Grundansicht:
Die Menschheitsgeschichte ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Natur-
geschichte. Der Mensch ist nur ein Ausschnitt der Gesamtnatur und ist daher
nicht nur in seinem Mechanismus und Chemismus, sondern auch in allen seinen
inneren seelischen Erlebnissen den allgemeinen Naturgesetzen bedingungslos
unterworfen. Werden die Atome durch Attraktion und Repulsion in ihren
gegenseitigen Beziehungen reguliert oder die chemischen Verbindungen durch
Affinität oder Verbindungswiderstand, so der Mensch in der Gesellschaft
durch das elementare Streben nach Selbsterhaltung {inX t6 xr^pslv iauxd bei den
Stoikern, esse sc velle bei Spinoza). Und so ist denn, nach R., die Befriedigung
der unentbehrlichen materiellen Bedürfnisse das eigentliche Thema der
Geschichte. Wie Comte, so kennt auch R. neben der sozialen Statik, dem
Ruhezustand des erlangten sozialen Gleichgewichts, eine soziale Dynamik,
d. h. ein Bewegungsgesetz der Geschichte. Ist das Gleichgewicht zwischen
Produktionsweise, staatlichen Einrichtungen, sozialen Gliederungen und
beherrschenden Ideen (Idie nUre bei Comte, idee maitresse bei Taine) gestört,
so sucht der Klassenkampf oder Rassenkampf in der Geschichte dieses
Gleichgewicht nach strengen Entwicklunggesetzen wieder herzustellen. Dieses
Entwicklungsgesetz (progris bei Comte) ist der ständige Fortschritt in der
Humanisierung des sozialen Kampfes ums Dasein. Wie St. Simon, Comte und
Spencer einmütig betonen: der kriegerische Typus weicht allmählich dem
industriellen. Das augenblicklich noch empfindlich gestörte politische und
soziale Gleichgewicht innerhalb unseres Kulturkreises tendiert nach R. ebenso
wie nach Comte einer die Interessengegensätze bannenden Formel entgegen.
R. nennt dies: »Harmonie der politischen Triebe«, Comte pouvoir spirituel
oder autoriti spirituelle. Schon Comte behauptete: das Individuum im Staate
ist eine Fiktion wie das Atom. In jedem Blutstropfen der Persönlichkeit
294
Ratzenhofer.
rinnt die Gattungserfahrung der vorangegangenen Vorfahrenreihe. Im Zustand
der Statik (des sozialen Beharrens) käme dem Individuum innerhalb der
Familie, insbesondere dem mit der patria potestas bekleideten Oberhaupt,
eine soziale Bedeutung zu, aber im Übergang von Familie zum Stamm, zum
Volk, zum Staat verliere sich das Individuum völlig, um dem Kollektivum:
Nation Platz zu machen. Im Zeitalter der Maschine vollends sinke die Per-
sönlichkeit zur quanttti fpigligeable herab. Der Moloch oder Leviathan Staat
drückt, ganz wie bei Hobbes, die Persönlichkeit zum Automaten herab. —
Der Bürger eine Abstimmungsmaschine, ein Automat zur Verrichtung gesell-
schaftlich nützlicher Handlungen. Auch nach R. läßt sich im Kulturstaat
das Individuum nicht loslösen von dem umstrickenden und erdrückenden
Netz der sozialen Beziehungen. Das politische Individuum als »soziale Ein-
heit« ist auch nach R. eine leere Fiktion. Nur die politische Persönlichkeit
(Gruppe, Partei, zuoberst der Staat) repräsentiert die Einheit eines Sozial-
willens. "Wie bei Comte reguliert im vorgeschrittenen Staat auch bei R. das
Gattungswesen »Mensch« die Zwecke des Einzelindividuums. Mag also
das Wesen der Politik immerhin individualistisch sein, sofern sie dahin
strebt, die berechtigten Eigeninteressen des einzelnen Bürgers im Staate
zu wahren und in seinen wohlerworbenen Rechten zu schützen, so ist der
Zweck aller Politik Zivilisation und Kultur. Wie nach Kant der Weg der
Geschichte durch die drei Marksteine: Kultivierung, Zivilisierung, Morali-
sierung, gekennzeichnet ist, so daß die Strecke von der bestialischen Ani-
malität bis zur Humanität die genannten drei Stadien zu durchlaufen hat,
und ähnlich wie Comte (übrigens im Anschluß an Turgot, der schon
70 Jahre zuvor die Dreistadienlehre aufgestellt hat) die Menschheit durch theo-
logische und metaphysische Phasen hindurchgehen läßt, um beim positiven
anzulangen, läßt auch R. Zivilisation und Kultur letzten Endes siegen über
List und Gewalttat; das Gattungsinteresse, die Humanität, die »Harmonie
der politischen Triebe« überwindet den Eigennutz, das Individualinterresse.
Von hier aus führt ein gerader Weg zu R.s »Soziologischer Erkenntnis«
(Leipzig 1898), welches Werk die Wechselbeziehungen zwischen Menschen
unter wissenschaftliche Kategorien zu bringen sucht. Lester F. Ward, der
führende amerikanische Soziologe, zählt R.s »Soziologie« zu den wichtigsten
Beiträgen zur Soziologie während des letzten Jahrzehnts. Gumplowicz ver-
steigt sich gar zum übertreibenden Dithyrambus, die ganze bisherige politische
und soziologische Literatur habe nichts Ähnliches aufzuweisen. Otto Gram-
zows Monographie hält sich von solchen Ausbrüchen leidenschaftlicher
Apologetik fern. Ich selbst habe im Sommer 1904, noch zu Lebzeiten R.s,
der die ersten Aufsätze, nach Mitteilungen seines Sohnes, no'ch auf dem
Schiffe, unmittelbar vor seinem Tode, mit Genugtuung begrüßte, in der
Wiener N. Fr. Presse dem österreichischen Herbert Spencer drei Abhand-
lungen gewidmet, die in etwas veränderter Fassung in meinen »Sozialen
Optimismus«, (Jena, Costenoble, 1905) übergegangen sind. Dort suchte ich
sine ira, sed cum studio das Wesen der R. sehen Soziologie wie folgt zu
charakterisieren (S. 174 ff.):
Die »Gesetzeseinheit« von Natur und Geschichte lehrt zum ersten Mal
Heraklit, der seinen Satz vom »Kampf als Vater und König aller Dinge«,
welcher sich bei Hobbes in das * bellum iminium contra omnes*^ bei Malthus
Ratzenhofer.
295
und Darwin in das *struggle for iife* verwandelt, vollbewuflt aus dem
Metaphysischen ins Soziologische übertrug, wie uns ein vor etwa fünfzig
Jahren bekannt gewordenes Fragment unwidersprechlich belehrt. Wie
Heraklit der Stammvater alles Evolutionismus ist, also auch die Weltan-
schauung Spencers und R.s beherrscht, so hat er auch jene organische Methode
für die Soziologie im Prinzip vorweggenommen, welche bei R. die Fassung
erhält: »Jede Übereinstimmung der biologischen Gesetze mit den sozialen, ob
auf Analogie oder Identität gegründet, ist nur denkbar bei einer Gesetzes-
einheit aller Erscheinungen.«
Die Durchführung und unerschrockene Übertragung dieser als pctitio
prtncipii geforderten »Gesetzeseinheit« auf alle Gebiete von Natur und Gesell-
schaft ist die eigentliche Leistung der R.schen Soziologie. Spencer holt zu
gleichem Behufe aus dem unerschöpflichen Born seiner »deskriptiven Sozio-
logie« überwältigendes vergleichend -ethnographisches Material herbei. R.
arbeitet hingegen mehr mit seiner ungemein lebhaften, auf kleinste Reize
reagierenden, glücklich inspirierten biologischen Phantasie. Für ihn steht das
Dogma von der »Gesetzeseinheit der Welt« unerschütterlich fest. Physik,
Mechanik, Geologie und Chemie sind in bezug auf ihre Gesetzesform der
Entwicklung von der Soziologie grundsätzlich nicht verschieden. Die Gesetze
der Chemie lassen sich auf die der menschlichen Gesellschaft zwang- und
restlos anwenden und übertragen, und R. »hat den Mut, es auszusprechen,
daß die Identität der Ursache bei chemischen und sozialen Vorgängen
geeignet ist, eine Stütze der Molekulartheorie zu sein«. Um jeder Zweideutig-
keit der Auslegung die Stachelspitze zu nehmen, führt R. seinen »Monismus«
der Gesetzeseinheit ins Extrem durch und verkündet mit der Stentorstimme
des geborenen Befehlshabers: »Diese Übereinstimmung des organischen Lebens-
prozesses mit dem sozialen Prozeß ist kein bildlicher Vergleich, sondern
kausal.«
Eine solche »Gesetzeseinheit« darf nicht vorausgesetzt, sondern sie muß be-
wiesen werden. Für solche »Identitätsphilosophie«, wie sie uns R. soziologisch
mundgerecht machen möchte, darf man sich nicht jener von Fichte und Schelling
geforderten, aber nicht abgeleiteten »Gesetzeseinheit« bedienen, über welche
Hegel in der berühmten Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes« spottet,
sie sei aus der Pistole geschossen und gleiche der Nacht, in welcher alle
Kühe schwarz sind. Nimmt man die Distanz so groß wie R. und alle
Identitätsphilosophen, von den Eleaten angefangen bis Spinoza, welche von
den Forderungen: »Sein und Denken ist nur Eines«, Eines ist das All und
das Seiende der Grundformel des Pantheismus — ihren dialektischen Ausgangs-
punkt nehmen, so verschwinden freilich alle Mannigfaltigkeiten .und Gegen-
sätze, aber nicht darum, weil der Beobachter von der hohen Warte seines
eingenommenen Standpunktes aus sie ebensowenig sehen kann, wie der
Alpinist vom Bergesgipfel des Monte Rosa aus die kleinen Hügel in der
Talmulde. Die Einerleiheit des Eindrucks geht nicht von den Hügeln,
sondern vom gewählten Horizont des Beschauers aus.
Wer diese Einsicht gewonnen hat, wird weder mit R,, Fichte oder
Schelling sich durch einen metaphysischen Luftsprung, durch ein Saltomortale
der gesunden Menschenvernunft, kraftgenialisch und unvermittelt zu dieser
obersten Einheit erheben, sondern er wird sich an der Hand alpentouristisch
296
Ratzenhofer.
geschulter Führer, am Seil der vorangegangenen, geschichtlich wirksam
gewesenen, philosophischen Systeme, zum höchsten Bergesgipfel emporführen
lassen. Will die Philosophie eine Topographie des Universums in Natur und
Geschichte darstellen, somit den Globus hiteüectuaUs genau abzirkeln und
vermessen, so muß sie empirisch-induktiv beginnen, vom Einfachen und Ein-
zelnen ausgehen, die Dinge und Gegenstände in mikroskopischer Nähe auf
ihre Wirklichkeit hin ansehen, nicht aber in makroskopischer Ferne sich als
gedachte Möglichkeit gegenüberstellen, um hinterher die Wirklichkeit deduktiv
aus der beweislos gesetzten Einheit abzuleiten.
R. ist so gut energetischer Revolutionist wie Fichte vor ihm und Ostwald
neben ihm. Aber der Kernsatz R.s: »Ohne Bewußtsein gibt es kein Sein,
ohne Intellekt kein individuelles Sein und ohne Empfindung kein Bewußt-
sein«, ist genau so erkenntnistheoretisch aus der Pistole geschossen, wie
Fichtes oberste Forderung: das Ich setzt sich selbst. Hier wie dort beginnt
das Denken mit einem Postulat, einer Forderung: Setze dein Bewußtsein!
Das zu Beweisende wird als bewiesen vorweggenommen. Wer diese ptttt'w
principii akzeptiert, kann sich dem System weiter anvertrauen ; wer aber schon
an der Schwelle des Systems über diesem Postulat kritisch stolpert, kann
keinen Schritt mehr mittun. Deshalb hat Hegel gezeigt, wie man diese von
vornherein behauptete Identität von Denken und Sein, von Geist und Natur,
von Bewußtsein und Außenwelt nicht an den Anfang der Philosophie als
Behauptung, sondern an deren Ende als unausweichliches logisches Resultat
setzen müsse. Hegels Ableitung ist eine logisch- dialektische, die dem
Geschmacke unserer Zeit schlechterdings nicht behagen will. Der andere
große Evolutionist, Herbert Spencer, ist in seinen *first prineiples* zu seinem
Unerkennbaren, dessen Kraftäußerungen wir als Wirkungen in unserem Bewußt-
sein feststellen, nicht wie Hegel nach dialektischer Methode, sondern auf
dem Wege der Physik, Chemie und exakten W^issenschaften gelangt, die er
der Reihe nach abgeklopft und gewissenhaft befragt hat. Einen dritten Weg
schlägt die vergleichend-geschichtliche Methode ein, indem sie statt Biophoren,
Zelle, Monere, Protisten lieber Legenden, Mythen, Religion, Recht, Moral,
Kunst, Wissenschaft in ihren Ursprüngen und ihrem geschichtlichen Werde-
gang belauscht, um auf dem Umwege der Geschichte den Sinn des mensch-
lichen Daseins zu enträtseln. Auch wir sind Evolutionisten, so gut wie R.,
sogar energetische Evolutionisten, wie Ostwald, Mach, Stallo, Clifford, Helm
und die ganze Schule der jüngeren Energetiker. Und R. konnte aus meiner
vorletzten Publikation — Der Sinn des Daseins, Tübingen, Mohr 1904 — , die
sich ebenfalls wiederholt mit ihm beschäftigt, die Überzeugung gewinnen,
daß wir uns am Ziele treffen, wenn auch unsere Wege auseinandergehen.
Mir scheint eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Energetik sowie eine
Psychologie der philosophischen Systembildung das dringendste Erfordernis
unserer Richtung. Die Gesetzeseinheit, welche R. voraussetzt, wird auch von
mir gutgeheißen, aber nicht als Forderung, sondern als Ergebnis.
R.s Weltanschauung beruht auf einer Generalisation, die er aus der
Soziologie herübergenommen und in die Metaphysik verpflanzt hat. Das
»anhaftende Interesse« war der Zentralbegriff seiner Soziologie, in welcher
der Aufstieg vom Eigeninteresse zum Gattungsinteresse klargelegt wurde.
Jetzt» wird zur astrophysischen Verallgemeinerung fortgeschritten. Jede
Ratzenhof er. 2Q7
Erscheinungsform, vom Himmelskörper bis zum Atom, und jeder Organismus
ist ein Teil der Urkraft mit einem anhaftenden (inhärenten) Interesse an der
zugehörigen Entwicklung.
Ähnlich wie Hartmann hypnotisch auf alle Phänomene des Unbewußten,
Schopenhauer auf die des Willens, Nietzsche auf die Manifestation des
»Willens zur Macht«, oder der Philosoph der Weltphantasie, Frohschammer,
auf alle Offenbarungsformen der »Phantasie« fahndet, so sucht R. von seinem
Zentralgedanken des »inhärenten Interesses« aus alle Gebiete des Wissens
durchforschend zu umspannen, um nach Äußerungsformen des »inhärenten
Interesses« Umschau zu halten. »Der positive Monismus« (1899) sucht die
Geltung dieses Fundamentalsatzes im Bereiche der gesamten belebten und
unbelebten Natur, die »positive Ethik« (Leipzig 1901) auf dem Felde der
menschlichen Moral, das letzte Werk endlich, »Die Kritik des Intellekts«
(Leipzig 1902), auf dem Gebiete der Psychologie und Erkenntnistheorie sieg-
haft zu beweisen. Wie jedes philosophische System von einem einzigen
Zentrum aus Strahlen an die Peripherie des Wissens entsendet, so sucht auch
R. vom Mittelpunkt des »inhärenten Interesses« aus Natur- und Geistes-
wi.ssenschaften abzuklopfen und zu behorchen, soweit sie sich seinem Funda-
mentalgedanken dienstbar erweisen. Positiver Monismus, so heißt das
System R.s, fordert die Gesetzeseinheit von Natur und Geist. Die Einheit
suchen die Materialisten im Stoff, die Idealisten im Bewußtsein, die Energe-
tiker in den Monaden oder Krafteinheiten. Das von Kant und Spencer für
unerkennbar erklärte »Ding-an-sich« beruhigt auf die Dauer die Gemüter
nicht. Das »metaphysische Bedürfnis«, das Kant selbst bis auf den Grund
erkannt hatte, nötigt uns zur Symbolisierung des Unerkennbaren, und dieses
ist für R. die Urkraft, deren Grundwesenheit (Attribut) die Attraktion ist.
Die Urkraftpunkte, in Krafthüllen eingebettet, schweben nach dem Attrak-
tionsgesetz frei im Raum. Sie bilden das Elementatom, das der Träger
potentieller Energie ist. Attraktion und Repulsion spielen bei R. dieselbe
weltbaumeisterliche Rolle wie bei Herbert Spencer der ewige Rhythmus von
Integration und Differenzierung. R. folgert die Einheit aller Kräfte, und auch
das Leben ist in diese Einheit eingeschlossen. Das Leben ist für R. kein
Phänomen sui generis, sondern eine Energiemodalität, wie sie im Prozeß der
chemischen Affinität sich offenbart. Was in der scheinbar leblosen Natur
als latente Energie wirkt, das nennen wir in der Welt des Lebens inhärentes
Interesse, das sich ein eigenes Organ geschaffen hat — den Willen. Auch
das menschliche Bewußtsein macht also keine Ausnahme vom universellen
Energiegesetz. Selbst die Blume aller Menschlichkeit, das Sittengesetz, hängt
mit dem angeborenen Interesse der Urkraftpunkte zusammen. Die Welt der
W^erte und Zwecke, das sittlich Seinsollende ist naturgesetzlich festgelegt, in
der Energieformel wie punktiert schon angedeutet oder vorgebildet. Der
ethische Aufstieg vom individuellen Nützlichen zum Gemeinnützigen, vom
Egoismus zum Altruismus, geht bei R. wie bei Comte und Spencer als streng
determinierter naturgesetzlicher Prozeß vor sich. Selbst das ästhetische
Empfinden ist in der angeborenen Interessennatur des Menschen begründet.
Seit der »Kritik des Intellekts« (1902) tritt das »Bewußtsein als ursprün-
lichste Erfahrung« in den Vordergrund des R.schen Denkens. Jetzt ist die
»Empfindung die erste Erfahrung des organischen Lebens«. »Ohne Bewußt-
298
Ratzenhofer.
sein gibt es kein Sein.« An die Stelle der niederen mechanischen Funktionen
tritt jetzt der Intellekt. Und als R. vollends die Schriften des Kieler
Botanikers Reinke und dessen Dominantentheorie kennen lernte, vollzog sich
eine entscheidende Wendung in seinem Denken. In der wissenschaftlichen
Beilage zur Allgem. Zeitung vom 26. Mai 1904 ließ sich noch R. in einem
Aufsatz über »Die Soziologie und Reinkes Dominantentheorie« aus. Reinkes
Dominante oder »Systemkraft« wird jetzt dem »inhärenten Interesse« energisch
angenähert. »Das Leben, durch die Urkraft mechanisch gegeben, wird bei
erwachtem Bewußtsein von dem angeborenen Interesse geleitet .... Das
Interesse ist ein Ausdruck für den Willen der waltenden Urkraft, in dem
Mikrokosmos eines Organismus das Bewußtsein zu erhalten, solange die hier-
für notwendige Stoffkonstellation (Systemkraft) vorhanden ist. Da stehen wir
wieder vor dem einheitlichen Prinzip aller Erscheinungen, der bewußtseins-
fähigen Urkraft, dem ewigen Rätsel.« Diese Urkraft entfaltet sich, nach R.
mit kausaler, nicht mit finaler Notwendigkeit, d. h. sie kennt nur Gesetze ihres
Ablaufs, nicht Zwecke oder gar Endzwecke (Causae finales). Daneben haben
aber, wie Gramzow mit Recht gegen R. hervorhebt, solche Zweckgebilde wie
»Selbsterhaltung«, die von Baersche »Zielstrebigkeit«, ja selbst das »Vervoll-
kommnungsbestreben der Urkraft« im Werdeprozeß der Welt im R.schen
System ihren Platz. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Die Fundamental-
formel R.s, das inhärente Interesse, ist eine teleologische, keine streng kausale.
Denn bei allem Kausalen gehen die Teile dem Ganzen, die Ursachen den
Wirkungen voraus, . so daß die jeweilige Gegenwart von der Vergangenheit
beherrscht wird, während beim Teleologischen umgekehrt das Ganze früher
ist als seine Teile (in der Eizelle ist der ganze künftige Organismus vorge-
bildet). Die Wirkung stellt sich zeitlich früher ein als die sie hervorrufende
Zweckursache, und die jeweilige Gegenwart wird nicht, wie bei der kausalen
Reihe, von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft, d. h. dem zu er-
füllenden Zweck, beherrscht. Wäre wirklich das »inhärente Interesse«, wie R.
will, die lange und vergeblich gesuchte Weltformel, so müßte sich der Ablauf
alles Geschehens nach dem in diesem inhärenten Interesse vorgebildeten,
also prädestinierten kosmischen Weltenplan abwickeln. Die einzelnen
Kräfte oder Energien, ja selbst die Naturgesetze wären alsdann dem Uni-
versal-Imperativ des inhärenten Interesses Untertan.
Wenn das nicht pure und blanke Metaphysik ist, Naturphilosophie
crude nude^ wie sie unter den philosophischen Romantikern des einsetzenden
19, Jahrhunderts im Schwange war, so weiß ich wirklich nicht, was dann noch
Metaphysik heißen soll. Und so kann ich am Schlüsse meiner Darlegungen
nur das Urteil wiederholen, das ich im »Sozialen Optimismus« (Jena, Coste-
noble, 1905, S. 170 f.) über R.s Weltanschanung gefällt habe, R.s Weltan-
schauung ist energetischer Pantheismus im Rahmen der Terminologie unseres
Zeitalters. Am nächsten steht er dem ethischen Pantheismus Fichtes. Beide
gehen gleicherweise von Spinoza aus. Nur lebte Spinoza im klassischen Zeit-
alter der sich ausbauenden Mathematik, und deshalb schrieb er seine »Ethik«
more geometrtco. Sein Pantheismus ist daher ein mathematischer. Fichte
konzipierte sein System unter dem Sternbilde des »kategorischen Imperativs«
von Kant. Ihm ist die Substanz kein ruhendes Sein, sondern ein bewegtes
Sollen, eine zu lösende Aufgabe: eine zu erfüllende transzendentale Pflicht,
Ratzenhofer.
299
Deus s'we natura sind nicht geometrisch -ruhend, wie bei Spinoza, sondern
dynamisch-bewegt, wie bei Leibniz. Die Entwicklungsrichtung der Substanz
— ihre »Dominante«, ihr -»Conatus« — ist daher eine ethisch -praktische;
kein Sein, sondern ein Tun. Gott ist gleichbedeutend mit der ordo ordinans,
der sittlichen Weltordnung, die sich im Menschen und durch den Menschen
stufenweise vollzieht. Fichtes Zeitalter ist ein vorwiegend dialektisch-speku-
latives, und so kommt es, daß Fichte seine Weltanschauung nicht wie
Spinoza more geometrko, sondern wie Schelling und Hegel, welche sich der
»dialektischen Methode« bedienen, more dialectico konzipiert. R. aber ist ein
Sohn der Darwin-Spencerschen Epoche. Seit Darwin ist das Lebensproblem
das Problem unserer Tage geworden. Nichts im Leben interessiert uns seit
der durch Darwin heraufbeschworenen biologischen Periode der Wissenschaft
mehr als das Leben selbst. Mit der Biologie traten indes die Zweck-
vorstellungen in den Vordergrund, und wir bekommen mit Cossmann, Driesch,
Fano, Rindfleisch und Bunge eine empirische Teleologie — ein Wiederauf-
leben des fälschlich todgesagten Vitalismus. Spencer erneuert Schelling,
Ostwald die Lorenz Okensche Naturphilosophie. In diese Gedankenwerk-
stätte tritt der österreichische Spencer zuerst als Lehrling, sehr bald als
Meister ein. Die philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge gehen ihm ab.
Aber »das Gefühl ist der Pionier der Erkenntnis« sagt einmal R., Wundt
zitierend, ohne zu bedenken, daß heute Ribot, auf diesem Gedanken bauend,
eine Weltanschauung erneuert hat, die im achtzehnten Jahrhundert in England
die herrschende war. Mit diesem »Gefühl« ergreift R. die Probleme und
sehr bald ergreifen die Probleme ihn. Er glaubt zu schieben und wird
geschoben. Die immanente Logik, welche ihn zum Pantheismus mit unwider-
stehlicher Gewalt hinzieht, läßt ihn die »Urkraft« mit Herbert Spencers
^Unknowable«^ und Kants »Ding-an-sich« identifizieren. Ohne den Zug des
philosophiegeschichtlichen Denkens zu kennen, wird R. Fichte in die Arme
getrieben. Aber Fichte ist ein ahnender, naturwissenschaftlich ununterrichteter
Geist, R. hingegen ein an Herbert Spencer orientierter, in der harten Schule
des Lebens und des Naturwissens geschulter Denker, der den hohen Flug
Fichtes nicht teilt, auch dessen philosophiegeschichtliche Kenntnisse nicht
erreicht, dafür aber durch ein reiches, sorgsames und feinsinniges Erfassen
der Prinzipien unserer heutigen Naturerkenntnis entschädigt. Seine Methode
ist also nicht die dialektische, wie Fichtes, sondern die biologische, wie die
Reinkes. Aber im Hauptgedanken, im Gerüst und Rückgrat seines Systems
des positiven Monismus, ist er Pantheist wie Spinoza und Fichte. Nur kon-
zipierte Spinoza im wissenschaftlichen Rahmen seines Zeitalters den Pantheis-
mus more geometrico, Fichte im Rahmen des seinigen more dialectico, R. endlich,
der dominierenden Wissenschaft unseres eigenen Zeitalters gemäß, seinen
Pantheismus: tfwre biologico.
Werke R.s: i. Die taktischen Lehren des Kriegen 1870— 1871. Streffleurs östcrr.
militärische Zeitschrift 1872 (Preisschrift). 154 Seiten. — 2. Unsere Ileeresverhältnissc.
Teschen 1873 (anonyme Kampfschrift). — 3. Die praktischen Übungen der Infanterie und
Jägertruppe, i. Auilage 1875, 4. Auflage 1885, Teschen. — 4. Zur Reduktion der konti-
nentalen Heere. Wien (Seidel u. S.) 1875. — 5. Aus R.s Feder' stammt der VI. Band der
vom k. k. österr. Generalstab herausgegebenen: FeldzUge des Prinzen Eugen, enthaltend
das Kriegsjahr 1704. Wien (Gerolds Sohn) 1879. — 6« Im Donaureich (unter dem Pseudo-
JOO Ratzenhofer. Schuhes.
nym Gustav Renehr). Prag, Karl Bellmann. I. Bd. (»Zeitgeist und Politik«) 1877, II. Bd.
(»Kultur«) 1878. — 7. Die Staatswehr, Untersuchung der öffentlichen Militärangelegenheiten.
Cotta, Stuttgart 1881. — 8. Truppenftihrung ini Karst Serajewo (im amtlichen Auftrage),
1888. — Von 1874 — 1901 über 30 Aufsätze militärischen Inhalts, meist erweiterte münd-
liche Vorträge, veröffentlicht in Streffleurs österr. militär. Zeitschrift und in dem »Organ der
militärwissei^schaftlichen Vereine«. — 10. Wesen und Zweck der Politik. 3 Bde., Leipzig
(Brockhaus) 1893. — ii« Soziologische Erkenntnis, ebenda 1898. — 12. Der positive
Monismus, ebenda 1899. — 13. Positive Ethik, 1901. — 14. Kritik des Intellekts, 1902. —
15. Seit 1900 eine Reihe von politischen und wissenschaftlichen Aufsätzen in der Wiener
Zeitschrift: Die Wage, in der N. Fr. Presse und der politisch-anthropologischen Revue (Volt-
manns). — 16. Die Probleme der Soziologie. Vortrag, gehalten September 1904 in St. Louis
— 17. Soziologie. — Umfangreiches unvollendetes Manuskript aus den Jahren 1903 — 1904.
Literatur über Gustav R.: Otto Gramzow, Gustav R. und seine Philosophie, Berlin,
Schildberger 1904. Lester F. Ward, Contemporary Sociology (deutsche Übersetzung 1904I.
Br. Clemens, Positivismus und Pädagogik in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 1904.
Ausführliche Besprechungen von R.s Werken in Hardens »Zukunft« von Professor Gumplo-
wicz und in der wissenschaftlichen Beilage der Allg. Zeitung von Johannes ünold.
Anonymus, Nekrolog in Danzers Armee -Zeitung, Jahrgang 1904, Nr. 49, 50 und 51. Ein
monographischer Essay über R. in meinem Buch »Der soziale Optimismus«. Jena, Costenoble,
1905 (S. 155—180).
Bern. Ludwig Stein.
Schuhes, Karl, Bühnenleiter und Schriftsteller, "^9. Juli 1822 im Schlosse
Triesdorf bei Ansbach, f 9. Juli 1904 in Hannover. — Sein Vater, ein bayrischer
Militärarzt, leitete soldatisch derb, doch liebevoll die erste, geistige Ent-
wickelung des einzigen Sohnes, während die einer französischen Emigranten-
familie entstammende Mutter eine leicht bewegliche, französische Phantasie
mit treuem, deutschem Gemüte verband und so vorteilhaft auf die Herzens-
bildung des Sohnes einzuwirken vermochte. Dieser kam mit zehn Jahren in
das königliche Kadettenkorps nach München und machte schon in diesem
Institute unter des berühmten Eßlair Leitung als sechzehnjähriger Jüngling
seine ersten Bühnenversuche, die die Aufmerksamkeit des Hofes und der
Stadt erregten. Mit 18 Jahren trat Seh. als Offizier in die bayrische Armee.
Durch seine seit 1845 in den »Fliegenden Blättern« veröffentlichten »Lands-
knechtslieder« und »Reiterlieder« verschaffte er seinem Decknamen »Der alte
Landsknecht« einen guten und dauernden Klang; auch wurde er Mitglied
des Münchener Dichtervereins, dem er lange Zeit als Schriftführer angehörte.
Die Munifizenz des damaligen Königs Maximilian II. von Bayern, der dem
jungen Dichter freundlichst zugetan war, erleichterte diesem den Übertritt
aus dem Heere zum Hoftheater, da sein ganzer Sinn der dramatischen Kunst
stets zugewendet blieb, und am 2. Januar 1849 betrat Seh. als »Schiller« in
Laubes »Karlsschülern« mit außergewöhnlichem Erfolge die Nationalbühne
in München. Später war er in Leipzig, wohin Laube ihn empfohlen hatte,
in Graz, wo er sich Holteis Freundschaft erwarb, und zwei Jahre in Regensburg
engagiert, wo er als artistischer und wirklicher Direktor wirkte, übernahm
dann die Regie des Hoftheaters in Meiningen und kam 1857 an das Hof-
theater nach Braunschweig, wo er sofort lebenslänglich angestellt wurde. Im
Jahre 1867, nach dem Tode des Hoftheaterdirektors Schütz, übernahm Seh.
auf Befehl des Herzogs die artistische und technische Leitung des Braunschweiger
Schuhes. Wendt.
301
Kunstinstituts, suchte aber, als seine Kunstansichten nicht mit denen einer
neu ernannten militärischen Intendanz in Einklang zu bringen waren, seine
Entlassung nach und trat 1872 in den Ruhestand. Während dieses ganzen
Lebensabschnittes war Seh. auch auf verschiedenen Gebieten als Schriftsteller
tätig gewesen. Seine »Gedichte und Lieder« (185 1) waren von Uhland aus-
gewählt, geordnet und warm empfohlen worden. Als Dramatiker hatte er
bereits 1847 ein Zaubermärchen »Liebesprobe« für die Münchener Hofbühne
gedichtet; ihm folgten »Der treue Papa« (Lyrisches Drama, 1852), das preis-
gekrönte Drama zur tausendjährigen Jubelfeier der Stadt Braunschweig »Brunswiks
Leu, stark und treu« (1861), das Lustspiel »Flitterwochen« (1862), der Schwank
»Ein Roman in zehn Bänden« (1863) und die Texte zu den Opern »Elfriede«,
»Der selige Herr Vetter« und »Der Fahnenschmied«. Als Erzähler bot uns
Seh. »Der alte Komödiant« (Novelle in Liedern, 1853), »Reklame!« (Roman;
II, 1867), »Süd und Nord« (Gesammelte Novellen; II, 1867) und die humo-
ristische Erzählung aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges »Uhlenspegel«
(II, 1867). Nach seiner Pensionierung siedelte Seh. nach Bremen über, aber
bereits am i. April 1873 berief ihn der königlich preußische Generalintendant
von Hülsen (der ältere) zum artistischen Direktor des Hoftheaters nach Wies-
baden, wo er bis 1888 noch eifrig tätig war. In dieser Zeit schrieb er »Im
Waldesfrieden« (Drama, 1878), »Die Reise nach dem Glücke« (Festspiel, 1879),
»Eine Partie Schach« (Drama, 1882), »Der Ehrenpokal« (Posse, 1883), »Maigela«
(Novelle, 1883) und seine Sammlung munterer Inntaler Geschichten »Gambs-
kreß und Enzian« (1887). In Hannover, wo er nun seinen Lebensabend
verbrachte, schritt seine literarische Tätigkeit rüstig vorwärts und lenkte be-
sonders durch eine Geschichte aus Shakespeares Schauspielerzeit y>Solus cum
sola! oder: Williams Sturmjahre!« (Roman, 1891) die Aufmerksamkeit weiter
Kreise auf ihn, während seine folgenden Arbeiten »Der Puppenspieler«
(Charakterbild aus dem Chiemgau, 1892), die Erzählungen aus dem bayrischen
Volksleben »Blauweiß« (1892), das Volksschauspiel »Der arme Heinrich« (1894)
und die Erzählungen »Das Signum Karls des Großen« (1896) und »Hanfried«
(1898) kaum noch Beachtung fanden.
Persönliche Mitteilungen. — Adolf Hinricbsen: Das literarische Deutschland, 1891,
S. 1206. — O. G. Flüggen: Biographisches Bühnen-Lexikon, 1892, S. 282. — Berliner Tage-
blatt vom 12. Juli 1904. Franz Brummer.
Wendt, Karl Ernst Ferdinand Maria, pädagogischer Schriftsteller,
• I. November 1839 in Dresden, f 12. Oktober 1904 in Troppau in Österreich-
Schlesien. — Seine Eltern, die beide als Opernkräfte an verschiedenen Bühnen
Deutschlands tätig waren, starben frühe, und so übernahm die in Dresden
lebende Großmutter, eine hochbegabte, einer alten französischen Adelsfamilie
entstammende Frau, die Erziehung des Knaben, der bis 1856 das Progymnasium
besuchte und dann in das katholische Lehrerseminar in Bautzen eintrat, das
er Ostern 1860 absolvierte. Schon während seiner Studienzeit hatte W. ver-
schiedene kleinere poetische Arbeiten veröffentlicht, und er setzte seine schrift-
stellerische Tätigkeit nun in Leipzig fort, wo er Anstellung als Lehrer an der
katholischen Bürger- und Armenschule gefunden hatte. So erschienen 1863
seine »Goldkömer« (1000 Sentenzen und Sinnsprüche) und 1864 »Frisches
Grün« (Lieder und Balladen, 2. Aufl. 1886). Die erste Schrift erregte im
^02 Wendt. Regcnsteiii.
fernen Siebenbürgen die Aufmerksamkeit des nachmaligen Schulinspektors
Weber, der gelegentlich einer Reise nach Deutschland den jungen Lehrer
aufsuchte und diesen bewog, eine Stelle an der ihm, dem Stadtpfarrer Weber,
unterstellten Normal-Hauptschule in Hermannstadt anzunehmen. Im Sommer
1865 siedelte W. dorthin über und verlebte dort fast sechs Jahre, das letzte
Halbjahr nicht mehr als Lehrer, sondern als Privatmann, der sich durch Vor-
lesungen über Ästhetik für Damen einen besonderen Wirkungskreis geschaffen
hatte. Dann führte er seinen lange gehegten Entschluß aus, seine Bildung
durch den Besuch einer Universität zu ergänzen, und so kam er nach Leipzig,
wo er unter Drobisch, Ziller, Strümpell und Masius Pädagogik, Ästhetik,
Philosophie und unter Fechner besonders Psychologie studierte und dann sein
Staatsexamen ablegte. In Jena erwarb er sich mit seiner Schrift Ȇber die
Willensbildung vom psychologischen Standpunkte« (erschien erst 1875) die
Würde eines Dr. phil. Nachdem er kurze Zeit als Lehrer an der Realschule
in Schneeberg gewirkt hatte, folgte er 1874 einem Rufe als Professor an die
königliche kaiserliche Lehrerinnen-Bildungsanstalt nach Troppau in Österreich-
Schlesien, an der er fast 30 Jahre mit großem Erfolge und Segen gewirkt
hat. Seine weitere schriftstellerische Tätigkeit bewegt sich vorwiegend auf
dem Gebiete der Pädagogik und Psychologie; hier wären besonders seine
Werke »Repetitorium zur Geschichte der Pädagogik« (1880), »Psychologische
Methodik« (1886), »Methodik des schönen Vortrags« (1886), »Pädagogische
Abhandlungen« (1886), »Das wahre Wesen der Gefühle« (1894), »Die Seele
des Weibes« (3. Auflage 1898), »Neue Seelenlehre« (1893) und »Psychologische
Pädagogik des Kindergartens« (2. Auflage 1903) anzuführen. Daneben gründete
er 1877 »Die österreichische Lehrerinnen-Zeitung«, die später unter dem Titel
»Mädchenschule« erschien und von ihm bis 1883 geleitet wurde, und 1889
mit Marianne Nigg den »Lehrinnenwart«. Auch einige Jugendschriften und
eine neue Sammlung von Gedichten »Elisabethrosen« (1878) sind von ihm
zu verzeichnen.
Persönliche Mitteilungen. — Adolf Hinrichscn : Das literarische Deutschland, S. 1379. —
Der Lehrcrinnen-VVart, Jahrg. 1890, S. 81. Franz Brummer.
Regenstein, Charlotte, Romanschriftstellerin, ♦ 27. März 1835 in Schwerin
(Mecklenburg), f 20. Mai 1904 in Hannover. — Früh verwaist, trat sie nach
einer sehr still und einförmig verlebten Kindheit, kaum 15 Jahre alt, mit
einem Vetter in die Ehe. Ihr Gatte hatte seine Studien aufgegeben und war
Offizier in der schleswig-holsteinischen Armee geworden, um für die Befreiung
dieser Herzogtümer mitzukämpfen. Die junge Gattin begleitete ihn dorthin,
und ihr junges Gemüt erhielt dort unverwischbare Eindrücke. Nach Beendigung
des Feldzuges trat der Gatte zu Schwerin in die Beamtenlaufbahn, und die
Dichterin konnte die nun folgenden neun Jahre als wolkenlos glückliche be-
zeichnen. Als aber ihr Mann 1860 plötzlich starb und sie vor die Aufgabe
gestellt wurde, mit sehr unzureichenden Mitteln für die Erziehung ihrer vier
Kinder allein zu sorgen, da blieben die Tage der Sorge nicht aus, und der
nächste Zeitraum von zehn Jahren brachte Kummer und Mühen die Fülle.
Dann machte sie eine neue, inhaltreiche Episode durch. Durch eine Ver-
kettung besonderer Umstände trat Charlotte R. 1870 in die Hofkreise ein;
indessen war ihre Natur für die Sphäre völlig ungeeignet, und so schied sie
Regenstein, von Najmäjer. 003
nach sechsjähriger Tätigkeit um Neujahr 1876 aus ihrer Stellung am Hofe
und siedelte bald darauf nach Dresden über, wo sie sich mit einer gleich-
gestimmten Freundin ein neues Heim gründete. Verschiedene Reisen nach
Paris und London, ein Jahr in Italien bauten im Geiste aus, was die stillen,
an inneren Erlebnissen reichen Jahre angesammelt hatten, und so betrat sie
schon 1875 die Laufbahn einer Schriftstellerin — unter dem Pseudonym
Alexander Römer — , der sie auch nach ihrer Übersiedelung nach Hannover
(1887) bis zu ihrem Tode treu geblieben ist. Ihre Romane »Gräfin Sibylle«
(II, 1878), »Still und bewegt« (II, 1880), »Frühling und Hochsommer« (1882),
»Einer aus der Masse« (1888), »Moderne Kultur« (1889), »Unter dem Purpur«
(1890), »Die Lüge ihres Lebens« (1890), »Die Glücksjäger« (1892), »Tante
Jettes Pflegesöhne« (II, 1893), »Dem Irrlicht nach« (II, 1893), »Eine Entführung«
(1893), »Was ist Glück?« (1895), »Licht und Finsternis« (1895), »Im Netz«
(1897), »Wer hat den Frieden?« (1897), »Gesühnte Schuld« (1898), »Eben-
bürtige Gefährten« (1898), »Am Ziele« (1899), »Gerettet« (1899), »Leidenschaft«
(1899), »Treue« (1901), »Späte Erkenntnis« (1902), »Versuchung« (1903) und
»Die Erlöserin« (1903) werden dem heutigen Geschmack der »Moderne« nicht
entsprechen, zeichnen sich aber durch sittliche Tendenz aus.
Persönliche Mitteilungen. — Illustrierte Welt, Jahrg. 1896, S. 459.
Franz Brummer.
Najmäjer, Marie von, Dichterin, ♦ 3. Februar 1844 in Ofen (Budapest),
f in Aussee (Steiermark) 25. August 1904. — Sie war die Tochter des unga-
rischen Hofrats Franz von N. und das einzige Kind ihrer Eltern, wuchs in
angenehmen Verhältnissen auf und erfreute sich einer glücklichen Kindheit.
Während sie die ungarische und französische Sprache schon frühe beherrschte,
lernte sie das Deutsche erst in Wien, wohin ihr Vater versetzt worden war,
und wo derselbe schon 1854 starb. Die Mutter, selbst eine Wienerin, behielt
nun ihren Wohnsitz daselbst bei und widmete sich ganz der Erziehung ihres
Kindes. Marie pflegte mit großer Liebe Musik und im geheimen auch Poesie.
Franz Grillparzer, dem einige ihrer Gedichte von seiner Freundin Josephine
Fröhlich, der Gesanglehrerin Mariens, vorgelegt wurden, ermunterte die Dichterin
zur Herausgabe ihrer »Schneeglöckchen« (Gedichte, 1868, 2. Auflage 1873),
deren freundliche Aufnahme sie zu weiterer Betätigung auf poetischem Ge-
biete, vor allem aber zu eingehenden literarischen Studien veranlaßte. Schon
1872 erschienen »Gedichte. Neue Folge«, in denen sie auch glücklich den
leidigen Dilettantismus abgestreift hatte. Trotzdem hatten beide Sammlungen
nur lokale Bedeutung; erst durch ihre epischen Dichtungen wurde ihr
Name über die Grenzen ihrer Heimat hinausgetragen. In »Gurret-ül-Eyn«
(1874), einem Bilde aus Persiens Neuzeit, schildert sie uns den Kampf der
dort seit 1848 tätigen Babi-Sekte, die mit Begeisterung und Ausdauer einem
Ziele zustrebt, welches in der Abschaffung aller Mißbräuche des religiösen,
politischen und sozialen Lebens gipfelte, und in »Gräfin Ebba« (1877) ^^ß^
sie uns einen Blick in ihre eigene Seele tun. Epischen Fluß hat auch ihre Dichtung
»Johannisfeuer« (1888), ja selbst in ihren »Neuen Gedichten« (1890) und »Der
Göttin Eigentum« (Gedichte, 1900) zeigt sie, daß ihre geistige Domäne nicht
das eigentliche Lied in seiner Einfachheit, sondern vielmehr die Poesien mit
odenhaftem Schwung und die erzählenden Dichtungen sind. Auch auf dem
'iQA von Xajniajer. FUrstenheim. Garckc.
Gebiete des historischen Romans (»Die Schwedenkönigin«; II, 1882 und »Der
Stern von Navarra«; II, 1900) und des Dramas (»Hildegard. Bürgerliches
Trauerspiel«, 1899 und »Kaiser Julian. Trauerspiel«, 1903) hat sich die
Dichterin mit Erfolg versucht. Ihren Wohnsitz hat sie in Wien stets beibe-
halten. Ohne sich bei der Frauenbewegung werktätig zu beteiligen, trat sie
doch mit Wort und Tat für das Wohl der alleinstehenden, besonders geistig
arbeitenden Frauen ein, um ihnen im Kampf ums Dasein Erleichterung zu
gewähren. So rief sie die erste Stipendiumsstiftung für weibliche Studierende
an der Universität Wien mit 7500 Gulden ins Leben, half dem Verein der
Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in Wien durch eine erste Zuwendung
von 10 000 Gulden einen selbständigen Pensionsfonds gründen, stiftete an der
ersten Gymnasial-Mädchenschule in Wien einen Freiplatz mit 3000 Gulden
und vermachte den größten Teil ihres Vermögens der von ihr gegründeten
und ihren Namen tragenden Stiftung für alleinstehende Waisen von Staats-
beamten. Sie starb in Aussee, wo sie sich zur Erholung aufgehalten hatte.
Nach ihrem Tode erschienen noch »Nachgelassene Gedichte« (1905).
Persönliche Mitteilungen. — Karl Schrattenthal: Die deutsche Frauenlyrik unserer
Tage (1893), S. 82. — Hausfrauen - Zeitung, Jahrg. 1882, 8. 282 ff. — Die Gartenlaube.
Jahrg. 1900, Nr. 37. — Illustrierte Frauen-Zeitung vom 15. Januiir 1905.
Franz Brummer.
Fürstenheim, Ernst, Urolog in Berlin, * 18. Aug. 1836 in Cöthen in Anhalt,
f 2. Juli 1904. — F. war medizinisch ausgebildet in Berlin, Würzburg,
Paris, London (B. von Langenbeck, Civiale, Desormeaux u. a.), wurde 1861
Dr, med. 1862 approbiert, ließ er sich 1863 in Berlin nieder und wandte
seine Spezialstudien den Krankheiten der Harnwege zu. Seine literarische
Tätigkeit umfaßte verschiedene Veröffentlichungen über Krankheiten der
männlichen Geschlechtsorgane und der Harnwege, besonders über Endoskopie
der Hamwege (zumei.st nach Vorträgen in ärztlichen Gesellschaften), die er
in Deutschland unter Modifikation des Instrumentariums von Desormeaux
einführte zugleich mit der lokalen Therapie der Harnröhre und Blase. Eine
Zeitlang hielt F. auch Ärztekurse über sein Spezialfach ab.
Vergl. Virchows Jahresbericht von 1904, I, 466. Pagel.
Garcke, August, Professor der Botanik und Pharmakognost in Berlin,
♦ 18 19 zu Braunrode Kr. Mansfeld, f 10. Januar 1904. — G. war anfangs Theo-
loge in Halle und hatte bereits seine theologische Staatsprüfung daselbst absol-
viert, als er zum Studium der Botanik überging, dem er sich seit 1851 unter
Alex. Braun in Berlin widmete. Hier wurde er 1856 Gehilfe am Herbarium,
1865 Kustos am Botanischen Garten. 1869 als Privatdozent habilitiert,
gelangte er 187 1 zu einer außerordentlichen Professur. G. war einer der
besten Kenner der Flora Deutschlands, lange Jahre Examinator in der
pharmazeutischen Staatsprüfung und wird von allen, die ihm näher getreten
sind, als einer der bravsten, liebenswürdigsten und gemütvollsten Männer
und als vorzüglicher Lehrer geschildert. Er ist Verfasser verschiedener Ver-
öffentlichungen, bezüglich deren auf die unten genannte Quelle verwiesen
werden muß.
Vergl. Virchows Jahresbericht von 1904, I. Pagel.
Stellwag von Canon. ^qc
Stellwag von Carioiiy Carl, Professor der Augenheilkunde an der Uni-
versität Wien, ♦ zu Langendorf am 28. Januar 1823, f 21. November 1904
in Wien. — St. entstammte einem alten fränkischen Geschlechte, dessen An-
fänge sich bis in den Beginn des 15. Jahrhunderts verfolgen ließen. Er
besuchte als Knabe die Piaristen-Hauptschule zu Freudental, absolvierte 1839
das Gymnasium zu Olmütz, dann die philosophischen Studien zu Olmütz
und Prag und bezog 1841 die Carolo-Ferdinandea der letzteren Stadt, um
im Oktober 1843 auf die Wiener Universität überzutreten. 1847 wurde er
zum Dactor fnedicinae, 1848 zum Doctor cfururgiae promoviert. 1847 trat er als
Extemist in das Wiener allgemeine Krankenhaus ein, anfänglich an der
internen Abteilung des Primararztes Dr. Bittner, und wurde im Sommer desselben
Jahres auf die Augenabteilujig des Professors Rosas übersetzt. Am i. Oktober
1848 wurde er zum i. Sekundararzt der letztgenannten Abteilung ernannt und
leitete dieselbe während der Belagerung Wiens selbständig, da ihr Vorstand
aus der Stadt geflohen war. 185 1, nach vollendeter gesetzlicher Dienst-
zeit, wandte er sich der Praxis in Brunn zu, kehrte jedoch schon im März
des folgenden Jahres nach Wien zurück, um sich ganz den wissenschaftlichen
Forschungen widmen zu können. 1854 wurde er auf Grund seines dreibändigen
Werkes: »Die Ophthalmologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkte«
Dozent der Augenheilkunde an der Wiener Universität und 1855 *^ ^^^
wieder errichteten medizinisch-chirurgischen Josephs-Akademie. 1855 hatte
das Professorenkollegium der Wiener medizinischen Fakultät ihn für die
erledigte Lehrkanzel der Augenheilkunde an der Wiener Universität vorge-
schlagen. Die Stelle wurde aber durch Arlt besetzt und St. »in Anbetracht
seiner verdienstlichen Leistungen als Lehrer und Schriftsteller« 1857 zum
außerordentlichen Professor ernannt. 1858 wurde St. ordentlicher Professor
an der medizinisch -chirurgischen Josephs -Akademie und nach deren Auf-
lösung 1873 ^^^ ordentlicher Professor der Augenheilkunde an die
Wiener Universität übersetzt. 1883 erhielt er dep Titel und Charakter eines
Hofrates. Als er im Januar 1893 das 70. Lebensjahr und somit die gesetzlich
bestimmte Grenze seiner ämtlichen Lehrtätigkeit erreicht hatte, bot sich seinen
Kollegen und Schülern die willkommene Gelegenheit, zu seiner Ehrung eine
Feier zu veranstalten, welche den Jubilar aufs tiefste bewegte und mit
freudiger Genugtuung erfüllte. Nachdem er dann noch ein Ehrenjahr in
seinem Lehramte gewirkt hatte, wurde er nach mehr als 40 jähriger Dienst-
zeit 1894 in den dauernden Ruhestand versetzt und »in neuerlicher An-
erkennung der verdienstvollen vieljährigen Wirksamkeit auf dem Gebiete des
Lehramtes und der Wissenschaft« mit dem Ritterkreuz des Leopold-Ordens
ausgezeichnet.
1895 legte er die Berechtigung zur Ausübung der Praxis zurück, ver-
schenkte seine ganze medizinische Büchersammlung an die Innsbrucker
Universitäts-Bibliothek und sagte- der Heilkunst Lebewohl, um den Rest seiner
Tage ganz den von Jugend auf mit Vorliebe betriebenen Naturwissenschaften
und der Geschichte zu widmen; noch als Achtzigjähriger durfte er sich rühmen,
täglich 8 Stunden ohne Ermüdung lesen zu können. Dreimal noch bot sich
seinen Freunden der Anlaß, den mitten im Getriebe der Großstadt als Ein-
siedler lebenden Gelehrten aus seiner Ruhe aufzustören: gelegentlich seines
50jährigen Doktorjubiläums, anläßlich seiner 50 jährigen Mitgliedschaft der
Btogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog:. 9. Bd. 20
^06 Stell wag von Canon.
k. k. Gesellschalt der Ärzte und aus Anlaß seines 80. Geburtstages. Sein
Tod kam allen unvermutet, überraschend.
St.s Entwicklungsgang war nicht leicht und glatt gewesen. Er hatte viel
mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen gehabt, welche zuerst materieller Natur waren,
später in der Zeitgenossen Mißgunst begründet waren. So durfte er als Assi-
stent bei Rosas, welchem im Jahre 1847 die Augenheilkunde als eine abge-
schlossene Wissenschaft galt und der jede Neuerung als ein vergebliches,
frevelhaftes Unternehmen mit Mißtrauen verfolgte, seine mikroskopischen
Studien nur hinter versperrten Türen zu betreiben wagen und, als er dennoch
dabei ertappt wurde, hätte es ihm beinahe seine Stelle gekostet. Nur der
Fürsprache Wedls gelang es, die drohende Gefahr abzuwenden. Die Fracht
dieser Studien aber war die dreibändige »Ophthalmologie vom naturwissen-
schaftlichen Standpunkte«, ein epochales Werk, welches die Resultate rast-
loser, angestrengter, zehnjähriger Forschung niedergelegt enthält und auch
heute noch, nach einem halben Jahrhundert, ein unentbehrliches Nachschlage-
buch für den Forscher geblieben ist. Er selbst urteilte in späteren Jahren,
sehr mit Unrecht, recht kühl über dieses »Erstlingswerk«; er bezeichnete die
Anlage für zu breit und wollte den Hauptwert nur in der Anführung zahl-
reicher Krankenbeobachtungen und der sorgfältigen Zusammenstellung der
älteren, Goldkömer führenden Literatur sehen.
Seine Beschäftigung mit dem Mikroskop (dessen Anschaffung ihm nur
gegen Ratenzahlungen möglich gewesen war) hatte ihn mit dem damals berühm-
testen Optiker Plössl zusammengeführt und im Verkehr mit demselben war
seine Aufmerksamkeit auf die damals von den Augenärzten ganz vernach-
lässigten, so wichtigen Sehfehler gelenkt worden und führte ihn zu der Auf-
deckung der Hypermetropie. Diese weittragende Entdeckung, welche es erst
ermöglichte, die Refraktionsanomalien des Auges vollständig zu überblicken
und zu verstehen, veranlaßte zahlreiche, darunter namhafte Forscher (ich
nenne nur Donders) in seinpn Fußstapfen weiter zu schreiten und jene ern-
teten denn auch den Ruhm, während man den Pfadfinder kaum nannte.
Diese Übergehung ließ einen Stachel in St.s Brust zurück, der zu schmerzen
nicht aufhörte und den Greis noch zu bitteren Bemerkungen veranlaßte.
Bald nach seiner Berufung an die Josephs -Akademie verfaßte er sein
treffliches Lehrbuch, welches fünf Auflagen erlebte und in mehrere fremde
Sprachen übersetzt wurde. Zahlreich sind seine anderen Schriften, welche
sich auf allen Gebieten der ophthalmologischen Wissenschaft bewegten.
Von besonderer Wichtigkeit sind seine Arbeiten über den intraokulacen
Druck, welche zur Aufstellung einer eigenen geistreichen, physikalisch fun-
dierten Glaukomtheorie führten, seine Arbeiten über Lidrandplastiken, über
Schleimhautpfropfung, über leuchtende Augen, über Theorie der Augenspiegel,
über die Behandlung der Blermorrkoea conjunctivae, über unblutige Behandlung
des von Übersichtigkeit abhängenden konvergierenden Schielens, über Inner-
vationsstörungen bei Morbus Basedowiu
St. war ein ausgezeichneter Lehrer. Er hatte einen ungemein lebendigen
Vortrag und wußte ihn durch Einstreuung von launigen, häufig satirischen
Bemerkungen sowie von anekdotenhaften Episoden aus seinem und seiner
Zeitgenossen Leben zu würzen. Ihm war die Augenheilkunde keine in sich
streng abgeschlossene Spezialwissenschaft, sondern er wußte sehr wohl den
Stell wag von Canon. 207
Zusammenhang derselben mit den anderen medizinischen Disziplinen her-
zustellen und zu betonen, daß es nicht gelte, kranke Augen, sondern augen-
kranke Menschen zu behandeln. Er hatte auch nicht den Ehrgeiz, in
seinen Vorlesungen Spezialisten erziehen zu wollen, sondern praktische
Ärzte, welche von der Augenheilkunde soviel verstehen sollten, als sie in
der Praxis (und er dachte dabei immer an die Praxis auf dem Lande) zu
wissen nötig hatten. Er legte deshalb auch keinen Wert darauf, in der Vor-
lesung ophthalmologische Curiosa, welche das Entzücken des Fachmannes
sind, vorzustellen, sondern machte die Studierenden mit den häufigen und
wichtigen äußeren Augenkrankheiten und deren Behandlung um so eingehender
bekannt. Leider bediente er sich einer eigenen und daher ungebräuchlichen
Nomenklatur zum großen Leidwesen jener Studierenden, welche bei ihm
Prüfung machen mußten und an die Arltsche Ausdrucksweise gewöhnt waren,
aber auch zum eigenen Schaden, da sie der Allgemeinverständlichkeit seiner
Abhandlungen abträglich war.
Das Lebensbild St.s wäre nicht vollständig, wollten wir nicht auch seine
persönlichen Eigenschaften berühren. Er war ein ausnehmend gescheiter,
durchaus kritisch veranlagter Mann von unermüdlichem Fleiße und von tiefem
Wissen. Ihm war der Augapfel nicht der Mikrokosmus, auf welchen er sich
beschränkte, er interessierte sich für alles, am wenigsten für Politik, am
meisten für Naturwissenschaften und zwar in erster Linie für Botanik, seine
Jugendliebe, der er bis ins höchste Alter treu blieb. Auch die Musik pflegte
er mit großer Liebe und spielte an Kammermusikabenden, welche ihn Jahre
hindurch mit gleichgesinnten Freunden vereinigten, die erste Geige,
Er war ein spröder, starrer Charakter von außerordentlicher Willens-
stärke und Tatkraft. Unterwürfigkeit war ihm fremd, aber auch die konven-
tionelle gesellschaftliche Schmiegsamkeit war ihm versagt, seine Umgangs-
formen waren eher rauh als konziliant. Da et sich nicht scheute, seiner
Meinung über andere offen und laut und nicht selten in sehr scharfer Weise
Ausdruck zu geben, hatte er sich die Gunst manch einflußreicher Persönlichkeit
verscherzt, was für die Anerkennung und Würdigung seiner wissenschaftlichen
Leistungen nicht ganz bedeutungslos war; was er entdeckte und gelehrt hatte,
wurde zwar aufgenommen, seinen Namen aber nannte man nicht gerne.
Wer jedoch St. nur nach seinen herben Umgangsformen beurteilen
wollte, täte ihm sehr Unrecht. Man brauchte ihn nur im Ambulatorium
seiner Klinik, in welchem er täglich. Sonn- und Feiertage nicht ausgenommen,
stundenlang mitten zwischen den Hilfesuchenden zu weilen pflegte, zu beobachten.
Wer da sah, welche Teilnahme er den Kranken, welche Liebe den Kindern,
für die er stets in seiner Tasche Süßigkeiten bereit hatte, entgegenbrachte,
dem konnte es nicht verborgen bleiben, wie viel Wohlwollen und Güte in
seinem Herzen wohnte.
Jetzt, wo sein Name bereits der Geschichte angehört, in deren Buch er
mit goldenen Lettern eingetragen zu werden verdient, wird, abgelöst von
allen persönlichen Beeinflussungen, zweifellos eine vorurteilslose und gerechte
Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen eintreten, und da wird ihm
in der Ophthalmologie gewiß der Platz widerspruchslos angewiesen werden,
der ihm seit jeher gebührte: ein Ehrenplatz; denn er war einer der Größten
seiner Zeit.
20*
208 Stellwag von Carion. Mttller(-Palm).
Stellwags wissenschaftliche Abhandlungen: i. Die Körperverletzungen als Gegen-
stand der gerichtsärztlichen Begutachtung. Dissertation. Wien 1847. — 2. Die Ophthal-
mologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkte. Freiburg 1853 bis 1858. — 3. Lehrbuch
der praktischen Augenheilkunde. Wien 1862, 3. Aufl. 1867 (englische Übers. 1868, ital.
1864, Ungar. 1868), 4. Aufl. 1870, unveränderter Abdruck 1885. — 4. Der intraokulare
Druck und die Innervationsverhältnisse der Iris. Wien x868. — 5. Abhandlungen aus dem
Gebiete der praktischen Augenheilkunde. Wien 1882. — 6. Neue Abhandlungen aus dem
Gebiete der praktischen Augenheilkunde. Wien 1886. — 7. Beiträge zur Lehre von dem
Akkommodationsvermögen des menschlichen Auges. Zeitschr. der k. k. Gesellschaft der
Ärzte. Wien 1850. — 8. Zur Lehre von den Glashäuten im allgemeinen. Ibidem 1852. —
9. Die Ektasie des Schlemmschen Kanals. Ibidem 1852. — 10. Statistische Beitrage zur
Lehre vom grauen Staare und seiner Heilung durch Operation. Ibidem 1852. — 11. Über
doppelte Brechung und davon abhängige Polarisation des Lichtes im menschlichen Auge.
Denkschriften der Wiener Akademie der Wissensch., 1853. — 12. Beiträge zur Lehre von
dem angeborenen Mangel der Regenbogenhaut. Zeitschr. d. k. k. Ges. der Ärzte. Wien
1854. — 13. Beiträge zur Lehre von den Hemmungsbildungen des menschlichen Auges.
Ibidem 1854. — 14. Theorie der Augenspiegel. Ibidem 1854. — 15. Beitrag zur Pathologie
der Gehilfsnerven des menschlichen Auges. Ibidem 1854. — 16. Die Chorioiditis vom
wissenschaftlichen Standpunkte aus betrachtet. Wiener mediz. Wochenschrift 1854. —
17. Die Behandlung des Bindehautschleimflusses. Ibidem 1855. — 18. Über Amaurosis in
ihrer Beziehung zu den Leistungen des Augenspiegels. Ibidem 1855. — 19. Akkommodations-
fehler des Auges. Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften 1855. —
20. Zur Lehre von dem Albinosauge und von dem Leuchten des Auges. Zeitschr. d. k. k.
Ges. d. Ärzte. Wien 1855. — 21. Über die Behandlung der Homhautgeschwüre. Ibidem
1856. — 22. Entgegnung an Professor Rothmund, die künstliche Pupillenbildung betreffend.
Ibidem 1856. — 23. Über das Verfahren mit Kurzsichtigen am Assentplatze. Wiener med.
Wochenschr. 1860. — 24. Zur Literatur der Refraktions- und Akkommodationsanomalien.
Ztschr. d. k. k. Ges. d. Ärzte. Wien 1861. — 25. Theoretische und praktische Bemerkungen
zur Lehre von den Tiänenableitungsorganen. Ibidem 1861. — 26. Über leuchtende Augen.
Wiener med. Wochenschr. 1864. — 27. Der Mechanismus der Tränenleitung. Ibidem 1864,
1865. — 28. Das gelbe amorphe* Quecksilberoxyd. Ibidem 1865. — 29. Zur Lehre von
den hämodynamischen Verhältnissen des Auges und vom intraokulären Drucke. Ibidem 1866.
— 30. Die unblutige Behandlung des von Übersichtigkeit abhängenden konvergierenden
Schielens. Ibidem 1867. — 31. Über gewisse Innervationsstönmgen bei der Basedowschen
Krankheit. Zeitschr. d. k. k. Ges. d. Ärzte. Wien 1869. — 32. Zur Behandlimg der
Ophthalmoblennorrhoe. Allgem. Wiener med. Zeitschr. 1882. — 33. Ein neues Verfahren
gegen einwärtsgekehrte Wimpern. Ibidem 1883. — 34. Rückblicke auf die augenärztlichen
Pfropfungsversuche und ein neuer Fall von Schleimhautübertragung. Ibidem 1889. —
35. Über eine eigentümliche Form von Hornhautentzündung. Wiener klin. Wochenschr. 1889.
— 36. Über eine eigentümliche Form von Hornhautentzündung. II. Artikel. Ibidem 1900.
— 37. Zur Steilschriftfrage. Allgem. Wiener med. Zeitung 1893. — 40. Stammtafel der
Familie Stellwag von Carion. Wurzbachs biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich.
38. Bd. 1879. II. Aufl. Im Selbstverlage 1903.
Nach dem S.-A. aus der Wiener klinischen Wochenschrift 1904. Nr. 48. — Vgl.
Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde. Stuttgart, Enke. XLIII. Jahrgang, 1905.
H. Wintersteiner, Stell wag von Carion, mit Bildnis. H. Wintersteiner.
Müller ( — Palm), Adolf, Redakteur und Schriftsteller, ♦10. März 1840 in
Stuttgart, t daselbst 21. Mai 1904. — Sein Vater, der bekannte Verlagsbuch-
händler und Buchdruckereibesitzer Friedrich Müller, hatte im Anfange der
vierziger Jahre das noch heute erscheinende, weit verbreitete Stuttgarter
»Neue Tageblatt« gegründet und seinen Sohn zum dereinstigen Nachfolger
Mflller(-Palm). Mannstaedt. 3OO
in seinem Geschäft und zur Führung der Redaktion jenes Blattes bestimmt
und ließ ihm demgemäß eine tüchtige humanistische Gymnasialbildung zuteil
werden; ja er verordnete sogar in seinem Testament, daß bei seinem etwa
früher eintretenden Tode der Sohn eine kaufmännische Ausbildung empfangen
und dann durch größere Reisen sich zur Leitung des väterlichen Geschäfts
tüchtig machen sollte. Diese Bestimmung kam auch zur Ausführung, und
Adolf M. trat 1860 in Amsterdam in ein großes Reedereigeschäft ein und
war darin als Korrespondent für das Ausland mehrere Jahre tätig. Zwischen-
durch fand er auch Grelegenheit, Norddeutschland, Dänemark, England, Frank-
reich und Italien zu bereisen. Trotz alledem blieb sein Wunsch nur darauf
gerichtet, sich den Wissenschaften widmen zu können, und nach seiner Voll-
jährigkeit kehrte er deshalb auch nach Stuttgart zurück, hörte hier am Poly-
technikum die Vorlesungen Friedrich Vischers und Wilhelm Lübkes und
begann bald unter dem Namen Adolf Palm sich als belletristischer Schrift-
steller zu betätigen. Die Folge war, daß ihm der Buchhändler Schönlein in
Stuttgart 187 1 die Chefredaktion seiner vier belletristischen Verlagswerke
übertrug. Aus dieser Stellung schied M. 1875, weil eine bedeutende Ver-
größerung des »Neuen Tageblatts«, bei welchem er Teilhaber geblieben war,
durchgeführt und M. die Redaktion des erheblich erweiterten Feuilletons
übernehmen mußte. Inzwischen waren seine Romane »Im Labyrinth der
Seele« (1872) und »Gold und Eisen« (1875) erschienen, denen dann erst sechs
Jahre später die heiteren »Briefe aus der Bretterwelt« (188 1) folgten, welche
uns manchen tiefen Blick in die Geschichte des Stuttgarter Hoftheaters er-
möglichen. Als 1891 das »Neue Tageblatt« in den Besitz der Deutschen
Verlagsanstalt in Stuttgart überging, trat M. in den Verwaltungsrat dieser
Anstalt ein und gehörte ihm bis 1897 an. Die Redaktion des genannten
Blattes führte er bis 1903, wo er in den Ruhestand trat. Sein König hatte
ihn 1901 zum Hof rat ernannt. Von M.s Arbeiten erschienen noch »Im Linden-
hof. Das Lob der Armut. Die Muttergottes von Altötting« (3 Erzählungen), 1900.
Persönliche Mitteilungen. — Jubiläums - Katalog der Deutschen Verlagsanstalt in
Stuttgart und Leipzig, 1898. Franz Brummer.
Mannstaedt, Wilhelm, Bühnendichter, * 20. Mai 1837 in Bielefeld,
t 13. September 1904 in Steglitz bei Berlin. — Er war der Sohn eines Eisen-
bahnbaumeisters, späteren königlichen Fabrikinspektors, besuchte die unteren
Klassen des Gymnasiums seiner Vaterstadt, später die Gewerbeschule in
Hagen, die er bereits 185 1 absolvierte, und ging dann nach England, um sich
in dem Geschäfte eines Verwandten der kaufmännischen Laufbdin zu widmen.
Nach seiner Heimkehr (1855) nahm er eine Stellung als Buchhalter in einem
Fabrikgeschäfte in Hagen an, leitete auch nach dem Fallissement seines
Prinzipals die Fabrik für eigene Rechnung. Geschäftliche Kalamitäten ver-
anlafiten ihn aber, 1856 einen ihm wünschenswerteren Lebensberuf zu suchen.
Schon in frühester Jugend zeichnete sich M. durch seine Befähigung für
Musik aus, so daß er bereits im sechsten Jahre im Dilettanten theater seiner
Vaterstadt mitwirken und im zehnten als Klavierspieler auftreten konnte. Er
beschloß also, sich gänzlich der Musik zu widmen; allein das ernste Studium
behagte ihm auf die Dauer nicht, und schnell entschlossen wandte er sich
der Bühne zu. Als jugendlicher Liebhaber trat er, völlig Autodidakt, in
^lO Mannstaedt. von Koppen.
Wörlitz, Rostock, Hildesheim, Liegnitz, Glogau, Bromberg, Thorn, Insterburg
auf, bis er 1865 nach Berlin kam und sich hier nach wenigen Monaten aus
einer untergeordneten Stellung am Woltersdorff-Theater auf einen sichern und
gefestigten Platz stellen konnte. Die Mobilmachung im Jahre 1866 regte ihn
nämlich zu der einaktigen Posse »Alles mobil!« an, die einen durchschlagenden
Erfolg hatte und 150 mal aufgeführt ward. In demselben Sommer schrieb M.
noch fünf weitere Stücke für das genannte Theater, an dem er nun als Kapell-
meister und Darsteller komischer Rollen tätig war, ging im Herbst d. J. als
Kapellmeister und Dramaturg an das Krollsche Theater, kehrte 1867 in
gleicher Eigenschaft zum Woltersdorff-Theater zurück und folgte 1870 einem
Rufe als Kapellmeister an das Viktoriatheater. Nach seiner Verheiratung
trat er in das Zeitungsverlagsgeschäft seines Schwiegervaters, des Geheimrats
Günther, als Redakteur verschiedener gewerblicher Blätter ein, gründete 187 1
eine eigene Monatsschrift »Der Kunstfreund«, die er aber nach einem Jahre
wieder aufgab, und zog sich 1872 gänzlich von der Bühne zurück, um sich
hinfort ausschließlich der Bühnenschriftstellerei zu widmen. Doch führte er
1879 — 85 noch die Redaktion der »Deutschen Bühnengenossenschaft«. M. hat
im Laufe der Jahre etwa 60 Possen und Volksstücke geschrieben, von denen
einige sich lange Zeit auf dem Repertoire erhielten und durch Übersetzungen und
Bearbeitungen auch im Auslande bekannt wurden; z. B. »Die Berliner Feuer-
wehr« (1866), »Das Milchmädchen von Schöneberg« (1868), »An den Ufern
der Spree« (1873), »Krieg und Frieden« (1870), »Eine resolute Frau« (1876),
»So sind sie alle« (1877), »Der junge Leutnant« (1880), »Unser Otto« (1881),
»Der Stabstrompeter« (1886), »Die wilde Katze« (1888) u. v. a.
Persönliche Mitteilungen. — Adolf Hinrichsen: Das literarische Deutschland, 1891,
S. 854. — O. G. Flüggen: Biographisches Bühnenlezikon der deutschen Theater, 1892,
S. 208. Franz Brummer.
Koppen, Feder von, Schriftsteller, ♦ 8. März 1830 in Kolberg (Pommern),
f 2. Juli 1904 in Lausigk (Königr. Sachsen). — Er erhielt seinen ersten Unter-
richt durch Hauslehrer, besuchte dann das Gymnasium in Brieg und trat 1848
in die preußische Armee ein. Als junger Offizier hatte er sich wegen seiner
patriotischen Dichtungen vielfacher Gunstbezeugungen des Königs Friedrich
Wilhelm IV. zu erfreuen, der ihm, dem Unbemittelten, auch eine Zulage aus
seiner Privatschatulle spendete. Im Jahre 1864 nahm er an dem Feldzuge in
Schleswig und 1866 an dem in Böhmen teil, war darauf als Major erster
Militärlehrer am Kadettenhause in Berlin und nahm 1869 seinen Abschied
aus dem Heere. 1870 für die Dauer des deutsch-französischen Krieges
reaktiviert, schied er nach Beendigung desselben als Oberstleutnant dauernd
aus dem Heere. Er war hinfort als Schriftsteller tätig, erst in Leipzig, seit
1883 in Berlin, seit 1891 auf einem Landsitze zu Neuhaus a. d. Elbe (Han-
nover), bis er 1895 seinen Wohnsitz wieder nach Leipzig verlegte. Die letzten
Lebensjahre brachte er in Lausigk zu. — Nachhaltige Anregung zu poetischer
Betätigung empfing K. in Berlin in dem literarischen Sonn tags verein »Tunnel«,
wo er mit Chr. Friedr. Scherenberg, Fontane, Lepel, Blomberg u. a. in freund-
schaftliche Beziehungen kam. Wie der Erstgenannte, dem er am meisten
nachstrebte, besang er vorwiegend die deutschen Waffen und ihre Träger.
Die schleswig-holsteinische Erhebung (1848—51) begeisterte ihn zu seiner
von Koppen. Legerlotz. ß I X
ersten Dichtung »Die Schlacht bei Schleswig Ostern 1848« (185 1); ihr folgten
»Preußens Erhebung« (1855), worin er die Zeit von der Schlacht bei Jena
bis zum Aufrufe des Königs 1813 besang, dann die Fortsetzung »Wrangel«
(1858), eine poetische Geschichte von den Freiheitskriegen an bis zur Nieder-
werfung der Berliner Revolution, ferner »Groß-Görschen« (1856), »Kolberg
1807« (1857), »Ein Strauß für Schleswig-Holstein« (1865), »Männer und Taten.
Vaterländische Balladen« (1881), wohl seine beste Leistung, und endlich
»Wilhelm der Große. Ein vaterländisches Heldengedicht« (1896). Ein glü-
hender Patriotismus klingt aus diesen Dichtungen heraus; er würde indessen
mehr ansprechen, wenn er nicht von Parteileidenschaft entstellt wäre. An
novellistischen Arbeiten besitzen wir von K. »Preußische Hof geschieh ten«
(1890) und »Das Opfer für das Vaterland« (Vaterländischer Roman, 1896).
Dagegen hat er eine ganze Reihe von Schriften für die Jugend zu dem Zweck
veröffentlicht, diese mit patriotischem Sinn zu erfüllen und für deutsches
Volkstum zu erwärmen; z. B. die Lebensbilder von »Otto von Bismarck«
(1874) und »Helmuth von Moltke« (1888), femer »Deutsche Kaiserbilder«
(2. Aufl. 1893), »Kämpfe und Helden« (4. Aufl. 1891), »In des Königs Rock«
(1890), »Männer und Taten« (1885), »Das Deutsche Reich von der Maas bis
zur Memel« (1894) und das bedeutendste »Die Hohenzollern und das Reich«
(IV. 1887 — 90). Endlich bieten seine »Feld- und Federzüge« (1881) eine
Biographie des Verfassers in unterhaltender, größtenteils novellistischer Form.
Persönliche Mitteilungen. — H. Kurz: Literaturgeschichte, IV. Bd., S. 379. — Das
literarische Leipzig, 1898, S. 100. Franz Brummer.
Legerlotz, Friedrich Wilhelm Gustav, Schulmann und Dichter, * 28. Mai
1832 in Genthin bei Magdeburg, f 5- April 1904 in Salzwedel. — L. ent-
stammte einer ursprünglich ungarischen Familie; Urgroßvater und Großvater
vertauschten den ungarischen Militärdienst mit dem preußischen. Nach dem
frühen Tode seines Vaters, eines wegen seiner echten Bürgertugenden allgemein
geschätzten Bauhandwerkers, leitete die Mutter, eine hochgesinnte, ernste Frau,
die Erziehung des Knaben. Nach achtjährigem Besuch der Stadtschule seiner
Heimat brachte ihn sein Stiefvater, der ihm die kaufmännische Laufbahn er-
öffnen wollte, 1846 nach Magdeburg auf die damalige »Handelsschule«, eine
lateinlose Realschule. Doch die eingehende Bekanntschaft mit der vater-
ländischen und englischen Literatur, namentlich mit Goethe und Uhland, mit
Bums und Byron, sowie die gelegentlichen Mitteilungen seines Direktors
Ledebur aus griechischen und römischen Dichtern zeitigten in ihm den Plan,
sich noch dem philologischen Studium zu widmen. Nach Absolvierung der
Handelsschule (Ostern 1850) eignete er sich durch Privatunterricht das Latei-
nische, Griechische und Hebräische in anderthalb Jahren so weit an, daß er
in die Prima des Magdeburger Domgymnasiums aufgenommen werden konnte,
dessen Direktor Friedrich Wiggert für die germanistische und linguistische
Richtung seines Zöglings maßgebend ward. 1853 bezog er die Universität
Halle, die er ein Jahr später mit Berlin vertauschte. Namentlich unter
Bernhardi und Pott, Haupt, Albrecht Weber, Lepsius und Brugsch gab er
sich der Philologie und vergleichenden Sprachforschung hin und kehrte dann
ins Elternhaus zurück, wo er sich teils mit linguistischen Arbeiten, teils mit
der Vorbereitung für Promotion (Halle 1858) und Habilitation beschäftigte.
^12 Legerlotz. von Braun.
Letztere kam nicht zur Ausführung, da die Bekanntschaft mit seiner späteren
Gattin ihn bestimmte, sich dem Gymnasiallehrfach zuzuwenden. Von 1858
bis 1860 war er als Probekandidat und wissenschaftlicher Hilfslehrer ab-
wechselnd an den beiden Magdeburger Gymnasien tätig, worauf er einen
Ruf an das städtische Gymnasium zu Soest in Westfalen annahm, das seine
zweite Heimat ward. Hier war er bis Ostern 1876, zuletzt als Prorektor, tätig,
worauf ihm vom preußischen Minister Falk das Direktorat des Gymnasiums
in Salzwedel (Altmark) übertragen wurde, das er bis zu seinem Tode ver-
waltete. — Die poetische Tätigkeit L.s reicht bis in seine Gymnasialzeit
zurück, und doch konnte er sich erst im reifen Mannesalter trotz des
Drängens befreundeter Gelehrter und Dichter, ifnter denen vor allen Ferd.
Freiligrath genannt werden mag, entschließen, seine Sammlung »Aus guten
Stunden. Dichtungen und Nachdichtungen« (1886) h*erauszu geben. Während
seine eigenen Poesien keinen Zweifel an seiner poetischen Kraft aufkommen
lassen, erweist er sich auf dem Gebiet der Nachdichtung fremder Poesien geradezu
als Meister. Besonders sind es die Dichtungen des Schotten Bums, denen er sein
ganzes Interesse zuwandte, und an deren Verdeutschung er mehr als 40 Jahre
arbeitete, ehe er sie u. d. T. »Robert Burns Gedichte in Auswahl« (1889, 2. A.
1893) herausgab. L. hat in seiner Nachdichtung die rein englischen Dichtungen
in reinem Schriftdeutsch wiedergegeben, die schottischen Dialektdichtungen
aber durch Anwendung unseres alemannischen Dialekts unserem Empfinden
näher gebracht.« Zu erwähnen sind noch seine Übertragungen und Nach-
bildungen mittelalterlicher und deutscher Dichtungen, wie »Nibelungenlied.
Neu übertragen« (Auswahl 1889, 12. Aufl. 1902; große Ausg. 1892), »Gundrun«
(Auswahl i8qi, 8. Aufl. 1904; große Ausg. 1893), »Walther von der Vogelweide
und andere Lyriker des Mittelalters. Auswahl« (1892, 3. Aufl. 1902), »Parzival
von Wolfram von Eschenbach« (1903), »Die Epik der deutschen Sagenkreise«
(Der arme Heinrich von Hartmann von Aue und König Rother, 1904). Viele
dieser Nachbildungen haben sich bereits einen Platz in den neueren Schul-
lesebüchem gesichert.
Persönliche Mitteilungen. — Karl Leimbach: Die deutschen Dichter der Neuzeit und
Gegenwart, V. Bd., S. 308. Franz Brummer.
Braun, Friedrich von, Stadtdekan und Oberkonsistorialrat in Stuttgart,
Dr. theoL, ♦ 18. November 1850 in Kirchheim u. Teck, f 3^- Mai 1904 in
Jerusalem. — Nach Vollendung seines theologischen Studiums in Tübingen
wurde B. zunächst 1876 am theologischen Seminar seiner Heimatuniversität
mit dem Posten eines Repetenten betraut; dem folgte 1879 ^^^ Berufung
als Diakonus nach Eßlingen und bereits im gleichen Jahre die Beförderung
zum »Hofkaplan« und Hilfsarbeiter im Konsistorium nach Stuttgart. 1887
rückte er mit 37 Jahren in die Stellung eines Hofpredigers ein, die er jedoch
10 Jahre später mit der des Stadtdekans und I. Pfarrers an der Hospital-
kirche vertauschte, nachdem er im Jahr zuvor, 1896, als ordentliches Mitglied
ins Konsistorium eingetreten war. Sein vieltätiges Interesse galt vor allem
den Arbeiten und Aufgaben der inneren Mission, sowie den großen evan-
gelischen Vereinen Württembergs. So führte er seit 1890 den Vorsitz im
Württemberger Landesverein der Gustav-Adolf-Stiftung und seit 1894 in der
umfassenden Organisation des süddeutschen Jünglingsbundes. Auch die Vereine
von Braun. Weigert. ßlj
zur Bekämpfung der Trunksucht, zur Fürsorge für entlassene Strafgefangene
sowie der ständige Ausschuß der Landessynode zählte ihn zu seinen tätigsten
Mitarbeitern. Ebenso ist B. vielfach literarisch hervorgetreten, so im Luther-
jahre 1883: Luther im deutschen Liede; 1885: Glaubenskämpfe und Friedens-
werke; 1886: Wer ist frei? 1888: Wichern und Werner; und hat weiterhin
öfter zu kirchlichen Tagesfragen das Wort genommen. An der Fahrt unseres
Kaiserpaares zur Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem hat B. als einer
der Vertreter Württembergs teilgenommen. 6 Jahre darauf sollte eine neue
Reise ins heilige Land, zur Einweihung der neuen evangelischen Kirche in
Jaffa, zu deren Bau er große Beiträge in der Heimat und in weiteren
Kreisen zusammengebracht, ihm das Ende seiner irdischen Pilgerfahrt bringen.
Am 9. Mai hatte er in Begleitung seiner Gattin einen sechswöchentlichen
Urlaub angetreten, um am Pfingstfeste die Weihe des Gotteshauses in Jaffa
zu vollziehen. Da sie um kurze Zeit verschoben werden mußte, reiste er
nach Jerusalem weiter und hier hat ihn am 31. Mai ein rasch verlaufender
Ruhranfall jäh hinweggerafft, noch bevor er den Zweck seiner Fahrt erfüllt
hatte. Sein Leichnam ist noch am selben Tage auf dem Zionsberge bestattet
worden; an dem Sockel seines Grabdenkmals ist im Namen seines Gustav-
Adolf-Vereins eine vom Stuttgarter Hoferzgießer Pelargus gegossene Erztafel,
modelliert von Bildhauer Fremd, eingefügt worden mit der Inschrift: »Seines
unvergeßlichen, mitten aus der Fürsorge für die Glaubensgenossen im heiligen
Lande heimgerufenen treuen Führers gedenkt in der schwäbischen Heimat sein
dankbarer Gustav -Adolf -Verein. Galat. 6, V. 9 u. 10.« Ebenso wurde ihm
in seiner Stuttgarter Hospitalkirche eine Gedächtnistafel gestiftet. Doch
lebendiger wird sein Gedächtnis im Segen seines reichen Lebenswerkes und
seines tragischen Ausgangs nachwirken. Kohlschmidt.
Weigert, Karl, berühmter Pathologe, ♦19. März 1845 zu Münsterberg in
Schlesien, f 5. August 1904 zu Frankfurt a. M. — W. studierte in Breslau,
Berlin und Wien und war Assistent bei Waldeyer 1868 — 70 in Breslau, bei
Lebert daselbst 187 1 — 74, bei Cohnheim zuerst in Breslau, dann in Leipzig,
zusammen nahezu zehn Jahre, bis er nach des letzteren Tode 1884 die
Stellung als Lehrer der pathologischen Anatomie am Senckenbergischen
Institut in Frankfurt a. M. einnahm. Vorher war er in Leipzig 1879 zum
Professor e. o. ernannt worden. Unter seinen pathologisch -anatomischen
Arbeiten, die sich auf die Pathologie der Blut- und Lymphgefäße, die Bak-
terien und Tuberkulosefrage und viele andere Themata erstreckten, ist in
monographischer Form erschienen: »Zur Anatomie der Pocken« (I. u. IL Teil
1874, 1875), »Beiträge zur Kenntnis der normalen menschlichen Neuroglia«
(Frankfurt a. M. 1895). Femer ist W. bahnbrechend auf dem Gebiete der
Bakterienfärbung gewesen. Von seinen bezüglichen Veröffentlichungen seien
genannt: »Erste Färbung von Bakterienhaufen« (187 1) — »Färbung der
Bakterien mit Anilinfarben« — »Markscheidenfärbung des Zentralnerven-
systems etc.« (1882 — 85) — »Fibrinfärbung« (1886) — »Elastische Fasern«
(1889) — »Neuroglia« (1890) — »Lehre von der Koagulationsnekrose« (1880)
— »Nephritis« (1879) — »Neue Auffassung der Zellwucherung auf äußere
Reize« (1873 — 9^) — »Entdeckung der Venentuberkulose und ihrer Beziehung
zur akuten Miliartuberkulose« u. a. 1899 wurde W. zum Ehrenmitgliede
3 14 Weigert. Vorster. Huppert. Clar.
seines Instituts und zum Geheimen Medizinalrat ernannt W. gehörte zu
den berühmtesten Histopathologen der Neuzeit. Seine Methoden, nament-
lich diejenigen, betreffend die Markscheiden- und Neurogliafärbung, haben
besonders auf neurologischem Gebiete große Bedeutung erlangt. Seine
Abteilung am Senckenbergischen Institute gilt als vornehmste Stätte der Aus-
bildung in pathologischer Anatomie des Zentralnervensystems.
Vergl. Virchows Jahresberichte 1904, I, 482 und die daselbst genannten Quellen.
Pagel.
Vorster, Johannes, Irrenarzt, • 15. März 1860 zu Hoym (Anhalt), f 4. Mai
1904 in Stephansfeld (Elsaß). — V. war der Sohn des Leibarztes des
geisteskranken Herzogs von Anhalt-Bernburg (bis 1864 Direktor in Lengerich),
studierte in Marburg und Berlin, erhielt die ärztliche Approbation 1884, den
Doktortitel in Leipzig 1887 mit der Dissertation: -a Dementia paralytka bei
Eisenbahnfahrbeamten«, war 3^/2 Jahre Assistent bei Rose an Bethanien in
Berlin, ging 1888 zur Psychiatrie über, wurde Assistent von Hasse in Königs-
lutter, 1890 Oberarzt in Stephansfeld unter Karl Stark und 1897 als dessen
Nachfolger Direktor der vereinigten Bezirksirrenanstalten Stephansfeld-Hördt,
wo er dem Attentat eines Geisteskranken zum Opfer fiel. V. war ein
fleißiger Schriftsteller und hat im ganzen 12 Abhandlungen veröffentlicht
über verschiedene Themata, die zum Teil in der unten erwähnten Quelle
angegeben sind.
Vergl. Virchows Jahresberichte von 1904, I, 482. Pagel.
Huppert, C. Hugo, Professor der medizinischen Chemie in Prag, • 29. Ja-
nuar 1832 zu Marienberg (Sachsen), f 19. Oktober 1904. — H. war in
Leipzig und Jena ausgebildet, besonders als Schüler C. G. Lehmanns, und
gelangte 1862 zur Promotion. Im Herbst 1871 wurde er, nachdem er daselbst
während der Zwischenzeit das medizinisch-chemische Laboratorium geleitet
hatte, in Leipzig zum Extraordinarius ernannt, 1872 als Professor ord. der
medizinischen Chemie nach Prag berufen. Neben einer längeren Reihe von
eigenen und durch seine Schüler ausgeführten Facharbeiten seien speziell
genannt der gemeinschaftlich mit C. G. Lehmann von ihm bearbeitete 8. Band
von Gmelins Handbuch der Chemie und die 8., 9. u. 10. Auflage von Neubauers
Analyse des Harns.
Vergl. Virchows Jahresberichte von 1904, I, 469. Pagel.
Clar, Konrad, Baineolog und Professor der Balneologie in Wien, • 22. Fe-
bruar 1844 in Wien, f 13. Januar 1904 daselbst. — B. widmete sich
anfangs dem Studium der Geologie, promovierte 1864 zum Dr. phiL in
Leipzig, trat darauf zur Medizin über, erlangte 1869 die medizinische Doktor-
würde in Graz, habilitierte sich hier 1870 als Privatdozent für Balneo- und
Klimatotherapie, siedelte 1888 nach Wien über, wo er sich gleichfalls
habilitierte und 1894 zum außerordentlichen Professor befördert wurde.
C. war ein tüchtiger Geolog und Baineolog, während des Sommers auch
gleichzeitig Badearzt in Gleichenberg. Er ist Verfasser mehrerer Arbeiten
über die Kurorte Österreichs, Stoffwechsel und Therapie der Lungentuber-
kulose u. a.
Vergl. Virchows Jahresberichte von 1904, 1, 462. Pagel.
Heisrath. Ideler. von Koch.
315
Heisrath, Friedrich, Augenarzt und Universitätsprofessor in Königsberg
i. Pr., •12. Oktober 1850 in Mazutkehmen (Kr. Gumbinnen), f 9. Juli 1904 plötz-
lich im Ostseebade Cranz. — H. studierte in Königsberg, wurde 1876 Arzt,
trat in das Sanitätskorps ein und brachte es hier von 1877 — 95 zum Ober-
stabsarzt. Nachdem er schon 1898 den Professortitel erhalten hatte, habilitierte
er sich 1899 als Privatdozent für Augenheilkunde. Seit 1879 Assistent des
bekannten Ophthalmologen Professors Julius Jacobson, verfaßte H. 1882 die
erste Monographie zur Heilung der Kömerkrankheit, von der er einer der
besten Kenner war, durch Tarsalexzision und veröffentlichte außerdem eine
beträchtliche Anzahl von Aufsätzen auf dem Gebiete seiner Spezialität,
begründete 1882 eine eigene Privatklinik und war außerdem Direktor der
Augen-Station am Krankenhause der Barmherzigkeit.
Vergl. Virchows Jahresberichte von 1904, 1, 468. Pagel.
Ideler, Karl, Geheimer Sanitätsrat in Wiesbaden, Psychiater, ♦ 26. Februar
1829 in Berlin, f 21. September 1904. — I. war der älteste Sohn des bekann-
ten Berliner Psychiaters Karl Wilhelm I. und studierte an seiner Vaterstadt.
Anfangs Assistent der Neu-Ruppiner, später nach Eberswalde verlegten
Märkischen Provinzial-Irrenanstalt, war er seit 1861 mit der Leitung der
Berliner Irrenpflegeanstalten in der Wallstraße betraut, machte als Stabs- bzw.
Oberstabsarzt den Feldzug von 1870 — 71 mit und übernahm 1880 die
Leitung der eben begründeten städtischen Irrenheilanstalt von Berlin-Dalldorf,
von wo er 1885 in den Ruhestand trat und sich nach Wiesbaden zurückzog.
Er war Mitbegründer des Berliner psychiatrischen Vereins 1867 und dessen
eifrigster Förderer.
Vergl. Virchows Jahresberichte von 1904, I, 469. Pagel.
Koch, Karl v., Medizinalbeamter zu Stuttgart, ♦ 3. Januar 1829 zu
Gaildorf in Württemberg, f 1$. Februar 1904. — v. K. studierte in Tübingen,
später in Prag, war 1851 — 55 prakt. Arzt und Oberamts wundarzt in Gaildorf,
1855 — 71 Oberamtsarzt daselbst, seit 187 1 Ober-Medizinalrat in Stuttgart
und als solcher ordentliches Mitglied des Kgl. württ. Medizinalkollegiums
und der Abteilung für die Staatskrankenanstalten, 1875 — 88 Vorsitzender der
Landesprüfungs-Behörde für Apothekergehilfen, seit 1876 Mitglied der Kom-
mission für die Physikatsprüfung, seit 1877 Ministerial-Delegierter bei dem
Kgl. statistischen Landesamt für Medizinalangelegenheiten, seit 1884 Mitglied
des Verwaltungsrats der württembergischen ärztlichen Unterstützungskasse, 1887
staatliches Mitglied, zugleich stellvertretender Vorsitzender und seit 1894
Vorstand des Verwaltungsrats des Kinderspitals »Olga-Heilanstalt« in Stuttgart,
erhielt 1892 Titel und Rang eines Kollegial-Direktors. Außerdem gehörte
er 1874 — 79 als Kgl. württ. Delegierter verschiedenen das Medizinalwesen
betreffenden Reichskommissionen in Berlin an und war seit 1880 ununter-
brochen außerordentliches Mitglied des Kaiserl. Gesundheitsamts, v. K. war
der Begründer der Medizinalberichte des Königreichs Württemberg, Verfasser
des ersten über das Jahr 1872, und übte neben seiner Dienststellung als
nicht vollbesoldeter Medizinalbeamter zugleich die ärztliche Praxis aus.
Vergl. Virchows Jahresberichte von 1904, 1, 470. Pagel.
2l6 Jo%' vo^ Mannlicher.
Jolly, Friedlich, o. ö. Professor in der medizinischen Fakultät der
Universität Berlin, Direktor der psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl.
Charit^, Geh. Medizinalrat, • 24. November 1844 zu Heidelberg, f 4. Januar
1904. — J. war ein Sohn des später nach München berufenen Physikers
Philipp J. Er studierte in München und Göttingen, war Assistent an der
inneren Klinik von Pfeufer in München, dann an der Irrenanstalt Werneck
unter Gudden und Grashey, hierauf an der psychiatrischen Klinik in
Würzburg unter Rinecker, habilitierte sich 187 1 daselbst mit einer Ab-
handlung: »Über den Gehirndruck und über die Blutbewegung im Schädel«,
wurde 1873 ^^^ Professor e. o. und Direktor der psychiatrischen Klinik nach
Straßburg berufen, dort 1875 zum Professor ord. ernannt und von da 1890
nach Berlin berufen. J. gehörte zu den berufensten Irren- und Nervenärzten
der Neuzeit. Er ist Verfasser zahlreicher, wichtiger literarischer Arbeiten
auf seinem Spezialgebiet, von denen wir u. a. noch aufführen: »Bericht über
die Irrenabteilung des Julius-Spitals« (1873) — »Hysterie und Hypochondrie«
(in v. Ziemssens Handbuch 1877) — »Untersuchungen über den Leitungs-
widerstand« (1884) — »Irrthum und Irrsinn« (1893) usw. J. war eine liebens-
würdige Persönlichkeit und ein durch klaren und lebendigen Vortrag aus-
gezeichneter Lehrer. Bezüglich seiner weiteren Leistungen muß auf die in
der unten genannten Quelle angeführten Nekrologe verwiesen werden.
Virchows Jahresberichte von 1904, I, 469. Pagel.
Mannlicher, Ferdinand Ritter von, Oberingenieur, * 30. Januar 1848 in
Mainz, f 20. Januar 1904 in Wien. — Als Sohn eines österreichischen Ober-
kriegskommissars geboren, hat M. die technische Hochschule in Wien ab-
solviert und sich dann dem Eisenbahn-Erhaltungsdienste gewidmet; er war
zunächst bei der Staatseisenbahngesellschaft tätig und trat dann zur Kaiser
Ferdinands-Nordbahn über, die er im Jahre 1886 als Oberingenieur verließ.
M. ist bekannt als Erfinder der bei der österreichischen Armee eingeführten
Handfeuerwaffe und mehrerer wertvoller Verbesserungen an Repetiergewehren
überhaupt. M.s österreichisches Gewehr stellt eine geistreiche Weiterbildung
des Systems Lee dar, indem an Stelle des abnehmbaren Magazins ein mit
dem Abzugsbügel aus einem Stück hergestelltes Gehäuse tritt; den orginell-
sten Teil des Systems bildet der Rahmen, der fünf Patronen faßt und nach
Abschuß der letzten Patrone aus der Waffe fällt; sein Gewicht beträgt nur
19 g; der Verschluß ist ein sogenannter Geradzugverschluß. Später hat M.
»automatische Repetiergewehre« konstruiert, bei denen auch die Verschluß-
funktion selbstätig durch den Druck der Pulvergase vor sich geht; eine be-
sonders einfache, halbautomatische Repetierpistole stammt ebenfalls von M.
Es ist M. nur nach jahrelangen schweren Kämpfen gelungen, mit seinem
Gewehre einen günstigen Erfolg zu erringen. Sein Talent, sein Fleiß, seine
Beharrlichkeit und auch die werktätige Hilfe seiner Familie und seiner
Freunde, u. a. A. R. v. Loehrs, vermochten endlich alle finanziellen und
technischen Schwierigkeiten zu überwinden, so daß er im Jahre 1879 das von
der Armeeverwaltung später erworbene Patent als vollendet betrachten konnte.
Die Ausbeutung seiner Patente übernahmen die Waffenfabrik Steyr, sowie
mehrere ausländische Gesellschaften. M. wurde mit hohen Orden ausge-
von Männlicher, von Brunner.
317
zeichnet, in den Ritterstand erhoben und im September 1899 in das Herren-
haus berufen. Er starb eines plötzlichen Todes, inmitten arbeitsvoller Tätig-
keit. A. Birk.
Brunner, Moritz Ritter von, Feldmarschalleutnant und Sektionschef im
k. u. k. Reichskriegsministerium, berühmter Fortifikateur, ♦ 30. April 1839 ^^
Wien, t 25. Oktober 1904 ebendort. — Der Vater B.s war Hofbediensteter und
starb, als der Sohn noch nicht vier Jahre alt war, so daß der in dürftigen
Verhältnissen zurückgebliebenen Mutter, einer lebhaften und klugen Frau, die
fernere schwere Sorge für die Erziehung blieb. Zum Glück nahm sich ein
Onkel des Knaben an, der seinen Nefien in das Regimentserziehungshaus
Freiherr von Heß brachte, aus dem er dann in das Obererziehungshaus,
in die Tullner Pionierschule und schließlich in die Genieakademie nach
Klosterbruck bei Znaim kam. — 1859 erhielt B. als Unterleutnant seine Ein-
teilung beim 2. Geniebataillon, mit dem er auch den Feldzug in Italien
mitmachte; 1860 zum neu errichteten Genieregiment Nr. i transferiert, fand
er bei der Verteidigungsinstandsetzung von Karlsburg Verwendung. 1864
frequentierte er den höheren Geniekurs, in diesem Jahre erschien auch B.s
Erstlingswerk, es war dies ein »Praktisches Hilfsbuch für den Mineur« ; 1866
zum Oberleutnant befördert, leitete er den Bau des provisorischen Lagerforts
bei Himlau (Olmütz) nach den von ihm entworfenen Plänen und erhielt am
3. Oktober desselben Jahres die Allerhöchste belobende Anerkennung »für
hervorragend vorzügliche Leistungen im Feldzuge gegen Preußen«. 1870
wurde B. Hauptmann im Geniestabe, 1873 fungierte er als Mitglied der
kaiserlichen Kommission für die Weltausstellung und als Berichterstatter für
dieselbe. All die Jahre hindurch war er in der 8. Abteilung des Reichs-
kriegsministeriums beschäftigt und wurde 1874 in »Anerkennung seiner mehr-
jährigen hervorragenden literarischen Tätigkeit auf dem militärischen Gebiete«
mit dem Orden der Eisernen Krone dritter Klasse dekoriert, worauf 1875
seine Erhebung in den Ritterstand erfolgte, in welchem Jahre er auch die
goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft erhielt. 1876 in den Stand
der technischen Militärakademie übersetzt, lehrte er hier durch zehn Jahre
die Befestigungskunst, und nebstdem als außerordentlicher Professor an den
Stabsoffizierkursen des Heeres und der k. k. Landwehr außer Befestigung
auch noch Pionierdienst. 1882 wurde B. Major und 1886 zum Geniedirektor
in Trebinje ernannt, 1887 Oberstleutnant und 1889 »für hervorragend ver-
dienstliche Leistungen bei Leitung und Ausführung von Unterkunfts- und
fortifikatorischen Bauten« mit dem Militärverdienstkreuz dekoriert, im selben
Jahre wurde er Genie- und Befestigungbaudirektor in Przemysl und im darauf-
folgenden Jahre Oberst.
1894 wurde B. zum Vorstand der 8. Abteilung in das Reichskriegs-
ministerium berufen, 1895 zum Generalmajor befördert und am 22. Oktober
desselben Jahres zum Sektionschef im Reichskriegsministerium ernannt; 1898
erhielt er das Ritterkreuz des Leopoldordens und rückte 1899 zum Feld-
marschalleutnant vor. 1904 erhielt B. den Orden der Eisernen Krone IL Klasse,
außerdem war er Ritter und Komtur vieler ausländischer Orden.
B. war seit dem 18. November 1870 mit Veronika Schmidt in glück-
lichster Ehe verbunden, die ihm drei Söhne und drei Töchter schenkte.
) 1 8 von Brunner.
Bevor wir zu B.s Tätigkeit als Militär und Schriftsteller übergehen,
wollen wir auch einige Worte dem Menschen Brunner widmen: »Sein Herz
schlug warm für fremdes Leid, und wo er konnte, half er. Ohne Scheu und
Zagen durfte jeder sich ihm wie einem Freunde nahen und seinen Kummer
ausschütten; er fand ein offenes Ohr. Mancher, dessen Anliegen nicht
Erfüllung gefunden, ahnte oft gar nicht, wie sehr sich Feldmarschalleutnant
Ritter von Brunner seiner Sache angenommen und wie gerade diesem des
Fremden Weh naheging .... Er war ein edler Mann, aufrichtig, hilfreich
und gut!«
Als Sektionschef des Reichskriegsministeriums oblag B. die Leitung des
gesamten Genie- und Festungsdienstes der Monarchie, des Pionier-, Waffen-
und Munitions-, sowie des Militärerziehungswesens. Seinem Wirken ist die
Errichtung eines für militärische und fortifikatorische Zwecke bestimmten
Geniestabes, die Umwandlung der Genietruppe in die Pioniertruppe, die Auf-
stellung von Reservepionierkompagnien und endlich die Beteilung der
Infanterie mit dem Linnemannschen Spaten zu danken. Femer bildete er
die Schanzzeugkolonnen, veranlaßte die Aufstellung von Flußminen-, Minen-,
Flußschiffahrts- und Eiffelbrückenabteilungen (letztere wurden seither wieder
in Brückenabteilungen umgewandelt, da sich das Material System Eiffel
nicht bewährte) und schuf für den militärischen Fachbaudienst das Bau-
ingenieurkorps. Endlich widmete B. der Feldbefestigung, dem Notbrückenbau,
dem Landes Verteidigungssystem, dem Ausbau, der Ausrüstung und der Ver-
teidigungsfähigkeit der Festungen seine ganz besondere Aufmerksamkeit.
Seine Werke als Kriegsbaumeister sind mustergültig, fallen sie doch in die
Zeit der großen Umwälzungen in der Befestigungskunst infolge der bedeu-
tenden Fortschritte der Artillerie; B.s Tätigkeit kann daher als wirklich bahn-
brechend bezeichnet werden.
B.s Verdienste als Schriftsteller machten seinen Namen weit über die
Grenzen seines Vaterlandes hinaus bekannt. Hier sei ganz besonders seine
vierzehnjährige Tärigkeit als Redakteur von »Streffleurs militärischer Zeit-
schrift« hervorgehoben, die dadurch zum ersten Fachblatt der Monarchie
wurde und sich auch weit über die Reichsgrenzen hinaus bedeutendes An-
sehen erwarb. Allein durch die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Auf-
sätze hat sich B. schon- ein bleibendes Denkmal errichtet. Ganz speziell sei
der im Jahre 1870 erfolgten Entsendung B.s nach dem Falle von Straßburg
in diese gefallene Feste zur Berichterstattung gedacht; die Veröffentlichung
der damals gewaltiges Aufsehen erregenden Schrift: »Die Verteidigung von
Straßburg« war das Ergebnis dieser Reise.
Die von B. für die k. und k. Neustädter Militärakademie und die
Kadettenschulen verfaßten Lehrbücher über die Befestigungskunst und den
Festungskrieg wurden auch im Auslande allgemein anerkannt und gewürdigt
und erlebten die Übersetzung in fünf Sprachen.
Schließlich sei auch noch der dichterischen Tätigkeit B.s gedacht, welche
in der Herausgabe seiner »Späten Lieder« für den Freundeskreis ihren Aus-
druck fand; viele von diesen wurden vertont.
Kurze Biographien über Ritter von Brunner erschienen im Jahre 1904 in der »Vedettec,
in den »Mitteilungen auf dem Gebiete des Artillerie- und Geniewesens«, im »Organ der
militärwissenschaftlichen Vereine«, in »Streffleurs militärischer Zeitschrift« und vielleicht die
beste unter allen 1905 in »Nord und Süd« von W. Stavenhagcn. C. M. Danzer.
Goebel. von Hanstein.
319
Goebel, Eduard, Pädagoge und Dichter, * 1. März 1831 zu Hillesheim
in der Eifel, f 30. Juni 1904 in Fulda. — G. war der fünfte Sohn des Kreis-
physikus Dr. Anton G. und kam schon im Jahre 1832 mit seinen Eltern nach
deren Heimatsort Attendorn im ehemals kurkölnischen Herzogtum Westfalen.
Hier verlebte er nach dem frühzeitigen Tode beider Eltern im großelterlichen
Hause seine Jugendjahre. Nachdem er das Progymnasium seiner Vaterstadt
absolviert und darauf noch ein Jahr das Gymnasium in Münster und drei
Jahre das Gymnasium an Marzellen in Köln besucht hatte, bezog er im
Herbst 1850 die Universität Bonn, wo er vier Jahre hauptsächlich philo-
sophischen und philologischen Studien oblag, auch Mitglied des von den
Prof. Ritschi und Welcker geleiteten philologischen Seminars war. Im De-
zember 1854 erwarb er sich nicht nur die philosophische Doktorwürde, sondern
auch die Befähigung als Oberlehrer. Sein Probejahr absolvierte er am Gym-
nasium zu Aachen, wirkte dann kurze Zeit als Lehrer in Bonn und nahm
darauf Ostern 1856 eine Stelle als k. k. Professor am Gymnasium in Salzburg
an. i86o wurde er als Oberlehrer an das neu begründete Gymnasium an
Aposteln in Köln zurückberufen, folgte aber schon Ostern 1863 einem Rufe
der damals kurhessischen Regierung als Direktor des Gymnasiums zu Fulda.
Dieses Amt bekleidete er bis zu Neujahr 1898, wo er mit dem Charakter als
Geh. Regierungsrat in den Ruhestand trat und von den städtischen Behörden
von Fulda zum Ehrenbürger ernannt wurde. Noch in demselben Jahre wurde
er vom Kreise Fulda — wie auch wiederum im Jahre 1903 — einstimmig
zum Landtagsabgeordneten gewählt. — Außer verschiedenen Programm-
abhandlungen und zahlreichen Aufsätzen über philologische Gegenstände in
fachwissenschaftlichen Zeitschriften, veröffentlichte er eine Schulausgabe von
»Piatons Apologie des Sokrates und Kriton« (1883, 2. Aufl. 1893), für Schul-
zwecke eine Sammlung »Vaterländische Gedichte« (1879, 2. Aufl. 1895) und
im hohen Alter eine Sammlung eigener »Gedichte aus jungen und alten
Tagen« (1903).
Persönliche Mitteilungen. Franz Brummer.
Hanstein, Ludwig Adalbert von, Schriftsteller, ♦ 29. November 186 1 in
Berlin, f 11. Oktober 1904 in Hannover. — Er war der zweite Sohn des be-
kannten Botanikers Johannes von H., der, als der Sohn drei Jahre zählte,
einem Rufe als Professor nach Bonn folgte. Vom Poppelsdorfer Schloß aus,
in welchem der Vater seine Amtswohnung hatte, konnte man über die herr-
lichen Anlagen des botanischen Gartens, über weite Wiesen und den Rhein
hinweg auf die Kette des Siebengebirges schauen, ein Aufenthalt, der wohl
geeignet war, in dem Knaben poetische Regungen wachzurufen. Von 1873
bis 1881 besuchte Adalbert das Gymnasium in Bonn, das er mit einem vor-
züglichen Reifezeugnis verließ. Kurz vorher war sein Vater als Geh. Rat
und Rektor der Universität gestorben. In Berlin begann H. seine natur-
wissenschaftlichen Studien, die er in Bonn durch Promotion auf Grund seiner
Schrift »Die Begründung der Pflanzenanatomie durch Grew und Malpighi«
(1886) zu einem gewissen Abschluß brachte, um dann erneute Studien, mehr
auf historischem und literarischem Gebiet, wieder in Berlin aufzunehmen.
Hier hatte damals gerade die bekannte Literaturbewegung der stürmenden
320
von Hanstein. Holdheim.
und drängenden Geister der jüngstdeutschen Zeit eingesetzt, die H. später in
seinem Werke »Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literatur-
geschichte« (1900, 3. Aufl. 1905) charakterisiert hat. Er hatte die Vertreter
dieser Bewegung in dem vom Geh. Sanitätsrat Dr. Konrad Küster gegründeten
literarischen Verein »Durch« persönlich kennen gelernt. Neben seinen Studien
war H. in Berlin als Redakteur am »Berliner Fremdenblatt« und besonders
als Mitarbeiter an der Zeitschrift »Mode und Haus« tätig. Im Jahre 1896
trat er in das Dozentenkollegium der Humboldt-Akademie, wo er sich schnell
eine große Zuhörerschaft erwarb, und im Herbst 1901 habilitierte er sich als
Privatdozent für Literaturgeschichte und Ästhetik an der Technischen Hoch-
schule in Hannover, wo ihm Ende 1903 der Charakter als Professor verliehen
wurde. Er verschied nach kurzer Krankheit an einem Gehirnleiden. — Das
erste poetische Werk H.s waren seine »Menschenlieder« (1887, 3. Aufl. 1904); sie
zeigen das Ringen eines jungen bewegten Menschenherzens nach einer einheit-
lichen Weltanschauung. Dann folgte das Drama »Um die Krone« (1887), das er
schon als Student geschrieben hatte und unter dem Pseudonym Ludwig
Bert US veröffentlichte. Er selbst verwarf diese Arbeit wieder und erst acht Jahre
später hat er sie völlig umgearbeitet und zu Ende geführt. In der Dichtung
»Von Kains Geschlecht« (1888) versucht H., Kains Brudermord aus furcht-
baren Seelenqualen heraus psychologisch zu erklären. Einen grofien Erfolg
erzielte H. mit seinem historischen Schauspiel »Die Königsbrüder« (1892),
dessen erster Aufführung im Berliner Theater auch der Kaiser beiwohnte.
Poetische Erzählungskunst zeigt H. in den Dichtungen »Der Liebesrichter«
(1893. Neue Ausgabe u. d. T. »Ein edles Wort«, 1904), »Der Vikar« (1897)
und »Achmed der Heiland« (1898). Beachtenswert ist sein Drama »König
Saul« (1897) und seine Romane »Die Aktien des Glücks« (1895) und »Zwei
Welten. Roman a. d. modernen Berlin« (1898). Als Literarhistoriker lernen
wir ihn kennen aus »Albert Lindner, in seinem Leben und in seinen Werken
dargestellt« (1888), und den Vorträgen über »Gustav Freytag« (1895) und
»Gerhart Hauptmann« (1898). Dem letzteren hat übrigens H. den Weg zur
Bühne gebahnt. Von seinen übrigen Werken muß noch erwähnt werden »Die
Frauen in der deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts«
(II, 1899 — 1900).
Der Bär. Eine Berliner Wochenschrift. Jahrg. 1892, S. 574. — Monatsblätter für
deutsche Literatur; hrsg. von Albert Wameke, Jahrg. 1905, S. 107 (Hermann Krüger).
Franz Brummer.
Holdheim, Paul, Dr.jur., Justizrat, * am 27. März 1847 zu Mecklenburg-
Schwerin als Sohn des dortigen Landesrabbiners Dr. Samuel H., f am
6. Oktober 1904 zu Frankfurt a. M. — * H.s Vater siedelte bald nach Geburt
des Sohnes nach Berlin über, wo er Begründer der israelitischen Reform-
gemeinde wurde, die weit über die Grenzen Berlins hinaus sich großes An-
sehen errungen hat. Auf dem Joachimsthalschen Gymnasium ausgebildet, bestand
er seine Examina, der Rechtswissenschaft sich widmend, in Berlin, war i Jahr
Kreisrichter in Orteisburg und siedelte 1875 nach Frankfurt a. M. über, wo
er 16 Jahre in der Stadtverordnetenversammlung tätig war, auch gegen
10 Jahre Vertreter Frankfurts im Kommunallandtag in Kassel. Der demokra-
tischen Partei angehörig, vertrat er als einer der ersten die sozialen Forde-
HoldheiiD. von Öhlschläger. Linderer. ^21
rungen der breiten Massen und trat oft als Verteidiger angeklagter Redakteure
in politischen Tendenzprozessen auf. Später wandte er sich mehr der Zivil-
praxis zu, auch auf diesem Gebiete mit grofiem Erfolge arbeitend. Er
begründete sodann eine wissenschaftlich gehaltene, doch für praktische Kreise
bestimmte Zeitschrift »Monatsschrift für Aktienrecht und Bankwesen, Steuer-
und Stempelfragen«, Berlin 1892 ff., deren Titel nach 5 jährigem Erscheinen
dahin geändert wurde, daß anstatt »Aktienrecht« nunmehr »Handelsrecht«
gesetzt wurde. Für sie gewann er eine Reihe tüchtigster Mitarbeiter, schrieb
auch selbst sehr viele Beiträge unter besonderer Berücksichtigung der aus-
ländischen Gesetzgebung. Außerdem sind zu erwähnen als kleinere Schriften
»Die Fusion der liberalen Parteien und die Demokratie«, Würzb. 1884;
>'Mortgage und Mortgagebonds. Eine Studie«, Berl. 1895; »Die Aktiengesell-
schaften und das Reichsstempelgesetz«, Berl. 1896. Ein schweres Augenleiden
legte ihm wenigstens für einige Zeit Einschränkung der Arbeit auf, was er
zu Reisen benutzte. Leider war dem tüchtigen Mann, wie dem befreundeten
Staub (vgl. oben S. 259) ein frühes Ende beschieden.
