Skip to main content

Full text of "Biographisches jahrbuch und Deutscher nekrolog"

See other formats


Google 


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  prcscrvod  for  gcncrations  on  library  shclvcs  bcforc  it  was  carcfully  scannod  by  Google  as  pari  of  a  projcct 

to  make  the  world's  books  discoverablc  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 

to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 

are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  cultuie  and  knowledge  that's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  maiginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  flle  -  a  reminder  of  this  book's  long  journcy  from  the 

publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prcvcnt  abuse  by  commercial  parties,  including  placing  lechnical  restrictions  on  automated  querying. 
We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  ofthefiles  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  fivm  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machinc 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  laige  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encouragc  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attributionTht  GoogXt  "watermark"  you  see  on  each  flle  is essential  for  informingpcoplcabout  this  projcct  and  hclping  them  lind 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  lesponsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can'l  offer  guidance  on  whether  any  speciflc  use  of 
any  speciflc  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  mcans  it  can  bc  used  in  any  manner 
anywhere  in  the  world.  Copyright  infringement  liabili^  can  be  quite  severe. 

Äbout  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organizc  the  world's  Information  and  to  make  it  univcrsally  accessible  and  uscful.   Google  Book  Search  hclps  rcadcrs 
discover  the  world's  books  while  hclping  authors  and  publishers  rcach  ncw  audicnccs.  You  can  search  through  the  füll  icxi  of  ihis  book  on  the  web 

at|http: //books.  google  .com/l 


Google 


IJber  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches,  das  seit  Generationen  in  den  Realen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Welt  online  verfugbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 
Das  Buch  hat  das  Uiheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  ist,  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheit  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren,  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Originalband  enthalten  sind,  finden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nu  tzungsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  Partnerschaft  lieber  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.     Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.     Nie htsdesto trotz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  veihindem.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 
Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  Tür  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sie  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist,  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  fürdieseZwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google-MarkenelementenDas  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  finden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  finden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  ist,  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.  Eine  Urheberrechtsverletzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.  Google 
Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unterstützt  Autoren  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppcn  zu  erreichen. 
Den  gesamten  Buchtext  können  Sie  im  Internet  unter|http:  //books  .  google  .coiril  durchsuchen. 


^i*  »  * 


•V'  X 


7*.^ 


.m  i^'it: 


ViC 


.V  J 


..» 


V'-'i' 


:.^^ 


«*, 


»     *: 


.» 


^      ,' 


\' 


I  f 


I'.KM.RAFHISCHKS  lAURI'.! 


l'ND 


DF-lTSCIIERNEKROl  < 


:  Nlh»K    ^!  ^VDK^ER   Mn\VIKKUN(i 

Hx»    NDTKR,    f.\('\    J;K'«)TI>,    AT  OTS  HRAN'DI,    F  KNs  r  i 
.'.fSr  »niRNIFk,    \''    »  ]•   I  RKV,   HKINRKH  I- R!!- :  »f 'N(;.   Ii  . 
m;KI:.    KARL  (JLo^-^V      VlAX   CRTBKR,    Si<;\ir\i)  i.lN.. 
(,KN  (;r(,lJA,  AriK!     ^   lRKIHt:RRN  V<^N  MIASI.  J  XCOI*.   \r 
T'l    SCHI  KNTHKR.   ».KU  H  SCHMIDT,  ANTON   K.  SCHON!);,.   ' 

Cl/'LG  WOLIT   L\  A. 


'Mv'AUSGF(':/lW''N 


\(>N 


ANTON  BETTICLlIErM 


IX.   HAND 

VOM    I.   MM    \R    lüS   31.  nKZJ'.MüKR    1^04 

.111    ItKM    Inl.IiM.     \      ^     Fi;    M>RUH  RA  l/KI     1  N   H  KI  1 1 '■ ;  K  \  >  1.  K  I 


BKRLIX 
l'RUCK  i.'VD  VF.RI.AC.  VON  (^KoRCi  KV  WV-  1 


'#'*■, 


^/^n!^: 


BIOGRAPHISCHES  JAHRBUCH 

UND 

DEUTSCHER  NEKROLOG 


UNTER  STÄNDIGER  iMITWIRKUNG 

VON 

GUIDO  ADLER,  F.  VON  BEZOLD,  ALOIS  BRANDL,  ERNST  ELSTER, 
AUGUST  FOURNIER,  ADOLF  FREY,  HEINRICH  FRIED  JUNG,  LUDWIG 
GEIGER,  KARL  GLOSSY,  MAX  GRUBER,  SIGMUND  GÜNTHER, 
EUGEN  GUGLIA,  ALFRED  FREIHERRN  VON  MENSI,  JACOB  MINOR, 
PAUL  SCHLENTHER,  ERICH  SCHMIDT,  ANTON  E.  SCHÖNBACH, 

GEORG  WOLFF  U.  A. 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

ANTON  BETTELHEIM 


IX.  BAND 

VOM  I.  JANUAR  BIS  31.  DEZEMBER   1904 

MIT  DEM  BILDNIS  VON  FRIEDRICH  RATZEL  IN  HELIOGRAVÜRE 


BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  GEORG  REIMER 

1906. 


• 

• 

•      t     • 

»            • 

• 

• 

< 

•• 

Y:.\\ 

•  ■  ••_ 

•    • 

• 

•  •  • 

•  •••* 

•  ••  • 

••  • 

•  •  •  •  • 

• 

•  •  • 

.V.v. 

• 

•  •• 

>  •  •  « 

9 

•  •  • 

•  ■ 

::;:: 

'  •  «  • 

'  • 

•*•• 

;V.V 

•  •     • 

•  • 

,•• 

• 

•     • 

••  • 

• 

•  •  • 

•••• 

•  •    • 

•     • 

•     •     • 

•'•• 

•••• 

•    •• 

» •••« 

•  ** 

•.-'•• 

• 

•  ••  •  • 

•    • 

• 

•  •  • 

*•:•• 

•. 

•  • 

.•..• 

•  •  •• 

• 

• 

•  •  •  • 

i'Äv! 

In  halt. 


Seite 

Vorrede v — vi 

Deutscher  Nekrolog  vom  i.  Januar  bis  31.  Januar  1904 i — 347 

Ergänzungen  und  Nachträge 348 — 517 

Alphabetisches  Namenverzeichnis  I 518 

Alphabetisches  Namenverzeichnis  II 520 


%C>"5\<b 


Vo  r  wo  r  t. 


Band  IX  ist  wiederum  die  Gunst  berufenster  Mitarbeiter  zugute 
gekommen.  Die  Biographien  Waldersees  und  Herbert  Bismarcks 
hat  Hugo  Jacobi  übernommen.  Stremayr  würdigt  sein  namhaftester 
vertrauter  Unterstaatssekretär  Lemayer.  Den  badischen  Finanzminister 
Buchenberger  charakterisiert  Nicolai.  Lenbach  fand  einen  un- 
befangenen Richter  in  Bredt.  Von  Naturforschern  wurden  His  durch 
Spalteholz,  Seegen  durch  J.  Mauthner  porträtiert.  Den  Nekrolog 
von  Ottokar  Lorenz  schrieb  August  Fournier.  Das  Gedenkblatt 
für  Alexander  Meyer  Cohn  überließ  Erich  Schmidt.  Eduard 
Hanslicks  Lebenslauf  wird  von  Guido  Adler  gezeichnet,  Ratzen- 
hofers  Wirken  von  Ludwig  Stein  dargestellt. 

Ebenso  reich,  als  der  Text  für  das  Berichtsjahr  19O4  sind  die 
Nachträge  ausgefallen.  Ludo  M.  Hartmann  hat  sich  mit  der  Biographie 
Mommsens,  Helfferich  mit  der  Würdigung  Delbrücks,  Spiro  mit 
dem  Bildnis  Malvida  von  Meysenbugs,  Alfred  Klaar  mit  dem 
Nekrolog  von  Hieronymus  Lorm  eingestellt. 

Das  Ebenmaß  in  der  Raumverteilung  einzuhalten,  bleibt  ein  Haupt- 
gebot; dessen  Einlösung  wird  dem  Herausgeber  wesentlich  erleichtert 
durch  die  von  Georg  Wolff  mit  liebreicher,  treuer  Sorgfalt  gearbeiteten 
Totenlisten,  die  das  feste  Rückgrat  des  Jahrbuches  bilden  und  mit 
ihren  zuverlässigen  lebensgeschichtlichen  Angaben  und  Quellennach- 
weisen auch  in  Fällen  Ersatz  bieten,  in  denen  es  dem  Herausgeber 
trotz  mannigfaltiger  Bemühungen  nicht  oder  noch  nicht  gelang,  selb- 
ständige Nekrologe  zu  erhalten.  Die  Totenliste  für  1904  hat  Dr.  Wolff 
leider  trotz  allem  Zuwarten  nicht  mehr  vor  dem  Erscheinen  dieses 
Bandes  der  Druckerei  vollständig  zu  Gebote  stellen  können;  sie  folgt 
mit  der  Totenliste  für  1905  im  X.  Band. 


VI  Vorwort. 

Die  Winke  wohlwollender  Beurteiler,  die  dem  Unternehmen  seit 
seinem  Beginn  treu  geblieben  sind,  werden  ebensowohl  erwogen,  wie  die 
neuerer  Kritiker,  unter  denen  mit  besonderem  Dank  Georg  Kaufmanns 
jüngste  Anzeige  in  Sybels  Historischer  Zeitschrift  sowie  die  beherzigens- 
werten Fingerzeige  im  Literarischen  Centralblatt  hervorzuheben  sind. 
Wieviel  trotz  alledem  noch  zu  lernen  und  zu  bessern  bleibt,  ist  dem 
Herausgeber  wohl  bewußt,  der  biographische  Kunst  und  Forschung 
in  der  unscheinbarsten  Lebensbeschreibung  gepflegt  sehen  möchte. 
Wünsche  und  Gedanken,  die  mit  Immermanns  »Tagebuchblättern 
über  Goethes  Haus  und  Goethes  Grab«  vielfach  zusammentreffen:  »Wir 
sind  weit  mehr  in  Andern  vorhanden,  als  in  dem,  was  wir  unser  Selbst 
nennen.  Die  ganze  Bedeutung  des  höheren  Lebens  ist  aber,  aus  uns 
herauszugelangen  und  in  Anderen  eine  verklärte  Persönlichkeit  zu  ge- 
winnen. Denkt  man  dies  recht  durch,  so  verliert  der  Tod  den  größten 
Teil  seiner  Schaurigkeit,  selbst  wenn  man  die  Hoffnung  persönlicher 
Fortdauer  auf  sich  beruhen  läßt.«  »Nur  verliert  sich  alle  ängstliche 
und  ausmalende  Betrachtung  dieses  Punktes  an  den  Särgen  so  hoher 
Menschen,  wo  man  mit  einem  Blicke  ihre  verstäubende  Asche  und  ihr 
ewiges  wesenhaftes  Fortleben  auf  der  Oberwelt  umfaßt.  Dann  erscheint 
ein  unvergängliches  Leben  schon  hienieden  verbürgt.« 

Wien.  Anton  Bettelheim. 


Nachschrift.  Wiederum  hat  das  Biographische  Jahrbuch  den 
Heimgang  eines  seiner  wärmsten  Fürsprecher  und  treuesten  Mitarbeiter 
zu  beklagen:  Friedrich  von  Weech  ist  geschieden.  Nicht  zum 
wenigsten  seiner  Tatkraft  war  es  zuzuschreiben,  daß  unser  Unternehmen 
in  seinem  Bestände  erhalten  und  befestigt  wurde.  Seinem  gütigen 
Entgegenkommen  war  es  auch  zu  danken,  daß  sein  Name  das  Titelblatt 
des  Biographischen  Jahrbuchs  zieren  durfte. 

Der  Herausgeber. 


DEUTSCHER  NEKROLOG 


VOM  I.  JANUAR  BIS  3i.  DEZEMBER 


1904 


Homo  liber  de  nulla  re  minus  quam 

de  morte  cogitat  et  ejus  sapientia  non 

mortis»  sed  vitae  meditatio  est. 

Spinoza.    Ethices  pars  IV.  Propos. 
LXVII. 


Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.    9.  Bd 


Deutscher  Nekrolog  vom  i.  Januar  bis  31.  Dezember  1904. 


Waldersee,  Alfred  Ludwig  Heinrich  Karl  Graf  von,  Generalf eldmarschall, 
♦  8.  April  1832  zu  Potsdam,  f  Hannover  5.  Mai  1904.  —  Sein  Vater  war 
der  verstorbene  General  der  Kavallerie  und  Chef  des  4.  Dragoner-Regiments 
Graf  Franz  Waldersee,  seine  Mutter  eine  geborene  von  Hünerbein,  eine 
Tochter  des  bekannten  Kavallerieführers  der  Befreiungskriege  und  späteren 
kommandierenden  Generals  des  VI.  Armeekorps.  Seine  erste  Erziehung  genoß 
der  Knabe  im  elterlichen  Hause  und  in  den  Kadettenhäusern  von  Potsdam 
und  Berlin;  er  gehört  somit  zu  denjenigen  Führern  des  preußischen  Heeres, 
die  ihre  Tüchtigkeit  zum  wesentlichen  Teil  diesen  Anstalten  verdanken,  aus 
welchen  dem  Heere  so  viele  hervorragende  Männer  zugewachsen  sind.  Mit 
achtzehn  Jahren  trat  er  als  Leutnant  in  das  damalige  Garde-Artillerie-Regiment 
zu  Berlin  ein,  wurde  1852,  nach  absolviertem  Besuch  der  Artillerie-  und 
Ingenieurschule,  zum  Artillerieoffizier  ernannt  und  legte  während  der  folgenden 
sechs  Jahre  seine  dienstliche  Laufbahn  als  Abteilungsadjutant  und  als  Feuer- 
werksleutnant zurück.  Im  Jahre  1858  wurde  er  Adjutant  der  i.  Artillerie- 
Inspektion  und  bald  darauf  als  Begleiter  des  Generalleutnants  von  Hermann, 
Kommandeurs  der  3.  Division,  kommandiert,  der  mit  der  Inspektion  des 
württembergischen  Bundeskontingents  beauftragt  war.  Als  Generalfeldmarschall 
ist  Graf  Waldersee  dann  am  Abend  seines  Lebens  zu  den  württembergischen 
Truppen  abermals  in  dienstliche  Beziehungen,  und  zwar  als  Generalinspekteur, 
getreten.  Im  Jahre  1860  wurde  er  als  Premierleutnant  auf  zwei  Jahre  zum 
Gouverneur  des  Prinzen  Albert  von  Sachsen -Altenburg  ernannt.  Während 
dieses  Kommandos  tat  er  neun  Monate  lang  Dienst  bei  dem  5.  Ulanen-Regi- 
ment. 1862  wurde  er  Hauptmann,  1864,  während  der  damaligen  Kriegsbereit- 
schaft, Kommandeur  der  sechsten  reitenden  Gardebatterie,  später  Chef  der 
Garde -Handwerks -Kompagnie,  im  folgenden  Jahre  Adjutant  beim  General- 
feldzeugmeister, dem  Prinzen  Karl  von  Preußen,  in  dieser  Stellung  auch 
bereits  zum  Mitglied  der  Artillerie-Prüfungskommission  ernannt.  Er  begleitete 
den  Prinzen  in  den  Feldzug  von  1866  und  in  die  Schlacht  von  Königgrätz. 
Während  des  weiteren  Vormarsches  der  Armee  auf  Wien  wurde  er  von 
diesem  Verhältnis  entbunden  und  am  16.  Juli  dem  großen  Generalstab  zu- 
geteilt; am  28.  Juli  wurde  er  Major  und  wenige  Tage  später,  am  i.  August, 
als  Generalstabsoffizier  zum  damaligen  Generalgouvernement  des  Königreichs 
Hannover  kommandiert.  Bei  der  bald  darauf  erfolgten  Formierung  des 
10.  Armeekorps  trat  er  als  erster  Generalstabsoffizier  zum  Generalkommando 


!• 


A  von  VValdersce. 

über.  Mit  dieser  Kommandierung  nach  Hannover  hat  die  Laufbahn  des 
Grafen  Waldersee  ihre  eigentliche  Richtung  erhalten.  In  seiner  Eigenschaft 
als  erster  Generalstabsoffizier  fiel  ihm  die  Ordnung  der  Angelegenheiten 
der  ehemaligen  Hannoverschen  Offiziere  zu,  und  es  zeugte  für  ein  hohes 
Maß  von  Takt  und  Gewandtheit,  daß  der  damals  34jährige  Major  diese 
schwierige  Aufgabe  zu  voller  Zufriedenheit  löste.  König  Wilhelm  hatte  seine 
hervorragende  Eigenschaft,  sich  für  jede  Aufgabe  den  richtigen  Mann  heraus- 
zusuchen, auch  in  diesem  Falle  betätigt,  wo  an  die  Umsicht  des  Betreffen- 
den, seinen  Charakter,  seine  Fähigkeiten,  Menschen  zu  beurteilen  und  zu 
behandeln,  große  Ansprüche  gestellt  werden  mußten.  Dieses  Kommando 
knüpfte  den  Grafen  Waldersee  auch  zuerst  an  die  Provinz  Hannover,  mit 
der  er  in  vielfachen  Stellungen  verbunden  bleiben  sollte,  und  in  deren 
Hauptstadt  er  hochgeehrt  seine  Tage  beschlossen  hat.  Im  Jahre  1867  ward 
er  dann  in  den  Generalstab  der  Armee  einrangiert.  Auf  seiner  damaligen 
Dienstleistung  in  Hannover,  die  ihn  mit  so  vielen  Menschen  in  Berührung 
gebracht  hatte,  auf  seinem  dabei  bekundeten  Billigkeitssinn,  seiner  vornehmen 
Denkungsart  und  seiner  Geschicklichkeit,  beruhen  zum  nicht  geringen  Teil 
das  Ansehen  und  die  Popularität,  deren  er  bis  an  sein  Lebensende  in 
Hannover  sich  erfreut  hat.  Gleichzeitig  bot  die  ihm  gestellte  Aufgabe  mannig- 
fache Gelegenheit,  mit  dem  Ministerpräsidenten  und  Bundeskanzler,  Grafen 
Bismarck,  in  Verbindung  zu  treten,  ebenso  wie  sie  auch  zu  vielfachen  Ein- 
blicken in  die  Zivilverwaltung  und  zugleich  in  die  weifischen  Bestrebungen  führte, 
deren  entschiedener  Gegner  er  bis  an  sein  Lebensende  geblieben  ist.  Durch 
seine  Tätigkeit  erwarb  er  sich  die  Anerkennung  des  Königs  und  des  Minister- 
präsidenten sowie  die  seines  kommandierenden  Generals,  des  sonst  so  gefürch- 
teten Voigts -Rhetz,  der  vor  der  Berufung  Moltkes  allgemein  als  der  künftige 
Chef  des  Generalstabes  der  Armee  gegolten  hatte.  Dem  General  v.  Voigts- 
Rhetz  war  Waldersee  auch  menschlich  näher  getreten  und  hatte  sich  sein 
volles  Vertrauen  erworben.  Der  spätere  Briefwechsel  zwischen  beiden  spricht 
dafür. 

Es  konnte  unter  diesen  Umständen  nicht  weiter  auffallen,  daß  Graf 
Waldersee  im  Januar  1870  zur  Botschaft  in  Paris  kommandiert  und  in  dieser 
Stellung  am  2.  Mai  zum  Flügeladjutanten  des  Königs  ernannt  wurde.  In 
Paris  hatte  er  von  neuem  Gelegenheit,  in  dieser,  dem  Kriege  unmittelbar 
vorangehenden  Periode  wertvolle  Dienste  zu  leisten.  Mit  großer  Umsicht 
hatte  er  sich  sehr  bald  Einblicke  in  die  französischen  Armee  Verhältnisse  ver- 
schafft, und  als  im  Anfang  Juli  die  ersten  Rüstungen  Frankreichs  begannen, 
war  Graf  Waldersee  in  der  Lage,  sie  von  Schritt  zu  Schritt  aufmerksam 
überwachen  zu  können.  Das  im  Herbst  1904  vom  preußischen  Kriegs- 
ministerium herausgegebene  Werk  über  die  Mobilmachung  von  1870  enthält 
wertvolle  Aufschlüsse  über  Waldersees  Berichterstattung  aus  jener  Zeit, 
die  wesentlich  dazu  beitrug,  daß  die  deutschen  Gegenmaßregeln  rechtzeitig 
und  umfassend  getroffen  wurden.  Bereits  am  9.  Juli  hatte  er  in  einem  Bericht 
an  den  König  ausgesprochen,  daß  er  den  Krieg  für  eine  beschlossene 
Sache  halte  upd  am  11.  Juli  traf  in  Ems  ein  tags  zuvor  von  ihm  abge- 
sandter Bericht  ein,  der  in  zwölf  Punkten  die  begonnenen  Rüstungen  fest- 
stellte. Außerdem  verfaßte  Graf  Waldersee  eine  populäre  Zusammenstellung 
über  die  Marsch-  und  Gefechtsweise  der  französischen  Armee,  die  Handhabung 


von  Waldersee.  c 

des  Lagerdienstes  usw.,  die  in  den  Tagen  nach  der  Kriegserklärung  vom  19.  Juli 
in  Berlin  zur  Veröffentlichung  gelangte  und  dann  in  vielen  Tausenden  von 
Exemplaren  als  Leitfaden  für  den  Sieg  mit  nach  Frankreich  gewandert  ist. 
Von  Waldersees  Berichten  aus  Paris,  die  sich  alle  durch  besonnene  Klarheit 
auszeichneten,  sind  diejenigen  von  besonderer  Wichtigkeit  gewesen,  welche 
sich  auf  die  Bewaffnung  der  französischen  Infanterie  bezogen.  An  höherer  Stelle 
in  Berlin  bestand  vor  dem  Kriege  geringe  Neigung,  an  die  Überlegenheit 
des  Chassepotgewehres  zu  glauben,  wiewohl  Warnungen  von  einsichtigen 
Leuten  nicht  ausgeblieben  waren.  Graf  Waldersee  machte  darauf  aufmerksam, 
daß  und  wie  die  Fechtweise  unserer  Infanterie  sich  nach  der  Wirkung  des 
Chassepots  einzurichten  habe,  seine  Angaben  haben  sich  als  richtig  und  wert- 
voll erwiesen.  Bei  der  Mobilmachung  wurde  Graf  Waldersee  in  das  große 
Hauptquartier  zur  Dienstleistung  bei  dem  Könige  kommandiert  und  gleich- 
zeitig zum  Oberstleutnant  befördert.  Während  des  langen  Aufenthalts  in 
Versailles  trat  er  in  häufige  Verbindung  mit  Bismarck,  an  dessen  Tisch  er, 
wie  die  Aufzeichnungen  von  Busch  ergeben,  ein  häufiger  Gast  war,  im 
Gefolge  des  Königs  hatte  er  an  den  Schlachten  von  Gravelotte,  Beaumont 
und  Sedan  teilgenommen.  Als  im  November  1870  die  Verhältnisse  an  der 
Loire  schwierig  wurden,  ward  Graf  Waldersee  im  speziellen  Auftrage  des 
Königs  zum  Prinzen  Friedrich  Karl  kommandiert.  Er  nahm  in  dieser  Stellung 
an  allen  Schlachten  und  größeren  Gefechten  der  2.  Armee  teil.  Der  Krieg 
war  deutscherseits  dort  nicht  mit  dem  Grade  von  Umsicht  und  Energie  be- 
trieben worden,  den  die  Kriegslage  verlangte.  In  einem  Aufsatz  der  »Grenz- 
boten«, Märzheft  1904,  finden  wir  darüber  folgende  Darstellung: 

»Man  begann  in  Versailles  wegen  der  weiteren  Entwicklung  der  Dinge 
Besorgnis  zu  empfinden,  und  der  König,  der  den  Optimismus  seiner  mili- 
tärischen Umgebung  seit  Sedan  ohnehin  nicht  zu  teilen  vermochte,  mit 
der  einlaufenden  Berichterstattung  des  Oberkommandos  der  2.  Armee  sowie 
der  Armeeabteilung  des  Großherzogs  von  Mecklenburg  auch  wenig  zufrieden 
war,  beschloß,  einen  Offizier  dorthin  zu  entsenden,  der  in  unabhängiger 
Stellung  die  Sachlage  prüfen,  ihm  Bericht  erstatten  und  zumal  bei  dem 
Prinzen  Friedrich  Karl  die  Anschauungen  des  Königs  vertreten  sollte.  Die 
Wahl  war  nicht  leicht  zu  treffen.  Es  mußte  die  Empfindlichkeit  des  Prinzen 
geschont,  auf  die  souveraine  Stellung  des  Großherzogs,  nicht  minder  auf 
Moltke  und  den  großen  Generalstab  Rücksicht  genommen,  dennoch  im  Sinne 
des  Königs  mit  Energie  gehandelt  werden.  Schließlich  fiel  die  Wahl  auf  den 
Grafen  Waldersee,  dem  der  König  mit  der  ihm  eigenen,  ruhigen  Klarheit 
auseinandersetzte,  um  was  es  sich  handelte,  ihm  auch  ein  Schreiben  an  den 
Prinzen  behändigte,  worin  die  Ansichten  des  Königs  entwickelt  waren,  die 
Waldersee  seinerseits  mündlich  erläutern  sollte.  Die  Abreise  mußte  ohne 
vorherige  Meldung  oder  Rücksprache  bei  Moltke  oder  dem  Generalstab  er- 
folgen, damit  Graf  Waldersee  die  Anschauungen  des  Königs  in  voller  Un- 
abhängigkeit und  unbeeinflußt  vertreten  konnte.  Er  erhielt  zudem  den  Befehl, 
bis  zu  seiner  Abberufung  bei  dem  Prinzen  zu  bleiben  und  dem  König  täglich 
zu  berichten.« 

Fritz  Honigs  Buch  »Der  Volkskrieg  an  der  Loire«  enthält  über  diese 
Mission  sehr  eingehende  und  interessante  Einzelheiten,  namentlich  auch  die 
mündlichen  Instruktionen  des  Königs.   Prinz  Friedrich  Karl,  dem  Waldersee 


6  von  Walderscc. 

schon  als  Adjutant  seines  Vaters  bekannt  gewesen  war,  empfing  ihn  sehr 
freundlich  und  erleichterte  ihm  seine  delikate  Mission  auf  jede  Weise,  indem 
er  ihn  zugleich  für  Unterkunft  und  Verpflegung  seinem  Hauptquartier  attachierte. 
Graf  Waldersee  erfüllte  auch  diese  schwierige  Aufgabe  mit  Auszeichnung  und 
unter  wiederholten  Beweisen  großer  persönlicher  Bravour.  Er  führte  bei  Beaune 
la  Rolande  »als  alter  Artillerist«  auf  Wunsch  des  kommandierenden  Generals 
die  erste  auffahrende  Batterie  des  3.  Armeekorps  in  Stellung,  nachdem  er, 
das  im  Vormarsch  begriffene  Korps  durch  einen  schnellen  Ritt  von  drei 
Meilen  überholend,  dem  im  verzweifelten  Ringen  begriffenen  10.  Armeekorps 
die  Kunde  überbracht  hatte,  daß  die  Ankunft  der  Brandenburger  binnen  drei 
Stunden  zu  erwarten  sei.  Er  hat  dadurch  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  die 
braven  Truppen  des  10.  Armeekorps  zum  Ausharren  zu  ermuntern,  auch  konnte 
er  den  anrückenden  Truppen  der  5.  und  6.  Division  die  geeignetste  Richtung 
zum  Angriff  geben.  In  der  Schlacht  bei  Loigny  sprang  er  vom  Pferde  und 
ging  mit  einer  Pionierkompagnie  zur  Besetzung  der  entblößten  Südspitze  des 
Ortes  vor,  sich  persönlich  an  dem  dort  erforderlichen  Schnellfeuer  beteili- 
gend. Sein  Aufenthalt  beim  Prinzen  Friedrich  Karl  und  dem  Großherzog 
von  Mecklenburg  brachte  ihn  an  14  verschiedenen  Gefechtstagen  ins  Feuer. 
Nach  Versailles  zurückgekehrt,  empfing  er  aus  der  Hand  des  Königs  das 
Eiserne  Kreuz  i.  Klasse,  das  der  Monarch  ihm  selbst  an  den  Rock  heftete. 
Vom  2.  bis  31.  Januar  1870  wurde  er  als  Chef  des  Generalstabes  beim  Großherzog 
von  Mecklenburg  kommandiert.  Seine  Tätigkeit  in  dieser  Stellung  ist  eine  sehr 
ersprießliche  gewesen  und  brachte  ihm  die  Anerkennung  und  Zuneigung  dieses 
vortrefflichen  Fürsten  ein.  Mit  Eintritt  des  Waffenstillstandes  trat  Waldersee  in 
das  große  Hauptquartier  zurück,  und  als  vor  dem  Einzug  in  Paris  General  von 
Kamecke  zum  Kommandanten  des  von  den  Deutschen  zu  besetzenden  Teiles 
der  französischen  Hauptstadt  ernannt  worden  war,  wurde  Graf  Waldersee  zu 
ihm,  »zur  Kommandantur  in  Paris«  kommandiert,  das  er  sechs  Monate  zuvor  als 
preußischer  Militärbevollmächtigter  verlassen  hatte.  In  dem  zahlreichen  Stabe 
des  Generals  von  Kamecke  war  er  der  einzige  Generalstabsoffizier  und  der 
Chef  des  Stabes.  Über  dieses  Kommando  berichten  die  »Grenzboten«  :  »Bevor 
er  sich  nach  Paris  begab,  meldete  Graf  Waldersee  sich  bei  Bismarck.  Auf 
die  Frage  über  das  Verhalten  bei  eintretenden  Unruhen  entgegnete  der 
Kanzler,  daß  Schreien,  Schimpfen  und  einzelne  Steinwürfe  von  Straßenjungen 
ignoriert  werden  sollten,  würden  dagegen  die  deutschen  Truppen  ernstlich 
angegriffen,  »so  schießen  Sie  dazwischen,  daß  die  Knochen  fliegen«.  — 
Bekanntlich  dauerte  die  Besetzung  von  Paris  nur  drei  Tage.  Als  bei  dem 
großen  Zapfenstreich  am  Abend  des  dritten  Tages  das  Kommando  »Helm 
ab  zum  Gebet!«  gegeben  wurde,  entblößten  mit  den  Truppen  auch  viele 
Pariser  das  Haupt,  und  Graf  Waldersee  hörte  aus  ihren  Reihen  das  Wort: 
»Voi/a  fe  qui  fioNS  manqucf^.  Ähnlich  berichtet  auch  Graf  Fred  Frankenberg  in 
seinem  Kriegstagebuche  über  die  Äußerung :  »f"«  a  iti  une  bonne  Ufon  pour  nousl^^ 
Alsbald  nach  dem  Friedensschluß  ergab  sich  das  Bedürfnis,  die  diplomatischen 
Beziehungen  zur  französischen  Regierung  wieder  aufzunehmen,  Graf  Waldersee 
wurde  am  12.  Juni  zum  Geschäftsträger  bei  der  französischen  Republik  ernannt, 
wiederum  ein  Beweis  für  das  Vertrauen  in  seine  vielseitige  Befähigung.  Er 
trat  damit  vorübergehend  in  den  diplomatischen  Dienst  und  wurde  so  der 
Untergebene  Bismarcks.      Von    dem    amerikanischen    Gesandten   Washburne, 


von  Waldersee.  7 

der  während  des  Krieges  sich  der  in  Paris  zuriickgebliebenen  Deutschen  mit 
großer  Hingebung  angenommen  hatte,  übernahm  er  mit  Überreichung  eines 
Schreibens  des  Bundeskanzlers  das  Botschaftsarchiv. 

Es  waren  zu  jener  Zeit  mancherlei  Schwierigkeiten  durch  die  Stellung 
des  Oberbefehlshabers  der  Okkupationsarmee,  Generals  von  Manteuffel,  und 
dessen  eigenmächtige  Verhandlungen  mit  der  französischen  Regierung  ent- 
standen. Waldersees  Ernennung  zum  Geschäftsträger  beruhte  wesentlich 
darauf,  diese  Situation  vom  Standpunkt  des  deutschen  diplomatischen  Inter- 
esses aus  zu  überwachen,  und  er  kam  in  die  Lage,  dem  Oberbefehlshaber 
der  Okkupations- Armee  gegenüber  ziemlich  bestimmt  Stellung  zu  nehmen. 
Manteuffel  trieb  damals  seine  eigene  Politik,  der  amtlichen  Politik  Bismarcks 
entgegengesetzt,  die  bei  den  Franzosen  zu  befehden  er  keinen  Anstand 
nahm.*)  Waldersee  trat,  obwohl  nur  Oberstleutnant,  dem  General  hierbei 
mit  Takt  und  Energie  entgfegen  und  beantwortete  dessen  Aufforderung, 
ihn  in  seiner  militärischen  Eigenschaft  zu  unterstützen,  mit  einem  entschie- 
denen Hinweis  auf  seine  diplomatische  Stellung.  Selbstverständlich  ging  das 
nicht  ohne  Reibungen  ab.  Die  Stellung  war  somit  eine  sehr  interessante, 
aber  auch  —  wie  Waldersee  selbst  sagte  —  eine  der  anstrengendsten  Tätig- 
keiten seines  Lebens.  Es  leuchtet  ein,  daß  schon  die  Wiederanknüpfung  der 
Beziehungen  in  Paris  keine  leichte  und  das  Leben  mühsam  war.  Mit  den 
maßgebenden  Persönlichkeiten  der  französischen  Regierung  stellte  er  jedoch 
—  soweit  das  bei  den  eigenartigen  Verhältnissen  möglich  war  —  bald  die 
besten  Beziehungen  her,  namentlich  zu  den  Herren  Thiers  und  Pouyer-Quertier, 
dem  Finanzminister. 

Die  Verhältnisse  brachten  für  Waldersee  eine  ziemlich  rege  diplomatische 
Berichterstattung  mit  sich.  Bei  Busch  (»Bismarck  und  seine  Leute«)  findet 
sich  aus  einem  Erlaß  Bismarcks  an  Waldersee  vom  25.  Juli  1871  der  Satz 
wiedergegeben:  »Die  Erhaltung  der  Gesandtschaften  von  Bundesstaaten  im 
Auslande  liegt  nicht  im  Interesse  des  Reichs.  Wir  können  aber  ihr  allmäh- 
liches Verschwinden  von  der  Zeit  und  den  Budget -Debatten  der  Einzel- 
staaten erwarten«.  —  Am  ersten  Jahrestage  von  Gravelotte  war  Waldersee 
zum  Oberst  befördert  worden.  Wenige  Tage  später  wurde  er  von  seinem 
Kommando  nach  Paris  unter  ehrender  Anerkennung  des  Kaisers  ent- 
bunden, nachdem  sich  namentlich  den  Man teuff eischen  Seitensprüngen 
gegenüber  die  Notwendigkeit  ergeben  hatte,  die  dortige  diplomatische 
Vertretung  des  Deutschen  Reiches  wieder  endgültig  durch  Ernennung  eines 
Botschafters  zu  besetzen.  Graf  Waldersee  wurde  zum  Kommandeur  des 
13.  Ulanen-Regiments  in  Hannover,  den  heutigen  Königsulanen,  ernannt  und 
verblieb  in  dieser  Stellung  bis  zum  9.  Dezember  1873,  an  welchem  Tage 
seine  Ernennung  zum  Chef  des  Generalstabes  des  10.  Armeekorps  unter  Ver- 
setzung in  den  Generalstab  erfolgte.  In  der  Stellung  als  Chef  des  General- 
stabes des  10.  Armeekorps  in  Hannover,  dessen  kommandierender  General 
Prinz  Albrecht  von  Preußen  (der  jetzige  Regent  von  Braunschweig)  war,  ist 
Waldersee  auch  als  General  bis  zum  Dezember  1881  verblieben.  Zuvor  war 
er  sowohl  während  der  Berliner  Drei-Kaiser-Zusammenkunft  als  auch  für  die 


«)  Thiers'  hinterlassene,  von  seiner  Nichte  Fräulein  Dosne  veröffentlichte  Aufzeichnungen 
verbreiten  hierüber  volle  Klarheit.     Vgl.  auch  Keudell,  Fürst  und  Fürstin  Bismarck  S.  480/83. 


8  von  Waldersee. 

Reise  des  Kaisers  nach  St.  Petersburg  im  Frühjahr  1873  zur  Dienstleistung 
bei  dem  Monarchen  befohlen  worden.  Das  Gleiche  war  im  Jahre  1875  während 
der  großen  Herbstübungen  der  Fall,  am  10.  August  1876  erfolgte  die  Beför- 
derung zum  Generalmajor.  Das  Jahr  1879  brachte  zwei  neue  Kommandos, 
zum  Ehrendienst  zunächst  vom  9.  bis  14.  Juni  bei  dem  Prinzen  Arnulf  von 
Bayern  und  vom  16.  September  bis  14.  Oktober  zur  Beiwohnung  der  Manöver 
des  3.  und  12.  französischen  Armeekorps.  Im  Jahre  1880  lag  ihm  die  Leitung 
der  Übungen  im  Festungskriege  bei  Königsberg  ob,  im  September  hatte  er 
abermals  ein  Ehrendienstkommando  bei  der  Person  des  Herzogs  von  Connaught, 
dem  Schwiegersohn  des  Prinzen  Friedrich  Karl,  am  18.  September  erfolgte 
die  Ernennung  zum  General  ä  la  suite.  Im  Januar  1881  ward  General  Graf 
Waldersee  zunächst  mit  einer  Mission  bei  dem  Herzog  von  Braunschweig 
beauftragt,  sodann  vom  23.  Februar  bis  2.  März  zum  Dienst  beim  Kaiser 
während  der  damaligen  Vermählungsfeierlichkeiien  am  Berliner  Hofe  befohlen, 
ebenso  im  September  zur  Flottenrevue  in  Kiel.  Gegen  Ende  des  Jahres 
wurde  er  zum  Generalquartiermeister  ernannt,  er  trat  damit  als  Adlatus  des 
Feldmarschalls  v.  Moltke  in  den  großen  Generalstab  nach  Berlin  zurück. 
Am  II.  Juni  1882  zum  Generalleutnant  befördert  —  im  Alter  von  50  Jahren 
—  trat  er  während  der  nun  folgenden  Zeit  der  Person  des  Prinzen  Wilhelm, 
des  jetzigen  Kaisers,  näher,  den  er  auch  im  Mai  1884  auf  einer  Reise  nach 
Petersburg  anläßlich  der  Großjährigkeitserklärung  des  Großfürsten  Thron- 
folgers, des  heutigen  Kaisers  von  Rußland,  begleitete.  Am  22.  März  1885 
wurde  er  zum  General-Adjutanten  des  Kaisers  ernannt,  im  August  1887  zur 
Beiwohnung  der  österreichischen  Manöver  bei  Olmütz  und  im  November 
zum  Ehrendienst  beim  Großfürsten  Thronfolger  von  Rußland  kommandiert. 
Im  Jahre  1888  erfolgte  im  Juni  seine  Entsendung  nach  Pest,  um  dem  Kaiser 
Franz  Josef  die  Notifikation  der  Thronbesteigung  Kaiser  Wilhelms  II.  zu 
überbringen,  Kaiser  Friedrich  hatte  zuvor  während  seiner  kurzen  Regierung 
den  Grafen  Waldersee  unterm  23.  April  zum  General  der  Kavallerie  befördert. 
In  Hofkreisen  hatte  damals  die  Absicht  bestanden,  den  General  aus  Berlin 
zu  entfernen.  Der  Plan  scheiterte  aber  an  dem  entschlossenen  Widerspruch 
des  Feldmarschalls  Moltke,  der  mit  aller  Entschiedenheit  seinen  Abschied  in 
Aussicht  stellte,  falls  man  ihm  diesen  seinen  Mitarbeiter  entziehen  würde.  Als 
Moltke  dann  am  10.  August  1888  seinen  Abschied  nahm,  wurde  Waldersee 
sein  Nachfolger  unter  Belassung  in  seinem  Verhältnis  als  Generaladjutant  und 
unter  Stellung  ä  la  suite  des  Ulanenregiments  Nr.  13.  An  der  Spitze  des 
Generalstabes  verblieb  Graf  Waldersee  bis  zum  2.  Februar  1891.  Wenn  man 
von  der  Leitung  der  chinesischen  Expedition  absieht,  so  bezeichnen  diese 
Jahre  für  den  Grafen  Waldersee  den  eigentlichen  Höhepunkt  seines  Wirkens. 
Durch  ihn  wurde  der  große  Generalstab  auf  eine  Höhe  gehoben,  die  er  selbst 
unter  Moltke  nicht  erreicht  hatte  und  die  ihm  ein  Ansehen  wie  in  keiner 
anderen  europäischen  Armee  gab.  Auf  Wunsch  Italiens  hatten  die  Dreibund- 
mächte besondere  militärische  Verabredungen  für  den  Fall  beschlossen,  daß 
ihre  politischen  Bündnisse  in  praktische  Wirksamkeit  zu  treten  hätten.  Es 
wurden  damals  italienische  und  österreichische  Offiziere  in  den  Generalstab 
nach  Berlin  kommandiert,  Verabredungen  über  Mobilmachung  und  Aufmarsch 
getroffen,  die  seitdem,  unter  wesentlich  veränderten  Verhältnissen,  freilich 
längst  hinfällig  geworden  sind.    Die  Gestaltung  der  Beziehungen  zu  Rußland 


von  VValdersee.  q 

erforderte  damals  mancherlei  Vorbereitungen.  Schon  die  russischen  Drohungen 
im  Jahre  1879  hatten  die  militärische  Aufmerksamkeit  auf  die  Ostgrenze 
gelenkt.  Es  ist  behauptet  worden,  daß  namentlich  Moltke  die  damalige 
militärische  Überlegenheit  Deutschlands  über  Rußland  habe  ausgenutzt  wissen 
wollen.  Bei  dem  hohen  Lebensalter  Kaiser  Wilhelms  I.  und  der  schweren 
Erkrankung  des  Kronprinzen  hätte  aber  für  Deutschland  nichts  unerwünschter 
sein  können  als  ein  Krieg  mit  einer  europäischen  Großmacht  oder  gar 
mehreren  Großmächten,  wobei  der  kaiserliche  Oberbefehl  gefehlt  haben  würde. 
Auch  ist  Bismarck  bekanntlich  ein  entschiedener  Gegner  von  Präventivkriegen 
gewesen;  er  hat  sich  im  Jahre  1888  in  seiner  damaligen  berühmten  Reichstags- 
rede mit  großer  Bestimmtheit  darüber  ausgesprochen.  Im  Laufe  des  Jahres  1890 
geriet  Graf  Waldersee  gelegentlich  der  schlesischen  Manöver  durch  seine 
am  Schluß  derselben  gehaltene  Kritik  sowie  auch  noch  bei  späteren  An- 
lässen in  militärische  Differenzen  mit  dem  Kaiser  und  reichte  infolgedessen 
Ende  Januar  1891  seine  Entlassung  ein.  Unter  dem  2.  Februar  wurde  er, 
nach  Ablehnung  seines  wiederholten  Abschiedsgesuchs,  zum  kommandierenden 
General  des  9.  Armeekorps  ernannt.  Eine  sehr  schmeichelhafte  Kabinetsordre 
sprach  aus,  daß  er  im  Kriegsfalle  zur  Führung  einer  Armee  ausersehen  sei, 
und  aus  diesem  Grunde,  da  er  bisher  ein  Armeekorps  noch  nicht  geführt 
habe,  ein  solches  kommandieren  solle.  Graf  Waldersee  hat  das  Korps  dann 
sieben  Jahre  lang  geführt  und  ist  unermüdlich  darauf  bedacht  gewesen,  es 
in  allen  Waffen  auf  die  höchste  Höhe  der  Ausbildung  und  Vervollkomm- 
nung zu  heben,  sich  auch  das  Wohlergehen  von  Offizieren  und  Mannschaften 
nach  jeder  Richtung  hin  angelegen  sein  zu  lassen.  Was  er  dem  Korps 
gewesen  ist,  hat  dieses  im  Nachrufe  beim  Hinscheiden  des  Feldmarschalls 
dankbar  anerkannt.  Auch  in  dieser  neuen  Stellung  ward  er  wiederholt  zu 
Ehrendiensten  berufen,  so  im  September  beim  König  Albert  von  Sachsen  und 
im  Juni  folgenden  Jahres  beim  König  Umberto  von  Italien.  Am  1 2.  September 
1895  erfolgte  nach  den  damaligen  Manövern  in  Pommern  seine  Beförderung 
zum  Generaloberst  mit  dem  Range  eines  Generalfeldmarschalls.  Im  Jahre  1896 
führte  er  den  Oberbefehl  über  das  5.  und  6.  Armeekorps  während  der  großen 
Manöver  bei  Bautzen;  nach  dem  Abschlüsse  erfolgte  seine  Ernennung  zum 
Chef  des  9.  Feld- Artillerie-Regiments,  in  beiden  Fällen  hatte  er  als  Ober- 
befehlshaber einer  Armee  eine  bedeutende  Geschicklichkeit  in  der  Führung 
großer  Truppenmassen  bewiesen.  In  der  Stellung  als  kommandierender  General 
verblieb  Graf  Waldersee  bis  zum  Jahre  1898.  Aus  seiner  Wirksamkeit  in  Altona 
ist  noch  das  Cholerajahr  1892  hervorzuheben.  Der  ruhigen  Entschlossenheit 
des  Generals  ist  es  zu  danken,  daß  der  gesamte  Behördenapparat  kaltes 
Blut  bewahrte  und  der  Verbreitung  der  Seuche  ein  Riegel  vorgeschoben 
wurde.  Eine  besondere  kaiserliche  Ordre  erkannte  diese  Haltung  in  warmen 
Ausdrücken  an.  Am  i.  April  jenes  Jahres  erfolgte  die  Ernennung  zum 
Generalinspekteur  der  3.  Armee-Inspektion  mit  Anweisung  des  Wohnsitzes  in 
Hannover.  Im  Mai  wurde  er  mit  der  Besichtigung  der  württembergischen 
Truppen  und  des  7.  Armeekorps  für  den  Herbst  beauftragt,  während  der 
Kaisermanöver  des  7.  und  10.  Armeekorps  fungierte  er  als  Schiedsrichter. 
Im  folgenden  Jahre  war  er  gleichfalls  mit  Besichtigungen,  diesmal  des 
8.  Armeekorps  und  der  württembergischen  Truppen  beauftragt,  bei  den 
großen    Herbstmanövern    des    13.,    14.    und    15.    Armeekorps    bekleidete    er 


10  von  Waldersee. 

wiederum  das  Schiedsrichteramt.  Im  Jahre  1900  ward  ihm  die  Besichtigung 
des  18.  und  des  11.  Armeekorps  übertragen.  Unter  dem  6.  Mai  erfolgte  seine 
Ernennung  zum  Generalfeldmarschall.  Als  bald  darauf  die  Wirren  in  China 
die  Entsendung  eines  Expeditionskorps  erforderlich  machten,  welchem  Truppen 
dreier  Weltteile  angehörten,  wurde  Graf  Waldersee  unter  dem  6.  August  zum 
Oberbefehlshaber  ernannt.  Nach  der  Heimkehr  im  Sommer  des  folgenden 
Jahres  trat  er  wieder  in  seine  Stellung  als  Generalinspekteur  der  3.  Armee- 
Inspektion  zurück,  in  welcher  Stellung  er  aus  dem  Leben  geschieden  ist. 
Seine  Inspektionen  in  Süddeutschland  brachten  ihn  in  häufige  Berührung  mit 
den  Höfen  von  Württemberg  und  Baden  und  führten  namentlich  zur  Wieder- 
aufnahme alter  vertraulicher  Beziehungen  zum  Grofiherzog  Friedrich,  dessen 
Gast  er  auch  nach  der  Rückkehr  aus  China  noch  wiederholt  gewesen  ist. 
Vorübergehende  Verstimmungen  zwischen  den  Höfen  von  Karlsruhe  und 
Berlin,  die  in  Vorgängen  militärischer  Natur  wurzelten,  sind  dabei  wohl 
durch  ihn  beglichen  worden. 

Graf  Waldersee  gehört  der  Kategorie  der  preußischen  Generale  an, 
denen  neben  hohen  militärischen  Würden  gleichzeitig  große  politische  Ver- 
trauensstellungen übertragen  worden  sind.  Am  nächsten  läge  der  Vergleich 
mit  dem  Feldmarschall  Edwin  Manteuffel,  aber  Graf  Waldersee  hat  diesen 
an  militärischem  Urteil,  an  Umsicht  und  Bedeutung  in  der  praktischen  Be- 
urteilung von  Menschen  und  Dingen  sowie  an  Dienstkenntnis  weit  über- 
ragt. Der  Unterschied  in  dem  Unterbau  der  militärischen  Laufbalm  beider 
Generale  erklärt  neben  den  Charakterverschiedenheiten  diesen  Umstand  zur 
Genüge.  W^aldersee  hat  in  seinem  Dienstleben  den  Truppen  ungleich  näher 
gestanden  als  Manteuffel,  war  mehr  Praktiker,  jener  mehr  Theoretiker;  auch 
hatte  Waldersee  namentlich  während  seines  Kommandos  zum  Prinzen  Friedrich 
Karl  im  Jahre  1870  auf  den  Schlachtfeldern  im  feindlichen  Feuer  Studien  ge- 
macht, zu  denen  Manteuffel  keine  Gelegenheit  gehabt  hatte,  und  woran  ihn 
auch  als  Feldherrn  seine  Kurzsichtigkeit  behinderte.  Dazu  kam,  daß  Graf 
Waldersec  einen  stählernen,  abgehärteten,  unermüdlichen  Körper  besaß,  ein  vor- 
trefflicher Reiter  war  und  sich  namentlich  im  schnellen  Erfassen  von  Situationen 
und  durch  einen  großen  Überblick  auszeichnete,  so  daß  er  jede  ihm  zugewiesene 
Stellung  bald  aus  eigenem  Wissen  und  Können  beherrschte  und  ihr  neue  und 
wertvolle  Gesichtspunkte  abzugewinnen  wußte.  W^aldersee  war  weit  mehr  wie 
Manteuffel  mit  Leib  und  Seele  Soldat.  Eigen  war  ihm  auch  die  Fähigkeit, 
sich  in  alles  hineinzudenken,  sowie  die  Motive  der  Menschen  zu  ergründen 
und  zu  würdigen.  Seine  Interessen  waren  sehr  umfassende,  aber  in  allem, 
was  an  ihn  herantrat,  verstand  er  sehr  schnell  das  Unwesentliche  vom  Wesent- 
lichen zu  unterscheiden.  Wo  immer  er  zur  Wirksamkeit  berufen  war,  hat 
sich  das  betätigt,  und  die  zahlreichen  und  wertvollen  persönlichen  Beziehungen 
seines  vielseitigen  Dienstlebens  leisteten  ihm  dabei  großen  Vorschub.  So  war 
er  während  seiner  Stellung  als  kommandierender  General  des  9.  Armeekorps 
auch  in  engere  Beziehungen  zur  Marine  und  zu  den  Hansestädten,  namentlich 
zu  Hamburg  getreten,  wo  er  eine  durchaus  populäre  Persönlichkeit  geworden 
ist,  ebenso  wie  in  Hannover;  die  Hamburg-Amerika-Linie  taufte  einen  ihrer 
neueren  Schnelldampfer  auf  seinen  Namen.  Die  Reise  nach  China  brachte 
ihn  gleichfalls  mit  dem  Seewesen  in  enge  Berührung,  mit  der  Flotte  in 
unmittelbar    dienstliche  Beziehungen.     Obwohl   es  für  die  letztere  sicherlich 


von  Waldersee.  1 1 

nichts  Geringes  war,  bei  ihrer  ersten  überseeischen  größeren  Tätigkeit  unter  den 
Oberbefehl  eines  Landsoldaten  gestellt  zu  sein,  hat  Graf  Waldersees  große  Ge- 
schicklichkeit dennoch  nicht  nur  jede  Friktion,  die  sich  aus  solchem  Verhältnis 
leicht  hätte  ergeben  können,  vermieden,  sondern  es  haben  zwischen  ihm  und 
der  Marine  in  China  unausgesetzt  stets  die  allerbesten  persönlichen  und  dienst- 
lichen Beziehungen  bestanden.  —  Der  Umstand,  daß  er  die  verschiedensten 
Teile  des  Heeres  auf  den  Schlachtfeldern  persönlich  kennen  gelernt  hatte, 
in  den  Kämpfen  an  der  Loire  sich  wiederholt  mit  Erfolg  an  der  Führung 
beteiligen  konnte,  sich  dort  auch  in  einer  Stellung  befand,  die  ihm  einen 
großen  Überblick  und  einen  Einblick  in  den  Zusammenhang  der  Dinge  ge- 
währte, ist  ihm  für  die  Schärfung  seines  Verständnisses  für  die  praktischen 
Verhältnisse  und  Bedürfnisse  des  Feldlebens  von  ganz  außerordentlichem 
Vorteil  gewesen  und  hat  ihn  namentlich  die  Grenze  des  Erreichbaren  in  den 
Anforderungen  an  die  Truppen  überall  mit  Sicherheit  finden  gelehrt.  So  konnte 
er  während  der  chinesischen  Expedition  namentlich  an  die  deutschen  Regimenter 
selbst  sehr  weitgehende  Zumutungen  mit  der  vollsten  Sicherheit  ihrer  Ausführ- 
barkeit stellen.  Er  erwarb  sich  dadurch  sowie  durch  das  Beispiel,  das  die 
Deutschen  gaben,  zugleich  das  Vertrauen  der  fremden  Kommandanten,  zumal 
der  Franzosen,  die  freilich  aus  politischen  Gründen  äußerlich  eine  gewisse 
Zurückhaltung  beobachten  mußten,  innerlich  ihm  jedoch  mit  vollstem  Ver- 
trauen anhingen.  Seine  Stellung  in  China  war  neben  der  militärischen  zu- 
gleich eine  politische  und  diplomatische  in  einem  Umfange  und  von  einer 
Bedeutung,  wie  sie  vordem  in  der  Geschichte  vielleicht  noch  nicht  bestanden 
hat,  und  dennoch  war  es  ihm  gelungen,  sowohl  mit  der  heimatlichen  Leitung 
der  Politik  als  auch  mit  den  militärischen  und  politischen  Vertretern  der 
anderen  Nationen  im  besten  Einvernehmen  zu  bleiben.  Jedenfalls  war  er 
für  diese  Stellung  wie  geschaffen.  Es  hätte  vielleicht  keinen  zweiten  Lebenden 
gegeben,  der  sie  erfolgreicher  wahrgenommen  und  trotz  aller  bestehenden 
Schwierigkeiten  das  Ansehen  Deutschlands  in  solcher  Weise  zu  wahren  gewußt 
hätte.  Es  fällt  dabei  in  Betracht,  daß  die  erste  der  ihm  gestellten  Aufgaben 
für  China,  die  Wegnahme  von  Peking  und  die  Befreiung  der  Gesandtschaften, 
schon  bald  nach  Beginn  seiner  Ausreise  zur  Lösung  gelangt  war,  so  daß  die 
Frage  entstehen  konnte,  ob  seine  Weiterreise  sowie  der  Antritt  des  Ober- 
befehlshaberpostens überhaupt  noch  nötig  sei.  Waldersee  hat  durch  seine 
Leistungen  diese  PVage  in  der  ausgiebigsten  Weise  bejaht.  Nur  durch  die 
von  ihm  mit  großer  Mühe  aufrecht  erhaltene  Einheitlichkeit  der  Interessen 
der  Mächte  gelang  es  ihm,  auf  den  chinesischen  Hof  den  für  dessen  Nach-« 
giebigkeit  erforderlichen  Druck  zu  üben. 

Auf  innerpolitischem  Gebiet  ist  Graf  Waldersee  äußerlich  wenig  hervor- 
getreten. Als  Mitglied  des  Herrenhauses,  in  welches  er  in  den  neunziger 
Jahren  berufen  worden,  hat  er  nur  in  seltenen  Fällen  das  Wort  ergriffen. 
Bekannt  war,  daß  er  der  Kreuz-Zeitung  näherstand,  ohne  die  von  ihr  ver- 
tretenen Anschauungen  durchweg  zu  teilen.  Namentlich  mißbilligte  er  —  im 
Gegensatz  zur  Kreuz-Zeitung  —  die  verunglückten  politischen  Experimente, 
die  in  der  Provinz  Hannover  seitens  der  altpreußischen  Konservativen  unter- 
nommen wurden.  Er  hatte  diese  Provinz  seit  ihrem  Eintritt  in  den  preußischen 
Staatsverband  eingehend  kennen  gelernt,  kannte  die  meisten  bedeutenderen 
Persönlichkeiten  und  wußte  genau,  daß  die  Versuche,  das  feindliche  Welfentum 


1 2  von  Waldersee. 

auf  Kosten  der  nationalliberalen  Partei  in  das  altpreuflische  konservative  Lager 
tiberzuführen,  mißglücken  mußten.  Solche  Experimente  konnten  nur  dem 
Welfentum,  dem  ihm  nahestehenden  Zentrum  oder  den  Sozialdemokraten  zu- 
gute kommen.  Nach  Waldersees  oft  ausgesprochener  Überzeugung  hatte  der 
preußische  Staat  in  der  Provinz  Hannover  noch  auf  lange  Zeit  hinaus  nur  auf 
die  nationalliberale  Partei  und  mit  dieser  zu  rechnen. 

In  einer  ihm  sehr  unerwünschten  Weise  war  im  Jahre  1887  sein  Name 
und  seine  Person  mit  der  sogenannten  Walderseeversammlung  in  Berlin 
in  Verbindung  gebracht  worden.  Wie  bereits  erwähnt,  war  Graf  Walder- 
see seit  dem  Jahre  1884  dem  damaligen  Prinzen  Wilhelm,  dem  heutigen 
Deutschen  Kaiser,  näher  getreten.  Ein  Gleiches  war  mit  der  Gräfin  Waldersee 
und  der  Prinzeß  Wilhelm  der  Fall,  zu  welcher  die  Gräfin  durch  ihren  ersten 
Gemahl,  einen  Prinzen  zu  Schleswig-Holstein-Noer,  in  einem  entfernten  ver- 
wandtschaftlichen Verhältnis  steht.  Prinz  und  Prinzessin  Wilhelm  interessierten 
sich  damals  für  die  vom  Hofprediger  Stöcker  geleitete  Berliner  Stadtmission, 
ebenso  die  Gräfin  Waldersee,  die  von  jeher  allen  Werken  frommer  Wohl- 
tätigkeit um  derer  selbst  willen  große  Opfer  an  Zeit  und  Geld  widmet.  In 
diesem  Kreise  war  beschlossen  worden,  eine  Veranstaltung  zugunsten  der 
Berliner  Stadtmission  zu  arrangieren,  das  Nähere  sollte  Gegenstand  einer 
Besprechung  sein,  zu  der  absichtlich  Personen  der  verschiedensten  politischen 
und  konfessionellen  Richtungen  eingeladen  wurden.  Diese  Besprechung  sollte 
ursprünglich  bei  dem  prinzlichen  Paare  stattfinden,  es  stellten  sich  aber 
Schwierigkeiten  infolge  von  Renovierungsarbeiten  heraus  und  der  Hofmarschall 
bat  den  Grafen  Waldersee  seine  Wohnräume  für  diesen  Zweck  zur  Verfügung 
zu  stellen.  Da  hierauf  die  Versammlung  in  seiner  Wohnung  abgehalten  wurde, 
erschien  selbstverständlich  Graf  Waldersee  als  Hausherr  und  begrüßte  die 
Anwesenden.  Daß  ihm  dabei  irgendwelche  kirchlichen  oder  politischen  Ziele 
vorgeschwebt  hätten,  hat  er  später  auf  das  entschiedenste  in  Abrede  gestellt. 
Die  Sache  machte  jedoch,  wesentlich  durch  die  Übertreibungen  in  der  Presse, 
ein  sehr  unliebsames  Aufsehen.  Dem  Fürsten  Bismarck  war  es  vom  Stand- 
punkte des  Staatsinteresses  nicht  erwünscht,  einen  dem  Thron  damals  schon  so 
nahe  stehenden  Prinzen  mit  einer  bestimmten  kirchlichen  Richtung  verquickt 
zu  sehen,  das  Gleiche  war  in  bezug  auf  einen  so  hochgestellten  Militär  wie 
Graf  Waldersee  der  Fall.  Es  entspann  sich  eine  heftige  Preßpolemik,  auch 
die  Regierungsorgane  beteiligten  sich  an  einer  scharfen  Kritik  der  Versammlung. 

Bei  Beurteilung  jener  Periode  und  ihrer  Strömungen  darf  nicht  außer- 
'acht  gelassen  werden,  daß  infolge  der  unheilbaren  Erkrankung  des  damaligen 
Kronprinzen  und  des  schnell  sinkenden  Kräftezustandes  des  90jährigen 
Kaisers  schon  im  Spätherbst  1887  in  den  Berliner  politischen  Kreisen  eine 
Art  Übergangszustand  Platz  zu  greifen  begann,  wobei  allerlei  Elemente  sich 
in  den  Vordergrund  drängten,  die  davon  zu  profitieren  hofften,  wenn  Prinz 
Wilhelm  in  naher  Zeit  der  Nachfolger  seines  Großvaters  würde.  Es  begann  ein 
Intriguenspiel  in  großem  Umfange,  dessen  Fäden  schwer  zu  entwirren  sind. 
Vielen  galt  die  Nachfolge  des  Fürsten  Bismarck  schon  damals  als  eröffnet, 
wenigstens  geschah  das  Mögliche,  um  ihre  Eröffnung  herbeizuführen  oder 
doch  vorzubereiten.  Der  Umstand,  daß  Kaiser  Friedrich  wider  Erwarten,  wenn 
auch  nur  auf  kurze  Zeit,  zur  Regierung  kam,  hat  viele  dieser  Bestrebungen 
durchkreuzt,  vereitelt  oder  doch  aufgeschoben,   aber  die  Jahre  1888/89  sind 


von  VValdersee,  I  7 

daran  kaum  minder  reich  gewesen.  *  So  ist  es  zu  verstehen,  wenn  Kaiserin 
Augusta  nach  dem  Tode  ihres  Gemahls  es  ablehnte,  Berlin  zu  verlassen, 
vielmehr  solchen  Ratschlägen  den  Ausspruch  entgegensetzte:  »es  ist  notwendig, 
daß  jetzt  ein  jeder  auf  seinem  Posten  bleibe«,  ebenso  wie  sie  in  ihrem  letzten 
dankerfüllten  Briefe  an  den  Fürsten  Bismarck  vom  24.  Dezember  1888  von 
den  »Widerwärtigkeiten  einer  vielbewegten  Zeit«  sprach.  —  Was  die  Be- 
ziehungen zwischen  Waldersee  und  Bismarck  anbelangt,  die  in  den  Jahren 
1887/90  starke  Spannungen  aufwiesen,  so  ist  Graf  Waldersee  später  von  Altona 
aus  dem  im  Ruhestande  befindlichen  Fürsten  wieder  näher  getreten,  er 
überbrachte  ihm  u.  a.  im  Jahre  1892  auch  Grüße  Kaiser  Alexanders  III.  von 
Rußland,  die  dieser  ihm  bei  der  Anwesenheit  in  Kiel  aufgetragen  hatte. 
Persönlich  hat  Waldersee  seinen  Einfluß  beim  Kaiser  während  dieser  Jahre  im 
Sinne  einer  wenigstens  äußeren  Aussöhnung  mit  dem  Kanzler  zur  Geltung 
gebracht. 

Neben  der  durch  die  Waldersee- Versammlung  erzeugten  Zeitungspolemik 
ging  noch  eine  andere  Strömung  einher,  die  sich  auf  militärisch-politischem 
Gebiet  geltend  zu  machen  suchte  und  namentlich  bestrebt  war,  militärische 
Anschauungen  bei  politischen  Entschließungen  zur  Mitwirkung  oder  zum 
Ausschlag  zu  bringen.  Während  der  achtziger  Jahre  entstand  wiederholt  ein 
ziemlich  lebhafter  publizistischer  Kriegslärm,  bei  welchem  eine  militärische 
Mitwirkung  unverkennbar  war  und  der  durch  die  Boulanger-Periode,  durch 
die  Häufung  von  landesverräterischen  Vorgängen  in  Elsaß -Lothringen,  den 
Schnäbelefall  usw.  einen  ernsteren  Hintergrund  erhalten  hatte.  Die  eigent- 
lichen Vorgänge,  um  die  es  sich  dabei  handelte,  sind  bis  heute  vor  der 
Öffentlichkeit  nicht  klar  gestellt.  Bismarck  war  bekanntlich  kein  Freund 
militärischer  Nebenströmungen  in  der  Politik,  weil  aus  solchen  leicht 
Konsequenzen  entstehen,  die  auf  die  verantwortliche  Leitung  der  Politik 
drücken  und  die  Ziele  weiter  stecken  als  im  Interesse  der  Erhaltung  des 
Friedens  wünschenswert  ist.  Schon  die  auf  Crispis  Verlangen  getroffenen 
militärischen  Dreibundabmachungen  waren  aus  diesem  Grunde  nicht  nach 
seinem  Geschmack  gewesen.  Die  Erfahrung  gab  ihm  darin  recht.  Beim 
Besuch  des  Kaisers  in  Petersburg  im  Frühjahr  1873  war  von  russischer  Seite 
eine  Abmachung  vorgeschlagen  worden,  an  der  Bismarck  sich  nicht  zu  be- 
teiligen wünschte,  um  sich  nicht  politisch  die  Hände  zu  binden.  So  war 
ein  rein  militärisches  Abkommen  zustande  gekommen,  das  von  Moltke  und 
dem  russischen  Feldmarschall  Fürsten  Bariatinski  unterzeichnet  worden  war 
und  das  auch  die  Ratifikation  beider  Kaiser  empfangen  hatte.  Dieses  Ab- 
kommen war  es  hauptsächlich  gewesen,  das  dem  Kaiser  Wilhelm  I.  bei  Ab- 
schluß des  Bündnisses  mit  Österreich  im  Jahre  1879  so  schwere  Gewissens- 
bedrängnis verursacht  hatte,  wie  sich  denn  auch  wohl  Kaiser  Alexander  II. 
auf  Grund  jener  Abmachungen  im  Sommer  1879  zu  seiner  fast  drohenden 
Sprache  berechtigt  geglaubt  hatte.  Doch  das  nebenbei.  —  Die  auf  publi- 
zistischem Gebiet  bei  der  Wende  der  achtziger  Jahre  in  Zeitungsartikeln  und 
Broschüren  ausgefochtenen  Kämpfe  waren  Symptome  tiefer  liegender  Span- 
nungen und  haben  gleich  diesen  selbst  heute  nur  noch  historisches  Interesse. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  zu  der  Tätigkeit  Waldersees  in  China. 
Wie  bereits  erwähnt,  hatte  die  Notwendigkeit,  der  internationalen  Expedition 
eine  einheitliche  Spitze    zu    geben,    zu    seiner  Ernennung   zum  Oberbefehls- 


14 


von  VValdersee. 


haber  geführt.  Kaiser  Wilhelm  hatte  diese  Notwendigkeit  zuerst  erkannt, 
sie  beim  Kaiser  Nikolaus  vertreten  und  diesen  ersucht,  den  Oberbefehl 
russischerseits  in  die  Hand  zu  nehmen.  Kaiser  Nikolaus  stimmte  der  Richtig- 
keit des  Gedankens  zu,  lehnte  jedoch  den  Oberbefehl  für  Rußland  sowohl 
um  der  Beziehungen  zu  China  willen  als  auch  mit  Rücksicht  darauf  ab,  daß 
England  in  einen  russischen  Oberbefehl  schwerlich  willigen  würde.  Er 
brachte  den  Oberbefehl  für  Deutschland,  als  der  an  der  Expedition  am 
stärksten  beteiligten  Macht,  in  Vorschlag  und  da  war  Graf  Waldersee  die 
gegebene  Persönlichkeit. 

Auf  Einzelheiten  der  chinesischen  Expedition  einzugehen,  würde  hier  zu 
weit  führen  und  den  Rahmen  der  Aufgabe  überschreiten.  Bei  der  Formierung 
der  internationalen  Streitkräfte  und  der  Berufung  Waldersees  an  ihre  Spitze,  war 
der  Gedanke  maßgebend  gewesen,  daß  Peking  nicht  nur  zu  erobern,  sondern 
möglicher  Weise  ein  Krieg  mit  China  zu  führen  sein  werde.  Graf  Waldersee 
hatte  am  22.  August  1900  in  Neapel  den  Reichspostdampfer  »Sachsen« 
bestiegen,  der  ihn  und  das  Armee-Oberkommando  nach  Ostasien  bringen  sollte. 
Inzwischen  war  Peking  am  15.  August  bereits  besetzt  worden,  die  dort  be- 
lagerten Gesandtschaften  waren  befreit,  die  Expedition  erhielt  damit  gewisser- 
maßen einen  anderen  Charakter.  Die  Ausreise  von  Berlin  über  Leipzig  und 
München  nach  Rom  und  Neapel  hatte  Anlaß  zu  lebhaften  Ovationen  der 
Bevölkerungen  gegeben,  an  denen  Waldersee  selbstverständlich  unschuldig 
war  und  die  zum  größten  Teil  auf  die  Initiative  der  Behörden  zurückzuführen 
waren,  denen  die  Bevölkerung  sich  dann  in  warmer  Teilnahme  anschloß. 
So  war  der  Feldmarschall  in  Leipzig  vom  kommandierenden  General  von 
Treitschke  im  Namen  des  Königs  von  Sachsen  begrüßt  worden,  in  München 
von  allen  daselbst  anwesenden  Königlichen  Prinzen,  dem  Offizierkorps  und 
einer  ungezählten  Volksmenge.  An  der  österreichischen  Grenze  empfing  ihn 
der  kommandierende  General  von  Tyrol  und  begleitete  ihn  bis  Innsbruck, 
wo  noch  um  Mittemacht  das  Offizierkorps  der  Garnison  zu  seinem  Empfange 
bereit  stand.  Auf  allen  italienischen  Stationen  fand  ebenfalls  großer  offizieller 
Empfang  mit  daran  anschließenden  Ovationen  der  Bevölkerung  statt.  Graf 
Waldersee  reiste  mit  wenigen  Offizieren  über  Rom,  weil  König  Viktor  Emanuel 
ihn  dort  zu  empfangen  gewünscht  hatte,  das  Oberkommando  ging  direkt 
nach  Genua  auf  dem  Dampfer  »Sachsen«.  Auch  in  Rom  fehlte  es  nicht  an 
stürmischen  Begrüßungen,  die  bis  Neapel  anhielten,  und,  wie  der  Feld- 
marschall in  einem  Telegramm  an  den  Kaiser  hervorhob,  Zeugnis  von  dem 
internationalen  Verständnis  der  weitesten  Volksschichten  der  drei  verbündeten 
Nationen  für  die  hohe  politische  Bedeutung  dieser  Expedition  und  die  deutsche 
Oberleitung  ablegten.  Es  bedarf,  wie  gesagt,  keines  Hervorhebens,  daß  Graf 
Waldersee  persönlich  den  Ovationen,  die  ihm  bei  seinem  Auszuge  in  drei 
Ländern  bereitet  wurden,  völlig  fern  stand.  Wenn  die  Überschwänglichkeit 
dieser  Kundgebungen  zum  Teil  mit  Recht  eine  scharfe  Kritik  erfahren  hat, 
so  konnte  diese  nicht  den  Feldmarschall  treffen,  der  die  Kundgebungen  über 
sich  ergehen  lassen  mußte  und  persönlich  sehr  froh  war,  als  er  endlich,  mit  dem 
Betreten  des  Dampfers  »Sachsen«,  die  ersehnte  Ruhe  fand.  Es  war  einerseits 
gewiß  viel  von  ihm,  daß  er  im  Alter  von  68  Jahren  dem  Rufe  noch  gefolgt 
war,  andererseits  ist  es  das  ehrenvollste  Zeugnis  des  Vertrauens,  das  in  seine 
Leistungsfähigkeit  gesetzt  wurde,  wenn  sein  Souverän  ihn  unter  Zustimmung 


von  Waldersee. 


15 


der  andern  Regierungen  in  diesem  Lebensalter  vor  eine  durch  Schwierigkeiten 
aller  Art  so  sehr  komplizierte  Aufgabe  stellte.  Vor  der  Abreise  hatte  der 
Kaiser  den  Feldmarschall  auf  Wilhelmshöhe  empfangen  und  ihm  dort  den 
Marschallsstab  mit  einer  Ansprache  überreicht. 

Mit  der  Einnahme  von  Peking  am  14.  August  war  der  erste  Abschnitt  der 
Expedition  beendigt.  Es  kam  nun  darauf  an,  den  chinesischen  Hof  dem 
Willen  der  verbündeten  Mächte  zu  unterwerfen,  oder,  wenn  man  die  Aufgabe 
in  diplomatische  Form  kleiden  will,  ihm  diese  Unterwerfung  zu  ermöglichen. 
In  Hongkong  übernahm  Graf  Waldersee,  der  Bestimmung  des  Kaisers  gemäß, 
den  Oberbefehl  über  die  deutschen  Land-  und  Seestreitkräfte  und  begab  sich 
zu  diesem  Zweck  dort  auf  den  Kreuzer  »Hertha«,  der  die  Kommandoflagge 
des  Feldmarschalls  hißte.  Auf  der  Reede  von  Wusung  besichtigte  er  am 
21.  September  das  vor  der  Yangtsemündung  liegende  deutsche  Panzer- 
geschwader und  begab  sich  unterm  Salut  der  Kriegsschiffe  aller  Nationen 
nach  Shanghai,  woselbst  großer  Empfang  durch  Ehrenwachen  der  deutschen, 
französischen,  englischen  und  japanischen  Truppen  stattfand.  Eine  große 
Parade  der  in  Shanghai  anwesenden  Truppen  aller  Nationen  vor  dem  Feld- 
marschall bezeichnete  am  nächsten  Tage  auch  äußerlich  die  Übernahme  des 
Oberbefehls.  Die  Ausschiffung  des  allmählich  auf  der  Reede  von  Taku  ein- 
treffenden deutschen  Expeditionskorps  bot  außerordentliche  Schwierigkeiten, 
die  auch  unter  Mitwirkung  der  Flotte  nur  sehr  allmählich  gehoben  werden 
konnten.  Die  Ausschiffung  war  im  vollen  Gange,  als  der  Feldmarschall  am 
25.  September  an  Bord  der  »Hertha«  auf  Taku-Reede  eintraf,  woselbst  General 
von  Schwarzhoff  sich  zur  Übernahme  der  Geschäfte  als  Chef  des  Generalstabes 
meldete. 

Der  Gang  der  Ereignisse  bis  zur  Einnahme  von  Peking  hatte  es  mit 
sich  gebracht,  daß  der  Machtbereich  der  verbündeten  Truppen  sich  auf  den 
unmittelbaren  Besitz  der  Straße  von  Peking  bis  Tschungtschu  und  weiter  bis 
Yangtson  längs  des  Peiho  sowie  der  Eisenbahn  über  Tientsin  nach  der  Küste 
beschränkte.  Die  rückwärtige  Verbindung  knüpfte  an  der  See  nur  an  den 
einzigen  Punkt  Tongku  an,  der  zunächst  von  den  durch  die  chinesischen 
Truppen  noch  besetzten  Peitang-Forts  bedroht  wurde.  Bereits  am  10.  September 
hatte  der  die  deutschen  Seestreitkräfte  kommandierende  Vizeadmiral  Bende- 
mann  dem  Feldmarschall  nach  Singapore  telegraphiert,  daß  die  Peitang-Forts 
sowie  die  Befestigungen  bei  Peitaho  und  Shanhaikwan  als  nächstes  Angriffs- 
ziel anzusehen  seien,  um  den  Zugang  von  der  See  nach  Peking  auch  während 
der  Frostzeit  frei  zu  bekommen.  Auch  in  einer  an  den  Kaiser  übersandten 
und  dem  Feldmarschall  bei  seiner  Ankunft  in  Hongkong  abschriftlich  be- 
händigten Denkschrift  waren  diese  Ziele  klar  gelegt  mit  dem  Hinzufügen, 
daß  die  Operationen  nach  einstimmiger  Ansicht  der  verbündeten  Admirale 
nicht  über  den  Anfang  November  hinaus  verschoben  werden  dürften.  Graf 
Waldersee  antwortete  aus  Singapore,  daß  er  mit  den  Plänen  einverstanden 
sei,  indes  bäte,  wenn  keine  anderen  Befehle  aus  Berlin  vorlägen,  mit  der 
Ausführung  der  Operationen  bis  zu  seiner  Ankunft  zu  warten.  Nach  seinem 
Eintreffen  fanden  Ende  September  Beratungen  der  verbündeten  Admirale 
über  dieses  Vorgehen  statt,  das  im  Laufe  der  ersten  Oktobertage  in  un- 
blutiger Weise  durchgeführt  wurde.    . 

Die  letzte  militärische  Stellung  der  Chinesen  zwischen  der  Küste  und 


1 6  von  Waldersee. 

Peking  war  damit  beseitigt,  für  die  deutsche  Armee-Oberleitung  zugleich  der 
Hafen  von  Tschingwangtau  als  Ausschiffungspunkt  für  das  deutsche  Expe- 
ditionskorps gewonnen.  Die  Peitang- Forts  waren  bereits  am  21.  September 
vor  der  Ankunft  des  Feldmarschalls  in  die  Hände  der  Verbündeten  gefallen. 
Die  Wegnahme  wurde  hauptsächlich  von  russischer  Seite  betrieben,  deutscher- 
seits beteiligte  sich  namentlich  die  i.  Batterie  schwerer  Haubitzen,  Haupt- 
mann Kremkow,  in  hervorragender  Weise.  Deutsche  Infanterie- Abteilungen 
drangen  gemeinsam  mit  den  Russen  in  die  Forts  ein,  die  von  der  chinesi- 
schen Besatzung  ohne  erheblichen  Widerstand  unter  dem  Eindruck  der 
Beschießung  geräumt  wurden.  Deutscherseits  war  als  politisches  Ziel  von 
Anfang  an  ins  Auge  gefaßt,  die  Wiederherstellung  geordneter  Zustände 
durchzusetzen,  die  Bestrafung  der  Hauptübeltäter  herbeizuführen  und  eine 
bestimmte  Garantie  dafür  zu  erhalten,  daß  ähnlichen  Vorkommnissen  für  die 
Zukunft  vorgebeugt  werde.  Den  Gedanken  an  Landerwerb  lehnte  man  ab, 
weil  damit  die  anderen  Mächte  zu  einem  gleichen  Vorgehen  veranlaßt  worden 
wären  und  die  Einigkeit  notwendigerweise  darunter  gelitten  hätte.  Nur  wenn 
die  Mächte  einig  blieben,  durfte  man  hoffen,  den  Aufstand  auf  die  Provinz 
Tschili  zu  beschränken  und  die  chinesische  Regierung,  der  nichts  erwünschter 
sein  konnte  als  ein  Zerwürfnis  innerhalb  der  Mächte,  zur  baldigen  Annahme 
der  ihr  gemeinsam  aufzuerlegenden  Bedingungen  zu  bringen.  Letzteres  konnte 
aber  nur  geschehen  durch  einen  starken  militärischen  Druck,  der  dem  Ränke- 
spiel der  chinesischen  Diplomaten  gegenüber  von  einer  Stelle  aus  einheitlich 
geleitet  werden  und  in  der  Hand  eines  Mannes  liegen  mußte,  der  fähig  war, 
die  Forderungen  nötigenfalls  mit  dem  Schwert  durchzusetzen.  Der  Initiative 
Kaiser  Wilhelms  war  es  zu  verdanken,  daß  dieser  einheitliche  Oberbefehl, 
die  unerläßliche  Vorbedingung  jedes  politischen  Erfolges,  geschaffen  worden, 
ebenso  daß  die  Leitung  in  die  Hände  des  Grafen  Waldersee  gelegt  worden  war. 
Letzterer  hatte,  das  Kommando  über  Truppen  aus  drei  Weltteilen,  deren 
Unterstellung  jedoch  zum  Teil  eine  örtlich  begrenzte,  zum  anderen  Teil 
ein  rechtlose  war.  Nur  reiches  militärisches  Können,  verbunden  mit 
hohem  staatsmännischem  Geschick,  zielbewußter  Energie  des  Willens,  mit 
Menschenkenntnis,  feinem  Takt  und  weltmännischen  Formen  vereinigt,  konnten 
die  Durchführung  der  eigenartigen  Aufgabe  sichern.  Diese  war  nach  der 
politischen  Seite  hin  einerseits  erleichtert,  andererseits  aber  auch  erschwert 
durch  den  Umstand,  daß  Deutschland  für  sich  nichts  erreichen  wollte,  sondern 
daß  das  Ziel  der  deutschen  Politik  dahin  ging,  das  Ansehen  Deutschlands 
zu  heben,  zugleich  aber  zu .  verhindern,  daß  irgend  eine  Nation  sich  aus- 
schließliche Vorteile  sichere.  Dies  galt  namentlich  mit  bezug  auf  den  Yangtse. 
Außer  den  deutschen  Land-  und  Seestreitkräften  waren  dem  Feldmarschall 
nur  die  ca.  2500  Mann  starken  Italiener  und  das  kaum  300  Mann  starke 
österreichische  Landungsdetachement  völlig  unterstellt;  die  Japaner,  Engländer 
und  Russen  nur  für  Operationen  in  der  Provinz  Tschili,  die  Amerikaner 
lediglich  bei  gemeinsamen  Operationen,  an  denen  sich  amerikanische  Truppen 
beteiligen  würden,  und  für  die  Franzosen  war  nur  vorgesehen,  daß  ihr  Komman- 
deur, General  Voyron,  die  Autorität  des  Feldmarschalls  im  Kriegsrat  der 
Generale  anzuerkennen  hätte.  Da  ein  solcher  Kriegsrat  vom  Feldmarschall 
begreiflicherweise  niemals  berufen  wurde,  so  blieb  nichts  übrig  als  sich 
in   jedem  einzelnen  Falle  mit  dem  amerikanischen  und   dem    französischen 


von  Waldersce.  17 

Befehlshaber  besonders  zu   verständigen.     Den  zeitweise  sogar  bedrohlichen 
Meinungsverschiedenheiten  oder  Ansprüchen  der  Mächte  konnte  Graf  Walder- 
see  nur  dadurch  entgegentreten,  daß  er  an  dem  Standpunkt  festhielt,  für  den 
Oberbefehlshaber  bei  seinen  Entscheidungen   lediglich   die  rein  militärischen 
Gesichtspunkte  den  Ausschlag  geben  zu  lassen,  alle  politischen  und  privaten 
Ansprüche    oder   Wünsche    dagegen    an   die  Diplomaten  zu  verweisen.     Auf 
diese  Weise   erlangte  er   über  sämtliche   Kontingente  eine   solche  Autorität, 
daß    seine  Vermittlung    von    der    englischen   und  der   russischen   Regierung, 
ebenso  vom  General  Voyron  bei  einem  zwischen  französischen  und  englischen 
Truppen  in  Tientsin  ausgebrochenen  Konflikt  in  Anspruch  genommen  wurde. 
Voyron  erklärte  dabei  ausdrücklich,   die  Autorität   des  Feldmarschalls  sei  so 
groß    und   von    allen   Kontingenten  so    anerkannt,   daß  ein  jeder    sich   gern 
seinen  Entscheidungen  unterwerfen  werde.     Bereits  nach  der  Einnahme  von 
Peking  war  erkennbar,  daß  volle  Übereinstimmung  unter  den  Mächten  nicht 
mehr    bestand,    Rußland  machte   sehr  bald   den  Vorschlag,    die    chinesische 
Hauptstadt  wieder  zu  räumen.     Um  diese  verwirrende  Lage  mehr  zu  klären 
und  den  Sonderbestrebungen  der  Diplomaten   ein  Ende  zu   machen,   war  es 
wichtig,    die    völlig   ins  Stocken    geratenen   militärischen    Operationen    bald 
wieder    in    Gang    zu    bringen    und  Truppen    möglichst    vieler    Mächte    dazu 
heranzuziehen,  um  den  Chinesen  gegenüber  den  einmütigen  Willen  der  Ver- 
bündeten zum  Ausdruck  zu  bringen.  Nach  eingehender  Erwägung  der  Sachlage 
mit   den   Land-  und  Seebefehlshabem   der  verschiedenen  Kontingente  stellte 
Graf  Waldersee  sich  folgende  Aufgaben:  i.  Erweiterung  der  Operationsbasis  und 
Sicherung  der  Verbindung  mit  der  Heimat;   2.  Ausdehnung  des  Okkupations- 
gebietes; 3.  Feststellung  des  Verbleibens  der  chinesischen  Truppen  und  Ver- 
drängung  derselben  mit   oder   ohne  Kampf  aus  der  Provinz  Tschili;    4.  Be- 
ruhigung des  insurgierten  Landes,  Schutz  der  friedlichen  Bevölkerung,  strenge 
Bestrafung    der  Boxer  und  Räuber.     Nachdem    das    bis    zum  Dezember   im 
wesentlichen    erreicht    war,    gesellte    sich    hierzu    die    Beschleunigung    der 
Friedensverhandlungen    unter    steter  Ausübung    eines    militärischen   Druckes, 
sobald    die   Forderungen    der    verbündeten   Mächte  von   den  Chinesen   nicht 
unverzüglich  angenommen  und  erfüllt  wurden.    Das  Bedürfnis,  Klarheit  über 
den  Verbleib  und  das  weitere  Verhalten  der  regulären  chinesischen  Truppen 
zu  schaffen,  führte  zu  den  beiden  internationalen  Expeditionen  auf  Poatingfu 
und  Kaigan,  zu   der  Einteilung   des  erweiterten  Okkupationgebietes    in    be- 
stimmte   Abschnitte,    die    einzelnen    Kontingenten    zur    Aufrechthaltung    der 
Sicherheit  und  Ordnung  überwiesen  wurden,  sowie  zur  Einsetzung  von  Zivil- 
verwaltungen   in  den   drei   großen   Städten  Peking,   Tientsin   und  Poatingfu, 
wohin  deutscherseits  je  eine  gemischte  Brigade  verlegt  wurde.   Graf  Walder- 
see hatte  am  17.  Oktober  seinen  Einzug  in  Peking  gehalten  und  im  Winter- 
palast  sein  Hauptquartier  genommen.     Letzteres  war  notwendig,   um   damit 
den  Chinesen  gegenüber  die  Macht  und  die  Autorität  des  Oberbefehlshabers 
der  Verbündeten  zum  Ausdruck  zu  bringen.     Beim  Einzug  in  Peking  wurde 
der  Feldmarschall  von  den  Generalen  aller  Nationen   und  allen  dienstfreien 
deutschen  Offizieren   begrüßt;    eine    Eskadron   indischer  Reiter  eröffnete  den 
Zug,    eine  Eskadron    japanischer  Kavallerie  schloß  ihn.     Deutsche  Artillerie 
schoß    aus   chinesischen  Geschützen  Salut,  beim  Eintritt  in  den  Winterpalast 
leistete  eine  japanische  Batterie  diesen  Dienst;  daselbst  standen  auch  Ehren- 

Biogr«  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.   9.  Bd.  2 


l3  ^on  Waldersee. 

kompagnien  aller  Kontingente,  mit  Ausnahme  des  russischen,  aufgestellt.  Graf 
Waldersee  bezog  zunächst  die  Zimmer  der  Kaiserinwitwe,  die  allerdings  in- 
folge ihrer  durchbrochenen  Holzschnitzereiwände  so  unwohnlich  wurden,  daß 
mit  zunehmender  Kälte  nichts  übrig  blieb,  als  auf  dem  Hofe  das  von  der 
Hamburg -Amerika -Linie  dem  Feldmarschall  zur  Verfügung  gestellte  Asbest- 
haus zu  beziehen,  das  bis  zu  dem  großen  Brande  behagliche  Unterkunft  bot. 
Eine  Arbeit  von  großer  Bedeutung  für  den  Feldmarschall  war  die  Bericht- 
erstattung an  den  Kaiser,  die  nicht  nur  den  Gang  der  Ereignisse,  sondern 
auch  die  Erfahrungen,  Beobachtungen  und  Urteile  über  die  Entwicklung  der 
Dinge  in  Ostasien  betraf,  sowohl  militärischer  als  politischer  Art.  Es  sind 
nicht  weniger  als  64  solcher  Berichte  und  270  Telegramme  abgesandt  worden. 
Der  telegraphische  Verkehr  wurde  schließlich  zu  einer  solchen  Vollendung 
gebracht,  daß  zwischen  Absendung  der  Anfrage  in  Peking  und  Absendung 
der  Antwort  von  Berlin  nur  sechs  Stunden  Zwischenraum  lagen.  Ein  besonderer 
Tag  war  der  26.  Dezember  1900,  als  Graf  Waldersee  den  deutschen  Truppen 
die  ihnen  verliehenen  Fahnen  übergab,  den  Reichsadler  im  weißen  Felde. 
Es  war  das  erste  Mal,  daß  deutschen  Landtruppen  Fahnen  mit  den  Reichs- 
insignien  verliehen  wurden.  Am  15.  November  waren  die  chinesischen  Friedens- 
unterhändler im  Winterpalast  empfangen  worden,  nachdem  sie  allerlei  Ver- 
suche gemacht  hatten,  eine  Begegnung  an  einer  anderen  Stelle  herbeizuführen. 
Von  einer  schweren  Katastrophe  war  das  Oberkommando  bei  dem  Brande 
des  Winterpalastes  in  der  Nacht  vom  17.  zum  18.  April  1901  bedroht.  Be- 
kanntlich fiel  der  Chef  des  Generalstabes,  Generalmajor  von  Schwarzhoff,  der 
Katastrophe  zum  Opfer;  mit  der  Bergung  von  Papieren  beschäftigt,  erstickte 
und  verbrannte  er.  Graf  Waldersee  hatte  bei  dem  Brande  nur  mit  Not  und 
Mühe  die  notwendigsten  Papiere  und  sonst  nichts  retten  können,  als  was  er 
auf  dem  Leibe  trug,  so  daß  für  seine  Bekleidung  die  Seebataillone,  die 
deutschen  Reiter,  die  Amerikaner  mit  Stiefeln  und  die  Inder  mit  Kakistoff 
für  Anfertigung  neuer  Uniformen  in  Anspruch  genommen  werden  mußten. 
Somit  war  an  der  Neueinkleidung  des  Oberbefehlshabers  in  Ostasien  buchstäb- 
lich beinahe  die  ganze  Welt  beteiligt.  Einen  zweiten  größeren  Verlust  erlitt 
das  Expeditionskorps  bekanntlich  dadurch,  daß  der  Führer  der  Expedition 
nach  Kaigan,  Oberst  Graf  Yorck  von  Wartenburg,  infolge  des  Heizens  mit 
glühenden  Kohlen  im  offenen  Becken  in  Hualai  erstickte.  Alle  Rettungs- 
versuche waren  erfolglos  geblieben. 

Die  Friedensverhandlungen  hatten  teils  infolge  der  chinesischen  Ränke, 
teils  infolge  der  Uneinigkeit  der  Mächte  nur  sehr  langsame  Fortschritte  ge- 
macht. Als  eine  der  wichtigsten  Friedensbedingungen,  die  Bestrafung  der 
an  dem  Aufstande  und  der  Bedrohung  der  Gesandten  hauptsächlich  schuldigen 
Würdenträger,  nicht  zur  Ausführung  zu  kommen  schien,  ordnete  Graf  Walder- 
see zum  I.  März  Marschbereitschaft  aller  ihm  zur  Verfügung  stehenden 
Truppen  an  und  ließ  Vorbereitungen  zu  einem  Einmarsch  in  die  Provinz 
Tschansi  treffen,  wohin  .der  Hof  sich  zurückgezogen  hatte.  Damit  verbunden 
werden  sollte  eine  Demonstration  längs  des  Kaiser-Kanals  gegen  die  Provinz 
Schantung  und  ein  Einlaufen  von  Kriegsschiffen  in  den  Yangtse.  Der  deutsche 
Gesandte  machte  Mitte  Februar  dem  Führer  der  chinesischen  Verhandlungen, 
Lihungtschang,  davon  amtlich  Mitteilung,  der  dann  den  Feldmarschall  sofort 
beschwor,  zu  warten,  und  nach   drei  Tagen  die  amtliche  Mitteilung  machen 


von  Waldersee. 


19 


konnte,  daß  die  Bestrafung  der  meisten  Übeltäter  verfügt,  zum  Teil  auch 
schon  vollstreckt  sei.  Für  alle  Fälle  ließ  Graf  Waldersee  sämtliche  über  das 
Gebirge  führende  Pfade  rekognoszieren,  so  daß  die  Meinung  der  Chinesen, 
daß  eine  einheitliche  Verbindung  von  Truppen  sieben  verschiedener  Staaten 
undenkbar  sei  und  bald  zu  Konflikten  führen  würde,  schließlich  hinfällig 
wurde,  ein  Umstand,  der  vielleicht  am  meisten  dazu  beigetragen  hat,  sie 
zum  Frieden  geneigt  zu  machen.  Mit  der  grundsätzlichen  Annahme  der 
Friedensbedingungen,  zu  denen  die  Zahlung  der  Expeditionskosten  und  der 
Entschädigung  an  die  Missionare  usw.  gehörten,  war  nach  Waldersees  Ansicht 
die  Grundlage  für  den  Frieden  geschaffen,  China  bewies  damit,  daß  es  tat- 
sächlich den  Frieden  herbeiführen  wolle.  Militärische  Operationen  größeren 
Stils  waren  somit  fortan  nicht  mehr  in  Aussicht  zu  nehmen.  Nunmehr  konnte 
an  die  Reduktion  der  in  Tschili  versammelten  60000  Mann  Truppen  heran- 
getreten werden.  Graf  Waldersee  veranlaßte  eine  gemeinsame  Besprechung 
dieser  Frage  mit  den  Befehlshabern  der  verschiedenen  Kontingente  und  setzte 
mit  diesen  die  Zahl  der  Truppen  fest,  die  in  der  Provinz  Tschili  zurückzu- 
lassen seien,  um  den  Fortgang  der  Friedensverhandlungen  zu  verbürgen. 
Die  Hauptschwierigkeiten  ergaben  sich  bei  der  Festsetzung  des  Zahlungs- 
modus, so  daß  es  oft  kaum  möglich  war,  eine  Einigung  der  Mächte  unter 
einander  über  die  von  jeder  einzelnen  zu  fordernde  Summe  herbeizuführen, 
während  die  chinesischen  Unterhändler  inständigst  baten  und  auch  wieder- 
holt den  Feldmarschall  angingen,  ihnen  doch  nur  zu  sagen,  was  sie  zahlen 
sollten.  Die  Räumung  von  Peking  wurde  notwendig,  um  die  Rückkehr  des 
Hofes  dorthin  zu  ermöglichen,  der  wiederum  das  Einrücken  zuverlässiger 
chinesischer  Truppen  vorangehen  mußte.  Die  Befestigung  des  Gesandtschafts- 
viertels war  in  Angriff  genommen  und  speziell  für  die  deutsche  Gesandt- 
schaft die  Unterbringung  einer  300  Mann  starken  Schutzwache  durchgeführt. 
Die  ausgezeichneten  Anlagen  erregten  die  Bewunderung  der  anderen  Mächte, 
von  denen  mehrere  noch  keinen  Spatenstich  getan  hatten,  als  die  deutsche 
Anlage,  zu  der  auch  eine  angemessene  Erweiterung  der  deutschen  Gesandt- 
schaft gehörte,  bereits  fertig  geworden  war.  Von  der  Mauer  über  der  Gesandt- 
schaft blickte  eine  Batterie  12  cm-Schnellfeuergeschütze  in  nicht  mißzuver- 
stehender Deutlichkeit  nach  dem  Winterpalast.  Mit  der  Abnahme  der  euro- 
päischen Besatzung  nahte  der  Augenblick,  in  welchem  auch  Graf  Waldersee 
an  seine  Abreise  denken  mußte.  Es  hätte  der  Würde  seiner  Stellung  nicht 
entsprochen,  an  der  Spitze  eines  kleinen  Truppenteils  in  Peking  zu  bleiben. 
Die  dort  anwesenden  Diplomaten,  auch  die  Chinesen,  wünschten  freilich 
seine  Anwesenheit  zu  verlängern.  Einer  der  in  Peking  wohnenden  fremden 
Bischöfe  äußerte  zu  ihm:  »Schicken  Sie  30000  Mann  nach  Hause,  aber 
bleiben  Sie  bei  uns«.  Ende  Mai  traf  vom  Kriegsministerium  die  Mitteilung 
ein,  daß  der  Kaiser  die  Rückkehr  des  Armee-Oberkommandos  in  die  Heimat 
befohlen  habe  und  gleichzeitig  dem  Feldmarschall  gestatte,  einer  Einladung 
des  Kaisers  von  Japan  Folge  zu  leisten.  Am  3.  Juni  verließ  der  Oberbefehls- 
haber Peking,  bis  zum  Bahnhof  geleitet  von  je  einer  Eskadron  deutscher 
Reiter  und  bengalischer  Lancers.  Am  Bahnhof  selbst  waren  die  deutschen, 
japanischen,  italienischen  und  indischen  Truppen  der  Garnison  aufgestellt. 
Das  gesamte  diplomatische  Korps  einschließlich  des  Personals  der  deutschen 
Gesandtschaft,     die    Generalität    und    hohen    Offiziere    aller   Nationen,    die 


2' 


20  ^'on  Waldersee. 

katholische  Geistlichkeit  und  chinesischen  Würdenträger  waren  zum  Abschiede 
versammelt.  Der  englische  General  Ghaselee  brachte  auf  den  Scheidenden 
ein  Hoch  aus,  und  unter  dem  Salut  einer  japanischen  Batterie  verließ  der 
Zug  Peking.  In  Tientsin,  wo  tags  zuvor  ein  blutiger  Zusammenstoß  zwischen 
englischen  und  französischen  Mannschaften  stattgefunden  hatte,  bei  dem  auch 
japanische  Patrouillen  beteiligt  und  deutsche  Soldaten  verwundet  worden 
waren,  wurde  der  Feldmarschall  von  den  beteiligten  Generalen  mit  der  Bitte 
empfangen,  zum  letzten  Male  seine  Autorität  geltend  zu  machen.  Er  konnte 
so  am  letzten  Tage  seines  Aufenthalts  in  China  in  der  mehrfach  ausgeübten 
Tätigkeit  als  Friedensstifter  zur  Befriedigung  aller  Beteiligten  wirk.sam  sein. 
Der  Feldmarschall  wohnte  dem  Begräbnis  der  getöteten  französischen 
Soldaten  bei,  eine  französische  Ehrenkompagnie  erwies  ihm  dann  den  Ab- 
schiedsgruß. Am  Bahnhof  stand  eine  englische  Ehrenkompagnie  und  dort,  um 
den  Generalleutnant  von  Lessei  versammelt,  die  Generale  aller  Kontingente, 
mit  dem  General  Voyron  auch  das  gesamte  französische  Offizierkorps.  Zuvor 
hatte  sich  der  Feldmarschall  noch  von  der  aufgestellten  deutschen  Garnison 
verabschiedet.  Am  8.  Juni  landete  Graf  Waldersee  mit  der  »Hertha«  im 
japanischen  Hafen  von  Kobe,  traf  am  lo.  Juni  in  Tokio  ein,  wurde  dort 
mit  fürstlichen  Ehren  empfangen  und  von  der  Bevölkerung,  besonders  von 
den  dort  ansässigen  Fremden  aller  Nationen,  mit  großem  Jubel  begrüßt. 
Graf  Waldersee  blieb  zehn  Tage  als  Gast  des  Kaisers  in  Japan,  wobei  ihm 
reiche  Gelegenheit  gegeben  wurde,  die  Errungenschaften  dieses  aufstrebenden 
Volkes  kennen  zu  lernen.  Bei  Ausbruch  des  russisch -japanischen  Krieges 
hat  infolge  dessen  Graf  Waldersee  über  den  voraussichtlichen  Verlauf  des- 
selben ein  sehr  richtiges  Urteil  gefällt.  Reich  beschenkt  verließ  der  Feld- 
marschall das  Kaiserliche  Hoflager  in  Tokio  und  kam  nach  weiteren  Aus- 
flügen durch  das  Land  am  21.  Juni  in  Nagasaki  an,  wo  sich  inzwischen 
Vizeadmiral  Bendemann  mit  seinem  Flaggschiff  S.  M.  S.  »Fürst  Bismarck« 
eingefunden  hatte.  Nach  herzlicher  Verabschiedung  von  den  Deutschen  in 
Nagasaki,  dem  Admiral  Bendemann,  den  Offizieren  und  Mannschaften  des 
»Fürst  Bismarck«  und  des  Kreuzers  »Hertha«  verließ  Graf  Waldersee  am  23.  Juni 
unter  dem  Salut  der  deutschen,  amerikanischen,  französischen  und  italienischen 
Kriegsschiffe  den  Hafen  von  Nagasaki,  um  auf  der  »Gera«  die  Heimreise  über 
Batavia  anzutreten.  Kurz  vor  der  Abfahrt  erreichte  ihn  noch  ein  Telegramm 
des  Kaisers,  worin  er  in  den  anerkennendsten  Worten  und  in  Übereinstimmung 
mit  den  verbündeten  Souveränen  des  Oberbefehls  enthoben  wurde.  Am  25.  Juli 
wurde  Algier  angelaufen,  woselbst  seitens  der  französischen  Behörden  großer 
Empfang  stattfand,  am  6.  August  kam  Helgoland  in  Sicht,  am  Nachmittag 
lief  die  »Gera«  in  den  dortigen  Hafen  ein.  Am  8.  August  erfolgte  die  An- 
kunft in  Hamburg.  Dort  wurde  Graf  Waldensee  im  Auftrage  des  durch  den 
Tod  seiner  Mutter  fern  gehaltenen  Kaisers  durch  General  von  Wittich  an  der 
Spitze  eines  zahlreichen  Offizierkorps  und  einer  Abordnung  des  Hamburger 
Senats  begrüßt.  General  von  Wittich  überreichte  eine  kaiserliche  Kabinetts- 
order, die  den  Dank  für  alle  Leistungen  aussprach.  Außerdem  wurde  dem 
Feldmarschall  der  Orden  pour  h  mir'tte  mit  Eichenlaub  verliehen,  das 
9.  Feld-Artillerie- Regiment,  dessen  Chef  er  seit  1896  war,  erhielt  seinen 
Namen.  Von  Hamburg  aus  begab  der  Feldmarschall  sich  nach  Homburg, 
dort  vom   Kaiser   auf  das  herzlichste  empfangen.     Von   den  heimkehrenden 


von  Waldersee.  2 1 

Truppen  ging  ein  Bataillon  unter  Major  von  Foerster  auf  Wunsch  des  Kaisers 
Franz  Josef  über  Triest  und  Wien  nach  Hause  und  hatte  die  Auszeichnung, 
nach  feierlichem  Einzüge  in  Wien  dort  von  Kaiser  Franz  Josef  in  Parade 
besichtigt  zu  werden. 

Graf  Waldersee  war  fast  neun  Monate  in  China  gewesen.  Bei  seiner 
Landung  betrat  er  den  chinesischen  Boden  mit  dem  Bewußtsein,  vor 
einer  dornenvollen  Aufgabe  voller  unberechenbarer  Schwierigkeiten  zu 
stehen,  bei  seinem  Scheiden  konnte  er  die  Überzeugung  mitnehmen,  daß 
ihm  sein  Werk  gelungen  war,  sowohl  im  Hinblick  auf  die  den  Chinesen 
gegenüber  erreichbaren  militärischen  und  diplomatischen  Erfolge  als  auch 
im  Hinblick  auf  die  Beziehungen  zu  den  Befehlshabern  der  verschiedenen 
Kontingente.  Tatsächlich  ist  auch  nicht  einmal  von  irgendeiner  der  be- 
teiligten Mächte  eine  Beschwerde  nach  Berlin  gelangt;  im  Gegenteil  haben 
sich  diese  im  hohen  Maße  anerkennend  über  seine  Tätigkeit  geäußert.  Von 
den  Chinesen  als  Vertreter  der  höchsten  Gewalt  zunächst  gefürchtet,  wurde 
Graf  W^aldersee  seiner  Gerechtigkeitsliebe  wegen  bald  geschätzt,  so  daß  sie 
ihn,  wie  erwähnt,  ungern  scheiden  sahen.  In  gleicher  Weise  waren  auch  alle 
Deutschen  in  Ostasien  davon  durchdrungen,  daß  sie  dem  Ansehen,  das  der 
Feldmarschall  dem  deutschen  Namen  gegeben,  viel  zu  danken  hatten.  Was 
die  militärischen  Leistungen  anbelangt,  so  haben  nach  dem  Eintreffen  des 
deutschen  Expeditionskorps  noch  achtzehn  Gefechte  oder  Scharmützel  gegen 
Boxer  stattgefunden,  an  denen  deutsche  Truppen  beteiligt  waren.  Die  Zahl 
der  nach  dem  Eintreffen  des  Feldmarschalls  und  meist  auf  seine  Anregung 
ausgeführten  Expeditionen  beläuft  sich  auf  76;  an  51  davon  haben  deutsche 
Truppen  teilgenommen.  Die  deutsche  Infanterie  bewies  dabei  eine  Marsch- 
fähigkeit, die  geradezu  hervorragend  war.  Es  sind  tägliche  Marschleistungen 
von  40  bis  50  Kilometer  wochenlang  hintereinander  in  einem  Gebirge  auf- 
zuweisen, dessen  Paßhöhe  1300  Meter  und  mehr  betrug.  Dabei  waren  Tag 
und  Nacht  die  größten  Hindernisse  aller  Art,  auch  hinsichtlich  der  Witterung, 
zu  überwinden.  Die  Kavallerie  hatte  die  großartigsten  Leistungen  auf  dem 
Gebiete  des  Aufklärungsdienstes  aufzuweisen,  Offiziere  und  Mannschaften 
haben  darin  in  einer  Weise  gewetteifert,  die  ihrem  Reitergeist,  ihrem  Wage- 
mut und  ihrer  Ausbildung  große  Ehre  macht.  Es  sind  Patrouillenritte  aus- 
geführt worden,  die  sich  den  kühnsten  Aufklärungsritten  aller  Zeiten  würdig 
zur  Seite  stellen.  Ähnlich  bei  den  anderen  Waffen;  den  deutschen  Eisenbahn- 
truppen ist  die  unbedingte  Anerkennung  aller  Nationen  zuteil  geworden. 
Die  Deutschen  haben  mit  allen  Kontingenten  gute  Kameradschaft  gehalten, 
mit  den  Russen  in  traditioneller  Waffenbrüderschaft  gelebt,  bei  den  Franzosen 
waren  es  namentlich  die  Mannschaften,  die  mit  unseren  Soldaten  harmo- 
nierten, zumal  beiderseits  viele  vorhanden  waren,  die  sich  auch  sprachlich  ver- 
ständigen konnten.  Es  ist  in  der  ganzen  Zeit  zwischen  deutschen  Offizieren  und 
Mannschaften  und  denen  anderer  Kontingente  fast  niemals  zu  irgendwelchen 
ernsteren  Reibungen  oder  Zerwürfnissen  gekommen;  in  Peking  und  Tientsin 
hatte  sich  durch  die  Gastlichkeit  des  Grafen  Waldersee  sowie  der  Generale 
von  Lessei  und  Trotha  bald  ein  internationaler  V^erkehr  von  geradezu  herz- 
lichem Charakter  entwickelt.  Offiziere  und  Mannschaften  der  fremden  Nationen 
sind  von  ihrem  deutschen  Oberbefehlshaber  und  den  deutschen  Truppen 
jedenfalls  mit  der  höchsten  Achtung  geschieden. 


22  von  VValdersee. 

Einem  Soldatenleben  wie  dem  des  Grafen  Waldersee,* wäre  es  wohl  zu 
gönnen  gewesen,  daß  es  seinen  Abschluß  unter  voller  Einsetzung  aller  in 
ihm  ruhenden  Kräfte,  in  einem  großen  Kriege  gefunden  hätte.  Das  war  dem 
Feldmarschall  nicht  beschieden.  Aber  er  hat  in  China  so  hervorragende 
Eigenschaften  betätigt,  daß  die  Anerkennung,  die  er  dafür  nicht  nur  an 
berufener  Stelle  in  der  eigenen  Heimat,  sondern  in  allen  beteiligten  Ländern 
erntete,  immerhin  als  ein  ehrenvoller  Ausgang  eines  an  Ehren  so  reichen 
Lebens  angesehen  werden  darf;  auch  war  der  deutsche  Oberbefehl  in  China 
eine  so  eigenartige  Stellung,  wie  die  Geschichte  sie  bisher  noch  nicht  auf- 
zuweisen hatte.  Es  kam  auf  den  Mann  an,  der  sich  die  Stellung,  zu  der 
er  eigentlich  nichts  mitbrachte  als  den  Titel,  erst  schaffen  mußte  und  das 
hat  Graf  Waldersee  innerhalb  des  gegebenen  Rahmens  nach  Möglichkeit 
getan.  In  späteren  Zeiten  wird  das,  wie  so  vieles  andere  aus  seinem  viel- 
bewegten Dienstleben,  klarer  werden.  Jedenfalls  war  er  die  gegebene  Persön- 
lichkeit, der  großen  Schwierigkeiten  Herr  zu  werden,  die  mit  dem  deutschen 
Oberbefehl  in  China  verknüpft  waren.  Die  damit  verbundene  Gefahr  schreckte 
seinen  tapfern  Mut  nicht,  den  klimatischen  Verhältnissen  hoffte  er  mit  seinem, 
ungeachtet  seiner  68  Jahre  noch  rüstigen  und  gestählten  Körper  gewachsen 
zu  sein.  Gerade  diese  Zuversicht  ist  die  einzige  gewesen,  die  ihn  getäuscht 
hat.  Schwere  Dysenterien,  von  denen  er  in  China  wiederholt  heimgesucht 
wurde,  haben  wohl  den  Grund  zu  dem  Leiden  gelegt,  das  ihn  unerwartet 
mit  72  Jahren  schnell  hin  wegraffte,  obwohl  er  sich  seine  große  Rüstigkeit 
und  Frische  bis  in  seine  letzten  Lebenstage  bewahrt  hatte.  Nach  der  Heim- 
kehr aus  China  hatte  er  seine  Geschäfte  als  Armeeinspekteur  wieder  auf- 
genommen, am  8.  April  1902  beging  er  seinen  70.  Geburtstag,  erfreut 
durch  zahlreiche  Sympathiebeweise  aus  allen  Teilen  des  Heeres  und  des 
Vaterlandes. 

Deutschland  hat  in  dem  Grafen  Waldersee  einen  hochbegabten  Soldaten 
verloren,  auf  den  die  Armee  mit  berechtigter  Zuversicht  blickte.  Sein  stetes 
Bestreben  war  es,  als  Soldat  das  Höchste  zu  leisten  und  für  die  Armee  die 
größtmögliche  Leistungsfähigkeit  zu  erreichen.  Daneben  hat  es  eine  Zeit 
des  politischen  Ehrgeizes  gegeben,  wie  dies  bei  anderen,  mit  politischen 
Aufgaben  befaßten  Generalen  auch  der  Fall  gewesen  ist,  eine  Zeit,  in  der 
er  sich  füT  berechtigt  und  befähigt  genug  gehalten  hat,  nach  dem  höchsten 
politischen  Amt  zu  trachten.  Die  Ernennung  des  Generals  von  Caprivi  zum 
Reichskanzler  hat  er  als  eine  Zurücksetzung  empfunden,  umsomehr  als  sein 
Verbleiben  an  der  Spitze  des  Generalstabes  neben  dem  General  v.  Caprivi 
als  Kanzler  bei  dem  seit  langen  Jahren  zwischen  beiden  Männern  bestandenen 
Gegensatze  auf  die  Dauer  ohnehin  nicht  möglich  gewesen  wäre.  Auf  allerlei 
Enthüllungen  von  zweifelhaftem  Wert,  die  in  jüngster  Zeit  über  seine  politi- 
schen Bestrebungen  an  die  Öffentlichkeit  gebracht  worden  sind,  braucht 
hier  nicht  weiter  eingegangen  zu  werden.  Nach  seinem  Ableben  ist  berichtet 
worden,  er  habe  im  Jahre  1889  zu  dem  nationalliberalen  Abgeordneten 
Bürgermeister  Fischer  von  Augsburg  geäußert,  als  dieser  ihn  auf  die  Nach- 
folge Bismarcks  ansprach:  »Wer  einmal  Nachfolger  des  toten  Bismarck  wird, 
ist  schon  nicht  zu  beneiden,  aber  Nachfolger  des  lebendigen  Bismarck  werden 
zu  wollen,  für  so  dumm  werden  Sie  mich  nicht  halten.«  Je  höher  Graf  Waldcrsec 
später  in  Rang  und  Ehren  stieg,   desto  demutsvoller  ist  er  geworden.     Seine 


von  Waldersee.     Georg  von  Sachsen.  '  2^ 

Ehe  war  kinderlos.  Um  so  hingebender  widmete  er  sich  dem  engen  Kreise 
der  Seinen.  Den  ihm  nahestehenden  Freunden  hat  er  sich  in  guten  und  in 
bösen  Tagen  in  erprobter  Treue  und  unbedingter  Zuverlässigkeit,  auch  auf 
die  Gefahr  persönlicher  Unannehmlichkeiten  hin,  voll  bewährt.  Mit  Rat  und 
Tat  hat  er  vielen  beigestanden,  sein  im  Stillen  reich  betätigter  Wohltätig- 
keitssinn, in  welchem  ihm  seine  Gemahlin  wetteifernd  zur  Seite  stand,  fügt 
sich  harmonisch  dem  Bilde  eines  seltenen,  glücklichen  Lebensganges  ein. 
Wenn  diesem,  wie  allem  Menschlichen,  auch  Schatten  und  Irrtümer  nicht 
gefehlt  haben,  so  überstrahlt  hier  doch  bei  weitem  das  helle  Licht  seiner 
großen  Begabung  und  seiner  hervorragenden  Leistungen,  die  ihn,  auch  ohne 
die  ihm  reichlich  zuteil  gewordenen  äußeren  Ehren,  den  bedeutendsten  Männern 
des  jungen  Reiches  beigesellen. 

Quellen:  Personalbogen,  sowie  persönliche  Mitteilungen  des  Feldmarschalls  an  den 
Verfasser  und  im  Freundeskreise.  —  Honig,  »Volkskrieg  an  der  Loire«.  Berlin.  E.  S.  Mittler 
&  Sohn.  Bd.  I  S.  336  fF.  —  »Grenzboten«.  Leipzig.  F.  W.  Grunow.  63  Jg.,  1904,  H.  11. 
—  »Deutschland  in  China.«  Aug.  Bagel.  Düsseldorf  1903.  —  »Die  Kaiserliche  Marine 
während  der  Wirren  in  China.«  Herausgegeben  vom  Admiralstabe  der  Marine.  Berlin. 
E.  S.  Mittler  &  Sohn.  —  Keudell,  »Fürst  und  Fürstin  Bismarck«.  Berlin  und  Stuttgart. 
\V.  Spemann.     1901.  —  Moritz  Busch,  »Tagebuchblätter«.     Leipzig.     F.  \V.  Grunow. 

Hugo  Jacobi. 

Georg  Friedrich  August,  König  von  Sachsen,  *  8.  August  1832  in 
PillnitZy  f  15.  Oktober  1904  in  Schloß  Pillnitz,  der  dritte  Sohn  seiner  Eltern, 
des  Prinzen  Johann  und  der  Prinzessin  Amalia  von  Bayern,  wuchs  in  dem- 
selben innig  verbundenen  Familienkreise  auf,  wie  sein  älterer  Bruder  Albert 
(s.  Bd.  VII,  S.  3  ff.)  und  wurde  nach  denselben  Grundsätzen  erzogen.  Sein 
Erzieher  war  seit  1839  Albert  von  Langenn,  derselbe,  der  schon  die  Jugend- 
entwicklung Alberts  geleitet  hatte,  sein  militärischer  Begleiter  erst  August 
von  Minckwitz,  seit  1843  der  Oberstleutnant  Maximilian  von  Engel,  der  den 
Prinzen  zu  strengster  Pflichterfüllung  anhielt.  Seit  9.  Juni  1836  formell  der 
Armee  angehörig,  trat  er  im  März  1846  als  Leutnant  im  2.  Infanterieregiment 
Prinz  Maximilian  ein,  ging  aber  schon  1847  zum  Gardereiterregiment  über. 
Doch  seine  Neigung  richtete  sich  mehr  auf  wissenschaftliche  und  künst- 
lerische Interessen,  und  früh  entwickelte  sich  bei  ihm  eine  ernste,  innige, 
fast  zur  Mystik  neigende  Religiosität.  Sein  eigener  Vater  nannte  ihn  eine 
ernst  angelegte  Natur  mit  einer  starken  Neigung  zum  kontemplativen  Leben, 
auch  wohl  einen  »Träumer«.  Welche  Einflüsse  die  politische  Entwicklung 
dieser  Jahre  auf  den  Knaben  und  den  angehenden  Jüngling  ausübten,  ist 
schwer  zu  sagen;  er  war  in  Dresden,  als  der  Maiaufstand  1849  ausbrach,  und 
mußte  mit  seiner  Familie  erst  nach  Schloß  Weesenstein  im  Müglitztale,  aber 
schon  am  Abend  des  3.  Mai  nach  der  Festung  Königstein  flüchten,  wo  er 
mit  den  Seinen  bis  zum  5.  Juli  blieb.  Im  Herbst  desselben  Jahres  bezog  er 
die  Universität  Bonn  und  hörte  dieselben  Professoren  wie  sein  Bruder  ein 
Jahr  zuvor  unter  der  Oberleitung  des  Professors  Clemens  Theodor  Perthes; 
von  den  damals  dort  anwesenden  Prinzen  erschien  er  dem  Begleiter  des 
künftigen  Kronprinzen  von  Preußen,  Ernst  Curtius,  als  der  begabteste,  »leicht 
beweglich  und  gewandt,  von  sehr  angenehmem  Äußern,  viel  fragend  und 
wohl  unterrichtet«.  Mit  dem  Ende  des  Sommersemesters  1850  in  die  Heimat 
zurückgekehrt,    erlebte  er   den  Abfall   Sachsens  von  dem  Dreikönigsbündnis 


2J.  Georg  von  Sachsen. 

und  die  Mobilisierung  der  sächsischen  Armee  gegen  Preußen,  die  im  November 
auf  der  Linie  Großenhain — Meißen — Dresden — Pirna  zusammengezogen  wurde, 
um  die  Vorhut  der  Österreicher  beim  Marsche  auf  Berlin  zu  bilden;  Prinz 
Georg  stand  damals  bei  der  reitenden  Artillerie.  Nur  die  Demütigung  Preußens 
in  Olmütz  wandte  damals  den  Bruderkrieg  ab;  aber  die  Politik  Beusts  setzte 
seitdem  das  gefährliche  Spiel  fort,  durch  den  Zollverein  in  der  engsten  wirt- 
schaftlichen Verbindung  mit  Preußen  zu  stehen  und  politisch  im  Bunde  mit 
Österreich  zu  gehen,  eine  widerspruchsvolle  Politik,  die  Sachsen  1866  beinahe 
seine  staatliche  Existenz  gekostet  hat.  Das  Verhältnis  des  sächsischen  zum 
preußischen  Hofe  blieb  trotzdem  ungestört;  doch  enger  gestalteten  sich  die 
Beziehungen  zum  österreichischen  Hofe.  Albert  war  in  enger  Freundschaft  mit 
seinem  wenig  jüngeren  Vetter  Kaiser  Franz  Joseph  verbunden,  Georg  stand 
dessen  Bruder,  dem  Erzherzog  Maximilian,  dem  späteren  unglücklichen  Kaiser 
von  Mexiko  (f  1867),  näher.  Eine  längere  italienische  Reise  Herbst  1853  bis 
Mai  1854  erfüllte  einen  Herzenswunsch  Georgs.  Nach  seiner  Rückkehr  über- 
nahm er  als  Major  das  Kommando  des  3.  Jägerbataillons.  Mit  dem  Tode 
König  Friedrich  August  II.  am  9.  August  1854  und  der  Thronbesteigung 
seines  Vaters  Johann  trat  Georg  dem  Thron  um  so  näher,  als  die  Ehe  seines 
Bruders  Albert  kinderlos  blieb,  und  kam  in  den  Besitz  der  Sekundogenitur, 
die  ihm  ein  Einkommen  von  85000  Talern  gewährte.  Am  3.  März  1857  zum 
Obersten  des  Gardereiterregiments  befördert,  hatte  er  jetzt  auch  nach  außen 
seinen  Hof  gelegentlich  zu  vertreten,  so  im  März  1858  in  Paris  bei  Napo- 
leon III.  in  Erwiderung  eines  Besuchs,  den  dessen  Vetter  Prinz  Jeröme 
Napoleon  im  März  1856  in  Dresden  abgestattet  hatte.  Von  Paris  ging  er 
im  April  über  London  nach  Lissabon  zum  Besuche  des  portugiesischen 
Hofes.  Hier  verlobte  er  sich  am  17.  April  mit  der  jugendlichen  Prinzessin 
Maria  Anna  (*  21.  Juli  1843),  ^^^  Tochter  König  Ferdinands  (von  Sachsen- 
Koburg)  und  der  Königin  Maria  da  Gloria;  am  11.  Mai  1859  feierte  er  in 
Lissabon  seine  Vermählung,  am  26.  Mai  zog  das  junge  Paar  in  Dresden  ein. 
Der  italienische  Krieg  1859  brachte  auch  für  den  sächsischen  Hof  große 
Aufregung,  noch  größere  die  folgende  Zeit,  in  der  die  Frage  der  Bundesreform 
wieder  aufgerollt  wurde  und  die  Mittelstaaten,  an  ihrer  Spitze  Sachsen,  im 
schleswig-holsteinischen  Kriege  ihren  Versuch  zu  einer  selbständigen  Politik 
in  einer  großen,  zugleich  europäischen  Frage  mit  einer  empfindlichen  Nieder- 
lage büßten.  Daß  Georg  mit  der  Politik  seines  Vaters  einverstanden  war, 
darf  man  voraussetzen;  er  hat  auch  mit  seinem  Bruder  Albert  in  der  ersten 
Kammer  im  Juni  1862  für  den  französischen  Handelsvertrag  gestimmt  und 
damit  die  Erneuerung  des  Zollvereins  herbeiführen  helfen,  über  die  dann 
der  Vertrag  mit  Preußen  am  ii.  Mai  1864  für  Sachsen  entschied.  Wie  ge- 
deihlich die  sächsische  Industrie  im  Zollverein  sich  entwickelt  hatte,  das  zeigte 
beiden  Brüdern  der  Besuch  der  Londoner  Weltausstellung  im  Juli  1862.  Als 
nun  trotz  dieses  engen  wirtschaftlichen  Anschlusses  der  politische  Gegensatz 
Sachsen  1866  auf  die  Seite  Österreichs  trieb,  da  zog  unter  dem  Oberbefehle 
des  Kronprinzen  Albert  auch  Prinz  Georg  als  Generalmajor  und  Kommandeur 
der  I.  sächsischen  Reiterbrigade  mit  ins  Feld,  und  auch  er  hat  in  diesem 
unglücklichen  Feldzuge,  der  die  Tüchtigkeit  und  Ausdauer  der  Trappen  in 
fortgesetzten  Niederlagen  und  Rückzügen  auf  die  schwerste  Probe  stellte, 
bei   Königgrätz    am    3.   Juli    wie    auf    dem   schwierigen   Marsche    durch   das 


Georg  von  Sachsen.  25 

ungarische  Waagtal  nach  der  Donau  die  Ehre  der  sächsischen  Waffen  um- 
sichtig und  tapfer  gewahrt  und  alle  Entbehrungen  und  Strapazen  getragen 
wie  jeder  andere.  Eine  schönere  und  lohnendere  Aufgabe  stellte  ihm  der 
Krieg  gegen  Frankreich  1870/71.  Als  Generalleutnant  und  Kommandeur  der 
I.  sächsischen  Division  Nr.  23  ging  er  am  28.  Juli  nach  Mainz  ab,  über- 
schritt am  II.  August  von  der  bayrischen  Pfalz  aus  die  französische  Grenze 
und  nahm  am  18.  August  ruhmvollen  Anteil  an  dem  Siege  von  St.  Privat, 
das  seine  Division  zusammen  mit  der  Garde  erstürmte;  am  folgenden  Tage 
ging  auf  dem  Schlachtfelde  der  Oberbefehl  über  das  ganze  XII.  Armeekorps 
auf  ihn  über,  nachdem  Kronprinz  Albert  das  Kommando  über  die  neuge- 
bildcte  Maasarmee  erhalten  hatte,  und  er  hat  es  seitdem  während  des  ganzen 
Feldzuges  geführt,  bei  Sedan  am  i.  September,  wo  dicht  neben  ihm  der 
englische  Oberst  Pemberton  fiel,  und  während  der  langen  Einschließung  von 
Paris,  wo  er  seit  dem  19.  September  sein  Hauptquartier  in  Le  Vert-galant 
bei  Livry  hatte  und  wo  die  Sachsen  in  den  blutigen  Tagen  des  30.  November 
und  des  2.  Dezember  bei  Brie  und  Champigny  dem  Andrängen  der  Franzosen 
widerstanden.  Nach  dem  Abschluß  des  Präliminarfriedens  nahm  er  sein  Quartier 
für  längere  Zeit  in  Laon;  als  Führer  seines  Korps  ist  er  dann  am  16.  Juni 
1871  im  Triumphzuge  mit  in  Berlin  eingeritten  und  am  11.  Juli  in  Dresden. 
Dann  übernahm  er  wieder  das  Kommando  seiner  Division,  bis  er  es 
nach  der  Thronbesteigung  seines  Bruders  1873  "^'^  dem  Oberbefehl  des 
ganzen  Korps  vertauschte.  Zugleich  wurde  er  vom  Kaiser  zum  General- 
inspekteur des  V.  und  VI.  Armeekorps  ernannt,  eine  Aufgabe,  die  ihn  all- 
jährlich nach  Schlesien  und  Posen  führte.  Genau  und  streng  im  Dienst,  ein 
scharfer  Kritiker,  dem  keine  Einzelheit  entging  und  der  auch  für  die  einzelnen 
Persönlichkeiten  ein  ausgezeichnetes  Gedächtnis  hatte  —  noch  nach  Jahren 
pflegte  er  einzelne  Leute  wiederzuerkennen  — ,  hat  er  für  die  sorgfältigste 
Ausbildung  der  Armee  bei  einer  in  fortwährender  Umwandlung  begriffenen 
Bewaffnung  und  Taktik  das  Trefflichste  geleistet  und  wurde  vom  Kaiser  1888 
zum  Generalfeldmarschall  befördert,  wie  er  denn  auch  Chef  des  berühmten 
altmärkischen  Ulanenregiments  Nr.  16  war.  Proben  seines  Könnens  hat  er 
noch  bei  dem  großen  Kaisermanöver  in  der  Oberlausitz  1896  abgelegt,  wo 
er  die  zwei  Armeekorps  der  Westarmee  gegen  den  Feldmarschall  Grafen 
Waldersee  kommandierte.  Auf  die  Zusammengehörigkeit  mit  der  Armee  legte 
er  allezeit  großen  Wert;  er  blieb  auch  als  König  Chef  der  Regimenter,  bei 
denen  er  als  Prinz  gewesen  war. 

Dieselbe  peinliche  Gewissenhaftigkeit  wie  im  militärischen  Dienst  zeigte 
er  in  der  politischen  Arbeit.  Seit  1858  war  er  Mitglied  des  Staatsrats,  am 
21.  Mai  1862  trat  er  nach  den  Bestimmungen  der  sächsischen  Verfassung 
in  die  Forste  Kammer  ein.  Er  hat  ihr  mehr  als  vierzig  Jahre  hindurch 
angehört  und  an  allen  den  gesetzgeberischen  Arbeiten,  die  seit  den  fünfziger 
Jahren  die  Organisation  der  Gerichte,  der  Behörden,  der  Landeskirche,  der 
Schule  gründlich  umgestalteten,  eifrigen  Anteil  genommen,  vor  allem,  als  er 
1873  Vorsitzender  der  Finanzdeputation  der  Ersten  Kammer  geworden  war, 
an  der  neuen  Ordnung  des  Steuerwesens  1878,  die  von  der  Einführung  einer 
Einkommensteuer  ausging,  indem  er  für  diese  als  die  gerechteste  und  den 
modernen  Verhältnissen  am  meisten  entsprechende  persönlich  eintrat.  Er  tat 
auch  hier,  obwohl  er  selten  als  Redner  auftrat,  gründliche  und  gewissenhafte 


26  Georg  von  Sachsen. 

Arbeit.  Von  der  modernen  Gesetzmacherei,  die  oft  nicht  schnell  genug  ein- 
schneidende Bestimmungen  erlassen  kann,  wenn  es  ein  neu  aufsteigendes 
Bedürfnis  zu  fordern  scheint,  war  er  gar  kein  Freund;  er  bemerkte  einmal, 
früher  habe  man  die  Dinge  gründlicher  erwogen  als  heute  und  deshalb  auch 
bessere  Gesetze  gemacht,  womit  er  wohl  recht  gehabt  haben  wird.  Im  regen, 
ungezwungenen  persönlichen  Verkehr  mit  den  Landtagsmitgliedern  lernte  er 
auch  die  Anschauungen  und  die  Bedürfnisse  der  Bevölkerung  in  allen  Kreisen 
und  Schichten  kennen,  und  er  erwarb  sich  durch  das  alles  eine  Vertrautheit 
mit  den  Verhältnissen  und  mit  der  Staatsverwaltung,  wie  sie  selten  gefunden 
werden  wird  und  wie  sie  die  beste  Vorbereitung  für  seine  leider  so  kurze 
Regierung  gewesen  ist.  So  konnte  er  bei  seiner  Thronbesteigung  am  19.  Juni 
1902  mit  gutem  Gewissen  versprechen,  daß  er  im  Sinne  und  Greiste  seines 
Bruders  regieren  werde,  und  er  hat  das  treulich  gehalten,  auch  auf  den  beiden 
Gebieten,  die  heute  zu  den  schwierigsten  gehören,  der  Schule  und  der  Kirche. 
Die  oft  so  hart  und  ungerecht  angegriffenen  humanistischen  Gymnasien 
haben  an  ihm  denselben  gütigen  und  verständnisvollen  Schirmherrn  gefunden 
wie  an  König  Albert;  er  hat  allen  seinen  Söhnen  die  volle  humanistische 
Bildung  geben  lassen,  er  hat  auch  noch  bei  seinen  Enkeln  dafür  gesorgt, 
und  ein  neugegründetes  humanistisches  Gymnasium  in  Dresden  trägt  seinen 
Namen.  In  kirchlicher  Beziehung  hielt  er  sich  sehr  zurück.  Er  war  ein 
strenggläubiger  katholischer  Christ,  der  seine  Konfession  ernst  und  ge- 
wissenhaft nahm  wie  alles  andere,  der  auch  nach  katholischer  Auffassung 
dem  Staate  keinen  Einfluß  auf  die  Kirche  verstatten  wollte,  und  er  stand 
deshalb  wohl  im  Rufe  der  Bigotterie.  Aber  wenn  man  unter  Bigotterie 
Frömmelei  und  Unduldsamkeit  versteht,  so  war  dieser  Vorwurf  ungerecht, 
ebenso  wie  bei  seinem  Vater,  dem  König  Johann,  dem  er  auch  in  dieser 
Beziehung  besonders  ähnelte.  Er  hat  niemals  vergessen,  daß  er  ein  ganz 
überwiegend  protestantisches  Land  beherrschte,  er  hat  bei  seinem  Regierungs- 
antritt der  evangelischen  Landeskirche  versprochen,  sie  solle  es  unter  ihm 
nicht  anders  haben  wie  unter  seinem  Vorgänger,  und  die  sächsischen  Stimmen 
im  Bundesrate  hat  er  1903  gegen  die  teilweise  Aufhebung  des  Jesuiten- 
gesetzes von  1872  abgeben  lassen.  Er  war  eben  ein  viel  zu  fein  und  viel- 
seitig gebildeter  Mann,  als  daß  er  nicht  die  historische  Berechtigung  der 
verschiedenen  Konfessionen  rückhaltlos  anerkannt  hätte.  In  so  regem  geistigem 
Interesse  nahm  er  auch  die  engen  persönlichen  Beziehungen  seines  Bruders 
zur  Universität  Leipzig  wieder  auf.  Er  wurde  ihr  Rector  magnificentissimus  wie 
dieser  es  gewesen  war,  er  besuchte  sie  wie  dieser  1903  und  würde  das  sicher 
ebenso  regelmäßig  wiederholt  haben  wie  König  Albert,  wenn  ihm  eine  längere 
Regierung  vergönnt  gewesen  wäre.  Als  Prinz  führte  er  seit  1855  das  Protek- 
torat des  Königl.  sächsischen  Altertumsverein  in  Dresden,  und  zwar  nicht  nur 
dem  Namen  nach;  er  wohnte  vielmehr  den  Sitzungen  fast  regelmäßig  bei  und 
war  auch  Protektor  der  Königl.  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in 
Leipzig.  Ebenso  brachte  er  der  Akademie  der  bildenden  Künste  in  Dresden, 
deren  Kurator  er  war,  reges,  vorurteilsfreies  Interesse  entgegen,  und  bei  großen 
wissenschaftlichen  Versammlungen,  wie  z.  B.  1897  bei  der  Dresdner  Ver- 
sammlung der  deutschen  Philologen  und  Schulmänner,  erschien  er  gern  selbst. 
Sein  besonderes  Interesse  galt  der  Musik;  er  spielte  vortrefflich  Klavier  und 
hatte  eine  schöne  Baritonstimme;   selten    versäumte   er  während  des  Winters 


Georg  von  Sachsen.  27 

den  Besuch  der  Symphoniekonzerte  in  Dresden.  Bei  seiner  Sachkenntnis  und 
Pflichttreue  hatte  er  über  die  verschiedensten  Dinge  ein  festes  und  begründetes 
Urteil,  das  er  als  König  auch  seinen  Ministern  gegenüber  energisch  vertrat; 
nur  besseren  Gründen  war  er  zugänglich.  Da  er  sich  bewußt  war,  daß  er 
das  Beste,  was  er  war  und  besaß,  seinem  Volke  gab,  so  war  es  ihm  ein 
lebhaft  empfundenes  Bedürfnis,  sich  mit  ihm  in  Harmonie  zu  fühlen.  Gerade 
aber  das  ist  ihm  auch  als  König  versagt  geblieben.  Er  übernahm  eine  schlimme 
Erbschaft  in  der  schlechten  Finanzlage,  die  durch  eine  Überspannung 
unrentabler  Eisenbahnbauten,  kolossale  Überschreitungen  der  Voranschläge  bei 
Staatsbauten  und  die  gewaltige  Konkurrenz  der  preußischen  Staatseisenbahnen 
herbeigeführt  worden  war,  und  er  sah  sich  trotzdem  gezwungen,  eine 
Erhöhung  seiner  Zivilliste  zu  fordern.  Der  Wahlsieg  der  Sozialdemokratie 
bei  den  Reichstagswahlen  von  1903  erschien  vielen  geradezu  als  Ausdruck 
der  dadurch  veranlaßten  Mißstimmung. 

Wenn  sein  Volk  etwas  mehr  in  sein  eigenes  Familienleben  hätte  hinein- 
sehen können,  so  würde  es  doch  mit  einiger  Beschämung  erkannt  haben,  daß  es 
geradezu  musterhaft  und  vorbildlich  im  schönsten  Sinne  war.  Seine  Ehe  war 
glücklich  und  gesegnet,  einfach  und  anspruchslos  das  Familienleben  in  dem 
schlichten,  von  einem  Schüler  des  großen  Gottfried  Semper,  Nicolai,  um- 
gebauten Palais  an  der  Langen  Gasse  mit  seinem  prachtvollen,  ausgedehnten, 
parkartigen  Garten,  im  Sommer  in  der  bürgerlich  einfachen  Villa  im  idylli- 
schen Hosterwitz  bei  Pillnitz,  wo  Georg  noch  als  König  am  liebsten  verweilte. 
Vier  Söhne  und  zwei  Töchter  erblühten  ihm;  liebevoll,  aber  einfach  und 
streng  sind  sie  alle  erzogen  worden,  auch  sein  ältester  Sohn,  König  Friedrich 
August  III.  Aber  wie  er  in  seiner  Familie  das  beste  Glück  fand,  so  hat  er 
an  ihr  auch  das  schwerste  Herzeleid  erfahren.  Wenige  Monate  vor  der 
silbernen  Hochzeit,  am  5.  Februar  1884,  wurde  seine  Gemahlin  vom  Typhus 
hin  weggerafft;  sein  jüngster  Sohn,  Prinz  Albert,  der  immer  das  ängstlich 
gehütete  Sorgenkind  der  Mutter  gewesen  war,  für  den  sie  in  der  Angst  ihres 
Herzens,  wie  andere  arme  Mütter  ihres  Glaubens,  einmal  sogar  eine  Wallfahrt 
nach  dem  böhmischen  Gnadenorte  Philippsdorf  gewagt  hatte,  verunglückte  wäh- 
rend der  Herbstmanöver  am  17,  September  1900  durch  einen  Sturz  aus  dem  Wagen 
im  blühenden  Jünglingsalter  von  25  Jahren;  seine  ältere  Schwiegertochter, 
die  höchst  populäre  Kronprinzessin,  Luise  von  Toskana  (seit  1892),  brachte 
schweren  Kummer  über  sein  Haus,  als  sie  in  unbegreiflicher  Verblendung 
im  Dezember  1902  ihre  Familie  plötzlich  verließ,  so  daß  die  Ehe  am  11.  Februar 
1903  gerichtlich  geschieden  werden  mußte  und  die  unverhohlenen  Sympathien, 
die  namentlich  in  Dresden  dieser  »längst  tief  gefallenen  Fraö«  entgegengebracht 
wurden,  verletzten  den  gebeugten  König  aufs  tiefste.  Die  jüngere  Schwieger- 
tochter (seit  1894),  die  Gemahlin  seines  zweiten  Sohnes,  des  Prinzen  Johann 
Georg,  Isabella  von  Württemberg,  starb  am  24.  Mai  1904.  Er  hatte  alle  diese 
Schicksalsschläge  mit  der  Ergebenheit  des  wahren  Christen  getragen,  so 
schwer  sie  waren.  Als  ihn  die  furchtbare  Kunde  vom  jähen  Tode  seines 
jüngsten  Sohnes  traf,  wenige  Stunden,  nachdem  er  ihn  gesund  und  fröhlich 
hatte  scheiden  sehen,  da  schrieb  er  an  einen  Vertrauten:  »Ich  war  wie  vom 
Schlage  getroffen  und  meinte  es  nicht  überleben  zu  können«,  aber  er  über- 
wand auch  das,  und  er  fand  in  einer  aufblühenden  Enkelschar,  deren  ältester, 
der  gegenwärtige  Kronprinz,  den  Namen  des  Großvaters  erhielt,  so  manchen 


28  Georg  von  Sachsen. 

Ersatz  für  die  herben  Verluste,  aber  er  wurde  doch  mehr  und  mehr  zu  einem 
innerlich  einsamen  Manne.  Die  Gemahlin  seiner  Jugend  hatte  ihn  als  Witwer 
zurückgelassen,  sein  dritter  Sohn,  Prinz  Max,  trat  1896  in  den  geistlichen 
Stand  und  entfremdete  sich  der  Heimat;  auch  seine  zweite  Tochter,  Josepha, 
war  als  Gemahlin  des  Erzherzogs  Otto  1886  in  die  Fremde  gezogen.  Da  ist 
es  wohl  erklärlich,  daß  er  allmählich  noch  ernster,  stiller,  zurückhaltender, 
resignierter  wurde,  als  es  ohnehin  in  seinem  Wesen  lag.  Zeit  seines  Lebens 
hatte  er  an  zweiter  Stelle  gestanden;  jetzt,  als  sich  die  Königskrone  auf  das 
Haupt  des  fast  Siebzigjährigen  senkte,  war  es  ergraut,  und  er  hatte  das 
Gefühl,  das  er  auch  aussprach:  »Es  ist  zu  spät«.  Er  konnte  in  vertrautem 
Kreise  leutselig  sein,  und  es  fehlte  ihm  auch  keineswegs  an  Humor,  aber 
das  trat  für  Fernerstehende  nicht  hervor,  und  das  war  seiner  Popularität 
hinderlich.  Auch  diesen  Mangel  an  Popularität  hat  er  bitter  empfunden. 
»Warum  können  mich  die  Leute  eigentlich  nicht  leiden?«  hat  er  einmal  noch 
als  Prinz  gefragt.  Er  gehörte  eben  zu  den  tiefangelegten  Naturen,  die  man 
näher  kennen  muß,  um  sie  zu  würdigen,  und  wie  wenige  konnten  das!  Gewiß, 
er  war  voll  fürstlichen  Selbstgefühls,  das  zuweilen  etwas  Herbes  hatte,  aber 
er  war  vor  allem  ein  reiner,  durch  und  durch  wahrhaftiger  Mensch  voll 
tiefer  und  feiner  Empfindung  und  von  makelloser  Pflichttreue.  Das  gilt  auch 
von  seinem  Verhältnis  zum  Reiche,  indem  er  ganz  und  gar  den  Bahnen 
seines  Bruders  folgte.  Mit  Kaiser  Wilhelm  IL  verbanden  ihn  die  herzlichsten 
Beziehungen.  König  Georg  machte  ihm  bald  nach  seinem  Regierungsantritte 
seinen  Besuch,  empfing  im  März  1903  den  Gegenbesuch  und  hatte  noch 
die  Freude,  ihn  bei  den  Kaisermanövern  des  Jahres  1903  in  Dresden  zu 
begrüßen  und  ihm  in  glänzender  Parade  bei  Leipzig  am  5.  September  das 
neugebildete  XIX.  Armeekorps  vorzuführen. 

Er  war  als  fester  Soldat  und  passionierter  Jäger  bis  ins  Alter  hinein 
rüstig  und  beweglich,  aber  schon  vor  seinem  Regierungsantritt  traten  die 
ersten  Anzeichen  eines  Herzleidens  (Arterienverkalkung)  auf,  dem  auch  sein 
Vater,  König  Johann,  erlegen  war,  und  in  vertrauten  Kreisen  wußte  man,  daß 
er  schwerer  leidend  sei  als  König  Albert.  Die  tiefen  seelischen  Erschütte- 
rungen konnten  diesen  Zustand  nur  ungünstig  beeinflussen.  Zur  Erholung 
ging  er  im  Frühjahr  1903  nach  Gardone  am  Gardasee  und  fühlte  sich  da- 
nach so  weit  gekräftigt,  daß  er  auf  der  Rückreise  über  Venedig  die  Höfe 
von  Wien  und  München  besuchen  konnte;  auch  den  Anstrengungen  der 
Paraden  und  Manöver  im  Herbst  1903  zeigte  er  sich  noch  gewachsen.  Aber 
von  einem  Influenzaanfall  im  Januar  1904  erholte  er  sich  nicht  wieder  trotz 
einer  Kur  in  Ems  und  Gastein,  vielmehr  quälten  ihn  nach  der  Rückkehr 
ein  nervöser  Husten  und  zunehmende  Atemnot.  Seinen  72.  Geburtstag,  den 
man  überalF  im  Lande  mit  dem  Gefühle  ernster  Sorge  beging,  verbrachte  er 
selbst  noch  leidlich,  und  er  konnte  in  Pillnitz  noch  oft  im  Freien  sein  oder 
kurze  Ausfahrten  machen.  Aber  er  selbst  wußte  genau,  wie  es  mit  ihm  stand, 
und  er  forderte  auch  vom  Arzte  die  ganze  Wahrheit.  Seinen  Pflichten  genügte 
er  mit  schwindenden  Kräften  bis  zum  14.  Oktober;  erst  an  diesem  Tage,  als 
er  das  Ende  nahen  fühlte,  übertrug  er  dem  Kronprinzen  die  Regentschaft. 
An  demselben  Abend  gegen  acht  Uhr  empfing  er  die  Sterbesakramente,  all- 
mählich aber  schlummerte  er  in  Bewußtlosigkeit  hinüber,  und  in  den  ersten 
Morgenstunden  des  15.  Oktober,  2  Uhr  25  Minuten,  entschlief  er  sanft.     Am 


Georg  von  Sachsen.     Buchenberger.  20 

Abend  des  17.  Oktober  trug  ein  schwarz  verhangener  Dampfer  die  Leiche 
nach  Dresden;  hier  wurde  sie  in  der  Schloßkirche  aufgebahrt  und  am  19.  Oktober 
inmitten  einer  glänzenden  Trauerversammlung  beigesetzt 

Vgl.  V.  Falkenstein,  Johann,  König  von  Sachsen.  —  v.  Schimpff,  Prinz  Georg  von 
Sachsen.  —  P.  Hassel,  König  Albert  von  Sachsen.  —  Eine  zusammenfassende  Darstellung 
des  gesamten  Lebensganges  gibt  Konrad  Sturmhoefel,  Zu  König  Georgs  Gedächtnis  (mit 
Forträt),  Dresden  1905.  Eine  kürzere  Charakteristik  habe  ich  versucht  in  meiner  Gedächtnis- 
rede am  19.  Oktober  1904,  abgedruckt  im  Jahresbericht  des  Nikolaigymnasiums  in  Leipzig 
1905,  der  ein  Teil  des  vorstehenden  Abrisses  mit  einigen  Zusätzen  und  anderen  Verände- 
rungen entnommen  ist.  Otto   Kaemmel. 

Biichenberger,  Adolf,  Großh.  Badisch.  Finanzminister  und  Nationalökonom, 
Dr.  pkitos,  hon,  causa^  Dr.  jur.  hon.  causa ^  *  18.  Mai  1848  in  Mosbach  (Baden), 
t  20.  Februar  1904  in  Karlsruhe.  —  Ein  reiches  Leben  ist  mit  dem  Ver- 
storbenen dahingegangen,  reich  an  Arbeit  und  Erfolgen  auf  politisch -staats- 
männischem  Gebiete  wie  dem  der  Wissenschaft,  eine  selten  harmonische 
Verbindung  in  sich  schließend  zwischen  politischem  Geschick  und  strenger 
Gel  ehrten  arbeit. 

Als  das  vierte  Kind  von  sechs  Abkömmlingen  eines  praktischen,  später 
auch  im  Staatsdienste  tätigen  Arztes  in  einem  kleineren  Landstädtchen  ge- 
boren, mußte  B.  daß  elterliche  Haus  schon  frühzeitig  verlassen,  um  eine 
Mittelschule  zu  besuchen.  Er  fand  liebevolle  Aufnahme  in  der  anmutig 
gelegenen  alten  Mainstadt  Wertheim  bei  seinen  Großeltern  mütterlicherseits, 
einer  hier  alteingesessenen  Fürstlich  Löwensteinschen  Beamtenfamilie.  Wert- 
heim wurde  ihm  zur  zweiten,  ja  zur  eigentlichen  Heimat.  Er  verlebte  hier 
eine  sehr  glückliche  Jugendzeit,  auf  die  nur  der  frühe  Verlust  beider  Eltern 
trübe  Schatten  warf.  Der  Vater  starb  1859,  als  B.  erst  elf  Jahre  alt  war,  die 
Mutter,  die  nach  dem  Tode  ihres  Mannes  mit  ihren  fünf  anderen  Kindern 
in  die  alte  Heimatstadt  Wertheim  gezogen  war,  im  Jahre  i866,  kurz  bevor  B. 
das  Reifezeugnis  des  dortigen  Gymnasiums  erlangte.  Mit  zahlreichen  Wert- 
heimer  Jugendgenossen  verband  B.  innige  Freundschaft  bis  an  sein  Lebens- 
ende. Aus  ihren  Berichten  wissen  wir,  daß  er  schon  von  früher  Jugend  an 
ein  heiterer  und  sehr  umgänglicher,  auf  alle  Interessen  der  Freunde  gerne 
eingehender  Mensch  gewesen  ist,  kein  Spaßverderber,  dabei  doch  stets 
ruhig  und  besonnen,  von  großem  Wissensdrang  beseelt  und  deshalb  mit 
seiner  Zeit  immer  rechnend.  Sehr  fühlte  er  sich  von  früher  Jugend  an  zur 
Natur  hingezogen  durch  ihre  landschaftliche  Schönheit  wie  durch  ihre  natur- 
wissenschaftliche Wunderbarkeit.  Aber  von  allen  diesen  Neigungen  hat  sich 
nach  dem  Berichte  eines  Jugendfreundes  doch  nur  eine  bis  zur  Leidenschaft 
gesteigert,  die  Freude  am  Lesen.  Ganze  Berge  von  Büchern  soll  schon  der 
Gymnasiast  B.  hinter  sich  gebracht  haben,  und  wo  er  nur  wieder  eines  hab- 
haft werden  konnte,  habe  er  sich  mit  regem  Eifer  daraufgestürzt.  Sein  Lesen 
war  nicht  durch  dunkle  Triebe  oder  um  einer  Schülereitelkeit  zu  fröhnen 
eingegeben,  sondern  entsprang  wahrer  Lernbegierde,  und  diesem  Beweggrund 
entsprach  auch  der  Erfolg.  Mit  einer  selten  leichten  Auffassung  verband 
B.  eine  hervorragende  Kraft  des  Gedächtnisses,  so  daß  er  kein  Buch  ohne 
dauernden  Nutzen  aus  der  Hand  gelegt  hat.  Früh  zeigten  sich  auch  die 
ersten  Regungen  der  Vaterlandsfreude.    In  den  Jahren  der  Reaktion,  die  den 


^O  Buchenberger. 

Bewegungen  seines  Geburtsjahres  folgten,  mag  er,  sobald  Empfinden  und 
Erkenntnis  in  dem  ziemlich  frühreifen  Knaben  sich  regten,  manch  stillen 
Traum  von  politischer  Freiheit  und  einem  großen  deutschen  Vaterlande  mit- 
geträumt haben.  Er  hat  beim  Abschluß  einer  vortrefflichen  humanistischen 
Bildung  den  zur  Neugestaltung  des  Vaterlandes  notwendig  gewordenen 
deutschen  Bruderkrieg  miterlebt,  nicht  nur  zeitlich,  sondern  in  Erkenntnis 
seiner  Ursachen  und  Folgen.  Und  als  junger  hoffnungsvoller  Staatsbeamter 
war  er  verständnisvoller  Zeuge  des  großen  deutsch-französischen  Krieges  und 
der  Begründung  des  heutigen  Deutschen  Reiches.  Hell  lodernde  patriotische 
Begeisterung  hat  auch  ihn  in  diesen  Jünglings-  und  ersten  Mannesjahren 
beseelt,  aber  frühzeitig  zeigte  sich  in  ihm  schon  ein  stark  ausgeprägtes 
Gefühl  für  das  in  Wirklichkeit  Erreichbare,  und  so  hat  er  bald  in  strenger 
Selbstzucht  seiner  leichtbeschwingten  Einbildungskraft  die  Zügel  praktischer 
Erwägungen  angelegt.  Alle  diese  Eigenschaften  des  Knaben  und  Jünglings 
sind  B.  in  der  mit  den  zunehmenden  Jahren  gegebenen  reicheren  Entwicklung 
treu  geblieben  bis  an  sein  Lebensende. 

Im  Spätherbst  1866  bezog  B.  zusammen  mit  seinem  um  ein  Jahr  älteren 
Bruder  die  Universität  Freiburg.  Recht  eigentlich  seinen  Neigungen  folgend 
erwählte  er  das  Kameralfach,  eine  badische  Spezialität.  Den  Rückgrat  dieses 
Studiums  bildeten  die  volkswirtschaftlichen  Fächer  (Allgemeine  oder  theo- 
retische und  spezielle  Nationalökonomie  —  Volkswirtschaftslehre  und  -pflege 
—  sowie  Finanzwissenschaft).  Zu  ihnen  traten  hinzu  einige  juristische  Haupt- 
disziplinen des  öffentlichen  und  des  Privatrechtes,  einige  mathematische 
Fächer,  insbesondere  politische  Arithmetik,  und  als  Hilfswissenschaften  einige 
technische  Disziplinen  (Landwirtschaftslehre,  Technologie  und  einige  Fächer 
aus  der  Erdkunde).  Von  diesem  neben  dem  juristischen  eingerichteten 
besonderen  kameralistischen  Studium  versprach  man  sich  in  Baden  die  Heran- 
ziehung eines  tüchtigen  Stammes  von  brauchbaren  Beamten  für  die  Finanz- 
und  volkswirtschaftliche  Verwaltung,  und  daß  diese  Hoffnungen  nicht  ganz 
unbegründete  waren,  dafür  lieferte  gerade  die  Tätigkeit  B.s  den  besten  Beweis. 
Das  besondere  kameralistische  Studium  ist  denn  auch  unter  verschiedenen 
Wandlungen,  stärkerer  Betonung  des  juristischen  Elementes  und  einem  Zurück- 
tretenlassen der  mathematischen  und  technischen  Fächer  in  Baden  bis  zum 
heutigen  Tage  aufrecht  erhalten  geblieben.  Und  als  Ende  der  neunziger 
Jahre  mit  der  Einführung  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches  für  das  Deutsche  Reich 
die  Frage  erneut  zur  Erörterung  stand,  ob  das  kameralistische  Studium  nicht 
mit  dem  juristischen  verschmolzen  werden  solle,  da  ist  es  der  Finanzminister 
B.  gewesen,  der  in  entscheidender  Weise  seine  Stimme  für  die  fernere  Aufrecht- 
erhaltung des  Sonderstudiums  abgab.  —  Dem  studentischen  Treiben  mit 
seinem  jugendlichen  Frohsinn  und  seiner  guten  erzieherischen  Wirkung  für 
die  Charakterbildung  »im  Strom  der  Welt«  blieb  B.  durchaus  nicht  fern.  Er 
gehörte  die  zwei  ersten  Semester  in  Freiburg  dem  Korps  Rhenania  und 
die  zwei  folgenden  in  München  den  Korps  Franconia  an  und  soll  hier  in 
allen  Lagen,  insbesondere  auch  auf  dem  Fechtboden,  nach  dem  Zeugnis  von 
Altersgenossen  seinen  Mann  vortrefflich  gestellt  haben.  Auch  sind  zu  den 
Wertheimer  Jugendgenossen  während  der  Universitätszeit,  die  mit  zwei  weiteren 
Semestern  in  Heidelberg,  also  im  ganzen  schon  mit  sechs  Semestern  abschloß, 
zahlreiche  ihm  treu  ergebene  Freunde  hinzugetreten,  die  er  sich  durch  seine 


Buchenberger.  ^  £ 

geistige  Bedeutung,  sein  leutseliges  Wesen  und  seine  angenehmen  Umgangs- 
formen spielend  gewann.  Bei  alledem  wurde  aber  nichts  versäumt  zur  Bildung 
»des  Talentes  in  der  Stille«.  Nach  den  noch  vorhandenen  Kollegienheften 
hat  B.  alle  belegten  Vorlesungen  ohne  Unterschied  mit  nie  versagendem 
Fleiße  gehört  und  zu  Hause  verarbeitet.  Nach  Art  und  Umfang  dieser  Lern- 
tätigkeit hat  er  damit  offenbar  nicht  nur  bezweckt,  das  bevorstehende  Staats- 
examen ablegen  zu  können,  sondern  er  war  dabei  geleitet  von  äußerst  regem 
Wissensdrang  in  dem  von  ihm  erwählten  Fache.  Bei  solch  ernster  und  wahr- 
haft wissenschaftlicher  Arbeit  konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  B.  schon  nach 
dreijähriger  Universitätszeit  das  kameralistische  Staatsexamen  mit  gutem 
Erfolge  als  der  erste  sämtlicher  Prüflinge  bestand. 

Gleich  darauf,  im  November  1869,  fand  B.,  21  Jahre  alt,  seine  erste  Ver- 
wendung im  staatlichen  Dienste,  und  zwar  als  Gehilfe  bei  der  Bezirksdomänen- 
und  Steuerverwaltung  in  Müllheim  und  Lörrach  im  badischen  Oberland.  Er 
ging  auch  nicht  nur  vorübergehend,  wie  so  mancher  junge  Beamte,  seiner  akade- 
mischen Studien  ganz  vergessend,  in  der  Fülle  der  zu  erlernenden  praktischen 
Einzelheiten  unter,  sondern  trat  an  alles  von  der  höheren  Warte  wissen- 
schaftlicher Ergründung  und  Kritik  heran.  Trotz  der  mühsamen  und  spröden 
Rechnungsführung,  die  er  zunächst  zu  übernehmen  hatte,  fand  er  Lust  und 
Zeit  zu  einer  aus  eigenem  Antrieb  abgefaßten  domänenpolitischen  Denkschrift 
über  die  schädlichen  Wirkungen  des  staatlichen  Parzellenbesitzes  auf  die 
heimische  Landwirtschaft,  einer  Arbeit,  der  er  viel  später,  als  erste  größere 
Tat  seiner  Finanzministerschaft  praktische  Folgen  gab.  Von  dieser  ersten 
nicht  erhalten  gebliebenen  Schrift  an  faßte  er  die  große  Vorliebe  für  das 
Studium  der  Landwirtschaft  und  die  öffentliche  Landwirtschaftspflege,  denen 
er  später  durch  lange  Jahre  seine  Hauptkraft  widmen  sollte. 

Kein  Wunder,  daß  man  bei  den  Zentralstellen  bald  auf  den  befähigten 
und  strebsamen  Praktikanten  aufmerksam  wurde.  Am  i.  Januar  1872  wurde 
der  Kameralpraktikant  B.  in  das  Sekretariat  des  Handelsministeriums  in 
Karlsruhe  einberufen,  in  welcher  Stadt  er  von  da  an  ohne  Unterbrechung 
bis  zu  seinem  Tode  beamtet  war.  Das  Handelsministerium,  das  1881  infolge 
einer  Änderung  in  der  Behördenorganisation  unter  Verteilung  seiner  Geschäfte 
auf  die  Ministerien  des  Innern  und  der  Finanzen  aufgehoben  worden  ist, 
hatte  zur  Geschäftsaufgabe  die  öffentliche  Pflege  von  Landwirtschaft,  Handel 
und  Gewerbe,  den  Wasser-  und  Straßenbau,  die  Eisenbahnverwaltung  sowie 
das  Post-  und  Telegraphenwesen.  Dieses  Ministerium  der  volkswirtschaftlichen 
Verwaltung  umfaßte  also  recht  eigentlich  das  Gebiet,  auf  dem  B.  seine  haupt- 
sächlichsten Studien  gemacht  hatte  und  dem  seine  vorzugsweisen  Neigungen 
zugewendet  waren.  Er  hatte  somit  hier  die  beste  Gelegenheit,  seine  Studien 
im  Lichte  der  praktischen  Staatsverwaltung  nachzuprüfen  und  sie  dadurch 
zu  erweitem  und  zu  vertiefen.  Schon  zweieinhalb  Jahre  später  (August  1874) 
wurde  der  Kameralpraktikant  B.  unter  etatmäßiger  Anstellung  mit  dem  Titel 
Regierungsassessor  als  vortragender  Rat  in  die  Oberdirektion  des  Wasser- 
und  Straßenbaues  berufen,  einer  dem  damaligen  Handelsministerium,  jetzt 
dem  Ministerium  des  Innern,  unmittelbar  unterstellten  Zentralmittelbehörde. 
Hier  waren  es  wiederum  die  in  engem  Zusammenhang  mit  der  Landwirtschaft 
stehenden  Geschäfte,  die  sein  ganz  besonderes  Interesse  in  Anspruch  nahmen; 
die  Aufgaben    der  Landeskultur,    so    insbesondere   die    Durchführung    einer 


32  Buchenberger. 

zweckmäßigen  Feldbereinigung,  Aufhebung  der  Gemengelage,  Durchführung 
von  Ent-  und  Bewässerungen  usw.  Hierbei  kamen  ihm  seine  gründlichen 
theoretischen  Kenntnisse  sehr  zustatten ;  aber  auch  in  der  praktischen  Durch- 
führung dieser  Regierungsmaßnahmen  legte  ,er  ein  bemerkenswertes  Geschick 
an  den  Tag.  Mit  seinem  Eintritt  in  das  Kollegium  der  Oberdirektion  des 
Wasser-  und  Straßenbaues  beginnt  auch  die  umfassende  journalistische  und 
schriftstellerische  Tätigkeit,  die  B.  fast  ohne  Unterbrechung  bis  an  seines 
Lebens  Ziel  auf  den  verschiedensten  volkswirtschaftlichen  Gebieten  fortgesetzt 
hat.  Er  führte  eine  ungemein  leichte  Feder  und  besaß  die  seltene  Gabe,  alle 
seine  Gedanken  sofort  zutreffend  und  in  gefälliger  Form  zu  Papier  zu  bringen. 
So  allein  ist  es  zu  erklären,  wie  ein  durch  seinen  Beruf  sein  ganzes  Leben 
hindurch  in  ungewöhnlichem  Maße  in  Anspruch  genommener  Beamter  neben- 
her eine  so  umfassende  schriftstellerische  Betätigung  entwickeln  konnte.  In 
den  siebziger  Jahren  waren  es  hauptsächlich  volkswirtschaftliche  Tagesfragen 
aller  Art,  denen  er  seine  Feder  lieh,  und  entsprechend  der  aktuellen  Bedeutung 
seiner  Darlegungen  ließ  er  diese  Aufsätze  in  der  Tagespresse  (zumeist  der 
in  Karlsruhe  herausgegebenen  »Badischen  Landeszeitung«)  erscheinen.  Diese 
journalistische  Tätigkeit  setzte  er  auch  späterhin,  nachdem  er  sich  der  Ab- 
fa.ssung  von  Kommentaren,  Lehrbüchern,  Kompendien  usw.  zugewendet  hatte, 
nebenher  ständig  fort.  Und  noch  als  Finanzminister  bediente  er  sich  häufig 
und  gerne  der  Tagespresse,  um  auf  die  öffentliche  Meinung  aufklärend  zu 
wirken. 

Bald  nach  seinem  Eintritt  bei  der  Oberdirektion  (Oktober  1874)  trat  für 
ihn  in  seinem  persönlichen  Leben  eine  sehr  erfreuliche  und  ihn  hochbe- 
glückende Wendung  ein.  Er  führte  die  Tochter  des  damaligen  Bezirksförsters 
in  Pforzheim,  späteren  Forstmeisters  Hoffmann,  Klara,  als  Gattin  heim,  mit 
der  er  bis  zu  seinem  Tode  in  glücklichster  Ehe  verbunden  blieb.  Was  ihm 
diese  treue  Lebensgefährtin  gewesen  ist,  welches  behagliche  Heim  sie  ihm 
geschaffen  hat,  das  kann  man  am  besten  an  dem  außerordentlichen  Umfang 
seiner  Berufsarbeit  und  sonstigen  öffentlichen  Tätigkeit  ermessen,  die  auch 
dem  fähigsten  und  leistungsfähigsten  Manne  ohne  ein  glückliches  Heim,  in 
dem  er  auszuruhen  und  Kräfte  zu  sammeln  vermag,  nicht  möglich  gewesen 
wäre.  Mit  gerechtem  Stolze  darf  diese  vortreffliche  deutsche  Frau  auf  die 
Erfolge  ihres  Gatten  blicken;  sie  hat  auch  ihren  guten  Anteil  daran.  Drei 
Töchter  entsprossen  dem  Ehebunde,  an  denen  der  Vater  mit  zärtlicher  Liebe 
hing  und  mit  denen  er,  als  sie  herangewachsen  waren,  dank  ihrer  sehr 
guten  Befähigung  und  dem  erwachenden  Verständnis  für  die  geistigen  Inter- 
essen des  Vaters  mehr  in  kameradschaftlicher  Weise  über  Gegenstände  der 
schönen  Literatur,  des  öffentlichen  Lebens  und  der  Wissenschaft  sich  unter- 
halten konnte. 

Die  amtliche  Laufbahn  B.s  hatte  sehr  günstig  begonnen  und  in  glänzender 
Weise  setzte  sie  sich  fort.  Dreieinhalb  Jahre  nach  seinem  Eintritt  bei  der 
Oberdirektion  des  Wasser-  und  Straßenbaues  wurde  B.  (März  1878)  mit  dem 
Titel  Ministerialassessor  als  Rat  in  das  Handelsministerium  selbst  berufen 
und  erhielt  hier  das  Landwirtschaftsrespiziat.  In  dieser  Stellung  verblieb  er 
gerade  fünfzehn  Jahre  bis  zu  seiner  Berufung  an  die  Spitze  des  Finanzmini- 
steriums, 1881  mit  der  Aufhebung  des  Handelsministeriums  in  gleicher  Stellung 
zum  Ministerium  des  Innern  übertretend   (s.  o.)   und   seit  diesem  Jahre  mit 


Buchenberger.  ^  ^ 

dem  Titel  Ministerialrat  bedacht.  Auf  diesem  Posten  schuf  er  sein  Haupt- 
lebenswerk. Es  würde  für  den  hier  beabsichtigten  kurzen  Lebensriß  viel  zu 
weit  führen,  auf  die  Tätigkeit  B.s  als  Landwirtschaftsreferent  im  einzelnen 
näher  einzugehen.  Es  müßte  sonst  die  Geschichte  der  badisch -deutschen 
Agrarpolitik  in  ihrer  wichtigsten  Entwicklungsepoche  hier  Aufnahme  finden. 
Mit  seinem  tiefgründigen  und  lückenlosen  natiönalökonomischen  Wissen 
besonders  auf  dem  Gebiete  der  Agrarpolitik  verband  B.  eine  ganz  hervor- 
ragende Initiative.  Die  Wissenschaft  blieb  für  ihn  kein  toter  Buchstabe, 
sondern  er  wußte  seine  Kenntnisse  und  Erfahrungen  mit  feinem  Verständnis 
für  die  Produktionsbedürfnisse  der  Landwirtschaft  treibenden  Bevölkerung 
in  die  lebendige  Tat  umzusetzen.  So  erwuchsen  durch  seine  schöpferische 
Kraft  nach  und  nach  eine  Fülle  von  Anordnungen  staatlicher  Fürsorge  für 
die  badische  landwirtschaftliche  Produktion,  bei  denen  der  Kenner  des 
Landes  das  intime  Eingehen  auf  die  Lage  und  Bedürfnisse  der  einzelnen 
Produktionszweige  und  ihre  Verteilung  auf  die  einzelnen  Landesteile  nicht 
genug  bewundern  kann.  Dabei  wollte  B.  die  Staatsfürsorge,  insbesondere  die 
Unterstützung  der  landwirtschaftlichen  Produktion  mit  staatlichen  Mitteln 
keineswegs  als  eine  dauernde  Einrichtung  angesehen  wissen;  sie  sollte  nur 
als  ein  erzieherisches  Mittel  vorübergehend  bis  zur  Erstarkung  des  gepflegten 
Produktionszweiges  zur  Anwendung  kommen.  Er,  der  sich  in  der  Neuein- 
führung von  Akten  staatlicher  Landwirtschaftspflege  nicht  genugtun  konnte  und 
damit  besonders  die  bäuerliche  Bevölkerung  verwöhnt  hat,  rief  in  einer  seiner 
mit  recht  gerühmten  Gelegenheitsreden  später  seinen  Hörern  ermahnend  zu, 
sie  sollten  bei  Notlagen  zunächst  auf  Selbsthilfe  bedacht  sein  und  nicht  gleich 
den  bequemen  Ruf  nach  staatlichem  Eingreifen  ertönen  lassen.  B.  war  in 
seiner  Landwirtschaftspflege  vorzugsweise  der  Mann  der  »kleinen  Mittel«, 
die  aber  bei  ihrer  großen  Mannigfaltigkeit  und  systematisch  richtigen  Zu- 
sammensetzung in  ihrer  Gesamtwirkung  doch  sehr  erheblich  waren  und  reichen 
Segen  besonders  über  die  kleinbäuerliche  Bevölkerung  ausgegossen  haben. 
Die  kleinen  Mittel  waren  auch  für  das  Großherzogtum  Baden  bei  seiner  Be- 
siedlungsweise mit  einer  sehr  weitgehenden  Bodenparzellierung  und  ganz 
vorherrschendem  bäuerlichem  Kleinbesitz  offenbar  das  Nächstliegende  und 
zur  Förderung  der  Volkswohlfahrt  Wirksamste.  Aber  auch  den  sog.  großen 
Mitteln,  insonderheit  der  Frage  des  Zollschutzes  für  Getreide,  Vieh,  Holz 
usw.  ist  er  in  sachlicher  Würdigung  der  zeitlich  gegebenen  Verhältnisse  gerecht 
geworden.  Den  in  der  Jugendzeit  mit  ihrem  überschäumenden  Kraftgefühl 
aufs  lebhafteste  mitempfundenen  Freiheitsdrang,  an  dem  er  sich  dem  Zuge 
der  Zeit  folgend  auch  berauscht  hatte,  und  die  damit  zumeist  verbundene 
Huldigung  vor  der  unbedingten  Freihandelslehre  hatte  der  gereifte  Beamte 
wesentlich  modifiziert.  Die  Kinderschuhe  des  laissez  faire  laissez  passer  waren 
für  den  gewiegten,  statistisch  wie  wirtschaftsgeschichtlich  wohlunterrichteten 
Nationalökonomen  ausgetreten.  Die  durch  günstigere  Produktionsbedingungen 
und  Ermäßigung  der  Frachtsätze  mehr  und  mehr  erdrückend  gewordene 
Konkurrenz  der  transatlantischen  und  osteuropäischen  Brotfrucht  hatte  ihm 
reichlich  zu  denken  gegeben  und  ihm  einen  mäßigen  Zollschutz  für  die 
heimische  Erzeugung  angezeigt  erscheinen  lassen.  In  das  extrem  schutzzöllne- 
rische  Lager  der  ostelbischen  Agrarier  ist  er  freilich  nie  abgeschwenkt. 
Davor  schützte  ihn,   so  sehr  er   auch    vom   nationalen   Standpunkt    für  eine 

Biog-r.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog:.    9.  Bd.  3 


34  Buchenberger. 

möglichst  zureichende  Getreideproduktion  im  eigenen  Vaterlande  und  für  die 
hohe  politische  Bedeutung  der  Erhaltung  eines  lebensfähigen  konservativen 
Bevölkerurtgsteils  eingenommen  war,  die  durch  eingehende  nationalökono- 
mische Studien  und  reiche  Erfahrungen  gewonnene,  über  die  Tageskämpfe 
hinaushebende  Objektivität  des  Urteils  verbunden  mit  einem  ausgeprägten 
Gerechtigkeitsgefühl.  Die  gebotene  Rücksichtsnahme  auf  die  Lebensverhält- 
nisse der  nicht  ackerbautreibenden  Bevölkerung,  insbesondere  der  breiten 
Massen  der  Industriearbeiter  ließ  der  Landwirtschaftreferent  bei  Beurteilung 
der  angemessenen  Höhe  des  Zollschutzes  nie  außer  Betracht.  B.  ver- 
kannte nicht,  daß  an  dem  höheren  Zollschutze  der  gerade  in  Baden  nur 
sehr  wenig  vertretene  Großgrundbesitz  ganz  vorzugsweise  interessiert  sei,  da 
der  Kleinbauer  nur  wenig  Getreide  über  den  eigenen  Bedarf  hinaus  zu  bauen 
vermag.  Immerhin  hat  er  in  den  letzten  Zolltarif  kämpfen  von  1902  sowohl 
im  badischen  Landtage  wie  im  Reichstage  hervorheben  können,  daß  der 
Nutzen  an  einem  durch  Schutzzoll  gehobenen  Getreidepreis  schon  bei  Land- 
wirtschaftsbetrieben von  etwa  fünf  Hektar  einsetze. 

Die  beste  und  zuverlässigste  Grundlage  für  alle  agrarpolitischen  Maß- 
nahmen des  Staates  hatte  B.  wenige  Jahre  nach  seiner  Übernahme  des  Land- 
wirtschaftsdezernats geschaffen,  nachdem  er  mit  dem  Gegenstand  völlig  ver- 
traut geworden  war.  Eine  drückende  Notlage  mancher  Kreise  der  landwirt- 
schafttreibenden Bevölkerung,  wie  sie  in  Baden  nach  langer  andauernder 
Aufwärtsbewegung  Ende  der  siebenziger  und  Anfang  der  achtziger  Jahre  des 
vorigen  Jahrhunderts  in  die  Erscheinung  trat,  gaben  in  Regierungskreisen  wie 
auch  bei  der  Volksvertretung  zu  dem  Gedanken  Anlaß,  Erhebungen  zu  ver- 
anstalten insbesondere  über  die  Höhe  der  Verschuldung  des  kleinen  und 
mittleren  Grundbesitzes,  um  danach  die  Wege  zu  finden,  die  zu  einer  Besse- 
rung führen  könnten.  In  beiden  Kammern  der  Landstände  hatten  sich  diese 
Erwägungen  im  Jahre  1882  zu  einer  Interpellation  verdichtet.  B.  nahm  diesen 
ihm  selbst  vertrauten  Gedanken  freudig  auf  und  führte  ihn  mit  wesentlich 
weiter  gesteckten  Zielen  und  in  größtem  Stile  durch.  Er  veranstaltete  die 
geradezu  klassischen,  für  manche  Staaten  vorbildlich  gewordenen  Erhebungen 
nicht  nur  über  die  Verschuldung,  sondern  über  die  Gesamtlage  der  land- 
wirtschaftlichen Bevölkerung.  Da  diese  Enquete  ein  Eindringen  bis  in  alle 
Einzelheiten  der  Wirtschafts  Verhältnisse  der  ländlichen  Bevölkerung  erforderte, 
sah  er  voraus,  daß  das  Werk,  wenn  es  überhaupt  in  befriedigender  Weise 
vollendet  werden  könnte,  jedenfalls  nicht  vor  Umlauf  mehrerer  Jahre  zu 
Ende  käme.  Er  wählte  deshalb  37  für  alle  Lagen  und  Verhältnisse  der  badi- 
schen Landwirtschaft  typische  Erhebungsgemeinden  in  glücklichster  Weise 
aus  und  gewann  sich  durch  eigene  geschickte  Beteiligung  an  den  Erhebungen 
und  durch  eine  sehr  gute  Wahl  von  Mitarbeitern  in  hohem  Maße  das  Ver- 
trauen der  bäuerlichen  Bevölkerung,  so  daß  das  Ergebnis  als  ein  sehr  zu- 
verlässiges betrachtet  werden  konnte.  Er  wußte  diese  äußerst  schwierigen  und 
umfangreichen  Arbeiten  so  sehr  zu  beschleunigen,  daß  er  schon  nach  einem 
Jahre  (1883)  die  Ergebnisse  der  Erhebungen  über  die  Lage  der  Landwirt- 
schaft in  drei  starken  Quartbänden  der  Öffentlichkeit  unterbreiten  konnte. 
Hierzu  schrieb  er  —  in  einem  vierten  Band  abgedruckt  —  einen  eingehen- 
den zusammenfassenden  Bericht  über  die  Ergebnisse,  der  in  mustergültiger 
Weise  fast  alle  agrarpolitischen  Fragen  an  der  Hand  der  Erhebungsergebnisse 


Buchenberger.  9  j 

erörtert.  Dieser  Bericht  hat  in  weiten  Kreisen  praktisch  tätiger  Volkswirte  und 
Staatsmänner  wie  auch  bei  den  Gelehrten  vorzugsweise  den  Nationalökonomen 
das  gröfite  Aufsehen  erregt  und  dabei  ungeteilte  Anerkennung  gefunden. 
Der  Ruf  B.s  als  einer  agrarpoli tischen  Autorität  war  damit  in  weitesten 
Kreisen  begründet. 

Die  Erhebungen  hatten  sich  auf  alle  für  die  Gesamtlage  dieses  Volks- 
wirtschaftszweiges ausschlaggebenden  Verhältnisse  erstreckt.  Erhoben  und 
in  dem  zusammenfassenden  Bericht  dargestellt  wurden  in  der  Hauptsache 
die  allgemeinen  Bewirtschaftungsverhältnisse,  Besitzverteilung  und  Erbrecht, 
Kaufpreise  und  Liegenschaftsumsatz,  Versicherungswesen,  Pachtwesen,  Ge- 
legenheit zum  Nebenverdienst,  Kreditwesen,  Haushaltsverbrauch  und  Ertrags- 
verhältnisse und  endlich  Verschuldung.  Die  kritische  Würdigung  aller  dieser 
Verhältnisse  in  ihrem  tatsächlichen  Bestände  gab  der  badischen  Landwirt- 
schaftspflege von  da  an  Richtung  und  Ziel  und  es  war  B.  zu  seiner  inneren 
Befriedigung  und  zum  Wohle  des  Vaterlandes  vergönnt,  den  Boden,  den 
seine  verdienstvolle  Enquete  so  wohl  vorbereitet  hatte,  in  seinem  ganzen 
Umfange  persönlich  reich  zu  bestellen.  Kein  einziges  der  in  der  umfassenden 
Enquete  allgemein-theoretisch  und  historisch-statistisch  ergründeten  Gebiete 
ist  unbeackert  geblieben  und  gerade  hierbei  kam  in  B.  die  wunderbar  harmo- 
nische Verbindung  zwischen  gediegenem  theoretischem  Wissen  und  politischem 
Geschick  für  praktische  Betätigung  zur  reichsten  Entfaltung.  Das  Haupt- 
augenmerk war,  wie  B.  später  selber  ausgeführt  hat,  stets  auf  das  erziehliche 
Moment  gerichtet  durch  amtliches  Hinwirken  auf  betriebstechnische  Fort- 
schritte neben  Herbeiführung  einer  geeigneten  standschaftlichen  Vertretung 
und  Schulung  des  genossenschaftlichen  Sinnes.  Was  durch  die  Staatsfürsorge 
für  die  Landwirtschaft  unter  B.  zur  Hebung  des  Roh-  und  Reinertrags  und 
damit  der  allgemeinen  wirtschaftlichen  Lage  der  bäuerlichen  Bevölkerung 
geleistet  worden  ist  durch  Einrichtung  von  Fachschulen  und  landwirtschaft- 
lichen Versuchsanstalten  und  noch  mehr  durch  die  Einführung  eines  auf  die 
Masse  wirkenden  Anschauungsunterrichts,  verbunden  mit  einer  auf  alle  Ge- 
meinden des  Landes  sich  erstreckenden  Wanderlehrtätigkeit,  durch  Förderung 
des  landwirtschaftlichen  Vereinswesens,  durch  Bildung  von  Ein-  und  Verkaufs- 
sowie  von  Produktivgenossenschaften,  denen  man,  solange  sie  selbst  nicht 
stark  genug  waren,  in  irgendeiner  Form  die  Staatshilfe  angedeihen  ließ, 
durch  Bekämpfung  des  Wuchers  auf  dem  Lande,  durch  Einführung  von 
Staatsprämien  in  erzieherischem  Sinne  für  besonders  gute  Erzeugnisse  und 
in  Verbindung  damit  durch  Pflege  des  Ausstellungswesens,  durch  Unter- 
stützung von  Meliorationen  und  Erschließung  billiger  Kaufquellen  für  Dünge- 
mittel, durch  mittelbare  und  unmittelbare  Förderung  des  Obstbaues  und 
landwirtschaftlicher  Nebengewerbe,  durch  Neuordnung  des  Kreditwesens  nicht 
mit  einer  staatlichen  Landeskreditkasse,  sondern  durch  Bildung  eines  im 
wesentlichen  auf  Selbsthilfe  beruhenden,  über  das  ganze  Land  sich  erstrecken- 
den Verbandes,  durch  Förderung  des  Versicherungwesens,  besonders  der 
Versicherung  gegen  Hagelschlag,  die  gleichfalls  auf  privatwirtschaftlicher 
Grundlage  eingerichtet  wurde,  usw.  usw.,  das  alles  steht  mit  unvergäng- 
lichen Lettern  auf  den  Tafeln  der  badischen  Agrargeschichte  eingegraben. 
Ganz  besonderer  Hervorhebung  wert  ist,  was  unter  B.  zur  Hebung  der  heimi- 
schen Tierzucht,  vornehmlich  der  für  Baden  mit  seinem  überwiegend  klein- 
st 


2  6  Buchenberger. 

bäuerlichen  Betriebe  so  wichtigen  Rindviehzucht  geleistet  wurde.  Durch 
Bezug  reiner  Rassetiere  aus  verschiedenen  Ländern,  besonders  der  Schweiz 
(Simmental),  den  Betrieb  von  Rinderstammzuchtstationen,  durch  Bildung  von 
Viehzuchtgenossenschaften,  durch  staatliche  Prämiierung  guter  Zuchtprodukte, 
durch  eine  großzügig  angelegte  Rindviehversicherung  mit  Staatsunterstützung, 
die  in  Ortsviehversicherungsanstalten  gegliedert,  durch  Zulassung  eines  Mehr- 
heitsbeschlusses zu  einer  zwangsweisen  wurde  usw.,  ist  es  erreicht  worden, 
daß  sich  die  Produkte  mancher  badischer  Tierzuchtgenossenschaften  heute 
eines  Weltrufs  zu  erfreuen  haben  und  daß  der  Wohlstand  der  bäuerlichen 
Bevölkerung  gerade  durch  den  Erfolg  der  Tierzucht  eine  merkliche  Aufwärts- 
bewegung eingeschlagen  hat. 

Natürlich  hat  B.  diese  fast  zahllosen  Einrichtungen  staatlicher  Land- 
wirtschaftspflege nicht  alle  allein  und  persönlich  ausarbeiten  und  durchführen 
können.  Er  hat  sich  dabei  der  Mitwirkung  einiger  vortrefflicher  Mitarbeiter 
zu  erfreuen  gehabt.  So  hat  er  es  insbesondere  verstanden,  die  wertvollen 
Dienste  einer  Autorität  auf  veterinärtechnischem  Gebiete  für  die  gute  Sache 
nutzbar  zu  machen.  Aber  die  geistige  Urheberschaft  der  meisten,  besonders 
der  umfassenderen  Maßnahmen  ist  doch  auf  ihn  selbst  zurückzuführen.  Als 
eine  besonders  glückliche  Fügung  muß  es  betrachtet  werden,  daß  B.  als 
Landwirtschaftsreferent  unter  Ministern  gestanden  hat,  die  seiner  Befähigung 
und  seinem  Wirken  volles  Verständnis  entgegengebracht  haben.  Besonders 
der  in  den  Hauptjahren  von  B.s  landwirtschaftspfleglicher  Wirksamkeit 
amtierende  Minister  des  Innern  Eisenlohr  war  ein  großzügiger,  mit  einem 
außerordentlichen  praktischen  Blick  für  die  Bedürfnisse  des  Volkslebens  be- 
gabter und  entschlossener  Mann,  der  die  hervorragende  Befähigung  seines 
Land  Wirtschaftsreferenten  wohl  zu  schätzen  und  ihm  die  für  ein  Land  von 
der  Größe  Badens  recht  bedeutenden  Mittel  durchzusetzen  wußte,  welche 
die  Staatsfürsorge  für  die  Landwirtschaft  verschlang.  Wohl  mit  im  Hinblick 
auf  diese  intensive  und  in  jede  Einzelheit  eingehende  pflegliche  Wirksamkeit 
der  staatlichen  Verwaltung,  wie  sie  B.  auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft 
inauguriert  hat  und  wie  sie  auch  auf  manchen  anderen  Gebieten  der  volks- 
wirtschaftlichen und  sonstigen  inneren  Verwaltung  in  Baden  Übung  geworden 
ist,  sind  die  Worte  von  dem  »wohlregierten  Mittelstaat«,  von  dem  »Muster- 
lande« ausgeprägt  worden.  Man  wird  freilich  nicht  verkennen  dürfen,  daß 
eine  solch  umfassende  und  eindringliche  Verwaltungstätigkeit  in  einem  Groß- 
staate überhaupt  nicht  wohl  möglich  ist,  sondern  höchstens  noch  in  einem 
Mittelstaate.  Bei  seinen  enger  gezogenen  Landesgrenzen  kann  er  möglicher- 
weise auch  in  den  Ministerien  über  Beamte  verfügen,  die  mit  den  Verhält- 
nissen des  Landes  in  allen  seinen  Teilen  und  mit  allen  seinen  noch  so 
kleinen  Berufsständen  genau  vertraut  sind  und  bei  sehr  guter  Befähigung 
diese  eingehenden  Kenntnisse  in  gleichmäßiger  Berücksichtigung  aller  Orte 
und  Stände  in  der  staatlichen  Gesetzgebung  und  Verwaltung  zu  verwerten 
wissen. 

Im  Zusammenhang  mit  seiner  Tätigkeit  als  langjähriger  Landwirtschafts- 
referent kam  auch  der  Literat  und  agrarpoli tische  Gelehrte  B.  zur  vollen 
Entfaltung.  Durch  sein  wichtiges  Staatsamt  wohl  in  überdurchschnittlichem 
Maße  in  Anspruch  genommen,  ist  es  ihm  bei  seiner  nie  versagenden  Arbeits- 
kraft und   bei   seiner  ungewöhnlich  leichten  Feder  doch  gelungen,  nebenher 


Buchenberger.  97 

noch  in  einer  dem  Umfang  wie  dem  Inhalt  nach  bedeutenden  Weise  schrift- 
stellerisch sich  zu  betätigen.  Ein  glücklicher  Umstand  war  es,  daß  trotz  der 
sehr  umfassenden  Dienstaufgaben  es  ein  abgerundetes,  in  sich  geschlossenes 
Gebiet  gewesen  ist,  auf  dem  er  seines  Amtes  zu  walten  hatte,  so  daß  er 
seine  Kräfte  für  praktische  und  theoretische  Betätigung  auf  einen  Gegenstand 
sammeln  konnte.  Neben  einer  fast  unausgesetzten  journalistischen  Tätigkeit 
und  zahlreichen  Veröffentlichungen  in  den  Fachzeitschriften,  von  denen  er 
besonders  die  Zeitschrift  für  die  gesamte  Staatswissenschaft,  das  Jahrbuch 
für  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Volkswirtschaft,  die  Schriften  des  Vereins 
für  Sozialpolitik,  die  Zeitschrift  für  Sozialwissenschaft  u.  a.  m.,  auch  manche 
landwirtschaftlichen  Organe  mit  wissenschaftlichen  Beiträgen  bedacht  hat,  ließ 
er  eine  ganze  Reihe  von  Kommentaren  und  Monographien  auf  agrar- 
politischem  Gebiete  erscheinen.  In  dem  größeren  im  Jahre  1885  (Karlsruhe 
bei  Bielefeld)  erschienenen  Sammelwerke,  »Das  Großherzogtum  Baden  in 
geographischer,  naturwissenschaftlicher,  geschichtlicher,  wirtschaftlicher  und 
staatlicher  Hinsicht  dargestellt«,  übernahm  B.  die  Abschnitte  über  Landwirt- 
schaft und  Fischerei,  die  zu  den  besten  des  Werkes  zählen.  Dann  kam  1887 
ein  Kommentar  zum  badischen  Gesetz  über  die  Verbesserung  der  Feld- 
einteilung (Feldbereinigung)  heraus  (Tauberbischofsheim  und  Karlsruhe  bei 
Lang),  den  er  zusammen  mit  einem  Berufskollegen  bei  der  Oberdirektion 
des  Wasser-  und  Straßenbaues  bearbeitet  hatte.  Ebenfalls  1887  in  Leipzig 
bei  Duncker  und  Humblot  eine  kleine  Monographie  »Zur  landwirtschaftlichen 
Frage  der  Gegenwart«,  die  Ergebnisse  der  landwirtschaftlichen  Erhebungen 
von  1883  und  den  Wucher  in  den  Landgemeinden  behandelnd  (vorher  als 
zwei  getrennte  Aufsätze  im  Schmollerschen  Jahrbuch  für  Gesetzgebung,  Ver- 
waltung und  Volkswirtschaft  und  in  den  Schriften  des  Vereins  für  Sozial- 
politik erschienen).  Auch  noch  im  Jahre  1887  konnte  er  einen  umfangreichen 
Kommentar  fertigstellen  unter  dem  Titel  »Das  Verwaltungsrecht  der  Land- 
wirtschaft und  die  Pflege  der  Landwirtschaft  im  Großherzogtum  Baden« 
(Tauberbischofsheim-Karlsruhe  bei  Lang),  worin  er  die  Darstellung  der  ge- 
samten im  Bereich  der  Landwirtschaft  sich  betätigenden  Staatsfürsorge  sich 
zur  Aufgabe  gestellt  hatte,  und  wozu  1891  im  gleichen  Verlage  ein  Ergänzungs- 
band erschien  »Das  Verwaltungsrecht  der  Landwirtschaft  und  Fischerei«.  Schon 
vorher  (1888  ebenfalls  im  Langschen  Verlage)  hatte  er  einen  kleineren  Kom- 
mentar »Fischereirecht  und  Fischereipflege  im  Großherzogtum  Baden«  ('1903 
II.  Aufl.)  erscheinen  lassen,  ein  Gegenstand,  dem  er  zeitlebens  viel  Aufmerk- 
samkeit und  Neigung  entgegengebracht  hat.  Alle  diese  Veröffentlichungen 
treten  in  ihrer  Bedeutung  weit  zurück  hinter  einem  groß  angelegten,  rein 
wissenschaftlichen  Lehr-  und  Handbuch  über  »Agrarwesen  und  Agrarpolitik«, 
das  er  in  zwei  umfangreichen  Bänden  in  zwei  aufeinanderfolgenden  Jahren 
1892/93  als  Abteilung  in  dem  Lehr-  und  Handbuch  der  politischen  Ökonomie 
von  Adolf  Wagner  (Leipzig:  Winter*scher  Verlag)  hat  erscheinen  lassen  können. 
Es  ist  dies  die  reife  Frucht,  die  B.  vermöge  seiner  langjährigen  Tätigkeit  als 
Land  Wirtschaftsreferent  und  der  eingehenden  agrarpolitischen  Studien,  die 
bei  ihm  ständig  damit  verbunden  gewesen  sind,  zum  Schlüsse  dieser  seiner 
Wirksamkeit  (der  zweite  Band  erschien  ein  halbes  Jahr  nach  seiner  Berufung 
an  die  Spitze  des  Finanzministeriums)  der  zünftigen  Nationalökonomie  und 
der  ganzen  gebildeten  Welt  zu  Füßen  legen   konnte.     Mit  diesem  für  einen 


^g  Buchenberger. 

mit  einem  vollgerüttelten  Maß  von  Berufearbeit  bedachten  Beamten  geradezu 
monumentalen  Werke  ist  B.  aus  der  Reihe  der  verdienstvollen  Kommentatoren, 
zu  denen  kenntnisreiche  und  arbeitsame  Beamte  das  Hauptkontingent  stellen, 
weit  hinausgetreten.  Nun  war  er  auch  als  nationalökonomischer  Forscher 
und  Gelehrter  anzusprechen.  Mit  dem  vollen  Rüstzeug  des  zünftigen  Ge- 
lehrten, wie  sich  schon  aus  den  gegebenen  Literaturausweisen  und  ihrer 
Verarbeitung  ergibt,  ist  B.  mit  diesem  Werke  auf  den  Plan  streng  wissen- 
schaftlicher Arbeit  getreten  und  hat  das  Feld  mit  Ehren  behauptet.  Mag 
sein,  daß,  wenn  er  nur  die  Luft  der  Gelehrtenstube  einzuatmen  gehabt  hätte, 
er  zu  einem  noch  strafferen,  systematischen  Aufbau  und  damit  zu  kürzerem 
Ausdruck  gekommen  wäre;  auch  hätten  dann  vielleicht  die  historisch-statisti- 
schen und  die  kritisch-polemischen  Ausführungen  einen  noch  etwas  breiteren 
Raum  beansprucht.  Dafür  brachte  aber  B.  für  die  Schöpfung  dieses  Werkes 
etwas  mit,  was  dem  Kathedergelehrten  gewöhnlich  abgeht,  für  diesen  Teil 
der  Wirtschaftswissenschaft,  die  ein  gutes  Stück  Politik  in  sich  schließt,  aber 
von  hoher  Bedeutung  ist:  die  politische  Erfahrung  des  auf  diesem  Gebiete 
lange  Jahre  hindurch  mit  seltenem  Erfolg  tätig  gewesenen  Staatsbeamten. 
Und  so  wird  die  B.sche  Agrarpolitik  sicher  stets  einen  ersten  Platz  einnehmen 
unter  den  klassischen  einschlägigen  Arbeiten  eines  Röscher,  v.  d.  Goltz, 
Brentano,  Conrad,  Ruhland  u.  a.  Es  war  mit  diesem  Werke  offensichtlich 
geworden,  daß  B.  auch  jedem  nationalökonomischen  Lehrstuhl  zur  Zierde 
gereicht  hätte.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  B.  seine  Agrarpolitik  als  Teil 
gerade  des  Lehrbuchs  der  politischen  Ökonomie  von  Adolf  Wagner 
hat  erscheinen  lassen.  Von  allen  zeitgenössischen  Nationalökonomen  war 
B.  ihm  in  der  Auffassung  über  Aufgabe  und  Ziel  dieser  Wissenschaft 
besonders  nahe  verwandt.  Zunächst  in  methodologischer  Hinsicht.  Er,  der 
selber  durch  seine  klassische  Agrarenquete  von  1883  auf  induktivem  Wege 
so  wertvolle  Bausteine  für  die  Wirtschaftswissenschaft  beigebracht  hatte,  ver- 
trat doch  die  Meinung,  daß  mit  der  historisch-statistischen  Ergründung  örtlich 
und  zeitlich  vorhandener  Wirtschaftskörper,  auch  wenn  sie  in  noch  so  voll- 
kommener Weise  erfolgte,  die  Aufgabe  der  Nationalökonomie  noch  keines- 
wegs erfüllt  sei.  Dieser  Beibringung  von  historisch-statistischem  Material 
auf  dem  Wege  der  Induktion  erkannte  er,  so  sehr  er  von  seinem  Werte 
durchdrungen  war,  für  die  nationalökonomische  Wissenschaft  doch  nur  eine 
vorbereitende  Bedeutung  zu.  Nach  seiner  wie  nach  Wagners  Meinung  bildete 
es  aber  die  vornehmste  Aufgabe  der  Nationalökonomie,  auf  Grund  dieses 
historisch-statistischen  Materials  mehr  auf  deduktivem  Wege  zu  allgemeinen 
wissenschaftlichen  Leitsätzen  zu  gelangen,  die  unter  den  gegebenen  Voraus- 
setzungen für  jede  Zeit  und  jeden  Ort  ihre  Richtigkeit  behalten.  Darin  unter- 
scheiden sich  Wagner  und  B.  von  den  englischen  Klassikern  und  ihren  Epi- 
gonen, daß  sie  sich  nicht  in  spekulativen  Deduktionen  bewegen,  die  in  der 
Luft  schweben,  sondern  sie  fassen  stets  festen  Fuß  auf  dem  Boden  des  wirk- 
lichen Volkswirtschaftslebens.  Aber  auch  in  der  Richtung  der  Nationalöko- 
nomie, besonders  ihres  politischen  Bestandteiles,  findet  sich  eine  weitgehende 
Übereinstimmung  zwischen  Wagner  und  B.  Wagner  kann  man  wohl  als  den 
Theoretiker  der  sozialen  Reform  bezeichnen,  wie  sie  sich  in  ihrer  historisch- 
rechtlichen Form  vornehmlich  im  neuen  Deutschen  Reich  herausgebildet  hat. 
B.  hat  in   einer  öffentlichen  Rede  bekannt,   daß   er  auch  als  Finanzminister 


Buchenberger.  ^g 

nie  aufgehört  habe,  mit  einem  Tropfen  sozialpolitischen  Öles  gesalbt  zu  sein 
und  danach  hat  der  Gelehrte  B.  stets  geschrieben  und  der  praktische  Staats- 
mann B.  immer  gehandelt.  Und  noch  in  einer  anderen  Hinsicht  kann  diese 
Parallele  zwischen  Wagner  und  B.  wohl  gezogen  werden.  Wagner  und  mit 
ihm  Schäffle  sind  die  Hauptvertreter  des  neuzeitlichen  deutschen  Staatssozia- 
lismus: B.  war  stets  auf  eine  möglichste  Ausdehnung  der  Staatstätigkeit 
bedacht,  auch  wenn  dadurch  auf  manchen  Gebieten  eine  höhere  steuer- 
liche Belastung  untrennbar  verbunden  war.  Deshalb  fühlte  sich  B.  mit  den 
politischen  Bestrebungen  von  Wagner  und  Schäffle  in  weitgehendster  Über- 
einstimmung. —  So  groß  der  wissenschaftliche  Erfolg  der  zweibändigen 
Agrarpolitik  gewesen  ist,  so  vermochte  das  Werk  schon  wegen  seines  Umfangs 
und  seiner  schweren  wissenschaftlichen  Rüstung  nicht  in  weitere  Kreise, 
besonders  nicht  in  die  Reihe  der  praktischen  Wirtschafter  zu  dringen.  Der 
Umstand,  daß  auf  das  große  Lehrbuch  sowohl  in  der  Tagespresse  wie  in  den 
parlamentarischen  Verhandlungen  in  der  Folge  sehr  häuüg  Bezug  genommen 
wurde,  brachte  B.  später  auf  den  Gedanken,  die  Quintessenz  des  Werkes 
einem  weiteren  Leserkreis  leichter  zugänglich  zu  machen.  Von  diesen  Ge- 
sichtspunkten geleitet  ließ  er  im  Jahre  1897  (Berlin  bei  Paul  Parey)  ein 
Buch  erscheinen  mit  dem  Titel  »Grundzüge  der  deutschen  Agrarpolitik 
unter  besonderer  Würdigung  der  kleinen  und  großen  Mittel«,  in  dem  er  in 
viel  gedrängterer  Fassung  und  ohne  das  mehr  nur  für  den  Fachgelehrten 
bestimmte  literarische  Beiwerk  besonders  die  Streitfragen  der  zeitgenössischen 
agrarischen  Tagespolitik  in  einer  durch  Wissenschaftlichkeit  und  reiche  staats- 
männische Erfahrung  gewährleisteten  Objektivität  des  Urteils  dargelegt  hat. 
Daß  er  sich  in  der  Beurteilung  des  Bedürfnisses  nach  einem  solchen  Buche 
nicht  geirrt  hat,  geht  daraus  hervor,  daß  schon  nach  Jahresfrist  eine  zweite 
Auflage  davon  nötig  geworden  ist.  Sie  ist  vom  gleichen  Verlage  im  Jahre  1899 
unter  dem  Titel  »Grundzüge  der  deutschen  Agrarpolitik«  ausgegeben  worden. 
Endlich  wäre  von  schriftstellerischer  Betätigung  aus  dem  Gebiete  des  Agrar- 
wesens  noch  der  Abschnitt  »Fischerei«  in  Schönbergs  Handbuch  der  politi- 
schen Ökonomie  (IV.  Aufl.  1896,  Tübingen  bei  Laupp)  zu  erwähnen,  der  aus 
der  sachkundigen  Feder  B.s  herrührt  und  den  er  als  kürzer  gefaßten  Aufsatz 
noch  in  andere  Sammelwerke  und  Zeitschriften  geliefert  hat,  so  z.  B.  in  das 
Handwörterbuch  der  Staats  Wissenschaften.  —  Man  wird  staunen,  wie  es  einem 
vielbeschäftigten  Beamten  möglich  gewesen  ist,  nebenher  eine  solch  um- 
fassende literarische  und  Gelehrtenarbeit  zu  bewältigen;  man  kann  sich  das 
nur  erklären,  wenn  man  sich  ins  Gedächtnis  zurückruft,  daß  B.  von  früher 
Jugend  an  eine  äußerst  leichte  Auffassungskraft  an  den  Tag  legte,  verbunden 
mit  einer  außergewöhnlichen  Gedächtnisschärfe,  daß  er  in  seinen  Mannes- 
jahren geradezu  rastlos  tätig  war,  alle  Gedanken  sehr  leicht  zu  Papier  brachte 
und  eine  geradezu  erstaunliche  Belesenheit  besonders  auf  dem  Gebiete  volks- 
wirtschaftlicher Wissenschaft  und  Politik  jederzeit  bereit  hatte.  Statt  weiterer 
Einzelheiten  sei  zum  Belege  erwähnt,  daß  Adolf  Wagner  im  Frühjahr  1891 
an  B.  die  Einladung  erließ,  in  das  von  ihm  herausgegebene  Lehrbuch  der 
politischen  Ökonomie  den  Teil  über  Agrarwesen  und  Agrarpolitik  zu 
liefern  und  daß  B.  den  ersten  Band  mit  615  Druckseiten  im  Jahre  1892,  den 
zweiten  mit  641  Druckseiten  im  nächstfolgenden  Jahre  erscheinen  ließ,  wie- 
wohl er  inzwischen  mit  der  Leitung  des  Finanzressorts  betraut  worden  war, 


40  Buchenberger. 

mit  dessen  hauptsächlichsten  Arbeitsgebieten  er  sich  erst  vertraut  zu  machen 
hatte. 

Großherzog  Friedrich,  der  während  seiner  langjährigen  gesegneten  Regie- 
rungszeit alle  Vorgänge  des  öffentlichen  Lebens  genauestens  verfolgte  und 
bei  wichtigen  Entscheidungen  immer  selbst  der  Politik  die  Richtung  vor- 
geschrieben hat,  war  auf  den  hervorragend  befähigten  und  erfolgreichen 
Ministerialbeamten,  der  sich  auf  allen  Gebieten  mit  spielender  Leichtigkeit 
zurechtfand,  schon  längst  aufmerksam  geworden.  Als  im  Frühjahr  1893  durch 
den  Rücktritt  des  Finanzministers  EUstätter,  der  über  25  Jahre  an  der  Spitze 
des  Finanzministeriums  gestanden  hatte,  das  Portefeuille  der  Finanzen  in 
Erledigung  kam,  berief  der  Großherzog  den  noch  nicht  45  Jahre  alten,  aber 
schon  eine  reiche  Lebensarbeit  hinter  sich  habenden  Ministerialrat  B.  als 
Präsidenten  des  Finanzministeriums  in  den  obersten  Rat  der  Krone.  Im 
ganzen  Land  fand  diese  Wahl  den  freudigsten  Widerhall,  zumal  B.  sein 
agrarpolitisches  Programm  in  den  Hauptpunkten  als  Landwirtschaftsreferent 
noch  selbst  hatte  durchführen  können.  Etwas  über  ein  Jahrzehnt,  bis  zu 
seinem  frühzeitig  erfolgten  Tode,  ist  es  B.  vergönnt  gewesen,  die  leitende 
Stelle  in  der  badischen  Staatsfinanzverwaltung  zu  bekleiden,  gehoben  durch 
das  nie  erschütterte  und  unerschütterliche  Vertrauen  seines  Landesherrn  und 
beschwingt  durch  die  Verehrung  zahlreicher  Berufsgenossen,  man  kann  fast 
sagen  der  ganzen  Beamtenschaft  sowie  vieler  Parlamentarier  aus  allen  Parteien. 
Er  war  durch  sein  vorhergegangenes  Wirken  ein  Liebling  des  ganzen,  am 
öffentlichen  Leben  teilnehmenden  Volkes  geworden.  Und  er  hat  die  hohen 
Erwartungen,  die  man  allseits  auf  seine  Tätigkeit  als  Finanzminister  setzte, 
nicht  enttäuscht.  Auch  hier  auf  dem  viel  weiteren  Gebiete  hat  er  eine 
höchst  erfolgreiche,  durch  feines  Verständnis  für  alle  Seiten  des  staatlichen 
Lebens  und  eine  an  ihm  von  früher  gewohnte  hervorragende  schöpferische 
Kraft  ausgezeichnete  Tätigkeit  entfaltet.  Den  häufig  im  öffentlichen  Leben 
befolgten  Grundsatz  des  quicta  non  mattere,  nach  dem  unliebsame  und  die 
obersten  Vertreter  der  Regierung  mitunter  aufreibende  Entscheidungen  des 
parlamentarischen  Kampfes  hinausgeschoben  und  damit  abgemildert  zu  werden 
pflegen,  ließ  er  nicht  gelten.  Alles  griff  der  rastlos  tätige  Minister  auf,  wo 
er  glaubte  die  bessernde  Hand  anlegen  und  seiner  sozialpolitischen  Über- 
zeugung sowie  seinem  Standpunkte  im  Sinne  eines  gemäßigten  Staatssozialismus 
kräftiger  Geltung  verschaffen  zu  können.  In  kürzester  Frist  hatte  er  sich  mit 
allen  Zweigen  seines  Ressorts  vertraut  gemacht  und  so  griff  er  von  Anfang 
an  in  allen  wichtigeren  Fragen  selbst  entscheidend  ein.  Ja,  die  wichtigsten 
Gesetzesvorlagcn  und  vorbereitenden  Aktionen  hat  er  zu  einem  großen  Teil 
persönlich  ausgearbeitet.  —  B.  ist  keineswegs  ein  ängstlicher  und  zurück- 
haltender Finanzminister  gewesen,  er  sah  auch  dann  hoffnungsvoll  in  die 
Zukunft,  wenn  dunklere  Wolken  am  Finanzhimmel  aufzusteigen  begannen. 
Man  kann  wohl  sagen,  daß,  wenn  sich  in  seiner  Person  hin  und  wieder  ein 
Widerstreit  auftat'  zwischen  dem  Finanzminister  und  dem  Volkswirtschafts- 
minister, der  er  in  seinem  Empfinden  und  Handeln  geblieben  ist,  der  erstere 
zumeist  ins  Hintertreffen  geriet.  Nach  seiner  nationalökonomisch-politischen 
Überzeugung  scheute  er  auch  vor  einer  weiteren  Anspannung  der  in  Baden 
schon  damals  ziemlich  stark  in  Anspruch  genommenen  direkten  Steuerkraft 
nicht  zurück,  wenn  es  galt,   damit  eine  von  ihm  für  ersprießlich  erfundene 


Buchenberger.  •  4 1 

Staatsfürsorge  auf  irgendeinem  Gebiete,  besonders  aber  auf  dem  der  volks- 
wirtschaftlichen Verwaltung  zu  finanzieren.  Ein  glücklicher  Umstand  für  B. 
und  das  Land,  daß  als  Vorgänger  im  Amte  über  ein  Vierteljahrhundert  ein 
Minister  gewaltet  hat,  der  als  sehr  gewiegter  und  vorsichtig  zurückhaltender 
Finanzmann  die  Kräftigung  der  Staatsfinanzen  und  ihre  Erhaltung  auf  diesem 
Stande  mehr  in  den  Vordergrund  gerückt  hatte.  Nach  einem  Buchenberger 
hätte  B.  wohl  kaum  eine  so  reiche  Tätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  staatlichen 
Ausgabegebarung  entfalten  können.  Zwar  hatte  er  den  von  seinem  Vorgänger 
am  Schlüsse  seiner  Amtszeit  aus  Anlaß  erheblicher  aufgelaufener  Überschüsse 
unternommenen  Schritt  einer  teil  weisen  Steuerermäßigung  infolge  einer  plötz- 
lich auftretenden  Verschlechterung  der  Finanzlage  besonders  in  den  Beziehungen 
zum  Reich  gleich  nach  seinem  Amtsantritt  zurücktun  müssen.  Aber  er  fand 
im  allgemeinen  besonders  durch  die  im  Betriebsfonds  angesammelten  Reserven 
doch  wohlgefüllte  Kassen  vor.  Andererseits  wird  der  Nachfolger  B.s,  wenn 
er  noch  so  sehr  von  seinem  Geiste  durchtränkt  ist,  infolge  des  mit  der  Wende 
des  Jahrhunderts  eingetretenen  empfindlichen  Rückschlags  in  der  Lage  des 
volkswirtschaftlichen  Lebens  und  damit  auch  der  Staatsfinanzen  zunächst  vor- 
nehmlich auf  eine  Sammlung  der  finanziellen  Kräfte  des  Landes  Bedacht 
nehmen  müssen.  Daraus  wird  die  kritisch -objektive  Betrachtung  B.  keinen 
Vorwurf  machen;  er  hat  seine  Zeit  verstanden  und  die  vorgefundene  Lage 
der  Staatsfinanzen  in  einer  seinem  politischen  Programme  entsprechenden 
Weise  auszunützen  gewußt.  Auch  ist  ihm  die  wahre  Lage  der  Staatsfinanzen 
zu  keiner  Zeit  entgangen.  Dafür  sprechen  am  besten  die  Finanzexposes,  mit 
denen  er  jedesmal  den  Staats  Voranschlag  beim  Landtage  eingebracht  hat. 
Er  bekennt  sich  darin  ganz  offen  als  ein  ausgesprochener  Gegner  jeder 
»Admassierung«  staatlicher  Mittel  über  die  notwendigen  Reserven  hinaus. 
In  der  Ansammlung  großer  Reserven  erblickte  er  eine  Belastung  der  Gegen- 
wart zugunsten  der  Zukunft,  die  nicht  am  Platze  sei,  so  lange  es  staat- 
liche Aufgaben  gibt,  die  noch  nicht  oder  nicht  in  dem  wünschenswerten 
Maße  gelöst  sind.  Dieser  Zustand  wird  aber  nie  auch  nur  vorübergehend 
eintreten,  so  lange  zu  seiner  Beurteilung  Männer  von  der  Initiative  eines 
B.  berufen  sind.  B.  war  sich  über  die  Folgen  der  von  ihm  heraufgeführten 
freigebigeren  Finanzpolitik  wohl  im  klaren,  und  so  hat  auch  er  gewisse 
Grenzen  nie  überschritten,  die  nach  seiner  Auffassung  und  politischen  Über- 
zeugung richtig  gezogen  waren.  Auch  er  hat  in  drastischer  Weise  im 
Landtag  erklärt,  daß  der  Weg  zur  Inanspruchnahme  des  Staatskredits 
zur  Deckung  ordentlicher  oder  außerordentlicher  Bedürfnisse  der  allgemeinen 
Staatsverwaltung  »nur  über  seine  Leiche  führe«.  Er  hätte  darin  eine 
ungerechtfertigte  Belastung  künftiger  Generationen  erblickt  zugunsten  der 
Gegenwart,  da  auch  die  Forderungen  des  außerordentlichen  Etats  im 
badischen  Budget  mit  einer  gewissen  Regelmäßigkeit  wiederkehren  und,  von 
verschwindenden  Ausnahmen  abgesehen,  keine  rentierenden  Kapitalanlagen 
darstellen.  Anders  bei  den  Eisenbahnen,  die  in  Baden  aus  dem  allgemeinen 
Staatsvoranschlag  ausgeschieden  sind.  Hier  hat  unter  B.s  Amtsführung  die 
Schuld  wesentlich  zugenommen,  was  er  für  unbedenklich  hielt,  so  lange  durch 
die  Eisenbahn  Verwaltung  eine  angemessene,  d.  h.  eine  Rente  erwirtschaftet 
wird,  die  wenigstens  zur  Verzinsung  und  planmäßigen  Tilgung  der  Schulden 
hinreicht.     Bei  seiner  Finanzpolitik  war  sich  B.  auch  wohl  bewußt,   daß  die 


A2  *  Buchenberger. 

Verantwortung  für  die  Erhaltung  guter  Staatsfinanzen  in  letzter  Linie  doch 
nur  bei  der  Person  des  Finanzministers  ruht.  Die  Anhänger,  die  beifalls- 
freudig jeder  Ausgabe  mit  dem  Hintergedanken  zugestimmt  haben,  der  Finanz- 
minister werde  für  die  Erhaltung  des  Gleichgewichts  in  den  Staatsfinanzen 
schon  Sorge  tragen,  fallen  zumeist  ab,  sobald  die  Finanzen  auf  abschüssige 
Bahnen  geraten,  von  denen  sie  nur  durch  weiteres  Anziehen  der  Steuer- 
schraube heraufgeholt  werden  können.  B.  hat  während  seiner  Leitung  der 
Finanzverwaltung  Ebbe  und  Flut  erlebt.  Im  allgemeinen  ist  ihm  aber  eine 
Zeit  günstiger  Entwicklung  der  Staatsfinanzen  beschieden  gewesen,  ein  Um- 
stand, welcher  der  Durchführung  seiner  Programmpunkte  und  der  Bewährung 
seiner  eigenartigen  Vorzüge  sehr  zu  statten  kam.  Nach  einem  vorübergehenden 
Rückschlag  gleich  nach  seinem  Amtsantritt  setzte  in  allen  deutschen  Landen 
wie  in  der  Weltwirtschaft  überhaupt  Mitte  der  neunziger  Jahre  jener  kräftige 
Aufschwung  in  Handel  und  Wandel  ein,  der  gegen  die  Wende  des  Jahr- 
hunderts plötzlich  zum  Stillstand  kam  und  sich  vorübergehend  in  sein  Gegen- 
teil verkehrte.  Da  die  allgemeine  Wirtschaftslage  auf  die  Steuerkataster  nur 
allmählich  einzuwirken  pflegt,  so  konnte  B.  während  der  längsten  Dauer  seiner 
Finanztätigkeit  sehr  reichlich  ausgestattete  Budgets  vorlegen,  ohne  neue  Ein- 
nahmequellen erschließen  oder  bestehende  reichlicher  ausnützen  zu  müssen. 
Dies  galt  noch  für  den  Staatsvoranschlag  für  die  Jahre  1902  und  1903.  Im 
Budget  für  1904/05,  das  er  gegen  Ende  des  Jahres  1903  im  Landtag  vorgelegt 
hat,  konnte  er  das  Gleichgewicht,  da  er  sich  zu  stärkeren  Einschränkungen 
im  ordentlichen  und  außerordentlichen  Etat  nicht  entschließen  mochte,  ohne 
eine  teilweise  Erhöhung  der  direkten  Steuern  nicht  mehr  herstellen.  Das 
Finanzexpos^,  in  dem  er  diese  Aufstellung  des  Staatsvoranschlags  rechtfertigte, 
war  sein  Schwanengesang  —  er  sollte  die  Verabschiedung  des  Finanzgesetz- 
entwurfs für  1904/05  nicht  mehr  erleben.  —  Wie  auf  dem  Gebiete  der  Staats- 
ausgaben, so  war  B.  auch  hinsichtlich  der  Gestaltung  der  Staatseinnahmen 
unermüdlich  tätig.  Hierbei  gab  zumeist  nicht  die  Absicht  einer  Vermehrung 
der  Staatseinnahmen  den  Anlaß  zu  reformatorischer  Arbeit,  sondern  das  Be- 
streben, auch  den  Ausbau  der  Staatseinnahmen  seinem  sozialpolitischen  Pro- 
gramm mehr  anzupassen.  Kaum  ein  für  die  Einnahmegebarung  wichtiges 
Gebiet  ist  unter  B.s  Finanzleitung  ganz  unberührt  geblieben,  überall  suchte 
er  im  Sinne  seiner  politischen  Überzeugung  die  bessernde  Hand  anzulegen. 
Und  so  gab  es  für  ihn  auch  auf  diesem  Gebiete  eine  fast  unermeßliche  Fülle 
von  Arbeit.  Fast  möchte  man  wähnen,  es  hätten  ihn  in  seinen  letzten  Lebens- 
jahren trübe  Vorahnungen  beschlichen,  es  könnte  die  Spanne  Zeit,  die  ihm 
nach  seinem  Empfinden  noch  zugemessen  sei,  zu  kurz  sein,  um  sein  ganzes 
Finanzprogramm  selbst  durchzuführen.  Denn  mit  einer  sonst  schwer  erklär- 
lichen, manchmal  fast  an  nervöse  Hast  streifenden  Eile  suchte  er  manche 
Dinge  unter  Dach  zu  bringen. 

Es  ist  im  Rahmen  dieses  Lebensabrisses  nicht  möglich,  auf  alle  Einzelheiten 
der  praktischen  Finanzpolitik,  wie  sie  B.  betätigt  hat,  einzugehen.  Es  muß 
genügen,  auf  einige  Maßnahmen  von  größerer  Bedeutung  kurz  hinzuweisen. 
Sonst  wäre  es  erforderlich,  eine  ziemlich  umfangreiche  Geschichte  des  badischen 
Staatshaushalts  während  des  Jahrzehnts  B.scher  Verwaltung  zu  schreiben. 
Hierfür  liegt  um  so  weniger  ein  dringendes  Bedürfnis  vor,  als  B.  auch  diese 
schriftstellerische  Arbeit  in  der  Hauptsache  selbst  übernommen   hat.     Zum 


Buchenberger.  a7 

fünfzigjährigen  Regieningsjubiläum  Großherzog  Friedrichs  von  Baden  (25.  April 
1902)  hat  B.  seinem  Landesherm  ein  Werk  gewidmet,  »Finanzpolitik  und 
Staatshaushalt  im  Grofiherzogtum  Baden  in  den  Jahren  1850  bis  1900«  (Heidel- 
berg bei  Winter),  das  er  in  seinen  Hauptteilen  während  eines  Sommerurlaubs 
von  4  bis  5  Wochen  niedergeschrieben  hatte.  Über  alle  wichtigeren  Begeben- 
heiten in  der  badischen  Staatshaushaltsführung  in  der  zweiten  Hälfte  des 
vorigen  Jahrhunderts,  worunter  auch  der  größere  Teil  der  Finanzleitung  B.s 
fällt,  gibt  dieses  vortreffliche  Werk  dank  einer  sehr  übersichtlichen  Gruppierung 
des  Stoffes  und  einer  sehr  flüssigen  Darstellung  den  leichtesten  und  zugleich 
zuverlässigsten  Aufschluß. 

Eine  besonders  warme  Fürsorge  wandte  B.,  seinen  ausgesprochenen  Nei- 
gungen und  seiner  bisherigen  Tätigkeit  entsprechend,  der  staatlichen  Domänen- 
politik zu.  Da  waren  es  zunächst  Fragen  der  Bewirtschaftung  des  ärarischen 
Besitzes,  die  ihn  während  der  ganzen  Dauer  seiner  Ministertätigkeit  lebhaft 
beschäftigten.  Der  Einrichtung  der  Forsten  wie  einer  möglichst  guten  und 
vorbildlichen  Bewirtschaftung  der  Feldgüter  lieh  er  ständig  sein  reges  Inter- 
esse. Besonders  wurde  auf  seine  Anregungen  hin  der  Reinertrag  des  staat- 
lichen Wiesenbesitzes  wesentlich  gehoben  durch  systematisch  durchgeführte 
Bewässerungsanlagen,  Verwendung  künstlicher  Dünger  u.  dergl.  mehr.  Auch 
einzelne  Musterbetriebe  wußte  er  zu  schaffen,  so  u.  a.  auf  dem  ihm  seit 
langer  Zeit  besonders  vertrauten  Gebiete  der  Fischereipflege  durch  Anlage 
von  Fischteichen.  B.s  Domänenpolitik  erschöpfte  sich  aber  keineswegs  in 
solchen  Fragen  der  Bewirtschaftung,  vielmehr  wandte  er  sein  Hauptinteresse 
der  Eigentumsfrage  zu.  Schon  ein  Jahr  nach  Übernahme  der  Finanzleitung 
erließ  er  Normativbestimmungen  über  Veräußerung  und  Verpachtung  des 
domänenärarischen  landwirtschaftlich  genutzten  Grundbesitzes.  In  wahrhaft 
großzügigem  Aufbau  wurde  er  darin  vorzugsweise  volkswirtschaftlichen  For- 
derungen gerecht,  in  gleichem  Maße  dem  volkswirtschaftlichen  Produktions- 
wie  dem  Verteilungsinteresse  Rechnung  tragend.  Landwirtschaftlicher  Par- 
zellenbesitz des  Staates  sollte  grundsätzlich  abgestoßen  werden,  wenn  tunlich 
an  die  bisherigen  Pächter,  denen  der  Eigentumserwerb  durch  die  Zulassung 
von  Annuitätenzahlung  erleichtert  wurde.  Hierdurch  ist  der  in  manchen 
stärker  bevölkerten  Gegenden  des  Landes  hervorgetretene  »Landhunger« 
zu  einem  guten  Teile  gestillt  und  zur  Erhaltung  eines  seßhaften  Bauern- 
standes beigetragen  worden.  Das  Gegenstück  zu  dieser  Veräußerungspolitik 
des  Domänenärars  in  Gegenden  stark  parzellierten  Grundbesitzes  mit  Streu- 
lage bildete  eine  staatliche  Erwerbungspolitik,  wo  nach  Klima  und  Boden- 
beschaffenheit die  Interessen  der  allgemeinen  Landeskultur  für  staatlichen 
Besitz  sprachen.  So  insbesondere  bei  unbedingtem  Waldboden  auf  dem 
Schwarz wald,  den  B.  gewiß  mit  Recht  im  staatlichen  Betriebe  für  besser 
aufgehoben  hielt.  Auch  zur  Intervention,  wo  in  ihren  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnissen zurückgekommene  Eigentümer,  besonders  größere  Hofbauem,  Güter- 
schlächtem  und  Wucherern  in  die  Hände  zu  fallen  drohten,  griff  die  staatliche 
Erwerbungspolitik  ein,  um  die  geschwächten  Bauern  zunächst  als  Pächter  auf 
der  Scholle  zu  halten.  Und  bisweilen  ist  es  gelungen,  sie  nach  einiger  Zeit 
auf  dem  umgekehrten  Wege  der  Veräußerungspolitik  wieder  zu  freien  Eigen- 
tümern kleinerer  und  abgerundeter  Güter  zu  machen.  —  Den  vielen  und 
großen  Lasten  des  zu  einem  großen  Teil  aus  säkularisiertem  Kirchengut  her- 


AA  Buchenberger. 

rührenden  staatlichen  Domänenbesitzes,  wie  sie  sich  aus  Patronatsverpflich- 
tungen  usw.  herausgebildet  hatten,  suchte  B.  in  einer  möglichst  weitherzigen 
Weise  gerecht  zu  werden.  Zahlreiche  schöne  Kirchenbauten  und  weitreichende 
Restaurierungen  im  Lande  legen  davon  beredtes  Zeugnis  ab.  Ebenso  wid- 
mete er  einigen  im  Besitz  des  Domänenärars  befindlichen  Kleinodien  eine 
besonders  warme  P'ürsorge.  Er  scheute  keine  Mittel,  um  die  prächtigen 
Barock-  und  Rokokoschlösser  in  Mannheim,  Bruchsal  und  Rastatt  wieder  in 
einen  guten,  ihrer  einstigen  Bedeutung  würdigen  Zustand  zu  versetzen.  Ihm 
oblag  auch  die  wichtige  Entscheidung  in  einer  Frage,  um  die  noch  heute  die 
heftigsten  Kämpfe  toben  und  in  der  die  Gegensätze  schärfer  denn  je  auf- 
einanderplatzen,  die  Frage  der  Restaurierung  oder  vielmehr  Erhaltung  des 
Heidelberger  Schlosses.  In  seiner  ruhigen,  auf  rein  sachlichen  Erwägungen 
ruhenden  Art  ließ  er  sich  von  keinerlei  noch  so  schwungvoll  vorgetragenen 
Tagesmeinung  beirren:  »Wir  wollen  an  der  Ruine,  die  als  solche  einen  einzig- 
artigen Zauber  ausübt,  so  wenig  wie  möglich  ändern,  aber  wir  sind  ver- 
pflichtet, diesen  hehren  Zeugen  alter  deutscher  Kunst  und  Macht  auch  den 
kommenden  Geschlechtern  zu  erhalten.  Und  soweit  die  Erhaltung  ohne  teil- 
weise Restaurierung  nicht  möglich  ist,  dürfen  wir  vor  dieser  nicht  zurück- 
schrecken.« So  sehr  sich  B.  sonst  zur  Gelehrten  weit  hingezogen  fühlte,  so 
fehlte  ihm  jedes  Verständnis  dafür,  wenn  in  dieser  Frage  ein  Professor  in 
traumverlorener,  schwärmerischer  Weise  ausrufen  konnte:  Und  wenn  das 
Schloß  ohne  Restaurierung  noch  so  bald  einstürzen  muß,  so  laßt  gewähren, 
wir  haben  dann  doch  so  lange  noch  etwas  Wahres,  Echtes  gehabt  —  und 
mit  dieser  Parole  manchen  Anhänger  gewann.  —  Bei  Leitung  des  ihm  unter- 
stellten staatlichen  Hochbauwesens  ließ  sich  B.  angelegen  sein,  auf  eine 
gewisse  Großzügigkeit  und  Monumentalität  wenigstens  der  wichtigeren  Bauten 
hinzuwirken,  soweit  das  die  Finanzkräfte  eines  kleineren  Landes  irgend  zu- 
ließen. 

Auch  auf  einem  anderen  besonders  wichtigen  Gebiete  der  Finanzver- 
waltung, der  Steuergesetzgebung,  entfaltete  B.  eine  sehr  regsame  und  um- 
fassende Tätigkeit,  und  zwar  gleich  vom  Beginn  seiner  Finanzleitung  an, 
wiewohl  dieses  Gebiet  seiner  früheren  Wirksamkeit  ferne  lag  und  er  darauf 
keineswegs  veraltete,  dringend  reformbedürftige  Zustände  vorfand.  Baden 
besaß  beim  Amtsantritt  B.s  schon  ein  völlig  ausgebildetes  Steuersystem, 
eine  allgemeine  Einkommensteuer  mit  degressiver  Skala  und  daneben  zur 
stärkeren  Belastung  des  fundierten  Einkommens  vier  Ertragssteuern  (Grund-, 
Häuser-,  Gewerbe-  und  Kapitalrentensteuer),  ferner  eine  Reihe  von  Ver- 
brauchs- und  Verkehrssteuern,  soweit  darin  die  Finanzhoheit  nicht  an 
das  Reich  übergegangen  war,  und  ein  wohl  ausgebildetes  Gebührensystem. 
Trotzdem  griff  B.  fast  auf  allen  diesen  Gebieten  im  Sinne  seines  volks- 
wirtschaftlich-sozialpolitischen Programms  reformierend  ein.  Bei  der  Ein- 
kommensteuer gesellte  er  zu  der  degressiven  Skala  einen  progressiven 
Steuerfuß  für  größere  Einkommen  und  verschärfte  die  Strafbestimmungen  für 
Steuerhinterziehungen.  Später  rückte  er  die  Grenze  der  Steuerfreiheit  von 
bisherigen  500  auf  900  Mark  hinauf,  wiewohl  damit  für  den  Staatshaushalt 
eine  recht  empfindliche  Einbuße  verbunden  war.  Zum  Zwecke  eines  stärkeren 
Schutzes  des  stehenden  Gewerbes  gegenüber  den  Wahdergewerbtreibenden 
setzte  er  ein  Wandergewerbsteuergesetz  durch,  an  dessen  Ertrag  er  auch  die 


Buchenberger.  a^ 

Gemeinden  teilnehmen  ließ.  Nicht  die  Unterdrückung  volkstümlicher  Ein- 
richtungen durch  die  Steuergesetzgebung  war  hier  das  Ziel,  sondern  nur  die 
stärkere  Heranziehung  größerer  Leistungsfähigkeit.  Diese  Erwägung  war  für 
ihn  auch  ausschlaggebend  in  der  Frage  der  Warenhaussteuer,  für  die  er  sich 
auch  der  steuertechnischen  Schwierigkeiten  wegen  nicht  sonderlich  begeistern 
konnte  und  die  er  später  ganz  den  Stadtgemeinden  überließ.  Von  wichtigeren 
Umgestaltungen  mag  noch  die  Ersetzung  der  steuertechnisch  veralteten  Bier- 
steuer (Kesselsteuer)  durch  eine  Braumalzsteuer  nach  bayerischem  Vorbild 
Erwähnung  finden.  Dabei  führte  er  auf  diesem  der  indirekten  Verbrauchs- 
besteuerung angehörigen  Gebiete  eine  bisher  hier  fast  unbekannte  starke 
Steuerprogression  nach  der  Größe  des  Malzverbrauches  ein,  um  den  kleineren 
Brauereien  einen  steuerlichen  Schutz  angedeihen  zu  lassen  gegenüber  den 
leistungsfähigeren  Großbetrieben.  Mit  der  Einführung  eines  neuen  bürger- 
lichen Einheitsrechtes  wurde  die  völlige  Umarbeitung  einiger  Verkehrssteuer- 
gesetze erforderlich,  insbesondere  derjenigen  über  die  Grundstücksverkehrs-  und 
die  Erbschaftssteuer.  Diesen  Anlaß  benutzte  B.  zu  einigen  steuerreformatorischen 
Änderungen;  so  führte  er  bei  der  Erbschaftssteuer  eine  Steuerprogression  nach 
der  Höhe  der  Erbschaft  ein  und  verschärfte  die  nach  dem  Grade  der  Ver- 
wandtschaft. Alle  diese  Gesetzgebungsakte  treten  aber  in  ihrer  Bedeutung 
zurück  hinter  einer  großen  Reformarbeit,  die  eine  völlige  Neuordnung  des 
direkten  Steuerwesens  erstrebte.  Wiewohl  Theorie  und  Praxis  auch  den 
Ertragssteuem,  sofern  sie  wie  in  Baden  nur  als  Ergänzungssteuem  neben 
einer  allgemeinen  Einkommensteuer  fungieren,  mancherlei  eigenartige  Vor- 
züge nachrühmen,  schätzte  B.  die  besonders  in  neuerer  Zeit  auch  als  Er- 
gänzungssteuer noch  mehr  bevorzugte  Subjektsteuer,  die  Vermögenssteuer, 
doch  noch  höher  ein.  Deshalb  wollte  er  die  vier  Ertragssteuem  (Objekt- 
steuern) vermögenssteuerartig  fortbilden,  d.  h.  durch  eine  allgemeine  Ver- 
mögenssteuer oder  vielmehr  durch  ein  System  von  Vermögenssteuern  ersetzen, 
um  die  sozialpolitisch  ausbildungsfähigste  direkte  Besteuerung  zu  erlangen. 
Es  ist  außerordentlich  kennzeichnend  für  B.,  daß  er,  um  die  doch  nicht  allzu 
erheblichen  Vorzüge  der  Vermögenssteuer  als  Ergänzungssteuer  zu  erzielen, 
vor  den  großen  Kämpfen  nicht  zurückschreckte,  die  mit  jeder  grundlegenden 
Änderung  des  Steuersystems  und  der  daraus  folgenden  Lastenverschiebung 
untrennbar  verbunden  sind.  B.  hat  die  völlige  Durchführung  dieser  großen 
Reformarbeit  nicht  mehr  erlebt,  er  hat  ihr  aber  durch  mehrere  Denkschriften 
und  vorläufige  Gesetzentwürfe  in  scharfen  Linien  die  Richtung  genau  vor- 
gezeichnet. So  hat  er  insbesondere  noch  ein  neues  Veranlagungsgesetz  für 
die  Neu  auf  Stellung  der  Kataster  nach  dem  Verkehrswerte  als  hauptsächlichste 
Grundlage  für  eine  künftige  Vermögenssteuer  selber  durchgesetzt  und  die 
Neueinschätzung  eingeleitet. 

Auch  auf  dem  Gebiete  der  Beamtenfürsorge  war  B.  rastlos  tätig.  Zwar 
war  erst  kurz  vor  seinem  Amtsantritt  ein  neues  einheitliches  Beamtenrecht 
geschaffen  worden,  allein  er  fand  doch  reichlich  Gelegenheit,  die  bessernde 
Hand  anzulegen.  Wiewohl  er  statistisch  festgestellt  hatte,  daß  schon  zur 
Zeit  seines  Amtsantritts  in  Baden  die  unteren  und  mittleren  Beamten  im 
Vergleich  zu  anderen  deutschen  Staaten  recht  günstig,  die  oberen  Beamten 
ziemlich  schlecht  gestellt  waren,  hielt  er  es  nach  seinem  Programm  doch  für 
die  nächstliegende  Aufgabe,   die  Mängel,   die  bei  der  Lage  der  unteren  und 


^5  Buchenberger. 

mittleren  Beamten  noch  zutage  getreten  waren,  zuerst  zu  beseitigen  und  diese 
Beamten  aufzubessern.  Zu  einer  allgemeinen  Erhöhung  des  Gehaltstarifs,  die 
nach  seiner  Ansicht  hauptsächlich  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  Aufbesserung 
der  höheren  akademisch  gebildeten  Beamten  stattfinden  sollte,  ist  er  bei  der 
in  den  späteren  Jahren  seiner  Amtszeit  eingetretenen  Verschlechterung  der 
Finanzlage  nicht  mehr  gekommen.  Besonders  hervorzuheben  ist  aus  diesem 
Gebiete  noch  die  weitgehende  Wohnungsfürsorge  für  die  Beamtenschaft  nicht 
nur  durch  die  Gewährung  eines  verhältnismäßig  reichlichen  Wohnungsgeldes, 
sondern  auch  unmittelbar  durch  Beschaffung  zahlreicher  ausreichender  und 
gesunder  Dienstwohnungen  hauptsächlich  für  niedere  Beamte. 

Bei  der  Verwaltung  staatlicher  Vermögensbestände  ließ  sich  B.  nicht 
ausschließlich,  ja  nicht  einmal  hauptsächlich  von  fiskalischen  Rücksichten 
leiten.  Auch  dieser  sonst  gewöhnlich  rein  finanziell  gestalteten  Verwaltung 
gab  er  eine  sozialpolitische  Mission  durch  Zulassung  der  Gewährung  lang- 
fristiger und  nieder  verzinslicher  Darlehen  an  Gemeinden,  besonders  an  ärmere 
Landgemeinden  und  sonstige  öffentliche  Körperschaften  des  öffentlichen 
Lebens,  an  landwirtschaftliche  Genossenschaften  und  dergleichen  mehr. 

Endlich  war  es  noch  ein  Zweig  der  Finanzverwaltung,  der  er  seine 
besondere  Aufmerksamkeit  ständig  zuwandte:  die  finanziellen  Beziehungen 
Badens  zum  Reich  und  zu  ihrer  Verbesserung  die  Anbahnung  einer  von  ihm  für 
sehr  dringend  erachteten  Reichsfinanzreform.  In  den  Matrikularbei trägen  der 
Einzelstaaten  an  das  Reich  erblickte  er  in  offenbarer  Übereinstimmung  mit 
der  Absicht  des  Gründers  des  Reichs  nur  einen  vorübergehenden  Notbehelf; 
als  dauernde  Einrichtung  glaubte  er  sie  aus  allgemein  politischen  wie  aus 
finanziellen  Erwägungen  verwerfen  zu  müssen.  Ebensowenig  konnte  er  sich 
für  die  mit  der  Frankensteinschen  Klausel  im  Jahre  1879  eingeführten  Über- 
weisungen vom  Reich  an  die  Einzelstaaten  erwärmen,  die  in  den  Einzel- 
staaten, wenn  sie  vorübergehend  anschwollen,  leicht  zu  einer  ungesunden 
Ausgabepolitik  verleiteten  und  die  so  mißlichen  Schwankungen  im  einzel- 
staatlichen Haushalt  wesentlich  steigerten.  Mit  seiner  ganzen  Kraft  betrieb 
B.  bis  zu  seinem  letzten  Atemzug  das  Zustandekommen  einer  grundlegenden 
Reichsfinanzreform.  Ihr  Ziel  sollte  eine  möglichst  weitgehende  finanzielle 
Selbständigkeit  des  Reiches  sein,  die  Überweisungen  ganz,  die  Matrikular- 
beiträge  wenigstens  für  die  Regel  verschwinden,  die  Schwankungen  im  Reichs- 
haushalt nicht  auf  die  Einzelstaaten  ausgeschlagen,  sondern  vom  Reiche  selbst 
mittels  eines  Reservefonds  oder  in  Verbindung  mit  einer  nachgerade  sehr 
dringlich  gewordenen  Anbahnung  einer  planmäßigen  Schuldentilgung  aus- 
geglichen werden.  B.  übersah  nicht,  daß,  um  dies  zu  erreichen,  nach  der 
Gestaltung  des  Reichsetats  vor  allem  weitere  Reichseinnahmen  geschaffen 
werden  müßten.  Auf  allen  Finanzministerkonferenzen  hat  er  Vorschläge  in 
dieser  Richtung  gemacht  und  als  praktischer  Realpolitiker  war  er,  um  über- 
haupt etwas  zustande  zu  bringen,  auch  zu  weitgehenden  Konzessionen  an 
den  Reichstag  bereit.  Einen  entscheidenden  Erfolg  dieser  Bestrebungen,  die 
immer  wieder  an  vermeintlichen  oder  wirklichen  parlamentarischen  Macht- 
fragen abprallten,  hat  er  leider  nicht  mehr  erlebt. 

Gleich  auf  der  ersten  dieser  Finanzministerkonferenzen,  die  bald  nach 
seinem  Amtsantritte  als  Finanzminister  im  Sommer  1893  in  Frankfurt  a.  M. 
stattfand,  trat  B.  einem  Mann  näher,  den  er  schon  früher  hatte  kennen  lernen 


Buchenberger.  4J 

und  für  den  er  zeitlebens  eine  besondere.  Verehrung  hegte,  dem  damaligen 
preußischen  Finanzminister  v.  Miquel.  Diesem  hochbedeutenden  Staatsmanne 
mit  dem  beweglichen  Geiste  brachte  er  immer  vollstes  Verständnis  entgegen. 
Und  selbst  wenn  die  Wege  der  Miquelschen  Politik  ganz  ungeahnte,  plötz- 
liche Wendungen  annahmen,  die  bis  in  die  Kreise  seiner  Verehrer  hinein 
Staunen,  ja  Befremden  hervorriefen,  so  wurde  B.  in  keinem  Augenblick  an 
ihm  irre.  Er  war  im  voraus  überzeugt,  daß  dieser  immer  aus  dem  Vollen 
schöpfende,  ungemein  kluge  Mann  stets  genau  wußte,  was  er  tat  und  daß  jede 
Wendung  und  jeder  Schachzug  auf  eine  neue  souveräne  Beherrschung  der 
augenblicklichen  politischen  Situation  hinauslief.  Kein  Wunder,  daß  sich 
die  beiden  sehr  geistesverwandten  Männer  enge  aneinander  anschlössen, 
zumal  sich  ihr  politisches  Programm,  besonders  auf  sozialpolitischem  Gebiete, 
fast  völlig  deckte,  nur  daß  auf  der  Miquelschen  Fahne  daneben  die  fiskali- 
schen Rücksichten  sehr  viel  stärker  unterstrichen  waren.  Diesen  freundschaft- 
lichen Beziehungen  zwischen  den  beiden  Staatsmännern  ist  es  wohl  zuzu- 
schreiben, wenn  an  B.  von  Berlin  aus  nach  dem  Übertritt  des  Grafen  Posa- 
dowsky  zum  Reichsamt  des  Innern  der  Ruf  erging,  an  die  Spitze  des  Reichs- 
schatzamts zu  treten.  B.  hat  diesen  Ruf  aus  Gesundheitsrücksichten,  die  wohl 
mehr  in  dem  Befinden  seiner  Frau  als  dem  von  ihm  selbst  begründet  waren, 
abgelehnt.  War  diese  Entschließung  zu  beklagen?  Niemand,  der  B.s  staats- 
männische Tätigkeit  etwas  näher  verfolgt  hat,  wird  bezweifeln,  daß  er  auch 
auf  der  höheren  Warte  des  Reichsamtes  dem  weiteren  Vaterlande  vortreffliche 
Dienste  hätte  leisten  können.  Und  doch  ruhten  die  stärksten  Wurzeln  seiner 
Kraft  im  heimatlichen  Boden,  auf  dem  er  vermöge  seiner  intimen  Vertrautheit 
mit  Land  und  Leuten  eigen-,  ja  einzigartiges  zu  leisten  vermochte.  Das 
Land  Baden  wird  es  B.  deshalb  stets  zu  Dank  wissen,  daß  er  in  seinem 
Dienste  verblieben  ist. 

An  äußeren  Ehren  hat  es  B.  nicht  gefehlt.  Entsprechend  seiner  Laufbahn 
sind  sie  ihm  in  reichem  Maße  zuteil  geworden  und  den  Minister  schmückten 
zuletzt  mehrere  in-  und  ausländische  Großkreuze.  Die  beiden  Landesuniversi- 
täten hatten  ihn  in  Anerkennung  seiner  großen  Verdienste  um  die  Wissen- 
schaft die  Würde  eines  Ehrendoktors  übertragen.  Er  war  nicht  unempfänglich 
für  solche  Auszeichnungen,  er  konnte  sie  aber  auch  in  dem  stolzen  Bewußt- 
sein hinnehmen,  sie  ausschließlich  seiner  eigenen  Lebensarbeit  zu  verdanken 
zu  haben. 

Und  fragen  wir  uns  nun  im  Rückblick  auf  die  Ergebnisse  von  B.s  Tätig- 
keit, wodurch  ihm  die  vielen  und  großen  Erfolge  beschieden  gewesen  sind, 
so  spielte  neben  seiner  hervorragenden  Befähigung,  seinem  gediegenen  Wissen 
und  seinem  eisernen  Fleiße  zweifellos  seine  Persönlichkeit  und  sein  Auftreten 
eine  sehr  gewichtige  Rolle.  Die  liebenswürdigen  und  gewinnenden,  von 
wahrer  Nächstenliebe  getragenen  Eigenschaften  der  Jugendzeit  sind  ihm  durchs 
ganze  Leben  erhalten  geblieben.  Vermöge  ihrer  verfügte  er  über  eine  sehr 
große  Zahl  von  Freunden  und  hatte  fast  keine  Feinde.  Den  ernsten  gelehrten 
Mann  nie  verleugnend,  ging  er  im  Gespräch  doch  gerne  auf  jedermanns  Inter- 
essen ein  und  ließ  ihnen  Gerechtigkeit  widerfahren,  auch  wenn  sie  dem 
eigenen  Gedankenkreise  femer  lagen.  —  In  seiner  amtlichen  Wirksamkeit  war 
er  nichts  weniger  als  bureaukratisch  angehaucht  und  folgte  darin  ganz  den 
Spuren  des  ihm  nahe  befreundeten  Ministerkollegen  Dr.  v.  Brauer,  der  in  den 


aS  Buchenbergcr. 

letzten  Lebensjahren  B.s  den  Vorsitz  im  Staatsministerium  führte.  Leicht 
von  Entschluß,  offen  und  in  verbindlicher  Form  sich  erklärend,  verbarg  er 
sich  nie  hinter  amtlich-bureaukratische  Schranken.  Die  fernere  Einhaltung 
bisher  festgehaltener  Grundsätze  wog  bei  ihm  weniger  schwer  als  die  Er- 
zielung eines  augenblicklichen  zweckmäßigen  Ergebnisses  und  er  konnte 
seinem  politischen  Geschick  wohl  vertrauen,  daß,  wenn  sich  aus  der  abge- 
sonderten Regelung  einer  Angelegenheit  späterhin  irgendwie  mißliche  Folgen 
ergaben,  es  ihm  wieder  gelingen  werde,  der  neuen  Schwierigkeit  Herr  zu 
werden.  Er  war  Opportunist  in  gutem  Sinne  und  dieser  Eigenschaft  ver- 
dankte er  bei  der  Zusammensetzung,  welche  die  badische  Volksvertretung 
gefunden  hatte,  gar  manchen  Erfolg.  Eine  allein  entscheidende  Partei  war 
nicht  mehr  vorhanden,  und  so  galt  es,  zwischen  den  ausschlaggebenden 
Fraktionen  hindurch  zu  lavieren  und  das  Gute  zu  nehmen,  von  wo  es  kam. 
Hierin  zeigte  er  ein  ganz  außerordentliches  Geschick.  Er  war  geradezu  ein 
Meister  des  Kompromisses.  Nie  an  starren  Grundsätzen  haftend,  wußte  er 
durch  rechtzeitig  gemachte,  mitunter  anscheinend  recht  weitgehende  Zu- 
geständnisse an  die  Gegenpartei  immer  noch  die  wichtigsten  Teile  seiner 
Vorlagen  glücklich  zu  retten,  selbst  dann,  wenn  sie  nach  der  Parteikon- 
stellation gänzlich  gefährdet  erschienen.  Er  war  zwar  nicht  der  wetterfeste, 
im  Kampfe  erst  recht  wohl  sich  fühlende  Mann,  welcher  der  Führer 
einer  großen  Partei  sein  soll;  dazu  war  er  von  Natur  zu  weich  gestimmt.  Um 
so  mehr  war  er  für  eine  Stelle  im  Rate  der  Krone  vereigen  seh  aftet,  zumal 
er  mit  sehr  feinem  politischem  Takt  begabt  war.  Eine  mächtige  Unterstützung 
lieh  ihm  seine  hervorragende  Rednergabe.  Nicht  ein  dithyrambischer  Schwung, 
der  die  Freunde  mitreißt  und  die  Gegner  verstummen  macht,  auch  wo  sach- 
liche Gründe  versagen,  verlieh  seiner  öffentlichen  Rede  den  reichen  Erfolg. 
Der  gründete  sich  vielmehr  auf  das  reiche  Wissen,  die  volle  Beherrschung 
des  Stoffes,  den  systematisch  richtigen  und  vollständigen  Aufbau  der  Rede, 
die  gedrängte  Gerfankenfülle  und  die  angenehme  Form  des  Vortrags,  der 
durch  den  reichlichen  Gebrauch  kennzeichnender  Bilder  höchst  anschaulich  und 
plastisch  zum  Ausdruck  kam.  Er  sprach  nicht  sehr  rasch  und  fließend,  die 
Ausgestaltung  der  Rede  im  einzelnen  war  vielmehr  das  Ergebnis  augenblick- 
licher Gedankenarbeit  und  kam  entsprechend  bedächtig  heraus.  Sife  war 
deshalb  nur  um  so  wirkungsvoller,  da  man  nie  den  Eindruck  der  vorgefaßten, 
von  dem  Ergebnis  der  parlamentarischen  Debatte  unbeeinflußten  Meinung 
haben  konnte.  B.  liebte  wie  im  Schriftsatz  so  auch  in  der  Rede  die  langen 
Perioden  und  doch  hat  er  sie  immer  vollständig  und  richtig  zu  Ende  geführt. 
Auch  bei  der  Rede  erweckte  er  stets  den  Eindruck  eines  Mannes,  der  aus 
dem  Vollen  schöpft,  alle  Für  und  Wider  wohl  erwogen  hat  und  noch  viel 
mehr  zur  Sache  vorbringen  könnte.  Und  wenn  einmal  die  Wogen  des  par- 
lamentarischen Kampfes  besonders  hoch  gingen,  so  wußte  er  sie  mit  bemer- 
kenswertem Geschick  durch  das  Öl  der  verbindlichen  Form  und  des  ver- 
ständnisvollen Eingehens  auf  den  Gedankengang  des  Gegners  fast  immer  zu 
beschwichtigen.  So  hat  nach  einem  sachlich  harten  Zusammenstoß  in  der 
Zolltariffrage  ein  Gegner  bekannt:  Die  Reden  des  Finanzministers  seien  ihm 
immer  lehrreich  und  bereiteten  ihm  stets  einen  ästhetischen  Genuß. 

Nie  ermüdend,   nie  versagend,  war  B.    bis  zu  seinem  Sterbelager  rastlos 
tätig.     Wenn    ihm    seine    sehr    umfangreichen    und   schweren   Berufspflichten 


Buchenberger.     von  Heinemann.  aq 

etwas  freie  Zeit  ließen,  so  widmete  er  sie  literarischen  Arbeiten.  Was  er 
dann  noch  an  Muße  erübrigen  konnte,  füllte  er  mit  einer  überaus  reichlichen, 
teilweise  sehr  anstrengenden  Lektüre  aus.  Daneben  pflegte  er  noch  einen 
großen  geselligen  Verkehr,  und  so  waren  einige  Ausflüge  in  die  heimatlichen 
Berge  und  in  den  letzten  Lebensjahren  die  I3eteiligung  an  Jagden,  die  ihn 
sehr  anzogen,  sowie  kürzere  Sommerreisen  alles,  was  er  der  Erholung  gönnte, 
und  auch  hier  waren  es  zumeist  gelehrte  und  politische  Gespräche,  in  denen 
er  sich  erging.  Dieser  außergewöhnliche  geistige  Tätigkeitsdrang  war  sein 
Dämon  im  goethischen  Sinne.  B.  stand  immerfort,  besonders  aber  in  seinen 
letzten  Lebensjahren,  unter  einer  derart  hohen  geistigen  Spannung,  daß  ihm 
Nahestehende  sich  schon  länger  Sorgen  machten,  ob  seine  Nervenkraft  und 
sein  nicht  sehr  starker  Körper  —  er  war  ein  ziemlich  großer  aber  sehr  hagerer 
Mann  mit  einem  feinen  durchgeistigten  Kopfe  —  dem  auf  die  Dauer  gewachsen 
wären.  Jedenfalls  war  dadurch  die  Widerstandsfähigkeit  gegen  Krankheiten 
erheblich  geschwächt. 

Am  Weihnachtsfeste  1903  warf  ihn  ein  plötzlich  auftretendes  schweres 
Darmleiden  auf  ein  qualvolles  Krankenlager,  von  dem  er  nicht  mehr  auf- 
stehen sollte.  Mehrere  umfassende  Operationen  konnten  keine  Rettung  mehr 
bringen  und  so  hauchte  er  nach  zweimonatiger  schwerer  Leidenszeit  am 
20.  Februar  1904,  noch  nicht  56  Jahre  alt,  sein  Leben  aus,  beklagt  von  seinen 
schwer  betroffenen  nächsten  Angehörigen  und  seinen  zahlreichen  Freunden 
und  Anhängern,  betrauert  von  einem  ihm  unerschütterlich  geneigten  Fürsten 
und  einem  ganzen  dankbaren  Volke.  Versöhnend  bei  diesem  frühzeitigen  Ende 
eines  großen  und  verdienten  Mannes  wirkt  der  Gedanke,  daß  die  Vorsehung  es 
gut  mit  ihm  gemeint  hatte.  Sie  hat  ihm  häusliches  Glück  beschert  und  ihn 
im  öffentlichen  Leben  ganz  an  den  richtigen  Platz  gestellt,  auf  dem  er  alle 
seine  Gaben  reich  entfalten  konnte,  sich  selbst  zu  wahrer  innerer  Befriedi- 
gung, seinem  Vaterlande  zum  Wohl.  Auf  seinem  Grabmal,  das  seine  zahl- 
reichen Verehrer  eben  mit  einem  Reliefporträt  zu  schmücken  sich  anschicken, 
dürften  die  Worte  Platz  finden:  •Patriae  serviendo  consumptus*. 

Friedrich  Nicolai. 

von  Heinemann,  Otto,  *  7.  März  1824  zu  Helmstedt  im  Herzogtum 
Braunschweig  als  jüngster  Sohn  des  Kreisgerichtsdirektors  v.  H.  und  seiner 
Ehefrau  Charlotte  L.  Carol.  Meinders,  f  7-  Juni  1904  als  Herzoglicher  Ge- 
heimer Hofrat  und  Oberbibliothekar  in  Wolfenbüttel.  —  Sein  Leben  hat  er 
selbst  anmutig  in  seiner  Schrift  »Aus  vergangenen  Tagen«  1902  erzählt,  die 
in  behaglicher  Darstellung  das  volle  Glück  seiner  im  Eltemhause  wohl- 
behüteten und  doch  frei  sich  bewegenden  Jugend  schildert  und  das  treue 
Gepräge  seiner  klaren  Denkungsart  und  seines  harmonischen  Gemütes  trägt. 
Der  Vater,  ernst  und  zurückhaltend,  bei  wichtigen  Vorgängen  doch  bestim- 
mend, die  Mutter,  das  gesamte  Hauswesen  und  die  Erziehung  der  Kinder 
nach  den  Eingebungen  ihres  reichen  Herzens  und  ihrer  sicheren  Menschen- 
kenntnis leitend,  so  konnten  die  fünf  Söhne  für  den  öffentlichen  Beruf,  die 
drei  Töchter  in  der  Stille  des  Hauses  sich  glücklich  entwickeln  und  die 
ersten  ihre  Kräfte  dem  Staat,  der  Schule,  der  Wissenschaft,  zwei  unter  ihnen 
dem  Waffendienst  im  preußischen  Heere  widmen,  in  dem  beide  bis  zum 
Range    eines  Generals    aufstiegen,    alle    in  Dankbarkeit   zu   dem    elterlichen 

Biop-.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog:.    9.  Bd.  a 


50 


von  Heinemann. 


Vorbilde  aufschauend.  Über  den  günstigen  Einfluß,  den  das  Gymnasium  in 
Helmstedt  auf  das  geistige  Leben  seiner  Zöglinge  ausübte,  urteilt  v.  H.  (Aus 
verg.  T.  S.  35  ff.)  im  ganzen  wie  ich  (Schrader,  Erfahrungen  u.  Bekennt- 
nisse S.  25 — 34);  über  einzelne  Lehrer  herber,  was  sich  aus  der  Abnahme 
ihrer  Wirksamkeit  während  der  Zwischenzeit  erklären  mag.  Wohl  vorbereitet, 
bezog  V.  H.  1843  ^i®  Universität  in  Bonn,  hauptsächlich  um  Dahlmanns 
ernste  Mahnungen  zu  vaterländischer  Gesinnung  zu  hören,  auch  wohl,  um 
der  schönen  Landschaft  und  der  akademischen  Freuden  teilhaft  zu  werden, 
dann  nach  einem  Zwischenhalbjahr,  das  an  dem  Collegium  CaroUnum  in 
Braunschweig  den  neueren  Sprachen  gewidmet  wurde,  die  Berliner  Uni- 
versität, um  der  wissenschaftlichen  Zucht  des  Rankeschen  Seminars  innezu- 
werden. 

Der    Studienzeit    folgte    eine    kurze    Lehrtätigkeit,    querst    an    der    alten 
Helmstedter  Bildungsstätte,   dann  an  einer  wohlgeordneten  Erziehungsanstalt 
in  Altona,   von  wo  v.  H.  anfangs  1848  nach  Paris  in  das  Haus  eines  dort 
wohnenden  livländischen  Edelmannes  zur  Beaufsichtigung  und  Erziehung  des 
Sohnes  übersiedelte.     Hier  wurde   er  im  Februar  der  tiefbewegte  Zuschauer 
der  staatlichen  Umwälzung,   die  nicht  nur  Frankreich  in   unabsehbare,  noch 
jetzt   nicht    ausgeglichene  Unruhen    stürzte,    sondern    auch  Deutschland    tief 
aufregte.     Für  die  Bildung  des  jungen  Historikers  war  dieses  blutige  Schau- 
spiel von  größter  Bedeutung,  ohne  ihn  jedoch,  wie  damals  so  viele,  zu  einer 
grundsätzlichen  Änderung  seiner  Sinnesweise  fortzureißen.     Die  fortgesetzten 
Straßenwirren  veranlaßten  den  Vater  seines  Zöglings,  mit  den  Seinigen  Paris 
zu  verlassen  und  einen  fast  zweijährigen  Aufenthalt  in  Belgien,   Mittelfrank- 
reich und  der  Schweiz  zu  nehmen.   Auch  dieser  Wechsel  war  für  den  begleiten- 
den Hauslehrer  von   hohem  Werte,  sofern  ihm  hierdurch  die  ausgiebig  be- 
nutzte Möglichkeit  wurde,  nicht  nur  die  landschaftlichen  Reize  jener  Länder, 
sondern   auch    die  Kunstschätze    der   belgischen   Städte   zu  schauen   und  in 
mannigfachem    gesellschaftlichem  Verkehr    an    Menschenkenntnis    zu    reifen, 
einem  Besitz,    den  der  Geschichtsforscher    so  wenig  wie   der  Lehrer    missen 
kann.     Seine  Schilderung  dieser  Jahre  läßt  schon  für  jene  Zeit  den  Trieb  zu 
besonnener  Beschaulichkeit  erkennen,  die  später  der  Stetigkeit  seines  Fleißes 
und   der  Reife  seines  Urteils  zugute    kommen    sollte    und  ihm    das   Gleich- 
gewicht des  Gemüts    selbst    unter  schweren  Heimsuchungen  erhielt.      Nach 
Ablauf  dieser  fruchtreichen  Wanderjahre  kehrte  er  in  die  Heimat  zurück,  um 
sich  der  Prüfung  für  das  Lehramt  zu  unterziehen   und   in   diesem   eine  feste 
Stellung  zu   gewinnen.      Jene    bestand  er   185 1    im  ehrenvollsten   Grade    für 
den  Unterricht  in   der  Geschichte  und   den  neueren  Sprachen;  mit  der  An- 
stellung   sollte    es    bei   der  Überfülle  der  Anwärter   in    dem    kleinen   Staate 
nicht  so  rasch  gehen.     So  verstand  er  sich  denn  zu  unbesoldeter  Hilfsarbeit 
an   der   großen  Bibliothek  zu  Wolfenbüttel   und  gewann  hier  unter  der  An- 
weisung    des     geschickten,     aber    schon    halberblindeten    Oberbibliothekars 
Schönemann    einen    Einblick     in    die    Verwaltung    einer    so    vielgestaltigen 
Sammlung,  der  ihm  nicht  nur  später  seine  damals  noch  ungeahnte  Amtsaufgabe 
an  eben  dieser  Anstalt  erleichtern,  sondern  sogar  seiner  Anstellung  an  ihr  Vor- 
schub leisten  sollte.     Endlich  wurde  er  zu  Neujahr  1853  zum  Kollaborator  an 
einer  Lehranstalt  ernannt,  was  ihn  doch  nur  mäßig  befriedigte  nicht  nur  wegen 
des  kärglichen  Gehalts,  sondern  noch  mehr,  weil  er  mit  der  realistischen  Richtung 


von  Heinemann. 


51 


dieser  Schule  wenig  einverstanden  war.  Allein  schon  zu  Ostem  desselben 
Jahres  erhielt  er  einen  Ruf  an  das  Karlsgymnasium  in  Bernburg,*  dem  er  um 
so  lieber  folgte,  als  er  hierdurch  die  Möglichkeit  gewann,  die  ihm  seit  kurzem 
verlobte  Braut  Helene  von  Brandenstein  heimzuführen  und  als  der  Direktor 
jener  Anstalt  ein  Helmstedter  und  ein  genauer  Bekannter  seiner  Eltern  war. 

Die  neue  Lage  war  allerdings  günstig;  seine  Lehraufgabe  bewegte  sich  in 
seinen  eigentlichen  Studienfächern,  die  Anstalt  stand  unter  guter  Leitung,  die 
in  Lehrern  und  Schülern  die  Gewähr  befriedigender  Tätigkeit  zu  versprechen 
schien,  und  die  kleine  Residenz  bot  die  Möglichkeit  angenehmen  Verkehrs, 
ja,  wie  sich  bald  zeigen  sollte,  die  Anregung  wie  die  Mittel  zu  einer  wissen- 
schaftlichen Tätigkeit,  die  ganz  mit  seiner  Neigung  zusammenfiel  und  somit 
auch  für  seine  späteren  Arbeiten  maßgebend  wurde.  Für  diese  lieferte  ihm 
das  Bernburger  Staatsarchiv,  desgleichen  ein  Bauwerk  der  Umgegend  Stoff 
und  Anregung;  sie  sollen  hier  nur  genannt  und  später  im  Zusammenhange 
mit  anderem  gewürdigt  werden.  So  entstanden  hier  'oder  doch  von  hier 
aus  die  Schriften  über  den  Markgrafen  Gero  1860,  über  Albrecht  den  Bären 
1864,  (^ic  Geschichte  der  Abtei  und  die  Beschreibung  der  Stiftskirche  von 
Gemrode  (2.  Aufl.  1877)  und  sein  Codex  diplomaticus  Anhaitinus\  auch  die 
mehr  volkstümliche  Erzählung  über  Lothar  von  Sachsen  und  Konrad  IIL 
1869  zeigt  anhaltinische  Beziehungen.  Wie  sehr  v.  H.  der  Bemburger 
Aufenthalt  zusagte,  hat  er  selbst  mit  sichtlicher  Glücksempfindung  geschildert, 
ebenso  wie  das  kleine  Land,  das  unter  dem  kräftigen  Minister  v.  Schützeil 
die  üblen  Nachwirkungen  des  Jahres  1848  abschüttelte,  1863  durch  den 
Heimfall  an  Dessau-Köthen  zu  einem  größeren  Gebilde  erwuchs.  Auch 
fehlte  ihm  äußere  Anerkennung  nicht;  abgesehen  von  anderen  Ehren  wurde 
er  1868  zum  korrespondierenden  Mitgliede  der  bayrischen  Akademie  der 
Wissenschaften  ernannt.  Da  bot  ihm  der  allzu  frühe  Tod  des  vortrefflichen 
Wolfenbütteler  Bibliothekars  Ludw.  Bethmann  die  Möglichkeit,  in  sein  Ge- 
burtsland zurückzukehren;  nicht  ohne  Bedenken  folgte  er  dem  dringenden 
Zureden  alter  Freunde,  auch  wohl  dem  eigenen  Heimatsgefühl,  sich  und  zwar 
mit  vollem  Erfolge  um  die  erledigte  Stelle  zu  bewerben,  zumal  ihn  Beth- 
mann selbst  zu  seinem  Nachfolger  gewünscht  hatte.  Er  trat  das  neue  Amt 
zum  I.  Juli  1868  an. 

Die  Bibliothek  war  eigentlich  nicht  eine  Landesanstalt,  sondern  fürst- 
liche Stiftung;  ihre  bedeutendsten  Bestandteile  waren  herzogliche  Schen- 
kungen, zuerst  die  alte  Wolfenbütteler  Sammlung,  die  besonders  für  das 
römische  Recht  und  für  die  Geschichte  der  Kirchenreformation  namentlich 
durch  den  Besitz  des  Flacianischen  Nachlasses  von  Wert  war  und  nach  der  Be- 
stimmung des  Herzogs  Heinrich  Julius  1613  der  Universität  in  Helmstedt 
überwiesen,  nach  deren  Aufhebung  1810  aber  nach  Wolfenbüttel  verpflanzt 
wurde,  und  zweitens  die  Augusteische  Sammlung,  die  früher  im  Besitz  des 
feinsinnigen  Herzogs  August  des  Jüngeren  mit  ihm  1642  nach  Wolfenbüttel 
übersiedelte  und  durch  ihren  Reichtum  an  alten  Handschriften  alle  übrigen 
Bibliotheken  in  Deutschland  überragte.  Hierzu  waren  einzelne  bedeutende 
Ankäufe,  so  namentlich  der  Weißenburger  und  der  Gudianischen  Sammlung, 
und  Schenkungen  getreten.  Aber  auch  in  ihrem  früheren  Bestände  recht- 
fertigte sie  das  Lob  des  großen  Leibniz,  der  sie  une  des  plus  fameuses  de 
tEurope  nannte  und  in  ihr  une  assemblie  des  plus  grands  hommes  de  tous  les  sUcles 

4* 


52 


von  Heinemann. 


et  de  ioutes  les  nations  sah,  qui  naus  disent  leurs  pensies  les  plus  choisies  (O.  v.  H., 
Aus  verg.  Tag.  S.  315).  Unter  ihren  Bibliothekaren  hatte  sie  zwei  der 
größten  deutschen  Gelehrten  gezählt,  Leibniz,  1699 — 17 16,  und  Lessing, 
1770 — 1781,  beide  freilich  zur  Mehrung  ihres  Ruhms,  aber  weniger  zum 
Vorteil  ihrer  inneren  Verwaltung.  Namentlich  Lessing  folgte  dem  Worte 
seines  Fürsten,  das  ihn  mehr  zur  Benutzung  als  zur  Förderung  der  Bibliothek 
berufen  hatte,  und  lebte  mehr  in  ihr  als  für  sie.  Neben  diesen  standen 
andere,  wohl  von  geringerem  Rufe  in  der  Gelehrsamkeit,  aber  von  größerem 
Nutzen  für  die  ihnen  anvertraute  Sammlung,  so  der  uns  aus  Goethes  Wahr- 
heit und  Dichtung  bekannte  Langer,  den  Lessing  sich  als  seinen  Nachfolger 
gewünscht  hatte,  und  aus  neuester  Zeit  Schönemann  und  L.  Bethmann,  dessen 
Verwaltungsgrundsätze  v.  H.,  wenn  auch  in  freier  Anwendung,  zur  Durch- 
führung brachte.  Daß  Heinemanns  Berufung  für  ihn  wie  für  die  Sammlung 
die  richtige  war,  zeigt  die  anziehende  Schilderung,  die  ihm  sein  Amtsnach- 
folger gewidmet  hat '(Milchsack,  O.  v.  Heinemann,  Braunschweig  1904),  ein 
ehrendes  Zeugnis  sowohl  für  den  Verfasser  wie  für  den  Verstorbenen.  Aus 
dieser  kleinen,  aber  inhaltreichen  Schrift  erhellt  auch  die  Größe  der  Auf- 
gabe, die  seiner  wartete,  wie  die  Tatkraft  und  die  Besonnenheit,  mit  der  er 
sie  gelöst  hat.  Dieser  Aufgaben  waren  mannigfache  und  schwere  und  ließen 
sich  nur  in  geraumer  Zeit  bei  großer  Stetigkeit  unter  Aufschub  der  minder 
wichtigen  bewältigen.  So  schloß  sich  denn  v.  H.  in  der  Aufstellung  der 
Bücher,  die  ja  verschiedene  Methoden  zuläßt,  seinem  unmittelbaren  Vor- 
gänger an,  zumal  dieser  mit  großer  Mühewaltung  endlich  die  Verschmelzung 
der  verschiedenen  oben  bezeichneten  Teilsammlungen  zu  einem  einheitlichen 
Ganzen  zustande  gebracht  und  dieses  in  die  einzelnen  Raumabschnitte  des 
großen,  nach  italienischem  Muster  errichteten  Rundbaus  hineingepaßt  hatte. 
Allein  eben  dieser  Rundbau  verbürgte  als  Fachwerksbau  keineswegs  die  für 
einen  so  unermeßlichen  Schatz  unentbehrliche  Sicherheit  gegen  Feuersgefahr; 
V.  H.  bewog  also  in  wiederholten  Anträgen  die  Staatsbehörden  zur  Aufführung 
eines  völligen  Neubaues  1882/86,  der  jener  Vorschrift  entsprach  und  doch 
die  Vorzüge  des  alten  Hauses,  namentlich  einen  großen  Mittelsaal  für  die 
auserlesenen  Kostbarkeiten  der  Sammlung,  aufrecht  erhielt  und  im  übrigen 
weit  zuträglicher  für  die  Benutzung  ausfiel.  Die  Bausumme  überstieg 
700000  M.,  für  ein  kleines,  wenn  auch  wohlhabendes  Land  immerhin  ein 
Aufwand,  der  an  den  entscheidenden  Stellen  ein  seltenes  Verständnis  für  den 
Bauzweck  voraussetzt.  Zu  den  Schätzen  der  Bibliothek  gehörte  auch  eine 
große  Zahl  von  Holzschnitten  und  Kupferstichen,  deren  Aussonderung  und 
Zusammenstellung  von  Bethmann  begonnen  war,  und  v.  H.  mit  gleichem 
Eifer  und  einem  durch  die  Anschauung  niederländischer  Kunstwerke  ge- 
klärten Geschmack  fortgesetzt  wurde.  Wichtiger  war  aber  eine  durchgreifende 
und  den  wissenschaftlichen  Anforderungen  genügende  Katalogisierung  der 
Handschriften,  in  deren  Besitze  gerade  die  Bedeutung  dieser  Bibliothek  be- 
stand; von  diesem  schwierigen  und  nur  bei  stetigstem  Fleiße  und  genauer 
Kenntnis  der  Paläographie  möglichen  Werke  erschien  im  Jahre  1884  der 
erste  Band,  dem  im  Verlauf  der  Jahre  acht  weitere  folgten.  Endlich  fand 
sich  in  der  Bibliothek  eine  übergroße  Anzahl  von  Büchern,  die  ihr  seit  dem 
18.  Jahrhundert  zugeflossen,  bis  dahin  aber  überhaupt  nicht  verzeichnet 
waren.   Auch  diese  Arbeit  griff  v.  H.  so  umsichtig  an,  daß  bei  seinem  Tode  die 


von  Heinemann.  c^ 

Verzettelung  zu  zwei  Dritteln  vollendet  war.  Ebenso  hatte  es  bisher  an  einer 
Benutzungsordnung  gemangelt;  diese  Lücke  empfand  er  um  so  schmerzlicher, 
als  er  beim  Ausleihen  der  Bücher  und  auch  der  Handschriften  die  Rück- 
sichtslosigkeit der  Entleiher  zur  vollen  Genüge  erfahren  hatte.  Jene  Verord- 
nung erlangte  er  fast  beiläufig,  als  eine  fremdstaatliche  Regierung  die  Mit- 
teilung der  in  Wolfenbüttel  bestehenden  Ordnung  erbat,  die  jetzt  erst  von 
der  bis  dahin  zögernden  heimischen  Behörde  zugelassen  und  nunmehr  in 
aller  Eile  aufgestellt  wurde.  Um  jene  von  auswärtigen  Lesern  ohne  Scheu  selbst 
gegen  Handschriften  und  seltene  Drucke  bewiesene  Schonungslosigkeit  soviel 
wie  möglich  abzuschneiden,  bewog  er  die  Staatsbehörde  zu  der  einschränkenden 
Bestimmung,  daß  diese  überhaupt  nicht  mehr  ausgeliehen,  sondern  nur  inner- 
halb der  Bibliothek  benutzt  werden  dürften.  Diese  Einschränkung  widerstritt 
allerdings  dem  Bedürfnis  der  Gelehrten,  die  gleichzeitig  Handschriften  aus 
verschiedenen  Bibliotheken  untereinander  vergleichen  müssen;  sie  erregte 
daher  große  Entrüstung,  die  sich  in  Zuschriften  und  Zeitungen  zum  Teil  in 
ungebührlichem  Tone  entlud.  Allein  v.  H.  beharrte  im  wesentlichen  bei  seiner 
Auffassung,  da  er  nach  dem  Lessingschen  Wort  nicht  der  Stallknecht  sei, 
der  jedem  hungrigen  Pferde  das  Heu  in  die  Raufe  trage.  Und  da  ungefähr 
gleichzeitig  einem  berühmten  Gelehrten  das  Unglück  widerfuhr,  daß  in  seiner 
Wohnung  eine  seltene  Wiener  Handschrift  verbrannte,  so  rettete  v.  H.  wenig- 
stens die  wesentliche  Bestimmung,  daß  die  nach  auswärts  verschickten  Hand- 
schriften nur  in  staatlich  behüteten  Räumen,  z.  B.  in  der  betreffenden 
Bibliothek,  nicht  aber  in  Privatwohnungen  benutzt  werden  sollten.  Dieser 
Bestimmung  schloß  sich  die  preußische  Unterrichtsverwaltung  an,  womit  ihre 
Berechtigung  anerkannt  wurde.  So  durfte  v.  H.  sich  denn  mit  einiger  Ge- 
nugtuung auf  die  Schlußverse  der  von  dem  unvergeßlichen  Herzog  August 
erlassenen  Ordnung  berufen: 

Hanc  quisquis  legem  contemnes,  bibliotheca 
Abstine  ab  alierius,  vohe,  revolve  Tuaml 

Ich  übergehe  die  zum  Teil  reichlichen  Schenkungen  und  Ankäufe  zur 
Ergänzung  der  Bibliothek;  aus  allem  erhellt  aber,  daß  v.  H.  mit  voller  Be- 
friedigung auf  die  Zeit  seiner  Verwaltung  zurückblicken  durfte. 

Alle  diese  Arbeit  in  Bernburg  und  Wolfenbüttel  hatte  v.  H.  nicht  ge- 
hindert, sich  auch  als  Forscher  und  Schriftsteller  in  ausgedehntem  Maße  zu 
betätigen;  vielmehr  hat  er  ihr  vielfache  Anregung  und  Unterstützung  ent- 
nommen. Denn  es  ist  schon  angedeutet,  daß  die  Eigenart  seines  jeweiligen 
Wohnsitzes  und  seiner  amtlichen  Aufgaben  von  maßgebendem  Einfluß  auf 
die  Wahl  der  von  ihm  wissenschaftlich  behandelten  Gegenstände  war.  Er 
war  sich  seiner  niedersächsischen  Abstammung  wohl  bewußt;  sein  Blick  und 
seine  Liebe  wendeten  sich  gern  der  Bedeutung  dieses  Volksstammes  in  der 
vaterländischen  Entwicklung  zu.  Daher  während  seines  anhaltinischen 
Schuldienstes  seine  Schriften  über  den  Markgrafen  Gero,  über  die  Abtei  in 
Gemrode  und  Albrecht  den  Bären,  alle  quellenmäßig  und  nach  den  in  der 
Rankeschen  Schule  geltenden  Grundsätzen  gearbeitet.  In  dem  letztgenannten 
Werke  löste  er  die  Aufgabe,  die  sein  berühmter  Lehrer  einst  den  Mitgliedern 
seines  Seminars  für  die  Zeit  der  sächsischen  Kaiser  gestellt  hatte  und  die 
demzufolge  für  die  gesamte  ältere  Kaiserzeit  in  den  Jahrbüchern  des  Deutschen 


CA  von  Heinemann. 

Reichs,  dem  von  der  bayerischen  Akademie  eingeleiteten,  auf  kritische 
Durchforschung  der  Quellen  gerichteten  Sammelwerke  durchgeführt  worden 
ist.  In  der  Behandlung  des  Stoffes  hat  sich  der  Verf.  aber,  was  seinem 
Buche  sehr  zugute  gekommen  ist,  nicht  an  das  für  die  Jahrbücher  vor- 
geschriebene annalistische  Schema  gebunden,  sondern  seine  Darstellung  nach 
allgemeinen  Gesichtspunkten  gruppiert.  Bei  seinem  Erscheinen  als  epoche- 
machend für  die  Studien  zur  älteren  brandenburgischen  Geschichte  begrüßt, 
bildet  dieses  Werk  noch  heute  dank  seiner  exakten  Forschung  die  feste 
Grundlage  für  alle  weiteren  Untersuchungen;  es  wurde  zugleich  der  Aus- 
gangspunkt des  großen  Unternehmens,  das  v.  H.  während  der  beiden 
nächsten  Jahrzehnte  mit  unermüdlichem  Fleiße  zum  Abschluß  gebracht  hat, 
zu  dem  nach  den  von  G.  Waitz  aufgestellten,  für  die  Herausgabe  von 
Urkundenbüchem  damals  maßgebenden  Grundsätzen  bearbeiteten  Codex 
diplomaficus  Anhaltinus  (6  Teile,  Dessau  1867 — 83).  Auch  seine  für  jüngere 
Leser  berechnete  Erzählung  über  Lothar  von  Sachsen  und  Konrad  IIL  (Er- 
zählungen aus  dem  deutschen  Mittelalter,  herausg.  von  Nasemann  1869) 
gehört  im  wesentlichen  derselben  geschichtlichen  Entwicklungsstufe  an. 
Anders  nach  Anlage  und  Art  ist  die  bis  auf  die  Gegenwart  herabgeführte 
Geschichte  von  Braunschweig  und  Hannover,  die  O.  v.  H.  in  drei  Bänden 
1884 — 92  herausgab.  Hier  galt  es  ihm  die  Geschichte  der  weifischen  Lande 
nicht  in  gleichmäßiger  Ausführlichkeit,  sondern  in  Umrissen  und  Ausführungen 
unter  Hervorhebung  bedeutender  Männer  und  Ereignisse  vorzutragen,  für  die 
die  Beibringung  urkundlicher  Beläge  entbehrlich  sei.  Auch  für  dieses  Werk 
glaubte  der  Verfasser  die  Anerkennung  erwarten  zu  dürfen,  daß  die  Dar- 
stellung auf  gewissenhafter  Forschung  beruhe,  und  hierin  hat  er  sich  nicht 
geirrt.  Ein  in  jeder  Beziehung  zuständiger  Rezensent  (H.  Bresslau,  Mitteilungen 
aus  der  historischen  Litteratur  Bd.  13),  der  bald  zustimmend,  bald  mit  Vor- 
behalt die  Stellungnahme  des  Verf.  zu  den  in  der  älteren  sächsischen  Ge- 
schichte streitigen  Fragen  erörtert,  erkennt  die  wissenschaftliche  Gründlich- 
keit des  Buchs  durchaus  an  und  lobt  besonders  die  gut  geschriebenen 
kulturgeschichtlichen  Überblicke  und  die  klare  Behandlung  der  verfassungs- 
geschichtlichen Entwicklung,  bedauert  aber,  zweifelsohne  in  Übereinstimmung 
mit  zahlreichen  Lesern,  den  Verzicht  auf  jede  quellenkritische  Zutat.  Mir 
erscheint  diese  Entsagung  aus  dem  eigentlichen  Zwecke  des  Verfassers  zu 
folgen;  eher  möchte  ich  meinen,  daß  die  Durchsichtigkeit  der  Darstellung 
unter  der  Masse  des  Stoffs  gelitten  hat.  Auch  die  unter  dem  Titel  »Aus  der 
wel fischen  Vergangenheit«  gesammelten  sechs  Vorträge  1881  bekunden  ge- 
naue Sachkenntnis  und  psychologische  Erwägung;  der  sechste:  »Karl  Wilhelm 
Ferdinand  und  dfe  französische  Revolution«,  bringt  die  überraschende  und 
wenig  gekannte  Tatsache,  daß  diesem  begabten  Feldherrn  von  hervorragen- 
den Staatsmännern  aus  der  Revolutionszeit  die  Führerschaft  des  französischen 
Heeres  angetragen  worden  ist.  Von  gleicher  Heimatsliebe  ist  die  kleine 
Schrift  über  die  verfallene  Burg  Thankwarderode  in  Braunschweig  eingegeben; 
ihr  und  der  durch  sie  angeregten  hochherzigen  Gabe  des  Prinzregenten 
Albrecht  wird  die  schöne  Wiederherstellung  des  stattlichen  Bauwerks  verdankt. 
Drei  andere  Werke  stehen  in  nächster  Beziehung  zu  der  von  ihm  ver- 
walteten Bibliothek,  zuerst  die  zur  Erinnerung  an  G.  E.  Lessing  1870  ver- 
öffentlichten  Briefe    und   Aktenstücke.     Sie    bringen    zunächst  die   wichtigen 


von  Heinemaxm.  c^ 

Entscheidungen  des  Herzogs  in  dem  Streite  über  den  Wolfenbütteler  Frag- 
mentisten,  der  freilich  mit  der  Bibliothek  eigentlich  nichts  zu  tun  hat,  und 
zeigen  in  ihnen  die  milde  Vorsicht  des  herzoglichen  Urteils;  dann  in  der 
zweiten  Hälfte  Briefe  von  Gleim  und  anderen  Zeitgenossen,  die  deren  große 
Verehrung  Lessings  dartun.  Zweitens  die  lichtvolle  Geschichte  der  Herzog- 
lichen Bibliothek  zu  Wolfenbüttel  (2.  Aufl.  1894),  die  nach  den  unvollstän- 
digen Darstellungen  seiner  Vorgänger  Burckhart  und  Schönemaun  den  all- 
mählichen Anwachs  der  Sammlung  berichtet,  wobei  beiläufig,  S.  169,  der 
unzuverlässigen  Schrift  Stahrs  über  Lessing  die  erborgte  Hülle  abgezogen 
wird.  Endlich  sein  Hauptwerk,  dem  er  während  der  letzten  Jahrzehnte  seines 
Lebens  neben  seinen  Dienstgeschäften  alle  seine  Kraft  gewidmet  hat:  der 
große,  fast  ausschließlich  von  ihm  gearbeitete  Katalog  der  Wolfenbütteler 
Handschriften,  der  seit  1881  in  neun  stattlichen,  musterhaft  gedruckten 
Bänden  die  Handschriften  der  Helmstedter  und  der  Augusteischen  Sammlung 
beschreibt.  Die  Beachtung,  die  dieser  seines  Gegenstandes  würdige  Katalog 
w^eit  über  die  deutschen  Grenzen  hinaus  fand,  gewährte  ihm  große  Genugtuung. 
»Von  der  Anordnung  und  der  Druckeinrichtung,«  so  liest  man  in  der  Vorrede 
des  vierten  Bandes,  »wie  sie  für  die  bisherigen  Bände  dieses  Katalogs  maß- 
gebend gewesen  sind,  abzuweichen,  habe  ich  keine  Veranlassung  gehabt  und 
dieses  um  so  weniger,  als  man  sie  anderwärts,  z.  B.  in  Kopenhagen,  zum 
Vorbilde  genommen  hat.«  Meine  Darstellung  dieser*  wissenschaftlichen 
Werke  stützt  sich  auf  die  Mitteilungen  eines  fachkundigen  und  nächstberufe- 
nen Historikers,  dessen  Urteile  sich  das  meine,  so  weit  mir  ein  solches  zu- 
steht, durchaus  anschließt.  Sie  alle,  zu  denen  sich  neben  zahlreichen  Bei- 
trägen für  Zeitschriften  schließlich  auch  seine  obengenannte,  nur  für  seine 
Angehörigen  und  Freunde  bestimmte  Selbstbiographie  gesellt,  zeugen  von 
warmer  Heimatsliebe  und  einem  bei  aller  Klarheit  billigen  Urteil,  das  seinen 
Schmerz  über  manchen  Vorgang  eher  verbirgt  als  betont.  Die  Sprache  in 
ihnen  ist  fließend  und  gefällig,  eher  gemächlich  als  knapp  und  läßt  überall 
seine  gemütvolle  Teilnahme  an  dem  Gegenstande  erkennen. 

Diese  Sammlung  seines  tiefen  Gemüts  spiegelt  sich  auch  in  seinem 
Verhalten  zu  den  gewaltigen  Vorgängen  seiner  Zeit  wieder.  Ein  treuer  Sohn 
des  großen  Vaterlandes  und  mit  warmem  Verlangen  nach  der  deutscl>en 
Einigung,  konnte  er  sich  doch  mit  den  Mitteln,  durch  die  sie  erreicht  wurde, 
nicht  durchweg  befreunden  (vgl.  den  Schluß  seiner  Geschichte  Braunschweigs). 
Namentlich  vertrug  sich  die  Einverleibung  ganzer  Staaten  und  die  Entsetzung 
ihrer  Fürstenhäuser  durch  Preußen  nicht  mit  der  konservativen  Grund- 
anschauung, die  aus  seinen  geschichtlichen  Studien,  seinen  Lebenserfahrungen, 
wohl  auch  aus  seiner  niedersächsischen  Stammesart  erwachsen  war.  Aber  er 
erkannte  die  unvergleichliche  Staatskunst,  welche  jene  Umwälzungen  herbei- 
geführt und  bemeistert  hatte,  ohne  Rückhalt  an;  er  verehrte  unsem  alten 
Kaiser  persönlich,  und  er  wankte  in  seiner  Treue  selbst  in  seinen  Gedanken 
keinen  Augenblick,  als  ausländischer  Frevelmut  1870  Deutschland  zu  den 
Waffen  rief.  Ohne  Versuchung,  gegen  die  1866  geschaffenen  Zustände  mit 
der  Feder  oder  Rede  einzugreifen,  trat  er  in  sie  als  stiller,  aber  gewissen- 
hafter Mitarbeiter  ein,  zumal  er  für  sein  Land  und  seine  geliebte  Bibliothek 
ohne  Sorge  sein  durfte,  und  trug  alles  für  sein  Empfinden  Schwere  mit  der- 
selben Fassung,  wie  die  großen  Leiden,  die  über  sein  häusliches  Leben  ver- 


c()  von  Heinemann.     Asmussen. 

hängt  wurden.  Seine  überaus  geliebte  Frau  verlor  er  nach  langjähriger, 
schmerzhafter  Krankheit;  mit  ihr  hat  er  den  Tod  einer  Tochter  und  zweier 
Söhne  erfahren  müssen,  alle  reich  begabt  und  liebenswürdig,  der  zweite 
Sohn  gleich  ihm  Historiker  und  anerkannter  Universitätslehrer.  Tief  ergreifend 
ist,  wie  sich  der  Vater  an  das  Gebet  der  Niobe  erinnert  Unam  minitnomqu^ 
relinque,  und  der  Christ  sich  dem  Willen  des  barmherzigen  Gottes  unterwirft 
(Aus  verg.  T.  S.  389  ff.),  und  wie  in  dem  Glück  seiner  jüngsten  Tochter, 
des  einzig  ihm  gebliebenen  Kindes,  und  im  Anschauen  seiner  aufblühenden 
Enkel  seine  Tragekraft  wieder  erstarkt.  Denn  er  war  aufrichtiger  und  schlichter 
Christ,  der  weit  entfernt  von  pietistischer  Rührseli'gkeit  in  seinem  Glauben 
den  Antrieb  und  die  Wurzel  neuen  Handelns  für  sich  und  seinen  Nächsten 
b&saß.  So  fand  er  neben  seinen  umfangreichen  amtlichen  und  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  immer  noch  Zeit  und  Neigung,  sei  es  dem  Staate  als  Lehrer 
an  dem  Colkgium  Carolinum  wie  als  Mitglied  der  staatlichen  Prüfungs- 
behörde, seinen  Mitbürgern  durch  anregende  Vorträge,  ja  selbst  einer  in 
Blüte  stehenden  höheren  Töchterschule  durch  langjährigen  Unterricht  zu 
dienen.  Durch  alles  dieses  erhielt  er  sich  den  Mut  in  einer  Zeit,  deren 
bunten  und  bedenklichen  Wechsel  in  Literatur  und  Kunst,  im  wirtschaft- 
lichen und  sittlich-religiösen  Leben  er  (a.  a.  O.  S.  386)  mit  lebhaften,  aber 
treuen  Farben  malt,  als  aufrechter  und  gottvertrauender  Mann,  der  unab- 
wendig seiner  Christenpflicht  zugetan  bleibt. 

O.  V.  Heinemann,  Aus  vergangenen  Tagen.   1902.    —    Milchsack,  O.  v.  Heinemann. 
1 904.  —  P.  Zimmermann,  O.  v.  Heinemann,  im  Braunschweig.  Magazin  1 904,  X.  11. 

Halle  a.  S.  Wilh.  Schrader. 


Asmussen,  Claus  Anton  Christian,  Maler,  *  23.  März  1857  in  IHensburg, 
t  infolge  eines  Unglücksfalles  am  12.  November  1904  in  Hamburg.  —  A.  gehörte 
incht  zu  jenen  Auserwählten,  die  unbekümmert  um  äußere  Sorgen  ganz  ihrer 
Kunst  und  der  Ausbildung  ihres  Talentes  leben  können.  Immer  mußte  er 
zuerst  an  den  Erwerb  denken.  Trotzdem  hat  er  sich  zur  echten  Künstler- 
schaft durchgerungen.  Sein  starkes  Können  bahnte  ihm  den  Weg.  Der  erste 
Schritt  zum  Ziel  war  seine  Aufnahme  in  die  Hamburger  Gewerbeschule  gegen 
Ende  der  siebziger  Jahre.  1884  ging  er  nach  München  und  bald  darauf  nach 
Karlsruhe,  wo  er  Meisterschüler  von  Gustav  Schönleber  wurde.  Nach  einem 
vorübergehenden  Aufenthalt  in  Rotenburg  o.  d.  Tauber  kehrte  A.  um  1890 
nach  Hamburg  zurück,  wo  er  nun  allmählich  festen  Boden  gewann  und  in 
weiten  Kreisen  immer  reichere  Anerkennung  fand.  Unter  den  Interieurs,  die 
A.  in  früheren  Jahren  mit  Vorliebe  malte,  verdient  ein  in  Hamburger  Privat- 
besitz befindliches  Bild,  welches  das  Innere  der  Lübecker  Marienkirche  dar- 
stellt, besonders  rühmende  Erwähnung.  Sein  Bestes  aber  hat  er  in  seinen  zahl- 
reichen Landschaftsbildern  gegeben.  Sie  spiegeln  tief  erfaßte  Naturstimmungen 
in  so  reiner  Schönheit  und  Wahrheit  wieder,  daß  niemand  sich  ihrem  Zauber 
zu  entziehen  vermag.  Ein  warmherziger  Künstler,  dem  es  heiliger  Ernst  war 
um  seine  Kunst,  ist  mit  A.  dahingegangen.  Das  bezeugte  auch  die  Aus- 
stellung seines  künstlerischen  Nachlasses,  die  seine  Freunde  und  Verehrer 
bald  nach  seinem  Tode  in  Hamburg  veranstalteten. 


Asmussen.     Seegen.  c  7 

Vgl.  >Hainb.  Correspondent«,  Morg.-Ausg.  v.  25.,  Ab.- Ausg.  v.  30.  Dezember  1904.  — 
Nachlafi-Ausstellung  des  Hamburger  Malers  Anton  Asmussen.  Kunstsäle  L.  Bock  &  Sohn, 
Hamburg,  Februar — März  1905.  (Der  Katalog  umfaßt  86  Nummern  und  enthält  auch  ein 
Bildnis  A.s.)  Job.  Sass. 

Seegen,  Josef,  Universitätsprofessor  der  Balneologie,  *  20.  Mai  1822  zu 
Polna  in  Böhmen,  f  i4-  Januar  1904  in  Wien.  —  Sohn  eines  angesehenen 
Kaufmannes,  der  später  in  mißliche  Verhältnisse  geriet,  war  S.  gezwungen, 
frühzeitig  das  Elternhaus  zu  verlassen  und  sich  durch  Unterricht  in  kümmer- 
licher Weise  zu  erhalten.  Das  Gymnasium  und  die  ersten  Jahre  des  medi- 
zinischen Studiums  absolvierte  S.  in  Prag,  dann  ging  er  nach  Wien;  hier 
wurde  er  1847  promoviert  und  blieb  darauf  zur  Fortsetzung  seiner  Studien  im 
Krankenhaus.  Doch  nicht  lange:  an  der  Bewegung  des  Jahres  1848  nahm 
er  lebhaften  Anteil;  mit  besonderem  Eifer  war  er  für  Aufklärung  des  Volkes 
über  politische  Dinge  tätig.  Er  war  Mitbegründer  einer  Volksbibliothek,  für 
die  der  Unterrichtsminister,  dessen  Interesse  für  die  Sache  gewonnen  wurde, 
das  alte  Liguorianer-Kloster  bei  »Maria  Stiegen«  überließ.  In  Gemeinschaft 
mit  Max  Schlesinger  gab  S.  ein  kleines  »Populäres  Staats-Lexikon  (politisches 
ABC  für's  Volk)«  heraus,  das  bei  Lechner  erschien.  »Das  Volk  muß  lernen, 
was  ihm  fehlt,  es  muß  wissen,  was  es  erlangt  hat,  es  muß  wissen,  was  es  zu 
erhalten  hat,  es  muß  endlich  wissen,  wofür  es  sein  Blut  verspritzen  will, 
wenn  es,  was  Gott  verhüte,  wieder  zum  Kampfe  kommen  sollte«  heißt  es  in 
der  Einleitung.  Das  Werk  beginnt  mit  dem  Artikel  »Constitution«;  da  es 
in  Heften  erschien,  wären  bei  alphabetischer  Reihenfolge  manche  wichtige 
Begriffe  zu  spät  gekommen.  Während  des  Reichstages  in  Kremsier  war  S. 
Berichterstatter  für  ein  politisches  Blatt.  Nach  den  Oktobertagen  sah  er 
sich  genötigt,  Österreich  zu  verlassen ;  aus  Briefen  von  Schlesinger  geht  hervor, 
daß  die  Veranlassung  zur  Flucht  ein  von  S.  abgefeuerter  Schuß  war;  er  ging 
nach  Paris,  wo  er  ungefähr  i'/i  Jahre  blieb,  unter  Entbehrungen  und  harten 
Kämpfen  seine  medizinischen  Studien  am  Hotel Dieu  fortsetzend.  So  schwer  ihm 
auch  diese  Zeit  wurde  —  er  erhielt  sich  durch  Korrespondenzen  für  öster- 
reichische Blätter  —  sie  war  für  ihn  ein  Gewinn.  Er  fand  Anschluß  und  Freund- 
schaft in  den  literarischen  Kreisen,  Beziehungen,  die  sich  in  spätere  Jahre  fort- 
setzten; neben  seiner  Medizin  konnte  er  sich  einem  Studium  hingeben,  das  ihn 
schon  seit  lange  anzog:  dem  der  Geologie,  das  er  in  der  Reale  des  mines  mit 
Eifer  betrieb.  Schon  in  seiner  Doktordissertation  war  diese  Neigung  hervor- 
getreten ;  sie  behandelte  »Die  Mineralquellen  in  geologisch-chemischer  Bezie- 
hung«. Auch  später  spielte  die  Vorliebe  für  Geologie  eine  Rolle  in  S.s  Leben, 
als  es  sich  um  die  Niederlassung  zur  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis  handelte. 
In  Karlsbad  mit  dem  noch  unerfaßten  Wunder  seines  Sprudels,  das  dem 
Geologen  unerschöpfliche  Anregung  gibt,  hoffte  S.,  seinem  Lieblingsstudium 
nicht  ganz  entsagen  zu  müssen.  Doch  kam  es  nach  der  Rückkehr  von 
Paris,  die  um  1850  erfolgte,  nicht  sofort  zur  Niederlassung  als  Badearzt. 
Es  trat  vorher  noch  eine  Wendung  ein,  die  wieder  für  das  spätere  Leben 
S.s  von  Bedeutung  wurde;  er  übernahm  es,  einen  nervenkranken,  jungen 
Mann  auf  seinen  ausgedehnten  Reisen  zu  begleiten.  Ein  langer  Aufenthalt 
in  Rom,  Fahrten  durch  ganz  Italien,  Südfrankreich,  England  und  Deutsch- 
land brachten  dem  lebhaften,  für  alles  Schöne  empfänglichen  Geiste  S.s  die 


58  Seegen. 

mannigfaltigste  Anregung;  aus  dieser  Zeit  stammte  wohl  sein  mit  feinem 
Verständnis  verbundenes,  geradezu  leidenschaftliches  Interesse  für  bildende 
Kunst,  das  sich  sowie  die  innigste  Freude  an  der  Musik,  vor  allem  am 
Gesang,  durch  sein  ganzes  Leben  wach  erhielt  und  ihm  eine  Fülle  des  Ge- 
nusses brachte.  Im  Jahre  1853  begann  S.  die  ärztliche  Tätigkeit  in  Karlsbad, 
die  er  mehr  als  30  Jahre  fortsetzte.  Schon  1854  habilitierte  er  sich  an  der 
Universität  Wien  mit  einer  Schrift  über  die  naturwissenschaftliche  Bedeutung 
der  Thermen.  Allmählich  trat  dann  ein  Umschwung  in  der  Richtung  seiner 
Studien  ein.  Zunächst  blieben  sie  dem  speziellen  Gebiete  der  Balneologie 
gewidmet;  ihr  Ergebnis  war  ein  im  Jahre  1857  erschienenes  Kompendium 
der  Heilquellenlehre,  deren  zweite  Auflage  unter  dem  Namen  »Lehrbuch  der 
allgemeinen  und  speziellen  Heilquellenlehre«  1862  erschien.  Bald  aber  ge- 
wann das  Interesse  an  klinischen  Beobachtungen  die  Oberhand  und  leitete 
später  zu  allgemein  physiologischen  Fragen  hinüber. 

Die  Art  der  Krankheitsfälle,  die  in  Karlsbad  zusammenströmen,  die 
Wirkung  der  Thermen  auf  den  kranken  Organismus  mußten  die  Gedanken 
des  forschenden  Arztes  auf  die  Probleme  des  Stoffumsatzes  im  Gesunden 
und  Kranken  lenken.  So  kam  es,  daß  S.  nach  beendigter  Sommerpraxis 
das  physiologische  Institut  von  Karl  Ludwig,  das  chemische  Laboratorium 
von  F.  Schneider  aufsuchte,  um  experimentell  zu  arbeiten.  Erst  waren  es 
Stoffwechsel -Versuche  über  die  Wirkung  des  Karlsbader  Wassers  und  des 
Glaubersalzes,  um  die  es  sich  handelte,  dann  aber  griffen  diese  Arbeiten 
weiter  aus  und  wendeten  sich  den  wichtigsten,  aber  auch  den  schwierigsten 
Fragen  der  Stoffwechsellehre  zu,  bei  deren  Studium  oft  erst  neue  Methoden 
geschaffen  werden  mußten.  Eine  Reihe  dieser  Arbeiten  befaßte  sich  mit 
der  physiologischen  Zersetzung  der  Eiweißkörper  und  namentlich  mit  der 
Frage,  ob  der  Stickstoff,  der  bei  dieser  Zerlegung  den  Körper  verläßt,  nur 
in  Form  chemischer  Verbindungen  austritt  oder  ob  ein  Teil  auch  in  gas- 
förmigem Zustand  durch  Haut  und  Lunge  ausgeatmet  wird.  In  Gemein- 
schaft mit  J.  Nowak  verteidigte  S.  die  letztere  Anschauung,  die  von  Petten- 
kofer  und  Voit  auf  Grund  ihrer  Erfahrungen  zurückgewiesen  und  später  von 
Gruber  durch  exakte  Versuche  widerlegt  wurde.  Es  ergab  sich  eine  heftige 
Polemik;  daß  S.  sich  nicht  geschlagen  gab,  seine  Anschauung  aber  noch 
weiterer  Stützen  für  bedürftig  hielt,  zeigt  eine  von  ihm  bei  der  Kaiserl. 
Akademie  der  Wissenschaften  errichtete  Stiftung  für  eine  Arbeit,  die  den  an- 
gestrebten Beweis  erbringen  soll. 

Die  große  Zahl  von  Diabetesfällen,  die  S.  beobachtete,  gab  die  Anregung 
zu  einem  genaueren  Studium  dieser  damals  noch  wenig  erforschten,  das  In- 
teresse der  Physiologen  und  Kliniker  in  gleich  hohem  Grade  erregenden 
rätselhaften  Stoffwechselstörung.  S.  war  wohl  der  erste,  der  sich  eingehend 
mit  diesem  Gegenstand  befaßte,  eine  große  Zahl  von  Beobachtungen  sam- 
melte und  in  einer  Reihe  von  Abhandlungen  mitteilte,  daneben  immer  wieder 
die  Methodik  der  Untersuchung  kritisch  prüfend  und  erweiternd.  Es  ergab 
sich,  daß  der  Reichtum  an  Beobachtungsmaterial  nach  Zusammenfassung  und 
klinischer  Verwertung  verlangte;  so  entstand  das  Buch:  Hex  Diabetes  mellitus^ 
das  in  drei  Auflagen,  1870,  1875  ^"^  ^^93  erschien  und  allgemein  freudige 
Aufnahme  fand. 

Bei    der  Art  S.s,   von    seinen    ärztlichen    Erfahrungen    aus   zu    physiolo- 


Seegen.  cq 

gischen  Gesetzmäßigkeiten,  vom  speziellen  zum  allgemeinen  vorzudringen, 
mußte  die  Beschäftigung  mit  dem  Diabetes  zum  Studium  der  Kohlehydrat- 
ökonomie im  lebenden  Organismus  führen,  zu  Fragen,  die  unter  dem  Ein- 
flüsse Claude  Bernards  schon  früh  rege  geworden  waren,  deren  eingehende 
Bearbeitung  aber  in  eine  spätere  Periode  fiel  und  vom  Beginn  der  achtziger 
Jahre  an  das  Leben  S.s  bis  an  sein  Ende  ausfüllte. 

Inzwischen  hatten  sich  die  äußeren  Verhältnisse  S.s  immer  günstiger 
gestaltet.  Schon  im  Jahre  1859  würde  er  zum  außerordentlichen  Universitäts- 
professor für  Balneologie  ernannt,  wohl  der  erste  Badearzt,  der  je  diese 
Würde  erreichte.  In  Karlsbad  war  er  bald  der  angesehenste  und  unbestritten 
berühmteste  unter  den  Ärzten.  Die  Leidenden,  welche  ihn  in  großer  Zahl 
aufsuchten,  lernten  in  ihrem  Arzt  einen  hochgebildeten,  mit  allen  Gebieten 
der  Kunst  und  der  Literatur  vertrauten,  feinsinnigen  und  liebenswürdigen 
Mann  kennen,  den  mit  Vielen  von  ihnen  bald  nahe  Freundschaft  verband. 
Das  Haus,  das  S.  und  seine  Gattin  führten,  wurde  berühmt  durch  seine 
Gastlichkeit  wie  durch  die  Namen  derer,  die  dort  verkehrten.  Adalbert 
Stifter,  Berth.  Auerbach,  Gervinus,  Sabatier,  Clara  Schumann,  Fanny  Lewald, 
Stahr,  Turgenjew,  Laube,  Lübke,  Tolstoi,  Graf  Harry  Arnim,  Gust.  Richter, 
Lord  Amthill  und  viele  andere  waren  seine  Gäste,  die  immer  wiederkehrten. 
Im  Frühjahr  und  Herbst  unternahm  S.  Reisen  nach  Italien,  der  Schweiz,  an 
die  See  —  Kunst-  und  Naturgenuß  suchend  und  eine  erfrischende  Pause  ein- 
schaltend zwischen  der  anstrengenden  praktischen  Tätigkeit  des  Sommers  und 
der  Vertiefung  in  seine  wissenschaftlichen  Studien.  Die  Wintermonate  boten 
ihm  die  erforderliche  Sammlung  für  diese  Arbeiten,  aber  auch  die  Freude  an 
der  Musik  und  der  Geselligkeit  in  einem  trefflichen  Freundeskreise,  der 
Männer  einschloß  wie  Hasner,  Unger,  Glaser,  Arneth,  Adolf  Beer,  Moritz 
Hartmann  und  den  S.  besonders  nahe  stehenden  Th.  Billroth. 

Im  Jahre  1884  verließ  S.  Karlsbad  gänzlich,  um  sich  uneingeschränkt  der 
Arbeit  zu  widmen.  Diese  hatte  immer  dringlicher  die  Mittel  eines  eigenen 
Laboratoriums  gefordert;  zuerst  in  einem  Räume  der  Universität,  dann  in 
einem  Miethause  richtete  S.  sich  sein  Wiener  Privatlaboratorium  ein;  auch  in 
der  herrlich  gelegenen  Villa  in  Alt-Aussee,  die  S.  nach  dem  Abschluß  seiner 
Praxis  erworben  hatte,  und  in  der  er  dann  den  Sommer  zubrachte,  mußte  ein 
Zimmer  diesem  Zweck  gewidmet  werden. 

Die  Untersuchungen,  welche  S.  am  intensivsten  beschäftigten  und  seine 
eigentliche  Lebensarbeit  ausmachten,  stehen  alle  in  Beziehung  zu  der  Frage 
über  die  Bildung  von  Zucker  im  Tierkörper,  einer  der  wichtigsten  auf  dem 
schwierigen  Gebiete  der  chemischen  Umsetzungen  im  lebenden  Organismus.  Sie 
steht  in  nahem  Zusammenhange  mit  der  weiteren  Frage,  welches  Material  es 
ist,  das  in  den  Muskeln  bei  ihrer  Leistung,  d.  i.  der  Zusammenziehung,  zer- 
setzt wird,  das  ihnen  also  fortwährend  durch  den  Blutstrom  zugeführt  werden 
muß.  S.  vertrat  die  Anschauung,  daß  die  Leber  ununterbrochen  Zucker 
bildet,  daß  dieser  in  großer  Menge  dem  Blute,  welches  die  Leber  durch- 
strömt, mitgeteilt  und  so  zu  den  Muskeln  befördert  wird.  So  einfach  diese 
Lehre  zu  sein  scheint,  so  schwierig  war  der  Weg,  der  zu  ihrer  Festi- 
gung notwendig  war.  Sie  rührt  ursprünglich  von  Claude  Bemard  her,  der 
in  der  Leber  eine  stärkemehlartige  Substanz,  das  Glycogen,  entdeckte,  und 
dieses,  das  leicht  in  Zucker  übergeht,  als  die  Quelle  des  Leberzuckers  ansah. 


6o  Seegen. 

Unter  dem  Einflüsse  der  Arbeiten  Pavys  war  diese  Anschauung  wieder  ver- 
lassen worden;  S.,  anfangs  selbst  ein  Anhänger  Pavys,  durch  eigene  Beob- 
achtungen aber  von  der  Zuckerbildung  in  der  Leber  als  vitaler  Funktion 
überzeugt,  suchte  sie  auf  dem  Wege  des  Tierversuchs  zu  stützen  und  un- 
angreifbar zu  machen.  Dabei  zeigte  sich  die  Unhaltbarkeit  der  Bernardschen 
Lehre  von  der  Rolle  des  Glycogens  bei  der  physiologischen  Zuckerbildung 
und  S.  stellte  die  neuen  Sätze  auf:  »i.  Das  Material  für  die  Zuckerbildung 
sind  die  mit  der  Nahrung  eingeführten  Eiweißkörper  und  Fette;  2.  der  in 
der  Leber  gebildete  Zucker  bildet  die  ausschließliche  Quelle  für  die  Lei- 
stungen des  Tierkörpers,  für  mechanische  Arbeit  und  Wärmebildung.«  Der 
Begründung  dieser  Lehrsätze  war  die  mühevolle  Arbeit  voller  zwanzig  Jahre 
gewidmet;  mit  bewunderungswürdiger  Ausdauer  immer  neue  Seiten  dem 
Problem  abgewinnend,  unendliche  Schwierigkeiten  überwindend  und  die 
zahlreichen  Einwände  durch  stets  erneute  Versuche  bekämpfend,  bot  S.  noch 
in  seinem  Alter  das  Bild  eines  von  jugendlichem  Eifer  erfüllten,  von  seinem 
hohen  Ziel  begeisterten  Forschers.  In  der  Form  von  Vorlesungen  teilte  er 
die  Ergebnisse  seiner  Studien  zusammenfassend  in  dem  Buche:  »Die  Zucker- 
bildung im  Tierkörper,  ihr  Umfang  und  ihre  Bedeutung«  mit.  Das  AVerk 
erschien  1890  in  erster,  1900  in  zweiter  Auflage.  Ein  kleiner  Teil  der  die 
Zuckerfrage  berührenden  Originalabhandlungen  war  zusammen  mit  früheren 
Publikationen  schon  1887  in  dem  starken  Bande:  »Studien  über  Stoffwechsel 
im  Tierkörper«  abgedruckt;  eine  neue  Zusammenfassung  mit  den  in  verschie- 
denen Archiven  zerstreuten  späteren  Arbeiten  war  daher  erwünscht;  sie  er- 
schien 1904  unter  dem  Titel:  »Gesammelte  Abhandlungen  über  Zuckerbildung 
in  der  Leber«  und  enthält  36  Arbeiten  aus  den  Jahren  1877  — 1903,  von  denen 
die  älteren  (bis  1881)  in  Gemeinschaft  mit  F.  Kratschmer  ausgeführt  sind. 

Die  höchste  Befriedigung  für  den  Forscher:  allgemeine,  unbeschränkte 
Annahme  seiner  Lehren  blieb  S.  versagt;  seine  Arbeiten  sind  wiederholt  be- 
kämpft worden  und  noch  sind  nicht  alle  Zweifel  besiegt.  Physiologische 
Fragen  wie  die  vorliegende  lassen  sich  eben  nicht  immer  mit  derselben  über- 
zeugenden Sicherheit  beantworten,  wie  dies  etwa  bei  physikalischen  oder 
rein  chemischen  Problemen  möglich  ist;  bei  Versuchen  am  Lebenden  wird 
die  Klarheit  der  Ergebnisse  nur  zu  leicht  durch  die  Reaktion  des  Organis- 
mus verschleiert  und  dem  Bedenken,  die  beobachteten  Erscheinungen  könnten 
durch  den  Eingriff  des  Versuches  beeinflußt  sein,  ist  oft  nur  schwer  zu  be- 
gegnen. Die  Arbeiten  S.s  werden  trotzdem  für  die  Frage  der  vitalen  Zucker- 
bildung für  alle  Zeiten  von  der  höchsten  Bedeutung  bleiben  und  auf  diesem 
Gebiete  muß  sein  Name  neben  den  des  großen  Meisters  Bernard  gestellt 
werden.  So  wie  diesem  die  Entdeckung  des  Glykogens,  gelang  S.  noch  in 
den  letzten  Jahren  die  Auffindung  einer  bisher  nicht  bekannten  Substanz  in 
der  Leber,  die  mit  der  Zuckerbildung  in  naher  Beziehung  zu  stehen  scheint. 

Den  1904  erschienenen  gesammelten  Abhandlungen  schickt  S.  eine  Ein- 
leitung voraus,  die  von  allgemeinem  Interesse  ist;  ihr  seien  einzelne  Stellen 
entnommen.  »Als  ich  vor  mehr  als  einem  Jahre  meinen  80.  Geburtstag 
feierte,  schrieb  mir  ein  befreundeter,  hochgeschätzter  Physiologe,  die  Natur 
sei  mir  ein  hohes  Alter  schuldig  gewesen,  damit  ich  die  volle  Würdigung 
meiner  ungewöhnlich  lange  verkannt  gebliebenen  wissenschaftlichen  Errungen- 
schaften erleben  konnte.     Und   ein  französischer  Kollege,    der  auf  dem   Ge- 


Seegen.     von  Holst.  6l 

biete  der  Zuckerbildung  im  Tierkörper  zahlreiche  und  wertvolle  Arbeiten 
ausgeführt  hat,  schrieb  mir,  ich  habe  das  Schicksal  eines  »Vorläufers«  gehabt, 
der  mit  vielen  herrschenden  und  oft  klassischen  Ansichten  in  Konflikt  gerät; 
jetzt  sei  mir  das  Glück  beschieden,  daß  die  Anderen  mir  nachgekommen 
sind  und  das  von  mir  Gelehrte  als  richtig  anerkennen.  Und  so  könnte  ich 
mich  meines  Triumphes  freuen,  wenn  das  alles,  was  liebenswürdige  Freunde 
mir  sagen,  seine  volle  Richtigkeit  hätte.  Aber  dem  ist  nicht  so.  Es  ist  zwar 
eine  mächtige  Wandlung  in  den  Anschauungen  der  Physiologen  eingetreten, 
aber  sie  ist  noch  lange  nicht  so  allgemein,  wie  es  im  Interesse  der  Wahrheit 
zu  wünschen  wäre.«  »Ein  englischer  Schriftsteller  schrieb  einmal:  »M^  Para- 
doxes  of  to-day   are   the  Commonplaces  of  to-morrow^f^ speziell  meine 

Lehre  über  das  Bildungsmaterial  des  Zuckers,  wiewohl  sie  auf  zahlreiche 
Beweise  sich  stützte,  wurde  als  paradox  verschrien.  Und  heute  nimmt  das 
Thema  über  die  Zuckerbildung  aus  Eiweißkörpern  einen  breiten  Raum  in 
den  Forschungen  der  Physiologen  und  Chemiker  ein;  und  die  noch  para- 
doxer erschienene  Lehre,  daß  Zucker  aus  Fett  gebildet  wird,  die  ich  durch 
Versuche,  die  ich  mit  Lebern  anstellte,  zu  erhärten  suchte,  und  die  ihre 
kräftigste  Stütze  in  unbezweifelten  Vorgängen  im  Pflanzenleben  fand,  wird 
in  Bezug  auf  die  Leber  durch  vereinzelte  positive  Versuche  bestätigt,  während 
die  parallelen  Vorgänge  im  Pflanzenleben  nicht  als  Stütze  gelten  gelassen 
werden,  weil,  was  für  die  Pflanzen  zu  Recht  besteht,  nicht  auch  für  den 
Tierkörper  seine  Geltung  haben  könne.  Als  ob  die  organischen  Vorgänge 
nicht  da  und  dort  die  gleichen  wären  und  als  ob  die  chemischen  Bedenken 
nicht  für  den  pflanzlichen  Organismus  ebenso  berechtigt  oder  unberechtigt 
wären,  wie  für  den  Tierkörper.«  »Die  volle  Erkenntnis  meiner  Lehre  ist  auf 
gutem  Wege;  die  Einwürfe  werden  schüchterner  und  viele  Lehrsätze,  die 
von  mir  ihre  Prägung  erhielten,  kursieren  schon  heute  als  gute  Münze.« 

Im  hohen  Alter  von  79  Jahren  erlebte  S.  die  Freude,  zum  korrespon- 
dierenden Mitgliede  der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften  gewählt  zu 
werden  (1901).  Im  Herbst  1903  wollte  er  nach  einem  Aufenthalt  in  Meran 
wieder  an  die  Arbeit  gehen ;  eine  Lungenentzündung  warf  ihn  auf  das  Kranken- 
lager; er  überstand  sie  und  schien  völliger  Genesung  entgegenzugehen,  doch 
seine  Lebenskraft  war  gebrochen;  langsam  versagte  der  Körper  immer  mehr, 
und  noch  erfüllt  von  der  Genugtuung,  sein  eben  vollendetes  letztes  Werk 
selbst  an  die  Freunde  senden  zu  können,  beendete  S.  sein  arbeitsreiches 
Leben. 

Nekrologe:  Wiener  klin.  VVochenschr.  1904  Nr.  4  (Kolisch).  —  Wiener  klin.  Rundschau 
1 904  Nr.  4  (Strasser).  —  Ber.  d.  Kais.  Akad.  d.  Wiss.  über  ihre  W^irksamkeit  und  Verände- 
rungen 28.  Mai  1903  bis  21.  Mai  1904  (S.  Exner).  J.  Mauthner. 

V.  Holst,  Hermann  Eduard,  Universitätsprofessor  der  Geschichte, 
♦  19.  Juni  1841  in  Fellin  in  Livland,  f  20.  Januar  1904  in  Freiburg  i.  B.  — 
V.  H.  war  der  Sohn  eines  baltischen  Pfarrherm  aus  alter  livländischer  Adels- 
familie. Frühzeitig  zeigten  sich  bei  ihm  überaus  rege  geistige  Fähigkeiten, 
aber  auch  die  schwache  Gesundheit,  die  ihn  Zeit  seines  Lebens  hemmen 
sollte.  Er  erhielt  seine  Schulbildung  auf  der  Lateinschule  seiner  Vaterstadt. 
Die  üniversitätsjahre  verlebte  er  in  Dorpat  (1860 — 1863)  und  Heidelberg, 
wo  er  sich  besonders  an  L.  Häußer  anschloß  und  wo  er  1865   promovierte. 


02  ^'^^  Holst. 