Nach gef. Privatmitteilungen und dem Nekrolog von Heinrich Dove in obiger Zeit-
schrift 1904 S. 261 — 263. — Über den am 22. August 1860 gestorbenen Vater vgl. Allg.
d. Biogr. 12, 734. A. Teichmann.
öhlschläger, Otto Karl von, zweiter Reichsgerichtspräsident, * als Sohn
eines Rittergutsbesitzers in Heiligenwalde bei Christburg (Marienwerder) am
16. Mai 1831, f zu Charlottenburg-Berlin am 14. Januar 1904. — Er studierte
in Königsberg die Rechtswissenschaft seit 1850, wurde 1858 Assessor, versah
Richterstellen in Schwetz und Löbau, wurde 1859 Staatsanwaltsgehilfe, 1864
Staatsanwalt, 1874 vortragender Rat im Justizministerium, 1879 General-
auditeur, in welcher Stellung er Kaiser Wilhelm I. umfassende Vorschläge
über spätere Änderung des Verfahrens in Militärstrafsachen zu unterbreiten
hatte. Seit 1884 Präsident des Kammergerichts, wurde er von Kaiser Friedrich
in den erblichen Adelsstand erhoben, 1889 Staatssekretär des Reichsjustiz-
amtes, wo er Gelegenheit hatte, bei Beratung von Reichsgesetzen hervorragend
mitzuwirken. Am i. Februar 1891 übernahm er das Präsidium des Reichs-
gerichts in einer beifällig aufgenommenen Ansprache an dessen Mitglieder.
Seine grofie juristische Befähigung stellte er ausschließlich in den Dienst der
Arbeit und gewissenhafter Pflichterfüllung und verstand es, in den liebens-
würdigsten Formen kollegialisch verkehrend, seine hohe Stellung und die Würde
des Gerichtshofes jeweilig zur Geltung zu bringen. Seine Amtstätigkeit wird
als eine Zeit ruhigen, besonnenen Fortschrittes erklärt. Im Sommer 1901
durch den Verlust eines Sohnes schwer betroffen, nahm er im Frühjahre 1902
einen Aulenthalt in Baden-Baden und feierte in stiller Zurückgezogenheit im
Mai sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum. Ein Augenleiden nötigte ihn, seine
Entlassung zum i. November 1903 zu nehmen, dann zog er nach Berlin, wo
er nach kurzer Zeit verschied. Die feierliche Beerdigung fand in Leipzig statt.
Die ersten 25 Jahre des Reichsgerichts. Lpz. 1904 S. 27, 52, 58 (mit Bild). —
Deutsche Juristen-Zeitung 1903 S. 492; J904 S. 152, 879; 1906 Nr. i Kunstbeilage.
A. Teichmann.
Landerer, Albert, Chirurg, ♦ 8. April 1854 zu Tübingen, f 21. August 1904
zu Gargellen (Vorarlberg). — L. wurde als der dritte Sohn des Professors der
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolo^^. 9. Bd. 21
322
Landerer.
evangelischen Theologie Albert Landerer geboren, entstammte somit einer
Familie, welche seit mehreren Jahrhunderten zumeist aus Gelehrten, Pastoren usw.,
zum geringeren Teil aus Beamten bestand. L. besuchte das Gymnasium zu
Tübingen und bezog 187 1 die Universität dortselbst. Vom 5. Semester ab
ging er nach Leipzig, woselbst er bis zum Abschluß seiner Studien ver-
blieb und 1878 das medizinische Staatsexamen, mit Note I bestanden,
beendete.
L. blieb auch weiterhin in Leipzig, und zwar vorerst von 1878 — 1879
als Assistent der topographischen Anatomie bei Professor Wilh. Braune. Er
vertauschte diese Stellung darauf mit derjenigen eines chirurgischen Assistenten
bei Professor Thiersch, welche er von 1879 — 1883 bekleidete. 1882 habilitierte
sich L. als Privatdozent für Chirurgie an der Universität Leipzig und hielt
als solcher Vorlesungen über Wundbehandlung, Repetitorium der Chirurgie,
chirurgische Poliklinik usw. Daneben leitete er in Leipzig eine eigene
chirurgische Privatklinik und Poliklinik. 1889 wurde L. in Leipzig zum
Professor ernannt. Einem an ihn ergangenen Ruf Folge leistend, übernahm
L. darauf 1894 die Stelle eines chirurgischen Oberarztes an dem neu gegrün-
deten Karl Olga-Krankenhause in Stuttgart, unter dem persönlichen Protek-
torat der Königin stehend, deren Leibarzt er alsbald wurde. So angenehm
und vielseitig diese Tätigkeit auch war und so große Gelegenheit L. in dieser
Zeit hatte, seine Privatstudien und experimentellen Forschungen weiter zu
betreiben, es fehlte ihm doch der enge Konnex mit der Universität, wie er
ihn bisher in Leipzig in so reichem Maße genossen und praktisch zu frukti-
fizieren gewußt hatte.
L. nahm daher 1902 die Berufung als Leiter des neu zu gründenden
Auguste Viktoria-Krankenhauses in Schöneberg an und siedelte im Herbst 1903
nach Berlin-Schöneberg über, um vorerst bei der noch im Entstehen be-
griffenen Bauanlage der Anstalt beratend und bestimmend mitzuwirken.
Nur ungern sah man L. aus Stuttgart scheiden. Er hatte dortselbst eine
hervorragende Stellung eingenommen und als Chirurg sich in ganz Württem-
berg besonderer Wertschätzung erfreut.
Leider sollte es ihm nicht vergönnt sein, in Berlin-Schöneberg lange
tätig zu sein. L. vermochte gerade noch die ersten Anfänge des neu ent-
stehenden Krankenhausbaus zu überwachen, als ihn ein bis dahin verborgen
gebliebenes schleichendes Nierenleiden auf das Krankenbett warf und nach
kaum vierwöchigem Krankenlager seinem Leben ein Ziel setzte.
Fem von der Heimat, in seinem kleinem Tyroler Landsitz Gargellen
überraschte ihn der Tod und machte damit zahlreichen Plänen und Entwürien,
mit denen L. sich bis zuletzt getragen hatte, ein Ende.
In der Armee bekleidete L. die Stellung eines Oberstabsarztes ä la suiU
des XIIL (Kgl. Württembergischen) Armeekorps.
Verheiratet war L. seit 1892 mit Hedwig geb. Zersch, Tochter des
Ökonomierates Zersch in Köstritz bei Gera, welcher Ehe 1900 als erstes und
einziges Kind ein Sohn entsproß.
Als Persönlichkeit war L. ein Mann von Charakter, von stark aus-
gesprochener Individualität. Seinen Patienten gegenüber aufs höchste human,
ja oft weich empfindend, blieb er seinen Freunden und Berufsgenossen nach
jeder Richtung hin stets ein treuer und umsichtiger Berater, es nicht
Landerer.
323
verschmähend, auch die Stunden der Geselligkeit im engerem Kreise harmlos
froh mitzugenießen.
So wie sein Äußeres, das kluge ernste Auge, den Forscher verriet,
welcher viel gesehen und erfahren hatte, erschloß auch sein Inneres sich
ganz wohl nur wenigen und intimen Freunden, die um so ergriffener seine
Bahre umstanden.
Eine richtige Würdigung L.s. als Forscher und Chirurg wird vor allem
auf seine physiologische Studienzeit unter Braune in Leipzig zurückgreifen
müssen. Eine Reihe von wichtigen Arbeiten über Transfusion, Infusion,
lokale Anästhesie mittels Kokaininjektionen, weiterhin über Gewebsspannung
und Entzündung entstammt dieser Epoche.
Derartig vorbereitet sehen wir L. dann das chirurgische Gebiet betreten,
auch hier jedoch in einer großen Zahl seiner weiteren Arbeiten, kurzen Auf-
sätzen usw., sein Lieblingsgebiet, die intravenöse Therapie, zu immer größerer
Bedeutung erhebend.
Am 27. Mai 1881 injizierte L. bei akuter Anämie zuerst am Menschen
mittels Spritze und scharfer Kanüle — also subkutan — eine größere Menge
physiologischer Kochsalzlösung. Durch den erzielten Eriolg ermutigt, übte
er dann in zahlreichen Tierexperimenten die neue Methode und legte damit
den ersten Grund zu der neuen und eigenartigen Tuberkulosebehandlung
mittels Zimtsäurepräparaten, die vor allem dazu gedient hat, seinen Namen
der breiten Öffentlichkeit bekanntzumachen.
Mit welchen Schwierigkeiten er auch hierbei immer noch zu kämpfen
hatte, erhellt daraus, daß Thiersch die Publikation jenes mittels Kochsalz-
infusion geheilten Falles direkt als »Unsinn« verbot und somit L. der Mög-
lichkeit beraubte, die bereits 1881 abgeschlossene Arbeit über diesen Gegen-
stand sofort veröffentlichen zu können. (Vgl. Vortrag L.s. auf dem Chirurgen-
kongreß 1885 und die Arbeit in Virchows Archiv über dieses Thema.)
Die intravenöse Injektion von Medikamenten übte L. 1882 — 84 am Tiere,
vom Jahre 1884 an am Menschen. Es würde zu weit führen, den Entwick-
lungsgang, den die Hetolbehandlung genommen (Hetol = zimtsaures Natron,
der Name entnommen von Heta = Hedwig, L.s Gattin) hier noch einmal ein-
gehend darzustellen. Ref. verweist in dieser Frage auf die weiter unten an-
gegebenen Arbeiten.
Nur soviel sei gesagt, daß das in Wasser leicht lösliche Hetol, in die
Armvene injiziert und so auf direktem Wege zur Lunge geführt, eine chemo-
taktische Wirkung entfaltet, d. h. zu einer einige Stunden andauernden Ver-
mehrung und Anhäufung von weißen Blutkörperchen speziell um die erkrankte
Stelle herum führt. So bahnt sich die Abgrenzung, Durchwachsung und
Resorption der tuberkulös infiltrierten Herde an, welchen Vorgängen als
Abschluß die Vernarbung folgen soll.
Rein äußerlich bietet die Behandlung doch einige Schwierigkeiten dar.
Abgesehen von der übrigens leicht zu erlernenden Technik der intravenösen
Injektion, ist es die auf Monate zu veranschlagende Dauer der Kur und der
öfters nicht immer deutlich hervortretende Einfluß auf den tuberkulösen
Prozeß, welcher zum Abbruch der Behandlung führt. Von einigen Kliniken
und Instituten wird irgendeine Wirkung des Hetols auf die Lungentuberkulose
sogar direkt bestritten. Von anderer, meist privater Seite wiederum berichtet
21*
324
Landerer.
man über gute Resultate, und der ständig sich mehrende Absatz des Hetols
unterstützt diese Ansicht. Auch einige sehr eklante Sektionsbefunde (vgl.
besonders den von Ewald-Berlin beigebrachten) beweisen, dafi unter Hetol
Ausheilung und Vemarbung eintreten kann.
Erschwerend fiel für die Einführung einer solchen Behandlungsmethode
ins Gewicht der durch Koch gerade um diese Zeitepoche beschrittene Weg,
durch Bakterienpräparate der Tuberkulose beizukommen, also entgegengesetzt
von L. zu verfahren. Femer muß man wohl annehmen, daß auch die Fest-
legung weiter ärztlicher Kreise auf die moderne Heilstättenbewegung anders-
artige mehr medizinische Therapien nicht gerade begünstigen konnte.
L. hat bis zuletzt voll auf dem Boden gestanden, in dem Hetol das beste
und zurzeit einzige Heilmittel gegen die Tuberkulose gefunden zu haben,
und plante die weitere Ausbildung dieser Methode durch Darstellung eines
eigenartig gewonnenen, demselben Gebiet entstammenden Serums.
Referent hält das Hetol bei leichten, nahezu fieberfreien Tuberkulose-
fällen (im Mastdarm bis höchstens 37,8 abends) für wirksam und sieht das
Ideal der Therapie in Verbindung von Hetol mit Heilstätten bezw. Freiluft-
behandlung.
In jedem Falle ist durch das Eintreten L.s für die intravenöse Injektion
als Methode den weitesten ärztlichen Kreisen eine Art der Therapie wieder-
gegeben und eröffnet worden, die nach ihrer bisherigen Entwicklung ferner-
hin von höchster Bedeutung zu werden verspricht. In dieser Beziehung wird
der Name L.s in der Geschichte der Heilkunde stets als bahnbrechend und
einflußreich fortleben.
Neben der intravenösen Hetolbehandlung, seinem Lebenswerk, sind es
weiterhin vorwiegend chirurgische Arbeiten, die z. T. der Leipziger Epoche,
dann aber auch der Zeit seiner Stuttgarter Tätigkeit entstammend, L.s Arbeits-
feld bildeten.
In erster Linie stehen da die drei größeren Werke, das »Lehrbuch der
chirurgischen Diagnostik«, die »Mechanotherapie und Orthopädie«, das
»Handbuch der allgemeinen chirurgischen Pathologie und Therapie«. Beson-
ders letzteres ist verbreitet, in zweiter Auflage erschienen und gleich der
»Mechanotherapie« ins Russische und Italienische übersetzt.
Jedes dieser drei Kompendien, einen stattlichen Band darstellend,
zeichnet sich durch ungemeine Übersichtlichkeit und Präzision des Aus-
drucks, verbunden mit der Fortlassung alles überflüssigen literarischen Ballasts
aus. Die allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie mit zahlreichen
Abbildungen ausgestattet, kann direkt als ein gleichwertiger Ersatz des gleich-
namigen Billrothschen Werkes angesehen werden. Ebendasselbe läßt sich
von der mit besonderer Liebe und Sorgfalt verfaßten »Mechanotherapie«
sagen. Diese eben gekennzeichneten Vorzüge haben den Büchern auch ihre
weite Verbreitung verschafft.
Es folgten die unten in chronologischer Folge angegebenen Aufsätze und
Monographien, vor allem das Gebiet der Gelenkerkrankungen, der Antisepsis
und Asepsis betreffend. Überall in diesen Arbeiten tritt uns L. als ein
Chirurg von eigenartiger, durchaus origineller Auffassung entgegen. Er bleibt
immer bestrebt, die Resultate chirurgischer Einzelforschung nicht in den
unwirtlichen höchsten Höhen dieser Spezialdisziplin sich verlieren zu
Landerer.
325
lassen, sondern wir finden ihn bemüht, stets zu vermitteln, die Verbindung
mit dem einfachen praktischen Arzt, dem doch in erster und letzter Linie
jeder Fortschritt zugute kommen soll, herzustellen. Daher zeichnen sich die
von L. angegebenen Handgriffe und Methoden speziell auf dem Gebiet der
»kleinen Chirurgie« durch große Übersichtlichkeit aus. Hatte man wie
Ref. Gelegenheit, einige Zeit mit L. zusammen zu arbeiten, so war man vor-
züglich in der Lage, seine außerordentliche Begabung für das Einfache,
praktisch leicht Durchführbare in der Chirurgie und Medizin kennen und
schätzen zu lernen.
So bleibt das Streben des kaum 50 jährig verstorbenen L. durch eine
große Reihe bedeutender Arbeiten gekennzeichnet. Ihr Wert wird auch der
weiteren Zukunft zugute kommen, da die Forschungen L.s der modernsten
wissenschaftlichen Richtung angehörig, in ihren Konsequenzen weit über die
Gegenwart hinausgreifen und somit wohl berufen erscheinen, auch für zukünf-
tige neu entstehende Disziplinen eine feste Unterlage abzugeben.
Arbeiten Landerers in chronologischer Reihenfolge:
Mechanik der Atmung. Archiv f. Anat. u. Phys. 1881. — Exstirpation des Talus bei
Luxation. Chir. Zentralbl. 1881. — Exstirpation des Larynx. Deutsche Zeitschr. f. Chir.
1882. — Versuche über Transfusion nicht geschlagenen Blutes. Archiv f. exper. Pathol.
1882. — Syphilitische Gelenkerkrankungen Erwachsener. Langenbecks Arch. Bd. 30. 1884.
— Gewebsspannung (Monographie). Leipzig 1884. — Über Entzündung. Volkmanns Vortr.
1885. — Behandlung des Genu valgum mit elastischem Zugverband. Behandlung der
Lux, cox, cong. v. Langenbecks Arch. Bd. 32. — Transfusion und Infusion. V^irchows Arch. 1886.
— Lokale Anästhesie mit subkutanen Kokaininjektionen. Chir. Zentralbl. 1885. —
Behandlung der Skoliose mit Massage. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1886. — Dasselbe.
Broschüre. Leipzig 1887. — Operative Behandlung der Prostatahypertrophie. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. 1886. — Ein Fall von Cholecystotomie. MUnch. med. Wochenschr. 1886.
— Extensionsverband bei Schlüsselbeinbrüchen. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1887. — Ein-
heilung eines Kaninchennerven, in einen Defekt des A". radialis, ibid. — Behandlung kleiner
cystischer Geschwülste mit Chlorzinkeinspritzungen ibid. — Verletzung der Gallenwege,
Gallenerguß in die Bauchhöhle, Heilung, ibid. — Handbuch der allgemeinen chir. Pathologie
und Therapie. Wien 1887 — 1889. — Eine neue Behandlungweise tuberkulöser Prozesse. MUnch.
med. Wochenschr. 1888. — Weitere Mitteilungen hierzu ibid. 1889. — Trockene Operationen.
Langenbecks Arch. Bd. 39. 1889. — Die Behandlung der Tuberkulose mit Perubalsam.
Deutsche Med. Wochenschr. 1890. — Behandlung des Plattfußes. Intern, med. Kongr. zu
Berlin 1890. — Trockenes Wundverfahren. Wiener Klinik 1890. — Behandlung der
Knochenbrüche. Volkmanns Vortr. 1890. — Operation der Hypospadie. Deutsche Zeitschr.
f. Chir. 1890. — Technik der Magen Operationen, ibid. — Behandlung der Tuberkulose mit
Zimtsäure. Deutsche Med. Wochenschr. 1890. — Behandlung der Tuberkulose mit Zimt-
säure. Monographie. Leipzig 1892. — CelluloidmuU. Zentralbl. f. Chir. 1896. —
Mechanotherapie. Handbuch. Leipzig 1894. — Operative Behandlung^ des Duodenal-
geschwürs. Grenzgebiete 1896. — Zur Diagnostik der Hernia obiuratoria. Festschrift f.
Benno Schmidt. 1895. — Beiträge zur Osteoplastik. Chir. Zentralbl. 1895. — ^^er Celluloid-
mullverband. Chir. Zentralbl. 1896. — Medianschnitt bei Fufiresektion. Chir. Zentralbl.
1897. — Über Gehirnchirur|rie. Württ. Med. Korrespondenzbl. 1897. — Über Desinfektion
der Haut mit Formalin. Chir. Zentralbl. 1897. — Radikaloperation der Hernien. Deutsche
Zeitschr. f. Chir. 1900. — Operation der Varikositäten. MUnch. Med. Wochenschr. 1899.
— Plastik der Trachea, Chirurgische Diagnostik. Lehrbuch. Wien 1897. — Allg.
Chirurg. Pathologie und Therapie. 2. Aufl. Wien 1898. — Über die Ursachen des Miß-
lingens der Asepsis. Langenbecks Arch. 1898. — Behandlung der Tuberkulose mit Zimt-
säure. Lehrbuch. Leipzig 1898. — Operation der Invagination. Deutsche Zeitschr. f.
526 Landerer. Köbner.
Chir. 1899. — Über ambulatorische Hetolbehandlung der Tuberkulose. Zeitschrift f. d.
prakt. Arzt. Nr. 19. 1900. — Der gegenwärtige Stand der HetoI-(Zimtsäure-)Behandlung
der Tuberkulose. Berliner Klinik 190X Heft 153. — Theorie und Praxis der heutigen Wund-
behandlung. Deutsche Medizinal-Zeitung. 1902 Nr. 47. — Zur Frage der Gelatine-Injek-
tionen. WUrttembg. Mediz. Korrespondenzblatt 1902. — Die Talma-Drumondsche Operation
bei Ascites, Württembg. Mediz. Korrespondenzblatt 1902. — Nach einem hinterlassenen
Manuskript Prof. A. Landerers: Trockne und feuchte Wundbehandlung von Dr. Herrn.
Engel. Zeitschr. f. ärztl. Fortbildung 1905. Nr. 12.
Dr. Erwin Franck-Berlin.
Köbner, Heinrich, Dermatolog in Berlin, ♦ 2. Dezember 1838 zu Breslau,
f 3. September 1904. — K. studierte 1855 — 59 in seiner Vaterstadt und
in Berlin und promovierte 1859 zu Breslau mit der Dissertation: »Physio-
logisch-chemische Untersuchungen über Rohrzuckerverdauung.« Als Ergeb-
nisse mehrjähriger Hospitalstudien in Wien und Paris publizierte er in den
Memoires de la Soc. de Biologie (1861): »Pathologisch - histologische Unter-
suchung eines Falles von Lepra« und »Studien über Schankervirus« (auch in
der »Deutschen Klinik«, 186 1); ferner: »Über Sycosis und ihre Beziehungen
zur Mycosis tonsurans<s^ (Virch. Arch., 1861) und, auf ausgedehnte Tierversuche
im Collige de France 1861 basiert: »Zur Frage der Übertragbarkeit der
Syphilis auf Tiere« (Wiener med. Wochenschr. 1863). Nach seiner Nieder-
lassung in Breslau begründete er 1861 die erste Poliklinik für Hautkrank-
heiten und Syphilis und publizierte aus derselben (Abhandl. und Jahres-
berichte d^r Schles. Gesellsch. für vaterländ. Kultur 1861 — 73): »Über-
tragungen aller pflanzlichen Parasiten der Haut, speziell durch seine von ihm
selbst und an Tieren für alle Mycosen erprobte epidermoidale Impfmethode«.
— »Heilungsmethode derselben« — »Über syphilitische Lymphgefäßerkran-
kungen« — »Reisebericht über die Lepra und die Syphilisation in Norwegen«
(1863)*^ — »Subkutane Sublimatkur gegen Syphilis« — to Herpes zoster genito-
femoralis<i — »Künstliche Erzeugung von Psoriasis als Grundlage ihrer Ätio-
logie« — »Über Tätowierung nebst Demonstration des Tätowierten von Birma«,
femer: »Klinische und experimentelle Mitteilungen aus der Dermatologie und
Syphilidologie« (Erlangen 1864). 1869 habilitierte sich K. an der Universität
zu Breslau und wurde 1872 zum Professor auf dem neuerrichteten Lehrstuhl
und 1876 zum Direktor der durch ihn ins Leben gerufenen Universitäts-
Klinik und -Poliklinik für Hautkrankheiten und Syphilis ernannt, war aber
durch seine angegriffene Gesundheit zu einem längeren Aufenthalte im Aus-
lande und zur Niederlegung seines Lehramtes genötigt. In dieser Zeit publi-
zierte er: »Über Arznei -Exantheme, insbesondere über Chinin -Exanthem«
(Berl. klin. Wochenschrift 1877) — »Über die Lepra an der Riviera, nebst
Bemerkungen zur Pathologie der Lepra überhaupt« ( Viertel jahrsschr. f. Derm.
1876). 1877 siedelte K. nach Berlin über, wo er von neuem 1884 eine
Poliklinik begründete, an welcher er wieder Lehrkurse für Ärzte abhielt.
1897 wurde er zum Geh. Medizinalrat ernannt. K. hat noch eine sehr große
Anzahl von literarischen Arbeiten, bezüglich deren Titel wir auf das Bio-
graphische Lexikon von Hirsch und Gurlt, ferner auf das Biographische
Lexikon von Pagel sowie auf die in der unten genannten Quelle verzeich-
neten Nekrologe verweisen müssen.
Vergl. Virchows Jahresberichte 1904, I, 470. Pagel.
Rembold. Plehn. MttUer.
327
Remboldy Otto, Professor der Medizin, Direktor der medizinischen
Klinik und Hofrat in Graz, * 10. Februar 1834 in Ofen, f 3. September
1904 in Graz. — R. war ein Sohn von Dr, pML et med. Leopold R.
(1787 — 1844), erwarb den medizinischen Doktortitel 1858, den Titel eines
Doctor chir. in Wien 1859, übernahm 1864 als Nachfolger von Körner die
supplierende Professur der Pathologie und medizinischen Klinik in Inns-
bruck, wurde daselbst 1869 Ordinarius und siedelte in gleicher Eigenschaft,
wiederum als Nachfolger von Kömer, nach Graz über. R. war ein
tüchtiger Diagnostiker und Lehrer. Von literarischen Arbeiten sind seine
Beiträge zu den Veröffentlichungen der K. K. Wiener Akademie der
Wissenschaften zu nennen: »Über das Alvisol« 1866, »Wirkung des Suc-
cylchlorid auf Bittermandelöl« 1866, »Chinagerbsäure« 1867, »Gerbsäure
der Granatwurzelrinde« 1867, »Derivate der Gallussäure« 1870, »Chemische
Bestandteile der Tormentillwurzel« 1868, »Einige Abkömmlinge der Ellag-
säure« 1875, u. a. R. beobachtete 1892 den ersten Fall von Botriocephalits
latus, der in Graz zur Beobachtung gelangte.
Virchows Jahresberichte 1904, I, 477. Pagel.
Plehn, Friedrich, Kaiserlicher Regierungsarzt in Kamerun und Tanga,
♦15. April 1862 zu Lubochin in Westpreußen, f 29. August 1904 zu Schotteck
bei Bremen. — P. studierte 1881 — 87 in Zürich, Halle, Freiburg i. Br.
und Kiel, erwarb die Approbation als Arzt 1887 in Kiel und den Doktor-
titel mit der Arbeit: »Behandlung des chronischen Hydrocephalus mit
Lumbalpunktion«, war Assistent von Winselmann in Krefeld, Gärtner in Jena,
P. Guttmann und Sonnenburg in Berlin, machte dazwischen Reisen nach
Südamerika, Java und Japan zwecks klimatologischer und physiologischer
Untersuchungen, war 1893 — 94 Regierungsarzt in Kamerun, 1894 — ^00 in
Tanga, Ostafrika, erhielt 1901 den Professortitel und schied dann aus dem
Kolonialdienst, um als Nachfolger von Kohlstock den Unterricht in der
Tropenhygiene am Berliner orientalischen Seminar zu übernehmen, bis er
infolge des in Ägypten erworbenen Maltafiebers genötigt wurde, auch diese
Stellung aufzugeben und sich an die Riviera zu begeben. K. war ein
bedeutender Klimatolog und Tropenhygieniker. Er fand 1889 als erster
Malariaparasiten in Deutschland und veröffentlichte eine Reihe von Ab-
handlungen über Malaria, über die Kamerunküste 1898 und ein Werk über
Tropenhygiene 1902.
Virchows Jahresberichte 1904, I, 476. Pagel.
MQUer, August, Irrenarzt, * 21. November 1859 zu Schlatt (Thurgau,
Schweiz), f 23. Juni 1904. — M. studierte seit 1878 in Basel, Berlin, München
und Bern, wurde 1885 Assistenzarzt der Anstalt Waldau bei Bern, wo er
seine Doktorarbeit Ȇber die topographischen Beziehungen des Hirns zum
Schädeldach« verfaßte, eine Monographie, die mehrere Auflagen erlebte, war
von 1887 — 89 Assistent in Pr^fargier, um dann nach einer Studienreise, die
ihn nach Paris, England und Schottland führte, 1890 die Leitung der Kanto-
nalen Irrenanstalt Breitenau in Schaffhausen zu übernehmen.
Virchows Jahresberichte 1904, I, 475. Pagel.
328 Oppenheimer. Martius. Haenselmann.
Oppenheimer, Zacharias, außerordentlicher Professor der Medizin in
Heidelberg, ♦ 8. Januar 1830 zu Michelfeld (Baden), f 25. Juni 1904. —
O. machte seine Studien in Heidelberg und Würzburg, promovierte 1855,
habilitierte sich bald darauf für innere Medizin in Heidelberg und erlangte
hier 1860 ein Extraordinariat. O. war der älteste Dozent der Heidelberger
medizinischen Fakultät, ein guter Lehrer und fleißiger Schriftsteller. Seine
Publikationen beziehen sich auf Studien über fortschreitende Muskelschrum-
pfung, Arsenikvergiftung durch Tapeten, Asthma bei englischer Krankheit,
Ursachen der englischen Krankheit u. a. Femer veröffentlichte O. ein Lehr-
buch der physikalischen Heilmittel und verschiedene Abhandlungen zur
Physiologie und Pathologie des Nervensystems.
Virchows Jahresberichte 1904, I, 475. Pagel.
Martius, Georg, Arzt und Hofrat in München, • 27. Juli 1830 in
Erlangen, f 8. Januar 1904. — M. war ein Sohn des Hofapothekers und
Universitätsprofessors Theodor M. und jüngerer Bruder des 1899 verstorbenen
Ober-Medizinalrates Karl M. in Ansbach. Er studierte in Erlangen seit 1849,
war 1854 während einer Choleraepidemie Assistent im Krankenhause in
Nürnberg, erlangte 1855 die Doktorwürde mit einer lateinischen Abhandlung
über den indischen Hanf, war 1856 Assistent am St. Anna-Kinderkrankenhause
in Wien unter Mauthner, besuchte 1857 Berlin, war 1858 Assistent von Dietrich
in Erlangen, darauf Polizei -Assistenzarzt und schließlich 43 Jahre lang
städtischer Armenarzt in München.
Virchows Jahresberichte 1904, I, 473. Pagel.
Haenselmann, Ludwig, Historiker und Novellist, * 4. März 1834 in Braun-
schweig, f 22. März 1904 daselbst. — Nachdem H. die Volks- und Gelehrten-
schule seiner Vaterstadt durchlaufen hatte, bezog er Ostern 1853 die Universität
Jena in der Absicht, Theologie zu studieren, wandte sich aber bald dem Ge-
schichtsstudium zu, dem er sich dann drei Jahre hindurch als Mitglied von
Joh. Gustav Droysens historischem Seminar vorwiegend hingab. Den Wunsch,
Universitätslehrer zu werden, mußte er infolge äußerer Verhältnisse zurück-
drängen, und so trat er Ostern 1856 eine Hauslehrerstelle in Mecklenburg
an. Er durfte dort fast ein Jahr lang im Staatsarchiv zu Schwerin arbeiten
und kehrte dann 1859 in die Heimat zurück. Hier übertrug man H. die
Herausgabe des »Urkundenbuchs der Stadt Braunschweig«, von dem 1862 — 73
der erste und 1895 ein weiterer Band erschien. In der Folge wurde ihm
erst provisorisch und 1865 definitiv die Verwaltung des Staatsarchivs über-
tragen, die bis zu seinem Tode in seinen Händen ruhte. 1886 verlieh ihm
der Regent des Landes den Charakter als Professor, 1887 ernannte ihn die
Universität Göttingen zum Ehrendoktor der Rechte. Die Durchforschung
des Archivs bot H. Gelegenheit, mehrere wertvolle Schriften über die Ge-
schichte der Stadt und des Landes Braunschweig zu liefern, wie »Die Chronika
der Stadt Braunschweig« (II, 1868 — 80), »Karl Friedrich Gauß. Zwölf
Kapitel aus seinem Leben« (1878), »Das erste Jahrhundert des Großen Klubs
in Braunschweig« (1880), »Bugenhagens Kirchenordnung für die Stadt Braun-
schweig nach dem niederdeutschen Druck von 1528 mit historischer Ein-
leitung« (1885), »Deutsches Bürgerleben. Alte Chronikenberichte« (i. Bd.
Haenselmann. Graff. Briegleb. 329
Das Schichtbuch, Geschichten von Ungehorsam und Aufruhr in Braunschweig,
1886), »Gottschalk Krusens Unterrichtung, weshalb er aus dem Kloster ge-
wichen« (1887), »Werkstücke. Gesammelte Studien« (II, 1887), »Das erste
Jahrhundert der Waisenhausschule in Braunschweig« (1896), »Abt Barthold
Meiers Geschichten und Legenden des Klosters St. Ägidien in Braunschweig«
(1901) u. a. Daran knüpfen sich dann einige belletristische Werke, deren
Quellen gleichfalls im Braunschweiger Archiv zu suchen sind, als: »Unterm
Löwenstein. Alte Geschichten aus einer ungeschriebenen aber wahrhaftigen
Chronik« (1883), »Henning Brandis* Diarium. Hildesheimische Geschichten
a. d. J. 147 1 — 1528« (1896) und »Hans Dilien der Türmer. Eine braun-
schweigische Geschichte aus dem 14. Jahrhundert« {1904).
Persönliche Mitteilungen. Franz Brummer.
Graff, Wilhelm Paul, dramatischer Dichter, * 10. März 1845 zu Dobberan
in Mecklenburg, f 23. August 1904 zu Schwerin i. M. — Seine Schulbildung
erhielt er zunächst in einem vornehmen Erziehungsinstitut seines Geburts-
ortes, dann im Gymnasium zu Rostock, das er mit 16 Jahren verließ, um
sich dem Handelsstande zu widmen. Aber schon nach anderthalb Jahren trat
er wieder ins Gymnasium ein und studierte dann seit Ostern 1866 auf den
Wunsch seiner Eltern die Rechte. Zu diesem Zwecke besuchte er die
Universitäten Rostock, Berlin, Göttingen und München, betrieb aber das
Hospitieren der Vorlesungen eines Ranke, Riehl, Carri^re, Bartsch u. a. mit
größerem Eifer als den pflichtschuldigen Besuch der juristischen Kollegia.
Im Jahre 1868 nach Rostock zurückgekehrt, publizierte er noch als Student
sein erstes poetisches Werk »Die Babenberger« (Creschichtl. Drama, 1870) und
wendete sich jetzt ganz dem Studium der Geschichte und Literatur zu.
Von 1870 — 74 war er als Lektor und Hauslehrer in der Rheinprovinz, in
Berlin und Rostock tätig, beschäftigte sich nebenher mit dramatischen, kri-
tischen und feuilletonistischen Arbeiten und brachte in Rostock sein zweites
Drama »Michel Kohlhaas« (Trauersp., 1871) zur ersten erfolgreichen Auf-
führung. Im Frühjahr 1873 machte er eine mehrmonatliche Reise nach Süd-
deutschland, Tirol und Oberitalien und ließ sich nach seiner Verheiratung
mit einer jungen Russin, die er in Genf kennen gelernt, im September 1874
in Wiesbaden, im Frühjahr 1875 i" Rostock und im Herbst d. J. auf seiner
Villa bei Güstrow in Mecklenburg nieder, um nun ganz seinem Berufe als
Schriftsteller zu leben. In den folgenden Jahren wechselte er seinen Wohnsitz
zwischen Güstrow und Schwerin, war hier auch mehrere Jahre als Hilfs-
arbeiter in der Regierungsbibliothek tätig. Von ihm erschienen noch »Ver-
mietet« (Schwank, 1873), »Odysseus« (Lyrisch -dramatische Dichtung, Musik
von Max Bruch, 1873), »Ein Göttermärchen« (Epische Dichtung, 1876), »Der
Student« (Drama, 1883), »Um eine Krone« (Drama, 1885).
Persönliche Mitteilungen. Franz Brummer.
Briegleb, Elard, hessischer Dialektdichter, * 5. Mai 1822 zu Hopfmanns-
feld im Vogelsberge, t 'S- J""^ ^9^4 ^^ Worms. — Er war der Sohn eines
Pfarrers, der aber schon 1837 starb und sechs unmündige Kinder ohne Ver-
mögen zurückließ. Indessen die energische, tatkräftige und hochbegabte
330 . Briegleb. .Riegel.
Mutter verzagte nicht und nahm voll Gottvertrauen die Erziehung ihrer
Lieben in die Hand. Sie zog mit ihnen nach Büdingen, wo Elard 1837 — 41
das Gymnasium besuchte, und begleitete ihn dann auch nach Gießen, wo er
bis 1844, besonders unter den die Freiheit der Wissenschaft und Forschung
hochhaltenden Professoren Credner und Knobel, Theologie studierte. Nach-
dem er dann noch ein Jahr lang das Predigerseminar in Friedberg (Wetterau)
besucht hatte, nahm er eine Hauslehrerstelle bei dem Bergrat Buderus auf
dem Hüttenwerk zu Hirzenhain an, einem im Tal der Nidder reizend ge-
legenen Dörfchen am Ausgang des Vogelsberges, und wurde hier 1848 zugleich
Pfarrverwalter. In gleicher Eigenschaft kam er 185 1 nach Groß-Biberau und
noch in demselben Jahre nach Butzbach, wo er das Rektorat der Knaben-
schule zu führen hatte. Seit 1854 Pfarrvikar in Nidda, wurde er endlich im
folgenden Jahre definitiv Pfarrer in Aisheim, Kreis Worms, kam dann als
solcher 1862 nach Hohen-Sülzen und 1874 nach Pfeddersheim, wo er bis 1895
wirkte und bis 1888 auch das Dekanat verwaltete. Ein Blasenleiden zwang
ihn, nach 47 jähriger Amtsführung seine Pensionierung nachzusuchen, worauf
er nach Worms übersiedelte. Hier ist er hochbetagt gestorben. — »Der
Wald hat*s auf sich; der ganze Vogelsberg mit Land und Leuten hat*s auf
sich, daß ich Schriftsteller und Dichter wurde«, bekennt B. selber. Aus seinem
engen Verkehr mit den Dorfbewohnern in den verschiedenen Provinzen seiner
hessischen Heimat, sowohl als Jüngling wie später als Pfarrer, erwuchs ihm
die Liebe zur Heimat und das Interesse am Volk, das dann in seinen mund-
artlichen Dichtungen zum Ausdruck kam, »Wie's klingt am Rhei'« (mundart-
liche Gedichte aus der hessischen Pfalz, 1886); neue Folge u. d. T. »Links
am Rhei' ist gut sei*« (1899); Anhang dazu »Wei'schdeier Lieder« (1899) und
»Vivat der Vogelsberg« (1896). Alle diese Dichtungen trugen ihm den Ehren-
namen »Der Sänger des Vogelsbergs« ein. Als echtdeutscher Patriot erweist
er sich in »Bismarck-Lieder« (1898), während seine religiösen und religions-
politischen Dichtungen noch der Veröffentlichung harren.
Persönliche Mitteilungen. — Dr. Chr. W. Stromberger: Die geistliche Dichtung in
Hessen. Neue Folge. Darmstadt 1898, S. 20. Franz Brummer.
Riegel, Franz, üniversitätsprofessor der klinischen Medizin und Ge-
heimer Medizinalrat in Gießen, ♦ 9. Februar 1845 in Würzburg, f 26 August
1904 in Bad Ems. — R.s Vater war Bade- und Bezirksarzt in Brückenau; er
selbst besuchte das Gymnasium in Würzburg und verbrachte dort auch seine
ganze Studienzeit. Für sein vorzüglich bestandenes Staatsexamen erhielt er
ein Stipendium, das er dazu verwandte, seine Studien in Wien fortzusetzen.
Nach seiner Rückkehr von Wien wurde er am Julius -Spital in Würzburg
Assistent; nach kurzem Aufenthalt auf der gynäkologischen Abteilung von
Scanzoni, die er gleichzeitig mit der Assistentenstelle an der innern Klinik
Bambergers versorgte, übernahm er dann allein die letztere Stellung und
blieb sechs Jahre lang Bambergers Assistent. Im Jahr 187 1 habilitierte er
sich. Nach Bambergers Berufung nach Wien blieb er eine Zeitlang noch
Gerhards Assistent. Um diese Zeit wurde der Direktorposten am Kölner
Bürgerhospital frei und R. wurde, ohne sich vorher gemeldet zu haben, be-
sonders auf Veranlassung von Virchow und Bamberger auf die Liste der Be-
werber gesetzt und Dank der Agitation einer Richtung in Köln, die das
Riegel. 33 1
grofie Hospital im modernen Sinne umgestalten wollte, gewählt. Nach
5 jähriger Tätigkeit an dieser Stelle traf ihn der Ruf nach Gießen, wo er den
durch den Rücktritt von Seitz frei gewordenen Lehrstuhl für klinische Medizin
einnehmen sollte. Im Mai 1879 ^^™ ^* nach Gießen und ist in dieser
Stellung bis an sein Lebensende geblieben.
Diese Etappen bezeichnen den äußern Lebensgang R.s. Die wissenschaft-
liche Richtung, in der er Zeit seines Lebens aufging, läßt sich in ihren ersten
Anfängen schon in seiner Doktordissertation »Über das Verhältnis der Atem-
bewegung beim gesunden und kranken Menschen« erkennen. Wie er in
dieser Arbeit eine Vorliebe für experimentelle Pathologie und ihre Beziehungen
zur Klinik zum Ausdruck brachte, so ist er während seiner ganzen wissen-
schaftlichen Tätigkeit fast ausschließlich bemüht gewesen, die Forschungs-
ergebnisse der experimentellen physiologischen Pathologie mit den Verände-
rungen am kranken Menschen in Einklang zu bringen.
Die Neigung zur Erforschung und Bearbeitung der funktionellen Stö-
rungen, die sicher in seiner ganzen geistigen Veranlagung fußte, hat ihre
erste Förderung vielleicht in den grundlegenden physiologischen und patho-
logischen Arbeiten von Heidenhain und Cohnheim gefunden, die damals —
Anfang der siebziger Jahre — das Interesse aller wissenschaftlichen Mediziner
in höchstem Grade erregten. Sicherlich war für ihn aber noch viel be-
deutungsvoller, was er an Eindrücken in Wien empfing. Hier vertiefte er
sich keineswegs allein in die rein klinischen Studien bei Oppolzer und Skoda,
vor allem zog es ihn zu Stricker, dessen findiger Geist die vielen, durch die
neuen Forschungsergebnisse der Physiologie, allgemeinen Pathologie und Klinik
neugezeitigten Probleme an der Hand orginell ersonnener Untersuchungs-
methoden zu ergründen suchte. So reizvoll es aber auch für den jungen, so
empfänglichen und jeder Anregung nachgebenden Forscher war, sich in die
vielseitigen Methodik dieses unerschöpflichen Arbeitsfeldes zu vertiefen und
aus ihm Stoff zu neuen Arbeiten zu entnehmen, so wurzelte seine geistige
Individualität doch viel zu sehr im Realen, in der konkreten Beobachtung,
als daß er sich hätte völlig für dies der Theorie und Hypothese noch zu
offene Gebiet gewinnen lassen. Er nahm alle die Anregungen auf und
verarbeitete sie für die angewandte Pathologie, für die klinische Medizin.
Für diese brachte er eine seltene Beobachtungsgabe und die nüchterne Objekti-
vität des unbestechlichen Untersuchers mit. Aus der glücklichen Vereinigung
dieser beiden Geistesrichtungen erwuchs die wissenschaftliche Persönlichkeit
R.s. Aus den klinischen Veränderungen schälte er den Kern des patholo-
gischen Problems, das er sowohl durch weitere klinische Beobachtungen
sowie durch experimentelle Nachahmung des Vorgangs beim Tierversuch,
eventuell auch beim Menschen, wenn sich dies ohne dessen Schädigung er-
reichen ließ, zu ergründen sich vornahm. So vielseitig daher auch seine
Arbeiten waren — und er hat wohl kaum ein Gebiet der klinischen Medizin
unbepfiügt gelassen — fast durchgängig tragen sie diesen Gedankengang.
In seiner Würzburger Zeit hat er zunächst hauptsächlich die Pathologie der
Respiration in das Bereich seiner Untersuchungen gezogen. Eine Ergänzung
und Vervollkommnung seiner Dissertation legte er in einer Reihe von Unter-
suchungen nieder, bei denen er sich eines selbstkonstruierten Stethographen
bediente. Gleichzeitig bearbeitete er die Störungen der Kehlkopfinnervation.
332 Riegel.
Seine Arbeiten über die Stimmbandlähmungen und »respiratorische Paralysen«
haben eine grofie Bedeutung behalten. Er hat mit zuerst auf das bedeutsame
Krankheitsbild der Lähmung der Gl otti serweiterer aufmerksam gemacht, ihre
Klinik anschaulich beschrieben und ihre Theorie begründet. Seine Habili-
tationsarbeit wandte sich dem Einflufi des Nervensystems auf Kreislauf und
Körpertemperatur zu. Das Studium der Blutgefäßinnervation, die bei diesen
mühevollen Versuchen sorgfältig beobachtet wurde, führte ihn zu weiteren
hämodynamischen Untersuchungen. Diese und die hieran anknüpfenden
Probleme der Zirkulationsstörungen am Herz und an den Gefäfien bilden den
Hauptinhalt einer großen Reihe fruchtbarer und wichtiger Arbeiten, von denen
ein Teil bereits in Köln zum Abschluß kam. Es sei hier zunächst an seine
Pulslehre erinnert, in der er als erster die durch die physikalischen ünter-
suchungsmethoden in den Hintergrund getretene Pulsbeobachtung wieder neu
belebte. Er führte den Sphygmographen in die Klinik ein und schuf damit eine
für die Pulsbeobachtung der Klinik ungemein wichtige Methodik, die durch
seine klassischen, in verschiedenen Arbeiten niedergelegten Pulsschilderungen
ein Allgemeingut der wissenschaftlichen Ärzte geworden ist. Es seien hier
femer erwähnt die Arbeiten über die Vermehrung der Gefäßspannung bei
Bleikolik, über die Drucksteigerung im arteriellen Gefäßsystem bei beginnen-
der akuter Nephritis, die grundlegenden Untersuchungen, über Hemisystolie
über normalen und pathologischen Venenpuls und nicht zum wenigsten seine
mehr klinischen Studien über Herzkrankheiten (Myocarditis und Mitralfehler).
R. beschäftigte sich jedoch keineswegs ausschließlich in dieser Richtung.
Seine interessanten Untersuchungen über das Bronchialasthma, in denen er
die bei diesen Zustand beobachtete Lungenblähung experimentell als einen
durch reflektorische Phrenicuserregung zustande gekommenen Zwerchfellkrampf
erklären konnte, sowie seine rein therapeutischen Arbeiten über das Coffein,
Jaborandi, Apomorphin, Atropin usw. zeigen die Vielseitigkeit seiner Interessen.
Von ganz besonderer Bedeutung sind endlich die Arbeiten R.s für die Patho-
logie der Verdauung geworden. In den letzten 15 Lebensjahren haben diese
einen großen Teil seiner Tätigkeit in Anspruch genommen. Man kann ohne
Übertreibung sagen, daß die Kußmaulsche Anwendung der Magensonde
in der Therapie, durch die überhaupt die diagnostische Magenaushebung in-
auguriert wurde, ihre reichsten Früchte in den Arbeiten R.s und seiner
Schüler über die Magenpathologie getragen hat. Aus der erdrückenden
Fülle physiologischer und pathologischer Fragen, die mit der Einführung
des Mageninhalts als diagnostisches Moment auf einmal nach Beantwortung
verlangten, hat R. mit klinischem Scharfblick grade die herauszuwählen ver-
standen, die für das Verständnis pathologischer Zustände wesentlich waren
und praktisch dringend eine Klärung verlangten. Wenn heute die Frage der
freien und gebundenen Salzsäure, der Hyperchlorhydrie , die Rolle der
Superacidität in der Pathogenese und Klinik des Magengeschwürs, die Ent-
stehung der Magenerweiterung, die Diagnostik des Magenkrebses usw. in
ihren wesentlichen Punkten gelöst genannt werden dürfen, so ist es haupt-
sächlich das Verdienst von R., der teils selbst durch zahlreiche Arbeiten
hierin Klarheit geschafft, teils seine Schüler hierzu veranlaßte. Sein vorzüg-
liches Lehrbuch der Magenkrankheiten, das den XII. Band der Nothnagel-
schen speziellen Pathologie und Therapie bildet — der I. Teil ist bereits in
Riegel. 333
zweiter Auflage erschienen — übermittelt dem großen ärztlichen Publikum
diese Fülle von Arbeit und neugewonnener Erkenntnis.
So sehr R. die rein wissenschaftliche Tätigkeit in Anspruch nahm und
seinem Leben den Hauptreiz verlieh, so hat er doch auch auf mannigfachen
andern Gebieten fruchtbringend gewirkt. Er besafi ein grofies organisatorisches
Talent, das er hauptsächlich in seiner Eigenschaft als Krankenhausdirektor
zu entfalten Gelegenheit hatte. In Köln sowie in Gießen mußte er ganz neue
Verhältnisse schaffen.
Das Kölner Bürgerhospital, das damals weit davon entfernt war, den
Anforderungen eines modernen Krankenhauses zu genügen, wurde von ihm in
allen Punkten reorganisiert; es gelang ihm, in Verein mit umsichtigen
Männern der Stadtverwaltung, die seinen Vorschlägen den nötigen Nachdruck
zu verschaffen wußten, allmählich alles das durchzusetzen, was an Pflege-
personal, Assistenten usw. nötig war, sogar die Errichtung eines wissenschaft-
lichen Laboratoriums, wohl eines der ersten in Deutschland. Als er von
Köln nach fünfjähriger ungemein fruchtreicher und, wie hinzugefügt werden
muß, sehr warm anerkannter Tätigkeit schied, hinterließ er seinem Nach-
folger Leichtenstem ein musterhaftes, vom modernsten wissenschaftlichen
Geiste durchwehtes Krankenhaus.
In Gießen waren die Verhältnisse bei seiner Berufung jammervoll. Das
akademische Krankenhaus war in einer alten Kaserne untergebracht; zur
Hälfte war diese für die Bibliothek und archäologische Sammlung benutzt,
in der andern teilten sich, auf je ein halbes Stockwerk beschränkt, Augen-,
innere und chirurgische Klinik. R., der sich schon bei seiner Berufung den
Bau einer neuen Klinik ausmachte, erreichte zunächst wenigstens die Ent-
fernung des nichtmedizinischen Teils aus dem alten Haus und die Räume für
ein Laboratorium und Assistentenwohnungen in einem Nebengebäude. Durch
rastloses, unermüdliches Arbeiten und nie erlahmende Energie vermochte er
beim Ministerium mit seinen Plänen für den Neubau der medizinischen Lehr-
anstalten durchzudringen und ii Jahre nach seiner Berufung war es ihm
endlich vergönnt, in seine neue Klinik einzuziehen, die gleichzeitig mit dem
Neubau der Frauenklinik und des pathologischen Institutes eröffnet wurde.
Die neue Klinik war in Bauplan und Ausführung musterhaft ersonnen,
um den Zwecken eines modernen Krankenhauses und gleichzeitig einer Lehr-
anstalt und Stätte wissenschaftlicher Arbeit zu dienen.
Seine klinische Lehrtätigkeit hat R. mit großer Liebe ausgeübt, sie war
ihm eine Herzenssache. Es kam ihm nicht darauf an, durch einen glänzenden
Vortrag auf die Hörer zu wirken, sondern durch klares systematisches Vor-
gehen die Schüler zunächst zur richtigen Krankenuntersuchung zu erziehen
und logisch aus der Untersuchung das Krankheitsbild zu entwickeln. War
er mit diesem Teil seiner Aufgabe fertig, und kam er zu der Besprechung
der Pathogenese und allgemeinen Pathologie der vorliegenden Krankheit,
so gab er stets abgerundete Bilder, die sich in das Gedächtnis der Hörer
scharf einprägten; oft genug riß ihn der Gegenstand dann aber auch
hin, den vorliegenden Fall zum Ausgangspunkt physiologisch-pathologischer
Erörterungen zu machen, in denen dann in fesselnder Weise Experimente
und Hypothesen zur Sprache kamen und die Schüler damit in die wissen-
schaftlichen Arbeitsstätten der Medizin eingeführt wurden. • So war er
33^ Riegel. Liersch.
eigentlich mehr ein Lehrer für Vorgeschrittenere und es ist nicht wunderbar,
daß er namentlich auf seine Assistenten eine grofie Anregung zur Arbeit aus-
übte. Die Arbeiten seiner Assistenten sind ungewöhnlich zahlreich und zum
größten Teil nicht nur »Assistentenarbeiten«, sondern eine große Anzahl von
ihnen bedeuten wirkliche, wissenschaftliche Fortschritte. Wenn er auch be-
sonders die älteren Assistenten durchaus nicht in der Selbständigkeit ihrer
Arbeitsrichtung, Aufgaben und Ausführungen zu beeinflussen suchte, so ist doch
wohl den meisten dieser Untersuchungen der Stempel seiner Geistesrichtung
eingeprägt, der im Anfang zu charakterisieren versucht worden ist: die Ur-
sache der pathologischen Störung auf physiologischem Wege zu ermitteln.
So kann man von einer R.schen Schule sprechen, die unter seinem Einfluß,
auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Ideen und Überzeugungen aus-
gebildet, in seinem Sinne weiter arbeitet.
Als Arzt, besonders als Konsiliararzt, hat R. eine sehr große Tätigkeit aus-
geübt und in diesem Tun nicht nur durch seine wissenschaftliche Bedeutung,
sondern vielleicht noch mehr durch seine menschlichen Eigenschaften, sein
suggestiv beruhigendes Wesen, sein geduldiges Eingehen auf die Persönlich-
keit des Kranken und seine Pflichttreue die größten Erfolge erzielt. Seine
konsiliare Tätigkeit dehnte sich über weite Bezirke des westlichen Mittel-
deutschlands, sogar bis nach Holland und Belgien aus. Seine Tätigkeit als
Lehrer, Arzt und Forscher füllte ihn so sehr aus, daß er, wiewohl sein Inter-
esse andern allgemein menschlichen Dingen durchaus nicht abgewandt war,
keine Zeit fand sich ihnen zu widmen. Er arbeitete unablässig von Morgen
bis in die Nacht, die kurzen freien Stunden, die er sich gönnte, gehörten seiner
engsten Familie an, in deren Kreise er sehr glücklich lebte. Am 15. Mai
1904 feierte er im Kreise seiner früheren und damaligen Assistenten sein
25. Professoren Jubiläum, zu dem ihm diese eine Festschrift (53. Band der Zeit-
schrift für klinische Medizin) verehrt hatten. Seine Freude über diese seinem
Wesen so adäquate Ehrung war ebenso rührend wie charakteristisch für den
Mann, der von der ersten Jugend an der Wissenschaft gedient hatte und ihr
nie einen Augenblick untreu geworden war. Leider trug er schon damals,
ohne es zu wissen, den Keim zu der tötlichen Krankheit in sich, der er
wenige Monate später nach schwerem Leiden erlag.
Der Name von Franz R. gehört zu denen, die in der Geschichte der
deutschen medizinischen Klinik nie vergessen werden können. Denn an ihn
knüpfen sich in fast allen ihren Gebieten Fortschritte, die zu ihrem Ausbau
beigetragen haben und noch fortwirkend weiter beitragen werden.
Georg Honigmann -Wiesbaden.
Liersch, Ludwig Wilhelm, Geheimer Sanitätsrat in Kottbus, • daselbst
2. Juni 1830, t 9. Mai 1904. — L. studierte in Greifswald, Göttingen und
Berlin, promovierte 1852, machte von 1853 — 55 wissenschaftliche Reisen und
ließ sich 1856 in seiner Vaterstadt nieder, wo er neben der allgemeinen auch
augenärztliche Praxis trieb, 1888 zum Kgl. Kreisphysikus ernannt wurde und
als solcher bis zu seiner bei Einführung der Kreisärzte erfolgten Emeritierung
verblieb. L. gehörte zu den angesehensten Ärzten seiner Gegend, bekleidete
mehrere Ehrenämter, war lange Jahre Mitglied der Ärztekammer der Provinz
Brandenburg und machte sich um die Förderung der ärztlichen Standes-
Liersch. Langerhans. Kottmann. Zimmennann. ^^e
angelegenheiten recht verdient. Auch schriftstellerisch war er tätig. Er ist
Verfasser verschiedener kleinerer Arbeiten über Friedrichs des Großen letzte
Krankheit und Tod, über die linke Hand, medizinische Geschichte der Stadt
und des Kreises Kottbus u. a. Am 7. August 1902 feierte L, sein 50 jähriges
Doktorjubiläum.
Vergl. Virchows Jahresberichte 1904, I, 472. Pagel.
Langerhans, Robert, Patholog in Berlin, * 4. Mai 1859 ^^^ Sohn des
bekannten Stadtverordneten-Vorstehers zu Berlin, f 22. November 1904. —
L. studierte anfangs die Architektur an der Berliner Bauakademie, dann
Medizin in München und Berlin, hauptsächlich als Schüler Virchows, promo-
vierte 1884, war Arzt seit 1885, habilitierte sich für pathologische Anatomie
1890, war 1885 — 94 Assistent von Rudolf Virchow, seit 1894 Prosektor am
Krankenhaus Moabit-Berlin und erhielt 1895 den Professortitel. L. wird in
seinem Fach sehr gerühmt. Er war ein gründlicher Forscher und fruchtbarer
Schriftsteller. Von seinen Publikationen sind zu nennen: »Grundriß der
pathologischen Anatomie« (mehrere Auflagen, übersetzt ins Englische, Italie-
nische, Russische.) — »Innere Einklemmung durch Axendrehung der
Pylorushälfte eines Sanduhrmagens« — »Über Pankreasnekrose« (1889) —
»Über Atlasankylose« (1890) — »Über multiple Fettgewebsnekrose« (1890/91)
— »Über regressive Veränderungen der Trichinen« (1892) — »Veränderungen
der Lungen nach Karbolsäure -Vergiftung« (1892/93) — »Beiträge zuf
Physiologie der Brustdrüse« (1894) — »Über Sarggeburt« (1899) und kleinere
Mitteilungen.
Vergl. Virchows Jahresberichte 1904, I, 471. Pagel.
Kottmann, August, Chirurg in Solothum, * daselbst 4. März 1846,
f 4. Juli 1904. — K. stammte aus einer Ärztegeneration. Er war der Sohn
und Enkel von Ärzten. Seine Studien machte er seit 1865 in Bern, Tübingen
und Prag, promovierte 1869 in Bern summa cum laude mit der Dissertation:
»Die Symptome der Leukämie« (Bern 187 1), war bis 1872 Assistent von Lücke
und Munk in Bern, habilitierte sich zunächst für innere Medizin, nahm am
Kriege von 1870 — 71 in deutschen Hospitälern teil, machte eine längere
Studienreise, die ihn an verschiedene ausländische Universitäten führte und,
nachdem er die akademische Laufbahn aufgegeben hatte, übernahm er 1872
die Leitung des Bürgerspitals seiner Vaterstadt, wo er sich als Chirurg große
Verdienste erwarb und als einer der beliebtesten und verdientesten Ärzte
bewährte. Er führte die Antisepsis ein, machte als erster die Operation
der Entfernung des Fruchthalters durch die Scheide zwecks Beseitigung einer
gefährlichen Neubildung, und brachte es im Jahre 1902 auf 669 Operationen,
während er die Krankenzahl seines Hospitals so beträchtlich hob, daß die
Frequenz von 368 im Jahre 1872 auf 1106 im Jahre 1902 stieg. Auch war
er literarisch fruchtbar. K. besaß auch als Musiker und Violinist einen Ruf.
Vergl. Virchows Jahresberichte 1904, I, 471. Pagel.
Zimmermann, Alfred, Stabsarzt in Wien, ♦ 24. Oktober 1865 in Klagen-
furt, t I. November 1904. — Z. studierte in Wien, promovierte hier 1890,
widmete sich dann der militärischen Laufbahn, war Garnisonsarzt in ver-
9^6 Zimmermann. Zahn. Kottulinsky von Kottulin.
schiedenen Spitälern, gleichzeitig Sekundärarzt, später Chefarzt an der Gussen-
bauerschen Klinik, wurde 1893 Regimentsarzt, 1895 außerordentliches Mit-
glied des Sanitätskomitees, 1901 Stabsarzt. Z. war ein kenntnisreicher Anatom
und tüchtiger Chirurg; besonders geübt war er als Operateur der Darm-,
Gallenblasen,- Nieren- und chirurgischen Himaffektionen, Sein Tod erfolgte
an Blutvergiftung.
Vergl. Virchows Jahresberichte 1904, I, 484, und die dort angegebenen Quellen.
Pagel.
Zahn, Friedrich Wilhelm, Patholog und pathologischer Anatom in Genf,
* 14. Februar 1845 ^^ Germersheim in der Pfalz, f 16. August 1904. — Z. studierte
in Straßburg i. E., hauptsächlich als Schüler von v. Recklinghausen, promo-
vierte 1870 in Bern und erhielt 1876 das Ordinariat seines Faches in Genf.
Z. ist Verfasser von Arbeiten in der pathologischen Anatomie des Zirkulations-
apparates, der Geschwülste, der Entzündung und bearbeitete zusammen mit
A. Lücke den Abschnitt »Geschwülste« in der von Billroth und Lücke
herausgegebenen »Deutschen Chirurgie«.
Vergl. Virchows Jahresberichte 1904, I, 483, und die dort angegebenen Quellen.
Pagel.
Kottulinsky von Kottulin, Adalbert Graf, * 5. Juni 1847 in Graz,
f 20. November 1904 zu Neudau in Steiermark, Staatsmann und Volkswirt. —
K. gehörte einer Familie des schlesischen Uradels an, die anfangs des XVIIL Jahr-
hunderts das Erbe der gräflichen Familie Rottal in Steiermark antrat und
sehr bald in der Regierung und Verwaltung des Landes die Stellung und
den Einflufi gewann, den die namentlich in der Oststeiermark begüterten
Rottal seit Jahrhunderten eingenommen hatten. Des Grafen Adalbert Vater,
Graf Josef, war noch in der ständischen Zeit Mitglied des in seiner Wirksam-
keit allerdings sehr eingeschränkten Verordnetenkollegiums gewesen und war
bei der Einberufung des Landtages sofort als Vertreter des Großgrundbesitzes
in den Landesausschuß berufen worden, dem er bis zu seinem Tode angehört
hat. Graf Adalberts Erziehung und Studiengang, sowie seine erste Ver-
wendung im Staatsdienste waren darnach eingerichtet, daß er die öffentliche
Tätigkeit des Vaters seinerzeit aufnehmen und erweitern konnte. Er absol-
vierte das Gymnasium in Graz 1865, studierte Rechtswissenschaft an den
Universitäten Graz und Innsbruck und trat 1870 als Konzeptspraktikant bei
der steiermärkischen Statthalterei in den Verwaltungsdienst ein. Durch viel-
seitige und wechselnde Verwendung in Ämtern mit verschiedenartigen Auf-
gaben bei den Statthaltereien in Ober- und Niederösterreich und zwar in
Linz, Wels, Wien, Waidhofen a. d. Thaia konnte er sich eine genaue Kenntnis
nicht nur aller Zweige des Verwaltungsdienstes, sondern der Bedürfnisse
städtischer und ländlicher Bevölkerung erwerben. Der 1878 erfolgte Tod
seines Vaters nötigte ihn, 1879 ^^" Staatsdienst zu verlassen und die Bewirt-
schaftung der Güter Neudau, Ober- und Untermai erhofen nicht nur im eigenen
sondern auch im Interesse seiner Schwestern zu übernehmen, da die Güter,
die keine Majorate sind, nicht an ihn allein gefallen waren. Damit war
Graf K. seinem Heimatlande wiedergegeben und er hat seine Arbeitskraft
und seine Erfahrung sehr bald auch in dessen Dienst stellen müssen, denn
Kottulinsky von Kottulin. 227
der Großgrundbesitz entsandte ihn noch 1879 in den Landtag und dieser
wählte ihn 1882 in den Landesausschuß. Als Mitglied dieser Körperschaft
begnügte sich Graf K. nicht mit der Erledigung der ihm zugewiesenen Geschäfte,
er wandte seine Aufmerksamkeit dem öffentlichen Leben zu und beteiligte
sich an allen Unternehmungen, für die er seine Kenntnisse verwerten zu können
hoffte. Bald entwickelte sich bei ihm ein lebhafter Sinn für das künstlerische
Schaffen, nicht nur für das moderne, sondern auch für die Hinterlassenschaft
verflossener Zeiten. Dies trat namentlich bei den Vorarbeiten für die kultur-
historische Ausstellung hervor, mit der die Steiermark ihre sechshundert-
jährige Verbindung mit dem Hause Habsburg 1883 feierte. Graf K. trug
wesentlich zu deren Zustandekommen bei, indem er nicht nur, wie viele
seiner Standesgenossen in solchen Fällen, seine Präsidialgeschäfte pünktlich
besorgte, sondern auch an den Forschungs- und Sammelarbeiten persönlich
Anteil nahm, durch die man die Gegenstände der Ausstellung erst ausfindig
und dem angestrebten Zwecke zugänglich machen konnte.
Alle Ideen und Bestrebungen in wirtschaftlicher, humanitärer und künst-
lerischer Richtung, zu denen Graf K. durch sein Wirken angeregt worden
war, treten in den Bereich der Ausgestaltung und in vielen Fällen auch der
Ausführung und des Erfolges, nachdem die im Jahre 1884 von ihm geschlossene
Ehe mit Theodora Freiin Mayer von Meinhof, der Tochter des hervorragendsten
Eisenindustruellen der Steiermark, Begründers der weltberühmten Donawitzer
Werke, Franz Freiherrn Mayer von Meinhof, ihm reiche Mittel zur Hand
gegeben hatte, in allen Fällen tatkräftig einzugreifen, in denen das gute
Beispiel mehr wirkt als die beste Rede. Gräfin Theodora war in dieser Hin-
sicht eines Sinnes mit ihrem Gatten und fand ihre höchste Befriedigung in
der Förderung der von ihm teils ins Leben gerufenen, teils durch Reformen
erneuten und zu neuer Blüte erweckten Körperschaften und Vereine. An
Männer solcher Art und von so intensiver Arbeitsfreude ist das öffentliche Leben
Österreichs nicht überreich, es konnte nicht fehlen, daß man den Grafen K.
überall dort heranzog, wo man eine energische Leitung und ehrliche Arbeit
brauchte. Dies gilt namentlich von der steiermärkischen I^andwirtschafts-
gesellschaft, in der er unter der Präsidentschaft des Freiherm von Washington
als Ausschußmitglied und vielseitiger Referent, seit 1898 als Präsident eine
umfassende und außerordentlich fruchtbringende Tätigkeit entfaltete. Er ver-
anlafite die Beteiligung der steierischen Landwirte an allen agrarpolitischen
Aktionen der letzten Jahre und stellte Beziehungen zwischen dem Verbände
landwirtschaftlicher Genossenschaften und der Gesellschaft her, deren Vorteile
für beide Korporationen sehr bald zutage traten, so daß die in der Steier-
mark zustande gebrachten Einrichtungen vorbildlich für andere Länder wurden.
Der Zusammenschluß aller Landwirte seines Heimatlandes, die Sinn und Ver-
ständnis für die dem modernen Ökonomen gestellten Aufgaben haben, die
Vereinigung aller landeskulturellen Agenden unter dem Präsidium der Land-
wirtschaftsgesellschaft, endlich die Schaffung eines Landwirtschaftshauses für
alle landwirtschaftlichen Korporationen, waren Aufgaben, die er sich gestellt,
an deren Lösung ihn nur der allzufrühe Tod gehindert hat. Das große
Geschick, mit dem K. die agrarischen Forderungen in den Vertretungskörpem,
namentlich im Herrenhause zu begründen wußte, eignete ihn ganz besonders
für die Leitung der Zentralstelle zur Wahrung der land- und forstwirtschaft-
BiogT. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd. 23
238 Kottulinsky von Kottulin. Grün.
liehen Interessen beim Abschlüsse von Handelsverträgen, zu deren Ehren-
präsidenten er gewählt wurde.
Obwohl von der Verwaltung der eigenen Besitzungen, von denen nament-
lich Neudau zur Musterwirtschaft eingerichtet wurde, und der Vormundschaft
über die minderjährigen Kinder seines 1893 verstorbenen Schwagers Franz
Freiherrn Mayer von Meinhof im hohem Grade in Anspruch genommen, ließ
sich K. doch zur Vertretung des steierischen Großgrundbesitzes in das
Abgeordnetenhaus entsenden, wo er ebenso wie seit 1895 im Herrenhause
seine ganze Kraft für den Schutz der Deutschen in Österreich und die Erhal-
tung ihrer führenden Rolle im Reiche einsetzte. Ganz eigenartig aber war
seine Stellung im steierischen Landtage; das Landesbudget kannte in allen
seinen »Titeln« niemand so genau als Graf K., er war infolgedessen der
ständige Obmann des Finanzausschusses und Referent über die wichtigsten
finanzpolitischen Vorlagen. In den letzten Jahren war er über seine Stellung
als Führer des liberalen Großgrundbesitzes hinausgewachsen zum Führer der
Deutschen im Landtage, als welcher er die Angriffe der Slowenen und Kleri-
kalen oft in schärfster Weise zurückgewiesen hat. Trotzdem genoß er auch
im gegnerischen Lager die höchste Achtung und manches Kompromiß, das
dem Lande große Vorteile brachte, ist nur durch seine, von Gerechtigkeit
getragene Vermittlung zwischen den sich bekämpfenden Parteien zustande
gekommen. Seine Bedeutung wurde von seiten der Regierung durch die Ver-
leihung der Geheimen Rats würde (1898) und die Berufung ins Herrenhaus
anerkannt.
Auch die Pflichten, die dem mit Glücksgütern gesegneten obliegen,
standen ihm lebhaft vor der Seele und veranlaßten nicht nur zahllose Wohl-
tätigkeitsakte, sondern trieben ihn auch an, sich der Armenpflege persön-
lich zu widmen. Der Verein für öffentliche Armenpflege in Graz, nach
Elberfelder System eingerichtet, erreichte unter seiner werktätigen Präsident-
schaft eine Blüte, die seit seinem Tode leider nicht wieder erreicht werden
konnte. Die Gründung des Vereins der bildenden Künstler der Steiermark
wurde wesentlich dadurch gefördert, daß K. das Protektorat übernahm und
die ihm nahestehenden Gesellschaftskreise für die Ausstellungen des Vereins
zu interessieren bemüht war. Ein Mann, der die Menschheit in allen Schichten
und Berufskreisen kennen gelernt und sich dabei den lebendigen Sinn für
alle berechtigten Ansprüche und alle gesunden Lebensäußerungen bewahrt
hat, konnte auch nicht anders als für die Erweiterung des Wahlrechtes und
die Berücksichtigung der Arbeiter eintreten, wie es K. im Landtage getan
hat. Mit ihm ging ein deutscher Edelmann dahin, dem kein Stand feindlich
gesinnt sein konnte, den Tausende als ihren Schützer und Wohltäter ver-
ehrten, ein Edelmann, deren Deutsch-Österreich leider im Kampfe um sein
Recht im Staate mehr bedarf, als es besitzt. — Hans Zwiedineck.
Grün, Albert, Literaturhistoriker, Dichter und Pädagoge, * 31. Mai 1822
in Lüdenscheid (Westfalen), f 22. April 1904 in Straßburg i. E. — Er war
der Sohn eines wenig bemittelten Volksschullehrers und Bruder des als
Publizist, Literatur- und Kulturhistoriker bekannten Karl Grün. Er besuchte
die Volks- und Rektoratschule seiner Vaterstadt und seit 1836 die Unter-
sekunda des Gymnasiums in Barmen, trat aber schon aus der Obersekunda
Grün.
339
wieder aus, um als Bergaspirant in den Kohlengruben des Dortmunder Ober-
bergamtsbezirks sich für das höhere Bergfach vorzubereiten, und wurde
danach Zögling der Bochumer Bergschule. Neue gesetzliche Bestimmungen
nötigten ihn auf das Gymnasium zurückzukehren, damit er sich die Reife für
die Prima erwerbe. Dann trat er wieder als Bergeleve in Essen ein. In-
dessen veranlaßten ihn mancherlei Mißverhältnisse zu den Bergbehörden bald,
diesen Lebensberuf gänzlich aufzugeben. Nachdem er eine Zeitlang bei der
Versicherungsgesellschaft Colonia in Köln gearbeitet, ermöglichte es ihm ein
wohlhabender Freund, die Reifeprüfung an einem Gymnasium zu bestehen
und dann in Bonn Philologie zu studieren. Hier schrieb er seinen »Offenen
Brief« an die Bonner Studenten gegen das Unwesen der Korps. Im Jahre 1846
ging er, einer Anklage wegen Majestätsbeleidigung ausweichend, nach Brüssel,
wo er im Cercle arttsHque et Httiraire Vorlesungen über das moderne Drama
hielt. Die Revolution von 1848 zog ihn wieder nach Deutschland zurück,
wo er sich sofort in die politische Bewegung hineinstürzte. In Berlin ward
er im Frühjahr 1848 Vorsitzender des Königsstädtischen Maschinenbauer-
vereins, mußte aber nach Verhängung des Belagerungszustandes die Haupt-
stadt verlassen. In Köthen schrieb er dann seine Broschüre »Das Vorparlament«
(1849), leitete dann mit Arnold Rüge u. a. die Leipziger Bewegung, ging im
Mai 1849 als Bevollmächtigter der provisorischen Regierung von Sachsen
nach Frankfurt a. M. und mit der äußersten Linken des dort aufgelösten
Parlaments in die Pfalz, wo er als Zivilkommissar fungierte und nach Unter-
drückung der Bewegung in effigie hingerichtet wurde. Er selber war mittler-
weile beim badischen Aufstande beteiligt und entkam zuletzt nach Straßburg,
wo er Vorlesungen über deutsche Sprache und Literatur hielt und als Professor
in diesem Fache an verschiedenen Mädchenpensionaten tätig war. Hier
schrieb er auch sein Zeitbild »Deutsche Flüchtlinge« (185 1). Im Dezember 1852
vertrieb ihn der Staatsstreich Napoleons III. wieder aus Frankreich ; aber nur
einen Winter brachte er in der Schweiz zu, dann kehrte er wieder nach
Straßburg zurück und nahm seine frühere Tätigkeit als Lehrer wieder auf.
Auch als Schriftsteller entfaltete er eine größere Regsamkeit. Seiner Schrift
»Goethes Faust. Briefwechsel mit einer Dame« (1856) folgten »Das ABC der
Ästhetik« (1856), »Aus der Verbannung« (Gedichte, 1859) und das Schau-
spiel »Friederike« (von Sesenheim, 1859). Während der Belagerung Straß-
burgs wurde G. Ende August 1870 mit Weib und Kind abermals aus Straß-
burg verwiesen, zog aber mit deutschen Truppen wieder ein und übernahm
bald die Chefredaktion des »Niederrheinischen Kuriers«, die er zwei Jahre
lang in dem redlichen Streben führte, an der Versöhnung der Gemüter nach
Kräften mitzuwirken. In dieser Zeitung erschien denn auch zuerst sein
Roman »Das Forsthaus in den Vogesen« (III, 1874). Dann wandte sich G.
wieder seiner Lehrtätigkeit zu; er wurde Oberlehrer für Geschichte und
Literatur an der Schottkyschen Privatschule und später an der neu gegründeten
städtischen höheren Töchterschule, an welcher er bis zu seiner Pensionierung
im Herbst 1895 tätig war. Im Juli d. J. war ihm der Charakter als Professor
verliehen worden.
Persönliche MitteUungen. — Leimbach : Die deutschen Dichter der Neuzeit und Gegen-
wart, 3. Bd., S. 62. — StiaBburger Post vom 31. Mai 1902 und vom 23. April 1904.
Franz Brummer.
22*
^^O von Hopfen.
Hopfen, Hans Demetrius von, * 3. Januar 1835 zu München, f 19. No-
vember 1904 zu Groß- Lichterfelde bei Berlin. — H. absolvierte in seiner
Vaterstadt das Gymnasium und besuchte von 1853 — 58 die Münchener Univer-
sität. Nach erfolgtem juristischem Examen trat er für kurze Zeit in den
Staatsdienst, widmete sich aber gleichzeitig in Heinrich von Sybels histori-
schem Seminar eingehendem Geschichtsstudium. £r hatte die Absicht, für
eine akademische Lehrkanzel sich auszubilden und wurde in Tübingen zum
Dr, phiL promoviert.
Durch dieses doppelte Studium suchte Hans Hopfen seinen dichterischen
Schaffensdrang in die ruhigeren Bahnen eines bürgerlichen Berufes zu leiten,
doch voll befriedigt weder von dem einen noch von dem anderen, strebte
er in verschwiegener Arbeit, rastlos dem innersten, heimlichsten seiner Ziele
entgegen. Nachdem er bald unter eigenem, bald unter fremdem Namen
einzelne Gedichte erscheinen liefi und Korrespondent verschiedener Zeitungen
geworden war, faßte Hopfen Anfang der sechziger Jahre den Entschluß, sich dem
schriftstellerischen Beruf ausschließlich zu widmen. Er wurde hierin von
Emanuel Geibel bestärkt, der im Jahre 1862 Hopfens erste Gedichte im Münchener
Dichterbuch veröffentlicht, und in rückhaltloser Güte sein Werden gefördert,
sein lyrisches Talent bewundert hat. 1863 erschien Hopfens erster Roman
„Peregretta". Er zeigte den Dichter bereits als einen Meister der Prosa und
erwarb ihm raschen Erfolg. Nach längerem Aufenthalt in Paris wurde Hopfen
1864 Generalsekretär der Schillerstiftung und fand, wie einst an Geibel, nun
in Wien an Friedrich Halm liebevolle, weise Förderung.
Neben dem Dichter führte in Hans Hopfen der Politiker eine starke,
eigenwillige Existenz. Er hat es in der „Geschichte des Erstlingswerkes"^
lachend selbst erzählt, wie das erste Gedicht des Dreizehnjährigen ein politisch
Lied gewesen sei und auf einen Helden des Jahres 48, aus der Wut seines frei-
heitlich gekränkten Herzens in eine Xenophonpräparation geschrieben wurde,
während der Unterricht erteilende Pater das übermütige Bürschlein, zur Strafe
für allerlei Unfug, in einer Ecke knien ließ.
Obgleich in dem späteren Freunde Treitschkes die republikanische Ge-
sinnung schwerlich die Gymnasiastenzeit überdauerte, so blieb die leiden-
schaftliche Teilnahme an dem politischen Schicksal seines Landes dem Manne
in jeder Lage eigen und wirkte bestimmend auch auf sein äußeres Leben.
Nachdem er sich 1866 mit Auguste Freiin von Wehli aus Wien vermählt
hatte, verließ er dauernd die altbayrische Heimat, in der sein Wesen und
Schaffen innig wurzelten, und zog nach Berlin, der vorbestimmten Hauptstadt
des heiß ersehnten, neuen deutschen Reiches. Er ist dauernd dort geblieben,
auch nachdem die Zeit, welche der großen Erhebung und den großen
Männern des Jahres 1870 folgte, politisch und kulturell manche Enttäuschung
gebracht, und „nicht alle Blütenträume reiften^.
Künstlerisch fällt die Epoche seines reichsten Schaffens, zusammen mit
der seines größten persönlichen Glückes und tiefsten persönlichen Kummers,
in die Jahre 1866 — 80. In dieser Zeit entstand die feingezeichnete poetische
Satire „Der Pinsel Mings", entstanden die heimatlichen Bücher der „Bayrischen
Dorfgeschichten", „Der alte Praktikant", „Streitfragen und Erinnerungen", und
in rascher Folge jene Romane, denen Hans Hopfen seine wachsenden Erfolge
beim großen Publikum verdankte. Er schrieb eine fein gesteigerte Prosa,
von Hopfen. ^aj
die wunderbar taugte, um Episoden so zu zeichnen, daß man in einfach-ein-
dringlicher Weise erstehen sah, was immer sie schilderte. Scheinbar mit
schlichtesten Mitteln bewirkt, verlegt dieser an schönem Beiwerk reiche Stil,
den Wert Hopfenscher Bücher aus der fortschreitenden Handlung langer
Romane in die Sprache des Erzählers, welche in knappen Worten das
wesentliche an Menschen und Vorgängen sichtbar macht und Unbeachtetes
charakteristisch belebt. Den reinsten Ausdruck fand Hopfen für diese seine
Kunst in der Novelle. Ein feiner, etwas spöttischer Humor liegt da in allen
Worten, auch den innigsten, und über den Menschen, die sie reden. Dieser
Humor, den heimischer Boden ihm zu eigenstem Besitz verlieh, war der
künstlerische Vermittler zwischen Hopfens leidenschaftlich-subjektivem Tem-
perament und seinem überragend scharfen, kritischen Verstände. Aus ihm
erschuf er, oft im kleinsten Rahmen, ein Ganzes von reicher Lebenswahrheit
und tat es besonders da, wo auch Stoff und Naturschilderung seiner Heimat
entstammten.
Im Frühling 1878 ward zu Rom Hopfens jugendschöne, glückliche
Frau vom Fieber dahingerafft. In ihrer Heimat, am Fuß des Kahlenbergs,
begrub er sie und als sein Schmerz ausklang, schrieb er die „Gustlilieder",
seine schönsten Gedichte.
1882 erschien der Band, welcher, neben diesen, das Beste enthält, was
Hans Hopfen besaß und geben sollte: seine Lyrik. Aus den Geheimnissen
der Sprache und individuellen Eigenart hat reife künstlerische Einsicht sie
geschöpft und formvollendet gestaltet. In seinen Gedichten liegt Hans
Hopfens bleibende dichterische Bedeutung.
1882 vermählte er sich in zweiter glücklicher Ehe mit Marie Müller-Milton
aus Chicago.
Rastlos tätig hat Hans Hopfen noch vieles geschrieben, darunter Romane,
Novellen, Reiseschilderungen und Essays. Auch nachdem eine andere Lite-
raturepoche ihn verdrängt hatte, blieb die Feder das unentbehrliche nie
versagende Ausdrucksmittel seines regen und hoch kultivierten Geistes. Ein
jäher schmerzloser Tod zwang ihn zur Ruhe. Er starb am 19. November 1904
zu Groß-Lichterfelde bei Berlin,
Franz von Lenbach, W. Allers, Schulte im Hof u. a. haben ihn porträtiert.
Quellen: Hans Hopfen: Die Geschichte des Erstlingswerkes; Hans Hopfen: Bunte
Spenden deutscher Dichter und Denker der Gegenwart für das deutsche Schriftstellerheim
in Gera, gesammelt von Dr. Timon Schroeder; Dr. Alfred Freih. von Berger: »Hans Hopfen«,
N. Freie Presse, Nov. 1905.
Verzeichnis der Werke Hopfens: Peregretta, Roman 1863; Verdorben zu Paris, Roman
1867; Der Pinsel Mings, Erzählung in Versen 1868; Arge Sitten, Roman 1869; Der graue
Freund, Roman 1874; Juschu, Roman 1875; Verfehlte Liebe, Roman 1876; Streitfragen
und Essays, Erinnerungen 1876; Bayrische Dorfgeschichten, Novellen 1878; Der alte Praktikant,
Roman 1878; Die Heirat des Herrn von VValdenberg, Roman 1879; Die Geschichte des
Majors, Novelle 1879; Kleine Leute, Novelle 1880; Mein Onkel Don Juan, Roman 1881;
Gedichte 1882; Die Einsame, Roman 1883; Brennende Liebe, Roman 1884; Das Allheil-
mittel, Roman 1885; Zum Guten, Roman 1885; Mein erstes Abenteuer, Novelle 1886; Der
letzte Hieb, Roman 1886; Ein wunderlicher Heiliger, Novelle 1886; Dr. Genius und sein
Erbe, Novelle 1887; Robert Leichtfuß, Roman 1888; Theater, Dramen 1889; Neue Geschichten
des Majors, Roman 1890; Der Stellvertreter 1891; Die Göttin der Vernunft, Tragödie 1S92;
Helga, Schauspiel 1892; Es hat so sollen sein, Lustspiel 1893; Hexenfang, Lustspiel 1893;
^A2 ^'^^ Hopfen. Haoslick.
Der König von Thule, Schauspiel 1893; Glänzendes Elend, Roman 1893; Die erste Nord-
landfahrt, Reisebeschreibung der Auguste Victoria 1894; Im Schlaf geschenkt, Novelle 1895;
Die Siegerin, Novelle 1896; Die Engelmacherin, Roman 1898; Der Väter zweie, Roman
1898; Die ganze Hand, Roman 1900; 10 oder 11? Novelle 1901; Gotthard Lingens Fahrt
nach dem Glück, Roman 1902; Mein Wien, Essays 1904.
Lili Schalk-Hopfen.
Hanslick, Eduard Musik-Schriftsteller, Hofrat, Professor, * 11. September
1825 in Prag, f 6. August 1904 in Baden bei Wien. — Eduard Hauslick wurde
in Prag, seiner Vaterstadt, erzogen und blieb daselbst bis zu seinem 21. Lebens-
jahre. Sein Vater, Josef Adolf Hanslick, aus einer Bauernfamilie in Rakonitz
stammend, war Skriptor an der Prager Universitätsbibliothek, ein tüchtiger
Bibliograph, ein ästhetisch gebildeter Mann, in dessen Hause Literatur und
Musik gepflegt wurde; die Mutter hatte besondere Vorliebe für die französische
Literatur, die sich auf den Sohn übertrug. Prag, die alte, bewährte Musik-
stadt, hatte in W. J. Tomaschek einen Siegelbewahrer der klassischen Traditionen,
die er auch in seine Schüler zu pflanzen wußte, unter ihnen Eduard Hanslick.
Die junge musikalische Welt wurde jedoch von der Romantik ergriffen; der
Freundeskreis des jungen H., welchem neben A. W. Ambros einige treffliche
Klavierspieler angehörten, wie Alexander Dreyschock und Julius Schulhoff,
wurde von diesem Wirbel erfaßt und feierte 1846 in begeisterter Weise
den französischen Romantiker Hector Berlioz, der persönlich in Prag seine
Werke zur Aufführung brachte. Auch die Bekanntschaft Richard Wagners
hatte H. im Jahre 1845 in Marienbad gemacht, und es folgte ein begeisterter
Artikel über »Tannhäuser«, den H. in Wien veröffentlichte, wohin er 1846
gegangen war. Mit 19 Jahren war er schon als Kritiker hervorgetreten (in
»Ost und West«), und nunmehr begann er in Wien seine ausgebreitete kritische
Tätigkeit, die er bis an sein Lebensende fortsetzte. Vorerst in der »Wiener
Zeitung«, deren Musikreferent er vom i. Januar 1848 war und in den »Sonn-
tagsblättern« von L. A. Franckl; dabei vergaß er nicht an .seine Vaterstadt
Berichte zu senden über Politik und soziale Zustände, die in der »Prager
Zeitung« erschienen, herausgegeben von Leopold von Hasner. H. hatte offiziell
die juristische Laufbahn betreten, wurde 1850 als Fiskalbeamter nach Klagen-
furt versetzt, 1852 nach Wien zurückberufen, wo er nunmehr dauernd blieb.
Vom Finanzministerium trat er zum Unterrichtsministerium über, war dabei
seit 1855 ^^s Musikreferent der »Presse« angestellt und habilitierte sich 1856
an der Universität als Privatdozent für Geschichte und Ästhetik der Musik.
Seine Beamtenstellung verließ er, als er 1861 zum außerordentlichen Professor
ernannt wurde. Es wurde für ihn diese Lehrkanzel errichtet und im Jahre
1870 in eine ordentliche Professur umgewandelt. Von dieser trat er 1895 in
den Ruhestand. Seit der Gründung der »Neuen freien Presse« im Jahre 1864
gehörte er als Musikreferent der Redaktion an und versah diese Stelle durch
vierzig Jahre bis zu seinem Tode. Diese seine Tätigkeit erlangte Weltruf,
sowohl durch die meisterhafte stilistische Behandlung seiner Feuilletons, als
auch durch die Stellung, die H. gegenüber den zeitgenössischen Kunsterschei-
nungen einnahm.
Die Wertbemessung solcher Leistung richtet sich nicht allein danach,
ob nur die Fachleute, in diesem Falle die Musiker, darin Anregung und Be-
lehrung finden, sondern ob ein weiterer Kreis von Gebildeten oder von solchen,
Hanslick.
343
die an ihrer Bildung und Ausbildung arbeiten^ davon angezogen wird, daran
Interesse findet. Dies war im höchsten Grade der Fall bei den Feuilletons
H.s. Der Kreis der Leser erstreckte sich selbst auf solche, die wohl für Musik
Liebe haben, aber infolge der sozialen Bedingungen den Aufführungen, die
im Feuilleton besprochen werden, ferne bleiben mußten. Nicht selten konnte
man hören: »Ich verstehe zwar gar nichts von Musik, aber die Feuilletons
von Hanslick lese ich gerne.« Das ist der Prüfstein echter Mitteilungsgabe
in einer Form, die alle anspricht, in einer Ausdrucksweise, die jeder versteht.
Die Hebel, um dieses Interesse zu heben, waren von mannigfaltigen Kräften
in Bewegung gesetzt: einer tiefen allgemeinen Bildung, einer eingehenden
Kenntnis der klassischen Literatur, Vorliebe für die französischen Essayisten
und überhaupt für den französischen Esprit. Dies spiegelt sich in seinen
Schriften wieder; eine heitere Lebensauffassung mutet den Leser freundlich
an. H. war ein Vertreter der ^^Gaya scUnza<^, der fröhlich -freudigen
Wissensbereicherung, dabei mischte er nicht selten einen Witz dazu, der
ätzend und scharf war und die Pikanterie würzte. Ein großer Vorzug des
H.schen Stils war] die knappe Ausdrucksweise, die zu vergleichen ist mit
derjenigen hervorragender juristischer Schriftsteller wie Ihering und Unger.
Als Jurist hatte ja H. seine Laufbahn begonnen.
Das Schwergewicht seiner geistigen Arbeit liegt in dieser seiner schrift-
stellerischen Tätigkeit, die ihm einen Platz sichert, nicht nur in der Geschichte
der Musik, sondern auch als Prosaist in der Geschichte der Literatur. Seine
Kritiken, die in 12 Bänden erschienen sind, gehören zu dem Zeitbilde der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (»Aus dem Konzertsaal«, »Konzerte,
Komponisten und Virtuosen der letzten 50 Jahre 1870 — 1885«, »Suite«, »Die
moderne Oper«, »Musikalische Stationen«, »Aus dem Opemleben der Gegen-
wart«, »Musikalisches Skizzenbuch«, »Musikalisches und Literarisches«, »Aus
dem Tagebuche eines Musikers«, »Fünf Jahre Musik«, »Aus dem Ende des
Jahrhunderts«, »Aus neuer und neuester Zeit«.) Diese Schriften spiegeln die
Kämpfe wieder, welche geführt wurden und an denen sich H. als Champion
einer Partei in hervorragendem Mafie beteiligte.
Der ästhetische Standpunkt, den er dabei vertrat, ist besonders in einer
Schrift ausgesprochen, welche gleichfalls aus einzelnen Aufsätzen zusammen gefaßt
wurde und 1854 unter dem Titel, »Vom Musikalisch-Schönen«, erschien. Der
mächtige Einfluß, den dieselbe ausübte, wird schon durch die Zahl der Auf-
lagen bezeugt — 1902 erschien die 10. Auflage. In ihrer Negation, in ihrer
Zurückweisung der Gefühlsschwelgerei, die sich auf musikalischem Gebiete
auch heute noch vielfach für Kunstkritik ausgibt, in Verhöhnung der dionysischen
Musikschwelgerei hat sie reinigend und heilend wie ein Arzneimittel gewirkt.
In der Zeit des Hervordrängens der Programmusik bildete diese Schrift einen
festen Halt für Musiker und Musikfreunde, die am Rein-Musikalischen Er-
hebung und Befriedigung finden. Sie erreicht dies, wie es der Schreibweise
H.s im allgemeinen zukommt und wie es dem Charakter des Feuilletons nahe-
kommt, nicht durch systematische Darstellung, sondern durch eine Reihe
geistvoller Apergus, die eingerostete Vorurteile und ästhetischen Aberglauben
geißeln. Bei dieser Negation ist der Verfasser stehen geblieben. Die Ab-
handlung ist wirklich nur, wie der Titel bescheiden ankündigt, »ein Beitrag
zur Revision der Ästhetik«. Seit dem Erstehen der Ästhetik als Wissenschaft
344
Hanslick.
im i8. Jahrhundert, standen sich zwei Richtungen gegenüber, die eine, welche
den Ausdruck in der Kunst als das Wesentliche ansah, die andere, welche
die Art der Darstellung, die formelle Behandlung in den Vordergrund stellte.
Herbart hatte dieser letzteren die eigentliche wissenschaftliche Behandlung
zu teil werden lassen, und ihm schlössen sich H. und sein Freund Robert
Zimmermann an. H. negiert jedoch nicht völlig die Bedeutung der Gefühle
in der musikalischen Mitteilung; nur will er sie nicht als eigentlichen Inhalt
derselben gelten lassen, sondern sucht festzustellen, daß nur die Dynamik der
Gefühle in der Musik ihren Ausdruck finden könne. Er will sich an das
spezifisch Musikalische halten und findet darin die Möglichkeit das »musikalisch
Schöne« zu schaffen, er sieht dies als das Höchste in der Musik an. In dieser
seiner Schrift hat er die »tönend bewegten Formen«, also das Formale in
den Vordergrund gerückt, bezeichnete dieselben aber in der Folge in seinem
Memoiren werke als »beseelte Formen«, jedoch immer das Hauptgewicht legend
auf die formale Haltung künstlerischer Mitteilung.
Diese Schrift, welche als eine Art Streitschrift erschien, rief einige
Entgegnungen hervor, wie von W. A. Ambros »Die Grenzen der Musik und
Poesie«, F. B. Graf Laurencin: »Dr. Hanslicks Lehre vom Musikalisch-Schönen,
eine Abwehr«, Friedrich Stade; »Vom musikalisch Schönen«, nebst anderen
kleinen Angriffen. Den Hauptangriff erhob Friedrich v. Hausegger in seiner
Abhandlung: »Musik als Ausdruck« (1885). In der Literatur hatten H.s An-
sichten Vertreter gefunden und vielfach Spuren zurückgelassen. Lotze, Zimmer-
mann, Köstlin, Vischer und Helmholtz wandten der Hanslickischen Schrift ihre
Aufmerksamkeit zu und verwoben die darin vertretenen Ansichten mit ihren
Auseinandersetzungen.
In der Praxis, in dem Kampfe des Lebens, traten sich die Partei ungen
noch schroffer gegenüber. Die neudeutsche Richtung, die sich an Richard
Wagner und Franz Liszt schloß, glaubte prinzipiell diesen Aufstellungen H.s
entgegentreten zu müssen, und so scharten sich die Gegner der neuen Kunst
Richard Wagners um das Banner, auf dem die Devise stand: »Die Musik ist
tonerfüllte Form.« Es ist naiv, wenn man behauptet, daß die scharfe Gegner-
schaft H.s gegen die Werke der dritten Periode R. Wagners (»Tristan und
Isolde«, »Ring des Nibelungen«, »Die Meistersinger«, »Parsifal«) nur auf persön-
lichen Motiven beruht habe. Allerdings machte H. in der Folge auch gegen-
über den früheren Werken Wagners manch* abfällige, ätzende Bemerkung,
welche dieser Behauptung den Schein der Berechtigung zukommen ließ. So
wie es innere Gründe waren, die Wagner bei der Ausarbeitung des musika-
lischen Dramas in der letzten Periode zu jener musikalischen Ausgestaltung
führten, die der Forderung nach formaler Abrundung zu wiedersprechen
schien, so beruhten auch die Angriffe der Gegenpartei auf inneren Gründen,
die vorzüglich aus dem Maßstabe der überkommenen Kunst gewonnen waren.
Im Kampfe der Parteien wurde übersehen, daß dieser behauptete Mangel
formaler Behandlung im Wagnerschen Kunstwerke nur äußerlich vorhanden
war, nicht in Wirklichkeit. »Die unendliche Melodie Wagners« ist keine
asymmetrische, keine unproportionierte. Die Parole war ausgegeben, tiefere
Untersuchungen über das Formungsprinzip Wagners waren noch nicht ange-
stellt. In Wagners Kunst war zudem von den Mitteln ein kühnerer und freierer
Gebrauch gemacht, als dies bis zu seinem Auftreten der Fall gewesen war, und
Hanslick. ß^j
so erklärt sich die verschärfte oppositionelle Stellung, die auch genährt wurde
durch mannigfache andere Umstände. Heute ist man zu der Überzeugung
gelangt, daß beide Forderungen nach Form und Ausdruck in der Musik erfüllt
werden müssen, wenn der Künstler Werke schaffen will, die nicht nur von
ephemerer Wirkung, sondern von dauernder Bedeutung bleiben sollen, und
dies trifft im Wagnerschen Kunstwerke zu. H. stand zeitlebens auf dem Boden
der Kunst der Wiener Klassiker. Mit Beethoven ging er allerdings nur bis
zu seiner zweiten Periode, wie dies auch sein Prager Lehrer gehalten hatte.
Gerade den Werken der dritten Periode Beethovens, welche Wagners Kunst-
werk der Zukunft gezeitigt hatten, stand er fremd, ja mit einer gewissen Ab-
neigung gegenüber. Darin traf er mit so manchen andern, auch mit trefflichen
und hochgebildeten Kunstkennern und Kunstfreunden zusammen, die sich zu
einer konservativen Partei zusammenschlössen. Je weiter sich die neudeutsche
Richtung von ihrem Ausgangspunkte entfernte, desto heftiger wurde H.s Oppo-
sition. Mit seinem Namen verband sich durch ein Menschenalter die Führung
der Gegnerschaft. Seine Neigungen trieben ihn zudem in der Musik zum
Heiteren. Gegen das Tieftragische in der Musik hatte er eine Aversion. Es
verkörperte sich in ihm förmlich das Wort: »Ernst ist das Leben, heiter ist
die Kunst.«
Wenn er am Klavier saß und Straußische Walzer spielte, da leuchteten
seine Augen. Mit einer wahren inneren Gemütlichkeit entströmten die Klänge
seinem Gemüte. Seine Finger, weich im Anschlage, konnten den Hörer elektri-
sieren. Dies war noch bis in sein spätestes Alter der Fall. Neben Strauß war
ihm Franz Schubert ans Herz gewachsen, und gerade das österreichische, die
Klänge, die in Schubert an Wien erinnern, erfüllten ihn mit Enthusiasmus.
Desto befremdlicher mag es erscheinen, daß er einem Meister, der seiner
nordischen Herkunft nach in seiner Kunst einen anderen Charakter aufweist,
mit solcher Liebe und Verehrung anhing: es ist Johannes Brahms. Neben
der Bewunderung für die Persönlichkeit von Brahms waren es besonders zwei
Umstände, welche dazu beigetragen haben dürften, daß H. unentwegt für die
Brahmsische Kunst eintrat und für die Propagierung derselben unschätzbare
Dienste leistete. Vorerst jener sinnige Zug des Tonsetzers: bei aller Herbheit
des Ausdruckes kommt das weiche Gemüt dieses nach außen bärbeißigen und
schroffen Mannes zum Ausdruck. Es ist der Zug, der ihn nach Wien führte
und hier mit den Weisen Schuberts in Zisleithanien und der Zigeuner in
Transleithanien einen Bund schließen ließ. Gerade bei solchen Stellen in
Brahmsischen Werken trat die Begeisterung H.s für Brahms spontan hervor.
Die tiefgründigen Stellen, die von tragischen Akzenten erfüllt sind, fanden in
H. schwächeren Widerhall. Für jene Werke, in denen sich Brahms an die großen
Meister der Barocke, an Händel und Bach anschließt oder an die'Acapellisten
des sechzehnten Jahrhunderts, konnte sich H. nicht erwärmen. Der zweite
Umstand, der wohl auch in Betracht kommt, ist der, daß H. in Brahms einen
Vertreter des Rein-Musikalischen, der »tonerfüllten Form« sah; denn Brahms
schrieb keine Programmusik, und sein Stil war so gefestet, daß er sich des
so arg mißbrauchten Dramatischen in der symphonischen Musik gänzlich
enthielt. Dieser Umstand legte es H. nahe, die Brahmsische Musik als eine
Gegenkunst gegenüber der Wagnerischen anzusehen, die nach seiner Über-
zeugung einzig und allein dem Ausdrucke nachhing und die klassischen Formen
346 Hanslick.
vollständig zersetzte. Bei Schumann und Mendelssohn bewunderte H. die
treue Bewahrung klassischer Formen, und auch in der Oper hielt er jene
Meister hoch, welche die Formen der klassischen Zeit festhielten. So hing
er den Werken des größten musikalischen Dramatikers Italiens im neunzehnten
Jahrhundert, Verdi, treu an, allerdings nur denjenigen Werken, welche in
dieser Art mit Rücksicht auf die überkommenen Formen ausgestaltet waren.
Jenes Wunderwerk des Achtzigjährigen: »Falstaff«, in welchem sich der Meister
in weiterer Ausbildung des sich allmählich vollziehenden Prozesses der Um-
bildung der Formen mehr an die dichterische Vorlage als an musikalische
Schemen hielt, achtete H. mehr in Rücksichtnahme des hohen Alters des-
jenigen, der es geschaffen hat, als in der Erkenntnis, daß Verdi mit diesem
Werke die Bahn gewiesen für das Schaffen seiner Nachfolger.
In der französischen Oper schätzte H. ebenso sehr die geistvolle Behand-
lung als die Wahrung der Tradition, sowohl in der tragidU lyriqw
cn nmsique, aus der die ^rand opera hervorging, als auch der opira copniqtu.
Für das Unterhaltende der Auberschen Oper, für die feine Ausarbeitung und
stilvolle Behandlung in den Werken von Boieldieu und anderer französischer
Meister hatte er warme Empfängnis. Für die Wahrung der überkommenen
Tradition hatte er liebevolles Verständnis; den Werken der älteren Zeit stand
er fremd gegenüber. Er konnte und mochte sich in den Geist des Schaffens
einer älteren Periode nicht einleben. Was vor den Wiener Klassikern
geschaffen wurde, blieb ihm fern. H. war in der Kunst wie im Leben
Kosmopolit. Wenngleich er für die Werke der Franzosen und Italiener eine
gewisse Vorliebe zeigte, so verlor er doch nicht den Zusammenhang mit
seiner engeren Heimat, mit Wien und mit seiner Vaterstadt Prag. In seiner
Jugend im sprachlichen Utraquismus herangebildet, hat H. Lieder in deutscher
und czechischer Sprache komponiert. Später konnte er allerdings nicht mehr
einen Satz in böhmischer Sprache schreiben. Er war Meister geworden in
der Behandlung der deutschen. Für die beiden besten Tonsetzer der Czechen
in unserer Zeit, für Smetana und Dvofak, trat er schriftstellerisch ein; für
den ersteren allerdings erst in der Zeit, als Meister Smetana tot war und
seine Werke durch die Wiener Musikausstellung einem größeren internationalen
Publikum bekannt wurden. Die Geschichte der Kunst in Böhmen gewann
ihm kein Interesse ab. Dagegen schrieb H. eine »Geschichte des Konzert-
wesens in Wien«, die er seinem Freunde Eduard Schön (Engelsberg) widmete.
Das Buch faßt vom Jahre 1750 bis 1869, da es erschien, die verschiedenen
Ereignisse im Musikleben Wiens mit Ausschluß der Oper zusammen. Die
Studien wurden damals auf dem Gebiete der Musikgeschichte noch nicht in
jener strengen Weise betrieben, wie dies jetzt der Fall ist. Man darf also
nicht an dieses Werk den wissenschaftlichen Maßstab unserer Zeit anlegen.
Die Leistung ist an sich verdienstlich; die hier zusammengetragenen Bausteine
werden jedenfalls einen Beitrag bilden für die Geschichte der Musik in Wien,
deren Schilderung einer späteren Zeit vorbehalten ist und erst ermöglicht
wird durch die allmähliche Vertiefung historischer Studien und durch die
Erforschung der Denkmäler aus vergangener Zeit.
Nach der Veröffentlichung dieses Werkes wurde H. zum ordentlichen
Professor der Geschichte und Ästhetik der Tonkunst an der Wiener Uni-
versität ernannt. Es war die erste ordentliche Professur für Musik in deutschen
Hanslick.
347
Landen. Er hatte es verstanden, durch einen leicht ansprechenden Vortrag
das Interesse seiner Hörer zu erregen und sah es als seine Aufgabe an, die
Geschichte der Musik der neueren Zeit in einer populär-wissenschaftlichen
Weise seinem Hörerkreise vorzutragen. Durch instruktive Beispiele belebte
er den Vortrag. Er fand es nicht unter seiner Würde, am Klavier dem
Auditorium vorzuspielen und ein oder das andere Beispiel auch von einem
Sänger vortragen zu lassen. So gelang es ihm, Studierende auf das Fach
aufmerksam zu machen, die in weiterer Verfolgung desselben den An-
forderungen, welche die neue Zeit an dasselbe stellte, zu entsprechen bestrebt
waren.
In persönlichen oder wissenschaftlichen Verkehr war er mit der akade-
mischen Jugend nie getreten; dagegen war er mit der Kunstwelt in regem
Umgang. Darüber gibt sein Memoirenwerk »Aus meinem Leben«, welches
zuerst in der »deutschen Rundschau«, dann in Buchform (2 Bänden) erschienen
ist, näheren Aufschluß, ein Werk, in welchem seine Vorzüge als Schriftsteller
in hellster Weise hervortreten. Wir begegnen darin fast allen Künstlernamen
von Rang und Bedeutung. Eine enge Freundschaft verband H. mit Theodor
Billroth, dem Chirurgen, in dessen Hause auch Johannes Brahms gefeiert und
geliebt wurde. H.s Beziehungen erstreckten sich auf alle Länder musikalischer
Kultur. Bei den Weltausstellungen in London (1862), in Paris (1867 und 1878) fun-
gierte er als Juror und Vertreter der österreichischen Regierung. Bei dem unter
der Patronanz des Kronprinzen Rudolf stehenden Werke »Die Österreichisch-
Ungarische Monarchie in Wort und Bild«, war H. musikalischer Beirat und
verfaßte für dasselbe den Aufsatz über die Musik in Wien. Nicht als
Historiker, wohl aber als Kritiker hat H. Schule gemacht, und wenngleich
seine Ansichten heute nur noch von wenigen Kritikern vertreten werden, so
wirkt sein kritisches Beispiel auf Stil und Behandlung nach. Da jedoch der
Stil etwas rein Persönliches ist, so liegt die eigentliche Bedeutung seiner
Tätigkeit in der Stellung, die er als Kritiker seinen zeitgenössischen
Erscheinungen gegenüber eingenommen hat.
Es sei davon abgesehen, aus der Flut von Nekrologen, die in der Tagespresse oder
in Zeitschriften erschienen sind, einen oder den anderen hervorzuheben. H.s Memoiren-
werk bildet die Grundlage für die Betrachtung seiner Persönlichkeit.
Guido Adler.
Ergänzungen und Nachträge.
Claus, Adolf Karl Ludwig,') Chemiker, * zu Kassel am 6. Juni 1840,
t 4. Mai 1900 Gut Horheim. — C.s Vater amtete in Kassel als kurfürstlich
hessischer Münzwardein. Adolfs einziger Bruder Karl war der bekannte
Zoologe in Wien. In seiner Vaterstadt absolvierte C. das Gymnasium und
bezog 1859 die Landesuniversität Marburg, um Medizin zu studieren. Schon
im nächsten Semester widmete er sich unter Hermann Kolbes Leitung ganz
der Chemie, für die er schon im Vaterhaus Interesse gezeigt hatte. Von
Marburg ging C. auf ein Semester nach Berlin, um dann an die Georgia
Augusta überzusiedeln, an der er 1862 mit einer unter Wöhlers Leitung
verfaßten Arbeit: »Acrolein und Acrylsäure« promovierte. Trotzdem er also
nicht bei Kolbe abschloß, ist er doch Zeit seines Leben ein echter Kolbe-
schüler geblieben und hat sich als solcher gefühlt; die ungestüme und oft
rücksichtslose Art, in der der Meister zuweilen auftrat, hat sich ungeschwächt
auf den Jünger vererbt.
Noch im Jahre seiner Promotion siedelte C. als Assistent Babos nach
Freiburg i. B. über und dort ist er, zuletzt als Nachfolger desselben, bis an
sein Lebensende geblieben. 1866 habilitierte er sich mit einer Arbeit: Ȇber
die Einwirkung von Ammoniak auf Acrolein und das Studium der Zersetzungs-
produkte des Acroleinammoniakes bei der trockenen Destillation.« 1867 wurde
er Extraordinarius, 1875 Ordinarius und 1883, nach dem Rücktritt seines
einstigen Chefs, Direktor des chemischen Institutes. 1900 wurde er, auf
seinen Antrag, in den Ruhestand versetzt, erlag jedoch schon nach ganz
kurzer Zeit auf seinem Gute Horheim dem Leiden, das ihn zu seinem Rück-
trittsgesuch gezwungen hatte. C.s Arbeiten bewegen sich wohl ausschließ-
lich auf dem Gebiete der organischen Chemie. Ein begeisterter Anhänger
der Strukturchemie, hat er sein nicht geringes Können ausschließlich in den
Dienst dieser Auffassung gestellt, als einer der typischen Vertreter jener
aus einem Mißverstehen der genialen Bildersprache Kekules erwachsenen
Einseitigkeit.
Von der programmatischen Arbeit aus dem Jahre seiner Habilitation:
»Theoretische Betrachtungen und deren Anwendung zur Systematik der organi-
schen Chemie« an, in der er sich als ausgezeichneter Theoretiker ausweist,
sind seine durch eine sehr große Anzahl von Schülern bis in die Einzelheiten
verfolgten Studien zur organischen Synthese, über die Stellung der Substi-
tuenten im Chinolin, und über ihren Einfluß auf die Bindungsverhältnisse in
») Totenliste 1900 Band V 85*.
Qaus. Scheffer-Boichorst. j^q
fetten und aromatischen Stoffen, dann die vielfachen Arbeiten über die Alka-
loide, oder die aus der Anthracen-, Phenanthren- und Naphtalinreihe, die über
die Isomerie der Oxime usw. alle als »Beiträge zur Strukturchemie« zu
bezeichnen, womit ihre Vorzüge, aber auch ihre Mängel in gleicher Weise
gekennzeichnet sind.
Noch einmal, 187 1, ist er mit einer zusammenfassenden Arbeit: »Grund-
züge der modernen Theorien in der organischen Chemie« hervorgetreten.
Auch die von ihm aufgestellte und in manch heißem Strauß, der übrigens
seiner kampfesfrohen Natur offenbar zusagte, aufgestellte Benzolformel, mit
den diagonalen Bindungen, die seinen Namen wohl am bekanntesten gemacht
hat, ist diesen Strukturstudien entsprungen. Mit dieser hat er sich, hier in
seiner Eigenschaft als Oppositionsmann aus dem eigenen Lager, der es wagte
an der kanonischen Bonner Lehre zu rütteln, ein unzweifelhaftes Verdienst
erworben; allerdings auch, und auch mit seiner hahnebüchenen Art der
Kriegführung, viel Feinde gemacht, doch gilt in diesem Falle sicher: »Viel
Feind, viel Ehr.«
Seine Lehrtätigkeit beschränkte sich wohl zumeist auf den persönlichen
Verkehr mit seinen Schülern im Laboratorium, vom Abhalten von Vorlesungen
war er kein Freund, ihm war der praktische Unterricht durchaus Hauptsache.
Diese an sich zweifellos ganz berechtigte Auffassung führte ihm eine ungewöhn-
lich große Schar von Schülern zu, die unter seiner Leitung die für die
Prüfung nötige wissenschaftliche Arbeit vollendeten, so daß er bereits im
Jahre 1897 den fünfhundertsten Doktor promovieren konnte, aber sie brachte
es auch mit sich, daß die »Doktorfabrik« einigermaßen in Mißkredit kam.
Doch blieben auch hier die guten Folgen nicht aus. Die Nachahmung, die
das Beispiel an anderen Hochschulen fand, führte dazu, daß endlich, auf
höheren Wink hin aller Orten die Promotionsbedingungen für die Chemiker
revidiert, verschärft und vereinheitlicht wurden, ein wenn auch unbeabsich-
tigter, doch sehr anerkennenswerter Erfolg.
C. war seit dem Mai 1867 mit Fräulein Alice Warder aus London ver-
heiratet. Der schon nach sieben Jahren durch den Tod der Gattin gelösten
Ehe entsprangen vier Kinder. Georg W. A. Kahlbaum. i)
Scheffer- Boichorst, Paul Theodor Gustav, Professor der Geschichte an
der Universität Berlin, Mitglied der Akademien der Wissenschaften in München
und Berlin, der bist. Komm, bei der k. bayr. Akademie der Wissenschaften,
der Zentraldirektion der Man, Germ. Aist,, des Beirates des kgl. preuß.
Institutes in Rom, * am 25. Mai 1843 zu Elberfeld, f am 17. Januar 1902
zu Berlin.*) — Schon als Knabe hatte er harte Launen des Schicksals zu er-
tragen. Sein Vater Bernhard, der aus einer angesehenen begüterten Münster-
schen Familie katholischen Bekenntnisses stammte und Fabrikant war, verlor
sein Vermögen und mußte sich als Handlungsreisender fortbringen. Da die
Mutter, eine Protestantin, dies Unglück nicht lange überlebte, kam der Knabe
zu den Verwandten von väterlicher Seite nach Warendorf an der Ems, wo
er das Gymnasium zurücklegte, am 25. August 1862 das Zeugnis der Reife
>) Aus Kahlbaums Nachlaß, A. d. H.
s) Totenliste 1902 Band VII 98^.
■> CQ Scheffer-Boichorst.
erhielt. Schon während der Gymnasialzeit hatte er sich, erfüllt von den
Idealen der großen Dichter, im Gegensatze gegen seine strenggläubigen Ver-
wandten entwickelt, jetzt versagte er sich ihrem Wunsche, Geistlicher zu
werden und dadurch in den Genuß einer ansehnlichen Familienstiftung zu
treten. Trotzdem gewährte ihm der Oheim Anton die Mittel zum Studium
der Philosophie und Geschichte, ja der junge Student erreichte es, daß er
statt nach Münster, wie der Oheim anfangs gewollt hatte, nach Innsbruck
gehen durfte, wo der mit ihm entfernt verwandte Julius Ficker lehrte. Hier
fand er reichliche Anregung in dem Kreise junger Heimatsgenossen, die von
der Lehrtätigkeit ihres Landsmannes Ficker angezogen worden waren, unter
ihnen Arnold Busson, August von Druffel, Felix Stieve, und fördernde An-
leitung durch Alfons Huber, Karl Stumpf-Brentano und Julius Ficker. Nament-
lich der Letztgenannte hatte des jungen Westfalen Begabung mit raschem
Blicke erkannt und es gerne übernommen, ihn auf die Bahn wissenschaftlicher
Arbeit zu leiten. Er gab seinen Studien die Richtung auf die Stauferzeit
und erwirkte, daß der Oheim die Mittel zur Verfolgung der akademischen
Laufbahn bewilligte. Doch sollte Seh., um für alle Fälle gerüstet zu sein,
die Lehrbefähigung für Mittelschulen erwerben und sich hierfür zunächst in
Göttingen vorbereiten, wo er zwei Semester verbrachte. Im Oktober 1864
ging er auf Fickers Rat nach Berlin. Hier vollendete er im Frühjahr 1865
seine Erstlingsarbeit über Kaiser Friedrichs I. letzten Streit mit der Kurie,
deren Drucklegung durch Fickers Beihilfe ermöglicht wurde, und die ihm
vielfache Anerkennung eintrug. So schien er am Anfange einer verheißungs-
vollen Laufbahn zu stehen, als der Oheim sich genötigt sah, die ihm bisher
gewährte Unterstützung einzuschränken, und schon machte sich Seh. mit dem
Gedanken vertraut, der gelehrten Arbeit zu entsagen und sich dem Lehrfach
zuzuwenden, da bot ihm Ficker gegen festen Gehalt auf fünf Jahre die Teil-
nahme an der Neubearbeitung der Böhmerschen Regesten an und wies ihm
die Regesten von Lothar bis zum Tode Heinrichs VI. zu. Damit war die
Absicht, sich dem Mittelschullehramte zu widmen, ein für allemal aufgegeben.
Im Sommer 1867 erwarb Seh. an der Universität Leipzig die Doktorwürde
und wandte sich ausschließlich der gelehrten Arbeit zu, für die er sich als
Häuptgegenstände den Kampf zwischen Kaiser- und Papsttum, die Beziehungen
der romanischen Staaten zum Deutschen Reiche gewählt hatte, wobei er
auch der Geschichte seiner Heimat nicht vergaß. Er brachte für sein Vor-
haben ernsten Willen und glückliche Begabung mit. Wie sein Absehen
immer darauf gerichtet war, durch sorgfältige Forschung, scharfe Beobachtung,
strenge, von einer lebhaften Einbildungskraft geförderte Beweisführung zur
richtigen Erkenntnis vorzudringen, so war er anderseits bemüht, die Form
in Einklang mit dem Zwecke und Inhalt seiner Ausführungen zu bringen,
durch sorgsame, unablässige Besserung und Schulung seine Abhandlungen zu
künstlerischer Vollendung zu führen.
Wenn Seh. auch schon sehr bald zur Erkenntnis gelangt war, daß der
Einfluß politischer Strömungen und Ansichten von dem wissenschaftlichen
Betriebe fernzuhalten sei, so mußte er doch zu den seine Zeit bewegenden großen
Fragen Stellung nehmen, und nichts bringt die Selbständigkeit seines Wesens
kräftiger zur Anschauung, als daß er ungeachtet der Verehrung und Dankbar-
keit, die er Ficker entgegenbrachte, in dieser Beziehung sich von ihm trennte,
SchefTer-Boichorst. 351
im Gegensatze gegen den Lehrer, der auf Grund seiner wissenschaftlichen
Überzeugung den großdeutschen Standpunkt vertrat, sich für die Leitung der
deutschen Sache durch Preußen aussprach, eine Ansicht, in der er durch den
Aufenthalt in Berlin und den Verlauf des Jahres 1866 bestärkt wurde. Und
daran vermochte auch nichts zu ändern, daß er im Juli 1867, um Ficker
näher zu sein und die Regesten nachhaltiger fördern zu können, nach München
übersiedelte. In diesem wichtigen Mittelpunkte gelehrter, insbesondere histori-
scher Forschung fand er manche seiner alten Freunde wieder, zu denen neue
kamen, zu W. Gieseb recht trat er in nahe Beziehung, von Döllinger wurde
er auf das Studium Dantes und der Kirchengeschichte als eine notwendige
Ergänzung seiner bisherigen Arbeitsrichtung gewiesen. Wenn ihm auch der
klerikal-partikularistische Einschlag in dem Leben der bayerischen Haupt-
stadt nicht zum besten behagte, fühlte er sich doch sehr wohl und entfaltete
eine ungemein eifrige Tätigkeit, die namentlich den Regesten zugute kam,
neben denen er aber auch anderes betrieb. Trotzdem sein von Kindheit an
schwächlicher Körper endlich versagte und er im Herbste 1870 eine schwere
Krankheit zu überstehen hatte, vollendete er früher begonnene Arbeiten über
König Philipp IL, August von Frankreich und über Bernhard von Lippe, den
durch seine Eigenart und seine seltsamen Schicksale anziehenden westfälischen
Herrn des XII. Jahrhunderts, daneben begann er quellenkritische Forschungen,
als deren schönste Frucht die meisterhafte Wiederherstellung der Paderbomer
Annalen reifte, gleichzeitig beschäftigte er sich mit italienischen Quellen-
schriften und wies die Florentiner Geschichte der Malespini als Fälschung nach.
Die Arbeit über die Paderbomer Annalen verwickelte ihn in einen gelehrten
Streit mit Georg Waitz, in dem er mutig und gewandt seinen Standpunkt
gegenüber dem großen Meister der Forschung vertrat. Die Sachkunde, die
er darin, in anderen Untersuchungen, in der Besprechung einzelner Veröffent-
lichungen der Man. Germ, hist bewies, veranlaßte Georg Pertz, ihm die durch
den Tod Hermann Pabsts erledigte Stelle als Mitarbeiter an dem großen
Unternehmen anzutragen. Mit Einwilligung Fickers nahm Seh. das Aner-
bieten an und übersiedelte im Januar 1872 nach Berlin. Die erste ihm zu-
gewiesene Aufgabe war die Bearbeitung der Chronik des Alberich von Trois-
fontaines, die er in mustergültiger Weise durchführte {Man. Germ. hist. Script.
XXIII.). Einer von Pertz gegebenen Anregung folgend, veröffentlichte er
eine Untersuchung über die Gesta Flarentinorum^ die er mit der älteren über
die Malespini und einer neuen über die berühmte Chronik des Dino Campagni
in einem Bande (Florentiner Studien, Leipzig 1874) vereinigte, den er als
Vorstudie für die Beschäftigung mit Dante betrachtete. Diesen gelesen und
erfaßt zu haben, erachtete er mit Döllinger als die unerläßliche Vorbedingung
des rechten Verständnisses für das mittelalterliche Geistesleben. Er rühmte
an dem großen Dichter, daß er sich mit der bewußten Forderung nach Wahr-
heit über den unkritischen Charakter der vorhergegangenen und eigenen Zeit
erhoben habe; verstanden könne Dante aber nur im Zusammenhange der
Florentinischen Geschichte werden. Hatte schon die Entlarvung der Malespini
in Italien lebhaften Widerspruch gefunden, der nur allmählich verstummt war,
so erregte der Angriff auf die Chronik des Dina Campagni^ diese viel be-
wunderte Perle italienischer Geschichtschreibung, allerorts das größte Aufsehen
und es entspann sich ein hartnäckiger Kampf, in dem Seh. endlich doch
352 Scheffer-Boichorst.
zugeben mußte, daß er zu weit gegangen war. Wenn er auch seinen Haupt-
satz, die vollständige Unechtheit der Chronik, durch die Forschungen Del
Lungos überzeugt, mit vornehmer Wahrheitsliebe zurückzog, so hatte doch
die Anregung zur kritischen Untersuchung eines Werkes gegeben, das bisher
ohne Bedenken in vollem Umfange verwertet worden war. Nach dieser Ab-
schweifung kehrte er wieder zur Regestenarbeit zurück und entfaltete er eine
regsame Tätigkeit als Rezensent, in der er die Aufgabe wissenschaftlicher
Kritik, die Forschung nicht herabsinken zu lassen, sondern zu erhöhter
Leistung anzuspornen, vortrefflich erfüllte.
Mit den ihm anfangs unbequemen Verhältnissen in Berlin hatte Seh. sich
im Laufe der Zeit vollständig befreundet; die in Aussicht genommene, dann
auch durchgeführte Neuordnung der Mon. Germ, hist., aber fand nicht seinen
Beifall und so empfand er lebhafter das Bedürfnis nach einer andern festen
Stellung. Darin aber sollte ihm nun seine kirchliche Zugehörigkeit
zum Hindernis werden. Die freiere Geistesrichtung, die er schon am Gym-
nasium eingeschlagen hatte, war durch seine Arbeiten fester begründet
worden. Seine nationale Gesinnung, die unerschütterliche Überzeugung
von der unbedingten Freiheit und Reinheit der wissenschaftlichen Arbeit
mußten ihn doppelt empfindlich machen gegen die offene und versteckte
Feindseligkeit, mit der die Ultramontanen die Gründung des Deutschen
Reiches begleitet hatten, gegen die Vermengung religiöser und politischer
Fragen, gegen das Bestreben des Ultramontanismus, die Unterordnung der
Wissenschaft unter seine Forderungen zu erzwingen. Die verhängnis-
volle Verbindung des katholischen Gedankens mit einer bestimmten politi-
schen Partei im Reiche mußte ihn mit Widerwillen erfüllen, sein klarer Ver-
stand, seine Wahrheitsliebe machten es ihm unmöglich, den Widerspruch
zwischen der geistigen Entwicklung der Gegenwart und der streng kirchlichen
Anschauung zu leugnen oder mit einem national-romantisch gefärbten Mystizis-
mus zu verdecken. Entfernte er sich auf diesem Wege immer mehr von der
durch den Ultramontanismus beherrschten Kirche, stand er von vornherein
dogmatischem Streite ablehnend gegenüber, so war er doch nicht geneigt, den
Übertritt zu einem der evangelischen Bekenntnisse zu vollziehen. Für Form und
Inhalt dieser fehlte ihm wohl jedes Verständnis, zudem wird ihn die Scheu
vor dem Verdachte, durch einen Glaubenswechsel sich einen äußeren Vorteil
zu verschaffen, zurückgehalten haben. Die altkatholische Bewegung aber hat
er trotz seiner Verehrung für Döllinger von Anfang mit berechtigtem Zweifel
an ihrer Lebensfähigkeit betrachtet. So vermochte er nicht, sich einer Konfes-
sion und schon gar nicht einer konfessionellen Partei werktätig anzuschließen,
wenn er aber glaubte, daß sein Bestreben, auch in diesem Betracht die Frei-
heit und Unbefangenheit der wissenschaftlichen Forschung, auf die er sich
ganz zurückzog, zu wahren, in gelehrten Kreisen, die hierfür das rechte Ver-
ständnis haben konnten, voll gewürdigt werden müßte, sollte er eine Ent-
täuschung erfahren. Er hatte darüber zu klagen, daß die deutschen Universi-
täten mehr als gut von dem konfessionellen Gegensatze beherrscht werden,
beide Parteien ihm mit Mißtrauen begegneten. Erst der dringenden Emp-
fehlung, mit der Nitzsch und Wattenbach für ihn eintraten, hatte er es zu
danken, daß er Anfangs 1875 als außerordentlicher Professor an die Universi-
tät Gießen berufen wurde. Damit war der Bann gebrochen, schon im
Scheffer-Boichorst,
353
Frühjahr 1876 ging er als Nachfolger Julius Weizsäckers als ordentlicher Professor
nach Straßburg. Hier entfaltete er jene außerordentlich fruchtbare Tätigkeit
als akademischer Lehrer, die den wirkungsvollsten Inhalt seiner Lebensarbeit
bildet. In sorgfältig durchgearbeiteten Vorlesungen vermittelte er den Zu-
hörern zuverlässige Kenntnis, die hauptsächlichste Wirkung aber ging von den
Übungen in dem von Weizsäcker eingerichteten Seminar aus, wo er die von
Ranke und Waitz ausgebildete Form des Unterrichtes in selbständiger, von
dem Vorbilde Fickers befruchteter Weise handhabte. Mit der zwingenden
Kraft seines Wesens führte er die Schüler auf den Weg zur Erkenntnis, die
Schärfe der Beobachtungsgabe und des Denkens, die Pflichttreue, mit der er
in seinem Berufe aufging, das unablässige Streben nach Wahrheit, der Haß
gegen alles Falsche mußten den besten Einfluß auf die akademische Jugend
üben. Strenge in seinen Forderungen verlangte er unbedingt, daß die Schüler
sich mit ihm auf den Boden wissenschaftlicher Unbefangenheit und sorgfältiger,
keine Mühe scheuender Arbeit stellten, wurden sie dem gerecht, dann gewährte
er ihnen als wertvollste Gegengabe den engsten Anschluß in persönlicher
Beziehung. Das vertraute Verhältnis zu den Schülern mußte dem Lehrer,
der einsam durch das Leben ging, den Ersatz für die Familie bieten, es half
ihm auch über manche Verstimmung hinweg, welche durch die von ihm aller-
dings zu ungünstig beurteilte Entwicklung der politischen und nationalen
Verhältnisse in den Reichslanden verursacht wurde.
Während die Anregungen, die er seinen Schülern gab, sich auf ein sehr
weites Forschungsgebiet ausdehnten, zog er sich mit seinen eigenen Arbeiten
auf einen immer engeren Kreis zurück. Mit dem Buche »Aus Dantes Ver-
bannung (1882)« hatte er nochmals auf seine früheren Studien zurückgegriffen
und eine schöne Probe seiner Darstellungskunst geboten, in der Hauptsache
beschränkte er sich auf kirchengeschichtliche, verfassungsrechtliche und urkund-
liche Untersuchungen; in diesen berücksichtigte er auch die Geschichte des
Elsasses und des Oberrheins, die er daneben durch im Seminar gestellte Auf-
gaben und durch seine Tätigkeit als Sekretär des für die Herausgabe des
Strafiburger Urkundenbuches eingesetzten Ausschusses nachhaltig förderte.
Wiederum als Nachfolger des im Vorjahre verstorbenen Weizsäcker kam
er im Frühjahr 1890 nach Berlin, wo er die in Strafiburg geübte Lehrtätigkeit
in größerem Maßstabe fortführen konnte. Doch fühlte er sich nicht so wohl,
wie er in Erinnerung an die frühere Zeit gehofft hatte. Im Jahre 1899 erhielt
er einen Ruf an die Wiener Universität. Obwohl er Wien sehr schätzte, an
den Äußerungen eines lebhaften, dabei doch behaglichen, seiner künstlerischen
Anlage entsprechenden Volkstums seine helle Freude hatte, lehnte er ab.
Im Herbste desselben Jahres wurde er zum Mitgliede der Berliner Akademie
gewählt.
Seine wissenschaftliche Tätigkeit hatte sich in diesen Jahren durchaus
in den zu Strafiburg eingeschlagenen Bahnen fortbewegt. Die Regesten, zu
denen er immer wieder zurückkehrte, und für die er auf wiederholten Reisen
nach Italien, zu denen ihn auch seine Sehnsucht nach dem Süden veranlafite,
Nachforschungen nach neuem urkundlichen Stoffe anstellte, sollte er jedoch
nicht vollenden. Es rächte sich, daß er anfangs die auch für die staufische
Zeit unerläßliche Grundlage formaler Urkundenkritik, die er irrigerweise für
eine einseitige Besonderheit der Methode Sickels hielt, vernachlässigt hatte.
Riogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog^. 9. Bd. 23
354
Scheffer-Boichorst. Schwicker.
Mehr und mehr zog er sich in dieser dritten Berliner Zeit auf sich selbst
zurück, mehr und mehr machten sich die Wirkungen einer angestrengten,
ununterbrochenen Tätigkeit fühlbar. Das eine Auge, über das allein er seit
jungen Tagen verfügte, drohte, den Dienst zu versagen, ein sich langsam
bildendes Leberleiden nahm bedenkliche Formen an. Noch einmal suchte
er im Spätherbst 1901 das vertraute Warendorf auf, gleich nach der Heim-
kehr wurde er an das Krankenlager gefesselt, das er nicht mehr verlassen
sollte. Zarte Fürsorge der Schüler umgab ihn, zum letzten Male leuchteten
ihm die Lichter des nach altem Brauche von ihnen aufgerichteten Weihnachts-
baumes, am 17. Januar 1902 schied er aus dem Leben.
Quellen: Gesammelte Schriften von Paul Sch.-B. 2 Bde. 1903, 1905, mit dem Bildnis
des Verfassers (Hist. Studien, veröfT. von E. Ehering Heft 42, 43); ebenda Bd. 2, 399—413
ein Verzeichnis der Schriften Sch.-B. — Hermann Bloch in der Hist. Ztschr. 89 (1902),
54 — 71; £. Dttmmler, Gedächtnisrede auf P. Sch.-B. Berlin 1902 (Abh. der k. preufi.
Akademie der Wiss.); derselbe im Neuen Archiv der Ges. für ältere deutsche Geschichts-
kunde 27 (1902), 768 — 770; F. Guterbock, Aus Sch.-B. Leben in den Gesamm. Schriften
I, 3 — 62; K. Hampe in der Hist. Vierteljahrschrift 5 (1902), 280 — 290; Fritz Kiener in der
Ztschr. für Gesch. des Oberrheins N. F. 17 (1902), 381 — 385; Wolfram in der Strafiburger
Post vom 2. Februar 1902. Karl ühlirz.
Schwicker, Johann Heinrich, <) Dr, phiL, Schulmann und Schriftsteller,
♦ am 28. April 1839 ^^ Neu-Bessenova (Ujbesnyö) im Temeser Komitat
(Ungarn), f am 7. Juli 1902 in Budapest. — Früh beider Eltern beraubt, kam
Seh. 1857 nach Absolvierung des Lehrerseminars in Werschetz als Hilfslehrer
nach Csakova (Torontaler Kom.) Schon im darauffolgenden Jahre wurde er
als Hauptlehrer nach Groß-Becskerek berufen, wo er bald zum dirigierenden
Lehrer vorrückte. Mit eisernem Fleiße vervollständigte er die Lücken* seiner
Studien und legte 1863 die Mittelschulprofessorenprüfung in Budapest mit
vorzüglichem Erfolge ab. Bald darauf erwarb er sich auf Grund seiner
Dissersation »Ungarn und der bayerische Erbfolgekrieg« den Doktortitel an
der philosophischen Fakultät der Budapester Universität. Sein hervorragendes
Wirken im Kreise der Banater Lehrerschaft erregte die Aufmerksamkeit des
damaligen ungarischen Unterrichtsministers Baron J. Eötvös, der ihn im
Jahre 1869 ^""^ Direktor des neuerrichteten Zentral-Muster-Lehrerseminars
in Ofen ernannte.
Reibungen mit dem Referenten im Ministerium und Intriguen von selten
der magyarischen Kollegen verbitterten ihm seinen schweren Beruf und so
wurde er 1872 auf sein eigenes Verlangen als Professor für deutsche Sprache
und Literatur an das Leopoldstädter Königl. Obergymnasium versetzt. Gleich-
zeitig habilitierte sich Seh. als Privatdozent für deutsche Sprache und
I-,iteratur am Königl. Joseph-Polytechnikum. Unter der Regierung Treforts war
er als dessen Ratgeber und Mitarbeiter bei der Ausarbeitung der Mittelschul-
organisation tätig. Einen Einblick in diese Zeit gewähren vor allen die Ar-
beiten Sch.s über »Das ungarische Unterrichtswesen« (1879), »Geschichte der
ungarischen Gymnasien« (1881), »Ungarns Volks- und Mittelschulen« 1882 und
zahllose Artikel in der deutschen Tagespresse seines Vaterlandes. Für seine
Verdienste um das ungarische Mittelschulwesen wurde er mit der großen
») Totenlistc 1902 Bd. VII 107*.
Schwicker.
355
goldenen Medaille für Kunst und Wissenschaft (Pro artibus et litteris) aus-
gezeichnet. Im Jahre 1887 verließ er das Lehramt und betrat, zum Reichs-
tagsabgeordneten der sächsischen Stadt Schäßburg gewählt, die politische
Laufbahn, der er bis zu seinem Tode treu geblieben ist. In dem Zeiträume
von 1887 — 1902 hat er zunächst den Schäßburger bis 1896 und dann den
Grofiauer Wahlkreis als Reichstagsabgeordneter vertreten. Als solcher hat sich
Seh. mit all der Treue der Gesinnung und all dem rastlosen Fleiß, der ihm eigen
war, in den Dienst des kleinen siebenbürgisch-sächsischen Völkchens gestellt.
Als Parlamentarier ist er wohl weniger hervorgetreten, da zur Erfüllung der
Aufgaben eines solchen, die unter den unnormalen Verhältnissen des unga-
rischen Abgeordnetenhauses, wo es am wenigstens darauf ankommt, durch
die Überzeugungskraft sachlicher Gründe zu wirken, der stille Gelehrte die
nötigen Eigenschaften nicht mitbrachte. Immerhin hat er mehrmals im
Reichstage das Wort ergriffen, so besonders im Jahre 1898, als er bei Be-
ratung des Kongruagesetzes für die nichtkatholischen Geistlichen in ableh-
nendem Sinne sprach, weil die Vorlage die Autonomie der Kirchen beein-
trächtige. Sch.s Haupttätigkeit als Reichstagsabgeordneter beschränkte sich
wie die so vieler sächsischer Abgeordneten auf Interventionen in den maß-
gebenden Kreisen, mit denen er als Mitglied des Unterrichtsausschusses häufig
in Berührung kam. Auf diese Weise konnte er der evangelisch-sächsischen
Kirche manchen Dienst erweisen.
Was die literarische Tätigkeit Sch.s anbelangt, so läßt sich diese in zwei
scharf abgegrenzte Perioden einteilen. Mit jugendlichen Idealismus trat er als
siebzehnjähriger Jüngling in den Schuldienst ein. Sein Tagebuch, das er
als angehender Volksbildner sich anlegte, ist voll der kühnsten Pläne und
Entwürfe, voll von Notizen und Bemerkungen, die er in der einfachen Schule
gemacht. Sein rastloses Streben nach höherer Bildung, sein ernstes und
doch sympathisches Wesen bewirkten, daß der jugendliche Autodidakt an
die Spitze der südungarischen Lehrerschaft berufen wurde, daß alte ergraute
Schulmänner bereitwilligst sich ihm unterordneten. Zahlreiche Briefe und
Zuschriften der südungarischen Lehrerschaft an Seh. legen Zeugnis dafür ab,
welchen Einfluß er auf seine Kollegen und auf seine Stammesbrüder aus-
geübt hat.
Diese aber liebte er von ganzer Seele und hell glänzten seine Augen,
wenn jemand das Loblied der braven Schwaben sang. Sch.s rastlosem Eifer
verdankt der »Verein der südungarischen Lehrer« sein Leben und wiederholt
ist er dessen Vorsitzender gewesen. Was er in den Versammlungen des
Vereins nur im allgemeinen mitteilen konnte, das führte er später im
»Ungarischen Schulboten« und in der »Ungarischen Schulzeitung« weiter
aus. Aus dieser Zeit stammt seine »Deutsche Sprachlehre«, die zwölf Auf-
lagen erlebte und auch in Österreich eingeführt wurde, dann sein »Deutsches
Sprach- und Stilbuch«, das lange Zeit das einzige seiner Art in Ungarn
war. Als Seh. dann vom Heimatsboden schied, blieb er doch noch weiter
mit seinem Volke in Berührung, so daß dieses ihn noch 1870/71 zum
Abgeordneten des autonomen Katholikenkongresses wählte. Auch blieb
seine pädagogische Schulzeitung noch femer bestehen und kam sogar in
magyarischer Sprache als »Tanügyi Hirado« heraus. Doch die Fremde übte
allmählich auch auf Seh. ihre Wirkung. Andere Pflichten, der erweiterte
23*
2 gö Schwicker. Schlesinger.
Horizont, das intensive politische Getriebe der Hauptstadt lenkten ihn mehr
und mehr vom pädagogischen Gebiete ab. Auch anderes trug zur Schwächung
dieser seiner literarischen Tätigkeit bei. Vor allem die Rückkehr zu seiner
ersten Neigung, zur Geschichtsforschung. Und damit beginnt bei Seh.
die zweite Periode seiner literarischen Arbeit, in welcher er sich fast aus-
schließlich mit Geschichtsforschung und aktueller Staatspolitik befaßte. In
diesen Zeitraum gehören vor allen die folgenden Arbeiten Sch.s: »Kardinal
Martinuzzi« (1874), »Ungarische Geschichtsbilder« (1875), »Statistik von
Ungarn« (1878), »Die Vereinigung der serbischen Metropolien« (188 1), »Un-
garische Literaturgeschichte (1886), »Die Deutschen in Ungarn« (1881 u. 1887)
— Sch.s vielleicht meist genanntes Werk, auch jetzt noch das umfassendste
Buch über das Deutschtum in Ungarn, das ihm inner- und außerhalb des
Landes einen Namen gemacht hat. — »Die Zigeuner in Ungarn« (1887), »Ge-
schichte der Militärgrenze« (1889). Hierzu kommen noch Sch.s »Allgemeine
Geographie« (1874) und »Geographie von Ungarn« (1881). Weiterhin über-
trug er Benjamin Kallays »Geschichte der Serben« und gemeinsam mit Julius
Schwarz dessen historisch-politische Aufsätze, vornehmlich: »Die Demokratie
in Athen«, aus der ungarischen in die deutsche Sprache.
Mit diesen Werken war jedoch Sch.s Arbeitskraft nicht erschöpft. Eine
große Anzahl vaterländischer und auswärtiger, namentlich deutscher Zeit-
schriften haben Arbeiten, die aus seiner Feder geflossen sind, veröffentlicht,
so insbesondere die »Augsburger« später »Münchener Allgemeine Zeitung«,
deren ständiger Korrespondent Seh. für Ungarn war.
Seh. war Mitglied zahlreicher gelehrter Vereinigungen in Wien, Prag,
Berlin und Belgrad.
Biogr.: Wurzbach, Biogr. Lexikon XXXII, 380. — Pallas, Nagy Lexikon. XIV, 1005.
Dr. Fr. Schul 1er.
Schlesinger, Julie, ♦ 24. März 1815, f 18. Juli 1902 zu Wien. — In den
Hochsommertagen 1902 erhielten die von Wien entfernten Freunde und Ver-
ehrer Julie Schlesingers Briefe mit von ihrer Hand geschriebenen Adressen,
der Hand, die über drei Jahre gelähmt war. Intime wußten, daß diese
Schriftzeichen der lange vorbereitete letzte Gruß an die Freunde war. Die
Briefe enthielten auch die Nachricht, daß die Dulderin ausgerungen hatte.
Nur von wenigen geleitet: der getreuen Nichte Friederike Kowy, deren
Gatten und Kindern und einigen Freunden, die eben in Wien weilten, wurde
sie, die inmitten eines großen Kreises Anteil nehmender gestanden hatte, zu
Grabe getragen. Floria Galliny und Elise Gomperz, die in den letzten
Leidenstagen oft bei der Kranken geweilt hatten, machten den Freunden
nähere Mitteilungen, die diesen verspätet zukamen. Sollte dieser einsame
Abgang der Abschluß des überreichen Lebens sein? Keine Blume, kein
Wort, keine Zeile ihr von den Freunden dargebracht werden, die sie in un-
erschöpflicher Güte immer neu erfreut hatte? Dagegen lehnte sich die Liebe
auf; einmal noch sollte ihr Andenken gemeinsam geehrt werden durch einen
Privatdruck, in dem Marianne Hainisch, Joseph Lewinsky und Floria Galliny
der seltenen Frau gedachten.
Juliens Eltern, das Ehepaar Schiel, stammten aus Breslau. Der Vater
war zur Zeit von Juliens Geburt in der k. k. Staatsgießerei in Wien bedienstet.
Schlesinger. ^57
Später errichtete er eine eigene Schriftgießerei, der erste Jude in Österreich,
dem dies bewilligt wurde, und zwar um so bemerkenswerter, als er Aus-
länder war.
»Schon als vierjähriges Kind«, berichtet Julie, »wanderte ich in die
Schule. Ich lernte rasch und gern, ward die bevorzugteste Schülerin und
verließ mit zehn Jahren die Schule. Daheim erhielt ich noch Unterricht in
fremden Sprachen, Klavierspiel, Zeichnen. In Wahrheit hatte ich weniger
als nichts gelernt, und habe dies bis zum heutigen Tage ebenso lebhaft
empfunden als beklagt. Am 27. Mai 1829 fand die erste Konfirmation in
der Gemeinde statt. Im Dezember 1837 schloß ich den Bund der Ehe mit
einem Verwandten von mütterlicher Seite, der mir seit meiner Kindheit be-
freundet war, in dessen Hände ich mit vollster Zuversicht das Glück meines
Lebens legen konnte. Ich» las viel und vieles. Mein Blick fing an, sich zu
erweitem, ich gewann andere Einsicht in Verhältnisse, in das Leben wie in
die Menschen und ward dadurch in gewissem Sinne eine andere. Besseres
aber als Bücher hat der Umgang mit edlen Menschen für mich getan, die
auf meinem Lebenswege zu finden ich das Glück hatte.
Zu den Freunden, die ich aus der Kinderzeit mit ins reife Leben hinüber-
brachte, gehört Frau Therese Meyer geborene Weikersheim. Die meine Ge-
spielin gewesen, Ward mir Freundin und blieb es bis zu ihrem für die Ihrigen
und für viele zu früh erfolgten Tode. Diese Freundin war es, die mir zu-
erst Gelegenheit bot, mich auf humanitärem Gebiete zu versuchen. Der
glückliche Erfolg, von dem mein Wirken beim Theresien-Kreuzervereine be-
gleitet war, flößte anderen Vereinen Zutrauen ein und es trat im Jahre 1853
der Vorstand des israelitischen Taubstummeninstituts mit der ehrenden
Frage an mich heran, ob ich dem Vorstande des genannten Instituts bei-
treten wolle. Dieser Vorstand bestand bis dahin nur aus Herren. Es hatte
sich aber das Bedürfnis nach der Umsicht und dem Rate einer Frau bemerk-
bar gemacht und der Vorstand hoffte durch mich das Vermißte zu finden.
Gern folgte ich der an mich ergangenen Aufforderung« und durch 25 Jahre
war Julie S. den armen taubstummen Kindern eine Mutter. Nahezu täglich
brachte sie Stunden mit denselben zu und verkehrte mit jedem einzelnen
Kinde, beobachtete ^dessen Entwicklung und förderte es nach Möglichkeit.
Zudem führte sie den Haushalt des Instituts, der für die Bedürfnisse von
weit mehr als 100 Personen aufzukommen hatte. All die Anerkennung und
all der Dank sowie das goldene Verdienstkreuz, das Julie S. im Jahre 1878
»für langjähriges, gemeinnütziges, humanitäres Wirken« verliehen wurde,
waren nur schwacher Entgelt, den Lohn fand sie im Gedeihen der
Kinder.
Mit dem Tode ihres Gatten im April 1883 begann für die Witwe ein
völlig verändertes Leben. Sie verließ Wien, um erst nach zwei Jahren zurück-
zukehren.
Im Herbst nahm die vereinsamte Witwe Aufenthalt in Gossensaß. in
der winterlichen Stille und Abgeschiedenheit und im alleinigen Verkehre mit
der bäuerlichen Bevölkerung hoffte sie sich am besten in die neue Lage zu
finden. Zwei Winter verbrachte sie dort, nur unterbrochen durch zeitweiligen
Aufenthalt in München, wohin Paul Heyse sie zog. Sie hatte von seinen
ersten Versuchen an das innigste Interesse an dem steigenden Wert und den
^eg Schlesinger.
Erfolgen des Dichters genommen. Persönlich war sie ihm für die Teilnahme
unwandelbar dankbar, die er ihr bewiesen hatte, als er ihr am letzten Tage
von Julie Rettichs Todesjahr das verständnisinnige Gedicht, das seinen
Dichtungen einverleibt ist, mit der ihr gewidmeten »Syritha« zusandte.
Als sie nach Wien zurückkehrte, vollendete sie ihr siebzigstes Jahr. Die
Freunde erinnerten sich dessen wärmstens, wenn sie diesen Geburtstag auch
nicht so feierlich gestalteten wie den der geistesfrischen, rüstigen Achtzigerin.
An diesem wurde ihr Ehrung über Ehrung und das Haus Nr. lo auf der
Mölkerbastei dürfte vordem niemals eine so stattliche Auffahrt gesehen und
soviel Blumenschmuck getragen haben. Wie zehn Jahre früher, fehlte es auch
nicht an Zuschriften und Gedichten. Eine Huldigung Betty Paolis ehrt so-
wohl die Geberin wie die Empfängerin und zudem weckt ihr Name die Er-
innerung an die »Drei«, deren Freundschaft denkwürdig bleibt wie ihr
Wirken, an Marie von Ebner-Eschenbach, Jda von Fleischl, Betty Paoli, an
die drei Freundinnen, die unserer Julie die wärmste Wertschätzung zollten.
Die grenzenlose Hingabe der opfermutigen Frau brach schrofE ab, sobald
sie Unwürdigkeit witterte; denn nur würdigen und wahrhaft Bedürftigen
wendete sie ihre Hülfe zu. Die Unverstandenen, die in ihrer Eitelkeit Ge-
kränkten, die Anmaßenden, wie die sentimentalen Weltschmerzler kamen bei
ihr schlecht an. Diesen gegenüber offenbarte sich die Leidenschaftlichkeit,
die Strenge und die Härte, die mit zu ihrem Wesen gehörten. Gegen die-
jenigen, die ihr unwürdig schienen, war sie unnachsichtig und von dem ein-
mal gefaßten Urteile auch kaum mehr abzubringen.
Ihrer Beziehungen zum Burgtheater gedenkt Joseph Lewinsky folgender-
maßen :
Im Hause der berühmten Hof Schauspielerin Julie Rettich trafen hervor-
ragende Männer aus den Gebieten der Poesie, der Gelehrsamkeit und des
Staates zusammen. Eine führende Rolle in solchem Kreise zu spielen, war
nur einer Frau möglich, die eine große Persönlichkeit war. Dieser außer-
ordentlichen Frau war Julie S. durch Eigenschaften, die sie mit ihr gemein
hatte, die intimste Freundin. Was die beiden Frauen einander zuerst nahe
gebracht, aber bald fürs Leben verbunden haben mag, war wohl der männ-
liche Zug ihres Geistes. Vom Weibe hatten sie beide nur die adeligen
Seiten, nicht die sinnlich gefälligen. Sie bezauberten beide den Kopf und
das Herz der Männer, die sie kannten, nicht ihre Sinne. Ein zweites, inniges
Band umschlang die beiden in ihrer grenzenlosen, opferfreudigen Liebe zu
den armen Kindern, in der sich den beiden Iduna Laube als dritte gesellte.
Ein dritter Punkt innigsten Vereines war ihr Verständnis und leiden-
schaftliche Liebe zur Poesie; auch das glänzendste Talent konnte sie nicht
blenden, nicht täuschen über seinen inneren Wert, Heyse bestand, als er in
jugendlichem Alter in diesen Kreis trat, die Probe glänzend und mag sich
das heute noch als Meister zur Ehre fechnen. Von der Dichtergeneration
der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sie Heyse und den
ihm so verwandten Wilbrandt vor allen andern ins Herz geschlossen und
unwandelbar an ihnen gehangen ihr Leben lang. Der hohe Wert dieser
Liebe lag darin, daß dieselbe nie blind wurde für Schwächen einzelner Werke,
desto fester hielt sie an allem, was gelungen war, denn sie begleitete mit
leidenschaftlichem Interesse diese feinstimmigen und reichen Talente vom
Schlesinger. Loiro. ^cn
Beginne ihrer Laufbahn mit ebenso tiefem Verständnis als Herzensanteil an
ihrem künstlerischen wie menschlichen Schicksal.
Julie Schlesinger, Gedenkblätter von Freunden der Freundin. Wien, 24. März 1903
Privatdruck. (Auszug).
Lomiy Hieronymus') (Poetendecknamefür Heinrich Landesmann), *9. August
182 1 zu Nikolsburg, f 3- Dezember 1902 in Brunn). — L. ist durch sein Leben
und Wirken, durch die Eigenart und Tiefe seiner Entwicklung, durch den
selbständigen Gedankengehalt der Gedichte und philosophischen Schriften
aus seiner reifen Zeit eine der merkwürdigsten Erscheinungen der deutschen
Literatur in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Er gehört zu den
bedeutenden Menschen, die aus der Not eine ganze Reihe werktätiger Tugenden
machten und, da er seine persönliche Not zur Vorstellung der allgemeinen
menschlichen Not erhob, und von den Tugenden, in die er sie verwandelte, der
Glanz einer schwer erkämpften, hochgestimmten und durchgeistigten Zufrieden-
heit ausging, war er innerlich berufen, im Dichten und Denken als Befreier,
Helfer und Tröster zu wirken. Seine fröhliche, angeregte Jugend, die er erst
in seiner Vaterstadt Nikolsburg in Mähren und dann als Universitätshörer in
Wien, inmitten einer Familie von starken geistigen Interessen verbrachte,
hatte früh mit physischen Hemmnissen zu kämpfen. Schon mit sechzehn
Jahren verlor er das Gehör, bald darauf stellte sich eine Schwäche des
Gesichts ein, die ihm nur mit Mühe zu lesen und zu schreiben gestattete
und die nach und nach in völlige Blindheit überging, drei Viertel seines
Lebens, diejenigen, denen bleibende geistige Werke zu danken sind, sechzig
von achtzig Jahren war er nicht im Vollbesitz der beiden Hauptsinne, durch
die die Außenwelt an den Menschen herandrängt. Die äufiere Welt, die er
beschrieb, war wesentlich auf die Jugenderinnerung gestellt; ihre späteren
Veränderungen und das geistige Leben langer Jahrzehnte, das ihn umgab,
empfing er in höheren Jahren nur aus zweiter Hand. Eine sinnreiche Schnell-
schrift, die er mit seinen Angehörigen vereinbart hatte, eine Stenographie
der Finger in seiner inneren Handfläche, vermittelte ihm die Begebenheiten
der Welt, die poetischen und wissenschaftlichen Bücher, die geschriebenen
und gesprochenen Worte der Freunde, mit denen er im regen geistigen Ver-
kehre blieb. Von der Liebe seiner Gattin und seiner Kinder umhegt, verfaßte er
in diesem Zustande, in dem ihm auch die Freuden geistiger Geselligkeit nicht
versagt waren, Gedichte, Novellen, Romane, philosophische Werke, die nicht
nur den Mangel der helfenden Sinne nicht verrieten, sondern zum Teil sogar
durch Anschaulichkeit der Schilderung und tiefes Eindringen in das Gedanken-
leben der Mitwelt, also Vorzüge, die von äußeren Eindrücken abhängig sind,
die Wirkungen des Empfindungsausdrucks und des originellen Urteils ver-
stärkten. Wenn die Erwähnung dieses vielleicht einzig dastehenden Phänomens
der Skizze des L.schen Lebensganges vorangestellt wird, so geschieht es nicht
um seine Erscheinung in die Reihe der psychologisch-physiologischen Kurio-
sitäten hineinzustellen und die Würdigung seiner literarischen Werke dadurch
zu einer relativen zu machen. Viele Tausende von dankbaren Lesern, die
von L.s Werken Genuß, Befriedigung und innere Erbauung empfangen haben,
«) Totenliste 1902 Band VII 67*.
360 Lorm.
hatten keine Ahnung von dem schweren persönlichen Schicksal des Autors,
das der Tapfere sich nicht nur zu einem erträglichen, sondern aus eigener
Kraft zu einem glücklichen gestaltete. Und die Bedeutung seiner Werke
wäre ohne das Relief der stillen Großtat des Gemüts und des Geistes, der
sie ihr Dasein verdanken, objektiv genommen dieselbe wie unter den tatsäch-
lich gegebenen Verhältnissen; dennoch gehört die Erwähnung der Bedingungen,
unter denen er schuf, wesentlich zu der inneren Geschichte seines Wirkens.
Sein Verhältnis zur Sinnenwelt war zweifellos mitbestimmend für die
Ausgestaltung seiner geistigen Persönlichkeit; weit entfernt, ihn arm zu machen,
hat es ihm eine besondere Art des Reichtums verliehen. Die Geräuschlosig-
keit wurde zur fördernden Ruhe einer konzentrierten Entwicklung, die zur
zweiten Natur gewordene Entbehrung, der er sich völlig angepaßt hat, zur
Seele eines überlegenen und dabei doch sehnsüchtig wehmütigen Humors.
Von Haus aus eine kontemplative Natur, vertiefte er sich in der Zurück-
gezogenheit. Das äußere Dunkel war gleichsam das Schutzdach seiner Origi-
nalität, die Stille wirkte als Abwehr zerstreuender und ablenkender Ein-
drücke. Mit einem erstaunlichen Gedächtnis und einer lebhaften Phantasie
begabt, ließ er nie merken, was ihm fehlte, wohl aber was er vor Anderen
voraus hatte: die Innerlichkeit der Anschauung, die Versenkung in die
Gedankengänge, die Heiterkeit des Weisen, den der flüchtige Wechsel der
Dinge nicht berührt. Der persönliche Sieg über die Materie griff notwendig
wendig in sein Schaffen hinüber und machte ihn zum Meister in der Ver-
mittlung jener Stimmungen, in denen wir uns minder abhängig vom Drucke
der sinnenfälligen Alltäglichkeit fühlen. In seinen Romanen und Novellen
hat er mit ausgesprochenem Sinn für das Gregenständliche eine bunte soziale
Welt abgezeichnet und sogar eine besondere Vorliebe für die Fülle anek-
dotischer Begebenheit gezeigt — aber am meisten er selbst, eigentümlich in
der Richtung der Beschaulichkeit, in der Konsequenz des Denkens und in
der milden, ruhigen Klangfarbe des Stils, ist er in jenen Büchern, in denen
er, zugleich Poet und Denker, seine Auffassung vom Leiden am Leben und
seine Kraft, dieses Leiden in ein Genießen zu verwandeln, an die Betrach-
tung der unvergänglichen Dinge anknüpft. Hier läßt er in unserem Innern
eine Saite anklingen, die in ihm stärker tönt als in anderen Menschen-
gemütern; hier führt er uns mit sanfter aber sicherer Hand auf einen Punkt,
wo wir, taub und blind gegen alles unwesentliche Getriebe, uns als einen
Teil des ewigen Geistes, der im Naturleben waltet, fühlen.
Der äußere Lebensgang L.s tritt völlig gegen seinen inneren zurück.
Zu Beginn seiner Laufbahn sehen wir ihn jenen trefflichen jungen Männern
Österreichs beigesellt, die gegen den Druck, der auf dem bürgerlichen und
geistigen Leben lastete, mit den edlen und feingeschliffenen Waffen der
Intelligenz ankämpften und dadurch den Zorn der Zensur erregten, die mit
plumpen und machtlosen Händen den hereindringenden Strom der Erkenntnis
abzuwehren suchte. L. sprach zunächst als Mitarbeiter vormärzlicher Zeit-
schriften manches freimütige Wort über die unhaltbaren Zustände. Sein erstes
Buch, »Wiens poetische Schwingen und Federn", das im Jahre 1846 erschien,
und das gleich den Schriften Anastasius Grüns, Moritz Hartmanns und
Bauernfelds die Forderungen der neuen Zeit verkündete, zog ihm Verfol-
gungen zu, die ihn zur Flucht nach Deutschland (erst Leipzig, dann Berlin)
Lorm. 261
nötigten, von wo er während des Revolutionsjahres nach der Heimat zurück-
kehrte, um sich der Bewegung anzuschließen. Später hat er in der Hut seiner
treuen Gattin Henriette (geb. Frankl), die seine Pflegerin, sein Auge und
sein Ohr war, und die bald von den heranblühenden Kindern darin unter-
stützt wurde, lange Jahre (1873 — 1892) in Dresden gelebt. Die letzten Lebens-
jahre verbrachte er in Brunn, in der Nähe des älteren seiner beiden Söhne,
der in der mährischen Hauptstadt als praktischer Arzt tätig ist.
So wenig äußere Ereignisse seit 1848 in das Leben des Dichters und
Denkers eintraten, so reich gestaltete sich seine innere Entwicklung. Auf die
»Poetischen Schwingen und Federn«, die fein gestimmte Charakterbilder der
vormärzlichen österreichischen Poeten boten und die in jenem eigentümlich
herausgeschliffenen Stil gehalten waren, der durch den Druck der Zensur
mit bedingt war und der gleichsam an den verhängten und verschlossenen
Fenstern des Staatslebens diamantartig die Kraft der Schneidigkeit (erprobte,
folgten 1848 die »Gräfenberger Aquarelle«, die noch stark durch die Zeit-
stimmung beeinflußt sind, sich wie Meisterstücke einer anmutigen Feuilleton-
kunst lesen, aber schon die Wendung ins dichterisch Freie bezeugen.
Die Kunst der scharfen Antithese, die Freude am Gleichnis, das eine
Paradoxie verkörpert, die Neigung zur bedeutsamen Anekdote, der der Geist
im Sinne der Paramythie eine neue Wendung gibt, sind L. immer treu ge-
blieben; aber wenn der Witz in seinen ersten Werken vorzuwalten scheint,
wird er später in die Begleitung, in die zweite Stimme zurückgedrängt. In
den Gedichten L.s, von denen seit 1870 eine Reihe von Sammlungen (Hamburg
und Dresden) erschienen ist, ist die das Wort formende Klugheit völlig der
Empfindung dienstbar gemacht; wo der Witz durchschlägt, ist es der philosophi-
sche der tiefen Melancholie, die alles bloß Scheinende dieses Lebens belächelt,
das Ungereimte leidenschaftlicher Regungen aufdeckt und in den Gegensatz
zwischen heißen Augenblickswünschen und der ungestillten Sehnsucht, die
durch unsere Existenz selbst gegeben ist, hineinleuchtet. Der Übergang, der sich
in den epischen Dichtungen vollzieht, spiegelt eine reiche, aufwärtsstrebende
Entwicklung. Von den 1848 erschienenen Gräfenberger Aquarellen, durch die
zahlreichen Novellen und Romane hindurch, geht ein psychologischer Werde-
gang des Dichters, an dem die Gestalten Anteil haben. Man kann dies durch
eine lange Reihe von Produktionen verfolgen, durch die Romane »Gabriel
Solmar« (1868), »Späte Vergeltung« (1879), ^^^^ ehrliche Name« (1880), »Der
fahrende (Geselle« (Leipzig 1884), »Außerhalb der Gesellschaft« (1881), »Kind
des Meeres« (1882), »Vor dem Attentat« (1884), »Beide Töchter des Haupt-
manns« (1888), »Die Geheimrätin« (1891), »Auf dem einsamen Schlosse«
(Breslau 1887), wie durch die Novellensammlungen »Am Kamin« (Berlin 1857),
»Erzählungen des Heimgekehrten (1858), »Intimes Leben« (Prag 1860), »Novellen«
(mehrere Folgen 1864 — 1893), in denen die Vertreter der leidenschaftslosen
Betrachtung im Gegensatze zu den leidenschaftlicheren Glücksjägern immer
mehr in das Lebensrecht eingesetzt und als die letzten Sieger im Lebens-
kampfe dargestellt werden. Im Roman »Der ehrliche Name« z. B., der eine
Fülle von Schicksalswechsel vorführt, und aus leidenschaftlichen Begehrungen
eine spannende Handlung herausspinnt, ist das physische Übergewicht über
die handelnden Personen und die Grundstimmung der wahren Lebenskunst
durch ein gealtertes, unschönes Mädchen vertreten, dem die Erzählung in
362
Lonn.
den Mund gelegt ist und das, durch die notgedrungene Entsagung vom Wett-
bewerb im Lebenskampfe ausgeschlossen, sich durch Ironie und tätiges Mit-
leid über diese Kämpfe erhoben hat. Die Verinnerlichung der Gestalten
in L.s Dichtungen läßt durch die Kunst hindurch jenen Prozeß erkennen, in
dem er sich selbst als Denker emporgeläutert hat. Er ist, wie Leopardi, der
Sänger des Pessimismus geworden, aber wenn er im Vollton der Lebens-
klage sich mit den Besten messen kann, die das Gefühl lösen, das uns vor
der Sphinx des Daseins anwandelt, so ist er ganz eigentümlich in der Kraft,
diesen Lebensschmerz derart zu objektivieren, daß er vom bewußten All-
gemeinleiden in eine Genugtuung an diesem Bewußtsein übergeht. Zuletzt
tönt die Klage bei ihm in die Ahnung einer höheren Welt aus, die freilich
nur in der Empfindung uns zu eigen werden, aber diese völlig mit Erkenntnis-
freudigkeit und beglückender Sehnsucht ausfüllen kann. Und diese Empfin-
dung ist iür ihn kein Rausch, in den er sich träumend hineinversetzt, sondern
die letzte Zuflucht einer rastlosen Gedankenarbeit. Er lehrt den Wert der
sogenannten Daseinsfreuden verneinen und vor der Verzweiflung, die sich an
solche Zweifel heften könnte, in die Befreundung mit der Natur hinüber-
flüchten, deren Walten nicht mehr grausam erscheint, wenn man sich zu der
Vorstellung erhebt, ein Element ihrer Unendlichkeit zu sein. Und auf der
Höhe seiner Entwicklung tritt diese tiefernste Arbeit an die Aufgabe heran,
allen Denkversuchen nachzugehen, die die intelligible Welt erschöpfen wollten
um Allen gegenüber ein Verhältnis zu den letzten und höchsten Lebensfragen
zu gewinnen.
Diese philosophisch -poetische Entwicklung, in der L. das Stoffliche
immer mehr zurückdrängt, um dem Wesen der erkenntnistheoretischen Fragen
nahezutreten und an diese die Frage nach dem Werte aller Erkenntnis und
dem wahren Lebensgenüsse anzuknüpfen, ist in einer Reihe L.scher Bücher
niedergelegt, deren Tiefe und Bedeutung erst allmählig voll erkannt werden
wird. So in »Natur und Geist im Verhältnis zu den Kulturepochen« (Teschen
1884), in dem Buche »Die Muse des Glücks« und »Moderne Einsamkeit«
(Dresden 1894). In zweien dieser Bücher, in der Skizzensammlung »Der
Abend zu Hause«, die der Dichter seiner teuern Freundin, der geistesver-
wandten Poetin Marie von Ebner-Eschenbach gewidmet hat, und in der für
jeden tiefer angeregten Leser überaus wertvollen Schrift »Der Naturgenuß,
eine Philosophie der Jahreszeiten«, sind die Perlen philosophischer Betrach-
tung noch mehrfach an episch-künstlerischen Zügen aufgefädelt, während in
dem Buche der Betrachtung »Der grundlose Optimismus« das poetische
Empfinden lediglich der erkenntnistheoretischen Untersuchung den Puls und
die Farbe, gibt und der philosophische Gehalt den ganzen Bau des Werkes
bestimmt. In der Einleitung zu dem ersterwähnten Werk spricht L. der leiden-
schaftslosen kontemplativen Art, das Dasein zu nehmen, den Wert des höch-
sten Lebensgenusses zu. »Das Leben«, sagt er da, »sperrt einen leeren Rachen
auf, der fortwährend mit unserem Tun, Wirken, Leben, Genießen gefüllt sein
will, um uns nicht zu verschlingen. Das heißt mit anderen Worten: das
Leben an und für sich ist nur Langeweile. Unsere Zerstreuungen, Ver-
gnügungen, Beschäftigungen dienen nur dazu, uns das Leben vergessen zu
machen. Jeder hat seine bestimmte Lebenszeit, Zeitvertreib ist daher Lebens-
vertreib.« »Dennoch«, heißt es weiter, »hat uns die Natur eine Anhänglichkeit
Lorm. ^63
an dies öde leere Leben eingepflanzt Der Mensch ist immerdar
ein Kind, das, wenn es noch so spät geworden, nicht gerne schlafen geht . . .
Naturwissenschaft und Philosophie werden sich noch lange mit diesem Wider-
spruch zu beschäftigen haben . . .« Es gibt aber einen Zustand, in dem die
Ausgleichung dieses Widerspruchs wenigstens ahnungsweise aufdämmert, und
dieser Zustand, der etwas märchenhaftes hat, ist die selbstgewählte Einsam-
keit, die L. einem »kuriosen Einkehrwirtschaftshaus vergleicht, das außerordent-
liche Genüsse bietet und das doch von jedermann gemieden und nur in dem
Falle aufgesucht wird, wenn ein gar zu stark losbrechendes Wetter keine
andere Zuflucht übrig läßt«. Daß diese Genüsse nicht illusorisch, vielmehr
Befreiung von jeder Illusion und die zuversichtlichsten Freuden sind, die dem
Sterblichen beschieden sein können, erweist er durch eine herzbewegende
Spiegelung dieses stillen Glückes in seinem köstlichen Buche »Der Natur-
genufi«. An der Heilung eines vom Leben Verwundeten wird da die trost-
reiche Kraft der stillen Hingebung an das Naturleben überzeugend offenbart.
Bei der Lektüre dieses merkwürdigen Buches hat man das Gefühl, daß das
Unausgesprochene, das in Stifters »Studien« liegt, hier zu Worte gekommen
ist — dort die künstlerisch verschleierte Philosophie, hier die philosophisch
verhüllte Kunst.
Wenn aber hier noch die ästhetische Auffassung des Lebens überwiegt,
so erfüllt L. in seinem Buche »Der grundlose Optimismus« die Aufgabe, die
er in seiner Vorrede im »Abend zu Hause« noch vertagte und die ihn offen-
bar viele Jahre innerlich beschäftigt hat : er geht an den sein ganzes inneres
Leben zusammenfassenden Versuch, die ethischen Konsequenzen kontem-
plativen Verweilens einleuchtend zu machen und den Quietismus, wie er ihn
faßt, nämlich »die Ruhe der Leidenschaft«, die mit Lässigkeit der Pflicht-
erfüllung und Untätigkeit des Geistes nichts zu schaffen hat, als die wahre
Quelle des sittlichen Lebens aufzuweisen. Einen mühsamen, steilen und
hochinteressanten Weg geht L. in diesem »Buche der Betrachtung«, um
an ein Ziel, bei dem er sich beruhigt, zu gelangen. Der grundlose Opti-
mismus ist die volle Auflösung der pessimistischen Lebensdissonanzen, die
aus manchen seiner früheren Werke hervortönten. Um zu dieser Auflösung zu
gelangen, trennt er zunächst den flachen Lebenspessimismus, der im Grunde
nur die banale Antwort auf die banale Frage: »Wie geht es Ihnen?« ist,
von dem tiefen und furchtbar ernsten wissenschaftlichen Pessimismus, der an
die engen Grenzen der Erkenntnis heranführt und als dessen Hauptvertreter
er Kant ins Auge faßt.
Was die Grenzen unseres Erkennens a priori anlangt, stellt sich L. in
seiner tiefgreifenden Ausführung ganz auf den Boden der Kantschen »Kritik
der reinen Vernunft«, er widersetzt sich aber der »Kritik der praktischen
Vernunft«, die nach seiner Überzeugung zuletzt doch wieder einen Versuch
macht, das Meinen zum Wissen zu erheben. Daran reiht sich eine ungemein
scharfe Kritik der Hegeischen Ideenlehre, der Schellingschen Naturphilosophie,
der Schopenhauerschen Willenstheorie, der Hartmannschen Lehre vom Un-
bewußten und des Nietzscheschen Übermenschen. L.s Polemik gegen Nietzsche,
insbesondere seine Auflehnung gegen den Nietzscheschen »Prachtmenschen«,
ist eben so stark in den Argumenten wie im Temperament der Abwehr. An
diesem Kampfe fesselt nicht nur die Führung der geistigen Waffe, sondern
364 Lonn.
auch das Ringen starker Persönlichkeiten, das einen geschichtlichen Eindruck
macht.
Der Gang durch alle Systeme aber führt den Denker zur Idee der reinen
Vernunft als grundlosem Optimismus, die als Sehnsucht in uns gelegt ist.
Aus der Spaltung der menschlichen Natur in ihre verstandesmäßig erkenn-
bare und in die nur in der höchsten Sehnsucht der Vernunft vorhandene und
sonst unerkennbare Beschaffenheit erklärt er das Schamgefühl der Menschen
in beiden Richtungen; der wahre Edelmut tue das Gute im Verborgenen,
als schäme er sich, das Unerklärliche seines Tuns den Augen der Verstandes-
mäßigkeit, als etwas ihr Fremdes, Nichtzugehöriges preiszugeben. Ebenso
suche die materielle Persönlichkeit, solange sie noch unverdorben, also vom
Intelligiblen überhaucht ist, ihre bloß körperliche Beschaffenheit und, was
dem intelligiblen Anhauch als das niedrigste Werkzeug der gemeinen Natur
offen widerspricht, mit unbesieglicher Scham zu verbergen. Die menschliche
Natur ist für L. in einen sich überall aufdrängenden Pessimismus und in
einen magischen unerklärlichen Optimismus zerfallen, jener ist der Egoismus,
die Erhaltung des Selbst, dieser die Selbstverleugnung, die Überwindung der
Natur. Der mystische Vereinigungspunkt der Gegensätze ist ihm das Gemüt,
das, vom grundlosen Optimismus verlassen, zur Klaviatur der Leidenschaft
wird, und das, von ihm durchleuchtet, auch in Naturen, die sich nicht der
Erkenntnisgrenze in der Richtung auf das Unendliche bewußt werden, als
ein mächtiger Trieb walte, nämlich als die reine Herzensgüte. Ohne
durch den Pessimismus, durch die Verneinung des Willens zum Leben hin-
durch zu gehen, gelangen solche Naturen in den Besitz des Unerkennbaren
und zum Willen für das Leben Anderer. Wie Kant vor dem Begriffe der
Pflicht, bricht L. vor der Erscheinung der Herzensgüte zum Schlüsse seines
Buches, das mit dialektischer Schärfe alle Anmaßungen vom Wissen des
Guten abgelehnt hat, in einem Hymnus aus, der in den Worten gipfelt:
»Der Anblick der reinen Herzensgüte ergreift und erschüttert tiefer als die
Ideen des Denkers und die Werke des Genies . . . .«
L. gehört zu den Schriftstellern, die in ihrer allmähligen Vertiefung zu
einer Harmonie des Denkens und Fühlens gelangten, zu der die, von der
Flut flüchtiger Interessen umrauschte Lesewelt nur langsam zu folgen vermag.
Der Schatz von Gedanken aber, der in seinen philosophischen Schriften liegt,
die Fülle der Empfindung in seinen melodischen, feingestimmten Gedichten,
in denen die Gemütsquelle seiner Philosophie rein zutage tritt, gewinnen
immer mehr genußfreudige und dankbare Anhänger. Dieser blinde Seher
hat für lange hinaus geschaffen und den Menschen, die der Sammlung und
des Grenusses der Selbstüberwindung fähig sind, Unverlierbares geboten. Und
selbst über die Fülle dieser Darbietungen hinaus ist nach seinem Tode noch
manches von der reichen Ernte seines Innenlebens zu erwarten. Die Heraus-
gabe seiner Briefe durch Prof. Dr. August Sauer und die Veröffentlichung
seines Nachlasses durch Philipp Stein, die für die nächste Zeit bevor-
stehen, werden uns noch mit manchen wertvollen Urkunden seines Innen-
lebens vertraut machen. Beide Herausgeber werden durch L.s Tochter Marie,
die dem Dichter und Denker bei seinem Schaffen mit freudiger Opferwillig-
keit zur Seite stand, wesentlich unterstützt.
Alfred Klaar.
von Delbrück.
365
Delbrück, Martin Friedrich Rudolf von,i) * 16. April 181 7 zu Berlin,
t I. Februar 1903 ebenda. — Rudolf von D. gehörte zu den großen Männern,
deren Namen für alle Zeiten unlösbar mit der Geschichte der Wiedergeburt
Deutschlands im 19. Jahrhundert verbunden sein werden. Sein Lebenswerk be-
stand zunächst in der Sicherung und dem Ausbau der wirtschaftlichen Einigung
Deutschlands im Zollverein und später im Reich; sein Lebenswerk war ferner
die Neugestaltung der deutschen wirtschaftspolitischen Gesetzgebung in dem
freiheitlichen Geiste, der für die erwachende wirtschaftliche Kraft und Initiative
des deutschen Volkes die Bahnen erschloß; und nicht das letzte seiner Ver-
dienste war die unmittelbare Mitwirkung an der politischen Einigung Deutsch-
lands im neuen Reiche, für die der wirtschaftliche Zusammenschluß im Zoll-
verein die unerläßliche Vorarbeit gewesen war. Sein reiches und mit der
vaterländischen Geschichte auf das engste verflochtene Leben kann natürlich
in dieser Skizze nur im großen Umriß zur Darstellung gebracht werden.
D. selbst hat zwei Bände »Lebenserinnerungen« hinterlassen (Leipzig, Duncker
& Humblot, 1905), die allerdings nur bis zum Jahre 1867 reichen und mithin
nur die Periode des Delbrückschen Wirkens bis zur Begründung des Nord-
deutschen Bundes, nicht auch Delbrücks Tätigkeit in Bund und Reich um-
fassen. Aber auch in dieser zeitlichen Beschränkung sind die Lebenserinne-
rungen D.s nicht nur als Autobiographie sondern als Geschichtswerk von
außerordentlichem Werte. Der Nationalökonom G. Schmoller hat den ersten
Band der »Erinnerungen« als »eines der wertvollsten Denkmäler der preußischen
Beamten-, Geistes und Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«
bezeichnet, und der Historiker M. Lenz hat über das Gesamtwerk geschrieben :
»Das Ganze ist nach meinem Dafürhalten eine der wertvollsten Quellen zur
Geschichte unserer Einheitsbewegung, ja mehr als das, die Darstellung bereits
selbst eins der wertvollsten Kapitel aus unserer neueren Geschichte.«
Rudolf Delbrück wurde am 16. April 181 7 in Berlin geboren. Seine Familie
war niedersächsischer Herkunft. Ururgroßvater und Urgroßvater waren Geist-
liche gewesen. Der Großvater war im Jahre 1783 als "»advacatus curiae«^ und
Ratsmann in Magdeburg gestorben. Rudolfs Vater hatte Theologie studiert;
im Jahre 1800 war er zum Erzieher des preußischen Krönprinzen, des nach-
maligen Königs Friedrich Wilhelm IV. bestellt und einige Jahre später auch
mit der Erziehung des Prinzen Wilhelm, des nachmaligen Königs und Kaisers,
betraut worden. In dieser seiner Stellung erwarb sich der Vater Delbrück das
besondere Vertrauen und Wohlwollen des Königs Friedrich Wilhelm III. und
der Königin Luise; er hatte Gelegenheit, in jenen bewegten Zeitläuften allen
Personen nahe zu treten, die durch Geburt, amtliche Stellung und wissenschaft-
liche Bedeutung damals in Preußen hervorragten; für den Lebensgang des
Sohnes ist das nicht ohne Bedeutung gewesen. Nachdem im Jahre 1809 die
Tätigkeit als Erzieher bei den Prinzen ein Ende gefunden hatte, machte der
Vater D. größere Reisen und widmete sich privaten Studien. Im Jahre 181 5,
in bereits vorgerücktem Lebensalter, vermählte er sich mit der Tochter eines
Bürgers und Hausbesitzers in Potsdam.
Bald nach der Geburt Rudolfs siedelte die Familie nach Zeitz über, wo
der Vater D. die Stelle des Superintendenten übernahm. Bereits im Alter von
«) Totenliste 1903 Band VIII 24*.
ß66 von Delbrück.
6 Jahren verlor Rudolf seine Mutter, im Alter von 13 Jahren auch seinen
Vater; er wurde in dem kinderreichen Hause seines Oheims Gottlieb Delbrück
untergebracht, der im Jahre 1831 zum Kurator der Universität Halle ernannt
wurde. Am Pädagogium in Halle bestand Rudolf im Herbst des Jahres 1833
die Abgangsprüfung. An den Universitäten Halle, Bonn und Berlin widmete
er sich juristischen, historischen, geographischen und volkswirtschaftlichen
Studien. Als den Schwerpunkt seiner Studien bezeichnet er selbst die Ge-
schichte, insbesondere die Beschäftigung mit dem Xesen und Exzerpieren
diplomatischer Aktenstücke aus der Zeit Heinrichs IV. und Ludwigs XIII. von
Frankreich. »Diese Studien«, so schreibt er in seinen Erinnerungen, »sind
mir in meiner späteren Laufbahn von grofiem praktischen Nutzen gewesen,
weil ich an einer langen Reihe klassischer Vorbilder lernte, wie Instruktionen
an diplomatische Agenten, Berichte solcher Agenten an ihren Hof, diplo-
matische Noten und Protokolle zu schreiben sind.« Aus jener Zeit seiner
Arbeiten in Rankes historischem Seminar datiert D.s Bekanntschaft mit den
späteren Historikern Waitz, Sybel, Wilhelm Giesebrecht u. a.
Die historischen Studien hatten in D. die Neigung geweckt, den aus-
wärtigen Dienst zu seinem Berufe zu machen. Die geringen Aussichten in
diesem Dienstzweige veranlaß ten ihn jedoch, den Eintritt in die innere Ver-
waltung ins Auge zu fassen. Entscheidend dafür war eine Besprechung, die
er mit dem Direktor im Auswärtigen Ministerium, Eichhorn, über die Berufs-
wahl hatte. Er hat seinen Entschluß nicht bereut. »Ich habe dieser Unter-
redung« — so schreibt er — »später oft gedacht, wenn ich mitunter in den
nämlichen Räumen, in welchen sie stattfand, an der Gestaltung unserer aus-
wärtigen Beziehungen mitwirkte. Ohne dem Auswärtigen Ministerium anzu-
gehören, habe ich die Tätigkeit, welche ich mir damals gewünscht hatte, in
vollstem Maße gefunden.«
Nachdem D. im März 1837 die erste und Ende 1838 die zweite juristische
Prüfung bestanden und im August 1839 sein Referendariatspatent erhalten
hatte, wurde er im September 1839 ^^^ ^^^ Regierung in Merseburg ein-
geführt und dort in den verschiedensten Zweigen der Verwaltung beschäftigt.
Während seines Militärjahres, das er in Berlin bei der Artillerie abdiente, be-
stand er im Juni 1842 die dritte juristische Prüfung, der seine Ernennung
zum Regierungsassessor folgte.
Unmittelbar darauf wurde er von dem Generalsteuerdirektor Kühne als
Hilfsarbeiter — zunächst allerdings nur für eine kurze Frist — im Finanz-
ministerium eingestellt (24. Juli 1842). Kühne war unter dem Finanzminister
Maaßen hervorragend an der Gründung des Zollvereins beteiligt gewesen.
Unter Kühne, zu dem er bald in ein enges, persönliches Verhältnis trat, hatte
D. "hauptsächlich Gewerbesteuer-Kontraventionssachen zu bearbeiten, eine
Materie, die ihn zwar mit den Details der Steuerverwaltung vertraut machte,
ihn aber im übrigen nicht allzusehr reizte. Bereits im Sommer 1843 trat er
in dtfe Abteilung für Handel und Gewerbe über. Diese stand damals unter
der Leitung Beuths, den D. »den Erzieher der preußischen Gewerbsamkeit«
nennt. Hier hatte er zunächst die Angelegenheiten der Verkehrsanstalten in
den beiden westlichen Provinzen, später die technischen Gewerbesachen zu
bearbeiten; in dieser Stellung fertigte D. das erste Patent aus, das der da-
malige Artillerieleutnant Werner Siemens erhielt.
von Delbrück.
367
Eine kurze Beschäftigung in der Handelsabteilung des Finanzministeriums,
während welcher er insbesondere eine Denkschrift über die Beziehungen des
Zollvereins zu den Vereinigten Staaten von Amerika auszuarbeiten hatte, leitete
seinen Übertritt in das am i. Sept. 1844 neu errichtete Handelsamt ein. Das
Handelsamt war eine Halbheit an Stelle eines Handelsministeriums, zu dessen
Errichtung der König sich damals nicht entschliefien konnte; D. bezeichnete
es als eine »Behörde, welche anregen und begutachten durfte, aber nichts
anzuordnen und auszuführen hatte«. Für D.s persönliche Ausbildung jedoch
war die Beschäftigung in dieser neuen Behörde, innerhalb deren ihm die
Bearbeitung der auswärtigen Handelsbeziehungen überwiesen wurde, von dem
größten Nutzen. Er ^Ibst schreibt:
»In keiner anderen Stellung wäre es mir möglich gewesen, meiner Aus-
bildung diejenige Reife zu geben, welche dieselbe während meiner 3i/2Jährigen
Beschäftigung beim Handelsamt erhielt; denn in keiner anderen Stellung hätten
mir die gleichen Mittel und die gleiche Zeit dafür zu Gebote gestanden.«
Der Gegenstand seiner Studien war einerseits die kommerzielle Gesetzgebung
des Auslandes, andrerseits die Lage der einheimischen Industrie, von der er
sich insbesondere auch durch den Besuch und die eingehende Besichtigung
zahlreicher Fabriken ein Bild zu machen suchte.
Diese ruhige Ausbildungszeit kam D. in ganz außerordentlichem Maße
zugute, als er im April 1848 in das damals endlich ins Leben gerufene Handels-
ministerium übertrat, in welchem er im Febr. 1849 zum Regierungsrat und
bereits im Mai desselben Jahres zum Geheimen Regierungsrat und vortragenden
Rat ernannt wurde. In dem neuen Ministerium fiel D. unter den verschiedenen
Ministem, die im Jahre 1848 einander ablösten, und schließlich unter dem
Minister v. d. Heydt infolge seiner Kenntnisse und Arbeitsfähigkeit alsbald
eine besondere Stellung zu. Er war von nun an die treibende Kraft der
preußischen Handelspolitik.
Die Zeiten für den Zollverein und für Preußens handelspolitische Stellung
in Deutschland waren damals von kritischem Ernst. Seit einem Jahrzehnt
war die Entwicklung des Zollvereins zum Stillstand gekommen.. Es hatte
den Anschein, als ob nichts mehr recht gelingen wollte. Der Versuch, durch
die Beiziehung Hannovers das Gebiet des Zollvereins zu ergänzen, war im
Jahre 1840 gescheitert. Die Verhandlungen mit auswärtigen Staaten über eine
Regelung der Handelsbeziehungen stockten oder schleppten sich mühsam und
ergebnislos dahin. Im Innern des Zollvereins herrschten Meinungsverschieden-
heiten zwischen den beteiligten Staaten über Schutzzoll und Freihandel,
welche die zeitgemäße Fortbildung des Vereinstarifs verhinderten. Ja selbst
zwischen den einzelnen preußischen Ressorts bestanden Streitigkeiten über
die Opportunität einer differentiellen Politik in bezug auf Handel und Schiff-
fahrt. Diese Stagnation, die überall in Deutschland die Freude am Zollverein
verdarb, ging in eine akute Krisis über, als Österreich im Jahre 1849 begann,
sich aus Gründen seiner großdeutschen Politik in die Verhältnisse des Zoll-
vereins einzumengen.
Der österreichischen Politik war erst verhältnismäßig spät ein Licht dar-
über aufgegangen, in welchem Maße Preußen durch den Zollverein seine
Stellung in Deutschland befestigte und seiner politischen Vorherrschaft den
Boden bereitete. Erst als der Fürst Metternich in der Leitung der öster-
368 von Delbrück.
reichischen Politik durch den Fürsten Schwarzenberg abgelöst worden war,
ließ Osterreich seine bisherige Gleichgültigkeit und Passivität gegenüber dem
Zollverein fallen. Dem Fürsten Schwarzenberg erschien für die Erreichung
seines politischen Zieles — ^Grofideutschland unter der Leitung Gesamtöster-
reichs« — der handelspolitische Zusammenschluß zwischen Österreich und den
übrigen deutschen Staaten als die notwendige Voraussetzung. Für Preußen
war die von Osterreich seit 1849 mit aller Energie verlangte Zolleinigung
mit Osterreich aus politischen Gründen unannehmbar; nicht minder aus wirt-
schaftlichen Gründen, denn bei der Verschiedenheit der wirtschaftlichen Ent-
wicklung und der wirtschaftlichen Interessen mußten die beiden Parteien ganz
entgegengesetzten handelspolitischen Zielen zustreben, Preußen einer mehr
freihändlerischen, Österreich einer streng protektionistischen Ordnung. Poli-
tisch und wirtschaftlich aber konnte Österreich auf die Unterstützung der
süddeutschen Staaten rechnen, deren Machtstellung Preußen gegenüber des-
halb eine besonders große war, weil sie — solange Hannover und Oldenburg
außerhalb des Zollvereins standen — die Brücke zwischen den beiden Hälften
der preußischen Monarchie bildeten.
Die von Österreich gemachten detaillierten und ausführlich begründeten
Vorschläge faßten eine stufenweise Herbeiführung der Zolleinigung ins Auge.
»Der Plan war gut ausgedacht. Er blendete durch sein großes Ziel, er schien
ohne erhebliche Schwierigkeiten ausführbar zu sein, er versprach dem Verkehr
des Zollvereins greifbare, mit jeder Periode steigende Vorteile, er verhieß die
Bildung einer handelspolitischen Macht, welche durch das Schwergewicht
ihrer geographischen Lage und ihrer 70 Millionen Angehöriger nicht ihres-
gleichen in Europa hatte. Daß er, schon vom Beginn seiner Ausführung an,
dem Zollverein eine selbständige Handelspolitik unmöglich machte und
Preußen jeder eigenen Aktion beraubte, schadete ihm außerhalb Preußens
sehr wenig, die schutzzöllnerischen Bestrebungen in Süddeutschland und die
politischen Tendenzen der Mittelstaaten fanden bei ihm ihre Rechnung. Daß
er für uns unannehmbar sei, stand außer Frage, die Frage aber war, wie wir
ihm begegnen sollten.«
D. war sich von vornherein darüber klar, daß man dem österreichischen
Vorschlag nicht mit einer glatten Ablehnung entgegentreten könne, sondern
nur mit Gegenvorschlägen, welche sich die berechtigten Wünsche nach einer
wesentlichen Erleichterung des Handelsverkehrs zwischen Österreich und dem
Zollverein aneigneten. Der Vorschlag der vollständigen Zolleinigung zwischen
beiden Teilen wurde also mit dem Vorschlage einer Annäherung des öster-
reichischen Zolltarifs an denjenigen des Zollvereins unter Abschluß eines
Handelsvertrags beantwortet. Außerdem aber suchte D. den Zollverein gegen-
über den österreichischen Aspirationen in sich selbst zu festigen, und dafür
war, solange die Festigung nicht durch den territorialen Ausbau herbeigeführt
werden konnte, der damals infolge einer zwischen Preußen und Hannover
herrschenden politischen Verstimmung unmöglich war, der einzige Weg eine
zeitgemäße Reform des Vereinstarifs. D. führte in jener schwierigen Zeit
die Verhandlungen auf diesen verschiedenen Gebieten. Er wurde im Früh-
jahr 1850 zu Verhandlungen mit den österreichischen Staatsmännern nach
Wien geschickt, er vertrat als Bevollmächtigter Preußens dessen Tarifvor-
schläge auf der Generalkonferenz des Zollvereins in Kassel, und schließlich
von Delbrück. 369
nahm er als handelspolitischer Sachverständiger Preußens an den Ende 1850
in Dresden zusammengetretenen »freien Konferenzen« teil. Obwohl ein posi-
tiver Erfolg bei der Haltung der süddeutschen Staaten und bei der durch
die territoriale Zerrissenheit bedingten Schwäche der preußischen Position
nicht zu erzielen war, obwohl die Tage von Olmütz eine stark deprimierende
Wirkung auf den Vorkämpfer der handelspolitischen Hegemonie Preußens
ausüben mußten, verlor D. nicht den Mut, bis ihm schließlich der in aller
Stille vorbereitete entscheidende Zug gelang.
In Hannover hatten politische und finanzpolitische Sorgen eine günstigere
Stimmung für einen Zusammenschluß mit dem Zollverein aufkommen lassen.
D. benutzte seine Anwesenheit bei den »freien Konferenzen« in Dresden, um
mit dem hannoverschen Sachverständigen, dem Generalsteuerdirektor Klenze,
Fühlung zu nehmen und in vertrauliche Besprechungen einzutreten, die ganz
geheim geführt wurden und schließlich im August 1851 in Magdeburg bei
der Gelegenheit von Beratungen über die Elbschiffahrtsverhältnisse, bei denen
abermals D. und Klenze ihre Staaten vertraten, zum Abschluß gebracht
wurden. Das Ergebnis des Vertrags war der Anschluß des »Steuervereins«
an den Zollverein. Damit war Preußen und dem Zollverein auch für den
Fall des Ausscheidens sämtlicher süddeutscher Staaten ein Gebiet gesichert,
das an Geschlossenheit den Zollverein in seinem bisherigen Zustande erheblich
übertraf. Preußen erkaufte diese entscheidende Befestigung seiner Position,
indem es Hannover einen Vorzugsanteil an den Zolleinnahmen, eine Änderung
in der Besteuerung des Salzverbrauchs und eine Ermäßigung der Zollsätze
des Vereinstarifs für wichtige Einfuhrwaren zugestand.
Der Vertrag zwischen Preußen und Hannover wurde am 7. September 1851
unterzeichnet und alsbald den sämtlichen Zollvereinsstaaten mitgeteilt. Preußen
hatte den Vertrag ohne Zustimmung und Kenntnis dieser Staaten abschließen
können, da er erst am i. Januar 1854 in Kraft treten sollte und da die Zoll-
vereinsverträge bei rechtzeitiger Kündigung am 31. Dezember 1853 abliefen;
und Preußen war zu der Kündigung entschlossen, wenn sich nicht die süd-
deutschen Staaten bereit finden ließen, auf die Zolleinigung mit Österreich
zu verzichten und die Erneuerung des Zollvereins auf Grund des preußisch-
hannoverschen Vertrags zu akzeptieren.
Es ist bekannt, daß diese Politik von einem vollen Erfolge gekrönt war.
Die Versuche einer Zolleinigung zwischen Österreich und den süddeutschen
Staaten scheiterten schon daran, daß Österreich nicht in der Lage war, den
süddeutschen Staaten ihre bisherigen Zollrevenuen zu garantieren. Österreich
selbst verzichtete unter diesen Umständen vorläufig auf seinen Eintritt in
den Zollverein und leitete Verhandlungen mit Preußen über einen Handels-
vertrag zwischen dem Zollverein und Österreich ein. Die Verhandlungen, die
vom Dezember 1852 an in Berlin geführt wurden und an denen D. abermals
in erster Linie beteiligt war, kamen am 19. Februar 1853 zum Abschluß. Der
Handelsvertrag enthielt bedeutende Zollermäßigungen und die gegenseitige
Meistbegünstigung. Eine platonische Konzession an die bisher von Öster-
reich verfolgte Politik war es, daß der Vertrag für das Jahr 1860 weitere Ver-
handlungen über eine völlige Zolleinigung in Aussicht nahm.
Nachdem nunmehr auch Österreich sich auf diese Weise mit Preußen
geeinigt hatte, blieb den süddeutschen Staaten nichts übrig, als sich in das
BiogT. Jahrbuch u. Deutscher Nekrologf. 9. Bd. 24
370
von Delbrück.
Unvermeidliche zu fügen und die Zollvereinsverträge auf der durch den
preußisch-hannoverschen und preufiisch-österreichischen Vertrag gegebenen
Grundlage zu erneuem. Die im März 1853 mit den süddeutschen Staaten
wieder aufgenommenen Verhandlungen führten auf dieser Basis zu einem
raschen Abschluß. Der Zollverein ist also aus dieser schweren Rrisis ver-
größert und gefestigt hervorgegangen.
Die während der kritischen Zeit auf Veranlassung Österreichs beim Bundes-
tag im Anschluß an die Dresdener Konferenzen stattfindenden handelspolitischen
Beratungen hatten D. vorübergehend nach Frankfurt geführt und ihn dort in
Beziehungen zu Otto von Bismarck gebracht. Am 10. Juli 185 1 hatte die
Bundesversammlung einen handelspolitischen Ausschuß eingesetzt, der auf
Andringen Österreichs beschloß, am i. Oktober 185 1 eine Konferenz von
Sachverständigen zusammentreten zu lassen. Preußen entsendete D., dessen
Haltung auf diesen Konferenzen durch den Satz gezeichnet ist:
»Je weniger wir die Absicht hatten, am Bunde etwas zustande zu bringen,
desto weniger wollten wir den Schein absichtlicher Verschleppung auf uns
laden.« In dieser Politik bestand zwischen den Berliner Instanzen, D. und
Bismarck, vollkommenes Einverständnis, wie der folgende, vom 5. Okt. 185 1
datierte Bericht Bismarcks an den Minister von Manteufiel zeigt (Poschinger
I, 44):
»Ich habe mich mit D. dahin verabredet, daß er bis auf Euerer Exzellenz ferneren
Befehl im »Allgemeinen« sich zu allem bereit erklärt, im »Besonderen« es aber zu keinem
Abschluß kommen läßt, d. h. daß er sich auf dem Gebiete jener überaus wohlredenden und
zu nichts verbindenden Erklärungen bewegt, welche Preußen über die Dresdener Verhand-
lungen abgegeben hat.«
D. selbst berichtet über sein erstes Zusammenwirken mit Bismarck:
»Herr von Bismarck war wenige Wochen vor meiner Ankunft in Frankfurt zum Bundes-
tagsgesandten ernannt; ich fand ihn und seine Frau noch beschäftigt mit der Einrichtung
der Villa, welche sie an der Eschenheimer Landstraße gemietet hatten. Wir waren uns in
Berlin nur sehr flüchtig begegnet, erst in Frankfurt lernten wir uns kennen. Ich hielt ihn
für einen Tendenzpolitiker, der die Förderung der konservativen Interessen zum leitenden
Gesichtspunkt für die Behandlung unserer Beziehungen zu den deutschen Staaten machen
werde, und war sehr angenehm überrascht, als mir schon nach einigen Tagen klar wurde,
daß meine Ansicht irrig gewesen sei. Er war über die Bedeutung des Septembervertrags
für unsere Politik nicht im Zweifel, und als er die Überzeugung gewonnen hatte, daß die
Erhaltung des hannoverschen Ministeriums für die Ausführung des Vertrags notwendig sei,
war er rasch entschlossen, bei der am Bunde schwebenden Beschwerde der hannoverschen
Provinziallandschaften gegen die Regierung das konservative Interesse dem preußischen
Staatsinteresse zu opfern. Es kam nicht dazu, weil in Hannover die Dinge eine andere
Wendung nahmen; meine Meinung über ihn stand aber seit diesem Vorgange fest, so wenig
sie auch damals von meinem Berliner Kreise geteilt wurde. Er war angenehm berührt, daß
ich gar nichts von einem »Berliner Geheimrat« an mir hatte, und so befanden wir uns in
dem besten Einvernehmen.«
Die Jahre nach dem Abschluß der glücklichen Überwindung der den
Bestand des Zollvereins bedrohenden Krisis brachten für D. zwar keinen
Müßiggang, aber doch eine gewisse Ausspannung. Das Jahr 1853 führte ihn
nach England und Amerika: sein Minister sendete ihn als Kommissar zu der
damals in New -York stattfindenden Gewerbe- und Kunstausstellung, mit dem
Nebenauftrag, in Washington über die im deutschen Interesse liegenden Ab-
änderungen des amerikanischen Zolltarifs zu sprechen. D. benutzte die Ge-
von Delbrück.
371
legenheit zu Orientierungsreisen nach Kanada sowie nach dem Westen und
Süden der Union. Im Mai 1855 ging er als stellvertretender Vorsitzender der
preußischen Ausstellungskommission zur Eröffnung der ersten französischen
Weltausstellung nach Paris.
Neben dieser Tätigkeit, die das Angenehme mit dem Nützlichen verband,
galten die Arbeiten D.s in dem Jahrzehnt nach der Erneuerung der Zollver-
einsverträge der weiteren Erleichterung und Sicherung der auswärtigen Handels-
beziehungen, der Herbeiführung von Verkehrserleichterungen im Innern des
Zollvereins sowie der zeitgemäßen Ausgestaltung der wirtschaftlichen Gesetz-
gebung.
Schon in den Jahren der Zollvereinskrisis war unter D.s. wesentlicher
Mitwirkung ein Handelsvertrag mit den Niederlanden zustande gekommen,
unterzeichnet am 31. Dezember 1851, »der umfassendste Handelsvertrag, den
Preußen jemals geschlossen hat«; er verwirklichte zum erstenmal das Prinzip
der unbedingten Meistbegünstigung für Handel und Schiffahrt. Um dieselbe
Zeit wurden Additionalkonventionen zu früheren Verträgen mit Belgien und
Sardinien abgeschlossen, die wesentliche Verkehrserleichterungen brachten.
1855 bis 1862 wurden die wirtschaftlichen Beziehungen des Zollvereins mit
Mexiko, einer Anzahl südamerikanischer Staaten (Uruguay, Argentinien, Para-
guay, Chile) durch den Abschluß von Handelsverträgen geregelt. Im Jahre
1862 folgte ein Handelsvertrag mit der Türkei. Im Jahre 1860 wurde eine
Mission unter dem Grafen Fritz Eulenburg nach Ostasien geschickt, um sich
über die Bedeutung dieser Gebiete für die Industrie und den Handel des
Zollvereins zu orientieren und Handelsverträge für den Zollverein, die beiden
Mecklenburg und die Hansestädte mit den wichtigsten Staaten abzuschließen.
Der Eriolg der Mission bestand in Handelsverträgen mit Japan, China und
Siam. »Der sofort in die Augen fallende Gewinn lag in der Stellung, welche
wir als Großmacht neben Großbritannien, Frankreich, Rußland und Amerika
gegenüber den ostasiatischen Reichen errungen hatten, in der politischen
Vertretung des ganzen, nicht zu Österreich gehörenden Deutschland, welche
Osterreich nicht hatte hindern können, und in dem Eindruck, welchen das
Erscheinen unserer Flagge und das Auftreten unserer Diplomatie auf die zahl-
reichen in Ostasien etablierten Deutschen machte. Es war ein Stück glück-
licher aktiver Politik, welches Preußen als gleichberechtigt mit den See-
mächten und als Träger der realen Interessen Deutschlands im fernen Orient
erkennen ließ.«
Über seinen eigenen Anteil an diesem Erfolg schreibt D. :
»Meine Mitwirkung bei diesen Verträgen konnte sich nur in engen Grenzen bewegen.
Ich besprach mit Graf Eulenburg die bei der Aufstellung der Entwürfe festzuhaltenden Ge-
sichtspunkte, ich versah die kaufmännischen Begleiter der Mission mit den natürlich sehr
allgemein gehaltenen Weisungen, ich verfolgte mit dem lebhaftesten Interesse den Gang der
Verhandlungen, und ich wirkte mit bei den Entschliefiungen über die Ergebnisse. Erteilung
von Instruktionen im Laufe der Verhandlungen war selten möglich und selten nötig, denn
eine telegraphische Verbindung gab es noch nicht, und die Antwort auf einen Bericht aus
Ostasien fand in der Regel nicht mehr die bei Abgang des Berichts vorhanden gewesene
Lage vor, zugleich konnten wir überzeugt sein, daß unser Bevollmächtigter erreichen werde,
was zu erreichen möglich war.«
Die Verkehrserleichterungen im Innern des Zollvereins, die in jener Zeit
unter D.s Mitwirkung durchgeführt wurden und die zum großen Teil aus
24*
372
von Delbrück.
D. s Initiative hervorgegangen sind, bestanden hauptsächlich in der Aufhebung
der Durchgangsabgaben und in der Beseitigung oder Ermäßigung der Schiff-
fahrtsabgaben auf den Binnenwasserstraßen. Insbesondere zu erwähnen ist
die erhebliche Herabsetzung der Rhein- und Eibzölle und der Schiffahrts-
abgaben auf Lippe und Ruhr, die Aufhebung der Moselzölle und die Er-
mäßigung der Abgaben für das Befahren der Wasserstraßen zwischen der Oder
und Elbe und des Bromberger Kanals. Dazu kam eine Reduktion der Hafen-
abgaben, insbesondere für die zwischen preußischen Häfen verkehrenden See-
schiffe. Auch die im Wege internationaler Vereinbarung erfolgte Aufhebung
des Sundzolles, durch die der deutsche Handel von einer ungerechten und
schweren Last befreit wurde, ist in erster Linie ein Verdienst D.s gewesen.
Bei der inneren wirtschaftlichen Gesetzgebung jener Jahre war D., so sehr
auch der Schwerpunkt seiner Tätigkeit in der Handels- und Verkehrspolitik
lag, gleichfalls in erheblichem Umfange beteiligt. Aus seiner Feder stammt
der Entwurf zu dem Gesetz vom 17. Mai 1856, durch welches das Zollpfund
= 500 g als allgemeines Landesgewicht in Preußen pingeführt wurde. Unter
seiner Leitung sind ferner die beiden im Jahre 1861 Gesetz gewordenen
Novellen zur Gewerbeordnung ausgearbeitet worden, durch die zahlreiche
unhaltbar gewordene Beschränkungen des Gewerbebetriebs aufgehoben oder
wenigstens gemildert wurden. Auch an dem Zustandekommen des deutschen
Handelsgesetzbuchs, das im Jahre 1861 aus schwierigen und langwierigen
Konferenzen der deutschen Bundesstaaten hervorging, hat D. einen wesent-
lichen Anteil. Das gleiche gilt von allen denjenigen Maßnahmen und Ge-
setzen, die sich in jener Zeit auf eine Ordnung des Münz-, Papiergeld- und
Bankwesens richteten. Insbesondere war er beteiligt an der im Jahre 1856
vorgenommenen Neuorganisation der Preußischen Bank, welche damals ihre
für die spätere Reichsbank in den meisten Punkten vorbildlich gewordene
Verfassung und die durch das gesteigerte Kreditbedürfnis der wachsenden
Volkswirtschaft gebotene Bewegungsfreiheit erhielt; femer an der gleichzeitigen
Beschränkung der Ausgabe des preußischen Staatspapiergeldes und des Um-
laufs der außerpreußischen Papiergeldzeichen, der sog. »wilden Scheine«;
schließlich an dem Wiener Münz vertrag vom 24. Januar 1857, durch den das
deutsche Geldwesen soweit einheitlich gestaltet wurde, als es ohne die Grund-
lage der politischen Einheit möglich war. Das preußische Münzgesetz vom
4. Mai 1857, durch welches das preußische Geldwesen entsprechend den Be-
stimmungen des Wiener Münzvertrags neugestaltet wurde, ist von D. verfaßt,
der sich allerdings vergeblich darum bemühte, bei dieser Gelegenheit die
Zwölf teilung des Groschens durch die dezimale Einteilung zu ersetzen.
Wer D. wegen seiner liberalen wirtschaftspolitischen Anschauungen für
einen Doktrinär hält — bei uns in Deutschland ist es ja Sitte geworden, den
wirtschaftlichen Liberalismus als doktrinär zu bezeichnen — , der möge sich
die Mühe nehmen, die Ausführungen nachzulesen, die D. in seinen Lebens-
erinnerungen bei der Besprechung der dem Wiener Münzvertrag von 1857
vorausgegangenen Verhandlungen über den damals von Österreich zur Dis-
kussion gestellten Vorschlag auf Übergang zur Goldwährung macht. Bekannt-
lich hat D. nach der Gründung des Reichs auf das lebhafteste den Übergang
zur Goldwährung vertreten ; die Gegner behaupten, aus theoretischem Doktri-
narismus. Wie wenig das der Fall war, wie sehr vielmehr D. die wirtschafts-
von Delbrück.
373
politischen Fragen nach der praktischen Sachlage beurteilte, zeigt seine Be-
gründung der ablehnenden Haltung, die damals — im Jahre 1854 — Preußen
gegenüber dem österreichischen Vorschlage einnahm.
Wir kannten — so schreibt D. — sehr wohl die Vorzüge, welche das Gold als Münz-
metall vor dem Silber voraus hat, wir waren uns der Vorteile wohl bewufit, welche die
Goldwährung für den internationalen Verkehr darbietet, aber wir konnten aus diesen Vor-
zügen und Vorteilen ein Bedürfnis nicht herleiten, unser wohlgeordnetes Münzwesen unter
Aufwendung sehr großer Mittel durch ein anderes zu ersetzen. Und die Annahme eines
ganz neuen Münzsystems wurde von uns verlangt. Zwar gestattete der Vorschlag den Über-
gang zur Doppelwährung, aber für dieses System erhob sich keine Stimme ; die Erfahrungen,
welche Frankieich gerade damals mit seiner Doppelwährung machte, würden allein schon
vor derselben zurückgeschreckt haben. Es blieb nur die Einführung der reinen Goldwährung
übrig. Die Voraussetzungen, durch welche 17 Jahre später diese Mafiregel möglich gemacht
wurde, waren damals nicht vorhanden. Die 660000 kg Gold, welche im Laufe dieser Jahre
gewonnen wurden, lagen noch im Schöße der f^rde, und wir befanden uns nicht im Besitze
der gewaltigen, in Gold realisierbaren Forderungen, welche uns im Jahre 1871 die franzö-
sische Kriegskostenentschädigung zuführte. Oberhaupt aber war die Goldwährung in einem
Verein souveräner Staaten nur denkbar, wenn gleichzeitig auf die Umlaufsf^igkeit der von
den einzelnen Staaten geprägten Silbermünzen in dem Verein verzichtet wurde. Denn da
diese Münzen unterwertig ausgebracht werden mußten, so durften sie nicht in größeren
Mengen ausgeprägt werden, als zur Ausgleichung der kleinen Zahlungen unbedingt erforder-
lich war, und da die Abmessung dieser Menge, in Ermangelung einer Zentralinstanz, den
einzelnen Staaten überlassen werden mußte, so hätte eine Gewähr für die Aufrechterhaltung
der Goldwährung nur in dem gegenseitigen Verbote des Umlaufs von Silbermünzen ge-
funden werden können. Nicht eine Verbesserung, sondern eine kaum erträgliche Ver-
schlechterung des bestehenden Zustandes würde eingetreten sein.«
Während der geschilderten Periode des Ausbaus des Zollvereins erfuhr
auch die äußere Stellung D.s eine Veränderung; er wurde im Oktober 1859
zum Ministerialdirektor ernannt. Über seinen Geschäftskreis und über das
Ziel, das er in der neuen Stellung verfolgte, führt D. in seinen Erinnerungen
folgendes aus:
»Die Ministerialabteilung, zu deren Direktor ich ernannt wurde, überragte damals durch
die Vielseitigkeit ihres Geschäftskreises alle anderen Ministerialabteilungen : sie umfaßte die
Gesamtheit der wirtschaftlichen Interessen des Landes mit Ausnahme der landwirtschaft-
lichen, die Handelsverhältnisse zum Auslande und die Besteuerung des Verkehrs mit dem-
selben, die Abgaben vom inneren Verkehr, die Einrichtungen zur Förderung des Handels,
der Schiffahrt und der Gewerbsamkeit, die gesamte Gewerbepolizei, mit Ausschluß der
Preß- und Schankgewerbe, die gewerblichen Unterrichtsanstalten, einschließlich der Schiff-
fahrtsschulen, das Geld- und Bankwesen, Maß-, Gewichts- und Eichungswesen waren ihr
überwiesen, bei einem Teil dieser Materien unter Mitwirkung des - Finanz- oder Auswärtigen
Ministeriums. . . Über das Ziel, welches ich in meiner neuen Stellung zu verfolgen hatte,
war ich keinen Augenblick im Zweifel. Es galt die Befreiung des Wirtschaftslebens durch
Aufhebung oder Erleichterung von Beschränkungen oder Lasten, welche der inneren Be-
rechtigung entbehrten, oder eine Ermäßigung ohne Gefährdung des allgemeinen Interesse
zuließen«.
Für die Arbeit D.s nach dieser Richtung hin eröfhiete sich eine neue
Ära mit dem am 23. Januar 1860 abgeschlossenen Handelsvertrage zwischen
England und Frankreich. Mit diesem Vertrag beseitigte England seine sämt-
Hchen noch vorhandenen Schutzzölle und ging, indem es nur noch Finanzzölle
bestehen ließ, zum reinen Freihandelssystem über. Frankreich beseitigte seine
Einfuhrverbote und gestand beträchtliche Ermäßigungen seiner Einfuhrzölle
374 ^^^ Delbrück.
zu. Außerdem enthielt der Vertrag das Prinzip der gegenseitigen Meist-
begünstigung. Der Vertrag, durch den das protektionistische Frankreich mit
seiner bisherigen Absperrungspolitik brach, erregte in der ganzen Welt das
gröfite Aufsehen und brachte die handelspolitischen Fragen überall aufs neue
in Fluß.
Für den Zollverein war die Teilnahme an den Verkehrserleichterungen,
die Frankreich gegenüber England zugestanden hatte, geradezu eine Lebens-
frage.
»Weder politisch noch wirtschaftlich würden wir, bei unserer geographischen Lage und
unserer entwickelten Gewerbsamkeit, es haben ertragen können, von dem vor unserer Tfir
liegenden Markte des reichsten L.andes des Kontinents ausgeschlossen zu sein, wenn dieser
Markt, wie sicher zu erwarten war und tatsächlich eintrat, beinahe dem ganzen übrigen
Europa geöffnet wurde. Aber dieser Grund, so gewichtig er war, war nicht der allein
entscheidende. Von gleichem Gewicht war die Überzeugung, daß unser Tarif sich über-
lebt habe.«
Dazu kam, daß der englisch - französische Vertrag den Grundsatz der
gegenseitigen Behandlung auf dem Fuße der meistbegünstigten Nation ent-
hielt, der in dem Vertrage zwischen dem Zollverein und den Niederlanden
vom 31. Dezember 1851 zum ersten Male in Anwendung gebracht und in
dem Vertrage zwischen Preußen und Österreich vom 19. Februar 1853 zur
vollen Anerkennung gekommen war. »Indem er jetzt für die Beziehungen
zwischen Frankreich und Großbritannfen angenommen und als für die franzo-
sische Handelspolitik leitend verkündet wurde, erhob er den Anspruch, die
Grundlage des europäischen Vertragsrechts zu werden, und diese Grundlage
war in hohem Grade willkommen. Sie war der Ausdruck des handelspolitischen
Friedens zwischen den Nationen, denn sie verschloß die Quelle der Ver-
stimmungen, welche die ausschließliche Bevorzugung der Einfuhr eines
Landes vor denen der übrigen Länder zur Folge hatte. Wir wußten aus
eigener Erfahrung, daß solche Verstimmungen zum Zollkriege führen.«
Frankreich zeigte sich alsbald nach Abschluß seines Handelsvertrags mit
England geneigt, Verträge auf gleicher Grundlage mit den übrigen Mächten
abzuschließen. Bei den Verhandlungen, die Preußen unter Zustimmung der
übrigen beteiligten Staaten für den Zollverein mit Frankreich zu Beginn des
Jahres 1861 einleitete, fungierte D. als einer der drei preußischen Unter-
händler. Sein Ziel war die Teilnahme des Zollvereins an den Zugeständ-
nissen, die Frankreich England gegenüber gemacht und anderen Staaten
angeboten hatte, sowie eine allgemeine Tarifreform auf Grund des mit Frank-
reich abzuschließenden Vertrags.
Aber auch dieser neue Fortschritt sollte nicht erreicht werden, ohne daß
der Zollverein eine neue schwierige Krisis zu überstehen hatte.
Als im Spätsommer 1861 die Verhandlungen zwischen Preußen und
Frankreich an einigen Tariffragen ins Stocken gekommen waren, erschien
Österreich von neuem auf dem Plan. Österreich hatte zwar stillschweigend
auf die im Vertrage von 1853 ^^ das Jahr 1860 in Aussicht genommenen
Verhandlungen über eine volle Zollunion verzichtet; jetzt aber erklärte es den
gesamten Handelsvertrag mit Frankreich, der diesem die Meistbegünstigung
hinsichtlich der künftig vom Zollverein gegenüber anderen Mächten zu
machenden Zugeständnisse in Aussicht stellte, als unvereinbar mit dem auf
von Delbrttck.
375
die Herbeiführung der Zollunion zwischen dem Zollverein und Österreich ge-
richteten Geiste des Februarvertrags von 1853.
In Preußen ging man über die Einwendungen Österreichs hinweg, nahm
die Verhandlungen mit Frankreich Anfang 1862 wieder auf und brachte sie
Ende März 1862 zu einem vorläufigen Abschluß. Das Ergebnis wurde in
einer Depesche vom 2. April 1862, die eine ausführliche von D. entworfene
Begründung des vorläufig vereinbarten Vertrags enthielt, den Vereinsregierungen
mitgeteilt. Nunmehr erhob Österreich einen formellen Einspruch gegen den
geplanten Vertrag, und als es damit keine Wirkung erzielte, als die preußische
Regierung vielmehr, ohne sich um den österreichischen Protest zu kümmern,
den Vertrag mit Frankreich dem Landtage zur Genehmigung vorlegte, ent-
schloß sich Österreich zu einem äußersten Schritt und bot in einer Depesche
vom 10. Juli den Vereinsregierungen den Abschluß einer Handels- und Zoll-
union auf der breitesten Grundlage an. In diesem Augenblick war also
Osterreich bereit, seine bisherige protektionistische Handelspolitik und die
protektionistischen Interessen seiner Industrie seiner großdeutschen Politik zu
opfern. Der österreichische Vorschlag wurde mit der Motivierung, daß er
ausgesprochenermaßen eine Abänderung des mit Frankreich vereinbarten
Vertrags involvieren würde, von Preußen alsbald ablehnend beantwortet. Der
Handelsvertrag mit Frankreich wurde von den beiden Häusern des preußischen
Landtags genehmigt, vom Abgeordnetenhaus mit allen gegen 12 Stimmen,
vom Herrenhaus einstimmig, und am 2. August 1862 erfolgte die Unter-
zeichnung. Sachsen, die thüringischen Staaten und Oldenburg hatten bereits
vorher ihre Zustimmung erklärt, der Beitritt Badens, Braunschweigs und
Frankfurts schien gesichert. Dagegen lehnten Bayern, Württemberg und Hanno-
ver — in Unterstützung der österreichischen Politik — den Beitritt zu dem Ver-
trage mit Frankreich ab. Die von D. entworfene Antwort schloß mit der
Erklärung, daß Preußen die definitive Ablehnung des Vertrags als den Aus-
druck des Willens auffassen müßte, den Zollverein mit Preußen nicht fortzusetzen.
Indem sich die preußische Regierung entschlossen zeigte, die Annahme
des von ihr abgeschlossenen, für die Entwicklung des Zollvereinstarifs höchst
wichtigen Vertrags mit Frankreich durch eine eventuelle Kündigung des
Zollvereins zu erzwingen, verfolgte sie dieselbe Politik, die ein Jahrzehnt
zuvor bei Gelegenheit des hannoverschen Vertrags einen so glücklichen
Erfolg erzielt hatte. Als jetzt die Krisis auf dem Höhepunkt war, trat Herr
von Bismarck an die Spitze der Geschäfte (24. September 1862). Dieser
benutzte die erste Gelegenheit, um vor dem Landtage sein volles Einver-
ständnis mit der Handelspolitik des abgetretenen Ministeriums zu betonen,
und entsprechend dieser Erklärung wurden die handelspolitischen Fragen
von D. weiter behandelt. Ober sein Verhältnis zu Bismarck, mit dem D.
von nun an auf die Dauer zusammen zu arbeiten hatte, bemerkt D.:
>Meine guten Beziehungen zu Herrn von Bismarck waren in den zwölf Jahren seit
ihrer Entstehung nicht unterbrochen gewesen. Solange er Bundesgesandter war, besuchte
ich ihn alljährlich von Mainz aus; er war in der Zeit meines Mainzer Aufenthalts regel-
mäßig Strohwitwer, und ich habe manche heitere und interessante Mittage, tüe^a-üte mit
ihm oder im kleinsten Kreise in seiner Wohnung in der Gallenstrafle erlebt. Nach seiner
Abberufung von Frankfurt sah ich ihn bei seinen Besuchen in Berlin wieder. Ich konnte
seines Einverständnisses mit unserer Handelspolitik sicher sein, sowohl nach ihrer wirt-
^yQ von Delbrück.
schaftlichen Seite hin, denn er war, wie damals die ganze konservative Partei, Freihändler,
als auch nach ihrer politischen Seite hin, denn es galt die Verteidigung unserer Stellung
im Zollverein gegen die Mittelstaaten und Österreich.«
In Konsequenz der geschilderten Politik kundigte Preufien Ende 1863
die Zoll Vereins vertrage, indem es sich gleichzeitig zu deren Erneuerung auf
der Basis des mit Frankreich abgeschlossenen Vertrags bereit erklärte. Die
wirtschaftliche Notwendigkeit des Zollvereins war inzwischen auch in den
widerstrebenden Staaten und in den schutzzöllnerisch gestimmten Kreisen zu
einer so allgemeinen Anerkennung gelangt, und die finanziellen Vorteile des
Zollvereins für die beteiligten Regierungen waren so beträchtlich, dafi gar
nicht daran zu denken war, dafi irgend ein Staat sich der Erneuerung des
Zollvereins auf der von Preufien als conditio situ qua tum angebotenen Grund-
lage würde entziehen können. In der Tat erklärten die Vereinsstaaten im
Laufe des Jahres 1864 einer nach dem andern ihren Beitritt zur Erneuerung
des Zollvereins. Österreich gab sich mit einem neuen Handelsvertrag zu-
frieden, der am 11. April 1865 zum Abschluß kam. Der neue Zollvereins-
vertrag sollte am i. Januar 1866 ins Leben treten und abermals für 12 Jahre
in Kraft bleiben. Die politischen Ereignisse der folgenden Jahre liefien es
anders und besser kommen.
D. hatte die Verhandlungen über den französischen Handelsvertrag mit
aller persönlichen Aufopferung nach den verschiedenen Seiten hin geführt
und durchgehalten. In welchem Mafie er mit diesem seinem Werke inner-
lich verwachsen war, das war am deutlichsten in Erscheinung getreten, als
ihm der König im Mai 1862 die Ernennung zum Handelsminister anbot.
D. lehnte, trotzdem der König mündlich und schriftlich auf diese Ernennung
zurückkam, die Übernahme des Handelsministeriums ab. Ober die Gründe,
die er dem König auseinandersetzte, schreibt er:
»In meiner jetzigen Stellung, sagte ich, kann ich gerade jetzt dem Könige und dem
Lande mehr nützen, denn als Minister. Der Abschluß mit Frankreich ist unsere gröfite
handelspolitische Tat seit Gründung des Zollvereins, ihre glückliche Vollendung ist fOr die
handelspolitische Stellung Preufiens in Deutschland und in Europa entscheidend, und damit
auch für seine politische Stellung von unzweifelhaftem Werte. Meine Beteiligung an den
dem Abschlufi vorhergegangenen Verhandlungen, meine Fachkenntnisse, meine Erfahrung
in Zollvereinsangelegenheiten, meine Bekanntschaft mit den auf der Bühne und hinter der
Bühne handelnden Persönlichkeiten und das persönliche Vertrauen, welches mir auch unsere
Gegner schenken, machen mich, wie ich ohne Überhebung sagen kann, zu dem für die
glückliche Vollendung geeignetsten Mann. Dazu gehört aber, dafi ich die Dinge voll-
ständig in der Hand behalte; ist das der Fall, so glaube ich den Erfolg verbürgen zu
können. Werde ich dagegen Minister, so muß ich einen andern an meine Stelle setzen
— wen, weiß ich nicht — und die allgemeine Direktion, welche mir verbleiben würde,
reichte nicht aus, um eine Garantie für den Erfolg zu übernehmen.« . . . >Was ich dem
König gesagt hatte, bemerkt D. weiter, war meine Überzeugung; daneben lag etwas rein
persönliches, über das ich geschwiegen hatte. Es gibt Aufgaben, welche den Menschen
so vollständig in Beschlag nehmen, daß er, mag er wollen oder nicht, von ihnen nicht
loskommen kann. Eine solche Aufgabe war für mich die Durchführung der Politik ge-
worden, wie sie in dem Vertragstarif und in dem Meistbegünstigungsprinzip ihren Aus-
druck fand. Ihre Durchftlhrung aus der Hand zu geben, war ein mir unerträglicher Ge-
danke, sie war ein Stück meiner selbst geworden, das ich nicht opfern konnte. Dafi ich
es nicht geopfert habe, habe ich niemals bereut, und, wie ich gleich hinzufüge, der König
hat mir nie darob gezürnt.«
von Delbrück.
377
Die durch den Vertrag mit Frankreich geschaffene handelspolitische
Ordnung wurde alsbald verallgemeinert durch die Handelsverträge mit
Belgien (22. Mai 1865), mit Grofibritannien (30. Mai 1865), und Italien
(31. Dezember 1865). Alle diese Verträge enthielten die Zusage der gegen-
seitigen Meistbegünstigung, der Vertrag mit Grofibritannien stellte den
Zollverein in den britischen Kolonien nicht nur auf den gleichen Fuß wie
eine meistbegünstigte dritte Nation, sondern wie das britische Mutterland
selbst.
Durch die Verträge des Jahres 1865 war das Ziel der auf die Erlangung
umfassender vertragsmäßiger Zollerleichterungen und der Meistbegünstigung
gerichteten Politik im wesentlichen erreicht; D. konnte mit Recht sagen, daß
er am Schlüsse des Jahres 1865 nur noch wenige handelspolitische Aufgaben
fand, welche der Lösung harrten. Da waren es die großen politischen Er-
eignisse — der Krieg mit Österreich und die Errichtung des Norddeutschen
Bundes, der Krieg mit Frankreich und die Gründung des Reichs — , welche D.
vor neue und größere Aufgaben stellten.
In dem Krieg mit Osterreich sah D., im Gegensatz zu der überwiegenden
öffentlichen Meinung in Deutschland, eine historische Notwendigkeit.
»Seit sechzehn Jahren hatte ich fast ohne Unterbrechung gegen Österreich gekämpft,
und wenn ich in dieser langen Zeit etwas gelernt hatte, so war es die Überzeugung, daß
für Preufien und Österreich nebeneinander in Deutschland kein Platz sei, und daß Österreich
nicht gutwillig Platz machen werde. Ich war mir sehr wohl bewußt, daß die gewaltsame
Ergreifung unseres Platzes ein gefährliches und schweres Unternehmen sei, aber ich hoffte
zuversichtlich auf sein Gelingen.«
Der Ausgang des Krieges und die Errichtung des Norddeutschen Bundes
mußten eine gründliche Umgestaltung des Zollvereins herbeiführen. Die
Verfassung des Norddeutschen Bundes machte die deutschen Staaten nördlich
des Main zu einem einheitlichen Zoll- und Handelsgebiet und wies alle auf Zölle,
Handel und Schiffahrt sich beziehenden Angelegenheiten der Bundesgesetzge-
bung zu. Die sich auf diese Materien beziehenden Bestimmungen der Bundes-
verfassung — SS 33 — 40, 54 — sind von D. ausgearbeitet worden. Die not-
wendige Konsequenz der Verfassung des Norddeutschen Bundes war die
Aufhebung des im Zollverein geltenden Erfordernisses der Einstimmigkeit bei
verbindlichen Beschlüssen; denn die Zollgesetzgebung des Norddeutschen
Bundes durfte in Zukunft nicht mehr durch das Veto eines einzelnen süd-
deutschen Staates lahmgelegt werden. Durch Verträge des Norddeutschen
Bundes mit den Südstaaten vom 8. Juli 1867 erhielt in der Tat der Zoll-
verein eine Verfassung, die nichts anderes war, als eine Erstreckung des
Norddeutschen Bundes in Zollsachen auf die Südstaaten. Der Bundesrat
des Norddeutschen Bundes wurde durch Bevollmächtigte der süddeutschen
Regierungen ergänzt zu einem »Bundesrat des Zollvereins«, ebenso der Reichs-
tag des Norddeutschen Bundes durch Abgeordnete aus den süddeutschen
Staaten zu einem »2^11parlament«. Der Bundesrat des Zollvereins und das
Zollparlament übten die Gesetzgebung in den gemeinschaftlichen Angelegen-
heiten des Zollvereins aus, einschließlich der Besteuerung von Salz und Tabak.
Aus dieser Verfassung des Zollvereins ist vier Jahre später das Deutsche
Reich erwachsen, und der Vertrag vom 8. Juli 1867 ist durch den Artikel 40
der Reichsverfassung in Kraft erhalten worden.
^78 ^'on Delbrück.
Die politischen Wandlungen jener Zeit hatten auch eine Änderung in
der persönlichen Stellung D.s zur Folge.
Bekanntlich hat der konstituierende Reichstag des Norddeutschen Bundes
eine wesentliche Änderung in dem ihm vorgelegten Vertragsentwurf vor-
genommen, indem er den Bundeskanzler, der in dem Entwurf als der vom
preußischen Minister des Auswärtigen ressortierende Präsidialgesandte gedacht
war, zu dem verantwortlichen Bundesminister machte. Damit war gegeben,
daß nur der preußische Minister der auswärtigen Angelegenheiten, also in
dem vorliegenden Falle der Graf Bismarck selbst, als Bundeskanzler in Be-
tracht kommen konnte. Es war femer klar, daß der Kanzler für die Ge-
schäfte des Bundes eines höheren Beamten als Gehilfen und Vertreters be-
durfte. Am 2 2. Juli 1867 ließ Graf Bismarck D. die prinzipiell und persön-
lich wichtige Frage vorlegen, ob er seine Vertretung übernehmen wolle, ob
die Wahl mehrerer Vertreter, je nach den verschiedenen Zweigen, sich
empfehlen möchte, und ob D. die Vertretung neben seiner Stellung im
Handelsministerium würde wahrnehmen können. D. erschien die Zusammen-
fassung der gesamten Verwaltung der Bundesangelegenheiten — gegenüber
der Möglichkeit einer Verwaltung der einzelnen Ressorts durch die preußischen
Minister gewissermaßen im Nebenberuf — als schlechterdings notwendig. Für
den Fall, daß diese Auffassung gebilligt und verwirklicht würde, erklärte er
sich bereit, die Vertretung des Bundeskanzlers zu übernehmen, allerdings
nicht neben seinen Direktorialgeschäften im Handelsministerium; er überließ
dem Grafen Bismarck die Entscheidung darüber, in welcher der beiden
Stellungen er nützlichere Dienste werde leisten können.