Durch  harte  Arbeit  und  Entbehrungen  erschöpft,  hatte  er  1864  seine  Studien 
unterbrechen  und  Heilung  von  einem  schweren  Leiden  in  Algier  suchen 
müssen.  Nach  seiner  Promotion  nahm  er  eine  Hauslehrerstelle  in  einer 
deutschen  Familie  in  Petersburg  an,  reiste  aber  in  jenen  Jahren  viel,  vor 
allem  in  Frankreich  und  Italien  und  zwar  z.  T.  zu  Studienzwecken,  z.  T. 
wegen  seiner  Gesundheit.  Im  Jahre  1867  machte  er  seiner  Stimmung  gegen 
den  russischen  Despotismus  Luft,  indem  er  eine  Broschüre  über  das  Attentat 
veröffentlichte,  welches  am  4./ 16.  April  1866  gegen  das  Leben  des  Zaren 
unternommen  worden  war.  In  dieser  Schrift  wurden  die  russischen  Zustände 
sehr  offen  gegeißelt  und  vor  allem  das  Ministerium  heftig  getadelt.  Sie 
wurde  entscheidend  für  die  zukünftige  Gestaltung  von  v.  H.s  Leben.  Er  geriet 
nämlich  durch  sie  in  die  Gefahr  einer  Versendung  nach  Sibirien,  der  er  sich 
nur  durch  die  Flucht  entzog,  und  nun  wendete  er  seine  Schritte  nach  Ame- 
rika, dem  Lande,  dem  in  Zukunft  der  größte  Teil  seiner  wissenschaftlichen 
Arbeit,  viele  Jahre  praktischer  Tätigkeit  und  sein  halbes  Herz  gehören 
sollten.  Im  Juli  1867  traf  er,  arm,  ohne  Verbindungen,  mit  gebrochener 
Gesundheit  in  New  York  ein.  Die  ersten  Zeiten  seines  amerikanischen 
Aufenthalts  waren  sehr  harte.  -Um  des  Lebensunterhaltes  willen  mußte  er, 
wie  so  viele  Auswanderer,  die  gewöhnlichsten  Arbeiten  verrichten.  Ja,  nicht 
immer  glückte  es  ihm,  solche  zu  erlangen.  Einmal,  als  er  sich  als  Last- 
träger verdingen  wollte,  wurde  er  als  zu  schwach  abgewiesen.  Mit  drei  an- 
deren Tagelöhnern  teilte  er  dann  ein  dürftig  möbliertes  Zimmer.  Er  erzählte 
im  späteren  Leben  ger^i  von  dieser  Zeit,  so  z.  B.,  daß  er  nur  ein  Hemd  be- 
sessen und  deswegen,  so  oft  es  gewaschen  wurde,  im  Bett  bleiben  mußte. 
Eine  Besserung  seiner  äußeren  Verhältnisse  trat  ein,  als  er  zunächst  in  sehr 
bescheidenem  Umfang  Zeitungskorrespondenzen  zu  verfassen  bekam  und  vor 
allem,  als  er  in  einer  Privatschule  in  Höboken  Lehrer  der  neueren  Sprachen 
geworden  war.  Sogleich  nahm  er  nun  seine  historisch-politische  Tätigkeit 
wieder  auf.  Er  begann  an  ein  größeres  Werk  heranzutreten,  das  die  Schand- 
taten des  Absolutismus  ins  rechte  Licht  stellen  sollte.  Es  erschien  indessen 
nur  ein  Teil  davon  unter  dem  Titel  »Federzeichnungen  aus  der  Geschichte 
des  Absolutismus«  (Heidelberg  1868),  in  dem  Ludwig  XIV.  behandelt  wird. 
Es  läßt  sich  bei  der  Lektüre  dieses  Schriftchens  nicht  verkennen,  daß  der 
Haß  des  Balten  gegen  den  Zarismus  es  ihm  damals  noch  erschwert  hat,  ab- 
soluten Monarchien  überhaupt  gerecht  zu  werden.  Nach  dieser  Veröffent- 
lichung trat  übrigens  das  unmittelbare  politische  Urteil  in  seinen  Werken 
mehr  zurück.  Von  r869  an  ging  es  .mit  der  äußeren  Lebenstellung  v.  H.s 
schnell  aufwärts.  Er  wurde  Mit-Herausgeber  von  Schems  Deutsch-Amerika- 
nischem Konversations-Lexikon  und  ein  sehr  angesehener  Zeitungskorre- 
spondent; vor  allem  arbeitete  er  für  die  Kölnische  Zeitung,  daneben  für  den 
JVt7v  Englander  und  die  Nation.  In  jener  Zeit  unternahm  er  auch  die  große 
wissenschaftliche  Arbeit,  welche  sein  Leben  zum  guten  Teile  ausfüllen  sollte. 
Drei  Bremer  Kaufleute  hatten  damals  den  Gedanken  ergriffen,  auf  literarischem 
Wege  einen  richtigeren  Begriff  von  amerikanischem  Leben  und  amerikanischen 
Einrichtungen  in  Deutschland  zu  verbreiten,  als  er  sich  gemeiniglich  fand. 
Sie  dachten  dabei  an  einige  solide  Zeitungs-  oder.  Zeitschriften-Aufsätze. 
Mit  ihrer  Abfassung  sollte  der  bekannte  Deutsch-Amerikaner  Friedrich  Kapp, 
ein  Freund  v.  H.s,  betraut  werden.     Er  lehnte  aber  ab  und  empfahl,  ebenso 


von  Holst 


63 


wie  Heinrich  von  Sybel,  auch  er  ein  Freund  v.  H.s,  letzteren  für  diese  Auf- 
gabe. •An  Stelle  dieser  Aufsätze  aber  entstand  allmählich  v.  H.s  Lebenswerk, 
»Verfassung  und  Demokratie  der  Vereinigten  Staaten«,  welches  leider  Frag- 
ment geblieben  ist.  Mit  deutscher  Gründlichkeit  nämlich  erkannte  v.  H. 
immer  deutlicher,  daß  es  ihm  durchaus  unmöglich  sei,  über  das  Amerika 
der  Gegenwart  bestimmte  Urteile  abzugeben,  ohne  seine  Geschichte  aufs  ge- 
naueste studiert  zu  haben.  Das  aber  führte  ihn  immer  weiter  und  schließlich 
zu  den  außerordentlich  umfassenden  und  gründlichen  Studien,  deren  Früchte 
wir  nun  besitzen.  —  Inzwischen  hatte  sich  v.  H.  auch  am  politischen  Leben 
der  Vereinigten  Staaten  mit  der  ihm  eigenen  Energie  und  Leidenschaftlich- 
keit beteiligt. 

Da,  als  er  gerade  im  Begriff  war,  das  amerikanische  Bürgerrecht  zu  er- 
werben, trat,  etwa  fünf  Jahre  nachdem  er  in  New  York  gelandet  war,  wieder 
eine  bedeutsame  Wendung  in  seiner  Laufbahn  ein:  Im  Jahre  1872  erhielt 
er  ein  Extraordinariat  für  amerikanische  Geschichte  und  Verfassungsgeschichte 
in  Straßburg.  Zwei  Tage,  ehe  er  Amerika  verließ,  vermählte  er  sich  mit 
Miß  Anna  Isabella  Hatt,  der  Tochter  eines  Baptistenpredigers,  und  schuf  so 
die  Grundlage  für  sein  häusliches  Glück,  das  ihm  den  Rest  seines  Lebens 
treu  blieb.  In  Straßburg  verfaßte  v.  H.  den  ersten  Band  seines  Lebenswerks. 
Kurz  nach  seinem  Erscheinen  erhielt  er  einen  Ruf  als  Ordinarius  der  neueren 
Geschichte  nach  Freiburg  i.  B.,  den  er  annahm  (1874).  Hier  gründete  er  sich 
auf  lange  Jahre  ein  Heim.  Freiburg  war  damals  noch  ungefähr  auf  dem  Tief- 
stand seiner  Frequenz  und  zählte  nur  gegen  300  Studenten.  Es  begann  aber 
gerade  damals  das  rapide  Wachstum  dieser  Universität,  welches  v.  H.  während 
seiner  18 jährigen  Wirksamkeit  an  ihr  beobachten  und  befördern  konnte.  In 
Freiburg  entfaltete  er  eine  sehr  fruchtbare  akademische  und  literarische 
Tätigkeit.  Hier  sammelte  er  eine  stets  wachsende  Zahl  von  Zuhörern  um 
sich.  Hier  verfaßte  er,  abgesehen  vom  ersten  Bande,  sein  Lebenswerk. 
1887/88  war  er  Prorektor.  Seit  1881  war  er  Mitglied  der  badischen  ersten 
Kammer,  zuerst  durch  das  Vertrauen  des  Großherzogs  berufen,  seit  1883  als 
Vertreter  der  Universität.  Zeitweilig  war  er  Vizepräsident  dieser  Kammer. 
Die  Pflichten,  die  ihm  als  Kammermitglied  erwuchsen,  nahm  er  außerordent- 
lich ernst.  Mehrfach  kam  es  vor,  daß  er,  entgegen  dem  Rate  des  Arztes, 
sich  von  seinem  Krankenlager  erhob,  um  nach  Karlsruhe  zu  reisen  und  dort 
eine  Kammerrede  zu  halten.  Auch  so  hat  er  rücksichtslos  das  Opfer  seiner 
Gesundheit  gebracht.  Die  Beziehungen  zu  Amerika  aber  wurden  mit  Eifer 
aufrecht  erhalten.  Einerseits  zog  v.  H.  eine  Reihe  amerikanischer  Studenten 
nach  Freiburg,  anderseits  besuchte  er  von  hier  aus  zwei  Mal  die  Vereinigten 
Staaten,  und  zwar  zum  ersten  Male  1878/79,  nachdem  ihm  die  Königl. 
Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin  eine  bedeutende  Summe  für  Studien 
für  sein  großes  Werk  bewilligt  hatte.  Damals  wurde  er  überall  sehr  warm 
aufgenommen  und  erfreuliche  Vergleiche  mit  seiner  ersten  Ankunft  in  Ame- 
rika, elf  Jahre  vorher,  drängten  sich  ihm  auf.  1883  dann  weilte  er  als  gelade- 
ner Gast  in  den  Vereinigten  Staaten,  um  der  Vollendung  der  Northern 
Pacific  Eisenbahn  beizuwohnen.  Bei  beiden  Gelegenheiten  hielt  er  einige 
Vorlesungen  an  amerikanischen  Universitäten  (Johns  Hopkins,  Cornell,  Harvard). 
Lange  Zeit  konnte  er  sich  indessen  nicht  entschließen,  die  Berufungen,  welche 
aus  Amerika  an  ihn  drangen,  anzunehmen.     Zwei  Mal  (1879  ""^  1880)  suchte 


64  vo^  Holst 

die  Johns  Hopkins  Universität  ihn  zu  gewinnen  und  im  Jahre  1881  auch  die 
Clark  Universität  unter  sehr  günstigen  Bedingungen.  In  den  letzten* Jahren 
seiner  Freiburger  Tätigkeit  wandte  er  sein  Interesse  in  noch  verstärktem 
Maße  der  Politik  zu.  1890  kandidierte  er  sogar  in  Freiburg  für  den  Reichs- 
tag, wobei  er  indessen,  wie  er  vorausgesehen  hatte,  gegenüber  dem  Zentrums- 
kandidaten unterlag.  —  Endlich  im  Jahre  1892  gelang  es  einer  amerikani- 
schen Universität,  v.  H.  zu  gewinnen.  Es  war  die  von  Chicago,  die  ihm 
sehr  günstige  Bedingungen  bot.  Nach  langem  Zweifeln  nahm  er  den  Ruf 
an.  In  Chicago  war  er  in  denselben  Richtungen  tätig,  wie  in  der  alten 
Heimat,  nur  daß  wohl  das  Politische  noch  mehr  hervortrat.  Wie  das  in 
Amerika  nicht  anders  zu  erwarten  war,  machte  er  dabei  mit  dem  Verhalten 
anders  gesinnter  Blätter  üble  Erfahrungen.  Er  vertrat,  wie  billig,  besonders 
energisch  die  Aufrechterhaltung  der  staatlichen  Autorität,  so  z.  B.  1895  den 
Arbeiterorganisationen  gegenüber,  denen  er  vor  allem  vorwarf,  daß  sie  das 
positive  Recht  mißachteten  und  also  einen  neuen  Despotismus  einzuführen 
trachteten.  Sodann  ergriff  er  in  eindrucksvoller  Weise  Partei  in  der  aus- 
wärtigen Politik,  als  Gegner  des  Imperialismus.  Er  kämpfte  hier  in  den 
vordersten  Reihen  einen  verlorenen  Kampf.  Gelegenheit  dazu  bot  ihm  die 
Frage  der  Annexion  von  Hawaii.  Ebenso  tadelte  er  heftig  die  venezolanische 
Politik  Clevelands.  Alles  dies  geschah  aus  den  Gedankengängen  eines  Libe- 
ralen der  alten  Schule  heraus.  Unter  allen  Anstrengungen  seiner  amtlichen 
und  der  freiwillig  übernommenen  Tätigkeit  brach  aber  sein  von  Jugend  an 
zarter  Körper  frühzeitig  zusammen.  Schon  1896/97  mußte  er  sich  zum  Zwecke 
der  Erholung  auf  ein  Jahr  beurlauben  lassen.  Allein  er  kehrte  fast  schwächer 
nach  Chicago  zurück,  als  er  es  verlassen  hatte.  In  der  Folge  verließ  er  sein 
Krankenlager  oft  nur,  um  seine  Vorlesungen  zu  halten.  1899  mußte  er  um 
seinen  Abschied  einkommen,  da  an  ein  weiteres  Arbeiten  für  ihn  nicht  zu 
denken  war.  Die  Universität  Chicago  ehrte  ihn  aber  dadurch,  daß  sie  ihn 
zwar  von  seinen  Pflichten  entband,  ihm  aber  den  Abschied  nicht  bewilligte. 
1900  kehrte  v.  H.  nach  Freiburg  zurück.  Seine  dortigen  Freunde  konnten 
aber,  abgesehen  von  gelegentlicher  kurzer  Besserung,  doch  nur  Zeugen  seiner 
mannigfaltigen  und  schmerzhaften  Leiden  und  seines  langsamen  Endes  sein. 
In  Momenten,  in  denen  ihm  seine  Krankheit  einige  Ruhe  ließ,  freilich  zeigte 
er  die  alte  geistige  Frische  und  sein  vielseitiges  Interesse.  Am  20.  Jan.  1904 
erlöste  ihn,  für  die  Angehörigen  fast  unmerklich,  ein  sanfter  Tod  von  seinen 
Leiden. 

V.  H.s  Bedeutung  als  akademischer  Lehrer  beruhte  in  erster  Linie  auf 
seiner  eindrucksvollen  und  feurigen  Beredsamkeit.  Durch  sie  ward  es  ihm 
zuteil,  daß  er,  gerade  auch  in  seinen  großen  Vorlesungen,  Zuhörer  in  so 
außerordentlich  hoher  Zahl  um  sich  versammelte,  wie  es  in  diesen  Zeiten 
des  abnehmenden  historischen  Interesses  selbst  an  größeren  Universitäten  nur 
ganz  wenigen  Fachgenossen  beschieden  war  oder  ist.  Aus  allem,  was  er 
sagte,  sprach  seine  kernige,  etwas  eckige  Persönlichkeit,  welche  in  reizvoller 
Weise  die  Art  des  Balten  mit  ausgeprägter  Eigenart  verband.  Der  Zuhörer 
hatte  vor  allem  den  Eindruck  von  unerschrockener  Wahrheitsliebe  und  großer 
Kampfesfreudigkeit.  >>Der  eine  bedeutende  Eindruck,  den  er  hinterließ,« 
urteilt  sein  Chicagoer  Freund  und  Kollege,  der  Nationalökonom  Laughlin, 
»innerhalb  und  außerhalb  der  Universität,  war  der  einer  großen  moralischen 


von  Holst. 


65 


Kraft.«  —  V.  H.s  Bedeutung  als  Historiker  liegt  hauptsächlich  auf  dem  Gebiete 
der  Geschichte  der  Vereinigten  Staaten.  Ihr  widmete  er,  wie  schon  hervor- 
gehoben wurde,  den  weitaus  größten  Teil  seiner  Arbeitskraft.  Sein  Lebenswerk 
ist  freilich  leider  Fragment  geblieben.  Während  das  Ganze  ursprünglich  drei 
Teile  umfassen  sollte,  hat  v.  H.  nur  einen  Teil  des  ersten  Teils  in  fünf  Bänden 
hinterlassen  unter  dem  Titel:  »Verfassung  und  Demokratie  der  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika«  (1873  bis  1891);  die  letzten  vier  Bände  führen  außer- 
dem den  Untertitel:  »Verfassungsgeschichte  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 
seit  der  Administration  Jacksons  i — 4«.  Die  Erzählung  führt  bis  1860/61, 
d.  h.  bis  zur  Zerreißung  der  Union  vor  dem  Bürgerkrieg.  Das  Werk  behandelt 
hauptsächlich  zwei  Fragen  von  kapitaler  Wichtigkeit  für  die  Vereinigten  Staaten : 
Die  Frage  des  Verhältnisses  der  Einzelstaaten  zur  Union  und  die  Sklavenfrage, 
Seiner  Persönlichkeit  entsprechend,  ergriff  v.  H.  in  beiden  Fragen  energisch 
Partei  und  zwar  aus  den  Ideenkreisen  des  Liberalen,  des  Kämpfers  für  die 
Einheit  und  die  Freiheit  heraus,  also  für  die  zentralistische  Richtung  des  Ver- 
fassungslebens einerseits,  gegen  die  Sklaverei  anderseits.  Nach  dem  Urteil 
amerikanischer  Historiker,  so  z.  B.  seines  Nachfolgers  Jameson,  hat  er  die 
historische  Kraft  und  den  politischen  Wert  des  »einzelstaatlichen«  Standpunktes 
unterschätzt,  und  die  Vorliebe  der  Staatsmänner  des  Südens  für  die  Sklaverei 
überschätzt,  d.  h.  ihre  Handlungen  zu  ausschließlich  aus  diesem  Motive  herge- 
leitet. Das  kann  natürlich  den  hohen  Wert  dieses  bedeutenden  Werkes  nur 
wenig  beeinträchtigen,  das  schon  durch  die  Bezwingung  eines  ungeheuren 
Materials,  z.  B.  auch  die  systematische  Heranziehung  der  sonst  so  oft  ver- 
nachlässigten Zeitungen,  grundlegend  bleiben  wird,  wenn  es  auch,  schon  weil  es 
Fragment  geblieben  ist,  als  abschließend  nicht  bezeichnet  werden  kann.  Wie 
gut  V.  H.  bei  aller  Lebhaftigkeit  des  Empfindens  es  verstand,  auch  dem  Anders- 
denkenden gerecht  zu  werden,  zeigt  seine  Monographie  über  John  C.  Calhoun 
(1882),  den  konsequenten,  ja  leidenschaftlichen  Verteidiger  der  Sklaverei  und 
Anhänger  der  Staatensouveränität,  dessen  geistige  und  sittliche  Bedeutung 
er  durchaus  anerkennt  und  mit  Wärme  schildert,  v.  H.  gehört  als  Historiker 
wie  Sybel,  mit  dem  er  befreundet  war,  durchaus  in  die  Reihe  derjenigen 
Männer,  welche  vom  lebendigen  politischen  Interesse  aus  an  die  Geschichte 
herantreten.  Auch  er  hat  seinen  Stoff  nach  politischen  und  sittlichen  Gesichts- 
punkten verarbeitet.  Daß  mit  einer  derartigen  Richtung  sich  der  ernsteste 
Drang  nach  reiner  Erkenntnis  verbinden  kann,  wenn  er  sich  damit  auch 
nicht  zu  verbinden  braucht,  liegt  auf  der  Hand.  —  Mit  der  Erforschung  der 
Geschichte  der  Vereinigten  Staaten  wird  v.  H.s  Name  dauernd  verknüpft 
bleiben. 

Es  folgt  ein  Verzeichnis  der  nichtigsten  historischen  und  historisch-politischen  Arbeiten 
V.  H.s,  dem  der  Anspruch  auf  Vollständigkeit  aber  ferne  liegt:  Das  Attentat  vom  4.  April 
1866  (16.  April)  in  seiner  Bedeutung  für  die  Kulturgeschichte  Rußlands.  Eine  kultur- 
historisch-politische Studie.  Leipzig  (Petersburg)  1867.  —  Federzeichnungen  aus  der  Ge- 
schichte des  Despotismus  I.  Heidelberg  1868.  —  Verfassung  und  Demokratie  der  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika,  I.  Teil.  Staatensouveränität  und  Sklaverei.  Düsseldorf  1873. 
—  I.  Teil,  2.  Abteilung.  Von  der  Administration  Jacksons  bis  zur  Annexion  von  Texas. 
Berlin  1878.  —  I.  Teil,  3.  Abteilung.  Von  der  Annexion  von  Texas  bis  zum  Kompromiß 
von  1850.  Berlin  1881.  —  I.  Teil,  4.  Abteilung.  Vom  Kompromiß  von  1850  bis  zur 
Wahl  Buchanans.  Berlin  1884.  —  I.  Teil,  5.  Abteilung.  Von  der  Inauguration  Bucha- 
nans  bis  zur  Zerreißung   der  Union.     Berlin  1891.  —  Band  II — V  führen  den  Nebentitel: 

BxogT,  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog'.    9.  Bd.  c 


^5  ^^^  Holst     Tanera. 

Verfassungsg[eschichte  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  seit  der  Administration  Jacksons. 
Band  I — IV.  —  Engl.  Übersetzung  unter  dem  irreführenden  Titel :  Constitutional  and  PolUical 
History  of  ihe  UniUd  StaUs  of  America.  5  Bde.  Chicago  1876  ff.  —  Charles  Sumner,  Preufl. 
Jahrb.  1875.  —  Das  Anckn  Regime  in  Canada.  Ebd.  1876.  —  Zur  Jubelfeier  der  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika.  Ebd.  1876.  —  Toussaint  l'Ouverture.  Ebd.  1877.  — 
John  Brown.  Ebd.  1878.  —  Zur  Geschichte  und  politischen  Bedeutung  des  Bland- 
sehen  Silbergesetres.  Ebd.  1878.  —  John  C.  Calhoun.  Boston  1882.  —  Franz  Lieber. 
PreuÖ.  Jahrb.  1883.  —  Friedrich  Kapp.  Ebd.  1885.  —  Das  Staatsrecht  der  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika.  Freiburg  i.  B.  1885  [in  Marquardsens  Handbuch  des  öff.  Rechts 
(IV,  Halbbd.  I,  Abt.  3)].  —  Was  ist  und  wie  entsteht  Verfassungsrecht  in  den  Ver.  St 
von  Amerika?  Archiv  für  öff.  Recht  1887.  —  Das  Verfassungsrecht  der  Ver.  St  im 
Lichte  des  englischen  Parlamentarismus.  Freib.  Progr.  1887.  —  Über  eine  Reform  des 
Universitätsstudiums  in  »Reden,  gehalten  bei  der  Prorektorats-Übergabec,  Freiburg  1887.  — 
Die  amerikanische  Demokratie  in  Staat  u.  Gesellschaft  Histor.  Zeitschr.  Bd.  64  (1890).  — 
The  French  Revolution  tesied  by  Mirabeaus  career,  m2  leciures  delivered  ai  thc  Lowell  In- 
stitute Boston  Mass,     2  Bde.  Chicago   1894. 

Quellen:  Mitteilungen,  welche  mir  die  Witwe  v.  Holsts  freundlichst  machte,  sowie  hand- 
schriftliches Material,  das  sie  mir  zur  Verfügung  stellte,  darunter  u.  a.  Trauerreden,  gehalten 
am  22.  Jan.  1904  in  Freiburg  von  Herrn  Dekan  Hasenclever  u.  Herrn  Hofrat  Himstedt, 
Dekan  der  philosophischen  Fakultät;  Worte,  gesprochen  am  Sarge  Holsts  auf  dem  Heidel- 
berger Friedhof  am  23.  Jan.  1904  von  Erich  Marcks  in  nachträglicher  Niederschrift  Femer 
zahlreiche  Mitteilungen  von  v.  H.s  Freiburger  Kollegen  und  Freunden.  Rede,  gehalten  in 
der  badischen  ersten  Kammer  am  23.  Januar  1904  von  Herrn  Geh.  Hofrat  Rümelin,  Ver- 
treter der  Universität  Freiburg.  Schliefllich  die  Reden,  welche  bei  der  Überreichung  des 
Porträts  v.  H.s  an  die  Universität  Chicago  am  14.  Oktober  1903  gehalten  wurden;  darunter 
vor  allem  die  des  Historikers  Jameson  (^Professor  v.  Holst  as  Historian*)  und  die  des 
Nationalökonomen  Laughlin  (*Li/e  and  Character  of  Professor  v,  Holst*)^  gedruckt  in  Unv- 
versity  Record  of  the  University  of  Chicago ^  vol,  8,  Ao,  6  (Oktober  1903). 

Adalbert  Wahl. 

Tanera,  Karl,  Königlich  bayerischer  Hauptmann,  Schriftsteller  und  Tou- 
rist, *  9.  Juni  1849  z^  Landshut,  f  5.  Oktober  1904  in  Lindau.  —  T.  besuchte 
die  Gymnasien  zu  Regensburg  und  Speyer,  trat  1866  bei  Ausbruch  des  Krieges 
gegen  den  Wunsch  seiner  Eltern  in  das  königlich  bayerische  Heer,  wurde 
wegen  seiner  Jugend  nicht  in  die  Feldarmee,  sondern  in  Germersheim  ein- 
gereiht, hatte  aber  bei  Ausbruch  des  französischen  Krieges  1870  als  Leutnant 
reichlich  Gelegenheit,  beim  Armeekorps  von  der  Tann  an  19  Schlachten  und 
Gefechten,  bei  Weißenburg,  Wörth,  Spichern,  bei  Beaumont  und  Sedan,  teil- 
zunehmen, wo  er  den  bayerischen  Militärverdienstorden  erhielt.  Bei  Orleans 
und  Coulmiers  kam  T.  als  Ordonnanzoffizier  beim  Brigadestab  tüchtig  ins 
Feuer,  wofür  er  an  seinem  »schwersten  und  schönsten  Tag«  das  eiserne  Kreuz, 
aber  bald  darauf  vor  Paris  einen  schweren  Schuß  in  den  linken  Arm  bekam. 
Leidlich  hergestellt,  war  T.  bei  der  Kapitulation  von  Paris  und  dem  Einzug 
in  die  Stadt,  welche  ihm  so  gut  gefiel,  daß  er  bis  1893  fünfundzwanzigmal 
dieselbe  besuchte.  Mit  ganzer  Seele  Soldat  und  im  Vollgefühl  der  »schönen, 
charakterbildenden  Seite  des  Krieges«  genoß  nun  T.  bei  der  anderthalbjäh- 
rigen Okkupation  in  Sedan  und  Rocroi  die  »fröhliche,  lustige  Leutnantszeit« 
in  vollen  Zügen  mit  dem  sonnenhellen  Sinne  der  Jugend,  welche  er,  ebenso 
wie  seine  Kriegserlebnisse,  in  flüssiger  Weise  und  blühender  Darstellung  schil- 
derte. Sein  »Ernste  und  heitere  Erinnerungen  eines  Ordonnanzoffiziers«  (zu- 
erst 1887  bei  C.  H.  Beck  in  München)  betiteltes  Buch  machte  ungewöhnliches 


Tanenu  ^j 

Glück  und  erlebte  bis  1902  neun  Auflagen  (darunter  auch  eine  von  Ernst 
Zimmer  1895  illustrierte  Edition),  womit  er  seinen  wohlverdienten  Schrift- 
stellerruhm begründete.  Dadurch  erwarb  T.  die  Mittel,  seinem  Drang,  die 
Welt  kennen  zu  lernen,  zu  genügen  und  auf  immer  weiter  ausgedehnten 
Fahrten  und  Reisen  durch  Frankreich,  Italien,  England,  Belgien,  Holland, 
Österreich,  Ungarn,  Polen  und  Nordafrika,  zuletzt  noch  nach  Indien  und 
Japan  und  dann  Rund  um  die  Welt,  seiner  nimmermüden  Feder  neue  Stoffe 
zuzuführen.  Nach  1873  trat  T.  in  württembergische  Dienste,  besuchte  die 
preußische  Kriegsakademie,  worauf  nach  dreijährigem  Aufenthalt  in  Berlin 
1882  eine  Berufung  zur  kriegsgeschichtlichen  Abteilung  des  großen  Greneral- 
stabs  in  der  deutschen  Reichshauptstadt  erfolgte.  Inzwischen  war  T.  zum 
Hauptmann  und  Kompagniechef  befördert  worden,  doch  ließ  er  sich  1887 
zur  Disposition  stellen,  behielt  seinen  Wohnsitz  meistenteils  in  Berlin,  erwarb 
ein  hübsches  Landhaus  an  den  Ufern  des  Stambergersees,  von  wo  aus  T. 
auf  immer  neuen  Reisen  der  stets  wachsenden  Wanderlust  folgte.  In  dieser 
reizenden  Muße  verfaßte  er  nicht  allein  eine  Reihe  kriegsgeschichtlicher 
Arbeiten,  sondern  verbuchte  auch  seine  touristischen  Eindrücke,  sogar  in 
Romanform  und  betätigte  sich  mit  umfangreichen  Beiträgen  zur  »Bildung 
und  Belehrung  der  Jugend.«  So  entstanden  z.  B.  »Der  Roman  eines  Lieute- 
nants« (1889),  »Offizierleben  in  Krieg  und  Frieden«  (1889),  »Die  Kunst- 
schützin«  (1890),  »Aus  dem  Soldatenleben«  (1892),  »Heiteres  und  Ernstes  aus 
Altbaiem«  (1895),  dann  begründete  er  unter  Beihilfe  von  Mitkämpfern  und 
Autoren  (wie  Steinbeck  und  Pressentin)  eine  in  sieben  Abteilungen  und  in 
fünf  Auflagen  vorliegende  Volks-,  Schul-  und  Militär-Bibliothek  (München 
bei  Beck)  und  bearbeitete  in  gleicher  Weise  die  »Kriege  Deutschlands  von 
Fehrbellin  bis  Königgrätz«.')  Andere  Arbeiten  T.s  waren  der  Bericht  über 
»Die  erste  französische  Loire- Armee«  (Berlin  und  Leipzig  1878),  »Die  Schlach- 
ten von  Beaumont  und  Sedan«  (mit  i  Karte,  2.  Aufl.  1888),  »Weißenburg, 
Wörth,  Spichern«  (mit  4  Karten,  Nördlingen  1888 — 1896  in  5  Auflagen);  »An 
der  Loire  und  Sarthe«  (mit  i  Karte,  Nördlingen  1889 — 96  in  4  Auflagen),  das 
Lebensbild  »Von  der  Tann,  ein  deutscher  Held«  (Regensburg  1896,  im  Auf- 
trage des  Komitees  für  die  »Errichtung  eines  General  Ludwig  v.  d.  Tann- 
Denkmals«  zu  Tann  im  Rhöngebirge).  In  rein  belletristischer  Weise  betätigte 
sich  T.  mit  den  »Manöverskizzen  aus  dem  friedlichen  Krieg«  (2.  Aufl.  1891) 
und  mit  dem  im  französischen  Kriege  spielenden  Roman  »Schwere  Kämpfe« 
(Hof.  1897).  Dann  löste  er  die  von  Hirths  »Jugend«  gestellte  seltsame  Preis- 
aufgabe, die  »Geschichte  des  Krieges  1870 — 71«  in  achtzehnhundert  und 
siebenzig  Worten  zu  schreiben  (abgedruckt  1896  in  Nr.  3  der  genannten 
illustrierten  Zeitschrift).     Schließlich    ging  T.    auch    noch    auf    das    ohnehin 

schon   sehr  üppig   bebaute  Gebiet    der   belehrenden  Leseliteratur    »Für   die 
* 

')  Eine  vaterländische  Bibliothek  für  das  deutsche  Volk  und  Heer  (München  bei  Beck) 
I:  Deutschlands  Mißhandlung  durch  Ludwig  XIV.  (1672 — 17 14,  mit  3  Karten  und  3  Schlacht- 
plänen 1871).  II.  III:  Die  Kriege  Friedrichs  des  Großen,  i.  Erster  und  zweiter  schlesi- 
,scher  Krieg.  2.  Der  siebenjährige  Krieg.  IV.  V:  Die  Revolution  und  napoleonischen 
Kriege,  i.  Von  Valmy  bis  Austerlitz  (1792 — 1803).  2.  Von  Jena  bis  Moskau  (1806  bis 
181 2).  1893.  VI.  VII:  Die  Befreiungskriege,  i.  18 13  (mit  2  Karten).  2.  18 14  und  181 5 
(mit  I  Karte).  1893.  VIII.  IX:  Die  deutschen  Einigungskriege.  i.  Schleswig-Holstein 
meerimischlungen  (1848 — 64)  mit  2  Karten.     2.  Der  Krieg  von  1866  (mit  2  Karten).    1894, 

5* 


58  Tanera. 

reifere  Jugend«  über  und-  verfaßte  eine  ganze  Bibliothek  dickbändiger  Erzäh- 
lungen, deren  Tendenz  gewiß  wohlwollend,  die  Ausführung  aber  eine  zu  red- 
selige und  breite  wurde,  so  daß  der  Verfasser  in  den  naheliegenden  Verdacht 
der  geschäftsmäßigen  Vielschreiberei   geriet.     Dazu   gehören  z.  B.  »Hans  von 
Dornen,   des  Kronprinzen  Kadett«,   »Raupenhelm  und  Pickelhaube«,  »Heinz, 
der   Brasilianer«,    »Deutschlands    Kämpfe    in    Ostasien»,    »Rastlos   vorwärts« 
(Erlebnisse  eines  jungen  Luftschiffers  in  Europa  und  Amerika),    »Nser-ben- 
Abdallah,    der   Araberfritz,    Erlebnisse    eines    deutschen    Knaben    unter    den 
Arabern«,   »Kismet  Kurt  Röders,  Erlebnisse  eines  jungen  deutschen   Malers 
in  Ägypten,  Palästina  und  Syrien«  —  alle  mit  Karten  und  Illustrationen  aus- 
gestattet »I«  ustsm  Delphini^.     Während  T.  in  bester  Absicht  seine  Autopsie 
zur  Belehrung  junger  Leser  zu  verwerten,  dort  mehr  oder  minder  in  die  Fuß- 
stapfen von  Jules  Veme  und  Karl  May  trat  und  mit  unerhörten  Ereignissen 
die  hungernde  Neugierde  fütterte,   sammelte  er  in    den  vornehm,    mit  geist- 
reichen  Croquis  von  Damenhand  (Henny  Deppermann)  ausgestatteten  Reise- 
skizzen »Aus  drei  Weltteilen«   (Berlin  1898,  Verlag  des  Allgemeinen  Vereins 
für  Deutsche  Literatur)  eine  bunt  zusammengewürfelte,  ansprechende,  oft  sehr 
anmutende  Reihe  von   Tagebuchblättern,    Eindrücken    (auch   in   gebundener 
Form)  aus  seinen  auf  Streifzügen  in  Europa,  Asien  und  Afrika   eingeheimsten 
Erfahrungen,  denn  »Reisen  erquickt,  macht  gesund,  lehrt  und  erzieht«.    Sprung- 
haft geht  es  die  Kreuz  und  Quer  vom  Kochel-  und  Walchensee  zur  Via  maloy 
in   den  Schloßpark  von  Berg,   zur  Walhalla  (wo    der   treffliche  Freiherr  von 
Warsberg  einmal,   unvorsichtig  eingeschlossen,  unfreiwillig  eine  Sommernacht 
verbrachte),')  vom  Nordkap  nach  Abbazia,  auf  die  Akropolis  von  Athen,  nach 
Amalfi  und  in  die  Certosa  bei  Florenz  (wo  T.  einen  alten  Garibaldianer  als 
Mönch  gefunden  haben  will,   also   ganz  ähnlich,  wie  Adolf  Pichler  in  seiner 
herrlichen    in  Pistoja    spielenden  Epe   ^^Fra  Seraficoo^    1879    berichtet),    nach 
Verona  und  die  einzige  *Fmzza  derbe*     —  deren  Zauber  Adolf  Menzel  und 
der  leider  schon  am  24.  Dezember  1904  verstorbene  Gustav  Bauernfeind  mit 
farbiger    Kunst    im    Bilde    festhielt*)    —    über    Venedig    nach    Capri     (wo 
eine    Künstlemovelle    erzählt  wird)    nach    den   »Schätzen    des  Sultans«:    ein 
reichliches  ^Pele-nule^  für  literarische  Feinschmecker.     Dann  wendet  er  sich 
nach  Algier,  das  T.  neunmal  besucht  haben  will:  er  schildert  die  französische 
Saharabahn,   welche  der  Schlachtenmaler  Theodor  Horschelt  freilich  nimmer 
erlebte;  wie  dieser  besuchte  auch  T.   die  Oase  el  Kantara  und  den  tiFum-es- 
Sahara«  (den  »Mund  der  Wüste«,  wo  Ludwig  Schneller 3)  eine  so  denkwürdige 
Begegnung  erlebte),    das  farbige  Tunis  und  das   Museum  Alaoni  im  Bardo^ 
das    Felsennest    Constantine,    den    Jardin  d'Essai   mit    seinen    erquicklichen 
Brunnen  und  schönen  Frauen ;  darauf  folgt  ein  Wettrennen  von  Eseln,  Negern, 
Kamelen  und  Pferden  in  Luxor  und   ein   poetisch  angehauchter  »Abend  bei 
Assuan«    am    ersten  Nilkatarakt.      In  »Asien«    berichtet  T.  vom  Auszug  der 
Mekka-Karawane  aus  Damaskus,    besuchte  Baalbek,    verlebte    einen  Morgen 


»)  Vgl.   Alex.    Frhr.  v.  VVarsberg   (*  30.  März  1836,   f  28.  Mai  1889),   Nachgelassene 
Schriften,  Wien  1892  und  »Allgemeine  Deutsche  Biographie«,   1896,  41,   182  ff. 
*)  ^^&1'  dessen  Nekrolog  in  diesem  Jahrgang. 
3)  Vgl.  das  lehrreiche  Buch  »Bis  zur  Sahara«  von  Ludwig  Schneller  (Leipzig  1905)» 

S.  52  ff. 


Tanenu 


69 


»Am  Fuße  des  Hermon«  und  besichtigte  das  neuerdings  zur  kunsthistorischen 
Kenntnis  gebrachte  Pergamon.  Dann  folgen  die  zuerst  in  den  »Münchener 
Neuesten  Nachrichten«  publizierten  Reisebriefe  seiner  Fahrt  nach  Indien  usw. 
Gleichsam  als  erweiterte  Fortsetzung  erschien  T.s  »Weltreise«,  abermals  mit 
Illustrationen  der  Henny  Deppermann  (Berlin  1903  im  Allgemeinen  Verein 
für  Deutsche  Literatur).  Diesmal  wurde  Indien  eingehender  und  auf  weiteren 
Wegen  besucht,  auch  China  und  Japan.  In  Tokio  sah  er  den  Einzug  des 
Kaisers,  fuhr  nach  Nikko  und  an  den  Chuzenji-See,  welcher  unseren  Bericht- 
erstatter ganz  an  den  baiwarischen  Walchensee  mit  dem  Urfeld-Gasthaus  und 
den  obligaten  Saiblingen  erinnerte;  in  Yokohama  erlebte  T.  ein  Erdbeben, 
auch  tanzte  er  auf  einem  flotten  Ball.  Die  Ansichten  des  Reisenden  über 
die  Charaktereigenschaften  der  Japaner  —  T.  machte  allerlei,  nicht  immer 
angenehme  Erfahrungen  über  den  Hochmut  und  die  Unwissenheit  der  dorti- 
gen Beamten  —  mögen  sich  seit  1902  wohl  rektifiziert  haben;  dagegen  rühmt 
er  das  Ansehen,  welches  die  deutschen  Kaufleute  in  Asien  genießen.  Die 
Reinlichkeit  und  Tapferkeit  der  Japaner  wird  gelobt  und  ihr  praktischer  Sinn 
und  Fleiß;  Yokohama  war  vor  fünfzig  Jahren  noch  ein  versumpftes  Fischer- 
dorf, nun  eine  blühende  Handelsstadt  mit  200  000  Einwohnern.  Wie  würde 
erst  heute  sein  Urteil  lauten  I  Die  darauf  folgende  Fahrt  nach  Amerika,  über 
den  »stillen  Ozean«,  der  gerade  in  stürmischer  Laune,  den  schroffsten  Gegen- 
satz seines  Namens  bildete,  war  mehr  als  unerquicklich.  In  Kalifornien  wurde 
der  in  der  Heimat  als  Alpinist  wenig  bekannte  T.,  stehend  auf  einer  in  das 
Yosemite-Tal  hinausragenden  1443  Meter  hohen  Steinplatte  auf  dem  schönsten 
Aussichtspunkt  über  den  Gl€u:ier  Point  photographiert;  eine  Kopie  davon  ist 
seinem  Buche  beigegeben.  Daß  er  unter  den  Niagarafällen  eine  Promenade 
machte,  ist  selbstverständlich.  —  Während  ihn  die  landschaftliche  Großartig- 
keit entzückte,  ist  er  weniger  von  den  Amerikanern  erbaut.  Die  Rückreise 
und  Heimkehr  bietet  gerade  nichts  Neues.  T.  sieht  vorwiegend  mit  dem 
Auge  des  Poeten  und  Malers,  des  Naturfreundes  und  Ethnographen  —  bis- 
weilen dilettiert  er  sich  in  die  frühere  historische  Vergangenheit  zurück, 
kommt  aber  über  Hackländer,  Gerstäcker  und  Hesse- Wartegg  nicht  hinaus. 
Damit  war  sein  Programm  erschöpft.  Ein  projektiertes  Buch  über  Italien, 
Spanien,  Portugal,  Norwegen  blieb  er  uns  schuldig,  kaum  zum  Schaden  der 
Leser.  >  Ultra  posse  nemo  obligatur^.  Seine  in  unmittelbarer  Frische  erzählten 
Kriegserlebnisse  hatten  ihm  einen  Namen  gemacht;  von  der  Gegenwart  über 
anderen  Erscheinungen  schon  wieder  vergessen  und  später  vielleicht  wieder 
ausgegraben  zur  wärmeren  Ergänzung  der  lapidaren  Geschichte  gewann  T. 
einen  Namen,  welcher  den  auf  das  touristische  Gebiet  übersiedelnden  Autor 
begleitete;  aber  derselbe  war  hier  ohne  alle  wissenschaftliche  Vorbildung 
ausgezogen,  keines  bestimmten  Faches  Meister  oder  auch  nur  beiläufiger 
Kenner,  nur  als  ritraveller<i  mit  dem  roten  Bädeker,  um  auch  mal  nett  darüber 
plaudern  und  erzählen  zu  können.  Eine  gewisse  Reisemüdigkeit  bemächtigte 
sich  des  immer  zu  weiteren  Radien  ausfliegenden  Wanderers.  Er  war,  ob- 
wohl immer  noch  frisch,  aber  doch  nicht  mehr  neu  genug,  die  Leser  anzu- 
regen und  zu  unterhalten.  Ein  echter  Globetrotter.  Hatte  er  doch,  wie  er 
beinahe  wehmütig  klagt,  alles  gesehen.  T.  »fuhr  oftmals  durch  den  Suez- 
kanal, durchwanderte  Sizilien,  kannte  Genua  von  außen  und  innen,  war 
dutzendmale  in  Neapel,  in  Paris,  Algier,  hatte  die  Alpen  nach  allen  Seiten 


70 


Taneia.     Zettel. 


kennen  gelernt,  den  Atlas,  den  Libanon  und  asiatischen  Olymp,  sah  die  Ge* 
birge  Norwegens  in  fast  allen  Teilen  des  Landes,  dann  1897  die  Himalaya- 
gnippe  vom  Gaurisankar  (Afount  Everest)  über  den  Kanchinjanga  bis  zum 
Donkia  und  Chumalari,  hatte  auf  dem  reizenden,  von  den  Engländern  1835 
gegründeten  Kurort  Darjeeling  Luft  gekneipt,  alle  Menschenschattieningen 
beschaut,  sogar  die  häßlichen  zur  mongolisch-tartarischen  Familie  gehörigen 
Bhutias,  die  aus  Nepal,  Sikkim  und  Tibet  stammenden  Lepchas  und  Limbus, 
arme  Leute,  aber  immer  heiter,  zufrieden  und  fröhlich,  »weil  es  dort  keine 
Tiger  mehr  gibt,  dafür  aber  —  die  wunderbarste  Aussicht«;  erst  wie  ein 
*povero  pittort^^  der  jede  Lira  sechsmal  umdreht  —  und  dann  als  Sybarit, 
»Erstklassiker  in  Bahn,  Schiff  und  Hotel«.  Und  das  alles  dankte  T.,  wie  er 
in  seiner  »Weltreise«  (1903  S.  249)  ruhmredig  verkündet,  einzig  —  »seiner 
Feder».  Und  zwar  ohne  Vaudeville-Lustspiele  oder  Tragödien  geliefert  zu 
haben  —  auch  mit  Nekrologen  befaßte  er  sich  niemals!  Doch  betätigte  er 
sich  auch  journalistisch  und  durch  Wandervorträge,  wozu  er  von  allen  Seiten 
wetteifernde  Einladungen  erhielt,  wie  ehedem  auch  Karl  Stieler.  Er  trug 
dann  unermüdlich  seine  Erzeugnisse  und  Erlebnisse  vor,  immer  in  neuer 
Form,  als  wäre  die  Buchdruckerkunst  noch  nicht  erfunden.  Ein  übrigens  an 
die  Zeit  der  Minstrels  erinnernder  modemer  Modus.  Auf  einer  solchen  Fahrt 
nach  Lindau,  wo  T.  über  seinen  Ritt  durch  die  Mandschurei  »vortragen« 
wollte,  berührte  den  Rastlosen  ein  Schlaganfall,  man  fand  ihn  sprach-  und 
bewußtlos  im  Coup^.  Zu  Lindau  veratmete  er  trotz  aller  ärztlichen  Kunst. 
Feierlichst  und  unter  militärischen  Ehren  und  patriotischen  Deputationen 
wurde  der  Sarg  von  der  Inselstadt  nach  St.  Gallen  zur  Feuerbestattung  ge- 
bracht und,  nach  einer  nicht  unglaublichen  Version,  die  Aschenurne  still  im 
Stambergersee  versenkt!  —  Seine  Ehe  mit  Johanna  Junge  blieb  kinderlos.  Er 
war  eine  schöne,  würdevolle,  selbstbewußte  Erscheinung,  ein  Selfmademan  mit 
dem  ganzen  Aplomb  eines  literarischen  Parvenü.  Er  gab  sich,  gleich  Franz 
Dingeisted t,  im  Bewußtsein  seines  Wertes  mit  huldvollem  Herablassen,  wie 
ein  mediatisierter  Fürst.  Daß  er  am  Stambergersee  unter  seinem  indischen 
Tropenhelm  prunkte,  gehört  zur  Vervollständigung  des  Porträts.  Hatte  denn 
auch  ehedem  Emanuel  Geibel  an  die  übrigen  »Zwanglosen«  das  Ansinnen 
gestellt,  sich  bei  seinem  Eintritt  in  den  Saal  von  ihren  Sitzen  zu  erheben  I 
T.s  letzte  Arbeit  behandelte  den  »Russisch-japanischen  Kampf  um  die  Vor- 
herrschaft im  Osten«  und  zwar  »Das  Vorgehen  der  Japaner  gegen  Port  Arthur 
und  die  Besetzung  von  Korea«  (Lahr  in  Baden  bei  Groß  und  Schauenburg) 
mit  Illustrationen  von  E.  Zimmer  und  dem  Portrait  des  inzwischen  verstor- 
benen Verfassers;  die  Fortsetzung  ist  einer  bemfenen  Feder  anvertraut. 

Hyac.  Holland. 

Zettel,  Karl,  Prof.  Dr.,  Dichter,  *  22.  April  1831  in  München,  f  3^.  De- 
zember 1904  ebendaselbst.  —  Als  der  Sohn  schlichter  Bürgersleute,  welche 
das  Gewerbe  von  Hans  Sachs*  Eltern,  die  bekanntlich  keine  Schuhmacher  waren^ 
ausübten,  kam  Z.  zum  Studium,  absolvierte  Lateinschule  und  Gymnasium  mit 
erster  Note,  trieb  philosophische  Studien  an  der  Universität,  bei  dem  später 
noch  mit  dankbarster  Erinnerung  gefeierten  Ernst  von  Lasaulx,  welcher  ihm 
die  innere  Schönheit  der  Antike  gründlichst  erschloß,  und  verlegte  sich  bei 
Thiersch,   Spengel  und  Prantl   ganz  auf  die   klassische  Philologie,  in   deren 


ZctteL  ^  I 

grammatikalische  Tricks  Z.  seminaristisch  eingedrillt  wurde  —  ein  Verfahren, 
welches  ihm  um  so  weniger  genügte,  als  der  junge  Poet  damals  schon  seine 
Schwingen  zu  erproben  versuchte.  Indeß  bestand  der  angehende,  zeitweise 
auch  sehr  sarkastische  Lyriker,  glückhaft  das  Staatsexamen,  durchkostete,  da 
der  üppige  Vorrat  von  Lehramtsaspiranten  genügend  Zeit  bot,  die  Süßigkeiten 
eines  hofmeisterlichen  Pädagogen,  bis  er  als  Assistent  (1856)  und  Studien- 
lehrer  (1859)  am  Gymnasium  zu  Eichstätt  die  ersehnte  Verwendung  fand. 
Erst  1870  erfolgte  die  lang  gewünschte  Übersiedelung  nach  München,  worauf 
Z.  1871  zum  Professor  für  deutsche  Sprache  und  Literatur  an  das  Real- 
gymnasium nach  Regensbur^  befördert  und  durch  Aufhebung  dieser  Anstalt 
zum  Professor  am  neuen  humanistischen  Gymnasium  daselbst  ernannt  wurde. 
Dort  entwickelte  der  fleißige  und  ehrgeizige  Mann  eine  vielseitige  Tätigkeit, 
bis  ihm  ein  schweres,  chronisches  Leiden  die  erbetene  Pensionierung  1886 
mit  dem  Ausdruck  der  allerhöchsten  Anerkennung  brachte.  Als  Fachschrift- 
steller beschäftigte  sich  Z.  an  den  1864  von  Wolf  gang  Bauer  (f  31.  Dezember 
1880)  begründeten  »Blättern  für  das  bayerische  Gymnasialschulwesen«,  schrieb 
1864  ein  heute  noch  beachtenswertes  Programm  »Über  Pflege  des  mündlichen 
Vortrags«  und  publizierte  über  seinen  Lieblingsschriftsteller  die  Abhandlung 
^QuaesHontim  Theocritearum  spectmtn^t^  (1867),  welche  durch  das  Elaborat  üb  e 
»Theokrits  Humor«  in  dessen  mimischen  und  bukolischen  Dichtungen  (1883) 
eine  Fortsetzung  erhielt,  nachdem  er  schon  1856  mit  einem  Programm  über 
»Hippokrates«  diese  literar-historische  Bahn  betreten  hatte.  Als  gewiegter 
Praktiker  verfaßte  Z.  vielfache  Lehr-  und  Musterbücher,  als  erwünschtes  Hand- 
material für  Schulen,  darunter  ein  in  sechs  Auflagen  (187 1 — 84)  bewährtes 
»Deutsches  Lesebuch«  (1892  umgearbeitet  von  Joh.  Nicklas)  und  die  »Dekla- 
mationsstücke für  Mittelschulen«  (1887  und  1898)  und  bearbeitete  Alexander 
Schöppners  handsame  allgemeine  »Literaturkunde«  (1888  und  1899  in  5.  und 
6.  Aufl.).  Einen  länger  bleibenden  Namen  errang  Z.  durch  seine  lyrischen 
Dichtungen,  welche,  mit  einer  kurzen  Einleitung  von  Hermann  Lingg  ausge- 
stattet, unter  dem  Titel  »Erste  Klänge«  (Eichstätt  und  Stuttgart  1869)  in  die 
Welt  traten  und  seitdem  in  fünf  immer  umgearbeiteten  und  vermehrten  Auf- 
lagen sich  gründlich  Bahn  brachen.  Seine  schwungvolle  Diktion,  die  strenge 
Formgebung  und  Reinheit  des  Reimes  dienen  dem  wirklich  edlen  Inhalt  zur 
glänzenden  Folie.  Z.  hat  sich,  an  Geibel,  Lingg,  Rückert  und  zuletzt  auch 
an  Scheffels  Vorbild  gründlich  geschult,  außerdem  vielfach  als  feinempfinden- 
der Nachdichter  und  Übersetzer  (insbesondere  mit  Jacob  Baldes  kunstreichen  • 
Oden)  sattsam  als  bügelfester  Reiter  seines  Pegasus  bewährt,  auf  welchem  ihm 
der  Aufstieg  nach  höheren  Regionen  immer  gelang.  Weichliche  Sentimentali- 
tät lag  ihm,  wie  seinem  vielfach  geistverwandten  Freunde  Johannes  Schrott 
(vgl.  Biograph.  Jahrbuch  V.,  Jahrg.  1900,  S.  51),  trotz  der  beide  gleich  aus- 
zeichnenden zartesten  Empfindung,  ferne.  Weltschmerz  und  höhnische 
Frivolität  kennt  keiner  von  beiden,  ebenso  wenig  die  aus  dem  Innersten 
jubelnde  Freude.  Das  Minnelied  bringt  bei  Z.  nur  treue,  sehnsüchtige  Er- 
innerung; hier  ist  sein  Repertoire  eng  begrenzt.  Seine  heiligsten  Emp- 
findungen begrub  er  stumm  in  tiefster  Seele.  Dafür  quillt  aus  dem  vollen 
Herzen  ungekünstelt  sein,  das  deutsche  Vaterland  und  die  engere  Heimat 
warm  umschließender,  klar  und  erfrischend  aufsprudelnder  Patriotismus:  Ein 
ganzer,  echter  Mann,  voll  Würde,  Ernst  und  Feuer.    Bei  allen  Trauer-,  Feier- 


72 


Zettel. 


und  Freudentagen  ist  seine  Lyra  immer  wohlgestimmt,  sie  klingt  bei  Ehren- 
festen zum  Ruhme  der  besten  Namen  von  Tondichtem,  Poeten,  Künstlern 
und  Staatsbaumeistem.  Bei  der  dritten  Säkularfeier  der  Würzburger  i^alma 
mater  Julia*'  stellt  er  sich  grüßend  ein  und  bei  dem  vierhundertjährigen  Be- 
stehen der  Ingolstädter-Landshuter- Münchener  Universität  wählte  er  die 
Maske  eines  Scholaren  aus  der  Zeit  der  Gründung  und  imitiert  in  Ton  und 
Sprache  einen  schalkischen  Bursen-Stil.  Alle  diese  Bühnenprologe,  Becher- 
und  Tafelreden,  sind  mit  reichem  Gedankengehalt  schwer  befrachtet:  »Tief- 
sinnig sucht  er  die  Rätselworte  der  Welt  und  Weltgeschichte  auszusprechen, 
die  Göttersagen  des  Nordens  philosophisch  im  modernen  Geiste  zu  deuten, 
gewisse  Erscheinungen  der  Völkergeschichte  von  den  urältesten  Anfängen  der 
Überlieferung  bis  auf  die  jüngsten  Tage,  von  der  Scheidung  der  Noachiden 
in  sprachlich  und  räumlich  getrennte  Stämme,  bis  auf  den  Tod  Livingstones, 
poetisch  auszumalen.  So  regt  in  ihm  auch  die  gesamte  Natur,  wenn  er  sie 
reisend  durchstreift,  ihre  Reize  enthüllt,  mehr  weittragende  Gedanken  als 
gewaltige  Empfindungen  an.«  Aber  auch  heiteren  Stimmungen  wird  Z.  ge- 
recht. Die  »lachenden  Bilder  aus  dem  alten  Hellas«  liegen  ihm  handsam, 
so  daß  die  Muse  des  Humors  mitunter  ihr  Schellenhaupt  klingen  läßt  Von 
den  »Liedern«  sind  vielleicht  die  am  besten  gelungen,  welche  aus  der  An- 
schauung und  Vorstellung  fremder  Völkerschaften  herausgedichtet  sind,  wie 
der  »Japanesenfischersang«,  das  »Russische  Husarenlied«,  der  »Tscherk essen- 
ruf«, und  ähnliche,  wobei  er  sich  mit  Bodenstedt  und  Graf  Schack,  weniger 
mit  Freiligrath  berührt. 

Z.s  kleines  Epos  »Gela,  ein  Sang  von  Kaiser  Rotbarts  Lieb«,  erhielt 
1877 — 1891  vier  Auflagen  (letztere  bei  Greiner  und  Pfeiffer  in  Stuttgart,  mit 
Bildern  von  E.  Klein  in  schöner  typographischer  Ausstattung),  erreicht  zwar 
nicht  den  hinreißenden  Fluß  von  Kinkels  »Otto  der  Schütz«,  ist  aber  in  der 
Originalität  der  Erfindung  seinem  Vorbild  ebenbürtig  an  echter  Düsseldorfer- 
Romantik. 

Eine  andere,  sehr  vielseitige,  freilich  auf  selbsteigenes  Schaffen  verzichtende 
Tätigkeit  entfaltete  Z.  durch  seine  lyrischen  Mustersammlungen  und  Schatz- 
kästchen der  deutschen  Lyrik,  die  er  fortwährend  ergänzend  aus  den  Er- 
zeugnissen und  Schöpfungen  seiner  jüngsten  Zeitgenossen  zusammentrug.  Er 
scheute  keine  Mühen  und  Kosten,  korrespondierte  nach  allen  Seiten,  um  auch 
von  den  neuesten  Poeten  solche  Kleinode  zusammenzubringen.  Diese  Antho- 
logien erfuhren  durch  die  Gunst  des  dankbaren  Publikums  eine  vordem  uner- 
hörte Fülle  von  Auflagen.  Seine  durch  Illustrationen  und  Ausstattung  zu  wahren 
Prachtbänden  gestalteten,  immer  wieder  vermehrten  Bücher  »Edelweiß«  (47.  Aufl.), 
«Ich  denke  Dein«  (43.  Aufl.),  »Frühlingsgrüße«  (44.  Aufl.),  »Haideröslein« 
(30.  Aufl.),  »In  zarte  Frauenhand«  (13.  Aufl.)  drangen  in  tausenden  und  tausen- 
den  von  Exemplaren  in  die  weitesten  Kreise.  Als  poetisches  Gedenkbuch  zur 
Feier  des  siebenhundertjährigen  Jubiläums  des  bayerischen  Herrscherhauses 
publizierte  Z.  mit  seinen  Freunden  das  »Witteisbacher  Album«  (1886),  welchem 
1895  in  gleich  prächtiger  Leistung,  unter  Mitwirkung  von  Felix  Dahn, 
M.  Ehrmann,  Martin  Greif,  J.  Hecher,  Maximilian  Schmidt,  A.  Steinberger, 
Karl  Tanera,  Fr.  Teicher  und  F.  Wilferth  das  von  E.  Zimmer  illustrierte 
»Bayern  —  unser  Panier«  folgte:  Eine  Sammlung  von  Dichtungen,  Erzählungen, 
kulturhistorischen  und  geschichtlichen  Schilderungen.  Während  seines  Regens- 


Zettel. 


73 


burger  Aufenthaltes  hatte  Z.  mit  Franz  Xaver  Seidel  eine  »Literarische  Ver- 
einigung« gegründet,  eine  poetische  Tafelrunde,  aus  deren  Beiträgen  ein  »Aus 
schöner  Zeit«  betiteltes  Gedenkbuch  zur  Feier  des  25.  Stiftungs Jahres  erschien 
(1885),  nachdem  Z.  allerlei  lyrische  Einfälle  und  Humoresken  als  »Lachende 
Bilder«  (187 1)  zur  »Erheiterung  und  Erbauung«  verarbeitet  hatte.     Ähnlichen 
Zwecken    dienten    die  »Monacensia«   (1895,   1897   und   1904  in  3  Bändchen) 
mit   selbsteigenen,    auf   allerlei   Streifzügen   aus  Alt-   und  Jungmünchen    ge- 
sammelten kleinen  historischen  Erinnerungen  und  Erlebnissen.     Es  sind  an- 
ziehende   Stimmungen    und    leichte    Umrisse,    eine    wahre    Blau -Weiß-Aus- 
stellung in  Prosa  und  Versen.     Im  leichten  Bummel  der  Erzählung  berichtet 
Z.   aus  jener  der  Gründung  von   München  vorhergehenden  Urzeit;   wie   die 
Zünfte  durch  ihre  den  Herzögen  geleisteten  treuen  Dienste  allerlei  Privilegien 
und  Bannerrechte  erwarben,  vom  Einzug  Kaiser  Karl  V.  zu  München  (1530), 
über  den  im  XVL  Säculum  florierenden  »Lateinischen  Schulmeister«  Lorenz 
Kastner,  ein  Meer-  und  Weltwunder  seiner  Zeit  an  Gelahrtheit  und  Reimkunst; 
über  die  erste  Aufführung  der  »Emilia  Galotti«  1773  zu  München,  die  alten  Jahr- 
märkte und  »Dulten«  (ein  übrigens  ganz  altdeutsches,  als  dulps  für  Fest  und 
Jahrmarkt  schon  dem  westgotischen  Bibelübersetzer  Ulfilas  geläufiges  Wort), 
über  Künstlerloos  und  Dichterschicksale,  Kamevalstreiben  usw.    Das  letzte  nach 
Z.s  Ableben  edierte  Bändchen  —  in  seiner  Weise  auch  ein  y> Memoire  (Tautre 
tombeo-  —  erzählt  von  den  früheren  Münchener  Hofburgen   und  Residenzen, 
alten    »Kleiderordnungen«,   von  dem  neuerdings  wieder  ausgegrabenen  und 
durch    Professor    Sandberger    zu    verdienten    Ehren    gebrachten    Tonkünstler 
Ludwig  Senffl,  der  am  Hofe  Wilhelm  IV.,   damals  als   ein   »/«  musica  totius 
Germaniae  pHnceps*  galt;   wie  die  alten   ehrsamen  Ratsherren  auf  einmal  gar 
dem  Sport  der  Schlittenfahrten  fröhnten;  von  früheren  Brunnen   und  Bade- 
anstalten,  Lebensmittelfälschung  und   deren  Verpönung;   von  der  »hochnot- 
peinlichen Justiz-Malefiz-  und  Halsgerichtsordnung«,  von  Hexen,  Truden-  und 
Spukgeschichten,   Friedhöfen   und  Begräbnissen,   dann  biographische  Skizzen 
von  neueren  Zeitgenossen,  wie  Franz  von  Kobell,  dem  anziehenden  Ästhetiker 
Ernst  von  Lasaulx,    die  durch  Schwinds  Zeichnungen  in  der  jüngst  edierten 
»Lachner-Rolle«    gefeierte    hellstimmige    Nachtigall  Hetznecker-Mangstl,    die 
Heroine   Clara   Ziegler    und    unzählige   andere,    eine   wahre   Fundgrube   und 
Trödelbude  von  buntscheckig  aneinander  geflickten  Erinnerungen.    Leider  trieb 
Z.  keinen  systematischen  Erzbau,    er  schürfte  sein   kulturhistorisches  Metall 
nicht  aus  den  unterirdischen  Stollen  und  Bergteufen  der  Archive  und  Grund- 
bücher,   sondern    verhämmerte    nur,    was    er    gelegentlich    am    Wege    fand. 
Z.  schreibt  bei  ruhiger  Tagbeleuchtung  der  Sprache,  während  der  viel  besser 
beschlagene,  tieferdringende  Franz  Trautmann  (181 5 — 1887)  in  einem  furcht- 
bar geschraubten,  schwerfällig  gedrechselten,  angeblich  chronikalen  Ton  seine 
geduldigen   Leser    erfreute    und    mißhandelte.     Z.s  weitzerstreute  ästhetische 
Abhandlungen  und  Essais,  z.  B.  über  Walters  von  der  Vogelweide  Frauensang, 
Lenau,  Scheffel,  Eichendorff,  Lingg  usw.   wären  wohl  noch  einer  Sammlung 
wert.     Im    Manuskript    hinterließ   Z.    eine  Kollektion    über   »Das    klassische 
Altertum  im  Spiegel  deutscher  Dichtung«,   also  wohl   das  Material  zu  einer 
neuen  Anthologie. 

Z.  war  kein  bahnbrechender  Dichter,  der  den  Originalstempel  der  Sprache 
wie  Platen,  Rückert   oder  Chamisso  u.  a.  seinen  Erzeugnissen   aufprägt.     Er 


74 


Zettel.     Seidel. 


sang  mit  seiner  verfügbaren  Stimme  laut  und  erkennbar  genug  im  Chor  des 
deutschen  Dichterwaldes;  das  wohllautende  musikalische  Element  seiner  sub- 
jektiven Kunst,  das  Cantabile  seiner  Muse,  veranlafite  manchen  Tondichter, 
seinen  Versen  neue  Schwungkraft  zu  verleihen.  Er  wurde  mehrfach  kompo- 
niert und  lebt  auch  auf  den  bekannten  Flügeln  des  Gesanges  weiter.  Für 
Max  Winkler  (Komponist  und  Musikprofessor,  *  lo.  März  1810  zu  Günzburg 
an  der  Donau;  f  20.  Juni  1884  zu  Rosenheim)  lieferte  Z.  den  Opern text  zur 
»Meister-Probe«.  —  Z.s  prägnanter  Kopf  wurde  mehrfach  gemalt,  auch  gute 
Photographien  überlieferten  uns  seine  treuherzigen  Züge,  die  der  geistreiche 
Bildhauer  Franz  Schneider  in  einer  prachtvoll  und  verständnisinnig  durch- 
gebildeten lebensgroßen  Marmorbüste  auf  der  Münchener  Kunstausstellung 
des  Jahres  1893  verewigte.  König  Ludwig  II.  dekorierte  ihn  1877  mit  der 
Medaille  für  Kunst  und  Wissenschaft,  die  Universität  Tübingen  verlieh  ihm 
i88i  den  Doktorhut,  das  Frankfurter  Freie  Deutsche  Hochstift  erhob  ihn 
zum  Ehrenmitglied.  Sein  70.  Geburtstag  bot  den  zahlreichen  Freunden 
erwünschten  Anlaß  zu  einer  feierlichen  Ovation. 

Vgl.  Franz  Muncker  in  BeUage  117  zur  »Allgemeinen  Zeitung«  28.  April  1886  (Zur 
neuesten  deutschen  Lyrik),  Nr.  187.  Mttnchener  »Neueste  Nacbrichtenc  23.  April  1901  und 
den  Nachruf  ebendaselbst  in  Nr.  156  vom  2.  April  1904.  Franz  Brummer,  Lexikon.  4.  Aufl. 
IV,  410.  Hyac.  Holland. 

Seidel,  August,  Landschaftsmaler,  *  5.  Oktober  1820  zu  München, 
t  2.  September  1904  ebendaselbst.  —  Als  echtes  Münchener  Kind  war  S. 
unter  der  Anregung  seines  älteren  Bruders  Franz  (welcher,  geboren  1818, 
nach  langer  Krankheit  und  trauriger  Verdämmerung  14.  Juni  1903  aus  dem 
Leben  schied)  die  Schönheit  der  altbayerischen  Lande  mit  ihren  Wäldern 
und  Bergen  aufgegangen.  Eigentlich  war  es  der  Zittauer  Albert  Zimmer- 
mann (•  20.  September  1809,  f  18.  Oktober  1888  in  München.  Vgl.  Allgem. 
Deutsche  Biographie  1890,  45,  248 — 251)  mit  seinen  Brüdern  Max  (•  7.  Juli 
181 1  zu  Zittau,  t  30-  Dezember  1878  in  München.  Vgl.  ebendas.)  und 
Richard  (•  2.  März  1820  zu  Zittau,  f  4-  Februar  1875.  Vgl.  ebendas.), 
welche  das  südlich  von  der  Donau  gelegene  und  von  den  nördlichen 
Alpen  begrenzte  Vorland  entdeckten  und  zu  Ehren  brachten  —  längst  vor 
Eduard  Schleich  (1812 — 1874)  und  den  erst  in  neuerer  Zeit  nachfolgenden 
»Dachauern«.  Mit  heiteren,  gleichgestimmten  Genossen  und  Scholaren, 
wovon  noch  heute  der  liebenswürdige  Tiermaler  Ludwig  Foltz  (•  28.  April 
1825  zu  Augsburg)  erzählen  kann,  siedelten  sich  die  »Zimmerleute«,  wie 
damals  die  treu  verbundenen  Brüder  benannt  wurden,  in  den  schön  ge- 
legenen, zu  wahren  Aussichtspunkten  dienenden  Dörfern  von  Eberfing  und 
dem  altehrwürdigen  Fölling  fest,  malten  wetteifernd  nach  der  freien  Natur 
ihre  Studien,  schwelgend  im  hellen  Glast  des  Sonnenlichtes,  in  poetischen 
Stimmungen,  in  der  entzückenden  Harmonie  von  Farbenzauber  und  Schön- 
heit der  in  blauer  Feme  verlaufenden  Bergzügel  Neidlos  untereinander,  einig 
im  begeisterten  Schaffen,  bevölkerten  sie  die  damals  noch  mageren  Säle  des 
kurz  vorher  gegründeten  Münchener  Kunstvereins  und  brachten  ihre  ehrlichen 
Namen  bald  zur  weiteren  Kenntnis  des  übrigen  deutschen  Vaterlandes. 
Manchem  glückte  es  auch,  darüber  hinaus  bekannt  zu  werden,  obwohl  der 
Kunsthandel    noch    als    ein    ziemlich    unmündiges    Kindlein    in    der    Wiege 


Seidel. 


75 


träumte.  Außer  Hochwind,  Wimmer  (nachmals  Humplmayr),  den  Italienern 
Restalino  und  Bolgiano,  wozu  noch  der  Hofjuwelier  Trautmann  gehörte,  be- 
faßte sich  niemand  mit  Bilderhandel;  die  Maler  und  Künstler  galten  über- 
haupt für  »Hungerleider«.  Auch  die  damals  die  öffentliche  Meinung  bear- 
beitenden, sich  vorsichtig  hervorwagenden  Kritiker  in  den  Stuttgarter  und  in 
den  späteren  Berliner  Kunstblättern,  in  der  Augsburger  »Allgemeinen  Zeitung«, 
sogar  auch  in  Lützows  »Zeitschrift«,  begannen  die  Brüder  Seidel  in  warme 
AfEektion  zu  nehmen,  um  so  williger,  als  August  Seidel  auch  gelegentlich 
zur  Feder  griff  und  mit  kollegialer  Freundlichkeit  vielen  wackern  abtretenden 
Zeitgenossen  die  verdiente  Palme  oder  einen  echten  Eichenkranz  auf  den 
frühen  Hügel  legte.  Wie  schüchtern  und  mit  gründlich-sorgfältiger  Erwägung 
man  damals  solch  einen  Nachruf  ausklügelte! 

Vom  Fichtelgebirge  bis  zum  Kochelsee,  von  Gastein  und  dem  Zillertal 
bis  an   das  schwäbische  Meer,  mit  beiläufigen  Abstechern  nach  der  Ostsee 
und  Berlin  oder  dem  Dachauer  Moos,   reichte  August  Seidels  Domäne,   von 
wo  er  seine  Stoffe  einheimste.    Er  liebte  den  mit  goldenen  Strahlen  umsäum- 
ten,   am    frühen    Morgen  von  Wassern  umspielten   jungen  Birkenwald;    den 
zitternden  Sonnenglanz  des  Mittags;  die  schwellende  moosige  Haide  mit  den 
in  weiter  Feme  aufblauenden  Alpen;  den  farbigen  Zauber  des  Herbstes  oder 
hochsommerliche  Gewitterbildung,  mit  schwankenden,  hochbeladenen  Ernte- 
wagen   staffiert.      Er   war   ein    Dichter   in    Stimmungsbildern    wie    Adalbert 
Stifter,  welchen  er  vermutlich  gar  nicht  kannte.     Auch  die  seine  Vaterstadt 
umrahmenden  Isarauen    und    der  Englische  Garten  daselbst  boten  abwechs- 
lungsreiche Ausbeute.     Kurz,  die  »intime  Landschaft«,  die  lange  schon  reich- 
lich in  Bildern    zur  Darstellung   kam,    ehe  dieser  später  erst  entdeckte  und 
seitdem  bis  zum  Überdruß  mißbrauchte  technische  terminus  durch  den  Kunst- 
skribenten A.  Teichlein  (1820 — 1879)  ^^^  "^^^  ^"^  Frankreich  importiert  und 
mundgerecht  wurde.  —  Dann  folgte  aber  nebenbei  für  Seidel   noch  ein  an- 
derer Sport:  Er  reagierte  auf  die  neuere  »belgisch-französische  Schule«   und 
schuf  in  ihrer  clair-obscuren  Methode  landschaftliche  Extemporale  aus  dem 
Abhub  seiner  Palette,  ganz  ä  la  Charles  Francois  Daubigny  und  Jean  Bap- 
tiste  Camille    Corot,    keine    Falsifikate,    sondern    vergnügliche    Herzensnach- 
empfindungen  ihrer  Lucubrationen.     Es  erging  ihm  dabei,  wie  dem  wackem 
Heinrich  Bürkel,  welcher  sich  einst  hinreißen  ließ,  nach  Vorgang  der  Düssel- 
dorfer ein  —  Wüstenbild  aus  der  Sahara  in  feinster,  hinreißender  Stimmung 
zu  konstruieren.     Als  eine  Lordschaft  dasselbe  »i  tout  prix«  erstehen  wollte, 
sagte    der   ehrliche  Maler:    er  sei  nie    über   Italien   hinausgekommen.     Der 
begeisterte    Käufer   verschwand    und    das  Bild    blieb    über   Bürkels   Atelier- 
türe  hängen     Ein    älterer  »Corot«    dieser  Art  von   Seidel   ziert  heute  noch 
meine    kleine    Kollektion,    immer   bewundert   und    der   Besitzer   darob    be- 
neidet.    Eine  andere,  näher  liegende  Seite  S.s  war:  Er  hatte  das  alte  München 
mit  seinen  täglich  mehr  verschwindenden   malerischen  Winkelchen   ins  Herz 
geschlossen.     Wie  ehedem  schon  der  höchst  vielseitige  Johann  Georg  von 
Dillis    (1759 — 1^41»    dessen    hierauf    bezüglicher    Nachlaß    durch    Dr.    Karl 
Trautmanns  Betreiben  glücklich  in  den  Besitz  des  Historischen  Vereins  von 
Oberbayem  gelangte),  und  der  zeitlebens  nie  nach  Verdienst  beachtete  Carl 
August  Lebsch^e  (1800— 1877)  die  früheren  Tore,  Türme  und  Festungswerke, 
das    wimmelnde    Straßengewirr    in     treuer    Erinnerung    festhielten     und    in 


f^5  Seidel.     Schirrmacher. 

ihre  Mappen  bannten,  so  warf  auch  Seidel  sein  Künstlerauge  und  zwar 
bei  aller  Wahrheit  doch  ohne  jede  Vedutenhaftigkeit  auf  die  Physiognomie 
des  früheren  kleinbürgerlichen  Stadtbildes.  Dazu  gehörten  beispielsweise 
die  kleinen,  den  echten  Philister  so  anheimelnden,  jetzt  ganz  verschollenen 
Wirtschaften,  Gastgeber  und  »Herbergen«  (wo  oft  viele  Familien  unter 
einem  Dache  auf  ihrem  eigenen  Grundbesitz  saßen),  die  Tagwerker-  und 
Wäscherinnen  -  Häuschen  in  den  jetzt  ganz  abrasierten  ehemaligen  »Vor- 
städten«, und  die  letzten  jener  erquicklichen  »Bier- Keller«,  wo  die  Halle 
so  schmucklos,  der  Garten  so  schattig  und  der  »Stoff«  noch  so  billig  und 
gut  war,  die  keiner  rauschenden  »Konzerte«  bedurften,  um  ihre  Stamm- 
gäste anzuziehen  und  festzuhalten.  Über  zweihundert  solcher,  jetzt  ganz 
kulturhistorischer  Blätter  zeichnete  Seidel  für  die  umfangreiche  Kollektion 
»Monacensia«  des  Regierungsrates  und  Gutsbesitzers  Philipp  Pfister  (f  4.  No- 
vember 1889),  aus  welcher  Otto  Aufleger  und  Karl  Trautmann  in  ihrem 
quellenmäßigen  Prachtwerk  »Altmünchen  in  Bild  und  Wort«  (1898)  eine  Aus- 
wahl reproduzierten  und  schilderten.  So  schlicht,  gemütvoll  und  so  ganz 
erfüllt  von  Liebe  zu  ihrem  Gegenstande  hat  außer  Karl  Spitzweg  kein  anderer 
derartiges  geschaffen.  Als  Künstler  blieb  S.  bis  in  seine  letzten  Jahre  frisch 
und  tätig;  ein  »ächter  Seidel«  übte  immer  seine  Zugkraft;  auch  fand  er  einen 
stillen  Mäcen,  welcher  immer  noch  neue  Bilder  bestellte,  der  nur  die  ge- 
wünschten Leinwandformate  sendete,  aber  die  Wahl  der  Stoffe  völlig  dem 
Maler  überließ.  Der  Impresario  machte  kein  schlechtes  Geschäft  nach 
Amerika,  der  Lohn  für  den  Maler  war  freilich  bescheiden,  wie  überhaupt 
der  ganze  Mann,  aber  viele  Bächlein  bilden  doch  auch  einen  Fluß.  —  Seine 
Kinder  bereiteten  ihm  nur  Freude.  Eine  hochgebildete  Tochter  schuf  sich 
als  Erzieherin  im  Ausland  eine  geachtete  Stellung,  sein  Sohn  als  Okonomierat 
und  Rentenverwalter  eines  Gutsbesitzers.  —  Bei  S.s  Begräbnis  zeigte  sich,  daß 
der  Künstler  den  jüngeren  Kollegen  in  guter  Erinnerung  stand:  Sie  erwiesen 
ihm  mit  zahlreichem  Geleite  die  letzte  Ehre.  Aus  seinem  Nachlaß  erwarb 
der  Prinzregent  einen  aus  letzter  Zeit  stammenden,  sein  Gespann  kraftvoll 
über  die  harten  Ackerschollen  lenkenden,  in  Farbe  und  Zeichnung  gleich 
vortrefflichen  »Pflüger«.  Wohl  dem  Maler,  der  sich  so  wacker  bewährt  bis 
zum  Ende. 

Vgl.  Nr.  402  »Allgem.  Ztg.«  4.  September  1904.     Fr.  v.  Bötticher  1901,  II.  726. 

Hyac.  Holland. 

Schirrmacher,  Friedrich  Wilhelm,  ordentlicher  Professor  der  Geschichte 
an  der  Universität  Rostock,  *  28.  April  1824  zu  Danzig,  f  'i-  J^^^  ^9^4  zu 
Rostock.  —  Sch.s  Vater  war  in  Danzig  Oberlehrer  an  der  städtischen  Petri- 
schule.  Da  die  Mutter  früh  gestorben  war,  wurde  der  Knabe  bis  zu  seinem 
achten  Jahr  in  Breslau  bei  den  Großeltern  erzogen,  kam  dann  auf  die  Petri- 
schule  und  darauf  auf  das  Gymnasium  seiner  Heimatstadt,  wo  er  1845  ^i^ 
Reifeprüfung  bestand.  Darauf  studierte  er  in  Berlin  vornehmlich  Geschichte. 
Ranke  trat  ihm  dort  von  anfang  an  näher,  und  S.  gehörte  immer  zu  seinen 
ausgewählten  Schülern  und  Freunden.  Außer  Ranke  hörte  er  die  Historiker 
Siegfried  Hirsch,  Adolf  Schmidt,  Gneist  und  Geizer,  sowie  die  Philosophen 
Trendelenburg  und  Werder.  Nach  einem  Jahre  bezog  er  die  Universität 
Bonn    und    war    hier  Schüler  von   Urlichs,    Dahlmann,    Ernst  Moritz  Arndt, 


Schirrmacher. 


n 


Loebell,  Aschbach  und  Weicker.   Nach  zwei  Semestern  kehrte  er  nach  Berlin 
zurück   und  hörte  aufier  den  dort  schon  Genannten  den  Philologen  Boeckh, 
den  Historiker  Köpke  und  den  Geographen  Ritter.     Am  2.  Dezember  1848 
bestand  er  die  Doktorprüfung   und  war  nach  bestandener  Staatsprüfung  von 
Michaelis  1849   ^^^  1854   unter   Direktor  Bonneil  am  Friedrich-Werderschen 
Gymnasium  tätig.     Darauf  wurde    er    an    die  Ritterakademie  Liegnitz  unter 
Direktor  Stechow  berufen   und  von  hier  1866  als  ordentlicher  Professor  der 
Geschichte  an  die  Universität  Rostock.    Hier,  wo  er,  nachdem  er  in  Liegnitz 
Witwer  geworden,   ein  neues  Familienglück  fand,  ist  er  dann  bis  zu  seinem 
Tode  geblieben.     38  Jahre  lang  hat  er  in  Rostock  als  einziger  ordentlicher 
Professor  das  weite  Gebiet  der  CJeschichte  vertreten,  bis  ihm  in  den  letzten 
Jahren  ein  Privatdozent  zur  Seite  trat.   Daneben  war  er  lange  Jahre  hindurch 
der  Reihe  nach  IL,  I.   und  Ober-Bibliothekar  der  Universitätsbibliothek,   ge- 
hörte auch  der  Prüfungskommission  für  das  Lehramt  an  höheren  Schulen  an. 
Er  bekleidete  auch  das  Rektorat  der  Universität.  —  Was  S.s  Publikationen 
anbelangt,    so    lautet    seine   Dissertation:  Commentarii  de  rebus  a  Johanne  rege 
Bohemiae  gesHs.      In   Liegnitz   ließ    er  in   den  Jahren   1859  bis   1865   in  vier 
Bänden  seinen  »Kaiser  Friedrich  IL«  erscheinen,  der  ihm  den  Preis  der  Göt- 
tinger Wedekind-Stiftung  und  den  Ruf  nach  Rostock  verschaffte,  und  begann 
die  Herausgabe  des  Urkundenbuchs  der  Stadt  Liegnitz  und  ihres  Weichbildes 
bis  zum  Jahre  1455,  ein  Werk,   das  er  1866  in  Rostock  beendete.     An  das- 
selbe schließt  sich  an  »Ambrosius  Bitschen,  der  Stadtschreibjer  von  Liegnitz, 
und  der  Liegnitzer  Lehnsstreit«.    In  Rostock  ließ  er  187 1  »Die  letzten  Hohen- 
staufen    (Manfred,    Konrad  IV.,   Konradin)«    und    »Albert  von  Possemünster, 
genannt  der  Böhme«    erscheinen.     1874    faßte    er   »Friedrich  II.«    und   »Die 
letzten  Hohenstaufen«  nochmals  kürzer  zusammen  für  die  »Deutsche  National- 
bibliothek«.    Mit  den  Studien  über  die  Hohenstaufen  hängt  auch  die  Schrift 
»Die  Entstehung  des  Kuriürstenkollegiums«  (1874)  zusammen.     Mit  der  Her- 
ausgabe seiner  »Briefe  und  Akten   zur  Geschichte  des  Religionsgesprächs  zu 
Marburg  1529  und  des  Augsburger  Reichstages   1530«  (1876)  betrat  er  das 
Gebiet    der   Reformationsgeschichte.       Hierher    gehört    auch    sein    mit    auf 
Wunsch  des  Großherzogs  Friedrich  Franz  IL   von   Mecklenburg-Schwerin   ge- 
schriebenes zweibändiges  Werk  »Johann  Albrecht  L,  Herzog  von  Mecklenburg.« 
(1885).    ^^^  mecklenburgischen  Geschichte,  über  die  er  aber  niemals  gelesen 
hat,  dienen  noch  die  in  seinem  historischen  Seminar  entstandenen  »Beiträge 
zur  Geschichte  Mecklenburgs,  vornehmlich  im  13.  und  14.  Jahrhundert«,  die 
er  1872   und  1875   herausgab.     Daneben   aber  hatte  er  sich  spanischen  For- 
schungen zugewendet,   und   so   erschien  1881   der  I.  Band  seiner  Geschichte 
von  Spanien  in  der  Heeren-Ukertschen  Sammlung,    der    mit    dem    12.  Jahr- 
hundert beginnt;  1890  bis  1902  folgten  Band  II  bis  IV,  welche  die  spanische 
Geschichte  bis   15 16  fortführten.      S.   wollte  sein'  Werk  abschließen  mit    der 
Herausgabe  von  Spaniens  Geschichtsquellen  vom  12.  bis  zum  16.  Jahrhundert, 
ist  aber  nicht  mehr  dazu  gekommen.   Ebenso  liegt  es  mit  einer  Untersuchung 
über  den  vielgesuchten  Verfasser  der  Vita  Henrich  IV,  imperatoris,    mit  einer 
Arbeit  über  die  Geschichte  der  Klosterkirche  zum  Heiligen  Kreuz  in  Rostock 
und    mit    den  Aufzeichnungen    seiner  Lebenserinnerungen.     Eine  Reihe  von 
Vorträgen  und  Reden  hat  er  absichtlich  nicht  drucken   lassen,   während  aus 
seiner  Berliner  Lehrerzeit  ein  gedruckter  Vortrag   Ȇber  Bentleys  Predigten 


^g  Schirrmacher.     Kirchhoff.     Wolters  dorf. 

gegen  den  Atheismus«  vorliegt,  den  er  anläßlich  des  Falles  Ladenburg  neu 
herausgeben  wollte.  Endlich  hat  er  in  den  sechziger  Jahren  mehrere  von 
ihm  wesentlich  veränderte  Ausgaben  der  v.  Seydlitzschen  Schulgeographie 
herausgegeben.  —  Mit  S.  ist  einer  der  letzten  Schüler  und  Freunde  Rankes 
dahingegangen,  der  auch  vollständig  an  der  Geschichtsauffassung  seines  ver- 
ehrten Meisters  festhielt.  Bis  in  die  letzte  Zeit  seines  Lebens  hatte  »der 
alte  Schirrmacher«  sich  eine  staunenswerte  Arbeitsfreudigkeit  und  Rüstigkeit 
bewahrt,  was  sich  besonders  an  seinem  80.  Geburtstage  zeigte.  Bald  darauf 
aber  wurde  er  nach  kurzer  Krankheit  hinweggenommen. 

Nach  Mitteilung^en  des  Sohnes  Oberlehrer  Dr.  B.  Schimnacher  in  Hambui^.   Nekrolog 
in  der  Historischen  Vierteljahrsschrift,  Bd.  III  (1904),  A.  Vorberg. 

Kirchhoffy  Gustav,  Jurist  und  Historiker,  *  18.  Juli  1828  in  Grimmen  bei 
Greif swald,  f  4-  April  1904  in  Locarno.  —  Sohn  des  Bürgermeisters  seines 
Geburtsortes  Dr.  Joh.  Heinr.  Wilhelm  Kirchhoff,  besuchte  K.  das  Gymnasium 
und  die  Universität  zu  Greifswald,  wirkte  dann  als  Rechtsanwalt  in  Bergen  a.  R. 
und  in  Greifswald,  erhielt  (1879)  die  Ernennung  zum  Justizrat  und  (1900) 
zum  Geheimen  Justizrat  und  starb  am  4.  April  1904  am  Lago  maggiore,  wo 
er  Heilung  von  seinem  langjährigen  asthmatischen  Leiden  suchte.  Seine 
Tätigkeit  war  in  zweifacher  Weise  von  Bedeutung,  einerseits  auf  praktischem 
Gebiete,  indem  er  als  Rechtsanwalt  und  Mitglied  des  bürgerschaftlichen 
Kollegiums  teils  in  der  Verwaltung,  teils  in  der  Führung  schwieriger  Prozesse 
seine  reichen  juristischen  Kenntnisse  verwertete,  andererseits,  als  Historiker 
und  Kunstfreund,  auf  theoretischem  Gebiete  schriftstellerisch  die  Heimats- 
kunde förderte.  Schon  von  Seinem  wissenschaftlich  und  künstlerisch  gebildeten 
und  gleichfalls  als  Schriftsteller  tätigen  Vater  frühzeitig  für  Literatur,  Musik 
und  die  bildenden  Künste  erwärmt,  bewahrte  er  für  letztere  und  die  histori- 
schen Wissenschaften  nicht  nur  ein  reges  Interesse,  sondern  veröffentlichte 
auf  diesem  Gebiete  auch  mehrere  Schriften:  Greifswalds  erste  Besetzung  durch 
die  Preußen  im  siebenjährigen  Kriege,  1886;  der  Stadtkure  von  Greifswald, 
in  welchen  Schriften  er  zugleich  auch  ausführlich  über  die  Pflege  der  Musik 
in  Greifswald  in  älterer  Zeit  handelte,  und  die  Greifswalder  Wallpromenade. 
Von  besonderer  Bedeutung  ist  sein  Rechtsgutachten  über  die  Erbfolge  der 
Töchter  und  deren  Descendenz  in  den  Tertialgütern,  in  welchem  er  eine 
Darstellung  des  in  den  früher  unter  schwedischer  Herrschaft  stehenden 
Ländern,  d.  h.  in  Pommern  und  den  russischen  Ostseeprovinzen,  geltenden 
und  fast  in  Vergessenheit  geratenen  Tertialrechtes  gab,  welche  den  Gerichten 
als  Hülfsmittel  für  mehrere  wichtige  Prozesse,  betr.  die  Erbfolge  in  ver- 
schiedenen Tertialgütern,  diente.  In  Anerkennung  dieser  für  die  pommersche 
Rechtsgeschichte    besonders    wichtigen    Schrift    erteilte    ihm    die    Juristische 

Fakultät  der  Universität  Greifs wald  die  Doktorwürde. 

»Quellen«:  Greifswalder  Tageblatt,  1904,  Nr.  81,  April  7.  —  »Pommersche  Monats- 
blättere,  Stettin  1904,  Nr.  5,  S.  78.  —  Pyl,  »Entwicklung  der  kirchl.  und  weltl.  Musik  in 
Greifswalds  Vergangenheit«,  Pomm.  Jahrb.,  Greifswald,   1904,  S.  63.     Persönl.  Mitteil. 

Pyl. 

Woltersdorf,  Theodor,  Theologe  und  Kirchenhistoriker,  ♦  am  22.  De- 
zember 1834  in  Berlin,  f  am  3.  Oktober  1904  in  Weimar.  —  Widmete  sich, 
nachdem  er  Anfangs  im  technischen  und  kaufmännischen  Fache  tätig  gewesen 


Woltersdorf.    Evelt 


79 


war,  dem  Studium  der  Theologie,  namentlich  in  Jena  unter  Hases  Leitung. 
Die  edle,  humane  Persönlichkeit  und  die  wissenschaftliche  Richtung  dieses 
hervorragenden  Theologen,  welche,  im  Gegensatze  zu  der  Orthodoxie,  die 
altchristlichen  Dogmen  mit  dem  religiösen  Bewußtsein  der  Gegenwart  zu 
vermitteln  sucht,  behielt  auf  W.s  eigene  theologische  Entwicklung  einen 
dauernden  Einfluß,  dessen  wohltätige  Folgen  bald  darauf  in  der  Führung 
seines  geistlichen  Amtes  zur  Geltung  gelangten.  Denn  ein  reiches  Arbeitsfeld, 
auf  dem  er  die  Erfahrungen  seiner  Studienzeit,  nach  Hases  Vorbilde,  zu 
werten  vermochte,  wurde  ihm  durch  die  Übertragung  des  Archidiakonats  oder 
ersten  Pastorates  an  der  Nikolaikirche  zu  Greifswald  im  Jahre  1866  zuteil, 
welches  er  33  Jahre  bis  zum  Jahre  1899  segensreich  verwaltete.  In  seinen 
Predigten  legte  er  vorzugsweise  Gewicht  auf  die  sittlichen  Anforderungen  des 
Christentums,  während  die  Wärme  des  Gemüts  mehr  in  seinen  zahlreichen 
Standreden  zur  Geltung  kam.  Außer  dieser  praktischen  Tätigkeit  als  Prediger 
und  Seelsorger,  sowie  in  den  Verhandlungen  des  Gemeinde-Kirchenrats  und 
der  Synode,  widmete  er  sich  auch  mit  großem  Eifer  gelehrten  Forschungen,  die 
sich  namentlich  auf  kirchenrechtliche  Verhältnisse  bezogen,  und  veröffentlichte 
als  Früchte  dieser  Studien,  abgesehen  von  zahlreichen  kleineren  Aufsätzen  in 
theologischen  Zeitschriften,  als  selbständige  Arbeiten :  »Das  Preußische  Staats- 
grundgesetz und  die  Kirche,  1873«;  »Die  Rechtsverhältnisse  der  Greifswalder 
Pfarrkirchen  im  Mittelalter,  1888«,  in  welcher  Schrift  er  die  verwickelten 
Patronatsrechte,  welche  der  Universität,  der  Geistlichkeit  und  dem  Rate  der 
Stadt  über  die  Kirchen  zustanden,  nach  den  Urkunden  erläuterte;  endlich 
»Zur  Geschichte  und  Verfassung  der  evangelischen  Landeskirche  in  Preußen, 
189 1«.  In  Anerkennung  dieser  Schriften  verlieh  ihm  die  theologische  Fakultät 
der  Universität  Jena,  mit  deren  Mitgliedern,  u.  a.  mit  Hilgenfeld,  Lipsius  und 
Nippold,  W.  in  reger  Korrespondenz  stand,  die  theologische  Doktorwürde. 
Neben  dieser  gelehrten  literarischen  Tätigkeit  veröffentlichte  er  noch  auf 
einem  anderen  Gebiete  eine  Reihe  von  homiletischen  Schriften,  welche  uns 
einen  Einblick  in  sein  Wirken  als  Seelsorger  gewähren,  d.  h.  zwei  Sammlungen 
von  30  und  25  Grabreden  (1888 — 1900),  welche  durch  ihre  biographischen 
Nachrichten  über  zahlreiche  namhafte  Persönlichkeiten  auch  einen  Beitrag 
zur  Greifswalder  Stadtgeschichte  liefern.  Die  zweite  Sammlung  »Abschieds- 
grüße« benannt,  enthält  auch  W.s  Antritts-  und  Abschiedspredigt  vom  Jahre 
1866  und  1899,  und  ist  der  Nikolai-Gemeinde  beim  Scheiden  aus  seinem 
Amte  gewidmet.  Denn  wiederholte  schwere  Erkrankungen  brachten  ihn  zu 
der  Überzeugung,  daß  er  den  Pflichten  seiner  Stellung  nicht  mehr  gewachsen 
sei.  Er  siedelte  daher  nach  kürzerem  Aufenthalte  in  Arnstadt  nach  Weimar 
über,  wo  ihm  die  schöne  Natur  und  die  geistige  Anregung  eine  wohltuende 
Erholung  gewährten,  doch  nur  zu  bald  wurde  er  durch  eine  schwere  Krank- 
heit, kurz  vor  Vollendung  des  70.  Jahres,  aus  dem  Leben  abgerufen.  Wie 
treu  sein  Gedächtnis  in  Greifswald  bewahrt  worden  ist,  davon  geben  die 
warm  empfundenen  Worte  des  Nachrufes  in  den  Greifswalder  Blättern  Kunde. 
Quellen.  Kürschner,  L.  K.,  Nachruf  im  Greifswalder  Tagebl.  u.  Gr.  Zeit.  1904,  Nr.  235. 
Abschiedsgrüfle  1900,  Vorrede  u.  Porträt.     Fers.  Erinnerung.  Th.  Pyl. 

Evelt,  August  Alexander  Oskar,   höherer  Justizbeamter  und  Politiker, 
•  21.  Januar  1828  in  Dorsten  an  der  Lippe,  f  i'-  Dezember  1904  zu  Hechingen 


So  Evelt.     Kanoldt 

in  Hohenzollem.  —  E.  war  der  Sohn  eines  Kreisgerichtsdirektors,  bestand 
schon  1849  die  erste  juristische  Staatsprüfung  zum  Auskultator,  1851  die 
zweite  zum  Referendar.  1854  zum  Gerichtsassessor  ernannt,  wurde  er  Hilfs- 
richter in  Hechingen,  war  1857 — 1858  Hilfsarbeiter  im  preuflischen  Justiz- 
ministerium, sodann  Staatsanwaltsgehilfe  in  Warendorf  und  wurde  1860  Staats- 
anwalt in  Hechingen,  das  er  bis  zu  seinem  Tode  nicht  wieder  verlassen  sollte. 
Er  wurde  dort  1869  Kreisgerichtsdirektor,  1879  ^^i  ^^^  neuen  Organisation  der 
Cxerichtsbehörden  Landgerichtspräsident,  erhielt  1887  den  Titel  eines  Geheimen 
Oberjustizrats  und  wurde  1900  in  den  Ruhestand  versetzt.  Wegen  seiner 
Verdienste  um  eine  Eisenbahnverbindung  wurde  ihm  schon  1865  von  der 
Stadt  Hechingen  das  Ehrenbürgerrecht  verliehen.  1866  zeichnete  er  sich  bei 
der  württembergischen  Okkupation  Hohenzollems  durch  tapferes  Verhalten 
gegenüber  dem  als  Bundes -Kommissär  auftretenden  Grafen  Leutrum  aus. 
1867 — 1876  vertrat  er  als  Mitglied  der  nationalliberalen  Partei  die  Hohen- 
zoUerischen  Lande  im  Reichstag  und  Landtag.  Ein  Glanztag  in  seinem  Leben 
war  der  19.  Juni  1870,  wo  die  württembergische  Deutsche  Partei  der  Zollem- 
burg  einen  Besuch  machte.  Er  war  ein  Mann  des  praktischen  Wirkens.  Die 
Hohenzollerischen  Lande  wurden  ihm,  dem  Sohn  der  Roten  Erde,  eine  zweite 
Heimat,  und  er  hat  sich  um  diese  letzte  gröflere  Erwerbung  Preußens  nie 
genug  zu  rühmende  Verdienste  erworben.  Er  veranlaßte  im  Jahre  1873  die 
Schaffung  des  Hohenzollerischen  Kommunallandtags,  dessen  Vorsitzender  er 
dann  1874 — 1899  gewesen  ist.  Er  war  ein  Freund  des  Fürsten  Karl  Anton 
von  Hohenzollem,  dessen  Sohn  Fürst  Leopold  an  seinem  Grabe  einen  präch- 
tigen Kranz  niederlegen  ließ. 

Hauptquelle  für  sein  Leben  sind  die  in  Hechingen  erscheinenden  Hohenzollerischen 
Blätter,  die  auch  viele  Artikel  aus  seiner  Feder  enthalten.  —  Nekrolog  (von  A.  Zander)  in 
Nr.  288,  2.  Blatt  der  Hohenzollerischen  Blätter  vom  12.  Dezember  1904.  —  Er  wird  erwähnt 
in  den  >Persönlichen  Erinnerungen  an  den  Fürsten  Bismarck«  von  Hans  Blum.  (Die  dort 
sich  findende  Bemerkung,  daß  Evelt  die  Verwendung  des  Waldmeisters  zur  Bereitung  von 
Bowlen  im  Schwabenlande  eingeführt  habe,  ist  irrig.) 

Hechingen.  Anton  Zander. 

Kanoldt,  Edmund,  Maler,  *  13.  März  1845  ^^  Grofirudestedt  in  Thüringen, 
f  27.  Juni  1904  in  Nauheim.  —  K.s  Vater,  Apotheker  Christian  Kanoldt, 
wünschte,  daß  er  den  Beruf  eines  Buchhändlers  ergreifen  solle,  aber  frühzeitig 
regte  sich  in  dem  für  alles  Schöne  empfänglichen  Gemüte  des  Knaben  die 
Liebe  zur  Kunst.  Die  erste  Anregung  hierzu  erhielt  K.,  als  er  im  Alter  von 
zwölf  Jahren  in  Weimar  die  Kunstausstellung  besuchte,  wo  zwei  Gemälde 
von  Friedrich  Preller  d.  ä.  »Leukothea«  und  »Kalypso«  seine  Begeisterung 
erweckten  und  in  ihm  den  Wunsch  erregten,  Maler  und  Schüler  Prellers 
werden  zu  dürfen.  Vorerst  mußte  er  aber  dem  Wunsche  seines  Vaters  folgend, 
der  von  der  künstlerischen  Laufbahn  nichts  wissen  wollte,  zu  einem  Buch- 
händler in  die  Lehre  gehen.  Endlich  18I54  erlangte  er  die  Erlaubnis  bei  dem 
so  hochverehrten  Meister  Preller  als  Schüler  einzutreten,  bei  dem  er  auch 
wohnte  und  wegen  seines  liebenswürdigen  W^esens  bald  wie  ein  Mitglied  der 
Familie  betrachtet  wurde.  Vier  und  ein  halbes  Jahr  verbrachte  K.  in  Weimar, 
und  daß  er  seine  Zeit  hier  gründlich  zu  ernsten  Studien  ausgenützt  hat  und 
sich  die  Liebe  seiner  Umgebung  in  hohem  Maße  zu  erwerben  wußte,  bezeugen 


Kanoldt.  8 1 

besonders  die  Briefe  Prellers   an  K.s   Eltern.     Am   i.  Mai  1865   schrieb   der 
Meister    unter    anderem   Folgendes:    »Die    bevorstehende    Studienreise    Ihres 
Sohnes  gibt  mir  Veranlassung  Ihnen   zu  sagen,   daß  ich  bisher  nur  Freude 
an  seinem  Eifer  und  den  dabei   gemachten  Fortschritten   habe.     Möge  er  in 
gleicher  Weise  fortschreiten!     Das  Resultat  kann   dann  nur  ein  Erfreuliches 
{sie)  sein.«     Einen  anderen  zwei  Jahre  später  geschriebenen  Brief  möchte  ich 
wegen  seines  herzlichen  Tones  ganz  hierhersetzen;  er  lautet:  »Verehrte  Frau! 
Erlauben   Sie,   Ihnen,   bei  Vollendung  der  ersten  selbständigen  Arbeit  Ihres 
Sohnes,  die  V.ersicherung  meiner  ganzen  Zufriedenheit  über  Verwendung  seiner 
Zeit  und  seines  Strebens  auszusprechen.     Möge   es  ihm  vom  Schicksale  be- 
stimmt sein,  ohne  Störung  auf  dem  betretenen  Wege  weiter  zu  gehen,   eine 
Anerkennung   seiner  ernsten   Tätigkeit   wird    dann    gewiß    nicht    ausbleiben. 
Noch  freue  ich  mich,  Ihnen  versichern  zu  können,   daß  er  als  Mensch  von 
den    meinigen    allen    geachtet    und    geliebt   ist.     Hochachtungsvoll    ergeben 
Friedrich  Preller.«    Weimar,  20.  Mai  1867.     1867  erhielt  K.  auch  bereits  seine 
erste,  ehrenvolle  Bestellung.     Als  er  nämlich  in  Ilmenau  Studien  malte,  kam 
die  Großherzogin  von  Weimar  gerade  dazu  und  bestellte  sofort  das  begonnene 
Bild  bei  ihm.   Im  Jahre  1869  verließ  K.  Weimar  um  sich  nach  Rom  zu  begeben, 
woselbst    er    sich    während    seines    dreijährigen    Aufenthaltes    besonders    an 
Dreber,  ebenso  wie  Preller  einen  Vertreter  der  heroischen  oder  idealen  Land- 
schaft,  anschloß  und  mit  gleichgesinnten  deutschen  Künstlern,  viele  genuß- 
reiche und  arbeitsvolle  Stunden  in  dem   romantischen  kleinen  Bergstädtchen 
Olevano  im  Sabinergebirge  verbrachte.  In  Rom  entstand  auch  sein  erstes  Meister- 
werk »Odysseus  auf  der  Ziegenjagd«,  mit  dem  er  1873  d^"  Ehrenpreis  der 
Goethestiftung  in  Weimar  errang.   Unter  elf  eingesandten  Werken  wurde  dieses 
Gemälde  von  den  Preisrichtern  einstimmig  als  das  beste  anerkannt.     Eine 
nicht  minder  hohe  Befriedigung  mag  dem   jungen  Künstler  das  Lob   seines 
verehrten   Lehrers  gewesen   sein,   der,   ehe  noch  die  Namen  bekannt  waren, 
sofort    auf  K.s  Bild    deutete   mit    den  Worten:    »Das   ist  das  beste«.     Jetzt 
hängt  dieses  Bild  in  der  Gallerie  zu  Weimar  zwischen  den  beiden  Gemälden 
Prellers,    die   K.   die   erste  Anregung   zur   Kunst  gaben.     Das   Jahr  1872/73 
verbrachte  K.  in  München.     Im  Sommer  1873  war  er  aber  schon  wieder  in 
seinem    geliebten    Italien    in  Terracina   mit  Landschaftsstudien    beschäftigte, 
als  ein  Brief  des  Wiener  Malers  Carl  Schuch,   datiert  Olevano  4.  Juni,  ihm 
einen  jähen  Schrecken  einjagte.    Die  Serpen tara,  der  herrliche  Eichenwald  bei 
Olevano,  der  seit  fast  hundert  Jahren  vielen  deutschen  Künstlern  Anregungen, 
zu  Studien  und  Gemälden  gegeben  hatte,  und  auch  durch  V.  Scheffels  Gedicht 
»Abschied  von  Olevano«  weiten  Kreisen  bekannt  ist,  sollte  verschwinden,  das 
Holz  an  die  Eisenbahn  verkauft  werden.    Mit  Feuereifer  widmete  sich  K.  der 
Aufgabe,  diesem  Vandalismus  zu  wehren,  und  nach  rastlosen  Bemühungen  gelang 
es  ihm  endlich  die  verlangte  Kaufsumme  von  2500  Liren  durch  freiwillige  Bei- 
träge  von   Künstlern   und   Kunstfreunden   aufzubringen   und    die   Serpentara 
rechtskräftig  zu  kaufen.    Kaiser  Wilhelm  I.,  dem  nun  dieser  historische  Eichen- 
wald behufs  dauernder  Erhaltung  zum  Geschenk  angeboten  wurde,  verzichtete 
wohl  selbst  auf  diese  Gabe,  gab  aber  zugleich  die  Anregung  das  Stück  Land 
dem  Deutschen  Reiche  zu  schenken.     So  befindet  sich  der  Wanderer   jetzt 
mitten   im   Herzen  Italiens   im    phantastischen  Sabinergebirge    plötzlich    auf 
deutschem  Boden,   und  der  Reichsadler  blickt  auf  einer  Tafel  am  Eingange 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog:.    9.  Bd.  6 


g2  Kanoldt. 

dem  Besucher  entgegen.     Der  preußische  Kronenorden  4.  Klasse  belohnte  K. 
für  diese  ideale  Tat. 

Doch  noch  ein  anderes  Glück  sollte  der  junge  Künstler  auf  italienischem 
Boden  finden.  1874  lernte  er  in  Rom  Fräulein  Sophie  Hellwig  aus  Moskau 
kennen,  und  bald  gelang  es  ihm  durch  sein  bescheidenes,  heiteres  Wesen  auf 
seine  Werbung  um  ihre  Hand  ihr  Jawort  zu  erhalten.  Zu  Moskau  fand  am 
II.  Juli  (29.  Juni)  1875  ^>^  Hochzeit  statt,  und  das  junge  Paar  verlebte  daselbst 
das  erste  Jahr  seiner  Ehe.  Im  Jahre  1876  ging  K.,  wiewohl  der  Großherzog 
von  Weimar  ihn  gerne  an  seine  Residenz  fesseln  wollte,  doch  lieber  nach 
Karlsruhe,  wohin  er  einen  Ruf  als  Lehrer  an  der  Prinzenschule  angenommen 
hatte,  da  ihn  der  Wunsch,  bei  Ferdinand  Keller,  der  seit  1870  dort  Professor 
an  der  Kunstschule  ist,  noch  als  Meisterschüler  einzutreten,  dahin  trieb.  Mit 
diesem  verband  ihn  fortan  eine  herzliche  Freundschaft  und  auch  seine  einstige 
Schülerin  aus  der  Prinzenschule,  die  jetzige  Frau  Herzogin  Marie  von  Anhalt- 
Dessau,  blieb  Zeit  seines  Lebens  in  wohlwollender,  freundschaftlicher  Bezie- 
hung zu  K.  Karlsruhe  blieb  nun  bis  zu  seinem  Tode  der  ständige  Aufent- 
haltsort des  Meisters,  und  er  lebte  hier  von  seinen  Mitkünstlern  und  allen, 
die  ihn  kannten,  hochgeehrt  ausschließlich  seiner  Familie  und  seiner  Kunst, 
die  beide  ihm  den  schönsten  Lebensinhalt  boten.  Aber  dieses  Familienglück 
ward  durch  langjährige  Krankheiten  seiner  Frau  und  durch  den  frühen  Tod 
des  ältesten  Sohnes  Franz,  der  nur  ein  halbes  Jahr  lebte,  öfters  von  schweren 
Sorgen  getrübt.  Erholung  von  der  Arbeit  boten  ihm  häufige  Studienreisen  in 
Deutschland  und  nach  Italien,  wo  er  Rapallo,  Rom  und  die  Serpentara 
immer  wieder  besuchte. 

1898  sah  K.  seine  geliebte  Serpen tara  zum  letzten  Male.  Er  war  zu 
einer  zweiten  rettenden  Tat  dahin  geeilt.  Im  Laufe  der  Jahre  war  nämlich 
so  viel  Strauchwerk  und  Unterholz  emporgewuchert,  daß  der  Wald  undurch- 
dringlich und  die  Ausblicke  nach  den  malerischen  Felspartien,  denen  so  viele 
Künstler  ihre  Anregung  verdankten,  ganz  verschwunden  waren.  Um  nun  den 
alten  historischen  Zustand  wiederherzustellen,  hatte  K.  sich  von  der  Botschaft 
die  Erlaubnis  erwirkt,  von  dem  neuen  Nachwüchse  so  viel  wieder  schlagen 
zu  lassen,  daß  die  alten,  malerischen  Motive,  die  die  romantische  Schönheit 
dieses  Fleckchens  Erde  ausmachen,  wieder  deutlich  und  schön  zum  Vorschein 
kamen.  Unermüdlich  war  er  hier  tätig,  die  Arbeiten  von  Früh  bis  Abends 
zu  leiten  und  nach  alten  Skizzen  und  Studien  die  frei  zu  legenden  Teile  zu 
bestimmen.  Dies  und  die  Herstellung  einer  Ansichtspostkarte  von  Olevano, 
die  er  nach  eigener  photographischer  Aufnahme  anfertigen  ließ  und  den 
Besitzern  von  Casa  Baldi,  dem  durch  Scheffel  berühmt  gewordenen  Gasthofe, 
in  einer  großen  Anzahl  von  Stücken  schenkte,  war  das  letzte,  was  K.  für  diese 
Gegend,  in  der  er  so  oft  mit  Vergnügen  geweilt,  und  mit  empfänglichem 
Gemüte  viel  des  Schönen  genossen  hatte,  tun  konnte.  Er  sollte  nicht  wieder 
hinkommen.  Im  Jahre  1900  ward  es  ihm  vergönnt  im  Kreise  seiner  Familie 
das  schöne  Fest  der  silbernen  Hochzeit  zu  begehen;  und  eine  letzte  Freude 
und  Ehre  wurde  ihm  noch  kurz  vor  seinem  Tode  zuteil,  indem  er  dazu 
erwählt  wurde,  bei  der  Feier  des  hundertsten  Geburtstages  seines  verehrten 
Meisters  Preller  am  25.  April  1904  an  dessen  Grabe  die  Feierrede  zu  halten. 
Inzwischen  hatte  sich  ein  Herzleiden,  das  ihn  seit  längerer  Zeit  plagte, 
immer  mehr  verschlimmert,  so  daß  er  im  Juni  1904  sich  einer  Kur  in  Bad 


Kanoldt.  83 

Nauheim  unterziehen  mußte.  Hier  glaubte  er  bald  völlige  Genesung  zu  finden 
und  nach  achttägigem  Aufenthalte  am  Morgen  des  27.  Juni  schrieb  er  an  seine 
Lieben  in  Karlsruhe  eine  Karte,  daß  es  ihm  bedeutend  besser  gehe;  es  war 
eine  Täuschung,  noch  am  Abende  desselben  Tages  traf  die  Trauerkunde  von 
seinem  Hinscheiden  in  Karlsruhe  ein.  Er  hinterließ  außer  seiner  trauernden 
Gattin  eine  Tochter  Johanna  und  einen  Sohn  Alexander,  der  angeregt  durch 
das  schöne  väterliche  Beispiel  sich  ebenfalls  der  Malerei  gewidmet  hat. 

Mit  K.  ist  nicht  nur  ein  großer  Künstler,  sondern  auch  ein  wahrhaft 
edler  Mensch  aus  diesem  Leben  geschieden.  Alle,  die  das  Glück  hatten,  mit 
ihm  persönlich  zu  verkehren,  nahm  er  durch  sein  stets  heiteres,  freundliches 
Wesen  für  sich  ein.  Er  war  erfüllt  von  einem  innigen  Streben  nach  dem 
Edlen  und  Schönen,  das  den  hervorstechendsten  Zug  seines  Wesens  bildete. 
Die  Kunst  ward  ihm  ein  heiliges  Amt,  und  rührend  war  seine  ständige  Hilfs- 
bereitschaft. Wo  er  Not  zu  lindern  wußte,  da  war  er  auch  gewiß  dabei, 
und  so  manche  in  Not  geratene  Künstlerfamilie  weiß  nicht  nur  von  seinem 
freundlichen  Tröste,  sondern  auch  von  seiner  werktätigen  Hilfe  zu  erzählen. 
Aus  diesem  Bedürfnisse,  Hilfe  zu  spenden,  entsprang  ihm  auch  der  Gedanke 
zugunsten  der  »Renten-  und  Pensionsanstalt  für  bildende  Künstler«  im  Jahre  1901 
ein  großes  Künstler-Kostümfest  zu  veranstalten,  das  unter  dem  Namen  »Drei 
Tage  im  Morgenlande«  vom  10 — 12.  März  in  Karlsruhe  stattfand  und  eine  nam- 
hafte Summe  dem  wohltätigen  Zwecke  zuführte.  Ebenso  war  K.  auch  ein  treues 
und  eifriges  Mitglied  der  Kunstgenossenschaft,  die  stets  auf  seine  Arbeits- 
kraft rechnen  durfte.  Doch  war  er  niemals  einseitig,  sondern  wußte  auch 
bei  Vertretern  von  gegnerischen  Richtungen  das  darin  steckende  Gute  zu 
erkennen  und  zu  verteidigen;  in  Zorn  konnte  er  nur  geraten,  wenn  er  jemand 
im  Leben  oder  in  der  Kunst  selbsüchtige,  nicht  dem  Ideate  dienende  Ziele 
verfolgen  sah,  und  gerade  in  solchen  gelegentlichen  Zomesausbrüchen  zeigte 
sich  die  ganze  edle  Seele  des  Mannes.  In  der  Familie  war  er  stets  liebreich 
und  aufopfernd,  was  er  in  den  vielen  Krankheiten,  die  seine  Frau  und  Kinder 
betroffen,  unzählige  Male  bewährt  hat.  So  hat  K.  sein  ganzes  Leben  hin- 
durch seinen  schönen  Wahlspruch:  »Das  Wahre  durch  das  Schöne«  auch 
wirklich  durch  seine  ganze  Art  und  Weise  in  die  Tat  umgesetzt.  Er  war 
eine  tief  gemütvolle  und  nach  Gutem  und  Schönem  dürstende  Natur. 

Diese  Charaktereigenschaften  spiegeln  sich  auch  in  seinen  Gemälden 
wieder,  von  denen  ein  ganz  besonderer  poetischer  Hauch  dem  Beschauer 
entgegenweht.  Seiner  Richtung  nach  gehörte  er,  wie  sein  Lehrer  Preller,  der 
heroischen  Landschaft  an,  deren  letzter  Vertreter  von  Bedeutung  er  gewesen. 
Von  Preller  unterscheidet  er  sich  in  der  Komposition  und  Auffassung  dadurch, 
daß,  während  dieser  es  liebte,  seine  Landschaften  mit  Szenen  von  zahlreichen 
Personen  zu  bevölkern,  bei  K.  immer  die  Poesie  oder  Großartigkeit  der 
Landschaft  das  Hauptmotiv  blieb,  und  er  dann  nur  eine  oder  zwei  Figuren 
einsetzte,  die  durch  ihre  Haltung  und  Handlung  den  Stimmungsgehalt  der 
Gegend  im  menschlichen  Gemüte  wiederspiegeln.  Außerdem  hat  K.  auch 
sehr  viele  reine  Landschaftsbilder  ohne  Staffage  gefertigt,  die  deutsche 
Wälder  oder  Burgen  und  die  italienische  Küste,  oder  interessante  Blicke  in 
den  Parks  alter  Renaissanceschlösser  darstellen. 

In  allen  Werken  empfindet  man  schon  in  der  Auswahl  der  Stoffe  das 
feine,  poetische  Gemüt,  das  überall  das  Schöne  zu  sehen  und  zu  finden  wußte. 

6* 


84 


Kanoldt. 


Schier  zahllos  sind  die  Gemälde,  die  von  dem  rastlosen  Fleiße  ihres  Schöpfers 
erzählen.  Werke  von  K.s  Hand  besitzen  die  Gemäldegallerien  von  Karlsruhe, 
Freiburg  i.  B.,  Weimar,  Halle,  München  und  die  Nationalgallerie  in  Berlin. 
In  Privatbesitz  sind  Bilder  in  Leipzig,  Dresden,  Karlsruhe,  Düsseldorf,  Düren, 
Stollberg,  München,  Magdeburg,  Stuttgart,  Koblenz,  Brüssel,  Buenos  Ayres, 
Chicago,  New  York,  Moskau,  Charkow. 

Für  Herrn  Ackermann  in  Leipzig  fertigte  K.  einen  Zyklus  von  acht 
Bildern,  »Amor  und  Psyche«.  In  anderen  Werken  spiegelt  sich  die  ganze 
Reihe  der  menschlichen  Gemütsempfindungen  einmal  in  der  Landschaft, 
dann  auch  in  der  eingesetzten  mythologischen  Szene  wieder.  »Dido  und 
Aeneas«  sehen  wir  in  wilder  Gebirgslandschaft  unter  schroffen  Felsen  und 
sturmgepeitschten  Bäumen,  worüber  sich  ein  schweres  Gewitter  entladet,  auf 
ihren  Pferden  dahinstürmen.  Der  heiter  idyllischen  Szene  entsprechend  finden 
wir  auch  entzückende,  sonnenbeglänzende  Landschaft  oder  trauliches  Waldes- 
dämmern  in  den  Bildern  »Orpheus  und  die  Nymphen«,  »Thetis  und  Achilleus«, 
»Echo  und  Narciss«  und  »Psyche«,  während  bei  »Kassandra«,  »Sappho«  und 
»Antigone«  auch  die  umgebende  Natur  die  düstere  Stimmung  der  Klage  und 
Trauer  wiedergibt.  Der  Sehnsucht  gab  K.  in  zwei  Werken  herrlichen  Aus- 
druck »Iphigenie«  und  »Hero«,  und  doch  wie  verschieden  wußte  er  diesen 
Inhalt  zu  gestalten.  Für  das  Palais  Bürklin  in  Karlsruhe  malte  K.  vier  Wand- 
gemälde, die  für  einen  Musiksaal  bestimmt,  in  mythologischen  Figuren  »Or- 
pheus und  Eurydike«,  »Echo  und  Narciss«,  »Ibykus«  und  »Arion«  die 
verschiedenen  musikalischen  Stimmungen  schön  verkörpern. 

Außer  solchen  mythologischen  Gemälden  stammen  auch  viele  reine  Land- 
schaftsbilder von  des  Meisters  Hand,  die  aber  auch  alle  einen  starken 
poetisch-romantischen  Zug  haben,  der  leider  in  der  Kunst  unserer  Tage 
sonst  immer  weniger  zur  Geltung  gelangt.  Der  deutschen  Heimat  entnommen 
sind  die  deutschen,  durch  Sage  und  Geschichte  berühmten.  Berge  und  Burgen 
»Hohenzollern«,  »Hohenstaufen«,  »Hohentwiel«,  »Wartburg«,  »Nürnberg«  und 
»Heidelberg«,  in  der  Karlsburg  bei  Düren  a.  Rh.  Die  vier  Stilarten  sind  in 
vier  Wandgemälden  in  der  Villa  Kerler  zu  Karlsruhe  durch  vier  bekannte, 
prächtige  Gebäude  vom  Altertum  bis  zur  Renaissance  zur  Anschauung  gebracht. 
Sehr  groß  ist  die  Zahl  jener  Gemälde,  die  uns  poetische  oder  idyllische 
italienische  Parkansichten  und  Villen  aus  der  Renaissance  vor  Augen  führen, 
zumeist  Motive  aus  der  Villa  d'Este,  Frascati  und  aus  Toskana,  ferner  die 
italienische  Küste  bei  Rapallo,  Stimmungen  aus  der  Campagna  und  Partien 
aus  der  Serpentara  und  den  Sabiner  Bergen  oder  aus  deutschen  Wäldern 
und  Hainen. 

Zahlreiche  Mappen  mit  Skizzen  und  Studien  in  Farbe  oder  Blei  zeugen 
von  dem  rastlosen  Fleiße  K.s,  der  auph  im  kleinsten  Detail  poetischen  Inhalt 
zu  finden  wußte. 

Auch  als  Illustrator  war  K.  mehrfach  tätig.  In  den  Hallbergerschen 
illustrierten  Goethe-  und  Schillerausgaben  sind  mehrere  Bilder  von  seiner 
Hand,  ebenso  wie  in  Engelhorns  Prachtwerk  »Italien«.  Für  Roquettes  »Reise 
ins  Blaue«  fertigte  er  das  Titelbild  und  eine  Illustration,  in  Gemeinschaft 
mit  Voß  illustrierte  er  Shakespeares  »Sommernachtstraum«,  mit  W.  Hasemann 
Storms  »Immensee«  und  mit  J.  Grot  Eichendorffs  »Aus  dem  Leben  eines 
Taugenichts«.     Im  Verlage  von  Amelang  in  Leipzig  erschienen  ferner  noch 


Kanoldt.     Volck. 


85 


die  von  ihm  allein  illustrierten  Werke:  Georg  Scherer  »Dichter«,  Elise  Polko 
'Dichtergrüße«  und  »Album  für  Deutschlands  Töchter«.  In  demselben  Ver- 
lage erschien  auch  ein  Band  »Mythologische  Landschaften«,  der  mehrere 
Hauptwerke  K.s  in  vortrefflicher  Wiedergabe  einem  großen  kunstsinnigen 
Publikum  zugänglich  macht. 

Welch  reichem  Künstlerschaffen  hat  der  Tod  hier  ein  Ende  gesetzt! 
Liebe  und  Poesie  waren  es,  wonach  K.  sein  Leben  lang  strebte,  die  er  als 
Mensch  reichlich  um  sich  zu  verbreiten  wußte,  und  die  auch  nach  seinem 
Tode  sich  noch  allen  empfänglichen  Gemütern  aus  seinen  Werken  mitteilen 
werden.  R.  Frhr.  v.  Lichtenberg. 

Volck,  Wilhelm,  ordentlicher  Professor  der  alttestamentlichen  Theologie 
an  der  Universität  Rostock,  *  18.  November  1835  zu  Nürnberg,  f  29.  Mai  1904 
zu  Rostock.  —  V.  besuchte  das  Gymnasium  seiner  Vaterstadt  und  studierte 
nach  bestandenem  Abiturientenexamen  Theologie  und  orientalische  Philologie 
an  den  Universitäten  Erlangen  und  Leipzig.  Bei  seiner  großen  Sprach- 
begabung hätte  er  gern  ausschließlich  Orientalia  studiert,  ergriff  aber  auf 
den  W^unsch  seines  Vaters  die  Theologie  als  Berufsstudium.  Von  seinen 
akademischen  Lehrern  übten  den  meisten  Einfluß  auf  ihn  aus  Fleischer  in 
Leipzig  sowie  Hofmann  und  Delitzsch  in  Erlangen.  Nach  Beendigung  seiner 
Studien  und  Ablegung  der  theologischen  Prüfungen  war  V.  ein  halbes  Jahr 
Vikar  bei  Wilhelm  Lohe,  seinem  Paten,  in  Neuendettelsau  und  wollte  sich 
darauf  in  Erlangen  habilitieren.  Jedoch  wurde  er  durch  das  bayerische  Ober- 
konsistorium zunächst  als  Adjunkt,  dann  als  Pfarrverweser  an  der  Neustädter 
Kirche  in  Erlangen  angestellt,  und  war  so  ein  Jahr  lang  im  praktischen 
Kirchendienst  tätig,  bis  er  im  Wintersemester  1859/60  Privatdozent  in  Erlangen 
wurde.  Durch  Professor  Alexander  von  Oettingens  Vermittlung  wurde  er 
aber  bereits  nach  kurzer  Zeit  für  Dorpat  gewonnen  und  siedelte  im  Mai  1862 
dorthin  über,  zunächst  als  Dozent,  d.  h.  nach  deutschen  Universitätsbegriffen 
als  außerordentlicher  Professor.  In  dieser  Stellung  verblieb  er  ein  Jahr,  um 
dann  ordentlicher  Professor  zu  werden.  Während  der  nun  folgenden  35  Jahre, 
die  er  unter  besonderen  Vergünstigungen  in  Dorpat  verblieb,  hat  er  dort  als 
Mitglied  der  theologischen  Fakultät  eine  allgemein  anerkannte  und  segens- 
reiche Tätigkeit  entwickelt.  Auch  an  äußerer  Anerkennung  seiner  Wirksam- 
keit hat  es  ihm  nicht  gefehlt:  wie  er  russischer  Staatsrat  und  durch  hohe 
Orden  ausgezeichnet  wurde,  so  verlieh  ihm  die  Erlanger  theologische  Fakul- 
tät 187 1  die  Würde  eines  doctor  theologine  h,  c,  Dr.  phil.  war  er  schon  früher 
in  Erlangen  geworden.  1898  mußte  er  den  russischen  Universitätsbestimmungen 
entsprechend  aus  seinem  akademischen  Lehramt  ausscheiden.  Aber  sofort 
bot  sich  ihm  ein  neuer  Wirkungskreis:  die  Greifswalder  theologische  Fakul- 
tät forderte  ihn  auf,  an  ihrer  Hochschule  vertretungsweise  Vorlesungen  zu 
halten.  Aber  erst  kurze  Zeit  wirkte  V.  hier  als  Honorarprofessor,  als  er  einen 
Ruf  an  die  Rostocker  Universität  erhielt,  an  der  er  dann  bis  zu  seinem  Tode 
als  ordentlicher  Professor  wie  in  Dorpat  als  gefeierter  Universitätslehrer 
gewirkt  hat.  Kurz  vor  seinem  Tode  wurde  er  auch  noch  Senior  der 
Rostocker  Universität.  —  V.s  theologischer  Standpunkt  war  ein  streng  positiver, 
der  mit  den  modernen  liberalen  und  liberalisierenden  Richtungen  in  keiner 
VV^eise  paktierte.     In  diesem  Sinne  erhob  er  auch  noch  zuletzt  als  überzeugter 


85  Volck.     Büttel. 

Christ  und  gläubiger  Theologe  seine  Stimme  in  dem  Bibel-Babel-Streit.  — 
V.  war  aber  nicht  nur  ein  anerkannt  tüchtiger  Gelehrter,  sondern  auch  ein 
liebenswürdiger  Mensch,  der  sich  durch  sein  persönliches  Wesen  leicht  Sympa- 
thien gewann  und  als  heiterer  und  anregender  Gesellschafter  überall  gern 
gesehen  war.  So  erregte  denn  sein  infolge  eines  Herzleidens  rasch  erfolgter 
Tod  allgemeine  Teilnahme,  zumal  V.  bis  zuletzt  einen  anscheinend  rüstigen 
Eindruck  gemacht  hatte. 

Was  V.s  Schriften  anbelanget,  so  mögen  folgende  genannt  werden :  Calendarhtm  syria- 
cum  ttuctore  Ca%winio  arabice  latintque  tdidit  et  notis  instruxit,  Lipsiac  iSjg.  Mosis 
canticum  cygneum^  Nürdlingen  1861;  Ibn  Mätriks  Lamiyat  af  A*  ä  mit  Badraddins  Kommen- 
tar ..  .  Übersetzt  und  mit  kritischen  Anmerkungen  versehen  von  Rellgren.  Auf  Grund  des 
handschriftlichen  Nachlasses  Rellgrens  bearbeitet  .  .  .  herausgegeben,  St.  Petersburg  1864; 
Vindiciae  Danielicaty  Dorpat  1866;  Ibn  Mätriks  Lamiyat  af  Ä  ä  mit  Badraddins  Kommen- 
tar. Revidierte  Textausgabe.  I^eipzig  1866;  Der  Chiliasmus  seiner  neuesten  Bekämpfung 
gegenüber,  Dorpat  1869;  De  summa  carminis  Jobi  sententia^  Dorpati  iSyo;  Der  Segen 
Mosis,  Erlangen  1873;  Über  die  Bedeutung  der  semitisclfen  Philologie  für  die  alttestament- 
liche  Exegese,  Dorpat  1874;  Zur  Erinnerung  an  J.  Chr.  K.  v.  Hofmann,  Erlangen  1878; 
Welches  ist  der  Charakter  der  semitischen  Völker  und  welches  ihre  Stellung  in  der  Welt- 
und  Kulturgeschichte?  Dorpat  1884;  Inwieweit  ist  der  Bibel  Irrtumslosigkeit  zuzuschrei- 
ben? Dorpat  1885;  Die  Bibel  als  Canon,  Dorpat  1885;  Zur  Lehre  von  der  heiligen  Schrift, 
Dorpat  1885;  Die  rechte  Feier  des  Bibelfestes  (Predigt),  Dorpat  1886;  —  Was  lernen  wir 
aus  der  Geschichte  der  Auslegung  der  heiligen  Schrift?  Jurjew  (Dorpat)  1894;  Die 
Urgeschichte  nach  Genesis  Kap.  7 — 11,  Barmen  1897;  Heilige  Schrift  und  Kritik,  Leipzig 
1897;  Christi  und  der  Apostel  Stellung  zum  Alten  Testament,  Leipzig  1900;  Die  alttesta- 
mentliche  Heilsgeschichte,  Gütersloh  1903;  De  nonnullis  Veteris  Testamenti  Prophetarum 
locis  ad  saerificia  spectantibus,  Dorpati  iS^j;  Zum  Kampf  um  Bibel  und  Babel,  Rostock 
1903.  Unter  der  angeführten  Literatur  befinden  sich  mehrere  Vorträge.  Einige  weitere 
veröffentlichte  er  femer  noch,  so  »Der  Messias  im  Alten  Testament«  und  »Der  Tod  und 
die  Fortdauer  nach  dem  Tode  nach  der  Lehre  des  Alten  Testaments«.  Für  Zöcklcrs  Hand- 
buch der  theologischen  Wissenschaft  lieferte  V.  den  Beitrag  »Die  I^ehre  vom  Schriftganzen«, 
erklärte  1889  mit  Oettli  zusammen  die  poetischen  Hagiographen  und  steuerte  1898  die 
Abhandlung  »Zur  Erklärung  des  mosaischen  Segens,  Deut.  K.  33«  bei  zu  der  Festschrift 
für  den  ihm  eng  befreundeten  Professor  Alexander  von  Octtingen  in  Dorpat.  Weiter  war 
V.  außer  bei  den  schon  erwähnten  arabischen  und  syrischen  Werken  auch  sonst  noch  als 
Herausgeber  tätig,  indem  er  Ausgaben  folgender  Werke  besorgte:  Gesenius,  Hebräisches 
und  chaldäisches  Wörterbuch,  und  von  seinen  verehrten  Lehrern  Hofmann  und  Delitzsch 
von  Hofmann  folgende  Schriften:  »Zusammenfassende  Untersuchung  der  neutestamentlichen 
Schriften«,  »Die  biblische  Geschichte  Neuen  Testaments«,  »Biblische  Geschichte  des  Neuen 
Testaments«,  »Biblische  Hermeneutik«  und  »Theologische  Briefe  der  Professoren  Delitzsch 
und  V.  Hofmann«.  Endlich  war  V.  Mitarbeiter  an  folgenden  Zeitschriften:  Zeitschrift  der 
deutschen  morgenländischen  Gesellschaft  und  an  der  Luthardtschen  Kirchenzeitung  sowie 
während  seiner  Dorpater  Zeit  an  der  Baltischen  Monatsschrift  und  an  den  Mitteilungen  aus 
der  evangelischen  Kirche  Rußlands.  A.  Vorberg. 

Büttel,  Theodor  Heinrich  Julius  Paul,  ausgezeichneter  Schulmann, 
*  24.  Juni  1826  in  Neustrelitz,  f  i3-  J^^i  ^9^A  i"  Segeberg.  —  Nachdem  B.  auf 
dem  Gymnasium  seiner  Vaterstadt  das  Reifezeugnis  erworben  hatte,  bezog  er 
Michaelis  1846  die  Universität  Halle,  um  Mathematik  und  Naturwissenschaften 
zu  studieren,  und  bestand  1849  das  Oberlehrer-Examen.  Er  war  dann  in 
verschiedenen  Stellungen  als  Lehrer  tätig,  promovierte  1853  in  Rostock  zum 
Dr.phiL  und  habilitierte  sich  Michaelis  1854  als  Privatdozent  der  Mathematik 


Büttel.     Giese.     Stabenow.  87 

in  Kiel.  1857  ging  er  als  Lehrer  an  das  Realgymnasium  in  Rendsburg  und 
im  nächsten  Jahre  an  die  Gelehrtenschule  zu  Meldorf.  Von  hier  folgte  er 
im  Dezember  1865  einem  Ruf  an  das  Lehrerseminar  in  Segeberg,  dem  er 
dann  über  30  Jahre  angehört  hat,  bis  er  im  Herbst  1897  seines  hohen  Alters 
wegen  von  seinem  Amte  zurücktreten  mußte.  An  allen  Orten,  wohin  sein 
Lebensweg  ihn  führte,  hat  B.  sich  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  äußerst 
verdient  gemacht  und  die  fruchtbarsten  Anregungen  gegeben.  So  sorgte  er 
für  die  Einrichtung  physikalischer  Kabinette,  für  die  Ordnung  und  Erweite- 
rung naturwissenschaftlicher  Sammlungen,  vor  allem  hat  er  auch  die  meteoro- 
logische Forschung  durch  Jahrzehnte  lang  fortgesetzte  Beobachtungen  gründlich 
gefördert.  Seine  eigentliche  Bedeutung  aber  liegt  auf  pädagogischem  Gebiet. 
B.  war  der  geborene  Lehrer,  ein  berufener  Führer  für  Geist  und  Herz,  dem 
jene  zwingende  Seelenkraft  in  hohem  Maße  verliehen  war,  die  allein  dazu 
befähigt,  wahrhaft  bildend  und  bestimmend  auf  die  Entwicklung  der  Zöglinge 
einzuwirken.  Zahlreiche  tüchtige  Männer  sind  aus  B.s  Schule  hervorgegangen, 
und  sie  alle  segnen  das  Andenken  des  Mannes,  dem  sie  das  Beste  verdanken, 
was  sie  in  der  Zeit  des  Lernens  für  die  Zeit  des  Lehrens,  für  Beruf  und 
Leben  gewonnen  haben. 

Vgl.  Alberti,    Schriftstellerlexikon,    1829— 1866,   I,   S.  to6;    1866— 1882,   I,  S.  95/96. 

—  »Kieler  Zeitung«,  Morg.-Ausg.  v.  i6.  Juli  1904,  Morg.-  u.  Ab.-Ausg.  v.  24.,  Morg.-Ausg. 
V.  25.  Juni  1905.  —  »Schleswig-Holsteinische  Schulzeitung«,  Jg.  52,  Nr.  46  v.  17.  November 
1904  (Nekrolog  v.  L.  Denkert),   1905,  Nr.  28  v.  13.  Juli.  Joh.  Sass. 

Giese,  Otto,  Dr.jur.y  Oberbürgermeister  von  Altona,  *  3.  Dezember  1855 
in  Rostock,  wo  sein  Vater  Bürgermeister  war,  f  30.  Dezember  1904  in  Altona. 

—  Auf  dem  Gymnasium  seiner  Vaterstadt  vorgebildet,  widmete  sich  G.  dem 
Studium  der  Rechtswissenschaft  und  ließ  sich  nach  bestandenem  Staatsexamen 
in  Rostock  als  Rechtsanwalt  und  Notar  nieder.  1884  erhielt  er  die  Stelle 
eines  besoldeten  Senators  in  Altona,  wo  er  sich  durch  seine  tüchtigen 
Leistungen  sehr  bald  allseitiges  Vertrauen  erwarb.  So  geschah  es,  daß  man 
ihn  allgemein  als  den  Nachfolger  des  Oberbürgermeisters  Adickes  ansah,  als 
dieser  im  Jahre  1891  die  Berufung  nach  Frankfurt  a.  M.  angenommen  hatte. 
G.  wurde  dann  auch  mit  einer  Mehrheit  von  2376  gegen  257  Stimmen  auf 
die  Dauer  von  12  Jahren  zum  ersten  Bürgermeister  von  Altona  gewählt  und 
am  13.  Juni  1891  in  sein  neues  Amt  eingeführt.  Bald  darauf  erfolgte  seine 
Ernennung  zum  Oberbürgermeister.  Mit  weitschauendem  Blick  und  fester,  ziel- 
bewußter Hand  hat  er  die  Entwicklung  der  Stadt  geleitet  und  gefördert. 
Auf  allen  Gebieten  begegnet  man  den  Spuren  seines  segensreichen  Wirkens. 
Die  Altonaer  Bürgerschaft  erkannte  immer  klarer,  was  sie  an  ihrem  Oberhaupt 
hatte,  und  um  sich  eine  so  hervorragende  Kraft  dauernd  zu  erhalten,  erwählte 
sie  G.  nach  Ablauf  seiner  ersten  Amtsperiode  im  Jahre  1902  zum  Oberbürger- 
meister auf  Lebenszeit.  Es  war  dies  zugleich  die  schönste  Anerkennung  der 
außerordentlichen  Bedeutung  G.s,  die  ihm  zu  teil  werden  konnte. 

Vgl.  »Hamb.  Correspondent« ,   Ab.-Ausg.   v.  31.  Dezember   1904,    Morg.-Ausg.  v.   i., 
Ab.-Ausg.  V.  3.  Januar  1905.  —  »Kieler  Zeitung«,  Morg.-Ausg.  v.   1.  Januar  1905. 

Job.  Sass. 

Stabenow,  Louis  Karl  Christian,  plattdeutscher  Schriftsteller,  *  19.  Juni 
1838  in  Schleswig,  f  16.  Oktober  1904  in  Stafstedt  bei  Rendsburg.  —  S.,  der 


38  Stabenow.     Hachmazm.     Knabl. 

von  1870  bis  zu  seiner  Pensionierung  ira  Jahre  1901  als  Lehrer  in  Gammen- 
dorf auf  Fehmarn  wirkte,  nachdem  er  vorher  schon  verschiedene  andere 
Lehrerstellen  bekleidet  hatte,  ist  in  ganz  Schleswig-Holstein  durch  seine  platt- 
deutschen Schriften  gegen  die  Sozialdemokratie  bekannt  geworden.  Sein  am 
meisten  gelesenes  Buch  erschien  1874  unter  dem  Titel  »Wordennig  as  Hinnerk 
un  Krüschan  op  Fehmarn  över  de  Socialdemocraten  snackt«.  (Kiel,  Druck 
von  C.  F.  Mohr;  2.  Aufl.  1877.) 

Vgl.  Alberti,  Schriftstellerlexikon,  1866 — 1882,  Bd.  2,  S.  273.  —  »Jahrbuch  des  Vereins 
f.  niederdeutsche  Sprachforschung«,  Jg.  1896,  XXII,  S.  115.  —  »Kieler  Zeitung«,  Ab.-Ausg. 
V.  20.  Okt.  1904.  Job.   Sass. 

Hachmann,  Gerhard,  Bürgermeister  der  Freien  und  Hansestadt  Hamburg, 
*  10.  Mai  1838  in  Hamburg  als  Sohn  eines  Arztes,  f  daselbst  am  5.  Juli  1904. 
—  H.  besuchte  die  Gelehrtenschule  des  Johanneums,  studierte  in  Leipzig 
und  Heidelberg  die  Rechte  und  ließ  sich,  nachdem«  er  seine  Studien  mit  der 
Promotion  zum  Dr,  jur.  abgeschlossen  hatte,  in  seiner  Vaterstadt  als  Rechts- 
anwalt nieder.  Bereits  1868  wurde  er  in  die  Bürgerschaft  gewählt,  die  ihn 
1877  zu  ihrem  Präsidenten  berief.  Am  12.  Januar  1885  erfolgte  H.s  Wahl 
zum  Senator.  Als  solcher  übernahm  er  im  folgenden  Jahre  das  wichtige 
Amt  des  ersten  Polizeiherm.  Große  Aufgaben  traten  damit  an  ihn  heran, 
das  gesamte  Polizeiwesen  mußte  von  Grund  aus  reorganisiert  werden.  H. 
ist  es  gewesen,  der  dies  schwierige  Werk  in  glänzender  Weise  durchgeführt 
hat.  Vom  ersten  Augenblick  seiner  Tätigkeit  an  bewährte  er  sich  als  ein 
Mann  von  außerordentlichen  organisatorischen  Fähigkeiten.  Mit  rastloser 
Energie  verband  er  einen  milden,  humanen  Sinn,  der  ihm  das  Vertrauen 
aller  gewann.  Ganz  besondere  Verdienste  um  das  öffentliche  Wohl  Ham- 
burgs erwarb  er  sich  zur  Zeit  der  Choleranot  im  Jahre  1892.  Auch  die  Neu- 
ordnung des  hamburgischen  Armenwesens  ist  sein  Werk,  ebenso  die  Umbildung 
und  Erweiterung  des  gesamten  Unterrichtswesens.  »Suchet  der  Stadt  Bestes«, 
dies  kurze  Wort  drückt  schlicht  und  wahr  die  Gesinnung  aus,  in  der  H. 
während  seines  ganzen  Lebens  mit  unermüdlicher  Hingebung  und  Treue 
seiner  Vaterstadt  gedient  hat,  Hamburg  betrauert  in  ihm  einen  seiner 
edelsten  Söhne. 

Vgl.  »Hamb.  Correspondent«,  Ab.-Ausg.  v.  5.  u.  6.,  Morg.-Ausg.  v.  8.  u.  9.,  Ab.- 
Ausg.  V.  9.  u.  II.  Juli  1904  (Nr.  310,  312,  315,  317,  318,  320).  —  »Hamb.  Nachrichten«, 
Ab.-Ausg.  V.  5.,  2te  Morg.-Ausg.  v.  9.,  Ab.-Ausg.  v.  9.  Juli  1904  (Nr.  466,  477,  478).  — 
»Illustrierte  Zeitung«  (Leipzig),  Bd.  123,  Juli  bis  Dezember  1904,  S.  50  (Nekrolog  v. 
K.  Hesselbarth,  Bildnis).  Joh.   Sass. 

Knabl,  Karl,  Genremaler,  *  26.  Januar  1850  zu  München,  f  i5-  Juni  1904 
ebendaselbst.  —  Als  der  Sohn  des  nachmals  so  berühmten  Plastikers  und 
Akademie-Professors  Jos.  Knabl  (*  17.  Juli  18 19  zu  Fließ  bei  Landeck  in 
Tirol,  t  3.  November  1881  in  München.  Vgl.  Liliencrons  »Allg.  Deutsche 
Biographie«  1882.  XVI,  260)  entwickelte  der  vielfach  Begabte  einen  über- 
raschenden Sinn,  alles  nachzubilden,  zeichnete  als  helläugiger,  scharfer  Beob- 
achter nach  den  Werken  seines  Vaters  und  nach  der  Natur,  erhielt  auch  den 
Schulunterricht  im  Hause;  nebenbei  trat  hier  sein  Farbensinn,  ebenso  wie  die 
Neigung  zur  Musik  frühzeitig  hervor.  Keine  förderliche  Unterweisung  wurde 
versäumt,  um  seine  Wege  zu  bahnen,  nur  das  rechtzeitige  Studium  der  Literatur 


Knabl. 


89 


und  Geschichte  wurde  vernachlässigt,  wodurch  eine  zeitlebens  fühlbare  Lücke 
entstand,  während  sein  Schönheitssinn  eine  absonderliche  Zukunft  versprach. 
Anfangs  wendete  sich  K.  nach  dem  väterlichen  Vorbilde  zur  Skulptur,  er 
schnitt  äußerst  gewandt  und  mit  sicherer  Empfindung  kleine  Köpfe  und 
Figuren  in  Lindenholz,  ging  aber  bald,  seinem  eminenten  Farbensinn 
folgend,  zur  Malerei  über,  beschäftigte  sich  jedoch  ebenso  mit  Zither  und  Harfe. 
Karl  von  Piloty,  welcher  große  Erwartungen  auf  ihn  setzte,  nahm  sich  liebe- 
voll des  frühreifen  Jünglings  an,  welcher  das  Geheimnis  seiner  Palette  schnell 
erfaßte  und  durch  prächtige  Studien  bewährte.  Doch  gelangte  erst  1874  ein 
durchgearbeitetes  Werk  in  den  Kunstverein:  »Der  bestohlene  Geizhals«, 
welchem  die  Diebe  —  man  denkt  unwillkürlich  an  Lessings  gleichlautende 
Fabel  —  einen  »verdammten  Stein«  an  die  Stelle  seines  vergrabenen  Schatzes 
legten.  Dann  kam  eine  » Schuster werkstätte«  (1875),  ein  »Junger  Zither- 
spieler« (1878)  und  das  »Verborgene  Genie«,  eines  in  seine  Holzschnitzerei 
ganz  versunkenen  Hirtenknaben  (1881,  als  Holzschnitt  im  Dezemberheft  1884 
»Vom  Fels  zum  Meer«);  so  mochte  Giotto  über  der  ersten  Zeichnung  eines 
Lammes  weltvergessen  sitzen,  als  Cimabue  staunend  den  Pastorello  von 
Vespignano  entdeckte  1  In  ähnlicher  Weise  hatte  K.s  Vater  die  ersten 
plastischen  Versuche  mit  seinem  Taschenschnitzer  gemacht  und  Josef  Anton 
Koch  in  den  Alpen  den  Rotstift  auf  den  leeren  Rückseiten  einer  alten  Folio- 
bilderbibel gehandhabt.  Was  im  Menschen  steckt,  muß  heraus  und  »sich 
herrlich  offenbaren«.  Jedes  ehrliche  Streben  reißt  sich  durch  und  bricht  die 
eigene  Bahn.  Man  denke  an  Defregger,  dessen  Vorbild  indessen  erkennbar 
auf  K.  wirkte,  z.  B.  mit  dem  »Fingerhakeln«  (1878),  wo  der  blutjunge 
schneidige  Jäger  den  alten  hartgesottenen  Robbler  lauernd  herausfordert;  wie 
verwunderlich  blickt  die  ungläubige  »Dirn«,  während  der  alte  Schnapsbruder 
gentlemanlike  ein  »Glasel  Kerschengeist«  zur  Wette  setzt.  In  diesen  an  Ein- 
fachheit und  Wahrheit  mit  den  Erzählungen  eines  Joseph  Schöpf  oder  dem 
Vorarlberger  Michel  Felder  wetteifernden  »Dorfgeschichten«  entfaltete  K. 
eine  Reihe  sehr  anziehender  Darstellungen  aus  dem  Volksleben,  keine 
»Salon tiroler«,  sondern  echte  Menschen  mit  ihren  Leiden  und  Freuden,  im 
harten  Kampf  mit  der  Natur,  in  fröhlichem,  herzerfreuendem  Mutwillen,  mit 
dem  ganzen,  den  Bergbewohnern  eigenen  neckischen  Humor.  Dazu  gehört 
z.  B.  eine  herzig  frische  Sennerin,  die  auf  der  Alm  den  Festkranz  für  die 
heimkehrende  Kuh  bindet;  ein  Wilderer,  der  mit  Todesverachtung  einer  erlegten 
Gemse  über  die  steile  Wand  hinab  nachklettert;  eine  schwarzgallige  Eifer- 
suchtsszene; der  im  Ringkampf  »Besiegte  Herkules«;  auch  »Steierische  Flößer 
auf  der  Mur«  (1882;  in  »Der  gute  Kamerad«,  IV.  Jahrgang  1890,  i.  Heft); 
ein  Thema,  welches  der  Maler  schließlich  in  eine  »Floßfahrt  auf  der  Isar« 
übersetzte,  wo  die  wettergebräunten  Gesellen  mit  ihrem  Fahrzeug  über  die 
»Fälle«  hinabschießen  (vgl.  Pecht  in  »Kunst  für  Alle«  1886,  S.  316);  ferner 
ein  »Heuschlitten«,  worauf  der  Älpler  das  im  Sommer  eingeheimste  Vieh- 
futter im  Winter  in  sausender  Fahrt  zu  Tal  fördert;  eine  »Überschlächtige 
Mühle«,  deren  Wasserfall  lustige  Buben  zu  ihrer  Badegelegenheit  benützen  — 
alles  in  unermüdlich  beobachtenden  Wanderungen  dem  Volkstreiben  abge- 
lauscht. Dabei  tat  er  sich  nie  genug  und  schwelgte  in  einer  Unzahl  von 
Studien,  ehe  er  an  die  Arbeit  ging.  Dann  zog  er  auch  das  Porträt  und  die 
Landschaft  in  sein  Bereich,   malte  sich  selbst  in   ganzer,  lebensgroßer  Figur 


90 


Knabl.     Godin. 


und  die  Häupter  »seiner  Lieben«  und  seiner  Freunde,  darunter  ein  höchst 
ansprechendes  Knabenbildnis  von  gewinnend  schalkischem  Ausdruck  (1896); 
zu  landschaftlichen  Naturstudien  durchstreifte  K.  u.  a.  das  ganze  Gebiet  des 
»Wilden  Kaiser«,  ebenso  die  Salzach-  und  Inn-Gelände  und  viele  von 
Touristenmalem  nicht  allzu  häufig  besuchte  Ferner-  und  Gletschergegenden. 
In  den  lachenden  Fluren  des  nahen  Kufstein  baute  er  sich  ein  flottes  Atelier 
und  Künstlerheim  und  stattete  dasselbe  zu  einem  wahren  Bijou  aus  mit 
eigenen  Schöpfungen  und  seltenem  von  weit  und  breit  eingeheimsten  »Ur- 
väterhausrat«. Als  emsiger  Radler  durchstreifte  er  ganz  Italien  mit  einem 
Trio  von  gleichgemuteten  Kunstgenossen,  wobei  er  den  erstaunt  aufhorchenden 
Bewohnern  der  Romagna,  Apuliens  und  Calabriens  altbayerische  Weisen, 
Schnaderhüpfel  und  Jodler  zum  besten  gab.  Hierbei  begleitete  ihn  immer 
die  Zither,  während  in  der  Heimat,  insbesondere  bei  Künstlerfesten,  die 
Freude  an  der  Harfe  überwog,  die  K.  mit  einer  mehr  als  dilettantischen 
Bravour  zu  seinem  Lieblingsinstrument  erwählte.  Nächtelang  die  Freunde 
durch  sein  tiefgefühltes  Spiel  zu  fesseln  oder  durch  Imitation  berühmter 
Virtuosen  und  andere  Kunstfertigkeiten  zu  entzücken,  zu  erheitern  und 
enthusiasmieren,  gehörte  zu  den  stillen  Freuden  des  sonst  so  ruhig  angelegten 
Mannes.  Hier  lohnten  ihn  Ruhm  und  Beifall,  ganze  Lachsalven  von  dank- 
baren, immer  neu  überraschten  Zuhörern.  Daß  solche  im  Grunde  doch 
aufregenden  Exkursionen  durch  das  Gebiet  der  musikalischen  Produktion  für 
die  Ausdauer  fordernden  Sitzungen  hinter  der  Staffelei  nicht  immer  förderlich 
wirkten,  war  leicht  begreiflich.  K.  saß  etwas  zu  behaglich  im  väterlich 
ererbten  Hanfsamen,  sorglose  Mühe  ist  nicht  immer  ein  Glück  für  den 
Künstler,  ebenso  wie  das  Gegenteil  immer  auch  ein  Übel  ist.  Seit  1879 
glücklich  verheiratet,  freute  er  sich,  daß  seine  beiden  Töchter  das  artistische 
Ingenium  teilten,  während  sein  einziger  Sohn  zum  Eintritt  in  die  Marine  sich 
vorbereitete.  Dieser  schwamm  zum  ersten  Male  über  den  Ozean,  als  der 
Vater  einer  längst  geahnten  Krankheit  erlag,  und  in  den  Arkaden  des  süd- 
lichen Camposanto,  unter  der  von  Josef  Leonhard  Mayer  (*  3.  Juli  1845  zu 
München,  f  30.  November  1898,  wurde  nach  Joseph  Knabls  Ableben  der 
artistische  Leiter  der  von  dessen  Vater  Josef  Gabriel  Mayer,  *  18.  März 
1808  zu  Gebrazhofen,  f  16.  April  1883  in  München,  gegründeten  Kunstanstalt; 
dieselbe,  verbunden  mit  einer  großartigen  Glasmalerei,  erfreut  sich,  heute 
unter  der  umsichtigen  Direktion  des  Kommerzienrats  Franz  Mayer  stehend, 
eines  wohlbewährten  Weltrufes)  gemeißelten  imposanten  Statue  Joseph  Knabls 
die  letzte  stille  Rast  fand.  Dem  völlig  anspruchslosen  Maler  wären  wohl 
noch  viele  Dezennien  seiner  erfreulichen  Wirksamkeit  gewünscht  und  gegönnt 
gewesen.  Eine  teilweise  Ausstellung  seines  Nachlasses  erfolgte  Ende  Dezember 
1904  im  Münchener  Kunstverein. 

Vgl.  Nr.  283  »Neueste  Nachrichten«,  20;  Juni  1904  und  Nr.  276  »Allgemeine  Zeitung«, 
21.  Juni  1904.  Hyac.  Holland. 

Godin,  Amelie,  Roman-  und  Novellendichterin,  *  22.  Mai  1824  zu  Bam- 
berg, t  24.  April  1904  in  München.  —  Im  väterlichen  Hause  erhielt  die 
Tochter  des  hochgebildeten  praktischen  Arztes  Dr.  Friedrich  Speyer,  unter 
der  Leitung  ihrer  geistvollen  Mutter,  einer  geborenen  Baronin  von  Godin  — 
deren  Namen   die  dankbare  Dichterin   später  allen  ihren  poetischen  Schöp- 


Godin. 


91 


fungen  vorsetzte  —  den  ersten,  ihre  ganze  folgende  Herzens-  und  Geistes- 
bildung bestimmenden  Unterricht.  Nach  dem  Tode  ihres  Vaters  übersiedelte 
sie  nach  München,  wo  sie  in  der  Familie  des  auch  durch  seine  Sagen- 
forschungen hochverdienten  Oberbaurats  Friedrich  Panzer  mit  den  damals 
hervorragenden  Geistern,  wie  Franz  Graf  von  Pocci,  Fr.  von  Kobell,  Wilhelm 
von  Kaulbach,  Fr.  von  Thiersch  und  anderen  Koryphäen,  reiche,  fördernde 
Fühlung  und  lebhafte  Anregung  für  ihre  poetische  Begabung  erhielt.  Auf 
einer  Rheinreise  lernte  sie  den  preußischen  Ingenieuroffizier  Franz  Linz  kennen, 
welcher  ihr  im  Frühjahr  1844  die  Hand  zu  einem  glücklichen  Ehebund 
reichte,  dem  freilich  auch  vielfache  Krankheiten  mit  schweren  Prüfungen 
folgten.  Zuerst  wurde  die  Gattin  von  nervösen  Leiden  plötzlich  befallen, 
welche  die  junge  Frau  zwangen,  auf  ihre  häusliche  Tätigkeit  vorläufig  zu  ver- 
zichten und  in  dem  stillen  Wallauf  des  Rheingau  Kräftigung  der  Gesundheit 
zu  suchen.  Hier  entstanden  in  idyllischer  Einsamkeit  die  anfangs  nur  für 
ihre  Kinder  verfaßten  »Märchen«,  welche  glücklicherweise  den  Weg  in  die 
Öffentlichkeit  fanden  und  der  unter  dem  Namen  ihrer  Mutter  schreibenden 
Dichterin  die  Bahn  zur  weiteren  Tätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  Erzählungen 
und  Novellen  bereiteten.  Sie  erhielten  alsbald  in  illustrierten  Zeitschriften, 
insbesondere  in  der  »Gartenlaube«,  »Über  Land  und  Meer«  und  später  in 
»Schorers  Familienblatt«  usw.  die  freudigste  Aufnahme  und  Anerkennung. 
Infolge  davon  wagte  sich  G.  auch  an  größere,  in  Romanform  durchgeführte 
Probleme,  darunter  z.  B.  die  Aufsehen  erregenden  Bücher  »Eine  Katastrophe« 
(neuerdings  in  der  Reclam-Bibl.  Nr.  1842  und  1843)  und  die  meisterhafte  Er- 
zählung »Ein  Orangenzweig«  (Gartenlaube  1872,  Nr.  33 — 39),  Schöpfungen, 
welche  den  Vergleich  mit  George  Eliot  (vgl.  Lord  Actons  schöne  Studie  über 
diese  große  englische  Dichterin,  Berlin  1886)  nicht  zu  scheuen  haben. 

Ihr  Gatte,  welcher  in  verschiedenen  Garnisonen,  in  Koblenz,  Mainz, 
Saarlouis  und  Stettin  im  Dienste  gestanden  und  zum  Oberst  avanciert  war, 
wurde  1864  während  des  dänischen  Krieges  beauftragt,  die  Armierung  der 
Stadt  Stralsund  und  der  Insel  Rügen  auszuführen.  Infolge  dieser  anstrengenden 
Obliegenheiten  entwickelte  sich  bei  dem  äußerst  kräftigen  Mann  eine  schleichende 
Krankheit,  welche  ihn  nötigte,  außer  Dienst  zu  treten.  Die  Gatten  zogen 
nach  Trier,  woselbst  Oberst  Linz  kurz  vor  Ausbruch  des  deutsch-französi- 
schen Krieges  seinen  qualvollen  Leiden  erlag. 

Bald  darauf  übersiedelte  sie  nach  München,  wo  sie  mit  Hermann  Kurz, 
Paul  Heyse,  Hermann  von  Lingg  und  deren  weiterem  Dichterkreis  in  ehrende, 
zu  neuen  Arbeiten  reizende  Beziehung  trat  und  zu  frischen,  neuen  Problemen 
Ermutigung  erfuhr,  während  sie  in  rührendster  Weise  der  Pflege  ihrer  Mutter 
Klara  oblag,  die,  83  Jahre  alt,  am  20.  April  1881  aus  dem  Leben  schied. 
Indessen  hatte  die  vielgeprüfte  Dichterin  auch  einer  Tochter  und  einem  Sohne 
Karl,  welcher  am  6.  Februar  1879  zu  Berlin  plötzlich  an  Herzschlag  starb, 
ins  Grab  zu  schauen.  Unermüdlich  tätig,  übernahm  sie  noch  die  Leitung 
der  Erziehung  zweier  Töchter  eines  teuren  Freundes  und  hochachtbaren  Ge- 
lehrten. Trotz  ihres  schwer  gefährdeten  Augenlichts  ließ  sie  die  Feder  nicht 
ruhen,  schuf  immer  noch  Neues,  sammelte  kleinere  Erzählungen  zu  neuen 
Ausgaben,  überarbeitete  frühere  Werke  und  blieb  ihrer  immer  wohlgcstimmten, 
zartbesaiteten  lyrischen  Muse  getreu.  Ihre  »Gedichte«  erschienen  in  München 
1888,  »Lieder  und  Weisen«   1892,  »Freudvoll  und  Leidvoll«,  »Herzensworte«, 


92 


Godin. 


»Magdborn«  und  eine  Anthologie  »Blumengrüße«  (München  1884  bei  Ströfer) 
und  »Aus  großer  Zeit«  (Glogau  1873).  Ihre  »Märchen  von  einer  Mutter 
erdacht«  liegen  in  vierter  Auflage  (Stuttgart  1897)  vor;  dazu  kommen  das 
von  Leopold  Venus  (ein  nach  seinem  wahren  Verdienst  nur  zu  wenig 
bekannter  Künstler,  welcher  *  1843  zu  Dresden,  am  23.  Dezember  1886  nach 
zehnjährigem  Leiden  in  Sonnenstein  bei  Pirna  starb;  vgl.  »Kunst  für  Alle« 
1887,  II,  121)  reich  illustrierte  »Märchenbuch«  (4.  Aufl.  bei  Flemming  in 
Glogau),  femer  »Neue  Märchen  für  die  Jugend«,  ein  »Märchenkranz«  und 
»Märchenreigen«,  außerdem  eine  Auswahl  und  Bearbeitung  von  slavischen 
und  polnischen  Volksmärchen  (nach  Glinski),  auch  »Märchen  aus  aller  Herren 
Länder«  und  »Aus  Feld  und  Wiese«.  Unter  den  Novellen  stehen  in  erster 
Reihe  die  mit  dem  Titel  »Die  Madonna  mit  den  Lilien«  gesammelten  kleinen 
Künstlergeschichten  (Reclam-Bibl.  Nr.  2087),  »Frauenliebe  und  Leben«  (1874 
in  fünf  Bänden),  »Historische  Novellen«  (1863);  »Kleine  Geschichten«  und  neue 
»Novellen«  (1876,  in  drei  Bänden)  und  die  größeren  Romane  »Ein  Ehren- 
wort«, »Gräfin  Lenore«,  »Mutter  und  Sohn«  (in  zwei  Bänden,  2.  Aufl.  1888), 
»Schicksale«,  »Sturm  und  Frieden«,  »Wally«  (Berlin  bei  Janke),  »Fahr  wohl!«, 
»Eine  schwarze  Kugel«  (1890)  u.  a.  m. 

Ihr  siebzigster  Geburtstag  wurde  festlich  begangen  und  durch  ein  von 
Paul  Heyse  fein  erdachtes  und  »gesammeltes  sinniges  Ehrengeschenk  ihrer 
näheren  Freunde  verschönt  (Nr.  236  »Neueste  Nachrichten«,  24.  Mai  1894). 
Vier  Wochen  vor  ihrem  achtzigsten  Jahre  riß  ihr  Lebensfaden  entzwei.  Kurz 
vorher  hatte  sie  noch,  rasch  und  sicher,  auf  ihrem  Krankenlager,  unter  dem 
Klang  der  Osterglocken,  die  letzten  Verse  einem  Freunde  diktiert,  welche 
Dr.  Oswald  Schmidt  als  letzte  Gabe  dieser  schönen  Seele  in  Nr.  235  »All- 
gemeine Zeitung«,  26.  Mai  1904  veröffentlichte.  An  ihrem  Grabe  trauerten 
mit  ihren  beiden  edlen  Söhnen  (wovon  der  Oberpostrat  Richard  Linz  schon 
am  18.  Februar  1905  der  Mutter  folgte),  welche  die  Freude  und  den  Stolz 
der  Dichterin  bildeten,  die  besten  Männer  und  Frauen  Münchens  und  die 
gleiche  stille  Teilnahme  pflanzte  sich  fort,  wohin  die  Trauerkunde  kam.  Der 
wohlverdiente  Dichterlorbeer  und  die  unvergängliche  Palme  treuer  Erinnerung 
schmücken  immergrünend  ihren  Namen! 

Sehr  zutreffend  zeichnet  ihr  ganzes  Wesen  ein  würdiger  Nachruf: 
»Am^lie  Godin  war  eine  ungemein  sympathische  Frauengestalt,  eine  überaus 
zarte  und  dabei  doch  so  willenskräftige  Natur,  die  das  Leben  liebte  und  ihm 
ein  stetes  »Und  dennoch«  entgegensetzte,  auch  wenn  das  Schicksal  sie  oft 
hart  traf.  Sie  war  eine  begeisterte  Dichterin  des  Schönen  und  der  göttlichen 
Kraft  des  Lebens.  Der  Oberflächlichste,  der  Unbedeutendste  bekam  in  ihrer 
Nähe    eine    Ahnung    von    der    strahlenden  Höhe    des  Schaffens.     In   ihrem  . 

Königreich  adelte  sie  jeden,  den  ihr  liebliches  Lächeln  traf.   Sie  war  etwas,  f 

diese  kleine,  vornehme,  alte  Frau  mit  den  altmodischen,  schwarzen, 
rauschenden,  seidenen  Gewändern,  mit  den  schönen  schneeweißen  Locken, 
den  feurigen,  dunklen  Augen,  der  raschen  Inbrunst  der  Sprache,  der 
Schwermut  derer,  die  um  das  Leben  wissen.«  Eine  reine,  vielgeprüfte  Seele, 
die  nie  untergetaucht  in  den  trübsten  Erfahrungen,  doch  immer  den  unermüd- 
lichen Mut,  anderen  zu  helfen,  hatte  und  nie  den  Glauben  an  die  Menschen 
verlor.« 

Vgl.  Paul  Sirano,  »Im  Salon  Amdlie  Godin«  in  Nr.  45  »Über  Land  und  Meer«   1877. 


\ 


Godin.     Arnold. 


93 


XXXVIII.  918.  —  Dietrich  Theden,  Amdie  Godin,  ein  I.iteraturbild  (mit  Porträt)  in  Nr.  10 
»Gartenlaube«  1882.  S.  iS9ff-  —  »Deut,  lllustr.  Ztg.«  1885.  II.  85  (mit  Porträt).  — 
>Vom  Fels  zum  Meer«  1887/88.  IX.  Heft.  —  Georg  Westenberger,  Zum  siebenzigsten  Ge- 
burtstag in  Nr.  233  »Neueste  Nachrichten«,  22.  Mai  1894.  —  Sophie  Pataky,  Lexikon  deut- 
scher Frauen  der  Feder.  Berlin  1898.  I.  265  und  509.  —  »Allgem.  Ztg.«  Nr.  189,  27.  April 
1904.  —  Nr.  3177  »Illustrierte  Zeitung«  Leipzig.  19.  Mai  1904  (mit  Porträt).  —  Ein 
Porträt  von  M.  Krüger  im  MUnchener  Kunstverein,  Oktober  1896. 

Hyac.  Holland. 

Arnold,  Hugo,  k.  bayer.  Hauptmann,  historischer  Schriftsteller,  *  12.  Mai 
1842  in  München,  f  3.  Oktober  1904  ebendaselbst.  —  Sohn  eines  Oberbeamten 
der  Hypotheken-  und  Wechselbank,  studierte  am  Gymnasium  seiner  Heimat, 
trat  in  die  6.  Klasse  des  Kadettenkorps,  wurde  1860  Junker  im  Inf. -Leib- 
regiment, 1861  Unter-  und  1866  Oberleutnant  im  11.  Inf.-Regiment,  bei 
welchem  sich  A.  sowohl  1866  wie  auch  im  deutsch-französischen  Kriege  1870/71 
durch  Heldenmut  und  Tüchtigkeit  hervortat,  namentlich  in  den  Dezember- 
schlachten. Bei  Villepion  am  i.  Dezember  rettete  er  im  heftigsten  feindlichen 
Feuer  unter  Mitwirkung  seiner  Abteilung  und  in  Verbindung  mit  Artillerie- 
mannschaften und  Pferden  ein  vor  der  Gefechtsfront  gebliebenes  Geschütz; 
in  den  blutigen  Tagen  von  Loigny  und  Cravant  führte  er  seine  Mannschaft 
mit  besonderer  Bravour;  das  Eiserne  Kreuz  und  der  Militär- Verdienstorden 
waren  sein  Lohn.  Seit  1875  Hauptmann  im  7.  Jägerbataillon,  trat  der  an  den 
Folgen  des  Feldzuges  schwer  leidende  Mann  1887  in  Pension,  griff  aber  dann 
zur  Feder,  um  seine  schönen  historischen  Kenntnisse  und  später  auch  seine 
Feldzugserinnerungen  zu  verwerten.  Vorwiegend  betätigte  sich  A.  auf  dem 
geschichtlichen,  ethnographischen  und  anthropologischen  Gebiet,  betrieb  mit 
großem  Geschick  und  ebenso  umfassender  Sorgfalt  im  Auftrag  von  Privaten  und 
gelehrten  Gesellschaften,  Untersuchungen  über  römische  Lagerplätze,  Straßen- 
züge und  Standquartiere,  leitete  und  führte  die  Aufdeckung  und  Ausgrabung 
prähistorischer  Gräber  und  Hügel,  z.  B.  bei  Auing  am  Wörthsee  (1879),  am 
Auerberg  im  Lechrain  (zwischen  Wertach  und  Lech,  1881),  der  alten  Akro- 
polis  der  Licatier  Damasia,  1889  entdeckte  er  die  letzten  Reste  der  von 
Heinrich  dem  Löwen  erbauten  Münchener  Stadtmauer,  brachte  neues  Material 
zur  Limesforschung  (1891),  unterzog  die  im  bayerischen  Armeemuseum 
befindlichen  Fahnen  und  Standarten  einer  neuen  Untersuchung,  ebenso  den 
Umfang  und  das  Terrain  der  Stadt  München  einer  geologisch-historischen 
Beleuchtung,  machte  Ausflüge  nach  alten  Burgstätten  und  kleineren  Besiede- 
lungen in  Altbayern  an  der  Isar,  Amper,  am  Inn  und  im  Salzach  gebiet, 
welches  er  mit  offenem  Auge  für  volkstümliches  Leben,  für  Sitte  und  Tracht, 
Sage  und  Herkommen  durchwanderte.  Die  Resultate  verarbeitete  A.  in  an- 
ziehender, streng  sachlicher  Darstellung  für  süddeutsche  Fach-  und  Tages- 
blätter, auch  für  illustrierte  Zeitungen,  wozu  befreundete  Künstler  ihre  artistisch- 
malerischen Aufnahmen  gaben.  Auch  die  oberbayerischen  Seen  zog  er  in  den 
Kreis  seiner  historischen  Betrachtung  und  schuf  heitere,  kulturhistorische 
Landschaftsbiider  aus  der  Urzeit  mit  der  Staffage  von  Pfahlbaubewohnern 
und  bronzekundigen  Kelten,  die  letzten  Nachklänge  ihres  ganzen  habituellen 
Befindens  aus  der  vorliegenden  Gegenwart  erkennend  und  nachweisend, 
wobei  nicht  selten  ein  schalkisch  lächelnder,  an  Ludwig  Steub  erinnernder 
Humor  zur  wohltätigen  Erwärmung   dem  Autor  die  Feder  führte.     Als  ein 


94 


Arnold. 


Muster  dieser  Art  dürfen  auch  die  Erlebnisse  mit  seinen  Pferden  dienen,  wo 
die  verschiedenen  Tiere  nach  ihren  bewiesenen  Fähigkeiten  und  Charakter- 
eigenschaften hübsch  gezeichnet  erscheinen.  Mit  großem  Geschick  verstand 
A.  die  gelehrten  Ergebnisse  von  Riezlers  und  Baumanns  Forschungen  in 
volkstümlicher  Form  einem  weiteren  Leserkreise  zu  vermitteln  und  mund- 
gerecht zu  machen;  seine  Referate  darüber  waren  immer  originell  gefaßt 
und  sozusagen  mit  seiner  eigenen  Auffassung  sehr  geschickt  vereinbart,  als 
wenn  er  von  der  Priorität  derselben  vollständig  überzeugt  gewesen.  Der- 
gleichen kleine  Eskamotagen  gelangen  ihm  zur  zufälligen  Überraschung. 
Ziemlich  spät  kam  er  darauf,  Selbsterlebtes  aufzuzeichnen.  So  entstanden, 
offenbar  angeregt  durch  Taneras  Schriftstellererfolge,  die  hinter  Detlef  von 
Liliencrons  Verve  freilich  zurückstehenden  Feldzugserinnerungen  »Unter  General 
von  der  Tann«  (München  1895  und  1896  bei  C.  H.  Beck)  in  zwei  Bändchen. 
Mit  sachverständigen  Strichen  zeichnet  A.  die  strategischen  Verhältnisse, 
welche  die  verwickelt  gewordene  Kriegslage  schuf.  Die  deutschen  Heere  an 
der  Loire  hatten  vorwiegend  operative  Aufgaben  zu  lösen.  Die  Darstellung 
der  Ereignisse  während  des  furchtbaren  Winterfeldzugs  an  der  Loire,  diese 
scheinbar  wirren  Märsche  in  ihrem  Zusammenhange  klarzumachen,  war 
seine  schwere  Aufgabe  und  erforderte  besonderes  Talent.  Wer  diesen  Be- 
richten an  der  Hand  der  Karte  zwischen  Paris  und  der  Loire  folgt,  wird 
die  Operationen  in  der  Beauce  und  am  Perch  erst  verstehen  und  mit  Bewun- 
derung und  Stolz  die  Taten  des  ersten  bayerischen  Armeekorps  vernehmen. 
Die  Schwierigkeit,  hierin  das  richtige  Maß  zu  treffen,  hat  A.  mit  großem 
Geschick  überwunden  und  dabei  bewiesen,  daß  er  ein  nicht  minder  kriegs- 
wissenschaftlich geschulter  wie  zugleich  auf  der  vollen  Höhe  allgemeiner 
Bildung  stehender  und  mit  einem  seltenen  Schriftstellertalent  begabter  Autor 
ist.  Die  Schilderung  der  persönlichen  Erlebnisse  gewinnt  wirklich  geschicht- 
lichen Wert  und  um  so  mehr,  als  die  Umstände,  unter  denen  die  tapferen 
Truppen  an  der  Loire  den  Sieg  an  ihre  Fahne  fesselten,  mit  wahrhaft  plasti- 
scher Anschaulichkeit  vor  Augen  geführt  werden:  die  Strapazen  und  Be- 
schwerden des  Winterfeldzugs,  die  Schrecken  des  Volkskrieges,  die  Hemmnisse 
und  Reibungen  der  Heerführung.  Großes  Interesse  erregen  die  auf  bestimmte 
Verhältnisse  und  Personen  fallenden  Streiflichter,  z.  B.  das  Hauptquartier  des 
Großherzogs  von  Mecklenburg,  den  Bischof  Dupanloup  (de.ssen  Vergleich  mit 
dem  gelehrten  Döllinger  ein  gewiß  nicht  zutreffender  ist),  die  französische 
Bevölkerung  mit  Einschluß  des  Klerus;  klar  tritt  der  Opfermut  und  die  Aus- 
dauer der  deutschen  Truppen  hervor,  auf  den  anstrengenden  Märschen,  in 
den  Gefechten,  wovon  beispielsweise  die  Schlacht  von  Beaugency  am  8.  De- 
zember ein  erlesenes,  ergreifendes  Bild  bietet.  Dazu  kommen  die  Vorzüge 
des  Autors,  Klarheit  der  Darstellung,  möglichste  Objektivität,  die  auch  dem 
Feinde  die  gebührende  Anerkennung  zugesteht,  die  Fehler  im  eigenen  Lager 
nicht  vertuscht,  die  überall  durchquellende  Liebe  zum  Vaterlande  und  den 
Kameraden  offenbart.  Schade,  daß  A.  seine  Wahrnehmungen  vor  Paris  zur 
Zeit  der  Kommune  nicht  eingehender  berichtet,  vielleicht  nur  um  seine  Arbeit 
nicht  anschwellen  zu  lassen.  Ein  anderer  hätte  überhaupt  aus  diesem  dank- 
baren Stoff  mehr  Kapitel  zu  ziehen  gestrebt. 

Meist  führte  ein  launiger  Humor  dem  Verfasser  die  Feder;  da  sein  Auge 
nach  allen  Radien  das  pulsierende  Leben  erfaßte,  übersetzte  A.  die  früheren 


Arnold. 


95 


strategischen  Berichte,  das  Leben  und  Treiben  in  den  alten  Legionen,  Lagern 
und  Kriegsleben  der  Römer  in  gleiche  Beleuchtung,  wobei  sich  durch  A.s 
Ausgrabungen,  Bodenstudien  und  Terrainforschungen  die  verdeutschenden 
naheliegenden  Analogien  von  selbst  ergeben.  Dabei  gebraucht  er  dann  nach 
Vorgang  seines  Lieblingsvorbildes  Mommsen  das  zutreffendste  moderne  Wort, 
wodurch  Farbe,  Leben,  Stimmung  in  seine  neckischen  kulturhistorischen  Dar- 
stellungen kommt.  Darin  ist  A.  seinem  immer  leichtlebigen,  aber  nur  touristi- 
schen Kollegen  Tanera  weit  überlegen  und  näher  an  Liliencron  gerückt, 
der  seinen  harnischtragenden  Marsenritter  gelegentlich  heranrasseln  läßt.  Eine 
Musterleistung  dieser  Art  war  ein  Vortrag  am  26.  Oktober  1900  in  den  Sit- 
zungen der  Münchener  anthropologischen  Gesellschaft:  »Herr  Claudius  Paternus 
Clementianus,  ein  Nachfolger  des  Pontius  Pilatus  und  ein  oberbayerischer 
Landsmann  aus  Epfach«.  Letzteres  ist  eine  uralte  Ortschaft,  deren  Bestand 
weit  über  die  Römerzeit  zurückreicht,  wie  die  Grabhügelgruppen  mit  Schmuck 
und  Geräten  aus  der  Bronze-  und  Hallstattzeit  und  die  hochgewellten  Hoch- 
ackerbeete in  der  weiten  Umgebung  beweisen.  Neben  Marmorplatten,  Säulen- 
stücken, Quadern  fanden  sich  in  der  Umfassungsmauer  auf  dem  Lorenzhügel 
bei  Epfach  (Abodiacum^  Abuzacum,  Eptaticum)  Denkmäler  mit  wichtigen,  in 
wenigen  Worten  viel  erzählenden  Inschriften,  welche  die  Namen  städtischer 
Beamten  tragen  und  deren  Würde  bezeichnen,  woraus  der  Schluß  erlaubt  ist, 
daß  Abodiacum  wie  Bregenz,  Kempten  und  Augsburg  eine  »«V/äw«  war. 
Drei  Steine  beziehen  sich  auf  den  genannten  Gentleman.  Nun  wagte  A.  die 
gar  nicht  unwahrscheinliche  Annahme,  daß  der  Ahnherr  des  besagten  Claudius 
Patenius  Clementianus,  der  sich,  wie  Augsburger  Inskriptionen  beweisen, 
zuerst  in  der  alten  Keltenstadt  am  Lech  niederließ,  ein  Veteran  oder  ein  im 
Gefolge  des  Heeres  zugewanderter  Bürger  oder  Handelsmann,  vielleicht  sogar 
ritterlichen  Ranges  gewesen  ist,  der  als  »römischer  Bürger«  von  Haus  aus 
sich  unter  den  Ortseinwohnern  eines  großen  Ansehens  erfreute.  Der  Name 
mit  keltischem  Klang  des  mütterlichen  Großvaters  »/«//ä/jw«  erlaubt  den 
Schluß,  daß  der  Vater  sich  mit  einer  keltischen  Jungfrau  verheiratete.  Der 
demnach  sicherlich  in  Epfach  geborene  Cl.  P.  Clementian  scheint  nicht  von 
der  Picke  auf  gedient  zu  haben,  er  absolvierte  sofort  die  Vorstufe  für  die 
Prokuratur,  die  -»tres  militiae  egtuslreso^.  Als  y^Tribunus  militum«.  stand  er 
bei  der  -»Ugio  XI.  Claudia<><.  Hierauf  wurde  er  Kommandeur  des  Silianischen 
Reiterregiments  römischer  Bürger,  das  den  Beinamen  Tf^torquata<f^  trug,  weil 
ihm  die  f>torques«  (man  denkt  dabei  unwillkürlich  an  das  früher  von  unseren 
Offizieren  im  Dienst  getragene  y>Hausse-<oh)  als  Auszeichnung  für  Tapfer- 
keit verliehen  worden  waren.  Den  Schluß  der  Militärlaufbahn  des  Cl.  P.  Cle- 
mentian bildete  die  Befehlshaberstelle  eines  vermutlich  der  Donauflottille 
zugeteilten  Seebataillons.  Dann  trat  er  in  den  Verwaltungsdienst  über,  wurde 
kaiserlicher  Prokurator  in  den  Provinzen  Afrika,  Sardinien  und  Judäa,  in 
letzterer  als  Vertreter  des  syrischen  Legaten  —  eine  in  der  Zeit  von  138  bis 
192  n.  Chr.  abgesponnene  gloriose  Karriere!  —  In  ähnlichen  kulturhistorischen 
Perspektiven  behandelte  A.  noch  viele  andere  Stoffe,  z.  B.  die  deutsche 
Königshufe  »Königs wiesen«,  die  römischen  Heerverhältnisse  im  bayerischen 
Rhätien,  die  Ortsnamen  der  Münchener  Gegend,  den  uralten  Pferdemarkt  zu 
Keferlohe,  die  Gräber  der  alten  Giesinger,  die  Gegend  von  Laim,  die  Tölzer 
Leonhardfahrten,  die  Römerstätte  zu  Icking,  die  Schanzen  zu  Deisenhofen, 


q6  Arnold.     Bittong. 

alte  Schiffergebräuche  auf  Inn  und  Salzach,  die  Familie  der  Agilolfinger, 
Tassilos  Politik  und  Sturz.  In  allen  gelehrten  Gesellschaften  und  Zeitschriften 
waren  seine  Vorträge  willkommen;  freilich  wußten  die  wenigsten  Zuhörer 
und  Leser,  unter  welchen  peinigenden  Leiden  diese  erfreulichen  Elaborate 
entstanden.  Die  Folgen  der  Feldzugstrapazen  machten  sich,  anfänglich  noch 
weniger  beachtet,  immer  mehr  geltend.  Im  Jahre  1880  vermählte  er  sich 
mit  einer  Baronin  von  Crailsheim,  welche  ihm  Jedoch  schon  1898  durch  den 
Tod  entrissen  wurde.  Von  1892 — 1895  arbeitete  A.  in  der  Redaktion  der 
»Allgemeinen  Zeitung«,  ohne  auffällige  Störungen  in  seiner  schriftstellerischen 
Tätigkeit.  Dann  kamen  schwere  Augentrübungen,  lähmende  Erscheinungen 
und  andere  böse  Vorboten.  Auch  jetzt  gönnte  sich  der  energische  Mann 
keine  Ruhe,  obwohl  ihm  das  neue  Material  nur  durch  Vorlesen  vermittelt 
werden  konnte  und  der  rastlose  Denker  mit  schweren  Mühen  seinem  Schreiber 
die  wohldurchfeilten  Sätze  in  die  Feder  diktieren  mußte,  bis  auch  dieser 
letzte  Trost  mit  geistigem  und  körperlichem  Zerfall  endete.  Welche  Fülle 
des  Wissens  blieb  unausgenützt  und  unvererbbar,  zum  Jammer  seiner  beiden 
Töchter,  welche  dem  Vater  bis  zum  letzten  Augenblicke  als  treueste  Pflege- 
rinnen beistanden.  Eine  Sammlung  oder  Auswahl  seiner  weitzerstreuten 
Elaborate  wäre  ein  höchst  wünschenswertes  und  verdientes  Denkmal. 

Vgl.  Nr.  465  »Neueste  Nachrichten«  5.  Oktober  und  ebendaselbst  Nr.  470  vom  7.  Ok- 
tober 1904.  Alex  Braun  in  Nr.  236  Unterhaltungsbeilage  zur  »Norddeutsch.  Allgem.  Ztg.«  vom 
7.  Oktober  1904.  (Ein  jüngerer  Bruder,  Hermann  Arnold,  der  sich  gleichfalls  als  Krieger 
und  Schriftsteller,  insbesondere  aber  als  Maler  hervortat,  geb.  6.  Mai  1846  zu  Mttnchen, 
war  ihm  gleichfalls  nach  schwerem  Leiden  schon  am  25.  Juni  1896  zu  Jena  im  Tode 
vorausgegangen.  Vgl.  unser  »Biogr.  Jahrbuch«  1897  S.  47  und  »Allgem.  Deutsche  Biographie« 
1902.    XXXXVI,  51.)  Hyac.  Holland. 

Bittong,  Franz,  Direktor  der  vereinigten  Theater  von  Hamburg  und 
Altona,  *  2.  November  1842  in  Mainz,  f  8.  Oktober  1904  in  Hamburg.  — 
B.,  der  ursprünglich  für  die  kaufmännische  Laufbahn  bestimmt  und  mehrere 
Jahre  als  Beamter  einer  französischen  Eisenbahngesellschaft  in  Paris  tätig 
war,  hegte  von  jeher  ein  lefdenschaftliches  Interesse  für  das  Theater. 
Nachdem  er  den  deutsch-französischen  Krieg  als  freiwilliger  Krankenpfleger 
mitgemacht  hatte  und  nach  Mainz  zurückgekehrt  war,  trat  er  hier  in  Be- 
ziehung zu  dem  Direktor  des  Stadttheaters  Th.  L'Arronge,  der  sich  sehr  bald 
von  der  außerordentlichen  Begabung  B.s  überzeugte  und  ihn,  der  nie  Schau- 
spieler gewesen  war  und  die  Bühne  praktisch  gar  nicht  kannte,  als  Regisseur 
für  sein  Theater  verpflichtete.  1872  ging  B.  in  gleicher  Eigenschaft  nach 
Stettin,  von  1873 — 1876  wirkte  er  in  Bremen,  um  im  August  1876  einem  Ruf 
des  Direktors  Ch^ri  Maurice  an  das  Thalia-Theater  in  Hamburg  zu  folgen. 
Durchdrungen  von  dem  Gedanken  einer  notwendigen  Reform  des  Bühnen- 
wesens, hatte  B.  bereits  einige  Jahre  zuvor  die  kleine  Schrift  »Plaudereien 
über  die  Reform  der  deutschen  Bühne«  (Stettin  1873)  veröffentlicht.  In 
Hamburg  bot  sich  ihm  jetzt  Gelegenheit,  seine  Ideen  zu  verwirklichen. 
»Seine  Bestrebungen  richteten  sich  in  erster  Linie  darauf,  mit  gewissen  ver- 
alteten Bühnenformen  zu  brechen,  die  weder  den  Anforderungen  eines 
ästhetisch  gebildeten  Geschmacks,  noch  den  unveränderlichen  Grundgesetzen 
der  Schauspielkunst  entsprachen,  deren  Beseitigung  aber  noch  von  niemandem 


BittODg.     Lehmann.  m 

vorher  versucht  worden  war.  Ausgehend  von  dem  Grundsatz,  daß  die  Schau- 
bühne nicht  nur  dem  Geiste,  sondern  auch  der  Tat  nach  ein  bis  in  die 
Einzelheiten  getreues  Bild  des  wirklichen  Lebens  sein  müsse,  warf  B.  das 
ganze  barocke  Herkommen,  welches  in  bezug  auf  die  Einrichtung  der  Szene, 
auf  die  Front-  und  Halbkreisstellungen  der  Schauspieler  usw.  herrschte,  mit 
einem  Schlage  über  Bord  und  richtete  sowohl  das  Äußere  der  Bühne  wie. 
die  Bewegungen  und  Gruppierungen  der  Darsteller  in  einer  den  Gebräuchen 
und  Umgangsformen  des  Lebens  völlig  entsprechenden  Weise  ein.  Schön- 
heit, Einfachheit  und  Wahrheit!  Das  waren  die  drei  Hauptforderungen, 
welche  er  von  vornherein  an  die  Leistungen  der  Bühne  stellte;  aber  er  über- 
trug diese  Forderungen  mit  vollem  Recht  auch  auf  jene  Äußerlichkeiten,  in 
denen  die  alte  Schule  zwar  die  Einfachheit  immer  sehr  nachdrücklich  betont, 
auf  Schönheit  und  Wahrheit  aber  ein  viel  zu  geringes  Gewicht  gelegt  hatte. 
Das  Publikum  war  erstaunt  und  freudig  überrascht,  als  es  unter  B.s  Regie 
statt  der  herkömmlichen  Bühnenzimmer  und  Bühnensalons  mit  einem  Male 
wirkliche,  behaglich  und  geschmackvoll  eingerichtete  Wohnräume  vor  sich 
sah.  Es  wurde  urplötzlich  jedem  klar,  daß  nur  auf  diese  Weise  allen  An- 
forderungen der  Schönheit  und  der  Wahrscheinlichkeit  zugleich  Rechnung 
getragen  werden  könne,  und  die  Wirkung,  welche  durch  die  scheinbar  rein 
äußerliche  Reform  auch  auf  die  Natürlichkeit  der  einzelnen  schauspieleri- 
schen Leistungen  und  auf  den  Eindruck  der  ganzen  Bühnenwerke  geübt 
wurde,  war  eine  überraschend  große.«     (Ortmann,  S.  320/21.) 

1885  erhielt  B.  die  Stelle  eines  Oberregisseurs  am  Hamburger  Stadt- 
theater, und  im  Januar  1898  übernahm  er  nach  dem  Tode  des  Direktors 
Pollini  im  Verein  mit  dessen  Geschäftsführer  M.  Bachur  die  Direktion  des 
Hamburger  Stadttheaters,  des  Stadttheaters  in  Altona  und  des  Hamburger 
Thalia-Theaters.  Wenn  die  Hamburger  Bühne  in  der  Folge  den  großen  Ruf 
behauptete,  den  sie  sich  unter  Pollini  erworben  hatte,  so  war  das  nicht  zum 
wenigsten  B.s  Verdienst.  Ganz  besondere  Aufmerksamkeit  widmete  er  der 
Pflege  der  großen  Oper  und  erzielte  auch  damit  reichen  Erfolg.  Auch  als 
Bühnenschriftsteller  hat  er  sich  einen  guten  Namen  gemacht;  freudigste  An- 
erkennung fanden  vor  allem  seine  poesievollen  Weihnachtsmärchen. 

Mit  aller  Kraft  hat  B.  bis  zuletzt  seine  idealen  Ziele  verfolgt,  die  Liebe 
zur  Kunst  war  der  Leitstern  seines  Lebens,  mit  tiefem  Ernst  faßte  er  jede 
Aufgabe  an,  mit  feinem  Takt,  mit  umfassendem  Wissen  und  klugem  Können 
führte  er  sie  zu  Ende,  ein  kühner  Vorkämpfer  für  alles  Neue,  das  einen 
wahren,  gesunden  Fortschritt  bedeutete,  in  der  lebendigen  Fülle  seines 
künstlerischen  Wirkens  ein  Vorbild  für  alle,  die  gleich  ihm  streben  und 
arbeiten  im  Dienste  des  Schönen. 

Vgl.  »Hamb.  Conrespondent«,  Morg.-Ausg.  v.  9.,  Ab.-Ausg.  v.  10.,  11.  u.  12.  Oktober 
1904.  —  »Bühne  und  Weite,  Jg.  7,  Nr.  2,  1904,  S.  85  (Nekrolog  v.  P.  Rache,  Bildnis); 
vgl.  auch  Jg.  I,  Halbjahr  i,  1898/99,  S.  128  f.  —  Brummer,  Lexikon  d.  deutschen  Dichter 
d.  19.  Jahrb.,  5.  Ausg.,  Bd.  i,  S.  132,  474.  —  R.  Ortmann,  Fünfzig  Jahre  eines  deutschen 
Theaterdirektors.  Erinnerungen,  Skizzen  und  Biographien  aus  d.  Geschichte  des  Hamburger 
Thalia-Theaters.     Hamburg  1881,  S.  3i8ff.  Joh.   Sass. 

Lehmann,  Heinrich  Otto,  Geheimer  Justizrat,  ordentlicher  Professor 
der  Rechte  an  der  Universität  Marburg,  *  28.  Oktober  1852  in  Kiel  als  Sohn 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog-.    9.  Bd  y 


q8  Lehmann. 

des  Advokaten  Theodor  Lehmann,  t  27.  Januar  1904  in  Marburg.  —  L.,  der 
seine  Eltern  früh  verlor,  wurde  im  Hause  seines  Onkels,  des  Apothekers 
J.  Lehmann  in  Rendsburg,  erzogen.  Nachdem  er  das  Gymnasium  daselbst 
im  Herbst  187 1  mit  dem  Zeugnis  der  Reife  verlassen  hatte,  begann  er  in 
Berlin  die  Apothekerlaufbahn,  die  er  jedoch  bald  wieder  aufgab,  da  sie  seinen 
Neigungen  nicht  entsprach.  Er  wandte  sich  dem  juristischen  Studium  zu, 
das  er  1872  in  Greifswald  begann,  in  Heidelberg  fortsetzte  und  in  Berlin 
zum  Abschluß  brachte.  Hier  bestand  er  im  Januar  1877  das  Referendar- 
examen, war  dann  eine  Zeitlang  als  Referendar  in  Rendsburg  tätig  und  ging 
darauf  nach  Göttingen,  um  seine  Habilitation  in  die  Wege  /u  leiten.  Ein 
ernster  Unfall  aber,  bei  dem  er  sich  infolge  eines  Sturzes  eine  innere  Ver- 
letzung zuzog,  zwang  ihn,  alle  Vorbereitungen  für  die  akademische  Karriere 
abzubrechen  und  mehrere  Jahre  nur  seiner  Gesundheit  zu  leben.  Erst  1881 
war  L.  so  weit  wieder  hergestellt,  daß  er  sich  von  neuem  einer  festen  Berufs- 
tätigkeit hingeben  konnte.  Er  wurde  zunächst  als  LTniversitätsrichter  in  Kiel 
angestellt.  1882  habilitierte  er  sich  hier  als  Privatdozent  und  wurde  1885' 
zum  außerordentlichen  Professor  daselbst  ernannt.  Im  Jahre  1888  folgte  er 
einem  Ruf  als  ordentlicher  Professor  nach  Gießen,  von  wo  er  1889  nach 
Marburg  übersiedelte. 

Angesichts  der  schweren  körperlichen  Leiden,  mit  denen  L.  fast  drei 
Jahrzehnte  lang  zu  ringen  hatte,  verdienen  seine  bedeutenden  Leistungen  um 
so  uneingeschränktere  Bewunderung.  Seine  Haupttätigkeit  galt  dem  deutschen 
Recht  einschließlich  des  Handelsrechts.  1886  erschien  sein  mit  ausgezeich- 
neter Sorgfalt  gearbeitetes  »Lehrbuch  des  deutschen  Wechselrechts«,  von 
1896 — 1900  die  wichtige  Neubearbeitung  von  Stobbes  »Handbuch  des 
deutschen  Privatrechts«  (Bd.  2 — 4),  das  L.s  tief  eindringende  Behandlung  des 
Gegenstandes  zu  einem  durchaus  neuen,  selbständigen  Werke  gestaltete.  Mit 
gleicher  Energie  und  gleichem  Erfolge  trat  er  in  den  letzten  Jahren  an  die 
großen  Aufgaben  heran,  welche  der  deutschen  Rechtswissenschaft  aus 
der  Fertigstellung  des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs  erwuchsen.  In  dem  Lehr- 
buch »Das  Bürgerliche  Recht«  (2.  Aufl.  1901),  das  er  im  Verein  mit  Enneccerus 
herausgab,  bearbeitete  L.  das  Sachenrecht  sowie  das  Familien-  und  Erbrecht. 
Als  Dozent  besaß  der  Heimgegangene  eine  außerordentliche  Anziehungskraft. 
»Seine  Vorlesungen  und  Übungen  waren  packend  und  belehrend  zugleich; 
was  er  lehrte,  war  das  Produkt  einer  kräftigen,  individuellen,  von  warmer 
Begeisterung  für  ihre  Wissenschaft  getragenen  Natur.« 

Das  reiche  Lebenswerk  des  Mannes  ist  aber  damit  noch  nicht  erschöpft. 
Noch  fehlt  ein  wesentlicher  Zug  in  dem  Bild  seines  Wirkens,  L.s  öffentliche 
Tätigkeit  außerhalb  seines  akademischen  Berufs.  »Starkes  nationales  Emp- 
finden trieb  ihn  ins  politische  Leben,  sein  Gemeinsinn  zur  Mitarbeit  an  der 
städtischen  Verwaltung  Marburgs.«  Die  lautere  Größe  seines  Charakters, 
seine  unermüdliche  Pflichttreue,  der  frische,  lebendige  Hauch  seines  Wesens 
verschafften  ihm  überall  Geltung  und  Einfluß.  Alle  sahen  in  ihm  den  klugen, 
zielbewußten  Führer  zum  Rechten  und  Guten.  Als  solcher  erscheint  er  auch 
in  den  zahlreichen  trefflichen,  nationalen  Fragen  gewidmeten  Aufsätzen,  die 
er  in  den  »Grenzboten«,  der  »National-Zeitung«  und  vor  allem  in  der  »Neuen 
Züricher  Zeitung«  veröffentlicht  hat. 

Vgl.  »Chronik  der  Universität  Marburg«  für   1903,04,  Jg.  17,  S.  6 — 8  (Xckrolog   und 


Lehmann.     Wannenmacber. 


99 


Schriftenverzeichnis).  —  »Deutsche  Juristen-Zeitung«,  Jg.  9,  1904,  Sp.  202/203  (Nekrolog 
von  Arthur  Schmidt).  —  »Zeitschrift  f.  das  Gesamte  Handelsrecht,  Bd.  55,  1904,  S.  385/86 
(Nekrolog  von  K.Lehmann).  —  Alberti,  Schriftsteller-Lexikon,  1866 — 1882,  i,  S.  428/29. 
—  »Kieler  Zeitung«,  Ab.-Ausg.  v.  28.  Januar  1904.  Toh.   Sass. 


Wannenmacher,  Franz  Xaver,  Gymnasiallehrer  und  Schriftsteller,  *  8.  Mai 
1839  in  Owingen  in  HohenzoUern,   f  21.  Oktober  1904  in  Straßburg  i.  E.  — 
Ein  Sohn  wohlhabender  Bauersleute,   war  er  zuerst  Volksschullehrer,   später 
Gymnasiallehrer  in  Köln.     Frühzeitig  aus  dem  Dienst  geschieden,  ergab  er 
sich   mit   leidenschaftlichem   Eifer  den   verschiedenartigsten  Studien,    erwarb 
die  philosophische  Doktorwürde,  bereiste  fast  alle  europäischen  Länder,  ver- 
öffentlichte Jugendschriften  und  Übersetzungen,  namentlich  aus  dem  Spanischen. 
Als  er  beim  Kultusminister  v.  Zedlitz-Trützschler  Beiträge  für  eine  von  ihm 
in  der  Nähe  seiner  Heimat,    in  Haigerloch,    gegründete  Privatschule    nach- 
suchen wollte,  fand  er  bei  diesem  schlechte  Aufnahme;  sein  Besuch  hatte  nur 
die  Folge,  daß  die.  Schule  geschlossen  wurde.     Doch  es  war  seine  Art  nicht, 
ein  Erlebnis  schwer  zu  nehmen;   wie  der  weitumgetriebene  Odysseus  konnte 
er  von  sich  sagen,  daß  er  schon  Hundemäßigeres  ertragen  habe.    Er  ließ  sich 
so  leicht  nicht  unterkriegen.     Er  hatte  Geist  und  Humor  genug,  das  Erlebnis 
zu   einem    künstlerischen  Versuch  auszubeuten.     Wo    ein  anderer   in    seiner 
Qual  verstummt  wäre,  da  gab  ihm  ein  Gott  zu  sagen,  was  er  leide.    In  einem 
kleinen  Lustspiel  »Ohne  Titel«  brachte  er  einen  Gymnasiallehrer  a.  D.  Franz 
Werner  auf  die  Bühne,  dem  alles  das  begegnet,  was  er  selbst  durchgemacht 
hatte.     Im  Jahre  1898  wurde  das  Stück  in  Hechingen  und  Sigmaringen  unter 
dem  Beifall  der  ganzen  Bevölkerung  aufgeführt.     Er  schrieb  noch  ein  zweites 
Lustspiel  »Fürst  Kr^potkin«,  worin  ebenfalls  ein  eignes  Erlebnis  verarbeitet 
ist.     Der  Held  des  Stückes,  Professor  Walther,  wird  bei  einem  Besuch  in  der 
Reichshauptstadt  von  einem  Geheimpolizisten  für  den  berühmten  Anarchisten 
Fürsten  Krapotkin  gehalten  und  deshalb  verhaftet.     Nachher  klärt   sich  das 
Mißverständnis  auf.    Das  Stück  ging  1899  in  Hechingen  über  die  Bühne,  und 
der  Verfasser    wurde  in  humoristischer  Weise    gefeiert.     Es    darf   an    dieser 
Stelle  wohl  gesagt  werden,  daß  W.  in  seinem  ursprünglichen  Berufe  gescheitert 
war.    Aber  er  war  ein  Mann  von  seltenem  Wissensdrang  und  ungemein  reger 
geistiger  Energie.     Kurz  vor  seinem  Tode  war  er  noch  von  Hechingen  nach 
Straßburg  gezogen,   um   an   der   dortigen   Universität  Vorlesungen  zu   hören. 
Ein  redlicher  Mann  ohne  Falsch,  hatte  er  keine  Feinde.    Sein  Humor  machte 
ihn   überall    beliebt.     Auch    er   war    ein   echter   Schwabe,    ohne   die  harten 
Tugenden,  die  den  Menschen  heute  in  der  Welt  vorwärts  bringen,  ohne  Miß- 
trauen, ohne  Schneidigkeit,   wie  ein  Original   aus   der  Rokokozeit  in  unsere 
Zeit  verschlagen,  so  mild  und  würdevoll  in  seinem  Wesen,  daß  manche  über 
ihn  lächeln  zu  dürfen  glaubten,  die  ihm  bei  weitem  nicht  ebenbürtig  waren. 

Er  schrieb,  zum  Teil  unter  dem  Pseudooym  Franz  v.  Aubingen  (nach  O.wingen,  seinem 
Geburtsort):  Jugendschriften:  Bamba  Zamba  1871.  In  der  Fremde  1872.  Irrfahrten  in 
London  1873.  —  Fremdsprachliche  Hilfsbücher:  Vocabulare  CastcUano  y  Gramatica  sin 
Reglas  1878.  Der  geschickte  Franzose  1880.  Der  geschickte  Engländer  1880.  —  Griseldis- 
sage  auf  der  iberischen  Halbinsel  1895.  —  Lustspiele:  Ohne  Titel  1897.  Fürst  Krapotkin 
1897.  —  Übersetzungen:  Sokrates  und  Jesus  Christus  1864.  Erinnerungen  aus  dem  Leben 
eines  Handwerkers  187 1.     Lazarillo  von  Tormes  1881. 

7* 


lOO  Wannenmacher.     Heiberg.     Sauerniann. 

Nekrolog  (von  A.  Zander)  in  Nr.  1 68  der  in  Hechingen  erscheinenden  HohenzoUerischen 
Blätter  vom  24.  Oktober  1904. 

Hechingen.  Anton  Zander. 

Heibergy  Asta  Sophie  Charlotte,  geb.  Gräfin  Baudissin,  die  Mutter  des 
Dichters  Hermann  Heiberg,  *  7.  Mai  18 17  in  Greif swald,  f  28,  Januar  1904 
in  Schleswig.  —  Ihre  Jugend  verlebte  A.  H.  auf  dem  in  Jütland  zwischen 
Horsens  und  Aarhus  gelegenen  Landgut  Hovedgaard,  welches  der  Vater  bald 
nach  ihrer  Geburt  erwarb.  1825  zog  sie  mit  ihren  Eltern  nach  Horsens  und 
1831  nach  Rendsburg.  Die  Mädchenjahre  führten  sie  nach  Kiel,  wo  sie  von 
Claus  Harms  eingesegnet  wurde,  und  später  nach  Dresden.  Am  15.  Sep- 
tember 1835  heiratete  die  18  jährige  Komtesse  den  Advokaten  Dr.  Karl 
Friedrich  Heiberg  in  Schleswig  (f  16.  August  1872),  einen  der  besten  Männer 
Schleswig-Holsteins,  der  seine  Heimat  über  alles  liebte  und  unter  den  mut- 
vollen Kämpfern  für  Recht  und  Freiheit  immer  in  erster  Reihe  stand.  An 
der  Seite  ihres  Mannes  hat  die  treffliche  Frau  dann  alle  Wandlungen  der 
politischen  Geschicke  der  Herzogtümer  miterlebt,  in  harten,  schweren  Zeiten 
war  sie  ihm  eine  unerschrockene,  tatkräftige  Helferin,  sein  »guter  Kamerad« 
im  besten  Sinne  des  Worts.  So  hat  sie,  man  darf  es  getrost  sagen,  in 
Wahrheit  an  der  Geschichte  ihres  Landes  mitgearbeitet  und  mitgeholfen, 
daß  ihm  »ein  schön'rer  Morgen  tagte«.  Als  bleibendes  Denkmal  dieses 
bewegten,  reichgesegneten  Frauenlebens  besitzen  wir  die  »Erinnerungen«,  die 
A.  H.  in  ihrem  80.  Lebensjahre  veröffentlichte.  Ein  Hauch  jener  wunderbaren 
Jugendfrische,  welche  die  Verfasserin  sich  bis  an  ihr  Ende  zu  bewahren 
wußte,  weht  durch  dies  köstliche  Buch,  das  dem  Leser  längt  vergangene 
Tage  in  lebendigster  Wirklichkeit  vor  die  Seele  führt  und  mit  seiner  Fülle 
interessanter  Schilderungen  der  politischen  und  gesellschaftlichen  Zustände 
einen  wichtigen  Beitrag  zur  schleswig-holsteinischen  Zeitgeschichte  bildet. 
Mit  inniger  Teilnahme  begleiten  wir  den  Lebensweg  der  tapferen  Frau,  die 
um  so  liebenswerter  und  verehrungswürdiger  erscheint,  als  sie  bei  allem 
Tüchtigen  und  Großen,  das  ihr  innewohnte,  stets  auch  die  feine  Bescljeiden- 
heit  echten  Seelenadels  bewies. 

Vgl.  Asta  Heiberg,  »Erinnerungen  aus  meinem  Leben«.  2.  Aufl.  Berlin  1897.  — 
»Die  Grenzboien«,  Jg.  57,  1898,  i.  Vierteljahr,  S.  319 — 322.  —  »Die  Frau«,  Jg.  5,  1898, 
S.  613 — 618  (F.  Poppenberg,  Frau  Asta  Heibergs  Erinnerungen).  —  Sonntagsbeilage  zur 
»Vossiscfaen  Zeitung«,  Nr.  18  v.  i.  Mai  1898  (E.  Schulte,  Die  »Erinnerungen«  der  Frau 
A.  H.).  —  Alberti,  Schriftstellerlexikon,  1866 — 1882,  i,  S.  277.  —  »Schleswiger  Nach> 
richten«  v.  30.  Januar  1904.   —   »Kieler  Zeitung«,  Ab.-Ausg.  v.  30.  Januar  1904. 

Joh.  Sass. 

Sauermann,  Heinrich,  Direktor  des  Flensburger  Kunstgewerbemuseums, 
*  12.  März  1842  in  Flensburg,  f  3.  Oktober  1904  daselbst.  —  Vor  vielen  ver- 
dient es  dieser  ausgezeichnete  Mann,  daß  er  »nicht  ungerühmt  zu  den  Schatten 
hinabgehe«.  Der  Sohn  eines  Handwerksmeisters,  erlernte  S.  das  Tischler- 
handwerk und  •  zog  als  junger  Geselle  in  die  Fremde,  um  sich  in  seinem 
Spezialfach,  der  Kunsttischlerei  und  Bildschnitzerei,  weiter  zu  vervollkommnen. 
Namentlich  Paris,  wo  er  sich  längere  Zeit  aufhielt,  bot  ihm  reiche  Anregung 
und   Förderung.     Anfang   der  70er  Jahre   kehrte   er  nach  Flensburg  zurück, 


Sauennann.     von  Bismarck.  101 

und  bald  erwarben  sich  die  Erzeugnisse  seiner  Werkstatt  und  der  von  ihm 
ins  Leben  gerufenen  Fachschule  für  Bildschnitzerei  allgemeine  Anerkennung. 
Seine  Haupttätigkeit  jedoch  galt  der  im  Jahre  1874  von  ihm  begründeten 
Sammlung  kunstgewerblicher  Altertümer,  aus  der  allmählich  dank  dem  uner- 
müdlichen Eifer  S.s  das  Flensburger  Kunstgewerbemuseum  erwachsen  ist. 
Die  reichhaltige  Sammlung,  die  sehr  bald  von  der  Stadt  übernommen  wurde, 
genießt  heute  als  Mittelpunkt  der  kunstgewerblichen  Interessen  in  Schleswig- 
Holstein  mit  Recht  einen  bedeutenden  Ruf.  In  allen  ihren  Teilen  zeigt  sie 
den  genialen  Sinn  ihres  Schöpfers  und  seine  warme  Begeisterung  für  die 
heimatliche  Kunst,  der  in  uneigennützigster  Hingebung  zu  dienen  die  tiefste 
Freude  seines  Lebens  war. 

Vgl.  »Kieler  Zeitung«,  Ab.-Ausg.  v.  5.,  Morg.-Ausg.  v.  8.  Oktober  1904.  —  Führer 
durch  das  Kunstgewerbemuseum  der  Stadt  Flensburg  (von  H.  Sauermann).    Flensburg  1903. 

Joh.  Sass. 

Bismarck»  Nikolaus  Heinrich  Ferdinand  Herbert,  Fürst  von,  *  28.  De- 
zember 1849  zu  Berlin,  f  18.  September  1904  zu  Friedrichsruh,  Fideikommißherr 
auf  Schwarzenbeck,  erbliches  Mitglied  des  preußischen  Herrenhauses,  König- 
lich Preußischer  Staatsminister  und  Generalmajor  ä  la  suite  der  Armee,  Kaiser- 
licher Wirklicher  Geheimer  Rat  und  Staatssekretär  a.  D.,  Mitglied  des  Deutschen 
Reichstags,  Kreisdeputierter  des  Kreises  Lauenburg.  —  B.  erblickte  das  Licht 
der  Welt  in  dem  Hause  Dorotheenstraße  37  zu  Berlin,  wo  sein  Vater  damals 
als  Mitglied  der  Zweiten  Kammer  wohnte.  Die  Geburt  erfolgte  am  Nach- 
mittag des  28.  Dezember,  was  dem  elterlichen  Bekanntenkreise  Tags  darauf 
durch  eine  Anzeige  in  der  Kreuz-Zeitung  wie  folgt  mitgeteilt  wurde:  Die  gestern 
Nachmittag  erfolgte  glückliche  Entbindung  meiner  lieben  Frau  Johanna  geb. 
V.  Puttkamer  von  einem  gesunden  Sohne  zeige  ich  ergebenst  an. 

Berlin,  29.  Dezember  1849.  von  Bismarck-Schönhausen. 

Am  13.  Februar  1850  wurde  der  Knabe  in  der  elterlichen  Wohnung  durch 
den  Prediger  Goßner,  wie  aus  dem  noch  erhaltenen  Schreiben  des  Vaters 
an  diesen  hervorgeht,  getauft.  Zu  den  Paten  gehörten  der  Präsident  von  Gerlach 
und  der  damalige  Landrat,  spätere  Oberpräsident  der  Rheinprovinz,  von  Kleist- 
Retzow.  Der  junge  Bismarck  hat  seine  ersten  Kinderjahre  teils  in  Berlin,  teils 
auf  dem  Lande,  überwiegend  aber  in  Frankfurt  a.  M.  verlebt,  wohin  sein  Vater 
bekanntlich  im  Jahre  1851  als  preußischer  Bundestagsgesandter  berufen  wurde 
und  dort  bis  zum  Frühjahr  1858  verblieb.  In  Frankfurt  a.  M.  hat  der  junge 
Herbert  v.  Bismarck  mit  seiner  Schwester  Marie  und  seinem  jüngeren  Bruder 
Wilhelm  zunächst  häuslichen  Unterricht  empfangen,  der  dann  während  der 
folgenden  Jahre  in  Petersburg  und  auf  dem  Lande  fortgesetzt  wurde,  bis 
endlich  mit  der  Ernennung  des  Vaters  zum  Ministerpräsidenten  im  Jahre 
1862  wieder  die  erwünschte  Stabilität,  über  deren  Mangel  Jener  so  oft  und 
bitter  geklagt  hat,  in  die  häuslichen  Verhältnisse  der  Bismarckschen  Familie 
kam.  Am  31.  März  1865  wurde  Herbert  Bismarck  in  der  Dreifaltigkeitskirche 
zu  Berlin  von  dem  Konsistorialrat  Souchon  eingesegnet.  Der  häusliche  Unter- 
richt wurde  bis  zum  Jahre  1866  den  beiden  Brüdern  von  einem  Predigtamts- 
kandidaten Braune  erteilt,  den  Bismarck  Vater  in  einem  Briefe  also  kenn- 
zeichnet: »Etwas  Pedant,  läßt  aber  mit  sich  reden,  Berliner  von  Natur«. 
Es  sind   manche  Einzelheiten  darüber  vorhanden,   in  wie  eingehender  Weise 


102  von  Bismarck. 

der  Vater  sich  um  den  Unterricht  der  Söhne  kümmerte,  die,  wenn  es  seine 
Zeit  irgend  gestattete,  an  jedem  Sonnabend  mit  ihren  Heften  vor  ihm  er- 
scheinen mußten.  Der  ehemalige  Lehrer  erzählt  folgenden  Vorfall,  der  ihm 
aus  dieser  Bismarckschen  Schulrevision  in  Erinnerung  geblieben  ist.  Er  hatte  in 
der  Geschichte  zwei  Wochen  hintereinander  den  Jugurthinischen  Krieg  durchge- 
nommen. Bismarck  sprach  dem  Lehrer  unter  vier  Augen  seine  Verwunderung 
darüber  aus,  der  indessen  dabei  blieb,  daß  man  solche  geschichtlichen  Vorgänge, 
wenn  die  Schüler  sie  behalten  sollen,  gründlich  mit  ihnen  durchgehen  müsse. 
Der  Vater  entgegnete :  »Sie  haben  ja  von  Ihrem  Standpunkt  ganz  recht,  aber 
die  Kerls  sind  schon  so  furchtbar  lange  tot.  Nun  machen  Sie  aber,  daß  Sie 
weiter  kommen.«  Zu  Ostern  1866  traten  die  beiden  Brüder  in  die  Ober- 
sekunda des  Friedrich  Werderschen  Gymnasiums  in  Berlin  ein.  Noch  war 
Professor  Dr.  Bonnell,  derselbe,  bei  dem  Bismarck  Vater  während  seines 
letzten  Schuljahres,  von  Ostern  1832  bis  Ostern  1833,  in  Pension  gewesen 
war,  an  der  Spitze  der  Anstalt,  ein  Umstand,  der  zu  näheren  persönlichen  Be- 
ziehungen zwischen  dem  Minister  und  dem  bereits  bejahrten  Schulmanne 
führte.  Als  die  Söhne  am  3.  März  1869  die  Abiturientenprüfung  bestanden 
hatten,  bei  der  Herbert  sich  in  der  Geschichte  besonders  auszeichnete,  lud 
der  Vater  die  Prüfungskommission  einige  Tage  später  zu  Tisch,  mit  dieser 
auch  den  früheren  Hauslehrer,  nunmehrigen  Pastor  Braune  zu  Straußberg. 
In  dem  Trinkspruch,  den  er  »auf  seinen  alten  lieben  Lehrer,  den  Direktor 
Bonnell«,  ausbrachte,  bemerkte  er:  »Vor  37  Jahren  um  dieselbe  Zeit  habe 
ich  das  Abiturientenexamen  bestariden,  und  zwar  vor  demselben  Manne 
und  unter  Leitung  desselben  Mannes,  der  jetzt  meine  beiden  Söhne  zu 
gleichen  Zielen  geleitet  hat.  Ich  weiß,  was  ich  ihm  verdanke.  Mögen  auch 
meine  Söhne  ihm  ein  dankbares  Andenken  bewahren.«  In  seiner  Erwiderung 
hob  Bonnell  hervor,  wie  viel  zur  Erreichung  des  Zieles  für  die  Söhne  die 
Mutter  beigetragen,  sowie  die  richtige  Pflege  im  Elternhause,  die  ihnen  unter 
den  mannigfaltigen  Eindrücken  und  Zerstreuungen  doch  den  unbefangenen 
Sinn  und  die  strenge  Pünktlichkeit  im  Eintreffen  nach  jeder  Ferienzeit  be- 
wahrt habe.  Das  einflußreiche  Wirken  der  Mutter  sei  dabei  unverkennbar 
gewesen.  —  Mit  Beginn  des  Sommersemesters  1869  wurde  die  Universität  Bonn 
bezogen.  Im  Laufe  des  Sommers  unternahmen  die  beiden  Brüder  eine  Reise 
nach  England,  Schottland,  Paris  und  Brüssel,  besuchten  das  Schlachtfeld 
von  Belle-Alliance  und  wurden  von  dem  preußischen  Gesandten  in  Brüssel, 
Herrn  v.  Balan,  der  über  den  Besuch  hocherfreut  war,  durch  Veranstaltung 
einer  Festlichkeit  geehrt.  Durch  einen  Bericht  in  den  Zeitungen  kam  diese 
Reise  zur  Kenntnis  der  Bonner  Universitätsbehörde,  und  als  die  beiden  Brüder 
nach  Bonn  zurückkehrten,  wurden  sie  vor  Rektor  und  Senat  geladen,  die 
ihnen  feierlich  eröffneten,  daß  eine  längeres  Verlassen  der  Universität  ohne 
Urlaub  mit  den  Universitätsgesetzen  nicht  vereinbar  sei.  Am  i.  Oktober 
traten  beide  Brüder  bei  den  Bonner  Husaren  als  Einjährig-Freiwillige  ein, 
der  Dienst  wurde  aber  für  Herbert  sehr  bald  dadurch  unterbrochen,  daß  er 
Ende  November  bei  einer  Mensur  einige  »Blutige«  davontrug,  deren  schlechte 
Behandlung  ihm  eine  Kopf  rose  zuzog,  so  daß  sein  Zustand  einige  Tage  hin- 
durch Gegenstand  schwerer  Besorgnis  der  Eltern  war.  Die  Mutter  eilte  nach 
Bonn,  um  den  Kranken  zu  pflegen,  was  bis  dahin  der  jüngere  Bruder  mit 
großer   Aufopferung    getan    hatte.     Am   20.   Dezember   erschien   der  Bundes- 


von  Bismarck. 


103 


kanzler  selbst  in  Bonn.     Zur  Beruhigung  der  Mutter  und  auch  wohl  um  die 
Söhne    in    größerer   Nähe   zu   haben,   veranlaßte  Bismarck   deren  Versetzung 
von  den  Bonner  Königs-Husaren  zum  I.  Garde-Dragoner-Regiment  nach  Berlin. 
Versetzungen  von   Einjährig-Freiwilligen  sind  im  großen  und  ganzen  selten, 
aber  Bismarck  selbst  hatte  sich  im  Jahre  1838  vom  Garde-Jäger-Bataillon  als 
Einjährig-Freiwilliger  zur  damaligen  zweiten  Jäger- Abteilung  nach  Greifswald 
versetzen  lassen,  um  auf  der  Akademie  in  Eldena  landwirtschaftliche  Studien 
zu   betreiben.     Jetzt   setzte   er  nun   auch   die  Versetzung  seiner  Söhne  nach 
Berlin  durch.     In  dem  genannten  Regiment  machten  beide  den  Feldzug  von 
1870  mit,    Herbert  als  Fähnrich,   Wilhelm  Bismarck    zunächst    als  Gefreiter. 
Am   31.  Juli,    einem    sehr    heißen    Tage,    wurde    Berlin    verlassen.     Für  den 
Bismarckschen  Familiensinn  ist  es  bezeichnend,  daß  der  Vater  von  Mainz  aus 
seinem    Sohne  Herbert  schrieb;   »Wird  einer  von  Euch  beiden   blessiert,  so 
telegraphiert  mir  nach  des  Königs  Hauptquartier,  Euerer  Mutter  aber  nichts 
vorher.«     Herbert  B.  hat  über  seine  Feldzugserlebnisse  sehr  genaues  Tage- 
buch  geführt,   in  welchem  er  auch  seine  bei   der  Attacke  seines  Regiments 
am  16.  August  bei  Mars  la  Tour  erlittene  Verwundung  eingehend  beschreibt. ') 
Eine  Kugel  zerschlug  ihm  die  Uhr,  eine  zweite  den  Rockschoß,  ein  Granat- 
splitter endlich  fuhr  ihm  in  den  linken  Oberschenkel,  zum  Glück,   ohne  den 
Knochen    zu  verletzen.     Bekannt  ist,  daß  der  Vater  am  folgenden  Tage  den 
verwundeten  Sohn  aufsuchte  und  seine  Überführung  nach  Nauheim  veranlaßte, 
wohin  die  Mutter  sich  zu  seiner  Pflege  begab.     Die  Zeit  vom  19.  bis  23.  August 
konnte  Herbert  beim  Vater  im  Hauptquartier  zu  Pont  ä  Mousson  zubringen. 
Am    24.  August   trat   er  die   Reise   von   dort   nach  Nauheim  an.     Der  Vater 
berichtete  der  Mutter:  »Herbert  war  sehr  wohl  und  guter  Dinge.     Ich  mußte 
ihm  heute  noch  Hosen  besorgen,  deren  er  gar  keine  besaß.«     Unterm  7.  Sep- 
tember  wurde  Herbert  zum  Offizier  ernannt,  sein  Bruder  zum  Fähnrich,  was 
der   König  dem  Vater  an  der  Tafel  in  Rheims  mitteilte.     In  einem  Briefe 
aus   Ferneres    vom   23.  September   schreibt  der  Vater  an   Gattin   und   Sohn: 
»Die   Kränkung  über  Wilhelmshöhe    begreife  ich,   die  Küche,   Stall  und  Li- 
vreen sind  gegen   den  Willen  des  Königs  von  Berlin  geschickt  worden,  und 
Napoleon   hat   darauf   seine   eigene   schnell   entlassen    und    verkauft,    um    zu 
sparen.     Im    übrigen    ist   uns  ein   gut  behandelter  Napoleon   nützlich.     Und 
darauf  allein  kommt  es  mir  an.     Die  Rache  ist  Gottes.    Die  Franzosen  müssen 
ungewiß  bleiben,  ob  sie  ihn  wiederbekommen,  das  fördert  ihre  Zwistigkeiten. 
Wir  haben  nicht  die  Aufgabe,  sie  gegen  uns  zu   einigen.«     Rührend   ist  die 
väterliche  Sorge,  den  Söhnen  das  Eiserne  Kreuz  zu  sichern.    Bismarck  spricht 
sich  in  verschiedenen  Briefen  an  die  Mutter  darüber  aus,  und  sagt  darin  u.  a.: 
'^Ich  selbst  trage  es  natürlich   unverdient,   kann   es  dem   Könige   aber  doch 
nicht  zurückgeben.«     Ende  Oktober  war  Herbert  bereits  wieder  so  weit  her- 
gestellt, daß  er  an  seine  Equipierung  und  Ausrüstung  für  die  Rückkehr  zum 
Regiment  denken  konnte.     Der  Vater  schreibt  der  Mutter:  »Gib  Herbert  das 
Geld,  was  er  zu  seiner  Equipierung  braucht,  und  für  ein  gutes  Pferd«,  fügte 
aber  hinzu,  Herbert  solle  sich  mit  dem  Reiten  noch  vorsehen  und  nicht  zu 
früh  gesund  fühlen.     Das  Regiment  liege  still  in  Villette,  exerziere  und  reite 


*)  Abgedruckt  in  »Schönhausen  und  die  Familie  Bismarck.«    Von  Dr.  Georg  Schmidt  P. 
Berlin  1888.     E.  S.  Mittler  &  Sohn. 


104 


von  Bismarck. 


Remonten  bei  Regenwetter.  Anfang  November  wurde  Herbert  zur  Depot- 
schwadron versetzt.  Der  Vater  schreibt  ihm:  »Ich  hätte  mich  gefreut,  wenn 
Du  gekommen  wärest,  aber  ich  bin  ein  zu  abergläubischer  Vater,  um  etwas 
dafür  zu  tun  und  nehme  die  Dinge,  wie  Gott  sie  fügt.  Dienstlich  bist  Du 
dort  jetzt  nützlicher  als  hier.«  Der  Mutter  schickte  er  dabei  gleichzeitig 
einige  Blätter  von  einem  Blumenstrauß,  »welchen  mir  gestern  ein  47er  Unter- 
offizier, von  seinen  Schlesiem  im  Feuer  der  Franzosen  für  mich  gepflückt,  dienst- 
lich mit  strammer  Meldung  von  den  Vorposten  brachte«.  Am  12.  Dezember 
schreibt  Bismarck  ihr:  »Herbert  möchte  ich  eine  schöne  Säbelklinge  zu  Weih- 
nachten schenken,  auch  Bill,  aber  es  muß  die  übliche  zulässige  Form  sein. 
Wenn  ich  sage  Klinge,  so  meine  ich  Säbel  mit  Scheide,  aber  der  Wert  muß  in 
der  Klinge  liegen.«  Unterm  26.  Dezember  gratuliert  der  Vater  ihm  zum 
Geburtstag:  »Danke  Gott  mit  mir  für  seine  Gnade,  für  die  Freude,  mit  der 
ich  Deiner  gedenke.  Ich  habe  Mama  geschrieben?  daß  ich  Dir  ein  Gewehr 
schenken  wollte,  suche  es  selbst  aus,  mit  Einlageröhren  als  Büchsflinte,  Kasten, 
Wappen  und  die  Jahreszahl  1870  unter  letzterem  auf  der  Platte.«  Unterm 
4.  Februar  meldet  Bismarck  seiner  Gattin  aus  Versailles  das  Eintreffen  Herberts, 
der  mit  einem  Ersatztransport  zum  Regiment  kommandirt  war,  und  am 
folgenden  Tage  wird  aus  dem  Militärkabinett  die  Verleihung  des  Eisernen 
Kreuzes  zweiter  Klasse  für  Herbert  dem  Vater  mitgeteilt  unter  gleichzeitiger 
Übersendung  des   Kreuzes  zur  Aushändigung  an  den  Sohn. 

Am  16.  Juni  187 1  zog  Graf  Herbert  Bismarck  mit  seinem  Regimente  wieder 
in  Berlin  ein.  Zunächst  war  es  sein  Wunsch,  die  militärische  Laufbahn  weiter 
zu  verfolgen  und  beim  Regiment  zu  bleiben.  Er  gab  diese  Absicht  jedoch 
später  auf,  wandte  sich  staatsrechtlichen  Studien  zu  und  legte  das  diplomati- 
sche Examen  ab.  Damit  betrat  er  die  Laufbahn  des  Staatsmannes,  die  ihn 
binnen  vierzehn  Jahren  bis  zur  höchsten  Sprosse  der  amtlichen  Stufenleiter 
führte.     Ihr  äußerer  Gang  gestaltete  sich  wie  folgt: 

Am  15.  Januar  1874  wurde  Herbert  Bismarck  zunächst  noch  als  Offizier 
zum  Auswärtigen  Amte  kommandiert  und  nach  Attachierung  bei  den  Gesandt- 
schaften in  Dresden  und  in  München  am  14.  April  1875  zur  diplomatischen 
Laufbahn  in  das  Auswärtige  Amt  einberufen.  Während  des  Sommers  1874 
hatte  er  bei  seinem  Vater  während  eines  siebenwöchigen  Aufenthaltes  in 
Kissingen  den  ausschließlichen  Dienst  als  Sekretär  versehen;  die  gleiche 
Stellung  nahm  er  im  folgenden  Jahre  von  Mai  bis  Oktober  wahr.  Im 
Oktober  1875  war  er  im  Gefolge  des  Kaisers  auf  dessen  Reise  nach  Mailand, 
im  März  1876  legte  er  das  diplomatische  Examen  ab,  worauf  seine  Ernennung 
zum  Legationssekretär  erfolgte.  Als  solcher  gehörte  er  nominell  den  Gesandt- 
schaften in  Bern  und  später  in  Dresden  an,  war  jedoch  mit  Ausnahme  weniger 
Monate  zu  Anfang  1878  bei  der  Botschaft  in  Wien,  fast  ausschließlich  in  der 
unmittelbaren  Umgebung  seines  Vaters  als  dessen  Sekretär  tätig.  Der  Reichs- 
kanzler hatte  das  begreifliche  Bedürfnis,  in  seiner  nächsten  Umgebung  Organe 
zu  besitzen,  auf  deren  Treue,  Hingebung  und  Verschwiegenheit  er  sich  un- 
bedingt verlassen  konnte.  Graf  Herbert  nahm  im  Sommer  1878  an  den 
Arbeiten  des  Berliner  Kongresses  als  dessen  Sekretär  teil  und  ward  am  22.  März 
1880  Legationsrat.  Militärisch  war  er  als  Rittmeister  zu  den  Offizieren  von 
der  Armee  versetzt  worden.  Im  Januar  1881  wurde  Herbert  in  die  politische 
Abteilung    des    Auswärtigen    Amtes    versetzt,    begleitete    aber    auch    in    der 


von  Bismarck. 


105 


der  Folgezeit  seinen  Vater  nach  Kissingen,  Friedrichsruh  und  Varzin.  Im 
November  wurde  er  der  Botschaft  in  London  als  zweiter  Sekretär  zugeteilt, 
im  Dezember  1882  mit  einer  außerordentlichen  Mission  nach  Wien  betraut, 
im  Januar  1883  zum  Botschaftsrat  in  London  ernannt.  Im  Januar  1884  ging 
er  als  Vertreter  des  beurlaubten  Botschafters  nach  Petersburg,  und  dort 
knüpften  sich  die  erste  intimen  Beziehungen  zu  dem  damaligen  Prinzen, 
jetzigen  Kaiser  Wilhelm  IL,  der  im  Mai  anläßlich  der  Großjährigkeitserklärung 
des  jetzigen  Kaisers  von  Rußland  zur  Überbringung  des  Schwarzen  Adler- 
ordens an  diesen  nach  Petersburg  gesandt  worden  war.  Am  15.  Juli  1884 
zum  Gesandten  im  Haag  ernannt,  nahm  Graf  Bismarck  an  der  Dreikaiser- 
zusammenkunft in  Skiernewice  teil  und  wurde  bei  diesem  Anlaß  am  16.  Sep- 
tember zum  Major  ä  la  suite  der  Armee  befördert.  Am  28.  Oktober  erfolgte 
im  10.  schleswig-holsteinschen  Wahlkreise  seine  Wahl  in  den  Reichstag.  Bei 
einer  früheren  Bewerbung  um  das  Mandat  zum  Reichstage  im  Juli  1878  war 
er  mit  3894  Stimmen  gegen  den  Nationalliberalen  Dr.  Hammacher  unterlegen, 
der  3899  Stimmen  auf  sich  vereinigte.  Das  Wort  im  Reichstage  nahm  er 
zuerst  am  4.  Dezember  1884  zur  Befürwortung  einer  Gehaltserhöhung  der 
Subalternbeamten  der  Reichskanzlei,  am  7.  Mai  1885  in  Sachen  der  Mahl-  und 
Schlachtsteuer  und  am  6.  März  1886  zur  Berichtigung  einer  unrichtig  wieder- 
gegebenen Äußerung  über  das  Branntweinmonopol.  Am  70.  Geburtstage  seines 
Vaters,  i.  April  1885,  erhielt  er  den  Roten  Adlerorden  zweiter  Klasse,  am 
II.  Mai  desselben  Jahres  wurde  er  zum  Unterstaatssekretär  im  Auswärtigen 
Amt  ernannt,  am  17.  Mai  1886  zum  Staatssekretär.  Mit  dieser  Stellung  über- 
^siedelte  Graf  Herbert  an  den  Bundesratstisch  und  legte  infolgedessen  sein 
Mandat  zum  Reichstage  nieder.  Am  17.  September  wurde  er  auch  mit  der 
Stellvertretung  des  Reichskanzlers  im  Auswärtigen  Amt  betraut  und  zugleich 
ermächtigt,  innerhalb  seines  Ressorts  die  verfassungsmäßige  Verantwortlichkeit 
durch  Unterzeichnung  zu  übernehmen. 

Am  23.  Dezember  1887  fügte  Kaiser  Wilhelm  I.  in  einem  Schreiben  an 
den  Reichskanzler  die  Ernennung  des  Grafen  Herbert  zum  Wirklichen  Ge- 
heimen Rat  mit  dem  Prädikat  Excellenz  hinzu.  Der  Brief  fängt  mit  den 
Worten  an:  »Anliegend  sende  ich  Ihnen  die  Ernennung  Ihres  Sohnes  zum 
Wirklichen  Geheimen  Rat  mit  dem  Prädikat  Excellenz,  um  dieselbe  Ihrem 
Sohn  zu  übergeben,  eine  Freude,  die  ich  Ihnen  nicht  versagen  wollte.  Ich 
denke,  die  Freude  wird  eine  dreifache  sein,  für  Sie,  für  Ihren  Sohn  und  für 
mich.«  Am  Schlüsse  des  langen  Schreibens,  das  im  übrigen  die  Frage  der 
Unterschriftserteilung  an  den  Prinzen  Wilhelm,  den  jetzigen  Kaiser,  be- 
handelte, bemerkte  der  Kaiser  noch  sorgfältig:  »Das  beifolgende  Patent 
wollen  Sie  gefälligst  vor  der  Übergabe  kontrasignieren!«  Abgesehen  davon, 
daß  Kaiser  Wilhelm  gern  jede  Gelegenheit  benutzte,  namentlich  hohe  Fest- 
tage, um  dem  Reichskanzler  durch  Beförderung  oder  Auszeichnung  der 
Söhne  eine  Freude  zu  machen,  darf  in  bezug  auf  Herbert  Bismarck  doch 
aus  den  eigenen  Niederschriften  des  Kaisers  hinzugefügt  werden,  daß  der 
junge  Staatsmann  persönlich  in  hohem  Grade  das  Vertrauen  dieses  seltenen 
Monarchen  gewonnen  hatte.  So  schrieb  der  Kaiser  an  seinem  Geburtstage 
1880  an  den  Reichskanzler:  »Ich  benutze  den  heutigen  Tag,  um  mir  und 
hoffentlich  auch  Ihnen  die  Freude  zu  bereiten,  Ihren  ältesten  Sohn,  Graf  Her- 
bert, zum  Legationsrat  hiermit  zu  ernennen.    Seine  vielfache  Beschäftigung  in 


I06  von  Bismarck. 

Ihrer  unmittelbarsten  Nähe,  die  er  zu  Ihrer  und  meiner  Zufriedenheit  voll- 
führt, geben  ihm  ein  Anrecht  auf  diese  Beförderung,  die  Jedermann  ver- 
stehen wird.  Ihr  dankbarer  König  Wilhelm.«  In  einem  Briefe  vom  30.  Ok- 
tober 1882  an  den  Kanzler  heißt  es:  »Die  Mitteilungen  Ihres  Sohnes  aus 
London  sind  ungemein  interessant  und  das  Vertrauen,  welches  die  englischen 
Staatsmänner  ihm  beweisen,  ist  ein  Grund  mehr,  ihm  die  dauernde  höhere 
Rolle  bei  der  Botschaft  anzuweisen,  deren  Ernennung  ich  in  den  nächsten 
Tagen  entgegensehen  kann,  wie  mir  Graf  Hatzfeld  heute  sagte.«  Unter  dem 
13.  Januar    1884:    »Vielfache  Störungen    zur  Vollendung    dieses    Schreibens 

fielen  zusammen  mit  der  Durchreise  Ihres  Sohnes  nach  Petersburg Ich 

habe  mich  nur  freuen  können,  was  Sie  mit  dieser  momentanen  Vertretung 
bezwecken,  und  nach  einer  Unterredung  mit  Ihrem  Sohn  habe  ich  noch 
mehr  uns  gratulieren  können  zu  dieser  Sendung,  denn  ich  habe  ihn  so  voll- 
kommen tanti  zur  Befestigung  —  wenn  dies  überhaupt  möglich  sein  wird  — 
der  jetzt  angebahnten  Besserung  unserer  Verhältnisse  mit  Rußland  gefunden, 
daß  ich  das  Beste  hoffe.«  Über  die  vorletzte  Begegnung,  welche  Graf  Herbert 
Bismarck  mit  dem  verewigten  Kaiser  gehabt  hat,  hat  Graf  James  Pourtales- 
Glumbowitz,  der  Jugendfreund  Herberts,  in  einer  am  i.  April  1905  zu  Wohlau 
in  Schlesien  gehaltenen  Festrede  berichtet.  Am  23.  Dezember  1887  war  Graf 
Herbert  Bismarck  zum  Vortrag  bei  Sr.  Majestät,  an  dessen  Schlüsse  er  sich 
für  die  auf  den  nächsten  Morgen  anberaumte  Weihnachtsreise  nach  Friedrichs- 
ruh  beurlaubte.  Der  Kaiser  händigte  ihm  bei  dieser  Gelegenheit  den  umstehend 
bereits  erwähnten  Brief  an  den  Reichskanzler  vom  gleichen  Tage  ein,  der  in 
dem  Anhang  zu  den  »Gedanken  und  Erinnerungen«  (Band  I)  als  letzter  abge- 
druckt und  autographiert  steht.  Der  Kaiser  bemerkte  noch:  »Der  Brief  ist 
schlecht  geschrieben,  bitte  entschuldigen  Sie  mich  bei  Ihrem  Vater,  aber  ich 
bin  ein  alter  Mann  un^  ich  kann  ihn  nicht  wieder  abschreiben».  Dann  wurde 
der  Monarch  sehr  gerührt  und  sagte:  »Ich  habe  ihn  oft  bekämpft  und  oft 
nicht  verstanden,  aber  jetzt  am  Ende  meines  Lebens  sage  ich  Ihnen  als  seinem 
Sohne:  Er  hat  immer  Recht  gehabt«.  Damit  umarmte  er  den  Grafen  Herbert, 
was  er  nie  vorher  oder  nachher  getan  hat.  Die  letzte  Begegnung  mit  dem 
Kaiser  fand  am  27.  Febrnar  1888  bei  der  Abmeldung  vor  Antritt  einer  Dienst- 
reise nach  London  statt. 

An  diese  Zeugnisse  seines  Königs  reihen  sich  zwei  des  Auslandes,  die 
ihm  bei  seinem  Scheiden  von  London  zuteil  geworden  sind.  Als  er  Ende 
März  1882  anläßlich  des  Geburtstages  seines  Vaters  London  für  einige  Zeit 
verließ,  äußerte  sich  Lord  Granville,  der  Staatssekretär  des  Auswärtigen,  in 
einem  Schreiben  an  den  britischen  Botschafter  in  Berlin,  Lord  Amphthill, 
über  den  jungen  deutschen  Diplomaten  wie  folgt:  »Graf  Herbert  Bismarck 
reist  morgen,  und  es  heißt,  er  werde  wahrscheinlich  nicht  wiederkommen  oder 
doch  nur  für  kurze  Zeit.  Das  müssen  wir  aufrichtig  bedauern.  Er  hat  sich 
außerordentlich  beliebt  gemacht,  und  es  gibt  hier  Viele,  Lady  Granville  und  ich 
mit  eingeschlossen,  die  in  der  Tat  sehr  traurig  sein  würden,  ihn  zu  verlieren. 
Er  hatte  Erfolg  in  Kreisen,  in  denen  das  schwierig  und  nicht  zu  erwarten  war. 
Er  zeigt  großes  Interesse,  und  sucht  energisch  die  Bekanntschaft  mit  allen  Kreisen 
der  Bevölkerung  —  aber,  wie  Sie  wissen,  braucht  man  Zeit,  um  auf  den 
Kern  zu  kommen,  und  da  er  vermutlich  in  der  Politik  seines  Heimatlandes 
noch  eine  sehr  beträchtliche  Rolle  spielen   wird,   und   eins   der  Hindernisse 


von  Bismarck. 


107 


für  das  bessere  Verständnis  der  beiden  Nationen  der  Mangel  an  gegenseitigem 
Sichkennen  gewesen  ist,  den  einige  Politiker  an  den  Tag  legen,  so  möchte 
ich  seine  vorzeitige  Abberufung  für  einen  Mißgriff  halten  und  die  ernsteste 
Hoffnung  hegen,  er  werde  zu  uns  zurückkehren  und  so  lange  als  möglich  bei 
uns  bleiben.«  Lord  Amphthill  teilte  dieses  Schreiben  mit  großer  Delikatesse 
dem  Reichskanzler  an  dessen  Geburtstag  am  i.  April  1882  mit,  indem  er 
zugleich  dem  Fürsten  Gesundheit  zur  Freude  seiner  Familie  und  zum  Glück 
seines  großen  Vaterlandes  wünschte.  Er  schrieb:  indem  er  diese  Indiskretion 
begehe,  sei  es  nur  seine  Absicht,  darzutun,  wie  sehr  Graf  Herbert  in  England 
geschätzt  werde.  Als  dieser  dann  im  Januar  1884  London  verließ,  um  die 
Geschäftsführung  in  Petersburg  zu  übernehmen,  richtete  Lord  Granville  den 
folgenden  Brief  an  ihn: 

Private.  18  Carl  ton  House  Terrace 

S.  W. 

Jan.  15/84. 
My  dear  Bismarck! 

It  is  not  usual  to  express  one*s  regrets  in  writing  to  a  Secretary  of  Em- 
bassy  on  his  change  of  post.  But  the  case  is  different  of  one  who  partly 
from  his  personal  position,  but  still  more  from  his  abilities  and  personal 
qualities,  has  done  so  much  to  strengthen  the  good  relations  of  two  coun- 
tries  which  have  so  many  interests  in  common  and  as  far  as  I  know  none 
which  are  opposed. 

I  was  truly  sorry  to  hear  of  your  leaving  us,  and  have  been  pleased  to 
hear  from  Odo  that  your  place  will  not  be  filled  up,  and  that  there  is  a 
Chance  of  your  Coming  back  to  us  soon. 

I  am  not  very  confident  of  your  not  being  wanted  else-where. 

You  know  the  welcome  you  will  receive  from  all,  if  you  return.  —  If 
duty  keeps  you  away,  you  will  have  the  good  wishes  of  London*s  political 
and  social  society,  especially  of 

Yours  sincerely 

Granville. 

(Zu  Deutsch:) 

Privat.  18  Carlton  House  Terrace 

S.  W. 

Jan.  15/84. 
Mein  lieber  Bismarck ! 

Es  ist  nicht  gebräuchlich,  einem  Botschaftssekretär  das  Bedauern  bei 
dem  Scheiden  von  seinem  Posten  schriftlich  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Aber  der  Fall  ist  ein  anderer  bei  Jemandem,  der  zum  Teil  durch  seine 
persönliche  Stellung,  aber  noch  viel  mehr  durch  seine  Fähigkeiten  und 
persönlichen  Eigenschaften  soviel  getan  hat,  die  guten  Beziehungen  zweier 
Länder  zu  festigen,  die  so  zahlreiche  Interessen  gemeinsam  haben  und 
soweit  als  ich  es  übersehe  keine,  die  einander  entgegengesetzt  sind. 

Ich  war  aufrichtig  betrübt,  zu  hören,  daß  Sie  uns  verlassen,  und  war  sehr 
froh,  von  Odo  zu  hören,  daß  Ihr  Platz  nicht  besetzt  werden  soll  und  daii 
darin  eine  Chance  für  Ihre  baldige  Rückkehr  zu  uns  liegt. 

Ich  bin  indes  nicht  sehr  vertrauensselig,  daß  Sie  nicht  irgendwo  anders 
gebraucht  werden. 


I08  ^^^  Bismarck. 

Sie  wissen,  welchen  Willkommen  Sie  von  Allen  bei  Ihrer  Rückkehr 
finden  werden.  Wenn  die  Pflicht  Sie  fernhält,  so  werden  Sie  die  guten 
Wünsche  der  Londoner  politischen  und  sozialen  Gesellschaft  haben,  ins- 
besondere X  •  1-  • 

Ihres  aufrichtigen 

Granville 

Auf  dieses  —  soviel  bekannt  —  bisher  unveröffentlichte  Schreiben  Lord 
Granvilles,  ist  bereits  im  ersten  Band  des  »Anhangs«  zu  den  »Gedanken 
und  Erinnerungen«  Seite  325  verwiesen.  Fürst  Bismarck  hatte  diesen  Brief 
dem  Kaiser  mitgeteilt,  der  ihm  darauf  unter  dem  9.  März  antwortete:  »Das 
Billet  von  Granville  ist  für  Ihr  Vaterherz  gewiß  äußerst  genugtuend  und 
gratuliere  ich  zu  diesem  kompetenten  Urteil  über  seine  Fähigkeiten.  Ich 
freue  mich  daher  ganz  besonders  über  seine  Sendung  nach  Petersburg,  wo 
er  in  kurzer  Zeit  eine  gleich  bedeutende  Rolle  spielt  und  ausgezeichnet  wird, 
wie  erst  kürzlich  auf  dem  Privatball  in  Jelagin  als  einziger  Diplomat.  Ich 
wundere  mich  daher,  daß  Sie  mir  Ihren  Sohn  unter  den  mir  durch  Graf 
Hatzfeld  genannten  Kandidaten  für  Karlsruhe  vorschlagen  ließen.  Ich  sollte 
glauben,  er  würde  in  Petersburg  viel  größeren  Dienst  leisten  können  als  in 
Karlsruhe,  wo  der  Gesichtskreis  sehr  gering  gegen  Petersburg  erscheint.« 
Was  es  mit  dem  Vorschlage  mit  Karlsruhe  für  eine  Bewandtnis  hatte,  erhellt 
aus  dem  Antwortschreiben  Bismarcks,  worin  dieser  hervorhebt,  daß  ihm  selbst 
im  Interesse  des  Sohnes  erwünscht  wäre,  wenn  dieser  Petersburg  nicht  ver- 
ließe, ohne  wenigstens  eine  Zeitlang  dort  Geschäftsträger  gewesen  zu  sein. 
Sicherlich  würde  es  dem  Wunsche  des  Sohnes  nicht  entsprechen,  wenn  er 
durch  die  Ernennung  in  Karlsruhe  den  größeren  politischen  Kreisen,  in  denen 
er  sich  bisher  bewegt  habe,  entzogen  würde.  Die  Nennung  seines  Namens  sei 
nur  in  der  Absicht  geschehen,  um  ihn,  den  Vater,  durch  Rangerhöhung  des 
Sohnes  dahin  zu  bringen,  ihn  in  ähnlicher  Form,  wie  früher  z.  B.  Herrn  von 
Radowitz  neben  Herrn  von  Bülow,  zur  Assistenz  in  den  ministeriellen  Ge- 
schäften heranziehen  zu  können.  »Dadurch  daß  ich  ihn  jahrelang  als  ver- 
trauten Sekretär  in  den  wichtigsten  Geschäften  benutzt  habe,  ist  er  ebenso  wie 
durch  seine  im  Auslande  •  geknüpften  persönlichen  Beziehungen  für  die  Mit- 
wirkung in  der  Zentralstelle  besonders  gut  vorbereitet.  Doch  wird  sich 
dieser  Zweck  auch  auf  anderem  Wege  mit  Eurer  Majestät  Allerhöchster  Ge- 
nehmigung erreichen  lassen,  ohne  den  älteren  Bewerbern  Derenthall  und 
Berchem  einen  Einschub  zu  bringen,  für  den  man  bei  mir  persönliche  und 
nicht  sachliche  Gründe  suchen  könnte.«  Die  Angelegenheit  fand  später 
durch  Ernennung  des  Grafen  Herbert  Bismarck  zum  Unterstaatssekretär  ihre 
Lösung. 

Kaiser  Friedrich  hat  die  Wertschätzung,  in  der  Graf  Herbert  bei  Kaiser 
Wilhelm  I.  stand,  seinerseits  fortgesetzt,  indem  er  ihn  im  Mai  1888  zum 
preußischen  Staatsminister  ernannte,  bekanntlich  die  einzige  Ministerer- 
nennung, die  Kaiser  Friedrich  vollzogen  hat.  Die  Kaiserin  Friedrich  hatte 
die  Anregung  gegeben,  dem  Grafen  Herbert  den  Prinzentitel  zu  verleihen, 
Fürst  Bismarck  aber  hatte  gebeten,  davon  abzusehen,  da  seine  Vermögens- 
verhältnisse kaum  für  eine  fürstliche  Existenz  ausreichend  seien,  geschweige 
denn  für  eine  prinzliche  Haushaltung  der  Söhne,  die  er  über  den  bisherigen 
Existenzfuß   nicht  hinauswachsen  zu  sehen  wünsche.     Wolle  der  Kaiser  ihm 


von  Bismarck. 


109 


und  zugleich  Herbert  eine  Gnade  erweisen,  so  würde  er  für  die  Be- 
rufung Herberts  in  das  Staatsministerium  dankbar  sein,  um  in  dessen 
Mitte  dauernd  einen  zuverlässigen  Vertreter  seiner  Anschauungen  zu  haben. 
Diesem  Wunsche  ist  dann  seitens  des  Kaisers  umgehend  entsprochen 
worden. 

Die  Beziehungen  Herberts  zu  dem  jetzt  regierenden  Kaiser  knüpften  sich, 
wie   bereits   erwähnt,   im   Mai    1884   in   Petersburg,    als    der   damalige  Prinz 
Wilhelm  dort  erschien,   um  den  jetzigen  russischen  Kaiser  zu  dessen  Groß- 
jährigkeit   den    Schwarzen  Adlerorden    zu  überbringen.     Als  Herbert    später 
nach  Berlin  zurückberufen  war  und  den  Dienst  im  Auswärtigen  Amt  wieder 
angetreten  hatte,  war  es  der  Wunsch  des  Prinzen,   durch  ihn,   soweit  es  der 
Fürst  nicht  selbst  konnte,  in  die  Geschäfte  des  Auswärtigen  Amts  eingeführt 
zu  werden,   wozu   er  beim   Kaiser  die  Erlaubnis  erbat   und   erhielt.     Es  ent- 
wickelte   sich    daraus  ein  fast  täglicher  Verkehr,    der  bald   einen  persönlich 
freundschaftlichen   Charakter    annahm    und    auch  nach   der  Thronbesteigung 
fortdauerte.    Graf  Herbert  Bismarck  begleitete  in  Vertretung  seines  Vaters  den 
jungen  Kaiser  in  den  Jahren  1888/89  bei  seinen  Antrittsbesuchen  in  Peters- 
burg,  Kopenhagen    und   Stockholm,   später  an  die    süddeutschen   Höfe   und 
nach   Wien,   Rom,  London,  Athen  und  Konstantinopel.     Beim  Rücktritt  des 
Reichskanzlers   im   März    1890   war   es   der   Wunsch   des   Kaisers,    daß   Graf 
Herbert  im  Amt  bleiben  sollte.     Dieser  aber  war  der  Ansicht,  daß  er  dadurch 
in  ein   schiefes  Verhältnis  zu   dem   neuen  Reichskanzler  geraten  müsse,   und 
daß  ebenso  die  dienstlichen  Interessen  wie  seine- Pflicht  gegen   seinen  Vater 
ihm  geböten,  diesem  zu  folgen.    Der  damalige  Entschluß  des  Grafen  Herbert 
ist  auch  nach  seinem  Ableben  oft  Gegenstand  der  Erörterung  geworden,  und  es 
gibt  heute  noch  sehr  urteilsfähige  Männer,   die  ihn  nicht  für  richtig  halten, 
sondern  der  Meinung  sind,  Herbert  hätte  im  Amt  bleiben  müssen,  er  würde 
dadurch   viel   unerwünschte  Dinge    im   Innern   und   Äußern    verhütet   haben. 
Diese  Ansicht  hat  ja  manches  für  sich,  in  den  Kreisen  der  damals  in  Berlin 
akkreditierten   Diplomatie   ist   man   im  Frühling   1890  ohnehin  der  Meinung 
gewesen,  daß  Grai  Herbert  in  nicht  allzu  langer  Zeit  in  die  Geschäfte  zurück- 
kehren  werde.     Heute  darüber  zu  diskutieren,  erscheint  müßig.     Der  Erfolg 
Herberts  wäre  davon  abhängig  gewesen,  in  welchem  Maße  der  Kaiser  ihm  sein 
Vertrauen  erhalten  hätte,  und  ob  nicht  unvermeidliche  Gegensätze  zwischen 
dem  Nachfolger   des  ersten  Reichskanzlers   und   dem   Sohne  den   Kaiser  zu 
einer  Entscheidung  gezwungen  hätten,   die  ein  Verbleiben  Herberts  im  Amt 
doch  zu  einem  Mißerfolg  gestaltet  haben  würden.     Schon  der  Umstand,  daß 
er  vor  der  Welt  als  Dollmetscher  der  Ansichten  seines  Vaters  im  Gegensatz 
zu  denen  des  Nachfolgers  gegolten  haben  würde,  hätte  seine  Stellung  äußerst 
schwierig  gemacht.     Bismarck  selbst  lehnte  eine  ihm  nahegelegte  Einwirkung 
auf  die  Entschließungen  des  Sohnes   mit  den  Worten  Octavio  Piccolominis 
in  Schillers  Wallenstein  ab:   »Mein  Sohn  ist  mündig.«     Die  Resignation   ist 
Herbert  sicherlich  nicht  leicht  geworden.     Er  hing  mit  voller  Hingebung  und 
Freudigkeit  an  seinem  Amte,  um  so  mehr  war  es  ein  harter,  aber  von  Charakter 
zeugender  Entschluß,  daß  er  so  frühzeitig  auf  eine  Berufstätigkeit  verzichtete, 
der  er  nicht  nur  mit  ganzer  Seele   ergeben  war,   sondern   der  er  sich  auch 
durch  Wissen  und  Können  gewachsen  wußte  und  die  ihn  mit  Ehren,  Ansehen 
und  weitreichendem  Einfluß  umgab.  —  Der  Kaiser  ehrte  ihn  beim  Scheiden 


Xio  von  Bismarck. 

durch  Verleihung  der  Kette  des  Hohenzollern-Ordens  und  lud  sich  bei  ihm 
zu  einem  Abschiedsmahl  zu  Gaste. 

Zum  Nachfolger  wurde,  nachdem  Verhandlungen  mit  dem  damaligen 
Gesandten  in  Brüssel,  Grafen  Alvensleben,  der  dazu  nach  Berlin  berufen 
worden,  an  dessen  entschiedener  Weigerung  gescheitert  waren,  der  badische 
Gesandte  in  Berlin,  Freiherr  v.  Marschall,  ernannt. 

Es  ist  begreiflich,  daß  die  glänzende  Laufbahn  des  Grafen  Herbert  Bismarck 
mancherlei  Neid  und  Mißgunst  herausgefordert  hat  und  man  in  amtlichen 
wie  in  außergewöhnlichen  Kreisen  geneigt  war,  seine  schnelle  Beförderung 
weniger  seinen  Fähigkeiten  als  dem  Umstände  zuzuschreiben,  daß  sie  eben 
dem  Sohne  seines  Vaters  galt.  Bei  dieser  Beurteilung  ist  es  meist  übersehen 
worden,  daß  Herbert  in  ganz  außergewöhnlicher  Weise  für  seinen  Beruf  heran- 
gebildet worden  ist,  und  daß  er  als  vertrauter  Sekretär  des  großen  Reichs- 
kanzlers ganz  anders  in  der  Lage  war,  Verhältnisse  und  Persönlichkeiten 
kennen  und  beurteilen  zu  lernen,  als  dies  sonst  bei  jungen  Diplomaten 
der  Fall  zu  sein  pflegt.  Bismarck  pflegte  seine  Mitarbeiter  nicht  gerade 
zu  schonen,  und  er  hat  auch  an  die  Arbeitskraft  des  ältesten  Sohnes, 
den  er  sehr  bald  zu  seinem  politischen  Schüler  machte,  sehr  weitgehende 
Anforderungen  gestellt.  Sowohl  bei  vertraulichen  Missionen  nach  Wien, 
Petersburg  und  London  wie  auch  während  des  Berliner  Kongresses  war  er 
in  einer  Weise  der  Vertraute  des  größten  Staatsmanns  unserer  Zeit,  wie  es 
ein  Sekretär,  der  eben  nicht  der  Sohn  ist,  niemals  sein  kann.  Der  Vater, 
der  absoluten  Diskretion  des  Sohnes  sicher,  konnte  mit  ihm  femliegende 
Ziele  und  die  Mittel  und  Wege  zu  ihrer  Erreichung  rückhaltlos  besprechen, 
ebenso  die  Art,  wie  die  dabei  in  Betracht  kommenden  Persönlichkeiten 
Deutschlands  und  des  Auslandes  zu  behandeln  oder  zur  Mitwirkung  heran- 
zuziehen wären.  Nicht  minder  wiederum  war  es  für  den  Sohn  und  seine 
berufliche  Ausbildung  wertvoll,  durch  die  Vertrauensstellung  bei  seinem  Vater 
in  der  Gesellschaft  wie  in  der  politischen  Welt  eine  über  sein  Lebensalter 
weit  hinausgreifende  Position  zu  haben  und  mit  einer  großen  Zahl  hervor- 
ragender Persönlichkeiten  des  In-  und  Auslandes  in  engeren  Verkehr  zu 
treten.  Wenn  er  ins  Ausland  und  an  fremde  Höfe  gesandt  wurde,  so  öffneten 
sich  ihm  dort  viele  Türen,  die  jedem  anderen  verschlossen  geblieben  wären, 
er  trat  den  leitenden  politischen  Persönlichkeiten  des  Auslandes  in  ganz  anderer 
Weise  nahe,  wie  sich  das  auch  aus  Granvilles  Brief  ergibt,  als  es  sonst  einem 
jungen  Staatsmann  seines  Alters  und  Ranges  möglich  gewesen  sein  würde. 
Während  des  Berliner  Kongresses  nahm  Herbert  als  vertrauter  Sekretär  seines 
Vaters  eineganz  besondere  Stellung  ein,  die  wesentlich  darauf  beruhte,  daß  die 
vertraulichen  Verhandlungen,  die  Bismarck  mit  Disraeli,  Schuwalow  und 
Andrassy  pflegte,  durch  Herbert  gingen,  der  nicht  selten  noch  in  vorgerückter 
Nachtstunde  oder  am  frühen  Morgen  die  fremden  Minister  im  Auftrage  seines 
Vaters  aufzusuchen  hatte.  Überall  im  Auslande  wurde  ihm  daher  neben  der 
Achtung,  auf  die  er  als  Sohn  seines  Vaters  Anspruch  machen  konnte,  auch  eine 
weitgehende  persönliche  Wertschätzung  entgegengebracht,  die  auf  seinem 
Charakter,  seinen  Fähigkeiten  und  seinen  Kenntnissen  beruhte.  In  Wien  war  er 
als  Sohn  des  Staatsmanns,  der  das  deutsch-österreichische  Bündnis  geknüpft 
hatte,  hochwillkommen,  an  der  Einbeziehung  Italiens  in  dieses  Bündnis  hatte 
er  bei  seiner  Mission  nach  Wien  im  Jahre  1882  einen  hervorragenden  Anteil 


von  Bismarck.  XII 

nehmen  können.  Ebenso  war  seine  Sendung  nach  Petersburg  im  Früh- 
jahr 1884,  bei  der  es  sich  im  wesentlichen  um  die  Verlängerung  des  be- 
stehenden Abkommens  mit  Rußland  und  um  die  Vorbereitung  der  Drei- 
Kaiserbegegnung  von  Skiernewice  handelte,  von  großer  Bedeutung  gewesen. 
Zu  Anfang  des  Jahres  1885  ^^^  Deutschland  in  allerlei  koloniale  Differenzen 
mit  England  geraten,  die  auch  im  Schriftwechsel  einen  verstimmenden 
Charakter  angenommen  hatten  und  ebenso  in  den  Parlamentsverhandlungen 
zum  Ausdruck  kamen.  Am  3.  März  1885  sah  der  Reichskanzler  sich  genötigt, 
im  Reichstage  gegen  das  Verfahren,  das  Lord  Granville  Deutschland  gegen- 
über seit  einiger  Zeit  eingeschlagen  hatte,  öffentlich  Verwahrung  einzulegen. 
Lord  Granville  hatte  in  öffentlicher  Parlamentsrede  den  Fürsten  Bismarck 
als  den  schlimmen  Ratgeber  und  Verführer  zur  Annexion  Ägyptens  hingestellt, 
ihm  die  Äußerung  zugeschoben:  »to  take  it«.  Bismarck  ging  in  seiner  gleich- 
falls parlamentarischen  Erwiderung  sehr  ernst  und  zurückweisend  darauf  ein. 
Seine  Rede  war  eine  scharfe  sachliche  und  persönliche  Kritik,  die  unter 
anderem  auch  darüber  klagte,  daß  die  Verhandlungen  englischerseits  aus- 
schließlich schriftlich  betrieben  würden,  ein  System,  welches  die  ganze 
Diplomatie  überflüssig  mache.  Es  seien  seit  dem  Sommer  1884  im  ganzen 
128  schriftliche  Noten  vom  englischen  Kabinet  eingelaufen,  zusammen  700  ois 
800  Seiten  lang,  die  sämtlich  zu  beantworten  waren.  Bismarck  fügte  hinzu: 
'>so  viel  haben  wir  von  allen  übrigen  Regierungen  in  den  23  Jahren,  daß 
ich  Auswärtiger  Minister  bin,  nicht  bekommen.«  Unmittelbar  nach  der  be- 
treffenden Reichstagssitzung  begab  Herbert  Bismarck  sich  zum  Vortrag  zum 
Kaiser  und  reiste  dann  am  Abend  nach  London  ab,  formell  einer  Einladung 
Lord  Roseberys  folgend.  Bereits  am  6.  März  entschuldigte  sich  Lord  Granville 
im  Oberhause  in  einer  Rede,  die  in  ihren  Hauptpunkten  zuvor  mit  Herbert 
Bismarck  und  dann  im  Kabinetsrat  festgestellt  worden  war;  England  wollte 
in  seinen  damaligen  Schwierigkeiten  mit  Rußland  nicht  auch  zu  Deutschland 
in  solche  geraten.  Am  12.  März  begrüßte  der  Premierminister  Gladstone  im 
Unterhause  Deutschland  als  Genossen  Englands  auf  dem  Gebiete  der  zivilisa- 
torischen und  kolonisatorischen  Bestrebungen.  Die  Mission  Herberts  hatte 
Erfolg  gehabt.  Die  »Times *<  nannten  den  Grafen  Herbert  damals  -  »den 
sprechenden  Mund  seines  Vaters«,  aber  er  hatte  sich  als  solcher  durchaus 
bewährt.  Speziell  seine  Beziehungen  zu  Lord  Rosebery  sind  bis  zum  Lebens- 
ende sehr  enge  und  freundschaftliche  geblieben,  Rosebery  ist  auch  Pate  des 
ältesten  Sohnes  Herberts,  des  jetzigen  jungen  Fürsten  Otto  Bismarck. 

Während  der  letzten  Lebensjahre  Kaiser  Wilhelms  L  war  der  politische 
Horizont,  wenn  auch  nicht  völlig  aufgehellt,  wie  sich  schon  aus  der  Rüstungs- 
periode 1887/88  ergibt,  so  doch  insoweit  klar,  daß  die  kolonialen  Angelegen- 
heiten in  den  Geschäften  des  Auswärtigen  Amtes  überwiegen  konnten.  Die 
durch  internationale  Verhandlungen  viel  beanspruchte  Tätigkeit  des  Staats- 
sekretärseHerbert  Bismarck  ist  denn  auch  wesentlich  auf  diesem  Gebiete  zu 
suchen.  Auf  Einzelheiten  einzugehen,  gestattet  der  Raum  nicht,  ist  auch  nicht 
Aufgabe  dieser  biographischen  Darstellung,  ist  auch  deshalb  unmöglich,  weil 
zu  einer  völlig  objektiven  Beurteilung  eine  Kenntnis  der  Akten  erforderlich 
wäre,  auf  die  aus  naheliegenden  Gründen  noch  auf  eine  längere  Reihe  von 
Jahrennicht  zu  rechnen  ist.  Persönlich  trat  Herbert  in  der  Samoa- Angelegen- 
heit in  den  Vordergrund,  namentlich  bei  der  Konferenz,  die  zur  Regelung  der 


112  von  Bismarck. 

Samoa-Frage  im  Frühjahr  1889  in  Berlin  zusammentrat.    Der  auf  dieser  Kon- 
ferenz erzielte  Erfolg  der  deutschen  Diplomatie  war  sein  persönliches  Verdienst. 

Es  erübrigt  nun  noch  einen  kurzen  Rückblick  auf  die  parlamentarische 
Tätigkeit  Herberts  von  Bismarck  zu  werfen.  Er  hatte  als  Staatssekretär 
wiederholt  im  Reichstage  koloniale  Fragen  zu  vertreten,  mehr  das  Detail  als 
die  generelle  Seite  der  Sache,  für  die  der  Reichskanzler  doch  meist  persön- 
lich einstand.  Es  ist  begreiflich,  daß  innerhalb  dieses  engens  Rahmens  große 
parlamentarische  Lorbeern  nicht  zu  pflücken  und  viele  Erfolge  bei  einem 
Reichstage  nicht  zu  erzielen  waren,  in  welchem  eine  große  Minderheit  — 
bis  1888  war  es  die  Mehrheit  —  zusammengesetzt  aus  Zentrum,  Freisinnigen 
und  Sozialdemokraten,  in  allen  kolonialen  Angelegenheiten  prinzipiell  Oppo- 
sition machte. 

Nach  seinem  Rücktritt  vom  Amt  hatte  Herbert  allmählig  den  Vorsatz 
gefaßt,  die  politische  Laufbahn  von  neuem  und  zwar  auf  parlamentarischem 
Gebiet  zu  beginnen.  Er  wollte  zu  diesem  Zweck  ein  Mandat  sowohl 
zum  Reichstag  wie  zum  Abgeordnetenhause  annehmen.  Den  letzten  Gedanken 
ließ  er  fallen,  obgleich  dieses  Mandat  mit  ungleich  weniger  Schwierigkeiten 
als  das  Reichstagsmandat  zu  erlangen  gewesen  wäre.  Herbert  wollte  sich 
jedoch  auf  keine  Partei  einschwören,  und  er  hätte  im  Abgeordnetenhaus 
unabweislich  einer  Fraktion  beitreten  müssen.  Für  den  Reichstag  hatte  ei 
bekanntlich  in  den  Jahren  1884  bis  1886  das  Lauenburger  Mandat  bekleidet. 
Vom  Jahre  1893  an  nahm  er  das  des  dritten  Magdeburgischen  Wahl- 
kreises (Jerichow  I  und  II),  das  ihm  bis  zu  seinem  Ableben  volle  zehn  Jahre 
hindurch  trotz  freisinniger  und  sozialdemokratischer  Anfechtung  erhalten 
geblieben  ist.  Bei  der  Absicht,  die  Mandate  anzustreben,  mögen  dem  Grafen 
Herbert  wohl  auch  englische  Verhältnisse  vorgeschwebt  haben,  wo  es  nicht 
nur  nichts  Außergewöhnliches,  sondern  die  Regel  ist,  daß  ein  Minister  nach 
seiner  Entlassung  in  das  Parlament  zurücktritt,  aus  dem  er  hervorgegangen. 
Denn  die  Minister  in  England  gehören  ja  mit  geringen  Ausnahmen  stets 
der  Volksvertretung  in  einem  der  beiden  Häuser  an.  Für  Deutschland  hat  die 
parlamentarische  Tätigkeit  eines  früheren  Ministers  größere  Schwierigkeiten, 
weil  bei  der  wesentlich  verschiedenen  Stellung,  die  in  Deutschland  die  Krone 
in  bezug  auf  die  Ernennung  der  Minister  einnimmt,  die  oppositionelle  Hal- 
tung eines  ihrer  ehemaligen  Berater  diesen  leicht  in  eine  unbequeme  und 
schiefe  Stellung  bringt,  und  ganz  besonders  mußte  dies  für  Herbert  Bismarck 
der  Fall  sein,  namentlich  solange  sein  Vater  lebte  und  bei  den  vielen  Emp- 
fängen in  Friedrichsruh  persönlich  einen  starken  Einfluß  auf  die  Tagesfragen 
nahm.  Herbert  Bismarcks  parlamentarische  Tätigkeit  ist  daher  von  so  vielen 
Rücksichten  eingeengt  gewesen,  zu  denen  nach  der  Entlassung  Caprivis  auch 
noch  die  persönlichen  auf  die  beiden  Nachfolger  kamen,  daß  man  auch 
an  diese  Seite  seiner  öffentlichen  Wirksamkeit  den  Maßstab  wie  sonst  an 
einen  im  politischen  Leben  stehenden  Mann  nicht  anlegen  kann.  Alle  diese 
Rücksichten  waren  für  ihn  auch  bestimmend  gewesen,  sich  im  Reichstage 
keiner  Partei  anzuschließen,  die  etwas  isolierte  Stellung,  in  der  er  sich  da- 
durch befand,  war  gleichfalls  hemmend  für  seine  Tätigkeit  als  Abgeordneter. 
Nach  dem  Tode  seines  Vaters  beschränkte  er  sich  denn  auch  mehr  und 
mehr  darauf,  der  Wächter  seines  großen  Andenkens  zu  sein,  er  hat  in  der 
Zeit    von    1898    bis    1904    nur    noch    fünfzehn    Male    das    Wort    genommen. 


von  Bismarck. 


"3 


Das  Reden  wurde  ihm  nicht  leicht.  Die  reiche  oratorische  Begabung  des 
Vaters  war  auf  ihn  nicht  übergegangen,  aber  dennoch  fesselte  er  den  Reichs- 
tag, so  oft  er  das  Wort  nahm.  Dem  ernsten  Inhalt  seiner  Reden  war 
stets  die  volle  Beachtung  bei  Freund  und  Feind  gesichert.  Denn  auch  in 
der  Beschränkung,  die  er  sich  selbst  auferlegte,  ist  er  eines  der  bedeu- 
tendsten Mitglieder  des  Reichstags  gewesen,  als  staatsmännische  Kapazität 
war  wohl  keiner  ihm  gleichwertig.  Nach  dem  Tode  des  Vaters  trat  er  als 
dessen  Nachfolger  auch  in  das  Herrenhaus.  Auch  dort  hat  er  in  der  Zeit 
von  1899  bis  1904  noch  sechsmal  das  Wort  ergriffen.  Zum  letzten  Male  am 
3.  März  1904  zur  Polenfrage;  diese  Rede  ist  sein  politisches  Testament 
geworden,  im  Reichstage  hat  er  zum  letzten  Male  am  3.  Februar  1903  zur 
Diätenfrage  gesprochen.  (Die  im  Winter  1904  bei  Spemann,  Berlin  und 
Stuttgart,  erschienene  Sammlung  seiner  Reden  verzeichnet  einschließlich  der 
vor  den  Wählern  gehaltenen   von  1878   bis  1904  im   Ganzen   65   Nummern.) 

Wie  glaubwürdig  verlautet,  wäre  ihm  der  Rücktritt  in  den  diplomatischen 
Dienst  wiederholt  möglich  gewesen  und  ernstlich  nahegelegt  worden.  Aber 
obwohl  er  die  Untätigkeit,  zu  der  er  sich  in  verhältnismäßig  jungen  Jahren 
verurteilt  sah,  schwer  empfand  und  ihm  das  Landleben  nur  allmählich  Ersatz 
für  die  verlassene  große  Wirksamkeit  bot,  zog  er  es  doch  vor,  im  Ruhe- 
stande zu  bleiben,  weil  er  es  nicht  über  sich  gewinnen  konnte  unter  den  Nach- 
folgern seines  Vaters  zu  dienen.  Die  Sohnespflicht,  wie  er  sie  auffaßte,  stand 
ihm  über  Allem.  Dementsprechend  war  es  auch  sein  Wunsch,  seine  Kinder  in 
dem  historischen  Schatten  von  Friedrichsruh  aufwachsen  und  erziehen  zu  lassen. 
Neidlos  hatte  er  dem  jetzigen  Reichskanzler,  mit  dem  er  aus  der  Frankfurter 
Kinderzeit  befreundet  war,  zu  dessen  Amtsantritt  als  erster  die  wärmsten 
Glückwünsche  gesandt. 

Von  Interesse  ist  eine  Äußerung  des  Reichskanzlers  Fürsten  Bismarck  zu 
dem  ihm  wie  dem  Sohne  befreundeten  Abgeordneten  von  Kardorff,  der  darüber 
berichtet:  »Als  der  Altreichskanzler  in  Friedrichsruh  gelegentlich  mir  gegen- 
über einmal  darüber  klagte,  daß  es  ihm,  nachdem  er  so  lange  mitten  in  der 
großen  Weltpolitik  gestanden,  so  schwer  falle,  sich  jetzt  wieder  intensiv  für 
Land-  und  Forstwirtschaft  zu  interessieren,  fügte  er  hinzu:  »Meinem  Sohne 
Herbert  wird  das  ja  zum  Teil  auch  so  gehen,  aber  er  ist  jung,  kann  mög- 
licherweise doch  noch  einmal  herangezogen  werden,  und  er  sitzt  ja  auch  im 
Reichstage.  Ich  hätte  vielleicht  mehr  in  seinem  eigenen  Interesse  gehandelt, 
wenn  ich,  statt  ihn  als  Staatssekretär  des  Auswärtigen  nach  Berlin  zu  berufen, 
ihn  länger  in  der  Gesandtenkarriere  belassen  hätte;  ^r  hatte  wiederholt  in 
diplomatischen  Verhandlungen  hervorragendes  Geschick  bewiesen:  im  Reichs- 
tage bildete  er  die  Zielscheibe,  gegen  welche  meine  Gegner  ihre  Geschosse 
richteten,  wenn  sie  mich  zu  verletzen  trachteten.  Aber  bei  den  außerordent- 
lich diskreten  Dingen,  welche  ich  im  auswärtigen  Dienst  und  als  Reichs- 
kanzler unter  umständen  zu  behandeln  hatte,  war  es  für  mich  sehr  ver- 
führerisch, mich  im  gegebenen  Falle  keiner  anderen  Beihilfe  als  der  meines 
Sohnes  bedienen  zu  dürfen.« 

Das  Fazit  seines  Lebens  hat  am  treffendsten  von  allen  den  zahlreichen 
Nekrologen,  die  dem  Fürsten  Herbert  Bismarck  nach  seinem  Tode  gewidmet 
worden  sind,  der  »Reichsanzeiger«  in  dem  amtlichen  Nachruf,  wohl  aus  der 
Feder    des    jetzigen   Reichskanzlers,   gezogen.     Er  hob  in   würdiger  Sprache 

Bio^rr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrulo^.    9.  Bd.  8 


114 


von  Hismarck. 


hervor,  daß,  als  Herbert  noch  ein  Knabe  war,  der  Vater  die  höchste  Staffel  des 
Ruhmes  und  der  Erfolge  erstieg,  daß  er  dann  selbst  als  Jüngling  an  dem 
großen  Kriege  teilnahm,  bei  der  historischen  Attacke  von  Mars -la- Tour 
schwer  verwundet,  dann  noch  bei  jungen  Jahren  schnell  auf  des  Lebens 
Gipfel  hingetragen  wurde.  »Wenn  die  ganze  Nation  voll  stolzem  Hoch- 
gefühl ihrem  Pfadfinder,  dem  eisernen  Kanzler,  zujubelte,  wie  hätte  sich  der 
Sohn  nicht  mit  unbegrenzter  Verehrung  und  Bewunderung  für  den  Vater  erfüllen 
sollen!  Was  der  Staatssekretär  und  Staats  min  ister  Graf  Bismarck  an  der  Seite 
des  ersten  Reichskanzlers  als  dessen  vertrauter  Berater  für  unsere  auswärtige 
Politik  geleistet  hat,  das  wissen  bis  jetzt  nur  wenige  eingeweihte 
Mitarbeiter.  Sein  Verdienst  wird  voll  erst  gewürdigt  werden  können,  wenn 
dereinst  die  urkundlichen  Zeugnisse  der  diplomatischen  Geschichte  jener 
Jahre  dem  Historiker  vorliegen.  Mit  berechtigter  Genugtuung  durfte  der 
Sohn  sich  sagen,  daß  er,  wie  kaum  ein  anderer,  dem  Gedankenfluge  des 
Genius  zu  folgen  und  die  Ausgestaltung  der  großen  Entwürfe  zu  fördern 
verstand.  Ganz  ging  der  Sohn  in  dem  Vater,  der  Jünger  in  dem  Meister 
auf,  und  der  Rücktritt  des  großen  Kanzlers  wurde  nach  des  Grafen  Herbert 
eigner  Wahl  auch  der  Abschluß  seiner  eigenen  ministeriellen  Wirksamkeit. 
—  Fürst  Herbert  Bismarck  nahm  nach  des  großen  Kanzlers  Rücktritt  seine 
Stellung  im  öffentlichen  Leben  mit  Folgerichtigkeit  und  Würde.  Die  Lebens- 
aufgabe, die  ihm  blieb,  dünkte  ihm  groß  und  schön  genug,  dankbar  für  den 
Patrioten  und  tröstlich  für  den  Sohn,  die  Aufgabe,  eine  heilige  Flamme  zu 
hüten,  immer  wieder  auf  die  nationalen  Ideale  und  auf  den  Schatz  staats- 
männischer Weisheit  des  großen  Vaters  hinzuweisen.  Die  Liebe  und  Be- 
wunderung, die  jeder  deutschgesinnte  Deutsche  dem  Andenken  des  nationalen 
Helden  im  Herzen  bewahrt,  potenzierte  sich  in  dem  Herzen  des  Sohnes. 
Wenn  ein  Patriot,  der  sich  als  der  Träger  einer  großen  nationalen  Über- 
lieferung fühlte,  aus  unserer  Mitte  scheidet,  so  ist  ein  solcher  Verlust  für  die 
Überlebenden  eine  neue  Mahnung,  das  unsterbliche  Verdienst  des  unersetz- 
lichen Mannes,  dessen  Namen  jener  trug  und  dessen  Schild  er  allzeit  in  Ehren 
hoch  hielt,  niemals  zu  vergessen." 

Zu  seinem  Regiment  ist  Herbert  Bismarck  bis  zu  seinem  Lebensende  in 
engen  Beziehungen  geblieben,  bei  der  Enthüllung  des  Denkmals  seines  Vaters 
in  Berlin  war  ihm  noch  die  Uniform  der  Gardedragoner  verliehen  worden. 
Den  Jahrestag  von  Mars-la-Tour  beging  er  fast  alljährlich  im  Kreise  des 
Offizierkorps,  das  ihn  stets  mit  Stolz  in  seinen  Reihen  sah.  In  der  Verwaltung 
seiner  Besitzungen  ließ  Herbert  Bismarck  es  sich  angelegen  sein,  nach  jeder 
Richtung  —  sachverständigem  Rate  gern  folgend  —  fördernd  und  verbessernd 
einzugreifen.  Eine  seiner  ersten  Handlungen  nach  Übernahme  des  väterlichen 
Besitzes  war  die  Aufbesserung  der  Einkünfte  der  Angestellten.  An  dem 
Friedrichsruher  Schloß  hat  er  einen  geschmackvollen  Umbau  vollzogen  und 
seinem  Vater  auf  freier  Waldeshöhe,  die  dieser  selbst  als  seine  Ruhestätte 
bestimmt  hatte,  ein  einfaches,  aber  würdiges  und  namentlich  den  klimatischen 
Verhältnissen  angepaßtes  Mausoleum  errichtet.  An  der  großen  Völkerstraße 
zwischen  Berlin  und  Hamburg  belegen,  sieht  dieses  Mausoleum  den  Welt- 
verkehr ununterbrochen  an  sich  vorübersausen,  der  Deutschlands  größten 
Hafen  mit  der  Reichshaupstadt  verbindet.  Auf  der  einen  Seite  der  Bahn 
das  in  Trauer  versenkte  Schloß,   jenseit  das  Grufthaus,   das  auch  den  gottes- 


von  Bismarck. 


115 


dienstlichen  Zwecken  von  Friedrichsruh  dient,  jedem  Vorbeireisenden  eine 
große  geschichtliche  Erinnerung.  Dort  .fluten  der  wachsende  Riesenverkehr 
und  der  Welthandel  Deutschlands  an  der  Gruft  ihres  Bahnbrechers  vorüber, 
jeder  Güterzug  eine  Huldigung. 

Vielen  Anfeindungen  ist  Herbert  Bismarck  in  Bezug  auf  die  von  ihm 
festgehaltene  Abschließung  des  Friedrichsruher  Mausoleums  gegen  Neugierige, 
Ausflügler  usw.  ausgesetzt  gewesen.  Ihm  war  das  Mausoleum  als  die  Ruhe- 
stätte seiner  Eltern  ein  Heiligtum,  als  dessen  Wächter  er  sich  betrachtete. 
Er  war  bereit,  diesen  Familienschatz  würdigen  Besuchern  zu  öffnen,  aber 
nicht  zum  Ausflugsziel  von  Massen  mit  pietätlosen  Bemerkungen  und  be 
kritzelten  Wänden  werden  zu  lassen.  Da  nicht  wie  im  Charlottenburger 
Mausoleum  die  Sarkophage  leer  sind,  wo  die  Särge  darunter  in  einem  für 
das  Publikum  unzugänglichen  Gruftraum  stehen,  sondern  Fürst  und  Fürstin 
Bismarck  in  den  Sarkophagen  selbst  ruhen,  an  welche  der  Beschauer  dicht 
herantritt,  so  ist  es  begreiflich,  daß  der  Sohn  die  Heiligkeit  der  Stätte  und  ihren 
Frieden  nicht  entweiht  wissen  wollte.  Es  war  ihm  ein  kostbares  Vermächtnis 
gewesen,  daß  der  Vater  letztwillig  seine  Ruhestätte  dorthin  in  die  Waldes- 
stille verlegt  hatte  und  daß  er,  der  Sohn,  diesen  letzten  Willen  des  Vaters 
würdig  ausführen  konnte.  Aus  solchen  Empfindungen  heraus  blieb  er  auf 
Eilbotenbriefe  oder  Telegramme,  die  von  Ausflüglem  auf  dem  Friedrichsruher 
Postamt  mit  Gesuchen  um  Eintritt  in  das  Mausoleum  an  ihn  gerichtet  wurden, 
meist  unzugänglich.  Die  Gruft  der  Eltern  sollte  der  Andacht,  aber  nicht  der 
Befriedigung  der  Neugier  dienen. 

Im  Frühjahr  1892  hatte  Graf  Herbert  Bismarck  sich  mit  der  Gräfin 
Marguerite  Hoyos  verlobt,  wenige  Monate  später  fand  in  Wien  die  Ver- 
mählung statt,  die  durch  bekannte  Vorgänge  einen  eigenartigen  politischen 
Charakter  erhielt.  Bei  aller  Freude  über  die  Vermählung  des  Sohnes  war  es 
für  die  Eltern  doch  ein  Schmerz,  ihn  nun  endgiltig  aus  dem  gemeinsamen 
Haushalt  zu  verlieren.  Namentlich  der  Vater  hätte  am  liebsten  Herbert 
dauernd  um  sich  gesehen,  aber  dennoch  hat  er  dem  Selbständigkeitsbedürf- 
nis des  Sohnes  Rechnung  getragen  und  diesem  im  Jahre  1891  Schönhausen 
zu  eignem  Besitz  eingeräumt.  Dort  etablierte  sich  das  junge  Paar  in  dem 
alten  Stammsitz,  dessen  innere  Einrichtungen  zwar  den  heutigen  Lebens- 
anforderungen eines  vornehmen  Hauses  anfänglich  wenig  entsprachen. 
Dennoch  haben  Herbert  und  Marguerite  Bismarck  dort  in  inniger  Behaglichkeit 
die  größere  Hälfte  der  wenigen  Jahre,  die  ihrem  Ehebunde  vergönnt  waren, 
durchlebt.  Während  der  Reichstagszeit  von  Neujahr  bis  Ostern  nahm  Herbert 
mit  seiner  Gemahlin  in  Berlin  Wohnung  und  pflegte  dort  im  engeren 
Kreise  mit  politisch  oder  sonst  geistig  bedeutenden  Männern  einen  regen, 
geselligen  Verkehr,  der  von  derselben  vornehmen  Gastlichkeit  durchweht 
war,  wie  sie  ehedem  die  Eltern  in  Friedrichsruh  geübt  hatten.  Persön- 
lich einfach  und  bedürfnislos,  wußte  er  doch  seinem  Hauswesen  ein  vornehmes 
und  behagliches  Gepräge  zu  geben.  Nach  außen  hin  Fremden  gegenüber 
nicht  ohne  Herbheit,  zuweilen  selbst  schroff  erscheinend,  war  er  in  seinem 
Hause  nicht  nur  der  liebevollste  Gatte  und  zärtlichste  Vater,  sondern  auch 
der  liebenswürdigste  und  zuvorkommendste  Wirt,  in  dem  weltmännische  Ge- 
wandtheit sich  mit  der  Gastlichkeit  des  Landedelmannes  vereinte.  Die  Ab- 
neigung gegen  Scheinwesen,  Protzentum,  gegen  das  rein  Dekorative,  teilte  er 

8» 


1 1 6  von  Bismarck. 

mit  seinem  Vater.  Deshalb  hat  er  sich  auch,  wie  er  später  einmal  ausge- 
sprochen, im  Jahre  1888  mit  aller  Energie  gegen  den  Prinzentitel  gewehrt.  Er 
äußerte  später  gelegentlich:  »Wäre  ich  nicht  so  stramm  dagegen  gewesen,  so 
würde  mein  Vater  ihn  dem  damaligen  Kaiserpaare  doch  wohl  konzediert 
haben.«  Seine  Liebenswürdigkeit  war  eine  ungesuchte  und  ungekünstelte,  wie 
denn  überhaupt  Schlichtheit  des  Charakters  und  klare  Nüchternheit  als  ernster 
Grundzug  seines  Wesens  auch  in  der  Unterhaltung  hervortraten.  Die  fröhliche 
Lustigkeit,  die  den  Jüngern  Bruder  auszeichnete,  hatte  er  nicht.  Man  könnte 
fast  sagen,  daß  beiden  Brüdern  ihre  Geburtsstätte  den  Charakter  aufgeprägt 
haben :  Herbert  das  herbe,  arbeitsame  Berlin,  Bill  das  heitere,  fröhliche  Frank- 
furt.  Bei  Herbert  war  selbst  die  Heiterkeit  einem  gewissen  Ernste  unter- 
geordnet, bei  Bill  eher  der  Ernst  von  einer  sonnigeren  Lebensauffassung  durch- 
leuchtet. Dennoch  war  auch  Herberts  Temperament  nicht  ohne  Leiden- 
schaftlichkeit, bei  beiden  Brüdern  mußte  der  brausende  Most  sich  erst 
abklären,  bevor  er  guten  Wein  gab.  Für  das  Landleben  ursprünglich  nicht 
erzogen,  hatte  er,  so  lange  er  im  Dienst  war,  wenig  Neigung,  auch  wenig  Zeit 
dafür  gehabt.  Nachdem  er  sich  aber  in  Schönhausen  den  eigenen  Herd 
begründet  hatte,  widmete  er  sich  seiner  neuen  Aufgabe,  Landwirtschaft  zu 
treiben,  mit  der  ihm  eigenen  Pflichttreue  und  geschäftlichen  Sorgfalt.  Jedes 
Ackerstück  war  Gegenstand  seines  Interesses,  die  Freude  des  Vaters  an  den 
Bäumen  lebte  auch  in  ihm  auf,  er  fand  sich  schnell  in  alle  Zweige  des 
dortigen  landwirtschaftlichen  Betriebes  hinein.  Tief  und  schmerzlich  bewegte 
ihn  der  unerwartete  Tod  des  Bruders.  Beide  Brüder  waren  einander  in 
brüderlicher  Liebe  zugetan  gewesen,  sie  hatten  bis  zum  Ende  Bills  in  leb- 
haftem Briefwechsel  miteinander  gestanden.  Bill  war  im  besten  Sinne  des 
Wortes  ein  guter  Kamerad  und  hatte  sich  als  solcher  auch  dem  Bruder  nach 
dessen  Verwundung  in  Bonn,  ebenso  nach  der  Verwundung  bei  Mars-la-Tour 
erwiesen,  wo  er  für  Herbert  und  andere  Verwundete  unermüdlich  Eimer  Wasser 
herantrug.  Einige  hundert  Telegramme  und  fast  eben  so  viele  Beileidsbriefe, 
die  aus  Deutschland  und  Österreich  an  Herbert  gelangt  sind,  waren  diesem 
eine  trostreiche  Wertschätzung  des  Verstorbenen. 

Dem  schriftlichen  Nachlaß  seines  Vaters  hat  Fürst  Herbert  Bismarck  die 
innigste  Sorgfalt  gewidmet,  wie  er  seiner  Zeit  auch  der  Hauptförderer  der 
»Gedanken  und  Erinnerungen«  bei  ihrer  Bearbeitung  durch  Lothar  Bucher 
gewesen  war.  Die  Angaben  in  der  Schrift  Schweningers:  »Dem  Andenken 
Bismarcks«  (Leipzig  1899,  S.  Hirzel)  sind  da  nicht  ganz  zutreffend.  Die 
erste  Anknüpfung  seitens  der  Cottaschen  Buchhandlung  war  bereits  gegen  Ende 
Januar  1890,  also  noch  während  der  Amtstätigkeit  Bismarcks,  erfolgt.  Herbert 
erteilte  damals  Namens  seines  Vaters  den  Bescheid,  »daß  dieser  Auf- 
zeichnungen nicht  habe  und  so  lange  er  im  Amte  sei,  auch  nicht  daran 
denken  könne.«  An  diese  Antwort  ist  dann  im  Frühsommer  1890  wieder 
angeknüpft  worden,  Bucher  hat  aber  damit  nichts  zu  tun  gehabt,  auch 
Schweninger  nicht.  Herbert  hat  sich  über  seinen  persönlichen  Anteil  an  der 
Ermöglichung  der  Arbeit  für  Bucher  später  folgendermaßen  ausgesprochen: 
»Grade  im  Jahre  1890  war  ich  wochenlang  in  Fried richsruh.  Bucher  kam 
dort  eines  Tages  im  Frühjahr  (Mai  oder  Juni)  zu  mir  und  klagte:  mein 
Vater  sei  gelangweilt  durch  Diktieren,  er  nehme  mehr  Interesse  an  der  aktuellen 
Politik  und  er  (Bucher)  wüßte  nicht  mehr,  wie  vorankommen.     Darauf  sagte 


von  Bismarck.  I  1 7 

ich  ihm,  wir  wollen  meinen  Vater  auf  bestimmte  Themata  bringen,  oder 
knüpfen  Sie  an  Gespräche  an,  die  er  beginnt,  abgesehen  von  der  Chrono- 
logie, heute  1848,  morgen  Versailles,  übermorgen  Krimkrieg:  Da  können 
Sie  dann  gleich  notieren  und  später  ordnen.  Ist  mein  Vater  im  Fluß,  so 
lassen  meine  Mutter  und  ich  Sie  beide  leise  im  Frühstückszimmer  allein.  — 
So  geschah  es,  und  Bucher  war  mir  sehr  dankbar  für  meinen  Rat  und  mein 
Eingreifen  .  .  .  .«  Abends,  wenn  man  um  den  runden  Tisch  im  Salon 
rauchend  und  lesend  versammelt  war,  saß  Bucher  meist  mit  geschlossenen 
Augen.  Begann  ein  Gespräch,  so  war  wohl  zu  merken,  wie  er  aufhorchte. 
Sobald  Bismarck  dann  etwas  sagte,  was  Bucher  brauchen  konnte,  so  hatte 
dieser  blitzschnell  einen  Zettel  und  Bleistift  zur  Hand  und  stenographierte. 
Diese  Zettel  wurden  dann  chronologisch  geordnet,  inhaltlich  in  Übereinstimmung 
gebracht,  so  entstand  das  Buch  im  Rohbau,  den  Bismarck  dann  jahrelang 
mit  Künstlerhand  architektonisch  ausgestaltet  hat.  Drohte  die  Unterhaltung 
zu  stocken  und  Bucher  hatte  noch  nicht,  was  er  brauchte,  so  warf  er  aus  der 
Fülle  seines  reichen  Gedächtnisses  und  seines  immensen  Wissens  schnell  ein 
Stichwort  hinein,  um  über  die  Stockung  hinwegzuhelfen.  Eigenes  gab  er 
nicht,  das  Buch  sollte  geistig  Bismarcks  Arbeit  sein.  Mit  der  Hingebung, 
die  ihm  eigen  war,  diente  er  dem  Großen  nur  als  Feder.  Ebenso  lehnte  er 
bescheiden  die  glänzendsten  buchhändlerischen  Angebote  für  eine  von  ihm 
zu  verfassende  Biographie  Bismarcks  ab,  den  Hinweis  auf  die  Nachwelt,  der 
er  das  schuldig  sei,  schlug  er  mit  den  Worten  ab:  »Die  Nachwelt  ist  mir 
nichts  schuldig  und  ich  bin  der  Nachwelt  nichts  schuldig.«  Einer  großen  Zeit 
in  Hingebung  und  Treue  gedient  und  dadurch  noch  als  gereifter  Mann  an 
der  Verwirklichung  der  besten  Ideale  seiner  Jugend  mitgeholfen  zu  haben, 
war  sein  selbstloser  Stolz,  mit  dem  er  in  das  Grab  stieg.  Herbert  hat  die 
»Gedanken  und  Erinnerungen«  wohl  in  einzelnen  Bruchstücken  gekannt,  aber 
im  wirklichen  Zusammenhang  die  Arbeit  erst  gelesen,  als  ihm  nach  des  Vaters 
Hinscheiden  der  Probeband  vorgelegt  wurde,  zugleich  mit  den  ihm  bis  dahin 
unbekannten  Bestimmungen  über  die  Veröffentlichung.  Er  hat  den  Inhalt 
dann  noch  einmal  einer  genauen  Nachprüfung  unterzogen.  Auf  seine  Veran- 
lassung sind  sodann  die  Briefe  seines  Vaters  an  die  Mutter  in  einem  stattlichen 
Bande  erschienen,  der  seitdem  in  ganz  Deutschland  Familienbesitz  geworden  ist. 
Als  Nachtrag  wurden  später  die  anfangs  verloren  geglaubten,  dann  aber  in  Frie- 
drichsruh  aufgefundenen  Briefe  aus  dem  Feldzug  von  1870  hinzugefügt,  während 
die  Briefe  aus  dem  Jahre  1866  namentlich  während  der  kritischen  Nikolsburger 
Tage  noch  eine  große  Lücke  aufweisen.  Für  die  Geschichte  unserer  Zeit  aller- 
dings noch  ungleich  wertvoller  sind  die  beiden  Anlagebände  zu  den  »Gedanken 
und  Erinnerungen«,  den  Briefwechsel  zwischen  Bismarck  und  Kaiser  Wilhelm  I. 
sowie  mit  vielen  anderen  bedeutenden  Zeitgenossen  enthaltend.  Wenngleich 
die  ursprüngliche  Anordnung  für  die  Veröffentlichung  dieses  Briefwechsels 
noch  vom  Vater  selbst  ausgegangen  war,  hat  Herbert  auf  diese  Publikation 
doch  noch  große  Mühe  verwendet.  Für  die  Briefe  seines  Vaters  an  die  Mutter 
hat  er  selbst  als  Herausgeber  gezeichnet.  Seine  eigene  literarische  Be- 
tätigung im  Kampfe  der  Tagesmeinungen  ist  dagegen  eine  ungleich  geringere 
gewesen,  als  bis  in  die  höchsten  Kreise  des  In-  und  Auslandes  hinein  vielfach 
angenommen  wurde;  wo  es  geschah,  galt  es  fast  immer  nur  dem  Andenken 
seines  Vaters  und  der  von  diesem  inaugurierten  Politik.    Nur  im  Zusammen- 


1 1 8  >^on  Bismarck.     von  Stremayr. 

hang  mit  dieser  hatten  die  öffentlichen  Vorgänge  für  ihn  noch  Interesse,  das 
allerdings  durch  die  Pflege  der  geselligen  Beziehungen  zu  den  seit  alter  Zeit 
näher  bekannten  Mitgliedern  der  deutschen  wie  der  fremden  Diplomatie  und 
der  vornehmen  Berliner  Gesellschaft,  durch  Reisen  nach  England,  Italien  usw. 
lebendig  erhalten  wurde.  Wohl  befiel  ihn  nach  des  Vaters  und  des  Bruders 
Tode  wiederholt  die  Neigung,  das  Mandat  niederzulegen  und  sich  aus  dem 
öffentlichen  Leben  völlig  zurückzuziehen.  Aber  die  Mahnung,  daß  ein  großer 
Name  große  Pflichten  auferlege  und  daß  der  Name  Bismarck  aus  dem  poli- 
tischen Leben  der  Nation  nicht  verschwinden  dürfe,  ist  in  solchen  Momenten 
des  Wehmuts  niemals  ohne  Eindruck  auf  ihn  geblieben.  Nun  ist  doch  alles 
anders  gekommen.  Arceol  —  was  er  sich  jung  zum  Schiedsspruch  auserkoren, 
ist  der  Inhalt  seiner  Lebensbetätigung  gewesen  bis  zum  frühen  Ende. 

Die  Nation  soll  in  ihm  das  Andenken  eines  Mannes  in  Ehren  halten, 
dessen  Arbeit  ihrem  Dienst  und  ihrer  Größe  geweiht  war.  Schüler  des 
größten  Staatsmannes  seiner  Zeit  hat  er  sich  früh  die  Anerkennung  dreier 
Monarchen  erworben.  Es  war  ein  tragischer  Ausgang,  als  er  sich  freiwillig  von 
dem  in  so  jungen  Jahren  erreichten  hohen  Amte  trennte,  an  dem  er  mit  ganzer 
Seele  hing  und  für  welches  er  durch  seinen  ganzen  Lebensgang  prädestiniert 
erschien.  Es  gehörte  viel  Charakter  dazu,  in  der  Entscheidung  nicht  zu 
schwanken  und  dem  dringenden  Wunsche  des  Kaisers  zuwider  dem  Vater  in 
die  Waldeinsamkeit  von  Friedrichsruh  zu  folgen,  wo  der  arbeitgewohnte 
Vierziger  nichts  fand,  was  ihn  geistig  auszufüllen  und  seinen  Trieb  nach  arbeit- 
samer Betätigung  zu  befriedigen  vermochte.  Auf  Reisen  hat  er  vergeblich 
Ersatz  gesucht,  bis  er  im  Quarnero  den  Hafen  fand,  in  dem  sein  Lebensschiff 
für  die  kurze  Spanne,  die  ihm  noch  vergönnt  war,  vor  Anker  gehen  sollte. 
Noch  tragischer  als  sein  Scheiden  aus  dem  Amte  ist  dann  sein  Scheiden  aus 
dem  Leben  gewesen,  an  welches  ihn  länger  zu  fesseln  die  innigsten  und  zärt- 
lichsten Liebesbande  vergeblich  Alles  aufgeboten  haben.  Darf  man  von  dem 
Vater  sagen,  daß  er  in  seiner  ganzen  Größe  und  Heldenhaftigkeit  bis  an  sein 
Ende  dem  innersten  Wesen  nach  der  fürsorgliche,  umsichtige  und  im  Wogen- 
sturm unerschütterliche  Deichhauptmann  geblieben,  so  war  Herbert  bis  zu 
seinem  vielbetrauerten  Hinscheiden  in  Pflicht,  Treue  und  Hingebung  wie  in 
Zorn  und  Streitbarkeit  —  der  tapfere  Dragoner  von  Mars-la-Tour,  dem 
sein  dort  mit  seinem  Blute  erworbenes  Eisernes  Kreuz  zeitlebens  die  Lieb- 
lingszier geblieben  ist.  Hugo  Jacobi. 

Stremayr,  Karl  Anton  Franz  von,  österreichischer  Minister  für  Kultus 
und  Unterricht,  dann  Erster  Präsident  des  k.  k.  obersten  Gerichts-  und  Kassa- 
tionshofs, Kurator-Stellvertreter  der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften, 
*  30.  Oktober  1823  in  Graz,  f  22.  Mai  1904  zu  Pottschach.  —  St.  war  der  Sohn 
eines  Beamten  der  k.  k.  Feldapothekenverwaltung,  er  studierte  die  Rechte  an  der 
Universität  Graz,  wo  er  1846  den  juristischen  Doktorgrad  erlangte.  Nachdem 
er  1845 — 1^4^  d^^  Justizpraxis  bei  dem  Grazer  Magistrate  genommen  hatte, 
trat  er  bei  der  Grazer  Finanzprokuratur  als  Praktikant  in  den  Staatsdienst. 
1848  von  einem  steiermärkischen  Wahlbezirke  (Kindberg)  in  die  Frankfurter 
Nationalversammlung  gewählt,  schloß  er  sich  dort  einem  Klub  des  liberalen 
Zentrums  (dem  »Württemberger  Hof«)  an  und  verblieb  in  der  Nationalver- 
sammlung bis   zur  Abberufung  der  österreichischen  Abgeordneten   im   April 


von  Stremavr. 


119 


1849.    Nach  Graz  zurückgekehrt,  erlangte  er  nach  vielfachen  Schwierigkeiten, 
welche  ihm   —   als  bemakelten   »Liberalen«   und   »Reichsdeutschen«   —   das 
Mißtrauen   der  damaligen  reaktionären   Regierung  bereitete,    schließlich   die 
kärglich  dotierte  Stellung   eines  Staatsanwaltsubstituten,    über    welche  er  — 
eben   infolge  seiner  Mißliebigkeit  —   durch  volle  14  Jahre  —  bis  zu  seiner 
1864  erfolgten  Ernennung  zum  Landesgerichtsrate  in  Graz   —   nicht  hinaus- 
kam.    Hauptsächlich  zur  Verbesserung   seiner  bedrängten  materiellen  Lage, 
als  mit  Kindern  gesegneter  Familienvater,  war  er  damals  auch  journalistisch  — 
insbesondere  als  Mitarbeiter,  dann  unter  fremdem  Namen  als  Redakteur  der 
»Grazer  Zeitung«  —   tätig,   daneben   habilitierte  er  sich  als  Privatdozent  für 
römisches  Recht  an  der  Grazer  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Fakultät, 
an  welcher   er  schon  1849  als  Supplent  dieses  Faches   gewirkt  hatte.     Eine 
durchgreifende  Wendung  in  seinen  Schicksalen  brachte  St.  der  Wiederanbruch 
einer  liberalen  Ära  und   der  Wechsel  des  Regierungssystems  nach  dem  un- 
glücklichen Feldzuge  von  1859.     Im  Jahre  1861  wurde  er  zum  Landtagsab- 
geordneten für  die  Vororte  von  Graz  und  dann  von  dem  Landtage  sofort  in 
den   Landesausschuß   gewählt,    an   welcher   Stelle  er  —  nunmehr   auch   der 
materiellen  Sorgen  ledig  —  durch  eine  Reihe  von  Jahren  eine  sehr  ersprießliche 
Tätigkeit   —   als  Organisator    der    neugeschaffenen    oder    vom  Staate    über- 
nommenen landschaftlichen  Institute,  dann  als  Leiter  der  Unterrichtsanstalten 
des  Landes  —  entfaltete.     Aus  dieser  Stellung  berief  der  Minister  des  Innern 
in   dem  »Bürgerministerium«,   Dr.  Giskra,  1869   den    ehemaligen    Frankfurter 
Kollegen    als   Ministerialrat  in   das  Ministerium   des  Innern,  zugleich  erhielt 
er  von   dem  steiermärkischen  Landtage  das   Mandat  als  Abgeordneter   zum 
Reichsrate.     Bei   der  Rekonstruktion   des  Ministeriums  im  Jahre  1870  wurde 
sodann  St.  —  wieder  auf  Giskras  Vorschlag  —  zum  Minister  für  Kultus  und 
Unterricht  ernannt,    gab  allerdings  schon  nach  kaum  zweimonatlicher  Tätig- 
keit mit   dem  ganzen   Kabinett  seine  Demission,   trat  aber  wenige   Wochen 
später  abermals  als  Minister  für  Kultus   und  Unterricht  in  das  Ministerium 
Potocki.      Als   auch   dieses   nach  kaum   halbjähriger  Amtsführung  durch  das 
föderalistische  Ministerium  Hohen  wart  abgelöst  wurde,  trat  St.  —  wie  auch  schon 
nach  seinem  ersten  Rücktritte  der  Fall  gewesen  war  —  als  Rat  zum  obersten 
Gerichtshofe  über,  wurde  aber   nach  dem   Sturze  Hohenwarts   im  Dezember 
187 1    zum   dritten  Male   als  Unterrichtsminister  in    das  neugebildete  liberale 
Ministerium  Auersperg  berufen.     In  dieser  Stellung  —  dem  Höhepunkt  seiner 
Laufbahn  —  verblieb  er  durch  nahezu  8  Jahre,  bei  der  teilweisen  Rekonstruktion 
des  Kabinetts  im  Februar  1879  —  Austritt  der  Minister  Fürst  Auersperg  und 
Unger,  Eintritt  des  Grafen  Taaffe  als  Minister  des  Innern  —  vorübergehend  mit 
dem  Vorsitze  im  Ministerrat  betraut,  trat  er  dann  im  August  dieses  Jahres  in  das 
neugebildete  Kabinett  des  Grafen  Taaffe,  und  zwar  als  Justizminister,  während 
ihm  die  gleichzeitige  Leitung  des  Unterrichtsministeriums  nur  noch  provisorisch 
für  eine  kurze  Zeit  belassen  wurde.  Allein  diese  letzte  Wandlung  war  nur  der  Vor- 
bote des  Endes  seiner  politischen  Laufbahn:  je  deutlicher  das  Regierungssystem 
des  Grafen  Taaffe  sich  entfaltete,  desto  unhaltbarer  erschien  der  anfängliche 
»Koalitionscharakter«   des   Kabinetts,    der  St.  den  Eintritt   ermöglicht   hatte; 
srhon  im  Juni    1880   sah  er  sich  genötigt  zu  demissionieren,   worauf  er  als 
II.  Präsident  in  den  obersten  Gerichtshof  übertrat;  später  —  1891  —  wurde 
er  nach  Schmerlings  Rücktritt  zum   I.  Präsidenten   dieses  Tribunals   ernannt. 


120  ^'®^  Stremayr. 

1889  erfolgte  seine  Berufung  in  das  Herrenhaus,  wo  er  sich  der  liberalen 
Gruppe,  der  » Verfassungspartei <^,  anschloß,  1893  wurde  er  zum  Kurator- 
Stellvertreter  der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften  ernannt.  Sein 
oberstrichterliches  Amt  führte  St.  bis  1899,  in  welchem  Jahre  er  aus  Gesund- 
heitsrücksichten, infolge  eines  vieljährigen  schmerzhaften  Gichtleidens,  seine 
Versetzung  in  den  Ruhestand  erbat  und  erhielt. 

Dieser  kurze  Umriß  seines  Lebens  und  Wirkens  läßt  bereits  erkennen, 
daß  in  St.  eine  Persönlichkeit  auf  der  Bühne  des  Lebens  stand,  welcher  be- 
schieden gewesen  ist,  an  bedeutenden  politischen  Hergängen  Anteil  zu 
nehmen  und  welcher  insbesondere  ein  nicht  unwesentlicher  Einfluß  auf  die 
politische  Entwicklung  in  Österreich  in  der  zweiten  Hälfte  des  verflossenen 
Jahrhunderts  vergönnt  war.  In  der  Tat  spiegeln  sich  in  diesem  Lebenslaufe 
wie  in  einem  kaleidoskopischen  Bilde  alle  Peripetien  ab,  durch  welche 
Österreich  in  dieser  Epoche  hindurchgegangen  ist,  alle  die  tiefgreifenden 
Umwälzungen,  welche  dieses  alte  Staatswesen  seit  einem  halben  Jahrhundert 
durchgemacht  hat  und  deren  Kataklysmus  wohl  auch  heute  noch  nicht 
gekommen  ist.  In  der  Morgenröte  seiner  Jugend,  als  kaum  zum  Manne  ge- 
reifter Jüngling  saß  St.  in  der  Paulskirche  und  träumte  dort  mit  so  vielen 
anderen  edlen  Geistern  den  Traum  von  einem  mächtigen,  einheitlichen,  alle 
Deutschen  umfassenden,  von  dem  Lichte  der  Freiheit  durchströmten  Deutsch- 
land, als  müder  Greis,  enttäuscht  und  längst  zurückgekommen  von  den  Hoff- 
nungen seiner  Jugend,  irregemacht  auch  in  dem  Vertrauen  auf  die  Geschicke 
seines  österreichischen  Vaterlandes,  betrübt  und  geängstigt  durch  das  beständige 
Übergreifen  gefährlicher,  den  alten  einheitlichen  Staatsverband  unaufhörlich 
auflockernder  Strömungen  —  so  ist  er  dahingegangen. 

St.s  Lebenslauf  scheidet  sich  im  wesentlichen  in  vier  Epochen :  die  Frank- 
furter Zeit,  das  Dezennium  der  Reaktion  von  1850 — 1860,  die  Periode  seiner 
erfolgreichen  Tätigkeit  als  Politiker  und  Minister  (1861 — 1880),  endlich  die 
Zeit,  in  welcher  er  nach  dem  Sturze  der  liberalen  Parteien  sein  oberstrichter- 
liches Amt  verwaltete. 

1848 — 1850.  Niemals  war  '^ein  Mann  geeigneter,  die  eine  historische 
Epoche  bewegenden  Ideen  in  sich  aufzunehmen,  wie  St.  in  diesem  ersten  Ab- 
schnitte seiner  politischen  Laufbahn.  Er  war  eine  ideal  veranlagte,  überaus 
begeisterungsfähige  Natur,  von  einer  Frische,  Lebhaftigkeit  und  Jugend- 
lichkeit der  Auffassung,  die  er  bis  in  sein  hohes  Alter  bewahrte.  So  traf  der 
Frühlings-  und  Freiheitssturm,  der  im  Jahre  1848  durch  die  Welt  ging,  hier 
ein  besonders  empfängliches  Gemüt.  In  die  Frankfurter  Reichsversammlung 
berufen,  nahm  er  an  allen  Peripetien  dieser  in  ihrer  Art  in  der  Geschichte 
einzig  dastehenden  Versammlung  Anteil.  Die  überströmende  nationale 
Begeisterung,  der  doktrinäre  Liberalismus,  das  hochgesteigerte  Bewußtsein 
und  Souveränitätsgefühl  dieser  Volksvertreter,  welches  in  seiner  Selbstgenüg- 
samkeit alle  realen  Machtfaktoren  übersah  oder  vernachlässigte,  der  völlige 
Mangel  an  praktischem  Sinn,  an  jener  Einsicht  in  die  Wirklichkeit  der  Dinge, 
von  welcher  allein  in  dieser  harten  Welt  der  Erfolg  abhängt  —  dies  waren 
die  typischen  Züge  des  Frankfurter  Parlaments,  die  Ursachen  des  kurzen 
Glanzes  und  des  beispiellosen  Zusammenbruchs  dieser  durch  alle  großen  und 
berühmten  Namen  der  deutschen  Nation  geschmückten  Versammlung.  In 
dieser  politischen  Atmosphäre,  deren  Überschwenglichkeit  und  naive  Unkenntnis 


von  Stremayr.  121 

der  politischen  Realitäten  dem  Sinne  der  Jugend  entsprach,  war  St.  mit  voller 
Hingabe  tätig.  Er  war  von  den  586  Abgeordneten  der  jüngste,  fungierte 
deshalb  in  der  Eröffnungssitzung  als  »Jugendschriftführer«  und  betrat  in  dieser 
Eigenschaft  als  Erster  die  Rednertribüne  in  der  Paulskirche,  um  die  Be- 
grüßungsadresse des  den  Platz  räumenden  Bundestags  an  die  Nationalver- 
sammlung zu  verlesen.  Mit  der  Begeisterung  der  Jugend  nahm  er  an  jener 
Rheinfahrt  zum  Kölner  Dombaufeste  im  August  1848  teil,  in  welcher  alle 
politischen  Differenzen  in  einer  glücklichen  Flitterwochenstimmung  gelöst 
schienen,  mit  der  Beredsamkeit  des  Herzens  vertrat  er  mit  seinen  Parteigenossen 
einen  vorgeschrittenen  Liberalismus  und  die  Idee  einer  starken  Zentral gewalt, 
der  alle  Einzelstaaten  als  Glieder  des  Reichskörpers  sich  unterzuordnen  hätten. 
Um  so  empfindlicher  traf  ihn  der  Zusammenbruch  all  dieser  »Hoffnungen  und 
Entwürfe,«  als  inmitten  dieses  politischen  Schattenspiels,  in  dem  sich  seine 
ehrliche  Begeisterung  gefiel,  die  harte  Wirklichkeit  emporstieg,  die  Idylle  sich 
immer  mehr  zum  Drama  gestaltete,  die  unüberbrückbaren  Gegensätze  unter 
den  sich  immer  leidenschaftlicher  befehdenden  Parteien  erkennbar  wurden, 
immer  wieder,  insbesondere  in  dem  Streite  über  das  »Erbkaisertum«,  der  durch 
keine  politische  Theorie  zu  überwindende  Antagonismus  der  führenden  Groß- 
mächte zutage  trat,  überall  endlich,  wo  die  Doktrin  der  Versammlung  sich 
praktisch  betätigen  wollte,  klar  wurde,  daß  die  reale  Macht  bei  den  Staats- 
gewalten zurückgeblieben  war,  an  welcher,  wie  an  einem  Felsen,  die  Woge  der 
nationalen  Begeisterung  sich  brach. 

1850 — 1861.  Enttäuscht  und  ernüchtert  kehrte  St,  nach  Graz  zurück. 
Das  kärglich  besoldete  Amt  eines  Staatsanwaltsubsti tuten,  das  ihm,  dem  mit 
Mißtrauen  betrachteten  liberalen  Frankfurter  Abgeordneten,  nach  vielen  frucht- 
losen Bemühungen  endlich  zuteil  wurde,  stellte  seine  Standhaftigkeit  auf  harte 
Proben.  Dem  revolutionären  Ausbruche,  welcher  mit  so  viel  Mühe  nieder- 
geworfen worden  war,  war  eine  harte  Anwendung  der  Gewalt  gefolgt:  jede 
liberale  Regung  schien  den  damaligen  Autoritäten  in  Widerstand  und  Umsturz 
auszumünden,  jedes  Mittel  der  Repression  schien  hiernach  gerechtfertigt.  Und 
wie  dies  immer  und  überall  der  P'all  ist,  fand  diese  Politik  der  Regierung 
auch  noch  übereifrige  Organe,  welche,  päpstlicher  als  der  Papst,  stets  noch 
einige  Schritte  weitergingen,  als  von  ihnen  verlangt  wurde.  Was  damals 
bureaukratische  Engherzigkeit  und  Willkür,  Wohldienerei  und  Servilismus  zu 
leisten  vermochten,  ist  heute  kaum  mehr  begreiflich;  um  so  verständlicher 
ist,  daß  ein  Mann,  der  nicht  nur  ein  ehrlicher  Liberaler,  sondern  auch  ein 
guter  und  wohlwollender  Mensch  war,  es  damals  nicht  leicht  hatte,  das  Amt  des 
öffentlichen  Anklägers  zu  führen.  Denn  Organ  und  Arm  der  Regierungs- 
politik war  ja  in  erster  Linie  der  Staatsanwalt.  Daß  St.s  Amtsführung  damals 
nicht  befriedigte,  daß  er  bei  jeder  Gelegenheit  zurückgesetzt  wurde  und  durch 
14  Jahre  über  seine  subalterne  Stellung  nicht  hinaus  kam,  erklärt  sich  hiernach 
von  selbst.  Es  war  dies  wohl  die  härteste  Zeit  in  St.s  Leben:  zu  den 
Schwierigkeiten  seiner  amtlichen  Stellung  gesellten  sich  bittere  Nahrungs- 
sorgen und  Unglücksfälle  in  seiner  Familie,  an  der  er  mit  rührender  Zärt- 
lichkeit hing. 

1860 — 1880.  Diese  drangsalvolle  Epoche  in  St.s  Leben  nahm  ihr  Ende,  als 
er  beim  Wiedereintritt  verfassungsmäßiger  Zustände  zu  der  obenerwähnten 
Wirksamkeit    im    steiermärkischen    Landtage  und    Landesausschusse    berufen 


122  ^'on  Stremayr. 

wurde.  Die  hierbei  an  den  Tag  gekommene  hervorragende  administrative 
Begabung  St.s  veranlaflte  seine  Berufung  als  Ministerialrat  in  das  Ministerium 
des  Innern,  aus  welcher  Stellung  er  in  dem  Ministerium  Hasner  auf  die  Re- 
gierungsbank gelangte.  Dieses  Kabinett  war  nun  allerdings  nur  ein  kurzer 
Epilog  des  »Bürgerministeriums« ;  in  dem  »Memorandenstreite«  hatte  die 
zentralistische  Majorität  des  Kabinetts  die  dissentierenden  Minister  zum 
Austritt  gezwungen  und  sich  in  dem  Ministerium  Hasner  rekonstruiert,  allein 
die  Zustände,  in  denen  die  Regierung  verblieb,  waren  so  unhaltbare,  daß 
schon  nach  wenigen  Monaten  der  Kurs  geändert  und  den  Vertretern  jener 
kaum  erst  zurückgedrängten  Richtung  das  Staatsruder  in  die  Hand  gegeben 
wurde.  Es  kam  das  Ministerium  Potocki,  welches  mit  dem  Schlagworte: 
»Dezentralisation  und  Erweiterung  der  Autonomie  der  Länder«  den  födera- 
listischen Aspirationen  entgegenkam,  zugleich  aber  auch  die  Deutschen  durch 
ein  liberales  Regiment  gewinnen  wollte.  Daß  St.  sich  nachträglich  zum 
Eintritt  in  dieses  Kabinett  bestimmen  ließ,  wurde  ihm  von  seinen  Parteige- 
nossen arg  verdacht;  vielehielten  damals  das  Ende  seiner  politischen  Laufbahn 
für  gekommen.  Daß  dem  nicht  so  war,  hatte  seinen  Grund  darin,  daß  dieses 
»Koalitionsministerium«  zu  kurz  regierte,  um  seine  liberalen  Mitglieder  —  St. 
und  den  Justizminister  Tschabuschnigg  politisch  zu  kompromittieren  und  daß 
seine  Lebensdauer  doch  lange  genug  war,  um  St.  Zeit  zu  einer  Aktion  zu 
lassen,  welche  ihm  mit  einem  Schlage  den  begeisterten  Dank  aller  freisinnigen 
Österreicher  erwarb.  Dieses  war  die  Kündigung  des  Konkordats  vom 
i8.  August  1855  aus  Anlaß  des  durch  das  vatikanische  Konzil  proklamierten 
Unfehlbarkeitsdogmas.  Durch  fast  10  Jahre,  seitdem  verfassungsmäßige 
Zustände  bestanden,  war  versucht  worden,  diesen  auf  den  Völkern  Österreichs 
wie  ein  Alb  lastenden  Vertrag  abzuschütteln:  Schmerling  hatte  dies  im  Wege 
der  Verhandlung  mit  der  Kurie  —  selbstverständlich  erfolglos  —  angestrebt, 
das  Bürgerministerium  hatte  einzelne  im  Konkordate  preisgegebene  Lebens- 
gebiete wieder  der  staatlichen  Gesetzgebung  unterstellt  (das  Ehewesen,  das 
Verhältnis  von  Kirche  und  Schule,  die  interkonfessionellen  Verhältnisse), 
allein  obwohl  beständig  angefochten,  zum  Teil  auch  schon  durchlöchert,  war 
das  Konkordat  doch  in  Kraft  geblieben  —  jetzt  erst  gelang  es  dasselbe  mit 
einem  Schlage  zu  beseitigen. 

Es  bleibt  St.s  Verdienst,  den  günstigen  Augenblick  hierfür  erfaßt  und  benutzt 
zu  haben.  Die  Beustsche  Revanchepolitik  hatte  in  ihrem  verschlungenen 
Gespinnste  auch  eine  Falte,  in  welcher  ein  gutes  Vernehmen  mit  der  italienischen 
Regierung  —  wenn  nötig  auch  mit  Preisgebung  des  Patrimoniums  St.  Petri  — 
vorausgesetzt,  jedenfalls  auf  ein  solches  mehr  Gewicht  gelegt  war,  als  auf 
das  Verhältnis  zur  Kurie,  die  Regierung  ihrerseits  war  bestrebt,  die  Völker 
Österreichs  von  ihrem  programmatischen,  jedoch  vielfach  bezweifelten  Liberalis- 
mus zu  überzeugen,  endlich  und  hauptsächlich  lieferten  die  vatikanischen 
Beschlüsse  eine  unanfechtbare  staatsrechtliche  Basis  der  Aktion.  Die  öster- 
reichische Regierung  stellte  sich  auf  den  —  seither  leider  oft  mißverstandenen  — 
Standpunkt,  daß  ein  Vertragsverhältnis,  welches  als  solches  die  gleiche 
rechtliche  Stellung  der  Kompaziszenten  zur  selbstverständlichen  Voraussetzung 
hat,  nicht  länger  mit  einer  Macht  aufrechterhalten  werden  könne,  welche  sich 
unfehlbar,  ihre  Aussprüche  also  als  unbedingt  bindend  und  inappellabel  erklärt, 
während  sie  zugleich  —  wie    erst   kurz    vorher    in   der    Enzyklika    und   dem 


von  Stremavr. 


123 


Syllabus  Pius  IX.  geschehen  war  —  nahezu  alle  göttlichen  und  menschlichen 
Dinge,  insbesondere  auch  eine  große  Anzahl  staatlicher  Belange  und  vor 
allem  solche,  welche  Gegenstand  der  konkordatlichen  Regelung  waren,  in 
ihre  ausschließliche  Kompetenz  und  höchste  Judikatur  einbezog. 

Auf  Grund  dieser  Rechtsdeduktion  erfolgte  die  Kündigung  des  Vertrags 
in  Rom  im  August  1870.  Damit  war  allerdings  nur  der  Vertrag,  nicht  auch 
das  Patent  vom  5.  November  1855,  welches  den  Inhalt  des  Vertrages  als 
Staatsgesetz  promulgiert  hatte,  aufgehoben.  Allein  St.  war  es  beschieden, 
sein  Werk  zu  Ende  zu  führen.  Im  Februar  1871  fiel  das  zwischen  unverein- 
baren Gegensätzen  hin-  und  herschwankende,  zugleich  liberal  und  föderalistisch 
schillernde  Kabinett  Potocki,  und  eine  ausgesprochen  föderalistische  Regierung 
trat  unter  dem  Vorsitze  des  Grafen  Hohen  wart  ins  Amt.  Allein  schon  nach 
7  Monaten  war  diese  Regierung  an  der  schreienden  Unvernunft  ihrer  Politik, 
welche  in  den  phantastischen  »Fundamentalartikeln«  des  böhmischen  Land- 
tags gipfelte,  an  dem  einmütigen  Widerstände  der  Deutschen  und  an  dem 
heftigen  Einsprüche  der  ungarischen  Politiker  gescheitert,  und  es  trat  abermals 
eine  deutsch-liberale  Regierung  —  das  Kabinett  des  Fürsten  Auersperg  — 
ins  Amt,  in  welchem  St.  —  nun  schon  fast  selbstverständlich  —  abermals 
das  Kultus-  und  Unterrichtsportefeuille  erhielt  (November  187 1).  Jetzt  erst 
war  es  ihm  vergönnt  —  in  einer  verhältnismäßig  langen  Amtsdauer  —  die 
Tätigkeit  zu  entfalten,  welche  ihm  ein  dauerndes  Andenken  in  der  Geschichte 
der  österreichischen  Verwaltung  sichert.  Seine  erste  und  wohl  auch  be- 
deutendste Leitung  war  der  Ausbau  der  kirchenpolitischen  Gesetzgebung. 
Auf  der  durch  die  Kündigung  des  Konkordates  freigelegten  Rechtsbasis  wurde 
das  Verhältnis  von  Staat  und  Kirche  durch  staatliche  Gesetze  geregelt,  deren 
maßvolle  Weisheit  seither  die  Anerkennung  der  ganzen  Welt  gefunden  hat. 
In  kluger  Abwägung  der  staatlichen  und  kirchlichen  Exigenzen,  mit  vor- 
sichtiger Berechnung  der  beiderseitigen  Machtsphären  und  in  besonnener 
Abwehr  sowohl  der  klerikalen  Übergriffe  wie  der  gerade  auf  diesem 
Gebiete  oft  zu  einem  unklaren  Radikalismus  neigenden  Forderungen  der 
liberalen  Parteien  wurde  hier  das  schwierige  Thema  einer  solchen  Gesetz- 
gebung: die  Wahrung  der  staatlichen  Machtvollkommenheit  einer-  und  der 
Freiheit  und  Selbstbestimmung  der  Kirche  andererseits,  in  denkbar  glück- 
lichster Weise  behandelt.  Wie  eine  dunkle  Folie  dieser  Aktion  erschien  der 
fast  gleichzeitig  von  der  preußischen  Regierung  mit  dem  Aufgebote  aller 
staatlichen  Machtmittel  und  doch  ganz  erfolglos  geführte  »Kulturkampf», 
welcher,  obwohl  unter  den  Auspizien  des  größten  Staatsmanns  vor  sich  gehend, 
an  der  unrichtigen  Beurteilung  der  Verhältnisse  und  der  Unvernunft  der 
staatlichen  Maßregeln  vollständig  scheiterte. 

Auf  demselben  Gebiete  gab  St.  einen  anderen  Beweis  überlegener 
Staatskunst  durch  die  Besonnenheit,  mit  welcher  er  der  damals  hochgehenden 
altkatholischen  Bewegung  gegenübertrat.  Wieder  im  Unterschied  von  den 
deutschen  Regierungen  (Preußen,  Bayern,  Baden)  widerstand  St.,  die  Aus- 
sichtslosigkeit dieser  Bewegung  erkennend,  der  Aufforderung  einer  Konstituierung 
altkatholischer  Kirchengemeinden  innerhalb  des  Verbandes  der  katholischen 
Kirche,  förderte  dagegen  und  erzielte  auch  schließlich  die  gesetzliche  An- 
erkennung des  in  einigen  wenigen  Gemeinden  selbständig  organisierten 
altkatholischen  Bekenntnisses. 


1 24  ^'^^  Stremayr. 

Ebenso  wie  als  Kultus-,  war  St.  auch  als  Unterrichtsminister  schöpferisch 
tätig.  Selbst  geistig  auf  der  vollen  Höhe  der  Zeit  stehend,  ein  Freund  der 
Musen,  allen  Bestrebungen  in  Wissenschaft  und  Kunst  mit  vollem  Verständnisse 
entgegenkommend,  hat  er  während  seiner  letzten  Amtsführung  seinen  Namen 
mit  einer  fast  unübersehbaren  Reihe  bedeutender  Aktionen  auf  dem  Gebiete 
des  öffentlichen  Unterrichts  verknüpft.  Die  größten  Verdienste  erwarb  er 
sich  um  das  Hochschulwesen:  die  Gründung  der  Universität  Czemowitz, 
welche  innerhalb  eines  halben  Jahres  wie  aus  dem  Nichts  geschaffen  wurde, 
die  Errichtung  der  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Seminare,  die  Organi- 
sierung des  seminaristischen  Unterrichts  überhaupt,  die  Wiederbelebung  der 
stark  verödeten  akademischen  Lehrkanzeln  durch  ein  System  von  Unter- 
stützungen der  Kandidaten  des  akademischen  Lehramts,  die  Reform  und 
Modernisierung  der  Doktoratsprüfungen,  die  Errichtung  zahlloser  neuer 
Lehrstühle  und  Lehrinstitute  (insbesondere  auch  für  die  nicht  deutschen 
Nationalitäten),  die  Errichtung  oder  Reorganisierung  mehrerer  technischer 
Hochschulen  sowie  der  Hochschule  für  Bodenkultur  —  dieses  und  vieles 
andere  war  auf  diesem  Gebiete  sein  Werk.  Im  Bereiche  des  Mittelschul- 
wesens wurde  die  Schulaufsicht  reorganisiert  und  eine  große  Anzahl  Gymnasien 
und  Realschulen  errichtet.  Mit  zielbewußter  Energie  führte  St.  femer  die 
Organisation  des  Volksschulwesens  auf  Grund  des  eben  erst  ins  Leben  getretenen 
Reichsvolksschulgesetzes  durch,  welch  letzteres,  nur  allgemeine  Grundsätze 
enthaltend,  erst  noch  der  Ausführung  durch  ein  System  von  Landesgesetzen  und 
Ministerialverordnungen  bedurfte.  Mit  wahrer  Begeisterung  endlich  und 
gewissermaßen  als  Herzenssache  behandelte  er  alle  Angelegenheiten  der 
schönen  Künste.  Durch  Berufung  hervorragender  Künstler  wurde  Rang  und  Ruf 
der  Akademie  der  bildenden  Künste  gehoben  :  ein  ganz  besonderes,  nicht  genug 
hochzuschätzendes  Verdienst  aber  erwarb  sich  St.  durch  die  Organisierung  des 
gewerblichen,  insbesondere  des  kunstgewerblichen  Unterrichts.  Hier  hat  seine 
Initiative  ein  ganz  neues  Gebiet  des  öffentlichen  Unterrichtswesens  erschlossen, 
auf  welchem  der  Vorgang  der  österreichischen  Regierung  für  alle  anderen 
Staaten  bahnbrechend  und  maßgebend  gewoiden  ist  und  welches  seither  eine 
so  mächtige  Entwicklung  erfahren  hat,  daß  dieses  Schaffen  heute  zur  Signatur 
unserer  Zeit  gehört. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  St.  bei  dieser  umfassenden  Wirksamkeit 
eines  Stabes  von  Mitarbeitern  bedurfte.  Insbesondere  bei  seiner  schöpferischen 
Tätigkeit  im  gewerblichen  Schulwesen  war  er  von  den  Kunstgelehrten 
Professor  Eitelberger  und  Freiherr  von  Dumreicher  wirksamst  unterstützt. 
Als  Beirat  in  kirchlichen  Angelegenheiten  fungierte  durch  eine  Reihe  von 
Jahren  der  nachmalige  Kardinal  und  Fürsterzbischof  von  Wien  J.  Kutschker, 
ein  Kirchenfürst  von  seltener  Weisheit  und  Milde  der  Gesinnung.  Bei  der 
Aktion  auf  dem  kirchenpolitischen  Gebiete  war  der  Verfasser  dieser  Zeilen 
tätig,  der  zuletzt  als  Sektionschef  die  Kultusangelegenheiten,  das  Hochschul- 
wesen und  die  administrative  Judikatur  des  Ministeriums  leitete.  Der  dermalige 
österreichische  Ministerpräsident  Freiherr  von  Gautsch  fungierte  als  St.'s 
Präsidialsekretär. 

Leider  schloß  St.s  Ministerlaufbahn  mit  seiner  Wirksamkeit  als  Justiz- 
minister in  dem  Kabinett  des  Grafen  Taaffe  in  unerfreulicher  Weise  ab.  Der 
Kurs  war  ein  anderer  geworden,  ohne  daß  St.  dies  sofort  b'^griff.   Und  doch 


von  Stremayr.  1 2  r 

war  eines  der  deutlichsten  Anzeichen  hierfür  gerade  der  Umstand,  daß  St. 
von  dem  so  erfolgreich  geführten  Unterrichtsressort  weggedrängt  und  auf  das  von 
der  politischen  Strömung  weniger  heftig  umspülte  Portefeuille  der  Justiz 
gewiesen  worden  war.  Auch  in  diesem  Ressort  kam  aber  die  geänderte 
Richtung  des  Regierungsschiffes  bald  zum  Vorschein  und  so  wurde  St.s  Name 
insbesondere  mit  jener  vielberufenen,  die  erste  wichtigere  Konzession  an  die 
nationalen  Aspirationen  enthaltenden  Sprachenverordnung  für  die  böhmischen 
Gerichte  verknüpft,  welche  St.  noch  kurz  vor  seiner  Demission  unterzeichnete, 
ohne  sich  bestimmt  zu  sehen,  das  zweifelhafte  Verdienst  dieser  Maßregel 
seinem  schon  bereitstehenden  Nachfolger  zu  überlassen. 

1880 — 1904.  St.  trat  von  der  politischen  Wirksamkeit  zurück,  als  er  mit 
der  Richtung,  welche  die  Regierung  einschlug,  nicht  länger  einverstanden 
sein  konnte.  Es  folgte  die  Zeit,  in  welcher  die  führenden  Staatsmänner  auf 
eine  grundsätzliche,  von  einem  leitenden  Gedanken  ausgehende  Regierungs- 
politik verzichteten  und  ihre  Aufgabe  nicht  mehr  in  erster  Linie  in  den 
der  Natur  und  geschichtlich  erwachsenen  Struktur  unseres  Staatswesens  ent- 
sprechenden Exigenzen,  sondern  nur  darin  erblickten,  zwischen  den  hadernden 
Nationalitäten  zu  vermitteln.  Damit  hat  zwar  die  nächstfolgende  Regierung, 
die  des  Grafen  Taaffe,  sich  durch  14  Jahre  am  Staatsruder  zu  behaupten 
vermocht,  allein  dem  aufmerksamen  Beobachter  konnte  auch  in  dieser  Epoche 
nicht  entgehen,  daß  die  Politik  des  Kabinetts  eine  leise,  aber  sicher  destruierende 
war,  welche  die  überlieferten  Grundlagen  des  staatlichen  Bestandes  aufgab, 
ohne  ein  anderes  politisches  System  von  gleicher  Tragkraft  an  ihre  Stelle 
setzen  zu  können.  Eine  schiefe  Ebene  war  betreten,  auf  welcher  es  keinen  Halt 
mehr  gab:  dem  kurzen  Zwischenspiele  des  »Koalitionsministeriums«  Windisch- 
graetz  folgte  die  aggressive  Politik  des  Grafen  Badeni,  welcher  die  Deutschen, 
die  durch  die  Politik  des  Grafen  Taaffe  zu  einer  nationalen  Partei  neben  den 
andern  nationalen  Parteien  gemacht  worden  waren,  das  Gewaltmittel  der  Ob- 
struktion entgegensetzten,  es  folgten  dann  die  trostlosen  Jahre,  in  denen  die  parla- 
mentarische Maschine  still  stand,  während  die  einander  ablösenden  Regierungen 
nach  wie  vor  ein  eigenes  grundsätzliches  Programm,  eine  objektive  Grund- 
ansicht von  der  Aufgabe  der  Regierungspolitik,  an  welcher  die  subjektiven 
Aspirationen  der  hadernden  Nationalitäten  abzuschätzen  waren,  vermissen 
ließen.  Dies  war  wenigstens  St.s  Ansicht  von  der  Politik  des  Tages,  und  sie 
bestimmte  ihn,  der  übrigens  in  diesem  letzten  Abschnitte  seines  Lebens  von 
körperlichen  Leiden  schwer  heimgesucht  war,  sich  jeder  politischen  Wirk- 
samkeit, auch  der  im  Herrenhause,  zu  enthalten  und  sich  nur  den  Aufgaben 
seines  hohen  richterlichen  Amtes  —  bis  zu  seinem  Rücktritte  von  demselben 
1899  —  2:u  widmen.  Die  letzte  Wendung  in  der  österreichischen  Politik, 
mit  welcher  der  unbefriedigende  Verlauf  der  Dinge  wenigstens  vorläufig  zu 
einem  gewissen  Stillstand  gekommen  zu  sein  scheint,  indes  freilich  wieder 
in  dem  anderen  Staate  der  Monarchie  die  schwersten  Stürme  toben,  hat  er 
nicht  mehr  erlebt. 

Überblicken  wir  zum  Schlüsse  das  Leben  und  Wirken  dieses  Staatsmanns, 
so  müssen  wir  wohl  zu  der  Überzeugung  gelangen,  daß  nicht  allzu  viele  unserer 
Zeitgenossen  eine  so  fruchtbare  Wirksamkeit  entfaltet  und  in  so  hohem  Grade 
Anspruch  auf  den  Dank  der  Mitlebenden  wie  der  kommenden  Geschlechter 
erworben  haben.    St.  war  gewiß  keiner  jener  genial  veranlagten  Staatsmänner, 


1 26  ^'O^  Stremayr.     Meyer  Cohn. 

welche,  ihrer  unbedingten  Überlegenheit  sicher,  kühn  durchgreifend  ihre  Ideen 
zum  Siege  führen:  er  war  eine  feine,  weiche,  stets  zu  milden  und  versöhn- 
lichen Maßregeln  neigende  Natur,  welche  erst  hart  werden  konnte,  wenn  alle 
Mittel,  ohne  Härte  durchzukommen,  erschöpft  waren,  welche  den  Gegner  erst 
zu  gewinnen  oder  durch  eine  kluge  Taktik  zu  entwaffnen  suchte,  bevor  sie 
den  Kampf  aufnahm,  welche  in  der  Front  erst  angriff,  wenn  kein  Umgehungs- 
manöver mehr  gelingen  konnte.  Allein  mit  dieser  Veranlagung  verband  er 
eine  überall  sich  bewährende  Einsicht  und  Sachkenntnis,  einen  unermüdlichen 
Arbeitseifer,  eine  ganz  besondere,  geradezu  »diplomatisclie«  Geschicklichkeit 
in  der  Behandlung  und  Ausnützung  schwieriger  Situationen  und  —  bei  aller 
Nachgiebigkeit  und  Versöhnlichkeit  in  der  Form  —  zähe  Ausdauer  in  der 
Sache.  Stets  endlich  und  auf  jeder  Stufe  seiner  Laufbahn  blieb  er  seinen 
politischen  Grundsätzen  treu,  niemals  hat  er  in  dem  verschlungenen  Gewebe 
der  Politik,  durch  das  ihn  sein  Lebensweg  führte,  seine  liberalen  Anschauungen, 
seine  gut  deutsche  und  gut  österreichische  Gesinnung  verleugnet  oder  einem 
persönlichen  Vorteil  zum  Opfer  gebracht,  noch  in  seinen  letzten  Lebenstagen 
leuchteten  ihm  —  wenn  auch  mit  der  durch  Alter  und  Erfahrung  bewirkten 
Abklärung  —  die  Ideale  seiner  jungen  Jahre. 

Daß  seine  Veranlagung,  wie  sie  ihre  Vorzüge  hatte,  auch  die  denselben 
entsprechenden  Schwächen  aufwies,  ist  ja  selbstverständlich.  Dieselben  Eigen- 
schaften, welche  ihm  für  seine  Erfolge  zustatten  kamen:  die  gewinnende 
Liebenswürdigkeit  des  Auftretens,  das  Bestreben,  dem  Gegner  entgegenzu- 
kommen und  jedermann  gerecht  zu  werden,  jene  Milde  und  Versöhnlichkeit 
seines  Wesens,  welche  auch  zwischen  den  schroffsten  Gegensätzen  zu  ver- 
mitteln suchte,  eben  diese  Eigenschaften  haben  wohl  auch  bewirkt,  daß  er 
mitunter  mehr  zugestand,  als  gerechtfertigt  war,  auch  dort  nachgab,  wo  er 
standzuhalten  hatte,  sich  mit  einem  halben  Erfolge  begnügte,  wo  bei  schärferem 
Auftreten  ein  ganzer  erzielt  werden  konnte.  Allein  eben  diese  seine  Eigenart, 
welche  ihm  bisweilen  über  dem  »suainter  in  modo^  das  y>forttt€r  in  re^  vergessen 
ließ,  hat  ihm,  wie  die  Dinge  lagen,  auch  Erfolge  ermöglicht,  welche  bei  einer 
anderen  Veranlagung  vielleicht  nicht  zu  erzielen  waren,  so  daß  er  schließlich 
doch  mehr  als  mancher  andere,  ihn  vielleicht  persönlich  überragende 
Politiker  erreicht,  unvergängliche  Früchte  seines  Staatsmann ischen  Wirkens 
hinterlassen  und  sich  einen  rühmlichen  Platz  in  der  Geschichte  unserer  Zeit 
gesichert  hat. 

Mit  teilweiser  Benutzung  eines  Artikels  des  Verfassers  in  der  »Neuen  Freien  Presse« 
vom  30.  Oktober  1903.  Karl  Freiherr  v.  Lemayer. 

Cohn,  Mcycr  Alexander,  Bankier,  Sammler,  •  Berlin  i.  Mai  1853, 
f  II.  August  1904  ebenda.  —  Dies  schlichte  Geleitwort  schreibt  der  Freund 
dem  Freunde. 

Alexander  Meyer  Cohn  war  ein  Berliner  Kind,  der  Sohn  eines  klugen 
und  tatkräftigen  Mannes,  der  sich  vom  bescheidenen  Schriftsetzer  an  die 
Spitze  des  hervorragenden  Bankhauses  aufgeschwungen  hatte  und  namentlich 
das  wohlbelohnte  Vertrauen  märkischer  Adeligen  genoß.  »Alex«  durchlief 
die  Klassen  des  französischen  Gymnasiums  und  erwarb  sich  eine  gediegene 
humanistische  Bildung.  Nachdem  er  sein  Militärjahr  abgedient,  ein  strammer 
Soldat,  ein   eifriger  Turner,  ein   treuer  Patriot,  rüstete  er  sich  in  Frankfurt 


Mever  Cohn. 


127 


und  Basel,  Brüssel  und  London  zum  Eintritt  in  das  väterliche  Geschäft,  mehr 
aus  willig  geübter  Pflicht,  denn  aus  innerer  Neigung  zu  diesem  Beruf,  über 
dessen  Plagen  er  später  manchmal  geseufzt  hat.  Er  erfüllte  ihn,  das  letzte 
Jahrzehnt  als  Chef  neben  seinem  Bruder  Justizrat  Dr.  Heinrich  Cohn,  mit 
steter  Umsicht  und  unbedingter  Zuverlässigkeit,  jedem  Spekulantentum 
abhold.  An  der  Seite  einer  feingebildeten  Gattin  österreichisch-polnischer 
Herkunft  fand  er  das  häusliche  Glück  und  war  seinen  beiden  Töchtern  der 
liebreichste  Vater,  dem  alten  und  jungen  Freundeskreis  ein  wundermilder 
Wirt. 

Wer  mit  ihm  in  Berührung  kam,  erkannte  bald  als  herrschenden  Zug 
seines  W^esens  die  Güte.  Er  gab  gern,  reichlich  und  freundlich,  am  liebsten 
ungebeten  in  der  Stille.  Auch  mancher  junge  Künstler  hat  solche  Wohl- 
tätigkeit erfahren,  und  seinen  Vertrauten  ist  kaum  ein  Festtag  ohne  ein 
sinnig  gewähltes  Geschenk  aus  dieser  offenen  Hand  vorbeigegangen.  Der 
immer  gleichen  Herzenswärme  war  eine  starke  Mischung  berlinischen  Humors 
beigesellt,  nie  verletzend  und  nicht  bloß  oberflächlich  spaßend,  wie  gern  unser 
Freund  sich  auch  in  drolligen,  zeitweise  stereotypen  Redensarten  erging, 
sondern  als  Ausfluß  tiefer  Heiterkeit.  Alles,  was  nur  von  fern  an  Protzen- 
tum  streifte,  stieß  ihn  ab.  Er  schmückte  seine  Wohnung  mit  erlesenen  Kunst- 
werken deutscher  und  ausländischer  Meister,  wich  aber  jeder  prunkvollen 
großen  Geselligkeit  aus  und  mied  Premieren  und  dergleichen  Stelldichein 
für  Berlin  W.  so  gut  wie  in  den  Ferien  die  vornehmen  Modeorte.  Der  kleine 
untersetzte  Mann  wanderte  lieber  mit  dem  Rucksack  an  einen  stillen  Platz 
im  bayerischen  Gebirge.  Alljährlich,  nicht  bloß  zu  Pfingsten,  wo  das  Gewühl 
der  Festversammlung  die  reine  Andacht  hemmt,  zog  es  ihn  nach  Weimar. 
Dann  besuchte  er  wieder  und  wieder  alle  ihm  heiligen  Stätten  und  sprach 
als  willkommener  Gast  im  Goethe-Schiller-Archiv  vor,  das  seiner  Liberalität 
so  viel  verdankt:  außer  kostbaren  Handschriften  zwei  große  Reihen  von 
cditiones  principes  deutscher  Dichtwerke  in  Prachtbänden.  Neben  der  Berufs- 
arbeit lief  eine  unermüdliche  Tätigkeit  für  zahlreiche  Vereine,  die  seines 
Beirats  und  seiner  stets  bereiten  Hilfe  bedurften.  Gar  manchem  ist  er  wirk- 
lich ein  Schatzmeister  gewesen.  Literatur,  Volks-  und  Völkerkunde,  ger- 
manische Altertümer,  Geschichte  Berlins  haben  seine  fördernde  Hand  gespürt; 
das  Museum  für  deutsche  Trachten  zumal  wäre  ohne  diesen  so  unterrichteten 
wie  opferwilligen  Mann  nicht  zustande  gekommen.  Ein  voller  Chor  dank- 
barer Anerkennung  hat  den  Lebenden,  der  äußeren  Ehren  niemals  nachging, 
erfreut,  den  früh  Verschiedenen  betrauert. 

Lange  schon  zehrte  die  Zuckerkrankheit  an  seinem  Dasein.  Im  Früh- 
jahr 1904  kam  er  schwer  leidend  aus  Bozen  heim  und  hatte  nun  Monate 
hindurch  mit  furchtbaren  Schmerzen  zu  kämpfen,  die  sich  doch  im  Juli 
so  weit  milderten,  daß  er  getrost  in  die  nächste  Zukunft  blickte  und  auf  einer 
notwendigen  Erholungsreise  seiner  Familie  bestand.  Ich  seh*  ihn  vor  mir, 
den  rührenden  guten  Dulder,  wie  er  in  einem  stillen  Garten  des  Grunewalds 
vom  Lager  aus  dem  Besucher  freundlich  zuwinkte  und  ihm  dann  wohl  auf 
dem  Seitentischchen  ein  paar  schöne  Handschriften  wies,  an  denen  sein 
Auge  sich  eben  geweidet  hatte.  Die  Hoffnung  war  trügerisch,  eine  jähe 
Wendung  trat  ein,  am  11.  August  1Q04  ist  Alexander  Meyer  Cohn  sanft 
entschlafen. 


128  Meyer  Cohn. 

Ihm  bleibt  für  weite  Kreise  der  Ruhm  des  größten  deutschen  Auto- 
graphensammlers und  -kenners.  Wiederholt,  noch  in  letzter  Zeit,  hab*  ich 
ihn  klagen  hören,  daß  er  trotz  allem  Wohlstand  nicht  in  der  Lage  sei,  die 
angehäuften  Schätze  den  Seinen  als  unveräußerliches  Erbe  zu  hinterlassen 
oder  sie  gar  insgesamt  einem  öffentlichen  Institut  wie  dem  Goethe-Schiller- 
Archiv  zu  vermachen.  So  zerstiebt  denn  diese  kostbare  Fülle,  wie  das  sin- 
kende Jahr  die  Blätter  des  Baums  herabstört. 

Noch  auf  der  Schule  hatte  er  vom  Vater  einen  Schillerbrief  als  Geschenk 
erhalten,  woran  sein  Sammeleifer  sich  entzündete.  Anfangs  wuchs  der  Besitz 
langsam;  dann  konnte  die  immer  leidenschaftlichere  Liebe  allgemach  im 
Vollgewinn  schwelgen.  Der  1886,  wohl  nicht  zufällig  ein  Jahr  nach  Er- 
schließung des  Goethischen  Archivs,  in  zweihundert  Exemplaren  verteilte 
stattliche  Quartband  »Katalog  einer  Autographensammlung  zur  Geschichte 
der  deutschen  Literatur  seit  Beginn  des  18.  Jahrhunderts«  ließ  den  Haupt- 
teil, Charavays  und  Thibaudeaus  Mustern  gemäß,  in  streng  chronologischer 
Folge  von  H.  S.  Reimarus  bis  herab  zu  R.  Voß  überblicken;  beinahe  vier- 
einhalbhundert Namen,  manche  und  gerade  die  vornehmsten  durch  größere 
Serien,  keiner  unbedeutend  vertreten.  Regesten  und  Teildrucke  bereicherten 
unsere  Literaturgeschichte  sehr  erheblich,  so  daß  der  Katalog  eifrig  zitiert 
ward  und  Anfragen  über  Anfragen,  verschämte  und  unverschämte  Bitten  über 
Bitten  bei  dem  Herausgeber  einliefen.  Alexander  betrieb  seit  geraumer  Zeit 
eine  Neubearbeitung,  die  nun  seine*  ganze  Habe  umfassen  sollte;  daneben 
schwebte  ihm  ein  Autographenkommentar  zu  »Dichtung  und  Wahrheit«  vor. 
Als  Privatdrucke  ließ  er  Goethiana  und  zu  Kaiser  Wilhelms  hundertstem 
Geburtstage  eine  Reihe  höchst  wertvoller  Briefe  an  den  Prinzen  Karl  aus- 
gehn.  Auch  der  Säkularfeier  Schillers  war  schon  eine  würdige  Gabe 
zugedacht.  Wer  jenes  alte  Verzeichnis  an  dem  vorliegenden  mißt,  erkennt 
sowohl,  wie  ungemein  die  Sammlung  seither  im  Gebiete  der  deutschen 
Literatur,  besonders  des  weimarischen  Klassizismus  nebst  seinen  persön- 
lichen Zusammenhängen,  angeschwollen  ist,  als  auch  ihren  dieses  Feld  über- 
schreitenden Reichtum.  Sie  schließt  grundsätzlich  alle  Fachgelehrten  aus, 
gesellt  aber  die  bildenden  Künstler  zu  den  Schriftstellern  Europas,  Urkunden 
alter  deutscher  Kaiser,  spanischer  Könige  usw.  zur  Korrespondenz  politischer 
Persönlichkeiten.  Tadelloser  Zustand,  inhaltliche  Bedeutung  gaben  bei  jedem 
Erwerb  den  Ausschlag.  Vieles  gewann  er  einzeln  durch  massenhaftes  privates 
Angebot  oder  auf  Auktionen;  manchmal  glückte  ein  großer  Fischzug  wie 
Hemsens  Nachlaß,  Kleists  Blätter  an  seine  Braut  mit  herrlichem  Zuwachs  von 
Aufsätzen  und  Lebensdokumenten  aus  Dessau,  Goethes  Briefe  an  F.  H.  Ja- 
cobi,  an  Reinhard.  Aus  dem  Geheimschatze,  den  Maltzahn  aufgebracht 
hatte,  ging  auch  eines  der  umfangreichsten  und  inhaltschwersten  Bekennt- 
nisse des  jungen  Goethe  vom  Juni  1774  in  diese  Sammlung  ein,  und  endlich 
wurde  ebendaher,  doch  erst  nach  strengster  Zwischenhaft  bei  dem  unzugäng- 
lichen Posonyi,  das  Kleinod  der  Shakespeare-Rede  erobert.  Als  der  Ober- 
hofmeister V.  Donop  in  Weimar  starb,  kaufte  Alexander  alles,  was  sich  an 
Schriftstücken  und  Bildern  auf  Goethe  bezog,  und  nicht  zuletzt  jene  brüder- 
lichen Mitteilungen  Kaiser  Wilhelms,  die  von  den  Freiheitskriegen  bis  nach 
Versailles  reichen. 

Vergessen   wir  endlich  nicht,    wie  oft  er  auf  Versteigerungen    vorläufig 


Meyer  Cohn.     Motz.  I2Q 

zugegriffen  hat,  um  einer  fremden  Interessensphäre  selbstlos  zu  dienen  und 
etwa  einen  Folianten  des  Hans  Sachs,  den  er  nur  in  Nürnberg  geborgen 
sehen  wollte,  den  Klauen  Harpagons  zu  entreißen.  ¥a  verachtete  die  gierigen 
Egoisten,  die  alles  bloß  für  sich  allein  besitzen  und  nach  Lessings  Wort  wie 
der  Hund  vor  dem  Heu  liegen.  Er  hielt  es  vielmehr  mit  den  weitherzigen, 
der  Wissenschaft  holden  Männern  vom  Schlag  C.  Meinerts,  R.  Brockhaus, 
ließ  z.  B.  die  weimarische  Goetheausgabe  auch  mit  seinem  Pfunde  wuchern 
und  förderte  gern  sowohl  das  von  unserer  Akademie  geplante  Korpus  der 
Briefe  Wielands  als  die  Edition  aller  Briefe  Heinrich  v.  Kleists.  Das  Buch- 
zeichen A/M  et  amicis  war  auch  seine  Losung.  Wehmütig  sehen  die  Freunde 
nun  diese  von  kenntnisreicher  Liebe  vereinten  Blätter  zerflattern.  Mögen  sie 
in  die  rechten  Hände  kommen! 

Von^'ort  zum  Katalog  der  »Autographcn-Samralung  Alexander  Meyer  Cohns«.     Erster 
Teil.     Berlin.     J.  A.  Stargardt  1905.     Mit  Genehmigung  des  Verfassers  wiederholt. 

Berlin.  Erich  Schmidt. 


Motz,  Paul,  hennebergischer  Dialektdichter,  •  1817  in  Ritschenhausen  bei 
Meiningen,  f  3.  Mai  1904  in  Meiningen.  —  M.  besuchte  das  Gymnasium  zu 
Meiningen,  wandte  sich  dann,  von  Liebe  zur  Natur  und  besonders  zum  Wald 
erfüllt,  dem  Forstfache  zu  und  empfing  seine  Ausbildung  dafür  auf  der  Forst- 
lehranstalt zu  Dreißigacker  bei  Meiningen.  Als  er  1839 — 1840  das  praktische 
Lehrjahr  in  Henneberg  erledigt  hatte,  übernahm  er  zunächst  die  Privatstellung 
eines  Gutsförsters  in  Ellinghausen  bei  Meiningen,  trat  aber  1843  als  Forst- 
assessor in  den  herzoglichen  Staatsdienst  zurück.  Von  Henneberg,  wo  er  nun 
wieder  zuerst  angestellt  war,  wurde  er  1846  nach  Kloster  Veilsdorf,  von  da 
1849  nach  Heinersdorf  bei  Sonneberg,  1857  nach  Heldburg,  1866  nach 
Schmiedefeld  bei  Gräfenthal  versetzt.  Die  Ernennung  zum  Oberförster  führte 
ihn  1870  nach  Reichenbach  bei  Saalfeld.  Dort  verblieb  er  bis  zu  seiner 
Pensionierung  1881  und  verlebte  dann  den  Rest  seiner  Jahre  im  Ruhestande 
zu  Meiningen. 

M.  besaß  viel  Gemüt,  Humor  und  poetisches  Empfinden.  Da  er  auch 
über  Gewandtheit  im  Versbau  verfügte,  ward  er  durch  das  Leben  in  der 
Natur  und  durch  den  Verkehr  mit  sympathischen  Menschen  leicht  zu  dichteri- 
schem Schaffen  angeregt.  Die  Umstände  ließen  sich  freilich  nicht  immer 
danach  an,  sein  Talent  zur  Betätigung  zu  bringen.  Bald  waren  es  häusliche 
Sorgen,  bald  dienstliche  Widerwärtigkeiten,  bald  die  Vereinsamung  in  ent- 
legenen Dörfern,  bald  die  Trennung  von  der  hennebergischen  Heimat,  die 
seine  dichterische  Schaffenskraft  jahrelang  unterdrückten.  Trotzdem  hat  M. 
eine  große  Menge  von  Gedichten  hervorgebracht,  die  bisher  nur  zum  kleineren 
Teile  gedruckt  worden  sind.  Er  stellte  seine  Muse  in  den  Dienst  des  heimat- 
lichen hennebergischen  Dialektes,  auf  dessen  Eigenart  Männer  wie  Reinwald, 
Sterzing,  Brückner  u.  a.  durch  wissenschaftliche  Untersuchungen  teils  früher 
teils  gleichzeitig  hingewiesen  hatten.  In  dieser  Mundart  hat  M.  manches 
köstliche  Stück  von  urwüchsiger  Kraft  gedichtet.  Seine  ersten  Gedichte  ent- 
standen schon  1843  in  Henneberg,  und  die  anregende  Zeit  in  Kloster 
Veilsdorf  1846— 1849  brachte  ebenfalls  reichen  poetischen  Ertrag.  Zur  größten 
Fruchtbarkeit  aber  gelangte  sein  Talent  1857—1866  in  Heldburg,  wo  er  die 

Rto^r.  Jahrbuch  u.  Deutlicher  Nekrolog^.     9.  Bd.  9 


j^O  Motz,     von  Angeli. 

angenehmste  und  glücklichste  Zeit  seines  Lebens  genoß.  Eine  kleine  Samm- 
lung seiner  »Gedichte  in  Henneberger  Mundart«  erschien  zuerst  1848  in  Hild- 
burghausen und  später  neu  aufgelegt  in  Saalfeld.  Unter  dem  Titel  »Jokes- 
Äpfel«  gab  M.  eine  weitere  Sammlung  seiner  Dialektdichtungen  heraus.  Das 
I.  Bändchen  davon  wurde  1853  in  Gotha,  das  2.  Bändchen  1858  in  Hildburg- 
hausen veröffentlicht;  zu  einem  angekündigten  3.  Bändchen  und  einer 
wünschenswerten  Auswahl  aus  den  ungedruckten  späteren  Gedichten  ist  es 
bisher  nicht  gekommen. 

A.  Richter,  P.  Motz,  in  der  »ITiüringer  Warte«  II,  Nr.  4  (Juli  1905),  S.  158—166 
mit  Porträt  des  Dichters.  —  Vgl.  »Thüringer  Warte«  I,  Nr.  10,  S.  462  und  zweite  üm- 
schlagseite;  11,  Nr.  5,  S.  214  f.  P.  Mitzschke. 

Angeliy  Moriz  Edler  von,  österreichisch-ungarischer  Oberst,  •  zu  Wien 
1829,  f  3.  Oktober  1904  ebenda.  —  A.  stammte  aus  einer  alten  venezianischen 
Patrizierfamilie,  kam  1841  als  zwölfjähriger  Knabe  in  die  Wiener-Neustädter 
Akademie,  wo  es  sechs  Jahre  verblieb,  worauf  er  die  Pionierschule  zu  Tulln 
besuchte.  Bald  aber  wurde  er  auf  das  Schlachtfeld  geworfen,  da  die  Be- 
wegungen der  Jahre  1848  und  1849  den  Abschluß  theoretischer  Studien 
nicht  zuließen.  Im  Januar  1849  wurde  er  als  Kadett  in  das  10.  Infanterie- 
regiment Graf  Mazzuchelli  eingereiht  und  kam  bald  auf  dem  ungarischen 
Kriegsschauplatze  ins  Feuer.  Das  Korps  Wohlgemuth,  dem  sein  Regiment 
angehörte,  wurde  am  19.  April  bei  Nagy-Sarlo  mit  überlegener  Macht  von 
den  Ungarn  unter  Klapka  angegriffen  und  zum  Rückzuge  gezwungen ;  es  war 
dies  eines  der  Gefechte,  durch  die  der  Rückzug  der  Armee  des  Fürsten 
Windisch-Graetz  aus  Ungarn  notwendig  wurde.  Dann  aber  ging  es  unter 
Haynau  wieder  vorwärts.  A.,  am  i.  Juli  1849  zum  Unterleutnant  ernannt,  nahm 
an  den  Kämpfen  von  Komorn,  zumal  an  den  Gefechten  im  Acser  Wald  am 
3.  August  und  an  dem  Vormarsche  gegen  die  Theiß  teil;  bald  darauf  wurde 
er  in  das  37.  Infanterieregiment  versetzt,  in  dem  er  bis  1870  verblieb. 

Auch  die  Friedensjahre  bis  1859  gestalteten  sich  für  den  jungen  A.  lebhaft 
genug.  Galizische  und  italienische  Garnisonen  wechselten,  und  1850  wurde 
sein  Regiment  in  die  militärische  Aufstellung  gegen  Preußen  einbezogen.  Als 
1854  die  Rüstungen  gegen  Rußland  ins  Werk  gesetzt  wurden,  gehörte  das 
37.  Regiment  zu  den  Truppen,  die  nach  der  Moldau  und  Walachei  kommandiert 
wurden,  um  den  Rückzug  der  Russen  von  der  unteren  Donau  zu  erzwingen. 
Reich  bewegte  zwei  Jahre  folgten  für  A.,  der  die  in  der  Moldau  gewonnenen 
Eindrücke  in  seinem  Buche  »Altes  Eisen«  anschaulich  wiedergab.  Im  Februar 
1857  verließ  sein  Regiment  Jassy  und  er  kam  nach  Peterwardein  in  Südungam, 
wo  er  seine  Braut  kennen  lernte. 

Doch  gab  es  für  ihn  nur  kurze  Rast.  Er  stand  zu  Prag  in  Ganiison, 
als  das  in  Böhmen  liegende  erste  Korps,  Befehlshaber  Graf  Clam-Gallas,  den 
Befehl  erhielt,  nach  Italien  abzugehen.  Die  Eisenbahnfahrt  ging  durch  das 
verbündete  Süddeutschland  und  Südtirol  nach  Mailand,  wo  er  mit  seinen 
Kampfgenossen  am  i.  Juni  eintraf.  Schon  am  nächsten  Tag  ging  der  Marsch 
zur  Tessinbrücke  bei  Magenta,  wo  man  den  Angriff  des  Feindes  erwartete. 
Die  Schlacht  vom  4.  Juni  fand  ihn  so  unter  den  Kämpfern.  Am  20.  Juni 
erfuhr  er  im  Lager  vor  Verona  seine  Beförderung  zum  Hauptmann  und  vier 
Tage  darauf  kam  er  bei  Solferino  neuerlich  ins  Feuer.     Er  stand  am  linken 


von  Angeli.  j^j 

Flügel,  der,  ohne  besiegt  zu  sein,  vom  Feldzeugmeister  Wimpffen  den  Befehl 
zum  vorzeitigen  Rückzug  erhielt,  was  dann  den  Verlust  der  Schlacht  auch 
auf  dem  siegreichen  rechten  Flügel  zur  Folge  hatte.  —  Als  er  1863  zu  Lem- 
berg  in  Garnison  lag,  erhielt  er  den  Befehl,  mit  seiner  Kompagnie  an  der 
Grenzbewachung  teilzunehmen,  die  Galizien  von  dem  aufständischen  Russisch- 
Polen  zu  trennen  hatte.  Diese  mühsame  Aufgabe  beschäftigte  ihn  von  April 
1863  bis  Oktober  1864;  es  war  nicht  immer  möglich,  in  dem  breiten,  ihm 
zugewiesenen  Raum  den  Übertritt  von  Banden  von  und  nach  Rußland  zu 
verhindern,  zumal  da  diese  in  genauer  Verbindung  mit  den  Besitzern  der 
Adelshöfe  standen.  Die  halb  ernsten,  halb  launigen  Schilderungen  A.s  in 
dem  bereits  genannten  Buche  gewähren  lebendigen  Einblick  in  dieses  bunte 
Treiben.  —  Unter  allen  kriegerischen  Verwickelungen  Österreichs  von  1848 
bis  1866  war  der  dänische  Krieg  der  einzige,  von  dem  A.  persönlich  nicht 
berührt  wurde.  Der  Krieg  von  1866  fand  ihn  wieder  auf  dem  Kampfplatze. 
Das  37.  Regiment  stand  in  der  Brigade  des  Erzherzogs  Joseph  und  gehörte 
zum  vierten  Korps  unter  General  Graf  Festetics.  Er  kämpfte  bei  Schwein- 
schädel am  29.  Juni  und  in  der  Schlacht  von  Königgrätz;  sein  Regiment 
gehölte  zu  den  Truppenkörpern,  die  den  blutigen  Sturm  auf  den  Swiepwald 
mitmachten. 

Noch  weitere  vier  Jahre  gehörte  A.  dem  streitbaren  Stande  an.  Ein 
Zeichen  des  Vertrauens  in  seinen  Takt  und  seine  Tüchtigkeit  war  es,  daß 
man  ihm,  der  sich  mit  seinem  Bataillon  in  Budapest  in  Garnison  befand,  im 
Jahre  1869  die  Ausbildung  der  ersten  Einjährig-Freiwilligenabteilung  von  etwa 
300  jungen  Soldaten  anvertraute,  was  bei  den  damaligen  Strömungen  in  Ungarn 
keine  leichte  Aufgabe  war.  Die  ungarischen  Freiwilligen  zeigten  sich  zuerst 
stutzig,  wollten  mit  der  Disziplin  spielen,  aber  die  Festigkeit  und  Biederkeit 
ihres  Hauptmannes  gewann  sie  vollständig  für  ihre  Pflicht.  Kurze  Zeit  darauf 
aber  schloß  der  dem  Waffendienste  gewidmete  Teil  seine  Tätigkeit.  Seine 
(jesundheit  hatte  durch  die  Strapazen  des  Dienstes  wie  durch  den  Sturz  eines 
Wagens,  auf  dem  er  1859  ^^^^  dienstliche  Obliegenheit  zu  erfüllen  hatte, 
gelitten,  und  er  trat  187 1  mit  Majorscharakter  in  den  Ruhestand. 

Damit  beginnt  seine  ausgebreitete  Tätigkeit  als  militärischer  Schriftsteller, 
durch  die  er  sich  ein  dauerndes  Andenken  sicherte.  Schon  früher  hatte  er 
sich  als  solcher  versucht  und  1869  ein  Buch,  »Taktische  Thematik«,  heraus- 
gegeben, das  sich  die  Anwendung  der  allgemeinen  Regeln  der  Kriegskunst 
auf  den  einzelnen  Fall  zum  Ziel  setzte.  -Bei  seinem  Rücktritte  vom  aktiven 
Dienste  war  er  wohl  körperlich  angegriffen,  doch  geistig  regsam  und  über- 
nahm die  Redaktion  der  militärischen  Zeitschrift  »Vedette«,  in  der  er  für  die 
Reformen  eintrat,  durch  die  die  Neuorganisation  der  Armee  herbeigeführt 
wurde,  ohne  sich  den  Drängern  anzuschließen,  die  auch  an  alte  liebgewordene 
Traditionen  rühren  wollten.  Sein  gerader  und  streitbarer  Sinn  führte  manchen 
scharfen  Federkampf  herbei,  der,  ebenso  wie  eine  Anklage  wegen  Ehrenbe- 
leidigung vor  dem  Schwurgerichte,  ehrenvoll  für  ihn  verlief.  Die  Beschäftigung 
mit  der  militärischen  Journalistik  behagte  ihm  wenig,  und  es  konnte  ihm 
nichts  willkommener  sein,  als  daß  er  am  i.  Januar  1875  in  den  aktiven 
Dienst  zurücktrat,  wobei  er  der  Abteilung  für  Kriegsgeschichte  des  k.  u.  k. 
Kriegsarchives  zugeteilt  wurde.  Dieser  Dienstzweig  war  kurz  vorher  von 
Friedrich  von  Fischer,  dem  hochverdienten  Redakteur  des  offiziellen  Werkes 

9* 


1^2  ^'0^^  Angel i. 

über  den  Krieg  von  1866,  neu  organisiert  worden.  Die  Leitung  der  Abteilung 
des  Kriegsarchivs  wurde  von  dem  Nachfolger  Fischers,  Oberst  von  Sacken, 
in  dessen  Geiste  weitergeführt.  A.  fand  in  ihm  einen  ihn  hochschätzenden 
Vorgesetzten  und  erwies  sich  bald  durch  seine  Arbeitskraft,  sein  militärisches 
Wissen  und  durch  seine  Gewandtheit  in  der  Darstellung  als  einen  der  ver- 
dientesten Vertreter  der  Kriegswissenschaft  in  Österreich.  Er  beteiligte  sich 
zunächst  an  dem  großen  Werke  über  die  Feldzüge  des  Prinzen  Eugen,  indem 
er  den  Teil  über  die  Kriegsjahre  1697  und  1698  bearbeitete.  Eine  interessante 
Aufgabe  fiel  ihm  zu,  als  die  kriegsgeschichtliche  Abteilung  den  Plan  faßte,  zur 
Aufhellung  der  Geschichte  Wallensteins  die  Archive  derjenigen  Adelsfamilien 
durchforschen  zu  lassen,  deren  Ahnherren  an  dem  Aufstiege  und  Falle  des  Fried- 
länders  in  irgendeiner  Weise  beteiligt  waren.  Zu  diesem  Ende  wurde  ihm  die 
eingehende  Durchsicht  des  Schlickschen  Archivs  in  Kopidlno  übertragen,  dann 
das  des  Fürsten  Colloredo  in  Opotschno,  endlich  des  Grafen  Clam-Gallas  in 
Friedland.  Das  Ergebnis  hat  A.  in  seinen  Berichten  an  die  Kriegsgeschichtliche 
Abteilung  niedergelegt.  Daneben  ging  die  fleißige  Mitarbeiterschaft  in  den 
»Mitteilungen  des  k.  u.  k.  Kriegsarchivs«,  wo  er  zahlreiche  Arbeiten  über 
Kriegsgeschichte  veröffentlichte.  Dazu  gehören  seine  Aufsätze  über  »Die 
Heere  des  Kaisers  und  der  französischen  Revolution«,  »Ulm  und  Austerlitz 
1805«,  »Wagram«,  »Die  Teilnahme  des  k.  k.  österreichischen  Auxiliarkorps 
unter  dem  Kommando  des  Fürsten  Karl  Schwarzenberg  gegen  Rußland  181 2«. 
Daß  er  daneben  auf  Anregung  des  Kriegsministeriums  durch'  einige  Zeit  auch 
die  Redaktion  der  Streffleurschen  Militärischen  Zeitschrift  führte,  gehört  nicht 
zu  seinen  angenehmsten  Erinnerungen.  Es  zog  ihn  immer  wieder  zu  seinen 
historischen  Arbeiten,  für  die  sich  um  diese  Zeit  eine  weitere  Perspektive 
eröffnete.     Er  trat  damit  an  das  Hauptwerk  seines  Lebens. 

Die  Söhne  des  Erzherzogs  Karl,  die  Erzherzoge  Albrecht  und  Wilhelm, 
faßten  den  Plan  zu  einer  wissenschaftlichen  Biographie  ihres  berühmten  Vaters, 
des  Siegers  in  den  Feldzügen  von  1796,  1799  und  in  der  Schlacht  bei  Aspem. 
Die  umfassende  Aufgabe  wurde  in  zwei  Teile  zerlegt,  derart,  daß  der  Pro- 
fessor an  der  Wiener  Universität,  Zeißberg,  die  Geschichte  des  Lebens  und 
mit  ihr  die  politische  Tätigkeit  Karls  schildern  sollte,  während  A.  mit  der 
Aufgabe  betraut  wurde,  dem  Erzherzog-Feldmarschall  in  seiner  Eigenschaft 
als  Feldherr  gerecht  zu  werden.  Es  stellten  sich  ihm  aber  vom  Anfange  an 
große  Schwierigkeiten  in  den  Weg.  Sie  werden  sich  immer  einfinden,  wenn 
eine  offene,  wahrheitsliebende  Natur  zu  einer  Arbeit  eingespannt  wird,  die 
der  Individualität  des  Verfassers  naturgemäß  eine  Schranke  zieht.  Hemmungen 
dieser  Art  bei  offiziellen  und  halboffiziellen  Werken  werden  am  besten  durch 
den  Hinweis  darauf  gekennzeichnet,  daß  Moltke,  gewissermaßen  als  Weisung 
bei  Abfassung  des  deutschen  Generalstabswerkes  über  den  Krieg  von  1870, 
die  Äußerung  fallen  ließ:  »Die  Prestigen  (der  deutschen  Heerführer)  müssen 
geschont  werden.«  Für  A.  war  noch  der  Umstand  wichtig,  daß  die  Pietät 
der  Söhne  des  Erzherzogs  Karl  sorgsam  über  dessen  Andenken  wachte, 
ferner,  daß  der  Erzherzog  selbst  die  Feldzüge  von  1796  und  1799  ^^  Werken 
geschildert  hatte,  die  zwar  mit  Recht  hohes  Ansehen  genießen,  die  aber  den 
Nachteil  besitzen,  daß  der  Verfasser  die  offiziellen  österreichischen  Dokumente 
nicht  vollständig,  die  französischen  aber  gar  nicht  benützt  hatte.  Erschien 
doch  vom  Marschall  Jourdan,  seinem  Gegner  im  Kriege  von  1796,  eine  Wider- 


von  Angeli.  I  ^  ^ 

legung  der  Annahmen,  die  der  Erzherzog  in  seinem  Buche  über  die  Absichten 
dieses  französischen  Generals  ausgesprochen  hatte.  Es  war  nicht  anders 
möglich,  als  daß  das  Werk  A.s  die  Darstellung  des  Erzherzogs  nicht  bloß 
ergänzte,  sondern  auch  berichtigte.  Er  vermochte  ihn  in  manchen  Punkten  gegen 
die  Strenge  der  von  ihm  geübten  Selbstkritik  zu  verteidigen,  konnte  sich  aber 
auch  manchen  Widerspruch  gegen  die  Angaben  seines  Helden  nicht  ersparen. 
Die  Erzherzoge  Albrecht  und  Wilhelm  waren  zu  sachkundig,  um  diese 
Schwierigkeiten  zu  verkennen,  und  A.  hat  stets  anerkannt,  daß  ihm  in  der 
Feststellung  der  Tatsachen  vollständig  freie  Hand  gelassen  wurde.  Manches 
hätte  sich  ruhiger  und  für  A.  erquicklicher  schlichten  lassen,  wenn  sich  nicht 
zwischen  ihm  und  dem  Nachfolger  Sackens  in  der  Leitung  der  Kriegsge- 
schichtlichen Abteilung  und  des  Kriegsarchivs,  dem  Obersten,  späteren 
Feldmarschalleutnant  Freiherrn  von  Wetzer,  sachliche  und  persönliche  Miß- 
helligkeiten eingestellt  hätten.  Wetzer  entwarf  eine  Art  Programm  für  die 
Abfassung  des  ersten  Teiles  der  Arbeit  A.s,  mit  der  dieser  in  mancher 
Beziehung  nicht  einverstanden  war.  Ihm,  der  bereits  im  Kriegsarchiv  die 
Quellen  durchforscht  hatte,  schien  manche  Annahme  Wetzers  nicht  haltbar, 
und  er  konnte  sie  nicht  zur  Richtschnur  nehmen.  Der  Gegensatz  verschärfte 
sich,  da  die  Gradheit  A.s  sich  in  der  Diskussion  nicht  verleugnete.  Er  rückte 
zwar  1888  zum  Oberstleutnant  vor,  das  Verhältnis  drängte  aber  zu  einer 
Lösung  und  A.  verzeichnet  in  seinem  Diarium  zum  10.  September  1890,  er 
sei  »infolge  der  vielfachen  Reibungen  mit  der  Archivdirektion,  welche  aus 
meiner  selbständigen  Stellung  als  Verfasser  des  Erzherzog  Karl-Werkes  hervor- 
gingen«, aus  dem  Verbände  der  Kriegsgeschichtlichen  Abteilung  ausgeschieden, 
so  zwar,  daß  er  dem  Familienarchiv  des  Erzherzogs  Albrecht  zugeteilt  wurde. 
Der  Austritt  aus  seiner  früheren  Stellung  mochte  ihm  aus  manchen  Gründen 
unwillkommen  sein,  dafür  aber  wurde  ihm  größere  Freiheit  der  Bewegung 
zuteil,  die  er  zur  Vollendung  seines  Werkes  benützte.  Die  Söhne  Erzherzog 
Karls  wurden  indessen  durch  den  Tod  abberufen  und  ihre  Neffen,  die  Erz- 
herzoge Friedrich  und  Eugen,  verfügten,  daß,  während  die  Arbeit  des  Professors 
Zeißberg  nur  langsam  vorschritt,  mit  der  Herausgabe  des  Werkes  A.s  vorgegangen 
werde.  Und  so  erschienen  1896 — 1897  dessen  fünf  Bände  »Erzherzog  Karl 
als  Feldherr  und  Heeresorganisator«,  die  der  Reihe  nach  die  Feldzüge  von 
1796  in  Deutschland  und  1797  in  Italien,  1799  in  Deutschland,  1805  in  Italien, 
1809  in  Deutschland  und  Osterreich  und  als  Schluß  die  Würdigung  des 
Erzherzogs  Karl  als  Heeresorganisator  umfaßten.  A.  war  unterdessen  1895 
als  Oberst  aus  dem  aktiven  Dienste  in  den  Ruhestand  getreten,  ohne  sich 
aber  in  seiner  Arbeit  beirren  zu  lassen.  Nach  ihrem  Abschluß  wurde  ihm 
Mn  Anerkennung  seiner  Verdienste  auf  historischem  Gebiete«  vom  Kaiser  der 
Orden  der  Eisernen  Krone  dritter  Klasse  verliehen  und  auch  die  beiden 
überlebenden  Erzherzoge  haben  persönlich  den  Dank  für  seine  Mühewaltung 
aufs  wärmste  betätigt. 

Berufene  Beurteiler  haben  anerkannt,  daß  A.  mit  unermüdlichem  Fleiß 
und  mit  vollei*  Wahrheitsliebe  den  Stoff  zusammengefaßt  und  lichtvoll  dargestellt 
hat.  Man  konnte  aber  von  seinem  Werke  nicht  eine  scharfe,  unumwundene 
Kritik  der  militärischen  und  politischen  Ereignisse  erwarten.  Eine  solche 
war  weder  beabsichtigt,  noch  unter  den  obwaltenden  Umständen  möglich. 
Man  wird  aber   solche    abschließende    Urteile    auch    nicht    in    den   Arbeiten 


l'3A  von  Angeli.     Roth. 

deutscher  und  französischer  Darsteller  finden,  die  eine  Art  offizieller  Mission 
übernommen  haben. 

Nach  so  viel  Lebensarbeit  hätte  Oberst  von  A.,  nahezu  siebzigjährig,  das 
Recht  gehabt,  sich  Ruhe  zu  gönnen.  Aber  er  war  an  Tätigkeit  gewöhnt 
und  so  schritt  er  an  die  Lösung  neuer  Aufgaben.  Auf  Anregung  des  Prinzen 
Ludwig  Windisch-Graetz,  General-Truppen-Inspektors,  veranlaßte  ihn  die 
Familie  des  Generals  Grafen  Clam-Gallas  zur  Abfassung  der  militärischen 
Biographie  des  letzteren,  eine  Arbeit,  die  ihn  schon  deshalb  interessierte,  weil 
er  an  den  Feldzügen  des  Grafen  Clam-Gallas  als  Offizier  teilgenommen  hatte. 
Es  war  A.s  Absicht,  mit  der  Veröffentlichung  seines  Buches  vorzugehen ;  das 
Manuskript  wurde  auch  nach  dem  Tode  des  Verfassers  dem  Sohne  des  Ge- 
nerals vollständig  übergeben  und  harrt  noch  der  Veröffentlichung.  Daneben 
beschäftigte  sich  A.  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  damit,  seine  Er- 
innerungen niederzuschreiben.  Er  wählte  dazu  nicht  die  Form  einer  zusammen- 
fassenden Selbstbiographie,  sondern  zog  es  vor,  einzelne  Stücke  der  Reihe 
nach  herauszuheben.  So  erschien  das  Buch  »Altes  Eisen«  (Stuttgart,  Cotta, 
1900),  dem  er  ein  zweites  »Wien  nach  1848«  folgen  lassen  wollte.  Als  ihn 
der  Tod  darüber  überraschte,  wurde  dieses  als  nachgelassenes  Werk  herausge- 
geben, (Wien,  Braumüller,  1905).  Wer  diese  Arbeiten  in  die  Hand  nimmt,  dem 
wird  daraus  der  gerade  schlichte  Sinn  des  Verfassers  entgegenblicken ;  nicht 
Prunk  und  Schliff,  sondern  volle  Natürlichkeit  lag  in  dem  Charakter  Angel is. 

Die  vorstehende   Biographie    ist   nahezu   gleichlautend    als   Einleitung  zu   dem  nach- 
gelassenen Werke  Angelis  »Wien  nach   1848«  erschienen. 

Heinrich  Friedjung. 

Roth,  Arnold,  schweizerischer  Gesandter,  *  24.  Januar  1836  zu  Teufen 
(Kanton  Appenzell),  f  am  7.  April  1904.  —  R.  wurde  als  der  Sohn  des  appen- 
zellischen  Landammanns  und  schweizerischen  National-  und  Ständerates  Johannes 
Roth  geboren.  Sein  Vater,  ein  biederer  Bürger,  war  ökonomisch  unabhängig 
und  widmete  sich  gänzlich  der  Öffentlichkeit  und  seinen  Liebhabereien,  be- 
sonders der  Musik,  die  er  mit  Leidenschaft  pflegte,  seine  Mutter,  Emilie  Schieß 
von  Herisau,  war  eine  fein  gebildete  Frau  mit  praktisch  häuslichem  Sinn.  R. 
bekam  zu  Hause  eine  sorgfältige  Erziehung,  besuchte  dann,  um  sich  für  die 
Universitätsstudien  vorzubereiten,  die  Kantonschule  in  Trogen,  das  Institut 
Münz  und  das  Gymnasium  in  St.  Gallen.  Im  Frühjahr  1854  bezog  er  die 
Hochschule  in  Zürich,  1855  diejenige  Heidelbergs,  um  Jurisprudenz  zu  studieren. 
Nachdem  er  1857  doktoriert  hatte,  wirkte  er  kurze  Zeit  als  Auditor  (Anwalt) 
am  Bezirksgericht  in  Zürich.  Dann  siedelte  R.  nach  Paris  über,  wo  er  zehn 
Jahre  lang  als  Sekretär  des  schweizerischen  Gesandten,  Ministers  Kern,  arbei- 
tete; es  war  die  Zeit  der  Höhe  und  des  allmählichen  Falles  Napoleons  III. 
(1859 — 1869).  Dann  wurde  R.  kurze  Zeit  Sekretär  des  politischen  Departementes 
in  Bern  und  siedelte  darauf  in  seine  Heimat  Teufen  über.  Das  appenzellische 
Volk  betraute  ihn  bald  mit  vielen  Ämtern,  die  er  alle  als  fleißiger  Arbeiter 
mit  gewissenhafter  Sorgfalt  verwaltete.  So  war  R.  Ständerat,  Statthalter 
(Regierungsrat),  Landammann  und  Präsident  eines  Verfassungsrates  des  Kantons 
Appenzell  a.  Rh.  Daneben  widmete  er  sich  auch  dem  Militär,  indem  er  als 
Artillerieoffizier  Dienste  tat.  Im  Dezember  1876  nahm  er  einen  Ruf  des 
schweizerischen    Bundesrates  an,    als  Gesandter   der  schweizerischen    Eidge- 


Roth,     von  MoUinary.  I^c 

nossenschaft  nach  Berlin  zu  gehen.  1877  trat  R.  seinen  neuen  Posten  an, 
den  er  bis  zu  seinem  Tode  1904  bekleidete.  Neben  den  üblichen  Gesandt- 
schaftsgeschäften traten  verschiedene  größere  Aufgaben  an  R.  heran,  so  beteiligte 
er  sich  in  hohem  Maße  an  den  deutsch-schweizerischen  Handelsverträgen  der 
Jahre  1881,  1888,  1891  und  1904,  an  der  Wohlgemuthaff äre  1889  und  an  der 
Haager  Friedenskonferenz  1899.  In  allen  seinen  Handlungen  kamen  ihm 
große  juristische  und  nationalökonomische  Kenntnisse,  politischer  Scharfblick, 
feiner  Takt  und  eine  ausgebildete  diplomatische  Kunst  zu  statten.  Diese 
Eigenschaften,  die  mit  Liebenswürdigkeit  und  Einfachheit  des  Benehmens 
verbunden  waren,  machten  ihn  auch  zum  Liebling  der  Schweizerkolonie  in 
Berlin,  sowie  zu  einem  angesehenen  Mitglied  des  dortigen  diplomatischen 
Korps.  So  genoß  R.  das  Wohlwollen  der  Kaiser  Wilhelms  L,  Friedrichs  IIL 
und  Wilhelms  IL;  gute  und  zum  Teil  freundschaftliche  Beziehungen  unterhielt 
R.  mit  Bismarck,  Caprivi,  Hohenlohe,  Bülow,  Moltke,  Stephan,  Helmholtz, 
Marschall,  Zeppelin  u.  a.  R.s  Privatleben  floß  einfach  und  glücklich  dahin. 
Er  war  mit  Aline  Zollinger  aus  Zürich  vermählt  und  genoß  mit  ihr,  zwei 
Töchtern  und  einem  Sohne  ein  glückliches  Familienleben,  das  nur  dadurch 
getrübt  wurde,  daß  die  jüngere  Tochter  bei  einem  Eisenbahnunglück  im  Haag 
1899  auf  tragische  Weise  ums  Leben  kam.  R.  hatte  das  Glück,  bis  zu  seinem 
Tode  rüstig  zu  bleiben  und  in  seinem  Amte  wirken  zu  können.  In  den  letzten 
Jahren  litt  er  an  einer  Arterienverkalkung.  Im  März  1904  packte  ihn  eine 
Lungenentzündung,  der  er  am  7.  April  erlag.  Nach  seinem  Wunsch  liegt  er 
in   seinem  Heimatdorfe  Teufen  begraben. 

Vgl.  Minister  Arnold  Roth,  ein  Lebensbild  von  Dr.  W.  Nef,  Trogen.  Druck  und 
Verlag  von  U.  Kubier  1905.  8°.  116  Seiten.  Auch  abgedruckt  in:  Appenzellische  Jahr- 
bücher, 4.  Folge,  2.  Heft.     Trogen.     Druck  von  U.  Kubier.   1905.  W.   Nef. 

Mollinary  Freiherr  von  Monte  Pastello,  Anton,  k.  k.  Wirkl.  Geh.  Rat, 
Feldzeugmeister,  Inhaber  des  38.  Inf.  Rgts.,  ♦  9.  Oktober  1820  zu  Titel  (Militär- 
grenze), f  26.  Oktober  1904  zu  Villa  Soave  bei  Como  (Italien).  —  Einer  der 
verdientesten  Generale  der  österr.  Armee  wurde  mit  M.  zu  Grabe  getragen; 
ein  Mann,  dessen  Name,  in  Österreich  von  jeher  populär,  in  Deutschland 
hauptsächlich  erst  durch  sein  Verhalten  als  Kommandant  des  4.  Armeekorps 
bei  Königgrätz,  wo  er  durch  viele  Stunden  den  Swiepwald  gegen  Fransecky 
siegreich  verteidigte  und  erst  über  Benedeks  dreimalige  Aufforderung  zurück- 
ging, allseitig  bekannt  geworden  ist.  Dieses  springenden  Punktes  seiner 
kriegerischen  Tätigkeit  sei  denn  hier  auch  mit  besonderer  Ausführlichkeit 
gedacht,  obgleich  sein  friedliches  Wirken  als  militärischer  Organisator  und 
Landesgouverneur  kaum  geringere  Aufmerksamkeit  verdient. 

Durch  Familientradition  wie  Neigung  von  Kind  auf  zur  Soldatenlauf- 
bahn bestimmt,  trat  M.  noch  als  Knabe  in  die  berühmte  Tullner  Korps- 
schule der  Pioniere  ein,  wurde  1837  Kaiserkadett  beim  16.  Infanterieregiment 
in  Treviso,  1838  F'ähnrich  bei  Nr.  45  in  Zara,  bald  darauf  Unterleutnant  und 
Brigade- Adjutant  ebenda;   1839    erfolgte  seine  Einteilung  zum   Pionierkorps 

in  Wien. 

Damit  eröffneten  sich  dem  an  die  Eintönigkeit  kleiner  Garnisonen  Ge- 
wöhnten die  Herrlichkeiten  der  Kaiserstadt,  ganz  besonders  aber  die  Kunst- 


1^6  von  Mollinary. 

genüsse  des  Burgtheaters,  in  dem  er  keinen  Abend  fehlte  und  dessen  damalige 
Sterne  seine  schwärmerische  Bewunderung  erregten.  Aber  darüber  vergaß  der 
Aufstrebende,  hochgradig  Ehrgeizige  den  Ernst  des  Lebens  nicht.  Sein  heißer 
Wunsch  war,  in  den  Generalstab  zu  kommen.  Zu  diesem  Zwecke,  das  fühlte 
er  wohl,  galt  es  noch  manche  Lücke  seines  Wissens  auszufüllen.  Jeder 
erübrigte  Gulden  wanderte  in  Braumüllers  Buchhandlung.  Geschichte,  Mathe- 
matik, Geographie,  Sprachen  wurden  eifrigst  betrieben.  Rührend  ist  es,  in 
seinen  Aufzeichnungen  zu  lesen,  wie  er,  um  billig  zu  französischen  Stunden 
zu  kommen,  im  strengsten  Winter  allmorgendlich  mit  einem  Freunde  (dem 
nachmaligen  Feldzeugmeister  Philippovich)  nach  der  fernen  Vorstadtwohnung 
eines  Professors,  der  nur  die  frühesten  Morgenstunden  zur  Verfügung  hatte, 
hinauswanderte,  um  dort  im  eiskalten  Zimmer  beim  Scheine  einer  Unschlitt- 
kerze  zähneklappernd  die  Lektion  entgegenzunehmen. 

Zu  jener  Zeit  hatte  Birago  seine  berühmte  Reform  der  Kriegsbrücken 
angeregt,  und  damit  neben  anderen  Gegnerschaften  auch  jene  des  Komman- 
danten der  Pioniertruppe,  Oberst  Mühlwerth,  hervorgerufen.  Strengstens 
verbot  dieser  seinen  Offizieren  die  Teilnahme  an  den  bei  Tulln  stattfinden- 
den ersten  Versuchen  mit  dem  projektierten  Material.  Alle  fügten  sich,  bis 
auf  M.  und  einen  Oberleutnant  Loibl.  Unter  dem  Vorwande  einer  Land- 
partie nahmen  die  beiden  Urlaub  und  wanderten  zu  Fuß  (einen  Wagen  hätte 
es  nicht  getragen)  nach  Tulln  hinaus. 

Die  Brückenschläge  gelangen  aufs  beste,  das  neue  System  wurde  in  der 
Armee  eingeführt.  Birago,  der  an  dem  jungen,  begeisterten  Anhänger  Wohl- 
gefallen gefunden,  veranlaßte  M.s  Zuteilung  in  sein  Bureau.  M.  wurde  Bira- 
gos  rechte  Hand  und  blieb  drei  Jahre  an  seiner  Seite.  Das  väterliche  Wohl- 
wollen des  neuen  Chefs  äußerte  sich  auch  durch  Einsetzen  seiner  mächtigen 
Protektion.  Im  Herbst  1842  wurde  M.  vom  8.  Unterleutnant  2.  Klasse, 
unter  Überspringung  der  i.  Klasse,  Oberleutnant,  und  kurz  darauf  erfolgte 
auch  seine  ersehnte  Versetzung  in  den  Generalstab.  Chef  letzteren  Korps 
war  Feldzeugmeister  Heß,  der  bald  auch  M.s  eifriger  Gönner  wurde. 

Eine  dienstliche  Kommandierung  in  Pest  brachte  M.  in  Beziehungen 
zum  damaligen  Leiter  der  Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft,  Baron  Ku- 
driaffsky.  Als  dieser  letztere  1847  nach  London  mußte,  um  ein  dort 
neuerbautes  Schiff  der  Gesellschaft  zu  übernehmen,  bot  er  dem  jungen  Offizier 
für  den  Fall,  als  er  die  Hinreise  auf  eigene  Kosten  unternähme,  freie  Rückfahrt 
auf  eben  jenem  Schiffe,  »Metternich«,  durch  das  Mittelländische  und 
Schwarze  Meer  bis  an  die  Donau.  So  kam  M.  unverhofft  zu  dem  für  dama- 
lige Verhältnisse  fabelhaften  Glück  einer  kostenlosen  Rundfahrt  von  ca. 
IG  000  Kilometern,  auf  welcher  er  England,  Frankreich,  Griechenland  und 
die  Türkei  kennen  lernte. 

Das  Jahr  1848  war  gekommen.  Radetzky  hatte  sich  Heß  als  General- 
stabschef erbeten.  Um  die  Mittagsstunde  des  8.  Mai  tritt  beim  nichts  ahnen- 
den M.  Heß'  Personaladjutant  ein  und  teilt  dem  freudigst  Überraschten  den 
Befehl  des  Korpschefs  mit,  am  selben  Abend  mit  ihm  nach  Verona  ab- 
zugehen. 

Interessant  ist  sein  erstes  Zusammentreffen  mit  Radetzkys  Hauptquartier. 
Unter  dem  bisherigen  Generalstabschef  war  es  ziemlich  sorglos  hergegangen. 
M.  trifft  die  ganze  Gesellschaft,  hoch  und  nieder,   im  raucherfüllten  Zimmer 


von  MoUinary.  I  -i  7 

beim  Kartenspiel  beisammensitzend.  Sein  Erscheinen  wirkt  verblüffend. 
Aufspringend  tritt  ihm  Oberleutnant  John  mit  der  Frage  entgegen,  woher  er 
komme?  »Von  Wien  mit  Heß!«  Auf  diese  unter  lautloser  Stille  gegebene 
Antwort  schnellt  alles  von  den  Sitzen  auf,  reißt  Säbel  und  Mütze  von  den 
Ständern,  und  eine  Sekunde  später  ist  das  Zimmer  leer.  —  Von  dem  Tage 
an  war  es  mit  der  »Gemütlichkeit«  vorbei 

Die  Feldzugserlebnisse  M.s  hier  zu  schildern,  würde  zu  weit  führen. 
Genug,  daß  er  bald  auch  ein  Liebling  Radetzkys  wurde  und  wiederholt 
Gelegenheit  fand,  sich  auszuzeichnen.  Er  armierte  Torbole  mit  auf  Segel- 
booten verladenen  Geschützen  und  sicherte  dadurch  das  Sarcatal,  sprengte 
am  7.  Juni  mit  einem  Streif  kommando  bei  Po  Jana  eine  Eisenbahnbrücke,  so 
die  Verbindung  zwischen  Vicenza  und  Venedig  unterbrechend,  kam  bei 
Vicenza  (Monte  Berico)  zum  erstenmal  ins  eigentliche  Feuer,  schleppte  im 
Juli  unter  unendlichen  Schwierigkeiten  einen  Achtzehnpfünder  und  mehrere 
leichtere  Geschütze  mittels  Ochsen  den  Monte  Pastello  hinauf  und  bewirkte 
durch  das  unerwartete  Feuer  dieser  improvisierten,  dominierenden  Batterie, 
daß  sich  das  Thunsche  Korps  im  Etschtal  gegen  die  piemontesische  Über- 
macht halten  konnte,  bis  die  Siege  von  Sona  und  Sommacampagna  letz- 
tere zum  Rückzuge  zwangen.  Der  junge  Hauptmann  erhielt  den  Leopolds- 
orden, und  Heß  schenkte  ihm  das  Kreuz,  das  er  selbst  1809  erhalten.  Eine 
ganz  besondere  Auszeichnung  wurde  ihm  später  dadurch  zuteil,  daß  das  auf 
dem  Monte  Pastello  neuerbaute  Fort  seinen  Namen  »Mollinary«  erhielt. 

In  den  Pausen  zwischen  den  beiden  Feldzügen  wurd^  er  zu  vielen 
selbständigen  Arbeiten  verwendet,  von  denen  die  Errichtung  von  Militär- 
flottillen auf  den  drei  großen  Seen  die  wichtigste  ist.  Februar  1849  wurde 
er,  der  1847  noch  Oberleutnant  gewesen.  Major.  Die  Nachricht  von  der 
Kündigung  des  Waffenstillstandes  traf  ihn  in  Zürich,  wo  er  sich  behufs  Ab- 
schluß eines  Schiffsbauvertrages  mit  der  Firma  Escher  Wyß  &  Co.  befand. 
Sofort  mit  Kurierwagen  abreisend,  traf  er  48  Stunden  vor  Ablauf  der  Frist 
in  Mailand  ein,  und  wurde  noch  am  selben  Tage  von  Heß  in  Spezialmission 
nach  Pavia  übersendet,  um  dort  Vorbereitungen  für  den  Flußübergang  der 
Armee  zu  treffen.  Kam  der  Tag  von  Novara.  M.  hatte  Gelegenheit,  eine 
Kolonne  des  20.  Infanterieregiments  im  Rückzuge  aufzuhalten,  neu  zu  sammeln 
und  persönlich  zum  Sturm  gegen  die  Bicocca  zu  führen.  Kurz  vor  dem 
Ziele  durch  eine  Gewehrkugel  in  der  linken  Hüfte  schwer  verwundet,  hatte 
er  noch  die  Freude,  vom  vollen  Gelingen  des  Angriffs  Kunde  zu  bekommen, 
ehe  er  sich  den  Händen  des  Arztes  übergab. 

Die  Genesung  erfolgte  binnen  wenigen  Wochen.  Bis  zur  Einnahme  von 
Venedig  war  M.  fast  ununterbrochen  mit  selbständigen  Missionen  betraut. 
Kr  gehörte  der  Deputation  an,  welche  Radetzky  nach  dem  Fall  der 
Lagunenstadt  mit  den  Arsenalschlüsseln  nach  Wien  sandte.  Während  eines 
Aufenthaltes  in  Riva  lernte  er  die  verwitwete  Baronin  Torresani  kennen  und 
vermählte  sich  mit  ihr  am  4.  November,  kurz  nachdem  er  zum  Komman- 
danten des  von  ihm  errichteten  »Flottillenkorps«  ernannt  worden.  Kaum 
zwei  Monate  nach  seiner  Beförderung  zum  Oberstleutnant,  und  eben  erst 
30  Jahr  alt  geworden,  wurde  ihm  die  größte  Überraschung  seines  Lebens 
durch  die  Ernennung  zum  Oberst  und  Kommandanten  des  Pionierkorps  mit 
dem  Sitz    in   Klosterneuburg    bei  Wien,    unter    gleichzeitiger  Belassung  des 


IßS  von  Mollinary. 

Kommandos  über  das  Flottillenkorps  zuteil.  Er  war  der  jüngste  und  zugleich 
der  mächtigste  Oberst  der  Armee  und  stand  auf  dem  Gipfel  seines  Sol- 
datenglücks. 

Nun  beginnt  eine  achtjährige  Periode  organisatorischer  Tätigkeit,  deren 
Details,  so  sehr  sie  für  das  Pionierkorps  epochemachend  geworden  sind,  aus 
Rücksicht  auf  die  Raum  Verhältnisse  hier  nicht  aufgezählt  werden  können; 
wir  verweisen  diesbezüglich  auf  Brünners  »Geschichte  des  Pionierkorps«. 

1858  wurde  M.  Generalmajor  und  Brigadier  in  Mailand,  und  schon 
wenige  Monate  später  Festungskommandant  in  Ancona,  in  welcher  päpst- 
lichen Festung  Österreich  das  Besatzungsrecht  besaß.  Der  Krieg  stand  vor 
der  Tür  und  M.s  erste  Sorge  war  es,  die  vernachlässigte  Festung  durch  Aus- 
besserungen und  Zubauten  verteidigungsfähig  zu  machen.  Die  Arbeiten 
wurden  mit  solcher  Intensität  betrieben,  daß  die  Zahl  der  Werkleute  zeit- 
weise bis  auf  3000  stieg.  Groß  war  daher  M.s  Bestürzung,  als  er  nach  der 
unglücklichen  Schlacht  von  Magenta  den  telegraphischen  Auftrag  erhielt,  all 
das  mit  solchen  Anstrengungen  und  Kosten  F>rungene  im  Stich  zu  lassen  und 
mit  seiner  Brigade  in  Eilmärschen  nach  Rovigo  einzurücken.  Es  ist  inter- 
essant, in  seinen  Memoiren  (»Vierzig  Jahre«,  Zürich,  Grell  Füßli,  1904)  nach- 
zulesen, mit  welcher  Energie  und  diplomatischen  Klugheit  zugleich  M.  den 
fatalen  Auftrag  auszuführen  und  doch  die  voraussichtlichen  Folgen  der  plötz- 
lichen Preisgebung  (Heimfali  der  Festung  an  die  aufständische  Bevölkerung, 
Verlust  des  Artilleriegutes  und  der  großen  Lebensmittelvorräte)  zu  hinter- 
treiben wußte^  In  Eilmärschen  und  geschickt  den  Feind  vermeidend, 
erreichte  er  mit  der  Brigade  in  9  Tagen  glücklich  Rovigo,  wo  ihn  der  Befehl 
erwartete,  für  seine  Person  sofort  in  das  Hauptquartier  nach  Villafranca  zu 
kommen. 

Es  war  wenige  Tage  vor  der  Schlacht  von  Solferino.  M.  wurde  mit 
der  Mitteilung  empfangen,  er  sei  zum  Generalstabschef  eines  Armeekorps 
ausersehen,  welches  den  aus  Toskana  vorrückenden  Franzosen  auf  dem 
rechten  Poufer  entgegentreten  sollte.  Zu  dieser  Verwendung  kam  es  jedoch 
nicht,  da  die  Schlacht  von  Solferino  alle  Pläne  über  den  Haufen  warf  und 
den  Waffenstillstand  herbeiführte. 

Nach  dem  Abschluß  des  letzteren  wurde  M.  General  Stabschef  der 
II.  Armee  in  Verona.  Er  hatte  bald  Gelegenheit,  seine  charakteristische 
Energie  zu  bewähren,  indem  er  einem  vertragswidrigen  Vorgehen  der  Fran- 
zosen (eigenmächtige  Demolierung  des  Brückenkopfes  von  Borgoforte)  kurz 
entschlossen  durch  gewagte  Repressalien  ein  Ende  machte.  Zu  Wien,  wohin 
erst  die  vollzogene  Tatsache  berichtet  wurde,  geriet  man  über  die  dadurch 
hervorgerufene  Gefahr  eines  Konfliktes  noch  nachträglich  in  Aufregung;  die 
Sache  trug  M.s  Chef,  dem  Armeekommandanten  Grafen  Degenfeld,  einen 
scharfen  Verweis  ein.  Und  doch  war  es  das  einzige  Mittel  gewesen;  denn 
diplomatische  Verhandlungen  hätten  den  übermütigen  Sieger  nie  zur  Nach- 
giebigkeit vermocht. 

M.s  Verwendung  als  Generalstabschef  dauerte  nur  3  Monate.  Sein 
Tätigkeitsdrang,  die  Energie,  mit  der  er  ihm  nötig  scheinende  Reformen 
durchsetzte,  hatten  ihm  Feinde  gemacht,  welche  nicht  ruhten,  bis  ihm  der, 
seiner  Individualität  so  durchaus  zusagende  Wirkungskreis  entzogen  wurde. 
Er  bekam  eine  Brigade  zu  Görz,  dann  zu  Triest,  und  kam  schließlich  wieder 


von  MoUinarv. 


139 


nach  Verona,  diesmal  zum  5.  Koq>skommando  als  »zugeteilter  General«, 
d.  h.  Gehilfe  und  eventueller  Stellvertreter  des  Kommandanten;  eine  Stellung, 
die  ihn  sozusagen  zum  fünften  Rad  am  Wagen  machte  und  darauf  berech- 
net war,  ihn  »kaltzustellen«.  Allein  das  Glück  meinte  es  mit  ihm  besser,  als  die 
Vorgesetzten.  Der  Korpskommandant,  Feldmarschalleutnant  Baron  Gablenz, 
wurde  durch  seine  Verwendung  als  Statthalter  von  Holstein  fast  die  ganze  Zeit 
über  fern  gehalten,  und  M.  durfte  durch  mehr  als  17  Monate  selbständig  das  Korps- 
kommando führen.  Er  entledigte  sich  seiner  Obliegenheiten  mit  dem  gewöhn- 
lichen Feuereifer,  ging  mit  ganzer  Kraft  dem  traditionellen  »Schimmel«,  dem 
er  zum  Teil  die  1859  er  Niederlagen  zuschrieb,  zu  Leibe,  und  machte  sich 
dadurch,  sowie  durch  eine  gewisse  Schroffheit  seiner  nie  verheimlichten  An- 
sichten dem  Armeekommandanten  lästig,  welcher  Schritte  tat,  um  sich  M.s  zu 
entledigen.  Aber  infolge  einer  Ironie  des  Schicksals  wurde  Benedek,  gerade 
als  sein  Wunsch  erfüllt  und  M.  zum  4.  Armeekorps  nach  Mähren  versetzt 
worden,  das  Kommando  über  die  Nordarmee  zuteil,  und  seine  Maßnahmen 
hatten  nur  bewirkt,  daß  er  den  unbequemen  General,  statt  ihn  loszuwerden, 
wieder  unter  seine  Befehle  bekam. 

Das  4.  Korps  formierte  sich  zu  Littau.  Korpskommandant  war  Feld- 
marschalleutnant Graf  Festetits,  Generalstabschef  Oberst  v.  Goertz.  M.s 
Stellung  war  wieder  die  ebenso  überflüssige  wie  unbestimmte  eines  »Zu- 
geteilten« ;  und  obwohl  er  mit  Festetits  wie  mit  Goertz  auf  dem  besten  Fuße 
stand,  hatte  er  es  doch  nur  der  gewaltsamen  Unterdrückung  des  ihm  eigenen 
Tätigkeitsdranges  zu  danken,  daß  es  zwischen  ihm  und  Jenen  bis  zu  dem 
Augenblick,  wo  ihm  am  4.  Juli  das  selbständige  Kommando  zufiel,  inbetreff 
der  Genzen  der  gegenseitigen  Wirkungskreise  zu  keinem  Konflikt  kiam. 

Am  18.  Juni  begann  das  Korps  den  Vormarsch  nach  Böhmen,  und  traf 
am  26.  in  der  ihm  zugewiesenen  Stellung  am  rechten  B^lbeufer  bei  den  Orten 
Liebthal  und  Lanzau  ein. 

Gleich  am  nächsten  Tage  erhielt  es  Befehl,  vorzurücken  und  hinter  dem 
8.  Korps,  welches  bei  Dolan  als  Unterstützung  des  6.  stand,  ein  Lager  zu 
beziehen.  Als  man  aber  am  28.  gegen  9  Uhr  vormittags  dortselbst  eintraf, 
war  das  8.  Korps  schon  wieder  weiter  nach  vorn,  auf  Skalitz  zu,  ab- 
marschiert. Um  12^2  Uhr,  als  gerade  mit  dem  Abkochen  begonnen  werden 
sollte,  machte  sich  von  der  Front  her  Kanonendonner  bemerkbar,  welcher 
den  Beginn  des  Gefechts  von  Skalitz  bezeichnete.  In  einer  vor  dem  Lager 
beim  Dorfe  Schweinschädl  bezogenen  Stellung  war  man  Zeuge  des  Rück- 
zugs des  6.  und  kurz  darauf  des  8.  Korps  über  die  Elbe,  ohne  an  jenem 
Tage  selbst  anders  als  durch  Vorpostenscharmützel  in  das  Gefecht  einzu- 
greifen. 

Nun  wurde  das  4.  Korps  angewiesen,  »sich  nicht  in  nutzlose  Kämpfe 
einzulassen,  sondern,  wenn  mit  Überlegenheit  angegriffen,  am  rechten  Klbe- 
ufer  bei  Palei  Stellung  zu  nehmen«. 

Dieser  Disposition  entgegen  beschloß  jedoch  Festetits,  als  am  folgenden 
Tage  (29.)  die  preußische  Vorrückung  gegen  den  rechten  Flügel  seines  Korps 
begann,  wenigstens  den  ersten  Anprall  zurückzuweisen,  und  zwar  in  der  Be- 
fürchtung, durch  sofortiges  Weichen  seine  Truppen  zu  demoralisieren.  So 
entwickelte  sich  das  blutige  Gefecht  bei  Schweinschädl,  welches,  nach  tapfer- 
ster Gegenwehr,  mit  dem  (unverfolgten)  Rückzug  des  4.  Korps  über  die  Elbe 


140 


von  Mollinan'. 


endete.     M.,  ohne  spezielles  Kommando  wie  er  war,  wohnte  demselben  nur 
in  der  Rolle  eines  Zusehers  bei. 

Tags  darauf,  am  30.,  erfolgte  der  Rückzug  der  Armee  vor  Königgrätz. 
Das  4.  Korps  kam  nach  Nedielischt. 

Durch  die  am  2.  Juli  ergangenen  Verfügungen  für  die  erwartete  Ent- 
scheidungsschlacht wurde  für  den  Fall,  daß  der  feindliche  Angriff  sich  auch 
gegen  unseren  rechten  Flügel  richten  sollte,  dem  4.  Korps  der  Platz  in  erster 
Linie  rechts  vom  3.  und  links  von  dem  am  äußersten  rechten  Flügel  stehen- 
den 2.  »auf  den  Höhen  zwischen  Chlum  und  Nedielischt«  zugewiesen  .  .  . 
Letzterer  Passus  erwies  sich  als  folgenschwer;  denn  da  zwischen  genannten 
Orten  durchaus  keine  »Höhen«  entdeckt  werden  konnten,  so  legte  ihn  Festetits 
und  gleicherweise  M.  dahin  aus,  daß  damit  nur  die  dominierende  und  gut 
verteidigungsfähige  Höhe  von  Maslowed  gemeint  sein  könne.  Nach  dieser  wurde 
denn  auch  beim  ersten  Geschützdonner  am  Morgen  des  3.  Juli  das  Gros  des 
Korps  disponiert;  und  dort  entwickelte  sich  der  erste,  hartnäckige  und  für 
die   österreichischen  Waffen  erfolgreiche  Kampf  mit  der  Division  Fransecky. 

Noch  war  derselbe  nicht  zu  voller  Stärke  entbrannt,  als  ein  explodieren- 
des Hohlgeschoß  dem  Grafen  Festetits  den  linken  Fuß  wegriß.  M.,  eben  auf 
einer  Rekognoszierung  auswärts,  eilte  auf  die  Unglückskunde  herbei  und 
konnte  dem  Schwerverwundeten  noch  die  Hand  drücken,  bevor  er  aus  dem 
Gefechte  getragen  wurde. 

Nun  hatte  M.  das  so  heiß  ersehnte  Kommando;  allein  tieferschüttert 
durch  den  Vorfall,  trat  er  es  ohne  jedes  Gefühl  der  Freude  an.  Die  ersten 
Ereignisse  nach  der  Kommandoübemahme  waren  auch  nicht  darnach  an- 
getan, um  ihn  fröhlicher  zu  stimmen;  bei  einem  Inspizierungsritt  wurde  der 
Generalstabschef,  Oberst  Goertz,  an  seiner  Seite  durch  einen  Schuß  getötet,  er 
selbst  verlor  das  Pferd  unter  dem  Leibe 

Das  Gefecht  ging  seinen  Gang.  Das  4.  Korps  stand  im  Swiepwalde  dem 
äußersten  linken  Flügel  der  Preußen,  der  Division  Fransecky,  gegenüber, 
während  unser  eigener  äußerster  rechter  Flügel,  das  2.  Korps,  nur  mit  klei- 
neren feindlichen  Abteilungen  zu  tun  hatte.  M.  sagte  sich,  daß  eine  Um- 
fassung der  Preußen  durch  jenes  so  gut  wie  unbeschäftigte  Korps  und  die 
hinter  ihm  aufgestellte  2.  leichte  Kavalleriedivision  die  größten  Chancen 
hätte.  Demgemäß  richtete  er  an  das  2.  Korps  das  Ersuchen,  es  möge  gegen 
die  linke  Flanke  der  vor  Maslowed  kämpfenden  Preußen  vorgehen.  Gleich- 
zeitig ließ  er  eine  dritte  Brigade  des  eigenen  Korps  aus  der  Reserve  zwischen 
die  beiden  im  Swiepwald  kämpfenden  Brigaden  einrücken. 

Eben  während  dieser  Befehl  ausgeführt  wurde  (nach  11  Uhr  vormittags) 
überbrachte  ein  Ordonnanzoffizier  des  Hauptquartiers  Benedeks  Befehl,  das 
4.  Korps  habe  in  die  ihm  durch  die  Disposition  angewiesene  Stellung  Chlum — 
Nedielischt  zurückzugehen. 

So  wie  er  war,  ohne  jede  hinzugefügte  Begründung,  erschien  dieser 
Befehl  unverständlich.  Er  forderte  das  Aufgeben  einer  guten,  hochgelegenen, 
mit  Erfolg  behaupteten  Stellung  zugunsten  einer  weit  schwächeren,  schwerer 
verteidigbaren.  Überdies  war  M.  fest  überzeugt,  seine  Stellung  im  Sinne 
der  Disposition  bezogen  zu  haben.  Er  ließ  den  Armeekommandanten  auf 
diese  Umstände  aufmerksam  machen  und  ihm  melden,  er  erwarte,  bevor  er 
zurückgehe,  erst  einen  zweiten  ausdrücklichen  Befehl  hierzu. 


von  Mollinary.  I^I 

Dieser  Befehl  ließ  lange  auf  sich  warten.  Endlich  erfolgte  er  in  kate- 
gorischer Fassung,  diesmal  mit  der  Begründung,  in  der  jetzigen  Stellung 
erscheine  unser  äußerster  rechter  Flügel  stark  bedroht  durch  ein  preußisches 
Armeekorps  (das  5.),  dessen  Vormarsch  soeben  telegraphisch  von  Josefstadt 
gemeldet  worden  sei. 

Allein  M.  war  zu  fest  überzeugt  von  der  Richtigkeit  der  eigenen  Auf- 
fassung der  Lage,  als  daß  er  sich  zur  Folgeleistung  hätte  entschließen  können. 
Er  benutzte  eine  eingetretene  Pause  im  Gefecht,  um  sich  persönlich  zum 
Armeekommandanten  zu  verfügen  und  ihm  seine  Gesichtspunkte  auseinander- 
zusetzen. 

Er  traf  Benedek  mit  seinem  Stabe  abgesessen  am  Nordende  von  Chlum 
stehen.  In  kurzer,  erregter  Rede  setzte  er  ihm  die  Gefahren  eines  Rück- 
zuges in  die  hintere  Linie,  die  Vorteile  auseinander,  welche  die  von  ihm 
geplante  Umfassung  des  Gegners  böte;  was  das  gemeldete  preußische  Korps 
anbeträfe,  so  sei  es  noch  bei  7  Kilometer  entfernt,  und  nichts  hindere  ihn, 
den  Armeekommandanten,  demselben  an  der  Trotina  eines  seiner  beiden 
verfügbaren  Reservekorps  entgegenzustellen  .... 

Benedek  hörte  ihn  ruhig  bis  zu  Ende  an;  allein  seine  Entscheidung 
lautete:  »Ich  kann  nicht  helfen  —  Sie  müssen  zurückgehen.«  Er  winkte 
dem  Salutierenden  beim  Abreiten  noch  freundlich  mit  der  Hand  zu.  Dies 
war  die  vielbesprochene  Unterredung  bei  Chlum.  Die  »scharfe  Abweisung«, 
von  der  Sybel  berichtet,  ist  nicht  erfolgt;  vielmehr  bewies  Benedek  bei  dieser 
Gelegenheit  M.  ein  freundliches  Wohlwollen,  wie  schon  lange  nicht. 

Zum  Korps  zurückgekehrt,  gab  M.  den  ihm  bitter  schwer  fallenden 
Befehl  zum  Rückzug  in  die  Linie  Chlum — Nedielischt  (1^/4  Uhr  nachmittags). 
Derselbe  erfolgte  in  der  Form  einer  Frontveränderung  vom  rechten  Flügel 
rückwärts  mit  gleichzeitigem  Wechsel  der  Treffen.  Glücklicherweise  folgte 
der  Gegner  aus  dem  Swiepwalde  nicht  nach;  und  da  auch  der  aus  nörd- 
licher Richtung  angesagte  noch  nicht  zu  sehen  war,  so  kostete  das  fatale 
Manöver  verhältnismäßig  geringe  Opfer. 

Daß  aber  M.  die  Nachteile  der  Stellung  Chlum — Nedielischt  richtig  be- 
urteilt, sollte  sich  nur  zu  bald  herausstellen.  Auf  der  nun  ihnen  überlassenen 
Höhe  von  Maslowed  setzten  die  Preußen  allmählich  48  Geschütze  ins  Feuer. 
Unter  dem  Schutze  desselben  und  durch  Terrainwellen  gedeckt,  rückten 
13  Gardebataillone  vor,  und  eröffneten  gegen  den  linken  Flügel  der  nun- 
mehrigen Aufstellung  des  4.  Korps  ein  verheerendes  Schnellfeuer,  gegen 
welches  ein  Widerstand  unmöglich  war.  In  den  Ort  Chlum  eingedrungen, 
befand  sich  der  Feind  nun  im  Rücken  des  rechten  Flügels  des  österreichi- 
schen Zentrums,  womit  die  Katastrophe  eingeleitet  war.  Das  Zurückgehen 
des  rechts  von  ihm  befindlichen  2.  Korps  zwang  M.  nunmehr,  auch  mit 
seinem  rechten  Flügel,  vorläufig  in  eine  Zwischenstellung  bei  Swety,  zurück- 
zugehen. 

Die  Schlacht  war  verloren.  Obschon  das  Korps  in  dieser  neuen  Stellung 
keinen  Angriff  auszuhalten  hatte,  mußte  es  sich  doch  in  den  allgemeinen 
Rückzug  einfügen. 

Während  letzterer  Bewegung  wurde  M.  durch  einen  Schuß  in  die 
Schulter  schwer  verwundet.  Er  gab  das  Kommando  an  Erzherzog  Josef  ab 
und  hatte  noch  die  Kraft,  die  Nacht  durch  bis  Holic  zu  reiten,  wo  er  seine 


IA2  von  Mollinary. 

Feldkalesche  fand.     Diese    brachte    ihn    nach  Kostinetz,    von  wo   er  mittels 
Bahn  nach  Wien  fuhr.     Seine  Heilung  nahm  3  Monate  in  Anspruch. 

Wir  sind  absichtlich  länger  bei  Königgrätz  verweilt;  einmal  weil  M.  da 
Gelegenheit  hatte,  unmittelbar  in  die  Weltgeschichte  einzugreifen;  und  dann, 
weil  sein  Verhalten  im  Swiepwalde  Anlaß  zu  langwierigen  Polemiken  gab, 
und  die  Streitfrage,  ob  sein  Widerstand  gegen  Benedek  gerechtfertigt  war 
oder  nicht,  eigentlich  auch  heute  noch  nicht  entschieden  ist. 

Um  so  kürzer  werden  wir  im  folgenden  sein. 

Nach  seiner  Genesung  wurde  M.  Divisionär  in  Wien  und  hatte  in  dieser 
Stellung  viel  unter  den  Vorurteilen  zu  leiden,  welche  damals  gegen  alle 
jene  herrschten,  die  ihr  Schicksal  zu  Kämpfern  im  Norden  der  Monarchie 
gemacht  hatte. 

Diesem  unerquicklichen  Verhältnis  setzte  die  Ernennung  des  Feld- 
marschalleutnants  Kuhn,  bisher  Militär-  und  Landesverteidigungskomman- 
danten in  Tirol  und  Vorarlberg,  ein  Ende.  Ein  warmer  Freund  und  Ver- 
ehrer M.s,  meinte  er  in  ihm  die  richtige  Persönlichkeit  zur  Besetzung  des 
eben  von  ihm  selbst  verlassenen  Postens  gefunden  zu  haben.  Die  Stelle 
wurde  M.  angetragen,  der  mit  Freuden  einwilligte. 

Auf  dem  ihm  in  jeder  Beziehung  zusagenden  Innsbrucker  Posten  ver- 
brachte M.  zwei  schöne,  ungetrübte  Jahre,  eifrig  bemüht  um  die  Wehrfähigkeit 
nicht  nur  seiner  Truppen,  sondern  auch  des  Landes  mit  seinem  eigentüm- 
lichen Schützenwesen.  Die  Provinz  in  allen  ihren  Teilen  bereisend,  im 
steten  Verkehr  mit  der  Bevölkerung,  sah  er  was  not  tat,  und  setzte  sich  kraft- 
voll für  die  Einführung  von  Verbesserungen  ein.  Ihm  verdankten  die  Tiroler 
Landesschützen  u.  a.  die  erste  Beteilung  mit  Hinterladern,  eine  Neuerung,  die 
ihm  ihre  begeisterte  Anhänglichkeit  eintrug. 

Mittlerweile  war  die  Aufhebung  der  kroatisch-slavonischen  Militärgrenze 
und  deren  Angliederung  an  Kroatien  bezw.  Ungarn  eine  beschlossene  Sache 
geworden,  und  es  handelte  sich  darum,  einen  Mann  zu  finden,  der  nicht 
nur  die  organisatorischen  Fähigkeiten  zur  Durchführung  des  äußerst  ver- 
wickelten Überganges  aus  der  Militär-  in  die  Zivilverwaltung,  sondern  auch 
das  Vertrauen  der  Grenzbevölkerung  und  damit  die  Eignung  besaß,  deren 
tiefsitzendes  Mißtrauen  gegen  Ungarn  zu  beschwichtigen.  M.  war  ein 
Landeskind,  die  Grenzer  konnten  an  seinem  Wohlwollen  nicht  zweifeln; 
seine  Verwaltungstalente  hatte  er,  wie  in  den  fünfziger  Jahren  als  Chef  der 
Pioniere  und  Flottillen,  so  auch  jüngst  in  Tirol  zur  Genüge  bewiesen.  Auf 
ihn  fiel  die  Wahl,  und  sie  beglückte  ihn  um  so  mehr,  als  ihm  mit  dem  neuen 
Posten  zugleich  die  Anwartschaft  auf  das  Oberkommando  bei  der  bevor- 
stehenden, unvermeidlichen  Okkupation  Bosniens,  und  damit  auf  die  Ver- 
wirklichung eines  Lieblingtraums  seiner  Jugend:  die  Befreiung  der  Christen 
vom  türkischen  Joch,  geboten  war. 

Die  »Entmilitarisierung«  sollte  nicht  plötzlich  vor  sich  gehen;  es  war 
eine  mehrjährige  Vorbereitungsfrist  zur  allmählichen  Einführung  der  betreffen- 
Neuerungen,  als:  Aufstellung  autonomer  Gemeinden,  bürgerlicher  Komitats- 
behörden, ziviler  Rechtspflege,  Neueinrichtung  und  Vermehrung  der  Schulen, 
dann  Vornahme  durchgreifender  Meliorationen,  wie  Eisenbahnbauten,  Gewässer- 
Regulierungen,  Karstaufforstungen  u.  dgl.,  bewilligt.  All  dies  zu  organisieren, 
klug    und    umsichtig    zwischen    den    Ungarn    und    der  Grenzbevölkerung  zu 


von  MoUinary.  iA7 

vermitteln,  den  Übergang  in  einer  Weise  zu  bewerkstelligen,  daß  beiden  Teilen 
gedient,  war  M.s  Aufgabe,  an  die  er  mit  Energie,  Lust  und  Liebe,  mit  wirk- 
licher Begeisterung  ging. 

In  den  ersten  Jahren  gelang  ihm  alles  über  Erwartung  gut.  Nicht  nur, 
daß  die  Bevölkerung  ihn  liebte  und  seinen  Absichten  das  größte  Verständnis 
entgegenbrachte,  fand  er  auch  beim  damaligen  ungarischen  Ministerium  bereit- 
willigste Unterstützung,  ja  in  einzelnen  von  dessen  Mitgliedern:  Andrdssy  und 
dem  damaligen  Unterrichtsminister  Kerkdpoly,  wirkliche  Gönner.  Jeder 
seiner  Vorschläge  wurde  ohne  weiteres  genehmigt.  Auch  hatte  ihm  das 
Kriegsministerium  einen  Teil  seiner  Vorbehaltsrechte  abgetreten  und  so  seine 
Selbständigkeit  bedeutend  erhöht.  Die  fast  unblutige  Unterdrückung  eines 
panslavistischen  Aufstandes  in  der  Likka  hob  ihn  auf  den  Gipfel  der  Po- 
pularität. In  jene  Zeit  fällt  seine  Ernennung  zum  Feldzeugmeister  und  seine 
Dekorierung  mit  dem  Großkreuz  der  Eisernen  Krone. 

Aber  schon  begann  in  der  Frage  der  Verwendung  der  gewaltigen  Reich- 
tümer,   welche   die   Grenze    in    ihren   Waldungen  besaß,    eine  Streitfrage  zu 
reifen,   welche   M.s  Verhältnis  zur   ungarischen   Regierung  allmählich   trüben 
und  schließlich  zerstören  sollte.     M.  wollte  die  Einkünfte  jener  Wälder   aus- 
schließlich   im   Interesse    des    Grenzlandes,   vor   allem   zum  Bau   von   Eisen- 
bahnen  im  Lande   verwendet  wissen;    die  Ungarn    wieder    hatten    in    erster 
Linie   das  magyarische  Interesse  vor  Augen.     Die  Energie,   mit  welcher  M. 
ein   ungarisches,  zur  Ausbeutung  genannter   Wälder   gebildetes   Konsortium, 
als     es    seine    Vertragspflichten     nicht    erfüllte,    gerichtlich .  verfolgte     und, 
nach    zugunsten    der   Grenze    gefälltem    Urteil,    das  verfallene    Vadium    von 
3  Millionen  Gulden  mit  Beschlag  nahm,  vollendete  die  Entfremdung  zwischen 
ihm  und  dem  Ministerium,  dessen  ihm  wohlgesinnte  Mitglieder  längst  anderen 
Platz   gemacht  hatten.     Immer  mehr  wurde  ihm  seine  Amtswirksamkeit  er- 
schwert,   immer    mehr  Prügel    ihm    vor    die  Füße    geworfen.     Ohne  weitere 
Aussichten  auf  ersprießliches  Wirken,  entmutigt,  verbittert,  reichte  er  im  Juli 
1877  seine  Entlassung  vom  Posten  ein,   damit  auch  seinen  Lieblingswunsch, 
die  Hoffnung  auf  das  Okkupationskommando,  endgültig  zum  Opfer  bringend. 
Er  schied  von  Agram,  ein  gebrochener  Mann.     Er  trug  sich  mit  Pensions- 
gedanken,  die   ihm  aber  von  berufener  Seite  ausgeredet  wurden.     Noch  ein- 
mal   erwachte    die    alte  Lebens-    und   Tatkraft  in   ihm,   als   er,    nach    kurzer 
Übergangsstellung  als  kommandierender  General  in  Brunn,  das  weit  größere, 
wichtigere  Lemberger  Generalkommando  mit  dem  Oberbefehl  über  sämtliche 
Truppen    in  Galizien    und   der  Bukowina    bekam.     Ein  Krieg  mit  Rußland 
schien  damals  unvermeidlich;  ihm,  M.,  wäre  im  Fall  eines  solchen  die  erste 
Aktion    gegen    das    mächtige    Nachbarland    zugefallen.      Mit    neuerwachtem 
Eifer  warf  er  sich  auf  das  Studium  der  ins  Spiel  kommenden  politischen  wie 
strategisch-taktischen  Verhältnisse.     Die  grosse  Rolle,   die  gleich  zu  Beginn 
des  Krieges  der  Kavallerie  zufallen  mußte,  bewog  ihn,   für  die  6  ihm  unter- 
stehenden   Kavallerieregimenter    eine   Instruktion   ad  hoc   auszuarbeiten.     Sie 
wurde  den  Regimentern  zugestellt  und  der  Zeitpunkt  für  eine  Konzentrierung 
bestimmt,  in  welcher  deren  Bestimmungen  praktisch  eingeübt  werden  sollten. 
Dies    selbständige    Vorgehen    M.s    in    Angelegenheiten,    welche    in    den 
Wirkungskreis    des    General-Kavallerie-Inspektors    fielen,    erregte    das    Miß- 
vergnügen  des   damaligen   Inhabers    dieses  Postens.     Er  steckte  sich    hinter 


IAA  von  Mollinary.     Ratzel. 

mächtige  Persönlichkeiten,  und  kurz  vor  Beginn  der  betreffenden  Manöver 
erhielt  M.  von  Wien  aus  den  Befehl,  die  betreffende  Instruktion  zu  wider- 
rufen, die  ausgegebene  Anleitung  von  den  Regimentern  zurückzuverlangen 
und  dem  Kriegsministerium  einzuschicken. 

Er  tat  es,  legte  die  eingelangten  Hefte  in  einen  Stoß  zusammen  und 
obenauf  sein  Pensionierungsgesuch.  Zweimal  nach  Wien  berufen  und  zur 
Zurücknahme  oder  wenigstens  Aufschiebung  seines  Gesuchs  ermahnt  —  binnen 
wenigen  Monaten  sollte  er  sein  40Jähriges  Dienstjubiläum  begehen  —  blieb 
er  hartnäckig  bei  seinem  Begehren.  Nach  einem  solchen  Stoß,  seiner  Autorität 
versetzt,  wollte  und  konnte  er  nicht  länger  sein  Amt  bekleiden  .... 

Im  Herbst  1879  trat  er  in  den  Ruhestand. 

Die  Verbitterung,  mit  der  er  aus  dem  aktiven  Dienst  geschieden,  mil- 
derte die  Zeit.  M.  war  ein  zu  aufrichtiger  Patriot,  um  dauernd  zu  grollen; 
auch  war  ihm  von  der  eigentlich  maßgebenden  Stelle  im  Staat  nie  eine  Un- 
annehmlichkeit, vielmehr  in  guten  wie  schlimmen  Tagen  immer  nur  Huld 
und  Güte  zuteil  geworden.  Nach  einigen  Jahren  war  seine  Stimmung  soweit 
überwunden,  daß  er  die  Vorgänge  im  Vaterlande  wieder  mit  teilnehmendem 
Interesse  zu  verfolgen  begann.  Viel  Erfreuliches  war  es  freilich  nicht,  was 
ihm  Zeitung  und  Freundesbriefe  nach  seinem  italienischen  Landsitze  ver- 
mittelten; und  die  immer  weiterschreitende  Zerstückelung  Österreichs  war  so 
ziemlich  der  einzige  Kummer  eines  sonst  durchaus  sonnigen,  im  Schöße 
einer  geliebten  Familie  verlebten  Greisenalters.  Volle  25  Jahre  waren  ihm  noch 
vergönnt,  bevor,  er,  84  Jahre  alt,  auf  seinem  Landsitze  bei  Como  für  immer 
die  Augen  schloß.  Mit  ihm  starb  einer  der  letzten  Radetzkyaner  der  Armee 
und  der  fähigsten,  strebsamsten  Generale,  die  Österreich  je  gehabt  hat. 

Er  hinterließ  außer  mehreren  Werken  militärwissenschaftlichen  Inhalts 
2  Bände  Lebenserinnerungen,  welche  soeben  in  die  Welt  treten  und  innerhalb 
wie  außer  Österreich  hohes  Interesse  erwecken  dürften. 

Carl  V.  Torresani. 

Ratzel,  Friedrich,  einer  der  bedeutendsten  Geographen  Deutschlands, 
*  den  30.  August  1844  zu  Karlsruhe,  f  am  9.  August  1904  auf  seinem  Sommer- 
sitze Ammerland  am  Starnberger  See.  —  Aus  wenig  bemittelter  Familie 
stammend  (sein  Vater  war  Kammerdiener  des  Großherzogs  von  Baden),  wuchs 
R.  in  sehr  bescheidenen  Verhältnissen  auf.  Da  die  Eltern  schon  früh  seine 
Liebe  für  die  Naturwissenschaften  erkannten,  wollten  sie  ihn  nach  dem  Be- 
suche der  Realschule  seiner  Vaterstadt  dem  Apothekerberuf  zuführen.  In 
der  altertümlichen  Dorfapotheke  zu  Eichtersheim  im  Heidelberger  Kreise 
verbrachte  er  seine  Lehrjahre.  Nachdem  er  die  pharmazeutische  Staats- 
prüfung bestanden  hatte,  war  er  noch  ein  Jahr  lang  in  dem  badischen 
Pfarrdorfe  Morsch  am  Rhein  und  in  dem  schweizerischen  Städtchen  Rappers- 
wyl  am  Züricher  See  als  Gehilfe  tätig.  Aber  bald  erkannte  er,  daß  sein 
Beruf  jedes  freie  und  selbständige  wissenschaftliche  Forschen  und  Schaffen 
ausschloß  und  ihm  deshalb  niemals  volle  Befriedigung  gewähren  würde. 
Deshalb  bereitete  er  sich  mit  zielbewußtem  Eifer,  oft  unter  Zuhilfenahme  der 
Nacht,  auf  das  Gymnasialabgangsexamen  vor,  das  ihm  den  Weg  zur  Hoch- 
schule Öffnen  sollte.  Nach  Überwindung  mannigfacher  Schwierigkeiten  be- 
gann  er  1866  am   Polytechnikum    seiner  Vaterstadt    mit   dem   Studium    der 


Rntzel. 


J45 


Naturwissenschaften,  das  er  in  den  folgenden  Semestern  an  den  Universitäten 
zu  Heidelberg,  Jena  und  Berlin  fortsetzte.     Schon  1868  erwarb  er  in  Heidel- 
berg durch  einen  Beitrag  zur  anatomischen  und  systematischen  Kenntnis  der 
Oligochäten,  einer  Gruppe  der  Ringelwürmer,  den  philosophischen  Doktor- 
titel.    Um  diese  Zeit   empfand  er   einen    unwiderstehlichen   Drang,  fremde 
Länder    und   Völker   zu    sehen.     Anfangs    beabsichtigte    er,    da   es    ihm    an 
Geldmitteln    zu    selbständigen    größeren    Reisen   fehlte,    sich    den    württem- 
bergischen  Templern  anzuschließen,   die  damals   in   Scharen   nach  Palästina 
zogen  und  hier  blühende  Ackerbaukolonien  anlegten.     Aber  trotzdem  er  sich 
zeitlebens    ein   warmes  Interesse   für   diese   Pietisten    bewahrte,    scheint   ihn 
doch    schließlich    ihre    allzu    einseitig    ausgeprägte    Glaubensrichtung    von 
seinem   Plan   abgeschreckt  zu   haben.     Um  wenigstens  etwas  von  der  Welt 
zu  sehen,  verlebte  er  den  Winter  von  1868  auf  1869,  mit  zoologischen  Unter- 
suchungen beschäftigt,  teils  in  Montpellier,  wo  er  durch  den  Naturforscher 
Charles    Martins,    den    Direktor    des    botanischen    Gartens,    mancherlei    An- 
regungen empfing,  teils  in  Cette.    Als  endlich  trotz  äußerster  Sparsamkeit  Seine 
bescheidenen  Hilfsquellen  zu  versiegen  drohten,  kam  ihm  der  glückliche  Ge- 
danke,   die    vielen    neuen    Eindrücke,    die    im    sonnigen    Südfrankreich    von 
allen    Seiten    auf    ihn     einströmten,    zu    einigen    Feuilletonartikeln    zu    ver- 
arbeiten   und    unter   dem   Titel    »Zoologische    Briefe    vom  Mittelmeer«    der 
Kölnischen   Zeitung    einzuschicken.     Die    Redaktion    erkannte   sogleich    die 
journalistische  Befähigung  ihres  jungen  Mitarbeiters  und  lud  ihn  zu  weiteren 
Beiträgen  ein.     Rasch  knüpften  sich  enge  Beziehungen  an,   und  schon  nach 
wenig  Monaten  zog  R.  als  Berichterstatter  des  rheinischen  Weltblattes  durch 
Ungarn,  Siebenbürgen,  Italien  und  Sizilien.     Aber  der  Ausbruch  des  Krieges 
gegen  Frankreich  veranlafite  ihn,  schleunigst  nach  der  Heimat  zurückzukehren. 
Er  trat  beim  5.  badischen  Infanterieregiment  als  Freiwilliger  ein  und  nahm 
im  Werderschen  Korps  an  der  ersten  Periode  des  Feldzugs  teil.     Wiederholt 
fand  er  Gelegenheit,  sein  Blut  fürs  Vaterland  zu  vergießen.     In  dem  heißen 
Gefecht  bei  Auxonne   erhielt   er    eine    schwere  Kopfwunde,    die    das    linke 
Ohr  hart   beschädigte,  so  daß  er  längere  Zeit  im  Lazarett  lag  und  im  No- 
vember  als   kriegsuntauglich  1  und    mit    verminderter  Hörfähigkeit,    aber  mit 
dem  eisernen  Kreuz  geschmückt,  entlassen  wurde.     Da  er  sich  nach  seiner 
Wiederherstellung  noch  zu  schwach  zum  Reisen  fühlte,  ging  er  nach  München, 
um  an   der  dortigen   Hochschule   seine   naturwissenschaftlichen    Studien    zu 
ergänzen.     Hier  hatte  er  das  Glück,  von  zwei  bedeutenden  Gelehrten,  dem 
Geologen   und  Paläontologen  Karl  Alfred  von  Zittel  und  dem  weitgereisten 
Naturforscher  Moritz  Wagner,  viele  Beweise  freundschaftlicher  Gesinnung  und 
mannigfache  Anregungen  zu  empfangen.     Als  er  wieder  in   den  Vollbesitz 
seiner   Kraft   und    Gesundheit   gelangt  war,   ging   er   abermals   als  Bericht- 
erstatter der  Kölnischen  Zeitung  nach  dem  Auslande.     Zunächst  besuchte  er 
zum  zweiten   Male  Italien  bis  nach  Sizilien,   dann  die  Karpathen   und  die 
Alpen,     Schließlich    trat  er  eine   mehrjährige  Reise   nach  Amerika  an,  die 
ihn  durch  die  Vereinigten  Staaten  bis  an   die  Gestade  des  Stillen  Ozeans, 
dann  durch  Mexiko,  Kuba  und  Westindien  führte.     Die  bedeutsamsten  Ein- 
drücke gewann  er  in  Kalifornien.     Eine  Zeitlang  trug   er  sich  mit  dem  Ge- 
danken,   hier    als    Farmer   ein    neues    Leben  zu    beginnen,    aber   schließlich 
siegte  doch  die  Liebe  zur  alten  Heimat.     Im  Herbst  1875  kehrte  er,  reich 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog^.    9.  Bd.  lO 


146  Rateel. 

ausgestattet  mit  Kenntnissen  und  Erfahrungen  aller  Art,  nach  Deutschland 
zurück.  Sein  Hauptinteresse  galt  jetzt  nicht  mehr  der  Zoologie.  Vielmehr  war 
er  in  der  Fremde  zum  Geographen  herangereift.  Deshalb  habilitierte  er 
sich  noch  gegen  Ende  des  Jahres  auf  den  Rat  seines  späteren  Amtsnachfolgers 
Siegmund  Günther  an  der  Technischen  Hochschule  in  München  als  Privat- 
dozent für  Geographie.  In  seiner  Probevorlesung  behandelte  er  das  nord- 
amerikanische Felsengebirge,  in  seiner  Habilitationsschrift  die  damals  im 
Vordergrunde  des  öffentlichen  Interesses  stehende  chinesische  Auswanderung. 
Bereits  187 6, wurde  er  nach  dem  Erscheinen  seines  ersten  großen  Werkes  über 
die  Vereinigten  Staaten  zum  außerordentlichen  und  vier  Jahre  später,  als  er 
einen  Ruf  nach  Leipzig  als  Nachfolger  Oskar  Peschels  abgelehnt  hatte,  zum 
ordentlichen  Professor  ernannt.  Diese  Münchener  Jahre  waren  reich  an 
-wissenschaftlichen  und  literarischen  Ergebnissen.  Neben  mehreren  selb- 
ständigen Werken  entstanden  zahlreiche  kleinere  Abhandlungen.  Auch  leitete 
er  in  den  Jahren  1882 — 1884  die  vorher  durch  Friedrich  von  Hellwald 
herausgegebene  Wochenschrift  »Das  Ausland«,  bis  ihn  die  zunehmende  Über- 
häufung mit  andern  Arbeiten  zur  Aufgabe  der  Redaktionstätigkeit  zwang. 
Zu  vielen  geistig  hervorragenden  Männern  der  bayrischen  Hauptstadt  unter- 
hielt er  freundschaftliche  Beziehungen.  Besonders  nahe  standen  ihm  Heinrich 
Noe,  der  treffliche  Schilderer  der  Alpenlandschaft,  und  Karl  Stieler,  der 
gemütvolle  Hochlandsdichter.  Auch  sonst  gestalteten  sich  seine  Verhältnisse 
in  München  so  behaglich,  daß  er  mehrere  Berufungen  ausschlug,  die  von 
auswärts  an  ihn  gelangten,  selbst  einen  ehrenvollen  Antrag  der  weltberühmten 
Firma  Justus  Perthes  in  Gotha,  die  wissenschaftliche  Oberleitung  ihrer 
geographischen  Anstalt  und  der  von  ihr  verlegten  angesehenen  Zeitschrift 
»Petermanns  Mitteilungen«  zu  übernehmen.  Erst  als  er  im  Sommer  1886  auf 
Empfehlung  des  Nationalökonomen  Wilhelm  Röscher  von  der  Universität 
Leipzig  eingeladen  wurde,  den  durch  den  Weggang  Ferdinands  von  Richt- 
hofen  nach  Berlin  erledigten  Lehrstuhl  der  Geographie  zu  übernehmen, 
stimmte  er  freudig  zu.  18  Jahre  hat  er  dieser  altberühmten  Hochschule  an- 
gehört, und  mit  Recht  wird  er  unter  ihre  hervorragendsten  Zierden  gerechnet. 
Hier  in  Leipzig  entstanden  in  rascher  Folge  jene  bedeutsamen  Werke,  die 
seinen  Weltruf  begründeten  und  ihm  für  alle  Zeiten  einen  ehrenvollen 
Namen  unter  den  Klassikern  der  Erdkunde  sichern:  Völkerkunde,  Anthropo- 
geographie,  Politische  Geographie,  Erde  und  Leben,  Naturschilderung.  Die 
Zahl  seiner  Schüler  wuchs  schnell  an.  Selbst  aus  Amerika,  Rußland,  Bulgarien 
und  Armenien  kamen  sie  herbei.  Gegen  200  Dissertationen,  darunter  aller- 
dings auch  manche  minder  gelungene,  sind  auf  seine  Anregung  hin  ent- 
standen, und  das  vom  ihm  geleitete,  wiederholt  umgestaltete  und  musterhaft 
eingerichtete  geographische  Seminar  gelangte  allmählich  zu  hoher  Blüte.  Bei 
seinen  Schülern  hat  er  viel  Liebe  geerntet.  Zu  seinem  25  jährigen  Professor- 
jubiläum im  Dezember  1901  überreichten  sie  ihm  eine  kleine  Festschrift  und 
eine  Stiftung,  deren  Zinsen  zur  Unterstützung  junger  Geographen  der  Leip- 
ziger Universität  verwendet  werden  sollten.  Auch  zu  seinem  60.  Geburtstage 
gedachten  sie  ihn  mit  einer  Huldigungsschrift  größeren  Umfangs  zu  über- 
raschen, aber  sie  konnte  infolge  seines  plötzlichen  Todes  nur  als  Gedächtnis- 
schrift Verwendung  finden.  An  Auszeichnungen  und  Anerkennungen  hat  es 
ihm    nicht   gefehlt.     Der  Kgl.   Sächsischen   Gesellschaft    der   Wissenschaften 


Ratzel. 


147 


zu  Leipzig  und  der  Kgl.  Kommission  für  sächsische  Geschichte  gehörte  er 
als  ordentliches  Mitglied  an.  Auch  mehrere  geographische  Gesellschaften 
(zu  München,  Leipzig,  Halle,  Frankfurt,  Hamburg,  Bern,  London,  Rom  und 
Bukarest)  wählten  ihn  zum  Ehrenmitglied.  Der  König  von  Sachsen  ernannte 
ihn  zum  Geheimen  Hofrat,  doch  legte  er  Wert  darauf,  von  Schülern  und 
Freunden  nicht  mit  diesem  Titel,  sondern  als  Professor  angeredet  zu  werden. 
In  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  wurde  er  wiederholt  von  langwierigen 
Krankheiten  heimgesucht,  die  zwar  seine  fast  wunderbare  Arbeitskraft  nicht 
lähmten,  aber  allmählich  seine  Stimmung  verdüsterten.  Ein  Kehlkopf  übel 
zwang  ihn  mehrfach,  Südfrankreich,  Italien  und  Korsika  aufzusuchen.  Sonst 
verbrachte  er  die  Ferien  gern  in  seinem  behaglich  eingerichteten  Sommer- 
hause zu  Ammerland,  das  ihm  namentlich  wegen  des  herrlichen  Ausblicks 
auf  die  geliebte  Alpenkette  wert  war.  Während  er  sich  früher  als  rüstiger 
Bergsteiger  hervorgetan  hatte,  mußte  er  zuletzt  auf  jede  körperliche  An- 
strengung verzichten,  da  ein  Herzleiden  erst  langsam,  dann  immer  bedroh- 
licher um  sich  griff.  Ihm  ist  er  auch  schließlich  erlegen.  Auf  einem  Abend- 
spaziergange am  See  sank  er,  vom  Herzschlag  getroffen,  plötzlich  zu  Boden, 
und  ein  schmerzloser  Tod  endigte  wenige  Minuten  später  sein  an  Arbeit 
und  Erfolgen  reiches  Leben. 

Wie  R.  als  akademischer  Lehrer  in  Vorlesungen  und  Seminarübungen 
fast  alle  Gebiete  der  Geographie  behandelt  hat,  so  ist  er  auch  als  Schrift- 
steller in  nahezu  allen  Zweigen  der  Erdkunde  schöpferisch  hervorgetreten. 
Nur  die  mathematischen  und  astronomischen  Grenzgebiete  lagen  ihm  fern. 
Im  ganzen  hat  er  18  selbständige  Werke,  davon  einige  in  mehreren  Auf- 
lagen, und  weit  über  500  Abhandlungen  verschiedensten  Umfangs  ver- 
öffentlicht. Sie  aufzuzählen  ist  hier  nicht  der  Ort.  Eine  wohl  nahezu  voll- 
ständige Liste  bietet  die  am  Schlüsse  dieses  Nachrufs  unter  den  Literatur- 
angaben verzeichnete  Bibliographie.  Seinem  Bildungsgange  entsprechend 
ging  er  bei  seiner  literarischen  Produktion  von  den  Naturwissenschaften, 
namentlich  von  der  Zoologie  aus.  Seine  Dissertation  (1868)  behandelt  ein 
zoologisches  Thema.  Auch  die  zuerst  in  der  Kölnischen  Zeitung,  dann  in 
Buchform  erschienenen  »Zoologischen  Briefe  vom  Mittelmeer«,  verschiedene 
Aufsätze  in  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie  und  eine  Reihe 
von  Berichten  über  die  Ergebnisse  neuer  biologischer  Forschungen  in  den 
ersten  Bänden  von  Meyers  Ergänzungsblättern  zur  Kenntnis  der  Gegenwart 
und  in  Meyers  Deutschem  Jahrbuch  gehören  hierher.  Den  Höhepunkt  dieser 
naturwissenschaftlichen  Richtung  bildet  das  zur  Verteidigung  der  Entwick- 
lungslehre geschriebene  Buch  »Sein  und  Werden  der  organischen  Welt«  (1869), 
das  eine  populäre  Schöpfungsgeschichte  enthält,  den  Schlußstein  die  »Vor- 
geschichte des  europäischen  Menschen«  (1874).  Einen  völligen  Umschwung 
führten  die  großen  Reisen  im  Dienste  der  Kölnischen  Zeitung  herbei.  Die 
mannigfachen  Eindrücke,  die  fremde  Länder  und  Völker  in  ihm  erweckten, 
ließen  seine  naturwissenschaftlichen  Interessen  allmählich  zurücktreten.  Zwar 
nannte  er  die  in  Buchform  erschienene  Sammlung  seiner  europäischen  Reise- 
briefe noch  immer  »Wandertage  eines  Naturforschers«  (1873 — 1874),  aber 
schon  seine  nächsten  Werke,  die  Früchte  der  großen  amerikanischen  Reise, 
zeigten  deutlich,  daß  er  sein  bisheriges  Studiengebiet  verlassen  hatte  und 
aus   einem  Zoologen    ein   Geograph   und  Ethnolog   geworden   war.     In   den 


lO* 


148  Ratzel. 

»Städte-  und  Kulturbildern  aus  Nordamerika«  (1876),  der  Studie  über  »Die 
chinesische    Auswanderung«   (1876),    deren    rasches    Anwachsen    damals    die 
Politiker  der  Vereinigten  Staaten  mit  Besorgnis  erfüllte  und  zu  Abwehrmaß- 
regeln zwang,   und  den  »Reiseskizzen  aus  Mexiko«  (1878)  offenbarte  er  sich 
als  scharfer  Beobachter  und  als  Meister  der  Naturschilderung,  aber  erst  sein 
grundlegendes  Buch  über   »Die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika«  (1878 
bis  1880)  stellte  ihn    mit    einem    Schlage    in    die    Reihe    der   bedeutendsten 
Vertreter     der     wissenschaftlichen     Länderkunde.      Daß     er    indessen    auch 
die    Geophysik    nicht    vernachlässigte,    bewies    er    durch    seinen    Leitfaden 
»Die  Erde  in  24  gemeinverständlichen  Vorträgen  über  allgemeine  Erdkunde« 
(1881).     Sein  Hauptinteresse  aber  wendete   sich  allmählich   der  Geographie 
des  Menschen    zu,    und    diesem  Sondergebiete    widmete   er   seine   nächsten 
großen  Werke,  die  »Anthropogeographie«  (1882,  2.  Teil  1891,  2.  Auflage  1899), 
welche  im  Anschluß    an    die  Grundgedanken   Karl   Ritters  die   Wechselwir- 
kungen zwischen  Natur,  Geschichte  und  Menschheit  klarzulegen  beabsichtigte, 
und  die  prächtig  ausgestattete   »Völkerkunde«  (1885 — 1888,  2.  Auflage  1894 
bis  1895),  die  eine  Anwendung   der  anthropogeographischen  Gesichtspunkte 
auf  die  Natur-  und  Kulturvölker  der  alten  und   neuen  Welt  versucht.     Aber 
nicht  nur  die  körperliche  und  geistige  Eigenart  der  Völker  wurzelte  seiner  An- 
sicht nach  im  Boden,  sondern  auch  ihr  politisches  Leben.     Der  Staat  erschien 
ihm   als  ein  bodenständiger  Organismus,    nicht  als    ein  Grebilde,   das   durch 
gegenseitiges  Übereinkommen  der  Menschen  entstanden  ist.     Diesen  Grund- 
gedanken führte  er  in  seiner  überaus  anregenden,  wenn   auch  nicht  immer 
leicht  verständlichen,  »Politischen  Geographie«  (1897,  2.  Auflage  1903)  näher 
aus.     Er  zeigte  darin,  wie  das  Entstehen,  Blühen  und  Vergehen  der  Staaten 
geographisch    bedingt    ist    und    wie    sich    eine    gesunde    und    zukunftsreiche 
innere  und   äußere  Politik   einschließlich   der  Handels-  und   Kolonialpolitik 
den  gegebenen  Verhältnissen  des  Bodens  anpassen  muß.     Aber  die  Geographie 
des    Menschen    war   in    seinen  Augen    nur    ein    Teil    der    allgemeinen    Bio- 
geographie,   welche    das    gesamte    organische    Leben    als    eine    unaufhörlich 
wechselnde  Erscheinungsform    der  Erdoberfläche    betrachtet.     Dieser  allum- 
fassenden Wissenschaft  widmete  er  das  letzte  zu  seinen  Lebzeiten  erschienene 
Werk  »Die  Erde  und  das  Leben«  (1901  — 1902),   das  von  der  Kritik   als  ein 
modernes  Gegenstück  zu  Humboldts  Kosmos  bezeichnet  wurde.     Auch  nach 
dem  Abschluß   dieser  »vergleichenden  Erdkunde«  war  er  noch   unermüdlich 
tätig.     Neue  Ziele  tauchten  vor  seinem  geistigen  Auge  auf.     Vor  allem  zog 
ihn  die  allmählich  immer  weitere   Kreise  erfassende  Bewegung  an,    welche 
eine    künstlerische  Erziehung    der  Jugend    anbahnen  und    damit  Freude  an 
allem  Großen  und  Schönen  in  Natur  und  Kunst  und  liebevolles  Verständnis 
dafür  auch  in  den  breiten  Schichten  des  Volkes  erwecken  wollte.    Diese  Bestre- 
bungen suchte  er  durch  das  liebenswürdige  Büchlein  »Über  Naturschildening« 
zu  unterstützen,  das   wenige  Wochen  nach  seinem  Tode  erschien   und   nach 
Inhalt   und   Form  mit  Recht  als  die  Perle   unter  seinen  Werken   betrachtet 
wird.     Zu  beklagen  ist  es,  daß  er  seine  Absicht,  eine  ausführliche  Schilderung 
seines  Lebensganges  und  seiner  geistigen  Entwicklung  abzufassen,   nicht  zu 
Ende  führen   konnte.     Einige  Vorstudien,   die  mit  dichterischer  Freiheit  Er- 
innerungen aus  der  Jugendzeit  und  dem  Feldzuge  gegen  Frankreich  wieder- 
geben, erschienen  ohne  seinen  Namen  in  den  »Grenzboten«  und  wurden  auch 


Ratzel. 


149 


in    die    vom    Grunowschen    Verlage    unter    dem    Titel    »Glücksinseln    und 
Träume«  (1905)  veranstaltete  Auswahl  seiner  kleinen  Aufsätze  übernommen. 
Eine  andere  Sammlung  seiner  wichtigsten  Abhandlungen,  besorgt  von  Hans 
Heimelt,  soll   im   Herbst  1905  bei   Oldenbourg  in   München   herauskommen. 
Diese  Abhandlungen  geben  einen  guten  Überblick  über  die  außerordentliche 
Vielseitigkeit  ihres  Verfassers.     Sie  zeigen,   daß  er  kaum  eine  Seite  der  aus- 
gebreiteten geographischen  Wissenschaft  unangebaut  gelassen  hat.     Bleibend 
Wertvolles  hat  er  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Erdkunde 
geleistet.     Für  die  Allgemeine  deutsche  Biographie  hat  er  von  1878 — 1904 
gegen  150  Lebensbeschreibungen  namhafter  Geographen,  Forschungsreisender 
und    Missionare   verfaßt,    darunter   die  bedeutsamen  und   umfangreichen  Ar- 
tikel über  Junghuhn,  Leichhardt,  Nachtigal,  Olearius,  Pallas,  Peschel,  Pöppig, 
Ritter,  Vogel   und   Emin   Pascha.     Auch   dem  Biographischen  Jahrbuch  war 
er  ein   treuer  Berater  und  Mitarbeiter,  wie  der  Herausgeber  in  der  Beilage 
zur  Allgemeinen  Zeitung  1904,  Nr.  197  näher  dargelegt  hat.     Andere  Aufsätze, 
die  er  namentlich  im  »Globus«  und  während  seiner  Redaktionstätigkeit  auch 
im  »Ausland«  veröffentlichte,  berichten  über  ältere  und  neuere  Entdeckungs- 
reisen und  über  die  Ergebnisse  geographischer  Forschungen.    Drei  Forschungs- 
gebiete verfolgte  er  mit  andauerndem  Interesse:  Afrika,  die  Nordpolarländer 
und   die  Antarktis.     Mit   vielen  bedeutenden  Fachgenossen,   vor   allem  mit 
den  namhaftesten  Afrikareisenden  unterhielt  er  freundschaftliche  Beziehungen, 
und  manchem  hat  er  ein  würdiges  literarisches  Denkmal  gesetzt,  vor  allem 
Emin    Pascha  durch   die   Herausgabe   seiner  Briefe.     Viele  seiner  kleineren 
Arbeiten    wurden   durch    seine    eigenen   Reisen   veranlaßt.     Namentlich   von 
einzelnen  Gegenden  Korsikas  und  der  Riviera  hat  er  glänzende  Schilderungen 
entworfen.     Seine  ganze  Liebe  aber  gehörte  den  Alpen,  die  er  in  gesunden 
Tagen   als   rüstiger  Wanderer  nach  allen  Richtungen    durchstreifte.     Darum 
zählen  auch  seine  Hochgebirgsstudien,   seine  Untersuchungen  über  Wasser- 
fälle,  über  die  Schnee  Verhältnisse,  über  die  Schneegrenze   und   die  Schnee- 
decke der  Gebirge,  über  Eis-  und  Fimschutt,  über  Höhengrenzen  und  Höhen- 
gürtel, über  Karrenfelder,    über   einige   dunkle   Punkte   der   Gletscherkunde, 
sowie   seine   Monographie    über    den    Wendelstein  zu    dem  Besten,    was  er 
geschrieben  hat.     Das  Gleiche  gilt  auch   von   den    kleinen  Arbeiten  völker- 
kundlichen und  anthropogeographischen  Inhalts  (über  die  geographische  Ver- 
breitung des  Bogens  und  der  Pfeile  in  Afrika,  über  Stäbchenpanzer  und  ihre 
Verbreitung  im    nordpazifischen   Gebiet,    über   die  Anwendung   des   Begriffs 
Ökumene  auf   geographische  Probleme  der  Gegenwart,  über   die  anthropo- 
geographischen Begriffe  Geschichtliche  Tiefe  und  Tiefe  der  Menschheit,  über 
die  afrikanischen  Bögen,  ihre  Verbreitung  und  Verwandtschaft,  Beiträge  zur 
Kenntnis  der  Verbreitung  des  Bogens  und  des  Speeres  im  indo-afrikanischen 
Völkerkreis,  der  Staat  und  sein  Boden  geographisch  betrachtet,  der  Ursprung 
und  das  Wandern  der  Völker,  sämtlich  in  den  Schriften  der  Kgl.  Sächsischen 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  erschienen),  sowie  auch  von  dem  einleitenden 
Abschnitt  zu  Helmolts  Weltgeschichte,   den   er  »Die  Menschheit  als  Lebens- 
erscheinung   der    Erde«     überschrieb,    und    den    tief    eindringenden    Unter- 
suchungen  über  den   Ursprung  der  Arier,    die   er  in    seinen    letzten  Jahren 
in    verschiedenen     Zeitschriften     veröffentlichte.      Einen     noch    viel     weiter 
reichenden    Einfluß   als  durch   diese   streng  wissenschaftlichen  Arbeiten,  die 


150 


Ratzel. 


sich  zum  Teil  nur  an  enge  Fachkreise  wendeten,  übte  er  durch  seine  zahl- 
reichen Beiträge  für  populäre  Zeitschriften  aus.  In  Meyers  und  Brockhaus* 
Konversationslexikon,  in  der  Kölnischen  und  Allgemeinen  Zeitung,  in  den 
Münchener  Neuesten  Nachrichten  und  der  Karlsruher  Zeitung,  in  den  Leip- 
ziger Tagesblättern,  namentlich  in  der  wissenschaftlichen  Beilage  zur  Leipziger 
Zeitung,  in  Westermanns  Monatsheften  und  im  Daheim,  in  der  Deutschen 
Rundschau,  der  Gegenwart  und  der  Deutschen  Monatsschrift  findet  man  viele 
seiner  kleineren  Aufsätze  verstreut.  Das  Blatt,  das  er  am  liebsten  und  aus- 
giebigsten benutzte,  um  das  von  sich  zu  geben,  was  ihm  das  Herz  bewegte, 
waren  die  Grenzboten,  zu  deren  Herausgeber  und  Verleger  er  viele  Jahre 
hindurch  freundschaftliche  Beziehungen  unterhielt.  Für  diese  Zeitschrift  hat 
er  eine  unübersehbare  Menge  von  anonymen  Notizen  und  Mitteilungen  ge- 
liefert, die  oft  nur  wenige  Zeilen  umfassen,  aber  überraschende  Einblicke 
in  das  eigenartige  Geistes-  und  Gemütsleben  ihres  Verfassers  eröffnen. 
Auch  als  Kritiker  hat  er  eine  überaus  vielseitige  Tätigkeit  ausgeübt,  haupt- 
sächlich im  Literarischen  Zentralblatt  und  im  Literaturbericht  zu  Petermanns 
Mitteilungen,  aber  auch  in  andern  geographischen,  ethnologischen  und  natur- 
wissenschaftlichen Fachzeitschriften  und  gelegentlich  selbst  in  Tagesblättern. 
Es  steckt  eine  Unsumme  von  Arbeit  in  diesen  mehr  als  700  Anzeigen,  die 
häufig  eingehende  Sprachkenntnisse  voraussetzen.  In  seinen  Rezensionen 
war  er  stets  bemüht,  große  leitende  Gesichtspunkte  herauszuheben.  Das 
kleinliche  Aufstechen  von .  Druckfehlem  und  nebensächlichen  Irrtümern  lag 
ihm  völlig  fem.  Wo  er  tadeln  mußte,  geschah  es  in  verbindlicher  Form 
ohne  persönliche  Schärfe. 

Die  wissenschaftlichen  Verdienste  R.s  sind  aber  nicht  allein  nach  dem 
zu  bemessen,  was  er  selbst  als  Schriftsteller  leistete,  sondem  auch  nach 
dem,  was  er  anregte.  An  den  Bestrebungen  zur  gründlichen  geographischen 
Erforschung  Deutschlands  nahm  er  als  langjähriges  Mitglied  des  Zentral- 
ausschusses für  deutsche  Landes-  und  Volkskunde  lebhaften  Anteil.  Durch 
die  von  ihm  herausgegebene,  von  den  besten  Sachkennem  bearbeitete 
»Bibliothek  geographischer  Handbücher«,  welche  eine  Auswahl  der  hervor- 
ragendsten geographischen  Kompendien  umfaßt,  fülltie  er  eine  längst  empfun- 
dene Lücke  in  der  Literatur  seines  Faches  aus.  Als  akademischer  Lehrer 
hat  er  Hunderte  von  Schülern  herangebildet,  von  denen  einige  zu  den 
Zierden  der  jüngeren  Geographengeneration  gehören,  andere  als  tüchtige 
Lehrer  den  geographischen  Unterricht  in  den  sächsischen  Schulen  auf  eine 
erfreuliche  Höhe  gehoben  haben.  Mit  vielen  seiner  Schüler  verbanden  ihn 
enge  freundschaftliche  Beziehungen,  und  wem  es  vergönnt  war,  häufiger 
mit  ihm  zu  verkehren,  der  lernte  bald  die  vortrefflichen  Eigenschaften 
seines  Geistes  und  Herzens  schätzen.  Als  einen  besonderen  Genuß  empfand 
er  es,  in  angeregtem  Gespräche  mit  Freunden  Wald  und  Feld  zu  durch- 
streifen. Das  Fußwandern  war  seine  Leidenschaft.  Noch  in  seinen  letzten 
Jahren  betrieb  er  es  mit  einer  Ausdauer,  die  manchen  Jüngeren  beschämte, 
und  selbst  im  Winter  und  bei  entschieden  schlechtem  Wetter  eilte  er,  meist 
ohne  schützende  Überkleidung,  mit  raschen  elastischen  Schritten  stundenlang 
umher.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  er  Frommanns  »Taschenbuch  für  angehende 
Fußreisende«  mehrmals  neu  herausgab  und  der  deutschen  Jugend  widmete. 
Auch    das    prächtige    Büchlein    »Deutschland«   (1898),    das    dem    Deutschen 


Ratzel. 


151 


zeigen  will,  was  er  an  seiner  Heimat  hat,  und  das  eine  unerschöpfliche 
Quelle  für  die  Belebung  des  heimatkundlichen  Unterrichts  bildet,  ist  eine 
Frucht  solcher  Wanderungen.  Gern  unterhielt  er  sich  auf  seinen  Spazier- 
gängen über  politische,  philosophische  und  religiöse  Probleme.  Als  Politiker 
gehörte  er  zu  den  Vertretern  eines  gemäßigten  nationalen  Liberalismus,  doch 
ist  er  niemals  im  Parteileben  hervorgetreten.  Mit  Begeisterung  verteidigte 
er  die  Weltmachtbestrebungen  des  Deutschen  Reiches.  Die  Gegner  der 
Kolonialpolitik  bekämpfte  er  durch  seine  kräftige  Fehdeschrift  »Wider  die 
Reichsnörgler«  (1884)  und  durch  zahlreiche  Aufsätze  in  den  Grenzboten. 
Auf  die  Notwendigkeit  einer  starken  Flotte  wies  er  in  der  glänzend  ge- 
schriebenen Studie  »Das  Meer  als  Quelle  der  Völkergröße«  (1900)  hin.  In 
Sachen  der  Weltanschauung  wurde  er  durch  Erfahrungen,  über  die  er  sich 
Dritten  gegenüber  nur  selten  und  dann  auch  nur  andeutungsweise  äußerte,  ganz 
langsam  und  allmählich  nach  rechts  gedrängt.  Als  Student  hatte  er  dem  Mate- 
rialismus jener  Tage  gehuldigt.  Später  war  er,  wohl  hauptsächlich  durch  per- 
sönlichen Verkehr  mit  kirchlichen  Separatisten  seiner  schwäbischen  Heimat, 
zu  andern  Ansichten  gekommen.  In  Leipzig  besuchte  er  fleißig  den  evan- 
gelischen Gottesdienst,  und  in  seinen  letzten  Jahren  lieferte  er  Beiträge  für 
die  fromme  Zeitschrift  Glauben  und  Wissen  und  für  das  auf  streng  christ- 
lichen Grundlagen  ruhende  Volks-  und  Universallexikon  von  Dennert.  Neben 
diesen  religiösen  Neigungen  entwickelten  sich  gegen  Ende  seines  Lebens 
auch  philosophische,  aus  denen  heraus  mehrere  tief  durchdachte  Aufsätze  in 
den  von  seinem  Freunde  und  Kollegen  Ostwald  herausgegebenen  »Annalen 
der  Naturphilosophie«  entstanden  sind,  und  vor  allem  künstlerische  Interessen, 
die  namentlich  dem  Buche  über  Naturschilderung  seinen  eigenartigen  Reiz 
verleihen.  So  war  der  Verstorbene  ein  Mann  von  universaler  Vielseitigkeit, 
erstaunlichem  Wissen,  seltener  Schaffenskraft  und  ungewöhnlicher  literarischer 
Fruchtbarkeit,  ein  bedeutender  ideenreicher  Gelehrter  in  mehr  als  einem  Ge- 
biete der  Wissenschaft,  eine  feinsinnige  Künstlernatur  und  nicht  zuletzt  auch 
ein  Meister  des  deutschen  Stils.  Noch  in  Jahrhunderten  wird  ihn  die  dank- 
bare Nachwelt  unter  die  führenden  Geister  unserer  Zeit  rechnen. 

Eine  eingehende  treffliche  Studie  über  R.  verdankt  man  seinem  Schüler  K.  Hassert: 
Geographische  Zeitschrift  XI  (1905),  Heft  6 — 7.  Kürzere  biographische  Artikel  und  Nach- 
rufe von  selbständigem  Werte  veröffentiichten  Th.  Achelis:  Nord  und  Süd  LXXXIV  (1898), 
263 — 276  (mit  Bildnis),  VVestermanns  illustrierte  deutsche  Monatshefte  XC  (1901),  223  bis 
229  (mit  Bildnis)  und  Geographischer  Anzeiger  V  (1904),  265;  G.  Antze:  Politisch-anthropo- 
logische Revue  III  (1904),  517;  J.  Brunhes:  La  Geographie  X  (1904),  103—108;  M.  Eckert: 
Illustrierte  Zeitung  1901,  Nr.  3049,  S.  851 — 853  (mit  Bildnis)  und  Wissenschaftliche  Beilage 
der  Leipziger  Zeitung  1904,  Nr.  103;  C.  Gruber:  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung  1901, 
Nr.  282;  S.  Günther:  ebenda  1904,  Nr.  195;  H.  Haack:  Geographenkalender  III  (1905), 
201 — 203;  K.  Hassert:  Geographischer  Anzeiger  II  (190 1),  161  — 163  und  Deutsche  Monats- 
schrift VII  (1905),  695—706;  H.  Heine:  Neue  Bahnen  XV  (1904),  668ff.,  726ff.;  H.  Hei- 
molt:  Deutsche  Rundschau  XXXI  (1904),  Heft  i;  O.  Kämme!:  Die  Grenzboten  LXIII 
(1904),  Nr.  33;  E.  Kaiser:  Pädagogische  Blätter  XXXIII  (1904),  492 ff.,  545 ff»;  R-  Kittel: 
Die  Grenzboten  LXIII  (1904),  Nr.  35;  M.  Krug-Genthe  und  C.  F.  Semple:  Bull.  Amer. 
Geogr,  Soc,  XXXVI  (1904),  550—553;  K.  Lamprecht:  Berichte  über  die  Verhandlungen 
der  pbil.-hist.  Klasse  der  Kgl.  Sachs.  Gesellschaft  der  Wiss.  1904,  13  S.;  H.  Lindau: 
Die  Nation  XXII  (1904),  Nr.  3—4;  O.  Marinelli:  Rivista  geogr,  Italiana  XII  (1905). 
8—18;  F.  Ntichter:  Blätter  für  die  Schulpraxis  1904,  S.  293 ff;  E.  Oppermann:  Zeitschrift 
für  Schulgcographie  XXVI  (1904/05),   1—7;  A.  Penck:   Die  Zeit  1904,  Nr.  675;  H.  Reis- 


IC2  Ratrel.     Egger  von  Möllwald. 

hauer:  Mitteilungen  des  deutschen  und  österreichischen  Alpenvereins  1904,  Nr.  16;  Schulze: 
Pädagogische  Studien  1904,  Nr.  6;  M.  Spahn:  Der  Tag  (1904),  30.  August;  K.  Weule: 
Deutsche  Erde  III  (1904),  150  f.  und  Mitteilungen  des  Vereins  für  Erdkunde  zu  Leipzig 
1905,  29  S.  (mit  Bildnis);  Kölnische  Zeitung  1904,  Nr.  1062.  —  V.  Hantzsch,  Ratzel-Biblio- 
graphie  1867 — 1905.  Verzeichnis  der  selbständigen  Werke,  Abhandlungen  und  Bücher- 
besprechungen Friedrich  Ratzeis,  München  und  Berlin  1905.  Viktor  Hantzsch. 

Egger  von  Möllwald,  Alois,  Schulmann,  *  5.  Januar  1829  zu  Flattach  in 
Kärnten,  f  16.  März  1904  zu  Lovrana.  —  E.s  Vater  Alois  war  Wirtschafts- 
besitzer und  lebte  mit  seiner  aus  fünf  Söhnen  und  drei  Töchtern  bestehenden 
Familie  in  auskömmlichen  Verhältnissen.  Unser  Alois  war  das  älteste  der 
Kinder  und  verlebte  in  der  von  ihm  zeitlebens  schwärmerich  geliebten 
Heimat  seine  Knaben  jähre.  Unterricht  genoß  er  in  seinem  Geburtsort  (1840) 
und  zu  Lienz.  E.  war  noch  durch  das  alte  Jesuitengymnasium  gegangen 
und  konnte  später  den  Fortschritt  der  neuen  Gymnasialorganisation  an  den 
Erfahrungen  der  eigenen  Schuljahre  abschätzen.  Seine  Zeugnisse  aus  der 
Gymnasialzeit  reihen  ihn  durchwegs  unter  die  »Eminentisten«.  Im  Herbste 
1849  wanderte  er  mit  seinem  P'reunde  und  Landsmanne,  dem  österreichischen 
Dichter  Johann  Fercher  von  Stein  wand,  nach  der  steirischen  Hauptstadt. 
»Noch  schwebt  der  regnerische  Novembertag  1849  vor  meinem  Geiste«  — 
also  schreibt  E.  in  einem  Tagebuche  aus  dem  Jahre  1860  — ,  »an  welchem 
ich  mit  Kleinfercher  (so  hieß  eigentlich  der  Dichter)  auf  der  Voitsberger 
Straße  nach  Graz  wanderte,  die  Brust  voll  Plänen,  aber  im  Beutel  nur  8  fl. 
Auf  diesen  Tag  folgten  Tage  der  Not  und  des  Hungers,  bis  es  mir  gelang, 
durch  Unterricht  etwas  zu  erwerben.«  1849/50  gehörte  E.  der  juridischen 
Fakultät  an,  doch  hörte  er  bereits  im  ersten  Semester  ein  Kolleg  über  Ge- 
schichte der  altklassischen  Literatur  und  im  zweiten  ein  Kolleg  über  Er- 
ziehungslehre und  neuere  Philosophie.  Einem  inneren  Drange  folgend,  trat 
er  bereits  im  Wintersemester  1850/51  an  die  philosophische  Fakultät  über 
und  begann  unter  Weinholds  Leitung  seine  germanistischen  Studien.  In  dieser 
ersten  Grazer  Zeit  wohnte  E.  mit  Kleinfercher  und  seinem  späteren  Amts- 
genossen Karl  Greistorf  er  zusammen,  eine  Zeit  sorgenvoller  Bedrängnis,  in 
der  die  jungen  Freunde  »vereint  das  Elend  ihrer  materiellen  Existenz  hin- 
wegjubelten oder  zerphilosophierten«  (Tagebuch  1860).  Bald  nach  seinem 
Übertritt  an  die  philosophische  Fakultät,  im  Herbst  1851,  sehen  wir  E.  als 
Supplenten  am  Staatsgymnasium  in  Graz  und  außerdem  im  Neujahr  1852  als 
Lehrer  am  Institute  Blumenfeld  in  Graz.  Auf  die  Empfehlung  seines  Direktors 
Kaltenbrunner  und  des  Schulrates  Rigler  konnte  E.  mit  Beibehaltung  seiner 
Supplentengebühr  zur  Vorbereitung  auf  die  Ablegung  der  Lehramtsprüfung 
nach  Wien  übersiedeln.  Im  Sommersemester  1853  an  der  philosophischen 
Fakultät  in  Wien  inskribiert,  hörte  er  Jaeger,  Aschbach,  Simony,  Hahn, 
Linker,  Arneth,  Eitelberger  und  lenkte  bald  im  historischen  Seminar,  wo 
er  an  der  Seite  Ottokar  Lorenz'  saß,  und  im  germanistischen  die  Aufmerk- 
samkeit seiner  Professoren  auf  sich.  Im  Herbste  1854  nahm  er  eine  Supplentur 
am  Staatsgymnasium  in  Olmütz,  1855  eine  Lehrstelle  in  Laibach  an,  von 
wo  er  nach  Verlauf  von  zwei  Jahren  als  Lehrer  ans  akademische  Gymnasium 
in  Wien  berufen  wurde,  dem  er  1857 — 1874  angehörte.  Daß  ihm  wie  in 
Olmütz    so    manches  auch  in  Wien  nicht  gefiel,  macht  dem  Charakter  des 


Egger  von  MöUwald.  153 

Mannes  Ehre,  der  seine  heimatlichen  Berge  ebensowenig  vergaß  wie  Freiheit 
und  Biederkeit  der  heimischen  Sitten.  Im  Kreise  gleichgesinnter  Freunde  — 
außer  seinen  Amtsgenossen  vom  akademischen  Gymnasium  und  dessen 
Direktor  Hochegger  noch  Mitteis,  Klun,  Warhanek,  der  Mineraloge  Peters, 
der  Germanist  Lexer,  der  Tonkünstler  Mair  —  fehlte  es  nicht  an  reichlicher 
Anregung.  Ein  Leben  trotz  materieller  Beengung  reich  an  innerem  Behagen, 
dem  sich  eine  neue  glückverheißende  Zukunft  erschloß,  als  E.  1863  seiner 
Braut  Laura  Moser  die  Hand  reichte  zu  einem  Bunde  treuester  Seelengemein- 
schaft. 

Die  naturgemäße  Sorge  für  den  eigenen  Herd  spornte  nunmehr  seine 
Arbeitskraft  und  Schaffenslust  noch  mächtiger  an,  und  so  erschien  bereits 
fünf  Jahre  nach  seiner  Verheiratung  (1868)  der  I.  Band  seines  deutschen 
Lehr-  und  Lesebuches  für  Obergymnasien.  Im  Mai  1869  wurde  ihm  das 
Amt  eines  provisorischen  Bezirksschulinspektors  übertragen.  Von  dieser 
Stelle  wie  von  seinem  Lehramte  am  akademischen  Gymnasium  mußte  er 
zurücktreten,  um  seine  ganze  Kraft  der  Lösung  einer  verantwortungsvollen 
Ehrenaufgabe  zu  widmen.  Sein  Lebensweg  führte  ihn  nämlich  im  Oktober 
1869  in  die  Wiener  Hofburg,  wohin  er  berufen  wurde,  den  Unterricht  des 
Kronprinzen  Rudolf  in  der  deutschen  Sprache  und  der  Erzherzogin  Gisela 
in  der  deutschen  Sprache  und  in  Geographie  und  Geschichte  .zu  leiten.  Den 
Kronprinzen  unterrichtete  E.  nur  ein  Jahr;  als  er  im  Oktober  1870  der  Erz- 
herzogin Gisela  nach  Meran  als  Lehrer  folgen  mußte,  wurde  für  den  Kron- 
prinzen, der  in  Wien  verblieb,  in  Professor  Karl  Greistorf  er  E.s  Nachfolger 
gefunden.  Es  gereicht  E.  zur  Ehre,  daß  er,  der  Vielbeneidete,  des  Standes 
nicht  vergaß,  in  dem  die  Wurzeln  seiner  Kraft  lagen.  In  Anerkennung  seiner 
bei  dem  Unterrichte  der  Erzherzogin  Gisela  geleisteten  Dienste  wurde  ihm 
1873  ^^r  Orden  der  Eisernen  Krone  III.  Klasse  und  der  Ritterstand  mit  dem 
Prädikate  »Möllwald«  verliehen. 

Das  Jahr  der  Wiener  Weltausstellung  1873  zeigt  E.,  der  inzwischen  (1872) 
in  Würdigung  seiner  verschiedenen  literarischen  Leistungen  von  der  philo- 
sophischen Fakultät  der  Universität  in  Tübingen  den  Doktortitel  erhalten 
hatte,  in  erhöhter  Tätigkeit  auf  literarischem  und  praktischem  Schulgebiete. 
Nebst  der  Redaktion  des  offiziellen  Ausstellungsberichtes  über  das  österreichi- 
sche Schulwesen  wirkte  E,  auch  in  einem  Komitee,  das  sich  die  dankenswerte 
Aufgabe  gestellt  hatte,  auf  dem  Ausstellungsplatze  ein  modernes  Schulhaus 
samt  Zubehör  herzustellen,  das  den  durch  Wissenschaft  und  Erfahrung 
geläuterten  Anschauungen  über  den  Volksunterricht  entspräche.  Dieses  »öster- 
reichische Musterschulhaus«  fand  nebst  großem  Beifall  vielfache  Nachahmung. 

Im  Herbste  1873  wurde  E.  von  den  Städten  und  Märkten  Oberkärntens 
zum  Reichsratsabgeordneten  gewählt.  E.s  erste  Rede  handelte  über  die  Her- 
anbildung des  Klerus  (1874),  eine  zweite  betraf  die  permanente  Unterrichts 
ausstellung,  später  abgedruckt  im  pädagogischen  Literaturberichte  von  Dr.  Kraus 
(1894).  Ende  September  1874  finden  wir  ihn  als  Teilnehmer  an  der  Philo- 
logenversammlung in  Innsbruck,  ein  Beweis,  daß  die  Politik  ihn  nicht  aus 
der  Fühlung  mit  der  Wissenschaft  und  der  Schule  brachte.  Ja  wie  innig  diese 
Beziehung  verblieb,  beweist  eine  Stelle  seines  obenerwähnten  Tagebuches 
vom  15.  April,  wo  er  klagt,  daß  der  Reichsrat  und  verschiedene  Vereine 
seine  Zeit    so    sehr    in  Anspruch   nehmen,   daß   er  zu  literarischer  Tätigkeit 


I  54  Egger  von  Möllwald. 

nicht  die  nötige  Sammlung  gewinne.  »Daraus  ergibt  sich  eine  Zersplitterung 
der  Zeit,  die  mir  unbehaglich  zu  werden  beginnt«  —  setzt  er  hinzu.  Auch 
manche  Enttäuschung  brachte  ihm  seine  neue  Stellung.  »Im  Abgeordneten- 
hause bot  sich  mir  kein  befriedigender  Wirkungskreis«  —  schreibt  er  in 
einem  selbstverfaßten  curricuium  vitae  —  »und  ich  benützte  die  erste  Differenz 
mit  den  Ansichten  meiner  Wähler,  um  mich  zurückzuziehen.«  Am  19.  De- 
zember 1875,  *lso  nach  zweijähriger  Tätigkeit  im  Parlamente,  teilte  er  in 
einem  Rundschreiben  seinen  Wählern  mit,  daß  er  sein  Mandat  niederlege, 
denn  er  sei  nicht  in  der  Lage,  für  die  Predilbahn  zu  stimmen,  wie  es  Villach 
wünsche.  So  ward  in  dem  Parlamentarier  die  Rückkehr  zu  dem  eigentlichen 
Lebensberufe  beschleunigt,  dem  wiedergegeben  er  sich  um  die  freigewordene 
Direktorstelle  an  der  k.  k.  Lehrerinnenbildungsanstalt  St.  Anna  in  Wien  bewarb. 
Diese  Anstalt  sollte  er  nur  ein  Jahr  leiten.  Denn  als  im  Herbste  1878  dem 
Theresianischen  Gymnasium  nach  dem  Ableben  seines  Direktors  Dr.  Heinrich 
Mitteis  ein  würdiger  Nachfolger  gegeben  werden  sollte,  fiel  die  Wahl  auf  E. 
Im  September  1878  wurde  er  zum  Direktor  des  Theresianischen  Gymnasiums 
ernannt.  Was  ihn  bewog,  nach  so  kurzer  Zeit  die  Bildungsstätte  zu  St.  Anna 
zu  verlassen,  gesteht  er  ehrlich  in  seinem  curricuium  vitae  i  »Obwohl  mich 
mein  Wirkungskreis  am  Pädagogium  St.  Anna  in  jeder  Richtung  befriedigte, 
so  fühle  ich  mich  doch  in  der  Sphäre  des  Gymnasial  Unterrichtes,  in  der  ich 
so  lange  Jahre  gewirkt,  heimischer.« 

Im  kräftigsten  Mannesalter  trat  E.  seinen  neuen  Dienstposten  an,  der  bei 
der  eigenartigen  Organisation  der  Theresianischen  Akademie,  ihren  Zielen 
und  den  hierzu  gebotenen  Mitteln  dem  Gymnasialdirektor,  der  zugleich 
Vizedirektor  der  Akademie  ist,  keine  leichten  Aufgaben  stellt.  Doch  dem 
Arbeitsfrohen,  der  wiederholt,  auch  durch  längere  Zeit  die  Leitung  der  Ge- 
samtakademie übernehmen  mußte  und  an  der  Seite  von  vier  Akademiedirek- 
toren wirkte,  versagte  auch  jetzt  nicht  Tatkraft  noch  Tatenlust,  nicht  Inter- 
esse noch  Einsicht,  und  er  durfte  sich  mit  Recht  der  Anerkennung  erfreuen, 
die  ihm  durch  die  Verleihung  des  Titels  eines  Regierungsrates  ausgesprochen 
ward.  An  der  Spitze  eines  trefflichen  Lehrkörpers  wirkte  E.  mit  dem  vollen 
Einsätze  seiner  reichen  Erfahrung,  seines  umfassenden  Wissens,  seines  vor- 
bildlichen Lehrgeschickes,  bis  die  zunehmenden  Jahre,  insbesondere  ein  fühl- 
barer werdendes  Gehörgebrechen  ihn  nach  fünfzehnjähriger,  dem  Theresianum 
1878 — 1893  gewidmeter  Dienstzeit  zwang,  um  seine  Versetzung  in  den 
bleibenden  Ruhestand  einzuschreiten.  Unmittelbar  vor  seinem  Scheiden  aus 
der  Aktivität  konnte  E.,  mit  sich  bereits  vollständig  einig  abzutreten,  in 
glänzender  Weise  zeigen,  über  welch  organisatorisches  Geschick,  über  welchen 
Reichtum  an  Erfahrung  und  über  welche  Arbeitskraft  er  verfüge.  Denn  als 
zu  Pfingsten  1893  die  42.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schul- 
männer in  Wien  tagte,  war  E.  trotz  seiner  64  Jahre  mit  jugendlicher  Rüstig- 
keit als  zweiter  Präsident  unermüdlich  tätig,  nachdem  er  schon  vorher  für 
das  Gelingen  dieses  Kongresses  sich  an  den  schwierigen  Vorarbeiten  in  Wort 
und  Schrift  erfolgreich  beteiligt  hatte.  Kaum  war  die  Festesfreude  jener 
schönen  Tage  verrauscht,  da  reichte  E.  sein  Pensionsgesuch  ein.  In  einer 
besonderen  Abschiedsfeier  ehrte  die  Theresianische  Akademie  ihren  Gymnasial- 
und  Vizedirektor,  dessen  Bildnis  zu  dauernder  Erinnerung  das  Konferenz- 
zimmer des  Gymnasiums  ziert. 


Egger  von  MöUwald.  I55 

Doch  ganz  zu  feiern,  fühlte  sich  der  zeitlebens  Nimmermüde  nicht  ver- 
anlaßt, vielmehr  trat  er  neuerdings  an  die  Arbeit  als  Obmann  der  öster- 
reichischen Gruppe  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schul- 
geschichte sowie  als  Mitglied  der  Leitung  des  Vereines  Carnuntum,  bis  ihn 
die  Zunahme  körperlicher  Beschwerden  und  Leiden  zu  ernstlichem  Stillstande 
zwang.  Wie  er  auch  dort  der  Schule  nicht  vergaß,  so  vergaßen  seiner  nicht 
seine  ehemaligen  Schüler,  seine  Freunde,  seine  Berufsgenossen.  Denn  als  er 
in  Lovrana  sein  siebzigstes  Geburtsfest  1899  feierte,  da  wollten  im  Kreise 
seiner  Familie  die  nicht  fehlen,  die  ihn  dankbaren  Herzens  als  ihren  unver- 
geßlichen Lehrer  verehrten,  als  treuen  Freund  mit  unverminderter  Herzens- 
wärme liebten,  als  vorbildlichen  Berufsgenossen  hochschätzten.  Dem  Jubilar 
wurde  nebst  einer  von  nahezu  300  Teilnehmern  aus  den  verschiedensten 
Ständen  unterzeichneten  Glückwunschadresse  eine  Denkmünze  verehrt,  die 
auf  der  Vorderseite  das  von  Scharffs  Meisterhand  modellierte  Bildnis  des 
Siebzigjährigen  trug,  während  die  Rückseite  —  um  mit  der  Adresse  zu 
zu  sprechen  —  »in  nüchternen  Namen  und  nüchternen  Zahlen  die  Erinnerung 
an  die  Stätten  seiner  Lebenswirksamkeit«  wecken  sollte.  Wie  diese  Kund- 
gebung vom  Herzen  kam,  so  fand  sie  auch  den  Weg  zum  Herzen;  sie 
durfte  noch  einmal  mit  aller  Lebensfreude  den  Lebensmüden  durchsonnen, 
in  dem  zwar  der  Geist  mit  erstaunlicher  Frische  regsam  blieb,  die  leiblichen 
Kräfte  aber  immer  drohender  den  Dienst  versagten.  Eine  Änderung  in  der 
ärztlichen  Behandlung  und  deren  unerwarteter  Erfolg  vermochte  allerdings 
für  eine  kurze  Spanne  Zeit  die  Hoffnung  neu  zu  beleben,  daß  noch  in  weiter 
Feme  das  Ende  sei.  Doch  sein  75.  Geburtstag,  den  er  1904  von  Leiden 
gequält  erlebte,  war  sein  letzter  —  nach  wenigen  Wochen  stand  sein  edles 
Herz  stille  zu  ewiger  Rast.  Von  Lovrana  wurde  der  Leichnam  nach  Wien 
gebracht  und  unter  ehrender  Teilnahme  auf  dem  Grinzinger  Friedhofe  am 
20.  März  1904  in  die  Erde  gebettet. 

So  einfach  sich  der  äußere  Lebensgang  E.s  darstellt,  so  schwierig  ist 
eine  erschöpfende  Darstellung  des  Lebenswerkes  des  Heimgegangenen,  dessen 
Geiste  ein  merkwürdige,  von  gelehrtenhafter  Einseitigkeit  völlig  abgekehrte 
Empfänglichkeit  eigen  war  für  alles  Schöne  und  Wissenswerte,  für  Ideales 
und  Praktisches. 

Was  ihm  die  österreichische  Mittelschule  verdanken  sollte,  ward  günstig 
vorbereitet  durch  äußere  Umstände.  Aus  bäuerlichen  Verhältnissen  ent- 
sprossen, verbrachte  er  in  Klagenfurt  und  Graz,  in  Olmütz  und  Wien  seine 
Lehrjahre  in  einer  Zeit  gärender  Umformung  der  alten,  abgelebten  Schul- 
einrichtungen. In  der  alten  Schule  unterwiesen,  konnte  er  wie  die  übrigen 
Pioniere  des  neuen  Gymnasiums  nicht  nach  bewährten  Mustern  sich  seine 
Methode  einrichten,  sondern  durch  liebevolles  Vertiefen  in  die  vielfach  neuen, 
von  so  mancher  Seite  als  unausführbar  verworfenen  und  bekämpften  Grund- 
sätze des  Organisationsentwurfes  vom  Jahre  1849  mußte  eine  entsprechende 
neue  Methode  erst  gefunden  und  durch  wachsame  Beobachtung  erprobt 
werden.  Hierin  war  es  für  einzelne  Gegenstände,  z.  B.  die  klassischen 
Sprachen,  gleich  anfangs  nicht  so  schlimm  bestellt;  hingegen  die  Behandlung 
der  deutschen  Sprache  als  Unterrichtssprache,  die  bekanntlich  vor  1849 
keinen  selbständigen  Lehrgegenstand  des  österreichischen  Gymnasiums  bildete, 
war  besonders  in  den  oberen  Klassen  den  bedenklichsten  Mißdeutungen  und 


ic6  Eggcr  von  Möllwald. 

Schwankungen  ausgesetzt,  die  durch  das  Erscheinen  des  dreibändigen  Lese- 
buches für  die  oberen  Klassen  von  dem  Sektionsrate  im  Unterrichtsmini- 
sterium J.  Mozart  (1851 — 53)  zwar  gemildert,  aber  nicht  beseitigt  wurden. 
Über  diese  Verhältnisse  verdanken  wir  ein  maßgebendes  Urteil  E.  selber  in 
dem  Berichte  über  österreichisches  Unterrichtswesen  anläßlich  der  Wiener 
Weltausstellung  1873  (»Mittelschulen  II,  deutsche  Sprache  und  Literatur«). 
Nicht  das  geringste  Verdienst  E.s  war  es,  daß  sein  eigenes  dreiteiliges  Lehr- 
und  Lesebuch  für  Obergymnasien  die  anziehenden  Uhlandschen  Darstellungen 
bezw.  Inhaltsangaben  der  Dichtungen  aus  alter  Zeit  zuerst  für  die  Schule 
und  in  ausgiebiger  Weise  verwertet  hat.  Der  erste  Band  des  E.schen  Lese- 
buches erschien  1868  —  er  sollte  die  für  das  Studium  der  Literaturgeschichte 
notwendigen  Vorbegriffe  erläutern  — ,  ihm  folgte  des  zweiten  Bandes  erste 
Abteilung  1869,  zweite  Abteilung  1870  —  dieser  Band  sollte  die  Literatur- 
geschichte selbst  in  streng  schulgemäßer  Form  bieten  —  und  endlich  der 
dritte  Band  1872,  der  entgegen  dem  Mozartschen  Schlußbande  zu  einer  Vor- 
schule der  allgemeinen  Ästhetik  unter  Ausschluß  des  rein  Abstrakten  erweitert 
wurde.  Wohl  sind  E.s  Lesebücher  heute  außer  Gebrauch,  trotzdem  die  ein- 
zelnen Bände  bis  in  die  achtziger  Jahre  hinein  an  sieben  Auflagen  erlebten. 
Ein  Schulbuch,  das  zwanzig  Jahre  und  darüber  erlebt,  muß  sein  hohes  Alter 
durch  oft  tief  eingreifende  Umarbeitungen  erkaufen;  dazu  war  aber  E.  nicht 
zu  bewegen,  trotzdem  ihm  in  der  Approbationserledigung  der  achten  Auflage 
des  ersten  Bandes  im  trockenen  Amtsstil  angedeutet  wurde,  daß  »für  die 
Zukunft  die  Approbation  neuer  Auflagen  nur  nach  gründlicher  Umarbeitung 
des  Buches,  durch  welche  die  Abweichungen  vom  vorgeschriebenen  Lehrplane 
und  den  bezüglichen  Instruktionen  beseitigt  wurden,  in  Aussicht  genommen 
werde«,  und  wir  bleiben  ihm  auch  dafür  zu  Dank  verpflichtet,  daß  sein  Werk 
ein  unverändertes  Denkmal  der  Bedürfnisse  seiner  Zeit  geblieben  ist. 

1877 — 1880  entstanden  die  vier  Bände  des  E.schen  Lesebuches  für  die 
unteren  Klassen  österreichischer  Mittelschulen,  die,  zwar  allseitig  auf  das 
freudigste  begrüßt,  sich  neben  den  immer  wieder  aufgelegten  Lesebüchern 
von  Mozart  und  von  Neumann-Gehlen  nicht  so  recht  durchzusetzen  ver- 
mochten. 

Um  dieses  Schulbuch,  die  Frucht  zwölfjähriger  Arbeit,  lassen  sich  die  in 
Zeitschriften,  Broschüren  und  in  Buchform  veröffentlichten  literarischen  Ar- 
beiten und  die  zahlreichen  Vorträge  über  mannigfache  Stoffe  zu  einem  Ge- 
samtbilde seines  äußerst  fruchtbaren  Wirkens  vereinen.  Kurz  nach  der 
Gründung  des  Vereines  »Mittelschule«  (1860)  wurde  über  E.s  Antrag  die 
Verfassung  einer  »Denkschrift«  beschlossen,  die  den  neuen  Lehrplan  gegen 
die  unberechtigten  und  unbefugten  Angriffe  der  Gegner  verteidigen,  zugleich 
aber  auch  manchen  fachgemäßen  Wünschen  der  Lehrer  Ausdruck  geben 
sollte.  Mit  der  Ausarbeitung  dieser  dem  Ministerium  vorgelegten  Denkschrift 
wurde  der  Antragsteller  selber  betraut.  Über  die  Land  tags  Verhandlungen 
in  Krain  vom  12.  Februar  1866  betreffs  der  Unterrichtssprache  an  den  Mittel 
schulen  hielt  er  einen  Vortrag  im  Vereine  »Mittelschule«,  dann  1869  »Über 
Reformbestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Rechtschreibung«.  In 
das  Jahr  1872  fällt  sein  Vortrag  in  der  »Mittelschule«:  »Über  die  deutschen 
Schulen  in  Wälschtirol« ,  1875  »Über  die  Industrie  im  Dienste  der  öster- 
reichischen   Schule«,    1876    »Bericht    über    die    orthographische    Ministerial- 


Egger  von  MöUwald.         *  I  c  7 

kommission  in  Berlin«  und  »Über  deutsche  Aufsätze  von  Abiturienten  öster- 
reichischer Mittelschulen«,  1877  »Die  Überbürdungsfrage«  u.  a.  Ihm,  dem 
Mitbegründer  des  Vereines  »Mittelschule«,  an  dessen  Spitze  er  wiederholt, 
zuletzt  1876/77,  gestanden  war,  fiel  verdientermaßen  die  Aufgabe  zu,  1887 
anläßlich  des  fünfundzwanzigjährigen  Bestandes  den  Festvortrag  zu  halten 
und  ein  Jahr  später  1888  zur  Eröffnung  des  I.  deutsch-österreichischen 
Mittelschultages  in  Wien  die  Versammlung  in  einer  Ansprache  zu  begrüßen. 
Im  Vereins  jähre  1895  sprach  er  zum  letzten  Male  in  diesem  Kreise,  als  er 
seinem  Freunde  Schulrat  Dr.  Hermann  Pick  ergreifende  Worte  der  Erinnerung 
widmete  und  endlich  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schul- 
geschichte und  ihre  österreichische  Gruppe  Teilnahme  und  Förderung  zu 
wecken  suchte. 

Einzelne  der  angeführten  Vereinsvorträge  wurden  in  der  Zeitschrift  für 
österreichische  Gymnasien  abgedruckt,  an  der  mitzuarbeiten  ihn  bereits  Bonitz 
aufgefordert  hatte.  Von  selbständigen,  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlichten 
Aufsätzen  möge  erwähnt  sein  »Über  polyglotte  Mittelschulen  vom  didakti- 
schen Standpunkte«,  »Das  Deutsche  bei  der  österreichischen  Maturitäts- 
prüfung«, »Akzent  und  Quantität  in  der  Theorie  der  deutschen  Verskunst«, 
»Zur  Geschichte  der  Romanze  und  Ballade  in  der  deutschen  Literatur«,  »Der 
Nachmittagsunterricht  in  Deutschland«.  Außerdem  lieferte  E.  von  1864  bis 
1896  eine  stattliche  Reihe  Anzeigen  und  Besprechungen  von  Büchern  für 
den  deutschen  Sprachunterricht,  von  Schriften  zur  deutschen  Literatur,  die 
österreichische  Dialektforschung  inbegriffen,  und  von  geographischen  Er- 
scheinungen, insbesondere  über  die  heimatlichen  Berge  und  den  Groß- 
glockner.  E.  war  ein  verläßlicher  Kenner  der  Herrlichkeit  unserer  Alpen- 
welt, die  er  mit  edler  Begeisterung  zu  schildern  verstand.  Das  hat  er 
glänzend  bewiesen  als  Mitarbeiter  des  Kronprinzenwerkes  »Die  österreichisch- 
ungarische Monarchie  in  Wort  und  Bild«,  für  das  er  1890  zum  Bande 
»Kärnten«  die  landschaftliche  Schilderung  des  Tauerngebietes,  des  Moll-, 
Lieser-  und  Maltatales  1888  lieferte.  Schließlich  sei  noch  der  Mitwirkung 
E.s  an  der  Zeitschrift  für  das  Realschulwesen  gedacht,  die  wiederholt  Bei- 
träge aus  seiner  Feder  veröffentlichte. 

Den  Übergang  zu  den  in  Buchform  erschienenen  Schriften  E.s  mögen 
seine  Gymnasialprogramme  bilden  und  zwar:  »Zur  Geschichte  des  Vertrages 
von  Verdun«  (Olmütz  1855),  »Abraham  a  Sancta  Claras  Redliche  Red  für  die 
krainerische  Nation«  (Laibach  1857),  »Geschichte  der  Glocknerfahrten«  (Wien, 
akademisches  Gymnasium  1861)  und  ebenda  1868  »Schiller  in  Marbach«,  eine 
Arbeit,  die  er  zum  besten  der  Schillerdenkmale  in  Wien  und  in  Marbach  in 
demselben  Jahre  auch  in  Broschürenform  erscheinen  ließ.  1872  erschien  seine 
»Vorschule  der  Ästhetik«,  1874  begründete  E.  unter  dem  Titel  »Volksbildung 
und  Schulwesen«  eine  Sammlung  von  Schriften,  die  gründlich  und  fach- 
männisch Angelegenheiten  der  Bildung  und  der  Schule  behandeln  sollten  in 
einer  auch  für  das  gebildete  Publikum  berechneten  Weise.  E.  eröffnete  diese 
bei  Holder  in  Wien  erschienene  Sammlung  mit  der  kulturpolitischen  Studie 
»Industrie  und  Schule  in  Österreich«,  der  er  als  drittes  Heft  in  demselben 
Jahre  seinen  weitausblickenden  Aufsatz  »Ein  österreichisches  Schulmuseum« 
folgen  ließ.  Im  Jahre  1875  erschien  »Zur  Geschichte  der  österreichischen 
Schulreform«,  1876  gab  er  Stelzhamers  Liebesgürtel  heraus,  1877  begründete 


jc8  Kgg^cr  von  Möllwald.     Fellner. 

er  Hölders  historische  Bibliothek  für  die  Jugend,  1878  folgte  die  anläßlich 
der  Pariser  Weltausstellung  im  Auftrage  des  österreichischen  Unterrichtsmini- 
steriums verfaßte  »Übersichtliche  Darstellung  des  österreichischen  Volks-  und 
Mittelschulwescns  1867  — 1877«,  1893  bot  er  eine  orientierende  Übersicht  über 
die  »Wanderversammlungen  deutscher  Philologen  und  Schulmänner«  und 
1894  eine  Übersicht  über  »die  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und 
Schulgeschichte«. 

Seine  Kenntnisse  der  alpinen  Gebirgswelt  machten  ihn  zu  einem 
geschätzten  Beiträger  usw.  der  Jahrbücher  bezw.  der  Mitteilungen  des  öster- 
reichischen Alpenvereines.  Erwähnt  werde  sein  Aufsatz  »Goethe  in  den 
Alpen«  (Jahrbuch  des  österreichischen  Alpenvereines  1866),  dem  ein  Jahr 
später  die  Studie  »Schiller  in  den  Alpen«  folgte.  Ein  bleibendes  Verdienst 
E.s  ist  die  fruchtbare  Anregung  zur  Herausgabe  einer  Chronik  durch  den 
Wiener  Goethe-Verein,  in  deren  Spalten  er  zur  Förderung  der  Bestrebungen 
dieses  Vereines  wiederholt  sein  maßgebendes  Wort  vernehmen  ließ. 

E.  wirkte  rege  mit  zur  Errichtung  des  Schillcrdenkmals  in  Wien  und 
im  Wiener  Goethe-Verein,  zu  dessen  Gründern  er  sich  mit  Stolz  zählte  und 
dessen  Schriftführer  er  viele  Jahre  war. 

Auszug  aus  Karl  Ziwsa:  Alois  Egger  von  Möllwald.  Ein  Lebensbild.  Sonderabdruck 
aus  dem  Jahresbericht  des  Gymnasiums  der  k.  k.  Theresianischen  Akademie  1905.  —  Vgl. 
Wilhelm  Scherer,  Kleine  Schriften.  1.  748—758. 

Fellner,  Thomas,  Dr.  phil.^  k.  k.  Regierungsrat  und  Archivdirektor  im 
Ministerium  des  Innern,  Privatdozent  an  der  Universität  Wien,  ♦17.  April 
1852  zu  Schwancnstadt  in  Oberösterreich,  f  22.  April  1904  zu  Wien.  —  Nach 
Beendigung  seiner  akademischen  Studien  in  Wien,  Berlin  und  Bonn  widmete 
F.  sich  vorübergehend  der  Mittelschullauf  bahn  (1877 — 1879),  ^^^^  hernach  in 
den  staatlichen  Archivdienst  über  (24.  P'ebruar  1878)  und  wurde  am  20.  Juni 
1886  zum  Direktor  des  Archivs  des  k.  k.  Ministeriums  des  Innern  ernannt, 
in  welcher  Stellung  er,  am  8.  Februar  1901  mit  Titel  und  Charakter  eines 
Regierungsrates  ausgestattet,  bis  zu  seinem  Tode  verblieb.  Nebenher  hat  er 
durch  einige  Jahre  die  Bibliothek  des  k.  k.  Unterrichtsministeriums  verwaltet 
und  sich  im  Jahre  1880  als  Privatdozent  für  alte  Geschichte  an  der  Wiener 
Universität  habilitiert.  Themen  der  alten  Geschichte,  vornehmlich  der  Ge- 
schichte des  perikleischen  Zeitalters,  galten  auch  seine  früheren  Arbeiten: 
»Zur  Chronologie  und  Pragmatik  des  Hermokopidenprozesses.«  (Wiener  Studien 
1879.)  »Zur  Geschichte  der  attischen  Finanzverwaltung  im  fünften  und  vierten 
Jahrhundert.«  (Sitz.-Ber.  der  phil.-hist.  Kl.  der  Ak.  d.  Wiss.  95,  1879.)  »For- 
schung und  Darstellungsweise  des  Thukydides,  gezeigt  an  einer  Kritik  des 
achten  Buches«  (Wien  1880).  »Zu  Xenophons  Hellenika.«  (Histor.  Unter- 
suchungen, Arnold  Schäfer  gewidmet.  Bonn  1882.)  Dann  brachte  ihn  seine 
archivalische  Tätigkeit  dem  Studium  der  österreichischen  Verwaltungsgeschichte, 
des  österreichischen  und  ungarischen  Staatsrechts  näher  und  er  vertiefte  sich 
darin  so  sehr,  daß  er  wohl  als  der  gründlichste  Kenner  dieser  Materien 
gelten  konnte.  Einige  kleine,  aber  belangvolle  Arbeiten  sind  im  Zusammen- 
hange mit  diesen  Studien  erwachsen:  »Zur  Geschichte  der  österreichischen 
Zenträlverwaltung«  I.  (1493 — 1848).  (Mitteilungen  d.  Instit.  f.  österr.  Geschichts- 
forschung. VIII.  1887).  Eine  Rezension  des  Buches  von  Bidermann,  Geschichte 


Fellner.     von  der  Embde. 


159 


der  österreichischen  Gesamtstaatsidee,  (ebenda  XV.  1894),  die  den  Wert  einer 
selbständigen  Abhandlung  besitzt.  »Über  einen  Widerspruch  zwischen  dem 
^Pactum  mutuae  5uccessionis<t^  von  1703  und  der  pragmatischen  Sanktion  von 
17 13«.  (Festgaben  für  Büdingen  Innsbruck  1898.)  Seine  Haupttätigkeit  ver- 
einigte F.  aber  Jahre  hindurch  auf  Sammlung  von  Material  und  vorbereitende 
Studien  zu  einer  zusammenfassenden,  eingehenden  Geschichte  der  Zentral- 
verwaltung von  Österreich,  deren  erster  Teil  die  Zeit  bis  zur  Vereinigung 
der  böhmischen  und  österreichischen  Hofkanzlei  unter  Maria  Theresia  1749, 
der  zweite  Teil  die  Zeit  von  1749 — 1848  hätte  umfassen  sollen.  Schon  hatte 
er  das  Material  zu  jenem  ersten  Teile  fast  vollständig  gesammelt  oder 
sammeln  lassen  und  auch  den  größeren  Teil  der  Darstellung  vollendet,  da 
fällte  den  bis  dahin  kerngesunden  Mann  ein  mit  schrecklicher  Plötzlichkeit 
hereinbrechendes  Nervenleiden. 

F.  war  eine  selten  liebenswürdige  Natur  voll  herzlicher  Natürlichkeit 
und  allem  gemachtem  Wesen  durchaus  abhold;  frisch  und  lebhaft  in  Auf- 
fassung und  Rede;  dabei  voll  bescheidenen  Lerneifers  bis  in  die  letzten  Tage. 
Seiner  Eigenart  entsprach  es  mehr,  sich  rezeptiv  als  produktiv  zu  betätigen;  seine 
Belesenheit  auf  allen  Gebieten  der  Geschichte  und  der  damit  verwandten, 
namentlich  juristischen  und  nationalökonomischen  Disziplinen  war  erstaun- 
lich. Seine  an  Pedanterie  grenzenden  Anforderungen  an  Verläßlichkeit  und 
Genauigkeit  schriftlicher  Darstellung  ließen  es  ihn  namentlich  in  zunehmenden 
Lebensjahren  schwer  über  sich  bringen,  selbst  nur  einen  Aufsatz,  geschweige 
denn  ein  Buch  aus  der  Hand  zu  geben.  So  hat  er  sich  zum  Schaden  der 
Wissenschaft  nur  wenig  literarisch  betätigt.  Erst  nach  der  Vollendung  und 
Veröffentlichung  seines  großangelegten  Werkes  von  befreundeter  Seite,  die 
für  das  Folgejahr  zu  erwarten  steht,  wird  Thomas  Fellners  wissenschaftliche 
Bedeutung  recht  gewürdigt  werden  können. 

Dr.  Heinrich  Kretschmayr. 

Embde,  Ernestine  EmiHe  Marie  von  der,  Malerin,  *  10.  Dezember  18 16 
zu  Kassel,  t  '4*  Mai  1904  daselbst.  —  Sie  war  die  Tochter  des  Kasseler 
Malers  August  v.  d.  E.,  der  ursprünglich  nur  Emden  hieß,  seit  1830  aber 
seine  Bilder  mit  dem  volleren  Namen  v.  d.  E.  bezeichnete.  Ihre  Mutter  war 
Charlotte  Henschel,  eine  Schwester  des  Bildhauers  Werner  Henschel,  der 
besonders  durch  sein  Fuldaer  Bonifaciusdenkmal  sich  einen  Namen  gemacht 
hat.  Wie  ihre  ältere  Schwester  Karoline,  die  später  den  Juristen  Klauhold 
heiratete  und  auch  als  Malerin  hervorgetreten  ist,  wurde  sie  schon  früh  die 
Schülerin  ihres  Vaters  und  später  seine  Gehülfin  im  Atelier.  In  ihrer  Jugend 
machte  sie  verschiedene  Kunstreisen  nach  Dresden  und  München,  kehrte  dann 
aber  dauernd  zu  ihrem  Vater  zurück,  dem  sie  bei  seinen  Arbeiten  zuletzt 
unentbehrlich  war.  So  folgte  sie  als  seine  treue  Mitarbeiterin,  die  dem  älter 
werdenden  Maler  die  mechanischen  Arbeiten  mehr  und  mehr  abnahm,  auch 
ganz  seinen  künstlerischen  Spuren.  August  v.  d.  E.  war  anfangs  Porträtmaler 
gewesen  (die  Bilder  mehrerer  hessischer  Landgrafen  in  der  Schloßkuppel  zu 
Wilhelmshöhe  sind  z.  B.  von  ihm  gemalt),  warf  sich  dann  aber  auf  das  Fach 
des  Genrebildes,  in  dem  er  Vortreffliches,  besonders  in  seinen  Szenen  aus 
dem  oberhessischen  Volksleben,  geleistet  hat.  Auch  seine  Tochter  Emilie 
widmete    sich  der  Bildnismalerei,  wobei    ihr  namentlich  zahlreiche  Kinder- 


1 6o  ^'O"  ^^^  Embdc.     Schell.  •  Sallmann. 

porträts  wohl  gelangen.  In  ihren  Genrebildern  bevorzugte  sie  gleichfalls 
Kinderszenen  und  ländliche  Charakterstudien  aus  der  Umgegend  von  Kassel. 
Mit  besonderer  Vorliebe  und  gewissenhaftem  Fleiße  wandte  sie  sich  später 
der  Blumenmalerei  zu  und  hinterließ  als  hauptsächliche  Frucht  dieser  Tätig- 
keit ein  ungemein  gewissenhaft  ausgearbeitetes  umfangreiches  Album  der 
hessischen  Flora  in  Wasserfarben.  Nach  dem  Tode  ihres  Vaters  (1862)  lebte 
sie  mit  zwei  jüngeren,  gleichfalls  unverheirateten  Schwestern  zusammen,  die 
sie  beide  überlebte.  In  ihrem  Heim  sammelte  sie  die  Gipsabgüsse  der 
Werke  ihres  Oheims  Henschel,  der  schon  1850  in  Rom  verstorben  war,  neben 
sonstigen  Kunstschätzen,  die  zum  Teil  nach  ihrem  Tode  in  den  Besitz  der 
Murhardbibliothek  der  Stadt  Kassel  übergingen. 

Strieder,  Hess.  Gelehrtengeschichte  20,  94.  —  Casseler  Tageblatt  vom  19.  Mai  1904. 
—  Hessenland  18,  174.  Ph.  Losch. 

Schell,  Wilhelm  Joseph  Friedrich  Nikolaus,  Mathematiker,  ♦31.  Oktober 
1826  zu  Fulda,  t  13-  Februar  1904  zu  Karlsruhe.  —  S.  war  der  Sohn  des 
Domkapitularsyndikus  Jakob  S.  in  Fulda.  Er  besuchte  das  Gymnasium  seiner 
Vaterstadt  bis  Ostern  1846  und  studierte  darauf  in  Marburg  und  Berlin  Natur- 
wissenschaften und  Mathematik.  1851  erwarb  er  sich  zu  Marburg  die  philo- 
sophische Doktorwürde  und  habilitierte  sich  noch  im  selben  Jahre  in  der 
philosophischen  Fakultät  dieser  Universität  für  Mathematik.  1856  zum  außer- 
ordentlichen Professor  ernannt,  nahm  er  1861  einen  Ruf  an  das  Polytechnikum 
zu  Karlsruhe  an,  wo  er  als  Prof.  ord,  theoretische  Mechanik  und  synthetische 
Geometrie  zu  lehren  hatte.  Dieser  Anstalt,  die  1865  den  Charakter  und  1885 
auch  den  Namen  einer  technischen  Hochschule  erhielt,  ist  er  bis  an  sein 
Lebensende  treu  geblieben.  Für  das  Studienjahr  1871/72  wurde  er  zu  ihrem 
Direktor  gewählt.  Daneben  war  er  seit  1868  außerordentliches  Mitglied  des 
Großherzogl.  Oberschulrats  und  zugleich  seit  dieser  Zeit  Bibliothekar  der 
Hochschule.  1872  erfolgte  seine  Ernennung  zum  Hof  rat,  1880  zum  Geheimen 
Hof  rat.  Im  August  1901  wurde  er  auf  sein  Ansuchen  unter  Anerkennung 
seiner  vierzigjährigen  ausgezeichneten  Dienste  in  den  Ruhestand  versetzt, 
blieb  aber  Mitglied  der  Abteilung  für  Mathematik  und  allgem.  bildenden 
Fächer  der  Techn.  Hochschule.  S.s  Hauptschriften  sind:  »Allgemeine  Theorie 
der  Kurven  doppelter  Krümmung  in  rein  geometrischer  Darstellung.«  Leipzig 
1859.  2.  Auflage  1898,  und  »Theorie  der  Bewegung  und  der  Kräfte.  Ein 
Lehrbuch  der  theoretischen  Mechanik.«  Leipzig  1870.  2.  Auflage  in  2  Bdn. 
1879.  Daneben  gab  er  eine  Bearbeitung  der  Reichsgewerbeordnung  (Düssel- 
dorf 1883)  heraus  und  veröffentlichte  in  Fachzeitschriften  eine  Reihe  von 
Aufsätzen  aus  dem  Gebiete  der  Mathematik  und  musikalischen  Akustik. 

Progr.  d,  Techn.  Hochschule  zu  Karisnihc  1904/05  S.  83.  —  PoggcndorfF,  Biogr.- 
lit.  Handwörterb.  2,  785.     3,   1181.     4,   1319.  Ph.   Losch. 

Sallmann,  Carl  Johann  Ernst  Bernhard,  Pfarrer,  *  20.  Januar  1837  zu 
Kassel,  f  25.  Juni  1904  zu  Kirchhain  in  Oberhessen.  —  S.,  dessen  Vater 
Pfarrer  Ernst  S.  eine  angesehene  Privatschule  in  Kassel  leitete,  studierte  in 
Marburg  und  Göttingen  Theologie  und  Philologie  und  erhielt  nach  Bestehen 
des  theologischen  Examens  1859  eine  Stelle  als  Hilfspfarrer  an  der  lutherischen 
Kirche  zu  Kassel.     Zu  gleicher  Zeit  fragte  das  Kuratorium  der  Esthländischen 


Sallmann.    Schneider.  igl 

Ritter-  und  Domschule  zu  Reval  bei  den  theologischen  Fakultäten  zu  Mar- 
burg und  Göttingen  an,  ob  sie  aus  den  letzten  Jahrgängen  der  theologischen 
Kandidaten  einen  geeigneten  Religionslehrer  namhaft  machen  könnten.  Von 
beiden  Seiten  wurde  S.  empfohlen  und  erhielt  darauf  unter  günstigen  Bedin- 
gungen die  Stelle  eines  Oberlehrers  an  dem  genannten  Institute,  die  er  im 
folgenden  Jahre  antrat.  Mehr  als  25  Jahre  war  er  in  dieser  Stellung  in  der 
Hauptstadt  Esthlands  tätig,  indem  er  zugleich  eifrig  für  das  schon  damals 
hart  bedrohte  Deutschtum  der  Ostseeprovinzen  wirkte.  Mit  besonderer  Liebe 
warf  er  sich  auf  das  Studium  der  deutschen  Sprache  in  diesen  Landen  und 
hat  die  Resultate  seines  Forschens  in  mehreren  fleißigen  Arbeiten  über  die 
deutsch -esthnische  Mundart  niedergelegt.  Seine  »Lexikalischen  Beiträge 
zur  deutschen  Mundart  in  Esthland«,  die  er  1877  veröffentlichte,  trugen  ihm 
die  philosophische  Doktorwürde  der  Universität  Jena  ein.  Schon  vorher  hatte 
er  sich  mit  der  Persönlichkeit  seines  hessischen  Landsmannes  Burkard  Waldis 
beschäftigt,  der  zu  den  Zeiten  der  Revolution  nach  den  Ostseeprovinzen  aus- 
gewandert war  und  nach  mancherlei  Schicksalen  zu  Riga  später  wieder  nach 
Hessen  zurückkehrte  und  dort  evangelischer  Pfarrer  wurde.  S.  folgte  den 
Bahnen  seines  Landsmannes  und  Kollegen,  über  den  er  1874  ein  kleines 
Schriftchen  veröffentlichte,  insofern,  als  auch  er  im  Jahre  1886  seine  Stellung 
an  der  Revaler  Ritterschule  aufgab  und  in  die  Heimat  zurückkehrte.  Fünf 
Jahre  lebte  er  dann  als  Privatmann  in  seiner  Heimatsstadt  Kassel,  bis  er 
im  Jahre  1891  die  lutherische  Pfarrstelle  zu  Kirchhain  bei  Marburg  übernahm, 
die  er  noch  13  Jahre  bis  zu  seinem  Tode  verwaltete.  S.  war  ein  fleißiger 
Schriftsteller  auf  verschiedenen  Gebieten.  Er  gab  u.  a.  ein  mehrfach  aufgelegtes 
»Deutsches  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten«  heraus,  veröffentlichte  volks- 
kundliche und  literar-historische  Arbeiten  und  mehrere  theologische  Schriften, 
in  denen  er  u.  a.  gegen  Majunkes  fragwürdige  Entdeckung  von  »Luthers 
angeblichem  Selbstmord«  und  gegen  die  Jesuiten  polemisierte. 

Familiennachrichten.  —  Hessenland  18,  183.  —  Kasseler  Tageblatt  vom  29.  Juni  1904. 
—  Kürschners  Literatur-Kalender.  Ph.   Losch. 

Schneider,  Heinrich  Justus  Joseph,  Geheimer  Sanitätsrat,  *  15.  Februar 
1842  zu  Fulda,  f  8.  April  1904  daselbst.  —  S.  entstammte  einer  alten  ful- 
dischen  Ärztefamilie.  Sein  Großvater  war  der  Hofchirurg  Johann  Matthias  S., 
sein  Vater  der  Geheime  Medizinalrat  Joseph  S.,  -  der  sich  als  Landphysikus 
durch  die  Einführung  der  Blatternimpfung  im  Bistum  Fulda  verdient  gemacht 
hat.  Auch  Justus  S.  widmete  sich  dem  ärztlichen  Berufe.  Er  studierte  in 
Würzburg,  München,  Wien  und  Marburg  und  ließ  sich  dann  in  seiner  Vater- 
stadt Fulda  als  Arzt  nieder.  Später  wurde  er  zum  Kreisphysikus,  dann  1886 
zum  Direktor  des  Landkrankenhauses  zu  Fulda  ernannt,  das  unter  seiner 
Leitung  bedeutend  erweitert  und  in  seinen  Einrichtungen  vervollkommnet 
wurde.  S.  war  ein  sehr  gesuchter  Arzt  und  trotz  seiner  derben,  manchmal 
sogar  schroffen  Art  den  Patienten  gegenüber  eine  sehr  beliebte  und  populäre 
Persönlichkeit.  Eines  besonderen  Rufes  erfreute  er  sich  als  tüchtiger  Chirurg, 
dessen  Operationen  fast  immer  gelangen.  Neben  seiner  ärztlichen  Berufs- 
tätigkeit, in  der  er  1894  den  Titel  Sanitätsrat  und  später  den  Geheimratstitel 
erhielt,  wirkte  der  vielseitige  Mann  auch  noch  auf  verschiedenen  anderen 
Gebieten.     Wie  sein  Vater,  der  als  Herausgeber  der  Buchonia  zu  den  besten 

Bio^.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog-,    9.  Bd.  1 1 


j  52  Schneider.     Vogt 

Kennern  der  Fulder  Geschichte  gehört  hatte,  trieb  er  eifrig  historische 
Studien  mit  besonderer  Berücksichtigung  seines  buchonischen  Heimatlandes. 
Von  seinen  geschichtlichen  Arbeiten  sei  der  Aufsatz  über  »Die  Ritterburgen 
der  Abtei  Fulda«  in  der  Zeitschrift  des  hessischen  Geschichtsvereins  Bd.  27 
(1892)  erwähnt,  der  Landaus  Werk  über  die  hessischen  Ritterburgen  ergänzt. 
Noch  in  anderer  Beziehung  trat  S.  in  die  Fußstapfen  seines  Vaters,  den  man 
den  »Rhönvater«  genannt  hatte,  ein  Ehrenname,  der  mit  wohlverdientem  Recht 
auf  den  Sohn  überging.  Wie  kein  anderer  sorgte  und  wirkte  er  für  die 
Durchforschung  und  Erschließung  des  einst  so  verschrieenen  Rhöngebirges. 
Wenn  jetzt  die  wirtschaftliche  Lage  des  dortigen  armen  Gebirgsvolkes  beson- 
ders durch  den  alljährlich  sich  steigernden  Fremdenverkehr  sich  erheblich 
gebessert  hat,  so  darf  man  S.  getrost  das  Hauptverdienst  an  dieser  Bewegung 
zuschreiben.  Im  Jahre  1876  begründete  er  zu  Gersfeld  den  Rhönklub,  der 
aus  kleinen  Anfängen  zu  einem  großen  Verein  erwuchs  und  dafür  gesorgt 
hat,  daß  die  früher  vom  Verkehr  ganz  abgeschlossene  Rhön  jetzt  alljährlich 
das  Ziel  vieler  Tausende  von  Reisenden  und  Touristen  geworden  ist.  Manche 
Ursprünglichkeit  und  Einfachheit  der  Sitte  und  des  Volkslebens,  wie  sie 
W.  H.  Riehl  einst  aus  diesem  Land  der  armen  Leute  so  schön  geschildert  hat, 
ist  freilich  dabei  verloren  gegangen,  aber  es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  sich 
die  soziale  Lage  der  Bevölkerung  durch  die  neuere  Entwicklung  entschieden 
gebessert  hat.  S.  war  28  Jahre  lang  Präsident  des  Rhönklubs  und  arbeitete 
dabei  noch  mit  der  Feder  fleißig  für  die  Erschließung  des  Gebirges.  Sein 
trefflicher  Rhönführer  erschien  zuerst  1877  und  erlebte  mehrere  Auflagen. 
Daneben  beschrieb  er  einzelne  Punkte  genauer  wie  die  Kurorte  Kissingen, 
Gersfeld  und  Salzschlirf.  Auch  von  seiner  Vaterstadt  Fulda  gab  er  1881 
einen  Führer  heraus  und  widmete  seiner  geliebten  Milseburg,  »der  Perle  der 
Rhön«,  eine  besondere  kleine  Schrift  (1892).  An  ihrem  Fuße  gedenkt  der 
Rhönklub  ein  Denkmal  zu  Ehren  seines  Begründers  und  langjährigen  Vor- 
sitzenden zu  errichten.  Die  Persönlichkeit  S.s  wird  aber  auch  ohne  Denkmal 
im  Buchenlande  so  bald  nicht  vergessen  werden. 

Üngednickte  Autobiographie.  —  Nekrol.  von  H.  Schoen  in  Hessenland  18,   115. 

Ph.  Losch. 

Vogt,  Karl  Johann  Wilhelm  Philipp  Gideon,  Gymnasialdirektor  a.  D., 
♦31.  Dezember  1830  zu  Kassel,  f  30.  April  1904  daselbst.  —  V.  war  ein  Sohn 
des  aus  Eisenach  stammenden  kurhessischen  Seminarinspektors  August  Wil- 
helm Jakob  V.,  der  sich  als  Schulreferent  im  Ministerium  des  Innern  große 
Verdienste  um  das  hessische  Volksschulwesen  erworben  hat  und  1863  als 
Archivrat  in  Kassel  gestorben  ist.  Gideon  V.  besuchte  von  1840 — 1849  ^^ 
Kasseler  Gymnasium  und  studierte  sodann  in  Marburg  Philologie.  Nach 
Bestehen  seines  Staatsexamens  war  er  ein  Jahr  lang,  von  1853 — 1854,  als 
Praktikant  am  Kasseler  Gymnasium  beschäftigt  und  nahm  dann  eine  Stelle 
an  der  Institution  Dor  zu  Vevey  in  der  Schweiz  an.  Nach  zwei  Jahren  kehrte 
er  in  seine  Vaterstadt  zurück  und  wirkte  an  dem  Kasseler  Gymnasium  als 
beauftragter  Lehrer  bis  zum  Jahre  1858,  wo  er  an  das  Gymnasium  zu  Elber- 
feld  berufen  wurde.  Inzwischen  hatte  er  im  Jahre  1857  durch  die  Dissertation 
^De  rebus  Megarensibus  mque  ad  bella  Pers,«^  sich  die  philosophische  Doktor- 
würde errungen.     Seine   hervorragende   pädagogische  Befähigung  veranlaßte 


Vogt.  163 

schon  1862  die  Berufung  des  kaum  31jährigen  zum  Direktor  des  fürstlichen 
Gymnasiums  in  Korbach,  eine  Stellung,  die  er  1867  mit  der  gleichen  am 
Gymnasium  zu  Wetzlar  vertauschte.  Drei  Jahre  später  wurde  er  als  Nach- 
folger von  Georg  Matthias  zum  Gymnasialdirektor  in  Kassel  ernannt  und 
kehrte  somit  an  dieselbe  Anstalt  zurück,  der  er  seine  Ausbildung  verdankte 
und  an  der  er  seine  Laufbahn  als  Schulmann  begonnen  hatte.  V.  besaß  in 
hohem  Grade  alle  die  Eigenschaften,  die  für  seine  Stellung  als  Leiter  einer 
altrenommierten  Gelehrtenschule  wie  auch  speziell  für  ihn  als  selbstunter- 
richtenden Lehrer  erforderlich  waren.  Das  von  Landgraf  Friedrich  IL  von 
Hessen  1779 'als  ^y^^um  Fridericianum  begründete  Kasseler  Gymnasium  hatte 
von  jeher  einen  guten  Ruf  genossen  namentlich  seit  seiner  Reorganisation 
im  Jahre  1835.  V.  machte  es  sich  zur  Aufgabe,  diesen  Ruf  aufs  neue  zu 
gründen  und  zu  befestigen,  und  das  ist  ihm  in  seiner  fast  23  jährigen  Tätig- 
keit als  Leiter  der  Anstalt  auch  wohl  gelungen.  Er  hatte  eine  besondere 
Gabe,  sich  Autorität  zu  verschaffen,  ohne  daß  etwa  seine  Schüler  vor  über- 
triebener Strenge  sich  zu  fürchten  brauchten,  und  da  er  das  Glück  hatte, 
ein  mit  wenigen  Ausnahmen  vortreffliches  Lehrerkollegium  zur  Seite  zu  haben, 
das  ihn  willig  und  gerne  in  seinem  Streben  unterstützte,  so  konnte  er  mit 
der  größten  Befriedigung  auf  die  Resultate  seiner  segensreichen  Amtstätig- 
keit blicken.  Welch  hohes  Vertrauen  in  seine  pädagogischen  Fähigkeiten 
und  die  Arbeit  der  von  ihm  geleiteten  Schule  gesetzt  wurde,  zeigt  am  deut- 
lichsten der  Umstand,  daß  im  Jahre  1874  der  damalige  Kronprinz  von 
Preußen  seinen  ältesten  Sohn  Wilhelm,  den  jetzt  regierenden  deutschen 
Kaiser,  dem  Lyceum  Fridericianum  in  Kassel  anvertraute.  Vielleicht  mag  bei 
dieser  Wahl  etwas  die  Absicht  mitgesprochen  haben,  der  annektierten  Stadt 
Kassel  einen  Ersatz  für  den  verbannten  kurfürstlichen  Hof  durch  die  prinz- 
liche Hofhaltung  zu  gewähren  —  auch  Prinz  Heinrich  von  Preußen  besuchte 
damals  eine  Kasseler  Schule  — ,  ausschlaggebend  war  aber  gewiß  die  Über- 
zeugung, daß  der  künftige  Erbe  der  preußischen  Krone  in  der  von  V.  gelei- 
teten Anstalt  in  besonders  guten  Händen  und  sein  Bildungsgang  Fachleuten 
ersten  Ranges  anvertraut  war.  Vom  Herbst  1874  bis  zum  Januar  1877  besuchte 
der  Prinz  die  Klassen  Obersekunda  bis  Oberprima  des  Gymnasiums,  und  V. 
hielt  streng  darauf,  daß  er  ebenso  wie  die  anderen  Schüler  behandelt  wurde 
und  in  der  Schule  nicht  etwa  um  seines  Standes  willen  außerordentliche 
Vergünstigungen  genoß.  V.  selbst  unterrichtete  in  den  von  dem  Prinzen 
besuchten  Klassen  im  Lateinischen  und  Griechischen  und  las  mit  seinen 
Schülern  den  Horaz,  Sophokles  und  griechische  Lyriker.  Als  Prinz  Wilhelm 
im  Januar  1877  das  Abiturientenexamen  bestanden  und  am  23.  Januar  aus 
der  Schule  entlassen  wurde,  der  er  2 '/»Jahre  angehört  hatte,  da  fehlte  es 
nicht  an  Auszeichnungen  für  V.  und  das  Lehrerkollegium,  und  die  hohen 
Eltern  des  Prinzen  sprachen  insbesondere  dem  Direktor  ihre  »dankbare  An- 
erkennung« aus  für  die  »günstigen  Ergebnisse,  welche  der  Besuch  des  Kasseler 
Gymnasiums  für  die  geistige  Entwicklung  und  Bildung  ihres  ältesten  Sohnes 
gehabt«.  Es  läßt  sich  denken,  daß  dieses  Zeugnis  wie  überhaupt  der  Besuch 
dieses  hohen  Schülers  den  Ruf  des  Kasseler  Gymnasiums  für  die  Folgezeit 
nicht  wenig  steigerten.  Eine  ganze  Reihe  von  Familien  aus  den  fürstlichen 
und  hochadeligen  Häusern  Deutschlands  folgten  dem  Beispiel  des  preußischen 
Kronprinzenpaares  und  vertrauten  ihre  Söhne  dem  Lyceum  Fridericianum  an. 

II* 


1 64  ^'og*- 

Abgesehen  von  dem  Zuzug  dieser  fürstlichen  Schüler  (es  seien  u.  a.  nur  die 
Prinzen  von  Waldeck,  Sachsen-Weimar,  Soims,  Hessen-Philippsthal-Barchfeld, 
Stolberg,   Wied,    Schönburg  genannt),   steigerte    sich    der  Besuch    des   Gym- 
nasiums derartig,  daß  im  Jahre  1886  ein  Teil  der  Anstalt  von  ihr  getrennt 
und  als  ein  neues  »Wilhelmsgymnasium«  begründet  werden  mußte.    V.  behielt 
die    Leitung    der   alten    Stammschule,    die    seit    der   Spaltung    den    Namen 
»Friedrichsgymnasium«  führte    und   von  ihm  in  der  alten   bewährten  Weise 
weiter  geleitet  wurde.     So   ehrenvoll   das  Vertrauen   so  vieler  hohen  Eltern 
auch   für   den  Direktor   und    seine  Anstalt  sein  mußte,  so  sollte  doch  eine 
Zeit  kommen,  in  der  gerade  die  Erinnerung  an  den  Schulbesuoh  seines  vor- 
nehmsten   Schülers    zu    einem    kritischen    Umschwung    in    der    öffentlichen 
Meinung  weiter  Kreise  über  das  Kasseler  Gymnasium  führte.     Im  Dezember 
1890  fand  in  Berlin  die  Konferenz  zur  Beratung  einer  Reform  des  höheren 
Schulwesens  statt.     Kaiser  Wilhelm  II.  eröffnete  die  Verhandlungen  in  eigner 
Person  mit  einer  Rede,  in  der  er  dem  humanistischen  Gymnasium  in  seiner 
jetzigen  Form  gewissermaßen  den  Krieg  erklärte  und  zwar  unter  Berufung  auf 
seine  eigenen,  auf  dem  Gymnasium  gemachten  Erfahrungen.    Die  Einzelheiten 
dieser  Rede,   verbunden   mit  anderen,   damals   bekannt  werdenden   scharfen 
Äußerungen  des  Kaisers  über  seine  Gymnasialzeit,  erregten  großes  Aufeehen 
und  führten  zu  einer  wahren  Hetze  in  der  Presse  gegen  das  Kasseler  G)rm- 
nasium   und  seinen  hochverdienten  Leiter.     Ohne  jegliche  Kritik  nahm  man 
nun    in    weiten    Kreisen    an,    daß    an    dem    Kasseler    Gymnasium    wahrhaft 
ungeheuerliche  Zustände  herrschten  oder  wenigstens  geherrscht  haben  mußten, 
und  selbst  die  Kreise,  die  den  kaiserlichen  Reformideen  gegenüber  das  alte 
humanistische  Gymnasium  im  allgemeinen  verteidigten,  benutzten  dabei  das 
Kasseler   Gymnasium   als   willkommenen   Sündenbock,   der  zur  Rettung  der 
anderen  geopfert  werden  sollte.    Man  bedauerte  schmerzlich,  daß  Se.  Majestät 
als  Prinz  Wilhelm  das  Gymnasium  in  einem  besonders  schlechten  Exemplar 
kennen  gelernt  habe,  das  sich  von  den  altpreußischen  Schulen  auf  das  auf- 
fallendste unterschieden   haben  müsse.     Ja  man  ging  so  weit,   dem  Direktor 
Taktlosigkeit  und  pädagogische  Pedanterie  vorzuwerfen,  weil  er  beim  Eintritt 
des    preußischen  Prinzen  die  Forderung  der   »unbedingt  gleichmäßigen  Be- 
handlung«  gestellt  und  nachher  dies  Prinzip  dem  hohen  Schüler  gegenüber 
bis  zum   Extrem   durchgeführt  habe.     Diese  gewiß   unbeabsichtigte  Wirkung 
der  kaiserlichen   Rede  hatte  zur  Folge,   daß  im  weiteren  Verlauf  der  Schul- 
konferenz Geh.  Rat  Hinzpeter,  der  ehemalige  Erzieher  des  Kaisers,  ein  amt- 
liches Telegramm  an  den  Direktor  V.  veranlaßte  mit  der  feierlichen  Erklärung, 
»daß  das  Kasseler  Gymnasium  an  seinem  kaiserlichen  Zögling  seine  Schuldig- 
keit voll  getan  und  die  in  dasselbe  gesetzten  Erwartungen  in  hohem  Maße 
erfüllt  habe«.     Damit  war  aber  die  Tatsache  nicht  aus  der  Welt   geschafft, 
daß    die  von    der  Öffentlichkeit    maßlos  angegriffenen   Kasseler  Lehrer  und 
insbesondere  ihr  Direktor  schwer  unter  diesen  Angriffen  leiden  und  mit  Recht 
eine  Erschütterung  ihrer  Autorität  und  Disziplin  befürchten  mußten.     Der  am 
meisten  angegriffene  Direktor  V.  war  eine  viel  zu  taktvolle  und  noble  Natur, 
um  sich  gegen  diese  Verunglimpfungen  öffentlich  zu  verteidigen  und  damit 
gewissermaßen    auch    gegen   seinen   ehemaligen    hohen   Schüler  Stellung   zu 
nehmen,    und    er  sorgte   auch  dafür,    daß   aus  dem   Kreise  seiner  mit  ihm 
angegriffenen  Mitarbeiter  keiner  das  Wort  zu  einer  öffentlichen  Abwehr  ergriff, 


Vogt.     Fellner.  ige 

so  erwünscht  das  vielleicht  auch  manchem  gewesen  wäre.  So  war  es  nur 
ein  ehemaliger  Schüler  der  siebziger  Jahre,  der  in  einer  anonymen  Schrift 
»Das  Kasseler  Gymnasium«  (1891)  eine  Lanze  für  das  alte  Lyceum  Fridericianum 
brach  und  mit  warmen  Worten  seinen  Direktor  und  seine  Lehrer  gegen  die 
unverdienten  Angriffe  in  Schutz  nahm.  Seine  Ausführungen  durften  um  so 
mehr  Anspruch  auf  Gültigkeit  machen,  als  sie  von  einem  Vertreter  der  exakten 
Wissenschaften  herrührten,  der  die  Vortrefflichkeit  des  realistischen  Unter- 
richts in  dem  humanistischen  Gymnasium  dankbar  anerkannte. 

Die  Wogen  der  Aufregung  glätteten  sich  bald  wieder,  aber  ein  Stachel 
mochte  doch  in  der  Brust  des  in  seinem  ehrlichen  Streben  zuletzt  einseitig 
verkannten  Schulmannes  zurückgeblieben  sein.  Als  im  nächsten  Jahre  1891 
Kaiser  Wilhelm  U.  nach  Kassel  kam  (kurz  vorher  hatte  er  sein  lebensgroßes 
Bild  dem  Gymnasium  übersenden  lassen),  da  sprach  er  sein  Bedauern  aus, 
daß  sein  ehemaliger  Direktor  aus  Gesundheitsrücksichten  einen  längeren 
Urlaub  angetreten  hatte  und  nicht  anwesend  war.  Der  Kaiser  war  auch  in 
der  Folgezeit  bemüht,  V.  zu  zeigen,  daß  seine  frühere  Kritik  ohne  jede 
Spitze  gegen  seinen  ehemaligen  Lehrer  geschehen  sei.  Er  erteilte  ihm  mehr- 
fache Auszeichnungen  als  Beweise  seines  Wohlwollens,  gab  ihm  den  Geheim- 
ratstitel und  zog  ihn  bei  späteren  Besuchen  in  Kassel  öfters  zur  Tafel.  V. 
hatte  aber  inzwischen  mehrmals  seine  Pensionierung  beantragt  und  am  i.  April 
1893  nach  fast  23 jähriger  gesegneter  Tätigkeit  sein  Amt  wirklich  nieder- 
gelegt. Noch  elf  Jahre  lebte  er  im  Ruhestand  in  seiner  Vaterstadt,  bis  er 
am  30.  April  1904  daselbst  verschied,  betrauert  von  seinen  Mitarbeitern  und 
zahlreichen  Schülern,  die  seiner  vornehmen,  gerechten  und  edlen  Persönlich- 
keit in  Dankbarkeit  und  Hochachtung  gedenken. 

Von  seinen  wissenschaftlichen  Arbeiten  sind  zu  nennen  seine  umfangreiche, 
gediegene  Monographie  über  »Das  Leben  und  die  pädagogischen  Bestrebungen 
des  Wolf  gang  Ratichius«,  die  er  in  mehreren  Programmen  1876 — 1882  heraus- 
gab, außerdem  seine  »Statistischen  Rückblicke  auf  die  Geschichte  des 
Kasseler  Gymnasiums«,  Kassel  1885,  die  als  Festschrift  zur  50jährigen  Feier 
der  Reorganisation  der  Schule  erschienen.  Seine  wertvolle  pädagogische 
Bibliothek  wurde  1903  von  Jacques  Rosenthal  in  München  erworben. 

Kasseler  Gyxnn.-Programme.  —  Hessenland  7,  93.  18,  126.  —  (Th.  Descoudres) 
Das  Kasseler  Gymnasium  der  siebziger  Jahre.  Berlin  1891  S.  49  fr.  —  Flach,  Ein  Erinne- 
rangsblatt  in:  Nordd.  AUgem.  Zeitung  v.  15.  Mai  1904.  —  Poitr.  in  Weltspiegel  (Beil.  z. 
Bcrl.  Tagebl.)   1904  Nr.  41.  Ph.   Losch. 


Fellner,  Stephan  Karl,  Schotten -Prior,  ♦  15.  Oktober  1848  zu  Wien, 
f  I.  April  1904  ebenda.  —  F.s  Vater  war  Oberlehrer  zu  Weinhaus  (jetzt  XVIII.  Be- 
zirk Wiens).  Die  Gymnasialstudien  machte  der  auf  den  Namen  Karl  getaufte 
Knabe  am  Schotten-Gymnasium  und  trat  nach  Vollendung  derselben  in  das 
Stift  Schotten  ein,  wo  er  bei  der  Einkleidung  am  21.  September  1867  den 
Namen  Stephan  erhielt. 

Am  I.  Oktober  1871  legte  F.  Stephan  die  feierlichen  Gelübde  ab  und 
am  21.  Juli  1872  wurde  er  nach  Vollendung  der  theologischen  Studien  an 
der  Wiener  Universität  zum  Priester  geweiht.  Die  Primiz  feierte  F.  Stephan 
am  4.  August  desselben  Jahres  in  der  Stiftskirche. 


I 
i 

l66  Fellner,    Hofmeister. 

Vom  Herbste  1872  an  widmete  sich  F.  natunvissenschaftlichen  Studien  | 

an  der  Wiener  Universität  und  legte  1877  die  Gymnasiallehramtsprüfung  ab.  j 

Im  September  dieses  Jahres  begann  er  am  Schotten-Gymnasium  seine  Tätig-  | 

keit  als  Professor  für  Naturgeschichte.  Als  solcher  tat  er  besonders  viel  für 
das  naturhistorische  Kabinett.  Tiefgehend  war  der  Eindruck,  den  Person 
und  Vortrag  dieses  Lehrers  auf  die  Schüler  übten.  Von  1900 — 1903  besuchte 
seine  Unterrichtsstunden  in  der  öffentlichen  Schule  Erzherzog  Karl  Franz 
Joseph.  Privat  unterrichtete  er  in  den  realistischen  Fächern  die  Mitglieder  des 
kaiserlichen  Hauses:  Maria  Theresia,  Franz  Salvator,  Carolina,  Albrecht  Sal- 
vator,  Maria  Raineria,  Maria  Immaculata  und  Herzog  Ulrich  von  Württemberg. 

Seit  1887  war  F.  der  Reihe  nach  Mitglied  des  Orts-,  Bezirks-,  Landes- 
schulrates.  Doch  blieb  er  nur  von  1887 — 1891  Mitglied  des  Gemeinderates 
der  Stadt  Wien  und  infolge  Scheidens  aus  demselben  erlosch  1892  auch  seine 
Mitgliedschaft  im  Landesschulrat. 

Zeugen  des  wissenschaftlichen  Arbeitens  F.s  sind:  die  Gymnasialpro- 
gramme »Albertus  Magnus  als  Botaniker«,  1881,  und  »Die  geographische 
Verbreitung  der  Pflanzen  und  Tiere«,  1885;  die  Abhandlungen  in  der  Zeit- 
schrift für  österreichische  Gymnasien:  »Der  Homerische  Bogen«,  1895  und 
»Naturgeschichtliche  Bemerkungen  zu  Homers  II.  II.  305  ff.«  1896.  Als  selb- 
ständige Verlagsschriften  erschienen:  »Kompendium  der  Naturwissenschaften 
an  der  Schule  zu  Fulda  im  9.  Jahrhundert«,  Berlin  1879,  und  »Die  Home- 
rische Flora«,  Wien  1897. 

Am  18.  Mai  1901  wurde  P.  Stephan  zum  Prior  des  Stiftes  Schotten  von 
dem  neugewählten  Abte  Leopold  Rost  ernannt,  behielt  aber,  um  nicht  ganz 
von  dem  ihm  lieben  Verkehr  mit  der  studierenden  Jugend  zu  scheiden,  noch 
fünf  Stunden  Gymnasialunterricht  bei.  Doch  der  irdische  Gefährte  des  so 
strebsamen  Geistes  war  erschöpft.  Seit  17,  September  1903  schwer  leidend, 
vertauschte  P.  Stephan  am  i.  April  1904  das  Zeitliche  mit  dem  Ewigen.  Auf 
seinen  und  seiner  Brüder  besonderen  Wunsch  wurde  der  Leib  im  Grabe  der 
Eltern  auf  dem  Zentralfriedhofe  beigelegt. 

Leben  und  Wirken  des  hochwürdigen  Herrn  P.  Stephan  wurden  von  der  geist- 
lichen und  weltlichen  Obrigkeit  gewürdigt.  Kardinal  Gruscha  zeichnete  ihn 
am  3.  Dezember  1902  durch  die  Ernennung  zum  f.  e.  geistlichen  Rat  aus  und 
Se.  Majestät  ernannte  ihn  am  20.  Oktober  1903  zum  Ritter  des  Ordens  der 
Eisernen  Krone  III.  Klasse.  Einen  Nachruf  an  den  Seligen  enthält  der 
Jahresbericht  des  Schotten-Gymnasiums  1904.     S.  26 — 33. 

C.  Wolfsgruber. 

Hofmeister,  Gotthilf  Christian  Adolph,  I.  Bibliothekar  der  Großher- 
zoglichen Universitätsbibliothek  zu  Rostock,  *  21.  September  1848  zu  Gera, 
t  29.  Dezember  1904  zu  Rostock.  -—  H.  besuchte  das  Gymnasium  seiner 
Vaterstadt,  das  Rutheneum  zu  Schleiz,  und  seit  Ostern  1867  das  Kgl.  Stifts- 
gymnasium zu  Zeitz,  wo  er  unter  dem  21.  September  187 1  das  Reifezeugnis 
erhielt.  Hierauf  studierte  H.  sechs  Semester  in  Halle,  wo  er  auch  aktiv  war, 
klassische  und  germanische  Philologie,  war  dann  längere  Zeit  Hauslehrer  in 
der  Provinz  Posen,  erhielt  am  16.  Dezember  1876  von  der  Rostocker  philo- 
sophischen Fakultät  das  Doktordiplom  und  bestand  am  12.  Januar  1878  in 
Halle    die    mündliche    Prüfung   pro  facultate   docefidi.      Nachdem    er   bereits 


Hofmeister.  iQy 

Michaelis  1876  als  Volontär  bei  der  Universitätsbibliothek  in  Halle  ein- 
getreten war,  ging  er  Neujahr  1878  in  gleicher  Eigenschaft  an  die  Rostocker 
Universitätsbibliothek.  Hier  wurde  er  am  20.  Juni  1878  IL,  am  i8.  April 
1894  I.  Kustos  und  am  18.  März  1896  I.  Universitätsbibliothekar.  —  H.  hat 
eine  umfassende  literarische  Tätigkeit  entfaltet.  Seine  Dissertation  (1877) 
behandelt  ein  Thema  aus  der  klassischen  Philologie:  Ȇber  Gebrauch  und 
Bedeutung  des  /ofa  demonstrativurn  bei  den  attischen  Rednern«.  Auf  dem- 
selben Gebiet  liegen:  »Zu  Ciceros  De  natura  deorttm  III,  84«  (Hermes,  II) 
und  »Zur  Handschriftenkunde  des  Sallustius«  (Philologus,  Jahrg.  39).  Nach 
seiner  Übersiedelung  nach  Rostock  aber  zog  ihn,  den  Thüringer,  nieder- 
deutsche Geschichte,  Sprache  und  Literatur  ganz  besonders  an.  So  bewegen 
sich  in  der  Folge  seine  Arbeiten  durchaus  in  dieser  Richtung.  In  den 
früheren  Jahren  seiner  Rostocker  Tätigkeit  stehen  sie  meist  in  Zusammenhang 
mit  seiner  Bearbeitung  von  Wiechmanns  »Mecklenburgs  altniedersächsische 
Literatur«,  ein 'Werk,  das  er  neu  herausgab  und  von  dem  einzelnes  separat 
erschienen  ist,  in  späterer  Zeit  mit  der  Herausgabe  der  Rostocker  Universi- 
täts-Matrikel, von  der  er  von  1889 — 1904  vier  Bände  hat  erscheinen  lassen, 
welche  den  Zeitraum  1419 — 1798  umfassen.  An  einer  zusammenhängenden 
Geschichte  des  Rostocker  Studentenlebens  und  der  Universität  Rostock  in 
größerem  Maßstabe  hat  ihn  der  Tod  gehindert.  Immerhin  aber  verdanken 
wir  H.  außer  der  erwähnten  Matrikelherausgabe  die  Schriften:  den  Artikel 
»Rostock«  in  Fick,  Auf  Deutschlands  hohen  Schulen,  Berlin  1901;  »Die  Ge- 
schichte und  Entwicklung  der  Landesuniversität«  in  Festschrift  der  XXVI.  Ver- 
sammlung des  deutschen  Vereins  für  öffentliche  Gesundheitspflege  gewidmet 
von  der  Stadt  Rostock,  Rostock  1901;  »Die  Großherzoglich  Mecklenburg- 
Schwerinsche  Universität  Rostock«  in:  Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen 
Reich.  Aus  Anlaß  der  Weltausstellung  in  St.  Louis  herausgegeben  von 
W.  Lexis.  Band  I:  Die  Universitäten.  Berlin  1904.  Femer  ist  H.  Heraus- 
geber von  »Ein  Loszbuch  aus  der  Karten  gemacht«,  Rostock  1890  und  war 
weiter  betätigt  an  dem  mehrbändigen  Werk  von  Schlie,  Die  Kunst-  und 
Geschichtsdenkmäler  des  Grofiherzogtums  Mecklenburg -Schwerin.  Seine 
sonstigen  zahlreichen  wertvollen,  auf  Mecklenburg  und  Niederdeutschland 
bezüglichen  Arbeiten,  deren  Aufzählung  im  einzelnen  zu  umfangreich  sein 
würde,  hat  er  in  folgenden  Zeitschriften  veröffentlicht:  Rostocker  Zeitung, 
Jahrbücher  des  Vereins  für  mecklenburgische  Geschichte  und  Altertumskunde, 
Beiträge  zur  Geschichte  der  Stadt  Rostock,  Jahrbuch  des  Vereins  für  nieder- 
deutsche Sprachforschung,  Mecklenburgische  Anzeigen,  Korrespondenzblatt 
des  Vereins  für  niederdeutsche  Sprachforschung,  Hansische  Geschichtsblätter, 
Rostocker  Anzeiger,  Quartalsberichte  des  Vereins  für  mecklenburgische  Ge- 
schichte und  Altertumskunde,  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Schleswig-Hol- 
steinische  Geschichte.  Hier  sind  auch  die  gehaltvollen,  meist  in  Zeitschriften 
veröffentlichten  Vorträge  zu  erwähnen,  die  H.  in  den  Sitzungen  des  Vereins 
für  Rostocker  Altertümer  hielt,  zu  dessen  Vorstand  er  seit  1893  gehörte. 
Auch  sonst  war  H.  literarisch  tätig:  von  1883 — 1887  zeichnete  er  für  die 
literarische  Rubrik  der  in  Schwerin  erscheinenden  Mecklenburgischen  Anzeigen 
und  veröffentlichte  hier,  wie  schon  erwähnt,  zahlreiche  größere  und  kleinere 
Artikel,  gab  aber  ferner  fortlaufende  Übersichten  »zur  mecklenburgischen 
Literatur«,  die  er  nach  dem  Eingehen  der  Zeitung  in  dem  Rostocker  Anzeiger 


1 68  Hofmeister.     Rettich. 

fortsetzte.  Dort  erschien  sein  letzter  Beitrag  gerade  an  seinem  Todestage. 
Femer  lieferte  er  viele  Jahre  hindurch  allein  oder  mit  anderen  zusammen 
für  die  Jahresberichte  der  Geschichtswissenschaft  die  Referate  über  Schleswig- 
Holstein,  Mecklenburg  und  Pommern  sowie  für  die  Jahresberichte  für  neuere 
deutsche  Literaturgeschichte  den  Abschnitt  »Didaktik  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts«. Auch  für  sonstige  Zeitschriften  lieferte  er  noch  Beiträge,  so  für 
die  Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft,  für  die  Sitzungsberichte 
der  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen 
Rußlands,  für  Tewes  Numismatischen  Anzeiger  und  für  die  Grenzboten. 
Auch  die  Allgemeine  Deutsche  Biographie  verdankt  ihm  eine  Reihe  von 
Artikeln,  wie  er  auch  eine  Reihe  von  Rezensionen  geschrieben  hat.  Auf  dem 
Gebiet  der  niederdeutschen  und  mecklenburgischen  Geschichte  und  Literatur 
galt  er  als  Autorität,  wovon  zeugt,  daß  eine  Reihe  von  Vereinen  (die  rügisch- 
pommersche  Abteilung  der  Gesellschaft  für  pommersche  Geschichte  und 
Altertumskunde,  die  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Altertumskunde  der 
Ostseeprovinzen  in  Rußland,  die  Gesellschaft  für  pommersche  Geschichte 
und  Altertumskunde)  ihn  zum  korrespondierenden  Mitgliede  gewählt  haben, 
während  er  anderen  Vereinigungen  (Verein  für  mecklenburgische  Geschichte 
und  Altertumskunde,  Verein  für  Rostocks  Altertümer,  Hansischer  Geschichts- 
verein, Verein  für  niederdeutsche  Sprachforschung)  als  Mitglied  bezw.  Vor- 
standsmitglied angehörte.  —  H.  war  aber  nicht  nur  ein  gründlicher  Kenner 
der  von  ihm  kultivierten  Gebiete,  sondern  auch  ein  hervorragender  Bibliothekar, 
ausgestattet  mit  einer  umfassenden  Gelehrsamkeit,  mit  einem  staunenswerten 
Gedächtnis,  mit  einer  nie  versagenden  Bereitwilligkeit,  sein  Wissen  anderen 
nutzbar  zu  machen.  Mit  der  Rostocker  Universitätsbibliothek  war  er  aufs 
engste  verwachsen  und  widmete  ihr  bis  kurz  vor  seinem  Tode  seine  Arbeits- 
kraft, obwohl  schon  längere  Zeit  von  schwerer  Krankheit  heimgesucht,  die 
auch  unerwartet  rasch  zum  Tode  führte.  An  allen  bibliothekarischen  Fragen 
nahm  er  lebhaften  Anteil,  und  es  war  ihm  immer  eine  besondere  Freude, 
den  deutschen  Bibliothekarversammlungen  beiwohnen  zu  können.  Bei  dieser 
Hingabe  an  seinen  Beruf  ist  es  eigentlich  selbstverständlich,  daß  er  auch  an 
Fachzeitschriften  mitgearbeitet  hat,  an  dem  Zentralblatt  für  Bibliothekwesen 
und  an  Petzholdts  Neuem  Anzeiger  für  Bibliotheken  und  Bibliothekswissen- 
schaft. —  Und  ebenso  hervorragend  wie  der  Gelehrte  und  der  Bibliothekar 
war  auch  der  Mensch,  in  dessen  Herzen  kein  Falsch  war:  ein  zärtlicher  Gatte 
und  Vater,  ein  treuer  Freund,  ein  liebenswürdiger  Kollege,  ein  wohlwollender 
Vorgesetzter.  Leider  wurden  H.s  Verdienste  bei  seinen  Lebzeiten  nicht  ge- 
bührend anerkannt,  so  daß  eine  an  Freuden  arme  Jugend,  die  allerdings  durch 
eine  glückliche  Studentenzeit  unterbrochen  wurde,  durch  spätere  berufliche 
Erfolge  nicht  aufgewogen  wurde. 

Nach  Mitteilungen  des  Sohnes  Dr,  phil,  Adolf  Hofmeister  in  Steglitz.  Nekrologe  in: 
Rostocker  Anzeiger,  1904  Nr.  305;  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen,  Bd.  22,  Heft  2. 

A.  Vorberg. 

Rettich,  Karl  Lorenz,  Landschaftsmaler,  *  10.  Juni  1841  auf  dem  an 
der  Travemünder  Bucht  gelegenen  Gute  Rosenhagen  in  Mecklenburg-Schwerin, 
t  12.  September  1904  in  Lübeck.  —  R.  bezog,  nachdem  er  die  Gelehrten- 
schule des  Katharineums  in  Lübeck  absolviert  hatte,  die  Universität  München, 


Rettich.     Krug.     Nirschl.  l6o 

um  Jura  zu  studieren.  Er  gab  das  Studium  aber  sehr  bald  auf,  wandte  sich 
ganz  der  Kunst  zu  und  wurde  einer  der  ersten  Schüler  des  Landschaftsmalers 
A.  Lier.  1862  ging  er  nach  Düsseldorf,  wo  er  sich  an  A.  Flamm  und 
Th.  Hagen  anschloß.  Von  hier  siedelte  er  1867  nach  Dresden  über,  das  er 
187 1  mit  Weimar  vertauschte.  1885  ließ  er  sich  in  München  und  Anfang 
der  90  er  Jahre  in  Lübeck  nieder.  Inzwischen  unternahm  er  vielfach  Studien- 
reisen, die  ihn  unter  anderm  nach  Italien,  sowie  nach  Schweden  und  Nor- 
wegen führten.  Seine  besten  Motive  verdankt  er  jedoch  den  heimatlichen 
buchengekrönten  Gestaden  der  Ostsee,  zu  denen  es  ihn  immer  wieder  zog 
und  die  ihn  stets  zu  neuem  Schaffen  begeisterten.  »Um  ein  guter  Maler  zu 
sein,  braucht  es  —  nach  Anselm  Feuerbach  —  vier  Dinge:  ein  weiches 
Herz,  ein  feines  Auge,  eine  leichte  Hand  und  immer  frisch  gewaschene 
Pinsel.«  R.  besaß  diese  Vierzahl  in  hohem  Maße,  seine  tief  empfundenen 
Bilder  bezeugen  es  jedem,  der  sich  in  sie  versenkt. 

Vgl.  H.  W.  SiÄger,  Allgem.  Künstler-Lexikon,  Bd.  4,  S.  46 — 47.  —  Fr.  v.  Boetticher, 
Malerwerke  des  19.  Jahrhunderts,  Bd.  2,  S.  394 — 396.  —  Hamb.  Correspondent,  Ab.- Ausg. 
V.  13.  Sept.  1904.  Joh.  Sass. 

Krug,  Arnold,  Professor,  Musiker  und  Komponist,  *  16.  Oktober  1849 
als  Sohn  des  Musiklehrers  Dietrich  Krug  in  Hamburg,  f  daselbst  am 
4.  August  1904.  —  K.  genoß  zuerst  den  Unterricht  seines  Vaters,  wurde 
dann  von  Gurlitt  weitergebildet  und  bezog  1868  das  Konservatorium  in 
Leipzig.  Im  folgenden  Jahre  errang  er  das  Stipendium  der  Frankfurter 
Mozartstiftung  und  wurde  Schüler  von  Karl  Reinecke  und  Friedrich  Kiel. 
Nach  glänzend  bestandenem  Abgangsexamen  war  er  von  1872 — 1877  als 
Lehrer  des  Klavierspiels  am  Sternschen  Konservatorium  in  Berlin  tätig, 
unternahm  1877  als  Stipendiat  der  Meyerbeerstiftung  eine  Reise  nach  Italien 
und  Frankreich  und  kehrte  im  folgenden  Jahre  in  seine  Vaterstadt  Hamburg 
zurück,  wo  er  sich  nunmehr  dauernd  niederließ.  Er  trat  hier  an  die  Spitze 
eines  Männergesangvereins,  war  seit  1885  Lehrer  am  Hamburger  Konservatorium 
und  dirigierte  mehrere  Jahre  auch  die  Altonaer  Singakademie.  Die  Pflege  des 
Männergesangs  ließ  er  sich  besonders  angelegen  sein  und  erzielte  mit  seinen 
Bestrebungen  ausgezeichnete  Erfolge.  K.s  Kompositionen  haben  großen  An- 
klang gefunden.  Seine  Musik  ist  gesund,  frei  von  aller  Effekthascherei  und 
bei  formaler  Vollendung  in  jeder  Weise  ansprechend  und  zum  Herzen 
dringend.  Außer  einer  Symphonie  schrieb  er  unter  anderem  einen  »Sym- 
phonischen Prolog  zu  Othello«  und  »Romanische  Tänze«  für  Orchester, 
femer  ein  Violinkonzert  sowie  die  Chorwerke  »Sigurd«,  »An  die  Hoffnung«, 
»Der  Sohn  der  Rose«  und  »Fingal«.  Ein  weiter  Kreis  von  Schülern  und 
Freunden  wird  dem  allverehrten,  liebenswürdigen  Künstler  und  Menschen 
allzeit  ein  treues  Gedenken  bewahren. 

Vgl.  Hamb.  Correspondent,  Ab.-Ausg.  v.  5.  August  1904.  —  Neue  Zeitschrift  f. 
Musik,  19041  Jg.  71.  S.  586.  —  Neue  Musik-Zeitung  (Stuttgart),  Jg.  25,  1904,  S.  469.  — 
H.  Riemann,  Musik-Lexikon,  6.  Aufl.  1905,  S.  717.  Joh.  Sass. 

Nirschl,  Joseph,  Domdekan  von  Würzburg,  *  24.  Februar  1823  zu 
Durchfurth  in  Niederbayern,  f  17.  Januar  1904  zu  Würzburg.  —  N.  wurde 
nach  Vollendung  seiner  Studien  185 1  in  Passau  zum  Priester  geweiht.    Nach 


170  Nirschl. 

kurzer  Wirksamkeit  in  der  Seelsorge  setzte  er  an  der  Universität  München 
seine  theologischen  Studien  fort  und  wurde  daselbst  1854  Dr,  theoL  Hierauf 
wurde  er  Seminarpräfekt  und  Religionslehrer  am  Gymnasium  in  Passau, 
1861  Professor  der  Kirchengeschichte  und  Patrologie  am  Lyzeum  daselbst, 
1879  ordentlicher  Professor  der  Kirchengeschichte  an  der  Universität  Würz- 
burg als  Nachfolger  Hergen röthers,  1892  Domdekan  daselbst.  —  Die  fleißige 
und  verdienstvolle  wissenschaftliche  Tätigkeit  N.s  bewegt  sich  zum  größten 
Teil  auf  patristischem  Gebiete.  Von  seinen  zahlreichen  hierher  gehörigen, 
einzeln  und  in  Zeitschriften  erschienenen  Arbeiten  sind  als  die  größeren  zu 
nennen:  »Ursprung  und  Wesen  des  Bösen  nach  der  Lehre  des  heiligen 
Augustinus.  Eine  philosophisch-theologische  Abhandlung«  (Regensburg  1854); 
»Das  Zeugnis  des  heiligen  Ignatius  von  Antiochien  für  den  Primat  der 
römischen  Kirche«  (Katholik  1868,  II,  S.  152 — 173);  »Das  Todesjahr  des  heiligen 
Ignatius  von  Antiochien  und  die  drei  orientalischen  Feldzüge  des  Kaisers 
Trajan.  Eine  chronologisch-historische,  kritische  Untersuchung«  (Passau  1869); 
»Die  Briefe  des  heiligen  Ignatius  von  Antiochien  und  sein  Martyrium.  Aus 
dem  Urtext  übersetzt«  (Passau  1870);  »Des  heiligen  Cyrillus,  Erzbischofs  von 
Jerusalem  und  Kirchenvaters,  Katechesen,  nach  dem  Urtext  übersetzt« 
(Kempten  1871);  »Die  Frage  über  das  25  jährige- Pontifikat  Petri  in  Rom« 
(Histor.-polit.  Blätter,  72.  Band  1873,  S.  657 — 679,  745 — 760);  »Das  Zeugnis 
des  Irenäus  für  den  Primat  und  die  normgebende  Lehrautorität  der 
römischen  Kirche«  (Histor.-polit.  Blätter,  73.  Band  1874,  S.  253 — 266, 
333 — 360);  »Der  Hirt  des  Hermas.  Eine  historisch-kritische  Untersuchung« 
(Passau  1879);  »Das  Martyrium  des  Ignatius  von  Antiochien«  (Histor.-polit. 
Blätter,  84.  Band  1879,  S.  89 — 102,  193 — 206,  636);  »Die  Theologie  des 
heiligen  Ignatius,  des  Apostelschülers  und  Bischofs  von  Antiochien,  aus 
seinen  Briefen  dargestellt«  (Mainz  1880;  eine  kürzere  Darstellung  hatte  N. 
früher  als  Programm  der  Studienanstalt  Passau  für  das  Jahr  1867/68,  Passau 
1868,  erscheinen  lassen).  Diesen  Spezialuntersuchungen  folgte  das  drei- 
bändige Hauptwerk  N.s:  »Lehrbuch  der  Patrologie  und  Patristik«  (Mainz 
1881 — 1885;  der  Abschnitt  über  die  armenische  patristische  Literatur  in 
Bd.  III,  S.  215 — 262  ist  von  P.  Vetter  verfaßt).  Sodann  neben  kleineren 
Arbeiten  die  größeren  kirchengeschichtlichen  Schriften:  »Propädeutik  der 
Kirchengeschichte  für  kirchenhistorische  Seminare  und  zum  Selbstunterrichte« 
(Mainz  1888);  »Die  Therapeuten«  (Mainz  1890;  vorher  im  Katholik  1890,  II); 
»Die  Universitätskirche  in  Würzburg«  (1892).  In  einer  Reihe  von  Arbeiten 
aus  seinem  letzten  Jahrzehnt  beschäftigte  sich  N.  sodann  mit  dfer  Streitfrage 
über  das  Grab  der  Gottesmutter,  indem  er  mit  Entschiedenheit  gegen  Ephesus 
und  für  Jerusalem  eintrat:  »Das  Mariengrab  in  Ephesus«  (Katholik  1894,  II,  S.  385 
bis  407);  »Das  Mariengrab  zu  Jerusalem«  (Katholik  1895,  II,  S.  154 — 179,  246  bis 
262,  324 — 340);  »Das  Grab  der  heiligen  Jungfrau  Maria.  Eine  historisch-kritische 
Studie«  (Mainz  1896);  »Panagia  Capuli  bei  Ephesus«  (Katholik  1897,  II, 
S.  309 — 324,  423 — 440,  528 — 553);  zuletzt  die  größere  Schrift:  »Das  Haus 
und  Grab  der  heiligen  Jungfrau  Maria.  Neue  Untersuchungen«  (Mainz  1900). 
In  nicht  sehr  glücklicher  Weise  greift  N.  mit  der  Arbeit:  »Dionysius  der 
Areopagita.  Eine  Ehrenrettung«  (Katholik  1898,  I,  S.  267 — 278,  348 — 365, 
432 — 452,  532 — 557;  dazu  Histor.-polit.  Blätter,  121.  Bd.  1898,  S.  820 — 824) 
in    die    Pseudo-Dionysius-Frage    ein,    um    vom    Standpunkt    der   Hypothese 


Nirschl.     Frieß.  1 7 1 

Hiplers,  an  dem  er  festhalten  will,  den  Forschungen  von  Stiglmayr  und 
Hugo  Koch  entgegenzutreten.  Zu  nennen  ist  endlich  noch  das  aus  seiner 
früheren  Tätigkeit  als  Religionslehrer  hervorgegangene,  für  weitere  Kreise  be- 
stimmte Werk:  »Gedanken  über  Religion  und  religiöses  Leben  in  freien  Vor- 
trägen« (Landshut  1862;  2.  Auflage  Würzburg  1894). 

Vgl.   »AugsbuTger  Postzeitung«   1903,  Nr.  49  v.   i.  März;  1904,  Nr.  15  v.  20.  Jan.  — 
»Litterar.  Handweiser«   1904,  Nr.   i,  Sp.  39.  F.   Lau  eher  t. 

Friefi,  Gottfried  Edmund,  O.  S.  Ä,  Professor  und  Stiftsbibliothekar  in 
Seitenstetten,  Historiker,  *  i.  Oktober  1836  zu  Waidhof en  an  der  Ybbs, 
t  18.  Januar  1904  im  Stift  Seitenstetten.  —  F.  besuchte  das  Gymnasium  zu 
Kremsmünster,  trat  dann  1857  als  Novize  in  das  Benediktinerstift  Seiten- 
stetten ein,  legte  nach  Vollendung  der  Studien  1862  die  feierlichen  Ordens- 
gelübde ab  und  empfing  1862  in  St.  Polten  die  Priesterweihe.  Hierauf  war 
er  zunächst  zwei  Jahre  als  Supplent  für  Geschichte  und  Geographie  am 
Gymnasium  zu  Seitenstetten  tätig,  begab  sich  dann  zu  weiteren  historischen 
Studien  an  die  Universität  Wien  und  wurde  nach  der  Rückkehr  in  das  Stift 
1866  Professor  der  Geschichte  und  Geographie  am  Gymnasium,  in  welcher 
Eigenschaft  er  bis  zu  seinem  Tode  wirkte.  Seit  1873  war  er  zugleich  Stifts- 
bibliothekar, seit  1879  auch  Stiftsarchivar.  1875  wurde  er  zum  Konservator 
der  k.  k.  Zentralkommission  für  Kunst-  und  historische  Denkmäler  Nieder- 
österreichs ernannt.  1879  ^''*  P^^^'  1885/86  hielt  er  sich  während  eines 
Jahres  in  Rom  auf,  wohin  er  zu  archivalischen  Arbeiten  berufen  wurde.  — 
Als  Historiker  hat  sich  F.  durch  zahlreiche  wertvolle  gelehrte  Arbeiten  um 
die  Ordensgeschichte  wie  um  die  österreichische  Geschichte,  besonders  die 
Landesgeschichte  Niederösterreichs,  große  Verdienste  erworben  Außer  vielen 
kleineren  Studien,  die  in  Zeitschriften  erschienen  (die  frühesten  im  Hippolytus 
[St.  Polten],  1861  ff.,  dann  vieles  in  den  Blättern  des  Vereins  für  Landes- 
kunde von  Niederösterreich,  1868  ff.)  sind  als  größere  Werke  und  Arbeiten 
von  allgemeinerem  Interesse  zu  nennen:  »Geschichte  der  Stadt  Waidhofen  an 
der  Ybbs  von  der  Zeit  ihres  Entstehens  bis  1820«  (Jahrbuch  des  Vereins  für 
Landeskunde  von  Niederösterreich,  Jahrg.  1867);  »Studien  über  das  Wirken 
der  Benediktiner  in  Österreich  für  Kultur,  Wissenschaft  und  Kunst«  (5  Pro- 
gramme des  k.  k.  Obergymnasiums  zu  Seitenstetten,  1868 — 1872);  »Geschichte 
des  einstigen  Kollegiat-Stifts  Ardagger  in  Niederösterreich«  (Archiv  für  öster- 
reichische Geschichte,  46.  Bd.  1871,  S.  419 — 561;  auch  separat,  Wien  1871); 
»Patarener,  Begharden  und  Waldenser  in  Österreich  während  des  Mittel- 
alters« (österreichische  Vierteljahresschrift  für  katholische  Theologie,  11.  Jahrg. 
1872,  S.  209 — 272);  »Die  Herren  von  Chuenring.  Ein  Beitrag  zur  Adels- 
geschichte des  Erzherzogtums  Österreich  unter  der  Enns«  (Wien  1874); 
»Fünf  unedierte  Ehrenreden  Peter  Suchenwirts«  (Sitzungsberichte  der  philos.- 
hist.  Klasse  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien,  88.  Bd.  1877, 
S.  99 — 126;  auch  separat,  Wien  1878);  »Geschichte  des  Benediktiner-Stiftes 
Garsten  in  Oberösterreich«  (Studien  und  Mitteilungen  aus  dem  Benediktiner- 
Orden,  I.  Jahrg.  1880,  2.  Heft,  S.  88—106;  3.  Heft,  S.  28—49;  4-  Heft 
S.  74 — 94;  2.  Jahrg.  1881,  L  Bd.,  S.  5 — 28,  235 — 252;  IL  Bd.,  S.  40—65, 
251 — 266;  3.  Jahrg.  1882,  IL  Bd.,  S.  6 — 26,  241 — 248);  »Dietrich,  der  Marschall 
von    Pilichdorf«    (Programm   des  k.  k.   Obergymnasiums  Seitenstetten    i88i); 


172 


Fließ.     Detmer. 


»Geschichte  der  österreichischen  Minoritenprovinz«  (Archiv  für  Österreichische 
Geschichte,  64.  Bd.  1882;  auch  separat,  Wien  1882);  »Herzog  Albrecht  V. 
von  Österreich  und  die  Hussiten«  (Programm  von  Seitenstetten  1883);  »Die 
ältesten  Totenbücher  des  Benediktiner-Stiftes  Admont  in  Steiermark«  (Archiv 
für  österreichische  Geschichte,  66.  Bd.  1885,  S.  315 — 506;  auch  separat, 
Wien  1885);  »Das  Nekrologium  des  Benediktiner-Nonnenstiftes  der  heiligen 
Erentrudis  auf  dem  Nonnberg  zu  Salzburg«  (Archiv  für  österreichische  Ge- 
schichte, 71.  Bd.  1887,  S.  I — 209;  auch  separat,  Wien  1887);  »Geschichte  des 
ehemaligen  Nonnenklosters  O,  S.  B.  zu  Traunkirchen  in  Oberösterreich« 
(Archiv  für  österreichische  Geschichte,  82.  Bd.  1895,  S.  181 — 326;  auch  separat, 
Wien  1895);  »Der  Aufstand  der  Bauern  in  Niederösterreich  am  Schlüsse  des 
XVI.  Jahrhunderts«  (Wien  1897;  vorher  in  den  Blättern  des  Vereins  für 
Landeskunde  von  Niederösterreich  1897).  Für  Sebastian  Brunners  Benediktiner- 
buch (Würzburg  1880),  schrieb  F.  den  Abriß  der  Geschichte  des  Stifts  Seiten- 
stetten (S.  425 — 449),  für  das  Werk:  Scriptores  Ordinis  S.  BentdicH  gut  1750— 
1880  fuerunt  in  Itnperio  austriaco-hungarko  (Wien  1881)  als  Einleitung  eine 
kurze  Geschichte  des  Benediktinerordens  in  Österreich-Ungarn  (p.  V. — CXIX). 
Vgl.  Scriptores  O.  S.  Ä  qui  lyjo — 1880  fuerunt  in  Imperic  ttustr,-kung,  {Vin€lobanac 
1881),  p.  102 — 104.  —  Ant.  ErdiDger,  Bibliographie  des  Klerus  der  Diözese  St.  Polten, 
2.  Auflage  (St.  Polten  1889),  S.  83 — 85.  —  Studien  und  Mitteilungen  aus  dem  Benediktiner- 
Orden,  25.  Jahrg.  1904,  S.  44of.  F.  Lau  eher  t 

Detmer,  Heinrich  Paul  Alexander,  Oberbibliothekar  an  der  König- 
lichen Universitäts-Bibliothek  zu  Münster  i.  W.,  Geschichtsforscher,  ♦21.  März 
1853  in  Hamburg,  f  25.  Januar  1904  in  Münster.  —  D.,  der  Sohn  eines 
Geistlichen,  besuchte  zunächst  eine  höhere  Bürgerschule  und  darauf  von  187 1  bis 
1874  die  Gelehrtenschule  des  Johanneums  in  Hamburg.  Er  studierte  dann 
Geschichte  in  Göttingen  und  Leipzig,  wo  er  mit  seiner  Dissertation  »Otto  IL 
bis  zum  Tode  seines  Vaters  am  7.  Mai  973«  (Leipzig  1878)  zum  Dr.  phiL 
promovierte.  Im  Mai  1878  trat  er  als  Volontär  bei  der  Universitäts 
Bibliothek  in  Jena  ein  und  ging  im  Januar  1879  ^^  Hilfsarbeiter  an  die 
Universitäts-Bibliothek  (damals  Paulinische  Bibliothek)  in  Münster,  wo  er  am 
I.  Juli  1886  zum  Bibliothekar  und  am  21.  Dezember  1898  zum  Ober- 
bibliothekar ernannt  wurde.  25  Jahre  hindurch  hat  er  der  Bibliothek  in 
aufopfernder  Treue  und  Hingebung  gedient.. 

D.s  historische  Forschungen  galten  in  erster  Linie  der  Reformationszeit, 
sein  Spezialgebiet  waren  die  Wiedertäufer-Unruhen  in  Münster,  deren  Ge- 
schichte er  durch  ausgezeichnete  Werke  bedeutend  gefördert  hat.  Hierher 
gehört  namentlich  seine  wertvolle  Ausgabe  von  Hermann  von  Kerssenbrochs 
f>  AnabapHstici  Furoris  Monasttrium  inclitam  Westphaliae  metropolim  evertentis 
historica  narratio^f^  (=  Die  Geschichtsquellen  des  Bistums  Münster,  Bd.  5 — 6, 
Münster  1899 — 1900).  Die  vortreffliche  umfangreiche  Einleitung  zu  dieser 
Ausgabe  erschien  auch  besonders  unter  dem  Titel  »Hermann  von  Kerssen 
brochs  Leben  und  Schriften«  (Münster  i.  W.  1900).  Auf  tiefer  Durchdringung 
des  Stoffes  beruhen  femer  die  glänzend  geschriebenen  »Bilder  aus  den  reli- 
giösen und  sozialen  Unruhen  in  Münster  während  des  16.  Jahrhunderts« 
(i.  Johann  von  Leiden,  2.  Bernhard  Rothmann,  Münster  1903 — 1904).  Auch 
eine  kritische  Neuausgabe  der  geschichtlichen  Werke  Hermann  Hamelmanns 


Detmer.     Jessen.  1 7  j 

hat  D.  in  Angriff  genommen.  Doch  vermochte  er  nur  das  erste  Heft  des 
ersten  Bandes  zu  veröffentlichen  (Münster  1902).  Ein  zweites  Heft  ist  1905 
aus  seinem  Nachlaß  herausgegeben  worden. 

Vgl.  D.s  » Vita*  am  Schlufl  seiner  oben  erwähnten  Dissertation.  —  MUnsterischer  An- 
zeiger, 1904,  Nr.  51  vom  27.  Januar.  —  Zeitschrift  f.  vaterländ.  Geschichte  und  Altertums- 
kunde (Westfalens),  1904,  S.  2 54  f.  —  Jahresbericht  des  Westfäl.  Pro vinzial- Vereins  f. 
1903/04,  S.   184 f.  —  Beilage  zur  Allgem.  Zeitung,  Jg.  1904,  Nr.  23  v.  29.  Januar,  S.  183. 

Joh.  Sass. 

Jessen,  Hans  Otto,  Direktor  der  i.  Berliner  Handwerkerschule,  *  26.  De- 
zember 1826  in  Schleswig,  f  28.  März  1904  in  Berlin.  —  J.s  Vater,  Peter 
Willers  Jessen,  ein  namhafter  Psychiater  (f  29.  September  1875,  vgl.  Allgem. 
Deutsche  Biogr.,  Bd.  13,  S.  786/787),  war  von  1820 — 1845  erster  Arzt  an  der 
Landes-Irrenanstalt  zu  Schleswig  und  begründete  darauf  die  Privatheilanstalt 
Hornheim  bei  Kiel,  wo  er  gleichzeitig  als  außerordentlicher  Professor  an  der 
Universität  wirkte.  Der  Sohn  genoß  im  Elternhause  das  Glück  einer  frohen 
Jugend.  Bis  zu  seinem  vierzehnten  Lebensjahre  besuchte  er  eine  Privatschule 
und  wurde  dann  von  Privatlehrern  weitergebildet,  während  der  Vater  selbst 
ihm  Unterricht  in  der  Zoologie  und  Botanik  erteilte.  Lebhaftes  Interesse  für 
Zeichnen,  Mathematik  und  Naturwissenschaften  ließ  den  Entschluß  in  ihm  reifen, 
sich  einem  technischen  Berufe  zu  widmen.  Als  Fachstudium  erwählte  er  den 
Wege-  und  Wasserbau,  trat,  17  Jahre  alt,  bei  dem  Landmesser  Trede  in  Schleswig 
ein  und  war  1844  und  1845  ^^^  ^^"  großen  Eindeichungsarbeiten  in  Ditmar- 
sehen  beschäftigt.  Von  1845 — ^^47  finden  wir  J.  als  Studenten  der  Mathematik 
in  Kiel,  wohin  inzwischen  auch  die  Eltern  übergesiedelt  waren.  Nachdem 
er  die  Landmesserprüfung  bestanden  hatte,  bezog  er  im  Wintersemester 
1847/48  zur  weiteren  Ausbildung  die  Universität  und  Kunstakademie  in 
Berlin.  Als  er  dann  im  Begriff  stand,  die  erworbenen  Kenntnisse  praktisch 
zu  verwerten  und  eine  Stellung  als  Ingenieurgehilfe  beim  Eisenbahnbau  zu 
übernehmen,  brach  das  Jahr  1848  herein,  das  auch  J.s  Leben  in  ganz  andere 
Bahnen  lenkte  und  ihn  auf  Umwegen  seinem  eigentlichen  Berufe  zuführte. 
Begeistert  scharte  sich  Schleswig-Holsteins  Jugend  um  die  Fahnen.  J.  schloß 
sich  zunächst  einem  Freikorps  an,  ging  aber  sehr  bald  als  Freiwilliger  zur 
Artillerie,  wurde  1849  2""™  Offizier  befördert  und  war  darauf  längere  Zeit 
Adjutant  des  Majors  Liebert  bei  der  Festungs-Artillerie  in  Rendsburg.  Hier 
unterrichtete  er  mehrfach  junge  Offiziers- Aspiranten  in  den  mathematischen 
Fächern,  und  bei  dieser  Gelegenheit  kam  ihm  seine  ausgesprochene  Neigung 
zum  Lehrberuf  zum  erstenmal  klar  zum  Bewußtsein.  Im  weiteren  Verlaufe 
des  Kampfes  machte  J.  die  unglückliche  Schlacht  bei  Idstedt  mit  und  erhielt 
dann  im  Februar  185 1  den  erbetenen  Abschied.  Auch  die  folgenden  Jahre 
brachten  ihn  seinem  Ziele  nicht  näher.  Zunächst  galt  es  der  Familie  eines 
Verwandten,  der  eine  Dampfmühle  besaß  und  von  den  Dänen  des  Landes 
verwiesen  war,  mit  Rat  und  Tat  zur  Seite  zu  stehen.  Hilfsbereit  übernahm 
J.  bis  zur  Gewinnung  einer  anderen  Kraft  die  Leitung  des  Unternehmens. 
Eine  Verkettung  von  Umständen,  besonders  der  Tod  des  Verwandten,  zwang 
ihn  jedoch,  drei  Jahre  in  dieser  unbefriedigenden  Stellung  auszuharren.  Dann 
erst  machte  er  sich  nach  Zeiten  schwerer  Arbeit  und  Sorge  auf  den  Rat 
seines  Vaters  von  den  übernommenen  Verpflichtungen  frei,  um  sich  nunmehr 


1 74  Jessen. 

mit  aller  Energie  dem  erwählten  Lebensberuf,  der  Lehrtätigkeit  auf  tech- 
nischem Gebiete,  zuzuwenden.  Damit  beschritt  er  den  Weg,  auf  dem  er  als 
geistvoller  Pfadfinder  Großes  leisten  und  zum  Organisator  des  gesamten 
deutschen  technischen  und  gewerblichen  Fortbildungsschulwesens  werden  sollte. 

J.  hatte  längst  erkannt,  daß  es  an  Schulen  fehlte,  die  angehenden  Poly- 
techniken! die  Möglichkeit  einer  gründlichen  wissenschaftlichen  und  zeich- 
nerischen Vorbildung  gewährten.  Er  beschloß  daher  in  seiner  Heimat  eine 
derartige  polytechnische  Vorbereitungs-Anstalt  ins  Leben  zu  rufen.  Mit 
größter  Gewissenhaftigkeit  und  Strenge  gegen  sich  selbst  begann  er  die  Vor- 
bereitungen, die  ihn  nicht  weniger  als  2^/2  Jahre  in  Anspruch  nahmen.  Er 
suchte  den  Rat  ausgezeichneter  und  bewährter  Fachleute,  namentlich  trat  er 
in  Beziehung  zu  dem  Mathematiker  Lübsen  und  dem  Maler  Heimerdinger 
in  Hamburg,  deren  Lehrmethoden  er  von  Grund  aus  studierte.  Femer  unter- 
nahm er  eine  neunmonatliche  Studienreise  durch  Deutschland  und  die  Schweiz. 
Zurückgekehrt  ließ  er  sich  im  Oktober  1856  dauernd  in  Altona  nieder,  das 
ihm  besonders  auch  wegen  der  Nähe  Hamburgs  als  der  geeignetste  Platz 
für  die  beabsichtigte  Gründung  erschien.  Welches  Vertrauen  er  bereits  genoß, 
erhellt  aus  der  Tatsache,  daß  die  Direktion  der  Altonaer  Sonntagsschule  ihm 
sofort  den  Unterricht  in  der  Mathematik  und  im  Freihandzeichnen  übertrug, 
während  die  Gewerbeschule  der  Patriotischen  Gesellschaft  in  Hamburg  ihn 
gleichzeitig  an  Lübsens  Stelle  auf  dessen  eigenen  Rat  hin  als  Lehrer  der 
Mathematik  und  Mechanik  berief.  Inzwischen  wurden  die  Vorbereitungen 
für  die  eigene  Schule  eifrigst  gefördert,  und  im  Mai  1857  konnte  J.  seine 
polytechnische  Vorbildungsanstalt  in  Altona  eröffnen.  Reicher  Erfolg  lohnte 
binnen  kurzem  alle  aufgewandte  Mühe.  Die  Zahl  der  Schüler  wuchs  von 
Jahr  zu  Jahr,  namentlich  aus  Hamburg  stellten  sich  allmählich  so  viele  ein, 
daß  das  Institut  1860  dorthin  verlegt  wurde. 

In  Hamburg  entstanden  in  den  folgenden  Jahren  verschiedene  Pläne  zur 
weiteren  Ausgestaltung  des  Gewerbeschulwesens,  Die  Patriotische  Gesellschaft 
nahm  die  Angelegenheit  in  die  Hand,  bald  traten  auch  Senat  und  Bürger- 
schaft der  Frage  näher.  J.  war  bei  den  Vorbereitungen  in  hervorragender 
Weise  beteiligt,  unternahm  Informationsreisen  und  stellte  seine  ganze  Kraft 
in  den  Dienst  der  Sache.  Am  5.  Oktober  1864  beschloß  der  hamburgische 
Staat  die  Errichtung  einer  allgemeinen  Gewerbeschule  sowie  einer  Schule  für 
Bauhandwerker,  und  am  13.  Februar  1865  wurde  J.  zum  Direktor  beider 
Schulen  erwählt.  Am  7.  Mai  1865  wurde  die  Gewerbeschule  mit  190  Schülern 
eröffnet,  nach  fünf  Jahren  zählte  sie  bereits  1000,  im  Wintersemester  1879/80 
über  2000  Schüler.  Diesen  glänzenden  Erfolg  verdankte  die  Anstalt  in 
erster  Linie  ihrem  genialen  Direktor,  der  »unermüdet  das  Nützliche,  Rechte 
schuf«.  Seine  allumfassende  Tüchtigkeit,  seine  strenge  Ausbildung  der 
Unterrichtsmethoden  sowie  die  Art  und  Weise,  wie  er  sie  den  praktischen 
Bedürfnissen  anzupassen  verstand,  die  mit  sicherem  Blick  getroffene  Auswahl 
geeigneter  Lehrkräfte,  vor  allem  aber  der  tief  sittliche,  urgesunde  Geist,  der 
von  der  Persönlichkeit  des  Leiters  ausgehend  die  Schule  in  allen  ihren 
Gliedern  mit  lebendiger  Kraft  durchdrang,  dies  alles  bewirkte,  daß  die  Saat, 
die  J.  gesät,  so  tausendfältige  Frucht  trug.  Die  allergrößte  Sorgfalt  ver- 
wandte er  von  jeher  auf  den  Zeichenunterricht,  und  die  von  ihm  aus- 
gearbeitete   Methode    hat    vielfach    als   Muster  und  Vorbild   gedient.     Auch 


'    Jesseu.  175 

außerhalb  seines  eigentlichen  Berufes  wirkte  er,  wo  er  konnte,  im  Dienst 
seiner  Sache.  Lebhafte  Teilnahme  brachte  er  der  Bewegung  entgegen,  die 
sich  die  Förderung  weiblicher  Erwerbstätigkeit  zum  Ziel  setzte,  und  die  im 
Mai  1867  in  Hamburg  errichtete  Gewerbeschule  für  Mädchen  verdankt  ihre 
Entstehung  hauptsächlich  seiner  Initiative.  Auch  zahlreichen  gemeinnützigen 
Vereinen,  wie  dem  »Gewerbeverein«,  dem  »Bildungsverein  für  Arbeiter« 
lieh  er  seine  bewährte  Kraft  und  leistete  ihnen  unschätzbare  Dienste.  Ham- 
burg war  mit  Recht  stolz  auf  diesen  hervorragenden  Mann  und  hat  ihn  sehr 
ungern  hergegeben,  als  im  Jahre  1880  der  ehrenvolle  Ruf  an  ihn  erging,  als 
Direktor  der  in  Berlin  zu  gründenden  Handwerkerschule  dorthin  über- 
zusiedeln. Auch  J.  wurde  das  Scheiden  von  Hamburg  nicht  leicht,  die  Aus- 
sicht aber,  sein  Lebenswerk  in  einem  noch  größeren  Wirkungskreise  unter 
den  denkbar  günstigsten  Verhältnissen  weiterzuführen  und  seinen  Ideen  in 
einem  Zentrum  deutscher  Bildung  weiteste  Geltung  zu  verschaffen,  bestimmte 
ihn  schließlich,  dem  Ruf  nach  Berlin  zu  folgen.  Der  Anfang  war  nicht 
leicht,  doch  mit  jugendfrischem  Mut  überwand  J.  alle  Schwierigkeiten,  und 
im  Oktober  1880  konnte  die  nach  seinen  Grundsätzen  eingerichtete  Anstalt 
mit  268  Schülern  eröffnet  werden.  Auch  hier  blieb  der  Erfolg  nicht  aus, 
rasch  blühte  die  junge  Schule  empor,  von  allen  Seiten  strömten  die  Lernen- 
den ihr  zu,  bald  wuchs  ihre  Zahl  auf  mehr  als  2000  und  nahm  auch  dann 
noch  zu,  als  im  Jahre  1892  eine  zweite  Handwerkerschule  für  den  Südosten 
Berlins  ins  Leben  gerufen  wurde.  Mit  unvergleichlicher  Elastizität  und  nie 
versagender  Treue  bewältigte  J.  die  stets  sich  mehrende  Arbeitslast,  von  früh 
bis  spät  der  erste  und  letzte  am  Platz.  Nebenher  erledigte  er  noch  die 
gleichfalls  im  Jahre  1880  im  Auftrage  des  Kultusministeriums  übernommene 
Inspektion  des  Zeichenunterrichts  in  den  preußischen  Gewerbeschulen. 
Außerdienstlich  konnte  er  sich  nach  wie  vor  trotz  seiner  vorgerückten 
Lebensjahre  in  fürsorgender  Tätigkeit  nie  genug  tun.  Es  mag  nur  an  seine 
Verdienste  um  den  Verband  deutscher  Gewerbeschulmänner  erinnert  werden, 
dessen  Griindung  von  ihm  ausging,  in  dem  er  lange  Jahre  den  Vorsitz  führte, 
und  der  ihn  dann  später  zu  seinem  Ehrenvorsitzenden  ernannte.  Auch  sonst 
hat  es  J.  an  mancherlei  Auszeichnungen  nicht  gefehlt.  1899  erhielt  er  vom 
König  von  Preußen  die  »Medaille  für  Verdienst  um  die  Gewerbe  in  Gold«. 
Welches  Maß  von  Liebe  und  Verehrung  er  überall  genoß,  bewies  besonders 
die  Feier  seines  70.  Geburtstages  am  26.  Dezember  1896,  die  sich  zu  einer 
begeisterten  Huldigung  gestaltete.  Und  fürwahr,  wer,  der  diesen  Mann 
kannte,  sei  es,  daß  er  als  Schüler  zu  seinen  Füßen  gesessen,  daß  er  als 
Lehrer  mit  ihm  gearbeitet,  oder  daß  er  sonst  in  den  Kreis  seines  Lebens 
getreten,  wer  hätte  ihm  nicht  Liebe  und  Verehrung  entgegenbringen  sollen  1 
»Einfach  und  schlicht  im  Denken  und  Fühlen,  ein  echter  Sohn  seiner 
nordischen  Heimat,  übte  er  durch  die  ruhige  Klarheit  und  die  ernste  Be- 
stimmtheit seines  Wesens,  gepaart  mit  einem  Wohlwollen,  das  ihm  aus  den 
Augen  abzulesen  war,  eine  große  Anziehungskraft  auf  jüngere  und  ältere 
Menschen  aus,  und  die  Macht,  die  dann  von  seinem  Wort  und  von  der  ihm 
innewohnenden  Energie  ausging,  war  so  stark,  daß  nicht  viele  sich  ihr  ent- 
ziehen konnten.  Er  betrat  mit  seiner  Arbeit  ein  wenig  bebautes  Gebiet. 
Wie  er  seine  Aufgabe  auffaßte,  hatte  er  keine  Vorgänger,  mußte  sich 
selbst   die  Wege  schaffen.     Seine  eigenartige  Entwicklung   kam   ihm   dabei 


I  ^6  Jessen.     Watterich. 

besonders  glücklich  zustatten.  Nur  ein  Mann,  der  aus  einer  so  trefflich  ge- 
bildeten Familie  kam  und  in  seinem  Wissen  und  Können  so  über  der  Sache 
stand,  der  ohne  Voreingenommenheit  und  ohne  Selbstsucht  nur  der  Sache 
dienen  wollte,  konnte  auf  dem  neuen  Gebiete  solche  Erfolge  haben.  Sein 
Wollen  und  Vollbringen  war  durch  und  durch  von  sittlichen  Triebkräften 
bewegt.  Er  lebte  der  Überzeugung,  daß  unter  den  Mitteln  der  Erziehung 
keines  höher  stehe  als  die  Arbeit,  und  daß  der  Erfolg  dem  Erzieher  nicht 
fehlen  könne,  der  es  verstehe,  seiner  Jugend  die  Liebe  zur  Arbeit  an  sich 
und  die  Freude  an  ihr  einzuflößen.  Der  talentvolle,  kenntnisreiche,  an- 
spruchslose und  reinsittliche  Mann  predigte  so  lange  er  lebte,  das  hohe  Lied 
der  Arbeit,  der  Arbeit  für  den  Beruf,  der  Arbeit  für  andere,  der  Arbeit  an 
sich  selbst.«     (Glinzer.) 

Ein  gütiges  Geschick  hat  J.  davor  bewahrt,  schwindender  Kräfte  halber 
der  Arbeit,  die  sein  Leben  war,  entsagen  zu  müssen.  Ein  sanfter,  rascher 
Tod  nahm  ihn  mitten  aus  seiner  Tätigkeit  hinweg.  Die  Ideale  aber,  die 
das  Ziel  seines  Strebens  waren  und  die  er  in  lebendige,  festgegründete 
Wirklichkeiten  umgesetzt  hat,  sie  wirken  fort  und  fort,  ein  Segen  für  Tausende. 
Vgl.  E.  Glinzer,  Lebensbild  von  Olto  Jessen.  (15  S.,  Sep.-Abdr.  aus  der  »Zeitschrift 
f.  gewerblichen  Unterricht«,  Jg.  19,  Nr.  9);  2.  Aufl.  (32  S.  mit  2  Bildnissen  aus  J.s  54.  u. 
70.  Lebensjahre)  Leipzig  1904.  —  O.  Fache,  Handbuch  des  deutschen  Fortbildungsschul- 
wesens. Teil  I.  Wittenberg  1896,  S.  i — 20  (»Direktor  Otto  Jessen«  mit  Bildn.).  —  »Monats- 
hefte für  graphisches  Kunstgewerbe«,  Jg.  2,  1904,  S,  56  (Nekrolog  v.  \V.  Geißler).  — 
»Pädagogische  Zeitung«,  Jg.  33,  1904,  S.  279.  —  »Der  Mechaniker«,  Jg.  5,  1897,  S-  5/^ 
(L.  Levy,  O.  J.).  —  O.  W.  Beyer,  Deutsche  Schul  weit  des  19.  Jahrh,  Leipzig  und  Wien 
1903,    S.    131/132    (Bildn.).    —   Alberti,    Schriftstelleriexikon,    1866 — 1882,    i,  S.   334/335. 

Joh.  Sass. 

Watterich,  Johann  Baptist  Matthias,  katholischer  Theologe  und  Historiker, 
*  21.  Dezember  1826  zu  Trier,  f  10.  Januar  1904  im  Kloster  Beuron.  ^ 
W.  besuchte  das  Gymnasium  zu  Trier  und  machte  am  Seminar  daselbst  die 
philosophischen  und  theologischen  Studien,  bis  1848.  Im  Oktober  1849 
wurde  er  in  Trier  zum  Priester  geweiht,  nachdem  er  inzwischen  1848  die 
Universität  Bonn  bezogen  hatte,  wo  er  noch  sieben  Jahre  zuerst  philo- 
sophische, dann  besonders  historische  Studien  betrieb.  Während  dieser  Zeit 
promovierte  er  1853  in  Münster  zum  Dr.  phii.  1855  wurde  er  zum  außer- 
ordentlichen Professor  der  Geschichte  am  Lyceum  Hosianum  in  Braunsberg 
ernannt,  wo  er  Ostern  1856  seine  Vorlesungen  begann.  1857 — 1858  weilte 
er,  zu  Studienzwecken  auf  ein  Jahr  beurlaubt,  in  Rom,  mit  der  Vorbereitung 
der  Herausgabe  der  Vitae  Pontificum  beschäftigt.  1863  legte  er  als  Ordinarius 
seine  Professur  nieder  und  war  von  da  bis  1870  Pfarrer  zu  Andernach  am 
Rhein,  1870 — 1871  Bibliothekar  an  der  Paulinischen  Bibliothek  zu  Münster  i.  W. 
1872  wurde  er  Feldgeistlicher  in  Diedenhofen,  dann  Divisionspfarrer  in 
Straßburg.  Seit  den  Jahren  seines  Bonner  Aufenthalts  mit  dem  nachmaligen 
altkatholischen  Bischof  Reinkens  und  dessen  Kreise  intim  befreundet,  schloß 
er  sich  im  Frühjahr  1874  dem  Altkatholizismus  an;  1875  wurde  er  altkatholischer 
Pfarrer  in  Basel,  1879 — 1887  war  er  als  solcher  in  Baden-Baden  tätig,  worauf 
er  das  Amt  niederlegte  und  seitdem  dort  privatisierte.  Anfang  1902  kehrte 
er  im  Kloster  Beuron  zur  katholischen  Kirche  zurück,  wurde  April  1902 
unter    die    Oblaten    des    Benediktinerordens    aufgenommen    und    verbrachte 


Watterich.     FuX. 


177 


daselbst  nach  einem  vielbewegten  Leben  seine  letzten  Lebenstage  in 
stillem  Frieden.  —  W.s  wertvollste  wissenschaftliche  Leistung  ist  das  Quellen- 
werk: ^Pantificum  Romanorum  qiu  fuerunt  inde  ab  exeunte  scteculo  IX  usque 
ad  finem  saeculi  XIII  Vitae  ah  aequalibus  canscriptae^  quas  ex  Archivi  P&ntificit, 
Bibliothecae  Vaticanae  aliarumque  codicibus  adiectis  suis  cuique  et  annalibus  et 
documentts  gravioribus  ed.  J.  M.  Watterich<i.  (Bd.  I  und  II,  Leipzig  1862,  von 
Johannes  VIII.  bis  Cölestin  IlL,  872 — 1198,  gehend;  der  noch  fehlende 
3.  Band  ist  nicht  erschienen).  Die  übrigen  Schriften  aus  seiner  katholischen 
Zeit  waren  vorzugsweise  der  deutschen  Geschichte  gewidmet:  ^De  veterum 
Germanorum  nobilitate^f^  (Diss.,  Münster  1853);  »Die  Gründung  des  deutschen 
Ordensstaates  in  Preußen«  (Habilitationsschrift,  Leipzig  1857);  ^De  Lucae 
Watzelrode  Episcopi  Warmiensis  in  N'uolaum  Copemicum  meritis<i^  (Antrittsrede, 
Königsberg  1856);  »Gottfried  von  Straßburg,  ein  Sänger  der  Gottesminne« 
(Leipzig  1858);  »Nikolaus  Koppemik  ein  Deutscher«  (Zeitschrift  für  die  Ge- 
schichts-  und  Altertumskunde  Ermlands,  i.  Bd.,  2.  Heft,  1859);  »Bonizos 
Schrift  ad  amia4m<^  (im  Braunsberger  Index  lectianum  1862);  »Der  deutsche 
Name  Germanen  und  die  ethnographische  Frage  vom  linken  Rheinufer. 
Eine  historische  Untersuchung«  (Paderborn  1870);  »Die  Germanen  des  Rheins, 
ihr  Kampf  mit  Rom  und  der  Bundesgedanke.  (Die  Sigambern  und  die  An- 
fänge der  Franken)«  (Leipzig  1872).  Aus  seiner  altkatholischen  Periode  sind 
als  wichtigere  Arbeiten  zu  nennen:  »Die  Ehe,  populärwissenschaftlich 
dargestellt  von  einem  katholischen  Theologen«  (anonym,  Nördlingen  1874); 
2.  Auflage  unter  seinem  Namen  mit  dem  Titel:  »Die  Ehe,  ihr  Ursprung,  ihr 
Wesen,  und  ihre  Weihe,  nach  Gottes  Wort  und  Tat  dargestellt«  (1876);  »Das 
Neue  Testament,  aus  dem  Griechischen  übersetzt«  (Baden-Baden  1887);  »Die 
Psalmen,  aus  dem  Hebräischen  ins  Deutsche  übersetzt  und  erläutert«  (Baden- 
Baden  1890);  »Das  Passah  des  neuen  Bundes.  Eine  theologische  Be- 
trachtung« (Baden-Baden  1889);  »Der  Konsekrationsmoment  im  heiligen 
Abendmahl  und  seine  Geschichte«  (Heidelberg  1896);  »Die  Gegenwart  des 
Herrn  im  heiligen  Abendmahl.  Eine  biblisch-exegetische  Untersuchung« 
(Heidelberg  1900). 

Vgl.  C.  Weite,  Prof.  J.  B.  Watterich;  »Katholik«  1904,  I,  S.  161  — 175.  —  »Literarischer 
Handweiser«  1904,  Nr.  i,  Sp.  38  f.  —  J.  Bender,  »Geschichte  der  philos.  u.  theol.  Studien 
in  Ermland«  (Braunsberg  1868),  S.  174.  —  E.  Raßmann,  »Nachrichten  von  dem  Leben 
und  den  Schriften  Münsteriändischer  Schriftsteller«,  Neue  Folge  (Münster  1881),  S.  236. 

F.  Lauchert. 

Fux,  Josef,  Maler,  *  1842  zu  Steinhof  in  Niederösterreich,  f  30.  März  1904 
in  Wien.  —  An  der  Wiener  Akademie  studierte  F.  seit  1856  unter  Rüben, 
Engerth,  Mayer  und  Wurzinger,  seine  eigentlichen  künstlerischen  Vorbilder 
waren  aber  die  Werke  von  Makart  und  Matejko;  seine  Vorliebe  für  Kostüm- 
pracht und  Farbenglanz  im  Verein  mit  einer  Begabung  für  das  Dekorative 
heßen  ihn  als  hervorragende  Kraft  auf  dem  Gebiete  der  Theaterausstattung 
erscheinen,  wo  er  auch  in  der  Tat  seine  schönsten  Erfolge  feiern  sollte. 
Anfangs  machte  er  sich  durch  mehrere  Genrebilder  bekannt,  z.  B.  »Tauben- 
opfer«, »Savoyarde  mit  Affen«,  »Hofkonzert  bei  Kaiser  Leopold«,  sowie  auch 
durch  einige  lebensvolle  Porträts.  Sein  Talent  für  Kostümarrangements  kam 
glänzend  zur  Geltung,   als  ihn  Makart   mit  einem  Teile  der  Arbeit  an  dem 

Bio^.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekroloj^.    9.  Bd.  12 


178 


Fux.     Afimus. 


Festzug  zur  silbernen  Hochzeit  des  österreichischen  Kaiserpaares  (1879)  be- 
traute. Eine  Gruppe  aus  dem  Zuge,  den  Jagdzug  mit  den  Grafen  Wilczek 
und  Breuner  als  Führer,  malte  F.  als  großen  Fries  in  Aquarell,  der  sich  im 
Besitze  des  Kaisers  befindet.  Seine  Haupttätigkeit  begann,  als  er  von  Dingel- 
stedt  zum  Leiter  des  Ausstattungswesens  am  Burgtheater  gewählt  wurde. 
Gestützt  auf  sorgfältiges  Studium  der  Architektur  und  Kostümgeschichte, 
führte  sein  dekoratives  Geschick  eine  künstlerische  Renaissance  auf  dem 
Gebiete  der  Dekorationen  und  Kostüme  herbei.  Das  Bedeutendste  schuf  er 
in  den  Entwürfen  zu  den  Königsdramen  Shakespeares.  Allgemein  bekannt 
ist  der  Hauptvorhang  des  Burgtheaters,  den  er  mit  Hilfe  seines  Schülers 
Leopold  Burger  ausführte,  eine  allegorische  Darstellung  mit  Frau  Wolter  als 
tragischer  und  Frau  Schratt  als  heiterer  Muse.  Auch  für  die  Reorganisation 
der  Porträtgalerie  des  Burgtheaters  war  F.  tätig  und  malte  drei  Porträts  für 
dieselbe :  Bernhard  Baumeister  als  Richter  von  Zalamea,  Ernst  Hartmann  als 
Prinz  in  »Emilia  Galotti«  und  Karl  Meixner  als  Schneider  Vansen  in  »Eg- 
mont«.  In  der  Galerie  in  Wien  befindet  sich  von  ihm  ein  Kostümporträt 
als  Rokokoszene,  »Dame  am  Schloßteich«,  im  kunsthistorischen  Museum  ein 
Aquarell  »Zur  Jagd«,  das  er  für  das  Kronprinz  Rudolf-Album  malte.  In 
den  letzten  Jahren  war  er  infolge  eines  schweren  Gehimleidens  nicht  mehr 
künstlerisch  tätig. 

Hevesi,  Österreichische  Kunst  im  19.  Jahrhundert.  1903.  —  Kunstchronik  XV.  — 
Kunst  für  Alle  XIX.  —  Boetticher,  Malerwerke  des  19.  Jahrhunderts.  1895 — 1901.  — 
Eisenberg,    Das  geistige  Wien.     1893.    —    Neue  Freie  Presse.     31.  März  1904. 

Hugo  Schmerber. 

Afimus,  Robert,  Architektur-  und  Landschaftsmaler,  *  25.  Dezember  1837 
zu  Stuhm  (Westpreußen),  f  30.  Mai  1904  zu  Dießen  (Ammersee).  —  A.  lernte  als 
Knabe  die  weit  gedehnten,  stillen  Heiden  und  einsamen  Föhrenwaldungen 
Polens  kennen,  welche  (ebenso  wie  früher  die  böhmischen  Wälder  auf  Moritz 
von  Schwind)  bei  einem  längeren  Ferienaufenthalte  einen  unvergeßlichen 
Eindruck  übten  und  in  beiden  die  Vorliebe  für  Stimmungsbilder  ä  la  Adalbert 
Stifter  begründeten.  Zu  Thom  besuchte  A.  das  Gymnasium,  dabei  erteilte 
ihm  der  Stillebenmaler  F.  W.  Völcker  (Sohn  des  Blumenmalers  G.  W.  Völcker) 
Unterricht  im  Zeichnen  und  Malen,  welches  A.  alsbald  auf  eigene  Faust 
draußen  im  Fischerdorf e,  am  Waldsee  oder  am  Mühlteich  weiter  betrieb. 
Als  in  kurzem  Zwischenräume  die  Eltern  starben,  galt  es  eine  Brotlaufbahn 
einzuschlagen ;  so  erlernte  er  nicht  ohne  Widerstreben  den  Buchhandel,  arbeitete 
jedoch  in  seinen  Freistunden,  brach  sich  an  Schlaf  ab,  um  in  stillen  Nächten 
Calamesche  Blätter  zu  kopieren  und  die  Mittel  zu  erwerben,  um  sich  1859  ^^ 
Berlin,  insbesondere  in  den  kostbaren  Galerien  von  Kavent  und  des  Konsul 
Wagner,  künstlerisch  zu  fördern.  Noch  in  demselben  Jahre  besuchte  A. 
Halberstadt,  durchwanderte  die  Felsen-  und  Waldtäler  des  Harzes,  saß  in 
den  Bildersammlungen  des  Dr.  Lucanus  und  Freiherm  von  Spiegel,  wobei 
K.  F.  Lessings  Landschaften  ihn  ganz  gefangen  nahmen.  Endlich  übersiedelte  er 
zum  Studium  der  Architektur  nach  Prag,  wo  er  1862  zugleich  die  journalistische 
Tätigkeit  begann.  In  Bild  und  Wort  gleich  mächtig,  legte  er  die  Resultate 
seiner  artistischen  Streifzüge  in  von  erklärenden  Texten  begleiteten  Holz- 
schnittzeichnungen in  der  »Gartenlaube«,  in  der  »Illustrierten  Zeitung«,  im 


Aßmus. 


179 


»Daheim«  und  bald  in  anderen  Zeitschriften  nieder  —  überall  ein  gern  ge- 
sehener  und    ständiger   Mitarbeiter.      Über    Dresden,    wo    ihn   insbesondere 
Ruysdael  fesselte,  übersiedelte  A.  nach  Leipzig  (1863),   dann  nach  Stuttgart, 
von  wo  aus  seine  Exkursionen  an  den  Bodensee,   in  die  Alpen  und  nach  Nord- 
italien gingen:   Überall  fand  der  sinnige  Künstler  reichlichen  Stoff  für  seine 
Mappen   und  stilgerechten  Schilderungen.     Durchweg  Autodidakt,    hatte  A. 
anfänglich  in  seinen  Ölbildern  mit  einer  gewissen  Härte    zu    kämpfen,   die 
jedoch  bald,  insbesondere  bei  den  feingestimmten  Aquarellen,   einer  klaren, 
harmonischen    Färbung    wich.      Für    die     »Gartenlaube«     lieferte    A.    eine 
Partie  aus  dem  alten  Judenfriedhof  in  Prag  (1862),   das   sagenumsponnene 
Schloß   Lichtenstein  (1864),    die    Tamina-Schlucht  (1866),    eine  Außen-  und 
Innen- Ansicht  des  neurestaurierten  Ulmer  Münsters  (1868),  die  »Neue  Schyn- 
straße  in  Graubünden  (1869);   im  »Daheim«   viele  zierliche  Croquis  aus  der 
Roßtrappe  und  Teufelsbrücke  des  Harzes  (1866),   aus  der  berühmten  »Bau- 
mannshöhle« (1867),  aus  dem  Halberstädter  Dom  und  Marktplatz  (1869),  von 
Rigi-Kulm   (1869).     Erwünschten  Raum   zu    größeren,   auch    doppelspaltigen 
Blättern  bot  ihm   die   »Illustrierte  Zeitung«   in  Leipzig,   darunter   die  Neue 
Markthalle    in  Stuttgart  (1864)    die   Kleinseite  und   der  Hradschin   zu   Prag 
(1866),  die  neue  evangelische  Kirche  zu  Stuttgart  (1866),  auch   zeichnete  er, 
eine  wahre  xylographische  Musterleistung,  »Die  Strandpartie  an  der  Küste  von 
Helgoland«  nach  dem  damals  sensationellen  Effektbilde  Christian  Morgensterns 
(1867),  den  Dom  und  Kreuzgang  zu  Konstanz  (1868),  abermals,  und  zwar  nach 
seinem  eigenen  ülbilde,  die  Partie  am  Regenstein  im  Harz  (1868),   und  die 
»Gemmi-Passage  im  Kanton  Wallis«,  eine  Partie  aus  der  Stuttgarter  Solitude 
(1869)  und  nach  E.  Hildebrandts  Aquarell  eine  malerische  »Straße  in  Kairo« 
(1869)  usw.     Und  alle  diese  Leistungen  bei  höchster  Wahrheit  mit  einer  ge- 
winnenden, an  Riefstahls  freien  Vortrag  erinnernden  Delikatesse,  welche  den 
Namen  des  Künstlers  unvergeßlich  machte  und  was  er  berührte,  zum  Kunst- 
werke   erhob.      Im    Jahre    1870    begab    sich    A.    im    Auftrag    des    Verlegers 
J.  J.  Weber  auf  den   Kriegsschauplatz,  von  wo  aus  er  Bilder  und  Berichte 
für  die  Leipziger  »Illustrierte  Zeitung«  veröffentlichte.     Während  des  Krieges 
reifte    bei  A.    die  Idee,    die    alten   Reichslande  Elsaß-Lothringen   mit   ihren 
Ruinen,  Burgen,   Schlössern,   Städten   und  Tälern  in   einem  Prachtwerk  dar- 
zustellen,  das  bei  Paul  Neff  in  Stuttgart  187 1  lieferungsweise  erschien,   aus- 
gestattet mit  45   ganzseitigen  Blättern   in  Tondruck   und    166  Illustrationen, 
wozu  Karl  Stieler  den  beschreibenden  Text  lieferte.     Drei  Jahre  lang  hatte 
A.  sein  dazu  benötigtes  Material  auf  seinen  Studien  gesammelt.     Seit  187 1  in 
München  seßhaft,  bereiste  A.  in  der  Folge  die  Karpathen,  den  Schwarzwald, 
die  Vogesen,  Oberitalien,  die  Schweiz,  Tirol  und  Süddeutschland,  die  ganze 
Nord-  und  Ostseeküste  (188 1)  usw.,  überall  köstliche  Stoffe  für  Bilder  und 
Holzschnitt-Zeichnungen  einheimsend,  welche  letztere  der   ebenso  mit  Stift 
wie  Feder  gewandte  Künstler  mit  gleich  anziehenden  Reise-Eindrücken  und 
Erinnerungen  versah.     Seine  Aquarelle  und  Ölbilder  hatten  Glück  und  fanden 
stete  und  freundliche  Aufnahme  in  Norddeutschland,  England  und  Amerika. 
Schon  1873  machte  er  sich  durch  ein  »Karpathendori«  im  Münchener  Kunst- 
verein bekannt,  darauf  folgte  das  »Innere  der  Kathedrale  zu  Metz«  und  eine 
»Christmesse  im  Straßburger  Münster«  (auch  in  Nr.  1642  der  »Illustr.  Ztg.« 
vom  19.  Dezember  1874,  S.  493),  gleichzeitig  erschien  »Der  Tanzsaal  im  Salz- 


12* 


1 8o  Aßmus.     Bauemfeind. 

bergwerk  Wieliezka«  (auch  im  »Daheim«  1874,  S.  317),  eine  »Partie  im  kgl. 
Hirschpark  Solitude  bei  Stuttgart«  (auch  in  den  Meisterwerken  der  Holz- 
Schneidekunst«  IV.  Bd.,  12.  Lief.,  Nr.  77);  sieben  Bilder  von  der  »Über- 
schwemmung im  Tiroler  Tauferertal«  (Nr.  1838  »lUustr.  Ztg.«  21.  September 
1878,  S.  216  u.  217),  gleich  darauf  (Nr.  1841  ebendas.  12.  Oktober  1878)  eine 
»Innenansicht  des  neurestaurierten  Münchener  Hof-  und  National-Theaters«, 
des  »Neptun-Saal  in  der  Internationalen  Kunstausstellung«  (mit  der  Statue 
des  jetzt  im  Bassin  des  Botanischen  Gartens  zu  München  sitzenden,  seine 
Zinkengabel  schwingenden  Wassergottes  von  dem  leider  schon  1890  ver- 
storbenen Paul  Sayer,  vgl.  Nr.  1895  »lUustr.  Ztg.«  25.  Oktober  1879  S.  338), 
»Bilder  aus  dem  Schwarzwald«  (»Deutscher  Hausschatz«  1881,  S.  472  u.  473) 
und  die  »Ruine  des  Klosters  Allerheiligen  im  Schwarzwald«  (ebendas.  1881, 
S.  261).  Inzwischen  hatte  A.  einen  Abstecher  nach  Mi  tau,  Riga  und 
Reval  gemacht  und  reiche  Ausbeute  für  die  »Gartenlaube«  heimgebracht. 
Der  Ruhm  von  Josef  Victor  von  Scheffels  »Trompeter«  führte  ihn  nach 
Säkkingen,  welches  ihm  Stoff  zu  zwei  allerliebsten  Ölbildern  lieferte:  den 
»Abschied«  (»Zur  guten  Stunde«  i.  Heft  1890  und  Nr.  2586  »lUustr.  Ztg.« 
21.  Jan.  1893)  und  die  mit  besagter  Dichtung  freilich  nicht  zusammenhängende 
»Einkehr  am  Krug  zum  grünen  Kranze«  (1891  ebendas.).  Auch  aus  dem 
Münchener  Leben  brachte  er  viele  Szenen,  von  der  neuen  Isartalbahn,  den 
Geländen  des  Starnbergersees,  von  der  Donau,  dem  Salzburgerlande  (1894), 
vom  Schafberg  und  den  neuentdeckten  »Wetterlochhöhlen«  (1897  »Für  Alle 
Welt«  3.  Heft),  von  dem  auch  durch  Scheffel  in  dessen  »Bergpsalmen«  be- 
sungenen St.  Wolfgang  usw.  Das  nimmermüde,  stets  neue  Schätze  hebende 
Wanderleben  endete  unerwartet  am  Ammersee.  —  Eine  überraschende 
Menge  von  ganz  vollendeten  Handzeichnungen  wurde,  zugleich  mit  Robert 
Beyschlags  Nachlaß,  durch  Karl  Maurer  im  November  1904  versteigert. 

Vgl.  Nagler-Meyer  1878,  II,  354.  Fr.  v.  Bötticher  1895,  h  42.  Singer  1895,  I.  44 
(8  Zeilen).  »Das  geistige  Deutschland«  1898,  S.  17.  H.  A.  L.  Degener  »Wer  ist's?« 
Leipzig  1905,  S.  17  (wo  der  Künstler  als  noch  lebend  aufgeführt  ist). 

Hyac.  Holland. 

Bauernfeind,  Gustav,  Architektur-  und  Historienmaler,  *  4.  September 
1848  als  der  Sohn  eines  Apothekers  zu  Sulz  (am  Neckar),  f  24.  Dezember 
1904  in  Jerusalem.  —  B.  kam  dreijährig  mit  seinen  Eltern  nach  Stuttgart, 
erhielt  eine  gründliche  Bildung  daselbst  in  den  Schulen,  insbesondere  am 
Polytechnikum,  wo  er  er  sich  der  Architektur  widmete  und  mit  Abschluß 
des  Staatsexamens  in  Praxis  trat.  Frühzeitig  zeichnend  nach  dem  Vorbilde 
seines  Landsmannes  G.  Schönleber,  brachte  B.  von  einer  Schweizerreise  eine 
stattliche  Reihe  von  Aufnahmen  und  Studien  mit,  welche  er  teilweise  zu 
Bildern  und  Holzschnittzeichnungen  verwendete,  die  bald  zur  weiteren  ver- 
dienten Geltung  gelangten  und  später  noch  fleißig  in  illustrierten  Zeitschriften 
reproduziert  wurden.  Darunter  eine  mittelalterliche  »Ritterburg«  (in  »Deutscher 
Hausschatz«  1880,  VI,  24);  »Hof  des  Rathauses  in  Basel«  (ebendas.  VI,  473); 
das  »Spalentor  und  der  Holbein-Brunnen  in  Basel«  (ebendas.  VI,  469);  ein 
»Städtebild  im  XV.  Jahrhundert«  (nachmals  im  »Kränzchen«  1890,  S.  189)  — 
die  man  geradezu  als  architektonische  Novellen  bezeichnen  könnte.  Von 
weiteren,  in  immer  größeren  Radien  unternommenen  Ausflügen  und  Studien- 


Bauemfeind.  I  g  I 

reisen,  insbesondere  nach  Italien,  die  früheren  Denkmale  der  Baukunst  mit 
dem  heutigen  Volksleben  in  ihrer  vereinenden  Wechselwirkung  in  glück- 
lichster Weise  scharf  beobachtend,  gestaltete  er  diese  Eindrücke  als  gründ- 
licher Zeichner  und  virtuoser  Kolorist  zu  neuen,  höchst  anziehenden  Bildern. 
Herrliche  Beiträge  lieferte  B.  zu  dem  von  den  besten  Zeitgenossen,  darunter 
E.  Kirchner,  L.  Passini,  Riefstahl,  Kaulbach  und  vielen  anderen  reich 
illustrierten  Prachtwerke  »Italien  von  den  Alpen  bis  zum  Ätna«  (mit  Schilde- 
rungen von  Karl  Stieler,  C.  Paulus  und  W.  Kaden  (Stuttgart  1876  bei 
J.  Engelhorn,  mit  Holzschnitten  von  A.  Cloß).  Noch  schneller  errang  B. 
die  verdiente  Popularität  durch  die  überraschend  durchgeführten  Ölbilder, 
welche  namentlich  mittels  seiner  bei  L.  von  Loefftz  in  München  erhaltenen 
technischen  Schulung  und  Anregung  seinen  Namen  begründeten.  Wirklich 
epochemachend  wirkte  die  Darstellung  der  »Piazza  d*  Erbe  in  Verona«  (1879), 
staffiert  mit  dem  dort  wogenden  Volksleben,  welches  auch  Adolf  Menzel  zu 
einem  Bilde  erwählte.  Der  unerschöpfliche  Stoff  gestattete  ja  auch  die 
weiteste  Konkurrenz.  Wärmer  noch  und  womöglich  anmutender  wirkt  bei  B. 
diese  berückende  S)rmphonie  des  alle  unsere  Sinne  gefangen  nehmenden, 
pochend  vorüberrauschenden  Menschentreibens:  Man  glaubt  das  tolle, 
schnatternde  Gewirr  aller  möglichen  Stimmen,  das  betäubende  Geknäufe  und 
lachende  Scherzo  dieser  Weiber  und  Mädchen,  Händler  und  Verkäufer,  die 
inmitten  der  aufgestappelten  Küchenschätze  unter  einem  Meer  von  riesigen, 
zeltartigen  Sonnenschirmen  sitzen,  nicht  allein  zu  hören,  sondern  auch  die 
ganze  morgenfrische  Atmosphäre  des  Obst-  und  Blumenduftes  einzuatmen. 
Und  darüber  diese  hochragende,  architektonische  Umrahmung  der  alten 
Häuser  und  stolzen  Paläste,  vom  italienischen  Himmel  überblaut:  Eine  un- 
vergeßliche Leistung!  —  In  der  auserlesenen  Sammlung  von  Lichtdrucken 
nach  »Handzeichnungen  deutscher  Meister«  (Stuttgart  1878)  erschien  neben 
Meyerheim,  Vautier  und  Werner  ebenbürtig  unser  B.,  welcher  sich  immer 
tiefer  in  Italien  akklimatisierte:  Welch  lauschiges  Winkelwerk  hatte  er  in 
Venedig  entdeckt!  Und  mit  welcher  Verve  von  Stift  und  Farbe  wußte  er 
diese  Fundstücke  aus  Florenz,  der  Certosa  di  Pavia  wiederzugeben.  Auch 
auf  das  Kleinste  drückte  er  den  Stempel  seiner  originellen  Sprache.  So 
wählte  er  als  Titelblatt  für  die  neue  Auflage  von  Franz  von  Rebers  »Ruinen 
Roms«  (Leipzig  1879)  die  restaurierte  Ansicht  des  Forums  in  der  Kaiserzeit. 
Mit  einem  Ölbilde  der  »Kathedrale  von  Palermo«  (später  in  Nr.  27  »Über 
Land  und  Meer«  1889,  Bd.  62,  S.  580)  nahm  B.  längeren  Abschied  von 
Italien.  Die  Sehnsucht  nach  dem  Orient  trieb  ihn  1880 — 82  zu  ein^r  Reise 
nach  Ägypten,  Palästina  und  Syrien,  welche  er  1888  wiederholte  und  auch 
auf  Damaskus  mit  einem  sechsmonatlichen  Aufenthalte  ausdehnte.  Neue 
überraschende  Proben  seiner  weitergereiften  Kunst  erschienen  im  Münchener 
Kunstverein.  B.  begann  sein  neues  Programm  mit  einer  »Straßenansicht  aus 
Kairo«  (1881):  Das  tiefe,  flimmernde,  sprichwörtliche  Blau  des  südlichen 
Himmels,  das  blendende  Licht  auf  den  grell  weißen  Mauerflächen  der  Häuser, 
die  dunklen,  blauschwarzen  Schlagschatten,  die  jeder  Gegenstand  wirft  mit- 
samt der  schreienden  Farbigkeit  der  Staffage  ist  köstlich,  mit  exakter 
Sicherheit  und  genialer  Leichtigkeit  wiedergegeben.  Schon  1882  folgte  die 
»Tempelruine  in  Baalbeck«  (welche  in  der  Neuen  Pinakothek  eine  würdige, 
bleibende  Aufnahme  fand),  eine  elegisch    erschütternde  Rhapsodie  aus    der 


l82  Bauemfeind. 

Weltgeschichte:  Die  wie  für  die  Ewigkeit  gebaute  Säulenkolonnade  ist  nur 
noch  teilweise  mit  den  Kapitalen  bekrönt;  einer  dieser  Riesenmonolithe  hat 
sich  (ein  ähnliches  Motiv  bietet  sich  ja  auch  in  Kamak)  dienstmüde  an  die 
Mauer  gelehnt,  die  wie  der  geborstene  Giebel  über  Nacht  stürzen  kann; 
ein  ungestalter  Trümmerhauf  umlagert  die  Sockel  und  heiligen  Stufen;  im 
fernen  Hintergrunde  ist  eine  weißblendende  moslemitische  Stadt  an  einem 
kahlen  Bergzug  gelagert.  ^Sic  transit  gloriaW  In  solch  lapidaren  Welt- 
rätseln spricht  die  Weltgeschichte!  Darauf  erwarb  die  Pinakothek  fünfzehn 
ausgeführte  Aquarelle  aus  Jerusalem;  die  gestürzte  Königin  des  »heiligen 
Landes«  fesselte  damals  schon  das  Herz  des  Malers.  Seit  Ulrich  Halb- 
reiter (vgl.  Allg.  Deut.  Biogr.  X,  403)  hatte  sich  kein  Künstler  mit  diesem 
Lande  befaßt,  welches  neben  seiner  überwältigenden  historischen  Ver- 
gangenheit eine  solche  Fülle  malerischer  Ausbeute  bietet.  B.  zeichnete 
und  malte  das.  Straßenlabyrinth,  die  Bauwerke  des  Tempelplatzes  (Nr.  4 
»Über  Land  und  Meer«  1891,  Bd.  65,  S.  572),  den  mit  Steingeröll  umgebenen 
Teich  Bethesda,  die  Golgatha-Kapelle,  die  in  frühere  Bäder  eingenisteten 
Kafeebuden  —  alles  mit  den  merkwürdigsten  Staffagen  und  charakteristischen 
Gestalten  bevölkert.  Eine  Anzahl  solcher  Typen,  Figuren  und  Trachten 
lieferte  B.  später  in  sorgfältigster  Ausführung  für  England  —  eine  bisher 
völlig  unbekannt  gebliebene  Kollektion.  Dann  folgten  Ansichten  und  Details 
aus  der  großen  »Moschee  in  Damaskus«  (Nr.  35  »Über  Land  und  Meer«  1894, 
Bd.  72,  S.  717)  mit  der  von  Kaiser  Arkadius  395 — 408  erbauten,  seit  dieser  (aus 
dem  Jahre  1889  stammenden)  Aufnahme  1892  gänzlich  abgebrannten  Basilika, 
enge  Brunnen,  Tore  und  andere  unser  lebhaftes  Interesse  beanspruchende 
Bauüberreste  und  sinnberückende  »Straßenszenen  aus  Damaskus«  (Nr.  29 
»Über  Land  und  Meer«  1896  Bd.  76  und  Nr.  26  »Illustr.  Welt«  1897,  S.  629); 
ein  »Markt  in  Jaffa«  und  die  »Einschiffung  türkischer  Truppen«  im  dortigen 
Hafen,  mit  abschiedklagenden  Soldatenweibem  und  jammernden  Kindern  im 
Vordergrunde.  Dann  kamen  Ansichten  der  neuen  Schwaben-Kolonien,  wobei 
die  Landschaft  an  der  Bahnlinie  Jaffa- Jerusalem,  die  Hauptstraße  in  Haifa 
und  Rephaim,  die  Ankunft  der  ersten  Lokomotive  in  der  heiligen  Stadt 
(Nr.  23  »Gartenlaube«  1898,  S.  379 — 385  mit  begleitendem  Text  von  Schmidt- 
Weißenfels)  immer  neue  Stoffe  boten.  Ist  ja  doch  durch  die  jüngsten  An- 
siedelungen der  wackeren  Schwaben  in  Jaffa  und  Tiberias,  durch  Kaiser 
Wilhelms  Besuch  im  alten  Zion  und  durch  neuere  Reisende  aller  Art  erhöhtes 
Augenmerk  auf  dieses  Land  gerichtet,  wo  sogar  beturbante  Bahnwärter 
und  nimmermüde  Lastträger  und  Dolmetscher  mit  den  breiten,  langgezogenen 
Vokalen  und  dem  unnachahmlichen  Verschlucken  der  arabischen  Endsilben 
ihre  acht  alemanisch-suevische  Abstammung  beweisen.  —  Nachdem  B.  im 
Jahre  1888  einen  neuen  sechsmonatigen  Abstecher  nach  Damaskus  und  das 
in  seinen  grandiosen  Ruinen  staunenswerte  Palmyra  unternommen  hatte, 
ließ  er  sich  im  folgenden  Jahre  in  München  nieder,  baute  seinen  eigenen 
Herd  und  ging,  von  treuen  Freunden  und  in  erster  Reihe  durch  Prof.  von 
Loefftz  mit  Rat  und  Tat  unterstützt,  an  die  Ausarbeitung  seiner  massenhaft 
eingeheimsten  Studien,  unterstützt  durch  eine  Menge  von  Kostümen,  Waffen, 
kulturhistorischen  Geräten  und  photographischen  Behülfen.  Ein  volles  De- 
zennium hielt  er  wacker  aus,  schuf  mit  ausdauerndem  Fleiße,  seine  Schätze 
und  Ausbeute  verwertend,   entzückende  Bilder,  bis  ihn   die  Sehnsucht  nach 


Bauernfeind.  jg^ 

dem  gelobten  Lande  neuerdings  packte  und  er  mit  Frau  und  Kind  nach 
Jerusalem  übersiedelte,  wo  er,  nicht  nur  seinen  deutschen  Landsleuten  ein 
treuer  Handweiser  und  Berater,  sondern  ein  unermüdlicher  Sammler,  Zeichner 
und  Maler,  an  der  unerschöpflichen  Quelle  seiner  Kunst  sitzend,  das  Abend- 
land mit  seinen  artistischen  Schätze  bereicherte  und  erfreute.  Viele  Zeit 
verwendete  B.  auf  ein  vom  ölberge  aus  aulgenommenes,  im  Frühmorgen- 
licht prangendes  großes  Ölbild  von  Jerusalem  mit  den  schweren  Römer- 
türmen und  Toren,  mit  den  kuppelbekrönten  Moscheen,  ragenden  schlanken 
Minarets  und  dem  flachgedachten  Häusermeer  (im  Format  von  2,0X1,25). 
Als  Gegenstück  diente  eine  vom  Johanniterhospiz  über  die  Dächer  der  Alt- 
stadt gehende  Ansicht.  Insbesondere  aber  reizte  ihn  die  Landschaft  am 
Toten  Meer,  welches  er  gerne  an  den  Ost-  und  Westgeländen  durchstreifte; 
die  mit  von  mumienhaften  Anachoreten  behausten  Höhlen-Klausen  am  Bache 
Krit  (Wadi  Kelt) ;  das  einsame  Jericho ;  die  Jordanufer  mit  Beduinenlagern  usw. 
Dann  unternahm  B.  1890  wieder  einen  vierzigtägigen  Ausflug  nach  Baalbeck, 
um  den  Jupitertempel  vor  dessen  Ausgrabung,  im  gräulichen  Schutt  und  Zerfall 
auf  der  Leinwand  festzuhalten,  ehe  die  rettende  Hand  der  Archäologie  ihre 
pietätvollen  Forschungen  inszenierte.  Die  Stoffe  und  dankbarsten  Motive 
häuften  sich,  es  genügte  ihm  die  ersten  Eindrücke  festzuhalten  und  die 
Ausführung  späterer  Gelegenheit  zu  überlassen.  Man  könnte  sie  »Seelen  zu 
künftigen  Gedichten«  nennen.  In  meisterlicher  Durchbildung  vollendet  wurde 
nur  mehr  in  ungewöhnlichem  Format  (2,50X1,50)  die  »Klage  an  den  Tempel- 
mauem«,  ein  mit  Alexandre  Bidas  Darstellung  um  die  Palme  nngendes, 
farbenprächtiges,  stimmungsreiches  Ölgemälde  (bezeichnet  1904),  welches  als 
neue  Zierde  in  Heinemanns  Kunstsalon  zu  München  gerade  ausgepackt  wurde, 
als  der  Maler  am  freudenreichen  Vorabend  des  Christtages,  nach  längerem 
Leiden  einer  Herzlähmung  erlag.  —  Diese  mit  Lord  B)rrons  »Hebräischen 
Melodien«  verwandte  »Klage«  war  das  Schwanenlied  des  Malers:  Lasset  uns 
beten  und  weinen  um  alle  uns  vorausgegangenen  Altväter  und  Propheten, 
die  Zeugen  unseres  Glaubens;  in  litaneienhaften  Responsorien  antworten  die 
trauernden  Männer  und  Frauen:  »Wo  findet  Israel  ein  Bad  für  seinen 
wunden  Fuß^ 

Wilde  Taub*  hat  ihr  Nest,  Fuchs  seine  Schluft, 
Mensch  seine  Heimat  —  Israel  nur  die  Gruft. 