Die Entscheidung fiel in einem Präsidialerlaß vom 12. August 1867,
durch den die Errichtung eines Bundeskanzleramtes genehmigt und D. zum
Präsidenten der neuen Behörde ernannt wurde. Das Bundeskanzleramt und
spätere Reichskanzleramt, aus dem in der weiteren Entwicklung die einzelnen
Reichsämter hervorgegangen sind, war nach D.s Vorschlägen bestimmt für
die dem Kanzler obliegende Verwaltung und Beaufsichtigung der durch die
Bundesverfassung der Kompetenz des Bundes zugewiesenen Angelegenheiten
sowie für die dem Kanzler zustehende Bearbeitung der übrigen Bundes-
angelegenheiten. Am 30. August 1867 erfolgte D.s Ernennung zum Wirk-
lichen Geheimen Rat. Im JaJire 1868 wurde er zum preußischen Staats-
minister ohne Portefeuille ernannt.
Die Neugestaltung der politischen Verhältnisse Deutschlands brachte D.
auf die Höhe seines Schaffens. Sein Wirkungskreis wurde räumlich durch
die Erstreckung auf ganz Deutschland, sachlich durch die Ausdehnung auf
die ganze innere und wirtschaftliche Gesetzgebung beträchtlich erweitert, und
zugleich wurde seine Tätigkeit von den Fesseln befreit, durch die sie bisher
infolge der Notwendigkeit der fortgesetzten Rücksichtnahme auf Österreichs
Stellung im deutschen Bund und auf das Erfordernis der Einstimmigkeit in
allen Zollvereinsangelegenheiten beengt gewesen war. Der oberste Leiter der
Reichspolitik, der eiserne Kanzler aber, ließ in jener Zeit in wirtschaftlichen
Fragen D. in vollem Vertrauen die Zügel.
Ein Bild von der umfassenden und rastlosen Tätigkeit, die D. in den
neuen größeren Verhältnissen entfaltete, kann kaum mit besseren Worten ge-
geben werden, als sie einer der Männer, die in jener großen Zeit mit D.
von Delbrück. 370
zusammengearbeitet haben, zu seinem achtzigsten Geburtstage niedergeschrieben
hat. Ludwig Bamberger schrieb zum 16. April 1897 in der »Nation«.
>Delbrttcks historische Stellung erhebt sich zu ihrer vollen und wahren Höhe erst
zugleich mit dem Beginn der großen Zeit der Reichsgründung. Man mufi ihn während
der Jahre von 1867 bis 1876 an der Arbeit gesehen haben, um ganz beurteilen zu
können, was er für die Grundlegung und den Ausbau der Verfassung und Gesetzgebung
jener Epoche gewaltigen Schaffens bedeutete. Unter den frischen Eindrücken des selbst
Erlebten bezeichnete ich den Präsidenten des Bundeskanzleramtes damals in meinen Zoll-
parlamentsbriefen als den Maschinenmeister und Werkführer des eigentümlichen Apparates,
den der Kanzler sich für seinen Bedarf gebaut hatte. Alle Fäden flössen in seiner Hand
zusammen, und seine Hand hielt das ganze Getriebe fortwährend in Bewegung. . . . Dann
begann mit dem ersten deutschen Reichstage das große Schaffen an der inneren, nament-
lich der wirtschaftlichen Gesetzgebung, die Deutschland auf die Grundlage eines modernen
und homogenen Staatswesens zu erheben hatte. Es war ein freudiges, warmes Zusammen-
wirken zwischen Regierung und Volksvertretung. Wie viele ausgezeichnete Männer arbeiteten
damals in Reih und Glied mit, deren Gleichwertige man jetzt kaum mehr unter den Führern
findet 1 Im Mittelpunkt des Ganzen stand, wie er jetzt hieß, der Präsident des Reichs-
kanzleramtes. Für die Konzeption sowohl wie für die Ausführung hatte er, allen voran,
zuerst einzustehen. Man konnte sich das ganze Getriebe nicht denken ohne seine stünd-
liche Gegenwart Er war der Erste in jeder Reichstagssitzung und ging als der Letzte weg,
dazu in den wichtigen Kommissionen, und in wieviel verschiedenen Rollen.«
Zur Bewältigung dieses gewaltigen Arbeitsstoffs hat sich D. einen vor-
trefflichen Mitarbeiter und Gehilfen in Otto Michaelis herangezogen. Michaelis,
einer der klarsten und scharfsinnigsten Nationalökonomen jener Zeit,* war
Redakteur der »Nationalzeitung«, als D. in der Zeit der Kämpfe um den
Handelsvertrag mit Frankreich die erste Verbindung mit ihm anknüpfte. D.
erzählt, daß er damals — 1862 — Michaelis zu sich bitten ließ und ihm
sagte, er sei davon überzeugt, daß die Opposition seines Blattes gegen die
allgemeine Politik der Regierung ihn nicht hindern werde, für die seinen
Grundsätzen entsprechende Handelspolitik der Regierung einzutreten; in
dieser Oberzeugung sei er bereit, ihm alles auf die Verhandlungen über den
Handelsvertrag bezügliche Material jetzt und in Zukunft vertraulich zur Ver-
fügung zu stellen, um ihm die für die journalistische Aktion erforderliche
vollständige Übersicht zu ermöglichen. Michaelis habe mit Freuden die Ge-
legenheit ergriffen, an dem positiven Schaffen der Regierung mitzuwirken.
Er hat dieser Politik als Journalist, als Mitglied des preußischen Abgeordneten-
hauses und als Abgesandter zum deutschen Handelstag sehr schätzbare
Dienste geleistet. D. glaubte in ihm den geeigneten Mann zu seiner amt-
lichen Unterstützung und Entlastung in seinem nach der Gründung des
Norddeutschen Bunds so umfangreich gewordenen Arbeitsfelde gefunden zu
haben. »Seine Ernennung zum vortragenden Rate im Bundeskanzleramt —
so schreibt er — war einer der ersten Personalvorschläge, welche ich, als
Präsident der neuen Behörde, dem damaligen Bundeskanzler machte.
Größere Verdienste als er, hat keiner meiner Mitarbeitet im Bunde und im
Reich sich um die Bundes- und Reichsinstitutionen erworben.« Dieses
Urteil D.s sei ergänzt durch die folgenden Worte Bambergers über Michaelis
und dessen Verhältnis zu seinem Chef:
>Er war einer der feinsten und kundigsten Denker auf dem Gebiet der Nationalökonomie
und ein von hoher Bildung durchdrungener Geist, der gerade Gegensatz zur Banausität, die
später über die Behandlung wirtschaftlicher Angelegenheiten hereingebrochen ist. Aber obwohl,
jSo ^'^^ Delbrück.
oder vielleicht auch weil er erst in reifen Jahren vom publizistischen Beruf zum öffent*
liehen Dienst durch Delbrücks richtige Divination herangezogen war, bewegte er sich in
seiner amtlichen Tätigkeit weniger frei als sein Vorgesetzter. Hier konnte man beinahe
immer die Probe darauf machen, daß es besser ist mit dem lieben Gott als mit seinen
Heiligen zu tun zu haben. Es war auf privatem oder öffentlichen Weg beinah immer ver-
geblich, Michaelis von einem für ihn feststehenden Punkte abzubringen. Delbrück, ob-
wohl nichts weniger als unklar und schwankend, war jederzeit allen Einreden oder Vor-
schlägen in der angenehmsten Weise zugänglich.«
D.S Arbeit an dem neuen Deutschland blieb nicht auf das wirtschaftliche
Gebiet beschränkt. In der entscheidenden Zeit wurde er vielmehr auch zu
den schwierigen Verhandlungen berufen, aus denen das deutsche Reich und
der deutsche Kaiser hervorgegangen sind.
Seine im Zollverein erworbene Kenntnis der Verhältnisse und Personen
in den einzelnen süddeutschen Staaten und Regierungen, die glückliche
Hand, die er vom Jahre 185 1 an bei den Verhandlungen mit den deutschen
Einzelstaaten gezeigt hatte, und schließlich das unbedingte Vertrauen, das
König und Kanzler in ihn setzten, machten ihn zum berufenen Unterhändler
bei der Vereinbarung der Grundlagen des neuen Deutschland.
Wenige Tage nach der Schlacht bei Sedan, am 5. September 1870 erhielt
D. ein Telegramm des Grafen Bismarck, der ihn auf Befehl des König ins
Hauptquartier nach Reims berief. Es handelte sich um Erwägungen darüber,
wie der Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund und das
Kaisertum in die Wege zu leiten seien. Bald nach dem Eintreffen D.s in Reims
ging dort eine Mitteilung der bayrischen Regierung ein, in der die Über-
zeugung ausgesprochen wurde, daß die Entwicklung der politischen Verhält-
nisse Deutschlands, wie sie durch die kriegerischen Ereignisse herbeigeführt
sei, es bedinge, von dem Boden völkerrechtlicher Verträge, welche bisher die
süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bunde verbanden, zu einem
Verfassungsbündnis überzugehen. Die bayrische Regierung knüpfte daran
den Wunsch, D. möge zu Verhandlungen über die von ihr ausgearbeiteten
Vorschläge nach München entsendet werden.
D. arbeitete, ehe er von dem Hauptquartier abreiste, eine Denkschrift
über die künftige Gestaltung aus, die im wesentlichen ein Bild dessen ent-
warf, was durch die Versailler Verträge später geworden ist. »Der Schluß
der Denkschrift — so teilt er in seinen Lebenserinnerungen mit — gab dem
alle Geister erfüllenden Gedanken zum ersten Male einen offiziellen Aus-
druck: ich begründete die unabweisbare Notwendigkeit für den König, sich
zur Annahme der Kaiserwürde zu entschließen.« Bismarck war mit der Denk-
schrift einverstanden und übergab sie dem König, der sich jedoch in der
Kaiserfrage die Entscheidung noch vorbehielt.
Die eingehenden Verhandlungen, die D. in der zweiten Septemberhälfte
in München mit der bayrischen Regierung führte und bei denen auch der
württembergische Minister v. Mittnacht zugegen war, bestärkten die Über-
zeugung, daß das deutsche Reich gesichert sei und lieferten die Grundlagen
für die Verhandlungen mit den übrigen süddeutschen Staaten, die D. sechs
Wochen später in Versailles zu führen hatte. D. nahm in die mit Baden
und Hessen in Versailles vereinbarte Verfassung alle bei der Münchener
Besprechung von Bayern angeregten und als zulässig erkannten Änderungen
von Delbrück.
381
und Erläuterungen der Verfassung des Norddeutschen Bundes auf, soweit sie
allgemeiner Natur waren, ebenso in den Vertrag mit Württemberg die in
München besprochene Sonderbestimmung über Post und Telegraphie. Auf
diese Weise wurden die in Versailles zu führenden abschließenden Verhand-
lungen mit Bayern auf ein Minimum von streitigen Punkten reduziert. Daß
sie sich trotzdem nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten entwickelten und daß
es des größten Taktes und der größten Geschicklichkeit bedurfte, um sie zum
glücklichen Ende zu bringen, ist so bekannt, daß es hier nicht weiter aus-
geführt zu werden braucht.
Ende November war die Einigung erzielt und D. konnte nach Berlin
zurückreisen, um die Reichsverfassung im Norddeutschen Reichstag einzu-
bringen und zu vertreten.
»Das Kaisertum — so bemerkt D. am Schlüsse seiner Erinnerungen — hatte keinen
Gegenstand meiner Verhandlungen gebildet, und ich kann seine Genesis im einzelnen nicht
darstellen. Verschiedene Personen haben das Ergebnis gefördert; das Verdienst, den
richtigen Augenblick erkannt und die richtige Form gewählt zu haben, gebührt dem
Grafen Bismarck.«
Die Verdienste Delbrücks um die Errichtung des Deutschen Reichs waren
der Anlaß dafür, daß ihm im Jahre 1871 eine Dotation von 200000 Taler
gewährt wurde. Am 25. Jahrestag der Reichsgründung, am 18. Januar 1896,
wurde Delbrück der Schwarze Adlerorden und damit der Adel verliehen.
Was die Tätigkeit anlangt, die D. in der inneren Gesetzgebung und
Wirtschaftspolitik in seiner Stellung als Präsident des Bundeskanzleramtes
und später des Reichskanzleramtes entfaltete, so erstreckte sie sich auf ein
so weites Gebiet, daß die persönliche und intensive Bearbeitung einzelner
Materien naturgemäß hinter den Aufgaben der Oberleitung des Ganzen und der
Erteilung allgemeiner Direktiven zurücktreten mußte. Wollte man alles, was
damals unter D.s Leitung und Mitwirkung geschaffen und in die Wege ge-
leitet wurde, zur Darstellung bringen, so würde man die ganze Geschichte
der inneren Gesetzgebung und der Wirtschaftspolitik jener Periode schreiben
müssen. Wenn aber in einzelnen Materien D. auf Grund der in seiner bis-
herigen Tätigkeit gewonnenen Erfahrungen oder auf Grund eines besonderen
Interesses in die Einzelheiten der Durchführung hinabstieg, so läßt sich sein
persönlicher Anteil an dem Zustandegekommenen mangels eines Dokuments,
wie es seine nur bis zum Jahr 1867 reichenden »Lebenserinnerungen« sind,
nicht im einzelnen feststellen. Es seien deshalb nur die wichtigsten Züge
hervorgehoben.
Ein Teil der Arbeiten auf dem Gebiete der inneren wirtschaftlichen
Gesetzgebung, die D. noch als Direktor im preußischen Handelsministerium
eingeleitet oder gefördert hatte, kamen erst nach der Errichtung des Bundes
im Wege der Bundesgesetzgebung zu ihrem Abschluß. Hierher gehört vor
allem die Ordnung des Maß- und Gewichtssystems und der Gewerbegesetz-
gebung.
D.s Anteil an dem Übergang Preußens zu dem metrischen Gewichts-
system (Zollpfund) ist oben erwähnt worden. Für die Einführung des vollen
metrischen Maß- und Gewichtssystems machte sich von der Mitte der 50er Jahre
an eine internationale Bewegung geltend, die auch in Deutschland immer
mehr an Boden gewann. Preußen beteiligte sich, nachdem es sich anfänglich
^82 ^on Delbrück.
zurückhaltend gezeigt hatte, im Jahre 1865 an den beim Bundestag in
dieser Angelegenheit stattfindenden Verhandlungen, aus denen ein auf das
Meter begründeter Entwurf einer deutschen Mafi- und Gewichtsordnung
hervorging. Die Einführung dieser Maß- und Gewichtsordnung in den ein-
zelnen Staaten wurde durch die politischen Ereignisse hinausgeschoben; im
Jahre 1868 jedoch legte D. den gesetzgebenden Körperschaften des Nord-
deutschen Bundes eine Mafi- und Gewichtsordnung vor, welche auf dem Ent-
würfe von 1865 beruhte; sie wurde Bundesgesetz und später auf Grund der
Versailler Verträge Reichsgesetz.
Auch eine einschneidende Änderung der Gewerbeordnung im Sinne des
Ausbaues der Gewerbe- und Koalitionsfreiheit wurde von D. bereits vor der
Errichtung des Norddeutschen Bundes vorbereitet. Das preußische Ab-
geordnetenhaus hatte im Frühjahr 1865 einen Antrag auf Beseitigung der
Koalitionsbeschränkungen angenommen, und der Handelsminister Graf Itzen-
plitz berief alsbald eine Kommission zur Vorbereitung eines entsprechenden
Gesetzes. Aber allein schon durch die im Sommer 1866 eingetretene Er-
weiterung des Gebiets der preußischen Monarchie wurde eine umfassendere
Reform der Gewerbegesetzgebung, als sie in den aus den Beratungen der
Kommission hervorgegangenen Entwürfen enthalten war, zu einer unabweis-
baren Notwendigkeit. Bei der Einrichtung der Verwaltung in den neu er-
worbenen Provinzen wurde D.s Interesse vor allem anderen durch deren
Gewerbegesetzgebung in Anspruch genommen. »In Hannover, Kurhessen,
Schleswig-Holstein und Hessen-Homburg bestand noch der Zunftzwang, be-
gleitet von einer Reihe anderer Gewerbebeschränkungen; es wäre ein Bruch
mit ihrer ganzen Vergangenheit gewesen, wenn die preußische Verwaltung
hier nicht Wandel geschafft hätte. An die Einführung der preußischen Ge-
werbegesetzgebung, welche durch königliche Verordnung sofort hätte er-
folgen können, war nicht zu denken; denn diese Gesetzgebung war zu einem
System aneinander gereihter Novellen geworden, welches sich nur da er-
tragen ließ, wo es allmählich entstanden war, und sie war in Preußen selbst
als einer gründlichen Reform bedürftig anerkannt. Es blieb nur übrig, die
in den einzelnen Landen bestehenden Gesetze durch königliche Verord-
nungen von den empfindlichsten Beschränkungen des Gewerbebetriebs zu
befreien.« Dieser Weg wurde beschritten.
Die umfassende Neuordnung der Gewerbegesetzgebung im Sinne der
möglichst wenig eingeschränkten Gewerbefreiheit erfolgte auf Grund eines
im Jahre 1868 vorgelegten Gesetzentwurfs durch die Gewerbeordnung für
den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869, deren Wirksamkeit später auf
das Reichsgebiet ausgedehnt wurde.
Eine besondere Hervorhebung verdient D.s Anteil an der Neuordnung
des deutschen Geld- und Bankwesens. Diese Reform bildete eine der alier-
dringendsten aber zugleich auch der allerschwierigsten Aufgaben, die das neu
geeinte Deutschland zu bewältigen hatte.
Die Mitarbeit D.s beim Wiener Münzvertrag von 1857, bei den Bestim-
mungen über den Umlauf papierner Geldzeichen in Preußen und bei dem
Ausbau der preußischen Bank ist bereits erwähnt. Aber vor der Gründung
des Reichs konnte auf diesem wichtigen Gebiete nur Stückwerk geschaffen
werden; denn ein einheitliches Wirtschaftsgebiet, wie es Deutschland
von Delbrück.
383
durch den Zollverein geworden war, bedurfte einer einheitlichen Organisation
seiner Umlaufsmittel und seines Bankwesens, und eine solche einheitliche
Organisation ist nur in einem Einheitsstaate, nicht in einem Staatenbunde
durchführbar.
Was Deutschland benötigte war einmal die Münzeinheit an Stelle der
sieben verschiedenen Münzsysteme, die auch nach dem großen durch den
Wiener Münzvertrag erzielten Fortschritte in Deutschland noch bestanden;
femer eine Beseitigung des Übermaßes papierner Geldzeichen und eine solide
Fundierung und einheitliche Gestaltung des Papierumlaufs; außerdem der
Anschluß an das System der Goldwährung, dessen Vorzüge an sich schon
bei den im Jahre 1854 mit Österreich geführten, oben erwähnten Verhand-
lungen festgestanden hatten, das inzwischen durch die gewaltige Gold-
produktion der fünfziger und sechziger Jahre in der internationalen Geld-
verfassung das entschiedene Obergewicht erlangt hatte und das infolge der
gesteigerten Goldgewinnung und vor allem auch durch die in Gold realisier-
bare französische Kriegskostenentschädigung für Deutschland durchführbar
geworden war; schließlich die Schaffung einer Zentralbank zur Regelung des
inneren Geld- und Kreditverkehrs, zur Überwachung der auswärtigen Be-
ziehungen des deutschen Geldwesens und zum Schutze der neu zu schaffenden
Goldwährung.
Über den großen persönlichen Anteil, den D. an der Durchführung
dieser wichtigen Aufgaben genommen hat, ist der Verfasser dieser Skizze von
D. selbst durch mündliche Mitteilungen und durch Überlassung von Doku-
menten in eingehender Weise informiert worden. D.s Rolle in der deutschen
Geld- und Bankreform sind auf Grund dieser Mitteilungen ausführlich in
meiner »Geschichte der deutschen Geldreform« dargestellt.
D. hat von Anfang an die Ziele der Reform und die Wege zu ihrer
Durchführung klar erkannt und an diesen trotz zahlreicher und mächtiger
Widerstände festgehalten. Sein Operationsplan, der den obwaltenden Ver-
hältnissen durchaus angepaßt war, bestand darin, daß er in Anbetracht der
Schwierigkeiten, die innerhalb des Bundesrates einer befriedigenden Ordnung
der Frage des Staatspapiergeldes und der Reichsbank entgegenstanden, zu-
nächst mit aller Energie die Reform des Münzwesens erstrebte, um damit
die Grundlage für die weiteren Reformen zu schaffen. Von allen maß-
gebenden Personen war es D., der mit dem größten Nachdruck die möglichst
einheitliche Ordnung des Münzwesens verlangte und der nicht nur die Über-
nahme der Münzgesetzgebung, sondern auch der gesamten das Münzwesen
betreffenden Verwaltungstätigkeit auf das Reich befürwortete. Ebenso war
es D., der innerhalb der Regierung mit der größten Entschiedenheit den
Gedanken der Goldwährung vertrat und darauf drängte, die durch den Aus-
gang des Kriegs mit Frankreich und die französiche Kriegskostenentschädi-
gung geschaffene günstige Situation ungesäumt zur Durchführung des Währungs-
wechsels zu benutzen.
Schon bei der preußischen Regierung, und in einzelnen Punkten noch
mehr bei den Regierungen der Mittelstaaten, fand D. mit diesen Ideen
Widerstand. Der preußische Finanzminister Camphausen stellte den weiten
Gesichtspunkten D.s einen stark partikularistisch und fiskalisch angehauchten
Gedankengang entgegen. Die von D. geplante unitarische und zentralistische
384
von Delbrück.
Ordnung des Münzwesens hatte ebensowenig den ungeteilten Beifall des
preußischen Parti kularisten, wie die bei dem Übergang zur Goldwährung not-
wendige, aber erhebliche finanzielle Zubußen in Aussicht stellende Silber-
abstoßung die Sympathien des fiskalisch rechnenden Finanzministers fand.
Schon der im Reichskanzleramt ausgearbeitete Gesetzentwurf über die Aus-
prägung von Reichsgoldmünzen, der am lo. Oktober 1871 dem Bundesrat
vorgelegt wurde, war von der Haltung des preußischen Finanzministers be-
einflußt, wenn er auch in den Hauptpunkten, namentlich hinsichtlich der
einheitlichen Ordnung des Münzwesens, der Auffassung D.s entsprach. Da-
gegen wurden durch die Beschlüsse des Bundesrats in die geplante deutsche
Münzeinheit erhebliche Breschen gelegt. Nicht nur wurde an Stelle der
Prägung der »Reichsgoldmünzen« durch das Reich die Prägung auf den
einzelstaatlichen Münzstätten und an die Stelle des einheitlichen Gepräges,
enthaltend das Bildnis des deutschen Kaisers, ein verschiedenes Gepräge, ent-
haltend das Bildnis des Landesherm oder das Hoheitszeichen der freien
Städte gesetzt; darüber hinaus wurde auch die Sorge für die Aufrechterhal-
tung der Vollwichtigkeit des Münzumlaufs und ebenso die Einziehung der
alten Landesmünzen zur Sache der Einzelstaaten gemacht. Camphausen
wurde der Verfechter dieses geradezu unmöglichen »Kompromisses« im
Reichstag, während D., der von vornherein der Unterstützung seiner Ideen
durch eine überwältigende Mehrheit im Reichstag sicher sein konnte, bei
der dritten Lesung mitunter leichten Herzens die Bestimmungen preisgeben
konnte, die Camphausen in der zweiten Lesung mit Eifer verteidigt hatte.
Insbesondere der Sachkenntnis und der unermüdlichen Tätigkeit Ludwig
Bambergers ist es gelungen, durch die Reichstagsverhandlungen den Ent-
wurf der verbündeten Regierungen so umzugestalten, daß dem Wesen nach
eine einheitliche Münzverfassung geschaffen und nur in der Form, nament-
lich in der Frage des Gepräges, dem Partikularismus einige Zugeständnisse
gemacht wurden, daß ferner der Obergang zur Goldwährung gleich in dem
ersten sich auf das Münzwe^en beziehenden Reichsgesetz, dem Gesetz, betr.
die Ausprägung von Reichsgoldmünzen, vom 4. Dezember 187 1, im Prinzip
entschieden wurde. Der gesetzgeberische Abschluß der eigentlichen Münz-
reform erfolgte auf den durch jenes erste Gesetz geschaffenen Grundlagen
durch das Münzgesetz vom 9. Juli 1873.
Beträchtlich größere Schwierigkeiten fand D. bei der Reform des Papier-
geld- und Bankwesens. Allgemein war man der Überzeugung, daß die Ord-
nung des Umlaufs von Staatspapiergeld und die Neuorganisation der Noten-
banken in unmittelbarem Zusammenhang mit der Münzreform gehalten werden
müsse, wenn anders nicht das ganze Werk gefährdet werden sollte. Aber
hinsichtlich der Art der Lösung dieser Fragen bestanden nahezu unüberwind-
liche Interessenkonflikte und Meinungsverschiedenheiten einerseits zwischen
dem preußischen Finanzminister und den Regierungen der übrigen Einzel-
staaten, andererseits zwischen dem preußischen Finanzminister und dem Präsi-
denten des Reichskanzleramts. Für D. standen als Ziel folgende Punkte fest:
I. Ersetzung des umlaufenden Papiergeldes der Einzelstaaten durch
ein Reichspapiergeld in wesentlich geringerem Betrage unter Gewährung
möglichster finanzieller Erleichterungen an die zur Einziehung ihres Staats-
papiergeldes genötigten .Einzelstaaten;
von Delbrück. ^85
2. Ordnung des Bankwesens unter Umwandlung der Preußischen Bank
in eine Reichsbank.
Unter D.s Leitung und Verantwortlichkeit hatte Michaelis bereits Ende
1872 den Entwurf eines Bankgesetzes ausgearbeitet, dessen Schwerpunkt
in der Umwandlung der Preußischen Bank in eine Reichsbank lag. Bismarck
hatte den Entwurf bereits gezeichnet, aber noch im letzten Augenblick gelang
es Camphausen, seine Einbringung zu verhindern. Camphausen wollte die
Notwendigkeit einer Reichsbank nicht einsehen, und es lag ihm sehr viel daran,
die Preußische Bank, an deren Reingewinn der preußische Staat beteiligt
war, als preußisches Institut zu erhalten. Sein Widerstand bildete ein geradezu
unüberwindliches Hindernis für eine Lösung der Bankfrage, welche dem
Reichskanzleramt und der öffentlichen Meinung hätte annehmbar erscheinen
können. Damit war auch die Ordnung der Papiergeldausgabe wesentlich
erschwert; insbesondere Bayern bestand darauf, daß die Papiergeldfrage nur
im Zusammenhang mit der Bankfrage geregelt werden dürfe. Außerdem
aber sträubte sich Camphausen gegen die Gewährung von Erleichterungen
an diejenigen Bundesstaaten, die einen im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung
starken Betrag von Papiergeld ausgegeben hatten.
Infolge dieser Konflikte wurde im Jahre 1873 das Münzgesetz vorgelegt,
ohne daß gleichzeitig Entwürfe über die Reform des Papiergeld- und Bank-
wesens eingebracht worden wären. Der Reichstag aber bestand seinerseits
auf der schleunigen Inangrifhiahme dieser Materien, indem er dem Münz«
gesetz einen Paragraphen anfügte, der über das Papiergeld und die Noten-
ausgabe einschneidende Bestimmungen traf.
Unter diesem Druck einigte man sich im Bundesrat über einen Gesetz-
entwurf über die Ausgabe von Reichskassenscheinen, der am 21. April 1874
Gesetzeskraft erhielt. Dieses Gesetz verfügte die Einziehung des Staats-
papiergeldes und seinen Ersatz durch Reichskassenscheine im Normalbetrag
von 1 20 Millionen M., die auf die,. Bundesstaaten pro rata ihrer Bevölke-
rungszahl verteilt werden sollten. Außerdem erhielten die Bundesstaaten,
die einen größeren Betrag an Staatspapiergeld ausgegeben hatten, als ihrem
Normalanteil an Reichskassenscheinen entsprach, einen' in 15 Jahren zu
tilgenden Vorschuß in Reichskassenscheinen.
Nunmehr konnte auch die Einbringung eines Bankgesetzes nicht länger
verschoben werden, zumal sich D. bei der Beratung des Reichskassenschein-
gesetzes im Bundesrat verpflichtet hatte, einen Bankgesetzentwurf so früh-
zeitig vorzulegen, daß die Beratungen im Bundesrat bis zum Beginn der
Herbstsession 1874 des Reichstags erledigt werden könnten. Da Camphausen
auf seinem entschiedenen Widerspruch gegen die Umwandlung der Preußischen
Bank in eine Reichsbank beharrte, mußte sich D. mit dem Gedanken ab-
finden, einen Entwurf ausarbeiten zu lassen, der sich darauf beschränkte, die
Notenausgabe und den Geschäftskreis der bestehenden Notenbanken zu
reglementieren, ohne eine Reichsbank ins Leben zu rufen. Der wenn auch
nur vorläufige Verzicht auf den Hauptteil der Bankreform wurde D. und
Michaelis nicht leicht; sie konnten sich einigermaßen damit trösten, daß der
Erlaß von Normativbestimmungen für die bestehenden Notenbanken der
späteren Errichtung einer Reichsbank in keiner Weise prä judizierte und
sie konnten außerdem, ähnlich wie bei der Münzgesetzgebung, auf eine
Biogr. Jahrbuch u. Deuttcher Nekrolog. 9. Bd. 25
386 von Delbrttck.
energische Unterstützung des Reichstags für den Gedanken der Reichsbank
rechnen.
Als der Reichstag am 1 6. November 1874 die erste Lesung des Bank-
gesetzentwurfs begann, führte D. in seiner die Beratungen einleitenden Rede
aus, der Gedanke einer Reichsbank sei dem Reichskanzleramte »nichts
weniger als antipathisch« gewesen, aber wegen der Schwierigkeiten einzelner
Fragen» wie der Stellung der Reichsbank zu den anderen Notenbanken und
der Auseinandersetzung mit Preufien sehe der vorliegende Entwurf von einer
Reichsbank ab. Im Reichstag jedoch war eine überwältigende Mehrheit
gewillt, kein Bankgesetz ohne Reichsbank zu genehmigen. Die zur Beratung
des Entwurfs eingesetzte Kommission beschloß sofort nach ihrem Zusammen-
treten am 21. November mit 13 gegen 4 Stimmen »daß die Kommission die
Diskussion des Bankgesetzes nicht für wünschenswert erachte, ehe ein Be-
schluß über die Einführung einer Reichsbank gefaßt sei.« Nach diesem
Beschluß vertagte sich die Kommission, um die Stellungnahme des Bundes-
rats abzuwarten.
Nunmehr gab Camphausen endlich seinen Widerspruch gegen die Reichs-
bank auf; er bequemte sich zu Vorschlägen über die Umwandlung der
Preußischen Bank in eine Reichsbank, die der Bundesrat im ganzen an-
nehmbar fand und auf Grund deren die in den Bankgesetzentwurf einzu-
fügenden Bestimmungen über die Reichsbank ausgearbeitet und vom Bundes-
rat genehmigt wurden. Mit dieser wichtigen Ergänzung wurde der Entwurf
vom Reichstag nach eingehenden Kommissions- und Plenarberatungen, die
vor allem durch die sachkundige Mitarbeit Ludwig Bambergers ihr Gepräge
erhielten, angenommen. Am 14. März 1875 konnte das Bankgesetz vollzogen
werden. D. bemerkt in seinen »Lebenserinnerungen« bei der Besprechungeines
im Mai 1861 von Preußen ausgearbeiteten Entwurfs einer Vereinbarung
zwischen den deutschen Staaten über die Erteilung neuer und die Verlänge-
rung bestehender Notenprivilegien, der ohne Ergebnis geblieben war:
»Es ist eine meiner liebsten dienstlichen Erinnerungen, daß ich dreizehn Jahre später
in Gemeinschaft mit Herrn Michaelis und dem Abgeordneten Dr. Bamberger das Reichs-
bankgesetz habe zustande bringen und damit die Materie auf die Dauer habe regeln
können«.
In handelspolitischer Beziehung, auf D.s ureigenstem Arbeitsfelde, hatten
die Umgestaltung des Zollvereins nach dem Kriege von 1866 und schließ-
lich die Begründung des Deutschen Reichs die staatsrechtlichen Schwierig-
keiten beseitigt, die bisher dem Ausbau der Tarifpolitik im Wege gestanden
hatten. Die freihändlerische Richtung der D.schen Handelspolitik selbst
wurde durch diese Umwälzungen nicht berührt. »Im Zeichen der Annähe-
rung an die Handelsfreiheit — so habe ich in meinen Vorträgen über
»Handelspolitik« (1901) ausgeführt — war der Zollverein groß geworden, und
die deutsche Volkswirtschaft war, trotzdem ihre industrielle Konkurrenz-
fähigkeit damals gegenüber dem Auslande, namentlich gegenüber England
und Frankreich eine wesentlich geringere war als heute, unter der liberalen
Tarifpolitik des Zollvereins erheblich vorwärts geschritten. Namentlich von
den fünfziger Jahren an, nachdem die kurze Zeit der von Süddeutschland
ausgehenden schutzzöllnerischen Reaktion überwunden war und nachdem
die Verträge mit Hannover und Österreich erhebliche Zollermäßigungen ge-
von Delbrück. 387
bracht hatten, und dann nach dem noch viel mehr freihändlerischen Ver-
trage mit Frankreich von 1862 hatte Deutschland in wirtschaftlicher Be-
ziehung einen so merkbaren Aufschwung zu verzeichnen, daß es durchaus
erklärlich und natürlich erscheint, wenn die Leiter der Handelspolitik des Zoll-
vereins auch nach der Begründung des Norddeutschen Bundes und des
Reichs auf der von ihnen betretenen Bahn weiter zu gehen versuchten.«
Bei der Fortbildung des Zolltarifs im freihändlerischen Geiste wurde die
Regierung an Eifer und Radikalismus von der öffentlichen Meinung und
der Volksvertretung weit übertroffen. Das zeigte sich, als im Jahre 1868
gleichzeitig mit einem neuen Handelsvertrag mit Osterreich, der wichtige
ZoUermäfiigungen enthielt, ein Gesetzentwurf vorgelegt wurde, der im An-
schluß an den österreichischen Vertrag eine erhebliche Vereinfachung des
Zolltarifs herbeiführen und nach dem Vorbilde Englands ein System reiner
Finanzzölle anbahnen sollte. Dieser Gesetzentwurf scheiterte in zwei Sessionen
daran, daß die Zollermäßigungen der freihändlerischen Mehrheit des Zoll-
parlaments nicht weit genug gingen; er kam erst im Jahre 1870 zur Annahme,
nachdem die Regierung auf den ganz besonders stark angefochtenen Petroleum-
zoll verzichtet hatte.
Der erste handelspolitische Akt des neuen Reichs war der in § 11 des
Frankfurter Friedens enthaltene unkündbare Meistbegünstigungsvertrag mit
Frankreich. Man mußte sich mit der bloßen Meistbegünstigung begnügen,
nachdem der anfangs erstrebte Abschluß eines neuen Tarifvertrags von Frank-
reich mit der größten Hartnäckigkeit abgelehnt worden war.
In der Folgezeit war es der Reichstag, der zu einem weiteren Schritte
im freihändlerischen Sinne drängte. Im Mai 1873 wurde ein Antrag ein-
gebracht, der die völlige Beseitigung der Eisen- und Maschinenzölle ver-
langte; unterzeichnet war der Antrag von den konservativen Agrariern und
den liberalen Freihändlern. D. beantwortete diesen Antrag mit der Ankün-
digung einer Tarifnovelle, die wenige Wochen später eingebracht wurde und
Zollfreiheit für Roheisen sowie Zollermäßigungen für Eisenwaren und einige
andere Artikel enthielt. Die Vorlage wurde in der Fassung angenommen,
daß für Roheisen sofort, für Eisenwaren usw. am i. Januar 1877 Zollfreiheit
eintreten sollte.
Dieses Gesetz war der letzte Erfolg der freihändlerischen Politik in
Deutschland. Die Folgezeit brachte einen völligen Umschwung in der
öffentlichen Meinung, in der Stellungnahme der Volksvertretung und in der
Ansicht des Kanzlers, einen Umschwung, dessen erste Vorboten D. veranlassen
sollten, von seiner amtlichen Stellung zurückzutreten.
Die schutzzöllnerische Strömung innerhalb der deutschen Industrie, die
nie ganz unterdrückt worden war, gewann allmählich wieder an Bedeutung.
Nachdem die kardinale Forderung aller wirtschaftlich tätigen Kreise Deutsch-
lands, die Schaffung eines einheitlichen deutschen Zollgebiets, hinter der
bisher alles andere zurückgetreten war, im Deutschen Reiche in einer für
alle absehbare Zeit gesicherten Form erfüllt war, traten die Einzelinteressen
wieder mehr hervor. Die erheblichen Zollermäßigungen und die wichtigen
Zollbefreiungen, die seit der Errichtung des Norddeutschen Bundes teils im
Wege von Handelsverträgen, teils im Wege der autonomen Zollgesetzgebung
herbeigeführt worden waren, hatten die schutzzöllnerisch interessierten Zweige
388 von Delbrück.
der deutschen Industrie zu verschärftem Widerspruch herausgefordert. Dazu
kam die Handelskrisis von 1873 und in ihrem Gefolge eine schwere industrielle
Depression, die namentlich auf der Eisenindustrie lastete. So töricht es
wäre, wenn man diese Krisis — statt auf die vorhergegangene starke Über-
produktion und Überspekulation — auf die ausländische Konkurrenz zurück-
führen wollte, so begreiflich ist es andererseits, daß die bedrängten Industrien
zur Erleichterung ihrer Lage nach verstärktem Schutze gegenüber dem fremden
Wettbewerbe riefen. Zu Beginn des Jahres 1876 wurde zum Zweck einer
umfassenden schutzzöllnerischen Agitation der 3>Zentralverband deutscher
Industrieller« gegründet, der in der Folgezeit einen großen Einfluß auf die
Gestaltung unsrer Handelspolitik gewonnen hat. Es traten ihm vor allem
bei die Eisenindustriellen, die. Baumwollspinner, die Soda- und Zucker-
fabrikanten.
Femer bereitete sich in jener Zeit der Übergang der agrarischen Parteien
aus dem Lager des Freihandels in das Lager des Schutzzolls vor, in Ver-
bindung mit dem Umschwung, den die Stellung der deutschen Landwirtschaft
damals im internationalen Verkehr erfuhr. Die deutsche Landwirtschaft, die
noch vor kurzem einen Überschuß an Produkten an das Ausland, namentlich
an den englischen Markt abgegeben hatte, fing an, den Druck der zunächst
von dem durch Eisenbahnen erschlossenen Rußland ausgehenden Getreide-
konkurrenz auf dem deutschen Markte selbst zu spüren; während die deutschen
Agrarier bisher nur an der Leichtigkeit des Exports und an dem möglichst
billigen Import landwirtschaftlicher Geräte und Maschinen usw. interessiert
gewesen waren und infolgedessen sich durch einen stark ausgeprägten frei-
händlerischen Radikalismus hervorgetan hatten, erkannten sie jetzt mit einem-
mal ihr überwiegendes Interesse in der Erschwerung der Einfuhr landwirt-
schaftlicher Erzeugnisse.
Befördert wurde der Umschwung in den handelspolitischen Anschau-
ungen und Bestrebungen Deutschlands durch die protektionistische Politik,
die in jener Zeit fremde Staaten, insbesondere Frankreich, Österreich und
Rußland, verfolgten. Fürst Bismarck schien anfangs sich der wachsenden
schutzzöllnerischen Strömung entgegenstellen zu wollen; noch am 22. No-
vember 1875 bezeichnete er im Reichstag die Aufhebung aller Zölle mit Aus-
nahme einiger hoher Finanzzölle auf 10 bis 15 Artikel als das erstrebenswerte
Ziel. Aber auch bei Bismarck trat bald ein radikaler Wechsel seiner handels-
politischen Auffassung ein, in dem Maße, daß er in den folgenden Jahren
mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit die Führung in der schutz-
zöllnerischen Umkehr der deutschen Tarifpolitik ergriff.
D. war nicht gesonnen, den Umschwung mitzumachen. Als er die ersten
Anzeichen der beginnenden Meinungsverschiedenheit zwischen sich und dem
leitenden Staatsmanne bemerkte, entschloß er sich, alsbald die Geschäfte, die
er seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit soviel Geschick und Hingabe
geführt hatte, aus der Hand zu geben. Im Frühjahr 1876 erbat er seine
Entlassung, die ihm am i. Juni 1876 gewährt wurde.
Über den akuten Anlaß und die näheren Umstände von D.s Rück-
tritt ist bei der vornehmen Diskretion, die dieser Staatsmann stets be-
wahrt hat, niemals etwas genaueres bekannt geworden. Bamberger erzählt
darüber:
von Delbrück. ^8q
»D.s Klugheit und Selbstachtung ließen ihn keinen Augenblick im Zweifel darüber,
was die Glocke geschlagen habe, als der Kanzler bei einem scheinbar geringfügigen Anlafi
die nach den amtlichen Regeln herkömmliche Form ihm gegenüber verletzte. Er sagte
sich sogleich, da6 dies mit Absicht geschehen sei, und mit welcher Absicht, und Bismarck
kannte seinen Mann auch genug, um zu wissen, dafi hier der leiseste Wink genüge, um
verstanden zu werden. Die andern alle, welche nacheinander entfernt werden mußten, um
dem Geist der Kanitz und Mirbach die Bahn frei zu machen, waren minder feinfühlig und
trennten sich schwerer von Amt und Würde. Man erzählte sich damals, D. habe sofort
am Tage der Entdeckung des ersten Symptoms bei Tisch ganz trocken seiner erst seit
kurzem ihm angetrauten Gattin gesagt: »Wir wollen uns nach einer andern Wohnung um-
sehen.« Sie konnte natürlich nicht fassen, warum die großartigen Amtsräume der Wilhelmstraße
ihrem anspruchslosen Gemahl nicht genügten, bis er ihr die nötige Autklärung erteilte.«
Mit seinem Abschiede aus dem Staatsdienste begann für D. der letzte
Abschnitt seines Lebens, von dem er selbst sagt: »Kr war reich an ruhigem
Glück aber arm an erwähnenswerten Begebenheiten.« D., der bis in ein
vorgeschrittenes Alter Junggeselle geblieben war, hatte sich am i. März 1875
verheiratet, und zwar mit Elise von Pommer-Esche, der Tochter des Ober-
präsidenten der Rheinprovinz Adolf von Pommer-Esche, mit dem D., seit
er ihn bei seinem Eintritt in das Finanzministerium als Geheimen Oberfinanz-
rat kennen gelernt hatte, in aufrichtiger Freundschaft verbunden gewesen war.
»Während des ersten Jahres meiner Ehe«, heißt es in den »Lebenserinne-
rungen«, nahm mein Amt nicht bloß meine Zeit sondern auch meine Ge-
danken in solchem Maße in Anspruch, daß es für meine Frau so wenig als
für mich, zu einer vollen Befriedigung kam. Ich wurde mir bewußt, daß
ich ihr nicht das war, was ich sein wollte, und dieses Bewußtsein, wenn
es auch durchaus nicht der Grund meines Scheidens aus dem Dienste war,
hat mir den ernsten Entschluß erleichtert.«
Allerdings hat sich D. nach dem Rücktritt aus seiner amtlichen Stellung nicht
sofort ganz und gar ins Privatleben zurückgezogen, und noch weniger hat
er sich mit seinem persönlichen Interesse von den öffentlichen Angelegen-
heiten abgewendet. Er war innerlich zu sehr mit seinem Lebenswerke ver-
flochten, als daß er ohne Anteilnahme die Dinge, die er solange geleitet
hatte, sich hätte entwickeln lassen können.
Bei den Reichstags wählen im Sommer 1878, die unter dem Eindruck
des Nobilingschen Attentats stattfanden und deren Ausfall entscheidend
werden sollte für den Umschwung der deutschen Handelspolitik, wurde D.
von einer Anzahl führender Personen in der nationalliberalen Partei zur An-
nahme eines Reichstagsmandats gedrängt. D. hatte im Jahre 1858 ein ihm
angetragenes Mandat für das Abgeordnetenhaus und im Jahre 1860 die ihm
angebotene Ernennung zum Mitglied des Herrenhauses abgelehnt, und zwar
um Konflikte zwischen den Pflichten seiner amtlichen Stellung und seiner
Zugehörigkeit zu einem der Häuser des Landtags aus dem Wege zu gehen.
Ein solcher Gesichtspunkt konnte jetzt, nach seinem Ausscheiden aus dem
Dienste, nicht mehr in Frage kommen. Aber gleichwohl entschloß sich D.
nur ungern, dem wiederholten Drängen seiner Freunde nachzugeben und das
ihm angebotene Reichstagsmandat anzunehmen. Bestimmend für die An-
nahme mag schließlich das Gefühl der Verpflichtung gewesen sein, für die
von ihm solange praktisch verwirklichten wirtschaftspolitischen Ideen gegen-
über der neuen Strömung mit seiner Person und seiner Autorität einzutreten.
390
von Delbrück.
D. wurde, ohne daß er irgend einen Schritt der Bewerbung getan hatte,
im Wahlkreise Jena gewählt. Das Mandat war ihm angeboten worden ohne
die Bedingung des Beitritts zu einer bestimmten Fraktion ; er blieb fraktions-
los, hielt sich aber zu dem freihändlerisch gebliebenen Flügel der National-
liberalen.
Die von Bismarck eingeleitete »Tarif reform«, die in der Session 1878/79
nahezu das ganze Interesse des Reichstags absorbierte, gab D. Gelegenheit,
seine Sachkenntnis und seine Erfahrung zur Verteidigung der bedrohten
Handelsfreiheit einzusetzen. Mit derselben unermüdlichen Pflichttreue und
strengen Sachlichkeit, die man an dem Regieningsvertreter gewohnt gewesen
war, führte er nunmehr als Abgeordneter im Plenum und in der Tarif-
kommission des Reichstags den aussichtslosen Kampf gegen eine Handels-
politik, die er für verderblich hielt. In derselben Legislaturperiode
beteiligte er sich an der Abwehr der ersten Versuche, die Gewerbefreiheit
durch die partielle Wiedereinführung des Zunftzwanges einzuschränken. Femer
nahm er an erster Stelle teil an der Einbringung und Begründung der Inter-
pellation über die Bedeutung der im Mai 1879 vom Reichskanzler verfügten
Einstellung der zur Durchführung der Münzreform notwendigen Silberverkäufe.
Aber so sehr von allen Seiten, auch von der gegnerischen, die Autorität
und Sachlichkeit D.s anerkannt wurde, seine Stellung im Reichstage gestaltete
sich nicht so, daß sie ihm nach dem Vierteljahrhundert leitender und führen-
der Tätigkeit in der Regierung eine Befriedigung hätte gewähren können.
Bamberger bemerkt zu dieser Tatsache:
»Es hatte sich gezeigt, daß deutsche parlamentarische und konstitutionelle Zustände
noch nicht die Reife erlangt haben, wie in England zweihundert Jtihre früher. Alle ehe-
maligen Minister, die dasselbe Experiment unternahmen, haben dieselbe Erfahrung gemacht.
Die Falk, Hobrecht, Achenbach nahmen im Parlament keine Stellung ein, die ihrer früheren
entsprach. Ganz natürlich, denn, wie die Dinge bei uns verlaufen, hatten sie auch keine
Aussicht, vom Boden der parlamentarischen Opposition wieder auf die Ministerbank zurück-
zukommen.«
Bei den Neuwahlen im Jahre 1881 lehnte D. mit aller Bestimmtheit die
Wiederannahme eines Mandats ab. Aber auch als reiner Privatmann hat er
bis an sein Lebensende das lebhafteste Interesse an den öffentlichen Dingen
bewahrt, denen er nunmehr in der Hauptsache als philosophischer Zuschauer
gegenüberstand.
Ganz besonders widmete er seine Anhänglichkeit und Arbeitskraft dem
»Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes«, der von Beuth im Jahre 1821
gegründet worden war und zu dessen Vorsitzenden D. im Dezember 1858
gewählt wurde. Er hat den Vorsitz, der ihm Jahr für Jahr durch Neuwahl
wieder übertragen wurde, auch nach seinem Ausscheiden aus seiner amtlichen
Stellung bis wenige Jahre vor seinem Tode beibehalten und ihn mit der ihm
eigenen Pflichttreue und Umsicht geführt.
Auch unsrer Geld- und Bankverfassung, an deren Begründung D. in so
hervorragendem Maße teilgenommen hat, bewahrte D. sein volles Interesse.
Als um die Mitte der neunziger Jahre die Bimetallisten einen entscheidenden
Vorstoß gegen die Grundlagen unsrer Geldverfassung versuchten und die
Reichsregierung einen Augenblick zu schwanken schien, übernahm D. bereit-
willig den Ehrenvorsitz des damals gegründeten »Vereins zum Schutze der
von Delbrück, von Meysenbug. ^gi
Deutschen Goldwährung«, und der Verfasser dieser Skizze ist Zeuge dafür,
in welchem Maße der greise Staatsmann aus dem Schatze seiner Erfahrung
und seines Wissens die Aufklärungsarbeit auf diesem schwierigen Felde unter-
stützte.
Als Schriftsteller ersten Rangs hat sich D. durch seine nachgelassenen
»Lebenserinnerungen« ein bleibendes Denkmal in der historischen Literatur
gesetzt. Zu seinen Lebzeiten hat er, dessen besten Jahre durch den Staats-
dienst überreichlich ausgefüllt waren, nur einige kleinere Schriften publiziert,
die alle in ihrer klaren Sachlichkeit den Stempel seines Geistes tragen. Im
Jahre 1857 veröffentlichte er ohne seinen Namen eine Schrift unter dem Titel
«Der Zollverein und das Tabakmonopol«, in welcher er die Einrichtung des
Tabakmonopols in Österreich und Frankreich darstellte und auf Grund dieser
Darstellung die Unvereinbarkeit dieses Monopols mit den Zollvereinsverträgen
nachzuweisen suchte. Zur Zeit der Kämpfe um den Bismarckschen Zolltarif
veröffentlichte er im Jahre 1879 — gleichfalls ohne seinen Namen — in
den Mitteilungen des »Vereins zur Förderung der Handelsfreiheit« eine Ab-
handlung unter dem Titel »Deutschlands Getreideverkehr mit dem Auslande«,
deren Zweck der Nachweis war, daß Deutschland der Zufuhr von Getreide
aus dem Auslande nicht entbehren kann. Schließlich hat er im Jahre 1881
unter seinem Namen eine Schrift über »den Artikel 40 der Reichsverfassung«
herausgegeben, die sich mit den Fragen der in jenem Artikel übernommenen
Bestimmungen der Zollvereinsgesetzgebung befaßt. Karl Helfferich.
Meysenbug, Malvida von,i) Schriftstellerin, * 28. Oktober 18 16 in Kassel,
f 26. April 1903 in Rom. — Gegen das Ende des XVIL Jahrhunderts,
nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes, als — nach Taines Ausdruck —
la France se vida de son meilleur sang, verließ mit anderen Hugenotten auch ein
gewisser Rivalier seine Heimat Nimes, entkam den Verfolgern und suchte
Schutz bei protestantischen Germanen. Seine Nachkommen ließen sich in
Hessen nieder, und Philipp Rivalier errang — vielleicht mit Hilfe der
Freimaurerloge, in der er zu hohen Würden emporklomm — die Gunst des
Kurfürsten Wilhelm L in solchem Grade, daß er eine glänzende Karriere bei
ihm machte, zu seinem persönlichen Rat und Hofmarschall avancierte, 1825 in
den Adelstand erhoben wurde und den Titel eines F rei he rrn von Meysenbug
erhielt. Aus der Ehe, die er, 21 Jahre alt, mit der sechszehnjährigen Johanna
Hau sei schloß, gingen zehn Kinder hervor, von denen drei in weiteren
Kreisen bekannt geworden sind: zwei Söhne Otto und Wilhelm, die im öster-
reichischen und badischen Staatsdienste hohe Stellungen errangen und in die
EntWickelung der deutschen Verhältnisse während der verfahrenen Bundes-
periode mit nicht eben glücklicher Hand einzugreifen versuchten, und eine
Tochter Malvida, die alle ihre Geschwister um eine stattliche Reihe von
Jahren überlebte. In ihr wie in den politischen Brüdern lebte der französi-
sche Freisinn der väterlichen Ahnen und die bis zum Eigensinn zähe Opposi-
tionslust der Mutter; die verschiedenartige Mischung dieser Elemente führte
unter der Einwirkung äußerer Umstände schließlich zu der' merkwürdigen
Tatsache, daß nach ruhig protestantischer, keineswegs orthodoxer Normal-
«) Totenliste 1903 Band VIII 75*.
5Q2 von Meyscnbug.
efziehung der Bruder in Wien zum Katholizismus und die Schwester in Ham-
burg zur freireligiösen Gemeinde übertrat. Spezifisch französisch aber ist in
Malvida der Hauptzug ihres Wesens: die anmutige Umgangsform, die ge-
selligen Manieren, die vollendete Liebenswürdigkeit, der sie ihre allgemeine
Beliebtheit, ja selbst ihre Wirkung auf solche Zeitgenossen verdankte, die in
ihr keineswegs einen bedeutenden Geist sahen. Auch die französische Sprache
beherrschte sie wenigstens in späteren Jahren tadellos, ja schriftlich besser
als die deutsche; unter den nicht seltenen syntaktischen Fehlern, die ihre
Schriften durchsetzen, nehmen die Gallizismen einen besonders breiten Raum
ein. In ihrem elterlichen Hause sprach man jedoch fast immer deutsch.
Ihre Kindheit verfloß in ungetrübtem Glück. Die Nähe und der Glanz
des altvaterischen Hofes, die Fürsorge der literarisch wohlgebildeten Mutter,
die leichtsinnig genug war gegen alle damaligen Gepflogenheiten auch Theater-
volk ins Haus zu ziehen und die Kinder beizeiten an der Geselligkeit der Grofien
teilnehmen zu lassen, der Wohlstand und Familienkultus führten dem jungen
Wesen unablässig angenehme Eindrücke zu; beizeiten erwachten die beiden
Triebe, die es nie mehr verlassen sollten, die Lust zu lernen und der Drang
in die Ferne. Entschlüpfte sie doch eines Tages allein dem Eltemhause,
mit der Absicht sich in eine Postkutsche zu setzen und aus eigener An-
schauung wie Parsifal »die Ferne« kennen zu lernen, von der sie so viel gehört
hatte; der Plan wurde natürlich vereitelt, aber die Freude einer Reise nach
Süddeutschland wurde ihr bald zuteil, und von da an bis in ihre letzten
Lebensjahre blieb sie fast immer auf der Wanderschaft. Diese Wanderschaft
wurde bereits eine unfreiwillige, als Malvida kaum fünfzehn Jahre alt war
und die ersten erschütternden Augenblicke durchlebte. Kurfürst Wilhelm IL,
der seinem 182 1 verstorbenen Vater in der Regierung gefolgt war, dachte
daß das patriarchalische Dasein Serenissimi und seiner Mai tressen Wirtschaft
immer so weiter gehen würde, als das Jahr 1830 herankam und der Pariser
Juli sein obligates Echo in unterschiedlichen deutschen Gauen fand; auch
die braven Hessen wollten auf die französische »Anregung« hin ihr Stückchen
Revolution haben, und wuterfüllte Massen wälzten sich, Stöcke schwingend
und Steine schleudernd, durch die friedlichen Straßen Kassels, ja sie zertrüm-
merten heroisch einige Fensterscheiben im Hause des verhaßten Hofmannes
— freilich beim Anblick zweier Offiziere und einiger Reitersäbel im Hinter-
grunde zogen sie es vor, zu ihren Kochtöpfen zurückzukehren und ihre Er-
lösung von den Fesseln der Tyrannis gemütlich abzuwarten. Wirklich ward
ihnen eine Lokalkonstitution verliehen und Meysenbug arbeitete sie aus,
ohne daß er dadurch bei dem undankbaren Volke beliebter geworden wäre;
und da auch sein Jugendgespiele, der Fürst, sich gar zu schwer in die neuen
Verhältnisse finden konnte, die ihm zumuteten, seine absolute Herrschermacht
mit einer konstitutionellen Regierungsart zu vertauschen, so entschlossen
sich die beiden Kameraden tapfer Reißaus zu nehmen, und in der trüben
Stille eines frühen Wintermorgens 1832 erfolgte die fluchtartige Abreise. Nun
begann eine Periode wahren Zigeunerlebens, da es den Exmonarchen nie
lange an einem Orte litt; schließlich war eine Trennung der Eltern Malvidas
unvei;meidlich, der Vater zog mit seinem Fürsten in der Welt herum, bis
dieser sich Frankfurt als dauernden Wohnsitz erwählte, die Familie ließ sich
bei der ältesten verheirateten Tochter in Detmold nieder, von wo Malvida
von Meysenbug. jq-j
im Winter 1844/45 einen Ausflug in die Provence mitmachen durfte, zog jedoch
1847 ebenfalls nach Frankfurt, wo der Vater am 28. Dezember 1847 fast
genau einen Monat nach seinem alten Freunde starb. — Dort erlebte Malvida
die Eröffnung des ersten deutschen Parlaments; es ist nur begreiflich, daß
der Eindruck ein erhebender war und dafi sie an das Ereignis jene Illusionen
knüpfte, von deren nur allzu natürlicher Zerstörung sich selbst geschulte
Denker noch nach Jahrzehnten nicht erholen konnten.
Inzwischen waren ihr die Jahre vorübergezogen, in denen der Mensch
am bildsamsten ist, und ihren Lemtrieb hatte sie fast nur durch Bücher be-
friedigen können. Schon in der Kindheit hatte für ihr brennendes Verlangen
nach Kenntnissen und nach geistiger Vervollkommnung weder die Mutter
noch eine Gouvernante ausgereicht; es folgte die wichtigste Periode der Ent-
wicklung, in der jeder Mensch und namentlich jede Frau eines Führers
bedarf, der die schlummernden Kräfte erkennt, weckt und in die richtige
Bahn lenkt, selbst auf die Gefahr hin, persönlich nach vollbrachtem Werke
zum alten Eisen geworfen zu werden: und Malvida blieb das Glück versagt,
unter den Einfluß eines begeisternden Lehrers zu geraten, ebenso wie ihr das
höchste Liebesglück versagt blieb. Der Mann, der die volle Leidenschaft
ihres jungfräulichen Herzens für sich zu entzünden wußte, ein Theologe
namens Theodor Althaus, spielte mit ihr wie er mit anderen spielte; sie
selbst hat uns dieses Erlebnis, und auch wie sie ihn in seiner letzten Krank-
heit pflegte, genau beschrieben, und man hat Unrecht getan in die Einzel-
heiten ihres Berichtes Zweifel zu setzen. Diejenigen aber, die auf ihr Geistes-
leben persönlich nachhaltigen Einfluß gewannen, lernte sie erst in einem
Alter kennen, wo sich zu ihrer Liebenswürdigkeit bereits die Ehrwürdigkeit
gesellte. In ihrer Jugend hatte sie zwar der Konfirmandenunterricht, der ihr
infolge des Wanderlebens später als den meisten zuteil wurde, zum Nach-
denken angeregt, aber im Kampfe mit der Lebenslust unterlag bei ihr das
Mysterium, und gerade die Feier der Konfirmation, von der Kirche so klug
angesetzt, wurde bei ihr der äußere Anlaß zum Unglauben, zur kirchlichen
und infolgedessen auch politischen Opposition. Nun las sie Schriften Bettinas
von Arnim und Raheis; sie begann sich Goethe und Byron zu nähern, sie
empfand Natur und Musik; sie versuchte sich als Malerin mit Kopien italieni-
scher Landschaftsbilder; sie war oft physisch leidend und hielt sich nicht für
schön, sie erging sich in ausführlichen Niederschriften über religiöse Gegen-
stände; sie heimste verschiedene Heiratsanträge ein, über die sie später ihren
Leserinnen mit begreiflicher Gewissenhaftigkeit berichtet hat, und erkannte
bald, daß mit Bällen und Diners kein Menschenleben, das diesen Namen
verdient, auszufüllen ist; alles trieb sie zu selbständigem, wenn auch nicht
tiefem Denken. Noch intensiver wurde dieses von dem Augenblick an, wo
ein chronisches Augenleiden sie zwang der Malerei definitiv zu entsagen ; und
da sie in der Muße der kleinen Städte zeitig den unvergleichlichen Wert
der Arbeit schätzen gelernt hatte, so bildete sich bei ihr etwa um das dreißigste
Lebensjahr der feste Vorsatz aus, ihre Gedanken in Tätigkeit umzusetzen und
ihre Arbeit der Arbeitsamkeit anderer zu widmen. Schon in Detmold ver-
suchte sie einen Arbeitsverein zu gründen; für ihr ganzes Leben aber empfing
sie natürlicherweise den stärksten Impuls dadurch, daß der Mann, den sie
liebte, überzeugter Demokrat war und sie daher in eine ganz bestimmte
^QA von Meysenbug.
Richtung trieb, die ihr sonst durchaus ferne gelegen hatte. Das Demokraten-
tum, das sie nachher so lebhaft verfochten hat, lag ihr keinesfalls im Blut,
es entstand auch trotz allen mütterlichen Oppositionsgeistes keinesfalls aus
einem Kontrastbedürfnis oder aus Überdruß an traditionellen Gepflogenheiten ;
im Gegenteil, die Jugendeindrücke und das Bewußtsein des Kleinadels hatten
ihrem Charakter für alle Zeit das eigentliche Gepräge erteilt, und wer ihre
Schriften mit Aufmerksamkeit liest, namentlich aber wer ihre Persönlichkeit
gut gekannt hat, der muß die Beobachtung machen, daß trotz ihrer einfachen
Unterschrift M. M. eine empfindliche Exklusivität ihr eigen war, ein Standes-
bewußtsein, das bis zum Kastengeist, ja zuweilen bis zum Snobismus ausartete.
Aber die Leidenschaft, die einzige wirkliche Leidenschaft, die sich dieser
kühlen und gerade wegen ihre Kühle sonst so sicheren Natur in ihrem ganzen
langen Leben bemächtigt hat, war auch hier stärker als alle anderen Triebe
und wirkte um so nachhaltiger auf die Gedankenwelt des Opfers ein als
dieses sich bereits in einem vorgeschrittenen und für solche Einflüsse besonders
zugänglichen Alter befand; bedenkt man daneben noch die allgemeinen Emp-
findungen der Enttäuschung und Unbefriedigtheit, die, wenn auch niemals
öffentlich eingestanden, bei einem dreißigjährigen Mädchen unvermeidlich
sind; bedenkt man vollends, wie viel die Langeweile der kleinen Residenzen
und wie viel der in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sehr starke
»Zug der Zeit« hinzutaten, so begreift man wohl wie Malvida zur Demokratin
werden mußte, aber man begreift auch wie es in Wahrheit um das Wesen
dieses halb unreifen, halb überreifen Demokratismus bestellt war. Man. muß
diesen Standpunkt festhalten, um gegen ihre Schriften, namentlich gegen
gewisse Partien ihrer Memoiren nicht ungerecht zu werden. Es waren nicht
historische, rechtsphilosophische oder gar nationalökonomische Studien, über-
haupt nicht sachliche Motive, sondern rein persönliche Beweggründe, die für
ihre Anschauung aller Dinge maßgebend wurden.
Die Katastrophe trat auch für Malvida im Jahre 1848 ein. Bereits vor-
her hatte die Passion für den demokratischen Prediger zu einer Entfremdung
zwischen Eltern und Tochter geführt; sie sollte diese Existenz völlig entwurzeln,
sie nicht nur von ihrer Familie, sondern von ihrer gesamten Vergangenheit,
von Heimat, Vaterland und Glauben trennen. Zwar nahm das persönliche
Verhältnis zu dem Apostel, aus dem sich übrigens bald ein munterer Zeitungs-
redakteur entwickelte, schnell das übliche Ende; aber die demokratischen
Grundsätze hatten nun einmal in dem verbitterten Herzen des unverstandenen
Mädchens Platz gegriffen und wurden nun, genährt durch Frankfurter Parla-
mentsreden und durch eine Reise nach Berlin, an dessen damals radikaler
Kammer sich die Revolutionäre kurze Zeit berauschen konnten, mit jener
Zähigkeit durchgeführt, die den Fanatikern aller politischen Parteien eigen
ist und so häufig zu festen Positionen verholfen hat. Schon wiederholt hatte
sich Malvida mit kleinen Aufsätzen versucht, von denen einzelne in Zeitungen
abgedruckt wurden; jetzt schrieb sie Agitationsartikel und fand es bewunderns-
wert, wenn man den bewaffneten Aufstand, also die äußerste Gewalttätigkeit
predigte, dagegen erklärte sie es für die schlimmste Ungerechtigkeit, wenn
man so einem Hetzkaplan, der von dem sicheren Versteck seines Redaktions-
tisches aus die verblendeten Massen ins Feuer trieb, einmal den Prozeß machte
und ihn für einige Jahre kalt stellte. Solche Ansichten hielt sie ganz ehrlich
von Meysenbug. jOS
für ihre »Idee«, und da sie in deren Durchführung ihre Lebensaufgabe sah,
so nannte sie sich später eine »Idealistin« und behielt diesen Titel bis an
ihr Ende bei, nicht ohne ihn der Öffentlichkeit gegenüber mit einer gewissen
Intensität immer wieder zu betonen. —
Zunächst wurde der Zusammenhang mit der Familie noch eine Weile
notdürftig und zur beiderseitigen Qual festgehalten. Aber eine Reise nach
Osten de, die Malvida 1849 ^^^ Gesundheitsrücksichten unternahm, zeigte
ihr so recht klar, wo sie allein aufatmen konnte und wie sehr sie der Erlösung
bedurfte; sie hat diese Reise später in einem eigenen Manuskripte beschrieben,
das nach ihrem Tode von ihren Hinterbliebenen zusammen mit einem poeti-
schen Versuch »Himmlische und irdische Liebe« herausgegeben worden
ist. Bald nach diesem ersten Blick in die Freiheit erwachte der Plan nach
Amerika zu gehen; doch kam sie einstweilen nicht über Hamburg hinaus,
wo sie von 1850 — 52 in vollen Zügen die Wonnen der Freiheit genoß. Sie
schrieb dort eine Reihe charakteristischer Briefe an ihre Mutter, die
Gabriel Monod in der »Deutschen Revue« 1905/6 veröffentlicht hat. Sie zeigen,
wie beharrlich sie ihre Prinzipien festhält, aber auch wie heiter sie das Leben
zu nehmen weiß; sie schwelgt in Musik und Theater, Ausflügen und Gesellig-
keit, freireligiöser Gemeinde und bunter Lektüre ; sie wird von Emilie Wüsten-
feld an die neu gegründete höhere Mädchenschule berufen und tritt in nahe
Verbindung mit Karl Fröbel, der mit seiner Gattin die »höhere Bildungs-
anstalt für das weibliche Geschlecht« leitet. Dessen Bruder Julius, den Mine-
ralogen, hatte sie bereits in Frankfurt kennen und bewundern gelernt; jetzt
wird der Anschluß ein so enger, daß sie durch ihn schnell über alles aus-
gestandene Leid hinwegkommt und einmal schreibt, er sei »der einzige
Mann, den ich nach Theodor Althaus noch lieben könnte«; ein andermal
l^ißt es gar »ich glaube voraussetzen zu können, daß ich durch eine Ver-
bindung mit Fröbel das höchste Herzensglück erlangen würde«. — Dazu kam
es nicht; Fröbel ging nach Amerika, wo er beim Panamakanal beschäftigt
zu werden hoffte, und seine Karriere — vom Demokraten und Flüchtling
bis zum Konsul des Deutschen Reiches in Smyma und Algier — erinnert stark
an den russischen Erfahrungssatz »bis zum dreißigsten Jahr ist er Revolutionär,
dann wird er ein braver Staatsbeamter«. Malvida freilich prophezeite »sicher
wird sein Name noch neben Humboldt genannt werden« ; aber mit dem
Orakeln, das sie übrigens bis an ihr Ende liebte, hatte sie nun einmal kein
Glück; schrieb sie doch damals mit der vollen Sicherheit überlegenen Wissens :
»Schleswig-Holstein wird durch Verrat und Erbärmlichkeit enden.« Dagegen
hatte sie schon damals als Frauenrechtlerin Erfolg; und nachdem sie gelegent-
lich einer norddeutschen Lehrerversammlung im Namen der Frauen fröhlich
protestiert hatte, war es ihr wahrlich nicht zu verdenken, daß sie diesen
Tendenzen weiter nachhing, bis sie schließlich den Staat sogar zur Züchtung
von Ammen und Kindermädchen veranlassen wollte, freilich ohne an maß-
gebender Stelle diejenige Gegenliebe zu finden, ohne welche jedes »es muß«
und »es müßte« ein frommer Wunsch bleibt. Nie aber ist sie aus den
Schranken der Weiblichkeit herausgetreten; so beharrlich sie auf ihren Grund-
sätzen bestand — sie nannte das gerne »Kämpfen« — , so ferne lag ihr jeder
vulgäre oder massive Ton; auf diesem Takt beruhte zu jederzeit ihre große
persönliche Beliebtheit, wie sie denn bei allem Demokratentum stets mit einer
396 von Meysenbug.
gewissen sehnsüchtigen Bewunderung nach den »Salons« des Ancien regime
zurückblickte und schon zu Hamburg im stillen hoffte einen solchen selber zu
begründen. — Damals bot man ihr an Stiftsdame zu werden, was ihr recht
komisch vorkam; sie wollte den Vorschlag annehmen, wenn sie nicht selbst
zu kommen brauchte, die Einnahmen aber für ihre Zwecke* oder, wie sie es
nannte, »im Dienste der Menschheit« verwenden dürfte. Sie handelte also
in gutem Glauben, wenn sie wohl die Vorteile, aber nicht die Pflichten der
angebotenen Stellung zu übernehmen gedachte ; hier wie anderwärts zeigt sich
der vorgebliche Idealismus einfach als Naivität. Der Vorgang ist in den
Briefen anders geschildert als in den Memoiren; solche Widersprüche sind
aber selbst bei den ehrlichsten Autobiographen unvermeidlich. Sogar bei
Bismarck und Richard Wagner kann man die Wahrheit des Satzes bestätigt
finden, daß Memoiren nur in sehr bedingtem Maße als Geschichtsquellen an-
zusehen sind.
Die Hamburger Genossenschaften lösten sich bald auf, mehr durch innere
Zwistigkeiten, wie der Deutsche sie nun einmal nirgends entbehren kann, als
infolge äußeren Druckes; Malvida ging zunächst zu Freunden nach Berlin,
und dann, als sie dort von der Polizei belästigt wurde, in das damals allge-
meine Asyl verfolgter Politiker, nach England. Noch kurz zuvor hatte sie
ihrer Mutter geschrieben »nach England zieht mich auch nicht der leiseste
Wunsch.« Jetzt hatte der gute Ruf der gegen Politiker ganz gleichgültigen
englischen Polizei, namentlich aber eine rege Korrespondenz mit zahlreichen
in London agitierenden Emigranten Malvidens Ansicht geändert; 1852 siedelte
sie dorthin über, fand bei Johanna Kinkel, die das Leben der Flüchtlinge
in ihrem Roman »Hans Ibeles in London« so anschaulich geschildert hat,
liebevolle Aufnahme, und lernte 1853 endlich den Mann kennen, der auf ihr
ferneres Leben den weitesten und tiefsten Einfluß gewinnen sollte. Alexander
Herzen war der Sohn eines russischen Fürsten und eines deutschen Bürger-
mädchens ; in seiner Heimat hatte er sich durch eben die politischen Umtriebe
unmöglich gemacht, die ihm noch jetzt die Sympathien russischer Studenten
und sonstiger Umstürzler zuführen. Geistig stand er weit über dem Niveau
der Durchschnittsdemokraten ; er besaß tief eingewurzelte, freilich verworrene
und vielfach unreife Überzeugungen, dazu Geist und Feuer, vor allem aber
war er Russe, also nicht nur liebenswürdig und originell, sondern auch mit
der Kenntnis eines Landes und Volkes ausgestattet, von dessen Art zu jener
Zeit nur vereinzelte Europäer Kenntnis hatten und von dessen großartiger
Kunstproduktion nur verschwindend wenige Exemplare nach dem Westen
gedrungen waren. Herzen hatte nun schon in seinem Buche »Vom anderen
Ufer« versucht, dem Ausland etwas von der politischen Lage seiner Heimat
zu erzählen; Malvida hatte dieses Buch bereits in Hamburg 1850 gleich
nach seinem Erscheinen kennen gelernt, und da es demokratisch, wenn
auch ohne Radikalismus, philosophierte — es sprach von der »blassen
Konstitution in Deutschland« und polemisierte gegen Nationalversammlungen
ä la Frankfurt ebenso lebhaft wie gegen absolute Monarchen und Päpste — ,
so faßte sie eine lebhafte Zuneigung zu ihm und seinem Verfasser, zumal
sie für seine stilistischen Ungeheuerlichkeiten ebenso wenig Empfindung besaß,
wie für seinen Mangel an politischem Positivismus. Beides gipfelt ungefähr
in dem Satze: »die abortierte Demokratie wird im Tode erstarren, indem sie
von Meysenbug. 307
in die verwelkte Brust der sterbenden Monarchie hineinbeißt.« Die jetzige
Generation und vermutlich jede folgende ist etwas empfindlicher; seine
Schriften sind vergessen und zwar nicht nur die wirklich veralteten, wie die
über »Rußlands soziale Zustände« und die »Briefe aus Frankreich und Italien«,
sondern auch die Memoiren eines Russen, in denen er mehr plaudert als
spekuliert und deren Inhalt eben kein anderer erzählen konnte als er. Die
deutsche Übersetzung dieser Memoiren (4 Bände, Hamburg 1855—59) rührt
von Malvida her, was in dem Buche selber nirgends gesagt, aber authen-
tisch ist.
Die persönlichen Beziehungen zwischen den beiden Flüchtlingen gestalte-
ten sich nun in London bald so innig, daß sie ihre Gedanken oft auch dann
abends brieflich austauschten, wenn sie im gleichen Hause wohnten und sich
den ganzen Tag mündlich ausgesprochen hatten; das Wichtigste war jedoch,
daß der Russe, der seine Gattin in tragischer Weise verloren hatte, seine
beiden kleinen Töchter dem nunmehr fast vierzigjährigen deutschen Fräulein
zur Erziehung überwies. Dieser Aufgabe widmete sie fortan ihre volle Kraft,
und was sie hier vollbrachte, ist unstreitig die bedeutendste Leistung ihres
Lebens, erheblich wertvoller als alle ihre Bücher; zwar brachte sie einen
tieferen Affekt nur dem einen der beiden Kinder, Olga, entgegen, aber die
Hingabe an diese war auch eine so innige und vollkommene, daß sie nur
durch die mütterlichen Instinkte des Weibes zu erklären ist, und daß hier
wirklich ein Verhältnis entstand, wie es sonst nur zwischen Mutter und
Tochter existiert, ja daß unreife Schwärmer daraufhin später von Malvida in
einem Tone gesprochen haben, wie man sonst auf der Kanzel von Christus
spricht; anderseits könnt es auch nicht ausbleiben, daß unwürdiger Klatsch
sich dieses schönen Familienlebens bemächtigte und das Außerordentliche —
dabei so durchaus Natürliche — in trivialer Weise zu erklären suchte. Mal-
vida ist weder dem Vater ihrer Pfleglinge noch irgend einem anderen Manne
jemals näher getreten als sie selbst es berichtet hat; die Erklärungen des
über jeden Verdacht erhabenen römischen Chirurgen, der sie während ihrer
letzten Krankheit behandelte, haben jeden Zweifel hieran aus der Welt ge-
schafft oder sollten es doch tun.
Bis zum Jahre 1859 dauerte das Emigrantenidyll in England; natürlich
blieb Malvida nicht immer in London, sondern auch dort verging kein Jahr
ohne größere oder kleinere Reisen. Ihre Begegnungen mit mehr oder weniger
berühmten Volksbeglückern hat sie ausführlich genug geschildert: von Gari-
baldi bis herab zu dem Meuchelmörder Orsini, dessen Bombenattentat sie
ebenso eifrig glorifizierte, wie sie gegen die gesetzliche Todesstrafe zu Felde
zog, und bis zu dem Anarchisten Mazzini, diesem in seiner maßlosen Wut
gegen Cavour schlimmsten Störer der echten italienischen Einheits- und
Freiheitsbewegung, dessen Charakter sie in einem Aufsatze der »Neuen Freien
Presse« von 1894 und später in ihren »Individualitäten« aus persönlicher
Freundschaft so ganz anders dargestellt hat als es die exakte Geschichts-
schreibung tut. Sehr viel beachtenswerter ist ihr Verhältnis zu Richard
Wagner, zumal sie diesem nicht wie die Meisten durch seine Musik, auch
nicht zunächst durch seine Dichtungen, sondern durch seine spekulativen
Schriften gewonnen wurde, die anderwärts seiner Kunst so wenig genützt
und seiner Person so viel geschadet haben. In Kassel und Detmold, ja
ßpS von Bdeysenbufif.
selbst in Hamburg hatte sie begreiflicherweise keine Gelegenheit gehabt, den
Fliegenden Holländer oder den Tannhäuser zu hören ; nun gerieten ihr einige
Abhandlungen des verbannten Dresdener Hofkapellmeisters in die Hände,
die Vereinigung von politischem Kommunismus mit künstlerischem Ernst und
Freiheitsdrang imponierte ihr, sie schrieb an den Mann, erhielt eine artige
Antwort, und als er 1855 ^^ ^^" denkwürdigen Konzerten nach London
kam, da erfolgte die persönliche Bekanntschaft, die später zu einer herzlichen
Freundschaft führen sollte. Diese Freundschaft hat sich in manchem kriti-
schen Momente befestigt. Schon 1859 ging Malvida für den Winter nach
Paris; am Anfange des Jahres 1860 hörte sie daselbst die vielbesprochenen
drei Orchesterkonzerte, die Wagner in der italienischen Oper gab und die
ihm zum ersten Male den vollendeten Orchesterklang des Tristanvorspieles,
aber hinterher gar schwere moralische Enttäuschungen und jenen materiellen
Schaden brachten, der nur durch das großmütige Einschreiten einer kunst-
sinnigen russischen Fürstin geheilt werden konnte; dann verließ sie noch im
selben Jahre England für immer, ging zunächst wiederum nach Paris und
wohnte dort der berüchtigten ersten Aufführung des Tannhäuser bei, über
die Wagner seinen überaus charakteristischen und lebendig geschriebenen
aber, wie die inzwischen veröffentlichten Dokumente ergeben haben, keines-
wegs zuverlässigen Aufsatz (Gesammelte Schriften* VII, 138) in die Welt
gesandt hat. Tatsache ist, daß sich an jenem Abende nicht nur die von Wagner
angeschuldigten Cliquen, sondern das Publikum aller Schichten pöbelhaft
benahm und daß Malvida den Mut hatte gegen die Roheiten der sogenannten
Aristokratie, in deren Mitte sie mit Wagners damals noch nicht von seinen
Anhängern vervehmten Gattin saß, persönlich energisch zu protestieren. Es
ist ihr nicht zu verdenken, wenn sie in einer solchen Zeit, unter dem gewal-
tigen Eindrucke von Wagners Persönlichkeit, ohne weiteres seine Theorie
vom Drama und vom Sprachgesang einsog, oder daß sie sich mit gläubigem
Eifer der Schopenhauerschen Philosophie widmete; wie alle Wagnerianer
verfocht sie diese Systeme mit mehr Bestimmtheit als Logik, und man wird
es begreifen, daß sie ihnen wie der vormärzlichen Demokratie und dem
Friedensapostolate bis zum letzten Atemzuge treu blieb, auch wenn eine
jüngere Generation die Verkehrtheit jener Theorien erkannt hat und für ihre
Sprache kein Ohr mehr besitzt. — Als dann bald nach der unwürdigen
Pariser Tannhäuserepisode Wagners Stern großartig aufging, als die Heim-
kehr nach Deutschland, die Münchener Glanzperiode, die wachsende Popu-
larität folgten, als er im Wirbel dieser Eindrücke seine alten Genossen, auch
seine treue Lebensgefährtin verstieß und seinem opferfreudigsten Pionier mit
schreiendem Undank lohnte, da war Malvida verständig genug, nicht in das
Hom der »öffentlichen Meinung« zu stoßen, die mit billigem Hohn den
großen Künstler seine menschlichen Schwächen büßen ließ; doch auch vor
der boshaften Geringschätzung Hans von Bülows, die in Wagners Umgebung
nach der Katastrophe gepredigt wurde, hat ihr mildes Naturell sie immer
bewahrt. »Hans von Bülow war ein bedeutender, geistvoller Mann; sonst
hätte ihn auch die Cosima nicht geheiratet«, äußerte sie noch lange nachher.
Ihre Verehrung für Frau Cosima war und blieb unbegrenzt, während doch
gewöhnlich die Damen, die einen großen Mann umschwärmen, derjenigen,
die er schließlich allen anderen vorzieht, nicht gerade wohlgesinnt zu sein
von Meysenbvg. ^gg
pflegen. Aber Malvida besaß eben ein ehrliches Streben nach Gerechtigkeit;
so hat sie denn über die neuerdings so gefeierte Marie Wesendonck, die
wirklich nur ein hübsches Püppchen und nicht einmal musikalisch war, ganz
anders geurteilt als die übrigen Wagnerianer, denen »der Meister« selbst in
seinen Liebesepisoden ein unfehlbarer Erlöser ist. Es darf jedoch nicht ver-
schwiegen werden, daß seine Gesinnungen gegen die vortreffliche Freundin
nicht ganz der Art waren wie sie selbst wohl glaubte; er mochte sie zwar
gut leiden, er trieb auch unter Umständen manch übermütigen Scherz mit
ihr, aber er war keineswegs von ihrer tiefen Seelenverwandtschaft mit ihm
durchdrungen, und zu dem engsten, erhabensten Kreise seiner Olympier hat
er sie trotz ihres rührenden Eifers nicht gerechnet. Bekanntlich hat er in
den letzten Jahrzehnten seines Lebens eine umfängliche Selbstbiographie an-
gefertigt und in wenigen Exemplaren mit einer ihre strenge Exklusivität
betonenden Gebrauchsanweisung drucken lassen ; Malvida rechnete mit Bestimmt*
heit auf eines dieser Exemplare, hat es jedoch, soviel man konstatieren kann,
niemals erhalten: — Mit welchem Eifer sie dann ihre Liebe zum Ehepaar
Wagner auf dessen Sohn übertrug, davon wird gleich die Rede sein.
In Frankreich duldete es sie nicht lange; so gut ihr auch die Pariser
Salons behagen mochten, ihr Haß gegen den »Tyrannen« Napoleon war zu groß
und bitter. Sie konnte ja nicht ahnen, daß ihr dereinst das republikanische
Frankreich durch den Dreyfußprozeß einen ebenso tiefen Schmerz bereiten würde,
wie das »freie« England durch den Burenkrieg. Mit Deutschland hatte sie
sich noch nicht ausgesöhnt, erst viel später ward auch sie von der unwider-
stehlichen Genialität seines größten Staatsmannes zur Bewunderung fort-
gerissen; so siedelte sie denn 1861/62 definitiv nach Italien über, dem schönen
Lande der »liberaloni« und des parlamentarischen Regimentes, der Anarchisten
und des triumphierenden >spirito democratko*^ der Revolutionen und Umzüge,
Feuerwerke und Böllerschüsse zu Ehren der Freiheit. Daß gerade in Italien
das arbeitsame und alkoholscheue Volk geflissentlich in Dumpfheit, Unwissen-
heit, Schmutz und Knechtschaft gehalten wird — und zwar nicht durch seine
Könige, die nach dem Grundsatz il re regna e non govema zu völliger politi-
scher Untätigkeit verurteilt sind; auch nicht durch seine Minister, die in
steter Furcht vor dem zerschmetternden Votum der Kammer ein jammervolles
Eintagsfliegendasein führen; vielmehr durch die Riesengrundbesitzer und
Kapitalisten, vor allem aber durch die 300 Allmächtigen, die nach allge-
meinem und direktem Stimmrecht, d. h. hier zumeist nach dem Prinzip der
Bestechung gewählten Abgeordneten, und ihre Gesetzgebung — , das konnte
sie nicht wissen, das hat ihr »Idealismus« zeitlebens nicht begriffen. Der
Idealismus glaubte dem entsetzlichen Elend der römischen Bevölkerung abzu-
helfen, indem er bei Spazierfahrten in eleganter Kutsche auf dem Pincio
reichlich Soldi unter die Bettler verteilte, deren mancher schon ein stattliches
Vermögen angesammelt hat, oder indem er bei zierlichen Teegesprächen
für sozialistische Parlamentarier schwärmte und gegen die gerichtliche Ver-
urteilung von Räubern und Mördern protestierte. Seinen Triumph aber, und
zwar einen durchaus nicht unverdienten, feierte er in Malvidas literarischem
Hauptwerke, den Memoiren einer Idealistin, deren erster Band 1869 zu-
nächst in französischer Sprache in Genf erschien; das deutsche Original
wurde dann mit den beiden anderen Bänden 1876 in Stuttgart gedruckt,
AQO ^^^ Meysenbug.
nachdem die vielgereiste Verfasserin, die inzwischen auf Wagners Veran-
lassung mehrmals auch nach Deutschland gekommen war, in Rom ihren end-
gültigen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Die Memoiren reichen bis zur Pariser
Tannhäuseraufführung; die folgenden Jahrzehnte hat sie im Lebensabend
einer Idealistin (Berlin 1898) geschildert, und für den Rest ihres Lebens
gibt der ausgezeichnete Historiker Gabriel Monod, der sich 1872 mit Mal-
vidas Pflegetochter Olga Herzen verheiratet hatte, im Vorworte zu den neuem
Auflagen der Memoiren einige ergänzende Mitteilungen. Wie man sieht,
wird der selbstgewählte Titel einer Idealistin mit konsequenter Hartnäckig-
keit zur Schau getragen. Ob mit Recht? — In den Memoiren läßt die Ver-
fasserin bei der Nachricht vom Tode des Zaren Nikolaus ihren Gefühlen
freien Lauf und bricht in einen Jubel aus, daß man sich unwillkürlich fragt,
ob es denn unter den Londoner Emigranten keinen Odysseus gab, der dieser
Eurykleia ihr Frohlocken an der Leiche verwiesen hätte. Natürlich fand sich
in jener Gesellschaft ein solcher Odysseus nicht; natürlich ist es auch, daß
Malvida über die wahre Tätigkeit des Zaren nicht gut informiert war, der
mit seinem energischen persönlichen Eingreifen über die Köpfe der Höflinge
hinweg so häufig nicht das Volk sondern dessen Blutegel, die betrügerischen
Bureaukraten packte ; vollkommen natürlich war es dann, daß die Exilierte sich
über den Tod des Verhaßten, der ihren besten Freund verfolgte, aus vollem
Herzen freute. Aber warum man solche Empfindungen gerade als Idealismus
anzusehen hat, dafür ist die Verfasserin den Beweis schuldig geblieben. Im
übrigen besitzt ihr Buch vortreffliche Eigenschaften. Es ist spontan ent-
standen, ohne Koketterie und Effekthascherei, ja ohne Prätentionen; es ist
von jenem Charme durchdrungen, der das alte Fräulein bis in ihre letzten
Lebensjahre hinein auszeichnete, und ihr so viele Seelen, große und kleine,
gewann. Es enthält — neben einigen leicht faßlichen Gedanken — allerlei
anschauliche Schilderungen aus einer längst verschollenen »guten alten« Zeit
und offene Bekenntnisse einer nach Selbständigkeit ringenden Natur; es er-
zählt in würdigem Tone von Frauenrechten und von Liebe; es ist durch-
tränkt von Hohn und Erbitterung gegen so veraltete Einrichtungen wie Staat,
Militär und Kirche; es plaudert harmlos von kleinen Städten Deutschlands
und großen des Auslandes, von Fürsten und Ministern, Salons und Palästen,
berühmten Männern und strebsamen Frauen, fremden Sitten und mannig-
fachen Reisen, kurz von allem was ein deutsches Mädchen gerne liest, und
überall in einer ansprechenden, freundlichen, oft durch einen Anflug schelmi-
scher Ironie gewürzten Manier. So bildet es in der an hübschen Memoiren
recht armen deutschen Literatur ein Pendant zu den gleichfalls vielgelesenen
»Jugenderinnerungen« Wilhelms von Kügelgen, der freilich mit der Selbst-
bezeichnung »eines alten Mannes« nicht nur den bescheideneren, sondern
auch den treffenderen Namen gefunden, übrigens vor Malvida den wesent-
lichen Vorzug der Kürze voraus hat; und wie seine Erinnerungen ihren
starken Erfolg hauptsächlich der Vereinigung von burschikosem Humor und
christlicher Frömmigkeit verdanken, so beruht der von Malvidens Buch wohl
zumeist auf der Kombination von weiblicher Grazie und individueller
Arbeitslust.
Wenn man ihrer schriftstellerischen Tätigkeit gerecht werden will, so soll
man von ihren Büchern nur die Memoiren lesen. Als sie etwa dreißig Jahre
von Meysenbug. j.01
nach deren erstem Bande den »Lebensabend« schrieb, da war sie nicht nur
erheblich matter und seßhaft geworden (obgleich sie noch immer viel reiste),
sondern auch durch literarische und gesellschaftliche Erfolge verwöhnt; sie
thronte in ihrem hübschen Salon, den sie sich in einem einfachen Hause auf
dem collis Oppius mit der Aussicht auf das Kolosseum und den Konstantins-
bogen eingerichtet hatte, empfing Alt und Jung, Hoch und Niedrig mit un-
verwüstlicher (keineswegs gleicher) Liebenswürdigkeit, aber geriet mehr und
mehr in die Gewohnheit zu »orakeln«. Ihren Briefen, ja selbst den kleinsten
Billets gab sie mit Vorliebe eine pointierte, gesucht literarische Form, als
erwartete sie im stillen, daß sie einstmals gedruckt werden würden. — Jungen
Leuten, selbst solchen die ihr persönlich ganz unbekannt waren, erteilte sie
mit Vorliebe, ob gebeten oder nicht, Empfehlungsbriefe, ohne zu ahnen, mit
welchem Lächeln solche zuweilen aufgenommen wurden. — Als eine Dame
aus Bukarest ihr über die traurige Lage der Israeliten in Rumänien schrieb,
antwortete sie ganz ernsthaft mit Ratschlägen zur Besserung. — Als eines
Tages Björnson sie besuchte, empfing sie ihn mit den Worten »Ihr Skandi-
naven habt jetzt die Welt erobert!« worauf der würdige alte Herr mit ruhigem
Stolze zur Antwort gab: »Ja wohl, wir und die Russen.« — Als sie von
Pausanias, einem Autor, den sie zuweilen zitiert aber nie gelesen hatte, durch
die Vermittelung eines befreundeten Philologen ein ganzes Buch, die Be-
schreibung Attikas, kennen lernte, äußerte sie zum Übersetzer »Am meisten
hat es mich erfreut, daß die Athener dem Mitleid einen Altar gesetzt
hatten«. — Dieser Ton durchzieht den ganzen »Lebensabend«, und wenn es
sich um politische Feinde handelt, dann wird nicht mehr bloß gejubelt, wie
einst beim Tode des Zaren Nikolaus, sondern es wird gelegentlich der Neapler
Bourbonen von 1799 das weitere dekretiert, daß »keine Flamme der Hölle
heiö genug wäre für solche Unmenschen. . . . Die Vernichtung wäre ein zu
großes Glück für solche Wesen. Die müssen braten in ewiger Qual!« —
Also spricht der Idealismus, spricht »eine die alt ist, aber treu bis an Ende.«
Freilich, Nietzsche hatte andere Erfahrungen mit ihr gemacht. Er lernte
sie 1872 in Bayreuth durch Wagner kennen, der damals zur Feier der Grund-
steinlegung seines Bühnenfestspielhauses eine imposante Aufführung der
neunten Symphonie veranstaltete. Schon vorher hatte Malvida, ebenfalls auf
Wagners Anregung, die »Geburt der Tragödie« gelesen, und nun war sie von
dem jungen Professor, der ihr so vieles von den Griechen erzählen und dabei
so wunderbar Klavier spielen konnte, nicht minder entzückt als von seinem
Buche. Aber wie so viele, hat auch sie sich nur so lange für ihn interessiert,
wie er als Wagnerschriftsteller gelten konnte. Daß er 1876, wo sie im ersten
Bayreuther Festspiele alle Wonnen des befriedigten Wagnerfanatismus durch-
kostete, unter dem Eindrucke der Proben tief verstimmt das Weite suchte,
erfüllte sie bereits mit geheimem Grauen ; sie bemitleidete den armen Menschen
und hielt ihn für krank, sah aber noch eine Weile ganz gnädig auf ihn herab,
und in dem Sorrentiner Winter 1876/77, der den letzten vergeblichen Annähe-
rungsversuch zwischen den beiden großen Männern bringen sollte, vertrug sie
sich mit ihm hauptsächlich deshalb, weil ein Schüler Jakob Burckhardts
dessen Kolleghefte über griechische Kulturgeschichte vorlas und Nietzsche
erläuternde Bemerkungen hinzufügte. Auch wußte sie es zu schätzen, daß
der Vereinsamte sich in traulichen Teestunden bei ihrem milden Geplauder
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd. 26
A02 von Meysenbug.
behaglich fühlte, und so hat sie einen Teil der schönen Briefe, die er ihr in
kindlicher Dankbarkeit sandte, mit einigen halb wohlwollenden, halb weg-
werfenden Phrasen veröffentlicht, zunächst in der »Neuen Freien Presse«.
Von der ungeheuren markverzehrenden Geistesarbeit, in der er eben bei ihr
zeitweilig Erholung suchte, hatte sie keine Ahnung; seine Werke waren ihr
gleichgültig, und als er sich im »Fall Wagner« gar erkühnte, an der Unfehl-
barkeit Wagnerischer Stilprinzipien zu zweifeln und über die massiven Theater-
puppen Bayreuths die ganze Lauge seines zersetzenden und dabei so unend-
lich produktiven, echt attischen Spottes auszugießen, da erklärte sie ihm
einfach, und zwar immer im Tone von oben herab, daß sie mit ihm nichts
mehr zu tun haben wolle. Er schrieb ihr darauf eine Karte, in der er sie
mit Kundry verglich und sich »der Gekreuzigte« unterzeichnete; danach
mußt er schon verrückt werden, es blieb nichts anderes übrig. Daß sie ihn
nie auch nur im geringsten verstanden hatte, beweist am besten ihr Aufsatz
über ihn in den Individualitäten (Berlin 1901); das sehr dickleibige Buch,
das sonst außer einigen persönlichen Erinnerungen nur Kompilate enthält,
zeigt aufs neue, daß sie sich bei Menschen vom Schlage Mazzinis besser
befand.
Ihr eigenes Philosophieren hielt sich nach wie vor ruhig in den Bahnen
Schopenhauers; am meisten davon findet man in ihren Stimmungsbildern
(Leipzig 1879; die zweite Auflage, vermehrt durch eine warm empfundene
Parsifalstudie, erschien 1884, die dritte mit einer Biographie Herzens 1900).
Auch hier wie in den Betrachtungen über Goethes Leben (Goethe-
Jahrbuch XXI) kann von originellen oder treffenden Gedanken nur wenig die
Rede sein, während die erzählenden Partien wieder ihre schon gerühmten
Vorzüge erkennen lassen. Störend wird mancher vielleicht den allzu häufigen
Gebrauch des Wortes »edel« finden; offenbar war es ihr eigenes Bestreben,
in allem für »edel« zu gelten, und man wird ihrer etwas altertümlich blassen
Schreibweise das Prädikat gerne gönnen, etwa wie man die Korrespondenzen
kleindeutscher Hofdamen oder die Lieder ohne Worte Mendelssohns edel zu
nennen gepflegt.
Auf jeden Fall stehen ihre betrachtenden und autobiographischen Schriften
weit über ihren dichterischen Versuchen: den Gesammelten Erzählungen
(Zürich 1885) und vollends dem dreibändigen Romane Phaedra (Leipzig
1885), von dem selbst ihre wärmsten Verehrerinnen nicht mehr zu sprechen
wagen. Hier sind in buntem Durcheinander, dabei in strenge kadenziertem
Schritte, die verschiedensten Objekte, vom Himmel Griechenlands und der
buddhistischen Weltanschauung bis zur sozialen Frage und Prostitution, nicht
ohne scharf tendentiöse Prinzipien nach Stilmustem des XVIII. Jahrhunderts
behandelt; es ist seltsam, daß ein so belesener Mensch wie Malvida sich so
über die eigenen Kräfte täuschen konnte. Immerhin besitzt diese »Phaedra«
das Verdienst, den genialsten und geplagtesten Herausgeber von Euripides'
Hippolytostragödie, der in seiner Gewissenhaftigkeit die drei Bände durch-
gelesen hatte, zu einem vielsagenden ironischen Lächeln veranlaßt zu haben.
Dieses Lächeln hat die streitbare Greisin auf manchem geistvollen Ant-
litz hervorgerufen, z. B. auf dem Theodor Mommsens und Bernhard v. Bülows;
ihr »Idealismus« und ihre Kurzsichtigkeit verhinderten sie es zu bemerken
und die echte Wirkung ihrer weltverbessernden Vorschläge zu erkennen.
von Meysenbug. aq^
Man bedenke nur: » . . . das Geld, was jetzt für elendes Stückwerk hingegeben
wird, sollte verwendet werden, wahre Künstler zu befähigen einmal im Jahr
Würdiges, Erhabenes, Vollendetes zu leisten und dies allen, auch den Geringsten
im Volke, zugänglich zu machen. Wenn die mit den Geschicken der Völker
Betrauten hieran denken wollten, anstatt an blutigen Streit und unfruchtbare
politische Kombinationen, so würden sie mächtig dazu beitragen, Schöpfer
einer wahren Kulturwelt zu werden, was denn doch der eigentliche Zweck
des Daseins sein muß« (Stimmungsbilder* 234). Solche und ähnliche Sätze
hat der jetzige deutsche Reichskanzler, in dessen Hause ihre Verfasserin viele
Jahre lang als intime Freundin verkehrte, massenweise gelesen; sie konnten
auf sein sarkastisches Gemüt nicht anders wirken als die »Phaedra« auf das
des großen Darstellers der griechischen Literaturgeschichte. Indessen war
Malvidens gesellschaftliche Stellung in Rom noch auf etwas anderem basiert
als ihrer schriftstellerischen Fruchtbarkeit und ihrem hohem Alter, ihrer
Liebenswürdigkeit und adligen Herkunft; das war ihr eminentes musikali-
sches Talent. In ihrer Jugend hatte sie viel gesungen, während der Ham-
burger Zeit sogar in a-capella-Quartetten ; nur äußere Umstände, darunter
auch ihr Augenleiden, hatten sie an eingehenden Instrumentalstudien ver-
hindert. Zu hören bekam sie in England — bis auf vereinzelte Ereignisse —
natürlich noch weniger als in Kassel und Detmold; desto ausgiebiger war ihre
kontinentale Periode, und in dem langen Verkehre mit Wagner und Liszt
(dessen Kompositionen ihr gleichgültig blieben), mit Hans von Bülow und
Nietzsche konnte sie ihre Kenntnisse ausdehnen und ihre Auffassung ver-
tiefen. Ein solches Verständnis seitens eines intelligenten Hörers tut jedem
ausübenden Musiker wohl, und so genoß sie während der letzten Jahrzehnte
ihres Lebens mitten in der römischen Musikwüstenei die herrlichsten Auf-
führungen in ihrem Hause. Stets hielt sie ein Piano bereit, auf dem sie
sich noch als Fünfundachtzigjährige das gesamte wohltemperierte Klavier aus-
bat; als an ihrem Geburtstage im Jahre 1900 ein Musiker, dessen Wohnung
sie nicht ohne Mühe erklomm, in magischem, ihre Augen schonendem Halb-
dunkel auf einem vorzüglichen Blüthnerfiügel ihr und ihrer Familie erst eine
Reihe Bachischer Originale, dann ihr erklärtes Lieblingswerk, das große Adagio
aus Beethovens Hammerklaviersonate Opus 106, und schließlich Anfang und
Ende des Parsifal vorgespielt hatte, da sprach sie mit einer Rührung, die
auf wahrhaft künstlerischer Empfänglichkeit beruhte, von der höheren Welt,
in die sie bald einzugehen hoffte und deren Wesen sie bei diesen Klängen
ahnte. Auch Historiker, wie der geistvolle Beethovenbiograph Romain
Rolland, und vorzügliche Geigenkünstler kamen zu ihr, besonders häufig
der große Cellist Valentin Müller, der ihr nur allzubald ins Grab folgen
sollte, und eine junge russische Violinmeisterin von einzigem Genie, deren
hinreißender Ton und Vortrag sie zu einer solchen Begeisterung entflammte,
daß sie jahrelang ihre Nähe nicht missen wollte, ihr überschwängliche Briefe
schrieb und ihr die Erziehung ihrer Lieblings-Wahlenkelin anvertrauen wollte,
ja sie vor Zeugen als heilige Cäcilia begrüßte. So durfte sie in ihrer stillen
Klause die erlesensten Duos und Trios genießen; und da die höchsten Werke
der Kammermusik, die klassischen Streichquartette und -Quintette, als solche
nicht aufgeführt werden konnten (die römischen Musikanten spielen in der
Regel nur für Geld und auch dann barbarisch), so half sich die heilige
26*
404 ^'^^ Meysenbug.
Cäcilia, indem sie selbst die erste Violinstimme genau nach dem Wunsche
der Schöpfer vortrug und alles übrige aus der Partitur auf das Klavier über-
tragen ließ. Hierbei bewährte nun Malvida ein Empfinden, das sich selbst
durch Wagnerische Vorschriften nicht eindämmen ließ. Wagner hat z. B.
von Schubert immer nur im Sinne der Trivialtradition, d. h. als vom Lieder-
komponisten gesprochen ; von seinen Instrumentalwundem, soweit er sie über-
haupt anhörte, hat er nichts begriffen. Malvida lernte nun an ihrem Klavier
das große C-dur-Quintett kennen, dieses höchste Produkt aller Kammermusik
überhaupt, das einzige, das geistig und klanglich selbst über Beethovens
späteste Quartette hinaus einen Fortschritt bedeutet (den letzten, den diese
Kunstgattung getan hat); sie verstand es sofort und ward ihm in seiner
ganzen Fülle gerecht. Ein andermal spielte man ihr in gleicher Weise
Beethovens Cis-moll-Quartett Opus 131 und las ihr nachher die Deutung vor,
die ihm Wagner in seiner Säkularschrift »Beethoven« gegeben hat; da be-
merkte sie ruhig und durchaus treffend: »Ja, das ist alles ganz schön, aber
es ließe sich doch noch ganz anderes darüber sagen.« Als sie das A-moU-
Quartett Opus 132, das den Dankhymnos eines Genesenden an die Gottheit
(in der lydischen Tonart) enthält, ebenso gehört hatte, bat sie sich selber
eine genaue sachliche und technische Analyse aus; sie rückte ihren Stuhl
ans Klavier, folgte trotz ihrer Kurzsichtigkeit dem Interpreten durch jeden
Takt der Partitur und fragte ihn schließlich nur staunend »haben Sie sich
das alles selber ausgedacht?« — Und noch in einem anderen Punkte wagte
sie es, sich von den Gesetzen Wahnfrieds zu emanzipieren. Als 1895 Sieg-
fried Wagner nach Rom kam um ein Konzert mit Werken seines Vaters und
Großvaters zu geben, da setzte sie zwar mit nervösem Eifer Himmel und
Erde in Bewegung, um dem jungen Anfänger zu günstiger Wirkung zu ver-
helfen, zumal man ihr brieflich weiß gemacht hatte, daß er ein guter Musiker
wäre und »die Massen zu inspirieren verstünde«; aber als er ihr später seine
Oper »Der Bärenhäuter« am Klavier anzudeuten versuchte (was infolge techni-
scher Unfähigkeit mißlang, jedoch immerhin die vorhandenen Themen er-
kennen ließ), da verzog sie keine Miene, und kein Wort der Anerkennung
kam über ihre Lippen, während die geschäftige Partei bereits den Sohn als
berufenen Nachfolger des Vaters proklamierte und seinen Ruhm in alle Welt
posaunte. Selbst die acht wirklich guten Takte, die das Vorspiel zum dritten
Akt enthält, gingen spurlos an ihr vorüber, obgleich sie echt wagnerisch
klingen und am Klavier besser wirken als im Orchester, wo eine schüler-
hafte Instrumentation ihren Charakter verwischt. — Ein eigentümlicher Zufall
wollte, daß die allerneueste und die allerälteste Musik fast genau gleichzeitig
bei ihr Eingang fanden: in denselben Sommertagen 1894, wo sie den ganzen
gewaltigen Golgatha-Zyklus von Paul Geisler am Klaviere verfolgte, erfuhr
sie durch einen Philologen von den Hymnen aus dem dritten vorchristlichen
Jahrhundert, die durch die französischen Ausgrabungen in Delphi zutage
gefördert waren. Sogleich veranlaßte sie die Gattin des deutschen Botschafters
zu einer Soiree, in der die wichtigsten Bruchstücke des eigentümlichen Fundes
durchgesungen wurden.- —
Malvidens äußere Erscheinung war klein und zierlich, ihre Konstitution
zart und empfindlich; dennoch hatte sie sich, zumal auf Reisen, oft viel zu-
gemutet. Allmählich merkte sie, daß sie aus dem Norden, den sie wegen
von Meysenbug. von Mauthner. AO^
ihrer Angehörigen fast jeden Sommer aufsuchte, regehnäßig ein physisches
Leiden mitbrachte; doch stellte sie ihre Fahrten auch dann noch nicht ein,
sondern suchte während der heißen Monate Erfrischung in Sorrent oder Ischia,
einmal auch an der toskanischen Küste neben der Arnomündung, ein ander-
mal in Castel Gandolfo am rebenreichen Abhänge des Albanerberges, und
noch im letzten Sommer ihres I^ebens in einer kleinen Villa am Volsker-
strande von Nettuno. Aber die schmerzhaften Anfälle wurden häufiger und
intensiver; dann suchte sie Heilung bei der Arimondaschen Elektrisiermaschine,
an deren Wunderkraft sie so felsenfest glaubte, daß sie nach jedem Gebrauche
ihres Stromes frischer erschien und überzeugt war neue Lebenskraft gewonnen
zu haben. Endlich, als auch dieses Mittel versagte, mußte sie einen Arzt zu
Rate ziehen; sie vertraute sich einem hervorragenden römischen Chirurgen
an, der sie seit Jahren aus intimem Verkehr gut kannte und dem sie auch
persönlich lebhaft zugetan war. Er konstatierte in mühsamer Untersuchung
einen Darmkrebs, der nur durch eine komplizierte und gefährliche Operation
zu entfernen war. Ohne weiteres wollte die beherzte Greisin sich ihr unter-
ziehen; der Arzt lehnte es jedoch ab, ein so kostbares und gebrechliches
Leben aufs Spiel zu setzen. So behandelte er sie vorsichtig mit Palliativ-
mitteln, bis sie an einem hellen Frühlingstag im Beisein ihrer Angehörigen
verlosch. Ihrem Wunsche gemäß wurde ihre Leiche im Krematorium an der
Via Tiburtina verbrannt; die Asche wurde unter den Zypressen des protestanti-
schen Friedhofes bei der Cestius-Pyramide beigesetzt. Unter einem einfachen
Tempelchen aus hellem Travertin steht die dunkelrote Marmorvase, unter ihr
die Inschrift Amore Face, über ihr ein Bronzemedaillon, das die Züge der
Verstorbenen in arger Entstellung wiedergibt. Auch das Lenbachsche Porträt,
dessen Reproduktion den »Lebensabend« schmückt, ist weder ähnlich noch
charakteristisch, vielmehr eine brutale Karikatur von manirierter Ausführung,
des großen Malers ebenso unwürdig wie des dargestellten Wesens; dagegen
enthalten die neuesten Auflagen der Memoiren eine ansprechende Photo-
graphie aus Malvidens besten Jahren.
Rom. Friedrich Spiro.
Mauthner, Gustav Ritter von,*) hervorragender österreichischer Finanz-
mann, Direktor der k. k. priv. österreichischen Kredit- Anstalt für Handel
und Gewerbe, Mitglied des österreichischen Herrenhauses, * am i6. April
1848 zu Horic in Böhmen, f im 55. Lebensjahr am 19. Mai 1902 zu Vöslau
bei Wien. — Die Familie, der M. entstammte, hat sich bedeutende Ver-
dienste um die Entwicklung der Textilindustrie in Österreich erworben. M.s
Großvater errichtete in der kleinen Stadt Hofic bei Königgrätz in Böhmen
eine Weberei. Dieser Ahnherr der zahlreichen Familie M., von der heute
einzelne Zweige in Österreich, in Ungarn und im Deutschen Reich ansässig
sind, war ein wahres Wunder seiner Zeit: er erreichte nämlich ein Alter von
105 Jahren, blieb bis zu seinem Lebensende körperlich und geistig rüstig
und war bis kurz vor seinem Tode noch unermüdlich in seinem Geschäfte
tätig. Von der außerordentlichen Lebenskraft und Arbeitsfreudigkeit dieses
Patriarchen ist ein gut Teil auf seine Nachkommen übergegangen, und der
0 Totenliste 1902 Bd. VII 77*.
AOÖ von Mauthner.
Ahn konnte noch viele seiner Kinder und Enkel in hervorragenden und
glänzenden Stellungen sehen. Einer seiner Söhne war der Vater des im
Jahre 1904 verstorbenen Präsidenten der niederösterreichischen Handels-
und Gewerbekammer, des Mitgliedes des österreichischen Herrenhauses und
kaiserlichen Rates Max Freiherrn von M.
Kinder eines Schwiegersohnes, Emanuel M.s, der nach dem Tode des
Schwiegervaters die von diesem gegründete Weberei in Horic übernahm und
dieselbe zu einer heute noch dort bestehenden, mit Dampfkraft betriebenen
Fabrik ausgestaltete, waren Gustav M. und dessen jetzt noch lebende Ge-
schwister: Ernst M., heute Besitzer einer bedeutenden Spinnerei und Weberei
zu Bubentsch bei Prag, der gegenwärtig in Berlin lebende Schriftsteller Fritz
M., dann Alfred M., heute Direktorstellvertreter der Ungarischen Allgemeinen
Kredit-Bank in Budapest und Frau Marie Kuh, Gattin des ehemaligen Präsi-
denten des Prager medizinischen Doktorenkollegiums, Dr. Rudolf Kuh.
Gustav M. erhielt eine sehr sorgfältige Erziehung ; sein Studiengang umfafite
gleich dem, den junge Leute, welche sich dem Handel oder der Industrie widmen
wollen, in Österreich auch heute noch gewöhnlich einzuschlagen pflegen, die rea-
listischen Fächer: er besuchte die deutsche Oberrealschule in der Nikolander-
gasse in Prag und nach Absolvierung derselben die Prager deutsche Handels-
akademie. Im Jahre 1864 trat er, noch nicht siebzehnjährig, bei der kurz
vorher in Prag errichteten Hauptagentur der Gesellschaft für Lebens- und
Rentenversicherungen »Der Anker« als Kontorist ein. Die ziemlich eintönige
Arbeit in dieser damals unter der Leitung des Sekretärs Schlesinger stehen-
den Agentur vermochte aber den jungen Mann mit seinem lebhaiten Geiste
nicht zu befriedigen. Als sein Bruder Ernst M. im Jahre 1866 nach Wien
übersiedelte, um sich dort eine Existenz zu gründen, gab Gustav seinen
Posten beim »Anker« auf und schloß sich dem Bruder an. Es gelang ihm
aber nicht sofort, in der Hauptstadt ein Arbeitsfeld zu finden, das seinen An-
lagen und Neigungen, die ihn zum Bankfache zogen, vollständig entsprochen
hätte; er nahm also zunächst eine Stellung in einem Fabrikskontor an, die
er durch drei Jahre bekleidete. Endlich ging sein langgehegter Wunsch,
einen Posten in einer Bank und damit ein größeres Gebiet für seine Tätig-
keit zu erlangen, in Erfüllung: am 3. August 1869 trat er als Beamter bei
der Wiener Zentrale der österreichischen Kredit-Anstalt für Handel und Ge-
werbe ein. Dieses große Bankinstitut, eine Gründung des Finanzministers
Freiherrn von Brück, bestand zwar damals noch nicht ganz 14 Jahre — die
Kredit-Anstalt wurde am 31. Oktober 1855 auf 90 Jahre konzessioniert —
spielte aber vermöge seiner für jene Zeit ganz gewaltigen Kapitalskraft und
seiner großen Rührigkeit neben der Notenbank der Monarchie, der privile-
gierten österreichischen Nationalbank, die erste Rolle unter den Wiener
Banken. Das Aktienkapital der Kredit-Anstalt, das ursprünglich bei der
Gründung der Anstalt mit 100 Millionen Gulden Ö. W. festgesetzt, aber nur
mit 60 Millionen Gulden ö. W. eingezahlt worden war, betrug im Herbste des
Jahres 1869 nach vorhergegangener zweimaliger Herabminderung 40 Millionen
Gulden ö. W., während gleichzeitig das eingezahlte Aktienkapital der nach der
Nationalbank und der Kredit-Anstalt kapitalskräftigsten unter den damaligen
Wiener Banken, der 1869 gegründeten Franko-Üsterreichischen Bank, sich nur
auf 8 Millionen Gulden ö. W. Silber belief. Die Kredit- Anstalt besaß bereits
von Mauthner.
407
Filialen zu Pest, Brunn, Lemberg, Prag und Triest und eine Agentur in
Troppau; ihre bis zum Jahre 1869 bestandene Repräsentanz in Alexandrien
hatte sie in diesem Jahr im Vereine mit der Anglo-Österreichischen Bank in
die Austro-Egyptische Bank umgestaltet.
M. war in das Bankfach zu einer Zeit eingetreten, wie sie so interessant,
so ereignisreich und so wildbewegt in der Geschichte des Bankwesens der
Österreichisch-Ungarischen Monarchie nie vorher dagewesen war und auch nicht
so bald wiederkommen dürfte. Es war die sogenannte »Periode des volkswirt-
schaftlichen Aufschwunges«, oder, wie sie nach der großen Börsenkrise vom
9. Mai 1873 genannt wurde, die »Ära des Gründungsschwindels«. Die seit
dem Jahre 1867 in geradezu stürmischer Weise eingetretene wirtschaftliche
Aufwärtsbewegung war nach einem kurzen Rückschlag im Hochsommer 1869
in eine wilde Spekulation übergegangen, die bald zum tollsten Schwindel
ausartete. Gleich Pilzen schössen die Banken, die Eisenbahn-, Industrie- und
Baugesellschaften aus der Erde. Der Bedarf an leitenden Kräften für alle
diese Institute war ein ganz ungeheuerer, und eine glänzende Zukunft schien jedem
zu winken, der es verstand, diese günstige Lage der Dinge für sich ent-
sprechend auszunützen. Scharenweise entliefen die jungen Beamten ihren
Bureaus, ja selbst die Handelsakademiker den Lehrsälen, um als Bureau- und
Abteilungsvorstände, wenn nicht gleich als Direktoren neugegründeter Insti-
tute wieder aufzutauchen oder sich selbständig als Börsenspekulanten zu
etablieren. Auch der junge M. konnte der Versuchung, der so viele erlagen,
nicht widerstehen. Er verließ nach kaum dreijähriger Tätigkeit in der Kredit-
Anstalt im Jahre 1872 seinen dortigen Posten und trat in die im Jänner 1871
von der Anglo-Österreichischen Bank in Verbindung mit drei anderen kleineren
Banken gegründete österreichische Allgemeine Bank ein, deren geschäfts-
führender erster Prokurist und späterer Direktor Karl M., sein Bruder,
war. Die österreichische Allgemeine Bank übernahm von der österreichischen
Zentralbank, einem der drei kleineren bei der Gründung der österreichischen
Allgemeinen Bank beteiligten und später mit dieser fusionierten Institute,
die dieser Bank gehörige große Wechselstube am Stock-im-Eisen-Platz in
Wien nebst dem Haus, in welchem sich diese Wechselstube befand. M.
wurde der Leiter dieser Wechselstube, die zu den bedeutendsten von Wien
gehörte und sich eines sehr großen Kundenkreises erfreute. Er war damals
kaum 25 Jahre alt, nach heutigen Begriffen also für den selbständigen Chef
einer so wichtigen Abteilung des Bankgeschäftes noch ganz außerordentlich
jung. Aber das war zu jener Zeit nichts Auffallendes; gab es doch damals
selbst Bankdirektoren, die nicht mehr Lebensjahre zählten; ja älteren Be-
suchern der Wiener Geldbörse ist noch wohl die Gestalt eines ungefähr
zwanzigjährigen Bürschchens erinnerlich, das im Jahre 1872 nach Aufgeben
seiner bescheidenen Stellung in einem Manufakturwarengeschäft am Franz
Josephs-Quai sich der Börse zugewendet hatte, um sich dort mit großem
Eifer auf die Spekulation in Maklerbankaktien zu werfen. Der junge Mensch
mit dem zierlichen Monocle im Auge erzielte, obwohl fast ohne jedes
Kapital zur Börse gekommen, glänzende Erfolge und besaß bald eine
prächtig eingerichtete Wohnung, Wagen und Pferde und selbstverständlich
auch eine elegante und kostspielige »Freundin«, bis die große Börsenkata-
strophe im Mai 1873 diesem »Roman eines Kindes« ein Ende machte, und
j,08 "^^^ Mauthner.
der knabenhafte Spekulant unter Hinterlassung von 3/4 Millionen Gulden
ö. W. unbeglichener Differenzen aus Kostgeschäften wieder in der Dunkel-
heit seiner früheren Lebensstellung verschwand. Die Krise machte auch der
österreichischen Allgemeinen Bank und damit der weiteren Laufbahn M.s in
derselben ein frühzeitiges Ende. Die am 7. September 1873 veröffentlichte,
per 30. Juni 1873 abgeschlossene Bilanz dieser unglücklichen Bank, die ein
eingezahltes Aktienkapital von 12 Millionen Gulden ö. W. gehabt hatte,
gestand bereits einen Verlust von 4.3 Millionen Gulden ö. W. des Aktien-
kapitals zu; die auf 200 Gulden ö. W. lautenden Aktien der Anstalt, die vor
Ausbruch der Krise den Kurs von 375 erreicht hatten, sanken infolgedessen
auf 90 und bald noch tiefer; die Bank trat am 13. Mai 1874 in Liquidation.
Jetzt bewarb sich M. wieder um seinen früheren Posten bei der Kredit- Anstalt.
Er mußte bei dieser aus seiner vorherigen dortigen Tätigkeit ein sehr gutes
Angedenken zurückgelassen haben, denn die Anstalt nahm — ein seltener
Fall — den reuig zurückkehrenden Flüchtling mit offenen Armen wieder
auf, und von nun an blieb M. der Kredit-Anstalt treu. Seine Lehr- und
Wanderjahre waren zu Ende, in raschem Fluge strebte er jetzt der Meister-
schaft zu.
Zunächst als Börsen Vertreter beschäftigt, war er im Jahre 1876 bereits
als Adlatus des Bankdirektors im Korrespondenzbureau der Zentrale der
Kredit- Anstalt tätig; im Jahr 1878 wurde er nach dem Ausscheiden des
Direktors Hermann Ritter von Wolff aus der Direktion als Direktorstellver-
treter in das Direktorenkollegium berufen; im Jahre 1880 wurde er Direktor.
Ein Jahr vorher hatte M. die einzige Tochter des Kredit-Anstalt-Di-
rektors Karl Weiß Ritters von Weißenhall als Gattin heimgeführt; er wurde
also jetzt der Kollege seines Schwiegervaters. Das Familienband, das M.
mit Weiß verknüpfte, sollte sich auch für die Kredit-Anstalt als sehr segens-
reich erweisen. M., der an seinem Schwiegervater bis zu dessen Ableben
mit großer Verehrung hing, wurde der treue Schüler des viel älteren Kol-
legen, der seinerseits redlich bemüht war, seine reichen geschäftlichen Kennt-
nisse und Erfahrungen seinem Schwiegersohne zugute kommen zu lassen.
Karl Weiß war früher ein angesehener Kaufmann gewesen, der vornehmlich
den Verkehr mit den italienischen Provinzen der Monarchie gepflegt hatte. Als
das Lombardo-Venetianische Königreich für Österreich verloren gegangen war,
hatte sich Weiß einen anderen Wirkungskreis gesucht und trotz mehrseitigen
Abratens die Stelle eines Direktors der Kredit-Anstalt angenommen. Die
Lage der Kredit-Anstalt war damals eine ziemlich ungünstige; der Kurs
ihrer Aktien war nahezu auf die Hälfte des eingezahlten Betrages gesunken.
Weiß, der sich als Kaufmann eines tadellosen Rufes und eines großen An-
sehens in der Geschäftswelt erfreute und Mitglied der niederösterreichischen
Handels- und Gewerbekammer und des Zensorenkollegiums der privilegierten
österreichischen Nationalbank sowie der Zensorenkollegien anderer Insti-
tute gewesen war, hatte sich als Direktor der Kredit-Anstalt bald durch
seinen ungeheueren Fleiß, seine Tatkraft und seine geschäftliche Gewandtheit
einen entscheidenden Einfluß auf die Geschäftsführung der Anstalt erworben.
Seiner Vorsicht war es zum großen Teile zu verdanken gewesen, daß die
Kredit-Anstalt ohne Einbuße an Kapital und Kredit aus den Erschütterungen
der fürchterlichen Krise von 1873 hervorgegangen war, während welcher die
von Mauthner.
409
ältesten Geschäftshäuser der Monarchie ins Wanken gekommen, und Institute
wie die k. k. privilegierte allgemeine österreichische Boden-Kredit-Anstalt,
Firmen wie Johann Liebieg & Comp, genötigt gewesen waren, um Staats-
hilfe anzusuchen. Die kluge Zurückhaltung des Direktors Weiß vor und
während der großen Krise hatte wesentlich dazu beigetragen, das Vertrauen
zu ihm in der Bankwelt zu festigen und zu erhöhen.
Das Beispiel dieses ausgezeichneten Mannes war nun bestimmend für die
weitere Entwicklung M.s, und die vornehme und vorsichtige Geschäftsführung
in der Kredit-Anstalt wurde auf diese Weise zur Tradition.
Als Direktor Weiß, der bis zu seiner im Jahre 1888 erfolgten Wahl in
den Verwaltungsrat den Vorsitz in der Direktion geführt hatte, sich im Jahre
1889 vollständig auf sein Altenteil, die Stelle eines Präsidenten des Ver-
waltungsrates der Kredit-Anstalt, zurückzog, trat M. als Vorsitzender an die
Spitze der Direktion; nach den Statuten der Kredit-Anstalt obliegt nämlich
die Oberleitung der Geschäfte dem von der Generalversammlung gewählten,
aus mindestens 15 und höchstens 20 Mitgliedern bestehenden Verwaltungs-
rate, das Vollzugs- und unmittelbare Verwaltungsorgan der Gesellschaft
ist aber die aus mindestens drei Direktoren bestehende Direktion; ihre
Mitglieder werden vom Verwaltungsrat ernannt, der auch stets einen Direktor
zum Vorsitzenden der Direktion bestellt. Den Posten eines Vorsitzenden
der Direktion bekleidete M. nunmehr durch dreizehn Jahre bis zu seinem
Tode. Seine hervorragende Bedeutung in der Kredit- Anstalt begann jedoch
nicht erst mit dem Zeitpunkte seiner Ernennung zum Vorsitzenden der Di-
rektion, sondern schon mit seiner Berufung in das Direktorenkollegium, und
von 1880 an war er bereits der eigentliche leitende Geist der Anstalt und
sein Einfluß auf die Geschäftsführung neben dem seines Schwiegervaters der
maßgebende.
üntef den außerordentlich zahlreichen Geschäften der Kredit-Anstalt
während M.s 22 jähriger Direktionsführung nehmen die Geschäfte mit der
österreichischen und der ungarischen Finanzverwaltung, obgleich nicht mehr
von der überwiegenden Bedeutung für die Anstalt wie früher, immer noch
einen sehr hervorragenden Platz ein; daß sie ungefähr seit 1880 eine wesent-
lich andere Gestalt angenommen haben wie vorher, war wohl zum weitaus
größten Teile durch die Verhältnisse bedingt, gleichwohl dürfen aber auch
M.s Verdienste um diese geänderte Gestaltung nicht unerwähnt bleiben. Die
Kredit-Anstalt war aus der Finanznot der Staatsverwaltung heraus geboren
worden; den Zweck, zu dem sie gegründet worden war, bildete eingestan-
denermaßen in erster Linie die Geldbeschaffung für den Staat, der in der
absolutistischen Zeit oft sehr große Not mit der Unterbringung seiner sich
rasch folgenden Anlehen hatte, so daß das österreichische Finanzministerium
damals stets einen eigenen Sektionschef besaß, dessen Aufgabe es war, im
Auslande Geld für die Finanzverwaltung aufzutreiben; der letzte dieser für
das österreichische Finanzministerium im Auslande reisenden Sektionschefs war
der nachherige Gouverneur der k. k. privilegierten allgemeinen österreichi-
schen Boden-Kredit-Anstalt und später der österreichisch-ungarischen Bank,
Alois Moser, gewesen. Die Anlehensunterhandlungen zwischen der Finanz-
verwaltung und der Kredit- Anstalt trugen zu jener Zeit trotz des großen
Einflusses, den sich der Staat statutenmäßig auf die Leitung der Anstalt
410 von Mauthner.
gewahrt hatte — die Wahl des Präsidenten und der beiden Vizepräsidenten
sowie die Bestellung aller Direktoren der Kredit-Anstalt bedürfen der Geneh-
migung seitens der Staatsverwaltung — häufig den Charakter von Duellen,
bei welchen jeder der beiden Kontrahenten einen möglichst großen Vorteil
über den anderen zu erringen suchte, und da die Finanzverwaltung der be-
dürftige, die Kredit-Anstalt der gewährende Teil war, überdies in der
Anstalt auch meist die gewiegteren Finanzmänner saßen, so nahmen die
Verhandlungen nicht selten ein für die Finanzverwaltung nicht eben erfreu-
liches Ende.
Das änderte sich gewaltig, als es den beiden Staaten der Monarchie
endlich gelang, dank der wenn auch langsam fortschreitenden Zunahme des
allgemeinen Wohlstandes aus dem Zustande der alljährlichen Fehlbeträge im
Staatshaushalte heraus und zu einer geordneten Finanz Wirtschaft zu gelangen.
Jetzt waren es nicht mehr die Finanzverwaltungen, die sich um Anlehen,
sondern die Kredit-Anstalt und ihre Geschäftsfreunde, die sich um die Ge-
schäfte bewarben, und das gab den Verhandlungen ein anderes Gesicht. Es
ist aber M.s unleugbares Verdienst, daß er die gewaltigen Kapitalsansamm-
lungen, wie sie die modernen Großbanken darstellen, nicht ausschließlich
vom Standpunkte des Geschäftsmannes nur als Werkzeuge zum Geldverdienen
ansah, sondern daß er die soziale Bedeutung dieser Institutionen richtig
erfaßte und sich auf den Standpunkt stellte, eine Großbank gleich der Kredit-
Anstalt sei nicht lediglich dazu da, um eine möglichst hohe Dividende zu
verteilen, sondern sie habe auch gewisse Verpflichtungen gegenüber der All-
gemeinheit. Diese seine moderne und man möchte sagen ideale Auffassung
von dem Zweck einer Bank bewirkte, daß er bei den häufigen Verhandlungen
mit den Finanzministern der beiden Staaten der Monarchie niemals den
Patrioten vollständig hinter dem Bankdirektor verschwinden ließ; sein Ver-
hältnis zu den Finanzverwaltungen wurde ein geradezu freundschaftliches,
und bei all* den zahlreichen österreichischen und ungarischen Finanzministem
von Dunajewski und Szapäry angefangen bis zu Böhm-Bawerk und Lukäcs
war M. außerordentlich beliebt und galt für einen wohlmeinenden Berater
und treuen Freund der beiden Finanzministerien. Daß dieses angenehme
Verhältnis ihres leitenden Direktors zu den Schatzkanzlern der Monarchie
auch der Kredit-Anstalt zustatten kam, ist natürlich.
Von den großen in den Jahren 1880 bis 1902 in der Österreichisch-Un-
garischen Monarchie zur Durchführung gelangten staatsfinanziellen Operationen,
bei welchen M. in hervorragender Weise mitwirkte, und unter denen, ent-
sprechend der Ordnung der Finanzen und dem gefestigten Kredite der beiden
Staaten der Monarchie, die Konversionen die Hauptrolle spielten, seien hier
nur die wichtigsten hervorgehoben;
In den Jahren 1881 bis 1884 führte die Kreditanstalt im Vereine mit
den ihr befreundeten Großbanken und Bankiersfirmen — man nannte diese
Vereinigung, der auch das Wiener Bankhaus S. M. v. Rothschild angehörte,
nach diesem Bankhause gewöhnlich kurzweg »die Rothschildgruppe« — die
Konversion der ungarischen ö^/oigen Goldrente in eine 4°/oige Goldrente
durch; innerhalb eines Zeitraumes von ungefähr vier Jahren wurden von der
Kredit-Anstalt 400 Millionen Gulden in ö^/oiger Goldrente aus dem Verkehre
gezogen, und dagegen 545 Millionen Gulden in 40/oiger Goldrente in Umlauf
von Mauthner.
411
gesetzt; es war dies das größte bis dahin von der Kredit- Anstalt durch-
geführte Finanzgeschäft.
Im Jahre 1893 folgte die Konversion der 5 0/0 igen österreichischen Noten-
rente und der 43/40/oigen und 50/oigen Eisenbahnstaatsschuldverschreibungen
der Kronprinz Rudolf -Bahn und der Vorarlberger Bahn in 40/oige öster-
reichische Kronenrente und 40/oige Eisenbahnstaatsschuldverschreibungen; es
wurden im ganzen um 299852 100 Gulden ö. W. 43/4<*/oige und 5**/oige Obli-
gationen eingezogen, und dagegen 648345800 Kronen in 4^/0 igen Renten-
und Eisenbahnstaatsschuldverschreibungen ausgegeben. In das gleiche Jahr
fällt die große Konversion von 465962510 Gulden ö. W. 50/oiger ungarischer
Notenrente und diverser Eisenbahn -Obligationen und -Aktien und von
16704400 Gulden 5- und 60/oiger ungarischer Eisenbahngoldprioritäten gegen
1062 Millionen Kronen 40/oiger ungarischer Kronenrente und 18 Millionen
Gulden 4^/0 iger ungarischer Goldrente.
In demselben Jahre 1893 begann auch die bedeutende, im Jahr 1895
glücklich zu Ende geführte Operation der Goldbeschaffung für die Zwecke der
1892 von den Parlamenten Österreichs und Ungarns beschlossenen Währungs-
reform. Das Konsortium der Kredit- Anstalt übernahm von der österrreichischen
Finanzverwaltung 150 Millionen Gulden 40/oiger österreichischer Goldrente
und von der ungarischen Finanzverwaltung 24 Millionen Gulden 40/oiger
ungarischer Goldrente mit der Verpflichtung, den Gegenwert in effektivem
Golde zu leisten. Es war in erster Linie der außerordentlichen Geschicklich-
keit, mit der M. diese große Transaktion leitete, zu danken, daß es gelang,
die erwähnten bedeutenden Goldmengen, die vornehmlich zur Einziehung
der österreichisch-ungarischen Staatsnoten bestimmt waren, ohne jede Beun-
ruhigung der auswärtigen Geldmärkte und der auswärtigen großen Noten-
banken in die Monarchie zu ziehen.
Durch die österreichisch-ungarische Währungsreform wurde M. auch noch
vor eine andere Aufgabe gestellt: ihm wurde die Durchführung des unterm
20. Februar 1892 zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reiche
hinsichtlich der österreichischen Vereinstaler getroffenen Abkommens über-
tragen. Die österreichischen Vereinstaler waren die auf Grund des deutschen
Münzbundes von 1857 in den Jahren 1858 bis 1868 in Österreich geprägten
Taler und Doppeltaler, die im ganzen Gebiete des Münzbundes von 1857
gesetzliches Kurantgeld waren. Als das Deutsche Reich im Jahre 1873 zur
Goldwährung überging, setzte es die österreichischen Vereinstaler außer
Kurs; diese Verfügung wurde jedoch im Jahr 1874 widerrufen. Die Folge
dieses Widerrufes, eines der unbegreiflichsten Fehler der deutschen Münz-
gesetzgebung, war, daß die österreichischen Vereinstaler in Deutschland
drei Reichsmark in Gold galten, auch noch zu einer Zeit, als durch das Sinken
des Silberpreises der innere Wert dieser Taler schon weit unter den Wert von
drei Reichsmark gefallen war. Als im Jahr 1879 das fortgesetzte Sinken des
Silberpreises die Finanzverwaltungen Österreichs und Ungarns zur Einstellung
der freien Prägungen von Silber bewog, und das österreichische Währungs-
silbergeld, weil es nicht mehr dem Bedarf entsprechend vermehrt werden
konnte, zu seinem Silberwert auch noch einen Seltenheitswert erhielt und
dadurch bedeutend über den Wert des Barrensilbers hinausstieg, da ergab
sich nun der merkwürdige Fall, daß eine und dieselbe Münze, der öster-
412
von Mauthner.
reichische Vereinstaler, in Deutschland und in Österreich-Ungarn in gleicher
Weise gesetzliches Kurantgeld war, dabei aber in jedem dieser Staaten
einen verschiedenen und zwar einen weit über den Silbergehalt der Münze
hinausgehenden Wert besaß; in Deutschland galt der Taler drei Mark, in
Österreich-Ungarn 1^/2 Gulden ö. W.; in Deutschland war der Wert des
Vereinstalers gegenüber dem Gold ein fester, in Österreich- Ungarn, wo bis
zum Jahr 1892 kein gesetzliches Verhältnis zwischen dem österreichischen
Währungssilbergeld und dem Golde bestand, war er ein schwankender, er-
reichte aber nie die Höhe wie in Deutschland. Infolge dessen waren die
österreichischen Vereinstaler bald fast vollständig nach Deutschland, als dem
Lande, wo sie höh^r bewertet wurden, ausgewandert, und im Jahre 1891
lagen 26 Millionen Taler oder 78 Millionen Mark in österreichischen Vereins-
talern in den Kellern der Deutschen Reichsbank. Als nun in Österreich-
Ungarn die Festsetzung eines gesetzlichen Verhältnisses, einer Relation,
zwischen dem österreichischen Währungssilbergeld und dem Gold erwogen
wurde, forderten einige übereifrige Verfechter des »Staatsinteresses«, man solle
die österreichischen Vereinstaler von der Relation ausnehmen und einfach aufier
Kurs setzen, wodurch diese Taler, die bisher in Österreich-Ungarn 1^/2 Gulden
ö. W. gegolten hatten, hier sofort auf ihren Barren wert gefallen wären, der
damals nur beiläufig i Gulden ö. W. für den Taler betrug. Gegen ein
solches Vorgehen erhoben sich aber gewichtige Stimmen nicht nur in Deutsch-
land, sondern auch in Österreich-Ungarn selbst; hier war es besonders der
damalige Referent für die Währungsangelegenheiten in der Österreich-Unga-
rischen Bank, der die Anschauung vertrat, ein Staat müsse seine Prägung
ebenso respektieren, wie seine Unterschrift, und er habe kein Recht, eine
Landesmünze bloß deshalb einfach außer Kurs zu setzen, weil hiedurch nicht
Angehörige des eigenen, sondern solche eines fremden Staates einen Verlust
erleiden würden; durch ein solches Vorgehen würde das Ansehen und der
Kredit der Monarchie im Auslande geschädigt werden, gerade in einem
Augenblick, in welchem sie beider besonders bedürfe. Die Finanzver-
waltungen Österreich-Ungarns taten das, was unter den obwaltenden Um-
ständen das Klügste war: sie leiteten diplomatische Verhandlungen mit
Deutschland ein, bei welchen sich die deutsche Reichsregierung außer-
ordentlich entgegenkommend zeigte. Das Ende war ein Vergleich, wonach
Österreich-Ungarn sich verpflichtete, den dritten Teil der in Deutschland ange-
sammelten österreichischen Vereinstaler zum Preise von i'/i Gulden ö. W. für den
Taler zu übernehmen und einzuschmelzen; den Verlust, der sich an den übrigen
zwei Dritteln dieser Taler durch den Unterschied zwischen dem Werte des
österreichischen Währungssilbers und des Barrensilbers ergab, nahm das
Deutsche Reich auf sich. An den Verhandlungen, die zu diesem für Öster-
reich-Ungarn sehr günstigen Ergebnisse führten, nahm M. wohl nicht teil;
ihm wurde aber von den Finanzverwaltungen der Monarchie die Durchführung
der Vereinbarung übertragen, wonach von Österreich- Ungarn 8^/3 Millionen
Taler zu übernehmen, und dem Deutschen Reiche dafür die Gegenwerte
anzuschaffen waren. M. führte diese Transaktion in Berlin im persönlichen
Verkehre mit dem Präsidenten des deutschen Reichsbankdirektoriums
Dr. Richard Koch mit so vollendetem Geschick und zu so großer Zufrieden-
heit der Reichsbank durch, daß der Präsident des Reichsbankdirektoriums
von Mauthner. a} 2
sich bewogen fand, eine hohe deutsche Auszeichnung für M. zu bean-
tragen.
Das Jahr 1897 brachte der Kredit- Anstalt beziehungsweise der Roth-
schildgruppe ein weiteres großes Staatsgeschäft: die Gruppe übernahm von
der österreichischen Finanzverwaltung 11 6901000 Kronen und von der
ungarischen Finanz Verwaltung 60 Millionen Kronen in den von den beiden
Finanz Verwaltungen neu geschaffenen 3^/2<*/oigen Investitionsrententitres.
Die letzte grofie staatsfinanzielle Operation, an der M. mitwirkte, war die
Konversion der 4^/1 °/o igen ungarischen Schankregal Obligationen sowie einer
Reihe von 4'/! 0/0 igen und 5 °/o igen ungarischen Eisenbahnobligationen gegen
1087470000 Kronen 40/oiger ungarischer Kronenrente, welchen Riesenbetrag
die Gruppe im Jahre 1901 von der ungarischen Finanzverwaltung übernahm.
M. war, als dieses Geschäft verhandelt wurde, schwer erkrankt. Gleichwohl
ließ er es sich nicht nehmen, bei den Verhandlungen mitzuwirken; die Be-
sprechungen fanden wiederholt an seinem Krankenlager statt. Die Beendigung
dieser Operation, die erst im Laufe des Jahres 1902 vollständig zur Durch-
führung gelangte, hat er nicht mehr erlebt.
Neben diesen großartigen Finanzgeschäften führte die Kredit-Anstalt
während M.s Direktion teils allein, teils in Verbindung mit ihren Geschäfts-
freunden eine zahllose Menge von kleineren Operationen, vornehmlich von
verschiedenen Emissionen für die Staatsverwaltungen, für Städte, Eisenbahn-
gesellschaften usw. durch. Ungleich manchen seiner Vorgänger legte M. jedoch
auf die Finanzgeschäfte weniger Gewicht als auf die Ausgestaltung der eigent-
lich bankmäßigen Geschäfte, die mehr als die sich nicht regelmäßig wieder-
holenden und hinsichtlich ihres Erfolges oft von so vielen Umständen
abhängigen Finanzgeschäfte geeignet sind, einer großen Bank ein jährlich
wiederkehrendes, sicheres Einkommen zu bieten; das Kommissions-, das
Eskompte-, das Kontokorrent-Geschäft usw. erfuhren unter ihm die sorg-
fältigste Pflege und nahmen einen gewaltigen Aufschwung. Diese Steigerung
des regulären Bankgeschäftes ließ schließlich das seit 1869 auf 40 Millionen
Gulden ö. W. verminderte Aktienkapital der Kredit-Anstalt zu gering er-
scheinen. Es wurde also im Jahre 1899 ^^^^ Erhöhung des Kapitals um
10 Millionen Gulden ö. W. auf 50 Millionen Gulden ö. W. oder 100 Millionen
Kronen durch Ausgabe von 62.500 neuen Aktien beschlossen. Obwohl die
neuen Aktien außer dem Nominalbetrage von 20 Millionen Kronen, auf den
sie lauteten, noch mehr als 20 Millionen Kronen Agiogewinn hereinbrachten,
welcher Gewinn zur Bildung eines eigenen Kapitalsreservefonds verwendet
wurde, die gesamte Kapitalsvermehrung also über 40 Millionen Kronen
betrug, war es doch möglich, diesen ganzen Mehrbetrag im laufenden Geschäfte
fruchtbringend zu verwenden.
Weniger glücklich als im Finanz- und im eigentlichen Bankgeschäfte war
M. mit seinen industriellen Gründungen. Gleich in die erste Zeit seiner
Direktionsführung fiel außer einigen kleineren Gründungen wie jener der
Mineralöl-Raffinerie-Aktien-Gesellschaft in Budapest usw. eine der größten
Unternehmungen dieser Art: 1883 gründete die Kredit- Anstalt im Vereine
mit der Banque Impirialc Ottomane und der Firma S. Bleichröder die SocUte
de la Rigie Co-intiressie des Tabacs de r Empire Ottoman oder die Tabak-Regie-
Gesellschaft des Türkischen Reiches. Sei es nun, daß M. durch die Kinder-
414
von Mauthner.
krankheiten, mit denen dieses Institut längere Zeit zu kämpfen hatte,
geschreckt worden war, sei es, daß er fühlte, daß industrielle Gründungen
überhaupt »ihm nicht lagen« — er verhielt sich seither gegen derlei Unter-
nehmungen ablehnend. Als er endlich, von seiner Umgebung und zum Teil
auch von den Aktionären gedrängt, sich seit 1892 doch wieder zu einigen
solchen Geschäften entschloß, ließen gerade die bedeutenderen derselben zunächst
den erwarteten Erfolg vermissen. In dem letzten von M. verfaßten Geschäfts-
berichte der Kredit-Anstalt, jenem über das Jahr 1901, mußte er zu seinem
Schmerze mitteilen, daß eine Anzahl der von der Kredit-Anstalt seit 1892
gegründeten Unternehmungen, darunter auch die große Skodawerke Aktien-
gesellschaft in Pilsen keine günstigen geschäftlichen Ergebnisse erzielt hatte.
Seither hat sich jedoch bei der Mehrzahl dieser Unternehmungen eine
Wendung zum Besseren vollzogen, und einige erfreuen sich sogar schon eines
besonderen Gedeihens.
Der soliden Art M.s entsprach es, daß er bemüht war, die Kredit- Anstalt,
deren Aktie Jahrzehnte lang das beliebteste Spielpapier an den Börsen Öster-
reich-Ungarns und Deutschlands war, von allem, was an ungesunde Speku-
lation oder an Spiel erinnerte, fernzuhalten. Die von ihm aufgestellten
Bilanzen waren klar und gaben insbesondere viele vor seiner Zeit häufig ver-
mißte Detailnachweisungen über den jeweiligen Effektenbesitz der Anstalt.
Durch sorgfältige Reservierungen war er bestrebt, die Dividende auf einer
möglichst gleichförmigen Höhe zu halten, und tatsächlich geschah das vor
ihm Unerhörte, daß die Kredit-Anstalt öfter zwei und selbst drei Jahre hinter
einander eine gleich hohe Dividende bezahlte. Von den früher mitunter an-
läßlich der Bilanzveröffentlichungen vorgekommenen »Überraschungen« wollte
er nichts wissen ; um die spekulative Bewegung einzudämmen, die sich früher
viel mehr als jetzt stets an das Bekanntwerden der Bilanzziffern der Kredit-
Anstalt knüpfte, traf er die Einrichtung, daß die Bilanzen immer erst zu vor-
gerückter Tagesstunde nach Schluß der Börse veröffentlicht wurden.
M.s Solidität war aber durchaus nicht nach dem Geschmacke der spiel-
lustigen Elemente der Börse und auch nicht nach dem Geschmack aller
Aktionäre. In der letzten Generalversammlung der Aktionäre, an welcher M.
teilnahm, in jener vom 3. April 1902, beanstandete der Aktionär Alexander
Scharf die Höhe der Dividende als zu gering und erklärte die Kapitals-
erhöhung von 1899 ^^ ^^® größte Schädigung der Kredit-Anstalt. M.s Ant-
wort wurde zum geflügelten Worte: »Die Kredit- Anstalt ist kein Dividenden-
Automat«, rief er dem Tadler zu und führte aus, daß, je größer die Summe
der einer Anstalt anvertrauten Kapitalien sei, umso breiter auch die Grund-
lage der eigenen Mittel sein müsse, um das Vertrauen nicht zu erschüttern.
»Dieses Vertrauen«, sagte er, »ist das Ergebnis der harten Arbeit von 45 Jahren;
verlieren kann man das Vertrauen aber in einer einzigen Nacht«. Die Miß-
stimmung der Börsenspieler gegen M. fand einen geradezu klassischen Aus-
druck darin, daß auf die Nachricht von M.s plötzlichem Tode der Kurs der
Kreditaktien an der Wiener Börse stieg. Es tauchte damals das Gerücht
auf, diese rätselhafte Steigerung sei auf Deckungskäufe zurückzuführen, die
zur Lösung von großen Baisseoperationen des Verstorbenen unternommen
worden seien. Dem war aber nicht so ; M. war durchaus kein Börsenspieler,
nicht einmal ein Spekulant. »Hätte ich nur mit dem Finger gewinkt«, sagte
von Mauthner. ^ I c
er einmal, »so wären die Kreditaktien im Jahr 1895 auf fünfhundert ge-
gangen« — die Aktien notierten damals noch in Gulden — »aber ich wollte
nicht; ich bin kein Spekulant, und auch die Kreditaktien sollen mit meinem
Willen nicht turbulenten Spekulationen dienen«. Von Haus aus in günstigen
Verhältnissen, in jungen Jahren schon im Besitze sehr großer Einkünfte, da-
bei bescheiden, ohne große Bedürfnisse, ohne kostspielige Passionen und nicht
habgierig, stand er der ungeheueren Versuchung, die seine Stellung mit sich
brachte, mit kühler Ruhe gegenüber.
Die geschäftlichen Verbindungen der Kredit- Anstalt mit ihr befreundeten
Gesellschaften oder von ihr gegründeten Unternehmungen brachten M. auch
in die Verwaltung zahlreicher anderer Institute. Er war seit 1883 Mitglied
des Verwaltungsrates der Tabak-Regie-Gesellschaft des Türkischen Reiches,
seit 1888 Präsident des Verwaltungsrates der Aktien-Gesellschaft der Lokomotiv-
Fabrik, vorm. G. Sigl in Wiener-Neustadt und seit 1890 Mitglied des Ver-
waltungsrates der von der Kredit-Anstalt im Jahre 1888 gegründeten Aktien-
gesellschaft Pe^eker Zuckerraffinerie in PeCek. Im Jahre 1890 wurde er auch
Mitglied der Direktion der von der Kredit- Anstalt im Jahre 1882 gegründeten
Mineralöl-Raffinerie-Aktien-Gesellschaft in Budapest, im Jahre 1896 Mitglied
des Verwaltungsrates der Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft in Wien und
Mitglied des Direktionsrates der Ungarischen Allgemeinen Kredit-Bank in
Budapest, welches Bankinstitut im Jahre 1867 unter Mitwirkung der Kredit-
Anstalt, die später ihre Pester Filiale aufließ, ins Leben gerufen worden war.
Im Jahr 1897 wurde er Mitglied des Verwaltungsrates der von der Kredit-
Anstalt in diesem Jahre gegründeten Hirtenberger Patronen-, Zündhütchen-
u. Metall waren-Fabrik , vormals Keller & Comp, in Wien, Präsident des
Verwaltungsrates der in dem gleichen Jahr auch von der Kredit- Anstalt
gegründeten Aktiengesellschaft für Naphta-Industrie in Lemberg und Präsident
des Verwaltungsrates der »Providentia« allgemeine Versicherungsgesellschaft
in Wien, ebenfalls einer in diesem Jahr erfolgten Gründung der Kredit-Anstalt.
Bei der im Jahre 1899 erfolgten Umwandlung der Pilsener Skoda-Werke in
eine Aktiengesellschaft wurde er Vizepräsident und nach dem Tode des
Präsidenten Emil Ritter von Skoda am 10. August 1900 Präsident des Ver-
waltungsrates der Skodawerke Aktiengesellschaft; im Jahre 1900 trat er auch
in die Direktion der Kaschau-Oderberger Eisenbahn. Alle diese zahlreichen
Stellen bekleidete M. bis zu seinem Tode, nur aus der Verwaltung der
Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft war er im Jahre 1899 ausgeschieden.
Obwohl seit seinem 17. Lebensjahre praktisch tätig, war M. doch weit
davon entfernt, einer jener öden »Praktiker« zu sein, deren geistiger Horizont
über die oft recht engen Grenzen ihrer geschäftlichen Erfahrungen nicht
hinausreicht, und die darum jeder neuen Erscheinung ebenso Verständnis- als
hilflos gegenüberstehen. Mit unermüdlichem Fleiß, unterstützt von einem
regen Geist und einer ungemein raschen Auffassungsgabe, hatte er sich ein
gründliches theoretisches Wissen erworben. Eine glänzende Probe hievon
legte er ab, als er im Jahre 1892 vom österreichischen Finanzministerium
zum Mitgliede der damals zur Beratung der Währungsfragen einberufenen
Währungs-Enquöte-Kommission ernannt wurde. M.s in der sechsten Sitzung
der Kommission am 14. März 1892 erstattetes Referat erregte durch seine
Sachlichkeit und Klarheit selbst in dieser Versammlung der hervorragendsten
Ai6 von Mauthner.
Volkswirte Österreichs Aufsehen ; er stimmte im Anschlufi an die Ausführungen
des gleichfalls der Kommission angehörenden früheren Generalsekretärs der
privilegierten österreichichen Nationalbank, Wilhelm Ritter von Lucam, für die
Einführung der reinen Goldwährung und sprach als der erste unter den
Kommissionsmitgliedem ein freies Wort über die damals viel umstrittene
Frage der Relation. Im Jahr 1896 wurde M. von der österreichischen
Regierung zu der damals stattgefundenen £nqu6te über das Aktien-Regulativ
beigezogen.
An äußeren Ehren hat es M. auf seiner so erfolgreichen Laufbahn nicht
gefehlt. Im Jahre 1883 war ihm für seine Wirksamkeit bei der Gründung der
türkischen Tabak-Regie-CJesellschaft der türkische Medschidi^-Orden I. Klasse
verliehen worden; im Jahre 1884 wurden seine Verdienste um die glückliche
Durchführung der grofien ungarischen Goldrentenkonversion durch die Ver-
leihung des österreichischen kaiserlichen Ordens der Eisernen Krone III. Klasse
anerkannt, womit nach den damaligen Ordensstatuten die Erhebung in den
erblichen Ritterstand verbunden war; 1893 wurde ihm aus Anlafi der in diesem
Jahre zustande gekommenen grofien österreichischen und ungarischen Kon-
versionsoperationen der Orden der Eisernen Krone IL Klasse verliehen; im
Jahre 1894 erhielt er in Anerkennung der von ihm bei den Transaktionen hin-
sichtlich der Vereinstaler geleisteten Dienste den preußischen Kronenorden
IL Klasse mit dem Stern; im Jahr 1899 wurde M. endlich die seltene, vor
ihm noch nie von einem Bankdirektor in Österreich erreichte Auszeichnung
zu Teil: am 21. September 1899 erfolgte seine Ernennung zum lebensläng-
lichen Mitgliede der österreichischen Pairskammer, des Herrenhauses. M.
nahm seine Aufgabe als Mitglied dieser hohen gesetzgebenden Körperschaft,
in der er sich der Verfassungspartei anschloß, sehr ernst; er beteiligte sich
eifrig an den Arbeiten des Hauses und galt dort bald als eine Autorität in
volkswirtschaftlichen Fragen. Hervorgetreten ist M. im Herrenhaus als Bericht-
erstatter der Spezialkommission zur Vorberatung der von der Regierung im
Herrenhaus eingebrachten Gesetzesvorlage betreffend fundierte Bankschuld-
verschreibungen. Dieser Entwurf bezweckte die Ausdehnung des in Österreich
nach der großen Börsenkrise von 1873 durch das Gesetz vom 24. April 1874
gewährleisteten Schutzes der Rechte von Pfandbriefbesitzem auch auf die
Rechte der Besitzer fundierter Bankschuldverschreibungen; das sind nämlich
die von Banken unter Hinweisung auf eine besondere Fundierung (als
Kommunal-, Eisenbahn-, Meliorations-, Industriekredit-Schuldverschreibungen
usw.) zur Ausgabe gelangenden verlosbaren Obligationen, die in Österreich
in den letzten Jahrzehnten in großen Summen in Verkehr gesetzt wurden.
Die Anträge der Kommission wurden von M. in den Sitzungen des Herren-
hauses vom 17. Oktober und vom 27. November 1901 vertreten, und M., der
Nichtjurist, verteidigte dieselben siegreich gegen die Angriffe zweier der
bedeutendsten österreichischen Rechtsgelehrten, des damaligen Hofrates und
jetzigen Ministers Ritter von Randa und des Hofrates und Universitäts-
professors Grünhut.
Von dem großen Vertrauen, das M. sowohl bei der Regierung als in den
Kreisen der Hochfinanz genoß, zeugt es, daß im Jahr 1892, als Freiherr von
Hopfen seine Stelle als Präsident des Verwaltungsrates der Südbahngesell-
schaft zurücklegte, allgemein M. als der berufenste Nachfolger Hopfens und
von Mauthner.
417
als der Einzige bezeichnet wurde, der geeignet wäre, diese größte öster-
reichisch-ungarische Privatbahn aus ihren mißlichen Verhältnissen — die
Dividende der Südbahn war damals unter i°/o gesunken — herauszuführen.
Es kam jedoch anders: Hopfens Nachfolger wurde einer der ersten Aristo-
kraten der Monarchie, Prinz Egon zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst.
Im Jahre 1901 war M., wohl infolge von Überarbeitung, schwer erkrankt.
Die ersten Anzeichen eines Nierenleidens stellten sich ein. Von ärztlicher
Seite wurde ihm geraten, sich aller Anstrengungen zu enthalten. Mit schwerem
Herzen verzichtete M. auf sein Lieblingsvergnügen, die Jagd, aber von der
ihm nahe gelegten Zurückziehung von den Geschäften wollte er nichts wissen ;
er scheint seinen Zustand selbst nicht für gefährlich gehalten zu haben.
Als ein Wiener Blatt das Gerücht verzeichnete, M. beabsichtige, seinen
Direktorsposten in der Kredit-Anstalt zu verlassen, und solle in den Ver-
waltungsrat der Anstalt kooptiert werden, da beeilte er sich, diese Nachricht
energisch zu dementieren. Aber ein Gewaltigerer sollte bald ihn selbst
dementieren. Er hatte sich zwar in kurzer Zeit scheinbar wieder erholt und
versah seine Berufsgeschäfte mit gewohntem Eifer; aber seine eingefallenen
Züge und seine totbleiche Gesichtsfarbe verrieten den fortschreitenden körper-
lichen Verfall. Im April 1902 fühlte sich M. wieder sehr leidend und wurde
von schweren asthmatischen Anfällen heimgesucht.
Um Erholung zu finden, übersiedelte er am 19. Mai mit seiner Familie
in den Badeort Vöslau bei Wien, wo er im Hotel Back Wohnung nahm.
Am Abende dieses Tages wurde er plötzlich, nachdem er eben mit gutem
Appetite gespeist und mit einem seiner Söhne eine Partie Schach gespielt
hatte, von Atemnot befallen und stürzte bewußtlos zusammen. Der rasch
herbeigerufene Vöslauer Badearzt, Dr. Krischke, konnte nur noch den ein-
getretenen Tod feststellen; M. war einem Herzschlag erlegen. Sein Leichen-
begängnis, das am 22. Mai in Wien stattfand, gab Zeugnis von der allge-
meinen Verehrung und Beliebtheit, deren er sich erfreut hatte; mehr als
200 Kränze schmückten seine Bahre, und Tausende von Leidtragenden
begleiteten ihn zu seiner letzten Ruhestätte. M., der als Jude geboren war, ist
auch als Jude gestorben; er hatte die größten bis dahin in der Monarchie
dagewesenen finanziellen Konversionen geleitet, aber zu einer religiösen
Konversion war er nicht zu bewegen gewesen, obgleich oder vielleicht gerade
weil ein Glaubenswechsel ihm manchen Stein des Anstoßes aus dem Wege
geräumt hätte, und er auch den Schein meiden wollte, als mache er, der
Geschäftsmann, Geschäfte mit seiner Überzeugung.
M. war von mittlerer Größe und von gedrungenem, kräftigem Körper-
baue; sein Gesicht war bis zu seiner schweren Erkrankung voll und von
gesunder Farbe; das Haar und der starke wohlgepflegte Schnurrbart, der ihm
fast das Aussehen eines Offiziers in Zivil gab, waren in seinen jungen Jahren
dunkel, aber frühzeitig ergraut, die Augen blau und von sehr freundlichem
Ausdruck. Ein wohlgetroffenes Bild M.s brachte die österreichische Illu-
strierte Zeitung in ihrer Nummer vom 25. Mai 1902.
Im persönlichen Verkehre war M. von außerordentlicher Liebenswürdig-
keit und einer bei Bankdirektoren nicht immer vorkommenden Bescheidenheit;
gegen seine Untergebenen wohlwollend und gerecht. Er war in der Kredit-
Anstalt über die Köpfe einer Menge von Vordermännern hinweg vom kleinen
Bio^r. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd. 27
AiS ^'on Mauthner.
Beamten bis zum leitenden Direktor aufgestiegen und hatte lange Jahre das
Personalreferat in der Anstalt geführt, zwei Tatsachen, von denen jede für
sich allein gewöhnlich schon hinreicht, um den Betreffenden bei der Beamten-
schaft mindestens nicht beliebt zu machen; bei M. war dies jedoch anders:
die Trauer um ihn war unter den Beamten der Kredit-Anstalt allgemein, und
aus eigenem Antriebe veranstaltete die Beamtenschaft ihrem hingeschiedenen
Chef am 24. Mai 1902 im Vestibüle des Anstaltsgebäudes eine würdige
Totenfeier.
M.s liebenswürdiges Wesen, sein durch und durch vornehmer Charakter
hatten ihm viele Freunde in allen Kreisen der Gesellschaft erworben ; er war
ein häufiger Gast bei den Hochwildjagden des Chefs des Wiener Hauses
Rothschild, des Freiherrn Albert von Rothschild. Ein besonders freundschaft-
licher Verkehr hatte sich, seit die Boden-Kredit-Anstalt der Rothschildgnippe
beigetreten war, zwischen M. und dem Direktor der Boden- Kredit- Anstalt,
Theodor Ritter von Taussig, entwickelt; an schönen Tagen konnte man die
beiden Bankgewaltigen häufig miteinander in den Straßen der Stadt lust-
wandeln sehen, und wohl manches große Geschäft mag so in peripatetischer
Weise konzipiert worden sein.
M. war ungemein musikalisch, ein großer Freund der Oper, der selten
eine Premiere versäumte. Die Musik bildete neben der Jagd und dem Berg-
sport — er war ein tüchtiger Tourist und begeisterter Naturfreund — vor-
nehmlich seine Zerstreuung. Auch für die schöne Literatur hatte er ein
großes Interesse; der vielbeschäftigte Finanzmann fand nicht nur Zeit, sich
mit allen hervorragenden Werken der Dichtkunst, aus denen er gerne zu
zitieren pflegte, vertraut zu machenj er war auch selbst poetisch tätig. Aufler
einer Menge formschöner lyrischer Gedichte hat M. auch 2 Theaterstücke
geschrieben: ein Schauspiel »Der moderne Timon«, dessen Tendenz sich —
charakteristisch für M. — gegen die Anbetung des goldenen Kalbes kehrt,
und ein Lustspiel »Die mißglückte Kur« ; diese beiden Dramen ließ er im
eigenen Verlag als Manuskript drucken, sie sind jedoch nicht im Buchhandel
erschienen, die Exemplare wurden von M. nur an seine intimsten Freunde
verteilt. Als Fachschriftsteller hat sich M. durch eine Reihe von Zeitungs-
artikeln, von denen die meisten in der »Neuen Freien Presse« erschienen sind,
bekannt gemacht.
M. war seit 1879 mit Helene Weiß von Weißenhall, der Tochter des
früheren Vorsitzenden Direktors und späteren Präsidenten des Verwaltungs-
rates der Kredit-Anstalt, Karl Weiß Ritter von Weißenhall, vermählt gewesen.
Aus dieser Ehe, die sich sehr glücklich gestaltete, entstammen drei Söhne
und eine Tochter. Das Familienleben M.s war ein außerordentlich inniges;
seine Familie ging ihm über alles, in ihrem Kreise suchte und fand er nach
der aufreibenden Arbeit des Tages am liebsten seine Erholung.
M. war wohl kein bahnbrechender Geist auf dem Gebiete des Bank-
wesens, er hatte nicht die Genialität und den weiten Blick Lucams und nicht
die Vielseitigkeit Hopfens, auch der stürmische Tatendrang und der kühne
Wagemut seines Kollegen von der Boden-Kredit-Anstalt, des Direktors Taussig,
waren seinem ruhigeren Wesen fremd ; aber er besaß im höchsten Grade das,
was die Franzosen don sens nennen: gesunden Menschenverstand und prak-
tische Klugheit; er war die verkörperte kaufmännische Anständigkeit und
von Mauthner. Lohmeyer. 410
Solidität. Gerade diese Eigenschaften ihres leitenden Direktors waren aber
für die Kredit- Anstalt und damit für die ganze Bankwelt Österreich-Ungarns
in den Jahren nach der großen Krise von 1873, durch die das Vertrauen in
das gesamte Bank- und Aktienwesen aufs tiefste erschüttert worden war, wert-
voller, als es himmelstürmende Genialität gewesen wäre. Das Ansehen der
Kredit-Anstalt im Auslande beruhte mit auf dem Zutrauen, das man der
Persönlichkeit M.s entgegenbrachte. »Wir waren seit vielen Jahren auf die
finanziellen Auslassungen und Maßnahmen Gustav M.s in Würdigung seines
Genies gespannt hinzuhorchen gewohnt, weil wir in seinen Urteilen und Hand-
lungen die höchste finanz wirtschaftliche Klugheit der Österreichisch-Ungari-
schen Monarchie verkörpert sahen«, so schrieb der »Hannoverische Courier«
in seiner Nummer vom 24. Mai 1902. Während der langen Dauer seiner
Direktionsführung war M. in Wahrheit, wie er sich wohl auch gerne nennen
hörte, »der gute Hausgeist der Kredit- Anstalt«.
Friedrich Schmid.
Lohmeyer, Julius, <) Schriftsteller, • 6. Oktober 1835 zu Neiße, f 24. Mai
1903 zu Charlottenburg. — L. war der Sohn eines Apothekers. Er verlebte als
Knabe eine glückliche reiche Jugend. Sein Vater war ein Mann von hervor-
ragender Begabung und besonders naturwissenschaftlicher Bildung, der mit
größtem Eifer die Entdeckungen und Erfindungen, vor allem auf galvanisch-
elektrischem Gebiet, welche die vierziger und fünfziger Jahre brachten,
verfolgte. Sein Arbeitszimmer glich einem chemisch -physikalischen Ka-
binett. Er trat mit Gauß und Weber in Göttingen, Steinheil in München,
den großen Erfindern jener Tage, in Verbindung und erbaute damals den
ersten elektromagnetischen Telegraphen in Preußen (siehe offizieller Bericht
für Post und Telegraphie). Vor allem als Botaniker und Sammler auf ver-
schiedenen Naturgebieten bereiste er seine Heimatsprovinz, stets von seinen
beiden Söhnen begleitet, die mit allen erdenklichen Fangapparaten für ihre
ansehnlichen Naturaliensammlungen beladen waren.
Julius L. sollte die väterliche Apotheke übernehmen und wurde von
einem Freunde seines Vaters in diesen Stand eingeführt. Seine Neigungen
aber gingen schon von der Schülerzeit an auf Dichtung und Literatur. Er
studierte Naturwissenschaft und übernahm nach abgelegtem Staatsexamen die
königl. Hofapotheke in Elbing.
Als Festspiel- und politischer Dichter trat er in jener Zeit mit dem
»Kladderadatsch« in Verbindung, an dem er im nationalen Sinne seit 1866
mitarbeitete und wurde 1868 von Ernst Dohm in die Redaktion berufen.
L. 'machte sich vor allem in den Kriegsjahren 1870/71 durch seine vater-
ländischen Gedichte, die jetzt vielfach in Sammlungen und Schulbücher über-
gegangen sind, bemerkbar (Kriegsgedenkbuch des »Kladderadatsch«, 2. Auf-
lage) mit seinem Freunde Johannes Trojan.
1872 begründete er das nationale Jugendwerk »Deutsche Jugend«, unter
Mitwirkung namhafter Dichter und Künstler, vor allem Joh. Trojan, Victor
Blüthgen, Frida Schanz. Hermann Kletke u. a., ein Werk, das während seines
») Totenliste 1903 Band VIII 71*.
27*
A20 Lohmeyer.
fast 25jährigen Bestehens einen weitgehenden Einfluß auf die gesamte Jugend-
literatur nach der künstlerisch-poetischen Richtung hin ausübte und besonders
höchste Anerkennung in den Kreisen der pädagogischen Welt fand, auch
von Seiten des Unterrichtsministeriums als »Muster der Jugendliteratur«
empfohlen wurde. War doch die Jugendliteratur bis zu jener Zeit mit
wenigen Ausnahmen: Gull, Hey, Robert Reinick, dem trockensten Dilettantis-
mus verfallen gewesen; vor allem förderte die »Deutsche Jugend« und die
aus dieser hervorgegangene Jugendliteratur wieder Humor, Phantasie, poetisch-
künstlerischen Geschmack und Sinn für technisch edlere Form in des Kindes
Seele. Denn auch bedeutende Künstler wandten, angeregt durch L.s
Bestrebungen, der deutschen Jugendliteratur ihre Meistergaben zu. — In
den Jahren bis 1885 gab L. eine Reihe von mehr als 20 Kinderbüchern mit
namhaften Künstlern, vor allem Fedor Flinzer, mit dem er eine ganze Reihe
beliebt gewordener Bücher schuf, Oskar Fletsch, Paul Thumann, Carl Rohling,
Woldemar Friedrich, Herman Vogel, Paul Mohn, Alexander Zick heraus,
die wohl z^ dem schönsten gehören, was die künstlerische Kinderliteratur
hervorgebracht hat, und an Robert Reinicks Jugendkalender und Ludwig
Richters köstliche Schöpfungen anknüpften. Wir nennen unter diesen : »Unser
Hausglück«, »Fragemäulchen«, »Komische Tiere«, »König Nobel«, »Kater
Murr«, »Lachende Kinder«, »Die Prinzenreise«, »Die Reise ins Meer«, »So
gehts in der Welt« (»Sprechende Tiere« 3. Teil), »Sonnenscheinchen«, »Fahrt
zum Christkind« erschienen in großen Auflagen. Außerdem L.s Jugend-
erzählungen »Junges Blut« und »Jugendwege und Irrfahrten« (Union, Stutt-
gart, 2. Auflage), »Bunter Strauß« (Geibel & Humblot). In jene Zeit fällt
auch die Begründung von »Julius Lohmeyers Vaterländischer Jugendbücherei«
(F. J. Lehmann in München), die von einer großen Reihe namhafter Patrioten
unterstützt und gefördert wurde.
L.s Bestrebungen, die Anschauungswelt in der Jugend zu pflegen, leiteten
ihn zu der Herausgabe der Wandtafeln für den historischen Unterricht (i — 24),
der Bilder zum Neuen Testament (i — 12) und schließlich mit seinem Freunde
Felix Dahn zu der Veröffentlichung von Anschauungsbildern aus deutscher
Sage und Götterlehre.
Mehr und mehr wandte sich L.s Interesse der Popularisierung der Kunst
zu. Seine bei den großen Berliner Künstlerfesten zur Aufführung gelangten
bei Georg Stilke und später in Meyers Volksbüchern erschienenen Künstler-
festspiele: »Albrecht Dürer«, »Die Malerhölle«, »Tizian« u. a. und eine große
Reihe von Kunstartikeln leiteten diese Periode seines Schaffens ein, die 1880
zur Herausgabe der Studienmappen deutscher Meister (i — 12 CT. Wiskott)
führte, an denen Ludwig Knaus, Adolf Menzel, Franz Defregger, Ludwig
Passini, Geselschap, Paul Meyerheim und andere namhafte Künstler sich
beteiligten. In den neunziger Jahren erschienen seine »Gedichte eines Opti-
misten« (Liebeskind, Leipzig), »Auf Pfaden des Glücks«, Lebenssprüche
(Georg Wiegand, Leipzig), die Novellenbände »Die Bescheidenen« (Carl
Reißner, Dresden) und »Wir leben noch« (Adolf Bonz & Co., Stuttgart),
»Humoresken« (3. Auflage, G. Grotes Verlag), »Kinder-Lieder und Reime«
(L. Fernau, Leipzig), »Der Stammhalter«, Lustspiel.
Seine immer wachsenden Beziehungen zu vielen unserer ersten Künstler,
zu Schriftstellern und Männern der Wissenschaft fanden ihren umfassendsten
Lohmeyer. Haffner. a2 I
Ausdruck in der Schöpfung des großen Gedenkwerkes »Das Goldene Buch des
deutschen Volkes an der Jahrhundertwende« (J. J. Weber, Leipzig), das eine
Gesamtüberschau namhaftester Fachmänner über deutsche Kultur unter Vor-
führung der Hauptvertreter unter den Lebenden auf allen Gebieten des
Staates, der Wissenschaft, der Technik, Literatur und Kunst in Bild, Wort
und biographischer Charakteristik bietet.
Als die vaterländische Bewegung sich vor allem auf Anregung Kaiser
Wilhelm IL der Schaffung einer starken Seemacht zuwandte, begründete L.
zur Unterstützung der von den Gegenparteien bedrohten zweiten Flotten-
vorlage die seinerzeit vielgenannte »Freie Vereinigung für eine starke deutsche
Flotte« (sogenannte Professorenvereinigung), unter deren Mitgliedern die
erlauchtesten Männer in Wissenschaft, Literatur, Kunst und Technik als
Kronzeugen für die Notwendigkeit einer Vermehrung und Stärkung deutscher
Seemacht eintraten. Im Verfolg dieser Bestrebungen, vor allem auch für die
Jugend, als der Zukunft unseres Volkes, ließ L. die Sammlungen »Zur See
m6in Volk!«, See- und Flottenlieder und Meerespoesien (Breitkopf & Haertel),
»Unter dem Dreizack« (Velhagen & Klasing), »Auf weiter Fahrt« (Dieterichsche
Verlagsbuchhandlung, Th. Weicher), Selbsterlebnisse deutscher Seeoffiziere
und Kolonialtruppenführer, folgen. Von Letzterem erschienen vier Bände.
Seine gesamten nationalen Bestrebungen faßte er seit Herbst 1901 in der
»Deutschen Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart« zusammen,
einer nationalen Revue großen Stiles, welche die ersten Männer der Literatur
und Wissenschaft unter ihre Mitarbeiter zählt und als eine Hochwarte
deutscher Kultur im nationalen Sinne immer breiteren Fuß in den Kreisen
unserer Gebildeten faßt.
Nach dem Tode des Dichters erschien: Julius Lohmeyer, Gesammelte Dichtungen,
von seiner Gattin herausgegeben, mit einem Vorwort von Viktor Blüthgen und dem Bildnis
des Verstorbenen. Verlag von W. Vobach & Co., Berlin -Leipzig. — Gedächtnisrede für
Julius Lohmeyer von Prof. v. Soden und Hof- und Gamisonsprediger Johannes Keßler,
Charlottenburg 27. Mai 1903. — Die von Lohmeyer begründete Literarische Vereinigung
in Berlin, der Verein »Berliner Künstler« und die Stadt Charlotten bnrg stifteten ein Grab-
denkmal mit dem Relief des Dichters. Auch wurde eine neue Straße in der Nähe des
Charlottenburger Schlosses »Lohmeyerstraße« benannt. R. R.
Halfner, Traugott,') Stadtschultheiß von Marbach a. N., ♦ 24. Juni 1853,
f 24. Juni 1903. — Nach dem Besuch der Lateinschule seiner Vaterstadt
Marbach wandte sich H. der Notariatslaufbahn zu. Von 1877 — 1883 Polizei-
kommissär in Ludwigsburg, wurde er 1883 zum Stadtschultheißen (Bürger-
meister) von Marbach gewählt. Dieses Amt, in welchem er überaus segens-
reich gewirkt hat, brachte es mit sich, daß ihm auch die Obhut über Schillers
Geburtshaus mit seinen Reliquien, Handschriften und Bildnissen anvertraut
war. In der Hauptsache waren diese Schillererinnerungen im Jahre 1859 in
das damals aus Privatbesitz erworbene Schillerhaus gestiftet worden, besonders
von den Nachkommen Schillers; in den folgenden Jahrzehnten war nur hin
und wieder noch ein Stück hinzugekommen. Die erste wirkliche Bereicherung
seit 1859 erfuhren sie, als im Jahre 1890 die Erben von Schillers Schwieger-
») Totenliste 1903 Band VIII 45*.
422
Haffner.
tochter aus dem Nachlaß von Schillers ältestem Sohn Karl zwölf Familienbild-
riisse nach Marbach stifteten, darunter die von Ludovike Simanowiz während
Schillers Aufenthalt in Schwaben (1793/94) gemalten Bildnisse Schillers und
seiner Frau. Einen weiteren Ansporn, diesen Besitz an Bildnissen und Hand-
schriften zu mehren, gab H. die aus Anlaß des vierten Deutschen Neu-
philologentages in Stuttgart vom Württembergischen Verein für neuere
Sprachen während der Pfingstwoche 1890 veranstaltete Ausstellung von Hand-
schriften, Bildnissen usw. schwäbischer Dichter, in der Schiller besonders reich
vertreten war. Ihr ist die Anregung zu einem Museum und Archiv der schwä-
bischen Dichter überhaupt zu verdanken, das dauernd vereinigen sollte, was
hier vorübergehend zu sehen war. H. suchte die ihm durch diese Ausstellung
bekannt gewordenen Bildnisse und Handschriften Schillers aus dem Privat-
besitz für Marbach zu gewinnen; an käufliche Erwerbungen Von Bedeutung
konnte der von ihm geleitete, seit 1835 bestehende Marbacher Schillerverein
jedoch nicht denken. Da fand H. durch Vermittlung des Dichters J. G. Fischer
in dem Geh. Kommerzienrat Dr. Kilian v. Steiner in Stuttgart einen frei-
gebigen Förderer seiner Bestrebungen. Auf Schillers Todestag 1891 machte
dieser zum erstenmal eine Stiftung von Handschriften nach Marbach, der in
den nächsten Jahren weitere, äußerst wertvolle Zuwendungen von Hand-
schriften und seltenen Drucken folgten. Diese umfangreichen Vermehrungen
führten mit Notwendigkeit zu dem Gedanken, für die in den unzureichenden
Räumlichkeiten des Schillerhauses angesammelten Schätze, die dort nicht
feuersicher bewahrt und nicht entsprechend aufgestellt werden konnten, ein
besonderes Gebäude zu erstellen, ein Ziel, dessen Verwirklichung über die
Kräfte des kleinen Marbacher Schillervereins weit hinausging.
Bei wiederholten Besuchen in Marbach hatte König Wilhelm 11. von
Württemberg mit großer Freude von dem raschen Anwachsen und der erhöhten
Bedeutung der Sammlungen des Schillerhauses Kenntnis genommen. In einem
Handschreiben vom 8. Mai 1895 an H. erklärte es der König »für eine Pflicht
und Aufgabe des ganzen Landes, das den Ruhm genießt, die Heimat Friedrich
Schillers zu sein, das Werk, welches seine Geburtsstadt begonnen hat, in einer
der Bedeutung Schillers entsprechenden Weise weiterzuführen und zu vollenden.«
König Wilhelm II. gab die Anregung zur Umbildung des Marbacher Schiller-
vereins zu einem Schwäbischen Schillerverein, der außer der Erstellung eines
Museumsgebäudes und Fortführung der Sammlungen alles in den Kreis seiner
Bestrebungen ziehen sollte, »was die Verbreitung der Kenntnis der Schöpfungen
und der Persönlichkeit Schillers wie der Wirkungen, die er auf die geistige, sitt-
liche und patriotische Entwicklung des deutschen Volkes hervorgebracht hat, in
irgend einer Weise zu fördern vermag«. Die Anregung des Königs, der sich
als erstes Mitglied des Schwäbischen Schillervereins einzeichnete und das
Protektorat über denselben übernahm, fand freudigen Widerhall und opfer-
willige Förderer weit über Württemberg und das Deutsche Reich hinaus.
Schon im Mai 1901 konnte der Grundstein zum Schillermuseum gelegt werden,
das sich dem 1876 enthüllten Standbild des Dichters gegenüber erheben
sollte. Als stellvertretender Vorsitzender und Schriftführer des Schwäbischen
Schillervereins war der ebenso bescheidene wie tatkräftige H. im Verein mit
den beiden Vorsitzenden, Kabinettschef Frhr. v. Griesinger und Geh.
Kommerzienrat Dr. v. Steiner, unermüdlich tätig, selbst als ein beginnendes
Haffner. Volkmann.
423
Leiden, das ihn hin und wieder aufs Krankenlager warf, ihm die Arbeit
überaus erschwerte. Er hatte die Freude, daß Dank der Liberalität Steiners
und anderer Freunde der Sache neben zahlreichen auf Schiller, seine Familie
und seinen Kreis bezüglichen Handschriften auch der ganze im Besitz von
Uhlands Erben befindliche Nachlaß dieses Dichters, der von Justinus Kemer,
Gustav Schwab und Berthold Auerbach, der Hauff-Köllesche Nachlaß und
eine große Anzahl von Handschriften und Briefen anderer schwäbischer
Dichter dem alten Marbacher Grundstock in rascher Folge hinzuwuchsen.
Auf den Tag, der für die Einweihung des mit einem Kostenaufwand von
rund 260000 Mark erstellten Schillermuseums in Aussicht genommen war,
den 8. Mai 1903, verlieh ihm der König von Württemberg die große goldene
Medaille für Kunst und Wissenschaft am Band des Friedrichsordens; die
Einweihung selbst aber mußte auf den 10. November verschoben werden,
besonders auch mit Rücksicht auf eine neue Erkrankung H.s. Am 24. Juni
1903, seinem 50. Geburtstag, erlag er seinem schweren Leiden, bis in die
letzten Tage beschäftigt mit dem Werk, mit dem sein Name unlösbar ver-
knüpft bleiben wird. Seine Züge bewahrt das Ölgemälde, welches von dem
dankbaren Marbach zu dauerndem Gedächtnis des um seine Vaterstadt hoch-
verdienten Mannes auf die hundertste Wiederkehr von Schillers Todestag in
das Schillermuseum gestiftet wurde.
Wenn auch eigene literarische Tätigkeit ihm ferne lag, so war H. im
Laufe der Jahre doch mit allem, was Schiller betrifft, aufs beste vertraut
worden und hat mehr als einen Schillerforscher durch Nachweise und anderes
aufs uneigennützigste unterstützt. Richard Weltrich, auf dessen Anregung hin
er mit großem Erfolg um die Aufhellung von Schillers Stammbaum bemüht
war, hat darum (Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 2. März 1899, Nr. 51)
H. mit vollem Recht einen Mann genannt, »dessen wissenschaftlichem Eifer,
zuverlässiger Sachkenntnis und treuer, selbstloser Hingabe die Schiller-
forschung manchen schätzenswerten Aufschluß verdankt.«
Otto Güntter.
Volkmann, Diederich,i) Geheimer Regierungsrat und Rektor a. D. der
kgl. preuß. Landesschule Pforta, ♦13. September 1838 in Bremen, f 13. Juli
1903 in Tabarz. — Sohn eines Bremer Gymnasiallehrers, wandte sich V.
selbst 1857 durch das Studium der klassischen und deutschen Philologie in
Bonn und Breslau — 1861 promovierte er — der Lehrerlauf bahn zu; er be-
gann sie Michaelis 1861 an der Landesschule Pforta und beschloß sie an
derselben Schule 37 Jahre später; nur wenige Jahre wirkte er an andern
Schulen: vom Sommer 1873 bis Herbst 1874 war er Direktor des Gymnasiums
in Görlitz, von da an bis zum August 1878 des Elberfelder Gymnasiums.
Im Oktober 1878 kehrte er als Rektor nach Pforta zurück und hat 20 Jahre
lang die Landesschule in segensreicher Tätigkeit geleitet, bis zunehmende
Nervosität ihn veranlaßte, Herbst 1898 in den Ruhestand zu treten. Er zog
nach Jena, wo er erst aufs erfreulichste sich zu erholen schien, dann aber,
kurz vor Abschluß einer mit regstem Eifer wieder aufgenommenen wissen
1) Totenliste 1903 Band VIII 117*.
424
VolkmaDn.
schaftlichen Arbeit, im Beginn des Jahres 1900 nervösem Siechtum anheim-
fiel, das ihm nur selten erlaubte sich von der Lagerstatt zu erheben. Im
Juli 1903 suchte er Erleichterung in dem Thüringer Waldort Tabarz; dort
erlag er wenige Tage nach seiner Ankunft einer hinzugetretenen Lungen-
entzündung. Verheiratet war V. seit 1866 mit Clementine Breslau, Schwester
des nachmaligen Oberbürgermeisters von Erfurt; von seinen fünf Söhnen hat
sich der zweite, seit 1894 Offizier der südwestafrikanischen Schutztruppe, 1904
ganz besonders verdient gemacht bei der Bekämpfung der aufrührerischen
Hereros.
Aus der kurzen Darlegung des äußerlich so einfach verlaufenen Lebens-
ganges erhellt, daß von Vs. Tätigkeit sprechen davon sprechen heißt, wie er
an der Landesschule Pforta gewirkt hat. Als V. in Pforta eintrat, waren so
ausgeprägte Persönlichkeiten an ihr tätig, wie der Geschichtsforscher Carl
Peter, der Platoniker Steinhart, der Literaturhistoriker Koberstein, der
Sprachforscher Corssen u. a. mehr, denen von Wilamowitz-Moellendorff in
der Vorrede zu seinen Reden und Vorträgen einen den Schreiber wie die zu
Rühmenden gleichmäßig ehrenden Nachruf geschrieben hat; als er Pforta
verließ, lehrten dort Männer, die pädagogisch den erstgenannten nicht nach-
standen, didaktisch ihnen gewiß überlegen waren, aber doch, dem nivellierenden
Zuge der Zeit gemäß, nicht einen so tiefgreifenden Einfluß auszuüben ver-
mochten wie jene Lehrer des gelehrten von Wilamowitz. V. war es gewiß
nicht zu Dank, daß er selbst mitwirken mußte, dem Drange der Zeit nach
Vielseitigkeit im Lehrplan der alten Schule nachzugeben und so manche
Eigentümlichkeit — ich nenne z. B. die lateinische Versifikation — aufzu-
geben. An den durch das Alter bewährten eigenartigen Einrichtungen des
Alumnats ließ er aber nicht rütteln, ohne sich freilich Änderungen im ein-
zelnen und wirklichen durch neue Anschauungen gegebenen Besserungen zu
verschließen; im besonderen war die in das Alumnatsleben wie den Lehr-
plan gleichmäßig eingreifende Einrichtung des „Studientages** (eines den
Schülern in jeder Woche zur Privatlektüre besonders in den klassischen Sprachen
freigegebenen Tages ohne Unterrichtsstunden) ein von ihm mit Erfolg ver-
teidigtes AW/ tne tangere. Als Leiter der Schule wollte er, wie er selbst ein-
mal sagte, seine L^ntergebenen, jedem seine Eigenart lassend, nur auf das
gemeinsame Wohl der Schule „stimmen". Vielleicht hätte er in manchen
Fällen, bei Lehrern wie Schülern, kräftiger zufassen können, vielleicht hätte
er seine Abneigung gegen die vielen Formalien, gegen die ärgerlichen Be-
richte an die vorgesetzte Behörde, die, wie sonstige unangenehme Arbeiten,
öfter über Gebühr liegen blieben (und die er doch so meisterhaft und, wenn
die Zeit drängte, so schnell abzufassen wußte), mit größerer Energie be-
kämpfen sollen; aber der Mann, als Ganzes in seinem Tun und Lassen ge-
nommen, war doch ein ganz hervorragender Rcctor Portensls. Eine hoch auf-
geschossene, schlanke Gestalt, das Gesicht umrahmt von frühzeitig ergrautem,
frühzeitig weiß gewordenem, kurzem Vollbart, das Auge Milde und Wohl-
wollen blickend, strahlte er eine natürliche Würde aus, der sich jeder
beugte, und zugleich eine Liebenswürdigkeit, die das Herz aller, die zu ihm
in nähere Beziehung treten durften, gewann. Ihm war nichts so zuwider,
wie sich in Pose zu setzen; er ließ im Verkehr mit dem Jüngsten wie
dem Ältesten so gar nicht den Vorgesetzten fühlen; doch kam es darauf an,
Volkmann. Buchner. ^2 5
SO wußte er, namentlich nach oben hin, den Standpunkt des Rector Portensis
mit vollem Bewußtsein zu vertreten. Wie V. in den Tagen der Gesundheit im
gern aufgesuchten geselligen Kreise ein vorzüglicher Erzähler war voll ent-
zückenden Humors, der doch nie verletzte, so war er auch bei den vielen
Gelegenheiten, die seine Stellung zu öffentlichem Auftreten bot, ein aus-
gezeichneter Redner, zumal wenn er frei sprach; seine vorbereiteten und ab-
gelesenen Reden waren trefflich, aber zuweilen etwas akademisch. Aber
sonderbar: derselbe Mann, welcher, ob er nun Schülern eine Strafrede zu
halten hatte oder ob er vor großer auserwählter Corona die Jahrhunderte
alte Schule vertrat, kaum je ein Wort gesprochen hat, das er oder andere
nachher ungesprochen zu wünschen nötig hatten, derselbe Mann ängstigte
sich vor jedem solchen Auftreten, und eine unbedeutende Tischrede, die er
halten sollte, konnte ihm den Schlaf rauben. Als im Jahre 1893 das 350-
jährige Jubiläum der Schulpforte bevorstand, war V. vor Aufregung über die
ihm dabei als Rektor bevorstehenden Aufgaben geradezu krank und kaum
noch arbeitsfähig; und wie hat er doch nachher, als er vor den vielen
hunderten von studierten Leuten den glückwünschenden Ansprachen nun zu
antworten hatte, das meisterlich zu tun verstanden, voll Würde und voll Humor,
in herzlicher Einfachheit und doch getragen von dem Bewußtsein, daß er an
historischer Stätte sprach ! Es liegt wohl auf demselben Felde, wenn der über-
zeugte Anhänger des klassischen Altertums, der seinen Anschauungen auch
auf der Dezemberkonferenz in Berlin 1890 unumwundenen Ausdruck gab,
der feinsinnige Philologe, der in alten wie neuen Sprachen vielseitige und
tiefgehende Kenntnisse und überzeugende Urteilskraft besaß, nur wenig und
nichts von größerer Bedeutung veröffentlicht hat; er konnte auch da nicht
zu rechter Zeit den Abschluß finden, war mit dem Erreichten nicht zu-
frieden; und als er im Ruhestande endlich mit seinen Arbeiten über die
Scriptores rerum Alexandri Magni kurz vor der Fertigstellung zum Druck stand,
da nahm ihm, tragisch genug, lähmende Krankheit die Feder für immer aus
der Hand.
V. war begeisterter Patriot, ein mit Herz und Mund seinem Bismarck
und seinen Königen ergebener Mann, aber — ein Sohn einst der Republik
Bremen — ein freier Mann und abhold jedem Anflug von Byzantinismus;
er war ein herzensfrommer Christ und regelmäßiger Kirchgänger, aber feind
jedem Zurschaustellen äußerer religiöser Formen und leerem Gepränge und
jedem Übergriff der Kirche ins weltliche Gebiet.
Vgl. Ecce der Landesschule Pforta 1903 (von H. Schreyer) und danach Bursians
Jahresbericht über die Fortschritte der klass. Altertumswissenschaft, Bd. 123 (Biogr. Jahrb.),
S. 1—9. Max Hoffmann-Pforta.
Buchner, Otto,*) Kunsthistoriker, * 25. August 1869 in Krefeld, f 18. August
1903 in Erfurt. — Er besuchte das Realgymnasium, später das Gymnasium
seiner Heimatstadt und trat aus der Sekunda 1886 bei der Firma G. D. Bädeker
in Essen ein, um sich als Buchhändler auszubilden. Nach Abschluß der
Lehrzeit fand B. 1889 bis 1893 Anstellung bei der Verlagsgesellschaft »Union«
in Stuttgart, war hierauf vorübergehend Privatsekretär bei Fr. v. Lipperheide
») Totenliste 1903 Band VIII i8*.
A26 Buchner. Oldenbourg.
in Tirol und dann wieder in Halle a. d. Saale und Krefeld als Buchhändler
tätig. Im Jahre 1895 gab er seinen bisherigen Beruf auf und ward in Solingen
bis 1898 Redakteur der »Solinger Zeitung«. Da erwachte in ihm eine
unbezwingliche Neigung zu den Kunstdenkmälem vergangener Zeiten und ver-
anlaßte den Neunundzwanzigjährigen abermals zu einschneidendem Berufswech-
sel. Als Student der Kunstgeschichte trat er 1898 an der Universität München
wiederum in die Reihen der Anfänger. In Berlin und Jena setzte er seine
Studien fort und schloß sie 1902 in Heidelberg ab mit einer hervorragenden
Doktordissertation über »Die mittelalterliche Grabplastik in Nord-Thüringen
unter besondrer Berücksichtigung der Erfurter Denkmäler« (in erweiterter
Form zu Straßburg bei Heitz erschienen). Von Ostern 1902 bis dahin 1903
nahm B. als Gehilfe von Prof. Paul Weber in Jena an der Einrichtung des
dortigen städtischen Museums teil und wandte sich, als diese Arbeit vollendet
war, nach Weimar, wo er sich sogleich in die Bau- und Kunstdenkmäler der
Stadt vertiefte und Stoff zu Vorträgen darüber sammelte. Die Leiter der
kunstgeschichtlichen Ausstellung^ die im Herbst 1903 in Erfurt stattfand, be-
riefen ihn Anfang August d. J. nach Erfurt als Hilfsarbeiter bei Vorbereitung
und Anordnung der Ausstellung. Mitten in dieser Tätigkeit wurde B. von
einer hitzigen Krankheit befallen, die seinem hoffnungsvollen Leben am
18. August frühzeitig ein rasches Ende setzte; die Feuerbestattung fand in
Eisenach statt. Außer der Doktorarbeit erschienen von B., und zwar zumeist
erst nach seinem Tode, verschiedene gehaltvolle Abhandlungen, nämlich in
der »Zeitschrift für christliche Kunst« 1903!: »Über die gravierten Grab-
platten im Erfurter Dom«; »Über den sogenannten Wolfram und die älteren
Bronzekunstwerke des Erfurter Domes«; »Über Tiersymbolik in der christ-
lichen Kunst«; »Liturgische Saugröhrchen«; und in den »Mitteilungen des
Erfurter Geschichtsvereins« eine umfängliche Arbeit über den »Severisarkophag
zu Erfurt und seinen Künstler, samt Übersetzung der yUa et translatio Sancti
Scveri^,
Mitteilungen der Familie. — Vita in der Dissertation. — Leipz. Illustr. Zeitiing 1903
Nr. 121 S. 334. — Overmann im Erfurter »Allgemeinen Anzeiger« vom 21. August 1903. —
Möller in der Zeitung »Deutschland« (Weimar) Nr. 232 vom 25. August 1903, zweites Blatt. —
Mitteilungen des Erfurter Geschichtsvereins XXV S. VII. P. Mitzschke.
Oldenbourg, Rudolf,^) ♦ 15. Dezember 181 1 zu Leipzig, f lo- Oktober 1903
in München, Verlagsbuchhändler und Buchdruckereibesitzer, Begründer der
unter der Firma seines Namens in München (mit Zweigniederlassung in Berlin)
bestehenden angesehenen Verlags- und Buchdruckereifirma, Inhaber des kgl.
bayer. Verdienstordens vom hl. Michael 4. Klasse. — O. war der Sohn des
Leipziger Großhändlers Georg Martin Oldenbourg und dessen Ehefrau Karo-
line geb. Lübeck, einer Tochter des Hofgerichtsadvokaten Lübeck zu Weimar.
Die Vorfahren seines Vaters lebten in Hannover, in der Gegend von Hoya
an der Weser. O. besuchte das Nikolaigymnasium in Leipzig. Der Aufent-
halt in der Stadt des Buchhandels mag ihm die Anregung gegeben haben,
sich auch seinerseits auf diesem Gebiete zu versuchen. Jedenfalls trat er
1827 als 15^/1 jähriger Jüngling in eine Buchhandlung in Lübeck ein, um den
») Totenliste 1903 Band VIII 83*.
Oldenbourg. 4.2 7
Buchhandel zu erlernen. Hatte er während seiner fünfjährigen Lehrzeit nicht
selten Veranlassung, über die Behandlung zu klagen, der er sich nach den
strengen Anforderungen der damaligen Zeit ausgesetzt sah, so gestaltete sich
sein Leben um so angenehmer, als er 1832 zur Übernahme einer Gehilfenstelle
in der bekannten Frommannschen Buchhandlung nach Jena ging. Hier ver-
brachte er fast anderthalb Jahre. Als er aus dem Frommannschen Kreise
schied, ließ der buchhändlerische und geistige Ertrag jener Jahre erkennen,
wie gut er seine Zeit zu nützen verstanden hatte.
Er wandte sich nun nach London, wo er durch Vermittlung eines Leip-
ziger Freundes eine Anstellung in einer Buchhandlung erhalten hatte, deren
Inhaber ein Deutscher war. Das Geschäft war bei seinem Eintritt im ent-
schiedenen Niedergang begriffen und deshalb nicht dazu angetan, ihm ein
längeres Verweilen darin wünschenswert erscheinen zu lassen. Da ihm auch
sonst das englische. Geschäftsleben keine Befriedigung gewährte, so ergriff
er die erste sich ihm darbietende Gelegenheit, um nach Deutschland zurück-
zukehren.
Wieder in der Heimat, war es zunächst die Buchhandlung von Schmerber
in Frankfurt a. M., die ihm anregende und lohnende Beschäftigung bot. Diese
Stellung war wohl an sich schon eine solche, wie sie seinen damaligen
Wünschen und Neigungen am meisten entsprach. Eine ganz besondere Be-
deutung sollte sie aber für ihn dadurch erhalten, daß sie ihm den Eintritt
in die große Cottasche Buchhandlung in Stuttgart vermittelte und damit
seiner Laufbahn endgültig Richtung und Ziel wies.
Eine Annäherung an das Cottasche Geschäft zu suchen, war O. durch
seinen Prinzipal und Freund Schmerber selbst veranlaßt worden, der die
latenten Kräfte in ihm, die ihn zu einer Wirksamkeit im größeren Betriebe
befähigten, früh wahrgenommen und sich vorgesetzt hatte, ihm die Möglich-
keit zu ihrer Verwertung zu verschaffen. Dank dieser Unterstützung erreichte
er es, daß die Cottasche Buchhandlung ihn 1836 zum Geschäftsführer ihres
Münchener Zweiggeschäftes, der literarisch-artistischen Anstalt, ernannte.
In München sah er sich einem umfangreichen Pflichtenkreise gegenüber.
Man hatte ihm neben den rein buchhändlerischen Angelegenheiten auch die
Wahrnehmung der geschäftlichen Interessen der »Augsburger Allgemeinen
Zeitung«, eines weiteren großartigen Unternehmens des Cottaschen Verlages,
anvertraut. Wie viele Reisen hat er in jenen Tagen nicht nach Stuttgart
und Augsburg unternommen, um in mündlicher Aussprache zu ordnen, was
sich schriftlich nicht so rasch und so gründlich hätte erledigen lassen! Es
würde hier zu weit führen, alle Unternehmungen aufzuzählen, die damals
vorwiegend durch ihn ins Leben gerufen wurden. Nur einer der größten
mag gedacht werden:
Im Jahre 1843 gründete er die Bibelanstalt der Cottaschen Buchhandlung.
Den neuen Geschäftszweig wußte er in kurzer Zeit so zu entwickeln, daß er
lange eine Quelle beträchtlichen Gewinns blieb, an dem er partizipierte, da
er für diesen Geschäftszweig inzwischen Handlungsgesellschafter der Firma
geworden war.
Man sollte meinen, daß eine so weit verzweigte Tätigkeit, zu der sich
noch die tägliche Not der kleinen Aufgaben des laufenden Geschäftes ge-
sellte, O. völlig beansprucht hätte. Das war jedoch keineswegs der Fall.
428 Oldenbourg.
Er fand noch die Zeit, im Jahre 1858 ein weiteres Geschäft zu eröffnen und
mit Billigung der übrigen Gesellschafter unter der Firma seines Namens für
eigene Rechnung zu betreiben. Durch dieses legte er den Grund zu seinem
später so großen Verlage.
Der erste Verlagsartikel, der seine Firma trug, war das heute noch
blühende und im hohen Ansehen stehende »Journal für Gasbeleuchtung und
Wasserversorgung«. Der mit diesem Unternehmen eingeschlagenen Richtung
ist sein Verlag immer treu geblieben, auch als später noch andere Materien
in den Bereich der Verlagstätigkeit gezogen wurden. Es ist O. als ein be-
sonderes Verdienst anzurechnen, daß er als einer der ersten deutschen Ver-
leger das Aufblühen der technischen Wissenschaften in Deutschland, das
etwa um jene Zeit einsetzte, richtig erkannte und buchhändlerisch zu verwerten
wußte, wie außer der genannten Zeitschrift auch noch andere Unternehmungen
technischen Charakters bezeugen, die auf seine Anregung hin entstanden.
Unterdessen hatte zunehmende Kränklichkeit in dem Hauptinhaber der
Cottaschen Buchhandlung, dem Freiherrn Georg von Cotta, den Wunsch
nach möglichster Verringerung der auf ihm ruhenden Geschäftslast entstehen
lassen. Als daher die Münchener Niederlassung der Firma in der Zeit von
1860 — 1868 aufgelöst wurde, erwarb O. ansehnliche Teile von ihrem Verlag
und führte sie seinem eigenen Geschäfte zu, indem er unter völliger Be-
schränkung seiner Wirksamkeit auf dieses zugleich endgültig aus der Cotta-
schen Buchhandlung ausschied.
Durch die Erwerbungen aus dem Cottaschen Verlage vermehrte O. die
Zahl seiner Unternehmungen so beträchtlich, daß sein Geschäft schon von
dem Augenblicke an, wo es allein für sich auftrat, zu den größeren seiner
Art gezählt werden mußte. Es immer weiter auszubauen und der Größe
entgegenzuführen, in der es heute eine Zierde des deutschen Buchhandels
bildet, blieb von nun an seine stete Sorge. Er erwarb zu diesem
Zwecke 1873 die Pustetsche Buchdruckerei, übernahm das Jahr darauf den
bayer. Zentral-Schulbücherverlag und gründete in den Jahren 1883/ 1884 eine
eigene Groß-Buchbinderei. Alle diese großangelegten Unternehmungen, die
die weitgehendsten Anforderungen an sein Können stellten, wußte er in der
geschicktesten Weise einzuleiten und durchzuführen. Die wichtigste, aber
auch die, die ihm die meiste Mühe verursachte, war dabei wohl die An-
gliederung des umfangreichen Schulbücherverlages an seine Firma.
Hand in Hand mit diesem mehr kaufmännischen Wirken ging seine
eigentliche verlegerische Tätigkeit. Ihr waren neben anderen Werken Unter-
nehmungen wie die 30 Bände umfassende naturwissenschaftliche Volksbibliothek
»Die Naturkräfte«, die in 62 Bänden erschienenen drei Sammlungen »Novellen-
schatz«, Baumeisters Denkmäler des klassischen Altertums und in neuerer
Zeit H. V. Sybels siebenbändige Geschichte der Begründung des Deutschen
Reiches durch Wilhelm I. zu danken. Von diesen wiederum beansprucht
wohl das zuletzt genannte Werk die größte Beachtung, jedenfalls war es die-
jenige Unternehmung, die O. mit besonderer Genugtuung erfüllte, und die
ihm in der Art ihres literarischen und buchhändlerischen Eindruckes den
Abend seines Lebens verschönte.
Es versteht sich von selbst, daß O. zu den geistigen Größen Münchens
beinahe von Beginn seines Aufenthaltes in dieser Stadt an in rege Beziehungen
Oldenhourg. 4-0
getreten war. Emanuel Geibel, Justus v. Liebig, die Mehrzahl der bedeuten-
den Männer, die König Max IL* von Bayern um sich vereinigte, Paul Heyse,
Leuthold und viele andere waren seine Freunde, ebenso die großen Gelehrten
Martius, Pettenkofer, Sybel und Voit, die ihm auch als Autoren seines Ver-
lages nahe standen. Das Band treuer Freundschaft, das ihn mit Heinrich
V. Sybel verknüpfte, wurde erst durch* dessen Tod gelöst.
Dies der äußere Rahmen, in dem sein den Zeitraum von fast 80 Jahren
umspannendes Berufsleben sich bewegte. Welche inneren Kräfte seines
Wesens waren es nun, die ihn befähigten, in der geschilderten Weise erfolg-
reich tätig zu sein? Sicherlich vor allen sein durchdringender Verstand,
seine durch nichts zu lähmende Tatkraft und seine strenge Rechtschaffenheit.
Aus dem ersterwähnten erwuchs ihm der scharfe Überblick über große Ver-
hältnisse im Leben und in der Literatur und die klare Einsicht in das Wesen
der Dinge. Die Vereinigung beider aber schützte ihn vor Fehlgriffen, indem
sie ihm das richtige Augenmaß für die Faktoren gab, mit denen er bei seinen
Unternehmungen zu rechnen hatte. Während dann seine Tatkraft ihn zu
festen Entschlüssen und zum Handeln führte, war es hauptsächlich seine
Rechtschaffenheit, die ihm den guten Ruf gründete und das Vertrauen seiner
Autoren erwarb.
Erscheint O. so bereits als eine bestimmt ausgeprägte Persönlichkeit,
als ein offener und zuverlässiger Charakter, so werden einige weitere Züge
seines Wesens diesen Eindruck noch vertiefen. Er war von großer Treue
gegen alle, die ihm näher getreten waren. Besonders schön zeigte sich das
in seinem Verhältnis zu seinen Angestellten. Hier betonte er stets, daß jeder,
der in seinem Hause tätig sei und seine Pflicht tue, mit dem Gefühl erfüllt
werden müsse, daß er ein sicheres Unterkommen gefunden habe. Zu rühmen
ist ferner die hohe Auffassung, mit der er seinem Beruf gegenüberstand.
Sie ließ erkennen, daß er, wenn er als guter Geschäftsmann auch zunächst
darauf aus war, finanziell realisierbare Werte zu schaffen, doch höhere Inter-
essen als das bloße Geldverdienen hatte. In diesem Zusammenhange sei
auch des regen Eifers gedacht, mit dem er bis in das höchste Alter hinein
das unermeßliche Kapital idealer Bildung zu mehren sich angelegen sein
ließ, das sich ihm schon in den Tagen fröhlicher Jugend tief in Herz und
Geist gesenkt hatte.
In seiner äußeren Erscheinung war O. ein kräftiger, über die mittlere
Größe hinausragender Mann mit gut entwickelten Gesichtszügen unter einer
in der Jugend dunklen, später weißen Haarfülle und mit kurzgehaltenem
Backenbart. Seine Bewegungen waren energisch, und bei der Unterhaltung,
die er durch geistvolle Bemerkungen zu beleben wußte, ließ auch das Spiel
seiner Mienen seinen beweglichen und lebhaften Geist erkennen. Nach Be-
tätigung und Anerkennung im öffentlichen Leben zu streben, lag ihm fern;
er hat öffentliche Ämter mit Ausnahme des eines Handelsappellrichters und
verschiedener Ehrenämter im Dienste des Börsenvereins der deutschen Buch-
händler stets abgelehnt. Politisch hielt er zur liberalen Flagge in München,
ohne indessen als Parteimann hervorzutreten. Staunenswert war das Interesse,
das er noch in hohen Jahren für Menschen und Dinge an den Tag legte.
Die sinnliche Frische und Lebenskraft des Jünglings waren auch dem Greise
fast ungeschwächt erhalten geblieben.
^.^o Oldenbourg. von Polens.
Sein Lebensbild wäre unvollständig, wollte man nicht auch seines
Familienlebens Erwähnung tun. Hier war er ganz Mensch und hier kannte
er nur den einen Ehrgeiz, ein liebevoller Gatte und treusorgender Vater zu
sein. Er hatte sich am 6. Juni 1843 mit Emilie Blochmann, einer Tochter
des weitbekannten Pädagogen Dr. Karl Blochmann in Dresden, verheiratet.
Mit ihr, dem Vorbild einer deutschen Hausfrau, ist er mehr als 60 Jahre in
glücklichster, mit vier Söhnen und fünf Töchtern gesegneter Ehe vereinigt
gewesen. Nichts Reizvolleres ließ sich denken, als ihn im letzten Jahrzehnt
seines Lebens bei größeren Familienfesten inmitten der Seinigen zu sehen.
Wie ein Patriarch alter Zeiten war er da von seiner Gattin, seinen Kindern,
Enkeln und Urenkeln umgeben. Nach Menschenlos hat es ihm dann frei-
lich auch an schwerem Leid nicht gefehlt: zwei verheiratete Töchter und
eine verheiratete Enkelin sah er vor sich ins Grab sinken.
So hat er bis kurz vor seinem Ende gelebt. Erst als der Tod sich ihm
nahte, fand er einen müden Mann; während er noch seinen 90. Geburtstag
in voller geistiger und körperlicher Rüstigkeit unter ehrender Teilnahme des
bayerischen Herrscherhauses und weiter Kreise der Bürgerschaft und des
Buchhandels hatte feiern können, war dann doch nicht allzu lange danach
ein merkliches Schwinden der Kräfte eingetreten. Dann ist er hingesunken
wie ein welkes Blatt, das der Herbstwind zur Erde hinabträgt, wie es in dem
Nachruf stimmungsvoll heißt, den eine große Münchener Zeitung ihm widmete.
Unter den Segnungen, die ihm im Laufe eines langen Lebens zuteil
geworden, ist nicht die geringste, daß er in seinen Söhnen treue und ver-
ständnisvolle Mitarbeiter fand. Sie führen jetzt sein Lebenswerk in seinem
Geiste weiter, indem General-Konsul und Kommerzienrat Rudolf Ritter
von O. und k. b. Handelsrichter Paul O. die Verlagsabteilung der Firma
leiten, während Kommerzienrat Hans O. deren technischen Betrieben vor-
steht. Die Firma beschäftigt zurzeit ein Personal von über 400 Beamten
und Arbeitern.
Benutzte Literatur: Tag^eszeitungen und die im vorstehenden größtenteils wört-
lich wiedergegebene biographische Einleitung des Verfassers zum Jahrgang 1905 des
Offiziellen Adreßbuches des Deutschen Buchhandels, das auch ein sehr gutes Bild (Kupfer-
stich) Oldenbourgs nach einer Photographie aus den siebziger Jahren enthält.
Max Bierotte.
Polenz, Wilhelm Christoph Wolf von,') * 14. Januar 1861 zu Ober-
Cunewalde in der sächsischen Oberlausitz als der älteste Sohn des Kammer-
herm und Klostervogts von Polenz, f 13. November 1903 zu Breslau. —
P. stammt aus einem alten thüringisch -sächsischen Adelsgeschlecht, dessen
historisch verbürgte Urkunden bis zum Jahre 1180 zurückgehen; bis zum
14. Jahr von Hauslehrern unterrichtet, kam P. dann in das Internat des »Vitz-
thumschen Gymnasiums« zu Dresden, wo Professor Diestel, ein von vielen
Seiten gerühmter Pädagoge, für P. von Einfluß wurde. Im Eltemhause fand
der Knabe besonders bei seiner genial veranlagten Schwester Hertha Ver-
ständnis, welche auch später als Schriftstellerin mit Erfolg an die Öffentlich-
keit trat. Nach Ablegung des Abiturientenexamens diente P. zunächst im
») Totenliste 1903 Band Vlll 87*.
von Polenz.
431
Dresdener Gardereiterregiment, dessen Rittmeister Moritz von Egidy auf P.
starken und nachhaltigen Eindruck machte, sein Freiwilligenjahr ab.
Nach Ablauf des Militärjahres studierte P. mehr seinem Vater zu Liebe als
eigener Neigung folgend, in Breslau, Berlin und Leipzig Rechtswissenschaft. In
Berlin wirkte auf P., der auch viele außerhalb seines Fachs liegende Kollegien
besuchte, besonders Heinrich von Treitschke. Nach Beendigung seiner Rechts-
studien trat P. bei dem Dresdener Gericht als Referendar ein. Immer offener
treten jetzt bei dem jungen P. literarische Interessen an den Tag, die ihm
nicht selten aus den Kreisen seiner Geburt offene Anfeindung eintragen. Als
P. sich mit Emily Beatrice Robinson, einer jungen Engländerin, verlobt
hatte, trat er endgültig aus dem Staatsdienst, um sich nunmehf ganz der
Literatur zu widmen. Jetzt ging P. nach Berlin, wo er auch mit dem
Naturalismus und seinen wichtigsten Vertretern in Berührung kam. Hier in
Berlin trat P. besonders Moritz von Egidy nahe, dessen Persönlichkeit und
dessen Ideen auf den jungen Schriftsteller von großem Einfluß waren. Bald
zog sich P., für das Großstadtleben nicht geschaffen, auf das väterliche Land-
gut Ober-Cunewalde zurück, das er dann kurz darauf selbst übernahm, um
es bis an das Ende seines Lebens, das fast ausschließlich der Landwirtschaft
und freier Schriftstellerei gewidmet war, zu verwalten. Aus seiner Ehe gingen
vier Kinder, zwei Knaben und zwei Mädchen hervor. Noch kurz vor seinem
Tode hatte P. noch eine eingehende Studienreise nach Amerika gemacht.
Mit dem im Jahre 1893 erschienenen dreibändigen Roman »Der Pfarrer
von Breitendorf« errang nun Polenz seinen ersten großen Erfolg. Das in den
späteren Auflagen um einen Band gekürzte Werk eröffnet einen aus drei
Romanen bestehenden Zyklus, in dem P. vorwiegend das ländliche Leben
seiner Heimat darstellt. Im »Pfarrer von Breitendorf« wird das Ringen eines
Menschen um eine feste individuelle Lebensanschauung in einer Weise dar-
gestellt, die P. sogleich als hervorragenden Psychologen erkennen läßt. Es
ist ein ethischer, aber kein künstl^scher Fehler, daß der Held des Buches,
ein liberal gesinnter, von unbezähmbarem Wahrhaftigkeitsdrang erfüllter
Landgeistlicher, zu einer festen Weltanschauung trotz alles Kämpfens nicht
kommt.
Das künstlerisch Wertvollste an dem »Pfarrer von Breitendorf« ist neben
der kulturellen Bedeutung der darin behandelten Probleme und der auftretenden
Typen, das reiche, warme Innenleben dieses Pfarrers, der auf der Suche
nach Wahrheit und Menschen in die Gefahr kommt, zugrunde zu gehen. Die
Wandlung, die Gerland durchmacht, läßt sich in einem Worte ausdrücken:
»Er hat die negative Seite des Christentums, die es auf eine unerhörte
Daseinsentwertung abgesehen hat, überwunden und findet Gott von neuem,
nach dem er sich des Freien und Göttlichen in sich bewußt geworden ist.
So weicht das Christentum der Demut bei ihm einem Christentum heiligen
Stolzes, und aufrecht, selbst ein Teil Gottes, verehrt er nun den, den er
vorher im Staube seines Angesichts angebetet hatte.
Die bedeutendste Dichtung, die P. überhaupt geschaffen, ist der nach
dem »Pfarrer von Breitendorf« erschienene Roman: »Der Büttnerbauer«. Das
Buch gehört in die Reihe der Werke, die wie Immermanns »Oberhof«, Kleists
»Michael Kohlhaas«, Otto Ludwigs »Erbförster«, Dichtungen spezifisch männ-
lichen Naturempfindens, Natur aus erster Hand geben.
432
von Polenz.
Der »Büttnerbauer« schildert den langsamen, aber unabwendbaren Verfall
eines bäuerlichen Besitzes. Es ist ein hoher künstlerischer Vorzug, dafi P.
hierbei nichts auf den Zufall gestellt hat, und daß die ganze Geschichte von
einer inneren, unerbittlichen Notwendigkeit beherrscht wird. Traugott Büttner
geht nicht an irgendwelchen verhängnisvollen Eigenschaften zugrunde, kein
Unfall beschleunigt — wie so oft in unseren Romanen — das Verhängnis,
natürlich, wie ein Tag auf den andern, reiht sich Glied an Glied, bis der
Mann, den wir gesund und aufrecht kennen lernten, seinen Hof und seine
Heimat im Besitze eines intriguanten Juden sehend, sich erhängte. Der Unter-
gang des Bauern hat etwas Typisches und erscheint wie ein Ausschnitt aus
dem Leben der Allgemeinheit. Nicht bei allen wird der Mund im Schmerze so
verstummen wie bei diesem Bauern, aber alle, die den unerbittlichen Gesetzen
der fortschreitenden Natur und der Geschichte gegenüber so hartnäckig auf
dem Boden der Tradition und des Natürlichen verharren, müssen so oder
ähnlich zugrunde gehen. So ist der »Büttnerbauer« nicht nur die Tragödie
des Bauern, sondern die Tragödie des schlichten Naturmenschen überhaupt.
Diejenigen, die auf die hohen künstlerischen Qualitäten des »Büttnerbauer«
bei seinem Erscheinen besonders aufmerksam gemacht haben, sind Theodor
Fontane und Leo Tolstoi.
Nach dem »Büttnerbauer« erschien als Beschluß des großen Tryptichon
der »Grabenhäger«, dasjenige Werk des Dichters, in welchem, wenn es auch
an Bedeutsamkeit dem »Büttnerbauer« nachsteht, das reichste Leben herrscht.
Der Roman zeigt uns, wie ein leichtlebiger und flacher Kavalier von zwei
Seiten noch einmal erzogen und zu einem andern Menschen gemacht wird:
durch sein Weib und die tägliche Pflichtübung, die die Aufrechterhaltung
seines verschuldeten Besitztums erfordert. Diese Wandlung wird in diesem
Romane meisterhaft geschildert.
Das Leben und Treiben auf einem großen Rittergute — P. hatte zu
diesem Roman eingehende Studienreisen nach Ostelbien unternommen —
ist noch nie in einem deutschen Roman mit solcher Sachkenntnis und An-
schaulichkeit geschildert worden.
Das Künstlerische aber hat bei aller Sachlichkeit nicht gelitten. Die
Menschen auf Grabenhagen sind vorzüglich gezeichnet und ihre Beziehungen
zu einander mit fast Zolascher Naturtreue geschildert. — Nie aber verfällt F.
ins Lüsterne. Er ist offen und vorurteilsfrei genug, um zuzugeben, daß es
auch in den Kreisen, aus denen er selbst stammt, nicht allzuweit her ist.
Mit Interesse sehen wir in dem so wahrheitsgetreuen Buche, wie der Ritter-
gutsbesitzerstand ebenso wie der Kaufmann in der Stadt und der Industrielle
heute dem Materialismus verfallen ist. Geld ist hier ebensosehr der angebetete
Götze als irgendwo anders. Der Geburtsadel macht, wie die Gestalt und
das Gebahren eines reichen Kommerzienrates zeigt, mit dem Geldadel schon
längst gemeinsame Sache.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
ist das in dem Buche behandelte soziale Problem. So hat es auch, von den
künstlerischen Qualitäten abgesehen, für alle Sozialethiker fast wissenschaft-
lichen Wert. — So stellen diese drei großen Romane ein Werk von kultur-
historischer Bedeutung dar. Die großen Fragen unserer Zeit, die religiöse
Frage, die Frage nach der sozialen Stellung des Arbeiters und des Arbeit-
von Polenz.
433
gebers sind in wenigen deutschen Erzählungen unserer Zeit mit so viel Sach-
kenntnis und ruhiger Sachlichkeit und mit so wenig aufdringlicher Tendenz
behandelt worden.
Von den noch übrigen drei Erzählungen großen Stiles, welche P. ge-
schrieben hat, verdient der zweibändige Roman »Thekla Lüdekind« die
ernsteste Beachtung. Er führt uns seit seinem ersten Roman »Sühne« zum
ersten Male wieder in das Leben und Treiben des Stadtlebens hinein. Auch
hier ist P. durchaus zu Hause, auch hier bringt er — P. selbst hat ja viele
Jahre in der Stadt zugebracht — nur Selbstbeobachtetes. Aber man merkt
wohl, daß er hier nicht so aus dem Vollen schöpft und mit dem Milieu so
verwachsen ist wie da, wo er uns auf die Dörfer und in den Wald führt
oder mit uns durch wogende Kornfelder schreitet. Die Frauenfrage ist der
Inhalt des Romans. Im Mittelpunkt steht das Leben einer Frau. Nicht um-
sonst ist der Untertitel dieses Buches »Geschichte eines Herzens«. P. offen-
bart in diesem Buche eine eindringende Kenntnis der weiblichen Psyche,
wie sie unsere modernen Romanschriftsteller selten oder fast nie aufzuweisen
haben. Es ist wahr, daß es in dem Buche vielfach an Temperament fehlt.
Wirklich leidenschaftliche Akzente werden kaum angeschlagen. Die abgeklärte
und nie aufdringliche Art indessen, in der P. hier zur Frauenfrage Stellung
nimmt, entzieht das Buch dem Tendenziösen und verleiht ihm wieder, wie
den Vorgängern, kulturgeschichtlichen Wert.
Die Philosophie, die P. in dem Buche predigt, gipfelt in dem Schluß-
wort des Romanes: »Nicht mit dem Kopfe bauen wir unser Leben, sondern
mit dem Herzen.« Dieser Satz ist für alle Wendungen der Erzählung maß-
gebend. Aber gerade die Lebensgeschichte Thekla Lüdekinds ist, ohne
daß es P. beabsichtigt hat, ein Beweis dafür, wie sich auf dieser Philosophie
ein glückliches Leben nicht aufbauen läßt. Der Weltanschauung, der P.
in diesem Buche Ausdruck gegeben, wird nicht jeder beipflichten; in
psychologischer Hinsicht hingegen ist »Thekla Lüdekind« vielleicht der beste
Frauenroman unserer realistischen Schule.
Nach der »Thekla Lüdekind« erschien der Roman »Liebe ist ewig«.
Er spielt in der bayrischen Hauptstadt und führt ebenfalls ein Frauenschicksal
vor. Das Buch ragt weit über einen Unterhaltungsroman üblicher Art hinaus,
stellt aber ebensowenig wie der sehr akademisch gehaltene, das moderne
Literatentum nicht immer richtig schildernde »Wurzellocker« einen Fort-
schritt in dem Schaffen des Dichters dar. Beide Werke bedeuten wenig
neben den epischen Dichtungen, die uns P. bis dahin geschenkt hatte. Im
Nachlasse des Dichters hat sich indessen ein sehr bemerkenswertes Roman-
fragment, »Glückliche Menschen«, vorgefunden, welches beweist, daß P. bei
längerer Lebensdauer wieder den Weg zu seiner Kunst gefunden hätte, welche
weit über seinen letzten beiden Romanen stand.
Neben diesen großen epischen Dichtungen hat P. noch eine große Reihe
von Erzählungen und Novellen geschrieben, unter denen die Novelle »Wald«
und die Studie »Versuchung« besondere Beachtung verdienten. Die Novelle
»Wald«, sicher die künstlerisch vollendetste des Dichters, ist eine durch
und durch deutsche Herzens- und Seelengeschichte, wie sie gerade in der
modernen deutschen Novellenliteratur ganz einzig dasteht. Die Heldin
der Erzählung ist die von unsern Romanschriftstellern immer wieder
Biofr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd. 28
A.2^ von Polenz.
dargestellte »unverstandene« Frau, die schließlich ihrem Gatten und ihrer Pflicht
untreu wird, um sich einem andern zu ergeben. Mit großer Künstlerschaft
ist geschildert, wie allmählich die Liebe in der Seele der verbitterten Frau
erwacht, welche jahrelang dumpf und gleichgültig neben ihrem rauhen, ver-
schlossenen, ganz in seinem Waidmannsberuf aufgehenden Gemahl dahin-
gelebt hat. Der Wald aber lebt in dieser Novelle wie in wenigen anderen
deutschen Erzählungen.
Außer den genannten Novellen hat P. noch von kleineren Dichtungen
eine Sammlung von Dorfgeschichten unter dem Titel »Luginsland« veröffent-
licht. Auch diese anspruchslosen Erzählungen entbehren poetisch und kultur-
geschichtlich nicht eines gewissen Wertes. Der stiernackige Großbauer, der
»die Glocken von Krummseif enbach« stiftet, wirkt wie eine Zeichnung
Leibls. Die prächtigste Studie des Bandes ist aber die Schlußgeschichte
»Zittelgust*s Anna«.
Auch auf dramatischem Gebiet hat sich P. wiederholt versucht. Im
Buchhandel sind drei Dramen von ihm erschienen, das vieraktige Trauerspiel
»Heinrich von Kleist«, die Tragödie »Andreas Bockhold t« und die Dorf-
tragödie »Junker und Fröner«. »Heinrich von Kleist« wurde in Dresden
zur Aufführung gebracht. Das Stück hatte bei dem Publikum einigen Erfolg»
wurde aber von der Kritik mit Recht abgelehnt. Als psychologische Studie
hat das Stück seinen Wert, als Drama hat es keine Qualitäten. Ganz das-
selbe gilt von dem Trauerspiel »Andreas Bockholdt«, das zum großen Schmerze
P.s nie aufgeführt wurde. Dies Drama steht ganz unter dem Einfluß Egidys
und wurde zu der Zeit, als P. im engsten Verkehr mit diesem stand, konzipiert.
Andreas Bockholdt, ein vielbeschäftigter Gefängnisarzt, versucht in seinem
Berufe die schöne, aber naive Weltanschauung Egidys in die Tat umzusetzen,
und tut dies mit einer Konsequenz, die ihn in mehr tragikomische als tragische
Situationen bringt. Die bei weitem wertvollste unter den dramatischen Arbeiten
P.s ist ohne Zweifel die Dorftragödie »Junker und Fröner«. Hier bietet P.
zum ersten Male einen ländlichen Stoff im dramatischen Gewände. Aber
nicht der moderne Bauer, sondern der Bauer der Fronzeit wird uns vor-
geführt. Das Stück spielt um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, zu
einer Zeit, da bereits die Aufklärung in voller Blüte stand und trotzdem der
deutsche Bauer formell noch Leibeigener war. In diesen Widerspruch sind
die Repräsentanten des Junker- und Bauernstandes hineingestellt. Der wackere
Bauer Christian Noack geht im Kampfe um sein Recht zugrunde. In diesem
Stück sind wirkliche Ansätze zu einer echten Tragödie enthalten. Besonders
der zweite Akt hat ergreifende Partien und ist dramatisch sehr geschickt
aufgebaut.
Was an Gedichten von P. vorliegt, hat einen sehr ungleichen Wert. Die
ersten Gedichte waren dem Novellenbande »Karline« beigegeben. Die Ge-
dichte dieses Bandes zeigen neben der stark erzieherischen Tendenz, die fast in
jedem Stücke zum Ausdruck kommt, einen auffallenden Mangel an lyrischem
Schmelz und an der echten Lyrikern wie Goethe, Mörike und Heine stets
eigenen Weichheit in der Linienführung. Aus dem Nachlaß P.s ist indessen ein
Gedichtband »Erntezeit« veröffentlicht worden, der poetisch viel wertvollere
und reifere Dichtungen enthält als der Band »Karline«. P.s letztes Werk
ist »Das Land der Zukunft«. Es ist die Frucht seiner eingehenden Studien-
von Polens. Niessen. 435
reise durch Amerika und bietet, da sie keine Reisebeschreibung gewöhnlichen
Stiles ist, des Interessanten und Fesselnden genug, um speziell in der Literatur
über Amerika einer der bemerkenswertesten Beiträge zu sein.
Dr. Heinrich Ilgenstein.
Niessen, Wilhelm (Joseph), Bildhauer, Architekt und Maler, * 29. Juni
1827 zu Köln a. Rhein, f ^T- November 1903 in München, Sohn des Kauf-
manns Anton Niessen und dessen Gattin Rosa Rebekka Niessen, verwitwete
Euskirchen, geb. Bourscheidt. — N. widmete sich, nach Ableistung des
Militärdienstes, unter dem seit 1845 in Köln tätigen Dombiidhauer Christian
Mohr der Kunst, übersiedelte 1850 an die Münchener Akademie, wo er bei
Max Widemann die Antike studierte und seit 1852 bei Xaver Schwanthaler
(dem Vetter des am 28. November 1848 verstorbenen berühmten Ludwig
Schwanthaler) an der Vollendung der Giebelgruppen für die Propyläen Ver-
wendung fand. Später in der von Jos. Gabriel Mayer, (vgl. Allg. Deutsche
Biographie« 1885, XXI, 120) gegründeten und heute noch unter der Direktion
des Kommerzienrates Franz Mayer einen wahren Weltruf genießenden »Kunst-
anstalt für kirchliche Arbeiten« lieferte N. die Modelle zu 32 Figuren und
begründete, seit 1855 selbständig schaffend, sein eigenes Atelier, aus welchem
zahlreiche Aufträge hervorgingen, u. a. eine Madonnenstatue« (in Holz), ein
»Trauernder Genius« als Grabdenkmal (in Bronze ausgeführt), die Figuren
der vier »Evangelisten« und die Statuen von »Petrus und Paulus« in dem
nach M. Bergers Zeichnungen durch A. Siekinger (1807 und 1873) für die
Münchener Frauenkirche ausgeführten Hochaltar, welcher außerdem von Moritz
von Schwind mit Bildern und von Jos. Knabl mit plastischen Gruppen pracht-
voll geschmückt wurde. Damals hatte der Künstler wohl noch keine Ahnung,
daß er in demselben Bauwerk eine weitere Stätte seiner ersprießlichen Tätig-
keit, ja geradezu eine auszeichnende Lebenstätigkeit finden werde. Nachdem
N. zur vollen Zufriedenheit der Besteller einen nach eigenen Plänen erbauten
und mit Plastik augestatteteten Altar für die klösterliche Erziehungsanstalt
zu Zangberg vollendet und mit Frl. Apollonia Rommerskirchen aus Köln
zu München seinen eigenen Herd begründet hatte, wurde unserem Künstler
der Auftrag zu einem großen Altarbau in der »Johann Nepomuk-Kapelle«
der vorgenannten Frauenkirche. Die bestimmt ausgesprochenen Wünsche der
Stifter gewährten der gestaltenden Phantasie sehr willkommenen Spielraum.