Lasset  uns  beten,  weinen  und  klagen,  um  alle  unsere  Vorväter,  die  nicht 
mehr  sind.« 

Wie  vielversprechend  war  das  Programm  seines  künftigen  Schaffens. 
Aber  i^Media  in  vUa<i>  wurde  er  dahingerafft,  gleich  Theodor  Horschelt 
(A.  D.  B.  .XIII,  160)  und  Wilhelm  Riefstahl  (A.  D.  B.  XXVIII,  839),  alles 
geistverwandte  Naturen,  welche  in  Farbe  und  Zeichnung  gleich  prägnant  ihre 
Erlebnisse  zum  scharf  akzentuierten  Ausdruck  brachten,  namentlich  Riefstahl, 
welcher  die  jeweilige  Landschaft,  die  betreffende  Architektur  und  den  Volks- 
charakter ebenso  sicher  als  würdevoll  wiederzugeben  verstand:  sie  sind 
inmitten  ihrer  glänzenden  Vollkraft  aus  dem  Leben  geschieden! 

Bauemfeinds  reicher  Nachlaß,  die  vorgenannten  »Seelen  zu  künftigen 
Gedichten«,  welche  nimmer  ihre  Vollendung  zum  Durchbruch  brachten,  die 
zahllosen  Studien  und  schätzebergenden  Skizzenbücher  sollen  alsbald  bei 
uns   zu    einer  Ausstellung    gelangen,    dann   aber    wahrscheinlich  durch    eine 


1 34  Bauemfeind.     Kanitz. 

Auktion  nach  bisher  landläufiger  Sitte  in  alle  Winde  zerstreut  werden, 
statt  selbe  (wie  es  löblicher  Weise  mit  Baischs  Nachlaß  geschah)  in  einem 
Museum  zur  vollgültigen  Kenntnißnahme  des  ganzen  Mannes  vereint  zu 
bleiben.  Ist  ja  auch  Dürers,  Holbeins  Nachlaß  —  bei  Rembrandt  noch  zu 
dessen  Lebzeiten  —  vertrödelt  worden.  Heutzutage  müßte  so  etwas  später  ein 
unbezahlbares  Kapital  repräsentieren.  Freilich  würden  viele  brave  Sammler 
des  Vergnügens  und  der  Freude  beraubt,  ihre  Kollektion  zu  bereichern  und 
auszuschmücken.  Erste  Pflicht  der  Kunsthistoriker  indessen  muß  es  sein,  ihre 
bisherige  an  Bauemfeinds  Namen  begangene  Säumnis  nachzutragen. 

Die  sonst  viel  Minderwertiges  sorgfältigst  in  ihren  Kompendien  verbuchenden  Lexiko- 
graphen kennen  den  Maler  kaum  oberflächlich.  Pecht  in  seiner  »Geschichte  der  Münchener 
Kunst«  (1888  S.  446)  hat  nur  wenige  Zeilen,  ebenso  Singers  Lexikon  (1895  h  ^^)  und 
der  fast  nie  versagende  Fr.  von  Bötticher  (1895  I,  51),  wirklich  ironisch  aber  ist  es,  wenn 
»Das  geistige  Deutschland«  (1S98)  gar  keine  Kunde  hat.  Hoffentlich  wird  eine  würdige 
Darstellung  und  Reproduktion   seiner  Schöpfungen  nicht  zu  lange  auf  sich   warten  lassen  1 

Hyac.  Holland. 

Kanitz,  Felix  Philipp,  Erforscher  der  Balkanländer,  Ethnograph  und 
Archäolog,  *  2.  August  1829  in  Budapest,  f  an  den  Folgen  eines  Schlag- 
anfalles 5.  Januar  1904  in  Wien.  —  K.  stammte  von  deutschen  Eltern,  deren 
Vorfahren  während  des  18.  Jahrhunderts  in  Ungarn  eingewandert  waren.  Da 
er  in  früher  Jugend  eine  ausgesprochene  Begabung  für  Musik  an  den  Tag 
legte,  ließ  ihn  sein  Vater,  ein  wohlhabender  Fabrikant,  im  Violinspiel  aus- 
bilden. Sein  Mitschüler  war  der  später  berühmt  gewordene  Virtuos  Joseph 
Joachim.  Nach  dem  Tode  des  Vaters  wünschte  die  Mutter  lieber  das  bei 
dem  Knaben  gleichfalls  hervortretende  Zeichentalent  entwickelt  zu  sehen. 
Im  Alter  von  14  Jahren  kam  er  deshalb  auf  die  Kunstschule  nach  Kassel, 
wo  er  ein  Schüler  des  damals  geschätzten  Malers  Ludwig  Emil  Grimm 
wurde.  Unter  dessen  Anleitung  übte  er  sich  im  Zeichnen  und  ölmalen. 
Auch  erlernte  er  das  Radieren  und  die  Lithographie.  Nachdem  er  die 
Anfangsgründe  überwunden  hatte,  beschloß  er  den  Beruf  eines  Zeichners  für 
illustrierte  Zeitschriften  zu  ergreifen.  1847  ließ  er  sich  in  Wien  nieder  und 
entwarf  namentlich  während  der  Revolutionszeit  zahlreiche  Abbildungen 
der  politischen  Ereignisse,  die  zum  Teil  in  der  Leipziger  Illustrierten 
Zeitung  veröffentlicht  wurden.  Später  begab  er  sich  zu  Studienzwecken 
nach  den  wichtigsten  Kunststädten  Deutschlands.  Längere  Zeit  hielt  er  sich 
namentlich  in  München  und  Dresden  auf,  wo  er  in  den  Galerien  Gemälde 
kopierte,  ferner  in  Nürnberg,  wo  ihn  der  Architekt  Alexander  Heideloff  in 
das  Verständnis  der  mittelalterlichen  Bau-  und  Kunstdenkmäler  einführte. 
Nach  einem  Besuche  in  Paris  kehrte  er  1856  nach  Wien  zurück.  In  den 
nächsten  Jahren  unternahm  er  mehrere  Reisen,  um  Zeichnungen  für  die  Illustrierte 
Zeitung  aufzunehmen.  1857  besuchte  er  zu  diesem  Zwecke  Oberitalien  und  1858 
Montenegro,  als  dort  die  Kämpfe  der  Eingeborenen  gegen  die  Türken  aus- 
gebrochen waren.  Der  eigenartige  Reiz,  den  die  großartige  Natur  dieses 
Ländchens  und  seine  Bewohner  auf  ihn  ausübten,  veranlaßte  ihn  zu  dem 
Vorsatz,  sich  ganz  der  wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Erforschung  der 
Balkanhalbinsel  zu  widmen.  Einige  schon  bewährte  Balkanforscher,  wie 
Ami  Boue  und  der  Generalkonsul  v.  Hahn,  bestärkten  ihn  in  dieser  Absicht. 


Kanitz.  j  3 


f 


17   Jahre    lang,    von   1859  ^^^   '^76,    hat   er    auf   zahlreichen    Reisen    durch 
Serbien,    Bulgarien,    Montenegro    und    die    Herzegowina    dieses    Ziel    zu    er- 
reichen   gesucht    und    viele  Teile    dieser    Länder    als    erster    der    deutschen 
Wissenschaft   erschlossen.      Vor    allem   verdankt    man    ihm    hinreichend   zu- 
verlässige   kartographische    Aufnahmen    der    Gebiete    zwischen    Donau    und 
Balkan.     Dieses  Gebirge,   das    damals  in    seinen   Einzelheiten    noch   nahezu 
unbekannt  war,  hat  er  18  mal   auf  Pässen  überschritten,   die  vor  ihm  noch 
keines    Forschers  Fuß    betreten  hatte,   und    viele  Ketten,    Gipfel   und   Täler 
erhielten  erst  durch  ihn  die  noch  heute  üblichen  Namen.     Auch  die  Ethno- 
graphie  förderte  er,    indem   er  die  Unterscheidungsmerkmale  der   einzelnen 
Balkanvölker    schärfer    hervorhob    als    dies    bisher    geschehen   war.     Ebenso 
bereicherte  er  die   Kunstgeschichte,    indem  er  die   in   jenen   Ländern   trotz 
der  jahrhundertelangen  Türkenherrschaft  noch  immer  zahlreich  vorhandenen 
Reste  antiker  und  mittelalterlicher  Bauwerke  und  Kunstdenkmäler  aufsuchte, 
beschrieb  und  abzeichnete.     Als  Früchte  dieser  Reisen  entstanden  in  rascher 
Folge    zahlreiche    literarische   Arbeiten.     Die    größeren    erschienen   als  selb- 
ständige   Werke,    die    kleineren,    von    denen    hier    nur    eine    Auswahl    der 
wichtigsten  verzeichnet  werden  kann,    in    den  Sitzungsberichten   und  Denk- 
schriften   der    philosophisch-historischen    Klasse   der    kaiserlichen    Akademie 
der  Wissenschaften  zu  Wien,   den   Mitteilungen  der  Wiener  Geographischen 
Gesellschaft,  der  österreichischen  Revue  und  andern  geographischen,  histo- 
rischen  und   archäologischen  Zeitschriften.     Die  frühesten  beschäftigen  sich 
ausschließlich   mit   Serbien:    »Die    römischen   Funde    in    Serbien«   (Sitzungs- 
berichte  XXXVI,    1861,   S.  195 — 203),   »Serbiens  byzantinische  Monumente« 
(Wien  1862,    später  auch  ins  Serbische    übersetzt    durch  Alexander  Sandiö), 
»Beiträge  zur  Kartographie  des  Fürstentums  Serbien,   gesammelt  auf  Reisen 
in  den   Jahren  1859 — 1861«  (Wien  1863,  mit  i  Karte),   »Die  Zinzaren«  (Mit- 
teilungen VII,  1863,  S.  44),   »Über  alt-   und    neuserbische  Kirchenbaukunst« 
(Sitzungsberichte   XLV,    1864,  S.  3 — 13),    »Reise    in    Südserbien    und    Nord- 
bulgarien,   ausgeführt    im    Jahre   1864«    (Denkschriften    XVII,    1864,    2.    Ab- 
handlung,   S.   I — 66,   mit   I   Karte)    und    »Das    serbisch-türkische    Kopavnik- 
Gebiet«   (Mitteilungen  XI,  Neue  Folge  I,  1868,  S.  49).     Den  Abschluß  dieser 
serbischen  Studien  bildete  das  umfangreiche  Werk  »Serbien,  historisch-ethno- 
graphische   Reisestudien    in    den  Jahren   1859  ^^^  1868«  (Leipzig  1868,   mit 
I  Karte,  20  Tafeln   und   vielen  von  K.  selbst  gezeichneten  Abbildungen  im 
Text,  2.  Auflage   ebd.  1877),   das    die    erste    erschöpfende  Schilderung  jenes 
Donaulandes  bietet.     Später  folgten   dann  verschiedene  Abhandlungen  über 
das  benachbarte  Bulgarien:    »Reise  im   bulgarischen  Donau-,  Timok-,   Sveti- 
Nikola-Balkan-Gebiet«   (Mitteilungen  XV,   N.   F.   V,   1872,    S.  61,  106),    »Zur 
Synonymik    der  Ortsnomenklatur  Bulgariens«   (ebd.  S.  217;   XVI,  N.   F.   VI, 
1873,    S.    170),    »Tirnovos     altbulgarische     Baudenkmale«     (Sitzungsberichte 
LXXXII,  1876,  S.  269—288)  und    »Der  Balkanpaß  von  Elena«   (Mitteilungen 
XX,  N.  F.  X,  1877,  S.  537),   die  endlich  zu   dem  Hauptwerke  seines  Lebens 
hinüberleiteten:   »Donau-Bulgarien   und   der  Balkan,  historisch-geographisch- 
ethnographische  Reisestudien    aus    den    Jahren   1860 — 1876«    (3  Bände   mit 
vielen   Tafeln    und  Abbildungen,   Leipzig   1875 — 1879,   2.  Auflage  ebd.  1879 
bis  1880,  neue  Ausgabe  ebd.  1882).     Dieser  wichtigen  Arbeit,  für  die  ihm  die 
bulgarische  Nationalversammlung   einstimmig   ihren  Dank  votierte,    ist  eine 


j36  Kanitz.     Philippi. 

wertvolle  »Original karte  von  Donau-Bulgarien  und  dem  Balkan«  im  Mafi- 
stabe von  1:420000  beigegeben,  die  in  einer  vom  russischen  Generalstab 
veranstalteten  Ausgabe  den  russischen  Truppen  während  des  türkischen 
Krieges  von  1877 — 1878  wesentliche  Dienste  leistete.  Auch  bei  den  Friedens- 
verhandlungen des  Jahres  1878  wurden  die  kartographischen  Auhiahmen  K.s 
wiederholt  herangezogen.  Nach  dem  Kriege  unternahm  er  noch  wiederholt 
ausgedehnte  Reisen  durch  die  Balkanländer.  Vor  allem  bemühte  er  sich 
um  die  Untersuchung  der  vorgeschichtlichen  und  römischen  Denkmäler, 
doch  fehlte  es  ihm  hierzu  an  hinlänglicher  Sachkenntnis.  Als  Ergebnis 
dieser  Forschungen  veröffentlichte  er  zwei  Schriften:  »Die  prähistorischen 
Funde  in  Serbien  bis  1889«  (Wien  1889)  und  »Römische  Studien  in  Serbien: 
der  Donau-Grenzwall,  das  Straßennetz,  die  Städte, ~  Kastelle,  Denkmale, 
Thermen  und  Bergwerke  zur  Römerzeit  im  Königreich  Serbien«  (Denk- 
schriften XLI,  1892,  2.  Abhandlung,  S.  i— 158,  mit  i  Karte  und  vielen  Ab- 
bildungen), die  allerdings  von  der  Kritik  wenig  günstig  aufgenommen 
wurden.  Die  letzten  Jahre  seines  Lebens  beschäftigte  er  sich  mit  der  Aus- 
arbeitung eines  umfassenden  Werkes  über  »Das  Königreich  Serbien  und  das 
Serben volk  von  der  Römerzeit  bis  zur  Gegenwart«.  Der  i.  Band,  der  ein  Bildnis 
des  Verfassers  enthält,  trat  unmittelbar  nach  seinem  Tode  in  der  von 
Wilhelm  Ruland  herausgegebenen  Sammlung  »Monographien  der  Balkan- 
staaten« (Leipzig  1904)  an  die  Öffentlichkeit,  das  Manuskript  der  beiden 
übrigen  Bände  hinterließ  er  in  druckfertigem  Zustande. 

Wurzbach,  »Biographisches  Lexikon  des  Kaisertums  Österreich«  X,  1863,  S.  435 — 438. 
—  »Deutsche  Rundschau  für  Geographie  und  Statistik«  XII,  1890,  S.  571 — 573  (mit 
Bildnis).  —  »Globus«  LXXXV,  1904,  S.  162.  —  »Geographen-Kalender«  III,  1905,  S.  189. 

Viktor  Hantzsch. 

Philippi,  Rudolf  Amandas,  Naturforscher  und  Vorkämpfer  des  Deutsch- 
tums in  Chile,  *  14.  September  1808  zu  Charlottenburg,  f  23.  Juli  1904  zu 
Santiago  de  Chile.  —  Schon  von  Jugend  an  war  das  Sammeln  von  Natur- 
gegenständen seine  Lieblingsbeschäftigung.  Nach  dem  frühen  Tode  des 
Vaters,  eines  alten  Soldaten  aus  den  Freiheitskriegen,  der  zuletzt  Revisor 
an  der  preußischen  Oberrechnungskammer  war,  zog  die  Mutter  181 8  nach 
Ifferten  (Yverdun)  in  der  französischen  Schweiz.  Hier  wurde  der  Knabe 
dem  berühmten  Erziehungsinstitut  des  großen  Pädagogen  Heinrich  Pestalozzi 
übergeben,  wo  er  seine  schwache  Gesundheit  kräftigte  und  namentlich  durch 
seine  Lehrer  Johannes  Niederer  und  Joseph  Schmid  mannigfache  und  nach- 
haltige Anregungen  empfing.  Als  aber  die  Anstalt  1822  infolge  unliebsamer 
Streitigkeiten  unter  den  Lehrern  ihrer  Auflösung  entgegenging,  kehrte  die 
Familie  nach  Berlin  zurück.  Ph.  besuchte  zunächst  das  Gymnasium  zum  Grauen 
Kloster  und  studierte  dann  an  der  Berliner  Universität  Medizin  und  Natur- 
wissenschaften. Daneben  hörte  er  auch  geographische  Vorlesungen  bei 
Alexander  von  Humboldt  und  Karl  Ritter.  1830  erwarb  er  durch  eine 
Dissertation  über  die  r>Orthoptera  Beroiinensia<ii  den  philosophischen  Doktor- 
titel. Da  sich  bald  darauf  die  Anzeichen  eines  beginnenden  Lungenleidens 
bemerklich  machten,  unternahm  er  eine  längere  Erholungs-  und  Studienreise 
nach  Italien.  Hier  traf  er  mit  den  beiden  Geologen  Friedrich  Hoffmann 
und  Arnold  Escher  von  der  Linth  zusammen,   die  ihn  so  für  ihre  Wissen- 


Philippi.  187 

Schaft  zu  begeistern  wußten,  daß  er  sich  eifrig  mit  umfassenden  geognostischen 
Untersuchungen  in  Neapel,  Sizilien  und  auf  den  Liparischen  Inseln  be- 
schäftigte. Gleichzeitig  sammelte  er  allerlei  Pflanzen  und  Tiere,  namentlich 
Schnecken  und  Muscheln.  Nachdem  er  im  Herbst  1832  nach  Deutschland 
zurückgekehrt  war,  bestand  er  die  medizinische  Staatsprüfung,  wendete  sich 
aber  nicht  dem  ärztlichem  Berufe  zu,  sondern  nahm  1835  ^^^^  Stelle  als 
Lehrer  der  Zoologie  und  Botanik  an  der  höheren  Gewerbeschule  in  Kassel 
an,  wo  damals  bedeutende  Gelehrte,  wie  der  Paläontolog  Wilhelm  Dunker 
und  die  beiden  Chemiker  Friedrich  Wöhler  und  Robert  Bunsen,  wirkten. 
Die  Mußestunden,  die  ihm  sein  Beruf  ließ,  benutzte  er  zu  umfassender 
literarischer  Tätigkeit.  Als  erstes  großes  Werk  und  zugleich  als  Frucht 
seiner  italienischen  Reise  erschien  die  »Enumeraäo  Molluscontm  Siciliae  cum 
vwentium  tum  in  tellure  iertiaria  fossilium,  quae  in  iiinere  suo  observaviH  (Berlin 
1836)  mit  zahlreichen  von  ihm  selbst  gezeichneten  und  lithographierten  Tafeln. 
Aber  die  mit  der  Herstellung  dieses  Werkes  verbundene  Überanstrengung 
hatte  seine  Gesundheit  so  geschädigt,  daß  sich  völlige  Heiserkeit  und  be- 
drohliche Lungenblutungen  einstellten.  Er  nahm  deshalb  Ende  18^7  einen 
längeren  Urlaub  und  begab  sich  abermals  auf  reichlich  zwei  Jahre  nach 
Italien  und  Sizilien.  Glücklicherweise  führte  das  milde  Klima  allmählich 
eine  völlige  Heilung  herbei,  so  daß  er  Ostern  1840  neugestärkt  und 
frohen  Mutes  nach  Kassel  zurückkehrte.  Hier  nahm  er  sogleich  seine 
pädagogische  und  wissenschaftliche  Tätigkeit  wieder  auf.  In  den  nächsten 
Jahren  ließ  er  mehrere  umfangreiche  und  kostspielige  Werke  mit  vielen 
Tafeln  vorwiegend  malakozoologischen  Inhalts  erscheinen,  die  ihm  bald  in 
den  Fachkreisen  einen  guten  Ruf  verschafften:  »Abbildungen  und  Be- 
schreibungen neuer  oder  wenig  gekannter  Conchylien,  unter  Mithilfe  mehrerer 
Conchyliologen  herausgegeben.  Mit  Beiträgen  von  Anton,  von  der  Bisch, 
Dunker,  Koch,  Pfeiffer  und  Troschel«,  3  Bände  (Kassel  1842 — 185 1),  »Beiträge 
zur  Kenntnis  der  Tertiärversteinerungen  des  nordwestlichen  Deutschlands« 
(Kassel  1843),  sowie  einen  2.  Band  seiner  y^Enunuratio  Molluscorum  Siciliae*^ 
(Halle  1844).  Auch  an  zwei  großen  naturwissenschaftlichen  Sammelwerken 
war  er  ein  eifriger  Mitarbeiter.  Für  das  von  Martini  und  Chemnitz  be- 
gründete, dann  von  H.  C.  Küster  herausgegebene  und  nach  dessen  Tode 
von  W.  Kobelt  fortgesetzte,  in  Nürnberg  erscheinende  »Systematische  Con- 
chylien-Kabinett«  lieferte  er  in  den  Jahren  1846  bis  1853  Monographien  über 
die  Gattungen  Turbo,  Trochus,  NaHca^  Amaura,  Ampullaria,  Adearbis,  Solarium, 
Risella,  Delphinula,  Scissurella^  Globulus,  Phasianella,  Bankivia  und  Lacuna  mit 
vielen  naturgetreuen  Abbildungen.  Ebenso  veröffentlichte  er  in  den  von 
Wilhelm  Dunker  und  Hermann  von  Meyer  redigierten  Beiträgen  zur  Natur- 
geschichte der  Vorwelt,  die  1846  bis  185 1  in  Kassel  unter  dem  Titel  Palaeonto- 
graphica  herauskamen,  mehrere  Abhandlungen  über  die  Spezies  Tomatella 
abbreviata,  Otodos  milis,  O.  catticus,  Myliobates  Testaty  Clypeaster  altus^  CL 
iurritus,  CL  Scillae  und  Astrophyton  Antoni,  sowie  ein  Verzeichnis  der  in  der 
Gegend  von  Magdeburg  aufgefundenen  Tertiärversteinerungen.  Daneben 
fand  er  aber  auch  noch  Zeit,  sich  mit  öffentlichen  Angelegenheiten  zu  be- 
schäftigen. 1848  entfaltete  er  eine  umfassende  politische  Tätigkeit  im 
Sinne  des  gemäßigten  Liberalismus.  Im  folgenden  Jahre  wurde  er  seiner 
wissenschaftlichen   Verdienste   wegen   zum    Direktor   der   höheren   Gewerbe- 


i88  Phiiippi. 

schule  in  Kassel  ernannt.  Da  ihn  jedoch  die  verfassungswidrige  reaktionäre 
Gewaltherrschaft  des  Ministers  Hassenpflug  empörte,  nahm  er  wie  so  viele 
andere  freiheitlich  gesinnte  hessische  Staatsbeamte  seinen  Abschied  und 
folgte  einer  Einladung  seines  Bruders  Bernhard,  der  seit  1840  als  Oberst- 
leutnant und  wohlhabender  Grundbesitzer  in  Chile  lebte  und  später  im 
November  1852  nahe  der  Magalhäestraße  von  patagonischen  Indianern  er- 
mordet wurde. 

185 1  landete  er  mit  seinem  Schüler  und  Freunde  Karl  Ochsenius  in 
Valparaiso.  Zunächst  widmete  er  sich  zwei  Jahre  lang  der  Landwirtschaft, 
sowie  der  geographischen  und  naturwissenschaftlichen  Erforschung  der  damals 
noch  wenig  bekannten  Provinz  Valdivia.  1853  wurde  er  zum  Direktor  des 
Lyzeums  in  der  gleichnamigen  Hafenstadt  ernannt.  Noch  in  demselben 
Jahre  erhielt  er  einen  Ruf  als  Professor  der  Zoologie  und  Botanik  an  die 
Landesuniversität  Santiago.  Gleichzeitig  übertrug  man  ihm  daselbst  die 
Leitung  des  1830  begründeten  Museo  Nacional.  Um  diese  Anstalt,  die  sich 
im  Zustande  tiefen  Verfalls  befand,  hat  er  sich  während  eines  Zeitraumes 
von  50  Jahren  die  größten  Verdienste  erworben.  Ihm  verdankt  sie  es  in 
erster  Linie,  daß  sie  heute  unter  den  wissenschaftlichen  Instituten  Süd- 
amerikas einen  hervorragenden  Rang  einnimmt.  Unter  Überwindung  vieler 
Schwierigkeiten  sorgte  er  für  ausreichende  und  zweckmäßig  eingerichtete 
Räume,  für  übersichtliche  und  geschmackvolle  Aufstellung,  für  Erweckung 
des  Interesses  bei  den  maßgebenden  Persönlichkeiten  und  in  den  breiten 
Schichten  des  Volkes,  endlich  auch  für  Herbeischaffung  der  nötigen  Geld- 
mittel. Die  meisten  Objekte,  nicht  nur  Tiere,  Pflanzen,  Mineralien  und  Ver- 
steinerungen, sondern  auch  ethnographische  Gegenstände,  Altertümer  und 
Kunstwerke,  hat  er  auf  seinen  vielen  und  ausgedehnten  Reisen,  die  er  fast 
alljährlich  während  der  akademischen  Ferien  durch  ganz  Chile  und  die  an- 
grenzenden Staaten  unternahm,  selbst  gesammelt  oder  durch  Tausch  er- 
worben. 1873  legte  er  sein  Lehramt  an  der  Universität  nieder,  um  sich 
ganz  dem  Museum  zu  widmen.  Daneben  setzte  er  auch  seine  literarische 
Tätigkeit  fort  und  gab  eine  Anzahl  mehr  oder  minder  umfangreicher,  fast 
sämtlich  durch  Tafeln  erläuterter  Werke  heraus,  die  zum  Teil  in  Deutsch- 
land erschienen:  »Handbuch  der  Conchyliologie  und  Malakozoologie«  (Halle 
1853),  »Reise  durch  die  Wüste  Atacama,  auf  Befehl  der  chilenischen  Re- 
gierung im  Sommer  1853/54  unternommen  und  beschrieben«  (Halle  1860), 
t*Florula  Atacamensis  seu  enumeratio  plantar um^  quas  in  itinere  per  desertum 
Atacamcnse  obsen^avtt*  (Halle  1860,  2.  Ausgabe  1870),  ^Elementos  de  Historia 
Naturah<  (Santiago  1860,  4.  Auflage  1885),  >>Eiemenios  de  Botanica*  (Santiago 
1864),  *La  Isla  de  Pascua  y  sus  habitantes*  (Santiago  1873),  )»Los  fdsiles 
terciarios  y  cuartarios  de  Chiles  (Santiago  1887),  auch  deutsch  als  »Die 
tertiären  und  quartären  Versteinerungen  Chiles«  (Leipzig  1887),  »Über  meso- 
zoische Fossilien  in  Chile«  (Santiago  1889),  ^> Planlos  nuevas  chilenas<^  (Santiago 
1893),  ein  sechsbändiges  Werk,  das  2000  neue  Pflanzen  beschreibt,  endlich 
*Sol>re  el  verdadera  signtficado  de  la  palabra  Cordillera<^  (Santiago  1898). 

Neben  diesen  selbständigen  Werken  hat  er  noch  eine  unübersehbare 
Menge  von  Aufsätzen  verschiedensten  Inhalts  und  Umfangs  in  zahlreichen 
deutschen,  englischen  und  chilenischen  Zeitschriften  veröffentlicht,  vor  allem 
in    Wiegmann's  Archiv    für  Naturgeschichte    (Über    das  Tier   der    Solenomya 


Philippi.  iSg 

tnediterranea :  I,  1835,  S.  271 — 276;  Über  Verettllum  pusillum:  ebd.  S.  277 — 280), 
in  der  Zeitschrift  für  die  gesamten  Naturwissenschaften,  der  Botanischen 
Zeitung,  den  Malakozoologischen  Blättern,  der  Stettiner  Entomologischen 
Zeitung,  in  Petermanns  Mitteilungen  (Die  sogenannte  Wüste  Atacama:  1856, 
S.  52 — 71,  mit  Karte;  die  Provinz  Valdivia  und  die  deutschen  Ansiedlungen 
daselbst  und  im  Territorium  von  Llanquihue:  1860,  S.  125 — 139,  mit  Karte; 
Exkursion  nach  den  Bädern  und  dem  neuen  Vulkan  von  Chillan  in  Chile: 
1863,  S.  241 — 257,  mit  Karte;  Die  heißen  Quellen  am  Puyehue-  und 
Llanquihue-See  in  Chile:  1869,  S.  459 — 461;  Ein  neuer  Vulkan  in  Chile: 
^^73»  S.  6 — 7;  Bemerkungen  über  die  chilenische  Provinz  Arauco  und 
namentlich  über  das  Departement  gleichen  Namens:  1883,  S.  453 — 460;  Ver- 
änderungen, welche  der  Mensch  in  der  Flora  Chiles  bewirkt  hat:  1886,  S.  294 
bis  307,  326 — 331;  Andesbahnen:  1892,  S.  290 — 291;  Analogien  zwischen  der 
chilenischen  und  europäischen  Flora:  1892,  S.  292 — 294),  in  den  Monatsberichten 
der  Kgl.  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  (Bemerkungen 
über  die  chilenischen  Flußfische:  1866,  S.  708 — 717;  Über  eine  für  Chile 
neue  Art  von  Otaria:  187 1,  S.  558 — 562),  im  Ausland,  im  Globus  (Über  das 
Vorkommen  von  Torf  in  Chile:  XVIII,  1870,  S.  31 — 32;  Ein  Wort  über  die 
Herkunft  der  Bohne:  LI,  1887,  S.  157  — 158;  Die  Eisenbahn  von  Antafagasta 
de  la  Costa  nach  Uyuni  in  Bolivien:  LVII,  1890,  S.  334 — 335;  Erdbeben  in 
Südchile  und  Patagonien:  LXII,  1892,  S.  205 — 206;  Über  die  Nationalität 
der  Südamerikaner,  besonders  der  Chilenen:  LXXXV,  1904,  S.  126),  der 
Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  zu  Berlin  (Bemerkungen  über  die 
orographische  und  geologische  Verschiedenheit  zwischen  Patagonien  und 
Chile:  XXXI,  1896,  S.  50 — 63;  Einige  Worte  über  den  unrichtigen  Gebrauch 
des  Wortes  Cordillera  in  Chile:  XXXIII,  1898,  S.  393 — 398),  den  Abhand- 
lungen und  Berichten  des  Vereins  für  Naturkunde  zu  Kassel  (Botanische 
Exkursionen  in  das  Araukanerland :  XLI,  1896,  S.  i — 31),  der  Zeitschrift  der 
deutschen  geologischen  Gesellschaft  (Vorläufige  Nachricht  über  fossile  Säuge- 
tierknochen von  Ullumo,  Bolivia:  XLV,  1893,  S.  87 — 96;  Berichtigung  eines 
geologischen  Irrtums:  L,  1898,  S.  207 — 208),  der  Zeitschrift  für  Ethnologie, 
der  Deutschen  Erde  (Zur  Gründungsgeschichte  der  ersten  deutschen  Kolonien 
in  Chile:  II,  1903,  S.  16 — 17),  im  Scottish  Geographkai  Museum  (Patagania  and 
Chile,  their  Orography  and  Geology  contrasted:  XII,  1896,  S.  303 — 309),  in  den 
Anales  de  la  CJniversidad  de  Chile  (De  la  escritura  jerografica  de  los  indtjenas  de  la 
isla  de  Pascua:  LXV,  1875,  S.  670 — 683;  Comparacion  de  las  floras  i  faunas  de  las 
RepubUcas  de  Chile  i  Arjentina:  LXXXIV,  1893,  S.  529 — 555;  Plantas  nueims 
chilenas:  LXXXIV,  1893,  S.  5—32,  265—289,  433—444,  619—634,  743—762, 
975—983»  LXXXV,  1893,  S.  5—18,  167—195,  299—324,  491—514,  699—749, 
813 — 844),  den  Anales  del  Museo  Nacional  de  Chile  {Seccion  I:  Zoolojia. 
*  Algunos  peces  de  Chile ^  1892,  16  S.;  *  I^s  zoofitos  chilenos  del  Museo  Nadanal, 

1892,  9  S. ;  *  Las  focas  chilenas  del  Museo  Nacional,  1892,  48  S.;  * -£"/  guemul 
de  Chile,  1892,  9  S.;  *  Los  delfinos  de  la  Punta  Austral  de  la  America  del  Sur, 

1893,  17  S.;  *  Las  especies  chilenas  del  jenero  Mactra,  1893,  12  S.;  *  Cenms 
antisensis,  chilensis,  brachyceros,  1894,  16  S.  —  Seccion  II:  Botanica,  *  Catalogus 
praevius  plantarum  in  itinere  ad  Tarapaca  a  Friderico  Philippi  lectarum,  1891, 
96  S.;  La  Alcayota  de  los  Chilenos^  Cidracayote  de  los  Espaholes,  1892,  4  S.; 
Epipetrum  bilobum  Ph„   1892,  3  S.;   Stipa  amphicarpa  Ph.,   1892,  3  S.;  Elymus 


190  Phüippi. 

ermnthus  Ph,,  1892,  3  S.  —  Seccion  III:  Mineralojia,  Jeohjia,  Pahontolojta, 
*  Descripdon  de  algunos  fosiles  terciarios  de  la  Republica  Arjentina,  1893,  15  S.), 
endlich  in  den  Verhandlungen  des  deutschen  wissenschaftlichen  Vereins  zu 
Santiago  (Vorläufige  Nachricht  über  einige  Schildkröten  und  Fische  der 
chilenischen  Küste:  I,  1887,  Heft  5,  S.  210 — 213;  Verzeichnis  der  von  D.  Fran- 
cisco Vidal  Gormaz  an  den  Küsten  des  nördlichen  Chile  gesammelten 
Gefäßpflanzen:  II,  1890,  Heft  2,  S.  106 — 108;  Über  einige  Versteinerungen 
der  Anden  von  Vallenar:  ebd.  S.  109 — iio;  fÜber  die  Cucurbita  mammeata 
und  C.  siceraria  des  Molina:  II,  1891,  Heft  3,  S.  150 — 154;  f  Aphorismen 
über  die  Sklaverei  und  den  Sklavenhandel  in  den  christlichen  europäischen 
Staaten  während  des  Mittelalters  bis  in  die  Neuzeit:  ebd.  S.  155 — 160; 
f  Bemerkungen  über  die  Versteinerungen  von  La  Bajada  in  Corrientes:  ebd. 
S.  161 — 164;  f  Einige  Worte  über  die  chilenischen  Mäuse:  ebd.  S.  173 — 176; 
f  Bemerkungen  über  die  Flora  bei  den  Bädern  von  Chillan:  II,  1892,  Heft  4, 
S.  196 — 208;  t Albinismus  unter  den  Vögeln  Chiles:  ebd.  S.  231 — 234; 
f  Über  die  chilenischen  Seeigel:  ebd.  S.  246 — 247;  f  Analogien  zwischen  der 
chilenischen  und  europäischen  Flora:  II,  1893,  Heft  5 — 6,  S.  255—261;  fWann 
ist  die  Cordillere  von  Chile  und  Argentinien  entstanden?  ebd.  S.  262 — 265; 
f  Über  Phalaropus  antarcticus  und  Ph.  Wilsoni:  ebd.  S.  266 — 271;  Neue  Tiere 
Chiles:  III,  1895,  Heft  i,  S.  9 — 13;  Über  einige  Vogelknochen  aus  dem  Guano: 
ebd.  S.  14 — 16;  Die  chilenischen  Arten  von  Galaxias:  ebd.  S.  17 — 23).  Die 
meisten  dieser  Aufsätze  sind  durch  Abbildungen  und  Tafeln  erläutert,  die  P. 
als  geschickter  Zeichner  selbst  entwarf.  Um  seine  in  Chile  erschienenen  Ab- 
handlungen auch  den  Fachgenossen  in  Deutschland  bekannt  zu  machen,  ließ 
er  die  oben  mit  *  bezeichneten  in  deutscher  Übersetzung,  die  mit  f  ver- 
sehenen in  Sonderdrucken  teils  in  Leipzig,  teils  in  Berlin  nochmals  veröffent- 
lichen. Außerdem  gab  er  unter  dem  Titel  »Botanische  Abhandlungen« 
(Leipzig  1893)  eine  Sammlung  kleiner  Arbeiten  über  einzelne  chilenische 
Pflanzengattungen  heraus.  So  gewann  er  auch  in  der  alten  Heimat  einen 
guten  Ruf  als  bester  Kenner  der  lebenden  und  fossilen  Flora  und  Fauna 
Chiles. 

Auch  um  das  Deutschtum  dieses  Freistaates  erwarb  er  sich  namhafte 
Verdienste.  Er  selbst  fühlte  sich  immer  als  guter  Deutscher  und  unterhielt 
bis  an  seinen  Tod  rege  Beziehungen  zum  alten  Vaterlande.  Viele  Lands- 
leute bewog  er  durch  seine  wiederholten  Empfehlungen  Südchiles  zur  Aus- 
wanderung dahin,  und  den  neuen  Ankömmlingen  erwies  er  sich  mit  Rat 
und  Tat  hilfreich.  Gern  und  oft  weilte  er  in  den  von  Deutschen  stark  be- 
siedelten Provinzen  Puerto  Montt,  Llanquihue,  Osorno,  Union  und  Valdivia, 
um  im  Kreise  der  Volksgenossen  alte  Erinnerungen  auszutauschen  und  neue 
Anregungen  zu  empfangen.  Den  Zusammenschluß  der  chilenischen  Deutschen 
suchte  er  auf  alle  Weise  zu  fördern,  ebenso  ihre  geistigen  Bestrebungen,  die 
in  dem  1883  begründeten  deutschen  wissenschaftlichen  Verein  zu  Santiago 
eine  Pflegestätte  fanden,  dem  er  bis  zu  seinem  Tode  als  Ehrenvorsitzender 
angehörte.  1888  wurde  unter  allgemeinem  Anteil  sein  80.,  1898  sein  90.  Ge- 
burtstag gefeiert.  Zwar  begannen  Gesicht  und  Gehör  allmählich  abzunehmen, 
so  daß  er  1897  sein  Amt  als  Museumsdirektor  niederlegte.  Bald  stellte  sich 
auch  der  graue  Star  ein,  der  schließlich  zu  völliger  Erblindung  führte.  Aber 
seine  Schaffensfreudigkeit  erhielt  sich  unvermindert,  bis  er  im  96.  Jahre  einer 


Philippi.     Holaus.     Joder.  igi 

Lungenentzündung  erlag,  tief  betrauert  von  seinen  Landsleuten,  die  ihn  seit 
Jahrzehnten  als  ihren  Patriarchen  verehrten. 

»Nachrichtsblatt  der  deutschen  malakozoologischen  Gesellschaft«  1S89,  Nr.  i — 2.  — 
»Export«  XX,  1898,  S.  402 — 405  (Selbstbiographie  mit  Bildnis).  —  »Deutsche  Erde«  1904, 
S.  148 — 149  (Karl  Ochsenius).  —  Diego  Barros  Arana^  El  Doctor  Don  Rodolfo  Amando 
Pßulippi,  SU  vida  i  sus  obras,  Santiago  de  Chile  1904,  248  S.,  mit  Bildnis.  —  »Leipziger 
Illustrierte  Zeitung«  1904,  Nr.  3195,  S.  426,  mit  Bildnis  (Th.  Lincke).  —  »Globus«  LXXXVI, 
1904,  S.  239.  —  »Geographen-Kalender«  III,  1905,  S.  199 — 200. 

Viktor  Hantzsch. 

Hol)äuSy  Blasius,  Dompropst  von  Salzburg,  *  30.  Januar  1825  zu  Hippach 
im  Zillertal,  f  24.  Januar  1904  zu  Salzburg.  —  H.  wirkte,  nachdem  er  1849 
die  Priesterweihe  empfangen  hatte,  viele  Jahre  in  der  Seelsorge,  als  Hilfs- 
priester zu  Neukirchen  im  Pinzgau,  dann  zu  Hopfgarten  und  Oberau  in  Tirol, 
Vikariatsprovisor  zu  Niederau  und  Ellmau,  Stadtkooperator  zu  Kitzbüchel, 
dann  zu  St.  Andrä  in  Salzburg,  Dechant  und  Pfarrer  zu  Stuhlfelden  und  zu 
Reit  bei  Rattenberg.  1877  wurde  er  Domkapitular  in  Salzburg,  während 
beinahe  zehn  Jahren  zugleich  Stadtdechant  und  Dompfarrer;  1885  Domkustos, 
1891  infulierter  Domdechant,  seit  1891  auch  Präses  des  fürsterzbischöflichen 
Konsistoriums  und  seit  1892  Vorsitzender  des  Diözesan-  und  Metropolitan- 
gerich tes.  1901  wurde  er  von  Papst  Leo  XIII.  zum  Domprapst  ernannt. 
Förderer  sozialer  und  wissenschaftlicher  Bestrebungen,  besonders  auch  des 
Missionswesens. 

Vgl.  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  Salzburger  Landeskunde,  44.  Vereinsjahr  1904, 
S.  397f.  F.  Lauchert. 

Joder,  Julian  Chrysostomus,  Generalvikar  des  Bistums  Straßburg, 
*  27.  Januar  1850  zu  Mitzach  (Oberelsaß),  f  3.  Februar  1904  zu  Straßburg. 
—  J.  erhielt  seine  Gymnasialbildung  im  petit  seminaire  zu  Straßburg,  studierte 
dann  Theologie  im  Straßburger  Priesterseminar  seit  1867  und  empfing  1872 
die  Priesterweihe.  Hierauf  war  er  zunächst  Hauskaplan  und  Hauslehrer  in 
der  Familie  des  Grafen  Ivry  in  Noiay  (Cöte  d'or),  1873  wurde  er  Vikar  in 
Neubreisach,  1877  Prosekretär,  1884  Generalsekretär  des  Bistums  Straßburg, 
1889  Ehrendomherr,  1893  Dr.  jur,  can.,  1897  Titulardomherr,  1903  General- 
vikar. Mit  seiner  hervorragenden  Begabung  für  die  Verwaltung  und  seinem 
reichen  kanonistischen  und  juristischen  Wissen  machte  sich  J.  bei  unermüd- 
licher Tätigkeit  um  die  Diözesanverwaltung  sehr  verdient.  Daneben  wirkte 
er  auch  viele  Jahre  als  Seelsorger  der  Waisenanstalt  St.  Joseph  in  Neudorf 
bei  Strafiburg,  wo  er  nach  seinem  Wunsche  auch  begraben  wurde.  — 
Literarisch  tätig  war  J.  besonders  auf  dem  Gebiete  des  Kirchenrechts,  auch 
auf  dem  der  Asketik.  Von  seinen  selbständig  erschienenen  Schriften  ist  das 
Hauptwerk:  -»Fommlaire  matrimonial.  Guide  pratiqut  du  curi  pour  tout  ce  qui 
conctme  le  sacremtnt  du  mariage^  (Paris  1885,  3.  Aufl.  1891).  1884  übernahm 
er  auf  Wunsch  des  damaligen  Bischofs  Stumpf  nach  dem  Tode  des  Be- 
gründers, des  Domkapitulars  Mury,  die  Redaktion  des  offiziellen  Diözesan- 
organs,  des  früheren  -n Bulletin  eccUsiastique  de  Strasbourg *f^y  das  er  von  1884  bis 
1898  unter  dem  Titel:  y^Ecclesiasticum  Argentinense<t^y  von  1899  bis  zu  seinem 
Tode  in  neuer  Folge  unter  dem  Titel:  »Strafiburger  Diözesanblatt«  heraus- 
gab.    Dasselbe  enthält  zahlreiche  Beiträge  von  seiner  Hand,  darunter  Denk- 


IQ2  Joder.     Zenetti.     Braun. 

Schriften  von  bleibendem  Interesse,  von  denen  genannt  seien:  »Die  rechtliche 
Stellung  der  nicht  anerkannten  religiösen  Genossenschaften  in  Elsaß-Lothringen« 
(1895,  auch  separat);  »Das  Beichtsiegel  vor  dem  Schwurgericht  zu  Mül- 
hausen  i.  E.«  (1895,  auch  separat);  »Der  konfessionelle  Kirchhof  nach  den 
kirchlichen  Regeln  und  den  für  Elsaß -Lothringen  geltenden  Zivil  gesetzen« 
(1897,  auch  separat).  Im  »Archiv  für  katholisches  Kirchenrecht«  erschien 
von  ihm;  y> Index  casuum  et  censurarum  in  universa  Ecclesia  iure  nmnssimo 
vigentium«  (74.  Bd.  1895,  S.  18 — 35);  »Das  Beichtvateramt  in  Frauenklöstern« 
(78.  Bd.  1898,  S.  668 — 710;  79.  Bd.  1899,  S.  451 — 483,  709 — 735). 

Vgl.  »Der  Elsässische  Volksbote«  1904,  Nr.  29  v.  4.  Febr.  [J.  Gaß].  —  »Dei  Elsässer« 
1904,  Nr.  37  V.  4.  Febr.  —  »Elsässer  Kurier«  1904,  3.  Febr.  —  ^tjournal  de  ColmarK  1904, 
7.  Febr.  —  »Straßburger  Diözesanblatt«,  23.  Jahrg.  1904,  S.  i,  S.  4.  — Eine  eingehendere 
biographische  Arbeit  über  J.  ist  von  dem  Bibliothekar  des  Straßburger  Priesterseminars, 
Herrn  Dr.  J.  Gaß,  zu  erwarten.  Dem  genannten  Herrn,  sowie  Herrn  Dr.  L.  Pfleger  in 
Münster  i.  W.  bin  ich  für  gefällige  Mitteilungen  und  Nachweise  zu  Dank  verpflichtet. 

F.  Lauchert. 

Zenetti,  Benedikt,  O.  S.  B.^  Abt  von  St.  Bonifaz  in  München,  *  13.  Mai 
1821  zu  Speier,  f  18.  Februar  1904  zu  München.  —  Wilhelm  Z.,  wie  er  vor 
seinem  Eintritt  in  den  Orden  hieß,  der  Sohn  des  späteren  Regierungspräsidenten 
J.  B.  V.  Zenetti,  absolvierte  das  Gymnasium  zu  Passau,  wohin  sein  Vater  als 
Regierungsdirektor  versetzt  worden  war,  studierte  dann  an  der  Universität 
München  Philosophie,  Jurisprudenz  und  Theologie  und  empfing  1847  ^i^ 
Priesterweihe.  Zuerst  in  der  Seelsorge  tätig,  trat  er  nach  der  Eröffnung  des 
neu  gegründeten  Benediktinerstifts  St.  Bonifaz  in  München  als  einer  der 
ersten  Novizen  zugleich  mit  dem  späteren  Abte  und  nachmaligen  Bischof 
Haneberg  im  Dezember  1850  in  dasselbe  ein  und  legte  1851  die  Ordens- 
gelübde ab.  Nachdem  er  nacheinander  verschiedene  Ämter  bekleidet  hatte, 
wurde  er  am  Anfang  der  sechziger  Jahre  Direktor  des  k.  Erziehungsinstituts 
für  Studierende  (des  sog.  Hollandschen  Instituts)  in  München,  1866  Prior 
des  neu  errichteten  Klosters  Schäftlarn.  Nachdem  Abt  Haneberg  Bischof 
von  Speier  geworden  war,  wurde  Z.  1872  zum  Abt  von  St.  Bonifaz  gewählt 
und  erhielt  durch  Erzbischof  v.  Scherr  die  feierliche  Benediktion.  Obwohl 
in  den  31  Jahren  seiner  Regierung  wenig  an  die  Öffentlichkeit  tretend, 
erfreute  sich  Abt  Z.  in  allen  Kreisen  großen  Ansehens.  Kunstsinnig 
und  besonders  in  der  Pflege  der  klassischen  Musik  und  Literatur  seine 
Freude  findend,  hat  er  jederzeit  auch  die  wissenschaftlichen  Bestrebungen 
unterstützt  und  sich  um  die  Förderung  der  ausgezeichneten  Stiftsbibliothek, 
der  so  viele  gleich  dem  Unterzeichneten  zum  größten  Dank  verpflichtet  sind, 

große  Verdienste  erworben. 

Vgl.  »Studien  und  Mitteilungen  aus  dem  Benediktiner-  und  dem  Zisterzienser-Orden«, 
25.  Jahrg.  1904,  S.  426 — 429,  mit  Porträt.  —  »Augsburger  Postzeitung«  1904,  Nr.  41 
V.  20.  Febr.  F.  Lauchert. 

Braun,  Karl  Otto,  Genre-  und  Landschaftsmaler,  *  24.  Dezember  1852  in 
München,  f  8.  Febr.  1904  ebendas.  —  B.  erhielt,  sobald  seine  künstlerische 
Begabung  frühzeitig  hervortrat,  im  Hause  und  unter  der  Schulung  des  Vaters, 
des  als  Xylograph  und  Maler  so  wohlbekannten  Kaspar  Braun  (A.  D.  B.XXXXVII, 
198),  des  Schöpfers  der  »Fliegenden  Blätter«  und  Begründers  der  weltberühmten 


Braun.     Maison. 


193 


Firma  »Braun  und  Schneider«  den  ersten  grundlegenden  Unterricht  nebst  einer 
vortrefflichen,  allseitigen  Bildung.  Weitere  Förderung  wurde  auf  der  Akademie 
unter  Arthur  von  Rambergs  (A,  D.  B.  XXVII,  203)  Leitung,  woselbst  B.  längere 
Zeit  nach  dem  Vorbild  des  trefflichen,  im  koloristischen  Sinne  mit  Karl  von 
Piloty  rivalisierenden  Meister  zum  Genrefach  sich  bekannte,  dann  aber,  seiner 
inneren  Veranlagung  folgend,  gänzlich  zur  Landschaft  überging,  ohne  sich 
einem  bestimmten  Vorbilde  anzuschließen.  Auf  beiden  Gebieten  erreichte 
er  gleich  ehrenvolle  Anerkennung,  trotz  seines  immer  bescheidenen  Rück- 
haltens. Er  drängte  sich  nicht  in  die  Ausstellungen,  schwur  auch  zu  keiner 
der  Parteien,  förderte  aber  mit  aufopfernder  Mühewaltung  und  unermüdlicher 
Ausdauer  alle  Interessen  der  Künstlerschaft,  verschönte  ihre  festlichen  Ver- 
anstaltungen mit  geschickten  und  humoristischen  Inszenierungen.  —  In 
seinen  landschaftlichen  Bildern  »zeigte  er  eine  stille,  gediegene,  freilich  auf 
wenige  Töne  gestimmte,  immer  aber  liebenswürdige  Individualität«;  »seine 
nebelfeuchten  Tage  und  wohligen  stillen  Nächte  erwecken  einen  stark  natur- 
haftträumerischen  Eindruck«.  In  den  weichen,  duftigen  Stimmungen,  in 
denen  er  am  liebsten  die  scheidende  Stunde  des  Tages  und  die  Dämmerung 
mit  dem  aufsteigenden,  durch  den  jungen  Birkenbestand  schimmernden  Mond 
schildert,  athmet  eine  leise  klingende,  sanfte  lyrische  Schwermut.  Es  war 
ein  guter  Teil  Eichendorff  in  ihnen,  freilich  wenig  von  dessen  fröhlicher 
Wanderlust.  In  rein  malerischer  Beziehung  blendeten  die  Werke  nicht;  sie 
waren  weder  virtuos  gemalt  —  getreu  der  Dichterregel,  daß  »Natur  und 
rechter  Sinn  mit  wenig  Kunst  sich  selber  vortrage«  —  noch  großartig  ge- 
zeichnet, sondern  bescheidene,  anspruchslose  symphonische  Sätze  lieblicher 
Innigkeit. 

Bei  seinem  Begräbnis  ergab  sich  eine  überraschende  Teilnahme  als 
sprechender  Beweis,  daß  der  zeitlebens  immer  bescheidene  Mann  aufrichtige 
Freunde  und  Verehrer  in  den  weitesten  Kreisen  besaß. 

Eine  Ausstellung  seines  Nachlasses  im  Münchener  Kunstverein  machte 
den  größeren  Teil  der  Beschauer  erst  mit  den  hochachtungswerten  Be- 
strebungen und  Leistungen  dieses  Künstlers  nachträglich  bekannt. 

Vgl«  Nr.  44  und  71  »Bayer.  Kurier«  13.  Februar  und  11.  März  1904.  Nr.  59  »Augs- 
burger Postzeitung«  12,  März  1904.  Nr.  35  »Mttnchener  Zeitung«  12.  Febr.  1904.  — 
Brauns  Name  fehlt  bei  Singer  und  Fr.  v«  Bötticher,  auch  im  Bericht  des  MUnchener  Kunst- 
vereins, welcher,  gegen  seine  bisherige  Gepflogenheit,  keinem  seiner  im  Jahre  1904  ver- 
storbenen Mitglieder  einen  Nachruf  widmete.  Hyac.  Holland. 

Maison,  Rudolf,  Bildhauer,  k.  Professor,  *  29.  Juli  1854  zu  Regensburg, 
t  12.  Februar  1904  in  München.  —  Der  aus  einer  französischen  Emigranten- 
familie stammende  Vater  wirtschaftete  als  tüchtiger  Tischler  und  Zimmer- 
mann in  der  alten  Donaustadt,  wo  sich  auch  seine  Söhne  mit  allerlei  ein- 
schlägigem Schreiner -Handwerk  übten»  Rudolf  M.  pflog  allerlei  Kunst- 
hantierung auf  eigene  Faust.  Über  führerlosem  Tasten  und  Suchen  geht 
freilich  viel  kostbare  Zeit  unausgenützt  verloren;  doch  schadet  es  nicht, 
nach  Andersens  tröstlicher  Erfahrung,  in  einem  Entenhofe  zur  Welt  zu  kommen, 
wenn  man  nur  in  einem  Schwanenei  gelegen  hat.  Schließlich  fand  M.  den 
Weg  nach  dem  Münchener  Polytechnikum,  um  sich  zum  Baufach  auszubilden, 
blieb   zwar   nicht   lange,    beim    leichtbegreiflichen    Mangel    weiterer   Mittel, 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog*.    9.  Bd.  Xß 


194 


Maison. 


guckte  aber  seinen  Lehrern  mancherlei  ab,  was  er  später  bei  den  architek- 
tonischen Hintergründen  und  Sockeln  seiner  Denkmale  wohl  verwerten  konnte. 
Auch  das  Zeichnen  und  Modellieren  betrieb  er,  das  ihn  rechtzeitig  zu  Bild- 
hauern brachte,  wobei  viel  Dekoratives  für  Fabriken  und  Kunsthandwerk 
entstand,  auch  für  die  Bauten  König  Ludwigs  IL,  wobei  er  freilich  allerlei 
Vorbildnern  wie  Perron  und  anderen  Handdienste  leistete,  doch  soll  er  die 
Pegasus-Fontäne  für  Herrenchiemsee  allein  ausgeführt  haben.  Nach  der  bei 
Bildhauern  nicht  ungewöhnlichen  Sitte,  »um  Kondition  zu  suchen«,  mag  er 
zu  Ruemann  und  Wagmüller  gekommen,  auf  seinen  Wanderungen  mit  Begas 
in  Berlin  und  Tilgner  in  Wien,  auch  etwas  mit  französischer  Plastik  in 
Fühlung  geraten  sein.  Von  allen  diesen  Vorbildern  machte  er  sich  etwas  zu 
eigen,  behielt  aber,  nicht  immer  zum  eigenen  Frommen,  eine  große  Dosis 
des  besser-wissen-woUenden  Autodidakten,  der  sich  gleich  im  voraus  mit  der 
Antike  auf  einen  feindlichen  Fuß  stellte.  Er  haßte  alle  Stilistik,  wie  man 
denn  auch  an  mancher  Akademie  die  Klassiker  aus  den  Sälen  in  die 
Korridore  verbannte.  Dafür  blieb  M.  eine  Zeitlang  mehr  Sklave  denn  nach- 
bildender Verehrer  der  Natur,  wobei  er  frühzeitig  an  die  heilsame  Beihilfe 
der  Farbe  dachte,  ohne  die  jedweder  Kunst  zukommenden  Grenzen  mit 
Lessings  Scharfsinn  zu  erwägen.  Mit  verzweifelter  Kraft  rang  M.  nach 
Wahrheit,  immer  in  Angst,  der  Schönheit  in  Form  und  Linie  etwa  weiter- 
greifende Zugeständnisse  zu  machen. 

Der  keinen  anderen  Ausweg  findende  Kunstjünger  begann  das  »positi- 
vistische« Naturstudium,  ganz  im  Sinne  der  modernsten  Naturforscher,  klam- 
merte sich  an  die  fast  photographische  Wiedergabe'  von  Einzelheiten,  konnte 
sich  mit  Fältchen,  Wülsten,  Narben  und  Zufälligkeiten  nicht  genug  tun, 
selbst  auf  Kosten  des  tektonischen  Baues  des  Körpers.  Bei  den  Tierbildem 
quälte  er  sich  mit  der  genauesten  Charakterisierung,  kennzeichnete  bei 
seinen  Pferden  alle  Eigentümlichkeiten  der  Rasse,  sogar  der  Färbung  der 
Haare,  die  er,  wie  man  behauptete,  seinen  Rossen  überklebte,  ebenso  wie  er 
die  Nymphen  und  Wasserweiber  mit  wirklichen  Haaren  ausstattete.  Um 
kaum  fixirbare  Eindrücke  festzuhalten,  diente  ihm  die  Farbe.  So  besetzte 
er  die  Nägel  seiner  Neger  mit  Trauerrändern  und  formte  ihre  Zähne  aus 
Elfenbein.  Infolge  davon  wagte  er  sich  mit  der  übermütigen  Kühnheit  der 
Jugend  an  immer  neue  Stoffe,  bei  deren  Bewältigung  er  seine  bisher  er- 
rungene Technik  zu  Markt  brachte.  Dabei  bewies  sich  die  ganze  ehrliche 
Spannkraft  seiner  schöpferischen  Phantasie,  welche  nur  zu  leicht  die  mittlere 
Linie  zwischen  Idee  und  Darstellbarkeit  überschritt.  Die  Plastik  »war  für 
ihn  ein  Gebiet  unbegrenzter  Möglichkeiten«.  Das  Titanische  seines  Wollens 
war  ebenso  anerkennenswert  wie  bei  Klingers  Experimenten.  Auch  M.  wagte 
sich  an  schwere,  auf  solchem  Wege  kaum  überwindliche  Stoffe,  dazu  zählt 
z.  B.  die  Ausgrabung  eines  »Verschütteten  Arbeiters«,  die  Darstellung  einer 
streikenden  »Arbeiterfamilie«,  eine  Gruppe  mit  »Caesars  Ermordung«,  wobei 
der  Imperator  auf  einer  durch  Stufen  erhöhten  »j^//ö  curuiis*  sitzend 
gedacht  war;  der  Künstler  vergriff  sich  mit  der  Statuette  eines  »Philo- 
sophen«, welcher,  schnäbelnden  Tauben  zuschauend,  eher  einem  Fabrik- 
arbeiter als  einem  Jünger  der  Stoa  gleichen  mochte,  der  ebensowenig  wie 
der  Sonderling  Diogenes  über  ein  geistiges  Problem  zu  sinnen  vermochte; 
auch  sein  mit  Weinkrug  und  Entenbraten  befrachteter  »Augur«  war  nur  ein 


Maison.  Ip^ 

schmieriger  Schmutzfink,  ebenso  wie  der  Knackwurst  kauende,  den  Bierkrug 
zwischen  den  Beinen  haltende  »Kunst jünger«,  welcher  höchstens  die  Züge 
einer  jovialen  Hebe  mit  dem  Griffel  festzuhalten  trachtet.  Dafi  man  an 
solche  Erzeugnisse,  Kneip-  und  Bummelwitze  eines  überquellenden  Humors, 
keine  kritische  Sonde  legen  darf,  ist  begreiflich;  wie  M.  dieselben  aber  doch 
ernsthaft  behandelte,  war  für  den  Künstler  charakteristisch.  Noch  besser  ge- 
lang ihm  eine  mit  den  neuesten  Berichten  hausierende  »Zeitungsfrau«  oder  ein 
übrigens  von  der  witzigen  Verschlagenheit  seiner  Kollegen  wenig  besitzender, 
roh  einherschlariender  »Schusterjunge«  —  Einfälle,  die  selbst  durch  die  ent- 
sprechende Farbengebung  nicht  liebenswürdiger  erscheinen  konnten.  Auch 
das  vor  dem  gefräßigen  Vogel  der  Juno  angstvoll  ihr  Brot  schützende 
hä^iche  »Faunmädchen«  erwarb  schwerlich  das  teilnehmende  Interesse  des 
Beschauers,  der  jedoch  auch  nicht  immer  Grund  hatte,  mit  M.s.  Porträt- 
büsten von  höchst  achtbaren  Staatsmännern  und  Gelehrten  zufrieden  zu  sein,  da 
der  Bildner  an  kleinlichen,  subjektiven  Zufälligkeiten  sich  einklammerte,  ohne 
die  geistige  Individualität  zum  vorherrschenden  Ausdruck  zu  bringen.  Auch 
das  Gebiet  der  religiösen  Kunst  betrat  M.  als  einer  der  entschiedensten 
Naturalisten.  Er  wählte  den  Augenblick,  wie  das  aus  rohgezimmerten 
Stämmen  bestehende  Kreuz  mit  dem  angenagelten  Heiland  von  wilden 
Schergen  gewaltsam  aufgerichtet  wird:  rückwärts  stemmt  sich  ein  römischer 
Soldat  an  das  Marterholz,  seitwärts  ein  stupider  Neger,  während  vorne  ein 
häßlicher  jüdischer  Büttel  an  einem  langen  Strick  die  schwere  Last  mit  dem 
zwar  nicht  idealen,  aber  doch  immerhin  menschlich  edlen,  etwas  hebräischen 
Typus  tragenden,  angenagelten  Dulder  in  gleichhastender  Eile  in  die  Höhe  zu 
ziehen  strebt.  Die  jammernd  über  den  Anblick  zusammenbrechende  Gestalt  der 
Gottesmutter  nebst  dem  Lieblings  jünger  Johannes  runden  das  Ganze  möglichst 
ab.  Es  sind  lebensgroße  Figuren  mit  höchster  dramatischer  Wirkung  und 
einer  weit  über  das  Gewöhnliche  hinausgehenden  Feinheit  des  Studiums  in 
den  Gewändern  und  nackten  Teilen,  wobei  ein  teilweise  an  die  Altdeutschen 
erinnernder  Zug  durchweg  sympathisch  berührt:  Die  Arbeit  eines  begabten 
Mannes,  welcher  das  volle  Recht  hatte,  seine  eigene  Auffassung  auch  energisch 
geltend  zu  machen  und  unser  Gefühl  zu  empören  gegen  die  Verhöhnung  aller 
Menschlichkeit,  die  hier  im  Namen  des  Rechts  begangen  wird.  Durchweg 
anerkennend  und  günstig  lautete  die  Aufnahme  in  der  Presse  (vgl.  Lützows 
Zeitschrift  1885.  XX,  464,  1886.  XXI.  560.  Nr.  82  Münchener  Fremdenblatt 
23.  März  1885.  Nr.  71  Augsburger  Postzeitung  28.  März  1885.  Pecht  in 
»Kunst  für  Alle«  1886,  I,  238  und  dessen  »Geschichte  der  Münchener 
Kunst«  1888.  S.  307). 

Eine  Zeitlang  mühte  er  sich  mit  dem  zufällig  gefundenen  Modell  eines 
Negers,  der  korbtragend  als  »Tafelaufsatz«  oder  gar  als  »Elektrische  Lampe« 
dienen  sollte,  dagegen  als  gequälter  Reiter  eines  hinterlistig  bockenden 
Grauohrs  (angekauft  vom  Münchener  Kunstverein,  Abbildung  in  R.  Bongs 
»Moderne  Kunst«  XIII.  Bd.,  Tafel  16)  doch  durch  die  eminente  Mache  unsere 
freilich  nur  vorübergehende  Heiterkeit  erregen  konnte. 

Ein  prinzipieller  Gegner  der  Antike,  nahm  M.  die  deutsche  Mythologie 
in^Affektion;  aber  sein  »Wuotan«  (Nr.  3021  »Illustr.  Ztg.«  23.  Mai  1901) 
war  doch  nicht  der  allgütige  Vater  der  Götter  und  Menschen,^  sondern  ein 
in  brutaler  Bärbeißigkeit  gnadenlos  prunkender  Wikinger;   auch   die   Gestalt 

13* 


ipö 


Maison. 


des  unter  dem  glänzenden  Giftwurm  angeketteten  »Loki«  verdarb  er  sich 
durch  willkürliche  Behandlung  des  gemarteten  Götterfeindes,  wozu  ihn  nur 
sein  ungestümes  Hasten  nach  Originalität  verleitete.  Ein  Beispiel  phan- 
tastischer Ungeheuerlichkeit  ergab  der  mit  plastischer  Unmöglichkeit  equili- 
brierende,  von  einem  Panther  Überfallene,  mit  Karawanen-Gepäck  beladene, 
wehrlose  Neger  —  der  schreiendste  Gegensatz  zu  Laokoons  grandioser  Wür- 
digkeit —  eine  unbewußt  ironische  Revanche  gegen  Friedrich  Pecht,  welcher 
Lessings  Kunsttheorie  als  das  Produkt  eines  Ignoranten  abstempelte.  An  Un- 
geheuerlichkeit litt  auch  der  »Entwurf  zu  einem  Friedensdenkmal«,  womit 
M.  bei  einem  Münchener  Projekt  vergeblich  konkurrierte  (vgl.  »Kunst  für 
Alle«  XVI.  Jahrgang,  6.  Heft,  15.  Dezember  1900),  ein  wildverworrenes  Ge- 
knäuel  von  abgehetzten  Rossen  und  daherstürmenden  Menschen.  Auf  dißser 
kaum  einen  festen  Halt  gewährenden  Ruhelosigkeit  basierte  auch  ein  großer  Teil 
von  M.s  Mißerfolgen.  Erst  betäubte  er  die  Beschauer  und  Schiedsrichter,  dann 
kam  ruhigere  Erwägung,  Bedenken,  Unbehaglichkeit,  Zweifel  und  berechtigter 
Einspruch  —  der  Schluß  fiel  meist  mit  abweisendem  Ermessen  und  klügelnden 
Erwägungen  zugunsten  eines  anderen.  Unbeirrt  durch  solche  Enttäuschungen 
ging  M.  mit  unermüdlicher  Schöpferkraft  an  einen  neuen  Ringkampf,  sein  ge- 
dankengequälter Geist  ersann  abermals  Projekte  und  Probleme  mit  wachsender 
Zuversicht.  Nicht  besser  glückte  es  bei  der  Konkurrenz  des  Monumental- 
brunnens für  den  Münchener  Maximiliansplatz,  obwohl  das  Siegfriedmotiv  aus 
naheliegenden  Beziehungen  zu  Wagners  Tondichtungen  ein  günstiger  Griff 
schien,  aber  die  dazu  beanspruchte  Anlage  eines  Seebeckens,  in  welchem  ein 
kompliziertes  Drachenungeheuer  hauste,  stand  in  zu  weitläufiger  Fühlung  mit 
der  gar  nicht  bedrohten  Jungfrau  und  dem  in  weiter  Feme  erscheinenden 
Retter,  obwohl  die  umgebende  Landschaft  das  Ganze  überraschend  abgerundet 
hätte.  Es  »zog«  aber  nicht  und  die  wispernde  Rede  ging  im  voraus  zu 
Adolf  Hildebrands  Gunsten.  Ebenso  mißglückte  es  mit  dem  Berliner  Bismarck- 
Denkmal,  wofür  Reinhold  Begas  prädestiniert  war.  Der  »Kaiser  Wilhelm« 
für  Stuttgart  erweckte  sichere  Erwartung,  scheiterte  aber  an  den  gigantischen 
Felsenmassen  des  Unterbaues;  für  Aachen  standen  die  Aussichten  günstig, 
nur  mißverstand  das  Komitee  die  Beziehung  des  Heldenkaisers  zu  den 
mit  Haaren  herbeigezogenen  » Rhein töchtem«.  Überhaupt  scheint  es  auf- 
fällig, warum  so  viele  Bildhauer  das  Pferd  des  so  festgegossen  im  Sattel 
sitzenden  alten  Recken  von  tubablasenden  und  kriegerische  Emblemata 
tragenden  Frauengestalten  am  Zügel  führen  ließen,  als  ob  der  Kaiser  ein 
schlechter  Reiter  gewesen,  nicht  imstande,  sein  Staatsroß  selbst  zu  regieren. 
Dergleichen  stallmeisternde  Frauenhilfe  wäre  den  alten  römischen  Bildhauern 
nie  beigefallen!  auch  nicht  dem  Meister  Donatello  bei  seinem  Gattamelata 
vor  S,  Antonio  in  Padua  oder  dem  unübertrefflichen  Andrea  Verocchio  mit 
dem  stolzen,  seine  Söldner  zum  Siege  heischenden  Colleoni  in  Venedig.  Die 
Skizze  zum  Wörther  Denkmal  des  »Deutschen  Kronprinzen«  wurde  preis- 
gekrönt —  aber,  wie  gewöhnlich,  ein  anderer  mit  der  Ausführung  betraut. 
Dergleichen  Unbegreiflichkeiten  hätten  jeden  anderen  Künstler  in  den  Sand 
gestreckt.  Günstigere  Sterne  walteten  über  den  die  »Bändigung  der  Natur- 
kräfte« symbolisierenden  Brunnen  in  Fürth:  wie  der  riesige  Zentaur  kühn 
und  trotzig  über  den  »Fluß«  hinwegsetzt,  um  seinerseits  augenblicklich 
von  dem  auf   rollendem  Rade  einherbrausenden  '»Dampf«    überholt  und  ge- 


Maison. 


197 


bändigt  zu  werden,  so  daß  der  sich  unüberwindlich  bedünkende  Pferdmensch 
auf  einmal  gefesselt  fühlt  und  darob  wild  aufbäumt:  Eine  voll  Feuer  und 
Leben  trefflich  "aufgebaute  Gruppe  (vgl.  »Kunst  für  Alle«  i888.  IV,  72).  Noch 
durchschlagender  gelang  es  ihm  mit  Bremen.  Hier  hatte  ein  reicher  Bürger, 
Gustav  Teichroann,  die  nötigen  Mittel  für  ein  Werk  ausgesetzt,  wozu  M.s 
überquellende  Phantasie  einzig  paßte.  Mit  dieser  hier  völlig  berechtigten  Alle- 
gorie auf  die  Schiffahrt  und  den  Seehandel,  nebst  den  Feinden  und  Schrecken 
des  wilden  Elements,  erreichte  M.  eine  überraschende,  wenn  auch  nicht 
einwandfreie  Wirkiyig.  Auf  einem  von  gefräßigen  Haien,  fanggierig  tastenden 
Kracken  und  anderen  Meerungeheuern  umwimmelten  felsblöckigen  Unterbau 
trägt  ein  riesenhafter,  das  sturmgepeitschte  Meer  repräsentierender,  mit  Wal- 
roßkörper und  Hippokampenhufen  ausgerüsteter  Triton  ein  Boot  wie  ein 
Spielzeug  auf  seinem  breiten  Rücken,  während  eine  Nixe,  die  verderbliche 
Macht  der  Fluten,  das  Fahrzeug  hinabzuziehen  trachtet.  Im  Boote  sitzend 
rudert  die  stämmige  Gestalt  eines  Fergen,  der  die  Warenballen  vor  sich  auf- 
gestapelt hat,  auf  welchen  ein  jugendlicher  Merkur  mit  dem  gewinnver- 
heißenden grünen  Reis  und  dem  vollen  Beutel,  leichtfüßig  flatternd  balanciert. 
Das  ganze  Werk,  wuchtig  und  zierlich  zugleich,  überrascht  durch  seine 
originelle  Erfindung,  zeigt  in  der  Technik  jene  Mischung  idealer  Auffassung 
und  realistischer  Durchbildung,  in  welcher  M.s  besondere  titanische  Stärke 
lag.  Man  hat,  nicht  mit  Unrecht,  den  Teichmann-Brunnen  »eine  Feerie 
am  Meeresgrund«  genannt.  Sein  unermüdlicher  Geist  schwelgte  in  immer 
neuen,  sein  ganzes  Kraftbewußtsein  herausfordernden  Kompositionen  und 
Ideen,  zu  deren  Verwirklichung  sein  treuer  Vater  mit  großem,  schnellen  Er- 
fassen zum  inneren  Geripp  und  dem  ganzen  konstruktiven  Aufbau  die  helfenden 
Hände  bot.  Mit  einer  den  meisten  seiner  Schöpfungen  eigenen  Hetze  und 
ihr  mögliches  Ziel  häufig  überschießenden  Rastlosigkeit  häufte  er  neue  ver- 
bessernde Projekte,  oftmals  in  der  zuversichtlichen  Täuschung,  das  Unmögliche 
überwinden  zu  wollen:  ein  gedankengequälter,  vom  Ehrgeiz  abgehetzter  Geist, 
der  mit  Verschiebung  aller  herkömmlichen  statuarischen  Gesetze  seine  Ideale 
verfolgte.  So  schuf  er  sich,  wie  Bonaventura  Genelli,  der  übrigens  ein  durchweg 
plastisch  denkender  Maler  war,  unsägliche  Schwierigkeiten,  immer  neue  Mo- 
tive seinem  Stoffe  einverleibend,  nie  mit  der  einfachen  Tatsache  zufrieden, 
wovon  z.  B.  sein  friedloser  »Loki«  mit  der  hilfreich  den  Schlangengeifer 
abhaltenden  Frau  zeugt.  Einen  wohltuenden  Rückweg  von  der  Überbietung 
des  Buonarotten  —  der  diesen  Bestrebungen  gegenüber  erst  recht  in  voller 
Grandiosität  erscheint  —  und  ein  neues  Gebiet  betrat  M.  mit  der  massigen 
Wucht  seiner  Standbilder  und  Reiterstatuen.  Er  kam  erst  darauf,  als 
ihm  Paul  Wallot  einige  Aufträge  zur  Ausschmückung  des  Berliner  Reichs- 
tagsbaues zuwies,  darunter  zwei  standartentragende  Reiter.  Mit  der 
ihm  eigenen  Leidenschaft  hatte  M.  längst  schon  das  Studium  des  Pferdes 
betrieben.  Er  begnügte  sich  nicht  mit  der  Darstellung  eines  Prototyps, 
sondern  erfaßte  alle  Eigentümlichkeiten  der  Rassen.  Mit  welch  feueriger 
Wut  stürmen  die  abgehetzten  Kriegsrosse  einher,  am  Wagen  des  verworfenen 
Siegesdenkmals  (»Kunst  für  Alle«  1900,  XVI.  Bd.,  6.  Heft),  während  hier 
die  eisernen  lanzentragenden  Kerle  auf  ihren  Turnierpferden  wie  in  den 
Sattel  gegossen  sitzen,  wobei  ihnen  die  Farbe  in  günstigster  Wirkung  bei- 
hilft.   Zwei  stehende,  Lanze  und  Schwert  tragende  Ritter  bilden  (als  Geschenk 


198 


Maison.    Bninner. 


eines  in  Bremen  geborenen,  im  Auslande  lebenden  Herrn  Harrjes,  vgl.  Nr.  3197 
»Illustr.  Ztg.«,  6.  August  1904)  eine  neue  Gesellschaft  des  schon  seit  Urzeiten 
sagenbekannten  »Roland  der  Riese  vorm  Rathaus  zu  Bremen.«  Ihnen  folgte  die 
Kolossalstatue  Kaiser  Otto  I.  für  den  Reichstagsbau  —  ein  kurzweg  drohender 
Herrscher,  mit  der  Streitaxt  in  der  Rechten  und  der  nicht  mißverständlich 
heischenden  Handbewegung,  wobei  ihm  der  im  Reichstag  zomsprühende, 
gereizte  »eiserne  Kanzler«  als  Vorbild  gedient  haben  mag.  Dagegen  blieben 
wieder  zwei  für  die  Isarbrücke  bestimmte  Statuen  unausgeführt,  die  des  ratlos 
in  seinem  schweren  Eisenpanzer  steckenden  Herzog  Christoph  des  »Kämpfers« 
und  des  ein  Madonnenbild  modellierenden,  bisher  als  angeblicher  Erzgießer 
eine  Rolle  in  der  Münchener  Kunstgeschichte  spielenden  Hans  Krumpper. 
Doch  wurde  M.  mit  der  Ausführung  des  Friedrich-Denkmals  für  Berlin 
(Nr.  3167  »Illustr.  Zeitung«,  10.  März  1904),  dieses  Mal  ohne  Wettbewerb, 
betraut,  einer  Reiterstatue,  welche  den  vollen  Beifall  seines  kaiserlichen 
Sohnes  errang,  während  der  Künstler,  weniger  zufrieden,  immer  noch  über 
neue  Lösungen  brütete.  Der  rastlose  Bildner  quälte  sich  darüber,  so  daß 
dieses  Werk  wirklich  ein  Nagel  seines  Sarges  wurde.  Zu  seinen  letzten 
Leistungen  zählte  ein  Nomenbild  und  ein  Grabdenkmal.  Die  drei  Schicksals- 
Schwestern  sind  in  ruhender  Gruppe  gedacht:  die  »Gegenwart«  in  reizloser 
Stellung  stehend  und  schauend,  die  »Zukunft«  sitzend,  in  die  Feme  aus- 
lugend, das  die  Stime  verhüllende  Tuch  mit  beiden  Händen  umfassend; 
die  »Vergangenheit«,  wohl  die  anmutendste  Figur,  schlafend  hingegossen 
(Nr.  3189  »Illustr.  Zeitung«  n.  August  1904).  Das  letzte  Werk,  ein  Fried- 
hofsdenkmal, zeigt  eine  vom  Haupt  bis  zu  den  Füßen  verschleierte  geheimnis- 
volle, ein  großes  Kreuz  mit  erhobenenen  Armen  haltende  Gestalt  (der 
Glaube);  an  den  Hauptstamm  klammert  sich  ein  hingesunkener,  im  Todes- 
kampfe ringender,  die  Porträtzüge  des  Entschlafenen  tragender  Jüngling. 
Mit  diesem  nicht  völlig  vollendeten  Standbild  ist  M.s  ganze  vielseitige 
Tätigkeit  charakteristisch  abgeschlossen,  deren  Programm  dahin  lautete: 
»Die  Wahrheit  steht  mir  am  höchsten,  nicht  die  nackte  und  gesuchte,  sondern 
die  vornehm  geschaute  Wahrheit.« 

Abgearbeitet  war  M.,  als  er  nach  kurzer  Krankheit  ins  frühe  Grab  sank, 
aber  noch  nicht  vollendet  und  durchgeklärt.  Er  hätte  gewiß  noch  andere 
Wege  eingeschlagen.  Sein  sich  Niegenugtun  wetteiferte  mit  dem  exzentrischen 
Hasten  und  Streben  Salvator  Rosas,  alles  Herkommen  zu  überbieten  und 
neue,  vordem  nie  behandelte  Stoffe  zu  finden.  Mit  vierzig  seiner  Werke 
war  M.  1904  im  Vestibül  der  Münchener  Ausstellung  im  Glaspalast  vertreten 
—  eine  seltene  ehrende  Ovation  für  den  Künstler,  welchem  durch  sein 
frühes  Ende  die  letzte  weit  ausschauende  Höhe  zu  erklimmen  versagt 
blieb. 

Vgl.  zu  der  im  Text  erwähnten  Literatur  die  Artikel  von  F.  von  Ostini  in  »Kunst  für 
Alle«  15.  Dezember  1900  und  in  Nr.  88  »Neueste  Nachrichten«  18.  Februar  1904.  Alex 
Braun  »Moderne  Kunst«  XVIII  (mit  Porträt).  A.  G.  Hartmann  in  Nr.  466  »Allgero.  Ztg.« 
12.  Oktober  1904.  Ettlinger  in  »Hochland«  September  1904,  S.  762,  Nr.  80.  Alexander 
Heilmeyer  in  »Die  Kunst  unserer  Zeit«   1904  (XV,   186)  Hyac.  Holland. 

Brunner,  Johann  Paul,  Seminar-Regens  in  Regensburg,  ♦  25.  Januar  1846 
zu  St.  Nikola  bei  Landshut,  f  22.  Februar  1904  zu  Regensburg.  —  B.  wurde 


Brunner.     Ehrensberger.  X  OO 

1871  zum  Priester  geweiht  und  wirkte  über  25  Jahre  in  der  Seelsorge; 
Pfarrer  zu  Obertraubling  bei  Regensburg.  1896  wurde  er  Regens  des  Klerikal- 
Seminars  zu  Regensburg;  bischöflicher  geistlicher  Rat.  Wenige  Tage  vor. 
seinem  Tode  erfolgte  seine  Ernennung  zum  Domkapitular.  —  B.  redigierte 
von  1890  bis  zu  seinem  Tode  (40. — 54.  Jahrg.)  die  praktisch-theologische 
Monatsschrift:  »Der  Prediger  und  Katechet«. 

Vgl.   »Augsburger  Postzeitung«  1904,  Nr.  44  v.  24.  Febr.  F.  Lauchert. 


Ehrensberger,  Hugo,  Gymnasialprofessor  in  Bruchsal,  Historiker,  *  2 1 .  Sep- 
tember 1841  zu  Engen  im  Hegau,  f  24.  Februar  1904  zu  Bruchsal.  —  E.  besuchte 
die   Gymnasien  zu  Konstanz  und  Freiburg  i.  Br.,   studierte  dann  Theologie 
und  Philologie  in  Freiburg  und  wurde  1865  zum  Priester  geweiht.     Hierauf 
wurde  er  zunächst  Vikar  zu  Haslasch  im   Kinzigtal,   1868   Pfarrverweser  zu 
Möggingen  (Amt  Konstanz).     Im   Dezember   1869  erbat  er  sich  Urlaub  zur 
Fortsetzung  seiner  philologischen   Studien,    bestand    1871    das  philologische 
Staatsexamen  und  wurde  er  als  Gymnasiallehrer  in  Rastatt  angestellt,  1875 
zum     Professor    ernannt;     1879    Professor    am    Gymnasium    in    Offenburg, 
i88i   in  Tauberbischofsheim,  1894  in  Bruchsal.    1871  wurde  er  von  der  theo- 
logischen Fakultät  der  Universität  Freiburg  i.  Br.  zum  Dr.  theoL  promoviert; 
1891 — 1893    zu    einer   Studienreise    nach    Rom   beurlaubt;    1897    päpstlicher 
Geheimkämmerer;   1898  wurde  ihm  vom  Großherzog  von  Baden  das  Ritter- 
kreuz I.   Klasse  des  Ordens  vom  Zähringer  Löwen  verliehen.  —  E.s  wissen- 
schaftliche Hauptwerke,   an  denen,  wie   an  allen  seinen  Arbeiten,  die  große 
Sorgfalt  und  Zuverlässigkeit  allgemein  anerkannt  wurde,  sind  die  Beschreibungen 
der  liturgischen  Handschriften  der  Hof-  und  Landesbibliothek  zu  Karlsruhe 
und    der   vatikanischen    Bibliothek:    ^Bibliotheca  Itturgica  manuscripta).     Nach 
Handschriften  der  grofiherzoglich  badischen  Hof-  und  Landesbibliothek.    Mit 
einem    Vorwort    von    Wilh.    Brambach«    (Karlsruhe    1889);    ^Libri    liturgici 
BibliothecM  Apostolicae  Vaticanae  manuscripth  (Freiburg  i.  Br.  1897).    Daneben 
machte  er  sich  besonders  um  die  badische  Landesgeschichte  verdient.     1887 
übernahm    er  für  die  Badische  Historische  Kommission  die  Pflegschaft  im 
Amtsbezirk  Tauberbischofsheim  und  verzeichnete  für  dieselbe  die  Archivalien 
des  Bezirks;  seit  1895  war  er  zugleich  Pfleger  des  Amtsbezirks  Bruchsal,  und 
1903   leistete  er  noch  Aushilfe  für  den  Amtsbezirk  Sinsheim.     Die  von  ihm 
bearbeiteten  Verzeichnisse  und  Beschreibungen  von  Archivalien  sind  gedruckt 
in  den  »Mitteilungen  der  Badischen  Historischen  Kommission«  Nr.  12,  13,  20. 
An  dem  4.  Bande  der  »Kunstdenkmäler  des  Großherzogtums  Baden«,  Kreis 
Mosbach,  2.  und  3.  Abteilung  (1898  und  1901),  bearbeitet  von  Oechelhäuser, 
wirkte  er  mit  durch   Bearbeitung   der   lokalgeschichtlichen   Nachweise.      Im 
»Freiburger  Diözesan-Archiv«   erschienen  seine  Arbeiten:   »Beiträge  zur  Ge- 
schichte der  Abtei  Gengenbach«  (20.  Bd.  1889,  S.  257 — 275);  »Zur  Geschichte 
der  Benefizien  in  Bischofsheim  a.  T.«  (23.  Bd.  1893,  S.  121 — 214);  »Zur  Ge- 
schichte   der    Türkensteuer,    insbesondere    in    Franken,    und    das    Subsid'tum 
charUatwum  des  Kapitels  Taubergau«  (N.  F.  i.  Bd.  [28.  Bd.]  1900,  S.  396  bis 
433);    »Zur  Geschichte  der  Landkapitel  Buchen  und  Mergentheim  (Lauda)« 
(N.  F.  3.  Bd.  [30.  Bd.]  1902,  S.  325 — 371;  N.  F.  4.  Bd.  [31.  Bd.]  1903,  S.  322 
bis  357).    Um    die    katholische  Presse  Badens   machte  E.  sich  verdient  als 


200  Ehrensberger.     Dietrich.     Hoflfmann. 

Mitbegründer   des    »Tauberboten»    und   besonders  als  Begründer  und  lang- 
jähriger Redakteur  des  »St.  Liobablattes«. 

Vgl.  »Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins«,  N.  F.  19.  Bd.  (58.  Bd.),  1904, 
m  33 — m  36  (v.  Weech).  —  »Freiburgcr  Diözesan-Archiv«,  N.  F.  5.  Bd.  (32.  Bd.),  1904, 
S.  437— 440  (Jul-  Mayer).  F.  Laudiert. 


Dietrich,  Anton,  Maler,  Professor,  ♦27.  Mai  1833  in  Meißen,  f  4-  August 
1904  in  Leipzig.  —  Als  Schüler  von  Bendemann  und  Julius  Schnorr  von 
Carolsfeld  an  der  Kunstakademie  in  Dresden  blieb  D.  zeitlebens  der  alten 
historischen  Richtung  in  seiner  Kunst  treu.  Er  lebte  einige  Jahre  in  Düssel- 
dorf und  darauf  acht  Jahre  in  Italien  und  ließ  sich  1868  in  Dresden  nieder. 
Später  wurde  er  als  Professor  an  die  Kunstakademie  in  Leipzig  berufen. 
Seine  Hauptwerke  sind  große  Freskenzyklen  historischen  und  lehrhaften  Inhalts. 
In  der  Aula  der  Kreuzschule  in  Dresden  malte  er  eine  Reihe  von  Wand- 
bildern, die  in  historischer  Folge  die  bedeutendsten  Vertreter  der  sittlichen 
und  geistigen  Bildung  vorführen,  Sokrates,  Curtius,  Luther  usw.  Die  Fresken 
in  der  Aula  der  Technischen  Hochschule  in  Dresden  stellen  die  Taten  des 
Prometheus  als  Sinnbild  des  schöpferischen  Menschengeistes  dar.  Femer 
stammen  von  ihm  mehrere  Wandbilder  in  der  Albrechtsburg  bei  Meißen,  die 
Fresken  in  der  Aula  des  Johanneums  in  Zittau  mit  dem  Hauptbilde  »Paulus 
predigt  in  Athen«,  in  Wachsfarben  ausgeführt,  das  Altarbild  in  der  Dres- 
dener Kreuzkirche,  sowie  der  Entwurf  für  das  Giebelfeld  des  Finanzministe- 
riums in  Dresden,  »Saxonia  als  Schützerin  von  Technik,  Bergbau,  Landwirt- 
schaft und  Industrie«. 

Kunstchronik  XV.   —  Kunst  für  Alle  XIX.  —  Boetticher,  Malerwerke  des  19.  Jahr- 
hunderts.  1895 — 1901.  —  Chronique  des  Arts  et  de  la  Curiosiü,  1^04. 

Hugo  Schmerber. 

Hoff  mann,  Joseph,  Maler,  *  22.  Juli  1831  in  Wien,  f  31.  Januar  1904  in 
Wien.  —  Mit  H.s  Tode  hat  ein  in  künstlerischer  und  mehr  noch  in  rein 
menschlicher  Beziehung  höchst  originelles  Leben  seinen  Abschluß  gefunden. 
Am  bekanntesten  wurde  sein  Name  durch  seine  weltumspannenden  Reisen, 
von  denen  er  tausende  von  Studien  und  Skizzen  heimbrachte,  interessant 
als  geographische,  ethnographische,  kulturgeschichtliche  Dokumente ;  er  suchte 
in  seinen  naturgetreuen  Darstellungen  der  klassischen  Landschaften  den  Geist 
der  Antike  festzuhalten  und  zu  gleicher  Zeit  entstanden  unter  seiner  Hand 
phantastische  Dekorationen  zu  romantischen  Opern.  Schon  im  Anfang  ge- 
staltete sich  sein  Lebenslauf  ungewöhnlich.  Als  Sohn  eines  Schlossers  setzte 
er  mit  Mühe  den  Wunsch  durch,  an  die  Kunstakademie  zu  kommen  und 
schon  im  fünfzehnten  Jahre  veröffentlichte  er  eine  Sammlung  von  lithogra- 
phierten Naturstudien  aus  dem  Prater.  Im  Jahre  1848  mußte  er  infolge  seiner 
Teilnahme  an  der  akademischen  Legion  fliehen  und  ging  nach  Serbien,  wo 
er  sich  mit  Zimmermalerei  fortbrachte  und  daneben  Landschaften  malte. 
Nach  seiner  Rückkehr  wurde  er  in  Wien  durch  mehrere  Jahre  ein  Schüler 
Rahls,  begann  aber  schon  um  diese  Zeit  die  weiten  Reisen  zu  unternehmen, 
die  später  seine  Spezialität  werden  sollten.  Nach  Aufenthalten  in  Tirol  und 
Oberitalien  ging  er  1857  nach  Griechenland,  wo  sich  seine  Hauptneigung  für 


HolTmann.  201 

die  klassische  Landschaft  festigte,  und  von  1858  an  war  er  sechs  Jahre  lang 
in  Rom  tätig.  Hier  entstanden  mehrere  Bilder  nach  griechischen  Skizzen  und 
italienische  Studien,  z.  B.  »Die  Reste  des  Venusheiligtums  an  der  Straße  nach 
Eleusis«  und  die  »altgriechische  Landschaft  mit  dem  Grabe  Anakreons  (1865)«, 
beide  jetzt  in  der  Galerie  der  Wiener  Akademie  befindlich,  sowie  die  Bilder 
»Athen  zur  Zeit  des  Perikles«  (Besitzer  Baron  Sina),  »Küste  von  Salamis«  u.a.m. 
Als  H.  1864  nach  Wien  zurückkehrte,  wartete  seiner  eine  neue  Tätigkeit, 
indem  er  an  der  im  Bau  begriffenen  Hofoper  zum  Vorstand  des  Ausstattungs- 
wesens ernannt  werden  sollte;  er  nahm  die  Stelle  zwar  nicht  an,  malte  aber 
mehrere  Dekorationen  zu  den  Opern  »Zauberflöte«,  »Romeo  und  Julie«, 
»Freischütz«.  Eine  grofie  Aufgabe  eröfhiete  sich  dem  Künstler  in  dieser 
Richtung,  als  ihm  Richard  Wagner  die  Dekorationen  für  den  Ring  der  Nibe- 
lungen in  Bayreuth  übertrug.  Es  entstand  aus  diesem  Auftrag  aber  eine 
unerquickliche  Intriguengeschichte,  die  ungünstig  für  H.  endete;  die  Skizzen 
und  Farbenentwürfe,  die  er  1874  vollendet  hatte,  wurden  von  anderen  benützt 
und  kamen  nicht  durch  ihn  selbst  zur  Ausführung.  In  der  Wiener  Hofoper 
gelangte  die  Dekoration  zur  Walküre  zur  Verwendung.  Seinen  Wiener  Auf- 
enthalt unterbrach  der  Künstler  fortwährend  durch  Reisen,  die  sich  mit  der 
Zeit  immer  weiter  erstreckten,  er  kam  durch  ganz  Europa,  nach  Nordafrika, 
China,  Japan,  Indien,  Nordamerika,  Ceylon,  Java  usw.  Stets  brachte  er  eine 
Unzahl  von  Studien  und  Skizzen  heim,  es  wurden  mehr  als  10.000.  Um  sie 
öffentlich  vorführen  zu  können,  baute  er  sich  in  Wien  eine  eigene  Aus- 
stellungshalle, wo  er  Vorträge  hielt  und  die  Skizzen  serienweise  nach  Ländern 
geordnet  ausstellte.  Zwischen  den  Reisen  entstand  eine  Reihe  von  zyklischen 
Werken  großen  Umfangs.  Für  das  Naturhistorische  Hofmuseum  malte  er  acht 
Wandbilder,  welche  die  geologischen  Bildungsepochen  der  Erde  charak- 
terisieren, femer  im  Wiener  Kursalon  vier  Landschaften,  sowie  acht  Zonen- 
bilder im  Palais  Epstein  am  Burgring,  1871  beendet,  mit  Ansichten  von 
Athen,  Corfu,  Capri,  Rom  u.  a.  Originelle  Wandbilder  schuf  er  im  Garten- 
saale des  Schlosses  Hömstein  für  den  Erzherzog  Leopold,  eine  Darstellung 
von  Jagdabenteuern,  die  über  Wände  und  Türen  hinweg  gemalt  ist,  außerdem 
auch  landschaftliche  Fresken  daselbst.  Für  den  Baron  Sina,  der  einen  großen 
Teil  seiner  griechischen  Skizzen  erwarb,  malte  er  1876  einen  Zyklus  von  fünf 
Bildern  aus  dem  alten  Athen,  die  oft  in  Reproduktion  zu  sehen  sind.  Drei 
andere  Landschaftsfresken  heißen:  »Drama,  Idylle  und  Tragödie«.  Das  Kunst- 
historische Museum  in  Wien  besitzt  von  H.  ein  Aquarell,  »Das  Mädchen  aus 
der  Fremde«,  welches  für  das  Kronprinz  Rudolf- Album  gemalt  wurde. 

Nach  seinem  Tode  erregten  die  Verfügungen  des  Künstlers  einige  Auf- 
merksamkeit, denen  zufolge  sein  Besitztum  in  der  Schweiz  am  Vierwald- 
stättersee,  »Zwing-Uri«  genannt,  als  Vermächtnis  an  die  Allgemeine  deutsche 
Kunstgenossenschaft  fallen  sollte,  sowie  die  gesamten  Reiseskizzen  an  die 
Gemeinde  Wien  unter  der  Bedingung,  daß  ein  eigenes  Museum  dafür  bestehen 
müßte.     Die  letztere  Anordnung  wurde  nicht  erfüllt. 

Kunstchronik  XV.  —  Kunst  für  Alle  XIX.  —  L.  Eisenberg,  Das  geistige  Wien. 
1893.  —  Neue  Freie  Presse,  i.  Februar  1904.  —  Boetticher,  Malerwerke  des  19.  Jahr- 
hunderts 1895 — 1901.  —  Hevesi,  Österreiche  Kunst  im  19.  Jahrhundert.  1903. —  Chronique 
da  Aris  et  de  la  Curiosiü,  1^04^ 

Hugo  Schmerber. 


202  Aldenkirchen,     Keller.     Silbemagl. 

Aldenkirchen,  Joseph,  Domkapitular  in  Trier,  Kunsthistoriker,  *  6.  Januar 
1844  zu  Bonn,  f  iri  der  Nacht  vom  4.  zum  5.  März  1904  zu  Trier.  —  A.  be- 
suchte das  Gymnasium  zu  Bonn,  studierte  dann  an  der  dortigen  Universität, 
sowie  in  Tübingen  und  Münster  Theologie  und  empfing  i868  in  Köln  die 
Priesterweihe.  Er  wirkte  dann  24  Jahre  in  Viersen  als  Pfarrkapitular  und 
Deservitor  der  Hospitalkirche,  später  auch  als  Rektor  des  katholischen 
Waisenhauses  und  städtischer  Schulinspektor.  1892  wurde  er  Domvikar  in 
Trier.  A.  war  als  feinsinniger  Kenner  und  Förderer  der  christlichen  Kunst 
bekannt,  auf  diesem  Gebiete  auch  literarisch  tätig.  Besonders  zu  erwähnen 
ist  die  Schrift:  »Die  mittelalterliche  Kunst  in  Soest.  Ein  Beitrag  zur 
rheinisch-westfälischen  Kunstgeschichte«  (Festprogramm  zu  Winckelmanns 
Geburtstage,  Bonn  1875);  von  seinen  Beiträgen  zu  den  Jahrbüchern  des 
Vereins  von  Altertumsfreunden  im  Rheinlande  die  größeren  Arbeiten:  »Drei 
liturgische  Schüsseln  des  Mittelalters«  (75.  Heft,  1883,  S.  54 — 78;  auch  separat, 
Bonn  1883),  und  »Früh-mittelalterliche  Leinen-Stickereien«  (79.  Heft  1885, 
S.  256 — 272;  auch  separat,  Bonn  1885). 

Vgl.  »Kölnische  Volkszeitung«  1904,  Nr.  191  v.  5.  März;  Nr.  197  v.  7.  März.  — 
»Literar.  Handweiser«   1904,  Nr.  i,  Sp.  40.  F.   Lau  eher  t. 

Keller,  Pius,  O.  S.  Aug.^  Prior  in  Münnerstadt  und  früherer  Provinzial, 
*  30.  September  1825  zu  Bailingshausen  in  Unterfranken,  f  i5-  März  1904 
zu  Münnerstadt.  —  K.  besuchte  das  Gymnasium  zu  Münnerstadt,  studierte 
Theologie  und  Philologie  zu  Würzburg,  machte  das  philologische  Staats- 
examen und  wurde  1849  ^^™  Priester  geweiht.  Noch  in  demselben  Jahre 
trat  er  als  Novize  in  das  Augustinerkloster  zu  Münnerstadt  ein,  wo  er  1850 
Profeß  ablegte.  Hierauf  war  er  eine  lange  Reihe  von  Jahren,  1850 — 1865 
und  1870 — 1896,  als  Professor  am  k.  Gymnasium  zu  Münnerstadt  tätig.  Zu- 
gleich bekleidete  er  wichtige  Ämter  im  Orden;  öfter  war  er  Prior  im  Kloster 
zu  Münnerstadt,  zum  erstenmal  schon  1850  gewählt;  1859 — 1895  General- 
Kommissär  des  Ordens  in  Bayern;  1895 — 1902  erster  Provinzial  der  neu  er- 
richteten deutschen  Augustiner-Ordensprovinz;  als  ihn  1902  die  zunehmende 
Körperschwäche  bei  dem  hohen  Alter  nötigte,  auf  dieses  Amt  zu  resignieren, 
übernahm  er  nochmals  die  Leitung  des  Münnerstädter  Klosters  bis  zu  seinem 
Tode.  —  K.  schrieb:  ^ Index  Episcoporum  Ordtnis  Er^m.  S.  Augustini  Germanorum<t 
(Programm  der  k.  Studienanstalt  zu  Münnerstadt  1875/76).  Die  2.  Auflage 
des  Kirchenlexikons  von  Wetzer  und  Weite  enthält  von  seiner  Hand  eine 
Anzahl  von  Artikeln  zur  Gelehrtengeschichte  und  Hagiographie  des  Augustiner- 
Ordens. 

Vgl.  »Maria  vom  guten  Rat«  (Fortsetzung  der  »Stimmen  vom  Berge  Kännel«),  14.  Jahrg. 
*905i  8.  Heft.  S.  218 — 221.  —  »Augsburger  Postzeitung«  1899,  Nr.  82  v.  11.  April;  1904, 
Nr.  64  V.  18.  März.  F.  Lauchert. 

Silbemagl,  Isidor,  Professor  des  Kirchenrechts  in  München,  *  12.  Oktober 
183 1  zu  Landshut,  f  6.  April  1904  zu  München.  —  S.  machte  seine  Gym- 
nasialstudien in  Landshut,  studierte  dann  1849 — 1853  Theologie  in  München, 
wo  besonders  Döllinger  und  der  Kanonist  Permaneder  die  Richtung  seiner 
Studien  beeinflußten,  trat  1853  in  das  Klerikalseminar  zu  Freising  ein  und 
wurde  daselbst   1854  zum  Priester  geweiht.     Hierauf  war  er  mehrere  Jahre 


Silbemag^l.  203 

in  verschiedenen  Stellungen  in  der  Seelsorge  tätig,  während  welcher  Zeit  er 
von    der  philosophischen  Fakultät   der  Universität  Freiburg  i.  Br.   1856  zum 
Dr.  phil.  promoviert  wurde,  auf  Grund  der  Dissertation:  »Albrecht  IV.,  der 
Weise,  Herzog  von  Bayern,  und  seine  Regierung  (München  1857)«.     Da  ihn 
seine   ganze  Veranlagung  weniger  zu  historischen   Studien  hinzog,   widmete 
er  sich  von  da  an  vorzugsweise  kirchenrechtlichen  Studien  und  wurde  1860 
in    München   Dr,  theoL   mit    der    Dissertation:   »Die  Eides-Entbindung   nach 
dem  kanonischen  Rechte«  (München  1860).     Mit  der  Schrift:  »Das  Eherecht 
nach  den  Gesetzen  der  griechischen  Kirche«  (München  1862)  habilitierte  er 
sich   1862  an  der  theologischen  Fakultät  der  Universität  München  als  Privat- 
dozent für  Kirchenrecht.     Nachdem  noch  in  demselben  Jahre  der  Ordinarius 
dieses  Faches,  Permaneder,  gestorben  war,  wurde  S.  1863  zum  außerordentlichen 
Professor   für  Kirchenrecht  ernannt.     1870   wurde  er   ordentlicher  Professor 
dieses  Faches.     Seit  1865  war  er  auch  mit  Abhaltung  von  Vorlesungen  über 
die  bayerischen  Volksschulgesetze  betraut.     1872  wurde  ihm,  zum  Ersatz  für 
Döllinger,    zum   Kirchenrecht   auch   die   Kirchengeschichte   als   Nominalfach 
übertragen,  bis   i886  die  Professur  der  Kirchengeschichte  wieder  mit  einem 
eigenen  Vertreter  (Alois  Knöpfler)  besetzt  wurde.     Seit  1887   hielt  er  auch 
Vorlesungen  über  den  Buddhismus,   mit  apologetischer  Tendenz,    und   öfter 
auch  solche  über  die  Kirchengescbichte  des   19.   Jahrhunderts.     S.  war  ein 
hervorragender,  anregender  und  beliebter  akademischer  Lehrer.  —  Von  seinen 
nach  den  bereits  erwähnten   Dissertationen   erschienenen   Arbeiten   sind   zu- 
nächst die  kirchen rechtlichen  Hauptwerke  zu  nennen:  »Verfassung  und  gegen- 
wärtiger Bestand  sämtlicher  Kirchen  des   Orients«  (Landshut  1865;  2.  Aufl. 
nach  seinem  Tode  herausgegeben  von  J.  Schnitzer,  Regensburg  1904);  »Ver- 
fassung und  Verwaltung  sämtlicher  Religionsgenossenschaften  in  Bayern.   Nach 
den  gegenwärtigen  Gesetzen  und  Verordnungen  dargestellt«  (Landshut  1870; 
2.   Aufl.   Regensburg   1883;    3.  Aufl.    1892;    4.  Aufl.    1900);    »Lehrbuch    des 
katholischen    Kirchenrechts    zugleich    mit   Rücksicht    auf    das    im    jetzigen 
Deutschen  Reiche  geltende   Staatskirchenrecht«   (Regensburg   1880;   2.  Aufl. 
1890;  3.  Aufl.  1895;  4.  Aufl.  1903).     Diese  Werke  zeichnen  sich  aus  durch 
praktische  Brauchbarkeit,  durch  die  genaue  Darstellung  des  geltenden  Rechts, 
während    S.    auf    die    geschichtliche    Entwicklung    weniger    Gewicht    legte. 
Vorher  hatte  er  die  4.   Auflage  von  Permaneders   »Handbuch   des   gemein- 
gültigen   katholischen   Kirchenrechts«    herausgegeben  (Landshut   1865).     Für 
Döllingers   »Beiträge  zur  politischen,   kirchlichen   und   Kulturgeschichte   der 
letzten    sechs    Jahrhunderte«    Bd.    IL    (Regensburg    1863)    verfaßte    er    den 
Kommentar  zu  den  dort  veröffentlichten  »Römischen  Annaten-Taxrollen  aus 
dem    15.  Jahrhundert«    (S.   i — 276).     Noch    immer   wertvoll    ist    auch    seine 
Monographie:  »Johannes  Trithemius«  (Landshut  1868;  2.  Aufl.  Regensburg  1885). 
Aus  seinen  Vorlesungen  über  den  Buddhismus  ging  die  Schrift  hervor:  »Der 
Buddhismus    nach    seiner  Entstehung,    Fortbildung    und   Verbreitung.     Eine 
kulturhistorische  Studie«  (München  1891 ;  2.  Aufl.  1903).    Sein  letztes  größeres 
Werk:   »Die  kirchenpolitischen  und  religiösen  Zustände  im  19.  Jahrhundert« 
(Landshut  1901),   nach   seinen   Vorlesungen  über  die  Kirchengeschichte  des 
19.  Jahrhunderts  zusammengestellt,  zeigt  in  seiner  stark  subjektiven   Fassung 
nur,  daß   S.   zum  Historiker  seiner  Zeit  nicht  berufen  war  und  läßt  vielfach 
die    Mißstimmung    zum    Ausbruch    kommen,    die   in   ihm   seit  der  Zeit   des 


204  Silbemagl.     von  Montbach.     Schlumprecht. 

vatikanischen  Konzils  zurückgeblieben  war.  Von  kleineren  Arbeiten  sind 
noch  zu  nennen:  »Die  Aufsicht  über  die  Volksschulen  in  Bayern.  Ein  Beitrag 
zum  Kulturkampf«  (München  1876);  »Wilhelms  v.  Ockam  Ansichten  über 
Kirche  und  Staat«  (Histor.  Jahrbuch,  7.  Bd.  1886,  S.  423 — 433);  »Zur  vier- 
hundertjährigen Geburtstagsfeier  des  Dr.  Johann  Eck«  (Histor.-polit.  Blätter, 
98.  Bd.  1886,  S.  747 — 761);  »Die  geheimen  politischen  Verbindungen  der 
Deutschen  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts«  (Histor.  Jahrbuch, 
14.  Bd.  1893,  S.  775 — 813);  »Zum  hundertjährigen  Todestag  des  Dr.  Benedikt 
Stattler«  (Beilage  zur  Augsburger  Postzeitung  1897,  Nr.  47  und  48).  Kleinere 
Artikel  kirchenrechtlichen  Inhalts  im  »Archiv  für  katholisches  Kirchenrecht« 
Bd.  44,  1880;  47,  1882;  56,  1886;  57,  1887;  59,  1888;  60,  1888;  70,  1893; 
77,  1897.     Beiträge  zur  2.  Auflage  von  Stadlers  Heiligenlexikon. 

Vgl.  J.  Schnitzer  im  Vorwort  der  2.  Aufl.  von  Silbemagl,  Verfassung  und  gegen- 
wärtiger Bestand  sämtl.  Kirchen  des  Orients  (Regensburg  1904),  S.  III. — XIV.  —  »Augs- 
burger Postzeitung«   1904,  Nr.  77  v.  7.  April.  F.   Lauchert. 

Montbach,  Mortimer  von,  Domkapitular  in  Breslau,  *  13.  Januar  1828 
zu  Breslau,  f  daselbst  7.  Juni  1904.  —  M.  wurde  nach  Vollendung  seiner 
Studien  185 1  Priester,  Dr,  jur.  et  theol.,  1853  Sekretär  des  Fürstbischofs 
Förster  von  Breslau,  1858  Domkapitular;  er  starb  als  Canonicus  senior  des 
Domkapitels,  apostolischer  Protonotar  und  päpstlicher  Hausprälat.  —  M.  über- 
setzte aus  dem  Italienischen:  Baldeschi,  »Ausführliche  Darstellung  des  römi- 
schen Ritus«  (Regensburg  1856);  Bolgeni,  »Untersuchungen  über  den  Besitz  als 
Fundamentalprinzip  für  Entscheidung  von  Fällen  aus  dem  Gebiete  der  Moral« 
(Regensburg  1857),  und  verschiedene  Erbauungsbücher.  Femer  gab  er  heraus: 
t>  Statuta  synodalia  s.  Ecclesiae  Gratis iaviensis<>^;  Bzovius,  -»Tutelaris  SiUsiae  seu 
de  vita  rebusque  praeclare  gestis  Beati  Ceslai  Odrovansii^  Ordinis  Praedicatorum, 
cammentarius<*^  (Breslau  1862),  und  schrieb  selbst  ein  kleines  »Leben  des 
seligen  Ceslaus«  (Regensburg  1862)  und  viele  Artikel  historischen  und  theo- 
logischen, besonders  liturgischen  Inhalts  im  »Schlesischen  Kirchenblatt«  und 
»Schlesischen  Pastoralblatt«. 

Vgl,  »Literar.  Handweiser«   1904,  Nr.  12,  Sp.  580.  F.  Lauchert. 

Schlumprecht,  Rupert,  ausgezeichneter  Xylograph,  *  24.  März  1854  in 
München,  f  7.  August  1904  ebendas.,  besuchte  die  Volks-  und  Kreisgewerk- 
schule, widmete  sich,  nachdem  er  in  einer  Privatanstalt  Zeichnungs-Unter- 
richt erhalten  hatte,  der  Holzschneidekunst  unter  der  Leitung  von  Hans 
Wolf  (z.  Z.  Professor  an  der  Kunstgewerbeschule  zu  München),  ging  nach 
vierjähriger  Lehrzeit  im  Zeichner-  und  Faksimile-Schnitt  zu  Kaspar  Oertel  nach 
Leipzig,  wo  er  Gelegenheit  hatte,  prächtige  Xylographien  nach  Schnorr, 
Führich  und  Preller  (Odyssee-Landschaften)  auszuführen.  Nach  zweijähriger 
Arbeit  rief  ihn  die  Militärpflicht  in  die  Heimat  zurück,  nach  deren  Ableistung 
Seh.  in  das  Atelier  von  Wilhelm  Hecht  (z.  Z.  k.  k.  Professor  in  Wien)  eintrat. 
Hier  lieferte  er  viele  Blätter  zu  Liezen  -  Mayers  »Faust«  und  »Glocke«  für 
Ströfers  Verlag  und  Fr.  Schwörers  »Teil«  (bei  Bruckmann).  Von  1879  ^^^ 
1880  arbeitete  Seh.  bei  Adolf  Cloß  in  Stuttgart  für  die  von  Spemann, 
Gebrüder  Kröner,  Engelhorn  herausgegebenen  Prachtwerke.  Seit  1880  aber- 
mals in  München,   wurde  Seh.   1881    ständiger   Mitarbeiter  von    Braun   und 


Schlumprecht.     Brausewetter.     Voche^er.  205 

Schneiders  weltbekannten  »Fliegenden  Blättern«,  wo  Seh.  vollauf  Gelegenheit 
hatte,  sein  virtuoses  Können  ganz  zu  entwickeln.  Für  diese  Firma  schuf  unser 
Künstler  eine  Reihe  von  meisterlichen,  in  freier,  rein  malerischer  Wirkung  behan- 
delten Blättern  nach  Hermann  Vogel  von  Plauen,  L.  M.  Marold,  A,  B.  Wenzell, 
Fr.  Wähle,  Ren^  Reinicke,  Fr.  Stahl,  Franz  Simm  u.  a.  mit  dem  treuesten 
feinsten  Verständnis  und  völliger  Wiedergabe  ihrer  charakteristischen  Vor- 
tragsweise, ihrer  ganzen  »Handschrift«.  Leistungen  dieser  Art  erschienen  auf 
den  Münchener  Kunstausstellungen  1901 — 1904,  wo  sie  mit  der  goldenen 
Medaille  ausgezeichnet  wurden.  Leider  unterbrach  ein  schweres  Nervenleiden 
seine  Tätigkeit  öfters,  bis  ein  Gehirnschlag  zu  Geitau  am  Fuße  des  Wendel- 
steins ihn  nach  längerem  Siechtum  von  seinen  Qualen  erlöste. 

Sein  Bruder  und  Schüler  Heinrich  Seh.  (*  4.  Januar  1859)  trat  mit 
gleicher  Genialität  in  dieselbe  artistische  Richtung  der  neuesten  Xylographie. 

Hyac.  Holland. 

Brausewetter,  Otto,  Maler,  Professor,  •11.  September  1835  zu  Saalfeld 
in  Ostpreußen,  f  8.  August  1904  in  Berlin.  —  B.  besuchte  die  Akademie 
zu  Königsberg,  lebte  einige  Zeit  in  Frankfurt  a.  M.  und  in  München  und 
ging  dann  nach  Berlin,  wo  er  in  den  achtziger  Jahren  Lehrer  an  der 
Kunstakademie  als  Nachfolger  Ed.  Hübners  wurde.  Er  malte  fast  ausschließ- 
lich historische  und  Genrebilder,  die  innerhalb  der  konventionellen  Schablone 
seiner  Zeit  immerhin  einen  guten  Rang  einnehmen.  Das  Stadtmuseum  in 
Danzig  besitzt  mehrere  Bilder  von  ihm,  u.  a.  »Dem  König  Richard  IIL 
erscheinen  die  Geister  der  gemordeten  Söhne  Eduards«  (1860).  Zu  den  be- 
kanntesten seiner  Werke  gehört  das  Bild  »Yorks  Ansprache  an  die  ostpreußi- 
schen Stände  1813«,  ^^  ^^^  ^^^  Sitzungssaal  des  ostpreußischen  Provinzial- 
landtages  in  Königsberg  gemalt  wurde,  sowie  »Gustav  Adolf  in  der  Schlacht 
bei  Lützen«. 

Kunstchronik  XV.  —  Kunst  für  Alle  XIX.  —  Boetticher,  Malerwerke  des  19.  Jahr- 
hunderts. 1895 — 1901.  —  Chronique  des  Aris  et  de  la  CuriosüL  1904, 

Hugo  Schmerber. 

Vochezcr,  Joseph,  katholischer  Pfarrer  von  Enkenhofen  (Württemberg), 
Historiker,  ♦  26.  Februar  1849  zu  Hauerz  (Württemberg),  \  \i,  Juli  1904  zu 
Enkenhofen.  —  V.  studierte  Theologie  in  Tübingen,  wo  er  1870  den  Preis 
der  philosophischen,  1872  den  der  katholisch-theologischen  Fakultät  erhielt, 
wurde  Dr,  phil.  und  empfing  1873  die  Priesterweihe.  Hierauf  wurde  er  zu- 
nächst Vikar  in  Christazhofen,  dann  in  Aichstetten,  1875  Repetent  am  Konvikt 
in  Rottweil,  dann  Repetent  am  Wilhelmsstift  in  Tübingen.  Im  Sommer- 
semester 1876  machte  er  an  der  Universität  Berlin  weitere  historische  Studien 
und  wurde  hierauf  drei  Jahre  beurlaubt,  um  für  die  im  Auftrage  des  Fürsten 
von  Waldburg-Wolfegg-Waldsee  übernommene  Geschichte  des  Hauses  Wald- 
burg in  Schwaben  die  vorbereitenden  Arbeiten  zu  machen.  Zu  diesem  Zwecke 
durchforschte  er  von  Frühjahr  1877  bis  Herbst  1879  eine  große  Anzahl  von 
Archiven  in  Württemberg,  Bayern,  Baden,  der  Schweiz  und  Österreich.  1879 
wurde  er  Kaplaneiverweser  in  Neuthann,  1881  Pfarrverweserin  Egelfingen,  1881 
Pfarrer  in  Schweinhausen,  1893  Pfarrer  in  Hofs,  1900  Pfarrer  in  Enkenhofen.  Seit 


2o6  Vocherer.     Grillenberger. 

1891  war  er  ordentliches  Mitglied  der  württembergischen  Kommission  für  Landes- 
geschichte, deren  Tätigkeit  er  durch  eifrige  Mitarbeit  unterstützte.  —  Sein  Haupt- 
werk ist  die  »Geschichte  des  fürstlichen  Hauses  Waldburg  in  Schwaben«,  von  der 
er  zwei  umfangreiche  Bände  erscheinen  lassen  konnte  (Kempten  1888,  1900; 
die  Fortsetzung  des  Werkes  nach  den  hinterlassenen  Manuskripten  und  Vor- 
arbeiten ist  von  Subregens  Dr.  Sproll  in  Rottenburg  zu  erwarten).  Von 
kleineren  Arbeiten  sind  zu  nennen :  »Zur  Geschichte  des  schwäbischen  Städte- 
bundes der  Jahre  1376 — 1389«  (Forschungen  zur  deutschen  Geschichte, 
15.  Bd.,  Göttingen  1875,  S.  1 — 17),  die  in  verschiedenen  Jahrgängen  (i888£f) 
des  »Diözesan-Archivs  von  Schwaben«  zerstreuten  »Kleinen  Beiträge  zur 
Geschichte  einzelner  Pfarreien«,  und  die  Beiträge  zur  allgemeinen  deutschen 
Biographie:  »Heinrich  L,  Bischof  von  Konstanz«  (11.  Bd.,  i88o,  S.  509 — 511); 
»Waldburg,  Georg  III.,  Truchseß  v.«  (40.  Bd.,  1896,  S.  660 — 665). 

Vgl.  Neher,  Personal-Katalog  der  Geistlichen  des  Bistums  Rottenburg,  3.  Aufl.  (Schw. 
Gmünd  1894),  S.  191.  F.  Lauchert. 

Grillenberger,  Otto,  O,  Cist.  in  Wilhering  (Oberösterreich),  Historiker, 
♦  10.  März  i86i  zu  Schauerschlag  in  der  Pfarre  Oberneukirchen  (Ober- 
österreich), t  16.  August  1904  im  Stift  Wilhering.  —  G.  absolvierte  das 
Gymnasium  in  Freistadt,  trat  dann  1881  in  das  Zisterzienser-Stift  Wilhering 
als  Novize  ein,  studierte  nach  Ablauf  des  Noviziatsjahres  vier  Jahre  Theologie 
an  der  theologischen  Hauslehranstalt  des  Stifts  St.  Florian,  legte  1885  Profefl 
ab  und  wurde  1886  zum  Priester  geweiht.  Hierauf  wirkte  er  zunächst  als 
Kooperator  an  der  Stiftspfarre  Leonfelden  im  Mühl kreis,  bis  er  1888  in  das 
Stift  zurückberufen  wurde.  Zur  weiteren  Ausbildung  wurde  er  1889  an  die 
Universität  Wien  gesandt,  wo  er  während  vier  Jahren  besonders  historische 
Studien  machte  und  1893  zum  Dr.  phil,  promoviert  wurde.  Nach  seiner 
Rückkehr  in  das  Stift  mit  historischen  Forschungen  beschäftigt,  war  er  seit 
1896  auch  an  der  Privatlehranstalt  des  Stifts  tätig;  1897  wurde  er  auch 
Generalvikariatssekretär  der  österreichisch-ungarischen  Zisterzienserprovinz, 
1900  Bibliothekar  und  Archivar  des  Stifts.  —  G.  war  ein  rastlos  tätiger, 
gründlicher  Geschichtsforscher  und  ein  sehr  tüchtiger  Philologe.  Durch  eine 
große  Zahl  von  Arbeiten  hat  er  sich  in  seinem  leider  so  kurzen  Leben 
bleibende  Verdienste  insbesondere  um  die  Geschichte  seines  Ordens  und 
speziell  des  Stiftes  Wilhering  erworben.  Nach  einigen  vorausgehenden  kleineren 
Arbeiten  war  er  ein  tätiger  Mitarbeiter  Janauscheks  bei  der  Herausgabe  von 
S.  Bemardi  Sermanes  de  tempore  (=  Kenia  Bemardina  I,  i,  Wien  1891).    Für  den 

2.  Teil  der  Kenia  Bemardina  lieferte  er  das  beschreibende  Verzeichnis  der 
Handschriften    der   Stiftsbibliothek  zu   Wilhering  (II,   2,  S.  i — 114),  für  den 

3.  Teil:  »Quellen  zur  Geschichte  des  Stiftes  Wilhering«  (III,  S.  191 — 210). 
Demnächst  erschien  seine  Übersetzung:  »Ein  Buch  von  der  Liebe  Gottes. 
Vom  hl.  Bernhard  von  Clairvaux«  (Paderborn  1892);  dann  sein  Hauptwerk: 
»Die  ältesten  Totenbücher  des  Zisterzienser-Stiftes  Wilhering  in  Österreich 
ob  der  Enns«  (Graz  1896;  =  Quellen  und  Forschungen  zur  Geschichte, 
Sprache  und  Literatur  Österreichs  und  seiner  Kronländer,  Bd.  11).  Es  folgten 
die  weiteren  Arbeiten  (mit  Übergehung  der  kleineren):  »Das  älteste  Urbar 
des  Zisterzienserstiftes  Wilhering«  (54.  Jahresbericht  des  Museums  Francisco- 
Carolinum  in  Linz,  1896,  S.  121 — 174);  »Beiträge  zur  Geschichte  der  Pfarre 


Grillenberger.     Flock.  207 

Theras.  Aus  P.  Bernhard  Söllingers  Nachlaß«  (Geschichtliche  Beilagen  zu 
dem  St.  Pöltner  Diözesanblatt,  VI,  1896,  S.  i — 109);  »Zur  Pflege  der  Briel- 
steller-  und  Formularbücher-Literatur  im  Zisterzienserorden«  (Mitteilungen 
der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte,  8.  Jahrg. 
1898,  S.  97 — 126);  »Das  Wilheringer  Formelbuch«  (Studien  und  Mit- 
teilungen aus  dem  Benediktiner-Orden,  19. — 21.  Jahrg.,  (1898 — 1900);  »Die 
Anfänge  des  Zisterzienser-Stiftes  Wilhering  in  Österreich  ob  der  £nns« 
(Studien  und  Mitteilungen,  24.  Jahrg.  1903,  S.  92 — 99,  303 — 321,  652 — 659); 
»P.  Cölestin  Weinbergers  Compendium  chronologicum  de  ortu  et  progressu 
monasterii  B,  M.  V,  de  Cella  Angelomm  vulgo  Engelszell  ord.  Ost  in  Austria 
Superiore  ex  chartario  et  chromeis  mss.  dicti  monasterii^  (Archiv  für  die  Ge- 
schichte der  Diözese  Linz,  i.  Jahrg.  1904,  S.  14^45);  »Beiträge  zur  inneren 
Geschichte  des  Zisterzienserordens  im  17.  Jahrhundert«  (Studien  und  Mit- 
teilungen, 25.  Jahrg.  1904,  S.  465 — 480,  711 — 717).  »Kleinere  Quellen  und 
Forschungen  zur  Geschichte  des  Zisterzienserordens«  waren  in  den  Jahr- 
gängen 1891,  1892,  1895 — 1897  der  Studien  und  Mitteilungen  erschienen, 
andere  kleine  Beiträge  in  dieser  und  anderen  Zeitschriften.  Nach  dem  Tode 
des  Ordenshistorikers  Dr.  P.  Leopold  Janauschek  (f  23.  Juli  1898;  vgl.  über 
ihn  meinen  Artikel  in  der  Allgemeinen  deutschen  Biographie,  50.  Bd., 
S.  629!.)  übernahm  G.  die  Riesenarbeit,  aus  dem  von  diesem  gesammelten 
gewaltigen  Material  den  2.  Band  der  T^Origines  Cistercienses^  zu  bearbeiten; 
leider  sollte  es  ihm  nicht  mehr  vergönnt  sein,  über  die  vorbereitenden 
Arbeiten  hinauszukommen.  Als  eine  Frucht  dieser  mühevollen  Forschungs- 
arbeit konnte  er  nur  noch  seine  letzte  Schrift  erscheinen  lassen:  »Die  Catalogi 
abbcUiarum  ordinis  Cisterciensis.  Nachträge  zu  Dr.  L.  Janauscheks  Originum 
Cisterciensium  tomus  /.  1.  Die  Gruppe  B  i  und  P«  (Wien  1904;  auch  als 
Beilage  zum  Jahresbericht  des  Privat-Untergymnasiums  des  Stiftes  Wilhering 
für  das  Schuljahr  1903/04).  Von  früheren  Arbeiten  seien  noch  genannt  seine 
»Studien  zur  Philosophie  der  patristischen  Zeit.  i.  Der  Oktavius  des 
M.  Minucius  Felix,  keine  heidnisch -philosophische  Auffassung  des  Christen- 
tums« (Commers  Jahrbuch  für  Philosophie  und  spekulative  Theologie,  3.  Jahrg. 
1888,  S.  102 — 128,  145 — 162,  259 — 270);  »2.  Die  Unsterblichkeitslehre  des 
Amobius«  (ebd.  5.  Jahrg.  1890,  S.  i — 15),  und  die  philologischen  Arbeiten: 
»Praxitas'  Kämpfe  um  die  Schenkelmauern  Korinths«  (Zeitschrift  für  die 
österreichischen  Gymnasien,  39.  Jahrg.  i888,  S.  193 — 212)  und  »Polykrates 
und  Xenophon«  (ebd.  41.  Jahrg.  1890,  S.  i — 16). 

Vgl.  »Studien  trnd  Mitteilungen   aus  dem  Benediktiner-  und  dem  Zisterzienser-Orden«, 
25.  Jahrg.  1904,  S.  905 — 908  (F.  Justin  Wöhrer).  —  Zisterzienser-Chronik,  16.  Jahrg.  1904, 

S.  350— 352.  F.  Lauchert. 

Flöcky  Joseph,  S,  y.,  Prokurator  am  Collegium  Germanicum  in  Rom, 
•  31.  Januar  1845  zu  Koblenz,  f  23.  September  1904  zu  Rom.  —  F.  ab- 
solvierte das  Gymnasium  in  Koblenz,  begann  die  theologischen  Studien  im 
Seminar  zu  Trier  und  trat  dann  1864  in  die  Gesellschaft  Jesu  ein.  Nachdem 
er  noch  fünf  Semester  in  München  und  Tübingen  studiert  hatte,  wo  er  sich 
besonders  auch  in  den  orientalischen  Sprachen  ausbildete,  machte  er  das 
Noviziat  in  Gorheim  bei  Sigmaringen,  studierte  dann  Rhetorik  in  Münster 
und  zwei  Jahre  Philosophie  in  Maria-Laach.     Hierauf  wirkte   er  erst  zwei 


2o8  Flock.     Ribarz.     Baumgartner. 

Jahre  im  Lehramt  in  Feldkirch  und  lehrte  dann  Theologie  in  Maria-Laach, 
später  in  Ditton  Hall  und  in  Mold  in  England.  Seit  dem  Jahre  1878  bis 
zu  seinem  Tode  wirkte  er  am  Colkgtum  Germanicum  in  Rom,  neun  Jahre  als 
Studienpräfekt,  3^/2  Jahre  als  Rektor,  worauf  er  als  Prokurator  die  Ökonomie 
des  Kollegs  übernahm. 

Vgl.  »Kölnische  Volkszeitung«   1904,  Nr.  821   v.  3.  Okt.  F.   Lauchert. 

Ribarz,  Rudolf,  Maler,  Professor,  ♦  30.  Mai  1848  in  Wien,  f  12.  November 
1904  in  Wien.  —  Als  Schüler  der  Wiener  Akademie  und  Professor  Albert 
Zimmermanns  wandte  sich  R.  vom  Anfang  an  hauptsächlich  der  Landschafts- 
malerei zu  und  früh  trat  auch  der  starke  Zug  seiner  Begabung  zum  Deko- 
rativen in  mancherlei  kunstgewerblichen  Arbeiten  hervor,  in  denen  gleichfalls 
die  Landschaft  eine  Hauptrolle  spielte.  Die  ihm  zusagenden  Motive  fand  er 
während  einer  langen  Periode  in  Holland,  Belgien  und  Nordfrankreich;  1875 
ging  er  nach  Brüssel,  später  schloß  er  sich  gleich  seinem  Freunde  Jettel  der 
kleinen  Gruppe  von  Österreichern  an,  die  in  Frankreich  wirkten  und  über- 
siedelte nach  Paris,  wo  er  19  Jahre  lang  lebte  und  eine  Reihe  von  Gemälden 
in  den  Salons  der  Societe  Nationale  des  Beaux-Arts  ausstellte.  Auch  in  Tirol 
und  in  Venedig  entstanden  mehrere  Bilder.  Im  Jahre  1892  kehrte  er  dauernd 
nach  Wien  zurück  und  brachte  seine  von  Manets  Lichtfülle  berührten  Werke 
bald  zu  allgemeiner  Beliebtheit.  Kurze  Zeit  darauf  erhielt  er  eine  Professur 
an  der  Kunstgewerbeschule  des  österreichischen  Museums  in  Wien.  Wenige 
Monate  vor  seinem  Tode  verfiel  er  in  unheilbaren  Irrsinn.  Einige  Zeit  hin- 
durch, während  der  ersten  Jahre  nach  der  Rückkehr,  liebte  er  eine  spezielle 
Anordnung  in  seinen  Landschaftsbildem,  ein  Mittelding  zwischen  realistischer 
Freilichtauffassung  und  omamentaler  Raumverteilung,  die  sich  im  Format  und 
in  der  dekorativen  Wirkung  auch  gut  für  kunstgewerbliche  Zwecke  eignete 
und  für  Wandschirme,  Panneaux  von  ihm  viel  angewendet  wurde.  Den 
Vordergrund  bilden  große  Blumen  und  Früchte,  z.  B.  hochstengelige  Iris, 
oder  ein  Küchengarten,  durch  die  man  in  einen  hellen  Landschaftsausschnitt 
hindurchsieht.  Die  moderne  Galerie  in  Wien  besitzt  von  ihm  ein  Bild 
»Straße  bei  Deutsch-Altenburg«. 

Hevesi,  Österreichische  Kunst  im  19.  Jahrhundert.  1903.  —  Kunstchronik.  XVI.  — 
Kunst  für  Alle.  XIX.  XX.  —  Chronique  des  Arts  et  de  la  Curiosüc,  jgo4,  —  Boetticher, 
Malerwerke  des   19.  Jahrhunderts.   1895 — 1901.  —    Neue  Freie  Presse.     14.  Nov.  1904. 

Hugo  Schmerber. 

Baumgartner,  Heinrich,  Seminardirektor  in  Zug,  *  24.  Mai  1846  zu 
Cham,  Kanton  Zug,  f  i3-  Oktober  1904  zu  Zug.  —  B.  erhielt  seine  Gym- 
nasialbildung in  Zug  und  im  Lyzeum  des  Benediktinerstiftes  Einsiedeln, 
studierte  dann  Theologie  am  Collegium  Borromäum  in  Mailand,  an  der 
Universität  Tübingen  und  an  der  theologischen  Lehranstalt  zu  Luzem,  trat 
im  Herbst  1869  in  das  Priesterseminar  zu  Solothurn  und  wurde  1870  von 
Bischof  Bagnoud,  Abt  von  St.  Maurice,  zum  Priester  geweiht.  Hierauf  war 
er  zuerst  Kaplan  in  Steinhausen,  1871 — 1874  Gymnasiallehrer  in  Zug.  1874 
gründete  er  mit  seinen  Freunden,  den  geistlichen  Lehrern  H.  A.  Keiser  und 
A.  Meienberg,  das  Kollegium  St.  Michael  in  Zug,  Pensionat  und  Realschule. 
1879  wurde  hauptsächlich  durch  B.s  Bemühungen  durch  den  schweizerischen 


Baumgartner.     Stengele.  200 

katholischen  Erziehungsverein  das  freie  katholische  Lehrerseminar  daselbst 
gegründet,  in  Verbindung  mit  dem  Kollegium  St.  Michael.  B.  wurde 
Direktor  des  Seminars,  das  er  in  rastlos  eifriger  Tätigkeit  zu  Ansehen  und 
Blüte  brachte.  Als  Mitglied  des  kantonalen  Erziehungsrates  seit  1887,  lang- 
jähriger Vizepräsident  desselben,  kantonaler  Schulinspektor  und  Präsident  der 
Lehrmittelkommission  für  die  Volksschulen  erwarb  er  sich  große  Verdienste 
um  das  Schulwesen  des  Kantons.  —  Von  seiner  schriftstellerischen  Tätigkeit 
sind  besonders  die  bewährten  und  beliebten  Lehrbücher  zu  nennen: 
»Psychologie  oder  Seelenlehre,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Schul- 
praxis für  Lehrer  und  Erzieher«  (4.  Aufl.  Freiburg  i.  Br.  1899;  i.  Aufl.:  »Leit- 
faden der  Seelenlehre  oder  Psychologie«,  Zug  1884);  »Pädagogik  oder 
Erziehungslehre,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  psychologischen  Grund- 
lagen für  Lehrer  und  Erzieher«  (4.  Aufl.  Freiburg  i.  Br.  1902;  i.  Aufl.:  »Leit- 
faden der  Erziehungslehre«,  Zug  1885);  »Unterrichtslehre,  besonders  für 
Lehrer  und  die  es  werden  wollen.  Dazu  als  Anhang:  Abriß  der  Denklehre« 
(2.  Aufl.  Freiburg  i.  Br.  1898;  i.  Aufl.:  »Leitfaden  der  Unterrichtslehre«  1890); 
»Geschichte  der  Pädagogik  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Volksschul- 
wesens. Für  Lehrerseminarien  und  zur  Fortbildung  der  Lehrer«  (Freiburg  i.  Br. 
1902).  Femer  die  biographischen  Schriften:  »J.  A.  Comenius«  (1892); 
»J.  H.  Pestalozzis  Leben,  Wirken  und  Bedeutung«  (1896).  i886 — 1890  redi- 
gierte B.  die  »Katholischen  Seminarblätter  zur  Beförderung  der  intellektuellen 
und  moralischen  Fortbildung  katholischer  Lehrer«  (Zug),  von  November  1890 
bis  1893  den  »Schweizerischen  Erziehungsfreund«  (Gossau),  1893  mit  F.  Noser 
und  F.  X.  Kunz  die  »Pädagogische  Monatsschrift.  Organ  des  Vereins 
katholischer  Lehrer  und  Schulmänner  der  Schweiz«  (Zug),  die  seit  1894,  mit 
dem  »Erziehungsfreund«  vereinigt,  unter  dem  Titel:  »Pädagogische  Blätter« 
(Zug)  unter  seiner  Mitarbeit  fortgesetzt  wurde. 

Vgl.  A.  Wyfi,  Blätter  der  Erinnerang  an  H.  Baumgartner,  Seminardirektor  in  Zug 
(1-rUzem  1904;  als  Separatabdruck  aus  dem  »Vaterland«,  20. — 22.  Okt.  1904).  —  »Augs- 
burger Postzeitung«  1904,  Nr.  240  v.  25.  Okt.  —  Ein  eingehenderes  Lebensbild  ist  von 
Herrn  Rektor  H.  A.  Keiser  in  Zug  zu  erwarten.  F.  Lau  che rt. 

Stengele,  Benvenut,  O.  S.  /r.,  Historiker,  *  5.  April  1842  zu  Altheim 
in  Baden  (Amt  Überlingen),  f  ^i-  November  1904  zu  Würzburg.  —  St.  trat 
1869  2U  Würzburg  in  das  Noviziat  der  Minoriten-Konventualen,  legte  1870 
Profeß  ab  und  wurde  1873  zum  Priester  geweiht.  Er  war  hierauf  in  ver- 
schiedenen Klöstern  des  Ordens  in  der  Seelsorge  tätig,  zu  Oggersheim  (Pfalz), 
Schönau  (Unterfranken),  Schwarzenberg  (Mittelfranken),  zuletzt  nahezu  25  Jahre 
in  Würzburg,  als  Beichtvater  sehr  beliebt.  Im  Würzburger  Kloster  war  er 
auch  viele  Jahre  lang  Bibliothekar.  1902  wurde  er  zum  Vikar  des  Klosters 
gewählt.  —  St.  war  ein  ungemein  fleißiger  Forscher  auf  dem  Gebiete  der 
Ordensgeschichte  und  der  kirchlichen  Lokalgeschichte,  sowohl  für  seine 
engere  Heimat,  den  badischen  Linzgau,  als  für  das  bayerische  Franken,  dem 
er  in  seinem  Ordensleben  angehörte.  Eine  große  Menge  von  Arbeiten  zur 
kirchlichen  Lokalgeschichte  des  Linzgaus  veröffentlichte  er  in  verschiedenen 
Zeitschriften  seit  1882,  insbesondere  im  »Freiburger  Diözesan-Archiv«,  im 
»Diözesan-Archiv  von  Schwaben«,  im  »Freiburger  katholischen  Kirchenblatt« 
und   in    der  Radolfzeller  Zeitung   »Freie   Stimme«.     Aus  einer  Anzahl   von 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog:.    9.  Bd.  14 


2 1  o  Stcngele.     Kaiser. 

solchen  früher  zerstreut  gedruckten  Einzelstudien  ging  mit  entsprechenden 
Ergänzungen  sein  erstes  größeres  Werk  hervor:  y^Ltnsgaina  sacra,  Beiträge 
zur  Geschichte  der  ehemaligen  Klöster  und  Wallfahrtsorte  des  jetzigen  Land- 
kapitels Linzgau«  (Überlingen  1887).  Von  den  Einzelarbeiten  können  hier 
nur  die  größeren  genannt  werden.  Im  »Freiburger  Diözesan-Archiv« :  »Proto- 
kolle über  die  Inventaraufnahme  der  dem  deutschen  Orden  als  Entschädigung 
im  Jahre  1802  zugewiesenen  Klöster  des  Linzgaues«  (16.  Bd.  1883,  S.  136 
bis  156;  18.  Bd.  1886,  S.  315 — 321);  »Beiträge  zur  Chronik  des  P.  Berard 
Müller«  (17.  Bd.  1885,  S.  292 — 298);  Lokalgeschichten  einer  Anzahl  von 
Orten  und  Pfarreien  im  Linzgau,  nämlich:  Groflschönach  (19.  Bd.  1887, 
S.  265 — 295,  und  25.  Bd.  1896,  S.  267 — 290),  Altheim  (20.  Bd.  1889,  S.  219 
bis  256),  Oberhomberg  (21.  Bd.  1890,  S.  285 — 302),  Lippertsreuthe  (22.  Bd. 
1892,  S.  289—313),  Denkingen  (23.  Bd.  1893,  S.  287—328),  Andelshofen 
(24.  Bd.  1895,  S.  291 — 304),  Frickingen  (29.  Bd.,  N.  F.  2.  Bd.,  1901,  S.  199 
bis  244);  »Die  ehemaligen  Augustiner-Nonnenklöster  in  der  Diözese  Konstanz« 
(20.  Bd.  1889,  S.  307 — 313);  »Das  ehemalige  Franziskaner-Minoriten-Kloster 
in  Villingen«  (30.  Bd.,  N.  F.  3.  Bd.,  1902,  S.  193 — 218);  »Verzeichnis  der 
Dekane,  Kammerer  und  Pfarrer  im  jetzigen  Landkapitel  Linzgau«  (31.  Bd., 
N.  F.  4.  Bd.,  1903,  S.  198 — 235;  32.  Bd.,  N.  F.  5.  Bd.,  1904,  S.  140 — 167). 
Aus  dem  »Diözesan-Archiv  von  Schwaben«  sei  nur  genannt:  »Jahresgeschichten 
der  Franziskanerkonventualen  in  Württemberg.  Aus  der  handschriftlichen 
Chronik  des  P.  Berard  Müller  1703«  (6.  Jahrg.  1889,  Nr.  10 — 23;  7.  Jahrg. 
1890,  Nr.  I  und  2).  In  den  »Schriften  des  Vereins  für  Geschichte  des  Boden- 
sees und  seiner  Umgebung«  erschienen  die  Arbeiten:  »Das  ehemalige 
Franziskaner-Minoriten-Kloster    zu    Konstanz«    (18.    Heft    1889,    S.  91 — 99);  ^ 

»Das  ehemalige  Augustiner-Kloster  zu  Konstanz«  (21.  Heft  1892,  S.  183  bis 
198);  »Die  Einquartierungen  im  Linzgau  während  der  Kriegszeiten  von  1792 
bis  1800«  (21.  Heft  1892,  S.  199 — 207).  Für  das  fränkische  Gebiet  die  Schriften: 
»Geschichte  des  Franziskaner-Klosters  Schönau«  (1899);  »Geschichtliches  über 
das  Franziskaner-Minoriten-Kloster  in  Würzburg«  (Sulzbach  und  Würzburg 
1900),  und  zahlreiche  lokalgeschichtliche  Artikel  in  vielen  Jahrgängen  des 
Sulzbacher  »Kalenders  für  katholische  Christen«. 

Vgl.  »Augsburger  Postzeitung«   1904,  Nr.  259  v.   17.  Nov.;   1905,  Nr.   12  v.  15.  Jan. 
—  Das  Bibliographische  nach  meinen  eigenen  Sammlungen. 

F.  Lauchert. 

Kaiser,  Pius,  O.  S.  Fr.,  Guardian  in  Würzburg,  •13.  Dezember  1849  zu 
Dettelbach  in  Unterfranken,  f  14.  November  1904.  —  K.  trat  im  Jahre  1870 
nach  Vollendung  der  Gymnasialstudien  in  den  Orden  der  Minoriten- 
Konventualen,  legte  im  folgenden  Jahre  Profeß  ab  und  wurde  nach  Vollendung 
der  theologischen  Studien  1874  zum  Priester  geweiht.  In  der  Folge  weilte 
er  in  den  Klöstern  Schönau,  Würzburg  und  Oggersheim  und  wurde  öfter 
Guardian  und  Vikar;  zuletzt  seit  1902  Guardian  des  Klosters  zu  Würzburg. 
Das  Hauptgewicht  seiner  Tätigkeit  lag  in  der  Abhaltung  von  Volksmissionen, 
in  denen  er  als  weithin  bekannter,  populärer  und  eindrucksvoller  Prediger 
sehr  erfolgreich  wirkte. 

Vgl.  »Augsburger  Postzeitung«   1904,   Nr.  258  v.   16.  Nov.;   1905,  Nr.  12  v.   15.  Jan. 

F.  Lauchert. 


Jciler.  2 1 1 

Jeiler,  Ignatius,  O,  S,  Fr.^  Präfekt  des  Colltgium  S.  Bonaventurae  zu 
Quaracchi  bei  Florenz,  •  4.  Dezember  1823  zu  Havixbeck  bei  Münster  i.  W., 
f  9.  Dezember  1904  zu  Quaracchi.  —  J.  besuchte  1836 — 1843  das  Gymnasium 
zu  Münster  und  studierte  dann  zwei  Jahre  Philosophie  und  Theologie  an 
der  Akademie  daselbst.  1845  trat  er  zu  Warendorf  in  das  Noviziat  des 
Franziskaner-Ordens,  legte  1846  die  Ordensgelübde  ab,  vollendete  hierauf  die 
theologischen  Studien  in  Paderborn  und  wurde  1848  zum  Priester  geweiht. 
Hierauf  wirkte  er  zunächst  mehrere  Jahre  in  verschiedenen  deutschen 
Klöstern  des  Ordens.  1854 — 1861  hielt  er  sich  in  Italien  auf,  wo  er  be- 
sonders scholastische  Theologie  studierte.  Nach  seiner  Rückkehr  nach 
Deutschland  lehrte  er  zunächst  vier  Jahre  Philosophie  im  Kloster  zu  Düssel- 
dorf; seit  1865  war  er  Lektor  der  Theologie  im  Kloster  zu  Paderborn;  seit 
187 1  zugleich  Kustos  der  sächsischen  Ordensprovinz.  Neben  dem  Lehramte 
war  er  auch  als  Prediger,  Beichtvater  und  Exerzitienmeister  vielfach  tätig. 
Im  Kriege  1870/71  war  er  mehrere  Monate  als  Seelsorger  auf  den  Schlacht- 
feldern in  Frankreich.  Schon  seit  1875  an  den  Vorarbeiten  für  die  von  den 
Franziskanern  in  Angriff  genommene  neue  kritische  Ausgabe  der  Werke  des 
hl.  Bonaventura  beteiligt,  wofür  er  zahlreiche  Bibliotheken  bereiste,  und  nach- 
dem er  noch  1878  das  Amt  des  Präses  in  dem  Franziskaner-Konvent  zu 
Brunssum  in  der  holländischen  Provinz  Limburg  bekleidet  hatte,  wurde  er 
1879  in  das  neugegründete  Collegiwn  S.  Bonaventurae  zu  Quaracchi  (ad  Claras 
Aquas)  berufen,  das  sich  speziell  dieser  großen  Aufgabe  widmete.  Nach  dem 
Tode  des  ersten  Präfekten,  des  P.  Fidelis  a  Fanna  (f  12.  August  1881,  vgl. 
dessen  von  J.  verfaßten  Nekrolog  im  »Literarischen  Hand  weiser«  1882, 
Nr.  312,  Sp.  289 — 292),  wurde  J.  von  den  Ordensobern  zum  Präfekten  des 
Kollegiums  ernannt  und  übernahm  damit  die  Oberleitung  der  Bonaventura- 
Ausgabe.  Diese  Riesenarbeit,  seine  eigentliche  Lebensarbeit,  die  seinem  Namen 
ein  unvergängliches  Denkmal  setzt,  konnte  er  unter  der  Mitarbeit  seiner  jüngeren 
Ordensbrüder  glücklich  zu  Ende  führen;  in  den  zwanzig  Jahren  1882 — 1902 
erschien  die  Ausgabe  in  zehn  Bänden  und  einem  Index->Band  (^Doctoris 
Seraphici  S.  Bonaventurae  S.  H.  E.  Episcopi  Cardinalis  Opera  omnia,  edita  studio 
et  cura  Patrum  Collegii  a  S.  Bonaventura,  ad  plurimos  Codices  mss,  emendata, 
anecdotis  aucta,  prolegomenis,  scholiis  notisque  illustrata;  Ad  Claras  Aquas 
[Quaracchii]  prope  Florentiam,  ex  typogr.  Collegii  S.  Bonaventurae^).  Seine  Ver- 
trautheit mit  der  scholastischen  Theologie  und  Philosophie  und  insbesondere 
mit  dem  hl.  Bonaventura  hatte  J.  schon  vorher  in  einer  Reihe  von  kleineren 
Arbeiten  bewiesen:  »Die  Lehre  des  hl.  Bonaventura  in  betreff  des  Ontologis- 
mus«  (Katholik  1870,  I,  S.  404 — 420,  583 — 593,  655 — 686);  »Zur  Verständigung 
über  die  thomistische  Lehre  von  der  praemotio  physicao^  (Katholik  1873,  II, 
S.  129 — 149,  277 — 290;  »Zu  dem  sechsten  Zentenarium  des  heiligen  seraphischen 
Kirchenlehrers  Bonaventura«  (Katholik  1874,  I,  S.  653 — 667;  II,  S.  8 — 22); 
»Der  Ursprung  und  die  Entwickelung  der  Gotteserkenntnis  im  Menschen. 
Eine  dogmatische  Studie  über  die  betreffende  Lehre  des  hl.  Bonaventura 
und  anderer  Meister  des  13.  Jahrhunderts«  (Katholik  1877,  I,  S.  113 — 147, 
225 — 269,  337 — 353);  »Zu  der  katholischen  Lehre  von  der  substantiellen  Ein- 
heit der  menschlichen  Natur«  (Katholik  1878,  II,  S.  i — 21);  »Die  sogenannte 
Summa  de  virtutibus  des  Alexander  von  Haies«  (Katholik  1879,  I,  S.  38 — 54). 
Dazu  kam  später  noch  die  Schrift:   »5.  Bonaventurae  principia  de  concursu  Dei 

14* 


212  Jeiler.     Stttbel. 

generali  ad  actiones  causarum  secundarum  collecta  et  S.  Thamai  doctrina  canfirmata^ 
(Ad  Claras  Aquas  1897).  Von  seiner  sonstigen  schriftstellerischen  Tätigkeit 
sind  hervorzuheben  die  beiden  Biographien:  »Leben  der  ehrwürdigen  [seit 
der  5.  Aufl.:  der  seligen]  Klosterfrau  Maria  Crescentia  Höfi  von  Kaufbeuren 
aus  dem  dritten  Orden  des  hl.  Franziskus,  nach  den  Akten  ihrer  Seligsprechung 
und  anderen  zuverlässigen  Quellen  bearbeitet  (Dülmen  1874;  5.  Aufl.  1900; 
6.  Aufl.  1901)  und:  »Die  selige  Mutter  Franziska  Schervier,  Stifterin  der 
Genossenschaft  der  Armenschwestern  vom  hl.  Franziskus,  dargestellt  in  ihrem 
Leben  und  Wirken«  (Freiburg  i.  Br.  1893;  2.  Aufl.  1897);  femer  das  aus 
dem  Italienischen  des  P.  Anton  Maria  da  Vicenza  übersezte  Werk:  »Der 
hl.  Bonaventura  aus  dem  Orden  des  hl.  Franziskus,  Bischof,  Kardinal  und 
Kirchenlehrer  in  seinem  Leben  und  Wirken  dargestellt«  (Paderborn  1874), 
und  aus  der  Zahl  seiner  asketischen  Schriften  das  in  vielen  Auflagen  (Waren- 
dorf 1865  und  öfter  und  Dülmen)  gedruckte  »Normalbuch  für  die  Brüder 
und  Schwestern  des  dritten  Ordens  des  hl.  Franziskus«.  Aus  der  Zahl  seiner 
über  60  Beiträge  zur  2.  Aufl.  des  Kirchenlexikons  von  Wetzer  und  Weite 
(besonders  zur  Geschichte  seines  Ordens,  darunter  viele  kleinere  biographische 
Artikel  zur  Gelehrtengeschichte  desselben;  einiges  auch  zur  Dogmatik  und 
Asketik)  sind  als  größere  Arbeiten  besonders  zu  nennen:  Bonaventura,  der  hl. 
(II,  1017 — 1027);  Franziskanerorden  (IV,  1650 — 1683);  Franz  von  Assisi,  der  hl. 
(IV,  1799 — 1815);  Fraticellen  (IV,  1926 — 1936);  Observanten  (IX,  632 — 640); 
Portiuncula  (X,  194 — 203);  Spiritualen  (XI,  635 — 645). 

Vgl.  M.  Grabxnann,  P.  Ignatus  Jeiler  und  die  neue  Bonaventura- Ausgabe;  »Literar. 
Beilage  der  Kölnischen  Volkszeitung«  1905,  Nr.  3,  Sp.  11 — 13.  —  »Kölnische  Volks- 
zeitung« 1903,  Nr.  1017  V.  4.  Dez.;  1904,  Nr.  1032  v.  13.  Dez.  —  »Literar.  Handweiser« 
1905,  Nr.  5,  Sp.  176  (Httlskamp).  —  £.  Raßmann,  Nachrichten  von  dem  Leben  und  den 
Schriften  Mtinsterländi scher  Schriftsteller.     Neue  Folge  (Münster  1881),  S.  iiof. 

F.  Lauchert. 

Stübel,  Moritz  Alfons,  wissenschaftlicher  Reisender  und  Vulkanforscher, 
•  26.  Juli  1835  in  Leipzig,  f  10.  November  1904  in  Dresden.  St.  war  der 
Sohn  eines  Rechtsanwalts  und  Stadtrats  und  stammte  aus  einer  begüterten 
Gelehrtenfamilie.  Da  beide  Eltern  frühzeitig  starben,  entwickelte  sich  schon 
in  der  Jugend  eine  große  Selbständigkeit  seines  Charakters.  Er  besuchte 
keine  öffentliche  Schule,  sondern  wurde  im  Hause  eines  Verwandten  in 
Dresden  durch  Privatlehrer  unterrichtet.  1854  bezog  er  die  Universität  seiner 
Vaterstadt,  um  Naturwissenschaften  zu  studieren.  Bei  Otto  Erdmann  hörte 
er  Chemie,  bei  Karl  Friedrich  Naumann  Mineralogie  und  Geologie.  Daneben 
arbeitete  er  eifrig  im  Laboratorium.  Aber  sein  schwacher  Körper  war  den 
Anstrengungen  des  intensiven  Studiums  nicht  gewachsen.  Die  Anzeichen 
eines  beginnenden  Lungenleidens  stellten  sich  ein,  und  so  sah  sich  der  junge 
Student  genötigt,  zu  seiner  Wiederherstellung  ein  mildes  Klima  aufzusuchen. 
Er  begab  sich  1855  nach  Ägypten,  hielt  sich  längere  Zeit  in  Kairo  auf  und 
unternahm  größere  Ausflüge  nach  Chartum,  in  das  Gebiet  des  Blauen  Nils 
und  in  die  Nubische  Wüste.  Dann  verweilte  er  seit  1858  fast  ein  volles 
Jahr  in  Italien,  hauptsächlich  in  Rom  und  Neapel.  Eine  Besteigung  des 
Vesuvs  regte  ihn  zu  näherer  Beschäftigung  mit  den  Problemen  de's  Vulka- 
nismus an.    Um  seine  Ansichten  darüber  zu  klären,   besuchte  er  auch  den 


Stübel.  2 1 3 

Ätna,  die  Liparischen  Inseln  und  die  Solfataren  Toskanas.  Als  wissenschaft- 
liches Ergebnis  dieser  Reise  erschienen  später  drei  kleine  Abhandlungen 
in  den  Sitzungsberichten  der  naturwissenschaftlichen  Gesellschaft  Isis  in 
Dresden:  »Die  Laven  der  Somma  bei  Neapel  und  einige  ägyptische  Mine- 
ralien« (1861,  S.  113 — 114),  »Mitteilungen  aus  Toskana«  (1862,  S.  40 — 48)  und 
»Organische  Einschlüsse  im  vulkanischen  Tuff  von  der  Insel  Lipari«  (1862, 
S.  52).  1859  ^^^  seine  Gesundheit  wieder  soweit  gekräftigt,  daß  er  nach 
Deutschland  zurückkehren  konnte.  Nun  studierte  er  in  Heidelberg  bei  Johann 
Ferdinand  Blum  Mineralogie,  bei  Robert  Wilhelm  Bunsen  Chemie  und  bei 
Gustav  Robert  Kirchhoff  Physik  und  erwarb  1860  den  philosophischen 
Doktortitel.  Da  er  sich  unterdessen  für  den  schweren,  aber  dankbaren  Beruf 
des  Forschungsreisenden  entschieden  hatte,  vervollständigte  er  seine  wissen- 
schaftliche Ausbildung  noch  auf  der  Bergakademie  in  Freiberg,  wo  er  Be- 
ziehungen zu  Friedrich  Breithaupt,  dem  berühmten  Förderer  der  Krystallo- 
graphie  anknüpfte,  und  in  Berlin,  wo  er  sich  mit  geodätischen,  topographischen 
und  astronomischen  Arbeiten  beschäftigte.  Um  seine  Kenntnisse  und  Fertig- 
keiten zu  prüfen,  begab  er  sich  im  Sommer  1862  zunächst  nach  wohldurch- 
forschten Gegenden,  nach  Schottland,  den  Orkney-  und  Shetlands-Inseln. 
Den  nächsten  Winter  verbrachte  er  auf  Madeira,  um  den  geologischen  Bau 
dieser  Insel  eingehend  zu  untersuchen.  1863  verweilte  er  zu  gleichem  Zwecke 
sechs  Monate  auf  den  Kapverden.  Dann  kehrte  er  nach  Madeira  zurück, 
um  seine  Studien  fortzusetzen.  Da  ihm  die  vorhandenen  Karten  zur  Ver- 
anschaulichung der  Bodenplastik  nicht  genügten,  fertigte  er  auf  Grund  un- 
zähliger Aufnahmen  und  Messungen  in  zweijähriger  mühsamer  Arbeit  erst 
in  Ton,  dann  in  Wachs  ein  Relief  der  Insel.  Auch  veröffentlichte  er  ein 
paar  kleine  Aufsätze  über  seine  Beobachtungen  (Neues  Jahrbuch  für  Mine- 
ralogie 1863,  S.  561  und  811,  Sitzungsberichte  der  Isis  1864,  S.  238).  Bei 
diesen  Studien  stiegen  zuerst  erhebliche  Zweifel  in  ihm  auf,  ob  die  damals 
herrschende  Lehre  der  Plutonisten  von  der  Entstehung  der  Gebirge  wissen- 
schaftlich berechtigt  sei.  Im  Sommer  1865  kehrte  er  nach  einem  Besuch  der 
Kanarischen  Inseln  durch  Marokko  und  Spanien  nach  Deutschland  zurück. 
Während  er  noch  mit  der  Bearbeitung  der  wissenschaftlichen  Ergebnisse 
seiner  Reise  beschäftigt  war,  begannen  jene  denkwürdigen  Naturereignisse 
auf  Santorin,  welche  das  lebhafte  Interesse  aller  Vulkanforscher  erregten. 
St.  beschloß  sofort,  eine  Studienfahrt  nach  jener  Insel  anzutreten,  um  die 
weitere  Wirksamkeit  der  vulkanischen  Kräfte  dort  zu  beobachten.  Er  ver- 
einigte sich  mit  den  Privatdozenten  Karl  von  Fritsch  aus  Zürich  und  Wilhelm 
Reiß  aus  Heidelberg  und  hatte  das  Glück,  an  Ort  und  Stelle  einen  neuen 
Vulkanberg,  den  bis  zu  200  m  hohen  Georgios,  ohne  Aschenkegel  und  Krater 
aufsteigen  zu  sehen.  Dieser  Anblick  gab  seinen  Ansichten  über  die  Gebirgs- 
bildung  eine  neue  Richtung.  Nachdem  sich  die  vulkanischen  Kräfte  auf 
Santorin  beruhigt  hatten,  besuchten  die  Reisenden  noch  die  Vulkangebiete 
auf  der  griechischen  Halbinsel  Methana  und  auf  der  Insel  Ägina  und  kehrten 
dann  nach  der  Heimat  zurück.  Hier  begann  sogleich  die  Bearbeitung  der 
wissenschaftlichen  Ergebnisse.  Zunächst  veröffentlichten  alle  drei  gemeinsam 
zwei  Werke  geringeren  Umfangs:  »Santorin.  Die  Kaimeni-Inseln  dargestellt 
nach  Beobachtungen«  (Heidelberg  1867,  ™i^  4  Tafeln,  auch  ins  Englische 
übersetzt:   TAe  Kaimeni  Islands  front  observations,  Heidelberg  und  London  1867) 


214 


Stttbel. 


und  »Ausflug  nach  den  vulkanischen  Gebirgen  von  Ägina  und  Methana  im 
Jahre  1866«  (Heidelberg  1867,  mit  einer  Karte).  Dann  folgte  ein  aus- 
führlicheres Buch  von  Reiß  und  St.:  »Geschichte  und  Beschreibung  der 
vulkanischen  Ausbrüche  bei  Santorin  von  der  ältesten  Zeit  bis  auf  die 
Gegenwart  nach  vorhandenen  Quellen  und  eigenen  Beobachtungen  dar- 
gestellt« (Heidelberg  1868),  endlich  von  St  allein,  der  die  vulkanischen  Er- 
eignisse auf  der  Inselgruppe  in  einer  Folge  von  acht  Reliefs  veranschaulicht 
hatte :  »Das  supra-  und  submarine  Gebirge  von  Santorin  in  photographischen 
Nachbildungen  der  an  Ort  und  Stelle  gefertigten  Reliefkarten,  mit  er- 
läuterndem Text,  Höhen  Verzeichnis  und  einer  Abhandlung  über  Reliefkarten« 
(Leipzig  i868,  mit  4  Tafeln). 

Während  dieser  Arbeiten  planten  Reiß  und  St.  eine  neue  Studienfahrt. 
Als  Ziel  faßten  sie  Hawaii  mit  seinen  Riesenvulkanen  ins  Auge,  doch  sollte 
unterwegs  eine  Durchquerung  des  nördlichen  Südamerika  unternommen 
werden.  Im  Frühjahr  1868  landeten  sie  in  Santa  Marta  an  der  Küste  der 
Republik  Colombia.  Zunächst  besuchten  sie  die  nahegelegenen,  tief  im 
Urwald  versteckten  Schlammvulkane  von  Galera  Zamba  und  Turbaco,  fuhren 
dann  den  Magdalenenstrom  aufwärts,  erstiegen  die  Cordillere  und  ließen  sich 
zu  längerem  Aufenthalte  in  der  Hauptstadt  Bogota  nieder.  Von  hier  aus 
unternahmen  sie  zahlreiche  Ausflüge  in  die  nähere  uud  weitere  Umgegend, 
namentlich  in  die  weiten  Grasebenen  am  Rio  Meta.  Bald  gewannen  sie  die 
Überzeugung,  daß  ihnen  das  noch  wenig  erforschte  Land  reiche  wissen- 
schaftliche Ausbeute  gewähren  würde.  Sie  verzichteten  deshalb  auf  Hawaii 
und  blieben  zwei  Jahre  lang  in  Colombia,  untersuchten  teils  gemeinsam, 
teils  einzeln  die  Vulkanberge  der  Anden,  nahmen  astronomische,  trigono- 
metrische und  barometrische  Messungen  vor,  entwarfen  Zeichnungen  und 
legten  reiche  Sammlungen  von  Gesteinsproben,  Pflanzen,  Tieren  und  ethno- 
graphischen Gegenständen  an.  Im  März  1870  begaben  sie  sich  nach  dem 
Nachbarstaate  Ecuador,  dem  klassischen  Lande  der  Vulkane,  um  dort 
ihre  Studien  meist  getrennt  von  einander  fortzusetzen.  In  Quito  schlugen 
sie  ihr  Hauptquartier  auf.  Hier  lernten  sie  Theodor  Wolf,  einen  Landsmann 
und  Fachgenossen  kennen,  der  als  Professor  der  Geologie  an  der  Universität 
und  der  polytechnischen  Schule  wirkte.  Dieser  gründliche  Landeskenner 
und  tüchtige  Kartograph,  der  später  sein  Amt  aufgab  und  nach  Dresden 
übersiedelte,  wo  er  mit  St.  jahrelang  freundschaftliche  Beziehungen  unterhielt 
und  sich  wesentlich  an  seinen  Arbeiten  beteiligte,  unterstützte  sie  in  förder- 
lichster Weise  mit  Rat  und  Tat.  St.  durchzog  nun  vier  Jahre  lang  sammelnd, 
beobachtend,  messend  und  zeichnend  die  Cordillere  von  Ecuador  nach 
allen  Richtungen.  Er  untersuchte  und  bestieg,  oft  unter  schweren  Strapazen 
und  bei  ungünstigen  Witterungsverhältnissen,  eine  Reihe  von  wichtigen 
Vulkanen,  darunter  den  Sangay,  Chimborazo,  Carihuairazo,  Tunguragua  und 
Cotopaxi,  und  entwarf  von  diesen  Bergen  große,  in  Bleistift  gezeichnete 
Panoramen  von  seltener  Naturtreue.  Um  auch  farbige  Bilder  zu  erhalten, 
nahm  er  einen  jungen  einheimischen  Künstler,  Namens  Rafael  Troya  in 
seine  Dienste,  der  ihn  zwei  Jahre  hindurch  auf  allen  Wanderungen  begleitete 
und  ihm  zahlreiche  charakteristische  Landschaften  in  öl  malte.  Einige 
längere  Ruhepausen,  welche  die  beiden  Forscher  in  Quito  verlebten,  be- 
nutzten   sie    zur    gemeinsamen    Veröffentlichung    ihrer    barometrischen    und 


Stttbel. 


215 


trigonometrischen  Höhenmessungen  in  zwei  kleinen,  aber  inhaltreichen  Werken: 
^Alturas  principales  tomadas  en  la  Republica  del  Ecuador  en  los  anos  de  i8yo — 
iSjj:  I.  Las  Provincitis  de  Imbabura  y  Pichincha,  IL  Las  Provincias  de 
PicMncka,  Leon  y  Tunguragua,  de  los  RioSy  del  Chimborazo  y  Aztiayv.  (Quito 
1S71 — ys)  und  ^Alturas  tomadas  en  la  Republica  de  Cohmbia  en  los  anos  de 
1868  y  i86g^  (Quito  1872),  Außerdem  erschien  um  diese  Zeit  noch  im 
Druck  eine  t^Carta  del  Dr,  Alfonso  Stuebel  a  S.  E.  el  Presidente  de  la 
Republica  sobre  sus  viajes  a  las  montahas  Chimborazo^  Altar  etc.  y  en  especial 
sobre  sus  ascensumes  al  Tunguragua  y  Cotopaxi<s^  (Quito  1873,  deutsch  in  der 
Zeitschrift  für  die  gesamten  Naturwissenschaften  XLII,  1873,  S.  476  ff, 
französisch  im  Bull,  soc,  giogr.  Paris  1874,  S.  258  ff). 

Im  Herbst  1874  trafen  die  beiden  Reisegefährten  nach  längerer 
Trennung  am  Fuße  des  Chimborazo  zusammen.  Sie  wanderten  gemeinsam 
nach  der  Küste  und  fuhren  von  Guayaquil  aus  nach  Lima.  Wenige  Meilen 
nördlich  von  dieser  Stadt  liegt  nahe  der  Küste  das  Indianerdorf  Ancon. 
Hier  war  einst  Jahrhunderte  hindurch  eine  ausgedehnte  altperuanische 
Siedelung.  Der  Boden  bewahrt  deshalb  zahlreiche  Gräber  und  andere 
Überreste  dieser  hochkultivierten  Epoche.  Die  beiden  Forscher  nahmen 
nun  1875  eine  systematische  Ausgrabung  des  Totenfeldes  vor  und  förderten 
Tausende  von  Gebrauchsgegenständen  und  Schmucksachen  zutage,  die  sie 
später  meist  den  Kgl.  Museen  zu  Berlin  überwiesen.  Nach  Vollendung 
dieses  Werkes  überstiegen  sie  gemeinsam  die  Cordillere,  und  während  Reiß 
noch  einen  Ausflug  nach  dem  Ucayali  unternahm,  fuhr  St.  den  Amazonenstrom 
abwärts  bis  zur  Mündung  bei  Para,  wo  er  seinen  Gefährten  erwartete.  Dann 
begaben  sich  beide  gemeinsam  zur  See  nach  Rio  de  Janeiro.  Von  hier 
aus  kehrte  Reiß  seiner  geschwächten  Gesundheit  wegen  nach  Europa  zurück, 
St.  dagegen  besuchte  die  deutschen  Kolonien  in  Südbrasilien,  hielt  sich 
einige  Zeit  in  Montevideo  auf  und  durchquerte  dann  abermals  den  süd- 
amerikanischen Kontinent  von  Buenos  Aires  bis  Santiago  de  Chile.  Darauf 
untersuchte  er  mehrere  interessante  Vulkane  der  chilenischen  Cordillere, 
namentlich  die  von  Cauqu^nes,  und  legte  seine  Erlebnisse  in  einer  kleinen 
Schrift  ^Antigua  erupcion  volcanica  en  la  vecindad  de  los  bonos  de  Cauquenes, 
situados  en  el  valle  del  Cachapual  al  lado  austrat  de  este  rio<s^  (Santiago  1878, 
mit  Karte)  nieder.  Dann  zog  er  nordwärts  längs  der  Küste  hin  durch  die 
Atacama  nach  dem  bolivianischen  Hochlande.  Er  verweilte  mehrere  Monate 
in  der  Umgegend  von  La  Paz,  untersuchte  den  Titicaca-See,  namentlich  die 
an  dessen  Südende  gelegene,  an  Kunstdenkmälem  reiche  altperuanische 
Ruinenstätte  von  Tiahuanaco,  deren  Baureste  er  bildlich  aufnahm  und 
vermaß,  und  wanderte  dann  durch  Peru  nach  Callao.  Von  hier  aus  fuhr 
er  über  Panama  nach  S.  Francisco,  durchquerte  in  genußreicher  Muße  die 
Vereinigten  Staaten  und  traf  im  Hochsommer  1877  nach  zehnjähriger  Ab- 
wesenheit wieder  in  Deutschland  ein.  Er  ließ  sich  in  Dresden  nieder,  schuf 
sich  ein  behagliches  Heim  und  begann  mit  der  Ausarbeitung  seiner  Reise- 
ergebnisse. Da  seine  überaus  umfangreichen  und  wertvollen  Sammlungen 
alle  Gebiete  der  Naturwissenschaften,  der  Geologie  und  Ethnologie  umfaßten, 
sah  er  sich  nach  geeigneten  Mitarbeitern  um.  Ihre  Ermittlung  verursachte 
viele  Schwierigkeiten,  und  manche  haben  ihren  Anteil  noch  immer  nicht  zu 
Ende    geführt.     Doch  ist   im  Laufe    der   letzten   25   Jahre    eine  Reihe    von 


2l6  Stübel. 

inhaltreichen  Veröffentlichungen  erschienen,  die  sich  an  St.s  Sammlungen 
anschließen.  Zuerst  vollendete  er  gemeinsam  mit  Reiß  und  mit  finanzieller 
Unterstützung  der  Generalverwaltung  der  Kgl.  Museen  zu  Berlin  das  kost- 
bare Tafel  werk  größten  Formats:  »Das  Totenfeld  von  Ancon  in  Peru.  Ein 
Beitrag  zur  Kenntnis  der  Kultur  und  Industrie  des  Inka-Reiches.  Nach  den 
Ergebnissen  eigener  Ausgrabungen«  (Berlin  1880 — 1887,  3  Bände  mit  140 
Tafeln,  auch  englisch:  The  necropolis  of  Ancon  in  Peru,  A  series  of 
illustrations  of  the  cwilisation  and  industry  of  the  empire  of  the  Incas. 
Being  the  results  of  excavatians  made  on  the  spot,  Berlin  1880 — 1887, 
3  Bände).  Um  sich  während  der  überaus  mühseligen  Arbeit  an  diesem 
Monumental  werk  einige  Erholung  zu  gönnen  und  um  zugleich  seine  An- 
sichten über  den  Ursprung  der  vulkanischen  Kräfte  zu  vertiefen,  unternahm 
St.  in  diesen  Jahren  mehrere  Reisen  nach  berühmten  Vulkangebieten,  so 
1880  nach  der  Auvergne,  1883  nach  Nordsyrien  und  dem  Ostjordanland, 
1885  nach  Unteritalien  und  Sizilien.  Auch  verschiedene  kleine  Schriften, 
die  er  wissenschaftlichen  Vereinen  und  Versammlungen  überreichte,  ent- 
standen um  diese  Zeit:  »Skizzen  aus  Ecuador,  dem  6.  deutschen  Geographen- 
tage gewidmet«  (Berlin  1886,  ein  illustrierter  Katalog  seiner  ausgestellten 
Gemälde),  »Über  altperuanische  Gewebemuster  und  ihnen  analoge  Ornamente 
der  altklassischen  Kunst«  (Festschrift  zur  Jubelfeier  des  25  jährigen  Be- 
stehens des  Vereins  für  Erdkunde  zu  Dresden  1888,  S.  35 — 56),  sowie  »Indianer- 
typen aus  Ecuador  und  Colombia.  28  Lichtdruckbilder,  den  Mitgliedern 
des  7.  internationalen  Amerikanistenkongresses  gewidmet«  (Berlin  1888). 
Nachdein  er  sich  1889  durch  einen  längeren  Aufenthalt  in  Äg)rpten  zu  neuen 
Arbeiten  gekräftigt  hatte,  begann  er  im  folgenden  Jahre  gemeinsam  mit 
Reiß  und  einigen  jüngeren  Fachgelehrten  die  Veröffentlichung  des  viel- 
bändigen Werkes  »Reisen  in  Südamerika«  (Berlin  1890  ff).  Bisher  sind 
folgende  Abteilungen  erschienen:  Lepidopteren,  bearbeitet  von  G.  Weymer 
und  P.  Maaßen  (1890),  Geologische  Studien  in  der  Republik  Colombia 
(I.  Petrographie :  i.  Die  vulkanischen  Gesteine,  bearbeitet  von  R.  Küch,  1892; 
2.  Die  älteren  Massengesteine,  krystallinen  Schiefer  und  Sedimente,  bearbeitet 
von  W.  Bergt,  1899;  III.  Astronomische  Ortsbestimmungen,  bearbeitet  von 
B.  Peter,  1893)  und  Das  Hochgebirge  der  Republik  Ecuador  (I.  Petrographische 
Untersuchungen,  bearbeitet  im  mineralogisch-petrographischen  Institut  der 
Universität  Berlin:  i.  West-Cordillere,  1892 — 1898;  2.  Ost-Cordillere,  1896 
bis  1902).  Neben  diesem  Riesenwerk  erschienen  noch  einige  andere  minder 
umfangreiche,  aber  gleichfalls  sehr  bedeutsame  Arbeiten:  »Die  Ruinenstätte 
von  Tiahuanaco  im  Hochland  des  alten  Peru.  Eine  kulturgeschichtliche 
Studie  auf  Grund  selbständiger  Aufnahmen.  Mit  i  Karte  und  42  Tafeln  in 
Lichtdruck«  (Breslau  1892,  gemeinsam  mit  M.  Uhle  verfaßt),  dann  »Ein- 
führung in  die  Bildersammlung  der  Vulkanberge  von  Ecuador«  (Leipzig  1896), 
daran  anschließend  »Die  Vulkanberge  von  Ecuador,  geologisch-topographisch 
aufgenommen  und  beschrieben«  (Berlin  1897,  mit  i  Karte),  sowie  »Er- 
läuterungen zu  den  auf  8  Tafeln  zusammengestellten  Charakterpflanzen  aus 
dem  Hochlande  von  Ecuador  und  Colombia«  (Leipzig  1899).  ^"  ^^"  letzten 
Jahren  seines  Lebens  kehrte  er  wieder  zu  den  Studien  über  Vulkanismus 
zurück,  von  denen  er  einst  ausgegangen  war.  Nachdem  er  im  Frühjahr  1900 
auf  einer  italienischen  Reise  noch  einmal  den   Vesuv   gründlich  untersucht 


Stübel. 


217 


hatte,  veröffentlichte  er  in  rascher  Folge  mehrere  bedeutsame  Arbeiten,  die 
seine  Vulkantheorie  enthalten:  »Ein  Wort  über  den  Sitz  vulkanischer  Kräfte 
in  der  Gegenwart«  (Leipzig  1901),  »Über  die  Verbreitung  der  haupt- 
sächlichsten Eruptionszentren  und  der  sie  kennzeichnenden  Vulkanberge  in 
Südamerika«  (Petermanns  Mitteilungen  1902,  S.  i — 9)  und  »Über  die 
genetische  Verschiedenheit  vulkanischer  Berge«  (Leipzig  1903).  Daran 
schlössen  sich  noch  als  Früchte  seiner  Reisen  eine  Monographie  über  »Das 
nordsyrische  Vulkangebiet  Diret  et-Tulul,  Hauran,  Dschebel  Mani  und 
Dscholan«  (Leipzig  1903)  und  eine  »Karte  der  Vulkanberge  Antisana,  Chacana, 
Sincholagua,  Quilindana,  Cotopaxi,  Ruminahui  und  Pasochoa«  (Leipzig  1903). 
Noch  einmal  wurde  er  veranlaßt,  die  Feder  zu  ergreifen,  als  1902  eine 
langandauemde  Periode  vulkanischer  Ausbrüche  in  Westindien  begann.  So 
entstanden  die  beiden  Broschüren  »Martinique  und  St.  Vincent«  (Leipzig 
1903)  und  »Rückblick  auf  die  Ausbruchsperiode  des  Mont  Pel^  auf 
Martinique  1902 — 1903  vom  theoretischen  Gesichtspunkte  aus«  (Leizig  1904). 
Diese  letzten  Arbeiten  seit  1902  erschienen  als  Veröffentlichungen  der 
vulkanologischen  Abteilung  des  Grassi-Museums  zu  Leipzig.  Aber  noch 
war  sein  Arbeitsprogramm  nicht  erschöpft.  Gemeinsam  mit  seinem  Freunde 
Theodor  Wolf,  der  ihm  schon  seit  seiner  Übersiedelung  nach  Plauen  bei 
Dresden  1891  dauernd  seinen  wertvollen  wissenschaftlichen  Beistand  geleistet 
hatte,  wollte  er  ein  großes  zusammenfassendes  Werk  über  die  geologischen 
Verhältnisse  von  Colombia  abfassen.  Aber  der  durch  Alter  und  An- 
strengungen geschwächte  Körper  versagte  den  Dienst.  Wiederholte  Auf- 
enthalte in  Kurorten  brachten  keine  Besserung  mehr,  und  so  starb  er  nach 
langen,  qualvollen  Leiden  wenige  Monate  vor  seinem  70.  Geburtstage  zu 
Dresden  in  seinem  Hause,  das  wie  eine  stille  Oase  inmitten  des  lauten 
Getriebes  der  Großstadt  liegt.  Auf  seinen  Wunsch  wurde  er  in  Gotha  mit 
Feuer  bestattet. 

St.  war  ein  überaus  bescheidener,  fast  ängstlich  sich  zurückhaltender 
Mann  von  unermüdlichem  Fleiß,  seltener  Gewissenhaftigkeit  und  wahrhaft 
vornehmer  und  selbstloser  Gesinnung.  Seine  von  Jugend  auf  schwache 
Konstitution  zwang  er  mit  Energie  durch  eine  streng  geregelte  einfache 
Lebensweise  zu  bedeutenden  Leistungen.  Dem  öffentlichen  Leben,  ins- 
besondere der  Politik  blieb  er  grundsätzlich  fem,  doch  verfolgte  er  beide 
mit  scharfer  Kritik.  Orden,  Titel  und  Auszeichnungen  lehnte  er  dankend 
ab.  Sein  großes  Vermögen  verwendete  er  lediglich  zu  wissenschaftlichen 
und  menschenfreundlichen  Zwecken.  Der  goldene  Fluß  der  Rede  war  ihm 
versagt.  Deshalb  trat  er  selten  als  Vortragender  auf.  Auch  der  schriftliche 
Ausdruck  entquoll  nur  langsam  seiner  Feder,  und  trotz  vielfachen  Feilens 
und  Verbesserns  empfand  er  selten  Befriedigung  über  das,  was  er  geschrieben 
hatte.  Für  das  wertvollste  Ergebnis  seiner  Studien  hielt  er  seine  Theorie 
der  vulkanischen  Erscheinungen.  Er  nahm  an,  daß  der  Ausgangspunkt  der 
vulkanischen  Kräfte  in  der  Gegenwart  nicht  mehr  der  von  einer  überaus 
dicken  Panzerkruste  umgebene  glutflüssige  Erdkern,  sondern  eine  große 
Zahl  in  geringer  Tiefe  unter  der  erstarrten  Erdrinde  vorhandener  »periphe- 
rischer Herde«  sei,  aus  denen  das  Magma  dann,  wenn  es  erstarrt  und  sich 
infolgedessen  ausdehnt,  einen  Ausweg  sucht  und  ihn  naturgemäß  dort  ge- 
winnt, wo  die  Widerstände  am  geringsten   sind.     Meist   erschöpft  sich  der 


2  1 8  Stübel.     Berger. 

Magmaherd  in  einem  einmaligen  Ausbruch,  der  dann  einen  domförmigen 
»monogenen«  Vulkan,  meist  ohne  Krateröffnung,  hervorbringt.  Zuweilen  aber 
entläßt  er  von  Zeit  zu  Zeit  einen  Teil  seines  Inhalts,  so  daß  periodische 
Ausbrüche  erfolgen,  die  dann  einen  »polygenen«  Berg  entstehen  lassen,  der 
immer  eine  Krateröffnung  zeigt.  Allerdings  fand  diese  Hypothese  in  den 
Kreisen  der  Fachgenossen  mancherlei  Widerspruch. 

Die  von  seinen  Reisen  mitgebrachten  überaus  reichen  Sammlungen 
übergab  St.  den-  Museen  zu  Berlin,  Leipzig  und  Dresden.  Dem  Grassi- 
Museum  seiner  Vaterstadt  überwies  er  schon  bei  Lebzeiten  als  Grundstock 
einer  geplanten  Abteilung  für  vergleichende  Länderkunde  82  Ölgemälde  und 
Reliefs,  über  100  Handzeichnungen,  gegen  2000  Photographien,  eine  Anzahl 
Karten,  sowie  viele  Gesteinshandstücke  und  Dünnschliffe,  die  zusammen 
zwei  große  Säle  anfüllen.  Außerdem  hinterließ  er  diesem  Museum  testamen- 
tarisch seine  Bibliothek  und  seine  Reisetagebücher.  Seine  Verwandten 
fügten  diesen  Gaben  noch  eine  Marmorbüste  des  Verstorbenen  bei,  die  an 
seinem  70.  Geburtstage  feierlich  enthüllt  wurde.  Soweit  er  die  Bestände 
seiner  Sammlungen  nicht  selbst  literarisch  ausbeuten  konnte,  dienten  sie 
anderen  Forschern  als  wichtige  Fundgrube.  Aber  bisher  ist  nur  ein  Teil 
benutzt,  ein  bedeutender  Rest  harrt  noch  der  Verwertung.  Die  Höhen- 
messungen bearbeitete  M.  F.  Kunze,  die  astronomischen  Ortsbestimmungen 
B.  Peter,  die  meteorologischen  Beobachtungen  M.  F.  Krause,  die  Vögel 
A.  B.  Meyer,  die  Fische  F.  Stein  und  Dachner,  die  Weichtiere  E.  v.  Martens, 
die  Käfer  Th.  Kirsch,  die  Zweiflügler  V.  v.  Röder,  die  neuen  Pflanzen 
G.  Hieronymus,  einzelne  Versteinerungen  H.  Engelhardt.  Über  die  Gesteine 
veröffentlichten  C.  Höpfner,  W.  Branco,  R.  Küch,  F.  H.  Hatch,  B.  Doß, 
F.  Rudolph  und  W.  Bergt  selbständige  Werke  oder  größere  Abhandlungen. 
Die  ethnographischen  Gegenstände  endlich  veranlaßten  die  zweibändige 
Publikation  von  M.  Uhle  »Kultur  und  Industrie  südamerikanischer  Völker« 
(Berlin  1889— 1890). 

»Petermanns  Mitteilungen«  XXIV,  1878,  S.  30 — ^2'  —  »Deutsche  Rundschau  für 
Geographie  und  Statistik«  XVIII,  1896,  S.  517 — 518  (mit  Bildnis).  —  A.  Bergeat,  Die 
Stübelsche  Vulkantheorie:  »Geographische  Zeitschrift«  X,  1904,  S.  225 — 227.  —  »Globus« 
LXXXVI,  1904,  S.  383.  —  »Leipziger  Illustrierte  Zeitung«  1904,  Nr.  3203,  S.  736 — 737 
(mit  Bildnis).  —  Leopoldina  XL,  1904,  S.  iii  — 112.  —  »Zeitung  für  Literatur,  Kunst  und 
Wissenschaft«  (Beilage  des  Hamburger  Korrespondenten)  1904,  Nr.  24.  —  Nachrufe  von 
Paul  Wagner:  »Dresdner  Anzeiger«  vom  11.  Nov.  1904;  »Sitzungsberichte  und  Ab- 
handlungen der  naturwissenschaftlichen  Gesellschaft  Isis  zu  Dresden«  1904,  Heft  II, 
S.  V — XIV  (mit  Bildnis  und  Bibliographie);  Beilage  zur  »Allgemeinen  Zeitung«  1905, 
Nr.  27;  »Geographische  Zeitschrift«  XI,  1905,  S.  129 — 134;  »Illustrierter  Führer  durch  das 
Museum  für  Länderkunde«,  Leipzig  1905,  S.  59 — 66.  —  Hans  Meyer,  AJphons  Stübel  f. 
(Leipzig  1905,  mit  2  Bildnissen.)  Viktor  Hantzsch. 


Berger,  Ernst  Hugo,  einer  der  besten  Kenner  der  antiken  Geographie 
•  6.  Oktober  1836  in  Gera  als  Sohn  eines  Steindruckers,  f  27.  September  1904 
in  Leipzig.  —  Wenige  Jahre  nach  B.s  Geburt  siedelten  seine  Eltern  nach 
Leipzig  über,  das  ihm  eine  zweite  Heimat  wurde.  Der  Knabe  besuchte  hier 
zunächst  die  i.  Bürgerschule,  dann  das  Thomasgymnasium.  Hier  eignete  er 
sich  die  Anfänge  jener  gründlichen   philologischen  Bildung  an,   die   später 


Bcrger.  219 

in  seinen  Werken  so  glänzend  hervortrat     Seit  1856  studierte  er  in  Leipzig 

zunächst  Theologie.  Bald  aber  fühlte  er  sich  mehr  zur  klassischen  und  ger- 
manischen Philologie  hingezogen.  Nachdem  er  die  Staatsprüfung  für  das  höhere 
Schulamt  bestanden  hatte,  versuchte  er  sich  einige  Zeit  als  Lehrer,  zunächst  seit 
1862  an  der  von  dem  Privatdocenten  Tuiskon  Ziller,  einem  eifrigen  Herbartianer, 
begründeten  Ubungsschule,  die  mit  dem  pädagogischen  Seminar  der 
Universität  Leipzig  verbunden  war,  dann  an  dem  gleichfalls  nach  den 
pädagogischen  Grundsätzen  Herbarts  geleiteten  Barthschen  Erziehungs- 
institut. Da  er  aber  von  Jugend  auf  Neigung  für  ein  beschauliches  Leben 
empfand,  sagte  ihm  die  Schultätigkeit  auf  die  Dauer  nicht  zu.  Als  er 
daher  1866  durch  eine  Heirat  zu  hinreichendem  Wohlstand  gelangt  war,  gab 
er  den  Lehrerberuf  auf  und  beschäftigte  sich  nun  mehr  als  30  Jahre  hindurch 
als  Privatgelehrter  ausschliefilich  mit  seinen  wissenschaftlichen  Studien. 
Das  Spezialgebiet,  das  er  anbaute,  war  die  wissenschaftliche  Erdkunde  der 
Griechen.  Als  Erstlingswerk  veröffentlichte  er  »Die  geographischen  Frag- 
mente des  Hipparch«  (Leipzig  i86q),  jenes  großen  Astronomen  und  Mathe- 
matikers aus  dem  2.  vorchristlichen  Jahrhundert,  von  dessen  drei  Büchern  sich 
vereinzelte  Bruchstücke  bei  Strabo  erhalten  haben.  In  dieser  scharfsinnigen 
kritischen  Untersuchung  zeigt  B.  bereits  alle  Vorzüge  seiner  wissenschaft- 
lichen Arbeitsweise:  umsichtige  Heranziehung  aller  erreichbaren  Quellen, 
auch  der  scheinbar  unbedeutendsten,  eingehende  kritische  Würdigung  und 
Vergleichung  des  so  gewonnenen  Materials,  geschickte  Gruppierung  des  als 
gesichert  erkannten  Stoffes  und  möglichste  Erweiterung  desselben  auf  dem 
Wege  streng  logischer  Schlußfolgerungen.  Erst  11  Jahre  später  gab  er  eine 
ähnliche,  ebenso  sorgfältig  gearbeitete,  aber  weit  umfangreichere  Sammlung: 
»Die  geographischen  Fragmente  des  Eratosthenes«  (Leipzig  1880)  heraus. 
Aus  diesen  beiden  Studien,  denen  sich  in  den  nächsten  Jahren  noch 
mehrere  kleinere,  meist  in  Zeitschriften  zerstreute  anschlössen,  erwuchs  all- 
mählich nach  langer  Arbeit  das  Hauptwerk  seines  Lebens,  die  mit  Recht 
als  klassisch  anerkannte  »Geschichte  der  wissenschaftliche  Erdkunde  der 
Griechen«  (Leipzig  1887 — 1893).  Dieses  bewunderungswürdige  Zeugnis  gründ- 
licher Gelehrsamkeit,  das  alles  zusammenfaßt,  was  die  alten  Griechen  für 
die  Kenntnis  der  Erde  in  systematischer  Entwicklung  der  geographischen 
Begriffe  geleistet  haben,  zerfällt  in  vier  Abteilungen.  In  der  ersten  behandelt 
er  die  geographischen  Vorstellungen  der  lonier,  in  der  zweiten  die  Grund- 
legung der  Lehre  von  der  Kugelgestalt  der  Erde  von  den  Pythagoräem  an 
bis  auf  Aristoteles,  in  der  dritten  die  weitere  Ausbildung  dieser  Lehre  durch 
Dikäarch,  Eratosthenes  und  Hipparch.  In  der  letzten  endlich  legt  er  dar, 
wie  unter  dem  Einfluß  der  Römer  eine  Reaktion  gegen  die  mathematische 
Geographie  erfolgt  und  die  Beschreibung  der  Ökumene  aufblüht,  wie  dagegen 
Marinus  von  Tyrus  und  Ptolemäus  die  Geographie  der  Erdkugel  wieder 
aufnehmen  und  vor  allem  die  Kartographie  zu  fördern  suchen.  An  dieses 
grundlegende  Werk  schlössen  sich  in  den  nächsten  Jahren  noch  einige  er- 
gänzende Spezialuntersuchungen  über  das  kosmische  System  des  Diophantes, 
die  Zonenlehre  des  Parmenides,  die  Stellung  des  Posidonius  zur  Erdmessungs- 
frage  und  die  Grundlagen  des  Marinisch-Ptolemäischen  Erdbildes  (in  den 
Berichten  über  die  Verhandlungen  des  Kgl.  Sachs.  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften   zu    Leipzig,    philologisch-historische    Klasse,   Band    XLVI   bis  L), 


2  20  Berger.     Rollett 

sowie  über  die  Entstehung  der  Lehre  von  den  Polarzonen  (Geographische 
Zeitschrift  Band  III).  Mehrere  kürzere  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der 
antiken  Geographie  steuerte  er  außerdem  zu  den  ersten  Bänden  der  von 
Georg  Wissowa  herausgegebenen  Neubearbeitung  von  Paulys  Real-  Enzy- 
klopädie der  klassischen  Altertumswissenschaft  (Stuttgart  1894 ff.)  bei.  Infolge 
dieser  verdienstlichen  Leistungen  wurde  ihm  ganz  ohne  sein  Zutun,  namentlich 
durch  den  Einfluß  Friedrich  Ratzeis,  1899  die  neu  begründete  außer- 
ordentliche Professur  für  Geschichte  der  Erdkunde  und  historische  Geographie 
an  der  Universität  Leipzig  nebst  der  Leitung  des  historisch-geographischen 
Seminars  übertragen.  Leider  war  es  ihm  nur  wenige  Jahre  vergönnt  in 
diesem  Amte  zu  wirken.  Es  stellten  sich  Lähmungserscheinungen  ein,  die 
erst  die  Augen,  dann  die  Zunge,  allmählich  auch  andere  Glieder  ergriffen. 
Doch  erlebte  er  noch  die  Freude,  daß  eine  verbesserte  und  ergänzte 
2.  Auflage  seiner  »Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkunde  der  Griechen« 
(Leipzig  1903)  nötig  wurde,  die  seinem  Namen  für  alle  Zeiten  ein  ehren- 
volles Andenken  sichert.  Bald  nach  dem  Abschluß  dieses  letzten  Werkes 
nahmen  die  Krankheitserscheinungen  derart  zu,  daß  eine  Wiederherstellung 
nicht  mehr  zu  erhoffen  war.  Schließlich  trat  noch  eine  Lungenentzündung 
ein,  die  rasch  den  Tod  herbeiführte.  Obwohl  B.  in  der  Öffentlichkeit 
niemals  hervorgetreten  ist,  fehlte  es  ihm  nicht  an  Ehrungen  und  An- 
erkennungen. Die  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Leipzig  ernannte  ihn 
zu  ihrem  ordentlichen,  die  zu  Göttingen  zum  korrespondierenden  Mitglied, 
und  die  Vereine  für  Erdkunde  zu  Leipzig  und  Halle  nahmen  ihn  unter  die 
Zahl  ihrer  Ehrenmitglieder  auf. 

Beilage   zur  »Allgemeinen  Zeitung«   1904,   Nr.  255,  S.  244 — 246  (Siegmund  Günther). 

—  »Globus«  LXXXVI,  1904,  S.  336.    —    »Geographen-Kalender«  III,  1905,  S.  176 — 177. 

—  »Mitteilungen  des  Vereins  für  Erdkunde  zu  Leipzig«  1905  (W.  Rüge). 

Viktor  Hantzsch. 


Rollett,  Hermann,  (deutsch- österreichischer  Dichter,  .Kunstschriftsteller 
und  Lokalhistoriker,  Dr.  phil.  et  ckttn,  •  20.  August  1819  zu  Baden  bei  Wien, 
t  30.  Mai  1904  ebenda).  —  Der  Stammbaum  der  Familie  R.  reicht  mit  seinen 
Wurzeln  bis  an  den  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  zurück,  zu  welcher  Zeit  sie 
aus  Savoyen  nach  Österreich  auswanderte,  um  in  der  Quellenstadt  Baden 
festen  Fuß  zu  fassen.  Während  die  älteren  Zweige  der  Familie  sich  auf  ge- 
werblichen Gebieten,  vorzüglich  der  Gerberei  und  Müllerei,  betätigten,  wählte 
sich  Anton  Franz  Rollett,  der  Ururenkel  des  Stammvaters  Anselm,  die  Medizin 
und  Naturwissenschaften  zu  seinem  Berufe  und  erfreute  sich  bis  zu  seinem 
Tode  (1842)  eines  weit  über  die  Grenzen  seiner  Vaterstadt  reichenden  Rufes 
als  Landgerichtsarzt  und  gelehrter  Sammler  kunst-  und  naturhistorischer  Gegen- 
stände. Hermann  wurde  als  sein  ältester  Sohn  aus  zweiter  Ehe  mit  Josepha 
Anger  geboren  (des  Dichters  Stiefbruder  Karl  (f  1869)  war  ebenfalls  Arzt, 
desgleichen  dessen  beide  Söhne  Alexander  (f  1903)  und  Emil)  und  fand  in 
dem  frühzeitigen  Verkehre  mit  den  berühmten  Patienten  seines  vielgesuchten 
Vaters  reiche  Anregung  in  seinem  Lerneifer  und  Wissensdrang.  Zu  den 
treuesten  Besuchern  der  noch  heute  bestehenden  »Villa  Rollett«  am  Eingange 
des  romantischen  Helenentales  zählten  in  den  zwanziger  und  dreißiger  Jahren 


Rollett  22 1 

Schillers  Jugendfreund  Andreas  Streicher,  Vamhagen  v.  Ense,  Mendelssohn 
u.  V.  a.  Auch  mit  dem  Herzog  von  Reichstadt,  Kaiser  Franz,  Beethoven,  dem 
Maler  Lampi  und  vielen  anderen  aus  der  Welt  des  Geistes  und  der  Künste 
kam  R.  schon  als  Knabe  in  mehr  oder  weniger  nahe  Berührung,  die  in  mancher- 
lei Richtung  auf  sein  damals  »stilles,  nicht  verschlossenes,  aber  zu  heiterer 
Einsamkeit  geneigtes  Wesen«  nicht  ohne  Einfluß  war.  Nach  Absolvierung 
der  Volksschule  in  Baden,  legte  er  als  Privatschüler  die  Prüfung  bei  St.  Anna 
in  Wien  ab  und  besuchte  daselbst  das  Piaristengymnasium,  wo  er  durch  seine 
Erfolge  in  allen  Gegenständen  sich  rasch  die  Liebe  und  Achtung  seiner 
Professoren  errang.  Nach  recht  peinlichen  Auseinandersetzungen  mit  seinem 
Vater,  der  ihn  für  den  ärztlichen  Stand  bestimmt  hatte,  während  er  selbst 
weniger  aus  Neigung  als  aus  seinem  Hang  zu  stiller  ungestörter  geistiger 
Beschäftigung  Geistlicher  werden  wollte,  wählte  R.  einen  Ausweg,  indem  er 
sich  dem  pharmazeutischen  Fache  zuwandte.  Mit  großer  Selbstverleugnung 
übte  er  diesen  Beruf,  zuerst  in  einer  Badener  und  dann  in  einer  Wiener 
Apotheke  aus.  Das  Magisterium  der  Pharmazie  erwarb  er  übrigens  erst  in 
den  sechziger  Jahren.  Nach  einer  ungefähr  vierjährigen  pharmazeutischen 
Praxis  oblag  er  an  der  Wiener  Universität  philosophischen  Studien.  Hier 
wurde  er  mit  Vogl,  Lenau  und  Feuchtersieben  bekannt,  drei  Poeten,  die 
auf  seine  Muse  nachhaltigsten  Einfluß  übten.  Schon  im  elterlichen  Hause 
hatte  er  sich  in  kleineren  poetischen  Arbeiten  versucht,  aber  alle  unreifen 
Erstlinge  bis  auf  ein  »An  Grillparzer«  betiteltes  Poem,  das  als  erstes  im 
Jahre  1837  in  der  »Wiener  Theaterzeitung«  erschien,  vernichtet.  Feuchters- 
ieben, dem  er  einige  Jahre  später  eine  stattliche  Reihe  von  Gedichten  zur 
Begutachtung  vorlegte,  riet  dem  jungen  Poeten  bei  aller  Anerkennung  seiner 
gewiß  vorhandenen  Begabung  ab,  mit  einer  solchen  lyrischen  Sammlung  vors 
Publikum  zu  treten.  Dieses  Urteil  hielt  jedoch  R.  nicht  ab,  die  ersten  Blüten 
seiner  Poesie  im  Jahre  1842  als  »Liederkränze«,  »Justinus  Kemer  gewidmet«, 
erscheinen  zu  lassen. 

Die  angenehmen  Erinnerungen  an  eine  im  Jahre  1843  über  Bayern 
nach  Schwaben  zu  dem  von  ihm  verehrten  Justinus  Kemer  unternommene 
Reise  und  der  immer  beengender  auf  dem  geistigen  Leben  Österreichs 
lastende  Druck  der  Zensur  ließen  in  R.  den  Entschluß  reifen,  sein  Vater- 
land bis  zum  Eintritte  günstigerer  Verhältnisse  ganz  zu  verlassen  und  sich 
hinaus  »ins  Reich«  auf  die  Wanderschaft  zu  begeben.  Das  fast  vollendete 
Manuskript  seiner  politiech  gefährlichen  »Frühlingsboten  aus  Österreich« 
in  der  Tasche,  begann  er  im  Frühjahre  1845  seine  mehr  als  zehn  Jahre 
währende  Fahrt,  die  —  anfangs  eine  freiwillige  —  sich  später  ins  Gegen- 
teil verkehrte.  Sie  führte  ihn  kreuz  und  quer  durch  ganz  Deutschland  und 
endlich  sogar  in  die  Schweiz.  Seine  ausgesprochen  demokratisch-freiheit- 
liche, jedoch  nicht  hyperradikale  Gesinnung,  die  sich  in  wachsender  Schärfe 
in  seinen  Dichtungen  widerspiegelte,  machten  ihn,  besonders  in  Sachsen- 
Weimar  und  Koburg,  später  während  des  Jahres  1848  fast  überall  zu  einer 
von  den  Behörden  nur  ungern  gesehenen  Persönlichkeit.  Mit  einem  Emp- 
fehlungsschreiben Ludwig  August  Frankls  ausgerüstet,  reiste  R.  über  Brunn 
und  Prag,  wo  er  Alfred  Meißner  besuchte,  nach  Dresden  und  von  dort  nach 
Leipzig,  wo  er  gerade  an  dem  Tage  ankam,  da  Prinz  Johann  auf  die  Bürger- 
schaft schießen  ließ.     Von  hier  aus  ging  es  über  Hamburg,    wo  er  bereits 


222  Rollett. 

durch  seine  für  dortige  Blätter  von  Wien  aus  geschriebenen  Korrespondenzen 
kein  Unbekannter  mehr  war,  nach  Helgoland.  Hier  traf  er  mit  dem  als  Ver- 
fasser des  »Nordseebesens«  bekannten  Helgoländer  Stadtsekretär  Siemens  zu- 
sammen. Sein  Rückweg  führte  ihn  nach  Jena  zu  seinem  Freunde  Schuselka, 
wo  er  gleich  diesem  das  schwarz-rot-goldene  Band  der  ersten  Jenenser  Burschen- 
schaft erhielt.  In  Jena  hörte  R.  Kollegien  aus  allen  Fakultäten  und  gab 
(1845)  seine  »Frühlingsboten  aus  Österreich«  als  vorgeschriebenes  Zwanzig- 
bogenbändchen  heraus. 

Da  er  in  Wort  und  Lied  für  den  Deutschkatholizismus,  der  damals  durch 
Ronges  und  Schuselkas  Propaganda  Anhänger  warb,  eingetreten  war  (»Wander- 
buch« S.  168  »Ein  Grottesdienst«,  S.  176  »Die  neue  Kirche«),  entstand  das 
Gerücht,  er  sei  deutschkatholischer  Prediger  geworden.  Der  Sommer  1846 
sieht  ihn  in  Frankfurt  a.  M.  in  regem  Verkehre  mit  Gutzkow  und  dem  übrigen 
»Jungen  Deutschland« ;  auch  mit  Jenny  Lind,  mit  der  er  späterhin  in  Weimar 
nochmals  zusammentreffen  sollte,  knüpfte  er  eine  interessante  Bekanntschaft 
an  und  vollendete  hier  sein  »Lyrisches  Wanderbuch  eines  Wiener  Poeten«, 
das  in  geschlossener  Reihe  seine  bisherigen  Reiseerlebnisse  schildert  (Frank- 
furt, Lit.-Anstalt,  1846).  Nach  einer  Rheinfahrt  zu  Ernst  Moriz  Arndt  nach 
Bonn,  zog  er  über  Weinsberg,  wo  er  auf  einem  echt  schwäbischen  Weinlese- 
» Herbst«  den  Theologen  David  Strauß  und  seine  Gattin  Agnese  Schebest 
kennen  lernte,  nach  Ulm.  Eine  hier  ins  Leben  gerufene  Wochenschrift  »Die 
Zeitgenossen«  wurde  bereits  nach  dem  Erscheinen  der  ersten  Nummer  ver- 
boten. Darauf  begann  R.  die  Herausgabe  einer  Anthologie  in  Heftform  unter 
dem  Titel  »Lyrische  Blätter«  mit  Beiträgen  der  hervorragendsten  deutschen 
und  österreichischen  Poeten,  erreichte  jedoch  auch  damit  nicht  mehr  als 
sechs  Nummern.  In  München  zeichnet  1847  Moritz  von  Schwind  für  R.s 
Zyklus  »Herr  Winter«  seine  weltbekannten  Illustrationen  für  die  »Fliegenden 
Blätter«;  der  Dichter  selbst  ist  damals  mit  einem  Drama  »Eine  Schwester« 
beschäftigt,  das  im  November  desselben  Jahres  in  Oldenburg  aufgeführt  wurde, 
sich  aber  nicht  auf  der  Bühne  zu  behaupten  vermochte.  Gegen  Ende  dieses 
Jahres  nach  Leipzig  verschlagen,  schrieb  er  hier  sein  tendenziös -satirisches 
»Waldmärchen«  und  verkehrte  viel  mit  Robert  Blum,  Arnold  Rüge,  Althaus 
und  den  anderen  Vorkämpfern  der  Revolution.  Sein  um  dieselbe  Zeit  (1848) 
entstandenes  »Republikanisches  Liederbuch«  wurde  stark  gekauft,  einzelnes 
daraus  vielfach  komponiert,  von  der  Preßbehörde  jedoch  mit  unnachsicht- 
licher  Strenge  verfolgt.  Nachdem  er  den  historischen  Zug  der  Studenten- 
schaft auf  die  Wartburg  mitgemacht  hatte,  nahm  R.  dauernden  Wohnsitz  in 
Weimar.  Hier  traf  er  mit  den  wenigen  noch  Überlebenden  aus  Groethes 
Lebenskreise,  mit  den  Riemer,  Kräuter,  Schwerdgeburth  u.  e.  a.  zusammen, 
pflog  eifrigen  Umgang  mit  Franz  Liszt,  Jenny  Lind  und  Andersen.  Wie  er 
mit  beiden  letzteren  unter  Führung  des  Kanzlers  Müller  die  Fürstengruft 
besuchte,  hat  er  in  seinen  »Begegnungen«  (1903)  erzählt. 

Auch  während  seines  unstäten  Zugvogellebens  war  R.  keineswegs 
untätig  geblieben  und  hatte  nach  einem  bereits  in  Ulm  erschienenen  Bande 
»Frische  Lieder«  seine  vielbeachteten  »Kampflieder« .  herausgegeben.  Mit 
ihrem  Erscheinen  beginnt  der  unfreiwillige  Teil  von  R.s  Wanderschaft. 
Von  Weimar  aus  wurde  er  in  preußische  Requisition  gezogen,  saß,  jeg- 
licher Geldmittel  beraubt,   kurze  Zeitlang  sogar  im  Arrest,  wohnte  im  Lenze 


Rollett. 


223 


1849  ZU  Wenigen- Jena  zufällig  in  Goethes  einstigem  Wohnräume  »auf  der 
Tanne«  —  und  hetzte  sich  durch  seine  aufreizenden  drei  Revolutions- 
dramen »Thomas  Münzer«,  »Flamingo«  und  »Die  Ralunken«  vollends  die 
Häscher  des  preußischen  Ministerpräsidenten  Manteuffel  auf  den  Hals.  Die 
ebengenannten  Dramen  wurden,  ebenso  wie  seinerzeit  das  »Wanderbuch«, 
strenge  verboten  und  alle  greifbaren  Exemplare  vernichtet.  Aus  Jena  aus- 
gewiesen, wurde  er  über  Rudolstadt,  Remda  und  Saalfeld  nach  Hildburg- 
hausen gejagt  und  erhielt  in  Nürnberg  einen  Zwangspafi  nach  Wien  an  das 
dortige  Militärgericht  aufgenötigt,  entkam  jedoch  bei  Donauwörth  und 
gelangte  mit  heiler  Haut  an  den  Bodensee  und  mit  Hilfe  des  »Flüchtlings- 
schiffes« in  die  Schweiz. 

Von  Mitte  185 1  bis  Ende  1854  lebte  er  in  Zürich,  wo  er  Medizin  studierte, 
in  Gesellschaft  Kudlichs,  Herweghs  und  Richard  Wagners,  später  auch  im 
Appenzellerlande  mit  dem  Naturforscher  Tschudi,  bis  es  ihm  die  allmählich 
ruhiger  und  gesicherter  gewordenen  Zustände  in  Österreich  erlaubten,  Ende 
1854  über  Wien  in  seine  Vaterstadt  Baden  zurückzukehren,  wo  er  pro  forma 
noch  ein  Jahr  lang  konfiniert  blieb.  Nach  Ablauf  dieser  Frist  übersiedelte 
er  nach  Wien,  wo  er  sich  im  Jahre  1859  mit  Meta  von  Scheidlin,  die  ihm 
i86o  eine  Tochter,  Lina,  schenkte,  vermählte.  Fünf  Jahre  später  kehrte  er 
nach  Baden  zurück,  blieb  fortan  daselbst  ansässig  und  bekleidete  nachein- 
ander, hervorragende  Stellen  in  der  Gemeindevertretung.  Im  Jahre  1876  schuf 
er  das  stadtische  Archiv  und  widmete  sich  bis  zu  seinem  Tode  vorzüglich 
stadtgeschichtlichen  Forschungen,  deren  Früchte  er  in  den  13  Teilen  der  »Bei- 
träge zur  Chronik  der  Stadt  Baden«  (1880 — 1900)  und  in  der  Monographie 
»Beethoven  in  Baden«  (1870,  2.  Auü.  1902)  niederlegte.  Das  von  seinem  Vater 
begründete  und  von  dessen  Erben  der  Stadt  geschenkte  »Rollett-Museum«  hat 
er  bis  zu  seinem  Tode  als  Kustos  verwaltet. 

Noch  während  seines  Schweizer  AiÄenthaltes  hatte  R.  die  sentimental- 
romantische Novelle  »Jucunde«  geschrieben,  in  die  er  seine  besten  Lieder 
hineinverflocht.  Die  Romanzen  und  Balladen  (»Heldenbilder  und  Sagen«, 
St.  Gallen,  1854)  verarbeiten  in  nicht  immer  glücklichster  Behandlung  hi- 
storische Stoffe.  Die  relativ  meiste  Verbreitung  fand  die  1865  veranstaltete 
»Auswahl«  aus  seinen  sämtlichen  Dichtungen,  während  der  1869  veröffentlichte, 
in  Form  und  Inhalt  das  Reifste  und  Beste  in  sich  vereinigende  Ghaselen-Zyklus 
»Offenbarungen«  nicht  weniger  Beachtung  fand.  Die  »Märchengeschichten 
aus  dem  Leben«  1894,  (»Knirps  der  Große«,  »Der  Neujahrstag«  und  »Der 
Minnehof«)  erzählen  in  durchwegs  anmutiger  Form  eine  von  stimmungsvollen 
Liedern  begleitete  anspruchslose  Handlung.  Außer  etwa  30  selbständigen 
Publikationen  schrieb  R.  eine  große  Anzahl  von  zerstreut  gedruckten  Ge- 
dichten und  literarischen,  politischen  und  kulturhistorischen  Artikeln  für  die 
meisten  Tagesblätter  und  periodisch  erscheinenden  Zeitschriften. 

Als  Dramatiker  und  Epiker  kaum  von  Erfolg  gekrönt,  gehört  R.  als 
Lyriker  zur  zweiten  Reihe  der  nach  Grün,  Lenau  und  Gilm  zu  stellenden 
Poeten  Karl  Beck,  Carlopago-Ziegler  u.  a.  Gedrungene,  freilich  auch  oftmals 
allzu  unfreie  Sprache,  leichtes,  müheloses  Produzieren  und  nicht  besonders 
reiche  Wahl  des  Stoffes,  ein  in  pantheistischer  Naturanschauung  aufgehendes 
Gemüt  voll  Innigkeit,  gepaart  mit  echtem,  durchaus  nicht  gekünsteltem 
Empfinden    des    spezifisch   niederösterreichischen    Sängers    und    ein    bis   ins 


224 


Rollett.     Sauerwein. 


höchste  Alter  ungestillt  gebliebener  Drang  nach  Freiheit  im  Leben  und  in 
der  Poesie  geben  fast  allen  seinen  Dichtungen  das  Gepräge.  Er  hat  sich 
an  Goethe,  Uhland  und  Herwegh  gebildet,  ohne  einen  der  Drei  erreicht  zu 
haben,  doch  verraten  gerade  seine  bekanntesten  Dichtungen  eine  von  jeder 
Nachahmung  freie  Individualitat. 

Als  Kunsthistoriker  hat  er  sich  auf  einem  eng  begrenzten  Gebiete,  dem 
der  Steinschneidekunst,  neben  Brunn,  Furtwängler  und  anderen  einen  geachteten 
Namen  erworben.  Seine  Monographie  über  die  drei  Pichler  (Wien  1874)  sowie 
die  von  ihm  verfaßte  Abteilung  »Glyptik«  in  B.  Buchers  »Geschichte  der 
technischen  Künste«  (Stuttgart  1875)  fanden  den  Beifall  der  Fachmänner. 

Fast  bekannter  als  durch  seine  poetischen  und  kunstgeschichtlichen 
Arbeiten  wurde  R.  durch  das  Werk  »Die  Goethe -Bildnisse,  biographisch- 
kunstgeschichtlich  dargestellt«,  das  der  Braumüllersche  Verlag  1883  in 
glänzender  Ausstattung,  mit  Radierungen  von  William  Unger,  herausgab. 
Bei  ihrem  Erscheinen  stießen  R.s  »Goethe -Bildnisse«  auf  den  heftigsten 
Widerspruch  Friedrich  Zamckes,  dessen  »Kurzgefaßtes  Verzeichnis  der 
Originalaufnahmen  von  Goethes  Bildnis«  (Leipzig  1888)  heute  gewissermaßen 
als  Kanon  gilt,  R.s  Werk  jedoch  mit  seinen  zahlreichen  Quellennachweisen 
auch  heute  noch  nicht  dem  Forscher  entbehrlich  machen  kann.  Jedenfalls 
bleibt  es  R.s  unbestrittenes  Verdienst,  dem  Gedanken  eines  Goethebildnis- 
werkes als  erster  eine  würdige,  greifbare  Gestalt  verliehen  zu  haben. 

Wiewohl  sich  R.  Zeit  seines  Lebens  niemals  aktiv  am  politischen  Leben 
beteiligte,  bewahrte  er  sich  dennoch  seinen  demokratisch  gefärbten  Freisinn 
und  freiheitlichen  Optimismus  mit  zäher  Ausdauer,  blieb  aber  hauptsächlich 
durch  seine  Zurückgezogenheit  in  einer  Provinzstadt  dem  modernen  Zuge  im 
Weltgetriebe  fem. 

Es  verdient  schließlich  noch  der  Erwähnung,  daß  R.,  dessen  Wesen  sich 
in  den  engen  Schranken  einer  KircRlichkeit  nicht  behaglich  fühlen  konnte, 
auf  einem  in  seinem  Nachlasse  vorgefundenen  Blatte  andeutete,  daß  seiner 

inneren  Natur  die  Konfessionslosigkeit  als  das  einzig  Befreiende  entspreche. 

Bildnisse  von  Schustler,  E.  Ender,  L.  Fischer,  Schramm,  Kriehuber,  Romako,  George- 
Mayer,  St.-Genois,  u.  v.  a.;  Büsten  von  Schrödl,  Schröer,  Glank,  Meisel;  Medaille  von  Rad- 
nitzky;  Plaquette  von  Breithut. 

Quellen  zur  Biographie:  »Hermann  Rollett«,  biographische  Skizze  (aus  dem 
19.  und  20.  Bogen  des  XXVI.  Bandes  von  Wurzbachs  »Biographischem  Lexikon«,  welche 
in  ihrem  ersten,  bereits  vollendet  gewesenen  Druck  nicht  ausgegeben  wurde),    Wien   1874. 

—  »Hermann  Rollett«,  zu  seinem  75.  Geburtstage  verf.  von  Leopold  Katscher,  Wien  1894. 

—  »Begegnungen«,  Erinnerungsblätter  (181 9 — 1899)  von  Hermann  Rollett,  VV^icn  1903.  — 
Selbstbiographie  des  Dichters  aus  dem  Jahre  1862,  im  Manuskript.  —  Briefwechsel  Rolletts 
mit  seinem  Jugendfreund  Anton  Josephy  (die  Jahre  1837  bis  1889  umfassend).  —  Über 
R.s  Liter.  Nachlaß  s.  »Neues  Wr.  Tagblatt«  v.  11.  X.  1905.  Paul  Tausig. 

Sauerwein,  Georg  Julius  Justus,  Linguist,  *  15.  Januar  1831  in  Hannover, 
1 16.  Dezember  1904  in  Christiania.  —  Wohl  mag  es  Gelehrte  gegeben  haben,  die 
sich  mit  noch  mehr  Sprachen  beschäftigt  haben,  aber  es  hat  keinen  gegeben, 
der  so  viele  Sprachen  wirklich  beherrscht  hätte,  so  viele  gewandt  gesprochen, 
in  so  vielen  selbständig,  insbesondere  poetisch  produktiv  gewesen  wäre.  Dabei 
hat  S.  eigentlich  wissenschaftliche  Arbeiten  so  gut  wie  gar  keine  geleistet. 
Ihn  erfüllte  geradezu  ein  Heißhunger  nach  immer  neuen  Sprachen  und  dabei 


Sauerwein.  22  5 

stürzte  er  sich  sogleich  in  die  volle  lebendige  Literatur  oder  sog  in  der  Unter- 
haltung diejenigen  aus,  die  ihm  neue  Sprachen  bieten  konnten. 

Sein  Vater,  August  Philipp  Ludwig  Sauerwein,  war  Lazarett -Prediger 
und  auch  Lehrer  am  Lyzeum  in  Hannover,  von  wo  er  aber  noch  im  Jahre 
183 1  als  Prediger  nach  Schmedenstedt  bei  Peine  und  von  hier  nach  etwa  zehn 
Jahren  als  Pastor  Primarius  nach  Gronau  an  der  Leine  versetzt  wurde.  Er 
war  ein  sehr  unterrichteter  Mann,  der  sich  auch  der  wissenschaftlichen  Welt, 
und  zwar  durch  Herausgabe  der  dritten  Auflage  (Hannover  1828)  des  ur- 
sprünglich von  Christian  Reineccius  herausgegebenen  kleinen  hebräisch-latei- 
nischen Wörterbuchs  bekannt  gemacht  hat.  Den  ersten  Unterricht  seines 
ältesten  Sohnes  Georg  leitete  er  selbst,  bis  letzterer  im  Alter  von  zwölf  Jahren 
Aufnahme  im  Lyzeum  zu  Hannover  fand,  und  zwar  in  Untersekunda.  Bei 
seiner  ganz  ungewöhnlichen  Begabung  und  namentlich  seinem  ganz  erstaunlichen 
Gedächtnis  verließ  S.  jede  zu  überwindende  Klasse  als  Primus  und  so  auch 
schließlich  die  ganze  Schule  als  primus  omnium.  Namentlich  alle  Sprachen, 
die  auf  der  Schule  gelehrt  wurden,  machte  er  sich  vollständig  zu  eigen  und 
beherrschte  zum  Beispiel  das  Hebräische  so,  daß  er  im  Maturitätsexamen 
ein  besonders  schwieriges  Kapitel  eines  Propheten  in  einem  Text  ohne  Vokal- 
bezeichnung leicht  herunterlas,  als  wäre  es  deutsch.  Mit  Eifer  las  er  die 
alten  Klassiker  für  sich,  und  ganz  ohne  Lehrer  lernte  er  schon  in  der  Schul- 
zeit Italienisch    und    las    mit  Leichtigkeit   Petrarcas  Sonette   und  Kanzonen. 

Michaelis  1848  bezog  S.  die  Universität  Göttingen.  Er  wurde  für  Theo- 
logie immatrikuliert,  ließ  aber  alles  speziell  Theologische  bald  ganz  zur  Seite 
liegen.  Seine  Hauptstudien  bildeten  wie  schon  auf  dem  Lyzeum  die  Sprachen 
und  so  wurden  seine  Hauptlehrer  Ewald  und  Benfey.  Bei  dem  letzteren  lernte 
er  Sanskrit,  bei  Ewald  hörte  er  alles,  was  er  an  Sprachlichem  bot.  Hebräisch, 
Arabisch,  Syrisch,  Äthiopisch,  Persisch,  Armenisch,  Türkisch.  Daneben  ließ 
er  sich  die  Gelegenheit  nicht  entgehen,  die  nähere  Bekanntschaft  der  in 
Göttingen  studierenden  Engländer,  Ungarn  und  eines  Spaniers  zu  machen, 
um  bald  mit  ihnen  in  ihrer  Sprache  sich  zu  unterhalten.  Am  Ende  seines 
zweiten  Semesters  trieb  es  ihn  nach  Wien,  um  dort  namentlich  mit  Türken 
und  Montenegrinern  mündlich  zu  verkehren.  Neben  all  solchen  Studien  aber 
hat  er  im  Hinblick  auf  etwaige  spätere  größere  Reisen  auch  noch  medi- 
zinische, chemische  und  botanische  Vorlesungen  mit  Eifer  besucht. 

Schon  am  Ende  seines  sechsten  Semesters  verließ  er  die  Universität 
und  ist  dann  bald  nach  England  gegangen.  Er  hatte  gehofft,  etwa  in  Indien 
eine  vorteilhafte  Stellung  zu  finden,  damit  aber  wurde  es  nichts.  Alles  was 
ihm  der  bekannte  Max  Müller  glaubte  in  Aussicht  stellen  zu  können,  schien 
ihm  sehr  wenig  empfehlenswert.  Es  bildete  sich  gar  kein  näheres  Verhältnis 
zu  dem  genannten  Gelehrten,  und  in  seinem  späteren  Leben  hat  S.  stets 
nur  sehr  kühl,  um  nicht  geradezu  zu  sagen  unfreundlich,  von  ihm  gesprochen. 

Er  wurde  zunächst  Hauslehrer  in  einem  wohlhabenden  Hause  in  der 
Nähe  von  Conway.  Llandrillo  hieß  sein  Wohnsitz,  der  im  welschen  Sprach- 
gebiet liegt  und  so  ihm  die  erwünschteste  Gelegenheit  bot,  sich  die  welsche 
Sprache  ganz  zu  eigen  zu  machen,  was  ihm  in  wenigen  Monaten  gelang, 
und  zwar  in  so  vollkommener  Weise,  daß  er  bei  einer  besonderen  Gelegen- 
heit einen  auf  ihn  ausgebrachten  Toast  aus  dem  Stegreif  in  einer  langen 
Rede    in    welscher  Sprache    erwidern  konnte.      Es    ist  bemerkt  worden,   daß 

Riogrr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog:.     9.  Bd.  I^ 


226  Sauerwein. 

noch  nie  ein  »Kontinentaler«  in  ähnlicher  Weise  die  welsche  Sprache  be- 
herrscht habe. 

In  England  machte  S.  noch  manche  wertvolle  Bekanntschaft,  kehrte 
aber  im  Jahre  1855  zunächst  nach  Deutschland  zurück  und  lebte  teils  in 
Gronau,  teils  in  Göttingen  und  Hannover,  diese  ganze  Zeit  mit  eifrigsten 
Sprachstudien  beschäftigt. 

Im  Winter  1857  ging  er  als  Lehrer  und  Erzieher  der  Prinzessin  Elisabeth 
von  Wied,  der  späteren  Königin  von  Rumänien,  nach  Neuwied,  wo  man  all 
seine  Leistungen  wie  seine  ganze  eigenartige  Persönlichkeit  in  hohem  Grade 
zu  schätzen  gewußt  hat.  Leider  nötigte  ihn  ein  sehr  bedenkliches  Nerven- 
leiden aber  im  Frühjahr  1860  seine  Stellung  aufzugeben  und  in  seinem  heimat- 
lichen Gronau  Erholung  zu  suchen,  wo  er  bis  zum  Winter  1868  verblieb. 
Er  fand  dann  bis  zum  Jahre  1870  ein  Unterkommen  als  Hilfsarbeiter  an  der 
Königlichen  Bibliothek  in  Göttingen.  Seine  Besoldung  war  hier  eine  sehr 
kümmerliche  und  dazu  war  er  als  Bibliotheksarbeiter  gar  nicht  sehr  geschätzt. 
Er  konnte  sich  schwer  an  die  notwendige  Ordnung  gewöhnen,  las  die  fremd- 
sprachigen Bücher,  deren  Titel  er  zu  deuten  und  einzutragen  hatte,  lieber 
ganz  durch,  als  daß  er  sich  auf  ihren  Titel  beschränkte,  und  schrieb  dazu 
eine  sehr  wenig  schöne  Hand.  Zurückgelieferte  und  wieder  einzustellende  Bücher 
ließ  er  oft  bis  zu  bedeutender  Zahl  sich  ansammeln,  weil  er  sich  vor  dem 
Besteigen  der  Leitern  und  drohendem  Schwindel  fürchtete.  Man  war  auf  der 
Bibliothek  ganz  zufrieden,  als  er  sich  aus  seiner  Stellung  nach  verhältnis- 
mäßig kurzer  Zeit  wieder  zurückzog.  Später  hat  er  nie  wieder  eine  feste 
Stellung  angenommen.  Es  traf  sich  für  ihn  sehr  günstig,  daß  er  schon  als 
26 jähriger  junger  Mann  mit  der  großen  britischen  Bibelgesellschaft  in  Zu- 
sammenhang kam.  Für  sie  übernahm  er  bald  bestimmte  Arbeiten  und  bezog 
dafür  einen  reichlichen  Gehalt,  den  man  sogar  zu  verdoppeln  versprach, 
wenn  er  seinen  festen  Wohnsitz  in  England  zu  nehmen  bereit  gewesen  wäre. 
Dazu  aber  konnte  er  sich  nicht  entschließen.  Bei  einem  wilden  Drange 
nach  Freiheit  ist  er  viel  hin-  und  hergezogen,  hat  sich  in  späteren  Jahren 
mit  Vorliebe  bei  den  Litauern,  in  Norwegen,  in  der  wendischen  Lausitz  auf- 
gehalten. 

Seine  Arbeiten  für  die  große  britische  Bibelgesellschaft  haben  hohe  An- 
erkennung gefunden.  Es  ist  ausgesprochen,  daß  Edwin  Norris  und  Georg 
Sauerwein  als  Arbeiter  für  die  Bibelgesellschaft  die  erste  Stelle  einnehmen. 
Nach  einer  gefälligen  Mitteilung  der  betreffenden  Abteilung  der  britischen 
Bibelgesellschaft  waren  S.s  Arbeiten  die  folgenden.  Er  besorgte  das  bulga- 
rische Neue  Testament,  von  dessen  Bearbeitung  Norris  seines  Augenleidens 
wegen  zurückgetreten  war,  und  bald  darauf  das  armenische  Neue  Testament, 
wobei  hervorgehoben  wird,  daß  ein  nachprüfender  Gelehrter  in  Konstantinopel 
auch  nicht  ein  einziges  Versehen  darin  entdeckt  habe.  Im  Jahre  1859  gab 
S.  den  Psalter  im  Armenischen  heraus.  Mitbeteiligt  war  er  an  der  Heraus- 
gabe der  portugiesischen  Bibel,  sowie  dann  an  der  Herausgabe  der  Genesis 
im  Neu  -  Russischen.  Im  Jahre  1872  bezog  sich  seine  Arbeit  auf  das 
Neue  Testament  in  griechisch-türkischer  Sprache,  im  Griechischen  und  Eng- 
lischen. In  das  Madagassische  hat  er  fast  das  ganze  Alte  Testament  über- 
setzt. Dann  hat  er  Kobylanskis  ruthenische  Übersetzung  des  Lukas  zu  beur- 
teilen gehabt.    —    Im  folgenden  Jahre  besuchte  er  Ruthenien   und  schickte 


Sauerwein. 


227 


1874  eine  Kritik  des  Kobylanskischen  Werkes  ein.  Im  Jahre  1875  prüfte  er 
Dr.  Bruses  persisches  Neues  Testament  und  bald  darauf  hatte  er  die  Druck- 
bogen der  vier  Evangelien  und  der  Apostelgeschichte  im  Transkaukasisch- 
Türkischen  zu  korrigieren.  Im  Jahre  1878  begann  er  die  Ausgabe  der  neu- 
griechischen Bibel  mit  Randbemerkungen.  Drei  Jahre  später  besorgte  er  die 
Durchsicht  von  Amirchaninantz'  Übersetzung  des  Alten  Testaments  ins  Trans- 
kaukasisch-Türkische. 

Im  Jahre  1884  schickte  ihn  die  Bibelgesellschaft  nach  Algier  mit  dem 
Auftrage,  biblischen  Text  ins  Kabylische  zu  übersetzen.  Nach  Vollendung 
des  kabylischen  Johannes-Evangeliums  aber  kehrte  S.  nach  Europa  zurück, 
wo  seiner  schon  neue  Arbeit  wartete.  Neue  Ausgaben  des  Neuen  Testaments 
und  des  Markus-Evangeliums  im  Neupersischen  waren  zu  besorgen;  das  kaby- 
lische Johannes-Evangelium  zu  drucken.  Dann  war  er  längere  Zeit  beschäftigt 
an  der  transkaukasisch-türkischen  Bibel,  an  der  Usbek-türkischen  Übersetzung 
der  Evangelien  und  des  Matthäus-Evangeliums  im  Kumykischen.  Im  Jahre 
1890  war  er  mitbeschäftigt  an  der  prüfenden  Durchsicht  der  revidierten  Aus- 
gabe des  transkaukasisch- türkischen  Neuen  Testaments.  Im  Jahre  1892  er- 
hielt er  den  Auftrag  die  Bergpredigt  ins  Kaschgar-Türkische  zu  übersetzen, 
worüber  er  dann  bald  berichten  konnte.  Die  Übersetzung  des  ganzen  Matthäus- 
Evangeliums  folgte  in  kurzer  Zeit. 

Im  selben  Jahre  erhielt  er  den  Auftrag,  die  Durchsicht  der  tschuwaschischen 
Übersetzung  der  Evangelien  zu  besorgen,  und  dazu  die  Herausgabe  der  pol- 
nischen Bibelübersetzung. 

Im  Jahre  1894  sandte  er  eine  Abschrift  seiner  Ausgabe  von  Bezas  lateini- 
scher Übersetzung  mit  Korrekturen  und  kritischen  Bemerkungen  ein.  Nach 
der  Vollendung  der  polnischen  Bibel  aber,  April  1896,  entband  ihn  die  Bibel- 
gesellschaft seiner  Verpflichtungen  und  zahlte  ihm  von  da  an  bis  zu  seinem 
Tode  eine  Pension.  Nach  seiner  Rückkehr  aus  Algier  hat  er  auch  noch 
einige  Stücke  des  Alten  Testaments  ins  Kabylische  übersetzt,  von  denen  aber 
nichts  gedruckt  worden  ist,  und  ist  auch  an  der  Übersetzung  der  Bibel  ins 
Ungarische  beteiligt  gewesen. 

Was  noch  einige  der  genannten  Sprachen  insbesondere  anbetrifft,  so  mag 
angeführt  sein,  daß  er  1886  zu  Neujahr  seinem  früheren  Lehrer,  Professor 
Wüstenfeld  in  Göttingen,  ein  arabisches  Gedicht  zugesandt  hat,  daß  er  in 
seinen  Briefen  auch  später  noch  vom  Dichten  arabischer  Makamen  spricht 
und  sich  äußert,  wie  er  sich  eine  große  Leichtigkeit  im  Schreiben  des  Neu- 
arabischen erworben  habe.  Einem  Briefe  von  1886  war  ein  persisches  und 
ein  russisches  Gedicht  beigelegt.  Zu  Neujahr  1886  schickte  er  ein  freundlichst 
aufgenommenes  persisches  Gedicht  an  Mirza-Schaffy.  Bei  einem  Besuch  in 
Dorpat  im  Jahre  1874  wurde  ihm  unerwartet  ein  junger  Armenier  vorgestellt, 
mit  dem  er  auf  der  Stelle  eine  Unterhaltung  in  dessen  Muttersprache  an- 
knüpfte. Als  er  den  bekannten  ungarischen  Gelehrten  und  Politiker  Paul  Hun- 
falvy  persönlich  kennen  gelernt  hatte,  sprach  er  ungarisch  mit  ihm.  Im  Jahre 
1901  spricht  er  vom  Schreiben  eines  ungarischen  Briefes  an  ein  ungarisches 
Patenkind.  Im  Jahre  1903  hat  er  einige  Gedichte  in  welscher  Sprache  ver- 
faßt, die  von  welschen  Zeitungen  gern  aufgenommen  wurden. 

Im  April  1875  schreibt  er,  daß  er  gelesenes  Russisch  ganz  geläufig  ver- 
stehe.    Bei  einer  späteren  Gelegenheit  führte  er  mit  dem   Fürsten   Lobanow 

15* 


228  Sauerwein. 

sehr  geläufig  eine  russische  Unterhaltung.  Ein  von  ihm  angeredeter  Grieche 
hielt  ihn  für  einen  Landsmann.  Im  Jahre  1897  hat  er  einige  neugriechische 
Gedichte  gemacht.  Die  Übersetzung  der  madagassischen  Bibel  übernahm  er, 
da,  der  sie  übernommen  hatte,  schwer  erkrankt  war.  Es  wurde  eine  »mehr- 
jährige angreifende  Arbeit«.  Das  Ruthenische  wurde  so  weit  geläufig  an- 
geeignet, um  ein  darüber  verlangtes  Gutachten  abgeben  zu  können.  Auch 
wurden  darin  eine  Menge  kleiner  Dichtungen  verfaßt,  die  ziemlich  viel  Auf- 
merksamkeit auf  sich  zogen.  Im  Jahre  1882  hatte  er  eine  transkaukasisch- 
türkische Übertragung  der  Bücher  Moses  daraufhin  zu  beurteilen,  ob  sie  mit 
dem  Original  übereinstimme.  Im  Jahre  1889  hatte  er  in  verschiedenen  türki- 
schen Dialekten  Korrekturen  zu  besorgen.  Bei  den  Kabylen  sprach  er  im 
Jahre  1884  ihre  Sprache  auf  der  Straße,  was  das  höchste  Interesse  der  Straßen- 
jugend erweckte.  Er  bezeichnete  das  Kabylische  als  fast  unau.ssp rechbar, 
aber  als  sehr  interessant.  Auch  polnische  Gedichte  hat  er  gelegentlich  ver- 
faßt. Die  lange  und  schwere  Arbeit  an  der  polnischen  Bibel  wurde  im 
Januar  1895  vollendet. 

Von  weiteren  Sprachen,  die  S.  vollständig  beherrschte,  sind  noch  be- 
sonders hervorzuheben:  das  Litauische,  das  Wendische  der  Lausitz  und  das 
Norwegische.  In  ihren  Gebieten  hat  er  sich  zu  wiederholten  Malen  und 
auch  längere  Zeit  aufgehalten  und  lebte  dort  ganz  als  Litauer,  als  Wende, 
als  Norweger. 

Im  Jahre  1887  hat  er  einen  fast  zweistündigen  litauischen  Vortrag  in 
der  litauischen  Gesellschaft  Birute  gehalten,  1895  in  derselben  Gesellschaft 
am  Johannisfest  die  Festrede,  die  großen  Eindruck  machte.  Im  Jahre  1897 
ward  er  von  den  Litauern,  allerdings  ohne  Erfolg,  als  Reichstagskandidat 
aufgestellt  und  hielt  stundenlange   litauische  Vorträge. 

Das  dem  Litauischen  nächstverwandte  Lettische  wurde  von  S.  auch  früh  in 
sein  Studiengebiet  hereingezogen. 

Von  noch  nicht  genannten  slavischen  Sprachen  verstand  er  namentlich 
Serbisch. 

Neben  dem  Norwegischen  verstand  S.  auch  das  ihm  nächstverwandte 
Dänisch,  sowie  auch  Isländisch  und  Schwedisch. 

Von  weiteren  Sprachen,  die  S.  sich  zu  eigen  machte,  ist  das  dem  Welschen 
nahe  verwandte  Gälische  (Schottische,  »Die  Sprache  Ossians«)  noch  zu  nennen. 
In  London  fand  er  Gelegenheit  die  Sprache  der  Fidschi-Inseln  sich  bekannt 
zu  machen.     Das  Samoanische   kam  erst  später  an  die  Reihe. 

Chinesisch  etwas  gründlicher  zu  treiben  und  namentlich  auch  zu  sprechen, 
bot  sich  ihm  erwünschteste  Gelegenheit,  als  ein  englischer  Reisender  namens 
Alexander  Wylee,  der  sich  lange  in  China  aufgehalten  und  in  London  einen 
zum  Scherz  geschriebenen  chinesischen  Brief  S.s  zu  Gesicht  bekommen  hatte, 
ihn  in  Gronau  aufgesucht  und  dort  mehrere  Wochen  mit  ihm  zusammen  blieb. 

In  London  lernte  er  auch  Hindostanisch,  so  daß  er  mit  gelegentlich  an- 
wesenden Bewohnern  Indiens  sich  unterhalten  konnte.  Die  alte  Sprache 
Indiens,  das  Sanskrit,  war  ihm  schon  von  der  Universität  her  so  vertraut, 
daß  er  mehrfach  längere  Gedichte  in  ihr  zu  verfassen  wagte. 

Als  es  gegen  Ende  der  sechziger  Jahre  zwischen  England  und  Abessinien 
zum  Kriege  kam,  erwachte  lebhaft  der  Wunsch,  sich  die  Erlaubnis  zu  erwirken, 
an  der  englischen  Expedition  teilzunehmen,  und   so  warf  er  sich  mit  allem 


^auerwein.  220 

Eifer  auf  das  Studium  der  Sprache  von  Tigr6  und  des  Amharischen,  die 
beide  ihren  Ursprung  vom  alten  Äthiopischen  genommen  "haben.  Er  lernte 
beide  Sprachen  in  kurzer  Zeit  gründlich,  sein  Wunsch  aber  blieb  doch  unerfüllt. 
Als  aber  später  König  Theodors  Nachfolger  Kassai  verschiedene  offizielle, 
amharisch  verfaßte  Schriftstücke  nach  England  geschickt  hatte,  die  niemand  in 
England  verstand,  erinnerte  man  sich  S.s  und  rief  ihn  zu  Hilfe,  der  dann 
auch  alsbald  alles  übersetzte.  Auch  später  wurden  noch  mehrere  Schrift- 
stücke König  Theodors  ihm  nach  Gronau  nachgeschickt,  wo  sie  bald  ihre  Er- 
klärung fanden.  »Wie  gern«,  schreibt  er  einmal  im  Jahre  1903  aus  Norwegen, 
»würde  ich  über  die  im  Amharischen  sich  darstellende  eigentümliche 
Entwicklung  des  Semitischen  Vorlesungen  halten«,  ein  scheinbarer  An- 
lauf zu  wissenschaftlicher  Arbeit,  zu  der  er  in  Wirklichkeit  aber  nie  ge- 
kommen ist. 

Auch  zur  Erklärung  neusyrischer  Schriftstücke  suchte  man  in  England 
mehrfach  seine  Hilfe,  die  er  bereitwilligst  gewährte.  Das  Altsyrische  war 
ihm  schon  von  der  Universität  her  geläufig.  Wie  das  Syrische,  so  war  ihm 
auch  das  Altarabische  von  der  Universität  her  vertraut. 

Während  seiner  Göttinger  Bibliothekarzeit  studierte  S.  unter  anderm  Alt- 
ägyptisch und  auch  dessen  jüngere  Form,  das  Koptische.  Im  März  des 
Jahres  1873  schreibt  er,  daß  er  nach  Berlin  wolle,  um  etwas  Zend  zu 
studieren,  also  die  alte  Form  des  Persischen,  von  dem  dann  aber  weiter 
keine  Rede  ist. 

Nach  einer  ganz  andern  Seite  weist  das  Finnische.  S.  kam  im  Spät- 
sommer des  Jahres  1874  von  Schweden  her  nach  Finnland,  wo  er  sich  eine 
Reihe  von  Wochen  aufhielt  und  in  dieser  kurzen  Zeit  sich  das  Finnische  so 
zu  eigen  machte,  daß  lange  finnische  Gedichte  von  ihm  in  finnischen 
Zeitungen  Aufnahme  fanden.  Von  Finnland  führte  ihn  sein  Weg  über  Peters- 
burg nach  Dorpat.  Hier  war  es  ihm  ein  großes  Vergnügen,  sich  mit  dem, 
dem  Finnischen  so  nahe  verwandten  Estnischen  gründlich  bekannt  machen 
zu  können.  Er  fand  alsbald  Gelegenheit  sich  mit  einer  Estin  in  eine 
Unterhaltung  hineinwagen  zu  können,  und  las  daneben  einen  großen  Teil 
des  Kalewipoeg  durch,  den  die  Esten  gern  als  ihr  großes  Nationalepos 
ansehen,  das  aber  nur  in  kleineren  einzelnen  Stücken,  die  großenteils  gar 
nicht  untereinander  zusammenhängen,  von  einem  Doktor  Kreutzwald  zu- 
sammengefügt worden  ist.  Dabei  geschah  nun  das  Wunderbare,  daß  S.  bei 
seinem  Lesen  und  Studium  bald  die  Entdeckung  gemacht  zu  haben  er- 
klärte, daß  viele  Formen  in  dem  »Epos«  ganz  unrichtig  gebraucht  sein 
müßten.  Tüchtige  Kenner  des  Estnischen  gaben  die  Endeckung  sogleich 
zu.  Die  Sache  erklärte  sich  so,  daß  Kreutzwald,  der  viele  Stücke  im 
Volke  als  prosaische  aufgenommen,  dieselben  aber  bei  seiner  Umarbeitung 
in  die  poetische  Form  dadurch  vielfach  entstellt  hatte,  daß  er  die  älteren 
Sprachformen  zum  Teil  gar  nicht  verstanden,  sondern  sie  wie  nur  dekorativ 
behandelt  hatte.  Neben  dem  Finnischen  darf  auch  noch  das  Lappische 
erwähnt  werden. 

Besondere  Erwähnung  verdient  noch  das  Aneiteum,  die  Sprache,  die  auf 
der  gewöhnlich  Annätom  geschriebenen  Insel,  einer  der  Neuen  Hebriden, 
gesprochen  wird.  Im  Jahre  1870  hatte  die  britische  Bibelgesellschaft  schon 
das  ganze  Neue  Testament  im  Aneiteum. 


230 


Sauerweiiu 


Im  Jahre  1869  erwähnt  S.  in  einem  Briefe,  daß  er  Tamulisch  verstehe. 
Er  hatte  es  schon*  in  der  Mitte  der  fünfziger  Jahre  gelernt. 

Unmittelbar  neben  dem  Tamulischen  nennt  S.  das  Baskische,  dem  er  bei 
zeitweiligem  Aufenthalt  im  elterlichen  Hause  in  den  fünfziger  Jahren  eifriges 
Studium  gewidmet. 

Aus  London  schreibt  er  im  Juli  1878  »Georgisch  habe  ich  ziemlich  ein- 
gehend getrieben«.  Eine  Reihe  von  Jahren  früher,  Mai  1870,  schreibt  er  aus 
Göttingen,  daß  er  eben  mit  Nachdruck,  an  ein  neues  Studium  der  mela- 
nesischen  und  malaiisch-polynesischen  Sprache  gegangen  sei,  auch  darüber 
etwas  zu  schreiben  gedenke.  Eben  darauf  bezieht  sich,  was  er  schon  aus 
seiner  ersten  Zeit  in  England  über  Studien  der  Südseesprachen  berichtete. 
Dann  heißt  es  wieder  in  einem  Briefe  von  1899  aus  Bückeburg  »lerne  beizu 
etwas  Malaiisch  —  hier  ist  eine  Dame  aus  Java«. 

Aus  einem  Briefe  vom  18.  Oktober  1900  ergibt  sich  seine  Bekanntschaft 
mit  dem  Rumänischen  und  Albanesischen. 

Ohne  genauere  Datierung,  etwa  im  Anfang  der  sechziger  Jahre,  spricht 
er  davon,  daß  er  nach  Berlin  wolle,  »um  Japanisch  gründlich  zu  lernen <s 
wovon  dann  aber  weiter  keine  Rede  ist  in  den  Briefen.  Es  darf  dabei  noch 
bemerkt  werden,  daß  in  den  zu  Rate  gezogenen  Briefen  auch  die  eine  oder  • 
andere  Sprache  ganz  unerwähnt  geblieben  ist,  die  er  in  den  Bereich  seiner 
Studien  hereingezogen  hat,  wie  zum  Beispiel  das  Holländische  und  die  beiden 
keltischen  Idiome:  das  Irische  und  das  Manxische  (die  Sprache  der  Insel 
Man),  von  denen  Proben  in  seinen  Druckwerken  entgegentreten.  Es  ist  auch 
noch  anzuführen,  daß  er  nirgends  seines  heimischen  Niederdeutsch  Erwähnung 
tut,  das  er  aber  vollständig  beherrschte  und  sehr  geläufig  sprach.  Er  pflegte 
wohl  einmal  zu  erzählen,  daß  er  in  der  vierten  Wagenklasse  der  Eisenbahn, 
die  er,  weil  er  hier  »mit  dem  Volke«  in  engste  Beziehung  kam,  immer  zu 
bevorzugen  pflegte,  seine  Reisegefährten  öfters  durch  plötzliche  niederdeutsche 
Ansprache  in  Verwunderung  gesetzt  habe,  da  man  seine  unmittelbare  Zu- 
gehörigkeit zu  vermuten  doch  nicht  gewagt  habe. 

Bei  dieser  so  ganz  ungewöhnlichen  und  einzigartigen  Begabung  S.s, 
sich  fremde  Sprachen  ganz  anzueignen,  ist  von  besonderem  Interesse,  noch 
einige  eigene  Äußerungen  über  seine  Art  des  Sprachenlemens  zu  hören.  Er 
schreibt  am  22.  Oktober  1866:  »So  mitten  unter  einem  Volke  lernt  man  die 
Sprache  spielend,  wie  ich  aus  früherer  Erfahrung  weiß;  das  strengt  den  Kopf 
nicht  an  und  gibt  doch  ganz  von  selbst  viel  interessantes  und  reiches  philo- 
logisches Material,  was  man  später  gut  benutzen  kann.  Unterhalte  dich  nur 
recht  viel  mit  den  originellen  alten  Esthinnen  und  Lettinnen  dort  und  laß 
dir's  nicht  unangenehm  ankommen,  wenn  es  erst  langsam  mit  dem  Vorschreiten 
geht;  man  glaubt  gewöhnlich  zuerst,  man  käme  gar  nicht  zum  Ziele;  und 
ehe  man  sichs  versieht,  kann  man  so  eine  Sprache,  und  um  so  besser  und 
natürlicher,  je  weniger  unnatürlichen  Zwang  man  sich  quälend  auferlegt  hat. 
Und  so  eine  Sprache  von  einem  neuen  Sprachstamm,  so  spielend  erlernt  und 
dann  später  gründlich  erforscht,  ist  einem  dann  eine  Repräsentantin  des 
ganzen  Stammes,  an  die  die  übrigen  Glieder  von  selbst  sich  anschließen. 
Das  erweitert  den  sprachlichen  Gesichtskreis  auf  eine  fruchtbarere  und  leben- 
digere Weise,  als  wenn  man  sechs  Sprachen  auf  einmal  nur  mit  Büchern  und 
Papier  zu  erobern  versucht,  und  einem  dann  doch   keine  so   recht  natürlich 


Sauerwein.     His. 


231 


vertraut  werden  kann.  Hast  du  dich  so  ohne  Anstrengung  des  nahen  Esth- 
nischen  bemächtigt,  werden  sicherlich  die  anderen  Dialekte  dann  mit  der 
größten  Leichtigkeit  sich  spielend  anschließen.« 

Ein  ander  Mal  schreibt  er  (20.  Mai  1875):  »um  diese  Gewandtheit  in 
derselben  [Sprache]  zu  erreichen,  ist  das  beste  Mittel,  so  viel  als  möglich  zu 
lesen  .  .  .  aber  weniger  das  Augenmerk  auf  das  massenhafte  Lernen  neuer  Aus- 
drücke ...  als  auf  das  Einleben  in  das  ganze  Sein  und  das  Eigentümliche 
der  Sprache  in  deren  Anschauungsweise  zu  richten«,  und  wieder  (am  10.  Sep- 
tember 1883):  »Die  Grammatik  —  in  der  gewöhnlichen  Weise  getrieben  — 
ist  zum  Ordnen  des  bereits  Gelernten  da.  Wer  aber  durch  dieselbe  in  die 
Sprache  erst  eindringen  will,  verfehlt  seine  Absicht.  Das  Schwimmen  im 
Meere  einer  Sprache  und  ihres  Formenschwalles  lernt  sich  besser  in  diesem 
vollen  freien  Meere  selber,  als,  man  könnte  sagen,  in  einer  solchen  engen 
Badewanne.« 

Dann  ist  auch  noch  anzuführen  vom  17.  November  18^6:  »Es  ist  das 
Verkehrteste,  was  man  sich  denken  kann,  das  Leben  einer  Sprache  gram- 
matisch fassen  zu  wollen.  Die  Grammatik  muß  nachher  das  aufgehäufte 
wilde  Material  ordnen,  aber  sie  kann's  nicht  geben«  und  etwas  später  »das 
Sprachenlernen  ist  viel  weniger  schwer,  als  man  meint,  man  muß  es  nur 
richtig  anfangen  .  .  .« 

Alle  gegebenen  Ausführungen  beruhen  auf  intimster  persönlicher  Bekanntschaft  und 
einer  reichen  Fülle  von  Briefen,  die  der  Göttinger  Universitätsbibliothek  übergeben  zu 
werden  bestimmt  sind.  Im  Nachlaß  S.s  soll  sich  noch  ein  ausführliches,  vielfach  in  un- 
deutscher Sprache  geführtes  Tagebuch  befinden,  das  noch  nicht  zugänglich  und  noch  nicht 
geordnet  ist,  später  hoffentlich  auch  noch  in  den  Besitz  der  Göttinger  Bibliothek   übergeht. 

Durch  den  Druck  veröffentlicht  hat  S.  außerordentlich  vieles,  das  meiste  wohl  in 
Zeitungen,  vieles  auch  in  kleinen  Heften  und  auf  losen  Blättern.  An  etwas  umfangreicheren 
Werken  können  noch  genannt  werden: 

A  Pocket  Dictionary  of  the  English  and  Turkish  Languages  by  G.  Sauerwein.  London- 
Leipzig  i8sj. 

Frie  Viso  ifraa  Vigguin  sungje  i  Nördre-Gudbrandsdalsk  Dölamaal  taa  Dr.  G.  y.  J. 
Sauerwein.    Kristiania  t88s. 

Le  Lvure  des  Salutations  adressdes  aux  Nations  Orientales  et  Occidentales  representecs 
au  Congrh  des  Orientalistes  a  Stockholm  par  Girinas  (mit  diesem  litauischen  Namen  »Wald- 
roensch«  hat  S.  sich  oft  bezeichnet).  Leipzig  1888.  (Enthält  Gedichte  in  30  verschiedenen 
Sprachen.) 

West-östliches  Stammbuch  zu  Mirza-Schaffys  siebzigstem  Geburtstage  22.  April  1889 
von  GirSnas.    Leipzig  1889.    (Enthält  Gedichte  in  25  verschiedenen  Sprachen.) 

From  jirya  io  Etre^  front  Manu  to  Man.  The  Queen  Victoria  Birth-Day  Polyglot 
Peace  Album  by  Pacificus.     Leipzig  i8gg.    (Enthält  Gedichte  in  38  Sprachen.) 

Leo  Meyer. 

His,  Wilhelm,  Universitätsprofessor  der  Anatomie,  *  9.  Juli  1831  in 
Basel,  t  I-  Mai  1904  in  Leipzig.  —  H.  war  einer  der  bedeutendsten  Vertreter 
seines  Faches  in  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Von  maß- 
gebendem Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  von  ihm  vertretenen  engeren 
Faches,  sowie  von  großer  Bedeutung  für  darüber  hinausgehende  Gebiete,  ist 
er  auch  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  weit  über  die  Kreise  der  engeren 
und  weiteren  Fachgenossen  hinaus  bekannt  geworden.  H.  entstammt  einer 
alten  angesehenen  Basler  Familie  und  war  ein  Enkel  des  bekannten  schweize- 


232 


His. 


Tischen  Staatsmannes  der  Revolutionszeit  Peter  Ochs,  Sein  Vater  war  Kauf- 
mann und  Mitinhaber  des  alten  Seidenbandgeschäftes  H.  Fr.  Särasin  und  er- 
freute sich  des  besonderen  Vertrauens  seiner  Mitbürger,  die  ihn  zu  einer 
Reihe  von  Ehrenämtern  merkantiler  und  richterlicher  Natur  beriefen.  Von 
seinem  Vater  waren  H.  diejenigen  Eigenschaften  überkommen,  die  er  selbst 
in  seinen  »Lebenserinnerungen«  als  dessen  bezeichnende  Grundzüge  rühmt: 
»Einfachheit  und  Klarheit  der  Denkweise  und  ernste  Lebensauffassung«,  und 
mit  diesen  vereinte  er  den  Erbteil  seiner  Mutter,  die  nach  seinem  Zeugnis 
mit  großer  Pflichttreue  eine  ungewöhnliche  geistige  Regsamkeit  und  Durch- 
bildung verband. 

Nach  Absolvierung  des  Gymnasiums  seiner  Vaterstadt  widmete  sich  H. 
von  Ostern  1849  ^^^  Michaelis  1854  dem  Studium  der  Medizin,  doch  fesselten 
ihn,  seinen  naturwissenschaftlichen  Neigungen  entsprechend,  dabei  die 
theoretischen  Teile  viel  mehr  als  die  klinischen,  und  der  Eifer  für  die  letz- 
teren kam  niemals  recht  in  Gang.  Die  ersten  drei  Semester  brachte  er  teils 
in  Basel,  teils  in  Bern  zu ;  dann  zog  es  ihn  aber  nach  Deutschland,  und  er 
siedelte  für  drei  Semester  nach  Berlin  über,  angelockt  hauptsächlich  durch 
Johannes  Müller,  der,  als  Forscher  und  Lehrer  gleichbedeutend,  einer  der  her- 
vorragendsten Biologen  aller  Zeiten  und  für  eine  große  Schar  von  Studie- 
renden und  Naturforschern  ein  besonderer  Anziehungspunkt  war. 

Wie  stark  dieser  geniale  Mensch  auch  auf  H.  wirkte,  geht  am  klarsten 
aus  dessen  Schilderung  in  den  »Lebenserinnerungen«  hervor.  »Gleich  die 
ersten  Vorlesungen  Müllers  wirkten  auf  mich  wie  eine  Offenbarung,  und  ich 
habe  je  länger  je  mehr  erkannt,  was  es  heißen  will,  unter  dem  Einfluß  einer 
so  mächtigen  Persönlichkeit  zu  stehen.  Müllers  Erscheinung  und  Vortrags- 
weise sind  oft  geschildert  worden,  der  Ernst  seines  Wesens,  sein  tiefer,  durch- 
dringender Blick,  seine  etwas  zögernde,  mit  dem  Gedanken  ringende  Sprache. 
Wie  belebten  sich  in  seiner  Darstellung  die  ödesten  und  schwierigsten  Kapitel 
der  Anatomie,  wie  durchsichtig  gestaltete  sich  bei  ihm  der  verwickelte  Bau 
des  Gehirns,  und  wie  verstand  er  es,  alle  komplizierten  Gestaltungen  auf  ihre 
einfachsten  Grundformen  zurückzuführen!« 

Hat  auch  der  Einfluß  Müllers  nicht  ausgereicht,  H.  dem  Hauptforschungs- 
gebiet seines  Lehrers,  der  vergleichenden  Anatomie,  zuzuführen,  so  hat  er  ihn 
doch  zweifellos  auf  das  eine  Arbeitsfeld  seines  I^ebens  hingeführt:  die  ver- 
wickelten Formen  des  Körpers  und  der  Organe  durch  einfachere  zu  erklären. 
Die  Mittel  und  Wege  dafür  fand  H.  in  der  Entwicklungsgeschichte.  Und  das 
dankt  er  vornehmlich  einem  anderen  Lehrer  seiner  Berliner  Zeit,  R.  Remak, 
der,  bei  seinen  Lebzeiten  stark  unterschätzt,  als  Begründer  der  neueren  Ent- 
wicklungsgeschichte erst  allmählich  zur  vollen  Anerkennung  gelangt  ist.  Bei 
Remak  hörte  H.  über  Entwicklungsgeschichte  und  wurde  in  deren  Arbeits- 
methoden eingeweiht;  bei  ihm  bekam  er  Einblick  in  eine  im  Werden  be- 
griffene Wissenschaft  und  in  neue  große  Probleme,  die  ihn  in  hohem  Grade 
fesselten.  H.  schreibt  darüber:  »Ich  selber  danke  Remak  Anregungen,  die 
einen  großen  Teil  meiner  eigenen  Lebensarbeit  bestimmt  haben.« 

Der  aufsteigende  Ruhm  Virchows  zog  H.  dann  im  Frühjahr  1852  nach 
Würzburg,  dessen  medizinische  Fakultät  damals  am  Beginn  einer  neuen  glanz- 
vollen Zeit  stand.  Eine  Reihe  jüngerer  und  bedeutender  Kräfte,  unter  denen 
ich  außer  Virchow  nur  noch  Kölliker  und  Scanzoni  nennen  will,  gaben  dem 


His. 


233 


wissenschaftlichen  Leben  einen  mächtigen  Anstoß  und  wirkten  anregend  und 
befruchtend  auf  die  zahlreich  herbeieilenden  Schüler.  Auch  für  H.  wurde 
die  Würzburger  Zeit  von  besonderer  Bedeutung.  Sie  brachte  ihm  nicht  nur 
eine  Vertiefung  und  Erweiterung  seiner  allgemeinen  medizinischen  Ausbildung, 
namentlich  gefördert  durch  den  freien  Verkehr  zwischen  jüngeren  Professoren 
und  Studierenden,  sondern  führte  ihn  auch  in  das  Laboratorium  Virchows 
und  dort  zu  seiner  ersten  wissenschaftlichen  Arbeit.  Virchow,  der  kurz  vor- 
her seine  neue  »Bindegewebslehre«  aufgestellt  hatte  und  deswegen  von  Henle 
und  anderen  heftig  angegriffen  wurde,  forderte  H.  zu  einer  Nachprüfung 
dieser  Frage  an  der  Hornhaut  auf.  H.  unterzog  sich  der  gestellten  Aufgabe 
mit  großem  Eifer  und  Geschick  und  konnte  Resultate  von  bleibendem  wissen- 
schaftlichen Werte  zutage  fördern.  Sie  waren  auch  deshalb  besonders 
interessant,  weil  sie  bewiesen,  daß  die  Virchowsche  Lehre  in  manchen 
Punkten  nicht  mit  den  Tatsachen  übereinstimmte  und  dementsprechend  ge- 
ändert werden  mußte.  Daß  solche  Ergebnisse  im  eigenen  Laboratorium 
Virchows  gewonnen  werden  konnten,  ist  ein  schönes  Zeichen  für  die  Objek- 
tivität des  Schülers  sowohl  wie  des  Lehrers.  y>Ex  ungut  leonem«  darf  man 
beim  Lesen  dieser  Erstlingsarbeit  von  H.  sagen!  Sie  verrät  schon  alle  Eigen- 
schaften, welche  die  Arbeiten  unseres  Autors  sämtlich  so  vorteilhaft  aus- 
zeichnen: eigene  Forschungswege,  Originalität  im  Erfassen  und  Beurteilen, 
bestimmtes  Ziel,  klare,  logisch  folgerichtige  Darstellung  in  einfacher,  unge- 
künstelter Form,  Vorsicht  in  den  etwa  anzuschließenden  Hypothesen.«  Dieses 
Urteil  Waldeyers  ist  eine  treffliche  Würdigung  des  kurzen,  aber  inhalt- 
reichen Aufsatzes. 

»Es  war  zu  Anfang  der  fünfziger  Jahre  bei  den  schweizerischen  und  viel- 
fach auch  bei  deutschen  Medizinern  der  Brauch,  nach  Abschluß  der  Studien, 
kurz  vor  oder  nach  soeben  absolvierten  Prüfungen  einige  Monate  in  Prag 
und  in  Wien  und  meistens  auch  noch  in  Paris  zuzubringen.«  So  wandte  sich 
auch  H.  im  August  1853  zunächst  für  ein  halbes  Jahr  nach  Prag,  dann  für 
ebensolange  nach  Wien,  um  an  beiden  Orten  namentlich  klinischen  Studien 
obzuliegen.  In  Prag  zog  ihn  besonders  Arlt  an,  in  Wien  E.  Brücke,  Oppolzer 
und  Eduard  Jäger. 

In  die  Heimat  zurückgekehrt,  bestand  H.  Ende  des  Sommers  1854  sein 
Doktorexamen,  mit  dessen  Ablegung  man  damals  noch  das  Recht  der  Praxis 
erwarb,  und  verwandte  das  folgende  Jahr  zur  Fertigstellung  seiner  Disser- 
tation, die  eine  Fortsetzung  und  Erweiterung  seiner  in  Würzburg  begonnenen 
Untersuchungen  enthielt.  Im  Herbst  1855  konnte  er  diese  Arbeit  unter 
dem  Titel:  »Beiträge  zur  normalen  und  pathologischen  Histologie  der 
Cornea«  in  den  Druck  geben. 

Zum  Abschluß  seiner  auswärtigen  Studienzeit  ging  dann  H.  nach  Paris 
und  verbrachte  dort  den  Winter  1855—56.  Er  verkehrte  dort  in  den  Labo- 
ratorien von  Claude  Bernard  und  von  Brown-Sequard  und  hörte  Vorlesungen 
einiger  bedeutender  Physiker  und  Chemiker;  als  wichtigstes  Ergebnis  jenes 
Aufenthaltes  bezeichnet  er  aber  selbst,  daß  er  ihm  die  dauernde  Freundschaft 
zu  Ed.  Hagenbach  und  zu  Fr.  Horner  gebracht  hat. 

Zu  Beginn  des  Winters  1856—57  habilitierte  sich  H.  an  der  Basler  Uni- 
versität für  Anatomie  und  Physiologie  und  begann  auch,  Vorlesungen  zu 
halten,   doch   befriedigte   ihn   seine  Tätigkeit   so  wenig,   daß   er  Ostern  1857 


234 


His. 


wieder  auf  die  Wanderschalt  zog.  Er  wandte  sich  nochmals  auf  ein  halbes 
Jahr  nach  Berlin  mit  dem  Wunsche,  an  der  Graefeschen  Klinik  eine  histo- 
logische Assistentenstelle  zu  erhalten.  Diese  Hoffnung  allerdings  ging  nicht 
in  Erfüllung,  dafür  aber  entschädigten  ihn  reichlich  die  freundschaftlichen 
Beziehungen,  in  die  er  zu  Theodor  Billroth,  damals  erstem  Assistenten 
an  der  Langenbeckschen  Klinik,  treten  konnte.  Zunächst  durch  gleiche 
wissenschaftliche  Interessen  zusammengeführt,  trafen  sich  die  beiden  eine  Zeit- 
lang täglich  zu  gemeinsamer  Arbeit  und  schlössen  gute  Kameradschaft,  die 
sich  während  Billroths  Züricher  Zeit  zu  inniger  Freundschaft  ausgestaltete. 
Zahlreiche  Briefe,  in  denen  die  Freunde  alles,  was  sie  bewegte,  miteinander 
erörterten,  geben  Zeugnis  von  dem  idealen  Verhältnis  zwischen  beiden,  das 
erst  durch  den  Tod  gelöst  wurde. 

Als  im  Herbst  1857  in  Basel  die  Professur  für  Anatomie  und  Physiologie 
durch  Georg  Meißners  Berufung  nach  Freiburg  i.  Br.  frei  wurde,  hatte  H.  das 
Glück,  zu  dessen  Nachfolger  ernannt  zu  werden.  Damit  war  der  damals  erst 
26  jährige  vor  eine  schwere  Aufgabe  gestellt,  da  er  weder  als  Anatom,  noch 
als  Physiolog  geschult  war.  Die  Folge  bewies,  daß  er  die  Fähigkeit  und 
den  zähen  Willen  hatte,  sich  in  seine  Stellung  einzuarbeiten,  und  daß  seine 
Kräfte  mit  der  Größe  der  Aufgabe  wuchsen.  Trotz  angestrengter  Lehrtätig- 
keit in  zwei  Fächern  fand  er  noch  die  Muße  zu  reicher  wissenschaftlicher 
Arbeit  und  zu  lebhafter  Beteiligung  am  öffentlichen  Leben  seiner  Vaterstadt. 
15  Jahre  lang  wirkte  er  .so  mit  zunehmendem  Erfolg,  bis  er  1872  namentlich 
auf  Betreiben  von  C.  Ludwig  nach  dem  Rücktritte  von  E.  H.  Weber  nach 
Leipzig  als  ordentlicher  Professor  der  Anatomie  und  Direktor  der  anatomi- 
schen Anstalt  berufen  wurde.  Mag  ihm  auch  der  Entschluß  nicht  leicht  ge- 
worden sein,  altgewohnte  Verhältnisse  mit  neuen,  fremden  zu  vertauschen  und 
aus  seiner  Vaterstadt  und  der  Nähe  seiner  geliebten  Schweizer  Berge  nach 
dem  Norden  in  das  flache  Land  zu  ziehen,  so  traten  doch  diese  kleinlichen 
Bedenken  zurück,  und  es  überwog  die  Freude,  an  die  Stelle  eines  weitbe- 
rühmten Gelehrten  berufen  zu  sein  und  an  einer  reichdotierten  vielbesuchten 
Universität  eine  weit  einflußreichere  Tätigkeit  ausüben  zu  können.  Anfangs 
wirkte  er  in  Leipzig  noch  in  dem  alten,  später  (von  1875  an)  in  dem  neuen, 
nach  seinen  Angaben  erbauten  Institute,  dessen  Grundriß  und  Einrichtungen 
seinerzeit  allseitig  als  mustergültig  anerkannt  wurden  und  bei  vielen  Neu- 
bauten als  Vorbild  gedient  haben.  Gleichzeitig  mit  seiner  Ernennung  er- 
folgte auch  die  von  Wilhelm  Braune  zum  ordentlichen  Professor  der  topo- 
graphischen Anatomie,  für  welche  eine  besondere  Abteilung  des  Institutes 
geschaffen  wurde.  Beide  Männer,  im  Alter  nur  wenige  Tage  auseinander, 
waren  in  wissenschaftlicher  Ausbildung  und  Neigung  grundverschieden,  lernten 
sich  aber,  durch  ihre  Stellungen  auf  ein  Zusammenwirken  angewiesen,  sehr 
bald  gegenseitig  hochschätzen  und  arbeiteten  sich  so  ineinander  ein,  daß  der 
Tod  Braunes  im  April  1892  den  Überlebenden  traf,  »als  habe  er  eine  schwere 
Verstümmelung  erlitten«,  und  eine  schmerzliche  Lücke  in  seinen  engeren 
Freundeskreis  riß.  Zwanzig  Jahre  lang  haben  beide  gemeinsam  in  Leipzig 
die  Lehrtätigkeit  ausgeübt  und  mit  C.  Ludwig,  Cohnheim,  Thiersch, 
Wagner  usw.  zu  den  Zierden  der  Fakultät  gehört.  Nach  Braunes  Tode  wurde 
dessen  Stelle  eingezogen,  und  H.  führte  den  Unterricht  mit  Hilfe  jüngerer 
Kräfte  weiter. 


His. 


235 


In  umfassender  Lehrtätigkeit,  jede  freie  Minute  des  Semesters  und  den 
größten  Teil  der  Ferien  für  wissenschaftliche  Untersuchungen  ausnützend,  war 
H.  32  Jahre  lang  an  der  Leipziger  Universität  tätig,  von  großem  Einfluß  auf 
die  Studierenden,  hochgeschätzt  von  seinen  Schülern  und  Kollegen.  Groß 
war  auch  allezeit  sein  Interesse  für  die  Angelegenheiten  der  Universität,  an 
deren  Spitze  er  1882  als  Rector  magnificus  berufen  wurde.  Die  Huldigungen, 
welche  ihm  beim  25  jährigen  Jubiläum  seiner  Leipziger  Professur  und  bei 
seinem  70  jährigen  Geburtstag  von  nah  und  fern  dargebracht  wurden,  waren 
Zeichen  der  hohen  Achtung  und  der  großen  Beliebtheit,  deren  er  sich  aller- 
seits erfreute.  Hatte  er  an  seinem  70  jährigen  Geburtstage  neben  geistiger 
Frische  noch  das  Bild  voller  körperlicher  Gesundheit  geboten,  so  machten 
sich  ungefähr  ein  Jahr  später  die  ersten  Zeichen  eines  Magenleidens  bemerk- 
bar. Mit  gewaltiger  Zähigkeit  stemmte  sich  sein  Körper  gegen  die  Krank- 
heit, aber  unaufhaltsam  schritt  sie  weiter.  Die  Schwäche  nahm  zu,  und  die 
Schmerzen  häuften  sich;  immer  klarer  ward  er  sich  über  seinen  Zustand,  und 
so  war  der  Tod  schließlich  eine  willkommene  Erlösung  für  ihn,  der  geistig 
ungebrochen  erst  wenige  Wochen  vorher  seine  letzten  wissenschaftlichen 
Arbeiten  zum  Abschluß  gebracht  hatte.  Er  war,  wie  die  Sektion  ergab,  einem 
Magensarkom  erlegen. 

H.  liebte  als  geborener  Schweizer  seine  Heimat  über  alles,  und  jedes 
Jahr  zog  es  ihn  zu  ihren  Bergen  und  Seen.  Wenn  irgend  möglich,  beteiligte 
er  sich  auch  an  den  wissenschaftlichen  Versammlungen  seiner  Landsleute; 
kein  Wunder,  daß  er  auch  da  zu  den  alten  Beziehungen  stets  neue  knüpfte, 
so  daß  ihn  die  alte  Heimat  über  der  neuen  nicht  verlor.  Der  Kreis  seiner 
Bekannten  war  ungemein  groß ;  es  gibt  wohl  kaum  ein  Land,  in  dem  er  nicht 
Freunde  oder  frühere  Zuhörer  besaß.  Mit  vielen  Geistesgenossen  stand  er 
in  regem  schriftlichen  Verkehr.  Auf  den  Kongressen  der  in-  und  ausländi- 
schen gelehrten  Gesellschaften,  die  er  häufig  besuchte,  war  er  ein  gern  ge- 
sehener Gast. 

H.  war  eine  groß  angelegte  Gelehrtennatur  durch  und  durch.  Er  konzen- 
trierte zwar  sein  großes  Wissen  und  Können  auf  das  Spezialfach  seiner  Wahl ; 
sein  Interesse  ging  jedoch  weit  über  dieses  hinaus,  ließ  ihn  immer  Anschluß 
an  die  Gesamtbiologie  suchen  und  erstreckte  sich  auch  auf  Fragen  allge- 
meinerer Art.  Er  hatte  einen  offenen  Blick  für  die  Schäden  und  Mängel 
seiner  Zeit  und  wurde  nicht  müde,  für  deren  Beseitigung  oder  Besserung  ein- 
zutreten. So  hat  er  unter  anderem  mehrfach  das  Wort  ergriffen  zur  Frage 
des  akademischen  Unterrichts  und  ist  wiederholt  eingetreten  für  die  Schaffung 
^wissenschaftlicher  Zentralanstalten«  für  die  biologischen  Wissenschaften,  die 
er  sich  nach  dem  Vorbild  der  zoologischen  Station  in  Neapel  dachte,  und  die 
ausschließlich  der  wissenschaftlichen  Forschung  dienen  sollten.  H.  war  auch 
einer  der  Hauptreformatoren  der  »Gesellschaft  deutscher  Naturforscher  und 
Ärzte«  und  bei  der  Gründung  des  »Deutschen  Kartells«  und  der  »Inter- 
nationalen Assoziation  der  Akademien«  an  erster  Stelle  beteiligt. 

Die  wissenschaftliche  Tätigkeit  von  H.  hat  sich  über  sehr  verschiedene 
Teile  seines  Faches  erstreckt,  ohne  daß  sich  jedoch  eine  Periodizität  in  der 
Reihenfolge  der  Arbeiten  erkennen  ließe.  Es  empfiehlt  sich,  die  große  Zahl 
(179)  seiner  Veröffentlichungen  nach  den  Hauptgebieten,  welche  sie  behan- 
deln,   zusammenzufassen   und    die  wichtigsten    von    ihnen    gruppenweise    zu 


236 


His. 


besprechen.  Ich  beginne  mit  den  Arbeiten  über  mikroskopische  Anatomie  (ein- 
schließlich allgemeiner  Anatomie),  lasse  dann  die  Aufsätze  zur  makroskopi- 
schen Anatomie  und  Anthropologie,  dann  die  zur  allgemeinen  und  speziellen 
Entwicklungsgeschichte  (einschließlich  allgemeiner  Biologie)  folgen  und  fasse 
die  übrigen  in  einem  Schlußkapitel  zusammen. 

Zu  den  Arbeiten  über  spezielle  mikroskopische  Anatomie,  die  fast  alle 
in  die  Basler  Zeit  fallen,  gehört  die  bereits  erwähnte  Dissertation  über  die 
Hornhaut.  Von  dieser  wurde  er  auf  die  Bearbeitung  der  lymphoiden  Organe 
(Lymphdrüsen,  Thymus,  Lymphknötchen  des  Darmes)  und  der  Lymphwege 
geführt,  der  er  sich  (anfangs  gemeinsam  mit  Billroth)  mehrere  Jahre  lang 
widmete.  Durch  systematisch  ausgeführte  Untersuchungen  und  durch  ein 
neues  originelles  Verfahren  in  der  Behandlung  der  dünnen  Schnitte  gelang 
es  ihm,  weiter  zu  kommen,  als  seine  Vorgänger  und  den  wesentlichen  Aufbau 
dieser  Organe  klarzustellen.  An  diese  Arbeiten  schlössen  sich  »Beob- 
achtungen über  den  Bau  des  Säugetiereierstockes«  an,  die  für  den  wissen- 
schaftlichen Werdegang  von  H.  deshalb  von  Bedeutung  sind,  weil  sie  ihn, 
wie  er  selbst  sagt,  zum  erstenmal  vollständig  in  das  Gebiet  der  Entwicklungs- 
geschichte hineinführten,  dem  er  dann  für  lange  Jahre  fast  ausschließlich 
.treu  blieb. 

Erst  in  seinen  späten  Lebensjahren  wandte  er  sich  wieder  histologischen 
Fragen  zu  und  zwar  solchen  der  allgemeinen  Anatomie.  Im  Anschluß  an 
entwicklungsgeschichtliche  Fragen  nahm  er  das  Studium  über  die  feineren  ^ 
Strukturen  der  Zelle  und  über  gewisse  Vorgänge  bei  der  Zellteilung  auf, 
eines  der  schwierigsten  Gebiete  der  Biologie  überhaupt.  Mit  jugendlicher 
Frische  arbeitete  er  sich  in  die  ihm  anfänglich  fremde  Materie  ein,  und 
es  gelang  ihm,  eine  große  Reihe  interessanter  und  wertvoller  Beobachtungen 
zu  machen.  Seine  Untersuchungen  sind  namentlich  auch  dadurch  vielen 
ähnlichen  anderen  weit  überlegen,  daß  er  sie  in  ausgedehntem  Maße  am 
lebenden  Material  (sich  entwickelnden  Fischkeimen)  anstellte.  So  selbst- 
verständlich es  scheint,  daß  für  das  Studium  des  feineren  Aufbaues  der  Zelle 
zunächst  von  lebendem  Gewebe  ausgegangen  werden  muß,  so  ist  in  den 
letzten  20  Jahren  doch  von  den  meisten  Autoren  ausschließlich  oder  vorzugs- 
weise abgetötetes  Material  verwendet  worden,  bei  dem  man  nicht  ohne 
weiteres  sagen  kann,  ob  die  sichtbaren  Strukturen  bereits  im  Leben  vorhanden 
waren  oder  erst  durch  das  Abtöten  entstanden  sind. 

Auf  dem  Gebiete  der  makroskopischen  Anatomie  heute  noch  Originelles 
und  Bedeutendes  zu  leisten,  scheint  dem  Uneingeweihten  unmöglich  zu  sein, 
und  doch  hat  dies  H.  fertiggebracht! 

In  der  zweiten  Hälfte  der  70  er  Jahre  begann  er  Präparate  über  die  Form 
und  die  Lagebeziehungen  der  Organe  des  menschlichen  Körpers  in  neuer 
eigenartiger  und  einwandfreier  Form  herzustellen.  Durch  Injektion  mit  Chrom- 
säurelösung und  nachträgliche  Behandlung  mit  Alkohol  wurden  die  Körper 
und  die  einzelnen  Organe  so  gut  gehärtet,  daß  sie  schichtenweise  präpariert 
und  abgegipst  werden  konnten,  ohne  ihre  ursprüngliche  Lage  zu  verlieren. 
Anfangs  mehr  für  Unterrichtszwecke  hergestellt,  brachten  die  Präparate  eine 
große  Menge  neuer  und  überraschender  Anschauungen  und  sind  seitdem  in 
großer  Zahl  angefertigt  und  vervielfältigt  worden.  Kann  sich  auch  in  neuerer 
Zeit    durch   eine  vereinfachte    Technik    jedes    Institut  solche    Präparate    mit 


His. 


237 


Leichtigkeit  herstellen,  so  haben  doch  die  Hisschen  Modelle  wegen  ihrer 
Exaktheit,  genauen  Durcharbeitung  und  leichten  Handhabung  den  Weg  über 
die  ganze  Erde  gefunden  und  den  Namen  von  H.  überall  verbreitet.  Die 
ganze  jüngere  Generation  von  Medizinern  hat  sich  an  diesen  Modellen  leichter 
klare  Vorstellungen  von  der  Form  und  von  dem  verwickelten  räumlichen 
Ineinandergreifen  der  Organe  verschaffen  können,  als  es  vordem  der  Fall 
war.  Wir  können  uns  heute  keinen  guten  Unterricht  ohne  diese  Gipsabgüsse 
denken. 

Mit  anthropologischen  Problemen  beschäftigte  sich  H.  zweimal.  In  seiner 
Basler  Zeit  gab  er  mit  Rütimeyer  zusammen  unter  dem  Titel  »Crania 
hehettca*^  ein  großes  Tafel  werk  über  die  Schweizerschädel  heraus,  in  dem  er 
zur  Aufstellung  von  vier  verschiedenen  Typen  für  die  Schweizer  Bevölkerung 
gelangt.  Das  Buch  gehört  zweifellos  zu  den  besten  seiner  Art!  30  Jahre 
später  wurde  H.  in  Leipzig  vor  eine  andere  eigenartige  Aufgabe  anthropolo- 
gischer Natur  gestellt,  an  deren  Lösung  er  in  höchst  origineller  Weise  her- 
anging. Es  handelte  sich  dabei  um  die  Frage,  ob  Skeletteile,  welche  an  dem 
nur  traditionell  bekannten  Begräbnisplatz  Joh.  Seb.  Bachs  gefunden  worden 
waren,  diesem  zugehören  konnten  oder  nicht.  Die  Anhaltspunkte  waren 
sehr  gering:  das  Alter  konnte  stimmen,  und  der  Schädel  besaß  eine  auffällig 
»fliehende  Stirn«.  Weiteres  war  unmittelbar  nicht  festzustellen.  H.  versuchte 
deshalb  das  interessante  Problem  auf  einem  Umweg  zu  lösen.  Er  veranlaßte 
den  Leipziger  Bildhauer  Prof.  K.  Seffner,  über  den  mutmaßlichen  Schädel 
eine  Büste  zu  formen,  dabei  aber  die  durch  Messungen  gefundenen  Mittelzahlen 
der  Dicke  der  Weichteile  auf  den  Schädel  aufzutragen  und  für  die  Herstellung 
zugrunde  zu  legen.  Die  so  entstandene,  lebenswahre  Büste  vereinigte  die 
wesentlichen  Eigenschaften  der  bekannten  Bilder  von  Joh.  Seb.  Bach,  und 
die  zur  Prüfung  der  Frage  niedergesetzte  Kommission  konnte  »mit  gutem 
Gewissen  ihr  Urteil  dahin  abgeben,  daß  die  aufgefundenen  Gebeine  höchst- 
wahrscheinlich die  von  Joh.  Seb.  Bach  seien«.  Die  Methode  hat  namentlich 
bei  Anthropologen  großen  Anklang  gefunden  und  ist  u.  a.  von  J.  Kollmann 
benutzt  worden,  um  über  dem  aus  einem  Pfahlbau  der  Steinzeit  stammenden 
Schädel  einer  Frau  deren  Büste  zu  rekonstruieren. 

Hat  H.  ohne  Frage  auch  auf  den  bereits  erwähnten  Gebieten  Großes 
geleistet,  seine  größte  Bedeutung  liegt  sicher  in  seinen  Arbeiten  über  allge- 
meine und  spezielle  Entwicklungsgeschichte.  Ihr  Anfang  fällt  in  das  Jahr 
1865,  wo  er  bei  seiner  Untersuchung  über  den  Säugetiereierstock  Gegensätze 
im  Verhalten  verschiedener  Gewebsteile  bemerkte,  die  ihn  an  das  bei  Remak 
Gehörte  erinnerten.  Dies  war  für  ihn  die  Veranlassung,  dessen  Lehre  durch 
eigene  Untersuchungen  jüngster  Stadien  von  Hühnerembryonen  nachzuprüfen. 
Die  ersten  Resultate  dieser  Untersuchungen  sind  niedergelegt  in  einem  aka- 
demischen Programm  »Über  die  Häute  und  Höhlen  des  Körpers«,  in  dem 
die  Bedeutung  der  Remakschen  Keimblattlehre  für  das  Verständnis  der  ein- 
zelnen Gewerbsarten  erörtert  wird.  Ausgehend  von  der  Bichatschen  Auf- 
stellung der  drei  Hauptsysteme  von  »Häuten«  des  Körpers  suchte  er  die 
Beziehungen  auf,  die  sich  ergeben  zwischen  deren  anatomischem  Verhalten 
und  ihrer  Entwicklung,  d.  h.  ihrer  Abstammung  von  einem  der  drei  Keim- 
blätter. Der  Vergeh,  neue  große  Gesichtspunkte  in  die  histologische  Betrach- 
tungsweise einzuführen,    gelang  vollständig.     Er  suchte  die  der  Remakschen 


238  •  His. 

Lehre  anhaftenden  Widersprüche  zu  lösen  und  gab  für  das  Verhalten  der 
verschiedenen  Gewebe  zueinander  Erklärungen,  die  sich  in  der  Folge  als 
äußerst  fruchtbar  erwiesen.  Der  durch  seinen  Gesichtspunkt  interessante  und 
an  neuen  Gedanken  reiche,  großzügige  Aufsatz,  der  nach  dem  eigenen  Ge- 
ständnis des  Verfassers  »nur  ein  flüchtig  hingeworfenes  Gelegenheitsprodukt« 
war,  wirkt  auch  heute  noch  in  hohem  Grade  anregend.  Es  war  ein  Programm 
auch  für  die  Wissenschaft!  Manches  ist  daran  jetzt  veraltet,  manches  ist  als 
sicherer  Besitzstand  aufgenommen,  manches  ist  zur  Klärung  noch  der  Zukunft 
überlassen ! 

Bei  der  Fortsetzung  seiner  entwicklungsgeschichtlichen  Untersuchungen 
erkannte  H.  sehr  bald,  daß  sich  neue  große  Fortschritte  nur  durch  Verbesse- 
rung der  alten  Methoden  erzielen  ließen.  So  suchte  er  zunächst  die  Technik 
zur  Herstellung  feiner  Schnitte  zu  vervollkommnen  und  gelangte  1866  zur 
Konstruktion  eines  eigenartigen  Mikrotoms,  das  zwar  nicht  das  erste  seiner 
Art  war,  das  ihm  aber  erst  die  Möglichkeit  gab,  lückenlose  Reihen  gleich- 
dicker Schnitte  herzustellen;  nur  an  solchen  konnte  er  bestimmte  Gebilde 
mit  Sicherheit  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  verfolgen.  Die  erste  Frucht  dieser 
Untersuchungen  war  seine  große  Monographie  »Über  die  Entwicklung  des 
Hühnchens  im  Ei«  (1868),  die  eine  Fülle  von  wertvollen  Einzelbeobachtungen 
enthielt,  besonders  aber  bekannt  ist  durch  den  Nachweis,  daß  die  Blutgefäße 
des  Wirbeltierembr>'o  nicht  innerhalb  seiner  Körperanlage  entstehen,  sondern 
am  äußeren  Umfange  derselben  und  erst  später  in  die  Körperanlage 
hinein  wachsen.  Diese  an  und  für  sich  richtige  Beobachtung  führte 
H.  zur  Aufstellung  seiner  in  den  folgenden  Jahren  mit  großer  Heftigkeit  dis- 
kutierten Parablasttheorie,  nach  der  die  Blutgefäße  und  die  Gewebe  der 
Bindesubstanz  von  dem  Parablast  (Nebenkeim)  abstammen,  der  sich  in  der 
Umgebung  des  Ar chibl  ast es  (Hauptkeimes),  getrennt  von  diesem,  aus  dem 
weißen  Dotter  bilde.  Dieser  Gegensatz  in  der  Herkunft  sollte  sich  das  ganze 
Leben  hindurch  in  dem  Verhalten  der  Gewebe  bemerkbar  machen.  So  ein- 
fach diese  Lehre  das  gestellte  Problem  zu  lösen  schien,  so  wenig  stimmten 
doch  später  bekannt  werdende  Tatsachen  mit  ihr  überein;  sie  wurde  all- 
mählich unhaltbar.  H.  hat  seine  Theorie  in  verschiedenen  Schriften  zu 
stützen  versucht,  sie  aber  im  Jahre  1900  nach  erneuten  Untersuchungen  selbst 
fallen  lassen. 

Schon  in  seinen  ersten  Arbeiten  über  das  Hühnchen  wurde  H.  durch 
das  Kausalitätsbedürfnis  auf  eine  mechanische  Betrachtungsweise  für  die  Er- 
klärung entwicklungsgeschichlicher  Vorgänge  hingeleitet.  Er  fand  sehr  bald, 
daß  gewisse  Formveränderungen  der  Embryoanlage  während  der  Entwicklung 
auffallende  Ähnlichkeiten  besitzen  mit  denjenigen  Umbildungen,  welche  bieg- 
same Platten  und  Röhren  durch  Horizontalschub  erleiden  und  sah  die  Ursache 
der  wirkenden  Kräfte  im  ungleichen  Wachstum  der  verschiedenen  Ab.schnittc 
und  Schichten  der  Anlage.  Diese  durchaus  originelle  Auffassung,  die  sich 
wie  ein  roter  Faden  durch  seine  sämtlichen  cntwicklungsgeschichtlichen 
Schriften  hindurchzieht,  wurde  im  Anfang  außerordentlich  bekämpft,  hat 
sich  aber  in  ihren  Grundzügen  allmählich  immer  mehr  Anhänger  erworben. 
Sie  hat  H.  unzweifelhaft  zu  einem  der  bedeutendsten  Vertreter  derjenigen 
Richtung  in  der  Entwicklungsgeschichte  gemacht,  für  welche  später  die  Be- 
zeichnung »Entwicklungsmechanik«  geschaffen  worden  ist. 


His. 


239 


Auch  ein  zweiter,  charakteristischer  Zug  tritt  uns  schon  in  den  frühesten 
Arbeiten  entgegen,  das  Bestreben,  sich  möglichst  klare  räumliche  Vorstellungen 
von  den  behandelten  Objekten  zu  verschaffen.  Dies  führte  ihn  sehr  bald 
dazu,  als  Erster  plastische  Rekonstruktionen  ganzer  Keimscheiben  und  Em- 
bryonen oder  einzelner  Teile  derselben  im  vergrößerten  Maßstabe  zu  versuchen. 
War  er  auch  anfangs  nur  auf  die  freie  Modellierung  angewiesen,  deren 
Genauigkeit  von  fortwährenden  kontrollierenden  Messungen  des  Objektes 
und  seiner  Durchschnitte  unter  dem  Mikroskop  abhing,  so  ergab  sie  doch 
sofort  überraschende  Aufschlüsse  und  ist  für  die  Folge  von  weittragender 
Bedeutung  für  die  verschiedensten  Gebiete  geworden.  Born  hat  schließlich 
der  Methode  eine  einfachere  und  sichere  Form  gegeben,  und  in  dieser  Form 
ist  sie  heute  unentbehrlich  geworden.  H.  ließ  für  genaue  zeichnerische 
Wiedergabe  der  Schnitte  den  Embryograph  konstruieren  und  wandte  als  einer 
der  Ersten  auch  die  Photographie  in  ausgedehntem  Maße  für  diese  Zwecke  an. 

Vom  Jahre  1866  an  hat  H.  auf  dem  Gebiete  der  tierischen  Entwicklungs- 
geschichte eine  große  Reihe  von  Untersuchungen  ausgeführt  und  hat  außer 
dem  Hühnchen  namentlich  Knochenfische  und  Haifische  herangezogen,  um 
besonders  die  Verhältnisse  der  unbebrüteten  Keime  und  die  Vorgänge 
während  der  frühesten  Entwicklungstufen  klarzulegen.  Seine  Beobachtungen 
an  den  Keimscheiben  des  Lachses  führten  ihn  dabei  zur  Aufstellung  seiner 
Konkreszenzlehre,  nach  der  der  Rumpf  des  Embryos  durch  eine  allmählich 
von  vorn  nach  hinten  fortschreitende  axiale  Verwachsung  zweier  symme- 
trischer Hälften  des  Randwulstes  entsteht.  Diese  hochwichtige  Theorie  ist 
ähnlich  wie  die  Parablastlehre  heiß  umstritten  worden;  sie  scheint  auch  das 
Schicksal  der  letzteren  teilen  zu  sollen. 

Auf  Grund  eines  reichhaltigen  und  sorgfältig  gesichteten  Materiales, 
welches  er  nach  und  nach  gesammelt  hatte,  begann  H.  1880  die  Herausgabe 
seiner:  Anatomie  menschlicher  Embryonen,  deren  2.  und  3.  Lieferung 
1882  und  1885  folgten.  Mit  diesem  groß  angelegten  Werk,  in  welchem  zum 
ersten  Male  die  embryonale  Entwicklung  der  Körperformen  und  der  Organe 
des  Menschen  in  zusammenhängender  Weise  an  der  Hand  vorzüglicher  Ab- 
bildungen und  Modelle  dargestellt  wurden,  schuf  er  eigentlich  erst  die 
menschliche  Entwicklungsgeschichte,  von  der  bis  dahin  nur  einzelne  Kapitel 
in  wenig  ausführlicher  Form  bearbeitet  waren.  Das  Buch  ist  ein  Meisterwerk, 
sein  Wert  unvergänglich! 

Ein  besonderes  Interesse  wandte  H.  auch  stets  der  Entwicklung  der 
einzelnen  Organe  zu  und  behandelte  sie  außer  in  dem  eben  genannten 
Werke  noch  in  einer  Reihe  gesonderter  Abhandlungen.  In  allen  diesen 
Arbeiten  versuchte  er  unter  anderem  auch  die  postembryonalen  Formen  auf 
die  embryonalen  zurückzuführen  und  das  Verständnis  jener  dadurch  zu  fördern. 
Als  die  wichtigsten  sind  unter  diesen  Veröffentlichungen  wohl  diejenigen  über 
die  Entwicklung  des  Hirns  und  Nervensystems  zu  bezeichnen,  führten  sie 
ihn  doch  im  Jahre  1886  dazu,  seine  schon  mehrfach  geäußerte  Ansicht  über 
die  Histogenese  des  Nervensystems  ausführlich  zu  begründen.  Sämtliche 
Nervenzellen  und  Nervenfasern  stammen  von  dem  äußeren  Keimblatt,  dem 
Ektoderm.  Jede  Nervenfaser  geht  aus  einer  einzigen  Zelle  als  Ausläufer 
hervor  und  wächst  von  dieser  auf  kürzere  oder  längere  Strecken  aus.  »Diese 
Zelle  ist  ihr   genetisches,  ihr  nutritives  und   ihr  funktionelles   Zentrum,   alle 


240 


His. 


anderen  Verbindungen  der  Faser  sind  entweder  nur  mittelbare  oder  sie  sind 
sekundär  entstanden.«  Diese  Lehre,  die  H.  noch  in  mehreren  späteren 
Arbeiten  weiter  ausführte,  hat  für  die  Folge  große  Bedeutung  dadurch  erlangt, 
daß  sie  die  durch  Ramon  y  Cajal  u.  a.  auf  Grund  andersartiger  Untersuchungen 
über  die  Verknüpfung  der  einzelnen  Nervenelemente  gewonnenen  Anschauungen 
wesentlich  stützte.  Sie  ist  als  sogenannte  Neuronenlehre  bekannt.  Auch 
diese  Lehre  ist  heftig  angegriffen  worden,  und  der  Kampf  um  sie  tobt  heute 
heftiger  denn  je.  Die  Zukunft  wird  entscheiden,  ob  sie  zu  Recht  bestehen 
bleibt  oder  ganz  oder  teilweise  fallen  muß.  Mag  in  solchen  wissenschaft- 
lichen Fehden  auch  ein  Forscher  eine  Lieblingsidee  auf  dem  Kampfplatz 
hinsinken  sehen,  die  Wahrheit  jedenfalls  gewinnt  dabei !  Jeder  solcher  Streit 
führt  zu  einer  vertieften  Bearbeitung  eines  Gebietes  von  verschiedenen  Seiten, 
wie  sie  sonst  wohl  nur  ausnahmsweise  durchgeführt  wird.  Auch  kann  es  nie 
einem  Naturforscher  als  Makel  angehangen  werden,  wenn  nach  ihm  andere 
mit  besseren  Methoden  mehr  sehen,  als  er  sehen  konnte,  und  wenn  sie  da- 
durch seinen  Deutungen  den  Boden  entziehen. 

Zu  den  großen  Fragen  über  die  mutmaßliche  Entstehung  des  körperlichen 
und  geistigen  Lebens  hat  H.  nur  ausnahmsweise  das  Wort  ergriffen,  im 
Zusammenhang  eigentlich  nur  in  seinen  Briefen  über  »Unsere  Körperform 
und  das  physiologische  Problem  ihrer  Entstehung«,  in  denen  er  sich  über 
den  engen  Kreis  der  Fachgenossen  hinaus  an  ein  breiteres  Publikum 
wandte.  So  große  Hochachtung  er  auch  dem  »mächtigen  Geist  von 
Charles  Darwin«  zollte,  und  so  sehr  er  auch  das  allgemeine  Prinzip  von  dem 
genetischen  Zusammenhang  aller  Lebewesen  anerkennen  mußte,  so  trug  er 
doch  Bedenken,  dieser  Lehre  in  alle  Einzelheiten  zu  folgen.  Vor  allem  be- 
zweifelte er,  daß  die  morphologische  Verwandtschaft  unter  allen  Umständen 
die  genetische  beweisen  müsse.  Man  wird  sich  daher  nicht  wundern,  daß 
sich  H.  dem  Ausbau  der  Darwinschen  Lehre  durch  Haeckel,  der  in  seinem 
sogenannten  »biogenetischen  Grundgesetz«  den  Satz  von  der  kurzen  Wieder- 
holung der  Stammesentwicklung  in  der  des  Individuums  aufgestellt  hatte, 
nicht  ohne  weiteres  anschließen  konnte.  Seine  scharfe  Kritik  der  ungerecht- 
fertigten Übertreibungen  dieser  Hypothese  und  der  von  Haeckel  zur  Beweis- 
führung gegebenen  Abbildungen  führte  zu  einer  heftigen  Polemik,  die  heute 
glücklicherweise  fast  vergessen  ist. 

H.  besaß  auch  ein  großes  Interesse  für  die  Geschichte  seines  Faches, 
von  dem  der  Student  durch  die  ausführlichen  historischen  Einleitungen  zu 
den  Vorlesungen  Kenntnis  erhielt.  Außerdem  verdanken  wir  ihm  eine  Reihe 
anregender  Aufsätze  über  die  Geschichte  von  wissenschaftlichen  Problemen 
und  vom  Unterrichtswesen.  Auch  die  Gedächtnisreden  und  Nekrologe  auf 
mehrere  verstorbene  Kollegen  gehören  hierher;  sie  geben  uns  ein  getreues 
Bild  von  dem  herzlichen  Verhältnis,  welches  ihn  mit  diesen  verband,  und 
sind  alle  gekennzeichnet  durch  das  Bestreben,  von  den  Verstorbenen  ein 
objektives  Bild  zu  geben  und  der  eigenartigen  Begabung  eines  jeden  gerecht 
zu  werden. 

Von  großer  Bedeutung  für  die  anatomische  Literatur  und  für  den  ana- 
tomischen Unterricht  war  die  Anregung  von  H.,  eine  einheitliche  anatomische 
Nomenklatur  zu  schaffen,  die  an  die  Stelle  der  bisherigen,  bei  verschiedenen 
Autoren     und    Völkern    stark    differierenden    treten    sollte.      Er    hat    dieser 


His. 


241 


Arbeit,  die  mit  ihren  vielen  Korrekturen  und  Korrespondenzen  oft  herzlich 
langweilig  war,  mehrere  Jahre  lang  sehr  viel  Zeit  gewidmet  und  hat  sie  1895 
mit  Erläuterungen  versehen  herausgegeben.  Ist  diese  Nomenklatur,  bei  der 
es  sich  meistens  darum  handelte,  aus  mehreren  Ausdrücken  einen  auszu- 
wählen, wie  jedes  an  Kompromissen  reiche  Werk  auch  nicht  fehlerlos,  so 
hat  sie  sich  doch  im  wesentlichen  bewährt.  Sie  hat  bereits  ihren  Weg  ins 
Ausland  gefunden  und  hat  auch  in  der  Zoologie  und  Botanik  ähnliche  Be- 
strebungen hervorgerufen.  Für  den  Studierenden  bedeutet  sie  eine  wesent- 
liche Vereinfachung  und  wird  dies  noch  mehr  tun,  wenn  auch  alle  Lehrer 
klinischer  Fächer  sie  sich  zu  eigen  gemacht  haben  werden.  H.  brachte  das 
große  Opfer,  im  Interesse  der  Einführung  der  Nomenklatur  im  Alter  von  60 
Jahren  noch  einmal  »umzulernen« ! 

H.  war  ein  großer  Freund  wissenschaftlicher  Gesellschaften  und  versäumte 
nicht  gern  eine  Versammlung  derselben;  mit  besonderer  Liebe  gehörte  er 
der  Kgl.  Sachs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  an  und  war  mehrere  Jahre 
bis  zu  seinem  Tode  der  Sekretär  ihrer  mathematisch -physikalischen  Klasse. 
In  ihren  Schriften  hat  er  auch  eine  Reihe  seiner  Arbeiten  veröffentlicht; 
andere  erschienen  in  dem  von  ihm  fast  30  Jahre  lang,  anfangs  mit  W.  Braune 
gemeinsam,  dann  allein  geleiteten  anatomischen  Teile  des  Archivs  für  Ana- 
tomie und  Physiologie. 

Die  Lehrtätigkeit  von  H.  war  namentlich  an  der  Leipziger  Universität, 
deren  Größe  entsprechend,  eine  sehr  ausgedehnte.  Seine  Vorlesungen 
zeichneten  sich  durch  große  Klarheit  und  das  Streben  nach  Objektivität  aus. 
Dadurch,  daß  er  es  peinlich  vermied,  in  ihnen  zu  polemisieren  und  überhaupt 
die  Zuhörer  etwas  von  dem  heftigen  Streit  ahnen  zu  lassen,  der  über  einzelne 
Probleme  noch  tobte,  und  an  dem  der  Vortragende  selbst  lebhaft  beteiligt 
war,  wirkten  sie  vielleicht  manchmal  etwas  trocken,  doch  wurde  der  Student 
dafür  reichlich  entschädigt  durch  die  klaren,  mit  großer  Kunstfertigkeit  vor 
seinen  Augen  entworfenen  Zeichnungen,  in  denen  sich  H.  immer  mehr  vervoll- 
kommnete, und  die  alle  einen  eigenartigen  Charakter  trugen.  Dem  praktischen 
Unterricht  auf  dem  Präpariersaal  widmete  er  sehr  viel  Zeit.  Für  einen 
künstlerisch  veranlagten  Menschen,  wie  es  H.  zweifellos  gewesen,  war  ein 
peinlich  und  sauber  ausgearbeitetes  Präparat  auch  ein  ästhetisch  befriedigender 
Anblick,  ein  anderes  dagegen  wirkte  abstoßend;  und  so  stellte  er  auch  an 
die  Technik  seiner  Schüler  dieselben  hohen  Anforderungen,  denen  er  selbst 
genügte.  Schüler  im  engeren  Sinne  hat  H.  nur  wenige  gehabt.  Seinem 
etwas  zurückhaltenden  Wesen  nach  war  er  nicht  dafür  geeignet,  Schüler  her- 
anzuziehen und  eine  »Schule«  zu  gründen. 

H.  war  eine  einfache  Natur  bis  an  sein  Lebensende;  die  vielen  äußeren 
Erfolge  und  Ehren  konnten  nichts  daran  ändern.  Er  lebte  allein  seiner  Wissen- 
schaft als  Forscher  und  als  Lehrer.  Gleich  groß  war  sein  Interesse  für 
speziellere  und  allgemeine  Fragen,  und  in  allen  suchte  er  sich  mit  scharfem 
Verstand  zur  Klarheit  durchzuringen.  Originelle  Ideen  in  der  Methodik 
und  in  der  Betrachtungsweise,  große  Exaktheit  und  künstlerischer  Sinn  in 
der  Ausführung,  unermüdlicher  Fleiß  im  Sammeln  des  Materials  und  in  der 
Ausarbeitung  waren  ihm  Helfer  bei  seinem  Werk.  Genaue  Beobachtung 
charakterisiert  seine  wissenschaftliche  Arbeit. 

H.   war  eine  große,    starke   Natur!     Daß   er  aber  noch   mehr  war,   dafür 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.    9.  Bd.  16 


242 


His.     Lorenz. 


legen  am  besten  Zeugnis  ab  seine  »Lebenserinnerungen«  (1831-  -1857,  als  Manu- 
skript gedruckt),  in  denen  er  »der  Familie  und  den  Freunden«  nicht  nur 
interessante  Bilder  aus  seiner  frühen  Jugend  vorführt,  sowie  über  seine  wissen- 
schaftlichen Lehrjahre  und  über  sein  Leben  berichtet,  sondern  in  denen  er 
auch  einen  Einblick  in  seine  Entwicklung  als  Mensch  tun  läßt  und  sein 
tiefes  Gemüt  offenbart. 

Literatur:  Rud.  Burckhardt.  Zum  70.  Geburtstage  von  W.  His.  Korrespondenz- 
blatt f.  Schweizer  Ärzte  1901  Nr.  13.  —  W.  Spalteholz.  Zum  70jährigen  Geburtstag  von 
W.  His.  Münchener  medizinische  Wochenschr.  1901  Nr.  28.  —  Lebenserinnerungen  von 
Wilhelm  His.  Als  Manuskript  gedruckt.  Leipzig,  Dezember  1903.  —  Femer  Nekrologe  von 
Dixon  {Journal  of  Anaiomy  and  Physiology^  Vol.  38,  1904)  —  R.  Fick  (Anatom.  Anzeiger, 
25.  Bd.  1904)  —  H.  Held  (Berliner  klinische  Wochenschr.  1904,  Nr.  25)  —  Rollmann, 
(Verhandlungen  d.  naturforschenden  Gesellsch.  in  Basel.  Bd.  15.  Heft  3)  —  Mall, 
(American  Journal  of  Anatomy.  Vol.  IV.  Nr.  2.  1905)  —  Marchand  (Berichte  d.  math.- 
phys.  Klasse  d.  Königl.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  v.  14.  Nov.  1904)  —  Nicolas  {BibliografhU 
anatomique,  T.  XIII.  fasc.  3)  —  Rawitz  (Naturwissenschaft!.  Rundschau  1904,  Nr.  24)  — 
W.  Spalteholz  (Illustrierte  Zeitung  Nr.  3176,  12.  Mai  1904  und  Mttnchener  medizin. 
Wochenschr.  1904,  Nr.  22)  —  Stirling  {Tht  I^neet,  May  21,  1904)  —  Waldcyer 
(Deutsche  medizin.  Wochenschr.   1904,  Nr.  39 — 41). 

Werner  Spalteholz  (Leipzig). 

Lorenz,  Ottokar,  Historiker,  *  17.  September  1832  in  Iglau,  t  i3-  Mai  1904 
in  Jena.  —  Ein  deutscher  Gelehrter,  den  wir  unbedenklich  zu  den  geistvollsten 
Geschichtschreibern,  zu  den  »historischen  Denkern«,  wie  er  selbst  es  nannte, 
zählen  dürfen.  Ottokar  Lorenz  war  ein  Österreicher.  Er  war  in  Iglau  zur 
Welt  gekommen,  hat  dann  über  ein  Viertel] ahrhundert  in  Wien  als  Lehrer 
und  Forscher  gewirkt,  um  erst  in  späteren  Lebensjahren  nach  der  thüringi- 
schen Musenstadt  zu  übersiedeln,  wo  er,  nach  weiteren  zwei  Dezennien  frucht- 
bringender wissenschaftlicher  Tätigkeit,  einem  ihn  lange  quälenden  Leiden 
erlag. 

L.s  geistige  Entwicklung  war  die  eines  durchaus  selbständigen  Kopfes. 
Er  war,  so  wie  Ranke  und  Mommsen,  für  die  ihn  immer  hohe  Verehrung 
erfüllte  und  mit  denen  ihn  lange  Zeit  die  freundlichsten  Beziehungen  ver- 
knüpften, kein  Fachschüler  gewesen,  hatte  sich  nicht  nach  den  Winken  eines 
Meisters  gebildet,  sondern  sich  seinen  Weg  allein  gesucht.  Seinen  Lehrern 
der  Geschichte  an  der  Wiener  Universität,  Aschbach  und  Jäger,  brachte  er 
zwar  die  verdiente  Achtung  entgegen,  Dankbarkeit  aber  für  tiefer  gehende 
Anregung  zollte  er  anderen  Männern:  namentlich  dem  Philologen  Bonitz,  der 
in  den  fünfziger  und  sechziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Wien  lehrte, 
und  dem  Herbartianer  Lott,  dessen  Tochter  Marie  L.  später  zur  Frau 
nehmen  sollte.  Jenem  las  er  seine  ersten  kleinen  Werke  vor  und  nahm  von 
ihm  manchen  guten  Wink  entgegen,  namentlich  wenn  ihn  sein  rasches  Tem- 
perament in  der  Polemik  nach  allzu  scharfen  Waffen  greifen  ließ;  dem  zweiten 
widmete  er  sein  Buch  über  die  »Deutsche  Geschichte  im  XIIL  und  XIV.  Jahr- 
hundert« als  ein  Zeichen  der  Erkenntlichkeit  für  viel  im  Gespräch  empfangene 
Unterweisung.  Und  doch  hat  er  sich  weder  von  dem  einen  für  die  Philologie 
noch  von  dem  andern  für  die  Weltweisheit  als  Berufsstudium  gewinnen  lassen, 
sondern  sich,  einer  starken  Neigung  folgend,  für  die  Geschichte  entschieden, 
an  der  sich  gerade  damals  auch  bei  den  österreichischen  Regierungsbehörden 


Lorenz. 


243 


ein  lebhafterer  Anteil  kundgab.  Um  die  Mitte  der  fünfziger  Jahre  wurde 
das  »Institut  für  österreichische  Geschichtsforschung«  gegründet,  und  Lorenz 
war  vom  Herbst  1855  bis  in  den  September  1856  unter  dessen  ersten  Mit- 
gliedern. Während  dieses  Jahres  hatte  es  seine  Bemühung  erreicht,  daß 
Theodor  Sickel,  der  sich  damals  archivalischer  Studien  halber  in  Wien  auf- 
hielt, ein  Privatissimum  über  Paläographie  an  der  neuen  Anstalt  las  und  mit 
so  schönem  Erfolge,  daß  es  der  Unterrichts  Verwaltung  wünschenswert  erschien, 
den  jungen  Gelehrten  dauernd  an  Wien  zu  fesseln.  Der  Dienst,  den  L.  der 
historischen  Forschung  in  Österreich  erwies,  indem  er  durch  seine  Anregung 
die  Gewinnung  Sickels  ermöglichte,  soll  ihm  unvergessen  bleiben. 

Als  er  das  Institut  verließ  —  er  hatte  1855  bereits  eine  Studie  über  das 
Konsulartribunat  veröffentlicht  — ,  war  er  entschlossen,  sich  historischen  Stoffen 
aus  der  mittleren  Zeit,  die  mit  der  österreichischen  Geschichte  zusammen- 
hingen, zuzuwenden.  Nach  einer  Studie  über  »Die  siebente  Kurstimme  bei 
Rudolfs  I.  Königswahl«  veröffentlichte  er  weitere  über  Ottokar  IL,  über  die 
Sempacher  Schlachtlieder  u.  m.  a.,  bis  1863  der  erste  Band  der  »Deutschen 
Geschichte«  erschien,  dem  drei  Jahre  später  ein  zweiter  folgte,  der  die  Er- 
zählung bis  ins  Jahr  1293  führte.  Obgleich  nur  ein  Rumpf,  in  manchen 
Einzelheiten  schon  damals  bestritten,  heute  überholt,  war  das  Werk  dennoch 
für  jene  Zeit  eine  überaus  wertvolle  Leistung«;  durch  seinen  Reichtum  an  geist- 
vollen Aus-  und  Überblicken  gewährt  es  auch  jetzt  noch  viel  Genuß.  Der 
Beginn  des  5.  Kapitels  im  zweiten  Bande  z.  B.  über  die  Verschiedenheit  des 
deutschen  Ostens  und  Westens  wird  stets  zu  dem  Besten  gehören,  das  je  an 
knapper  und  doch  dabei  die  größten  historischen  Verhältnisse  im  Grunde 
berührender  Darstellung  geleistet  wurde.  Was  das  Verdienst  des  Autors 
besonders  hoch  stellte,  war,  daß  er  damit  ein  Feld  bebaute,  das  dazumal, 
wenn  man  von  Kopps  und  Böhmers  hilfreichen  Leistungen  absah,  von  der 
Geschichtschreibung  noch  wenig  beachtet  worden  war  und  wo  die  wichtig- 
sten Quellen  noch  unaufgeschlossen  lagen.  War  doch  auch  das  ganze  große 
Gebiet  des  wirtschaftlichen  Lebens  vor  L.  fast  noch  gar  nicht  in  Betracht 
gezogen  worden.  Der  angesehene  Platz,  den  wir  ihn  seitdem  unter  den  Histo- 
rikern der  Nation  einnehmen  sehen,  und  die  Achtung,  die  ihm  gerade  die 
Besten  unter  ihnen  entgegenbrachten,  waren  daher  wohl  erworben.  Was  sich 
der  Fortsetzung  des  Werkes  hindernd  in  den  Weg  stellte,  war  einmal  der  — 
übrigens  heute  noch  fühlbare  —  Mangel  an  guten  Editionen  der  Quellen  des 
XIV.  Jahrhunderts  und  nicht  minder  der  eines  zureichenden  Wegweisers  zu 
ihnen,  da  Wattenbachs  klassisches  Buch  über  Deutschlands  Geschichtsquellen 
nur  bis  in  die  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts  führte.  Da  faßte  denn  L.  den 
Plan,  zunächst  diese  Lücke  auszufüllen,  der  Fortsetzer  Wattenbachs  zu  werden. 
Obgleich  er  ehedem  in  einem  Exkurs  zu  einem  Aufsatz  über  »Leopold  III. 
und  die  Schweizer  Bünde«  sich  durchaus  der  Ansicht  Kopps  vom  Vorzug  der 
urkundlichen  vor  den  chronistischen  Denkmälern  angeschlossen  hatte,  fand 
er  später  doch,  durch  Rankes  Urteile  belehrt,  daß  die  Erzählung  des  einzel- 
nen, der  die  empfangenen  Eindrücke  seiner  Zeit  mit  Empfindung  wiedergibt, 
nicht  zu  entraten  und  keineswegs  zu  tief  zu  stellen  sei,  und  so  entstanden 
die  zwei  Bände  »Deutschlands  Geschichtsquellen  seit  der  Mitte  des  XIII.  Jahr- 
hunderts« in  der  von  Wattenbach  gefundenen  Form  und  Ordnung.  Allerdings 
hatte  L.  dabei,  was  Jenem  vielfach  erspart  worden  war,  in  den  meisten  Fällen 

i6* 


244 


Lorenz. 


die  ganze  kritische  Arbeit  allein  zu  leisten.  War  es  im  Unmut  darüber,  wenn 
er  in  der  Vorrede  zur  dritten  Auflage  einen  mit  Grund  vorgebrachten  Ein- 
wand gegen  gewisse  Ausartungen  einer  gedankenlosen  Geschäftigkeit  im 
Editionswesen  sehr  scharf,  und  dadurch,  daß  er  ihn  generalisierte,  geradezu 
verletzend  zum  Ausdruck  brachte,  so  daß  ihm  auch  mancher  Freund  darin 
nicht  beipflichten  konnte? 

Das  Jahr  1885,  in  welchem  die  dritte  Auflage  erschien,  war  freilich  eins 
voll  Aufregungen  für  das  an  sich  leicht  erregbare  Wesen  des  im  Grunde  gut 
und  gütig  gearteten  Gelehrten:  es  brachte  sein  Scheiden  von  Wien  mit  sich. 
Hier,  wo  er  sich  1856  habilitiert  hatte,  war  er  1860  zum  außerordentlichen 
und  schon  im  Jahre  darauf,  nachdem  er  einen  Ruf  nach  Freiburg  aus- 
geschlagen, zum  ordentlichen  Professor  ernannt  worden.  Nebenbei  hatte  er 
1857,  als  Zögling  des  »Instituts«,  am  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchiv  eine  Stelle 
erhalten.  Diese  war  ihm  dann  allerdings  schon  1866,  infolge  eines  Preßprozesses, 
wieder  verloren  gegangen.  Denn  L.  hatte  es  über  seinem  gelehrten  Wirken 
nicht  versäumt,  den  Geschehnissen  des  Tages  mit  hohem  Interesse  zu  folgen 
und  namentlich  in  staatskirchenrechtlichen  und  in  ünterrichtsfragen  im  Sinne 
einer  fortgeschrittenen  Überzeugung  mit  seinem  Urteil  hervorzutreten.  (Derlei 
Arbeiten  über  »Kaiser  Friedrich  II.  und  sein  Verhältnis  zur  römischen  Kirche«^, 
»Kirchenfreiheit  und  Bischofswahlen«,  »Die  Jesuiten  und  die  Gründung  der 
österreichischen  Staatsschule«,  »Über  Papstwahl  und  Kaisertum«  sind  später 
mit  anderen  Abhandlungen  in  »Drei  Büchern  Geschichte  und  Politik«,  fSyö, 
gesammelt  erschienen,  »Papstwahl  und  Kaisertum«  erweitert  als  Buch.)  Diese 
seine  Haltung  war  für  ihn  zur  Zeit,  da  Schmerling  die  Regierung  führte,  ohne 
Nachteil  gewesen;  hatte  dieser  selbst  ihn  doch  in  seinem  Kampfe  mit  Deäk 
zu  publizistischer  Tätigkeit  angeregt,  unter  deren  Früchten  eine  Schrift 
»Gegen  Deäks  Adreßentwurf«  (1861)  noch  heute  lesenswert  ist.  Als  dann 
aber  die  junge  Verfassung  sistiert  wurde  und  eine  rückläufige  Bewegung  ein- 
trat, genügte  L.s  Hinweis  auf  Karl  X.  in  einem  Artikel  der  »Presse«,  um  ihn 
mit  den  Gerichten  zu  bedrohen,  ihn  jedenfalls  aber  seine  Stelle  am  Archiv 
einbüßen  zu  lassen.  Den  Studenten  freilich  war  er  durch  solch  freisinniges 
Wesen,  das  sich  auch  in  seinen  Vorlesungen  zum  Ausdruck  brachte,  nur 
sympathischer  geworden,  was  namentlich  bei  seiner  Wahl  zum  Rektor,  1880, 
deutlich  kund  wurde.  Aber  schon  wenige  Jahre  später  sollte  ein  einziges  Vor- 
kommnis ihm  diese  Gunst  entfremden.  1885  hatte  sich  der  damalige  Rektor, 
Maaßen,  im  niederösterreichischen  Landtag  in  einer  Frage  des  nationalen 
Konfliktes  nicht  so  geäußert,  wie  es  die  deutschen  Studierenden  von  ihrem 
akademischen  Oberhaupte  erwartet  haben  mochten,  und  Maaßen  wurde  von 
ihnen  hart  bedrängt.  Als  da  nun  L.,  gestützt  auf  seine  persönliche  Beliebt- 
heit, für  den  Angegriffenen  und  seine  Würde  eine  scharfe  Lanze  einlegte, 
wandte  sich  der  Unmut  der  Kommilitonen  in  offenem  Aufruhr  gegen  ihn. 
FAn  Konflikt  mit  mehreren  Kollegen  und  dem  neuen  Rektor  trat  dazu  und 
verleidete  ihm  den  weiteren  Aufenthalt  in  Österreich.  Der  ihm  persönlich 
befreundete  Herzog  Ernst  von  Coburg,  mit  dessen  Denkwürdigkeiten  er  sich 
schon  seit  Jahren  beschäftigte,  war  einer  der  Kuratoren  der  Jenenser  Uni- 
versität; er  verschaffte  ihm  die  Berufung  an  diese  Hochschule,  und  noch  im 
selben  Jahre  machte  sich  L.  in  Jena  seßhaft.  Er  war  damit  —  so  tief  hatte 
das  letzte  Erlebnis  auf  ihn  eingewirkt  —  auch  innerlich  verändert;  aus  dem 


Lorenz. 


245 


freigesinnten  Manne  war  ein  Konservativer  geworden,  mit  Anschauungen,  die 
jeden  überraschen  mußten,  der  ihn  ehedem  gekannt  hatte. 

Hier  in  Jena  war  es  nun   nicht  mehr  die  Geschichte  der  mittleren  Jahr- 
hunderte, die  seine  Arbeiten  fesselte.     Er  hatte  sich  schon  in  Wien   wieder- 
holt mit  Themen  neuerer  Zeit  befaßt  —  namentlich  eine  Arbeit  über  »Joseph  II. 
und  die  belgische  Revolution«   an   der  Hand  Murrayscher  Papiere,  und  eine 
andere  über  »Wallenstein«  hatten  Aufmerksamkeit  erregt  — ,  jetzt  beschäftigte 
ihn  vorzugsweise  die  Geschichte  neuester  Jahrzehnte,  und  ein  Reihe  von  Auf- 
sätzen   über  »Staatsmänner  und  Geschichtschreiber  des   XIX.   Jahrhunderts«, 
unter  denen  sich  insbesondere  eine  Studie  über  Metternich  dauernde  Geltung 
erworben  hat,  konnte  bald  in  einem  stattlichen  Bande  gesammelt  erscheinen. 
Vorher  schon,  in  den  Jahren  1887  bis  1889,  waren  Herzog  Krnsts  Memoiren 
publiziert  worden,  deren  Redaktion  L.  übernommen  hatte.    Daneben  gewann 
bei   diesem  das   Interesse  an  Fragen   der  Historik  eine  besondere  Intensität. 
Er  hatte  schon  lange  zuvor,  in  Karl  Tomascheks  »Schillerbuch«,  ein  Kapitel 
über  »Schiller  als  Historiker«  verfaßt,   dann   war  eine  Arbeit  über  Schlosser 
entstanden,   dann   ein    abwehrender  Aufsatz    gegen   Du   Bois-Reymonds   Idee 
einer  naturwissenschaftlichen  Geschichtschreibung  in   der  »Historischen  Zeit- 
schrift«,   dann   die   Rektoratsrede   über   »Die   Politik    als  historische  Wissen- 
schaft« —  alles  noch  in  Wien.     Jetzt  nahm  er  diese  grundsätzlichen  Fragen 
aufs  neue  vor,   zunächst  das   Gebiet  der  Geschichte   unter  vorwiegender  Be- 
tonung   des  staatlichen   Momentes  begrenzend,   die    zeitliche  Einteilung  des 
historischen  Stoffes  unter  neuen  Gesichtspunkten  untersuchend.     Nachdem  er, 
mit  Recht,  die  heute  geltende  Periodisierung  nach  Altertum,  Mittelalter  und 
Neuzeit  als  unwissenschaftlich  verworfen  hatte,  drängte  sich  ihm  der  Gedanke 
auf,  ob  nicht  in  anderen  »natürlichen«  Perioden  die  Ideen,  in  denen  er  mit 
Ranke    das    treibende   Element    der   Menschengeschichte   erkannte,    in    ihrer 
Wirksamkeit  nachgewiesen  werden  könnten.    Er  kam,  von  dem  Beispiel  seines 
Freundes  Wilhelm  Scherer,  der  die  deutsche  Literaturgeschichte  in  Abschnitte 
von  dreihundert  Jahren  eingeteilt  hatte,  und  von  einem  gelegentlichen  Worte 
Rankes  angeregt,  dazu,  in  der  Generation  und  in  deren  Verdreifachung,  d.  i. 
im  Jahrhundert,   diese  Maßstäbe   zu   finden,    denn   »die  Ideen  hängen   quali- 
tativ   an    den    einzelnen    Menschen    und    an    ganzen    Generationen«.      Diese 
Studien,    die    1886   unter   dem    Gesamttitel     »Die    Geschichtswissenschaft   in 
Hauptrichtungen  und  Aufgaben«  erschienen,  führten  ihn  dazu,  der  Genealogie 
ein  besonderes  Aufmerken   zu   widmen   und   sich   eingehender  mit   dem  Pro- 
blem der  Vererbung  zu  befassen,   namentlich   nachdem    ich   ihn   gelegentlich 
eines   Besuches  in   Jena  auf   Ribots    y>VhMdite<^    aufmerksam   gemacht  hatte, 
worin  er  einige  seiner  eigenen  Behauptungen  wiederfand.    Nun  entstand  das 
Buch  »Leopold  von  Ranke,  die  Generationenlehre   und   der  Geschieh tsunter- 
richt^<     (1891),     dann     das      »Genealogische     Handbuch     der     europäischen 
Staatengeschichte«,     das     in     der     zweiten     Auflage     (1895)     ein     nützlicher 
Behelf    geworden    ist,    endlich    das    »Lehrbuch    der    gesamten    wissenschaft- 
lichen Genealogie«  (1898).     Diese  Werke  zur  Historik  haben  manchen  Wider- 
spruch erfahren,    wenn    sie   gleich   viel  Beachtenswertes   enthielten;   sie   sind 
von  der  großen  Kontroverse  über  die  historische  Geltung  von  Persönlichkeit 
und   Masse   wohl    auch    nur   vorübergehend   in    den    Hintergrund    geschoben 
worden. 


246  Lorenz.     Waetzoldt. 

Inzwischen  war  das  Interesse  weiter  Kreise  durch  einige  hervorragende 
historiographische  Leistungen  auf  die  Vorgänge  der  sechziger  Jahre  des 
XIX.  Jahrhunderts  und  die  Vorgeschichte  des  deutsch-französischen  Krieges 
gelenkt  worden.  Hier  konnte  auch  L.  ein  Wort  mitreden,  und  er  tat  es. 
Seine  Beziehungen  zu  Herzog  Ernst  und  dessen  Gemahlin,  der  Schwester  des 
Großherzogs  von  Baden,  hatten  ihm  mancherlei  Quellen  aus  fürstlichen  Haus- 
archiven zugänglich  gemacht,  die  ihm  jene  Zeit  in  einem  anderen  Licht  er- 
scheinen ließen,  als  man  sie  anzusehen  sich  gewöhnt  hatte.  Er  verwertete 
sie  in  einem  Werke  über  »Kaiser  Wilhelm  und  die  Begründung  des  Reiches, 
1866 — 187 1«  (1902).  Es  war  das  letzte  umfängliche  Buch,  das  er,  bereits 
von  körperlichen  Leiden  geplagt  und  auf  die  Mithilfe  anderer  angewiesen, 
verfaßt  hat.  Es  lief  in  seinen  Ergebnissen  darauf  hinaus,  daß  sein  Verfasser 
den  Anteil  Bismarcks  an  der  Reichsgründung  zugunsten  desjenigen  der 
deutschen  Fürsten  einigermaßen  einschränken  zu  sollen  glaubte.  Das  war 
nun  freilich  der  herkömmlichen  Meinung  stark  entgegen.  Aber  gerade  dazu, 
sich  dem  Herkommen  kritisch  zu  widersetzen,  hat  L.  stets  eine  große  Neigung 
und  einen  nicht  geringen  Mut  besessen.  Hier  traf  er  auf  kräftigen  Wider- 
stand, den  er  noch  durch  eine  letzte  Schrift  »Gegen  Bismarcks  Verkleinercr- 
(1903)  zu  bekämpfen  strebte.  Völlig  unbefangene  Kritik  wird  jenem  Buche 
die  Anerkennung  nicht  versagen  dürfen,  daß  es  —  namentlich  in  den  Noten 
—  ein  reiches  Material  enthält  und  daß  an  ihm  kein  Darsteller  dieser  Dinge 
wird  vorbeigehen  dürfen.  Im  übrigen  aber  zeigt  es,  wie  die  Schrift  über 
Joseph  II.  aus  seiner  frühesten  Zeit  und  eine  spätere  über  »Goethes  politische 
Lehrjahre«  (1893),  einen  überaus  lebendigen,  expansiven  Geist,  der  sich  hie 
und  da  von  seinen  Quellen  über  jene  Grenze  hinaus  verlocken  läßt,  die  ein 
bedächtigerer  Forscher  nicht  überschreiten  würde.  Kann  man  diesen  Vor- 
wurf nicht  unterdrücken,  so  wird  man  anderseits  doch  wieder  zugeben 
müssen,  daß  gerade  solche  temperamentvolle  Behandlung  historischer  Stoffe, 
verbunden  mit  einer  ansprechenden,  an  klassischen  Mustern  gebildeten  Dar- 
stellungsweise, anregend  wirkte,  viel  geistiges  Gut  in  dauernde  Sicherheit 
brachte  und,  vielleicht  gerade  durch  den  Widerspruch,  den  sie  entgegentrug 
oder  hervorrief,  der  Wissenschaft  manche  Förderung  zuteil  werden  ließ. 

In  Österreich,  wo  L.  eine  ganze  »Generation«  von  Geschichtslehreni 
heranbilden  half,  besaß  er  viele  warme  Anhänger,  die  noch  heute  sein  An- 
denken ehren.  Wer  ihm  aber  als  Freund  näher  getreten  war  und  einen 
tieferen  Blick  in  diese  volle  Hingebung  an  die  Sache  des  Lebensberufs,  in 
diese  edle,  aus  allen  Wissensgebieten  geschöpfte  Bildung,  in  dieses,  trotz  der 
streitbaren  Außenseite,  innige  Gemüt  tun  durfte,  der  wird  sich  der  Erinne- 
rung an  ihn,  wenn  er  ihn  auch  in  dem  einen  und  anderen  etwas  anders  ge- 
wünscht hätte,  wie  eines  reichen  Besitzes  freuen,  den  er  um  alles  nicht  missen 
möchte. 

Durchgesehener  S.-A.  aus  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Geschichi>- 
forschung  XXVI.  Band.  August  Fournier. 

Waetzoldt,  Christian  Stephan,  Geheimer  Oberregierungsrat  und  vor- 
tragender Rat  im  preußischen  Kultusministerium,  ♦  3.  Juni  1849  ^^^  Sohn 
des  Pfarrers  Gustav  Adolf  Waetzoldt  zu  Hennersdorf  in  Schlesien,  f  r.  Juni 
1904  in  Berlin.  —  W.   genoß  zuerst  den  Unterricht  seines  Vaters,    trat  1865 


Waetzoldt. 


247 


in  die  Sekunda  des  Gymnasiums  zu  Bunzlau  ein,  besuchte  dann  das  Gymnasium 
in  Breslau  und  schließlich  das  Berliner  Wilhelmsgymnasium,  das  er  1869 
mit  dem  Zeugnis  der  Reife  verließ,  um  germanische  Philologie  zu  studieren. 
Der  mehrfache  Schulwechsel  war  durch  die  Laufbahn  des  Vaters  bedingt, 
der  das  geistliche  Amt  mit  dem  Schuldienst  vertauschte,  Seminardirektor  in 
Bunzlau,  Regienmgs-  und  Schulrat  in  Breslau  und  1868  vortragender  Rat  im 
preußischen  Kultusministerium  wurde.  Während  seines  ersten  Semesters  blieb 
W.  in  Berlin,  dann  ging  er  nach  Marburg,  doch  nicht  zu  langem  Verweilen. 
Der  deutsch-französische  Krieg  brach  aus  — 

„Die  Männer  fassen  an  die  blanke  Wehre; 

Da  sollten  wir  im  Bücherstaub  erschlaffen 

Und,  müßig  selbst,  der  Starken  Werk  begaffen, 

Im  Arm  die  Kraft  —  und  fem  dem  deutschen  Heere  ?*^ 

Als  Freiwilliger  bei  den  elften  ^  Jägern  nahm  er  am  Kampfe  gegen 
Frankreich  teil  und  kehrte  erst  nach  Beendigung  des  Feldzuges  zu  seinen 
Studien  und  zwar  nach  Berlin  zurück. 

„Nun  kommt,  ihr  alten  Freunde, 
Herr  Wolfram,  tritt  herfür, 
Du,  tugendreicher  Walther, 
Beut  deine  Lieder  mirl" 

Neben  der  deutschen  wandte  sich  W.  in  den  folgenden  drei  Semestern 
besonders  auch  der  romanischen  Philologie  und  vor  allem  dem  Studium  des 
Französischen  zu,  für  das  er  während  seines  Aufenthalts  in  Frankreich  leben- 
digstes Interesse  gewonnen  hatte.  Tobler  und  Herrig  wurden  seine  Lehrer. 
In  der  festen  Überzeugung  jedoch,  daß  man  das  Beste  und  Letzte  einer 
fremden  Sprache  nur  in  dem  betreffenden  Lande  erwerben  könne,  zog  er  im 
September  1872  aufs  neue  nach  Paris,  wo  er  bis  zum  November  1873  als 
Hauslehrer  und  Journalist  tätig  war  und  französisches  Leben  und  Wesen  von 
Grund  aus  studierte  und  kennen  lernte.  In  der  Beherrschung  der  Sprache 
erreichte  er  die  höchste  für  einen  Nichtfranzosen  überhaupt  mögliche  Voll- 
kommenheit. Nach  Deutschland  zurückgekehrt  promovierte  er  am  9.  Januar 
1875  in  Halle  zum  Dr.  phiL  Seine  Dissertation  behandelte  die  »Pariser 
Tagezeiten«,  ein  mittelhochdeutsches  Reimwerk  von  4062  Versen,  das  er  in 
der  Bibliotheque  nationale  entdeckt  und  abgeschrieben  hatte.  Eine  vollständige 
Ausgabe  der  Dichtung  ließ  er  im  Jahre  1880  erscheinen,  in  dem  er  auch  die 
»Niederdeutschen  Denkmäler«  durch  eine  Ausgabe  von  -»Flos  unde  Blankßos« 
bereicherte. 

Bald  nach  seiner  Promotion  wurde  W.  Erzieher  des  Herzogs  Georg 
Ludwig  von  Oldenburg,  den  er  auf  Schloß  Schaumburg  unterrichtete,  auf 
größeren  Reisen  durch  die  Schweiz  und  Oberitalien  und  schließlich  auch 
zur  Leitung  seiner  Studien  auf  die  Universität  Bonn  begleitete  —  glückliche 
Jahre,  die  dem  jungen  Gelehrten  eine  Fülle  von  Anregungen  und  in  der 
rheinischen  Musenstadt  manche  Stunde  frischen,  fröhlichen  Erlebens  brachten. 
Das  Jahr  1878  führte  W.  nach  Hamburg.  Er  wurde  als  Oberlehrer  an  der 
Klosterschule  zu  St.  Johannis  angestellt  und  hatte  hauptsächlich  an  dem 
Lehrerinnenseminar  dieser  Anstalt  zu  unterrichten.  Auch  die  Hamburger 
Zeit  gestaltete  sich  für  ihn  zu  einer  an  edelstem  Gehalt  überaus  reichen  und 
bedeutenden..  Die  besten  Kreise  erschlossen  sich  ihm.    Er  empfing  viel,  denn 


248  Waetzoldt. 

er  hatte  viel  zu  geben.  Und  nicht  anders  war  es  in  Berlin,  wohin  er  1886 
als  Direktor  der  Elisabethschule  übersiedelte.  Die  Jahre  seines  Direktorats 
zählen  zu  den  erfolgreichsten  des  berühmten  Instituts.  Das  Schulamt  allein 
aber  genügte  seiner  Arbeitskraft  und  Arbeitsfreudigkeit  bei  weitem  nicht. 
Er  war  gleichzeitig,  um  nur  einiges  zu  nennen,  Mitglied  verschiedener 
Prüfungskommissionen,  Dozent  an  der  Kriegsakademie  und  Mitherausgeber 
von  »Herrigs  Archiv«.  Dazu  kam  noch  eine  außerordentliche  Professur  für 
französische  Sprache  und  die  Mitdirektion  des  romanischen  Seminars  an  der 
Berliner  Universität.  Alle  diese  Aufgaben  bewältigte  W.  mit  unvergleich- 
licher Frische  und  Energie,  dabei  mit  einer  das  Kleinste  beachtenden 
Gewissenhaftigkeit  und  Treue,  die  sich  nie  genug  tun  konnte.  Immer  weiter 
dehnte  sich  der  Kreis  seines  Wirkens,  immer  größer  wurde  die  Zahl  derer, 
die  ihm  unverlierbaren  geistigen  Besitz  zu  danken  hatten.  Eine  bedeutungs- 
volle Unterbrechung  erfuhr  seine  Berliner  Tätigkeit  im  Jahre  1893.  Er  wurde 
zum  Generalkommissar  der  deutschen  Unterrichtsausstellung  in  Chicago  er- 
nannt, eine  schwierige  Mission,  die  er  aber  mit  bewundernswertem  Geschick 
in  jeder  Beziehung  erfolgreich  zu  Ende  führte.  Neun  Monate,  vom  März  bis 
zum  November,  weilte  er  in  Amerika,  dessen  Unterrichtsverhältnisse  er 
gleichzeitig  aufs  eingehendste  studierte.  Zurückgekehrt  aus  »weiter  Welt  und 
breitem  Leben«  sollte  er  sich  nicht  mehr  lange  der  Ruhe  seines  Berliner 
Heims  erfreuen.  Vom  Kultusministerium  für  die  Verwaltungslaufbahn  in 
Aussicht  genommen,  wurde  er  1894  als  Regierungs-  und  Schulrat  nach 
Magdeburg  und  1897  als  Provinzialschulrat  in  seine  Heimatprovinz  Schlesien 
nach  Breslau  berufen.  Magdeburg  und  Breslau  dienten  natürlich  nur  als 
Vorbereitung  auf  das  eigentliche  Ziel,  das  W.  im  Jahre  1899  mit  seiner  Er- 
nennung zum  Geheimen  Regierungsrat  und  vortragenden  Rat  im  Ministerium 
der  geistlichen,  Unterrichts-  und  Medizinal-Angelegenheiten  erreichte.  1902 
wurde  er  zum  Geheimen  Oberregierungsrat  befördert.  W^  übernahm  im 
Ministerium  das  Dezernat  für  das  höhere  Mädchenschulwesen,  bald  übertrug 
man  ihm  noch  das  Blinden-  und  Taubstummenwesen  und  außerdem  im  Jahre 
1902  das  Direktorat  der  Turnlehrcrbildungsanstalt  in  Berlin. 

Die  fünf  Jahre  seiner  Verwaltungstätigkeit  im  Kultusministerium  be- 
deuten einen  der  glänzendsten  Abschnitte  in  der  Geschichte  des  von  ihm 
vertretenen  Ressorts.  »In  der  Geschichte  der  deutschen  Bildung  hat  er  sich 
eine  dauernde  Stellung  erworben,  indem  er  der  wissenschaftlichen  Frauen- 
bildung ihren  Platz  im  preußischen  Unterrichtswesen  eroberte«.  Seine  außer- 
ordentlichen Verdienste  um  das  höhere  Mädchenschulwesen  sind  vonWychgram 
ausführlich  und  sachkundig  gewürdigt  worden.  »Eine  organische  Neugestal- 
tung des  ganzen  höheren  Mädchenschulwesens  war  W.s  Ziel«,  eine  Riesen- 
aufgabe, deren  Schwierigkeiten  niemand  klarer  erkannte,  als  er  selbst. 
Dennoch  nahm  er  mutig  und  fest  das  Werk  in  Angriff  und  gönnte  sich  nicht 
Ruhe  noch  Rast,  das  hohe  Ziel,  welches  ihm  vorschwebte,  zu  erreichen.  V^-o 
lange  Verwirrung  geherrscht  hatte,  schuf  er  Klarheit,  mit  kluger  Mäßigung 
und  feinem  Takt  bahnte  er  die  Neuerungen  an,  die  ihm  unerläßlich  erschienen, 
wo  Hindernisse  entgegenstanden,  scheute  er  selbst  schwere  Kämpfe  nicht, 
sie  zu  beseitigen.  Wie  einen  neuen  Lebensstrom  spürte  man  sein  Wirken, 
wie  ein  Befreier  erschien  er  allen.  Durch  ihn  erst  wurde  der  tote  Buch- 
stabe   der   Verfügungen    und    Erlasse    lebendig.     In    den   Prüfungen,    die    er 


Waetzoldt. 


249 


leitete  und  die  er  durch  seine  Teilnahme  mit  einem  Schlage  auf  eine  höhere 
Stufe  weit  über  das  Gewöhnliche  hinaushob,  zeigte  er  dann  praktisch,  worauf 
es  ihm  ankam,  nicht  auf  Gedächtnisparaden  und  geistlosen  Wissenskram, 
sondern  einzig  darauf,  die  Lehrerinnen  zu  Persönlichkeiten  heranzubilden  und 
sie  zu  jenem  Unterrichten  zu  befähigen,  das  lebendiges  Ausströmen  der  Per- 
sönlichkeit und  allein  imstande  ist,  junge  Menschenseelen  auf  den  Pfad 
wahrer  und  echter  Bildung  zu  leiten.  Nur  die  Anfänge  seines  großen 
Reformwerkes  durfte  W.  erleben.  Aber  schon  in  diesen  Anfängen  steckt  soviel 
Gutes  und  Gesundes,  daß  sie  eine  glückliche  Entwicklung  des  Ganzen  ver- 
bürgen, wenn  man  nur  die  von  ihm  gewiesenen  Wege  nicht  wieder  verläßt, 
sondern  auf  dem  Grunde  weiterbaut,  den  er  gelegt  hat.  Einen  besseren  kann 
es  nicht  geben. 

Trotz  der  übergroßen  Last  von  Amtspflichten,   die  auf  seinen  Schultern 
ruhte,  fand  W.  dank  seiner  ungeheuren  Leistungsfähigkeit  doch  immer  noch 
Muße,    sich    auch    schriftstellerisch    zu    betätigen.     In    zahlreichen    kleineren 
Aufsätzen    und    Vorträgen    behandelte    er    die    verschiedensten    Fragen    des 
Unterrichtswesens,  namentlich  auch  der  Frauenbildung.    Mit  Vorliebe  berichtete 
er    auf    Grund    seiner    reichen    persönlichen    Erfahrung    über    die    Schulver- 
hältnisse des  Auslands  und  wies  auf  das  Gute  und  Nachahmenswerte,   das 
er  dort  gefunden,  nachdrücklich  hin.     W.s  geistvolle  und  anregende  Arbeiten 
bilden  einen    wertvollen  Schatz    unserer  pädagogischen   Literatur.     Es  wäre 
dringend  zu  wünschen,  daß  sie,  die  an  so  vielen  Stellen  zerstreut  und  daher 
bis  jetzt  keineswegs  allgemein  zugänglich  sind,  sobald  wie  möglich  gesammelt 
dargeboten  würden.     Ein  solcher  Band  »kleine  Schriften«,  der  sich  natürlich 
nicht   auf  das   Pädagogische    allein   beschränken   dürfte,    sondern    das  ganze 
Gebiet  von  W.s  schriftstellerischem  Wirken  umspannen  müßte,  würde  zugleich 
ein  schönes  Denkmal  für  den  Heimgegangenen   sein  und  einen  Schlüssel   zu 
seiner  reichen    und  reinen  Gedankenwelt   bieten,    in  die  Einkehr  zu  halten 
Lehrenden  und  Lernenden  zu  bleibendem  Gewinn  werden  muß.     Auf  einzel- 
nes einzugehen  würde  in  diesem  Rahmen  zu  weit  führen.     Ausdrücklich  aber 
sei    wenigstens    auf    den    meisterlichen  Vortrag  W.s    auf    dem    fünften   Neu- 
philologentag  »Die  Aufgabe  des    neusprachlichen   Unterrichts  und  die  Vor- 
bildung der  Lehrer«  (Berlin  18Q2)  hingewiesen.     Für  die  Festschrift,   die  bei 
Gelegenheit  derselben  Philologenzusammenkunft  herausgegeben  wurde,  steuerte 
er  eine  überaus  feinsinnige  Abhandlung  über  Paul  Verlaine  bei,  die  als  ganz 
besonderes  Zeugnis  dafür  gelten  kann,   in  wie  hohem  Maße  W.   die  wunder- 
bare Gabe  besaß,  durch  tiefes  Eindringen  in  das  Empfindungsleben  und  die 
Psyche  der  Franzosen  das  volle  Verständnis  ihrer  Dichter  zu  vermitteln.    Sein 
Bestes    aber,    weil   es  ihm  so   ganz  aus  dem  Herzen    kam,  hat  er   doch  in 
seinen  Beiträgen    zur   deutschen   Literaturgeschichte    gegeben.     Seiner  Seele 
Heimat  war  Goethe.     Mit  seinem  ganzen  Leben  hat  er  es  bewiesen.     An 
Goetheschriften   besitzen  wir  von  W.  außer  einer  vortrefflichen  Ausgabe   der 
»Iphigenie«    (Velhagen    und    Klasings    Sammlung   deutscher    Schulausgaben, 
Lfg.  2,  1889),  »Zwei  Goethe  vortrage.     Die  Jugendsprache  Goethes  —  Goethe 
und  die  Romantik«  (Berlin  1888),  die  1903  in  zweiter,  durch  einen  Vortrag  über 
»Goethes  Ballade  vom  vertriebenen  und  zurückkehrenden  Grafen«  vermehrter 
Auflage  erschienen.     Dies  Goethebüchlein  hebt  sich  aus  der  großen  Masse  der 
Goetheliteratur  leuchtend  heraus.   Die  künstlerisch  vollendeten  Vorträge  werden 


250 


Waetzoldt. 


nicht  veralten  und  den  Zweck,  den  ihr  Schöpfer  im  Auge  hatte,  »Verständnis 
und  Liebe  für  Goethes  Art  und  Kunst  zu  nähren«,  immer  wieder  vollauf  er- 
füllen, und  zwar  nicht  nur  »an  ein  und  der  andern  Stelle«,  sondern  weit 
umher  und  überall,  wo  immer  Goethe  lebendig  ist.  Früher  schon  hatte  W. 
auch  Geibel  einen  gehaltvollen  Essay  gewidmet  (Hamburg  1885).  Damit 
schließt  sich  die  kleine  Reihe  seiner  Schriften  zur  deutschen  Literatur.  Doch 
dies  Wenige  ist  viel  und  läßt  ahnen,  was  er  uns  hätte  geben  können,  wenn 
nicht  andere  Aufgaben  alle  seine  Kräfte  in  Anspruch  genommen  hätten. 
Was  seinen  Werken  einen  so  ganz  besonderen  Reiz  verleiht,  ist  die  Schön- 
heit und  künstlerische  Behandlung  der  Sprache.  Er  war  ein  Meister  und 
Bildner  der  deutschen  Sprache,  wie  es  nicht  viele  gibt.  Die  feinsten 
Schwingungen,  der  zarteste  Stimmungsgehalt  der  Worte  erschloß  sich  seinem 
tiefd  ringen  den  Sprachgefühl.  »Das  Geheimnis  dieser  Sprache  ist  ihre  innere 
Wahrheit«  —  dies  Wort,  mit  dem  W.  die  Sprache  Goethes  kennzeichnet, 
darf  man  getrost  auf  seine  eigene  anwenden. 

Und  wie  seine  Sprache,  so  war  sein  ganzes  Wesen  von  innerer  Wahrheit 
durchdrungen.  Jeder  Schein,  alle  Unnatur  war  ihm  von  Grund  aus  verhaßt. 
Ihr  besonderes  Gepräge  empfing  seine  Persönlichkeit  von  dem  »tiefinnern 
Zug  zum  Künstlerischen  und  eng  damit  verbunden  zum  allgemein  Mensch- 
lichen«, der  ihm  innewohnte.  Er  war  es,  »der  ihn  weit  über  alle  Schranken 
des  Beamtentums  hinweghob  und  unter  seiner  Hand  alles  lebendig  werden 
ließ,  was  sonst  als  starres  Schema  erscheint.  Sein  Streben  war  durchaus 
darauf  gerichtet,  in  der  Bildung  unseres  Volkes  die  Werte  zur  Geltung  zu 
bringen,  die  ihm  als  die  höchsten  und  fruchtbarsten  galten.«  Zu  eigener 
dichterisch- künstlerischer  Produktion  fühlte  er  sich  trotz  "eines  starken  Talentes 
doch  nicht  berufen.  Auch  die  beiden  poetischen  Schöpfungen,  die  er  in 
früheren  Jahren  veröffentlichte  —  »Heimat  und  Fremde.  Ein  Märchen  und 
Lieder«  (Oldenburg  1876)  und  »Ein  Wintermärchen «•  (Hamburg  1880)  —  er- 
heben nicht  irgendwelchen  Anspruch  auf  Künstlerschaft,  so  lieb  sie  uns  sind 
um  ihres  persönlichen  Wertes  willen.  Um  so  künstlerischer  lebte  W.  durch 
die  Tat,  in  heißem  Bemühn,  das  Seinsollende,  das  so  rein  vor  seinem  Geiste 
stand,  auch  für  andere  zur  lebendigen  Macht  zu  erwecken,  alles  zeitliche 
Sein  auf  Ewigkeitswerte  zu  gründen.  In  seiner  Seele  glühte  »die  große 
Sehnsucht,  die  Sehnsucht  nach  dem  Schönen,  nach  der  Kunst  als  einem 
Lebensgut«.  Diese  Sehnsucht  wieder  zu  entfachen,  betrachtete  er  als  eine 
der  wichtigsten  Aufgaben  aller  künstlerischen  Erziehung.  So  mag  es  ver- 
ständlich werden,  daß  er,  der  schönheitsfrohe  Idealist,  der  Mann  der  Wissen- 
schaft, der  nach  dem  Urteil  aller  zum  Universitätslehrer  wie  kaum  ein 
anderer  berufen  war,  schließlich  die  Bürde  eines  praktischen  Amtes  auf  sich 
nahm,  das  zunächst  so  ganz  abseits  von  seinen  Neigungen  zu  liegen  schien. 
Aber  eben  dieses  Amt  bot  ihm  wie  kein  zweites  Gelegenheit,  in  führender 
Stellung  seine  Erziehungs-  und  Bildungspläne  zu  verwirklichen.  Und  so 
ließen  sein  Tatendrang,  seine  Menschenliebe  und  sein  unerschütterlicher 
Glaube  an  das  Gute  ihn  den  Schritt  tun,  freilich  nicht  leichten  Herzens  und 
nicht  ohne  inneren  Widerstreit.  Das  Wort,  welches  er  der  zweiten  Auflage 
seiner  Goethevorträge  voranschickt:  »Nur  gelegentlich  ist  es  mir  noch 
verstattet,  alte  liebe  Wege  zu  wandeln«,  verrät  dem  Kundigen  manches. 
Doch  auch  auf  der  neuen  Bahn  gelangte  er  allmählich  zur  Höhe  des  Lebens, 


VVaetroldt. 


251 


zu  einem  Gefühl  tiefinnerster  Befriedigung  auf  sicherstem  Grunde.  Nur  aus 
solchem  Gefühl,  aus  solcher  Seelenstimmung  heraus  konnte  er  auf  dem 
zweiten  Kunsterziehungstage  in  Weimar  im  Oktober  1903  jene  herrlichen, 
ergreifenden  Worte  sprechen,  mit  denen  er  seinen  Vortrag  »Der  Deutsche 
und  seine  Muttersprache«  schloß.  Nichts  offenbart  den  Kern  seines  Wesens 
so  tief  und  rein  wie   diese  Worte,   und  so   mögen  sie  auch   hier  ihre  Stelle 

finden : 

»Die  Muttersprache  schlingt  ihr  Band  um  alle  ■  Kinder  des  Volkes  in 
Höhen  und  Tiefen.  Wünschen  wollen  wir,  daß  ihre  Schönheit  und  die 
Schönheit  ihrer  Werke  von  allen  wieder  gesucht  und  empfunden  werde. 
Dazu  seien  unserm  Volke  auch  stille  Stunden  beschieden  im  Hasten  und 
Treiben  seiner  Zeit.  Wir  wollen  arbeiten,  ihm  eins  der  höchsten  Lebens- 
güter zu  gewinnen,  eine  der  höchsten  Lebensäußerungen  ihm  zu  erschließen, 
die  Kunst  in  seiner  Sprache,  die  Neuschaffung  der  Welt  durch  seine 
Dichter.     Die  Kunst  wollen  wir  ehren  und  lieben  lehren! 

Ich  stand  gestern  in  dämmernder  Abendstunde  des  warmen,  weichen 
Oktobertages  vor  Goethes  Gartenhause,  an  dem  Orte  Weimars,  der  mir  der 
liebste  ist,  und  wo  ich  glaube,  die  Nähe  des  Großen  am  innigsten  zu  fühlen. 
In  den  tieferen  Laubmassen  des  Parkes  schon  die  Nacht.  Die  Umrisse  der 
Bäume  waren  gegen  den  Abendhimmel  noch  klar  abgezeichnet,  und  noch 
der  hellere  Glanz  des  Himmels  im  stillen  Flusse.  Jenseits  die  weiße  Garten- 
pforte und  sein  Haus,  das  nicht  übermütig  aussieht  mit  dem  Schindeldache; 
darüber,  kaum  über  die  Bäume  des  Parkes  erhoben,  der  Abendstern.  Es 
war  eine  einsame  Stunde  der  tiefsten  Erhebung,  und  mir  war,  als  ob  um 
dieses  Haus,  um  diesen  Ort  und  um  diese  Bäume  ein  großes  Licht  schwebte 
und  weit  hinausstrahlte  von  der  Stätte,  wo  einmal  so  Wunderbares  durch  das 
Labyrinth  seiner  Brust  gewandelt  ist.  Ich  empfand,  daß  wir  alle  die  Pflicht 
haben,  dieses  Licht  zu  hüten,  diese  Flamme  zu  nähren,  diese  Fackel  weiter- 
zugeben : 

Damit  das  Gute  wachse,  wirke,  fromme. 
Damit  der  Tag  dem  Edlen  endlich  komme!« 

Wie  einzig  hat  W.  solcher  Pflicht  nachgelebt,  wie  ist  das  Gute  unter 
seinen  Händen  gewachsen!  Mit  schmerzlicher  Wehmut  packt  uns  das 
Bewußtsein,  daß  er  nun  nicht  mehr  unter  uns  weilt,  daß  er  im  Kampfe  für 
das  Gute  seine  Kräfte  verzehrt  hat,  bis  er  zusammenbrach.  Doch  nicht  der 
Klage  geben  wir  Raum.  Erhebend  steht  das  hehre  Bild  seiner  Persönlich- 
keit uns  vor  Augen,  eine  heilige  Mahnung  für  alle,  denen  es  Herzenssache 
ist,  die  deutsche  Jugend  in  wahrhaft  nationalem  Sinne  zu  erziehen  und  dem 
deutschen  Volke  seine  höchsten  und  edelsten  Güter  zu  erhalten.  »Von  seinem 
Grabe  her  stärkt  uns  der  Anhauch  seiner  Kraft  und  erregt  in  uns  den  leb- 
haftesten Drang,  das,  was  er  begonnen,  mit  Eifer  und  Liebe  fort  und  immer 
fortzusetzen«. 

Vgl.  W.s  »FxVtf«  am  Schluß  seiner  oben  erwähnten  Dissertation.  —  Frauenbildung, 
Jg.  4,  1905,  S.  193 — 208  (J.  Wychgram,  St.  VVaetzoldt,  auch  separat  erschienen:  Leipzig, 
Teubner,  1905);  vgl.  auch  Jg.  3,  1904,  Hft.  6  u.  9.  —  Archiv  für  das  Studium  der  neueren 
Sprachen,  Jg.  58,  Bd.  113,  1904,  S.  i— 12  (Nekrolog  v.  H.  Löschhom,  Bildnis).  —  Zeit- 
schrift für  den  deutschen  Unterricht,  Jg.  18,  1904,  S.  406—413  (Nekr.  v.  O.  Lyon).  — 
Goethe-Jahrbuch,  Bd.   26,    1905,   S.    305—308   (Nekr.    v.  R.   Lehmann).    —   Zeitschrift   für 


252 


Waetzoldt.     Reuter. 


franzüs.  ii.  engl.  Unterricht,  Bd.  3,  1904,  S.  496 — 497  (Nekr.  v.  M.  Kaluza).  —  Die  Frau, 
1904,  S.  588 — 589  (Nekr.  v.  Helene  Lange).  —  Monatsschrift  f.  katholische  Lehrerinnen, 
1904,  Hft.  8  (J.  Mausbach,  Geheimrat  W.  und  die  Oberiehrerinnenbildung).  —  Die  deutsche 
Schule,  Jg.  8,  Heft  6,  Juni  1904,  S.  391/92.  —  Haus  und  Schule,  Jg.  35,  1904,  Nr.  26  v.  29.  Juni 
(Geheimrat  W.s  Tod.  Ansprache  am  6.  Juni  1904  in  der  Aula  der  Kgl.  Augustaschule  von  Direktor 
Wychgram).  —  Pädagogische  Zeitung,  Jg.  33,  1904,  Nr.  23  v,  9.  Juni.  —  Monatlicher 
Anzeiger  des  Vereins  Berliner  Volksschullehrerinnen,  Jg.  5,  Nr.  6  v.  16.  Juni  1904.  — 
Monatsschrift  für  das  Tumwesen,  Jg.  23,  1904,  Hft.  6,  S.  188 — 189.  —  Deutsche  Tum- 
Zeitung,  1904,  Nr.  26  v.  23.  Juni  (Bildnis).  —  Körper  und  Geist,  1904,  S.  113 — 116.  — 
Comenius-Blätter  für  Volkserziehung,  Jg.  12,  Hft.  3  v.  15.  Juni  1904,  S.  95.  —  Daheim, 
Jg.  40,  1904,  Nr.  38  (Bildnis).  —  Deutscher  Reichsanzeiger  u.  Kgl.  Preußischer  Staats- 
anzeiger, 1904,  Nr.  129  V.  3.  Juni.  —  National-Zeitung,  Morg.-Ausg.  v.  8.  Juni  1904.  — 
Tägliche  Rundschau,  Morg.-Blatt  v.  11.  Juni  1904.  —  Nachrichten  f.  Stadt  u.  Land, 
Oldenburg,  v.  3.  Juni  1904.  —  Jahresbericht  d.  Kgl.  Elisabeth-Schule  zu  Berlin,  1904/1905. 
XXVIII,  S.  15.  —  O.  W.  Beyer,  Deutsche  Schulwelt  des  19.  Jahrh.,  Lcipz.  u.  Wien  1903, 
S.  338  (Bildnis).  —  Kalender  für  Lehrer  u.  Lehrerinnen  an  deutschen  höheren  Mädchen- 
schulen. Bcarb.  v.  Schröter,  Jg.  8,  1905/ 1906,  Vorwort  (Bildnis).  —  Posteis  Deutscher 
Lehrerkalender  f.  d.  J.  1906,  Jg.  ^3^  T^'il  ^  (Bildnis),  T.  2,  S.  59 — 61  (Biogr.  Skizze).  — 
Kunsterziehung.  Ergebnisse  und  Anregungen  des  2.  Kunsterziehungstages  in  Weimar,  1903, 
Deutsche  Sprache  und  Dichtung.  Leipzig,  Voigtländcr  1904,  S.  24 — 32,  250 — 265.  — 
Monatsschrift  f.  höhere  Schulen,  Jg.  3,  1904,  S.  486.  —  Für  persönliche  Mitteilungen 
bin  ich  Frau  Geheimrat  Waetzoldt  zu  herzlichem  Danke  verpflichtet.  Joh.   Sass. 

Reuter,  Richard,  politischer  Schriftsteller,  *  26.  Februar  1840  in  München, 
t  9.  Dezember  1904  in  Naumburg  a.  d.  Saale.  —  Sein  Vater  war  der  Geh. 
Regierungsrat  Ludwig  Reuter,  der  als  preußi.scher  Zollvereinsbevollmächtigter 
in  München  lebte,  seine  Mutter  eine  Tochter  des  verdienten  Magdeburgischen 
Oberbürgermeisters  Franke.  Nach  Besuch  einer  Volksschule  empfing  der 
reichbegabte  Knabe  seine  Bildung  zunächst  auf  einem  Gymnasium  und  einem 
Privatinstitut  in  München,  bis  der  frühe  Tod  des  Vaters  1853  ^^^  Mutter 
veranlaßte,  mit  ihren  drei  Kindern  nach  der  norddeutschen  Heimat  zurück- 
zukehren. Sie  wählte  zum  Wohnsitz  Naumburg  a.  d.  Saale,  wo  Verwandte  von 
ihr  lebten,  und  ließ  ihren  ältesten  Sohn  Richard  sogleich  als  Alumnus  in  die 
benachbarte  Landesschule  Pforte  eintreten.  Lebenslang  blieb  R.  dieser  An- 
stalt, die  er  1859  mit  dem  Reifezeugnis  verließ,  in  großer  Anhänglichkeit  und 
Liebe  zugetan.  In  München,  Heidelberg  und  Berlin  widmete  er  sich  dem 
Studium  der  Rechtswissenschaft  und  ward  nach  abgelegter  erster  Prüfung 
Gerichtsauskultator  in  Naumburg  a.  d.  Saale.  Dort  lebte  damals  auch  die 
befreundete  Familie  Nietzsche,  und  R.  hat  später  einmal  (1895  in  der  »Kritik«) 
in  einem  Aufsatz  »Besuch  bei  dem  jungen  Nietzsche«  über  seine  Beziehungen 
zu  Friedrich  Nietzsche  berichtet.  Nach  der  zweiten  Prüfung  trat  R.  zur 
Regierungslaufbahn  über  und  arbeitete  1866  als  Regierungsreferendar  in  Stral- 
sund. Der  Krieg  mit  Osterreich  rief  ihn  zu  den  Waffen;  er  nahm  beim 
42.  Infanterieregiment  am  Feldzug  teil  und  stand  insbesondere  bei  Gitschin 
mit  im  Feuer.  Als  Regierungsassessor  fand  er  nacheinander  in  Berlin,  Posen 
und  Merseburg  Beschäftigung.  Durch  den  deutsch-französischen  Krieg  ward 
er  seinem  Beruf  abermals  für  längere  Zeit  entzogen,  doch  nahm  er  an  dem 
eigentlichen  Feldzuge  keinen  tätigen  Anteil,  sondern  wurde  zur  Bewachung 
gefangener  Franzosen  nach  Jüterbog,  Torgau  und  Wittenberg  kommandiert. 
Als   der  Friede  geschlossen   war,  kehrte   R.  zur   königlichen  Regierung  nach 


Reuter. 


253 


Merseburg  zurück  und  arbeitete  dort  in  der  Spezialkommission.  Schon  da- 
mals befand  er  sich  in  keinem  rechten  Einverständnis  mit  der  preußischen 
Politik  und  begann,  abweichenden  Anschauungen  in  Broschüren  und  Zeitungs- 
aufsätzen Ausdruck  zu  verleihen.  Seine  erste  Veröffentlichung  war  »Der  hohe 
Hof  des  Parlaments  von  Deutschland«  (1873);  ^^^  folgte  die  Broschüre 
»Nationalliberale  Partei,  nationalliberale  Presse  und  höheres  Gentleman  tum. 
Von  einem  Nichtreichsfeinde«  (1874),  die  in  rascher  Folge  fünf  Auflagen  er- 
lebte. Diese  Broschüren  erregten  durch  ihre  Klarheit  und  Schärfe  die  Auf- 
merksamkeit weiterer  Kreise  und  bewogen  den  Verleger  der  »Kölnischen 
Zeitung«  Dumont-Schauberg  1874  nach  Merseburg  zu  reisen,  um  den  jungen 
Politiker  für  seine  Zeitung  zu  gewinnen.  Die  Verhandlungen  führten  zum 
Ziele:  R.  nahm  den  Abschied  aus  dem  Staatsdienst  und  trat  unter  sehr 
vorteilhaften  Bedingungen  bei  der  Redaktion  der  »Kölnischen  Zeitung«  ein. 
Hier  fühlte  er  sich  sehr  befriedigt  und  konnte  seine  Anschauungen  in  freierer 
Weise  durch  Leitartikel  und  sonstige  Aufsätze  zum  Ausdruck  bringen.  Aber 
nach  zwei  Jahren  nahm  die  »Kölnische  Zeitung«  eine  regierungsfreundlichere 
Haltung  an  und  verlangte  auch  von  R.  Einlenken  in  das  neue  Fahrwasser. 
Da  R.  an  dieser  Schwenkung  nicht  teilnehmen  konnte,  blieb  ihm  nur  übrig, 
1876  aus  der  Redaktion  wieder  auszuscheiden.  Ein  Rücktritt  in  die  ver- 
lassene Staatslaufbahn  war  ausgeschlossen,  denn  R.  hatte  sich  mehr  und  mehr 
in  Gegensatz  zu  der  Bismarckschen  Politik  gestellt.  So  bedeutete  für  ihn 
die  Treue  gegenüber  der  eigenen  Überzeugung  den  Verzicht  auf  eine  ge- 
sicherte Existenz  und  das  Hinausgehen  in  eine  ungewisse  Zukunft.  Daß  er 
seiner  Überzeugung  dieses  Opfer  ohne  Zögern  brachte,  muß  auch  den  Gegner 
seiner  Anschauungen  mit  Hochachtung  vor  seinem  Charakter  erfüllen. 

In  der  Tat  glückte  es  ihm  nicht  wieder,  eine  befriedigende  dauernde 
Lebensstellung  zu  gewinnen,  obschon  der  Ertrag  seiner  politischen  Schrift- 
stellerei  immer  für  die  Bedürfnisse  des  unverheirateten  Mannes  ausreichte. 
In  den  Jahren  1877  und  1878  arbeitete  R.  für  die  »Bürgerzeitung«  in  Berlin 
und  siedelte  dann  nach  St.  Petersburg  über,  um  bei  der  Redaktion  des 
»St.  Petersburger  Herolds«  einzutreten.  Aber  bereits  1880  gab  er  diese 
Stellung  wieder  auf  und  kehrte  nach  Deutschland  zurück.  In  der  Folgezeit 
unternahm  er  verschiedene  Studienreisen,  so  nach  England,  dessen  politische 
Einrichtungen  ihn  besonders  interessierten.  Zwischendurch  hatte  er  1878  eine 
Broschüre  über  »Die  Parteilage«,  ferner  in  der  »Neuyorker  Staatszeitung« 
einen  Aufsatz  über  »Die  politische  Lage  Deutschlands«  und  in  Rudolf  Gott- 
schalls »Politischer  Monatsschrift«  1878 — 79  Abhandlungen  über  »Die  französi- 
sche Verfassungskrise«  erscheinen  lassen.  Sein  politischer  Standpunkt  war 
in  jener  Zeit  kaum  von  dem  der  Fortschrittspartei  verschieden,  wie  er  denn 
in  späteren  Jahren  ganz  zur  deutsch-freisinnigen  Partei  gehörte  und  von  dieser 
zu  Agitationsreisen  verwandt  und  als  Reichstagskandidat  aufgestellt  wurde. 
Von  1882  bis  1884  veröffentlichte  R.  seine  Artikel  in  der  Berliner  »Volks- 
zeitung«, 1884  schrieb  er  im  »Demokratischen  Blatt«  Aufsätze  über  Boden- 
reform und  lieferte  1885  Beiträge  für  den  »Pester  Lloyd«.  Die  letztgenannte 
Mitarbeiterschaft  führte  1886  zu  einer  Anstellung  in  der  Redaktion  des  >  Pester 
Lloyd«,  die  aber  1889  ihr  Ende  erreichte.  Im  Jahre  1890  ließ  sich  R.  dauernd 
in  Naumburg  a.  d.  Saale  nieder  und  lebte  dort  fortab  mit  Mutter  und  Schwester 
gemeinsam. 


254 


Reuter. 


Einen  festeren  Mittelpunkt  für  seine  Tätigkeit  fand  R.  1892  wieder  mit 
dem  Anschluß  an  die  »Friedensgesellschaft«,  der  er  sich  mit  ganzem  Herzen 
zuwandte  und  für  die  er  bis  zu  seinem  Tod  unermüdlich  eifrig  und  erfolg- 
reich in  Wort  und  Schrift  mit  der  ihm  eigenen  Entschiedenheit  und  Schärfe 
gewirkt  hat.  Er  wurde  bald  in  den  Vorstand  der  »Friedensgesellschaft«  ge- 
wählt und  gehörte  ihm  bis  zum  Lebensende  an.  Außer  der  Mitarbeiterschaft 
(1892  — 1899)  an  Berta  v.  Suttners  Zeitschrift  »Die  Waffen  nieder«,  an  den 
»Friedensblättern«  (seit  1900)  und  an  der  »Friedenswarte«  (seit  1903)  ver- 
öffentlichte R.  viele  Aufsätze  über  die  Friedensbewegung  in  verschiedenen 
Tageszeitungen  und  gab  1893  eine  Broschüre  heraus  unter  dem  Titel  »Was 
will  das  Volk?  Weder  Krieg  noch  Militarismus«,  die  weite  Verbreitung  fand. 
Noch  größer  war  ein  anderer  literarischer  Erfolg:  im  Jahre  1894  wurde  R.s 
Abhandlung  »Wie  kann  eine  kräftige  internationale  Strömung  gegen  den 
herrschenden  Militarismus  auf  passendste  Weise  hervorgerufen  werden  .»'s 
von  der  Stockholmer  Friedensgesellschaft  mit  dem  durch  den  Grafen  Björk- 
lund  gestifteten  Preise  gekrönt.  Die  Arbeit  erschien  noch  1894  in  »Friede 
und  Abrüstung«,  das  Jahr  darauf  auch  besonders.  Im  Jahre  1896  unternahm 
R.  mit  einem  Gesinnungsgenossen  eine  Agitationsreise  für  die  Friedenssache 
durch  die  Rheinpfalz  und  Rheinhessen  und  gründete  dabei  mehrere  Orts- 
gruppen der  »Friedensgesellschaft«.  Später  hielt  er  in  verschiedenen  Gegenden 
Deutschlands  Vorträge  über  die  Friedensbewegung  und  gab  dadurch  Anlaß 
zur  Bildung  von  vielen  Ortsgruppen  z.  B.  in  Dresden,  Elberfeld,  Erfurt, 
Gotha,  Kassel,  Magdeburg,  Sebnitz,  Stendal.  Seine  Reden  waren  immer  von 
großer  Klarheit  und  Schärfe,  sein  Auftreten  überall  entschieden  bis  zu  den 
letzten  Folgerungen,  sodaß  ihm  das  gemäßigtere  Verhalten  mancher  Friedens- 
vereinigungen Worte  des  Widerspruchs  und  der  Unzufriedenheit  entlockte. 
An  zahlreichen  Generalversammlungen  der  deutschen  Friedensgesellschaft  nahm 
er  tätigen  Anteil,  ebenso  an  den  Weltfriedenskongressen  zu  Budapest  r896 
und  zu  Hamburg  1897.  Daß  der  Weltkongreß  1897  in  einer  deutschen  Stadt 
tagte,  ist  auf  R.s  Anregung  zurückzuführen.  Über  die  geschichtliche  Entwicke- 
lung  des  Friedensgedankens  veröffentlichte  er  1899  einen  Aufsatz  im  »Türmer«. 

Durch  zunehmende  Kränklichkeit,  in  der  die  treue  Pflege  der  einzigen 
Schwester  dem  Leidenden  nur  Erleichterung,  aber  keine  Besserung  schaffen 
konnte,  sah  sich  R.  mehr  und  mehr  gezwungen,  auf  ein  tätiges  Hinaustreten 
in  die  Öffentlichkeit  zu  verzichten  und  die  schriftstellerische  Wirksamkeit 
sehr  einzuschränken.  Dennoch  ergaben  sich  ihm  aus  der  Durchsicht  alter 
Briefe,  die  seine  Mutter  einst  als  junge  Frau  aus  München  an  ihre  Angehörigen 
nach  Magdeburg  geschrieben  hatte,  noch  zwei  größere  Aufsätze  »Aus  den 
Tagen  der  Lola  Montez«  und  »Vormärzliche  Briefe«,  die  1901  und  1902  in 
der  »Neuen  deutschen  Rundschau«  erschienen.  Seine  letzte  selbständige 
Broschüre  beschäftigte  sich  mit  dem  »Militarismus  insonderheit  in  der  Militär- 
rechtspflege« (1902).  Im  Hause  seiner  hochbetagten  Mutter  erlag  R.  nach 
längerem  Siechtum  der  Zuckerkrankheit. 

Mitteilungen  der  Familie.  —  Hoffmann,  Pförtner  Stammbuch  S.  432  Nr.  10340.  — 
Kcce  der  Landesschule  Pforte  1905  S.  26  Nr.  27.  —  E.  Gramatzki,  Staatswissenschaftlicher 
Literatur-  und  Schriftsteller-Kalender  L  Jahrg.  (1904)  S.  244  f.  —  A.  H.  Fried,  Handbuch 
der  Friedensbewegung  (1905)  S.  272  und  421.  —  Die  Friedenswarte  1905  Nr.  i.  —  Fricdens- 
blätter  1905  Nr.  2  S.  f4.  P.  Mitzschke. 


Grob.     Szanto. 


255 


Grob,  Konrady  Schweizer  Genremaler,  ♦  3.  September  1828  in  Andelfingen, 
Kanton  Zürich;  f  9.  Januar  1904  in  München.  —  Aus  kleinsten  bäuerlichen 
Verhältnissen  stammend  —  der  Vater  ein  heruntergekommener  Weinbauer, 
die  Mutter  aber  eine  arbeitsame,  intelligente  Frau  —  kommt  G.  mit  14  Jahren 
zu  einem  Lithographen  in  Winterthur  in  die  Lehre.  Nach  langen  Wander- 
jahren durch  Deutschland  und  Italien,  wobei  er  sich  durch  größten  Fleiß  und 
äußerste  Sparsamkeit  ein  kleines  Vermögen  erwirbt,  bezieht  er  noch  mit 
37  Jahren  die  Akademie  in  München.  Studien  bei  Ramberg,  unter  dessen 
Leitung  er  auch  seine  ersten  Bilder  malte:  »Der  Maler  auf  der  Studienreise«, 
»Die  Meisenfalle«  —  Bilder,  die  mehr  gefällig  als  tief  empfunden  sind,  die 
ihn  aber  sofort  in  der  Schweiz  bekannt  machen. 

Einen  großen  Fortschritt  bildet  das  »Tätschschießen«  (1874)  und  das 
>> Schwingfest  vom  Hasleberg«  —  figurenreiche  Bilder  mit  vielen  charakte- 
ristischen aus  dem  Leben  gegriffenen  Typen.  Sein  bedeutendstes  Werk  ist 
die  »Schlacht  von  Sempach«  (1878),  eine  vorzügliche  Komposition  voll 
wuchtiger  Kraft  und  dramatischer  Wirkung.  —  Später  ging  er  wieder  zur 
Genremalerei  zurück  und  schuf  eine  Reihe  gefühlstiefer,  einfach  komponierter, 
auch  in  der  Farbe  sehr  glücklicher  Bilder:  »Das  Tischgebet«  1885,  »Häus- 
liche Andacht«,  »Sonntagnachmittag  auf  der  Alp«.  — 

Auf  langen  Umwegen  ohne  Stipendien  oder  jegliche  andere  Hilfe  hat 
sich  G.  allein  durch  eigene  Kraft  und  eiserne  Energie  zu  einem  anerkannten 
Künstler  durchgerungen.  Seinen  Wohnsitz  hat  er  in  München  behalten,  seine 
Werke  aber  sind  fast  alle  wieder  nach  der  Heimat  zurückgewandert  und  die 
besten  in  Museumsbesitz   übergegangen.  W.  L.  Lehmann. 

Szanto,  Emil,  Professor  der  klassischen  Philologie  an  der  Universität  Wien, 
♦22.  November  1857  zu  Wien,  f  i4-  Dezember  1904  ebenda.  —  S.s  Vater 
war  Schriftsteller  und  Redakteur  der  »Neuzeit«.  Nach  Absolvierung  der 
Gymnasialstudien  bezog  S.  die  Wiener  Universität,  widmete  sich  daselbst  dem 
Studium  der  Philosophie  und  war  als  Student  Mitglied  des  archäologisch- 
epigraphischen  Seminars.  Er  war  ein  Schüler  der  Professoren  Benndorf, 
Gomperz,  Hartel  und  Hirschfeld.  Im  Jahre  1880  wurde  er  zum  Doktor  der 
Philosophie  promoviert,  1884  habilitierte  er  sich  an  der  Universität  für  alte 
Geschichte  und  wurde  im  Jahre  1893  zum  außerordentlichen  Professor  für  griechi- 
sche Geschichte  und  Altertumskunde,  1899  zum  ordentlichen  Professor  an  der 
philosophischen  Fakultät  ernannt,  an  der  er  als  Nachfolger  von  Theodor  Gomperz 
die  klassischen  Altertumswissenschaften  lehrte.  Er  las  im  Wintersemester  1904 
ein  vierstündiges  Kollegium  über  griechische  Geschichte  und  ein  zweites 
Kollegium  über  Plutarchs  Perikles.  Im  Sommersemester  1904  las  er  über 
römische  Munizipal-  und  Kolonialverfassung,  über  die  »Ritter«  des  Aristophanes 
und  über  attische  Inschriften. 

Wiederholt  hat  er  Studienreisen  nach  Griechenland  unternommen.  Des 
öfteren  weilte  S.  zu  Forschungszwecken  auch  in  Rom.  Die  Ergebnisse  einer 
Expedition  nach  Karien  legte  er  in  einem  Werke  »Reise  in  Karien«  nieder, 
welches  im  Jahre  1892  erschienen  ist.  Er  veröffentlichte  ferner  »Unter- 
suchungen über  das  klassische  Bürgerrecht«  (1881);  »Platäa  und  Athen«  (1884); 
»Anleihen  griechischer  Staaten«  (1885);  »Hypothek  und  Scheinkauf  im  griechi- 
schen Rechte«  (1887);    »Das  griechische  Bürgerrecht«  (1892).     1902   erschien 


256  Szanto. 

das  Werk  »Die  griechischen  Phylen«.  Im  Jahre  1887  hat  S.  das  Handbuch 
der  griechischen  Antiquitäten  von  Bojesen  in  zweiter  Auflage  herausgegeben. 

In  der  Neuen  Freien  Presse  widmete  ihm  Theodor  Gomperz  am 
18.  Dezember  1904  folgenden,  mit  Zustimmung  des  Verfassers  wiederholten 
Nachruf. 

»Ach,  unerforschlich  sind  sie  fürwahr,  die  Wege  der  Vorsehung!  Wäre 
es  nicht  töricht  und  vermessen,  wollte  der  Teil  mit  dem  Ganzen,  das  Sand- 
korn mit  dem  Universum  rechten,  man  wäre  bisweilen  versucht,  mit  dem 
Schicksal  zu  hadern!  Eine  rüstig  aufstrebende,  voll  entfaltete,  aber  noch 
lange  nicht  erschöpfte  Kraft,  die  plötzlich  dahinsinkt;  ein  Schnitter,  im 
Begriff,  die  Ernte  eines  arbeitsreichen  Lebens  einzubringen,  der  mitten  im 
freudigen  Schaffen  jählings  gefällt  wird  —  das  war  das  Geschick  unseres 
einstigen  Schülers,  späteren  Kollegen  und  Freundes  Emil  Szanto. 

Noch  sehe  ich  ihn  vor  mir,  wie  er  vor  etwa  dreißig  Jahren  zuerst  in 
meinem  Hörsaal  auftauchte  —  ein  Jüngling  von  fast  mädchenhafter  Schüchtern- 
heit, voll  emsigen  Eifers,  durchglüht  von  Wissens-  und  Bildungsdrang.  Er 
kam  frisch  vom  Gymnasium  und  schwankte  noch  zwischen  orientalischen  und 
klassischen  Studien.  Aber  er  war  für  diese  vorher  bestimmt:  »das  Land  der 
Griechen  mit  der  Seele  suchend«,  mit  der  feinsinnigen,  nach  Klarheit  ringen- 
den, nach  Schönheit  durstenden  Seele.  Kaum  war  er  in  die  Antike  eingeführt, 
so  hatte  er  sich  ihr  zu  eigen  gegeben.  Auch  innerhalb  des  Kreises  klassi- 
scher Studien  war  seine  Wahl  bald  getroffen.  Das  Interesse  an  den  realen 
Lebensverhältnissen,  ein  starker,  strenger  Verstand,  die  Freude  an  der  un- 
mittelbaren Berührung  mit  den  Resten  des  Altertums  bestimmten  seine  Wahl. 
Er  ward  Realphilologe,  Erforscher  des  griechischen  Rechtes,  Althistoriker 
und  Epigraphiker.  Schon  seine  erste  größere  Arbeit,  des  Vierundzwanzigjährigen 
»Untersuchungen  über  das  attische  Bürgerrecht«,  zogen  die  Aufmerksamkeit 
auch  der  außerösterreichischen  Fachmänner  auf  sich.  Es  folgten  »Platäa  und 
Athen«  (1884),  »Anleihen  griechischer  Staaten  (1885),  »Hypothek  und  Schein- 
kauf im  griechischen  Recht«  (1887),  »Das  griechische  Bürgerrecht«  (1892), 
mannigfache  Berichte  über  die  Bereisung  Griechenlands  und  Kleinasiens,  eine 
Neubearbeitung  von  Bojesen-Hoffas  Handbuch  der  griechischen  Antiquitäten, 
die  Herstellung  zahlloser  Inschriften,  darunter  derjenigen  des  neuentdeckten 
Kabirenheiligtums  in  Böotien,  zuletzt  das  zusammenfassende  Werk  über  die 
griechischen  Phylen  (in  den  Denkschriften  der  kaiserlichen  Akademie  der 
Wissenschaften).  Doch  mit  S.s  Publikationen  ist  nur  ein  kleiner  Teil  seiner 
Forscherarbeit  umschrieben.  In  selbstloser,  unermüdlicher  Hingabe  half  er  das 
von  Benndorf  geplante  und  geleitete  kleinasiatische  Inschriftenwerk  vorbereiten 
und  fördern.  Noch  ein  paar  Jahre,  und  ein  Riesenband  dieser  Sammlung,  die 
Bearbeitung  der  Inschriften  Kariens,  hätte  von  seiner  Sachkunde,  seiner  Aus- 
dauer, seinem  Scharfsinn  ein  monumentales  Zeugnis  abgelegt,  desgleichen 
ein  Band  der  K.  F.  Hermannschen  Antiquitäten,  dessen  Neubearbeitung  ihm 
anvertraut  war. 

Doch  vielleicht  noch  mehr  als  der  gelehrte  Forscher  hat  der  Lehrer  S. 
bedeutet.  So  oft  er  in  unserem  philologisch-archäologischen  Vereine,  »Eranos« 
genannt,  das  Wort  ergriff,  war  es  eine  Freude,  ihm  zu  lauschen.  So  volle 
Beherrschung  des  jeweiligen  Themas,  so  lichtvolle  Klarheit,  ein  .so  künstle- 
risch abgerundeter  und   zugleich  so   unpersönlich  bescheidener  Vortrag  sind 


Szanto.     Strauch. 


257 


nur  wenigen  gegeben.  Das  künstlerische  Element  war  in  ihm  so  stark  ent- 
wickelt wie  die  juristische  Denkschärfe.  Jenes  hat  ihn  zum  Goethe-Kultus 
und  auch  zu  Goethe-Studien  geführt,  welche  die  Literarhistoriker  dankbar 
genossen  und  anerkannten;  diese  hat  ihn  zur  Durchforschung  und  Beleuch- 
tung der  aus  Ägypten  stammenden  Papyrusdokumente  gezogen,  für  die  er 
in  seminaristischen  Übungen  Bearbeiter  gewann  und  heranbildete,  eine  Rich- 
tung seiner  Studien,  die  ihn  Ludwig  Mitteis  nahebrachte.  So  hat  S.  als 
Forscher,  Lehrer,  Schriftsteller  —  die  Leser  dieses  Blattes  erinnern  sich  des 
vor  Jahresfrist  erschienenen  trefflichen  Nachrufs  auf  Theodor  Mommsen  — 
Vorzügliches  geleistet.  Als  Mensch  wird  er  allen,  die  ihm  näher  traten,  un- 
vergeßlich bleiben.  Er  war  einer  der  höchstgebildeten,  weitsinnigsten,  warm- 
und  zartfühlendsten  Menschen,  ein  treuer  Freund,  ein  dankbarer  Schüler,  ein 
stets  von  den  lautersten  Gesinnungen  beseelter,  liebenswerter  Kollege,  die 
Stütze  der  Seinigen,  ein  Vorkämpfer  alles  dessen,  was  er  als  gut  und  recht 
erkannt  hatte!  An  seiner  Bahre  trauern  die  greise  Mutter,  tiefgebeugte 
Schwestern,  seine  Lehrer,  Schüler,  Kollegen  und  ein  weiter  Kreis  schwer 
getroffener  Freunde.« 

Über    Szantos    Leichenbegängnis    vgl.    Neue    Freie    Presse    vom    17.  Dezember   1904 
Morgenblatt  mit  der  Grabrede  von  Bormann.  Theodor  Gomperz. 

Strauch,  Hermann,  Jurist,  *  zu  Frankfurt  a.  M.  als  Sohn  des  dortigen 
Bürgers  und  Handelsmanns  J.C.Strauch  (nach  Aschersons  Universitäts-Kalender) 
am  4.  Dezember  1838,  f  am  28.  September  1904  zu  Heidelberg.  —  Er  besuchte 
1848 — 57  das  Gymnasium  der  Vaterstadt  und  studierte  dann  die  Rechte  zu  Bonn 
und  Heidelberg.  Im  Frühjahr  1859  ging  er  nach  Wien,  wo  er  die  juristische 
Staatsprüfung  bestand,  und  trat  am  8.  April  1861  als  Rechtspraktikant  beim 
Landesgericht  ein.  Nach  einigen  Monaten  übernahm  er  eine  Stelle  zum  Unter- 
richt des  Grafen  Schönbom,  promovierte  am  15.  Juli  1862  an  der  juristischen 
Fakultät  und  war  dann  in  der  Kanzlei  des  Hof-  und  Gerichtsadvokaten 
Dr.  Franz  Schmitt  tätig,  zugleich  Mitredakteur  der  Allgemeinen  österreichi- 
schen Gerichtszeitung.  Unbefriedigt  von  den  Wiener  Verhältnissen,  ging  er 
nach  Heidelberg,  wo  er  auf  eine  Schrift  über  die  Regalien  am  28.  Juli  1865 
als  Privatdozent  zugelassen  wurde.  Am  i.  März  1873  erfolgte  seine  Ernen- 
nung zum  außerordentlichen  Professor.  Er  las  über  Rechtsphilosophie,  Ency- 
klopädie  und  Methodologie  der  Rechtswissenschaft  und  Völkerrecht  und  hielt 
auch  Übungen  ab.  Später  übernahm  er  die  Bibliothekarstelle  am  juristischen 
Seminar.  Er  blieb  unverheiratet  und  pflog  nur  mit  wenigen  Kollegen  Verkehr. 
Als  Schriftsteller  trat  er  selten  hervor,  z.  B.  mit  einem  Beitrag  zur  Festschrift 
für  Bluntschli  zum  3.  August  1879  und  Biographien  von  Röder  und  Zöpfl  in 
den  Badischen  Biographien  von  v.  Weech,  Bd.  IIL  Er  erlag  einem  lang- 
jährigen Nierenleiden.  Um  die  Universität  machte  er  sich  verdient  durch  ein 
Legat  von  gegen  18000  Mark  für  eine  Strauch-Stiftung,  aus  der  nach  Er- 
reichung des  Betrages  von  30000  Mark  die  Zinsen  als  jährliches  Reisestipen- 
dium an  einen  Dozenten  oder  unbesoldeten  Extraordinarius  der  Universitäten 
Bonn,  Heidelberg,  Freiburg,  Strafiburg,  Tübingen,  die  öffentliches  Recht  vor- 
tragen, nach  Ermessen  über  Würdigkeit  des  Kandidaten  seitens  der  Heidel- 
berger Fakultät,  verwendet  werden  können. 

Nach  gef.  Mitteilungen  aus  Universitätsakten.  A.  Teichmann. 

B'iogT.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog^.   9.  Bd.  I  y 


258 


Schirmer. 


Schirmer,  Johann  Theodor,  Geh.  Justizrat  und  Professor  der  Rechte 
an  der  Albertus-Universität  zu  Königsberg,  ♦  am  15.  Mai  1827  zu  Breslau 
als  Sohn  des  Professors  der  Theologie  August  Schirmer,  der  bald  darauf  nach 
Greifswald  berufen  wurde,  und  dessen  Frau  Emilie  geb.  Freiin  von  Richt- 
hofen,  t  2.  April  1904  zu  Blankenburg  am  Harz.  —  Er  besuchte  die  Gymnasien 
zu  Greifswald  und  Schulpforta,  leistete  1848  beim  2.  Jägerbataillon  Militär- 
dienste, wofür  er  die  Hohenzollerndenkmünze  erhielt,  und  arbeitete  nach 
juristischen  Studien  zuerst  als  Auskultator  beim  Justizsenat  in  Ehrenb reitenstein, 
dann  beim  Kreisgericht  und  Appellationsgericht  in  Greifswald,  doktorierte 
am  I.  August  1850  und  habilitierte  sich  am  29.  März  1852  als  Privatdozent 
an  der  juristischen  Fakultät  in  Breslau,  wo  er  am  23.  April  1858  zum  aufler- 
ordentlichen  Professor  ernannt  wurde.  Für  römisches  Recht  als  ordentlicher 
Professor  nach  Königsberg  berufen,  trat  er  dieses  Lehramt  am  i.  Oktober  1863 
an  und  hat  von  da  an  bis  zum  Schlüsse  des  Sommersemesters  1901,  wo  er  von 
den  Amtspflichten  entbunden  wurde,  ununterbrochen  in  großer  geistiger  Frische 
gelehrt.  Ausgerüstet  mit  tiefem  und  vielseitigem  juristischen  und  historischen 
Wissen,  scharfem  kritischen  Verstände  und  großer  Lehrbegabung,  betrachtete 
er  es  als  seine  Lebensaufgabe,  das  Verständnis  des  römischen  Rechts  als  der 
wesentlichen  Grundlage  des  juristischen  Denkens  und  der  modernen  Rechts- 
entwicklung durch  scharfsinnige  Interpretation  der  Quellen  als  einer  der  letzten 
echten  Pandektisten,  was  ihm  besonders  am  Herzen  lag,  zu  fördern.  Er  tat 
dies  in  ausgedehnter  schriftstellerischer  Tätigkeit,  sogar  in  steigendem  Mafie 
im  höchsten  Alter.  Als  selbständige  Arbeiten  sind  zu  nennen:  »Über  die 
prätorischen  Judizialstipulationen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  stipu- 
latio  jtidicatum  solvi.  Eine  rechtshistorische  Abhandlung«.  Greifswald  1853; 
»Die  Grundidee  der  Usukapion  im  römischen  Recht.  Ein  historisch -dog- 
matischer Versuch«,  Berlin  1855;  »Handbuch  des  römischen  Erbrechts.  Aus 
den  Quellen  und  mit  Rücksicht  auf  die  gemeinrechtliche  Praxis  bearbeitet«, 

I.  Teil,  Leipzig  1863  (unvollendet).  Er  bearbeitete  Puchtas  Pandektenv  in 
12.  Aufl.  (1877),  Marezolls  Institutionen  in  9.  (1869),  10.  (1875)  und  11.  Aufl. 
(1881),  Unterholzners  Verjährungslehre  in  2.  Aufl.  Leipzig  1858.  Viele  wichtige 
Abhandlungen  veröffentlichte  er  in  der  Zeitschrift  für  Rechtsgeschichte  Bd.  10, 

II,  12,  15,  18,  20,  21,  24,  25,  28,  32  und  ^^  (zuletzt  hauptsächlich  über  die 
Werke  von  Scävola  und  Quellenstellen),  auch  im  Archiv  f.  zivil.  Praxis  Bd.  78, 
79,  80,  81,  82,  84,  85,  86,  87  und  91,  einen  Nekrolog  betr.  Huschke,  zu  dem 
er  in  Breslau  in  Beziehungen  getreten  war,  in  Bd.  70.  Reiche  Sach-  und 
Geschäftskenntnisse  befähigten  ihn  zu  reger  Anteilnahme  an  den  Verwaltungs- 
geschäften der  Universität.  Das  Vertrauen  der  Kollegen  berief  ihn  zu  einfluß- 
reichen Stellungen;  so  leistete  er  als  Prorektor  (1869/70)  der  Albertina,  als 
Senatsmitglied,  Kassenkurator  und  stellvertretender  Universitätsrichter,  auch 
als  Leiter  der  Rhesaschen  Stiftung  große  Dienste.  Dank  hierfür  wurde  ihm 
zuteil  bei  der  Feier  des  70.  Geburtstages  und  des  fünfzigjährigen  Doktor- 
jubiläums, zu  dem  Kollegen  (v.  Blume,  Gareis,  Gradenwitz  und  Güterbock) 
namens  der  juristischen  Fakultät  durch  Abfassung  einer  Festschrift  (Festgabe 
für  ihren  Senior  Johann  Theodor  Schirmer  zum  i.  VIII.  1900,  Königsberg  1900) 
ihn  ehrten.  Auch  Ordensauszeichnungen  mangelten  nicht.  In  glücklicher 
Ehe  verbunden  mit  Helene  geb.  Le  Sueur,  genoß  er  einige  Jahre  der  Ruhe  in 
seinem  neuen  Wohnsitz  im  Harz. 


Schirmer.     Staub. 


259 


Chronik  und  Statistik  der  Kgl.  Universität  zu  Breslau  von  Bernhard  Nadbyl  (1861) 
S.  41.  —  Chronik  d.  Kgl.  Albertus-Universität,  Königsberg  1904  S.  14/15  (erweiterter  Nach- 
ruf der  Königsberger  Hartungschen  Zeitung  1904  Nr.  158).  A.  Teichmann. 

Staub,  Hermann,  Justizrat,  Rechtsanwalt  und  Notar,  *  21.  März  1856  zu 
Nicolai  in  Oberschlesien,  f  2.  September  1904  zu  Berlin.  —  Aus  kümmer- 
lichen Verhältnissen  heraus  —  der  Vater  war  Kaufmann  in  einer  kleinen 
Stadt  —  hat  er  sich  als  y>self  made  man<s^  zu  einem  der  bedeutendsten  und 
einflußreichsten  Advokaten  Deutschlands  emporgeschwungen.  Er  besuchte 
die  Universitäten  zu  Breslau  und  Leipzig,  doktorierte  und  bestand  1882  das 
Assessorexamen,  worauf  er  sich  in  Berlin  als  Anwalt  niederließ.  Seine  große 
Gewissenhaftigkeit  in  Bearbeitung  der  ihm  übertragenen  Rechtssachen  und 
seine  juristische  Tüchtigkeit  verschafften  ihm  bald  in  weiteren  Kreisen  großen 
Ruf.  Zahlreiche  Beziehungen  zur  Handelswelt  brachten  ihm  tiefe  Kenntnis 
und  Erfahrung  in  Handelssachen  wie  im  Börsenwesen.  Zwar  hatte  er  auf  der 
Universität  nie  eine  handelsrechtliche  Vorlesung  gehört,  und  doch  war  er 
bald  als  Autodidakt  auf  diesem  Gebiete  so  bewandert,  daß  ein  amtlicher  Auf- 
trag ihn  dazu  bestellte,  den  nach  Berlin  berufenen  Lehrern  der  Fortbildungs 
schulen  Vorträge  über  das  neue  Handelsrecht  zu  halten.  Andererseits  konnte 
er  als  Mitglied  einer  zur  Umgestaltung  des  Börsengesetzes  ernannten  Kom- 
mission seine  erwünschte  Mitwirkung  leisten.  Ausgestattet  mit  erstaunlichem 
Gedächtnis  und  meisterhaft  das  Wort  beherrschend,  war  er  eine  der  beliebte- 
sten und  geachtetsten  Persönlichkeiten  auf  Anwalt-  und  Juristen  tagen,  denen 
er  fleißig  beiwohnte.  Trotz  allmählich  eingetretener  großer  Arbeitslast  als 
einer  der  beschäftigsten  Advokaten  —  versäumte  er  nicht,  weiter  juristische 
Studien  zu  machen  und  überraschte  plötzlich  selbst  ihn  genau  kennende 
Freunde  und  Bekannte  mit  einem  in  gewissenhaftester,  ernster  Arbeit  aus- 
gearbeiteten Werke,  das  sofort  von  den  berufensten  Kennern  dieses  Gebietes 
als  eine  hervorragende  Leistung  begrüßt  wurde.  Es  ist  dies  der  umfangreiche 
»Kommentar  zum  allgemeinen  deutschen  Handelsgesetzbuch  (ohne  Seerecht)«, 
Berlin  1891 — 93,  in  2.  Aufl.  1893 — 94  (daraus  »Kommentar  zum  Aktiengesetz«), 
5.  Aufl.  mit  Supplement  1897,  endlich  6.  und  7.  Aufl.  1899,  1900.  Von  der 
Verbreitung  dieses  Werkes  kann  man  sich  einen  Begriff  machen,  wenn  man 
vernimmt,  daß  die  letzte  Auflage  in  13000  Exemplaren  gedruckt  werden 
mußte,  zugleich  von  dem  Werte  daraus,  daß  eine  besondere  Ausgabe  für 
Österreich  gewünscht  wurde,  deren  Herstellung  Oskar  Pisko  besorgte  (Wien 
1901 — 04).  Eine  ähnliche  Arbeit  ist  der  »Kommentar  zur  allgemeinen  deut- 
schen Wechselordnung«,  Berlin  1895,  4.  Aufl.  190 1.  Weitere  Schriften  sind 
»Kritische  Betrachtungen  zum  Entwurf  eines  H.G.B.  —  Vortrag  am  Anwalts- 
tag 12.  September  1896«;  »Der  Begriff  der  Börsentermingeschäfte  in  $66  des 
Börsengesetzes.  Ein  Rechtsgutachten«,  Berlin  1899;  »Kommentar  zum  Gesetz 
betr.  die  Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung«,  Berlin  1903;  ein  Beitrag 
zu  dem  »Formularbuch  für  die  freiwillige  Gerichtsbarkeit«  (von  mehreren 
Verfassern)  1901,  wie  ein  anderer  zur  Festschrift  für  den  XXVL  deutschen 
Juristentag  1902  (separat  erschienen  »Die  positiven  Vertragsverletzungen«  1904). 
Große  Verdienste  erwarb  er  sich  um  den  Anwaltstand  und  wurde  schon  früh- 
zeitig zum  Mitgliede  des  Vorstandes  des  Berliner  Anwaltvercins  und  des  Vor- 
standes der  Anwaltskammer  im  Bezirk  des  Kammergerichts  geehrt.    Rühmlich 

17^ 


26o  Staub,     von  Lenbach. 

war  die  auch  den  jüngsten  Kollegen  freudig  gewährte  Unterstützung  und  sein 
tapferes  Eintreten  für  die  Sache  der  freien  Advokatur.  Mit  Laband  und 
Stenglein  verband  er  sich  zur  Begründung  der  deutschen  Juristen -Zeitung, 
zu  der  er  namentlich  die  stets  interessant  geschriebene  Rubrik  »Juristische 
Rundschau«  beitrug.  Trotz  großer  Erfolge,  die  er  in  seinem  Berufe  erzielte, 
blieb  er  in  seinem  Wesen  stets  einfach  und  bescheiden,  harmlosen  Gemütes, 
humorvoll.  Eine  schöne,  imponierende  Erscheinung,  hatte  er  sich  stets  bester 
Gesundheit  erfreut.  Da  befiel  ihn  plötzlich  ein  schweres  Leiden,  das  ihn 
auf  das  Krankenlager  warf.     Nach  mehrmonatlicher  Qual  erlag  er  ihm. 

Nekrolog  von  Otto  Liebmann  in  der  Deutschen  Juristen-Zeitung  1904  Nr.  18  (Sp.  825 
bis  834,  auch  927,  931)  mit  Bild.  —  Dr.  Max  Hachenburg  in  der  Monatsschrift  für  Handels- 
recht und  Bankwesen  1904  S.  237—239.  A.  Teichmann. 

Lenbach,  Franz  von,  Maler,  Professor,  Dr,  phil.  h.  c,  *  13.  Dezember  1836 
in  Schrobenhausen  (Ob.-Bayem),  f  6.  Mai  1904  in  München.  —  Franz  Lenbach 
war  der  erste  Sohn  zweiter  Ehe  eines  tüchtigen  und  angesehenen  Maurer- 
meisters in  Schrobenhausen  in  Oberbayern.  Die  Lebensverhältnisse  der 
Familie  L.  waren  recht  gute;  des  Vaters  Geschäft  war  einträglich  und  groß. 
Auf  der  Gewerbeschule  zu  Landshut  lernte  der  Junge  Lesen,  Schreiben, 
Rechnen,  Mathematik  und  Zeichnen.  Nach  den  wenigen  Schuljahren  half 
er  dem  Vater  beim  Plänezeichnen  und  lernte  im  Beruf  seines  Vaters  mit 
Farben  und  Pinsel  umgehen.  Dann  ging  er  nach  München  zum  Bildschnitzer 
Sickinger,  wo  er  modellieren  und  schnitzen  lernte.  Aber  ihn  erfüllte  früh  die 
Architektur  mehr  als  die  Plastik.  Als  Erbe  und  Schüler  räumlich  schaffender 
Kunst  hatte  er  den  Sinn  für  Großes  und  Freude  am  Ausgestalten  großer  Räume 
empfangen.  Die  Lust  zum  Malen  wurde  ihm  geweckt  durch  einen  älteren 
Bruder  Karl,  der  früh  verstarb.  Sein  erster  und  bester  Lehrer  war  der  Tier- 
maler Hofner,  der  nur  vier  Jahre  älter  und  in  Aresing  bei  Schrobenhausen 
heimisch  war.  L.  erwarb  sich  sehr  rasch  das  handwerklich  Technische,  und 
die  Lust  an  der  malerischen  Erfüllung  auch  geringster  Aufgaben  gab  ihm 
die  feste  und  nährende  Grundlage  für  sein  späteres  Schaffen.  Durch  das, 
was  er  häufig  für  die  Bauern  und  für  die  Kleinstädter  malen  mußte,  Votiv- 
bilder,  Marterln  u.  dgl.,  durch  seine  Freude  an  der  Scholle  wurde  er  früher 
als  andere  »Pleinairist«.  Auch  L.  ist  Beweis,  wie  weit  zurück  das  dann 
als  akademisch-malerisches  Dogma  gehütete  Malen  unter  freiem  Himmel 
geht  und  wie  wenig  solches  Malen  und  das  rasche  Festhalten  der  Ein- 
drücke mit  breitem  Pinsel  allein  etwas  Meisterliches  bezeichnet.  L.  malte 
was  er  sah,  zum  Studium  war  ihm  alles  recht,  und  da  er  in  den  ersten 
künstlerischen  Entwicklungsjahren  den  Sommer  meist  auf  dem  Lande  war, 
malte  er  fast  nur  Menschen  und  Dinge  im  Freien,  viel  in  voller  Sonne, 
und  die  Freilichtmalerei  lehrte  ihm  das  rasche  Festhalten  der  Farben.  — 
Schon  mit  etwa  16  Jahren  verdiente  er  sich  durch  Malen  sein  Brot.  1852, 
im  Todesjahre  seines  Vaters,  der  den  Sohn  für  seinen  Beruf  hatte  erziehen 
wollen,  kopierte  er  in  Augsburg  eine  Kreuzabnahme  des  Christoph  Schwarz. 
Die  Wahl  dieses  Meisters,  aus  gleicher  Landschaft  wie  L.,  ist  bezeichnend 
für  den  großen  neuen  Meister  des  Portraits:  Ein  Maler  wars,  der  die 
Charakterschärfe  deutscher  Zeichnung  durch  venezianische  Farbenschöne  rassig 
zu  veredeln  wußte.     In   Augsburgs  Galerie  kopierte  er  gern  —  der  Besuch 


von  Lenbach.  201 

der  dortigen  polytechnischen  Schule  brachte  ihm  Widerwillen  gegen  Akade- 
mien bei.  Immer  wußte  er  Zeit  und  Zeiten  auszunutzen  zur  Arbeit  an  sich 
selbst.  In  diesen  Jahren  verwertete  er  den  Winter  in  der  Stadt  zur  Samm- 
lung von  Wissen,  zur  Vorbereitung  auf  neues.  Im  Sommer  aber  malte  er  in 
Aresing  mit  Hofner.  Da  suchte  er  die  Natureindrücke  mit  dem,  was  er  von 
den  alten  Meistern  sich  erworben,  in  Verbindung  zu  bringen.  —  Oft  wohl 
mag  von  ihm  in  diesen  Jahren  der  zehnstündige  Weg  von  München  nach 
Schrobenhausen  zurückgelegt  worden  sein.  Kurze  Zeit  war  Hofmaler  Gräfle, 
ein  Schüler  Winterhalters,  von  dem  übrigens  auch  später  L.  immerhin  rüh- 
mend sprach,  L.s  Lehrers;  —  aber  Hofners  Art  gab  ihm  mehr  —  keinem 
folgte  er  mehr,  auch  Piloty  nicht,  der  L.s  großes  Talent  sofort  erkannte  und 
ihn  in  seinem  Atelier  im  Wintersemester  1857/1858  aufnahm.  1858  bedeutete 
den  meisten  L.s  »Landleute  vor  einem  Gewitter  flüchtend«  (Museum  zu 
Magdeburg),  wegen  seiner  rücksichtslosen  Mache,  seinem  resoluten  Sehen, 
eine  Revolution  in  der  Malerei.  Daß  L.s  Sehen-  und  Malenkönnen  auffiel, 
war  berechtigt,  aber  das  Bild  stellt  doch  nur  eine  mittlere  Stufe  in  des 
Meisters  nun  etwa  sechsjähriger  Kunst  dar.  Der  »Titusbogen«  (1860)  (Preß- 
burger Museum)  und  der  »Hirtenknabe  in  der  Sonne«  (Galerie  Schack)  er- 
hoben ihn  zwar  berechtigterweise  noch  mehr  gegenüber  seinen  Altersgenossen, 
aber  beide  Meisterbilder  schließen  nur  die  Zeit  bedeutsam  ab,  in  der  er  zum 
Meister  sich  erhoben.  1860  vollendete  er  auch  den  »Hirtenjungen«  und 
nahm,  wie  Böcklin  und  Begas,  einen  Ruf  als  Lehrer  an  die  Kunstschule  in 
Weimar  an.  Die  kleinen  Verhältnisse  der  Residenz  verleideten  ihm  bald 
Leben  und  Schaffen.  Er  folgte  1863  einem  Auftrag  des  damaligen  Freiherm 
A.  F.  von  Schack,  und  kopierte  in  Rom  Tizians  »Himmlische  und  irdische 
Liebe«.  Dann  war  er  in  Florenz  und  1867  in  Madrid  tätig,  um  die  Schack- 
sche  Galerie  mit  einer  Reihe  bedeutender  Kopien  und  Bilder  zu  bereichern. 
Diese  Jahre  sind  für  L.  von  größter  Bedeutung.  In  ihnen  trat  er  durch  sein 
geistvolles,  treues  Kopieren  in  die  engste  Beziehung  zu  den  Aristokraten 
unter  den  Malern,  zu  Tizian,  Tintoretto,  Rubens,  van  Dyk,  Rembrandt  und 
Velasquez.  —  Wenn  L.  selbst  seinem  Gönner  Schack  keineswegs  großen 
Dank  wissen  wollte,  so  bleibt  dem  Münchener  Mäcen  doch  das  Verdienst, 
daß  er  dem  jungen  Künstler  früher  ein  näheres  Bekanntwerden  mit  den  großen 
Malern  ermöglichte,  als  dies  dem  Künstler  ohne  Schacks,  allerdings  sehr  ge- 
ringe materielle,  Hilfe  möglich  gewesen  wäre. 

An  bedeutenden  Portraits  waren  in  dieser  Zeit  bis  zu  seiner  1868  erfolg- 
ten Rückkehr  nach  München  u.  a.  entstanden  das  von  Arnold  Böcklin  (1861), 
V.  Schack  (1862),  L.  v.  Hagn  (1863),  K.  Geyer  (1863),  E.  v.  Liphart  (1865), 
J.  V.  Kopf  (1865).  —  Das  Bild  eines  anderen  Großen,  Richard  Wagners,  stellt 
eines  der  ersten  Portraits  der  beginnenden  Ruhmesepoche  L.s  dar.  — 

Nach  einem  kurzen  Aufenthalt  in  Wien  (187 1)  siedelte  er  1872  ganz  nach 
der  Kaiserstadt  über,  um  nur  den  Winter  1873/ 1874  in  Berlin  zuzubringen. 
Die  Bildnisse  L.s  vom  Kaiser  Franz  Joseph  und  Kaiser  Wilhelm  I.  hatten 
zwar  auf  der  Wiener  Weltausstellung  1873  ^icht  den  gedachten  Erfolg.  Sie 
zeigten  L.s  Art  und  die  war  eine  neue.  Sein  Ruf  als  Portaitmaler  war  aber 
schon  zu  dieser  Zeit  durch  Bildnisse  hochstehender  Persönlichkeiten  gefestigt, 
er  überragte  Angeli,  der  allerdings  seiner  Verschönerungen  wegen  in  den 
Salons  der  beliebtere  Portraitmaler  blieb.     Gegenüber  Angeli  fällt  L.s  unver- 


202  von  Lenbach. 

kennbares  Hauptinteresse  an  den  geistigen  Werten  der  zu  Portrai tierenden 
schroff  und  außerordentlich  bedeutend  auf. 

Gegen  Ende  des  Jahres  1875  machte  L.  mit  Makart  und  anderen  Künst- 
lern eine  Reise  nach  Kairo.  Die  Reise  hat  wohl  einige  malerisch  original 
gesehene  Bilder  und  Skizzen  gezeitigt,  aber  bezeichnenderweise  L.  in  keiner 
Weise  von  dem  mit  Sicherheit  beschrittenen,  —  und  rein  künstlerisch  erfolg- 
reichen Wege,  seinem  engen  Gebiete,  entfernt.  1882  verbrachte  L.  den 
Winter  in  Rom,  und  wie  in  Wien  war  sein  Atelier  im  Palazzo  Borghese  bald 
der  Ort,  an  dem  sich  die  Größen  der  verschiedenen  Berufswelten  trafen,  was 
nun  immer  mehr  von  seinen  Ateliers  gilt.  Ganz  besonders  von  seinem  Münche- 
ner Heim  an  der  Luisenstraße  bei  den  Propyläen,  das  ihm  Gabriel  Seidl  in 
der  Mitte  der  achtziger  Jahre  errichtete.  Hier  waren  Fürsten  und  Große 
immer  anzutreffen  und  gar  mancher  hohen  Namens  kam  nur  um  L.  zu  ehren 
nach  München.     So  Deutschlands  erster  Reichskanzler. 

L.s  erste  Ehe  mit  einer  Nichte  des  Feldmarschalls  Grafen  Moltke  wurde 
durch  Scheidung  gelöst.  Eine  zweite  Ehe  ging  er  mit  Lolo  Freiin  von  Hom- 
stein  ein.  Rastlos  schaffte  L.  bis  zu  seiner  schweren  Erkrankung.  Dann,  als 
er  wieder  etwas  erfrischt  sich  fühlte,  war  seine  Schaffenskraft  sehr  beein- 
trächtigt, und  mehr  noch  litt  er  wohl  psychisch  unter  diesem  Bewußtsein. 

Sein  Tod  mußte  ihm,  dem  Arbeit  im  Dienste  des  Erkennens  und  des 
Schönen  als  Höchstes  galt,  der  den  Bejahrten,  die  nichts  mehr  zu  schaffen  ver- 
mögen, das  Recht  zu  walten  abgesprochen  wissen  wollte,  eine  willkommene 
P^rlösung  sein.  Denn  Herr  sein  oder  Nichtsein,  das  war  sein  in  Werken  und 
Wirken  bekräftigtes  Bekenntnis. 

Während  L.s  neues  Münchener  Heim  das  Ziel  vieler  Großer  und  einer 
ungezählten  Schar  Bewunderer  und  Neugieriger  aus  aller  Herren  Länder 
war,  wurde  es  nach  und  nach  gerade  in  Münchens  Kreisen,  die  um 
Künstler  herum  sich  zu  bilden  pflegen,  als  Charakteristikum  eines  eigenen 
und  verfeinerten  Urteils  angesehen,  über  L.s  Portraits  mehr  oder  weniger 
abfällig  zu  urteilen,  L.s  historische  Bedeutung  als  Portrai tmaler  herabzu- 
setzen, ja  stark  zu  bezweifeln,  und  seine  persönliche  Art  heftig  zu  tadeln. 
Das  letztere  ist  das  am  ehesten  Begreifliche,  denn  an  Neidern  fehlte  es  den 
Großen  nie  und  immer  hatten  auch  die  Größten  sehr  anfechtbare  Schwächen, 
die  von  Kammerdienergeistern  am  nachhaltigsten  bemerkt  werden.  Selbstver- 
ständlich hat  auch  L.  viel  Flüchtiges  geschaffen  und  es  ist  bedauerlich,  daß 
viele  jener  Pastellskizzen,  die  ihm  nicht  zur  weiteren  Ausführung  genügten, 
und  die  er  sorglos  darum  Bittenden  hergab,  später  in  den  Handel  kamen. 

L.  war  Herr  durch  und  durch.  Wie  vielen  hat  er  geholfen  —  ohne  auf 
Dank  zu  warten.  Das  Tüchtige  zu  fördern  galt  ihm  als  Pflicht  des  Ver- 
mögenden. So  mag  auch  seine  Undankbarkeit  dem  Grafen  Schack  gegen- 
über, seine  Unzufriedenheit  mit  hohen  Herren,  die  auch  über  ihm  standen, 
erklärt  werden.  Unleugbar  ist  er  auch  Schack  gegenüber  der  Gebende  ge- 
wesen, nur  hätte  er  nicht  vergessen  sollen,  daß  ihm  durch  Schack  gerade  die 
Wege  erleichtert  wurden,  die  ihn  zu  seinem  Ziele  hinführten.  Aber  dieser 
historische  Erinnerungsfehler  ist  Schaffenden  nur  zu  häufig  eigen  und  L. 
eher  zu  verzeihen  als  anderen.  Bekräftigte  doch  L.  durch  sein  Werk  sehr 
nachdrücklich  seine  eigene  Meinung:  bei  der  Beurteilung  eines  Künstlers 
kommt  es  vor  allen  Dingen  darauf  an,   was  er  in   den   reifsten  Jahren,  nicht 


von  Lenbach.  263 

was  er  in  der  Jugend  oder  jüngeren  Jahren  geleistet.  —  Wenn  L.  Herr  war, 
so  war  er  doch  nicht  zum  Führer  geboren.  Wie  er  als  bestellter  Lehrer  nicht 
hervorgetreten,  so  verstand  er  es  auch  in  freier  Weise  und  selbst  in  jener 
Zeit,  da  er  als  Künstler  im  lieben  Münchens  die  herrschende  Rolle  spielte, 
durchaus  nicht,  die  Jugend  fest  um  sich  zu  scharen.  Doch  wie  er  die  ihm 
Nahestehenden  meisterlich  anzuregen  und  zu  begaben  wußte,  so  wurde  aus 
all  den  künstlerischen  Veranstaltungen  und  Festen,  die  seiner  Freude  am 
Großen  und  Herrlichen  entsprangen,  ein  Ereignis  festfreudiger  Art,  dem 
große  Scharen  sich  hingaben.  Diese  von  L.  groß  und  reich  inaugurierten 
Feste  haben  der  Kunststadt  München  sehr  fruchtbare  Anregungen  gegeben, 
ja  auch  L.  selbst.  Noch  mehr  als  die  Festveranstaltungen,  die  glänzen- 
den Gestaltungen  von  Ausstellungsräumen  für  seine  eigenen  Bilder,  sein 
Künstlerheim,  ist  ganz  besonders  das  Künstlerhaus  in  München,  das  wiederum 
Gabriel  v.  Seidl  erbaute,  unbedingt  wichtig  bei  einer  Beurteilung  von  L.s 
künstlerischer  Art  und  Gabe.  In  diesen  raumkünstlerischen  Schöpfungen  mit 
Gabriel  Seidl  hat  L.  im  besten  Sinne  des  Wortes  sich  auszuleben  versucht, 
was  mit  einigen  Worten  über  die  Beurteilung  des  Ganzen  L.s  zu  erklären  ist. 

L.  gehörte  zu  den  seltenen  Künstlern,  die  merkwürdig  genau  und  klar 
sich  selbst  zu  beurteilen  vermögen,  die  sehr  wohl  wissen,  was  ihnen  fehlt, 
aber  rastlos  sich  bemühen,  das  Fehlende  zu  ersetzen,  die  die  für  ein  Gebiet 
nur  geringe  Gabe  dort  wenigstens  auszugestalten  suchen,  wo  sie  am  reinsten 
zur  Geltung  kommen  kann;  L.  wußte  z.  B.  sehr  gut,  daß  ihm  die  Gabe  großer 
figürlicher  Komposition  gerade  so  gut  fehlte,  als  jener  Gruppe  seiner  Zeit- 
genossen, die  in  Skizzen  und  Studien  genug  zu  geben  meinte.  Wer  L.  fragte, 
weshalb  er  nicht  einmal  in  größeren  Kompositionen,  wie  sie  die  gerade  von 
ihm  meist  verehrten  alten  Meister  geschaffen,  sich  versuche,  konnte  ein  er- 
staunlich bescheidenes  Selbstbekenntnis  zu  hören  bekommen.  Aber  wenn  so 
viele  Maler  das  für  unsere  Zeit  charakterische  Unvermögen  gar  nicht  fühlten, 
drängte  es  L.  zu  einer  Betätigung  »großkompositorischer  Malerei«  auf  anderem, 
auf  »angewandtem«  Gebiete.  Das  sind  seine  Wohnräume  in  der  Luisenstraße, 
die  Festräume  des  Münchener  Künstlerhauses.  Hier  komponierte  L.  rastlos 
mit  verfeinertem  Gefühl  in  Farben,  die  die  Stoffe  und  der  Schmuck  der 
Räume  gaben,  Symphonien  von  ausgeglichenem  Reichtum.  In  diesen  Räumen 
tritt  deshalb  die  Wahl  eines  alten  reichen  Stiles  als  unwesentlich  zurück,  wie 
auch  die  Formen,  deren  Wahl  im  einzelnen  ja  Sache  der  Architekten 
war,  nicht  wesentlich  für  die  Kritik  sind.  L.  hat  hier  jedenfalls  gezeigt,  wie 
er  auch  große  kompositorische  Aufgaben  malerisch  zu  lösen  wußte  und  wenn 
das  Ganze  auch  mehr  eine  Komposition  vorhandener  Mosaikteilchen  bedeutet, 
für  L.s  Streben  sind  diese  immer  glücklicheren  Versuche,  im  Größeren  eine 
Abrundung  des  eigenen  beengten  Gebietes  zu  suchen,  rühmlich  und  charak- 
teristisch. Aber  auch  hier  wurde  ihm  das  Komponieren  nicht  leicht,  auch 
hier  war  er  der  ernste  Künstler,  nicht  rasch  zufriedener  Dilettant. 

L.,  der  sich  also  hier  als  ein  Meister  angewandter  Malerei  zeigte,  ist 
von  oberflächlichen  Beurteilern  gern  als  ein  Nachahmer  »alter  Meister«  kurz 
abgefertigt  worden.  Vielleicht  wird  aber  nach  und  nach  auch  an  ihm  das 
was  als  charakteristisch  für  eine  »moderne«  Zeit  gilt,  die  neuen  Aufgaben 
zuliebe  sich  mit  Fragmenten  und  Skizzen  begnügte,  als  auch  ihn  äußerlich 
kennzeichnend    erkannt.      Doch    wenn    diese  Wertung    L.s    einmal    Geltung 


264  ^^^  Lenbach. 

bekommen  wird,  so  wird  er  nicht  mehr  als  bester  Schüler  alter  Meister,  sondern 
als  Sucher  neuen  festen  Bodens,  als  ein  großer  Unzufriedener  erkannt 
werden,  der  nach  Vollendung  neuer  Anfänge  und  alter  Zusammenhänge  strebte, 
der  trotz  all  seiner  Schwächen,  d,ie  er  mit  den  »Modernen«  seiner  Zeit  teilte, 
als  Ragender  über  vielen  stehen  bleiben. 

Wie  L.  nicht  Bilder  komponieren  konnte  wie  andere,  so  folgte  auch  er 
dem  Reize  des  Unvollendeten.  Das  ist  ihm  ja  oft  genug  zum  Vorwurf  ge- 
macht worden.  Wie  oft  wurde  er  getadelt,  daß  er  nur  auf  das  Gesicht  des 
Portraitierten  Sorgfalt  verwandt  habe.  Es  war  aber  künstlerische  Absicht, 
die  beim  Portrait,  soweit  es  sich  nicht  um  Repräsentationsbilder  handelt,  viel 
berechtigter  noch  ist,  als  bei  anderen  Bildern.  Gerade  L.  kam  es  darauf  an, 
im  Gesicht  den  ganzen  Menschen  zu  geben,  hierauf  alles  zu  konzentrieren, 
in  Gesicht  und  Haltung  den  kristallisierten  Menschen  zu  geben.  Die  Mehrzahl 
seiner  Portraits  sind  Köpfe  oder  Brustbilder  ohne  Hände,  wo  er  die  Hände 
malte,  waren  sie  ihm  auch  als  Einzelerscheinung  wichtig.  —  Hier  ist  zu  er- 
innern, daß  L.,  weil  ihm  der  Tag  zu  kurz,  gern  bei  elektrischem  Bogenlicht 
arbeitete,  fast  von  allen,  die  er  portraitieren  wollte,  photographische  Moment- 
aufnahmen, meist  in  Bildgröße,  machte  und  die  beste  Aufnahme  bei  der 
ersten  Anlage  verwendete.  Wäre  es  ihm  darauf  angekommen,  sich  die  Zeich- 
nung zu  ersparen,  oder  mit  zeichnerischem  Können  zu  paradieren,  so  wären 
wohl  fast  alle  seine  Bilder  ganz  anders  geworden,  als  sie  geworden  sind;  er 
hätte  alle  Äußerlichkeiten,  ganz  gewiß  auch  die  Hände  kopiert,  wogegen  L.s 
Bildnisse,  was  die  äußerliche  Portraitähnlichkeit,  so  weit  sie  von  der  Wieder- 
gabe des  Körperlichen,  der  Linien  und  der  Farben  abhängig  ist,  häufig  genug 
nicht  treu  genannt  werden  konnten.  Das  gilt  von  seinen  Männer-  wie  von 
seinen  Frauenbildnissen  im  gleichen  Maße.  Die  Bildnisse  der  geschichtlich 
bedeutenden  Persönlichkeiten  bleiben  aber  für  alle  Zeiten  ein  Maßstab,  wie 
sehr  überragend  seine  Kunst  war  im  Kristallisieren  des  eigentlich  Persön- 
lichen.    Hierin  überragt  L.  die  gefeiertsten  Portraitisten  seines  Jahrhunderts. 

Die  äußerliche  Untreue  vieler  L.scher  Bildnisse  wird  durch  des  Meisters 
Technik  und  seine  ausgeprägte  Wählerischkeit  im  Gebiete  des  Schönen  er- 
klärt. Unter  Technik  verstand  er  nicht  etwa  nur  den  bestmöglichen  Gebrauch 
der  Hände  und  der  Pinsel.  Diese  Technik  hatte  er,  wie  gesagt,  frühzeitig 
erworben  und  das  war's,  was  er  an  den  Tagesgrößen  der  jüngeren  Generation 
seiner  Zeit  tadelte,  daß  sie  sich  auf  das  äußerlich  Technische,  was  unter  Um- 
ständen sogar  unwesentlich  für  die  Beurteilung  eines  Kunstwerkes  ist,  so  viel 
zugute  tat.  L.  verstand  unter  Technik  die  Kunst,  das  gegenseitige  Wertver- 
hältnis der  Farben  zu  beherrschen.  Das  Malen  war  ihm  kein  Abschreiben, 
sondern  Übersetzen.  Mit  Abschreiben  fing  er  an  und  übte  er  sich.  Des 
Künstlers  Vorrecht,  wählerisch  auch  mit  der  Natur  zu  verfahren,  verführte 
ihn  nur  bei  Frauenbildnissen.  Häßliches  verursachte  ihm  im  Leben  physisches 
Übel,  so  ließ  er  denn  häßliche  Augen  auf  seinen  Bildnissen  schließen  und 
Haut-  und  Haarfarbe  blieben  wohl  im  Wertverhältnis  zueinander  und  zur 
Umgebung  richtig,  aber  der  bestimmende  Farbfaktor  wurde  von  L.  so  ge- 
wählt, daß  das,  was  ihn  am  meisten  am  Objekte  störte,  gemildert  wurde.  In 
dieser  Kunst  der  gegenseitigen  Farbenbewertung  erreichte  L.  eine  Höhe,  die 
erst  bei  eingehendster  Prüfung  seiner  Bilder,  die  in  diesem  Punkte  bis  in  die 
Mitte    der  neunziger  Jahre  an  Wert  stiegen,    ganz  erkannt  werden  kann.    — 


von  I^enbach. 


265 


Bei  solcher  Meisterschaft,  die  nach  der  äußerst  entschlossenen  Frei luft maierei 
seiner  ersten  Epoche,  erst  L.s  Können  bezeichnet,  konnte  der  Künstler  auf 
Patzereien,  auf  dicken  Farbenaufdruck,  auf  auffallend  breite  Pinselführung, 
die  eine  Zeitlang  für  »geniale«  Technik  gehalten  wurde,  verzichten.  Er  korri- 
gierte die  sicher  hingesetzten  Farben  nicht  durch  ein  Übereinander,  sondern 
am  liebsten  durch  ein  Nebeneinander.  —  Gleichwohl  dürften  L.s  Bilder  an 
Dauerhaftigkeit  sehr  zu  -wünschen  übrig  lassen.  Das  liegt  an  seinen  Mal- 
mitteln. L.  wußte  das,  und  um  diesem  allgemeinen  Übel  zu  steuern,  zeigte 
er  ja  in  der  Deutschen  Gesellschaft  zur  Beförderung  für  rationelle  Malver- 
fahren, deren  ersten  Kongreß  1893  L.  leitete,  so  regen  Eifer. 

Bei  der  Bewertung  von  L.s  Gemälden  ist  sehr  zu  beachten,  daß  die 
Portraits  —  wenigstens  die  in  München  entstandenen  —  bei  Seitenlicht  gemalt 
und  gern  für  eine  bestimmte  Umgebung  von  vornherein  gedacht,  farbig  ge- 
stimmt wurden.  Daran  zu  denken  ist  wichtiger  als  die  banale  Erinnerung, 
der  oder  der  alte  Meister  sei  ihm  Vorbild  gewesen.  —  Den  alten  meister- 
lichen Sinn,  daß  auch  höchste  Malerei  zuletzt  doch  eine  angewandte  Kunst 
ist,  vergaß  L.  nie  und  mit  dieser  Anschauung  vereinigt  er  sich  mit  Whistler, 
noch  mehr  mit  jener  ganzen  führenden  jugendlichen  Richtung,  die  aufkam, 
als  L.  bald  gezwungen  wurde,  den  Pinsel  aus  der  Hand  zu  legen. 

Auf  diesem  Gebiete  war  L.  mehr  Führer  als  rasch  erkannt  werden  konnte; 
denn  die  Formenwelt,  mit  der  er  sich  am  liebsten  umgab,  war  eine  alte,  sie 
war  die  der  späten  reichen  italienischen  Renaissance. 

Mögen  nun  L.s  Frauenbildnisse,  von  denen  so  viele  einen  versteckt  sinn- 
lichen, dekadenten  Zug  tragen,  dem  Meister  den  Titel  eines  einmal  modern 
gewesenen  Bildnismalers  eintragen,  so  wird  man  doch  auch  in  diesen  immer 
die  überlegene  Malerei  würdigen,  so  lange  man  den  Maßstab  seiner  Zeit  an 
ihn  legt,  wie  es  Aufgabe  der  Geschichte  bleibt.  Tatsächlich  zeigt  L.  in  seiner 
Kunst  viele  Vorzüge  und  manche  Schwächen  der  Malerei  seiner  Zeit.  Je  mehr 
aber  auch  diese  Schwächen  werden  ins  Auge  gefaßt  werden,  um  so  mehr  wird 
L.s  reges  Verbundensein  mit  allen  geistigen  Faktoren  seiner  Zeit  hervortreten, 
er  wird  nicht  mehr  wie  ein  immer  Rückwärtsschauender  beurteilt  werden, 
sondern  wie   ein  Vornehmer,   der   unbeirrt  auf  sicherem  Wege  vorausschritt. 

L.  war  von  Erscheinung  groß,  in  der  Bewegung  hatte  er  natürliche  Ele- 
ganz, von  natürlicher  Vornehmheit  war  sein  ganzes  Benehmen  erfüllt,  er  war 
niemals  Schmeichler,  er  hielt  nicht  mit  Äußerungen  der  Freude  oder  der  Zu- 
stimmung zurück,  wenn  ihm  etwas  gefiel,  aber  sehr  entschlossen  gab  er,  ohne 
Rücksicht  auf  seine  Umgebung,  dort  heftigem  und  derbem  Tadel  prägnante 
Worte,  wo  er  Dünkel  oder  Bosheit  oder  Dummheit  bemerkte.  Er  hat  sich 
auch  vor  höchsten  Persönlichkeiten  nicht  gescheut  Dinge  und  Menschen,  die 
ihm  mißfielen,  zu  tadeln,  und  er  war  mit  autokratischem  Recht  ein  Maler  der 
Großen,  weil  er  nicht  Diener  sondern  Herr  war.  —  Ihm  war  die  Unverletz- 
lichkeit und  Bescheidenheit  der  Großen  eigen,  aber  er  paradierte  in  keiner 
Weise  mit  ihnen.  Merkwürdig,  durch  eigenen  Unterricht  und  durch  den  Ver- 
kehr aller  Größen  der  Zeit  gebildet,  überraschte  er  immer  wieder  mit  treffen- 
den Bemerkungen  und  gesundem  Witz.  Er  sah  die  Dinge  mit  eigenen  Augen, 
wie  er  auch  die  Menschen,  die  zu  ihm  als  Berühmte  kamen,  nicht  nach  Büchern, 
sondern  aus  Betrachtung  und  Umgang  rasch  treffender  zu  charakterisieren  ver- 
mochte, als  andere  Menschen  und  andere  Maler  vor  und  nach  ihm. 


266  ^'^^  Lenbach.     Buchholz. 

Hierfür  sind  die  besten  Beispiele  die  L.schen  Bildnisse  Kaiser  Wilhelms  I. 
und  des  Fürsten  Bismarck.  Und  wenn  nun  gerade  diese  Bildnisse  L.s  Ruhm 
in  die  weitesten  Kreise  getragen  und  gerade  diese  die  längste  Zeit  seinen 
Namen  rühmen  sollten,  so  möge  die  weite  Welt  sich  doch  erinnern,  daß  das 
Ansehen,  das  L.  zumal  beim  großen  Kanzler  des  neuen  Deutschlands  genoß, 
sich  nicht  etwa  auf  seinen  künstlerischen  Ruhm,  sondern  in  sicher  noch 
stärkerem  Maße  bei  dem  nüchternen  Diplomaten  auf  die  Vorzüglichkeit  seines 
Charakters,  die  ganze  fesselnde,  natürliche  und  reiche  Persönlichkeit  L.s  er- 
streckte. Die  Kritik  aber  der  Malerei  L.s  begnüge  sich  nie  mit  dem  sehr 
leichten  Hinweis  auf  die  alten  Meister,  die  ihm  als  Lehrer  gegolten.  Viel 
stärker  als  alles  war  in  L.s  Kunst  die  Auffassung  des  bleibend  Charakte- 
ristischen und  die  sichere  Umwertung  aller  Farben,  alles  Wechselnden  in  der 
Natur.  Diese  beiden  Ziele  waren  es,  die  L.  vom  Anfang  seiner  malerischen 
Versuche  an  verfolgte  und  mit  immer  größerer  Sicherheit  und  Vollendung 
erreichte. 

Literatur:  Eine  auf  sorgsam  geprüftem  Material  beruhende  ausführliche  Lebens- 
geschichte des  Meisters  erschien  noch  nicht.  Wie  die  Äußerungen  anderer  Maler  über  ihre 
Kollegen,  sind  die  Urteile  L.s  über  Künstler  für  die  Literatur  nur  vorsichtig  zu  gebrauchen. 
In"  Urteilen  über  seine  eigene  Kunst  und  sich  selbst  war  L.  weniger  vom  Augenblick  der 
Stimmung  abhängig.  Außer  verschiedenen  Aufsätzen  über  L.  in  der  »Kunst  für  Alle«  u.  a. 
Zeitschriften  seien  hier  hervorgehoben:  Franz  von  Lenbach,  Gespräche  und  Erinnerungen, 
mitgeteilt  von  W.  Wyl,  Stuttgart  1904.  —  A.  Spiers  Aufsätze  in  »Kunst  unserer  Zeit«  1895 
u.  1905.  —  A.  Rosenberg,  Lenbach  (Künstler-Monographien  hrsg.  v.  Knackfuö),  Bielefeld  1899. 
—  Allgemeine  Zeitung  1896,  Feuilleton  vom  12.  März.  —  Zeitschrift  für  Innendekoration  1898, 
Juliheft.  —  Ausschließlich  Werke  Lenbachs  finden  sich  reproduziert  in:  Franz  v.  Lenbachs 
zeitgenössische  Bildnisse.  2  Bände  mit  je  40  Portraits  in  Photogravüre.  München,  Bruck- 
mann.  Folio  (1888  u.  1895).  —  Lenbach,  Fr.  v.,  Schönheitsideale,  25  Heliogravüren.  Mit 
einleit.  Text  von  Fritz  v.  Ostini.  München  o.  J.  (1904).  4°.  —  Lenbach,  Frz.  von,  Bild- 
nisse, 40  Gravüren  nach  Orig.-Gemälden  des  Meisters.  München,  Franz  Hanfstängl.  gr.  Folio 
(1897/98).  —  Aus  Studienmappen  deutscher  Meister,  herausg.  v.  Jul.  Lohmeyer.  Franz 
v.  Lenbach.     40  Studien,    Skizzen    und  Werke  des  Künstlers.     Text  von  A.  Rosenberg,  o.  J. 

(1899).  Dr.  E.  W.  Bredt. 

Buchholz,  Wilhelm,  Dr.phiL,  Dramaturg  der  Kgl.  Theater  in  München, 
•  10.  November  1836  zai  Lübeck,  f  25.  November  1904  in  München.  —  B. 
war  als  Sohn  des  Syndikus  Dr.  Buchholz  in  Lübeck  geboren  und  absolvierte 
dort  auch  das  Gymnasium,  worauf  er  in  Leipzig  und  Jena  studierte.  Während 
des  Laubeschen  Regimes  schrieb  er  in  der  Leipziger  Zeitung  Kritiken  über 
das  Stadttheater,  und  von  da  an  hat  ihn  das  Theater  nicht  mehr  losgelassen. 
August  Förster  und  Angelo  Neumann  beschäftigten  ihn  als  Dramaturgen. 
Ersterem  hat  er  zeitlebens  eine  dankbare  Verehrung  bewahrt,  wie  er  denn 
überhaupt  gern  über  seine  Leipziger  Tage  unter  Förster  sprach.  Im  Jahre 
1882  wurde  er  von  dem  Generalintendanten  Frhrn.  v.  Perfall  als  dramatur- 
gischer Sekretär  an  das  Münchener  Hoftheater  engagiert,  an  welcher  Bühne 
er  22  Jahre  tätig  war.  Unter  diesem  Intendanten,  dem  er  ein  treuer  Rat- 
geber in  allen  Angelegenheiten  des  Kgl.  Schauspiels  war,  kamen  auch  seine 
literarischen  Fähigkeiten  zur  Geltung.  Seine  Bühneneinrichtungen  (I.  L. 
Kleins  Zenobia  1884,  Babos  Otto  von  Witteisbach,  Die  Romanows,  nach 
Immermanns  Alexis    1899,    Otto   Ludwigs    Fräulein    von    Scud^ri    1891    und 


Buchholz.     Müller.     Klopfer.  267 

Shakespeares  König  Heinrich  VI.,  2  Teile  1895  bei  Reclam)  wurden  alle  in 
München  aufgeführt,  haben  sich  aber  freilich,  wie  ein  eigenes  Drama  Dante 
(1886),  das  Kürschner  außerdem  noch  anführt,  nicht  halten  können.  Die 
Gartenlaube  und  andere  Zeitschriften  brachten  Gedichte  von  ihm,  und  der 
Prinzregent  von  Bayern  zeichnete  den  tüchtigen  Beamten  durch  die  goldene 
Medaille  für  Kunst  und  Wissenschaft  aus.  Schon  in  Leipzig  hatte  er  sich 
mit  Adelma  Harry,  Ehrenmitglied  des  Grazer  Konservatoriums,  verheiratet. 
Unter  Perfalls  Nachfolger,  Ernst  v.  Possart,  sank  die  Bedeutung  des  Drama- 
turgen auf  ein  Minimum,  und  Dr.  Buchholz,  eine  stille,  irenische  Natur,  war 
nicht  der  Mann,  seinen  Posten  eigenmächtig  zu  heben.  In  den  letzten  fünf 
Jahren  quälte  ihn  zudem  ein  schweres  Kopfleiden,  dem  er  schließlich  auch 
erlag.  Seine  Aschenume  wurde  in  der  Gruft  seines  Vaters  in  Lübeck  bei- 
gesetzt. Er  selbst  lebt  in  der  Erinnerung  derer,  die  ihn  kannten  als  »ein 
treuer  Diener  seines  Herrn«,  wie  er  im  Kreise  der  Bühnenmitglieder  schon 
bei  seinen  Lebzeiten  gerne  genannt  wurde. 

München.  Alfred  Frhr.  v.  Mensi. 


Müller,  Robert,  Kgl.  Regisseur  der  Münchener  Hofoper,  *  11  Juli  1840 
in  Leipzig,  f  17.  Juli  1904  in  München.  —  M.  wurde  als  Sohn  eines  Leipziger 
Buchhändlers  geboren.  Nachdem  er  bei  Volkmar  Kuhns  dramatischen 
Unterricht  genossen,  betrat  er  am  i.  Oktober  1860  in  Greifswald  die  Bühne 
und  zwar  als  Schauspieler.  Erst  später  wurde  er  auf  seine  schöne  Stimme 
aufmerksam  und  ging  1862  zur  Oper  über,  nachdem  er  am  Dresdner  Konser- 
vatorium einigen  musikalischen  Unterricht  genossen  hatte.  M.  wirkte  in 
seiner  Doppeleigenschaft  als  Schauspieler  und  Sänger  (Baßbuffo)  in  Basel, 
Augsburg,  Köln,  Dresden,  Leipzig,  an  der  Komischen  Oper  in  Wien  und  in 
Stuttgart,  wo  er  nebstbei  auch  als  Regisseur  und  als  Deklamationslehrer  am 
Konservatorium  tätig  war  (von  1885  ab).  Später  ging  er  als  Regisseur  nach 
Prag  und  Bremen  und  im  Jahre  1892  an  das  Münchener  Hoftheater,  wo  er 
als  Nachfolger  Brulliots  (s.  Biogr.  Jahrbuch  II.  Bd.  pag.  237)  ausschließlich 
nur  Opernregie  führte,  dann  aber  auch  als  Lehrer  an  der  Kgl.  Akademie  der 
Tonkunst  wirkte.  Jedem  Komödiantentum  gründlich  abhold,  trat  M.  nur 
wenig  an  die  Öffentlichkeit.  Liebenswürdig,  ehrlich  und  bescheiden,  tat  er 
seine  Pflicht,  bis  ihn  schweres  körperliches  Leiden  und  traurige  Familien- 
verhältnisse von  hinnen  riefen.  Dem  Sänger  wurden  eine  schöne,  klangvolle 
Stimme  und  gewandtes  Spiel  nachgerühmt.  Zu  seinen  Hauptrollen  aus  jener 
Zeit  gehörten:  van  Bett,  Masetto,  Kellermeister  (Undine),  Bartolo,  Plumket, 
Leporello,  Baculus,  Beckmesser. 

Eine  kurze  Biographie  enthält  Eisenbergs  Bühnenlexikon. 

München.  Alfred  Frhr.  v.  Mensi. 


Klopfer,  Victor,  Kgl.  Kammer-  und  Hof  Opernsänger,  ♦  17.  März  1869  in 
Zürich,  t  24.  Juli  1904  in  Tegernsee.  —  K.  war  in  Zürich  als  Sohn  eines 
Möbelfabrikanten  und  Tapezierers  geboren  und  wurde  später  Besitzer 
des  väterlichen  Geschäfts.  Bald  kam  er  aber  nach  Bayern  und  setzte  in 
München   die  schon  in  der  Heimat   emsig  betriebenen  Gesangsstudien  fort. 


268  Klopfer.     Rüdiger. 

In  einem  Schülerkonzert  seines  Lehrers,  des  früheren  lyrischen  und  Buffo- 
tenors  Hermann,  fiel  zum  erstenmal  K.s  wundervolle  Baßstimme  öffentlich 
auf.  Vom  I.  September  1906  an  wurde  er  an  die  Münchener  Oper  engagiert, 
konnte  sich  aber  geraume  Zeit  nicht  recht  durchsetzen,  ja  seine  Stellung  schien 
anfangs  ziemlich  prekär  zu  sein.  K.  war  ein  fleißiger,  überaus  gewissenhafter, 
aber  auch  pedantisch-ängstlicher  Künstler.  Er  selbst  klagte,  daß  ihn  seine 
nervöse  Ängstlichkeit,  die  ihn  auf  der  Bühne  jedesmal  überfalle,  an  der 
vollen  Entfaltung  seiner  Mittel  hindere.  Nur  langsam  und  mühsam  hat  sich 
K.  die  erste  Stellung  erobert,  die  er  zuletzt  doch  einnahm.  Völlig  sicher 
war  sie  ihm  eigentlich  erst,  als  er  sich  auch  auswärts  Ruhm  und  Ehren 
geholt  hatte.  K.  erschien  wiederholt  bei  den  Salzburger  Musikfesten,  in  den 
Konzerten  der  Wiener  Gesellschaft  der  Musikfreunde,  in  der  Royal  Opera 
in  London,  im  New  Yorker  Metropolitan  Opera  House  usw.  K.s  Stimme  war 
ein  echter  seriöser  Baß  von  entzückendem  Wohlklang  und  einem  edlen, 
vornehmen  Timbre,  der  trefflich  zu  seiner  großen,  schlanken  Erscheinung  und 
zu  seinem  immer  etwas  würdig  gemessenen  Spiel  paßte,  das  in  den  ersten 
Jahren  noch  etwas  steif,  später  aber  lebendiger  wurde  und  stets  wohldurch- 
dacht war,  denn  K.  war  ein  intelligenter  Künstler,  der  fast  ebensogut  und 
wirksam  sprach  wie  sang.  Er  studierte  nicht  leicht  und  sein  Repertoire  war 
noch  nicht  groß,  aber  er  war  auf  dem  besten  Wege,  der  erste  Bassist  Deutsch- 
lands zu  werden,  denn  es  konnte  kaum  eine  schönere  und  edlere  Baßstimme 
gefunden  werden.  In  den  Münchener  Wagner-  und  Mozartfestspielen  sang  er  den 
Fafner,  Hunding,  Marke,  Daland,  Pogner,  Sarastro  und  Komthur.  Aber  er 
besaß  auch  Humor  und  war  ein  vortrefflicher  Barbier  von  Bagdad.  In  einer 
neuen  einaktigen  Oper  »Vaterunser«,  zu  der  sein  Intendant  v.  Possart  nach 
Frangois  Copp^e  den  sentimentalen  Text  gedichtet,  der  Dirigent  Röhr  eine 
lärmende  Kapellmeistermusik  komponiert  hatte,  trat  K.  als  Priester  ahnungs- 
los mit  den  Schlußworten  seiner  Rolle  »Gelobt  sei  Jesus  Christus  —  beten 
Sie!«  von  der  Bühne.  In  den  danach  folgenden  Theaterferien,  kurz  vor 
Beginn  der  Festspiele,  zu  deren  Hauptattraktionen  K.  stets  gehört  hatte, 
starb  er  auf  dem  Lande,  in  Tegemsee,  an  den  Folgen  eines  dummen  Zufalls, 
einer  Sehnenzerreißung  am  Unterschenkel,  die  er  sich  beim  Turnen  zugezogen 
hatte  und  die  ihm  zum  tödlichen  Verhängnis  wurde.  Ein  für  die  junge 
Wittwe  Klopfers  und  sein  Kind  günstig  verlaufender  Unfallversicherungs- 
prozeß  brachte  Klopfers  Namen  einige  Zeit  danach  noch  einmal  an  die 
Öffentlichkeit.  Die  Münchener  Oper  hat  aber  neben  dem  Namen  August 
Kindermanns  keinen  glänzenderen  unter  ihren  Bassisten  zu  verzeichnen  und 
zu  beklagen  als  den  Klopfers,  dessen  Wahlspruch  und  Richtschnur  der 
meist  ernst  blickende  junge  Mann  früh  schon  aufgezeichnet  hatte  in  den 
Worten:  »Ernst  ist  das  Leben,  heiter  die  Kunst  —  mit  Vergunst:  Heiter 
das  Leben,  ernst  ist  die  Kunst«. 

München.  Alfred  Frhr.  v.  Mensi. 


Rüdiger,  Otto,  hamburgischer  Geschichtsforscher  und  Schriftsteller, 
*  22.  April  1845  i"  Marienwerder,  f  12.  Januar  1904  in  Hamburg.  —  R.  be- 
suchte zunächst  die  Volksschule  und  später  das  Gymnasium  zu  Pyritz  in  Pom- 
mern, wohin  die  Eltern  1847  übergesiedelt  waren.    Trotz  seiner  bescheidenen 


Rüdiger.  269 

Verhältnisse  gelang  es  dem  Vater,  der  ein  einfacher  Schneider  war,  seinem 
Sohne  das  Universitätsstudium  zu  ermöglichen.  1864  ging  R.  nach  Halle, 
um  klassische  Philologie  und  Germanistik  zu  studieren.  Seit  1867  beschäftigte 
er  sich  in  Kiel  vorzugsweise  mit  historischen  Studien.  Leider  versagten  die 
Mittel  vor  der  Zeit,  so  daß  er  sich  gezwungen  sah,  einstweilen  für  seinen 
Lebensunterhalt  zu  arbeiten.  Er  wandte  sich  nach  Hamburg,  wo  er  an  einer 
höheren  Privatschule  für  Knaben  angestellt  wurde.  Nach  mehreren  Jahren 
erfolgreicher  Tätigkeit  brachte  er  dann  in  Kiel  mit  der  Promotion  zum  Dr.  phiL 
und  dem  1876  bestandenen  Staatsexamen  seine  Studien  zum  Abschluß.  Er 
trat  darauf  in  den  hamburgischen  Staatsdienst,  den  er  aber  schon  nach  Ver- 
lauf eines  Jahres  verließ,  um  hinfort  in  unabhängiger  Stellung  als  Privatlehrer 
zu  leben.  Der  Stadt  Hamburg  aber  blieb  er  treu  bis  ans  Ende,  ihrer  Geschichte 
widmete  er  seine  ganze  Muße  und  die  beste  Kraft  seines  Lebens.  Der  reiche 
Ertrag  seiner  wissenschaftlichen  Arbeit  bildet  eine  bedeutende  Förderung 
verschiedener  Gebiete  der  hamburgischen  Geschichte,  wie  sie  nicht  allzu  oft 
geleistet  wird.  R.s  Forschungen  bewegen  sich  im  allgemeinen  in  zwiefacher 
Richtung:  sein  erstes  Ziel  war  die  Geschichte  der  Zünfte,  später  beschäftigte 
ihn  ausschließlich  die  Schulgeschichte  Hamburgs.  Mit  dem  1874  heraus- 
gegebenen Werke  »Die  ältesten  hamburgischen  Zunftrollen  und  Brüderschafts- 
statuten« schuf  R.  »eine  hamburgische  Geschichtsquelle  ersten  Ranges«.  Ein 
Nachtrag  dazu  erschien  1875  unter  dem  Titel  Ȁltere  hamburgische  und 
hansestädtische  Handwerksgesellendokumente«.  Aus  der  großen  Zahl  seiner 
kleineren  Beiträge  zur  Zunftgeschichte  sei  der  Vortrag  über  »Böhnhasen  und 
Handwerksgesellen«  hervorgehoben,  der  in  der  1892  von  Th.  Schrader  heraus- 
gegebenen Sammlung  »Hamburg  vor  200  Jahren«  abgedruckt  ist.  In  engem 
Zusammenhang  mit  den  Studien  zur  Zunftgeschichte  stehen  auch  die  beiden 
Romane  »Siegfried  Bunstorps  Meisterstück«  (Jena  1878)  und  »Die  letzten 
Marienbilder«  (Hamburg  1886),  deren  Schwerpunkt  nicht  so  sehr  in  ihrem 
künstlerischen  Wert,  als  vielmehr  darin  liegt,  daß  sie  ein  fein  ausgeführtes, 
überaus  anschauliches  und  zuverlässiges  Kulturbild  vergangener  Zeiten  bieten. 

Im  Auftrage  des  »Vereins  für  Hamburgische  Geschichte«,  der  in  dem 
Verstorbenen  eins  seiner  verdientesten  Mitglieder  verloren  hat,  veröffentlichte 
R.  1889  »Barbarossas  Freibrief  für  Hamburg  vom  7.  Mai  11 89.  Festschrift 
zum  siebenhundertjährigen  Gedenktage«,  eine  Publikation,  die  eine  lebhafte 
literarische  Fehde  über  die  Echtheit  der  in  Frage  kommenden  Urkunde  her- 
vorrief. 

Während  des  letzten  Jahrzehnts  seines  Lebens  pflegte  R.  mit  besonderem 
Eifer  das  Gebiet  der  hamburgischen  Schulgeschichte.  Die  erste  Frucht  seiner 
ausgedehnten  Forschungen  war  seine  »Geschichte  des  hamburgischen  Unter- 
richtswesens«, welche  die  Entwicklung  der  hamburgischen  Schulen  zum  ersten 
Male  im  Zusammenhang  schildert.  Sie  wurde  den  Teilnehmern  der  deutschen 
Lehrerversammlung,  die  Pfingsten  1896  in  Hamburg  tagte,  als  Festschrift 
überreicht.  Sein  letztes  größeres  Werk  »Caroline  Rudolphi.  Eine  deutsche 
Dichterin  und  Erzieherin,  Klopstocks  Freundin«  (Hamburg  und  Leipzig  1903), 
das  zum  hundertjährigen  Todestage  des  Messiassängers  erschien,  behandelt 
in  eingehender  und  liebevoller  Weise  die  Lebensgeschichte  jener  hamburgi- 
schen Schulvorsteherin,  deren  Name,  heute  fast  vergessen,  vor  hundert  Jahren 
weit  über  Hamburgs  Grenzen  hinaus  einen  guten  Klang  hatte. 


2  70  Rüdiger.     Eckermann. 

Vgl.  Hamburger  Nachrichten,  2.  Morg.-Ausg.  v.  14.  Januar  1904  (Nekrolog  v.  G.  Lcit- 
häuser);  i.  Morg.-Ausg.  v.  16.  Januar  1904.  —  Hamburgischer  Correspondent,  Morg.-Ausg. 
V.  13.  Jan.  1904.  —  Mitteilungen  des  Vereins  für  Hamburgische  Geschichte,  Bd.  8,  Jg.  24, 
1904,  S.  385 — 87.  —  Das  literarische  Echo,  Jg.  7,  Hft.  5.  v.  i.  Dezember  1904  (F.  Muncker, 
Caroline  Rudolphi).  Joh.   Sass. 

Eckermann,  Christian  Hinrich,  Landesbaurat  der  Provinz  Schleswig- 
Holstein,  *  30.  November  1833  in  Elmshorn,  f  8.  Juni  1904  in  Kiel.  —  Seine 
Schulbildung  empfing  E.  in  der  Volksschule  und  in  dem  Privatinstitut  des 
Dr.  Stössiger  in  Elmshorn.  Seit  1850  bereitete  er  sich  in  Dithmarschen 
praktisch  auf  den  Landmesserberuf  vor  und  bestand  im  Frühling  1856  das 
Landmesserexamen  in  Kiel.  In  den  beiden  folgenden  Jahren  war  er  bei 
den  Eindeichungsarbeiten  und  Stromvermessungen  in  Norderdithmarschen 
beschäftigt.  Von  1858  bis  1860  besuchte  er  das  Polytechnikum  in  München, 
arbeitete  von  1861  — 1864  als  Ingenieur  im  holstein-lauenburgischen  Deich- 
und  Wasserbauwesen  und  wurde  im  Herbst  1864  als  Kgl.  Wegebauinspektor 
ip  Husum  angestellt.  Hier  lernte  er  Theodor  Storm  kennen,  und  aus  der 
Bekanntschaft  entwickelte  sich  eine  Freundschaft  fürs  Leben.  Als  Storm  den 
»Schimmelreiter«  schrieb,  fand  er  in  allen  technischen,  den  Deichbau  be- 
treffenden Fragen  in  dem  Freunde  einen  sachkundigen  Berater.  Am  i.  April 
1869  wurde  E.  zum  Kreis-Baubeamten  für  Norderdithmarschen  ernannt  und 
verlegte  seinen  Wohnsitz  nach  Heide.  Nachdem  er  im  September  187 1  den 
Amtscharakter  als  Königlicher  Bauinspektor  erhalten  hatte,  trat  er  am 
I.  April  1876  als  Wegebauinspektor  in  den  Dienst  der  Provinz,  die  ihn  1894 
als  Landesbaurat  in  die  Provinzialvcrwaltung  nach  Kiel  berief.  Keinen 
besseren  Händen  konnte  die  Leitung  des  gesamten  Wegebauwesens  anver- 
traut werden,  für  dessen  Förderung  und  Ausgestaltung  E.  bis  in  seine  letzte 
Leidenszeit  hinein  unermüdlich  tätig  gewesen  ist. 

Doch  nicht  in  dem,  was  er  als  Beamter  geleistet  hat,  liegt  seine  eigent- 
liche Bedeutung.  Sie  ruht  in  dem  stillen,  aber  um  .so  tieferen  Wirken,  das 
von  seiner  Persönlichkeit  ausging.  Er  war  ein  durchaus  aufrechter  Charakter, 
aufrecht  bis  zum  äußersten.  Dieser  Grundzug  seines  Wesens  im  Verein  mit 
außerordentlichen  Geisteskräften  verlieh  ihm  jenes  Übergewicht,  um  dessen 
willen  er  im  ganzen  Lande  hohes  Ansehen  und  das  unbedingte  Vertrauen 
der  Besten  genoß.  Sein  Rat  wurde  viel  begehrt.  Der  weite  Blick,  mit  dem 
er  überall  den  großen  Zusammenhang  der  Dinge  sah,  sein  scharfer  Verstand 
und  sein  reiches,  alles  Menschliche  so  tief  verstehendes  Gemüt  ließen  ihn 
auch  in  schwierigen  P'ragen  das  Rechte  treffen,  während  seine  warme  Herzens- 
freundlichkeit und  sein  erquickender  Humor  ihm  aller  Herzen  gewann.  Eine 
Natur  von  wahrhaft  großer  Schlichtheit,  allen  äußeren  Ehren  abhold,  suchte 
und  fand  er  den  Wert  des  Lebens  einzig  im  Geistigen.  Von  Jugend  auf  er- 
füllte eine  starke  Liebe  zur  Heimat  sein  Herz  — 

»O  graue  Woge,  o  grüner  Strand, 
Über  alles  mir  teures  Vaterland!« 

In  seinen  Mußestunden  trieb  E.  mit  Vorliebe  historische  Studien.  Mit 
tiefdringendem,  Grund  und  Folge  der  Erscheinungen  scharf  erfassendem  Ver- 
ständnis verfolgte  er  die  großen  Wandlungen  in  den  Geschicken  Schleswig- 
Holsteins  und  Deutschlands,  die  so  nahe  miteinander  verknüpft  waren.    Mit 


Eckermann.     Brosius.     Holzmann. 


271 


Land  und  Leuten  aufs  engste  vertraut,  war  er  vor  allem  ein  gründlicher 
Kenner  unserer  Provinzialgeschichte,  die  er  durch  eine  Anzahl  eigener  wert- 
voller Forschungen  bereichert  hat.  Sie  beziehen  sich  durchweg  auf  die 
Geschichte  der  Eindeichungen  an  der  schleswig-holsteinischen  Westküste  und 
sind  in  verschiedenen  Bänden  der  »Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Schleswig- 
Holsteinische  Geschichte«  erschienen.  E.s  handschriftlicher  Nachlaß  wird  in 
der  Schleswig-Holsteinischen  Landesbibliothek  zu  Kiel  aufbewahrt. 

Vgl.  Zeitschrift  d.  Gesellschaft  f.  Schlesw.-Holst.  Geschichte,  Bd.  34,  1904,  S.  187 
bis  189  (Nekrolog  nebst  Schriftenverzeichnis).  —  Kieler  Zeitung,  Ab.-Ausg.  v.  S.u.  13  Juni 
1904.  —  Alberti,  Schriftstelleriexikon,  1866 — 1882,  Bd.  i,  S.  147.  Joh.   Sass. 


Brosius,  Ignaz,  Kgl.  preuß.  Eisenbahndirektor,  *  29.  Juli  1838  zu  Burg- 
steinfurt, t  31-  August  1904  in  Hannover.  —  B.  hatte  sich  wissenschaftlich 
und  praktisch  für  den  Eisenbahnmaschinendienst  ausgebildet  —  wissenschaftlich 
am  Polytechnikum  in  Zürich,  praktisch  als  Schlosser  in  der  Eisenbahn  Werk- 
statt in  Paderborn  und  als  Lokomotivführer  in  Altenbecken,  Holzminden  und 
Paderborn.  Mit  Koch,  seinem  langjährigen  literarischen  Mitarbeiter,  kam  er 
im  Jahre  1865  als  Ingenieur  zur  Westfälischen  Eisenbahn,  später  als  Maschinen- 
meister nach  Hannover,  1883  als  Vorstand  des  maschinentechnischen  Bureaus 
nach  Magdeburg,  wo  er  bis  1885  blieb.  Nach  mehrjähriger  Beschäftigung 
bei  verschiedenen  Betriebsämtern  wurde  er  1890  zum  Eisenbahndirektor 
ernannt  und  1891  zum  Vorstand  der  Eisenbahn-Hauptwerkstatt  Breslau  berufen: 
schon  im  nächsten  Jahre  erfolgte  seine  Versetzung  nach  Harburg  und  1895 
seine  Pensionierung.  Er  kehrte  nach  Hannover  zurück,  wo  er  denn  auch 
sein  Leben  beschloß.  B.  ist  besonders  bekannt  geworden  durch  seine  Ayerke; 
»Die  Schule  des  Lokomotivführers«  und  »Der  äußere  Eisenbahn-Betrieb«; 
beide  schrieb  er  gemeinsam  mit  R.  Koch;  viel  verbreitet  sind  sein  »Illustriertes 
Wörterbuch  der  Eisenbahnmaterialien«  und  seine  »Reiseerinnerungen  an  die 
Eisenbahnen  der  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika«;  die  »Schule  des 
Lokomotivführers«  hat  bisher  zehn  Auflagen  erlebt.  A.  Birk. 


Holzmann,  Philipp,  Baurat,  *  10.  Dezember  1836  zu  Sprendlingen  bei 
Frankfurt  a.  M.,  t  i4-  Mai  1904  zu  Frankfurt  a.  M.,  ist  der  bekannte  Gründer  und 
langjährige  Leiter  des  Baugeschäfts  Philipp  Holzmann  u.  Co.  in  Frankfurt  a.  M., 
das  sich  durch  seine  großen  technischen  Bauten  in  Deutschland,  Österreich,  in 
der  Schweiz  und  in  Holland  und  durch  den  Bau  der  Anatolischen  Eisenbahn, 
wie  auch  durch  die  Mitwirkung  bei  den  Ausstellungen  in  Chicago  und  Paris 
einen  Weltruf  erworben  hat.  H.  hat  in  Darmstadt  und  Karlsruhe  studiert 
und  sich  im  Baugeschäfte  seines  Vaters  praktisch  ausgebildet.  Im  Jahre 
1864  übernahm  er  selbst  in  Gemeinschaft  mit  seinem  Bruder  dieses  Geschäft  und 
führte  es  nun  in  stets  aufsteigender  Linie  seiner  gegenwärtigen  Bedeutung  zu. 
H.  besaß  einen  weiten  Blick  für  große,  zeitgemäße  Unternehmungen,  Geschick- 
lichkeit in  der  Wahl  seiner  Mitarbeiter  und  Beamten,  gründliche  Kenntnisse 
in  allen  Zweigen  der  Technik  und  dabei  besondere  Liebenswürdigkeit  und 
Hilfsbereitschaft.  Er  war  zuletzt  Vorsitzender  des  Aufsichtsrates  seiner  Firma, 
der  er  sein  tatenreiches  Leben  so  erfolgreich  gewidmet  hatte.        A.  Birk. 


272  von  Schüblcr.     von  Pichler. 

Schübler,  Adolf  von,  kaiserl.  Geh.  Regierungsrat  a.  D.,  *  20.  Juli  1829  zu 
Stuttgart,  t  14-  Januar  1904  ebenda,  erwarb  sich  durch  seine  schriftstellerische 
Tätigkeit  auf  bautechnischem  Gebiete  einen  hervorragenden  Namen.  Seh., 
dessen  Vater  Bergrat  in  Stuttgart  war,  hatte  daselbst  das  Gymnasium  und 
die  polytechnische  Schule  besucht,  ging  dann  nach  Karlsruhe,  um  Redten- 
bach  zu  hören  und  wandte  sich  zunächst  dem  Eisenbahnbau  in  Württemberg 
und  in  der  Schweiz  zu.  Studienreisen  nach  Frankreich  und  Belgien  erwei- 
terten seinen  fachlichen  Blick  und  erweckten  sein  Interesse  für  Brückenbau, 
das  sich  in  der  —  gemeinsam  mit  dem  nachmaligen  Professor  Fr.  Laissle  in 
Stuttgart  unternommenen  —  Herausgabe  eines  großen  Werkes  über  Brücken- 
bau dokumentierte;  dieses  in  vieler  Beziehung  grundlegende  Werk  machte 
den  Namen  des  jungen  Mannes  sofort  in  weiten  Fachkreisen  bekannt.  Nach- 
dem Seh.  zwei  Jahre  bei  Brückenbauten  in  Ungarn  beschäftigt  gewesen  war, 
trat  er  1859  in  den  württembergischen  Staatseisenbahndienst,  in  dem  er  bis 
zum  deutsch-französischen  Kriege  verblieb  und  zahlreiche  Neubauten  leitete. 
Im  Jahre  1870  wurde  Seh.  Eisenbahndirektor  und  Mitglied  der  Kaiserlichen 
Generaldirektion  der  Eisenbahnen  in  Straßburg;  in  dieser  Stellung  entfaltete 
er  eine  ungemein  lebhafte  und  fachlich  ersprießliche  Tätigkeit  bei  dem  Aus- 
bau der  wichtigsten  Bahnhöfe  und  Werkstättenanlagen  dieses  Bahnnetzes, 
sowie  beim  Bau  neuer  Nebenbahnen  und  der  besonders  wichtigen  Erzbahnen 
in  Luxemburg,  für  welchen  Direktionsbezirk  ihm  das  technische  Dezernat 
übertragen  worden  war.  Schon  im  Jahre  1872  hatte  Seh.  eine  größere 
Abhandlung  über  Nebenbahnen  erscheinen  lassen,  in  der  er  die  große  wirt- 
schaftliche Bedeutung  derartiger  Bahnen  eingehend  nachwies.  Dieser  Schrift 
folgten  im  »Zentralblatt  der  Bauverwaltung«  und  in  der  »Zeitschrift  für  Bau- 
wesen« Untersuchungen  über  die  Widerstände  der  Eisenbahnfahrzeuge  im  wag- 
rechten Gleis  (1881),  über  den  Begriff  der  virtuellen  Längen  (1884  —  eine  sehr 
bemerkenswerte  Studie),  über  die  Bestimmung  der  Festigkeitskoeffizienten  für 
Eisenbauten  (1885,  gemeinsam  mit  Laissle),  über  die  Gefäll  Verhältnisse  auf  Ablauf- 
gleisen (1888),  über  die  Berechnung  von  Eisenkonstruktionen  (1889,  in  Verbindung 
mit  Laissle),  über  die  Dauer  von  Eisenbahnschienen  aus  hartem  und  weichem 
Stahl  (1893)  und  über  den  Einfluß  der  Steigungsverhältnisse  (1893).  Körper- 
liche Leiden  zwangen  Seh.,  der  1887  den  Charakter  als  Geheimer  Regierungs- 
rat erhalten  hatte  und  dem  hohe  württembergische  und  preußische  Auszeich- 
nungen, u.  a.  auch  der  persönliche  Adel  verliehen  worden  waren,  schon  1897 
in  den  Ruhestand  zu  treten.  Seine  literarischen  Arbeiten  zeugen  gleich  seiner 
praktischen  Tätigkeit  für  umfassendes  Wissen  und  seltener  Arbeitsfreudigkeit 
—  dagegen  scheint  es  ihm  im  dienstlichen  Verkehr,  trotz  seiner  vornehmen 
Gesinnung,  versagt  gewesen  zu  sein,  die  Zuneigung  seiner  Mitarbeiter  und 
Untergebenen  zu  gewinnen. 

»Zentralbl.  der  Bauverw.«   1904,  S.  36.  A.   Birk. 

Pichler,  Max  Ritter  von,  k.  k.  Sektionschef,  *  2.  November  1839  zu  Wien, 
t  30.  Mai  1904  ebenda.  —  Nach  Zurücklegung  der  technischen  Studien  trat 
P.  im  Jahre  1861  in  den  Dienst  der  österr.  ungar.  Staatseisenbahn-Gesellschaft, 
wo  sich  seine  ungewöhnliche  technische  und  organisatorische  Begabung  sehr 
bald  Bahn  brach  und  durch  Berufung  auf  einen  wichtigen  Posten  anerkannt 
wurde.     Dennoch    verließ    P.    diese   Bahngesellschaft    und    trat    als   Zentral- 


von  Pichlcr.     von  Ott. 


273 


Inspektor  in  den  Dienst  der  ungarisch-galizischen  Eisenbahn  (187 1),  deren 
Verkehrsdienst  er  organisierte  und  deren  gesamte  Verwaltung  er  als  Direktor 
bis  zu  der  im  Jahre  1889  erfolgten  Verstaatlichung  leitete;  in  dieser  Eigen- 
schaft wurde  ihm  1878  der  Titel  eines  Regierungsrates,  1882  der  Orden  der 
eisernen  Krone  III.  Klasse,  im  selben  Jahre  der  Ritterstand  und  1884  der 
Titel  eines  Hofrates  verliehen 

Mit  dem  Übertritt  in  den  Staatseisenbahndienst  eröffnete  sich  ihm  sehr 
bald  durch  seine  Ernennung  zum  Vorstande  der  neugeschaffenen  Lokalbahn- 
abteilung ein  ergiebiges  Gebiet  organisatorischer  Tätigkeit,  das  sich  noch 
erweiterte,  als  er  im  Jahre  1896  mit  der  Leitung  der  technischen  Sektion  des 
Eisenbahnministeriums  betraut  wurde.  In  dieser  Stellung  fand  er  vollauf 
Gelegenheit,  seine  auf  allen  Gebieten  des  Eisenbahnwesens  gesammelten 
Erfahrungen  und  seine  Kenntnis  der  Details  der  einzelnen  Zweige  desselben, 
namentlich  jener  des  technischen  Verkehrsdienstes  nachdrücklich  und  erfolg- 
reich zur  Geltung  zu  bringen,  auf  das  richtige  Ineinandergreifen  der  Tätig- 
keit der  ihm  unterstellten  technischen  Ressorts  und  auf  die  zielbewußte 
Zusammenfassung  ihrer  Funktionen  mit  kundigem  Blicke  hinzuwirken  und 
die  durch  den  Verkehrsaufschwung  gebotenen  Reformen  mit  weiser  Energie 
durchzuführen.  Auf  seine  Anregung  und  Mitwirkung  sind  zurückzuführen: 
Die  Einführung  der  Zugfolge  im  Raumabstand,  die  einheitlichen  Bestimmungen 
für  die  Bauart  der  Betriebsmittel,  die  Verbreitung  der  selbsttätigen  Bremse 
usw.  Seine  umfangreiche  Wirksamkeit  fand  in  der  Verleihung  des  Eisernen 
Kronenordens  II.  Klasse  und  des  Kommandeurkreuzes  des  Leopoldordens 
Allerhöchste  Anerkennung.  P.  war  auch  literarisch  tätig  und  hat  in  verschie- 
denen Zeitschriften  wiederholt  Abhandlungen  betriebstechnischen  Inhaltes 
veröffentlicht.  Er  war  ein  außerordentlich  lauterer  und  liebenswürdiger 
Charakter,  der  streng  gegen  sich  selbst,  immer  nachsichtig  gegen  die  Fehler 
Anderer  war  und  die  Verdienste  seiner  Mitarbeiter  stets  freudig  anerkannte. 

Wochenschrift  für  den  öffentlichen  Baudienst  1904,  S.  484;  mit  Bild.      A.  Birk. 

Ott,  Karl  Edler  von,  Regierungsrat,  ♦18.  April  1835  in  Chotka  bei 
Kiritein  (Mähren),  f  23.  August  1904  in  Brunn  —  ein  Mann,  der  in  den 
weitesten  Kreisen  der  Ingenieure  Österreichs  als  Lehrer  verehrt  und  geschätzt 
wurde.  Der  Sohn  eines  Fürst  Lichtfensteinschen  Försters,  absolvierte  er  die 
Oberrealschule  und  die  Technik  in  Wien,  erwarb  die  Lehrbefähigung  für 
Physik  und  Maschinenlehre,  darstellende  Geometrie  und  Stenographie  an 
Oberrealschulen  und  wurde  am  i.  Oktober  1856  Supplent  an  der  Oberreal- 
schule in  Olmütz.  Vom  Februar  1862  an  wirkte  er  als  Professor  an  der 
deutschen  Oberrealschule  in  Prag,  von  wo  er  bei  der  Gründung  der  zweiten 
deutschen  Oberrealschule  daselbst  (1873)  als  Leiter  beziehungsweise  Direktor 
an  diese  übertrat.  Hier  wirkte  er  bis  zu  seiner  Pensionierung  (1900)  mit 
größtem  Erfolge.  O.  war  im  Jahre  1864  als  honorierter  Dozent  für  Bau- 
mechanik an  die  deutsche  technische  Hochschule  in  Prag  berufen  worden 
und  übte  diese  Lehrtätigkeit  bis  zu  seinem  Tode  aus,  der  ihn  plötzlich  in 
voller  Rüstigkeit  auf  einer  Reise  nach  Brunn  ereilte.  In  Anerkennung  seiner 
hervorragenden  Leistungen  auf  dem  Gebiete  des  Mittelschulunterrichtes 
wurden  ihm  wiederholt  ehrende  und  auszeichnende  Anerkennungen  zuteil. 
O.  war  auch  literarisch  erfolgreich  tätig;  am  bekanntesten  sind  seine  »Bau- 

Biosrr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.    9.  Bd.  18 


274 


von  Ott.     Weitbrecht. 


mechanik«,  die  zum  Teile  schon  in  dritter  Auflage,  und  seine  »Graphische 
Statistik«,  die  bereits  in  vierter  Auflage  erschienen  ist  und  in  fremde  Sprachen 
übersetzt  wurde.  Ein  großer  Naturfreund  und  leidenschaftlicher  Jäger  bewahrte 
er  sich  bis  zu  seinem  Tode  geistige  Frische  und  Regsamkeit,  seinen  Schülern 
brachte  er  stets  großes  Wohlwollen  entgegen  und  ein  lebhaftes  Interesse,  das 
auch  über  die  Hochschule  hinaus  andauerte. 

Wochenschrift  für  den  öffentlichen  Baudienst  1904,  S.  675.  A.   Birk 

Weitbrecht,  Karl,  Dichter  und  Literarhistoriker,  ♦  8.  Dezember  1847  in 
Neu-Hengstett,  f  10.  Juni  1904  in  Stuttgart.  —  Geboren  als  Sohn  eines 
Pfarrers  in  dem  Waldenserdorf  Neu-Hengstett  bei  Calw  im  württembergischen 
Schwarzwald,  wurde  W.  frühe  zum  Theologen  bestimmt  und  erhielt  seine 
Ausbildung  im  niedern  theologischen  Seminar  in  Blaubeuren,  von  1865  an 
im  »Stift«  in  Tübingen.  Nach  einigem  Schwanken,  ob  er  nicht  zu  einem 
andern  Fach  übergehen  solle,  blieb  er,  dem  Wunsch  der  Eltern  entsprechend, 
schließlich  doch  bei  der  Theologie,  da  die  Mittel  zum  Studium  außerhalb 
des  Stifts  fehlten  und  er  dort  außer  Theologie  nur  klassische  Philologie  hätte 
studieren  können;  zu  dieser  aber  hatte  er  »ungefähr  gerade  so  viel  oder 
wenig  Neigung  wie  zur  Theologie«.  Im  Herbst  1869  erstand  er  das  theo- 
logische Examen  und  fand  nun  an  verschiedenen  Orten  Württembergs 
unständige  Verwendung  im  Kirchendienst.  In  dieser  Vikariatszeit  entstanden 
1870/71  seine  »Lieder  von  einem,  der  nicht  mitdarf«;  weitere  Gedichte 
Weitbrechts,  poetische  Stimmungsbilder  zu  Zeichnungen  von  Hugo  Knorr, 
erschienen  1873  in  dem  Prachtwerk  »Was  der  Mond  bescheint«. 

Eine  feste  Anstellung,  die  ihm  die  Begründung  seines  Hausstandes  erlaubte, 
erhielt  er  1874  als  zweiter  Stadtpfarrer  in  Schwaigern  bei  Heilbronn.  Die 
12  Jahre,  die  er  in  dem  stillen  Landstädtchen  zubrachte,  verliefen  ohne 
bedeutendere  äußere  Anregung  oder  Abwechslung,  aber  sie  waren  reich  an 
innerem  Erleben  und  der  größere  Teil  seiner  dichterischen  Produktion  fällt 
in  diese  Zeit.  Sein  »Liederbuch«  erschien,  jedesmal  vermehrt,  in  3  Auflagen, 
zuletzt  (1880)  unter  dem  Titel  »Gedichte«.  Mit  Eduard  Paulus  zusammen 
gab  er  1883  ein  »Schwäbisches  Dichterbuch«  heraus,  in  welchem  das  damalige 
dichtende  Schwaben  ziemlich  vollständig  und  zum  Teil  trefflich  vertreten 
war.  Im  Jahre  1876  übernahm  er  die  Redaktion  des  »Neuen  deutschen 
Familienblatts«,  die  er  bis  zu  seinem  Weggang  von  Schwaigern  besorgte.  In 
diesem  Wochenblatt  veröffentlichte  er  viele  seiner  Gedichte  zum  erstenmal, 
vor  allem  aber  eine  ganze  Reihe  von  Erzählungen,  zum  Teil  unter  dem 
Namen  Gerhard  Sigfrid.  Außerdem  schrieb  er  für  das  »Familienblatt« 
neben  anderem  die  politische  Wochenrundschau  und  eine  Reihe  von  volks- 
tümlich gehaltenen  Artikeln  über  die  Sozialdemokratie,  die  1879  auch  in 
Buchform  erschienen  unter  dem  Titel  »Was  ist*s  mit  der  Sozialdemokratie?« 
Auch  in  »Kalendergeschichten«  legte  er  den  Beweis  ab,  daß  er  das  Zeug  zu 
einem  volkstümlichen  Schriftsteller  besaß,  und  noch  im  Jahr  vdr  seinem  Tode 
bereitete  es  ihm  große  Freude,  daß  ihm  für  eine  Kalendergeschichte  der 
vom  »Lahrer  Hinkenden  Boten«  ausgeschriebene  Preis  zuerkannt  wurde. 

Noch  in  den  Anfang  der  siebziger  J?ihre  fällt  die  Entstehung  seiner 
ersten  Dialekterzählung  »'s  Burgamoischters  Hansjörg«,  angeregt  durch  die 
in  einem  befreundeten   Kreis   aufgeworfene  Frage,  ob  auch  die  schwäbische 


Weitbrecht. 


275 


Mundart  sich  eigne  zu  erzählender  Darstellung  in  der  Art  Fritz  Reuters. 
Bis  dahin  war  das  Schwäbische  in  Erzählungen  nur  im  Munde  der  Sprechenden 
und  zu  deren  Charakteristik  verwendet  worden,  und  auch  hier  mit  Rücksicht 
auf  die  Allgemeinverständlichkeit  meist  nur  in  abgeschwächter,  dem  Schrift- 
deutschen angenäherter  Form ;  die  Brüder  Weitbrecht  waren  die  ersten,  welche 
die  Erzählung  selbst  in  der  Mundart  gaben.  Bald  folgten  dieser  ersten  Geschichte 
weitere,  die  dann  zusammen  mit  den  Erzählungen  seines  jüngeren  Bruders 
Richard  als  »Gschichta-n  aus-em  Schwöbaland«  1877  erschienen  und 
wiederholt  aufgelegt  wurden.  1884  folgten  »Nohmöl  Schwöbagschichta« 
der  beiden  Brüder,  in  denen  Karl  aber  nur  mit  2  Erzählungen  vertreten  war, 
darunter  die  rührende  Kindergeschichte  »Vom  Lisle«. 

Während  sein  Bruder  Richard  die  Gattung  der  mundartlichen  Erzählung 
noch  weiter  pflegte,  wandte  sich  Karl  Weitbrecht  nunmehr  ausschließlich 
der  Erzählung  in  der  Schriftsprache  zu.  Eine  Anzahl  der  im  »Deutschen 
Familienblatt«  erschienenen  Erzählungen,  die  als  gesunde  Volkskost  Verbrei- 
tung verdienten,  sammelte  er  1884  in  seinem  »Greschichtenbuch«.  Schon 
1882  aber  hatte  er  den  Flug  höher  gewagt  und  unter  dem  Titel  »Verirrte 
Leute«  sechs  Novellen  herausgegeben.  1885  folgte  der  ebenfalls  im  Familien- 
blatt zuerst  erschienene  »Kalenderstreit  von  Sindringen«,  dessen  Inhalt  zum 
Teil  auf  handschriftlichen  Quellen  beruhte,  und  1886  die  Novellensammlung 
»Heimkehr«. 

Außer  diesen  Büchern  fallen  in  die  Pfarrzeit  noch  einzelne  ungedruckt 
gebliebene  Dichtungen,  wie  die  in  der  Reformationszeit  spielende  Erzählung 
in  Versen  »Magister  Ludwig«  und  außer  einer  Anzahl  unvollendeter  Dramen 
und  einem  kleinen  Lustspiel  das  Trauerspiel  »Sigrun«.  So  erweisen  sich 
diese  Jahre  des  Pfarramts  als  die  produktivste  Zeit  seines  Lebens.  Sie  waren 
aber  auch  eine  Zeit  der  Erweiterung  und  Vertiefung  seiner  literarischen, 
philosophischen  und  theologischen  Kenntnisse.  Die  Überzeugungen,  welche 
sich  durch  diese  Studien  immer  mehr  in  ihm  befestigten,  brachten  ihn  in 
tiefen  inneren  Zwiespalt  mit  dem  ihm  obliegenden  kirchlichen  Amt,  der  in 
manchen  seiner  Gedichte  ergreifenden  Ausdruck  gefunden  hat  und  auch  zu 
Reibungen  mit  seinem  nächsten  kirchlichen  Vorgesetzten  führte,  so  daß  er 
sich  mehr  und  mehr  hinaussehnte  aus  einer  ihm  zur  Qual  gewordenen  Lage. 

So  ergriff  er  mit  Freuden  die  Gelegenheit,  aus  unbefriedigenden  Verhält- 
nissen wegzukommen,  als  sich  ihm  1886  die  Möglichkeit  eröffnete,  nach 
Zürich  überzusiedeln  als  Rektor  der  höheren  Töchterschule  und  des  Lehrerinnen- 
seminars. Frei  von  kirchlichen  Verpflichtungen  hatte  er  dort  in  der  Schule 
beim  Großmünster  Unterricht  zu  erteilen  in  deutscher  Sprache  und  Literatur, 
sowie  in  Pädagogik.  Nach  der  Enge  aller  Verhältnisse  seines  bisherigen 
Wirkungskreises  atmete  er  auf,  als  ihm  vergönnt  war,  in  das  anregende 
Leben  der  auch  in  landschaftlicher  Hinsicht  bevorzugten  Stadt  einzutreten. 
Die  freiere  Luft,  in  der  er  sich  in  der  Schweiz  bewegen  konnte,  tat  ihm 
überaus  wohl,  und  es  ist  kein  Zweifel,  daß  er  ihr  viel  verdankt.  Von 
dichterischen  Werken  veröffentlichte  er  in  diesen  Jahren  1890  die  Sammlung 
»Sonnenwende«,  die  außer  neuen  Gedichten  das  Trauerspiel  »Sigrun«  enthielt, 
und  1892  die  in  Zürich  entstandene  »Phaläna«  mit  dem  satirischen  Anhang 
»Seefahrt«.  Bedeutete  die  Übersiedelung  nach  Zürich  für  W.  unzweifelhaft 
eine  außerordentliche  Förderung,  so  war  doch  seine  Lage  bei  den  an  sich 

i8* 


276  Weitbrecht. 

schon  und  vollends  für  eine  große  Familie  sehr  bescheidenen  Gehalts- 
verhältnissen nicht  völlig  befriedigend.  Dazu  kam,  daß  er,  der  Stock- 
schwabe, eben  ganz  und  gar  in  seiner  Heimat  wurzelte  und  wirklich  engere 
Beziehungen  nur  mit  seinen  Freunden  in  Schwaben  unterhielt.  So  war  es 
wiederum  eine  erwünschte  Wendung  seines  Geschicks,  als  W.,  der  sich  im 
Herbst  1892  am  Züricher  Polytechnikum  habilitiert  und  mit  einer  Antritts- 
vorlesung über  »Die  Nibelungen  im  modernen  Drama«  eingeführt  hatte,  auf 
den  um  dieselbe  Zeit  durch  den  Hingang  von  Julius  Klaiber  erledigten 
Lehrstuhl  für  Ästhetik  und  deutsche  Literaturgeschichte  an  der  Technischen 
Hochschule  in  Stuttgart  berufen  wurde. 

Im  Frühjahr  1893  begann  er  hier  seine  Vorlesungen,  die  auch  von 
Zuhörern  aus  der  Stadt  stark  besucht  waren.  Er  behandelte  vornehmlich  die 
klassischen  Dichtungen  des  Mittelalters,  die  Literatur  der  Reformationszeit, 
Lessing,  Goethe  und  vor  allem  Schiller  und  die  Literatur  des  19.  Jahrhunderts; 
außerdem  hielt  er  Vorlesungen  über  die  Ästhetik  der  Dichtkunst  und  Ein- 
führung in  die  Ästhetik,  sowie  Redeübungen.  Als  Früchte  seiner  Studien 
für  diese  Vorträge  veröffentlichte  er  in  der  Folge  eine  Reihe  literarhistorischer 
und  ästhetischer  Schriften.  Wie  in  den  Vorlesungen  so  erwies  er  sich  auch 
in  diesen  als  ein  Mann  der  ausgesprochensten  Sympathien  und  Antipathien» 
die  er  mit  starkem  Wort  zu  vertreten  liebte.  Daß  er  in  diesen  Schriften 
herrschenden  Zeitströmungen  entgegentrat,  trug  dazu  bei,  ihnen  mehr  oder 
minder  den  Stempel  von  Kampfschriften  aufzudrücken.  Dieser  Charakter 
prägte  sich  noch  schärfer  aus  durch  den  energischen  Gang  und  Klang  seiner 
Prosa,  der  man  anfühlt,  daß  hinter  ihr  ein  Mann  steht  und  nicht  ein  bloßer 
Schreiber.  Sie  gehört  zu  der  besten  aus  neuerer  Zeit;  klar  und  bestimmt 
schreitet  sie  vorwärts  und  in  veranschaulichenden  Bildern  und  treffenden 
Vergleichen  verrät  sie  die  dichterische  Anlage  des  Verfassers. 

Das  erste  dieser  Werke  »Diesseits  von  Weimar.  Auch  ein  Buch  über 
Goethe«  (1895)  ließ  schon  im  Titel  den  Geist  des  Widerspruchs  verspüren. 
»Wenn  man  den  bestimmten  und  scharfen  Eindruck  davon  haben  will,  was 
der  Genius  der  deutschen  Nation  mit  Goethe  und  in  Goethe  wollte,  so  muß 
man  diesseits  von  Weimar  bleiben.  —  Hier  haben  wir  den  Dichter  Goethe, 
wie  ihn  die  Natur  wollte  und  wie  sein  individuelles  Naturell  sich  selbst  wollte,  ehe 
der  klassizistische  Ästhetiker  seiner  Dichtung  die  Wege  wies.«  »Die  ersten  10  Jahre 
in  Weimar  haben  den  Dichter  um  sich  selbst  gebracht,  und  als  er  sich  selbst  wieder 
suchte,  hat  ihn  —  grob  gesagt  —  die  Antike  übertölpelt,«  Unter  diesem  Gesichts- 
punkt behandelt  W.  die  »Diesseits  von  Weimar«  entstandenen  Dichtungen  Goethes, 
nachdem  er  vorausgeschickt  hat:  »Wer  neue  Forschungen  nach  der  Methode 
der  modernen  Goethephilologie  erwartet,  möge  das  Buch  ungelesen  lassen. 
Der  Verfasser  ist  ein  altmodischer  Mensch  und  meint,  was  man  heute  über 
Goethe  wisse,  sei  schon  beträchtlich  mehr,  als  man  brauche,  um  ihn  zu 
verstehen.«  Es  geht  nun  freilich  nicht  an,  die  Entwicklung  Goethes  von 
der  Übersiedelung  nach  Weimar  an  als  eine  Entgleisung,  eine  Abirrung  von 
der  ihm  eigentlich  gewiesenen  Bahn  zu  bezeichnen,  und  die  »Kärrnerarbeit« 
der  »zünftigen  Goethegelehrsamkeit  unserer  Tage«  darf  doch  nicht  so  gering  ein- 
geschätzt werden,  wie  hier  von  W.  geschieht.  Allein  wenn  dies  auch  gesagt 
werden  muß,  so  wird  ein  unbefangener  Leser  des  Buches  doch  nicht  ver- 
kennen,  daß  selbst   in   manchen   zu   weit  gehenden  Aufstellungen   ein   gutes 


Weitbrecht. 


277 


Stück  Wahrheit  steckt  und  daß  hier  über  den  Dichter  Goethe  ein  Mann 
urteilte,  dem  die  Psychologie  des  dichterischen  Schaffens  nicht  ein  Buch  mit 
sieben  Siegeln  war  und  der  sich  gleich  weit  entfernt  hielt  von  blofiem  ästhe- 
tischem Geschwätz  wie  von  öder  Mikrologie. 

Sein  nächstes  Werk  »Schiller  in  seinen  Dramen«  (1897),  dem  Schwäbischen 
Schillerverein  gewidmet,  durfte  sich  ungeteilterer  Zustimmung  erfreuen,  vor 
allem  in  den  Kreisen,  die  es  begrüßten,  auch  einmal  wieder  ein  entschiedenes 
Wort  für  Schiller  zu  vernehmen,  nachdem  es  lange  genug  zum  guten  Ton 
gehört  hatte,  für  Schiller  nur  noch  frostige  Höflichkeit  übrig  zu  haben.  W. 
behandelt  hier  Schiller  als  Tragiker,  der  »sich  in  seiner  eigentümlichen 
Wucht  und  Größe  nur  dem  Auge  ganz  offenbart,  das  ethische  und  ästhetische 
Werte  ungetrennt  in  Einem  zu  messen  vermag«.  Das  Buch  bleibt  ein  hoch 
verdienstvolles  Werk  trotz  einzelner  Vorbehalte,  die  man  da  und  dort  wird 
machen  müssen.  In  einer  Zeit  des  nervösen  Feminismus  wies  es  nachdrücklich 
hin  auf  den  Willensmenschen  Schiller,  eine  Herrennatur  im  besten  Sinne  des 
Wortes,  dessen  vielangefochtener  Idealismus  wesentlich  auch  darin  bestand, 
daß  er  die  realen  Lebensinteressen  nicht  unter  dem  engen  Gesichtswinkel 
des  Alltags,  der  vorübergehenden  Tendenzen  einer  kleinen  Zeitspanne  ansah. 
In  dem  Buche  »Schiller  und  die  deutsche  Gegenwart«  (1901),  einer  Sammlung 
von  Reden  und  Aufsätzen,  bejahte  W.  nochmals  aufs  energischste  die  von 
mancher  Seite  verneinte  Frage,  ob  Schiller  für  unsere  Zeit  noch  etwas  bedeute, 
wenn  er  auch  ruhig  preisgibt,  was  auch  an  Schiller,  wie  an  jedem  Großen, 
vergänglich  ist,  und  durchaus  nicht  meint,  Schiller  müsse  uns  nun  in  seiner 
dramatischen  Technik  und  seinem  dramatischen  Stil  schlechthin  vorbildlich 
sein.  Es  entströmt  dem  innersten  Wesen  W.s,  wenn  er  ausführt,  wie  das 
deutsche  Volk  angesichts  seiner  Weltaufgaben  gerade  jetzt  einen  Dichter 
brauche  wie  Schiller,  zu  dem  es  auch  immer  wieder  zurückgekehrt  sei,  wenn 
es  ihm  nottat,  sich  in  seinen  besten  Lebenskräften  zu  sammeln  zu  energischer 
Selbstbehauptung.  In  dem  Buch  »Das  deutsche  Drama,  Grundzüge  seiner 
Ästhetik«  (1900)  legte  er  seine  Anschauungen  über  dramatische  Stoffe  und 
Charaktere,  über  Komposition  und  Sprache  des  Dramas  nieder  und  setzte 
sich  dabei  auseinander  mit  dem  zeitgenössischen  Drama.  Den  modernen 
Zustandsbildem  in  dialogisierter  Form  spricht  er  die  Bezeichnung  Drama 
überhaupt  ab,  da  sie  nicht  »einen  zum  Spiel  gestalteten  Willenskonflikt« 
vorführen.  Das  Werk  ist  reich  an  feinen  Hinweisungen  darauf,  wo  es  dem 
modernen  Drama  im  innersten  Grunde  fehlt. 

1901  erschien  in  der  Sammlung  Göschen  in  2  Bändchen  eine  »Deutsche 
Literaturgeschichte  des  19.  Jahrhunderts«,  1902  eine  »Deutsche  Literatur- 
geschichte der  Klassikerzeit«.  Übersichtlich  gruppiert  werden  hier,  bei  aller 
Knappheit,  Richtungen  und  Persönlichkeiten  scharf  umrissen  vorgeführt  in 
straffer,  klarer  und  frischer  Darstellung.  Denen,  die  seine  früheren  Schriften 
kannten,  konnte  es  nicht  unerwartet  kommen,  daß  er  in  der  »Literatur- 
geschichte des  19.  Jahrhunderts«  aufs  bestimmteste  und  mit  starkem  ethischen 
Pathos  sich  gegen  die  naturalistische  und  die  neurasthenisch  dekadente 
Literatur  der  neuesten  Zeit  wandte  und  gegen  die  Dichter,  die  keine  wirklich 
durchgebildeten  ethischen  Persönlichkeiten  sind,  denen  die  menschliche  und 
darum  auch  die  künstlerische  Wahrhaftigkeit  fehlt.  So  sehr  er  aber  im  Recht 
ist,  wenn   er  vom  Dichter  inneres  Anschauungsvermögen   und  schöpferische 


278  Weitbrecht. 

Phantasietätigkeit  und  dazu  tief  innerliches  Erleben  des  Lebens  verlangt  und 
nicht  aus  bloß  äußerlicher  Beobachtung  hervorgezogene  Milieuschilderung,  so 
erscheint  sein  Urteil  über  die  neueste  deutsche  Literatur  doch  vielfach 
allzu  schroff.  In  herber  Einseitigkeit  verschließt  er  sein  Auge  gegen  unzweifel- 
haft vorhandene  Ansätze  zu  neuem  Guten  und  auch  gegen  unleugbare  Fort- 
schritte in  der  Technik  der  Darstellung. 

Durch  diese  literarhistorischen  Schriften  ist  W.s  Name  außerhalb  Württem- 
bergs weit  mehr  bekannt  geworden  als  durch  seine  eigenen  Dichtungen.  Er 
war  geneigt,  seinem  streitbaren  Auftreten  gegen  die  zünftige  Behandlung 
der  Literaturgeschichte  und  gegen  die  moderne  Literaturbewegung  einen 
größeren  Einfluß  auf  die  Würdigung  seines  dichterischen,  besonders  seines 
dramatischen  Schaffens  durch  norddeutsche  Kritiker  zuzuschreiben,  als  tat- 
sächlich angenommen  werden  darf,  da  auch  die  Aufführungen  seiner  Dramen 
in  der  Heimat  im  wesentlichen  das  Urteil  bestätigten,  daß  seinem  heißen 
Ringen  auf  diesem  Gebiet  ein  voller  Erfolg  nicht  beschieden  sein  könne. 
Nach  verschiedenen  dramatischen  Versuchen  und  Entwürfen  behandelte  er 
1884  in  dem  Trauerspiel  »Sigrun«  einen  Stoff,  den  er  schon  früher  in  einem 
Zyklus  von  Gedichten  gestaltet  hatte.  Zur  Aufführung  gelangte  das  1886 
als  Manuskript  gedruckte  Trauerspiel  1895  in  Stuttgart,  1896  auch  in  Hannover. 
Es  versetzt  die  sagenhafte  Handlung  in  das  Jahr  9  n.  Chr.  und  auf  suevischen 
Boden  und  ist  der  Gruppe  der  Hermannsdramen  in  weiterem  Sinne  bei- 
zuzählen. Gewaltige  Leidenschaften  schreiten  durch  dieses  Drama  der  Blut- 
rache, aber  trotz  einer  Reihe  packender  und  auch  bühnenwirksamer  Szenen 
vermochte  der  dem  modernen  Empfinden  allzu  fern  liegende  Gegenstand 
tiefere  Anteilnahme  doch  nicht  zu  erwecken.  —  1895  vollendete  W.  ein  früher 
begonnenes  Lustspiel  in  Versen  »Dr.  Schmidt«,  das  im  Jahr,  darauf  im 
Berliner  Schillertheater  und  im  Stuttgarter  Hoftheater  aufgeführt  wurde.  Es 
hat  eine  Episode  aus  Schillers  Aufenthalt  in  Oggersheim  bei  Mannheim  zum 
Gegenstand.  Schiller  selbst  bleibt  fast  ganz  im  Hintergrund;  die  Hauptfigur 
ist  ein  Gewürzkrämer  und  Schillerenthusiast.  Der  Stoff,  der  freilich  für  ein 
Lustspiel  in  3  Akten  doch  zu  wenig  ergiebig  war,  bot  W.  Gelegenheit,  das 
Schwärmen  für  einen  Dichter  zu  geißeln,  das  nicht  fähig  ist,  etwas  für  ihn 
zu  tun  und  wenn  er  es  noch  so  nötig  hätte.  Die  Stimmung,  aus  der  die 
Novelle  »Phaläna«  erwuchs,  hat  hier  in  anderer  Weise  ihren  Ausdruck 
gefunden.  —  1896/97  schrieb  W.  das  Trauerspiel  »Schwarmgeister«,  das  im 
Jahre  1900  in  Berlin  und  in  Stuttgart  zur  Darstellung  gelangte.  Zugrunde  liegt 
derselbe  Stoff,  den  Heinrich  v.  Kleist  in  seiner  Erzählung  »Michael  Kohlhaas« 
behandelt  hatte  und  zu  dem  die  von  Burkhardt  veröffentlichten  Akten  des 
Kohlhaasprozesses  neue  Motive  boten.  Der  Kampf  des  Kohlhaas  um  sein 
Recht  wächst  empor  zu  einem  Kampf  ums  Recht  überhaupt,  so  daß  er  als 
Vertreter  aller  um  ihr  Recht  Kämpfenden  erscheint  Daß  der  Held  immer 
wieder  von  der  hysterischen  Wiedertäuferin  Elsbeth  angetrieben  werden  muß, 
schädigt  den  Eindruck  des  Ganzen;  doch  übten  bei  der  Aufführung  einzelne 
Szenen  und  besonders  der  3.  Akt  eine  starke  Wirkung  aus.  —  Sein  letztes 
Drama  »Die  Jagd  im  Schönbuch«,  den  Konflikt  zwischen  Herzog  Ulrich 
von  Württemberg  und  Hans  von  Hütten  behandelnd,  einen  Stoff,  mit  dem  er 
sich  schon  viele  Jahre  früher  getragen,  ist  Manuskript  geblieben. 

Unbestrittener  war  sein  Erfolg   auf   dem  Gebiete   der  Erzählung.     Seine 


VVeitbrecht.     Koester. 


279 


Novellen,  die  eine  nicht  geringe  Kraft  künstlerischer  Gestaltung  verraten, 
sind  vielfach  aus  den  äußeren  und  inneren  Erlebnissen  seiner  Pfarrzeit  heraus- 
gewachsen, wie  »Das  Grab  in  der  Reihe«,  »Des  Bildhauers  Lehrgeld«,  »Der 
zerrissene  Kirchenrock«,  die  zu  seinen  besten  Erzählungen  gehören.  Bei  einzelnen 
mag  der  Verbreitung  über  die  Heimat  des  Dichters  hinaus  das  im  Wege  stehen, 
dafi  sie  sich  ganz  in  der  schwäbischen  Kleinwelt  bewegen.  Die  Krone  seiner 
erzählenden  Poesie  ist  die  in  Zürich  entstandene  Novelle  »Phaläna«.  Es  ist 
ein  Lebensbuch,  sein  Lebensbuch;  auch  wer  das  Autobiographische  nicht 
herauszulesen  weifi,  wird  sich  dem  Eindruck  nicht  entziehen  können,  daß 
warmes  Lebensblut  hier  schmerzlich  verströmt.  Die  einzelnen  Szenen  und 
Persönlichkeiten  in  dieser  Geschichte  der  »Leiden  eines  Buches«  sind  aufs 
anschaulichste  gegeben;  die  Sprache  ist  bald  mit  beißendem  Hohn  getränkt, 
bald  mit  der  weichsten  Stimmung,  in  die  auch  die  eingestreuten  prächtigen 
Gedichte  getaucht  sind.  —  1898  ließ  er  nach  längerer  Pause  noch  die 
»Geschichten  eines  Verstorbenen«  erscheinen,  drei  Erzählungen,  die  er  einem 
im  Jahr  zuvor  verstorbenen  Freunde  in  den  Mund  legte. 

Sein  Vermächtnis  als  Lyriker  hat  W.  selbst  in  einem  Band  »Gesammelte 
Gedichte«  (1903)  vereinigt.  Mit  großer  Strenge  gegen  sich  und  vor  allem 
darauf  bedacht,  nur  das  für  ihn  Charakteristische  aufzunehmen,  hat  er  aus 
seinen  früher  erschienenen  Gedichtsammlungen  unter  Hinzufügung  einiger 
wenigen  neueren  Gedichte  diese  Auswahl  zusammengestellt,  die  sich  dem  Besten 
der  schwäbischen  Lyrik  des  19.  Jahrhunderts  an  die  Seite  stellen  darf. 
Diese  Gedichte  erzählen  uns  von  seines  Lebens  Freuden  und  Enttäuschungen, 
Kämpfen  und  Nöten,  von  seinem  Lieben  und  Hassen,  seinem  Zweifeln  und 
Glauben,  seinem  Hoffen  und  Entsagen.  Es  sind  viele  Töne  und  Tonarten, 
die  uns  aus  diesem  Band  entgegenklingen,  doch  hat  seine  Lyrik  vorwiegend 
einen  starken  metallischen  Klang,  von  den  schmetternden  Trompetenstößen 
seiner  jugendlich  vorstürmenden  Kriegslieder  bis  zu  dem  ergreifenden,  willens- 
stark hervorgestoßenen  Mahnruf  an  sich  selbst:  »An  deine  Arbeit,  Mensch, 
und  hoch  den  Mut!«,  mit  welchem  das  Buch  schließt,  das  seine  letzte  Gabe 
werden  sollte. 

Denn  die  Krankheit,  die  er  in  diesem  Gedicht  nicht  Wort  haben  wollte, 
sollte  ihn  nicht  mehr  freigeben;  langsam  aber  unaufhaltsam  griff  das  schwere 
Leiden  um  sich.  Im  Schwarzwald  hoffte  er  Wiederherstellung  seiner  zusammen- 
brechenden Kräfte  zu  finden.  Nach  einigen  Wochen  trat  jedoch  eine  plötzliche 
Verschlimmerung  in  seinem  Befinden  ein,  so  daß  er  als  Sterbender  nach 
Stuttgart  zurückgebracht  wurde.  In  der  Frühe  des  10.  Juni  1904  schlössen 
sich  für  immer  die  einst  so  scharfen  Augen  mit  dem  eigentümlich  funkelnden 
Blick.  Eine  Säule  mit  seinem  Reliefbild  von  der  Hand  seines  Sohnes  bezeichnet 
W.s  Ruhestätte  auf  dem  Pragfriedhof  in  Stuttgart. 

Schwäbische  Chronik  vom  13.  Juni  und  20.  Juli  1904.  —  Deutsche  Zeitung  vom 
II.  Juni  1904  (Karl  Berger).  —  Tägliche  Rundschau  vom  30.  Juni  1904  (Th,  Klaiber).  — 
Karl  Weitbrecht  (Reden  am  Grabe),  Stuttgart,  Steinkopf,    1904.  Otto  Güntter. 

Koester,  Karl,  Professor  der  pathologischen  Anatomie  in  Bonn,  *  2.  April 
1843  zu  Dürkheim  a.  d.  H.,  f  2.  Dezember  1904.  —  K.  studierte  in  München, 
Tübingen  und  in  Würzburg,  wo  er  v.  Recklinghausens  Schüler  und  —  nach 
der  1867   erfolgten  Promotion  —  Assistent  war.     1869  dortselbst  habilitiert, 


280  Koester.     Spiess.     Stemfeld.     Bennecke. 

wurde  er  1872  als  ordentlicher  Professor  der  pathologischen  Anatomie  und  all- 
gemeinen Pathologie  nach  Gießen,  1874  in  gleicher  Eigenschaft  nach  Bonn 
berufen.  K.  gehörte  zu  den  angesehensten  Pathologen  der  Neuzeit  Seine 
Hauptarbeiten  sind:  »Entwicklung  der  Karzinome«  (Würzburg  1869)  —  »Über 
tuberkulöse  Gelenkentzündung«  (Virchows  Archiv  XLVIII).  Später  veröffent- 
lichte K.  noch  mehrere  Abhandlungen  über  Tuberkulose  im  allgemeinen,  über 
Gefäßerkrankungen  und  die  Entstehung  des  Aneurysmas,  über  chronische, 
produktive  Entzündung,  Endokarditis,  kompensatorische  Hypertrophie,  nament- 
lich des  Herzens  und  der  Nieren,  sowie  die  Monographie  Ȇber  Myokar- 
ditis« (Bonn  1888). 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  von  1904,  I,  470.  Pagel. 

Spiess^  Alexander,  Hygieniker  zu  Frankfurt  a.  M.,  ♦  6.  April  1833, 
f  I.  Februar  1904  daselbst.  —  S.  war  ein  Sohn  des  hervorragenden  Frank- 
furter Arztes  Gustav  Adolf  Spiess  (1802 — 75).  Er  studierte  in  Göttingen,  wurde 
1856  Dr,  med.,  wirkte  1859 — 83  als  prakt.  Arzt  in  Frankfurt,  seit  1883  als 
Stadtarzt,  war  außerdem  ständiger  Sekretär  des  Deutschen  Vereins  für  öffent- 
liche Gesundheitspflege  seit  dessen  Gründung  1873,  redigierte  seit  1866  die 
»Jahresberichte  über  die  Verwaltung  des  Medizinalwesens  der  Stadt  Frank- 
furt« und  die  »Deutsche  Viertel jahrsschrift  für  öffentliche  Gesundheitspflege«, 
1870  bis  1885  mit  Varrentrapp,  seit  1886  mit  Pistor  (Berlin).  S.  hat  sich 
besonders  um  die  hygienischen  Verhältnisse  seiner  Vaterstadt  ein  großes  Ver- 
dienst erworben  und  zur  Hebung  der  Gesundheitspflege  auch  als  Wissen- 
schaft in  Deutschland  durch  seine  erwähnte  literarische  und  Vereinstätigkeit 
sehr  viel  beigetragen.  Es  finden  sich  von  ihm  zahlreiche  medizinisch-stati- 
stische und  hygienische  Aufsätze  in  beiden  genannten  Zeitschriften,  seit  187 1 
jährlich  Repertorien  der  in-  und  ausländischen  hygienischen  Literatur  in  der 
Deutschen  Viertel  jahrsschrift  für  öffentliche  Gesundheitspflege  u.  v.  a. 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  von  1904,  I,  480.  Pagel. 

Sternfeld,  Alfred,  Zahnarzt  in  München,  ♦  1858,  t  ^S-  Februar  1904,  war 
ein  tüchtiger  Literarhistoriker  der  Zahnheilkunde  und  einer  der  tüchdgsten 
und  bekanntesten  Zahnärzte  Münchens.  Er  veröffentlichte  u.  a.  die  Abhand- 
lungen: »Bißarten  und  Bißanomalien«  sowie  »Über  die  sogenannte  früh- 
zeitige Extraktion  des  sechsjährigen  Molaren«. 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  von  1904,  1,  481.  Pagel. 

Bennecke,  Erich,  Chirurg  in  Berlin,  ♦  1864  zu  Karlsberg  bei  Mansfeld, 
t  2.  August  1904  in  Berlin.  —  B.  studierte  seit  1883  in  Halle,  Marburg  und 
Berlin.  1889  approbiert,  wurde  er  1890  Assistent  von  Marchand  in  Marburg, 
später  bei  König  in  Göttingen,  mit  dem  er  1895  nach  Berlin  übersiedelte, 
um  hier  1899  als  Nachfolger  des  nach  Basel  berufenen  Hildebrand  die  chir. 
Poliklinik  an  der  Charit^  zu  dirigieren.  1902  wurde  B.  zum  Extraordinarius 
befördert.  Er  starb  an  den  Folgen  der  Blutvergiftung.  B.  publizierte:  »Zur 
Entstehungsweise  der  Kiefer-Cysten«  (Diss.  Halle  1891),  Arbeiten  über  gonor- 
rhoische Gelenksentzündung,  über  den  feineren  Bau  der  Kiefergeschwülste, 
Unterleibshernien  u.  a.  Für  Unterrichtszwecke  schrieb  B.  einen  Leitfaden  der 
chirurgischen  Operationen.  Pagel. 


Thierfelder.     Bartels.  28 1 

Thierfelder,  Benjamin  Theodor,  Professor  der  Medizin  in  Rostock» 
*  am  lo.  Dezember  1824  in  Meißen,  f  am  7.  März  1904.  —  T.  war  ein 
Sohn  des  bekannten,  auch  um  die  medizinische  Geschichtspflege  hochver- 
dienten Meißner  Arztes  Johann  Gottlieb  Thierfelder  (1799  bis  1867).  Er 
studierte  seit  1846  in  Leipzig,  wurde  daselbst  Dr,  phiL  und  1848  Dr.  med, 
mit  der  Diss:  »Leges  cibariae  complurtum  nosocanuorum  et  ergastulorum  praecipue 
^uantitatis  alimtntoram  ratiaru  habtta  inter  se  comparatae*,  war  anfangs  in  Leipzig 
Arzt  und  Kustos  der  Universitäts- Bibliothek,  habilitierte  sich  1850,  wurde 
185 1  Assistent  der  medizinischen  Klinik,  1855  Professor  e.  o.  der  Medizin  in 
Rostock,  1856  Professor  ord.,  1858  Medizinalrat,  1860  Ober-Medizinalrat  und 
ordentliches  Mitglied  der  Großherzogl.  Medizinal-Kommission,  schließlich  Geh. 
Medizinal  rat,  Direktor  der  medizinischen  Klinik  und  Senior  der  Rostocker 
medizinischen  Fakultät.  T.  feierte  1898  sein  fünfzigjähriges  Doktorjubiläum. 
Die  Titel  einiger  seiner  literarischen  Arbeiten  sind:  i^ Bronchitis  crouposa^^ 
(Archiv  für  physiologische  Heilkunde  XII)  —  »Beiträge  zur  Lehre  vom  Typhus 
mit  vorzüglicher  Berücksichtigung  der  Hautwärme  der  Typhuskranken«  (Ib. 
XIV)  —  »Ein  Fall  von  Leukämie«  (Ib.  1856,  zusammen  mit  P.  Uhle)  — 
»Über  die  Harnstoffausscheidung  im  Diabetes  mellitus<^  (Ib.  1858)  —  »Gastro- 
duodenalfistel  infolge  von  corrosiv.  Magengeschwür«  (D.  Arch.  für  klin.  Med.  IV) 
u.  a.  m.  Auch  bearbeitete  T.  für  v.  Ziemssens  Handbuch  der  speziellen  Patho- 
logie und  Therapie  (VIII,  i.  Abt.)  den  Abschnitt:  »Physikalisch-diagnostische 
Vorbemerkungen  zu  den  Leberkrankheiten«.  T.  war  ein  tüchtiger  Kliniker, 
gleich  verdienstvoll  als  Lehrer  wie  als  Forscher. 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  von  1904,  I,  481.  Pagel. 

Bartels,  Max,  Arzt  und  Anthropolog,  ♦26.  September  1843  in  Berlin, 
+  22.  Oktober  1904.  —  B.  war  der  Sohn  des  dirigierenden  Arztes  von 
Bethanien,  Geh.  Sanitätsrates  Christian  August  B.  (1805 — 1872)  in  Berlin, 
beabsichtigte  anfangs  der  Soldaten  lauf  bahn  sich  zu  widmen,  mufite  ihr  jedoch 
aus  Mangel  an  den  erforderlichen  körperlichen  Eigenschaften  entsagen.  B.  stu- 
dierte Medizin  in  Berlin  und  erlangte  daselbst  1867  die  medizinische  Doktor- 
würde mit  der  Dissertation:  »Über  die  Bauchblasengenitalspalte,  einen 
bestimmten  Grad  der  sogenannten  Inversion  der  Harnblase.«  1868  approbiert, 
bildete  er  sich  in  Wien  weiter  aus  und  trat  1869  als  Assistent  in  Bethanien  ein, 
wo  er  bis  1872  verblieb,  um  sich  dann  in  Berlin  als  Praktiker  ansässig  zu 
machen.  Er  erlangte  eine  ausgebreitete  Praxis  und  gehörte  zu  den  ange- 
sehensten und  beliebtesten  Ärzten  Berlins.  1899  wurde  er  zum  Geheimen 
Sanitätsrat  und  1903  zum  Professor  ernannt.  Wissenschaftlich  arbeitete  B. 
besonders  auf  dem  Gebiete  der  Anthropologie.  Er  veröffentlichte  Abhandlungen 
über  abnorme  Behaarung,  geschwänzte  Menschen  u.  a.  Außerdem  gab  er 
von  der  2.  Auflage  ab  das  bekannte  Werk  von  Ploss  »Das  Weib  in  der 
Natur-  und  Völkerkunde«  heraus,  das  er  bis  zur  8.  Auflage  unter  stets 
steigender  Erweiterung  und  Verbesserung  in  zwei  sehr  voluminösen  Bänden 
mit  Hunderten  von  Abbildungen  fortführte.  Das  Erscheinen  der  8.  Auflage 
(Leipzig  1905)  hat  er  nicht  mehr  erlebt.  Statt  der  Vorrede  findet  sich  hier 
ein  pietätvoller  Nekrolog  aus  der  Feder  des  Sohnes  von  B.,  des  ebenfalls 
bereits  mit  geschätzten  anthropologischen  Arbeiten  hervorgetretenen  Dr.  Paul 
B.,  des  gegenwärtigen  Herausgebers  des  Werkes.  —  B.  bekleidete  zahlreiche 


282  Bartels.     Beschorner.     Cnyrim.     Dietz.     Emminghaus. 

Ehrenämter  in  der  Gemeinde,  wie  in  mehreren  wissenschaftlichen  Körper- 
schaften und  machte  sich  auch  um  die  Förderung  der  ärztlichen  Standes- 
interessen verdient.  Pagel. 

Beschorner,  Oskar,  Halsarzt  in  Dresden,  ♦  20.  März  1843,  f  nach  langem 
Leiden  27.  Juli  1904.  —  B.  studierte  in  Leipzig  und  Freiburg  i.  Br.,  nahm 
1866  am  Feldzuge  teil,  war  Assistent  von  Walter  und  Fiedler  in  Dresden, 
ließ  sich  hier  1869  nieder,  anfangs  als  allgemeiner  Praktiker,  widmete  sich 
dann  in  Wien  der  Kehlkopfsheilkunde  ««nter  v.  Schroetter  und  in  Tübingen 
unter  v.  Bruns  und  war  einer  der  gesuchtesten  Laryngologen,  »der  führende 
Kehlkopf  arzt  Dresdens«,  auch  kgl.  sächs.  Hof  rat.  Er  veröffentlichte  mehrere 
Abhandlungen  als  Vorträge,  so  über:  Laryngoskopie,  ein  Vierteljahrhundert 
Eigentum  der  praktischen  Medizin  1883/84,  über  Husten,  Heufieber,  Bauch- 
rednerkunst, essentielle  fibrinöse  Bronchitis,  Diagnose  des  Larynxkarzinoms  u.  a. 

Vergl.  Virchows  (Waldeyer-Posners)  Jahresbericht  über  Fortschritte  und  Leistungen  in 
der  gesamten  Medizin,  von  1904,  I,  461.  Pagel. 

Cnyrim,  *  Victor,  Arzt  in  Frankfurt  a.  M.,  ♦  1831,  f  7-  ]^^^  1904.  — 
C.  studierte  Medizin  und  erlangte  in  Würzburg  die  Doktorwürde  mit  einer 
Dissertation  über  die  entzündliche  Zerstörung  des  Unterkieferknochens  infolge 
von  Phosphorvergiftung.  Seit  1857  Arzt  ließ  er  sich  in  Frankfurt  a.  M. 
nieder  und  war  hier  seit  1887  Chefarzt  des  Hospitals  zum  Heiligen  Geist. 
C.  widmete  sich  mit  großem  Eifer  den  ärztlichen  Standesangelegenheiten, 
und  zwar  im  Sinne  einer  freiheitlichen  Entwickelung.  Namentlich  bekämpfte 
er  die  sogenannten  »Ehrengerichte«.  Er  gehörte  zu  den  angesehensten  und 
beliebtesten  Ärzten  in  Frankfurt  a.  M.  C.  verfaßte  u.  a.  »Ethische  Forderungen« 
und  war  ein  kräftiger  Förderer  der  Abstinenzlerbewegung. 

Virchows  Jahresbericht  der  gesamten  Medizin  von   1904,  I,  462.  Pagel. 

Dietz,  Karl,  Ober-Medizinalrat  in  Stuttgart,  ♦  i.  September  1859  in 
Calw,  f  21.  Mai  1904.  —  D.  studierte  in  Tübingen,  erlangte  1883  die  ärzt- 
liche Approbation,  war  folgeweise  Assistent  der  chirurgischen  Abteilung  am 
Katharinen -Hospital  in  Stuttgart,  1885  Praktiker  in  Bietigheim,  ging  dann 
zum  SpezialStudium  der  Psychiatrie  über,  war  bis  1888  Assistent  an  der  psychia- 
trischen Klinik  in  Leipzig,  besuchte  Wien,  war  auch  Schiffsarzt,  ordinierender 
Arzt  an  der  badischen  Heil-  und  Pflegeanstalt  Illenau  unter  Schule,  erhielt 
1895  die  neu  errichtete  Stelle  eines  psychiatrischen  Referenten  im  Medizinal- 
Kollegium  zu  Stuttgart,  erkrankte  jedoch  1^/2  Jahre  vor  seinem  Tode  an 
einem  schweren  Leiden.  D.  veröffentlichte  mehrere  Arbeiten  über  Hirn- 
erweichung, Geistesstörungen  in  der  Armee  im  Krieg  und  Frieden,  Rücken- 
markserkrankungen, Simulation  u.  a. 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  der  gesamten  Medizin  von  1904,  I,  463.       Pagel, 

Emminghaus,  Hermann,  Psychiater  und  emeritierter  Direktor  der  Univer- 
sitäts-Irrenklinik  zu  Freiburg  i.  Br.,  *  20.  Mai  1845  zu  Weimar,  f  am 
17.  Februar  1904.  —  E.  studierte  in  Göttingen,  Jena,  Wien,  Leipzig  und  gelangte 
am  7.  Juni  1870  zur  Promotion  mit  der  Dissertation:  Ȇber  das  hysterische 
Irresein.«     Er  widmete  sich  dann  physiologischen  Studien    unter  Ludwig    in 


EmmiDghaus.     Dräsche,     von  Burk.  283 

Leipzig  und  habilitierte  sich  1873  als  Privatdozent  in  Würzburg,  wo  er  über 
klinische  Propädeutik,  medizinische  Elektrizität  und  Psychiatrie  las.  Von  April 
1880  wirkte  er  als  ordentlicher  Professor  der  Psychiatrie  und  Direktor  der  psy- 
chiatrischen Klinik  zu  Dorpat,  von  Juli  1886  in  gleicher  Stellung  an  der  Uni- 
versität Freiburg  i.  Br.,  zugleich  als  Medizinalreferent  am  Großh.  Landgericht 
Freiburg.  E.  war  ein  bedeutender  Psychiater.  Neben  zahlreichen  auf  das 
Fach  bezüglichen  kasuistischen  Mitteilungen  veröffentlichte  er  eine  »Allgemeine 
Psychopathologie  zur  Einführung  in  das  Studium  der  Geistesstörungen« 
(Leipzig  1878),  sowie  Abhandlungen  »Über  Kinder  und  Unmündige,  Schwach- 
sinn und  Blödsinn  in  forensischer  Hinsicht«  (Tübingen  1882),  über  »Behand- 
lung des  Irrsinns  im  Allgemeinen«  (Jena  1895,  2.  Aufl.  1898)  u.  a.  m. 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  von  1904,  I,  465.  Pagel. 

Dräsche,  Anton,  Professor  der  klinischen  Medizin  und  Hofrat  in  Wien, 
•11.  Juli  1826  zu  Lobendau  (Böhmen),  f  in  Vöslau  am  23.  August  1904.  — 
D.  studierte  in  Prag,  Leipzig  und  Wien,  erlangte  1851  die  Doktorwürde  mit 
der  Dissertation:  »Bekämpfung  der  Cholera«,  übernahm  1855  die  Cholera- 
abteilung im  Wiener  allgemeinen  Krankenhause,  habilitierte  sich  1858  als 
Dozent  für  Epidemiologie,  wurde  1872  Primarius  am  Rudolf-Spital,  1874  außer- 
ordentlicher Professor,  war  auch  Mitglied  des  obersten  Sanitäts-  und  Gemeinde- 
rates der  Stadt  Wien  und  zog  sich  1900  ins  Privatleben  zurück.  D.  war  eines 
der  ältesten  Mitglieder  der  Wiener  Fakultät  und  veröffentlichte  mehrfach  preis- 
gekrönte Schriften  über  die  Cholera  im  Sinne  der  vorbakteriellen  Anschauung, 
femer:  »Über  den  Einfluß  der  Hochquellenleitung  auf  die  Salubrität  der 
Bevölkerung  Wiens«,  zahlreiche  klinische  Abhandlungen  über  Kaltwasser- 
behandlung bei  Typhus,  Pathologie  des  Herzens,  Chloralhydrat,  Salizylsäure, 
Antipyrin  und  war  zuletzt  Herausgeber  eines  Sammelwerkes  unter  dem  Titel : 
»Bibliothek  des  gesamten  medizinischen  Wissens.« 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  von  1904,  I,  464.  Pagel. 

Burk,  Karl  von,  Oberkonsistorialrat,  Stiftsprediger,  Prälat,  Dr,  theoL, 
*  19.  Mai  1827  in  Frauenzimmern,  f  i-  Oktober  1904  in  Stuttgart.  —  Nach 
rascher  Absolvierung  des  Gymnasiums  bezog  B.  früher  als  viele  andere  die 
Tübinger  Universität  und  hat  hier  mit  dem  theologischen  auch  fleißiges 
humanistisches  und  pädagogisches  Studium  verbunden.  Nachdem  er  sich 
noch  weiter  in  der  Welt  umgesehen,  wurde  er  1855  zum  Diakonus  und  gleich- 
zeitig zum  Lehrer  an  der  Lateinschule  in  Weikersheim  berufen  und  1862  zum 
Pfarrer  und  Bezirksschulinspektor  in  Schwäbisch-Hall  befördert.  Mit  40  Jahren 
wurde  er  Dekan  in  Crailsheim,  doch  schon  4  Jahre  darauf,  187 1,  wurde  ihm  das 
Rektorat  am  Landeslehrerseminar  zu  Eßlingen  übertragen.  Aber  auch  hier 
war  seines  Bleibens  nicht  lange:  1873  wurde  der  bescheidene,  aber  hervor- 
ragend tüchtige  und  vielseitig  gebildete  Theolog  und  Schulmann  als  Ober- 
konsistorialrat nach  Stuttgart  gezogen  und  da  er  auch  als  Prediger  bedeu- 
tendes leistete,  trat  er  1879  in  der  Nachfolge  des  Prälaten  Kapff  in  die 
Stiftspredigerstelle  ein.  Eine  weitreichende  Tätigkeit  im  Dienste  seiner 
Landeskirche  und  des  Württemberger  Volksschulwesens  ist  ihm  zu  danken. 
Daneben  fand  er  doch  noch  Kraft  und  Muße  zu  gediegener  schriftstellerischer 
Arbeit:  einer  Biographie  Philipp  Jakob  Speners  (1864)  folgte  ein  Leben  Luthers, 


284  ^^'^  Burk.     Kariowa. 

das  1888  in  dritter  Auflage  erscheinen  durfte;  1883  eine  Sammlung  »Evangelien- 
predigten«; 1885  eine  »Geschichte  der  christlichen  Kirche  bis  zu  ihrer 
Pflanzung  auf  deutschem  Boden«,  eine  kundige  Darstellung  der. 6  ersten 
christlichen  Jahrhunderte.  1897,  zum  70.  Geburtstage,  ehrte  ihn  die  theologische 
Fakultät  in  Tübingen  durch  Verleihung  ihrer  Doktorwürde.  Sein  letztes 
Schriftchen  galt  speziell  der  Hebung  des  kirchlichen  Unterrichts  in  Württem- 
berg: »Das  württembergische  Konfirmationsbüchlein  als  Grundlage  für  den 
Konfirmandenunterricht  des  Geistlichen«  (1898).  Mit  Beginn  des  neuen  Jahr- 
hunderts trat  er  von  seinen  zahlreichen,  arbeitsvollen  Ämtern  in  den  Ruhe- 
stand, dessen  er  sich  noch  4  Jahre  in  beneidenswerter  geistiger  und  körper- 
licher Frische  erfreuen  durfte.  Zuletzt  aber  führte  eine  Reihe  von  Schlag- 
anfällen ihn  dem  stillen  Ende  zu.  Kohlschmidt. 

Kariowa,  Otto,  Romanist,  ♦11.  Februar  1836  zu  Bückeburg,  f  3.  Januar  i 

1904  zu  Leipzig.  —  Die  Familie  war  böhmischer  Herkunft;  wegen  Glaubens-  ' 

Verfolgungen  verließ  sie  im  16.  Jahrhundert  die  alte  Heimat  und  wandte  sich 
nach  Niedersachsen.  Den  ursprünglichen  Namen  Capaun  von  Kariowa  legte 
der  Vater,  fürstlicher  Regierungsrat  in  Bückeburg,  später  Oberappellationsrat 
in  Wolfenbüttel,  für  sich  und  die  Nachkommen  ab  und  nahm  den  Namen 
»Kariowa«  an.  Die  Mutter  Sophie  Kariowa,  geb.  Thomten,  war  Holsteinerin, 
doch  englischer  Herkunft.  Von  den  fünf  Söhnen  war  Hermann  Kariowa 
seinerzeit  ein  geschätztes  Mitglied  des  Kgl.  Schauspielhauses  in  Berlin.  Eine 
einzige  Tochter  überlebte  alle  ihre  Brüder.  Otto  K.  besuchte  das  Gymnasium 
in  Wolfenbüttel  und  studierte  dann  unter  Francke,  Briegleb,  Herrmann,  Thöl 
und  Waitz  Rechtswissenschaft  und  Geschichte  in  Göttingen,  dann  in  Berlin 
und  Jena.  Schon  als  Göttinger  Student  lieferte  er  eine  gekrönte  Preisarbeit 
'»Juris  ramani  principta  dt  accessumibus  possessionum,  quae  in  ustuapiombus  rerum 
et  in  temporalibus  praescriptiombus  atqut  in  interdktis  possessoriis  locum  habent* 
Gott.  1858^  bestand  1859  das  erste  juristische  Staatsexamen  und  war  eineinhalb 
Jahre  Auditor  bei  der  Justizkanzlei  in  Bückeburg.  Er  promovierte  dann  in 
Bonn  mit  der  Arbeit  *De  natura  atque  indole  cjuvaXX^fjiaTo;,  quod  emptioni^ 
venditiani  ceterisque  obligationibus  mutuis  inesse  dicitur^y  Bonn  1862.  Als  Privat- 
dozent des  römischen  Rechts  in  Bonn  schloß  er  sich  namentlich  an  Böcking, 
unter  den  jüngeren  Kollegen  an  F.  P.  Bremer  und  Richard  Schröder  an.  Im 
Herbst  1867  wurde  er  als  ordentlicher  Professor,  zuerst  als  Nachfolger  Wittes 
für  Zivilprozeß  und  Strafrecht,  später  für  römisches  Recht  nach  Greifswald 
berufen,  Ostern  1872  als  Nachfolger  von  Goldschmidt  nach  Heidelberg,  wo 
er  31  Jahre  lang  die  sämtlichen  römisch-rechtlichen  Vorlesungen,  zuletzt  auch 
über  die  drei  ersten  Bücher  des  deutschen  B.G.B.s  gelesen  hat.  Er  veröffent- 
lichte »Beiträge  zur  Geschichte  des  römischen  Zivilprozesses«,  Bonn  1865; 
»Die  Formen  der  römischen  Ehe  und  Manus«,  Bonn  1868;  »Der  römische 
Zivilprozeß  zur  Zeit  der  Legisaktionen«,  Berlin  1872;  »Das  Rechtsgeschäft 
und  seine  Wirkung«,  Berlin  1877;  »Über  die  Rezeption  des  römischen 
Rechts  in  Deutschland,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Churpfalz«,  Pro- 
rektoratsrede 1878.  Sein  hervorragendstes  Werk  »Römische  Rechtsgeschichte«, 
die  Arbeit  zweier  Dezennien,  erschien  in  zwei  Bänden,  Leipzig  1885 — 190 1, 
leider  nicht  ganz  vollendet.  Für  die  Festgabe  zur  Feier  des  70.  Geburtstages 
Sr.    Kgl.    Hoheit    des    Großherzogs    Friedrich    von   Baden,    dargebracht    von 


Kariowa.     Kahn.     Demelius.  285 

den  Mitgliedern  der  juristischen  Fakultät  der  Universität  Heidelberg, 
schrieb  er  einen  Beitrag  »/«/ra  pamoerium  und  extra  pomoerium.  Ein  Beitrag 
zum  römischen  Staatsrecht«,  1896,  einen  weiteren  über  Thibaut  für  die 
Heidelberger  illustrierte  Fest-Chronik  »Ruperto- Carola«  1886  und  »Miscel- 
lanea«  für  die  Heidelberger  Festgabe  für  E.  J.  Bekker,  Berlin  1899.  Ein 
Zeugnis  seines  tiefen  Rechtsgefühles  legte  er  ab  in  der  Schrift  »Maria  Stuarts 
angebliche  Briefe  an  den  Grafen  J.  Bothwell.  Ein  Beitrag  zur  Prüfung  ihrer 
Echtheit«,  Heidelberg  1886,  worin  er  seiner  Ansicht  nach  geschehenes  Un- 
recht aufzudecken  bezweckte.  Gleiche  Treue  und  Pflichtgefühl  zeichneten 
seine  sorgfältig  ausgearbeiteten  Vorlesungen  aus.  Verheiratet  seit  1873  ^^^ 
der  Tochter  des  Leipziger  Zoologen  Leuckart,  liebte  er  behagliche  Häuslich- 
keit, großer  Geselligkeit  abgeneigt.  Ebenso  blieb  er  dem  öffentlichen  Leben 
femstehend,  in  nationalliberalem  Sinne  allerdings  seine  Wählerpflicht  ver- 
sehend. Einige  Jahre  war  er  Mitglied  des  Bezirksrates.  Von  seinen  Kollegen 
war  er  als  edle  und  vornehme  Natur  hochverehrt,  im  engeren  Kreise  größte 
Gastfreiheit  gern  übend.  Am  Schlüsse  des  Wintersemesters  1902/3  mußte  er 
auf  ärztlichen  Rat  die  Vorlesungen  aufgeben  und  erlag  dann  bei  Besuch  in 
Leipzig  einer  schweren  Krankheit,  die  in  letzter  Zeit  seine  Tätigkeit  beein- 
trächtigt hatte. 

Nach  gef.  Mitteilungen  von  Herrn  Prof.  Dr.  R.  Schröder  in  Heidelberg.  —  Deutsche 
Juristen-Zeitung  1904  S.  153.  A.  Tei-chmann. 

Kahn,  Franz,  Rechtsgelehrter,  *  2.  August  1861  zu  Mannheim,  f  6.  Dezem- 
ber 1904  zu  Heidelberg.  —  Er  studierte  in  Berlin,  Heidelberg,  München, 
Leipzig  und  Freiburg,  lieferte  1883  die  Preisarbeit  »Zur  Geschichte  des 
römischen  Frauen-Erbrechts«  (umgearbeitet  Leipzig  1884),  mit  der  er  sich  auch 
den  Doktorgrad  erwarb,  bestand  1885  und  1888  die  badischen  Staatsprüfungen 
und  begab  sich  nach  Paris  und  London  zu  Rechtsstudien.  Gesundheitsrück- 
sichten zwangen  ihn,  auf  die  akademische  Laufbahn  zu  verzichten.  Er  wurde 
Hilfsrichter  in  Karlsruhe,  dann  Amtsrichter  in  Bretten.  1891  mußte  er  krank- 
heitshalber ausscheiden,  machte  im  In-  und  Auslande  Kuren,  auch  eine  Reise 
um  die  Welt  und  siedelte  1896  sich  in  Baden-Baden,  1900  in  Heidelberg  an. 
Er  hat  sich  in  einer  Reihe  von  gediegenen  Abhandlungen  um  die  Fortbildung 
des  internationalen  Privatrechts,  zuletzt  um  die  Erörterung  der  Beschlüsse  der 
Haager  Konferenzen  verdient  gemacht.  In  dieser  Richtung  sind  zu  nennen 
die  Beiträge  zu  Jherings  Jahrbüchern  Bd.  XXX,  XXXVI,  XXXIX,  XL,  XLII 
und  XLIII  und  zur  Zeitschrift  für  internationales  Privat-  und  öffentliches  Recht 
Bd.  VIII,  X,  XII,  XIII  und  XV;  dazu  »Die  einheitliche  Kodifikation  des 
internationalen  Privatrechts  durch  Staatsverträge«,  Leipzig  1904. 

Ernst  Zitelmann  in  der  Zeitschrift  von  Niemeyer  XV  i — 10. 

A.  Teichmann. 

Demelius,  Ernst,  ordentlicher  Professor  des  österreichischen  Zivilrechts 
und  Rektor  der  Universität  Innsbruck,  ♦  10.  Juli  1859  zu  Krakau  als  der 
Sohn  des  Romanisten  Gustav  Demelius  (1830 — 91),  zufolge  Hirnschlages  am 
Obergabelhorn  der  Schweizer  Berge  zu  Tode  gestürzt  am  28,  Juli  1904.  So 
tragisch  endete  die  kurze,  aber  glänzende  Laufbahn  eines  in  den  geistigen 
Eigenschaften  dem  Vater  sehr  ähnlichen   echt  deutschen  Mannes,   dem  die 


286  Demelius. 

Universität  Innsbruck  die  Wahrung  ihres  deutschen  Charakters  im  heißen 
Kampfe  mit  den  stürmischen  Bestrebungen  der  Italienisierung  zu  verdanken 
hat.  In  erster  Jugend  wegen  Kränklichkeit  durch  Privatunterricht  heran- 
gebildet, zeichnete  er  sich  dann  nach  völliger  Gesundung  als  Turner  und  als 
Gefährte  seines  Vaters  auf  Bergtouren  in  den  nordsteirischen  Bergen  aus  und 
wandte  sich  mit  Vorliebe  und  bestem  Erfolge  theoretischen  wie  praktischen 
musikalischen  Studien  zu.  Er  bezog  im  Alter  von  i8  Jahren  im  Herbst  1877 
die  Universität  Graz  behufs  juristischer  Studien.  Juristischer  Scharfsinn  und 
feine  Dialektik  zogen  die  Aufmerksamkeit  seiner  Lehrer  auf  sich,  namentlich 
von  Emil  Strohal  und  Alexander  Grawein,  sodaß  das  Beschreiten  der  akademi- 
schen Karriere  in  Aussicht  genommen  wurdfe.  Am  Ende  des  achten  Semesters 
stehend,  zog  er  1881  mit  seinem  damals  nach  Wien  berufenen  Vater  dorthin, 
trat  beim  Landesgericht  als  Rechtspraktikant  ein,  promovierte  1882  zu  Graz 
und  war  nach  Leistung  des  Militärdienstes  bei  verschiedenen  Gerichten  zu  Wien 
und  in  Niederösterreich  tätig,  bis  er  1889  Gerichtsadjunkt  in  Mödling  wurde. 
Der  Gerichtsdienst  zog  ihn  sehr  an.  Er  verheiratete  sich  mit  Paula  Baronin 
Bach  und  widmete  die  Muße  ruhigen,  häuslichen  Lebens  wissenschaftlicher 
Arbeit.  Diese  wandte  sich  damals  hauptsächlich  der  Gestaltung  des  Zivil- 
prozesses zu  und  so  entstand  dann  sein  erstes  größeres  Werk  »Zur  Lehre 
von  der  Rechtskraft  des  Zivilurteils  nach  geltendem  österreichischen  Rechte 
und  dem  Entwürfe  vom  Jahre  188 1«,  Wien  und  Leipzig  1892,  dem  dann 
folgten  »Kritische  Studien  zu  den  Gesetzentwürfen  aus  dem  Jahre  1893,  betr. 
die  Reform  des  zivilgerichtlichen  Verfahrens  in  Österreich«,  2  Hefte  1894 
und  1895,  sowie  »Der  neue  Zivilprozeß  für  den  praktischen  Gebrauch  erörtert« 
(Separatabdruck  aus  der  »Gerichtshalle«)  in  16  Heften  1898 — 1902.  Nach  Ver- 
setzung an  das  Wiener  Landesgericht  habilitierte  sich  D.  1895  an  der  Juristen- 
fakultät für  österreichisches  zivilgerichtliches  Verfahren.  InAbbazia  geheilt  von 
einem  nervösen  Anfalle,  konnte  er  1897  die  erste  Abteilung  eines  groß  angelegten 
Werkes  »Das  Pfandrecht  an  beweglichen  Sachen  nach  österreichischem  bürger- 
lichen Recht  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  bürgerlichen  Gesetzbuches 
für  das  deutsche  Reich«  (Wien  und  Leipzig)  veröffentlichen,  das  von  der  Kritik 
als  eine  wertvolle  Leistung  begrüßt  wurde.  Im  Herbst  des  Jahres  1897  wurde 
er  als  Nachfolger  von  Steinlechner  nach  Innsbruck  als  außerordentlicher 
Professor  berufen.  Hier  fesselte  er  sein  Auditorium  durch  seine  durchaus 
moderne  Darstellung  des  Privatrechts  in  Erörterung  der  Reformbedürftigkeit 
des  bürgerlichen  Gesetzbuches  im  Vergleich  mit  dem  neuen  deutschen.  Für 
den  »Grundriß  des  österreichischen  Rechts  von  Finger,  Frankl  und  Ullmann« 
behandelte  er  das  Sachenrecht,  Leipzig  1900.  Nach  erlangtem  Ordinariat 
führte  er  190 1/2  das  Dekanat  der  juristischen  Fakultät  und  wurde  im  Juni 
1903  zum  Rektor  gewählt.  Seine  Rektoratsrede  vom  30.  Oktober  1903  be- 
handelte sein  Lieblingsthema  »Wirtschaftsentfaltung  und  Rechtsentwicklung« 
(Innsbruck).  Seine  Verdienste  in  diesem  Amte  wurden  geehrt  durch  ein- 
stimmige Neuwahl  für  ein  zweites  Jahr  —  das  er  freilich  nicht  antreten  sollte. 
Um  von  den  Mühen  des  Amtes  etwas  auszuruhen,  wandte  er  sich  (wie  schon 
1902)  nach  der  Schweiz,  um  in  den  Bergen  frische  Kraft  für  neue  Arbeit  zu 
suchen.  Begleitet  von  den  erprobten  Führern  Josef  Tembl  und  P.  Dangl  jun. 
aus  Fulden,  wollte  er  mit  dem  Geschwisterpaar  von  Ficker  und  stud.  phil. 
Th.  Mayer  des  Innsbrucker  Alpenklubs  das  Matterhom  am  28.  Juli  ersteigen; 


Demelius.     Dettweiler.  287 

doch  entschied  man  sich  schließlich  für  das  Obergabelhorn.  Schon  be- 
fand man^sich  in  einer  Höhe  von  4000  Meter  nahe  der  Spitze,  als  sich  ein 
Felsblock  vom  Gkbirgsstock  löste  und  D.  samt  Tembl  in  die  Tiefe  riß.  Auf  dem 
Gletscher  fand  man  D.  entseelt.  Überall  erregte  die  Kunde  von  dem  schweren 
Unglück,  einem  furchtbaren  Schlag  für  Familie  und  Universität,  Trauer  und 
Teilnahme.  Der  Zug  mit  der  Leiche  passierte  am  4.  August  Innsbruck,  wo 
auf  dem  Bahnhof  eine  ergreifende  Trauerfeier  stattfand.  Eine  weitere  studenti- 
sche fand  am  30.  November  statt.  Auf  dem  stillen  evangelischen  Friedhofe 
in  Mödling  wurde  die  irdische  Hülle  am  7.  August  beigesetzt.  Aus  den  bei 
jenen  Anlässen  gehaltenen  Reden  von  Kollegen  und  Schülern  (mitgeteilt  in 
dem  unten  genannten  Nekrologe)  kann  man  sich  ein  Bild  von  dem  Wesen 
und  Wirken  dieses  Mannes  gestalten,  der  namentlich  auch  auf  musikalischem 
Gebiete  Treffliches  geleistet  hat. 

Ernst  Demelius.  Sein  Leben  und  Wirken  1859  —  1904.  (Von  Prof.  Dr.  Alfred 
R.  von  Wretschko,  dzt.  Dekan  d.  rechts-  und  staatswissenschaftlichen  Fakultät  der  Univer- 
sität Innsbruck.)  Innsbruck.  Verlag  der  Wagnerischen  Univ. -Buchhandlung  1905  (mit 
Bildnis).  A.  Teichmann. 

Dettweiler,  Pctcr,  Geheimer  Sanitätsrat,  langjähriger  Leiter  der  Lungen- 
heilanstalt Falkenstein  im  Taunus,  •  4.  August  1837  in  Wintersheim  a.  Rh., 
f  12.  Januar  1904  zu  Cronberg  am  Taunus.  Er  starb  nicht  an  den  Folgen 
seiner  alten,  längst  schon  geheilten  Lungentuberkulose,  sondern  an  einer 
plötzlichen  Herzlähmung,  der  nur  ganz  geringe  Erscheinungen  von  Unwohl- 
befinden  vorausgingen.  D.  wurde  so  vom  Tode  ereilt,  wie  er  es  sich  immer 
gewünscht  hatte,  mitten  in  der  Beschäftigung  an  seinem  Schreibtische. 

D.,  der  Sohn  eines  Gutspächters  in  Wintersheim,  genoß,  bevor  er  die 
Universität  Gießen  bezog,  seine  Ausbildung  durch  Privatunterricht  bei  einem 
Pfarrer  in  Niederingelheim  a.  Rh.  und  durch  Besuch  des  Gymnasiums  zu 
Darmstadt.  Schon  während  seiner  Universitätszeit  (1860)  erkrankte  er  an 
Lungentuberkulose,  wodurch  er  in  seinen  Studien  einigermaßen  behindert 
war.  Nach  Absolvierung  der  Universität  (1863)  widmete  er  sich  der  weiteren 
Ausbildung  seiner  Kenntnisse,  studierte  namentlich  auch  in  Berlin.  1864, 
1866  und  1870  nahm  er  an  den  Kriegen  als  Feldarzt  teil  und  zeichnete  sich 
trotz  dazwischen  auftretender  Störungen  von  Seiten  seiner  Lunge  durch  beson- 
dere Unerschrockenheit  und  durch  großen  Pflichteifer  aus.  1868,  nachdem 
D.  kaum  ein  Jahr  als  Hessischer  Militärarzt  Dienste  getan,  war  er  durch 
seine  Lungenkrankheit  genötigt,  sich  nach  Görbersdorf  zu  Brehmer  zu  begeben. 
Nach  vorübergehendem  günstigen  Erfolge  in  dortiger  Anstalt,  kehrte  D.  im 
Jahre  1869  ein  zweites  Mal  nach  Görbersdorf  zurück,  um  nunmehr  die  Stelle 
eines  zweiten  Arztes  dort  zu  bekleiden.  Von  da  ab  war  eigentlich  die  künftige 
Laufbahn  D.s  eingeleitet,  denn  er  überzeugte  sich  rasch  von  der  Richtigkeit 
der  Brehmerschen  Lehre,  daß  die  damals  »Schwindsucht«  genannte  Krankheit 
heilbar  sei. 

1876  übernahm  D.  die  Leitung  der  erst  kurz  vorher  gegründeten  Heilanstalt 
Falkenstein  im  Taunus  und  brachte  sie  durch  die  hier  erzielten  Erfolge 
zu  außerordentlicher  Blüte  und  zur  Weltberühmtheit. 

1895  zog  sich  D.  von  der  Leitung  der  Anstalt  zurück  und  verbrachte 
den   Rest  seines  Lebensabends  in  Cronberg  am  Taunus,  in  einer  hübschen, 


288  Dettweiler. 

zum  Teil  nach  seinen  Angaben  erbauten  und  von  ihm  selbst  mit  großem 
Talent  durch  plastische  Arbeiten  aller  Art  ausgeschmückten  Villa,  die  noch 
unter  dem  Namen  »Drachenhäuschen«  bekannt  ist. 

Die  Hauptverdienste  D.s  bestehen  darin,  daß  er  mit  unermüdlicher  Energie 
die  noch  viel  bezweifelte  Lehre  von  der  Heilbarkeit  der  Lungentuberkulose 
verfocht  und  durch  seine  ausgezeichneten  Erfolge  in  Falkenstein  zur  Aner- 
kennung in  den  weitesten  Ärztekreisen  der  ganzen  Welt  brachte,  daß  er  die 
Behandlungsmethode  der  Krankheit  in  eine  strengere  klinische  Form  brachte, 
wie  sie  schließlich  von  jedem  Arzte  angewendet  werden  kann,  vor  allem  auch 
durch  Einführung  der  nicht  mehr  zu  entbehrenden  Liegekur  im  Freien,  und 
darin,  daß  er  das  erste  praktische  Beispiel  einer  Heilstätte  für  Minderbemittelte 
(erst  in  Falkenstein,  dann  nach  Ruppertshain  im  Taunus  verlegt)  gab.  Er 
ist  also  tatsächlich  der  Vater  der  deutschen  Volksheilstätten,  deren  ungeahnt 
ausgedehnte  Entwicklung  er  noch  mit  großem  Interesse  verfolgte  und  unter- 
stützte, als  er  schon  in  seinem  Drachenhäuschen  sich  zur  Ruhe  gesetzt  hatte. 

Als  Arzt  und  als  Gesellschafter  war  er  stets  von  einer  bezwingenden 
Liebenswürdigkeit,  und  seine  ungewöhnliche  Energie  und  Zähigkeit  ließen 
ihn  wie  eigens  geschaffen  erscheinen  zur  Propagation  einer  neuen  guten  Idee. 
Er  hatte  Interesse  für  alles  Gute  und  Schöne  in  Literatur  wie  in  Kunst,  und 
lieferte  selbst  nicht  wenige  plastische  Arbeiten,  namentlich  getriebene  und 
geschnitzte  Arbeiten  in  Metall. 

Die  hauptsächlichsten  Veröffentlichungen  D.s  sind  folgende: 
1.  Erfahrungen  aus  dem  Kriege  von  1866.  Darmstadt  —  2.  Freiwillige  Krankenpflege 
im  Krieg  und  Frieden.  —  3.  Feldbriefe  1870/71,  —  4.  Die  rationelle  Therapie  der  Lungen- 
schwindsucht in  Görbersdorf.  (Berl.  klin.  Wochenschr.  1873,  Nr.  30.)  —  5.  Zur  Phthisio- 
therapie  der  Gegenwart.  (Berl.  klin.  Wochenschr.  1877,  Nr.  35  f.)  —  6.  Die  Behandlung 
der  Lungenschwindsucht  in  geschlossenen  Heilanstalten.  (Berlin  1880  und  1884.  Georg 
Reimer.)  —  7.  Ein  antikritischer  Gang,  Antwort  an  Dr.  Rhoden-Lippspringe.  (Berlin  i88c. 
Georg  Reimer.)  —  8.  Der  Tuberkelbazillus  und  die  chronische  Lungenschwindsucht 
(Dettweiler  und  Meissen,  Berl.  klin.  Wochenschr.  1883,  Nr.  7  u.  ff.)  —  9.  Bericht  Ober  72 
seit  drei  bis  neun  Jahren  völlig  geheilte  Fälle  von  Lungenschwindsucht.  (Frankfurt  1886. 
Joh.  Alt)  —  10.  Die  Therapie  der  Phthisis.  (Penxoldt  und  Dettweiler,  6.  Kongr.  f.  i.  Med., 
1887.  J.  F.  Bergmann.)  —  11.  Über  das  Taschenfläschchen  für  Hustende.  (Therapeut.  Monats- 
hefte, Mai  1889.)  —  I2'  Über  Lungenschwindsucht  (Korref.  Internat.  Kongr.  Berlin  1890.) 
—  13.  Das  Kochsche  Verfahren  im  Verhältnis  zur  klimatischen  und  Anstaltsbehandlung. 
(Wiesbaden  1891.  J.  F.  Bergmann.)  —  14.  Mitteilungen  über  die  erste  deutsche  Volksheil- 
stätte für  unbemittelte  Lungenkranke  in  Falkenstein.  (Deutsche  med.  Wochenschr.  1892, 
Nr.  48.)  —  15.  Ernährungstherapie  bei  Lungenkrankheiten  in  v.  Leyden,  Handbuch  der 
Ernährungstherapie  II.  (Leipzig  1898.  Georg  Thieme.)  —  16.  Zur  Errichtung  einer  Heilstätte 
für  minderbemittelte  Lungenkranke  in  Wiesbaden.  (Rotes  Kreuz  1898,  Nr.  7  u.  8.)  — 
17.  Die  hygienisch-dietätische  Anstaltsbehandlung  der  Lungentuberkulose.  Bericht  über  den 
Kongr.  z.  Bekämpfg.  der  Tuberkulose  als  Volkskrankheit.  Berlin  1899.  —  18.  Entstehung 
und  Verhütung  der  Tuberkulose  als  Volkskrankheit.  (Nationalzeitung  5.  Mai  1899.)  — 
19.  Einige  Bemerkungen  zur  Ruhe-  und  Liegekur  bei  Schwindsüchtigen.  (Zeitschr.  f.  Tuber> 
kulose  und  Heilstätten wesen.     Leipzig  1900.    Ambr.  Barth.) 

D.s  Leichnam  wurde  seinem  Wunsche  gemäfi  in  Offenbach  a.  M.  eingeäschert.  Die 
Urne  ist  in  einem  von  D.  schon  Jahre  vor  seinem  Tode  im  Entwürfe  gefertigten  Grab- 
denkmale auf  dem  Kirchhofe  zu  Wintersheim  a.  Rh.  aufbewahrt. 

Die  ausführlichste  Beschreibung  des  Lebensganges  D.s  ist  gelegentlich  des  Tuberkulose- 
Kongresses  in  Berlin  im  Jahre  1899  durch  Dr.  Obertüschen-Wiesbaden  im  >Rheinischen 
Kuriere  veröffentlicht.    • 


Dettweiler.     Ratzcnhofcr.  28q 

Eine  weitere  Biographie  erschien  von  Exzellenz  Moritz  Schmidt-Frankfurt  a.  M.  in 
Berl.  klin.  Wochenschr.  1904,  Nr.  8  und  eine  kürzere  durch  Dr.  Besold  in  Münchener 
med.  Wochenschr.   1904,  Nr.  6. 

Es  existieren  von  erreichbaren  Bildnissen  D.s  zwei:  eines  aus  seinen  mittleren  Lebens- 
jahren, von  Hofphotograph  Schilling  in  Königstein  im  Taunus,  und  eines  aus  den  letzten 
Lebensjahren,  in  Privatbesitz,   Heilanstalt  Falkenstein  im  Taunus. 

Dr.  Besold,  Falkenstein  im  Taunus. 

Ratzenhofer,  Gustav,  österreichischer  Feldmarschall-Leutnant,  Präsident 
des  Militär-Obergerichts  in  Wien,  militärischer  Schriftsteller,  Philosoph  und 
Soziologe,  ♦  4.  Juli  1842  in  Wien,  f  an  Bord  »Wilhelm  IL«,  aus  Amerika 
heimkehrend,  am  8.  Oktober  und  den  14.  Oktober  1904  in  Wien  bestattet. 
—  R.,  ein  Uhrmachersohn,  war  ein  seif -made- man  in  jeder  Richtung.  Der 
vorzeitige  Tod  des  Vaters,  der  die  Familie  in  mißlichen  Vermögensverhält- 
nissen zurückließ,  zwang  den  jungen  R.,  das  väterliche  Handwerk  zu  erlernen, 
um  der  Familie  Halt  und  Stütze  sein  zu  können.  Sein  innerer  Hang  zog 
ihn  jedoch  zur  Armee,  in  die  er  sechzehnjährig  (am  22.  Oktober  1859)  ^^ 
Kadettgemeiner  eintrat.  Den  italienischen  Feldzug,  an  welchem  sein  Bio- 
graph Otto  Gramzow  R.  teilnehmen  läßt,  hat  der  Sechzehnjährige  natürlich 
nicht  mitgemacht,  zumal  er  erst  drei  Monate  nach  dem  Präliminarfrieden  von 
Villafranca  ins  zweite  Feldjägerbataillon  eintrat,  um  nach  fünf  mühevollen 
Jahren  das  goldene  Portepee  zu  erhalten.  Der  selbstgemachte  Weg  vom 
Kadettgemeinen  zum  Feldmarschall -Leutnant  ist  nicht  minder  weit  und 
dornenvoll,  als  die  zurückgelegte  Strecke  vom  Uhrmacherlehrling  zum  aner- 
kannten Oberhaupt  der  österreichischen  Soziologie,  der  auf  dem  wissenschaft- 
lichen Weltkongreß  zu  St.  Louis  (Sommer  1904)  vor  einem  Areopag  von 
Gelehrten  die  »Probleme  der  Soziologie«  erörtern  durfte.  Eiserne  Zähigkeit, 
wind-  und  wetterfeste  Charakterfestigkeit,  unbeirrbares  Verbohren  und  Ver- 
beißen in  das,  was  er  als  sein  Lebensziel,  seine  Bestimmung  und  Aufgabe, 
erkannt  hat,  sind  unerläßliche  Voraussetzungen  eines  so  geradlinigen  Auf- 
stiegs. Wer  in  einem  hierarchisch  gegliederten  Beamtenstaat,  ohne  blaues 
Blut  oder  goldene  Wiege,  ohne  fördernden  Anhang  und  beziehungsreiche 
Fürsprecher,  die  Unvorsichtigkeit  begeht,  sich  ins  Dasein  zu  drängen,  muß 
einen  stählernen  Willen  oder  ehernen  Verstand  mitbringen,  um  den  »Erb- 
fehler« seiner  Geburt  einigermaßen  wettzumachen.  R.  hatte  beides.  Der 
energetische  Philosoph,  als  welchen  wir  R.  kennen  lernen  werden,  hat  als 
Wiegengeschenk  seiner  anonymen  Vorfahren  neben  ungewöhnlicher  Verstandes- 
energie eine  reich  bemessene  Dosis  Willensenergie  mit  auf  den  Weg  bekommen. 
Und  mit  diesem  Doppelrüstzeug  bewaffnet,  begann  er  den  Ellbogenkampf 
ums  Dasein.  In  einem  solchen  Kampfe  haben  die  Furien  gewöhnlich  das 
Übergewicht  über  die  Grazien.  Wenn  man  sich  Schritt  vor  Schritt,  Stufe 
für  Stufe  auf  seiner  Lebensleiter  mit  Zähnen  und  Nägeln  alles  gewaltsam 
ertrotzen  muß,  verdüstert  sich  gar  leicht  selbst  das  ursprünglich  sternhelle 
Auge,  und  das  anmutige  Jugendlächeln  weicht  häufig  genug  einer  kalten  und 
harten  Mä/inerstrenge,  einem  herrisch -groben  Befehlerblick.  Daher  mag  es 
kommen,  daß  R.s  etwas  scharfes,  kantiges  Wesen,  sein  Mangel  an  einfühlender 
Milde  in  seiner  unmittelbaren  Umgebung,  in  Wien  selbst,  wo  Liebenswürdig- 
keit und  Geschmeidigkeit  entscheidende  Lebenswerte  darstellen,  keine  rechte 

Biofr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog*.    9.  Bd.  I(^ 


200  Ratzenhofer. 

Resonanz  aufkommen  ließ.     Das  Ausland  mußte  erst  den  Österreichern   zum 
Bewußtsein  bringen,  was  sie  an  R.  ihr  eigen  nennen. 

Die  militärische  Laufbahn  kann  hier  nur  knapp  berührt  werden.  Im 
Kriege  von  1866  hatte  er  Gelegenheit,  sich  persönlich  auszuzeichnen,  aber 
der  für  Österreich  so  verhängnisvolle  3.  Juli  1866  hinterließ  tiefe  Spuren  in 
seiner  Seele.  Jetzt  erst  stand  es  bei  ihm  fest,  daß  er  seine  Kräfte  in  den 
Dienst  der  Armee  stellen  müsse.  1868  trat  er  in  die  Kriegsschule  ein,  1872 
ward  er  dem  Generalstab  zugeteilt,  und  drei  Jahre  später  begründete  er  mit 
Maria  Josefa  von  Herget  ein  vorbildliches  Heim,  dem  zwei  Söhne  beschieden 
waren.  Was  Frau  Marie  ihrem  Gatten  war,  schildert  R.  in  den  Widmungs- 
worten seiner  »Positiven  Ethik«  (1901):  »Wenn  ich  dieses  Buch  der  Erin- 
nerung meiner  dahingeschiedenen  Gattin  weihe,  so  hat  dies  wohl  seinen  subjek- 
tiven Ursprung  in  der  unsäglichen  Dankbarkeit,  welche  mich  für  sie  erfüllt;  aber 
die  Berechtigung  hierzu  schöpfe  ich  vorwiegend  aus  objektiven  Beweggründen. 
So  tief  ich  und  meine  Kinder  ihr,  der  Edlen,  verpflichtet  sind,  so  bliebe 
unsere  Verehrung  doch  um  so  mehr  eine  intime  Angelegenheit  meiner  Familie, 
als  eine  positive  Ethik  die  vollständigste  Unterdrückung  individueller  Inter- 
essen verlangt  —  wenn  ich  nicht  die  Erfahrung  gemacht  hätte,  daß  gerade 
sie  es  war,  welche  mir  das  ethische  Empfinden  zum  Bewußtsein  brachte. 
Denn,  wenn  die  Ethik  sich  bemüht,  Normen  für  die  menschlichen  Wechsel- 
beziehungen zu  vermitteln,  so  ist  es  klar,  daß  ihr  Kernpunkt  in  den  Bezie- 
hungen beider  Geschlechter  zu  suchen  ist.  In  dieser  Hinsicht  ist  also  meine 
Widmung  weniger  die  Tilgung  einer  Schuld,  als  die  Manifestation  einer 
wissenschaftlichen  Überzeugung,  ausgedrückt  durch  einen  Hinblick  des  Ver- 
fassers auf  sein  eigenes  Lebensbild.«  Aus  diesen  Widmungsworten  spricht 
eine  Zartheit  und  Feinheit  der  Gesinnung,  die  wir  zur  Vervollständigung  des 
Charakterbildes  von  R.  um  so  bereitwilliger  herangezogen  haben,  als  sie  seine 
etwas  rauhe  Außenseite  mildernd  zu  glätten  vermag.  Diese  Weichheit  des 
Gemütslebens  kontrastiert  sehr  wohltuend  gegen  die  soldatische  Schärfe  und 
Unbekümmertheit,  mit  welcher  R.  nicht  bloß  seine  Truppen  zu  befehligen 
liebte,  sondern  auch  der  Philosoph  in  ihm  die  Gedankentruppen  dialektisch 
kommandierte.  Auch  im  R.schen  »System«  steckt  etwas  von  der  Schroffheit 
des  Truppenführers  und  strenge  Disziplin  heischenden  Organisators.  Seine 
Ideen  müssen  in  Reih  und  Glied  vorbeidefilieren,  per  fas  et  nefas  dort 
Unterkunft  suchen,  wo  der  philosophische  Platzkommandant  befohlen  hat. 
Und  mag  der  philosophiegeschichtlich  Versierte  und  Eingeschulte  gar  oft 
ungläubig  den  Kopf  schütteln  und  sich  verwundert  fragen,  warum  diese  oder 
jene  Ideenfolge  oder  Gedankenreihe  gerade  an  diesem,  ganz  und  gar  unge- 
eigneten, allem  Schulschema  spottenden  Ort  untergebracht  wird  —  einerlei! 
Hier  haben  die  Gedanken  nun  einmal  zu  stehen,  weil  ich,  ihr  Kommandant, 
es  so  will  und  befehle.  Eure  schulmäßige  Einkleidung  mit  ihrer  pedantischen 
Forderung  nach  System  gerechter  Gruppierung  ist  scholastische  Tüftelei. 
Meine  Ideen  haben  Ordre  zu  parieren  —  Pardon  wird  nicht  gegeben.  Und 
so  begründet  denn  R.  sein  philosophisches  System  des  monistischen  Posi- 
tivismus ohne  alle  Rücksicht  auf  Vorgänger  und  Zeitgenossen.  Selbst  die 
naheliegende,  für  jeden  Kenner  kaum  abweisliche  Verwandtschaft  mit  Comte 
oder  Spencer  lehnt  R.  mit  der  schroffen  Motivierung  ab,  sein  monistischer 
Positivismus    unterdrücke    bewußt    alles    Subjektive    und   spreche    nur    aus. 


Ratzcnhofer.  2Q1  ■ 

»was  beweisbar,  widerspruchslos  und  durch  eine  lückenlose  Schlußfolgerung 
geprüft  ist«  (Einleitung  zu  seinem  letzten  Werk,  Kritik  des  Intellekts,  1902). 
So  spricht  ein  logischer  Haudegen,  ein  dialektischer  Willkürherrscher,  der 
alle  Gegenargumente  mit  dem  einzigen  Keulenschlag  eines  /toc  volo,  sie 
jubeo  niederdonnernd  zermalmt.  Die  fügsame  Geschmeidigkeit  des  fachlich 
Vorgebildeten,  der  im  philosophiegeschichtlichen  Arsenal  bewandert  ist  und 
für  jedes  Pro  ein  Contra  kennt,  geht  R.,  dem  Autodidakten,  völlig  ab.  Mehr 
Schulung  hätte  ihn  toleranter  und  einfühlender  für  andere  Gedankenbildungen, 
für  benachbarte  Systeme  oder  verbündete  "Weltanschauungen  gemacht.  In 
die  Armee  ist  R.  als  Kadettgemeiner  eingetreten,  um  41  Jahre  lang  Stufe 
für  Stufe  emporzuklimmen;  in  die  >^Grande  Annee<s^  der  Denker  aber  ist  er 
gleich  als  General  eingesprungen  —  ein  Marschall  Ney  der  Philosophie.  Da 
geht  es  dann  ohne  Verhauen  und  Entgleisen  im  einzelnen  und  kleinen  nicht  ab. 
Dafür  aber  entschädigt  R.  durch  eine  Kühnheit  des  Wurfs  und  Großzügigkeit  der 
Konzeption.  Ohne  von  Fichte  oder  Schelling  mehr  zu  wissen,  als  den  bloßen 
Namen,  bildet  er  sich  selbst  zum  Naturphilosophen  großen  Stils  aus.  Mit 
neidenswert  naiver  Entdeckerfreude  verkündet  R.  eine  neue  Weltanschauung, 
die  in  Tat  und  Wahrheit  eine  Wiederbelebung  der  romantischen  Philo- 
sophie am  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  bedeutet.  Nur  die  Methode  hat 
inzwischen  gewechselt.  Da  die  beherrschende  Wissenschaft  unserer  Ta^e 
die  Biologie  ist,  so  bedient  sich  R.  naturgemäß  der  biologischen  Methode. 
Während  also  die  klassische  Denkertrias:  Fichte,  Schelling  und  Hegel  ihren 
ethischen,  ästhetischen  beziehungsweise  logischen  Monismus  fnore  dialccttco^ 
nach  dem  Geschmacke  jenes  Zeitalters,  entwickelten,  hüllt  R.  seinen  positiven 
Monismus  in  einen  biologischen  Mantel  und  philosophiert  more  biologico. 
Doch  wollen  wir  zunächst  an  der  Hand  des  anonymen,  offenbar  vortrefflich 
eingeweihten  und  warmherzig  empfindenden  Biographen  in  Danzers  »Armee- 
Zeitung«  Qahrgang  1904,  Nr.  49,  50  und  51)  die  militärische  Laufbahn  R.s 
kennzeichnen. 

Das  Jahr  1876  brachte  dem  nun  Vierunddreißigjährigen  die  Hauptmanns- 
charge, die  Einteilung  in  das  neugebildete  Generalstabskorps  und  seine 
Kommandierung  ins  Kriegsarchiv.  Der  Okkupationsfeldzug  1878  unterbrach 
nur  für  kurze  Zeit  seine  kriegsgeschichtlichen  Arbeiten.  In  die  Operations- 
abteilung des  2.  Armeekommandos  eingeteilt,  kehrte  er  nach  Beendigung  der 
Kampagne  wieder  in  das  Kriegsarchiv  zurück,  um  sich  an  der  offiziellen 
Darstellung  der  Okkupation  zu  beteiligen.  Für  besonders  erfolgreiches 
Wirken  auf  kriegsgeschichtlichem  Gebiete  wurde  er  dann  1880  mit  dem 
Militärverdienstkreuze  ausgezeichnet.  1879  finden  wir  ihn  im  Generalstabs- 
truppendienste (Budapest),  188 1  bei  der  Militärmappierung  (Baja,  Ungarn), 
1882  als  Generalstabschef  der  34.  Truppendivision  (Temesvar),  1885  im  Front- 
dienste beim  100.  (Teschen),  1886  (als  Oberstleutnant)  beim  92.  Infanterie- 
regiment (Theresienstadt),  1887  beim  15.  Korpskommando  (Sarajewo),  1888 
als  Generalstabschef  des  14.  Korps  (Innsbruck);  1889  Oberst  geworden,  sieht 
er  sich  1891  durch  Gesundheits-  und  andere  Umstände  veranlaßt,  sich  auf 
ein  Jahr  beurlauben  zu  lassen.  1892  im  Präsenzstande  des  8.  Infanterie- 
regiments (Brunn),  wird  er  im  folgenden  Jahre  dessen  Kommandant,  übernimmt 
1894  das  60.  Infanteriebrigadekommando  (Lemberg);  1895  Generalmajor, 
wird   er  1898  Präsident  des  Militär-Obergerichtes  (Wien)   und  noch  in  dem- 

19* 


292 


Ratzenhofer. 


selben  Jahre  Feldmarschall -Leutnant.  1901  pensioniert,  wählt  er  seine 
Vaterstadt  Wien  als  Domizil. 

Die  erste  literarische  Betätigung  R.s  fällt  in  das  Jahr  187 1.  Das  außer- 
ordentliche Interesse  der  Fachkreise  an  dem  großen  Kriegsdrama  von  1870/71 
hatte  bald  nach  dessen  Ende  eine  Preisausschreibung  zur  Folge,  deren  Thema 
die  »taktischen  Lehren«  dieses  epochalen  Krieges  waren.  Vier  Autoritäten 
auf  taktischem  Gebiete  aus  Österreich  und  Deutschland  bildeten  das  Richter- 
amt, welches  R.,  damals  Oberleutnant  im  2.  Feldjägerbataillon,  unter  anderen 
ausgezeichneten  Bewerbern  den  Preis  zuerkannte. 

Noch  im  Jahre  1873  veröffentlichte  R.  »Das  Gefecht  der  Infanterie«; 
1875  folgte  die  Gelegenheitsschrift  »Zur  Reduktion  der  kontinentalen  Heere« 
und  »Die  praktischen  Übungen  der  Infanterie-  und  Jägertruppe«,  ein  Buch, 
dessen  Wert  schon  daraus  erhellt,  daß  es  mehrere  Auflagen  erlebte;  1877/78 
schrieb  er  das  unter  dem  Decknamen  »Gustav  Renehr«  erschienene  zwei- 
bändige Werk  »Im  Donaureiche«,  welches,  wie  die  1899,  kurz  nach  dem 
Rücktritte  des  Ministeriums  Thun,  anonym  veröffentlichte  Flugschrift  »Was 
wollen,  was  können,  was  sollen  die  Deutschen  im  Donaureiche?«,  das 
beherzigenswerte  Mahnwort  eines  schwerbesorgten  Patrioten  war;  1879  »Die 
Okkupation  Bosniens  und  der  Herzegowina«;  1881  »Die  Staatswehr,  wissen- 
scliaftliche  Untersuchung  der  öffentlichen  Wehrangelegenheiten«,  Lorenz  von 
Stein  gewidmet  und,  wie  Dr.  Otto  Gramzow  uns  erinnert,  vom  Fürsten 
Bismarck  angezogen,  als  er  1881  im  Reichstage  den  Gesetzentwurf  zur  Ein- 
führung einer  »Wehrsteuer«  als  einer  sachlichen  Leistung  der  Wehrbefreiten 
gegenüber  der  »Blutsteuer«  der  Dienstpflichtigen  einbrachte;  1882  »Moltke 
und  Gambetta«. 

Erwägt  man,  daß  R.  in  diesen  Jahren  von  Amts  wegen  für  das  monu- 
mentale Werk  »Feldzüge  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen«  das  inhaltreiche 
Jahr  1704  (Höchstädt  und  Blenheim)  bearbeitete  und  an  der  offiziellen  Dar- 
stellung des  Okkupationsfeldzuges  teilhatte,  sich  im  Generalstabs-Truppen- 
dienste  und  bei  der  Militärmappierung  betätigte,  daß  also  alle  vorgenannten 
ernsten  und  originellen  Arbeiten,  von  zahlreichen  kleineren  Abhandlungen 
nicht  zu  sprechen,  Nebenfrüchte  einer  vom  Dienste  stark  in  Anspruch 
genommenen  Arbeitskraft  gewesen  sind,  so  kann  man  nicht  verkennen,  daß 
in  R.  ein  energisches  wissenschaftliches  Ringen,  ein  ganz  ungewöhnlicher 
Betätigungsdrang  und  eine  außerordentliche  Arbeitspotenz  in  die  Erscheinung 
traten. 

Den  Übergang  von  der  militärischen  zur  philosophischen  Schriftstellerei 
vermittelte  die  Politik.  Durch  eifrige  Lektüre  nationalökonomischer,  natur- 
wissenschaftlicher und  philosophischer  Werke,  insbesondere  durch  das  Studium 
der  positivistischen  Trias:  Comte,  Mill,  Spencer  (die  deutschen  Positivisten 
Laas,  Göring,  Dühring  kannte  R.  gar  nicht),  eröffneten  sich  ihm  philo- 
sophische Femblicke  in  scheinbar  unentdecktes  Land.  In  Österreich  war 
gerade  Ludwig  Gumplowicz,  der  nachmalige  Apologet  R.s,  mit  dem  schüch- 
ternen Versuch  einer  deutschen  Soziologie  hervorgetreten.  Die  Theorie  des 
Rassenkampfes,  welche  Gumplowicz  in  den  Mittelpunkt  seines  Systems  gerückt 
hatte,  blieb  nicht  ohne  Eindruck  auf  den  empfänglichen  und  leicht  zu 
befeuernden  Geist  R.s.  Noch  die  vorletzte  Arbeit  R.s,  ein  Vortrag  in  der 
»Ethischen  Gesellschaft«  in  Wien,  behandelte  die  »Rassenfrage  vom  ethischen 


Ratzenhofer. 


293 


Standpunkte«  (abgedruckt  im  »Archiv  für  Rassen-  und  Gesellschafts-Biologie«, 
I,  H.  5,  Sept. -Okt.  1904).  Seine  letzte  Arbeit  war  der  Vortrag  in  St.  Louis, 
in  welchem  er  das  Programm  seiner  Soziologie  in  großen  Zügen  entwickelt 
hat  (Auszüge  brachten  die  Frankfurter  »Umschau«  vom  i.  Okt.  1904  und 
Ludwig  Gumplowicz,  Geschichte  der  Staatstheorien  1905).  R.  trug  sich, 
wie  aus  Briefen  an  mich  erhellt,  mit  einem  fertigen  System  der  Soziologie, 
das  der  Serie  seiner  philosophischen  Werke  den  krönenden  Abschluß  geben 
sollte.  Ein  umfangreiches,  unvollendetes  Manuskript  aus  den  Jahren  1903/4, 
betitelt  »Soziologie«,  fand  sich  in  seinem  Nachlasse  vor. 

R.  ist  auf  dem  Wege  der  politisch-sozialen  Probleme  zur  reinen 
Philosophie  gelangt.  Sein  erstes  Werk:  »Wesen  und  Zweck  der  Politik,  als 
Teil  der  Soziologie  und  Grundlage  der  Staatswissenschaften«,  3  Bände, 
Leipzig  1893,  steht  unter  dem  Stembilde  Comtes.  Nur  hat  Comte  sein 
System  der  positiven  Philosophie  mit  der  Soziologie  abgeschlossen,  während 
R.  umgekehrt  seine  Weltanschauung  auf  Soziologie  gründet.  Das  heraklitische 
n«i>.efxo?  rorVjp  Trch^Twv  steht  an  der  Schwelle  der  R.schen  »Politik«,  die  das 
»Gesetz  der  absoluten  Feindseligkeit«  aufstellt,  dessen  Formel  lautet:  Die 
absolute  Feindseligkeit  ist  die  Urkraft  in  der  Politik.  Schon  aus  dieser 
Formel  erhellt  die  naturalistische,  an  Macchiavelli  orientierte  Richtung  R.s. 
Ihm  ist  nicht,  wie  Goethe,  Kunst  und  Natur  Eines  nur,  sondern  Geschichte 
und  Natur  sind  ihm,  wie  Herder,  Eines  nur.  Denn  hier  erkennt  R.  schon  eine 
»Urkraft«  der  Politik  an.  Daraus  ergibt  sich  die  naturalistische  Grundansicht: 
Die  Menschheitsgeschichte  ist  nur  ein  Spezialfall  der  allgemeinen  Natur- 
geschichte. Der  Mensch  ist  nur  ein  Ausschnitt  der  Gesamtnatur  und  ist  daher 
nicht  nur  in  seinem  Mechanismus  und  Chemismus,  sondern  auch  in  allen  seinen 
inneren  seelischen  Erlebnissen  den  allgemeinen  Naturgesetzen  bedingungslos 
unterworfen.  Werden  die  Atome  durch  Attraktion  und  Repulsion  in  ihren 
gegenseitigen  Beziehungen  reguliert  oder  die  chemischen  Verbindungen  durch 
Affinität  oder  Verbindungswiderstand,  so  der  Mensch  in  der  Gesellschaft 
durch  das  elementare  Streben  nach  Selbsterhaltung  {inX  t6  xr^pslv  iauxd  bei  den 
Stoikern,  esse  sc  velle  bei  Spinoza).  Und  so  ist  denn,  nach  R.,  die  Befriedigung 
der  unentbehrlichen  materiellen  Bedürfnisse  das  eigentliche  Thema  der 
Geschichte.  Wie  Comte,  so  kennt  auch  R.  neben  der  sozialen  Statik,  dem 
Ruhezustand  des  erlangten  sozialen  Gleichgewichts,  eine  soziale  Dynamik, 
d.  h.  ein  Bewegungsgesetz  der  Geschichte.  Ist  das  Gleichgewicht  zwischen 
Produktionsweise,  staatlichen  Einrichtungen,  sozialen  Gliederungen  und 
beherrschenden  Ideen  (Idie  nUre  bei  Comte,  idee  maitresse  bei  Taine)  gestört, 
so  sucht  der  Klassenkampf  oder  Rassenkampf  in  der  Geschichte  dieses 
Gleichgewicht  nach  strengen  Entwicklunggesetzen  wieder  herzustellen.  Dieses 
Entwicklungsgesetz  (progris  bei  Comte)  ist  der  ständige  Fortschritt  in  der 
Humanisierung  des  sozialen  Kampfes  ums  Dasein.  Wie  St.  Simon,  Comte  und 
Spencer  einmütig  betonen:  der  kriegerische  Typus  weicht  allmählich  dem 
industriellen.  Das  augenblicklich  noch  empfindlich  gestörte  politische  und 
soziale  Gleichgewicht  innerhalb  unseres  Kulturkreises  tendiert  nach  R.  ebenso 
wie  nach  Comte  einer  die  Interessengegensätze  bannenden  Formel  entgegen. 
R.  nennt  dies:  »Harmonie  der  politischen  Triebe«,  Comte  pouvoir  spirituel 
oder  autoriti  spirituelle.  Schon  Comte  behauptete:  das  Individuum  im  Staate 
ist  eine  Fiktion  wie  das  Atom.      In   jedem  Blutstropfen    der  Persönlichkeit 


294 


Ratzenhofer. 


rinnt  die  Gattungserfahrung  der  vorangegangenen  Vorfahrenreihe.  Im  Zustand 
der  Statik  (des  sozialen  Beharrens)  käme  dem  Individuum  innerhalb  der 
Familie,  insbesondere  dem  mit  der  patria  potestas  bekleideten  Oberhaupt, 
eine  soziale  Bedeutung  zu,  aber  im  Übergang  von  Familie  zum  Stamm,  zum 
Volk,  zum  Staat  verliere  sich  das  Individuum  völlig,  um  dem  Kollektivum: 
Nation  Platz  zu  machen.  Im  Zeitalter  der  Maschine  vollends  sinke  die  Per- 
sönlichkeit zur  quanttti  fpigligeable  herab.  Der  Moloch  oder  Leviathan  Staat 
drückt,  ganz  wie  bei  Hobbes,  die  Persönlichkeit  zum  Automaten  herab.  — 
Der  Bürger  eine  Abstimmungsmaschine,  ein  Automat  zur  Verrichtung  gesell- 
schaftlich nützlicher  Handlungen.  Auch  nach  R.  läßt  sich  im  Kulturstaat 
das  Individuum  nicht  loslösen  von  dem  umstrickenden  und  erdrückenden 
Netz  der  sozialen  Beziehungen.  Das  politische  Individuum  als  »soziale  Ein- 
heit« ist  auch  nach  R.  eine  leere  Fiktion.  Nur  die  politische  Persönlichkeit 
(Gruppe,  Partei,  zuoberst  der  Staat)  repräsentiert  die  Einheit  eines  Sozial- 
willens. "Wie  bei  Comte  reguliert  im  vorgeschrittenen  Staat  auch  bei  R.  das 
Gattungswesen  »Mensch«  die  Zwecke  des  Einzelindividuums.  Mag  also 
das  Wesen  der  Politik  immerhin  individualistisch  sein,  sofern  sie  dahin 
strebt,  die  berechtigten  Eigeninteressen  des  einzelnen  Bürgers  im  Staate 
zu  wahren  und  in  seinen  wohlerworbenen  Rechten  zu  schützen,  so  ist  der 
Zweck  aller  Politik  Zivilisation  und  Kultur.  Wie  nach  Kant  der  Weg  der 
Geschichte  durch  die  drei  Marksteine:  Kultivierung,  Zivilisierung,  Morali- 
sierung, gekennzeichnet  ist,  so  daß  die  Strecke  von  der  bestialischen  Ani- 
malität  bis  zur  Humanität  die  genannten  drei  Stadien  zu  durchlaufen  hat, 
und  ähnlich  wie  Comte  (übrigens  im  Anschluß  an  Turgot,  der  schon 
70  Jahre  zuvor  die  Dreistadienlehre  aufgestellt  hat)  die  Menschheit  durch  theo- 
logische und  metaphysische  Phasen  hindurchgehen  läßt,  um  beim  positiven 
anzulangen,  läßt  auch  R.  Zivilisation  und  Kultur  letzten  Endes  siegen  über 
List  und  Gewalttat;  das  Gattungsinteresse,  die  Humanität,  die  »Harmonie 
der  politischen  Triebe«  überwindet  den  Eigennutz,  das  Individualinterresse. 
Von  hier  aus  führt  ein  gerader  Weg  zu  R.s  »Soziologischer  Erkenntnis« 
(Leipzig  1898),  welches  Werk  die  Wechselbeziehungen  zwischen  Menschen 
unter  wissenschaftliche  Kategorien  zu  bringen  sucht.  Lester  F.  Ward,  der 
führende  amerikanische  Soziologe,  zählt  R.s  »Soziologie«  zu  den  wichtigsten 
Beiträgen  zur  Soziologie  während  des  letzten  Jahrzehnts.  Gumplowicz  ver- 
steigt sich  gar  zum  übertreibenden  Dithyrambus,  die  ganze  bisherige  politische 
und  soziologische  Literatur  habe  nichts  Ähnliches  aufzuweisen.  Otto  Gram- 
zows  Monographie  hält  sich  von  solchen  Ausbrüchen  leidenschaftlicher 
Apologetik  fern.  Ich  selbst  habe  im  Sommer  1904,  noch  zu  Lebzeiten  R.s, 
der  die  ersten  Aufsätze,  nach  Mitteilungen  seines  Sohnes,  no'ch  auf  dem 
Schiffe,  unmittelbar  vor  seinem  Tode,  mit  Genugtuung  begrüßte,  in  der 
Wiener  N.  Fr.  Presse  dem  österreichischen  Herbert  Spencer  drei  Abhand- 
lungen gewidmet,  die  in  etwas  veränderter  Fassung  in  meinen  »Sozialen 
Optimismus«,  (Jena,  Costenoble,  1905)  übergegangen  sind.  Dort  suchte  ich 
sine  ira,  sed  cum  studio  das  Wesen  der  R. sehen  Soziologie  wie  folgt  zu 
charakterisieren  (S.  174  ff.): 

Die  »Gesetzeseinheit«  von  Natur  und  Geschichte  lehrt  zum  ersten  Mal 
Heraklit,  der  seinen  Satz  vom  »Kampf  als  Vater  und  König  aller  Dinge«, 
welcher  sich   bei  Hobbes   in   das    *  bellum  iminium  contra  omnes*^  bei    Malthus 


Ratzenhofer. 


295 


und  Darwin  in  das  *struggle  for  iife*  verwandelt,  vollbewuflt  aus  dem 
Metaphysischen  ins  Soziologische  übertrug,  wie  uns  ein  vor  etwa  fünfzig 
Jahren  bekannt  gewordenes  Fragment  unwidersprechlich  belehrt.  Wie 
Heraklit  der  Stammvater  alles  Evolutionismus  ist,  also  auch  die  Weltan- 
schauung  Spencers  und  R.s  beherrscht,  so  hat  er  auch  jene  organische  Methode 
für  die  Soziologie  im  Prinzip  vorweggenommen,  welche  bei  R.  die  Fassung 
erhält:  »Jede  Übereinstimmung  der  biologischen  Gesetze  mit  den  sozialen,  ob 
auf  Analogie  oder  Identität  gegründet,  ist  nur  denkbar  bei  einer  Gesetzes- 
einheit aller  Erscheinungen.« 

Die  Durchführung  und  unerschrockene  Übertragung  dieser  als  pctitio 
prtncipii  geforderten  »Gesetzeseinheit«  auf  alle  Gebiete  von  Natur  und  Gesell- 
schaft ist  die  eigentliche  Leistung  der  R.schen  Soziologie.  Spencer  holt  zu 
gleichem  Behufe  aus  dem  unerschöpflichen  Born  seiner  »deskriptiven  Sozio- 
logie« überwältigendes  vergleichend -ethnographisches  Material  herbei.  R. 
arbeitet  hingegen  mehr  mit  seiner  ungemein  lebhaften,  auf  kleinste  Reize 
reagierenden,  glücklich  inspirierten  biologischen  Phantasie.  Für  ihn  steht  das 
Dogma  von  der  »Gesetzeseinheit  der  Welt«  unerschütterlich  fest.  Physik, 
Mechanik,  Geologie  und  Chemie  sind  in  bezug  auf  ihre  Gesetzesform  der 
Entwicklung  von  der  Soziologie  grundsätzlich  nicht  verschieden.  Die  Gesetze 
der  Chemie  lassen  sich  auf  die  der  menschlichen  Gesellschaft  zwang-  und 
restlos  anwenden  und  übertragen,  und  R.  »hat  den  Mut,  es  auszusprechen, 
daß  die  Identität  der  Ursache  bei  chemischen  und  sozialen  Vorgängen 
geeignet  ist,  eine  Stütze  der  Molekulartheorie  zu  sein«.  Um  jeder  Zweideutig- 
keit der  Auslegung  die  Stachelspitze  zu  nehmen,  führt  R.  seinen  »Monismus« 
der  Gesetzeseinheit  ins  Extrem  durch  und  verkündet  mit  der  Stentorstimme 
des  geborenen  Befehlshabers:  »Diese  Übereinstimmung  des  organischen  Lebens- 
prozesses mit  dem  sozialen  Prozeß  ist  kein  bildlicher  Vergleich,  sondern 
kausal.« 

Eine  solche  »Gesetzeseinheit«  darf  nicht  vorausgesetzt,  sondern  sie  muß  be- 
wiesen werden.  Für  solche  »Identitätsphilosophie«,  wie  sie  uns  R.  soziologisch 
mundgerecht  machen  möchte,  darf  man  sich  nicht  jener  von  Fichte  und  Schelling 
geforderten,  aber  nicht  abgeleiteten  »Gesetzeseinheit«  bedienen,  über  welche 
Hegel  in  der  berühmten  Vorrede  zur  »Phänomenologie  des  Geistes«  spottet, 
sie  sei  aus  der  Pistole  geschossen  und  gleiche  der  Nacht,  in  welcher  alle 
Kühe  schwarz  sind.  Nimmt  man  die  Distanz  so  groß  wie  R.  und  alle 
Identitätsphilosophen,  von  den  Eleaten  angefangen  bis  Spinoza,  welche  von 
den  Forderungen:  »Sein  und  Denken  ist  nur  Eines«,  Eines  ist  das  All  und 
das  Seiende  der  Grundformel  des  Pantheismus  —  ihren  dialektischen  Ausgangs- 
punkt nehmen,  so  verschwinden  freilich  alle  Mannigfaltigkeiten  .und  Gegen- 
sätze, aber  nicht  darum,  weil  der  Beobachter  von  der  hohen  Warte  seines 
eingenommenen  Standpunktes  aus  sie  ebensowenig  sehen  kann,  wie  der 
Alpinist  vom  Bergesgipfel  des  Monte  Rosa  aus  die  kleinen  Hügel  in  der 
Talmulde.  Die  Einerleiheit  des  Eindrucks  geht  nicht  von  den  Hügeln, 
sondern  vom  gewählten  Horizont  des  Beschauers  aus. 

Wer  diese  Einsicht  gewonnen  hat,  wird  weder  mit  R,,  Fichte  oder 
Schelling  sich  durch  einen  metaphysischen  Luftsprung,  durch  ein  Saltomortale 
der  gesunden  Menschenvernunft,  kraftgenialisch  und  unvermittelt  zu  dieser 
obersten  Einheit  erheben,  sondern  er  wird  sich  an  der  Hand  alpentouristisch 


296 


Ratzenhofer. 


geschulter  Führer,  am  Seil  der  vorangegangenen,  geschichtlich  wirksam 
gewesenen,  philosophischen  Systeme,  zum  höchsten  Bergesgipfel  emporführen 
lassen.  Will  die  Philosophie  eine  Topographie  des  Universums  in  Natur  und 
Geschichte  darstellen,  somit  den  Globus  hiteüectuaUs  genau  abzirkeln  und 
vermessen,  so  muß  sie  empirisch-induktiv  beginnen,  vom  Einfachen  und  Ein- 
zelnen ausgehen,  die  Dinge  und  Gegenstände  in  mikroskopischer  Nähe  auf 
ihre  Wirklichkeit  hin  ansehen,  nicht  aber  in  makroskopischer  Ferne  sich  als 
gedachte  Möglichkeit  gegenüberstellen,  um  hinterher  die  Wirklichkeit  deduktiv 
aus  der  beweislos  gesetzten  Einheit  abzuleiten. 

R.  ist  so  gut  energetischer  Revolutionist  wie  Fichte  vor  ihm  und  Ostwald 
neben  ihm.  Aber  der  Kernsatz  R.s:  »Ohne  Bewußtsein  gibt  es  kein  Sein, 
ohne  Intellekt  kein  individuelles  Sein  und  ohne  Empfindung  kein  Bewußt- 
sein«, ist  genau  so  erkenntnistheoretisch  aus  der  Pistole  geschossen,  wie 
Fichtes  oberste  Forderung:  das  Ich  setzt  sich  selbst.  Hier  wie  dort  beginnt 
das  Denken  mit  einem  Postulat,  einer  Forderung:  Setze  dein  Bewußtsein! 
Das  zu  Beweisende  wird  als  bewiesen  vorweggenommen.  Wer  diese  ptttt'w 
principii  akzeptiert,  kann  sich  dem  System  weiter  anvertrauen ;  wer  aber  schon 
an  der  Schwelle  des  Systems  über  diesem  Postulat  kritisch  stolpert,  kann 
keinen  Schritt  mehr  mittun.  Deshalb  hat  Hegel  gezeigt,  wie  man  diese  von 
vornherein  behauptete  Identität  von  Denken  und  Sein,  von  Geist  und  Natur, 
von  Bewußtsein  und  Außenwelt  nicht  an  den  Anfang  der  Philosophie  als 
Behauptung,  sondern  an  deren  Ende  als  unausweichliches  logisches  Resultat 
setzen  müsse.  Hegels  Ableitung  ist  eine  logisch- dialektische,  die  dem 
Geschmacke  unserer  Zeit  schlechterdings  nicht  behagen  will.  Der  andere 
große  Evolutionist,  Herbert  Spencer,  ist  in  seinen  *first  prineiples*  zu  seinem 
Unerkennbaren,  dessen  Kraftäußerungen  wir  als  Wirkungen  in  unserem  Bewußt- 
sein feststellen,  nicht  wie  Hegel  nach  dialektischer  Methode,  sondern  auf 
dem  Wege  der  Physik,  Chemie  und  exakten  W^issenschaften  gelangt,  die  er 
der  Reihe  nach  abgeklopft  und  gewissenhaft  befragt  hat.  Einen  dritten  Weg 
schlägt  die  vergleichend-geschichtliche  Methode  ein,  indem  sie  statt  Biophoren, 
Zelle,  Monere,  Protisten  lieber  Legenden,  Mythen,  Religion,  Recht,  Moral, 
Kunst,  Wissenschaft  in  ihren  Ursprüngen  und  ihrem  geschichtlichen  Werde- 
gang belauscht,  um  auf  dem  Umwege  der  Geschichte  den  Sinn  des  mensch- 
lichen Daseins  zu  enträtseln.  Auch  wir  sind  Evolutionisten,  so  gut  wie  R., 
sogar  energetische  Evolutionisten,  wie  Ostwald,  Mach,  Stallo,  Clifford,  Helm 
und  die  ganze  Schule  der  jüngeren  Energetiker.  Und  R.  konnte  aus  meiner 
vorletzten  Publikation  —  Der  Sinn  des  Daseins,  Tübingen,  Mohr  1904  — ,  die 
sich  ebenfalls  wiederholt  mit  ihm  beschäftigt,  die  Überzeugung  gewinnen, 
daß  wir  uns  am  Ziele  treffen,  wenn  auch  unsere  Wege  auseinandergehen. 
Mir  scheint  eine  erkenntnistheoretische  Grundlegung  der  Energetik  sowie  eine 
Psychologie  der  philosophischen  Systembildung  das  dringendste  Erfordernis 
unserer  Richtung.  Die  Gesetzeseinheit,  welche  R.  voraussetzt,  wird  auch  von 
mir  gutgeheißen,  aber  nicht  als  Forderung,  sondern  als  Ergebnis. 

R.s  Weltanschauung  beruht  auf  einer  Generalisation,  die  er  aus  der 
Soziologie  herübergenommen  und  in  die  Metaphysik  verpflanzt  hat.  Das 
»anhaftende  Interesse«  war  der  Zentralbegriff  seiner  Soziologie,  in  welcher 
der  Aufstieg  vom  Eigeninteresse  zum  Gattungsinteresse  klargelegt  wurde. 
Jetzt»   wird    zur    astrophysischen     Verallgemeinerung    fortgeschritten.      Jede 


Ratzenhof  er.  2Q7 

Erscheinungsform,  vom  Himmelskörper  bis  zum  Atom,  und  jeder  Organismus 
ist  ein  Teil  der  Urkraft  mit  einem  anhaftenden  (inhärenten)  Interesse  an  der 
zugehörigen  Entwicklung. 

Ähnlich  wie  Hartmann  hypnotisch  auf  alle  Phänomene  des  Unbewußten, 
Schopenhauer  auf  die  des  Willens,  Nietzsche  auf  die  Manifestation  des 
»Willens  zur  Macht«,  oder  der  Philosoph  der  Weltphantasie,  Frohschammer, 
auf  alle  Offenbarungsformen  der  »Phantasie«  fahndet,  so  sucht  R.  von  seinem 
Zentralgedanken  des  »inhärenten  Interesses«  aus  alle  Gebiete  des  Wissens 
durchforschend  zu  umspannen,  um  nach  Äußerungsformen  des  »inhärenten 
Interesses«  Umschau  zu  halten.  »Der  positive  Monismus«  (1899)  sucht  die 
Geltung  dieses  Fundamentalsatzes  im  Bereiche  der  gesamten  belebten  und 
unbelebten  Natur,  die  »positive  Ethik«  (Leipzig  1901)  auf  dem  Felde  der 
menschlichen  Moral,  das  letzte  Werk  endlich,  »Die  Kritik  des  Intellekts« 
(Leipzig  1902),  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  sieg- 
haft zu  beweisen.  Wie  jedes  philosophische  System  von  einem  einzigen 
Zentrum  aus  Strahlen  an  die  Peripherie  des  Wissens  entsendet,  so  sucht  auch 
R.  vom  Mittelpunkt  des  »inhärenten  Interesses«  aus  Natur-  und  Geistes- 
wi.ssenschaften  abzuklopfen  und  zu  behorchen,  soweit  sie  sich  seinem  Funda- 
mentalgedanken dienstbar  erweisen.  Positiver  Monismus,  so  heißt  das 
System  R.s,  fordert  die  Gesetzeseinheit  von  Natur  und  Geist.  Die  Einheit 
suchen  die  Materialisten  im  Stoff,  die  Idealisten  im  Bewußtsein,  die  Energe- 
tiker in  den  Monaden  oder  Krafteinheiten.  Das  von  Kant  und  Spencer  für 
unerkennbar  erklärte  »Ding-an-sich«  beruhigt  auf  die  Dauer  die  Gemüter 
nicht.  Das  »metaphysische  Bedürfnis«,  das  Kant  selbst  bis  auf  den  Grund 
erkannt  hatte,  nötigt  uns  zur  Symbolisierung  des  Unerkennbaren,  und  dieses 
ist  für  R.  die  Urkraft,  deren  Grundwesenheit  (Attribut)  die  Attraktion  ist. 
Die  Urkraftpunkte,  in  Krafthüllen  eingebettet,  schweben  nach  dem  Attrak- 
tionsgesetz frei  im  Raum.  Sie  bilden  das  Elementatom,  das  der  Träger 
potentieller  Energie  ist.  Attraktion  und  Repulsion  spielen  bei  R.  dieselbe 
weltbaumeisterliche  Rolle  wie  bei  Herbert  Spencer  der  ewige  Rhythmus  von 
Integration  und  Differenzierung.  R.  folgert  die  Einheit  aller  Kräfte,  und  auch 
das  Leben  ist  in  diese  Einheit  eingeschlossen.  Das  Leben  ist  für  R.  kein 
Phänomen  sui  generis,  sondern  eine  Energiemodalität,  wie  sie  im  Prozeß  der 
chemischen  Affinität  sich  offenbart.  Was  in  der  scheinbar  leblosen  Natur 
als  latente  Energie  wirkt,  das  nennen  wir  in  der  Welt  des  Lebens  inhärentes 
Interesse,  das  sich  ein  eigenes  Organ  geschaffen  hat  —  den  Willen.  Auch 
das  menschliche  Bewußtsein  macht  also  keine  Ausnahme  vom  universellen 
Energiegesetz.  Selbst  die  Blume  aller  Menschlichkeit,  das  Sittengesetz,  hängt 
mit  dem  angeborenen  Interesse  der  Urkraftpunkte  zusammen.  Die  Welt  der 
W^erte  und  Zwecke,  das  sittlich  Seinsollende  ist  naturgesetzlich  festgelegt,  in 
der  Energieformel  wie  punktiert  schon  angedeutet  oder  vorgebildet.  Der 
ethische  Aufstieg  vom  individuellen  Nützlichen  zum  Gemeinnützigen,  vom 
Egoismus  zum  Altruismus,  geht  bei  R.  wie  bei  Comte  und  Spencer  als  streng 
determinierter  naturgesetzlicher  Prozeß  vor  sich.  Selbst  das  ästhetische 
Empfinden   ist  in  der  angeborenen  Interessennatur  des  Menschen  begründet. 

Seit  der  »Kritik  des  Intellekts«  (1902)  tritt  das  »Bewußtsein  als  ursprün- 
lichste  Erfahrung«  in  den  Vordergrund  des  R.schen  Denkens.  Jetzt  ist  die 
»Empfindung  die  erste  Erfahrung  des  organischen  Lebens«.     »Ohne  Bewußt- 


298 


Ratzenhofer. 


sein  gibt  es  kein  Sein.«  An  die  Stelle  der  niederen  mechanischen  Funktionen 
tritt  jetzt  der  Intellekt.  Und  als  R.  vollends  die  Schriften  des  Kieler 
Botanikers  Reinke  und  dessen  Dominantentheorie  kennen  lernte,  vollzog  sich 
eine  entscheidende  Wendung  in  seinem  Denken.  In  der  wissenschaftlichen 
Beilage  zur  Allgem.  Zeitung  vom  26.  Mai  1904  ließ  sich  noch  R.  in  einem 
Aufsatz  über  »Die  Soziologie  und  Reinkes  Dominantentheorie«  aus.  Reinkes 
Dominante  oder  »Systemkraft«  wird  jetzt  dem  »inhärenten  Interesse«  energisch 
angenähert.  »Das  Leben,  durch  die  Urkraft  mechanisch  gegeben,  wird  bei 
erwachtem  Bewußtsein  von  dem  angeborenen  Interesse  geleitet  ....  Das 
Interesse  ist  ein  Ausdruck  für  den  Willen  der  waltenden  Urkraft,  in  dem 
Mikrokosmos  eines  Organismus  das  Bewußtsein  zu  erhalten,  solange  die  hier- 
für notwendige  Stoffkonstellation  (Systemkraft)  vorhanden  ist.  Da  stehen  wir 
wieder  vor  dem  einheitlichen  Prinzip  aller  Erscheinungen,  der  bewußtseins- 
fähigen Urkraft,  dem  ewigen  Rätsel.«  Diese  Urkraft  entfaltet  sich,  nach  R. 
mit  kausaler,  nicht  mit  finaler  Notwendigkeit,  d.  h.  sie  kennt  nur  Gesetze  ihres 
Ablaufs,  nicht  Zwecke  oder  gar  Endzwecke  (Causae  finales).  Daneben  haben 
aber,  wie  Gramzow  mit  Recht  gegen  R.  hervorhebt,  solche  Zweckgebilde  wie 
»Selbsterhaltung«,  die  von  Baersche  »Zielstrebigkeit«,  ja  selbst  das  »Vervoll- 
kommnungsbestreben der  Urkraft«  im  Werdeprozeß  der  Welt  im  R.schen 
System  ihren  Platz.  Ich  gehe  noch  einen  Schritt  weiter:  Die  Fundamental- 
formel R.s,  das  inhärente  Interesse,  ist  eine  teleologische,  keine  streng  kausale. 
Denn  bei  allem  Kausalen  gehen  die  Teile  dem  Ganzen,  die  Ursachen  den 
Wirkungen  voraus, .  so  daß  die  jeweilige  Gegenwart  von  der  Vergangenheit 
beherrscht  wird,  während  beim  Teleologischen  umgekehrt  das  Ganze  früher 
ist  als  seine  Teile  (in  der  Eizelle  ist  der  ganze  künftige  Organismus  vorge- 
bildet). Die  Wirkung  stellt  sich  zeitlich  früher  ein  als  die  sie  hervorrufende 
Zweckursache,  und  die  jeweilige  Gegenwart  wird  nicht,  wie  bei  der  kausalen 
Reihe,  von  der  Vergangenheit,  sondern  von  der  Zukunft,  d.  h.  dem  zu  er- 
füllenden Zweck,  beherrscht.  Wäre  wirklich  das  »inhärente  Interesse«,  wie  R. 
will,  die  lange  und  vergeblich  gesuchte  Weltformel,  so  müßte  sich  der  Ablauf 
alles  Geschehens  nach  dem  in  diesem  inhärenten  Interesse  vorgebildeten, 
also  prädestinierten  kosmischen  Weltenplan  abwickeln.  Die  einzelnen 
Kräfte  oder  Energien,  ja  selbst  die  Naturgesetze  wären  alsdann  dem  Uni- 
versal-Imperativ des  inhärenten  Interesses  Untertan. 

Wenn  das  nicht  pure  und  blanke  Metaphysik  ist,  Naturphilosophie 
crude  nude^  wie  sie  unter  den  philosophischen  Romantikern  des  einsetzenden 
19,  Jahrhunderts  im  Schwange  war,  so  weiß  ich  wirklich  nicht,  was  dann  noch 
Metaphysik  heißen  soll.  Und  so  kann  ich  am  Schlüsse  meiner  Darlegungen 
nur  das  Urteil  wiederholen,  das  ich  im  »Sozialen  Optimismus«  (Jena,  Coste- 
noble,  1905,  S.  170  f.)  über  R.s  Weltanschanung  gefällt  habe,  R.s  Weltan- 
schauung ist  energetischer  Pantheismus  im  Rahmen  der  Terminologie  unseres 
Zeitalters.  Am  nächsten  steht  er  dem  ethischen  Pantheismus  Fichtes.  Beide 
gehen  gleicherweise  von  Spinoza  aus.  Nur  lebte  Spinoza  im  klassischen  Zeit- 
alter der  sich  ausbauenden  Mathematik,  und  deshalb  schrieb  er  seine  »Ethik« 
more  geometrtco.  Sein  Pantheismus  ist  daher  ein  mathematischer.  Fichte 
konzipierte  sein  System  unter  dem  Sternbilde  des  »kategorischen  Imperativs« 
von  Kant.  Ihm  ist  die  Substanz  kein  ruhendes  Sein,  sondern  ein  bewegtes 
Sollen,   eine  zu  lösende  Aufgabe:   eine  zu  erfüllende   transzendentale  Pflicht, 


Ratzenhofer. 


299 


Deus  s'we  natura  sind  nicht  geometrisch -ruhend,  wie  bei  Spinoza,  sondern 
dynamisch-bewegt,  wie  bei  Leibniz.  Die  Entwicklungsrichtung  der  Substanz 
—  ihre  »Dominante«,  ihr  -»Conatus«  —  ist  daher  eine  ethisch -praktische; 
kein  Sein,  sondern  ein  Tun.  Gott  ist  gleichbedeutend  mit  der  ordo  ordinans, 
der  sittlichen  Weltordnung,  die  sich  im  Menschen  und  durch  den  Menschen 
stufenweise  vollzieht.  Fichtes  Zeitalter  ist  ein  vorwiegend  dialektisch-speku- 
latives, und  so  kommt  es,  daß  Fichte  seine  Weltanschauung  nicht  wie 
Spinoza  more  geometrko,  sondern  wie  Schelling  und  Hegel,  welche  sich  der 
»dialektischen  Methode«  bedienen,  more  dialectico  konzipiert.  R.  aber  ist  ein 
Sohn  der  Darwin-Spencerschen  Epoche.  Seit  Darwin  ist  das  Lebensproblem 
das  Problem  unserer  Tage  geworden.  Nichts  im  Leben  interessiert  uns  seit 
der  durch  Darwin  heraufbeschworenen  biologischen  Periode  der  Wissenschaft 
mehr  als  das  Leben  selbst.  Mit  der  Biologie  traten  indes  die  Zweck- 
vorstellungen in  den  Vordergrund,  und  wir  bekommen  mit  Cossmann,  Driesch, 
Fano,  Rindfleisch  und  Bunge  eine  empirische  Teleologie  —  ein  Wiederauf- 
leben des  fälschlich  todgesagten  Vitalismus.  Spencer  erneuert  Schelling, 
Ostwald  die  Lorenz  Okensche  Naturphilosophie.  In  diese  Gedankenwerk- 
stätte tritt  der  österreichische  Spencer  zuerst  als  Lehrling,  sehr  bald  als 
Meister  ein.  Die  philosophiegeschichtlichen  Zusammenhänge  gehen  ihm  ab. 
Aber  »das  Gefühl  ist  der  Pionier  der  Erkenntnis«  sagt  einmal  R.,  Wundt 
zitierend,  ohne  zu  bedenken,  daß  heute  Ribot,  auf  diesem  Gedanken  bauend, 
eine  Weltanschauung  erneuert  hat,  die  im  achtzehnten  Jahrhundert  in  England 
die  herrschende  war.  Mit  diesem  »Gefühl«  ergreift  R.  die  Probleme  und 
sehr  bald  ergreifen  die  Probleme  ihn.  Er  glaubt  zu  schieben  und  wird 
geschoben.  Die  immanente  Logik,  welche  ihn  zum  Pantheismus  mit  unwider- 
stehlicher Gewalt  hinzieht,  läßt  ihn  die  »Urkraft«  mit  Herbert  Spencers 
^Unknowable«^  und  Kants  »Ding-an-sich«  identifizieren.  Ohne  den  Zug  des 
philosophiegeschichtlichen  Denkens  zu  kennen,  wird  R.  Fichte  in  die  Arme 
getrieben.  Aber  Fichte  ist  ein  ahnender,  naturwissenschaftlich  ununterrichteter 
Geist,  R.  hingegen  ein  an  Herbert  Spencer  orientierter,  in  der  harten  Schule 
des  Lebens  und  des  Naturwissens  geschulter  Denker,  der  den  hohen  Flug 
Fichtes  nicht  teilt,  auch  dessen  philosophiegeschichtliche  Kenntnisse  nicht 
erreicht,  dafür  aber  durch  ein  reiches,  sorgsames  und  feinsinniges  Erfassen 
der  Prinzipien  unserer  heutigen  Naturerkenntnis  entschädigt.  Seine  Methode 
ist  also  nicht  die  dialektische,  wie  Fichtes,  sondern  die  biologische,  wie  die 
Reinkes.  Aber  im  Hauptgedanken,  im  Gerüst  und  Rückgrat  seines  Systems 
des  positiven  Monismus,  ist  er  Pantheist  wie  Spinoza  und  Fichte.  Nur  kon- 
zipierte Spinoza  im  wissenschaftlichen  Rahmen  seines  Zeitalters  den  Pantheis- 
mus more  geometrico,  Fichte  im  Rahmen  des  seinigen  more  dialectico,  R.  endlich, 
der  dominierenden  Wissenschaft  unseres  eigenen  Zeitalters  gemäß,  seinen 
Pantheismus:  tfwre  biologico. 

Werke  R.s:  i.  Die  taktischen  Lehren  des  Kriegen  1870— 1871.  Streffleurs  östcrr. 
militärische  Zeitschrift  1872  (Preisschrift).  154  Seiten.  —  2.  Unsere  Ileeresverhältnissc. 
Teschen  1873  (anonyme  Kampfschrift).  —  3.  Die  praktischen  Übungen  der  Infanterie  und 
Jägertruppe,  i.  Auilage  1875,  4.  Auflage  1885,  Teschen.  —  4.  Zur  Reduktion  der  konti- 
nentalen Heere.  Wien  (Seidel  u.  S.)  1875.  —  5.  Aus  R.s  Feder' stammt  der  VI.  Band  der 
vom  k.  k.  österr.  Generalstab  herausgegebenen:  FeldzUge  des  Prinzen  Eugen,  enthaltend 
das  Kriegsjahr   1704.  Wien  (Gerolds  Sohn)   1879.  —  6«  Im  Donaureich  (unter  dem  Pseudo- 


JOO  Ratzenhofer.     Schuhes. 

nym  Gustav  Renehr).  Prag,  Karl  Bellmann.  I.  Bd.  (»Zeitgeist  und  Politik«)  1877,  II.  Bd. 
(»Kultur«)  1878.  —  7.  Die  Staatswehr,  Untersuchung  der  öffentlichen  Militärangelegenheiten. 
Cotta,  Stuttgart  1881.  —  8.  Truppenftihrung  ini  Karst  Serajewo  (im  amtlichen  Auftrage), 
1888.  —  Von  1874 — 1901  über  30  Aufsätze  militärischen  Inhalts,  meist  erweiterte  münd- 
liche Vorträge,  veröffentlicht  in  Streffleurs  österr.  militär.  Zeitschrift  und  in  dem  »Organ  der 
militärwissei^schaftlichen  Vereine«.  —  10.  Wesen  und  Zweck  der  Politik.  3  Bde.,  Leipzig 
(Brockhaus)  1893.  —  ii«  Soziologische  Erkenntnis,  ebenda  1898.  —  12.  Der  positive 
Monismus,  ebenda  1899.  —  13.  Positive  Ethik,  1901.  —  14.  Kritik  des  Intellekts,  1902.  — 
15.  Seit  1900  eine  Reihe  von  politischen  und  wissenschaftlichen  Aufsätzen  in  der  Wiener 
Zeitschrift:  Die  Wage,  in  der  N.  Fr.  Presse  und  der  politisch-anthropologischen  Revue  (Volt- 
manns). —  16.  Die  Probleme  der  Soziologie.  Vortrag,  gehalten  September  1904  in  St.  Louis 
—  17.  Soziologie.  — Umfangreiches  unvollendetes  Manuskript  aus  den  Jahren  1903 — 1904. 
Literatur  über  Gustav  R.:  Otto  Gramzow,  Gustav  R.  und  seine  Philosophie,  Berlin, 
Schildberger  1904.  Lester  F.  Ward,  Contemporary  Sociology  (deutsche  Übersetzung  1904I. 
Br.  Clemens,  Positivismus  und  Pädagogik  in:  Zeitschrift  für  Philosophie  und  Pädagogik  1904. 
Ausführliche  Besprechungen  von  R.s  Werken  in  Hardens  »Zukunft«  von  Professor  Gumplo- 
wicz  und  in  der  wissenschaftlichen  Beilage  der  Allg.  Zeitung  von  Johannes  ünold. 
Anonymus,  Nekrolog  in  Danzers  Armee -Zeitung,  Jahrgang  1904,  Nr.  49,  50  und  51.  Ein 
monographischer  Essay  über  R.  in  meinem  Buch  »Der  soziale  Optimismus«.  Jena,  Costenoble, 
1905  (S.   155—180). 

Bern.  Ludwig  Stein. 

Schuhes,  Karl,  Bühnenleiter  und  Schriftsteller,  "^9.  Juli  1822  im  Schlosse 
Triesdorf  bei  Ansbach,  f  9.  Juli  1904  in  Hannover.  —  Sein  Vater,  ein  bayrischer 
Militärarzt,  leitete  soldatisch  derb,  doch  liebevoll  die  erste,  geistige  Ent- 
wickelung  des  einzigen  Sohnes,  während  die  einer  französischen  Emigranten- 
familie entstammende  Mutter  eine  leicht  bewegliche,  französische  Phantasie 
mit  treuem,  deutschem  Gemüte  verband  und  so  vorteilhaft  auf  die  Herzens- 
bildung des  Sohnes  einzuwirken  vermochte.  Dieser  kam  mit  zehn  Jahren  in 
das  königliche  Kadettenkorps  nach  München  und  machte  schon  in  diesem 
Institute  unter  des  berühmten  Eßlair  Leitung  als  sechzehnjähriger  Jüngling 
seine  ersten  Bühnenversuche,  die  die  Aufmerksamkeit  des  Hofes  und  der 
Stadt  erregten.  Mit  18  Jahren  trat  Seh.  als  Offizier  in  die  bayrische  Armee. 
Durch  seine  seit  1845  in  den  »Fliegenden  Blättern«  veröffentlichten  »Lands- 
knechtslieder« und  »Reiterlieder«  verschaffte  er  seinem  Decknamen  »Der  alte 
Landsknecht«  einen  guten  und  dauernden  Klang;  auch  wurde  er  Mitglied 
des  Münchener  Dichtervereins,  dem  er  lange  Zeit  als  Schriftführer  angehörte. 
Die  Munifizenz  des  damaligen  Königs  Maximilian  II.  von  Bayern,  der  dem 
jungen  Dichter  freundlichst  zugetan  war,  erleichterte  diesem  den  Übertritt 
aus  dem  Heere  zum  Hoftheater,  da  sein  ganzer  Sinn  der  dramatischen  Kunst 
stets  zugewendet  blieb,  und  am  2.  Januar  1849  betrat  Seh.  als  »Schiller«  in 
Laubes  »Karlsschülern«  mit  außergewöhnlichem  Erfolge  die  Nationalbühne 
in  München.  Später  war  er  in  Leipzig,  wohin  Laube  ihn  empfohlen  hatte, 
in  Graz,  wo  er  sich  Holteis  Freundschaft  erwarb,  und  zwei  Jahre  in  Regensburg 
engagiert,  wo  er  als  artistischer  und  wirklicher  Direktor  wirkte,  übernahm 
dann  die  Regie  des  Hoftheaters  in  Meiningen  und  kam  1857  an  das  Hof- 
theater nach  Braunschweig,  wo  er  sofort  lebenslänglich  angestellt  wurde.  Im 
Jahre  1867,  nach  dem  Tode  des  Hoftheaterdirektors  Schütz,  übernahm  Seh. 
auf  Befehl  des  Herzogs  die  artistische  und  technische  Leitung  des  Braunschweiger 


Schuhes.     Wendt. 


301 


Kunstinstituts,  suchte  aber,  als  seine  Kunstansichten  nicht  mit  denen  einer 
neu  ernannten  militärischen  Intendanz  in  Einklang  zu  bringen  waren,  seine 
Entlassung  nach  und  trat  1872  in  den  Ruhestand.  Während  dieses  ganzen 
Lebensabschnittes  war  Seh.  auch  auf  verschiedenen  Gebieten  als  Schriftsteller 
tätig  gewesen.  Seine  »Gedichte  und  Lieder«  (185 1)  waren  von  Uhland  aus- 
gewählt, geordnet  und  warm  empfohlen  worden.  Als  Dramatiker  hatte  er 
bereits  1847  ein  Zaubermärchen  »Liebesprobe«  für  die  Münchener  Hofbühne 
gedichtet;  ihm  folgten  »Der  treue  Papa«  (Lyrisches  Drama,  1852),  das  preis- 
gekrönte Drama  zur  tausendjährigen  Jubelfeier  der  Stadt  Braunschweig  »Brunswiks 
Leu,  stark  und  treu«  (1861),  das  Lustspiel  »Flitterwochen«  (1862),  der  Schwank 
»Ein  Roman  in  zehn  Bänden«  (1863)  und  die  Texte  zu  den  Opern  »Elfriede«, 
»Der  selige  Herr  Vetter«  und  »Der  Fahnenschmied«.  Als  Erzähler  bot  uns 
Seh.  »Der  alte  Komödiant«  (Novelle  in  Liedern,  1853),  »Reklame!«  (Roman; 
II,  1867),  »Süd  und  Nord«  (Gesammelte  Novellen;  II,  1867)  und  die  humo- 
ristische Erzählung  aus  der  Zeit  des  Siebenjährigen  Krieges  »Uhlenspegel« 
(II,  1867).  Nach  seiner  Pensionierung  siedelte  Seh.  nach  Bremen  über,  aber 
bereits  am  i.  April  1873  berief  ihn  der  königlich  preußische  Generalintendant 
von  Hülsen  (der  ältere)  zum  artistischen  Direktor  des  Hoftheaters  nach  Wies- 
baden, wo  er  bis  1888  noch  eifrig  tätig  war.  In  dieser  Zeit  schrieb  er  »Im 
Waldesfrieden«  (Drama,  1878),  »Die  Reise  nach  dem  Glücke«  (Festspiel,  1879), 
»Eine  Partie  Schach«  (Drama,  1882),  »Der  Ehrenpokal«  (Posse,  1883),  »Maigela« 
(Novelle,  1883)  und  seine  Sammlung  munterer  Inntaler  Geschichten  »Gambs- 
kreß  und  Enzian«  (1887).  In  Hannover,  wo  er  nun  seinen  Lebensabend 
verbrachte,  schritt  seine  literarische  Tätigkeit  rüstig  vorwärts  und  lenkte  be- 
sonders durch  eine  Geschichte  aus  Shakespeares  Schauspielerzeit  y>Solus  cum 
sola!  oder:  Williams  Sturmjahre!«  (Roman,  1891)  die  Aufmerksamkeit  weiter 
Kreise  auf  ihn,  während  seine  folgenden  Arbeiten  »Der  Puppenspieler« 
(Charakterbild  aus  dem  Chiemgau,  1892),  die  Erzählungen  aus  dem  bayrischen 
Volksleben  »Blauweiß«  (1892),  das  Volksschauspiel  »Der  arme  Heinrich«  (1894) 
und  die  Erzählungen  »Das  Signum  Karls  des  Großen«  (1896)  und  »Hanfried« 
(1898)  kaum  noch  Beachtung  fanden. 

Persönliche  Mitteilungen.  —  Adolf  Hinricbsen:  Das  literarische  Deutschland,  1891, 
S.  1206.  —  O.  G.  Flüggen:  Biographisches  Bühnen-Lexikon,  1892,  S.  282.  —  Berliner  Tage- 
blatt vom  12.  Juli  1904.  Franz  Brummer. 

Wendt,  Karl  Ernst  Ferdinand  Maria,  pädagogischer  Schriftsteller, 
•  I.  November  1839  in  Dresden,  f  12.  Oktober  1904  in  Troppau  in  Österreich- 
Schlesien.  —  Seine  Eltern,  die  beide  als  Opernkräfte  an  verschiedenen  Bühnen 
Deutschlands  tätig  waren,  starben  frühe,  und  so  übernahm  die  in  Dresden 
lebende  Großmutter,  eine  hochbegabte,  einer  alten  französischen  Adelsfamilie 
entstammende  Frau,  die  Erziehung  des  Knaben,  der  bis  1856  das  Progymnasium 
besuchte  und  dann  in  das  katholische  Lehrerseminar  in  Bautzen  eintrat,  das 
er  Ostern  1860  absolvierte.  Schon  während  seiner  Studienzeit  hatte  W.  ver- 
schiedene kleinere  poetische  Arbeiten  veröffentlicht,  und  er  setzte  seine  schrift- 
stellerische Tätigkeit  nun  in  Leipzig  fort,  wo  er  Anstellung  als  Lehrer  an  der 
katholischen  Bürger-  und  Armenschule  gefunden  hatte.  So  erschienen  1863 
seine  »Goldkömer«  (1000  Sentenzen  und  Sinnsprüche)  und  1864  »Frisches 
Grün«    (Lieder   und  Balladen,   2.  Aufl.    1886).     Die   erste  Schrift   erregte   im 


^02  Wendt.     Regcnsteiii. 

fernen  Siebenbürgen  die  Aufmerksamkeit  des  nachmaligen  Schulinspektors 
Weber,  der  gelegentlich  einer  Reise  nach  Deutschland  den  jungen  Lehrer 
aufsuchte  und  diesen  bewog,  eine  Stelle  an  der  ihm,  dem  Stadtpfarrer  Weber, 
unterstellten  Normal-Hauptschule  in  Hermannstadt  anzunehmen.  Im  Sommer 
1865  siedelte  W.  dorthin  über  und  verlebte  dort  fast  sechs  Jahre,  das  letzte 
Halbjahr  nicht  mehr  als  Lehrer,  sondern  als  Privatmann,  der  sich  durch  Vor- 
lesungen über  Ästhetik  für  Damen  einen  besonderen  Wirkungskreis  geschaffen 
hatte.  Dann  führte  er  seinen  lange  gehegten  Entschluß  aus,  seine  Bildung 
durch  den  Besuch  einer  Universität  zu  ergänzen,  und  so  kam  er  nach  Leipzig, 
wo  er  unter  Drobisch,  Ziller,  Strümpell  und  Masius  Pädagogik,  Ästhetik, 
Philosophie  und  unter  Fechner  besonders  Psychologie  studierte  und  dann  sein 
Staatsexamen  ablegte.  In  Jena  erwarb  er  sich  mit  seiner  Schrift  Ȇber  die 
Willensbildung  vom  psychologischen  Standpunkte«  (erschien  erst  1875)  die 
Würde  eines  Dr.  phil.  Nachdem  er  kurze  Zeit  als  Lehrer  an  der  Realschule 
in  Schneeberg  gewirkt  hatte,  folgte  er  1874  einem  Rufe  als  Professor  an  die 
königliche  kaiserliche  Lehrerinnen-Bildungsanstalt  nach  Troppau  in  Österreich- 
Schlesien,  an  der  er  fast  30  Jahre  mit  großem  Erfolge  und  Segen  gewirkt 
hat.  Seine  weitere  schriftstellerische  Tätigkeit  bewegt  sich  vorwiegend  auf 
dem  Gebiete  der  Pädagogik  und  Psychologie;  hier  wären  besonders  seine 
Werke  »Repetitorium  zur  Geschichte  der  Pädagogik«  (1880),  »Psychologische 
Methodik«  (1886),  »Methodik  des  schönen  Vortrags«  (1886),  »Pädagogische 
Abhandlungen«  (1886),  »Das  wahre  Wesen  der  Gefühle«  (1894),  »Die  Seele 
des  Weibes«  (3.  Auflage  1898),  »Neue  Seelenlehre«  (1893)  und  »Psychologische 
Pädagogik  des  Kindergartens«  (2.  Auflage  1903)  anzuführen.  Daneben  gründete 
er  1877  »Die  österreichische  Lehrerinnen-Zeitung«,  die  später  unter  dem  Titel 
»Mädchenschule«  erschien  und  von  ihm  bis  1883  geleitet  wurde,  und  1889 
mit  Marianne  Nigg  den  »Lehrinnenwart«.  Auch  einige  Jugendschriften  und 
eine  neue  Sammlung  von  Gedichten  »Elisabethrosen«  (1878)  sind  von  ihm 
zu  verzeichnen. 

Persönliche  Mitteilungen.  —  Adolf  Hinrichscn :  Das  literarische  Deutschland,  S.  1379.  — 
Der  Lehrcrinnen-VVart,  Jahrg.   1890,  S.  81.  Franz  Brummer. 

Regenstein,  Charlotte,  Romanschriftstellerin,  ♦  27.  März  1835  in  Schwerin 
(Mecklenburg),  f  20.  Mai  1904  in  Hannover.  —  Früh  verwaist,  trat  sie  nach 
einer  sehr  still  und  einförmig  verlebten  Kindheit,  kaum  15  Jahre  alt,  mit 
einem  Vetter  in  die  Ehe.  Ihr  Gatte  hatte  seine  Studien  aufgegeben  und  war 
Offizier  in  der  schleswig-holsteinischen  Armee  geworden,  um  für  die  Befreiung 
dieser  Herzogtümer  mitzukämpfen.  Die  junge  Gattin  begleitete  ihn  dorthin, 
und  ihr  junges  Gemüt  erhielt  dort  unverwischbare  Eindrücke.  Nach  Beendigung 
des  Feldzuges  trat  der  Gatte  zu  Schwerin  in  die  Beamtenlaufbahn,  und  die 
Dichterin  konnte  die  nun  folgenden  neun  Jahre  als  wolkenlos  glückliche  be- 
zeichnen. Als  aber  ihr  Mann  1860  plötzlich  starb  und  sie  vor  die  Aufgabe 
gestellt  wurde,  mit  sehr  unzureichenden  Mitteln  für  die  Erziehung  ihrer  vier 
Kinder  allein  zu  sorgen,  da  blieben  die  Tage  der  Sorge  nicht  aus,  und  der 
nächste  Zeitraum  von  zehn  Jahren  brachte  Kummer  und  Mühen  die  Fülle. 
Dann  machte  sie  eine  neue,  inhaltreiche  Episode  durch.  Durch  eine  Ver- 
kettung besonderer  Umstände  trat  Charlotte  R.  1870  in  die  Hofkreise  ein; 
indessen  war  ihre  Natur  für  die  Sphäre  völlig  ungeeignet,   und  so  schied  sie 


Regenstein,     von  Najmäjer.  003 

nach  sechsjähriger  Tätigkeit  um  Neujahr  1876  aus  ihrer  Stellung  am  Hofe 
und  siedelte  bald  darauf  nach  Dresden  über,  wo  sie  sich  mit  einer  gleich- 
gestimmten Freundin  ein  neues  Heim  gründete.  Verschiedene  Reisen  nach 
Paris  und  London,  ein  Jahr  in  Italien  bauten  im  Geiste  aus,  was  die  stillen, 
an  inneren  Erlebnissen  reichen  Jahre  angesammelt  hatten,  und  so  betrat  sie 
schon  1875  die  Laufbahn  einer  Schriftstellerin  —  unter  dem  Pseudonym 
Alexander  Römer  — ,  der  sie  auch  nach  ihrer  Übersiedelung  nach  Hannover 
(1887)  bis  zu  ihrem  Tode  treu  geblieben  ist.  Ihre  Romane  »Gräfin  Sibylle« 
(II,  1878),  »Still  und  bewegt«  (II,  1880),  »Frühling  und  Hochsommer«  (1882), 
»Einer  aus  der  Masse«  (1888),  »Moderne  Kultur«  (1889),  »Unter  dem  Purpur« 
(1890),  »Die  Lüge  ihres  Lebens«  (1890),  »Die  Glücksjäger«  (1892),  »Tante 
Jettes  Pflegesöhne«  (II,  1893),  »Dem  Irrlicht  nach«  (II,  1893),  »Eine  Entführung« 
(1893),  »Was  ist  Glück?«  (1895),  »Licht  und  Finsternis«  (1895),  »Im  Netz« 
(1897),  »Wer  hat  den  Frieden?«  (1897),  »Gesühnte  Schuld«  (1898),  »Eben- 
bürtige Gefährten«  (1898),  »Am  Ziele«  (1899),  »Gerettet«  (1899),  »Leidenschaft« 
(1899),  »Treue«  (1901),  »Späte  Erkenntnis«  (1902),  »Versuchung«  (1903)  und 
»Die  Erlöserin«  (1903)  werden  dem  heutigen  Geschmack  der  »Moderne«  nicht 
entsprechen,  zeichnen  sich  aber  durch  sittliche  Tendenz  aus. 
Persönliche  Mitteilungen.  —  Illustrierte  Welt,  Jahrg.   1896,  S.  459. 

Franz  Brummer. 

Najmäjer,  Marie  von,  Dichterin,  ♦  3.  Februar  1844  in  Ofen  (Budapest), 
f  in  Aussee  (Steiermark)  25.  August  1904.  —  Sie  war  die  Tochter  des  unga- 
rischen Hofrats  Franz  von  N.  und  das  einzige  Kind  ihrer  Eltern,  wuchs  in 
angenehmen  Verhältnissen  auf  und  erfreute  sich  einer  glücklichen  Kindheit. 
Während  sie  die  ungarische  und  französische  Sprache  schon  frühe  beherrschte, 
lernte  sie  das  Deutsche  erst  in  Wien,  wohin  ihr  Vater  versetzt  worden  war, 
und  wo  derselbe  schon  1854  starb.  Die  Mutter,  selbst  eine  Wienerin,  behielt 
nun  ihren  Wohnsitz  daselbst  bei  und  widmete  sich  ganz  der  Erziehung  ihres 
Kindes.  Marie  pflegte  mit  großer  Liebe  Musik  und  im  geheimen  auch  Poesie. 
Franz  Grillparzer,  dem  einige  ihrer  Gedichte  von  seiner  Freundin  Josephine 
Fröhlich,  der  Gesanglehrerin  Mariens,  vorgelegt  wurden,  ermunterte  die  Dichterin 
zur  Herausgabe  ihrer  »Schneeglöckchen«  (Gedichte,  1868,  2.  Auflage  1873), 
deren  freundliche  Aufnahme  sie  zu  weiterer  Betätigung  auf  poetischem  Ge- 
biete, vor  allem  aber  zu  eingehenden  literarischen  Studien  veranlaßte.  Schon 
1872  erschienen  »Gedichte.  Neue  Folge«,  in  denen  sie  auch  glücklich  den 
leidigen  Dilettantismus  abgestreift  hatte.  Trotzdem  hatten  beide  Sammlungen 
nur  lokale  Bedeutung;  erst  durch  ihre  epischen  Dichtungen  wurde  ihr 
Name  über  die  Grenzen  ihrer  Heimat  hinausgetragen.  In  »Gurret-ül-Eyn« 
(1874),  einem  Bilde  aus  Persiens  Neuzeit,  schildert  sie  uns  den  Kampf  der 
dort  seit  1848  tätigen  Babi-Sekte,  die  mit  Begeisterung  und  Ausdauer  einem 
Ziele  zustrebt,  welches  in  der  Abschaffung  aller  Mißbräuche  des  religiösen, 
politischen  und  sozialen  Lebens  gipfelte,  und  in  »Gräfin  Ebba«  (1877)  ^^ß^ 
sie  uns  einen  Blick  in  ihre  eigene  Seele  tun.  Epischen  Fluß  hat  auch  ihre  Dichtung 
»Johannisfeuer«  (1888),  ja  selbst  in  ihren  »Neuen  Gedichten«  (1890)  und  »Der 
Göttin  Eigentum«  (Gedichte,  1900)  zeigt  sie,  daß  ihre  geistige  Domäne  nicht 
das  eigentliche  Lied  in  seiner  Einfachheit,  sondern  vielmehr  die  Poesien  mit 
odenhaftem  Schwung  und  die  erzählenden  Dichtungen  sind.     Auch  auf  dem 


'iQA  von  Xajniajer.     FUrstenheim.     Garckc. 

Gebiete  des  historischen  Romans  (»Die  Schwedenkönigin«;  II,  1882  und  »Der 
Stern  von  Navarra«;  II,  1900)  und  des  Dramas  (»Hildegard.  Bürgerliches 
Trauerspiel«,  1899  und  »Kaiser  Julian.  Trauerspiel«,  1903)  hat  sich  die 
Dichterin  mit  Erfolg  versucht.  Ihren  Wohnsitz  hat  sie  in  Wien  stets  beibe- 
halten. Ohne  sich  bei  der  Frauenbewegung  werktätig  zu  beteiligen,  trat  sie 
doch  mit  Wort  und  Tat  für  das  Wohl  der  alleinstehenden,  besonders  geistig 
arbeitenden  Frauen  ein,  um  ihnen  im  Kampf  ums  Dasein  Erleichterung  zu 
gewähren.  So  rief  sie  die  erste  Stipendiumsstiftung  für  weibliche  Studierende 
an  der  Universität  Wien  mit  7500  Gulden  ins  Leben,  half  dem  Verein  der 
Schriftstellerinnen  und  Künstlerinnen  in  Wien  durch  eine  erste  Zuwendung 
von  10 000  Gulden  einen  selbständigen  Pensionsfonds  gründen,  stiftete  an  der 
ersten  Gymnasial-Mädchenschule  in  Wien  einen  Freiplatz  mit  3000  Gulden 
und  vermachte  den  größten  Teil  ihres  Vermögens  der  von  ihr  gegründeten 
und  ihren  Namen  tragenden  Stiftung  für  alleinstehende  Waisen  von  Staats- 
beamten. Sie  starb  in  Aussee,  wo  sie  sich  zur  Erholung  aufgehalten  hatte. 
Nach  ihrem  Tode  erschienen  noch  »Nachgelassene  Gedichte«  (1905). 

Persönliche  Mitteilungen.  —  Karl  Schrattenthal:  Die  deutsche  Frauenlyrik  unserer 
Tage  (1893),  S.  82.  —  Hausfrauen  -  Zeitung,  Jahrg.  1882,  8.  282  ff.  —  Die  Gartenlaube. 
Jahrg.   1900,  Nr.  37.  —  Illustrierte  Frauen-Zeitung  vom   15.  Januiir  1905. 

Franz  Brummer. 