Die aus drei Stämmen bestehende Familie des Grafen von Arco (Arco-
Zinneberg, -Stepperg und -Valley) verlangte die Ausschmückung der früheren
Apollonia-Kapelle, wofür N., im Gegensatz zu der in der Frauenkirche seither
beliebten polychromierten Hoizarchitektur, die Verwendung des Steinmate-
rials in Vorschlag brachte, so zwar, daß zu den Figuren weißer Marmor,
zu dem ornamentreichen Aufbau aber roter Sandstein ohne weitere Fassung
dienen sollte. N. versprach sich gegenüber der farbenprächtigen Wirkung
der alten Glasfensterbilder einen imposanten Eindruck der Ruhe, ein Projekt,
welches freilich, vereinzelt und gegen die herkömmliche Tradition, sich hier
nur teilweise erfüllte. Man experimentierte damals noch etwas zuviel; die
Kunst des »Restaurierens« mußte durch viele bittere Erfahrungen und Fehl-
griffe erst zum (immerhin noch fraglichen) Nutzen der Neuzeit errungen und
erprobt werden. Auch nahm N. die dem Kölner Dom zukommende sog.
28*
436 Niessen.
»Frühgotik« zum Vorbild, während die Entstehung der Frauenkirche einer
der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts entsprechenden, speziell süddeutschen
Bauperiode angehört. N. rechnete mit nicht völlig gleichwertigen Koeffizienten.
Das Resultat war jedoch immer originell und ehrenwert. Auch der Wechsel
von lebensgroßen Figuren und halbmeterhohen Statuetten brachte erfreuliche
Wirkung, ebenso wie der architektonisch-klare Aufbau durch den reizenden
Austausch der Ornamente und anderen bildnerischen Schmuckes völlig in
ausklingenden Wechsel gebracht wurde. Da die vielköpfige Zahl der Patrone
der gräflichen Stifter, deren Frauen und Kinder in der gewissermaßen sakralen
Adoration der Welterlösung gipfelte, so ergab sich neben der dogmatischen
Symbolik noch eine Fülle von fialenbewachten Nischen und Konsolen, über-
sponnen von Krappen und heraldischem Beiwerk: ein wahrer Wald von
zierlicher Schönheit und streng logischer Stylistik, unterbrochen von selbst-
redenden, dem Auge Ruhepunkte gewährenden Reliefs und figürlichen Gruppen,
welche sich an den drei Seiten der Kapelle, zweimal sogar bis auf zwanzig
Meter Höhe, aufbauen. Kein Wunder, daß N., bisweilen mit zehn Gehilfen
arbeitend, die Zeit von 1867 — 77 zur Ausführung brauchte. So entstand ein in
seiner Weise wahrhaft unvergleichliches Werk, welches hoffentlich noch einer
späten Nachwelt Zeugnis ablegt für echte, adelige Pietät und sinnige deutsche
Kunstfertigkeit. Dann wird auch eine Reproduktion des Ganzen und seiner
einzelnen Teile erfolgen, woran vorerst noch niemand dachte. Auch die
Zeitgenossen ließen wenig darüber verlauten, mit Ausnahme von Anton
Mayer, welcher in einer kleinen Schilderung der Frauenkirche (München 1863),
insbesondere in seiner weitläufigen »Geschichte und Beschreibung der Dom-
kirche« (M. 18Ö8, S. 338 ff.) und in einem »kleinen Begleiter durch die Dom-
und Pfarrkirche« (1875, S. 69 ff.) eingehend referierte. Ein Bericht erfolgte
auch in der Beilage 69 der »Augsburger Postzeitung« vom 28. Oktober 1875.
F. A. Specht in der Festschrift zur vierten Säkular -Feier der Einweihung
(M. 1894 bei Braun und Schneider S. 12) hatte jedoch nur wenige Zeilen dafür.
In der Folgezeit entstanden neben kleineren Leistungen ein »Kreuzweg« mit
14 Reliefstationen in Kalkstein für Fronhofen und eine Wiederholung in
Eichenholz für die von M. Berger erbaute und von J. Knabl mit Altären
und Standbildern ausgestattete Pfarrkirche zu Haidhausen (vgl. Nr. 322
»Bayerischer Kurier« vom 19. November 1880). N. setzte sich auch jetzt
noch nicht zur Ruhe. Zur Ausführung seiner großen Arbeiten hatte er in
der vielbelebten, zum südlichen Campo-Santo führenden »Spitalstraße« zwei
Häuser erworben und seine Ateliers dahinein verlegt. Als er derselben nicht
mehr bedurfte, baute N. die Räume um und versah die Häuser mit einer
einheitlichen Fassade in dem von ihm so wohl gekannten und geliebten
strengen und doch gefälligen Spitzbogenstil. Auch hier gab es Statuen und
Hauspatrone, die einen Erker und Balkon flankieren, vielfach verschlungenes,
omamentales Zierwerk, wodurch das Ganze als echtes Künstlerheim sich
präsentiert. Hier oblag N. zu seines Herzens stiller Erquickung der Malerei.
Was seine an dieses Material nicht gewöhnte Hand schuf, war einfach gräß-
lich. Scheffel sagt mit Recht: »*s ist ein eigner Spaß, daß jeder das am
liebsten treibt, wozu er just am wenigsten Beruf hat«. Einmal brachte N.
einen ganzen Saal voll Skizzen und Landschaften nebst Studienköpfen in
den Kunstverein. Die auf seinen Namen überhaupt nicht dressierte Presse
Niessen. Renner.
437
— N. haßte alle Reklame — schwieg. Und das war gut. Als es fünfzig
Jahre waren, daß der Künstler in München weilte und schuf, da veranstaltete
N. eine Kollektivausstellung aller seiner architektonischen und plastischen
Arbeiten in dem prächtigen Rahmen des eigenen Hauses, mit demselben
Erfolge. Erst zu seinem Grabe kamen ehrende Deputationen der »Münchener
Künstler-Genossenschaft«, vom »Freien Künstler- Bund« mit Reden und
Kränzen, auch vom Offizierkorps des zweiten Infanterie-Regiments, bei welchem
Dr. Niessen, der einzige Sohn des Künstlers, als Oberstabsarzt eine geachtete
Stelle bekleidet; auch der Sängerkreis der »Alten« ließ seine Trauerklage
um den Geschiedenen stimmungsvoll erklingen.
(Vgl. den Begräbnisbericht in Nr. 546 »Neueste Nachrichten« 21. November 1903).
Nur die Kunsthistorie ist noch im Rückstand: Pecht in seiner »Gesch. der Münchener Kunst«
1888, S. 308 nennt bloß den »hübschen Arco-Altar«, Singer 1898 II, 306 und Böttichcr
1898 II, 151 widmen ihm wenige Zeilen und in Merlos Lexikon der »Kölner Künsüer«
(sogar in der zweiten Ausgabe von Richartz-Keufien 1895, S* ^^^) ist nur der Name seines
Bruders, des Malers Johann Niessen, verzeichnet. Hvac. Holland.
Renner, Ludwig,') Oberkonsistorialrat, Hofprediger, Dr, theoL^ Dr, phiL^
♦ IG. April 1834 im Forsthaus Lohra, f 29. November 1903 in Wernige-
rode. — Nach Abschluß seiner theologischen Studien in Halle 1853 — S^i
wo besonders Tholuck und Julius Müller nachhaltigen Einfluß auf ihn
ausübten, wurde R. als Erzieher der Prinzen Heinrich XVIII. und XIX.
von Reuß-Köstritz bestellt und verdankte diesem Vertrauensamt, neben vor-
übergehender Tätigkeit am Gymnasium zu Gütersloh, wohin er seine Zöglinge
begleitete, i36o längeren Aufenthalt an den Bildungsstätten am Genfer See:
Genf, Vevey, Lausanne und sodann in Italien, speziell in Rom selbst. Als
Frucht seiner Studien hier erwuchs ihm eine Arbeit über «Die Kunst in den
Katakomben«, auf Grund deren er nach seiner Rückkehr in Leipzig zum
Dr, phil. promovierte. 1865 schloß sich dann die in Halle abgelegte Prü-
fung für das höhere Lehramt an, bei welcher er mit Ehren sich für drei Fächer
die Unterrichtsfakultas bis Prima erwarb. Schon stand er mit einem Schritt
im höheren Schulamt, da ihm bereits im folgenden Jahre eine Lehrstelle am
Domgymnasium in Magdeburg angetragen wurde. Doch gleichzeitig bot sich
ihm ein Pfarramt in Suderode am Harz, und er entschied sich für das letztere.
Aber Zeit seines Lebens hat er darum doch den schulischen Dingen sein leb-
haftes und tätiges Interesse bewahrt. 1870 wurde ihm das Oberpfarramt
in Langensalza übertragen unter gleichzeitiger Ernennung zum Superinten-
denten der Ephorie. Fünf Jahre darauf siedelte er als Superintendent nach der
alten, schönen Harzresidenz Wernigerode über, die ihm von nun an seine
bleibende Heimat wurde. Durch das Vertrauen des fürstlich-stolbergischen
Hofes wurde er bald — seit 1877 — ^"^ Schloßpfarrer und Hofprediger be-
rufen und hat dies Amt fast 25 Jahre, bis 1901 seine Gesundheit erlahmte,
verwaltet. — In seiner weiteren kirchlichen Tätigkeit innerhalb der preußischen
Landeskirche ist R. einer der Begründer und tätigsten Förderer der »positiv-
unierten« Gruppe geworden. Insbesondere ist seine Mitwirkung an den
synodalen Arbeiten — sowohl in der Provinzial- wie in der Generalsynode
') Totenliste 1903 Band VIII 9i*.
438 Renner, von Ringhoffer.
— eine dauernde und erfolgreiche gewesen. Bereits 1875 wurde er von
Langensalza aus zur ersten, neu ins Leben getretenen Provinzialsynode ent-
sandt; späterhin war er regelmäßig durch königliche Ernennung deren Mit-
glied; dem Pro vi nzialsynodal vorstand hat er von 1884 bis 1893 angehört und
ist 24 Jahre lang als Synodaldeputierter Mitglied der theologischen Prüfungs-
kommission beim Konsistorium in Magdeburg gewesen, wo er wesentlich die
praktischen Fächer (Ethik, Pädagogik u. a.) vertrat. Auf seine Anregung hin, die
auf der Tagung der Provinzialsynode von 1896 als sein Antrag zum Beschluß
erhoben wurde, ist 1897 für die Theologie- Kandidaten der Provinz das sog.
Lehrvikariat — Einführung in das praktische geistliche Amt durch einen
bewährten Geistlichen während eines Jahres zwischen L und IL theologischer
Prüfung — obligatorisch gemacht worden. In der Generalsynode ist seine Arbeit
besonders in der Vorbereitung und Einführung der neuen Agende hervor-
getreten. Ein wesentlicher Teil des Entwurfs war ihm 1891 zur Ausarbeitung
übertragen. So hatte er auch als Obmann der Agendenkommission in der
über die Annahme entscheidenden Sitzung vom 10. November 1894 das
wichtige, die Besprechung einleitende Referat, und als bei den Beratungen
über das Ordinationsformular sich über die Stellung und Bedeutung des
Apostolikums in demselben tiefgehende prinzipielle Meinungsverschiedenheit
ergab, fand er den vermittelnden Ausweg, der das Werk vor dem Scheitern
rettete. In demselben Jahre hat die theologische Fakultät in Halle seiner wissen-
schaftlichen und kirchlich-praktischen Tätigkeit durch Verleihung der Doktor-
würde ihre Anerkennung bezeugt, die sich auch auf eine 1886 veröffentlichte
Schrift »Lebensbilder aus der Pietistenzeit« stützen konnte. — Besonders in
die Kämpferreihen der »positiven Union« hat sein Tod, wenn auch nicht
unerwartet, eine schmerzlich empfundene Lücke gerissen.
Kohlschmidt.
Ringhoffer, Emanuel Ritter von, Professor, k. k. Regierungsrat, * 23. Dez.
1823 zu Prag, t I. Dez. 1903 ebenda. — R. erhielt seine fachmännische Aus-
bildung am Polytechnikum in Wien, nach dessen Absolvierung er die Akademie
der bildenden Künste in Wien besuchte; er wirkte hierauf durch sechs Jahre als
Assistent an der Lehrkanzel für Bauwissenschaften in Wien und wurde 1850
zum supplierenden Professor dieser Wissenschaften an der technischen Lehr-
anstalt in Brunn ernannt. Vor Antritt seines Lehramtes unternahm er mit
Bewilligung des Ministeriums eine Reise nach Deutschland und Frankreich
behufs eingehenden Studiums der Organisation der technischen Institute. Im
Jahre 1851 wurde R. ordentlicher Professor in Brunn; 1864 wurde er an das
polytechnische Landesinstitut zu Prag berufen, wo er bis zu seiner Pensio-
nierung verblieb, um die er aus Gesundheitsrücksichten schon im Jahre 1882
ansuchen mußte. Im Jahre 187 1 war R. Rektor des Polytechnikums; außer-
dem war er sechs Jahre als Fachvorstand tätig. An der Ausführung größerer
Bauten hat er sich nicht beteiligt; er lebte nur in seinem Lehramte. 1864
erschien sein damals rühmlich bekanntes Werk „Lehre vom Hochbau", das
im Jahre 1878 eine zweite Auflage erlebte. Im Jahre 1879 erhielt R. den
Titel eines Regierungsrates, bei seiner Pensionierung wurde ihm der Orden
der Eisernen Krone III. Klasse verliehen und einige Jahre später der erbliche
Ritterstand. Trotzdem blieb er immer der bescheidene, anspruchslose Mann,
von Ringhoffer. Hagemann. 430
der sich nicht gerne in den Vordergrund drängte und den alle, die ihn
kannten, seiner vielseitigen Kenntnisse und seines biederen Charakters wegen
verehrten und schätzten. A. Birk.
Hagemann, Georg,') Dr. phil., Professor der Philosophie an der Universität
Münster i. W., * 17. November 1832 zu Beckum in Westfalen, f 6. Dezember
1903 zu Münster i. W. — H., ein bedeutender Philosoph der katholischen
Richtung, besuchte das Gymnasium zu Recklinghausen, hierauf die Akademie
zu Münster. 1856 wurde er zum katholischen Priester ordiniert. 1855/56
löste er die Preisfrage der philosophischen Fakultät, was für seine künftige
philosophische Lehrtätigkeit von entscheidendem Einflüsse war. Einige Jahre
war er hierauf Erzieher im Hause des Grafen von Galen; 1860 wurde er
Präses in dem gräflich Galenschen Konvikte für adelige Gymnasiasten zu
Münster; 1861 erwarb er den philosophischen Doktorgrad an der Münsterer
Akademie; 1862 habilitierte er sich zu Münster als Privatdozent für Philosophie.
Kurz vorher (1862) war der frühere Ordinarius der Philosophie in Münster,
Franz Jakob Clemens, gestorben. Auf seine Stelle wurde Dr. Albert Stöckl
von Eichstätt berufen. Als derselbe 1870 freiwillig wieder nach Eich.stätt
zurückkehrte, verhinderten die damaligen religiös -politischen Bewegungen
(Vatikanum, Altkatholizismus, Zentrumsbildung, Kulturkampf) die Beförderung
des Privatdozenten Dr. H. zum Professor. Erst 1881, nach fast 20 Jahren,
wurde er außerordentlicher, vorerst noch unbesoldeter Professor in Münster;
1884 endlich ordentlicher Professor der Philosophie.
Allgemein wird an H. dessen treue und gewissenhafte Amtsführung, Be-
scheidenheit und Herzensgüte gerühmt; desgleichen seine hervorragende
Tüchtigkeit als Dozent: sein Vortrag zeichnete sich durch Klarheit der Ge-
danken und Lebendigkeit aus und war durch ein prächtiges Organ unterstützt.
Trotz beständiger reger Geistestätigkeit hinterließ H. (abgesehen von
Artikeln in Zeitschriften, z. B. dem Literarischen Handweiser von Hülskamp
in Münster) nur drei Werke größeren Umfanges, nämlich: i. Logik und Noetik,
erstmals erschienen 1868, bei Herder in Freiburg. 2. Metaphysik, 1869.
3. Psychologie, 1869. Sämtliche drei Werke sind seitdem oftmals in Neu-
auflagen erschienen und bilden zusammen die »Elemente der Philosophie«,
einen Leitfaden für akademische Vorlesungen sowie zum Selbstunterrichte.
Die weiter geplanten Teile dieses Leitfadens (Ethik und Juridik, Ästhetik,
Geschichte der Philosophie) sind leider nicht zur Ausführung gelangt.
H. konnte nur schwer zu einem Abschluß seiner Arbeiten gelangen.
Schon 1872 rühmte ein Kritiker (v. Hartsen) von den H.schen Schriften:
Dieselben nähmen eine hervorragende Stelle in der neueren Literatur ein,
hätten einen bedeutenden Wert für den angehenden Studierenden der Philo-
sophie; seien keine bloße Kompilation, zeichneten sich aus durch sittlichen
Ernst, Scharfsinn und Kritik, Vollständigkeit und Reichtum des Inhaltes,
Streben nach Klarheit, unterhaltende Schreibweise, reiche Literaturkenntnis,
interessante Daten usw.
H. vertrat in der Philosophie den christlichen, näherhin katholischen
Standpunkt, im Anschlüsse an Aristoteles und die mittelalterliche Scholastik,
») Totenliste 1903 Band VIII 45*.
/^/|n Hagemann.
mit einigen anderen Männern (z. B. der Jesuitenschule, Clemens, Kleutgen
usw.), schon bevor Papst Leo XIII. durch seine Enzyklika ^Aetemi PeUris^
1879 die alte aristotelisch-scholastische Philosophie in der Form des Tlio-
mismus zunächst für die katholische Welt wieder nachdrücklich in Erinne-
rung brachte.
Doch kann H. nicht als Thomist bezeichnet werden; dazu war der
Einfluß der modernen Wissenschaften auf ihn ein viel zu großer. Seine Lehr-
bücher wurden dann auch von strengen Thomisten (wie Commer, Schneider,
Gloßner) einer Kritik unterzogen. Auch die Bezeichnung Neuscholastiker
oder Neuaristoteliker paßt nicht auf ihn. Zwar übernahm er viele erprobte
Grund- und Bausteine aus der alten aristotelisch-scholastischen Philosophie,
aber in Detailfragen weicht er vielfach von der »alten Schule« ab, zumeist
wenn Ergebnisse der modernen, bes. naturwissenschaftlichen Forschung in
Betracht kommen. H. will nichts wissen von einer bloßen Repristination
des Alten, sondern hat ein organisches Weiterentwickeln und Weiterbauen
auf den alten bewährten Grundlagen im Auge. Mit gutem Grunde kann
man H. einen Anhänger der sogenannten »immerwährenden Philosophie«,
phtlosophia pcrennis, nennen, von welcher bereits Leibniz redet als von einem
ewigen, nicht auf die Denkarbeit eines einzigen Philosophen aufgebauten
Systeme, an welchem alle aufrichtigen und ernsthaften Forscher zu ihrem
Teile partizipieren.
An H.s Logik und Noetik rühmte die Kritik die durchsichtige Dar-
stellung, die erstaunliche Literaturkenntnis, den Reichtum an gut gewählten
Beispielen. Die strengen Thomisten tadelten freilich die Abhängigkeit von
modernen Prinzipien (der sog. Bewußtseinstheorie), sowie die zu geringe
Berücksichtigung der Scholastiker und der späteren Kommentatoren des
Aristoteles.
H.s Psychologie wird als das beste unter seinen Werken bezeichnet.
Er will darin die richtige Mitte einhalten zwischen einseitigem Apriorismus
und Empirismus, zwischen reinem Idealismus und einer mechanischen Welt-
und Seelenerklärung. Im Gegensatz zur aristotelisch-scholastischen Psychologie
verwirft H. den sog. Gemeinsinn, wie überhaupt die inneren Sinne, des-
gleichen die Unterscheidung in konkupiszible und iraszible Affekte; er will
nichts wissen von einem sinnlichen und intellektuellen Gedächtnisse, eben-
sowenig von einem sinnlichen und geistigen Bewußtsein. Die Wölfische
Unterscheidung von rationaler und empirischer Psychologie wird abgelehnt.
Desgleichen wird der sog. tätige Intellekt verworfen, welchen die aristotelisch-
scholastische Philosophie zur Erklärung des Abstraktionsprozesses eingeführt
hatte, usw. Gerade in der Psychologie zeigt sich die Vertrautheit H.s mit
den modernen psychologischen und physiologischen Theorien. H. bekennt
selber, daß er hier vielfach von Ulrici abhänge, dem bekannten 1884
verstorbenen Vertreter eines sogenannten spekulativen Theismus. Im An-
schlüsse daran ist H. besonders bemüht, die mechanische Seelentheorie
Herbarts zu bekämpfen, die Selbsttätigkeit und Willensfreiheit der Seele zu
retten.
Auch die Metaphysik H.s zeichnet sich durch Vollständigkeit und Reich-
tum des Inhalts aus, wenn auch über die Beweiskraft mancher Ausführungen
verschiedene Ansichten möglich sind.
Hagemann. Mommsen. 44 1
H. wird unter den neueren auf katholischem Boden stehenden Philosophen,
z. B. Tilmann Pesch, Gutberiet, Willmann, Braig usw., immer einen hervor-
ragenden Platz einnehmen.
Literatur: i. Philosophische Monatshefte, 24. Bd. 1888 (lliiele). — 2. Zeitschrift für
Philosophie und philosoph. Kritik, 61. Bd. 1872 (v. Hartsen). — 3. Philosophisches Jahr-
buch der Görresgesellschaft, 2. Bd. 1890 (Grupp). — 4. Literarische Rundschau für das
kath. Deutschland, hrsg. v. Hoberg, 28. Jhrg. 1902. — 5. Jahrbuch für Philosophie und
spekulative Theologie, 5. Jhrg. 1891; dann 10. Jhrg. 1896, sowie 13. Jhrg. 1899
(Gloßner, Commer, Schneider). — 6. Literarischer Handweiser, hrsg. v. Hülskamp, 1903
Nr. 788. — 7. Chronik der k. Universität Münster 1903/04.
Dr. St. Schindele.
Mommsen, Theodor,') * 30. November 181 7 in Garding, f i. November
1903 in Charlottenburg. — I. Lehrjahre. (Christian Mathias) Theodor
Mommsen wurde am 30. November 18 17 in Garding im südwestlichen Schles-
wig als der älteste Sohn des zweiten Predigers (Diakons) Jens M. (geb. 1783),
eines geborenen Friesen, und dessen Gattin Sophie Elisabeth, geb. Krumbhaar
aus Altona, geboren. Ais der Knabe drei Jahre alt war, wurde der Vater nach
Oldesloe in Holstein versetzt, nachdem er in einer Eingabe darauf hin-
gewiesen hatte, daß die Notwendigkeit, Privatstunden zu geben, und die
Marschluft seine Gesundheit schon sehr angegriffen habe; hier wuchs Theodor
in dem einsam auf einem Hügel gelegenen Pfarrhause mit seinen beiden
jüngeren Brüdern Tycho (geb. 1819) und August (geb. 1821) und zwei
Schwestern, von denen eine in zartem Alter starb, heran. Der geräumige
Garten war das Revier der drei Knaben, die nur wenig mit anderen Kindern
in Berührung kamen; und unter dem Birnbäume, der den Garten überragte,
wie der Garten das Städtchen, mag Theodor seine ersten Gedichte geträumt
haben. Der Vater, dessen amtliche Einkünfte (376 Rtlr.) auch jetzt nicht
ausreichten, um Frau und Kinder, sowie seine alte Mutter und durch Elementar-
ereignisse verarmte Schwestern zu ernähren, war offenbar ein vorzüglich huma-
nistisch gebildeter Mann, in dem, wenn er auch in enge und ihn bedrückende
Verhältnisse gebannt war, mehr steckte, als ein Dorfpfarrer; er wußte sich
durch seine Humanität und seine liebevolle Fürsorge die Liebe seiner Pfarr-
kinder in hohem Maße zu erwerben, konnte es aber trotz wiederholter Sup-
pliken nicht erreichen, daß ihm eine Pfarre übertragen wurde; »ihm ver-
danken wir«, so schreibt Tycho in seiner Autobiographie (veröffentlicht von
J. Ziehen in Bursians Jahresber. über die Fortschr. d. klass. Altertumswiss.
für 1904, Biograph. Jahrbuch 27, S. io3ff.) »die Liebe für alles Sprachliche
und die Neigung zur Poesie, welche er in uns nach seiner sanften und
innigen Weise zu übertragen wußte, ohne daß wir ein Soll und Muß dabei
kennen lernten; meiner Mutter dagegen, die sich durch ihre schlichte Recht-
lichkeit und praktische Verständigkeit auszeichnete, das, was dieser Art Gutes
in uns zu finden sein mag. Sie ließ nicht immer, wie der Vater, alles, was
an Wildheit und Unart der Knaben vorkam, gelten, und wir sind ihr dafür
noch im Grabe den höchsten Dank schuldig.« Der Vater allein unterrichtete
die Knaben in den — allerdings nicht regelmäßig abgezirkelten — Stunden,
die er von seinen Amtsgeschäften und Lektionen erübrigte; seine Bezüge
hätten nicht dazu ausgereicht, seinen Söhnen einen Hauslehrer zu halten
oder sie von früher Jugend an in ein Internat zu schicken. Doch legte er
442
Mommsen.
auf ihre Erziehung das größte Gewicht. Und wenn er ihnen, die weniger
als andere Knaben vom Lernen abgezogen wurden, die Liebe zur Wissen-
schaft einimpfte, so mußte andererseits das ländliche Milieu dazu beitragen,
ihre Körper zu stählen und neben der Erziehung der Mutter die kemhafte,
tüchtige Art der Schleswig-Holsteiner, aus denen gerade in jener Zeit so
viele hervorragende Menschen hervorgegangen sind, ihnen ein Beispiel zur
Selbsterziehung des Pflichtbewußtseins geben. Dem Manne, der später be-
rufen war, das hohe Lied von der Tüchtigkeit des altitalienischen Bauern-
standes anzustimmen, mögen mitunter die Eindrücke, die er aus seiner
nordischen Heimat mit sich ins Leben genommen hatte, in den Bildern aus
uralter Zeit wieder lebendig geworden sein. Und man wird auch nicht irre
gehen — mag auch in dem abgeschiedenen Pfärrhause wenig politisiert
worden sein — , wenn man vermutet, daß die Keime zu M.s politischen An-
schauungen sich schon in jener Atmosphäre entwickelten, in welcher der selbst-
bewußte Unabhängigkeitssinn des freien und intelligenten Bauern und der
nationale Widerstand gegen die dänische Herrschaft zugleich mit dem Sehnen
nach einem einigen und starken Deutschland erstarkt waren. —
Es zeugt schon von einem hohen Grade von Energie und Ruhe, daß die
beiden älteren Brüder, als es notwendig wurde, die Studien in einen regel-
mäßigen Lehrplan ausmünden zu lassen, »nach einem selbstgemachten, nur
vom Vater gebilligten Lektionsplan arbeiteten, wobei wir« — so erzählt der
eine von ihnen — »zugleich Lehrer und Schüler waren.«
Am 4. Oktober 1834, also in verhältnismäßig nicht jungen Jahren, trat
Theodor M. zusammen mit Tycho in die Prima des Christianeum in Altona
ein und wurde ein Jahr später in die Selecta versetzt, der er 2^/2 Jahre an-
gehörte.^) Ein Stipendium der Schröderschen Stiftung ermöglichte dem
Sohne des Landpfarrers das Studium. In welcher Weise die einzelnen Lehrer,
der Direktor Eggers, der als feiner Philologe geschildert wird, der Senior
des Professorenkollegiums Klausen, den er in einem Festgedichte feierte,
u. a. auf M. eingewirkt haben, läßt sich kaum mehr feststellen. Wohl aber
mußte es von der größten Bedeutung für die Entwicklung der Brüder sein,
daß sie aus der Enge der heimatlichen Verhältnisse zum ersten Male dauernd,
wenn auch nicht inmitten, so doch neben das Getriebe einer Stadt wie Ham-
burg versetzt wurden, deren weitreichende geschäftliche und gesellschaftliche
Beziehungen notwendig den Gesichtskreis dessen erweitern mußten, der mit
ihr in Berührung kam; eine Anzahl von Frauen und Männern, auch außerhalb
der Schule, übten bedeutenden Einfluß auf Herz und Charakter aus. Nichts-
destoweniger wurde es den beiden Brüdern, die an die stille und harmonische
Würde des Vaterhauses gewöhnt waren, anfänglich schwer, sich in den ihnen
roh erscheinenden Ton ihrer Mitschüler zu schicken, und namentlich Theodor
entbehrte in seinem starken Empfinden für die Schönheiten der Natur das
Landleben. Die Großstadt erschien ihm öde, wie die Wüste, und er fühlte
sich vereinsamt. Der erste Verlust, der ihn tief ergriff, war der seiner jungen
Schwester. Aber auch sonst überkamen den heranwachsenden Jüngling nieder-
geschlagene, weltschmerzliche Stimmungen, die ihren Ursprung nicht nur in
der Nachempfindung zeitgenössischer Poesie, sondern auch in einem ureigenen
Zuge seines Wesens hatten, das sich damals zuerst, faustisch und Goethes
hohes Ideal vor der Seele, auf sich selbst gestellt, durch die großen Probleme
Mommsen.
443
des Lebens durchzuringen begann. Er rang sich vom Christen zum Deisten,
vom Deisten zum Atheisten durch, da- sein Wahrheitsdrang ihm nicht ge-
stattete, zu postulieren und seine Kritik unbezwinglich rege wurde. Aber
gerade die Schärfe seiner Kritik machte ihm vor sich selbst bange, bis er
sein melancholisches Selbstverzweifeln, »daß wir nichts wissen können«,
wieder überwand.
Da ihn, wie er selbst bekennt, die eigentlich grammatische Philologie
nur wenig anzog und er auch der in Tabellen aufgelösten Geschichte keinen
Geschmack abgewann, trieb er neben der Schule was sich ihm gerade bot,
neuere Literatur, besonders englische und französische, kursorische Lektüre
der alten Schriftsteller, die ihn gerade anzogen, und was der Tag mit sich
brachte. In einem »wissenschaftlichen Vereine« interpretierten die Schüler
der Selecta lateinische Schriftsteller, stellten Redeübungen an und schrieben
und disputierten auch über allgemeine Themen; »er ersetzte manches, was
die Schule nicht bot, besonders im Deutschen«; M. trat im Herbst 1837 bei;
als Quästor und Archivar, als Präses und Sekretär konnte er zum ersten Male
sein Organisationstalent betätigen. »Mir ist es in diesem Kreise«, so schreibt
er in viel späteren Jahren, »zum erstenmal nach einer fast einsam verlebten
Jugend deutlich geworden, daß der Mensch sich am Menschen schleifen
muß, wie der Diamant am Diamanten, und welcher fruchtbare Segen in
diesem gemeinsamen Streben liegt. Weiter bringt es keiner, als einer in der
Reihe der Mitstrebenden zu sein, und es ist auch nicht nötig, denn es gibt
nichts höheres«. Wohl aber erkannten seine Genossen schon damals das
»Kraftgenie« ihres Mitarbeiters, wenn ihm auch manche Kritik nicht erspart
blieb. Er seinerseits beteiligte sich nicht nur lebhaft an den Kritiken der
von anderen, auch von Bruder Tycho eingelieferten Aufsätze, deklamierte
nicht nur Goethesche Gedichte und interpretierte Horazische und Klopstock-
sehe Oden, sondern hielt auch »halbextemporäre« Reden über gegebene
Themata und lieferte schriftliche Arbeiten ein. Der von ihm vorgetragene
Aufsatz »Zur Einleitung in die Schriften des jungen Deutschlands« bezeichnet
als das Hauptziel des jungen Deutschland allseitige Emanzipation, Befreiung
von allem Widernatürlichen, sieht in dem »jungen Deutschland« die Äußerung
des Zeitgeistes und schließt: »Der Liberalismus, nicht mehr auf Politik be-
schränkt, gewinnt immer mehr geistigen Boden, breitet sich immer weiter in
den Gemütern der Menschen aus. In Berlin entstehen ganze Gesellschafts-
kreise, die mit Herz und Sinn modern sind, namentlich — auch ein Fort-
schritt der Kultur — von ausgezeichneten Frauen (Rahel* Varnhagen, Charlotte
Stieglitz). Wir selbst endlich, die wir doch auch liberal sein wollen, sind
wir junge Deutsche oder nicht? Habt ihr erkannt, daß der heilige Geist in
dem jungen Deutschland ist, so verleugnet ihn nicht.« Auch die anderen
Aufsätze, die M. dem Vereine einreichte, gestatten einen Einblick in den
Gedankenkreis des Zwanzigjährigen, und wenn es auch töricht wäre, das Bild
eines fertigen Mannes in ihnen zu suchen, so weisen sie doch neben vorüber-
gehenden Einflüssen solche auf, die dauernd auf ihn eingewirkt haben, und
zeigen wesentliche Züge seiner Persönlichkeit.
Am überraschendsten ist wohl in formeller Beziehung die vollständige
Abhängigkeit vom Schillerschen Stile, nur hie und da können einzelne
Pointen an den späteren M. erinnern. Aber auch inhaltlich tritt keine
444 Mommsen.
Einwirkung so stark hervor, wie die der deutschen idealistischen Aufklärungs-
philosophie Kants und Schillers; diese hat aber, so sehr er spekulativen
philosophischen Erörterungen abgeneigt war, über seine Jugend hinaus in ihm
nachgewirkt. So hat er sich schon damals so weit von dem Pfarrhause emanzi-
piert, daß er die »Lehre von der Vorsehung« ablehnt, namentlich weil sie der
menschlichen Freiheit widerstreite, und dadurch u. a. die lebhafte Kritik
des Ehrenmitgliedes des Vereins, eines Pastors Möller, 3) hervorgerufen. Die
vernunftgemäße Entwicklung, der Fortschritt des Menschengeschlechts scheint
ihm selbstverständlich; obwohl er aber im ganzen unter dem Einflüsse des
zeitgenössischen Liberalismus steht, so will er doch den Egoismus als »Grund-
trieb« nicht anerkennen. Mit historischen Fragen beschäftigt er sich nament-
lich in dem Aufsatze »Welches sind die Erfordernisse einer guten Biographie?«,
in welchem er Drumann tadelt, daß er durch eine Aneinanderreihung von
Biographien die Geschichte zu ersetzen dachte, als Hauptaufgabe jeder Lebens-
beschreibung die Charakteristik betont und, indem er als Vorbedingung psycho-
logische Erfahrung und praktisch erworbene Menschenkenntnis fordert, doch
die subjektiven Grenzen der Annäherung an die Wahrheit betont — und in
dem Aufsatze »Genies sind notwendige Übel«, in welchem er die Kernfrage
der Bedeutung des Individuums behandelt; »die Gegenwart«, so schreibt der
junge M., »ist die Tochter der Vergangenheit und in dieser ist die Richtung
des ganzen und des einzelnen begründet«; »der Zeitgeist beruht auf dem
Kausalitäts Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart«; »das Genie ist
der Apostel des Zeitgeistes, der mit leisem Ohre das, was zur weiteren Ent-
wicklung nötig ist, die Zeitbedürfnisse erlauscht, der, selbst ein Sohn des
Zeitgeistes, ihn hervorruft und hegt, der, das Künftige ahnend im Busen
tragend, seiner Zeit vorausgeeilt ist, der die Zukunft ins Leben ruft und mit
prophetischer Begeisterung verkündigt.« — Die eigene Zeit erschien ihm
allerdings unproduktiv, der damaligen Gesamtstimmung entsprechend, weil
die Kritik das schaffende Element überwiege und unterdrücke, und aus dieser
Stimmung heraus ist kurze Zeit vor seinem Abschiede von Altona, nach einer
mehrwöchentlichen Krankheit und inmitten der Vorbereitungen zur Prüfung,
der letzte Aufsatz: »Warum schadet vieles Kritisieren?« verfaßt: die hier
niedergelegten inneren Erlebnisse sind nicht nur für den jungen M. charak-
teristisch, sondern bilden vielfach den Schlüssel auch für seine späteren
Stimmungen und Taten, für jenen Kampf zwischen eindringendem, mitunter
zersetzendem Scharfsinne, in welchem er eine Gefahr für mutiges Handeln er-
blickte, und temperamentvoller Begeisterung, aus welcher er den kategorischen
Imperativ der Pflicht und den Mut zum Handeln schöpfte. Es ist kein Zu-
fall, daß er, der schon damals gelegentlich intuitiv und mit durchdringender
Skepsis seine Kritik an den römischen Sagen und ihrer Überlieferung übte,
doch seine Antrittsrede als Präses des wissenschaftl. Vereins über den Text:
»Immer strebe zum Ganzen!« hielt, und daß er seinen Zuhörern die Maxime
einzuprägen suchte: »Wissen und handeln, erkennen und wirken — das sind
die beiden großen Ideen, deren eine, je nach seinem Charakter, den Menschen
fesseln muß.« Der Zweifel erscheint ihm als Unglück. »Wenn wir uns für
eine Partei entschieden haben und dennoch auf unsere Meinung nicht schwören,
nicht alles an ihre Richtigkeit setzen können, so sind wir nicht glücklich.
Gewiß zu sein, aus Überzeugung zu glauben, ist ein nur zu oft vergeblich
Mommscn.
445
und gerade von den Besten vergeblich ersehntes Glück.« Die Selbstkritik
ist ihm etwas Selbstverständliches: »Man sagt wohl, daß die meisten eher
geneigt sind, ihre Leistungen zu überschätzen, allein bei den wenigsten, die
einigermaßen scharfsichtig sind, wird dies der Fall sein. Gewöhnlich kritisiert
man sich selbst am schärfsten und findet das von den anderen Gelobte oft
so schlecht, daß man sich über ihre Verblendung wundert.« Dagegen führt
die Kritik oft zur »Erkältung des Herzens«. »Jede erhebende, jede be-
geisternde Idee ist aus Wahrem und Falschem gemischt, und wenn nun die
Kritik an die Stelle des schönen Wahns die nackte Wahrheit setzt, ... so
ist es dem Menschen, der diese Erfahrung öfter machte, nicht zu verdenken,
wenn er gegen alles Gute und Große mißtrauisch wird und den Menschen
im allgemeinen für ebenso schlecht als dumm erklärt.« Und so fragt er »ob
es nicht vorzuziehen sei, manchmal seine Begeisterung falsch zu richten, als
sie ganz aufzuopfern.« —
M. verließ in Begleitung seines Bruders Tycho, nachdem er bei dem
üblichen Festakte eine lateinische Rede über die Vorteile, welche das Gym-
nasium dem Vaterlande gewährt, gehalten hatte, — eine Rede, die er freilich
bei der privaten Abschiedsfeier in rechter Abiturientenstimmung selbst als
Produkt einer in der Zwangsanstalt hergestellten »Galeerensklavenarbeit« be-
zeichnete — mit dem Zeugnis der Reife ausgestattet, am 6. April 1838 das
Christianeum; im Vaterhause, in der Schule und durch eigenes Studium treff-
lich vorbereitet, mit den schärfsten Waffen, mit kritischem Drange und
warmer Begeisterung, ausgerüstet, bezog er die Landesuniversität Kiel, um
in das Heiligtum der Wissenschaft einzudringen.
Am 4. Mai 1838 inskribierte er sich, wie er selbst sagt, von einem Hange
zur Jurisprudenz gezogen, an der juristischen Fakultät, und obwohl der Lehr-
körper der Universität damals nicht groß war, so umfaßte er doch in jenen
Jahren eine Anzahl von Gelehrten, die später zu großer Berühmtheit gelangten,
so G- Hanssen, dessen kameralistische Vorträge M. besonders interessierten,
und den er noch nach 40 Jahren als seinen hochverehrten Lehrer nannte;
den Privatdozenten Ed. Osenbrüggen, der damals u. a. über römische Staats-
altertümer vortrug und sich auch speziell mit römischem Strafrechte befaßte,
und den M. neben dem o. Professor der Jurisprudenz Burchardi als seinen
Lehrer in der Jurisprudenz und den Altertümern bezeichnete; vor allem aber
Otto Jahn, an dessen Besprechungen über antiquarische Gegenstände M. mit
Eifer und Nutzen teilnahm, so daß er sich gerne als dessen Schüler in der
Epigraphik bezeichnete; auch G. Waitz, dessen Kolleg über deutsche Geschichte
M. in seinem letzten Universitätsjahre besuchte; aber auch Wilda, dessen
grundlegendes Buch über das germanische Straf recht in jener Zeit erschien,
und J. G. Droysen; ferner den weniger bekannten Michelsen, der über römische
Geschichte »nach Niebuhr« vortrug. Er hörte aber auch bei N. Falck, der
ein Freund seines Vaters war, Verfassungsgeschichte und vaterländisches Recht
und Vorlesungen über Kriminalrecht von E. Hermann.
M. selbst legte in seinem Curriculum vitcte seine Studien dar. »Ich
hörte«, so schreibt er, »Institutionen bei Prof. Burchardi, Pandekten bei
Prof. Kierulff; in diesen Vorträgen bot sich mir auf der einen Seite ein
reiches, sorgfältig geordnetes Material, auf der andern eine geistreiche, scharfe
Auffassung der leitenden Prinzipien, und nachdem ich die Pandekten, wie
446 Mommsen,
es zu gehen pflegt, eine Zeitlang angestaunt hatte und zu der Ahnung ge-
kommen war, daß in diesem formlosen Stoff ein wunderbarer Geist wohne,
machte ich mich mit Ernst daran, und es gelang mir bald, in dieser Wissen-
schaft wenn auch nicht heimisch zu sein, doch mich in ihr heimisch zu
fühlen. Ich wäre auch schwerlich zu anderen Beschäftigungen übergegangen,
wenn mich nicht äußere zum Teile ökonomische Rücksichten bewogen hätten,
die im Herbste 1840 angeschlagene Preisaufgabe zu bearbeiten.« »Die anti-
quarischen Studien, die ich jetzt kennen gelernt hatte, fesselten mich; die
leges iudiciaria€y die römische Komizial Verfassung, das Studium der römischen
Inschriften, zu der mir meine zu anderen Zwecken erworbene Kenntnis des
Italienischen den Weg bahnte, endlich die lex Servilia repetundarum und das
Kriminalrecht aus der Zeit der quaestiones perpehuu beschäftigten mich lange
Zeit und drängten die eigentliche Jurisprudenz sehr zurück, und nur meine
Überzeugung, daß auch der römische Staat erst von der römischen Juris-
prudenz sein Licht empfange, hielt mich von dem gänzlichen Übertritt zu
einem anderen Fache zurück.« In dem wissenschaftlich, literarisch und
politisch interessierten Universitätskreise namentlich bei den jüngeren Dozenten,
aber auch bei den Studienkollegien gab es der Anregungen genug, die bei
M. erstaunlich reiche Früchte zeitigten, wenn er auch wenige Jahre später,
von Verehrung für Borghesi erfüllt, gewiß seiner wahren Empfindung Ausdruck
leiht, indem er schreibt, daß ihm in seiner Studentenzeit das Glück nicht
geworden sei, mit Männern zu verkehren, die ihm imponiert hätten. Die erste
Preisarbeit aus dem Jahre 1841 über die Tribuni aerarii ist ungedruckt ge-
blieben.4) Zu Ostern 1843 legte er das juristische Amtsexamen in Kiel ab
und erhielt den ersten Charakter. Während er dann durch i^ji Jahre als
Mädchenlehrer an einer von Verwandten in Altona geleiteten Schule wirkte,
promovierte er summa cum laude mit einer Dissertation, y>Ad legem de scribis
et viatorlbus et De auctoritate<<, die er am 8. November 1843 g^g^'^ ^^^^ Oppo-
nenten, unter denen Nitzsch war, verteidigte, nachdem er schon im Früh-
jahre seine erste bedeutendere, unter den Auspizien Jahns verfaßte Schrift:
-»De collegiis et sodaliciis Romanorum«^^ die ebenfalls aus einer Preisaufgabe
hervorgegangen war, hatte erscheinen lassen. In dieser Zeit in Altona schrieb
er auch eine Anzahl eingehender Kritiken und Abhandlungen, und noch im
Jahre 1844 g^b er eine schon vor Jahren begonnene an jene erste Preis-
schrift anknüpfende Schrift »Die römischen Tribus in administrativer Be-
ziehung« heraus, die seinem Bruder Tycho gewidmet ist. »Dir bin ich es
schuldig geworden« — so schreibt er in der Widmung — , »daß ich über den
Pandekten den Homer nicht vergessen habe; ohne die philologische Anregung,
die ich in unserem ununterbrochenen Verkehr empfing, hätten meine For-
schungen schwerlich die Richtung genommen, wovon diese Abhandlung
zeugt.« Schon seine Dissertation machte auf Professor Barkow in Greifswald,
der sie durch einen neuen Kollegen O. Jahn erhalten hatte, solchen Eindruck,
daß er den jungen Mann der Fakultät, allerdings vergeblich, zum Professor
vorschlug. Auch Savigny, Lachmann, Rudorff wurden auf ihn aufmerksam.
Es ist in der Tat nicht nur die Fruchtbarkeit seines geistigen Schaffens,
die schon bei dem jungen Mommsen überrascht, sondern weit mehr, daß —
wenn auch mancherlei Einzelresultate seiner damaligen Forschung veraltet
sind — manche der Grundpfeiler seiner späteren Auffassungen schon ganz
Mommsen.
447
feststehen, daß seine Methode schon damals eigentlich ausgebildet ist und
daß ihn diese Methode im Zusammenhange mit seiner erstaunlich ausge-
breiteten Quellen- und Literaturkenntnis schon damals befähigt, sich und der
Wissenschaft den Weg für Dezennien vorzuzeichnen. Man pflegt mit Recht
als seine Vorgänger Rubino und Niebuhr zu bezeichnen; M. selbst charak-
terisiert ihre Forschungsweise, indem er von ihnen sagt 5): »Die gründliche
Erforschung jedes einzelnen Punktes wirft Licht auf das ganze Altertum und
dieses wieder in seiner Totalität erleuchtet das Einzelne, so daß durch diese
Wechselwirkung zuletzt das Detail wie der Begriff ins klare tritt.« Nichts-
destoweniger tritt er von Anbeginn den »Phantasien« und »Konstruktionen«
Niebuhrs und vor allem den »Postniebuhrianern« entgegen. Und wenn er auch
sich »nie mit einzelnen Resultaten, sondern erst mit der ganzen Wahrheit,
mit dem vollen Bilde der Sache befriedigen will«, so betont er doch von
vornherein die Notwendigkeit der Detailuntersuchungen als Grundlage der
geschichtlichen Darstellung und der »modernen philologischen Jurisprudenz«;
»den strengen Fleiß, die gründliche Kenntnis und den sorgfältigen Gebrauch
des kritischen Handwerkszeugs« als »Base jeder bleibenden Leistung« —
eine Forderung, welche wohl heute dank M.s Lebensarbeit wenigstens theo-
retisch zu den Selbstverständlichkeiten gehört, aber in einer Zeit, in welcher das
Naturrecht nicht überwunden und die spekulative Philosophie auf der Höhe
ihrer Entwicklung war, nur von den Wenigsten erfüllt wurde und erfüllt
werden konnte. Es ist für M.s wissenschaftliche Eigenart bestimmend ge-
worden, daß er in einer Zeit, als sich die historische Rechtsschule unter
Savignys Führung die Herrschaft zu erringen begann, als Jurist von der
Philologie, die damals auf sprachlichem und monumentalem Gebiete vordrang,
die Forschungsmethode entlehnte, die er selbst kennzeichnet als: »die rück-
sichtslos ehrliche, im großen wie im kleinen vor keiner Mühe scheuende,
keinem Zweifel ausbiegende, keine Lücke der Überlieferung oder des eigenen
Wissens übertünchende, immer sich selbst und andern Rechenschaft legende
Wahrheitsforschung.« 6) Als Jurist ist M. an das von den Romanisten, die
infolge der praktischen Bedeutung des römischen Rechtes doch wesentlich
Zivilisten blieben, allzu sehr vernachlässigte, erst gerade in jenen Jahren
wegen seines historischen Interesses ernsthafter behandelte römische Strafrecht
herangetreten und von vornherein sich klar darüber gewesen, welche Unmenge
von Detailuntersuchungen angestellt werden mußten, bevor eine befriedigende
Gesamtdarstellung möglich wäre; so ist es kein Zufall, daß sein letztes großes
Werk, der Schlußstein seiner Lebensarbeit, das römische Straf recht gewesen
ist, — wenn er auch 50 Jahre vor dessen Erscheinen gleichsam intuitiv die
Hauptprobleme, z. B. die Frage und Bedeutung der Provokation, die Un-
trennbarkeit des römischen Strafrechtes vom Strafprozesse richtig erfaßt hatte.
Es gehörte aber dazu vor allem eine richtige Auffassung vom römischen Staate,
der seinerseits »erst von der römischen Jurisprudenz sein Licht empfängt« und
dessen Zentralbegriff, das Imperium, schon dem Sechsundzwanzigjährigen so
deutlich war, wie keinem seiner Zeitgenossen. Aber der Staat, sein Zivil-
recht, wie sein Straf- und Staatsrecht konnten in ihrem historischen Werden
nur verstanden werden, wenn er aus sich heraus verstanden und nicht moderne
Kategorien in ihn hineingetragen wurden. Es mußte also, nachdem Niebuhr
die Kritik der Überlieferung weit gefördert hatte, in dem vollen Bewußtsein,
448 Mommsen.
daß »den Gegensatz reinster Auffassung der Tradition und idealster Rekon-
struktion, den wir alle bezwingen möchten, vollkommen niemand lösen kann«,
der Wiederaufbau dadurch vorbereitet werden, daß alle Quellen, welche
noch zu uns sprechen können, gesammelt und gesichtet und daß sowohl
die Sprachwissenschaft, der die großen Meister gerade neue Wege gewiesen
hatten, als auch Epigraphik und Numismatik, die im großen ganzen noch
mehr von Dilettanten aus Sport betrieben wurden, in den Dienst der Gesamt-
aufgaben gestellt wurden. Schon M.s Erstlingsschriften zeigen dies Bestreben ;
er erzählt selbst, daß ihn an der Universität besonders »das Studium der
römischen Inschriften lange Zeit beschäftigt und die eigentliche Jurisprudenz
sehr zurückgedrängt habe« ; das Büchlein über die Kollegien schließt aber mit
einem Hinweis auf Boeckhs griechisches Inschriftenwerk und mit dem heißen
Wunsche, daß ein vollständiges Corpus der lateinischen Inschriften ausge-
arbeitet werde, als dessen Leiter M. sich seinen Lehrer Otto Jahn erhofft. —
M.s überquellendes Temperament hat sich aber niemals in die Gelehr-
samkeit eingeschlossen; er mochte die Bücher nicht als Ersatz für das lebendige
Leben betrachten, und Geselligkeit war ihm Bedürfnis, eine Geselligkeit,
welche die Interessen erweiterte und Witz und Laune beim Glase Wein die
Zügel schießen ließ. Aus dieser Geselligkeit heraus ist das »Liederbuch
dreier Freunde« geboren, der beiden Brüder Theodor und Tycho und ihres
Studiengenossen Theodor Storm. Im Juli 1843, ^^i Gelegenheit eines Besuches
Storms in Altona, wurde der Plan, eine Auswahl von Gedichten anonym
herauszugeben, besprochen, aber da sich kein Verleger hierfür fand, entschloß
man sich die Namen beizufügen. Obwohl Storm der einzige Dichter unter
den dreien war und Tycho später wenigstens als Übersetzer Pindars und
Shakespeares bekannt wurde, ist doch Theodor M. der Führende in dem
Terzette?), der, wenn er auch als Jüngling mitunter den Dichterberuf in sich
zu fühlen glaubte und noch bis in sein spätes Alter Lust und Freude an
dichterischer Gelegenheitsproduktion hatte und (mit Wilamowitz zusammen)
Gedichte Carduccis und Giacosas »Eine Partie Schach« ins Deutsche über-
trug, doch niemals eigentlich von der Zunft war. Ein so gewaltiger Meister
der Sprache er auch geworden ist, ein so feines Empfinden für Poesie in seiner
großen und deshalb künstlerisch veranlagten Seele Platz fand, sind seine
Jugendverse doch bei aller mitunter gewollten Künstlichkeit des Reimes hart.
Der Inhalt und die Schärfe des Gedankens scheinen häufig die Form zu
sprengen. So ist es auch bezeichnend, daß in der Sammlung kein einziges
Liebesgedicht von Th. M. ist, daß sein Name aber im ersten und im dritten
Buche weitaus vorwiegt, in welchen die Stoffe sich an Sagen und Märchen
anlehnen oder dem Leben der Gegenwart entnommen sind, das seiner
scharfen Satire und Kritik freien Spielraum gewährt. Der Spott ergießt sich
namentlich gegen die zeitgenössische Literatur seit Chamissos Tode, gegen
die Clique:
»Das bttckt sich und das streichelt sich, das drängt sich und das treibt sich,
Das gibt ein Buch und einen Band, da schickt ihr's dann nach Leipzig« —
so wird sie charakterisiert. »Der Bandwurm der Makhamen« findet ebenso-
wenig Grade, wie »Mondscheinduft und Lindenglanz, um aus der Haut zu
fahren!«, wie »die Herren von Adel, die sich am Parnasse drängen« und wie
Heinrich Heine, gegen welchen M. die folgenden Verse einrückt:
Mommsen.
449
»Auch ich war von der Gemeinde
Und trug dein Bandelier:
Einstmals da waren wir Freunde —
Bewahre mich Gott vor Dirl«8)
Und doch ist im »Liederbuch«, wie 'in jener Zeit fast selbstverständlich, der
Einfluß Heines neben dem von Goethes Faust nicht zu verkennen. Aber das
Urteil, das sich in M.s Strophen ausspricht, ist unwillkürlich nicht nur ein
ästhetisches, sondern auch ein ethisches. Zwar heißt es im »Exodus«:
»In dieser Zeit ist's nicht genug, wenn uns ein Lied geraten;
Politisch soll der Dichter sein, das heifit man Liedertaten.
Es ist die Welt doch weit genug und viel kann drinne wohnen,
Und sind doch nicht bloß Pressen drin und Konstitutionen.
Man liebt und phantasiert so fort, und das ist keine Schande;
Im Herzen hat gar Vieles Raum noch bei dem Vaterlande.
Ihr sollt nicht alle Pauken sein, was Wenigen nur ziemte,
Und Stimmen gebe nicht der Zeit, als wer die Zeiten stimmte« —
dann aber weiter:
»Es ist nicht leicht, die Poesie zu paaren der Gesinnung;
Nur Einen fand ich, der's verstand, und groß ist doch die Innung.
O ihn, aus dem die Jugend spricht, nicht den Lebendigen tadl' ich;
Ein Dichter ist er, das ist wahr, und also ist er adlig.«
Wenn sich aber auch hier die Begeisterung für den »Lebendigen«, für G. Her-
wegh, ausspricht, so wird doch das Lob nach der zweiten Sammlung (»21
Bogen«), die Herwegh herausgab, eingeschränkt. Auch der Streit zwischen
Herwegh und Freiligrath (»im Sandmeer die Oase«) wird mit Interesse ver-
folgt. Die volle Bewunderung gehört aber Ed. Mörike, von dem M. singt:
. . . »Da fand ich in dem eignen Bett von Moose
Erblühend im geheimsten Tal von Schwaben
Des reichen Liedersommers letzte Rose.« — —
Daß und warum das »Liederbuch« selbst eigentlich unpolitisch sein will,
kündigt M. im Einleitungsgedichte an:
. . . »Fremd bleiben wir in Schiras und Egypten,
Denn unsre ganze Kunst ist, mit den treuen
Gesellen uns am guten Tag zu freuen,
Zu weinen wiederum mit den Betrübten.
Wohl habt ihr Recht, daß unsre Lieder anders
Noch klingen sollen, dafi sie klingen werden
Wie Schwerterklang am Ufer des Skamanders.
Doch ist es noch nicht Zeit sich zu geberden,
Als trügen uns die Planken eines Branders,
Denn sehtl wir mauern jetzt noch in der Erden!«
Aber doch läßt M. den Kaiser Barbarossa mit sehr deutlich politischem Hin-
weise in einem Kyffhäuser-Gedichte aus dem J. 1841 sagen:
»Geht heim ihr Kinder! denn der Morgen grauet,
Bald wird mein Adler seine Flügel breiten.
Nicht jenem, welcher vor- und rückwärts schauet —
Ihm, der nur vorwärts streckt den schwarzen Nacken, 9)
Hab ich des Kampfes Hitze anvertrauet.«
Biogr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. 9. Bd. 20
450
Mommsen.
Zum Schluß aber heißt es:
»Bis dahin lasset immerhin euch unser Lied gefallen!
Man horcht ja andern Vögeln auch, nicht bloß den Nachtigallen.
Wir finden wohl ein Publikum, denn seit dem König Necho,
Dem ersten, welcher Kap wein trank, fand jedes Lied sein Echo.
Es ist uns etwas Übermut im Leben nachgeblieben,
Den haben wir für's Publikum in Versen aufgeschrieben.
Für's Handwerk sind sie freilich nicht, noch für die Abgemuckten,
Dem jungen Volk zu Liebe ist's, daß wir sie alle druckten.
Fragt ihr in Deutschland nur nicht lang, wo dieser Vers gewachsen I
Die Veilchen sind dieselben ja in Holstein und in Sachsen.
Euch legen wir sie an das Herz, des Landes lieben Leuten!
Am besten wisset ihr es doch, wohin die Lieder deuten.c —
Aber weder Wissenschaft noch Dichtung waren geeignet, dem Kandidaten
und dann dem Doctor juris das Leben zu fristen. Obwohl O. Jahn, der seinen
Schüler auch von Greifswald aus nicht aus dem Auge verlor, nicht daran
zweifelte, daß dieser über kurz oder lang zur akademischen Karriere über-
gehen werde, mußte er sich doch zunächst durch Privatunterricht seine Existenz
sichern. Es wurde ihm dies dadurch erleichtert, daß ihm verwandte Damen,
bei denen er schon als Gymnasiast und als Student verkehrt hatte, Inhaberinnen
zweier Mädchenpensionate in Hamburg waren. So wurde er Mädchenlehrer
und unterrichtete Geographie und Geschichte, Literatur und deutschen Auf-
satz, aber auch Französisch und Latein. Er fand sich auch in diese neue
Tätigkeit und gewann ihr manche freundliche Seiten ab, obwohl seine Ge-
sundheit, offenbar durch das Übermaß verschiedenartiger Arbeit, litt. Dabei
schrieb er nicht nur gelegentlich für die »Neuen Kieler Blätter«, an deren
Gründung, wie es scheint, sein Studienfreund Carstens beteiligt war, politische
Beiträge, 'o) sondern auch gelegentlich für den »Merkur«, sammelte für das
»Volksbuch« mit Storm schleswig-holsteinsche Sagen und Reime") und trat
mit Wienbarg, dem Kritiker des »Jungen Deutschland«, und mit dem von
ihm im »Liederbuche« verspotteten Dr. Wille in Verbindung und übernahm
Korrespondenzen aus Hamburg für Wienbargs Organ, die literarisch-kritischen
Blätter der »Hamburger Börsenhalle«; diese Tätigkeit führte ihn öfters ins
Theater, das er freilich im allgemeinen nicht loben konnte; doch erlebte er
hier wohl seine erste Faustaufführung, sah Grillparzers »Traum ein Leben*,
konnte Fanny Eisler bewundern und begeisterte sich namentlich für Döring.
Bei alledem kam die Geselligkeit nicht zu kurz, die ihn außer zu seinen
Verwandten in literarische Kreise und in die Häuser Hamburger Großkauf-
leute führte, mit denen er gelegentlich über den Sozialismus diskutierte,
und wenn Jahn, Preller, Olshausen durch Hamburg kamen, tauschte er mit
ihnen seine Gedanken aus. Bald aber eröffnete sich ihm eine weitere Bahn.
Im April 1844 erfuhr er, daß ihm das dänische Reisestipendium, für zwei Jahre
je 300 Speziestaler, verliehen worden sei. . Erleichtert atmete er auf, daß ihn
das Glück doch nicht verlassen habe, und noch mehr als 30 Jahre später hat er
dankbar anerkannt, was ihm damit gegeben worden war, als er im preußischen
Abgeordnetenhause bei Gelegenheit der Stiftung von Privatdozentenstipendien
erklärte: »Ich wäre ohne Zweifel nicht Gelehrter, wenn ich nicht als geborener
Schleswig-Holsteiner in der Lage mich befunden hätte, als — wie man es da-
Mommsen. ^ J I
mals offiziell formulierte — königlich dänischer Untertan ein Reisestipendium
zu erlangen, welches in dieser Weise keinem preußischen Studenten gegeben
wird«.") Mit Rücksicht offenbar auf seine eigenen Erfahrungen erschien ihm
stets das Stadium zwischen Doktorat und Habilitation als die eigentlich aus-
schlaggebende Zeit für den künftigen wissenschaftlichen Lebenslauf. Als
offizielles Ziel seiner geplanten Reise nach Italien galt die Vorbereitung für eine
aus erster Hand geschöpfte Ausgabe der römischen Gesetzesurkunden, welche
den alten Haubold ersetzen sollte. Jahn verwendete sich bei der Berliner
Akademie, damit diese sein Unternehmen unterstütze, und M. brachte sich
Rudorff und namentlich Savigny dadurch in Erinnerung, dafi er seine
oskischen Studien bei der Zeitschrift für historische Rechtswissenschaft ein-
reichte, da er keine Lust hatte, sich vor Sr. Exzellenz dem Staatsminister
Savigny persönlich zu verneigen, so unendlich er auch den Rechtsgelehrten
verehrte. Zugleich wendete er sich an die Pariser Akademie, damit diese
ihm in dem von ihr geplanten Corpus inscripHonum den Teil de legibus et
senatus consulHs übergebe. Während aber der letztere Plan zu keinem Ziele
führte, gewährte die Berliner Akademie eine kleine Unterstützung. »3)
II. Wanderjahre. Als M. das Schuljoch abgeschüttelt und jeder seiner
Schülerinnen Verse ins Album geschrieben, als er von der Heimat und seinen
Nächsten, von manchen guten Freunden und Freundinnen nicht ohne Wehmut
Abschied genommen hatte und Mitte September im Hamburger Hafen das
Schiff bestieg, das ihn zunächst nach Havre bringen sollte, erschien ihm, der
seine wissenschaftlichen Ziele fest ins Auge gefaßt hatte, die nächste Auf-
gabe, die er übernommen, nur als eine erste Etappe seiner weiteren wissen-
schaftlichen Entwicklung und der allgemeinen Erweiterung seines Gesichts-
kreises ; er fühlte es selbst, daß er bisher nur in der Provinz gelebt hatte und
wollte das Versäumte nachholen in der bestimmten Hoffnung einst, wenn
auch vielleicht mit leeren Mappen, er doch sicherlich mit erweitertem Blick
und freierem Sinn in seine Heimat zurückzukehren. Er wollte nicht nur
sehen, was auf Steinen und Pergament stand, sondern auch die weite Welt
und ihr Leben. Allerdings kam er sich wie hineingeschneit in die Weltstadt
Paris vor und mußte sich erst besinnen, bevor er so recht zum Arbeiten und
zum Sehen kam. Aber wie er sich schon in Rouen an der ihm neuen französischen
Gothik erfreut hatte, so bewunderte er in Paris, das ihm auch als Stätte der
Julirevolution und als letzte Ruhestätte Börnes ein geweihter Boden war, die
herrlichen modernen Bauwerke, namentlich die Madeleine, und brachte
anfangs jeden Morgen im Louvre zu, um sein Auge an die Meisterwerke zu
gewöhnen. An den Abenden bewunderte er die Rachel als Phidre^ aber auch
die kleinen Theater, an denen die ausgezeichnetsten Komiker wirkten. Hase,
von Geburt ein Deutscher, Konservator der Manuskripte an der Bibliothek,
nahm ihn freundlich auf, und er vertiefte sich in die handschriftlichen
Inschriftensammlungen, in Nonius und Asconius und in die Briefe Ciceros.
Dabei fand er Zeit zum Verkehr mit französischen Gelehrten, wie mit einer
früheren Schülerin, die in Paris verheiratet war, und mit Dr. Emil Braun,
dem Sekretär des Deutschen archäologischen Instituts in Rom, der zufällig zur
selben Zeit in Paris weilte.
Aber trotz aller Schönheit und trotz fruchtbarer Arbeit zog es ihn ge-
waltig nach dem gelobten Lande Italien hin. So ging er im November über
29*
452
Mommsen.
Lyon nach Montpellier, wo sich zuerst des Südens tiefblauer Himmel über ihm
wölbte, und Nimes, dessen Amphitheater der erste gewaltige Rest antiker
Baukunst war, dem er nahen konnte; dann über Genua nach den toskanischen
Städten, Pisa, wo er die Kunst des Ducento bewundernd in sich aufnahm,
Pistoia und Florenz, wo das Studium der Ciceronischen Briefe in der Laurentiana
nicht selten durch Wanderungen im Amotale und nach Fiesole unterbrochen
wurde; von da nach Weihnachten nach Siena und, sobald eine Diligenza
gefunden war, unaufhaltsam nach Rom. Eine dunkeläugige Italienerin, welche
die Gedanken des Forestiere nicht unliebsam durch ihre Neckereien gestört
hatte, wies ihm von der letzten Station, La Storza, die Peterskirche, die sich
gewaltig vom Abendhimmel abhob. Als er am Abend des 30. Dezember
durch die Porta Flaminia einfuhr, war das Ziel seiner Sehnsucht erreicht,
und jubelnd brach er in die Worte aus: »Welt geh nicht unter, Himmel
fall nicht ein!« Er meldete sich gleich im »preußischen« archäologischen
Institute auf dem Monte Tarpeo und, nachdem er gastlich empfangen und
ihm eine Wohnung zugewiesen war, eilte er noch nächtlicherweile auf das
Forum, um vor den erhabenen Trümmern des Altertums seine Andacht zu
verrichten. Und in seiner Wohnung auf dem Kapitole umwehte ihn das
Weben seiner historischen Phantasie. Er hörte den Wind um seinen Hügel
pfeifen, wie er wohl um Romulus gepfiffen hatte, und dann vertrieb er sich
den Traum mit einem kritischen: »Vial an den glauben wir ja nicht mehr.«
Nun nahm er Rom in vollen Zügen in sich auf. In Gesellschaft von
Hettner u. a. wurden untertags Museen und Ruinen durchstreift, und am
Abende fand man sich in einer Osterie oder im Cafft dei Greci oder auch im
Karneval auf dem Korso beim Kampfe der Moccoli zusammen. M. hatte das
lebhafteste Gefühl, hier in Rom die glücklichste Zeit seines Lebens zu ver-
leben. Die plastische Kunst, überall herrlich, schien ihm doch in Rom am
mächtigsten zu wirken, und er dankte seinem Schicksale, ihre schönsten
Werke noch in einem Alter gesehen zu haben, das volle Empfänglichkeit be-
sitzt. Und nicht minder wertvoll war es ihm, daß er Gesellen gefunden hatte,
wie er meinte, daß man sie sonst nur auf einer deutschen Universität finden
könne, so daß ihm in Rom eine neue, schönere Studentenzeit anging. Der
Mittelpunkt dieser Gesellschaft aber war das archäologische Institut. Das
von Grerhard mit Unterstützung Niebuhrs und Bunsens gegründete »preu-
ßische« archäologische Institut auf dem Kapitol war schon damals der
Mittelpunkt der deutschen und der italienischen, wie der fremdländischen
archäologisch - antiquarischen Forschung. Nach mancherlei finanziellen
Kalamitäten war die Privatvereinigung, die es erhielt, gerade damals durch
die Unterstützung Friedrich Wilhelms IV. und des Herzogs von Luynes in
ihrem Bestände gefestigt worden, und die Aufgaben des Instituts erweiterten
sich von Jahr zu Jahr.H) Neben Dr. E. Braun, der als erster Sekretär die
Verbindungen mit allen Teilen Italiens, aus denen Fundberichte und
Demonstrationsobjekte zusammenströmten, in rühriger Weise anknüpfte und
unterhielt und in den Adunanzen und Führungen die Kunstschätze des Alter-
tums temperamentvoll erläuterte, wirkte als zweiter Sekretär Wilhelm Henzen,
der unter den Auspizien Borghesis, des Gönners und Bundesgenossen des
Institutes, sich in die epigraphischen Studien vertieft hatte, die immer mehr
zur Geltung kamen. So wurde das Institut für die jungen oder bejahrten
Mommsen.
453
Ragazzi, die über die Alpen kamen, die hohe Schule der Altertumswissen-
schaft, die hier an Ort und Stelle nicht als etwas Fremdes erlernt, sondern
mit geradezu leidenschaftlicher innerer Anteilnahme gepflegt wurde. Hier
wurde in Gegenwart M.s in der Adunanz vom lo. Januar 1845 dessen Buch
über die Tribus von Dr. Braun vorgelegt und seither war M. auch ein regel-
mäßiger Teilnehmer an den Sitzungen. Er bemächtigte sich mit der ihm
eigenen Energie und Orientierungsfähigkeit des neuen wissenschaftlichen
Materiales, das jeder Stein in Rom darbot. Schon am 31. desselben Monats
teilt er eine topographische Untersuchung über das römische Comitium mit
und beteiligte sich dann sowohl an der Polemik mit dem Jesuiten Secchi,
dessen wissenschaftliche Unehrlichkeit ihn empörte, als auch an jeder Diskussion
über neu auftauchende epigraphische Fragen, welche hier von den besten Sach-
kennern erörtert wurden, im engen Vereine mit Henzen, mit dem ihn bald
warme Freundschaft verband. Bis zum Jahre 1847 weisen die Publikationen
des Institutes ein halbes hundertmal M.s Namen auf, neben denen von Braun
und Henzen und den damals schon berühmten von Gerhard, Welcker,
Thiersch, die in diesen Jahren Rom besuchten.
Aber gerade die genauere Kenntnis des Materials mußte M. in seiner
Überzeugung von der Mangelhaftigkeit der mehr zufälligen, unsystematischen
Einzelarbeit und der in Deutschland üblichen antiquarischen Methoden be-
stärken. Es war damals seine Absicht, zusammen mit Heinrich Brunn eine
Übersetzung der epigraphischen Abhandlungen Bart. Borghesis herauszu-
geben, um die wissenschaftliche Welt, jenseits der Alpen mit den Forschungen
des einzigen Mannes bekannt zu machen, der damals in umfassender Weise
mit wissenschaftlicher Akribie und Kritik epigraphische und numismatische
Fragen in vorbildlicher Weise behandelte und seine Untersuchungen nicht
der Lokalhistorie, sondern der wissenschaftlichen Erforschung des römischen
Altertums dienstbar machte. M. erhoffte davon geradezu eine Revolution in
der antiquarischen und historischen Literatur, die Möglichkeit dort wieder
anzuknüpfen, wo Scaliger aufgehört hatte. Seinen nie verweigerten Rat erbat
M. zunächst schriftlich, kaum dafi er in Rom angekommen war, und ihn be-
suchte er, nachdem er eine epigraphische Reise durch Umbrien gemacht und
in Florenz abermals kollationiert hatte, am 14. Juli 1845 in seinem welt-
abgeschiedenen Felsenneste Sn. Marino. Dieser Tag, an dem der Altmeister
der italienischen Wissenschaft und der 27 jährige Deutsche Ragazzo, der sich
als seinen Schüler bekannte und über die Alpen gekommen war, um die
Grundlagen für eine neue antiquarische Wissenschaft zu legen, einander nahe
kamen, verdient in der Geschichte der Wissenschaften festgehalten zu werden.
»Ich muß mich mit Gewalt daran erinnern, daß er aufhört und ich anfange,
um nicht an meinen epigraphischen Studien ganz zu verzagen«, schreibt M.
an Henzen und trägt in sein Tagebuch ein: »Der hat mir imponiert als
Gelehrter wie noch niemand.« » 5) M. weihte Borghesi in alle seine Pläne ein,
und dieser unterstützte ihn bei jeder Einzelheit mit seiner reichen epigraphischen
Erfahrung. Der wichtigste dieser Pläne war das Corpus inscriptionum Laünarum,
für welches, nachdem der seit 1835 bestehende erste Entwurf mit seinem
Urheber Kellermann zu Grabe getragen war, die Berliner Akademie Otto
Jahn in Aussicht genommen hatte. Im Frühjahre 1845 hatte Jahn M. zu
künftiger Mitarbeit bestimmt. M. hielt damals sein Schicksal schon für so
454
Mommsen.
gut wie entschieden. »Meine goldene Freiheit!« so schreibt er: »Ich habe
angenommen — wie konnte ich anders? aber es reißt an meinem Herzen,
daß ich Vaterland, wissenschaftliche Bestrebungen, gewohnte und liebe Ver-
hältnisse tauschen soll — um einer Carri^re willen.« Aber er bedang sich
aus, daß in Italien nur gesammelt, in Deutschland, wo die wissenschaftlichen
Hilfsmittel vorhanden waren, redigiert würde. Er will sich nicht »auf ewig
in die hesperische Gefangenschaft verbannen« und ist entschlossen, wegen
des Corpus inscriptumum und der mit ihm verbundenen vielfach mechanischen
Tätigkeit nicht alle seine wissenschaftlichen Bestrebungen zu Grabe zu tragen.
»Wie viel lieber als anderen Leuten Ziegel machen, baute ich selbst Häuser!«
so ruft er aus und er gesteht, daß er, »obgleich ein armer Teufel, leicht-
sinnig genug gewesen wäre, das schnöde Gk)ld für seine besten Jahre zurück-
zuweisen«, wenn er es nicht für Pflicht gehalten hätte, »daß wo solche Not
ist, wie hier, jeder zugreifen muß, wer da kann, und daß die wahre Tüchtig-
keit darin besteht, an der Ecke, wo man eben steht, sei es Offizier, sei es
Soldat zu spielen.« Indessen war es noch nicht so weit Die Schwierig-
keiten häuften sich. Die französische Akademie hatte im Jahre 1845 ihren
eigenen Plan, ein Corpus inscr. Lat. ausarbeiten zu lassen, noch nicht auf-
gegeben, und da sie schon Borghesi für einen Teil der Arbeit gewonnen
hatte, schien M. eine Konkurrenzarbeit gänzlich untunlich sowohl mit
Rücksicht auf die Unentbehrlichkeit Borghesis als auch zur Vermeidung einer
wissenschaftlich unfruchtbaren und verbitternden Konkurrenz zwischen deut-
schen und französischen Forschem, welche die Stellung beider Teile den
Italienern gegenüber nur erschwert hätte. Aber auch als diese Schwierigkeit
beseitigt war, verblieb die größere, daß einer starken Partei der Berliner
Akademie die materiellen Lasten zu groß und M. und Jahn weniger geeignet
erschienen, die Arbeit zu übernehmen, als der Oberlehrer Zumpt, dessen
Oheim selbst in der Akademie war. Trotzdem Borghesi den Plan mit Be-
geisterung begrüßte, trotzdem Savigny, Lachmann, Gerhard sich mit aller
Energie für den von Jahn mit M. ausgearbeiteten Entwurf *6) einsetzten, schien
der Plan doch schon im Jahre 1846 gescheitert zu sein. M. machte den
Vorschlag einer Probearbeit, und da Jahn aus verschiedenen Gründen davon
nichts wissen wollte und dem jüngeren Genossen freiwillig alles weitere
überließ, reichte er die Bearbeitung der Inschriften Samnium ein, nachdem
die Akademie auf Anraten Savignys den Vorschlag angenommen und
600 Rth. als Subvention bestimmt hatte; unter diesen 600 Rth. waren 200,
welche Savigny persönlich durch Abtretung seines akademischen Gehaltes zur
Verfügung gestellt hatte. ^7) Während dieser Verhandlungen hatte M. rüstig
weitergearbeitet. Als nächstes Ziel hatte er sich in Übereinstimmung mit
Borghesi die epigraphische Durchforschung des damaligen Königreiches
Neapel gesetzt, dessen inschriftliche Überlieferung wenig bekannt und durch
Fälschungen verdunkelt war. Von Sn. Marino zog er die adriatische Küste
entlang südwärts und dann nach Neapel, wo er die ganze neapolitanische
Inschriftenlitteratur, namentlich die Munizipalgeschichten durcharbeitete und
die Inschriften des Museo Borbomco kopierte. Im Oktober schiffte er sich mit
dem Numismatiker Julius Friedländer, durch den er zuerst in die Numismatik
eingeführt wurde, und Dr. Schrader nach Palermo ein und blieb drei Wochen
in Sizilien. — Nach einem Winteraufenthalt in Rom durchstreifte er im
Mommsen.
455
Sommer und Herbst 1846 Süditalien abermals nach allen Richtungen hin,
zeitweise wiederum in Begleitung Friedländers und seines Bruders Tycho.
Mit diesen beiden war es ein fröhliches Wandern ; eine ; Zeichnung Fried-
länders, in der übermütigen Laune des Augenblickes hingeworfen, zeigt M.
in recht bedenklicher Stellung, halb auf dem Mulo, halb auf der Leiter eine
Inschrift eines Brückenbogens abschreibend. Aber bei den einsamen Streifungen
galt es auch die größten Strapazen ertragen und mitunter die größten
Schwierigkeiten überwinden und in dem großenteils unwirtlichen Lande, in
welchem der Fremde auf das Entgegenkommen der Eingeborenen angewiesen
war, der Preti und Landedelleute, die zum Teile mißtrauisch, zum Teile neu-
gierig dem Forestiere entgegenkamen, die gewonnen, deren lokalpatriotische
Empfindungen geschont werden mußten. Manche der Beziehungen, die M.
damals anknüpfte, haben Dezennien hindurch vorgehalten, und der gute
Humor hat ihn nur selten verlassen. Aber in Momenten der Mißstimmung,
die schon den Jüngling gelegentlich ergriffen haben muß, haderte er wohl
mit dem Geschicke, das ihn dazu verdammte »zu sammeln und in infinitum
zu sammeln unter Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten, von denen sich
niemand eine Idee machen kann, der nicht die Freunde und die Gasthäuser
in den neapolitanischen Provinzen kennt« — und schildert, wie die Menge ihm
über die Schulter sieht, während er auf einem öffentlichen Platze eine Inschrift
abschreibt, und sich über den fränkischen Narren lustig macht, der alle
Buchstaben abschreiben will. Da sehnte er sich wohl nach dem ruhigen
Schreibtische zurück, bis er auf der Piazza von Sorrent sich über das Treiben
des Volkes belustigend oder in Neapel oder in Rom im Kreise der heiteren
Genossen bei Falerner oder Wein von den Kastelli nicht nur auf die Aben-
teuer, sondern auch auf. die wissenschaftlichen Ergebnisse mit Freude zurück-
blickte.
Aber nicht nur, daß er damals das vollständige Material für die Samm-
lung der neapolitanischen Inschriften zusammenbrachte und sich über die
Grundlagen jeder wissenschaftlichen Inschriftensammlung klar wurde und daß
von seiner Hauptarbeit eine ganze Reihe epigraphischer Analekten abfielen,
anknüpfend an seine oskischen Studien wurde er durch die unteritalischen
Inschriften weiter zum sprachlichen Studium der unteritalischen Dialekte
geführt, deren Frucht das im Jahre 1850 erscheinende Werk »Die unter-
italischen Dialekte« war, das für diesen Teil der Sprachwissenschaft wie für
die vorrömische Greschichte Italiens grundlegend geworden ist, wenngleich
sich grade M. seiner Mängel bewußt war. Ebenso legten seine damaligen
numismatischen Studien den Grund zu seiner ebenfalls 1850 erscheinenden
Abhandlung über das römische Münzwesen.
Kaum einen anderen seit Goethe hatte Italien so reich beschenkt, wie
M., weil keiner wie er dem reichen Lande seine Gaben abzugewinnen wußte.
Nachdem er im Mai 1847 Borghesi nochmals besucht und ihm seine epi-
graphischen Manuskripte vorgelegt hatte, kehrte er über die Alpen zurück.
Er ging über Wien, und Ende Juli war er in Berlin, wo, nachdem M. die
Bearbeitung der Inschriften von Samnium und eine Denkschrift ȟber Plan
und Ausführung eines Corpus inscr. Lat,^ vorgelegt hatte, '8) durch Savignys
Bemühen sich eine günstige Wendung in der Angelegenheit der Inschriften-
sammlung anzubahnen schien. An den Forderungen des Herrn Zumpt und
Az6 Mommsen.
seiner Anhänger scheiterte sie abermals, obwohl M. zu Konzessionen bereit
war. Lachmann trat infolgedessen aus der Akademiekommission aus. M. fand
harte, aber gerechte Worte gegen die Schwäche und Halbheit der Akademiker
und schrieb: »ich verzichte, freilich mit blutendem Herzen auf ein Werk, in
dem ich eine Stellung nach außen und für mich einen Lebenszweck zu haben
meinte.« '9)
Nach der Heimat zurückgekehrt, sonnte er sich in dem väterlichen
Garten in Oldesloe und freute sich des Wiedersehens mit manchen Jugend-
freunden in Altona. In Kiel schien sich ihm schon zum zweiten Male, freilich
nur vorübergehend, die Aussicht auf eine Professur zu eröffnen, und Jahn riet
ihm sich in Leipzig zu habilitieren. Vorläufig aber mufite er aus materiellen
Gründen wieder seinen Unterricht in der Mädchenpension aufnehmen.
Nichtsdestoweniger suchte M. die Früchte seiner italienischen Reise
unter Dach zu bringen und namentlich das neapolitanische Inschriftenwerk.
Als er es nach zwei Jahren bis auf die /naives fertiggestellt hatte, entschloß
er sich, wenn auch mit Widerstreben, von der Berliner Akademie eine Sub-
vention von I200 Talern zu erbitten. Obwohl er über M.s Verhalten in den
früheren Verhandlungen erbittert war, stellte Boeckh doch den Antrag die
Hälfte dieser Summe zu gewähren, so daß, dank der Opferwilligkeit des Ver-
legers G. Wigand, die Borghesi — rfmagistro patrono amico^ — gewidmeten
Inscriptions regni Neapolitani Latituu nach zweijährigem Drucke im Jahre
1852 erscheinen konnten. — Neben den Vorarbeiten zu dieser Mustersammlung
war M. im Winter 1847 — 48 mit einer Unzahl von Detail Untersuchungen und
Arbeiten auf jenen anderen von ihm in Italien in Angriff genommenen Ge-
bieten beschäftigt.
Alle wissenschaftlichen Entwürfe und Pläne konnten aber M. nicht ver-
hindern, als der Frühling des Jahres 1848 anbrach, seine ganze Person in
den Dienst der Politik, des Vaterlandes und der Freiheit zu stellen; der
kategorische Imperativ der Pflicht rief ihn, wie damals die besten Männer
Deutschlands, unter die Fahnen, und er hat im Jahre 1848 so wenig wie in
seinen letzten Jahren es verstanden, wie sich die Ängsterlinge in der Studier-
stube zurückhielten, wenn der Ruf zur Tat an sie erging. Er nahm an einem
Tumulte in Hamburg teil, und nur eine Verletzung, die er sich dabei zuzog
und die, obwohl unbedeutend, ihn dienstuntauglich machte, zwang ihn von
seinem Plane abzustehen, sich, wie seine Brüder Tycho und August, den
gegen Dänemark ziehenden Freischaaren in Schleswig-Holstein anzuschließen.
Um so freudiger ergriff er die Gelegenheit, Deutschland und seinem engeren
Vaterlande mit der Feder zu dienen, als er auf Olshausens Wunsch in die
Redaktion der in Rendsburg erscheinenden »Schleswig-Holsteinischen Zeitung«
eintrat, die seit dem 15. April als Organ der provisorischen Regierung heraus-
gegeben wurde. Obwohl an ihr auch andere hervorragende Männer ge-
legentlich mitarbeiteten, war doch M., dessen erster Leitartikel am 24. April
erschien, durch Monate hindurch die eigentliche Seele des Blattes. Der
Schwung und die Begeisterung der Zeit trugen den jungen Journalisten
und, indem er bald Berichte schrieb, bald staatsrechtliche Tagesfragen in
klarer Weise auseinandersetzte, bald in flammenden Worten zur Tat auf-
rief, bald mit beißender Ironie die Lauen verspottete, bildete er sich
jenen glänzenden Stil, der ihn später befähigte, nicht nur das Aktuelle,
Mommsen.
457
sondern auch das scheinbar Tote wieder lebendig zu machen — während er
zugleich durch sein tatkräftiges Eingreifen in die Politik aus nächster Nähe
all die kleinen Triebkräfte kennen lernte, die zu den großen Resultaten der
Geschichte führen. ^o) Es waren arbeitsreiche Monate. Am 23. April wurde die
Schlacht bei Schleswig geschlagen, über die M. am 25. in seiner Zeitung
berichtete; noch 40 Jahre später schrieb er an einen Freund: »Ich denke
immer noch gern an meine Beschreibung der Schleswiger Schlacht, die ich
als journalistischer Schlachtenbummler mitgemacht habe und dann, nachdem
ich die Nacht die 6 Meilen von Schleswig nach Rendsburg gelaufen war,
den anderen Tag beschrieb.« Am 25. wohnte er einer Versammlung des
Zentralwahlkomitees in Neumünster bei, in welcher u. a. Droysen und Waitz,
von Mommsen auch in seiner Zeitung wärmstens empfohlen, als Kandidaten
für das Frankfurter Parlament aufgestellt wurden, während Prof. (Lorenz) Stein
aus Kiel infolge von M.s Einspruch abgelehnt wurde. Es schien ihm
am wichtigsten, Männer von Gesinnung zu wählen. »Sie sollen nicht die
Form allein schaffen für Deutschlands Einheit, sie sollen in vielen Teilen
Deutschlands auch den Geist schaffen; sie sollen die Pommern zu Deutschen,
sie sollen die Mörder Gagerns zu Bürgern machen. Das alles müssen sie
tun durch ihre sittliche Kraft, gehoben durch den Zwang von aufien und den
Drang von innen.« Dagegen sollten ausgeschlossen sein »alle verdächtigen
Charaktere, alle Feilen und Lauen, alle Schwankenden und Phantasten, alle
Volks- und Fürstenschmeichler« — aber auch »die in die alte Staatsmaschine
eingepreßten Geister, die Schreibmaschinen der Bureaus, die devoten Pfründner
der Staatskirche, die gehorsamen Leutnants und Majore, die ihres be-
schränkten Untertanenverstandes sich bescheidenden Spießbürger, die Männer
der Hundetreue.« Dies schien M. um so wichtiger, als ihm »die Gefahr
einer Reaktion im Schöße des deutschen Parlamentes selbst« — infolge der
Unreife großer Teile des Volkes — schon damals »nicht so chimärisch« er-
schien. Man solle »nicht zu viel Gewicht auf die Schlagfrage: Republik oder
Monarchie« legen, da diese nur zu Mißverständnissen und unnützen Dis-
kussionen führte und ihm auch die Fürstengewalt nur als eine historische
Kategorie erschien, sondern von den Kandidaten vielmehr fordern, daß sie
für spezielle Dinge, namentlich für das allgemeine aktive Wahlrecht und für
eine gewisse Zentralisation eintreten; daß sie versprechen dazu mitzuwirken,
alle diplomatische und militärische Wirksamkeit von den bisherigen Bundes-
staaten auf die Zentralgewalt zu übertragen, den Schwerpunkt der Zentral-
verwaltung auf das Nationalparlament zu verlegen und das künftige Bundes-
haupt mit wahrhaft konstitutionellen Garantien zu umgeben, und sich namentlich
in der Frage: Republik oder Monarchie? dem Ausspruche der Majorität zu
unterwerfen. M. selbst gab das Schlagwort aus: »Keine Isolierung, keine
Reaktion, keine Anarchie.« Dem entsprach die politische Haltung der
Schleswig-Holsteinischen Zeitung selbst: »Um jeden Preis die Einheit Deutsch-
lands«; dem gegenüber sollte die Verfassungsfrage zurücktreten; und wenn
auch die Gefahr einer Hausmachtpolitik, welche die Folge des Erbkaisertums
sein konnte, hervorgehoben und eine nicht monarchische Spitze der Zentral-
gewalt prinzipiell bevorzugt wird, wird doch die Meinung ausgesprochen,
daß die Zentralisation unter einem Erbkaiser zustande kommen wird wegen
der Stärke und des berechtigten Anspruches auf Hegemonie Preußens, das eben
Acß Mommsen.
bestehe, während der einheitliche deutsche Staat erst geschaffen werden
müsse. »Wir andern Deutschen brauchen Preußen notwendiger, als Preußen
uns.« — Nichtsdestoweniger polemisiert M. am lo. Juni gegen die Deutsche
Zeitung von Gervinus, weil sich das Erbkaisertum mit der Natur eines Bundes-
staates nicht vereinigen lasse und nur dem Doktrinarismus entsprungen sei;
eine definitive Lösung der Frage sei derzeit noch nicht möglich. Die staat-
lichen Formen müßten sich eben nach den Bedürfnissen richten. — Sehr ener-
gisch trat M. für den konstituierenden Charakter der Frankfurter Nationalver-
sammlung, der »alleinigen Inhaberin der deutschen Staatsgewalt« ein; es war
recht deutlich, gegen wen sich die Worte richteten: »wer ihren Beschlüssen den
Gehorsam weigert, der ist ein Rebell, und die Behauptung, daß ein Beschluß
der Nationalversammlung nicht bloß insinuiert, sondern akzeptiert werden
muß, ist Hochverrat gegen Deutschland.« Aber obwohl auch allgemeinere
Fragen, z. B. die soziale Frage unter Berufung auf englische Ökonomen
und auch auf Engels' »Lage der arbeitenden Klassen in England« in einem
liberalsozialpolitischen Sinne in dem Blatte behandelt wurden und M. die
österreichischen Verhältnisse im Sinne ungarischer Sympathien und mit
scharfer Verurteilung der Kamarilla und des Panslawismus besprach und
ausdrücklich feststellte, daß Deutschland auch von Österreich absehen könne,
traten doch allmählich die lokalen Fragen immer mehr in den Vorder-
grund. In einer Versammlung in Rendsburg am 13. Juni, an welcher
M. als Schriftführer teilnahm, wurde eine Resolution für die augenblick-
liche Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, für allgemeines Wahlrecht
in dem von der Ständeversammlung zu beschließenden Wahlgesetze für die
Provinzialversammlung und gegen jede Teilung Schleswigs gefaßt, und
in den folgenden Wochen verfolgt M. in seinem Blatte die Tätigkeit der
Stände und kritisiert ihre Tätigkeit, berichtet über die finanziellen Vorlagen
und preist eine reine Einkommensteuer, nicht ohne immer wieder gegenüber
der partikularistischen Antiquität des »meerumschlungenen Patriotismus« den
gesamtdeutschen Standpunkt zu betonen. Die Dinge gingen nicht, wie M.
gehofft hatte. Waren ihm ohnedies die Hände in mancher wichtigen Frage
gebunden, so ließ er sich nicht hindern, in den Angelegenheiten seiner engeren
Heimat energische Worte zu finden gegen die Schlaffheit und den bösen
Willen einer nicht geringen Minorität der Stände. Er hatte schon seit dem
Juni das Gefühl, daß das Regiment weder der einen noch der anderen Partei
gehörte, sondern ausschließlich den Ungeschickten und daß es seine tägliche
Beschäftigung war, sich über die Lauen und über die Renommisten zu ärgern.
Zu Michaelis wollte er seinen Abschied nehmen und bat daher Jahn, jetzt
die Leipziger Angelegenheit zu fördern. Persönliche Oppositionsartikel führten
aber schon jetzt zu heftigen Interpellationen von Seite der Stände, und die
Regierung wies nun ihre Zeitung an, die Stände ungeschoren zu lassen. Da
Versuche, das Blatt in Privathände zu bringen, fehlschlugen, ging M. schon
Anfangs Juli mit der Überzeugung, in seiner Heimat überflüssig zu sein, und
mit dem Gefühle der Scham, daß die großartig angekündigte Schilderhebung
in nichts verlief. — Um seine Existenz zu fristen, suchte er möglichst bald
wieder Beschäftigung bei einer Zeitung, und ging nach Frankfurt, wo ihm
der Gegensatz zwischen der »Parlamentsidylle«, für die die verschiedenen
Wirren nur Redestoffe seien, zwischen der Beratung der Grundrechte auf der
MomiDsen. 459
einen Seite und der tatsächlichen Haltung der Regierungen auf der anderen,
der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis viel zu denken gaben. Er war
Zuhörer bei einer Beratung der Linken im »Deutschen Hofe«, bei welcher
ihm auch R. Blums vorsichtige Zurückhaltung auffiel, die ihn ebenfalls für
die Zukunft nichts Gutes ahnen ließ. In dieser wenig freudigen Stimmung
erhielt er die Nachricht, daß der sächsische Minister v. d. Pfordten sich Jahn
gegenüber bereit erklärt hatte, M. von Michaelis 1848 an mit einem Gehalte
von 400 Rth. als außerordentlichen Professor der Jurisprudenz in Leipzig
anzustellen.
Dann trat der Wendepunkt in Schleswig und in Deutschland überhaupt
ein, als es durch den Vertrag von Malmö klar wurde, daß Preußen von der
nationalen Politik sich lossagte. Noch am 29. August, als Olshausen aus der
provisorischen Regierung ausgetreten war, polemisierte die Schleswig -Hol-
steinische Zeitung zwar gegen die Berliner Junkerpartei, sah aber doch in
Preußen den »Staat des Fortschritts«, der »sich zu Deutschland erweitern
müsse«. Dann schlägt sie heftigere Töne an, fordert den Landtag zum
Handeln, zur Steuerverweigerung auf, greift die neue verhaßte Regierung an
und droht: »es wäre möglich, daß vor der lauten Anklage einer Politik,
worin die deutschen Fürsten abermals Schmach gehäuft haben auf das deutsche
Volk, die noch keineswegs gesicherten Throne wiederum erzittern«. Doch
erkennt sie resigniert an, daß sich Schleswig-Holstein einem von der National-
versammlung und den konstituierten Gewalten rechtsgültig abgeschlossenen
Waffenstillstände fügen müsse und wirft noch in mehreren Artikeln (16. — 21.
Sept.) auf Grund der der Nationalversammlung vorgelegten Aktenstücke einen
Rückblick auf die Geschichte des Waffenstillstandes. M. scheint in dieser
Zeit wieder mitgearbeitet und von Kiel aus die »Briefe über die Landes-
versammlung« und die neuen Parteibildungen geschrieben zu haben, legte
aber Ende September die Feder nieder.
Das ihm eigene strenge Pflichtgefühl, das er auch von den anderen
forderte, hatte ihn in den politischen Kampf geführt, und er hatte ausgeharrt
mit der aus seinem starken Temperamente entspringenden Begeisterung, die
er als eine Grundbedingung des Erfolges betrachtete, solange er glaubte,
nützlich wirken zu können. »Gehen wir zugrunde, so sind schuld daran
die Klagenden und die Zagenden, die bedenklichen kränklichen Seelen, die
superklugen Politiker, die den großen Text der Geschichte mit ihren Frage-
und Ausrufungszeichen versehen, die nachhinkenden Kleinmeister, welchen
der herrlichste Sieg nicht genug Resultate gibt, die armen Seelen, welche
keinen Glauben haben an den Gott in der Geschichte, kurz all die hoffnungs-
lose Feigheit, die kopfschüttelnde Klugheit, die wie ein bleiernes Schwer-
gewicht den edlen Enthusiasmus Deutschlands niederziehen möchte.« Aber
es liegen genug Äußerungen vor, die beweisen, daß er von vornherein die
tatsächlichen Machtverhältnisse, das Widerstreben der Machthaber gegen die
neue Entwicklung, die Unreife des Volkes, die Stärke der Reaktion und die
philiströse Furcht vor der Anarchie richtig beurteilte. Darum wird er auch
am leidenschaftlichsten und beredtesten, wenn er die wirklichen Verhältnisse
mit beißender Satire dem erstrebten Ziele gegenüberstellt. Schon am 31. Mai
schreibt er in einem Artikel, der überschrieben ist: »Die Einheit Deutschlands
praktisch angewandt« u. a.: »Wir haben uns sehr geirrt. Die Idee eines
j_50 Mommsen.
einigen und starken Deutschlands hat in der Praxis einen Kommentar er-
halten, der geeignet ist, die ruhige Vernunft zum Wahnsinn und die Thorheit
zur Ehre zu bringen. — Das einige Deutschland ist ein solches, wo jeder
deutsche Regent im militärischen und politischen Verhalten zum Ausland
seinen eigenen Willen hat, wo Preußen gar nicht zu wollen braucht, was
Hannover will, und umgekehrt. Das einige Deutschland schließt nicht aus,
daß ein deutscher Fürst sich weigert sein Kontingent zu stellen. Das einige
Deutschland schließt nicht aus, daß ein deutsches Land einen Separatfrieden
schließt. Das einige Deutschland kann viel vertragen, unbeschadet seiner
Einheit, gerade wie das heilige römische Reich, trotz Neutralitätserklärungen
und Baseler Friedensschlüsse, das heilige römische Reich blieb. Das einige
Deutschland ist eine Koalition mehrerer Fürsten, mit einer Phrase dazu. Das
einige Deutschland ist ein periodisch wiederkehrender Traum des deutschen
Michel, der in Versen vortrefflich, in Prosa schlecht und in der Praxis
nirgends an seinem Platze ist. Das einige Deutschland ist ein Hohn der
Dänen, die Schadenfreude Englands. Aus Versehen ist Deutschland einig
gewesen vier Wochen lang; aber umsonst erschraken die Nachbarn, daß es nun
Ernst werden möchte. Schon lenken wir ein in das alte zerfahrene Geleise
des ewigen Zwiespaltes, und das erste Opfer ist Schleswig-Holstein.« Wenn
er trotzdem noch ausharrt und »von den deutschen Fürsten, deren viele sind
und uneinige, an das deutsche Volk, das eine und Gott geb* es einige«
appelliert, die Organisation des Volkskrieges gegen Dänemark verlangt und
die Pläne einer wirksamen Wehrverfassung für Schleswig-Holstein diskutiert,
wenn er immer wieder zur Tat aufruft, so entspringt dies, wie bei manchen
seiner Zeitgenossen weniger dem Glauben an die Möglichkeit, die ersehnten
Ziele zu erreichen, als dem Gefühl der Verpflichtung, kein Mittel unversucht
zu lassen und den Kampf nicht aufzugeben. Den Schlüssel zu dieser Stimmung
gibt M. selbst, in viel späterer Zeit, wo er*^) von Ludwig Bambergers revo-
lutionären Unternehmungen und der »in seinem Kopfe wie in zahlreichen
anderen damit vereinigten Einsicht in die so gut wie vollständige Aussichts-
losigkeit des Beginnens« spricht und hinzufügt: »Aber wer jene Zeiten mit-
durchlebt hat, wird sich der Jugendstimmungen erinnern, der Zeit, wo die
junge Welt meinte, das einige, freie Deutschland dadurch schaffen zu helfen,
daß jeder, für sein Teil wenigstens, sich aufopferte.« —
Seine Berufung nach Leipzig, wo er im Herbste 1848 eintraf, betrach-
tete M. »als eine der vielen unerwartet glücklichen Fügungen« . . ., woran
er erkenne, daß er ein Sonntagskind sei, und als eine Erlösung von »der
Gold in Goldschaum verwandelnden, alle intensive Arbeit tötenden Beschäfti-
gung mit dem Journalisieren,«") In Leipzig, einem der geistigen Brennpunkte
Deutschlands, wohnte er zusammen mit Jahn im Hause G. Wigands; es wurde
ihm dank der geistig angeregten und gleichgestimmten, ernsten und humor-
vollen Geselligkeit, zu der sich außer M. und Jahn, Haupt und dem Lessing-
biographen Danzel die Verleger S. Hirzel, K. Reimer, G. Wigand regelmäßig
zusammenfanden, zur zweiten Heimat. ^3) Auch seine wissenschaftliche Tätigkeit
beschränkte sich keineswegs auf seine Vorlesungen, obwohl die acht- und
zehnstündigen Pandekten- und Institutionenkollegien dem des Lehrens und
der Pandekten Ungewohnten genügend Zeit rauben mußten; im Jahre 1850
kündigte er außerdem eine Vorlesung »Abschnitte aus der römischen
Mommsen.
461
Geschichte« an, deren Thema mit seinen damaligen Arbeiten wohl in engerem
Zusammenhange stand. Den wissenschaftlichen Vereinigungspunkt bildete die
neu gegründete Leipziger Gesellschaft der Wissenschaften, in deren Berichten
und Abhandlungen M. der eifrigste Mitarbeiter war; hier erschienen u. a.
seine grundlegenden Untersuchungen über das römische Münzwesen, seine
Abhandlung über den Chronographen vom Jahre 354, die der Ausgangspunkt
für eine Reihe chronologischer Untersuchungen sowie für seine später wieder
aufgenommene Beschäftigung mit den Quellen des ausgehenden römischen
Reiches wurde. Geradezu bedeutsam für die Geschichte der Wissenschaften
war in diesem Leipziger Kreise das Zusammentreffen bedeutender Gelehrter
und kluger, gebildeter, weitausschauender Verleger. M. hat es G. Wigand
nie vergessen, daß er in uneigennütziger Weise den Druck der neapolitani-
schen Inschriften trotz eines nur ungenügenden Zuschusses der Berliner
Akademie ermöglichte, und mit Hirzel und Reimer schloß M. damals die
Verträge über das römische Staatsrecht und die römische Geschichte.
Namentlich Karl Reimer, der in dem Freunde nicht nur den führenden Geist,
sondern auch die Energie erkannte, mit der er wissenschaftliche Pläne zu
Ende führte, hat ihn auf jede Weise in großzügiger Weise unterstützt. — Aus
demselben Kreise ist auch das literarische Zentralblatt hervorgegangen, an
welchem M. anfangs eifrig mitarbeitete; die vielen von ihm besprochenen
Schriften zeigen, in wie mannigfaltiger Weise er sich auch außerhalb des
Faches geistig betätigte. Der freundschaftliche Umgang mit Gust. Freytag,
der damals in Leipzig die »Grenzboten« redigierte, mit Danzel, mit Hirzel,
dem Goethe-Sammler, regten den dichtenden Gelehrten auch literarisch an.
Namentlich Goethe, den er kannte und liebte, wie wenige, war und blieb der
literarische Schutzgott dieses Kreises. Sein hundertster Geburtstag wurde
festlich begangen, und unmittelbar darauf unternahmen die Genossen eine
gemeinsame Wallfahrt nach Weimar.
Auch dies Idyll der Arbeit und der Freundschaft wurde durch die
leidige Politik gestört. Schon vor seiner Berufung nach Leipzig hatte Jahn
seinen Freund M. scherzhaft gebeten, seine Sympathien für die Linke bis zum
linken Zentrum zu mäßigen und sich an den gutmütigen Fortschritt des
»Deutschen Vereins« in Leipzig zu gewöhnen. M. nahm in der Tat mit
seinen engeren Freunden lebhaft teil an den Verhandlungen dieses Vereines,
der für die Anerkennung der vom Frankfurter Parlament zu beschließenden
Verfassung und für die preußische Spitze eintrat. Im Januar wurde an die
sächsische Regierung und den Landtag wegen Publikation der Frankfurter
Grundrechte petitioniert. Auf das Gerücht von einer Ministerkrise, welche
das offene Einlenken in die Bahnen der Reaktion bedeutet hätte, verfaßte
M. im Auftrage seiner Freundet) am 23. Januar eine Adresse an den Minister
von der Pfordten, in welcher, gegenüber einem partikularistischen Beschlüsse
der sächsischen Kammer, das Vertrauen ausgesprochen wird, daß der Minister
auch künftig nicht vergessen werde, daß er vor allem ein Deutscher sei. Es
heißt da : »Ist auch der souveräne Unverstand für den Augenblick zur Herr-
schaft gelangt, so sind doch seine Tage gezählt; die betörte Mehrheit im
Volke wird die Augen öffnen und endlich begreifen, daß nur in und mit
Deutschland für unser sächsisches Land eine bessere Zukunft gedeihen kann.«
Am 2. März sprach u. a. M. »über den gegenwärtigen Stand der Deutschen
462 Mommsen.
Verfassungsfrage«, und es wurde eine Adresse an das Frankfurter Parlament
um möglichste Beschleunigung der zweiten Lesung der Verfassung, sowie
eine energische Erklärung in betreff der Rechtsverbindlichkeit der deutschen
Reichs Verfassung, wie sie aus den Beratungen der Nationalversammlung her-
vorgehen würde, beschlossen. Als dann M. von einer Osterreise zur Hochzeit
seines Bruders und zu seinen Verwandten zurückgekehrt war, auf der er mit
Schmerz gesehen hatte, wie die Dinge in Schleswig-Holstein ihren Lauf gingen,
bereitete sich auch schon die letzte grofie Krise vor, die allen Hoffnungen
ein Ende machte. Am selben Tage, an welchem die preußische zweite
Kammer aufgelöst wurde, am 27. April, stellte Haupt im Deutschen Vereine
den Antrag, dem Rate und den Stadtverordneten von Leipzig den Dank aus-
zusprechen für die Schritte, welche diese an den König und das Gesamt-
ministerium getan hatten, um auf Anerkennung der deutschen Verfassung
zu dringen; der Antrag wurde angenommen und in der Zuschrift an die Stadt-
verordneten zugleich erklärt, daß die Sachsen keinem deutschen Volkstamme
nachstehen werden an Mut und Entschlossenheit, das Palladium der deutschen
Einheit und Macht siegreich zu behaupten. Mommsen unterstützte den Antrag
und wies zugleich darauf hin, daß in Württemberg der Widerstand des Volkes
den König zum Nachgeben bewogen habe. Jahn stellte sogar zur Erwägung,
ob es nicht angebracht wäre, daß der Verein sich noch energischer äußere,
als die Stadtverordneten. Der Antrag Haupts wurde einstimmig angenommen
und ferner beschlossen, den Vereinsausschuß zu allen Schritten zu ennächtigen,
die er zur Herbeiführung des notwendigen Zieles, Anerkennung der Ver-
fassung, für geeignet halte. Aber schon am 30. April hatte Beust über seine
liberalen Kollegen im Ministerium gesiegt und den Landtag aufgelöst; am
3. Mai schon wurden in Dresden Barrikaden gebaut. In Leipzig aber hatten
sich alle politischen Vereine zu gemeinsamem Handeln für die Durchführung
der Reichsverfassung geeinigt. Da aber auf den Beschluß des Kommunal-
gardeausschusses, nicht allen, die sich meldeten, Waffen zu verteilen, die
radikaleren Vertreter in dem Ausschuß der gesamten politischen Vereine remon-
strierten, weil sie den bewaffneten Zuzug nach Dresden organisieren wollten,
erklärten der Deutsche und der Vaterlandsverein, daß sie aus dem Gesamt-
ausschusse »ausgetreten seien, weil die Mehrzahl dieses Ausschusses den Be-
schluß gefaßt habe, gegen die Kommunalgarde und die Behörde der Stadt
Gewalt zu brauchen.« Auch als am folgenden Tage, dem 5. Mai, versucht
wurde, die Spaltung auf ein Mißverständnis zurückzuführen, blieb der Deutsche
Verein bei seinem Beschlüsse und hielt sich ferne. Auch der Grund von M.s
Austritt war, daß er gegen jede Unterstützung des Dresdener Aufstandes ein-
getreten war, den er offenbar für völlig aussichtslos ansah.
Aber es brach die Zeit heran, in welcher auch sehr gemäßigte Gesinnungen
nicht vor Verfolgungen eines so skrupellosen Gegners wie Beust schützten.
Als der Leipziger akademische Senat sich weigerte, nach der oktroyierten
Verfassung einen Abgeordneten zu wählen wurden M., Haupt und Jahn sus-
pendiert und wegen ihrer Tätigkeit im Deutschen Vereine Kriminalunter-
suchungen gegen sie eingeleitet, die im Oktober 1850 in erster Instanz zur
Verurteilung M.s zu 9 Monaten, Haupts zu i Jahr Landesgefängnis und zur
Freisprechung Jahns führte. In zweiter Instanz wurden alle drei ab instantia
freigesprochen. M. erhielt die Nachricht, als er im Februar 185 1 am Sterbe-
Mommsen.
463
bette seines Vaters weilte. Sobald er in Oldesloe, tief bewegt durch den
eigenen Verlust und durch den ehrfurchtgebietenden Schmerz seiner Mutter,
die dringendsten Angelegenheiten geordnet hatte, eilte er nach Berlin an das
Krankenlager Lachmanns, in dem der ganze Leipziger Kreis seinen pater
fandlicis und in wissenschaftlichen wie in menschlichen Dingen seine höchste
Instanz verehrte. Nach Lachmanns Tode (13. März 185 1) nach Leipzig zurück-
gekehrt, mußte er mit seinen beiden Genossen Beusts unappellabeln Spruch
über sich ergehen lassen, durch welchen alle drei »zum Besten der Uni-
versität«, weil sie während der Maitage »öffentliches Ärgernis gegeben und
ein sehr schlechtes Beispiel für die akademische Jugend aufgestellt« hätten,
ihres Amtes, trotz des gerichtlichen Freispruches, enthoben wurden (22. April).
So kam alles zusammen : Zerstörung aller politischer Hoffnungen, die schwersten
persönlichen Verluste, Vernichtung der materiellen Existenz. M. hat mit
staunenswerter Spannkraft, allerdings in jeder Weise gestützt durch seine
Freunde, unter denen Karl Reimer vor allen genannt zu werden verdient,
in ungeschwächter Arbeitskraft die Krise überwunden. In jene Zeit fallen
aufier dem Drucke der Inscriptiones regni Neapolitani M.s Arbeiten über das
Preisedikt Diokletians und seine Erläuterungen zu den römischen Feldmessern
in der Lachmannschen Ausgabe, sowie aufier verschiedenen epigraphischen
Analekten und Besprechungen die Anzeigen literarischer nnd historisch-
politischer Werke im Zentralblatte, die zeigen, daß trotz allem seine Anteil-
nahme an der deutschen Frage und namentlich an Schleswig-Holstein nicht
vermindert war. Und daß trotz allem auch der Humor nicht zu kurz kam,
beweisen mancherlei literarische Spaße, die aus dem Freundeskreise hervor-
gingen. *5)
Ein Ruf als Professor des römischen Rechtes nach Zürich, den ihm wahr-
scheinlich S. Hirzel vermittelt hatte, entriß ihn der schwierigen Situation.
Aber trotz des freundlichen Empfanges, der ihm im Mai 1852 zuteil wurde,
trotzdem die Züricher Regierung ihm unaufgefordert im Frühjahre 1853 ^^"^
vollen Ordinariatsgehalt zubilligte, was er dankbar anerkannte, gelang es M.
während seines mehr als zweijährigen Aufenthaltes in Zürich (Frühjahr 1852
bis Sommer 1854) nicht, sich in die damals sehr engen Verhältnisse der Stadt
hineinzugewöhnen. Die deutschen Professoren betrachteten damals Zürich
nur als Durchgangsstation, und M., der den angeregten Leipziger Kreis, mit
dem er freilich brieflich in regem Verkehr blieb, schwer vermißte, litt sowohl
an Vereinsamung, als an dem Zwange der steifen obligaten Professorendiners,
während er sich nur dem Physiologen Ludwig und Hitzig freundschaftlich
anschloß und gegen Ende seines eigenen Aufenthaltes den Abgang seines
Fakultätskollegen Erxleben lebhaft bedauerte. Weder die politischen Ver-
hältnisse des Kleinstaates, die ihm nicht zusagten, noch auch seine Lehr-
tätigkeit konnten ihm einen Ersatz bieten, da er über die mangelhafte Vor-
bildung der Studenten mit Ausnahme derer, welche aus den Züricher Kantons-
schulen hervorgegangen waren, zu klagen hatte und höchstens auf zehn Hörer
rechnen konnte. Um so mehr vertiefte er sich in seine wissenschaftlichen
Arbeiten. Außer der Arbeit an der römischen Geschichte, die auch eine
Arbeitskraft wie die M.s hätte ganz in Anspruch nehmen können, nützte er
aus, was ihm die Umgebung an Material für seine wissenschaftlichen Zwecke
bot; wenn auch ungerne, unterzog er sich der Pflicht einen populären Vortrag
464
Mommsen.
vor dem ihm nicht sympathischen Publikum zu halten und sprach über die
Schweiz in römischer Zeit, sammelte und gab die lateinischen Inschriften der
Schweizer Eidgenossenschaft für die Züricher antiquarische Gesellschaft her-
aus, deren Mitglieder, namentlich F. Keller, er schätzen gelernt hatte ^); er
wurde mit den Resten des Altertums in der Schweiz so vertraut, daß er es
auch übernahm, den Schweizer Baedeker in antiquarischer Beziehung umzu-
arbeiten. Aus demselben Arbeitskreise gingen in Fortsetzung früherer Arbeiten
seine Studien über die nordetruskischen Alphabete hervor. Dazu kam aber
seit dem Jahre 1853 die ermüdende, in diesem Stadium großenteils mechanische
Arbeit am Corpus inscriptionum^ namentlich die Herstellung der Scheden.
Denn die Neapolitaner Inschriften hatten so deutlich gezeigt, daß nur M.
geeignet sei, das ganze Corpus zu schaffen, daß die Berliner Akademie ihren
Zumpt fallen ließ. Diese Bedingung hatte auch Ritschi in Bonn gestellt,
als er sich in Verbindung mit M. der Akademie gegenüber zur Bearbeitung
der archaischen Inschriften, die gleichsam den Prodromus zum Corpus bilden
sollte, bereit erklärte. Auch M.s sonstige Bedingungen, durch Gerhard aber-
mals energisch befürwortet, wurden jetzt angenommen, insbesondere auch die
Mitwirkung Henzens, namentlich für die stadtrömischen Inschriften, und
de Rossis, die er forderte. Im Juni 1853 wurden diese beiden Gelehrten und
M. zu Korrespondenten der Akademie ernannt, und M. wurde für die Vor-
arbeiten zum Corpus für 6 Jahre eine Remuneration von je 400 Rth. bewilligt.