Fürstenheim,  Ernst,  Urolog  in  Berlin,  *  18.  Aug.  1836  in  Cöthen  in  Anhalt, 
f  2.  Juli  1904.  —  F.  war  medizinisch  ausgebildet  in  Berlin,  Würzburg, 
Paris,  London  (B.  von  Langenbeck,  Civiale,  Desormeaux  u.  a.),  wurde  1861 
Dr,  med.  1862  approbiert,  ließ  er  sich  1863  in  Berlin  nieder  und  wandte 
seine  Spezialstudien  den  Krankheiten  der  Harnwege  zu.  Seine  literarische 
Tätigkeit  umfaßte  verschiedene  Veröffentlichungen  über  Krankheiten  der 
männlichen  Geschlechtsorgane  und  der  Harnwege,  besonders  über  Endoskopie 
der  Hamwege  (zumei.st  nach  Vorträgen  in  ärztlichen  Gesellschaften),  die  er 
in  Deutschland  unter  Modifikation  des  Instrumentariums  von  Desormeaux 
einführte  zugleich  mit  der  lokalen  Therapie  der  Harnröhre  und  Blase.  Eine 
Zeitlang  hielt  F.  auch  Ärztekurse  über  sein  Spezialfach  ab. 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  von   1904,  I,  466.  Pagel. 

Garcke,  August,  Professor  der  Botanik  und  Pharmakognost  in  Berlin, 
♦  18 19  zu  Braunrode  Kr.  Mansfeld,  f  10.  Januar  1904.  —  G.  war  anfangs  Theo- 
loge in  Halle  und  hatte  bereits  seine  theologische  Staatsprüfung  daselbst  absol- 
viert, als  er  zum  Studium  der  Botanik  überging,  dem  er  sich  seit  1851  unter 
Alex.  Braun  in  Berlin  widmete.  Hier  wurde  er  1856  Gehilfe  am  Herbarium, 
1865  Kustos  am  Botanischen  Garten.  1869  als  Privatdozent  habilitiert, 
gelangte  er  187 1  zu  einer  außerordentlichen  Professur.  G.  war  einer  der 
besten  Kenner  der  Flora  Deutschlands,  lange  Jahre  Examinator  in  der 
pharmazeutischen  Staatsprüfung  und  wird  von  allen,  die  ihm  näher  getreten 
sind,  als  einer  der  bravsten,  liebenswürdigsten  und  gemütvollsten  Männer 
und  als  vorzüglicher  Lehrer  geschildert.  Er  ist  Verfasser  verschiedener  Ver- 
öffentlichungen, bezüglich  deren  auf  die  unten  genannte  Quelle  verwiesen 
werden  muß. 

Vergl.  Virchows  Jahresbericht  von  1904,  I.  Pagel. 


Stellwag  von  Canon.  ^qc 

Stellwag  von  Carioiiy  Carl,  Professor  der  Augenheilkunde  an  der  Uni- 
versität Wien,  ♦  zu  Langendorf  am  28.  Januar  1823,  f  21.  November  1904 
in  Wien.  —  St.  entstammte  einem  alten  fränkischen  Geschlechte,  dessen  An- 
fänge sich  bis  in  den  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  verfolgen  ließen.  Er 
besuchte  als  Knabe  die  Piaristen-Hauptschule  zu  Freudental,  absolvierte  1839 
das  Gymnasium  zu  Olmütz,  dann  die  philosophischen  Studien  zu  Olmütz 
und  Prag  und  bezog  1841  die  Carolo-Ferdinandea  der  letzteren  Stadt,  um 
im  Oktober  1843  auf  die  Wiener  Universität  überzutreten.  1847  wurde  er 
zum  Dactor  fnedicinae,  1848  zum  Doctor  cfururgiae  promoviert.  1847  trat  er  als 
Extemist  in  das  Wiener  allgemeine  Krankenhaus  ein,  anfänglich  an  der 
internen  Abteilung  des  Primararztes  Dr.  Bittner,  und  wurde  im  Sommer  desselben 
Jahres  auf  die  Augenabteilujig  des  Professors  Rosas  übersetzt.  Am  i.  Oktober 
1848  wurde  er  zum  i.  Sekundararzt  der  letztgenannten  Abteilung  ernannt  und 
leitete  dieselbe  während  der  Belagerung  Wiens  selbständig,  da  ihr  Vorstand 
aus  der  Stadt  geflohen  war.  185 1,  nach  vollendeter  gesetzlicher  Dienst- 
zeit, wandte  er  sich  der  Praxis  in  Brunn  zu,  kehrte  jedoch  schon  im  März 
des  folgenden  Jahres  nach  Wien  zurück,  um  sich  ganz  den  wissenschaftlichen 
Forschungen  widmen  zu  können.  1854  wurde  er  auf  Grund  seines  dreibändigen 
Werkes:  »Die  Ophthalmologie  vom  naturwissenschaftlichen  Standpunkte« 
Dozent  der  Augenheilkunde  an  der  Wiener  Universität  und  1855  *^  ^^^ 
wieder  errichteten  medizinisch-chirurgischen  Josephs-Akademie.  1855  hatte 
das  Professorenkollegium  der  Wiener  medizinischen  Fakultät  ihn  für  die 
erledigte  Lehrkanzel  der  Augenheilkunde  an  der  Wiener  Universität  vorge- 
schlagen. Die  Stelle  wurde  aber  durch  Arlt  besetzt  und  St.  »in  Anbetracht 
seiner  verdienstlichen  Leistungen  als  Lehrer  und  Schriftsteller«  1857  zum 
außerordentlichen  Professor  ernannt.  1858  wurde  St.  ordentlicher  Professor 
an  der  medizinisch -chirurgischen  Josephs -Akademie  und  nach  deren  Auf- 
lösung 1873  ^^^  ordentlicher  Professor  der  Augenheilkunde  an  die 
Wiener  Universität  übersetzt.  1883  erhielt  er  dep  Titel  und  Charakter  eines 
Hofrates.  Als  er  im  Januar  1893  das  70.  Lebensjahr  und  somit  die  gesetzlich 
bestimmte  Grenze  seiner  ämtlichen  Lehrtätigkeit  erreicht  hatte,  bot  sich  seinen 
Kollegen  und  Schülern  die  willkommene  Gelegenheit,  zu  seiner  Ehrung  eine 
Feier  zu  veranstalten,  welche  den  Jubilar  aufs  tiefste  bewegte  und  mit 
freudiger  Genugtuung  erfüllte.  Nachdem  er  dann  noch  ein  Ehrenjahr  in 
seinem  Lehramte  gewirkt  hatte,  wurde  er  nach  mehr  als  40 jähriger  Dienst- 
zeit 1894  in  den  dauernden  Ruhestand  versetzt  und  »in  neuerlicher  An- 
erkennung der  verdienstvollen  vieljährigen  Wirksamkeit  auf  dem  Gebiete  des 
Lehramtes  und  der  Wissenschaft«  mit  dem  Ritterkreuz  des  Leopold-Ordens 
ausgezeichnet. 

1895  legte  er  die  Berechtigung  zur  Ausübung  der  Praxis  zurück,  ver- 
schenkte seine  ganze  medizinische  Büchersammlung  an  die  Innsbrucker 
Universitäts-Bibliothek  und  sagte-  der  Heilkunst  Lebewohl,  um  den  Rest  seiner 
Tage  ganz  den  von  Jugend  auf  mit  Vorliebe  betriebenen  Naturwissenschaften 
und  der  Geschichte  zu  widmen;  noch  als  Achtzigjähriger  durfte  er  sich  rühmen, 
täglich  8  Stunden  ohne  Ermüdung  lesen  zu  können.  Dreimal  noch  bot  sich 
seinen  Freunden  der  Anlaß,  den  mitten  im  Getriebe  der  Großstadt  als  Ein- 
siedler lebenden  Gelehrten  aus  seiner  Ruhe  aufzustören:  gelegentlich  seines 
50jährigen  Doktorjubiläums,    anläßlich  seiner  50  jährigen  Mitgliedschaft   der 

Btogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog:.    9.  Bd.  20 


^06  Stell  wag  von  Canon. 

k.  k.  Gesellschalt  der  Ärzte  und  aus  Anlaß  seines  80.  Geburtstages.  Sein 
Tod  kam  allen  unvermutet,  überraschend. 

St.s  Entwicklungsgang  war  nicht  leicht  und  glatt  gewesen.  Er  hatte  viel 
mit  Widerwärtigkeiten  zu  kämpfen  gehabt,  welche  zuerst  materieller  Natur  waren, 
später  in  der  Zeitgenossen  Mißgunst  begründet  waren.  So  durfte  er  als  Assi- 
stent bei  Rosas,  welchem  im  Jahre  1847  die  Augenheilkunde  als  eine  abge- 
schlossene Wissenschaft  galt  und  der  jede  Neuerung  als  ein  vergebliches, 
frevelhaftes  Unternehmen  mit  Mißtrauen  verfolgte,  seine  mikroskopischen 
Studien  nur  hinter  versperrten  Türen  zu  betreiben  wagen  und,  als  er  dennoch 
dabei  ertappt  wurde,  hätte  es  ihm  beinahe  seine  Stelle  gekostet.  Nur  der 
Fürsprache  Wedls  gelang  es,  die  drohende  Gefahr  abzuwenden.  Die  Fracht 
dieser  Studien  aber  war  die  dreibändige  »Ophthalmologie  vom  naturwissen- 
schaftlichen Standpunkte«,  ein  epochales  Werk,  welches  die  Resultate  rast- 
loser, angestrengter,  zehnjähriger  Forschung  niedergelegt  enthält  und  auch 
heute  noch,  nach  einem  halben  Jahrhundert,  ein  unentbehrliches  Nachschlage- 
buch für  den  Forscher  geblieben  ist.  Er  selbst  urteilte  in  späteren  Jahren, 
sehr  mit  Unrecht,  recht  kühl  über  dieses  »Erstlingswerk«;  er  bezeichnete  die 
Anlage  für  zu  breit  und  wollte  den  Hauptwert  nur  in  der  Anführung  zahl- 
reicher Krankenbeobachtungen  und  der  sorgfältigen  Zusammenstellung  der 
älteren,  Goldkömer  führenden  Literatur  sehen. 

Seine  Beschäftigung  mit  dem  Mikroskop  (dessen  Anschaffung  ihm  nur 
gegen  Ratenzahlungen  möglich  gewesen  war)  hatte  ihn  mit  dem  damals  berühm- 
testen Optiker  Plössl  zusammengeführt  und  im  Verkehr  mit  demselben  war 
seine  Aufmerksamkeit  auf  die  damals  von  den  Augenärzten  ganz  vernach- 
lässigten, so  wichtigen  Sehfehler  gelenkt  worden  und  führte  ihn  zu  der  Auf- 
deckung der  Hypermetropie.  Diese  weittragende  Entdeckung,  welche  es  erst 
ermöglichte,  die  Refraktionsanomalien  des  Auges  vollständig  zu  überblicken 
und  zu  verstehen,  veranlaßte  zahlreiche,  darunter  namhafte  Forscher  (ich 
nenne  nur  Donders)  in  seinpn  Fußstapfen  weiter  zu  schreiten  und  jene  ern- 
teten denn  auch  den  Ruhm,  während  man  den  Pfadfinder  kaum  nannte. 
Diese  Übergehung  ließ  einen  Stachel  in  St.s  Brust  zurück,  der  zu  schmerzen 
nicht  aufhörte  und  den  Greis  noch  zu  bitteren  Bemerkungen  veranlaßte. 

Bald  nach  seiner  Berufung  an  die  Josephs -Akademie  verfaßte  er  sein 
treffliches  Lehrbuch,  welches  fünf  Auflagen  erlebte  und  in  mehrere  fremde 
Sprachen  übersetzt  wurde.  Zahlreich  sind  seine  anderen  Schriften,  welche 
sich  auf  allen  Gebieten  der  ophthalmologischen  Wissenschaft  bewegten. 
Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  seine  Arbeiten  über  den  intraokulacen 
Druck,  welche  zur  Aufstellung  einer  eigenen  geistreichen,  physikalisch  fun- 
dierten Glaukomtheorie  führten,  seine  Arbeiten  über  Lidrandplastiken,  über 
Schleimhautpfropfung,  über  leuchtende  Augen,  über  Theorie  der  Augenspiegel, 
über  die  Behandlung  der  Blermorrkoea  conjunctivae,  über  unblutige  Behandlung 
des  von  Übersichtigkeit  abhängenden  konvergierenden  Schielens,  über  Inner- 
vationsstörungen  bei  Morbus  Basedowiu 

St.  war  ein  ausgezeichneter  Lehrer.  Er  hatte  einen  ungemein  lebendigen 
Vortrag  und  wußte  ihn  durch  Einstreuung  von  launigen,  häufig  satirischen 
Bemerkungen  sowie  von  anekdotenhaften  Episoden  aus  seinem  und  seiner 
Zeitgenossen  Leben  zu  würzen.  Ihm  war  die  Augenheilkunde  keine  in  sich 
streng  abgeschlossene  Spezialwissenschaft,   sondern   er  wußte  sehr  wohl   den 


Stell  wag  von  Canon.  207 

Zusammenhang  derselben  mit  den  anderen  medizinischen  Disziplinen  her- 
zustellen und  zu  betonen,  daß  es  nicht  gelte,  kranke  Augen,  sondern  augen- 
kranke Menschen  zu  behandeln.  Er  hatte  auch  nicht  den  Ehrgeiz,  in 
seinen  Vorlesungen  Spezialisten  erziehen  zu  wollen,  sondern  praktische 
Ärzte,  welche  von  der  Augenheilkunde  soviel  verstehen  sollten,  als  sie  in 
der  Praxis  (und  er  dachte  dabei  immer  an  die  Praxis  auf  dem  Lande)  zu 
wissen  nötig  hatten.  Er  legte  deshalb  auch  keinen  Wert  darauf,  in  der  Vor- 
lesung ophthalmologische  Curiosa,  welche  das  Entzücken  des  Fachmannes 
sind,  vorzustellen,  sondern  machte  die  Studierenden  mit  den  häufigen  und 
wichtigen  äußeren  Augenkrankheiten  und  deren  Behandlung  um  so  eingehender 
bekannt.  Leider  bediente  er  sich  einer  eigenen  und  daher  ungebräuchlichen 
Nomenklatur  zum  großen  Leidwesen  jener  Studierenden,  welche  bei  ihm 
Prüfung  machen  mußten  und  an  die  Arltsche  Ausdrucksweise  gewöhnt  waren, 
aber  auch  zum  eigenen  Schaden,  da  sie  der  Allgemeinverständlichkeit  seiner 
Abhandlungen  abträglich  war. 

Das  Lebensbild  St.s  wäre  nicht  vollständig,  wollten  wir  nicht  auch  seine 
persönlichen  Eigenschaften  berühren.  Er  war  ein  ausnehmend  gescheiter, 
durchaus  kritisch  veranlagter  Mann  von  unermüdlichem  Fleiße  und  von  tiefem 
Wissen.  Ihm  war  der  Augapfel  nicht  der  Mikrokosmus,  auf  welchen  er  sich 
beschränkte,  er  interessierte  sich  für  alles,  am  wenigsten  für  Politik,  am 
meisten  für  Naturwissenschaften  und  zwar  in  erster  Linie  für  Botanik,  seine 
Jugendliebe,  der  er  bis  ins  höchste  Alter  treu  blieb.  Auch  die  Musik  pflegte 
er  mit  großer  Liebe  und  spielte  an  Kammermusikabenden,  welche  ihn  Jahre 
hindurch  mit  gleichgesinnten  Freunden  vereinigten,  die  erste  Geige, 

Er  war  ein  spröder,  starrer  Charakter  von  außerordentlicher  Willens- 
stärke und  Tatkraft.  Unterwürfigkeit  war  ihm  fremd,  aber  auch  die  konven- 
tionelle gesellschaftliche  Schmiegsamkeit  war  ihm  versagt,  seine  Umgangs- 
formen waren  eher  rauh  als  konziliant.  Da  et  sich  nicht  scheute,  seiner 
Meinung  über  andere  offen  und  laut  und  nicht  selten  in  sehr  scharfer  Weise 
Ausdruck  zu  geben,  hatte  er  sich  die  Gunst  manch  einflußreicher  Persönlichkeit 
verscherzt,  was  für  die  Anerkennung  und  Würdigung  seiner  wissenschaftlichen 
Leistungen  nicht  ganz  bedeutungslos  war;  was  er  entdeckte  und  gelehrt  hatte, 
wurde  zwar  aufgenommen,  seinen  Namen  aber  nannte  man  nicht  gerne. 

Wer  jedoch  St.  nur  nach  seinen  herben  Umgangsformen  beurteilen 
wollte,  täte  ihm  sehr  Unrecht.  Man  brauchte  ihn  nur  im  Ambulatorium 
seiner  Klinik,  in  welchem  er  täglich.  Sonn-  und  Feiertage  nicht  ausgenommen, 
stundenlang  mitten  zwischen  den  Hilfesuchenden  zu  weilen  pflegte,  zu  beobachten. 
Wer  da  sah,  welche  Teilnahme  er  den  Kranken,  welche  Liebe  den  Kindern, 
für  die  er  stets  in  seiner  Tasche  Süßigkeiten  bereit  hatte,  entgegenbrachte, 
dem  konnte  es  nicht  verborgen  bleiben,  wie  viel  Wohlwollen  und  Güte  in 
seinem  Herzen  wohnte. 

Jetzt,  wo  sein  Name  bereits  der  Geschichte  angehört,  in  deren  Buch  er 
mit  goldenen  Lettern  eingetragen  zu  werden  verdient,  wird,  abgelöst  von 
allen  persönlichen  Beeinflussungen,  zweifellos  eine  vorurteilslose  und  gerechte 
Würdigung  seiner  wissenschaftlichen  Leistungen  eintreten,  und  da  wird  ihm 
in  der  Ophthalmologie  gewiß  der  Platz  widerspruchslos  angewiesen  werden, 
der  ihm  seit  jeher  gebührte:  ein  Ehrenplatz;  denn  er  war  einer  der  Größten 
seiner  Zeit. 

20* 


208  Stellwag  von  Carion.     Mttller(-Palm). 

Stellwags  wissenschaftliche  Abhandlungen:  i.  Die  Körperverletzungen  als  Gegen- 
stand der  gerichtsärztlichen  Begutachtung.  Dissertation.  Wien  1847.  —  2.  Die  Ophthal- 
mologie vom  naturwissenschaftlichen  Standpunkte.  Freiburg  1853  bis  1858.  —  3.  Lehrbuch 
der  praktischen   Augenheilkunde.    Wien  1862,   3.  Aufl.   1867   (englische   Übers.    1868,   ital. 

1864,  Ungar.  1868),  4.  Aufl.  1870,  unveränderter  Abdruck  1885.  —  4.  Der  intraokulare 
Druck  und  die  Innervationsverhältnisse  der  Iris.  Wien  x868.  —  5.  Abhandlungen  aus  dem 
Gebiete  der  praktischen  Augenheilkunde.  Wien  1882.  —  6.  Neue  Abhandlungen  aus  dem 
Gebiete  der  praktischen  Augenheilkunde.  Wien  1886.  —  7.  Beiträge  zur  Lehre  von  dem 
Akkommodationsvermögen  des  menschlichen  Auges.  Zeitschr.  der  k.  k.  Gesellschaft  der 
Ärzte.  Wien  1850.  —  8.  Zur  Lehre  von  den  Glashäuten  im  allgemeinen.  Ibidem  1852.  — 
9.  Die  Ektasie  des  Schlemmschen  Kanals.  Ibidem  1852.  —  10.  Statistische  Beitrage  zur 
Lehre  vom  grauen  Staare  und  seiner  Heilung  durch  Operation.  Ibidem  1852.  —  11.  Über 
doppelte  Brechung  und  davon  abhängige  Polarisation  des  Lichtes  im  menschlichen  Auge. 
Denkschriften  der  Wiener  Akademie  der  Wissensch.,  1853.  —  12.  Beiträge  zur  Lehre  von 
dem  angeborenen  Mangel  der  Regenbogenhaut.  Zeitschr.  d.  k.  k.  Ges.  der  Ärzte.  Wien 
1854.  —  13.  Beiträge  zur  Lehre  von  den  Hemmungsbildungen  des  menschlichen  Auges. 
Ibidem  1854.  —  14.  Theorie  der  Augenspiegel.  Ibidem  1854.  —  15.  Beitrag  zur  Pathologie 
der  Gehilfsnerven  des  menschlichen  Auges.  Ibidem  1854.  —  16.  Die  Chorioiditis  vom 
wissenschaftlichen  Standpunkte  aus  betrachtet.  Wiener  mediz.  Wochenschrift  1854.  — 
17.  Die  Behandlung  des  Bindehautschleimflusses.  Ibidem  1855.  —  18.  Über  Amaurosis  in 
ihrer  Beziehung  zu  den  Leistungen  des  Augenspiegels.  Ibidem  1855.  —  19.  Akkommodations- 
fehler  des  Auges.  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften  1855.  — 
20.  Zur  Lehre  von  dem  Albinosauge  und  von  dem  Leuchten  des  Auges.  Zeitschr.  d.  k.  k. 
Ges.  d.  Ärzte.  Wien  1855.  —  21.  Über  die  Behandlung  der  Homhautgeschwüre.  Ibidem 
1856.  —  22.  Entgegnung  an  Professor  Rothmund,  die  künstliche  Pupillenbildung  betreffend. 
Ibidem  1856.  —  23.  Über  das  Verfahren  mit  Kurzsichtigen  am  Assentplatze.  Wiener  med. 
Wochenschr.  1860.  —  24.  Zur  Literatur  der  Refraktions-  und  Akkommodationsanomalien. 
Ztschr.  d.  k.  k.  Ges.  d.  Ärzte.  Wien  1861.  —  25.  Theoretische  und  praktische  Bemerkungen 
zur  Lehre  von  den  Tiänenableitungsorganen.  Ibidem  1861.  —  26.  Über  leuchtende  Augen. 
Wiener  med.  Wochenschr.   1864.  —  27.  Der  Mechanismus  der  Tränenleitung.  Ibidem   1864, 

1865.  —  28.  Das  gelbe  amorphe*  Quecksilberoxyd.  Ibidem  1865.  —  29.  Zur  Lehre  von 
den  hämodynamischen  Verhältnissen  des  Auges  und  vom  intraokulären  Drucke.  Ibidem  1866. 

—  30.  Die  unblutige  Behandlung  des  von  Übersichtigkeit  abhängenden  konvergierenden 
Schielens.  Ibidem  1867.  —  31.  Über  gewisse  Innervationsstönmgen  bei  der  Basedowschen 
Krankheit.  Zeitschr.  d.  k.  k.  Ges.  d.  Ärzte.  Wien  1869.  —  32.  Zur  Behandlimg  der 
Ophthalmoblennorrhoe.  Allgem.  Wiener  med.  Zeitschr.  1882.  —  33.  Ein  neues  Verfahren 
gegen  einwärtsgekehrte  Wimpern.  Ibidem  1883.  —  34.  Rückblicke  auf  die  augenärztlichen 
Pfropfungsversuche  und  ein  neuer  Fall  von  Schleimhautübertragung.  Ibidem  1889.  — 
35.  Über  eine  eigentümliche  Form  von  Hornhautentzündung.   Wiener  klin.  Wochenschr.  1889. 

—  36.  Über  eine  eigentümliche  Form  von  Hornhautentzündung.  II.  Artikel.     Ibidem   1900. 

—  37.  Zur  Steilschriftfrage.  Allgem.  Wiener  med.  Zeitung  1893.  —  40.  Stammtafel  der 
Familie  Stellwag  von  Carion.  Wurzbachs  biographisches  Lexikon  des  Kaisertums  Österreich. 
38.  Bd.  1879.  II.  Aufl.     Im  Selbstverlage  1903. 

Nach  dem  S.-A.  aus  der  Wiener  klinischen  Wochenschrift  1904.  Nr.  48.  —  Vgl. 
Klinische  Monatsblätter  für  Augenheilkunde.  Stuttgart,  Enke.  XLIII.  Jahrgang,  1905. 
H.  Wintersteiner,  Stell  wag  von  Carion,  mit  Bildnis.  H.  Wintersteiner. 

Müller  ( — Palm),  Adolf,  Redakteur  und  Schriftsteller,  ♦10.  März  1840  in 
Stuttgart,  t  daselbst  21.  Mai  1904.  —  Sein  Vater,  der  bekannte  Verlagsbuch- 
händler und  Buchdruckereibesitzer  Friedrich  Müller,  hatte  im  Anfange  der 
vierziger  Jahre  das  noch  heute  erscheinende,  weit  verbreitete  Stuttgarter 
»Neue  Tageblatt«   gegründet  und  seinen  Sohn  zum  dereinstigen  Nachfolger 


Mflller(-Palm).     Mannstaedt.  3OO 

in  seinem  Geschäft  und  zur  Führung  der  Redaktion  jenes  Blattes  bestimmt 
und  ließ  ihm  demgemäß  eine  tüchtige  humanistische  Gymnasialbildung  zuteil 
werden;  ja  er  verordnete  sogar  in  seinem  Testament,  daß  bei  seinem  etwa 
früher  eintretenden  Tode  der  Sohn  eine  kaufmännische  Ausbildung  empfangen 
und  dann  durch  größere  Reisen  sich  zur  Leitung  des  väterlichen  Geschäfts 
tüchtig  machen  sollte.  Diese  Bestimmung  kam  auch  zur  Ausführung,  und 
Adolf  M.  trat  1860  in  Amsterdam  in  ein  großes  Reedereigeschäft  ein  und 
war  darin  als  Korrespondent  für  das  Ausland  mehrere  Jahre  tätig.  Zwischen- 
durch fand  er  auch  Grelegenheit,  Norddeutschland,  Dänemark,  England,  Frank- 
reich und  Italien  zu  bereisen.  Trotz  alledem  blieb  sein  Wunsch  nur  darauf 
gerichtet,  sich  den  Wissenschaften  widmen  zu  können,  und  nach  seiner  Voll- 
jährigkeit kehrte  er  deshalb  auch  nach  Stuttgart  zurück,  hörte  hier  am  Poly- 
technikum die  Vorlesungen  Friedrich  Vischers  und  Wilhelm  Lübkes  und 
begann  bald  unter  dem  Namen  Adolf  Palm  sich  als  belletristischer  Schrift- 
steller zu  betätigen.  Die  Folge  war,  daß  ihm  der  Buchhändler  Schönlein  in 
Stuttgart  187 1  die  Chefredaktion  seiner  vier  belletristischen  Verlagswerke 
übertrug.  Aus  dieser  Stellung  schied  M.  1875,  weil  eine  bedeutende  Ver- 
größerung des  »Neuen  Tageblatts«,  bei  welchem  er  Teilhaber  geblieben  war, 
durchgeführt  und  M.  die  Redaktion  des  erheblich  erweiterten  Feuilletons 
übernehmen  mußte.  Inzwischen  waren  seine  Romane  »Im  Labyrinth  der 
Seele«  (1872)  und  »Gold  und  Eisen«  (1875)  erschienen,  denen  dann  erst  sechs 
Jahre  später  die  heiteren  »Briefe  aus  der  Bretterwelt«  (188 1)  folgten,  welche 
uns  manchen  tiefen  Blick  in  die  Geschichte  des  Stuttgarter  Hoftheaters  er- 
möglichen. Als  1891  das  »Neue  Tageblatt«  in  den  Besitz  der  Deutschen 
Verlagsanstalt  in  Stuttgart  überging,  trat  M.  in  den  Verwaltungsrat  dieser 
Anstalt  ein  und  gehörte  ihm  bis  1897  an.  Die  Redaktion  des  genannten 
Blattes  führte  er  bis  1903,  wo  er  in  den  Ruhestand  trat.  Sein  König  hatte 
ihn  1901  zum  Hof  rat  ernannt.  Von  M.s  Arbeiten  erschienen  noch  »Im  Linden- 
hof. Das  Lob  der  Armut.  Die  Muttergottes  von  Altötting«  (3  Erzählungen),  1900. 
Persönliche  Mitteilungen.  —  Jubiläums  -  Katalog  der  Deutschen  Verlagsanstalt  in 
Stuttgart  und  Leipzig,  1898.  Franz  Brummer. 

Mannstaedt,  Wilhelm,  Bühnendichter,  *  20.  Mai  1837  in  Bielefeld, 
t  13.  September  1904  in  Steglitz  bei  Berlin.  —  Er  war  der  Sohn  eines  Eisen- 
bahnbaumeisters, späteren  königlichen  Fabrikinspektors,  besuchte  die  unteren 
Klassen  des  Gymnasiums  seiner  Vaterstadt,  später  die  Gewerbeschule  in 
Hagen,  die  er  bereits  185 1  absolvierte,  und  ging  dann  nach  England,  um  sich 
in  dem  Geschäfte  eines  Verwandten  der  kaufmännischen  Laufbdin  zu  widmen. 
Nach  seiner  Heimkehr  (1855)  nahm  er  eine  Stellung  als  Buchhalter  in  einem 
Fabrikgeschäfte  in  Hagen  an,  leitete  auch  nach  dem  Fallissement  seines 
Prinzipals  die  Fabrik  für  eigene  Rechnung.  Geschäftliche  Kalamitäten  ver- 
anlafiten  ihn  aber,  1856  einen  ihm  wünschenswerteren  Lebensberuf  zu  suchen. 
Schon  in  frühester  Jugend  zeichnete  sich  M.  durch  seine  Befähigung  für 
Musik  aus,  so  daß  er  bereits  im  sechsten  Jahre  im  Dilettanten theater  seiner 
Vaterstadt  mitwirken  und  im  zehnten  als  Klavierspieler  auftreten  konnte.  Er 
beschloß  also,  sich  gänzlich  der  Musik  zu  widmen;  allein  das  ernste  Studium 
behagte  ihm  auf  die  Dauer  nicht,  und  schnell  entschlossen  wandte  er  sich 
der  Bühne  zu.     Als  jugendlicher  Liebhaber  trat  er,   völlig  Autodidakt,    in 


^lO  Mannstaedt.     von  Koppen. 

Wörlitz,  Rostock,  Hildesheim,  Liegnitz,  Glogau,  Bromberg,  Thorn,  Insterburg 
auf,  bis  er  1865  nach  Berlin  kam  und  sich  hier  nach  wenigen  Monaten  aus 
einer  untergeordneten  Stellung  am  Woltersdorff-Theater  auf  einen  sichern  und 
gefestigten  Platz  stellen  konnte.  Die  Mobilmachung  im  Jahre  1866  regte  ihn 
nämlich  zu  der  einaktigen  Posse  »Alles  mobil!«  an,  die  einen  durchschlagenden 
Erfolg  hatte  und  150  mal  aufgeführt  ward.  In  demselben  Sommer  schrieb  M. 
noch  fünf  weitere  Stücke  für  das  genannte  Theater,  an  dem  er  nun  als  Kapell- 
meister und  Darsteller  komischer  Rollen  tätig  war,  ging  im  Herbst  d.  J.  als 
Kapellmeister  und  Dramaturg  an  das  Krollsche  Theater,  kehrte  1867  in 
gleicher  Eigenschaft  zum  Woltersdorff-Theater  zurück  und  folgte  1870  einem 
Rufe  als  Kapellmeister  an  das  Viktoriatheater.  Nach  seiner  Verheiratung 
trat  er  in  das  Zeitungsverlagsgeschäft  seines  Schwiegervaters,  des  Geheimrats 
Günther,  als  Redakteur  verschiedener  gewerblicher  Blätter  ein,  gründete  187 1 
eine  eigene  Monatsschrift  »Der  Kunstfreund«,  die  er  aber  nach  einem  Jahre 
wieder  aufgab,  und  zog  sich  1872  gänzlich  von  der  Bühne  zurück,  um  sich 
hinfort  ausschließlich  der  Bühnenschriftstellerei  zu  widmen.  Doch  führte  er 
1879 — 85  noch  die  Redaktion  der  »Deutschen  Bühnengenossenschaft«.  M.  hat 
im  Laufe  der  Jahre  etwa  60  Possen  und  Volksstücke  geschrieben,  von  denen 
einige  sich  lange  Zeit  auf  dem  Repertoire  erhielten  und  durch  Übersetzungen  und 
Bearbeitungen  auch  im  Auslande  bekannt  wurden;  z.  B.  »Die  Berliner  Feuer- 
wehr« (1866),  »Das  Milchmädchen  von  Schöneberg«  (1868),  »An  den  Ufern 
der  Spree«  (1873),  »Krieg  und  Frieden«  (1870),  »Eine  resolute  Frau«  (1876), 
»So  sind  sie  alle«  (1877),  »Der  junge  Leutnant«  (1880),  »Unser  Otto«  (1881), 
»Der  Stabstrompeter«  (1886),  »Die  wilde  Katze«  (1888)  u.  v.  a. 

Persönliche  Mitteilungen.  —  Adolf  Hinrichsen:  Das  literarische  Deutschland,  1891, 
S.  854.  —  O.  G.  Flüggen:  Biographisches  Bühnenlezikon  der  deutschen  Theater,  1892, 
S.  208.  Franz  Brummer. 

Koppen,  Feder  von,  Schriftsteller,  ♦  8.  März  1830  in  Kolberg  (Pommern), 
f  2.  Juli  1904  in  Lausigk  (Königr.  Sachsen).  —  Er  erhielt  seinen  ersten  Unter- 
richt durch  Hauslehrer,  besuchte  dann  das  Gymnasium  in  Brieg  und  trat  1848 
in  die  preußische  Armee  ein.  Als  junger  Offizier  hatte  er  sich  wegen  seiner 
patriotischen  Dichtungen  vielfacher  Gunstbezeugungen  des  Königs  Friedrich 
Wilhelm  IV.  zu  erfreuen,  der  ihm,  dem  Unbemittelten,  auch  eine  Zulage  aus 
seiner  Privatschatulle  spendete.  Im  Jahre  1864  nahm  er  an  dem  Feldzuge  in 
Schleswig  und  1866  an  dem  in  Böhmen  teil,  war  darauf  als  Major  erster 
Militärlehrer  am  Kadettenhause  in  Berlin  und  nahm  1869  seinen  Abschied 
aus  dem  Heere.  1870  für  die  Dauer  des  deutsch-französischen  Krieges 
reaktiviert,  schied  er  nach  Beendigung  desselben  als  Oberstleutnant  dauernd 
aus  dem  Heere.  Er  war  hinfort  als  Schriftsteller  tätig,  erst  in  Leipzig,  seit 
1883  in  Berlin,  seit  1891  auf  einem  Landsitze  zu  Neuhaus  a.  d.  Elbe  (Han- 
nover), bis  er  1895  seinen  Wohnsitz  wieder  nach  Leipzig  verlegte.  Die  letzten 
Lebensjahre  brachte  er  in  Lausigk  zu.  —  Nachhaltige  Anregung  zu  poetischer 
Betätigung  empfing  K.  in  Berlin  in  dem  literarischen  Sonn  tags  verein  »Tunnel«, 
wo  er  mit  Chr.  Friedr.  Scherenberg,  Fontane,  Lepel,  Blomberg  u.  a.  in  freund- 
schaftliche Beziehungen  kam.  Wie  der  Erstgenannte,  dem  er  am  meisten 
nachstrebte,  besang  er  vorwiegend  die  deutschen  Waffen  und  ihre  Träger. 
Die   schleswig-holsteinische  Erhebung  (1848—51)    begeisterte   ihn    zu    seiner 


von  Koppen.     Legerlotz.  ß  I  X 

ersten  Dichtung  »Die  Schlacht  bei  Schleswig  Ostern  1848«  (185 1);  ihr  folgten 
»Preußens  Erhebung«  (1855),  worin  er  die  Zeit  von  der  Schlacht  bei  Jena 
bis  zum  Aufrufe  des  Königs  1813  besang,  dann  die  Fortsetzung  »Wrangel« 
(1858),  eine  poetische  Geschichte  von  den  Freiheitskriegen  an  bis  zur  Nieder- 
werfung der  Berliner  Revolution,  ferner  »Groß-Görschen«  (1856),  »Kolberg 
1807«  (1857),  »Ein  Strauß  für  Schleswig-Holstein«  (1865),  »Männer  und  Taten. 
Vaterländische  Balladen«  (1881),  wohl  seine  beste  Leistung,  und  endlich 
»Wilhelm  der  Große.  Ein  vaterländisches  Heldengedicht«  (1896).  Ein  glü- 
hender Patriotismus  klingt  aus  diesen  Dichtungen  heraus;  er  würde  indessen 
mehr  ansprechen,  wenn  er  nicht  von  Parteileidenschaft  entstellt  wäre.  An 
novellistischen  Arbeiten  besitzen  wir  von  K.  »Preußische  Hof  geschieh  ten« 
(1890)  und  »Das  Opfer  für  das  Vaterland«  (Vaterländischer  Roman,  1896). 
Dagegen  hat  er  eine  ganze  Reihe  von  Schriften  für  die  Jugend  zu  dem  Zweck 
veröffentlicht,  diese  mit  patriotischem  Sinn  zu  erfüllen  und  für  deutsches 
Volkstum  zu  erwärmen;  z.  B.  die  Lebensbilder  von  »Otto  von  Bismarck« 
(1874)  und  »Helmuth  von  Moltke«  (1888),  femer  »Deutsche  Kaiserbilder« 
(2.  Aufl.  1893),  »Kämpfe  und  Helden«  (4.  Aufl.  1891),  »In  des  Königs  Rock« 
(1890),  »Männer  und  Taten«  (1885),  »Das  Deutsche  Reich  von  der  Maas  bis 
zur  Memel«  (1894)  und  das  bedeutendste  »Die  Hohenzollern  und  das  Reich« 
(IV.  1887 — 90).  Endlich  bieten  seine  »Feld-  und  Federzüge«  (1881)  eine 
Biographie  des  Verfassers  in  unterhaltender,  größtenteils  novellistischer  Form. 

Persönliche  Mitteilungen.  —  H.  Kurz:  Literaturgeschichte,  IV.  Bd.,  S.  379.  —  Das 
literarische  Leipzig,  1898,  S.  100.  Franz  Brummer. 

Legerlotz,  Friedrich  Wilhelm  Gustav,  Schulmann  und  Dichter,  *  28.  Mai 
1832  in  Genthin  bei  Magdeburg,  f  5-  April  1904  in  Salzwedel.  —  L.  ent- 
stammte einer  ursprünglich  ungarischen  Familie;  Urgroßvater  und  Großvater 
vertauschten  den  ungarischen  Militärdienst  mit  dem  preußischen.  Nach  dem 
frühen  Tode  seines  Vaters,  eines  wegen  seiner  echten  Bürgertugenden  allgemein 
geschätzten  Bauhandwerkers,  leitete  die  Mutter,  eine  hochgesinnte,  ernste  Frau, 
die  Erziehung  des  Knaben.  Nach  achtjährigem  Besuch  der  Stadtschule  seiner 
Heimat  brachte  ihn  sein  Stiefvater,  der  ihm  die  kaufmännische  Laufbahn  er- 
öffnen wollte,  1846  nach  Magdeburg  auf  die  damalige  »Handelsschule«,  eine 
lateinlose  Realschule.  Doch  die  eingehende  Bekanntschaft  mit  der  vater- 
ländischen und  englischen  Literatur,  namentlich  mit  Goethe  und  Uhland,  mit 
Bums  und  Byron,  sowie  die  gelegentlichen  Mitteilungen  seines  Direktors 
Ledebur  aus  griechischen  und  römischen  Dichtern  zeitigten  in  ihm  den  Plan, 
sich  noch  dem  philologischen  Studium  zu  widmen.  Nach  Absolvierung  der 
Handelsschule  (Ostern  1850)  eignete  er  sich  durch  Privatunterricht  das  Latei- 
nische, Griechische  und  Hebräische  in  anderthalb  Jahren  so  weit  an,  daß  er 
in  die  Prima  des  Magdeburger  Domgymnasiums  aufgenommen  werden  konnte, 
dessen  Direktor  Friedrich  Wiggert  für  die  germanistische  und  linguistische 
Richtung  seines  Zöglings  maßgebend  ward.  1853  bezog  er  die  Universität 
Halle,  die  er  ein  Jahr  später  mit  Berlin  vertauschte.  Namentlich  unter 
Bernhardi  und  Pott,  Haupt,  Albrecht  Weber,  Lepsius  und  Brugsch  gab  er 
sich  der  Philologie  und  vergleichenden  Sprachforschung  hin  und  kehrte  dann 
ins  Elternhaus  zurück,  wo  er  sich  teils  mit  linguistischen  Arbeiten,  teils  mit 
der  Vorbereitung  für  Promotion  (Halle  1858)  und  Habilitation  beschäftigte. 


^12  Legerlotz.     von  Braun. 

Letztere  kam  nicht  zur  Ausführung,  da  die  Bekanntschaft  mit  seiner  späteren 
Gattin  ihn  bestimmte,  sich  dem  Gymnasiallehrfach  zuzuwenden.  Von  1858 
bis  1860  war  er  als  Probekandidat  und  wissenschaftlicher  Hilfslehrer  ab- 
wechselnd an  den  beiden  Magdeburger  Gymnasien  tätig,  worauf  er  einen 
Ruf  an  das  städtische  Gymnasium  zu  Soest  in  Westfalen  annahm,  das  seine 
zweite  Heimat  ward.  Hier  war  er  bis  Ostern  1876,  zuletzt  als  Prorektor,  tätig, 
worauf  ihm  vom  preußischen  Minister  Falk  das  Direktorat  des  Gymnasiums 
in  Salzwedel  (Altmark)  übertragen  wurde,  das  er  bis  zu  seinem  Tode  ver- 
waltete. —  Die  poetische  Tätigkeit  L.s  reicht  bis  in  seine  Gymnasialzeit 
zurück,  und  doch  konnte  er  sich  erst  im  reifen  Mannesalter  trotz  des 
Drängens  befreundeter  Gelehrter  und  Dichter,  ifnter  denen  vor  allen  Ferd. 
Freiligrath  genannt  werden  mag,  entschließen,  seine  Sammlung  »Aus  guten 
Stunden.  Dichtungen  und  Nachdichtungen«  (1886)  h*erauszu geben.  Während 
seine  eigenen  Poesien  keinen  Zweifel  an  seiner  poetischen  Kraft  aufkommen 
lassen,  erweist  er  sich  auf  dem  Gebiet  der  Nachdichtung  fremder  Poesien  geradezu 
als  Meister.  Besonders  sind  es  die  Dichtungen  des  Schotten  Bums,  denen  er  sein 
ganzes  Interesse  zuwandte,  und  an  deren  Verdeutschung  er  mehr  als  40  Jahre 
arbeitete,  ehe  er  sie  u.  d.  T.  »Robert  Burns  Gedichte  in  Auswahl«  (1889,  2.  A. 
1893)  herausgab.  L.  hat  in  seiner  Nachdichtung  die  rein  englischen  Dichtungen 
in  reinem  Schriftdeutsch  wiedergegeben,  die  schottischen  Dialektdichtungen 
aber  durch  Anwendung  unseres  alemannischen  Dialekts  unserem  Empfinden 
näher  gebracht.«  Zu  erwähnen  sind  noch  seine  Übertragungen  und  Nach- 
bildungen mittelalterlicher  und  deutscher  Dichtungen,  wie  »Nibelungenlied. 
Neu  übertragen«  (Auswahl  1889,  12.  Aufl.  1902;  große  Ausg.  1892),  »Gundrun« 
(Auswahl  i8qi,  8.  Aufl.  1904;  große  Ausg.  1893),  »Walther  von  der  Vogelweide 
und  andere  Lyriker  des  Mittelalters.  Auswahl«  (1892,  3.  Aufl.  1902),  »Parzival 
von  Wolfram  von  Eschenbach«  (1903),  »Die  Epik  der  deutschen  Sagenkreise« 
(Der  arme  Heinrich  von  Hartmann  von  Aue  und  König  Rother,  1904).  Viele 
dieser  Nachbildungen  haben  sich  bereits  einen  Platz  in  den  neueren  Schul- 
lesebüchem  gesichert. 

Persönliche  Mitteilungen.  —  Karl  Leimbach:  Die  deutschen  Dichter  der  Neuzeit  und 
Gegenwart,  V.  Bd.,  S.  308.  Franz  Brummer. 

Braun,  Friedrich  von,  Stadtdekan  und  Oberkonsistorialrat  in  Stuttgart, 
Dr.  theoL,  ♦  18.  November  1850  in  Kirchheim  u.  Teck,  f  3^-  Mai  1904  in 
Jerusalem.  —  Nach  Vollendung  seines  theologischen  Studiums  in  Tübingen 
wurde  B.  zunächst  1876  am  theologischen  Seminar  seiner  Heimatuniversität 
mit  dem  Posten  eines  Repetenten  betraut;  dem  folgte  1879  ^^^  Berufung 
als  Diakonus  nach  Eßlingen  und  bereits  im  gleichen  Jahre  die  Beförderung 
zum  »Hofkaplan«  und  Hilfsarbeiter  im  Konsistorium  nach  Stuttgart.  1887 
rückte  er  mit  37  Jahren  in  die  Stellung  eines  Hofpredigers  ein,  die  er  jedoch 
10  Jahre  später  mit  der  des  Stadtdekans  und  I.  Pfarrers  an  der  Hospital- 
kirche vertauschte,  nachdem  er  im  Jahr  zuvor,  1896,  als  ordentliches  Mitglied 
ins  Konsistorium  eingetreten  war.  Sein  vieltätiges  Interesse  galt  vor  allem 
den  Arbeiten  und  Aufgaben  der  inneren  Mission,  sowie  den  großen  evan- 
gelischen Vereinen  Württembergs.  So  führte  er  seit  1890  den  Vorsitz  im 
Württemberger  Landesverein  der  Gustav-Adolf-Stiftung  und  seit  1894  in  der 
umfassenden  Organisation  des  süddeutschen  Jünglingsbundes.  Auch  die  Vereine 


von  Braun.     Weigert.  ßlj 

zur  Bekämpfung  der  Trunksucht,  zur  Fürsorge  für  entlassene  Strafgefangene 
sowie  der  ständige  Ausschuß  der  Landessynode  zählte  ihn  zu  seinen  tätigsten 
Mitarbeitern.  Ebenso  ist  B.  vielfach  literarisch  hervorgetreten,  so  im  Luther- 
jahre 1883:  Luther  im  deutschen  Liede;  1885:  Glaubenskämpfe  und  Friedens- 
werke; 1886:  Wer  ist  frei?  1888:  Wichern  und  Werner;  und  hat  weiterhin 
öfter  zu  kirchlichen  Tagesfragen  das  Wort  genommen.  An  der  Fahrt  unseres 
Kaiserpaares  zur  Einweihung  der  Erlöserkirche  in  Jerusalem  hat  B.  als  einer 
der  Vertreter  Württembergs  teilgenommen.  6  Jahre  darauf  sollte  eine  neue 
Reise  ins  heilige  Land,  zur  Einweihung  der  neuen  evangelischen  Kirche  in 
Jaffa,  zu  deren  Bau  er  große  Beiträge  in  der  Heimat  und  in  weiteren 
Kreisen  zusammengebracht,  ihm  das  Ende  seiner  irdischen  Pilgerfahrt  bringen. 
Am  9.  Mai  hatte  er  in  Begleitung  seiner  Gattin  einen  sechswöchentlichen 
Urlaub  angetreten,  um  am  Pfingstfeste  die  Weihe  des  Gotteshauses  in  Jaffa 
zu  vollziehen.  Da  sie  um  kurze  Zeit  verschoben  werden  mußte,  reiste  er 
nach  Jerusalem  weiter  und  hier  hat  ihn  am  31.  Mai  ein  rasch  verlaufender 
Ruhranfall  jäh  hinweggerafft,  noch  bevor  er  den  Zweck  seiner  Fahrt  erfüllt 
hatte.  Sein  Leichnam  ist  noch  am  selben  Tage  auf  dem  Zionsberge  bestattet 
worden;  an  dem  Sockel  seines  Grabdenkmals  ist  im  Namen  seines  Gustav- 
Adolf-Vereins  eine  vom  Stuttgarter  Hoferzgießer  Pelargus  gegossene  Erztafel, 
modelliert  von  Bildhauer  Fremd,  eingefügt  worden  mit  der  Inschrift:  »Seines 
unvergeßlichen,  mitten  aus  der  Fürsorge  für  die  Glaubensgenossen  im  heiligen 
Lande  heimgerufenen  treuen  Führers  gedenkt  in  der  schwäbischen  Heimat  sein 
dankbarer  Gustav -Adolf -Verein.  Galat.  6,  V.  9  u.  10.«  Ebenso  wurde  ihm 
in  seiner  Stuttgarter  Hospitalkirche  eine  Gedächtnistafel  gestiftet.  Doch 
lebendiger  wird  sein  Gedächtnis  im  Segen  seines  reichen  Lebenswerkes  und 
seines  tragischen  Ausgangs  nachwirken.  Kohlschmidt. 

Weigert,  Karl,  berühmter  Pathologe,  ♦19.  März  1845  zu  Münsterberg  in 
Schlesien,  f  5.  August  1904  zu  Frankfurt  a.  M.  —  W.  studierte  in  Breslau, 
Berlin  und  Wien  und  war  Assistent  bei  Waldeyer  1868 — 70  in  Breslau,  bei 
Lebert  daselbst  187 1 — 74,  bei  Cohnheim  zuerst  in  Breslau,  dann  in  Leipzig, 
zusammen  nahezu  zehn  Jahre,  bis  er  nach  des  letzteren  Tode  1884  die 
Stellung  als  Lehrer  der  pathologischen  Anatomie  am  Senckenbergischen 
Institut  in  Frankfurt  a.  M.  einnahm.  Vorher  war  er  in  Leipzig  1879  zum 
Professor  e.  o.  ernannt  worden.  Unter  seinen  pathologisch -anatomischen 
Arbeiten,  die  sich  auf  die  Pathologie  der  Blut-  und  Lymphgefäße,  die  Bak- 
terien und  Tuberkulosefrage  und  viele  andere  Themata  erstreckten,  ist  in 
monographischer  Form  erschienen:  »Zur  Anatomie  der  Pocken«  (I.  u.  IL  Teil 
1874,  1875),  »Beiträge  zur  Kenntnis  der  normalen  menschlichen  Neuroglia« 
(Frankfurt  a.  M.  1895).  Femer  ist  W.  bahnbrechend  auf  dem  Gebiete  der 
Bakterienfärbung  gewesen.  Von  seinen  bezüglichen  Veröffentlichungen  seien 
genannt:  »Erste  Färbung  von  Bakterienhaufen«  (187 1)  —  »Färbung  der 
Bakterien  mit  Anilinfarben«  —  »Markscheidenfärbung  des  Zentralnerven- 
systems etc.«  (1882 — 85)  —  »Fibrinfärbung«  (1886)  —  »Elastische  Fasern« 
(1889)  —  »Neuroglia«  (1890)  —  »Lehre  von  der  Koagulationsnekrose«  (1880) 
—  »Nephritis«  (1879)  —  »Neue  Auffassung  der  Zellwucherung  auf  äußere 
Reize«  (1873 — 9^)  —  »Entdeckung  der  Venentuberkulose  und  ihrer  Beziehung 
zur  akuten   Miliartuberkulose«    u.   a.      1899    wurde    W.    zum   Ehrenmitgliede 


3  14  Weigert.     Vorster.     Huppert.     Clar. 

seines  Instituts  und  zum  Geheimen  Medizinalrat  ernannt  W.  gehörte  zu 
den  berühmtesten  Histopathologen  der  Neuzeit.  Seine  Methoden,  nament- 
lich diejenigen,  betreffend  die  Markscheiden-  und  Neurogliafärbung,  haben 
besonders  auf  neurologischem  Gebiete  große  Bedeutung  erlangt.  Seine 
Abteilung  am  Senckenbergischen  Institute  gilt  als  vornehmste  Stätte  der  Aus- 
bildung in  pathologischer  Anatomie  des  Zentralnervensystems. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte  1904,  I,  482  und  die  daselbst  genannten  Quellen. 

Pagel. 

Vorster,  Johannes,  Irrenarzt,  •  15.  März  1860  zu  Hoym  (Anhalt),  f  4.  Mai 
1904  in  Stephansfeld  (Elsaß).  —  V.  war  der  Sohn  des  Leibarztes  des 
geisteskranken  Herzogs  von  Anhalt-Bernburg  (bis  1864  Direktor  in  Lengerich), 
studierte  in  Marburg  und  Berlin,  erhielt  die  ärztliche  Approbation  1884,  den 
Doktortitel  in  Leipzig  1887  mit  der  Dissertation:  -a Dementia  paralytka  bei 
Eisenbahnfahrbeamten«,  war  3^/2  Jahre  Assistent  bei  Rose  an  Bethanien  in 
Berlin,  ging  1888  zur  Psychiatrie  über,  wurde  Assistent  von  Hasse  in  Königs- 
lutter, 1890  Oberarzt  in  Stephansfeld  unter  Karl  Stark  und  1897  als  dessen 
Nachfolger  Direktor  der  vereinigten  Bezirksirrenanstalten  Stephansfeld-Hördt, 
wo  er  dem  Attentat  eines  Geisteskranken  zum  Opfer  fiel.  V.  war  ein 
fleißiger  Schriftsteller  und  hat  im  ganzen  12  Abhandlungen  veröffentlicht 
über  verschiedene  Themata,  die  zum  Teil  in  der  unten  erwähnten  Quelle 
angegeben  sind. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte  von   1904,  I,  482.  Pagel. 

Huppert,  C.  Hugo,  Professor  der  medizinischen  Chemie  in  Prag,  •  29.  Ja- 
nuar 1832  zu  Marienberg  (Sachsen),  f  19.  Oktober  1904.  —  H.  war  in 
Leipzig  und  Jena  ausgebildet,  besonders  als  Schüler  C.  G.  Lehmanns,  und 
gelangte  1862  zur  Promotion.  Im  Herbst  1871  wurde  er,  nachdem  er  daselbst 
während  der  Zwischenzeit  das  medizinisch-chemische  Laboratorium  geleitet 
hatte,  in  Leipzig  zum  Extraordinarius  ernannt,  1872  als  Professor  ord.  der 
medizinischen  Chemie  nach  Prag  berufen.  Neben  einer  längeren  Reihe  von 
eigenen  und  durch  seine  Schüler  ausgeführten  Facharbeiten  seien  speziell 
genannt  der  gemeinschaftlich  mit  C.  G.  Lehmann  von  ihm  bearbeitete  8.  Band 
von  Gmelins  Handbuch  der  Chemie  und  die  8.,  9.  u.  10.  Auflage  von  Neubauers 
Analyse  des  Harns. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte  von   1904,  I,  469.  Pagel. 

Clar,  Konrad,  Baineolog  und  Professor  der  Balneologie  in  Wien,  •  22.  Fe- 
bruar 1844  in  Wien,  f  13.  Januar  1904  daselbst.  —  B.  widmete  sich 
anfangs  dem  Studium  der  Geologie,  promovierte  1864  zum  Dr.  phiL  in 
Leipzig,  trat  darauf  zur  Medizin  über,  erlangte  1869  die  medizinische  Doktor- 
würde in  Graz,  habilitierte  sich  hier  1870  als  Privatdozent  für  Balneo-  und 
Klimatotherapie,  siedelte  1888  nach  Wien  über,  wo  er  sich  gleichfalls 
habilitierte  und  1894  zum  außerordentlichen  Professor  befördert  wurde. 
C.  war  ein  tüchtiger  Geolog  und  Baineolog,  während  des  Sommers  auch 
gleichzeitig  Badearzt  in  Gleichenberg.  Er  ist  Verfasser  mehrerer  Arbeiten 
über  die  Kurorte  Österreichs,  Stoffwechsel  und  Therapie  der  Lungentuber- 
kulose u.  a. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte  von  1904,  1,  462.  Pagel. 


Heisrath.     Ideler.     von  Koch. 


315 


Heisrath,  Friedrich,  Augenarzt  und  Universitätsprofessor  in  Königsberg 
i.  Pr.,  •12.  Oktober  1850  in  Mazutkehmen  (Kr.  Gumbinnen),  f  9.  Juli  1904  plötz- 
lich im  Ostseebade  Cranz.  —  H.  studierte  in  Königsberg,  wurde  1876  Arzt, 
trat  in  das  Sanitätskorps  ein  und  brachte  es  hier  von  1877 — 95  zum  Ober- 
stabsarzt. Nachdem  er  schon  1898  den  Professortitel  erhalten  hatte,  habilitierte 
er  sich  1899  als  Privatdozent  für  Augenheilkunde.  Seit  1879  Assistent  des 
bekannten  Ophthalmologen  Professors  Julius  Jacobson,  verfaßte  H.  1882  die 
erste  Monographie  zur  Heilung  der  Kömerkrankheit,  von  der  er  einer  der 
besten  Kenner  war,  durch  Tarsalexzision  und  veröffentlichte  außerdem  eine 
beträchtliche  Anzahl  von  Aufsätzen  auf  dem  Gebiete  seiner  Spezialität, 
begründete  1882  eine  eigene  Privatklinik  und  war  außerdem  Direktor  der 
Augen-Station  am  Krankenhause  der  Barmherzigkeit. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte  von  1904,  1,  468.  Pagel. 

Ideler,  Karl,  Geheimer  Sanitätsrat  in  Wiesbaden,  Psychiater,  ♦  26.  Februar 
1829  in  Berlin,  f  21.  September  1904.  —  I.  war  der  älteste  Sohn  des  bekann- 
ten Berliner  Psychiaters  Karl  Wilhelm  I.  und  studierte  an  seiner  Vaterstadt. 
Anfangs  Assistent  der  Neu-Ruppiner,  später  nach  Eberswalde  verlegten 
Märkischen  Provinzial-Irrenanstalt,  war  er  seit  1861  mit  der  Leitung  der 
Berliner  Irrenpflegeanstalten  in  der  Wallstraße  betraut,  machte  als  Stabs-  bzw. 
Oberstabsarzt  den  Feldzug  von  1870 — 71  mit  und  übernahm  1880  die 
Leitung  der  eben  begründeten  städtischen  Irrenheilanstalt  von  Berlin-Dalldorf, 
von  wo  er  1885  in  den  Ruhestand  trat  und  sich  nach  Wiesbaden  zurückzog. 
Er  war  Mitbegründer  des  Berliner  psychiatrischen  Vereins  1867  und  dessen 
eifrigster  Förderer. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte  von   1904,  I,  469.  Pagel. 

Koch,  Karl  v.,  Medizinalbeamter  zu  Stuttgart,  ♦  3.  Januar  1829  zu 
Gaildorf  in  Württemberg,  f  1$.  Februar  1904.  —  v.  K.  studierte  in  Tübingen, 
später  in  Prag,  war  1851 — 55  prakt.  Arzt  und  Oberamts wundarzt  in  Gaildorf, 
1855 — 71  Oberamtsarzt  daselbst,  seit  187 1  Ober-Medizinalrat  in  Stuttgart 
und  als  solcher  ordentliches  Mitglied  des  Kgl.  württ.  Medizinalkollegiums 
und  der  Abteilung  für  die  Staatskrankenanstalten,  1875 — 88  Vorsitzender  der 
Landesprüfungs-Behörde  für  Apothekergehilfen,  seit  1876  Mitglied  der  Kom- 
mission für  die  Physikatsprüfung,  seit  1877  Ministerial-Delegierter  bei  dem 
Kgl.  statistischen  Landesamt  für  Medizinalangelegenheiten,  seit  1884  Mitglied 
des  Verwaltungsrats  der  württembergischen  ärztlichen  Unterstützungskasse,  1887 
staatliches  Mitglied,  zugleich  stellvertretender  Vorsitzender  und  seit  1894 
Vorstand  des  Verwaltungsrats  des  Kinderspitals  »Olga-Heilanstalt«  in  Stuttgart, 
erhielt  1892  Titel  und  Rang  eines  Kollegial-Direktors.  Außerdem  gehörte 
er  1874 — 79  als  Kgl.  württ.  Delegierter  verschiedenen  das  Medizinalwesen 
betreffenden  Reichskommissionen  in  Berlin  an  und  war  seit  1880  ununter- 
brochen außerordentliches  Mitglied  des  Kaiserl.  Gesundheitsamts,  v.  K.  war 
der  Begründer  der  Medizinalberichte  des  Königreichs  Württemberg,  Verfasser 
des  ersten  über  das  Jahr  1872,  und  übte  neben  seiner  Dienststellung  als 
nicht    vollbesoldeter  Medizinalbeamter  zugleich  die  ärztliche  Praxis  aus. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte  von   1904,  1,  470.  Pagel. 


2l6  Jo%'     vo^  Mannlicher. 

Jolly,  Friedlich,  o.  ö.  Professor  in  der  medizinischen  Fakultät  der 
Universität  Berlin,  Direktor  der  psychiatrischen  und  Nervenklinik  der  Kgl. 
Charit^,  Geh.  Medizinalrat,  •  24.  November  1844  zu  Heidelberg,  f  4.  Januar 
1904.  —  J.  war  ein  Sohn  des  später  nach  München  berufenen  Physikers 
Philipp  J.  Er  studierte  in  München  und  Göttingen,  war  Assistent  an  der 
inneren  Klinik  von  Pfeufer  in  München,  dann  an  der  Irrenanstalt  Werneck 
unter  Gudden  und  Grashey,  hierauf  an  der  psychiatrischen  Klinik  in 
Würzburg  unter  Rinecker,  habilitierte  sich  187 1  daselbst  mit  einer  Ab- 
handlung: »Über  den  Gehirndruck  und  über  die  Blutbewegung  im  Schädel«, 
wurde  1873  ^^^  Professor  e.  o.  und  Direktor  der  psychiatrischen  Klinik  nach 
Straßburg  berufen,  dort  1875  zum  Professor  ord.  ernannt  und  von  da  1890 
nach  Berlin  berufen.  J.  gehörte  zu  den  berufensten  Irren-  und  Nervenärzten 
der  Neuzeit.  Er  ist  Verfasser  zahlreicher,  wichtiger  literarischer  Arbeiten 
auf  seinem  Spezialgebiet,  von  denen  wir  u.  a.  noch  aufführen:  »Bericht  über 
die  Irrenabteilung  des  Julius-Spitals«  (1873)  —  »Hysterie  und  Hypochondrie« 
(in  v.  Ziemssens  Handbuch  1877)  —  »Untersuchungen  über  den  Leitungs- 
widerstand« (1884)  —  »Irrthum  und  Irrsinn«  (1893)  usw.  J.  war  eine  liebens- 
würdige Persönlichkeit  und  ein  durch  klaren  und  lebendigen  Vortrag  aus- 
gezeichneter Lehrer.  Bezüglich  seiner  weiteren  Leistungen  muß  auf  die  in 
der  unten  genannten  Quelle  angeführten  Nekrologe  verwiesen  werden. 

Virchows  Jahresberichte  von  1904,  I,  469.  Pagel. 


Mannlicher,  Ferdinand  Ritter  von,  Oberingenieur,  *  30.  Januar  1848  in 
Mainz,  f  20.  Januar  1904  in  Wien.  —  Als  Sohn  eines  österreichischen  Ober- 
kriegskommissars geboren,  hat  M.  die  technische  Hochschule  in  Wien  ab- 
solviert und  sich  dann  dem  Eisenbahn-Erhaltungsdienste  gewidmet;  er  war 
zunächst  bei  der  Staatseisenbahngesellschaft  tätig  und  trat  dann  zur  Kaiser 
Ferdinands-Nordbahn  über,  die  er  im  Jahre  1886  als  Oberingenieur  verließ. 
M.  ist  bekannt  als  Erfinder  der  bei  der  österreichischen  Armee  eingeführten 
Handfeuerwaffe  und  mehrerer  wertvoller  Verbesserungen  an  Repetiergewehren 
überhaupt.  M.s  österreichisches  Gewehr  stellt  eine  geistreiche  Weiterbildung 
des  Systems  Lee  dar,  indem  an  Stelle  des  abnehmbaren  Magazins  ein  mit 
dem  Abzugsbügel  aus  einem  Stück  hergestelltes  Gehäuse  tritt;  den  orginell- 
sten  Teil  des  Systems  bildet  der  Rahmen,  der  fünf  Patronen  faßt  und  nach 
Abschuß  der  letzten  Patrone  aus  der  Waffe  fällt;  sein  Gewicht  beträgt  nur 
19  g;  der  Verschluß  ist  ein  sogenannter  Geradzugverschluß.  Später  hat  M. 
»automatische  Repetiergewehre«  konstruiert,  bei  denen  auch  die  Verschluß- 
funktion selbstätig  durch  den  Druck  der  Pulvergase  vor  sich  geht;  eine  be- 
sonders einfache,  halbautomatische  Repetierpistole  stammt  ebenfalls  von  M. 

Es  ist  M.  nur  nach  jahrelangen  schweren  Kämpfen  gelungen,  mit  seinem 
Gewehre  einen  günstigen  Erfolg  zu  erringen.  Sein  Talent,  sein  Fleiß,  seine 
Beharrlichkeit  und  auch  die  werktätige  Hilfe  seiner  Familie  und  seiner 
Freunde,  u.  a.  A.  R.  v.  Loehrs,  vermochten  endlich  alle  finanziellen  und 
technischen  Schwierigkeiten  zu  überwinden,  so  daß  er  im  Jahre  1879  das  von 
der  Armeeverwaltung  später  erworbene  Patent  als  vollendet  betrachten  konnte. 
Die  Ausbeutung  seiner  Patente  übernahmen  die  Waffenfabrik  Steyr,  sowie 
mehrere    ausländische   Gesellschaften.     M.    wurde   mit   hohen  Orden   ausge- 


von  Männlicher,     von  Brunner. 


317 


zeichnet,  in  den  Ritterstand  erhoben  und  im  September  1899  in  das  Herren- 
haus berufen.  Er  starb  eines  plötzlichen  Todes,  inmitten  arbeitsvoller  Tätig- 
keit. A.  Birk. 

Brunner,  Moritz  Ritter  von,  Feldmarschalleutnant  und  Sektionschef  im 
k.  u.  k.  Reichskriegsministerium,  berühmter  Fortifikateur,  ♦  30.  April  1839  ^^ 
Wien,  t  25.  Oktober  1904  ebendort.  —  Der  Vater  B.s  war  Hofbediensteter  und 
starb,  als  der  Sohn  noch  nicht  vier  Jahre  alt  war,  so  daß  der  in  dürftigen 
Verhältnissen  zurückgebliebenen  Mutter,  einer  lebhaften  und  klugen  Frau,  die 
fernere  schwere  Sorge  für  die  Erziehung  blieb.  Zum  Glück  nahm  sich  ein 
Onkel  des  Knaben  an,  der  seinen  Nefien  in  das  Regimentserziehungshaus 
Freiherr  von  Heß  brachte,  aus  dem  er  dann  in  das  Obererziehungshaus, 
in  die  Tullner  Pionierschule  und  schließlich  in  die  Genieakademie  nach 
Klosterbruck  bei  Znaim  kam.  —  1859  erhielt  B.  als  Unterleutnant  seine  Ein- 
teilung beim  2.  Geniebataillon,  mit  dem  er  auch  den  Feldzug  in  Italien 
mitmachte;  1860  zum  neu  errichteten  Genieregiment  Nr.  i  transferiert,  fand 
er  bei  der  Verteidigungsinstandsetzung  von  Karlsburg  Verwendung.  1864 
frequentierte  er  den  höheren  Geniekurs,  in  diesem  Jahre  erschien  auch  B.s 
Erstlingswerk,  es  war  dies  ein  »Praktisches  Hilfsbuch  für  den  Mineur« ;  1866 
zum  Oberleutnant  befördert,  leitete  er  den  Bau  des  provisorischen  Lagerforts 
bei  Himlau  (Olmütz)  nach  den  von  ihm  entworfenen  Plänen  und  erhielt  am 
3.  Oktober  desselben  Jahres  die  Allerhöchste  belobende  Anerkennung  »für 
hervorragend  vorzügliche  Leistungen  im  Feldzuge  gegen  Preußen«.  1870 
wurde  B.  Hauptmann  im  Geniestabe,  1873  fungierte  er  als  Mitglied  der 
kaiserlichen  Kommission  für  die  Weltausstellung  und  als  Berichterstatter  für 
dieselbe.  All  die  Jahre  hindurch  war  er  in  der  8.  Abteilung  des  Reichs- 
kriegsministeriums beschäftigt  und  wurde  1874  in  »Anerkennung  seiner  mehr- 
jährigen hervorragenden  literarischen  Tätigkeit  auf  dem  militärischen  Gebiete« 
mit  dem  Orden  der  Eisernen  Krone  dritter  Klasse  dekoriert,  worauf  1875 
seine  Erhebung  in  den  Ritterstand  erfolgte,  in  welchem  Jahre  er  auch  die 
goldene  Medaille  für  Kunst  und  Wissenschaft  erhielt.  1876  in  den  Stand 
der  technischen  Militärakademie  übersetzt,  lehrte  er  hier  durch  zehn  Jahre 
die  Befestigungskunst,  und  nebstdem  als  außerordentlicher  Professor  an  den 
Stabsoffizierkursen  des  Heeres  und  der  k.  k.  Landwehr  außer  Befestigung 
auch  noch  Pionierdienst.  1882  wurde  B.  Major  und  1886  zum  Geniedirektor 
in  Trebinje  ernannt,  1887  Oberstleutnant  und  1889  »für  hervorragend  ver- 
dienstliche Leistungen  bei  Leitung  und  Ausführung  von  Unterkunfts-  und 
fortifikatorischen  Bauten«  mit  dem  Militärverdienstkreuz  dekoriert,  im  selben 
Jahre  wurde  er  Genie-  und  Befestigungbaudirektor  in  Przemysl  und  im  darauf- 
folgenden Jahre  Oberst. 

1894  wurde  B.  zum  Vorstand  der  8.  Abteilung  in  das  Reichskriegs- 
ministerium berufen,  1895  zum  Generalmajor  befördert  und  am  22.  Oktober 
desselben  Jahres  zum  Sektionschef  im  Reichskriegsministerium  ernannt;  1898 
erhielt  er  das  Ritterkreuz  des  Leopoldordens  und  rückte  1899  zum  Feld- 
marschalleutnant vor.  1904  erhielt  B.  den  Orden  der  Eisernen  Krone  IL  Klasse, 
außerdem  war  er  Ritter  und  Komtur  vieler  ausländischer  Orden. 

B.  war  seit  dem  18.  November  1870  mit  Veronika  Schmidt  in  glück- 
lichster Ehe  verbunden,  die  ihm  drei  Söhne  und  drei  Töchter  schenkte. 


)  1 8  von  Brunner. 

Bevor  wir  zu  B.s  Tätigkeit  als  Militär  und  Schriftsteller  übergehen, 
wollen  wir  auch  einige  Worte  dem  Menschen  Brunner  widmen:  »Sein  Herz 
schlug  warm  für  fremdes  Leid,  und  wo  er  konnte,  half  er.  Ohne  Scheu  und 
Zagen  durfte  jeder  sich  ihm  wie  einem  Freunde  nahen  und  seinen  Kummer 
ausschütten;  er  fand  ein  offenes  Ohr.  Mancher,  dessen  Anliegen  nicht 
Erfüllung  gefunden,  ahnte  oft  gar  nicht,  wie  sehr  sich  Feldmarschalleutnant 
Ritter  von  Brunner  seiner  Sache  angenommen  und  wie  gerade  diesem  des 
Fremden  Weh  naheging  ....  Er  war  ein  edler  Mann,  aufrichtig,  hilfreich 
und  gut!« 

Als  Sektionschef  des  Reichskriegsministeriums  oblag  B.  die  Leitung  des 
gesamten  Genie-  und  Festungsdienstes  der  Monarchie,  des  Pionier-,  Waffen- 
und  Munitions-,  sowie  des  Militärerziehungswesens.  Seinem  Wirken  ist  die 
Errichtung  eines  für  militärische  und  fortifikatorische  Zwecke  bestimmten 
Geniestabes,  die  Umwandlung  der  Genietruppe  in  die  Pioniertruppe,  die  Auf- 
stellung von  Reservepionierkompagnien  und  endlich  die  Beteilung  der 
Infanterie  mit  dem  Linnemannschen  Spaten  zu  danken.  Femer  bildete  er 
die  Schanzzeugkolonnen,  veranlaßte  die  Aufstellung  von  Flußminen-,  Minen-, 
Flußschiffahrts-  und  Eiffelbrückenabteilungen  (letztere  wurden  seither  wieder 
in  Brückenabteilungen  umgewandelt,  da  sich  das  Material  System  Eiffel 
nicht  bewährte)  und  schuf  für  den  militärischen  Fachbaudienst  das  Bau- 
ingenieurkorps. Endlich  widmete  B.  der  Feldbefestigung,  dem  Notbrückenbau, 
dem  Landes  Verteidigungssystem,  dem  Ausbau,  der  Ausrüstung  und  der  Ver- 
teidigungsfähigkeit der  Festungen  seine  ganz  besondere  Aufmerksamkeit. 
Seine  Werke  als  Kriegsbaumeister  sind  mustergültig,  fallen  sie  doch  in  die 
Zeit  der  großen  Umwälzungen  in  der  Befestigungskunst  infolge  der  bedeu- 
tenden Fortschritte  der  Artillerie;  B.s  Tätigkeit  kann  daher  als  wirklich  bahn- 
brechend bezeichnet  werden. 

B.s  Verdienste  als  Schriftsteller  machten  seinen  Namen  weit  über  die 
Grenzen  seines  Vaterlandes  hinaus  bekannt.  Hier  sei  ganz  besonders  seine 
vierzehnjährige  Tärigkeit  als  Redakteur  von  »Streffleurs  militärischer  Zeit- 
schrift« hervorgehoben,  die  dadurch  zum  ersten  Fachblatt  der  Monarchie 
wurde  und  sich  auch  weit  über  die  Reichsgrenzen  hinaus  bedeutendes  An- 
sehen erwarb.  Allein  durch  die  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlichten  Auf- 
sätze hat  sich  B.  schon-  ein  bleibendes  Denkmal  errichtet.  Ganz  speziell  sei 
der  im  Jahre  1870  erfolgten  Entsendung  B.s  nach  dem  Falle  von  Straßburg 
in  diese  gefallene  Feste  zur  Berichterstattung  gedacht;  die  Veröffentlichung 
der  damals  gewaltiges  Aufsehen  erregenden  Schrift:  »Die  Verteidigung  von 
Straßburg«  war  das  Ergebnis  dieser  Reise. 

Die  von  B.  für  die  k.  und  k.  Neustädter  Militärakademie  und  die 
Kadettenschulen  verfaßten  Lehrbücher  über  die  Befestigungskunst  und  den 
Festungskrieg  wurden  auch  im  Auslande  allgemein  anerkannt  und  gewürdigt 
und  erlebten  die  Übersetzung  in  fünf  Sprachen. 

Schließlich  sei  auch  noch  der  dichterischen  Tätigkeit  B.s  gedacht,  welche 
in  der  Herausgabe  seiner  »Späten  Lieder«  für  den  Freundeskreis  ihren  Aus- 
druck fand;  viele  von  diesen  wurden  vertont. 

Kurze  Biographien  über  Ritter  von  Brunner  erschienen  im  Jahre  1904  in  der  »Vedettec, 
in  den  »Mitteilungen  auf  dem  Gebiete  des  Artillerie-  und  Geniewesens«,  im  »Organ  der 
militärwissenschaftlichen  Vereine«,  in  »Streffleurs  militärischer  Zeitschrift«  und  vielleicht  die 
beste  unter  allen   1905  in  »Nord  und  Süd«  von  W.  Stavenhagcn.  C.   M.  Danzer. 


Goebel.     von  Hanstein. 


319 


Goebel,  Eduard,  Pädagoge  und  Dichter,  *  1.  März  1831  zu  Hillesheim 
in  der  Eifel,  f  30.  Juni  1904  in  Fulda.  —  G.  war  der  fünfte  Sohn  des  Kreis- 
physikus  Dr.  Anton  G.  und  kam  schon  im  Jahre  1832  mit  seinen  Eltern  nach 
deren  Heimatsort  Attendorn  im  ehemals  kurkölnischen  Herzogtum  Westfalen. 
Hier  verlebte  er  nach  dem  frühzeitigen  Tode  beider  Eltern  im  großelterlichen 
Hause  seine  Jugendjahre.  Nachdem  er  das  Progymnasium  seiner  Vaterstadt 
absolviert  und  darauf  noch  ein  Jahr  das  Gymnasium  in  Münster  und  drei 
Jahre  das  Gymnasium  an  Marzellen  in  Köln  besucht  hatte,  bezog  er  im 
Herbst  1850  die  Universität  Bonn,  wo  er  vier  Jahre  hauptsächlich  philo- 
sophischen und  philologischen  Studien  oblag,  auch  Mitglied  des  von  den 
Prof.  Ritschi  und  Welcker  geleiteten  philologischen  Seminars  war.  Im  De- 
zember 1854  erwarb  er  sich  nicht  nur  die  philosophische  Doktorwürde,  sondern 
auch  die  Befähigung  als  Oberlehrer.  Sein  Probejahr  absolvierte  er  am  Gym- 
nasium zu  Aachen,  wirkte  dann  kurze  Zeit  als  Lehrer  in  Bonn  und  nahm 
darauf  Ostern  1856  eine  Stelle  als  k.  k.  Professor  am  Gymnasium  in  Salzburg 
an.  i86o  wurde  er  als  Oberlehrer  an  das  neu  begründete  Gymnasium  an 
Aposteln  in  Köln  zurückberufen,  folgte  aber  schon  Ostern  1863  einem  Rufe 
der  damals  kurhessischen  Regierung  als  Direktor  des  Gymnasiums  zu  Fulda. 
Dieses  Amt  bekleidete  er  bis  zu  Neujahr  1898,  wo  er  mit  dem  Charakter  als 
Geh.  Regierungsrat  in  den  Ruhestand  trat  und  von  den  städtischen  Behörden 
von  Fulda  zum  Ehrenbürger  ernannt  wurde.  Noch  in  demselben  Jahre  wurde 
er  vom  Kreise  Fulda  —  wie  auch  wiederum  im  Jahre  1903  —  einstimmig 
zum  Landtagsabgeordneten  gewählt.  —  Außer  verschiedenen  Programm- 
abhandlungen und  zahlreichen  Aufsätzen  über  philologische  Gegenstände  in 
fachwissenschaftlichen  Zeitschriften,  veröffentlichte  er  eine  Schulausgabe  von 
»Piatons  Apologie  des  Sokrates  und  Kriton«  (1883,  2.  Aufl.  1893),  für  Schul- 
zwecke eine  Sammlung  »Vaterländische  Gedichte«  (1879,  2.  Aufl.  1895)  und 
im  hohen  Alter  eine  Sammlung  eigener  »Gedichte  aus  jungen  und  alten 
Tagen«  (1903). 

Persönliche  Mitteilungen.  Franz  Brummer. 


Hanstein,  Ludwig  Adalbert  von,  Schriftsteller,  ♦  29.  November  186 1  in 
Berlin,  f  11.  Oktober  1904  in  Hannover.  —  Er  war  der  zweite  Sohn  des  be- 
kannten Botanikers  Johannes  von  H.,  der,  als  der  Sohn  drei  Jahre  zählte, 
einem  Rufe  als  Professor  nach  Bonn  folgte.  Vom  Poppelsdorfer  Schloß  aus, 
in  welchem  der  Vater  seine  Amtswohnung  hatte,  konnte  man  über  die  herr- 
lichen Anlagen  des  botanischen  Gartens,  über  weite  Wiesen  und  den  Rhein 
hinweg  auf  die  Kette  des  Siebengebirges  schauen,  ein  Aufenthalt,  der  wohl 
geeignet  war,  in  dem  Knaben  poetische  Regungen  wachzurufen.  Von  1873 
bis  1881  besuchte  Adalbert  das  Gymnasium  in  Bonn,  das  er  mit  einem  vor- 
züglichen Reifezeugnis  verließ.  Kurz  vorher  war  sein  Vater  als  Geh.  Rat 
und  Rektor  der  Universität  gestorben.  In  Berlin  begann  H.  seine  natur- 
wissenschaftlichen Studien,  die  er  in  Bonn  durch  Promotion  auf  Grund  seiner 
Schrift  »Die  Begründung  der  Pflanzenanatomie  durch  Grew  und  Malpighi« 
(1886)  zu  einem  gewissen  Abschluß  brachte,  um  dann  erneute  Studien,  mehr 
auf  historischem  und  literarischem  Gebiet,  wieder  in  Berlin  aufzunehmen. 
Hier  hatte  damals  gerade  die  bekannte  Literaturbewegung  der  stürmenden 


320 


von  Hanstein.     Holdheim. 


und  drängenden  Geister  der  jüngstdeutschen  Zeit  eingesetzt,  die  H.  später  in 
seinem  Werke  »Das  jüngste  Deutschland.  Zwei  Jahrzehnte  miterlebter  Literatur- 
geschichte« (1900,  3.  Aufl.  1905)  charakterisiert  hat.  Er  hatte  die  Vertreter 
dieser  Bewegung  in  dem  vom  Geh.  Sanitätsrat  Dr.  Konrad  Küster  gegründeten 
literarischen  Verein  »Durch«  persönlich  kennen  gelernt.  Neben  seinen  Studien 
war  H.  in  Berlin  als  Redakteur  am  »Berliner  Fremdenblatt«  und  besonders 
als  Mitarbeiter  an  der  Zeitschrift  »Mode  und  Haus«  tätig.  Im  Jahre  1896 
trat  er  in  das  Dozentenkollegium  der  Humboldt-Akademie,  wo  er  sich  schnell 
eine  große  Zuhörerschaft  erwarb,  und  im  Herbst  1901  habilitierte  er  sich  als 
Privatdozent  für  Literaturgeschichte  und  Ästhetik  an  der  Technischen  Hoch- 
schule in  Hannover,  wo  ihm  Ende  1903  der  Charakter  als  Professor  verliehen 
wurde.  Er  verschied  nach  kurzer  Krankheit  an  einem  Gehirnleiden.  —  Das 
erste  poetische  Werk  H.s  waren  seine  »Menschenlieder«  (1887,  3.  Aufl.  1904);  sie 
zeigen  das  Ringen  eines  jungen  bewegten  Menschenherzens  nach  einer  einheit- 
lichen Weltanschauung.  Dann  folgte  das  Drama  »Um  die  Krone«  (1887),  das  er 
schon  als  Student  geschrieben  hatte  und  unter  dem  Pseudonym  Ludwig 
Bert  US  veröffentlichte.  Er  selbst  verwarf  diese  Arbeit  wieder  und  erst  acht  Jahre 
später  hat  er  sie  völlig  umgearbeitet  und  zu  Ende  geführt.  In  der  Dichtung 
»Von  Kains  Geschlecht«  (1888)  versucht  H.,  Kains  Brudermord  aus  furcht- 
baren Seelenqualen  heraus  psychologisch  zu  erklären.  Einen  grofien  Erfolg 
erzielte  H.  mit  seinem  historischen  Schauspiel  »Die  Königsbrüder«  (1892), 
dessen  erster  Aufführung  im  Berliner  Theater  auch  der  Kaiser  beiwohnte. 
Poetische  Erzählungskunst  zeigt  H.  in  den  Dichtungen  »Der  Liebesrichter« 
(1893.  Neue  Ausgabe  u.  d.  T.  »Ein  edles  Wort«,  1904),  »Der  Vikar«  (1897) 
und  »Achmed  der  Heiland«  (1898).  Beachtenswert  ist  sein  Drama  »König 
Saul«  (1897)  und  seine  Romane  »Die  Aktien  des  Glücks«  (1895)  und  »Zwei 
Welten.  Roman  a.  d.  modernen  Berlin«  (1898).  Als  Literarhistoriker  lernen 
wir  ihn  kennen  aus  »Albert  Lindner,  in  seinem  Leben  und  in  seinen  Werken 
dargestellt«  (1888),  und  den  Vorträgen  über  »Gustav  Freytag«  (1895)  und 
»Gerhart  Hauptmann«  (1898).  Dem  letzteren  hat  übrigens  H.  den  Weg  zur 
Bühne  gebahnt.  Von  seinen  übrigen  Werken  muß  noch  erwähnt  werden  »Die 
Frauen  in  der  deutschen  Geistesgeschichte  des  18.  und  19.  Jahrhunderts« 
(II,  1899 — 1900). 

Der  Bär.  Eine  Berliner  Wochenschrift.  Jahrg.  1892,  S.  574.  —  Monatsblätter  für 
deutsche  Literatur;   hrsg.  von  Albert  Wameke,  Jahrg.  1905,  S.  107  (Hermann  Krüger). 

Franz  Brummer. 

Holdheim,  Paul,  Dr.jur.,  Justizrat,  *  am  27.  März  1847  zu  Mecklenburg- 
Schwerin  als  Sohn  des  dortigen  Landesrabbiners  Dr.  Samuel  H.,  f  am 
6.  Oktober  1904  zu  Frankfurt  a.  M.  — *  H.s  Vater  siedelte  bald  nach  Geburt 
des  Sohnes  nach  Berlin  über,  wo  er  Begründer  der  israelitischen  Reform- 
gemeinde wurde,  die  weit  über  die  Grenzen  Berlins  hinaus  sich  großes  An- 
sehen errungen  hat.  Auf  dem  Joachimsthalschen  Gymnasium  ausgebildet,  bestand 
er  seine  Examina,  der  Rechtswissenschaft  sich  widmend,  in  Berlin,  war  i  Jahr 
Kreisrichter  in  Orteisburg  und  siedelte  1875  nach  Frankfurt  a.  M.  über,  wo 
er  16  Jahre  in  der  Stadtverordnetenversammlung  tätig  war,  auch  gegen 
10  Jahre  Vertreter  Frankfurts  im  Kommunallandtag  in  Kassel.  Der  demokra- 
tischen Partei  angehörig,   vertrat   er  als  einer  der  ersten  die   sozialen  Forde- 


HoldheiiD.     von  Öhlschläger.     Linderer.  ^21 

rungen  der  breiten  Massen  und  trat  oft  als  Verteidiger  angeklagter  Redakteure 
in  politischen  Tendenzprozessen  auf.  Später  wandte  er  sich  mehr  der  Zivil- 
praxis zu,  auch  auf  diesem  Gebiete  mit  grofiem  Erfolge  arbeitend.  Er 
begründete  sodann  eine  wissenschaftlich  gehaltene,  doch  für  praktische  Kreise 
bestimmte  Zeitschrift  »Monatsschrift  für  Aktienrecht  und  Bankwesen,  Steuer- 
und  Stempelfragen«,  Berlin  1892  ff.,  deren  Titel  nach  5  jährigem  Erscheinen 
dahin  geändert  wurde,  daß  anstatt  »Aktienrecht«  nunmehr  »Handelsrecht« 
gesetzt  wurde.  Für  sie  gewann  er  eine  Reihe  tüchtigster  Mitarbeiter,  schrieb 
auch  selbst  sehr  viele  Beiträge  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  aus- 
ländischen Gesetzgebung.  Außerdem  sind  zu  erwähnen  als  kleinere  Schriften 
»Die  Fusion  der  liberalen  Parteien  und  die  Demokratie«,  Würzb.  1884; 
>'Mortgage  und  Mortgagebonds.  Eine  Studie«,  Berl.  1895;  »Die  Aktiengesell- 
schaften und  das  Reichsstempelgesetz«,  Berl.  1896.  Ein  schweres  Augenleiden 
legte  ihm  wenigstens  für  einige  Zeit  Einschränkung  der  Arbeit  auf,  was  er 
zu  Reisen  benutzte.  Leider  war  dem  tüchtigen  Mann,  wie  dem  befreundeten 
Staub  (vgl.  oben  S.  259)  ein  frühes  Ende  beschieden. 

Nach  gef.  Privatmitteilungen  und  dem  Nekrolog  von  Heinrich  Dove  in  obiger  Zeit- 
schrift 1904  S.  261 — 263.  —  Über  den  am  22.  August  1860  gestorbenen  Vater  vgl.  Allg. 
d.  Biogr.  12,  734.  A.  Teichmann. 

öhlschläger,  Otto  Karl  von,  zweiter  Reichsgerichtspräsident,  *  als  Sohn 
eines  Rittergutsbesitzers  in  Heiligenwalde  bei  Christburg  (Marienwerder)  am 
16.  Mai  1831,  f  zu  Charlottenburg-Berlin  am  14.  Januar  1904.  —  Er  studierte 
in  Königsberg  die  Rechtswissenschaft  seit  1850,  wurde  1858  Assessor,  versah 
Richterstellen  in  Schwetz  und  Löbau,  wurde  1859  Staatsanwaltsgehilfe,  1864 
Staatsanwalt,  1874  vortragender  Rat  im  Justizministerium,  1879  General- 
auditeur,  in  welcher  Stellung  er  Kaiser  Wilhelm  I.  umfassende  Vorschläge 
über  spätere  Änderung  des  Verfahrens  in  Militärstrafsachen  zu  unterbreiten 
hatte.  Seit  1884  Präsident  des  Kammergerichts,  wurde  er  von  Kaiser  Friedrich 
in  den  erblichen  Adelsstand  erhoben,  1889  Staatssekretär  des  Reichsjustiz- 
amtes, wo  er  Gelegenheit  hatte,  bei  Beratung  von  Reichsgesetzen  hervorragend 
mitzuwirken.  Am  i.  Februar  1891  übernahm  er  das  Präsidium  des  Reichs- 
gerichts in  einer  beifällig  aufgenommenen  Ansprache  an  dessen  Mitglieder. 
Seine  grofie  juristische  Befähigung  stellte  er  ausschließlich  in  den  Dienst  der 
Arbeit  und  gewissenhafter  Pflichterfüllung  und  verstand  es,  in  den  liebens- 
würdigsten Formen  kollegialisch  verkehrend,  seine  hohe  Stellung  und  die  Würde 
des  Gerichtshofes  jeweilig  zur  Geltung  zu  bringen.  Seine  Amtstätigkeit  wird 
als  eine  Zeit  ruhigen,  besonnenen  Fortschrittes  erklärt.  Im  Sommer  1901 
durch  den  Verlust  eines  Sohnes  schwer  betroffen,  nahm  er  im  Frühjahre  1902 
einen  Aulenthalt  in  Baden-Baden  und  feierte  in  stiller  Zurückgezogenheit  im 
Mai  sein  fünfzigjähriges  Dienstjubiläum.  Ein  Augenleiden  nötigte  ihn,  seine 
Entlassung  zum  i.  November  1903  zu  nehmen,  dann  zog  er  nach  Berlin,  wo 
er  nach  kurzer  Zeit  verschied.  Die  feierliche  Beerdigung  fand  in  Leipzig  statt. 
Die  ersten  25  Jahre  des  Reichsgerichts.  Lpz.  1904  S.  27,  52,  58  (mit  Bild).  — 
Deutsche  Juristen-Zeitung  1903  S.  492;   J904  S.   152,  879;   1906  Nr.   i  Kunstbeilage. 

A.  Teichmann. 

Landerer,  Albert,  Chirurg,  ♦  8.  April  1854  zu  Tübingen,  f  21.  August  1904 
zu  Gargellen  (Vorarlberg).  —  L.  wurde  als  der  dritte  Sohn  des  Professors  der 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolo^^.    9.  Bd.  21 


322 


Landerer. 


evangelischen  Theologie  Albert  Landerer  geboren,  entstammte  somit  einer 
Familie,  welche  seit  mehreren  Jahrhunderten  zumeist  aus  Gelehrten,  Pastoren  usw., 
zum  geringeren  Teil  aus  Beamten  bestand.  L.  besuchte  das  Gymnasium  zu 
Tübingen  und  bezog  187 1  die  Universität  dortselbst.  Vom  5.  Semester  ab 
ging  er  nach  Leipzig,  woselbst  er  bis  zum  Abschluß  seiner  Studien  ver- 
blieb und  1878  das  medizinische  Staatsexamen,  mit  Note  I  bestanden, 
beendete. 

L.  blieb  auch  weiterhin  in  Leipzig,  und  zwar  vorerst  von  1878 — 1879 
als  Assistent  der  topographischen  Anatomie  bei  Professor  Wilh.  Braune.  Er 
vertauschte  diese  Stellung  darauf  mit  derjenigen  eines  chirurgischen  Assistenten 
bei  Professor  Thiersch,  welche  er  von  1879 — 1883  bekleidete.  1882  habilitierte 
sich  L.  als  Privatdozent  für  Chirurgie  an  der  Universität  Leipzig  und  hielt 
als  solcher  Vorlesungen  über  Wundbehandlung,  Repetitorium  der  Chirurgie, 
chirurgische  Poliklinik  usw.  Daneben  leitete  er  in  Leipzig  eine  eigene 
chirurgische  Privatklinik  und  Poliklinik.  1889  wurde  L.  in  Leipzig  zum 
Professor  ernannt.  Einem  an  ihn  ergangenen  Ruf  Folge  leistend,  übernahm 
L.  darauf  1894  die  Stelle  eines  chirurgischen  Oberarztes  an  dem  neu  gegrün- 
deten Karl  Olga-Krankenhause  in  Stuttgart,  unter  dem  persönlichen  Protek- 
torat der  Königin  stehend,  deren  Leibarzt  er  alsbald  wurde.  So  angenehm 
und  vielseitig  diese  Tätigkeit  auch  war  und  so  große  Gelegenheit  L.  in  dieser 
Zeit  hatte,  seine  Privatstudien  und  experimentellen  Forschungen  weiter  zu 
betreiben,  es  fehlte  ihm  doch  der  enge  Konnex  mit  der  Universität,  wie  er 
ihn  bisher  in  Leipzig  in  so  reichem  Maße  genossen  und  praktisch  zu  frukti- 
fizieren  gewußt  hatte. 

L.  nahm  daher  1902  die  Berufung  als  Leiter  des  neu  zu  gründenden 
Auguste  Viktoria-Krankenhauses  in  Schöneberg  an  und  siedelte  im  Herbst  1903 
nach  Berlin-Schöneberg  über,  um  vorerst  bei  der  noch  im  Entstehen  be- 
griffenen Bauanlage  der  Anstalt  beratend  und  bestimmend  mitzuwirken. 

Nur  ungern  sah  man  L.  aus  Stuttgart  scheiden.  Er  hatte  dortselbst  eine 
hervorragende  Stellung  eingenommen  und  als  Chirurg  sich  in  ganz  Württem- 
berg besonderer  Wertschätzung  erfreut. 

Leider  sollte  es  ihm  nicht  vergönnt  sein,  in  Berlin-Schöneberg  lange 
tätig  zu  sein.  L.  vermochte  gerade  noch  die  ersten  Anfänge  des  neu  ent- 
stehenden Krankenhausbaus  zu  überwachen,  als  ihn  ein  bis  dahin  verborgen 
gebliebenes  schleichendes  Nierenleiden  auf  das  Krankenbett  warf  und  nach 
kaum  vierwöchigem  Krankenlager  seinem  Leben  ein  Ziel  setzte. 

Fem  von  der  Heimat,  in  seinem  kleinem  Tyroler  Landsitz  Gargellen 
überraschte  ihn  der  Tod  und  machte  damit  zahlreichen  Plänen  und  Entwürien, 
mit  denen  L.  sich  bis  zuletzt  getragen  hatte,  ein  Ende. 

In  der  Armee  bekleidete  L.  die  Stellung  eines  Oberstabsarztes  ä  la  suiU 
des  XIIL  (Kgl.  Württembergischen)  Armeekorps. 

Verheiratet  war  L.  seit  1892  mit  Hedwig  geb.  Zersch,  Tochter  des 
Ökonomierates  Zersch  in  Köstritz  bei  Gera,  welcher  Ehe  1900  als  erstes  und 
einziges  Kind  ein  Sohn  entsproß. 

Als  Persönlichkeit  war  L.  ein  Mann  von  Charakter,  von  stark  aus- 
gesprochener Individualität.  Seinen  Patienten  gegenüber  aufs  höchste  human, 
ja  oft  weich  empfindend,  blieb  er  seinen  Freunden  und  Berufsgenossen  nach 
jeder    Richtung    hin    stets    ein    treuer    und    umsichtiger    Berater,     es    nicht 


Landerer. 


323 


verschmähend,  auch  die  Stunden  der  Geselligkeit  im  engerem  Kreise  harmlos 
froh  mitzugenießen. 

So  wie  sein  Äußeres,  das  kluge  ernste  Auge,  den  Forscher  verriet, 
welcher  viel  gesehen  und  erfahren  hatte,  erschloß  auch  sein  Inneres  sich 
ganz  wohl  nur  wenigen  und  intimen  Freunden,  die  um  so  ergriffener  seine 
Bahre  umstanden. 

Eine  richtige  Würdigung  L.s.  als  Forscher  und  Chirurg  wird  vor  allem 
auf  seine  physiologische  Studienzeit  unter  Braune  in  Leipzig  zurückgreifen 
müssen.  Eine  Reihe  von  wichtigen  Arbeiten  über  Transfusion,  Infusion, 
lokale  Anästhesie  mittels  Kokaininjektionen,  weiterhin  über  Gewebsspannung 
und  Entzündung  entstammt  dieser  Epoche. 

Derartig  vorbereitet  sehen  wir  L.  dann  das  chirurgische  Gebiet  betreten, 
auch  hier  jedoch  in  einer  großen  Zahl  seiner  weiteren  Arbeiten,  kurzen  Auf- 
sätzen usw.,  sein  Lieblingsgebiet,  die  intravenöse  Therapie,  zu  immer  größerer 
Bedeutung  erhebend. 

Am  27.  Mai  1881  injizierte  L.  bei  akuter  Anämie  zuerst  am  Menschen 
mittels  Spritze  und  scharfer  Kanüle  —  also  subkutan  —  eine  größere  Menge 
physiologischer  Kochsalzlösung.  Durch  den  erzielten  Eriolg  ermutigt,  übte 
er  dann  in  zahlreichen  Tierexperimenten  die  neue  Methode  und  legte  damit 
den  ersten  Grund  zu  der  neuen  und  eigenartigen  Tuberkulosebehandlung 
mittels  Zimtsäurepräparaten,  die  vor  allem  dazu  gedient  hat,  seinen  Namen 
der  breiten  Öffentlichkeit  bekanntzumachen. 

Mit  welchen  Schwierigkeiten  er  auch  hierbei  immer  noch  zu  kämpfen 
hatte,  erhellt  daraus,  daß  Thiersch  die  Publikation  jenes  mittels  Kochsalz- 
infusion geheilten  Falles  direkt  als  »Unsinn«  verbot  und  somit  L.  der  Mög- 
lichkeit beraubte,  die  bereits  1881  abgeschlossene  Arbeit  über  diesen  Gegen- 
stand sofort  veröffentlichen  zu  können.  (Vgl.  Vortrag  L.s.  auf  dem  Chirurgen- 
kongreß 1885  und  die  Arbeit  in  Virchows  Archiv  über  dieses  Thema.) 

Die  intravenöse  Injektion  von  Medikamenten  übte  L.  1882 — 84  am  Tiere, 
vom  Jahre  1884  an  am  Menschen.  Es  würde  zu  weit  führen,  den  Entwick- 
lungsgang, den  die  Hetolbehandlung  genommen  (Hetol  =  zimtsaures  Natron, 
der  Name  entnommen  von  Heta  =  Hedwig,  L.s  Gattin)  hier  noch  einmal  ein- 
gehend darzustellen.  Ref.  verweist  in  dieser  Frage  auf  die  weiter  unten  an- 
gegebenen Arbeiten. 

Nur  soviel  sei  gesagt,  daß  das  in  Wasser  leicht  lösliche  Hetol,  in  die 
Armvene  injiziert  und  so  auf  direktem  Wege  zur  Lunge  geführt,  eine  chemo- 
taktische Wirkung  entfaltet,  d.  h.  zu  einer  einige  Stunden  andauernden  Ver- 
mehrung und  Anhäufung  von  weißen  Blutkörperchen  speziell  um  die  erkrankte 
Stelle  herum  führt.  So  bahnt  sich  die  Abgrenzung,  Durchwachsung  und 
Resorption  der  tuberkulös  infiltrierten  Herde  an,  welchen  Vorgängen  als 
Abschluß  die  Vernarbung  folgen  soll. 

Rein  äußerlich  bietet  die  Behandlung  doch  einige  Schwierigkeiten  dar. 
Abgesehen  von  der  übrigens  leicht  zu  erlernenden  Technik  der  intravenösen 
Injektion,  ist  es  die  auf  Monate  zu  veranschlagende  Dauer  der  Kur  und  der 
öfters  nicht  immer  deutlich  hervortretende  Einfluß  auf  den  tuberkulösen 
Prozeß,  welcher  zum  Abbruch  der  Behandlung  führt.  Von  einigen  Kliniken 
und  Instituten  wird  irgendeine  Wirkung  des  Hetols  auf  die  Lungentuberkulose 
sogar  direkt  bestritten.    Von  anderer,  meist  privater  Seite  wiederum  berichtet 


21* 


324 


Landerer. 


man  über  gute  Resultate,  und  der  ständig  sich  mehrende  Absatz  des  Hetols 
unterstützt  diese  Ansicht.  Auch  einige  sehr  eklante  Sektionsbefunde  (vgl. 
besonders  den  von  Ewald-Berlin  beigebrachten)  beweisen,  dafi  unter  Hetol 
Ausheilung  und  Vemarbung  eintreten  kann. 

Erschwerend  fiel  für  die  Einführung  einer  solchen  Behandlungsmethode 
ins  Gewicht  der  durch  Koch  gerade  um  diese  Zeitepoche  beschrittene  Weg, 
durch  Bakterienpräparate  der  Tuberkulose  beizukommen,  also  entgegengesetzt 
von  L.  zu  verfahren.  Femer  muß  man  wohl  annehmen,  daß  auch  die  Fest- 
legung weiter  ärztlicher  Kreise  auf  die  moderne  Heilstättenbewegung  anders- 
artige mehr  medizinische  Therapien  nicht  gerade  begünstigen  konnte. 

L.  hat  bis  zuletzt  voll  auf  dem  Boden  gestanden,  in  dem  Hetol  das  beste 
und  zurzeit  einzige  Heilmittel  gegen  die  Tuberkulose  gefunden  zu  haben, 
und  plante  die  weitere  Ausbildung  dieser  Methode  durch  Darstellung  eines 
eigenartig  gewonnenen,  demselben  Gebiet  entstammenden  Serums. 

Referent  hält  das  Hetol  bei  leichten,  nahezu  fieberfreien  Tuberkulose- 
fällen (im  Mastdarm  bis  höchstens  37,8  abends)  für  wirksam  und  sieht  das 
Ideal  der  Therapie  in  Verbindung  von  Hetol  mit  Heilstätten  bezw.  Freiluft- 
behandlung. 

In  jedem  Falle  ist  durch  das  Eintreten  L.s  für  die  intravenöse  Injektion 
als  Methode  den  weitesten  ärztlichen  Kreisen  eine  Art  der  Therapie  wieder- 
gegeben und  eröffnet  worden,  die  nach  ihrer  bisherigen  Entwicklung  ferner- 
hin von  höchster  Bedeutung  zu  werden  verspricht.  In  dieser  Beziehung  wird 
der  Name  L.s  in  der  Geschichte  der  Heilkunde  stets  als  bahnbrechend  und 
einflußreich  fortleben. 

Neben  der  intravenösen  Hetolbehandlung,  seinem  Lebenswerk,  sind  es 
weiterhin  vorwiegend  chirurgische  Arbeiten,  die  z.  T.  der  Leipziger  Epoche, 
dann  aber  auch  der  Zeit  seiner  Stuttgarter  Tätigkeit  entstammend,  L.s  Arbeits- 
feld bildeten. 

In  erster  Linie  stehen  da  die  drei  größeren  Werke,  das  »Lehrbuch  der 
chirurgischen  Diagnostik«,  die  »Mechanotherapie  und  Orthopädie«,  das 
»Handbuch  der  allgemeinen  chirurgischen  Pathologie  und  Therapie«.  Beson- 
ders letzteres  ist  verbreitet,  in  zweiter  Auflage  erschienen  und  gleich  der 
»Mechanotherapie«  ins  Russische  und  Italienische  übersetzt. 

Jedes  dieser  drei  Kompendien,  einen  stattlichen  Band  darstellend, 
zeichnet  sich  durch  ungemeine  Übersichtlichkeit  und  Präzision  des  Aus- 
drucks, verbunden  mit  der  Fortlassung  alles  überflüssigen  literarischen  Ballasts 
aus.  Die  allgemeine  chirurgische  Pathologie  und  Therapie  mit  zahlreichen 
Abbildungen  ausgestattet,  kann  direkt  als  ein  gleichwertiger  Ersatz  des  gleich- 
namigen Billrothschen  Werkes  angesehen  werden.  Ebendasselbe  läßt  sich 
von  der  mit  besonderer  Liebe  und  Sorgfalt  verfaßten  »Mechanotherapie« 
sagen.  Diese  eben  gekennzeichneten  Vorzüge  haben  den  Büchern  auch  ihre 
weite  Verbreitung  verschafft. 

Es  folgten  die  unten  in  chronologischer  Folge  angegebenen  Aufsätze  und 
Monographien,  vor  allem  das  Gebiet  der  Gelenkerkrankungen,  der  Antisepsis 
und  Asepsis  betreffend.  Überall  in  diesen  Arbeiten  tritt  uns  L.  als  ein 
Chirurg  von  eigenartiger,  durchaus  origineller  Auffassung  entgegen.  Er  bleibt 
immer  bestrebt,  die  Resultate  chirurgischer  Einzelforschung  nicht  in  den 
unwirtlichen     höchsten    Höhen     dieser     Spezialdisziplin     sich     verlieren    zu 


Landerer. 


325 


lassen,  sondern  wir  finden  ihn  bemüht,  stets  zu  vermitteln,  die  Verbindung 
mit  dem  einfachen  praktischen  Arzt,  dem  doch  in  erster  und  letzter  Linie 
jeder  Fortschritt  zugute  kommen  soll,  herzustellen.  Daher  zeichnen  sich  die 
von  L.  angegebenen  Handgriffe  und  Methoden  speziell  auf  dem  Gebiet  der 
»kleinen  Chirurgie«  durch  große  Übersichtlichkeit  aus.  Hatte  man  wie 
Ref.  Gelegenheit,  einige  Zeit  mit  L.  zusammen  zu  arbeiten,  so  war  man  vor- 
züglich in  der  Lage,  seine  außerordentliche  Begabung  für  das  Einfache, 
praktisch  leicht  Durchführbare  in  der  Chirurgie  und  Medizin  kennen  und 
schätzen  zu  lernen. 

So  bleibt  das  Streben  des  kaum  50  jährig  verstorbenen  L.  durch  eine 
große  Reihe  bedeutender  Arbeiten  gekennzeichnet.  Ihr  Wert  wird  auch  der 
weiteren  Zukunft  zugute  kommen,  da  die  Forschungen  L.s  der  modernsten 
wissenschaftlichen  Richtung  angehörig,  in  ihren  Konsequenzen  weit  über  die 
Gegenwart  hinausgreifen  und  somit  wohl  berufen  erscheinen,  auch  für  zukünf- 
tige neu  entstehende  Disziplinen  eine  feste  Unterlage  abzugeben. 

Arbeiten  Landerers  in  chronologischer  Reihenfolge: 

Mechanik  der  Atmung.  Archiv  f.  Anat.  u.  Phys.  1881.  —  Exstirpation  des  Talus  bei 
Luxation.  Chir.  Zentralbl.  1881.  —  Exstirpation  des  Larynx.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir. 
1882.  —  Versuche  über  Transfusion  nicht  geschlagenen  Blutes.  Archiv  f.  exper.  Pathol. 
1882.  —  Syphilitische  Gelenkerkrankungen  Erwachsener.    Langenbecks  Arch.  Bd.  30.  1884. 

—  Gewebsspannung  (Monographie).  Leipzig  1884.  —  Über  Entzündung.  Volkmanns  Vortr. 
1885.  —  Behandlung  des  Genu  valgum  mit  elastischem  Zugverband.  Behandlung  der 
Lux,  cox,  cong.  v.  Langenbecks  Arch.  Bd.  32.  —  Transfusion  und  Infusion.  V^irchows  Arch.  1886. 

—  Lokale  Anästhesie  mit  subkutanen  Kokaininjektionen.  Chir.  Zentralbl.  1885.  — 
Behandlung  der  Skoliose  mit  Massage.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.  1886.  —  Dasselbe. 
Broschüre.  Leipzig  1887.  —  Operative  Behandlung  der  Prostatahypertrophie.  Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.  1886.  —  Ein  Fall  von  Cholecystotomie.     MUnch.  med.  Wochenschr.  1886. 

—  Extensionsverband  bei  Schlüsselbeinbrüchen.  Deutsche  Zeitschr.  f.  Chir.  1887.  —  Ein- 
heilung eines  Kaninchennerven,  in  einen  Defekt  des  A".  radialis,  ibid.  —  Behandlung  kleiner 
cystischer  Geschwülste  mit  Chlorzinkeinspritzungen  ibid.  —  Verletzung  der  Gallenwege, 
Gallenerguß  in  die  Bauchhöhle,  Heilung,  ibid.  —  Handbuch  der  allgemeinen  chir.  Pathologie 
und  Therapie.  Wien  1887 — 1889.  —  Eine  neue  Behandlungweise  tuberkulöser  Prozesse.  MUnch. 
med.  Wochenschr.  1888.  —  Weitere  Mitteilungen  hierzu  ibid.  1889.  —  Trockene  Operationen. 
Langenbecks  Arch.  Bd.  39.  1889.  —  Die  Behandlung  der  Tuberkulose  mit  Perubalsam. 
Deutsche  Med.  Wochenschr.  1890.  —  Behandlung  des  Plattfußes.  Intern,  med.  Kongr.  zu 
Berlin  1890.  —  Trockenes  Wundverfahren.  Wiener  Klinik  1890.  —  Behandlung  der 
Knochenbrüche.  Volkmanns  Vortr.  1890.  —  Operation  der  Hypospadie.  Deutsche  Zeitschr. 
f.  Chir.  1890.  —  Technik  der  Magen  Operationen,  ibid.  —  Behandlung  der  Tuberkulose  mit 
Zimtsäure.  Deutsche  Med.  Wochenschr.  1890.  —  Behandlung  der  Tuberkulose  mit  Zimt- 
säure. Monographie.  Leipzig  1892.  —  CelluloidmuU.  Zentralbl.  f.  Chir.  1896.  — 
Mechanotherapie.  Handbuch.  Leipzig  1894.  —  Operative  Behandlung^  des  Duodenal- 
geschwürs. Grenzgebiete  1896.  —  Zur  Diagnostik  der  Hernia  obiuratoria.  Festschrift  f. 
Benno  Schmidt.  1895.  —  Beiträge  zur  Osteoplastik.  Chir.  Zentralbl.  1895.  —  ^^er  Celluloid- 
mullverband.  Chir.  Zentralbl.  1896.  —  Medianschnitt  bei  Fufiresektion.  Chir.  Zentralbl. 
1897.  —  Über  Gehirnchirur|rie.  Württ.  Med.  Korrespondenzbl.  1897.  —  Über  Desinfektion 
der  Haut  mit  Formalin.  Chir.  Zentralbl.  1897.  —  Radikaloperation  der  Hernien.  Deutsche 
Zeitschr.  f.  Chir.   1900.  —  Operation  der  Varikositäten.     MUnch.  Med.   Wochenschr.   1899. 

—  Plastik  der  Trachea,  Chirurgische  Diagnostik.  Lehrbuch.  Wien  1897.  —  Allg. 
Chirurg.  Pathologie  und  Therapie.  2.  Aufl.  Wien  1898.  —  Über  die  Ursachen  des  Miß- 
lingens  der  Asepsis.  Langenbecks  Arch.  1898.  —  Behandlung  der  Tuberkulose  mit  Zimt- 
säure.     Lehrbuch.      Leipzig  1898.    —    Operation  der  Invagination.      Deutsche    Zeitschr.  f. 


526  Landerer.     Köbner. 

Chir.  1899.  —  Über  ambulatorische  Hetolbehandlung  der  Tuberkulose.  Zeitschrift  f.  d. 
prakt.  Arzt.  Nr.  19.  1900.  —  Der  gegenwärtige  Stand  der  HetoI-(Zimtsäure-)Behandlung 
der  Tuberkulose.  Berliner  Klinik  190X  Heft  153.  —  Theorie  und  Praxis  der  heutigen  Wund- 
behandlung. Deutsche  Medizinal-Zeitung.  1902  Nr.  47.  —  Zur  Frage  der  Gelatine-Injek- 
tionen. WUrttembg.  Mediz.  Korrespondenzblatt  1902.  —  Die  Talma-Drumondsche  Operation 
bei  Ascites,  Württembg.  Mediz.  Korrespondenzblatt  1902.  —  Nach  einem  hinterlassenen 
Manuskript  Prof.  A.  Landerers:  Trockne  und  feuchte  Wundbehandlung  von  Dr.  Herrn. 
Engel.     Zeitschr.  f.  ärztl.  Fortbildung  1905.  Nr.   12. 

Dr.  Erwin  Franck-Berlin. 

Köbner,  Heinrich,  Dermatolog  in  Berlin,  ♦  2.  Dezember  1838  zu  Breslau, 
f  3.  September  1904.  —  K.  studierte  1855 — 59  in  seiner  Vaterstadt  und 
in  Berlin  und  promovierte  1859  zu  Breslau  mit  der  Dissertation:  »Physio- 
logisch-chemische Untersuchungen  über  Rohrzuckerverdauung.«  Als  Ergeb- 
nisse mehrjähriger  Hospitalstudien  in  Wien  und  Paris  publizierte  er  in  den 
Memoires  de  la  Soc.  de  Biologie  (1861):  »Pathologisch  -  histologische  Unter- 
suchung eines  Falles  von  Lepra«  und  »Studien  über  Schankervirus«  (auch  in 
der  »Deutschen  Klinik«,  186 1);  ferner:  »Über  Sycosis  und  ihre  Beziehungen 
zur  Mycosis  tonsurans<s^  (Virch.  Arch.,  1861)  und,  auf  ausgedehnte  Tierversuche 
im  Collige  de  France  1861  basiert:  »Zur  Frage  der  Übertragbarkeit  der 
Syphilis  auf  Tiere«  (Wiener  med.  Wochenschr.  1863).  Nach  seiner  Nieder- 
lassung in  Breslau  begründete  er  1861  die  erste  Poliklinik  für  Hautkrank- 
heiten und  Syphilis  und  publizierte  aus  derselben  (Abhandl.  und  Jahres- 
berichte d^r  Schles.  Gesellsch.  für  vaterländ.  Kultur  1861 — 73):  »Über- 
tragungen aller  pflanzlichen  Parasiten  der  Haut,  speziell  durch  seine  von  ihm 
selbst  und  an  Tieren  für  alle  Mycosen  erprobte  epidermoidale  Impfmethode«. 
—  »Heilungsmethode  derselben«  —  »Über  syphilitische  Lymphgefäßerkran- 
kungen« —  »Reisebericht  über  die  Lepra  und  die  Syphilisation  in  Norwegen« 
(1863)*^ —  »Subkutane  Sublimatkur  gegen  Syphilis«  —  to Herpes  zoster  genito- 
femoralis<i  —  »Künstliche  Erzeugung  von  Psoriasis  als  Grundlage  ihrer  Ätio- 
logie« —  »Über  Tätowierung  nebst  Demonstration  des  Tätowierten  von  Birma«, 
femer:  »Klinische  und  experimentelle  Mitteilungen  aus  der  Dermatologie  und 
Syphilidologie«  (Erlangen  1864).  1869  habilitierte  sich  K.  an  der  Universität 
zu  Breslau  und  wurde  1872  zum  Professor  auf  dem  neuerrichteten  Lehrstuhl 
und  1876  zum  Direktor  der  durch  ihn  ins  Leben  gerufenen  Universitäts- 
Klinik  und  -Poliklinik  für  Hautkrankheiten  und  Syphilis  ernannt,  war  aber 
durch  seine  angegriffene  Gesundheit  zu  einem  längeren  Aufenthalte  im  Aus- 
lande und  zur  Niederlegung  seines  Lehramtes  genötigt.  In  dieser  Zeit  publi- 
zierte er:  »Über  Arznei -Exantheme,  insbesondere  über  Chinin -Exanthem« 
(Berl.  klin.  Wochenschrift  1877)  —  »Über  die  Lepra  an  der  Riviera,  nebst 
Bemerkungen  zur  Pathologie  der  Lepra  überhaupt«  ( Viertel jahrsschr.  f.  Derm. 
1876).  1877  siedelte  K.  nach  Berlin  über,  wo  er  von  neuem  1884  eine 
Poliklinik  begründete,  an  welcher  er  wieder  Lehrkurse  für  Ärzte  abhielt. 
1897  wurde  er  zum  Geh.  Medizinalrat  ernannt.  K.  hat  noch  eine  sehr  große 
Anzahl  von  literarischen  Arbeiten,  bezüglich  deren  Titel  wir  auf  das  Bio- 
graphische Lexikon  von  Hirsch  und  Gurlt,  ferner  auf  das  Biographische 
Lexikon  von  Pagel  sowie  auf  die  in  der  unten  genannten  Quelle  verzeich- 
neten Nekrologe  verweisen  müssen. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte   1904,  I,  470.  Pagel. 


Rembold.     Plehn.     MttUer. 


327 


Remboldy  Otto,  Professor  der  Medizin,  Direktor  der  medizinischen 
Klinik  und  Hofrat  in  Graz,  *  10.  Februar  1834  in  Ofen,  f  3.  September 
1904  in  Graz.  —  R.  war  ein  Sohn  von  Dr,  pML  et  med.  Leopold  R. 
(1787 — 1844),  erwarb  den  medizinischen  Doktortitel  1858,  den  Titel  eines 
Doctor  chir.  in  Wien  1859,  übernahm  1864  als  Nachfolger  von  Körner  die 
supplierende  Professur  der  Pathologie  und  medizinischen  Klinik  in  Inns- 
bruck, wurde  daselbst  1869  Ordinarius  und  siedelte  in  gleicher  Eigenschaft, 
wiederum  als  Nachfolger  von  Kömer,  nach  Graz  über.  R.  war  ein 
tüchtiger  Diagnostiker  und  Lehrer.  Von  literarischen  Arbeiten  sind  seine 
Beiträge  zu  den  Veröffentlichungen  der  K.  K.  Wiener  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  nennen:  »Über  das  Alvisol«  1866,  »Wirkung  des  Suc- 
cylchlorid  auf  Bittermandelöl«  1866,  »Chinagerbsäure«  1867,  »Gerbsäure 
der  Granatwurzelrinde«  1867,  »Derivate  der  Gallussäure«  1870,  »Chemische 
Bestandteile  der  Tormentillwurzel«  1868,  »Einige  Abkömmlinge  der  Ellag- 
säure«  1875,  u.  a.  R.  beobachtete  1892  den  ersten  Fall  von  Botriocephalits 
latus,  der  in  Graz  zur  Beobachtung  gelangte. 

Virchows  Jahresberichte   1904,  I,  477.  Pagel. 

Plehn,  Friedrich,  Kaiserlicher  Regierungsarzt  in  Kamerun  und  Tanga, 
♦15.  April  1862  zu  Lubochin  in  Westpreußen,  f  29.  August  1904  zu  Schotteck 
bei  Bremen.  —  P.  studierte  1881 — 87  in  Zürich,  Halle,  Freiburg  i.  Br. 
und  Kiel,  erwarb  die  Approbation  als  Arzt  1887  in  Kiel  und  den  Doktor- 
titel mit  der  Arbeit:  »Behandlung  des  chronischen  Hydrocephalus  mit 
Lumbalpunktion«,  war  Assistent  von  Winselmann  in  Krefeld,  Gärtner  in  Jena, 
P.  Guttmann  und  Sonnenburg  in  Berlin,  machte  dazwischen  Reisen  nach 
Südamerika,  Java  und  Japan  zwecks  klimatologischer  und  physiologischer 
Untersuchungen,  war  1893 — 94  Regierungsarzt  in  Kamerun,  1894 — ^00  in 
Tanga,  Ostafrika,  erhielt  1901  den  Professortitel  und  schied  dann  aus  dem 
Kolonialdienst,  um  als  Nachfolger  von  Kohlstock  den  Unterricht  in  der 
Tropenhygiene  am  Berliner  orientalischen  Seminar  zu  übernehmen,  bis  er 
infolge  des  in  Ägypten  erworbenen  Maltafiebers  genötigt  wurde,  auch  diese 
Stellung  aufzugeben  und  sich  an  die  Riviera  zu  begeben.  K.  war  ein 
bedeutender  Klimatolog  und  Tropenhygieniker.  Er  fand  1889  als  erster 
Malariaparasiten  in  Deutschland  und  veröffentlichte  eine  Reihe  von  Ab- 
handlungen über  Malaria,  über  die  Kamerunküste  1898  und  ein  Werk  über 
Tropenhygiene  1902. 

Virchows  Jahresberichte  1904,  I,  476.  Pagel. 

MQUer,  August,  Irrenarzt,  *  21.  November  1859  zu  Schlatt  (Thurgau, 
Schweiz),  f  23.  Juni  1904.  —  M.  studierte  seit  1878  in  Basel,  Berlin,  München 
und  Bern,  wurde  1885  Assistenzarzt  der  Anstalt  Waldau  bei  Bern,  wo  er 
seine  Doktorarbeit  Ȇber  die  topographischen  Beziehungen  des  Hirns  zum 
Schädeldach«  verfaßte,  eine  Monographie,  die  mehrere  Auflagen  erlebte,  war 
von  1887 — 89  Assistent  in  Pr^fargier,  um  dann  nach  einer  Studienreise,  die 
ihn  nach  Paris,  England  und  Schottland  führte,  1890  die  Leitung  der  Kanto- 
nalen Irrenanstalt  Breitenau  in  Schaffhausen  zu  übernehmen. 

Virchows  Jahresberichte  1904,  I,  475.  Pagel. 


328  Oppenheimer.     Martius.     Haenselmann. 

Oppenheimer,  Zacharias,  außerordentlicher  Professor  der  Medizin  in 
Heidelberg,  ♦  8.  Januar  1830  zu  Michelfeld  (Baden),  f  25.  Juni  1904.  — 
O.  machte  seine  Studien  in  Heidelberg  und  Würzburg,  promovierte  1855, 
habilitierte  sich  bald  darauf  für  innere  Medizin  in  Heidelberg  und  erlangte 
hier  1860  ein  Extraordinariat.  O.  war  der  älteste  Dozent  der  Heidelberger 
medizinischen  Fakultät,  ein  guter  Lehrer  und  fleißiger  Schriftsteller.  Seine 
Publikationen  beziehen  sich  auf  Studien  über  fortschreitende  Muskelschrum- 
pfung, Arsenikvergiftung  durch  Tapeten,  Asthma  bei  englischer  Krankheit, 
Ursachen  der  englischen  Krankheit  u.  a.  Femer  veröffentlichte  O.  ein  Lehr- 
buch der  physikalischen  Heilmittel  und  verschiedene  Abhandlungen  zur 
Physiologie  und  Pathologie  des  Nervensystems. 

Virchows  Jahresberichte   1904,  I,  475.  Pagel. 

Martius,  Georg,  Arzt  und  Hofrat  in  München,  •  27.  Juli  1830  in 
Erlangen,  f  8.  Januar  1904.  —  M.  war  ein  Sohn  des  Hofapothekers  und 
Universitätsprofessors  Theodor  M.  und  jüngerer  Bruder  des  1899  verstorbenen 
Ober-Medizinalrates  Karl  M.  in  Ansbach.  Er  studierte  in  Erlangen  seit  1849, 
war  1854  während  einer  Choleraepidemie  Assistent  im  Krankenhause  in 
Nürnberg,  erlangte  1855  die  Doktorwürde  mit  einer  lateinischen  Abhandlung 
über  den  indischen  Hanf,  war  1856  Assistent  am  St.  Anna-Kinderkrankenhause 
in  Wien  unter  Mauthner,  besuchte  1857  Berlin,  war  1858  Assistent  von  Dietrich 
in  Erlangen,  darauf  Polizei -Assistenzarzt  und  schließlich  43  Jahre  lang 
städtischer  Armenarzt  in  München. 

Virchows  Jahresberichte  1904,  I,  473.  Pagel. 

Haenselmann,  Ludwig,  Historiker  und  Novellist,  *  4.  März  1834  in  Braun- 
schweig, f  22.  März  1904  daselbst.  —  Nachdem  H.  die  Volks-  und  Gelehrten- 
schule seiner  Vaterstadt  durchlaufen  hatte,  bezog  er  Ostern  1853  die  Universität 
Jena  in  der  Absicht,  Theologie  zu  studieren,  wandte  sich  aber  bald  dem  Ge- 
schichtsstudium zu,  dem  er  sich  dann  drei  Jahre  hindurch  als  Mitglied  von 
Joh.  Gustav  Droysens  historischem  Seminar  vorwiegend  hingab.  Den  Wunsch, 
Universitätslehrer  zu  werden,  mußte  er  infolge  äußerer  Verhältnisse  zurück- 
drängen, und  so  trat  er  Ostern  1856  eine  Hauslehrerstelle  in  Mecklenburg 
an.  Er  durfte  dort  fast  ein  Jahr  lang  im  Staatsarchiv  zu  Schwerin  arbeiten 
und  kehrte  dann  1859  in  die  Heimat  zurück.  Hier  übertrug  man  H.  die 
Herausgabe  des  »Urkundenbuchs  der  Stadt  Braunschweig«,  von  dem  1862 — 73 
der  erste  und  1895  ein  weiterer  Band  erschien.  In  der  Folge  wurde  ihm 
erst  provisorisch  und  1865  definitiv  die  Verwaltung  des  Staatsarchivs  über- 
tragen, die  bis  zu  seinem  Tode  in  seinen  Händen  ruhte.  1886  verlieh  ihm 
der  Regent  des  Landes  den  Charakter  als  Professor,  1887  ernannte  ihn  die 
Universität  Göttingen  zum  Ehrendoktor  der  Rechte.  Die  Durchforschung 
des  Archivs  bot  H.  Gelegenheit,  mehrere  wertvolle  Schriften  über  die  Ge- 
schichte der  Stadt  und  des  Landes  Braunschweig  zu  liefern,  wie  »Die  Chronika 
der  Stadt  Braunschweig«  (II,  1868  —  80),  »Karl  Friedrich  Gauß.  Zwölf 
Kapitel  aus  seinem  Leben«  (1878),  »Das  erste  Jahrhundert  des  Großen  Klubs 
in  Braunschweig«  (1880),  »Bugenhagens  Kirchenordnung  für  die  Stadt  Braun- 
schweig nach  dem  niederdeutschen  Druck  von  1528  mit  historischer  Ein- 
leitung«  (1885),   »Deutsches  Bürgerleben.     Alte    Chronikenberichte«    (i.  Bd. 


Haenselmann.     Graff.     Briegleb.  329 

Das  Schichtbuch,  Geschichten  von  Ungehorsam  und  Aufruhr  in  Braunschweig, 
1886),  »Gottschalk  Krusens  Unterrichtung,  weshalb  er  aus  dem  Kloster  ge- 
wichen« (1887),  »Werkstücke.  Gesammelte  Studien«  (II,  1887),  »Das  erste 
Jahrhundert  der  Waisenhausschule  in  Braunschweig«  (1896),  »Abt  Barthold 
Meiers  Geschichten  und  Legenden  des  Klosters  St.  Ägidien  in  Braunschweig« 
(1901)  u.  a.  Daran  knüpfen  sich  dann  einige  belletristische  Werke,  deren 
Quellen  gleichfalls  im  Braunschweiger  Archiv  zu  suchen  sind,  als:  »Unterm 
Löwenstein.  Alte  Geschichten  aus  einer  ungeschriebenen  aber  wahrhaftigen 
Chronik«  (1883),  »Henning  Brandis*  Diarium.  Hildesheimische  Geschichten 
a.  d.  J.  147 1 — 1528«  (1896)  und  »Hans  Dilien  der  Türmer.  Eine  braun- 
schweigische  Geschichte  aus  dem  14.  Jahrhundert«  {1904). 

Persönliche  Mitteilungen.  Franz  Brummer. 

Graff,  Wilhelm  Paul,  dramatischer  Dichter,  *  10.  März  1845  zu  Dobberan 
in  Mecklenburg,  f  23.  August  1904  zu  Schwerin  i.  M.  —  Seine  Schulbildung 
erhielt  er  zunächst  in  einem  vornehmen  Erziehungsinstitut  seines  Geburts- 
ortes, dann  im  Gymnasium  zu  Rostock,  das  er  mit  16  Jahren  verließ,  um 
sich  dem  Handelsstande  zu  widmen.  Aber  schon  nach  anderthalb  Jahren  trat 
er  wieder  ins  Gymnasium  ein  und  studierte  dann  seit  Ostern  1866  auf  den 
Wunsch  seiner  Eltern  die  Rechte.  Zu  diesem  Zwecke  besuchte  er  die 
Universitäten  Rostock,  Berlin,  Göttingen  und  München,  betrieb  aber  das 
Hospitieren  der  Vorlesungen  eines  Ranke,  Riehl,  Carri^re,  Bartsch  u.  a.  mit 
größerem  Eifer  als  den  pflichtschuldigen  Besuch  der  juristischen  Kollegia. 
Im  Jahre  1868  nach  Rostock  zurückgekehrt,  publizierte  er  noch  als  Student 
sein  erstes  poetisches  Werk  »Die  Babenberger«  (Creschichtl.  Drama,  1870)  und 
wendete  sich  jetzt  ganz  dem  Studium  der  Geschichte  und  Literatur  zu. 
Von  1870 — 74  war  er  als  Lektor  und  Hauslehrer  in  der  Rheinprovinz,  in 
Berlin  und  Rostock  tätig,  beschäftigte  sich  nebenher  mit  dramatischen,  kri- 
tischen und  feuilletonistischen  Arbeiten  und  brachte  in  Rostock  sein  zweites 
Drama  »Michel  Kohlhaas«  (Trauersp.,  1871)  zur  ersten  erfolgreichen  Auf- 
führung. Im  Frühjahr  1873  machte  er  eine  mehrmonatliche  Reise  nach  Süd- 
deutschland, Tirol  und  Oberitalien  und  ließ  sich  nach  seiner  Verheiratung 
mit  einer  jungen  Russin,  die  er  in  Genf  kennen  gelernt,  im  September  1874 
in  Wiesbaden,  im  Frühjahr  1875  i"  Rostock  und  im  Herbst  d.  J.  auf  seiner 
Villa  bei  Güstrow  in  Mecklenburg  nieder,  um  nun  ganz  seinem  Berufe  als 
Schriftsteller  zu  leben.  In  den  folgenden  Jahren  wechselte  er  seinen  Wohnsitz 
zwischen  Güstrow  und  Schwerin,  war  hier  auch  mehrere  Jahre  als  Hilfs- 
arbeiter in  der  Regierungsbibliothek  tätig.  Von  ihm  erschienen  noch  »Ver- 
mietet« (Schwank,  1873),  »Odysseus«  (Lyrisch -dramatische  Dichtung,  Musik 
von  Max  Bruch,  1873),  »Ein  Göttermärchen«  (Epische  Dichtung,  1876),  »Der 
Student«  (Drama,  1883),  »Um  eine  Krone«  (Drama,  1885). 

Persönliche  Mitteilungen.  Franz  Brummer. 

Briegleb,  Elard,  hessischer  Dialektdichter,  *  5.  Mai  1822  zu  Hopfmanns- 
feld im  Vogelsberge,  t  'S-  J""^  ^9^4  ^^  Worms.  —  Er  war  der  Sohn  eines 
Pfarrers,  der  aber  schon  1837  starb  und  sechs  unmündige  Kinder  ohne  Ver- 
mögen   zurückließ.     Indessen    die    energische,    tatkräftige    und    hochbegabte 


330  .  Briegleb.  .Riegel. 

Mutter    verzagte    nicht    und    nahm    voll   Gottvertrauen    die    Erziehung    ihrer 
Lieben  in  die  Hand.     Sie  zog  mit  ihnen  nach  Büdingen,  wo  Elard  1837 — 41 
das  Gymnasium  besuchte,  und  begleitete  ihn  dann  auch  nach  Gießen,  wo  er 
bis  1844,  besonders  unter  den  die  Freiheit  der  Wissenschaft   und  Forschung 
hochhaltenden  Professoren   Credner  und  Knobel,  Theologie  studierte.    Nach- 
dem er  dann  noch  ein  Jahr  lang  das  Predigerseminar  in  Friedberg  (Wetterau) 
besucht  hatte,   nahm  er  eine  Hauslehrerstelle  bei  dem  Bergrat  Buderus  auf 
dem   Hüttenwerk  zu  Hirzenhain   an,   einem  im  Tal  der  Nidder   reizend  ge- 
legenen Dörfchen  am  Ausgang  des  Vogelsberges,  und  wurde  hier  1848  zugleich 
Pfarrverwalter.     In  gleicher  Eigenschaft  kam  er  185 1  nach  Groß-Biberau  und 
noch  in  demselben  Jahre  nach  Butzbach,   wo   er   das  Rektorat  der  Knaben- 
schule zu  führen  hatte.     Seit  1854  Pfarrvikar  in  Nidda,  wurde  er  endlich  im 
folgenden  Jahre   definitiv   Pfarrer   in  Aisheim,   Kreis   Worms,   kam   dann  als 
solcher  1862  nach  Hohen-Sülzen  und  1874  nach  Pfeddersheim,  wo  er  bis  1895 
wirkte  und  bis  1888  auch   das  Dekanat  verwaltete.     Ein  Blasenleiden  zwang 
ihn,  nach  47  jähriger  Amtsführung  seine  Pensionierung  nachzusuchen,   worauf 
er   nach  Worms  übersiedelte.      Hier   ist   er  hochbetagt   gestorben.   —    »Der 
Wald  hat*s  auf  sich;  der  ganze  Vogelsberg  mit  Land   und  Leuten  hat*s  auf 
sich,  daß  ich  Schriftsteller  und  Dichter  wurde«,  bekennt  B.  selber.    Aus  seinem 
engen  Verkehr  mit  den  Dorfbewohnern  in  den  verschiedenen  Provinzen  seiner 
hessischen  Heimat,  sowohl  als  Jüngling  wie  später  als  Pfarrer,  erwuchs  ihm 
die  Liebe  zur  Heimat  und  das  Interesse  am  Volk,  das  dann  in  seinen  mund- 
artlichen Dichtungen  zum  Ausdruck  kam,  »Wie's  klingt  am  Rhei'«  (mundart- 
liche Gedichte  aus  der  hessischen  Pfalz,   1886);  neue  Folge   u.  d.  T.  »Links 
am  Rhei'  ist  gut  sei*«  (1899);  Anhang  dazu  »Wei'schdeier  Lieder«  (1899)  und 
»Vivat  der  Vogelsberg«  (1896).     Alle  diese  Dichtungen  trugen  ihm  den  Ehren- 
namen »Der  Sänger  des  Vogelsbergs«  ein.     Als  echtdeutscher  Patriot  erweist 
er  sich  in  »Bismarck-Lieder«  (1898),   während  seine  religiösen  und  religions- 
politischen Dichtungen  noch  der  Veröffentlichung  harren. 

Persönliche  Mitteilungen.    —   Dr.   Chr.   W.   Stromberger:   Die   geistliche   Dichtung     in 
Hessen.     Neue  Folge.     Darmstadt  1898,  S.  20.  Franz  Brummer. 

Riegel,  Franz,  üniversitätsprofessor  der  klinischen  Medizin  und  Ge- 
heimer Medizinalrat  in  Gießen,  ♦  9.  Februar  1845  in  Würzburg,  f  26  August 
1904  in  Bad  Ems.  —  R.s  Vater  war  Bade-  und  Bezirksarzt  in  Brückenau;  er 
selbst  besuchte  das  Gymnasium  in  Würzburg  und  verbrachte  dort  auch  seine 
ganze  Studienzeit.  Für  sein  vorzüglich  bestandenes  Staatsexamen  erhielt  er 
ein  Stipendium,  das  er  dazu  verwandte,  seine  Studien  in  Wien  fortzusetzen. 
Nach  seiner  Rückkehr  von  Wien  wurde  er  am  Julius -Spital  in  Würzburg 
Assistent;  nach  kurzem  Aufenthalt  auf  der  gynäkologischen  Abteilung  von 
Scanzoni,  die  er  gleichzeitig  mit  der  Assistentenstelle  an  der  innern  Klinik 
Bambergers  versorgte,  übernahm  er  dann  allein  die  letztere  Stellung  und 
blieb  sechs  Jahre  lang  Bambergers  Assistent.  Im  Jahr  187 1  habilitierte  er 
sich.  Nach  Bambergers  Berufung  nach  Wien  blieb  er  eine  Zeitlang  noch 
Gerhards  Assistent.  Um  diese  Zeit  wurde  der  Direktorposten  am  Kölner 
Bürgerhospital  frei  und  R.  wurde,  ohne  sich  vorher  gemeldet  zu  haben,  be- 
sonders auf  Veranlassung  von  Virchow  und  Bamberger  auf  die  Liste  der  Be- 
werber gesetzt  und  Dank   der   Agitation    einer  Richtung   in   Köln,   die    das 


Riegel.  33 1 

grofie  Hospital  im  modernen  Sinne  umgestalten  wollte,  gewählt.  Nach 
5  jähriger  Tätigkeit  an  dieser  Stelle  traf  ihn  der  Ruf  nach  Gießen,  wo  er  den 
durch  den  Rücktritt  von  Seitz  frei  gewordenen  Lehrstuhl  für  klinische  Medizin 
einnehmen  sollte.  Im  Mai  1879  ^^™  ^*  nach  Gießen  und  ist  in  dieser 
Stellung  bis  an  sein  Lebensende  geblieben. 

Diese  Etappen  bezeichnen  den  äußern  Lebensgang  R.s.  Die  wissenschaft- 
liche Richtung,  in  der  er  Zeit  seines  Lebens  aufging,  läßt  sich  in  ihren  ersten 
Anfängen  schon  in  seiner  Doktordissertation  »Über  das  Verhältnis  der  Atem- 
bewegung beim  gesunden  und  kranken  Menschen«  erkennen.  Wie  er  in 
dieser  Arbeit  eine  Vorliebe  für  experimentelle  Pathologie  und  ihre  Beziehungen 
zur  Klinik  zum  Ausdruck  brachte,  so  ist  er  während  seiner  ganzen  wissen- 
schaftlichen Tätigkeit  fast  ausschließlich  bemüht  gewesen,  die  Forschungs- 
ergebnisse der  experimentellen  physiologischen  Pathologie  mit  den  Verände- 
rungen am  kranken  Menschen  in  Einklang  zu  bringen. 

Die  Neigung  zur  Erforschung  und  Bearbeitung  der  funktionellen  Stö- 
rungen, die  sicher  in  seiner  ganzen  geistigen  Veranlagung  fußte,  hat  ihre 
erste  Förderung  vielleicht  in  den  grundlegenden  physiologischen  und  patho- 
logischen Arbeiten  von  Heidenhain  und  Cohnheim  gefunden,  die  damals  — 
Anfang  der  siebziger  Jahre  —  das  Interesse  aller  wissenschaftlichen  Mediziner 
in  höchstem  Grade  erregten.  Sicherlich  war  für  ihn  aber  noch  viel  be- 
deutungsvoller, was  er  an  Eindrücken  in  Wien  empfing.  Hier  vertiefte  er 
sich  keineswegs  allein  in  die  rein  klinischen  Studien  bei  Oppolzer  und  Skoda, 
vor  allem  zog  es  ihn  zu  Stricker,  dessen  findiger  Geist  die  vielen,  durch  die 
neuen  Forschungsergebnisse  der  Physiologie,  allgemeinen  Pathologie  und  Klinik 
neugezeitigten  Probleme  an  der  Hand  orginell  ersonnener  Untersuchungs- 
methoden  zu  ergründen  suchte.  So  reizvoll  es  aber  auch  für  den  jungen,  so 
empfänglichen  und  jeder  Anregung  nachgebenden  Forscher  war,  sich  in  die 
vielseitigen  Methodik  dieses  unerschöpflichen  Arbeitsfeldes  zu  vertiefen  und 
aus  ihm  Stoff  zu  neuen  Arbeiten  zu  entnehmen,  so  wurzelte  seine  geistige 
Individualität  doch  viel  zu  sehr  im  Realen,  in  der  konkreten  Beobachtung, 
als  daß  er  sich  hätte  völlig  für  dies  der  Theorie  und  Hypothese  noch  zu 
offene  Gebiet  gewinnen  lassen.  Er  nahm  alle  die  Anregungen  auf  und 
verarbeitete  sie  für  die  angewandte  Pathologie,  für  die  klinische  Medizin. 
Für  diese  brachte  er  eine  seltene  Beobachtungsgabe  und  die  nüchterne  Objekti- 
vität des  unbestechlichen  Untersuchers  mit.  Aus  der  glücklichen  Vereinigung 
dieser  beiden  Geistesrichtungen  erwuchs  die  wissenschaftliche  Persönlichkeit 
R.s.  Aus  den  klinischen  Veränderungen  schälte  er  den  Kern  des  patholo- 
gischen Problems,  das  er  sowohl  durch  weitere  klinische  Beobachtungen 
sowie  durch  experimentelle  Nachahmung  des  Vorgangs  beim  Tierversuch, 
eventuell  auch  beim  Menschen,  wenn  sich  dies  ohne  dessen  Schädigung  er- 
reichen ließ,  zu  ergründen  sich  vornahm.  So  vielseitig  daher  auch  seine 
Arbeiten  waren  —  und  er  hat  wohl  kaum  ein  Gebiet  der  klinischen  Medizin 
unbepfiügt  gelassen  —  fast  durchgängig  tragen  sie  diesen  Gedankengang. 
In  seiner  Würzburger  Zeit  hat  er  zunächst  hauptsächlich  die  Pathologie  der 
Respiration  in  das  Bereich  seiner  Untersuchungen  gezogen.  Eine  Ergänzung 
und  Vervollkommnung  seiner  Dissertation  legte  er  in  einer  Reihe  von  Unter- 
suchungen nieder,  bei  denen  er  sich  eines  selbstkonstruierten  Stethographen 
bediente.    Gleichzeitig  bearbeitete  er  die  Störungen  der  Kehlkopfinnervation. 


332  Riegel. 

Seine  Arbeiten  über  die  Stimmbandlähmungen  und  »respiratorische  Paralysen« 
haben  eine  grofie  Bedeutung  behalten.  Er  hat  mit  zuerst  auf  das  bedeutsame 
Krankheitsbild  der  Lähmung  der  Gl otti serweiterer  aufmerksam  gemacht,  ihre 
Klinik  anschaulich  beschrieben  und  ihre  Theorie  begründet.  Seine  Habili- 
tationsarbeit wandte  sich  dem  Einflufi  des  Nervensystems  auf  Kreislauf  und 
Körpertemperatur  zu.  Das  Studium  der  Blutgefäßinnervation,  die  bei  diesen 
mühevollen  Versuchen  sorgfältig  beobachtet  wurde,  führte  ihn  zu  weiteren 
hämodynamischen  Untersuchungen.  Diese  und  die  hieran  anknüpfenden 
Probleme  der  Zirkulationsstörungen  am  Herz  und  an  den  Gefäfien  bilden  den 
Hauptinhalt  einer  großen  Reihe  fruchtbarer  und  wichtiger  Arbeiten,  von  denen 
ein  Teil  bereits  in  Köln  zum  Abschluß  kam.  Es  sei  hier  zunächst  an  seine 
Pulslehre  erinnert,  in  der  er  als  erster  die  durch  die  physikalischen  ünter- 
suchungsmethoden  in  den  Hintergrund  getretene  Pulsbeobachtung  wieder  neu 
belebte.  Er  führte  den  Sphygmographen  in  die  Klinik  ein  und  schuf  damit  eine 
für  die  Pulsbeobachtung  der  Klinik  ungemein  wichtige  Methodik,  die  durch 
seine  klassischen,  in  verschiedenen  Arbeiten  niedergelegten  Pulsschilderungen 
ein  Allgemeingut  der  wissenschaftlichen  Ärzte  geworden  ist.  Es  seien  hier 
femer  erwähnt  die  Arbeiten  über  die  Vermehrung  der  Gefäßspannung  bei 
Bleikolik,  über  die  Drucksteigerung  im  arteriellen  Gefäßsystem  bei  beginnen- 
der akuter  Nephritis,  die  grundlegenden  Untersuchungen,  über  Hemisystolie 
über  normalen  und  pathologischen  Venenpuls  und  nicht  zum  wenigsten  seine 
mehr  klinischen  Studien  über  Herzkrankheiten  (Myocarditis  und  Mitralfehler). 
R.  beschäftigte  sich  jedoch  keineswegs  ausschließlich  in  dieser  Richtung. 
Seine  interessanten  Untersuchungen  über  das  Bronchialasthma,  in  denen  er 
die  bei  diesen  Zustand  beobachtete  Lungenblähung  experimentell  als  einen 
durch  reflektorische  Phrenicuserregung  zustande  gekommenen  Zwerchfellkrampf 
erklären  konnte,  sowie  seine  rein  therapeutischen  Arbeiten  über  das  Coffein, 
Jaborandi,  Apomorphin,  Atropin  usw.  zeigen  die  Vielseitigkeit  seiner  Interessen. 
Von  ganz  besonderer  Bedeutung  sind  endlich  die  Arbeiten  R.s  für  die  Patho- 
logie der  Verdauung  geworden.  In  den  letzten  15  Lebensjahren  haben  diese 
einen  großen  Teil  seiner  Tätigkeit  in  Anspruch  genommen.  Man  kann  ohne 
Übertreibung  sagen,  daß  die  Kußmaulsche  Anwendung  der  Magensonde 
in  der  Therapie,  durch  die  überhaupt  die  diagnostische  Magenaushebung  in- 
auguriert wurde,  ihre  reichsten  Früchte  in  den  Arbeiten  R.s  und  seiner 
Schüler  über  die  Magenpathologie  getragen  hat.  Aus  der  erdrückenden 
Fülle  physiologischer  und  pathologischer  Fragen,  die  mit  der  Einführung 
des  Mageninhalts  als  diagnostisches  Moment  auf  einmal  nach  Beantwortung 
verlangten,  hat  R.  mit  klinischem  Scharfblick  grade  die  herauszuwählen  ver- 
standen, die  für  das  Verständnis  pathologischer  Zustände  wesentlich  waren 
und  praktisch  dringend  eine  Klärung  verlangten.  Wenn  heute  die  Frage  der 
freien  und  gebundenen  Salzsäure,  der  Hyperchlorhydrie ,  die  Rolle  der 
Superacidität  in  der  Pathogenese  und  Klinik  des  Magengeschwürs,  die  Ent- 
stehung der  Magenerweiterung,  die  Diagnostik  des  Magenkrebses  usw.  in 
ihren  wesentlichen  Punkten  gelöst  genannt  werden  dürfen,  so  ist  es  haupt- 
sächlich das  Verdienst  von  R.,  der  teils  selbst  durch  zahlreiche  Arbeiten 
hierin  Klarheit  geschafft,  teils  seine  Schüler  hierzu  veranlaßte.  Sein  vorzüg- 
liches Lehrbuch  der  Magenkrankheiten,  das  den  XII.  Band  der  Nothnagel- 
schen  speziellen  Pathologie  und  Therapie  bildet  —  der  I.  Teil  ist  bereits  in 


Riegel.  333 

zweiter  Auflage  erschienen  —  übermittelt  dem  großen  ärztlichen  Publikum 
diese  Fülle  von  Arbeit  und  neugewonnener  Erkenntnis. 

So  sehr  R.  die  rein  wissenschaftliche  Tätigkeit  in  Anspruch  nahm  und 
seinem  Leben  den  Hauptreiz  verlieh,  so  hat  er  doch  auch  auf  mannigfachen 
andern  Gebieten  fruchtbringend  gewirkt.  Er  besafi  ein  grofies  organisatorisches 
Talent,  das  er  hauptsächlich  in  seiner  Eigenschaft  als  Krankenhausdirektor 
zu  entfalten  Gelegenheit  hatte.  In  Köln  sowie  in  Gießen  mußte  er  ganz  neue 
Verhältnisse  schaffen. 

Das  Kölner  Bürgerhospital,  das  damals  weit  davon  entfernt  war,  den 
Anforderungen  eines  modernen  Krankenhauses  zu  genügen,  wurde  von  ihm  in 
allen  Punkten  reorganisiert;  es  gelang  ihm,  in  Verein  mit  umsichtigen 
Männern  der  Stadtverwaltung,  die  seinen  Vorschlägen  den  nötigen  Nachdruck 
zu  verschaffen  wußten,  allmählich  alles  das  durchzusetzen,  was  an  Pflege- 
personal, Assistenten  usw.  nötig  war,  sogar  die  Errichtung  eines  wissenschaft- 
lichen Laboratoriums,  wohl  eines  der  ersten  in  Deutschland.  Als  er  von 
Köln  nach  fünfjähriger  ungemein  fruchtreicher  und,  wie  hinzugefügt  werden 
muß,  sehr  warm  anerkannter  Tätigkeit  schied,  hinterließ  er  seinem  Nach- 
folger Leichtenstem  ein  musterhaftes,  vom  modernsten  wissenschaftlichen 
Geiste  durchwehtes  Krankenhaus. 

In  Gießen  waren  die  Verhältnisse  bei  seiner  Berufung  jammervoll.  Das 
akademische  Krankenhaus  war  in  einer  alten  Kaserne  untergebracht;  zur 
Hälfte  war  diese  für  die  Bibliothek  und  archäologische  Sammlung  benutzt, 
in  der  andern  teilten  sich,  auf  je  ein  halbes  Stockwerk  beschränkt,  Augen-, 
innere  und  chirurgische  Klinik.  R.,  der  sich  schon  bei  seiner  Berufung  den 
Bau  einer  neuen  Klinik  ausmachte,  erreichte  zunächst  wenigstens  die  Ent- 
fernung des  nichtmedizinischen  Teils  aus  dem  alten  Haus  und  die  Räume  für 
ein  Laboratorium  und  Assistentenwohnungen  in  einem  Nebengebäude.  Durch 
rastloses,  unermüdliches  Arbeiten  und  nie  erlahmende  Energie  vermochte  er 
beim  Ministerium  mit  seinen  Plänen  für  den  Neubau  der  medizinischen  Lehr- 
anstalten durchzudringen  und  ii  Jahre  nach  seiner  Berufung  war  es  ihm 
endlich  vergönnt,  in  seine  neue  Klinik  einzuziehen,  die  gleichzeitig  mit  dem 
Neubau  der  Frauenklinik  und  des  pathologischen  Institutes  eröffnet  wurde. 
Die  neue  Klinik  war  in  Bauplan  und  Ausführung  musterhaft  ersonnen, 
um  den  Zwecken  eines  modernen  Krankenhauses  und  gleichzeitig  einer  Lehr- 
anstalt und  Stätte  wissenschaftlicher  Arbeit  zu  dienen. 

Seine  klinische  Lehrtätigkeit  hat  R.  mit  großer  Liebe  ausgeübt,  sie  war 
ihm  eine  Herzenssache.  Es  kam  ihm  nicht  darauf  an,  durch  einen  glänzenden 
Vortrag  auf  die  Hörer  zu  wirken,  sondern  durch  klares  systematisches  Vor- 
gehen die  Schüler  zunächst  zur  richtigen  Krankenuntersuchung  zu  erziehen 
und  logisch  aus  der  Untersuchung  das  Krankheitsbild  zu  entwickeln.  War 
er  mit  diesem  Teil  seiner  Aufgabe  fertig,  und  kam  er  zu  der  Besprechung 
der  Pathogenese  und  allgemeinen  Pathologie  der  vorliegenden  Krankheit, 
so  gab  er  stets  abgerundete  Bilder,  die  sich  in  das  Gedächtnis  der  Hörer 
scharf  einprägten;  oft  genug  riß  ihn  der  Gegenstand  dann  aber  auch 
hin,  den  vorliegenden  Fall  zum  Ausgangspunkt  physiologisch-pathologischer 
Erörterungen  zu  machen,  in  denen  dann  in  fesselnder  Weise  Experimente 
und  Hypothesen  zur  Sprache  kamen  und  die  Schüler  damit  in  die  wissen- 
schaftlichen   Arbeitsstätten    der    Medizin    eingeführt    wurden.  •   So    war    er 


33^  Riegel.     Liersch. 

eigentlich  mehr  ein  Lehrer  für  Vorgeschrittenere  und  es  ist  nicht  wunderbar, 
daß  er  namentlich  auf  seine  Assistenten  eine  grofie  Anregung  zur  Arbeit  aus- 
übte. Die  Arbeiten  seiner  Assistenten  sind  ungewöhnlich  zahlreich  und  zum 
größten  Teil  nicht  nur  »Assistentenarbeiten«,  sondern  eine  große  Anzahl  von 
ihnen  bedeuten  wirkliche,  wissenschaftliche  Fortschritte.  Wenn  er  auch  be- 
sonders die  älteren  Assistenten  durchaus  nicht  in  der  Selbständigkeit  ihrer 
Arbeitsrichtung,  Aufgaben  und  Ausführungen  zu  beeinflussen  suchte,  so  ist  doch 
wohl  den  meisten  dieser  Untersuchungen  der  Stempel  seiner  Geistesrichtung 
eingeprägt,  der  im  Anfang  zu  charakterisieren  versucht  worden  ist:  die  Ur- 
sache der  pathologischen  Störung  auf  physiologischem  Wege  zu  ermitteln. 
So  kann  man  von  einer  R.schen  Schule  sprechen,  die  unter  seinem  Einfluß, 
auf  der  Grundlage  seiner  wissenschaftlichen  Ideen  und  Überzeugungen  aus- 
gebildet, in  seinem  Sinne  weiter  arbeitet. 

Als  Arzt,  besonders  als  Konsiliararzt,  hat  R.  eine  sehr  große  Tätigkeit  aus- 
geübt und  in  diesem  Tun  nicht  nur  durch  seine  wissenschaftliche  Bedeutung, 
sondern  vielleicht  noch  mehr  durch  seine  menschlichen  Eigenschaften,  sein 
suggestiv  beruhigendes  Wesen,  sein  geduldiges  Eingehen  auf  die  Persönlich- 
keit des  Kranken  und  seine  Pflichttreue  die  größten  Erfolge  erzielt.  Seine 
konsiliare  Tätigkeit  dehnte  sich  über  weite  Bezirke  des  westlichen  Mittel- 
deutschlands, sogar  bis  nach  Holland  und  Belgien  aus.  Seine  Tätigkeit  als 
Lehrer,  Arzt  und  Forscher  füllte  ihn  so  sehr  aus,  daß  er,  wiewohl  sein  Inter- 
esse andern  allgemein  menschlichen  Dingen  durchaus  nicht  abgewandt  war, 
keine  Zeit  fand  sich  ihnen  zu  widmen.  Er  arbeitete  unablässig  von  Morgen 
bis  in  die  Nacht,  die  kurzen  freien  Stunden,  die  er  sich  gönnte,  gehörten  seiner 
engsten  Familie  an,  in  deren  Kreise  er  sehr  glücklich  lebte.  Am  15.  Mai 
1904  feierte  er  im  Kreise  seiner  früheren  und  damaligen  Assistenten  sein 
25.  Professoren  Jubiläum,  zu  dem  ihm  diese  eine  Festschrift  (53.  Band  der  Zeit- 
schrift für  klinische  Medizin)  verehrt  hatten.  Seine  Freude  über  diese  seinem 
Wesen  so  adäquate  Ehrung  war  ebenso  rührend  wie  charakteristisch  für  den 
Mann,  der  von  der  ersten  Jugend  an  der  Wissenschaft  gedient  hatte  und  ihr 
nie  einen  Augenblick  untreu  geworden  war.  Leider  trug  er  schon  damals, 
ohne  es  zu  wissen,  den  Keim  zu  der  tötlichen  Krankheit  in  sich,  der  er 
wenige  Monate  später  nach  schwerem  Leiden  erlag. 

Der  Name  von  Franz  R.  gehört  zu  denen,  die  in  der  Geschichte  der 
deutschen  medizinischen  Klinik  nie  vergessen  werden  können.  Denn  an  ihn 
knüpfen  sich  in  fast  allen  ihren  Gebieten  Fortschritte,  die  zu  ihrem  Ausbau 
beigetragen  haben  und  noch  fortwirkend  weiter  beitragen  werden. 

Georg  Honigmann -Wiesbaden. 

Liersch,  Ludwig  Wilhelm,  Geheimer  Sanitätsrat  in  Kottbus,  •  daselbst 
2.  Juni  1830,  t  9.  Mai  1904.  —  L.  studierte  in  Greifswald,  Göttingen  und 
Berlin,  promovierte  1852,  machte  von  1853 — 55  wissenschaftliche  Reisen  und 
ließ  sich  1856  in  seiner  Vaterstadt  nieder,  wo  er  neben  der  allgemeinen  auch 
augenärztliche  Praxis  trieb,  1888  zum  Kgl.  Kreisphysikus  ernannt  wurde  und 
als  solcher  bis  zu  seiner  bei  Einführung  der  Kreisärzte  erfolgten  Emeritierung 
verblieb.  L.  gehörte  zu  den  angesehensten  Ärzten  seiner  Gegend,  bekleidete 
mehrere  Ehrenämter,  war  lange  Jahre  Mitglied  der  Ärztekammer  der  Provinz 
Brandenburg    und    machte    sich    um    die  Förderung    der  ärztlichen  Standes- 


Liersch.     Langerhans.     Kottmann.     Zimmennann.  ^^e 

angelegenheiten  recht  verdient.  Auch  schriftstellerisch  war  er  tätig.  Er  ist 
Verfasser  verschiedener  kleinerer  Arbeiten  über  Friedrichs  des  Großen  letzte 
Krankheit  und  Tod,  über  die  linke  Hand,  medizinische  Geschichte  der  Stadt 
und  des  Kreises  Kottbus  u.  a.  Am  7.  August  1902  feierte  L,  sein  50 jähriges 
Doktorjubiläum. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte  1904,  I,  472.  Pagel. 

Langerhans,  Robert,  Patholog  in  Berlin,  *  4.  Mai  1859  ^^^  Sohn  des 
bekannten  Stadtverordneten-Vorstehers  zu  Berlin,  f  22.  November  1904.  — 
L.  studierte  anfangs  die  Architektur  an  der  Berliner  Bauakademie,  dann 
Medizin  in  München  und  Berlin,  hauptsächlich  als  Schüler  Virchows,  promo- 
vierte 1884,  war  Arzt  seit  1885,  habilitierte  sich  für  pathologische  Anatomie 
1890,  war  1885 — 94  Assistent  von  Rudolf  Virchow,  seit  1894  Prosektor  am 
Krankenhaus  Moabit-Berlin  und  erhielt  1895  den  Professortitel.  L.  wird  in 
seinem  Fach  sehr  gerühmt.  Er  war  ein  gründlicher  Forscher  und  fruchtbarer 
Schriftsteller.  Von  seinen  Publikationen  sind  zu  nennen:  »Grundriß  der 
pathologischen  Anatomie«  (mehrere  Auflagen,  übersetzt  ins  Englische,  Italie- 
nische, Russische.)  —  »Innere  Einklemmung  durch  Axendrehung  der 
Pylorushälfte  eines  Sanduhrmagens«  —  »Über  Pankreasnekrose«  (1889)  — 
»Über  Atlasankylose«  (1890)  —  »Über  multiple  Fettgewebsnekrose«  (1890/91) 
—  »Über  regressive  Veränderungen  der  Trichinen«  (1892)  —  »Veränderungen 
der  Lungen  nach  Karbolsäure -Vergiftung«  (1892/93)  —  »Beiträge  zuf 
Physiologie  der  Brustdrüse«  (1894)  —  »Über  Sarggeburt«  (1899)  und  kleinere 
Mitteilungen. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte   1904,  I,  471.  Pagel. 

Kottmann,  August,  Chirurg  in  Solothum,  *  daselbst  4.  März  1846, 
f  4.  Juli  1904.  —  K.  stammte  aus  einer  Ärztegeneration.  Er  war  der  Sohn 
und  Enkel  von  Ärzten.  Seine  Studien  machte  er  seit  1865  in  Bern,  Tübingen 
und  Prag,  promovierte  1869  in  Bern  summa  cum  laude  mit  der  Dissertation: 
»Die  Symptome  der  Leukämie«  (Bern  187 1),  war  bis  1872  Assistent  von  Lücke 
und  Munk  in  Bern,  habilitierte  sich  zunächst  für  innere  Medizin,  nahm  am 
Kriege  von  1870 — 71  in  deutschen  Hospitälern  teil,  machte  eine  längere 
Studienreise,  die  ihn  an  verschiedene  ausländische  Universitäten  führte  und, 
nachdem  er  die  akademische  Laufbahn  aufgegeben  hatte,  übernahm  er  1872 
die  Leitung  des  Bürgerspitals  seiner  Vaterstadt,  wo  er  sich  als  Chirurg  große 
Verdienste  erwarb  und  als  einer  der  beliebtesten  und  verdientesten  Ärzte 
bewährte.  Er  führte  die  Antisepsis  ein,  machte  als  erster  die  Operation 
der  Entfernung  des  Fruchthalters  durch  die  Scheide  zwecks  Beseitigung  einer 
gefährlichen  Neubildung,  und  brachte  es  im  Jahre  1902  auf  669  Operationen, 
während  er  die  Krankenzahl  seines  Hospitals  so  beträchtlich  hob,  daß  die 
Frequenz  von  368  im  Jahre  1872  auf  1106  im  Jahre  1902  stieg.  Auch  war 
er  literarisch  fruchtbar.  K.  besaß  auch  als  Musiker  und  Violinist  einen  Ruf. 
Vergl.  Virchows  Jahresberichte  1904,  I,  471.  Pagel. 

Zimmermann,  Alfred,  Stabsarzt  in  Wien,  ♦  24.  Oktober  1865  in  Klagen- 
furt, t  I.  November  1904.  —  Z.  studierte  in  Wien,  promovierte  hier  1890, 
widmete    sich  dann    der  militärischen  Laufbahn,   war  Garnisonsarzt   in  ver- 


9^6  Zimmermann.     Zahn.     Kottulinsky  von  Kottulin. 

schiedenen  Spitälern,  gleichzeitig  Sekundärarzt,  später  Chefarzt  an  der  Gussen- 
bauerschen  Klinik,  wurde  1893  Regimentsarzt,  1895  außerordentliches  Mit- 
glied des  Sanitätskomitees,  1901  Stabsarzt.  Z.  war  ein  kenntnisreicher  Anatom 
und  tüchtiger  Chirurg;  besonders  geübt  war  er  als  Operateur  der  Darm-, 
Gallenblasen,-  Nieren-  und  chirurgischen  Himaffektionen,     Sein  Tod  erfolgte 

an  Blutvergiftung. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte    1904,  I,  484,  und  die  dort  angegebenen  Quellen. 

Pagel. 

Zahn,  Friedrich  Wilhelm,  Patholog  und  pathologischer  Anatom  in  Genf, 
*  14.  Februar  1845  ^^  Germersheim  in  der  Pfalz,  f  16.  August  1904.  —  Z.  studierte 
in  Straßburg  i.  E.,  hauptsächlich  als  Schüler  von  v.  Recklinghausen,  promo- 
vierte 1870  in  Bern  und  erhielt  1876  das  Ordinariat  seines  Faches  in  Genf. 
Z.  ist  Verfasser  von  Arbeiten  in  der  pathologischen  Anatomie  des  Zirkulations- 
apparates, der  Geschwülste,  der  Entzündung  und  bearbeitete  zusammen  mit 
A.    Lücke    den    Abschnitt    »Geschwülste«    in    der   von    Billroth    und    Lücke 

herausgegebenen  »Deutschen  Chirurgie«. 

Vergl.  Virchows  Jahresberichte   1904,  I,  483,  und  die  dort  angegebenen  Quellen. 

Pagel. 

Kottulinsky  von  Kottulin,  Adalbert  Graf,  *  5.  Juni  1847  in  Graz, 
f  20.  November  1904  zu  Neudau  in  Steiermark,  Staatsmann  und  Volkswirt.  — 
K.  gehörte  einer  Familie  des  schlesischen  Uradels  an,  die  anfangs  des  XVIIL  Jahr- 
hunderts das  Erbe  der  gräflichen  Familie  Rottal  in  Steiermark  antrat  und 
sehr  bald  in  der  Regierung  und  Verwaltung  des  Landes  die  Stellung  und 
den  Einflufi  gewann,  den  die  namentlich  in  der  Oststeiermark  begüterten 
Rottal  seit  Jahrhunderten  eingenommen  hatten.  Des  Grafen  Adalbert  Vater, 
Graf  Josef,  war  noch  in  der  ständischen  Zeit  Mitglied  des  in  seiner  Wirksam- 
keit allerdings  sehr  eingeschränkten  Verordnetenkollegiums  gewesen  und  war 
bei  der  Einberufung  des  Landtages  sofort  als  Vertreter  des  Großgrundbesitzes 
in  den  Landesausschuß  berufen  worden,  dem  er  bis  zu  seinem  Tode  angehört 
hat.  Graf  Adalberts  Erziehung  und  Studiengang,  sowie  seine  erste  Ver- 
wendung im  Staatsdienste  waren  darnach  eingerichtet,  daß  er  die  öffentliche 
Tätigkeit  des  Vaters  seinerzeit  aufnehmen  und  erweitern  konnte.  Er  absol- 
vierte das  Gymnasium  in  Graz  1865,  studierte  Rechtswissenschaft  an  den 
Universitäten  Graz  und  Innsbruck  und  trat  1870  als  Konzeptspraktikant  bei 
der  steiermärkischen  Statthalterei  in  den  Verwaltungsdienst  ein.  Durch  viel- 
seitige und  wechselnde  Verwendung  in  Ämtern  mit  verschiedenartigen  Auf- 
gaben bei  den  Statthaltereien  in  Ober-  und  Niederösterreich  und  zwar  in 
Linz,  Wels,  Wien,  Waidhofen  a.  d.  Thaia  konnte  er  sich  eine  genaue  Kenntnis 
nicht  nur  aller  Zweige  des  Verwaltungsdienstes,  sondern  der  Bedürfnisse 
städtischer  und  ländlicher  Bevölkerung  erwerben.  Der  1878  erfolgte  Tod 
seines  Vaters  nötigte  ihn,  1879  ^^"  Staatsdienst  zu  verlassen  und  die  Bewirt- 
schaftung der  Güter  Neudau,  Ober-  und  Untermai erhofen  nicht  nur  im  eigenen 
sondern  auch  im  Interesse  seiner  Schwestern  zu  übernehmen,  da  die  Güter, 
die  keine  Majorate  sind,  nicht  an  ihn  allein  gefallen  waren.  Damit  war 
Graf  K.  seinem  Heimatlande  wiedergegeben  und  er  hat  seine  Arbeitskraft 
und  seine  Erfahrung  sehr  bald  auch  in  dessen  Dienst  stellen  müssen,   denn 


Kottulinsky  von  Kottulin.  227 

der  Großgrundbesitz  entsandte  ihn  noch  1879  in  den  Landtag  und  dieser 
wählte  ihn  1882  in  den  Landesausschuß.  Als  Mitglied  dieser  Körperschaft 
begnügte  sich  Graf  K.  nicht  mit  der  Erledigung  der  ihm  zugewiesenen  Geschäfte, 
er  wandte  seine  Aufmerksamkeit  dem  öffentlichen  Leben  zu  und  beteiligte 
sich  an  allen  Unternehmungen,  für  die  er  seine  Kenntnisse  verwerten  zu  können 
hoffte.  Bald  entwickelte  sich  bei  ihm  ein  lebhafter  Sinn  für  das  künstlerische 
Schaffen,  nicht  nur  für  das  moderne,  sondern  auch  für  die  Hinterlassenschaft 
verflossener  Zeiten.  Dies  trat  namentlich  bei  den  Vorarbeiten  für  die  kultur- 
historische Ausstellung  hervor,  mit  der  die  Steiermark  ihre  sechshundert- 
jährige Verbindung  mit  dem  Hause  Habsburg  1883  feierte.  Graf  K.  trug 
wesentlich  zu  deren  Zustandekommen  bei,  indem  er  nicht  nur,  wie  viele 
seiner  Standesgenossen  in  solchen  Fällen,  seine  Präsidialgeschäfte  pünktlich 
besorgte,  sondern  auch  an  den  Forschungs-  und  Sammelarbeiten  persönlich 
Anteil  nahm,  durch  die  man  die  Gegenstände  der  Ausstellung  erst  ausfindig 
und  dem  angestrebten  Zwecke  zugänglich  machen  konnte. 

Alle  Ideen  und  Bestrebungen  in  wirtschaftlicher,  humanitärer  und  künst- 
lerischer Richtung,  zu  denen  Graf  K.  durch  sein  Wirken  angeregt  worden 
war,  treten  in  den  Bereich  der  Ausgestaltung  und  in  vielen  Fällen  auch  der 
Ausführung  und  des  Erfolges,  nachdem  die  im  Jahre  1884  von  ihm  geschlossene 
Ehe  mit  Theodora  Freiin  Mayer  von  Meinhof,  der  Tochter  des  hervorragendsten 
Eisenindustruellen  der  Steiermark,  Begründers  der  weltberühmten  Donawitzer 
Werke,  Franz  Freiherrn  Mayer  von  Meinhof,  ihm  reiche  Mittel  zur  Hand 
gegeben  hatte,  in  allen  Fällen  tatkräftig  einzugreifen,  in  denen  das  gute 
Beispiel  mehr  wirkt  als  die  beste  Rede.  Gräfin  Theodora  war  in  dieser  Hin- 
sicht eines  Sinnes  mit  ihrem  Gatten  und  fand  ihre  höchste  Befriedigung  in 
der  Förderung  der  von  ihm  teils  ins  Leben  gerufenen,  teils  durch  Reformen 
erneuten  und  zu  neuer  Blüte  erweckten  Körperschaften  und  Vereine.  An 
Männer  solcher  Art  und  von  so  intensiver  Arbeitsfreude  ist  das  öffentliche  Leben 
Österreichs  nicht  überreich,  es  konnte  nicht  fehlen,  daß  man  den  Grafen  K. 
überall  dort  heranzog,  wo  man  eine  energische  Leitung  und  ehrliche  Arbeit 
brauchte.  Dies  gilt  namentlich  von  der  steiermärkischen  I^andwirtschafts- 
gesellschaft,  in  der  er  unter  der  Präsidentschaft  des  Freiherm  von  Washington 
als  Ausschußmitglied  und  vielseitiger  Referent,  seit  1898  als  Präsident  eine 
umfassende  und  außerordentlich  fruchtbringende  Tätigkeit  entfaltete.  Er  ver- 
anlafite  die  Beteiligung  der  steierischen  Landwirte  an  allen  agrarpolitischen 
Aktionen  der  letzten  Jahre  und  stellte  Beziehungen  zwischen  dem  Verbände 
landwirtschaftlicher  Genossenschaften  und  der  Gesellschaft  her,  deren  Vorteile 
für  beide  Korporationen  sehr  bald  zutage  traten,  so  daß  die  in  der  Steier- 
mark zustande  gebrachten  Einrichtungen  vorbildlich  für  andere  Länder  wurden. 
Der  Zusammenschluß  aller  Landwirte  seines  Heimatlandes,  die  Sinn  und  Ver- 
ständnis für  die  dem  modernen  Ökonomen  gestellten  Aufgaben  haben,  die 
Vereinigung  aller  landeskulturellen  Agenden  unter  dem  Präsidium  der  Land- 
wirtschaftsgesellschaft, endlich  die  Schaffung  eines  Landwirtschaftshauses  für 
alle  landwirtschaftlichen  Korporationen,  waren  Aufgaben,  die  er  sich  gestellt, 
an  deren  Lösung  ihn  nur  der  allzufrühe  Tod  gehindert  hat.  Das  große 
Geschick,  mit  dem  K.  die  agrarischen  Forderungen  in  den  Vertretungskörpem, 
namentlich  im  Herrenhause  zu  begründen  wußte,  eignete  ihn  ganz  besonders 
für  die  Leitung  der  Zentralstelle  zur  Wahrung  der  land-  und  forstwirtschaft- 

BiogT.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.   9.  Bd.  23 


238  Kottulinsky  von  Kottulin.     Grün. 

liehen   Interessen    beim   Abschlüsse   von   Handelsverträgen,  zu   deren   Ehren- 
präsidenten er  gewählt  wurde. 

Obwohl  von  der  Verwaltung  der  eigenen  Besitzungen,  von  denen  nament- 
lich Neudau  zur  Musterwirtschaft  eingerichtet  wurde,  und  der  Vormundschaft 
über  die  minderjährigen  Kinder  seines  1893  verstorbenen  Schwagers  Franz 
Freiherrn  Mayer  von  Meinhof  im  hohem  Grade  in  Anspruch  genommen,  ließ 
sich  K.  doch  zur  Vertretung  des  steierischen  Großgrundbesitzes  in  das 
Abgeordnetenhaus  entsenden,  wo  er  ebenso  wie  seit  1895  im  Herrenhause 
seine  ganze  Kraft  für  den  Schutz  der  Deutschen  in  Österreich  und  die  Erhal- 
tung ihrer  führenden  Rolle  im  Reiche  einsetzte.  Ganz  eigenartig  aber  war 
seine  Stellung  im  steierischen  Landtage;  das  Landesbudget  kannte  in  allen 
seinen  »Titeln«  niemand  so  genau  als  Graf  K.,  er  war  infolgedessen  der 
ständige  Obmann  des  Finanzausschusses  und  Referent  über  die  wichtigsten 
finanzpolitischen  Vorlagen.  In  den  letzten  Jahren  war  er  über  seine  Stellung 
als  Führer  des  liberalen  Großgrundbesitzes  hinausgewachsen  zum  Führer  der 
Deutschen  im  Landtage,  als  welcher  er  die  Angriffe  der  Slowenen  und  Kleri- 
kalen oft  in  schärfster  Weise  zurückgewiesen  hat.  Trotzdem  genoß  er  auch 
im  gegnerischen  Lager  die  höchste  Achtung  und  manches  Kompromiß,  das 
dem  Lande  große  Vorteile  brachte,  ist  nur  durch  seine,  von  Gerechtigkeit 
getragene  Vermittlung  zwischen  den  sich  bekämpfenden  Parteien  zustande 
gekommen.  Seine  Bedeutung  wurde  von  seiten  der  Regierung  durch  die  Ver- 
leihung der  Geheimen  Rats  würde  (1898)  und  die  Berufung  ins  Herrenhaus 
anerkannt. 

Auch  die  Pflichten,  die  dem  mit  Glücksgütern  gesegneten  obliegen, 
standen  ihm  lebhaft  vor  der  Seele  und  veranlaßten  nicht  nur  zahllose  Wohl- 
tätigkeitsakte, sondern  trieben  ihn  auch  an,  sich  der  Armenpflege  persön- 
lich zu  widmen.  Der  Verein  für  öffentliche  Armenpflege  in  Graz,  nach 
Elberfelder  System  eingerichtet,  erreichte  unter  seiner  werktätigen  Präsident- 
schaft eine  Blüte,  die  seit  seinem  Tode  leider  nicht  wieder  erreicht  werden 
konnte.  Die  Gründung  des  Vereins  der  bildenden  Künstler  der  Steiermark 
wurde  wesentlich  dadurch  gefördert,  daß  K.  das  Protektorat  übernahm  und 
die  ihm  nahestehenden  Gesellschaftskreise  für  die  Ausstellungen  des  Vereins 
zu  interessieren  bemüht  war.  Ein  Mann,  der  die  Menschheit  in  allen  Schichten 
und  Berufskreisen  kennen  gelernt  und  sich  dabei  den  lebendigen  Sinn  für 
alle  berechtigten  Ansprüche  und  alle  gesunden  Lebensäußerungen  bewahrt 
hat,  konnte  auch  nicht  anders  als  für  die  Erweiterung  des  Wahlrechtes  und 
die  Berücksichtigung  der  Arbeiter  eintreten,  wie  es  K.  im  Landtage  getan 
hat.  Mit  ihm  ging  ein  deutscher  Edelmann  dahin,  dem  kein  Stand  feindlich 
gesinnt  sein  konnte,  den  Tausende  als  ihren  Schützer  und  Wohltäter  ver- 
ehrten, ein  Edelmann,  deren  Deutsch-Österreich  leider  im  Kampfe  um  sein 
Recht  im  Staate  mehr  bedarf,  als  es  besitzt.  —  Hans  Zwiedineck. 

Grün,  Albert,  Literaturhistoriker,  Dichter  und  Pädagoge,  *  31.  Mai  1822 
in  Lüdenscheid  (Westfalen),  f  22.  April  1904  in  Straßburg  i.  E.  —  Er  war 
der  Sohn  eines  wenig  bemittelten  Volksschullehrers  und  Bruder  des  als 
Publizist,  Literatur-  und  Kulturhistoriker  bekannten  Karl  Grün.  Er  besuchte 
die  Volks-  und  Rektoratschule  seiner  Vaterstadt  und  seit  1836  die  Unter- 
sekunda des  Gymnasiums  in  Barmen,   trat  aber  schon  aus  der  Obersekunda 


Grün. 


339 


wieder  aus,  um  als  Bergaspirant  in  den  Kohlengruben  des  Dortmunder  Ober- 
bergamtsbezirks sich  für  das  höhere  Bergfach  vorzubereiten,  und  wurde 
danach  Zögling  der  Bochumer  Bergschule.  Neue  gesetzliche  Bestimmungen 
nötigten  ihn  auf  das  Gymnasium  zurückzukehren,  damit  er  sich  die  Reife  für 
die  Prima  erwerbe.  Dann  trat  er  wieder  als  Bergeleve  in  Essen  ein.  In- 
dessen veranlaßten  ihn  mancherlei  Mißverhältnisse  zu  den  Bergbehörden  bald, 
diesen  Lebensberuf  gänzlich  aufzugeben.  Nachdem  er  eine  Zeitlang  bei  der 
Versicherungsgesellschaft  Colonia  in  Köln  gearbeitet,  ermöglichte  es  ihm  ein 
wohlhabender  Freund,  die  Reifeprüfung  an  einem  Gymnasium  zu  bestehen 
und  dann  in  Bonn  Philologie  zu  studieren.  Hier  schrieb  er  seinen  »Offenen 
Brief«  an  die  Bonner  Studenten  gegen  das  Unwesen  der  Korps.  Im  Jahre  1846 
ging  er,  einer  Anklage  wegen  Majestätsbeleidigung  ausweichend,  nach  Brüssel, 
wo  er  im  Cercle  arttsHque  et  Httiraire  Vorlesungen  über  das  moderne  Drama 
hielt.  Die  Revolution  von  1848  zog  ihn  wieder  nach  Deutschland  zurück, 
wo  er  sich  sofort  in  die  politische  Bewegung  hineinstürzte.  In  Berlin  ward 
er  im  Frühjahr  1848  Vorsitzender  des  Königsstädtischen  Maschinenbauer- 
vereins, mußte  aber  nach  Verhängung  des  Belagerungszustandes  die  Haupt- 
stadt verlassen.  In  Köthen  schrieb  er  dann  seine  Broschüre  »Das  Vorparlament« 
(1849),  leitete  dann  mit  Arnold  Rüge  u.  a.  die  Leipziger  Bewegung,  ging  im 
Mai  1849  als  Bevollmächtigter  der  provisorischen  Regierung  von  Sachsen 
nach  Frankfurt  a.  M.  und  mit  der  äußersten  Linken  des  dort  aufgelösten 
Parlaments  in  die  Pfalz,  wo  er  als  Zivilkommissar  fungierte  und  nach  Unter- 
drückung der  Bewegung  in  effigie  hingerichtet  wurde.  Er  selber  war  mittler- 
weile beim  badischen  Aufstande  beteiligt  und  entkam  zuletzt  nach  Straßburg, 
wo  er  Vorlesungen  über  deutsche  Sprache  und  Literatur  hielt  und  als  Professor 
in  diesem  Fache  an  verschiedenen  Mädchenpensionaten  tätig  war.  Hier 
schrieb  er  auch  sein  Zeitbild  »Deutsche  Flüchtlinge«  (185 1).  Im  Dezember  1852 
vertrieb  ihn  der  Staatsstreich  Napoleons  III.  wieder  aus  Frankreich ;  aber  nur 
einen  Winter  brachte  er  in  der  Schweiz  zu,  dann  kehrte  er  wieder  nach 
Straßburg  zurück  und  nahm  seine  frühere  Tätigkeit  als  Lehrer  wieder  auf. 
Auch  als  Schriftsteller  entfaltete  er  eine  größere  Regsamkeit.  Seiner  Schrift 
»Goethes  Faust.  Briefwechsel  mit  einer  Dame«  (1856)  folgten  »Das  ABC  der 
Ästhetik«  (1856),  »Aus  der  Verbannung«  (Gedichte,  1859)  und  das  Schau- 
spiel »Friederike«  (von  Sesenheim,  1859).  Während  der  Belagerung  Straß- 
burgs  wurde  G.  Ende  August  1870  mit  Weib  und  Kind  abermals  aus  Straß- 
burg verwiesen,  zog  aber  mit  deutschen  Truppen  wieder  ein  und  übernahm 
bald  die  Chefredaktion  des  »Niederrheinischen  Kuriers«,  die  er  zwei  Jahre 
lang  in  dem  redlichen  Streben  führte,  an  der  Versöhnung  der  Gemüter  nach 
Kräften  mitzuwirken.  In  dieser  Zeitung  erschien  denn  auch  zuerst  sein 
Roman  »Das  Forsthaus  in  den  Vogesen«  (III,  1874).  Dann  wandte  sich  G. 
wieder  seiner  Lehrtätigkeit  zu;  er  wurde  Oberlehrer  für  Geschichte  und 
Literatur  an  der  Schottkyschen  Privatschule  und  später  an  der  neu  gegründeten 
städtischen  höheren  Töchterschule,  an  welcher  er  bis  zu  seiner  Pensionierung 
im  Herbst  1895  tätig  war.  Im  Juli  d.  J.  war  ihm  der  Charakter  als  Professor 
verliehen  worden. 

Persönliche  MitteUungen.  —  Leimbach :  Die  deutschen  Dichter  der  Neuzeit  und  Gegen- 
wart, 3.  Bd.,  S.  62.  —  StiaBburger  Post  vom  31.  Mai  1902  und  vom  23.  April  1904. 

Franz  Brummer. 


22* 


^^O  von  Hopfen. 

Hopfen,  Hans  Demetrius  von,  *  3.  Januar  1835  zu  München,  f  19.  No- 
vember 1904  zu  Groß- Lichterfelde  bei  Berlin.  —  H.  absolvierte  in  seiner 
Vaterstadt  das  Gymnasium  und  besuchte  von  1853 — 58  die  Münchener  Univer- 
sität. Nach  erfolgtem  juristischem  Examen  trat  er  für  kurze  Zeit  in  den 
Staatsdienst,  widmete  sich  aber  gleichzeitig  in  Heinrich  von  Sybels  histori- 
schem Seminar  eingehendem  Geschichtsstudium.  £r  hatte  die  Absicht,  für 
eine  akademische  Lehrkanzel  sich  auszubilden  und  wurde  in  Tübingen  zum 
Dr,  phiL  promoviert. 

Durch  dieses  doppelte  Studium  suchte  Hans  Hopfen  seinen  dichterischen 
Schaffensdrang  in  die  ruhigeren  Bahnen  eines  bürgerlichen  Berufes  zu  leiten, 
doch  voll  befriedigt  weder  von  dem  einen  noch  von  dem  anderen,  strebte 
er  in  verschwiegener  Arbeit,  rastlos  dem  innersten,  heimlichsten  seiner  Ziele 
entgegen.  Nachdem  er  bald  unter  eigenem,  bald  unter  fremdem  Namen 
einzelne  Gedichte  erscheinen  liefi  und  Korrespondent  verschiedener  Zeitungen 
geworden  war,  faßte  Hopfen  Anfang  der  sechziger  Jahre  den  Entschluß,  sich  dem 
schriftstellerischen  Beruf  ausschließlich  zu  widmen.  Er  wurde  hierin  von 
Emanuel  Geibel  bestärkt,  der  im  Jahre  1862  Hopfens  erste  Gedichte  im  Münchener 
Dichterbuch  veröffentlicht,  und  in  rückhaltloser  Güte  sein  Werden  gefördert, 
sein  lyrisches  Talent  bewundert  hat.  1863  erschien  Hopfens  erster  Roman 
„Peregretta".  Er  zeigte  den  Dichter  bereits  als  einen  Meister  der  Prosa  und 
erwarb  ihm  raschen  Erfolg.  Nach  längerem  Aufenthalt  in  Paris  wurde  Hopfen 
1864  Generalsekretär  der  Schillerstiftung  und  fand,  wie  einst  an  Geibel,  nun 
in  Wien  an  Friedrich  Halm  liebevolle,  weise  Förderung. 

Neben  dem  Dichter  führte  in  Hans  Hopfen  der  Politiker  eine  starke, 
eigenwillige  Existenz.  Er  hat  es  in  der  „Geschichte  des  Erstlingswerkes"^ 
lachend  selbst  erzählt,  wie  das  erste  Gedicht  des  Dreizehnjährigen  ein  politisch 
Lied  gewesen  sei  und  auf  einen  Helden  des  Jahres  48,  aus  der  Wut  seines  frei- 
heitlich gekränkten  Herzens  in  eine  Xenophonpräparation  geschrieben  wurde, 
während  der  Unterricht  erteilende  Pater  das  übermütige  Bürschlein,  zur  Strafe 
für  allerlei  Unfug,  in  einer  Ecke  knien  ließ. 

Obgleich  in  dem  späteren  Freunde  Treitschkes  die  republikanische  Ge- 
sinnung schwerlich  die  Gymnasiastenzeit  überdauerte,  so  blieb  die  leiden- 
schaftliche Teilnahme  an  dem  politischen  Schicksal  seines  Landes  dem  Manne 
in  jeder  Lage  eigen  und  wirkte  bestimmend  auch  auf  sein  äußeres  Leben. 

Nachdem  er  sich  1866  mit  Auguste  Freiin  von  Wehli  aus  Wien  vermählt 
hatte,  verließ  er  dauernd  die  altbayrische  Heimat,  in  der  sein  Wesen  und 
Schaffen  innig  wurzelten,  und  zog  nach  Berlin,  der  vorbestimmten  Hauptstadt 
des  heiß  ersehnten,  neuen  deutschen  Reiches.  Er  ist  dauernd  dort  geblieben, 
auch  nachdem  die  Zeit,  welche  der  großen  Erhebung  und  den  großen 
Männern  des  Jahres  1870  folgte,  politisch  und  kulturell  manche  Enttäuschung 
gebracht,  und  „nicht  alle  Blütenträume  reiften^. 

Künstlerisch  fällt  die  Epoche  seines  reichsten  Schaffens,  zusammen  mit 
der  seines  größten  persönlichen  Glückes  und  tiefsten  persönlichen  Kummers, 
in  die  Jahre  1866 — 80.  In  dieser  Zeit  entstand  die  feingezeichnete  poetische 
Satire  „Der  Pinsel  Mings",  entstanden  die  heimatlichen  Bücher  der  „Bayrischen 
Dorfgeschichten",  „Der  alte  Praktikant",  „Streitfragen  und  Erinnerungen",  und 
in  rascher  Folge  jene  Romane,  denen  Hans  Hopfen  seine  wachsenden  Erfolge 
beim    großen  Publikum    verdankte.     Er  schrieb    eine  fein  gesteigerte  Prosa, 


von  Hopfen.  ^aj 

die  wunderbar  taugte,  um  Episoden  so  zu  zeichnen,  daß  man  in  einfach-ein- 
dringlicher Weise  erstehen  sah,  was  immer  sie  schilderte.  Scheinbar  mit 
schlichtesten  Mitteln  bewirkt,  verlegt  dieser  an  schönem  Beiwerk  reiche  Stil, 
den  Wert  Hopfenscher  Bücher  aus  der  fortschreitenden  Handlung  langer 
Romane  in  die  Sprache  des  Erzählers,  welche  in  knappen  Worten  das 
wesentliche  an  Menschen  und  Vorgängen  sichtbar  macht  und  Unbeachtetes 
charakteristisch  belebt.  Den  reinsten  Ausdruck  fand  Hopfen  für  diese  seine 
Kunst  in  der  Novelle.  Ein  feiner,  etwas  spöttischer  Humor  liegt  da  in  allen 
Worten,  auch  den  innigsten,  und  über  den  Menschen,  die  sie  reden.  Dieser 
Humor,  den  heimischer  Boden  ihm  zu  eigenstem  Besitz  verlieh,  war  der 
künstlerische  Vermittler  zwischen  Hopfens  leidenschaftlich-subjektivem  Tem- 
perament und  seinem  überragend  scharfen,  kritischen  Verstände.  Aus  ihm 
erschuf  er,  oft  im  kleinsten  Rahmen,  ein  Ganzes  von  reicher  Lebenswahrheit 
und  tat  es  besonders  da,  wo  auch  Stoff  und  Naturschilderung  seiner  Heimat 
entstammten. 

Im  Frühling  1878  ward  zu  Rom  Hopfens  jugendschöne,  glückliche 
Frau  vom  Fieber  dahingerafft.  In  ihrer  Heimat,  am  Fuß  des  Kahlenbergs, 
begrub  er  sie  und  als  sein  Schmerz  ausklang,  schrieb  er  die  „Gustlilieder", 
seine  schönsten  Gedichte. 

1882  erschien  der  Band,  welcher,  neben  diesen,  das  Beste  enthält,  was 
Hans  Hopfen  besaß  und  geben  sollte:  seine  Lyrik.  Aus  den  Geheimnissen 
der  Sprache  und  individuellen  Eigenart  hat  reife  künstlerische  Einsicht  sie 
geschöpft  und  formvollendet  gestaltet.  In  seinen  Gedichten  liegt  Hans 
Hopfens  bleibende  dichterische  Bedeutung. 

1882  vermählte  er  sich  in  zweiter  glücklicher  Ehe  mit  Marie  Müller-Milton 
aus  Chicago. 

Rastlos  tätig  hat  Hans  Hopfen  noch  vieles  geschrieben,  darunter  Romane, 
Novellen,  Reiseschilderungen  und  Essays.  Auch  nachdem  eine  andere  Lite- 
raturepoche ihn  verdrängt  hatte,  blieb  die  Feder  das  unentbehrliche  nie 
versagende  Ausdrucksmittel  seines  regen  und  hoch  kultivierten  Geistes.  Ein 
jäher  schmerzloser  Tod  zwang  ihn  zur  Ruhe.  Er  starb  am  19.  November  1904 
zu  Groß-Lichterfelde  bei  Berlin, 

Franz  von  Lenbach,  W.  Allers,  Schulte  im  Hof  u.  a.  haben  ihn  porträtiert. 

Quellen:  Hans  Hopfen:  Die  Geschichte  des  Erstlingswerkes;  Hans  Hopfen:  Bunte 
Spenden  deutscher  Dichter  und  Denker  der  Gegenwart  für  das  deutsche  Schriftstellerheim 
in  Gera,  gesammelt  von  Dr.  Timon  Schroeder;  Dr.  Alfred  Freih.  von  Berger:  »Hans  Hopfen«, 
N.  Freie  Presse,  Nov.  1905. 

Verzeichnis  der  Werke  Hopfens:  Peregretta,  Roman  1863;  Verdorben  zu  Paris,  Roman 
1867;  Der  Pinsel  Mings,  Erzählung  in  Versen  1868;  Arge  Sitten,  Roman  1869;  Der  graue 
Freund,  Roman  1874;  Juschu,  Roman  1875;  Verfehlte  Liebe,  Roman  1876;  Streitfragen 
und  Essays,  Erinnerungen  1876;  Bayrische  Dorfgeschichten,  Novellen  1878;  Der  alte  Praktikant, 
Roman  1878;  Die  Heirat  des  Herrn  von  VValdenberg,  Roman  1879;  Die  Geschichte  des 
Majors,  Novelle  1879;  Kleine  Leute,  Novelle  1880;  Mein  Onkel  Don  Juan,  Roman  1881; 
Gedichte  1882;  Die  Einsame,  Roman  1883;  Brennende  Liebe,  Roman  1884;  Das  Allheil- 
mittel, Roman  1885;  Zum  Guten,  Roman  1885;  Mein  erstes  Abenteuer,  Novelle  1886;  Der 
letzte  Hieb,  Roman  1886;  Ein  wunderlicher  Heiliger,  Novelle  1886;  Dr.  Genius  und  sein 
Erbe,  Novelle  1887;  Robert  Leichtfuß,  Roman  1888;  Theater,  Dramen  1889;  Neue  Geschichten 
des  Majors,  Roman  1890;  Der  Stellvertreter  1891;  Die  Göttin  der  Vernunft,  Tragödie  1S92; 
Helga,  Schauspiel  1892;  Es  hat  so  sollen  sein,  Lustspiel  1893;  Hexenfang,  Lustspiel  1893; 


^A2  ^'^^  Hopfen.     Haoslick. 

Der  König  von  Thule,  Schauspiel  1893;  Glänzendes  Elend,  Roman  1893;  Die  erste  Nord- 
landfahrt, Reisebeschreibung  der  Auguste  Victoria  1894;  Im  Schlaf  geschenkt,  Novelle  1895; 
Die  Siegerin,  Novelle  1896;  Die  Engelmacherin,  Roman  1898;  Der  Väter  zweie,  Roman 
1898;  Die  ganze  Hand,  Roman  1900;  10  oder  11?  Novelle  1901;  Gotthard  Lingens  Fahrt 
nach  dem  Glück,  Roman  1902;  Mein  Wien,  Essays   1904. 

Lili  Schalk-Hopfen. 

Hanslick,  Eduard  Musik-Schriftsteller,  Hofrat,  Professor,  *  11.  September 
1825  in  Prag,  f  6.  August  1904  in  Baden  bei  Wien.  —  Eduard  Hauslick  wurde 
in  Prag,  seiner  Vaterstadt,  erzogen  und  blieb  daselbst  bis  zu  seinem  21.  Lebens- 
jahre. Sein  Vater,  Josef  Adolf  Hanslick,  aus  einer  Bauernfamilie  in  Rakonitz 
stammend,  war  Skriptor  an  der  Prager  Universitätsbibliothek,  ein  tüchtiger 
Bibliograph,  ein  ästhetisch  gebildeter  Mann,  in  dessen  Hause  Literatur  und 
Musik  gepflegt  wurde;  die  Mutter  hatte  besondere  Vorliebe  für  die  französische 
Literatur,  die  sich  auf  den  Sohn  übertrug.  Prag,  die  alte,  bewährte  Musik- 
stadt, hatte  in  W.  J.  Tomaschek  einen  Siegelbewahrer  der  klassischen  Traditionen, 
die  er  auch  in  seine  Schüler  zu  pflanzen  wußte,  unter  ihnen  Eduard  Hanslick. 
Die  junge  musikalische  Welt  wurde  jedoch  von  der  Romantik  ergriffen;  der 
Freundeskreis  des  jungen  H.,  welchem  neben  A.  W.  Ambros  einige  treffliche 
Klavierspieler  angehörten,  wie  Alexander  Dreyschock  und  Julius  Schulhoff, 
wurde  von  diesem  Wirbel  erfaßt  und  feierte  1846  in  begeisterter  Weise 
den  französischen  Romantiker  Hector  Berlioz,  der  persönlich  in  Prag  seine 
Werke  zur  Aufführung  brachte.  Auch  die  Bekanntschaft  Richard  Wagners 
hatte  H.  im  Jahre  1845  in  Marienbad  gemacht,  und  es  folgte  ein  begeisterter 
Artikel  über  »Tannhäuser«,  den  H.  in  Wien  veröffentlichte,  wohin  er  1846 
gegangen  war.  Mit  19  Jahren  war  er  schon  als  Kritiker  hervorgetreten  (in 
»Ost  und  West«),  und  nunmehr  begann  er  in  Wien  seine  ausgebreitete  kritische 
Tätigkeit,  die  er  bis  an  sein  Lebensende  fortsetzte.  Vorerst  in  der  »Wiener 
Zeitung«,  deren  Musikreferent  er  vom  i.  Januar  1848  war  und  in  den  »Sonn- 
tagsblättern« von  L.  A.  Franckl;  dabei  vergaß  er  nicht  an  .seine  Vaterstadt 
Berichte  zu  senden  über  Politik  und  soziale  Zustände,  die  in  der  »Prager 
Zeitung«  erschienen,  herausgegeben  von  Leopold  von  Hasner.  H.  hatte  offiziell 
die  juristische  Laufbahn  betreten,  wurde  1850  als  Fiskalbeamter  nach  Klagen- 
furt versetzt,  1852  nach  Wien  zurückberufen,  wo  er  nunmehr  dauernd  blieb. 
Vom  Finanzministerium  trat  er  zum  Unterrichtsministerium  über,  war  dabei 
seit  1855  ^^s  Musikreferent  der  »Presse«  angestellt  und  habilitierte  sich  1856 
an  der  Universität  als  Privatdozent  für  Geschichte  und  Ästhetik  der  Musik. 
Seine  Beamtenstellung  verließ  er,  als  er  1861  zum  außerordentlichen  Professor 
ernannt  wurde.  Es  wurde  für  ihn  diese  Lehrkanzel  errichtet  und  im  Jahre 
1870  in  eine  ordentliche  Professur  umgewandelt.  Von  dieser  trat  er  1895  in 
den  Ruhestand.  Seit  der  Gründung  der  »Neuen  freien  Presse«  im  Jahre  1864 
gehörte  er  als  Musikreferent  der  Redaktion  an  und  versah  diese  Stelle  durch 
vierzig  Jahre  bis  zu  seinem  Tode.  Diese  seine  Tätigkeit  erlangte  Weltruf, 
sowohl  durch  die  meisterhafte  stilistische  Behandlung  seiner  Feuilletons,  als 
auch  durch  die  Stellung,  die  H.  gegenüber  den  zeitgenössischen  Kunsterschei- 
nungen einnahm. 

Die  Wertbemessung  solcher  Leistung  richtet  sich  nicht  allein  danach, 
ob  nur  die  Fachleute,  in  diesem  Falle  die  Musiker,  darin  Anregung  und  Be- 
lehrung finden,  sondern  ob  ein  weiterer  Kreis  von  Gebildeten  oder  von  solchen, 


Hanslick. 


343 


die  an  ihrer  Bildung  und  Ausbildung  arbeiten^  davon  angezogen  wird,  daran 
Interesse  findet.  Dies  war  im  höchsten  Grade  der  Fall  bei  den  Feuilletons 
H.s.  Der  Kreis  der  Leser  erstreckte  sich  selbst  auf  solche,  die  wohl  für  Musik 
Liebe  haben,  aber  infolge  der  sozialen  Bedingungen  den  Aufführungen,  die 
im  Feuilleton  besprochen  werden,  ferne  bleiben  mußten.  Nicht  selten  konnte 
man  hören:  »Ich  verstehe  zwar  gar  nichts  von  Musik,  aber  die  Feuilletons 
von  Hanslick  lese  ich  gerne.«  Das  ist  der  Prüfstein  echter  Mitteilungsgabe 
in  einer  Form,  die  alle  anspricht,  in  einer  Ausdrucksweise,  die  jeder  versteht. 
Die  Hebel,  um  dieses  Interesse  zu  heben,  waren  von  mannigfaltigen  Kräften 
in  Bewegung  gesetzt:  einer  tiefen  allgemeinen  Bildung,  einer  eingehenden 
Kenntnis  der  klassischen  Literatur,  Vorliebe  für  die  französischen  Essayisten 
und  überhaupt  für  den  französischen  Esprit.  Dies  spiegelt  sich  in  seinen 
Schriften  wieder;  eine  heitere  Lebensauffassung  mutet  den  Leser  freundlich 
an.  H.  war  ein  Vertreter  der  ^^Gaya  scUnza<^,  der  fröhlich -freudigen 
Wissensbereicherung,  dabei  mischte  er  nicht  selten  einen  Witz  dazu,  der 
ätzend  und  scharf  war  und  die  Pikanterie  würzte.  Ein  großer  Vorzug  des 
H.schen  Stils  war]  die  knappe  Ausdrucksweise,  die  zu  vergleichen  ist  mit 
derjenigen  hervorragender  juristischer  Schriftsteller  wie  Ihering  und  Unger. 
Als  Jurist  hatte  ja  H.  seine  Laufbahn  begonnen. 

Das  Schwergewicht  seiner  geistigen  Arbeit  liegt  in  dieser  seiner  schrift- 
stellerischen Tätigkeit,  die  ihm  einen  Platz  sichert,  nicht  nur  in  der  Geschichte 
der  Musik,  sondern  auch  als  Prosaist  in  der  Geschichte  der  Literatur.  Seine 
Kritiken,  die  in  12  Bänden  erschienen  sind,  gehören  zu  dem  Zeitbilde  der 
zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.  (»Aus  dem  Konzertsaal«,  »Konzerte, 
Komponisten  und  Virtuosen  der  letzten  50  Jahre  1870 — 1885«,  »Suite«,  »Die 
moderne  Oper«,  »Musikalische  Stationen«,  »Aus  dem  Opemleben  der  Gegen- 
wart«, »Musikalisches  Skizzenbuch«,  »Musikalisches  und  Literarisches«,  »Aus 
dem  Tagebuche  eines  Musikers«,  »Fünf  Jahre  Musik«,  »Aus  dem  Ende  des 
Jahrhunderts«,  »Aus  neuer  und  neuester  Zeit«.)  Diese  Schriften  spiegeln  die 
Kämpfe  wieder,  welche  geführt  wurden  und  an  denen  sich  H.  als  Champion 
einer  Partei  in  hervorragendem  Mafie  beteiligte. 

Der  ästhetische  Standpunkt,  den  er  dabei  vertrat,  ist  besonders  in  einer 
Schrift  ausgesprochen,  welche  gleichfalls  aus  einzelnen  Aufsätzen  zusammen  gefaßt 
wurde  und  1854  unter  dem  Titel,  »Vom  Musikalisch-Schönen«,  erschien.  Der 
mächtige  Einfluß,  den  dieselbe  ausübte,  wird  schon  durch  die  Zahl  der  Auf- 
lagen bezeugt  —  1902  erschien  die  10.  Auflage.  In  ihrer  Negation,  in  ihrer 
Zurückweisung  der  Gefühlsschwelgerei,  die  sich  auf  musikalischem  Gebiete 
auch  heute  noch  vielfach  für  Kunstkritik  ausgibt,  in  Verhöhnung  der  dionysischen 
Musikschwelgerei  hat  sie  reinigend  und  heilend  wie  ein  Arzneimittel  gewirkt. 
In  der  Zeit  des  Hervordrängens  der  Programmusik  bildete  diese  Schrift  einen 
festen  Halt  für  Musiker  und  Musikfreunde,  die  am  Rein-Musikalischen  Er- 
hebung und  Befriedigung  finden.  Sie  erreicht  dies,  wie  es  der  Schreibweise 
H.s  im  allgemeinen  zukommt  und  wie  es  dem  Charakter  des  Feuilletons  nahe- 
kommt, nicht  durch  systematische  Darstellung,  sondern  durch  eine  Reihe 
geistvoller  Apergus,  die  eingerostete  Vorurteile  und  ästhetischen  Aberglauben 
geißeln.  Bei  dieser  Negation  ist  der  Verfasser  stehen  geblieben.  Die  Ab- 
handlung ist  wirklich  nur,  wie  der  Titel  bescheiden  ankündigt,  »ein  Beitrag 
zur  Revision  der  Ästhetik«.    Seit  dem  Erstehen  der  Ästhetik  als  Wissenschaft 


344 


Hanslick. 


im  i8.  Jahrhundert,  standen  sich  zwei  Richtungen  gegenüber,  die  eine,  welche 
den  Ausdruck  in  der  Kunst  als  das  Wesentliche  ansah,  die  andere,  welche 
die  Art  der  Darstellung,  die  formelle  Behandlung  in  den  Vordergrund  stellte. 
Herbart  hatte  dieser  letzteren  die  eigentliche  wissenschaftliche  Behandlung 
zu  teil  werden  lassen,  und  ihm  schlössen  sich  H.  und  sein  Freund  Robert 
Zimmermann  an.  H.  negiert  jedoch  nicht  völlig  die  Bedeutung  der  Gefühle 
in  der  musikalischen  Mitteilung;  nur  will  er  sie  nicht  als  eigentlichen  Inhalt 
derselben  gelten  lassen,  sondern  sucht  festzustellen,  daß  nur  die  Dynamik  der 
Gefühle  in  der  Musik  ihren  Ausdruck  finden  könne.  Er  will  sich  an  das 
spezifisch  Musikalische  halten  und  findet  darin  die  Möglichkeit  das  »musikalisch 
Schöne«  zu  schaffen,  er  sieht  dies  als  das  Höchste  in  der  Musik  an.  In  dieser 
seiner  Schrift  hat  er  die  »tönend  bewegten  Formen«,  also  das  Formale  in 
den  Vordergrund  gerückt,  bezeichnete  dieselben  aber  in  der  Folge  in  seinem 
Memoiren  werke  als  »beseelte  Formen«,  jedoch  immer  das  Hauptgewicht  legend 
auf  die  formale  Haltung  künstlerischer  Mitteilung. 

Diese  Schrift,  welche  als  eine  Art  Streitschrift  erschien,  rief  einige 
Entgegnungen  hervor,  wie  von  W.  A.  Ambros  »Die  Grenzen  der  Musik  und 
Poesie«,  F.  B.  Graf  Laurencin:  »Dr.  Hanslicks  Lehre  vom  Musikalisch-Schönen, 
eine  Abwehr«,  Friedrich  Stade;  »Vom  musikalisch  Schönen«,  nebst  anderen 
kleinen  Angriffen.  Den  Hauptangriff  erhob  Friedrich  v.  Hausegger  in  seiner 
Abhandlung:  »Musik  als  Ausdruck«  (1885).  In  der  Literatur  hatten  H.s  An- 
sichten Vertreter  gefunden  und  vielfach  Spuren  zurückgelassen.  Lotze,  Zimmer- 
mann, Köstlin,  Vischer  und  Helmholtz  wandten  der  Hanslickischen  Schrift  ihre 
Aufmerksamkeit  zu  und  verwoben  die  darin  vertretenen  Ansichten  mit  ihren 
Auseinandersetzungen. 

In  der  Praxis,  in  dem  Kampfe  des  Lebens,  traten  sich  die  Partei ungen 
noch  schroffer  gegenüber.  Die  neudeutsche  Richtung,  die  sich  an  Richard 
Wagner  und  Franz  Liszt  schloß,  glaubte  prinzipiell  diesen  Aufstellungen  H.s 
entgegentreten  zu  müssen,  und  so  scharten  sich  die  Gegner  der  neuen  Kunst 
Richard  Wagners  um  das  Banner,  auf  dem  die  Devise  stand:  »Die  Musik  ist 
tonerfüllte  Form.«  Es  ist  naiv,  wenn  man  behauptet,  daß  die  scharfe  Gegner- 
schaft H.s  gegen  die  Werke  der  dritten  Periode  R.  Wagners  (»Tristan  und 
Isolde«,  »Ring  des  Nibelungen«,  »Die  Meistersinger«,  »Parsifal«)  nur  auf  persön- 
lichen Motiven  beruht  habe.  Allerdings  machte  H.  in  der  Folge  auch  gegen- 
über den  früheren  Werken  Wagners  manch*  abfällige,  ätzende  Bemerkung, 
welche  dieser  Behauptung  den  Schein  der  Berechtigung  zukommen  ließ.  So 
wie  es  innere  Gründe  waren,  die  Wagner  bei  der  Ausarbeitung  des  musika- 
lischen Dramas  in  der  letzten  Periode  zu  jener  musikalischen  Ausgestaltung 
führten,  die  der  Forderung  nach  formaler  Abrundung  zu  wiedersprechen 
schien,  so  beruhten  auch  die  Angriffe  der  Gegenpartei  auf  inneren  Gründen, 
die  vorzüglich  aus  dem  Maßstabe  der  überkommenen  Kunst  gewonnen  waren. 
Im  Kampfe  der  Parteien  wurde  übersehen,  daß  dieser  behauptete  Mangel 
formaler  Behandlung  im  Wagnerschen  Kunstwerke  nur  äußerlich  vorhanden 
war,  nicht  in  Wirklichkeit.  »Die  unendliche  Melodie  Wagners«  ist  keine 
asymmetrische,  keine  unproportionierte.  Die  Parole  war  ausgegeben,  tiefere 
Untersuchungen  über  das  Formungsprinzip  Wagners  waren  noch  nicht  ange- 
stellt. In  Wagners  Kunst  war  zudem  von  den  Mitteln  ein  kühnerer  und  freierer 
Gebrauch  gemacht,  als  dies  bis  zu  seinem  Auftreten  der  Fall  gewesen  war,  und 


Hanslick.  ß^j 

so  erklärt  sich  die  verschärfte  oppositionelle  Stellung,  die  auch  genährt  wurde 
durch  mannigfache  andere  Umstände.  Heute  ist  man  zu  der  Überzeugung 
gelangt,  daß  beide  Forderungen  nach  Form  und  Ausdruck  in  der  Musik  erfüllt 
werden  müssen,  wenn  der  Künstler  Werke  schaffen  will,  die  nicht  nur  von 
ephemerer  Wirkung,  sondern  von  dauernder  Bedeutung  bleiben  sollen,  und 
dies  trifft  im  Wagnerschen  Kunstwerke  zu.  H.  stand  zeitlebens  auf  dem  Boden 
der  Kunst  der  Wiener  Klassiker.  Mit  Beethoven  ging  er  allerdings  nur  bis 
zu  seiner  zweiten  Periode,  wie  dies  auch  sein  Prager  Lehrer  gehalten  hatte. 
Gerade  den  Werken  der  dritten  Periode  Beethovens,  welche  Wagners  Kunst- 
werk der  Zukunft  gezeitigt  hatten,  stand  er  fremd,  ja  mit  einer  gewissen  Ab- 
neigung gegenüber.  Darin  traf  er  mit  so  manchen  andern,  auch  mit  trefflichen 
und  hochgebildeten  Kunstkennern  und  Kunstfreunden  zusammen,  die  sich  zu 
einer  konservativen  Partei  zusammenschlössen.  Je  weiter  sich  die  neudeutsche 
Richtung  von  ihrem  Ausgangspunkte  entfernte,  desto  heftiger  wurde  H.s  Oppo- 
sition. Mit  seinem  Namen  verband  sich  durch  ein  Menschenalter  die  Führung 
der  Gegnerschaft.  Seine  Neigungen  trieben  ihn  zudem  in  der  Musik  zum 
Heiteren.  Gegen  das  Tieftragische  in  der  Musik  hatte  er  eine  Aversion.  Es 
verkörperte  sich  in  ihm  förmlich  das  Wort:  »Ernst  ist  das  Leben,  heiter  ist 
die  Kunst.« 

Wenn  er  am  Klavier  saß  und  Straußische  Walzer  spielte,  da  leuchteten 
seine  Augen.  Mit  einer  wahren  inneren  Gemütlichkeit  entströmten  die  Klänge 
seinem  Gemüte.  Seine  Finger,  weich  im  Anschlage,  konnten  den  Hörer  elektri- 
sieren. Dies  war  noch  bis  in  sein  spätestes  Alter  der  Fall.  Neben  Strauß  war 
ihm  Franz  Schubert  ans  Herz  gewachsen,  und  gerade  das  österreichische,  die 
Klänge,  die  in  Schubert  an  Wien  erinnern,  erfüllten  ihn  mit  Enthusiasmus. 
Desto  befremdlicher  mag  es  erscheinen,  daß  er  einem  Meister,  der  seiner 
nordischen  Herkunft  nach  in  seiner  Kunst  einen  anderen  Charakter  aufweist, 
mit  solcher  Liebe  und  Verehrung  anhing:  es  ist  Johannes  Brahms.  Neben 
der  Bewunderung  für  die  Persönlichkeit  von  Brahms  waren  es  besonders  zwei 
Umstände,  welche  dazu  beigetragen  haben  dürften,  daß  H.  unentwegt  für  die 
Brahmsische  Kunst  eintrat  und  für  die  Propagierung  derselben  unschätzbare 
Dienste  leistete.  Vorerst  jener  sinnige  Zug  des  Tonsetzers:  bei  aller  Herbheit 
des  Ausdruckes  kommt  das  weiche  Gemüt  dieses  nach  außen  bärbeißigen  und 
schroffen  Mannes  zum  Ausdruck.  Es  ist  der  Zug,  der  ihn  nach  Wien  führte 
und  hier  mit  den  Weisen  Schuberts  in  Zisleithanien  und  der  Zigeuner  in 
Transleithanien  einen  Bund  schließen  ließ.  Gerade  bei  solchen  Stellen  in 
Brahmsischen  Werken  trat  die  Begeisterung  H.s  für  Brahms  spontan  hervor. 
Die  tiefgründigen  Stellen,  die  von  tragischen  Akzenten  erfüllt  sind,  fanden  in 
H.  schwächeren  Widerhall.  Für  jene  Werke,  in  denen  sich  Brahms  an  die  großen 
Meister  der  Barocke,  an  Händel  und  Bach  anschließt  oder  an  die'Acapellisten 
des  sechzehnten  Jahrhunderts,  konnte  sich  H.  nicht  erwärmen.  Der  zweite 
Umstand,  der  wohl  auch  in  Betracht  kommt,  ist  der,  daß  H.  in  Brahms  einen 
Vertreter  des  Rein-Musikalischen,  der  »tonerfüllten  Form«  sah;  denn  Brahms 
schrieb  keine  Programmusik,  und  sein  Stil  war  so  gefestet,  daß  er  sich  des 
so  arg  mißbrauchten  Dramatischen  in  der  symphonischen  Musik  gänzlich 
enthielt.  Dieser  Umstand  legte  es  H.  nahe,  die  Brahmsische  Musik  als  eine 
Gegenkunst  gegenüber  der  Wagnerischen  anzusehen,  die  nach  seiner  Über- 
zeugung einzig  und  allein  dem  Ausdrucke  nachhing  und  die  klassischen  Formen 


346  Hanslick. 

vollständig  zersetzte.  Bei  Schumann  und  Mendelssohn  bewunderte  H.  die 
treue  Bewahrung  klassischer  Formen,  und  auch  in  der  Oper  hielt  er  jene 
Meister  hoch,  welche  die  Formen  der  klassischen  Zeit  festhielten.  So  hing 
er  den  Werken  des  größten  musikalischen  Dramatikers  Italiens  im  neunzehnten 
Jahrhundert,  Verdi,  treu  an,  allerdings  nur  denjenigen  Werken,  welche  in 
dieser  Art  mit  Rücksicht  auf  die  überkommenen  Formen  ausgestaltet  waren. 
Jenes  Wunderwerk  des  Achtzigjährigen:  »Falstaff«,  in  welchem  sich  der  Meister 
in  weiterer  Ausbildung  des  sich  allmählich  vollziehenden  Prozesses  der  Um- 
bildung der  Formen  mehr  an  die  dichterische  Vorlage  als  an  musikalische 
Schemen  hielt,  achtete  H.  mehr  in  Rücksichtnahme  des  hohen  Alters  des- 
jenigen, der  es  geschaffen  hat,  als  in  der  Erkenntnis,  daß  Verdi  mit  diesem 
Werke  die  Bahn  gewiesen  für  das  Schaffen  seiner  Nachfolger. 

In  der  französischen  Oper  schätzte  H.  ebenso  sehr  die  geistvolle  Behand- 
lung als  die  Wahrung  der  Tradition,  sowohl  in  der  tragidU  lyriqw 
cn  nmsique,  aus  der  die  ^rand  opera  hervorging,  als  auch  der  opira  copniqtu. 
Für  das  Unterhaltende  der  Auberschen  Oper,  für  die  feine  Ausarbeitung  und 
stilvolle  Behandlung  in  den  Werken  von  Boieldieu  und  anderer  französischer 
Meister  hatte  er  warme  Empfängnis.  Für  die  Wahrung  der  überkommenen 
Tradition  hatte  er  liebevolles  Verständnis;  den  Werken  der  älteren  Zeit  stand 
er  fremd  gegenüber.  Er  konnte  und  mochte  sich  in  den  Geist  des  Schaffens 
einer  älteren  Periode  nicht  einleben.  Was  vor  den  Wiener  Klassikern 
geschaffen  wurde,  blieb  ihm  fern.  H.  war  in  der  Kunst  wie  im  Leben 
Kosmopolit.  Wenngleich  er  für  die  Werke  der  Franzosen  und  Italiener  eine 
gewisse  Vorliebe  zeigte,  so  verlor  er  doch  nicht  den  Zusammenhang  mit 
seiner  engeren  Heimat,  mit  Wien  und  mit  seiner  Vaterstadt  Prag.  In  seiner 
Jugend  im  sprachlichen  Utraquismus  herangebildet,  hat  H.  Lieder  in  deutscher 
und  czechischer  Sprache  komponiert.  Später  konnte  er  allerdings  nicht  mehr 
einen  Satz  in  böhmischer  Sprache  schreiben.  Er  war  Meister  geworden  in 
der  Behandlung  der  deutschen.  Für  die  beiden  besten  Tonsetzer  der  Czechen 
in  unserer  Zeit,  für  Smetana  und  Dvofak,  trat  er  schriftstellerisch  ein;  für 
den  ersteren  allerdings  erst  in  der  Zeit,  als  Meister  Smetana  tot  war  und 
seine  Werke  durch  die  Wiener  Musikausstellung  einem  größeren  internationalen 
Publikum  bekannt  wurden.  Die  Geschichte  der  Kunst  in  Böhmen  gewann 
ihm  kein  Interesse  ab.  Dagegen  schrieb  H.  eine  »Geschichte  des  Konzert- 
wesens in  Wien«,  die  er  seinem  Freunde  Eduard  Schön  (Engelsberg)  widmete. 
Das  Buch  faßt  vom  Jahre  1750  bis  1869,  da  es  erschien,  die  verschiedenen 
Ereignisse  im  Musikleben  Wiens  mit  Ausschluß  der  Oper  zusammen.  Die 
Studien  wurden  damals  auf  dem  Gebiete  der  Musikgeschichte  noch  nicht  in 
jener  strengen  Weise  betrieben,  wie  dies  jetzt  der  Fall  ist.  Man  darf  also 
nicht  an  dieses  Werk  den  wissenschaftlichen  Maßstab  unserer  Zeit  anlegen. 
Die  Leistung  ist  an  sich  verdienstlich;  die  hier  zusammengetragenen  Bausteine 
werden  jedenfalls  einen  Beitrag  bilden  für  die  Geschichte  der  Musik  in  Wien, 
deren  Schilderung  einer  späteren  Zeit  vorbehalten  ist  und  erst  ermöglicht 
wird  durch  die  allmähliche  Vertiefung  historischer  Studien  und  durch  die 
Erforschung  der  Denkmäler  aus  vergangener  Zeit. 

Nach  der  Veröffentlichung  dieses  Werkes  wurde  H.  zum  ordentlichen 
Professor  der  Geschichte  und  Ästhetik  der  Tonkunst  an  der  Wiener  Uni- 
versität ernannt.    Es  war  die  erste  ordentliche  Professur  für  Musik  in  deutschen 


Hanslick. 


347 


Landen.  Er  hatte  es  verstanden,  durch  einen  leicht  ansprechenden  Vortrag 
das  Interesse  seiner  Hörer  zu  erregen  und  sah  es  als  seine  Aufgabe  an,  die 
Geschichte  der  Musik  der  neueren  Zeit  in  einer  populär-wissenschaftlichen 
Weise  seinem  Hörerkreise  vorzutragen.  Durch  instruktive  Beispiele  belebte 
er  den  Vortrag.  Er  fand  es  nicht  unter  seiner  Würde,  am  Klavier  dem 
Auditorium  vorzuspielen  und  ein  oder  das  andere  Beispiel  auch  von  einem 
Sänger  vortragen  zu  lassen.  So  gelang  es  ihm,  Studierende  auf  das  Fach 
aufmerksam  zu  machen,  die  in  weiterer  Verfolgung  desselben  den  An- 
forderungen, welche  die  neue  Zeit  an  dasselbe  stellte,  zu  entsprechen  bestrebt 
waren. 

In  persönlichen  oder  wissenschaftlichen  Verkehr  war  er  mit  der  akade- 
mischen Jugend  nie  getreten;  dagegen  war  er  mit  der  Kunstwelt  in  regem 
Umgang.  Darüber  gibt  sein  Memoirenwerk  »Aus  meinem  Leben«,  welches 
zuerst  in  der  »deutschen  Rundschau«,  dann  in  Buchform  (2  Bänden)  erschienen 
ist,  näheren  Aufschluß,  ein  Werk,  in  welchem  seine  Vorzüge  als  Schriftsteller 
in  hellster  Weise  hervortreten.  Wir  begegnen  darin  fast  allen  Künstlernamen 
von  Rang  und  Bedeutung.  Eine  enge  Freundschaft  verband  H.  mit  Theodor 
Billroth,  dem  Chirurgen,  in  dessen  Hause  auch  Johannes  Brahms  gefeiert  und 
geliebt  wurde.  H.s  Beziehungen  erstreckten  sich  auf  alle  Länder  musikalischer 
Kultur.  Bei  den  Weltausstellungen  in  London  (1862),  in  Paris  (1867  und  1878)  fun- 
gierte er  als  Juror  und  Vertreter  der  österreichischen  Regierung.  Bei  dem  unter 
der  Patronanz  des  Kronprinzen  Rudolf  stehenden  Werke  »Die  Österreichisch- 
Ungarische  Monarchie  in  Wort  und  Bild«,  war  H.  musikalischer  Beirat  und 
verfaßte  für  dasselbe  den  Aufsatz  über  die  Musik  in  Wien.  Nicht  als 
Historiker,  wohl  aber  als  Kritiker  hat  H.  Schule  gemacht,  und  wenngleich 
seine  Ansichten  heute  nur  noch  von  wenigen  Kritikern  vertreten  werden,  so 
wirkt  sein  kritisches  Beispiel  auf  Stil  und  Behandlung  nach.  Da  jedoch  der 
Stil  etwas  rein  Persönliches  ist,  so  liegt  die  eigentliche  Bedeutung  seiner 
Tätigkeit  in  der  Stellung,  die  er  als  Kritiker  seinen  zeitgenössischen 
Erscheinungen  gegenüber  eingenommen  hat. 

Es  sei  davon  abgesehen,  aus  der  Flut  von  Nekrologen,  die  in  der  Tagespresse  oder 
in  Zeitschriften  erschienen  sind,  einen  oder  den  anderen  hervorzuheben.  H.s  Memoiren- 
werk bildet  die  Grundlage  für  die  Betrachtung  seiner  Persönlichkeit. 

Guido  Adler. 


Ergänzungen  und  Nachträge. 


Claus,  Adolf  Karl  Ludwig,')  Chemiker,  *  zu  Kassel  am  6.  Juni  1840, 
t  4.  Mai  1900  Gut  Horheim.  —  C.s  Vater  amtete  in  Kassel  als  kurfürstlich 
hessischer  Münzwardein.  Adolfs  einziger  Bruder  Karl  war  der  bekannte 
Zoologe  in  Wien.  In  seiner  Vaterstadt  absolvierte  C.  das  Gymnasium  und 
bezog  1859  die  Landesuniversität  Marburg,  um  Medizin  zu  studieren.  Schon 
im  nächsten  Semester  widmete  er  sich  unter  Hermann  Kolbes  Leitung  ganz 
der  Chemie,  für  die  er  schon  im  Vaterhaus  Interesse  gezeigt  hatte.  Von 
Marburg  ging  C.  auf  ein  Semester  nach  Berlin,  um  dann  an  die  Georgia 
Augusta  überzusiedeln,  an  der  er  1862  mit  einer  unter  Wöhlers  Leitung 
verfaßten  Arbeit:  »Acrolein  und  Acrylsäure«  promovierte.  Trotzdem  er  also 
nicht  bei  Kolbe  abschloß,  ist  er  doch  Zeit  seines  Leben  ein  echter  Kolbe- 
schüler  geblieben  und  hat  sich  als  solcher  gefühlt;  die  ungestüme  und  oft 
rücksichtslose  Art,  in  der  der  Meister  zuweilen  auftrat,  hat  sich  ungeschwächt 
auf  den  Jünger  vererbt. 

Noch  im  Jahre  seiner  Promotion  siedelte  C.  als  Assistent  Babos  nach 
Freiburg  i.  B.  über  und  dort  ist  er,  zuletzt  als  Nachfolger  desselben,  bis  an 
sein  Lebensende  geblieben.  1866  habilitierte  er  sich  mit  einer  Arbeit:  Ȇber 
die  Einwirkung  von  Ammoniak  auf  Acrolein  und  das  Studium  der  Zersetzungs- 
produkte des  Acroleinammoniakes  bei  der  trockenen  Destillation.«  1867  wurde 
er  Extraordinarius,  1875  Ordinarius  und  1883,  nach  dem  Rücktritt  seines 
einstigen  Chefs,  Direktor  des  chemischen  Institutes.  1900  wurde  er,  auf 
seinen  Antrag,  in  den  Ruhestand  versetzt,  erlag  jedoch  schon  nach  ganz 
kurzer  Zeit  auf  seinem  Gute  Horheim  dem  Leiden,  das  ihn  zu  seinem  Rück- 
trittsgesuch gezwungen  hatte.  C.s  Arbeiten  bewegen  sich  wohl  ausschließ- 
lich auf  dem  Gebiete  der  organischen  Chemie.  Ein  begeisterter  Anhänger 
der  Strukturchemie,  hat  er  sein  nicht  geringes  Können  ausschließlich  in  den 
Dienst  dieser  Auffassung  gestellt,  als  einer  der  typischen  Vertreter  jener 
aus  einem  Mißverstehen  der  genialen  Bildersprache  Kekules  erwachsenen 
Einseitigkeit. 

Von  der  programmatischen  Arbeit  aus  dem  Jahre  seiner  Habilitation: 
»Theoretische  Betrachtungen  und  deren  Anwendung  zur  Systematik  der  organi- 
schen Chemie«  an,  in  der  er  sich  als  ausgezeichneter  Theoretiker  ausweist, 
sind  seine  durch  eine  sehr  große  Anzahl  von  Schülern  bis  in  die  Einzelheiten 
verfolgten  Studien  zur  organischen  Synthese,  über  die  Stellung  der  Substi- 
tuenten  im  Chinolin,  und  über  ihren  Einfluß  auf  die  Bindungsverhältnisse  in 


»)  Totenliste  1900  Band  V  85*. 


Qaus.     Scheffer-Boichorst.  j^q 

fetten  und  aromatischen  Stoffen,  dann  die  vielfachen  Arbeiten  über  die  Alka- 
loide,  oder  die  aus  der  Anthracen-,  Phenanthren-  und  Naphtalinreihe,  die  über 
die  Isomerie  der  Oxime  usw.  alle  als  »Beiträge  zur  Strukturchemie«  zu 
bezeichnen,  womit  ihre  Vorzüge,  aber  auch  ihre  Mängel  in  gleicher  Weise 
gekennzeichnet  sind. 

Noch  einmal,  187 1,  ist  er  mit  einer  zusammenfassenden  Arbeit:  »Grund- 
züge der  modernen  Theorien  in  der  organischen  Chemie«  hervorgetreten. 
Auch  die  von  ihm  aufgestellte  und  in  manch  heißem  Strauß,  der  übrigens 
seiner  kampfesfrohen  Natur  offenbar  zusagte,  aufgestellte  Benzolformel,  mit 
den  diagonalen  Bindungen,  die  seinen  Namen  wohl  am  bekanntesten  gemacht 
hat,  ist  diesen  Strukturstudien  entsprungen.  Mit  dieser  hat  er  sich,  hier  in 
seiner  Eigenschaft  als  Oppositionsmann  aus  dem  eigenen  Lager,  der  es  wagte 
an  der  kanonischen  Bonner  Lehre  zu  rütteln,  ein  unzweifelhaftes  Verdienst 
erworben;  allerdings  auch,  und  auch  mit  seiner  hahnebüchenen  Art  der 
Kriegführung,  viel  Feinde  gemacht,  doch  gilt  in  diesem  Falle  sicher:  »Viel 
Feind,  viel  Ehr.« 

Seine  Lehrtätigkeit  beschränkte  sich  wohl  zumeist  auf  den  persönlichen 
Verkehr  mit  seinen  Schülern  im  Laboratorium,  vom  Abhalten  von  Vorlesungen 
war  er  kein  Freund,  ihm  war  der  praktische  Unterricht  durchaus  Hauptsache. 
Diese  an  sich  zweifellos  ganz  berechtigte  Auffassung  führte  ihm  eine  ungewöhn- 
lich große  Schar  von  Schülern  zu,  die  unter  seiner  Leitung  die  für  die 
Prüfung  nötige  wissenschaftliche  Arbeit  vollendeten,  so  daß  er  bereits  im 
Jahre  1897  den  fünfhundertsten  Doktor  promovieren  konnte,  aber  sie  brachte 
es  auch  mit  sich,  daß  die  »Doktorfabrik«  einigermaßen  in  Mißkredit  kam. 
Doch  blieben  auch  hier  die  guten  Folgen  nicht  aus.  Die  Nachahmung,  die 
das  Beispiel  an  anderen  Hochschulen  fand,  führte  dazu,  daß  endlich,  auf 
höheren  Wink  hin  aller  Orten  die  Promotionsbedingungen  für  die  Chemiker 
revidiert,  verschärft  und  vereinheitlicht  wurden,  ein  wenn  auch  unbeabsich- 
tigter, doch  sehr  anerkennenswerter  Erfolg. 

C.  war  seit  dem  Mai  1867  mit  Fräulein  Alice  Warder  aus  London  ver- 
heiratet. Der  schon  nach  sieben  Jahren  durch  den  Tod  der  Gattin  gelösten 
Ehe  entsprangen  vier  Kinder.  Georg  W.  A.  Kahlbaum. i) 

Scheffer- Boichorst,  Paul  Theodor  Gustav,  Professor  der  Geschichte  an 
der  Universität  Berlin,  Mitglied  der  Akademien  der  Wissenschaften  in  München 
und  Berlin,  der  bist.  Komm,  bei  der  k.  bayr.  Akademie  der  Wissenschaften, 
der  Zentraldirektion  der  Man,  Germ.  Aist,,  des  Beirates  des  kgl.  preuß. 
Institutes  in  Rom,  *  am  25.  Mai  1843  zu  Elberfeld,  f  am  17.  Januar  1902 
zu  Berlin.*)  —  Schon  als  Knabe  hatte  er  harte  Launen  des  Schicksals  zu  er- 
tragen. Sein  Vater  Bernhard,  der  aus  einer  angesehenen  begüterten  Münster- 
schen  Familie  katholischen  Bekenntnisses  stammte  und  Fabrikant  war,  verlor 
sein  Vermögen  und  mußte  sich  als  Handlungsreisender  fortbringen.  Da  die 
Mutter,  eine  Protestantin,  dies  Unglück  nicht  lange  überlebte,  kam  der  Knabe 
zu  den  Verwandten  von  väterlicher  Seite  nach  Warendorf  an  der  Ems,  wo 
er  das  Gymnasium  zurücklegte,  am  25.  August  1862   das  Zeugnis  der  Reife 


>)  Aus  Kahlbaums   Nachlaß,  A.  d.  H. 
s)  Totenliste  1902  Band  VII  98^. 


■>  CQ  Scheffer-Boichorst. 

erhielt.  Schon  während  der  Gymnasialzeit  hatte  er  sich,  erfüllt  von  den 
Idealen  der  großen  Dichter,  im  Gegensatze  gegen  seine  strenggläubigen  Ver- 
wandten entwickelt,  jetzt  versagte  er  sich  ihrem  Wunsche,  Geistlicher  zu 
werden  und  dadurch  in  den  Genuß  einer  ansehnlichen  Familienstiftung  zu 
treten.  Trotzdem  gewährte  ihm  der  Oheim  Anton  die  Mittel  zum  Studium 
der  Philosophie  und  Geschichte,  ja  der  junge  Student  erreichte  es,  daß  er 
statt  nach  Münster,  wie  der  Oheim  anfangs  gewollt  hatte,  nach  Innsbruck 
gehen  durfte,  wo  der  mit  ihm  entfernt  verwandte  Julius  Ficker  lehrte.  Hier 
fand  er  reichliche  Anregung  in  dem  Kreise  junger  Heimatsgenossen,  die  von 
der  Lehrtätigkeit  ihres  Landsmannes  Ficker  angezogen  worden  waren,  unter 
ihnen  Arnold  Busson,  August  von  Druffel,  Felix  Stieve,  und  fördernde  An- 
leitung durch  Alfons  Huber,  Karl  Stumpf-Brentano  und  Julius  Ficker.  Nament- 
lich der  Letztgenannte  hatte  des  jungen  Westfalen  Begabung  mit  raschem 
Blicke  erkannt  und  es  gerne  übernommen,  ihn  auf  die  Bahn  wissenschaftlicher 
Arbeit  zu  leiten.  Er  gab  seinen  Studien  die  Richtung  auf  die  Stauferzeit 
und  erwirkte,  daß  der  Oheim  die  Mittel  zur  Verfolgung  der  akademischen 
Laufbahn  bewilligte.  Doch  sollte  Seh.,  um  für  alle  Fälle  gerüstet  zu  sein, 
die  Lehrbefähigung  für  Mittelschulen  erwerben  und  sich  hierfür  zunächst  in 
Göttingen  vorbereiten,  wo  er  zwei  Semester  verbrachte.  Im  Oktober  1864 
ging  er  auf  Fickers  Rat  nach  Berlin.  Hier  vollendete  er  im  Frühjahr  1865 
seine  Erstlingsarbeit  über  Kaiser  Friedrichs  I.  letzten  Streit  mit  der  Kurie, 
deren  Drucklegung  durch  Fickers  Beihilfe  ermöglicht  wurde,  und  die  ihm 
vielfache  Anerkennung  eintrug.  So  schien  er  am  Anfange  einer  verheißungs- 
vollen Laufbahn  zu  stehen,  als  der  Oheim  sich  genötigt  sah,  die  ihm  bisher 
gewährte  Unterstützung  einzuschränken,  und  schon  machte  sich  Seh.  mit  dem 
Gedanken  vertraut,  der  gelehrten  Arbeit  zu  entsagen  und  sich  dem  Lehrfach 
zuzuwenden,  da  bot  ihm  Ficker  gegen  festen  Gehalt  auf  fünf  Jahre  die  Teil- 
nahme an  der  Neubearbeitung  der  Böhmerschen  Regesten  an  und  wies  ihm 
die  Regesten  von  Lothar  bis  zum  Tode  Heinrichs  VI.  zu.  Damit  war  die 
Absicht,  sich  dem  Mittelschullehramte  zu  widmen,  ein  für  allemal  aufgegeben. 
Im  Sommer  1867  erwarb  Seh.  an  der  Universität  Leipzig  die  Doktorwürde 
und  wandte  sich  ausschließlich  der  gelehrten  Arbeit  zu,  für  die  er  sich  als 
Häuptgegenstände  den  Kampf  zwischen  Kaiser-  und  Papsttum,  die  Beziehungen 
der  romanischen  Staaten  zum  Deutschen  Reiche  gewählt  hatte,  wobei  er 
auch  der  Geschichte  seiner  Heimat  nicht  vergaß.  Er  brachte  für  sein  Vor- 
haben ernsten  Willen  und  glückliche  Begabung  mit.  Wie  sein  Absehen 
immer  darauf  gerichtet  war,  durch  sorgfältige  Forschung,  scharfe  Beobachtung, 
strenge,  von  einer  lebhaften  Einbildungskraft  geförderte  Beweisführung  zur 
richtigen  Erkenntnis  vorzudringen,  so  war  er  anderseits  bemüht,  die  Form 
in  Einklang  mit  dem  Zwecke  und  Inhalt  seiner  Ausführungen  zu  bringen, 
durch  sorgsame,  unablässige  Besserung  und  Schulung  seine  Abhandlungen  zu 
künstlerischer  Vollendung  zu  führen. 

Wenn  Seh.  auch  schon  sehr  bald  zur  Erkenntnis  gelangt  war,  daß  der 
Einfluß  politischer  Strömungen  und  Ansichten  von  dem  wissenschaftlichen 
Betriebe  fernzuhalten  sei,  so  mußte  er  doch  zu  den  seine  Zeit  bewegenden  großen 
Fragen  Stellung  nehmen,  und  nichts  bringt  die  Selbständigkeit  seines  Wesens 
kräftiger  zur  Anschauung,  als  daß  er  ungeachtet  der  Verehrung  und  Dankbar- 
keit, die  er  Ficker  entgegenbrachte,  in  dieser  Beziehung  sich  von  ihm  trennte, 


SchefTer-Boichorst.  351 

im  Gegensatze  gegen  den  Lehrer,  der  auf  Grund  seiner  wissenschaftlichen 
Überzeugung  den  großdeutschen  Standpunkt  vertrat,  sich  für  die  Leitung  der 
deutschen  Sache  durch  Preußen  aussprach,  eine  Ansicht,  in  der  er  durch  den 
Aufenthalt  in  Berlin  und  den  Verlauf  des  Jahres  1866  bestärkt  wurde.  Und 
daran  vermochte  auch  nichts  zu  ändern,  daß  er  im  Juli  1867,  um  Ficker 
näher  zu  sein  und  die  Regesten  nachhaltiger  fördern  zu  können,  nach  München 
übersiedelte.  In  diesem  wichtigen  Mittelpunkte  gelehrter,  insbesondere  histori- 
scher Forschung  fand  er  manche  seiner  alten  Freunde  wieder,  zu  denen  neue 
kamen,  zu  W.  Gieseb recht  trat  er  in  nahe  Beziehung,  von  Döllinger  wurde 
er  auf  das  Studium  Dantes  und  der  Kirchengeschichte  als  eine  notwendige 
Ergänzung  seiner  bisherigen  Arbeitsrichtung  gewiesen.  Wenn  ihm  auch  der 
klerikal-partikularistische  Einschlag  in  dem  Leben  der  bayerischen  Haupt- 
stadt nicht  zum  besten  behagte,  fühlte  er  sich  doch  sehr  wohl  und  entfaltete 
eine  ungemein  eifrige  Tätigkeit,  die  namentlich  den  Regesten  zugute  kam, 
neben  denen  er  aber  auch  anderes  betrieb.  Trotzdem  sein  von  Kindheit  an 
schwächlicher  Körper  endlich  versagte  und  er  im  Herbste  1870  eine  schwere 
Krankheit  zu  überstehen  hatte,  vollendete  er  früher  begonnene  Arbeiten  über 
König  Philipp  IL,  August  von  Frankreich  und  über  Bernhard  von  Lippe,  den 
durch  seine  Eigenart  und  seine  seltsamen  Schicksale  anziehenden  westfälischen 
Herrn  des  XII.  Jahrhunderts,  daneben  begann  er  quellenkritische  Forschungen, 
als  deren  schönste  Frucht  die  meisterhafte  Wiederherstellung  der  Paderbomer 
Annalen  reifte,  gleichzeitig  beschäftigte  er  sich  mit  italienischen  Quellen- 
schriften und  wies  die  Florentiner  Geschichte  der  Malespini  als  Fälschung  nach. 
Die  Arbeit  über  die  Paderbomer  Annalen  verwickelte  ihn  in  einen  gelehrten 
Streit  mit  Georg  Waitz,  in  dem  er  mutig  und  gewandt  seinen  Standpunkt 
gegenüber  dem  großen  Meister  der  Forschung  vertrat.  Die  Sachkunde,  die 
er  darin,  in  anderen  Untersuchungen,  in  der  Besprechung  einzelner  Veröffent- 
lichungen der  Man.  Germ,  hist  bewies,  veranlaßte  Georg  Pertz,  ihm  die  durch 
den  Tod  Hermann  Pabsts  erledigte  Stelle  als  Mitarbeiter  an  dem  großen 
Unternehmen  anzutragen.  Mit  Einwilligung  Fickers  nahm  Seh.  das  Aner- 
bieten an  und  übersiedelte  im  Januar  1872  nach  Berlin.  Die  erste  ihm  zu- 
gewiesene Aufgabe  war  die  Bearbeitung  der  Chronik  des  Alberich  von  Trois- 
fontaines,  die  er  in  mustergültiger  Weise  durchführte  {Man.  Germ.  hist.  Script. 
XXIII.).  Einer  von  Pertz  gegebenen  Anregung  folgend,  veröffentlichte  er 
eine  Untersuchung  über  die  Gesta  Flarentinorum^  die  er  mit  der  älteren  über 
die  Malespini  und  einer  neuen  über  die  berühmte  Chronik  des  Dino  Campagni 
in  einem  Bande  (Florentiner  Studien,  Leipzig  1874)  vereinigte,  den  er  als 
Vorstudie  für  die  Beschäftigung  mit  Dante  betrachtete.  Diesen  gelesen  und 
erfaßt  zu  haben,  erachtete  er  mit  Döllinger  als  die  unerläßliche  Vorbedingung 
des  rechten  Verständnisses  für  das  mittelalterliche  Geistesleben.  Er  rühmte 
an  dem  großen  Dichter,  daß  er  sich  mit  der  bewußten  Forderung  nach  Wahr- 
heit über  den  unkritischen  Charakter  der  vorhergegangenen  und  eigenen  Zeit 
erhoben  habe;  verstanden  könne  Dante  aber  nur  im  Zusammenhange  der 
Florentinischen  Geschichte  werden.  Hatte  schon  die  Entlarvung  der  Malespini 
in  Italien  lebhaften  Widerspruch  gefunden,  der  nur  allmählich  verstummt  war, 
so  erregte  der  Angriff  auf  die  Chronik  des  Dina  Campagni^  diese  viel  be- 
wunderte Perle  italienischer  Geschichtschreibung,  allerorts  das  größte  Aufsehen 
und   es  entspann   sich  ein   hartnäckiger  Kampf,    in  dem  Seh.   endlich  doch 


352  Scheffer-Boichorst. 

zugeben  mußte,  daß  er  zu  weit  gegangen  war.  Wenn  er  auch  seinen  Haupt- 
satz, die  vollständige  Unechtheit  der  Chronik,  durch  die  Forschungen  Del 
Lungos  überzeugt,  mit  vornehmer  Wahrheitsliebe  zurückzog,  so  hatte  doch 
die  Anregung  zur  kritischen  Untersuchung  eines  Werkes  gegeben,  das  bisher 
ohne  Bedenken  in  vollem  Umfange  verwertet  worden  war.  Nach  dieser  Ab- 
schweifung kehrte  er  wieder  zur  Regestenarbeit  zurück  und  entfaltete  er  eine 
regsame  Tätigkeit  als  Rezensent,  in  der  er  die  Aufgabe  wissenschaftlicher 
Kritik,  die  Forschung  nicht  herabsinken  zu  lassen,  sondern  zu  erhöhter 
Leistung  anzuspornen,  vortrefflich  erfüllte. 

Mit  den  ihm  anfangs  unbequemen  Verhältnissen  in  Berlin  hatte  Seh.  sich 
im  Laufe  der  Zeit  vollständig  befreundet;  die  in  Aussicht  genommene,  dann 
auch  durchgeführte  Neuordnung  der  Mon.  Germ,  hist.,  aber  fand  nicht  seinen 
Beifall  und  so  empfand  er  lebhafter  das  Bedürfnis  nach  einer  andern  festen 
Stellung.  Darin  aber  sollte  ihm  nun  seine  kirchliche  Zugehörigkeit 
zum  Hindernis  werden.  Die  freiere  Geistesrichtung,  die  er  schon  am  Gym- 
nasium eingeschlagen  hatte,  war  durch  seine  Arbeiten  fester  begründet 
worden.  Seine  nationale  Gesinnung,  die  unerschütterliche  Überzeugung 
von  der  unbedingten  Freiheit  und  Reinheit  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
mußten  ihn  doppelt  empfindlich  machen  gegen  die  offene  und  versteckte 
Feindseligkeit,  mit  der  die  Ultramontanen  die  Gründung  des  Deutschen 
Reiches  begleitet  hatten,  gegen  die  Vermengung  religiöser  und  politischer 
Fragen,  gegen  das  Bestreben  des  Ultramontanismus,  die  Unterordnung  der 
Wissenschaft  unter  seine  Forderungen  zu  erzwingen.  Die  verhängnis- 
volle Verbindung  des  katholischen  Gedankens  mit  einer  bestimmten  politi- 
schen Partei  im  Reiche  mußte  ihn  mit  Widerwillen  erfüllen,  sein  klarer  Ver- 
stand, seine  Wahrheitsliebe  machten  es  ihm  unmöglich,  den  Widerspruch 
zwischen  der  geistigen  Entwicklung  der  Gegenwart  und  der  streng  kirchlichen 
Anschauung  zu  leugnen  oder  mit  einem  national-romantisch  gefärbten  Mystizis- 
mus zu  verdecken.  Entfernte  er  sich  auf  diesem  Wege  immer  mehr  von  der 
durch  den  Ultramontanismus  beherrschten  Kirche,  stand  er  von  vornherein 
dogmatischem  Streite  ablehnend  gegenüber,  so  war  er  doch  nicht  geneigt,  den 
Übertritt  zu  einem  der  evangelischen  Bekenntnisse  zu  vollziehen.  Für  Form  und 
Inhalt  dieser  fehlte  ihm  wohl  jedes  Verständnis,  zudem  wird  ihn  die  Scheu 
vor  dem  Verdachte,  durch  einen  Glaubenswechsel  sich  einen  äußeren  Vorteil 
zu  verschaffen,  zurückgehalten  haben.  Die  altkatholische  Bewegung  aber  hat 
er  trotz  seiner  Verehrung  für  Döllinger  von  Anfang  mit  berechtigtem  Zweifel 
an  ihrer  Lebensfähigkeit  betrachtet.  So  vermochte  er  nicht,  sich  einer  Konfes- 
sion und  schon  gar  nicht  einer  konfessionellen  Partei  werktätig  anzuschließen, 
wenn  er  aber  glaubte,  daß  sein  Bestreben,  auch  in  diesem  Betracht  die  Frei- 
heit und  Unbefangenheit  der  wissenschaftlichen  Forschung,  auf  die  er  sich 
ganz  zurückzog,  zu  wahren,  in  gelehrten  Kreisen,  die  hierfür  das  rechte  Ver- 
ständnis haben  konnten,  voll  gewürdigt  werden  müßte,  sollte  er  eine  Ent- 
täuschung erfahren.  Er  hatte  darüber  zu  klagen,  daß  die  deutschen  Universi- 
täten mehr  als  gut  von  dem  konfessionellen  Gegensatze  beherrscht  werden, 
beide  Parteien  ihm  mit  Mißtrauen  begegneten.  Erst  der  dringenden  Emp- 
fehlung, mit  der  Nitzsch  und  Wattenbach  für  ihn  eintraten,  hatte  er  es  zu 
danken,  daß  er  Anfangs  1875  als  außerordentlicher  Professor  an  die  Universi- 
tät  Gießen    berufen    wurde.      Damit   war    der   Bann    gebrochen,    schon   im 


Scheffer-Boichorst, 


353 


Frühjahr  1876  ging  er  als  Nachfolger  Julius  Weizsäckers  als  ordentlicher  Professor 
nach  Straßburg.  Hier  entfaltete  er  jene  außerordentlich  fruchtbare  Tätigkeit 
als  akademischer  Lehrer,  die  den  wirkungsvollsten  Inhalt  seiner  Lebensarbeit 
bildet.  In  sorgfältig  durchgearbeiteten  Vorlesungen  vermittelte  er  den  Zu- 
hörern zuverlässige  Kenntnis,  die  hauptsächlichste  Wirkung  aber  ging  von  den 
Übungen  in  dem  von  Weizsäcker  eingerichteten  Seminar  aus,  wo  er  die  von 
Ranke  und  Waitz  ausgebildete  Form  des  Unterrichtes  in  selbständiger,  von 
dem  Vorbilde  Fickers  befruchteter  Weise  handhabte.  Mit  der  zwingenden 
Kraft  seines  Wesens  führte  er  die  Schüler  auf  den  Weg  zur  Erkenntnis,  die 
Schärfe  der  Beobachtungsgabe  und  des  Denkens,  die  Pflichttreue,  mit  der  er 
in  seinem  Berufe  aufging,  das  unablässige  Streben  nach  Wahrheit,  der  Haß 
gegen  alles  Falsche  mußten  den  besten  Einfluß  auf  die  akademische  Jugend 
üben.  Strenge  in  seinen  Forderungen  verlangte  er  unbedingt,  daß  die  Schüler 
sich  mit  ihm  auf  den  Boden  wissenschaftlicher  Unbefangenheit  und  sorgfältiger, 
keine  Mühe  scheuender  Arbeit  stellten,  wurden  sie  dem  gerecht,  dann  gewährte 
er  ihnen  als  wertvollste  Gegengabe  den  engsten  Anschluß  in  persönlicher 
Beziehung.  Das  vertraute  Verhältnis  zu  den  Schülern  mußte  dem  Lehrer, 
der  einsam  durch  das  Leben  ging,  den  Ersatz  für  die  Familie  bieten,  es  half 
ihm  auch  über  manche  Verstimmung  hinweg,  welche  durch  die  von  ihm  aller- 
dings zu  ungünstig  beurteilte  Entwicklung  der  politischen  und  nationalen 
Verhältnisse  in  den  Reichslanden  verursacht  wurde. 

Während  die  Anregungen,  die  er  seinen  Schülern  gab,  sich  auf  ein  sehr 
weites  Forschungsgebiet  ausdehnten,  zog  er  sich  mit  seinen  eigenen  Arbeiten 
auf  einen  immer  engeren  Kreis  zurück.  Mit  dem  Buche  »Aus  Dantes  Ver- 
bannung (1882)«  hatte  er  nochmals  auf  seine  früheren  Studien  zurückgegriffen 
und  eine  schöne  Probe  seiner  Darstellungskunst  geboten,  in  der  Hauptsache 
beschränkte  er  sich  auf  kirchengeschichtliche,  verfassungsrechtliche  und  urkund- 
liche Untersuchungen;  in  diesen  berücksichtigte  er  auch  die  Geschichte  des 
Elsasses  und  des  Oberrheins,  die  er  daneben  durch  im  Seminar  gestellte  Auf- 
gaben und  durch  seine  Tätigkeit  als  Sekretär  des  für  die  Herausgabe  des 
Strafiburger  Urkundenbuches  eingesetzten  Ausschusses  nachhaltig  förderte. 

Wiederum  als  Nachfolger  des  im  Vorjahre  verstorbenen  Weizsäcker  kam 
er  im  Frühjahr  1890  nach  Berlin,  wo  er  die  in  Strafiburg  geübte  Lehrtätigkeit 
in  größerem  Maßstabe  fortführen  konnte.  Doch  fühlte  er  sich  nicht  so  wohl, 
wie  er  in  Erinnerung  an  die  frühere  Zeit  gehofft  hatte.  Im  Jahre  1899  erhielt 
er  einen  Ruf  an  die  Wiener  Universität.  Obwohl  er  Wien  sehr  schätzte,  an 
den  Äußerungen  eines  lebhaften,  dabei  doch  behaglichen,  seiner  künstlerischen 
Anlage  entsprechenden  Volkstums  seine  helle  Freude  hatte,  lehnte  er  ab. 
Im  Herbste  desselben  Jahres  wurde  er  zum  Mitgliede  der  Berliner  Akademie 
gewählt. 

Seine  wissenschaftliche  Tätigkeit  hatte  sich  in  diesen  Jahren  durchaus 
in  den  zu  Strafiburg  eingeschlagenen  Bahnen  fortbewegt.  Die  Regesten,  zu 
denen  er  immer  wieder  zurückkehrte,  und  für  die  er  auf  wiederholten  Reisen 
nach  Italien,  zu  denen  ihn  auch  seine  Sehnsucht  nach  dem  Süden  veranlafite, 
Nachforschungen  nach  neuem  urkundlichen  Stoffe  anstellte,  sollte  er  jedoch 
nicht  vollenden.  Es  rächte  sich,  daß  er  anfangs  die  auch  für  die  staufische 
Zeit  unerläßliche  Grundlage  formaler  Urkundenkritik,  die  er  irrigerweise  für 
eine  einseitige  Besonderheit  der  Methode  Sickels   hielt,  vernachlässigt  hatte. 

Riogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog^.    9.  Bd.  23 


354 


Scheffer-Boichorst.     Schwicker. 


Mehr  und  mehr  zog  er  sich  in  dieser  dritten  Berliner  Zeit  auf  sich  selbst 
zurück,  mehr  und  mehr  machten  sich  die  Wirkungen  einer  angestrengten, 
ununterbrochenen  Tätigkeit  fühlbar.  Das  eine  Auge,  über  das  allein  er  seit 
jungen  Tagen  verfügte,  drohte,  den  Dienst  zu  versagen,  ein  sich  langsam 
bildendes  Leberleiden  nahm  bedenkliche  Formen  an.  Noch  einmal  suchte 
er  im  Spätherbst  1901  das  vertraute  Warendorf  auf,  gleich  nach  der  Heim- 
kehr wurde  er  an  das  Krankenlager  gefesselt,  das  er  nicht  mehr  verlassen 
sollte.  Zarte  Fürsorge  der  Schüler  umgab  ihn,  zum  letzten  Male  leuchteten 
ihm  die  Lichter  des  nach  altem  Brauche  von  ihnen  aufgerichteten  Weihnachts- 
baumes, am  17.  Januar  1902  schied  er  aus  dem  Leben. 

Quellen:  Gesammelte  Schriften  von  Paul  Sch.-B.  2  Bde.  1903,  1905,  mit  dem  Bildnis 
des  Verfassers  (Hist.  Studien,  veröfT.  von  E.  Ehering  Heft  42,  43);  ebenda  Bd.  2,  399—413 
ein  Verzeichnis  der  Schriften  Sch.-B.  —  Hermann  Bloch  in  der  Hist.  Ztschr.  89  (1902), 
54 — 71;  £.  Dttmmler,  Gedächtnisrede  auf  P.  Sch.-B.  Berlin  1902  (Abh.  der  k.  preufi. 
Akademie  der  Wiss.);  derselbe  im  Neuen  Archiv  der  Ges.  für  ältere  deutsche  Geschichts- 
kunde  27  (1902),  768 — 770;  F.  Guterbock,  Aus  Sch.-B.  Leben  in  den  Gesamm.  Schriften 
I,  3 — 62;  K.  Hampe  in  der  Hist.  Vierteljahrschrift  5  (1902),  280 — 290;  Fritz  Kiener  in  der 
Ztschr.  für  Gesch.  des  Oberrheins  N.  F.  17  (1902),  381 — 385;  Wolfram  in  der  Strafiburger 
Post  vom  2.  Februar  1902.  Karl  ühlirz. 

Schwicker,  Johann  Heinrich, <)  Dr,  phiL,  Schulmann  und  Schriftsteller, 
♦  am  28.  April  1839  ^^  Neu-Bessenova  (Ujbesnyö)  im  Temeser  Komitat 
(Ungarn),  f  am  7.  Juli  1902  in  Budapest.  —  Früh  beider  Eltern  beraubt,  kam 
Seh.  1857  nach  Absolvierung  des  Lehrerseminars  in  Werschetz  als  Hilfslehrer 
nach  Csakova  (Torontaler  Kom.)  Schon  im  darauffolgenden  Jahre  wurde  er 
als  Hauptlehrer  nach  Groß-Becskerek  berufen,  wo  er  bald  zum  dirigierenden 
Lehrer  vorrückte.  Mit  eisernem  Fleiße  vervollständigte  er  die  Lücken*  seiner 
Studien  und  legte  1863  die  Mittelschulprofessorenprüfung  in  Budapest  mit 
vorzüglichem  Erfolge  ab.  Bald  darauf  erwarb  er  sich  auf  Grund  seiner 
Dissersation  »Ungarn  und  der  bayerische  Erbfolgekrieg«  den  Doktortitel  an 
der  philosophischen  Fakultät  der  Budapester  Universität.  Sein  hervorragendes 
Wirken  im  Kreise  der  Banater  Lehrerschaft  erregte  die  Aufmerksamkeit  des 
damaligen  ungarischen  Unterrichtsministers  Baron  J.  Eötvös,  der  ihn  im 
Jahre  1869  ^""^  Direktor  des  neuerrichteten  Zentral-Muster-Lehrerseminars 
in  Ofen  ernannte. 

Reibungen  mit  dem  Referenten  im  Ministerium  und  Intriguen  von  selten 
der  magyarischen  Kollegen  verbitterten  ihm  seinen  schweren  Beruf  und  so 
wurde  er  1872  auf  sein  eigenes  Verlangen  als  Professor  für  deutsche  Sprache 
und  Literatur  an  das  Leopoldstädter  Königl.  Obergymnasium  versetzt.  Gleich- 
zeitig habilitierte  sich  Seh.  als  Privatdozent  für  deutsche  Sprache  und 
I-,iteratur  am  Königl.  Joseph-Polytechnikum.  Unter  der  Regierung  Treforts  war 
er  als  dessen  Ratgeber  und  Mitarbeiter  bei  der  Ausarbeitung  der  Mittelschul- 
organisation tätig.  Einen  Einblick  in  diese  Zeit  gewähren  vor  allen  die  Ar- 
beiten Sch.s  über  »Das  ungarische  Unterrichtswesen«  (1879),  »Geschichte  der 
ungarischen  Gymnasien«  (1881),  »Ungarns  Volks-  und  Mittelschulen«  1882  und 
zahllose  Artikel  in  der  deutschen  Tagespresse  seines  Vaterlandes.  Für  seine 
Verdienste   um  das    ungarische   Mittelschulwesen    wurde    er  mit  der    großen 

»)  Totenlistc  1902  Bd.  VII  107*. 


Schwicker. 


355 


goldenen  Medaille  für  Kunst  und  Wissenschaft  (Pro  artibus  et  litteris)  aus- 
gezeichnet. Im  Jahre  1887  verließ  er  das  Lehramt  und  betrat,  zum  Reichs- 
tagsabgeordneten der  sächsischen  Stadt  Schäßburg  gewählt,  die  politische 
Laufbahn,  der  er  bis  zu  seinem  Tode  treu  geblieben  ist.  In  dem  Zeiträume 
von  1887 — 1902  hat  er  zunächst  den  Schäßburger  bis  1896  und  dann  den 
Grofiauer  Wahlkreis  als  Reichstagsabgeordneter  vertreten.  Als  solcher  hat  sich 
Seh.  mit  all  der  Treue  der  Gesinnung  und  all  dem  rastlosen  Fleiß,  der  ihm  eigen 
war,  in  den  Dienst  des  kleinen  siebenbürgisch-sächsischen  Völkchens  gestellt. 
Als  Parlamentarier  ist  er  wohl  weniger  hervorgetreten,  da  zur  Erfüllung  der 
Aufgaben  eines  solchen,  die  unter  den  unnormalen  Verhältnissen  des  unga- 
rischen Abgeordnetenhauses,  wo  es  am  wenigstens  darauf  ankommt,  durch 
die  Überzeugungskraft  sachlicher  Gründe  zu  wirken,  der  stille  Gelehrte  die 
nötigen  Eigenschaften  nicht  mitbrachte.  Immerhin  hat  er  mehrmals  im 
Reichstage  das  Wort  ergriffen,  so  besonders  im  Jahre  1898,  als  er  bei  Be- 
ratung des  Kongruagesetzes  für  die  nichtkatholischen  Geistlichen  in  ableh- 
nendem Sinne  sprach,  weil  die  Vorlage  die  Autonomie  der  Kirchen  beein- 
trächtige. Sch.s  Haupttätigkeit  als  Reichstagsabgeordneter  beschränkte  sich 
wie  die  so  vieler  sächsischer  Abgeordneten  auf  Interventionen  in  den  maß- 
gebenden Kreisen,  mit  denen  er  als  Mitglied  des  Unterrichtsausschusses  häufig 
in  Berührung  kam.  Auf  diese  Weise  konnte  er  der  evangelisch-sächsischen 
Kirche  manchen  Dienst  erweisen. 

Was  die  literarische  Tätigkeit  Sch.s  anbelangt,  so  läßt  sich  diese  in  zwei 
scharf  abgegrenzte  Perioden  einteilen.  Mit  jugendlichen  Idealismus  trat  er  als 
siebzehnjähriger  Jüngling  in  den  Schuldienst  ein.  Sein  Tagebuch,  das  er 
als  angehender  Volksbildner  sich  anlegte,  ist  voll  der  kühnsten  Pläne  und 
Entwürfe,  voll  von  Notizen  und  Bemerkungen,  die  er  in  der  einfachen  Schule 
gemacht.  Sein  rastloses  Streben  nach  höherer  Bildung,  sein  ernstes  und 
doch  sympathisches  Wesen  bewirkten,  daß  der  jugendliche  Autodidakt  an 
die  Spitze  der  südungarischen  Lehrerschaft  berufen  wurde,  daß  alte  ergraute 
Schulmänner  bereitwilligst  sich  ihm  unterordneten.  Zahlreiche  Briefe  und 
Zuschriften  der  südungarischen  Lehrerschaft  an  Seh.  legen  Zeugnis  dafür  ab, 
welchen  Einfluß  er  auf  seine  Kollegen  und  auf  seine  Stammesbrüder  aus- 
geübt hat. 

Diese  aber  liebte  er  von  ganzer  Seele  und  hell  glänzten  seine  Augen, 
wenn  jemand  das  Loblied  der  braven  Schwaben  sang.  Sch.s  rastlosem  Eifer 
verdankt  der  »Verein  der  südungarischen  Lehrer«  sein  Leben  und  wiederholt 
ist  er  dessen  Vorsitzender  gewesen.  Was  er  in  den  Versammlungen  des 
Vereins  nur  im  allgemeinen  mitteilen  konnte,  das  führte  er  später  im 
»Ungarischen  Schulboten«  und  in  der  »Ungarischen  Schulzeitung«  weiter 
aus.  Aus  dieser  Zeit  stammt  seine  »Deutsche  Sprachlehre«,  die  zwölf  Auf- 
lagen erlebte  und  auch  in  Österreich  eingeführt  wurde,  dann  sein  »Deutsches 
Sprach-  und  Stilbuch«,  das  lange  Zeit  das  einzige  seiner  Art  in  Ungarn 
war.  Als  Seh.  dann  vom  Heimatsboden  schied,  blieb  er  doch  noch  weiter 
mit  seinem  Volke  in  Berührung,  so  daß  dieses  ihn  noch  1870/71  zum 
Abgeordneten  des  autonomen  Katholikenkongresses  wählte.  Auch  blieb 
seine  pädagogische  Schulzeitung  noch  femer  bestehen  und  kam  sogar  in 
magyarischer  Sprache  als  »Tanügyi  Hirado«  heraus.  Doch  die  Fremde  übte 
allmählich    auch   auf  Seh.   ihre  Wirkung.     Andere  Pflichten,    der    erweiterte 

23* 


2  gö  Schwicker.     Schlesinger. 

Horizont,  das  intensive  politische  Getriebe  der  Hauptstadt  lenkten  ihn  mehr 
und  mehr  vom  pädagogischen  Gebiete  ab.  Auch  anderes  trug  zur  Schwächung 
dieser  seiner  literarischen  Tätigkeit  bei.  Vor  allem  die  Rückkehr  zu  seiner 
ersten  Neigung,  zur  Geschichtsforschung.  Und  damit  beginnt  bei  Seh. 
die  zweite  Periode  seiner  literarischen  Arbeit,  in  welcher  er  sich  fast  aus- 
schließlich mit  Geschichtsforschung  und  aktueller  Staatspolitik  befaßte.  In 
diesen  Zeitraum  gehören  vor  allen  die  folgenden  Arbeiten  Sch.s:  »Kardinal 
Martinuzzi«  (1874),  »Ungarische  Geschichtsbilder«  (1875),  »Statistik  von 
Ungarn«  (1878),  »Die  Vereinigung  der  serbischen  Metropolien«  (188 1),  »Un- 
garische Literaturgeschichte  (1886),  »Die  Deutschen  in  Ungarn«  (1881  u.  1887) 
—  Sch.s  vielleicht  meist  genanntes  Werk,  auch  jetzt  noch  das  umfassendste 
Buch  über  das  Deutschtum  in  Ungarn,  das  ihm  inner-  und  außerhalb  des 
Landes  einen  Namen  gemacht  hat.  —  »Die  Zigeuner  in  Ungarn«  (1887),  »Ge- 
schichte der  Militärgrenze«  (1889).  Hierzu  kommen  noch  Sch.s  »Allgemeine 
Geographie«  (1874)  und  »Geographie  von  Ungarn«  (1881).  Weiterhin  über- 
trug er  Benjamin  Kallays  »Geschichte  der  Serben«  und  gemeinsam  mit  Julius 
Schwarz  dessen  historisch-politische  Aufsätze,  vornehmlich:  »Die  Demokratie 
in  Athen«,  aus  der  ungarischen  in  die  deutsche  Sprache. 

Mit  diesen  Werken  war  jedoch  Sch.s  Arbeitskraft  nicht  erschöpft.  Eine 
große  Anzahl  vaterländischer  und  auswärtiger,  namentlich  deutscher  Zeit- 
schriften haben  Arbeiten,  die  aus  seiner  Feder  geflossen  sind,  veröffentlicht, 
so  insbesondere  die  »Augsburger«  später  »Münchener  Allgemeine  Zeitung«, 
deren  ständiger  Korrespondent  Seh.  für  Ungarn  war. 

Seh.  war  Mitglied  zahlreicher  gelehrter  Vereinigungen  in  Wien,  Prag, 
Berlin  und  Belgrad. 

Biogr.:  Wurzbach,  Biogr.  Lexikon  XXXII,  380.  —  Pallas,  Nagy  Lexikon.   XIV,    1005. 

Dr.  Fr.  Schul  1er. 

Schlesinger,  Julie,  ♦  24.  März  1815,  f  18.  Juli  1902  zu  Wien.  —  In  den 
Hochsommertagen  1902  erhielten  die  von  Wien  entfernten  Freunde  und  Ver- 
ehrer Julie  Schlesingers  Briefe  mit  von  ihrer  Hand  geschriebenen  Adressen, 
der  Hand,  die  über  drei  Jahre  gelähmt  war.  Intime  wußten,  daß  diese 
Schriftzeichen  der  lange  vorbereitete  letzte  Gruß  an  die  Freunde  war.  Die 
Briefe  enthielten  auch  die  Nachricht,  daß  die  Dulderin  ausgerungen  hatte. 
Nur  von  wenigen  geleitet:  der  getreuen  Nichte  Friederike  Kowy,  deren 
Gatten  und  Kindern  und  einigen  Freunden,  die  eben  in  Wien  weilten,  wurde 
sie,  die  inmitten  eines  großen  Kreises  Anteil  nehmender  gestanden  hatte,  zu 
Grabe  getragen.  Floria  Galliny  und  Elise  Gomperz,  die  in  den  letzten 
Leidenstagen  oft  bei  der  Kranken  geweilt  hatten,  machten  den  Freunden 
nähere  Mitteilungen,  die  diesen  verspätet  zukamen.  Sollte  dieser  einsame 
Abgang  der  Abschluß  des  überreichen  Lebens  sein?  Keine  Blume,  kein 
Wort,  keine  Zeile  ihr  von  den  Freunden  dargebracht  werden,  die  sie  in  un- 
erschöpflicher Güte  immer  neu  erfreut  hatte?  Dagegen  lehnte  sich  die  Liebe 
auf;  einmal  noch  sollte  ihr  Andenken  gemeinsam  geehrt  werden  durch  einen 
Privatdruck,  in  dem  Marianne  Hainisch,  Joseph  Lewinsky  und  Floria  Galliny 
der  seltenen  Frau  gedachten. 

Juliens  Eltern,  das  Ehepaar  Schiel,  stammten  aus  Breslau.  Der  Vater 
war  zur  Zeit  von  Juliens  Geburt  in  der  k.  k.  Staatsgießerei  in  Wien  bedienstet. 


Schlesinger.  ^57 

Später  errichtete  er  eine  eigene  Schriftgießerei,  der  erste  Jude  in  Österreich, 
dem  dies  bewilligt  wurde,  und  zwar  um  so  bemerkenswerter,  als  er  Aus- 
länder war. 

»Schon  als  vierjähriges  Kind«,  berichtet  Julie,  »wanderte  ich  in  die 
Schule.  Ich  lernte  rasch  und  gern,  ward  die  bevorzugteste  Schülerin  und 
verließ  mit  zehn  Jahren  die  Schule.  Daheim  erhielt  ich  noch  Unterricht  in 
fremden  Sprachen,  Klavierspiel,  Zeichnen.  In  Wahrheit  hatte  ich  weniger 
als  nichts  gelernt,  und  habe  dies  bis  zum  heutigen  Tage  ebenso  lebhaft 
empfunden  als  beklagt.  Am  27.  Mai  1829  fand  die  erste  Konfirmation  in 
der  Gemeinde  statt.  Im  Dezember  1837  schloß  ich  den  Bund  der  Ehe  mit 
einem  Verwandten  von  mütterlicher  Seite,  der  mir  seit  meiner  Kindheit  be- 
freundet war,  in  dessen  Hände  ich  mit  vollster  Zuversicht  das  Glück  meines 
Lebens  legen  konnte.  Ich»  las  viel  und  vieles.  Mein  Blick  fing  an,  sich  zu 
erweitem,  ich  gewann  andere  Einsicht  in  Verhältnisse,  in  das  Leben  wie  in 
die  Menschen  und  ward  dadurch  in  gewissem  Sinne  eine  andere.  Besseres 
aber  als  Bücher  hat  der  Umgang  mit  edlen  Menschen  für  mich  getan,  die 
auf  meinem  Lebenswege  zu  finden  ich  das  Glück  hatte. 

Zu  den  Freunden,  die  ich  aus  der  Kinderzeit  mit  ins  reife  Leben  hinüber- 
brachte, gehört  Frau  Therese  Meyer  geborene  Weikersheim.  Die  meine  Ge- 
spielin gewesen,  Ward  mir  Freundin  und  blieb  es  bis  zu  ihrem  für  die  Ihrigen 
und  für  viele  zu  früh  erfolgten  Tode.  Diese  Freundin  war  es,  die  mir  zu- 
erst Gelegenheit  bot,  mich  auf  humanitärem  Gebiete  zu  versuchen.  Der 
glückliche  Erfolg,  von  dem  mein  Wirken  beim  Theresien-Kreuzervereine  be- 
gleitet war,  flößte  anderen  Vereinen  Zutrauen  ein  und  es  trat  im  Jahre  1853 
der  Vorstand  des  israelitischen  Taubstummeninstituts  mit  der  ehrenden 
Frage  an  mich  heran,  ob  ich  dem  Vorstande  des  genannten  Instituts  bei- 
treten wolle.  Dieser  Vorstand  bestand  bis  dahin  nur  aus  Herren.  Es  hatte 
sich  aber  das  Bedürfnis  nach  der  Umsicht  und  dem  Rate  einer  Frau  bemerk- 
bar gemacht  und  der  Vorstand  hoffte  durch  mich  das  Vermißte  zu  finden. 
Gern  folgte  ich  der  an  mich  ergangenen  Aufforderung«  und  durch  25  Jahre 
war  Julie  S.  den  armen  taubstummen  Kindern  eine  Mutter.  Nahezu  täglich 
brachte  sie  Stunden  mit  denselben  zu  und  verkehrte  mit  jedem  einzelnen 
Kinde,  beobachtete  ^dessen  Entwicklung  und  förderte  es  nach  Möglichkeit. 
Zudem  führte  sie  den  Haushalt  des  Instituts,  der  für  die  Bedürfnisse  von 
weit  mehr  als  100  Personen  aufzukommen  hatte.  All  die  Anerkennung  und 
all  der  Dank  sowie  das  goldene  Verdienstkreuz,  das  Julie  S.  im  Jahre  1878 
»für  langjähriges,  gemeinnütziges,  humanitäres  Wirken«  verliehen  wurde, 
waren  nur  schwacher  Entgelt,  den  Lohn  fand  sie  im  Gedeihen  der 
Kinder. 

Mit  dem  Tode  ihres  Gatten  im  April  1883  begann  für  die  Witwe  ein 
völlig  verändertes  Leben.  Sie  verließ  Wien,  um  erst  nach  zwei  Jahren  zurück- 
zukehren. 

Im  Herbst  nahm  die  vereinsamte  Witwe  Aufenthalt  in  Gossensaß.  in 
der  winterlichen  Stille  und  Abgeschiedenheit  und  im  alleinigen  Verkehre  mit 
der  bäuerlichen  Bevölkerung  hoffte  sie  sich  am  besten  in  die  neue  Lage  zu 
finden.  Zwei  Winter  verbrachte  sie  dort,  nur  unterbrochen  durch  zeitweiligen 
Aufenthalt  in  München,  wohin  Paul  Heyse  sie  zog.  Sie  hatte  von  seinen 
ersten  Versuchen  an  das  innigste  Interesse  an  dem  steigenden  Wert  und  den 


^eg  Schlesinger. 

Erfolgen  des  Dichters  genommen.  Persönlich  war  sie  ihm  für  die  Teilnahme 
unwandelbar  dankbar,  die  er  ihr  bewiesen  hatte,  als  er  ihr  am  letzten  Tage 
von  Julie  Rettichs  Todesjahr  das  verständnisinnige  Gedicht,  das  seinen 
Dichtungen  einverleibt  ist,  mit  der  ihr  gewidmeten  »Syritha«  zusandte. 

Als  sie  nach  Wien  zurückkehrte,  vollendete  sie  ihr  siebzigstes  Jahr.  Die 
Freunde  erinnerten  sich  dessen  wärmstens,  wenn  sie  diesen  Geburtstag  auch 
nicht  so  feierlich  gestalteten  wie  den  der  geistesfrischen,  rüstigen  Achtzigerin. 
An  diesem  wurde  ihr  Ehrung  über  Ehrung  und  das  Haus  Nr.  lo  auf  der 
Mölkerbastei  dürfte  vordem  niemals  eine  so  stattliche  Auffahrt  gesehen  und 
soviel  Blumenschmuck  getragen  haben.  Wie  zehn  Jahre  früher,  fehlte  es  auch 
nicht  an  Zuschriften  und  Gedichten.  Eine  Huldigung  Betty  Paolis  ehrt  so- 
wohl die  Geberin  wie  die  Empfängerin  und  zudem  weckt  ihr  Name  die  Er- 
innerung an  die  »Drei«,  deren  Freundschaft  denkwürdig  bleibt  wie  ihr 
Wirken,  an  Marie  von  Ebner-Eschenbach,  Jda  von  Fleischl,  Betty  Paoli,  an 
die  drei  Freundinnen,  die  unserer  Julie  die  wärmste  Wertschätzung  zollten. 

Die  grenzenlose  Hingabe  der  opfermutigen  Frau  brach  schrofE  ab,  sobald 
sie  Unwürdigkeit  witterte;  denn  nur  würdigen  und  wahrhaft  Bedürftigen 
wendete  sie  ihre  Hülfe  zu.  Die  Unverstandenen,  die  in  ihrer  Eitelkeit  Ge- 
kränkten, die  Anmaßenden,  wie  die  sentimentalen  Weltschmerzler  kamen  bei 
ihr  schlecht  an.  Diesen  gegenüber  offenbarte  sich  die  Leidenschaftlichkeit, 
die  Strenge  und  die  Härte,  die  mit  zu  ihrem  Wesen  gehörten.  Gegen  die- 
jenigen, die  ihr  unwürdig  schienen,  war  sie  unnachsichtig  und  von  dem  ein- 
mal gefaßten  Urteile  auch  kaum  mehr  abzubringen. 

Ihrer  Beziehungen  zum  Burgtheater  gedenkt  Joseph  Lewinsky  folgender- 
maßen : 

Im  Hause  der  berühmten  Hof  Schauspielerin  Julie  Rettich  trafen  hervor- 
ragende Männer  aus  den  Gebieten  der  Poesie,  der  Gelehrsamkeit  und  des 
Staates  zusammen.  Eine  führende  Rolle  in  solchem  Kreise  zu  spielen,  war 
nur  einer  Frau  möglich,  die  eine  große  Persönlichkeit  war.  Dieser  außer- 
ordentlichen Frau  war  Julie  S.  durch  Eigenschaften,  die  sie  mit  ihr  gemein 
hatte,  die  intimste  Freundin.  Was  die  beiden  Frauen  einander  zuerst  nahe 
gebracht,  aber  bald  fürs  Leben  verbunden  haben  mag,  war  wohl  der  männ- 
liche Zug  ihres  Geistes.  Vom  Weibe  hatten  sie  beide  nur  die  adeligen 
Seiten,  nicht  die  sinnlich  gefälligen.  Sie  bezauberten  beide  den  Kopf  und 
das  Herz  der  Männer,  die  sie  kannten,  nicht  ihre  Sinne.  Ein  zweites,  inniges 
Band  umschlang  die  beiden  in  ihrer  grenzenlosen,  opferfreudigen  Liebe  zu 
den  armen  Kindern,  in  der  sich  den  beiden  Iduna  Laube  als  dritte  gesellte. 

Ein  dritter  Punkt  innigsten  Vereines  war  ihr  Verständnis  und  leiden- 
schaftliche Liebe  zur  Poesie;  auch  das  glänzendste  Talent  konnte  sie  nicht 
blenden,  nicht  täuschen  über  seinen  inneren  Wert,  Heyse  bestand,  als  er  in 
jugendlichem  Alter  in  diesen  Kreis  trat,  die  Probe  glänzend  und  mag  sich 
das  heute  noch  als  Meister  zur  Ehre  fechnen.  Von  der  Dichtergeneration 
der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  hatte  sie  Heyse  und  den 
ihm  so  verwandten  Wilbrandt  vor  allen  andern  ins  Herz  geschlossen  und 
unwandelbar  an  ihnen  gehangen  ihr  Leben  lang.  Der  hohe  Wert  dieser 
Liebe  lag  darin,  daß  dieselbe  nie  blind  wurde  für  Schwächen  einzelner  Werke, 
desto  fester  hielt  sie  an  allem,  was  gelungen  war,  denn  sie  begleitete  mit 
leidenschaftlichem   Interesse    diese  feinstimmigen  und  reichen  Talente   vom 


Schlesinger.     Loiro.  ^cn 

Beginne  ihrer  Laufbahn  mit  ebenso  tiefem  Verständnis  als  Herzensanteil  an 
ihrem  künstlerischen  wie  menschlichen  Schicksal. 

Julie  Schlesinger,    Gedenkblätter  von  Freunden   der  Freundin.    Wien,    24.  März  1903 
Privatdruck.    (Auszug). 

Lomiy  Hieronymus')  (Poetendecknamefür  Heinrich  Landesmann),  *9.  August 
182 1  zu  Nikolsburg,  f  3-  Dezember  1902  in  Brunn).  —  L.  ist  durch  sein  Leben 
und  Wirken,  durch  die  Eigenart  und  Tiefe  seiner  Entwicklung,  durch  den 
selbständigen  Gedankengehalt  der  Gedichte  und  philosophischen  Schriften 
aus  seiner  reifen  Zeit  eine  der  merkwürdigsten  Erscheinungen  der  deutschen 
Literatur  in  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Er  gehört  zu  den 
bedeutenden  Menschen,  die  aus  der  Not  eine  ganze  Reihe  werktätiger  Tugenden 
machten  und,  da  er  seine  persönliche  Not  zur  Vorstellung  der  allgemeinen 
menschlichen  Not  erhob,  und  von  den  Tugenden,  in  die  er  sie  verwandelte,  der 
Glanz  einer  schwer  erkämpften,  hochgestimmten  und  durchgeistigten  Zufrieden- 
heit ausging,  war  er  innerlich  berufen,  im  Dichten  und  Denken  als  Befreier, 
Helfer  und  Tröster  zu  wirken.  Seine  fröhliche,  angeregte  Jugend,  die  er  erst 
in  seiner  Vaterstadt  Nikolsburg  in  Mähren  und  dann  als  Universitätshörer  in 
Wien,  inmitten  einer  Familie  von  starken  geistigen  Interessen  verbrachte, 
hatte  früh  mit  physischen  Hemmnissen  zu  kämpfen.  Schon  mit  sechzehn 
Jahren  verlor  er  das  Gehör,  bald  darauf  stellte  sich  eine  Schwäche  des 
Gesichts  ein,  die  ihm  nur  mit  Mühe  zu  lesen  und  zu  schreiben  gestattete 
und  die  nach  und  nach  in  völlige  Blindheit  überging,  drei  Viertel  seines 
Lebens,  diejenigen,  denen  bleibende  geistige  Werke  zu  danken  sind,  sechzig 
von  achtzig  Jahren  war  er  nicht  im  Vollbesitz  der  beiden  Hauptsinne,  durch 
die  die  Außenwelt  an  den  Menschen  herandrängt.  Die  äufiere  Welt,  die  er 
beschrieb,  war  wesentlich  auf  die  Jugenderinnerung  gestellt;  ihre  späteren 
Veränderungen  und  das  geistige  Leben  langer  Jahrzehnte,  das  ihn  umgab, 
empfing  er  in  höheren  Jahren  nur  aus  zweiter  Hand.  Eine  sinnreiche  Schnell- 
schrift, die  er  mit  seinen  Angehörigen  vereinbart  hatte,  eine  Stenographie 
der  Finger  in  seiner  inneren  Handfläche,  vermittelte  ihm  die  Begebenheiten 
der  Welt,  die  poetischen  und  wissenschaftlichen  Bücher,  die  geschriebenen 
und  gesprochenen  Worte  der  Freunde,  mit  denen  er  im  regen  geistigen  Ver- 
kehre blieb.  Von  der  Liebe  seiner  Gattin  und  seiner  Kinder  umhegt,  verfaßte  er 
in  diesem  Zustande,  in  dem  ihm  auch  die  Freuden  geistiger  Geselligkeit  nicht 
versagt  waren,  Gedichte,  Novellen,  Romane,  philosophische  Werke,  die  nicht 
nur  den  Mangel  der  helfenden  Sinne  nicht  verrieten,  sondern  zum  Teil  sogar 
durch  Anschaulichkeit  der  Schilderung  und  tiefes  Eindringen  in  das  Gedanken- 
leben der  Mitwelt,  also  Vorzüge,  die  von  äußeren  Eindrücken  abhängig  sind, 
die  Wirkungen  des  Empfindungsausdrucks  und  des  originellen  Urteils  ver- 
stärkten. Wenn  die  Erwähnung  dieses  vielleicht  einzig  dastehenden  Phänomens 
der  Skizze  des  L.schen  Lebensganges  vorangestellt  wird,  so  geschieht  es  nicht 
um  seine  Erscheinung  in  die  Reihe  der  psychologisch-physiologischen  Kurio- 
sitäten hineinzustellen  und  die  Würdigung  seiner  literarischen  Werke  dadurch 
zu  einer  relativen  zu  machen.  Viele  Tausende  von  dankbaren  Lesern,  die 
von  L.s  Werken  Genuß,  Befriedigung  und  innere  Erbauung  empfangen  haben, 

«)  Totenliste  1902  Band  VII  67*. 


360  Lorm. 

hatten  keine  Ahnung  von  dem  schweren  persönlichen  Schicksal  des  Autors, 
das  der  Tapfere  sich  nicht  nur  zu  einem  erträglichen,  sondern  aus  eigener 
Kraft  zu  einem  glücklichen  gestaltete.  Und  die  Bedeutung  seiner  Werke 
wäre  ohne  das  Relief  der  stillen  Großtat  des  Gemüts  und  des  Geistes,  der 
sie  ihr  Dasein  verdanken,  objektiv  genommen  dieselbe  wie  unter  den  tatsäch- 
lich gegebenen  Verhältnissen;  dennoch  gehört  die  Erwähnung  der  Bedingungen, 
unter  denen  er  schuf,  wesentlich  zu   der  inneren  Geschichte  seines  Wirkens. 

Sein  Verhältnis  zur  Sinnenwelt  war  zweifellos  mitbestimmend  für  die 
Ausgestaltung  seiner  geistigen  Persönlichkeit;  weit  entfernt,  ihn  arm  zu  machen, 
hat  es  ihm  eine  besondere  Art  des  Reichtums  verliehen.  Die  Geräuschlosig- 
keit wurde  zur  fördernden  Ruhe  einer  konzentrierten  Entwicklung,  die  zur 
zweiten  Natur  gewordene  Entbehrung,  der  er  sich  völlig  angepaßt  hat,  zur 
Seele  eines  überlegenen  und  dabei  doch  sehnsüchtig  wehmütigen  Humors. 
Von  Haus  aus  eine  kontemplative  Natur,  vertiefte  er  sich  in  der  Zurück- 
gezogenheit. Das  äußere  Dunkel  war  gleichsam  das  Schutzdach  seiner  Origi- 
nalität, die  Stille  wirkte  als  Abwehr  zerstreuender  und  ablenkender  Ein- 
drücke. Mit  einem  erstaunlichen  Gedächtnis  und  einer  lebhaften  Phantasie 
begabt,  ließ  er  nie  merken,  was  ihm  fehlte,  wohl  aber  was  er  vor  Anderen 
voraus  hatte:  die  Innerlichkeit  der  Anschauung,  die  Versenkung  in  die 
Gedankengänge,  die  Heiterkeit  des  Weisen,  den  der  flüchtige  Wechsel  der 
Dinge  nicht  berührt.  Der  persönliche  Sieg  über  die  Materie  griff  notwendig 
wendig  in  sein  Schaffen  hinüber  und  machte  ihn  zum  Meister  in  der  Ver- 
mittlung jener  Stimmungen,  in  denen  wir  uns  minder  abhängig  vom  Drucke 
der  sinnenfälligen  Alltäglichkeit  fühlen.  In  seinen  Romanen  und  Novellen 
hat  er  mit  ausgesprochenem  Sinn  für  das  Gregenständliche  eine  bunte  soziale 
Welt  abgezeichnet  und  sogar  eine  besondere  Vorliebe  für  die  Fülle  anek- 
dotischer Begebenheit  gezeigt  —  aber  am  meisten  er  selbst,  eigentümlich  in 
der  Richtung  der  Beschaulichkeit,  in  der  Konsequenz  des  Denkens  und  in 
der  milden,  ruhigen  Klangfarbe  des  Stils,  ist  er  in  jenen  Büchern,  in  denen 
er,  zugleich  Poet  und  Denker,  seine  Auffassung  vom  Leiden  am  Leben  und 
seine  Kraft,  dieses  Leiden  in  ein  Genießen  zu  verwandeln,  an  die  Betrach- 
tung der  unvergänglichen  Dinge  anknüpft.  Hier  läßt  er  in  unserem  Innern 
eine  Saite  anklingen,  die  in  ihm  stärker  tönt  als  in  anderen  Menschen- 
gemütern; hier  führt  er  uns  mit  sanfter  aber  sicherer  Hand  auf  einen  Punkt, 
wo  wir,  taub  und  blind  gegen  alles  unwesentliche  Getriebe,  uns  als  einen 
Teil  des  ewigen  Geistes,  der  im  Naturleben  waltet,  fühlen. 

Der  äußere  Lebensgang  L.s  tritt  völlig  gegen  seinen  inneren  zurück. 
Zu  Beginn  seiner  Laufbahn  sehen  wir  ihn  jenen  trefflichen  jungen  Männern 
Österreichs  beigesellt,  die  gegen  den  Druck,  der  auf  dem  bürgerlichen  und 
geistigen  Leben  lastete,  mit  den  edlen  und  feingeschliffenen  Waffen  der 
Intelligenz  ankämpften  und  dadurch  den  Zorn  der  Zensur  erregten,  die  mit 
plumpen  und  machtlosen  Händen  den  hereindringenden  Strom  der  Erkenntnis 
abzuwehren  suchte.  L.  sprach  zunächst  als  Mitarbeiter  vormärzlicher  Zeit- 
schriften manches  freimütige  Wort  über  die  unhaltbaren  Zustände.  Sein  erstes 
Buch,  »Wiens  poetische  Schwingen  und  Federn",  das  im  Jahre  1846  erschien, 
und  das  gleich  den  Schriften  Anastasius  Grüns,  Moritz  Hartmanns  und 
Bauernfelds  die  Forderungen  der  neuen  Zeit  verkündete,  zog  ihm  Verfol- 
gungen zu,  die  ihn  zur  Flucht  nach  Deutschland  (erst  Leipzig,  dann  Berlin) 


Lorm.  261 

nötigten,  von  wo  er  während  des  Revolutionsjahres  nach  der  Heimat  zurück- 
kehrte, um  sich  der  Bewegung  anzuschließen.  Später  hat  er  in  der  Hut  seiner 
treuen  Gattin  Henriette  (geb.  Frankl),  die  seine  Pflegerin,  sein  Auge  und 
sein  Ohr  war,  und  die  bald  von  den  heranblühenden  Kindern  darin  unter- 
stützt wurde,  lange  Jahre  (1873 — 1892)  in  Dresden  gelebt.  Die  letzten  Lebens- 
jahre verbrachte  er  in  Brunn,  in  der  Nähe  des  älteren  seiner  beiden  Söhne, 
der  in  der  mährischen  Hauptstadt  als  praktischer  Arzt  tätig  ist. 

So  wenig  äußere  Ereignisse  seit  1848  in  das  Leben  des  Dichters  und 
Denkers  eintraten,  so  reich  gestaltete  sich  seine  innere  Entwicklung.  Auf  die 
»Poetischen  Schwingen  und  Federn«,  die  fein  gestimmte  Charakterbilder  der 
vormärzlichen  österreichischen  Poeten  boten  und  die  in  jenem  eigentümlich 
herausgeschliffenen  Stil  gehalten  waren,  der  durch  den  Druck  der  Zensur 
mit  bedingt  war  und  der  gleichsam  an  den  verhängten  und  verschlossenen 
Fenstern  des  Staatslebens  diamantartig  die  Kraft  der  Schneidigkeit  (erprobte, 
folgten  1848  die  »Gräfenberger  Aquarelle«,  die  noch  stark  durch  die  Zeit- 
stimmung beeinflußt  sind,  sich  wie  Meisterstücke  einer  anmutigen  Feuilleton- 
kunst lesen,  aber  schon  die  Wendung  ins  dichterisch  Freie  bezeugen. 

Die  Kunst  der  scharfen  Antithese,  die  Freude  am  Gleichnis,  das  eine 
Paradoxie  verkörpert,  die  Neigung  zur  bedeutsamen  Anekdote,  der  der  Geist 
im  Sinne  der  Paramythie  eine  neue  Wendung  gibt,  sind  L.  immer  treu  ge- 
blieben; aber  wenn  der  Witz  in  seinen  ersten  Werken  vorzuwalten  scheint, 
wird  er  später  in  die  Begleitung,  in  die  zweite  Stimme  zurückgedrängt.  In 
den  Gedichten  L.s,  von  denen  seit  1870  eine  Reihe  von  Sammlungen  (Hamburg 
und  Dresden)  erschienen  ist,  ist  die  das  Wort  formende  Klugheit  völlig  der 
Empfindung  dienstbar  gemacht;  wo  der  Witz  durchschlägt,  ist  es  der  philosophi- 
sche der  tiefen  Melancholie,  die  alles  bloß  Scheinende  dieses  Lebens  belächelt, 
das  Ungereimte  leidenschaftlicher  Regungen  aufdeckt  und  in  den  Gegensatz 
zwischen  heißen  Augenblickswünschen  und  der  ungestillten  Sehnsucht,  die 
durch  unsere  Existenz  selbst  gegeben  ist,  hineinleuchtet.  Der  Übergang,  der  sich 
in  den  epischen  Dichtungen  vollzieht,  spiegelt  eine  reiche,  aufwärtsstrebende 
Entwicklung.  Von  den  1848  erschienenen  Gräfenberger  Aquarellen,  durch  die 
zahlreichen  Novellen  und  Romane  hindurch,  geht  ein  psychologischer  Werde- 
gang des  Dichters,  an  dem  die  Gestalten  Anteil  haben.  Man  kann  dies  durch 
eine  lange  Reihe  von  Produktionen  verfolgen,  durch  die  Romane  »Gabriel 
Solmar«  (1868),  »Späte  Vergeltung«  (1879),  ^^^^  ehrliche  Name«  (1880),  »Der 
fahrende  (Geselle«  (Leipzig  1884),  »Außerhalb  der  Gesellschaft«  (1881),  »Kind 
des  Meeres«  (1882),  »Vor  dem  Attentat«  (1884),  »Beide  Töchter  des  Haupt- 
manns« (1888),  »Die  Geheimrätin«  (1891),  »Auf  dem  einsamen  Schlosse« 
(Breslau  1887),  wie  durch  die  Novellensammlungen  »Am  Kamin«  (Berlin  1857), 
»Erzählungen  des  Heimgekehrten  (1858),  »Intimes  Leben«  (Prag  1860),  »Novellen« 
(mehrere  Folgen  1864 — 1893),  in  denen  die  Vertreter  der  leidenschaftslosen 
Betrachtung  im  Gegensatze  zu  den  leidenschaftlicheren  Glücksjägern  immer 
mehr  in  das  Lebensrecht  eingesetzt  und  als  die  letzten  Sieger  im  Lebens- 
kampfe dargestellt  werden.  Im  Roman  »Der  ehrliche  Name«  z.  B.,  der  eine 
Fülle  von  Schicksalswechsel  vorführt,  und  aus  leidenschaftlichen  Begehrungen 
eine  spannende  Handlung  herausspinnt,  ist  das  physische  Übergewicht  über 
die  handelnden  Personen  und  die  Grundstimmung  der  wahren  Lebenskunst 
durch    ein    gealtertes,  unschönes  Mädchen  vertreten,   dem  die  Erzählung  in 


362 


Lonn. 


den  Mund  gelegt  ist  und  das,  durch  die  notgedrungene  Entsagung  vom  Wett- 
bewerb im  Lebenskampfe  ausgeschlossen,  sich  durch  Ironie  und  tätiges  Mit- 
leid über  diese  Kämpfe  erhoben  hat.  Die  Verinnerlichung  der  Gestalten 
in  L.s  Dichtungen  läßt  durch  die  Kunst  hindurch  jenen  Prozeß  erkennen,  in 
dem  er  sich  selbst  als  Denker  emporgeläutert  hat.  Er  ist,  wie  Leopardi,  der 
Sänger  des  Pessimismus  geworden,  aber  wenn  er  im  Vollton  der  Lebens- 
klage sich  mit  den  Besten  messen  kann,  die  das  Gefühl  lösen,  das  uns  vor 
der  Sphinx  des  Daseins  anwandelt,  so  ist  er  ganz  eigentümlich  in  der  Kraft, 
diesen  Lebensschmerz  derart  zu  objektivieren,  daß  er  vom  bewußten  All- 
gemeinleiden in  eine  Genugtuung  an  diesem  Bewußtsein  übergeht.  Zuletzt 
tönt  die  Klage  bei  ihm  in  die  Ahnung  einer  höheren  Welt  aus,  die  freilich 
nur  in  der  Empfindung  uns  zu  eigen  werden,  aber  diese  völlig  mit  Erkenntnis- 
freudigkeit und  beglückender  Sehnsucht  ausfüllen  kann.  Und  diese  Empfin- 
dung ist  iür  ihn  kein  Rausch,  in  den  er  sich  träumend  hineinversetzt,  sondern 
die  letzte  Zuflucht  einer  rastlosen  Gedankenarbeit.  Er  lehrt  den  Wert  der 
sogenannten  Daseinsfreuden  verneinen  und  vor  der  Verzweiflung,  die  sich  an 
solche  Zweifel  heften  könnte,  in  die  Befreundung  mit  der  Natur  hinüber- 
flüchten,  deren  Walten  nicht  mehr  grausam  erscheint,  wenn  man  sich  zu  der 
Vorstellung  erhebt,  ein  Element  ihrer  Unendlichkeit  zu  sein.  Und  auf  der 
Höhe  seiner  Entwicklung  tritt  diese  tiefernste  Arbeit  an  die  Aufgabe  heran, 
allen  Denkversuchen  nachzugehen,  die  die  intelligible  Welt  erschöpfen  wollten 
um  Allen  gegenüber  ein  Verhältnis  zu  den  letzten  und  höchsten  Lebensfragen 
zu  gewinnen. 

Diese  philosophisch -poetische  Entwicklung,  in  der  L.  das  Stoffliche 
immer  mehr  zurückdrängt,  um  dem  Wesen  der  erkenntnistheoretischen  Fragen 
nahezutreten  und  an  diese  die  Frage  nach  dem  Werte  aller  Erkenntnis  und 
dem  wahren  Lebensgenüsse  anzuknüpfen,  ist  in  einer  Reihe  L.scher  Bücher 
niedergelegt,  deren  Tiefe  und  Bedeutung  erst  allmählig  voll  erkannt  werden 
wird.  So  in  »Natur  und  Geist  im  Verhältnis  zu  den  Kulturepochen«  (Teschen 
1884),  in  dem  Buche  »Die  Muse  des  Glücks«  und  »Moderne  Einsamkeit« 
(Dresden  1894).  In  zweien  dieser  Bücher,  in  der  Skizzensammlung  »Der 
Abend  zu  Hause«,  die  der  Dichter  seiner  teuern  Freundin,  der  geistesver- 
wandten Poetin  Marie  von  Ebner-Eschenbach  gewidmet  hat,  und  in  der  für 
jeden  tiefer  angeregten  Leser  überaus  wertvollen  Schrift  »Der  Naturgenuß, 
eine  Philosophie  der  Jahreszeiten«,  sind  die  Perlen  philosophischer  Betrach- 
tung noch  mehrfach  an  episch-künstlerischen  Zügen  aufgefädelt,  während  in 
dem  Buche  der  Betrachtung  »Der  grundlose  Optimismus«  das  poetische 
Empfinden  lediglich  der  erkenntnistheoretischen  Untersuchung  den  Puls  und 
die  Farbe,  gibt  und  der  philosophische  Gehalt  den  ganzen  Bau  des  Werkes 
bestimmt.  In  der  Einleitung  zu  dem  ersterwähnten  Werk  spricht  L.  der  leiden- 
schaftslosen kontemplativen  Art,  das  Dasein  zu  nehmen,  den  Wert  des  höch- 
sten Lebensgenusses  zu.  »Das  Leben«,  sagt  er  da,  »sperrt  einen  leeren  Rachen 
auf,  der  fortwährend  mit  unserem  Tun,  Wirken,  Leben,  Genießen  gefüllt  sein 
will,  um  uns  nicht  zu  verschlingen.  Das  heißt  mit  anderen  Worten:  das 
Leben  an  und  für  sich  ist  nur  Langeweile.  Unsere  Zerstreuungen,  Ver- 
gnügungen, Beschäftigungen  dienen  nur  dazu,  uns  das  Leben  vergessen  zu 
machen.  Jeder  hat  seine  bestimmte  Lebenszeit,  Zeitvertreib  ist  daher  Lebens- 
vertreib.«  »Dennoch«,  heißt  es  weiter,  »hat  uns  die  Natur  eine  Anhänglichkeit 


Lorm.  ^63 

an    dies  öde  leere  Leben  eingepflanzt Der  Mensch  ist  immerdar 

ein  Kind,  das,  wenn  es  noch  so  spät  geworden,  nicht  gerne  schlafen  geht .  .  . 
Naturwissenschaft  und  Philosophie  werden  sich  noch  lange  mit  diesem  Wider- 
spruch zu  beschäftigen  haben  .  .  .«  Es  gibt  aber  einen  Zustand,  in  dem  die 
Ausgleichung  dieses  Widerspruchs  wenigstens  ahnungsweise  aufdämmert,  und 
dieser  Zustand,  der  etwas  märchenhaftes  hat,  ist  die  selbstgewählte  Einsam- 
keit, die  L.  einem  »kuriosen  Einkehrwirtschaftshaus  vergleicht,  das  außerordent- 
liche Genüsse  bietet  und  das  doch  von  jedermann  gemieden  und  nur  in  dem 
Falle  aufgesucht  wird,  wenn  ein  gar  zu  stark  losbrechendes  Wetter  keine 
andere  Zuflucht  übrig  läßt«.  Daß  diese  Genüsse  nicht  illusorisch,  vielmehr 
Befreiung  von  jeder  Illusion  und  die  zuversichtlichsten  Freuden  sind,  die  dem 
Sterblichen  beschieden  sein  können,  erweist  er  durch  eine  herzbewegende 
Spiegelung  dieses  stillen  Glückes  in  seinem  köstlichen  Buche  »Der  Natur- 
genufi«.  An  der  Heilung  eines  vom  Leben  Verwundeten  wird  da  die  trost- 
reiche Kraft  der  stillen  Hingebung  an  das  Naturleben  überzeugend  offenbart. 
Bei  der  Lektüre  dieses  merkwürdigen  Buches  hat  man  das  Gefühl,  daß  das 
Unausgesprochene,  das  in  Stifters  »Studien«  liegt,  hier  zu  Worte  gekommen 
ist  —  dort  die  künstlerisch  verschleierte  Philosophie,  hier  die  philosophisch 
verhüllte  Kunst. 

Wenn  aber  hier  noch  die  ästhetische  Auffassung  des  Lebens  überwiegt, 
so  erfüllt  L.  in  seinem  Buche  »Der  grundlose  Optimismus«  die  Aufgabe,  die 
er  in  seiner  Vorrede  im  »Abend  zu  Hause«  noch  vertagte  und  die  ihn  offen- 
bar viele  Jahre  innerlich  beschäftigt  hat :  er  geht  an  den  sein  ganzes  inneres 
Leben  zusammenfassenden  Versuch,  die  ethischen  Konsequenzen  kontem- 
plativen Verweilens  einleuchtend  zu  machen  und  den  Quietismus,  wie  er  ihn 
faßt,  nämlich  »die  Ruhe  der  Leidenschaft«,  die  mit  Lässigkeit  der  Pflicht- 
erfüllung und  Untätigkeit  des  Geistes  nichts  zu  schaffen  hat,  als  die  wahre 
Quelle  des  sittlichen  Lebens  aufzuweisen.  Einen  mühsamen,  steilen  und 
hochinteressanten  Weg  geht  L.  in  diesem  »Buche  der  Betrachtung«,  um 
an  ein  Ziel,  bei  dem  er  sich  beruhigt,  zu  gelangen.  Der  grundlose  Opti- 
mismus ist  die  volle  Auflösung  der  pessimistischen  Lebensdissonanzen,  die 
aus  manchen  seiner  früheren  Werke  hervortönten.  Um  zu  dieser  Auflösung  zu 
gelangen,  trennt  er  zunächst  den  flachen  Lebenspessimismus,  der  im  Grunde 
nur  die  banale  Antwort  auf  die  banale  Frage:  »Wie  geht  es  Ihnen?«  ist, 
von  dem  tiefen  und  furchtbar  ernsten  wissenschaftlichen  Pessimismus,  der  an 
die  engen  Grenzen  der  Erkenntnis  heranführt  und  als  dessen  Hauptvertreter 
er  Kant  ins  Auge  faßt. 

Was  die  Grenzen  unseres  Erkennens  a  priori  anlangt,  stellt  sich  L.  in 
seiner  tiefgreifenden  Ausführung  ganz  auf  den  Boden  der  Kantschen  »Kritik 
der  reinen  Vernunft«,  er  widersetzt  sich  aber  der  »Kritik  der  praktischen 
Vernunft«,  die  nach  seiner  Überzeugung  zuletzt  doch  wieder  einen  Versuch 
macht,  das  Meinen  zum  Wissen  zu  erheben.  Daran  reiht  sich  eine  ungemein 
scharfe  Kritik  der  Hegeischen  Ideenlehre,  der  Schellingschen  Naturphilosophie, 
der  Schopenhauerschen  Willenstheorie,  der  Hartmannschen  Lehre  vom  Un- 
bewußten und  des  Nietzscheschen  Übermenschen.  L.s  Polemik  gegen  Nietzsche, 
insbesondere  seine  Auflehnung  gegen  den  Nietzscheschen  »Prachtmenschen«, 
ist  eben  so  stark  in  den  Argumenten  wie  im  Temperament  der  Abwehr.  An 
diesem  Kampfe  fesselt  nicht  nur  die  Führung  der  geistigen  Waffe,  sondern 


364  Lonn. 

auch  das  Ringen  starker  Persönlichkeiten,  das  einen  geschichtlichen  Eindruck 
macht. 

Der  Gang  durch  alle  Systeme  aber  führt  den  Denker  zur  Idee  der  reinen 
Vernunft  als  grundlosem  Optimismus,  die  als  Sehnsucht  in  uns  gelegt  ist. 
Aus  der  Spaltung  der  menschlichen  Natur  in  ihre  verstandesmäßig  erkenn- 
bare und  in  die  nur  in  der  höchsten  Sehnsucht  der  Vernunft  vorhandene  und 
sonst  unerkennbare  Beschaffenheit  erklärt  er  das  Schamgefühl  der  Menschen 
in  beiden  Richtungen;  der  wahre  Edelmut  tue  das  Gute  im  Verborgenen, 
als  schäme  er  sich,  das  Unerklärliche  seines  Tuns  den  Augen  der  Verstandes- 
mäßigkeit, als  etwas  ihr  Fremdes,  Nichtzugehöriges  preiszugeben.  Ebenso 
suche  die  materielle  Persönlichkeit,  solange  sie  noch  unverdorben,  also  vom 
Intelligiblen  überhaucht  ist,  ihre  bloß  körperliche  Beschaffenheit  und,  was 
dem  intelligiblen  Anhauch  als  das  niedrigste  Werkzeug  der  gemeinen  Natur 
offen  widerspricht,  mit  unbesieglicher  Scham  zu  verbergen.  Die  menschliche 
Natur  ist  für  L.  in  einen  sich  überall  aufdrängenden  Pessimismus  und  in 
einen  magischen  unerklärlichen  Optimismus  zerfallen,  jener  ist  der  Egoismus, 
die  Erhaltung  des  Selbst,  dieser  die  Selbstverleugnung,  die  Überwindung  der 
Natur.  Der  mystische  Vereinigungspunkt  der  Gegensätze  ist  ihm  das  Gemüt, 
das,  vom  grundlosen  Optimismus  verlassen,  zur  Klaviatur  der  Leidenschaft 
wird,  und  das,  von  ihm  durchleuchtet,  auch  in  Naturen,  die  sich  nicht  der 
Erkenntnisgrenze  in  der  Richtung  auf  das  Unendliche  bewußt  werden,  als 
ein  mächtiger  Trieb  walte,  nämlich  als  die  reine  Herzensgüte.  Ohne 
durch  den  Pessimismus,  durch  die  Verneinung  des  Willens  zum  Leben  hin- 
durch zu  gehen,  gelangen  solche  Naturen  in  den  Besitz  des  Unerkennbaren 
und  zum  Willen  für  das  Leben  Anderer.  Wie  Kant  vor  dem  Begriffe  der 
Pflicht,  bricht  L.  vor  der  Erscheinung  der  Herzensgüte  zum  Schlüsse  seines 
Buches,  das  mit  dialektischer  Schärfe  alle  Anmaßungen  vom  Wissen  des 
Guten  abgelehnt  hat,  in  einem  Hymnus  aus,  der  in  den  Worten  gipfelt: 
»Der  Anblick  der  reinen  Herzensgüte  ergreift  und  erschüttert  tiefer  als  die 
Ideen  des  Denkers  und  die  Werke  des  Genies  .  .  .  .« 

L.  gehört  zu  den  Schriftstellern,  die  in  ihrer  allmähligen  Vertiefung  zu 
einer  Harmonie  des  Denkens  und  Fühlens  gelangten,  zu  der  die,  von  der 
Flut  flüchtiger  Interessen  umrauschte  Lesewelt  nur  langsam  zu  folgen  vermag. 
Der  Schatz  von  Gedanken  aber,  der  in  seinen  philosophischen  Schriften  liegt, 
die  Fülle  der  Empfindung  in  seinen  melodischen,  feingestimmten  Gedichten, 
in  denen  die  Gemütsquelle  seiner  Philosophie  rein  zutage  tritt,  gewinnen 
immer  mehr  genußfreudige  und  dankbare  Anhänger.  Dieser  blinde  Seher 
hat  für  lange  hinaus  geschaffen  und  den  Menschen,  die  der  Sammlung  und 
des  Grenusses  der  Selbstüberwindung  fähig  sind,  Unverlierbares  geboten.  Und 
selbst  über  die  Fülle  dieser  Darbietungen  hinaus  ist  nach  seinem  Tode  noch 
manches  von  der  reichen  Ernte  seines  Innenlebens  zu  erwarten.  Die  Heraus- 
gabe seiner  Briefe  durch  Prof.  Dr.  August  Sauer  und  die  Veröffentlichung 
seines  Nachlasses  durch  Philipp  Stein,  die  für  die  nächste  Zeit  bevor- 
stehen, werden  uns  noch  mit  manchen  wertvollen  Urkunden  seines  Innen- 
lebens vertraut  machen.  Beide  Herausgeber  werden  durch  L.s  Tochter  Marie, 
die  dem  Dichter  und  Denker  bei  seinem  Schaffen  mit  freudiger  Opferwillig- 
keit zur  Seite  stand,  wesentlich  unterstützt. 

Alfred  Klaar. 


von  Delbrück. 


365 


Delbrück,  Martin  Friedrich  Rudolf  von,i)  *  16.  April  181 7  zu  Berlin, 
t  I.  Februar  1903  ebenda.  —  Rudolf  von  D.  gehörte  zu  den  großen  Männern, 
deren  Namen  für  alle  Zeiten  unlösbar  mit  der  Geschichte  der  Wiedergeburt 
Deutschlands  im  19.  Jahrhundert  verbunden  sein  werden.  Sein  Lebenswerk  be- 
stand zunächst  in  der  Sicherung  und  dem  Ausbau  der  wirtschaftlichen  Einigung 
Deutschlands  im  Zollverein  und  später  im  Reich;  sein  Lebenswerk  war  ferner 
die  Neugestaltung  der  deutschen  wirtschaftspolitischen  Gesetzgebung  in  dem 
freiheitlichen  Geiste,  der  für  die  erwachende  wirtschaftliche  Kraft  und  Initiative 
des  deutschen  Volkes  die  Bahnen  erschloß;  und  nicht  das  letzte  seiner  Ver- 
dienste war  die  unmittelbare  Mitwirkung  an  der  politischen  Einigung  Deutsch- 
lands im  neuen  Reiche,  für  die  der  wirtschaftliche  Zusammenschluß  im  Zoll- 
verein die  unerläßliche  Vorarbeit  gewesen  war.  Sein  reiches  und  mit  der 
vaterländischen  Geschichte  auf  das  engste  verflochtene  Leben  kann  natürlich 
in  dieser  Skizze  nur  im  großen  Umriß  zur  Darstellung  gebracht  werden. 
D.  selbst  hat  zwei  Bände  »Lebenserinnerungen«  hinterlassen  (Leipzig,  Duncker 
&  Humblot,  1905),  die  allerdings  nur  bis  zum  Jahre  1867  reichen  und  mithin 
nur  die  Periode  des  Delbrückschen  Wirkens  bis  zur  Begründung  des  Nord- 
deutschen Bundes,  nicht  auch  Delbrücks  Tätigkeit  in  Bund  und  Reich  um- 
fassen. Aber  auch  in  dieser  zeitlichen  Beschränkung  sind  die  Lebenserinne- 
rungen D.s  nicht  nur  als  Autobiographie  sondern  als  Geschichtswerk  von 
außerordentlichem  Werte.  Der  Nationalökonom  G.  Schmoller  hat  den  ersten 
Band  der  »Erinnerungen«  als  »eines  der  wertvollsten  Denkmäler  der  preußischen 
Beamten-,  Geistes  und  Kulturgeschichte  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts« 
bezeichnet,  und  der  Historiker  M.  Lenz  hat  über  das  Gesamtwerk  geschrieben : 
»Das  Ganze  ist  nach  meinem  Dafürhalten  eine  der  wertvollsten  Quellen  zur 
Geschichte  unserer  Einheitsbewegung,  ja  mehr  als  das,  die  Darstellung  bereits 
selbst  eins  der  wertvollsten  Kapitel  aus  unserer  neueren  Geschichte.« 

Rudolf  Delbrück  wurde  am  16.  April  181 7  in  Berlin  geboren.  Seine  Familie 
war  niedersächsischer  Herkunft.  Ururgroßvater  und  Urgroßvater  waren  Geist- 
liche gewesen.  Der  Großvater  war  im  Jahre  1783  als  "»advacatus  curiae«^  und 
Ratsmann  in  Magdeburg  gestorben.  Rudolfs  Vater  hatte  Theologie  studiert; 
im  Jahre  1800  war  er  zum  Erzieher  des  preußischen  Krönprinzen,  des  nach- 
maligen Königs  Friedrich  Wilhelm  IV.  bestellt  und  einige  Jahre  später  auch 
mit  der  Erziehung  des  Prinzen  Wilhelm,  des  nachmaligen  Königs  und  Kaisers, 
betraut  worden.  In  dieser  seiner  Stellung  erwarb  sich  der  Vater  Delbrück  das 
besondere  Vertrauen  und  Wohlwollen  des  Königs  Friedrich  Wilhelm  III.  und 
der  Königin  Luise;  er  hatte  Gelegenheit,  in  jenen  bewegten  Zeitläuften  allen 
Personen  nahe  zu  treten,  die  durch  Geburt,  amtliche  Stellung  und  wissenschaft- 
liche Bedeutung  damals  in  Preußen  hervorragten;  für  den  Lebensgang  des 
Sohnes  ist  das  nicht  ohne  Bedeutung  gewesen.  Nachdem  im  Jahre  1809  die 
Tätigkeit  als  Erzieher  bei  den  Prinzen  ein  Ende  gefunden  hatte,  machte  der 
Vater  D.  größere  Reisen  und  widmete  sich  privaten  Studien.  Im  Jahre  181 5, 
in  bereits  vorgerücktem  Lebensalter,  vermählte  er  sich  mit  der  Tochter  eines 
Bürgers  und  Hausbesitzers  in  Potsdam. 

Bald  nach  der  Geburt  Rudolfs  siedelte  die  Familie  nach  Zeitz  über,  wo 
der  Vater  D.  die  Stelle  des  Superintendenten  übernahm.    Bereits  im  Alter  von 


«)  Totenliste  1903  Band  VIII  24*. 


ß66  von  Delbrück. 

6  Jahren  verlor  Rudolf  seine  Mutter,  im  Alter  von  13  Jahren  auch  seinen 
Vater;  er  wurde  in  dem  kinderreichen  Hause  seines  Oheims  Gottlieb  Delbrück 
untergebracht,  der  im  Jahre  1831  zum  Kurator  der  Universität  Halle  ernannt 
wurde.  Am  Pädagogium  in  Halle  bestand  Rudolf  im  Herbst  des  Jahres  1833 
die  Abgangsprüfung.  An  den  Universitäten  Halle,  Bonn  und  Berlin  widmete 
er  sich  juristischen,  historischen,  geographischen  und  volkswirtschaftlichen 
Studien.  Als  den  Schwerpunkt  seiner  Studien  bezeichnet  er  selbst  die  Ge- 
schichte, insbesondere  die  Beschäftigung  mit  dem  Xesen  und  Exzerpieren 
diplomatischer  Aktenstücke  aus  der  Zeit  Heinrichs  IV.  und  Ludwigs  XIII.  von 
Frankreich.  »Diese  Studien«,  so  schreibt  er  in  seinen  Erinnerungen,  »sind 
mir  in  meiner  späteren  Laufbahn  von  grofiem  praktischen  Nutzen  gewesen, 
weil  ich  an  einer  langen  Reihe  klassischer  Vorbilder  lernte,  wie  Instruktionen 
an  diplomatische  Agenten,  Berichte  solcher  Agenten  an  ihren  Hof,  diplo- 
matische Noten  und  Protokolle  zu  schreiben  sind.«  Aus  jener  Zeit  seiner 
Arbeiten  in  Rankes  historischem  Seminar  datiert  D.s  Bekanntschaft  mit  den 
späteren  Historikern  Waitz,  Sybel,  Wilhelm  Giesebrecht  u.  a. 

Die  historischen  Studien  hatten  in  D.  die  Neigung  geweckt,  den  aus- 
wärtigen Dienst  zu  seinem  Berufe  zu  machen.  Die  geringen  Aussichten  in 
diesem  Dienstzweige  veranlaß ten  ihn  jedoch,  den  Eintritt  in  die  innere  Ver- 
waltung ins  Auge  zu  fassen.  Entscheidend  dafür  war  eine  Besprechung,  die 
er  mit  dem  Direktor  im  Auswärtigen  Ministerium,  Eichhorn,  über  die  Berufs- 
wahl hatte.  Er  hat  seinen  Entschluß  nicht  bereut.  »Ich  habe  dieser  Unter- 
redung« —  so  schreibt  er  —  »später  oft  gedacht,  wenn  ich  mitunter  in  den 
nämlichen  Räumen,  in  welchen  sie  stattfand,  an  der  Gestaltung  unserer  aus- 
wärtigen Beziehungen  mitwirkte.  Ohne  dem  Auswärtigen  Ministerium  anzu- 
gehören, habe  ich  die  Tätigkeit,  welche  ich  mir  damals  gewünscht  hatte,  in 
vollstem  Maße  gefunden.« 

Nachdem  D.  im  März  1837  die  erste  und  Ende  1838  die  zweite  juristische 
Prüfung  bestanden  und  im  August  1839  sein  Referendariatspatent  erhalten 
hatte,  wurde  er  im  September  1839  ^^^  ^^^  Regierung  in  Merseburg  ein- 
geführt und  dort  in  den  verschiedensten  Zweigen  der  Verwaltung  beschäftigt. 
Während  seines  Militärjahres,  das  er  in  Berlin  bei  der  Artillerie  abdiente,  be- 
stand er  im  Juni  1842  die  dritte  juristische  Prüfung,  der  seine  Ernennung 
zum  Regierungsassessor  folgte. 

Unmittelbar  darauf  wurde  er  von  dem  Generalsteuerdirektor  Kühne  als 
Hilfsarbeiter  —  zunächst  allerdings  nur  für  eine  kurze  Frist  —  im  Finanz- 
ministerium eingestellt  (24.  Juli  1842).  Kühne  war  unter  dem  Finanzminister 
Maaßen  hervorragend  an  der  Gründung  des  Zollvereins  beteiligt  gewesen. 
Unter  Kühne,  zu  dem  er  bald  in  ein  enges,  persönliches  Verhältnis  trat,  hatte 
D.  "hauptsächlich  Gewerbesteuer-Kontraventionssachen  zu  bearbeiten,  eine 
Materie,  die  ihn  zwar  mit  den  Details  der  Steuerverwaltung  vertraut  machte, 
ihn  aber  im  übrigen  nicht  allzusehr  reizte.  Bereits  im  Sommer  1843  trat  er 
in  dtfe  Abteilung  für  Handel  und  Gewerbe  über.  Diese  stand  damals  unter 
der  Leitung  Beuths,  den  D.  »den  Erzieher  der  preußischen  Gewerbsamkeit« 
nennt.  Hier  hatte  er  zunächst  die  Angelegenheiten  der  Verkehrsanstalten  in 
den  beiden  westlichen  Provinzen,  später  die  technischen  Gewerbesachen  zu 
bearbeiten;  in  dieser  Stellung  fertigte  D.  das  erste  Patent  aus,  das  der  da- 
malige Artillerieleutnant  Werner  Siemens  erhielt. 


von  Delbrück. 


367 


Eine  kurze  Beschäftigung  in  der  Handelsabteilung  des  Finanzministeriums, 
während  welcher  er  insbesondere  eine  Denkschrift  über  die  Beziehungen  des 
Zollvereins  zu  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  auszuarbeiten  hatte,  leitete 
seinen  Übertritt  in  das  am  i.  Sept.  1844  neu  errichtete  Handelsamt  ein.  Das 
Handelsamt  war  eine  Halbheit  an  Stelle  eines  Handelsministeriums,  zu  dessen 
Errichtung  der  König  sich  damals  nicht  entschliefien  konnte;  D.  bezeichnete 
es  als  eine  »Behörde,  welche  anregen  und  begutachten  durfte,  aber  nichts 
anzuordnen  und  auszuführen  hatte«.  Für  D.s  persönliche  Ausbildung  jedoch 
war  die  Beschäftigung  in  dieser  neuen  Behörde,  innerhalb  deren  ihm  die 
Bearbeitung  der  auswärtigen  Handelsbeziehungen  überwiesen  wurde,  von  dem 
größten  Nutzen.     Er  ^Ibst  schreibt: 

»In  keiner  anderen  Stellung  wäre  es  mir  möglich  gewesen,  meiner  Aus- 
bildung diejenige  Reife  zu  geben,  welche  dieselbe  während  meiner  3i/2Jährigen 
Beschäftigung  beim  Handelsamt  erhielt;  denn  in  keiner  anderen  Stellung  hätten 
mir  die  gleichen  Mittel  und  die  gleiche  Zeit  dafür  zu  Gebote  gestanden.« 

Der  Gegenstand  seiner  Studien  war  einerseits  die  kommerzielle  Gesetzgebung 
des  Auslandes,  andrerseits  die  Lage  der  einheimischen  Industrie,  von  der  er 
sich  insbesondere  auch  durch  den  Besuch  und  die  eingehende  Besichtigung 
zahlreicher  Fabriken  ein  Bild  zu  machen  suchte. 

Diese  ruhige  Ausbildungszeit  kam  D.  in  ganz  außerordentlichem  Maße 
zugute,  als  er  im  April  1848  in  das  damals  endlich  ins  Leben  gerufene  Handels- 
ministerium übertrat,  in  welchem  er  im  Febr.  1849  zum  Regierungsrat  und 
bereits  im  Mai  desselben  Jahres  zum  Geheimen  Regierungsrat  und  vortragenden 
Rat  ernannt  wurde.  In  dem  neuen  Ministerium  fiel  D.  unter  den  verschiedenen 
Ministem,  die  im  Jahre  1848  einander  ablösten,  und  schließlich  unter  dem 
Minister  v.  d.  Heydt  infolge  seiner  Kenntnisse  und  Arbeitsfähigkeit  alsbald 
eine  besondere  Stellung  zu.  Er  war  von  nun  an  die  treibende  Kraft  der 
preußischen  Handelspolitik. 

Die  Zeiten  für  den  Zollverein  und  für  Preußens  handelspolitische  Stellung 
in  Deutschland  waren  damals  von  kritischem  Ernst.  Seit  einem  Jahrzehnt 
war  die  Entwicklung  des  Zollvereins  zum  Stillstand  gekommen..  Es  hatte 
den  Anschein,  als  ob  nichts  mehr  recht  gelingen  wollte.  Der  Versuch,  durch 
die  Beiziehung  Hannovers  das  Gebiet  des  Zollvereins  zu  ergänzen,  war  im 
Jahre  1840  gescheitert.  Die  Verhandlungen  mit  auswärtigen  Staaten  über  eine 
Regelung  der  Handelsbeziehungen  stockten  oder  schleppten  sich  mühsam  und 
ergebnislos  dahin.  Im  Innern  des  Zollvereins  herrschten  Meinungsverschieden- 
heiten zwischen  den  beteiligten  Staaten  über  Schutzzoll  und  Freihandel, 
welche  die  zeitgemäße  Fortbildung  des  Vereinstarifs  verhinderten.  Ja  selbst 
zwischen  den  einzelnen  preußischen  Ressorts  bestanden  Streitigkeiten  über 
die  Opportunität  einer  differentiellen  Politik  in  bezug  auf  Handel  und  Schiff- 
fahrt. Diese  Stagnation,  die  überall  in  Deutschland  die  Freude  am  Zollverein 
verdarb,  ging  in  eine  akute  Krisis  über,  als  Österreich  im  Jahre  1849  begann, 
sich  aus  Gründen  seiner  großdeutschen  Politik  in  die  Verhältnisse  des  Zoll- 
vereins einzumengen. 

Der  österreichischen  Politik  war  erst  verhältnismäßig  spät  ein  Licht  dar- 
über aufgegangen,  in  welchem  Maße  Preußen  durch  den  Zollverein  seine 
Stellung  in  Deutschland  befestigte  und  seiner  politischen  Vorherrschaft  den 
Boden  bereitete.     Erst   als   der  Fürst  Metternich  in  der  Leitung  der  öster- 


368  von  Delbrück. 

reichischen  Politik  durch  den  Fürsten  Schwarzenberg  abgelöst  worden  war, 
ließ  Osterreich  seine  bisherige  Gleichgültigkeit  und  Passivität  gegenüber  dem 
Zollverein  fallen.  Dem  Fürsten  Schwarzenberg  erschien  für  die  Erreichung 
seines  politischen  Zieles  —  ^Grofideutschland  unter  der  Leitung  Gesamtöster- 
reichs« —  der  handelspolitische  Zusammenschluß  zwischen  Österreich  und  den 
übrigen  deutschen  Staaten  als  die  notwendige  Voraussetzung.  Für  Preußen 
war  die  von  Osterreich  seit  1849  mit  aller  Energie  verlangte  Zolleinigung 
mit  Osterreich  aus  politischen  Gründen  unannehmbar;  nicht  minder  aus  wirt- 
schaftlichen Gründen,  denn  bei  der  Verschiedenheit  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung und  der  wirtschaftlichen  Interessen  mußten  die  beiden  Parteien  ganz 
entgegengesetzten  handelspolitischen  Zielen  zustreben,  Preußen  einer  mehr 
freihändlerischen,  Österreich  einer  streng  protektionistischen  Ordnung.  Poli- 
tisch und  wirtschaftlich  aber  konnte  Österreich  auf  die  Unterstützung  der 
süddeutschen  Staaten  rechnen,  deren  Machtstellung  Preußen  gegenüber  des- 
halb eine  besonders  große  war,  weil  sie  —  solange  Hannover  und  Oldenburg 
außerhalb  des  Zollvereins  standen  —  die  Brücke  zwischen  den  beiden  Hälften 
der  preußischen  Monarchie  bildeten. 

Die  von  Österreich  gemachten  detaillierten  und  ausführlich  begründeten 
Vorschläge  faßten  eine  stufenweise  Herbeiführung  der  Zolleinigung  ins  Auge. 
»Der  Plan  war  gut  ausgedacht.  Er  blendete  durch  sein  großes  Ziel,  er  schien 
ohne  erhebliche  Schwierigkeiten  ausführbar  zu  sein,  er  versprach  dem  Verkehr 
des  Zollvereins  greifbare,  mit  jeder  Periode  steigende  Vorteile,  er  verhieß  die 
Bildung  einer  handelspolitischen  Macht,  welche  durch  das  Schwergewicht 
ihrer  geographischen  Lage  und  ihrer  70  Millionen  Angehöriger  nicht  ihres- 
gleichen in  Europa  hatte.  Daß  er,  schon  vom  Beginn  seiner  Ausführung  an, 
dem  Zollverein  eine  selbständige  Handelspolitik  unmöglich  machte  und 
Preußen  jeder  eigenen  Aktion  beraubte,  schadete  ihm  außerhalb  Preußens 
sehr  wenig,  die  schutzzöllnerischen  Bestrebungen  in  Süddeutschland  und  die 
politischen  Tendenzen  der  Mittelstaaten  fanden  bei  ihm  ihre  Rechnung.  Daß 
er  für  uns  unannehmbar  sei,  stand  außer  Frage,  die  Frage  aber  war,  wie  wir 
ihm  begegnen  sollten.« 

D.  war  sich  von  vornherein  darüber  klar,  daß  man  dem  österreichischen 
Vorschlag  nicht  mit  einer  glatten  Ablehnung  entgegentreten  könne,  sondern 
nur  mit  Gegenvorschlägen,  welche  sich  die  berechtigten  Wünsche  nach  einer 
wesentlichen  Erleichterung  des  Handelsverkehrs  zwischen  Österreich  und  dem 
Zollverein  aneigneten.  Der  Vorschlag  der  vollständigen  Zolleinigung  zwischen 
beiden  Teilen  wurde  also  mit  dem  Vorschlage  einer  Annäherung  des  öster- 
reichischen Zolltarifs  an  denjenigen  des  Zollvereins  unter  Abschluß  eines 
Handelsvertrags  beantwortet.  Außerdem  aber  suchte  D.  den  Zollverein  gegen- 
über den  österreichischen  Aspirationen  in  sich  selbst  zu  festigen,  und  dafür 
war,  solange  die  Festigung  nicht  durch  den  territorialen  Ausbau  herbeigeführt 
werden  konnte,  der  damals  infolge  einer  zwischen  Preußen  und  Hannover 
herrschenden  politischen  Verstimmung  unmöglich  war,  der  einzige  Weg  eine 
zeitgemäße  Reform  des  Vereinstarifs.  D.  führte  in  jener  schwierigen  Zeit 
die  Verhandlungen  auf  diesen  verschiedenen  Gebieten.  Er  wurde  im  Früh- 
jahr 1850  zu  Verhandlungen  mit  den  österreichischen  Staatsmännern  nach 
Wien  geschickt,  er  vertrat  als  Bevollmächtigter  Preußens  dessen  Tarifvor- 
schläge auf  der  Generalkonferenz  des  Zollvereins  in  Kassel,   und  schließlich 


von  Delbrück.  369 

nahm  er  als  handelspolitischer  Sachverständiger  Preußens  an  den  Ende  1850 
in  Dresden  zusammengetretenen  »freien  Konferenzen«  teil.  Obwohl  ein  posi- 
tiver Erfolg  bei  der  Haltung  der  süddeutschen  Staaten  und  bei  der  durch 
die  territoriale  Zerrissenheit  bedingten  Schwäche  der  preußischen  Position 
nicht  zu  erzielen  war,  obwohl  die  Tage  von  Olmütz  eine  stark  deprimierende 
Wirkung  auf  den  Vorkämpfer  der  handelspolitischen  Hegemonie  Preußens 
ausüben  mußten,  verlor  D.  nicht  den  Mut,  bis  ihm  schließlich  der  in  aller 
Stille  vorbereitete  entscheidende  Zug  gelang. 

In  Hannover  hatten  politische  und  finanzpolitische  Sorgen  eine  günstigere 
Stimmung  für  einen  Zusammenschluß  mit  dem  Zollverein  aufkommen  lassen. 
D.  benutzte  seine  Anwesenheit  bei  den  »freien  Konferenzen«  in  Dresden,  um 
mit  dem  hannoverschen  Sachverständigen,  dem  Generalsteuerdirektor  Klenze, 
Fühlung  zu  nehmen  und  in  vertrauliche  Besprechungen  einzutreten,  die  ganz 
geheim  geführt  wurden  und  schließlich  im  August  1851  in  Magdeburg  bei 
der  Gelegenheit  von  Beratungen  über  die  Elbschiffahrtsverhältnisse,  bei  denen 
abermals  D.  und  Klenze  ihre  Staaten  vertraten,  zum  Abschluß  gebracht 
wurden.  Das  Ergebnis  des  Vertrags  war  der  Anschluß  des  »Steuervereins« 
an  den  Zollverein.  Damit  war  Preußen  und  dem  Zollverein  auch  für  den 
Fall  des  Ausscheidens  sämtlicher  süddeutscher  Staaten  ein  Gebiet  gesichert, 
das  an  Geschlossenheit  den  Zollverein  in  seinem  bisherigen  Zustande  erheblich 
übertraf.  Preußen  erkaufte  diese  entscheidende  Befestigung  seiner  Position, 
indem  es  Hannover  einen  Vorzugsanteil  an  den  Zolleinnahmen,  eine  Änderung 
in  der  Besteuerung  des  Salzverbrauchs  und  eine  Ermäßigung  der  Zollsätze 
des  Vereinstarifs  für  wichtige  Einfuhrwaren  zugestand. 

Der  Vertrag  zwischen  Preußen  und  Hannover  wurde  am  7.  September  1851 
unterzeichnet  und  alsbald  den  sämtlichen  Zollvereinsstaaten  mitgeteilt.  Preußen 
hatte  den  Vertrag  ohne  Zustimmung  und  Kenntnis  dieser  Staaten  abschließen 
können,  da  er  erst  am  i.  Januar  1854  in  Kraft  treten  sollte  und  da  die  Zoll- 
vereinsverträge bei  rechtzeitiger  Kündigung  am  31.  Dezember  1853  abliefen; 
und  Preußen  war  zu  der  Kündigung  entschlossen,  wenn  sich  nicht  die  süd- 
deutschen Staaten  bereit  finden  ließen,  auf  die  Zolleinigung  mit  Österreich 
zu  verzichten  und  die  Erneuerung  des  Zollvereins  auf  Grund  des  preußisch- 
hannoverschen  Vertrags  zu  akzeptieren. 

Es  ist  bekannt,  daß  diese  Politik  von  einem  vollen  Erfolge  gekrönt  war. 
Die  Versuche  einer  Zolleinigung  zwischen  Österreich  und  den  süddeutschen 
Staaten  scheiterten  schon  daran,  daß  Österreich  nicht  in  der  Lage  war,  den 
süddeutschen  Staaten  ihre  bisherigen  Zollrevenuen  zu  garantieren.  Österreich 
selbst  verzichtete  unter  diesen  Umständen  vorläufig  auf  seinen  Eintritt  in 
den  Zollverein  und  leitete  Verhandlungen  mit  Preußen  über  einen  Handels- 
vertrag zwischen  dem  Zollverein  und  Österreich  ein.  Die  Verhandlungen,  die 
vom  Dezember  1852  an  in  Berlin  geführt  wurden  und  an  denen  D.  abermals 
in  erster  Linie  beteiligt  war,  kamen  am  19.  Februar  1853  zum  Abschluß.  Der 
Handelsvertrag  enthielt  bedeutende  Zollermäßigungen  und  die  gegenseitige 
Meistbegünstigung.  Eine  platonische  Konzession  an  die  bisher  von  Öster- 
reich verfolgte  Politik  war  es,  daß  der  Vertrag  für  das  Jahr  1860  weitere  Ver- 
handlungen über  eine  völlige  Zolleinigung  in  Aussicht  nahm. 

Nachdem  nunmehr  auch  Österreich  sich  auf  diese  Weise  mit  Preußen 
geeinigt  hatte,  blieb  den  süddeutschen  Staaten  nichts  übrig,  als  sich  in  das 

BiogT.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrologf.    9.  Bd.  24 


370 


von  Delbrück. 


Unvermeidliche  zu  fügen  und  die  Zollvereinsverträge  auf  der  durch  den 
preußisch-hannoverschen  und  preufiisch-österreichischen  Vertrag  gegebenen 
Grundlage  zu  erneuem.  Die  im  März  1853  mit  den  süddeutschen  Staaten 
wieder  aufgenommenen  Verhandlungen  führten  auf  dieser  Basis  zu  einem 
raschen  Abschluß.  Der  Zollverein  ist  also  aus  dieser  schweren  Rrisis  ver- 
größert und  gefestigt  hervorgegangen. 

Die  während  der  kritischen  Zeit  auf  Veranlassung  Österreichs  beim  Bundes- 
tag im  Anschluß  an  die  Dresdener  Konferenzen  stattfindenden  handelspolitischen 
Beratungen  hatten  D.  vorübergehend  nach  Frankfurt  geführt  und  ihn  dort  in 
Beziehungen  zu  Otto  von  Bismarck  gebracht.  Am  10.  Juli  185 1  hatte  die 
Bundesversammlung  einen  handelspolitischen  Ausschuß  eingesetzt,  der  auf 
Andringen  Österreichs  beschloß,  am  i.  Oktober  185 1  eine  Konferenz  von 
Sachverständigen  zusammentreten  zu  lassen.  Preußen  entsendete  D.,  dessen 
Haltung  auf  diesen  Konferenzen  durch  den  Satz  gezeichnet  ist: 

»Je  weniger  wir  die  Absicht  hatten,  am  Bunde  etwas  zustande  zu  bringen, 
desto  weniger  wollten  wir  den  Schein  absichtlicher  Verschleppung  auf  uns 
laden.«  In  dieser  Politik  bestand  zwischen  den  Berliner  Instanzen,  D.  und 
Bismarck,  vollkommenes  Einverständnis,  wie  der  folgende,  vom  5.  Okt.  185 1 
datierte  Bericht  Bismarcks  an  den  Minister  von  Manteufiel  zeigt  (Poschinger 

I,  44): 

»Ich  habe   mich  mit  D.  dahin  verabredet,   daß   er  bis   auf  Euerer  Exzellenz  ferneren 

Befehl  im  »Allgemeinen«  sich  zu  allem  bereit  erklärt,  im  »Besonderen«  es  aber  zu  keinem 
Abschluß  kommen  läßt,  d.  h.  daß  er  sich  auf  dem  Gebiete  jener  überaus  wohlredenden  und 
zu  nichts  verbindenden  Erklärungen  bewegt,  welche  Preußen  über  die  Dresdener  Verhand- 
lungen abgegeben  hat.« 

D.  selbst  berichtet  über  sein  erstes  Zusammenwirken  mit  Bismarck: 

»Herr  von  Bismarck  war  wenige  Wochen  vor  meiner  Ankunft  in  Frankfurt  zum  Bundes- 
tagsgesandten ernannt;  ich  fand  ihn  und  seine  Frau  noch  beschäftigt  mit  der  Einrichtung 
der  Villa,  welche  sie  an  der  Eschenheimer  Landstraße  gemietet  hatten.  Wir  waren  uns  in 
Berlin  nur  sehr  flüchtig  begegnet,  erst  in  Frankfurt  lernten  wir  uns  kennen.  Ich  hielt  ihn 
für  einen  Tendenzpolitiker,  der  die  Förderung  der  konservativen  Interessen  zum  leitenden 
Gesichtspunkt  für  die  Behandlung  unserer  Beziehungen  zu  den  deutschen  Staaten  machen 
werde,  und  war  sehr  angenehm  überrascht,  als  mir  schon  nach  einigen  Tagen  klar  wurde, 
daß  meine  Ansicht  irrig  gewesen  sei.  Er  war  über  die  Bedeutung  des  Septembervertrags 
für  unsere  Politik  nicht  im  Zweifel,  und  als  er  die  Überzeugung  gewonnen  hatte,  daß  die 
Erhaltung  des  hannoverschen  Ministeriums  für  die  Ausführung  des  Vertrags  notwendig  sei, 
war  er  rasch  entschlossen,  bei  der  am  Bunde  schwebenden  Beschwerde  der  hannoverschen 
Provinziallandschaften  gegen  die  Regierung  das  konservative  Interesse  dem  preußischen 
Staatsinteresse  zu  opfern.  Es  kam  nicht  dazu,  weil  in  Hannover  die  Dinge  eine  andere 
Wendung  nahmen;  meine  Meinung  über  ihn  stand  aber  seit  diesem  Vorgange  fest,  so  wenig 
sie  auch  damals  von  meinem  Berliner  Kreise  geteilt  wurde.  Er  war  angenehm  berührt,  daß 
ich  gar  nichts  von  einem  »Berliner  Geheimrat«  an  mir  hatte,  und  so  befanden  wir  uns  in 
dem  besten  Einvernehmen.« 

Die  Jahre  nach  dem  Abschluß  der  glücklichen  Überwindung  der  den 
Bestand  des  Zollvereins  bedrohenden  Krisis  brachten  für  D.  zwar  keinen 
Müßiggang,  aber  doch  eine  gewisse  Ausspannung.  Das  Jahr  1853  führte  ihn 
nach  England  und  Amerika:  sein  Minister  sendete  ihn  als  Kommissar  zu  der 
damals  in  New -York  stattfindenden  Gewerbe-  und  Kunstausstellung,  mit  dem 
Nebenauftrag,  in  Washington  über  die  im  deutschen  Interesse  liegenden  Ab- 
änderungen des  amerikanischen  Zolltarifs  zu  sprechen.     D.  benutzte  die  Ge- 


von  Delbrück. 


371 


legenheit  zu  Orientierungsreisen  nach  Kanada  sowie  nach  dem  Westen  und 
Süden  der  Union.  Im  Mai  1855  ging  er  als  stellvertretender  Vorsitzender  der 
preußischen  Ausstellungskommission  zur  Eröffnung  der  ersten  französischen 
Weltausstellung  nach  Paris. 

Neben  dieser  Tätigkeit,  die  das  Angenehme  mit  dem  Nützlichen  verband, 
galten  die  Arbeiten  D.s  in  dem  Jahrzehnt  nach  der  Erneuerung  der  Zollver- 
einsverträge der  weiteren  Erleichterung  und  Sicherung  der  auswärtigen  Handels- 
beziehungen, der  Herbeiführung  von  Verkehrserleichterungen  im  Innern  des 
Zollvereins  sowie  der  zeitgemäßen  Ausgestaltung  der  wirtschaftlichen  Gesetz- 
gebung. 

Schon  in  den  Jahren  der  Zollvereinskrisis  war  unter  D.s.  wesentlicher 
Mitwirkung  ein  Handelsvertrag  mit  den  Niederlanden  zustande  gekommen, 
unterzeichnet  am  31.  Dezember  1851,  »der  umfassendste  Handelsvertrag,  den 
Preußen  jemals  geschlossen  hat«;  er  verwirklichte  zum  erstenmal  das  Prinzip 
der  unbedingten  Meistbegünstigung  für  Handel  und  Schiffahrt.  Um  dieselbe 
Zeit  wurden  Additionalkonventionen  zu  früheren  Verträgen  mit  Belgien  und 
Sardinien  abgeschlossen,  die  wesentliche  Verkehrserleichterungen  brachten. 
1855  bis  1862  wurden  die  wirtschaftlichen  Beziehungen  des  Zollvereins  mit 
Mexiko,  einer  Anzahl  südamerikanischer  Staaten  (Uruguay,  Argentinien,  Para- 
guay, Chile)  durch  den  Abschluß  von  Handelsverträgen  geregelt.  Im  Jahre 
1862  folgte  ein  Handelsvertrag  mit  der  Türkei.  Im  Jahre  1860  wurde  eine 
Mission  unter  dem  Grafen  Fritz  Eulenburg  nach  Ostasien  geschickt,  um  sich 
über  die  Bedeutung  dieser  Gebiete  für  die  Industrie  und  den  Handel  des 
Zollvereins  zu  orientieren  und  Handelsverträge  für  den  Zollverein,  die  beiden 
Mecklenburg  und  die  Hansestädte  mit  den  wichtigsten  Staaten  abzuschließen. 
Der  Eriolg  der  Mission  bestand  in  Handelsverträgen  mit  Japan,  China  und 
Siam.  »Der  sofort  in  die  Augen  fallende  Gewinn  lag  in  der  Stellung,  welche 
wir  als  Großmacht  neben  Großbritannien,  Frankreich,  Rußland  und  Amerika 
gegenüber  den  ostasiatischen  Reichen  errungen  hatten,  in  der  politischen 
Vertretung  des  ganzen,  nicht  zu  Österreich  gehörenden  Deutschland,  welche 
Osterreich  nicht  hatte  hindern  können,  und  in  dem  Eindruck,  welchen  das 
Erscheinen  unserer  Flagge  und  das  Auftreten  unserer  Diplomatie  auf  die  zahl- 
reichen in  Ostasien  etablierten  Deutschen  machte.  Es  war  ein  Stück  glück- 
licher aktiver  Politik,  welches  Preußen  als  gleichberechtigt  mit  den  See- 
mächten und  als  Träger  der  realen  Interessen  Deutschlands  im  fernen  Orient 
erkennen  ließ.« 

Über  seinen  eigenen  Anteil  an  diesem  Erfolg  schreibt  D. : 

»Meine  Mitwirkung  bei  diesen  Verträgen  konnte  sich  nur  in  engen  Grenzen  bewegen. 
Ich  besprach  mit  Graf  Eulenburg  die  bei  der  Aufstellung  der  Entwürfe  festzuhaltenden  Ge- 
sichtspunkte, ich  versah  die  kaufmännischen  Begleiter  der  Mission  mit  den  natürlich  sehr 
allgemein  gehaltenen  Weisungen,  ich  verfolgte  mit  dem  lebhaftesten  Interesse  den  Gang  der 
Verhandlungen,  und  ich  wirkte  mit  bei  den  Entschliefiungen  über  die  Ergebnisse.  Erteilung 
von  Instruktionen  im  Laufe  der  Verhandlungen  war  selten  möglich  und  selten  nötig,  denn 
eine  telegraphische  Verbindung  gab  es  noch  nicht,  und  die  Antwort  auf  einen  Bericht  aus 
Ostasien  fand  in  der  Regel  nicht  mehr  die  bei  Abgang  des  Berichts  vorhanden  gewesene 
Lage  vor,  zugleich  konnten  wir  überzeugt  sein,  daß  unser  Bevollmächtigter  erreichen  werde, 
was  zu  erreichen  möglich  war.« 

Die  Verkehrserleichterungen  im  Innern  des  Zollvereins,  die  in  jener  Zeit 
unter   D.s  Mitwirkung  durchgeführt  wurden   und  die  zum  großen  Teil  aus 

24* 


372 


von  Delbrück. 


D.  s  Initiative  hervorgegangen  sind,  bestanden  hauptsächlich  in  der  Aufhebung 
der  Durchgangsabgaben  und  in  der  Beseitigung  oder  Ermäßigung  der  Schiff- 
fahrtsabgaben auf  den  Binnenwasserstraßen.  Insbesondere  zu  erwähnen  ist 
die  erhebliche  Herabsetzung  der  Rhein-  und  Eibzölle  und  der  Schiffahrts- 
abgaben auf  Lippe  und  Ruhr,  die  Aufhebung  der  Moselzölle  und  die  Er- 
mäßigung der  Abgaben  für  das  Befahren  der  Wasserstraßen  zwischen  der  Oder 
und  Elbe  und  des  Bromberger  Kanals.  Dazu  kam  eine  Reduktion  der  Hafen- 
abgaben, insbesondere  für  die  zwischen  preußischen  Häfen  verkehrenden  See- 
schiffe. Auch  die  im  Wege  internationaler  Vereinbarung  erfolgte  Aufhebung 
des  Sundzolles,  durch  die  der  deutsche  Handel  von  einer  ungerechten  und 
schweren  Last  befreit  wurde,  ist  in  erster  Linie  ein  Verdienst  D.s  gewesen. 

Bei  der  inneren  wirtschaftlichen  Gesetzgebung  jener  Jahre  war  D.,  so  sehr 
auch  der  Schwerpunkt  seiner  Tätigkeit  in  der  Handels-  und  Verkehrspolitik 
lag,  gleichfalls  in  erheblichem  Umfange  beteiligt.  Aus  seiner  Feder  stammt 
der  Entwurf  zu  dem  Gesetz  vom  17.  Mai  1856,  durch  welches  das  Zollpfund 
=  500  g  als  allgemeines  Landesgewicht  in  Preußen  pingeführt  wurde.  Unter 
seiner  Leitung  sind  ferner  die  beiden  im  Jahre  1861  Gesetz  gewordenen 
Novellen  zur  Gewerbeordnung  ausgearbeitet  worden,  durch  die  zahlreiche 
unhaltbar  gewordene  Beschränkungen  des  Gewerbebetriebs  aufgehoben  oder 
wenigstens  gemildert  wurden.  Auch  an  dem  Zustandekommen  des  deutschen 
Handelsgesetzbuchs,  das  im  Jahre  1861  aus  schwierigen  und  langwierigen 
Konferenzen  der  deutschen  Bundesstaaten  hervorging,  hat  D.  einen  wesent- 
lichen Anteil.  Das  gleiche  gilt  von  allen  denjenigen  Maßnahmen  und  Ge- 
setzen, die  sich  in  jener  Zeit  auf  eine  Ordnung  des  Münz-,  Papiergeld-  und 
Bankwesens  richteten.  Insbesondere  war  er  beteiligt  an  der  im  Jahre  1856 
vorgenommenen  Neuorganisation  der  Preußischen  Bank,  welche  damals  ihre 
für  die  spätere  Reichsbank  in  den  meisten  Punkten  vorbildlich  gewordene 
Verfassung  und  die  durch  das  gesteigerte  Kreditbedürfnis  der  wachsenden 
Volkswirtschaft  gebotene  Bewegungsfreiheit  erhielt;  femer  an  der  gleichzeitigen 
Beschränkung  der  Ausgabe  des  preußischen  Staatspapiergeldes  und  des  Um- 
laufs der  außerpreußischen  Papiergeldzeichen,  der  sog.  »wilden  Scheine«; 
schließlich  an  dem  Wiener  Münz  vertrag  vom  24.  Januar  1857,  durch  den  das 
deutsche  Geldwesen  soweit  einheitlich  gestaltet  wurde,  als  es  ohne  die  Grund- 
lage der  politischen  Einheit  möglich  war.  Das  preußische  Münzgesetz  vom 
4.  Mai  1857,  durch  welches  das  preußische  Geldwesen  entsprechend  den  Be- 
stimmungen des  Wiener  Münzvertrags  neugestaltet  wurde,  ist  von  D.  verfaßt, 
der  sich  allerdings  vergeblich  darum  bemühte,  bei  dieser  Gelegenheit  die 
Zwölf teilung  des  Groschens  durch  die  dezimale  Einteilung  zu  ersetzen. 

Wer  D.  wegen  seiner  liberalen  wirtschaftspolitischen  Anschauungen  für 
einen  Doktrinär  hält  —  bei  uns  in  Deutschland  ist  es  ja  Sitte  geworden,  den 
wirtschaftlichen  Liberalismus  als  doktrinär  zu  bezeichnen  — ,  der  möge  sich 
die  Mühe  nehmen,  die  Ausführungen  nachzulesen,  die  D.  in  seinen  Lebens- 
erinnerungen bei  der  Besprechung  der  dem  Wiener  Münzvertrag  von  1857 
vorausgegangenen  Verhandlungen  über  den  damals  von  Österreich  zur  Dis- 
kussion gestellten  Vorschlag  auf  Übergang  zur  Goldwährung  macht.  Bekannt- 
lich hat  D.  nach  der  Gründung  des  Reichs  auf  das  lebhafteste  den  Übergang 
zur  Goldwährung  vertreten ;  die  Gegner  behaupten,  aus  theoretischem  Doktri- 
narismus.   Wie  wenig  das  der  Fall  war,  wie  sehr  vielmehr  D.  die  wirtschafts- 


von  Delbrück. 


373 


politischen  Fragen  nach  der  praktischen  Sachlage  beurteilte,  zeigt  seine  Be- 
gründung der  ablehnenden  Haltung,  die  damals  —  im  Jahre  1854  —  Preußen 
gegenüber  dem  österreichischen  Vorschlage  einnahm. 

Wir  kannten  —  so  schreibt  D.  —  sehr  wohl  die  Vorzüge,  welche  das  Gold  als  Münz- 
metall vor  dem  Silber  voraus  hat,  wir  waren  uns  der  Vorteile  wohl  bewufit,  welche  die 
Goldwährung  für  den  internationalen  Verkehr  darbietet,  aber  wir  konnten  aus  diesen  Vor- 
zügen und  Vorteilen  ein  Bedürfnis  nicht  herleiten,  unser  wohlgeordnetes  Münzwesen  unter 
Aufwendung  sehr  großer  Mittel  durch  ein  anderes  zu  ersetzen.  Und  die  Annahme  eines 
ganz  neuen  Münzsystems  wurde  von  uns  verlangt.  Zwar  gestattete  der  Vorschlag  den  Über- 
gang zur  Doppelwährung,  aber  für  dieses  System  erhob  sich  keine  Stimme ;  die  Erfahrungen, 
welche  Frankieich  gerade  damals  mit  seiner  Doppelwährung  machte,  würden  allein  schon 
vor  derselben  zurückgeschreckt  haben.  Es  blieb  nur  die  Einführung  der  reinen  Goldwährung 
übrig.  Die  Voraussetzungen,  durch  welche  17  Jahre  später  diese  Mafiregel  möglich  gemacht 
wurde,  waren  damals  nicht  vorhanden.  Die  660000  kg  Gold,  welche  im  Laufe  dieser  Jahre 
gewonnen  wurden,  lagen  noch  im  Schöße  der  f^rde,  und  wir  befanden  uns  nicht  im  Besitze 
der  gewaltigen,  in  Gold  realisierbaren  Forderungen,  welche  uns  im  Jahre  1871  die  franzö- 
sische Kriegskostenentschädigung  zuführte.  Oberhaupt  aber  war  die  Goldwährung  in  einem 
Verein  souveräner  Staaten  nur  denkbar,  wenn  gleichzeitig  auf  die  Umlaufsf^igkeit  der  von 
den  einzelnen  Staaten  geprägten  Silbermünzen  in  dem  Verein  verzichtet  wurde.  Denn  da 
diese  Münzen  unterwertig  ausgebracht  werden  mußten,  so  durften  sie  nicht  in  größeren 
Mengen  ausgeprägt  werden,  als  zur  Ausgleichung  der  kleinen  Zahlungen  unbedingt  erforder- 
lich war,  und  da  die  Abmessung  dieser  Menge,  in  Ermangelung  einer  Zentralinstanz,  den 
einzelnen  Staaten  überlassen  werden  mußte,  so  hätte  eine  Gewähr  für  die  Aufrechterhaltung 
der  Goldwährung  nur  in  dem  gegenseitigen  Verbote  des  Umlaufs  von  Silbermünzen  ge- 
funden werden  können.  Nicht  eine  Verbesserung,  sondern  eine  kaum  erträgliche  Ver- 
schlechterung des  bestehenden  Zustandes  würde  eingetreten  sein.« 

Während  der  geschilderten  Periode  des  Ausbaus  des  Zollvereins  erfuhr 
auch  die  äußere  Stellung  D.s  eine  Veränderung;  er  wurde  im  Oktober  1859 
zum  Ministerialdirektor  ernannt.  Über  seinen  Geschäftskreis  und  über  das 
Ziel,  das  er  in  der  neuen  Stellung  verfolgte,  führt  D.  in  seinen  Erinnerungen 
folgendes  aus: 

»Die  Ministerialabteilung,  zu  deren  Direktor  ich  ernannt  wurde,  überragte  damals  durch 
die  Vielseitigkeit  ihres  Geschäftskreises  alle  anderen  Ministerialabteilungen :  sie  umfaßte  die 
Gesamtheit  der  wirtschaftlichen  Interessen  des  Landes  mit  Ausnahme  der  landwirtschaft- 
lichen, die  Handelsverhältnisse  zum  Auslande  und  die  Besteuerung  des  Verkehrs  mit  dem- 
selben, die  Abgaben  vom  inneren  Verkehr,  die  Einrichtungen  zur  Förderung  des  Handels, 
der  Schiffahrt  und  der  Gewerbsamkeit,  die  gesamte  Gewerbepolizei,  mit  Ausschluß  der 
Preß-  und  Schankgewerbe,  die  gewerblichen  Unterrichtsanstalten,  einschließlich  der  Schiff- 
fahrtsschulen, das  Geld-  und  Bankwesen,  Maß-,  Gewichts-  und  Eichungswesen  waren  ihr 
überwiesen,  bei  einem  Teil  dieser  Materien  unter  Mitwirkung  des  -  Finanz-  oder  Auswärtigen 
Ministeriums.  .  .  Über  das  Ziel,  welches  ich  in  meiner  neuen  Stellung  zu  verfolgen  hatte, 
war  ich  keinen  Augenblick  im  Zweifel.  Es  galt  die  Befreiung  des  Wirtschaftslebens  durch 
Aufhebung  oder  Erleichterung  von  Beschränkungen  oder  Lasten,  welche  der  inneren  Be- 
rechtigung entbehrten,  oder  eine  Ermäßigung  ohne  Gefährdung  des  allgemeinen  Interesse 
zuließen«. 

Für  die  Arbeit  D.s  nach  dieser  Richtung  hin  eröfhiete  sich  eine  neue 
Ära  mit  dem  am  23.  Januar  1860  abgeschlossenen  Handelsvertrage  zwischen 
England  und  Frankreich.  Mit  diesem  Vertrag  beseitigte  England  seine  sämt- 
Hchen  noch  vorhandenen  Schutzzölle  und  ging,  indem  es  nur  noch  Finanzzölle 
bestehen  ließ,  zum  reinen  Freihandelssystem  über.  Frankreich  beseitigte  seine 
Einfuhrverbote  und  gestand  beträchtliche  Ermäßigungen  seiner  Einfuhrzölle 


374  ^^^  Delbrück. 

zu.  Außerdem  enthielt  der  Vertrag  das  Prinzip  der  gegenseitigen  Meist- 
begünstigung. Der  Vertrag,  durch  den  das  protektionistische  Frankreich  mit 
seiner  bisherigen  Absperrungspolitik  brach,  erregte  in  der  ganzen  Welt  das 
gröfite  Aufsehen  und  brachte  die  handelspolitischen  Fragen  überall  aufs  neue 
in  Fluß. 

Für  den  Zollverein  war  die  Teilnahme  an  den  Verkehrserleichterungen, 
die  Frankreich  gegenüber  England  zugestanden  hatte,  geradezu  eine  Lebens- 
frage. 

»Weder  politisch  noch  wirtschaftlich  würden  wir,  bei  unserer  geographischen  Lage  und 
unserer  entwickelten  Gewerbsamkeit,  es  haben  ertragen  können,  von  dem  vor  unserer  Tfir 
liegenden  Markte  des  reichsten  L.andes  des  Kontinents  ausgeschlossen  zu  sein,  wenn  dieser 
Markt,  wie  sicher  zu  erwarten  war  und  tatsächlich  eintrat,  beinahe  dem  ganzen  übrigen 
Europa  geöffnet  wurde.  Aber  dieser  Grund,  so  gewichtig  er  war,  war  nicht  der  allein 
entscheidende.  Von  gleichem  Gewicht  war  die  Überzeugung,  daß  unser  Tarif  sich  über- 
lebt habe.« 

Dazu  kam,  daß  der  englisch  -  französische  Vertrag  den  Grundsatz  der 
gegenseitigen  Behandlung  auf  dem  Fuße  der  meistbegünstigten  Nation  ent- 
hielt, der  in  dem  Vertrage  zwischen  dem  Zollverein  und  den  Niederlanden 
vom  31.  Dezember  1851  zum  ersten  Male  in  Anwendung  gebracht  und  in 
dem  Vertrage  zwischen  Preußen  und  Österreich  vom  19.  Februar  1853  zur 
vollen  Anerkennung  gekommen  war.  »Indem  er  jetzt  für  die  Beziehungen 
zwischen  Frankreich  und  Großbritannfen  angenommen  und  als  für  die  franzo- 
sische Handelspolitik  leitend  verkündet  wurde,  erhob  er  den  Anspruch,  die 
Grundlage  des  europäischen  Vertragsrechts  zu  werden,  und  diese  Grundlage 
war  in  hohem  Grade  willkommen.  Sie  war  der  Ausdruck  des  handelspolitischen 
Friedens  zwischen  den  Nationen,  denn  sie  verschloß  die  Quelle  der  Ver- 
stimmungen, welche  die  ausschließliche  Bevorzugung  der  Einfuhr  eines 
Landes  vor  denen  der  übrigen  Länder  zur  Folge  hatte.  Wir  wußten  aus 
eigener  Erfahrung,  daß  solche  Verstimmungen  zum  Zollkriege  führen.« 

Frankreich  zeigte  sich  alsbald  nach  Abschluß  seines  Handelsvertrags  mit 
England  geneigt,  Verträge  auf  gleicher  Grundlage  mit  den  übrigen  Mächten 
abzuschließen.  Bei  den  Verhandlungen,  die  Preußen  unter  Zustimmung  der 
übrigen  beteiligten  Staaten  für  den  Zollverein  mit  Frankreich  zu  Beginn  des 
Jahres  1861  einleitete,  fungierte  D.  als  einer  der  drei  preußischen  Unter- 
händler. Sein  Ziel  war  die  Teilnahme  des  Zollvereins  an  den  Zugeständ- 
nissen, die  Frankreich  England  gegenüber  gemacht  und  anderen  Staaten 
angeboten  hatte,  sowie  eine  allgemeine  Tarifreform  auf  Grund  des  mit  Frank- 
reich abzuschließenden  Vertrags. 

Aber  auch  dieser  neue  Fortschritt  sollte  nicht  erreicht  werden,  ohne  daß 
der  Zollverein  eine  neue  schwierige  Krisis  zu  überstehen  hatte. 

Als  im  Spätsommer  1861  die  Verhandlungen  zwischen  Preußen  und 
Frankreich  an  einigen  Tariffragen  ins  Stocken  gekommen  waren,  erschien 
Österreich  von  neuem  auf  dem  Plan.  Österreich  hatte  zwar  stillschweigend 
auf  die  im  Vertrage  von  1853  ^^  das  Jahr  1860  in  Aussicht  genommenen 
Verhandlungen  über  eine  volle  Zollunion  verzichtet;  jetzt  aber  erklärte  es  den 
gesamten  Handelsvertrag  mit  Frankreich,  der  diesem  die  Meistbegünstigung 
hinsichtlich  der  künftig  vom  Zollverein  gegenüber  anderen  Mächten  zu 
machenden  Zugeständnisse  in  Aussicht  stellte,   als  unvereinbar  mit  dem  auf 


von  Delbrttck. 


375 


die  Herbeiführung  der  Zollunion  zwischen  dem  Zollverein  und  Österreich  ge- 
richteten Geiste  des  Februarvertrags  von  1853. 

In  Preußen  ging  man  über  die  Einwendungen  Österreichs  hinweg,  nahm 
die  Verhandlungen  mit  Frankreich  Anfang  1862  wieder  auf  und  brachte  sie 
Ende  März  1862  zu  einem  vorläufigen  Abschluß.  Das  Ergebnis  wurde  in 
einer  Depesche  vom  2.  April  1862,  die  eine  ausführliche  von  D.  entworfene 
Begründung  des  vorläufig  vereinbarten  Vertrags  enthielt,  den  Vereinsregierungen 
mitgeteilt.  Nunmehr  erhob  Österreich  einen  formellen  Einspruch  gegen  den 
geplanten  Vertrag,  und  als  es  damit  keine  Wirkung  erzielte,  als  die  preußische 
Regierung  vielmehr,  ohne  sich  um  den  österreichischen  Protest  zu  kümmern, 
den  Vertrag  mit  Frankreich  dem  Landtage  zur  Genehmigung  vorlegte,  ent- 
schloß sich  Österreich  zu  einem  äußersten  Schritt  und  bot  in  einer  Depesche 
vom  10.  Juli  den  Vereinsregierungen  den  Abschluß  einer  Handels-  und  Zoll- 
union auf  der  breitesten  Grundlage  an.  In  diesem  Augenblick  war  also 
Osterreich  bereit,  seine  bisherige  protektionistische  Handelspolitik  und  die 
protektionistischen  Interessen  seiner  Industrie  seiner  großdeutschen  Politik  zu 
opfern.  Der  österreichische  Vorschlag  wurde  mit  der  Motivierung,  daß  er 
ausgesprochenermaßen  eine  Abänderung  des  mit  Frankreich  vereinbarten 
Vertrags  involvieren  würde,  von  Preußen  alsbald  ablehnend  beantwortet.  Der 
Handelsvertrag  mit  Frankreich  wurde  von  den  beiden  Häusern  des  preußischen 
Landtags  genehmigt,  vom  Abgeordnetenhaus  mit  allen  gegen  12  Stimmen, 
vom  Herrenhaus  einstimmig,  und  am  2.  August  1862  erfolgte  die  Unter- 
zeichnung. Sachsen,  die  thüringischen  Staaten  und  Oldenburg  hatten  bereits 
vorher  ihre  Zustimmung  erklärt,  der  Beitritt  Badens,  Braunschweigs  und 
Frankfurts  schien  gesichert.  Dagegen  lehnten  Bayern,  Württemberg  und  Hanno- 
ver —  in  Unterstützung  der  österreichischen  Politik  —  den  Beitritt  zu  dem  Ver- 
trage mit  Frankreich  ab.  Die  von  D.  entworfene  Antwort  schloß  mit  der 
Erklärung,  daß  Preußen  die  definitive  Ablehnung  des  Vertrags  als  den  Aus- 
druck des  Willens  auffassen  müßte,  den  Zollverein  mit  Preußen  nicht  fortzusetzen. 

Indem  sich  die  preußische  Regierung  entschlossen  zeigte,  die  Annahme 
des  von  ihr  abgeschlossenen,  für  die  Entwicklung  des  Zollvereinstarifs  höchst 
wichtigen  Vertrags  mit  Frankreich  durch  eine  eventuelle  Kündigung  des 
Zollvereins  zu  erzwingen,  verfolgte  sie  dieselbe  Politik,  die  ein  Jahrzehnt 
zuvor  bei  Gelegenheit  des  hannoverschen  Vertrags  einen  so  glücklichen 
Erfolg  erzielt  hatte.  Als  jetzt  die  Krisis  auf  dem  Höhepunkt  war,  trat  Herr 
von  Bismarck  an  die  Spitze  der  Geschäfte  (24.  September  1862).  Dieser 
benutzte  die  erste  Gelegenheit,  um  vor  dem  Landtage  sein  volles  Einver- 
ständnis mit  der  Handelspolitik  des  abgetretenen  Ministeriums  zu  betonen, 
und  entsprechend  dieser  Erklärung  wurden  die  handelspolitischen  Fragen 
von  D.  weiter  behandelt.  Ober  sein  Verhältnis  zu  Bismarck,  mit  dem  D. 
von  nun  an  auf  die  Dauer  zusammen  zu  arbeiten  hatte,  bemerkt  D.: 

>Meine  guten  Beziehungen  zu  Herrn  von  Bismarck  waren  in  den  zwölf  Jahren  seit 
ihrer  Entstehung  nicht  unterbrochen  gewesen.  Solange  er  Bundesgesandter  war,  besuchte 
ich  ihn  alljährlich  von  Mainz  aus;  er  war  in  der  Zeit  meines  Mainzer  Aufenthalts  regel- 
mäßig Strohwitwer,  und  ich  habe  manche  heitere  und  interessante  Mittage,  tüe^a-üte  mit 
ihm  oder  im  kleinsten  Kreise  in  seiner  Wohnung  in  der  Gallenstrafle  erlebt.  Nach  seiner 
Abberufung  von  Frankfurt  sah  ich  ihn  bei  seinen  Besuchen  in  Berlin  wieder.  Ich  konnte 
seines  Einverständnisses  mit  unserer  Handelspolitik  sicher  sein,   sowohl    nach    ihrer  wirt- 


^yQ  von  Delbrück. 

schaftlichen  Seite  hin,  denn  er  war,  wie  damals  die  ganze  konservative  Partei,  Freihändler, 
als  auch  nach  ihrer  politischen  Seite  hin,  denn  es  galt  die  Verteidigung  unserer  Stellung 
im  Zollverein  gegen  die  Mittelstaaten  und  Österreich.« 

In  Konsequenz  der  geschilderten  Politik  kundigte  Preufien  Ende  1863 
die  Zoll  Vereins  vertrage,  indem  es  sich  gleichzeitig  zu  deren  Erneuerung  auf 
der  Basis  des  mit  Frankreich  abgeschlossenen  Vertrags  bereit  erklärte.  Die 
wirtschaftliche  Notwendigkeit  des  Zollvereins  war  inzwischen  auch  in  den 
widerstrebenden  Staaten  und  in  den  schutzzöllnerisch  gestimmten  Kreisen  zu 
einer  so  allgemeinen  Anerkennung  gelangt,  und  die  finanziellen  Vorteile  des 
Zollvereins  für  die  beteiligten  Regierungen  waren  so  beträchtlich,  dafi  gar 
nicht  daran  zu  denken  war,  dafi  irgend  ein  Staat  sich  der  Erneuerung  des 
Zollvereins  auf  der  von  Preufien  als  conditio  situ  qua  tum  angebotenen  Grund- 
lage würde  entziehen  können.  In  der  Tat  erklärten  die  Vereinsstaaten  im 
Laufe  des  Jahres  1864  einer  nach  dem  andern  ihren  Beitritt  zur  Erneuerung 
des  Zollvereins.  Österreich  gab  sich  mit  einem  neuen  Handelsvertrag  zu- 
frieden, der  am  11.  April  1865  zum  Abschluß  kam.  Der  neue  Zollvereins- 
vertrag sollte  am  i.  Januar  1866  ins  Leben  treten  und  abermals  für  12  Jahre 
in  Kraft  bleiben.  Die  politischen  Ereignisse  der  folgenden  Jahre  liefien  es 
anders  und  besser  kommen. 

D.  hatte  die  Verhandlungen  über  den  französischen  Handelsvertrag  mit 
aller  persönlichen  Aufopferung  nach  den  verschiedenen  Seiten  hin  geführt 
und  durchgehalten.  In  welchem  Mafie  er  mit  diesem  seinem  Werke  inner- 
lich verwachsen  war,  das  war  am  deutlichsten  in  Erscheinung  getreten,  als 
ihm  der  König  im  Mai  1862  die  Ernennung  zum  Handelsminister  anbot. 
D.  lehnte,  trotzdem  der  König  mündlich  und  schriftlich  auf  diese  Ernennung 
zurückkam,  die  Übernahme  des  Handelsministeriums  ab.  Ober  die  Gründe, 
die  er  dem  König  auseinandersetzte,  schreibt  er: 

»In  meiner  jetzigen  Stellung,  sagte  ich,  kann  ich  gerade  jetzt  dem  Könige  und  dem 
Lande  mehr  nützen,  denn  als  Minister.  Der  Abschluß  mit  Frankreich  ist  unsere  gröfite 
handelspolitische  Tat  seit  Gründung  des  Zollvereins,  ihre  glückliche  Vollendung  ist  fOr  die 
handelspolitische  Stellung  Preufiens  in  Deutschland  und  in  Europa  entscheidend,  und  damit 
auch  für  seine  politische  Stellung  von  unzweifelhaftem  Werte.  Meine  Beteiligung  an  den 
dem  Abschlufi  vorhergegangenen  Verhandlungen,  meine  Fachkenntnisse,  meine  Erfahrung 
in  Zollvereinsangelegenheiten,  meine  Bekanntschaft  mit  den  auf  der  Bühne  und  hinter  der 
Bühne  handelnden  Persönlichkeiten  und  das  persönliche  Vertrauen,  welches  mir  auch  unsere 
Gegner  schenken,  machen  mich,  wie  ich  ohne  Überhebung  sagen  kann,  zu  dem  für  die 
glückliche  Vollendung  geeignetsten  Mann.  Dazu  gehört  aber,  dafi  ich  die  Dinge  voll- 
ständig in  der  Hand  behalte;  ist  das  der  Fall,  so  glaube  ich  den  Erfolg  verbürgen  zu 
können.  Werde  ich  dagegen  Minister,  so  muß  ich  einen  andern  an  meine  Stelle  setzen 
—  wen,  weiß  ich  nicht  —  und  die  allgemeine  Direktion,  welche  mir  verbleiben  würde, 
reichte  nicht  aus,  um  eine  Garantie  für  den  Erfolg  zu  übernehmen.«  .  .  .  >Was  ich  dem 
König  gesagt  hatte,  bemerkt  D.  weiter,  war  meine  Überzeugung;  daneben  lag  etwas  rein 
persönliches,  über  das  ich  geschwiegen  hatte.  Es  gibt  Aufgaben,  welche  den  Menschen 
so  vollständig  in  Beschlag  nehmen,  daß  er,  mag  er  wollen  oder  nicht,  von  ihnen  nicht 
loskommen  kann.  Eine  solche  Aufgabe  war  für  mich  die  Durchführung  der  Politik  ge- 
worden, wie  sie  in  dem  Vertragstarif  und  in  dem  Meistbegünstigungsprinzip  ihren  Aus- 
druck fand.  Ihre  Durchftlhrung  aus  der  Hand  zu  geben,  war  ein  mir  unerträglicher  Ge- 
danke, sie  war  ein  Stück  meiner  selbst  geworden,  das  ich  nicht  opfern  konnte.  Dafi  ich 
es  nicht  geopfert  habe,  habe  ich  niemals  bereut,  und,  wie  ich  gleich  hinzufüge,  der  König 
hat  mir  nie  darob  gezürnt.« 


von  Delbrück. 


377 


Die  durch  den  Vertrag  mit  Frankreich  geschaffene  handelspolitische 
Ordnung  wurde  alsbald  verallgemeinert  durch  die  Handelsverträge  mit 
Belgien  (22.  Mai  1865),  mit  Grofibritannien  (30.  Mai  1865),  und  Italien 
(31.  Dezember  1865).  Alle  diese  Verträge  enthielten  die  Zusage  der  gegen- 
seitigen Meistbegünstigung,  der  Vertrag  mit  Grofibritannien  stellte  den 
Zollverein  in  den  britischen  Kolonien  nicht  nur  auf  den  gleichen  Fuß  wie 
eine  meistbegünstigte  dritte  Nation,  sondern  wie  das  britische  Mutterland 
selbst. 

Durch  die  Verträge  des  Jahres  1865  war  das  Ziel  der  auf  die  Erlangung 
umfassender  vertragsmäßiger  Zollerleichterungen  und  der  Meistbegünstigung 
gerichteten  Politik  im  wesentlichen  erreicht;  D.  konnte  mit  Recht  sagen,  daß 
er  am  Schlüsse  des  Jahres  1865  nur  noch  wenige  handelspolitische  Aufgaben 
fand,  welche  der  Lösung  harrten.  Da  waren  es  die  großen  politischen  Er- 
eignisse —  der  Krieg  mit  Österreich  und  die  Errichtung  des  Norddeutschen 
Bundes,  der  Krieg  mit  Frankreich  und  die  Gründung  des  Reichs  — ,  welche  D. 
vor  neue  und  größere  Aufgaben  stellten. 

In  dem  Krieg  mit  Osterreich  sah  D.,  im  Gegensatz  zu  der  überwiegenden 
öffentlichen  Meinung  in  Deutschland,  eine  historische  Notwendigkeit. 

»Seit  sechzehn  Jahren  hatte  ich  fast  ohne  Unterbrechung  gegen  Österreich  gekämpft, 
und  wenn  ich  in  dieser  langen  Zeit  etwas  gelernt  hatte,  so  war  es  die  Überzeugung,  daß 
für  Preufien  und  Österreich  nebeneinander  in  Deutschland  kein  Platz  sei,  und  daß  Österreich 
nicht  gutwillig  Platz  machen  werde.  Ich  war  mir  sehr  wohl  bewußt,  daß  die  gewaltsame 
Ergreifung  unseres  Platzes  ein  gefährliches  und  schweres  Unternehmen  sei,  aber  ich  hoffte 
zuversichtlich  auf  sein  Gelingen.« 

Der  Ausgang  des  Krieges  und  die  Errichtung  des  Norddeutschen  Bundes 
mußten  eine  gründliche  Umgestaltung  des  Zollvereins  herbeiführen.  Die 
Verfassung  des  Norddeutschen  Bundes  machte  die  deutschen  Staaten  nördlich 
des  Main  zu  einem  einheitlichen  Zoll-  und  Handelsgebiet  und  wies  alle  auf  Zölle, 
Handel  und  Schiffahrt  sich  beziehenden  Angelegenheiten  der  Bundesgesetzge- 
bung zu.  Die  sich  auf  diese  Materien  beziehenden  Bestimmungen  der  Bundes- 
verfassung —  SS  33 — 40,  54  —  sind  von  D.  ausgearbeitet  worden.  Die  not- 
wendige Konsequenz  der  Verfassung  des  Norddeutschen  Bundes  war  die 
Aufhebung  des  im  Zollverein  geltenden  Erfordernisses  der  Einstimmigkeit  bei 
verbindlichen  Beschlüssen;  denn  die  Zollgesetzgebung  des  Norddeutschen 
Bundes  durfte  in  Zukunft  nicht  mehr  durch  das  Veto  eines  einzelnen  süd- 
deutschen Staates  lahmgelegt  werden.  Durch  Verträge  des  Norddeutschen 
Bundes  mit  den  Südstaaten  vom  8.  Juli  1867  erhielt  in  der  Tat  der  Zoll- 
verein eine  Verfassung,  die  nichts  anderes  war,  als  eine  Erstreckung  des 
Norddeutschen  Bundes  in  Zollsachen  auf  die  Südstaaten.  Der  Bundesrat 
des  Norddeutschen  Bundes  wurde  durch  Bevollmächtigte  der  süddeutschen 
Regierungen  ergänzt  zu  einem  »Bundesrat  des  Zollvereins«,  ebenso  der  Reichs- 
tag des  Norddeutschen  Bundes  durch  Abgeordnete  aus  den  süddeutschen 
Staaten  zu  einem  »2^11parlament«.  Der  Bundesrat  des  Zollvereins  und  das 
Zollparlament  übten  die  Gesetzgebung  in  den  gemeinschaftlichen  Angelegen- 
heiten des  Zollvereins  aus,  einschließlich  der  Besteuerung  von  Salz  und  Tabak. 
Aus  dieser  Verfassung  des  Zollvereins  ist  vier  Jahre  später  das  Deutsche 
Reich  erwachsen,  und  der  Vertrag  vom  8.  Juli  1867  ist  durch  den  Artikel  40 
der  Reichsverfassung  in  Kraft  erhalten  worden. 


^78  ^'on  Delbrück. 

Die  politischen  Wandlungen  jener  Zeit  hatten  auch  eine  Änderung  in 
der  persönlichen  Stellung  D.s  zur  Folge. 

Bekanntlich  hat  der  konstituierende  Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes 
eine  wesentliche  Änderung  in  dem  ihm  vorgelegten  Vertragsentwurf  vor- 
genommen, indem  er  den  Bundeskanzler,  der  in  dem  Entwurf  als  der  vom 
preußischen  Minister  des  Auswärtigen  ressortierende  Präsidialgesandte  gedacht 
war,  zu  dem  verantwortlichen  Bundesminister  machte.  Damit  war  gegeben, 
daß  nur  der  preußische  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten,  also  in 
dem  vorliegenden  Falle  der  Graf  Bismarck  selbst,  als  Bundeskanzler  in  Be- 
tracht kommen  konnte.  Es  war  femer  klar,  daß  der  Kanzler  für  die  Ge- 
schäfte des  Bundes  eines  höheren  Beamten  als  Gehilfen  und  Vertreters  be- 
durfte. Am  2  2.  Juli  1867  ließ  Graf  Bismarck  D.  die  prinzipiell  und  persön- 
lich wichtige  Frage  vorlegen,  ob  er  seine  Vertretung  übernehmen  wolle,  ob 
die  Wahl  mehrerer  Vertreter,  je  nach  den  verschiedenen  Zweigen,  sich 
empfehlen  möchte,  und  ob  D.  die  Vertretung  neben  seiner  Stellung  im 
Handelsministerium  würde  wahrnehmen  können.  D.  erschien  die  Zusammen- 
fassung der  gesamten  Verwaltung  der  Bundesangelegenheiten  —  gegenüber 
der  Möglichkeit  einer  Verwaltung  der  einzelnen  Ressorts  durch  die  preußischen 
Minister  gewissermaßen  im  Nebenberuf  —  als  schlechterdings  notwendig.  Für 
den  Fall,  daß  diese  Auffassung  gebilligt  und  verwirklicht  würde,  erklärte  er 
sich  bereit,  die  Vertretung  des  Bundeskanzlers  zu  übernehmen,  allerdings 
nicht  neben  seinen  Direktorialgeschäften  im  Handelsministerium;  er  überließ 
dem  Grafen  Bismarck  die  Entscheidung  darüber,  in  welcher  der  beiden 
Stellungen  er  nützlichere  Dienste  werde  leisten  können. 

Die  Entscheidung  fiel  in  einem  Präsidialerlaß  vom  12.  August  1867, 
durch  den  die  Errichtung  eines  Bundeskanzleramtes  genehmigt  und  D.  zum 
Präsidenten  der  neuen  Behörde  ernannt  wurde.  Das  Bundeskanzleramt  und 
spätere  Reichskanzleramt,  aus  dem  in  der  weiteren  Entwicklung  die  einzelnen 
Reichsämter  hervorgegangen  sind,  war  nach  D.s  Vorschlägen  bestimmt  für 
die  dem  Kanzler  obliegende  Verwaltung  und  Beaufsichtigung  der  durch  die 
Bundesverfassung  der  Kompetenz  des  Bundes  zugewiesenen  Angelegenheiten 
sowie  für  die  dem  Kanzler  zustehende  Bearbeitung  der  übrigen  Bundes- 
angelegenheiten. Am  30.  August  1867  erfolgte  D.s  Ernennung  zum  Wirk- 
lichen Geheimen  Rat.  Im  JaJire  1868  wurde  er  zum  preußischen  Staats- 
minister ohne  Portefeuille  ernannt. 

Die  Neugestaltung  der  politischen  Verhältnisse  Deutschlands  brachte  D. 
auf  die  Höhe  seines  Schaffens.  Sein  Wirkungskreis  wurde  räumlich  durch 
die  Erstreckung  auf  ganz  Deutschland,  sachlich  durch  die  Ausdehnung  auf 
die  ganze  innere  und  wirtschaftliche  Gesetzgebung  beträchtlich  erweitert,  und 
zugleich  wurde  seine  Tätigkeit  von  den  Fesseln  befreit,  durch  die  sie  bisher 
infolge  der  Notwendigkeit  der  fortgesetzten  Rücksichtnahme  auf  Österreichs 
Stellung  im  deutschen  Bund  und  auf  das  Erfordernis  der  Einstimmigkeit  in 
allen  Zollvereinsangelegenheiten  beengt  gewesen  war.  Der  oberste  Leiter  der 
Reichspolitik,  der  eiserne  Kanzler  aber,  ließ  in  jener  Zeit  in  wirtschaftlichen 
Fragen  D.  in  vollem  Vertrauen  die  Zügel. 

Ein  Bild  von  der  umfassenden  und  rastlosen  Tätigkeit,  die  D.  in  den 
neuen  größeren  Verhältnissen  entfaltete,  kann  kaum  mit  besseren  Worten  ge- 
geben  werden,   als   sie  einer  der  Männer,   die   in  jener  großen  Zeit  mit  D. 


von  Delbrück.  370 

zusammengearbeitet  haben,  zu  seinem  achtzigsten  Geburtstage  niedergeschrieben 
hat.     Ludwig  Bamberger  schrieb  zum  16.  April  1897  in  der  »Nation«. 

>Delbrttcks  historische  Stellung  erhebt  sich  zu  ihrer  vollen  und  wahren  Höhe  erst 
zugleich  mit  dem  Beginn  der  großen  Zeit  der  Reichsgründung.  Man  mufi  ihn  während 
der  Jahre  von  1867  bis  1876  an  der  Arbeit  gesehen  haben,  um  ganz  beurteilen  zu 
können,  was  er  für  die  Grundlegung  und  den  Ausbau  der  Verfassung  und  Gesetzgebung 
jener  Epoche  gewaltigen  Schaffens  bedeutete.  Unter  den  frischen  Eindrücken  des  selbst 
Erlebten  bezeichnete  ich  den  Präsidenten  des  Bundeskanzleramtes  damals  in  meinen  Zoll- 
parlamentsbriefen als  den  Maschinenmeister  und  Werkführer  des  eigentümlichen  Apparates, 
den  der  Kanzler  sich  für  seinen  Bedarf  gebaut  hatte.  Alle  Fäden  flössen  in  seiner  Hand 
zusammen,  und  seine  Hand  hielt  das  ganze  Getriebe  fortwährend  in  Bewegung.  .  .  .  Dann 
begann  mit  dem  ersten  deutschen  Reichstage  das  große  Schaffen  an  der  inneren,  nament- 
lich der  wirtschaftlichen  Gesetzgebung,  die  Deutschland  auf  die  Grundlage  eines  modernen 
und  homogenen  Staatswesens  zu  erheben  hatte.  Es  war  ein  freudiges,  warmes  Zusammen- 
wirken zwischen  Regierung  und  Volksvertretung.  Wie  viele  ausgezeichnete  Männer  arbeiteten 
damals  in  Reih  und  Glied  mit,  deren  Gleichwertige  man  jetzt  kaum  mehr  unter  den  Führern 
findet  1  Im  Mittelpunkt  des  Ganzen  stand,  wie  er  jetzt  hieß,  der  Präsident  des  Reichs- 
kanzleramtes.  Für  die  Konzeption  sowohl  wie  für  die  Ausführung  hatte  er,  allen  voran, 
zuerst  einzustehen.  Man  konnte  sich  das  ganze  Getriebe  nicht  denken  ohne  seine  stünd- 
liche Gegenwart  Er  war  der  Erste  in  jeder  Reichstagssitzung  und  ging  als  der  Letzte  weg, 
dazu  in  den  wichtigen  Kommissionen,  und  in  wieviel  verschiedenen  Rollen.« 

Zur  Bewältigung  dieses  gewaltigen  Arbeitsstoffs  hat  sich  D.  einen  vor- 
trefflichen Mitarbeiter  und  Gehilfen  in  Otto  Michaelis  herangezogen.  Michaelis, 
einer  der  klarsten  und  scharfsinnigsten  Nationalökonomen  jener  Zeit,*  war 
Redakteur  der  »Nationalzeitung«,  als  D.  in  der  Zeit  der  Kämpfe  um  den 
Handelsvertrag  mit  Frankreich  die  erste  Verbindung  mit  ihm  anknüpfte.  D. 
erzählt,  daß  er  damals  —  1862  —  Michaelis  zu  sich  bitten  ließ  und  ihm 
sagte,  er  sei  davon  überzeugt,  daß  die  Opposition  seines  Blattes  gegen  die 
allgemeine  Politik  der  Regierung  ihn  nicht  hindern  werde,  für  die  seinen 
Grundsätzen  entsprechende  Handelspolitik  der  Regierung  einzutreten;  in 
dieser  Oberzeugung  sei  er  bereit,  ihm  alles  auf  die  Verhandlungen  über  den 
Handelsvertrag  bezügliche  Material  jetzt  und  in  Zukunft  vertraulich  zur  Ver- 
fügung zu  stellen,  um  ihm  die  für  die  journalistische  Aktion  erforderliche 
vollständige  Übersicht  zu  ermöglichen.  Michaelis  habe  mit  Freuden  die  Ge- 
legenheit ergriffen,  an  dem  positiven  Schaffen  der  Regierung  mitzuwirken. 
Er  hat  dieser  Politik  als  Journalist,  als  Mitglied  des  preußischen  Abgeordneten- 
hauses und  als  Abgesandter  zum  deutschen  Handelstag  sehr  schätzbare 
Dienste  geleistet.  D.  glaubte  in  ihm  den  geeigneten  Mann  zu  seiner  amt- 
lichen Unterstützung  und  Entlastung  in  seinem  nach  der  Gründung  des 
Norddeutschen  Bunds  so  umfangreich  gewordenen  Arbeitsfelde  gefunden  zu 
haben.  »Seine  Ernennung  zum  vortragenden  Rate  im  Bundeskanzleramt  — 
so  schreibt  er  —  war  einer  der  ersten  Personalvorschläge,  welche  ich,  als 
Präsident  der  neuen  Behörde,  dem  damaligen  Bundeskanzler  machte. 
Größere  Verdienste  als  er,  hat  keiner  meiner  Mitarbeitet  im  Bunde  und  im 
Reich  sich  um  die  Bundes-  und  Reichsinstitutionen  erworben.«  Dieses 
Urteil  D.s  sei  ergänzt  durch  die  folgenden  Worte  Bambergers  über  Michaelis 
und  dessen  Verhältnis  zu  seinem  Chef: 

>Er  war  einer  der  feinsten  und  kundigsten  Denker  auf  dem  Gebiet  der  Nationalökonomie 
und  ein  von  hoher  Bildung  durchdrungener  Geist,  der  gerade  Gegensatz  zur  Banausität,  die 
später  über  die  Behandlung  wirtschaftlicher  Angelegenheiten  hereingebrochen  ist.  Aber  obwohl, 


jSo  ^'^^  Delbrück. 

oder  vielleicht  auch  weil  er  erst  in  reifen  Jahren  vom  publizistischen  Beruf  zum  öffent* 
liehen  Dienst  durch  Delbrücks  richtige  Divination  herangezogen  war,  bewegte  er  sich  in 
seiner  amtlichen  Tätigkeit  weniger  frei  als  sein  Vorgesetzter.  Hier  konnte  man  beinahe 
immer  die  Probe  darauf  machen,  daß  es  besser  ist  mit  dem  lieben  Gott  als  mit  seinen 
Heiligen  zu  tun  zu  haben.  Es  war  auf  privatem  oder  öffentlichen  Weg  beinah  immer  ver- 
geblich, Michaelis  von  einem  für  ihn  feststehenden  Punkte  abzubringen.  Delbrück,  ob- 
wohl  nichts  weniger  als  unklar  und  schwankend,  war  jederzeit  allen  Einreden  oder  Vor- 
schlägen in  der  angenehmsten  Weise  zugänglich.« 

D.S  Arbeit  an  dem  neuen  Deutschland  blieb  nicht  auf  das  wirtschaftliche 
Gebiet  beschränkt.  In  der  entscheidenden  Zeit  wurde  er  vielmehr  auch  zu 
den  schwierigen  Verhandlungen  berufen,  aus  denen  das  deutsche  Reich  und 
der  deutsche  Kaiser  hervorgegangen  sind. 

Seine  im  Zollverein  erworbene  Kenntnis  der  Verhältnisse  und  Personen 
in  den  einzelnen  süddeutschen  Staaten  und  Regierungen,  die  glückliche 
Hand,  die  er  vom  Jahre  185 1  an  bei  den  Verhandlungen  mit  den  deutschen 
Einzelstaaten  gezeigt  hatte,  und  schließlich  das  unbedingte  Vertrauen,  das 
König  und  Kanzler  in  ihn  setzten,  machten  ihn  zum  berufenen  Unterhändler 
bei  der  Vereinbarung  der  Grundlagen  des  neuen  Deutschland. 

Wenige  Tage  nach  der  Schlacht  bei  Sedan,  am  5.  September  1870  erhielt 
D.  ein  Telegramm  des  Grafen  Bismarck,  der  ihn  auf  Befehl  des  König  ins 
Hauptquartier  nach  Reims  berief.  Es  handelte  sich  um  Erwägungen  darüber, 
wie  der  Beitritt  der  süddeutschen  Staaten  zum  Norddeutschen  Bund  und  das 
Kaisertum  in  die  Wege  zu  leiten  seien.  Bald  nach  dem  Eintreffen  D.s  in  Reims 
ging  dort  eine  Mitteilung  der  bayrischen  Regierung  ein,  in  der  die  Über- 
zeugung ausgesprochen  wurde,  daß  die  Entwicklung  der  politischen  Verhält- 
nisse Deutschlands,  wie  sie  durch  die  kriegerischen  Ereignisse  herbeigeführt 
sei,  es  bedinge,  von  dem  Boden  völkerrechtlicher  Verträge,  welche  bisher  die 
süddeutschen  Staaten  mit  dem  Norddeutschen  Bunde  verbanden,  zu  einem 
Verfassungsbündnis  überzugehen.  Die  bayrische  Regierung  knüpfte  daran 
den  Wunsch,  D.  möge  zu  Verhandlungen  über  die  von  ihr  ausgearbeiteten 
Vorschläge  nach  München  entsendet  werden. 

D.  arbeitete,  ehe  er  von  dem  Hauptquartier  abreiste,  eine  Denkschrift 
über  die  künftige  Gestaltung  aus,  die  im  wesentlichen  ein  Bild  dessen  ent- 
warf, was  durch  die  Versailler  Verträge  später  geworden  ist.  »Der  Schluß 
der  Denkschrift  —  so  teilt  er  in  seinen  Lebenserinnerungen  mit  —  gab  dem 
alle  Geister  erfüllenden  Gedanken  zum  ersten  Male  einen  offiziellen  Aus- 
druck: ich  begründete  die  unabweisbare  Notwendigkeit  für  den  König,  sich 
zur  Annahme  der  Kaiserwürde  zu  entschließen.«  Bismarck  war  mit  der  Denk- 
schrift einverstanden  und  übergab  sie  dem  König,  der  sich  jedoch  in  der 
Kaiserfrage  die  Entscheidung  noch  vorbehielt. 

Die  eingehenden  Verhandlungen,  die  D.  in  der  zweiten  Septemberhälfte 
in  München  mit  der  bayrischen  Regierung  führte  und  bei  denen  auch  der 
württembergische  Minister  v.  Mittnacht  zugegen  war,  bestärkten  die  Über- 
zeugung, daß  das  deutsche  Reich  gesichert  sei  und  lieferten  die  Grundlagen 
für  die  Verhandlungen  mit  den  übrigen  süddeutschen  Staaten,  die  D.  sechs 
Wochen  später  in  Versailles  zu  führen  hatte.  D.  nahm  in  die  mit  Baden 
und  Hessen  in  Versailles  vereinbarte  Verfassung  alle  bei  der  Münchener 
Besprechung  von  Bayern  angeregten  und  als  zulässig   erkannten  Änderungen 


von  Delbrück. 


381 


und  Erläuterungen  der  Verfassung  des  Norddeutschen  Bundes  auf,  soweit  sie 
allgemeiner  Natur  waren,  ebenso  in  den  Vertrag  mit  Württemberg  die  in 
München  besprochene  Sonderbestimmung  über  Post  und  Telegraphie.  Auf 
diese  Weise  wurden  die  in  Versailles  zu  führenden  abschließenden  Verhand- 
lungen mit  Bayern  auf  ein  Minimum  von  streitigen  Punkten  reduziert.  Daß 
sie  sich  trotzdem  nicht  ohne  erhebliche  Schwierigkeiten  entwickelten  und  daß 
es  des  größten  Taktes  und  der  größten  Geschicklichkeit  bedurfte,  um  sie  zum 
glücklichen  Ende  zu  bringen,  ist  so  bekannt,  daß  es  hier  nicht  weiter  aus- 
geführt zu  werden  braucht. 

Ende  November  war  die  Einigung  erzielt  und  D.  konnte  nach  Berlin 
zurückreisen,  um  die  Reichsverfassung  im  Norddeutschen  Reichstag  einzu- 
bringen und  zu  vertreten. 

»Das  Kaisertum  —  so  bemerkt  D.  am  Schlüsse  seiner  Erinnerungen  —  hatte  keinen 
Gegenstand  meiner  Verhandlungen  gebildet,  und  ich  kann  seine  Genesis  im  einzelnen  nicht 
darstellen.  Verschiedene  Personen  haben  das  Ergebnis  gefördert;  das  Verdienst,  den 
richtigen  Augenblick  erkannt  und  die  richtige  Form  gewählt  zu  haben,  gebührt  dem 
Grafen  Bismarck.« 

Die  Verdienste  Delbrücks  um  die  Errichtung  des  Deutschen  Reichs  waren 
der  Anlaß  dafür,  daß  ihm  im  Jahre  1871  eine  Dotation  von  200000  Taler 
gewährt  wurde.  Am  25.  Jahrestag  der  Reichsgründung,  am  18.  Januar  1896, 
wurde  Delbrück  der  Schwarze  Adlerorden  und  damit  der  Adel  verliehen. 

Was  die  Tätigkeit  anlangt,  die  D.  in  der  inneren  Gesetzgebung  und 
Wirtschaftspolitik  in  seiner  Stellung  als  Präsident  des  Bundeskanzleramtes 
und  später  des  Reichskanzleramtes  entfaltete,  so  erstreckte  sie  sich  auf  ein 
so  weites  Gebiet,  daß  die  persönliche  und  intensive  Bearbeitung  einzelner 
Materien  naturgemäß  hinter  den  Aufgaben  der  Oberleitung  des  Ganzen  und  der 
Erteilung  allgemeiner  Direktiven  zurücktreten  mußte.  Wollte  man  alles,  was 
damals  unter  D.s  Leitung  und  Mitwirkung  geschaffen  und  in  die  Wege  ge- 
leitet wurde,  zur  Darstellung  bringen,  so  würde  man  die  ganze  Geschichte 
der  inneren  Gesetzgebung  und  der  Wirtschaftspolitik  jener  Periode  schreiben 
müssen.  Wenn  aber  in  einzelnen  Materien  D.  auf  Grund  der  in  seiner  bis- 
herigen Tätigkeit  gewonnenen  Erfahrungen  oder  auf  Grund  eines  besonderen 
Interesses  in  die  Einzelheiten  der  Durchführung  hinabstieg,  so  läßt  sich  sein 
persönlicher  Anteil  an  dem  Zustandegekommenen  mangels  eines  Dokuments, 
wie  es  seine  nur  bis  zum  Jahr  1867  reichenden  »Lebenserinnerungen«  sind, 
nicht  im  einzelnen  feststellen.  Es  seien  deshalb  nur  die  wichtigsten  Züge 
hervorgehoben. 

Ein  Teil  der  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  inneren  wirtschaftlichen 
Gesetzgebung,  die  D.  noch  als  Direktor  im  preußischen  Handelsministerium 
eingeleitet  oder  gefördert  hatte,  kamen  erst  nach  der  Errichtung  des  Bundes 
im  Wege  der  Bundesgesetzgebung  zu  ihrem  Abschluß.  Hierher  gehört  vor 
allem  die  Ordnung  des  Maß-  und  Gewichtssystems  und  der  Gewerbegesetz- 
gebung. 

D.s  Anteil  an  dem  Übergang  Preußens  zu  dem  metrischen  Gewichts- 
system (Zollpfund)  ist  oben  erwähnt  worden.  Für  die  Einführung  des  vollen 
metrischen  Maß-  und  Gewichtssystems  machte  sich  von  der  Mitte  der  50er  Jahre 
an  eine  internationale  Bewegung  geltend,  die  auch  in  Deutschland  immer 
mehr  an  Boden  gewann.    Preußen  beteiligte  sich,  nachdem  es  sich  anfänglich 


^82  ^on  Delbrück. 

zurückhaltend  gezeigt  hatte,  im  Jahre  1865  an  den  beim  Bundestag  in 
dieser  Angelegenheit  stattfindenden  Verhandlungen,  aus  denen  ein  auf  das 
Meter  begründeter  Entwurf  einer  deutschen  Mafi-  und  Gewichtsordnung 
hervorging.  Die  Einführung  dieser  Maß-  und  Gewichtsordnung  in  den  ein- 
zelnen Staaten  wurde  durch  die  politischen  Ereignisse  hinausgeschoben;  im 
Jahre  1868  jedoch  legte  D.  den  gesetzgebenden  Körperschaften  des  Nord- 
deutschen Bundes  eine  Mafi-  und  Gewichtsordnung  vor,  welche  auf  dem  Ent- 
würfe von  1865  beruhte;  sie  wurde  Bundesgesetz  und  später  auf  Grund  der 
Versailler  Verträge  Reichsgesetz. 

Auch  eine  einschneidende  Änderung  der  Gewerbeordnung  im  Sinne  des 
Ausbaues  der  Gewerbe-  und  Koalitionsfreiheit  wurde  von  D.  bereits  vor  der 
Errichtung  des  Norddeutschen  Bundes  vorbereitet.  Das  preußische  Ab- 
geordnetenhaus hatte  im  Frühjahr  1865  einen  Antrag  auf  Beseitigung  der 
Koalitionsbeschränkungen  angenommen,  und  der  Handelsminister  Graf  Itzen- 
plitz  berief  alsbald  eine  Kommission  zur  Vorbereitung  eines  entsprechenden 
Gesetzes.  Aber  allein  schon  durch  die  im  Sommer  1866  eingetretene  Er- 
weiterung des  Gebiets  der  preußischen  Monarchie  wurde  eine  umfassendere 
Reform  der  Gewerbegesetzgebung,  als  sie  in  den  aus  den  Beratungen  der 
Kommission  hervorgegangenen  Entwürfen  enthalten  war,  zu  einer  unabweis- 
baren Notwendigkeit.  Bei  der  Einrichtung  der  Verwaltung  in  den  neu  er- 
worbenen Provinzen  wurde  D.s  Interesse  vor  allem  anderen  durch  deren 
Gewerbegesetzgebung  in  Anspruch  genommen.  »In  Hannover,  Kurhessen, 
Schleswig-Holstein  und  Hessen-Homburg  bestand  noch  der  Zunftzwang,  be- 
gleitet von  einer  Reihe  anderer  Gewerbebeschränkungen;  es  wäre  ein  Bruch 
mit  ihrer  ganzen  Vergangenheit  gewesen,  wenn  die  preußische  Verwaltung 
hier  nicht  Wandel  geschafft  hätte.  An  die  Einführung  der  preußischen  Ge- 
werbegesetzgebung, welche  durch  königliche  Verordnung  sofort  hätte  er- 
folgen können,  war  nicht  zu  denken;  denn  diese  Gesetzgebung  war  zu  einem 
System  aneinander  gereihter  Novellen  geworden,  welches  sich  nur  da  er- 
tragen ließ,  wo  es  allmählich  entstanden  war,  und  sie  war  in  Preußen  selbst 
als  einer  gründlichen  Reform  bedürftig  anerkannt.  Es  blieb  nur  übrig,  die 
in  den  einzelnen  Landen  bestehenden  Gesetze  durch  königliche  Verord- 
nungen von  den  empfindlichsten  Beschränkungen  des  Gewerbebetriebs  zu 
befreien.«     Dieser  Weg  wurde  beschritten. 

Die  umfassende  Neuordnung  der  Gewerbegesetzgebung  im  Sinne  der 
möglichst  wenig  eingeschränkten  Gewerbefreiheit  erfolgte  auf  Grund  eines 
im  Jahre  1868  vorgelegten  Gesetzentwurfs  durch  die  Gewerbeordnung  für 
den  Norddeutschen  Bund  vom  21.  Juni  1869,  deren  Wirksamkeit  später  auf 
das  Reichsgebiet  ausgedehnt  wurde. 

Eine  besondere  Hervorhebung  verdient  D.s  Anteil  an  der  Neuordnung 
des  deutschen  Geld-  und  Bankwesens.  Diese  Reform  bildete  eine  der  alier- 
dringendsten  aber  zugleich  auch  der  allerschwierigsten  Aufgaben,  die  das  neu 
geeinte  Deutschland  zu  bewältigen  hatte. 

Die  Mitarbeit  D.s  beim  Wiener  Münzvertrag  von  1857,  bei  den  Bestim- 
mungen über  den  Umlauf  papierner  Geldzeichen  in  Preußen  und  bei  dem 
Ausbau  der  preußischen  Bank  ist  bereits  erwähnt.  Aber  vor  der  Gründung 
des  Reichs  konnte  auf  diesem  wichtigen  Gebiete  nur  Stückwerk  geschaffen 
werden;     denn     ein     einheitliches    Wirtschaftsgebiet,     wie     es     Deutschland 


von  Delbrück. 


383 


durch  den  Zollverein  geworden  war,  bedurfte  einer  einheitlichen  Organisation 
seiner  Umlaufsmittel  und  seines  Bankwesens,  und  eine  solche  einheitliche 
Organisation  ist  nur  in  einem  Einheitsstaate,  nicht  in  einem  Staatenbunde 
durchführbar. 

Was  Deutschland  benötigte  war  einmal  die  Münzeinheit  an  Stelle  der 
sieben  verschiedenen  Münzsysteme,  die  auch  nach  dem  großen  durch  den 
Wiener  Münzvertrag  erzielten  Fortschritte  in  Deutschland  noch  bestanden; 
femer  eine  Beseitigung  des  Übermaßes  papierner  Geldzeichen  und  eine  solide 
Fundierung  und  einheitliche  Gestaltung  des  Papierumlaufs;  außerdem  der 
Anschluß  an  das  System  der  Goldwährung,  dessen  Vorzüge  an  sich  schon 
bei  den  im  Jahre  1854  mit  Österreich  geführten,  oben  erwähnten  Verhand- 
lungen festgestanden  hatten,  das  inzwischen  durch  die  gewaltige  Gold- 
produktion der  fünfziger  und  sechziger  Jahre  in  der  internationalen  Geld- 
verfassung das  entschiedene  Obergewicht  erlangt  hatte  und  das  infolge  der 
gesteigerten  Goldgewinnung  und  vor  allem  auch  durch  die  in  Gold  realisier- 
bare französische  Kriegskostenentschädigung  für  Deutschland  durchführbar 
geworden  war;  schließlich  die  Schaffung  einer  Zentralbank  zur  Regelung  des 
inneren  Geld-  und  Kreditverkehrs,  zur  Überwachung  der  auswärtigen  Be- 
ziehungen des  deutschen  Geldwesens  und  zum  Schutze  der  neu  zu  schaffenden 
Goldwährung. 

Über  den  großen  persönlichen  Anteil,  den  D.  an  der  Durchführung 
dieser  wichtigen  Aufgaben  genommen  hat,  ist  der  Verfasser  dieser  Skizze  von 
D.  selbst  durch  mündliche  Mitteilungen  und  durch  Überlassung  von  Doku- 
menten in  eingehender  Weise  informiert  worden.  D.s  Rolle  in  der  deutschen 
Geld-  und  Bankreform  sind  auf  Grund  dieser  Mitteilungen  ausführlich  in 
meiner  »Geschichte  der  deutschen  Geldreform«  dargestellt. 

D.  hat  von  Anfang  an  die  Ziele  der  Reform  und  die  Wege  zu  ihrer 
Durchführung  klar  erkannt  und  an  diesen  trotz  zahlreicher  und  mächtiger 
Widerstände  festgehalten.  Sein  Operationsplan,  der  den  obwaltenden  Ver- 
hältnissen durchaus  angepaßt  war,  bestand  darin,  daß  er  in  Anbetracht  der 
Schwierigkeiten,  die  innerhalb  des  Bundesrates  einer  befriedigenden  Ordnung 
der  Frage  des  Staatspapiergeldes  und  der  Reichsbank  entgegenstanden,  zu- 
nächst mit  aller  Energie  die  Reform  des  Münzwesens  erstrebte,  um  damit 
die  Grundlage  für  die  weiteren  Reformen  zu  schaffen.  Von  allen  maß- 
gebenden Personen  war  es  D.,  der  mit  dem  größten  Nachdruck  die  möglichst 
einheitliche  Ordnung  des  Münzwesens  verlangte  und  der  nicht  nur  die  Über- 
nahme der  Münzgesetzgebung,  sondern  auch  der  gesamten  das  Münzwesen 
betreffenden  Verwaltungstätigkeit  auf  das  Reich  befürwortete.  Ebenso  war 
es  D.,  der  innerhalb  der  Regierung  mit  der  größten  Entschiedenheit  den 
Gedanken  der  Goldwährung  vertrat  und  darauf  drängte,  die  durch  den  Aus- 
gang des  Kriegs  mit  Frankreich  und  die  französiche  Kriegskostenentschädi- 
gung geschaffene  günstige  Situation  ungesäumt  zur  Durchführung  des  Währungs- 
wechsels zu  benutzen. 

Schon  bei  der  preußischen  Regierung,  und  in  einzelnen  Punkten  noch 
mehr  bei  den  Regierungen  der  Mittelstaaten,  fand  D.  mit  diesen  Ideen 
Widerstand.  Der  preußische  Finanzminister  Camphausen  stellte  den  weiten 
Gesichtspunkten  D.s  einen  stark  partikularistisch  und  fiskalisch  angehauchten 
Gedankengang  entgegen.    Die  von  D.  geplante  unitarische  und  zentralistische 


384 


von  Delbrück. 


Ordnung  des  Münzwesens  hatte  ebensowenig  den  ungeteilten  Beifall  des 
preußischen  Parti kularisten,  wie  die  bei  dem  Übergang  zur  Goldwährung  not- 
wendige, aber  erhebliche  finanzielle  Zubußen  in  Aussicht  stellende  Silber- 
abstoßung  die  Sympathien  des  fiskalisch  rechnenden  Finanzministers  fand. 
Schon  der  im  Reichskanzleramt  ausgearbeitete  Gesetzentwurf  über  die  Aus- 
prägung von  Reichsgoldmünzen,  der  am  lo.  Oktober  1871  dem  Bundesrat 
vorgelegt  wurde,  war  von  der  Haltung  des  preußischen  Finanzministers  be- 
einflußt, wenn  er  auch  in  den  Hauptpunkten,  namentlich  hinsichtlich  der 
einheitlichen  Ordnung  des  Münzwesens,  der  Auffassung  D.s  entsprach.  Da- 
gegen wurden  durch  die  Beschlüsse  des  Bundesrats  in  die  geplante  deutsche 
Münzeinheit  erhebliche  Breschen  gelegt.  Nicht  nur  wurde  an  Stelle  der 
Prägung  der  »Reichsgoldmünzen«  durch  das  Reich  die  Prägung  auf  den 
einzelstaatlichen  Münzstätten  und  an  die  Stelle  des  einheitlichen  Gepräges, 
enthaltend  das  Bildnis  des  deutschen  Kaisers,  ein  verschiedenes  Gepräge,  ent- 
haltend das  Bildnis  des  Landesherm  oder  das  Hoheitszeichen  der  freien 
Städte  gesetzt;  darüber  hinaus  wurde  auch  die  Sorge  für  die  Aufrechterhal- 
tung der  Vollwichtigkeit  des  Münzumlaufs  und  ebenso  die  Einziehung  der 
alten  Landesmünzen  zur  Sache  der  Einzelstaaten  gemacht.  Camphausen 
wurde  der  Verfechter  dieses  geradezu  unmöglichen  »Kompromisses«  im 
Reichstag,  während  D.,  der  von  vornherein  der  Unterstützung  seiner  Ideen 
durch  eine  überwältigende  Mehrheit  im  Reichstag  sicher  sein  konnte,  bei 
der  dritten  Lesung  mitunter  leichten  Herzens  die  Bestimmungen  preisgeben 
konnte,  die  Camphausen  in  der  zweiten  Lesung  mit  Eifer  verteidigt  hatte. 
Insbesondere  der  Sachkenntnis  und  der  unermüdlichen  Tätigkeit  Ludwig 
Bambergers  ist  es  gelungen,  durch  die  Reichstagsverhandlungen  den  Ent- 
wurf der  verbündeten  Regierungen  so  umzugestalten,  daß  dem  Wesen  nach 
eine  einheitliche  Münzverfassung  geschaffen  und  nur  in  der  Form,  nament- 
lich in  der  Frage  des  Gepräges,  dem  Partikularismus  einige  Zugeständnisse 
gemacht  wurden,  daß  ferner  der  Obergang  zur  Goldwährung  gleich  in  dem 
ersten  sich  auf  das  Münzwe^en  beziehenden  Reichsgesetz,  dem  Gesetz,  betr. 
die  Ausprägung  von  Reichsgoldmünzen,  vom  4.  Dezember  187 1,  im  Prinzip 
entschieden  wurde.  Der  gesetzgeberische  Abschluß  der  eigentlichen  Münz- 
reform erfolgte  auf  den  durch  jenes  erste  Gesetz  geschaffenen  Grundlagen 
durch  das  Münzgesetz  vom  9.  Juli  1873. 

Beträchtlich  größere  Schwierigkeiten  fand  D.  bei  der  Reform  des  Papier- 
geld- und  Bankwesens.  Allgemein  war  man  der  Überzeugung,  daß  die  Ord- 
nung des  Umlaufs  von  Staatspapiergeld  und  die  Neuorganisation  der  Noten- 
banken in  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  der  Münzreform  gehalten  werden 
müsse,  wenn  anders  nicht  das  ganze  Werk  gefährdet  werden  sollte.  Aber 
hinsichtlich  der  Art  der  Lösung  dieser  Fragen  bestanden  nahezu  unüberwind- 
liche Interessenkonflikte  und  Meinungsverschiedenheiten  einerseits  zwischen 
dem  preußischen  Finanzminister  und  den  Regierungen  der  übrigen  Einzel- 
staaten, andererseits  zwischen  dem  preußischen  Finanzminister  und  dem  Präsi- 
denten des  Reichskanzleramts.    Für  D.  standen  als  Ziel  folgende  Punkte  fest: 

I.  Ersetzung  des  umlaufenden  Papiergeldes  der  Einzelstaaten  durch 
ein  Reichspapiergeld  in  wesentlich  geringerem  Betrage  unter  Gewährung 
möglichster  finanzieller  Erleichterungen  an  die  zur  Einziehung  ihres  Staats- 
papiergeldes genötigten  .Einzelstaaten; 


von  Delbrück.  ^85 

2.  Ordnung  des  Bankwesens  unter  Umwandlung  der  Preußischen  Bank 
in  eine  Reichsbank. 

Unter  D.s  Leitung  und  Verantwortlichkeit  hatte  Michaelis  bereits  Ende 
1872  den  Entwurf  eines  Bankgesetzes  ausgearbeitet,  dessen  Schwerpunkt 
in  der  Umwandlung  der  Preußischen  Bank  in  eine  Reichsbank  lag.  Bismarck 
hatte  den  Entwurf  bereits  gezeichnet,  aber  noch  im  letzten  Augenblick  gelang 
es  Camphausen,  seine  Einbringung  zu  verhindern.  Camphausen  wollte  die 
Notwendigkeit  einer  Reichsbank  nicht  einsehen,  und  es  lag  ihm  sehr  viel  daran, 
die  Preußische  Bank,  an  deren  Reingewinn  der  preußische  Staat  beteiligt 
war,  als  preußisches  Institut  zu  erhalten.  Sein  Widerstand  bildete  ein  geradezu 
unüberwindliches  Hindernis  für  eine  Lösung  der  Bankfrage,  welche  dem 
Reichskanzleramt  und  der  öffentlichen  Meinung  hätte  annehmbar  erscheinen 
können.  Damit  war  auch  die  Ordnung  der  Papiergeldausgabe  wesentlich 
erschwert;  insbesondere  Bayern  bestand  darauf,  daß  die  Papiergeldfrage  nur 
im  Zusammenhang  mit  der  Bankfrage  geregelt  werden  dürfe.  Außerdem 
aber  sträubte  sich  Camphausen  gegen  die  Gewährung  von  Erleichterungen 
an  diejenigen  Bundesstaaten,  die  einen  im  Verhältnis  zu  ihrer  Bevölkerung 
starken  Betrag  von  Papiergeld  ausgegeben  hatten. 

Infolge  dieser  Konflikte  wurde  im  Jahre  1873  das  Münzgesetz  vorgelegt, 
ohne  daß  gleichzeitig  Entwürfe  über  die  Reform  des  Papiergeld-  und  Bank- 
wesens eingebracht  worden  wären.  Der  Reichstag  aber  bestand  seinerseits 
auf  der  schleunigen  Inangrifhiahme  dieser  Materien,  indem  er  dem  Münz« 
gesetz  einen  Paragraphen  anfügte,  der  über  das  Papiergeld  und  die  Noten- 
ausgabe einschneidende  Bestimmungen  traf. 

Unter  diesem  Druck  einigte  man  sich  im  Bundesrat  über  einen  Gesetz- 
entwurf über  die  Ausgabe  von  Reichskassenscheinen,  der  am  21.  April  1874 
Gesetzeskraft  erhielt.  Dieses  Gesetz  verfügte  die  Einziehung  des  Staats- 
papiergeldes und  seinen  Ersatz  durch  Reichskassenscheine  im  Normalbetrag 
von  1 20  Millionen  M.,  die  auf  die,.  Bundesstaaten  pro  rata  ihrer  Bevölke- 
rungszahl verteilt  werden  sollten.  Außerdem  erhielten  die  Bundesstaaten, 
die  einen  größeren  Betrag  an  Staatspapiergeld  ausgegeben  hatten,  als  ihrem 
Normalanteil  an  Reichskassenscheinen  entsprach,  einen'  in  15  Jahren  zu 
tilgenden  Vorschuß  in  Reichskassenscheinen. 

Nunmehr  konnte  auch  die  Einbringung  eines  Bankgesetzes  nicht  länger 
verschoben  werden,  zumal  sich  D.  bei  der  Beratung  des  Reichskassenschein- 
gesetzes im  Bundesrat  verpflichtet  hatte,  einen  Bankgesetzentwurf  so  früh- 
zeitig vorzulegen,  daß  die  Beratungen  im  Bundesrat  bis  zum  Beginn  der 
Herbstsession  1874  des  Reichstags  erledigt  werden  könnten.  Da  Camphausen 
auf  seinem  entschiedenen  Widerspruch  gegen  die  Umwandlung  der  Preußischen 
Bank  in  eine  Reichsbank  beharrte,  mußte  sich  D.  mit  dem  Gedanken  ab- 
finden, einen  Entwurf  ausarbeiten  zu  lassen,  der  sich  darauf  beschränkte,  die 
Notenausgabe  und  den  Geschäftskreis  der  bestehenden  Notenbanken  zu 
reglementieren,  ohne  eine  Reichsbank  ins  Leben  zu  rufen.  Der  wenn  auch 
nur  vorläufige  Verzicht  auf  den  Hauptteil  der  Bankreform  wurde  D.  und 
Michaelis  nicht  leicht;  sie  konnten  sich  einigermaßen  damit  trösten,  daß  der 
Erlaß  von  Normativbestimmungen  für  die  bestehenden  Notenbanken  der 
späteren  Errichtung  einer  Reichsbank  in  keiner  Weise  prä judizierte  und 
sie    konnten    außerdem,    ähnlich    wie    bei    der   Münzgesetzgebung,    auf   eine 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deuttcher  Nekrolog.    9.  Bd.  25 


386  von  Delbrttck. 

energische  Unterstützung  des  Reichstags  für  den  Gedanken  der  Reichsbank 
rechnen. 

Als  der  Reichstag  am  1 6.  November  1874  die  erste  Lesung  des  Bank- 
gesetzentwurfs begann,  führte  D.  in  seiner  die  Beratungen  einleitenden  Rede 
aus,  der  Gedanke  einer  Reichsbank  sei  dem  Reichskanzleramte  »nichts 
weniger  als  antipathisch«  gewesen,  aber  wegen  der  Schwierigkeiten  einzelner 
Fragen»  wie  der  Stellung  der  Reichsbank  zu  den  anderen  Notenbanken  und 
der  Auseinandersetzung  mit  Preufien  sehe  der  vorliegende  Entwurf  von  einer 
Reichsbank  ab.  Im  Reichstag  jedoch  war  eine  überwältigende  Mehrheit 
gewillt,  kein  Bankgesetz  ohne  Reichsbank  zu  genehmigen.  Die  zur  Beratung 
des  Entwurfs  eingesetzte  Kommission  beschloß  sofort  nach  ihrem  Zusammen- 
treten am  21.  November  mit  13  gegen  4  Stimmen  »daß  die  Kommission  die 
Diskussion  des  Bankgesetzes  nicht  für  wünschenswert  erachte,  ehe  ein  Be- 
schluß über  die  Einführung  einer  Reichsbank  gefaßt  sei.«  Nach  diesem 
Beschluß  vertagte  sich  die  Kommission,  um  die  Stellungnahme  des  Bundes- 
rats abzuwarten. 

Nunmehr  gab  Camphausen  endlich  seinen  Widerspruch  gegen  die  Reichs- 
bank auf;  er  bequemte  sich  zu  Vorschlägen  über  die  Umwandlung  der 
Preußischen  Bank  in  eine  Reichsbank,  die  der  Bundesrat  im  ganzen  an- 
nehmbar fand  und  auf  Grund  deren  die  in  den  Bankgesetzentwurf  einzu- 
fügenden Bestimmungen  über  die  Reichsbank  ausgearbeitet  und  vom  Bundes- 
rat genehmigt  wurden.  Mit  dieser  wichtigen  Ergänzung  wurde  der  Entwurf 
vom  Reichstag  nach  eingehenden  Kommissions-  und  Plenarberatungen,  die 
vor  allem  durch  die  sachkundige  Mitarbeit  Ludwig  Bambergers  ihr  Gepräge 
erhielten,  angenommen.  Am  14.  März  1875  konnte  das  Bankgesetz  vollzogen 
werden.  D.  bemerkt  in  seinen  »Lebenserinnerungen«  bei  der  Besprechungeines 
im  Mai  1861  von  Preußen  ausgearbeiteten  Entwurfs  einer  Vereinbarung 
zwischen  den  deutschen  Staaten  über  die  Erteilung  neuer  und  die  Verlänge- 
rung bestehender  Notenprivilegien,  der  ohne  Ergebnis  geblieben  war: 

»Es  ist  eine  meiner  liebsten  dienstlichen  Erinnerungen,  daß  ich  dreizehn  Jahre  später 
in  Gemeinschaft  mit  Herrn  Michaelis  und  dem  Abgeordneten  Dr.  Bamberger  das  Reichs- 
bankgesetz  habe  zustande  bringen  und  damit  die  Materie  auf  die  Dauer  habe  regeln 
können«. 

In  handelspolitischer  Beziehung,  auf  D.s  ureigenstem  Arbeitsfelde,  hatten 
die  Umgestaltung  des  Zollvereins  nach  dem  Kriege  von  1866  und  schließ- 
lich die  Begründung  des  Deutschen  Reichs  die  staatsrechtlichen  Schwierig- 
keiten  beseitigt,  die  bisher  dem  Ausbau  der  Tarifpolitik  im  Wege  gestanden 
hatten.  Die  freihändlerische  Richtung  der  D.schen  Handelspolitik  selbst 
wurde  durch  diese  Umwälzungen  nicht  berührt.  »Im  Zeichen  der  Annähe- 
rung an  die  Handelsfreiheit  —  so  habe  ich  in  meinen  Vorträgen  über 
»Handelspolitik«  (1901)  ausgeführt  —  war  der  Zollverein  groß  geworden,  und 
die  deutsche  Volkswirtschaft  war,  trotzdem  ihre  industrielle  Konkurrenz- 
fähigkeit damals  gegenüber  dem  Auslande,  namentlich  gegenüber  England 
und  Frankreich  eine  wesentlich  geringere  war  als  heute,  unter  der  liberalen 
Tarifpolitik  des  Zollvereins  erheblich  vorwärts  geschritten.  Namentlich  von 
den  fünfziger  Jahren  an,  nachdem  die  kurze  Zeit  der  von  Süddeutschland 
ausgehenden  schutzzöllnerischen  Reaktion  überwunden  war  und  nachdem 
die  Verträge  mit  Hannover  und  Österreich  erhebliche  Zollermäßigungen  ge- 


von  Delbrück.  387 

bracht  hatten,  und  dann  nach  dem  noch  viel  mehr  freihändlerischen  Ver- 
trage mit  Frankreich  von  1862  hatte  Deutschland  in  wirtschaftlicher  Be- 
ziehung einen  so  merkbaren  Aufschwung  zu  verzeichnen,  daß  es  durchaus 
erklärlich  und  natürlich  erscheint,  wenn  die  Leiter  der  Handelspolitik  des  Zoll- 
vereins auch  nach  der  Begründung  des  Norddeutschen  Bundes  und  des 
Reichs  auf  der  von  ihnen  betretenen  Bahn  weiter  zu  gehen  versuchten.« 

Bei  der  Fortbildung  des  Zolltarifs  im  freihändlerischen  Geiste  wurde  die 
Regierung  an  Eifer  und  Radikalismus  von  der  öffentlichen  Meinung  und 
der  Volksvertretung  weit  übertroffen.  Das  zeigte  sich,  als  im  Jahre  1868 
gleichzeitig  mit  einem  neuen  Handelsvertrag  mit  Osterreich,  der  wichtige 
ZoUermäfiigungen  enthielt,  ein  Gesetzentwurf  vorgelegt  wurde,  der  im  An- 
schluß an  den  österreichischen  Vertrag  eine  erhebliche  Vereinfachung  des 
Zolltarifs  herbeiführen  und  nach  dem  Vorbilde  Englands  ein  System  reiner 
Finanzzölle  anbahnen  sollte.  Dieser  Gesetzentwurf  scheiterte  in  zwei  Sessionen 
daran,  daß  die  Zollermäßigungen  der  freihändlerischen  Mehrheit  des  Zoll- 
parlaments nicht  weit  genug  gingen;  er  kam  erst  im  Jahre  1870  zur  Annahme, 
nachdem  die  Regierung  auf  den  ganz  besonders  stark  angefochtenen  Petroleum- 
zoll verzichtet  hatte. 

Der  erste  handelspolitische  Akt  des  neuen  Reichs  war  der  in  §  11  des 
Frankfurter  Friedens  enthaltene  unkündbare  Meistbegünstigungsvertrag  mit 
Frankreich.  Man  mußte  sich  mit  der  bloßen  Meistbegünstigung  begnügen, 
nachdem  der  anfangs  erstrebte  Abschluß  eines  neuen  Tarifvertrags  von  Frank- 
reich mit  der  größten  Hartnäckigkeit  abgelehnt  worden  war. 

In  der  Folgezeit  war  es  der  Reichstag,  der  zu  einem  weiteren  Schritte 
im  freihändlerischen  Sinne  drängte.  Im  Mai  1873  wurde  ein  Antrag  ein- 
gebracht, der  die  völlige  Beseitigung  der  Eisen-  und  Maschinenzölle  ver- 
langte; unterzeichnet  war  der  Antrag  von  den  konservativen  Agrariern  und 
den  liberalen  Freihändlern.  D.  beantwortete  diesen  Antrag  mit  der  Ankün- 
digung einer  Tarifnovelle,  die  wenige  Wochen  später  eingebracht  wurde  und 
Zollfreiheit  für  Roheisen  sowie  Zollermäßigungen  für  Eisenwaren  und  einige 
andere  Artikel  enthielt.  Die  Vorlage  wurde  in  der  Fassung  angenommen, 
daß  für  Roheisen  sofort,  für  Eisenwaren  usw.  am  i.  Januar  1877  Zollfreiheit 
eintreten  sollte. 

Dieses  Gesetz  war  der  letzte  Erfolg  der  freihändlerischen  Politik  in 
Deutschland.  Die  Folgezeit  brachte  einen  völligen  Umschwung  in  der 
öffentlichen  Meinung,  in  der  Stellungnahme  der  Volksvertretung  und  in  der 
Ansicht  des  Kanzlers,  einen  Umschwung,  dessen  erste  Vorboten  D.  veranlassen 
sollten,  von  seiner  amtlichen  Stellung  zurückzutreten. 

Die  schutzzöllnerische  Strömung  innerhalb  der  deutschen  Industrie,  die 
nie  ganz  unterdrückt  worden  war,  gewann  allmählich  wieder  an  Bedeutung. 
Nachdem  die  kardinale  Forderung  aller  wirtschaftlich  tätigen  Kreise  Deutsch- 
lands, die  Schaffung  eines  einheitlichen  deutschen  Zollgebiets,  hinter  der 
bisher  alles  andere  zurückgetreten  war,  im  Deutschen  Reiche  in  einer  für 
alle  absehbare  Zeit  gesicherten  Form  erfüllt  war,  traten  die  Einzelinteressen 
wieder  mehr  hervor.  Die  erheblichen  Zollermäßigungen  und  die  wichtigen 
Zollbefreiungen,  die  seit  der  Errichtung  des  Norddeutschen  Bundes  teils  im 
Wege  von  Handelsverträgen,  teils  im  Wege  der  autonomen  Zollgesetzgebung 
herbeigeführt  worden  waren,  hatten  die  schutzzöllnerisch  interessierten  Zweige 


388  von  Delbrück. 

der  deutschen  Industrie  zu  verschärftem  Widerspruch  herausgefordert.  Dazu 
kam  die  Handelskrisis  von  1873  und  in  ihrem  Gefolge  eine  schwere  industrielle 
Depression,  die  namentlich  auf  der  Eisenindustrie  lastete.  So  töricht  es 
wäre,  wenn  man  diese  Krisis  —  statt  auf  die  vorhergegangene  starke  Über- 
produktion und  Überspekulation  —  auf  die  ausländische  Konkurrenz  zurück- 
führen wollte,  so  begreiflich  ist  es  andererseits,  daß  die  bedrängten  Industrien 
zur  Erleichterung  ihrer  Lage  nach  verstärktem  Schutze  gegenüber  dem  fremden 
Wettbewerbe  riefen.  Zu  Beginn  des  Jahres  1876  wurde  zum  Zweck  einer 
umfassenden  schutzzöllnerischen  Agitation  der  3>Zentralverband  deutscher 
Industrieller«  gegründet,  der  in  der  Folgezeit  einen  großen  Einfluß  auf  die 
Gestaltung  unsrer  Handelspolitik  gewonnen  hat.  Es  traten  ihm  vor  allem 
bei  die  Eisenindustriellen,  die.  Baumwollspinner,  die  Soda-  und  Zucker- 
fabrikanten. 

Femer  bereitete  sich  in  jener  Zeit  der  Übergang  der  agrarischen  Parteien 
aus  dem  Lager  des  Freihandels  in  das  Lager  des  Schutzzolls  vor,  in  Ver- 
bindung mit  dem  Umschwung,  den  die  Stellung  der  deutschen  Landwirtschaft 
damals  im  internationalen  Verkehr  erfuhr.  Die  deutsche  Landwirtschaft,  die 
noch  vor  kurzem  einen  Überschuß  an  Produkten  an  das  Ausland,  namentlich 
an  den  englischen  Markt  abgegeben  hatte,  fing  an,  den  Druck  der  zunächst 
von  dem  durch  Eisenbahnen  erschlossenen  Rußland  ausgehenden  Getreide- 
konkurrenz auf  dem  deutschen  Markte  selbst  zu  spüren;  während  die  deutschen 
Agrarier  bisher  nur  an  der  Leichtigkeit  des  Exports  und  an  dem  möglichst 
billigen  Import  landwirtschaftlicher  Geräte  und  Maschinen  usw.  interessiert 
gewesen  waren  und  infolgedessen  sich  durch  einen  stark  ausgeprägten  frei- 
händlerischen Radikalismus  hervorgetan  hatten,  erkannten  sie  jetzt  mit  einem- 
mal ihr  überwiegendes  Interesse  in  der  Erschwerung  der  Einfuhr  landwirt- 
schaftlicher Erzeugnisse. 

Befördert  wurde  der  Umschwung  in  den  handelspolitischen  Anschau- 
ungen und  Bestrebungen  Deutschlands  durch  die  protektionistische  Politik, 
die  in  jener  Zeit  fremde  Staaten,  insbesondere  Frankreich,  Österreich  und 
Rußland,  verfolgten.  Fürst  Bismarck  schien  anfangs  sich  der  wachsenden 
schutzzöllnerischen  Strömung  entgegenstellen  zu  wollen;  noch  am  22.  No- 
vember 1875  bezeichnete  er  im  Reichstag  die  Aufhebung  aller  Zölle  mit  Aus- 
nahme einiger  hoher  Finanzzölle  auf  10  bis  15  Artikel  als  das  erstrebenswerte 
Ziel.  Aber  auch  bei  Bismarck  trat  bald  ein  radikaler  Wechsel  seiner  handels- 
politischen Auffassung  ein,  in  dem  Maße,  daß  er  in  den  folgenden  Jahren 
mit  dem  ganzen  Gewicht  seiner  Persönlichkeit  die  Führung  in  der  schutz- 
zöllnerischen Umkehr  der  deutschen  Tarifpolitik  ergriff. 

D.  war  nicht  gesonnen,  den  Umschwung  mitzumachen.  Als  er  die  ersten 
Anzeichen  der  beginnenden  Meinungsverschiedenheit  zwischen  sich  und  dem 
leitenden  Staatsmanne  bemerkte,  entschloß  er  sich,  alsbald  die  Geschäfte,  die 
er  seit  mehr  als  einem  Vierteljahrhundert  mit  soviel  Geschick  und  Hingabe 
geführt  hatte,  aus  der  Hand  zu  geben.  Im  Frühjahr  1876  erbat  er  seine 
Entlassung,  die  ihm  am  i.  Juni  1876  gewährt  wurde. 

Über  den  akuten  Anlaß  und  die  näheren  Umstände  von  D.s  Rück- 
tritt ist  bei  der  vornehmen  Diskretion,  die  dieser  Staatsmann  stets  be- 
wahrt hat,  niemals  etwas  genaueres  bekannt  geworden.  Bamberger  erzählt 
darüber: 


von  Delbrück.  ^8q 

»D.s  Klugheit  und  Selbstachtung  ließen  ihn  keinen  Augenblick  im  Zweifel  darüber, 
was  die  Glocke  geschlagen  habe,  als  der  Kanzler  bei  einem  scheinbar  geringfügigen  Anlafi 
die  nach  den  amtlichen  Regeln  herkömmliche  Form  ihm  gegenüber  verletzte.  Er  sagte 
sich  sogleich,  da6  dies  mit  Absicht  geschehen  sei,  und  mit  welcher  Absicht,  und  Bismarck 
kannte  seinen  Mann  auch  genug,  um  zu  wissen,  dafi  hier  der  leiseste  Wink  genüge,  um 
verstanden  zu  werden.  Die  andern  alle,  welche  nacheinander  entfernt  werden  mußten,  um 
dem  Geist  der  Kanitz  und  Mirbach  die  Bahn  frei  zu  machen,  waren  minder  feinfühlig  und 
trennten  sich  schwerer  von  Amt  und  Würde.  Man  erzählte  sich  damals,  D.  habe  sofort 
am  Tage  der  Entdeckung  des  ersten  Symptoms  bei  Tisch  ganz  trocken  seiner  erst  seit 
kurzem  ihm  angetrauten  Gattin  gesagt:  »Wir  wollen  uns  nach  einer  andern  Wohnung  um- 
sehen.« Sie  konnte  natürlich  nicht  fassen,  warum  die  großartigen  Amtsräume  der  Wilhelmstraße 
ihrem  anspruchslosen  Gemahl  nicht  genügten,  bis  er  ihr  die  nötige  Autklärung  erteilte.« 

Mit  seinem  Abschiede  aus  dem  Staatsdienste  begann  für  D.  der  letzte 
Abschnitt  seines  Lebens,  von  dem  er  selbst  sagt:  »Kr  war  reich  an  ruhigem 
Glück  aber  arm  an  erwähnenswerten  Begebenheiten.«  D.,  der  bis  in  ein 
vorgeschrittenes  Alter  Junggeselle  geblieben  war,  hatte  sich  am  i.  März  1875 
verheiratet,  und  zwar  mit  Elise  von  Pommer-Esche,  der  Tochter  des  Ober- 
präsidenten der  Rheinprovinz  Adolf  von  Pommer-Esche,  mit  dem  D.,  seit 
er  ihn  bei  seinem  Eintritt  in  das  Finanzministerium  als  Geheimen  Oberfinanz- 
rat kennen  gelernt  hatte,  in  aufrichtiger  Freundschaft  verbunden  gewesen  war. 
»Während  des  ersten  Jahres  meiner  Ehe«,  heißt  es  in  den  »Lebenserinne- 
rungen«, nahm  mein  Amt  nicht  bloß  meine  Zeit  sondern  auch  meine  Ge- 
danken in  solchem  Maße  in  Anspruch,  daß  es  für  meine  Frau  so  wenig  als 
für  mich,  zu  einer  vollen  Befriedigung  kam.  Ich  wurde  mir  bewußt,  daß 
ich  ihr  nicht  das  war,  was  ich  sein  wollte,  und  dieses  Bewußtsein,  wenn 
es  auch  durchaus  nicht  der  Grund  meines  Scheidens  aus  dem  Dienste  war, 
hat  mir  den  ernsten  Entschluß  erleichtert.« 

Allerdings  hat  sich  D.  nach  dem  Rücktritt  aus  seiner  amtlichen  Stellung  nicht 
sofort  ganz  und  gar  ins  Privatleben  zurückgezogen,  und  noch  weniger  hat 
er  sich  mit  seinem  persönlichen  Interesse  von  den  öffentlichen  Angelegen- 
heiten abgewendet.  Er  war  innerlich  zu  sehr  mit  seinem  Lebenswerke  ver- 
flochten, als  daß  er  ohne  Anteilnahme  die  Dinge,  die  er  solange  geleitet 
hatte,  sich  hätte  entwickeln  lassen  können. 

Bei  den  Reichstags  wählen  im  Sommer  1878,  die  unter  dem  Eindruck 
des  Nobilingschen  Attentats  stattfanden  und  deren  Ausfall  entscheidend 
werden  sollte  für  den  Umschwung  der  deutschen  Handelspolitik,  wurde  D. 
von  einer  Anzahl  führender  Personen  in  der  nationalliberalen  Partei  zur  An- 
nahme eines  Reichstagsmandats  gedrängt.  D.  hatte  im  Jahre  1858  ein  ihm 
angetragenes  Mandat  für  das  Abgeordnetenhaus  und  im  Jahre  1860  die  ihm 
angebotene  Ernennung  zum  Mitglied  des  Herrenhauses  abgelehnt,  und  zwar 
um  Konflikte  zwischen  den  Pflichten  seiner  amtlichen  Stellung  und  seiner 
Zugehörigkeit  zu  einem  der  Häuser  des  Landtags  aus  dem  Wege  zu  gehen. 
Ein  solcher  Gesichtspunkt  konnte  jetzt,  nach  seinem  Ausscheiden  aus  dem 
Dienste,  nicht  mehr  in  Frage  kommen.  Aber  gleichwohl  entschloß  sich  D. 
nur  ungern,  dem  wiederholten  Drängen  seiner  Freunde  nachzugeben  und  das 
ihm  angebotene  Reichstagsmandat  anzunehmen.  Bestimmend  für  die  An- 
nahme mag  schließlich  das  Gefühl  der  Verpflichtung  gewesen  sein,  für  die 
von  ihm  solange  praktisch  verwirklichten  wirtschaftspolitischen  Ideen  gegen- 
über der  neuen  Strömung  mit  seiner  Person  und  seiner  Autorität  einzutreten. 


390 


von  Delbrück. 


D.  wurde,  ohne  daß  er  irgend  einen  Schritt  der  Bewerbung  getan  hatte, 
im  Wahlkreise  Jena  gewählt.  Das  Mandat  war  ihm  angeboten  worden  ohne 
die  Bedingung  des  Beitritts  zu  einer  bestimmten  Fraktion ;  er  blieb  fraktions- 
los, hielt  sich  aber  zu  dem  freihändlerisch  gebliebenen  Flügel  der  National- 
liberalen. 

Die  von  Bismarck  eingeleitete  »Tarif reform«,  die  in  der  Session  1878/79 
nahezu  das  ganze  Interesse  des  Reichstags  absorbierte,  gab  D.  Gelegenheit, 
seine  Sachkenntnis  und  seine  Erfahrung  zur  Verteidigung  der  bedrohten 
Handelsfreiheit  einzusetzen.  Mit  derselben  unermüdlichen  Pflichttreue  und 
strengen  Sachlichkeit,  die  man  an  dem  Regieningsvertreter  gewohnt  gewesen 
war,  führte  er  nunmehr  als  Abgeordneter  im  Plenum  und  in  der  Tarif- 
kommission des  Reichstags  den  aussichtslosen  Kampf  gegen  eine  Handels- 
politik, die  er  für  verderblich  hielt.  In  derselben  Legislaturperiode 
beteiligte  er  sich  an  der  Abwehr  der  ersten  Versuche,  die  Gewerbefreiheit 
durch  die  partielle  Wiedereinführung  des  Zunftzwanges  einzuschränken.  Femer 
nahm  er  an  erster  Stelle  teil  an  der  Einbringung  und  Begründung  der  Inter- 
pellation über  die  Bedeutung  der  im  Mai  1879  vom  Reichskanzler  verfügten 
Einstellung  der  zur  Durchführung  der  Münzreform  notwendigen  Silberverkäufe. 

Aber  so  sehr  von  allen  Seiten,  auch  von  der  gegnerischen,  die  Autorität 
und  Sachlichkeit  D.s  anerkannt  wurde,  seine  Stellung  im  Reichstage  gestaltete 
sich  nicht  so,  daß  sie  ihm  nach  dem  Vierteljahrhundert  leitender  und  führen- 
der Tätigkeit  in  der  Regierung  eine  Befriedigung  hätte  gewähren  können. 
Bamberger  bemerkt  zu  dieser  Tatsache: 

»Es  hatte  sich  gezeigt,  daß  deutsche  parlamentarische  und  konstitutionelle  Zustände 
noch  nicht  die  Reife  erlangt  haben,  wie  in  England  zweihundert  Jtihre  früher.  Alle  ehe- 
maligen Minister,  die  dasselbe  Experiment  unternahmen,  haben  dieselbe  Erfahrung  gemacht. 
Die  Falk,  Hobrecht,  Achenbach  nahmen  im  Parlament  keine  Stellung  ein,  die  ihrer  früheren 
entsprach.  Ganz  natürlich,  denn,  wie  die  Dinge  bei  uns  verlaufen,  hatten  sie  auch  keine 
Aussicht,  vom  Boden  der  parlamentarischen  Opposition  wieder  auf  die  Ministerbank  zurück- 
zukommen.« 

Bei  den  Neuwahlen  im  Jahre  1881  lehnte  D.  mit  aller  Bestimmtheit  die 
Wiederannahme  eines  Mandats  ab.  Aber  auch  als  reiner  Privatmann  hat  er 
bis  an  sein  Lebensende  das  lebhafteste  Interesse  an  den  öffentlichen  Dingen 
bewahrt,  denen  er  nunmehr  in  der  Hauptsache  als  philosophischer  Zuschauer 
gegenüberstand. 

Ganz  besonders  widmete  er  seine  Anhänglichkeit  und  Arbeitskraft  dem 
»Verein  zur  Beförderung  des  Gewerbefleißes«,  der  von  Beuth  im  Jahre  1821 
gegründet  worden  war  und  zu  dessen  Vorsitzenden  D.  im  Dezember  1858 
gewählt  wurde.  Er  hat  den  Vorsitz,  der  ihm  Jahr  für  Jahr  durch  Neuwahl 
wieder  übertragen  wurde,  auch  nach  seinem  Ausscheiden  aus  seiner  amtlichen 
Stellung  bis  wenige  Jahre  vor  seinem  Tode  beibehalten  und  ihn  mit  der  ihm 
eigenen  Pflichttreue  und  Umsicht  geführt. 

Auch  unsrer  Geld-  und  Bankverfassung,  an  deren  Begründung  D.  in  so 
hervorragendem  Maße  teilgenommen  hat,  bewahrte  D.  sein  volles  Interesse. 
Als  um  die  Mitte  der  neunziger  Jahre  die  Bimetallisten  einen  entscheidenden 
Vorstoß  gegen  die  Grundlagen  unsrer  Geldverfassung  versuchten  und  die 
Reichsregierung  einen  Augenblick  zu  schwanken  schien,  übernahm  D.  bereit- 
willig den  Ehrenvorsitz  des  damals  gegründeten  »Vereins  zum  Schutze  der 


von  Delbrück,     von  Meysenbug.  ^gi 

Deutschen  Goldwährung«,  und  der  Verfasser  dieser  Skizze  ist  Zeuge  dafür, 
in  welchem  Maße  der  greise  Staatsmann  aus  dem  Schatze  seiner  Erfahrung 
und  seines  Wissens  die  Aufklärungsarbeit  auf  diesem  schwierigen  Felde  unter- 
stützte. 

Als  Schriftsteller  ersten  Rangs  hat  sich  D.  durch  seine  nachgelassenen 
»Lebenserinnerungen«  ein  bleibendes  Denkmal  in  der  historischen  Literatur 
gesetzt.  Zu  seinen  Lebzeiten  hat  er,  dessen  besten  Jahre  durch  den  Staats- 
dienst überreichlich  ausgefüllt  waren,  nur  einige  kleinere  Schriften  publiziert, 
die  alle  in  ihrer  klaren  Sachlichkeit  den  Stempel  seines  Geistes  tragen.  Im 
Jahre  1857  veröffentlichte  er  ohne  seinen  Namen  eine  Schrift  unter  dem  Titel 
«Der  Zollverein  und  das  Tabakmonopol«,  in  welcher  er  die  Einrichtung  des 
Tabakmonopols  in  Österreich  und  Frankreich  darstellte  und  auf  Grund  dieser 
Darstellung  die  Unvereinbarkeit  dieses  Monopols  mit  den  Zollvereinsverträgen 
nachzuweisen  suchte.  Zur  Zeit  der  Kämpfe  um  den  Bismarckschen  Zolltarif 
veröffentlichte  er  im  Jahre  1879  —  gleichfalls  ohne  seinen  Namen  —  in 
den  Mitteilungen  des  »Vereins  zur  Förderung  der  Handelsfreiheit«  eine  Ab- 
handlung unter  dem  Titel  »Deutschlands  Getreideverkehr  mit  dem  Auslande«, 
deren  Zweck  der  Nachweis  war,  daß  Deutschland  der  Zufuhr  von  Getreide 
aus  dem  Auslande  nicht  entbehren  kann.  Schließlich  hat  er  im  Jahre  1881 
unter  seinem  Namen  eine  Schrift  über  »den  Artikel  40  der  Reichsverfassung« 
herausgegeben,  die  sich  mit  den  Fragen  der  in  jenem  Artikel  übernommenen 
Bestimmungen  der  Zollvereinsgesetzgebung  befaßt.  Karl  Helfferich. 

Meysenbug,  Malvida  von,i)  Schriftstellerin,  *  28.  Oktober  18 16  in  Kassel, 
f  26.  April  1903  in  Rom.  —  Gegen  das  Ende  des  XVIL  Jahrhunderts, 
nach  der  Aufhebung  des  Ediktes  von  Nantes,  als  —  nach  Taines  Ausdruck  — 
la  France  se  vida  de  son  meilleur  sang,  verließ  mit  anderen  Hugenotten  auch  ein 
gewisser  Rivalier  seine  Heimat  Nimes,  entkam  den  Verfolgern  und  suchte 
Schutz  bei  protestantischen  Germanen.  Seine  Nachkommen  ließen  sich  in 
Hessen  nieder,  und  Philipp  Rivalier  errang  —  vielleicht  mit  Hilfe  der 
Freimaurerloge,  in  der  er  zu  hohen  Würden  emporklomm  —  die  Gunst  des 
Kurfürsten  Wilhelm  L  in  solchem  Grade,  daß  er  eine  glänzende  Karriere  bei 
ihm  machte,  zu  seinem  persönlichen  Rat  und  Hofmarschall  avancierte,  1825  in 
den  Adelstand  erhoben  wurde  und  den  Titel  eines  F rei he rrn  von  Meysenbug 
erhielt.  Aus  der  Ehe,  die  er,  21  Jahre  alt,  mit  der  sechszehnjährigen  Johanna 
Hau  sei  schloß,  gingen  zehn  Kinder  hervor,  von  denen  drei  in  weiteren 
Kreisen  bekannt  geworden  sind:  zwei  Söhne  Otto  und  Wilhelm,  die  im  öster- 
reichischen und  badischen  Staatsdienste  hohe  Stellungen  errangen  und  in  die 
EntWickelung  der  deutschen  Verhältnisse  während  der  verfahrenen  Bundes- 
periode mit  nicht  eben  glücklicher  Hand  einzugreifen  versuchten,  und  eine 
Tochter  Malvida,  die  alle  ihre  Geschwister  um  eine  stattliche  Reihe  von 
Jahren  überlebte.  In  ihr  wie  in  den  politischen  Brüdern  lebte  der  französi- 
sche Freisinn  der  väterlichen  Ahnen  und  die  bis  zum  Eigensinn  zähe  Opposi- 
tionslust der  Mutter;  die  verschiedenartige  Mischung  dieser  Elemente  führte 
unter  der  Einwirkung  äußerer  Umstände  schließlich  zu  der' merkwürdigen 
Tatsache,    daß   nach  ruhig  protestantischer,   keineswegs    orthodoxer  Normal- 

«)  Totenliste  1903  Band  VIII  75*. 


5Q2  von  Meyscnbug. 

efziehung  der  Bruder  in  Wien  zum  Katholizismus  und  die  Schwester  in  Ham- 
burg zur  freireligiösen  Gemeinde  übertrat.  Spezifisch  französisch  aber  ist  in 
Malvida  der  Hauptzug  ihres  Wesens:  die  anmutige  Umgangsform,  die  ge- 
selligen Manieren,  die  vollendete  Liebenswürdigkeit,  der  sie  ihre  allgemeine 
Beliebtheit,  ja  selbst  ihre  Wirkung  auf  solche  Zeitgenossen  verdankte,  die  in 
ihr  keineswegs  einen  bedeutenden  Geist  sahen.  Auch  die  französische  Sprache 
beherrschte  sie  wenigstens  in  späteren  Jahren  tadellos,  ja  schriftlich  besser 
als  die  deutsche;  unter  den  nicht  seltenen  syntaktischen  Fehlern,  die  ihre 
Schriften  durchsetzen,  nehmen  die  Gallizismen  einen  besonders  breiten  Raum 
ein.    In  ihrem  elterlichen  Hause  sprach  man  jedoch  fast  immer  deutsch. 

Ihre  Kindheit  verfloß  in  ungetrübtem  Glück.  Die  Nähe  und  der  Glanz 
des  altvaterischen  Hofes,  die  Fürsorge  der  literarisch  wohlgebildeten  Mutter, 
die  leichtsinnig  genug  war  gegen  alle  damaligen  Gepflogenheiten  auch  Theater- 
volk ins  Haus  zu  ziehen  und  die  Kinder  beizeiten  an  der  Geselligkeit  der  Grofien 
teilnehmen  zu  lassen,  der  Wohlstand  und  Familienkultus  führten  dem  jungen 
Wesen  unablässig  angenehme  Eindrücke  zu;  beizeiten  erwachten  die  beiden 
Triebe,  die  es  nie  mehr  verlassen  sollten,  die  Lust  zu  lernen  und  der  Drang 
in  die  Ferne.  Entschlüpfte  sie  doch  eines  Tages  allein  dem  Eltemhause, 
mit  der  Absicht  sich  in  eine  Postkutsche  zu  setzen  und  aus  eigener  An- 
schauung wie  Parsifal  »die  Ferne«  kennen  zu  lernen,  von  der  sie  so  viel  gehört 
hatte;  der  Plan  wurde  natürlich  vereitelt,  aber  die  Freude  einer  Reise  nach 
Süddeutschland  wurde  ihr  bald  zuteil,  und  von  da  an  bis  in  ihre  letzten 
Lebensjahre  blieb  sie  fast  immer  auf  der  Wanderschaft.  Diese  Wanderschaft 
wurde  bereits  eine  unfreiwillige,  als  Malvida  kaum  fünfzehn  Jahre  alt  war 
und  die  ersten  erschütternden  Augenblicke  durchlebte.  Kurfürst  Wilhelm  IL, 
der  seinem  182 1  verstorbenen  Vater  in  der  Regierung  gefolgt  war,  dachte 
daß  das  patriarchalische  Dasein  Serenissimi  und  seiner  Mai tressen Wirtschaft 
immer  so  weiter  gehen  würde,  als  das  Jahr  1830  herankam  und  der  Pariser 
Juli  sein  obligates  Echo  in  unterschiedlichen  deutschen  Gauen  fand;  auch 
die  braven  Hessen  wollten  auf  die  französische  »Anregung«  hin  ihr  Stückchen 
Revolution  haben,  und  wuterfüllte  Massen  wälzten  sich,  Stöcke  schwingend 
und  Steine  schleudernd,  durch  die  friedlichen  Straßen  Kassels,  ja  sie  zertrüm- 
merten heroisch  einige  Fensterscheiben  im  Hause  des  verhaßten  Hofmannes 
—  freilich  beim  Anblick  zweier  Offiziere  und  einiger  Reitersäbel  im  Hinter- 
grunde zogen  sie  es  vor,  zu  ihren  Kochtöpfen  zurückzukehren  und  ihre  Er- 
lösung von  den  Fesseln  der  Tyrannis  gemütlich  abzuwarten.  Wirklich  ward 
ihnen  eine  Lokalkonstitution  verliehen  und  Meysenbug  arbeitete  sie  aus, 
ohne  daß  er  dadurch  bei  dem  undankbaren  Volke  beliebter  geworden  wäre; 
und  da  auch  sein  Jugendgespiele,  der  Fürst,  sich  gar  zu  schwer  in  die  neuen 
Verhältnisse  finden  konnte,  die  ihm  zumuteten,  seine  absolute  Herrschermacht 
mit  einer  konstitutionellen  Regierungsart  zu  vertauschen,  so  entschlossen 
sich  die  beiden  Kameraden  tapfer  Reißaus  zu  nehmen,  und  in  der  trüben 
Stille  eines  frühen  Wintermorgens  1832  erfolgte  die  fluchtartige  Abreise.  Nun 
begann  eine  Periode  wahren  Zigeunerlebens,  da  es  den  Exmonarchen  nie 
lange  an  einem  Orte  litt;  schließlich  war  eine  Trennung  der  Eltern  Malvidas 
unvei;meidlich,  der  Vater  zog  mit  seinem  Fürsten  in  der  Welt  herum,  bis 
dieser  sich  Frankfurt  als  dauernden  Wohnsitz  erwählte,  die  Familie  ließ  sich 
bei  der  ältesten  verheirateten  Tochter  in  Detmold    nieder,   von    wo  Malvida 


von  Meysenbug.  jq-j 

im  Winter  1844/45  einen  Ausflug  in  die  Provence  mitmachen  durfte,  zog  jedoch 
1847  ebenfalls  nach  Frankfurt,  wo  der  Vater  am  28.  Dezember  1847  fast 
genau  einen  Monat  nach  seinem  alten  Freunde  starb.  —  Dort  erlebte  Malvida 
die  Eröffnung  des  ersten  deutschen  Parlaments;  es  ist  nur  begreiflich,  daß 
der  Eindruck  ein  erhebender  war  und  dafi  sie  an  das  Ereignis  jene  Illusionen 
knüpfte,  von  deren  nur  allzu  natürlicher  Zerstörung  sich  selbst  geschulte 
Denker  noch  nach  Jahrzehnten  nicht  erholen  konnten. 

Inzwischen  waren  ihr  die  Jahre  vorübergezogen,  in  denen  der  Mensch 
am  bildsamsten  ist,  und  ihren  Lemtrieb  hatte  sie  fast  nur  durch  Bücher  be- 
friedigen können.  Schon  in  der  Kindheit  hatte  für  ihr  brennendes  Verlangen 
nach  Kenntnissen  und  nach  geistiger  Vervollkommnung  weder  die  Mutter 
noch  eine  Gouvernante  ausgereicht;  es  folgte  die  wichtigste  Periode  der  Ent- 
wicklung, in  der  jeder  Mensch  und  namentlich  jede  Frau  eines  Führers 
bedarf,  der  die  schlummernden  Kräfte  erkennt,  weckt  und  in  die  richtige 
Bahn  lenkt,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  persönlich  nach  vollbrachtem  Werke 
zum  alten  Eisen  geworfen  zu  werden:  und  Malvida  blieb  das  Glück  versagt, 
unter  den  Einfluß  eines  begeisternden  Lehrers  zu  geraten,  ebenso  wie  ihr  das 
höchste  Liebesglück  versagt  blieb.  Der  Mann,  der  die  volle  Leidenschaft 
ihres  jungfräulichen  Herzens  für  sich  zu  entzünden  wußte,  ein  Theologe 
namens  Theodor  Althaus,  spielte  mit  ihr  wie  er  mit  anderen  spielte;  sie 
selbst  hat  uns  dieses  Erlebnis,  und  auch  wie  sie  ihn  in  seiner  letzten  Krank- 
heit pflegte,  genau  beschrieben,  und  man  hat  Unrecht  getan  in  die  Einzel- 
heiten ihres  Berichtes  Zweifel  zu  setzen.  Diejenigen  aber,  die  auf  ihr  Geistes- 
leben persönlich  nachhaltigen  Einfluß  gewannen,  lernte  sie  erst  in  einem 
Alter  kennen,  wo  sich  zu  ihrer  Liebenswürdigkeit  bereits  die  Ehrwürdigkeit 
gesellte.  In  ihrer  Jugend  hatte  sie  zwar  der  Konfirmandenunterricht,  der  ihr 
infolge  des  Wanderlebens  später  als  den  meisten  zuteil  wurde,  zum  Nach- 
denken angeregt,  aber  im  Kampfe  mit  der  Lebenslust  unterlag  bei  ihr  das 
Mysterium,  und  gerade  die  Feier  der  Konfirmation,  von  der  Kirche  so  klug 
angesetzt,  wurde  bei  ihr  der  äußere  Anlaß  zum  Unglauben,  zur  kirchlichen 
und  infolgedessen  auch  politischen  Opposition.  Nun  las  sie  Schriften  Bettinas 
von  Arnim  und  Raheis;  sie  begann  sich  Goethe  und  Byron  zu  nähern,  sie 
empfand  Natur  und  Musik;  sie  versuchte  sich  als  Malerin  mit  Kopien  italieni- 
scher Landschaftsbilder;  sie  war  oft  physisch  leidend  und  hielt  sich  nicht  für 
schön,  sie  erging  sich  in  ausführlichen  Niederschriften  über  religiöse  Gegen- 
stände; sie  heimste  verschiedene  Heiratsanträge  ein,  über  die  sie  später  ihren 
Leserinnen  mit  begreiflicher  Gewissenhaftigkeit  berichtet  hat,  und  erkannte 
bald,  daß  mit  Bällen  und  Diners  kein  Menschenleben,  das  diesen  Namen 
verdient,  auszufüllen  ist;  alles  trieb  sie  zu  selbständigem,  wenn  auch  nicht 
tiefem  Denken.  Noch  intensiver  wurde  dieses  von  dem  Augenblick  an,  wo 
ein  chronisches  Augenleiden  sie  zwang  der  Malerei  definitiv  zu  entsagen ;  und 
da  sie  in  der  Muße  der  kleinen  Städte  zeitig  den  unvergleichlichen  Wert 
der  Arbeit  schätzen  gelernt  hatte,  so  bildete  sich  bei  ihr  etwa  um  das  dreißigste 
Lebensjahr  der  feste  Vorsatz  aus,  ihre  Gedanken  in  Tätigkeit  umzusetzen  und 
ihre  Arbeit  der  Arbeitsamkeit  anderer  zu  widmen.  Schon  in  Detmold  ver- 
suchte sie  einen  Arbeitsverein  zu  gründen;  für  ihr  ganzes  Leben  aber  empfing 
sie  natürlicherweise  den  stärksten  Impuls  dadurch,  daß  der  Mann,  den  sie 
liebte,    überzeugter   Demokrat    war   und  sie    daher  in  eine  ganz  bestimmte 


^QA  von  Meysenbug. 

Richtung  trieb,  die  ihr  sonst  durchaus  ferne  gelegen  hatte.  Das  Demokraten- 
tum,  das  sie  nachher  so  lebhaft  verfochten  hat,  lag  ihr  keinesfalls  im  Blut, 
es  entstand  auch  trotz  allen  mütterlichen  Oppositionsgeistes  keinesfalls  aus 
einem  Kontrastbedürfnis  oder  aus  Überdruß  an  traditionellen  Gepflogenheiten ; 
im  Gegenteil,  die  Jugendeindrücke  und  das  Bewußtsein  des  Kleinadels  hatten 
ihrem  Charakter  für  alle  Zeit  das  eigentliche  Gepräge  erteilt,  und  wer  ihre 
Schriften  mit  Aufmerksamkeit  liest,  namentlich  aber  wer  ihre  Persönlichkeit 
gut  gekannt  hat,  der  muß  die  Beobachtung  machen,  daß  trotz  ihrer  einfachen 
Unterschrift  M.  M.  eine  empfindliche  Exklusivität  ihr  eigen  war,  ein  Standes- 
bewußtsein, das  bis  zum  Kastengeist,  ja  zuweilen  bis  zum  Snobismus  ausartete. 
Aber  die  Leidenschaft,  die  einzige  wirkliche  Leidenschaft,  die  sich  dieser 
kühlen  und  gerade  wegen  ihre  Kühle  sonst  so  sicheren  Natur  in  ihrem  ganzen 
langen  Leben  bemächtigt  hat,  war  auch  hier  stärker  als  alle  anderen  Triebe 
und  wirkte  um  so  nachhaltiger  auf  die  Gedankenwelt  des  Opfers  ein  als 
dieses  sich  bereits  in  einem  vorgeschrittenen  und  für  solche  Einflüsse  besonders 
zugänglichen  Alter  befand;  bedenkt  man  daneben  noch  die  allgemeinen  Emp- 
findungen der  Enttäuschung  und  Unbefriedigtheit,  die,  wenn  auch  niemals 
öffentlich  eingestanden,  bei  einem  dreißigjährigen  Mädchen  unvermeidlich 
sind;  bedenkt  man  vollends,  wie  viel  die  Langeweile  der  kleinen  Residenzen 
und  wie  viel  der  in  den  vierziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  sehr  starke 
»Zug  der  Zeit«  hinzutaten,  so  begreift  man  wohl  wie  Malvida  zur  Demokratin 
werden  mußte,  aber  man  begreift  auch  wie  es  in  Wahrheit  um  das  Wesen 
dieses  halb  unreifen,  halb  überreifen  Demokratismus  bestellt  war.  Man.  muß 
diesen  Standpunkt  festhalten,  um  gegen  ihre  Schriften,  namentlich  gegen 
gewisse  Partien  ihrer  Memoiren  nicht  ungerecht  zu  werden.  Es  waren  nicht 
historische,  rechtsphilosophische  oder  gar  nationalökonomische  Studien,  über- 
haupt nicht  sachliche  Motive,  sondern  rein  persönliche  Beweggründe,  die  für 
ihre  Anschauung  aller  Dinge  maßgebend  wurden. 

Die  Katastrophe  trat  auch  für  Malvida  im  Jahre  1848  ein.  Bereits  vor- 
her hatte  die  Passion  für  den  demokratischen  Prediger  zu  einer  Entfremdung 
zwischen  Eltern  und  Tochter  geführt;  sie  sollte  diese  Existenz  völlig  entwurzeln, 
sie  nicht  nur  von  ihrer  Familie,  sondern  von  ihrer  gesamten  Vergangenheit, 
von  Heimat,  Vaterland  und  Glauben  trennen.  Zwar  nahm  das  persönliche 
Verhältnis  zu  dem  Apostel,  aus  dem  sich  übrigens  bald  ein  munterer  Zeitungs- 
redakteur entwickelte,  schnell  das  übliche  Ende;  aber  die  demokratischen 
Grundsätze  hatten  nun  einmal  in  dem  verbitterten  Herzen  des  unverstandenen 
Mädchens  Platz  gegriffen  und  wurden  nun,  genährt  durch  Frankfurter  Parla- 
mentsreden und  durch  eine  Reise  nach  Berlin,  an  dessen  damals  radikaler 
Kammer  sich  die  Revolutionäre  kurze  Zeit  berauschen  konnten,  mit  jener 
Zähigkeit  durchgeführt,  die  den  Fanatikern  aller  politischen  Parteien  eigen 
ist  und  so  häufig  zu  festen  Positionen  verholfen  hat.  Schon  wiederholt  hatte 
sich  Malvida  mit  kleinen  Aufsätzen  versucht,  von  denen  einzelne  in  Zeitungen 
abgedruckt  wurden;  jetzt  schrieb  sie  Agitationsartikel  und  fand  es  bewunderns- 
wert, wenn  man  den  bewaffneten  Aufstand,  also  die  äußerste  Gewalttätigkeit 
predigte,  dagegen  erklärte  sie  es  für  die  schlimmste  Ungerechtigkeit,  wenn 
man  so  einem  Hetzkaplan,  der  von  dem  sicheren  Versteck  seines  Redaktions- 
tisches aus  die  verblendeten  Massen  ins  Feuer  trieb,  einmal  den  Prozeß  machte 
und  ihn  für  einige  Jahre  kalt  stellte.    Solche  Ansichten  hielt  sie  ganz  ehrlich 


von  Meysenbug.  jOS 

für  ihre  »Idee«,  und  da  sie  in  deren  Durchführung  ihre  Lebensaufgabe  sah, 
so  nannte  sie  sich  später  eine  »Idealistin«  und  behielt  diesen  Titel  bis  an 
ihr  Ende  bei,  nicht  ohne  ihn  der  Öffentlichkeit  gegenüber  mit  einer  gewissen 
Intensität  immer  wieder  zu  betonen.  — 

Zunächst  wurde  der  Zusammenhang  mit  der  Familie  noch  eine  Weile 
notdürftig  und  zur  beiderseitigen  Qual  festgehalten.  Aber  eine  Reise  nach 
Osten  de,  die  Malvida  1849  ^^^  Gesundheitsrücksichten  unternahm,  zeigte 
ihr  so  recht  klar,  wo  sie  allein  aufatmen  konnte  und  wie  sehr  sie  der  Erlösung 
bedurfte;  sie  hat  diese  Reise  später  in  einem  eigenen  Manuskripte  beschrieben, 
das  nach  ihrem  Tode  von  ihren  Hinterbliebenen  zusammen  mit  einem  poeti- 
schen Versuch  »Himmlische  und  irdische  Liebe«  herausgegeben  worden 
ist.  Bald  nach  diesem  ersten  Blick  in  die  Freiheit  erwachte  der  Plan  nach 
Amerika  zu  gehen;  doch  kam  sie  einstweilen  nicht  über  Hamburg  hinaus, 
wo  sie  von  1850 — 52  in  vollen  Zügen  die  Wonnen  der  Freiheit  genoß.  Sie 
schrieb  dort  eine  Reihe  charakteristischer  Briefe  an  ihre  Mutter,  die 
Gabriel  Monod  in  der  »Deutschen  Revue«  1905/6  veröffentlicht  hat.  Sie  zeigen, 
wie  beharrlich  sie  ihre  Prinzipien  festhält,  aber  auch  wie  heiter  sie  das  Leben 
zu  nehmen  weiß;  sie  schwelgt  in  Musik  und  Theater,  Ausflügen  und  Gesellig- 
keit, freireligiöser  Gemeinde  und  bunter  Lektüre ;  sie  wird  von  Emilie  Wüsten- 
feld an  die  neu  gegründete  höhere  Mädchenschule  berufen  und  tritt  in  nahe 
Verbindung  mit  Karl  Fröbel,  der  mit  seiner  Gattin  die  »höhere  Bildungs- 
anstalt für  das  weibliche  Geschlecht«  leitet.  Dessen  Bruder  Julius,  den  Mine- 
ralogen, hatte  sie  bereits  in  Frankfurt  kennen  und  bewundern  gelernt;  jetzt 
wird  der  Anschluß  ein  so  enger,  daß  sie  durch  ihn  schnell  über  alles  aus- 
gestandene Leid  hinwegkommt  und  einmal  schreibt,  er  sei  »der  einzige 
Mann,  den  ich  nach  Theodor  Althaus  noch  lieben  könnte«;  ein  andermal 
l^ißt  es  gar  »ich  glaube  voraussetzen  zu  können,  daß  ich  durch  eine  Ver- 
bindung mit  Fröbel  das  höchste  Herzensglück  erlangen  würde«.  —  Dazu  kam 
es  nicht;  Fröbel  ging  nach  Amerika,  wo  er  beim  Panamakanal  beschäftigt 
zu  werden  hoffte,  und  seine  Karriere  —  vom  Demokraten  und  Flüchtling 
bis  zum  Konsul  des  Deutschen  Reiches  in  Smyma  und  Algier  —  erinnert  stark 
an  den  russischen  Erfahrungssatz  »bis  zum  dreißigsten  Jahr  ist  er  Revolutionär, 
dann  wird  er  ein  braver  Staatsbeamter«.  Malvida  freilich  prophezeite  »sicher 
wird  sein  Name  noch  neben  Humboldt  genannt  werden« ;  aber  mit  dem 
Orakeln,  das  sie  übrigens  bis  an  ihr  Ende  liebte,  hatte  sie  nun  einmal  kein 
Glück;  schrieb  sie  doch  damals  mit  der  vollen  Sicherheit  überlegenen  Wissens : 
»Schleswig-Holstein  wird  durch  Verrat  und  Erbärmlichkeit  enden.«  Dagegen 
hatte  sie  schon  damals  als  Frauenrechtlerin  Erfolg;  und  nachdem  sie  gelegent- 
lich einer  norddeutschen  Lehrerversammlung  im  Namen  der  Frauen  fröhlich 
protestiert  hatte,  war  es  ihr  wahrlich  nicht  zu  verdenken,  daß  sie  diesen 
Tendenzen  weiter  nachhing,  bis  sie  schließlich  den  Staat  sogar  zur  Züchtung 
von  Ammen  und  Kindermädchen  veranlassen  wollte,  freilich  ohne  an  maß- 
gebender Stelle  diejenige  Gegenliebe  zu  finden,  ohne  welche  jedes  »es  muß« 
und  »es  müßte«  ein  frommer  Wunsch  bleibt.  Nie  aber  ist  sie  aus  den 
Schranken  der  Weiblichkeit  herausgetreten;  so  beharrlich  sie  auf  ihren  Grund- 
sätzen bestand  —  sie  nannte  das  gerne  »Kämpfen«  — ,  so  ferne  lag  ihr  jeder 
vulgäre  oder  massive  Ton;  auf  diesem  Takt  beruhte  zu  jederzeit  ihre  große 
persönliche  Beliebtheit,  wie  sie  denn  bei  allem  Demokratentum  stets  mit  einer 


396  von  Meysenbug. 

gewissen  sehnsüchtigen  Bewunderung  nach  den  »Salons«  des  Ancien  regime 
zurückblickte  und  schon  zu  Hamburg  im  stillen  hoffte  einen  solchen  selber  zu 
begründen.  —  Damals  bot  man  ihr  an  Stiftsdame  zu  werden,  was  ihr  recht 
komisch  vorkam;  sie  wollte  den  Vorschlag  annehmen,  wenn  sie  nicht  selbst 
zu  kommen  brauchte,  die  Einnahmen  aber  für  ihre  Zwecke* oder,  wie  sie  es 
nannte,  »im  Dienste  der  Menschheit«  verwenden  dürfte.  Sie  handelte  also 
in  gutem  Glauben,  wenn  sie  wohl  die  Vorteile,  aber  nicht  die  Pflichten  der 
angebotenen  Stellung  zu  übernehmen  gedachte ;  hier  wie  anderwärts  zeigt  sich 
der  vorgebliche  Idealismus  einfach  als  Naivität.  Der  Vorgang  ist  in  den 
Briefen  anders  geschildert  als  in  den  Memoiren;  solche  Widersprüche  sind 
aber  selbst  bei  den  ehrlichsten  Autobiographen  unvermeidlich.  Sogar  bei 
Bismarck  und  Richard  Wagner  kann  man  die  Wahrheit  des  Satzes  bestätigt 
finden,  daß  Memoiren  nur  in  sehr  bedingtem  Maße  als  Geschichtsquellen  an- 
zusehen sind. 

Die  Hamburger  Genossenschaften  lösten  sich  bald  auf,  mehr  durch  innere 
Zwistigkeiten,  wie  der  Deutsche  sie  nun  einmal  nirgends  entbehren  kann,  als 
infolge  äußeren   Druckes;  Malvida  ging  zunächst  zu   Freunden  nach  Berlin, 
und  dann,  als  sie  dort  von  der  Polizei  belästigt  wurde,  in  das  damals  allge- 
meine Asyl  verfolgter  Politiker,   nach  England.     Noch  kurz  zuvor  hatte  sie 
ihrer  Mutter  geschrieben  »nach  England  zieht  mich  auch   nicht  der  leiseste 
Wunsch.«     Jetzt  hatte  der  gute  Ruf  der  gegen  Politiker  ganz  gleichgültigen 
englischen  Polizei,  namentlich  aber  eine  rege  Korrespondenz  mit  zahlreichen 
in  London  agitierenden  Emigranten  Malvidens  Ansicht  geändert;  1852  siedelte 
sie  dorthin  über,  fand  bei  Johanna  Kinkel,  die  das  Leben  der  Flüchtlinge 
in  ihrem  Roman   »Hans  Ibeles  in   London«   so   anschaulich  geschildert  hat, 
liebevolle  Aufnahme,  und  lernte  1853  endlich  den  Mann  kennen,  der  auf  ihr 
ferneres  Leben  den  weitesten  und  tiefsten  Einfluß  gewinnen  sollte.  Alexander 
Herzen  war  der  Sohn  eines  russischen  Fürsten  und  eines  deutschen  Bürger- 
mädchens ;  in  seiner  Heimat  hatte  er  sich  durch  eben  die  politischen  Umtriebe 
unmöglich  gemacht,  die  ihm  noch  jetzt  die  Sympathien  russischer  Studenten 
und  sonstiger  Umstürzler  zuführen.     Geistig  stand  er  weit  über  dem  Niveau 
der  Durchschnittsdemokraten ;  er  besaß  tief  eingewurzelte,  freilich  verworrene 
und  vielfach  unreife  Überzeugungen,  dazu  Geist  und  Feuer,   vor  allem  aber 
war  er  Russe,  also  nicht  nur  liebenswürdig  und  originell,  sondern  auch  mit 
der  Kenntnis  eines  Landes  und  Volkes  ausgestattet,  von  dessen  Art  zu  jener 
Zeit  nur  vereinzelte  Europäer  Kenntnis  hatten   und   von    dessen   großartiger 
Kunstproduktion    nur    verschwindend    wenige   Exemplare  nach  dem   Westen 
gedrungen  waren.    Herzen  hatte  nun  schon  in  seinem  Buche  »Vom  anderen 
Ufer«  versucht,  dem  Ausland  etwas  von  der  politischen  Lage  seiner  Heimat 
zu    erzählen;    Malvida    hatte   dieses  Buch    bereits   in   Hamburg    1850    gleich 
nach    seinem    Erscheinen    kennen   gelernt,    und    da    es    demokratisch,    wenn 
auch    ohne    Radikalismus,    philosophierte    —    es    sprach    von    der    »blassen 
Konstitution  in  Deutschland«  und  polemisierte  gegen  Nationalversammlungen 
ä  la  Frankfurt  ebenso  lebhaft  wie  gegen  absolute  Monarchen  und  Päpste  — , 
so  faßte   sie  eine   lebhafte  Zuneigung  zu   ihm  und   seinem  Verfasser,   zumal 
sie  für  seine  stilistischen  Ungeheuerlichkeiten  ebenso  wenig  Empfindung  besaß, 
wie  für  seinen  Mangel  an  politischem  Positivismus.     Beides  gipfelt  ungefähr 
in  dem  Satze:  »die  abortierte  Demokratie  wird  im  Tode  erstarren,  indem  sie 


von  Meysenbug.  307 

in  die  verwelkte  Brust  der  sterbenden  Monarchie  hineinbeißt.«  Die  jetzige 
Generation  und  vermutlich  jede  folgende  ist  etwas  empfindlicher;  seine 
Schriften  sind  vergessen  und  zwar  nicht  nur  die  wirklich  veralteten,  wie  die 
über  »Rußlands  soziale  Zustände«  und  die  »Briefe  aus  Frankreich  und  Italien«, 
sondern  auch  die  Memoiren  eines  Russen,  in  denen  er  mehr  plaudert  als 
spekuliert  und  deren  Inhalt  eben  kein  anderer  erzählen  konnte  als  er.  Die 
deutsche  Übersetzung  dieser  Memoiren  (4  Bände,  Hamburg  1855—59)  rührt 
von  Malvida  her,  was  in  dem  Buche  selber  nirgends  gesagt,  aber  authen- 
tisch ist. 

Die  persönlichen  Beziehungen  zwischen  den  beiden  Flüchtlingen  gestalte- 
ten sich  nun  in  London  bald  so  innig,  daß  sie  ihre  Gedanken  oft  auch  dann 
abends  brieflich  austauschten,  wenn  sie  im  gleichen  Hause  wohnten  und  sich 
den  ganzen  Tag  mündlich  ausgesprochen  hatten;  das  Wichtigste  war  jedoch, 
daß  der  Russe,  der  seine  Gattin  in  tragischer  Weise  verloren  hatte,  seine 
beiden  kleinen  Töchter  dem  nunmehr  fast  vierzigjährigen  deutschen  Fräulein 
zur  Erziehung  überwies.  Dieser  Aufgabe  widmete  sie  fortan  ihre  volle  Kraft, 
und  was  sie  hier  vollbrachte,  ist  unstreitig  die  bedeutendste  Leistung  ihres 
Lebens,  erheblich  wertvoller  als  alle  ihre  Bücher;  zwar  brachte  sie  einen 
tieferen  Affekt  nur  dem  einen  der  beiden  Kinder,  Olga,  entgegen,  aber  die 
Hingabe  an  diese  war  auch  eine  so  innige  und  vollkommene,  daß  sie  nur 
durch  die  mütterlichen  Instinkte  des  Weibes  zu  erklären  ist,  und  daß  hier 
wirklich  ein  Verhältnis  entstand,  wie  es  sonst  nur  zwischen  Mutter  und 
Tochter  existiert,  ja  daß  unreife  Schwärmer  daraufhin  später  von  Malvida  in 
einem  Tone  gesprochen  haben,  wie  man  sonst  auf  der  Kanzel  von  Christus 
spricht;  anderseits  könnt  es  auch  nicht  ausbleiben,  daß  unwürdiger  Klatsch 
sich  dieses  schönen  Familienlebens  bemächtigte  und  das  Außerordentliche  — 
dabei  so  durchaus  Natürliche  —  in  trivialer  Weise  zu  erklären  suchte.  Mal- 
vida ist  weder  dem  Vater  ihrer  Pfleglinge  noch  irgend  einem  anderen  Manne 
jemals  näher  getreten  als  sie  selbst  es  berichtet  hat;  die  Erklärungen  des 
über  jeden  Verdacht  erhabenen  römischen  Chirurgen,  der  sie  während  ihrer 
letzten  Krankheit  behandelte,  haben  jeden  Zweifel  hieran  aus  der  Welt  ge- 
schafft oder  sollten  es  doch  tun. 

Bis  zum  Jahre  1859  dauerte  das  Emigrantenidyll  in  England;  natürlich 
blieb  Malvida  nicht  immer  in  London,  sondern  auch  dort  verging  kein  Jahr 
ohne  größere  oder  kleinere  Reisen.  Ihre  Begegnungen  mit  mehr  oder  weniger 
berühmten  Volksbeglückern  hat  sie  ausführlich  genug  geschildert:  von  Gari- 
baldi bis  herab  zu  dem  Meuchelmörder  Orsini,  dessen  Bombenattentat  sie 
ebenso  eifrig  glorifizierte,  wie  sie  gegen  die  gesetzliche  Todesstrafe  zu  Felde 
zog,  und  bis  zu  dem  Anarchisten  Mazzini,  diesem  in  seiner  maßlosen  Wut 
gegen  Cavour  schlimmsten  Störer  der  echten  italienischen  Einheits-  und 
Freiheitsbewegung,  dessen  Charakter  sie  in  einem  Aufsatze  der  »Neuen  Freien 
Presse«  von  1894  und  später  in  ihren  »Individualitäten«  aus  persönlicher 
Freundschaft  so  ganz  anders  dargestellt  hat  als  es  die  exakte  Geschichts- 
schreibung tut.  Sehr  viel  beachtenswerter  ist  ihr  Verhältnis  zu  Richard 
Wagner,  zumal  sie  diesem  nicht  wie  die  Meisten  durch  seine  Musik,  auch 
nicht  zunächst  durch  seine  Dichtungen,  sondern  durch  seine  spekulativen 
Schriften  gewonnen  wurde,  die  anderwärts  seiner  Kunst  so  wenig  genützt 
und  seiner  Person   so  viel  geschadet  haben.     In   Kassel  und    Detmold,    ja 


ßpS  von  Bdeysenbufif. 

selbst  in  Hamburg  hatte  sie  begreiflicherweise  keine  Gelegenheit  gehabt,  den 
Fliegenden  Holländer  oder  den  Tannhäuser  zu  hören ;  nun  gerieten  ihr  einige 
Abhandlungen  des  verbannten  Dresdener  Hofkapellmeisters  in  die  Hände, 
die  Vereinigung  von  politischem  Kommunismus  mit  künstlerischem  Ernst  und 
Freiheitsdrang  imponierte  ihr,  sie  schrieb  an  den  Mann,  erhielt  eine  artige 
Antwort,  und  als  er  1855  ^^  ^^"  denkwürdigen  Konzerten  nach  London 
kam,  da  erfolgte  die  persönliche  Bekanntschaft,  die  später  zu  einer  herzlichen 
Freundschaft  führen  sollte.  Diese  Freundschaft  hat  sich  in  manchem  kriti- 
schen Momente  befestigt.  Schon  1859  ging  Malvida  für  den  Winter  nach 
Paris;  am  Anfange  des  Jahres  1860  hörte  sie  daselbst  die  vielbesprochenen 
drei  Orchesterkonzerte,  die  Wagner  in  der  italienischen  Oper  gab  und  die 
ihm  zum  ersten  Male  den  vollendeten  Orchesterklang  des  Tristanvorspieles, 
aber  hinterher  gar  schwere  moralische  Enttäuschungen  und  jenen  materiellen 
Schaden  brachten,  der  nur  durch  das  großmütige  Einschreiten  einer  kunst- 
sinnigen russischen  Fürstin  geheilt  werden  konnte;  dann  verließ  sie  noch  im 
selben  Jahre  England  für  immer,  ging  zunächst  wiederum  nach  Paris  und 
wohnte  dort  der  berüchtigten  ersten  Aufführung  des  Tannhäuser  bei,  über 
die  Wagner  seinen  überaus  charakteristischen  und  lebendig  geschriebenen 
aber,  wie  die  inzwischen  veröffentlichten  Dokumente  ergeben  haben,  keines- 
wegs zuverlässigen  Aufsatz  (Gesammelte  Schriften*  VII,  138)  in  die  Welt 
gesandt  hat.  Tatsache  ist,  daß  sich  an  jenem  Abende  nicht  nur  die  von  Wagner 
angeschuldigten  Cliquen,  sondern  das  Publikum  aller  Schichten  pöbelhaft 
benahm  und  daß  Malvida  den  Mut  hatte  gegen  die  Roheiten  der  sogenannten 
Aristokratie,  in  deren  Mitte  sie  mit  Wagners  damals  noch  nicht  von  seinen 
Anhängern  vervehmten  Gattin  saß,  persönlich  energisch  zu  protestieren.  Es 
ist  ihr  nicht  zu  verdenken,  wenn  sie  in  einer  solchen  Zeit,  unter  dem  gewal- 
tigen Eindrucke  von  Wagners  Persönlichkeit,  ohne  weiteres  seine  Theorie 
vom  Drama  und  vom  Sprachgesang  einsog,  oder  daß  sie  sich  mit  gläubigem 
Eifer  der  Schopenhauerschen  Philosophie  widmete;  wie  alle  Wagnerianer 
verfocht  sie  diese  Systeme  mit  mehr  Bestimmtheit  als  Logik,  und  man  wird 
es  begreifen,  daß  sie  ihnen  wie  der  vormärzlichen  Demokratie  und  dem 
Friedensapostolate  bis  zum  letzten  Atemzuge  treu  blieb,  auch  wenn  eine 
jüngere  Generation  die  Verkehrtheit  jener  Theorien  erkannt  hat  und  für  ihre 
Sprache  kein  Ohr  mehr  besitzt.  —  Als  dann  bald  nach  der  unwürdigen 
Pariser  Tannhäuserepisode  Wagners  Stern  großartig  aufging,  als  die  Heim- 
kehr nach  Deutschland,  die  Münchener  Glanzperiode,  die  wachsende  Popu- 
larität folgten,  als  er  im  Wirbel  dieser  Eindrücke  seine  alten  Genossen,  auch 
seine  treue  Lebensgefährtin  verstieß  und  seinem  opferfreudigsten  Pionier  mit 
schreiendem  Undank  lohnte,  da  war  Malvida  verständig  genug,  nicht  in  das 
Hom  der  »öffentlichen  Meinung«  zu  stoßen,  die  mit  billigem  Hohn  den 
großen  Künstler  seine  menschlichen  Schwächen  büßen  ließ;  doch  auch  vor 
der  boshaften  Geringschätzung  Hans  von  Bülows,  die  in  Wagners  Umgebung 
nach  der  Katastrophe  gepredigt  wurde,  hat  ihr  mildes  Naturell  sie  immer 
bewahrt.  »Hans  von  Bülow  war  ein  bedeutender,  geistvoller  Mann;  sonst 
hätte  ihn  auch  die  Cosima  nicht  geheiratet«,  äußerte  sie  noch  lange  nachher. 
Ihre  Verehrung  für  Frau  Cosima  war  und  blieb  unbegrenzt,  während  doch 
gewöhnlich  die  Damen,  die  einen  großen  Mann  umschwärmen,  derjenigen, 
die  er  schließlich  allen  anderen  vorzieht,  nicht  gerade  wohlgesinnt  zu   sein 


von  Meysenbvg.  ^gg 

pflegen.  Aber  Malvida  besaß  eben  ein  ehrliches  Streben  nach  Gerechtigkeit; 
so  hat  sie  denn  über  die  neuerdings  so  gefeierte  Marie  Wesendonck,  die 
wirklich  nur  ein  hübsches  Püppchen  und  nicht  einmal  musikalisch  war,  ganz 
anders  geurteilt  als  die  übrigen  Wagnerianer,  denen  »der  Meister«  selbst  in 
seinen  Liebesepisoden  ein  unfehlbarer  Erlöser  ist.  Es  darf  jedoch  nicht  ver- 
schwiegen werden,  daß  seine  Gesinnungen  gegen  die  vortreffliche  Freundin 
nicht  ganz  der  Art  waren  wie  sie  selbst  wohl  glaubte;  er  mochte  sie  zwar 
gut  leiden,  er  trieb  auch  unter  Umständen  manch  übermütigen  Scherz  mit 
ihr,  aber  er  war  keineswegs  von  ihrer  tiefen  Seelenverwandtschaft  mit  ihm 
durchdrungen,  und  zu  dem  engsten,  erhabensten  Kreise  seiner  Olympier  hat 
er  sie  trotz  ihres  rührenden  Eifers  nicht  gerechnet.  Bekanntlich  hat  er  in 
den  letzten  Jahrzehnten  seines  Lebens  eine  umfängliche  Selbstbiographie  an- 
gefertigt und  in  wenigen  Exemplaren  mit  einer  ihre  strenge  Exklusivität 
betonenden  Gebrauchsanweisung  drucken  lassen ;  Malvida  rechnete  mit  Bestimmt* 
heit  auf  eines  dieser  Exemplare,  hat  es  jedoch,  soviel  man  konstatieren  kann, 
niemals  erhalten:  —  Mit  welchem  Eifer  sie  dann  ihre  Liebe  zum  Ehepaar 
Wagner  auf  dessen  Sohn  übertrug,  davon  wird  gleich  die  Rede  sein. 

In  Frankreich  duldete  es  sie  nicht  lange;  so  gut  ihr  auch  die  Pariser 
Salons  behagen  mochten,  ihr  Haß  gegen  den  »Tyrannen«  Napoleon  war  zu  groß 
und  bitter.  Sie  konnte  ja  nicht  ahnen,  daß  ihr  dereinst  das  republikanische 
Frankreich  durch  den  Dreyfußprozeß  einen  ebenso  tiefen  Schmerz  bereiten  würde, 
wie  das  »freie«  England  durch  den  Burenkrieg.  Mit  Deutschland  hatte  sie 
sich  noch  nicht  ausgesöhnt,  erst  viel  später  ward  auch  sie  von  der  unwider- 
stehlichen Genialität  seines  größten  Staatsmannes  zur  Bewunderung  fort- 
gerissen; so  siedelte  sie  denn  1861/62  definitiv  nach  Italien  über,  dem  schönen 
Lande  der  »liberaloni«  und  des  parlamentarischen  Regimentes,  der  Anarchisten 
und  des  triumphierenden  >spirito  democratko*^  der  Revolutionen  und  Umzüge, 
Feuerwerke  und  Böllerschüsse  zu  Ehren  der  Freiheit.  Daß  gerade  in  Italien 
das  arbeitsame  und  alkoholscheue  Volk  geflissentlich  in  Dumpfheit,  Unwissen- 
heit, Schmutz  und  Knechtschaft  gehalten  wird  —  und  zwar  nicht  durch  seine 
Könige,  die  nach  dem  Grundsatz  il  re  regna  e  non  govema  zu  völliger  politi- 
scher Untätigkeit  verurteilt  sind;  auch  nicht  durch  seine  Minister,  die  in 
steter  Furcht  vor  dem  zerschmetternden  Votum  der  Kammer  ein  jammervolles 
Eintagsfliegendasein  führen;  vielmehr  durch  die  Riesengrundbesitzer  und 
Kapitalisten,  vor  allem  aber  durch  die  300  Allmächtigen,  die  nach  allge- 
meinem und  direktem  Stimmrecht,  d.  h.  hier  zumeist  nach  dem  Prinzip  der 
Bestechung  gewählten  Abgeordneten,  und  ihre  Gesetzgebung  — ,  das  konnte 
sie  nicht  wissen,  das  hat  ihr  »Idealismus«  zeitlebens  nicht  begriffen.  Der 
Idealismus  glaubte  dem  entsetzlichen  Elend  der  römischen  Bevölkerung  abzu- 
helfen, indem  er  bei  Spazierfahrten  in  eleganter  Kutsche  auf  dem  Pincio 
reichlich  Soldi  unter  die  Bettler  verteilte,  deren  mancher  schon  ein  stattliches 
Vermögen  angesammelt  hat,  oder  indem  er  bei  zierlichen  Teegesprächen 
für  sozialistische  Parlamentarier  schwärmte  und  gegen  die  gerichtliche  Ver- 
urteilung von  Räubern  und  Mördern  protestierte.  Seinen  Triumph  aber,  und 
zwar  einen  durchaus  nicht  unverdienten,  feierte  er  in  Malvidas  literarischem 
Hauptwerke,  den  Memoiren  einer  Idealistin,  deren  erster  Band  1869  zu- 
nächst in  französischer  Sprache  in  Genf  erschien;  das  deutsche  Original 
wurde    dann    mit   den    beiden    anderen  Bänden  1876  in  Stuttgart  gedruckt, 


AQO  ^^^  Meysenbug. 

nachdem  die  vielgereiste  Verfasserin,  die  inzwischen  auf  Wagners  Veran- 
lassung mehrmals  auch  nach  Deutschland  gekommen  war,  in  Rom  ihren  end- 
gültigen Wohnsitz  aufgeschlagen  hatte.  Die  Memoiren  reichen  bis  zur  Pariser 
Tannhäuseraufführung;  die  folgenden  Jahrzehnte  hat  sie  im  Lebensabend 
einer  Idealistin  (Berlin  1898)  geschildert,  und  für  den  Rest  ihres  Lebens 
gibt  der  ausgezeichnete  Historiker  Gabriel  Monod,  der  sich  1872  mit  Mal- 
vidas  Pflegetochter  Olga  Herzen  verheiratet  hatte,  im  Vorworte  zu  den  neuem 
Auflagen  der  Memoiren  einige  ergänzende  Mitteilungen.  Wie  man  sieht, 
wird  der  selbstgewählte  Titel  einer  Idealistin  mit  konsequenter  Hartnäckig- 
keit zur  Schau  getragen.  Ob  mit  Recht?  —  In  den  Memoiren  läßt  die  Ver- 
fasserin bei  der  Nachricht  vom  Tode  des  Zaren  Nikolaus  ihren  Gefühlen 
freien  Lauf  und  bricht  in  einen  Jubel  aus,  daß  man  sich  unwillkürlich  fragt, 
ob  es  denn  unter  den  Londoner  Emigranten  keinen  Odysseus  gab,  der  dieser 
Eurykleia  ihr  Frohlocken  an  der  Leiche  verwiesen  hätte.  Natürlich  fand  sich 
in  jener  Gesellschaft  ein  solcher  Odysseus  nicht;  natürlich  ist  es  auch,  daß 
Malvida  über  die  wahre  Tätigkeit  des  Zaren  nicht  gut  informiert  war,  der 
mit  seinem  energischen  persönlichen  Eingreifen  über  die  Köpfe  der  Höflinge 
hinweg  so  häufig  nicht  das  Volk  sondern  dessen  Blutegel,  die  betrügerischen 
Bureaukraten  packte ;  vollkommen  natürlich  war  es  dann,  daß  die  Exilierte  sich 
über  den  Tod  des  Verhaßten,  der  ihren  besten  Freund  verfolgte,  aus  vollem 
Herzen  freute.  Aber  warum  man  solche  Empfindungen  gerade  als  Idealismus 
anzusehen  hat,  dafür  ist  die  Verfasserin  den  Beweis  schuldig  geblieben.  Im 
übrigen  besitzt  ihr  Buch  vortreffliche  Eigenschaften.  Es  ist  spontan  ent- 
standen, ohne  Koketterie  und  Effekthascherei,  ja  ohne  Prätentionen;  es  ist 
von  jenem  Charme  durchdrungen,  der  das  alte  Fräulein  bis  in  ihre  letzten 
Lebensjahre  hinein  auszeichnete,  und  ihr  so  viele  Seelen,  große  und  kleine, 
gewann.  Es  enthält  —  neben  einigen  leicht  faßlichen  Gedanken  —  allerlei 
anschauliche  Schilderungen  aus  einer  längst  verschollenen  »guten  alten«  Zeit 
und  offene  Bekenntnisse  einer  nach  Selbständigkeit  ringenden  Natur;  es  er- 
zählt in  würdigem  Tone  von  Frauenrechten  und  von  Liebe;  es  ist  durch- 
tränkt von  Hohn  und  Erbitterung  gegen  so  veraltete  Einrichtungen  wie  Staat, 
Militär  und  Kirche;  es  plaudert  harmlos  von  kleinen  Städten  Deutschlands 
und  großen  des  Auslandes,  von  Fürsten  und  Ministern,  Salons  und  Palästen, 
berühmten  Männern  und  strebsamen  Frauen,  fremden  Sitten  und  mannig- 
fachen Reisen,  kurz  von  allem  was  ein  deutsches  Mädchen  gerne  liest,  und 
überall  in  einer  ansprechenden,  freundlichen,  oft  durch  einen  Anflug  schelmi- 
scher Ironie  gewürzten  Manier.  So  bildet  es  in  der  an  hübschen  Memoiren 
recht  armen  deutschen  Literatur  ein  Pendant  zu  den  gleichfalls  vielgelesenen 
»Jugenderinnerungen«  Wilhelms  von  Kügelgen,  der  freilich  mit  der  Selbst- 
bezeichnung »eines  alten  Mannes«  nicht  nur  den  bescheideneren,  sondern 
auch  den  treffenderen  Namen  gefunden,  übrigens  vor  Malvida  den  wesent- 
lichen Vorzug  der  Kürze  voraus  hat;  und  wie  seine  Erinnerungen  ihren 
starken  Erfolg  hauptsächlich  der  Vereinigung  von  burschikosem  Humor  und 
christlicher  Frömmigkeit  verdanken,  so  beruht  der  von  Malvidens  Buch  wohl 
zumeist  auf  der  Kombination  von  weiblicher  Grazie  und  individueller 
Arbeitslust. 

Wenn  man  ihrer  schriftstellerischen  Tätigkeit  gerecht  werden  will,  so  soll 
man  von  ihren  Büchern  nur  die  Memoiren  lesen.    Als  sie  etwa  dreißig  Jahre 


von  Meysenbug.  j.01 

nach  deren  erstem  Bande  den  »Lebensabend«  schrieb,  da  war  sie  nicht  nur 
erheblich  matter  und  seßhaft  geworden  (obgleich  sie  noch  immer  viel  reiste), 
sondern  auch  durch  literarische  und  gesellschaftliche  Erfolge  verwöhnt;  sie 
thronte  in  ihrem  hübschen  Salon,  den  sie  sich  in  einem  einfachen  Hause  auf 
dem  collis  Oppius  mit  der  Aussicht  auf  das  Kolosseum  und  den  Konstantins- 
bogen  eingerichtet  hatte,  empfing  Alt  und  Jung,  Hoch  und  Niedrig  mit  un- 
verwüstlicher (keineswegs  gleicher)  Liebenswürdigkeit,  aber  geriet  mehr  und 
mehr  in  die  Gewohnheit  zu  »orakeln«.  Ihren  Briefen,  ja  selbst  den  kleinsten 
Billets  gab  sie  mit  Vorliebe  eine  pointierte,  gesucht  literarische  Form,  als 
erwartete  sie  im  stillen,  daß  sie  einstmals  gedruckt  werden  würden.  —  Jungen 
Leuten,  selbst  solchen  die  ihr  persönlich  ganz  unbekannt  waren,  erteilte  sie 
mit  Vorliebe,  ob  gebeten  oder  nicht,  Empfehlungsbriefe,  ohne  zu  ahnen,  mit 
welchem  Lächeln  solche  zuweilen  aufgenommen  wurden.  —  Als  eine  Dame 
aus  Bukarest  ihr  über  die  traurige  Lage  der  Israeliten  in  Rumänien  schrieb, 
antwortete  sie  ganz  ernsthaft  mit  Ratschlägen  zur  Besserung.  —  Als  eines 
Tages  Björnson  sie  besuchte,  empfing  sie  ihn  mit  den  Worten  »Ihr  Skandi- 
naven  habt  jetzt  die  Welt  erobert!«  worauf  der  würdige  alte  Herr  mit  ruhigem 
Stolze  zur  Antwort  gab:  »Ja  wohl,  wir  und  die  Russen.«  —  Als  sie  von 
Pausanias,  einem  Autor,  den  sie  zuweilen  zitiert  aber  nie  gelesen  hatte,  durch 
die  Vermittelung  eines  befreundeten  Philologen  ein  ganzes  Buch,  die  Be- 
schreibung Attikas,  kennen  lernte,  äußerte  sie  zum  Übersetzer  »Am  meisten 
hat  es  mich  erfreut,  daß  die  Athener  dem  Mitleid  einen  Altar  gesetzt 
hatten«.  —  Dieser  Ton  durchzieht  den  ganzen  »Lebensabend«,  und  wenn  es 
sich  um  politische  Feinde  handelt,  dann  wird  nicht  mehr  bloß  gejubelt,  wie 
einst  beim  Tode  des  Zaren  Nikolaus,  sondern  es  wird  gelegentlich  der  Neapler 
Bourbonen  von  1799  das  weitere  dekretiert,  daß  »keine  Flamme  der  Hölle 
heiö  genug  wäre  für  solche  Unmenschen.  .  .  .  Die  Vernichtung  wäre  ein  zu 
großes  Glück  für  solche  Wesen.  Die  müssen  braten  in  ewiger  Qual!«  — 
Also  spricht  der  Idealismus,  spricht  »eine  die  alt  ist,  aber  treu  bis  an  Ende.« 
Freilich,  Nietzsche  hatte  andere  Erfahrungen  mit  ihr  gemacht.  Er  lernte 
sie  1872  in  Bayreuth  durch  Wagner  kennen,  der  damals  zur  Feier  der  Grund- 
steinlegung seines  Bühnenfestspielhauses  eine  imposante  Aufführung  der 
neunten  Symphonie  veranstaltete.  Schon  vorher  hatte  Malvida,  ebenfalls  auf 
Wagners  Anregung,  die  »Geburt  der  Tragödie«  gelesen,  und  nun  war  sie  von 
dem  jungen  Professor,  der  ihr  so  vieles  von  den  Griechen  erzählen  und  dabei 
so  wunderbar  Klavier  spielen  konnte,  nicht  minder  entzückt  als  von  seinem 
Buche.  Aber  wie  so  viele,  hat  auch  sie  sich  nur  so  lange  für  ihn  interessiert, 
wie  er  als  Wagnerschriftsteller  gelten  konnte.  Daß  er  1876,  wo  sie  im  ersten 
Bayreuther  Festspiele  alle  Wonnen  des  befriedigten  Wagnerfanatismus  durch- 
kostete, unter  dem  Eindrucke  der  Proben  tief  verstimmt  das  Weite  suchte, 
erfüllte  sie  bereits  mit  geheimem  Grauen ;  sie  bemitleidete  den  armen  Menschen 
und  hielt  ihn  für  krank,  sah  aber  noch  eine  Weile  ganz  gnädig  auf  ihn  herab, 
und  in  dem  Sorrentiner  Winter  1876/77,  der  den  letzten  vergeblichen  Annähe- 
rungsversuch zwischen  den  beiden  großen  Männern  bringen  sollte,  vertrug  sie 
sich  mit  ihm  hauptsächlich  deshalb,  weil  ein  Schüler  Jakob  Burckhardts 
dessen  Kolleghefte  über  griechische  Kulturgeschichte  vorlas  und  Nietzsche 
erläuternde  Bemerkungen  hinzufügte.  Auch  wußte  sie  es  zu  schätzen,  daß 
der  Vereinsamte  sich  in  traulichen  Teestunden  bei  ihrem  milden  Geplauder 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.    9.  Bd.  26 


A02  von  Meysenbug. 

behaglich  fühlte,  und  so  hat  sie  einen  Teil  der  schönen  Briefe,  die  er  ihr  in 
kindlicher  Dankbarkeit  sandte,  mit  einigen  halb  wohlwollenden,  halb  weg- 
werfenden Phrasen  veröffentlicht,  zunächst  in  der  »Neuen  Freien  Presse«. 
Von  der  ungeheuren  markverzehrenden  Geistesarbeit,  in  der  er  eben  bei  ihr 
zeitweilig  Erholung  suchte,  hatte  sie  keine  Ahnung;  seine  Werke  waren  ihr 
gleichgültig,  und  als  er  sich  im  »Fall  Wagner«  gar  erkühnte,  an  der  Unfehl- 
barkeit Wagnerischer  Stilprinzipien  zu  zweifeln  und  über  die  massiven  Theater- 
puppen Bayreuths  die  ganze  Lauge  seines  zersetzenden  und  dabei  so  unend- 
lich produktiven,  echt  attischen  Spottes  auszugießen,  da  erklärte  sie  ihm 
einfach,  und  zwar  immer  im  Tone  von  oben  herab,  daß  sie  mit  ihm  nichts 
mehr  zu  tun  haben  wolle.  Er  schrieb  ihr  darauf  eine  Karte,  in  der  er  sie 
mit  Kundry  verglich  und  sich  »der  Gekreuzigte«  unterzeichnete;  danach 
mußt  er  schon  verrückt  werden,  es  blieb  nichts  anderes  übrig.  Daß  sie  ihn 
nie  auch  nur  im  geringsten  verstanden  hatte,  beweist  am  besten  ihr  Aufsatz 
über  ihn  in  den  Individualitäten  (Berlin  1901);  das  sehr  dickleibige  Buch, 
das  sonst  außer  einigen  persönlichen  Erinnerungen  nur  Kompilate  enthält, 
zeigt  aufs  neue,  daß  sie  sich  bei  Menschen  vom  Schlage  Mazzinis  besser 
befand. 

Ihr  eigenes  Philosophieren  hielt  sich  nach  wie  vor  ruhig  in  den  Bahnen 
Schopenhauers;  am  meisten  davon  findet  man  in  ihren  Stimmungsbildern 
(Leipzig  1879;  die  zweite  Auflage,  vermehrt  durch  eine  warm  empfundene 
Parsifalstudie,  erschien  1884,  die  dritte  mit  einer  Biographie  Herzens  1900). 
Auch  hier  wie  in  den  Betrachtungen  über  Goethes  Leben  (Goethe- 
Jahrbuch  XXI)  kann  von  originellen  oder  treffenden  Gedanken  nur  wenig  die 
Rede  sein,  während  die  erzählenden  Partien  wieder  ihre  schon  gerühmten 
Vorzüge  erkennen  lassen.  Störend  wird  mancher  vielleicht  den  allzu  häufigen 
Gebrauch  des  Wortes  »edel«  finden;  offenbar  war  es  ihr  eigenes  Bestreben, 
in  allem  für  »edel«  zu  gelten,  und  man  wird  ihrer  etwas  altertümlich  blassen 
Schreibweise  das  Prädikat  gerne  gönnen,  etwa  wie  man  die  Korrespondenzen 
kleindeutscher  Hofdamen  oder  die  Lieder  ohne  Worte  Mendelssohns  edel  zu 
nennen  gepflegt. 

Auf  jeden  Fall  stehen  ihre  betrachtenden  und  autobiographischen  Schriften 
weit  über  ihren  dichterischen  Versuchen:  den  Gesammelten  Erzählungen 
(Zürich  1885)  und  vollends  dem  dreibändigen  Romane  Phaedra  (Leipzig 
1885),  von  dem  selbst  ihre  wärmsten  Verehrerinnen  nicht  mehr  zu  sprechen 
wagen.  Hier  sind  in  buntem  Durcheinander,  dabei  in  strenge  kadenziertem 
Schritte,  die  verschiedensten  Objekte,  vom  Himmel  Griechenlands  und  der 
buddhistischen  Weltanschauung  bis  zur  sozialen  Frage  und  Prostitution,  nicht 
ohne  scharf  tendentiöse  Prinzipien  nach  Stilmustem  des  XVIII.  Jahrhunderts 
behandelt;  es  ist  seltsam,  daß  ein  so  belesener  Mensch  wie  Malvida  sich  so 
über  die  eigenen  Kräfte  täuschen  konnte.  Immerhin  besitzt  diese  »Phaedra« 
das  Verdienst,  den  genialsten  und  geplagtesten  Herausgeber  von  Euripides' 
Hippolytostragödie,  der  in  seiner  Gewissenhaftigkeit  die  drei  Bände  durch- 
gelesen hatte,  zu  einem  vielsagenden  ironischen  Lächeln  veranlaßt  zu  haben. 

Dieses  Lächeln  hat  die  streitbare  Greisin  auf  manchem  geistvollen  Ant- 
litz hervorgerufen,  z.  B.  auf  dem  Theodor  Mommsens  und  Bernhard  v.  Bülows; 
ihr  »Idealismus«  und  ihre  Kurzsichtigkeit  verhinderten  sie  es  zu  bemerken 
und    die    echte   Wirkung    ihrer    weltverbessernden   Vorschläge    zu    erkennen. 


von  Meysenbug.  aq^ 

Man  bedenke  nur:  »  .  .  .  das  Geld,  was  jetzt  für  elendes  Stückwerk  hingegeben 
wird,  sollte  verwendet  werden,  wahre  Künstler  zu  befähigen  einmal  im  Jahr 
Würdiges,  Erhabenes,  Vollendetes  zu  leisten  und  dies  allen,  auch  den  Geringsten 
im  Volke,  zugänglich  zu  machen.  Wenn  die  mit  den  Geschicken  der  Völker 
Betrauten  hieran  denken  wollten,  anstatt  an  blutigen  Streit  und  unfruchtbare 
politische  Kombinationen,  so  würden  sie  mächtig  dazu  beitragen,  Schöpfer 
einer  wahren  Kulturwelt  zu  werden,  was  denn  doch  der  eigentliche  Zweck 
des  Daseins  sein  muß«  (Stimmungsbilder*  234).  Solche  und  ähnliche  Sätze 
hat  der  jetzige  deutsche  Reichskanzler,  in  dessen  Hause  ihre  Verfasserin  viele 
Jahre  lang  als  intime  Freundin  verkehrte,  massenweise  gelesen;  sie  konnten 
auf  sein  sarkastisches  Gemüt  nicht  anders  wirken  als  die  »Phaedra«  auf  das 
des  großen  Darstellers  der  griechischen  Literaturgeschichte.  Indessen  war 
Malvidens  gesellschaftliche  Stellung  in  Rom  noch  auf  etwas  anderem  basiert 
als  ihrer  schriftstellerischen  Fruchtbarkeit  und  ihrem  hohem  Alter,  ihrer 
Liebenswürdigkeit  und  adligen  Herkunft;  das  war  ihr  eminentes  musikali- 
sches Talent.  In  ihrer  Jugend  hatte  sie  viel  gesungen,  während  der  Ham- 
burger Zeit  sogar  in  a-capella-Quartetten ;  nur  äußere  Umstände,  darunter 
auch  ihr  Augenleiden,  hatten  sie  an  eingehenden  Instrumentalstudien  ver- 
hindert. Zu  hören  bekam  sie  in  England  —  bis  auf  vereinzelte  Ereignisse  — 
natürlich  noch  weniger  als  in  Kassel  und  Detmold;  desto  ausgiebiger  war  ihre 
kontinentale  Periode,  und  in  dem  langen  Verkehre  mit  Wagner  und  Liszt 
(dessen  Kompositionen  ihr  gleichgültig  blieben),  mit  Hans  von  Bülow  und 
Nietzsche  konnte  sie  ihre  Kenntnisse  ausdehnen  und  ihre  Auffassung  ver- 
tiefen. Ein  solches  Verständnis  seitens  eines  intelligenten  Hörers  tut  jedem 
ausübenden  Musiker  wohl,  und  so  genoß  sie  während  der  letzten  Jahrzehnte 
ihres  Lebens  mitten  in  der  römischen  Musikwüstenei  die  herrlichsten  Auf- 
führungen in  ihrem  Hause.  Stets  hielt  sie  ein  Piano  bereit,  auf  dem  sie 
sich  noch  als  Fünfundachtzigjährige  das  gesamte  wohltemperierte  Klavier  aus- 
bat; als  an  ihrem  Geburtstage  im  Jahre  1900  ein  Musiker,  dessen  Wohnung 
sie  nicht  ohne  Mühe  erklomm,  in  magischem,  ihre  Augen  schonendem  Halb- 
dunkel auf  einem  vorzüglichen  Blüthnerfiügel  ihr  und  ihrer  Familie  erst  eine 
Reihe  Bachischer  Originale,  dann  ihr  erklärtes  Lieblingswerk,  das  große  Adagio 
aus  Beethovens  Hammerklaviersonate  Opus  106,  und  schließlich  Anfang  und 
Ende  des  Parsifal  vorgespielt  hatte,  da  sprach  sie  mit  einer  Rührung,  die 
auf  wahrhaft  künstlerischer  Empfänglichkeit  beruhte,  von  der  höheren  Welt, 
in  die  sie  bald  einzugehen  hoffte  und  deren  Wesen  sie  bei  diesen  Klängen 
ahnte.  Auch  Historiker,  wie  der  geistvolle  Beethovenbiograph  Romain 
Rolland,  und  vorzügliche  Geigenkünstler  kamen  zu  ihr,  besonders  häufig 
der  große  Cellist  Valentin  Müller,  der  ihr  nur  allzubald  ins  Grab  folgen 
sollte,  und  eine  junge  russische  Violinmeisterin  von  einzigem  Genie,  deren 
hinreißender  Ton  und  Vortrag  sie  zu  einer  solchen  Begeisterung  entflammte, 
daß  sie  jahrelang  ihre  Nähe  nicht  missen  wollte,  ihr  überschwängliche  Briefe 
schrieb  und  ihr  die  Erziehung  ihrer  Lieblings-Wahlenkelin  anvertrauen  wollte, 
ja  sie  vor  Zeugen  als  heilige  Cäcilia  begrüßte.  So  durfte  sie  in  ihrer  stillen 
Klause  die  erlesensten  Duos  und  Trios  genießen;  und  da  die  höchsten  Werke 
der  Kammermusik,  die  klassischen  Streichquartette  und  -Quintette,  als  solche 
nicht  aufgeführt  werden  konnten  (die  römischen  Musikanten  spielen  in  der 
Regel   nur  für   Geld   und   auch   dann   barbarisch),    so   half  sich   die   heilige 

26* 


404  ^'^^  Meysenbug. 

Cäcilia,  indem  sie  selbst  die  erste  Violinstimme  genau  nach  dem  Wunsche 
der  Schöpfer  vortrug  und  alles  übrige  aus  der  Partitur  auf  das  Klavier  über- 
tragen ließ.     Hierbei  bewährte  nun  Malvida  ein  Empfinden,  das  sich  selbst 
durch  Wagnerische  Vorschriften   nicht  eindämmen  ließ.     Wagner  hat  z.  B. 
von  Schubert  immer  nur  im  Sinne  der  Trivialtradition,  d.  h.  als  vom  Lieder- 
komponisten gesprochen ;  von  seinen  Instrumentalwundem,  soweit  er  sie  über- 
haupt anhörte,  hat  er  nichts  begriffen.    Malvida  lernte  nun  an  ihrem  Klavier 
das  große  C-dur-Quintett  kennen,  dieses  höchste  Produkt  aller  Kammermusik 
überhaupt,    das    einzige,    das    geistig  und   klanglich  selbst  über  Beethovens 
späteste  Quartette  hinaus  einen  Fortschritt  bedeutet  (den  letzten,  den  diese 
Kunstgattung    getan    hat);    sie   verstand   es   sofort    und   ward    ihm  in   seiner 
ganzen    Fülle    gerecht.      Ein    andermal    spielte   man    ihr   in    gleicher  Weise 
Beethovens  Cis-moll-Quartett  Opus  131  und  las  ihr  nachher  die  Deutung  vor, 
die  ihm  Wagner  in  seiner  Säkularschrift  »Beethoven«   gegeben  hat;    da  be- 
merkte sie  ruhig  und  durchaus  treffend:  »Ja,  das  ist  alles   ganz  schön,   aber 
es  ließe  sich  doch  noch  ganz  anderes  darüber  sagen.«     Als  sie  das  A-moU- 
Quartett  Opus  132,  das  den  Dankhymnos  eines  Genesenden  an  die  Gottheit 
(in  der  lydischen  Tonart)  enthält,   ebenso  gehört  hatte,    bat  sie  sich  selber 
eine  genaue   sachliche   und   technische  Analyse  aus;    sie  rückte  ihren   Stuhl 
ans  Klavier,   folgte  trotz  ihrer  Kurzsichtigkeit  dem  Interpreten  durch  jeden 
Takt  der  Partitur  und  fragte  ihn  schließlich  nur  staunend   »haben  Sie  sich 
das  alles  selber  ausgedacht?«  —  Und  noch  in  einem    anderen  Punkte  wagte 
sie  es,  sich  von  den  Gesetzen  Wahnfrieds  zu   emanzipieren.     Als  1895  Sieg- 
fried Wagner  nach  Rom  kam  um  ein  Konzert  mit  Werken  seines  Vaters  und 
Großvaters  zu  geben,  da  setzte  sie  zwar  mit   nervösem  Eifer  Himmel  und 
Erde  in  Bewegung,  um  dem  jungen  Anfänger  zu  günstiger  Wirkung  zu  ver- 
helfen, zumal  man  ihr  brieflich  weiß  gemacht  hatte,  daß  er  ein  guter  Musiker 
wäre  und  »die  Massen  zu  inspirieren  verstünde«;  aber  als  er  ihr  später  seine 
Oper  »Der  Bärenhäuter«  am  Klavier  anzudeuten  versuchte  (was  infolge  techni- 
scher  Unfähigkeit  mißlang,   jedoch   immerhin  die    vorhandenen  Themen   er- 
kennen ließ),   da  verzog  sie   keine  Miene,   und   kein  Wort  der  Anerkennung 
kam  über  ihre  Lippen,  während  die  geschäftige  Partei  bereits  den  Sohn  als 
berufenen  Nachfolger  des  Vaters  proklamierte  und  seinen  Ruhm  in  alle  Welt 
posaunte.    Selbst  die  acht  wirklich  guten  Takte,  die  das  Vorspiel  zum  dritten 
Akt   enthält,    gingen   spurlos   an   ihr   vorüber,   obgleich   sie   echt   wagnerisch 
klingen   und   am   Klavier  besser  wirken   als  im   Orchester,   wo  eine  schüler- 
hafte Instrumentation  ihren  Charakter  verwischt.  —  Ein  eigentümlicher  Zufall 
wollte,  daß  die  allerneueste  und  die  allerälteste  Musik  fast  genau  gleichzeitig 
bei  ihr  Eingang  fanden:  in  denselben  Sommertagen  1894,  wo  sie  den  ganzen 
gewaltigen   Golgatha-Zyklus  von  Paul  Geisler  am   Klaviere  verfolgte,   erfuhr 
sie  durch  einen  Philologen  von  den  Hymnen  aus  dem  dritten  vorchristlichen 
Jahrhundert,    die    durch   die    französischen   Ausgrabungen   in   Delphi    zutage 
gefördert  waren.    Sogleich  veranlaßte  sie  die  Gattin  des  deutschen  Botschafters 
zu  einer  Soiree,  in  der  die  wichtigsten  Bruchstücke  des  eigentümlichen  Fundes 
durchgesungen  wurden.-  — 

Malvidens  äußere  Erscheinung  war  klein  und  zierlich,  ihre  Konstitution 
zart  und  empfindlich;  dennoch  hatte  sie  sich,  zumal  auf  Reisen,  oft  viel  zu- 
gemutet.    Allmählich  merkte  sie,  daß  sie  aus  dem  Norden,  den  sie  wegen 


von  Meysenbug.     von  Mauthner.  AO^ 

ihrer  Angehörigen  fast  jeden  Sommer  aufsuchte,  regehnäßig  ein  physisches 
Leiden  mitbrachte;  doch  stellte  sie  ihre  Fahrten  auch  dann  noch  nicht  ein, 
sondern  suchte  während  der  heißen  Monate  Erfrischung  in  Sorrent  oder  Ischia, 
einmal  auch  an  der  toskanischen  Küste  neben  der  Arnomündung,  ein  ander- 
mal in  Castel  Gandolfo  am  rebenreichen  Abhänge  des  Albanerberges,  und 
noch  im  letzten  Sommer  ihres  I^ebens  in  einer  kleinen  Villa  am  Volsker- 
strande  von  Nettuno.  Aber  die  schmerzhaften  Anfälle  wurden  häufiger  und 
intensiver;  dann  suchte  sie  Heilung  bei  der  Arimondaschen  Elektrisiermaschine, 
an  deren  Wunderkraft  sie  so  felsenfest  glaubte,  daß  sie  nach  jedem  Gebrauche 
ihres  Stromes  frischer  erschien  und  überzeugt  war  neue  Lebenskraft  gewonnen 
zu  haben.  Endlich,  als  auch  dieses  Mittel  versagte,  mußte  sie  einen  Arzt  zu 
Rate  ziehen;  sie  vertraute  sich  einem  hervorragenden  römischen  Chirurgen 
an,  der  sie  seit  Jahren  aus  intimem  Verkehr  gut  kannte  und  dem  sie  auch 
persönlich  lebhaft  zugetan  war.  Er  konstatierte  in  mühsamer  Untersuchung 
einen  Darmkrebs,  der  nur  durch  eine  komplizierte  und  gefährliche  Operation 
zu  entfernen  war.  Ohne  weiteres  wollte  die  beherzte  Greisin  sich  ihr  unter- 
ziehen; der  Arzt  lehnte  es  jedoch  ab,  ein  so  kostbares  und  gebrechliches 
Leben  aufs  Spiel  zu  setzen.  So  behandelte  er  sie  vorsichtig  mit  Palliativ- 
mitteln, bis  sie  an  einem  hellen  Frühlingstag  im  Beisein  ihrer  Angehörigen 
verlosch.  Ihrem  Wunsche  gemäß  wurde  ihre  Leiche  im  Krematorium  an  der 
Via  Tiburtina  verbrannt;  die  Asche  wurde  unter  den  Zypressen  des  protestanti- 
schen Friedhofes  bei  der  Cestius-Pyramide  beigesetzt.  Unter  einem  einfachen 
Tempelchen  aus  hellem  Travertin  steht  die  dunkelrote  Marmorvase,  unter  ihr 
die  Inschrift  Amore  Face,  über  ihr  ein  Bronzemedaillon,  das  die  Züge  der 
Verstorbenen  in  arger  Entstellung  wiedergibt.  Auch  das  Lenbachsche  Porträt, 
dessen  Reproduktion  den  »Lebensabend«  schmückt,  ist  weder  ähnlich  noch 
charakteristisch,  vielmehr  eine  brutale  Karikatur  von  manirierter  Ausführung, 
des  großen  Malers  ebenso  unwürdig  wie  des  dargestellten  Wesens;  dagegen 
enthalten  die  neuesten  Auflagen  der  Memoiren  eine  ansprechende  Photo- 
graphie aus  Malvidens  besten  Jahren. 

Rom.  Friedrich  Spiro. 

Mauthner,  Gustav  Ritter  von,*)  hervorragender  österreichischer  Finanz- 
mann, Direktor  der  k.  k.  priv.  österreichischen  Kredit- Anstalt  für  Handel 
und  Gewerbe,  Mitglied  des  österreichischen  Herrenhauses,  *  am  i6.  April 
1848  zu  Horic  in  Böhmen,  f  im  55.  Lebensjahr  am  19.  Mai  1902  zu  Vöslau 
bei  Wien.  —  Die  Familie,  der  M.  entstammte,  hat  sich  bedeutende  Ver- 
dienste um  die  Entwicklung  der  Textilindustrie  in  Österreich  erworben.  M.s 
Großvater  errichtete  in  der  kleinen  Stadt  Hofic  bei  Königgrätz  in  Böhmen 
eine  Weberei.  Dieser  Ahnherr  der  zahlreichen  Familie  M.,  von  der  heute 
einzelne  Zweige  in  Österreich,  in  Ungarn  und  im  Deutschen  Reich  ansässig 
sind,  war  ein  wahres  Wunder  seiner  Zeit:  er  erreichte  nämlich  ein  Alter  von 
105  Jahren,  blieb  bis  zu  seinem  Lebensende  körperlich  und  geistig  rüstig 
und  war  bis  kurz  vor  seinem  Tode  noch  unermüdlich  in  seinem  Geschäfte 
tätig.  Von  der  außerordentlichen  Lebenskraft  und  Arbeitsfreudigkeit  dieses 
Patriarchen  ist  ein  gut  Teil   auf  seine  Nachkommen  übergegangen,   und  der 

0  Totenliste   1902  Bd.  VII  77*. 


AOÖ  von  Mauthner. 

Ahn  konnte  noch  viele  seiner  Kinder  und  Enkel  in  hervorragenden  und 
glänzenden  Stellungen  sehen.  Einer  seiner  Söhne  war  der  Vater  des  im 
Jahre  1904  verstorbenen  Präsidenten  der  niederösterreichischen  Handels- 
und Gewerbekammer,  des  Mitgliedes  des  österreichischen  Herrenhauses  und 
kaiserlichen  Rates  Max  Freiherrn  von  M. 

Kinder  eines  Schwiegersohnes,  Emanuel  M.s,  der  nach  dem  Tode  des 
Schwiegervaters  die  von  diesem  gegründete  Weberei  in  Horic  übernahm  und 
dieselbe  zu  einer  heute  noch  dort  bestehenden,  mit  Dampfkraft  betriebenen 
Fabrik  ausgestaltete,  waren  Gustav  M.  und  dessen  jetzt  noch  lebende  Ge- 
schwister: Ernst  M.,  heute  Besitzer  einer  bedeutenden  Spinnerei  und  Weberei 
zu  Bubentsch  bei  Prag,  der  gegenwärtig  in  Berlin  lebende  Schriftsteller  Fritz 
M.,  dann  Alfred  M.,  heute  Direktorstellvertreter  der  Ungarischen  Allgemeinen 
Kredit-Bank  in  Budapest  und  Frau  Marie  Kuh,  Gattin  des  ehemaligen  Präsi- 
denten des  Prager  medizinischen  Doktorenkollegiums,  Dr.  Rudolf  Kuh. 

Gustav  M.  erhielt  eine  sehr  sorgfältige  Erziehung ;  sein  Studiengang  umfafite 
gleich  dem,  den  junge  Leute,  welche  sich  dem  Handel  oder  der  Industrie  widmen 
wollen,  in  Österreich  auch  heute  noch  gewöhnlich  einzuschlagen  pflegen,  die  rea- 
listischen Fächer:  er  besuchte  die  deutsche  Oberrealschule  in  der  Nikolander- 
gasse  in  Prag  und  nach  Absolvierung  derselben  die  Prager  deutsche  Handels- 
akademie. Im  Jahre  1864  trat  er,  noch  nicht  siebzehnjährig,  bei  der  kurz 
vorher  in  Prag  errichteten  Hauptagentur  der  Gesellschaft  für  Lebens-  und 
Rentenversicherungen  »Der  Anker«  als  Kontorist  ein.  Die  ziemlich  eintönige 
Arbeit  in  dieser  damals  unter  der  Leitung  des  Sekretärs  Schlesinger  stehen- 
den Agentur  vermochte  aber  den  jungen  Mann  mit  seinem  lebhaiten  Geiste 
nicht  zu  befriedigen.  Als  sein  Bruder  Ernst  M.  im  Jahre  1866  nach  Wien 
übersiedelte,  um  sich  dort  eine  Existenz  zu  gründen,  gab  Gustav  seinen 
Posten  beim  »Anker«  auf  und  schloß  sich  dem  Bruder  an.  Es  gelang  ihm 
aber  nicht  sofort,  in  der  Hauptstadt  ein  Arbeitsfeld  zu  finden,  das  seinen  An- 
lagen und  Neigungen,  die  ihn  zum  Bankfache  zogen,  vollständig  entsprochen 
hätte;  er  nahm  also  zunächst  eine  Stellung  in  einem  Fabrikskontor  an,  die 
er  durch  drei  Jahre  bekleidete.  Endlich  ging  sein  langgehegter  Wunsch, 
einen  Posten  in  einer  Bank  und  damit  ein  größeres  Gebiet  für  seine  Tätig- 
keit zu  erlangen,  in  Erfüllung:  am  3.  August  1869  trat  er  als  Beamter  bei 
der  Wiener  Zentrale  der  österreichischen  Kredit-Anstalt  für  Handel  und  Ge- 
werbe ein.  Dieses  große  Bankinstitut,  eine  Gründung  des  Finanzministers 
Freiherrn  von  Brück,  bestand  zwar  damals  noch  nicht  ganz  14  Jahre  —  die 
Kredit-Anstalt  wurde  am  31.  Oktober  1855  auf  90  Jahre  konzessioniert  — 
spielte  aber  vermöge  seiner  für  jene  Zeit  ganz  gewaltigen  Kapitalskraft  und 
seiner  großen  Rührigkeit  neben  der  Notenbank  der  Monarchie,  der  privile- 
gierten österreichischen  Nationalbank,  die  erste  Rolle  unter  den  Wiener 
Banken.  Das  Aktienkapital  der  Kredit-Anstalt,  das  ursprünglich  bei  der 
Gründung  der  Anstalt  mit  100  Millionen  Gulden  Ö.  W.  festgesetzt,  aber  nur 
mit  60  Millionen  Gulden  ö.  W.  eingezahlt  worden  war,  betrug  im  Herbste  des 
Jahres  1869  nach  vorhergegangener  zweimaliger  Herabminderung  40  Millionen 
Gulden  ö.  W.,  während  gleichzeitig  das  eingezahlte  Aktienkapital  der  nach  der 
Nationalbank  und  der  Kredit-Anstalt  kapitalskräftigsten  unter  den  damaligen 
Wiener  Banken,  der  1869  gegründeten  Franko-Üsterreichischen  Bank,  sich  nur 
auf  8  Millionen  Gulden  ö.  W.  Silber  belief.     Die  Kredit- Anstalt  besaß  bereits 


von  Mauthner. 


407 


Filialen  zu  Pest,  Brunn,  Lemberg,  Prag  und  Triest  und  eine  Agentur  in 
Troppau;  ihre  bis  zum  Jahre  1869  bestandene  Repräsentanz  in  Alexandrien 
hatte  sie  in  diesem  Jahr  im  Vereine  mit  der  Anglo-Österreichischen  Bank  in 
die  Austro-Egyptische  Bank  umgestaltet. 

M.  war  in  das  Bankfach  zu  einer  Zeit  eingetreten,  wie  sie  so  interessant, 
so  ereignisreich  und  so  wildbewegt  in  der  Geschichte  des  Bankwesens  der 
Österreichisch-Ungarischen  Monarchie  nie  vorher  dagewesen  war  und  auch  nicht 
so  bald  wiederkommen  dürfte.  Es  war  die  sogenannte  »Periode  des  volkswirt- 
schaftlichen Aufschwunges«,  oder,  wie  sie  nach  der  großen  Börsenkrise  vom 
9.  Mai  1873  genannt  wurde,  die  »Ära  des  Gründungsschwindels«.  Die  seit 
dem  Jahre  1867  in  geradezu  stürmischer  Weise  eingetretene  wirtschaftliche 
Aufwärtsbewegung  war  nach  einem  kurzen  Rückschlag  im  Hochsommer  1869 
in  eine  wilde  Spekulation  übergegangen,  die  bald  zum  tollsten  Schwindel 
ausartete.  Gleich  Pilzen  schössen  die  Banken,  die  Eisenbahn-,  Industrie-  und 
Baugesellschaften  aus  der  Erde.  Der  Bedarf  an  leitenden  Kräften  für  alle 
diese  Institute  war  ein  ganz  ungeheuerer,  und  eine  glänzende  Zukunft  schien  jedem 
zu  winken,  der  es  verstand,  diese  günstige  Lage  der  Dinge  für  sich  ent- 
sprechend auszunützen.  Scharenweise  entliefen  die  jungen  Beamten  ihren 
Bureaus,  ja  selbst  die  Handelsakademiker  den  Lehrsälen,  um  als  Bureau-  und 
Abteilungsvorstände,  wenn  nicht  gleich  als  Direktoren  neugegründeter  Insti- 
tute wieder  aufzutauchen  oder  sich  selbständig  als  Börsenspekulanten  zu 
etablieren.  Auch  der  junge  M.  konnte  der  Versuchung,  der  so  viele  erlagen, 
nicht  widerstehen.  Er  verließ  nach  kaum  dreijähriger  Tätigkeit  in  der  Kredit- 
Anstalt  im  Jahre  1872  seinen  dortigen  Posten  und  trat  in  die  im  Jänner  1871 
von  der  Anglo-Österreichischen  Bank  in  Verbindung  mit  drei  anderen  kleineren 
Banken  gegründete  österreichische  Allgemeine  Bank  ein,  deren  geschäfts- 
führender erster  Prokurist  und  späterer  Direktor  Karl  M.,  sein  Bruder, 
war.  Die  österreichische  Allgemeine  Bank  übernahm  von  der  österreichischen 
Zentralbank,  einem  der  drei  kleineren  bei  der  Gründung  der  österreichischen 
Allgemeinen  Bank  beteiligten  und  später  mit  dieser  fusionierten  Institute, 
die  dieser  Bank  gehörige  große  Wechselstube  am  Stock-im-Eisen-Platz  in 
Wien  nebst  dem  Haus,  in  welchem  sich  diese  Wechselstube  befand.  M. 
wurde  der  Leiter  dieser  Wechselstube,  die  zu  den  bedeutendsten  von  Wien 
gehörte  und  sich  eines  sehr  großen  Kundenkreises  erfreute.  Er  war  damals 
kaum  25  Jahre  alt,  nach  heutigen  Begriffen  also  für  den  selbständigen  Chef 
einer  so  wichtigen  Abteilung  des  Bankgeschäftes  noch  ganz  außerordentlich 
jung.  Aber  das  war  zu  jener  Zeit  nichts  Auffallendes;  gab  es  doch  damals 
selbst  Bankdirektoren,  die  nicht  mehr  Lebensjahre  zählten;  ja  älteren  Be- 
suchern der  Wiener  Geldbörse  ist  noch  wohl  die  Gestalt  eines  ungefähr 
zwanzigjährigen  Bürschchens  erinnerlich,  das  im  Jahre  1872  nach  Aufgeben 
seiner  bescheidenen  Stellung  in  einem  Manufakturwarengeschäft  am  Franz 
Josephs-Quai  sich  der  Börse  zugewendet  hatte,  um  sich  dort  mit  großem 
Eifer  auf  die  Spekulation  in  Maklerbankaktien  zu  werfen.  Der  junge  Mensch 
mit  dem  zierlichen  Monocle  im  Auge  erzielte,  obwohl  fast  ohne  jedes 
Kapital  zur  Börse  gekommen,  glänzende  Erfolge  und  besaß  bald  eine 
prächtig  eingerichtete  Wohnung,  Wagen  und  Pferde  und  selbstverständlich 
auch  eine  elegante  und  kostspielige  »Freundin«,  bis  die  große  Börsenkata- 
strophe im  Mai  1873   diesem  »Roman  eines  Kindes«  ein  Ende  machte,  und 


j,08  "^^^  Mauthner. 

der  knabenhafte  Spekulant  unter  Hinterlassung  von  3/4  Millionen  Gulden 
ö.  W.  unbeglichener  Differenzen  aus  Kostgeschäften  wieder  in  der  Dunkel- 
heit  seiner  früheren  Lebensstellung  verschwand.  Die  Krise  machte  auch  der 
österreichischen  Allgemeinen  Bank  und  damit  der  weiteren  Laufbahn  M.s  in 
derselben  ein  frühzeitiges  Ende.  Die  am  7.  September  1873  veröffentlichte, 
per  30.  Juni  1873  abgeschlossene  Bilanz  dieser  unglücklichen  Bank,  die  ein 
eingezahltes  Aktienkapital  von  12  Millionen  Gulden  ö.  W.  gehabt  hatte, 
gestand  bereits  einen  Verlust  von  4.3  Millionen  Gulden  ö.  W.  des  Aktien- 
kapitals zu;  die  auf  200  Gulden  ö.  W.  lautenden  Aktien  der  Anstalt,  die  vor 
Ausbruch  der  Krise  den  Kurs  von  375  erreicht  hatten,  sanken  infolgedessen 
auf  90  und  bald  noch  tiefer;  die  Bank  trat  am  13.  Mai  1874  in  Liquidation. 
Jetzt  bewarb  sich  M.  wieder  um  seinen  früheren  Posten  bei  der  Kredit- Anstalt. 
Er  mußte  bei  dieser  aus  seiner  vorherigen  dortigen  Tätigkeit  ein  sehr  gutes 
Angedenken  zurückgelassen  haben,  denn  die  Anstalt  nahm  —  ein  seltener 
Fall  —  den  reuig  zurückkehrenden  Flüchtling  mit  offenen  Armen  wieder 
auf,  und  von  nun  an  blieb  M.  der  Kredit-Anstalt  treu.  Seine  Lehr-  und 
Wanderjahre  waren  zu  Ende,  in  raschem  Fluge  strebte  er  jetzt  der  Meister- 
schaft zu. 

Zunächst  als  Börsen  Vertreter  beschäftigt,  war  er  im  Jahre  1876  bereits 
als  Adlatus  des  Bankdirektors  im  Korrespondenzbureau  der  Zentrale  der 
Kredit- Anstalt  tätig;  im  Jahr  1878  wurde  er  nach  dem  Ausscheiden  des 
Direktors  Hermann  Ritter  von  Wolff  aus  der  Direktion  als  Direktorstellver- 
treter in  das  Direktorenkollegium  berufen;  im  Jahre  1880  wurde  er  Direktor. 

Ein  Jahr  vorher  hatte  M.  die  einzige  Tochter  des  Kredit-Anstalt-Di- 
rektors Karl  Weiß  Ritters  von  Weißenhall  als  Gattin  heimgeführt;  er  wurde 
also  jetzt  der  Kollege  seines  Schwiegervaters.  Das  Familienband,  das  M. 
mit  Weiß  verknüpfte,  sollte  sich  auch  für  die  Kredit-Anstalt  als  sehr  segens- 
reich erweisen.  M.,  der  an  seinem  Schwiegervater  bis  zu  dessen  Ableben 
mit  großer  Verehrung  hing,  wurde  der  treue  Schüler  des  viel  älteren  Kol- 
legen, der  seinerseits  redlich  bemüht  war,  seine  reichen  geschäftlichen  Kennt- 
nisse und  Erfahrungen  seinem  Schwiegersohne  zugute  kommen  zu  lassen. 

Karl  Weiß  war  früher  ein  angesehener  Kaufmann  gewesen,  der  vornehmlich 
den  Verkehr  mit  den  italienischen  Provinzen  der  Monarchie  gepflegt  hatte.  Als 
das  Lombardo-Venetianische  Königreich  für  Österreich  verloren  gegangen  war, 
hatte  sich  Weiß  einen  anderen  Wirkungskreis  gesucht  und  trotz  mehrseitigen 
Abratens  die  Stelle  eines  Direktors  der  Kredit-Anstalt  angenommen.  Die 
Lage  der  Kredit-Anstalt  war  damals  eine  ziemlich  ungünstige;  der  Kurs 
ihrer  Aktien  war  nahezu  auf  die  Hälfte  des  eingezahlten  Betrages  gesunken. 
Weiß,  der  sich  als  Kaufmann  eines  tadellosen  Rufes  und  eines  großen  An- 
sehens in  der  Geschäftswelt  erfreute  und  Mitglied  der  niederösterreichischen 
Handels-  und  Gewerbekammer  und  des  Zensorenkollegiums  der  privilegierten 
österreichischen  Nationalbank  sowie  der  Zensorenkollegien  anderer  Insti- 
tute gewesen  war,  hatte  sich  als  Direktor  der  Kredit-Anstalt  bald  durch 
seinen  ungeheueren  Fleiß,  seine  Tatkraft  und  seine  geschäftliche  Gewandtheit 
einen  entscheidenden  Einfluß  auf  die  Geschäftsführung  der  Anstalt  erworben. 
Seiner  Vorsicht  war  es  zum  großen  Teile  zu  verdanken  gewesen,  daß  die 
Kredit-Anstalt  ohne  Einbuße  an  Kapital  und  Kredit  aus  den  Erschütterungen 
der  fürchterlichen  Krise  von  1873  hervorgegangen  war,  während  welcher  die 


von  Mauthner. 


409 


ältesten  Geschäftshäuser  der  Monarchie  ins  Wanken  gekommen,  und  Institute 
wie  die  k.  k.  privilegierte  allgemeine  österreichische  Boden-Kredit-Anstalt, 
Firmen  wie  Johann  Liebieg  &  Comp,  genötigt  gewesen  waren,  um  Staats- 
hilfe anzusuchen.  Die  kluge  Zurückhaltung  des  Direktors  Weiß  vor  und 
während  der  großen  Krise  hatte  wesentlich  dazu  beigetragen,  das  Vertrauen 
zu  ihm  in  der  Bankwelt  zu  festigen  und  zu  erhöhen. 

Das  Beispiel  dieses  ausgezeichneten  Mannes  war  nun  bestimmend  für  die 
weitere  Entwicklung  M.s,  und  die  vornehme  und  vorsichtige  Geschäftsführung 
in  der  Kredit-Anstalt  wurde  auf  diese  Weise  zur  Tradition. 

Als  Direktor  Weiß,  der  bis  zu  seiner  im  Jahre  1888  erfolgten  Wahl  in 
den  Verwaltungsrat  den  Vorsitz  in  der  Direktion  geführt  hatte,  sich  im  Jahre 
1889  vollständig  auf  sein  Altenteil,  die  Stelle  eines  Präsidenten  des  Ver- 
waltungsrates der  Kredit-Anstalt,  zurückzog,  trat  M.  als  Vorsitzender  an  die 
Spitze  der  Direktion;  nach  den  Statuten  der  Kredit-Anstalt  obliegt  nämlich 
die  Oberleitung  der  Geschäfte  dem  von  der  Generalversammlung  gewählten, 
aus  mindestens  15  und  höchstens  20  Mitgliedern  bestehenden  Verwaltungs- 
rate, das  Vollzugs-  und  unmittelbare  Verwaltungsorgan  der  Gesellschaft 
ist  aber  die  aus  mindestens  drei  Direktoren  bestehende  Direktion;  ihre 
Mitglieder  werden  vom  Verwaltungsrat  ernannt,  der  auch  stets  einen  Direktor 
zum  Vorsitzenden  der  Direktion  bestellt.  Den  Posten  eines  Vorsitzenden 
der  Direktion  bekleidete  M.  nunmehr  durch  dreizehn  Jahre  bis  zu  seinem 
Tode.  Seine  hervorragende  Bedeutung  in  der  Kredit- Anstalt  begann  jedoch 
nicht  erst  mit  dem  Zeitpunkte  seiner  Ernennung  zum  Vorsitzenden  der  Di- 
rektion, sondern  schon  mit  seiner  Berufung  in  das  Direktorenkollegium,  und 
von  1880  an  war  er  bereits  der  eigentliche  leitende  Geist  der  Anstalt  und 
sein  Einfluß  auf  die  Geschäftsführung  neben  dem  seines  Schwiegervaters  der 
maßgebende. 

üntef  den  außerordentlich  zahlreichen  Geschäften  der  Kredit-Anstalt 
während  M.s  22  jähriger  Direktionsführung  nehmen  die  Geschäfte  mit  der 
österreichischen  und  der  ungarischen  Finanzverwaltung,  obgleich  nicht  mehr 
von  der  überwiegenden  Bedeutung  für  die  Anstalt  wie  früher,  immer  noch 
einen  sehr  hervorragenden  Platz  ein;  daß  sie  ungefähr  seit  1880  eine  wesent- 
lich andere  Gestalt  angenommen  haben  wie  vorher,  war  wohl  zum  weitaus 
größten  Teile  durch  die  Verhältnisse  bedingt,  gleichwohl  dürfen  aber  auch 
M.s  Verdienste  um  diese  geänderte  Gestaltung  nicht  unerwähnt  bleiben.  Die 
Kredit-Anstalt  war  aus  der  Finanznot  der  Staatsverwaltung  heraus  geboren 
worden;  den  Zweck,  zu  dem  sie  gegründet  worden  war,  bildete  eingestan- 
denermaßen in  erster  Linie  die  Geldbeschaffung  für  den  Staat,  der  in  der 
absolutistischen  Zeit  oft  sehr  große  Not  mit  der  Unterbringung  seiner  sich 
rasch  folgenden  Anlehen  hatte,  so  daß  das  österreichische  Finanzministerium 
damals  stets  einen  eigenen  Sektionschef  besaß,  dessen  Aufgabe  es  war,  im 
Auslande  Geld  für  die  Finanzverwaltung  aufzutreiben;  der  letzte  dieser  für 
das  österreichische  Finanzministerium  im  Auslande  reisenden  Sektionschefs  war 
der  nachherige  Gouverneur  der  k.  k.  privilegierten  allgemeinen  österreichi- 
schen Boden-Kredit-Anstalt  und  später  der  österreichisch-ungarischen  Bank, 
Alois  Moser,  gewesen.  Die  Anlehensunterhandlungen  zwischen  der  Finanz- 
verwaltung und  der  Kredit- Anstalt  trugen  zu  jener  Zeit  trotz  des  großen 
Einflusses,    den    sich    der    Staat    statutenmäßig  auf  die  Leitung   der  Anstalt 


410  von  Mauthner. 

gewahrt  hatte  —  die  Wahl  des  Präsidenten  und  der  beiden  Vizepräsidenten 
sowie  die  Bestellung  aller  Direktoren  der  Kredit-Anstalt  bedürfen  der  Geneh- 
migung seitens  der  Staatsverwaltung  —  häufig  den  Charakter  von  Duellen, 
bei  welchen  jeder  der  beiden  Kontrahenten  einen  möglichst  großen  Vorteil 
über  den  anderen  zu  erringen  suchte,  und  da  die  Finanzverwaltung  der  be- 
dürftige, die  Kredit-Anstalt  der  gewährende  Teil  war,  überdies  in  der 
Anstalt  auch  meist  die  gewiegteren  Finanzmänner  saßen,  so  nahmen  die 
Verhandlungen  nicht  selten  ein  für  die  Finanzverwaltung  nicht  eben  erfreu- 
liches Ende. 

Das  änderte  sich  gewaltig,  als  es  den  beiden  Staaten  der  Monarchie 
endlich  gelang,  dank  der  wenn  auch  langsam  fortschreitenden  Zunahme  des 
allgemeinen  Wohlstandes  aus  dem  Zustande  der  alljährlichen  Fehlbeträge  im 
Staatshaushalte  heraus  und  zu  einer  geordneten  Finanz  Wirtschaft  zu  gelangen. 
Jetzt  waren  es  nicht  mehr  die  Finanzverwaltungen,  die  sich  um  Anlehen, 
sondern  die  Kredit-Anstalt  und  ihre  Geschäftsfreunde,  die  sich  um  die  Ge- 
schäfte bewarben,  und  das  gab  den  Verhandlungen  ein  anderes  Gesicht.  Es 
ist  aber  M.s  unleugbares  Verdienst,  daß  er  die  gewaltigen  Kapitalsansamm- 
lungen, wie  sie  die  modernen  Großbanken  darstellen,  nicht  ausschließlich 
vom  Standpunkte  des  Geschäftsmannes  nur  als  Werkzeuge  zum  Geldverdienen 
ansah,  sondern  daß  er  die  soziale  Bedeutung  dieser  Institutionen  richtig 
erfaßte  und  sich  auf  den  Standpunkt  stellte,  eine  Großbank  gleich  der  Kredit- 
Anstalt  sei  nicht  lediglich  dazu  da,  um  eine  möglichst  hohe  Dividende  zu 
verteilen,  sondern  sie  habe  auch  gewisse  Verpflichtungen  gegenüber  der  All- 
gemeinheit. Diese  seine  moderne  und  man  möchte  sagen  ideale  Auffassung 
von  dem  Zweck  einer  Bank  bewirkte,  daß  er  bei  den  häufigen  Verhandlungen 
mit  den  Finanzministern  der  beiden  Staaten  der  Monarchie  niemals  den 
Patrioten  vollständig  hinter  dem  Bankdirektor  verschwinden  ließ;  sein  Ver- 
hältnis zu  den  Finanzverwaltungen  wurde  ein  geradezu  freundschaftliches, 
und  bei  all*  den  zahlreichen  österreichischen  und  ungarischen  Finanzministem 
von  Dunajewski  und  Szapäry  angefangen  bis  zu  Böhm-Bawerk  und  Lukäcs 
war  M.  außerordentlich  beliebt  und  galt  für  einen  wohlmeinenden  Berater 
und  treuen  Freund  der  beiden  Finanzministerien.  Daß  dieses  angenehme 
Verhältnis  ihres  leitenden  Direktors  zu  den  Schatzkanzlern  der  Monarchie 
auch  der  Kredit-Anstalt  zustatten  kam,  ist  natürlich. 

Von  den  großen  in  den  Jahren  1880  bis  1902  in  der  Österreichisch-Un- 
garischen Monarchie  zur  Durchführung  gelangten  staatsfinanziellen  Operationen, 
bei  welchen  M.  in  hervorragender  Weise  mitwirkte,  und  unter  denen,  ent- 
sprechend der  Ordnung  der  Finanzen  und  dem  gefestigten  Kredite  der  beiden 
Staaten  der  Monarchie,  die  Konversionen  die  Hauptrolle  spielten,  seien  hier 
nur  die  wichtigsten  hervorgehoben; 

In  den  Jahren  1881  bis  1884  führte  die  Kreditanstalt  im  Vereine  mit 
den  ihr  befreundeten  Großbanken  und  Bankiersfirmen  —  man  nannte  diese 
Vereinigung,  der  auch  das  Wiener  Bankhaus  S.  M.  v.  Rothschild  angehörte, 
nach  diesem  Bankhause  gewöhnlich  kurzweg  »die  Rothschildgruppe«  —  die 
Konversion  der  ungarischen  ö^/oigen  Goldrente  in  eine  4°/oige  Goldrente 
durch;  innerhalb  eines  Zeitraumes  von  ungefähr  vier  Jahren  wurden  von  der 
Kredit-Anstalt  400  Millionen  Gulden  in  ö^/oiger  Goldrente  aus  dem  Verkehre 
gezogen,  und  dagegen  545  Millionen  Gulden  in  40/oiger  Goldrente  in  Umlauf 


von  Mauthner. 


411 


gesetzt;  es  war  dies  das  größte  bis  dahin  von  der  Kredit- Anstalt  durch- 
geführte Finanzgeschäft. 

Im  Jahre  1893  folgte  die  Konversion  der  5  0/0 igen  österreichischen  Noten- 
rente und  der  43/40/oigen  und  50/oigen  Eisenbahnstaatsschuldverschreibungen 
der  Kronprinz  Rudolf -Bahn  und  der  Vorarlberger  Bahn  in  40/oige  öster- 
reichische Kronenrente  und  40/oige  Eisenbahnstaatsschuldverschreibungen;  es 
wurden  im  ganzen  um  299852  100  Gulden  ö.  W.  43/4<*/oige  und  5**/oige  Obli- 
gationen eingezogen,  und  dagegen  648345800  Kronen  in  4^/0 igen  Renten- 
und  Eisenbahnstaatsschuldverschreibungen  ausgegeben.  In  das  gleiche  Jahr 
fällt  die  große  Konversion  von  465962510  Gulden  ö.  W.  50/oiger  ungarischer 
Notenrente  und  diverser  Eisenbahn -Obligationen  und  -Aktien  und  von 
16704400  Gulden  5-  und  60/oiger  ungarischer  Eisenbahngoldprioritäten  gegen 
1062  Millionen  Kronen  40/oiger  ungarischer  Kronenrente  und  18  Millionen 
Gulden  4^/0 iger  ungarischer  Goldrente. 

In  demselben  Jahre  1893  begann  auch  die  bedeutende,  im  Jahr  1895 
glücklich  zu  Ende  geführte  Operation  der  Goldbeschaffung  für  die  Zwecke  der 
1892  von  den  Parlamenten  Österreichs  und  Ungarns  beschlossenen  Währungs- 
reform. Das  Konsortium  der  Kredit- Anstalt  übernahm  von  der  österrreichischen 
Finanzverwaltung  150  Millionen  Gulden  40/oiger  österreichischer  Goldrente 
und  von  der  ungarischen  Finanzverwaltung  24  Millionen  Gulden  40/oiger 
ungarischer  Goldrente  mit  der  Verpflichtung,  den  Gegenwert  in  effektivem 
Golde  zu  leisten.  Es  war  in  erster  Linie  der  außerordentlichen  Geschicklich- 
keit, mit  der  M.  diese  große  Transaktion  leitete,  zu  danken,  daß  es  gelang, 
die  erwähnten  bedeutenden  Goldmengen,  die  vornehmlich  zur  Einziehung 
der  österreichisch-ungarischen  Staatsnoten  bestimmt  waren,  ohne  jede  Beun- 
ruhigung der  auswärtigen  Geldmärkte  und  der  auswärtigen  großen  Noten- 
banken in  die  Monarchie  zu  ziehen. 

Durch  die  österreichisch-ungarische  Währungsreform  wurde  M.  auch  noch 
vor  eine  andere  Aufgabe  gestellt:  ihm  wurde  die  Durchführung  des  unterm 
20.  Februar  1892  zwischen  Österreich-Ungarn  und  dem  Deutschen  Reiche 
hinsichtlich  der  österreichischen  Vereinstaler  getroffenen  Abkommens  über- 
tragen. Die  österreichischen  Vereinstaler  waren  die  auf  Grund  des  deutschen 
Münzbundes  von  1857  in  den  Jahren  1858  bis  1868  in  Österreich  geprägten 
Taler  und  Doppeltaler,  die  im  ganzen  Gebiete  des  Münzbundes  von  1857 
gesetzliches  Kurantgeld  waren.  Als  das  Deutsche  Reich  im  Jahre  1873  zur 
Goldwährung  überging,  setzte  es  die  österreichischen  Vereinstaler  außer 
Kurs;  diese  Verfügung  wurde  jedoch  im  Jahr  1874  widerrufen.  Die  Folge 
dieses  Widerrufes,  eines  der  unbegreiflichsten  Fehler  der  deutschen  Münz- 
gesetzgebung, war,  daß  die  österreichischen  Vereinstaler  in  Deutschland 
drei  Reichsmark  in  Gold  galten,  auch  noch  zu  einer  Zeit,  als  durch  das  Sinken 
des  Silberpreises  der  innere  Wert  dieser  Taler  schon  weit  unter  den  Wert  von 
drei  Reichsmark  gefallen  war.  Als  im  Jahr  1879  das  fortgesetzte  Sinken  des 
Silberpreises  die  Finanzverwaltungen  Österreichs  und  Ungarns  zur  Einstellung 
der  freien  Prägungen  von  Silber  bewog,  und  das  österreichische  Währungs- 
silbergeld, weil  es  nicht  mehr  dem  Bedarf  entsprechend  vermehrt  werden 
konnte,  zu  seinem  Silberwert  auch  noch  einen  Seltenheitswert  erhielt  und 
dadurch  bedeutend  über  den  Wert  des  Barrensilbers  hinausstieg,  da  ergab 
sich   nun   der  merkwürdige  Fall,   daß    eine   und   dieselbe  Münze,   der  öster- 


412 


von  Mauthner. 


reichische  Vereinstaler,  in  Deutschland  und  in  Österreich-Ungarn  in  gleicher 
Weise  gesetzliches  Kurantgeld  war,  dabei  aber  in  jedem  dieser  Staaten 
einen  verschiedenen  und  zwar  einen  weit  über  den  Silbergehalt  der  Münze 
hinausgehenden  Wert  besaß;  in  Deutschland  galt  der  Taler  drei  Mark,  in 
Österreich-Ungarn  1^/2  Gulden  ö.  W.;  in  Deutschland  war  der  Wert  des 
Vereinstalers  gegenüber  dem  Gold  ein  fester,  in  Österreich- Ungarn,  wo  bis 
zum  Jahr  1892  kein  gesetzliches  Verhältnis  zwischen  dem  österreichischen 
Währungssilbergeld  und  dem  Golde  bestand,  war  er  ein  schwankender,  er- 
reichte aber  nie  die  Höhe  wie  in  Deutschland.  Infolge  dessen  waren  die 
österreichischen  Vereinstaler  bald  fast  vollständig  nach  Deutschland,  als  dem 
Lande,  wo  sie  höh^r  bewertet  wurden,  ausgewandert,  und  im  Jahre  1891 
lagen  26  Millionen  Taler  oder  78  Millionen  Mark  in  österreichischen  Vereins- 
talern in  den  Kellern  der  Deutschen  Reichsbank.  Als  nun  in  Österreich- 
Ungarn  die  Festsetzung  eines  gesetzlichen  Verhältnisses,  einer  Relation, 
zwischen  dem  österreichischen  Währungssilbergeld  und  dem  Gold  erwogen 
wurde,  forderten  einige  übereifrige  Verfechter  des  »Staatsinteresses«,  man  solle 
die  österreichischen  Vereinstaler  von  der  Relation  ausnehmen  und  einfach  aufier 
Kurs  setzen,  wodurch  diese  Taler,  die  bisher  in  Österreich-Ungarn  1^/2  Gulden 
ö.  W.  gegolten  hatten,  hier  sofort  auf  ihren  Barren  wert  gefallen  wären,  der 
damals  nur  beiläufig  i  Gulden  ö.  W.  für  den  Taler  betrug.  Gegen  ein 
solches  Vorgehen  erhoben  sich  aber  gewichtige  Stimmen  nicht  nur  in  Deutsch- 
land, sondern  auch  in  Österreich-Ungarn  selbst;  hier  war  es  besonders  der 
damalige  Referent  für  die  Währungsangelegenheiten  in  der  Österreich-Unga- 
rischen Bank,  der  die  Anschauung  vertrat,  ein  Staat  müsse  seine  Prägung 
ebenso  respektieren,  wie  seine  Unterschrift,  und  er  habe  kein  Recht,  eine 
Landesmünze  bloß  deshalb  einfach  außer  Kurs  zu  setzen,  weil  hiedurch  nicht 
Angehörige  des  eigenen,  sondern  solche  eines  fremden  Staates  einen  Verlust 
erleiden  würden;  durch  ein  solches  Vorgehen  würde  das  Ansehen  und  der 
Kredit  der  Monarchie  im  Auslande  geschädigt  werden,  gerade  in  einem 
Augenblick,  in  welchem  sie  beider  besonders  bedürfe.  Die  Finanzver- 
waltungen Österreich-Ungarns  taten  das,  was  unter  den  obwaltenden  Um- 
ständen das  Klügste  war:  sie  leiteten  diplomatische  Verhandlungen  mit 
Deutschland  ein,  bei  welchen  sich  die  deutsche  Reichsregierung  außer- 
ordentlich entgegenkommend  zeigte.  Das  Ende  war  ein  Vergleich,  wonach 
Österreich-Ungarn  sich  verpflichtete,  den  dritten  Teil  der  in  Deutschland  ange- 
sammelten österreichischen  Vereinstaler  zum  Preise  von  i'/i  Gulden  ö.  W.  für  den 
Taler  zu  übernehmen  und  einzuschmelzen;  den  Verlust,  der  sich  an  den  übrigen 
zwei  Dritteln  dieser  Taler  durch  den  Unterschied  zwischen  dem  Werte  des 
österreichischen  Währungssilbers  und  des  Barrensilbers  ergab,  nahm  das 
Deutsche  Reich  auf  sich.  An  den  Verhandlungen,  die  zu  diesem  für  Öster- 
reich-Ungarn sehr  günstigen  Ergebnisse  führten,  nahm  M.  wohl  nicht  teil; 
ihm  wurde  aber  von  den  Finanzverwaltungen  der  Monarchie  die  Durchführung 
der  Vereinbarung  übertragen,  wonach  von  Österreich- Ungarn  8^/3  Millionen 
Taler  zu  übernehmen,  und  dem  Deutschen  Reiche  dafür  die  Gegenwerte 
anzuschaffen  waren.  M.  führte  diese  Transaktion  in  Berlin  im  persönlichen 
Verkehre  mit  dem  Präsidenten  des  deutschen  Reichsbankdirektoriums 
Dr.  Richard  Koch  mit  so  vollendetem  Geschick  und  zu  so  großer  Zufrieden- 
heit  der  Reichsbank   durch,   daß   der  Präsident  des  Reichsbankdirektoriums 


von  Mauthner.  a}  2 

sich    bewogen   fand,    eine    hohe    deutsche    Auszeichnung   für    M.    zu    bean- 
tragen. 

Das  Jahr  1897  brachte  der  Kredit- Anstalt  beziehungsweise  der  Roth- 
schildgruppe ein  weiteres  großes  Staatsgeschäft:  die  Gruppe  übernahm  von 
der  österreichischen  Finanzverwaltung  11 6901000  Kronen  und  von  der 
ungarischen  Finanz  Verwaltung  60  Millionen  Kronen  in  den  von  den  beiden 
Finanz  Verwaltungen  neu  geschaffenen  3^/2<*/oigen  Investitionsrententitres. 

Die  letzte  grofie  staatsfinanzielle  Operation,  an  der  M.  mitwirkte,  war  die 
Konversion  der  4^/1  °/o igen  ungarischen  Schankregal Obligationen  sowie  einer 
Reihe  von  4'/! 0/0  igen  und  5  °/o igen  ungarischen  Eisenbahnobligationen  gegen 
1087470000  Kronen  40/oiger  ungarischer  Kronenrente,  welchen  Riesenbetrag 
die  Gruppe  im  Jahre  1901  von  der  ungarischen  Finanzverwaltung  übernahm. 
M.  war,  als  dieses  Geschäft  verhandelt  wurde,  schwer  erkrankt.  Gleichwohl 
ließ  er  es  sich  nicht  nehmen,  bei  den  Verhandlungen  mitzuwirken;  die  Be- 
sprechungen fanden  wiederholt  an  seinem  Krankenlager  statt.  Die  Beendigung 
dieser  Operation,  die  erst  im  Laufe  des  Jahres  1902  vollständig  zur  Durch- 
führung gelangte,  hat  er  nicht  mehr  erlebt. 

Neben  diesen  großartigen  Finanzgeschäften  führte  die  Kredit-Anstalt 
während  M.s  Direktion  teils  allein,  teils  in  Verbindung  mit  ihren  Geschäfts- 
freunden eine  zahllose  Menge  von  kleineren  Operationen,  vornehmlich  von 
verschiedenen  Emissionen  für  die  Staatsverwaltungen,  für  Städte,  Eisenbahn- 
gesellschaften usw.  durch.  Ungleich  manchen  seiner  Vorgänger  legte  M.  jedoch 
auf  die  Finanzgeschäfte  weniger  Gewicht  als  auf  die  Ausgestaltung  der  eigent- 
lich bankmäßigen  Geschäfte,  die  mehr  als  die  sich  nicht  regelmäßig  wieder- 
holenden und  hinsichtlich  ihres  Erfolges  oft  von  so  vielen  Umständen 
abhängigen  Finanzgeschäfte  geeignet  sind,  einer  großen  Bank  ein  jährlich 
wiederkehrendes,  sicheres  Einkommen  zu  bieten;  das  Kommissions-,  das 
Eskompte-,  das  Kontokorrent-Geschäft  usw.  erfuhren  unter  ihm  die  sorg- 
fältigste Pflege  und  nahmen  einen  gewaltigen  Aufschwung.  Diese  Steigerung 
des  regulären  Bankgeschäftes  ließ  schließlich  das  seit  1869  auf  40  Millionen 
Gulden  ö.  W.  verminderte  Aktienkapital  der  Kredit-Anstalt  zu  gering  er- 
scheinen. Es  wurde  also  im  Jahre  1899  ^^^^  Erhöhung  des  Kapitals  um 
10  Millionen  Gulden  ö.  W.  auf  50  Millionen  Gulden  ö.  W.  oder  100  Millionen 
Kronen  durch  Ausgabe  von  62.500  neuen  Aktien  beschlossen.  Obwohl  die 
neuen  Aktien  außer  dem  Nominalbetrage  von  20  Millionen  Kronen,  auf  den 
sie  lauteten,  noch  mehr  als  20  Millionen  Kronen  Agiogewinn  hereinbrachten, 
welcher  Gewinn  zur  Bildung  eines  eigenen  Kapitalsreservefonds  verwendet 
wurde,  die  gesamte  Kapitalsvermehrung  also  über  40  Millionen  Kronen 
betrug,  war  es  doch  möglich,  diesen  ganzen  Mehrbetrag  im  laufenden  Geschäfte 
fruchtbringend  zu  verwenden. 

Weniger  glücklich  als  im  Finanz-  und  im  eigentlichen  Bankgeschäfte  war 
M.  mit  seinen  industriellen  Gründungen.  Gleich  in  die  erste  Zeit  seiner 
Direktionsführung  fiel  außer  einigen  kleineren  Gründungen  wie  jener  der 
Mineralöl-Raffinerie-Aktien-Gesellschaft  in  Budapest  usw.  eine  der  größten 
Unternehmungen  dieser  Art:  1883  gründete  die  Kredit- Anstalt  im  Vereine 
mit  der  Banque  Impirialc  Ottomane  und  der  Firma  S.  Bleichröder  die  SocUte 
de  la  Rigie  Co-intiressie  des  Tabacs  de  r Empire  Ottoman  oder  die  Tabak-Regie- 
Gesellschaft  des  Türkischen  Reiches.     Sei  es  nun,  daß  M.  durch  die  Kinder- 


414 


von  Mauthner. 


krankheiten,  mit  denen  dieses  Institut  längere  Zeit  zu  kämpfen  hatte, 
geschreckt  worden  war,  sei  es,  daß  er  fühlte,  daß  industrielle  Gründungen 
überhaupt  »ihm  nicht  lagen«  —  er  verhielt  sich  seither  gegen  derlei  Unter- 
nehmungen ablehnend.  Als  er  endlich,  von  seiner  Umgebung  und  zum  Teil 
auch  von  den  Aktionären  gedrängt,  sich  seit  1892  doch  wieder  zu  einigen 
solchen  Geschäften  entschloß,  ließen  gerade  die  bedeutenderen  derselben  zunächst 
den  erwarteten  Erfolg  vermissen.  In  dem  letzten  von  M.  verfaßten  Geschäfts- 
berichte der  Kredit-Anstalt,  jenem  über  das  Jahr  1901,  mußte  er  zu  seinem 
Schmerze  mitteilen,  daß  eine  Anzahl  der  von  der  Kredit-Anstalt  seit  1892 
gegründeten  Unternehmungen,  darunter  auch  die  große  Skodawerke  Aktien- 
gesellschaft in  Pilsen  keine  günstigen  geschäftlichen  Ergebnisse  erzielt  hatte. 
Seither  hat  sich  jedoch  bei  der  Mehrzahl  dieser  Unternehmungen  eine 
Wendung  zum  Besseren  vollzogen,  und  einige  erfreuen  sich  sogar  schon  eines 
besonderen  Gedeihens. 

Der  soliden  Art  M.s  entsprach  es,  daß  er  bemüht  war,  die  Kredit- Anstalt, 
deren  Aktie  Jahrzehnte  lang  das  beliebteste  Spielpapier  an  den  Börsen  Öster- 
reich-Ungarns und  Deutschlands  war,  von  allem,  was  an  ungesunde  Speku- 
lation oder  an  Spiel  erinnerte,  fernzuhalten.  Die  von  ihm  aufgestellten 
Bilanzen  waren  klar  und  gaben  insbesondere  viele  vor  seiner  Zeit  häufig  ver- 
mißte Detailnachweisungen  über  den  jeweiligen  Effektenbesitz  der  Anstalt. 
Durch  sorgfältige  Reservierungen  war  er  bestrebt,  die  Dividende  auf  einer 
möglichst  gleichförmigen  Höhe  zu  halten,  und  tatsächlich  geschah  das  vor 
ihm  Unerhörte,  daß  die  Kredit-Anstalt  öfter  zwei  und  selbst  drei  Jahre  hinter 
einander  eine  gleich  hohe  Dividende  bezahlte.  Von  den  früher  mitunter  an- 
läßlich der  Bilanzveröffentlichungen  vorgekommenen  »Überraschungen«  wollte 
er  nichts  wissen ;  um  die  spekulative  Bewegung  einzudämmen,  die  sich  früher 
viel  mehr  als  jetzt  stets  an  das  Bekanntwerden  der  Bilanzziffern  der  Kredit- 
Anstalt  knüpfte,  traf  er  die  Einrichtung,  daß  die  Bilanzen  immer  erst  zu  vor- 
gerückter Tagesstunde  nach  Schluß  der  Börse  veröffentlicht  wurden. 

M.s  Solidität  war  aber  durchaus  nicht  nach  dem  Geschmacke  der  spiel- 
lustigen Elemente  der  Börse  und  auch  nicht  nach  dem  Geschmack  aller 
Aktionäre.  In  der  letzten  Generalversammlung  der  Aktionäre,  an  welcher  M. 
teilnahm,  in  jener  vom  3.  April  1902,  beanstandete  der  Aktionär  Alexander 
Scharf  die  Höhe  der  Dividende  als  zu  gering  und  erklärte  die  Kapitals- 
erhöhung von  1899  ^^  ^^®  größte  Schädigung  der  Kredit-Anstalt.  M.s  Ant- 
wort wurde  zum  geflügelten  Worte:  »Die  Kredit- Anstalt  ist  kein  Dividenden- 
Automat«,  rief  er  dem  Tadler  zu  und  führte  aus,  daß,  je  größer  die  Summe 
der  einer  Anstalt  anvertrauten  Kapitalien  sei,  umso  breiter  auch  die  Grund- 
lage der  eigenen  Mittel  sein  müsse,  um  das  Vertrauen  nicht  zu  erschüttern. 
»Dieses Vertrauen«,  sagte  er,  »ist  das  Ergebnis  der  harten  Arbeit  von  45  Jahren; 
verlieren  kann  man  das  Vertrauen  aber  in  einer  einzigen  Nacht«.  Die  Miß- 
stimmung der  Börsenspieler  gegen  M.  fand  einen  geradezu  klassischen  Aus- 
druck darin,  daß  auf  die  Nachricht  von  M.s  plötzlichem  Tode  der  Kurs  der 
Kreditaktien  an  der  Wiener  Börse  stieg.  Es  tauchte  damals  das  Gerücht 
auf,  diese  rätselhafte  Steigerung  sei  auf  Deckungskäufe  zurückzuführen,  die 
zur  Lösung  von  großen  Baisseoperationen  des  Verstorbenen  unternommen 
worden  seien.  Dem  war  aber  nicht  so ;  M.  war  durchaus  kein  Börsenspieler, 
nicht  einmal  ein  Spekulant.     »Hätte  ich  nur  mit  dem  Finger  gewinkt«,  sagte 


von  Mauthner.  ^  I  c 

er  einmal,  »so  wären  die  Kreditaktien  im  Jahr  1895  auf  fünfhundert  ge- 
gangen« —  die  Aktien  notierten  damals  noch  in  Gulden  —  »aber  ich  wollte 
nicht;  ich  bin  kein  Spekulant,  und  auch  die  Kreditaktien  sollen  mit  meinem 
Willen  nicht  turbulenten  Spekulationen  dienen«.  Von  Haus  aus  in  günstigen 
Verhältnissen,  in  jungen  Jahren  schon  im  Besitze  sehr  großer  Einkünfte,  da- 
bei bescheiden,  ohne  große  Bedürfnisse,  ohne  kostspielige  Passionen  und  nicht 
habgierig,  stand  er  der  ungeheueren  Versuchung,  die  seine  Stellung  mit  sich 
brachte,  mit  kühler  Ruhe  gegenüber. 

Die  geschäftlichen  Verbindungen  der  Kredit- Anstalt  mit  ihr  befreundeten 
Gesellschaften  oder  von  ihr  gegründeten  Unternehmungen  brachten  M.  auch 
in  die  Verwaltung  zahlreicher  anderer  Institute.  Er  war  seit  1883  Mitglied 
des  Verwaltungsrates  der  Tabak-Regie-Gesellschaft  des  Türkischen  Reiches, 
seit  1888  Präsident  des  Verwaltungsrates  der  Aktien-Gesellschaft  der  Lokomotiv- 
Fabrik,  vorm.  G.  Sigl  in  Wiener-Neustadt  und  seit  1890  Mitglied  des  Ver- 
waltungsrates der  von  der  Kredit-Anstalt  im  Jahre  1888  gegründeten  Aktien- 
gesellschaft Pe^eker  Zuckerraffinerie  in  PeCek.  Im  Jahre  1890  wurde  er  auch 
Mitglied  der  Direktion  der  von  der  Kredit- Anstalt  im  Jahre  1882  gegründeten 
Mineralöl-Raffinerie-Aktien-Gesellschaft  in  Budapest,  im  Jahre  1896  Mitglied 
des  Verwaltungsrates  der  Prager  Eisen-Industrie-Gesellschaft  in  Wien  und 
Mitglied  des  Direktionsrates  der  Ungarischen  Allgemeinen  Kredit-Bank  in 
Budapest,  welches  Bankinstitut  im  Jahre  1867  unter  Mitwirkung  der  Kredit- 
Anstalt,  die  später  ihre  Pester  Filiale  aufließ,  ins  Leben  gerufen  worden  war. 
Im  Jahr  1897  wurde  er  Mitglied  des  Verwaltungsrates  der  von  der  Kredit- 
Anstalt  in  diesem  Jahre  gegründeten  Hirtenberger  Patronen-,  Zündhütchen- 
u.  Metall waren-Fabrik ,  vormals  Keller  &  Comp,  in  Wien,  Präsident  des 
Verwaltungsrates  der  in  dem  gleichen  Jahr  auch  von  der  Kredit- Anstalt 
gegründeten  Aktiengesellschaft  für  Naphta-Industrie  in  Lemberg  und  Präsident 
des  Verwaltungsrates  der  »Providentia«  allgemeine  Versicherungsgesellschaft 
in  Wien,  ebenfalls  einer  in  diesem  Jahr  erfolgten  Gründung  der  Kredit-Anstalt. 
Bei  der  im  Jahre  1899  erfolgten  Umwandlung  der  Pilsener  Skoda-Werke  in 
eine  Aktiengesellschaft  wurde  er  Vizepräsident  und  nach  dem  Tode  des 
Präsidenten  Emil  Ritter  von  Skoda  am  10.  August  1900  Präsident  des  Ver- 
waltungsrates der  Skodawerke  Aktiengesellschaft;  im  Jahre  1900  trat  er  auch 
in  die  Direktion  der  Kaschau-Oderberger  Eisenbahn.  Alle  diese  zahlreichen 
Stellen  bekleidete  M.  bis  zu  seinem  Tode,  nur  aus  der  Verwaltung  der 
Prager  Eisen-Industrie-Gesellschaft  war  er  im  Jahre  1899  ausgeschieden. 

Obwohl  seit  seinem  17.  Lebensjahre  praktisch  tätig,  war  M.  doch  weit 
davon  entfernt,  einer  jener  öden  »Praktiker«  zu  sein,  deren  geistiger  Horizont 
über  die  oft  recht  engen  Grenzen  ihrer  geschäftlichen  Erfahrungen  nicht 
hinausreicht,  und  die  darum  jeder  neuen  Erscheinung  ebenso  Verständnis-  als 
hilflos  gegenüberstehen.  Mit  unermüdlichem  Fleiß,  unterstützt  von  einem 
regen  Geist  und  einer  ungemein  raschen  Auffassungsgabe,  hatte  er  sich  ein 
gründliches  theoretisches  Wissen  erworben.  Eine  glänzende  Probe  hievon 
legte  er  ab,  als  er  im  Jahre  1892  vom  österreichischen  Finanzministerium 
zum  Mitgliede  der  damals  zur  Beratung  der  Währungsfragen  einberufenen 
Währungs-Enquöte-Kommission  ernannt  wurde.  M.s  in  der  sechsten  Sitzung 
der  Kommission  am  14.  März  1892  erstattetes  Referat  erregte  durch  seine 
Sachlichkeit  und  Klarheit  selbst  in  dieser  Versammlung  der  hervorragendsten 


Ai6  von  Mauthner. 

Volkswirte  Österreichs  Aufsehen ;  er  stimmte  im  Anschlufi  an  die  Ausführungen 
des  gleichfalls  der  Kommission  angehörenden  früheren  Generalsekretärs  der 
privilegierten  österreichichen  Nationalbank,  Wilhelm  Ritter  von  Lucam,  für  die 
Einführung  der  reinen  Goldwährung  und  sprach  als  der  erste  unter  den 
Kommissionsmitgliedem  ein  freies  Wort  über  die  damals  viel  umstrittene 
Frage  der  Relation.  Im  Jahr  1896  wurde  M.  von  der  österreichischen 
Regierung  zu  der  damals  stattgefundenen  £nqu6te  über  das  Aktien-Regulativ 
beigezogen. 

An  äußeren  Ehren  hat  es  M.  auf  seiner  so  erfolgreichen  Laufbahn  nicht 
gefehlt.  Im  Jahre  1883  war  ihm  für  seine  Wirksamkeit  bei  der  Gründung  der 
türkischen  Tabak-Regie-CJesellschaft  der  türkische  Medschidi^-Orden  I.  Klasse 
verliehen  worden;  im  Jahre  1884  wurden  seine  Verdienste  um  die  glückliche 
Durchführung  der  grofien  ungarischen  Goldrentenkonversion  durch  die  Ver- 
leihung des  österreichischen  kaiserlichen  Ordens  der  Eisernen  Krone  III.  Klasse 
anerkannt,  womit  nach  den  damaligen  Ordensstatuten  die  Erhebung  in  den 
erblichen  Ritterstand  verbunden  war;  1893  wurde  ihm  aus  Anlafi  der  in  diesem 
Jahre  zustande  gekommenen  grofien  österreichischen  und  ungarischen  Kon- 
versionsoperationen der  Orden  der  Eisernen  Krone  IL  Klasse  verliehen;  im 
Jahre  1894  erhielt  er  in  Anerkennung  der  von  ihm  bei  den  Transaktionen  hin- 
sichtlich der  Vereinstaler  geleisteten  Dienste  den  preußischen  Kronenorden 
IL  Klasse  mit  dem  Stern;  im  Jahr  1899  wurde  M.  endlich  die  seltene,  vor 
ihm  noch  nie  von  einem  Bankdirektor  in  Österreich  erreichte  Auszeichnung 
zu  Teil:  am  21.  September  1899  erfolgte  seine  Ernennung  zum  lebensläng- 
lichen Mitgliede  der  österreichischen  Pairskammer,  des  Herrenhauses.  M. 
nahm  seine  Aufgabe  als  Mitglied  dieser  hohen  gesetzgebenden  Körperschaft, 
in  der  er  sich  der  Verfassungspartei  anschloß,  sehr  ernst;  er  beteiligte  sich 
eifrig  an  den  Arbeiten  des  Hauses  und  galt  dort  bald  als  eine  Autorität  in 
volkswirtschaftlichen  Fragen.  Hervorgetreten  ist  M.  im  Herrenhaus  als  Bericht- 
erstatter der  Spezialkommission  zur  Vorberatung  der  von  der  Regierung  im 
Herrenhaus  eingebrachten  Gesetzesvorlage  betreffend  fundierte  Bankschuld- 
verschreibungen. Dieser  Entwurf  bezweckte  die  Ausdehnung  des  in  Österreich 
nach  der  großen  Börsenkrise  von  1873  durch  das  Gesetz  vom  24.  April  1874 
gewährleisteten  Schutzes  der  Rechte  von  Pfandbriefbesitzem  auch  auf  die 
Rechte  der  Besitzer  fundierter  Bankschuldverschreibungen;  das  sind  nämlich 
die  von  Banken  unter  Hinweisung  auf  eine  besondere  Fundierung  (als 
Kommunal-,  Eisenbahn-,  Meliorations-,  Industriekredit-Schuldverschreibungen 
usw.)  zur  Ausgabe  gelangenden  verlosbaren  Obligationen,  die  in  Österreich 
in  den  letzten  Jahrzehnten  in  großen  Summen  in  Verkehr  gesetzt  wurden. 
Die  Anträge  der  Kommission  wurden  von  M.  in  den  Sitzungen  des  Herren- 
hauses vom  17.  Oktober  und  vom  27.  November  1901  vertreten,  und  M.,  der 
Nichtjurist,  verteidigte  dieselben  siegreich  gegen  die  Angriffe  zweier  der 
bedeutendsten  österreichischen  Rechtsgelehrten,  des  damaligen  Hofrates  und 
jetzigen  Ministers  Ritter  von  Randa  und  des  Hofrates  und  Universitäts- 
professors Grünhut. 

Von  dem  großen  Vertrauen,  das  M.  sowohl  bei  der  Regierung  als  in  den 
Kreisen  der  Hochfinanz  genoß,  zeugt  es,  daß  im  Jahr  1892,  als  Freiherr  von 
Hopfen  seine  Stelle  als  Präsident  des  Verwaltungsrates  der  Südbahngesell- 
schaft zurücklegte,  allgemein  M.  als  der  berufenste  Nachfolger  Hopfens  und 


von  Mauthner. 


417 


als  der  Einzige  bezeichnet  wurde,  der  geeignet  wäre,  diese  größte  öster- 
reichisch-ungarische Privatbahn  aus  ihren  mißlichen  Verhältnissen  —  die 
Dividende  der  Südbahn  war  damals  unter  i°/o  gesunken  —  herauszuführen. 
Es  kam  jedoch  anders:  Hopfens  Nachfolger  wurde  einer  der  ersten  Aristo- 
kraten der  Monarchie,  Prinz  Egon   zu  Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst. 

Im  Jahre  1901  war  M.,  wohl  infolge  von  Überarbeitung,  schwer  erkrankt. 
Die  ersten  Anzeichen  eines  Nierenleidens  stellten  sich  ein.  Von  ärztlicher 
Seite  wurde  ihm  geraten,  sich  aller  Anstrengungen  zu  enthalten.  Mit  schwerem 
Herzen  verzichtete  M.  auf  sein  Lieblingsvergnügen,  die  Jagd,  aber  von  der 
ihm  nahe  gelegten  Zurückziehung  von  den  Geschäften  wollte  er  nichts  wissen ; 
er  scheint  seinen  Zustand  selbst  nicht  für  gefährlich  gehalten  zu  haben. 
Als  ein  Wiener  Blatt  das  Gerücht  verzeichnete,  M.  beabsichtige,  seinen 
Direktorsposten  in  der  Kredit-Anstalt  zu  verlassen,  und  solle  in  den  Ver- 
waltungsrat der  Anstalt  kooptiert  werden,  da  beeilte  er  sich,  diese  Nachricht 
energisch  zu  dementieren.  Aber  ein  Gewaltigerer  sollte  bald  ihn  selbst 
dementieren.  Er  hatte  sich  zwar  in  kurzer  Zeit  scheinbar  wieder  erholt  und 
versah  seine  Berufsgeschäfte  mit  gewohntem  Eifer;  aber  seine  eingefallenen 
Züge  und  seine  totbleiche  Gesichtsfarbe  verrieten  den  fortschreitenden  körper- 
lichen Verfall.  Im  April  1902  fühlte  sich  M.  wieder  sehr  leidend  und  wurde 
von  schweren  asthmatischen  Anfällen  heimgesucht. 

Um  Erholung  zu  finden,  übersiedelte  er  am  19.  Mai  mit  seiner  Familie 
in  den  Badeort  Vöslau  bei  Wien,  wo  er  im  Hotel  Back  Wohnung  nahm. 
Am  Abende  dieses  Tages  wurde  er  plötzlich,  nachdem  er  eben  mit  gutem 
Appetite  gespeist  und  mit  einem  seiner  Söhne  eine  Partie  Schach  gespielt 
hatte,  von  Atemnot  befallen  und  stürzte  bewußtlos  zusammen.  Der  rasch 
herbeigerufene  Vöslauer  Badearzt,  Dr.  Krischke,  konnte  nur  noch  den  ein- 
getretenen Tod  feststellen;  M.  war  einem  Herzschlag  erlegen.  Sein  Leichen- 
begängnis, das  am  22.  Mai  in  Wien  stattfand,  gab  Zeugnis  von  der  allge- 
meinen Verehrung  und  Beliebtheit,  deren  er  sich  erfreut  hatte;  mehr  als 
200  Kränze  schmückten  seine  Bahre,  und  Tausende  von  Leidtragenden 
begleiteten  ihn  zu  seiner  letzten  Ruhestätte.  M.,  der  als  Jude  geboren  war,  ist 
auch  als  Jude  gestorben;  er  hatte  die  größten  bis  dahin  in  der  Monarchie 
dagewesenen  finanziellen  Konversionen  geleitet,  aber  zu  einer  religiösen 
Konversion  war  er  nicht  zu  bewegen  gewesen,  obgleich  oder  vielleicht  gerade 
weil  ein  Glaubenswechsel  ihm  manchen  Stein  des  Anstoßes  aus  dem  Wege 
geräumt  hätte,  und  er  auch  den  Schein  meiden  wollte,  als  mache  er,  der 
Geschäftsmann,  Geschäfte  mit  seiner  Überzeugung. 

M.  war  von  mittlerer  Größe  und  von  gedrungenem,  kräftigem  Körper- 
baue; sein  Gesicht  war  bis  zu  seiner  schweren  Erkrankung  voll  und  von 
gesunder  Farbe;  das  Haar  und  der  starke  wohlgepflegte  Schnurrbart,  der  ihm 
fast  das  Aussehen  eines  Offiziers  in  Zivil  gab,  waren  in  seinen  jungen  Jahren 
dunkel,  aber  frühzeitig  ergraut,  die  Augen  blau  und  von  sehr  freundlichem 
Ausdruck.  Ein  wohlgetroffenes  Bild  M.s  brachte  die  österreichische  Illu- 
strierte Zeitung  in  ihrer  Nummer  vom  25.  Mai  1902. 

Im  persönlichen  Verkehre  war  M.  von  außerordentlicher  Liebenswürdig- 
keit und  einer  bei  Bankdirektoren  nicht  immer  vorkommenden  Bescheidenheit; 
gegen  seine  Untergebenen  wohlwollend  und  gerecht.  Er  war  in  der  Kredit- 
Anstalt  über  die  Köpfe  einer  Menge  von  Vordermännern  hinweg  vom  kleinen 

Bio^r.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.   9.  Bd.  27 


AiS  ^'on  Mauthner. 

Beamten  bis  zum  leitenden  Direktor  aufgestiegen  und  hatte  lange  Jahre  das 
Personalreferat  in  der  Anstalt  geführt,  zwei  Tatsachen,  von  denen  jede  für 
sich  allein  gewöhnlich  schon  hinreicht,  um  den  Betreffenden  bei  der  Beamten- 
schaft mindestens  nicht  beliebt  zu  machen;  bei  M.  war  dies  jedoch  anders: 
die  Trauer  um  ihn  war  unter  den  Beamten  der  Kredit-Anstalt  allgemein,  und 
aus  eigenem  Antriebe  veranstaltete  die  Beamtenschaft  ihrem  hingeschiedenen 
Chef  am  24.  Mai  1902  im  Vestibüle  des  Anstaltsgebäudes  eine  würdige 
Totenfeier. 

M.s  liebenswürdiges  Wesen,  sein  durch  und  durch  vornehmer  Charakter 
hatten  ihm  viele  Freunde  in  allen  Kreisen  der  Gesellschaft  erworben ;  er  war 
ein  häufiger  Gast  bei  den  Hochwildjagden  des  Chefs  des  Wiener  Hauses 
Rothschild,  des  Freiherrn  Albert  von  Rothschild.  Ein  besonders  freundschaft- 
licher Verkehr  hatte  sich,  seit  die  Boden-Kredit-Anstalt  der  Rothschildgnippe 
beigetreten  war,  zwischen  M.  und  dem  Direktor  der  Boden- Kredit- Anstalt, 
Theodor  Ritter  von  Taussig,  entwickelt;  an  schönen  Tagen  konnte  man  die 
beiden  Bankgewaltigen  häufig  miteinander  in  den  Straßen  der  Stadt  lust- 
wandeln sehen,  und  wohl  manches  große  Geschäft  mag  so  in  peripatetischer 
Weise  konzipiert  worden  sein. 

M.  war  ungemein  musikalisch,  ein  großer  Freund  der  Oper,  der  selten 
eine  Premiere  versäumte.  Die  Musik  bildete  neben  der  Jagd  und  dem  Berg- 
sport —  er  war  ein  tüchtiger  Tourist  und  begeisterter  Naturfreund  —  vor- 
nehmlich seine  Zerstreuung.  Auch  für  die  schöne  Literatur  hatte  er  ein 
großes  Interesse;  der  vielbeschäftigte  Finanzmann  fand  nicht  nur  Zeit,  sich 
mit  allen  hervorragenden  Werken  der  Dichtkunst,  aus  denen  er  gerne  zu 
zitieren  pflegte,  vertraut  zu  machenj  er  war  auch  selbst  poetisch  tätig.  Aufler 
einer  Menge  formschöner  lyrischer  Gedichte  hat  M.  auch  2  Theaterstücke 
geschrieben:  ein  Schauspiel  »Der  moderne  Timon«,  dessen  Tendenz  sich  — 
charakteristisch  für  M.  —  gegen  die  Anbetung  des  goldenen  Kalbes  kehrt, 
und  ein  Lustspiel  »Die  mißglückte  Kur« ;  diese  beiden  Dramen  ließ  er  im 
eigenen  Verlag  als  Manuskript  drucken,  sie  sind  jedoch  nicht  im  Buchhandel 
erschienen,  die  Exemplare  wurden  von  M.  nur  an  seine  intimsten  Freunde 
verteilt.  Als  Fachschriftsteller  hat  sich  M.  durch  eine  Reihe  von  Zeitungs- 
artikeln, von  denen  die  meisten  in  der  »Neuen  Freien  Presse«  erschienen  sind, 
bekannt  gemacht. 

M.  war  seit  1879  mit  Helene  Weiß  von  Weißenhall,  der  Tochter  des 
früheren  Vorsitzenden  Direktors  und  späteren  Präsidenten  des  Verwaltungs- 
rates der  Kredit-Anstalt,  Karl  Weiß  Ritter  von  Weißenhall,  vermählt  gewesen. 
Aus  dieser  Ehe,  die  sich  sehr  glücklich  gestaltete,  entstammen  drei  Söhne 
und  eine  Tochter.  Das  Familienleben  M.s  war  ein  außerordentlich  inniges; 
seine  Familie  ging  ihm  über  alles,  in  ihrem  Kreise  suchte  und  fand  er  nach 
der  aufreibenden  Arbeit  des  Tages  am  liebsten  seine  Erholung. 

M.  war  wohl  kein  bahnbrechender  Geist  auf  dem  Gebiete  des  Bank- 
wesens, er  hatte  nicht  die  Genialität  und  den  weiten  Blick  Lucams  und  nicht 
die  Vielseitigkeit  Hopfens,  auch  der  stürmische  Tatendrang  und  der  kühne 
Wagemut  seines  Kollegen  von  der  Boden-Kredit-Anstalt,  des  Direktors  Taussig, 
waren  seinem  ruhigeren  Wesen  fremd ;  aber  er  besaß  im  höchsten  Grade  das, 
was  die  Franzosen  don  sens  nennen:  gesunden  Menschenverstand  und  prak- 
tische  Klugheit;   er  war    die  verkörperte    kaufmännische    Anständigkeit    und 


von  Mauthner.     Lohmeyer.  410 

Solidität.  Gerade  diese  Eigenschaften  ihres  leitenden  Direktors  waren  aber 
für  die  Kredit- Anstalt  und  damit  für  die  ganze  Bankwelt  Österreich-Ungarns 
in  den  Jahren  nach  der  großen  Krise  von  1873,  durch  die  das  Vertrauen  in 
das  gesamte  Bank-  und  Aktienwesen  aufs  tiefste  erschüttert  worden  war,  wert- 
voller, als  es  himmelstürmende  Genialität  gewesen  wäre.  Das  Ansehen  der 
Kredit-Anstalt  im  Auslande  beruhte  mit  auf  dem  Zutrauen,  das  man  der 
Persönlichkeit  M.s  entgegenbrachte.  »Wir  waren  seit  vielen  Jahren  auf  die 
finanziellen  Auslassungen  und  Maßnahmen  Gustav  M.s  in  Würdigung  seines 
Genies  gespannt  hinzuhorchen  gewohnt,  weil  wir  in  seinen  Urteilen  und  Hand- 
lungen die  höchste  finanz wirtschaftliche  Klugheit  der  Österreichisch-Ungari- 
schen Monarchie  verkörpert  sahen«,  so  schrieb  der  »Hannoverische  Courier« 
in  seiner  Nummer  vom  24.  Mai  1902.  Während  der  langen  Dauer  seiner 
Direktionsführung  war  M.  in  Wahrheit,  wie  er  sich  wohl  auch  gerne  nennen 
hörte,  »der  gute  Hausgeist  der  Kredit- Anstalt«. 

Friedrich  Schmid. 


Lohmeyer,  Julius, <)  Schriftsteller,  •  6.  Oktober  1835  zu  Neiße,  f  24.  Mai 
1903  zu  Charlottenburg.  —  L.  war  der  Sohn  eines  Apothekers.  Er  verlebte  als 
Knabe  eine  glückliche  reiche  Jugend.  Sein  Vater  war  ein  Mann  von  hervor- 
ragender Begabung  und  besonders  naturwissenschaftlicher  Bildung,  der  mit 
größtem  Eifer  die  Entdeckungen  und  Erfindungen,  vor  allem  auf  galvanisch- 
elektrischem Gebiet,  welche  die  vierziger  und  fünfziger  Jahre  brachten, 
verfolgte.  Sein  Arbeitszimmer  glich  einem  chemisch -physikalischen  Ka- 
binett. Er  trat  mit  Gauß  und  Weber  in  Göttingen,  Steinheil  in  München, 
den  großen  Erfindern  jener  Tage,  in  Verbindung  und  erbaute  damals  den 
ersten  elektromagnetischen  Telegraphen  in  Preußen  (siehe  offizieller  Bericht 
für  Post  und  Telegraphie).  Vor  allem  als  Botaniker  und  Sammler  auf  ver- 
schiedenen Naturgebieten  bereiste  er  seine  Heimatsprovinz,  stets  von  seinen 
beiden  Söhnen  begleitet,  die  mit  allen  erdenklichen  Fangapparaten  für  ihre 
ansehnlichen  Naturaliensammlungen  beladen  waren. 

Julius  L.  sollte  die  väterliche  Apotheke  übernehmen  und  wurde  von 
einem  Freunde  seines  Vaters  in  diesen  Stand  eingeführt.  Seine  Neigungen 
aber  gingen  schon  von  der  Schülerzeit  an  auf  Dichtung  und  Literatur.  Er 
studierte  Naturwissenschaft  und  übernahm  nach  abgelegtem  Staatsexamen  die 
königl.  Hofapotheke  in  Elbing. 

Als  Festspiel-  und  politischer  Dichter  trat  er  in  jener  Zeit  mit  dem 
»Kladderadatsch«  in  Verbindung,  an  dem  er  im  nationalen  Sinne  seit  1866 
mitarbeitete  und  wurde  1868  von  Ernst  Dohm  in  die  Redaktion  berufen. 
L. 'machte  sich  vor  allem  in  den  Kriegsjahren  1870/71  durch  seine  vater- 
ländischen Gedichte,  die  jetzt  vielfach  in  Sammlungen  und  Schulbücher  über- 
gegangen sind,  bemerkbar  (Kriegsgedenkbuch  des  »Kladderadatsch«,  2.  Auf- 
lage) mit  seinem  Freunde  Johannes  Trojan. 

1872  begründete  er  das  nationale  Jugendwerk  »Deutsche  Jugend«,  unter 
Mitwirkung  namhafter  Dichter  und  Künstler,  vor  allem  Joh.  Trojan,  Victor 
Blüthgen,  Frida  Schanz.  Hermann  Kletke  u.  a.,  ein  Werk,  das  während  seines 


»)  Totenliste  1903  Band  VIII  71*. 

27* 


A20  Lohmeyer. 

fast  25jährigen  Bestehens  einen  weitgehenden  Einfluß  auf  die  gesamte  Jugend- 
literatur nach  der  künstlerisch-poetischen  Richtung  hin  ausübte  und  besonders 
höchste  Anerkennung  in  den  Kreisen  der  pädagogischen  Welt  fand,  auch 
von  Seiten  des  Unterrichtsministeriums  als  »Muster  der  Jugendliteratur« 
empfohlen  wurde.  War  doch  die  Jugendliteratur  bis  zu  jener  Zeit  mit 
wenigen  Ausnahmen:  Gull,  Hey,  Robert  Reinick,  dem  trockensten  Dilettantis- 
mus verfallen  gewesen;  vor  allem  förderte  die  »Deutsche  Jugend«  und  die 
aus  dieser  hervorgegangene  Jugendliteratur  wieder  Humor,  Phantasie,  poetisch- 
künstlerischen Geschmack  und  Sinn  für  technisch  edlere  Form  in  des  Kindes 
Seele.  Denn  auch  bedeutende  Künstler  wandten,  angeregt  durch  L.s 
Bestrebungen,  der  deutschen  Jugendliteratur  ihre  Meistergaben  zu.  —  In 
den  Jahren  bis  1885  gab  L.  eine  Reihe  von  mehr  als  20  Kinderbüchern  mit 
namhaften  Künstlern,  vor  allem  Fedor  Flinzer,  mit  dem  er  eine  ganze  Reihe 
beliebt  gewordener  Bücher  schuf,  Oskar  Fletsch,  Paul  Thumann,  Carl  Rohling, 
Woldemar  Friedrich,  Herman  Vogel,  Paul  Mohn,  Alexander  Zick  heraus, 
die  wohl  z^  dem  schönsten  gehören,  was  die  künstlerische  Kinderliteratur 
hervorgebracht  hat,  und  an  Robert  Reinicks  Jugendkalender  und  Ludwig 
Richters  köstliche  Schöpfungen  anknüpften.  Wir  nennen  unter  diesen :  »Unser 
Hausglück«,  »Fragemäulchen«,  »Komische  Tiere«,  »König  Nobel«,  »Kater 
Murr«,  »Lachende  Kinder«,  »Die  Prinzenreise«,  »Die  Reise  ins  Meer«,  »So 
gehts  in  der  Welt«  (»Sprechende  Tiere«  3.  Teil),  »Sonnenscheinchen«,  »Fahrt 
zum  Christkind«  erschienen  in  großen  Auflagen.  Außerdem  L.s  Jugend- 
erzählungen »Junges  Blut«  und  »Jugendwege  und  Irrfahrten«  (Union,  Stutt- 
gart, 2.  Auflage),  »Bunter  Strauß«  (Geibel  &  Humblot).  In  jene  Zeit  fällt 
auch  die  Begründung  von  »Julius  Lohmeyers  Vaterländischer  Jugendbücherei« 
(F.  J.  Lehmann  in  München),  die  von  einer  großen  Reihe  namhafter  Patrioten 
unterstützt  und  gefördert  wurde. 

L.s  Bestrebungen,  die  Anschauungswelt  in  der  Jugend  zu  pflegen,  leiteten 
ihn  zu  der  Herausgabe  der  Wandtafeln  für  den  historischen  Unterricht  (i — 24), 
der  Bilder  zum  Neuen  Testament  (i  — 12)  und  schließlich  mit  seinem  Freunde 
Felix  Dahn  zu  der  Veröffentlichung  von  Anschauungsbildern  aus  deutscher 
Sage  und  Götterlehre. 

Mehr  und  mehr  wandte  sich  L.s  Interesse  der  Popularisierung  der  Kunst 
zu.  Seine  bei  den  großen  Berliner  Künstlerfesten  zur  Aufführung  gelangten 
bei  Georg  Stilke  und  später  in  Meyers  Volksbüchern  erschienenen  Künstler- 
festspiele: »Albrecht  Dürer«,  »Die  Malerhölle«,  »Tizian«  u.  a.  und  eine  große 
Reihe  von  Kunstartikeln  leiteten  diese  Periode  seines  Schaffens  ein,  die  1880 
zur  Herausgabe  der  Studienmappen  deutscher  Meister  (i — 12  CT.  Wiskott) 
führte,  an  denen  Ludwig  Knaus,  Adolf  Menzel,  Franz  Defregger,  Ludwig 
Passini,  Geselschap,  Paul  Meyerheim  und  andere  namhafte  Künstler  sich 
beteiligten.  In  den  neunziger  Jahren  erschienen  seine  »Gedichte  eines  Opti- 
misten« (Liebeskind,  Leipzig),  »Auf  Pfaden  des  Glücks«,  Lebenssprüche 
(Georg  Wiegand,  Leipzig),  die  Novellenbände  »Die  Bescheidenen«  (Carl 
Reißner,  Dresden)  und  »Wir  leben  noch«  (Adolf  Bonz  &  Co.,  Stuttgart), 
»Humoresken«  (3.  Auflage,  G.  Grotes  Verlag),  »Kinder-Lieder  und  Reime« 
(L.  Fernau,  Leipzig),  »Der  Stammhalter«,  Lustspiel. 

Seine  immer  wachsenden  Beziehungen  zu  vielen  unserer  ersten  Künstler, 
zu  Schriftstellern  und  Männern  der  Wissenschaft  fanden  ihren  umfassendsten 


Lohmeyer.     Haffner.  a2  I 

Ausdruck  in  der  Schöpfung  des  großen  Gedenkwerkes  »Das  Goldene  Buch  des 
deutschen  Volkes  an  der  Jahrhundertwende«  (J.  J.  Weber,  Leipzig),  das  eine 
Gesamtüberschau  namhaftester  Fachmänner  über  deutsche  Kultur  unter  Vor- 
führung der  Hauptvertreter  unter  den  Lebenden  auf  allen  Gebieten  des 
Staates,  der  Wissenschaft,  der  Technik,  Literatur  und  Kunst  in  Bild,  Wort 
und  biographischer  Charakteristik  bietet. 

Als  die  vaterländische  Bewegung  sich  vor  allem  auf  Anregung  Kaiser 
Wilhelm  IL  der  Schaffung  einer  starken  Seemacht  zuwandte,  begründete  L. 
zur  Unterstützung  der  von  den  Gegenparteien  bedrohten  zweiten  Flotten- 
vorlage die  seinerzeit  vielgenannte  »Freie  Vereinigung  für  eine  starke  deutsche 
Flotte«  (sogenannte  Professorenvereinigung),  unter  deren  Mitgliedern  die 
erlauchtesten  Männer  in  Wissenschaft,  Literatur,  Kunst  und  Technik  als 
Kronzeugen  für  die  Notwendigkeit  einer  Vermehrung  und  Stärkung  deutscher 
Seemacht  eintraten.  Im  Verfolg  dieser  Bestrebungen,  vor  allem  auch  für  die 
Jugend,  als  der  Zukunft  unseres  Volkes,  ließ  L.  die  Sammlungen  »Zur  See 
m6in  Volk!«,  See-  und  Flottenlieder  und  Meerespoesien  (Breitkopf  &  Haertel), 
»Unter  dem  Dreizack«  (Velhagen  &  Klasing),  »Auf  weiter  Fahrt«  (Dieterichsche 
Verlagsbuchhandlung,  Th.  Weicher),  Selbsterlebnisse  deutscher  Seeoffiziere 
und  Kolonialtruppenführer,  folgen.    Von  Letzterem  erschienen  vier  Bände. 

Seine  gesamten  nationalen  Bestrebungen  faßte  er  seit  Herbst  1901  in  der 
»Deutschen  Monatsschrift  für  das  gesamte  Leben  der  Gegenwart«  zusammen, 
einer  nationalen  Revue  großen  Stiles,  welche  die  ersten  Männer  der  Literatur 
und  Wissenschaft  unter  ihre  Mitarbeiter  zählt  und  als  eine  Hochwarte 
deutscher  Kultur  im  nationalen  Sinne  immer  breiteren  Fuß  in  den  Kreisen 
unserer  Gebildeten  faßt. 

Nach  dem  Tode  des  Dichters  erschien:  Julius  Lohmeyer,  Gesammelte  Dichtungen, 
von  seiner  Gattin  herausgegeben,  mit  einem  Vorwort  von  Viktor  Blüthgen  und  dem  Bildnis 
des  Verstorbenen.  Verlag  von  W.  Vobach  &  Co.,  Berlin -Leipzig.  —  Gedächtnisrede  für 
Julius  Lohmeyer  von  Prof.  v.  Soden  und  Hof-  und  Gamisonsprediger  Johannes  Keßler, 
Charlottenburg  27.  Mai  1903.  —  Die  von  Lohmeyer  begründete  Literarische  Vereinigung 
in  Berlin,  der  Verein  »Berliner  Künstler«  und  die  Stadt  Charlotten bnrg  stifteten  ein  Grab- 
denkmal mit  dem  Relief  des  Dichters.  Auch  wurde  eine  neue  Straße  in  der  Nähe  des 
Charlottenburger  Schlosses  »Lohmeyerstraße«  benannt.  R.  R. 

Halfner,  Traugott,')  Stadtschultheiß  von  Marbach  a.  N.,  ♦  24.  Juni  1853, 
f  24.  Juni  1903.  —  Nach  dem  Besuch  der  Lateinschule  seiner  Vaterstadt 
Marbach  wandte  sich  H.  der  Notariatslaufbahn  zu.  Von  1877  — 1883  Polizei- 
kommissär in  Ludwigsburg,  wurde  er  1883  zum  Stadtschultheißen  (Bürger- 
meister) von  Marbach  gewählt.  Dieses  Amt,  in  welchem  er  überaus  segens- 
reich gewirkt  hat,  brachte  es  mit  sich,  daß  ihm  auch  die  Obhut  über  Schillers 
Geburtshaus  mit  seinen  Reliquien,  Handschriften  und  Bildnissen  anvertraut 
war.  In  der  Hauptsache  waren  diese  Schillererinnerungen  im  Jahre  1859  in 
das  damals  aus  Privatbesitz  erworbene  Schillerhaus  gestiftet  worden,  besonders 
von  den  Nachkommen  Schillers;  in  den  folgenden  Jahrzehnten  war  nur  hin 
und  wieder  noch  ein  Stück  hinzugekommen.  Die  erste  wirkliche  Bereicherung 
seit  1859  erfuhren  sie,  als  im  Jahre  1890  die  Erben  von  Schillers  Schwieger- 

»)  Totenliste  1903  Band  VIII  45*. 


422 


Haffner. 


tochter  aus  dem  Nachlaß  von  Schillers  ältestem  Sohn  Karl  zwölf  Familienbild- 
riisse  nach  Marbach  stifteten,  darunter  die  von  Ludovike  Simanowiz  während 
Schillers  Aufenthalt  in  Schwaben  (1793/94)  gemalten  Bildnisse  Schillers  und 
seiner  Frau.  Einen  weiteren  Ansporn,  diesen  Besitz  an  Bildnissen  und  Hand- 
schriften zu  mehren,  gab  H.  die  aus  Anlaß  des  vierten  Deutschen  Neu- 
philologentages in  Stuttgart  vom  Württembergischen  Verein  für  neuere 
Sprachen  während  der  Pfingstwoche  1890  veranstaltete  Ausstellung  von  Hand- 
schriften, Bildnissen  usw.  schwäbischer  Dichter,  in  der  Schiller  besonders  reich 
vertreten  war.  Ihr  ist  die  Anregung  zu  einem  Museum  und  Archiv  der  schwä- 
bischen Dichter  überhaupt  zu  verdanken,  das  dauernd  vereinigen  sollte,  was 
hier  vorübergehend  zu  sehen  war.  H.  suchte  die  ihm  durch  diese  Ausstellung 
bekannt  gewordenen  Bildnisse  und  Handschriften  Schillers  aus  dem  Privat- 
besitz für  Marbach  zu  gewinnen;  an  käufliche  Erwerbungen  Von  Bedeutung 
konnte  der  von  ihm  geleitete,  seit  1835  bestehende  Marbacher  Schillerverein 
jedoch  nicht  denken.  Da  fand  H.  durch  Vermittlung  des  Dichters  J.  G.  Fischer 
in  dem  Geh.  Kommerzienrat  Dr.  Kilian  v.  Steiner  in  Stuttgart  einen  frei- 
gebigen Förderer  seiner  Bestrebungen.  Auf  Schillers  Todestag  1891  machte 
dieser  zum  erstenmal  eine  Stiftung  von  Handschriften  nach  Marbach,  der  in 
den  nächsten  Jahren  weitere,  äußerst  wertvolle  Zuwendungen  von  Hand- 
schriften und  seltenen  Drucken  folgten.  Diese  umfangreichen  Vermehrungen 
führten  mit  Notwendigkeit  zu  dem  Gedanken,  für  die  in  den  unzureichenden 
Räumlichkeiten  des  Schillerhauses  angesammelten  Schätze,  die  dort  nicht 
feuersicher  bewahrt  und  nicht  entsprechend  aufgestellt  werden  konnten,  ein 
besonderes  Gebäude  zu  erstellen,  ein  Ziel,  dessen  Verwirklichung  über  die 
Kräfte  des  kleinen  Marbacher  Schillervereins  weit  hinausging. 

Bei  wiederholten  Besuchen  in  Marbach  hatte  König  Wilhelm  11.  von 
Württemberg  mit  großer  Freude  von  dem  raschen  Anwachsen  und  der  erhöhten 
Bedeutung  der  Sammlungen  des  Schillerhauses  Kenntnis  genommen.  In  einem 
Handschreiben  vom  8.  Mai  1895  an  H.  erklärte  es  der  König  »für  eine  Pflicht 
und  Aufgabe  des  ganzen  Landes,  das  den  Ruhm  genießt,  die  Heimat  Friedrich 
Schillers  zu  sein,  das  Werk,  welches  seine  Geburtsstadt  begonnen  hat,  in  einer 
der  Bedeutung  Schillers  entsprechenden  Weise  weiterzuführen  und  zu  vollenden.« 
König  Wilhelm  II.  gab  die  Anregung  zur  Umbildung  des  Marbacher  Schiller- 
vereins zu  einem  Schwäbischen  Schillerverein,  der  außer  der  Erstellung  eines 
Museumsgebäudes  und  Fortführung  der  Sammlungen  alles  in  den  Kreis  seiner 
Bestrebungen  ziehen  sollte,  »was  die  Verbreitung  der  Kenntnis  der  Schöpfungen 
und  der  Persönlichkeit  Schillers  wie  der  Wirkungen,  die  er  auf  die  geistige,  sitt- 
liche und  patriotische  Entwicklung  des  deutschen  Volkes  hervorgebracht  hat,  in 
irgend  einer  Weise  zu  fördern  vermag«.  Die  Anregung  des  Königs,  der  sich 
als  erstes  Mitglied  des  Schwäbischen  Schillervereins  einzeichnete  und  das 
Protektorat  über  denselben  übernahm,  fand  freudigen  Widerhall  und  opfer- 
willige Förderer  weit  über  Württemberg  und  das  Deutsche  Reich  hinaus. 
Schon  im  Mai  1901  konnte  der  Grundstein  zum  Schillermuseum  gelegt  werden, 
das  sich  dem  1876  enthüllten  Standbild  des  Dichters  gegenüber  erheben 
sollte.  Als  stellvertretender  Vorsitzender  und  Schriftführer  des  Schwäbischen 
Schillervereins  war  der  ebenso  bescheidene  wie  tatkräftige  H.  im  Verein  mit 
den  beiden  Vorsitzenden,  Kabinettschef  Frhr.  v.  Griesinger  und  Geh. 
Kommerzienrat  Dr.  v.  Steiner,  unermüdlich  tätig,  selbst  als  ein  beginnendes 


Haffner.     Volkmann. 


423 


Leiden,  das  ihn  hin  und  wieder  aufs  Krankenlager  warf,  ihm  die  Arbeit 
überaus  erschwerte.  Er  hatte  die  Freude,  daß  Dank  der  Liberalität  Steiners 
und  anderer  Freunde  der  Sache  neben  zahlreichen  auf  Schiller,  seine  Familie 
und  seinen  Kreis  bezüglichen  Handschriften  auch  der  ganze  im  Besitz  von 
Uhlands  Erben  befindliche  Nachlaß  dieses  Dichters,  der  von  Justinus  Kemer, 
Gustav  Schwab  und  Berthold  Auerbach,  der  Hauff-Köllesche  Nachlaß  und 
eine  große  Anzahl  von  Handschriften  und  Briefen  anderer  schwäbischer 
Dichter  dem  alten  Marbacher  Grundstock  in  rascher  Folge  hinzuwuchsen. 
Auf  den  Tag,  der  für  die  Einweihung  des  mit  einem  Kostenaufwand  von 
rund  260000  Mark  erstellten  Schillermuseums  in  Aussicht  genommen  war, 
den  8.  Mai  1903,  verlieh  ihm  der  König  von  Württemberg  die  große  goldene 
Medaille  für  Kunst  und  Wissenschaft  am  Band  des  Friedrichsordens;  die 
Einweihung  selbst  aber  mußte  auf  den  10.  November  verschoben  werden, 
besonders  auch  mit  Rücksicht  auf  eine  neue  Erkrankung  H.s.  Am  24.  Juni 
1903,  seinem  50.  Geburtstag,  erlag  er  seinem  schweren  Leiden,  bis  in  die 
letzten  Tage  beschäftigt  mit  dem  Werk,  mit  dem  sein  Name  unlösbar  ver- 
knüpft bleiben  wird.  Seine  Züge  bewahrt  das  Ölgemälde,  welches  von  dem 
dankbaren  Marbach  zu  dauerndem  Gedächtnis  des  um  seine  Vaterstadt  hoch- 
verdienten Mannes  auf  die  hundertste  Wiederkehr  von  Schillers  Todestag  in 
das  Schillermuseum  gestiftet  wurde. 

Wenn  auch  eigene  literarische  Tätigkeit  ihm  ferne  lag,  so  war  H.  im 
Laufe  der  Jahre  doch  mit  allem,  was  Schiller  betrifft,  aufs  beste  vertraut 
worden  und  hat  mehr  als  einen  Schillerforscher  durch  Nachweise  und  anderes 
aufs  uneigennützigste  unterstützt.  Richard  Weltrich,  auf  dessen  Anregung  hin 
er  mit  großem  Erfolg  um  die  Aufhellung  von  Schillers  Stammbaum  bemüht 
war,  hat  darum  (Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung  vom  2.  März  1899,  Nr.  51) 
H.  mit  vollem  Recht  einen  Mann  genannt,  »dessen  wissenschaftlichem  Eifer, 
zuverlässiger  Sachkenntnis  und  treuer,  selbstloser  Hingabe  die  Schiller- 
forschung manchen  schätzenswerten  Aufschluß  verdankt.« 

Otto  Güntter. 


Volkmann,  Diederich,i)  Geheimer  Regierungsrat  und  Rektor  a.  D.  der 
kgl.  preuß.  Landesschule  Pforta,  ♦13.  September  1838  in  Bremen,  f  13.  Juli 
1903  in  Tabarz.  —  Sohn  eines  Bremer  Gymnasiallehrers,  wandte  sich  V. 
selbst  1857  durch  das  Studium  der  klassischen  und  deutschen  Philologie  in 
Bonn  und  Breslau  —  1861  promovierte  er  —  der  Lehrerlauf  bahn  zu;  er  be- 
gann sie  Michaelis  1861  an  der  Landesschule  Pforta  und  beschloß  sie  an 
derselben  Schule  37  Jahre  später;  nur  wenige  Jahre  wirkte  er  an  andern 
Schulen:  vom  Sommer  1873  bis  Herbst  1874  war  er  Direktor  des  Gymnasiums 
in  Görlitz,  von  da  an  bis  zum  August  1878  des  Elberfelder  Gymnasiums. 
Im  Oktober  1878  kehrte  er  als  Rektor  nach  Pforta  zurück  und  hat  20  Jahre 
lang  die  Landesschule  in  segensreicher  Tätigkeit  geleitet,  bis  zunehmende 
Nervosität  ihn  veranlaßte,  Herbst  1898  in  den  Ruhestand  zu  treten.  Er  zog 
nach  Jena,  wo  er  erst  aufs  erfreulichste  sich  zu  erholen  schien,  dann  aber, 
kurz  vor  Abschluß   einer  mit  regstem   Eifer  wieder  aufgenommenen   wissen 


1)  Totenliste  1903  Band  VIII  117*. 


424 


VolkmaDn. 


schaftlichen  Arbeit,  im  Beginn  des  Jahres  1900  nervösem  Siechtum  anheim- 
fiel, das  ihm  nur  selten  erlaubte  sich  von  der  Lagerstatt  zu  erheben.  Im 
Juli  1903  suchte  er  Erleichterung  in  dem  Thüringer  Waldort  Tabarz;  dort 
erlag  er  wenige  Tage  nach  seiner  Ankunft  einer  hinzugetretenen  Lungen- 
entzündung. Verheiratet  war  V.  seit  1866  mit  Clementine  Breslau,  Schwester 
des  nachmaligen  Oberbürgermeisters  von  Erfurt;  von  seinen  fünf  Söhnen  hat 
sich  der  zweite,  seit  1894  Offizier  der  südwestafrikanischen  Schutztruppe,  1904 
ganz  besonders  verdient  gemacht  bei  der  Bekämpfung  der  aufrührerischen 
Hereros. 

Aus  der  kurzen  Darlegung  des  äußerlich  so  einfach  verlaufenen  Lebens- 
ganges erhellt,  daß  von  Vs.  Tätigkeit  sprechen  davon  sprechen  heißt,  wie  er 
an  der  Landesschule  Pforta  gewirkt  hat.  Als  V.  in  Pforta  eintrat,  waren  so 
ausgeprägte  Persönlichkeiten  an  ihr  tätig,  wie  der  Geschichtsforscher  Carl 
Peter,  der  Platoniker  Steinhart,  der  Literaturhistoriker  Koberstein,  der 
Sprachforscher  Corssen  u.  a.  mehr,  denen  von  Wilamowitz-Moellendorff  in 
der  Vorrede  zu  seinen  Reden  und  Vorträgen  einen  den  Schreiber  wie  die  zu 
Rühmenden  gleichmäßig  ehrenden  Nachruf  geschrieben  hat;  als  er  Pforta 
verließ,  lehrten  dort  Männer,  die  pädagogisch  den  erstgenannten  nicht  nach- 
standen, didaktisch  ihnen  gewiß  überlegen  waren,  aber  doch,  dem  nivellierenden 
Zuge  der  Zeit  gemäß,  nicht  einen  so  tiefgreifenden  Einfluß  auszuüben  ver- 
mochten wie  jene  Lehrer  des  gelehrten  von  Wilamowitz.  V.  war  es  gewiß 
nicht  zu  Dank,  daß  er  selbst  mitwirken  mußte,  dem  Drange  der  Zeit  nach 
Vielseitigkeit  im  Lehrplan  der  alten  Schule  nachzugeben  und  so  manche 
Eigentümlichkeit  —  ich  nenne  z.  B.  die  lateinische  Versifikation  —  aufzu- 
geben. An  den  durch  das  Alter  bewährten  eigenartigen  Einrichtungen  des 
Alumnats  ließ  er  aber  nicht  rütteln,  ohne  sich  freilich  Änderungen  im  ein- 
zelnen und  wirklichen  durch  neue  Anschauungen  gegebenen  Besserungen  zu 
verschließen;  im  besonderen  war  die  in  das  Alumnatsleben  wie  den  Lehr- 
plan gleichmäßig  eingreifende  Einrichtung  des  „Studientages**  (eines  den 
Schülern  in  jeder  Woche  zur  Privatlektüre  besonders  in  den  klassischen  Sprachen 
freigegebenen  Tages  ohne  Unterrichtsstunden)  ein  von  ihm  mit  Erfolg  ver- 
teidigtes AW/  tne  tangere.  Als  Leiter  der  Schule  wollte  er,  wie  er  selbst  ein- 
mal sagte,  seine  L^ntergebenen,  jedem  seine  Eigenart  lassend,  nur  auf  das 
gemeinsame  Wohl  der  Schule  „stimmen".  Vielleicht  hätte  er  in  manchen 
Fällen,  bei  Lehrern  wie  Schülern,  kräftiger  zufassen  können,  vielleicht  hätte 
er  seine  Abneigung  gegen  die  vielen  Formalien,  gegen  die  ärgerlichen  Be- 
richte an  die  vorgesetzte  Behörde,  die,  wie  sonstige  unangenehme  Arbeiten, 
öfter  über  Gebühr  liegen  blieben  (und  die  er  doch  so  meisterhaft  und,  wenn 
die  Zeit  drängte,  so  schnell  abzufassen  wußte),  mit  größerer  Energie  be- 
kämpfen sollen;  aber  der  Mann,  als  Ganzes  in  seinem  Tun  und  Lassen  ge- 
nommen, war  doch  ein  ganz  hervorragender  Rcctor  Portensls.  Eine  hoch  auf- 
geschossene, schlanke  Gestalt,  das  Gesicht  umrahmt  von  frühzeitig  ergrautem, 
frühzeitig  weiß  gewordenem,  kurzem  Vollbart,  das  Auge  Milde  und  Wohl- 
wollen blickend,  strahlte  er  eine  natürliche  Würde  aus,  der  sich  jeder 
beugte,  und  zugleich  eine  Liebenswürdigkeit,  die  das  Herz  aller,  die  zu  ihm 
in  nähere  Beziehung  treten  durften,  gewann.  Ihm  war  nichts  so  zuwider, 
wie  sich  in  Pose  zu  setzen;  er  ließ  im  Verkehr  mit  dem  Jüngsten  wie 
dem  Ältesten  so  gar  nicht  den  Vorgesetzten  fühlen;  doch  kam  es  darauf  an, 


Volkmann.     Buchner.  ^2  5 

SO  wußte  er,  namentlich  nach  oben  hin,  den  Standpunkt  des  Rector  Portensis 
mit  vollem  Bewußtsein  zu  vertreten.  Wie  V.  in  den  Tagen  der  Gesundheit  im 
gern  aufgesuchten  geselligen  Kreise  ein  vorzüglicher  Erzähler  war  voll  ent- 
zückenden Humors,  der  doch  nie  verletzte,  so  war  er  auch  bei  den  vielen 
Gelegenheiten,  die  seine  Stellung  zu  öffentlichem  Auftreten  bot,  ein  aus- 
gezeichneter Redner,  zumal  wenn  er  frei  sprach;  seine  vorbereiteten  und  ab- 
gelesenen Reden  waren  trefflich,  aber  zuweilen  etwas  akademisch.  Aber 
sonderbar:  derselbe  Mann,  welcher,  ob  er  nun  Schülern  eine  Strafrede  zu 
halten  hatte  oder  ob  er  vor  großer  auserwählter  Corona  die  Jahrhunderte 
alte  Schule  vertrat,  kaum  je  ein  Wort  gesprochen  hat,  das  er  oder  andere 
nachher  ungesprochen  zu  wünschen  nötig  hatten,  derselbe  Mann  ängstigte 
sich  vor  jedem  solchen  Auftreten,  und  eine  unbedeutende  Tischrede,  die  er 
halten  sollte,  konnte  ihm  den  Schlaf  rauben.  Als  im  Jahre  1893  das  350- 
jährige  Jubiläum  der  Schulpforte  bevorstand,  war  V.  vor  Aufregung  über  die 
ihm  dabei  als  Rektor  bevorstehenden  Aufgaben  geradezu  krank  und  kaum 
noch  arbeitsfähig;  und  wie  hat  er  doch  nachher,  als  er  vor  den  vielen 
hunderten  von  studierten  Leuten  den  glückwünschenden  Ansprachen  nun  zu 
antworten  hatte,  das  meisterlich  zu  tun  verstanden,  voll  Würde  und  voll  Humor, 
in  herzlicher  Einfachheit  und  doch  getragen  von  dem  Bewußtsein,  daß  er  an 
historischer  Stätte  sprach !  Es  liegt  wohl  auf  demselben  Felde,  wenn  der  über- 
zeugte Anhänger  des  klassischen  Altertums,  der  seinen  Anschauungen  auch 
auf  der  Dezemberkonferenz  in  Berlin  1890  unumwundenen  Ausdruck  gab, 
der  feinsinnige  Philologe,  der  in  alten  wie  neuen  Sprachen  vielseitige  und 
tiefgehende  Kenntnisse  und  überzeugende  Urteilskraft  besaß,  nur  wenig  und 
nichts  von  größerer  Bedeutung  veröffentlicht  hat;  er  konnte  auch  da  nicht 
zu  rechter  Zeit  den  Abschluß  finden,  war  mit  dem  Erreichten  nicht  zu- 
frieden; und  als  er  im  Ruhestande  endlich  mit  seinen  Arbeiten  über  die 
Scriptores  rerum  Alexandri  Magni  kurz  vor  der  Fertigstellung  zum  Druck  stand, 
da  nahm  ihm,  tragisch  genug,  lähmende  Krankheit  die  Feder  für  immer  aus 
der  Hand. 

V.  war  begeisterter  Patriot,  ein  mit  Herz  und  Mund  seinem  Bismarck 
und  seinen  Königen  ergebener  Mann,  aber  —  ein  Sohn  einst  der  Republik 
Bremen  —  ein  freier  Mann  und  abhold  jedem  Anflug  von  Byzantinismus; 
er  war  ein  herzensfrommer  Christ  und  regelmäßiger  Kirchgänger,  aber  feind 
jedem  Zurschaustellen  äußerer  religiöser  Formen  und  leerem  Gepränge  und 
jedem  Übergriff  der  Kirche  ins  weltliche  Gebiet. 

Vgl.  Ecce  der  Landesschule  Pforta  1903  (von  H.  Schreyer)  und  danach  Bursians 
Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der  klass.  Altertumswissenschaft,  Bd.  123  (Biogr.  Jahrb.), 
S.  1—9.  Max  Hoffmann-Pforta. 

Buchner,  Otto,*)  Kunsthistoriker,  *  25.  August  1869  in  Krefeld,  f  18.  August 
1903  in  Erfurt.  —  Er  besuchte  das  Realgymnasium,  später  das  Gymnasium 
seiner  Heimatstadt  und  trat  aus  der  Sekunda  1886  bei  der  Firma  G.  D.  Bädeker 
in  Essen  ein,  um  sich  als  Buchhändler  auszubilden.  Nach  Abschluß  der 
Lehrzeit  fand  B.  1889  bis  1893  Anstellung  bei  der  Verlagsgesellschaft  »Union« 
in  Stuttgart,  war  hierauf  vorübergehend  Privatsekretär  bei  Fr.  v.  Lipperheide 


»)  Totenliste  1903  Band  VIII  i8*. 


A26  Buchner.     Oldenbourg. 

in  Tirol  und  dann  wieder  in  Halle  a.  d.  Saale  und  Krefeld  als  Buchhändler 
tätig.  Im  Jahre  1895  gab  er  seinen  bisherigen  Beruf  auf  und  ward  in  Solingen 
bis  1898  Redakteur  der  »Solinger  Zeitung«.  Da  erwachte  in  ihm  eine 
unbezwingliche  Neigung  zu  den  Kunstdenkmälem  vergangener  Zeiten  und  ver- 
anlaßte  den  Neunundzwanzigjährigen  abermals  zu  einschneidendem  Berufswech- 
sel. Als  Student  der  Kunstgeschichte  trat  er  1898  an  der  Universität  München 
wiederum  in  die  Reihen  der  Anfänger.  In  Berlin  und  Jena  setzte  er  seine 
Studien  fort  und  schloß  sie  1902  in  Heidelberg  ab  mit  einer  hervorragenden 
Doktordissertation  über  »Die  mittelalterliche  Grabplastik  in  Nord-Thüringen 
unter  besondrer  Berücksichtigung  der  Erfurter  Denkmäler«  (in  erweiterter 
Form  zu  Straßburg  bei  Heitz  erschienen).  Von  Ostern  1902  bis  dahin  1903 
nahm  B.  als  Gehilfe  von  Prof.  Paul  Weber  in  Jena  an  der  Einrichtung  des 
dortigen  städtischen  Museums  teil  und  wandte  sich,  als  diese  Arbeit  vollendet 
war,  nach  Weimar,  wo  er  sich  sogleich  in  die  Bau-  und  Kunstdenkmäler  der 
Stadt  vertiefte  und  Stoff  zu  Vorträgen  darüber  sammelte.  Die  Leiter  der 
kunstgeschichtlichen  Ausstellung^  die  im  Herbst  1903  in  Erfurt  stattfand,  be- 
riefen ihn  Anfang  August  d.  J.  nach  Erfurt  als  Hilfsarbeiter  bei  Vorbereitung 
und  Anordnung  der  Ausstellung.  Mitten  in  dieser  Tätigkeit  wurde  B.  von 
einer  hitzigen  Krankheit  befallen,  die  seinem  hoffnungsvollen  Leben  am 
18.  August  frühzeitig  ein  rasches  Ende  setzte;  die  Feuerbestattung  fand  in 
Eisenach  statt.  Außer  der  Doktorarbeit  erschienen  von  B.,  und  zwar  zumeist 
erst  nach  seinem  Tode,  verschiedene  gehaltvolle  Abhandlungen,  nämlich  in 
der  »Zeitschrift  für  christliche  Kunst«  1903!:  »Über  die  gravierten  Grab- 
platten im  Erfurter  Dom«;  »Über  den  sogenannten  Wolfram  und  die  älteren 
Bronzekunstwerke  des  Erfurter  Domes«;  »Über  Tiersymbolik  in  der  christ- 
lichen Kunst«;  »Liturgische  Saugröhrchen«;  und  in  den  »Mitteilungen  des 
Erfurter  Geschichtsvereins«  eine  umfängliche  Arbeit  über  den  »Severisarkophag 
zu  Erfurt  und  seinen  Künstler,  samt  Übersetzung  der  yUa  et  translatio  Sancti 
Scveri^, 

Mitteilungen  der  Familie.  —  Vita  in  der  Dissertation.  —  Leipz.  Illustr.  Zeitiing  1903 
Nr.  121  S.  334.  —  Overmann  im  Erfurter  »Allgemeinen  Anzeiger«  vom  21.  August  1903.  — 
Möller  in  der  Zeitung  »Deutschland«  (Weimar)  Nr.  232  vom  25.  August  1903,  zweites  Blatt. — 
Mitteilungen  des  Erfurter  Geschichtsvereins  XXV  S.  VII.  P.  Mitzschke. 

Oldenbourg,  Rudolf,^)  ♦  15.  Dezember  181 1  zu  Leipzig,  f  lo-  Oktober  1903 
in  München,  Verlagsbuchhändler  und  Buchdruckereibesitzer,  Begründer  der 
unter  der  Firma  seines  Namens  in  München  (mit  Zweigniederlassung  in  Berlin) 
bestehenden  angesehenen  Verlags-  und  Buchdruckereifirma,  Inhaber  des  kgl. 
bayer.  Verdienstordens  vom  hl.  Michael  4.  Klasse.  —  O.  war  der  Sohn  des 
Leipziger  Großhändlers  Georg  Martin  Oldenbourg  und  dessen  Ehefrau  Karo- 
line geb.  Lübeck,  einer  Tochter  des  Hofgerichtsadvokaten  Lübeck  zu  Weimar. 
Die  Vorfahren  seines  Vaters  lebten  in  Hannover,  in  der  Gegend  von  Hoya 
an  der  Weser.  O.  besuchte  das  Nikolaigymnasium  in  Leipzig.  Der  Aufent- 
halt in  der  Stadt  des  Buchhandels  mag  ihm  die  Anregung  gegeben  haben, 
sich  auch  seinerseits  auf  diesem  Gebiete  zu  versuchen.  Jedenfalls  trat  er 
1827  als  15^/1  jähriger  Jüngling  in  eine  Buchhandlung  in  Lübeck  ein,  um  den 


»)  Totenliste   1903  Band  VIII  83*. 


Oldenbourg.  4.2  7 

Buchhandel  zu  erlernen.  Hatte  er  während  seiner  fünfjährigen  Lehrzeit  nicht 
selten  Veranlassung,  über  die  Behandlung  zu  klagen,  der  er  sich  nach  den 
strengen  Anforderungen  der  damaligen  Zeit  ausgesetzt  sah,  so  gestaltete  sich 
sein  Leben  um  so  angenehmer,  als  er  1832  zur  Übernahme  einer  Gehilfenstelle 
in  der  bekannten  Frommannschen  Buchhandlung  nach  Jena  ging.  Hier  ver- 
brachte er  fast  anderthalb  Jahre.  Als  er  aus  dem  Frommannschen  Kreise 
schied,  ließ  der  buchhändlerische  und  geistige  Ertrag  jener  Jahre  erkennen, 
wie  gut  er  seine  Zeit  zu  nützen  verstanden  hatte. 

Er  wandte  sich  nun  nach  London,  wo  er  durch  Vermittlung  eines  Leip- 
ziger Freundes  eine  Anstellung  in  einer  Buchhandlung  erhalten  hatte,  deren 
Inhaber  ein  Deutscher  war.  Das  Geschäft  war  bei  seinem  Eintritt  im  ent- 
schiedenen Niedergang  begriffen  und  deshalb  nicht  dazu  angetan,  ihm  ein 
längeres  Verweilen  darin  wünschenswert  erscheinen  zu  lassen.  Da  ihm  auch 
sonst  das  englische.  Geschäftsleben  keine  Befriedigung  gewährte,  so  ergriff 
er  die  erste  sich  ihm  darbietende  Gelegenheit,  um  nach  Deutschland  zurück- 
zukehren. 

Wieder  in  der  Heimat,  war  es  zunächst  die  Buchhandlung  von  Schmerber 
in  Frankfurt  a.  M.,  die  ihm  anregende  und  lohnende  Beschäftigung  bot.  Diese 
Stellung  war  wohl  an  sich  schon  eine  solche,  wie  sie  seinen  damaligen 
Wünschen  und  Neigungen  am  meisten  entsprach.  Eine  ganz  besondere  Be- 
deutung sollte  sie  aber  für  ihn  dadurch  erhalten,  daß  sie  ihm  den  Eintritt 
in  die  große  Cottasche  Buchhandlung  in  Stuttgart  vermittelte  und  damit 
seiner  Laufbahn  endgültig  Richtung  und  Ziel  wies. 

Eine  Annäherung  an  das  Cottasche  Geschäft  zu  suchen,  war  O.  durch 
seinen  Prinzipal  und  Freund  Schmerber  selbst  veranlaßt  worden,  der  die 
latenten  Kräfte  in  ihm,  die  ihn  zu  einer  Wirksamkeit  im  größeren  Betriebe 
befähigten,  früh  wahrgenommen  und  sich  vorgesetzt  hatte,  ihm  die  Möglich- 
keit zu  ihrer  Verwertung  zu  verschaffen.  Dank  dieser  Unterstützung  erreichte 
er  es,  daß  die  Cottasche  Buchhandlung  ihn  1836  zum  Geschäftsführer  ihres 
Münchener  Zweiggeschäftes,  der  literarisch-artistischen  Anstalt,  ernannte. 