Dabei genoß M. trotz allem die wunderbare Natur, und eine fröhliche
Wanderung auf den Rigi und nach Meiringen, welche die drei Leipziger
Genossen M., Haupt und Karl Reimer im Sommer 1852 gemeinsam unter-
nahmen, erfrischte ihn nach den Mühen des ersten Züricher Semesters; ein
andermal überkam ihn die Lust am Klettern bei Gelegenheit eines Ausfluges
nach Haiden so sehr, daß er den Säntis bestieg. Von Karl Reimer immer
wieder aufgefordert, entschloß er sich zu Ostern 1854 ihn und die anderen
Freunde in Leipzig zu besuchen. Es zog ihn wohl schon ein geheimer Wunsch
dahin, den er erst in einem Briefe äußerte, als er nach mehrwöchetitlichem
Aufenthalte Leipzig verließ, um über Eisenach, wo er Bruder Tycho und
seine Mutter besuchte, nach Berlin zu gehen. In Marie Reimer, der schönen
Tochter Karls, glaubte er den Ernst und die Heiterkeit gefunden zu haben,
die man brauche, um das schwere Leben mit Würde und Anmut zu ertragen;
und dieser Glaube an die Frau, die durch nahezu ein halbes Jahrhundert
seine treue Gefährtin werden sollte, täuschte ihn nicht; sie hatte nach ihres
eigenen Vaters Zeugnis eine gewisse Stärke, über Nebendinge keine Grillen
zu fangen; sie wußte ihm die kleinen Dinge des Lebens zu ordnen, wie sie
sich in den großen der Führung seines starken Geistes unterordnete. M.
wagte den Schritt in die Ehe, weil er seiner Frau jetzt eine wenn auch be-
scheidene Häuslichkeit bieten konnte, zu der sein Gehalt als Züricher Professor
(700 Rth.I) nebst seiner Remuneration aus Berlin, seinen Kollegiengeldem
und seinen literarischen Einnahmen ausreichte, ohne daß er befürchten mußte,
durch ökonomische Sorgen geknickt zu werden; allerdings setzte er auch die
Hoffnung auf eine glänzendere materielle Zukunft in seine verständige Rech-
nung ein. Am 16. April 1854 wurde die Verlobung publiziert, ohne daß
gerade die Vielen, die derartige Ereignisse immer vorausahnen, überrascht
gewesen wären. Mitten in den Sorgen um seine erkrankte Braut, um die
Mommsen. aQz
Einrichtung der neuen Häuslichkeit in Zürich, um die Beschaffung des Heimat-
scheines für die Hochzeit, die dem politisch Gebrandmarkten von dem
dänischen wie von dem sächsischen Polizeistaate auf jede Weise erschwert
wurde, traf ihn ein Ruf des preußischen Unterrichtsministers Raumer. Er
sollte als Ordinarius für römisches Recht an die Universität Breslau kommen
und seine Professur mit einer Bibliothekarstelle verbinden. Da er jedoch die
Bibliothekarstelle auf Rat seiner Freunde ablehnte, entschloß sich der Minister,
ihm auch, abgesehen von diesem Nebenamte, auskömmliche Bedingungen zu
stellen. Die Hauptsache für M. war, daß er nach Preußen kam, daß er
hoffen konnte, von der preußischen Regierung für das Inschriftenunternehmen
der Berliner Akademie, so oft es nötig wurde, Reiseurlaub zu erhalten, und
daß er und seine Freunde von vornherein Breslau nur als eine Etappe auf
dem Wege nach Berlin betrachteten. Auch hoffte er in Breslau größere
Kollegien zu haben, als in Zürich. Darin täuschte er sich allerdings; denn
nachdem er im Hause seines Schwiegervaters, der eben im Begriffe war, mit
seinem Geschäfte nach Berlin zu übersiedeln, am lo. September 1854 seine
Hochzeit gefeiert und nach kurzer Hochzeitsreise in Breslau angekommen
war, wurde es ihm rasch klar, daß hier die Studentenschaft sehr flau, die
Einpaukerei in vollem Flore war. Das Beste daran war, daß er in diesem
Wintersemester von allen Vorlesungen frei war, da sich für sein Privatkolleg
(Obligationenrecht) nicht bloß kein einziger Student gemeldet hatte, sondern
auch in die erste Vorlesung nicht einmal die Neugier einen Hospitanten
geführt hatte; erst im Sommersemester brachte er es auf 12 Hörer. Auch
mit seinen Kollegen war er nicht sonderlich zufrieden, noch auch mit der
Geselligkeit; an wenige Personen, darunter Wattenbach und Roepell, schloß er
sich in Breslau an ; er bemühte sich auch hier, nach dem Muster der Leipziger
Gesellschaft, die wissenschaftliche Arbeit an der Breslauer Universität zu
organisieren, während er selbst bei rastloser Arbeit an der römischen Ge-
schichte und den Inschriften noch Muße fand, in unglaublich kurzer Zeit seine
bedeutende Untersuchung über die neugefundenen Stadtrechte der latinischen
Gemeinden Salpensa und Malaca durchzuführen. Sein glückliches Daheim und
seine Arbeit brachten ihn über manchen Schmerz, den Tod seiner Mutter,
über tJberarbeitung und manche Unannehmlichkeiten hinweg. Namentlich
drückten ihn auch die trostlosen politischen Zustände in dem Preußen nach
Ol mutz, in dem Lande, auf welches er für Deutschland seine Hoffnungen
gesetzt hatte. In Breslau selbst fand er nichts als Zopftum, Schlaffheit und
schlesischen Partikularismus. Auch nach dem Tode des Zaren Nikolaus, als
manche wohlmeinende Personen auf eine Emanzipation Preußens vom russi-
schen Einflüsse hofften, erklärte er, keine Hoffnung auf eine Änderung der
politischen Zustände zu haben, solange Friedrich Wilhelm IV. regierte. Nichts-
destoweniger nahm er wieder gelegentlich am politischen Leben teil und tat
in Verbindung mit Freunden das Seinige, um entschiedenere Liberale, z. B.
Simson, bei den Wahlen durchzubringen. Schon dies, dazu die Ernennung
zum Ehrendoktor der Philologie in Greifswald bei einer oppositionellen Uni-
versitätsfeier, genügte in Verbindung mit seiner politischen Vergangenheit,
ihm von Berlin aus eine wohlmeinende private Verwarnung vonseiten des
Ministerialreferenten Joh. Schulze zuzuziehen, die er mit der ebenfalls auf
privatem Wege, durch Reimer, zurückgesendeten Antwort quittierte, daß er
Bioj^. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog;. 9. Bd. ßO
466 Mommsen.
sich nie, auch nur durch Stillschweigen, an dem mitschuldig machen werde,
was er aus Überzeugung mißbillige. Diese Umstände schienen seine von ihm
und von Karl Reimer wie von Haupt in Berlin herbeigesehnte Berufung
nach Berlin weiter in die Feme zu rücken als je. Sachliche Rücksichten
hätten sie entschieden befürwortet. Denn M. hatte die Redaktion des Corfms
unter der stillschweigenden Voraussetzung übernommen, daß der Druck nicht
früher beginnen sollte, bevor er in Berlin angestellt sei. Er arbeitete in den
Breslauer Jahren außer an der Geschichte hauptsächlich an den Vorarbeiten
für das Corpus^ das ihm immer unendlicher, i>une mere ä botrt^^ erschien,
wenn man es nach den strengen Grundsätzen der Kritik, die er in seinen
Neapolitaner Inschriften angewendet hatte, und nicht nach Boeckhscher Art
machen wollte. Als man ihn nichtsdestoweniger von Berlin aus drängte, mit
dem Drucke zu beginnen, antwortete er mit dem Anerbieten seiner Demission.
Zu gleicher Zeit kam ein Ruf aus München unter günstigen Bedingungen, da
sich namentlich der König von Bayern für die Berufung M.s interessierte.
M. lehnte nichtsdestoweniger ab, da sich Aussicht auf Beilegung der Krise
im Corpus und Hoffnung auf eine Berufung nach Berlin ergab. Auf einer
epigraphischen Reise, die er im Sommer und Herbste 1857 nach Wien, Sieben-
bürgen, Pest, Venedig und dem Friaul unternahm, traf ihn die Nachricht von
seiner Berufung nach Berlin als Akademiker mit einem Gehalte von 1500 Talern
laut einem Erlasse, welchen der Prinz von Preußen am 27. Oktober, also
wenige Tage nachdem er die Stellvertretung seines Bruders übernommen,
vollzogen hatte, dank der nie nachlassenden Zähigkeit Haupts und der Inter-
vention Alex, von Humboldts. Im Frühjahr 1858 siedelte M. nach Berlin
über. Er hatte die Empfindung, jetzt auf einen Posten gestellt zu sein, wo
er eine große Unternehmung mit großen Mitteln durchsetzen konnte und wo
er hingehörte.
Auf diesem Posten hat er noch 45 Jahre lang ausgeharrt. Aber schon
als er nach Berlin kam, war seine wissenschaftliche Stellung klar umrissen.
Wenn er sich zu Beginn seiner Wanderjahre seine Ziele gesteckt hatte, so
hatte er in den 14 Jahren, die seitdem verflossen waren, schon alle Funda-
mente gelegt, auf denen er nunmehr das Gebäude der römischen Altertums-
wissenschaft in unermüdlicher Arbeit neu aufbaute. Er selbst hat in weit
späteren Jahren seine Stellung in der Wissenschaft und die Einflüsse, die auf
ihn in seiner Werdezeit eingewirkt haben, in den folgenden Worten zusammen-
gefaßt: »Es ist mir beschieden gewesen, an dem großen Umschwung, den
die Beseitigung zufälliger und zum guten Teil widersinniger, hauptsächlich
aus den Fakultätsordnungen der Universitäten hervorgegangener Schranken
in der Wissenschaft herbeigeführt hat, in langer und ernster Arbeit mitzuwirken.
Die Epoche, wo der Geschichtsforscher von der Rechtswissenschaft nichts
wissen wollte, in der der Rechtsgelehrte die geschichtliche Forschung nur inner-
halb seines Zaunes betrieb, wo es dem Philologen wie ein Allotrium erschien,
die Digesten aufzuschlagen, und der Romanist von der alten Literatur nichts
kannte als das Corpus iuris, wo zwischen den beiden Hälften des römischen
Rechts, dem öffentlichen und dem privaten, die Fakultätslinie durchging, wo
der wunderliche Zufall die Numismatik und sogar die Epigraphik zu einer
Art von Sonderwissenschaft gemacht hatte und ein Münz- oder Inschriftenzitat
außerhalb dieser Kreise eine Merkwürdigkeit war — diese Epoche gehört der
Momrosen. 467
Vergangenheit an, und es ist vielleicht mit mein Verdienst, aber vor allen
Dingen mein Glück gewesen, daß ich bei dieser Befreiung habe mittun
können. Was ich, ausgegangen von ernsten Studien des römischen Privat-
rechts, dabei meinen älteren philologischen Freunden, vor allen Jahn, Haupt,
Welcker, Lachmann, an innerer Anregung und äußerer Förderung verdanke,
wie dann das Land Italien mit dem ewig belebenden Atem seines Bodens
und in Italien die Lehre unseres Altmeisters Borghesi, die treue Arbeits-
genieinschaft mit meinen Freunden Henzen und Rossi befreiend und den Blick
erweiternd auf mich gewirkt haben, das habe ich lebhaft und dankbar immer
empfunden, wo ich in die Lage kam, mir zu vergegenwärtigen, was ich gefehlt
und was ich recht getan.« . . .*7)
Allerdings beziehen sich diese Worte auch schon auf die gewaltigen Werke
der zweiten Hälfte seines Lebens. Aber so gewaltig sie sind, so waren sie
doch nur die Ausführung jener genialen Intuition in bezug auf Kritik und
Rekonstruktion, zu der nur gelangen konnte, wer sich schon frühe wie M.
eine zentrale und universale Stellung zum Gesamtgebiete seiner Wissenschaft
erobert hatte, wie sie in der Römischen Geschichte zum Ausdrucke kommt.
III. Die römische Geschichte. Welcher Zufall die Veranlassung
dazu war, daß dasjenige Geschichtswerk des 19. Jahrhunderts entstand, das
zum eisernen Bestände der Weltliteratur wurde, erzählt M. selbst in einem
Briefe an G. Freytag:*^ »Wissen Sie, wie ich dazu gekommen bin, die römische
Geschichte zu schreiben? Ich hatte in meinen jungen Jahren alle möglichen
anderen Dinge im Sinn, Bearbeitung des römischen Kriminalrechts, Heraus-
gabe der römischen Legalurkunden, allenfalls ein Pandektenkompendium,
aber dachte an nichts weniger als an Geschichtschreibung. Da traf mich
die bekannte Kinderkrankheit der jungen Professoren, dem gebildeten Leipzig
zu gegenseitiger Belästigung einen Vortrag über irgend etwas zu halten, und
da ich eben an dem (thorischen) Ackergesetz arbeitete und mit diesem
selbst doch bei meiner künftigen Frau mich allzu schlecht eingeführt haben
würde, so hielt ich einen politischen Vortrag über die Gracchen. Das Publi-
kum nahm ihn hin, wie ähnliche Dinge auch, und ergab sich mit Fassung
darein, von dem berühmten Brüderpaar auch femer nur eine dunkle Ahnung
zu haben. Aber unter dem Publikum waren auch K. Reimer und Hirzel
gewesen, und zwei Tage darauf kamen sie zu mir und fragten mich, ob ich
ihnen nicht für ihre Sammlung eine römische Geschichte schreiben wollte.
Nun war mir das zwar sehr überraschend, da mir selbst diese Möglichkeit
noch nie in den Sinn gekommen war, aber Sie wissen ja, wie es in jenen
Jahren der Wirren und Irren herging, jeder traute sich alles zu, und wenn
man einen Professor neckte: wollen Sie nicht Kultusminister werden? so sagte
er gewöhnlich zu. So sagte ich denn auch zu, aber ich sagte es doch auch
mit darum, weil jene beiden Männer mir imponierten, und ich dachte: wenn
die dir das zutrauen, so kannst du es dir selber auch zutrauen. Wer von
ihnen beiden den Gedanken gefaßt hat, weiß ich nicht, und wenn ich es
wüßte, würde ich es nicht sagen. Sie wissen, wie grundverschieden die
beiden Persönlichkeiten auch waren, in ihrem Wirken und Schaffen schieden
wir die Weidmänner nicht .... Das aber möchte ich, daß Sie dem Publi-
kum sagen: wenn es richtig ist, wie ich es ja wohl glauben muß, daß mein
Geschichtswerk dankbare Leser gefunden hat, so gehört ein guter Teil des
30*
AßS Mommsen.
Dankes, vielleicht der beste, den beiden Männern, die mir diese Aufgabe
gesetzt haben.« Im Oktober 1849 schreibt M. an Henzen, dafi er sich vor-
läufig in das Studium der Kaisergeschichte vertieft habe, und im Juni 1850
heißt es in einem Briefe an denselben: »Ich habe teils meiner Subsistenz
wegen, teils weil die Arbeit mich sehr anmutet, zugesagt und wirklich an-
gefangen, eine lesbare, nicht allzu ausführliche römische Geschichte — Dar-
stellung, nicht Untersuchung — zu schreiben. Zu solchen Arbeiten ist es
wahrlich hohe Zeit; es ist mehr als je nötig, die Resultate unserer Unter-
suchungen einem größeren Kreise vorzulegen, um uns nicht gänzlich vom
Platz verdrängen zu lassen.«^) Der Plan hatte aber noch keineswegs alle
Fährlichkeiten überstanden. Als M. im Sommer 185 1 schon an dem Ent-
würfe eifrig arbeitete, aber »gedrückt durch die unendliche Schwierigkeit
des Unternehmens« an sich verzweifelte, wendete sich Prof. Peter durch
Preller an M., damit dieser ihm für seine römische Geschichte in drei Bänden
einen Verleger verschaffe; M. schlug ihn als Ersatzmann für sich vor, erhielt
aber von den »Weidmännern« einen Korb. Dann war es aber auch die
materielle Lage des suspendierten und disziplinierten Professors, die M. zum
Ausharren zwang. Er nahm einen Vorschuß von 350 Tlr. auf das ausbe-
dungene Honorar, und K. Reimer, der bei der Teilung der Weidmannschen Buch-
handlung den Kontrakt über die römische Geschichte übernommen hatte
(Ende 1852), steigerte freiwillig das ausbedungene Bogenhonorar auf 15 Tlr.
Gold für die erste Auflage von 2000 Exemplaren und auf 10 Tlr. Gold für
eine zweite Auflage von 3000 Exemplaren. M., der sich anfangs gegen die
Honorarerhöhung sträubte, erschien diese letztere Bestimmung ganz über-
flüssig, und er war im Gegensatze zu der Zuversicht des weitblickenden
Verlegers der Ansicht, daß sein Buch beim Publikum auf eine schlechtere
Aufnahme zu rechnen haben werde als die in derselben Sammlung erschei-
nende griechische Geschichte von Curtius, nicht nur wegen der konzilianteren
Natur von Curtius, sondern auch, weil es zwar hergebracht sei, die Marathon-
kämpfe zu bewundern, dagegen die römische Geschichte nicht als politisch
indifferent angesehen werde. Reimer jedoch blieb bei seinem Entschlüsse
und war auch femer der kluge, ruhige und praktische Berater und Förderer.
— Daß aber nichtsdestoweniger diese Römische Geschichte nur von M. ge-
schrieben werden konnte, ist nicht nur in dem Sinne richtig, daß nur ein
Gelehrter von jener zentralen wissenschaftlichen Stellung der Rechtskunde,
den Monumenten und der Philologie gegenüber, daß nur eine Persönlichkeit
von dem inneren Reichtum und der speziellen Anschauungsweise M.s sie
schreiben konnte, sondern auch in dem engeren Sinne, daß seine keineswegs
bewußt zum Zwecke der Geschichtschreibung durchgeführten wissenschaft-
lichen Vorarbeiten für Form und Stoffverteilung mitentscheidend geworden
sind. Es ist nicht unwesentlich, dafi ihre Veranlassung die Beschäftigung
mit einem Ackergesetze und mit den Gracchen war, daß sich M. gerade an
der Lachmann-Rudorffschen Ausgabe der römischen Feldmesser beteiligte
und durch das Studium der Urkunden des römischen Staates zu der Auf-
fassung der sozialen Entwicklung geführt wurde, welche die Grundlage seiner
Darstellung von der hundertjährigen Katastrophe der römischen Republik
bildet; es ist nicht unwesentlich, dafi er sich eingehend mit der lebendigsten
Quelle für die Agonie des römischen Freistaates, mit den Cicerobriefen,
Mommsen.
469
beschäftigte und, hierin Drumanns Spuren folgend, die lebendige und der
traditionellen Darstellung widersprechende Anschauung von den auf der
politischen Bühne agierenden Persönlichkeiten gewann; und ebensowenig ist
es unwesentlich, daß seine älteren kriminalistischen Arbeiten ihn zum Ver-
ständnisse der zentralen Begriffe des römischen Staatsrechtes, seine sprach-
vergleichenden Studien, zu welchen er zufällig durch seine Beschäftigung
mit dem oskischen Gesetzestexte geführt war, zu einer klaren Auffassung der
ältesten Völkerschichtung in Italien, seine numismatischen Arbeiten ihn zur
Anschauung der Verkehrsverhältnisse hingeleitet hatten — so daß die Frühzeit
wie die Spätzeit dei; römischen Republik ihm in einem neuen Lichte erschienen.
Das Werk war ursprünglich auf drei Bände veranschlagt, von denen der
dritte die Geschichte des römischen Kaiserreiches enthalten sollte. Aber die
bisherige Arbeitsrichtung M.s sowohl wie auch namentlich das Bewußtsein,
daß eine erschöpfende Darstellung des Kaiserreiches vor der Sammlung der
lateinischen Inschriften nicht gut möglich sei, machen es begreiflich, daß
die Ausarbeitung des geplanten dritten Bandes immer mehr in den Hinter-
grund trat, während die Geschichte der römischen Republik M. als ein
Ganzes erschien. Das Brouillon des ersten Bandes wurde in Zürich schon
in den letzten Tagen des Jahres 1852 beendigt, obwohl die Pandekten M.
mehr als ihm für die Einheitlichkeit des Werkes zuträglich erschien, in An-
spruch nahmen. Aber die mit der Schlußredaktion verbundene Abschrift
machte viel Ärger und Arbeit. Die Kapitel über die Literatur, in der er
nicht genügend zu Hause zu sein glaubte, sendete er an Ritschi zur Durch-
sicht. Große Überwindung kostete es ihm bei der Abschrift, massenweise
Seitenblicke auf die moderne Zeit, die eigentlich mehr auf die Gegenwart
als auf die Vergangenheit ein Streiflicht warfen, hinauszustreichen, weil, wie
er selbst gestand, sein Herz dieser Dinge voll war. An Henzen schrieb er
nach dem Erscheinen des ersten Bandes: »Über den modernen Ton wäre
viel zu sagen. Sie kennen mich genug, um zu wissen, daß er nicht gewählt
ist, um das Publikum zu kajolieren. Direkte Anspielungen, die sich hundert-
fach darboten, sind durchgängig verschmäht. Aber wollen Sie eins bedenken:
es gilt doch vor allem die Alten herabsteigen zu machen von dem phan-
tastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, sie
in die reale Welt, wo gehaßt und geliebt, gesägt und gezimmert, phantasiert
und geschwindelt wird, den Lesern versetzen — und darum mußte der Konsul
ein Bürgermeister werden usw. Es mag zu viel geschehen sein; glauben
Sie nicht, daß ich eigensinnig gegen den Tadel mich opponiere, aber meine
Intention, denke ich, ist rein und richtig; die möchte ich vertreten.« 3°) —
Er arbeitete sich müde an dem ersten Bande und ließ ihn ohne das Literatur-
kapitel in die Welt gehen, weil er ungeduldig war ihn abzustoßen und auch
mit anderen, persönlichen Dingen beschäftigt war. Im November 1853 ging
das Manuskript an Reimer; anfangs Juni 1854, als M. schon verlobt war,
erhielt er die ersten gedruckten Exemplare, mit der Dedikation an seinen
Freund Haupt geziert. Damals arbeitete er schon am zweiten Bande, an der
Darlegung der sullanischen Verfassung, die ihm als eine der interessantesten,
aber bei dem Mangel an einer Hauptquelle und der Zerstückelung des Quellen-
materiales auch als eine der schwierigsten Partien erschien. Gerade deshalb
dachte er damals auch daran, für »die quellenlose, die schreckliche Zeit vom
470
Mommsen.
Ende des erhaltenen Livius bis auf Cicero« die Belege in einem eigenen
Bändchen zu geben — ein Plan, der jedoch nicht zur Ausführung gelangte.
Die Literatur der gracchischen Zeit machte ihm abermals Bedenken, weil er
meinte, der Graeca nicht genügend Herr zu sein. Nach mancherlei Unter-
brechung nahm er die Arbeit an Cäsar und Pompeius nach seiner Heirat in
Breslau wieder auf, war sich aber noch im Februar 1855 noch nicht darüber
klar, ob er das Werk bis Actium oder nur bis zur Schlacht bei Philippi
fortführen werde. Er arbeitete nun mit der größten Heftigkeit, überarbeitete
sich, um aus der Arbeit hera:ttS2ukommen, in der er sich nun schon so lange
bewegt hatte, daß sie ihm wie eine Zwangsjacke erschien. Am i. April 1855
beendigte er das Brouillon, und im Juni begann der Öruck, während M.
noch an dem letzten Teile arbeitete. Aus praktischen Rücksichten erschien
eine Teilung wünschenswert, und so erschien der jetzt sogenannte zweite
Band zu Weihnachten 1855, der dritte Band im Frühjahr 1856, jener den
Züricher Freunden Ludwig und Hitzig zugeschrieben, weil er noch größten-
teils in Zürich konzipiert war, dieser Otto Jahn. — Aber schon war auch
eine neue Auflage von 4 — 5000 Exemplaren nötig geworden. M., der das
Gefühl hatte, daß ihm mancherlei klarer geworden war, als zur Zeit, da er
zu schreiben begann, und daß die letzten Bände genauer und ebenmäßiger
gearbeitet waren als der erste, machte sich sofort mit Freude an die Revision,
obwohl er damals schon wieder tief in den Inschriften steckte. Am meisten
schien ihm in der Darstellung der Anfangsepoche zu ändern, wo er infolge
der hypothetischen und problematischen Natur des Dargestellten immer wieder
einreißen wollte; deshalb wurde das erste Buch wesentlich verändert; ein
Literaturkapitel wurde hinzugefügt, wie er es denn überhaupt am liebsten
gesehen hätte, wenn Jahn die Zeit gefunden hätte, die Literatur- und Kunst-
abschnitte für die zweite Auflage kritisch zu lesen, und wenn Bötticher, nach
dessen »Tektonik« er sich gerichtet hatte, zu bewegen gewesen wäre, die
Abschnitte über die Kunst durchzuarbeiten. Dazu kamen außer der Ver-
wertung der neu aufgefundenen Fragmente des Licinianus seine neueren
Untersuchungen, namentlich über die staatsrechtliche Stellung der römischen
Untertanen, ein tieferes Eingehen auf die Verhältnisse des Ackerbaues —
zu welchem Zwecke er nicht nur nochmals die römischen Ackerbauschrift-
steller durcharbeitete, sondern sich auch in Schriften über moderne Land-
wirtschaft zu orientieren suchte. Außerdem wurde noch das Werk äußerlich
übersichtlicher gestaltet und eine Karte der römischen Chausseen beigegeben.
Aber vom dritten Buche an sollte alles im wesentlichen beim alten bleiben.
M. versuchte eben nur eine Anzahl schwieriger Fragen, die in der ersten
Bearbeitung entweder ganz beiseite gelassen oder nach der hergebrachten
Meinung besprochen worden waren, nach eigener Untersuchung schärfer und
sicherer zu bestimmen. Die »Prinzipien« sind dieselben geblieben — nur
daß er allerdings versuchte, den umgehenden Mißdeutungen und Mißver-
ständnissen gegenüber seinen Standpunkt scharf zu betonen. Eine solche
Selbstinterpretation, auf die M. selbst den größten Wert legte, ist namendich
die Einschiebung auf Seite 457 — 59 der 2. Auflage des 3. Bandes, die unver-
ändert auch in die folgenden Auflagen übergegangen ist:
»Wohl aber wird es gerade hier am Orte sein, das, was der Geschichts-
schreiber stillschweigend überall voraussetzt, einmal ausdrücklich zu fordern
Mommsen. 47 j
und Einspruch zu tun gegen die der Einfalt und der Perfidie gemeinschaft-
liche Sitte, geschichtliches Lob und geschichtlichen Tadel von den gegebenen
Verhältnissen abgelöst als allgemeingültige Phrase zu verbrauchen, in diesem
Falle das Urteil über Cäsar in ein Urteil über den sogenannten Cäsarismus
umzudeuten. Freilich soll die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte die
Lehrmeisterin des laufenden sein, aber nicht in dem gemeinen Sinne, als
könne man die Konjunkturen der Gegenwart in den Berichten über die Ver-
gangenheit nur einfach wieder aufblättern und aus denselben der politischen
Diagnose und Rezeptierkunst die Symptome und Spezifica zusammenlesen;
sondern sie ist lehrhaft einzig insofern, als die Beobachtung der älteren
Kulturen die organischen Bedingungen der Zivilisation überhaupt, die über-
all gleichen Grundkräfte und die überall verschiedene Zusammensetzung der-
selben offenbart und statt zum gedankenlosen Nachahmen vielmehr zum
selbständigen Nachschöpfen anleitet und begeistert. In diesem Sinne ist die
Geschichte Cäsars und des römischen Cäsarentums, bei aller unübertroffenen
Großheit des Werkmeisters, bei aller geschichtlichen Notwendigkeit des
Werkes wahrlich eine schärfere Kritik der modernen Autokratie, als eines
Menschen Hand sie zu schreiben vermag. Nach dem gleichen Naturgesetz,
weshalb der geringste Organismus unendlich mehr ist, als die kunstvollste
Maschine, ist auch jede noch so mangelhafte Verfassung, die der freien Selbst-
bestimmung einer Mehrzahl von Bürgern Spielraum läßt, unendlich mehr als
der genialste und humanste Absolutismus; denn jene ist der Entwicklung fähig,
also lebendig, dieser ist, was er ist, also tot. Dieses Naturgesetz hat auch
an der römischen absoluten Militärmonarchie sich bewährt und nur um so
vollständiger sich bewährt, als sie, unter dem genialen Impuls ihres Schöpfers
und bei der Abwesenheit aller wesentlichen Verwicklungen mit dem Ausland,
sich reiner und freier als irgendein ähnlicher Staat gestaltet hat. Von Cäsar
an hielt, wie die späteren Bücher dies darlegen werden und Gibbon längst
es dargelegt hat, das römische Wesen nur noch äußerlich zusammen und
ward nur mechanisch erweitert, während es innerlich eben mit ihm völlig
vertrocknete und abstarb. Wenn in den Anfängen der Autokratie und vor
allem in Cäsars eigener Seele noch der hoffnungsreiche Traum einer Ver-
einigung freier Volksentwicklung und absoluter Herrschaft waltet, so hat
schon das Regiment der hochbegabten Kaiser des julischen Geschlechts in
schrecklicher Weise gelehrt, inwiefern es möglich ist, Feuer und Wasser in
dasselbe Gefäß zu fassen. Cäsars Werk war notwendig und heilsam, nicht
weil es an sich Segen brachte oder auch nur bringen konnte, sondern weil,
bei der antiken auf Sklaventum gebauten, von der republikanisch-konstitutio-
nellen Vertretung völlig abgewandten Volksorganisation und gegenüber der
legitimen in der Entwicklung eines halben Jahrtausends zum oligarchischen
Absolutismus herangereiften Stadtverfassung, die absolute Militärmonarchie
der logisch notwendige Schlußstein und das geringste Übel war. Wenn ein-
mal in Virginien und den Carolinas die Sklavenhalteraristokratie es so weit
gebracht haben wird wie ihre Wahl verwandten in dem sullanischen Rom, so
wird dort auch der Cäsarismus vor dem Geiste der Geschichte legitimiert
sein ; 3') wo er unter anderen Entwicklungsverhältnissen auftritt, ist er zugleich
eine Fratze und eine Usurpation. Die Geschichte aber wird sich nicht
bescheiden, dem rechten Cäsar deshalb die Ehre zu verkürzen, weil ein
472
Moromsen.
solcher Wahlspruch den schlechten Cäsaren gegenüber die Einfalt irren und
der Bosheit zu Lug und Trug Gelegenheit geben kann. Sie ist auch eine
Bibel, und wenn sie so wenig wie diese weder dem Toren es wehren kann,
sie mifizu verstehen, noch dem Teufel, sie zu zitieren, so wird auch sie im-
stande sein, beides zu ertragen, wie zu vergüten«.
In dieser inhaltlich wie stilistisch meisterhaften Stelle ist zum Teil in
polemischer Form in der Tat M.s Gesamtauffassung aufs deutlichste nieder-
gelegt für alle, die sehen wollen und nicht blind sind. Daß er aber miß-
verstanden wurde, zum Verteidiger des modernen Cäsarismus, zum Heroen-
verehrer und Erfolganbeter im gewöhnlichen Sinne gestempelt wurde, nicht
nur vom deutschen und ausländischen Publikum, das durch das Kunstwerk
hingerissen wurde, sondern auch von der gelehrten Welt, welche noch die
Anmerkungen zu dem Kunstwerke vermißte, hatte seine Ursache nicht nur
in der Darstellungsweise, die darauf ausging, nicht den antiken Geist durch
moderne Anschauungen zu ersetzen, wohl aber antike technische Ausdrücke
durch moderne zu veranschaulichen — sondern vor allem auch darin, daß
M.s durchaus evolutionistische Auffassung in den fünfziger Jahren nur von
wenigen erfaßt werden konnte und die Schlagworte, die für die M.sche
Geschichtsschreibung damals geprägt wurden, ohne eingehende Überprüfung,
wie es zu gehen pflege, von der folgenden Generation übernommen wurden
und um so lieber übernommen wurden, als sie mit manchen neueren politischen
Strömungen übereinzustimmen schienen. Das Große aber in M.s Römischer
Geschichte, wodurch sie für alle Zeiten — ganz abgesehen von der kritischen
Forscherarbeit und der künstlerischen Gestaltungskraft — einen Markstein in
der Geschichte der Geschichtsschreibung bilden wird, ist gerade die zum
ersten Male konsequent durchgeführte evolutionistische Geschichtsauffassung,
die dazu führte, daß er einerseits die verschiedenen Seiten des Volkslebens
einheitlich und zusammenhängend auffaßte und darlegte, und daß er anderer-
seits die Triebkräfte der Entwicklung historisch-induktiv in einer Weise auf-
zeigte, die vielfach den von Darwin in der Geschichte der organischen Welt
aufgewiesenen analog ist. Er erkennt es als Aufgabe des Geschichtsforschers,
»die sukzessive Völkerschichtung in dem einzelnen Lande darzulegen, um die
Steigerung von der unvollkommenen zu der vollkommenen Kultur und die
Unterdrückung der minder kulturfähigen oder auch nur minder entwickelten
Stämme durch höherstehende Nationen so weit möglich rückwärts zu verfolgen &
(R.G. I, 8). »Die Elemente der ältesten Geschichte sind die Völkerindividuen,
die Stämme« (R.G. I, 9), und deshalb wird dieser Kampf ums Dasein, wie
man es später nannte, der zum Überleben des Lebensfähigsten führt, an dem
Kampfe der Völker nachgewiesen. »In dem gewaltigen Wirbel der Welt-
geschichte, der alle nicht gleich dem Stahl harten und dem Stahl geschmei-
digen Völker unerbittlich zermalmt« (R.G. III, 299), gewann das römische
Volk, das diese Eigenschaften in hervorragendem Maße besaß, die Oberhand,
allerdings erst allmählich; denn »alle Geschichte geht nicht von der Einigung,
sondern von der Zersplitterung der Nation aus« (R.G. I, 40) und »die Geschichte
einer jeden Nation, der italischen aber vor allen, ist ein großer Synoekis-
mos« (R.G. I, 82). Der Gegensatz der nationalen Zentralisation und der
kantonalen Selbständigkeit ist ein allgemeiner; dem Umstände, daß Rom den
»Einheitsgedanken folgerichtiger, ernstlicher und glücklicher festhält, als irgend-
Mommsen.
473
ein anderer italischer Gau«, dem System der Zentralisierung hat Rom seine Größe
lediglich zu verdanken (R.G. I, loi). Zu dieser Zentralisierung gehört nicht
nur die straffe Zusammenfassung der staatlichen Befehlsgewalt im imperium,
sondern auch die durch die Gleichheit des Rechtes zuerst in der alten Bauern-
gemeinde, dann in der Verschmelzung der plebeischen Neubürger mit den
Altbürgem sich ausdrückende Gemeinsamkeit und Einheitlichkeit der cives
jRamani, sowie »die tiefe sittliche und staatliche Anlage, auf welche alles
Gute und Grofie in der menschlichen Entwicklung sich gründet« (R.G. I,
324; vgl. 259). In der römischen Gemeinde war alles, »was gut und groß,
das Werk der bürgerlichen Gleichheit« (R.G. I, 812). »Die große nationale
Entwicklung« war aber »überall eine Tochter der Not«, da »den Nationen
die Ausgestaltung des Volkstums nur aus schwerem Kampf und wohlbe-
standener Gefahr erwächst«; (R. und A. 123); so wurde der Volksstamm der
Kelten »wie der Erbfeind, so auch der unfreiwillige Begründer der itali-
schen Nationalität« (R. und A. 321); denn daß in dem Kampf mit den
Kelten »Rom die Führung nahm, das ist der Ausgangspunkt der römischen
Hegemonie oder des römischen Reiches oder des geeinigten Italiens« (R. und
A. 127). In dem schwersten Kampfe, den Rom zu bestehen hatte, ist sein
großer Gegner Hannibal nicht etwa an der Genialität römischer Feldherren,
sondern an der Organisation des römisch-italischen (jesamtreiches gescheitert,
an dem römischen Bürgersinne und dem Zusammengehörigkeitsgefühl der
Bundesgenossen, das von M. dem Vögte- und Plantagensystem der Karthager
gegenübergestellt wird (R.G. I, 499). Die Umgestaltung der sozialen Ver-
hältnisse, das durch den Gegensatz der antiken Stadtverfassung und der Welt-
herrschaft bedingte Abweichen von der politischen Grundrichtung, die damit
zusammenhängende Entwicklung einerseits der Demagogie und andererseits
des übermächtigen Prokonsulates führten zu dem Endresultate des Cäsaris-
mus, den M. nicht idealisiert, aber begriffen hat.
Mit M.s evolutionistischer Grundauffassung hängt auch sein historisches
Werturteil zusammen. »Die Geschiclite, der Kampf der Notwendigkeit und der
Freiheit, ist ein sittliches Problem«, nicht ein mechanisches (R.G. II, 45i).3i) Von
Kants Freiheitsbegriff und der Auffassung des Gesetzes als sittlicher Notwendig-
keit (R.G. III, 205) ausgehend, glaubte M. von früher Jugend bis in sein Alter
»an den notwendigen endlichen Sieg des Edlen über das Gemeine« (R. und
A. 89), welcher sich in dem historischen Prozesse vollzieht. Da »das ethische
Fundament schließlich die Entscheidung gibt« (R. und A. 193) und die Ethik
ein gesellschaftlicher Begriff ist, der sich im Staate ausdrückt, werden die
Menschen nicht in Schlosserscher Art abgekanzelt, sondern in die gesellschaft-
liche und staatliche Entwicklung hineingestellt und aus ihr heraus begriffen,
nach ihrem Verhältnisse zu dieser Entwicklung beurteilt. Deshalb erscheint
Cäsar mit seinen Vorgängern seit Gaius Gracchus als historisch durchaus
gerechtfertigt, weil er der große »Werkmeister« eines historisch notwendigen
Werkes war; weil er, »wo er zerstörend auftrat, nur den ausgefällten Spruch
der geschichtlichen Entwicklung vollzogen« hat (R.G. III, 567); weil »sein
mächtiges Ideal: eines freien Gemeinwesens unter einem Herrscher — ihn nie
verlassen« hat (R.G. III, 211). Aber nicht die persönliche Größe entscheidet
für M. das historische Werturteil. Bei dem politischen Gegenpol Cäsars, bei
Sulla »einer von den wunderbarsten, man darf vielleicht sagen einer einzigen
474
Mommsen.
Erscheinung in der Geschichte« (R.G. II, 366), dem Vertreter der römischen
Oligarchie, »über die es kein Urteil gibt, als unerbittliche und rücksichtslose
Verdammung«, stellt M. ausdrücklich fest: »Das von der Genialität des
Bösen bestochene Lob versündigt sich an dem heiligen Geist der Geschichte«
(R.G. II, 371), wenn er auch rückhaltlos anerkennt, was Sulla trotz allem
geleistet hat.
Aus seiner evolutionistischen Auffassung aber ergibt sich für M., obwohl
er von Kant ausgegangen ist, eine Ablehnung jedes absoluten, nicht der
Geschichte entnommenen Maßstabes, sowie die Verachtung der sehr weit ver-
breiteten sozusagen kriminalistischen, formal-juristischen Beurteilung histori-
scher Vorgänge. »Für die Geschichte gibt es keine Hochverratsparagraphen;
wer eine Macht im Staat zum Kampf aufruft gegen die andere, der ist
gewiß ein Revolutionär, aber vielleicht zugleich ein einsichtiger und preis-
würdiger Staatsmann« (R.G. II, 93); über nichts ergießt er so bitteren Spott,
wie über die Legitimisten aller Art. »Wenn eine Regierung nicht regieren
kann, hört sie auf legitim zu sein und es hat wer die Macht auch das Recht,
sie zu stürzen«; in diesem Falle ist die »aus der sittlichen Empörung der
Tüchtigen und dem Notstande der Vielen« heraufbeschworene Revolution
legitim (R.G. III, 93). —
Mit M.s Gesamtauffassung würde es sich nicht vertragen, wenn er in
der Tat, wie wohl mit Hinblick auf seine glänzenden Charakteristiken der
Scipionen und Gracchen, des Marius und des Sulla, des Cicero, Cato, Pom-
peius, wie Cäsars selbst, behauptet wurde, die große Einzelpersönlichkeit als
das eigentlich Treibende, Schöpferische angesehen hätte. Zusammenfassend
hat sich M., während er an seiner Römischen Geschichte arbeitete, in seiner
Schrift »Die Schweiz in römischer Zeit« über das Problem ausgesprochen:
»Die rechte Geschichtsschreibung sucht nicht in möglicher Vollständigkeit
das Tagebuch der Welt wiederherzustellen, auch nicht den Sittenspiegel zu
exemplifizieren; sie sucht die Höhen und die Überblicke, und von glück-
lichen Punkten in glücklichen Stunden gelingt es ihr herniederzusehen auf
die unwandelbaren Gesetze des Notwendigen, die ewig feststehen, wie die
Alpen, und auf die mannigfaltigen Leidenschaften der Menschen, die wie die
Wolken um sie kreisen, ohne sie zu ändern«. 33) Allerdings »das Moment der
sittlichen Freiheit waltet in jeder Volksgeschichte« und darf »auch in der
römischen nicht ungestraft verkannt« werden (R.G. 11,451), wenn auch gerade
das römische Volk »das einzige Problem gelöst hat, sich zu beispielloser
innerer und äußerer Größe zu erheben, ohne einen einzigen im höchsten
Sinne genialen Staatsmann«. Aber M. ist auf dem Standpunkte geblieben,
den er in seinem Gymnasialaufsatze dargelegt hatte, oder hat sogar dem
Milieu in seiner R.G. noch größeren Einfluß zugeschrieben, als in seiner
Jugend. Er sagt von Sulla: »Der Staatsmann baut nur, was er in dem ihm
angewiesenen Kreise bauen kann« (R.G. II, 373) und von Cäsar: »Es gehört
dies mit zu Cäsars voller Menschlichkeit, daß er im höchsten Grade durch
Zeit und Ort bedingt ward; denn eine Menschlichkeit an sich gibt es nicht,
sondern der lebendige Mensch kann eben nicht anders als in einer gegebenen
Volkseigentümlichkeit und in einem bestimmten Kulturzug stehen. Nur da-
durch war Cäsar ein voller Mann, weil er wie kein anderer mitten in die
Strömungen seiner Zeit sich gestellt hatte und weil er die kernige Eigen-
Momxnsen.
475
tümlichkeit der römischen Nation, die reale bürgerliche Tüchtigkeit vollendet
wie kein anderer in sich trug; wie denn auch sein Hellenismus nur der mit
der italischen Nationalität längst innig verwachsene war« (R.G. III, 468).
M.s Interesse hängt darum auch eigentlich nicht an dem »besonderen Ereignis,
dem individuellen Menschen, wie wunderbar sie auch erscheinen mögen«,
sondern an der »genetischen Konstruktion« (R.G. II, 451) und eine authenti-
sche Äußerung, die er während der Niederschrift des III. Bandes getan hat,
geht dahin, dafi dieser Prozeß Cäsar gegen Pompeius, der Prätendentenkampf,
wo nicht Nation gegen Nation streitet, unsäglich öde sei. Allerdings ist es
aber auch M.s Überzeugung, daß der gewöhnliche Mensch zum Dienen bestimmt
ist und sich nicht sträubt Werkzeug zu sein, wenn ein Meister ihn lenkt (R.G.
III, 377). Wenn er deshalb auch die »freie und gemeinschaftliche Bewegung
der Massen nach dem als zweckmäßig erkannten Ziel« als das anerkennt,
was die Übelstände des Parteilebens vergütet (R.G. II, 71), so weist er doch
der Intelligenz die Führung zu (R.G. II, 94). Deshalb könne »nur der Ängster-
ling und wer mit der albernen Angst der Menge Geschäfte macht, den Unter-
gang der bürgerlichen Ordnung in Sklavenaufständen oder Proletariatsin-
surrektionen« prophezeien (R.G. II, 79; vgl. III, 471), wenn auch »die Aufgabe,
das Proletariat zu beseitigen, die ganze Macht und Weisheit der Regierung
erfordert und zu oft übersteigt«; deshalb sei jede bloß auf das Proletariat
gebaute Herrschaft des Staatsoberhaupts unsicher (R.G. II, 108; vgl. 204).
Auch sonst fehlt es natürlich nicht an politischen Urteilen allgemeiner Art;
es ist für M. selbstverständlich, daß »schöpferisch . . . unbedingt und ausschließ-
lich die Freiheit« ist (R.G. III, 333); daß, wenn »eine absolute Monarchie
ein großes Unglück für die Nation« ist, so doch ein »minderes als eine ab-
solute Oligarchie« (R.G. II, 115); daß eine gewisse Erblichkeit in dem Wesen
der Aristokratie liegt, »insofern staatsmännische Weisheit und Staatsmann ische
Erfahrung von dem tüchtigen Vater auf den tüchtigen Sohn sich vererben
und der Anhauch des Geistes hoher Ahnen jeden edlen Funken in der Menschen-
brust rascher und herrlicher zur Flamme entfacht« (R.G. I, 789); ein gewisser
Hohn richtet sich gegen die Männer der materiellen Interessen, gegen das
Kapital, das seinen Kampf gegen die Arbeit »natürlich wie immer in strengster
Form Rechtens« (R.G. II, 74) führt, wenn auch gerade M. nicht verkennt,
daß die Tendenzpolitik einem Kampf gegen die materiellen Interessen selten
gewachsen ist (R.G. III, 170). —
Daß M., der Pompeius vorwarf, daß er zwar »nicht grausam war, wie
man ihm vorwarf, aber, was vielleicht schlimmer ist, kalt und im guten wie
im bösen ohne Leidenschaft« (R.G. III, 11),^) die Geschichte, die er schrieb,
innerlich miterlebte mit aller Leidenschaft, deren er fähig war, ist selbstver-
ständlich; er wäre sonst kein großer Historiker geworden. Er hat es auch
— in Entgegnung einer Besprechung von Preller — ausgesprochen, daß es an
der Zeit sei, daß diejenigen, welche, wie er, Geschichte miterlebt hatten und mit-
erlebten, jenes törichte sine ira et studio beiseite legten und anfingen zu begreifen,
daß Geschichte weder gemacht noch geschrieben wird ohne Haß und Liebe.
Und deshalb ist richtig, was Gutzkow 35) in einer Besprechung, die M. als ge-
scheiter als ziemlich alle anderen bezeichnete, schrieb: »Mommsen lebt in seinem
Werke«; »M. schwebt nicht, wie der Geist über den Wassern, über dem politi-
schen Treiben; er ist mitten darin — und mit welcher Leidenschaft I« Richtig
J.76 Mommsen.
ist aber auch, was derselbe sagt: M. »berücksichtigt nicht bei seinem Urteil allein
die Moral der zehn Gebote und des bürgerlichen Friedens, welche die Heidel-
berger Historiker als den Zollstab der Größe gebrauchen; er ist ein Staats-
mann . . .« Das soll aber nicht heißen, daß M. seinen Parteistandpunkt in die
Geschichte hineingetragen hätte. Der Parteistandpunkt, für den er sich leiden-
schaftlich erwärmt, ist vielmehr das, was er mit einem Lieblingsausdruck als
den »heiligen Geist« der Geschichte selbst bezeichnet, eine Vorstellung, die
allerdings von der kantischen vernunftgemäßen Freiheit ausgegangen, aber
durch das Medium des Entwicklungsgedankens hindurchgegangen ist. —
Das unvergleichliche Buch, das ein nationaler Schatz des Deutschen und
durch die zahlreichen Übersetzungen ein Bestandteil der Weltliteratur ge-
worden ist, ist ein in sich abgeschlossenes, auf sich beruhendes Kunstwerk.
Deshalb bewahrte auch M. ein richtiges Gefühl davor, es in den späteren
Auflagen in irgendwie wesentlicher Weise zu verändern; wenn er auch einzelnes
nach den positiven Resultaten neuerer Forschung verbesserte, eingreifend waren
diese Änderungen nicht. Man hat wohl mit Recht hervorgehoben, daß seine
Darstellung der älteren republikanischen Geschichte noch stärker unter dem
Einflüsse des Livius steht, als es der Fall gewesen wäre, wenn er sie nach
den Untersuchungen über den Quellenwert Diodors geschrieben hätte; auch
sonst hat er ja selbst in den besonders feinen Untersuchungen, die er in den
beiden »Römische Forschungen« genannten Sammelbänden zusammenfaßte,
in den beiden Dezennien von 1858 bis 1878 Ergänzungen und Verbesserungen
zu seiner Römischen Geschichte geliefert. Sie waren nicht so einschneidend
wie diejenigen, welche sich für die erste Hälfte des ersten Bandes ergeben
hätten, wenn er die Entwicklung der Sprachvergleichung in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, der Prähistorie, deren Anfängen er mit
wohl berechtigtem Mißtrauen gegenüberstand, und wohl auch der wirtschafts-
geschichtlichen Betrachtungsweise nachträglich hätte berücksichtigen wollen.
Er hat es absichtlich nicht getan, um die Einheit des literarischen Kunst-
werkes nicht durch eine Restaurierung zu gefährden. Der zweite und dritte
Band haben auch im engeren wissenschaftlichen Sinne kaum darunter gelitten,
daß er nicht an ihnen herumänderte; sie wirken nicht nur mit der gleichen
unvergleichlichen Frische, wie vor einem halben Jahrhundert — die Forschung
dürfte hier, wo keine wesentlichen neuen Erkenntnisquellen hinzugekommen
sind, in wenigen Punkten über seine Gesamtresultate hinausgekommen .sein.
Aber auch wo die wissenschaftliche Forschung mit der Zeit mehr er-
gänzen als berichtigen wird, darf nicht vergessen werden, welche ungeheure,
nahezu einzigartige Forschertätigkeit, der »Römischen Geschichte« zugrunde
liegt, eine Forschertätigkeit, welche man nur dann voll ermessen kann, wenn
man vergleicht, was vor M. für römische Geschichte ausgegeben wurde.
Dadurch, daß er erkannte, daß es sich bei der uns vorliegenden Tradition
großenteils nicht einmal um Sagen, sondern um späte literarische Fabelei
handelte, konnte er entschlossen den ganzen Wust verwerfen und auch von
den Niebuhrschen Konstruktionen absehen. Andererseits bot er aber an
Stelle einer Aneinanderreihung von nicht nur unrichtigen, sondern sogar
künstlichen und zu falschem Pragmatismus verwebten Einzeltatsachen ein
Gesamtbild des älteren Rom, das aus der reinen Quelle der Staats- und
privatrechtlichen Institutionen erwuchs, die, unverfälscht, in ihren Rudimenten
Mommsen.
477
die Spuren der älteren Entwicklung in sich trugen. Diese Methode, zwei
Dezennien später im »Staatsrecht« zur vollen Entfaltung gebracht, bleibt die
Grundlage auch zukünftiger Forschung, auch wenn und gerade weil sie auch
auf anderen Gebieten zur Anwendung kommt. —
Schon während der Arbeit am ersten Bande hatte M. es eigentlich auf-
gegeben, die Kaiserzeit im unmittelbaren Anschlüsse an die Geschichte der
Republik darzustellen, es mufite ihm schon damals klar sein, daß die von ihm
erstrebte Sammlung und Verarbeitung des inschriftlichen Materiales der Dar-
stellung vorangehen müsse. Nach dem Abschlüsse der drei ersten Bände
aber, als er schon mitten in den Corpusarbeiten steckte, äußerte er sich, daß
er, wenn ihn nicht ein Menschenfreund pensioniere oder er einmal wieder
abgefaßt werde, er nicht sehe, wie er wieder an dies Buch kommen solle,
um es fortzuführen; er meinte, es werde eben, wie jedes andere deutsche
Geschichtswerk, ein Stückwerk bleiben. Hirschfeld aber berichtet, daß er es
nicht lange vor seinem Tode ausgesprochen hat, daß er dem Corpus Inscrip-
tionum die Vollendung seiner Römischen Geschichte geopfert habe.S^) Nach
seinem sechzigsten Geburtstage versendete er als Dank für die ihm dar-
gebrachte Festschrift zwei Abhandlungen zur römischen Kaisergeschichte, die
er scherzhaft als IV. Band der Römischen Geschichte bezeichnete und denen
er als Motto die Worte beisetzte: »Gerne hätt' ich fortgeschrieben — Aber
es ist liegen blieben«. 37) In seinem Nachlasse aber fanden sich einige Skizzen
aus späterer Zeit zu einer Darstellung einzelner Episoden und Probleme der
Kaisergeschichte, so über das erste Auftreten des Christentums, über die
Beamtenaristokratie, die Ereignisse unmittelbar nach Cäsars Tod.38) M. hat
namentlich durch den II. Band seines Staatsrechtes, durch die -»J^es gestae
D, AugustU und mancher Einzelabhandlungen, in welchen das ganze neue
Material verwertet und verbunden wurde, auch für die eigentliche zentrale
Kaisergeschichte erst die wissenschaftliche Grundlage geschaffen. Er setzte
jedoch mit der Darstellung nicht hier wieder ein, sondern im Jahre 1885
mit einem V. Bande: »Die Provinzen von Cäsar bis Diokletian«, der in der
Tat nur von ihm und überhaupt nur geschrieben werden konnte, nachdem
durch die Inschriften die römische Welt außerhalb Roms, die durch die
Traditon so sehr vernachlässigt ist, bekannt geworden war. M. sagt es in
der Vorbemerkung: »Was hier gegeben wird, die Geschichte der einzelnen
Landesteile von Cäsar bis auf Diokletian, liegt, wenn ich nicht irre, dem
Publikum, an das dieses Werk sich wendet, in zugänglicher Zusammenfassung
nirgends vor, und daß dies nicht der Fall ist, scheint mir die Ursache zu
sein, weshalb dasselbe die römische Kaiserzeit häufig unrichtig und unbillig
beurteilt.« Wenn auch diese Aufgabe ganz neuartig gestellt und ganz neu-
artig gelöst war, wie sie sich eben M. aus der Inschriftenarbeit ergeben hatte,
wenn auch einer der kompetentesten Beurteiler nicht ansteht, »diesen Band
an wissenschaftlicher Bedeutung und Fülle neuer Resultate noch über seine
Vorgänger zu stellen«, 39) so ist nichtsdestoweniger wenigstens die erste Hälfte
des Satzes richtig, mit dem M. die Einleitung abschließt: »Mit Entsagung
ist dies Buch geschrieben und mit Entsagung möchte es gelesen sein.« Diese
Entsagung legte der Stoff selbst auf, wenn er auch lebendig wird unter der
Hand M.s, der es versucht, »durch diese oder durch jene zufällig erhaltene
Nachrichten, in dem Gewordenen aufbewahrte Spuren des Werdens, allgemeine
478 Mommsen.
Institutionen in ihrer Beziehung auf die einzelnen Landesteile, mit den für
jeden derselben durch die Natur des Bodens und der Bewohner gegebenen
Bedingungen durch die Phantasie, welche wie aller Poesie so auch aller Historie
Mutter ist, nicht zu einem Ganzen, aber zu dem Surrogat eines solchen zu-
sammenzufassen.« Die Schilderung der griechischen Provinzen, Syriens und
Judäas sind gewiß Meisterwerke, aber sie sind etwas ganz anderes, als was
die drei ersten Bände sind, an die sie eigentlich nur äußerlich angegliedert
wurden. Und es ist nicht zu verkennen, daß auch M. in den 30 Jahren
ein anderer geworden war. Man konnte nicht mehr behaupten, wie Gutzkow
von ihm, wenn auch stark übertreibend, gesagt hatte: »Die Geschichte ist
bei M. eine augenblickliche, geistvolle, dämonische Improvisation« ; es waren
jetzt auch die Worte großenteils vermieden, an denen sich die Pedanten
gestoßen hatten; es war gewiß ein noch reiferes, klassischeres Werk als die
ersten Bände. Eben deshalb aber, weil es eine Gabe für Feinschmecker war,
riß es auch nicht mehr so hin. M. hatte Unrecht, von einem succh (Testime
seines 5. Bandes zu sprechen, aber der Erfolg war in der Tat ein ganz
andersartiger, als vor 30 Jahren.
Er war schon an den 5. Band zagend herangetreten, zweifelnd, ob er
der darstellend -schöpferischen Arbeit noch fähig sei, und hatte in seiner
Bescheidenheit einzelne Abschnitte seinem Schwiegersohne Prof. v. Wilamo-
witz übergeben, um ein offenes fachmännisches und künstlerisches Urteil zu
erhalten, von dem er die Publikation abhängig machte. Vollends nach dem
5. Bande, als er ungezählte Male nach den 4. Bande gefragt wurde und mit
ungezählten abwehrenden Bemerkungen antwortete, war seine Grundstimmung
die, welcher er einem Kollegen gegenüber Ausdruck gab: »Ich habe nicht
mehr die Leidenschaft, Cäsars Tod zu schildern «.40) Wohl ist es richtig, daß
auch mancherlei andere Erwägungen dieser Stimmung zu Hilfe kamen — daß
er in dem 4. Bande weniger eine wissenschaftliche Notwendigkeit erblickte,
weil wenigstens die Geschichte Roms und des Hofes, auch durch seine anderen
Arbeiten die Verfassung verhältnismäßig besser bekannt waren, als die Pro-
vinzen; daß ihm selbst des Tacitus großartig-manirierte Schilderung, die doch
die Grundlage aller Kenntnis der stadtrömischen Dinge im ersten Jahrhundert
ist, sehr unsympathisch war; daß ihm schließlich, wenn er auch selbst einige
der wichtigsten Punkte, namentlich die Stellung des Staates zu den Christen,
zuerst aufgehellt hat und er insbesondere in seinen letzten Jahren durch seine
spätrömischen Studien in die Kirchengeschichte hineingeführt wurde, zwar
keineswegs das Verständnis für die Entstehung und Entwicklung des Christentums
fehlte, obwohl er sich selbst einen y>homo mininu ecclesiasticuso^ nannte, wohl aber
die Freude an der Darstellung der Zersetzung und Ersetzung des antiken durch
den nazarenischen Geist. Wenn er in den Sechzigerjahren an die Fortsetzung
der Geschichte geschritten wäre, hätte er all* diese Hemmnisse überwunden.
»Aber es ist liegen blieben.« Er hat dem, was er für die erste wissenschaft-
liche Pflicht ansah, das höchste Opfer, seine besten Jahre dargebracht, indem
er das Werk, welches sein größtes Kunstwerk, also sein Individuellstes, war,
unvollendet zurückließ. Allerdings konnte er sich sagen, daß die Römische
Geschichte auch in ihren drei Bänden sich zu einem Ganzen rundete, und daß er,
indem er sich an die Spitze und in den Dienst von großen gemeinschaftlichen
Unternehmungen stellte, diesen den Stempel seiner Individualität aufdrückte.
Mommsen.
479
IV. M. als Akademiker und wissenschaftlicher Organisator.
M. ist als Akademiker nach Berlin berufen worden. Daß er diesen Ruf
wahrlich nicht als Ruf auf einen Ruheposten betrachten konnte, legte er in
seiner Antrittsrede am 8. Juli 1858 vor der Versammlung seiner neuen Kollegen
dar, mit denen sich im Laufe der Zeit die bedeutendsten Gelehrten Deutsch-
lands zusammenfanden. »Den Platz in Ihrer Mitte, meine Herren, verdanke
ich zunächst dem großen wissenschaftlichen Unternehmen, wovon Sie einen
wichtigen Teil in meine Hand zu legen für gut gefunden haben; und wenn
ich in Ihrem Beschlüsse mich den Ihrigen zu nennen eine ernste Auf-
forderung finde, dieser Ehre auch wert zu sein, so ist mir zugleich durch
Sie eine bestimmte Aufgabe gestellt worden« .... Nach dem Hinweise
auf die notwendigen Vorarbeiten, welche durch die Namen Niebuhr und
Savigny gekennzeichnet sind, und auf das griechische Corpus als den Vor-
läufer des Lateinischen legte er dar, in welchem Sinne er die ihm gestellte
oder richtiger von ihm erwählte Aufgabe erfaßte. »Große Erfolge werden in
jeder Wissenschaft nur dem Ernst und dem Geist des einzelnen Arbeiters ge-
lingen und lassen sich nicht durch Akademiebeschlüsse erzielen; wohl aber
vermögen sie es dem Talent und selbst dem Genie die Stätte zu bereiten,
ihnen die Materialien zurechtzulegen, deren sie bedürftig sind. In diesem
Sinne fasse ich meine Aufgabe und hoffe ich sie von Ihnen aufgefaßt zu
sehen. Es ist die Grundlegung der historischen Wissenschaft, daß die Archive
der Vergangenheit geordnet werden. In der Abteilung, die Sie mir und
meinen Mitarbeitern übertragen haben, hoffen wir Ordnung zu stiften und
einen guten Katalog herzustellen« (R. u. A. 340.)- — ^'^ diesen Worten ist
aber auch die hohe Aufgabe eingeschlossen, die M. den Akademikern über-
haupt zuschrieb. »Abhilfe kann für (die) wie der Wurmfraß an der Wissen-
schaft haftende Kraftverschwendung nur gefunden werden in der Assoziation ;
denn dies ist ja die Organisation der Arbeit und die Konzentrierung der
individuellen Kräfte« (R. u. A. 46). Sie allein bietet die Ergänzung zu der
durch die Arbeitsteilung bedingten Einengung des Arbeitsgebietes des einzelnen
Forschers, das Gegengewicht gegen das Sonderstreben des deutschen Gelehrten,
durch das Bewußtsein, das Glied eines großen Ganzen zu sein« (vgl. R. u. A.
67. 116). »Auch die Wissenschaft hat ihr soziales Problem; wie der Groß-
staat und die Großindustrie, so ist die Großwissenschaft, die nicht von Einem
geleistet, aber von Einem geleitet wird, ein notwendiges Element unserer
Kulturentwicklung, und deren rechte Träger sind die Akademien oder sollten
es sein« (R. u. A. 209). Da aber diese Aufgaben die Kräfte des einzelnen
Mannes und der lebensfähigsten privaten Assoziation übersteigen, müsse der
Staat die Geldmittel durch sein berufenes Organ, die Akademien, zur Ver-
fügung stellen (R. u. A. 47). Dieser klare Einblick in den Gesamtbetrieb der
Wissenschaft fügte sich in M.s Gesamtauffassung vom Verhältnisse der Wissen-
schaft zum Staate und zur Regierung, »die nicht vergessen kann, daß Preußen
groß und deutsch geworden ist auf den Wegen und durch die Macht des
Geistes«. In seinem Anteile an der Gesamtarbeit getröstete er sich für das,
was er aufgab. »Die Menschen kommen und gehen; die Wissenschaft bleibt.
Wer an akademischer Tätigkeit sich beteiligt hat, der darf der Hoffnung
sich getrösten, daß, wenn er die Arbeit niederlegt, ein anderer für ihn ein-
tritt, vielleicht ein Geringerer, vielleicht ein Besserer; immer hat er das
aSo Mommsen.
Privilegium, mehr als andere mit seiner Arbeit über seine Spanne Zeit hinaus
zu wirken« (R. u. A. 156).
M. aber hatte die Genugtuung, das gewaltige Werk des C. 1. Z., das
Werk seiner pflichtbewußten Resignation, nach halbhundertjähriger organi-
satorischer und kritischer Arbeit in der Gestalt nahezu vollendet zu sehen,
die er ihm vorgezeichnet hatte. Als Zweck des C. I. L. hatte er schon in
seiner Denkschrift von 1847 definiert: »die sämtlichen lateinischen Inschriften
in eine Sammlung zu vereinigen, sie in bequemer Ordnung zusammenzustellen,
dieselben nach Ausscheidung der falschen Steine in einem möglichst aus den
letzten zugänglichen Quellen genommenen Text mit Angabe erheblicher
varietas lectionis kritisch genau wiederzugeben und durch genaue Indkes den
Gebrauch derselben zu erleichtern«. Die Hauptarbeit lag, da »alle Kritik
ohne Zurückgehen auf die letzten Quellen Stückwerk ist«, einerseits auf der
Autopsie, andererseits auf der genauen Durchforschung der schier unüberseh-
baren Literatur und namentlich der in den verschiedensten Bibliotheken zer-
streuten epigraphischen Manuskripte. Die Klarheit, mit welcher M. den Stoff
überblickte, ermöglichte ihm von vornherein sowohl die musterhafte Organi-
sation der Arbeit selbst durchzuführen, wie auch das Werk selbst so anzulegen,
wie es für den Gebrauch am praktischsten war. Sowohl für die Arbeit wie
für die spätere Benutzung stellte sich immer deutlicher die geographische
Anordnung als die wünschenswerte heraus, und von vornherein wurde auch
der größte W^ert gelegt auf die von Nichtsachverständigen wenig gewürdigte
Herstellung der Indkes^ zu welcher tiefgehendes Verständnis notwendig war
und durch welche das Werk erst brauchbar wurde; ebenso wie in seinen
späteren Editionen verzichtete M. im C /. Z. mit Ausnahme des i. Bandes,
der die ältesten Inschriften und daher größtenteils singulare Stücke enthält,
auf ausführliche Kommentare in Boeckhs Art, die für viele einzelne Gruppen
außerhalb des Werkes veröffentlicht wurden, und verlegte die Vergleichung
und Zusammenstellung des Materiales, welche die Vorbedingung für jede
weitere Verarbeitung ist, eben in die Indkes. Er selbst hat es keineswegs
verschmäht, nicht nur die Grundlinien auch für diese festzustellen, sondern
einige auch selbst zu bearbeiten. Er war eben im ganzen wie im einzelnen nicht
nur Leiter, sondern auch Arbeiter, ebenso wie seine beiden Genossen Henzen,
der die Bearbeitung der stadtrömischen Inschriften und die Durcharbeitung
der 40 Foliobände des Fälschers Ligorio übernahm, und de Rossi, dessen
Hauptaufgabe es war, die epigraphischen Handschriften namentlich der
Vaticana auszubeuten. 4») Zu diesen drei gesellten sich dann für die Bearbei-
tung einzelner Teile u. a. Bormann, Dessau, Domaszewski, Dressel, Hirsch-
feld, Hübner, Hülsen, Joh. Schmidt, Wilmanns, Zangemeister hinzu. Im
Jahre 1863 erschien der erste, die republikanischen Inschriften enthaltende
Band, herausgegeben von M., mit den Konsularf asten von Henzen, 1872 und
1877 in zwei Teilen der 5. Band (Gallki cisalpina), 1873 der 3. Band (Orient
und Österreich), 1883 der 9. und 10. Band (Süditalien), alle von M. selbst
bearbeitet. Aber, so schreibt sein vertrautester Mitarbeiter: »der Anteil M.s
an dem Corpus ist nicht nach den Bänden zu bemessen, die er unter seinem
Namen herausgegeben hat, so umfangreich diese auch sind; den Unteritalien
gewidmeten Bänden hat er die seinen neapolitanischen Inschriften im Jahre 1852
vorausgeschickte Vorrede 30 Jahre später wieder beigegeben und der Freude
Mommsexi. aS l
über das Gelingen des Werkes, an dem er damals verzweifelt hatte, wie dem
Dank an die hingeschiedenen Stützen desselben: Borghesi und an seinen
Verleger Wigand, wie an die noch mit ihm tätigen Arbeitsgenossen bewegten
Ausdruck gegeben. »Das Steuerruder«, sagte er in dieser Vorrede, »das ich
durch drei Dezennien in guten und bösen Zeiten geführt habe, lege ich jetzt,
wo mein Leben mit diesem Werke zur Neige gegangen ist, nieder.« Aber
noch mehr als zwanzig Jahre hat er das SchiH geführt und den ihm anver-
trauten Schatz fast ganz in dem sicheren Hafen geborgen. Noch im Jahre
vor seinem Tode vollendete er die Neubearbeitung der lateinischen Inschriften
des Orients, und in den letzten Wochen seines Lebens beschäftigte ihn der
Gedanke an den Neudruck der im i. Bande veröffentlichten Urkunden.
Aber mit alledem ist doch seine Tätigkeit an dem Werke kaum zur Hälfte
bezeichnet, denn den unverkennbaren Stempel seines Geistes trägt ein jeder
Band der Sammlung. Als der Tod einen treuen Genossen mitten in der
Arbeit abberief, ist er selbst eingetreten, um den verwaisten Band zu vollenden.
Bis an das Ende seiner Tage las er unermüdlich die Korrekturbogen des
ganzen Werkes und ließ ihnen seine durchdringende Kritik angedeihen. £r hat
seine Hilfe nie aufgedrängt, aber auch nie verweigert, und ein jeder der Mit-
arbeiter, die im Laufe eines halben Jahrhunderts dem Corpus beigetreten
sind, ist sein Schüler und sein Schuldner geworden. 4») Die Vortrefflichkeit
der Organisation, die M. für das Corpus geschaffen, zeigte sich aber auch in
seiner Fürsorge dafür, dafi es nicht während des Erscheinens noch auch nach
seinem Tode veralten sollte; wenn er ursprünglich in Aussicht genommen
hatte, daß das ganze Werk auf einmal erscheinen sollte, so stellte sich dies
allerdings als unmöglich heraus, wie denn auch M. selbst anfänglich die Zeit,
die für die Bearbeitung nötig sein würde, und die Zahl der Inschriften — er
meinte, es würden 80000 sein, während ihrer bis jetzt mehr als die doppelte
2^1 gezählt werden — unterschätzte. Durch die Verbindung mit dem
Archäologischen Institute in Rom, später auch mit den französischen Gelehrten,
welche die so reiche epigraphische Schätze bergende Provinz Afrika verwalten,
durch die unzähligen Anknüpfungen mit allen lokalen gelehrten Vereinigungen
und Sammelpunkten konnte die Forschung immer auf dem laufenden gehalten
werden. Die zu diesem Zwecke gegründeten Zeitschriften, namentlich die
Ephemeris epigraphica, die Supplemente und Neuauflagen einzelner Bände er-
hielten und erhalten das Gesamtuntemehmen stets auf dem Stande, der durch
die neuen Forschungsergebnisse erreicht ist. So hat das C, L Z. auf die
Altertumswissenschaft schon bei M.s Lebzeiten befruchtend gewirkt, wie kein
anderes Werk. Nicht nur M.s eigene grundlegende Schriften der Spätzeit
wären ohne das Corpus unmöglich gewesen; seine »Römische Chronologie
bis auf Cäsar« (i. Aufl. 1858; 2. Aufl. 1859), ^^^ durch die Polemik mit seinem
Bruder August noch besonderes persönliches Interesse hat, ist ihm unmittelbar
aus seinen Vorarbeiten für den i. Band in Verbindung mit seinen früheren
Schriften über Cassiodors Chronik und den Chronographen von 354 erwachsen;
die römische Prosopographie aber, die Sorge seiner letzten Jahre, wäre ohne
das Corpus undenkbar. Vor allem aber die Forschungsmethode und mit ihr
die Anschauung vom römischen Staate, namentlich der Kaiserzeit ist vollständig
umgewandelt, und die unzähligen Untersuchungen, die in und außerhalb Deutsch-
lands erschienen sind und größere oder kleinere Teile des römischen Altertums
Biosrr. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolos^. 9. Bd. 3 1
482
Mommsen.
erhellt haben, sind als unmittelbare Ausläufer des Corpus zu betrachten.
Man kann sogar sagen, daß M. durch das Corpus in noch extensiverer Weise
auf die gelehrte Produktion eingewirkt hat als durch die römische Geschichte,
welche als individuelles Kunstwerk mehr bewundert als nachgeahmt wurde,
und durch sein römisches Staatsrecht und seine zugehörigen Forschungen,
welche infolge der Seltenheit der Vereinigung juristischer und historischer
Anlage und Methode von anderen nur in geringerem Mafie ergänzt wurden. —
Gewissermafien eine lokale Ergänzung zum Corpus waren M.s Bemühungen,
die römisch-germanische Altertumsforschung in Deutschland zu organisieren.
»Die Gebiete des Römerstaates, welche in unsere Grenzen fallen, sind für
die geschichtliche Forschung von sehr viel höherer Bedeutung als im Bereich
der Provinzen die meisten übrigen, wenn auch ausgedehnteren; die großen
Probleme des Grenzschutzes, der Militärorganisation, der Völkerwanderung
ünden hier ihre wichtigsten Brennpunkte.« — »Sollte es nicht möglich sein,
so gut wie wir ein archäologisches Reichsinstitut für Rom und für Athen haben,
etwas Ähnliches auch in Deutschland für die römisch-germanischen Alter-
tümer ins Leben zu rufen?« (R. u. A. 349 f.) Als die nächste und wichtigste
Aufgabe der organisierten Lokalforschung erschien M. die einheitliche Er-
forschung des Limes, des römischen Grenzwalles gegen die Germanen. Ein
erster Versuch scheiterte trotz des Interesses, das Moltke der Aufgabe ent-
gegenbrachte. M. nahm jedoch die Sache wieder auf. Er veranlafite im
Dezember 1890 den Zusammentritt der Limeskonferenz in Heidelberg, deren
Beschlüsse zu einer einheitlichen Organisation der Arbeit in den verschiedenen
deutschen Bundesstaaten und im weiteren Verlaufe zur Begründung des Reichs-
limesmuseums führten, für dessen Grundstein M. die Urkunde im Jahre 1900
verfaßte.
Auch in die Organisation jenes älteren gewaltigen Unternehmens, das
die mittelalterliche, wie das C T, L. die römische Forschung auf neue Grund-
lagen gestellt hat, der Monumenta Germaniae hat, M. mitentscheidend eingegriffen,
da er nach dem Tode Haupts als Vertreter der Berliner Akademie die Ver-
handlungen leitete, aus welchen die Umgestaltung der privaten Gesellschaft
für ältere deutsche Geschichtskunde in einen von den Akademien geleiteten,
auf Arbeitsteilung beruhenden Organismus hervorging. 43) Bei dieser Gelegen-
heit wurde u. a. der ursprüngliche Plan derart erweitert, daß zu den übrigen
Abteilungen unter dem Namen ^^Auctores antiquissimh eine neue Serie von
Ausgaben hinzutrat, welche die Schriftsteller der Übergangszeit vom Alter-
tum zum Mittelalter umfaßte. M. übernahm die Leitung dieser Abteilung
und hat sie bis zum Jahre 1898 zu Ende geführt. Schon in früheren Jahren
war er durch seine Forschungen auf dem Gebiete der römischen Chronologie
und der Fasten ebenso wie durch das Studium der Inschriften und der Rechts-
bücher der Spätzeit des Römertums nahegetreten, und er beklagte es oft, daß
gerade hier, wo die Quellen reichlich fließen, seit dem von ihm sehr bewun-
derten Gothofredus so wenig wissenschaftlich gearbeitet wurde, während man
sich mit Vorliebe jenen alten Zeiten zuwendete, wo häufig die Hypothese
an die Stelle der Quellen treten muß. Er hatte sich bald auch hier von der
vollständigen Unzulänglichkeit der philologischen Vorarbeit überzeugt und
hat dann auch diese große wissenschaftliche Lücke vollständig ausgefüllt.
Schon im Jahre 1882 erschien seine Ausgabe des Jordanes, 1 891 ff. die Aus-
Mommsen. ^,83
gäbe der Chronica minora saec. IV, V. VI. VII. in welchen eine text- und
quellenkritische Arbeit von unerhörter Schwierigkeit durchgeführt und eine
der wichtigsten Quellen der Spätzeit eigentlich erst zugänglich gemacht wurde,
1894 der Cassiodor, dessen Hauptwerk, welches nahezu allein uns die Kenntnis
der inneren Struktur des ostgotischen Staates vermittelt, durch die chronologi-
sche Scheidung seiner Bestandteile erst für exakte historische Untersuchungen
über die Gotenzeit verwendbar wurde. Die Einleitungen dieser Ausgaben
sind eingehende für den Schriftsteller grundlegende Untersuchungen, der text-
kritische Apparat von jener Knappheit und Präzision, die dem M. eigentüm-
lichen praktisch -wissenschaftlichen Blicke und der im C. /. Z. musterhaft
durchgeführten wissenschaftlichen Technik entspricht, mit Abweisung alles
Überflüssigen und jeder ostentatio eruäitionis, die Indkes ein tief eindringendes
Stück gelehrter Arbeit. Eigentliche Kommentare werden auch hier vermieden ;
aber M. hat in einer grofien Reihe von Artikeln im Neuen Archiv, der Zeit-
schrift der Monumenta Germaniae^ seine philologische Arbeit zu historischen Re-
sultaten zusammengefaßt, so dafi z. B. seine ostgotischen Studien, die im An-
schlüsse an die Bearbeitung Cassiodors im Jahre 1889 erschienen — zugleich
mit »Das römische Militärwesen seit Diokletian« — eigentlich als vollgültige
Fortsetzung seines römischen Staatsrechtes erscheinen können, da sie einen
Teil des spätrömischen Staatswesens nicht weniger durchdringend beleuchten,
wie jenes die Republik und den Prinzipat. Hat doch die Spätzeit sein Inter-
esse in immer erhöhterem Mafie in Anspruch genommen, und der Gedanke
lag ihm nicht ferne, wenn er noch geglaubt hätte, daß ihm die Arbeitszeit
gegönnt gewesen wäre, dem Staatsrechte des Prinzipates ein Verwaltungsrecht
des Dominates hinzuzufügen, dessen Hauptlinien in meisterhafter Weise in
dem im Jahre 1893 erschienenen »Abriß des römischen Staatsrechts« gezeichnet
sind. — Aber er wurde notwendig auf diesem Wege noch weiter geführt,
schon frühe zu Studien über Paulus Diaconus, dann, als sich kein passender
Bearbeiter für die Papstleben fand, zu seiner Ausgabe des ersten Teiles der
Gesta panüficum für die Monumenta Germaniae und den mit ihr zusammen-
hängenden verwickelten Fragen der Entstehungsgeschichte dieser wichtigen
Quelle der Geschichte der Kirche und Italiens. Er meinte zwar gelegent-
lich durch derartige Forschungen die Grenzen seines Arbeitsgebietes zu über-
schreiten. »Indes habe ich andererseits immer gesagt« — schreibt er in der Ab-
handlung über »Die Bewirtschaftung der Kirchengüter unter Papst Gregor I.« —
»und soviel ich vermochte, auch dazu getan, daß die dunkle Scheidezeit
zwischen Altertum und Neuzeit von beiden Seiten zu beleuchten ist, und daß
die Wissenschaft davor steht wie die Ingenieure vor dem Tunnelbau: man
setzt an beiden Seiten an und nimmt sich beiderseits vor, Unzulänglichkeiten
einander zu verzeihen und etwaigen Begegnens sich zu erfreuen.« Man darf
heute wohl sagen, daß M. den Stollen so weit vorgetrieben hat, daß die
wesentlichen Schwierigkeiten des Zusammentreffens überwunden sind, und daß
er so in den letzten Dezennien seines Lebens chronologisch das Werk beendet
hat, das er in den ersten Dezennien seiner wissenschaftlichen Arbeit damit be-
gonnen hatte, daß er die römische Geschichte an jene angrenzenden Forschungs-
gebiete anknüpfte, welche damals allein die Urzeit Roms erhellen konnten. —
Da M. in seinem Streben nach lückenloser Vollständigkeit kein Quellen-
gebiet unbeachtet ließ, hat er sich seit seiner ersten italienischen Reise auch
3i^
aSa Monimseti.
der Münzkunde zugewendet und die Münzen schon für seine frühen sprach-
lichen, wie für seine späteren Untersuchungen herangezogen, einzelne Münz-
gruppen behandelt, seine Studien in den Schriften »Über das römische Münz-
wesen« und »Über den Verfall des römischen Münzwesens in der Kaiserzeit«
und im Jahre 1860 in dem Werke »Geschichte des römischen Münzwesens«
niedergelegt. Was dieses Buch ist, hat M. im Vorwort genau bezeichnet:
»weder eine Metrologie soll es sein noch eine römische Münzkunde, sondern
eine Geschichte des römischen Münzwesens, die freilich wie billig auf Maß-
wie auf Münzkunde sich stützt, aber weder diese zu erschöpfen beabsichtigt
noch sich auf diese beschränkt«. Zum ersten Male hat M., um ein voll-
kommenes Bild zu gewinnen, die ebenso wichtige wie schwierige Frage über
das Münzrecht als Teil des Staatsrechts, sowie die rechtliche Betrachtung des
Geldes überhaupt in seine Untersuchungen hineingezogen — und niemand
war dazu so berufen wie er, der Jurist — ; um die geschichtliche Entwick-
lung des römischen Münzwesens richtig darzustellen, mußte er auch das
italienische Münzwesen in zusammenfassender Weise erörtern, und hier
wiederum hat er weit ausgreifen müssen in das große Gebiet der antiken
Münzkunde, indem er den ältesten asiatisch-griechischen Systemen, unter deren
Einfluß das älteste italienische Geld sich entwickelt hat, einen ganzen Ab-
schnitt seines Buches gewidmet hat. Auf das ihm nicht kongeniale archäo-
logische Gebiet hat er nicht übergegriffen, wie er denn auch ein Numis-
matiker im technischen Sinne nicht eigentlich gewesen ist. 44) Doch verdankt
ihm die römische Numismatik außer jenen durchgreifenden Arbeiten zum
guten Teile die Begründung der von seinem Schüler Sallet geleiteten Zeit-
schrift für Numismatik und vor allem im Jahre 1886 die Anregung und den
Plan zum Corpus nummorum, das unter Leitung Imhoofs begonnen werden
konnte; eine ihm 1893 zu seinem Doktorjubiläum gewidmete Ehrengabe wies
M. diesem Zwecke zu; zu dem ersten Halbbande dieses Werkes, das sich
dem C. /. Z. ebenbürtig zur Seite stellen soll, konnte er noch selbst im Namen
der Akademie das Vorwort schreiben. —
Nicht minder kräftig hat er aber eingegriffen, als es sich um die Nutz-
barmachung der neuesten zugänglichen Quelle der Altertumsforschung, der
Papyriy handelte, »M. ist wohl der erste gewesen«, so schreibt sein Schüler
Wilcken, »der klar erkannte, daß diese braunen Fetzen, aus denen das Alter-
tum zum Teil mit Stimmen, die wir noch nicht gehört hatten, zu uns spricht,
für die verschiedensten Zweige der Altertumsforschung von größter Bedeutung
sind.« »Die große Fundgrube für alle Forschungsgebiete«, so hat er . . . die
ägyptischen Papyri genannt.« Sein Interesse wurde besonders durch ihre
Bedeutung für die Kenntnis der ägyptischen Verwaltung, die so stark auf
die römische der Kaiserzeit eingewirkt hat, erregt. Aber zugleich erkannte
er, daß es für ihn zu spät war, selbst die ganze große Arbeit, die sich dar-
bot, zu bewältigen, und fand sich mit der ihm eigenen weisen Selbstbeschrän-
kung »in das Zusehen, was nicht ganz leicht ist« — nicht ohne jedoch
Einzelnes selbst zu bearbeiten und für seine wissenschaftlichen Zwecke heran-
zuziehen. Um so eifriger betrieb er aber die Organisation auch dieses
Studienbereiches zum Nutzen der jüngeren Generation; er stand an der Wiege
des Archivs für Papyrusforschung und hat im ganzen wie im einzelnen die
Einrichtung der Papyruspublikationen des Berliner Museums vorgezeichnet,
Mommsen. ^85
deren praktische Anlage deutlich seine erfahrene Hand verrät. Als Ziel für
viel spätere Zeiten schwebte ihm aber ein allgemeines Corpus papyrorum vor.45)
Der wissenschaftliche Großbetrieb war unter M.s Leitung über die Grenzen
der Nation hinausgewachsen und beanspruchte schon größere Kapitalien, als
einer einzelnen gelehrten Körperschaft zur Verfügung standen. Schon das
C. /. Z. erforderte die Mitarbeit auch italienischer und französischer Gelehrten.
Zu den Motmmenta Gcrmatwu steuerten mehrere Akademien bei. Das Corpus
nummorum und, wenn es einmal Zustandekommen sollte, das Corpus papyrorum
erforderte das organisierte Zusammenwirken aller Kultumationen. Nament-
lich M.s nicht in die Schranken der nationalen Kultur gebanntem Geiste
mußte es naheliegen, sobald sich Gelegenheit und Möglichkeit bot, die
wissenschaftliche Arbeitsteilung auf einer weiteren Basis zu organisieren. Die
Veranlassung zu den ersten Schritten auf diesem Wege was das Unternehmen
des Thesaurus linguae LaHnae, dessen Rahmen zu weit für die Kräfte einer
einzelnen Akademie gespannt war. Der von M. Hertz angeregte Gedanke
einer Kooperation der Akademien von Berlin, München und Wien zu diesem
Zwecke wurde von einer Berliner Thesaurus-Kommission, der auch M. als
Berichterstatter angehörte, aufgegriffen und von M. sofort erweitert. Er kam
im Mai 1892 nach Wien zu dem Zwecke, ein Kartell der Akademien deut-
scher Zunge und im weiteren Verlaufe eine Vereinigung der gelehrten Körper-
schaften der Kultumationen einzuleiten. W. v. Hartel und Ed. Suess wurden
hier gewonnen und wußten die Wiener Akademie zu überzeugen und mit
ihrer Hilfe die gelehrten Körperschaften von München, Leipzig, Göttingen
heranzuziehen M. entwarf die Statuten, und schon im Januar 1893 traten
die Delegierten dieser Körperschaften in Leipzig zusammen. M. und Suess
vertraten hier den Statutenentwurf; jedoch war es gerade die Berliner Aka-
demie, die nur auf Vereinbarungen von Fall zu Fall, namentlich aber für
den Thesaurus^ eingehen zu wollen erklärte und sich femer dagegen aus-
sprach, daß weitere Einladungen zum Beitritte erfolgten — eine Haltung, die
zu M.s persönlicher Meinung in Widerspruch stand und ihn wohl auch mit
veranlaßt haben dürfte, bald darauf das ständige Sekretariat der Berliner
Akademie niederzulegen. Indes erwuchs aber in der Tat aus dem Kartell
der Deutschen Akademien die intemationale Assoziation der Akademien der
Kultumationen. Auf der Göttinger Kartellversammlung vom Jahre 1898
wurde die Erweiterung des Kartelies beantragt und auf dem Münchener
Kartelltag im Frühjahr 1899 beschlossen. Im Herbste 1899 ^^"^ ^^^ \ion'
stituierende Versammlung der — übrigens vom deutschen Kartelle unabhän-
gigen — intemationalen Assoziation in Wiesbaden, im April 190 1 deren
erste Generalversammlung in Paris statt, an der als Vertreter der Berliner
Akademie auch M. teilnahm. »Diese Assoziation hat den Zweck, wissen-
schaftliche Unternehmungen, welche von der Gesamtheit der vereinigten
Körperschaften oder von einer Gruppe derselben oder von einer einzelnen
derselben in Angriff genommen oder empfohlen werden, zu unterstützen, und
sich über Einrichtungen zur Erleichterung des wissenschaftlichen Verkehrs
zu verständigen.« 46) — Wenn M. als Mitglied der Akademie sich auch als
Nachfolger Leibnizens fühlte (vgl. R. u. A. 44, 49), so hat er durch die An-
bahnung dieser die wissenschaftlichen Großbetriebe vereinigenden Assoziation
in der Tat dessen Programm den geänderten Zeitverhältnissen entsprechend
486
Mommsen.
in die Wirklichkeit übersetzt, nachdem er durch eigene Arbeit erst den Inhalt
für eine solche Organisation geschaffen hatte.
V. Juristische Schriften. M.s juristische Schriften können nur äußer-
lich von seinen übrigen Arbeiten getrennt werden; denn der römische Staat
als Ganzes stand immer im Mittelpunkt seiner Forschung, ob er nun den
»Katalog« der verschiedenen Quellen uud Urkunden des Altertums herstellte,
oder das Römertum in seiner Entwicklung darstellte oder die Einrichtungen
des Staates als solche ins Auge faßte. Zivilist im Sinne der praktischen
Jurisprudenz, welche moderne Verhältnisse mit antiken Denkformen zu be-
wältigen strebt, ist er deshalb auch nie gewesen, da er die Jurisprudenz vom
historischen Gesichtspunkte aus behandelte und auch auf diese Weise »die
Fakultätslinie« übersprang. Gerade dadurch hat er aber auch die römischen
privatrechtlichen Institutionen von einer ganz andern Seite anzusehen gelehrt,
damit den wesentlichsten Programmpunkt der historischen Schule der Juris-
prudenz tatsächlich durchgeführt und vor allem gelehrt, was und daß der
Jurist vom Philologen lernen könne, wie er schon in einer These seiner
Dissertation behauptet hatte.
Auch auf diesem Gebiete hat er zunächst die quellenmäßige Grundlage
hergestellt, durch Sammlung und kritische Behandlung zunächst der inschrift-
lich erhaltenen Staatsurkunden, 47) dann auch der Überreste der römischen
Jurisprudenz. So hat er nicht nur die sogenannten ^Fragmenta Vaticanai^
und die *Mosaicarwn et Ramanarum legum collatio^ ediert und zu Gaius, zu
Ulpian, zu den Notae iuris Beiträge geliefert, sondern vor allem für das
Hauptwerk, aus dem unsere Kenntnis der römischen Jurisprudenz fließt, für
die Digesten, erst die textkritische Grundlage geliefert, deren — so unglaub-
lich es klingt — in den vier Jahrhunderten seit Erfindung der Buchdrucker-
kunst dies Buch noch entbehrte, obwohl oder weil es nicht nur zu histo-
rischen Forschungen, sondern täglich von tausenden von Juristen mittelbar
oder unmittelbar in der Praxis verwendet wurde. Der Text der Florentina
war zwar schon lange als der beste erkannt worden; aber M. zuerst sorgte
für eine genaue Kollation, in welcher die verschiedenen korrigierenden und
bessernden Hände unterschieden und bestimmt wurden, und konnte auf diese
Weise Verbesserungen nach alten Vorlagen und willkürliche Veränderungen
unterscheiden. Zugleich zog er die griechische Übersetzung der Basiliken
zur Textverbesserung heran, sonderte die brauchbaren alten Fragmente und
Handschriften aus und warf die unbrauchbaren mit Entschiedenheit über Bord,
so daß er sichere Kriterien für die Herstellung des ursprünglichen Textes
gewann. Die große Ausgabe {^adstm^to in operis societatem Paulo Kruegero^)
erschien iujclen Jahren 1866 — 1870, die kleine stereotypierte Ausgabe, ergänzt
durch die Institutionen und den Codex Justinianus von Krüger und durch
die Novellen Justinians von Schoell, seit 1872 in neun Auflagen, die sich
heute in den Händen aller Juristen befinden 4^). — Erst als diese philologische
Tätigkeit beendet war, konnte sich an sie der Digesten-Index und das
Vocabulariiim iuris Romani anschließen. 49)
Noch als Achtzigjähriger unternahm er, offenbar angeregt durch seine
intensive Beschäftigung mit der Verwaltung der nachdiokletianischen Zeit,
eine kaum minder umfangreiche Aufgabe, die Edition des Codex Theodo-
sianuSf im Auftrage der Berliner Akademie. Er hat den Text und die Prole-
Mommsen.
487
j^ontena noch selbst beendigt, auf jenen und auf die ersten Bogen dieser
noch sein Imprimatur setzen können, als ihm das Augenlicht schon zu ver-
sagen drohte. Für den jungen M. hätte die Ausgabe des Theodosianus^ wie
seine anderen Arbeiten zur spätrömischen Zeit nur den Beginn neuer zu*
sammenfassender Arbeiten bedeutet. So hat er nur hoffen können, daß hier
von Späteren ausgebaut werde, wozu er die Fundamente gelegt hat. —
Das großartigste Beispiel aber, auf welche Weise aus der Zusammen-
fassung allen Materials der gewaltige Bau des römischen Staates in Gedanken
wieder aufgerichtet werden kann, hat er für Königtum, Republik und Prinzipat
in seinem Römischen Staatsrecht gegeben. Was £. Mach von der Natur-
wissenschaft sagt: sie »verläßt das Mosaikbild mit Steinchen und sucht die
Grenzen und Formen des Bettes zu erfassen, in dem der lebendige Strom
der Erscheinungen fließt. Den sparsamsten, einfachsten begrifflichen Ausdruck
der Tatsachen erkennt sie als Ziel« — das gilt auch von M.s Römischem
Staatsrecht: »Wie in der Behandlung des Privatrechts« — so sagt er selbst
in der Einleitung — »der rationelle Fortschritt sich darin darstellt, daß neben
und vor den einzelnen Rechtsverhältnissen die Grundbegriffe systematische
Darstellung gefunden haben, so wird auch das Staatsrecht sich erst dann
einigermaßen ebenbürtig neben das Privatrecht stellen dürfen, wenn, wie
dort der Begriff der Obligation als primärer steht über Kauf und Miete,
so hier Konsulat und Diktatur erwogen werden als Modifikationen des Grund-
begriffes der Magistratur.« In diesen Worten ist zugleich der ganze immense
Unterschied zwischen den älteren Handbüchern der »Staatsaltertümer«
und dem Staatsrechte niedergelegt. Das Ziel hatte ihm schon von Jugend
auf vorgeschwebt, und er hätte den Plan der Ausarbeitung seit der Leipziger
Zeit auch dann nicht aus den Augen gelassen, wenn Hirzel nicht auf die
Erfüllung der »vor vielen Jahren mit leichterem Sinn, vielleicht auch mit
Leichtsinn« gegebenen Zusage gedrängt hätte. Als er aber die Römische
Geschichte abgeschlossen hatte und sich darüber klargeworden war, daß er
durch parallele Bearbeitung des Zivil- und Kriminalrechts der ältesten Zeit
zu manchen neuen Aufschlüssen gelangt war, war es das C, /. Z., das in
seiner ersten Berliner Zeit seine volle Kraft in Anspruch nahm. Schwerlich
wäre aber der Grundriß, der in seinen Jugendschriften schon angedeutet, in
seine Römische Geschichte mit festen Linien eingezeichnet ist, so vollständig
ausgefüllt worden, wenn nicht die mühsame und arbeitsreiche Katalogisierung
des Materials in den fünfziger und sechziger Jahren vorausgegangen wäre.
Erst im Jahre 1871 erschien der erste, in den Jahren 1874 und 1875 der
zweite Band des Römischen Staatsrechts. 'Wie die Geschichte den Längs-
schnitt, so bedeutet das Staatsrecht den Querschnitt durch die römische
Entwicklung, und wie die Darstellung der Geschichte durch die Zeitfolge^
so wird die des Staatsrechtes durch die sachliche Zusammengehörigkeit be-
dingt, so daß dieses als die notwendige sachliche Ergänzung jener erscheint.
»Es ist der allgemeine Teil der Darstellung des römischen Gemeinwesens,
der hier . . . gegeben wird, der Versuch eine jede Institution darzustellen
sowohl als Glied des Ganzen in ihrer Besonderheit wie in ihrer Beziehung
zu dem Organismus überhaupt.« Wenn M. hinzufügt: »ich wenigstens bin
mir bewußt, alle Arbeits- und Denkkraft daran gesetzt zu haben, um jedes
brauchbaren Bausteins habhaft zu werden und jeden Gedanken zu Ende zu
^88 Moromsen.
denken« — so ist damit jene ganz einzige Verbindung von induktiver und
deduktiver Forschung oder, um mit M. zu reden, von Philologie und Juris-
prudenz angedeutet, aus welcher das Werk erwachsen ist. Das Zuendedenken
bezieht sich aber nicht nur auf das Zurückgehen auf die bewufit von den
römischen Juristen erfaßten staatsrechtlichen Gedanken, obwohl M. nach-
gewiesen hat, daß die zeitgenössische Theorie auch in staatsrechtlicher Be-
ziehung weiter vorgeschritten war, als man geahnt hat, sondern auch auf die
Rekonstruktion und Darstellung derjenigen Begriffe, unter welche die tat-
sächlichen Funktionen des staatlichen Organismus subsumiert werden können,
auch wenn sich die römische Jurisprudenz nicht bis zu ihnen erhoben hat.
Es ist die Zusammenfassung aller Äußerungen des römischen Staates unter
einheitlichen Gesichtspunkten, eine Aufgabe, die deshalb geboten, aber wohl
auch nur deshalb ohne Rest lösbar war, weil sich der römische Staat mehr
wie jeder andere unabhängig von äußeren umwälzenden Einflüssen ent-
wickelt hat.
Jede Tätigkeit des römischen Staates drückt sich aus in der Magistratur,
und deshalb geht M. von dieser aus. »Es liegt im Wesen der römischen
Gemeinde«, so hebt das Römische Staatsrecht an, »daß die Darstellung ihrer
Rechtsordnung den Ausgang nehmen muß von den Beamten derselben; wie
denn auch ihre in Form des Gründungsberichts uns aufbehaltene uralte Selbst*
Schilderung den König älter macht, als die Stadt und das Volk. Die Dar-
stellung des Gemeinderates, sowie die der Gemeindeversammlung können
derjenigen der Magistratur schon darum nicht voraufgehen, weil beide nur
in Gemeinschaft mit der Magistratur befähigt sind zu handeln und jeder
Beschluß des versammelten Rats oder der versammelten Gemeinde zugleich
auch ein magistratischer Akt ist.« Da aber die ursprüngliche Vollgewalt
der Magistratur auf das Königtum zurückweist, fällt auch dieses, den Aus-
gangspunkt bildend, unter die Darstellung der Magistratur, in welcher der
allgemeine Begriff der Beamten und der Amtsgewalt, das imperium^ die Kolli-
sion der Beamtengewalt, die Kollegialität und die Kompetenz entwickelt
wird, sowie daran anschließend die der Magistratur eigentümlichen Vor-
bedingungen, Ehrenrechte und Beschränkungen. Erst nachdem dieser all-
gemeine Teil abgehandelt ist, folgt in der ersten Hälfte des zweiten Bandes
die Darstellung der einzelnen ordentlichen Beamten vom Könige bis zur
niedrigsten Stufe des Vigintisexvirates und bis zu den außerordentlichen Ge-
walten. Die außerordentlichen konstituierenden Gewalten leiten historisch
hinüber zur »Beamtenallgewalt militärischer Färbung«, zum Kaisertum, zum
Prinzipat, deren Darstellung die zweite Hälfte des zweiten Bandes gewidmet
ist, eingeleitet durch den Nachweis, daß auch der Prinzipat Magistratur ist —
wodurch das Staatsrecht der Republik und des Prinzipates von dem Staats-
rechte der nachdiokletianischen Zeit und des Dominates scharf geschieden
ist. Schon durch diesen Nachweis hat eigentlich M. die Aufgabe gelöst,
deren Lösung bisher, wie er selbst sagt, noch nicht versucht worden war.
Eben deshalb konnte aber auch die kaiserliche Gewalt mit derselben logischen
Schärie aus den gegebenen Voraussetzungen, namentlich aus dem prokonsu-
larischen Imperium und der tribunizischen potest<iSy entwickelt werden, wie die
übrigen Magistraturen. — Die erste Abteilung des dritten Bandes, die nach
längerer Pause im Jahre 1887 erschien, behandelt die römische Bürgerschaft
• Mommsen. 480
und zwar das einst ausschließliche Bürgerrecht der Geschlechter, aus dem
der Patrizierstand erwächst, und sein Korrelat, die Klientel, aus der die
Plebs hervorgeht, bis Patrizier und Plebeier zu einem einheitlichen Gemein-
wesen zusammengefaßt werden, die staatlichen Rechte und Pflichten der
einzelnen und deren Organisation in der Volksversammlung; daran schließt
sich das zurückgesetzte Bürgerrecht und das bevorzugte der Nobilität und
des Ritterstandes, ferner das Verhältnis zum Auslande, zu den Verbündeten,
den Untertanen, den Gemeinden im Staate. Man wird vielleicht behaupten
können, daß dieser Teil noch tiefer in das Römertum eindringt, als die
vorhergehenden, weil, während in diesen das Funktionieren des Staatsorga-
nismus dargelegt wird, hier seine Entstehung, seine Grundlagen bloßgelegt
werden; es sind die Kategorien, in denen sich die römische Geschichte be-
wegt, scharf und klar umrissen, wie sie nur vor dem Auge dessen stehen
konnten, der sie aus der Perspektive einer tausendjährigen Entwicklung er-
blickte. — Nicht minder schwierig war die Aufgabe der abschließenden
zweiten Abteilung des dritten Bandes, die schon im Jahre 1888 folgte. Es
handelte sich hier darum, den dritten Faktor der römischen Verfassung —
neben Magistratur und Bürgerschaft — den Senat, in allen seinen Funktionen
darzustellen. Während sich aber die Organisation des Senates aus der Or-
ganisation der patrizischen und der patrizisch-plebeischen Gemeinde ergab,
war seine Funktion rechtlich um so schwerer zu fassen, als seine bindende
Befugnis, die auctoritaSy in historischer Zeit jeder Bedeutung bar war, seine
beratende Befugnis als consilium rechtlich nicht bindend und tatsächlich und
historisch von der entscheidendsten Bedeutung war, so daß es sich darum
handelte, das tatsächliche senatorische Regiment der späteren Republik
darzustellen und doch so darzustellen, daß nicht vergessen wurde, daß formal
juristisch die tatsächlich gebundene Magistratur regierte, bis der Senat zum
Mitsouverän des Princeps wurde und eben in der Dyarchie des Prinzipates
seine tatsächliche Bedeutung verlor. Nur ein Jurist, der Historiker war und
die juristischen Begriffe nicht als historische Realitäten betrachtete, konnte
diese Aufgabe lösen, nur M. ein Römisches Staatsrecht als einheitliches Ganzes
zu Ende führen. —
Diese Einheitlichkeit tritt vielleicht noch deutlicher als in dem großen
Werke, in dem »Abriß des römischen Staatsrechts« hervor, der 1893 er-
schienen ist. »Hier ist der Versuch gemacht worden, die wesentlichen
Momente des öffentlichen Rechts der Römer systematisch zu ordnen unter
Weglassung der knapper Zusammenfassung nicht fähigen Belege.« Nach
Abstreifung des antiquarisch-philologischen Apparates gibt diese »anspruchs-
lose Arbeit«, indem sie von der Bürgerschaft ausgeht und dann nach Be-
sprechung der Magistratur zu den von dieser geleiteten Komitien und Senat
fortschreitet, in knappster gedanklicher Zusammenfassung und in jenem
ökonomischen Stile, der dem alten M. eigentümlich ist, gleichsam die
Essenz aus dem ganzen römischen Staatswesen. Wenn M. jetzt, nach
50 Jahren, dessen gedachte, was ihm beim Abschluß seiner Universitäts-
studien als Ziel vorgeschwebt hatte, so mußte er sich sagen, daß das Ziel
erreicht und daß der römische Staat durch seine Arbeit und sein Genie
von den römischen Inschriften und der römischen Jurisprudenz das Licht
empfangen hatte, das er hatte entbehren müssen, seitdem er von der anti-
^QO Mommsen. •
quarischen Forschung in Altertümer, von den Juristen in Rechtsfälle aufgelöst
worden war. —
Nun erst konnte er zu dem Gegenstande zurückkehren, von dem er
eigentlich ausgegangen war und dessen Bearbeitung er in klarer Einsicht der
Erkenntnismöglichkeiten auf die Zeit verschoben hatte, in welcher eine sicher
fundierte Anschauung von dem zentralen Begriffe, dem römischen Staate,
möglich war, zum römischen Stralrechte. M. schreibt selbst in dem Vorworte
zu seinem 1899 erschienenen Römischen Straf recht: »Ich hätte nicht gewagt,
diese Aufgabe zu unternehmen, wenn ich mich nicht dabei auf mein römisches
Staatsrecht hätte stützen können, und ich darf diese Arbeit, obwohl sie in
der Methode abweicht und nicht mit Diokletian abschließt, sondern mit
Justinian, als ergänzende Fortsetzung jenes Werkes bezeichnen.« Nicht nur
darin lag die Schwierigkeit der Aufgabe, dafi eine halbwegs wissenschaftliche
Bearbeitung des römischen Strafrechtes bisher nicht existierte, sondern haupt-
sächlich darin, »daß es ein römisches Strafrecht als Ganzes nicht gibt«
(S. 126); »dafi überhaupt die Konstruktion eines römischen Straf rechts,
welchen Begriff die römische Jurisprudenz selbst nicht aufgestellt hat, ohne
eine gewisse Willkür sich nicht durchführen läfit« (S. s^s); es handelt sich
für M. um »die Ausscheidung des Straf rechts als des ethischen Rechts im
eminenten Sinne« aus der gesamten übrigen Rechtsmaterie, eine Ausscheidung,
die von den Römern selbst nicht durchgeführt war. Deshalb läfit sich M.
in diesem Spätwerke ganz gegen seine sonstige Gewohnheit auch auf philo-
sophische Begründungen ein. »Das Strafrecht ruht auf dem sittlichen Pflicht-
begriH, insoweit der Staat dessen Durchführung sich zur Aufgabe gemacht
hat. Eine sittliche Pflicht, deren Einhaltung der Staat vorschreibt, ist ein
Strafgesetz; die Nichteinhaltung einer solchen Vorschrift ist das Verbrechen;
dasjenige Übel, welches der Staat dem die Vorschrift nicht Einhaltenden zu-
fügt, ist die Strafe. Das Verbrechen wird durch die Strafe als aufgehoben
betrachtet, die öffentliche Ordnung als damit beglichen« (S. 3 f.). »Der Be-
griff des Verbrechens beruht auf der Sittlichkeit der Menschennatur. Die
Verletzung des dem Menschen obliegenden Verhaltens findet ihre Richtschnur
zunächst an dem eigenen Pflichtgefühl, dem Gewissen des einzelnen. Un-
bestimmt in seinen Grenzen und keinem äufieren Zwang unterworfen, erlangt
dieser Pflichtbegriff im Staate bestimmten Inhalt und festen Rückhalt; die
Strafordnung ist das verstaatlichte Sittengesetz« (S. 65). »Die Umwandlung
des Sittengesetzes zum Strafgesetz fordert positive Feststellung des Tatbe-
standes und diese ist von der Willkür untrennbar. Je mehr die gesellschaft-
lichen Verhältnisse sich komplizieren und je enger das Strafgesetz dem Sitten-
gesetz sich anzuschliefien versucht, desto eingreif ender wird diese Willkür« (S.91).
»Aber die durch das Strafrecht dem Gemeinwesen über den einzelnen ein-
geräumte schwerwiegende Gewalt soll ernstliche Anwendung nur da finden,
wo das Gewissen des Handelnden selbst die Handlung mifibilligt oder miß-
billigen sollte« (S. 92). Diese in ihrer Absolutheit an Kantsche Ideen
anknüpfende Autfassung wird andererseits wiederum ergänzt durch die
Ausführung, dafi Sitten- und Strafgesetz wandelbar sind. »Die ethische
Grundlage des Strafrechts bringt es mit sich, dafi wie die menschliche Natur,
so auch die menschlichen Verbrechen bei allen Völkern und zu allen Zeiten
bis zu einem gewissen Grade sich gleichen .... Aber andererseits ist das
Moramsen. • ^p 1
Strafrecht mehr noch als andere Gebiete abhängig von der Individualität des
einzelnen Volkes und von dem die einzelne Epoche beherrschenden Geiste«
(S. 530). »Das Sittengesetz ist der Entwicklung der Völker entsprechend ein
ewiger Wellenschlag von Steigen und Fallen; das Strafgesetz ist die von
äußerlichen Bedingungen abhängige Summe der zurzeit von der Gesamtheit
dem einzelnen aufgelegten Sittengebote« (S. 523).
Wie nun M. im Staatsrechte von dem vollen Imperium^ der eigentlich
jede andere Magistratur ausschließenden Königsgewalt ausgehen mußte, so
geht er im Strafrechte von der Hauszucht, dem Kriegsrecht und namentlich
der magistratischen Koerzition aus, die prinzipiell im Gegensatze zum Straf-
rechte steht, obwohl dieses aus jener hervorgegangen ist (vgl. S. 899). »Das
Strafrecht beginnt, wo der Willkür des Trägers der Strafgewalt, des er-
kennenden Richters, Schranken gesetzt werden durch das Staatsgesetz ....
Das römische öffentliche Strafrecht beginnt mit dem valerischen Gesetz,
welches das Todesurteil des Magistrats über den römischen Krieger der
Bestätigung durch die Bürgerschaft unterwarf, das römische private mit der-
jenigen Ordnung, welche dem Prätor die definitive Strafentscheidung aus
der Hand nahm und bei der bedingten die Erledigung der Bedingung an
Geschworene wies. Es gibt in Rom fortan kein Delikt ohne Kriminalgesetz,
keinen Strafprozeß ohne Prozeßgesetz, keine Strafe ohne Strafgesetz« (S. 56 f.).
Der Anfang des öffentlichen Strafrechts ist die Selbsthilfe der Gemeinde
gegen die direkte Schädigung des Gemeinwesens, wobei der schädigende
Mitbürger sein Bürgerrecht verwirkt und dem Landesfeinde gleichgestellt
wird (vgl. S. 59, 900); aber darüber hinaus hat sich das öffentliche Strafrecht
schon in vorgeschichtlicher Zeit auf solche Übeltaten erstreckt, welche neben
der Schädigung des einzelnen zugleich die öffentliche Sicherheit gefährden
und deren Vergeltung daher nicht mehr dem Geschädigten und den Seinen
anheimgestellt wird. Femer entsteht aber das von dem öffentlichen Straf-
rechte im Rechtsgange wesentlich verschiedene Privatstrafrecht dadurch, daß
der Staat den obligatorischen Vergleich an die Stelle der Selbsthilfe oder
des freiwilligen Vergleiches, namentlich bei den Eigentumsdelikten, durchsetzt.
Jedes Urteil ist ein magistratischer Spruch (S. 135), und deshalb muß
auch im Strafrechte von den Magistraten, den Strafbehörden, ausgegangen
werden, da ja nur aus der gesetzlichen Bindung ihrer Koerzition das Straf-
recht entstanden und durch sie bedingt ist. Deshalb werden die einzelnen
Strafbehörden von der Zeit des komitialen Prozesses bis zum Strafprozeß
vor dem Senate des Kaiserreiches und vor dem Princeps und zum diokle-
tianischen Beamtengericht verfolgt, und daran anschließend die Formen des
Strafprozesses, da bei der gleichzeitigen Entstehung und dem Zusammen-
hange des Deliktes mit dem Rechtsgange Strafrecht und Strafprozeß, wie M.
schon ein halbes Jahrhundert früher erkannt hatte, nicht voneinander getrennt
werden können. Daran schließt sich die Darstellung der einzelnen Delikte,
welche im Gegensatze zu M.s sonstigem Verfahren nach logischen Kategorien
gegliedert sind. »Diese Gliederung, durch die Zufälligkeiten der Rechtsent-
wicklung und der Rechtsüberlieferung bedingt, erhebt keinen Anspruch auf
systematischen Wert und will lediglich für den Rechtsgelehrten wie für den
Geschichtsforscher das logisch oder historisch Zusammengehörige nach Mög-
lichkeit zusammenfassen« (S. 530). Nach der Erörterung des Begriffes und
492
Mommsen.
der Entstehung der Strafe folgt eine Darstellung der einzelnen Straf arten,
die ebenfalls erst durch die Strafbehörden, die sie auferlegen und vollstrecken,
und durch die Art des Strafprozesses verständlich werden.
Mit dem Strafrechte schließt sich gleichsam der Kreis, den M. in mehr
als halbhundertjähriger Arbeit gezogen hatte. Die philologische, juristische,
historische Arbeit war lückenlos — mit Ausnahme etwa des 4. Bandes der
römischen Geschichte — getan und der römische Staat von Romulus bis
Diokletian wieder aufgebaut, darüber hinaus der folgenden Generation als
Vermächtnis die Beleuchtung der diokletianischen Monarchie und der »dunklen
Scheidezeit zwischen Altertum und Neuzeit«, die Katalogisierung der Münzen
und Papyri hinterlassen. Da hat es ihn nun gereizt, den vollendeten Bau
einmal mit anderen Staaten zu vergleichen. Wie er das tat, ist charakte-
ristisch für seine Anschauungsweise und seine Selbstbeschränkung. Er richtete
an eine Anzahl von Fachmännern Fragen »zum ältesten Strafrecht der Kultur-
völker«,5^) die er nebst den Antworten mit den folgenden Worten einbegleitete:
»In meinem römischen Strafrecht habe ich mich alles Vergleiches der römischen
Ordnungen mit nicht römischen in strenger Beschränkung enthalten. Die
historisch-philosophische Bedeutung solcher Zusammenstellungen für unser
Ahnen über die Urzustände des Menschengeschlechts und unser Wissen über
seine weitere Entfaltung kann nicht hoch genug angeschlagen werden; aber
der Einzelforscher wird durch dieselben nur zu leicht in die Irre geführt,
zumal weil er alsdann halb als kompetenter Sachkundiger, halb als von
fremder Hand abhängiger Laie zu reden genötigt ist. Im allgemeinen wird
zweckmäßig auf jedem wissenschaftlichen Gebiet d^r Verlockung zum Ver-
gleichen zunächst nicht nachgegeben und erst von höherer Warte aus das
Gesamtergebnis entwickelt. Dieser Auffassung bin ich in jenem Werke gefolgt,
möchte nun aber weiter die allgemeineren Probleme wenigstens zur Dis-
kussion stellen, nicht durch dilettantisches Übergreifen in andere Forschungs-
kreise, in denen die Beschäftigung mit einem einzelnen Abschnitt niemals
Stimme im Kapitel geben kann, sondern indem ich auf Grund persönlicher
Beziehungen angesehene Spezialforscher veranlaßte, über die dem Strafrecht
zugrunde liegenden allgemeineren Fragen sich zu äußern.« Es sind auf
vier Druckseiten in ihrer durchdachten Präzision meisterhafte Fragen, die
von ihm selbst für das römische Strafrecht in ebenso knapper Form beant-
wortet sind. —
Die Bibliographie von M.s sämtlichen Werken umfaßt nicht weniger als 15 13 Nummern;
allerdings sind in ihr auch die kleinsten Publikationen, die Übersetzungen und Neuaullagen
seiner Werke aufgenommen. Aber schon eine aus jener exzerpierte chronologische Zusammen-
stellung nur der wichtigsten selbständigen Werke und prinzipiell wichtigsten oder umfang-
reichsten Aufsätze seiner Berliner Zeit läßt die Arbeitskraft des Mannes schier unbegreiflich
erscheinen :
1858: Römische Chronologie. — 1860: Römisches MUnzwesen. — 1861: Ausgaben
der Chronik des Cassiodor und der Fragmenta Vaiicana, — 1863: Corpus inscrtpHonutn
Latinarutn I und Römische Forschungen I. — 1864: Ausgabe des Solinus. — 1865:
Res gestac divi Augusti, — 1866 — 1870: Ausgabe der Digesten. — 1868: Ausgabe des
Veroneser Livius-Palimpsestes. — 1870: Index zu den Plinius-Briefen. — 1 87 1 : Römisches
Staatsrecht I. — 1872: C. /. Z. vol. V p. I. — 1873: C, /. Z. vol. III p. I u. II und
Analecta Liviana. — 1874: Römisches Staatsrecht II/x. — Lex colontae luliae Geneüvat,—
1875: Römisches Staatsrecht 11/ a. — 1877: C. L Z. vol. V p. II. — 1879: Römische
Mommsen.
493
Forschungen II und Quellen der Langobardengeschichte des Paulus Diakonus. — 1880:
Decret des Conimodus über den Saltus Burunitanus, — 1881: C, L L, VII I/i, von Wil-
manns, fortgeführt von M. — 1882: Ausgabe des Jordanes. — 1883: C. /. L. vol. IX u. X
p. I u. II; iemtr Res gestae diui AufTusti, — 1884: Die Konskriptionsordnung der römischen
Kaiserzeit; Die italische Bodenteilung. — 1885: Römische Geschichte, V. Bd.; Die Örtlich-
keit der Varusschlacht. — 1887: Römisches Staatsrecht III/i. — 1888: Römisches Staats-
recht III/i. — 1889 — 1902: C, I. Z. vol. lU suppl., I— IV. — 1889: Ostgotische Studien;
Das römische Militärwesen seit Diokletian. — 1890: Ausgabe der Fragm. VaHcana und
die Mosaic, ei Romanarum legum collatio; Der Religionsfrevel nach römischem Recht. —
1891: Chronica minor a II x. — 1892: Commentarius ludorum saecularium quintorum et
sepiintomm; Chronica minor a Ijt; Zum römischen Bodenrecht; Judicium legiHmum. —
1893: Chronica minora IIA; C /. Z. I (Neubearbeitung); Abriß des römischen Staatsrechts;
Die Bewirtschaftung der Kirchengüter unter Papst Gregor I. — 1894: Ausgabe von Cassio-
dors Variae\ Chronica minora II/j u. III/i. — 18^5: Chronica minora III/i; Ausgabe
des Solinus (Neubearbeitung). — 1896: Chronica minora III/3. — 1898: Chronica mi'
nora III/4; Ausgaben der Gesta poniificum Romanorum und des Eugipius. — 1899:
Römisches Strafrecht. — 1902: C, /. Z. III suppl. — 1903: Ausgabe des Ruünus. —
1904: Ausgabe des Cod^x Theodosianus. — Hierbei sind weder berücksichtigt die meisten
größeren epigraphischen Arbeiten, die der Erläuterung einzelner Inschriften und Inschriften-
gruppen dienen, noch auch die meisten der Aufsätze im Hermes, in der Zeitschrift der
Savigny-Stiftung usw., die nicht geradezu von prinzipieller Bedeutung sind. —
VI. M. als Politiker. Daß M. trotz des Übermaßes an wissenschaft-
licher Beschäftigung, das er sich aufgebürdet hatte, in Berlin über kurz oder
lang wieder in den Strudel der Politik hineingezogen wurde, war selbstver-
ständlich. Es war gerade der Beginn der neuen Ära, und noch von Breslau
aus hatte er an der Gründung der Preußischen Jahrbücher teilgenommen, welche
bald zur hervorragendsten Zeitschrift des preußischen Liberalismus wurden;
schon in ihrem zweiten Hefte erschien ein Artikel aus M.s Feder, dessen Kon-
fiskation von Reimer befürchtet wurde. Seit dem Jahre 1859 wich der bleierne
Druck, der durch ein Dezennium auf Deutschland gelastet hatte, und namentlich
in Norddeutschland begannen die liberalen Geister sich wieder zu regen und
zu organisieren. Im März 1860 hielt M. beim Festmahl des Ausschusses des
Deutschen Nationalvereins eine Tischrede auf die liberalen aus der Majorität
der Volksvertretung hervorgegangenen Minister der neuen Ära, wenn er auch
ihr Sündenregister nicht verschwieg und namentlich betonte, daß man erwartet
habe, es würden den Übergriffen des Pfaffen- und Junkertums stärkere
Schranken entgegengesetzt werden. 5») Im Jahre 1861 unterschrieb er den
Aufruf des Zentralwahlkomitees der deutschen Fortschrittspartei. 5») Es
folgte Bismarcks Konflikt mit dem liberalen preußischen Abgeordneten-
hause. M.s Vergangenheit, seine Verbindungen mit den Führern des Libera-
lismus, seine wissenschaftliche Stellung ließen auch ihm keine Wahl, um
so mehr, als die Schleswig -holsteinsche Angelegenheit in den Mittelpunkt
der Politik rückte. Die Stadt Halle und der Saalkreis wählten ihn, wie er
selbst sagt, ohne detaillierte Kenntnis seiner politischen Ansichten, in das
Abgeordnetenhaus, wo er sich selbstverständlich der von Twesten geführten
liberalen Partei anschloß. Er betrachtete es als sein Mandat, »Herrn von
Bismarck und den Seinigen gegenüber die Verfassung zu verteidigen« (R. u.
Ä. 373) und hat in den Jahren 1865 und 1866 in die Verhandlungen ein-
gegriffen, einmal um als Universitätslehrer für die Besserung der Stellung
der Elementarlehrer wie für die bessere Dotierung und Ausgestaltung der
494
Mommsen.
Universität und ihrer Institute, sowie der Akademie einzutreten, indem er warnend
ausrief: »Hüten sie sich, m. H., daß aus diesem Staat, der ehemals der Militär-
staat und der Staat der Intelligenz zugleich war, die Intelligenz verschwinde
und nichts bleibe als der reine Militärstaati« — das andere Mal, um als
Jurist gegenüber dJm »Interpretations-Ministerium«, welches die Verfassung
nicht auf einmal abschaffe, sondern sukzessive durch Interpretation, seine
Meinung in betreff der durch Hilfsrichter herbeigeführten Verurteilung Twestens
und Frentzels wegen Reden im Parlamente darzulegen. 53) In die schleswig-
holsteinsche Frage griff er nach dem dänischen Kriege mit einem Send-
schreiben über die Annexion Schleswig-Holsteins (vom 5. April 1865) an seine
Wähler ein, in welchem er auseinandersetzte, daß vom Standpunkte Deutsch-
lands als Minimum eine Militär-, Marine- und Zollkonvention mit Preußen
gefordert werden müsse. Zugleich aber wendete er sich mit Ent-
schiedenheit gegen den schädlichen Partikularismus und gab seinen Lands-
leuten zu bedenken, ob es nicht in ihrem eigenen Interesse sei, die ganze
Annexion der halben Annexion vorzuziehen. Er gab zu, daß er sich selbst
an dem Abgeordnetentage in Frankfurt und an den Beschlüssen des Abge-
ordnetenhauses zugunsten der Thronfolge des Augustenburgers im Jahre 1863
beteiligt habe, fand aber, daß sich die Lage durch den Krieg und die
nationale Stellung, in die Preußen gedrängt wurde, vollständig geändert habe.
»Es gehört allerdings einige Naivität dazu«, so sagt er, »unter den Umständen,
wie sie jetzt nun einmal sind, einem Deutschen anzusinnen, Preuße zu werden,
der es nicht werden muß«, und erkennt die mancherlei Nachteile an, die den
Herzogtümern aus einem Anschlüsse an Preußen erwachsen würden. Aber
der Rechtsanspruch des Augustenburgers allein könne kein Gegenargument
gegen die Macht der Verhältnisse und für die Aufrichtung eines neuen Klein-
staates sein. »Ich bin nie Legitimist gewesen und habe aus der Geschichte
gelernt, daß der Legitimismus nichts ist als das Gespenst in der Politik, ein
wesenloser Schemen, der, angerufen, verschwindet.« Er werde es ertragen,
wenn ihm Inkonsequenz vorgeworfen werde; was er aber nicht zu ertragen
vermöchte, wäre, wenn er sich sagen müßte, um den Schein der Konsequenz
zu retten, an dem einmal gesprochenen Wort wider besseres Wissen und Ge-
wissen festgehalten zu haben. — Die Dinge entwickelten sich freilich viel
rascher, als man erwarten konnte, und das Jahr 1866 brachte noch ganz andere
Dinge, als die Annexion Schleswig-Holsteins, u. a. auch die Beilegung des
Verfassungskonfliktes. M., der von 1867 — 1873 nicht mehr im Landtage saß,
war trotzdem bei den Ereignissen von 1870 keineswegs bloß unbeteiligter
Zuschauer, als der Zustand, den er schon im Jahre 1865 als politisches Pro-
visorium bezeichnet hatte, durch die Organisation abgelöst wurde, die ihm
seit seiner Jugend als das Endziel vorgeschwebt hatte, sondern setzte auch seine
Persönlichkeit ein, als man seiner bedurfte. Mitte Juli des Jahres 1870 wendete
sich die preußische Regierung an ihn mit der Bitte, seine hohe Autorität in
Italien zugunsten Deutschlands in die Wagschale zu werfen. Die Folge waren
zwei Briefe, welche in den Mailänder Blättern »Zö Perseveranza^ und »//
Secolo^ veröffentlicht wurden, in denen M. Italien vor den Liebeswerbungen
Napoleons warnte und ausführte, daß Italiens Platz an der Seite des geeinigten
Deutschlands sei. Er tat es nicht leichten Herzens; denn er wußte wohl,
was dieser Schritt dem von ihm gepflegten wissenschaftlichen internationalen
Mommsen. ^g^
Zusammenarbeiten der Kulturnationen schaden würde. »Aber was kam im
August 1870 auf die Inschriftenarbeit und auf internationale Freundschaft
an? ... Wie der einzelne Soldat seinen Schufi abgibt, ohne zu fragen, ob er
überflüssig sei, so tut in solchen Zeiten ein jeder, was ihm im Dienst des
eigenen Landes zu tun rätlich scheint, ohne nach den weiteren Folgen zu
fragen.« — Als er vom Jahre 1873 — ^^79 ^^s nationalliberaler Abgeordneter
für Cottbus-Spremberg-Calau wieder dem Landtage angehörte, schien es ihm,
wie er sagte, eine Ehre und eine Lebensaufgabe für die besten Männer der
Regierung und des Hauses, »nachdem unsere Nation nach aufien hin glücklich
konsolidiert ist, nun auch die größere, schwierigere, aber auch freudigere Auf-
gabe zu lösen, sie auch im Innern auszubauen und für Kunst und Wissen-
schaft dasjenige zu tun, was von oben her dafür geschehen kann.« (R. u.
A. 215.) Er ergriff das Wort, wenn es sich um Universitätsfragen handelte,
sei es um für die Ausgestaltung des Sprachunterrichtes einzutreten oder um
gegen die Einwirkung konfessioneller Momente auf Besetzungsfragen zu pro-
testieren; sei es um für die bessere Dotierung und größere Zugänglichkeit
der königlichen Bibliothek in Berlin zu plädieren ; sei es um die Reorganisation
der Museen zu befürworten. Er erlebte und förderte den großartigen Auf-
schwung des wissenschaftlichen Betriebes in Berlin und erkannte trotz mancher
Kritik gerne und dankbar an, was nach dem Jahre 1870 in dieser Beziehung
geleistet wurde. — Im Jahre 1881 wurde M. vom ersten Koburger Wahlkreise
in den Reichstag entsendet und schloß sich der sog. Sezession an, die sich
infolge des Umschwunges in der Bismarckschen Wirtschaftspolitik von den
Nationalliberalen unter Führung Bambergers, Rickerts u. a. lossagte und in
die Opposition ging, die ihn sofort in heftige Fehde mit Bismarck verwickelte.
Die oppositionelle Haltung, die er vor 1866 und von nun bis an sein
Lebensende beibehielt, zunächst kurze Zeit im Reichstage, dann auch außer-
halb des Reichstages, war die notwendige Folge seiner historischen, politi-
schen, ethischen Auffassungen, seiner Weltanschauung. Er war am meisten
beeinflußt von dem aus der Aufklärung hervorgegangenen Liberalismus, wie
ihn Wilhelm von Humboldt repräsentierte, der »es unternommen hat, den Staat
nach seiner allgemeinen humanen Seite hin zu begreifen und zu beschränken«
und »den Menschen nicht um der Sache, die Kraft nicht um des Resultats
willen zu vernachlässigen, den Staat so zu gestalten, daß in ihm dem einzelnen
das höchstmögliche Maß der Kraftentwicklung, d. h. der Freiheit und damit
des Glückes, verbleibt« (R. u. A. 120). Von diesem Standpunkte aus mochte
er nichts wissen von den »sogenannten Parteien der materiellen Interessen«
und fand nur einen tatsächlichen und ethischen, nicht aber einen prinzipiellen
Unterschied zwischen Bebel und dem Grafen Kanitz, von denen der eine den
Staat zugunsten der Handarbeiter, der andere zugunsten der Großgrund-
besitzer exploitieren wolle. Und da es M. mit seinem Liberalismus Ernst
war, so wollte er den Nationalliberalen nicht auf ihrem abschüssigen »Weg
der Gewissenbeschwichtigung« folgen (R. u. A. 474). Vom gleichen Stand-
punkte aus vertrat er unbedingte Toleranz und bedauerte, daß ernste Kämpfe
durchzufechten waren gegen Mächte, die von seiner Generation in der Jugend
verachtet wurden (R. u. A. 91), und trat gleich zu Beginn der antisemitischen
Bewegung (1880) in einer Erklärung und in einer namentlich gegen Treitschke
gerichteten Streitschrift gegen dies retardierende Moment der deutschen
496
Mommsen.
Einheitsbestrebungen auf, indem er zugleich den Juden empfahl, möglichst alle
Schranken zu beseitigen, die sie von den übrigen Deutschen trennen konnten
(R. u. A. 410 ff.). Nicht nur in dieser Beziehung schienen ihm »die dehu-
manisierenden Tendenzen« der Zeit unter dem »Proletariat sowohl wie in den
sogenannten besseren Kreisen ein neues Barbarentum großzuziehen« (R. u. A. 64).
Gegen all' dies zu Felde zu ziehen schien ihm Pflicht. Aber trotz alledem
betonte er immer wieder, daß der Generation, welcher es beschieden war,
das große Ziel der nationalen Einheit zu erreichen, das sie vor sich fand,
als sie zu denken begann, der Reichstag und die Reichsfahne um keinen
Preis zu teuer sein könne, möge da kommen, was da wolle (R. u. A. 410).
Allerdings war aber sein nationales Einheitsideal kein rein formales; der
deutsche Staat, wie jeder andere, schien ihm des ethischen Fundamentes zu
bedürfen und des inneren Ausbaues. Gerade durch die Erfolge, so führte er
in seiner Rektoratsrede im Jahre 1874 aus, sei bei allen ernsthaften Männern
das Gefühl dessen, was Deutschland noch fehle, zu einer schmerzhaften Deut-
lichkeit, zu einem peinlichen Druck gesteigert; es ruhe sich schlecht auf
Lorbeem; die Losung der Zukunft aber sei, den gestalteten Staat so auszu-
gestalten, daß deutscher Handel und deutsches Gewerbe, deutsche Kunst und
deutsche Wissenschaft, deutsche Gesellschaft und deutsches Leben der Macht-
stellung der Nation ebenbürtig bleibe oder ebenbürtig werde (R. u. A. 6).
Er war deshalb auch weit entfernt von jeglichem Chauvinismus. Sein Blick
blieb ungeblendet durch die Erfolge der deutschen Politik, und so sehr er
sie mit ganzem Herzen begrüßte, blieb er doch den Auffassungen, die er im
Jahre 1848 gewonnen, treu. Er betonte es gerne, daß gerade der deutsche
Gelehrte den Vorkampf mit Ehren geführt habe und daß »was das vielver-
höhnte unpraktische Professorenparlament gewollt hat, das einige Deutsch-
land mit der preußischen Spitze«, nicht umsonst von ihm angestrebt worden
sei (R. u. A. 8). Er hatte 1848 wie 1865 empfohlen, »den Weg, den der Zoll-
verein und in umfassenderer Weise das Frankfurter Parlament gewiesen, einer
großen für alle gemeinsamen, nach Möglichkeit die Selbständigkeit der einzelnen
Landschaften schonenden, aber wo dies nicht möglich ist, unerbittlich durch-
greifenden Generalmediatisierung« und betont, daß ein deutsches Parlament
das einzige Mittel zur Überwindung des Partikularismus sei; er ging auch
schon im Jahre 1865 so weit zu erklären, daß zur »praktischen Wiederauf-
nahme des großen Gedankens, der in der Paulskirche waltete jedes
Mittel, auch das der Gewalt, gerechtfertigt sein« werde; »denn die Notwendig-
keit und die Nation reden beide im kategorischen Imperativ, und da der
nationale Staat jede Wunde heilen kann, darf er auch jede schlagen« (R. u. A.
375- S^o^)- Im Jahre 1865 wie 1848 erklärte er, »daß die am mindesten unvoll-
kommene Realisierung des zukünftigen deutschen Staats gegenwärtig der
preußische ist« (R. u. A. 378). Das in der preußischen Verwaltung verkörperte
Pflichtgefühl, die Zentralisierung des preußischen Staates hatten M. dies als
historische Notwendigkeit erkennen lassen, nicht minder als die Einigung
Italiens unter Rom; er erkannte auch an, daß die schließliche Einigung Deutsch-
lands im Kriege gegen Österreich und Frankreich nicht minder eine »Tochter
der Not« war, wie die der Italiker gegen die Kelten (R. u. A. 123. 129). Des-
halb war seine Stellung, solange es sich um die Einigung handelte, gegeben: »dem
rechten Mann liegt das Ideal im Ziel und nicht in den Wegen« (R. u. A. 471).
Mommsen. A(\n
Wenn er aber auch dies alles anerkannte und sogar betont, daß des
preußischen Staates »Eigenart von jeher in scharfer Ausprägung des monarchi-
schen Grundgedankens bestanden hat« (R. u. A. 104), so war er doch weit
entfernt davon, seine liberalen Kulturideale opfern zu wollen, um so weniger,
als es seiner Grundanschauung entsprach, in der Entwicklung dieser Kultur-
ideale das ethische Fundament des Staates zu erblicken. Er sah aber aus
der Bismarckschen Saat den Interessenkrieg hervorwachsen und sah in dem
^bellum ommum contra onmes<f^^ wie er es nannte, eine Schädigung der Nation
(R. u. A. 475). Er sah die Intelligenz und den Liberalismus in seinem Sinne
als politischen Faktor vollständig zurückgedrängt, zum Teile, wie er zugibt,
allerdings aus eigener Schuld. Was er als die von Gaius Gracchus her-
rührende »Taktik der Demagogen und Tyrannen« bezeichnet hatte: »auf die
materiellen Interessen sich stützend die regierende Aristokratie zu sprengen«
(R.G. II, 117), konnte M. wenn es sich um die Zerreibung des liberalen
Bürgertums handelte, in welchem er den Führer der Nation erblickte, nicht
gerechtfertigt erscheinen. Von demselben Standpunkte aus, von dem er den
aus dem Interessenkriege geborenen Cäsarismus in Rom als historische Not-
wendigkeit erkannte, aber gegenüber jedem auf Selbstbestimmung beruhenden
staatlichen Organismus ethisch verurteilte, vei urteilte er die unter der Ägide
Bismarcks, des »größten aller Opportunisten« (R. u. A. 472), sich vollziehende
Machtsteigerung der Staatsmaschine, welche die Selbstbestimmung einschränkte,
und kämpfte gegen sie an, weil er sie nicht als historische Notwendigkeit
ansah. Es schien ihm geradezu ein G^bot des gesunden Menschenverstandes,
ebenso wie ein Gebot der Ethik, sich gegen die Abkehr vom Freihandel und
gegen die staatssozialistischen Versicherungsgesetze zu wenden.
Es schien ihm aber auch geboten, daß alle ehrlich liberalen Elemente
gemeinsam gegen die drohende Gefahr sich verbänden, und in einer Auf-
sehen erregenden Rede trat er am 24. September 1881 in einer Charlotten-
burger Wählerversammlung für die Wahl des Kandidaten der Fortschrittspartei
in den Reichstag ein. Er trat auf das schärfste gegen »die Wirtschaftspolitik
der neuen Propheten« auf; er verurteilte sie als »gemeinste Interessenpolitik,
eine Interessenpolitik, die dadurch um so nichtswürdiger ist, weil die Inter-
essen miteinander eine Koalition schließen, um diejenigen auszubeuten, die
sich ihr nicht anschließen wollen« und fuhr fort: »Es ist ferner nicht bloß
eine Politik der gemeinsten Interessen, sondern auch — warum soll ich es
nicht sagen? — eine Politik des Schwindels.« Er erläuterte an dem Beispiele
der Konservativen, die »nichts sind als Kornspekulanten und Branntwein-
brenner«, den Interessenkrieg und warnte ebenso vor .dem Ruin der Staats-
finanzen durch die Versicherungsgesetzgebung wie vor dem »System Richelieu«,
bei welchem »es im ganzen Staate nur einen Diener gibt, der selbständig
wirken darf« und außer ihm nur willenlose Gesellen.
In einem Schreiben an die Wähler des neunten schleswig-holsteinschen
Wahlkreises erklärte er sich zur Annahme eines Reichstagsmandates bereit
trotz des schweren Opfers, das er sich dadurch in seiner »letzten wissenschaft-
lichen Erntezeit« auferlege, weil er es als Pflicht betrachte, sich zu stellen,
da einmal der Ruf: »Zurück auf die Schanzen!« erklungen war. Er erklärte
sich keineswegs als prinzipiellen Gegner der Verstaatlichung; könne man doch
gerade »an der Geschichte des Postwesens den Fortschritt der neuen Zeit
BiogT. Jahrbuch u. Deutlicher Nekroloj^. 9. Bd. 32
498
Mommsen.
gegen die Kulturperiode des sogenannten Altertums ermessen; die Kon-
zentrierung des großen Eisenbahnverkehrs in der Hand des Staats ist eine
Notwendigkeit geworden, welcher sich auch derjenige nicht verschließt, der die
damit verbundenen Übelstände wohl erkennt. Aber die gesunde Verstaatlichung
beruht entweder darauf, daß die also konzentrierte Tätigkeit billiger und
solider geleistet wird, als die individuell aufgelöste, oder darauf, daß, wo die
Monopolisierung eines Geschäfts durch das Großkapital droht, es besser ist,
oder vielmehr weniger schlimm, von dem Staat abzuhängen, als von einer
in sich geschlossenen Kapitalistengesellschaft.« Aber bei den neuen Projekten
handle es sich Bismarck nicht um volkswirtschaftliche Erwägungen, sondern
nur um Machtfragen. Und »alle diese Pläne, welche aus der rechten Tasche
des Volkes etwas in die linke stecken, haben, von anderen abgesehen, die
Eigentümlichkeit, daß etwas unterwegs anderswohin gerät.« Es handle sich
Bismarck in Wirklichkeit darum die liberale Partei zu brechen; die selb-
ständige Gemeinde zu vernichten, sowie die freie Assoziation und das selb-
ständige Beamtentum. Von dem Lassalleschen Programme Unterscheide sich
das System dadurch, daß »die Staatsomnipotenz in der Form des Minister-
absolutismus sehr wohl durchführbar ist und oft in der Geschichte dagewesen,
zuweilen als vorübergehender Eingriff eines allzu mächtigen Geistes, aber
auch dauernd als die letzte Phase einer untergehenden Nation. Der Parallelen
enthalte ich mich; sie könnten nicht schmeichelhaft sein.« Es gehöre zum
Verhängnis der deutschen Nation, daß sie ihre Lebensbedingungen »gegen einen
Mann, den sie mit Recht ihren Retter, in gewissem Sinne ihren Schöpfer nennt«
verteidigen müsse. 54) — M. wurde zwar nicht in seiner Heimat, aber in Coburg
in den Reichstag gewählt. Schon vor seiner Wahl war namentlich die offi-
ziöse »Norddeutsche Allgem. Zeitung« über ihn hergefallen, die u. a.
behauptete, daß »bei M. das Feuer wiederum im Dache sitzt« und daß er
»so wenig von seinem eigenen Zustande Kenntnis« habe, »daß er in einem
schleswig-holsteinischen Wahlkreise die Leute glauben machen will, daß er
noch genügend Fähigkeiten besitze, um sie im Reichstage zu vertreten.«
Der Minister von Puttkamer aber behauptete im Reichstage unter heftigen
Angriffen auf M. am 15. Dezember, die Rede erinnere mehr an Kleon, als
an Perikles. M. replizierte, indem er sich gegen Puttkamers Ausfälle ver-
wahrte, aber zugleich konstatierte, daß nach dem Zusammenhange seiner Rede
vom September unter den »neuen Propheten« unmöglich die Minister gemeint
sein konnten. Am 24. Januar 1882 aber polemisierte Bismarck selbst im
Reichstage gegen jene Rede M.s mit den Worten: »Diese konstitutionelle
Hausmaierei, die der Abg. M. mit einer für einen so angesehenen Geschichts-
schreiber ungewöhnlichen Feindschaft gegen die Wahrheit mir vorwirft —
ich kann nur annehmen, daß die Vertiefung in die Zeiten, die 2000 Jahre
hinter uns liegen, diesem ausgezeichneten Gelehrten den Blick für die sonnen*
beschienene Gegenwart vollständig getrübt hat — sonst hätte er unmöglich
in Reden, die er gehalten hat, mir Schuld geben können, daß die »Reakti-
vierung des absoluten Regiments« erstrebt werde.« Am folgenden Tage er-
klärte M., daß er den Ausdruck »konstitutionelle Hausmaierei« niemals
gebraucht habe, ihn auch mit der geschuldeten Ehrerbietung gegen den
Herrscher nicht für vereinbarlich halte. Er lasse keinen Zweifel gegen seine
Königstreue aufkommen, wenn er es auch nicht liebe, sie im Munde zu führen,
Mommsen.
499
weil er nicht mit einer Gesellschaft zusammengestellt werden wolle, welche
diesen Namen nur zu häufig gebrauche. Übrigens war M. am 14. Juni
genötigt, Herrn von Kardorff gegenüber dieselbe Tatsache nochmals festzu-
stellen. — Nichtsdestoweniger ließ Bismarck im Februar gegen M. — wie
übrigens damals auch gegen andere freisinnige Abgeordnete — die Ehren-
beleidigungsklage erheben, und am 15. Juni spielte sich vor dem Berliner
Landgericht II die Aufsehen erregende Verhandlung ab, in welcher der Staats-
anwalt eine Geldstrafe von 600 M. beantragte, weil M. die neue Wirtschafts-
politik eine Politik des Schwindels genannt hatte, ob diese nun von einem
hohen oder geringen Manne in die Hand genommen werde. M. verteidigte sich
konform seinen Äußerungen im Reichstage dahin, daß es ihm nicht eingefallen sei,
den Reichskanzler als Person beleidigen zu wollen, während sein Verteidiger
darauf hinwies, daß der Kathedersozialismus gemeint gewesen sei und daß
der Kampf der politischen Meinungen vor das Forum des Reichtages und
nicht des Gerichtes gehört. Das Gericht schenkte dem Angeklagten natürlich
vollen Glauben und sprach ihn nach kurzer Beratung frei. M. ist aber
Bismarcks Vorgehen zeitlebens als nicht gentleman-like erschienen. —
Wenige Tage nach dem Prozesse sprach M. auf dem sächsischen liberalen
Parteitage in Dresden und erhob gegen Bismarck den Vorwurf, er segle
nicht mehr mit den vollen Segeln der Geschichte; Einheit und Freiheit
seien untrennbar, neben den Dynastien drücke der Reichstag praktisch die
deutsche Einheit aus. 55)
Noch im Jahre 1884, als es sich um die Verlängerung des Sozialisten-
gesetzes handelte, trat er als Reichstagsabgeordneter mit einer Zuschrift an
ein Koburger Blatt hervor: Ȇber die Schwere der Gefahr, welche unserer
ganzen Zivilisation in der sozialistischen Bewegung droht«, so schrieb er,
»täuscht sich niemand, dem das Vaterland wirklich das Höchste und Letzte
ist; mit allen anderen Parteien kann man sich vertragen und unter Um-
ständen paktieren, mit dieser nicht.« Nichtsdestoweniger sah er jetzt in dem
Gesetz »ein Erzeugnis eines sehr gerechtfertigten, aber wenig überlegten
Volkszorns«, da es den Zweck, den es erreichen^ wolle, geradezu schädige,
wie sich schon aus den Reichstagswahlen ergeben habe. Ganz abgesehen
von den allgemeinen Bedenken gegen Ausnahmegesetze, fördere nichts die
Sozialisten besser, als das Niederhalten der sachlichen Diskussion. Er sei
daher für einen Übergangszustand, der zur Aufhebung des Gesetzes führen
solle, während der Reichstag die Verantwortung für eine sofortige Aufhebung
der Regierung gegenüber nicht tragen könne. Von der Regierung vor die
Wahl der Verlängerung oder der völligen Aufhebung gestellt, würde er aber
trotz allem für die Verlängerung als das kleinere Übel stimmen.S^)
In der folgenden Legislaturperiode war^M. nicht mehr Mitglied des
Reichstages, aber auch nach seinem Austritte aus dem Vertretungskörper
blieb M. Politiker. Er selbst hat, als ihm der Wahlverein der Liberalen zu
seinem 80. Geburtstage gratulierte, geantwortet: »Zum Volksvertreter hat mich
Gott nicht geschaffen und nur die Not gemacht, aber ein guter Bürger denke
ich gewesen zu sein und zu bleiben. «57) Die Einzelheiten der Politik waren
nicht seine Sache. Und er hat politisch in den letzten zwei Dezennien seines
Lebens am intensivsten und auf die weitesten Kreise gewirkt, gerade weil
er nicht in Detailfragen, sondern sozusagen nur in deutschen und gesamt-
32*
JOO Mommsen.
europäischen Lebensfragen das Wort ergriff und sein von der Höhe seines
wissenschaftlichen und ethischen Standpunktes aus gesprochenes Wort all-
überall vernommen wurde. Namentlich suchte sein historisch geschultes
politisches Denken den Zusammenhang der deutschen Entwicklung mit der
Weltpolitik zu erfassen. Allerdings war er sich bewufit, »daß die Humanität
innerhalb der Politik nur ein einzelner und nur ein sekundärer Faktor« ist.S^)
Aber als ein Sohn der Aufklärung und ein Kämpfer von 1848, konnte er
niemals vergessen, daß er nicht nur ein Deutscher war, sondern auch im
weiteren Sinne ein Bürger jener Gesamtzivilisation, die sich aus dem römischen
Reiche herausentwickelt hatte, deren Äußerungen er wie wenige andere zu
verfolgen imstande war. Wenn er also auch der Friedenskongresse spottete,
welche nur die Zahl der schönen Worte vermehrten, so warnte er doch vor
jedem Gedanken ein Weltreich zu gründen. Der Gedanke schien ihm nicht
germanisch, und er warnte vor dem ewigen Frieden, den das Römertum
durch sein Weltreich der älteren Kulturwelt gebracht hat dadurch, daß es
aus dem Rechte des Stärkeren die letzten Konsequenzen zog; »denn wenn
also eine Nation bereichert wird, so vergeht eben die göttliche Welt mit
ihrer glänzenden Mannigfaltigkeit und wohl tritt ein Frieden ein, aber der
Frieden des Grabes«, Allerdings erschien ihm unter dem Eindrucke des
bewaffneten Friedens die Hoffnung seiner Jugend, »daß ein friedliches und
freundliches Nebeneinanderstehen der großen Nationen unserer Kulturwelt
sich ausbilden und befestigen werde«, nahezu eitel; allein er betrachtete es
vor allem als Aufgabe der deutschen Nation, die letzte Konsequenz, welche
zum Erstarren der Kulturwelt führen würde, solange wie möglich hinaus-
schieben zu helfen, und zu diesem Zwecke schien ihm kein Opfer zu groß
(R. u. A. 142, 194 f.). M. berichtet vom jüngeren Scipio: »Bis auf seine Zeit
hatten die Zensoren bei der Niederlegung ihres Amtes die Götter angerufen,
dem Staat größere Macht und Herrlichkeit zu verleihen; der Zensor Scipio
betete, daß sie geneigen möchten den Staat zu erhalten. Sein ganzes Glaubens-
bekenntnis liegt in dem schmerzlichen Ausruf« (R. G. II, 84). In diesem
Zusammenhang versteht mjin die Worte, mit denen M. seine akademische
Rede vom 22. März 1875 schloß: »Möge die Kraft der Nation und ihrer
Herrscher das, was sie geschaffen hat, auch erhalten!« (R. u. A. 56.) Auch
die Kolonialpläne, die ihm mitunter mehr auf unverständige Eroberungslust,
als auf zivilisatorische Aufgaben zurückzugehen schienen, wies er von der
Hand, und in bezug auf Österreich blieb er dem kleindeutschen Programme,
dem er seit 1848 anhing, treu. Er schrieb noch im Herbste 1902; »Wir
sehen wohl ein, was wir durch die große chirurgische Operation von König-
grätz verloren haben; aber wir halten sie doch für heilsam und in ihren
Folgen dauernd. Eine organische Verbindung mit Österreich
wollen wir vor allem in unserem Interesse nicht; wohl die engstmögliche
geistige Gemeinschaft und eine Allianz wie der Dreibund in seinen grünen
Tagen war, aber nicht mehr .... Kann Deutsch-Österreich fortbestehen, so
kann es das nur durch sich selbst als ein zweiter deutscher Staat. Daran
haben allerdings auch wir ein sehr lebhaftes Interesse.« Aber obwohl er
betonte, daß sich gerade die Reichsdeutschen die Frage vorlegen müßten,
ob ihr Eintreten für deutsch-österreichische Interessen nicht mehr schadet als
nützt, so scheute er sich doch nicht mit aller Kraft seines Temperamentes,
Mommsen.
501
seiner Leidenschaft für die Konnationalen in Österreich einzutreten, als sie
im Jahre 1897 ihren Verz weif lungs kämpf gegen Badeni führten. 59)
Wie mit den Deutschen in Österreich das nationale Band, so verbanden
ihn mit Italien wissenschaftliche und persönliche Sympathien und all jene
köstlichen Erinnerungen seiner italienischen Fahrten; auch schien ihm nach
der Begründung des deutschen Reiches der Staat Italien »wie kein anderer
in Europa« mit Deutschland enge verbunden zu sein (R. u. A. 55); aber so
sehr er auch selbst in Italien gefeiert wurde, verkannte er nicht, daß alle
Italiener vor allem die enge Verwandtschaft mit den Franzosen empfanden
(R.u. A. 466) und erblickte in dem unstaatlichen Konglomerat, das lateinische
Rasse genannt wird, »ein namhaftes Element der politischen Konfusion« (R.
u. A. 318) — dies um so mehr, als er, der »in fünfzigjähriger Arbeit den
Segen und die Freuden« internationalen Zusammenarbeitens auf wissenschaft-
lichem Gebiete erfahren hatte, »die schwere Schädigung, welche der deutsch-
französische Krieg den wissenschaftlichen Arbeiten zugefügt hat«, »das
schwere Unglück des dauernden nationalen Konflikts« mit Frankreich schwer
empfand und sich über die allmähliche Besserung der Beziehungen wissen-
schaftlich und menschlich freute (R. u. A. 430 f.). Nicht minder wertvoll
erschien ihm ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Deutschland und
England, das ihm in seiner Jugend als Asyl des Fortschrittes, als das Land
der politischen und geistigen Freiheit erschienen war, und obwohl er in der
»Rechtsfrage zwischen England und der Transvaal-Republik« Englands Vor-
gehen verurteilte und die Dinge beim rechten Namen nannte, betonte er doch,
daß bei der Annexion der Burenrepubliken kein deutsches Interesse im Spiel
sei und tat, was an ihm lag, um durch Aufklärung der öffentlichen Meinung
der Verbitterung zwischen den beiden großen Kulturvölkern entgegenzu-
wirken.^)
Am energischsten trat er aber auf, wenn es ihm schien, daß die deutsche
Kultur selbst in Gefahr sei. Deshalb trat er gegen das Zedlitzsche Schul-
gesetz und gegen die Lex Heinze in die Schranken und nahm an der Gründung
des Goethebundes teil. Der Fall Spahn aber, als ein Hochschullehrer wegen
seines Glaubensbekenntnisses, also aus konfessionellen Rücksichten eine Pro-
fessur erhielt, veranlaßte ihn im November 1901 zu jenem flammenden Protest,
der in und außerhalb Deutschlands gehört wurde und überall Widerhall er-
weckte. »Es geht durch die deutschen Universitätskreise das Gefühl der
Degradierung. Unser Lebensnerv ist die voraussetzungslose Forschung, die-
jenige Forschung, die nicht das findet, was sie nach Zweckerwägungen und
Rücksichtnahmen finden soll und finden möchte, was andern außerhalb der
Wissenschaft liegenden praktischen Zielen dient, sondern was logisch und
historisch dem gewissenhaften Forscher als das Richtige erscheint, in ein
Wort zusammengefaßt: die Wahrhaftigkeit.« »Auf ihr ruht die deutsche
Wissenschaft, die das ihrige beigetragen hat zu der Größe und der Macht
des deutschen Volkes« (R. u. A. 432 ff.) — und deshalb wußte M., daß er
im Gesamtinteresse des deutschen Volkes sprach, und erwartete und fand
wenigstens zum Teile den begeisterten Widerhall, den seine geistige Tat
verdiente. Die Schwachmütigen allerdings erschraken vor den Worten des
Greises, die gerade da trafen, wo man devote Rücksichtnahme gewöhnt war,
und die Böswilligen versuchten vergebens sie so mißzuverstehen, als hätte
502
Mommsen.
er für die eine Konfession gegen die andere Partei ergriffen und Intoleranz
gepredigt, obwohl er nur die Lehrfreiheit und die Ehrlichkeit der Forschung
verteidigte. — Noch weiter aber rückten die Ängstlichen von ihm ab und
noch begeistertere Zustimmung fand er, als er nach der rechtswidrigen An-
nahme des Kardorffschen Antrages im Reichstage, durch welche die schutz-
zöllnerischen Handelsverträge ermöglicht wurden, in welchem er einen Staats-
streich und den Beginn eines Umsturzes der Reichsverfassung erblickte, seine
Stimme erhob (Dezember 1902). Er bot seinem Freunde und politischen
Berater Th. Barth einen Artikel für dessen Zeitschrift an, »der die schlimmen
Eigenschaften der Sozialdemokratie, daneben aber ihre Tüchtigkeit, ihre
Opferwilligkeit, ihre Disziplin den Ostelbiern und den Kaplänen gegenüber
auseinandersetzt«; er war der Ansicht, daß »alles um alles« gehe und daß
es in solchen Momenten »eines jeden Schuldigkeit ist für die Sache einzu-
treten «.6') Er führte in diesem seinem politischen Schwanengesange aus, daß
nur ein Zusammenschluß aller nicht in die reaktionäre Verschwörung ver-
wickelter Parteien, also mit Ausschluß der Scheinliberalen und mit Einschluß
der Sozialdemokraten, noch Rettung bringen könne; daß es ein perfider
Köhlerglaube sei, die Nation in Ordnungs- und in Umsturzparteien zu gliedern,
da doch in letzter Linie jede Partei auf den Umsturz des Bestehenden hin-
arbeite; daß sich alles politische Zusammengehen nicht auf die letzten Ziele,
sondern auf die nächsten beziehe; und daß gegen den Absolutismus eines
Interessenbundes des Junkertums und der Kaplanokratie ein Zusammengehen
zwischen dem ehrlichen Freisinn und den durch die Habsucht der Interessen-
cliquen gedrückten und zum teil erdrückten Arbeitermassen in die Tat um-
gesetzt werden müsse. Er war freilich nicht Sozialdemokrat geworden und
warf gerade der Sozialdemokratie ihre Intransigenz vor.^*) Aber er sah doch
nur in diesem Zusammengehen »was uns noch retten kann«. Er ist jetzt
wie einst nicht vor dem Radikalismus der Tat zurückgeschreckt, wenn sie
ihm geboten schien, wenn die ihm teuersten Interessen bedroht waren; aber
das Programm, das er im Jahre 1848 ausgegeben: »Keine Reaktion, keine
Isolierung, keine Anarchie« hat er durch diese letzte Kundgebung ebenso
verteidigt, wie seine Verurteilung der Interessenpolitik aufrechterhalten und
seinen Satz verfochten, daß die Geschichte keinen Hochverratsparagraphen
kennt. Was aber bewundernswert an seiner Entwicklung war, ist, daß er
noch in diesem spätesten Alter den realen Tatsachen fest ins Auge geblickt
und sich ihnen angepaßt hat, daß er, der sich einst für das Sozialistengesetz
ausgesprochen hatte, bei voller Wahrung seiner Prinzipien sein ursprüngliches
ethisches Urteil über die »staatszerstörende« Sozialdemokratie revidiert hatte.
Wie in der Wissenschaft, so gilt in der Politik von ihm, daß er seine Gesamt-
anschauung festhielt und seine Ziele nicht aus dem Auge verlor, aber sich
den Tatsachen nicht verschloß und mit der Kraft des Gedankens und der
Tat rücksichtslos auf den Wegen wanderte, die er für die richtigen hielt,
unbekümmert um alles andere, als um die Wahrheit. —
VII. M.s Leben und Persönlichkeit. Berlin war der natürliche End-
punkt von M.s Wanderjahren. Nichtsdestoweniger war auch hier — sogar
abgesehen von den politischen Verhältnissen — gar mancherlei, was nicht
nach seinem Wunsche war und ihn mitunter tief herabstimmte. Je mehr er
sich auf ein Zusammenleben mit seinem Schwiegervater und Freunde und
Mommsen.
503
Berater in allen praktischen Dingen des Lebens, Karl Reimer, gefreut hatte,
um so schwerer traf ihn der Tod dieses vortrefflichen Mannes wenige Monate
nach seiner Übersiedelung. Trotz allen wissenschaftlichen Lebens fühlte er
sich in den ersten Jahren unbehaglich, und er selbst schrieb die Schuld teil-
weise seiner für Berliner Verhältnisse allzu knappen materiellen Stellung, teils
dem Umstände zu, daß er genötigt war infolge seiner Verpflichtungen gegen
das Corpus InscripHonum in seinen besten Jahren gerade die Arbeiten zurück-
zustellen, die ihm wissenschaftlich am meisten am Herzen lagen, namentlich
wohl das römische Staatsrecht. Im Jahre 1861 dachte er daran, einem Rufe
an die Bonner, 1868 an die Göttinger Universität Folge zu leisten; beide
Male wußte man ihn in Berlin zurückzuhalten, das erstemal dadurch, daß
er, da er auf eine intensive Lehrtätigkeit ungerne verzichtete, in Überein-
stimmung mit den Wünschen der Berliner philosophischen Fakultät, zum
Professor an dieser ernannt wurde, das zweitemal nach einem Gutachten
von Haupt, der namens der Akademie erklärte, daß diese einen Ersatz für
M. nicht finden könnte und daß durch M.s Abgang die Tätigkeit und das
Ansehen der Akademie geschädigt würden. Aber noch einmal, im Jahre 1874,
war M. entschlossen, Berlin zu verlassen und nach Leipzig zurückzukehren,
mit dem ihn so liebe Erinnerungen verbanden; da starb Haupt, und die
einstimmige Wahl der Akademie, die M. an dessen Stelle zum ständigen
Sekretär der philosophisch-historischen Klasse berief, bewog ihn zu bleiben.63)
In demselben Jahre wurde er Rektor der Universität Berlin, mit der sein
Name auch durch seine Lehrtätigkeit ewig verbunden bleiben wird.
Man hat wohl gesagt, daß M. kein glänzender Redner war. Doch ist
das nur in dem Sinne richtig, daß weder seine äußeren Mittel, seine dünne
und hohe Stimme, noch seine kritische Anlage ihn befähigten in Treitschkes
Art rhetorisch-pathetische Wirkungen zu erzielen und daß er andererseits
an die Denkfähigkeit und auch an die Vorbildung seines Auditoriums nicht
geringe Anforderungen stellte und nicht für das »Heft« diktierte. Deshalb
konnte man wenigstens in den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit beobachten,
daß sich z. B. in dem an Präzision unvergleichlichen Kolleg »Römisches
Staatsrecht für Juristen«, das die Grundlage für den »Abriß des römischen
Staatsrechts« wurde, die Reihen der Zuhörer schon lange vor Semesterschluß
lichteten. Diejenigen aber, welche bis zum Schlüsse folgten, waren fasziniert
von der unübertrefflichen Klarheit der Gedankengänge und der lichtvollen
Darstellung. Wenn man dem Vortragenden folgte, gab es keine dunklen
Ecken und keine toten Punkte. Er war auch im einzelnen sehr genau vor-
bereitet und pflegte bei wichtigen oder strittigen Fragen die entscheidenden
Quellenstellen anzuführen oder auch zu besprechen, ohne doch den Aufbau
des Vortrages durch Häufung des Unwichtigen zu stören. Dabei gestaltete
er aber nicht aus seinem Kollegienhefte heraus, sondern aus dem Vollen
seines Wissens, in unmittelbarer Intuition, sei es, daß er aus den allgemeinen
staatsrechtlichen Begriffen einer Zeit heraus logisch die historisch gegebenen
Einzelinstitutionen entwickelte oder daß er die handelnden Persönlichkeiten
abzeichnete, wie sie ihm vor der Seele standen, nicht anders, als er einen
persönlichen Bekannten geschildert hätte. Das Divinatorische seiner Ge-
staltungsgabe trat bei solchen Gelegenheiten am deutlichsten hervor, und
wie dem Leser der römischen Geschichte die aus vereinzelten zerstreuten
504
Mommsen.
Andeutungen in den Quellen lebenswahr und lebensnotwendig hingestellten
Persönlichkeiten eines Marius oder Sulla, so werden seinen Hörern die Charak-
teristiken des Kaisers Konstantius, des Legitimisten, und des Kaisers Julian,
des Romantikers auf dem Throne der Cäsaren, unvergeßlich bleiben.
Weit größeren Wert als auf die Vorlesungen legte M. allerdings auf die
Übungen; denn »die Elemente der historischen Wissenschaft sind, man möchte
sagen, noch einfacher und noch selbstverständlicher als die der Sprachwissen-
schaft und der Mathematik; und eben darum weder lehrbar noch lehrhaft«;
»die Geistesfähigkeit, auf der sie beruht, . . . kann ohne Zweifel durch den
weiteren Bildungsprozeß wesentlich gesteigert werden, aber eigentlich nicht
durch theoretische Lehre, sondern nur durch praktische Übung«; als not-
wendige Propädeusis aber betrachtete er die Kenntnis der Sprache und die
Kenntnis des Rechts der Epoche, Philologie und Jurisprudenz (R. u. A. loff.).
Diese Kenntnisse wurden von ihm vorausgesetzt, und er konnte sich an Er-
mahnungen an historische und philologische Studenten nicht genug tun, die
Fakultätsgrenzen ja nicht zu beachten, sondern eingehende juristische Studien
zu pflegen, ebenso wie er es besonders gerne sah, wenn Juristen an seinen
Übungen teilnahmen; und es fanden sich in der Tat in dieser Pflanzschule
der Gelehrten der Altertumswissenschaft junge Männer sehr verschiedener
wissenschaftlicher Richtungen zusammen, aus denen sich dann die Hoch-
schullehrer der deutschen Universitäten nicht minder, wie die Mitarbeiter am
Corpus Inscriptionum und den anderen großen wissenschaftlichen Unterneh-
mungen rekrutierten. Schon im Seminare selbst konnten sich die Arbeiten
auf einem verhältnismäßig hohen Niveau halten, und da es bekannt war, daß
M. ziemlich ausgebreitete Vorkenntnisse voraussetzte und für die Prüfung
nichts zu holen war, war der Kreis der Teilnehmer trotz des Weltrufes, den
das M.sche Seminar genoß, im allgemeinen ein kleiner. Dies ermöglichte
die engere Berührung zwischen Lehrer und Schülern und erhöhte den intimen
Reiz dieses Allerheiligsten der Altertumswissenschaft. Schon wenn sich der
Jünger nach Überwindung eines ehrfürchtigen Schauers in dem engen Biblio-
thekszimmer im letzten Stocke des engen Charlottenburger Häuschens meldete,
war rasch eine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler hergestellt, wenn ihn
M. meistens des Morgens, aber schon nach mehreren Arbeitsstunden inmitten
seiner Bücher im grauen Schlafrocke empfing und ihn mit den wunderbaren
durchdringenden Augen, die Lenbach zu malen unternommen hat, musterte,
ihn nicht etwa prüfend, sondern tastend nach seinen wissenschaftlichen Be-
strebungen und Wünschen ausfragte, ermutigend, aber doch gelegentlich un-
verständige Bemerkungen mit einer ironischen oder energischen Wendung
im Gespräche niederschlagend. An dem ersten Seminarabende pflegte dann
M. einige Arbeiten vorzuschlagen, sah es aber gerne, wenn ein Hörer sich
selbst ein Thema wählte, das sich ihm aus seinen bisherigen Studien er-
geben hatte. Ein jeder mußte dann seine Arbeit schriftlich zu einem be-
stimmten Termine einem anderen Teilnehmer des Seminares als Referenten
übergeben, und Arbeit und Referat wurden erst dann M. übermittelt, so daß
immer mindestens zwei Teilnehmer vollständig über das zu besprechende
Thema orientiert waren, während auch die anderen, wenn es anging, sich
vorbereiteten. Die Besprechung der Arbeit führte dann M. am nächsten
Seminarabende selbst durch, oder vielmehr er behandelte nach einer zu
Mommsen,
505
sammenfassenden Kritik den Gegenstand selbständig und erläuterte so an einem
Beispiele, wie die Untersuchung hätte geführt werden sollen, stellte sie in
den weiteren Zusammenhang der römischen Entwicklung und zeigte, bis zu
welchen Grenzen sie mit dem vorhandenen Materiale vordringen könne.
Nicht nur die einzelnen oder gehäuften Fragezeichen und Verweisungen,
die der Schüler in seiner Arbeit fand, und die Kritik, die er klopfenden
Herzens anhörte und die milde und anerkennend war, wenn M. den Ein-
druck hatte, daß einer sein Bestes getan, aber scharf und vernichtend, wenn
er auf wissenschaftliche Unehrlichkeit stieß, sondern vor allem der Aufbau
der Forschung, den M. vor seinen Augen vollzog, die Darlegung, wie ein
wissenschaftliches Resultat gewonnen werden kann, war für den Hörer be-
lehrend und für den, der folgen konnte, geradezu ein ästhetischer Genuß. —
Nachdem M. nahezu ein Vierteljahrhundert gelehrt und intensiv wie
wenige gewirkt hatte, ließ er, um die Hauptlast der Lehrtätigkeit auf jüngere
Schultern abzuwälzen, im Frühjahr 1885 seinen Schüler, Freund und Mit-
arbeiter am Corpus Otto Hirschfeld von Wien nach Berlin berufen, der ihm
seither seine wesentlichste wissenschaftliche Stütze wurde, während er selbst
nur noch durch wenige Semester, zuletzt im Jahre 1887 Vorlesung und Übungen
abhielt, obwohl er sich nach wie vor an den Sitzungen der philosophischen
Fakultät beteiligte. Auch jetzt bis in die letzte Zeit pflegte er des Morgens,
so wie ihn die Statuette von Pracht darstellt, in seinen Pelz gehüllt, die
Tasche unter dem Arme, von seiner Wohnung in Charlottenburg zur Tram-
way zu gehen, im Wagen eifrig zu lesen, während der Schaffner den Fremden
bedeutungsvoll belehrte, daß dieser kleine in sich versunkene Mann der große
Mommsen sei, den jedes Kind in Berlin kannte, und den Vormittag über
auf seinem Stammplatze in der königlichen Bibliothek eifrig zu kollationieren
oder sonst zu arbeiten. Aber er pflegte auch den gesellschaftlichen Umgang
mit den Kollegen weiter. So standen ihm außer Hirschfeld und einigen
anderen engeren Fachgenossen namentlich Scherer und in späterer Zeit
Hamack nahe, und in der ^Graeca« traf er mit seinen näheren Freunden
regelmäßig zusammen. Durch seine politische Stellung war er in Beziehungen
zu L. Bamberger gekommen, aus welchen eine warme Freundschaft erwuchs,
und allwöchentlich einmal kehrte er in Berlin, meist zusammen mit H. von
Sybel, bei seinem alten Freunde Ad. Delbrück ein, dessen Familie er auch
in Heringsdorf wiederholt besuchte. Dabei verschmähte er es nicht, an der
großen Geselligkeit Berlins teilzunehmen, was ihm nur durch sein unglaublich
geringes Schlafbedürfnis ermöglicht wurde, ebenso wie er sich daheim an der
Jugend, die ihn umgab, erfreute. Sein kleines, durch die fürsorgende Haus-
frau wohlgeordnetes Haus war nahezu zu enge für seine elf Kinder,^) denen
er mit zärtlicher Liebe anhing; sein tiefinnerliches Verhältnis zu seiner Gattin
spiegelte sich in der hohen Achtung wieder, die er vor der Frau und ihrem
häuslichen Berufe hegte; bei festlichen Gelegenheiten freute er sich auch die,
welche schon flügge geworden waren, um sich zu versammeln, und zu Sil-
vester fehlte es für keinen aus seiner Umgebung an einer kleinen, mit einem
Scherzworte begleiteten Gabe, bei keiner Hochzeitsfeier seiner näheren Um-
gebung an einem Hochzeits-Karmen, wie er auch aus der Ferne, von der
Reise aus seinen Töchtern manchen neckischen Vers zusendete, der deutlich
zeigte, wie der Vater stets der Seinen gedachte.
co6 Mommsen.
Doch waren ihm die Reisen — nach Italien, aber auch nach Frankreich,
nach Süddeutschland — meist durch das Corpus Inscriptwnum veranlaßt, nicht
nur eine Gelegenheit zur Arbeit, sondern auch eine Veranlassung, Land und
Leute kennen zu lernen und zu genießen. Er war auch da in Arbeit und
Geselligkeit unermüdlich, und manche schnurrige Anekdote weiß von seiner
Fröhlichkeit namentlich in Rom zu erzählen. Noch im letzten Dezennium
seines Lebens, als ihn regelmäßig eine seiner Töchter begleitete, war es nicht
immer die Tochter, die zuletzt ermüdete.
Sein 60., sein 70., sein 80. Geburtstag wurden von der ganzen wissen-
schaftlichen Welt gefeiert, und er wurde mit all den Ehren überhäuft, die
wissenschaftliche Körperschaften verleihen können; von den staatlichen so-
genannten Ehrungen wußte er sich fernzuhalten, soweit es ohne Aufsehen
anging. Aber auch jene waren ihm, soweit sie offiziell und nicht persönlich
waren, eher eine Last. Sie haben ihn wohl nicht einen Tag seines Lebens
mit seinem Willen von der Arbeit abgehalten. Wirkliche Freude empfand
er über die Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1902, weil sie ihn mancher
materieller Erwägungen für die Zukunft überhob; er hat übrigens sogleich
eine nicht unbeträchtliche Summe einem gemeinnützigen Zwecke, der Volks-
bibliothek in Charlottenburg, gewidmet.
Aber wenn er, der das seltene Schicksal hatte seinen Ruhm zu erleben
und ihn trotz seines hohen Alters nicht zu überleben, dem Schaffenskraft
auch Schaffensfreude bedeutete und der feurig, wie in der Jugend, fort-
arbeitete bis ihn der kalte Tod anrührte, doch den Leiden des Alters nicht
entging, so war dies die Folge seiner unerbittlichen Wahrhaftigkeit gegen
sich selbst. Allerdings hat er es in der wunderbar weisen Rede über das
Alter ausgesprochen, daß es »unter natürlichen Bedingungen für den Menschen
wünschenswert ist, den Becher des Daseins bis zum letzten Tropfen leeren
zu dürfen Und uns Forschern vor allem sagt ja die eigene Er-
fahrung, daß die große wissenschaftliche Leistung nicht anders völlig gelingen
kann, als in vieljähriger rastlos fortgesetzter Arbeit. Es ist vielleicht richtig,
daß Männern wie Gauß und wie Böckh die großen Apercus, durch die sie
die Erkenntnis der Welt gefördert haben, sämtlich in ihren Jugendjahren
aufgegangen sind; aber die Saat ist nur die eine Hälfte der wissenschaft-
lichen Tätigkeit, und die Zeit der Ernte nicht minder unentbehrlich, wenn
ein bedeutender Forscher seine Bestimmung erfüllen soll«. Und er führt
aus: »Die gewohnte Tätigkeit versagt auch dem Greise nicht; die in früheren
Jahren gezogenen Umrisse füllen in liebevoller Nacharbeit allmählich sich
aus und das Werk des Lebens wächst auch unter den schwächer werdenden
und ermüdenden Händen dennoch Strich für Strich, bis endlich der Tod es
fertig erklärt« (R. u. A. 52 ff.). Er hat sich selbst genauer gekannt, als die
ihn beobachteten und sich schon frühzeitig nicht über das allgemeine Los
der Menschen, daß sie altern, hinweggetäuscht und seine Aufgaben danach
gewählt. Er hat auch dies mit der ihm eigenen Energie durchgeführt und
so in allem wesentlichen sein Werk vollendet und im spätesten Alter noch
geleistet, was kein Jüngerer ihm gleich tun konnte. Aber eine niederge-
schlagene Stimmung drang immer häufiger durch, wenn ihm das Schicksal
irgend einen Schmerz zufügte. Im Frühjahr 1869 raffte ihm der Tod plötz-
lich einen hoffnungsvollen Knaben weg, an dem er mit zärtlicher Liebe hing.
Mommsen. 507
im Jahre 1880 eine 16jährige Tochter. Am 12. Juli desselben Jahres zer-
störte ein durch Unvorsichtigkeit entstandener Brand einen Teil seiner Biblio-
thek und seine Notizen ^5) und einige entlehnte Manuskripte, die unersetzlich
waren ; und obwohl die Bibliotheksverwaltungen in keiner Weise rekriminierten
und seine Freunde das Verlorene zu ersetzen suchten, vergaß er doch nie
des »unglückseligen« Brandes. Dann kamen die politischen Ärgernisse, die
ihn mit manchem seiner Freunde entzweiten, und der Bismarck-Prozeß. Dann
lichtete der Tod die Reihen seiner Altersgenossen und der Jüngeren; nament-
lich Scherers Tod (1886) traf ihn tief; 1890 starb A. Delbrück; niemand wird
es vergessen, wie er am Sarge Bambergers, nachdem er ihm ergreifende Worte
nachgerufen hatte, in sich zusammensank (1899); wenige Jahre darauf entriß
ihm der Tod seinen Bruder Tycho, mit dem ihn trotz mancher Verschieden-
heit des Charakters gerade die liebevolle Fürsorge des Bedeutenderen und
Anerkannten gegenüber dem weniger Begünstigten verband. Im Jahre 1895
legte er das ständige Sekretariat der Akademie, einige Jahre darauf alle seine
Ehrenämter nieder. Immer häufiger blickten die Augen starr, wie nach Innen
gewendet, immer tiefer legten sich die Falten zwischen Mund und Wangen.
Und vielleicht noch mehr, als die schweren persönlichen Verluste, bedrückte
seinen auf das Ganze gerichteten Sinn die Lage des Staates, dessen von den
Interessenkämpfen durchwühlte Gegenwart ihn nicht befriedigte und dessen
Zukunft er schwarz sehen mußte, weil namentlich in Norddeutschland die
Klasse der Intelligenz, der nach seiner Ansicht die Führerschaft gebührte,
indem sie sich von den liberalen Idealen abkehrte, nicht diejenige Energie
in der Verteidigung höchster Güter entwickelte, die er sein ganzes Leben
betätigt hatte, und die aufstrebende Arbeiterklasse ihm unfähig erschien, die
historische Führung zu übernehmen. Es hat ihn daher besonders tief ver-
stimmt, daß der Sammelruf, den er im Herbste 1901 in seinen Artikeln
über »Universitätsunterricht und Konfession« an die Verteidiger der voraus-
setzungslosen Wahrheitsforschung ergehen ließ, gerade an norddeutschen Uni-
versitäten keine einstimmige Zustimmung und gerade in den Kreisen, auf die
er bauen wollte, sogar teilweise Opposition fand. Seine Stimmung drückte
sich auch ein Jahr später nach der Annahme des Kardorffschen Antrages
und seinem Artikel »Was uns noch retten kann« in den Worten aus, mit
denen er den Applaus beantwortete, als er auf dem freisinnigen Parteitage
erschien: »Klatschen Sie nicht, meine Herren, es ist jetzt keine Zeit zum
Beifallklatschen.« ^)
Bald darauf, kurz nach Neujahr 1903 traf ihn der letzte, härteste Schlag,
als seine liebe Frau aufs Krankenbett geworfen, der Sprache beraubt wurde.
Und als er sich aufraffte, um seinen Schmerz durch neuerliche energische
Arbeit zu übertäuben, merkte er immer deutlicher, daß sein Augenlicht be-
denklich abnahm und daß er vor der Erblindung stand. Davor hat ihn aber
ein gütiger Gott bewahrt. Trotz allem unbezwungen, hat sein Geist und sein
Körper ausgeharrt, bis er, mit den letzten abschließenden Arbeiten seines
letzten großen Werkes, des Codex Theodosianus, beschäftigt, vom Schlag ge-
troffen niedersank und, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, nach
drei Tagen am i. November 1903 seinen letzten Atemzug tat. —
Die wissenschaftlichen und persönlichen Taten eines Mannes wie M. sind
seine beste Charakteristik, und wenn man es versucht, die Lebensäuflerungen
f*
08 Mommscn.
einer so starken und reichen Persönlichkeit unter einem Gesichtspunkte zu-
sammenzufassen, so läuft man Gefahr, sie einseitig aufzufassen, weil die Ab-
straktion, nur ein' mattes Spiegelbild des Lebens, nicht das Leben selbst
wiedergeben kann. Vollends verzerrt aber wird das Bild, wenn man es im
Kranz der Anekdoten betrachtet, den Tradition und Legende schon darum
gewunden haben, der Anekdoten, die bestenfalls eine Augenblicksstimmung
illustrieren wollen. Und auch die »sogenannten charakteristischen Züge, welche
ja doch nichts anderes sind als Abweichungen von der naturgemäßen mensch-
sichen Entwicklung« heben das Bild aus der Umgebung heraus, die es erst
verständlich macht. Man darf nicht vergessen, daß auch M. »im höchsten
Grade durch Zeit und Ort bedingt ward«, daß er als Gelehrter mitten in
der Entwicklung der Wissenschaft, als Mensch mitten in der Entwicklung der
deutschen Kultur steht und ein Stück dieser Entwicklung ist. Die Aufgaben
waren durch den Platz, auf welchen er gestellt war, vorgezeichnet, und die
Frage kann nur sein, was gerade seine Persönlichkeit befähigte, unter den
gegebenen Voraussetzungen einen so großen Teil der Kulturaufgabe zu be-
wältigen.
Allerdings wird die Energie des Mannes in Denken und Handeln, die
schier unermeßliche Arbeitsmasse, die er bewältigt, erst verständlich durch
eine Vorbedingung, durch die stählerne H^rte seines Körpers, der die größten
Strapazen ertrug, ohne zu ermüden oder ermüden zu dürfen, der nur eines
Minimums von Schlaf bedurfte und der immer wieder, wenn er zeitweise im
letzten Dezennium zu erlahmen gedroht hatte, zu konzentriertester Arbeit
angefeuert wurde, bis er endlich auch diesem stählernen Willen den Dienst
für immer versagte.
Aber keinem Beobachter, der das Glück hatte, M. in seiner geistigen
Werkstatt zu belauschen, ja keinem Hörer, der seine Vorlesungen besuchen
konnte, keinem, der mit ihm sprach, wird es entgangen sein, daß er das
weite Gebiet, mit dem er sich beschäftigte, mit souveräner Sicherheit und
Raschheit beherrschte. Es schien kein latentes Wissen zu geben, sondern
jede Tatsache in jedem Momente zur Verfügung zu stehen. Die Tatsachen
schienen sich wie von selbst in ihren logischen und genetischen Zusammen-
hang einzuordnen; deshalb erschien auch keine neue wissenschaftliche Er-
fahrung überraschend; denn sie mußte sich von selbst in die klare Ordnung
dieses Geistes einfügen. In dieser Schnelligkeit und Fülle der Assoziation
äußerte sich das Funktionieren eines außergewöhnlich organisierten Gehirns,
dessen Assoziationsfasern übernormal ausgebildet waren, dessen Nervenbahnen
übernormal schnell funktionierten. Auch M.s außergewöhnliches Gedächtnis,
das ihm gestattete, bei der Ausführung der ausgedehntesten Arbeiten gewisse
sonst übliche Hilfsmittel und Vorarbeiten vollständig zu verschmähen, war
nur eine Folge dieser Anlage.
Aus ihr folgte aber auch vor allem jene Zentraleigenschaft, unter die
man alle übrigen subsumieren kann, M.s absolute intellektuelle und ethische
Wahrhaftigkeit. Denn bei der klaren Anordnung, bei dem Zusammenhange
aller wissenschaftlichen und menschlichen Erfahrungen, die er in sich auf-
genommen, mußte jede Vorstellung, welche mit den anderen nicht überein-
stimmte, störend wirken, und der Denkprozeß konnte erst dann zum Ab-
schluß gebracht werden, wenn alle Vorstellungen neu revidiert, berichtigt
Mommsen.
509
und miteinander in Übereinstimmung gebracht waren. In diesem Sinne ver-
stand er die »im großen wie im kleinen vor keiner Mühe scheuende, keinem
Zweifel ausbiegende, keine Lücke der Überlieferung oder des eigenen Wissens
übertünchende, immer sich selbst und andern Rechenschaft legende Wahr-
heitsforschung« (R. u. A. 459); in diesem Sinne betrachtete er auch als seinen
»Lebensnerv« die Wahrhaftigkeit, als »erste Bedingung für den echten Er-
folg« »den Mut der Wahrhaftigkeit« und jede Abweichung als unverzeihliche
»Sünde wider den Heiligen Geist« (R. u. A. 432 ff.). Forschung und Be-
tätigung des als richtig Erkannten fielen daher auch notwendig für ihn zu-
sammen; er äußerte sich einmal, daß er sich nie, auch nur durch Still-
schweigen, . an dem mitschuldig machen werde, was er aus Überzeugung
mißbillige und daß man eben ein Licht nicht hindern könne zu leuchten.
Ihm war es dank seiner Anlage und seinem Temperamente ernst mit* dem
kategorischen Imperativ und deshalb war ihm eine Trennung zwischen
geistiger Arbeit und praktischer Betätigung, zwischen Wissenschaft und Praxis,
zwischen Geschichte und Politik einfach unverständlich.
Ans diesem Drange nach Wahrhaftigkeit entsprangen aber auch die beiden
Seiten seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, die Kritik und die zusammen-
fassende Rekonstruktion — in gegenseitiger Ergänzung und im charakteristi-
schen Widerstreit. Was er von O. Jahn schrieb, gilt von ihm in gesteigertem
Maße: »Wahrhaftigkeit war der Kern und Grund seines Wesens. Auf die
Forschung bezogen entsprang daraus jener besondere Sinn für das Sicher-
stellen des Positiven und Faktischen, jenes Bestreben, zuerst und vor allem
die Überlieferung rein und klar und vollständig zu ermitteln und darzulegen«
(R. u. A. 458). Er konnte nicht ruhen, bevor dies so vollständig wie möglich
geschehen und jedes Hilfsmittel der Kritik angewendet war, um so weit
möglich die wahren Tatsachen und diese allein aus dem Wüste der wider-
spruchsvollen Überlieferung herauszuschälen. Andererseits konnten ihm diese
übriggebliebenen Bruchstücke nicht genügen, und er verlangte nach dem
Ganzen, nach der ganzen Wahrheit. Die römische Geschichte nicht minder
wie das römische Staatsrecht zeugen von dieser synthetischen, rekonstruieren-
den, produktiven Arbeit, welche ein mögliches oder das einzig mögliche
widerspruchslose Gesamtbild wiederherstellte und die verlorenen Teile nach
den gegebenen Anhaltspunkten oder auch mit schöpferischer Phantasie er-
gänzte, ob es sich nun um einen Text oder um eine Persönlichkeit oder um
eine politische Entwicklung handelte. Er hat niemals die Herstellung der
Bausteine für den Endzweck gehalten, niemals »über die Mittel den Zweck
vergessen«, und mit seinem Sinne für das Wesentliche die Hyperakribie ver-
achtet, die ihre Hauptaufgabe in der Anhäufung gleichgültiger Noten und
Zitate erblickt, aber auch niemals geglaubt, ein Gebäude ohne Bausteine
aufrichten zu können. Aber wenn auch Kritik und Synthese derselben
Wurzel, dem Drange nach einheitlichem, widerspruchslosem Erkennen ent-
sprangen, so war er sich doch des durch die Unvollkommenheit der mensch-
lichen Erkenntnismittel bedingten Widerstreites zwischen beiden bewußt.
Pflicht und Anlage führten ihn zur rücksichtslosen Kritik, und doch sagte er
sich schon als Jüngling, daß sie häufig zur »Erkältung des Herzens« führe.
Pflicht und Temperament führten ihn zur gewaltigen kühnen Synthese.
Während die Kritik die Freude an der eigenen Arbeit rauben konnte, führte
510
Momrosen.
die Begeisterung trotz der Möglichkeit des Irrtums zur Originalität, Lebendig-
keit, zur Schaffensfreude. In M.s Leben überwog bald jene, bald diese.
Diese machte ihn in seinen besten Jahren zum gewaltigsten Geschichtsschreiber,
jene zum einschneidendsten Forscher. Aber wenn Zeiten der Depression
periodisch seit seiner Jugendzeit und häufiger mit zunehmendem Alter wieder*
kehrten, so waren es die Zeiten, da die Kritik überwog und seine Produktion
hemmte, als er, mitunter infolge von Überarbeitung oder Nachlassen der
körperlichen und geistigen Spannkraft, nicht imstande war, zu schaffen.
Aus demselben Drängen nach vollständiger Erkenntnis erklärt sich auch
die merkwürdige Erscheinung, daß die Umrisse des gewaltigen wissenschaft-
lichen Lebenswerkes, welches erst der Greis abschloß, schon dem Jüngling
feststanden, jene geniale Intuition, mit welcher er in seinen ersten Schriften
Resultate vorwegnahm, die er eigentlich erst in seinen letzten erwiesen hat,
jene Kühnheit, mit welcher in der »Römischen Geschichte« z. B. Resultate
des »Staatsrechtes« vorweggenommen sind. Was er in einem Jugendaufsatze
ausgesprochen hat, daß der Darsteller vor der Ordnung des Materiales über
die Ansicht seines Gegenstandes mit sich aufs reine gekommen sein müsse,
und sich nicht etwa erst während des Schreibens seine Ansicht bilden dürfe, gilt
auch für seine gesamte Lebensarbeit, deren Plan schon vorlag, als er auf die
Wanderschaft ging, so daß er dann die Umrisse ausfüllte, indem er allerdings
alle Quellen heranzuziehen strebte, wie er es als ernsteste Verpflichtung der
Wahrheitsforschung empfand, und im Fortschreiten des Baues auch an den
Umrissen änderte, wo es das Material verlangte. Geradezu charakteristisch
ist es auch in dieser Beziehung, daß er von den allgemeinen Begriffen der
Jurisprudenz und dem Zentralbegriff »Staat« ausging, aber durch seine uner-
müdliche philologische Arbeit erst das tiefere Verständnis des römischen
Staates begründet* hat.
Derselbe Drang nach Wahrheit, der ihn die Lücken des Wissens immer
wieder empfinden ließ und in der eigenen Arbeit nur die selbstverständliche
Pflichterfüllung sah, hielt ihn ferne von jeder Überhebung und Eitelkeit und
nährte in ihm die innere Bescheidenheit des wirklich großen Mannes, die
insbesondere in seinen letzten Jahren sich geradezu zu einer Überbescheiden-
heit steigerte, namentlich dann, wenn er das Gefühl hatte, daß seine Arbeits-
kraft erlahmte, und andererseits neue Fragen in Theorie und Praxis der
Lösung harrten. Gerade daß er, wie kein anderer, sich bis ins höchste Alter
die Fähigkeit bewahrte, auch was neu war, richtig abzuschätzen, statt es in
der bequemen Art des Alters einfach abzulehnen, steigerte in ihm das Be-
wußtsein der relativen Unzulänglichkeit des einzelnen dem ewigen Flusse
der Erscheinungen gegenüber, wenn er auch natürlich wußte und wissen
mußte, was seine Leistung für die Geschichte der Wissenschaft bedeutete.
Aber es ist bezeichnend für ihn, daß er in seiner Vorlesung zu sagen pflegte,
Gibbon sei das bedeutendste Werk, das je über römische Geschichte ge-
schrieben wurde, obwohl es in gelehrter Beziehung nicht überschätzt werden
dürfe. So erkannte er stets gerne fremde Arbeit an, wie die Hunderte be-
zeugen, die er gerne und fast väterlich gefördert hat, deren menschliches
und Mrissenschaftliches Schicksal er wachsam und gütig verfolgte, und duldete
sogar in seinem Seminare, wo ihm Anfänger gegenübersaßen, gerne Wider-
spruch, wenn dieser ihm begründet erschien oder aus ehrlicher wissenschaftlicher
Mommsen.
511
Forschung und Überzeugung hervorging. Dagegen war er in der Tat überall
unerbittlich gegen Unehrlichkeit in der Forschung, ob sie nun auf Phantasterei
oder Schwäche zurückging, und gegen aufgeblasenen Dilettantismus. An Kaiser
Wilhelm I. schätzte er, daß er »war, was ein rechter Mann sein soll, ein
Fachmann« (als Militär) (R. u. A. 165). Damit war natürlich nicht gemeint,
daß ein Mann und Gelehrter seinen Interessenkreis möglichst einschränken
solle, wohl aber, daß jeder die Pflicht habe, das selbst abgesteckte Gebiet
so intensiv zu bebauen, wie irgend n\öglich, und dagegen sich einer Un-
zulänglichkeit auf jedem anderen Gebiete bewußt zu bleiben. Er selbst
suchte die Bildung seiner Zeit mit seinem Geiste zu umfassen und bedauerte
es lebhaft, daß er infolge seiner Erziehung den modernen Naturwissen-
schaften fremd gegenüberstand. 67) Dagegen beherrschte er seit seiner Jugend
die modernen Kultursprachen und tat sich etwas darauf zugute, sich in
jeder, dank seinem feinen Sprachgefühle, mit ausgesuchter Eleganz aus-
drücken zu können, wie er denn auch auf das formale Sprachstudium den
größten Wert legte. Er verfolgte und schätzte auch bis in sein Alter die
Produkte der fremden Literaturen; nicht leicht war ihm ein französischer
Roman zu schlecht, um ihn durchzufliegen. Allgemeine Kultur war ihm
selbstverständliche Vorbedingung. Mit leiser Ironie hat er das einmal für
den Geschichtsschreiber ausgeführt: »Dichten ist ein Übermut, sagt der Poet.
Geschichtsschreiber spielen ist es noch viel mehr; denn von Rechts wegen
müßte der Historiker alles wissen und die eigentliche Kunst desselben be-
steht darin, daß er sich das Gegenteil nicht merken läßt.« Aber in Wirklich-
keit ging M. so weit, daß er sich trotz seiner Beherrschung der griechischen
Sprache, seiner Kenntnis der griechischen Literatur und Geschichte, nicht
leicht wissenschaftlich auf das an das seinige grenzende Gebiet der griechi-
schen Altertumskunde vorwagte.^) Daß er aber von diesem seinem festen
Standpunkte aus gelegentlich die Leichtsinnigen und Unehrlichen aus dem
Tempel der Wissenschaft davonjagte, hat nicht minder dazu beigetragen, ihm
den unbegründeten Vorwurf der Intoleranz zuzuziehen, wie seine Gering-
schätzung der Schwächlinge in der Wissenschaft, die übernommene Pflichten
nicht erfüllten, der -»paulo-post-facturi«^ die keine »Fertigmacher« waren. Denn
wie er sich selbst jede scheinbar unbedeutendste Arbeit zumutete, wenn er
sie für notwendig hielt, und häufig genug auf sich nahm, was Kleinere zu
tun verschmäht oder vernachlässigt hatten, so verlangte er ein gleiches auch
von allen Mitarbeitern. »Alle Wissenschaft«, so führte er an, »beruht auf
dem Ineinandergreifen der verschiedenen arbeitenden Kräfte, und ihre sittliche
Bedingung ist die gegenseitige Anerkennung der Arbeitenden« (R. u. A. 66).
Aus dieser Anerkennung heraus haben sich M.s schönste und herzlichste
Freundschaftsbündnisse entwickelt, die mit seiner Arbeit zusammen mit den
schönsten Teil seines Lebens bildeten, so das mit Henzen und mit de Rossi.
Sein Bewußtsein, ein Teil des Ganzen zu sein, hat ihn nicht nur zum wissen-
schaftlichen Organisator, sondern auch zum geselligen Menschen gemacht,
und Geselligkeit war ihm von den Studenten jähren an bis in sein spätes Alter
Bedürfnis. Er verstand es in gleicher Weise den Gelehrten und den Politiker
und den Geschäftsmann in zwangloser Weise durch seine Konversation, Witz und
Humor zu bezwingen, wie die gefeierte Weltdame in Rom, Paris oder
Berlin und das schüchterne junge Mädchen, dem es vor dem berühmten
512
Monimsen.
Manne graute, zu bezaubern, und mit den Studenten in der Rheinweinkneipe
zu trinken und zu plaudern, daß sie sich schier verwunderten, wie der strenge
Gelehrte zu ihnen herabzusteigen verstand, und jeder doch ein meist scherz-
weise ausgestreutes belehrendes und pointiertes Wort mit sich nach Hause
nahm, das mehr Lebensweisheit als Schulweisheit enthielt. — Er gab sich
eben wie in der Wissenschaft, so in in der Geselligkeit ganz und ohne Rück-
halt, und hier trat natürlich sein Temperament und seine mitunter ätzende
Kritik noch stärker hervor. Auch hier war er immer vollständig bei der
Sache und daß er jeden Inzidenzpunkt gleich in allen seinen Zusammen-
hängen sah, machte ihn zum schlagfertigsten Causeur, der stets das wesent-
liche traf; daß er aber auch keine Schwäche übersah, verlieh ihm eine
souveräne Ironie, die, auch wenn sie sich humorvoll äußerte, manche steif-
leinene Größe verletzt hat, besonders da sowohl falsches Pathos als auch in
konventioneller Weise zur Schau getragene Verehrung vor dem berühmten
Manne ihn, der jeden falschen Aufputz verschmähte, innerlich verletzte.
Seiner intellektuellen entsprach seine ethische Wahrhaftigkeit, die ihn
auch nicht den geringsten Widerspruch zwischen Denken und Handeln ertragen
ließ. Der kategorische Imperativ war ihm derart in Fleisch und Blut über-
gegangen, daß die Äußerung einer klaren Erkenntnis für ihn geradezu ein
Zwang war, und da sich seine Gedanken in wissenschaftlicher Beziehung
auf dem Gebiete der Staats Wissenschaften bewegten, so war die Politik nur
die ethische Seite seiner intellektuellen Betätigung. Es entsprach seiner An-
sicht von der Bedeutung der intellektuellen Stände im Staate, wenn er aus-
rief: »Die Zeiten sind glücklicherweise vorüber, wo die sogen, gelehrte Welt
in dem Wahne stand, sich von der realen Gegenwart emanzipieren zu dürfen,
ja zu sollen« (R. u. A. 92) und wenn er für die gebildeten Kreise »den
patriotischen Schwung, die selbstlose Opferwilligkeit« reklamierte, »welche
das höchste Privilegium der vollen sittlichen Bildung ist und für welche die
niederen Kreise wohl die Empfänglichkeit, aber nur in geringem Maße die
Initiative besitzen« (R. u. A. 25). Man kann auf ihn anwenden, was er von
Leibniz sagte: »Er konnte nicht anders leben und empfinden als im Ganzen
der menschlichen Entwicklung, d. h. im Staate; und stets hat er als Gelehrter
wie als Mensch sich als Staatsbürger empfunden« (R. u. A. 41), Daher ver-
schwand bei ihm das persönliche Interesse vollständig, und wo er es für
notwendig oder nützlich hielt, sich in einer öffentlichen Angelegenheit zu
äußern, tat er es ohne jegliche Berechnung mit dem vollen Einsätze seiner
Person und mit der ganzen Wucht seines Temperaments. Deshalb haben die
Manifeste, die von dem Alten in Charlottenburg ausgingen, stets ihre volle
Wirkung geübt, nicht nur wegen der hohen wissenschaftlichen Autorität, von
der sie ausgingen, nicht etwa weil die Worte auf die Goldwage gelegt ge-
wesen wären, sondern weil ein jeder es spürte, daß der Hauch einer großen
Seele von ihnen ausging; und man bewunderte mit Recht seine ewige Jugend,
weil ihm wie dem Jüngsten die Hemmungen fremd waren, die aus Opportunis-
mus und Bedenklichkeitsfanatismus hervorzugehen pflegen. Aber trotz seiner
Verachtung gegenüber aller Konvention und allen falschen Werten, ertrug er
sie, wo er meinte, daß es weniger Schaden anrichte sie nicht zu beachten
oder zu ertragen, als gegen sie anzukämpfen; so ist er nie in die Gefahr geraten,
gegen Windmühlen zu kämpfen, und behielt stets das wesentliche fest im
Mominsen.
513
Auge. Aber in dieser Synthese des real Gegebenen mit dem Idealen, die sein
Leben durchzieht, liegt allerdings derselbe Widerstreit, wie zwischen Kritik
und Konstruktion. Er sieht die hemmenden Momente, beklagt die De-
humanisierung und die moralischen Seuchen, die sich gleichsam epidemisch
verbreiten, die »Rebarbarisierung« tief und beobachtet mit steigendem Miß-
fallen »die durch den Interessenkrieg herbeigeführte Schädigung«, die neue
Parteibildung auf Grund der Interessengegensätze und betrauert, daß »für
die unparteiische Abwägung der Rechte überhaupt und der kollidierenden
Interessen kein Träger mehr gefunden wird« (vgl. R. u. A. 64. 91. 411. 475);
aber mag ihn dies . alles auch zeitweise niederdrücken, so hält er es doch
um so mehr als Pflicht, »das heilige Feuer des selbstlosen Patriotismus« zu
wahren, mit seiner ganzen Person einzutreten, wo es not tut, und zu erinnern
an »den notwendigen endlichen Sieg des Edlen über das Gemeine« — eine
»Erinnerung, deren wir freilich bedürfen I«
Quellen. Zu lebhaftem Danke bin ich vor allem der Familie Mommsens verpflichtet,
welche mir. in der g^ütigsten Weise Auskünfte erteilte und Mitteilungen in reichlichem Maße
vermittelte; außerdem namentlich Herrn Prof. Otto Hirschfeld und Herrn Prof. U. v. Wilamo-
witz-Möllendorf. — Sehr reiches Material für die Kenntnis der Persönlichkeit bieten die von
Hirschfeld nach M.s Tode gesammelten: »Reden und Aufsätze« (Berlin 1905. — Zitiert
als »R. u. A.«) und natürlich auch die übrigen Werke M.s. Diese sind jetzt vollständig
zusammengestellt in: »Th. M. als Schriftsteller — Ein Verzeichnis seiner Schriften von
K. Zangemeistef, im Auftrage der Königl. Bibliothek bearbeitet und fortgesetzt von Emil
Jacobs« (Berlin. 1905. — Zitiert als Z.-J.). Herrn Dr. Jacobs, der jeden künftigen Bio-
graphen durch seine Arbeit der mühevollen bibliographischen Vorarbeit überhoben hat, bin
ich auch für die Mitteilung seiner Aushängebogen und manchen Wink zu Danke verpflichtet.
— Außer einigen an geeigneter Stelle zitierten Artikeln über M. führe ich femer hier
folgende Aufsätze an, die durch ihre Darstellung oder durch Mitteilung von Material für
mich von besonderem Interesse waren: C. Bardt, Th. M. (Berlin, Weidmann. 1903. — Ge-
schrieben 1875). — Th. Barth, Th. M. in »Die Nation« XXI. Jahrg. Nr. 6 (7. Nov. 1903).
— H. Blümner, Th. M.. (Separatabdr. der N. Züricher Zeitung 1903, 4. — 6. Nov.). — E. Bor-
mann, Th. M., Ansprache bei der Gedenkfeier der Wiener Universität am 30. Nov. 1903
(Wien 1904, Selbstverlag). — E. Costa, 7*. M,, Discorso inauguraU per V anno 1^04 — j
neir Universüa di Bologna (Bologna, Stabil, tip, Succ. Monti, 1^4, — Abdruck: Bologna,
Zanichelli igoj), — A. Dove, Zur Erinnerung an Th. M. in Beilage z. »Allgem. Zeitung«,
München 2. u. 3. Febr. 1904 Nr. 26. 27. — O. Gradenwitz, Th. M. in »Zeitschr. der Savigny-
stiftung f. Rechtsgeschichtc« Rom. Abth. Bd. XXV (1904). — A.Harnack, Rede bei der Begräbnis-
feier Th. M.s (Leipzig, Hinrichssche Buchh. 1903). — O. Hirschfeld, Gedächtnisrede auf Th. M.
in: Abhandlungen der kgl. preuß. Akademie der Wiss. vom Jahre 1904 (zitiert: Hirschfeld, Ak.).
— O. Hirschfeld, M. (Rede, gehalten zum 80. Geburtstag, abgedruckt in »Der Zeitgeist«
Beiblatt zum »Berl. Tageblatt«, Nr. 48, 30. Nov. 1903). — Ch. Huelsen, Zum Gedächtnis
Th. M., Rede gehalten in der Institutssitzung am 11. Dez. 1903, in »Mitteil, des K. D
Archäol. Instit.« Rom 1903, Bd. XVIII. — J. Kaerst, Th. M., in »Historische Vierteljahrs-
schrift« 1904 S. 313 — 342. — C. F. Lehmann, M.s Lebenswerk, in »Berliner Neueste Nach-
richten«, 8. u. 10. November 1903. — O. Seeck, Zur Charakteristik M.s, in »Deutsche
Rundschau« Bd. XXX, 4. Jan. 1904. — E. Schwartz, Rede auf Th. M., in »Nachrichten von d.
königl. Ges. d. Wissensch. zu Göttingen; Gesch. Mitteilungen« 1904 Heft i. — Außerdem
brachten natürlich die meisten deutschen und italienischen Zeitungen Nachrufe. — Recht
verkehrt ist die Auffassung M.s bei A. Guilland, VAlletnagnc nouvdU et ses hutoricns
(Paris, Alcan, 1899).
') Totenliste 1903, Band VIII 77*.
*) Dies nach : »Drei Aufsätze Tb. M.s aus seiner Schulzeit. Eine Erinnerungsgabe zum
So. Geburtstage, überreicht vom k. Christianeum in Altona«. Als Manuskript gedr. Berlin,
Biofft. Jahrbuch u. Deutscher Nekrolog. Bd. 9. 33
et4 Momtnsen.
Weidmann, 1897. — Dazu »Jahresbericht des k. Christianeums zu Altona Aber das Schul-
jahr 1888 — 89«, S. 29; ferner Ad. Wachholtz, Aus Th. M.s Schulzeit, in »Festschrift der
48. Vers. D. Philol. u. Schulmänner in Hamburg dargebr. vom Lehrerkollegium des
k. Christianeums zu Altona« (1905), S. 31 — 54 und Tycho M.s Autobiographie.
3) Vgl. Festschrift usw. 46; auch 43.
4) Vgl. Hirschfeld, Ak. S. 5.
5) Dieses und die folgenden Zitate aus den angeführten Jugendschriften und insbe-
sondere aus den Kritiken in der N. Jen. Allg. Lit.-Ztg. 111 und aus der Ztschr. f. d.
Altertumswiss. I — III. — Vgl. auch die 9. These der Dissertation: i^Niehuhrii cum spien-
dorem tum crrores in eo positos essty ut hUtoriani iotani esse hypotheticam sive ignorarei
sive ncgareU und dazu die von Hirschfeld, Zeitgeist zitierte Stelle aus »Die römischen
Tribus« S. VII.
6) R. u. A. S. 459. Vgl. auch die spöttische 14. These der Dissertation : i^yuriscon^
sultum a phüologo discere posse; an possit philologus ab illo, adhuc dubstandum.<
7) Vergl. auch Allg. D. Biogr. : Storm, von E. Schmidt.
') Vgl. dazu seine Beurteilung Heines in Lit. Zentralbl. 1851, 799 == Z.-J. 199 und
R. u. A. S. 416.
9) Gemeint sind natürlich der österreichische und der preußische Adler.
«o) Z.-J. 5. 6. 7.
") Z.-J. 8. 9. 10.
>*) Rede im preußischen Abgeordnetenbause am 9. März 1875.
«3) Vgl. Hirschfeld, Ak. S. 7.
'4) Vgl. hierzu Michaelis, Storia delV Istttuto archeologico Germanico (1879).
'5) Vgl. hierzu u. zum Folgenden Hirschfeld, Ak., nam. S. 9 und Costa a. a. O.
»6) Hamack, Gesch. d. kön. preuß. Ak. d. Wiss., II, S. 505fr.
>7) Vgl. Savignys Antrag an die Akademie bei Hamack a. a. O. II, 517 fr.
>8) Vgl. Hamack a. a. O. II S. 522 — 540.
>9) Die Geschichte der Verhandlungen über das Corpus ist dargestellt von Hirschfeld,
Ak. S. 6 fr.
*o) Hierzu und zum Folgenden vgl. »Schleswig - Holsteinische Zeitung« (verantw.
Redakteur A. F. Hanssen) Nr. 1 (15. April 1848) — Nr. 148 (4. Okt. 1848): Mommsens
Handexemplar in der Kön. Bibliothek in Berlin; Mommsens Artikel sind kenntlich teils
durch die Chiffre (M, seit Ende August T), teils durch ein von Mommsens Handschrift
hinzugefügtes »M.«, teils bloß durch den Stil. — Dazu »Die Schlacht bei Schleswig«,
abgedruckt in R. u. A. S. 363 fr. mit Anmerkung auf S. 363 und Z.-J. Nr. 118 — 119.
»0 R. u. A. 468 f.
") Vgl. Hirschfeld, Ak. S. 13.
«3) Vgl. die von Beiger, Haupt als akadem. Lehrer (1879) S. 32 zitierte Stelle aus
einem Briefe Mommsens. — Ferner über den Leipziger Aufenthalt namentlich Jahn,
Biograph. Aufsätze (1866); Th. W. Danzel; AUgem. D. Biogr. »O. Jahn« von Michaelis.
Über den Leipziger Kreis auch Gomperz, Essays u. Erinnerungen S. 27 ff. — Berichte über
den »Deutschen Verein« finden sich in der »Leipziger Ztg.« vom Jahre 1849.
*4) Freundliche Mitteilung von Dr. Jacobs.
»5) Vgl. Z.-J. zu 1849— 1852 und namentlich S. VI und X (Litt. Zentralblatt).
^ Vgl. auch Blümner a. a. O. 6 f.
*7) Aus dem Danke aus Anlaß seiner Quinquagenaricn in utroque iure; zitiert von
Gradenwitz a. a. O. 6 f.
*•) Veröffentlicht in der »National-Zeitung«, Morgen-Ausgabe, Berlin 17. November
19031 56. Jahrgang Nr. 606.
«9) Vergl. Hirschfeld, Ak. S. i/f.
30) Hirschfeld, Ak. S. 18 Anm.
3<) Zusatz der späteren Auflagen: »Als dies geschrieben wurde, im Jahre 1857, konnte
man noch nicht wissen, wie bald durch den gewaltigsten Kampf und den herrlichsten Sieg,
Mommsen.
515
den die Geschichte des Menschengeschlechts bisher verzeichnet hat, demselben diese furcht-
bare Probe erspart und dessen Zukunft der unbedingten, durch keinen lokalen Cäsarismus
auf die Dauer zu hemmenden sich selbst beherrschenden Freiheit gesichert werden sollte.«
3«) Vgl. Gutzkows Besprechung »Ein gekröntes Geschichtswerk« in seinen »Unter-
haltungen am häusl. Herd« N. F. II (1857) S. 398 fr.
33) »Die Schweiz in römischer Zeit« (Mitt. d. antiq. Ges. in Zürich Bd. IX Abt. 2
Heft i), zitiert von Hirschfeld, Zeitgeist.
^) Vgl. die von G. Lumbroso, T. M., Ricordi (Roma igoj) mitgeteilte Äußerung
M.s vom Nov. 1893: i^Gioliiii non riesce pcrche non ha passione, Un uotno dt stato deve
,35) Gutzkow a. a. O. S. 399.
3^) Hirschfeld, Ak. S. 20.
37) Z.-J. 761.
3*) Hirschfeld a. a. O. S. 19.
39) Hirschfeld a, a. O. S. 19.
40) Hirschfeld a. a. OS. 20..
41) Hirschfeld, Ak. S. 16. 21.
4») Hirschfeld, Ak. S. 24f.
43) Neues Archiv I S. 3 fr.
44) Vgl. hierzu und zum folgenden Dressel, Zeitschr. f. Numismatik XXIV (1904),
S. 367 ft'. (mit einem Verzeichnis der numismatischen Schriften Th. M.s). — Dazu Hirsch-
feld, Ak. 2 7 ff.
45) Das Vorhergehende aus Wilcken, Archiv für Papyrusforschung III/2 (1904)
S. 147 ff. — Dazu Hirschfeld, Ak. 30 f.
46) Zu dem Vorhergehenden vgl. W. His, Zur Vorgeschichte des deutschen Kartells
und der internationalen Assoziati9n der Akademien (mit Aktenstücken) in: Berichte über
die Verhandl. d. k. sächs. Gesellschaft d. Wissensch. zu Leipzig. Math.-phys. Klasse.
54. Bd. (1902), Anhang.
47) Jetzt nach M.'s Anordnung zusammengestellt in »Juristische Schriften« I (1905).
48) Z.-J. 503. 569. 624. Dazu die Einleitung M.s zur grofien Ausgabe, in welcher
die kritischen Grundlagen dargelegt werden, und Gradenwitz a. a. O. S. 2 2 ff.
49) Graden witz a. a. O. S. 25.
50) Herausgegeben mit einem Vorworte von Binding (Leipzig 1905).
5«) Z.-J. 296: Nat.-Ztg. Jhrg. XllI (1860) Nr. 123.
5») Z.-J. 309.
53) Vgl. Sitzung vom 17. März 1865 und vom 9. Februar 1866.
54) J.-Z. 866. 867. — »An die liberalen Wähler des Reichswahlbezirks Coburg.«
55) Bericht der »Neue freie Presse«, 20. Juni 1882, Morgenblatt Nr. 6398 und »Allgem.
Ztg.« Beilage zum 21. Juni 1882 Nr. 172.
56) »(Berliner) Volkszeitung« 1884, 16. April, Nr. 90, Vgl. Z.-J. 993, 994.
57) Vgl. Barth a. a. O.
58) Vgl. Umschau IV Nr. 38 (1900, 15. Sept.).
59) Z.-J. 1364 (N. fr. Pr. Nr. 11923, Wien, 31. Okt. 1897).
60) Z.-J. 1417 — 1420. 1492. Dazu Barth a.a.O.
6«) Barth a. a. O.
6«) Nation XX, 11 (11. Dez. 1902) — Z.-J. 1463.
63) Vgl. Hirschfeld, Ak. S. 36 f.
^) Er hatte im ganzen 16 Kinder, von denen ihn 6 Söhne und 6 Töchter überlebten.
Die älteste Tochter ist seit 1878 mit U. v. Wilamowitz verheiratet.
65) Darunter nicht, wie die Sage ging, ein Manuskript des IV. Bandes der römischen
Geschichte. — Wohl aber sollen C^r/Mj-Manuskripte beschädigt worden sein.
66) Vgl. Barth a. a. O.
67) Vgl. Dove a. a. ü. S. 202.
5l6 Mommsen. Plank. Mühlbacher. Waldersce. Bi^^manJc.
^') Man vgl, übrigens die 13. These seiner Doktordissertation: T^IUuä Graeca non U-
guniur cum vtrum esse tum probandum, cum res Graecae philologorum simi, Latinae
iurisconsuUorum,^ Ludo M. Hartmann.
Plank, Joseph (Bd. VI, 366). »Josef Plank. Akademischer Maler. Eine Lebens-
skizze von Dr. Fr. Waldner.« S.-A. aus den »Innsbrucker Nachrichten«. Innsbruck, Wagner-
sche Universitäts-Buchhandlung. 1905.
Mühlbacher, Engelbert (Bd. VIII, 344), * (wie in der Totenliste richtig angegeben)
4. Oktober, nicht wie S. 344 steht 24. Oktober 1843.
Waldersee, Graf (Bd. IX, 7). Graf Waldersee hat sich noch in späten Lebens-
jahren zu einer Charakteristik ManteufTels veranlaßt gesehen, die zum Teil auch an die
Öffentlichkeit gelangt ist, jedoch an derselben Stelle auch von seiten zweier hoch angesehener
Generale sehr bestimmten Widerspruch erfahren hat. Im 3. Bande der Geschichte des
Krieges von 1866 von General Oscar von Lettow- Vorbeck (Berlin 1902) findet sich
5. 259 der teilweise Abdruck dieser vom Grafen Waldersee dem Verfasser zur Verfolgung
gestellten Charakteristik Mnnteuffels, in deren Eingang Waldersee zugibt, mit Man-
teuffei wiederholt Zusammenstöfie gehabt zu haben. Seiner Beurteilung, auf welche ein-
zugehen außerhalb der Aufgabe dieser Darstellung liegt, ist von den Generalen v. d. Burg
(zuletzt kommandierender General des II. Armeekorps) und Graf Wartenslebcn - Carow
(zuletzt kommandierender General des III. Anneekor|>s), die beide zu Manteuffel in engen
dienstlichen Beziehungen gestanden haben (Wartensleben als Chef des Stabes der von Man-
teuffel befehligten Südarmcc, v. d. Burg als Chef des Stabes der Okkupationsarmee, später
auch in Straßburg) mit Entschiedenheit entgegengetreten worden (ebenda S. 261/263). Der
Vollständigkeit halber sei hier darauf hingewiesen. Hugo Jacobi.
Bismarck, Herbert Fürst (Bd. IX, 105). Sollte einmal die Privatkorrespondenz Her-
berts mit seinem Vater, speziell die Londoner aus den Jahren 1881/83, der Öffentlichkeit
übergeben werden, woran freilich sobald wohl kaum zu denken ist, so wird darin namentlich
die Intimität interessieren, mit welcher Lord Granville sich damals durch Herberts Vermitt-
lung an den Vater wandte, um diesen zu bewegen, in der äg}'ptischen Frage die Führung
zu übernehmen, was Bismarck ablehnte. Die von Ix)rd Fitzmaurice verfaßte zweibändige
Biographie Granvilles (Longmans^ Green and Co,, London i^oj), die Emil Daniels im
123. Hefte der Preußischen Jahrbücher zum Gegenstand einer historisch nicht ganz ein-
wandfreien Darstellung gemacht hat (»Die englischen Liberalen und Fürst Bismarck«),
würde dann, soweit die Beziehungen Granvilles zu Bismarck in Betracht kommen, manche
überraschende Ergänzung erfahren. Daniels eignet sich auch die in dem Briefwechsel des
englischen Botschafters in Berlin, Lord Ampthill, mit Granville vertretene Auffassung
an, daß die freundliche Aufnahme und die viele Anerkennung, die Herbert damals in
London gefunden, lediglich ein verabredeter diplomatischer Kunstgriff gewesen sei, um
damit den Vater zu gewinnen. Der Botschafter selbst hatte an Granville geschrieben: »eine
angenehme Wahrheit, ein wohlverdientes Kompliment, geäußert durch einen englischen
Staatsmann, hätten eine zauberhafte Wirkung auf den großen, aber leicht verwundbaren
Minister der cmpfmdlichsten Nation in der Welt«. Es liegt hierin doch eine naive Über-
schätzung des Wertes englischer Komplimente für Bismarck. Auch konnte Ampthill sich
bald darauf in Friedrichsruh Überzeugen, daß mit leeren Komplimenten dort kein Geschäft
zu machen war. Den Sohn einer andern großen Firma, auch wenn sie Konkurrentin ist,
wohlwollend und ehrenvoll aufzunehmen, entspricht so sehr den kaufmännischen geschäft-
lichen Traditionen, daß man sich über die gute Aufnahme Herberts bei Granville nicht
weiter zu wundern braucht. Sie war selbstverständlich. Auch war es nicht Granville allein,
sondern die gesamte vornehme englische Gesellschaft einschließlich der Tory> Opposition,
Bismarck. Ratzcl.
5'7
selbst der Hof, namentlich der Prinz von Wales, der heutige König, beteiligten sich daran.
Vornehme englische Familien schafften sich z. B. damals, belustigt durch Herberts Spott
aber die kleinen englischen Weingläser, für ihre Tafeln grofie Gläser nach deutscher Art
an. Man behandelte ihn als den Sohn des bedeutendsten Staatsmannes der Zeit mit vielen
Artigkeiten, die aber zugleich auch dem verständigen, wohlunterrichteten jungen Diplomaten,
dem tapferen Soldaten und dem heitern, jovialen Gesellschafter galten. Ein unbedeutender
Mensch wQrde auch als Bismarcks Sohn in England so nicht aufgenommen worden sein.
Granvilles Brief an Herbert selbst ist doch mehr als eine auf den Vater berechnete Platitüde,
zumal als Abschiedsbrief.
Bei dieser Gelegenheit sei noch ein Satzfehler S. ii8 berichtigt. i^Arceo^ ist für
Hecbert Bismarck nicht »Schiedsspruch«, sondern Schild spruch gewesen.
Hugo Jacobi.
Ratzel, Friedrich (Bd. IX, 144—152). Aus gefälligen Mitteilungen der Witwe ent-
nehme ich, dafi R. als Apothekergehilfe kurze Zeit nicht in Morsch, sondern in Mors in
der Rheinprovinz lebte, dafi seine Beziehungen zu den wtirttembergischen Templern nicht
so Qjige waren, wie ich nach einem Gespräch mit ihm Über diesen Gegenstand vermutet
hatte, daß er bei Auzonne nicht am linken, sondern am rechten Ohr beschädigt wurde und
dafi seine Stimmung in den letzten Jahren keineswegs dauernd, sondern nur gelegentlich
jene Verdüsterung zeigte, die mir bei einigen persönlichen Zusammenkünften aufgefallen
war. Der Literaturnachweis ist durch die nach der Vollendung des vorliegenden Artikels
erschienenen Werke »GlUcksinseln und Träume. Gesammelte Aufsätze aus den Grenzboten.
I^eipzig, F. W. Grunow. 1905« und »Kleine Schriften von Friedrich Ratzel. Ausgewählt
und herausgegeben durch Hans Helmolt. Band i — 2. München und Berlin, R. Oldenbourg.
1905 — 1906« zu ergänzen. Das letztere enthält nicht nur eine treffliche Lebensbeschreibung
und Würdigung des Verstorbenen, sondern auch ein Verzeichnis der ihm gewidmeten
Nachrufe. Viktor Hantzsch.
I. Alphabetisches Namenverzeichnis
zum
Deutschen Nekrolo|^ vom i. Januar bis 31. Dezember 1904.
Name
Verfasser
Seite
Name
Verfasser
Seite
Aldcnkirchen, Joseph
F, Lauchert
202
Demelius, Ernst
A, Teichmann
2S5
Angel i, Moriz Edler v.
H, Friedjung
130
Detmcr, Heinrich
7. Sass
172
Arnold, Hugo
H. Holland
93
Dettweiler, Peter
Dr. Besold
287
Aßmus, Robert
H Holland
178
Dietrich, Anton
H, Schmerbcr
200
Asmussen, Anton •
7, Sass
56
Dietz, Karl
Pagel
282
Dräsche, Anton
Pdgel
283
Bartels, Max
Bauemfeind, Gustav
Baumgartner, Heinrich
Pagel
H Holland
F. Lauchert
281
180
208
Eckermann, Christian
Egger von Möllwald,
7. Sass
270
Bennecke, Erich
Berger, Hugo
Beschomer, Oskar
Bismarck, Herbert
Fürst V.
Pagel
r. Hantzsch
Pagel
H, Jacobi 101,
280
218
282
516
Alois
Ehrensberger, Hugo
Embde, Emilic v. d.
Emminghaus, Herrn.
Evelt, August
F, iMuchert
Ph, Losch
Pagel
A, Zander
152
»99
159
282
79
Bittong, Franz
Braun, Friedrich v.
Braun, Karl Otto
Brausewetter, Otto
Briegleb, Elard
Brosius, Ignaz
Brunner, Joh. Paul
7. Sass
Kohlscfimidt
IL Holland
H Schmerbcr
F, Brummer
A. Birk
F, Lauchert
96
312
192
205
329
271
198
Fellner, Stephan Karl
FcUner, Thomas
Flock, Joseph
Frieß, Gottfried
Fürstenheim, Ernst
Fux, Josef
C. IVol/sgruber
H, Kretschmayr
F, Lauchert
F, lauchert
Pagel
II. Schmerbcr
165
158
207
171
304
177
Brunner, Moritz R. v.
C. M. Danzer
317
Garcke, August
Pagel
304
Buchenbcrger, Adolf
F, Nicolai
29
GeorgKönigv.Sachsen
0, Kaemmel
23
Buchholz, Wilhelm
A. Freih. v. Menst
: 266
Giese, Otto
7. Sass
87
Burk, Karl v.
Kohlschmidt
283
Goebel, Eduard
F. Brummer
319
Büttel, Paul
y, Sass
86
Godin, Amelie
IL Holland
90
Graff, Wilhelm Paul
F. Brummer
329
Clar, Konrad
Pagel
314
Grill enbergcr, Otto
F. Lauchert
206
Cnyrim, Viktor
Pagel
282
Grob, Konrad
ir, L. LehfHann
255
Cohn ,Mey er Alexander
F, Schfuidt
126
Grün, Albert
F, Brummer
338
Namenverzeichnis.
519
Name
Verfasser
Seite
Name
Verfasser
Seite
Hachmann, Gerhard
7. Sass
88
Lcnb.ich, Franz v.
E. IV, Bredt
260
Haenselmann, Ludwig
F, Brummer
328
Liersch, Ludwig Wilh.
Pagel
334
Hanslick, Eduard
G, Adler
342
Lorenz, Ottokar
A. Foumier
242
Hanstein, Adalbert v.
F, Brummer
319
Heiberg, Asta
y, Sass
100
Maison, Rudolf
IL Holland
193
Heinemann, Otto v.
W, Schröder
49
Mannlicher, Ferdinand
Heisrath, Friedrich
Paget
315
Ritter v.
A, Birk
316
His, Wilhelm
W, Spalieholz
231
Mannstaedt, Wilhelm
F, Brummer
309
HofTmann, Joseph
II, Schmerber
200
Martius, Georg
Pagel
328
Hofmeister, Adolph
A. Vorberg
166
MoUinar)', Anton Frei-
1
Holaus, Blasius
F, Lauchert
191
herr v. Monte Pastello
Carlv, Torresant
■ 135
Holdheim, Paul
A. Teichmann
320
Montbach,Mortimer v.
F. Lauchert
204
Holst, Hermann v.
A, Wahl
61
Motz, Paul
P. Miizschke
129
Holzmann, Philipp
A, Birk
271
Maller, August
Pagel
327
Hopfen, Hans v.
LtliSe/uilk'IIop/en^^o
Müller, Robert
A. Freih, v. Menst
267
Huppert, C. Hugo
Pagel
314
Müller-Palm, Adolf
F. Brummer
308
Ideler, Karl
Pagel
315
Najmajer, Marie w
F. Brummer
303
Jeiler, Ignatius
F, Ijmclurt
211
Nirschl, Joseph
F, Lauchert
169
Jessen, Otto
J. Sass
173
••
Joder, Julian Chrv-
•r
# »/
Ohlschläger, Karl v.
A, Teichmann
321
sostomus
F, Lauchert
191
Oppenheimer, Zach.
Pagel
328
Jolly, Friedrich
Pagel
316
Ott, Karl Edler v.
Philippi, Rudolf Aman-
A, Birk
273
Kahn, Franz
A, Teichmann
2S5
dus
V, Hantzsch
186
Kaiser, Pius
F, Lauchert
210
Pichler, Max R. v.
A, Birk
272
Kanitz, Felix
V, Ilantzsch
184
Plehn, Friedrich
Pagel
327
Kanoldt, Edmund
P, Frhr, v, Lich-
0
»■ *
tenberg
80
Ratzel, Friedrich
V. Hantzsch 144
. 517
Kariowa, Otto
A. Teichmann
284
Ratzenhofer, Gustav
L, Stein
289
Keller, Pius
F, Lauchert
202
Regenstein, Charlotte
F, Brummer
302
KirchhofT, Gustav
Pyl
78
Rembold, Otto
Pagel
327
Klopfer, Victor
A, Freih, v, Menst
• 267
Rettich, Kari
7, Sass
168
Knabl, Karl
H, Holland
88
Reuter, Richard
P. Mitzschke
252
Köbner, Heinrich
Pagel
315
Ribarz, Rudolf
H Schmerber
20S
Koch, Karl v.
Pagel
326
Riegel, Franz
G, Honigmann
330
Koppen, Fedor v.
F, Brummer
310
RoUett, Hermann
P, Tausig
220
Koester, Karl
Pagel
279
Roth, Arnold
IV, Ncf
134
Kottmann, August
Pagel
335
Rüdiger, Otto
7, Sass
26S
Kottulinsky, Adalbert
Graf V.
II, Zwicdineck
336
Sallmann, Carl
Ph, Losch
160
Krug, Arnold
J, Sass
169
Sauermann, Heinrich
7, Sass
100
Sauerwein, Georg
L. Meyer
224
Landerer, Albert
E, Franck
321
Schell, Wilhelm
Ph, Losch
160
Langerhans, Robert
Pagel
335
Schirmer, Theodor
A, Teichmann
258
Legerlotz, Gustav
F. Brummer
311
Schirrmacher, Fried-
Lehmann, Heinrich
y. Sass
97
rich Wilhelm
A, Vorberg
76
520
Namenveneichnis.
Name
Verfasser
Seite
Name
Verfasser
Seite
Schlumprecht, Rupert
H. Holland
204
Vochezcr, Joseph
F. Laucheri
205
Schneider, Justus
PA. Losch
161
Vogt, Gideon
Ph. Usch
162
Schübler, Adolf v.
A, Biri
272
Volck, Wilhelm
A, Vorberg
85
Schuhes, Karl
F, Brumme
300
Vorster, Johannes
Pagel
314
Seegen, Josef
y, Mttuthncr
57
Seidel, August
H, Holland
74
Waldersee, Alfred
Silbemagl, Isidor
F. Laucheri
202
Graf V.
//. yacobi
3» 516
Spiess, Alexander
Pagel
280
Wannenmacher, Franz
Stabenow, Louis
y, Sasj
87
Xaver
A, Zander
99
Staub, Hermann
A, Teickmann
259
Watterich, Joh. Bap-
Stell wag V. Carion,
tist Matthias
F. Laucheri
176
Carl
//, IViniersieiner
305
Waetzoldt, Christian
Stengele, Benvenut
F, Laucheri
209
Stephan
7. Sass
246
Stemfcld, Alfred
Pagel
280
Weigert, Karl
Pagel
313
Strauch, Hermann
A, Teichmann
257
Weitbrecht, Karl
Oiio Güniier
274
Strcmayr, Karl v.
A'. Freih. v. Le-
Wendt, Ferdinand
F. Brummer
30 i
mayer
118
Woltersdorf, Theodor
Th. Pyl
78
StUbel, Alfons
V, LIantzsch
212
Szanto, Emil
Th, Gomperz
255
Zahn, Friedrich Wilh.
Pogel
336
Zenetti, Benedikt
F, Laucheri
192
Tanera, Karl
IL Holland
66
Zettel, Karl
//. Holland
70
Thierfelder, Benjamin
Pagel
281
Zimmermann, Alfred
Pagel
33S
IL Alphabetisches Namenverzeichnis
zu den
Nachträgen und Ergänzungen.
Name
Buchner, Otto
Claus, Adolf
Delbrück, Rudolf v.
HafTner, Traugott
Hagemann, Georg
Lohmeyer, Julius
Lorm, Hieronymus
(Landesmann, H.)
Mauthner, Gustav
Ritter v.
Meysenbiig, Malvida v
Mommsen, Theodor
Verfasser Seite
P, Müsse kke 425
GeorgW,A,Kahl'
bäum 348
/r. Helfferich 365
O. Güniier 421
Si, Schindele 439
R, P,
A, Klaar
Name
Mahlbacher,£ngelbert
Niessen, Wilhelm
Oldenbourg, Rudolf
Plank, Joseph
' Polenz, Wilhelm v.
Seite
516
43S
426
516
H. Llgensiein 430
Verfasser
H Holland
M. Bieroiie
419
359
F. Schmid 405
/; Spiro 391
Z. J/. Harimann 441
Renner, Ludwig
Kohlschmidi
437
Ringhoffer, Emanuel
R. V.
A, Birk
438
Scheffer-Boichorst,
Paul
A\ Uhlirz
349
Sclüesinger, Julie
356
Schwicker, Heinrich
F. Schuller
354
Volkmann, Diederich
Hoffmann-Viortai
4*3
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