In  München  sah  er  sich  einem  umfangreichen  Pflichtenkreise  gegenüber. 
Man  hatte  ihm  neben  den  rein  buchhändlerischen  Angelegenheiten  auch  die 
Wahrnehmung  der  geschäftlichen  Interessen  der  »Augsburger  Allgemeinen 
Zeitung«,  eines  weiteren  großartigen  Unternehmens  des  Cottaschen  Verlages, 
anvertraut.  Wie  viele  Reisen  hat  er  in  jenen  Tagen  nicht  nach  Stuttgart 
und  Augsburg  unternommen,  um  in  mündlicher  Aussprache  zu  ordnen,  was 
sich  schriftlich  nicht  so  rasch  und  so  gründlich  hätte  erledigen  lassen!  Es 
würde  hier  zu  weit  führen,  alle  Unternehmungen  aufzuzählen,  die  damals 
vorwiegend  durch  ihn  ins  Leben  gerufen  wurden.  Nur  einer  der  größten 
mag  gedacht  werden: 

Im  Jahre  1843  gründete  er  die  Bibelanstalt  der  Cottaschen  Buchhandlung. 
Den  neuen  Geschäftszweig  wußte  er  in  kurzer  Zeit  so  zu  entwickeln,  daß  er 
lange  eine  Quelle  beträchtlichen  Gewinns  blieb,  an  dem  er  partizipierte,  da 
er  für  diesen  Geschäftszweig  inzwischen  Handlungsgesellschafter  der  Firma 
geworden  war. 

Man  sollte  meinen,  daß  eine  so  weit  verzweigte  Tätigkeit,  zu  der  sich 
noch  die  tägliche  Not  der  kleinen  Aufgaben  des  laufenden  Geschäftes  ge- 
sellte,   O.   völlig  beansprucht  hätte.     Das  war  jedoch  keineswegs  der  Fall. 


428  Oldenbourg. 

Er  fand  noch  die  Zeit,  im  Jahre  1858  ein  weiteres  Geschäft  zu  eröffnen  und 
mit  Billigung  der  übrigen  Gesellschafter  unter  der  Firma  seines  Namens  für 
eigene  Rechnung  zu  betreiben.  Durch  dieses  legte  er  den  Grund  zu  seinem 
später  so  großen  Verlage. 

Der  erste  Verlagsartikel,  der  seine  Firma  trug,  war  das  heute  noch 
blühende  und  im  hohen  Ansehen  stehende  »Journal  für  Gasbeleuchtung  und 
Wasserversorgung«.  Der  mit  diesem  Unternehmen  eingeschlagenen  Richtung 
ist  sein  Verlag  immer  treu  geblieben,  auch  als  später  noch  andere  Materien 
in  den  Bereich  der  Verlagstätigkeit  gezogen  wurden.  Es  ist  O.  als  ein  be- 
sonderes Verdienst  anzurechnen,  daß  er  als  einer  der  ersten  deutschen  Ver- 
leger das  Aufblühen  der  technischen  Wissenschaften  in  Deutschland,  das 
etwa  um  jene  Zeit  einsetzte,  richtig  erkannte  und  buchhändlerisch  zu  verwerten 
wußte,  wie  außer  der  genannten  Zeitschrift  auch  noch  andere  Unternehmungen 
technischen  Charakters  bezeugen,  die  auf  seine  Anregung  hin  entstanden. 

Unterdessen  hatte  zunehmende  Kränklichkeit  in  dem  Hauptinhaber  der 
Cottaschen  Buchhandlung,  dem  Freiherrn  Georg  von  Cotta,  den  Wunsch 
nach  möglichster  Verringerung  der  auf  ihm  ruhenden  Geschäftslast  entstehen 
lassen.  Als  daher  die  Münchener  Niederlassung  der  Firma  in  der  Zeit  von 
1860 — 1868  aufgelöst  wurde,  erwarb  O.  ansehnliche  Teile  von  ihrem  Verlag 
und  führte  sie  seinem  eigenen  Geschäfte  zu,  indem  er  unter  völliger  Be- 
schränkung seiner  Wirksamkeit  auf  dieses  zugleich  endgültig  aus  der  Cotta- 
schen Buchhandlung  ausschied. 

Durch  die  Erwerbungen  aus  dem  Cottaschen  Verlage  vermehrte  O.  die 
Zahl  seiner  Unternehmungen  so  beträchtlich,  daß  sein  Geschäft  schon  von 
dem  Augenblicke  an,  wo  es  allein  für  sich  auftrat,  zu  den  größeren  seiner 
Art  gezählt  werden  mußte.  Es  immer  weiter  auszubauen  und  der  Größe 
entgegenzuführen,  in  der  es  heute  eine  Zierde  des  deutschen  Buchhandels 
bildet,  blieb  von  nun  an  seine  stete  Sorge.  Er  erwarb  zu  diesem 
Zwecke  1873  die  Pustetsche  Buchdruckerei,  übernahm  das  Jahr  darauf  den 
bayer.  Zentral-Schulbücherverlag  und  gründete  in  den  Jahren  1883/ 1884  eine 
eigene  Groß-Buchbinderei.  Alle  diese  großangelegten  Unternehmungen,  die 
die  weitgehendsten  Anforderungen  an  sein  Können  stellten,  wußte  er  in  der 
geschicktesten  Weise  einzuleiten  und  durchzuführen.  Die  wichtigste,  aber 
auch  die,  die  ihm  die  meiste  Mühe  verursachte,  war  dabei  wohl  die  An- 
gliederung  des  umfangreichen  Schulbücherverlages  an  seine  Firma. 

Hand  in  Hand  mit  diesem  mehr  kaufmännischen  Wirken  ging  seine 
eigentliche  verlegerische  Tätigkeit.  Ihr  waren  neben  anderen  Werken  Unter- 
nehmungen wie  die  30  Bände  umfassende  naturwissenschaftliche  Volksbibliothek 
»Die  Naturkräfte«,  die  in  62  Bänden  erschienenen  drei  Sammlungen  »Novellen- 
schatz«, Baumeisters  Denkmäler  des  klassischen  Altertums  und  in  neuerer 
Zeit  H.  V.  Sybels  siebenbändige  Geschichte  der  Begründung  des  Deutschen 
Reiches  durch  Wilhelm  I.  zu  danken.  Von  diesen  wiederum  beansprucht 
wohl  das  zuletzt  genannte  Werk  die  größte  Beachtung,  jedenfalls  war  es  die- 
jenige Unternehmung,  die  O.  mit  besonderer  Genugtuung  erfüllte,  und  die 
ihm  in  der  Art  ihres  literarischen  und  buchhändlerischen  Eindruckes  den 
Abend  seines  Lebens  verschönte. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  O.  zu  den  geistigen  Größen  Münchens 
beinahe  von  Beginn  seines  Aufenthaltes  in  dieser  Stadt  an  in  rege  Beziehungen 


Oldenhourg.  4-0 

getreten  war.  Emanuel  Geibel,  Justus  v.  Liebig,  die  Mehrzahl  der  bedeuten- 
den Männer,  die  König  Max  IL*  von  Bayern  um  sich  vereinigte,  Paul  Heyse, 
Leuthold  und  viele  andere  waren  seine  Freunde,  ebenso  die  großen  Gelehrten 
Martius,  Pettenkofer,  Sybel  und  Voit,  die  ihm  auch  als  Autoren  seines  Ver- 
lages nahe  standen.  Das  Band  treuer  Freundschaft,  das  ihn  mit  Heinrich 
V.  Sybel  verknüpfte,  wurde  erst  durch*  dessen  Tod  gelöst. 

Dies  der  äußere  Rahmen,  in  dem  sein  den  Zeitraum  von  fast  80  Jahren 
umspannendes  Berufsleben  sich  bewegte.  Welche  inneren  Kräfte  seines 
Wesens  waren  es  nun,  die  ihn  befähigten,  in  der  geschilderten  Weise  erfolg- 
reich tätig  zu  sein?  Sicherlich  vor  allen  sein  durchdringender  Verstand, 
seine  durch  nichts  zu  lähmende  Tatkraft  und  seine  strenge  Rechtschaffenheit. 
Aus  dem  ersterwähnten  erwuchs  ihm  der  scharfe  Überblick  über  große  Ver- 
hältnisse im  Leben  und  in  der  Literatur  und  die  klare  Einsicht  in  das  Wesen 
der  Dinge.  Die  Vereinigung  beider  aber  schützte  ihn  vor  Fehlgriffen,  indem 
sie  ihm  das  richtige  Augenmaß  für  die  Faktoren  gab,  mit  denen  er  bei  seinen 
Unternehmungen  zu  rechnen  hatte.  Während  dann  seine  Tatkraft  ihn  zu 
festen  Entschlüssen  und  zum  Handeln  führte,  war  es  hauptsächlich  seine 
Rechtschaffenheit,  die  ihm  den  guten  Ruf  gründete  und  das  Vertrauen  seiner 
Autoren  erwarb. 

Erscheint  O.  so  bereits  als  eine  bestimmt  ausgeprägte  Persönlichkeit, 
als  ein  offener  und  zuverlässiger  Charakter,  so  werden  einige  weitere  Züge 
seines  Wesens  diesen  Eindruck  noch  vertiefen.  Er  war  von  großer  Treue 
gegen  alle,  die  ihm  näher  getreten  waren.  Besonders  schön  zeigte  sich  das 
in  seinem  Verhältnis  zu  seinen  Angestellten.  Hier  betonte  er  stets,  daß  jeder, 
der  in  seinem  Hause  tätig  sei  und  seine  Pflicht  tue,  mit  dem  Gefühl  erfüllt 
werden  müsse,  daß  er  ein  sicheres  Unterkommen  gefunden  habe.  Zu  rühmen 
ist  ferner  die  hohe  Auffassung,  mit  der  er  seinem  Beruf  gegenüberstand. 
Sie  ließ  erkennen,  daß  er,  wenn  er  als  guter  Geschäftsmann  auch  zunächst 
darauf  aus  war,  finanziell  realisierbare  Werte  zu  schaffen,  doch  höhere  Inter- 
essen als  das  bloße  Geldverdienen  hatte.  In  diesem  Zusammenhange  sei 
auch  des  regen  Eifers  gedacht,  mit  dem  er  bis  in  das  höchste  Alter  hinein 
das  unermeßliche  Kapital  idealer  Bildung  zu  mehren  sich  angelegen  sein 
ließ,  das  sich  ihm  schon  in  den  Tagen  fröhlicher  Jugend  tief  in  Herz  und 
Geist  gesenkt  hatte. 

In  seiner  äußeren  Erscheinung  war  O.  ein  kräftiger,  über  die  mittlere 
Größe  hinausragender  Mann  mit  gut  entwickelten  Gesichtszügen  unter  einer 
in  der  Jugend  dunklen,  später  weißen  Haarfülle  und  mit  kurzgehaltenem 
Backenbart.  Seine  Bewegungen  waren  energisch,  und  bei  der  Unterhaltung, 
die  er  durch  geistvolle  Bemerkungen  zu  beleben  wußte,  ließ  auch  das  Spiel 
seiner  Mienen  seinen  beweglichen  und  lebhaften  Geist  erkennen.  Nach  Be- 
tätigung und  Anerkennung  im  öffentlichen  Leben  zu  streben,  lag  ihm  fern; 
er  hat  öffentliche  Ämter  mit  Ausnahme  des  eines  Handelsappellrichters  und 
verschiedener  Ehrenämter  im  Dienste  des  Börsenvereins  der  deutschen  Buch- 
händler stets  abgelehnt.  Politisch  hielt  er  zur  liberalen  Flagge  in  München, 
ohne  indessen  als  Parteimann  hervorzutreten.  Staunenswert  war  das  Interesse, 
das  er  noch  in  hohen  Jahren  für  Menschen  und  Dinge  an  den  Tag  legte. 
Die  sinnliche  Frische  und  Lebenskraft  des  Jünglings  waren  auch  dem  Greise 
fast  ungeschwächt  erhalten  geblieben. 


^.^o  Oldenbourg.     von  Polens. 

Sein  Lebensbild  wäre  unvollständig,  wollte  man  nicht  auch  seines 
Familienlebens  Erwähnung  tun.  Hier  war  er  ganz  Mensch  und  hier  kannte 
er  nur  den  einen  Ehrgeiz,  ein  liebevoller  Gatte  und  treusorgender  Vater  zu 
sein.  Er  hatte  sich  am  6.  Juni  1843  mit  Emilie  Blochmann,  einer  Tochter 
des  weitbekannten  Pädagogen  Dr.  Karl  Blochmann  in  Dresden,  verheiratet. 
Mit  ihr,  dem  Vorbild  einer  deutschen  Hausfrau,  ist  er  mehr  als  60  Jahre  in 
glücklichster,  mit  vier  Söhnen  und  fünf  Töchtern  gesegneter  Ehe  vereinigt 
gewesen.  Nichts  Reizvolleres  ließ  sich  denken,  als  ihn  im  letzten  Jahrzehnt 
seines  Lebens  bei  größeren  Familienfesten  inmitten  der  Seinigen  zu  sehen. 
Wie  ein  Patriarch  alter  Zeiten  war  er  da  von  seiner  Gattin,  seinen  Kindern, 
Enkeln  und  Urenkeln  umgeben.  Nach  Menschenlos  hat  es  ihm  dann  frei- 
lich auch  an  schwerem  Leid  nicht  gefehlt:  zwei  verheiratete  Töchter  und 
eine  verheiratete  Enkelin  sah  er  vor  sich  ins  Grab  sinken. 

So  hat  er  bis  kurz  vor  seinem  Ende  gelebt.  Erst  als  der  Tod  sich  ihm 
nahte,  fand  er  einen  müden  Mann;  während  er  noch  seinen  90.  Geburtstag 
in  voller  geistiger  und  körperlicher  Rüstigkeit  unter  ehrender  Teilnahme  des 
bayerischen  Herrscherhauses  und  weiter  Kreise  der  Bürgerschaft  und  des 
Buchhandels  hatte  feiern  können,  war  dann  doch  nicht  allzu  lange  danach 
ein  merkliches  Schwinden  der  Kräfte  eingetreten.  Dann  ist  er  hingesunken 
wie  ein  welkes  Blatt,  das  der  Herbstwind  zur  Erde  hinabträgt,  wie  es  in  dem 
Nachruf  stimmungsvoll  heißt,  den  eine  große  Münchener  Zeitung  ihm  widmete. 

Unter  den  Segnungen,  die  ihm  im  Laufe  eines  langen  Lebens  zuteil 
geworden,  ist  nicht  die  geringste,  daß  er  in  seinen  Söhnen  treue  und  ver- 
ständnisvolle Mitarbeiter  fand.  Sie  führen  jetzt  sein  Lebenswerk  in  seinem 
Geiste  weiter,  indem  General-Konsul  und  Kommerzienrat  Rudolf  Ritter 
von  O.  und  k.  b.  Handelsrichter  Paul  O.  die  Verlagsabteilung  der  Firma 
leiten,  während  Kommerzienrat  Hans  O.  deren  technischen  Betrieben  vor- 
steht. Die  Firma  beschäftigt  zurzeit  ein  Personal  von  über  400  Beamten 
und  Arbeitern. 

Benutzte  Literatur:  Tag^eszeitungen  und  die  im  vorstehenden  größtenteils  wört- 
lich wiedergegebene  biographische  Einleitung  des  Verfassers  zum  Jahrgang  1905  des 
Offiziellen  Adreßbuches  des  Deutschen  Buchhandels,  das  auch  ein  sehr  gutes  Bild  (Kupfer- 
stich) Oldenbourgs  nach  einer  Photographie  aus  den  siebziger  Jahren  enthält. 

Max  Bierotte. 

Polenz,  Wilhelm  Christoph  Wolf  von,')  *  14.  Januar  1861  zu  Ober- 
Cunewalde  in  der  sächsischen  Oberlausitz  als  der  älteste  Sohn  des  Kammer- 
herm  und  Klostervogts  von  Polenz,  f  13.  November  1903  zu  Breslau.  — 
P.  stammt  aus  einem  alten  thüringisch -sächsischen  Adelsgeschlecht,  dessen 
historisch  verbürgte  Urkunden  bis  zum  Jahre  1180  zurückgehen;  bis  zum 
14.  Jahr  von  Hauslehrern  unterrichtet,  kam  P.  dann  in  das  Internat  des  »Vitz- 
thumschen  Gymnasiums«  zu  Dresden,  wo  Professor  Diestel,  ein  von  vielen 
Seiten  gerühmter  Pädagoge,  für  P.  von  Einfluß  wurde.  Im  Eltemhause  fand 
der  Knabe  besonders  bei  seiner  genial  veranlagten  Schwester  Hertha  Ver- 
ständnis, welche  auch  später  als  Schriftstellerin  mit  Erfolg  an  die  Öffentlich- 
keit trat.     Nach  Ablegung  des  Abiturientenexamens  diente  P.  zunächst  im 


»)  Totenliste  1903  Band  Vlll  87*. 


von  Polenz. 


431 


Dresdener  Gardereiterregiment,  dessen  Rittmeister  Moritz  von  Egidy  auf  P. 
starken  und  nachhaltigen  Eindruck  machte,  sein  Freiwilligenjahr  ab. 

Nach  Ablauf  des  Militärjahres  studierte  P.  mehr  seinem  Vater  zu  Liebe  als 
eigener  Neigung  folgend,  in  Breslau,  Berlin  und  Leipzig  Rechtswissenschaft.  In 
Berlin  wirkte  auf  P.,  der  auch  viele  außerhalb  seines  Fachs  liegende  Kollegien 
besuchte,  besonders  Heinrich  von  Treitschke.  Nach  Beendigung  seiner  Rechts- 
studien trat  P.  bei  dem  Dresdener  Gericht  als  Referendar  ein.  Immer  offener 
treten  jetzt  bei  dem  jungen  P.  literarische  Interessen  an  den  Tag,  die  ihm 
nicht  selten  aus  den  Kreisen  seiner  Geburt  offene  Anfeindung  eintragen.  Als 
P.  sich  mit  Emily  Beatrice  Robinson,  einer  jungen  Engländerin,  verlobt 
hatte,  trat  er  endgültig  aus  dem  Staatsdienst,  um  sich  nunmehf  ganz  der 
Literatur  zu  widmen.  Jetzt  ging  P.  nach  Berlin,  wo  er  auch  mit  dem 
Naturalismus  und  seinen  wichtigsten  Vertretern  in  Berührung  kam.  Hier  in 
Berlin  trat  P.  besonders  Moritz  von  Egidy  nahe,  dessen  Persönlichkeit  und 
dessen  Ideen  auf  den  jungen  Schriftsteller  von  großem  Einfluß  waren.  Bald 
zog  sich  P.,  für  das  Großstadtleben  nicht  geschaffen,  auf  das  väterliche  Land- 
gut Ober-Cunewalde  zurück,  das  er  dann  kurz  darauf  selbst  übernahm,  um 
es  bis  an  das  Ende  seines  Lebens,  das  fast  ausschließlich  der  Landwirtschaft 
und  freier  Schriftstellerei  gewidmet  war,  zu  verwalten.  Aus  seiner  Ehe  gingen 
vier  Kinder,  zwei  Knaben  und  zwei  Mädchen  hervor.  Noch  kurz  vor  seinem 
Tode  hatte  P.  noch  eine  eingehende  Studienreise  nach  Amerika  gemacht. 

Mit  dem  im  Jahre  1893  erschienenen  dreibändigen  Roman  »Der  Pfarrer 
von  Breitendorf«  errang  nun  Polenz  seinen  ersten  großen  Erfolg.  Das  in  den 
späteren  Auflagen  um  einen  Band  gekürzte  Werk  eröffnet  einen  aus  drei 
Romanen  bestehenden  Zyklus,  in  dem  P.  vorwiegend  das  ländliche  Leben 
seiner  Heimat  darstellt.  Im  »Pfarrer  von  Breitendorf«  wird  das  Ringen  eines 
Menschen  um  eine  feste  individuelle  Lebensanschauung  in  einer  Weise  dar- 
gestellt, die  P.  sogleich  als  hervorragenden  Psychologen  erkennen  läßt.  Es 
ist  ein  ethischer,  aber  kein  künstl^scher  Fehler,  daß  der  Held  des  Buches, 
ein  liberal  gesinnter,  von  unbezähmbarem  Wahrhaftigkeitsdrang  erfüllter 
Landgeistlicher,  zu  einer  festen  Weltanschauung  trotz  alles  Kämpfens  nicht 
kommt. 

Das  künstlerisch  Wertvollste  an  dem  »Pfarrer  von  Breitendorf«  ist  neben 
der  kulturellen  Bedeutung  der  darin  behandelten  Probleme  und  der  auftretenden 
Typen,  das  reiche,  warme  Innenleben  dieses  Pfarrers,  der  auf  der  Suche 
nach  Wahrheit  und  Menschen  in  die  Gefahr  kommt,  zugrunde  zu  gehen.  Die 
Wandlung,  die  Gerland  durchmacht,  läßt  sich  in  einem  Worte  ausdrücken: 
»Er  hat  die  negative  Seite  des  Christentums,  die  es  auf  eine  unerhörte 
Daseinsentwertung  abgesehen  hat,  überwunden  und  findet  Gott  von  neuem, 
nach  dem  er  sich  des  Freien  und  Göttlichen  in  sich  bewußt  geworden  ist. 
So  weicht  das  Christentum  der  Demut  bei  ihm  einem  Christentum  heiligen 
Stolzes,  und  aufrecht,  selbst  ein  Teil  Gottes,  verehrt  er  nun  den,  den  er 
vorher  im  Staube  seines  Angesichts  angebetet  hatte. 

Die  bedeutendste  Dichtung,  die  P.  überhaupt  geschaffen,  ist  der  nach 
dem  »Pfarrer  von  Breitendorf«  erschienene  Roman:  »Der  Büttnerbauer«.  Das 
Buch  gehört  in  die  Reihe  der  Werke,  die  wie  Immermanns  »Oberhof«,  Kleists 
»Michael  Kohlhaas«,  Otto  Ludwigs  »Erbförster«,  Dichtungen  spezifisch  männ- 
lichen Naturempfindens,  Natur  aus  erster  Hand  geben. 


432 


von  Polenz. 


Der  »Büttnerbauer«  schildert  den  langsamen,  aber  unabwendbaren  Verfall 
eines  bäuerlichen  Besitzes.    Es  ist  ein  hoher  künstlerischer  Vorzug,  dafi  P. 
hierbei  nichts  auf  den  Zufall  gestellt  hat,  und  daß  die  ganze  Geschichte  von 
einer  inneren,  unerbittlichen  Notwendigkeit  beherrscht  wird.    Traugott  Büttner 
geht  nicht  an  irgendwelchen  verhängnisvollen  Eigenschaften  zugrunde,  kein 
Unfall  beschleunigt  —  wie  so  oft  in  unseren  Romanen  —  das  Verhängnis, 
natürlich,  wie  ein  Tag  auf  den  andern,   reiht  sich  Glied  an  Glied,  bis   der 
Mann,  den  wir  gesund   und  aufrecht  kennen  lernten,  seinen  Hof  und  seine 
Heimat  im  Besitze  eines  intriguanten  Juden  sehend,  sich  erhängte.    Der  Unter- 
gang des  Bauern  hat  etwas  Typisches   und  erscheint  wie  ein  Ausschnitt  aus 
dem  Leben  der  Allgemeinheit.    Nicht  bei  allen  wird  der  Mund  im  Schmerze  so 
verstummen  wie  bei  diesem  Bauern,  aber  alle,  die  den  unerbittlichen  Gesetzen 
der  fortschreitenden  Natur  und  der  Geschichte  gegenüber  so  hartnäckig  auf 
dem  Boden  der  Tradition  und  des  Natürlichen   verharren,   müssen  so  oder 
ähnlich  zugrunde  gehen.     So  ist  der  »Büttnerbauer«  nicht  nur  die  Tragödie 
des  Bauern,  sondern  die  Tragödie   des  schlichten  Naturmenschen  überhaupt. 
Diejenigen,  die  auf  die  hohen  künstlerischen  Qualitäten  des  »Büttnerbauer« 
bei  seinem  Erscheinen  besonders  aufmerksam  gemacht  haben,  sind   Theodor 
Fontane  und  Leo  Tolstoi. 

Nach  dem  »Büttnerbauer«  erschien  als  Beschluß  des  großen  Tryptichon 
der  »Grabenhäger«,  dasjenige  Werk  des  Dichters,  in  welchem,  wenn  es  auch 
an  Bedeutsamkeit  dem  »Büttnerbauer«  nachsteht,  das  reichste  Leben  herrscht. 
Der  Roman  zeigt  uns,  wie  ein  leichtlebiger  und  flacher  Kavalier  von  zwei 
Seiten  noch  einmal  erzogen  und  zu  einem  andern  Menschen  gemacht  wird: 
durch  sein  Weib  und  die  tägliche  Pflichtübung,  die  die  Aufrechterhaltung 
seines  verschuldeten  Besitztums  erfordert.  Diese  Wandlung  wird  in  diesem 
Romane  meisterhaft  geschildert. 

Das  Leben  und  Treiben  auf  einem  großen  Rittergute  —  P.  hatte  zu 
diesem  Roman  eingehende  Studienreisen  nach  Ostelbien  unternommen  — 
ist  noch  nie  in  einem  deutschen  Roman  mit  solcher  Sachkenntnis  und  An- 
schaulichkeit geschildert  worden. 

Das  Künstlerische  aber  hat  bei  aller  Sachlichkeit  nicht  gelitten.  Die 
Menschen  auf  Grabenhagen  sind  vorzüglich  gezeichnet  und  ihre  Beziehungen 
zu  einander  mit  fast  Zolascher  Naturtreue  geschildert.  —  Nie  aber  verfällt  F. 
ins  Lüsterne.  Er  ist  offen  und  vorurteilsfrei  genug,  um  zuzugeben,  daß  es 
auch  in  den  Kreisen,  aus  denen  er  selbst  stammt,  nicht  allzuweit  her  ist. 
Mit  Interesse  sehen  wir  in  dem  so  wahrheitsgetreuen  Buche,  wie  der  Ritter- 
gutsbesitzerstand ebenso  wie  der  Kaufmann  in  der  Stadt  und  der  Industrielle 
heute  dem  Materialismus  verfallen  ist.  Geld  ist  hier  ebensosehr  der  angebetete 
Götze  als  irgendwo  anders.  Der  Geburtsadel  macht,  wie  die  Gestalt  und 
das  Gebahren  eines  reichen  Kommerzienrates  zeigt,  mit  dem  Geldadel  schon 
längst  gemeinsame  Sache. 

Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern 
ist  das  in  dem  Buche  behandelte  soziale  Problem.  So  hat  es  auch,  von  den 
künstlerischen  Qualitäten  abgesehen,  für  alle  Sozialethiker  fast  wissenschaft- 
lichen Wert.  —  So  stellen  diese  drei  großen  Romane  ein  Werk  von  kultur- 
historischer Bedeutung  dar.  Die  großen  Fragen  unserer  Zeit,  die  religiöse 
Frage,  die  Frage  nach  der  sozialen  Stellung  des  Arbeiters  und  des  Arbeit- 


von  Polenz. 


433 


gebers  sind  in  wenigen  deutschen  Erzählungen  unserer  Zeit  mit  so  viel  Sach- 
kenntnis und  ruhiger  Sachlichkeit  und  mit  so  wenig  aufdringlicher  Tendenz 
behandelt  worden. 

Von  den    noch  übrigen   drei  Erzählungen  großen  Stiles,  welche  P.  ge- 
schrieben  hat,    verdient   der   zweibändige    Roman    »Thekla   Lüdekind«    die 
ernsteste  Beachtung.     Er  führt   uns  seit  seinem  ersten  Roman  »Sühne«  zum 
ersten  Male  wieder  in  das  Leben  und  Treiben  des  Stadtlebens  hinein.    Auch 
hier  ist  P.  durchaus   zu  Hause,   auch  hier  bringt  er  —  P.  selbst  hat  ja  viele 
Jahre  in  der  Stadt  zugebracht  —  nur  Selbstbeobachtetes.     Aber  man  merkt 
wohl,  daß   er  hier  nicht  so  aus  dem  Vollen  schöpft  und  mit  dem  Milieu  so 
verwachsen  ist  wie  da,   wo  er  uns  auf  die  Dörfer  und   in  den  Wald  führt 
oder  mit  uns  durch  wogende  Kornfelder  schreitet.     Die  Frauenfrage  ist  der 
Inhalt  des  Romans.    Im  Mittelpunkt  steht  das  Leben  einer  Frau.    Nicht  um- 
sonst ist  der  Untertitel  dieses  Buches  »Geschichte  eines  Herzens«.    P.  offen- 
bart   in    diesem  Buche    eine  eindringende  Kenntnis  der  weiblichen  Psyche, 
wie  sie  unsere  modernen  Romanschriftsteller  selten  oder  fast  nie  aufzuweisen 
haben.     Es  ist  wahr,   daß  es  in   dem  Buche  vielfach  an  Temperament  fehlt. 
Wirklich  leidenschaftliche  Akzente  werden  kaum  angeschlagen.    Die  abgeklärte 
und   nie  aufdringliche  Art  indessen,  in  der  P.  hier  zur  Frauenfrage  Stellung 
nimmt,  entzieht  das  Buch  dem  Tendenziösen  und  verleiht  ihm  wieder,  wie 
den  Vorgängern,  kulturgeschichtlichen  Wert. 

Die  Philosophie,  die  P.  in  dem  Buche  predigt,  gipfelt  in  dem  Schluß- 
wort des  Romanes:  »Nicht  mit  dem  Kopfe  bauen  wir  unser  Leben,  sondern 
mit  dem  Herzen.«  Dieser  Satz  ist  für  alle  Wendungen  der  Erzählung  maß- 
gebend. Aber  gerade  die  Lebensgeschichte  Thekla  Lüdekinds  ist,  ohne 
daß  es  P.  beabsichtigt  hat,  ein  Beweis  dafür,  wie  sich  auf  dieser  Philosophie 
ein  glückliches  Leben  nicht  aufbauen  läßt.  Der  Weltanschauung,  der  P. 
in  diesem  Buche  Ausdruck  gegeben,  wird  nicht  jeder  beipflichten;  in 
psychologischer  Hinsicht  hingegen  ist  »Thekla  Lüdekind«  vielleicht  der  beste 
Frauenroman  unserer  realistischen  Schule. 

Nach  der  »Thekla  Lüdekind«  erschien  der  Roman  »Liebe  ist  ewig«. 
Er  spielt  in  der  bayrischen  Hauptstadt  und  führt  ebenfalls  ein  Frauenschicksal 
vor.  Das  Buch  ragt  weit  über  einen  Unterhaltungsroman  üblicher  Art  hinaus, 
stellt  aber  ebensowenig  wie  der  sehr  akademisch  gehaltene,  das  moderne 
Literatentum  nicht  immer  richtig  schildernde  »Wurzellocker«  einen  Fort- 
schritt in  dem  Schaffen  des  Dichters  dar.  Beide  Werke  bedeuten  wenig 
neben  den  epischen  Dichtungen,  die  uns  P.  bis  dahin  geschenkt  hatte.  Im 
Nachlasse  des  Dichters  hat  sich  indessen  ein  sehr  bemerkenswertes  Roman- 
fragment, »Glückliche  Menschen«,  vorgefunden,  welches  beweist,  daß  P.  bei 
längerer  Lebensdauer  wieder  den  Weg  zu  seiner  Kunst  gefunden  hätte,  welche 
weit  über  seinen  letzten  beiden  Romanen  stand. 

Neben  diesen  großen  epischen  Dichtungen  hat  P.  noch  eine  große  Reihe 
von  Erzählungen  und  Novellen  geschrieben,  unter  denen  die  Novelle  »Wald« 
und  die  Studie  »Versuchung«  besondere  Beachtung  verdienten.  Die  Novelle 
»Wald«,  sicher  die  künstlerisch  vollendetste  des  Dichters,  ist  eine  durch 
und  durch  deutsche  Herzens-  und  Seelengeschichte,  wie  sie  gerade  in  der 
modernen  deutschen  Novellenliteratur  ganz  einzig  dasteht.  Die  Heldin 
der    Erzählung    ist    die    von     unsern     Romanschriftstellern    immer    wieder 

Biofr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.    9.  Bd.  28 


A.2^  von  Polenz. 

dargestellte  »unverstandene«  Frau,  die  schließlich  ihrem  Gatten  und  ihrer  Pflicht 
untreu  wird,  um  sich  einem  andern  zu  ergeben.  Mit  großer  Künstlerschaft 
ist  geschildert,  wie  allmählich  die  Liebe  in  der  Seele  der  verbitterten  Frau 
erwacht,  welche  jahrelang  dumpf  und  gleichgültig  neben  ihrem  rauhen,  ver- 
schlossenen, ganz  in  seinem  Waidmannsberuf  aufgehenden  Gemahl  dahin- 
gelebt hat.  Der  Wald  aber  lebt  in  dieser  Novelle  wie  in  wenigen  anderen 
deutschen  Erzählungen. 

Außer  den  genannten  Novellen  hat  P.  noch  von  kleineren  Dichtungen 
eine  Sammlung  von  Dorfgeschichten  unter  dem  Titel  »Luginsland«  veröffent- 
licht. Auch  diese  anspruchslosen  Erzählungen  entbehren  poetisch  und  kultur- 
geschichtlich nicht  eines  gewissen  Wertes.  Der  stiernackige  Großbauer,  der 
»die  Glocken  von  Krummseif enbach«  stiftet,  wirkt  wie  eine  Zeichnung 
Leibls.  Die  prächtigste  Studie  des  Bandes  ist  aber  die  Schlußgeschichte 
»Zittelgust*s  Anna«. 

Auch  auf  dramatischem  Gebiet  hat  sich  P.  wiederholt  versucht.  Im 
Buchhandel  sind  drei  Dramen  von  ihm  erschienen,  das  vieraktige  Trauerspiel 
»Heinrich  von  Kleist«,  die  Tragödie  »Andreas  Bockhold t«  und  die  Dorf- 
tragödie »Junker  und  Fröner«.  »Heinrich  von  Kleist«  wurde  in  Dresden 
zur  Aufführung  gebracht.  Das  Stück  hatte  bei  dem  Publikum  einigen  Erfolg» 
wurde  aber  von  der  Kritik  mit  Recht  abgelehnt.  Als  psychologische  Studie 
hat  das  Stück  seinen  Wert,  als  Drama  hat  es  keine  Qualitäten.  Ganz  das- 
selbe gilt  von  dem  Trauerspiel  »Andreas  Bockholdt«,  das  zum  großen  Schmerze 
P.s  nie  aufgeführt  wurde.  Dies  Drama  steht  ganz  unter  dem  Einfluß  Egidys 
und  wurde  zu  der  Zeit,  als  P.  im  engsten  Verkehr  mit  diesem  stand,  konzipiert. 
Andreas  Bockholdt,  ein  vielbeschäftigter  Gefängnisarzt,  versucht  in  seinem 
Berufe  die  schöne,  aber  naive  Weltanschauung  Egidys  in  die  Tat  umzusetzen, 
und  tut  dies  mit  einer  Konsequenz,  die  ihn  in  mehr  tragikomische  als  tragische 
Situationen  bringt.  Die  bei  weitem  wertvollste  unter  den  dramatischen  Arbeiten 
P.s  ist  ohne  Zweifel  die  Dorftragödie  »Junker  und  Fröner«.  Hier  bietet  P. 
zum  ersten  Male  einen  ländlichen  Stoff  im  dramatischen  Gewände.  Aber 
nicht  der  moderne  Bauer,  sondern  der  Bauer  der  Fronzeit  wird  uns  vor- 
geführt. Das  Stück  spielt  um  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  zu 
einer  Zeit,  da  bereits  die  Aufklärung  in  voller  Blüte  stand  und  trotzdem  der 
deutsche  Bauer  formell  noch  Leibeigener  war.  In  diesen  Widerspruch  sind 
die  Repräsentanten  des  Junker-  und  Bauernstandes  hineingestellt.  Der  wackere 
Bauer  Christian  Noack  geht  im  Kampfe  um  sein  Recht  zugrunde.  In  diesem 
Stück  sind  wirkliche  Ansätze  zu  einer  echten  Tragödie  enthalten.  Besonders 
der  zweite  Akt  hat  ergreifende  Partien  und  ist  dramatisch  sehr  geschickt 
aufgebaut. 

Was  an  Gedichten  von  P.  vorliegt,  hat  einen  sehr  ungleichen  Wert.  Die 
ersten  Gedichte  waren  dem  Novellenbande  »Karline«  beigegeben.  Die  Ge- 
dichte dieses  Bandes  zeigen  neben  der  stark  erzieherischen  Tendenz,  die  fast  in 
jedem  Stücke  zum  Ausdruck  kommt,  einen  auffallenden  Mangel  an  lyrischem 
Schmelz  und  an  der  echten  Lyrikern  wie  Goethe,  Mörike  und  Heine  stets 
eigenen  Weichheit  in  der  Linienführung.  Aus  dem  Nachlaß  P.s  ist  indessen  ein 
Gedichtband  »Erntezeit«  veröffentlicht  worden,  der  poetisch  viel  wertvollere 
und  reifere  Dichtungen  enthält  als  der  Band  »Karline«.  P.s  letztes  Werk 
ist  »Das  Land  der  Zukunft«.     Es  ist  die  Frucht  seiner  eingehenden  Studien- 


von  Polens.     Niessen.  435 

reise  durch  Amerika  und  bietet,  da  sie  keine  Reisebeschreibung  gewöhnlichen 
Stiles  ist,  des  Interessanten  und  Fesselnden  genug,  um  speziell  in  der  Literatur 
über  Amerika  einer  der  bemerkenswertesten  Beiträge  zu  sein. 

Dr.  Heinrich  Ilgenstein. 

Niessen,  Wilhelm  (Joseph),  Bildhauer,  Architekt  und  Maler,  *  29.  Juni 
1827  zu  Köln  a.  Rhein,  f  ^T-  November  1903  in  München,  Sohn  des  Kauf- 
manns Anton  Niessen  und  dessen  Gattin  Rosa  Rebekka  Niessen,  verwitwete 
Euskirchen,  geb.  Bourscheidt.  —  N.  widmete  sich,  nach  Ableistung  des 
Militärdienstes,  unter  dem  seit  1845  in  Köln  tätigen  Dombiidhauer  Christian 
Mohr  der  Kunst,  übersiedelte  1850  an  die  Münchener  Akademie,  wo  er  bei 
Max  Widemann  die  Antike  studierte  und  seit  1852  bei  Xaver  Schwanthaler 
(dem  Vetter  des  am  28.  November  1848  verstorbenen  berühmten  Ludwig 
Schwanthaler)  an  der  Vollendung  der  Giebelgruppen  für  die  Propyläen  Ver- 
wendung fand.  Später  in  der  von  Jos.  Gabriel  Mayer,  (vgl.  Allg.  Deutsche 
Biographie«  1885,  XXI,  120)  gegründeten  und  heute  noch  unter  der  Direktion 
des  Kommerzienrates  Franz  Mayer  einen  wahren  Weltruf  genießenden  »Kunst- 
anstalt für  kirchliche  Arbeiten«  lieferte  N.  die  Modelle  zu  32  Figuren  und 
begründete,  seit  1855  selbständig  schaffend,  sein  eigenes  Atelier,  aus  welchem 
zahlreiche  Aufträge  hervorgingen,  u.  a.  eine  Madonnenstatue«  (in  Holz),  ein 
»Trauernder  Genius«  als  Grabdenkmal  (in  Bronze  ausgeführt),  die  Figuren 
der  vier  »Evangelisten«  und  die  Statuen  von  »Petrus  und  Paulus«  in  dem 
nach  M.  Bergers  Zeichnungen  durch  A.  Siekinger  (1807  und  1873)  für  die 
Münchener  Frauenkirche  ausgeführten  Hochaltar,  welcher  außerdem  von  Moritz 
von  Schwind  mit  Bildern  und  von  Jos.  Knabl  mit  plastischen  Gruppen  pracht- 
voll geschmückt  wurde.  Damals  hatte  der  Künstler  wohl  noch  keine  Ahnung, 
daß  er  in  demselben  Bauwerk  eine  weitere  Stätte  seiner  ersprießlichen  Tätig- 
keit, ja  geradezu  eine  auszeichnende  Lebenstätigkeit  finden  werde.  Nachdem 
N.  zur  vollen  Zufriedenheit  der  Besteller  einen  nach  eigenen  Plänen  erbauten 
und  mit  Plastik  augestatteteten  Altar  für  die  klösterliche  Erziehungsanstalt 
zu  Zangberg  vollendet  und  mit  Frl.  Apollonia  Rommerskirchen  aus  Köln 
zu  München  seinen  eigenen  Herd  begründet  hatte,  wurde  unserem  Künstler 
der  Auftrag  zu  einem  großen  Altarbau  in  der  »Johann  Nepomuk-Kapelle« 
der  vorgenannten  Frauenkirche.  Die  bestimmt  ausgesprochenen  Wünsche  der 
Stifter  gewährten  der  gestaltenden  Phantasie  sehr  willkommenen  Spielraum. 
Die  aus  drei  Stämmen  bestehende  Familie  des  Grafen  von  Arco  (Arco- 
Zinneberg,  -Stepperg  und  -Valley)  verlangte  die  Ausschmückung  der  früheren 
Apollonia-Kapelle,  wofür  N.,  im  Gegensatz  zu  der  in  der  Frauenkirche  seither 
beliebten  polychromierten  Hoizarchitektur,  die  Verwendung  des  Steinmate- 
rials in  Vorschlag  brachte,  so  zwar,  daß  zu  den  Figuren  weißer  Marmor, 
zu  dem  ornamentreichen  Aufbau  aber  roter  Sandstein  ohne  weitere  Fassung 
dienen  sollte.  N.  versprach  sich  gegenüber  der  farbenprächtigen  Wirkung 
der  alten  Glasfensterbilder  einen  imposanten  Eindruck  der  Ruhe,  ein  Projekt, 
welches  freilich,  vereinzelt  und  gegen  die  herkömmliche  Tradition,  sich  hier 
nur  teilweise  erfüllte.  Man  experimentierte  damals  noch  etwas  zuviel;  die 
Kunst  des  »Restaurierens«  mußte  durch  viele  bittere  Erfahrungen  und  Fehl- 
griffe erst  zum  (immerhin  noch  fraglichen)  Nutzen  der  Neuzeit  errungen  und 
erprobt  werden.     Auch  nahm   N.  die    dem  Kölner  Dom  zukommende  sog. 

28* 


436  Niessen. 

»Frühgotik«  zum  Vorbild,  während  die  Entstehung  der  Frauenkirche  einer 
der  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  entsprechenden,  speziell  süddeutschen 
Bauperiode  angehört.  N.  rechnete  mit  nicht  völlig  gleichwertigen  Koeffizienten. 
Das  Resultat  war  jedoch  immer  originell  und  ehrenwert.  Auch  der  Wechsel 
von  lebensgroßen  Figuren  und  halbmeterhohen  Statuetten  brachte  erfreuliche 
Wirkung,  ebenso  wie  der  architektonisch-klare  Aufbau  durch  den  reizenden 
Austausch  der  Ornamente  und  anderen  bildnerischen  Schmuckes  völlig  in 
ausklingenden  Wechsel  gebracht  wurde.  Da  die  vielköpfige  Zahl  der  Patrone 
der  gräflichen  Stifter,  deren  Frauen  und  Kinder  in  der  gewissermaßen  sakralen 
Adoration  der  Welterlösung  gipfelte,  so  ergab  sich  neben  der  dogmatischen 
Symbolik  noch  eine  Fülle  von  fialenbewachten  Nischen  und  Konsolen,  über- 
sponnen  von  Krappen  und  heraldischem  Beiwerk:  ein  wahrer  Wald  von 
zierlicher  Schönheit  und  streng  logischer  Stylistik,  unterbrochen  von  selbst- 
redenden, dem  Auge  Ruhepunkte  gewährenden  Reliefs  und  figürlichen  Gruppen, 
welche  sich  an  den  drei  Seiten  der  Kapelle,  zweimal  sogar  bis  auf  zwanzig 
Meter  Höhe,  aufbauen.  Kein  Wunder,  daß  N.,  bisweilen  mit  zehn  Gehilfen 
arbeitend,  die  Zeit  von  1867 — 77  zur  Ausführung  brauchte.  So  entstand  ein  in 
seiner  Weise  wahrhaft  unvergleichliches  Werk,  welches  hoffentlich  noch  einer 
späten  Nachwelt  Zeugnis  ablegt  für  echte,  adelige  Pietät  und  sinnige  deutsche 
Kunstfertigkeit.  Dann  wird  auch  eine  Reproduktion  des  Ganzen  und  seiner 
einzelnen  Teile  erfolgen,  woran  vorerst  noch  niemand  dachte.  Auch  die 
Zeitgenossen  ließen  wenig  darüber  verlauten,  mit  Ausnahme  von  Anton 
Mayer,  welcher  in  einer  kleinen  Schilderung  der  Frauenkirche  (München  1863), 
insbesondere  in  seiner  weitläufigen  »Geschichte  und  Beschreibung  der  Dom- 
kirche« (M.  18Ö8,  S.  338  ff.)  und  in  einem  »kleinen  Begleiter  durch  die  Dom- 
und  Pfarrkirche«  (1875,  S.  69 ff.)  eingehend  referierte.  Ein  Bericht  erfolgte 
auch  in  der  Beilage  69  der  »Augsburger  Postzeitung«  vom  28.  Oktober  1875. 
F.  A.  Specht  in  der  Festschrift  zur  vierten  Säkular -Feier  der  Einweihung 
(M.  1894  bei  Braun  und  Schneider  S.  12)  hatte  jedoch  nur  wenige  Zeilen  dafür. 
In  der  Folgezeit  entstanden  neben  kleineren  Leistungen  ein  »Kreuzweg«  mit 
14  Reliefstationen  in  Kalkstein  für  Fronhofen  und  eine  Wiederholung  in 
Eichenholz  für  die  von  M.  Berger  erbaute  und  von  J.  Knabl  mit  Altären 
und  Standbildern  ausgestattete  Pfarrkirche  zu  Haidhausen  (vgl.  Nr.  322 
»Bayerischer  Kurier«  vom  19.  November  1880).  N.  setzte  sich  auch  jetzt 
noch  nicht  zur  Ruhe.  Zur  Ausführung  seiner  großen  Arbeiten  hatte  er  in 
der  vielbelebten,  zum  südlichen  Campo-Santo  führenden  »Spitalstraße«  zwei 
Häuser  erworben  und  seine  Ateliers  dahinein  verlegt.  Als  er  derselben  nicht 
mehr  bedurfte,  baute  N.  die  Räume  um  und  versah  die  Häuser  mit  einer 
einheitlichen  Fassade  in  dem  von  ihm  so  wohl  gekannten  und  geliebten 
strengen  und  doch  gefälligen  Spitzbogenstil.  Auch  hier  gab  es  Statuen  und 
Hauspatrone,  die  einen  Erker  und  Balkon  flankieren,  vielfach  verschlungenes, 
omamentales  Zierwerk,  wodurch  das  Ganze  als  echtes  Künstlerheim  sich 
präsentiert.  Hier  oblag  N.  zu  seines  Herzens  stiller  Erquickung  der  Malerei. 
Was  seine  an  dieses  Material  nicht  gewöhnte  Hand  schuf,  war  einfach  gräß- 
lich. Scheffel  sagt  mit  Recht:  »*s  ist  ein  eigner  Spaß,  daß  jeder  das  am 
liebsten  treibt,  wozu  er  just  am  wenigsten  Beruf  hat«.  Einmal  brachte  N. 
einen  ganzen  Saal  voll  Skizzen  und  Landschaften  nebst  Studienköpfen  in 
den  Kunstverein.     Die  auf  seinen  Namen   überhaupt  nicht   dressierte  Presse 


Niessen.     Renner. 


437 


—  N.  haßte  alle  Reklame  —  schwieg.  Und  das  war  gut.  Als  es  fünfzig 
Jahre  waren,  daß  der  Künstler  in  München  weilte  und  schuf,  da  veranstaltete 
N.  eine  Kollektivausstellung  aller  seiner  architektonischen  und  plastischen 
Arbeiten  in  dem  prächtigen  Rahmen  des  eigenen  Hauses,  mit  demselben 
Erfolge.  Erst  zu  seinem  Grabe  kamen  ehrende  Deputationen  der  »Münchener 
Künstler-Genossenschaft«,  vom  »Freien  Künstler- Bund«  mit  Reden  und 
Kränzen,  auch  vom  Offizierkorps  des  zweiten  Infanterie-Regiments,  bei  welchem 
Dr.  Niessen,  der  einzige  Sohn  des  Künstlers,  als  Oberstabsarzt  eine  geachtete 
Stelle  bekleidet;  auch  der  Sängerkreis  der  »Alten«  ließ  seine  Trauerklage 
um  den  Geschiedenen  stimmungsvoll  erklingen. 

(Vgl.  den  Begräbnisbericht  in  Nr.  546  »Neueste  Nachrichten«  21.  November  1903). 
Nur  die  Kunsthistorie  ist  noch  im  Rückstand:  Pecht  in  seiner  »Gesch.  der  Münchener  Kunst« 
1888,  S.  308  nennt  bloß  den  »hübschen  Arco-Altar«,  Singer  1898  II,  306  und  Böttichcr 
1898  II,  151  widmen  ihm  wenige  Zeilen  und  in  Merlos  Lexikon  der  »Kölner  Künsüer« 
(sogar  in  der  zweiten  Ausgabe  von  Richartz-Keufien  1895,  S*  ^^^)  ist  nur  der  Name  seines 
Bruders,  des  Malers  Johann  Niessen,  verzeichnet.  Hvac.   Holland. 

Renner,  Ludwig,')  Oberkonsistorialrat,  Hofprediger,  Dr,  theoL^  Dr,  phiL^ 
♦    IG.   April   1834   im  Forsthaus  Lohra,    f  29.  November  1903    in  Wernige- 
rode.  —   Nach  Abschluß    seiner    theologischen  Studien    in  Halle   1853 — S^i 
wo    besonders  Tholuck    und    Julius    Müller    nachhaltigen    Einfluß    auf    ihn 
ausübten,    wurde    R.    als   Erzieher    der    Prinzen    Heinrich  XVIII.   und  XIX. 
von  Reuß-Köstritz  bestellt  und  verdankte  diesem  Vertrauensamt,  neben  vor- 
übergehender Tätigkeit  am  Gymnasium  zu  Gütersloh,  wohin  er  seine  Zöglinge 
begleitete,  i36o  längeren  Aufenthalt  an  den  Bildungsstätten  am  Genfer  See: 
Genf,  Vevey,  Lausanne  und  sodann   in  Italien,  speziell  in  Rom  selbst.     Als 
Frucht  seiner  Studien  hier  erwuchs  ihm  eine  Arbeit  über  «Die  Kunst  in  den 
Katakomben«,   auf  Grund  deren  er    nach    seiner  Rückkehr  in  Leipzig  zum 
Dr,  phil.  promovierte.     1865   schloß  sich  dann   die  in  Halle  abgelegte  Prü- 
fung für  das  höhere  Lehramt  an,  bei  welcher  er  mit  Ehren  sich  für  drei  Fächer 
die  Unterrichtsfakultas  bis  Prima  erwarb.     Schon  stand  er  mit  einem  Schritt 
im  höheren  Schulamt,  da  ihm  bereits  im  folgenden  Jahre  eine  Lehrstelle  am 
Domgymnasium  in  Magdeburg  angetragen  wurde.    Doch  gleichzeitig  bot  sich 
ihm  ein  Pfarramt  in  Suderode  am  Harz,  und  er  entschied  sich  für  das  letztere. 
Aber  Zeit  seines  Lebens  hat  er  darum  doch  den  schulischen  Dingen  sein  leb- 
haftes   und    tätiges    Interesse   bewahrt.      1870  wurde  ihm  das    Oberpfarramt 
in  Langensalza   übertragen  unter  gleichzeitiger  Ernennung  zum    Superinten- 
denten der  Ephorie.    Fünf  Jahre  darauf  siedelte  er  als  Superintendent  nach  der 
alten,   schönen  Harzresidenz  Wernigerode  über,  die  ihm  von  nun  an   seine 
bleibende  Heimat  wurde.     Durch  das  Vertrauen  des  fürstlich-stolbergischen 
Hofes  wurde  er  bald  —  seit  1877  —  ^"^  Schloßpfarrer  und  Hofprediger  be- 
rufen und  hat  dies  Amt  fast  25  Jahre,   bis    1901  seine  Gesundheit  erlahmte, 
verwaltet.  —  In  seiner  weiteren  kirchlichen  Tätigkeit  innerhalb  der  preußischen 
Landeskirche  ist  R.  einer  der  Begründer  und  tätigsten  Förderer  der  »positiv- 
unierten«    Gruppe    geworden.      Insbesondere    ist    seine  Mitwirkung    an    den 
synodalen  Arbeiten  —  sowohl  in  der  Provinzial-  wie  in  der  Generalsynode 


')  Totenliste  1903  Band  VIII  9i*. 


438  Renner,     von  Ringhoffer. 

—  eine  dauernde  und  erfolgreiche  gewesen.  Bereits  1875  wurde  er  von 
Langensalza  aus  zur  ersten,  neu  ins  Leben  getretenen  Provinzialsynode  ent- 
sandt; späterhin  war  er  regelmäßig  durch  königliche  Ernennung  deren  Mit- 
glied; dem  Pro  vi  nzialsynodal  vorstand  hat  er  von  1884  bis  1893  angehört  und 
ist  24  Jahre  lang  als  Synodaldeputierter  Mitglied  der  theologischen  Prüfungs- 
kommission beim  Konsistorium  in  Magdeburg  gewesen,  wo  er  wesentlich  die 
praktischen  Fächer  (Ethik,  Pädagogik  u.  a.)  vertrat.  Auf  seine  Anregung  hin,  die 
auf  der  Tagung  der  Provinzialsynode  von  1896  als  sein  Antrag  zum  Beschluß 
erhoben  wurde,  ist  1897  für  die  Theologie- Kandidaten  der  Provinz  das  sog. 
Lehrvikariat  —  Einführung  in  das  praktische  geistliche  Amt  durch  einen 
bewährten  Geistlichen  während  eines  Jahres  zwischen  L  und  IL  theologischer 
Prüfung  —  obligatorisch  gemacht  worden.  In  der  Generalsynode  ist  seine  Arbeit 
besonders  in  der  Vorbereitung  und  Einführung  der  neuen  Agende  hervor- 
getreten. Ein  wesentlicher  Teil  des  Entwurfs  war  ihm  1891  zur  Ausarbeitung 
übertragen.  So  hatte  er  auch  als  Obmann  der  Agendenkommission  in  der 
über  die  Annahme  entscheidenden  Sitzung  vom  10.  November  1894  das 
wichtige,  die  Besprechung  einleitende  Referat,  und  als  bei  den  Beratungen 
über  das  Ordinationsformular  sich  über  die  Stellung  und  Bedeutung  des 
Apostolikums  in  demselben  tiefgehende  prinzipielle  Meinungsverschiedenheit 
ergab,  fand  er  den  vermittelnden  Ausweg,  der  das  Werk  vor  dem  Scheitern 
rettete.  In  demselben  Jahre  hat  die  theologische  Fakultät  in  Halle  seiner  wissen- 
schaftlichen und  kirchlich-praktischen  Tätigkeit  durch  Verleihung  der  Doktor- 
würde ihre  Anerkennung  bezeugt,  die  sich  auch  auf  eine  1886  veröffentlichte 
Schrift  »Lebensbilder  aus  der  Pietistenzeit«  stützen  konnte.  —  Besonders  in 
die  Kämpferreihen  der  »positiven  Union«   hat  sein  Tod,    wenn   auch  nicht 

unerwartet,  eine  schmerzlich  empfundene  Lücke  gerissen. 

Kohlschmidt. 

Ringhoffer,  Emanuel  Ritter  von,  Professor,  k.  k.  Regierungsrat,  *  23.  Dez. 
1823  zu  Prag,  t  I.  Dez.  1903  ebenda.  —  R.  erhielt  seine  fachmännische  Aus- 
bildung am  Polytechnikum  in  Wien,  nach  dessen  Absolvierung  er  die  Akademie 
der  bildenden  Künste  in  Wien  besuchte;  er  wirkte  hierauf  durch  sechs  Jahre  als 
Assistent  an  der  Lehrkanzel  für  Bauwissenschaften  in  Wien  und  wurde  1850 
zum  supplierenden  Professor  dieser  Wissenschaften  an  der  technischen  Lehr- 
anstalt in  Brunn  ernannt.  Vor  Antritt  seines  Lehramtes  unternahm  er  mit 
Bewilligung  des  Ministeriums  eine  Reise  nach  Deutschland  und  Frankreich 
behufs  eingehenden  Studiums  der  Organisation  der  technischen  Institute.  Im 
Jahre  1851  wurde  R.  ordentlicher  Professor  in  Brunn;  1864  wurde  er  an  das 
polytechnische  Landesinstitut  zu  Prag  berufen,  wo  er  bis  zu  seiner  Pensio- 
nierung verblieb,  um  die  er  aus  Gesundheitsrücksichten  schon  im  Jahre  1882 
ansuchen  mußte.  Im  Jahre  187 1  war  R.  Rektor  des  Polytechnikums;  außer- 
dem war  er  sechs  Jahre  als  Fachvorstand  tätig.  An  der  Ausführung  größerer 
Bauten  hat  er  sich  nicht  beteiligt;  er  lebte  nur  in  seinem  Lehramte.  1864 
erschien  sein  damals  rühmlich  bekanntes  Werk  „Lehre  vom  Hochbau",  das 
im  Jahre  1878  eine  zweite  Auflage  erlebte.  Im  Jahre  1879  erhielt  R.  den 
Titel  eines  Regierungsrates,  bei  seiner  Pensionierung  wurde  ihm  der  Orden 
der  Eisernen  Krone  III.  Klasse  verliehen  und  einige  Jahre  später  der  erbliche 
Ritterstand.    Trotzdem  blieb  er  immer  der  bescheidene,  anspruchslose  Mann, 


von  Ringhoffer.     Hagemann.  430 

der  sich  nicht  gerne  in  den  Vordergrund  drängte  und  den  alle,  die  ihn 
kannten,  seiner  vielseitigen  Kenntnisse  und  seines  biederen  Charakters  wegen 
verehrten  und  schätzten.  A.  Birk. 

Hagemann,  Georg,')  Dr.  phil.,  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität 
Münster  i.  W.,  *  17.  November  1832  zu  Beckum  in  Westfalen,  f  6.  Dezember 
1903  zu  Münster  i.  W.  —  H.,  ein  bedeutender  Philosoph  der  katholischen 
Richtung,  besuchte  das  Gymnasium  zu  Recklinghausen,  hierauf  die  Akademie 
zu  Münster.  1856  wurde  er  zum  katholischen  Priester  ordiniert.  1855/56 
löste  er  die  Preisfrage  der  philosophischen  Fakultät,  was  für  seine  künftige 
philosophische  Lehrtätigkeit  von  entscheidendem  Einflüsse  war.  Einige  Jahre 
war  er  hierauf  Erzieher  im  Hause  des  Grafen  von  Galen;  1860  wurde  er 
Präses  in  dem  gräflich  Galenschen  Konvikte  für  adelige  Gymnasiasten  zu 
Münster;  1861  erwarb  er  den  philosophischen  Doktorgrad  an  der  Münsterer 
Akademie;  1862  habilitierte  er  sich  zu  Münster  als  Privatdozent  für  Philosophie. 
Kurz  vorher  (1862)  war  der  frühere  Ordinarius  der  Philosophie  in  Münster, 
Franz  Jakob  Clemens,  gestorben.  Auf  seine  Stelle  wurde  Dr.  Albert  Stöckl 
von  Eichstätt  berufen.  Als  derselbe  1870  freiwillig  wieder  nach  Eich.stätt 
zurückkehrte,  verhinderten  die  damaligen  religiös -politischen  Bewegungen 
(Vatikanum,  Altkatholizismus,  Zentrumsbildung,  Kulturkampf)  die  Beförderung 
des  Privatdozenten  Dr.  H.  zum  Professor.  Erst  1881,  nach  fast  20  Jahren, 
wurde  er  außerordentlicher,  vorerst  noch  unbesoldeter  Professor  in  Münster; 
1884  endlich  ordentlicher  Professor  der  Philosophie. 

Allgemein  wird  an  H.  dessen  treue  und  gewissenhafte  Amtsführung,  Be- 
scheidenheit und  Herzensgüte  gerühmt;  desgleichen  seine  hervorragende 
Tüchtigkeit  als  Dozent:  sein  Vortrag  zeichnete  sich  durch  Klarheit  der  Ge- 
danken und  Lebendigkeit  aus  und  war  durch  ein  prächtiges  Organ  unterstützt. 

Trotz  beständiger  reger  Geistestätigkeit  hinterließ  H.  (abgesehen  von 
Artikeln  in  Zeitschriften,  z.  B.  dem  Literarischen  Handweiser  von  Hülskamp 
in  Münster)  nur  drei  Werke  größeren  Umfanges,  nämlich:  i.  Logik  und  Noetik, 
erstmals  erschienen  1868,  bei  Herder  in  Freiburg.  2.  Metaphysik,  1869. 
3.  Psychologie,  1869.  Sämtliche  drei  Werke  sind  seitdem  oftmals  in  Neu- 
auflagen erschienen  und  bilden  zusammen  die  »Elemente  der  Philosophie«, 
einen  Leitfaden  für  akademische  Vorlesungen  sowie  zum  Selbstunterrichte. 
Die  weiter  geplanten  Teile  dieses  Leitfadens  (Ethik  und  Juridik,  Ästhetik, 
Geschichte  der  Philosophie)  sind  leider  nicht  zur  Ausführung  gelangt. 
H.  konnte  nur  schwer  zu  einem  Abschluß  seiner  Arbeiten  gelangen. 

Schon  1872  rühmte  ein  Kritiker  (v.  Hartsen)  von  den  H.schen  Schriften: 
Dieselben  nähmen  eine  hervorragende  Stelle  in  der  neueren  Literatur  ein, 
hätten  einen  bedeutenden  Wert  für  den  angehenden  Studierenden  der  Philo- 
sophie; seien  keine  bloße  Kompilation,  zeichneten  sich  aus  durch  sittlichen 
Ernst,  Scharfsinn  und  Kritik,  Vollständigkeit  und  Reichtum  des  Inhaltes, 
Streben  nach  Klarheit,  unterhaltende  Schreibweise,  reiche  Literaturkenntnis, 
interessante  Daten  usw. 

H.  vertrat  in  der  Philosophie  den  christlichen,  näherhin  katholischen 
Standpunkt,  im  Anschlüsse  an  Aristoteles  und  die  mittelalterliche  Scholastik, 


»)  Totenliste  1903  Band  VIII  45*. 


/^/|n  Hagemann. 

mit  einigen  anderen  Männern  (z.  B.  der  Jesuitenschule,  Clemens,  Kleutgen 
usw.),  schon  bevor  Papst  Leo  XIII.  durch  seine  Enzyklika  ^Aetemi  PeUris^ 
1879  die  alte  aristotelisch-scholastische  Philosophie  in  der  Form  des  Tlio- 
mismus  zunächst  für  die  katholische  Welt  wieder  nachdrücklich  in  Erinne- 
rung brachte. 

Doch  kann  H.  nicht  als  Thomist  bezeichnet  werden;  dazu  war  der 
Einfluß  der  modernen  Wissenschaften  auf  ihn  ein  viel  zu  großer.  Seine  Lehr- 
bücher wurden  dann  auch  von  strengen  Thomisten  (wie  Commer,  Schneider, 
Gloßner)  einer  Kritik  unterzogen.  Auch  die  Bezeichnung  Neuscholastiker 
oder  Neuaristoteliker  paßt  nicht  auf  ihn.  Zwar  übernahm  er  viele  erprobte 
Grund-  und  Bausteine  aus  der  alten  aristotelisch-scholastischen  Philosophie, 
aber  in  Detailfragen  weicht  er  vielfach  von  der  »alten  Schule«  ab,  zumeist 
wenn  Ergebnisse  der  modernen,  bes.  naturwissenschaftlichen  Forschung  in 
Betracht  kommen.  H.  will  nichts  wissen  von  einer  bloßen  Repristination 
des  Alten,  sondern  hat  ein  organisches  Weiterentwickeln  und  Weiterbauen 
auf  den  alten  bewährten  Grundlagen  im  Auge.  Mit  gutem  Grunde  kann 
man  H.  einen  Anhänger  der  sogenannten  »immerwährenden  Philosophie«, 
phtlosophia  pcrennis,  nennen,  von  welcher  bereits  Leibniz  redet  als  von  einem 
ewigen,  nicht  auf  die  Denkarbeit  eines  einzigen  Philosophen  aufgebauten 
Systeme,  an  welchem  alle  aufrichtigen  und  ernsthaften  Forscher  zu  ihrem 
Teile  partizipieren. 

An  H.s  Logik  und  Noetik  rühmte  die  Kritik  die  durchsichtige  Dar- 
stellung, die  erstaunliche  Literaturkenntnis,  den  Reichtum  an  gut  gewählten 
Beispielen.  Die  strengen  Thomisten  tadelten  freilich  die  Abhängigkeit  von 
modernen  Prinzipien  (der  sog.  Bewußtseinstheorie),  sowie  die  zu  geringe 
Berücksichtigung  der  Scholastiker  und  der  späteren  Kommentatoren  des 
Aristoteles. 

H.s  Psychologie  wird  als  das  beste  unter  seinen  Werken  bezeichnet. 
Er  will  darin  die  richtige  Mitte  einhalten  zwischen  einseitigem  Apriorismus 
und  Empirismus,  zwischen  reinem  Idealismus  und  einer  mechanischen  Welt- 
und  Seelenerklärung.  Im  Gegensatz  zur  aristotelisch-scholastischen  Psychologie 
verwirft  H.  den  sog.  Gemeinsinn,  wie  überhaupt  die  inneren  Sinne,  des- 
gleichen die  Unterscheidung  in  konkupiszible  und  iraszible  Affekte;  er  will 
nichts  wissen  von  einem  sinnlichen  und  intellektuellen  Gedächtnisse,  eben- 
sowenig von  einem  sinnlichen  und  geistigen  Bewußtsein.  Die  Wölfische 
Unterscheidung  von  rationaler  und  empirischer  Psychologie  wird  abgelehnt. 
Desgleichen  wird  der  sog.  tätige  Intellekt  verworfen,  welchen  die  aristotelisch- 
scholastische Philosophie  zur  Erklärung  des  Abstraktionsprozesses  eingeführt 
hatte,  usw.  Gerade  in  der  Psychologie  zeigt  sich  die  Vertrautheit  H.s  mit 
den  modernen  psychologischen  und  physiologischen  Theorien.  H.  bekennt 
selber,  daß  er  hier  vielfach  von  Ulrici  abhänge,  dem  bekannten  1884 
verstorbenen  Vertreter  eines  sogenannten  spekulativen  Theismus.  Im  An- 
schlüsse daran  ist  H.  besonders  bemüht,  die  mechanische  Seelentheorie 
Herbarts  zu  bekämpfen,  die  Selbsttätigkeit  und  Willensfreiheit  der  Seele  zu 
retten. 

Auch  die  Metaphysik  H.s  zeichnet  sich  durch  Vollständigkeit  und  Reich- 
tum des  Inhalts  aus,  wenn  auch  über  die  Beweiskraft  mancher  Ausführungen 
verschiedene  Ansichten  möglich  sind. 


Hagemann.     Mommsen.  44 1 

H.  wird  unter  den  neueren  auf  katholischem  Boden  stehenden  Philosophen, 
z.  B.  Tilmann  Pesch,  Gutberiet,  Willmann,  Braig  usw.,  immer  einen  hervor- 
ragenden Platz  einnehmen. 

Literatur:  i.  Philosophische  Monatshefte,  24.  Bd.  1888  (lliiele).  —  2.  Zeitschrift  für 
Philosophie  und  philosoph.  Kritik,  61.  Bd.  1872  (v.  Hartsen).  —  3.  Philosophisches  Jahr- 
buch der  Görresgesellschaft,  2.  Bd.  1890  (Grupp).  —  4.  Literarische  Rundschau  für  das 
kath.  Deutschland,  hrsg.  v.  Hoberg,  28.  Jhrg.  1902.  —  5.  Jahrbuch  für  Philosophie  und 
spekulative  Theologie,  5.  Jhrg.  1891;  dann  10.  Jhrg.  1896,  sowie  13.  Jhrg.  1899 
(Gloßner,  Commer,  Schneider).  —  6.  Literarischer  Handweiser,  hrsg.  v.  Hülskamp,  1903 
Nr.    788.  —  7.  Chronik  der  k.  Universität  Münster  1903/04. 

Dr.  St.  Schindele. 

Mommsen,  Theodor,')  *  30.  November  181 7  in  Garding,  f  i.  November 
1903  in  Charlottenburg.  —  I.  Lehrjahre.  (Christian  Mathias)  Theodor 
Mommsen  wurde  am  30.  November  18 17  in  Garding  im  südwestlichen  Schles- 
wig als  der  älteste  Sohn  des  zweiten  Predigers  (Diakons)  Jens  M.  (geb.  1783), 
eines  geborenen  Friesen,  und  dessen  Gattin  Sophie  Elisabeth,  geb.  Krumbhaar 
aus  Altona,  geboren.  Ais  der  Knabe  drei  Jahre  alt  war,  wurde  der  Vater  nach 
Oldesloe  in  Holstein  versetzt,  nachdem  er  in  einer  Eingabe  darauf  hin- 
gewiesen hatte,  daß  die  Notwendigkeit,  Privatstunden  zu  geben,  und  die 
Marschluft  seine  Gesundheit  schon  sehr  angegriffen  habe;  hier  wuchs  Theodor 
in  dem  einsam  auf  einem  Hügel  gelegenen  Pfarrhause  mit  seinen  beiden 
jüngeren  Brüdern  Tycho  (geb.  1819)  und  August  (geb.  1821)  und  zwei 
Schwestern,  von  denen  eine  in  zartem  Alter  starb,  heran.  Der  geräumige 
Garten  war  das  Revier  der  drei  Knaben,  die  nur  wenig  mit  anderen  Kindern 
in  Berührung  kamen;  und  unter  dem  Birnbäume,  der  den  Garten  überragte, 
wie  der  Garten  das  Städtchen,  mag  Theodor  seine  ersten  Gedichte  geträumt 
haben.  Der  Vater,  dessen  amtliche  Einkünfte  (376  Rtlr.)  auch  jetzt  nicht 
ausreichten,  um  Frau  und  Kinder,  sowie  seine  alte  Mutter  und  durch  Elementar- 
ereignisse verarmte  Schwestern  zu  ernähren,  war  offenbar  ein  vorzüglich  huma- 
nistisch gebildeter  Mann,  in  dem,  wenn  er  auch  in  enge  und  ihn  bedrückende 
Verhältnisse  gebannt  war,  mehr  steckte,  als  ein  Dorfpfarrer;  er  wußte  sich 
durch  seine  Humanität  und  seine  liebevolle  Fürsorge  die  Liebe  seiner  Pfarr- 
kinder in  hohem  Maße  zu  erwerben,  konnte  es  aber  trotz  wiederholter  Sup- 
pliken nicht  erreichen,  daß  ihm  eine  Pfarre  übertragen  wurde;  »ihm  ver- 
danken wir«,  so  schreibt  Tycho  in  seiner  Autobiographie  (veröffentlicht  von 
J.  Ziehen  in  Bursians  Jahresber.  über  die  Fortschr.  d.  klass.  Altertumswiss. 
für  1904,  Biograph.  Jahrbuch  27,  S.  io3ff.)  »die  Liebe  für  alles  Sprachliche 
und  die  Neigung  zur  Poesie,  welche  er  in  uns  nach  seiner  sanften  und 
innigen  Weise  zu  übertragen  wußte,  ohne  daß  wir  ein  Soll  und  Muß  dabei 
kennen  lernten;  meiner  Mutter  dagegen,  die  sich  durch  ihre  schlichte  Recht- 
lichkeit und  praktische  Verständigkeit  auszeichnete,  das,  was  dieser  Art  Gutes 
in  uns  zu  finden  sein  mag.  Sie  ließ  nicht  immer,  wie  der  Vater,  alles,  was 
an  Wildheit  und  Unart  der  Knaben  vorkam,  gelten,  und  wir  sind  ihr  dafür 
noch  im  Grabe  den  höchsten  Dank  schuldig.«  Der  Vater  allein  unterrichtete 
die  Knaben  in  den  —  allerdings  nicht  regelmäßig  abgezirkelten  —  Stunden, 
die  er  von  seinen  Amtsgeschäften  und  Lektionen  erübrigte;  seine  Bezüge 
hätten  nicht  dazu  ausgereicht,  seinen  Söhnen  einen  Hauslehrer  zu  halten 
oder  sie  von  früher  Jugend  an  in  ein  Internat  zu  schicken.     Doch  legte  er 


442 


Mommsen. 


auf  ihre  Erziehung  das  größte  Gewicht.  Und  wenn  er  ihnen,  die  weniger 
als  andere  Knaben  vom  Lernen  abgezogen  wurden,  die  Liebe  zur  Wissen- 
schaft einimpfte,  so  mußte  andererseits  das  ländliche  Milieu  dazu  beitragen, 
ihre  Körper  zu  stählen  und  neben  der  Erziehung  der  Mutter  die  kemhafte, 
tüchtige  Art  der  Schleswig-Holsteiner,  aus  denen  gerade  in  jener  Zeit  so 
viele  hervorragende  Menschen  hervorgegangen  sind,  ihnen  ein  Beispiel  zur 
Selbsterziehung  des  Pflichtbewußtseins  geben.  Dem  Manne,  der  später  be- 
rufen war,  das  hohe  Lied  von  der  Tüchtigkeit  des  altitalienischen  Bauern- 
standes anzustimmen,  mögen  mitunter  die  Eindrücke,  die  er  aus  seiner 
nordischen  Heimat  mit  sich  ins  Leben  genommen  hatte,  in  den  Bildern  aus 
uralter  Zeit  wieder  lebendig  geworden  sein.  Und  man  wird  auch  nicht  irre 
gehen  —  mag  auch  in  dem  abgeschiedenen  Pfärrhause  wenig  politisiert 
worden  sein  — ,  wenn  man  vermutet,  daß  die  Keime  zu  M.s  politischen  An- 
schauungen sich  schon  in  jener  Atmosphäre  entwickelten,  in  welcher  der  selbst- 
bewußte Unabhängigkeitssinn  des  freien  und  intelligenten  Bauern  und  der 
nationale  Widerstand  gegen  die  dänische  Herrschaft  zugleich  mit  dem  Sehnen 
nach  einem  einigen  und  starken  Deutschland  erstarkt  waren.  — 

Es  zeugt  schon  von  einem  hohen  Grade  von  Energie  und  Ruhe,  daß  die 
beiden  älteren  Brüder,  als  es  notwendig  wurde,  die  Studien  in  einen  regel- 
mäßigen Lehrplan  ausmünden  zu  lassen,  »nach  einem  selbstgemachten,  nur 
vom  Vater  gebilligten  Lektionsplan  arbeiteten,  wobei  wir«  —  so  erzählt  der 
eine  von  ihnen  —  »zugleich  Lehrer  und  Schüler  waren.« 

Am  4.  Oktober  1834,  also  in  verhältnismäßig  nicht  jungen  Jahren,  trat 
Theodor  M.  zusammen  mit  Tycho  in  die  Prima  des  Christianeum  in  Altona 
ein  und  wurde  ein  Jahr  später  in  die  Selecta  versetzt,  der  er  2^/2  Jahre  an- 
gehörte.^) Ein  Stipendium  der  Schröderschen  Stiftung  ermöglichte  dem 
Sohne  des  Landpfarrers  das  Studium.  In  welcher  Weise  die  einzelnen  Lehrer, 
der  Direktor  Eggers,  der  als  feiner  Philologe  geschildert  wird,  der  Senior 
des  Professorenkollegiums  Klausen,  den  er  in  einem  Festgedichte  feierte, 
u.  a.  auf  M.  eingewirkt  haben,  läßt  sich  kaum  mehr  feststellen.  Wohl  aber 
mußte  es  von  der  größten  Bedeutung  für  die  Entwicklung  der  Brüder  sein, 
daß  sie  aus  der  Enge  der  heimatlichen  Verhältnisse  zum  ersten  Male  dauernd, 
wenn  auch  nicht  inmitten,  so  doch  neben  das  Getriebe  einer  Stadt  wie  Ham- 
burg versetzt  wurden,  deren  weitreichende  geschäftliche  und  gesellschaftliche 
Beziehungen  notwendig  den  Gesichtskreis  dessen  erweitern  mußten,  der  mit 
ihr  in  Berührung  kam;  eine  Anzahl  von  Frauen  und  Männern,  auch  außerhalb 
der  Schule,  übten  bedeutenden  Einfluß  auf  Herz  und  Charakter  aus.  Nichts- 
destoweniger wurde  es  den  beiden  Brüdern,  die  an  die  stille  und  harmonische 
Würde  des  Vaterhauses  gewöhnt  waren,  anfänglich  schwer,  sich  in  den  ihnen 
roh  erscheinenden  Ton  ihrer  Mitschüler  zu  schicken,  und  namentlich  Theodor 
entbehrte  in  seinem  starken  Empfinden  für  die  Schönheiten  der  Natur  das 
Landleben.  Die  Großstadt  erschien  ihm  öde,  wie  die  Wüste,  und  er  fühlte 
sich  vereinsamt.  Der  erste  Verlust,  der  ihn  tief  ergriff,  war  der  seiner  jungen 
Schwester.  Aber  auch  sonst  überkamen  den  heranwachsenden  Jüngling  nieder- 
geschlagene, weltschmerzliche  Stimmungen,  die  ihren  Ursprung  nicht  nur  in 
der  Nachempfindung  zeitgenössischer  Poesie,  sondern  auch  in  einem  ureigenen 
Zuge  seines  Wesens  hatten,  das  sich  damals  zuerst,  faustisch  und  Goethes 
hohes  Ideal  vor  der  Seele,  auf  sich  selbst  gestellt,  durch  die  großen  Probleme 


Mommsen. 


443 


des  Lebens  durchzuringen  begann.  Er  rang  sich  vom  Christen  zum  Deisten, 
vom  Deisten  zum  Atheisten  durch,  da-  sein  Wahrheitsdrang  ihm  nicht  ge- 
stattete, zu  postulieren  und  seine  Kritik  unbezwinglich  rege  wurde.  Aber 
gerade  die  Schärfe  seiner  Kritik  machte  ihm  vor  sich  selbst  bange,  bis  er 
sein  melancholisches  Selbstverzweifeln,  »daß  wir  nichts  wissen  können«, 
wieder  überwand. 

Da  ihn,  wie  er  selbst  bekennt,  die  eigentlich  grammatische  Philologie 
nur  wenig  anzog  und  er  auch  der  in  Tabellen  aufgelösten  Geschichte  keinen 
Geschmack  abgewann,  trieb  er  neben  der  Schule  was  sich  ihm  gerade  bot, 
neuere  Literatur,  besonders  englische  und  französische,  kursorische  Lektüre 
der  alten  Schriftsteller,  die  ihn  gerade  anzogen,  und  was  der  Tag  mit  sich 
brachte.  In  einem  »wissenschaftlichen  Vereine«  interpretierten  die  Schüler 
der  Selecta  lateinische  Schriftsteller,  stellten  Redeübungen  an  und  schrieben 
und  disputierten  auch  über  allgemeine  Themen;  »er  ersetzte  manches,  was 
die  Schule  nicht  bot,  besonders  im  Deutschen«;  M.  trat  im  Herbst  1837  bei; 
als  Quästor  und  Archivar,  als  Präses  und  Sekretär  konnte  er  zum  ersten  Male 
sein  Organisationstalent  betätigen.  »Mir  ist  es  in  diesem  Kreise«,  so  schreibt 
er  in  viel  späteren  Jahren,  »zum  erstenmal  nach  einer  fast  einsam  verlebten 
Jugend  deutlich  geworden,  daß  der  Mensch  sich  am  Menschen  schleifen 
muß,  wie  der  Diamant  am  Diamanten,  und  welcher  fruchtbare  Segen  in 
diesem  gemeinsamen  Streben  liegt.  Weiter  bringt  es  keiner,  als  einer  in  der 
Reihe  der  Mitstrebenden  zu  sein,  und  es  ist  auch  nicht  nötig,  denn  es  gibt 
nichts  höheres«.  Wohl  aber  erkannten  seine  Genossen  schon  damals  das 
»Kraftgenie«  ihres  Mitarbeiters,  wenn  ihm  auch  manche  Kritik  nicht  erspart 
blieb.  Er  seinerseits  beteiligte  sich  nicht  nur  lebhaft  an  den  Kritiken  der 
von  anderen,  auch  von  Bruder  Tycho  eingelieferten  Aufsätze,  deklamierte 
nicht  nur  Goethesche  Gedichte  und  interpretierte  Horazische  und  Klopstock- 
sehe  Oden,  sondern  hielt  auch  »halbextemporäre«  Reden  über  gegebene 
Themata  und  lieferte  schriftliche  Arbeiten  ein.  Der  von  ihm  vorgetragene 
Aufsatz  »Zur  Einleitung  in  die  Schriften  des  jungen  Deutschlands«  bezeichnet 
als  das  Hauptziel  des  jungen  Deutschland  allseitige  Emanzipation,  Befreiung 
von  allem  Widernatürlichen,  sieht  in  dem  »jungen  Deutschland«  die  Äußerung 
des  Zeitgeistes  und  schließt:  »Der  Liberalismus,  nicht  mehr  auf  Politik  be- 
schränkt, gewinnt  immer  mehr  geistigen  Boden,  breitet  sich  immer  weiter  in 
den  Gemütern  der  Menschen  aus.  In  Berlin  entstehen  ganze  Gesellschafts- 
kreise, die  mit  Herz  und  Sinn  modern  sind,  namentlich  —  auch  ein  Fort- 
schritt der  Kultur  —  von  ausgezeichneten  Frauen  (Rahel*  Varnhagen,  Charlotte 
Stieglitz).  Wir  selbst  endlich,  die  wir  doch  auch  liberal  sein  wollen,  sind 
wir  junge  Deutsche  oder  nicht?  Habt  ihr  erkannt,  daß  der  heilige  Geist  in 
dem  jungen  Deutschland  ist,  so  verleugnet  ihn  nicht.«  Auch  die  anderen 
Aufsätze,  die  M.  dem  Vereine  einreichte,  gestatten  einen  Einblick  in  den 
Gedankenkreis  des  Zwanzigjährigen,  und  wenn  es  auch  töricht  wäre,  das  Bild 
eines  fertigen  Mannes  in  ihnen  zu  suchen,  so  weisen  sie  doch  neben  vorüber- 
gehenden Einflüssen  solche  auf,  die  dauernd  auf  ihn  eingewirkt  haben,  und 
zeigen  wesentliche  Züge  seiner  Persönlichkeit. 

Am  überraschendsten  ist  wohl  in  formeller  Beziehung  die  vollständige 
Abhängigkeit  vom  Schillerschen  Stile,  nur  hie  und  da  können  einzelne 
Pointen    an    den    späteren    M.    erinnern.      Aber    auch    inhaltlich    tritt   keine 


444  Mommsen. 

Einwirkung  so  stark  hervor,  wie  die  der  deutschen  idealistischen  Aufklärungs- 
philosophie  Kants   und    Schillers;    diese   hat  aber,    so   sehr   er   spekulativen 
philosophischen  Erörterungen  abgeneigt  war,  über  seine  Jugend  hinaus  in  ihm 
nachgewirkt.    So  hat  er  sich  schon  damals  so  weit  von  dem  Pfarrhause  emanzi- 
piert, daß  er  die  »Lehre  von  der  Vorsehung«  ablehnt,  namentlich  weil  sie  der 
menschlichen  Freiheit   widerstreite,    und    dadurch    u.  a.    die    lebhafte  Kritik 
des  Ehrenmitgliedes  des  Vereins,  eines  Pastors  Möller,  3)  hervorgerufen.     Die 
vernunftgemäße  Entwicklung,  der  Fortschritt  des  Menschengeschlechts  scheint 
ihm  selbstverständlich;  obwohl  er  aber  im  ganzen  unter  dem  Einflüsse  des 
zeitgenössischen  Liberalismus  steht,  so  will  er  doch  den  Egoismus  als  »Grund- 
trieb« nicht  anerkennen.    Mit  historischen  Fragen  beschäftigt  er  sich  nament- 
lich in  dem  Aufsatze  »Welches  sind  die  Erfordernisse  einer  guten  Biographie?«, 
in  welchem  er  Drumann  tadelt,  daß  er  durch  eine  Aneinanderreihung  von 
Biographien  die  Geschichte  zu  ersetzen  dachte,  als  Hauptaufgabe  jeder  Lebens- 
beschreibung die  Charakteristik  betont  und,  indem  er  als  Vorbedingung  psycho- 
logische Erfahrung  und  praktisch  erworbene  Menschenkenntnis  fordert,  doch 
die  subjektiven  Grenzen  der  Annäherung  an  die  Wahrheit  betont  —  und  in 
dem  Aufsatze  »Genies  sind  notwendige  Übel«,  in  welchem  er  die  Kernfrage 
der  Bedeutung  des  Individuums  behandelt;  »die  Gegenwart«,  so  schreibt  der 
junge  M.,  »ist  die  Tochter  der  Vergangenheit  und  in  dieser  ist  die  Richtung 
des  ganzen    und   des  einzelnen   begründet«;    »der  Zeitgeist  beruht  auf  dem 
Kausalitäts Verhältnis  zwischen  Vergangenheit  und  Gegenwart«;  »das  Genie  ist 
der  Apostel  des  Zeitgeistes,  der  mit  leisem  Ohre  das,  was  zur  weiteren  Ent- 
wicklung nötig  ist,   die  Zeitbedürfnisse  erlauscht,   der,  selbst  ein  Sohn  des 
Zeitgeistes,    ihn   hervorruft   und   hegt,   der,    das   Künftige   ahnend   im   Busen 
tragend,  seiner  Zeit  vorausgeeilt  ist,  der  die  Zukunft  ins  Leben  ruft  und  mit 
prophetischer  Begeisterung   verkündigt.«    —    Die    eigene   Zeit   erschien   ihm 
allerdings  unproduktiv,    der  damaligen  Gesamtstimmung  entsprechend,    weil 
die  Kritik  das  schaffende  Element  überwiege  und  unterdrücke,  und  aus  dieser 
Stimmung  heraus  ist  kurze  Zeit  vor  seinem  Abschiede  von  Altona,  nach  einer 
mehrwöchentlichen  Krankheit  und  inmitten  der  Vorbereitungen  zur  Prüfung, 
der   letzte  Aufsatz:    »Warum   schadet   vieles   Kritisieren?«    verfaßt:    die   hier 
niedergelegten  inneren  Erlebnisse  sind  nicht  nur  für  den  jungen  M.  charak- 
teristisch,   sondern    bilden   vielfach    den    Schlüssel    auch   für  seine   späteren 
Stimmungen  und  Taten,  für  jenen  Kampf  zwischen  eindringendem,  mitunter 
zersetzendem  Scharfsinne,  in  welchem  er  eine  Gefahr  für  mutiges  Handeln  er- 
blickte, und  temperamentvoller  Begeisterung,  aus  welcher  er  den  kategorischen 
Imperativ  der  Pflicht  und  den  Mut  zum  Handeln  schöpfte.     Es  ist  kein  Zu- 
fall, daß  er,  der  schon  damals  gelegentlich  intuitiv  und  mit  durchdringender 
Skepsis  seine  Kritik  an  den  römischen  Sagen   und  ihrer  Überlieferung  übte, 
doch  seine  Antrittsrede  als  Präses  des  wissenschaftl.  Vereins  über  den  Text: 
»Immer  strebe  zum  Ganzen!«  hielt,  und  daß  er  seinen  Zuhörern  die  Maxime 
einzuprägen  suchte:  »Wissen  und  handeln,  erkennen  und  wirken  —  das  sind 
die  beiden  großen  Ideen,  deren  eine,  je  nach  seinem  Charakter,  den  Menschen 
fesseln  muß.«     Der  Zweifel   erscheint  ihm   als  Unglück.     »Wenn  wir  uns  für 
eine  Partei  entschieden  haben  und  dennoch  auf  unsere  Meinung  nicht  schwören, 
nicht  alles  an  ihre  Richtigkeit  setzen  können,  so  sind  wir  nicht  glücklich. 
Gewiß  zu  sein,  aus  Überzeugung  zu  glauben,  ist  ein  nur  zu  oft  vergeblich 


Mommscn. 


445 


und  gerade  von  den  Besten  vergeblich  ersehntes  Glück.«  Die  Selbstkritik 
ist  ihm  etwas  Selbstverständliches:  »Man  sagt  wohl,  daß  die  meisten  eher 
geneigt  sind,  ihre  Leistungen  zu  überschätzen,  allein  bei  den  wenigsten,  die 
einigermaßen  scharfsichtig  sind,  wird  dies  der  Fall  sein.  Gewöhnlich  kritisiert 
man  sich  selbst  am  schärfsten  und  findet  das  von  den  anderen  Gelobte  oft 
so  schlecht,  daß  man  sich  über  ihre  Verblendung  wundert.«  Dagegen  führt 
die  Kritik  oft  zur  »Erkältung  des  Herzens«.  »Jede  erhebende,  jede  be- 
geisternde Idee  ist  aus  Wahrem  und  Falschem  gemischt,  und  wenn  nun  die 
Kritik  an  die  Stelle  des  schönen  Wahns  die  nackte  Wahrheit  setzt,  ...  so 
ist  es  dem  Menschen,  der  diese  Erfahrung  öfter  machte,  nicht  zu  verdenken, 
wenn  er  gegen  alles  Gute  und  Große  mißtrauisch  wird  und  den  Menschen 
im  allgemeinen  für  ebenso  schlecht  als  dumm  erklärt.«  Und  so  fragt  er  »ob 
es  nicht  vorzuziehen  sei,  manchmal  seine  Begeisterung  falsch  zu  richten,  als 
sie  ganz  aufzuopfern.«  — 

M.  verließ  in  Begleitung  seines  Bruders  Tycho,  nachdem  er  bei  dem 
üblichen  Festakte  eine  lateinische  Rede  über  die  Vorteile,  welche  das  Gym- 
nasium dem  Vaterlande  gewährt,  gehalten  hatte,  —  eine  Rede,  die  er  freilich 
bei  der  privaten  Abschiedsfeier  in  rechter  Abiturientenstimmung  selbst  als 
Produkt  einer  in  der  Zwangsanstalt  hergestellten  »Galeerensklavenarbeit«  be- 
zeichnete —  mit  dem  Zeugnis  der  Reife  ausgestattet,  am  6.  April  1838  das 
Christianeum;  im  Vaterhause,  in  der  Schule  und  durch  eigenes  Studium  treff- 
lich vorbereitet,  mit  den  schärfsten  Waffen,  mit  kritischem  Drange  und 
warmer  Begeisterung,  ausgerüstet,  bezog  er  die  Landesuniversität  Kiel,  um 
in  das  Heiligtum  der  Wissenschaft  einzudringen. 

Am  4.  Mai  1838  inskribierte  er  sich,  wie  er  selbst  sagt,  von  einem  Hange 
zur  Jurisprudenz  gezogen,  an  der  juristischen  Fakultät,  und  obwohl  der  Lehr- 
körper der  Universität  damals  nicht  groß  war,  so  umfaßte  er  doch  in  jenen 
Jahren  eine  Anzahl  von  Gelehrten,  die  später  zu  großer  Berühmtheit  gelangten, 
so  G-  Hanssen,  dessen  kameralistische  Vorträge  M.  besonders  interessierten, 
und  den  er  noch  nach  40  Jahren  als  seinen  hochverehrten  Lehrer  nannte; 
den  Privatdozenten  Ed.  Osenbrüggen,  der  damals  u.  a.  über  römische  Staats- 
altertümer vortrug  und  sich  auch  speziell  mit  römischem  Strafrechte  befaßte, 
und  den  M.  neben  dem  o.  Professor  der  Jurisprudenz  Burchardi  als  seinen 
Lehrer  in  der  Jurisprudenz  und  den  Altertümern  bezeichnete;  vor  allem  aber 
Otto  Jahn,  an  dessen  Besprechungen  über  antiquarische  Gegenstände  M.  mit 
Eifer  und  Nutzen  teilnahm,  so  daß  er  sich  gerne  als  dessen  Schüler  in  der 
Epigraphik  bezeichnete;  auch  G.  Waitz,  dessen  Kolleg  über  deutsche  Geschichte 
M.  in  seinem  letzten  Universitätsjahre  besuchte;  aber  auch  Wilda,  dessen 
grundlegendes  Buch  über  das  germanische  Straf  recht  in  jener  Zeit  erschien, 
und  J.  G.  Droysen;  ferner  den  weniger  bekannten  Michelsen,  der  über  römische 
Geschichte  »nach  Niebuhr«  vortrug.  Er  hörte  aber  auch  bei  N.  Falck,  der 
ein  Freund  seines  Vaters  war,  Verfassungsgeschichte  und  vaterländisches  Recht 
und  Vorlesungen  über  Kriminalrecht  von  E.  Hermann. 

M.  selbst  legte  in  seinem  Curriculum  vitcte  seine  Studien  dar.  »Ich 
hörte«,  so  schreibt  er,  »Institutionen  bei  Prof.  Burchardi,  Pandekten  bei 
Prof.  Kierulff;  in  diesen  Vorträgen  bot  sich  mir  auf  der  einen  Seite  ein 
reiches,  sorgfältig  geordnetes  Material,  auf  der  andern  eine  geistreiche,  scharfe 
Auffassung  der  leitenden  Prinzipien,   und  nachdem  ich   die  Pandekten,   wie 


446  Mommsen, 

es  zu  gehen  pflegt,  eine  Zeitlang  angestaunt  hatte  und  zu  der  Ahnung  ge- 
kommen war,  daß  in  diesem  formlosen  Stoff  ein  wunderbarer  Geist  wohne, 
machte  ich  mich  mit  Ernst  daran,  und  es  gelang  mir  bald,  in  dieser  Wissen- 
schaft wenn  auch  nicht  heimisch  zu  sein,  doch  mich  in  ihr  heimisch  zu 
fühlen.  Ich  wäre  auch  schwerlich  zu  anderen  Beschäftigungen  übergegangen, 
wenn  mich  nicht  äußere  zum  Teile  ökonomische  Rücksichten  bewogen  hätten, 
die  im  Herbste  1840  angeschlagene  Preisaufgabe  zu  bearbeiten.«  »Die  anti- 
quarischen Studien,  die  ich  jetzt  kennen  gelernt  hatte,  fesselten  mich;  die 
leges  iudiciaria€y  die  römische  Komizial Verfassung,  das  Studium  der  römischen 
Inschriften,  zu  der  mir  meine  zu  anderen  Zwecken  erworbene  Kenntnis  des 
Italienischen  den  Weg  bahnte,  endlich  die  lex  Servilia  repetundarum  und  das 
Kriminalrecht  aus  der  Zeit  der  quaestiones  perpehuu  beschäftigten  mich  lange 
Zeit  und  drängten  die  eigentliche  Jurisprudenz  sehr  zurück,  und  nur  meine 
Überzeugung,  daß  auch  der  römische  Staat  erst  von  der  römischen  Juris- 
prudenz sein  Licht  empfange,  hielt  mich  von  dem  gänzlichen  Übertritt  zu 
einem  anderen  Fache  zurück.«  In  dem  wissenschaftlich,  literarisch  und 
politisch  interessierten  Universitätskreise  namentlich  bei  den  jüngeren  Dozenten, 
aber  auch  bei  den  Studienkollegien  gab  es  der  Anregungen  genug,  die  bei 
M.  erstaunlich  reiche  Früchte  zeitigten,  wenn  er  auch  wenige  Jahre  später, 
von  Verehrung  für  Borghesi  erfüllt,  gewiß  seiner  wahren  Empfindung  Ausdruck 
leiht,  indem  er  schreibt,  daß  ihm  in  seiner  Studentenzeit  das  Glück  nicht 
geworden  sei,  mit  Männern  zu  verkehren,  die  ihm  imponiert  hätten.  Die  erste 
Preisarbeit  aus  dem  Jahre  1841  über  die  Tribuni  aerarii  ist  ungedruckt  ge- 
blieben.4)  Zu  Ostern  1843  legte  er  das  juristische  Amtsexamen  in  Kiel  ab 
und  erhielt  den  ersten  Charakter.  Während  er  dann  durch  i^ji  Jahre  als 
Mädchenlehrer  an  einer  von  Verwandten  in  Altona  geleiteten  Schule  wirkte, 
promovierte  er  summa  cum  laude  mit  einer  Dissertation,  y>Ad  legem  de  scribis 
et  viatorlbus  et  De  auctoritate<<,  die  er  am  8.  November  1843  g^g^'^  ^^^^  Oppo- 
nenten, unter  denen  Nitzsch  war,  verteidigte,  nachdem  er  schon  im  Früh- 
jahre seine  erste  bedeutendere,  unter  den  Auspizien  Jahns  verfaßte  Schrift: 
-»De  collegiis  et  sodaliciis  Romanorum«^^  die  ebenfalls  aus  einer  Preisaufgabe 
hervorgegangen  war,  hatte  erscheinen  lassen.  In  dieser  Zeit  in  Altona  schrieb 
er  auch  eine  Anzahl  eingehender  Kritiken  und  Abhandlungen,  und  noch  im 
Jahre  1844  g^b  er  eine  schon  vor  Jahren  begonnene  an  jene  erste  Preis- 
schrift anknüpfende  Schrift  »Die  römischen  Tribus  in  administrativer  Be- 
ziehung« heraus,  die  seinem  Bruder  Tycho  gewidmet  ist.  »Dir  bin  ich  es 
schuldig  geworden«  —  so  schreibt  er  in  der  Widmung  — ,  »daß  ich  über  den 
Pandekten  den  Homer  nicht  vergessen  habe;  ohne  die  philologische  Anregung, 
die  ich  in  unserem  ununterbrochenen  Verkehr  empfing,  hätten  meine  For- 
schungen schwerlich  die  Richtung  genommen,  wovon  diese  Abhandlung 
zeugt.«  Schon  seine  Dissertation  machte  auf  Professor  Barkow  in  Greifswald, 
der  sie  durch  einen  neuen  Kollegen  O.  Jahn  erhalten  hatte,  solchen  Eindruck, 
daß  er  den  jungen  Mann  der  Fakultät,  allerdings  vergeblich,  zum  Professor 
vorschlug.  Auch  Savigny,  Lachmann,  Rudorff  wurden  auf  ihn  aufmerksam. 
Es  ist  in  der  Tat  nicht  nur  die  Fruchtbarkeit  seines  geistigen  Schaffens, 
die  schon  bei  dem  jungen  Mommsen  überrascht,  sondern  weit  mehr,  daß  — 
wenn  auch  mancherlei  Einzelresultate  seiner  damaligen  Forschung  veraltet 
sind  —  manche  der  Grundpfeiler  seiner  späteren  Auffassungen  schon  ganz 


Mommsen. 


447 


feststehen,  daß  seine  Methode  schon  damals  eigentlich  ausgebildet  ist  und 
daß  ihn  diese  Methode  im  Zusammenhange  mit  seiner  erstaunlich  ausge- 
breiteten Quellen-  und  Literaturkenntnis  schon  damals  befähigt,  sich  und  der 
Wissenschaft  den  Weg  für  Dezennien  vorzuzeichnen.  Man  pflegt  mit  Recht 
als  seine  Vorgänger  Rubino  und  Niebuhr  zu  bezeichnen;  M.  selbst  charak- 
terisiert ihre  Forschungsweise,  indem  er  von  ihnen  sagt 5):  »Die  gründliche 
Erforschung  jedes  einzelnen  Punktes  wirft  Licht  auf  das  ganze  Altertum  und 
dieses  wieder  in  seiner  Totalität  erleuchtet  das  Einzelne,  so  daß  durch  diese 
Wechselwirkung  zuletzt  das  Detail  wie  der  Begriff  ins  klare  tritt.«  Nichts- 
destoweniger tritt  er  von  Anbeginn  den  »Phantasien«  und  »Konstruktionen« 
Niebuhrs  und  vor  allem  den  »Postniebuhrianern«  entgegen.  Und  wenn  er  auch 
sich  »nie  mit  einzelnen  Resultaten,  sondern  erst  mit  der  ganzen  Wahrheit, 
mit  dem  vollen  Bilde  der  Sache  befriedigen  will«,  so  betont  er  doch  von 
vornherein  die  Notwendigkeit  der  Detailuntersuchungen  als  Grundlage  der 
geschichtlichen  Darstellung  und  der  »modernen  philologischen  Jurisprudenz«; 
»den  strengen  Fleiß,  die  gründliche  Kenntnis  und  den  sorgfältigen  Gebrauch 
des  kritischen  Handwerkszeugs«  als  »Base  jeder  bleibenden  Leistung«  — 
eine  Forderung,  welche  wohl  heute  dank  M.s  Lebensarbeit  wenigstens  theo- 
retisch zu  den  Selbstverständlichkeiten  gehört,  aber  in  einer  Zeit,  in  welcher  das 
Naturrecht  nicht  überwunden  und  die  spekulative  Philosophie  auf  der  Höhe 
ihrer  Entwicklung  war,  nur  von  den  Wenigsten  erfüllt  wurde  und  erfüllt 
werden  konnte.  Es  ist  für  M.s  wissenschaftliche  Eigenart  bestimmend  ge- 
worden, daß  er  in  einer  Zeit,  als  sich  die  historische  Rechtsschule  unter 
Savignys  Führung  die  Herrschaft  zu  erringen  begann,  als  Jurist  von  der 
Philologie,  die  damals  auf  sprachlichem  und  monumentalem  Gebiete  vordrang, 
die  Forschungsmethode  entlehnte,  die  er  selbst  kennzeichnet  als:  »die  rück- 
sichtslos ehrliche,  im  großen  wie  im  kleinen  vor  keiner  Mühe  scheuende, 
keinem  Zweifel  ausbiegende,  keine  Lücke  der  Überlieferung  oder  des  eigenen 
Wissens  übertünchende,  immer  sich  selbst  und  andern  Rechenschaft  legende 
Wahrheitsforschung.«  6)  Als  Jurist  ist  M.  an  das  von  den  Romanisten,  die 
infolge  der  praktischen  Bedeutung  des  römischen  Rechtes  doch  wesentlich 
Zivilisten  blieben,  allzu  sehr  vernachlässigte,  erst  gerade  in  jenen  Jahren 
wegen  seines  historischen  Interesses  ernsthafter  behandelte  römische  Strafrecht 
herangetreten  und  von  vornherein  sich  klar  darüber  gewesen,  welche  Unmenge 
von  Detailuntersuchungen  angestellt  werden  mußten,  bevor  eine  befriedigende 
Gesamtdarstellung  möglich  wäre;  so  ist  es  kein  Zufall,  daß  sein  letztes  großes 
Werk,  der  Schlußstein  seiner  Lebensarbeit,  das  römische  Straf  recht  gewesen 
ist,  —  wenn  er  auch  50  Jahre  vor  dessen  Erscheinen  gleichsam  intuitiv  die 
Hauptprobleme,  z.  B.  die  Frage  und  Bedeutung  der  Provokation,  die  Un- 
trennbarkeit  des  römischen  Strafrechtes  vom  Strafprozesse  richtig  erfaßt  hatte. 
Es  gehörte  aber  dazu  vor  allem  eine  richtige  Auffassung  vom  römischen  Staate, 
der  seinerseits  »erst  von  der  römischen  Jurisprudenz  sein  Licht  empfängt«  und 
dessen  Zentralbegriff,  das  Imperium,  schon  dem  Sechsundzwanzigjährigen  so 
deutlich  war,  wie  keinem  seiner  Zeitgenossen.  Aber  der  Staat,  sein  Zivil- 
recht, wie  sein  Straf-  und  Staatsrecht  konnten  in  ihrem  historischen  Werden 
nur  verstanden  werden,  wenn  er  aus  sich  heraus  verstanden  und  nicht  moderne 
Kategorien  in  ihn  hineingetragen  wurden.  Es  mußte  also,  nachdem  Niebuhr 
die  Kritik  der  Überlieferung  weit  gefördert  hatte,  in  dem  vollen  Bewußtsein, 


448  Mommsen. 

daß  »den  Gegensatz  reinster  Auffassung  der  Tradition  und  idealster  Rekon- 
struktion, den  wir  alle  bezwingen  möchten,  vollkommen  niemand  lösen  kann«, 
der  Wiederaufbau  dadurch  vorbereitet  werden,  daß  alle  Quellen,  welche 
noch  zu  uns  sprechen  können,  gesammelt  und  gesichtet  und  daß  sowohl 
die  Sprachwissenschaft,  der  die  großen  Meister  gerade  neue  Wege  gewiesen 
hatten,  als  auch  Epigraphik  und  Numismatik,  die  im  großen  ganzen  noch 
mehr  von  Dilettanten  aus  Sport  betrieben  wurden,  in  den  Dienst  der  Gesamt- 
aufgaben gestellt  wurden.  Schon  M.s  Erstlingsschriften  zeigen  dies  Bestreben ; 
er  erzählt  selbst,  daß  ihn  an  der  Universität  besonders  »das  Studium  der 
römischen  Inschriften  lange  Zeit  beschäftigt  und  die  eigentliche  Jurisprudenz 
sehr  zurückgedrängt  habe« ;  das  Büchlein  über  die  Kollegien  schließt  aber  mit 
einem  Hinweis  auf  Boeckhs  griechisches  Inschriftenwerk  und  mit  dem  heißen 
Wunsche,  daß  ein  vollständiges  Corpus  der  lateinischen  Inschriften  ausge- 
arbeitet werde,  als  dessen  Leiter  M.  sich  seinen  Lehrer  Otto  Jahn  erhofft.  — 
M.s  überquellendes  Temperament  hat  sich  aber  niemals  in  die  Gelehr- 
samkeit eingeschlossen;  er  mochte  die  Bücher  nicht  als  Ersatz  für  das  lebendige 
Leben  betrachten,  und  Geselligkeit  war  ihm  Bedürfnis,  eine  Geselligkeit, 
welche  die  Interessen  erweiterte  und  Witz  und  Laune  beim  Glase  Wein  die 
Zügel  schießen  ließ.  Aus  dieser  Geselligkeit  heraus  ist  das  »Liederbuch 
dreier  Freunde«  geboren,  der  beiden  Brüder  Theodor  und  Tycho  und  ihres 
Studiengenossen  Theodor  Storm.  Im  Juli  1843,  ^^i  Gelegenheit  eines  Besuches 
Storms  in  Altona,  wurde  der  Plan,  eine  Auswahl  von  Gedichten  anonym 
herauszugeben,  besprochen,  aber  da  sich  kein  Verleger  hierfür  fand,  entschloß 
man  sich  die  Namen  beizufügen.  Obwohl  Storm  der  einzige  Dichter  unter 
den  dreien  war  und  Tycho  später  wenigstens  als  Übersetzer  Pindars  und 
Shakespeares  bekannt  wurde,  ist  doch  Theodor  M.  der  Führende  in  dem 
Terzette?),  der,  wenn  er  auch  als  Jüngling  mitunter  den  Dichterberuf  in  sich 
zu  fühlen  glaubte  und  noch  bis  in  sein  spätes  Alter  Lust  und  Freude  an 
dichterischer  Gelegenheitsproduktion  hatte  und  (mit  Wilamowitz  zusammen) 
Gedichte  Carduccis  und  Giacosas  »Eine  Partie  Schach«  ins  Deutsche  über- 
trug, doch  niemals  eigentlich  von  der  Zunft  war.  Ein  so  gewaltiger  Meister 
der  Sprache  er  auch  geworden  ist,  ein  so  feines  Empfinden  für  Poesie  in  seiner 
großen  und  deshalb  künstlerisch  veranlagten  Seele  Platz  fand,  sind  seine 
Jugendverse  doch  bei  aller  mitunter  gewollten  Künstlichkeit  des  Reimes  hart. 
Der  Inhalt  und  die  Schärfe  des  Gedankens  scheinen  häufig  die  Form  zu 
sprengen.  So  ist  es  auch  bezeichnend,  daß  in  der  Sammlung  kein  einziges 
Liebesgedicht  von  Th.  M.  ist,  daß  sein  Name  aber  im  ersten  und  im  dritten 
Buche  weitaus  vorwiegt,  in  welchen  die  Stoffe  sich  an  Sagen  und  Märchen 
anlehnen  oder  dem  Leben  der  Gegenwart  entnommen  sind,  das  seiner 
scharfen  Satire  und  Kritik  freien  Spielraum  gewährt.  Der  Spott  ergießt  sich 
namentlich  gegen  die  zeitgenössische  Literatur  seit  Chamissos  Tode,  gegen 
die  Clique: 

»Das  bttckt  sich  und  das  streichelt  sich,  das  drängt  sich  und  das  treibt  sich, 
Das  gibt  ein  Buch  und  einen  Band,  da  schickt  ihr's  dann  nach  Leipzig«  — 

so  wird  sie  charakterisiert.  »Der  Bandwurm  der  Makhamen«  findet  ebenso- 
wenig Grade,  wie  »Mondscheinduft  und  Lindenglanz,  um  aus  der  Haut  zu 
fahren!«,  wie  »die  Herren  von  Adel,  die  sich  am  Parnasse  drängen«  und  wie 
Heinrich  Heine,  gegen  welchen  M.  die  folgenden  Verse  einrückt: 


Mommsen. 


449 


»Auch  ich  war  von  der  Gemeinde 
Und  trug  dein  Bandelier: 
Einstmals  da  waren  wir  Freunde  — 
Bewahre  mich  Gott  vor  Dirl«8) 

Und  doch  ist  im  »Liederbuch«,  wie 'in  jener  Zeit  fast  selbstverständlich,  der 
Einfluß  Heines  neben  dem  von  Goethes  Faust  nicht  zu  verkennen.  Aber  das 
Urteil,  das  sich  in  M.s  Strophen  ausspricht,  ist  unwillkürlich  nicht  nur  ein 
ästhetisches,  sondern  auch  ein  ethisches.     Zwar  heißt  es  im  »Exodus«: 

»In  dieser  Zeit  ist's  nicht  genug,  wenn  uns  ein  Lied  geraten; 

Politisch  soll  der  Dichter  sein,  das  heifit  man  Liedertaten. 

Es  ist  die  Welt  doch  weit  genug  und  viel  kann  drinne  wohnen, 

Und  sind  doch  nicht  bloß  Pressen  drin  und  Konstitutionen. 

Man  liebt  und  phantasiert  so  fort,  und  das  ist  keine  Schande; 

Im  Herzen  hat  gar  Vieles  Raum  noch  bei  dem  Vaterlande. 

Ihr  sollt  nicht  alle  Pauken  sein,  was  Wenigen  nur  ziemte, 

Und  Stimmen  gebe  nicht  der  Zeit,  als  wer  die  Zeiten  stimmte«  — 

dann  aber  weiter: 

»Es  ist  nicht  leicht,  die  Poesie  zu  paaren  der  Gesinnung; 
Nur  Einen  fand  ich,  der's  verstand,  und  groß  ist  doch  die  Innung. 
O  ihn,  aus  dem  die  Jugend  spricht,  nicht  den  Lebendigen  tadl'  ich; 
Ein  Dichter  ist  er,  das  ist  wahr,  und  also  ist  er  adlig.« 

Wenn  sich  aber  auch  hier  die  Begeisterung  für  den  »Lebendigen«,  für  G.  Her- 
wegh,  ausspricht,  so  wird  doch  das  Lob  nach  der  zweiten  Sammlung  (»21 
Bogen«),  die  Herwegh  herausgab,  eingeschränkt.  Auch  der  Streit  zwischen 
Herwegh  und  Freiligrath  (»im  Sandmeer  die  Oase«)  wird  mit  Interesse  ver- 
folgt.    Die  volle  Bewunderung  gehört  aber  Ed.  Mörike,  von  dem  M.  singt: 

. . .  »Da  fand  ich  in  dem  eignen  Bett  von  Moose 
Erblühend  im  geheimsten  Tal  von  Schwaben 
Des  reichen  Liedersommers  letzte  Rose.«  —  — 

Daß  und  warum  das  »Liederbuch«  selbst  eigentlich  unpolitisch  sein  will, 
kündigt  M.  im  Einleitungsgedichte  an: 

. . .  »Fremd  bleiben  wir  in  Schiras  und  Egypten, 
Denn  unsre  ganze  Kunst  ist,  mit  den  treuen 
Gesellen  uns  am  guten  Tag  zu  freuen, 
Zu  weinen  wiederum  mit  den  Betrübten. 

Wohl  habt  ihr  Recht,  daß  unsre  Lieder  anders 
Noch  klingen  sollen,  dafi  sie  klingen  werden 
Wie  Schwerterklang  am  Ufer  des  Skamanders. 

Doch  ist  es  noch  nicht  Zeit  sich  zu  geberden, 
Als  trügen  uns  die  Planken  eines  Branders, 
Denn  sehtl  wir  mauern  jetzt  noch  in  der  Erden!« 

Aber  doch  läßt  M.  den  Kaiser  Barbarossa  mit  sehr  deutlich  politischem  Hin- 
weise in  einem  Kyffhäuser-Gedichte  aus  dem  J.  1841  sagen: 

»Geht  heim  ihr  Kinder!  denn  der  Morgen  grauet, 

Bald  wird  mein  Adler  seine  Flügel  breiten. 

Nicht  jenem,  welcher  vor-  und  rückwärts  schauet  — 

Ihm,  der  nur  vorwärts  streckt  den  schwarzen  Nacken, 9) 

Hab  ich  des  Kampfes  Hitze  anvertrauet.« 

Biogr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.    9.  Bd.  20 


450 


Mommsen. 


Zum  Schluß  aber  heißt  es: 

»Bis  dahin  lasset  immerhin  euch  unser  Lied  gefallen! 

Man  horcht  ja  andern  Vögeln  auch,  nicht  bloß  den  Nachtigallen. 

Wir  finden  wohl  ein  Publikum,  denn  seit  dem  König  Necho, 

Dem  ersten,  welcher  Kap  wein  trank,  fand  jedes  Lied  sein  Echo. 

Es  ist  uns  etwas  Übermut  im  Leben  nachgeblieben, 

Den  haben  wir  für's  Publikum  in  Versen  aufgeschrieben. 

Für's  Handwerk  sind  sie  freilich  nicht,  noch  für  die  Abgemuckten, 

Dem  jungen  Volk  zu  Liebe  ist's,  daß  wir  sie  alle  druckten. 

Fragt  ihr  in  Deutschland  nur  nicht  lang,  wo  dieser  Vers  gewachsen  I 

Die  Veilchen  sind  dieselben  ja  in  Holstein  und  in  Sachsen. 

Euch  legen  wir  sie  an  das  Herz,  des  Landes  lieben  Leuten! 

Am  besten  wisset  ihr  es  doch,  wohin  die  Lieder  deuten.c  — 

Aber  weder  Wissenschaft  noch  Dichtung  waren  geeignet,  dem  Kandidaten 
und  dann  dem  Doctor  juris  das  Leben  zu  fristen.  Obwohl  O.  Jahn,  der  seinen 
Schüler  auch  von  Greifswald  aus  nicht  aus  dem  Auge  verlor,  nicht  daran 
zweifelte,  daß  dieser  über  kurz  oder  lang  zur  akademischen  Karriere  über- 
gehen werde,  mußte  er  sich  doch  zunächst  durch  Privatunterricht  seine  Existenz 
sichern.  Es  wurde  ihm  dies  dadurch  erleichtert,  daß  ihm  verwandte  Damen, 
bei  denen  er  schon  als  Gymnasiast  und  als  Student  verkehrt  hatte,  Inhaberinnen 
zweier  Mädchenpensionate  in  Hamburg  waren.  So  wurde  er  Mädchenlehrer 
und  unterrichtete  Geographie  und  Geschichte,  Literatur  und  deutschen  Auf- 
satz, aber  auch  Französisch  und  Latein.  Er  fand  sich  auch  in  diese  neue 
Tätigkeit  und  gewann  ihr  manche  freundliche  Seiten  ab,  obwohl  seine  Ge- 
sundheit, offenbar  durch  das  Übermaß  verschiedenartiger  Arbeit,  litt.  Dabei 
schrieb  er  nicht  nur  gelegentlich  für  die  »Neuen  Kieler  Blätter«,  an  deren 
Gründung,  wie  es  scheint,  sein  Studienfreund  Carstens  beteiligt  war,  politische 
Beiträge, 'o)  sondern  auch  gelegentlich  für  den  »Merkur«,  sammelte  für  das 
»Volksbuch«  mit  Storm  schleswig-holsteinsche  Sagen  und  Reime")  und  trat 
mit  Wienbarg,  dem  Kritiker  des  »Jungen  Deutschland«,  und  mit  dem  von 
ihm  im  »Liederbuche«  verspotteten  Dr.  Wille  in  Verbindung  und  übernahm 
Korrespondenzen  aus  Hamburg  für  Wienbargs  Organ,  die  literarisch-kritischen 
Blätter  der  »Hamburger  Börsenhalle«;  diese  Tätigkeit  führte  ihn  öfters  ins 
Theater,  das  er  freilich  im  allgemeinen  nicht  loben  konnte;  doch  erlebte  er 
hier  wohl  seine  erste  Faustaufführung,  sah  Grillparzers  »Traum  ein  Leben*, 
konnte  Fanny  Eisler  bewundern  und  begeisterte  sich  namentlich  für  Döring. 
Bei  alledem  kam  die  Geselligkeit  nicht  zu  kurz,  die  ihn  außer  zu  seinen 
Verwandten  in  literarische  Kreise  und  in  die  Häuser  Hamburger  Großkauf- 
leute führte,  mit  denen  er  gelegentlich  über  den  Sozialismus  diskutierte, 
und  wenn  Jahn,  Preller,  Olshausen  durch  Hamburg  kamen,  tauschte  er  mit 
ihnen  seine  Gedanken  aus.  Bald  aber  eröffnete  sich  ihm  eine  weitere  Bahn. 
Im  April  1844  erfuhr  er,  daß  ihm  das  dänische  Reisestipendium,  für  zwei  Jahre 
je  300  Speziestaler,  verliehen  worden  sei.  .  Erleichtert  atmete  er  auf,  daß  ihn 
das  Glück  doch  nicht  verlassen  habe,  und  noch  mehr  als  30  Jahre  später  hat  er 
dankbar  anerkannt,  was  ihm  damit  gegeben  worden  war,  als  er  im  preußischen 
Abgeordnetenhause  bei  Gelegenheit  der  Stiftung  von  Privatdozentenstipendien 
erklärte:  »Ich  wäre  ohne  Zweifel  nicht  Gelehrter,  wenn  ich  nicht  als  geborener 
Schleswig-Holsteiner  in  der  Lage  mich  befunden  hätte,  als  —  wie  man  es  da- 


Mommsen.  ^  J I 

mals  offiziell  formulierte  —  königlich  dänischer  Untertan  ein  Reisestipendium 
zu  erlangen,  welches  in  dieser  Weise  keinem  preußischen  Studenten  gegeben 
wird«.")  Mit  Rücksicht  offenbar  auf  seine  eigenen  Erfahrungen  erschien  ihm 
stets  das  Stadium  zwischen  Doktorat  und  Habilitation  als  die  eigentlich  aus- 
schlaggebende Zeit  für  den  künftigen  wissenschaftlichen  Lebenslauf.  Als 
offizielles  Ziel  seiner  geplanten  Reise  nach  Italien  galt  die  Vorbereitung  für  eine 
aus  erster  Hand  geschöpfte  Ausgabe  der  römischen  Gesetzesurkunden,  welche 
den  alten  Haubold  ersetzen  sollte.  Jahn  verwendete  sich  bei  der  Berliner 
Akademie,  damit  diese  sein  Unternehmen  unterstütze,  und  M.  brachte  sich 
Rudorff  und  namentlich  Savigny  dadurch  in  Erinnerung,  dafi  er  seine 
oskischen  Studien  bei  der  Zeitschrift  für  historische  Rechtswissenschaft  ein- 
reichte, da  er  keine  Lust  hatte,  sich  vor  Sr.  Exzellenz  dem  Staatsminister 
Savigny  persönlich  zu  verneigen,  so  unendlich  er  auch  den  Rechtsgelehrten 
verehrte.  Zugleich  wendete  er  sich  an  die  Pariser  Akademie,  damit  diese 
ihm  in  dem  von  ihr  geplanten  Corpus  inscripHonum  den  Teil  de  legibus  et 
senatus  consulHs  übergebe.  Während  aber  der  letztere  Plan  zu  keinem  Ziele 
führte,  gewährte  die  Berliner  Akademie  eine  kleine  Unterstützung.  »3) 

II.  Wanderjahre.  Als  M.  das  Schuljoch  abgeschüttelt  und  jeder  seiner 
Schülerinnen  Verse  ins  Album  geschrieben,  als  er  von  der  Heimat  und  seinen 
Nächsten,  von  manchen  guten  Freunden  und  Freundinnen  nicht  ohne  Wehmut 
Abschied  genommen  hatte  und  Mitte  September  im  Hamburger  Hafen  das 
Schiff  bestieg,  das  ihn  zunächst  nach  Havre  bringen  sollte,  erschien  ihm,  der 
seine  wissenschaftlichen  Ziele  fest  ins  Auge  gefaßt  hatte,  die  nächste  Auf- 
gabe, die  er  übernommen,  nur  als  eine  erste  Etappe  seiner  weiteren  wissen- 
schaftlichen Entwicklung  und  der  allgemeinen  Erweiterung  seines  Gesichts- 
kreises ;  er  fühlte  es  selbst,  daß  er  bisher  nur  in  der  Provinz  gelebt  hatte  und 
wollte  das  Versäumte  nachholen  in  der  bestimmten  Hoffnung  einst,  wenn 
auch  vielleicht  mit  leeren  Mappen,  er  doch  sicherlich  mit  erweitertem  Blick 
und  freierem  Sinn  in  seine  Heimat  zurückzukehren.  Er  wollte  nicht  nur 
sehen,  was  auf  Steinen  und  Pergament  stand,  sondern  auch  die  weite  Welt 
und  ihr  Leben.  Allerdings  kam  er  sich  wie  hineingeschneit  in  die  Weltstadt 
Paris  vor  und  mußte  sich  erst  besinnen,  bevor  er  so  recht  zum  Arbeiten  und 
zum  Sehen  kam.  Aber  wie  er  sich  schon  in  Rouen  an  der  ihm  neuen  französischen 
Gothik  erfreut  hatte,  so  bewunderte  er  in  Paris,  das  ihm  auch  als  Stätte  der 
Julirevolution  und  als  letzte  Ruhestätte  Börnes  ein  geweihter  Boden  war,  die 
herrlichen  modernen  Bauwerke,  namentlich  die  Madeleine,  und  brachte 
anfangs  jeden  Morgen  im  Louvre  zu,  um  sein  Auge  an  die  Meisterwerke  zu 
gewöhnen.  An  den  Abenden  bewunderte  er  die  Rachel  als  Phidre^  aber  auch 
die  kleinen  Theater,  an  denen  die  ausgezeichnetsten  Komiker  wirkten.  Hase, 
von  Geburt  ein  Deutscher,  Konservator  der  Manuskripte  an  der  Bibliothek, 
nahm  ihn  freundlich  auf,  und  er  vertiefte  sich  in  die  handschriftlichen 
Inschriftensammlungen,  in  Nonius  und  Asconius  und  in  die  Briefe  Ciceros. 
Dabei  fand  er  Zeit  zum  Verkehr  mit  französischen  Gelehrten,  wie  mit  einer 
früheren  Schülerin,  die  in  Paris  verheiratet  war,  und  mit  Dr.  Emil  Braun, 
dem  Sekretär  des  Deutschen  archäologischen  Instituts  in  Rom,  der  zufällig  zur 
selben  Zeit  in  Paris  weilte. 

Aber  trotz  aller  Schönheit  und  trotz  fruchtbarer  Arbeit  zog   es   ihn   ge- 
waltig nach  dem  gelobten  Lande  Italien  hin.    So  ging  er  im  November  über 

29* 


452 


Mommsen. 


Lyon  nach  Montpellier,  wo  sich  zuerst  des  Südens  tiefblauer  Himmel  über  ihm 
wölbte,  und  Nimes,  dessen  Amphitheater  der  erste  gewaltige  Rest  antiker 
Baukunst  war,  dem  er  nahen  konnte;  dann  über  Genua  nach  den  toskanischen 
Städten,  Pisa,  wo  er  die  Kunst  des  Ducento  bewundernd  in  sich  aufnahm, 
Pistoia  und  Florenz,  wo  das  Studium  der  Ciceronischen  Briefe  in  der  Laurentiana 
nicht  selten  durch  Wanderungen  im  Amotale  und  nach  Fiesole  unterbrochen 
wurde;  von  da  nach  Weihnachten  nach  Siena  und,  sobald  eine  Diligenza 
gefunden  war,  unaufhaltsam  nach  Rom.  Eine  dunkeläugige  Italienerin,  welche 
die  Gedanken  des  Forestiere  nicht  unliebsam  durch  ihre  Neckereien  gestört 
hatte,  wies  ihm  von  der  letzten  Station,  La  Storza,  die  Peterskirche,  die  sich 
gewaltig  vom  Abendhimmel  abhob.  Als  er  am  Abend  des  30.  Dezember 
durch  die  Porta  Flaminia  einfuhr,  war  das  Ziel  seiner  Sehnsucht  erreicht, 
und  jubelnd  brach  er  in  die  Worte  aus:  »Welt  geh  nicht  unter,  Himmel 
fall  nicht  ein!«  Er  meldete  sich  gleich  im  »preußischen«  archäologischen 
Institute  auf  dem  Monte  Tarpeo  und,  nachdem  er  gastlich  empfangen  und 
ihm  eine  Wohnung  zugewiesen  war,  eilte  er  noch  nächtlicherweile  auf  das 
Forum,  um  vor  den  erhabenen  Trümmern  des  Altertums  seine  Andacht  zu 
verrichten.  Und  in  seiner  Wohnung  auf  dem  Kapitole  umwehte  ihn  das 
Weben  seiner  historischen  Phantasie.  Er  hörte  den  Wind  um  seinen  Hügel 
pfeifen,  wie  er  wohl  um  Romulus  gepfiffen  hatte,  und  dann  vertrieb  er  sich 
den  Traum  mit  einem  kritischen:  »Vial  an  den  glauben  wir  ja  nicht  mehr.« 
Nun  nahm  er  Rom  in  vollen  Zügen  in  sich  auf.  In  Gesellschaft  von 
Hettner  u.  a.  wurden  untertags  Museen  und  Ruinen  durchstreift,  und  am 
Abende  fand  man  sich  in  einer  Osterie  oder  im  Cafft  dei  Greci  oder  auch  im 
Karneval  auf  dem  Korso  beim  Kampfe  der  Moccoli  zusammen.  M.  hatte  das 
lebhafteste  Gefühl,  hier  in  Rom  die  glücklichste  Zeit  seines  Lebens  zu  ver- 
leben. Die  plastische  Kunst,  überall  herrlich,  schien  ihm  doch  in  Rom  am 
mächtigsten  zu  wirken,  und  er  dankte  seinem  Schicksale,  ihre  schönsten 
Werke  noch  in  einem  Alter  gesehen  zu  haben,  das  volle  Empfänglichkeit  be- 
sitzt. Und  nicht  minder  wertvoll  war  es  ihm,  daß  er  Gesellen  gefunden  hatte, 
wie  er  meinte,  daß  man  sie  sonst  nur  auf  einer  deutschen  Universität  finden 
könne,  so  daß  ihm  in  Rom  eine  neue,  schönere  Studentenzeit  anging.  Der 
Mittelpunkt  dieser  Gesellschaft  aber  war  das  archäologische  Institut.  Das 
von  Grerhard  mit  Unterstützung  Niebuhrs  und  Bunsens  gegründete  »preu- 
ßische« archäologische  Institut  auf  dem  Kapitol  war  schon  damals  der 
Mittelpunkt  der  deutschen  und  der  italienischen,  wie  der  fremdländischen 
archäologisch  -  antiquarischen  Forschung.  Nach  mancherlei  finanziellen 
Kalamitäten  war  die  Privatvereinigung,  die  es  erhielt,  gerade  damals  durch 
die  Unterstützung  Friedrich  Wilhelms  IV.  und  des  Herzogs  von  Luynes  in 
ihrem  Bestände  gefestigt  worden,  und  die  Aufgaben  des  Instituts  erweiterten 
sich  von  Jahr  zu  Jahr.H)  Neben  Dr.  E.  Braun,  der  als  erster  Sekretär  die 
Verbindungen  mit  allen  Teilen  Italiens,  aus  denen  Fundberichte  und 
Demonstrationsobjekte  zusammenströmten,  in  rühriger  Weise  anknüpfte  und 
unterhielt  und  in  den  Adunanzen  und  Führungen  die  Kunstschätze  des  Alter- 
tums temperamentvoll  erläuterte,  wirkte  als  zweiter  Sekretär  Wilhelm  Henzen, 
der  unter  den  Auspizien  Borghesis,  des  Gönners  und  Bundesgenossen  des 
Institutes,  sich  in  die  epigraphischen  Studien  vertieft  hatte,  die  immer  mehr 
zur  Geltung  kamen.     So  wurde  das  Institut  für  die  jungen  oder  bejahrten 


Mommsen. 


453 


Ragazzi,  die  über  die  Alpen  kamen,  die  hohe  Schule  der  Altertumswissen- 
schaft, die  hier  an  Ort  und  Stelle  nicht  als  etwas  Fremdes  erlernt,  sondern 
mit  geradezu  leidenschaftlicher  innerer  Anteilnahme  gepflegt  wurde.  Hier 
wurde  in  Gegenwart  M.s  in  der  Adunanz  vom  lo.  Januar  1845  dessen  Buch 
über  die  Tribus  von  Dr.  Braun  vorgelegt  und  seither  war  M.  auch  ein  regel- 
mäßiger Teilnehmer  an  den  Sitzungen.  Er  bemächtigte  sich  mit  der  ihm 
eigenen  Energie  und  Orientierungsfähigkeit  des  neuen  wissenschaftlichen 
Materiales,  das  jeder  Stein  in  Rom  darbot.  Schon  am  31.  desselben  Monats 
teilt  er  eine  topographische  Untersuchung  über  das  römische  Comitium  mit 
und  beteiligte  sich  dann  sowohl  an  der  Polemik  mit  dem  Jesuiten  Secchi, 
dessen  wissenschaftliche  Unehrlichkeit  ihn  empörte,  als  auch  an  jeder  Diskussion 
über  neu  auftauchende  epigraphische  Fragen,  welche  hier  von  den  besten  Sach- 
kennern erörtert  wurden,  im  engen  Vereine  mit  Henzen,  mit  dem  ihn  bald 
warme  Freundschaft  verband.  Bis  zum  Jahre  1847  weisen  die  Publikationen 
des  Institutes  ein  halbes  hundertmal  M.s  Namen  auf,  neben  denen  von  Braun 
und  Henzen  und  den  damals  schon  berühmten  von  Gerhard,  Welcker, 
Thiersch,  die  in  diesen  Jahren  Rom  besuchten. 

Aber  gerade  die  genauere  Kenntnis  des  Materials  mußte  M.  in  seiner 
Überzeugung  von  der  Mangelhaftigkeit  der  mehr  zufälligen,  unsystematischen 
Einzelarbeit  und  der  in  Deutschland  üblichen  antiquarischen  Methoden  be- 
stärken. Es  war  damals  seine  Absicht,  zusammen  mit  Heinrich  Brunn  eine 
Übersetzung  der  epigraphischen  Abhandlungen  Bart.  Borghesis  herauszu- 
geben, um  die  wissenschaftliche  Welt,  jenseits  der  Alpen  mit  den  Forschungen 
des  einzigen  Mannes  bekannt  zu  machen,  der  damals  in  umfassender  Weise 
mit  wissenschaftlicher  Akribie  und  Kritik  epigraphische  und  numismatische 
Fragen  in  vorbildlicher  Weise  behandelte  und  seine  Untersuchungen  nicht 
der  Lokalhistorie,  sondern  der  wissenschaftlichen  Erforschung  des  römischen 
Altertums  dienstbar  machte.  M.  erhoffte  davon  geradezu  eine  Revolution  in 
der  antiquarischen  und  historischen  Literatur,  die  Möglichkeit  dort  wieder 
anzuknüpfen,  wo  Scaliger  aufgehört  hatte.  Seinen  nie  verweigerten  Rat  erbat 
M.  zunächst  schriftlich,  kaum  dafi  er  in  Rom  angekommen  war,  und  ihn  be- 
suchte er,  nachdem  er  eine  epigraphische  Reise  durch  Umbrien  gemacht  und 
in  Florenz  abermals  kollationiert  hatte,  am  14.  Juli  1845  in  seinem  welt- 
abgeschiedenen Felsenneste  Sn.  Marino.  Dieser  Tag,  an  dem  der  Altmeister 
der  italienischen  Wissenschaft  und  der  27  jährige  Deutsche  Ragazzo,  der  sich 
als  seinen  Schüler  bekannte  und  über  die  Alpen  gekommen  war,  um  die 
Grundlagen  für  eine  neue  antiquarische  Wissenschaft  zu  legen,  einander  nahe 
kamen,  verdient  in  der  Geschichte  der  Wissenschaften  festgehalten  zu  werden. 
»Ich  muß  mich  mit  Gewalt  daran  erinnern,  daß  er  aufhört  und  ich  anfange, 
um  nicht  an  meinen  epigraphischen  Studien  ganz  zu  verzagen«,  schreibt  M. 
an  Henzen  und  trägt  in  sein  Tagebuch  ein:  »Der  hat  mir  imponiert  als 
Gelehrter  wie  noch  niemand.« » 5)  M.  weihte  Borghesi  in  alle  seine  Pläne  ein, 
und  dieser  unterstützte  ihn  bei  jeder  Einzelheit  mit  seiner  reichen  epigraphischen 
Erfahrung.  Der  wichtigste  dieser  Pläne  war  das  Corpus  inscriptionum  Laünarum, 
für  welches,  nachdem  der  seit  1835  bestehende  erste  Entwurf  mit  seinem 
Urheber  Kellermann  zu  Grabe  getragen  war,  die  Berliner  Akademie  Otto 
Jahn  in  Aussicht  genommen  hatte.  Im  Frühjahre  1845  hatte  Jahn  M.  zu 
künftiger  Mitarbeit   bestimmt.     M.  hielt  damals  sein  Schicksal  schon  für  so 


454 


Mommsen. 


gut  wie  entschieden.  »Meine  goldene  Freiheit!«  so  schreibt  er:  »Ich  habe 
angenommen  —  wie  konnte  ich  anders?  aber  es  reißt  an  meinem  Herzen, 
daß  ich  Vaterland,  wissenschaftliche  Bestrebungen,  gewohnte  und  liebe  Ver- 
hältnisse tauschen  soll  —  um  einer  Carri^re  willen.«  Aber  er  bedang  sich 
aus,  daß  in  Italien  nur  gesammelt,  in  Deutschland,  wo  die  wissenschaftlichen 
Hilfsmittel  vorhanden  waren,  redigiert  würde.  Er  will  sich  nicht  »auf  ewig 
in  die  hesperische  Gefangenschaft  verbannen«  und  ist  entschlossen,  wegen 
des  Corpus  inscriptumum  und  der  mit  ihm  verbundenen  vielfach  mechanischen 
Tätigkeit  nicht  alle  seine  wissenschaftlichen  Bestrebungen  zu  Grabe  zu  tragen. 
»Wie  viel  lieber  als  anderen  Leuten  Ziegel  machen,  baute  ich  selbst  Häuser!« 
so  ruft  er  aus  und  er  gesteht,  daß  er,  »obgleich  ein  armer  Teufel,  leicht- 
sinnig genug  gewesen  wäre,  das  schnöde  Gk)ld  für  seine  besten  Jahre  zurück- 
zuweisen«, wenn  er  es  nicht  für  Pflicht  gehalten  hätte,  »daß  wo  solche  Not 
ist,  wie  hier,  jeder  zugreifen  muß,  wer  da  kann,  und  daß  die  wahre  Tüchtig- 
keit darin  besteht,  an  der  Ecke,  wo  man  eben  steht,  sei  es  Offizier,  sei  es 
Soldat  zu  spielen.«  Indessen  war  es  noch  nicht  so  weit  Die  Schwierig- 
keiten häuften  sich.  Die  französische  Akademie  hatte  im  Jahre  1845  ihren 
eigenen  Plan,  ein  Corpus  inscr.  Lat.  ausarbeiten  zu  lassen,  noch  nicht  auf- 
gegeben, und  da  sie  schon  Borghesi  für  einen  Teil  der  Arbeit  gewonnen 
hatte,  schien  M.  eine  Konkurrenzarbeit  gänzlich  untunlich  sowohl  mit 
Rücksicht  auf  die  Unentbehrlichkeit  Borghesis  als  auch  zur  Vermeidung  einer 
wissenschaftlich  unfruchtbaren  und  verbitternden  Konkurrenz  zwischen  deut- 
schen und  französischen  Forschem,  welche  die  Stellung  beider  Teile  den 
Italienern  gegenüber  nur  erschwert  hätte.  Aber  auch  als  diese  Schwierigkeit 
beseitigt  war,  verblieb  die  größere,  daß  einer  starken  Partei  der  Berliner 
Akademie  die  materiellen  Lasten  zu  groß  und  M.  und  Jahn  weniger  geeignet 
erschienen,  die  Arbeit  zu  übernehmen,  als  der  Oberlehrer  Zumpt,  dessen 
Oheim  selbst  in  der  Akademie  war.  Trotzdem  Borghesi  den  Plan  mit  Be- 
geisterung begrüßte,  trotzdem  Savigny,  Lachmann,  Gerhard  sich  mit  aller 
Energie  für  den  von  Jahn  mit  M.  ausgearbeiteten  Entwurf  *6)  einsetzten,  schien 
der  Plan  doch  schon  im  Jahre  1846  gescheitert  zu  sein.  M.  machte  den 
Vorschlag  einer  Probearbeit,  und  da  Jahn  aus  verschiedenen  Gründen  davon 
nichts  wissen  wollte  und  dem  jüngeren  Genossen  freiwillig  alles  weitere 
überließ,  reichte  er  die  Bearbeitung  der  Inschriften  Samnium  ein,  nachdem 
die  Akademie  auf  Anraten  Savignys  den  Vorschlag  angenommen  und 
600  Rth.  als  Subvention  bestimmt  hatte;  unter  diesen  600  Rth.  waren  200, 
welche  Savigny  persönlich  durch  Abtretung  seines  akademischen  Gehaltes  zur 
Verfügung  gestellt  hatte.  ^7)  Während  dieser  Verhandlungen  hatte  M.  rüstig 
weitergearbeitet.  Als  nächstes  Ziel  hatte  er  sich  in  Übereinstimmung  mit 
Borghesi  die  epigraphische  Durchforschung  des  damaligen  Königreiches 
Neapel  gesetzt,  dessen  inschriftliche  Überlieferung  wenig  bekannt  und  durch 
Fälschungen  verdunkelt  war.  Von  Sn.  Marino  zog  er  die  adriatische  Küste 
entlang  südwärts  und  dann  nach  Neapel,  wo  er  die  ganze  neapolitanische 
Inschriftenlitteratur,  namentlich  die  Munizipalgeschichten  durcharbeitete  und 
die  Inschriften  des  Museo  Borbomco  kopierte.  Im  Oktober  schiffte  er  sich  mit 
dem  Numismatiker  Julius  Friedländer,  durch  den  er  zuerst  in  die  Numismatik 
eingeführt  wurde,  und  Dr.  Schrader  nach  Palermo  ein  und  blieb  drei  Wochen 
in  Sizilien.   —  Nach    einem  Winteraufenthalt   in    Rom    durchstreifte    er   im 


Mommsen. 


455 


Sommer  und  Herbst  1846  Süditalien  abermals  nach  allen  Richtungen  hin, 
zeitweise  wiederum  in  Begleitung  Friedländers  und  seines  Bruders  Tycho. 
Mit  diesen  beiden  war  es  ein  fröhliches  Wandern ;  eine  ;  Zeichnung  Fried- 
länders,  in  der  übermütigen  Laune  des  Augenblickes  hingeworfen,  zeigt  M. 
in  recht  bedenklicher  Stellung,  halb  auf  dem  Mulo,  halb  auf  der  Leiter  eine 
Inschrift  eines  Brückenbogens  abschreibend.  Aber  bei  den  einsamen  Streifungen 
galt  es  auch  die  größten  Strapazen  ertragen  und  mitunter  die  größten 
Schwierigkeiten  überwinden  und  in  dem  großenteils  unwirtlichen  Lande,  in 
welchem  der  Fremde  auf  das  Entgegenkommen  der  Eingeborenen  angewiesen 
war,  der  Preti  und  Landedelleute,  die  zum  Teile  mißtrauisch,  zum  Teile  neu- 
gierig dem  Forestiere  entgegenkamen,  die  gewonnen,  deren  lokalpatriotische 
Empfindungen  geschont  werden  mußten.  Manche  der  Beziehungen,  die  M. 
damals  anknüpfte,  haben  Dezennien  hindurch  vorgehalten,  und  der  gute 
Humor  hat  ihn  nur  selten  verlassen.  Aber  in  Momenten  der  Mißstimmung, 
die  schon  den  Jüngling  gelegentlich  ergriffen  haben  muß,  haderte  er  wohl 
mit  dem  Geschicke,  das  ihn  dazu  verdammte  »zu  sammeln  und  in  infinitum 
zu  sammeln  unter  Widerwärtigkeiten  und  Schwierigkeiten,  von  denen  sich 
niemand  eine  Idee  machen  kann,  der  nicht  die  Freunde  und  die  Gasthäuser 
in  den  neapolitanischen  Provinzen  kennt«  —  und  schildert,  wie  die  Menge  ihm 
über  die  Schulter  sieht,  während  er  auf  einem  öffentlichen  Platze  eine  Inschrift 
abschreibt,  und  sich  über  den  fränkischen  Narren  lustig  macht,  der  alle 
Buchstaben  abschreiben  will.  Da  sehnte  er  sich  wohl  nach  dem  ruhigen 
Schreibtische  zurück,  bis  er  auf  der  Piazza  von  Sorrent  sich  über  das  Treiben 
des  Volkes  belustigend  oder  in  Neapel  oder  in  Rom  im  Kreise  der  heiteren 
Genossen  bei  Falerner  oder  Wein  von  den  Kastelli  nicht  nur  auf  die  Aben- 
teuer, sondern  auch  auf.  die  wissenschaftlichen  Ergebnisse  mit  Freude  zurück- 
blickte. 

Aber  nicht  nur,  daß  er  damals  das  vollständige  Material  für  die  Samm- 
lung der  neapolitanischen  Inschriften  zusammenbrachte  und  sich  über  die 
Grundlagen  jeder  wissenschaftlichen  Inschriftensammlung  klar  wurde  und  daß 
von  seiner  Hauptarbeit  eine  ganze  Reihe  epigraphischer  Analekten  abfielen, 
anknüpfend  an  seine  oskischen  Studien  wurde  er  durch  die  unteritalischen 
Inschriften  weiter  zum  sprachlichen  Studium  der  unteritalischen  Dialekte 
geführt,  deren  Frucht  das  im  Jahre  1850  erscheinende  Werk  »Die  unter- 
italischen Dialekte«  war,  das  für  diesen  Teil  der  Sprachwissenschaft  wie  für 
die  vorrömische  Greschichte  Italiens  grundlegend  geworden  ist,  wenngleich 
sich  grade  M.  seiner  Mängel  bewußt  war.  Ebenso  legten  seine  damaligen 
numismatischen  Studien  den  Grund  zu  seiner  ebenfalls  1850  erscheinenden 
Abhandlung  über  das  römische  Münzwesen. 

Kaum  einen  anderen  seit  Goethe  hatte  Italien  so  reich  beschenkt,  wie 
M.,  weil  keiner  wie  er  dem  reichen  Lande  seine  Gaben  abzugewinnen  wußte. 
Nachdem  er  im  Mai  1847  Borghesi  nochmals  besucht  und  ihm  seine  epi- 
graphischen  Manuskripte  vorgelegt  hatte,  kehrte  er  über  die  Alpen  zurück. 
Er  ging  über  Wien,  und  Ende  Juli  war  er  in  Berlin,  wo,  nachdem  M.  die 
Bearbeitung  der  Inschriften  von  Samnium  und  eine  Denkschrift  ȟber  Plan 
und  Ausführung  eines  Corpus  inscr.  Lat,^  vorgelegt  hatte, '8)  durch  Savignys 
Bemühen  sich  eine  günstige  Wendung  in  der  Angelegenheit  der  Inschriften- 
sammlung anzubahnen  schien.     An  den  Forderungen  des  Herrn  Zumpt  und 


Az6  Mommsen. 

seiner  Anhänger  scheiterte  sie  abermals,  obwohl  M.  zu  Konzessionen  bereit 
war.  Lachmann  trat  infolgedessen  aus  der  Akademiekommission  aus.  M.  fand 
harte,  aber  gerechte  Worte  gegen  die  Schwäche  und  Halbheit  der  Akademiker 
und  schrieb:  »ich  verzichte,  freilich  mit  blutendem  Herzen  auf  ein  Werk,  in 
dem  ich  eine  Stellung  nach  außen  und  für  mich  einen  Lebenszweck  zu  haben 
meinte.«  '9) 

Nach  der  Heimat  zurückgekehrt,  sonnte  er  sich  in  dem  väterlichen 
Garten  in  Oldesloe  und  freute  sich  des  Wiedersehens  mit  manchen  Jugend- 
freunden in  Altona.  In  Kiel  schien  sich  ihm  schon  zum  zweiten  Male,  freilich 
nur  vorübergehend,  die  Aussicht  auf  eine  Professur  zu  eröffnen,  und  Jahn  riet 
ihm  sich  in  Leipzig  zu  habilitieren.  Vorläufig  aber  mufite  er  aus  materiellen 
Gründen  wieder  seinen  Unterricht  in  der  Mädchenpension  aufnehmen. 

Nichtsdestoweniger  suchte  M.  die  Früchte  seiner  italienischen  Reise 
unter  Dach  zu  bringen  und  namentlich  das  neapolitanische  Inschriftenwerk. 
Als  er  es  nach  zwei  Jahren  bis  auf  die  /naives  fertiggestellt  hatte,  entschloß 
er  sich,  wenn  auch  mit  Widerstreben,  von  der  Berliner  Akademie  eine  Sub- 
vention von  I200  Talern  zu  erbitten.  Obwohl  er  über  M.s  Verhalten  in  den 
früheren  Verhandlungen  erbittert  war,  stellte  Boeckh  doch  den  Antrag  die 
Hälfte  dieser  Summe  zu  gewähren,  so  daß,  dank  der  Opferwilligkeit  des  Ver- 
legers G.  Wigand,  die  Borghesi  —  rfmagistro  patrono  amico^  —  gewidmeten 
Inscriptions  regni  Neapolitani  Latituu  nach  zweijährigem  Drucke  im  Jahre 
1852  erscheinen  konnten.  —  Neben  den  Vorarbeiten  zu  dieser  Mustersammlung 
war  M.  im  Winter  1847 — 48  mit  einer  Unzahl  von  Detail  Untersuchungen  und 
Arbeiten  auf  jenen  anderen  von  ihm  in  Italien  in  Angriff  genommenen  Ge- 
bieten beschäftigt. 

Alle  wissenschaftlichen  Entwürfe  und  Pläne  konnten  aber  M.  nicht  ver- 
hindern, als  der  Frühling  des  Jahres  1848  anbrach,  seine  ganze  Person  in 
den  Dienst  der  Politik,  des  Vaterlandes  und  der  Freiheit  zu  stellen;  der 
kategorische  Imperativ  der  Pflicht  rief  ihn,  wie  damals  die  besten  Männer 
Deutschlands,  unter  die  Fahnen,  und  er  hat  im  Jahre  1848  so  wenig  wie  in 
seinen  letzten  Jahren  es  verstanden,  wie  sich  die  Ängsterlinge  in  der  Studier- 
stube zurückhielten,  wenn  der  Ruf  zur  Tat  an  sie  erging.  Er  nahm  an  einem 
Tumulte  in  Hamburg  teil,  und  nur  eine  Verletzung,  die  er  sich  dabei  zuzog 
und  die,  obwohl  unbedeutend,  ihn  dienstuntauglich  machte,  zwang  ihn  von 
seinem  Plane  abzustehen,  sich,  wie  seine  Brüder  Tycho  und  August,  den 
gegen  Dänemark  ziehenden  Freischaaren  in  Schleswig-Holstein  anzuschließen. 
Um  so  freudiger  ergriff  er  die  Gelegenheit,  Deutschland  und  seinem  engeren 
Vaterlande  mit  der  Feder  zu  dienen,  als  er  auf  Olshausens  Wunsch  in  die 
Redaktion  der  in  Rendsburg  erscheinenden  »Schleswig-Holsteinischen  Zeitung« 
eintrat,  die  seit  dem  15.  April  als  Organ  der  provisorischen  Regierung  heraus- 
gegeben wurde.  Obwohl  an  ihr  auch  andere  hervorragende  Männer  ge- 
legentlich mitarbeiteten,  war  doch  M.,  dessen  erster  Leitartikel  am  24.  April 
erschien,  durch  Monate  hindurch  die  eigentliche  Seele  des  Blattes.  Der 
Schwung  und  die  Begeisterung  der  Zeit  trugen  den  jungen  Journalisten 
und,  indem  er  bald  Berichte  schrieb,  bald  staatsrechtliche  Tagesfragen  in 
klarer  Weise  auseinandersetzte,  bald  in  flammenden  Worten  zur  Tat  auf- 
rief, bald  mit  beißender  Ironie  die  Lauen  verspottete,  bildete  er  sich 
jenen    glänzenden  Stil,    der   ihn    später    befähigte,    nicht    nur  das  Aktuelle, 


Mommsen. 


457 


sondern  auch  das  scheinbar  Tote  wieder  lebendig  zu  machen  —  während  er 
zugleich  durch  sein  tatkräftiges  Eingreifen  in  die  Politik  aus  nächster  Nähe 
all  die  kleinen  Triebkräfte  kennen  lernte,  die  zu  den  großen  Resultaten  der 
Geschichte  führen. ^o)  Es  waren  arbeitsreiche  Monate.  Am  23.  April  wurde  die 
Schlacht  bei  Schleswig  geschlagen,  über  die  M.  am  25.  in  seiner  Zeitung 
berichtete;  noch  40  Jahre  später  schrieb  er  an  einen  Freund:  »Ich  denke 
immer  noch  gern  an  meine  Beschreibung  der  Schleswiger  Schlacht,  die  ich 
als  journalistischer  Schlachtenbummler  mitgemacht  habe  und  dann,  nachdem 
ich  die  Nacht  die  6  Meilen  von  Schleswig  nach  Rendsburg  gelaufen  war, 
den  anderen  Tag  beschrieb.«  Am  25.  wohnte  er  einer  Versammlung  des 
Zentralwahlkomitees  in  Neumünster  bei,  in  welcher  u.  a.  Droysen  und  Waitz, 
von  Mommsen  auch  in  seiner  Zeitung  wärmstens  empfohlen,  als  Kandidaten 
für  das  Frankfurter  Parlament  aufgestellt  wurden,  während  Prof.  (Lorenz)  Stein 
aus  Kiel  infolge  von  M.s  Einspruch  abgelehnt  wurde.  Es  schien  ihm 
am  wichtigsten,  Männer  von  Gesinnung  zu  wählen.  »Sie  sollen  nicht  die 
Form  allein  schaffen  für  Deutschlands  Einheit,  sie  sollen  in  vielen  Teilen 
Deutschlands  auch  den  Geist  schaffen;  sie  sollen  die  Pommern  zu  Deutschen, 
sie  sollen  die  Mörder  Gagerns  zu  Bürgern  machen.  Das  alles  müssen  sie 
tun  durch  ihre  sittliche  Kraft,  gehoben  durch  den  Zwang  von  aufien  und  den 
Drang  von  innen.«  Dagegen  sollten  ausgeschlossen  sein  »alle  verdächtigen 
Charaktere,  alle  Feilen  und  Lauen,  alle  Schwankenden  und  Phantasten,  alle 
Volks-  und  Fürstenschmeichler«  —  aber  auch  »die  in  die  alte  Staatsmaschine 
eingepreßten  Geister,  die  Schreibmaschinen  der  Bureaus,  die  devoten  Pfründner 
der  Staatskirche,  die  gehorsamen  Leutnants  und  Majore,  die  ihres  be- 
schränkten Untertanenverstandes  sich  bescheidenden  Spießbürger,  die  Männer 
der  Hundetreue.«  Dies  schien  M.  um  so  wichtiger,  als  ihm  »die  Gefahr 
einer  Reaktion  im  Schöße  des  deutschen  Parlamentes  selbst«  —  infolge  der 
Unreife  großer  Teile  des  Volkes  —  schon  damals  »nicht  so  chimärisch«  er- 
schien. Man  solle  »nicht  zu  viel  Gewicht  auf  die  Schlagfrage:  Republik  oder 
Monarchie«  legen,  da  diese  nur  zu  Mißverständnissen  und  unnützen  Dis- 
kussionen führte  und  ihm  auch  die  Fürstengewalt  nur  als  eine  historische 
Kategorie  erschien,  sondern  von  den  Kandidaten  vielmehr  fordern,  daß  sie 
für  spezielle  Dinge,  namentlich  für  das  allgemeine  aktive  Wahlrecht  und  für 
eine  gewisse  Zentralisation  eintreten;  daß  sie  versprechen  dazu  mitzuwirken, 
alle  diplomatische  und  militärische  Wirksamkeit  von  den  bisherigen  Bundes- 
staaten auf  die  Zentralgewalt  zu  übertragen,  den  Schwerpunkt  der  Zentral- 
verwaltung auf  das  Nationalparlament  zu  verlegen  und  das  künftige  Bundes- 
haupt mit  wahrhaft  konstitutionellen  Garantien  zu  umgeben,  und  sich  namentlich 
in  der  Frage:  Republik  oder  Monarchie?  dem  Ausspruche  der  Majorität  zu 
unterwerfen.  M.  selbst  gab  das  Schlagwort  aus:  »Keine  Isolierung,  keine 
Reaktion,  keine  Anarchie.«  Dem  entsprach  die  politische  Haltung  der 
Schleswig-Holsteinischen  Zeitung  selbst:  »Um  jeden  Preis  die  Einheit  Deutsch- 
lands«; dem  gegenüber  sollte  die  Verfassungsfrage  zurücktreten;  und  wenn 
auch  die  Gefahr  einer  Hausmachtpolitik,  welche  die  Folge  des  Erbkaisertums 
sein  konnte,  hervorgehoben  und  eine  nicht  monarchische  Spitze  der  Zentral- 
gewalt prinzipiell  bevorzugt  wird,  wird  doch  die  Meinung  ausgesprochen, 
daß  die  Zentralisation  unter  einem  Erbkaiser  zustande  kommen  wird  wegen 
der  Stärke  und  des  berechtigten  Anspruches  auf  Hegemonie  Preußens,  das  eben 


Acß  Mommsen. 

bestehe,  während  der  einheitliche  deutsche  Staat  erst  geschaffen  werden 
müsse.  »Wir  andern  Deutschen  brauchen  Preußen  notwendiger,  als  Preußen 
uns.«  —  Nichtsdestoweniger  polemisiert  M.  am  lo.  Juni  gegen  die  Deutsche 
Zeitung  von  Gervinus,  weil  sich  das  Erbkaisertum  mit  der  Natur  eines  Bundes- 
staates nicht  vereinigen  lasse  und  nur  dem  Doktrinarismus  entsprungen  sei; 
eine  definitive  Lösung  der  Frage  sei  derzeit  noch  nicht  möglich.  Die  staat- 
lichen Formen  müßten  sich  eben  nach  den  Bedürfnissen  richten.  —  Sehr  ener- 
gisch trat  M.  für  den  konstituierenden  Charakter  der  Frankfurter  Nationalver- 
sammlung, der  »alleinigen  Inhaberin  der  deutschen  Staatsgewalt«  ein;  es  war 
recht  deutlich,  gegen  wen  sich  die  Worte  richteten:  »wer  ihren  Beschlüssen  den 
Gehorsam  weigert,  der  ist  ein  Rebell,  und  die  Behauptung,  daß  ein  Beschluß 
der  Nationalversammlung  nicht  bloß  insinuiert,  sondern  akzeptiert  werden 
muß,  ist  Hochverrat  gegen  Deutschland.«  Aber  obwohl  auch  allgemeinere 
Fragen,  z.  B.  die  soziale  Frage  unter  Berufung  auf  englische  Ökonomen 
und  auch  auf  Engels'  »Lage  der  arbeitenden  Klassen  in  England«  in  einem 
liberalsozialpolitischen  Sinne  in  dem  Blatte  behandelt  wurden  und  M.  die 
österreichischen  Verhältnisse  im  Sinne  ungarischer  Sympathien  und  mit 
scharfer  Verurteilung  der  Kamarilla  und  des  Panslawismus  besprach  und 
ausdrücklich  feststellte,  daß  Deutschland  auch  von  Österreich  absehen  könne, 
traten  doch  allmählich  die  lokalen  Fragen  immer  mehr  in  den  Vorder- 
grund. In  einer  Versammlung  in  Rendsburg  am  13.  Juni,  an  welcher 
M.  als  Schriftführer  teilnahm,  wurde  eine  Resolution  für  die  augenblick- 
liche Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht,  für  allgemeines  Wahlrecht 
in  dem  von  der  Ständeversammlung  zu  beschließenden  Wahlgesetze  für  die 
Provinzialversammlung  und  gegen  jede  Teilung  Schleswigs  gefaßt,  und 
in  den  folgenden  Wochen  verfolgt  M.  in  seinem  Blatte  die  Tätigkeit  der 
Stände  und  kritisiert  ihre  Tätigkeit,  berichtet  über  die  finanziellen  Vorlagen 
und  preist  eine  reine  Einkommensteuer,  nicht  ohne  immer  wieder  gegenüber 
der  partikularistischen  Antiquität  des  »meerumschlungenen  Patriotismus«  den 
gesamtdeutschen  Standpunkt  zu  betonen.  Die  Dinge  gingen  nicht,  wie  M. 
gehofft  hatte.  Waren  ihm  ohnedies  die  Hände  in  mancher  wichtigen  Frage 
gebunden,  so  ließ  er  sich  nicht  hindern,  in  den  Angelegenheiten  seiner  engeren 
Heimat  energische  Worte  zu  finden  gegen  die  Schlaffheit  und  den  bösen 
Willen  einer  nicht  geringen  Minorität  der  Stände.  Er  hatte  schon  seit  dem 
Juni  das  Gefühl,  daß  das  Regiment  weder  der  einen  noch  der  anderen  Partei 
gehörte,  sondern  ausschließlich  den  Ungeschickten  und  daß  es  seine  tägliche 
Beschäftigung  war,  sich  über  die  Lauen  und  über  die  Renommisten  zu  ärgern. 
Zu  Michaelis  wollte  er  seinen  Abschied  nehmen  und  bat  daher  Jahn,  jetzt 
die  Leipziger  Angelegenheit  zu  fördern.  Persönliche  Oppositionsartikel  führten 
aber  schon  jetzt  zu  heftigen  Interpellationen  von  Seite  der  Stände,  und  die 
Regierung  wies  nun  ihre  Zeitung  an,  die  Stände  ungeschoren  zu  lassen.  Da 
Versuche,  das  Blatt  in  Privathände  zu  bringen,  fehlschlugen,  ging  M.  schon 
Anfangs  Juli  mit  der  Überzeugung,  in  seiner  Heimat  überflüssig  zu  sein,  und 
mit  dem  Gefühle  der  Scham,  daß  die  großartig  angekündigte  Schilderhebung 
in  nichts  verlief.  —  Um  seine  Existenz  zu  fristen,  suchte  er  möglichst  bald 
wieder  Beschäftigung  bei  einer  Zeitung,  und  ging  nach  Frankfurt,  wo  ihm 
der  Gegensatz  zwischen  der  »Parlamentsidylle«,  für  die  die  verschiedenen 
Wirren  nur  Redestoffe  seien,  zwischen  der  Beratung  der  Grundrechte  auf  der 


MomiDsen.  459 

einen  Seite  und  der  tatsächlichen  Haltung  der  Regierungen  auf  der  anderen, 
der  Gegensatz  zwischen  Theorie  und  Praxis  viel  zu  denken  gaben.  Er  war 
Zuhörer  bei  einer  Beratung  der  Linken  im  »Deutschen  Hofe«,  bei  welcher 
ihm  auch  R.  Blums  vorsichtige  Zurückhaltung  auffiel,  die  ihn  ebenfalls  für 
die  Zukunft  nichts  Gutes  ahnen  ließ.  In  dieser  wenig  freudigen  Stimmung 
erhielt  er  die  Nachricht,  daß  der  sächsische  Minister  v.  d.  Pfordten  sich  Jahn 
gegenüber  bereit  erklärt  hatte,  M.  von  Michaelis  1848  an  mit  einem  Gehalte 
von  400  Rth.  als  außerordentlichen  Professor  der  Jurisprudenz  in  Leipzig 
anzustellen. 

Dann  trat  der  Wendepunkt  in  Schleswig  und  in  Deutschland  überhaupt 
ein,  als  es  durch  den  Vertrag  von  Malmö  klar  wurde,  daß  Preußen  von  der 
nationalen  Politik  sich  lossagte.  Noch  am  29.  August,  als  Olshausen  aus  der 
provisorischen  Regierung  ausgetreten  war,  polemisierte  die  Schleswig -Hol- 
steinische Zeitung  zwar  gegen  die  Berliner  Junkerpartei,  sah  aber  doch  in 
Preußen  den  »Staat  des  Fortschritts«,  der  »sich  zu  Deutschland  erweitern 
müsse«.  Dann  schlägt  sie  heftigere  Töne  an,  fordert  den  Landtag  zum 
Handeln,  zur  Steuerverweigerung  auf,  greift  die  neue  verhaßte  Regierung  an 
und  droht:  »es  wäre  möglich,  daß  vor  der  lauten  Anklage  einer  Politik, 
worin  die  deutschen  Fürsten  abermals  Schmach  gehäuft  haben  auf  das  deutsche 
Volk,  die  noch  keineswegs  gesicherten  Throne  wiederum  erzittern«.  Doch 
erkennt  sie  resigniert  an,  daß  sich  Schleswig-Holstein  einem  von  der  National- 
versammlung und  den  konstituierten  Gewalten  rechtsgültig  abgeschlossenen 
Waffenstillstände  fügen  müsse  und  wirft  noch  in  mehreren  Artikeln  (16. — 21. 
Sept.)  auf  Grund  der  der  Nationalversammlung  vorgelegten  Aktenstücke  einen 
Rückblick  auf  die  Geschichte  des  Waffenstillstandes.  M.  scheint  in  dieser 
Zeit  wieder  mitgearbeitet  und  von  Kiel  aus  die  »Briefe  über  die  Landes- 
versammlung« und  die  neuen  Parteibildungen  geschrieben  zu  haben,  legte 
aber  Ende  September  die  Feder  nieder. 

Das  ihm  eigene  strenge  Pflichtgefühl,  das  er  auch  von  den  anderen 
forderte,  hatte  ihn  in  den  politischen  Kampf  geführt,  und  er  hatte  ausgeharrt 
mit  der  aus  seinem  starken  Temperamente  entspringenden  Begeisterung,  die 
er  als  eine  Grundbedingung  des  Erfolges  betrachtete,  solange  er  glaubte, 
nützlich  wirken  zu  können.  »Gehen  wir  zugrunde,  so  sind  schuld  daran 
die  Klagenden  und  die  Zagenden,  die  bedenklichen  kränklichen  Seelen,  die 
superklugen  Politiker,  die  den  großen  Text  der  Geschichte  mit  ihren  Frage- 
und  Ausrufungszeichen  versehen,  die  nachhinkenden  Kleinmeister,  welchen 
der  herrlichste  Sieg  nicht  genug  Resultate  gibt,  die  armen  Seelen,  welche 
keinen  Glauben  haben  an  den  Gott  in  der  Geschichte,  kurz  all  die  hoffnungs- 
lose Feigheit,  die  kopfschüttelnde  Klugheit,  die  wie  ein  bleiernes  Schwer- 
gewicht den  edlen  Enthusiasmus  Deutschlands  niederziehen  möchte.«  Aber 
es  liegen  genug  Äußerungen  vor,  die  beweisen,  daß  er  von  vornherein  die 
tatsächlichen  Machtverhältnisse,  das  Widerstreben  der  Machthaber  gegen  die 
neue  Entwicklung,  die  Unreife  des  Volkes,  die  Stärke  der  Reaktion  und  die 
philiströse  Furcht  vor  der  Anarchie  richtig  beurteilte.  Darum  wird  er  auch 
am  leidenschaftlichsten  und  beredtesten,  wenn  er  die  wirklichen  Verhältnisse 
mit  beißender  Satire  dem  erstrebten  Ziele  gegenüberstellt.  Schon  am  31.  Mai 
schreibt  er  in  einem  Artikel,  der  überschrieben  ist:  »Die  Einheit  Deutschlands 
praktisch   angewandt«    u.  a.:    »Wir  haben    uns   sehr   geirrt.     Die  Idee  eines 


j_50  Mommsen. 

einigen  und  starken  Deutschlands  hat  in  der  Praxis  einen  Kommentar  er- 
halten, der  geeignet  ist,  die  ruhige  Vernunft  zum  Wahnsinn  und  die  Thorheit 
zur  Ehre  zu  bringen.  —  Das  einige  Deutschland  ist  ein  solches,  wo  jeder 
deutsche  Regent  im  militärischen  und  politischen  Verhalten  zum  Ausland 
seinen  eigenen  Willen  hat,  wo  Preußen  gar  nicht  zu  wollen  braucht,  was 
Hannover  will,  und  umgekehrt.  Das  einige  Deutschland  schließt  nicht  aus, 
daß  ein  deutscher  Fürst  sich  weigert  sein  Kontingent  zu  stellen.  Das  einige 
Deutschland  schließt  nicht  aus,  daß  ein  deutsches  Land  einen  Separatfrieden 
schließt.  Das  einige  Deutschland  kann  viel  vertragen,  unbeschadet  seiner 
Einheit,  gerade  wie  das  heilige  römische  Reich,  trotz  Neutralitätserklärungen 
und  Baseler  Friedensschlüsse,  das  heilige  römische  Reich  blieb.  Das  einige 
Deutschland  ist  eine  Koalition  mehrerer  Fürsten,  mit  einer  Phrase  dazu.  Das 
einige  Deutschland  ist  ein  periodisch  wiederkehrender  Traum  des  deutschen 
Michel,  der  in  Versen  vortrefflich,  in  Prosa  schlecht  und  in  der  Praxis 
nirgends  an  seinem  Platze  ist.  Das  einige  Deutschland  ist  ein  Hohn  der 
Dänen,  die  Schadenfreude  Englands.  Aus  Versehen  ist  Deutschland  einig 
gewesen  vier  Wochen  lang;  aber  umsonst  erschraken  die  Nachbarn,  daß  es  nun 
Ernst  werden  möchte.  Schon  lenken  wir  ein  in  das  alte  zerfahrene  Geleise 
des  ewigen  Zwiespaltes,  und  das  erste  Opfer  ist  Schleswig-Holstein.«  Wenn 
er  trotzdem  noch  ausharrt  und  »von  den  deutschen  Fürsten,  deren  viele  sind 
und  uneinige,  an  das  deutsche  Volk,  das  eine  und  Gott  geb*  es  einige« 
appelliert,  die  Organisation  des  Volkskrieges  gegen  Dänemark  verlangt  und 
die  Pläne  einer  wirksamen  Wehrverfassung  für  Schleswig-Holstein  diskutiert, 
wenn  er  immer  wieder  zur  Tat  aufruft,  so  entspringt  dies,  wie  bei  manchen 
seiner  Zeitgenossen  weniger  dem  Glauben  an  die  Möglichkeit,  die  ersehnten 
Ziele  zu  erreichen,  als  dem  Gefühl  der  Verpflichtung,  kein  Mittel  unversucht 
zu  lassen  und  den  Kampf  nicht  aufzugeben.  Den  Schlüssel  zu  dieser  Stimmung 
gibt  M.  selbst,  in  viel  späterer  Zeit,  wo  er*^)  von  Ludwig  Bambergers  revo- 
lutionären Unternehmungen  und  der  »in  seinem  Kopfe  wie  in  zahlreichen 
anderen  damit  vereinigten  Einsicht  in  die  so  gut  wie  vollständige  Aussichts- 
losigkeit des  Beginnens«  spricht  und  hinzufügt:  »Aber  wer  jene  Zeiten  mit- 
durchlebt hat,  wird  sich  der  Jugendstimmungen  erinnern,  der  Zeit,  wo  die 
junge  Welt  meinte,  das  einige,  freie  Deutschland  dadurch  schaffen  zu  helfen, 
daß  jeder,  für  sein  Teil  wenigstens,  sich  aufopferte.«  — 

Seine  Berufung  nach  Leipzig,  wo  er  im  Herbste  1848  eintraf,  betrach- 
tete M.  »als  eine  der  vielen  unerwartet  glücklichen  Fügungen«  .  .  .,  woran 
er  erkenne,  daß  er  ein  Sonntagskind  sei,  und  als  eine  Erlösung  von  »der 
Gold  in  Goldschaum  verwandelnden,  alle  intensive  Arbeit  tötenden  Beschäfti- 
gung mit  dem  Journalisieren,«")  In  Leipzig,  einem  der  geistigen  Brennpunkte 
Deutschlands,  wohnte  er  zusammen  mit  Jahn  im  Hause  G.  Wigands;  es  wurde 
ihm  dank  der  geistig  angeregten  und  gleichgestimmten,  ernsten  und  humor- 
vollen Geselligkeit,  zu  der  sich  außer  M.  und  Jahn,  Haupt  und  dem  Lessing- 
biographen Danzel  die  Verleger  S.  Hirzel,  K.  Reimer,  G.  Wigand  regelmäßig 
zusammenfanden,  zur  zweiten  Heimat. ^3)  Auch  seine  wissenschaftliche  Tätigkeit 
beschränkte  sich  keineswegs  auf  seine  Vorlesungen,  obwohl  die  acht-  und 
zehnstündigen  Pandekten-  und  Institutionenkollegien  dem  des  Lehrens  und 
der  Pandekten  Ungewohnten  genügend  Zeit  rauben  mußten;  im  Jahre  1850 
kündigte     er    außerdem    eine    Vorlesung    »Abschnitte     aus    der    römischen 


Mommsen. 


461 


Geschichte«  an,  deren  Thema  mit  seinen  damaligen  Arbeiten  wohl  in  engerem 
Zusammenhange  stand.  Den  wissenschaftlichen  Vereinigungspunkt  bildete  die 
neu  gegründete  Leipziger  Gesellschaft  der  Wissenschaften,  in  deren  Berichten 
und  Abhandlungen  M.  der  eifrigste  Mitarbeiter  war;  hier  erschienen  u.  a. 
seine  grundlegenden  Untersuchungen  über  das  römische  Münzwesen,  seine 
Abhandlung  über  den  Chronographen  vom  Jahre  354,  die  der  Ausgangspunkt 
für  eine  Reihe  chronologischer  Untersuchungen  sowie  für  seine  später  wieder 
aufgenommene  Beschäftigung  mit  den  Quellen  des  ausgehenden  römischen 
Reiches  wurde.  Geradezu  bedeutsam  für  die  Geschichte  der  Wissenschaften 
war  in  diesem  Leipziger  Kreise  das  Zusammentreffen  bedeutender  Gelehrter 
und  kluger,  gebildeter,  weitausschauender  Verleger.  M.  hat  es  G.  Wigand 
nie  vergessen,  daß  er  in  uneigennütziger  Weise  den  Druck  der  neapolitani- 
schen Inschriften  trotz  eines  nur  ungenügenden  Zuschusses  der  Berliner 
Akademie  ermöglichte,  und  mit  Hirzel  und  Reimer  schloß  M.  damals  die 
Verträge  über  das  römische  Staatsrecht  und  die  römische  Geschichte. 
Namentlich  Karl  Reimer,  der  in  dem  Freunde  nicht  nur  den  führenden  Geist, 
sondern  auch  die  Energie  erkannte,  mit  der  er  wissenschaftliche  Pläne  zu 
Ende  führte,  hat  ihn  auf  jede  Weise  in  großzügiger  Weise  unterstützt.  —  Aus 
demselben  Kreise  ist  auch  das  literarische  Zentralblatt  hervorgegangen,  an 
welchem  M.  anfangs  eifrig  mitarbeitete;  die  vielen  von  ihm  besprochenen 
Schriften  zeigen,  in  wie  mannigfaltiger  Weise  er  sich  auch  außerhalb  des 
Faches  geistig  betätigte.  Der  freundschaftliche  Umgang  mit  Gust.  Freytag, 
der  damals  in  Leipzig  die  »Grenzboten«  redigierte,  mit  Danzel,  mit  Hirzel, 
dem  Goethe-Sammler,  regten  den  dichtenden  Gelehrten  auch  literarisch  an. 
Namentlich  Goethe,  den  er  kannte  und  liebte,  wie  wenige,  war  und  blieb  der 
literarische  Schutzgott  dieses  Kreises.  Sein  hundertster  Geburtstag  wurde 
festlich  begangen,  und  unmittelbar  darauf  unternahmen  die  Genossen  eine 
gemeinsame  Wallfahrt  nach  Weimar. 

Auch  dies  Idyll  der  Arbeit  und  der  Freundschaft  wurde  durch  die 
leidige  Politik  gestört.  Schon  vor  seiner  Berufung  nach  Leipzig  hatte  Jahn 
seinen  Freund  M.  scherzhaft  gebeten,  seine  Sympathien  für  die  Linke  bis  zum 
linken  Zentrum  zu  mäßigen  und  sich  an  den  gutmütigen  Fortschritt  des 
»Deutschen  Vereins«  in  Leipzig  zu  gewöhnen.  M.  nahm  in  der  Tat  mit 
seinen  engeren  Freunden  lebhaft  teil  an  den  Verhandlungen  dieses  Vereines, 
der  für  die  Anerkennung  der  vom  Frankfurter  Parlament  zu  beschließenden 
Verfassung  und  für  die  preußische  Spitze  eintrat.  Im  Januar  wurde  an  die 
sächsische  Regierung  und  den  Landtag  wegen  Publikation  der  Frankfurter 
Grundrechte  petitioniert.  Auf  das  Gerücht  von  einer  Ministerkrise,  welche 
das  offene  Einlenken  in  die  Bahnen  der  Reaktion  bedeutet  hätte,  verfaßte 
M.  im  Auftrage  seiner  Freundet)  am  23.  Januar  eine  Adresse  an  den  Minister 
von  der  Pfordten,  in  welcher,  gegenüber  einem  partikularistischen  Beschlüsse 
der  sächsischen  Kammer,  das  Vertrauen  ausgesprochen  wird,  daß  der  Minister 
auch  künftig  nicht  vergessen  werde,  daß  er  vor  allem  ein  Deutscher  sei.  Es 
heißt  da :  »Ist  auch  der  souveräne  Unverstand  für  den  Augenblick  zur  Herr- 
schaft gelangt,  so  sind  doch  seine  Tage  gezählt;  die  betörte  Mehrheit  im 
Volke  wird  die  Augen  öffnen  und  endlich  begreifen,  daß  nur  in  und  mit 
Deutschland  für  unser  sächsisches  Land  eine  bessere  Zukunft  gedeihen  kann.« 
Am   2.  März  sprach  u.  a.  M.  »über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Deutschen 


462  Mommsen. 

Verfassungsfrage«,  und  es  wurde  eine  Adresse  an  das  Frankfurter  Parlament 
um  möglichste  Beschleunigung  der  zweiten  Lesung  der  Verfassung,  sowie 
eine  energische  Erklärung  in  betreff  der  Rechtsverbindlichkeit  der  deutschen 
Reichs  Verfassung,  wie  sie  aus  den  Beratungen  der  Nationalversammlung  her- 
vorgehen würde,  beschlossen.  Als  dann  M.  von  einer  Osterreise  zur  Hochzeit 
seines  Bruders  und  zu  seinen  Verwandten  zurückgekehrt  war,  auf  der  er  mit 
Schmerz  gesehen  hatte,  wie  die  Dinge  in  Schleswig-Holstein  ihren  Lauf  gingen, 
bereitete  sich  auch  schon  die  letzte  grofie  Krise  vor,  die  allen  Hoffnungen 
ein  Ende  machte.  Am  selben  Tage,  an  welchem  die  preußische  zweite 
Kammer  aufgelöst  wurde,  am  27.  April,  stellte  Haupt  im  Deutschen  Vereine 
den  Antrag,  dem  Rate  und  den  Stadtverordneten  von  Leipzig  den  Dank  aus- 
zusprechen für  die  Schritte,  welche  diese  an  den  König  und  das  Gesamt- 
ministerium getan  hatten,  um  auf  Anerkennung  der  deutschen  Verfassung 
zu  dringen;  der  Antrag  wurde  angenommen  und  in  der  Zuschrift  an  die  Stadt- 
verordneten zugleich  erklärt,  daß  die  Sachsen  keinem  deutschen  Volkstamme 
nachstehen  werden  an  Mut  und  Entschlossenheit,  das  Palladium  der  deutschen 
Einheit  und  Macht  siegreich  zu  behaupten.  Mommsen  unterstützte  den  Antrag 
und  wies  zugleich  darauf  hin,  daß  in  Württemberg  der  Widerstand  des  Volkes 
den  König  zum  Nachgeben  bewogen  habe.  Jahn  stellte  sogar  zur  Erwägung, 
ob  es  nicht  angebracht  wäre,  daß  der  Verein  sich  noch  energischer  äußere, 
als  die  Stadtverordneten.  Der  Antrag  Haupts  wurde  einstimmig  angenommen 
und  ferner  beschlossen,  den  Vereinsausschuß  zu  allen  Schritten  zu  ennächtigen, 
die  er  zur  Herbeiführung  des  notwendigen  Zieles,  Anerkennung  der  Ver- 
fassung, für  geeignet  halte.  Aber  schon  am  30.  April  hatte  Beust  über  seine 
liberalen  Kollegen  im  Ministerium  gesiegt  und  den  Landtag  aufgelöst;  am 
3.  Mai  schon  wurden  in  Dresden  Barrikaden  gebaut.  In  Leipzig  aber  hatten 
sich  alle  politischen  Vereine  zu  gemeinsamem  Handeln  für  die  Durchführung 
der  Reichsverfassung  geeinigt.  Da  aber  auf  den  Beschluß  des  Kommunal- 
gardeausschusses, nicht  allen,  die  sich  meldeten,  Waffen  zu  verteilen,  die 
radikaleren  Vertreter  in  dem  Ausschuß  der  gesamten  politischen  Vereine  remon- 
strierten, weil  sie  den  bewaffneten  Zuzug  nach  Dresden  organisieren  wollten, 
erklärten  der  Deutsche  und  der  Vaterlandsverein,  daß  sie  aus  dem  Gesamt- 
ausschusse »ausgetreten  seien,  weil  die  Mehrzahl  dieses  Ausschusses  den  Be- 
schluß gefaßt  habe,  gegen  die  Kommunalgarde  und  die  Behörde  der  Stadt 
Gewalt  zu  brauchen.«  Auch  als  am  folgenden  Tage,  dem  5.  Mai,  versucht 
wurde,  die  Spaltung  auf  ein  Mißverständnis  zurückzuführen,  blieb  der  Deutsche 
Verein  bei  seinem  Beschlüsse  und  hielt  sich  ferne.  Auch  der  Grund  von  M.s 
Austritt  war,  daß  er  gegen  jede  Unterstützung  des  Dresdener  Aufstandes  ein- 
getreten war,  den  er  offenbar  für  völlig  aussichtslos  ansah. 

Aber  es  brach  die  Zeit  heran,  in  welcher  auch  sehr  gemäßigte  Gesinnungen 
nicht  vor  Verfolgungen  eines  so  skrupellosen  Gegners  wie  Beust  schützten. 
Als  der  Leipziger  akademische  Senat  sich  weigerte,  nach  der  oktroyierten 
Verfassung  einen  Abgeordneten  zu  wählen  wurden  M.,  Haupt  und  Jahn  sus- 
pendiert und  wegen  ihrer  Tätigkeit  im  Deutschen  Vereine  Kriminalunter- 
suchungen gegen  sie  eingeleitet,  die  im  Oktober  1850  in  erster  Instanz  zur 
Verurteilung  M.s  zu  9  Monaten,  Haupts  zu  i  Jahr  Landesgefängnis  und  zur 
Freisprechung  Jahns  führte.  In  zweiter  Instanz  wurden  alle  drei  ab  instantia 
freigesprochen.     M.  erhielt  die  Nachricht,  als  er  im  Februar  185 1  am  Sterbe- 


Mommsen. 


463 


bette  seines  Vaters  weilte.  Sobald  er  in  Oldesloe,  tief  bewegt  durch  den 
eigenen  Verlust  und  durch  den  ehrfurchtgebietenden  Schmerz  seiner  Mutter, 
die  dringendsten  Angelegenheiten  geordnet  hatte,  eilte  er  nach  Berlin  an  das 
Krankenlager  Lachmanns,  in  dem  der  ganze  Leipziger  Kreis  seinen  pater 
fandlicis  und  in  wissenschaftlichen  wie  in  menschlichen  Dingen  seine  höchste 
Instanz  verehrte.  Nach  Lachmanns  Tode  (13.  März  185 1)  nach  Leipzig  zurück- 
gekehrt, mußte  er  mit  seinen  beiden  Genossen  Beusts  unappellabeln  Spruch 
über  sich  ergehen  lassen,  durch  welchen  alle  drei  »zum  Besten  der  Uni- 
versität«, weil  sie  während  der  Maitage  »öffentliches  Ärgernis  gegeben  und 
ein  sehr  schlechtes  Beispiel  für  die  akademische  Jugend  aufgestellt«  hätten, 
ihres  Amtes,  trotz  des  gerichtlichen  Freispruches,  enthoben  wurden  (22.  April). 
So  kam  alles  zusammen :  Zerstörung  aller  politischer  Hoffnungen,  die  schwersten 
persönlichen  Verluste,  Vernichtung  der  materiellen  Existenz.  M.  hat  mit 
staunenswerter  Spannkraft,  allerdings  in  jeder  Weise  gestützt  durch  seine 
Freunde,  unter  denen  Karl  Reimer  vor  allen  genannt  zu  werden  verdient, 
in  ungeschwächter  Arbeitskraft  die  Krise  überwunden.  In  jene  Zeit  fallen 
aufier  dem  Drucke  der  Inscriptiones  regni  Neapolitani  M.s  Arbeiten  über  das 
Preisedikt  Diokletians  und  seine  Erläuterungen  zu  den  römischen  Feldmessern 
in  der  Lachmannschen  Ausgabe,  sowie  aufier  verschiedenen  epigraphischen 
Analekten  und  Besprechungen  die  Anzeigen  literarischer  nnd  historisch- 
politischer Werke  im  Zentralblatte,  die  zeigen,  daß  trotz  allem  seine  Anteil- 
nahme an  der  deutschen  Frage  und  namentlich  an  Schleswig-Holstein  nicht 
vermindert  war.  Und  daß  trotz  allem  auch  der  Humor  nicht  zu  kurz  kam, 
beweisen  mancherlei  literarische  Spaße,  die  aus  dem  Freundeskreise  hervor- 
gingen. *5) 

Ein  Ruf  als  Professor  des  römischen  Rechtes  nach  Zürich,  den  ihm  wahr- 
scheinlich S.  Hirzel  vermittelt  hatte,  entriß  ihn  der  schwierigen  Situation. 
Aber  trotz  des  freundlichen  Empfanges,  der  ihm  im  Mai  1852  zuteil  wurde, 
trotzdem  die  Züricher  Regierung  ihm  unaufgefordert  im  Frühjahre  1853  ^^"^ 
vollen  Ordinariatsgehalt  zubilligte,  was  er  dankbar  anerkannte,  gelang  es  M. 
während  seines  mehr  als  zweijährigen  Aufenthaltes  in  Zürich  (Frühjahr  1852 
bis  Sommer  1854)  nicht,  sich  in  die  damals  sehr  engen  Verhältnisse  der  Stadt 
hineinzugewöhnen.  Die  deutschen  Professoren  betrachteten  damals  Zürich 
nur  als  Durchgangsstation,  und  M.,  der  den  angeregten  Leipziger  Kreis,  mit 
dem  er  freilich  brieflich  in  regem  Verkehr  blieb,  schwer  vermißte,  litt  sowohl 
an  Vereinsamung,  als  an  dem  Zwange  der  steifen  obligaten  Professorendiners, 
während  er  sich  nur  dem  Physiologen  Ludwig  und  Hitzig  freundschaftlich 
anschloß  und  gegen  Ende  seines  eigenen  Aufenthaltes  den  Abgang  seines 
Fakultätskollegen  Erxleben  lebhaft  bedauerte.  Weder  die  politischen  Ver- 
hältnisse des  Kleinstaates,  die  ihm  nicht  zusagten,  noch  auch  seine  Lehr- 
tätigkeit konnten  ihm  einen  Ersatz  bieten,  da  er  über  die  mangelhafte  Vor- 
bildung der  Studenten  mit  Ausnahme  derer,  welche  aus  den  Züricher  Kantons- 
schulen hervorgegangen  waren,  zu  klagen  hatte  und  höchstens  auf  zehn  Hörer 
rechnen  konnte.  Um  so  mehr  vertiefte  er  sich  in  seine  wissenschaftlichen 
Arbeiten.  Außer  der  Arbeit  an  der  römischen  Geschichte,  die  auch  eine 
Arbeitskraft  wie  die  M.s  hätte  ganz  in  Anspruch  nehmen  können,  nützte  er 
aus,  was  ihm  die  Umgebung  an  Material  für  seine  wissenschaftlichen  Zwecke 
bot;  wenn  auch  ungerne,  unterzog  er  sich  der  Pflicht  einen  populären  Vortrag 


464 


Mommsen. 


vor  dem  ihm  nicht  sympathischen  Publikum  zu  halten  und  sprach  über  die 
Schweiz  in  römischer  Zeit,  sammelte  und  gab  die  lateinischen  Inschriften  der 
Schweizer  Eidgenossenschaft  für  die  Züricher  antiquarische  Gesellschaft  her- 
aus, deren  Mitglieder,  namentlich  F.  Keller,  er  schätzen  gelernt  hatte ^);  er 
wurde  mit  den  Resten  des  Altertums  in  der  Schweiz  so  vertraut,  daß  er  es 
auch  übernahm,  den  Schweizer  Baedeker  in  antiquarischer  Beziehung  umzu- 
arbeiten. Aus  demselben  Arbeitskreise  gingen  in  Fortsetzung  früherer  Arbeiten 
seine  Studien  über  die  nordetruskischen  Alphabete  hervor.  Dazu  kam  aber 
seit  dem  Jahre  1853  die  ermüdende,  in  diesem  Stadium  großenteils  mechanische 
Arbeit  am  Corpus  inscriptionum^  namentlich  die  Herstellung  der  Scheden. 
Denn  die  Neapolitaner  Inschriften  hatten  so  deutlich  gezeigt,  daß  nur  M. 
geeignet  sei,  das  ganze  Corpus  zu  schaffen,  daß  die  Berliner  Akademie  ihren 
Zumpt  fallen  ließ.  Diese  Bedingung  hatte  auch  Ritschi  in  Bonn  gestellt, 
als  er  sich  in  Verbindung  mit  M.  der  Akademie  gegenüber  zur  Bearbeitung 
der  archaischen  Inschriften,  die  gleichsam  den  Prodromus  zum  Corpus  bilden 
sollte,  bereit  erklärte.  Auch  M.s  sonstige  Bedingungen,  durch  Gerhard  aber- 
mals energisch  befürwortet,  wurden  jetzt  angenommen,  insbesondere  auch  die 
Mitwirkung  Henzens,  namentlich  für  die  stadtrömischen  Inschriften,  und 
de  Rossis,  die  er  forderte.  Im  Juni  1853  wurden  diese  beiden  Gelehrten  und 
M.  zu  Korrespondenten  der  Akademie  ernannt,  und  M.  wurde  für  die  Vor- 
arbeiten zum  Corpus  für  6  Jahre  eine  Remuneration  von  je  400  Rth.  bewilligt. 
Dabei  genoß  M.  trotz  allem  die  wunderbare  Natur,  und  eine  fröhliche 
Wanderung  auf  den  Rigi  und  nach  Meiringen,  welche  die  drei  Leipziger 
Genossen  M.,  Haupt  und  Karl  Reimer  im  Sommer  1852  gemeinsam  unter- 
nahmen, erfrischte  ihn  nach  den  Mühen  des  ersten  Züricher  Semesters;  ein 
andermal  überkam  ihn  die  Lust  am  Klettern  bei  Gelegenheit  eines  Ausfluges 
nach  Haiden  so  sehr,  daß  er  den  Säntis  bestieg.  Von  Karl  Reimer  immer 
wieder  aufgefordert,  entschloß  er  sich  zu  Ostern  1854  ihn  und  die  anderen 
Freunde  in  Leipzig  zu  besuchen.  Es  zog  ihn  wohl  schon  ein  geheimer  Wunsch 
dahin,  den  er  erst  in  einem  Briefe  äußerte,  als  er  nach  mehrwöchetitlichem 
Aufenthalte  Leipzig  verließ,  um  über  Eisenach,  wo  er  Bruder  Tycho  und 
seine  Mutter  besuchte,  nach  Berlin  zu  gehen.  In  Marie  Reimer,  der  schönen 
Tochter  Karls,  glaubte  er  den  Ernst  und  die  Heiterkeit  gefunden  zu  haben, 
die  man  brauche,  um  das  schwere  Leben  mit  Würde  und  Anmut  zu  ertragen; 
und  dieser  Glaube  an  die  Frau,  die  durch  nahezu  ein  halbes  Jahrhundert 
seine  treue  Gefährtin  werden  sollte,  täuschte  ihn  nicht;  sie  hatte  nach  ihres 
eigenen  Vaters  Zeugnis  eine  gewisse  Stärke,  über  Nebendinge  keine  Grillen 
zu  fangen;  sie  wußte  ihm  die  kleinen  Dinge  des  Lebens  zu  ordnen,  wie  sie 
sich  in  den  großen  der  Führung  seines  starken  Geistes  unterordnete.  M. 
wagte  den  Schritt  in  die  Ehe,  weil  er  seiner  Frau  jetzt  eine  wenn  auch  be- 
scheidene Häuslichkeit  bieten  konnte,  zu  der  sein  Gehalt  als  Züricher  Professor 
(700  Rth.I)  nebst  seiner  Remuneration  aus  Berlin,  seinen  Kollegiengeldem 
und  seinen  literarischen  Einnahmen  ausreichte,  ohne  daß  er  befürchten  mußte, 
durch  ökonomische  Sorgen  geknickt  zu  werden;  allerdings  setzte  er  auch  die 
Hoffnung  auf  eine  glänzendere  materielle  Zukunft  in  seine  verständige  Rech- 
nung ein.  Am  16.  April  1854  wurde  die  Verlobung  publiziert,  ohne  daß 
gerade  die  Vielen,  die  derartige  Ereignisse  immer  vorausahnen,  überrascht 
gewesen  wären.     Mitten  in  den  Sorgen  um  seine  erkrankte  Braut,  um  die 


Mommsen.  aQz 

Einrichtung  der  neuen  Häuslichkeit  in  Zürich,  um  die  Beschaffung  des  Heimat- 
scheines  für    die   Hochzeit,    die    dem    politisch    Gebrandmarkten    von    dem 
dänischen  wie  von  dem  sächsischen  Polizeistaate  auf  jede  Weise  erschwert 
wurde,   traf  ihn  ein  Ruf  des  preußischen  Unterrichtsministers  Raumer.     Er 
sollte  als  Ordinarius  für  römisches  Recht  an  die  Universität  Breslau  kommen 
und  seine  Professur  mit  einer  Bibliothekarstelle  verbinden.    Da  er  jedoch  die 
Bibliothekarstelle  auf  Rat  seiner  Freunde  ablehnte,  entschloß  sich  der  Minister, 
ihm  auch,  abgesehen  von  diesem  Nebenamte,  auskömmliche  Bedingungen  zu 
stellen.     Die  Hauptsache  für  M.   war,    daß    er  nach  Preußen  kam,    daß    er 
hoffen  konnte,  von  der  preußischen  Regierung  für  das  Inschriftenunternehmen 
der  Berliner  Akademie,  so  oft  es  nötig  wurde,  Reiseurlaub  zu  erhalten,  und 
daß   er  und  seine  Freunde  von  vornherein  Breslau   nur  als  eine  Etappe  auf 
dem   Wege   nach   Berlin    betrachteten.     Auch   hoffte  er  in  Breslau   größere 
Kollegien  zu  haben,   als  in  Zürich.     Darin  täuschte  er  sich  allerdings;  denn 
nachdem  er  im  Hause  seines  Schwiegervaters,  der  eben  im  Begriffe  war,  mit 
seinem  Geschäfte  nach  Berlin  zu  übersiedeln,  am  lo.  September  1854  seine 
Hochzeit  gefeiert  und   nach  kurzer  Hochzeitsreise  in  Breslau   angekommen 
war,  wurde  es  ihm  rasch  klar,  daß  hier  die  Studentenschaft  sehr  flau,  die 
Einpaukerei  in  vollem  Flore  war.     Das  Beste  daran  war,   daß  er  in  diesem 
Wintersemester  von  allen  Vorlesungen  frei  war,  da  sich  für  sein  Privatkolleg 
(Obligationenrecht)  nicht  bloß  kein  einziger  Student  gemeldet  hatte,  sondern 
auch   in   die   erste  Vorlesung  nicht  einmal   die   Neugier  einen   Hospitanten 
geführt  hatte;  erst  im  Sommersemester  brachte  er  es  auf   12  Hörer.     Auch 
mit  seinen  Kollegen  war   er  nicht  sonderlich  zufrieden,   noch  auch  mit  der 
Geselligkeit;  an  wenige  Personen,  darunter  Wattenbach  und  Roepell,  schloß  er 
sich  in  Breslau  an ;  er  bemühte  sich  auch  hier,  nach  dem  Muster  der  Leipziger 
Gesellschaft,    die  wissenschaftliche  Arbeit   an    der   Breslauer  Universität    zu 
organisieren,   während  er  selbst  bei  rastloser  Arbeit  an    der  römischen  Ge- 
schichte und  den  Inschriften  noch  Muße  fand,  in  unglaublich  kurzer  Zeit  seine 
bedeutende  Untersuchung  über  die  neugefundenen  Stadtrechte  der  latinischen 
Gemeinden  Salpensa  und  Malaca  durchzuführen.    Sein  glückliches  Daheim  und 
seine  Arbeit  brachten   ihn   über  manchen   Schmerz,   den  Tod   seiner  Mutter, 
über  tJberarbeitung   und  manche  Unannehmlichkeiten  hinweg.     Namentlich 
drückten  ihn  auch  die  trostlosen  politischen  Zustände  in  dem  Preußen  nach 
Ol  mutz,   in   dem  Lande,    auf  welches   er  für  Deutschland  seine  Hoffnungen 
gesetzt  hatte.     In  Breslau  selbst  fand  er  nichts  als  Zopftum,  Schlaffheit  und 
schlesischen  Partikularismus.     Auch  nach   dem  Tode  des  Zaren  Nikolaus,  als 
manche  wohlmeinende  Personen  auf  eine  Emanzipation  Preußens  vom  russi- 
schen Einflüsse  hofften,  erklärte  er,  keine  Hoffnung  auf  eine  Änderung  der 
politischen  Zustände  zu  haben,  solange  Friedrich  Wilhelm  IV.  regierte.   Nichts- 
destoweniger nahm  er  wieder  gelegentlich  am  politischen  Leben  teil  und  tat 
in  Verbindung  mit  Freunden  das  Seinige,   um  entschiedenere  Liberale,  z.  B. 
Simson,  bei   den  Wahlen   durchzubringen.     Schon  dies,  dazu  die  Ernennung 
zum  Ehrendoktor  der  Philologie  in  Greifswald  bei  einer  oppositionellen  Uni- 
versitätsfeier, genügte   in  Verbindung    mit   seiner  politischen  Vergangenheit, 
ihm  von  Berlin  aus  eine  wohlmeinende  private  Verwarnung   vonseiten    des 
Ministerialreferenten  Joh.  Schulze   zuzuziehen,    die   er   mit   der   ebenfalls   auf 
privatem  Wege,  durch  Reimer,  zurückgesendeten  Antwort  quittierte,  daß  er 

Bioj^.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog;.    9.  Bd.  ßO 


466  Mommsen. 

sich  nie,  auch  nur  durch  Stillschweigen,  an  dem  mitschuldig  machen  werde, 
was  er  aus  Überzeugung  mißbillige.  Diese  Umstände  schienen  seine  von  ihm 
und  von  Karl  Reimer  wie  von  Haupt  in  Berlin  herbeigesehnte  Berufung 
nach  Berlin  weiter  in  die  Feme  zu  rücken  als  je.  Sachliche  Rücksichten 
hätten  sie  entschieden  befürwortet.  Denn  M.  hatte  die  Redaktion  des  Corfms 
unter  der  stillschweigenden  Voraussetzung  übernommen,  daß  der  Druck  nicht 
früher  beginnen  sollte,  bevor  er  in  Berlin  angestellt  sei.  Er  arbeitete  in  den 
Breslauer  Jahren  außer  an  der  Geschichte  hauptsächlich  an  den  Vorarbeiten 
für  das  Corpus^  das  ihm  immer  unendlicher,  i>une  mere  ä  botrt^^  erschien, 
wenn  man  es  nach  den  strengen  Grundsätzen  der  Kritik,  die  er  in  seinen 
Neapolitaner  Inschriften  angewendet  hatte,  und  nicht  nach  Boeckhscher  Art 
machen  wollte.  Als  man  ihn  nichtsdestoweniger  von  Berlin  aus  drängte,  mit 
dem  Drucke  zu  beginnen,  antwortete  er  mit  dem  Anerbieten  seiner  Demission. 
Zu  gleicher  Zeit  kam  ein  Ruf  aus  München  unter  günstigen  Bedingungen,  da 
sich  namentlich  der  König  von  Bayern  für  die  Berufung  M.s  interessierte. 
M.  lehnte  nichtsdestoweniger  ab,  da  sich  Aussicht  auf  Beilegung  der  Krise 
im  Corpus  und  Hoffnung  auf  eine  Berufung  nach  Berlin  ergab.  Auf  einer 
epigraphischen  Reise,  die  er  im  Sommer  und  Herbste  1857  nach  Wien,  Sieben- 
bürgen, Pest,  Venedig  und  dem  Friaul  unternahm,  traf  ihn  die  Nachricht  von 
seiner  Berufung  nach  Berlin  als  Akademiker  mit  einem  Gehalte  von  1500  Talern 
laut  einem  Erlasse,  welchen  der  Prinz  von  Preußen  am  27.  Oktober,  also 
wenige  Tage  nachdem  er  die  Stellvertretung  seines  Bruders  übernommen, 
vollzogen  hatte,  dank  der  nie  nachlassenden  Zähigkeit  Haupts  und  der  Inter- 
vention Alex,  von  Humboldts.  Im  Frühjahr  1858  siedelte  M.  nach  Berlin 
über.  Er  hatte  die  Empfindung,  jetzt  auf  einen  Posten  gestellt  zu  sein,  wo 
er  eine  große  Unternehmung  mit  großen  Mitteln  durchsetzen  konnte  und  wo 
er  hingehörte. 

Auf  diesem  Posten  hat  er  noch  45  Jahre  lang  ausgeharrt.  Aber  schon 
als  er  nach  Berlin  kam,  war  seine  wissenschaftliche  Stellung  klar  umrissen. 
Wenn  er  sich  zu  Beginn  seiner  Wanderjahre  seine  Ziele  gesteckt  hatte,  so 
hatte  er  in  den  14  Jahren,  die  seitdem  verflossen  waren,  schon  alle  Funda- 
mente gelegt,  auf  denen  er  nunmehr  das  Gebäude  der  römischen  Altertums- 
wissenschaft in  unermüdlicher  Arbeit  neu  aufbaute.  Er  selbst  hat  in  weit 
späteren  Jahren  seine  Stellung  in  der  Wissenschaft  und  die  Einflüsse,  die  auf 
ihn  in  seiner  Werdezeit  eingewirkt  haben,  in  den  folgenden  Worten  zusammen- 
gefaßt: »Es  ist  mir  beschieden  gewesen,  an  dem  großen  Umschwung,  den 
die  Beseitigung  zufälliger  und  zum  guten  Teil  widersinniger,  hauptsächlich 
aus  den  Fakultätsordnungen  der  Universitäten  hervorgegangener  Schranken 
in  der  Wissenschaft  herbeigeführt  hat,  in  langer  und  ernster  Arbeit  mitzuwirken. 
Die  Epoche,  wo  der  Geschichtsforscher  von  der  Rechtswissenschaft  nichts 
wissen  wollte,  in  der  der  Rechtsgelehrte  die  geschichtliche  Forschung  nur  inner- 
halb seines  Zaunes  betrieb,  wo  es  dem  Philologen  wie  ein  Allotrium  erschien, 
die  Digesten  aufzuschlagen,  und  der  Romanist  von  der  alten  Literatur  nichts 
kannte  als  das  Corpus  iuris,  wo  zwischen  den  beiden  Hälften  des  römischen 
Rechts,  dem  öffentlichen  und  dem  privaten,  die  Fakultätslinie  durchging,  wo 
der  wunderliche  Zufall  die  Numismatik  und  sogar  die  Epigraphik  zu  einer 
Art  von  Sonderwissenschaft  gemacht  hatte  und  ein  Münz-  oder  Inschriftenzitat 
außerhalb  dieser  Kreise  eine  Merkwürdigkeit  war  —  diese  Epoche  gehört  der 


Momrosen.  467 

Vergangenheit  an,  und  es  ist  vielleicht  mit  mein  Verdienst,  aber  vor  allen 
Dingen  mein  Glück  gewesen,  daß  ich  bei  dieser  Befreiung  habe  mittun 
können.  Was  ich,  ausgegangen  von  ernsten  Studien  des  römischen  Privat- 
rechts, dabei  meinen  älteren  philologischen  Freunden,  vor  allen  Jahn,  Haupt, 
Welcker,  Lachmann,  an  innerer  Anregung  und  äußerer  Förderung  verdanke, 
wie  dann  das  Land  Italien  mit  dem  ewig  belebenden  Atem  seines  Bodens 
und  in  Italien  die  Lehre  unseres  Altmeisters  Borghesi,  die  treue  Arbeits- 
genieinschaft  mit  meinen  Freunden  Henzen  und  Rossi  befreiend  und  den  Blick 
erweiternd  auf  mich  gewirkt  haben,  das  habe  ich  lebhaft  und  dankbar  immer 
empfunden,  wo  ich  in  die  Lage  kam,  mir  zu  vergegenwärtigen,  was  ich  gefehlt 
und  was  ich  recht  getan.«  .  .  .*7) 

Allerdings  beziehen  sich  diese  Worte  auch  schon  auf  die  gewaltigen  Werke 
der  zweiten  Hälfte  seines  Lebens.  Aber  so  gewaltig  sie  sind,  so  waren  sie 
doch  nur  die  Ausführung  jener  genialen  Intuition  in  bezug  auf  Kritik  und 
Rekonstruktion,  zu  der  nur  gelangen  konnte,  wer  sich  schon  frühe  wie  M. 
eine  zentrale  und  universale  Stellung  zum  Gesamtgebiete  seiner  Wissenschaft 
erobert  hatte,  wie  sie  in  der  Römischen  Geschichte  zum  Ausdrucke  kommt. 

III.  Die  römische  Geschichte.  Welcher  Zufall  die  Veranlassung 
dazu  war,  daß  dasjenige  Geschichtswerk  des  19.  Jahrhunderts  entstand,  das 
zum  eisernen  Bestände  der  Weltliteratur  wurde,  erzählt  M.  selbst  in  einem 
Briefe  an  G.  Freytag:*^  »Wissen  Sie,  wie  ich  dazu  gekommen  bin,  die  römische 
Geschichte  zu  schreiben?  Ich  hatte  in  meinen  jungen  Jahren  alle  möglichen 
anderen  Dinge  im  Sinn,  Bearbeitung  des  römischen  Kriminalrechts,  Heraus- 
gabe der  römischen  Legalurkunden,  allenfalls  ein  Pandektenkompendium, 
aber  dachte  an  nichts  weniger  als  an  Geschichtschreibung.  Da  traf  mich 
die  bekannte  Kinderkrankheit  der  jungen  Professoren,  dem  gebildeten  Leipzig 
zu  gegenseitiger  Belästigung  einen  Vortrag  über  irgend  etwas  zu  halten,  und 
da  ich  eben  an  dem  (thorischen)  Ackergesetz  arbeitete  und  mit  diesem 
selbst  doch  bei  meiner  künftigen  Frau  mich  allzu  schlecht  eingeführt  haben 
würde,  so  hielt  ich  einen  politischen  Vortrag  über  die  Gracchen.  Das  Publi- 
kum nahm  ihn  hin,  wie  ähnliche  Dinge  auch,  und  ergab  sich  mit  Fassung 
darein,  von  dem  berühmten  Brüderpaar  auch  femer  nur  eine  dunkle  Ahnung 
zu  haben.  Aber  unter  dem  Publikum  waren  auch  K.  Reimer  und  Hirzel 
gewesen,  und  zwei  Tage  darauf  kamen  sie  zu  mir  und  fragten  mich,  ob  ich 
ihnen  nicht  für  ihre  Sammlung  eine  römische  Geschichte  schreiben  wollte. 
Nun  war  mir  das  zwar  sehr  überraschend,  da  mir  selbst  diese  Möglichkeit 
noch  nie  in  den  Sinn  gekommen  war,  aber  Sie  wissen  ja,  wie  es  in  jenen 
Jahren  der  Wirren  und  Irren  herging,  jeder  traute  sich  alles  zu,  und  wenn 
man  einen  Professor  neckte:  wollen  Sie  nicht  Kultusminister  werden?  so  sagte 
er  gewöhnlich  zu.  So  sagte  ich  denn  auch  zu,  aber  ich  sagte  es  doch  auch 
mit  darum,  weil  jene  beiden  Männer  mir  imponierten,  und  ich  dachte:  wenn 
die  dir  das  zutrauen,  so  kannst  du  es  dir  selber  auch  zutrauen.  Wer  von 
ihnen  beiden  den  Gedanken  gefaßt  hat,  weiß  ich  nicht,  und  wenn  ich  es 
wüßte,  würde  ich  es  nicht  sagen.  Sie  wissen,  wie  grundverschieden  die 
beiden  Persönlichkeiten  auch  waren,  in  ihrem  Wirken  und  Schaffen  schieden 
wir  die  Weidmänner  nicht  ....  Das  aber  möchte  ich,  daß  Sie  dem  Publi- 
kum sagen:  wenn  es  richtig  ist,  wie  ich  es  ja  wohl  glauben  muß,  daß  mein 
Geschichtswerk  dankbare  Leser  gefunden  hat,   so  gehört  ein  guter  Teil  des 

30* 


AßS  Mommsen. 

Dankes,  vielleicht  der  beste,  den  beiden  Männern,  die  mir  diese  Aufgabe 
gesetzt  haben.«     Im  Oktober  1849  schreibt  M.  an  Henzen,   dafi  er  sich  vor- 
läufig in  das  Studium  der  Kaisergeschichte  vertieft  habe,  und  im  Juni  1850 
heißt  es  in  einem  Briefe  an  denselben:   »Ich  habe  teils  meiner  Subsistenz 
wegen,   teils  weil  die  Arbeit  mich  sehr  anmutet,  zugesagt  und  wirklich  an- 
gefangen, eine  lesbare,  nicht  allzu  ausführliche  römische  Geschichte  —  Dar- 
stellung, nicht   Untersuchung  —  zu   schreiben.     Zu  solchen   Arbeiten   ist   es 
wahrlich  hohe  Zeit;   es  ist  mehr  als  je  nötig,  die  Resultate  unserer  Unter- 
suchungen   einem    größeren  Kreise  vorzulegen,   um  uns  nicht  gänzlich  vom 
Platz  verdrängen  zu  lassen.«^)     Der  Plan  hatte  aber  noch  keineswegs   alle 
Fährlichkeiten  überstanden.     Als  M.  im  Sommer   185 1   schon  an  dem   Ent- 
würfe  eifrig   arbeitete,   aber   »gedrückt   durch   die   unendliche   Schwierigkeit 
des   Unternehmens«    an    sich    verzweifelte,    wendete   sich  Prof.  Peter   durch 
Preller  an  M.,  damit  dieser  ihm  für  seine  römische  Geschichte  in  drei  Bänden 
einen  Verleger  verschaffe;  M.  schlug  ihn  als  Ersatzmann  für  sich  vor,  erhielt 
aber   von   den    »Weidmännern«    einen   Korb.     Dann   war  es   aber   auch    die 
materielle  Lage  des  suspendierten  und  disziplinierten  Professors,  die  M.  zum 
Ausharren   zwang.     Er  nahm   einen  Vorschuß   von   350  Tlr.   auf  das   ausbe- 
dungene Honorar,  und  K.  Reimer,  der  bei  der  Teilung  der  Weidmannschen  Buch- 
handlung  den   Kontrakt   über  die   römische   Geschichte  übernommen   hatte 
(Ende  1852),  steigerte  freiwillig  das  ausbedungene  Bogenhonorar  auf  15  Tlr. 
Gold   für  die  erste  Auflage  von  2000  Exemplaren  und  auf  10  Tlr.  Gold  für 
eine  zweite  Auflage  von  3000  Exemplaren.     M.,  der  sich  anfangs  gegen  die 
Honorarerhöhung   sträubte,    erschien   diese   letztere   Bestimmung   ganz   über- 
flüssig,   und    er   war    im   Gegensatze   zu    der  Zuversicht   des   weitblickenden 
Verlegers  der  Ansicht,   daß  sein  Buch  beim  Publikum  auf  eine  schlechtere 
Aufnahme  zu  rechnen  haben  werde  als  die  in  derselben  Sammlung  erschei- 
nende griechische  Geschichte  von  Curtius,  nicht  nur  wegen  der  konzilianteren 
Natur  von  Curtius,  sondern  auch,  weil  es  zwar  hergebracht  sei,  die  Marathon- 
kämpfe zu  bewundern,  dagegen  die  römische  Geschichte  nicht  als  politisch 
indifferent  angesehen  werde.     Reimer  jedoch  blieb  bei  seinem  Entschlüsse 
und  war  auch  femer  der  kluge,  ruhige  und  praktische  Berater  und  Förderer. 
—  Daß  aber  nichtsdestoweniger  diese  Römische  Geschichte  nur  von  M.  ge- 
schrieben werden  konnte,   ist  nicht  nur  in   dem  Sinne  richtig,   daß  nur  ein 
Gelehrter  von  jener  zentralen  wissenschaftlichen  Stellung  der  Rechtskunde, 
den  Monumenten  und  der  Philologie  gegenüber,  daß  nur  eine  Persönlichkeit 
von   dem   inneren   Reichtum   und   der   speziellen   Anschauungsweise   M.s  sie 
schreiben  konnte,  sondern  auch  in  dem  engeren  Sinne,  daß  seine  keineswegs 
bewußt   zum  Zwecke    der  Geschichtschreibung    durchgeführten   wissenschaft- 
lichen Vorarbeiten  für  Form  und  Stoffverteilung  mitentscheidend  geworden 
sind.     Es   ist  nicht   unwesentlich,   dafi   ihre  Veranlassung   die  Beschäftigung 
mit  einem  Ackergesetze  und  mit  den  Gracchen  war,  daß  sich  M.  gerade  an 
der  Lachmann-Rudorffschen   Ausgabe    der    römischen   Feldmesser   beteiligte 
und   durch  das  Studium   der  Urkunden   des  römischen  Staates  zu   der  Auf- 
fassung der  sozialen  Entwicklung  geführt  wurde,  welche  die  Grundlage  seiner 
Darstellung    von   der  hundertjährigen    Katastrophe   der   römischen   Republik 
bildet;  es  ist  nicht  unwesentlich,  dafi  er  sich  eingehend  mit  der  lebendigsten 
Quelle   für    die  Agonie   des   römischen   Freistaates,    mit   den   Cicerobriefen, 


Mommsen. 


469 


beschäftigte  und,  hierin  Drumanns  Spuren  folgend,  die  lebendige  und  der 
traditionellen  Darstellung  widersprechende  Anschauung  von  den  auf  der 
politischen  Bühne  agierenden  Persönlichkeiten  gewann;  und  ebensowenig  ist 
es  unwesentlich,  daß  seine  älteren  kriminalistischen  Arbeiten  ihn  zum  Ver- 
ständnisse der  zentralen  Begriffe  des  römischen  Staatsrechtes,  seine  sprach- 
vergleichenden Studien,  zu  welchen  er  zufällig  durch  seine  Beschäftigung 
mit  dem  oskischen  Gesetzestexte  geführt  war,  zu  einer  klaren  Auffassung  der 
ältesten  Völkerschichtung  in  Italien,  seine  numismatischen  Arbeiten  ihn  zur 
Anschauung  der  Verkehrsverhältnisse  hingeleitet  hatten  —  so  daß  die  Frühzeit 
wie  die  Spätzeit  dei;  römischen  Republik  ihm  in  einem  neuen  Lichte  erschienen. 
Das  Werk  war  ursprünglich  auf  drei  Bände  veranschlagt,  von  denen  der 
dritte  die  Geschichte  des  römischen  Kaiserreiches  enthalten  sollte.  Aber  die 
bisherige  Arbeitsrichtung  M.s  sowohl  wie  auch  namentlich  das  Bewußtsein, 
daß  eine  erschöpfende  Darstellung  des  Kaiserreiches  vor  der  Sammlung  der 
lateinischen  Inschriften  nicht  gut  möglich  sei,  machen  es  begreiflich,  daß 
die  Ausarbeitung  des  geplanten  dritten  Bandes  immer  mehr  in  den  Hinter- 
grund trat,  während  die  Geschichte  der  römischen  Republik  M.  als  ein 
Ganzes  erschien.  Das  Brouillon  des  ersten  Bandes  wurde  in  Zürich  schon 
in  den  letzten  Tagen  des  Jahres  1852  beendigt,  obwohl  die  Pandekten  M. 
mehr  als  ihm  für  die  Einheitlichkeit  des  Werkes  zuträglich  erschien,  in  An- 
spruch nahmen.  Aber  die  mit  der  Schlußredaktion  verbundene  Abschrift 
machte  viel  Ärger  und  Arbeit.  Die  Kapitel  über  die  Literatur,  in  der  er 
nicht  genügend  zu  Hause  zu  sein  glaubte,  sendete  er  an  Ritschi  zur  Durch- 
sicht. Große  Überwindung  kostete  es  ihm  bei  der  Abschrift,  massenweise 
Seitenblicke  auf  die  moderne  Zeit,  die  eigentlich  mehr  auf  die  Gegenwart 
als  auf  die  Vergangenheit  ein  Streiflicht  warfen,  hinauszustreichen,  weil,  wie 
er  selbst  gestand,  sein  Herz  dieser  Dinge  voll  war.  An  Henzen  schrieb  er 
nach  dem  Erscheinen  des  ersten  Bandes:  »Über  den  modernen  Ton  wäre 
viel  zu  sagen.  Sie  kennen  mich  genug,  um  zu  wissen,  daß  er  nicht  gewählt 
ist,  um  das  Publikum  zu  kajolieren.  Direkte  Anspielungen,  die  sich  hundert- 
fach darboten,  sind  durchgängig  verschmäht.  Aber  wollen  Sie  eins  bedenken: 
es  gilt  doch  vor  allem  die  Alten  herabsteigen  zu  machen  von  dem  phan- 
tastischen Kothurn,  auf  dem  sie  der  Masse  des  Publikums  erscheinen,  sie 
in  die  reale  Welt,  wo  gehaßt  und  geliebt,  gesägt  und  gezimmert,  phantasiert 
und  geschwindelt  wird,  den  Lesern  versetzen  —  und  darum  mußte  der  Konsul 
ein  Bürgermeister  werden  usw.  Es  mag  zu  viel  geschehen  sein;  glauben 
Sie  nicht,  daß  ich  eigensinnig  gegen  den  Tadel  mich  opponiere,  aber  meine 
Intention,  denke  ich,  ist  rein  und  richtig;  die  möchte  ich  vertreten.« 3°)  — 
Er  arbeitete  sich  müde  an  dem  ersten  Bande  und  ließ  ihn  ohne  das  Literatur- 
kapitel in  die  Welt  gehen,  weil  er  ungeduldig  war  ihn  abzustoßen  und  auch 
mit  anderen,  persönlichen  Dingen  beschäftigt  war.  Im  November  1853  ging 
das  Manuskript  an  Reimer;  anfangs  Juni  1854,  als  M.  schon  verlobt  war, 
erhielt  er  die  ersten  gedruckten  Exemplare,  mit  der  Dedikation  an  seinen 
Freund  Haupt  geziert.  Damals  arbeitete  er  schon  am  zweiten  Bande,  an  der 
Darlegung  der  sullanischen  Verfassung,  die  ihm  als  eine  der  interessantesten, 
aber  bei  dem  Mangel  an  einer  Hauptquelle  und  der  Zerstückelung  des  Quellen- 
materiales  auch  als  eine  der  schwierigsten  Partien  erschien.  Gerade  deshalb 
dachte  er  damals  auch  daran,  für  »die  quellenlose,  die  schreckliche  Zeit  vom 


470 


Mommsen. 


Ende   des   erhaltenen  Livius   bis   auf  Cicero«   die  Belege  in   einem   eigenen 
Bändchen  zu  geben  —  ein  Plan,   der  jedoch  nicht  zur  Ausführung  gelangte. 
Die  Literatur  der  gracchischen  Zeit  machte  ihm  abermals  Bedenken,  weil  er 
meinte,  der  Graeca  nicht  genügend  Herr  zu  sein.     Nach  mancherlei  Unter- 
brechung nahm  er  die  Arbeit  an  Cäsar  und  Pompeius  nach  seiner  Heirat  in 
Breslau  wieder  auf,  war  sich  aber  noch  im  Februar  1855  noch  nicht  darüber 
klar,    ob   er  das  Werk   bis  Actium   oder  nur  bis  zur  Schlacht  bei  Philippi 
fortführen  werde.     Er  arbeitete  nun  mit  der  größten  Heftigkeit,  überarbeitete 
sich,  um  aus  der  Arbeit  hera:ttS2ukommen,  in  der  er  sich  nun  schon  so  lange 
bewegt  hatte,  daß  sie  ihm  wie  eine  Zwangsjacke  erschien.     Am  i.  April  1855 
beendigte  er  das  Brouillon,   und   im  Juni   begann   der  Öruck,   während  M. 
noch  an  dem  letzten  Teile  arbeitete.     Aus  praktischen  Rücksichten  erschien 
eine  Teilung  wünschenswert,    und    so    erschien    der    jetzt  sogenannte  zweite 
Band   zu  Weihnachten   1855,   der  dritte  Band  im  Frühjahr   1856,   jener  den 
Züricher  Freunden  Ludwig  und  Hitzig  zugeschrieben,  weil  er  noch  größten- 
teils in  Zürich   konzipiert  war,   dieser  Otto  Jahn.  —  Aber   schon   war   auch 
eine  neue  Auflage  von  4 — 5000  Exemplaren  nötig  geworden.     M.,   der  das 
Gefühl  hatte,  daß  ihm  mancherlei  klarer  geworden  war,  als  zur  Zeit,   da  er 
zu  schreiben   begann,  und  daß  die  letzten  Bände  genauer  und  ebenmäßiger 
gearbeitet  waren  als  der  erste,  machte  sich  sofort  mit  Freude  an  die  Revision, 
obwohl  er  damals  schon  wieder  tief  in  den  Inschriften  steckte.    Am  meisten 
schien  ihm  in  der  Darstellung  der  Anfangsepoche  zu  ändern,  wo  er  infolge 
der  hypothetischen  und  problematischen  Natur  des  Dargestellten  immer  wieder 
einreißen   wollte;   deshalb   wurde   das   erste  Buch   wesentlich  verändert;   ein 
Literaturkapitel  wurde  hinzugefügt,   wie  er  es  denn  überhaupt  am  liebsten 
gesehen  hätte,  wenn  Jahn  die  Zeit  gefunden  hätte,  die  Literatur-  und  Kunst- 
abschnitte für  die  zweite  Auflage  kritisch  zu  lesen,  und  wenn  Bötticher,  nach 
dessen   »Tektonik«   er  sich  gerichtet  hatte,    zu  bewegen  gewesen   wäre,  die 
Abschnitte    über    die  Kunst  durchzuarbeiten.     Dazu   kamen   außer  der   Ver- 
wertung   der    neu    aufgefundenen    Fragmente    des   Licinianus   seine    neueren 
Untersuchungen,  namentlich  über  die  staatsrechtliche  Stellung  der  römischen 
Untertanen,   ein   tieferes  Eingehen   auf   die   Verhältnisse   des  Ackerbaues  — 
zu  welchem  Zwecke   er  nicht  nur  nochmals  die  römischen  Ackerbauschrift- 
steller durcharbeitete,   sondern  sich   auch  in  Schriften   über  moderne  Land- 
wirtschaft zu  orientieren  suchte.     Außerdem  wurde  noch  das  Werk  äußerlich 
übersichtlicher  gestaltet  und  eine  Karte  der  römischen  Chausseen  beigegeben. 
Aber  vom  dritten  Buche  an  sollte  alles  im  wesentlichen  beim  alten  bleiben. 
M.   versuchte   eben   nur   eine  Anzahl   schwieriger  Fragen,    die  in   der  ersten 
Bearbeitung   entweder  ganz  beiseite  gelassen   oder  nach   der  hergebrachten 
Meinung  besprochen  worden  waren,  nach  eigener  Untersuchung  schärfer  und 
sicherer  zu  bestimmen.     Die  »Prinzipien«    sind    dieselben    geblieben   —  nur 
daß   er   allerdings   versuchte,    den    umgehenden   Mißdeutungen   und    Mißver- 
ständnissen  gegenüber  seinen  Standpunkt  scharf   zu  betonen.     Eine  solche 
Selbstinterpretation,  auf  die  M.  selbst  den  größten  Wert  legte,  ist  namendich 
die  Einschiebung  auf  Seite  457 — 59  der  2.  Auflage  des  3.  Bandes,  die  unver- 
ändert auch  in  die  folgenden  Auflagen  übergegangen  ist: 

»Wohl  aber  wird  es  gerade  hier  am  Orte  sein,  das,  was  der  Geschichts- 
schreiber stillschweigend  überall  voraussetzt,  einmal  ausdrücklich  zu  fordern 


Mommsen.  47  j 

und  Einspruch  zu  tun  gegen  die  der  Einfalt  und  der  Perfidie  gemeinschaft- 
liche Sitte,  geschichtliches  Lob  und  geschichtlichen  Tadel  von  den  gegebenen 
Verhältnissen  abgelöst  als  allgemeingültige  Phrase  zu  verbrauchen,  in  diesem 
Falle  das  Urteil  über  Cäsar  in  ein  Urteil  über  den  sogenannten  Cäsarismus 
umzudeuten.  Freilich  soll  die  Geschichte  der  vergangenen  Jahrhunderte  die 
Lehrmeisterin  des  laufenden  sein,  aber  nicht  in  dem  gemeinen  Sinne,  als 
könne  man  die  Konjunkturen  der  Gegenwart  in  den  Berichten  über  die  Ver- 
gangenheit nur  einfach  wieder  aufblättern  und  aus  denselben  der  politischen 
Diagnose  und  Rezeptierkunst  die  Symptome  und  Spezifica  zusammenlesen; 
sondern  sie  ist  lehrhaft  einzig  insofern,  als  die  Beobachtung  der  älteren 
Kulturen  die  organischen  Bedingungen  der  Zivilisation  überhaupt,  die  über- 
all gleichen  Grundkräfte  und  die  überall  verschiedene  Zusammensetzung  der- 
selben offenbart  und  statt  zum  gedankenlosen  Nachahmen  vielmehr  zum 
selbständigen  Nachschöpfen  anleitet  und  begeistert.  In  diesem  Sinne  ist  die 
Geschichte  Cäsars  und  des  römischen  Cäsarentums,  bei  aller  unübertroffenen 
Großheit  des  Werkmeisters,  bei  aller  geschichtlichen  Notwendigkeit  des 
Werkes  wahrlich  eine  schärfere  Kritik  der  modernen  Autokratie,  als  eines 
Menschen  Hand  sie  zu  schreiben  vermag.  Nach  dem  gleichen  Naturgesetz, 
weshalb  der  geringste  Organismus  unendlich  mehr  ist,  als  die  kunstvollste 
Maschine,  ist  auch  jede  noch  so  mangelhafte  Verfassung,  die  der  freien  Selbst- 
bestimmung einer  Mehrzahl  von  Bürgern  Spielraum  läßt,  unendlich  mehr  als 
der  genialste  und  humanste  Absolutismus;  denn  jene  ist  der  Entwicklung  fähig, 
also  lebendig,  dieser  ist,  was  er  ist,  also  tot.  Dieses  Naturgesetz  hat  auch 
an  der  römischen  absoluten  Militärmonarchie  sich  bewährt  und  nur  um  so 
vollständiger  sich  bewährt,  als  sie,  unter  dem  genialen  Impuls  ihres  Schöpfers 
und  bei  der  Abwesenheit  aller  wesentlichen  Verwicklungen  mit  dem  Ausland, 
sich  reiner  und  freier  als  irgendein  ähnlicher  Staat  gestaltet  hat.  Von  Cäsar 
an  hielt,  wie  die  späteren  Bücher  dies  darlegen  werden  und  Gibbon  längst 
es  dargelegt  hat,  das  römische  Wesen  nur  noch  äußerlich  zusammen  und 
ward  nur  mechanisch  erweitert,  während  es  innerlich  eben  mit  ihm  völlig 
vertrocknete  und  abstarb.  Wenn  in  den  Anfängen  der  Autokratie  und  vor 
allem  in  Cäsars  eigener  Seele  noch  der  hoffnungsreiche  Traum  einer  Ver- 
einigung freier  Volksentwicklung  und  absoluter  Herrschaft  waltet,  so  hat 
schon  das  Regiment  der  hochbegabten  Kaiser  des  julischen  Geschlechts  in 
schrecklicher  Weise  gelehrt,  inwiefern  es  möglich  ist,  Feuer  und  Wasser  in 
dasselbe  Gefäß  zu  fassen.  Cäsars  Werk  war  notwendig  und  heilsam,  nicht 
weil  es  an  sich  Segen  brachte  oder  auch  nur  bringen  konnte,  sondern  weil, 
bei  der  antiken  auf  Sklaventum  gebauten,  von  der  republikanisch-konstitutio- 
nellen Vertretung  völlig  abgewandten  Volksorganisation  und  gegenüber  der 
legitimen  in  der  Entwicklung  eines  halben  Jahrtausends  zum  oligarchischen 
Absolutismus  herangereiften  Stadtverfassung,  die  absolute  Militärmonarchie 
der  logisch  notwendige  Schlußstein  und  das  geringste  Übel  war.  Wenn  ein- 
mal in  Virginien  und  den  Carolinas  die  Sklavenhalteraristokratie  es  so  weit 
gebracht  haben  wird  wie  ihre  Wahl  verwandten  in  dem  sullanischen  Rom,  so 
wird  dort  auch  der  Cäsarismus  vor  dem  Geiste  der  Geschichte  legitimiert 
sein ;  3')  wo  er  unter  anderen  Entwicklungsverhältnissen  auftritt,  ist  er  zugleich 
eine  Fratze  und  eine  Usurpation.  Die  Geschichte  aber  wird  sich  nicht 
bescheiden,   dem    rechten   Cäsar    deshalb    die    Ehre    zu    verkürzen,   weil    ein 


472 


Moromsen. 


solcher  Wahlspruch  den  schlechten  Cäsaren  gegenüber  die  Einfalt  irren  und 
der  Bosheit  zu  Lug  und  Trug  Gelegenheit  geben  kann.  Sie  ist  auch  eine 
Bibel,  und  wenn  sie  so  wenig  wie  diese  weder  dem  Toren  es  wehren  kann, 
sie  mifizu verstehen,  noch  dem  Teufel,  sie  zu  zitieren,  so  wird  auch  sie  im- 
stande sein,    beides  zu  ertragen,  wie  zu  vergüten«. 

In  dieser  inhaltlich  wie  stilistisch  meisterhaften  Stelle  ist  zum  Teil  in 
polemischer  Form  in  der  Tat  M.s  Gesamtauffassung  aufs  deutlichste  nieder- 
gelegt für  alle,  die  sehen  wollen  und  nicht  blind  sind.  Daß  er  aber  miß- 
verstanden wurde,  zum  Verteidiger  des  modernen  Cäsarismus,  zum  Heroen- 
verehrer und  Erfolganbeter  im  gewöhnlichen  Sinne  gestempelt  wurde,  nicht 
nur  vom  deutschen  und  ausländischen  Publikum,  das  durch  das  Kunstwerk 
hingerissen  wurde,  sondern  auch  von  der  gelehrten  Welt,  welche  noch  die 
Anmerkungen  zu  dem  Kunstwerke  vermißte,  hatte  seine  Ursache  nicht  nur 
in  der  Darstellungsweise,  die  darauf  ausging,  nicht  den  antiken  Geist  durch 
moderne  Anschauungen  zu  ersetzen,  wohl  aber  antike  technische  Ausdrücke 
durch  moderne  zu  veranschaulichen  —  sondern  vor  allem  auch  darin,  daß 
M.s  durchaus  evolutionistische  Auffassung  in  den  fünfziger  Jahren  nur  von 
wenigen  erfaßt  werden  konnte  und  die  Schlagworte,  die  für  die  M.sche 
Geschichtsschreibung  damals  geprägt  wurden,  ohne  eingehende  Überprüfung, 
wie  es  zu  gehen  pflege,  von  der  folgenden  Generation  übernommen  wurden 
und  um  so  lieber  übernommen  wurden,  als  sie  mit  manchen  neueren  politischen 
Strömungen  übereinzustimmen  schienen.  Das  Große  aber  in  M.s  Römischer 
Geschichte,  wodurch  sie  für  alle  Zeiten  —  ganz  abgesehen  von  der  kritischen 
Forscherarbeit  und  der  künstlerischen  Gestaltungskraft  —  einen  Markstein  in 
der  Geschichte  der  Geschichtsschreibung  bilden  wird,  ist  gerade  die  zum 
ersten  Male  konsequent  durchgeführte  evolutionistische  Geschichtsauffassung, 
die  dazu  führte,  daß  er  einerseits  die  verschiedenen  Seiten  des  Volkslebens 
einheitlich  und  zusammenhängend  auffaßte  und  darlegte,  und  daß  er  anderer- 
seits die  Triebkräfte  der  Entwicklung  historisch-induktiv  in  einer  Weise  auf- 
zeigte, die  vielfach  den  von  Darwin  in  der  Geschichte  der  organischen  Welt 
aufgewiesenen  analog  ist.  Er  erkennt  es  als  Aufgabe  des  Geschichtsforschers, 
»die  sukzessive  Völkerschichtung  in  dem  einzelnen  Lande  darzulegen,  um  die 
Steigerung  von  der  unvollkommenen  zu  der  vollkommenen  Kultur  und  die 
Unterdrückung  der  minder  kulturfähigen  oder  auch  nur  minder  entwickelten 
Stämme  durch  höherstehende  Nationen  so  weit  möglich  rückwärts  zu  verfolgen  & 
(R.G.  I,  8).  »Die  Elemente  der  ältesten  Geschichte  sind  die  Völkerindividuen, 
die  Stämme«  (R.G.  I,  9),  und  deshalb  wird  dieser  Kampf  ums  Dasein,  wie 
man  es  später  nannte,  der  zum  Überleben  des  Lebensfähigsten  führt,  an  dem 
Kampfe  der  Völker  nachgewiesen.  »In  dem  gewaltigen  Wirbel  der  Welt- 
geschichte, der  alle  nicht  gleich  dem  Stahl  harten  und  dem  Stahl  geschmei- 
digen Völker  unerbittlich  zermalmt«  (R.G.  III,  299),  gewann  das  römische 
Volk,  das  diese  Eigenschaften  in  hervorragendem  Maße  besaß,  die  Oberhand, 
allerdings  erst  allmählich;  denn  »alle  Geschichte  geht  nicht  von  der  Einigung, 
sondern  von  der  Zersplitterung  der  Nation  aus«  (R.G.  I,  40)  und  »die  Geschichte 
einer  jeden  Nation,  der  italischen  aber  vor  allen,  ist  ein  großer  Synoekis- 
mos«  (R.G.  I,  82).  Der  Gegensatz  der  nationalen  Zentralisation  und  der 
kantonalen  Selbständigkeit  ist  ein  allgemeiner;  dem  Umstände,  daß  Rom  den 
»Einheitsgedanken  folgerichtiger,  ernstlicher  und  glücklicher  festhält,  als  irgend- 


Mommsen. 


473 


ein  anderer  italischer  Gau«,  dem  System  der  Zentralisierung  hat  Rom  seine  Größe 
lediglich  zu  verdanken  (R.G.  I,  loi).  Zu  dieser  Zentralisierung  gehört  nicht 
nur  die  straffe  Zusammenfassung  der  staatlichen  Befehlsgewalt  im  imperium, 
sondern  auch  die  durch  die  Gleichheit  des  Rechtes  zuerst  in  der  alten  Bauern- 
gemeinde, dann  in  der  Verschmelzung  der  plebeischen  Neubürger  mit  den 
Altbürgem  sich  ausdrückende  Gemeinsamkeit  und  Einheitlichkeit  der  cives 
jRamani,  sowie  »die  tiefe  sittliche  und  staatliche  Anlage,  auf  welche  alles 
Gute  und  Grofie  in  der  menschlichen  Entwicklung  sich  gründet«  (R.G.  I, 
324;  vgl.  259).  In  der  römischen  Gemeinde  war  alles,  »was  gut  und  groß, 
das  Werk  der  bürgerlichen  Gleichheit«  (R.G.  I,  812).  »Die  große  nationale 
Entwicklung«  war  aber  »überall  eine  Tochter  der  Not«,  da  »den  Nationen 
die  Ausgestaltung  des  Volkstums  nur  aus  schwerem  Kampf  und  wohlbe- 
standener Gefahr  erwächst«;  (R.  und  A.  123);  so  wurde  der  Volksstamm  der 
Kelten  »wie  der  Erbfeind,  so  auch  der  unfreiwillige  Begründer  der  itali- 
schen Nationalität«  (R.  und  A.  321);  denn  daß  in  dem  Kampf  mit  den 
Kelten  »Rom  die  Führung  nahm,  das  ist  der  Ausgangspunkt  der  römischen 
Hegemonie  oder  des  römischen  Reiches  oder  des  geeinigten  Italiens«  (R.  und 
A.  127).  In  dem  schwersten  Kampfe,  den  Rom  zu  bestehen  hatte,  ist  sein 
großer  Gegner  Hannibal  nicht  etwa  an  der  Genialität  römischer  Feldherren, 
sondern  an  der  Organisation  des  römisch-italischen  (jesamtreiches  gescheitert, 
an  dem  römischen  Bürgersinne  und  dem  Zusammengehörigkeitsgefühl  der 
Bundesgenossen,  das  von  M.  dem  Vögte-  und  Plantagensystem  der  Karthager 
gegenübergestellt  wird  (R.G.  I,  499).  Die  Umgestaltung  der  sozialen  Ver- 
hältnisse, das  durch  den  Gegensatz  der  antiken  Stadtverfassung  und  der  Welt- 
herrschaft bedingte  Abweichen  von  der  politischen  Grundrichtung,  die  damit 
zusammenhängende  Entwicklung  einerseits  der  Demagogie  und  andererseits 
des  übermächtigen  Prokonsulates  führten  zu  dem  Endresultate  des  Cäsaris- 
mus, den  M.  nicht  idealisiert,  aber  begriffen   hat. 

Mit  M.s  evolutionistischer  Grundauffassung  hängt  auch  sein  historisches 
Werturteil  zusammen.  »Die  Geschiclite,  der  Kampf  der  Notwendigkeit  und  der 
Freiheit,  ist  ein  sittliches  Problem«,  nicht  ein  mechanisches  (R.G.  II,  45i).3i)  Von 
Kants  Freiheitsbegriff  und  der  Auffassung  des  Gesetzes  als  sittlicher  Notwendig- 
keit (R.G.  III,  205)  ausgehend,  glaubte  M.  von  früher  Jugend  bis  in  sein  Alter 
»an  den  notwendigen  endlichen  Sieg  des  Edlen  über  das  Gemeine«  (R.  und 
A.  89),  welcher  sich  in  dem  historischen  Prozesse  vollzieht.  Da  »das  ethische 
Fundament  schließlich  die  Entscheidung  gibt«  (R.  und  A.  193)  und  die  Ethik 
ein  gesellschaftlicher  Begriff  ist,  der  sich  im  Staate  ausdrückt,  werden  die 
Menschen  nicht  in  Schlosserscher  Art  abgekanzelt,  sondern  in  die  gesellschaft- 
liche und  staatliche  Entwicklung  hineingestellt  und  aus  ihr  heraus  begriffen, 
nach  ihrem  Verhältnisse  zu  dieser  Entwicklung  beurteilt.  Deshalb  erscheint 
Cäsar  mit  seinen  Vorgängern  seit  Gaius  Gracchus  als  historisch  durchaus 
gerechtfertigt,  weil  er  der  große  »Werkmeister«  eines  historisch  notwendigen 
Werkes  war;  weil  er,  »wo  er  zerstörend  auftrat,  nur  den  ausgefällten  Spruch 
der  geschichtlichen  Entwicklung  vollzogen«  hat  (R.G.  III,  567);  weil  »sein 
mächtiges  Ideal:  eines  freien  Gemeinwesens  unter  einem  Herrscher  —  ihn  nie 
verlassen«  hat  (R.G.  III,  211).  Aber  nicht  die  persönliche  Größe  entscheidet 
für  M.  das  historische  Werturteil.  Bei  dem  politischen  Gegenpol  Cäsars,  bei 
Sulla  »einer  von  den  wunderbarsten,  man  darf  vielleicht  sagen  einer  einzigen 


474 


Mommsen. 


Erscheinung  in  der  Geschichte«  (R.G.  II,  366),  dem  Vertreter  der  römischen 
Oligarchie,  »über  die  es  kein  Urteil  gibt,  als  unerbittliche  und  rücksichtslose 
Verdammung«,  stellt  M.  ausdrücklich  fest:  »Das  von  der  Genialität  des 
Bösen  bestochene  Lob  versündigt  sich  an  dem  heiligen  Geist  der  Geschichte« 
(R.G.  II,  371),  wenn  er  auch  rückhaltlos  anerkennt,  was  Sulla  trotz  allem 
geleistet  hat. 

Aus  seiner  evolutionistischen  Auffassung  aber  ergibt  sich  für  M.,  obwohl 
er  von  Kant  ausgegangen  ist,  eine  Ablehnung  jedes  absoluten,  nicht  der 
Geschichte  entnommenen  Maßstabes,  sowie  die  Verachtung  der  sehr  weit  ver- 
breiteten sozusagen  kriminalistischen,  formal-juristischen  Beurteilung  histori- 
scher Vorgänge.  »Für  die  Geschichte  gibt  es  keine  Hochverratsparagraphen; 
wer  eine  Macht  im  Staat  zum  Kampf  aufruft  gegen  die  andere,  der  ist 
gewiß  ein  Revolutionär,  aber  vielleicht  zugleich  ein  einsichtiger  und  preis- 
würdiger Staatsmann«  (R.G.  II,  93);  über  nichts  ergießt  er  so  bitteren  Spott, 
wie  über  die  Legitimisten  aller  Art.  »Wenn  eine  Regierung  nicht  regieren 
kann,  hört  sie  auf  legitim  zu  sein  und  es  hat  wer  die  Macht  auch  das  Recht, 
sie  zu  stürzen«;  in  diesem  Falle  ist  die  »aus  der  sittlichen  Empörung  der 
Tüchtigen  und  dem  Notstande  der  Vielen«  heraufbeschworene  Revolution 
legitim  (R.G.  III,  93).  — 

Mit  M.s  Gesamtauffassung  würde  es  sich  nicht  vertragen,  wenn  er  in 
der  Tat,  wie  wohl  mit  Hinblick  auf  seine  glänzenden  Charakteristiken  der 
Scipionen  und  Gracchen,  des  Marius  und  des  Sulla,  des  Cicero,  Cato,  Pom- 
peius,  wie  Cäsars  selbst,  behauptet  wurde,  die  große  Einzelpersönlichkeit  als 
das  eigentlich  Treibende,  Schöpferische  angesehen  hätte.  Zusammenfassend 
hat  sich  M.,  während  er  an  seiner  Römischen  Geschichte  arbeitete,  in  seiner 
Schrift  »Die  Schweiz  in  römischer  Zeit«  über  das  Problem  ausgesprochen: 
»Die  rechte  Geschichtsschreibung  sucht  nicht  in  möglicher  Vollständigkeit 
das  Tagebuch  der  Welt  wiederherzustellen,  auch  nicht  den  Sittenspiegel  zu 
exemplifizieren;  sie  sucht  die  Höhen  und  die  Überblicke,  und  von  glück- 
lichen Punkten  in  glücklichen  Stunden  gelingt  es  ihr  herniederzusehen  auf 
die  unwandelbaren  Gesetze  des  Notwendigen,  die  ewig  feststehen,  wie  die 
Alpen,  und  auf  die  mannigfaltigen  Leidenschaften  der  Menschen,  die  wie  die 
Wolken  um  sie  kreisen,  ohne  sie  zu  ändern«. 33)  Allerdings  »das  Moment  der 
sittlichen  Freiheit  waltet  in  jeder  Volksgeschichte«  und  darf  »auch  in  der 
römischen  nicht  ungestraft  verkannt«  werden  (R.G.  11,451),  wenn  auch  gerade 
das  römische  Volk  »das  einzige  Problem  gelöst  hat,  sich  zu  beispielloser 
innerer  und  äußerer  Größe  zu  erheben,  ohne  einen  einzigen  im  höchsten 
Sinne  genialen  Staatsmann«.  Aber  M.  ist  auf  dem  Standpunkte  geblieben, 
den  er  in  seinem  Gymnasialaufsatze  dargelegt  hatte,  oder  hat  sogar  dem 
Milieu  in  seiner  R.G.  noch  größeren  Einfluß  zugeschrieben,  als  in  seiner 
Jugend.  Er  sagt  von  Sulla:  »Der  Staatsmann  baut  nur,  was  er  in  dem  ihm 
angewiesenen  Kreise  bauen  kann«  (R.G.  II,  373)  und  von  Cäsar:  »Es  gehört 
dies  mit  zu  Cäsars  voller  Menschlichkeit,  daß  er  im  höchsten  Grade  durch 
Zeit  und  Ort  bedingt  ward;  denn  eine  Menschlichkeit  an  sich  gibt  es  nicht, 
sondern  der  lebendige  Mensch  kann  eben  nicht  anders  als  in  einer  gegebenen 
Volkseigentümlichkeit  und  in  einem  bestimmten  Kulturzug  stehen.  Nur  da- 
durch war  Cäsar  ein  voller  Mann,  weil  er  wie  kein  anderer  mitten  in  die 
Strömungen  seiner  Zeit  sich   gestellt  hatte   und   weil  er  die  kernige  Eigen- 


Momxnsen. 


475 


tümlichkeit  der  römischen  Nation,  die  reale  bürgerliche  Tüchtigkeit  vollendet 
wie  kein  anderer  in  sich  trug;  wie  denn  auch  sein  Hellenismus  nur  der  mit 
der  italischen  Nationalität  längst  innig  verwachsene  war«  (R.G.  III,  468). 
M.s  Interesse  hängt  darum  auch  eigentlich  nicht  an  dem  »besonderen  Ereignis, 
dem  individuellen  Menschen,  wie  wunderbar  sie  auch  erscheinen  mögen«, 
sondern  an  der  »genetischen  Konstruktion«  (R.G.  II,  451)  und  eine  authenti- 
sche Äußerung,  die  er  während  der  Niederschrift  des  III.  Bandes  getan  hat, 
geht  dahin,  dafi  dieser  Prozeß  Cäsar  gegen  Pompeius,  der  Prätendentenkampf, 
wo  nicht  Nation  gegen  Nation  streitet,  unsäglich  öde  sei.  Allerdings  ist  es 
aber  auch  M.s  Überzeugung,  daß  der  gewöhnliche  Mensch  zum  Dienen  bestimmt 
ist  und  sich  nicht  sträubt  Werkzeug  zu  sein,  wenn  ein  Meister  ihn  lenkt  (R.G. 
III,  377).  Wenn  er  deshalb  auch  die  »freie  und  gemeinschaftliche  Bewegung 
der  Massen  nach  dem  als  zweckmäßig  erkannten  Ziel«  als  das  anerkennt, 
was  die  Übelstände  des  Parteilebens  vergütet  (R.G.  II,  71),  so  weist  er  doch 
der  Intelligenz  die  Führung  zu  (R.G.  II,  94).  Deshalb  könne  »nur  der  Ängster- 
ling  und  wer  mit  der  albernen  Angst  der  Menge  Geschäfte  macht,  den  Unter- 
gang der  bürgerlichen  Ordnung  in  Sklavenaufständen  oder  Proletariatsin- 
surrektionen« prophezeien  (R.G.  II,  79;  vgl.  III,  471),  wenn  auch  »die  Aufgabe, 
das  Proletariat  zu  beseitigen,  die  ganze  Macht  und  Weisheit  der  Regierung 
erfordert  und  zu  oft  übersteigt«;  deshalb  sei  jede  bloß  auf  das  Proletariat 
gebaute  Herrschaft  des  Staatsoberhaupts  unsicher  (R.G.  II,  108;  vgl.  204). 
Auch  sonst  fehlt  es  natürlich  nicht  an  politischen  Urteilen  allgemeiner  Art; 
es  ist  für  M.  selbstverständlich,  daß  »schöpferisch  . . .  unbedingt  und  ausschließ- 
lich die  Freiheit«  ist  (R.G.  III,  333);  daß,  wenn  »eine  absolute  Monarchie 
ein  großes  Unglück  für  die  Nation«  ist,  so  doch  ein  »minderes  als  eine  ab- 
solute Oligarchie«  (R.G.  II,  115);  daß  eine  gewisse  Erblichkeit  in  dem  Wesen 
der  Aristokratie  liegt,  »insofern  staatsmännische  Weisheit  und  Staatsmann ische 
Erfahrung  von  dem  tüchtigen  Vater  auf  den  tüchtigen  Sohn  sich  vererben 
und  der  Anhauch  des  Geistes  hoher  Ahnen  jeden  edlen  Funken  in  der  Menschen- 
brust rascher  und  herrlicher  zur  Flamme  entfacht«  (R.G.  I,  789);  ein  gewisser 
Hohn  richtet  sich  gegen  die  Männer  der  materiellen  Interessen,  gegen  das 
Kapital,  das  seinen  Kampf  gegen  die  Arbeit  »natürlich  wie  immer  in  strengster 
Form  Rechtens«  (R.G.  II,  74)  führt,  wenn  auch  gerade  M.  nicht  verkennt, 
daß  die  Tendenzpolitik  einem  Kampf  gegen  die  materiellen  Interessen  selten 
gewachsen  ist  (R.G.  III,  170).  — 

Daß  M.,  der  Pompeius  vorwarf,  daß  er  zwar  »nicht  grausam  war,  wie 
man  ihm  vorwarf,  aber,  was  vielleicht  schlimmer  ist,  kalt  und  im  guten  wie 
im  bösen  ohne  Leidenschaft«  (R.G.  III,  11),^)  die  Geschichte,  die  er  schrieb, 
innerlich  miterlebte  mit  aller  Leidenschaft,  deren  er  fähig  war,  ist  selbstver- 
ständlich; er  wäre  sonst  kein  großer  Historiker  geworden.  Er  hat  es  auch 
—  in  Entgegnung  einer  Besprechung  von  Preller  —  ausgesprochen,  daß  es  an 
der  Zeit  sei,  daß  diejenigen,  welche,  wie  er,  Geschichte  miterlebt  hatten  und  mit- 
erlebten, jenes  törichte  sine  ira  et  studio  beiseite  legten  und  anfingen  zu  begreifen, 
daß  Geschichte  weder  gemacht  noch  geschrieben  wird  ohne  Haß  und  Liebe. 
Und  deshalb  ist  richtig,  was  Gutzkow  35)  in  einer  Besprechung,  die  M.  als  ge- 
scheiter als  ziemlich  alle  anderen  bezeichnete,  schrieb:  »Mommsen  lebt  in  seinem 
Werke«;  »M.  schwebt  nicht,  wie  der  Geist  über  den  Wassern,  über  dem  politi- 
schen Treiben;  er  ist  mitten  darin  —  und  mit  welcher  Leidenschaft I«    Richtig 


J.76  Mommsen. 

ist  aber  auch,  was  derselbe  sagt:  M.  »berücksichtigt  nicht  bei  seinem  Urteil  allein 
die  Moral  der  zehn  Gebote  und  des  bürgerlichen  Friedens,  welche  die  Heidel- 
berger Historiker  als  den  Zollstab  der  Größe  gebrauchen;  er  ist  ein  Staats- 
mann .  .  .«  Das  soll  aber  nicht  heißen,  daß  M.  seinen  Parteistandpunkt  in  die 
Geschichte  hineingetragen  hätte.  Der  Parteistandpunkt,  für  den  er  sich  leiden- 
schaftlich erwärmt,  ist  vielmehr  das,  was  er  mit  einem  Lieblingsausdruck  als 
den  »heiligen  Geist«  der  Geschichte  selbst  bezeichnet,  eine  Vorstellung,  die 
allerdings  von  der  kantischen  vernunftgemäßen  Freiheit  ausgegangen,  aber 
durch    das    Medium    des   Entwicklungsgedankens    hindurchgegangen    ist.    — 

Das  unvergleichliche  Buch,  das  ein  nationaler  Schatz  des  Deutschen  und 
durch  die  zahlreichen  Übersetzungen  ein  Bestandteil  der  Weltliteratur  ge- 
worden ist,  ist  ein  in  sich  abgeschlossenes,  auf  sich  beruhendes  Kunstwerk. 
Deshalb  bewahrte  auch  M.  ein  richtiges  Gefühl  davor,  es  in  den  späteren 
Auflagen  in  irgendwie  wesentlicher  Weise  zu  verändern;  wenn  er  auch  einzelnes 
nach  den  positiven  Resultaten  neuerer  Forschung  verbesserte,  eingreifend  waren 
diese  Änderungen  nicht.  Man  hat  wohl  mit  Recht  hervorgehoben,  daß  seine 
Darstellung  der  älteren  republikanischen  Geschichte  noch  stärker  unter  dem 
Einflüsse  des  Livius  steht,  als  es  der  Fall  gewesen  wäre,  wenn  er  sie  nach 
den  Untersuchungen  über  den  Quellenwert  Diodors  geschrieben  hätte;  auch 
sonst  hat  er  ja  selbst  in  den  besonders  feinen  Untersuchungen,  die  er  in  den 
beiden  »Römische  Forschungen«  genannten  Sammelbänden  zusammenfaßte, 
in  den  beiden  Dezennien  von  1858  bis  1878  Ergänzungen  und  Verbesserungen 
zu  seiner  Römischen  Geschichte  geliefert.  Sie  waren  nicht  so  einschneidend 
wie  diejenigen,  welche  sich  für  die  erste  Hälfte  des  ersten  Bandes  ergeben 
hätten,  wenn  er  die  Entwicklung  der  Sprachvergleichung  in  der  zweiten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  der  Prähistorie,  deren  Anfängen  er  mit 
wohl  berechtigtem  Mißtrauen  gegenüberstand,  und  wohl  auch  der  wirtschafts- 
geschichtlichen Betrachtungsweise  nachträglich  hätte  berücksichtigen  wollen. 
Er  hat  es  absichtlich  nicht  getan,  um  die  Einheit  des  literarischen  Kunst- 
werkes nicht  durch  eine  Restaurierung  zu  gefährden.  Der  zweite  und  dritte 
Band  haben  auch  im  engeren  wissenschaftlichen  Sinne  kaum  darunter  gelitten, 
daß  er  nicht  an  ihnen  herumänderte;  sie  wirken  nicht  nur  mit  der  gleichen 
unvergleichlichen  Frische,  wie  vor  einem  halben  Jahrhundert  —  die  Forschung 
dürfte  hier,  wo  keine  wesentlichen  neuen  Erkenntnisquellen  hinzugekommen 
sind,  in  wenigen  Punkten  über  seine  Gesamtresultate  hinausgekommen  .sein. 

Aber  auch  wo  die  wissenschaftliche  Forschung  mit  der  Zeit  mehr  er- 
gänzen als  berichtigen  wird,  darf  nicht  vergessen  werden,  welche  ungeheure, 
nahezu  einzigartige  Forschertätigkeit,  der  »Römischen  Geschichte«  zugrunde 
liegt,  eine  Forschertätigkeit,  welche  man  nur  dann  voll  ermessen  kann,  wenn 
man  vergleicht,  was  vor  M.  für  römische  Geschichte  ausgegeben  wurde. 
Dadurch,  daß  er  erkannte,  daß  es  sich  bei  der  uns  vorliegenden  Tradition 
großenteils  nicht  einmal  um  Sagen,  sondern  um  späte  literarische  Fabelei 
handelte,  konnte  er  entschlossen  den  ganzen  Wust  verwerfen  und  auch  von 
den  Niebuhrschen  Konstruktionen  absehen.  Andererseits  bot  er  aber  an 
Stelle  einer  Aneinanderreihung  von  nicht  nur  unrichtigen,  sondern  sogar 
künstlichen  und  zu  falschem  Pragmatismus  verwebten  Einzeltatsachen  ein 
Gesamtbild  des  älteren  Rom,  das  aus  der  reinen  Quelle  der  Staats-  und 
privatrechtlichen  Institutionen  erwuchs,  die,  unverfälscht,  in  ihren  Rudimenten 


Mommsen. 


477 


die  Spuren  der  älteren  Entwicklung  in  sich  trugen.  Diese  Methode,  zwei 
Dezennien  später  im  »Staatsrecht«  zur  vollen  Entfaltung  gebracht,  bleibt  die 
Grundlage  auch  zukünftiger  Forschung,  auch  wenn  und  gerade  weil  sie  auch 
auf  anderen  Gebieten  zur  Anwendung  kommt.  — 

Schon  während  der  Arbeit  am  ersten  Bande  hatte  M.  es  eigentlich  auf- 
gegeben, die  Kaiserzeit  im  unmittelbaren  Anschlüsse  an  die  Geschichte  der 
Republik  darzustellen,  es  mufite  ihm  schon  damals  klar  sein,  daß  die  von  ihm 
erstrebte  Sammlung  und  Verarbeitung  des  inschriftlichen  Materiales  der  Dar- 
stellung vorangehen  müsse.  Nach  dem  Abschlüsse  der  drei  ersten  Bände 
aber,  als  er  schon  mitten  in  den  Corpusarbeiten  steckte,  äußerte  er  sich,  daß 
er,  wenn  ihn  nicht  ein  Menschenfreund  pensioniere  oder  er  einmal  wieder 
abgefaßt  werde,  er  nicht  sehe,  wie  er  wieder  an  dies  Buch  kommen  solle, 
um  es  fortzuführen;  er  meinte,  es  werde  eben,  wie  jedes  andere  deutsche 
Geschichtswerk,  ein  Stückwerk  bleiben.  Hirschfeld  aber  berichtet,  daß  er  es 
nicht  lange  vor  seinem  Tode  ausgesprochen  hat,  daß  er  dem  Corpus  Inscrip- 
tionum  die  Vollendung  seiner  Römischen  Geschichte  geopfert  habe.S^)  Nach 
seinem  sechzigsten  Geburtstage  versendete  er  als  Dank  für  die  ihm  dar- 
gebrachte Festschrift  zwei  Abhandlungen  zur  römischen  Kaisergeschichte,  die 
er  scherzhaft  als  IV.  Band  der  Römischen  Geschichte  bezeichnete  und  denen 
er  als  Motto  die  Worte  beisetzte:  »Gerne  hätt'  ich  fortgeschrieben  —  Aber 
es  ist  liegen  blieben«. 37)  In  seinem  Nachlasse  aber  fanden  sich  einige  Skizzen 
aus  späterer  Zeit  zu  einer  Darstellung  einzelner  Episoden  und  Probleme  der 
Kaisergeschichte,  so  über  das  erste  Auftreten  des  Christentums,  über  die 
Beamtenaristokratie,  die  Ereignisse  unmittelbar  nach  Cäsars  Tod.38)  M.  hat 
namentlich  durch  den  II.  Band  seines  Staatsrechtes,  durch  die  -»J^es  gestae 
D,  AugustU  und  mancher  Einzelabhandlungen,  in  welchen  das  ganze  neue 
Material  verwertet  und  verbunden  wurde,  auch  für  die  eigentliche  zentrale 
Kaisergeschichte  erst  die  wissenschaftliche  Grundlage  geschaffen.  Er  setzte 
jedoch  mit  der  Darstellung  nicht  hier  wieder  ein,  sondern  im  Jahre  1885 
mit  einem  V.  Bande:  »Die  Provinzen  von  Cäsar  bis  Diokletian«,  der  in  der 
Tat  nur  von  ihm  und  überhaupt  nur  geschrieben  werden  konnte,  nachdem 
durch  die  Inschriften  die  römische  Welt  außerhalb  Roms,  die  durch  die 
Traditon  so  sehr  vernachlässigt  ist,  bekannt  geworden  war.  M.  sagt  es  in 
der  Vorbemerkung:  »Was  hier  gegeben  wird,  die  Geschichte  der  einzelnen 
Landesteile  von  Cäsar  bis  auf  Diokletian,  liegt,  wenn  ich  nicht  irre,  dem 
Publikum,  an  das  dieses  Werk  sich  wendet,  in  zugänglicher  Zusammenfassung 
nirgends  vor,  und  daß  dies  nicht  der  Fall  ist,  scheint  mir  die  Ursache  zu 
sein,  weshalb  dasselbe  die  römische  Kaiserzeit  häufig  unrichtig  und  unbillig 
beurteilt.«  Wenn  auch  diese  Aufgabe  ganz  neuartig  gestellt  und  ganz  neu- 
artig gelöst  war,  wie  sie  sich  eben  M.  aus  der  Inschriftenarbeit  ergeben  hatte, 
wenn  auch  einer  der  kompetentesten  Beurteiler  nicht  ansteht,  »diesen  Band 
an  wissenschaftlicher  Bedeutung  und  Fülle  neuer  Resultate  noch  über  seine 
Vorgänger  zu  stellen«, 39)  so  ist  nichtsdestoweniger  wenigstens  die  erste  Hälfte 
des  Satzes  richtig,  mit  dem  M.  die  Einleitung  abschließt:  »Mit  Entsagung 
ist  dies  Buch  geschrieben  und  mit  Entsagung  möchte  es  gelesen  sein.«  Diese 
Entsagung  legte  der  Stoff  selbst  auf,  wenn  er  auch  lebendig  wird  unter  der 
Hand  M.s,  der  es  versucht,  »durch  diese  oder  durch  jene  zufällig  erhaltene 
Nachrichten,  in  dem  Gewordenen  aufbewahrte  Spuren  des  Werdens,  allgemeine 


478  Mommsen. 

Institutionen  in  ihrer  Beziehung  auf  die  einzelnen  Landesteile,  mit  den  für 
jeden  derselben  durch  die  Natur  des  Bodens  und  der  Bewohner  gegebenen 
Bedingungen  durch  die  Phantasie,  welche  wie  aller  Poesie  so  auch  aller  Historie 
Mutter  ist,  nicht  zu  einem  Ganzen,  aber  zu  dem  Surrogat  eines  solchen  zu- 
sammenzufassen.« Die  Schilderung  der  griechischen  Provinzen,  Syriens  und 
Judäas  sind  gewiß  Meisterwerke,  aber  sie  sind  etwas  ganz  anderes,  als  was 
die  drei  ersten  Bände  sind,  an  die  sie  eigentlich  nur  äußerlich  angegliedert 
wurden.  Und  es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  auch  M.  in  den  30  Jahren 
ein  anderer  geworden  war.  Man  konnte  nicht  mehr  behaupten,  wie  Gutzkow 
von  ihm,  wenn  auch  stark  übertreibend,  gesagt  hatte:  »Die  Geschichte  ist 
bei  M.  eine  augenblickliche,  geistvolle,  dämonische  Improvisation« ;  es  waren 
jetzt  auch  die  Worte  großenteils  vermieden,  an  denen  sich  die  Pedanten 
gestoßen  hatten;  es  war  gewiß  ein  noch  reiferes,  klassischeres  Werk  als  die 
ersten  Bände.  Eben  deshalb  aber,  weil  es  eine  Gabe  für  Feinschmecker  war, 
riß  es  auch  nicht  mehr  so  hin.  M.  hatte  Unrecht,  von  einem  succh  (Testime 
seines  5.  Bandes  zu  sprechen,  aber  der  Erfolg  war  in  der  Tat  ein  ganz 
andersartiger,  als  vor  30  Jahren. 

Er  war  schon  an  den  5.  Band  zagend  herangetreten,  zweifelnd,  ob  er 
der  darstellend -schöpferischen  Arbeit  noch  fähig  sei,  und  hatte  in  seiner 
Bescheidenheit  einzelne  Abschnitte  seinem  Schwiegersohne  Prof.  v.  Wilamo- 
witz  übergeben,  um  ein  offenes  fachmännisches  und  künstlerisches  Urteil  zu 
erhalten,  von  dem  er  die  Publikation  abhängig  machte.  Vollends  nach  dem 
5.  Bande,  als  er  ungezählte  Male  nach  den  4.  Bande  gefragt  wurde  und  mit 
ungezählten  abwehrenden  Bemerkungen  antwortete,  war  seine  Grundstimmung 
die,  welcher  er  einem  Kollegen  gegenüber  Ausdruck  gab:  »Ich  habe  nicht 
mehr  die  Leidenschaft,  Cäsars  Tod  zu  schildern «.40)  Wohl  ist  es  richtig,  daß 
auch  mancherlei  andere  Erwägungen  dieser  Stimmung  zu  Hilfe  kamen  —  daß 
er  in  dem  4.  Bande  weniger  eine  wissenschaftliche  Notwendigkeit  erblickte, 
weil  wenigstens  die  Geschichte  Roms  und  des  Hofes,  auch  durch  seine  anderen 
Arbeiten  die  Verfassung  verhältnismäßig  besser  bekannt  waren,  als  die  Pro- 
vinzen; daß  ihm  selbst  des  Tacitus  großartig-manirierte  Schilderung,  die  doch 
die  Grundlage  aller  Kenntnis  der  stadtrömischen  Dinge  im  ersten  Jahrhundert 
ist,  sehr  unsympathisch  war;  daß  ihm  schließlich,  wenn  er  auch  selbst  einige 
der  wichtigsten  Punkte,  namentlich  die  Stellung  des  Staates  zu  den  Christen, 
zuerst  aufgehellt  hat  und  er  insbesondere  in  seinen  letzten  Jahren  durch  seine 
spätrömischen  Studien  in  die  Kirchengeschichte  hineingeführt  wurde,  zwar 
keineswegs  das  Verständnis  für  die  Entstehung  und  Entwicklung  des  Christentums 
fehlte,  obwohl  er  sich  selbst  einen  y>homo  mininu  ecclesiasticuso^  nannte,  wohl  aber 
die  Freude  an  der  Darstellung  der  Zersetzung  und  Ersetzung  des  antiken  durch 
den  nazarenischen  Geist.  Wenn  er  in  den  Sechzigerjahren  an  die  Fortsetzung 
der  Geschichte  geschritten  wäre,  hätte  er  all*  diese  Hemmnisse  überwunden. 
»Aber  es  ist  liegen  blieben.«  Er  hat  dem,  was  er  für  die  erste  wissenschaft- 
liche Pflicht  ansah,  das  höchste  Opfer,  seine  besten  Jahre  dargebracht,  indem 
er  das  Werk,  welches  sein  größtes  Kunstwerk,  also  sein  Individuellstes,  war, 
unvollendet  zurückließ.  Allerdings  konnte  er  sich  sagen,  daß  die  Römische 
Geschichte  auch  in  ihren  drei  Bänden  sich  zu  einem  Ganzen  rundete,  und  daß  er, 
indem  er  sich  an  die  Spitze  und  in  den  Dienst  von  großen  gemeinschaftlichen 
Unternehmungen  stellte,  diesen  den  Stempel  seiner  Individualität  aufdrückte. 


Mommsen. 


479 


IV.  M.  als  Akademiker  und  wissenschaftlicher  Organisator. 
M.  ist  als  Akademiker  nach  Berlin  berufen  worden.  Daß  er  diesen  Ruf 
wahrlich  nicht  als  Ruf  auf  einen  Ruheposten  betrachten  konnte,  legte  er  in 
seiner  Antrittsrede  am  8.  Juli  1858  vor  der  Versammlung  seiner  neuen  Kollegen 
dar,  mit  denen  sich  im  Laufe  der  Zeit  die  bedeutendsten  Gelehrten  Deutsch- 
lands zusammenfanden.  »Den  Platz  in  Ihrer  Mitte,  meine  Herren,  verdanke 
ich  zunächst  dem  großen  wissenschaftlichen  Unternehmen,  wovon  Sie  einen 
wichtigen  Teil  in  meine  Hand  zu  legen  für  gut  gefunden  haben;  und  wenn 
ich  in  Ihrem  Beschlüsse  mich  den  Ihrigen  zu  nennen  eine  ernste  Auf- 
forderung finde,  dieser  Ehre  auch  wert  zu  sein,  so  ist  mir  zugleich  durch 
Sie  eine  bestimmte  Aufgabe  gestellt  worden«  ....  Nach  dem  Hinweise 
auf  die  notwendigen  Vorarbeiten,  welche  durch  die  Namen  Niebuhr  und 
Savigny  gekennzeichnet  sind,  und  auf  das  griechische  Corpus  als  den  Vor- 
läufer des  Lateinischen  legte  er  dar,  in  welchem  Sinne  er  die  ihm  gestellte 
oder  richtiger  von  ihm  erwählte  Aufgabe  erfaßte.  »Große  Erfolge  werden  in 
jeder  Wissenschaft  nur  dem  Ernst  und  dem  Geist  des  einzelnen  Arbeiters  ge- 
lingen und  lassen  sich  nicht  durch  Akademiebeschlüsse  erzielen;  wohl  aber 
vermögen  sie  es  dem  Talent  und  selbst  dem  Genie  die  Stätte  zu  bereiten, 
ihnen  die  Materialien  zurechtzulegen,  deren  sie  bedürftig  sind.  In  diesem 
Sinne  fasse  ich  meine  Aufgabe  und  hoffe  ich  sie  von  Ihnen  aufgefaßt  zu 
sehen.  Es  ist  die  Grundlegung  der  historischen  Wissenschaft,  daß  die  Archive 
der  Vergangenheit  geordnet  werden.  In  der  Abteilung,  die  Sie  mir  und 
meinen  Mitarbeitern  übertragen  haben,  hoffen  wir  Ordnung  zu  stiften  und 
einen  guten  Katalog  herzustellen«  (R.  u.  A.  340.)-  —  ^'^  diesen  Worten  ist 
aber  auch  die  hohe  Aufgabe  eingeschlossen,  die  M.  den  Akademikern  über- 
haupt zuschrieb.  »Abhilfe  kann  für  (die)  wie  der  Wurmfraß  an  der  Wissen- 
schaft haftende  Kraftverschwendung  nur  gefunden  werden  in  der  Assoziation ; 
denn  dies  ist  ja  die  Organisation  der  Arbeit  und  die  Konzentrierung  der 
individuellen  Kräfte«  (R.  u.  A.  46).  Sie  allein  bietet  die  Ergänzung  zu  der 
durch  die  Arbeitsteilung  bedingten  Einengung  des  Arbeitsgebietes  des  einzelnen 
Forschers,  das  Gegengewicht  gegen  das  Sonderstreben  des  deutschen  Gelehrten, 
durch  das  Bewußtsein,  das  Glied  eines  großen  Ganzen  zu  sein«  (vgl.  R.  u.  A. 
67.  116).  »Auch  die  Wissenschaft  hat  ihr  soziales  Problem;  wie  der  Groß- 
staat und  die  Großindustrie,  so  ist  die  Großwissenschaft,  die  nicht  von  Einem 
geleistet,  aber  von  Einem  geleitet  wird,  ein  notwendiges  Element  unserer 
Kulturentwicklung,  und  deren  rechte  Träger  sind  die  Akademien  oder  sollten 
es  sein«  (R.  u.  A.  209).  Da  aber  diese  Aufgaben  die  Kräfte  des  einzelnen 
Mannes  und  der  lebensfähigsten  privaten  Assoziation  übersteigen,  müsse  der 
Staat  die  Geldmittel  durch  sein  berufenes  Organ,  die  Akademien,  zur  Ver- 
fügung stellen  (R.  u.  A.  47).  Dieser  klare  Einblick  in  den  Gesamtbetrieb  der 
Wissenschaft  fügte  sich  in  M.s  Gesamtauffassung  vom  Verhältnisse  der  Wissen- 
schaft zum  Staate  und  zur  Regierung,  »die  nicht  vergessen  kann,  daß  Preußen 
groß  und  deutsch  geworden  ist  auf  den  Wegen  und  durch  die  Macht  des 
Geistes«.  In  seinem  Anteile  an  der  Gesamtarbeit  getröstete  er  sich  für  das, 
was  er  aufgab.  »Die  Menschen  kommen  und  gehen;  die  Wissenschaft  bleibt. 
Wer  an  akademischer  Tätigkeit  sich  beteiligt  hat,  der  darf  der  Hoffnung 
sich  getrösten,  daß,  wenn  er  die  Arbeit  niederlegt,  ein  anderer  für  ihn  ein- 
tritt,   vielleicht    ein   Geringerer,    vielleicht    ein  Besserer;    immer  hat   er    das 


aSo  Mommsen. 

Privilegium,  mehr  als  andere  mit  seiner  Arbeit  über  seine  Spanne  Zeit  hinaus 
zu  wirken«  (R.  u.  A.  156). 

M.  aber  hatte  die  Genugtuung,  das  gewaltige  Werk  des  C.  1.  Z.,  das 
Werk  seiner  pflichtbewußten  Resignation,  nach  halbhundertjähriger  organi- 
satorischer und  kritischer  Arbeit  in  der  Gestalt  nahezu  vollendet  zu  sehen, 
die  er  ihm  vorgezeichnet  hatte.  Als  Zweck  des  C.  I.  L.  hatte  er  schon  in 
seiner  Denkschrift  von  1847  definiert:  »die  sämtlichen  lateinischen  Inschriften 
in  eine  Sammlung  zu  vereinigen,  sie  in  bequemer  Ordnung  zusammenzustellen, 
dieselben  nach  Ausscheidung  der  falschen  Steine  in  einem  möglichst  aus  den 
letzten  zugänglichen  Quellen  genommenen  Text  mit  Angabe  erheblicher 
varietas  lectionis  kritisch  genau  wiederzugeben  und  durch  genaue  Indkes  den 
Gebrauch  derselben  zu  erleichtern«.  Die  Hauptarbeit  lag,  da  »alle  Kritik 
ohne  Zurückgehen  auf  die  letzten  Quellen  Stückwerk  ist«,  einerseits  auf  der 
Autopsie,  andererseits  auf  der  genauen  Durchforschung  der  schier  unüberseh- 
baren Literatur  und  namentlich  der  in  den  verschiedensten  Bibliotheken  zer- 
streuten epigraphischen  Manuskripte.  Die  Klarheit,  mit  welcher  M.  den  Stoff 
überblickte,  ermöglichte  ihm  von  vornherein  sowohl  die  musterhafte  Organi- 
sation der  Arbeit  selbst  durchzuführen,  wie  auch  das  Werk  selbst  so  anzulegen, 
wie  es  für  den  Gebrauch  am  praktischsten  war.  Sowohl  für  die  Arbeit  wie 
für  die  spätere  Benutzung  stellte  sich  immer  deutlicher  die  geographische 
Anordnung  als  die  wünschenswerte  heraus,  und  von  vornherein  wurde  auch 
der  größte  W^ert  gelegt  auf  die  von  Nichtsachverständigen  wenig  gewürdigte 
Herstellung  der  Indkes^  zu  welcher  tiefgehendes  Verständnis  notwendig  war 
und  durch  welche  das  Werk  erst  brauchbar  wurde;  ebenso  wie  in  seinen 
späteren  Editionen  verzichtete  M.  im  C  /.  Z.  mit  Ausnahme  des  i.  Bandes, 
der  die  ältesten  Inschriften  und  daher  größtenteils  singulare  Stücke  enthält, 
auf  ausführliche  Kommentare  in  Boeckhs  Art,  die  für  viele  einzelne  Gruppen 
außerhalb  des  Werkes  veröffentlicht  wurden,  und  verlegte  die  Vergleichung 
und  Zusammenstellung  des  Materiales,  welche  die  Vorbedingung  für  jede 
weitere  Verarbeitung  ist,  eben  in  die  Indkes.  Er  selbst  hat  es  keineswegs 
verschmäht,  nicht  nur  die  Grundlinien  auch  für  diese  festzustellen,  sondern 
einige  auch  selbst  zu  bearbeiten.  Er  war  eben  im  ganzen  wie  im  einzelnen  nicht 
nur  Leiter,  sondern  auch  Arbeiter,  ebenso  wie  seine  beiden  Genossen  Henzen, 
der  die  Bearbeitung  der  stadtrömischen  Inschriften  und  die  Durcharbeitung 
der  40  Foliobände  des  Fälschers  Ligorio  übernahm,  und  de  Rossi,  dessen 
Hauptaufgabe  es  war,  die  epigraphischen  Handschriften  namentlich  der 
Vaticana  auszubeuten.  4»)  Zu  diesen  drei  gesellten  sich  dann  für  die  Bearbei- 
tung einzelner  Teile  u.  a.  Bormann,  Dessau,  Domaszewski,  Dressel,  Hirsch- 
feld, Hübner,  Hülsen,  Joh.  Schmidt,  Wilmanns,  Zangemeister  hinzu.  Im 
Jahre  1863  erschien  der  erste,  die  republikanischen  Inschriften  enthaltende 
Band,  herausgegeben  von  M.,  mit  den  Konsularf asten  von  Henzen,  1872  und 
1877  in  zwei  Teilen  der  5.  Band  (Gallki  cisalpina),  1873  der  3.  Band  (Orient 
und  Österreich),  1883  der  9.  und  10.  Band  (Süditalien),  alle  von  M.  selbst 
bearbeitet.  Aber,  so  schreibt  sein  vertrautester  Mitarbeiter:  »der  Anteil  M.s 
an  dem  Corpus  ist  nicht  nach  den  Bänden  zu  bemessen,  die  er  unter  seinem 
Namen  herausgegeben  hat,  so  umfangreich  diese  auch  sind;  den  Unteritalien 
gewidmeten  Bänden  hat  er  die  seinen  neapolitanischen  Inschriften  im  Jahre  1852 
vorausgeschickte  Vorrede  30  Jahre  später  wieder  beigegeben  und  der  Freude 


Mommsexi.  aS  l 

über  das  Gelingen  des  Werkes,  an  dem  er  damals  verzweifelt  hatte,  wie  dem 
Dank  an  die  hingeschiedenen  Stützen  desselben:  Borghesi  und  an  seinen 
Verleger  Wigand,  wie  an  die  noch  mit  ihm  tätigen  Arbeitsgenossen  bewegten 
Ausdruck  gegeben.  »Das  Steuerruder«,  sagte  er  in  dieser  Vorrede,  »das  ich 
durch  drei  Dezennien  in  guten  und  bösen  Zeiten  geführt  habe,  lege  ich  jetzt, 
wo  mein  Leben  mit  diesem  Werke  zur  Neige  gegangen  ist,  nieder.«  Aber 
noch  mehr  als  zwanzig  Jahre  hat  er  das  SchiH  geführt  und  den  ihm  anver- 
trauten Schatz  fast  ganz  in  dem  sicheren  Hafen  geborgen.  Noch  im  Jahre 
vor  seinem  Tode  vollendete  er  die  Neubearbeitung  der  lateinischen  Inschriften 
des  Orients,  und  in  den  letzten  Wochen  seines  Lebens  beschäftigte  ihn  der 
Gedanke  an  den  Neudruck  der  im  i.  Bande  veröffentlichten  Urkunden. 
Aber  mit  alledem  ist  doch  seine  Tätigkeit  an  dem  Werke  kaum  zur  Hälfte 
bezeichnet,  denn  den  unverkennbaren  Stempel  seines  Geistes  trägt  ein  jeder 
Band  der  Sammlung.  Als  der  Tod  einen  treuen  Genossen  mitten  in  der 
Arbeit  abberief,  ist  er  selbst  eingetreten,  um  den  verwaisten  Band  zu  vollenden. 
Bis  an  das  Ende  seiner  Tage  las  er  unermüdlich  die  Korrekturbogen  des 
ganzen  Werkes  und  ließ  ihnen  seine  durchdringende  Kritik  angedeihen.  £r  hat 
seine  Hilfe  nie  aufgedrängt,  aber  auch  nie  verweigert,  und  ein  jeder  der  Mit- 
arbeiter, die  im  Laufe  eines  halben  Jahrhunderts  dem  Corpus  beigetreten 
sind,  ist  sein  Schüler  und  sein  Schuldner  geworden.  4»)  Die  Vortrefflichkeit 
der  Organisation,  die  M.  für  das  Corpus  geschaffen,  zeigte  sich  aber  auch  in 
seiner  Fürsorge  dafür,  dafi  es  nicht  während  des  Erscheinens  noch  auch  nach 
seinem  Tode  veralten  sollte;  wenn  er  ursprünglich  in  Aussicht  genommen 
hatte,  daß  das  ganze  Werk  auf  einmal  erscheinen  sollte,  so  stellte  sich  dies 
allerdings  als  unmöglich  heraus,  wie  denn  auch  M.  selbst  anfänglich  die  Zeit, 
die  für  die  Bearbeitung  nötig  sein  würde,  und  die  Zahl  der  Inschriften  —  er 
meinte,  es  würden  80000  sein,  während  ihrer  bis  jetzt  mehr  als  die  doppelte 
2^1  gezählt  werden  —  unterschätzte.  Durch  die  Verbindung  mit  dem 
Archäologischen  Institute  in  Rom,  später  auch  mit  den  französischen  Gelehrten, 
welche  die  so  reiche  epigraphische  Schätze  bergende  Provinz  Afrika  verwalten, 
durch  die  unzähligen  Anknüpfungen  mit  allen  lokalen  gelehrten  Vereinigungen 
und  Sammelpunkten  konnte  die  Forschung  immer  auf  dem  laufenden  gehalten 
werden.  Die  zu  diesem  Zwecke  gegründeten  Zeitschriften,  namentlich  die 
Ephemeris  epigraphica,  die  Supplemente  und  Neuauflagen  einzelner  Bände  er- 
hielten und  erhalten  das  Gesamtuntemehmen  stets  auf  dem  Stande,  der  durch 
die  neuen  Forschungsergebnisse  erreicht  ist.  So  hat  das  C,  L  Z.  auf  die 
Altertumswissenschaft  schon  bei  M.s  Lebzeiten  befruchtend  gewirkt,  wie  kein 
anderes  Werk.  Nicht  nur  M.s  eigene  grundlegende  Schriften  der  Spätzeit 
wären  ohne  das  Corpus  unmöglich  gewesen;  seine  »Römische  Chronologie 
bis  auf  Cäsar«  (i.  Aufl.  1858;  2.  Aufl.  1859),  ^^^  durch  die  Polemik  mit  seinem 
Bruder  August  noch  besonderes  persönliches  Interesse  hat,  ist  ihm  unmittelbar 
aus  seinen  Vorarbeiten  für  den  i.  Band  in  Verbindung  mit  seinen  früheren 
Schriften  über  Cassiodors  Chronik  und  den  Chronographen  von  354  erwachsen; 
die  römische  Prosopographie  aber,  die  Sorge  seiner  letzten  Jahre,  wäre  ohne 
das  Corpus  undenkbar.  Vor  allem  aber  die  Forschungsmethode  und  mit  ihr 
die  Anschauung  vom  römischen  Staate,  namentlich  der  Kaiserzeit  ist  vollständig 
umgewandelt,  und  die  unzähligen  Untersuchungen,  die  in  und  außerhalb  Deutsch- 
lands erschienen  sind  und  größere  oder  kleinere  Teile  des  römischen  Altertums 

Biosrr.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolos^.    9.  Bd.  3 1 


482 


Mommsen. 


erhellt  haben,  sind  als  unmittelbare  Ausläufer  des  Corpus  zu  betrachten. 
Man  kann  sogar  sagen,  daß  M.  durch  das  Corpus  in  noch  extensiverer  Weise 
auf  die  gelehrte  Produktion  eingewirkt  hat  als  durch  die  römische  Geschichte, 
welche  als  individuelles  Kunstwerk  mehr  bewundert  als  nachgeahmt  wurde, 
und  durch  sein  römisches  Staatsrecht  und  seine  zugehörigen  Forschungen, 
welche  infolge  der  Seltenheit  der  Vereinigung  juristischer  und  historischer 
Anlage  und  Methode  von  anderen  nur  in  geringerem  Mafie  ergänzt  wurden.  — 

Gewissermafien  eine  lokale  Ergänzung  zum  Corpus  waren  M.s  Bemühungen, 
die  römisch-germanische  Altertumsforschung  in  Deutschland  zu  organisieren. 
»Die  Gebiete  des  Römerstaates,  welche  in  unsere  Grenzen  fallen,  sind  für 
die  geschichtliche  Forschung  von  sehr  viel  höherer  Bedeutung  als  im  Bereich 
der  Provinzen  die  meisten  übrigen,  wenn  auch  ausgedehnteren;  die  großen 
Probleme  des  Grenzschutzes,  der  Militärorganisation,  der  Völkerwanderung 
ünden  hier  ihre  wichtigsten  Brennpunkte.«  —  »Sollte  es  nicht  möglich  sein, 
so  gut  wie  wir  ein  archäologisches  Reichsinstitut  für  Rom  und  für  Athen  haben, 
etwas  Ähnliches  auch  in  Deutschland  für  die  römisch-germanischen  Alter- 
tümer ins  Leben  zu  rufen?«  (R.  u.  A.  349 f.)  Als  die  nächste  und  wichtigste 
Aufgabe  der  organisierten  Lokalforschung  erschien  M.  die  einheitliche  Er- 
forschung des  Limes,  des  römischen  Grenzwalles  gegen  die  Germanen.  Ein 
erster  Versuch  scheiterte  trotz  des  Interesses,  das  Moltke  der  Aufgabe  ent- 
gegenbrachte. M.  nahm  jedoch  die  Sache  wieder  auf.  Er  veranlafite  im 
Dezember  1890  den  Zusammentritt  der  Limeskonferenz  in  Heidelberg,  deren 
Beschlüsse  zu  einer  einheitlichen  Organisation  der  Arbeit  in  den  verschiedenen 
deutschen  Bundesstaaten  und  im  weiteren  Verlaufe  zur  Begründung  des  Reichs- 
limesmuseums führten,  für  dessen  Grundstein  M.  die  Urkunde  im  Jahre  1900 
verfaßte. 

Auch  in  die  Organisation  jenes  älteren  gewaltigen  Unternehmens,  das 
die  mittelalterliche,  wie  das  C  T,  L.  die  römische  Forschung  auf  neue  Grund- 
lagen gestellt  hat,  der  Monumenta  Germaniae  hat,  M.  mitentscheidend  eingegriffen, 
da  er  nach  dem  Tode  Haupts  als  Vertreter  der  Berliner  Akademie  die  Ver- 
handlungen leitete,  aus  welchen  die  Umgestaltung  der  privaten  Gesellschaft 
für  ältere  deutsche  Geschichtskunde  in  einen  von  den  Akademien  geleiteten, 
auf  Arbeitsteilung  beruhenden  Organismus  hervorging.  43)  Bei  dieser  Gelegen- 
heit wurde  u.  a.  der  ursprüngliche  Plan  derart  erweitert,  daß  zu  den  übrigen 
Abteilungen  unter  dem  Namen  ^^Auctores  antiquissimh  eine  neue  Serie  von 
Ausgaben  hinzutrat,  welche  die  Schriftsteller  der  Übergangszeit  vom  Alter- 
tum zum  Mittelalter  umfaßte.  M.  übernahm  die  Leitung  dieser  Abteilung 
und  hat  sie  bis  zum  Jahre  1898  zu  Ende  geführt.  Schon  in  früheren  Jahren 
war  er  durch  seine  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  römischen  Chronologie 
und  der  Fasten  ebenso  wie  durch  das  Studium  der  Inschriften  und  der  Rechts- 
bücher der  Spätzeit  des  Römertums  nahegetreten,  und  er  beklagte  es  oft,  daß 
gerade  hier,  wo  die  Quellen  reichlich  fließen,  seit  dem  von  ihm  sehr  bewun- 
derten Gothofredus  so  wenig  wissenschaftlich  gearbeitet  wurde,  während  man 
sich  mit  Vorliebe  jenen  alten  Zeiten  zuwendete,  wo  häufig  die  Hypothese 
an  die  Stelle  der  Quellen  treten  muß.  Er  hatte  sich  bald  auch  hier  von  der 
vollständigen  Unzulänglichkeit  der  philologischen  Vorarbeit  überzeugt  und 
hat  dann  auch  diese  große  wissenschaftliche  Lücke  vollständig  ausgefüllt. 
Schon  im  Jahre  1882  erschien  seine  Ausgabe  des  Jordanes,  1 891  ff.  die  Aus- 


Mommsen.  ^,83 

gäbe  der  Chronica  minora  saec.  IV,  V.  VI.  VII.  in  welchen  eine  text-  und 
quellenkritische  Arbeit  von  unerhörter  Schwierigkeit  durchgeführt  und  eine 
der  wichtigsten  Quellen  der  Spätzeit  eigentlich  erst  zugänglich  gemacht  wurde, 
1894  der  Cassiodor,  dessen  Hauptwerk,  welches  nahezu  allein  uns  die  Kenntnis 
der  inneren  Struktur  des  ostgotischen  Staates  vermittelt,  durch  die  chronologi- 
sche Scheidung  seiner  Bestandteile  erst  für  exakte  historische  Untersuchungen 
über  die  Gotenzeit  verwendbar  wurde.  Die  Einleitungen  dieser  Ausgaben 
sind  eingehende  für  den  Schriftsteller  grundlegende  Untersuchungen,  der  text- 
kritische Apparat  von  jener  Knappheit  und  Präzision,  die  dem  M.  eigentüm- 
lichen praktisch -wissenschaftlichen  Blicke  und  der  im  C.  /.  Z.  musterhaft 
durchgeführten  wissenschaftlichen  Technik  entspricht,  mit  Abweisung  alles 
Überflüssigen  und  jeder  ostentatio  eruäitionis,  die  Indkes  ein  tief  eindringendes 
Stück  gelehrter  Arbeit.  Eigentliche  Kommentare  werden  auch  hier  vermieden ; 
aber  M.  hat  in  einer  grofien  Reihe  von  Artikeln  im  Neuen  Archiv,  der  Zeit- 
schrift der  Monumenta  Germaniae^  seine  philologische  Arbeit  zu  historischen  Re- 
sultaten zusammengefaßt,  so  dafi  z.  B.  seine  ostgotischen  Studien,  die  im  An- 
schlüsse an  die  Bearbeitung  Cassiodors  im  Jahre  1889  erschienen  —  zugleich 
mit  »Das  römische  Militärwesen  seit  Diokletian«  —  eigentlich  als  vollgültige 
Fortsetzung  seines  römischen  Staatsrechtes  erscheinen  können,  da  sie  einen 
Teil  des  spätrömischen  Staatswesens  nicht  weniger  durchdringend  beleuchten, 
wie  jenes  die  Republik  und  den  Prinzipat.  Hat  doch  die  Spätzeit  sein  Inter- 
esse in  immer  erhöhterem  Mafie  in  Anspruch  genommen,  und  der  Gedanke 
lag  ihm  nicht  ferne,  wenn  er  noch  geglaubt  hätte,  daß  ihm  die  Arbeitszeit 
gegönnt  gewesen  wäre,  dem  Staatsrechte  des  Prinzipates  ein  Verwaltungsrecht 
des  Dominates  hinzuzufügen,  dessen  Hauptlinien  in  meisterhafter  Weise  in 
dem  im  Jahre  1893  erschienenen  »Abriß  des  römischen  Staatsrechts«  gezeichnet 
sind.  —  Aber  er  wurde  notwendig  auf  diesem  Wege  noch  weiter  geführt, 
schon  frühe  zu  Studien  über  Paulus  Diaconus,  dann,  als  sich  kein  passender 
Bearbeiter  für  die  Papstleben  fand,  zu  seiner  Ausgabe  des  ersten  Teiles  der 
Gesta  panüficum  für  die  Monumenta  Germaniae  und  den  mit  ihr  zusammen- 
hängenden verwickelten  Fragen  der  Entstehungsgeschichte  dieser  wichtigen 
Quelle  der  Geschichte  der  Kirche  und  Italiens.  Er  meinte  zwar  gelegent- 
lich durch  derartige  Forschungen  die  Grenzen  seines  Arbeitsgebietes  zu  über- 
schreiten. »Indes  habe  ich  andererseits  immer  gesagt«  —  schreibt  er  in  der  Ab- 
handlung über  »Die  Bewirtschaftung  der  Kirchengüter  unter  Papst  Gregor  I.«  — 
»und  soviel  ich  vermochte,  auch  dazu  getan,  daß  die  dunkle  Scheidezeit 
zwischen  Altertum  und  Neuzeit  von  beiden  Seiten  zu  beleuchten  ist,  und  daß 
die  Wissenschaft  davor  steht  wie  die  Ingenieure  vor  dem  Tunnelbau:  man 
setzt  an  beiden  Seiten  an  und  nimmt  sich  beiderseits  vor,  Unzulänglichkeiten 
einander  zu  verzeihen  und  etwaigen  Begegnens  sich  zu  erfreuen.«  Man  darf 
heute  wohl  sagen,  daß  M.  den  Stollen  so  weit  vorgetrieben  hat,  daß  die 
wesentlichen  Schwierigkeiten  des  Zusammentreffens  überwunden  sind,  und  daß 
er  so  in  den  letzten  Dezennien  seines  Lebens  chronologisch  das  Werk  beendet 
hat,  das  er  in  den  ersten  Dezennien  seiner  wissenschaftlichen  Arbeit  damit  be- 
gonnen hatte,  daß  er  die  römische  Geschichte  an  jene  angrenzenden  Forschungs- 
gebiete anknüpfte,  welche  damals  allein  die  Urzeit  Roms  erhellen  konnten.  — 
Da  M.  in  seinem  Streben  nach  lückenloser  Vollständigkeit  kein  Quellen- 
gebiet unbeachtet  ließ,  hat  er  sich  seit  seiner  ersten  italienischen  Reise  auch 

3i^ 


aSa  Monimseti. 

der  Münzkunde  zugewendet  und  die  Münzen  schon  für  seine  frühen  sprach- 
lichen, wie  für  seine  späteren  Untersuchungen  herangezogen,  einzelne  Münz- 
gruppen behandelt,  seine  Studien  in  den  Schriften  »Über  das  römische  Münz- 
wesen« und  »Über  den  Verfall  des  römischen  Münzwesens  in  der  Kaiserzeit« 
und  im  Jahre  1860  in  dem  Werke  »Geschichte  des  römischen  Münzwesens« 
niedergelegt.  Was  dieses  Buch  ist,  hat  M.  im  Vorwort  genau  bezeichnet: 
»weder  eine  Metrologie  soll  es  sein  noch  eine  römische  Münzkunde,  sondern 
eine  Geschichte  des  römischen  Münzwesens,  die  freilich  wie  billig  auf  Maß- 
wie  auf  Münzkunde  sich  stützt,  aber  weder  diese  zu  erschöpfen  beabsichtigt 
noch  sich  auf  diese  beschränkt«.  Zum  ersten  Male  hat  M.,  um  ein  voll- 
kommenes Bild  zu  gewinnen,  die  ebenso  wichtige  wie  schwierige  Frage  über 
das  Münzrecht  als  Teil  des  Staatsrechts,  sowie  die  rechtliche  Betrachtung  des 
Geldes  überhaupt  in  seine  Untersuchungen  hineingezogen  —  und  niemand 
war  dazu  so  berufen  wie  er,  der  Jurist  — ;  um  die  geschichtliche  Entwick- 
lung des  römischen  Münzwesens  richtig  darzustellen,  mußte  er  auch  das 
italienische  Münzwesen  in  zusammenfassender  Weise  erörtern,  und  hier 
wiederum  hat  er  weit  ausgreifen  müssen  in  das  große  Gebiet  der  antiken 
Münzkunde,  indem  er  den  ältesten  asiatisch-griechischen  Systemen,  unter  deren 
Einfluß  das  älteste  italienische  Geld  sich  entwickelt  hat,  einen  ganzen  Ab- 
schnitt seines  Buches  gewidmet  hat.  Auf  das  ihm  nicht  kongeniale  archäo- 
logische Gebiet  hat  er  nicht  übergegriffen,  wie  er  denn  auch  ein  Numis- 
matiker im  technischen  Sinne  nicht  eigentlich  gewesen  ist.  44)  Doch  verdankt 
ihm  die  römische  Numismatik  außer  jenen  durchgreifenden  Arbeiten  zum 
guten  Teile  die  Begründung  der  von  seinem  Schüler  Sallet  geleiteten  Zeit- 
schrift für  Numismatik  und  vor  allem  im  Jahre  1886  die  Anregung  und  den 
Plan  zum  Corpus  nummorum,  das  unter  Leitung  Imhoofs  begonnen  werden 
konnte;  eine  ihm  1893  zu  seinem  Doktorjubiläum  gewidmete  Ehrengabe  wies 
M.  diesem  Zwecke  zu;  zu  dem  ersten  Halbbande  dieses  Werkes,  das  sich 
dem  C.  /.  Z.  ebenbürtig  zur  Seite  stellen  soll,  konnte  er  noch  selbst  im  Namen 
der  Akademie  das  Vorwort  schreiben.  — 

Nicht  minder  kräftig  hat  er  aber  eingegriffen,  als  es  sich  um  die  Nutz- 
barmachung der  neuesten  zugänglichen  Quelle  der  Altertumsforschung,  der 
Papyriy  handelte,  »M.  ist  wohl  der  erste  gewesen«,  so  schreibt  sein  Schüler 
Wilcken,  »der  klar  erkannte,  daß  diese  braunen  Fetzen,  aus  denen  das  Alter- 
tum zum  Teil  mit  Stimmen,  die  wir  noch  nicht  gehört  hatten,  zu  uns  spricht, 
für  die  verschiedensten  Zweige  der  Altertumsforschung  von  größter  Bedeutung 
sind.«  »Die  große  Fundgrube  für  alle  Forschungsgebiete«,  so  hat  er  .  .  .  die 
ägyptischen  Papyri  genannt.«  Sein  Interesse  wurde  besonders  durch  ihre 
Bedeutung  für  die  Kenntnis  der  ägyptischen  Verwaltung,  die  so  stark  auf 
die  römische  der  Kaiserzeit  eingewirkt  hat,  erregt.  Aber  zugleich  erkannte 
er,  daß  es  für  ihn  zu  spät  war,  selbst  die  ganze  große  Arbeit,  die  sich  dar- 
bot, zu  bewältigen,  und  fand  sich  mit  der  ihm  eigenen  weisen  Selbstbeschrän- 
kung »in  das  Zusehen,  was  nicht  ganz  leicht  ist«  —  nicht  ohne  jedoch 
Einzelnes  selbst  zu  bearbeiten  und  für  seine  wissenschaftlichen  Zwecke  heran- 
zuziehen. Um  so  eifriger  betrieb  er  aber  die  Organisation  auch  dieses 
Studienbereiches  zum  Nutzen  der  jüngeren  Generation;  er  stand  an  der  Wiege 
des  Archivs  für  Papyrusforschung  und  hat  im  ganzen  wie  im  einzelnen  die 
Einrichtung  der  Papyruspublikationen  des  Berliner  Museums  vorgezeichnet, 


Mommsen.  ^85 

deren  praktische  Anlage  deutlich  seine  erfahrene  Hand  verrät.  Als  Ziel  für 
viel  spätere  Zeiten  schwebte  ihm  aber  ein  allgemeines  Corpus  papyrorum  vor.45) 
Der  wissenschaftliche  Großbetrieb  war  unter  M.s  Leitung  über  die  Grenzen 
der  Nation  hinausgewachsen  und  beanspruchte  schon  größere  Kapitalien,  als 
einer  einzelnen  gelehrten  Körperschaft  zur  Verfügung  standen.  Schon  das 
C.  /.  Z.  erforderte  die  Mitarbeit  auch  italienischer  und  französischer  Gelehrten. 
Zu  den  Motmmenta  Gcrmatwu  steuerten  mehrere  Akademien  bei.  Das  Corpus 
nummorum  und,  wenn  es  einmal  Zustandekommen  sollte,  das  Corpus  papyrorum 
erforderte  das  organisierte  Zusammenwirken  aller  Kultumationen.  Nament- 
lich M.s  nicht  in  die  Schranken  der  nationalen  Kultur  gebanntem  Geiste 
mußte  es  naheliegen,  sobald  sich  Gelegenheit  und  Möglichkeit  bot,  die 
wissenschaftliche  Arbeitsteilung  auf  einer  weiteren  Basis  zu  organisieren.  Die 
Veranlassung  zu  den  ersten  Schritten  auf  diesem  Wege  was  das  Unternehmen 
des  Thesaurus  linguae  LaHnae,  dessen  Rahmen  zu  weit  für  die  Kräfte  einer 
einzelnen  Akademie  gespannt  war.  Der  von  M.  Hertz  angeregte  Gedanke 
einer  Kooperation  der  Akademien  von  Berlin,  München  und  Wien  zu  diesem 
Zwecke  wurde  von  einer  Berliner  Thesaurus-Kommission,  der  auch  M.  als 
Berichterstatter  angehörte,  aufgegriffen  und  von  M.  sofort  erweitert.  Er  kam 
im  Mai  1892  nach  Wien  zu  dem  Zwecke,  ein  Kartell  der  Akademien  deut- 
scher Zunge  und  im  weiteren  Verlaufe  eine  Vereinigung  der  gelehrten  Körper- 
schaften der  Kultumationen  einzuleiten.  W.  v.  Hartel  und  Ed.  Suess  wurden 
hier  gewonnen  und  wußten  die  Wiener  Akademie  zu  überzeugen  und  mit 
ihrer  Hilfe  die  gelehrten  Körperschaften  von  München,  Leipzig,  Göttingen 
heranzuziehen  M.  entwarf  die  Statuten,  und  schon  im  Januar  1893  traten 
die  Delegierten  dieser  Körperschaften  in  Leipzig  zusammen.  M.  und  Suess 
vertraten  hier  den  Statutenentwurf;  jedoch  war  es  gerade  die  Berliner  Aka- 
demie, die  nur  auf  Vereinbarungen  von  Fall  zu  Fall,  namentlich  aber  für 
den  Thesaurus^  eingehen  zu  wollen  erklärte  und  sich  femer  dagegen  aus- 
sprach, daß  weitere  Einladungen  zum  Beitritte  erfolgten  —  eine  Haltung,  die 
zu  M.s  persönlicher  Meinung  in  Widerspruch  stand  und  ihn  wohl  auch  mit 
veranlaßt  haben  dürfte,  bald  darauf  das  ständige  Sekretariat  der  Berliner 
Akademie  niederzulegen.  Indes  erwuchs  aber  in  der  Tat  aus  dem  Kartell 
der  Deutschen  Akademien  die  intemationale  Assoziation  der  Akademien  der 
Kultumationen.  Auf  der  Göttinger  Kartellversammlung  vom  Jahre  1898 
wurde  die  Erweiterung  des  Kartelies  beantragt  und  auf  dem  Münchener 
Kartelltag  im  Frühjahr  1899  beschlossen.  Im  Herbste  1899  ^^"^  ^^^  \ion' 
stituierende  Versammlung  der  —  übrigens  vom  deutschen  Kartelle  unabhän- 
gigen —  intemationalen  Assoziation  in  Wiesbaden,  im  April  190 1  deren 
erste  Generalversammlung  in  Paris  statt,  an  der  als  Vertreter  der  Berliner 
Akademie  auch  M.  teilnahm.  »Diese  Assoziation  hat  den  Zweck,  wissen- 
schaftliche Unternehmungen,  welche  von  der  Gesamtheit  der  vereinigten 
Körperschaften  oder  von  einer  Gruppe  derselben  oder  von  einer  einzelnen 
derselben  in  Angriff  genommen  oder  empfohlen  werden,  zu  unterstützen,  und 
sich  über  Einrichtungen  zur  Erleichterung  des  wissenschaftlichen  Verkehrs 
zu  verständigen.«  46)  —  Wenn  M.  als  Mitglied  der  Akademie  sich  auch  als 
Nachfolger  Leibnizens  fühlte  (vgl.  R.  u.  A.  44,  49),  so  hat  er  durch  die  An- 
bahnung dieser  die  wissenschaftlichen  Großbetriebe  vereinigenden  Assoziation 
in  der  Tat  dessen  Programm  den  geänderten  Zeitverhältnissen  entsprechend 


486 


Mommsen. 


in  die  Wirklichkeit  übersetzt,  nachdem  er  durch  eigene  Arbeit  erst  den  Inhalt 
für  eine  solche  Organisation  geschaffen  hatte. 

V.  Juristische  Schriften.  M.s  juristische  Schriften  können  nur  äußer- 
lich von  seinen  übrigen  Arbeiten  getrennt  werden;  denn  der  römische  Staat 
als  Ganzes  stand  immer  im  Mittelpunkt  seiner  Forschung,  ob  er  nun  den 
»Katalog«  der  verschiedenen  Quellen  uud  Urkunden  des  Altertums  herstellte, 
oder  das  Römertum  in  seiner  Entwicklung  darstellte  oder  die  Einrichtungen 
des  Staates  als  solche  ins  Auge  faßte.  Zivilist  im  Sinne  der  praktischen 
Jurisprudenz,  welche  moderne  Verhältnisse  mit  antiken  Denkformen  zu  be- 
wältigen strebt,  ist  er  deshalb  auch  nie  gewesen,  da  er  die  Jurisprudenz  vom 
historischen  Gesichtspunkte  aus  behandelte  und  auch  auf  diese  Weise  »die 
Fakultätslinie«  übersprang.  Gerade  dadurch  hat  er  aber  auch  die  römischen 
privatrechtlichen  Institutionen  von  einer  ganz  andern  Seite  anzusehen  gelehrt, 
damit  den  wesentlichsten  Programmpunkt  der  historischen  Schule  der  Juris- 
prudenz tatsächlich  durchgeführt  und  vor  allem  gelehrt,  was  und  daß  der 
Jurist  vom  Philologen  lernen  könne,  wie  er  schon  in  einer  These  seiner 
Dissertation  behauptet  hatte. 

Auch  auf  diesem  Gebiete  hat  er  zunächst  die  quellenmäßige  Grundlage 
hergestellt,  durch  Sammlung  und  kritische  Behandlung  zunächst  der  inschrift- 
lich erhaltenen  Staatsurkunden, 47)  dann  auch  der  Überreste  der  römischen 
Jurisprudenz.  So  hat  er  nicht  nur  die  sogenannten  ^Fragmenta  Vaticanai^ 
und  die  *Mosaicarwn  et  Ramanarum  legum  collatio^  ediert  und  zu  Gaius,  zu 
Ulpian,  zu  den  Notae  iuris  Beiträge  geliefert,  sondern  vor  allem  für  das 
Hauptwerk,  aus  dem  unsere  Kenntnis  der  römischen  Jurisprudenz  fließt,  für 
die  Digesten,  erst  die  textkritische  Grundlage  geliefert,  deren  —  so  unglaub- 
lich es  klingt  —  in  den  vier  Jahrhunderten  seit  Erfindung  der  Buchdrucker- 
kunst dies  Buch  noch  entbehrte,  obwohl  oder  weil  es  nicht  nur  zu  histo- 
rischen Forschungen,  sondern  täglich  von  tausenden  von  Juristen  mittelbar 
oder  unmittelbar  in  der  Praxis  verwendet  wurde.  Der  Text  der  Florentina 
war  zwar  schon  lange  als  der  beste  erkannt  worden;  aber  M.  zuerst  sorgte 
für  eine  genaue  Kollation,  in  welcher  die  verschiedenen  korrigierenden  und 
bessernden  Hände  unterschieden  und  bestimmt  wurden,  und  konnte  auf  diese 
Weise  Verbesserungen  nach  alten  Vorlagen  und  willkürliche  Veränderungen 
unterscheiden.  Zugleich  zog  er  die  griechische  Übersetzung  der  Basiliken 
zur  Textverbesserung  heran,  sonderte  die  brauchbaren  alten  Fragmente  und 
Handschriften  aus  und  warf  die  unbrauchbaren  mit  Entschiedenheit  über  Bord, 
so  daß  er  sichere  Kriterien  für  die  Herstellung  des  ursprünglichen  Textes 
gewann.  Die  große  Ausgabe  {^adstm^to  in  operis  societatem  Paulo  Kruegero^) 
erschien  iujclen  Jahren  1866 — 1870,  die  kleine  stereotypierte  Ausgabe,  ergänzt 
durch  die  Institutionen  und  den  Codex  Justinianus  von  Krüger  und  durch 
die  Novellen  Justinians  von  Schoell,  seit  1872  in  neun  Auflagen,  die  sich 
heute  in  den  Händen  aller  Juristen  befinden 4^).  —  Erst  als  diese  philologische 
Tätigkeit  beendet  war,  konnte  sich  an  sie  der  Digesten-Index  und  das 
Vocabulariiim  iuris  Romani  anschließen. 49) 

Noch  als  Achtzigjähriger  unternahm  er,  offenbar  angeregt  durch  seine 
intensive  Beschäftigung  mit  der  Verwaltung  der  nachdiokletianischen  Zeit, 
eine  kaum  minder  umfangreiche  Aufgabe,  die  Edition  des  Codex  Theodo- 
sianuSf  im  Auftrage  der  Berliner  Akademie.    Er  hat  den  Text  und  die  Prole- 


Mommsen. 


487 


j^ontena  noch  selbst  beendigt,  auf  jenen  und  auf  die  ersten  Bogen  dieser 
noch  sein  Imprimatur  setzen  können,  als  ihm  das  Augenlicht  schon  zu  ver- 
sagen drohte.  Für  den  jungen  M.  hätte  die  Ausgabe  des  Theodosianus^  wie 
seine  anderen  Arbeiten  zur  spätrömischen  Zeit  nur  den  Beginn  neuer  zu* 
sammenfassender  Arbeiten  bedeutet.  So  hat  er  nur  hoffen  können,  daß  hier 
von  Späteren  ausgebaut  werde,  wozu  er  die  Fundamente  gelegt  hat.   — 

Das  großartigste  Beispiel  aber,  auf  welche  Weise  aus  der  Zusammen- 
fassung allen  Materials  der  gewaltige  Bau  des  römischen  Staates  in  Gedanken 
wieder  aufgerichtet  werden  kann,  hat  er  für  Königtum,  Republik  und  Prinzipat 
in  seinem  Römischen  Staatsrecht  gegeben.  Was  £.  Mach  von  der  Natur- 
wissenschaft sagt:  sie  »verläßt  das  Mosaikbild  mit  Steinchen  und  sucht  die 
Grenzen  und  Formen  des  Bettes  zu  erfassen,  in  dem  der  lebendige  Strom 
der  Erscheinungen  fließt.  Den  sparsamsten,  einfachsten  begrifflichen  Ausdruck 
der  Tatsachen  erkennt  sie  als  Ziel«  —  das  gilt  auch  von  M.s  Römischem 
Staatsrecht:  »Wie  in  der  Behandlung  des  Privatrechts«  —  so  sagt  er  selbst 
in  der  Einleitung  —  »der  rationelle  Fortschritt  sich  darin  darstellt,  daß  neben 
und  vor  den  einzelnen  Rechtsverhältnissen  die  Grundbegriffe  systematische 
Darstellung  gefunden  haben,  so  wird  auch  das  Staatsrecht  sich  erst  dann 
einigermaßen  ebenbürtig  neben  das  Privatrecht  stellen  dürfen,  wenn,  wie 
dort  der  Begriff  der  Obligation  als  primärer  steht  über  Kauf  und  Miete, 
so  hier  Konsulat  und  Diktatur  erwogen  werden  als  Modifikationen  des  Grund- 
begriffes der  Magistratur.«  In  diesen  Worten  ist  zugleich  der  ganze  immense 
Unterschied  zwischen  den  älteren  Handbüchern  der  »Staatsaltertümer« 
und  dem  Staatsrechte  niedergelegt.  Das  Ziel  hatte  ihm  schon  von  Jugend 
auf  vorgeschwebt,  und  er  hätte  den  Plan  der  Ausarbeitung  seit  der  Leipziger 
Zeit  auch  dann  nicht  aus  den  Augen  gelassen,  wenn  Hirzel  nicht  auf  die 
Erfüllung  der  »vor  vielen  Jahren  mit  leichterem  Sinn,  vielleicht  auch  mit 
Leichtsinn«  gegebenen  Zusage  gedrängt  hätte.  Als  er  aber  die  Römische 
Geschichte  abgeschlossen  hatte  und  sich  darüber  klargeworden  war,  daß  er 
durch  parallele  Bearbeitung  des  Zivil-  und  Kriminalrechts  der  ältesten  Zeit 
zu  manchen  neuen  Aufschlüssen  gelangt  war,  war  es  das  C,  /.  Z.,  das  in 
seiner  ersten  Berliner  Zeit  seine  volle  Kraft  in  Anspruch  nahm.  Schwerlich 
wäre  aber  der  Grundriß,  der  in  seinen  Jugendschriften  schon  angedeutet,  in 
seine  Römische  Geschichte  mit  festen  Linien  eingezeichnet  ist,  so  vollständig 
ausgefüllt  worden,  wenn  nicht  die  mühsame  und  arbeitsreiche  Katalogisierung 
des  Materials  in  den  fünfziger  und  sechziger  Jahren  vorausgegangen  wäre. 
Erst  im  Jahre  1871  erschien  der  erste,  in  den  Jahren  1874  und  1875  der 
zweite  Band  des  Römischen  Staatsrechts.  'Wie  die  Geschichte  den  Längs- 
schnitt, so  bedeutet  das  Staatsrecht  den  Querschnitt  durch  die  römische 
Entwicklung,  und  wie  die  Darstellung  der  Geschichte  durch  die  Zeitfolge^ 
so  wird  die  des  Staatsrechtes  durch  die  sachliche  Zusammengehörigkeit  be- 
dingt, so  daß  dieses  als  die  notwendige  sachliche  Ergänzung  jener  erscheint. 
»Es  ist  der  allgemeine  Teil  der  Darstellung  des  römischen  Gemeinwesens, 
der  hier  .  .  .  gegeben  wird,  der  Versuch  eine  jede  Institution  darzustellen 
sowohl  als  Glied  des  Ganzen  in  ihrer  Besonderheit  wie  in  ihrer  Beziehung 
zu  dem  Organismus  überhaupt.«  Wenn  M.  hinzufügt:  »ich  wenigstens  bin 
mir  bewußt,  alle  Arbeits-  und  Denkkraft  daran  gesetzt  zu  haben,  um  jedes 
brauchbaren  Bausteins  habhaft  zu  werden  und  jeden  Gedanken  zu  Ende  zu 


^88  Moromsen. 

denken«  —  so  ist  damit  jene  ganz  einzige  Verbindung  von  induktiver  und 
deduktiver  Forschung  oder,  um  mit  M.  zu  reden,  von  Philologie  und  Juris- 
prudenz angedeutet,  aus  welcher  das  Werk  erwachsen  ist.  Das  Zuendedenken 
bezieht  sich  aber  nicht  nur  auf  das  Zurückgehen  auf  die  bewufit  von  den 
römischen  Juristen  erfaßten  staatsrechtlichen  Gedanken,  obwohl  M.  nach- 
gewiesen hat,  daß  die  zeitgenössische  Theorie  auch  in  staatsrechtlicher  Be- 
ziehung weiter  vorgeschritten  war,  als  man  geahnt  hat,  sondern  auch  auf  die 
Rekonstruktion  und  Darstellung  derjenigen  Begriffe,  unter  welche  die  tat- 
sächlichen Funktionen  des  staatlichen  Organismus  subsumiert  werden  können, 
auch  wenn  sich  die  römische  Jurisprudenz  nicht  bis  zu  ihnen  erhoben  hat. 
Es  ist  die  Zusammenfassung  aller  Äußerungen  des  römischen  Staates  unter 
einheitlichen  Gesichtspunkten,  eine  Aufgabe,  die  deshalb  geboten,  aber  wohl 
auch  nur  deshalb  ohne  Rest  lösbar  war,  weil  sich  der  römische  Staat  mehr 
wie  jeder  andere  unabhängig  von  äußeren  umwälzenden  Einflüssen  ent- 
wickelt hat. 

Jede  Tätigkeit  des  römischen  Staates  drückt  sich  aus  in  der  Magistratur, 
und  deshalb  geht  M.  von  dieser  aus.  »Es  liegt  im  Wesen  der  römischen 
Gemeinde«,  so  hebt  das  Römische  Staatsrecht  an,  »daß  die  Darstellung  ihrer 
Rechtsordnung  den  Ausgang  nehmen  muß  von  den  Beamten  derselben;  wie 
denn  auch  ihre  in  Form  des  Gründungsberichts  uns  aufbehaltene  uralte  Selbst* 
Schilderung  den  König  älter  macht,  als  die  Stadt  und  das  Volk.  Die  Dar- 
stellung des  Gemeinderates,  sowie  die  der  Gemeindeversammlung  können 
derjenigen  der  Magistratur  schon  darum  nicht  voraufgehen,  weil  beide  nur 
in  Gemeinschaft  mit  der  Magistratur  befähigt  sind  zu  handeln  und  jeder 
Beschluß  des  versammelten  Rats  oder  der  versammelten  Gemeinde  zugleich 
auch  ein  magistratischer  Akt  ist.«  Da  aber  die  ursprüngliche  Vollgewalt 
der  Magistratur  auf  das  Königtum  zurückweist,  fällt  auch  dieses,  den  Aus- 
gangspunkt bildend,  unter  die  Darstellung  der  Magistratur,  in  welcher  der 
allgemeine  Begriff  der  Beamten  und  der  Amtsgewalt,  das  imperium^  die  Kolli- 
sion der  Beamtengewalt,  die  Kollegialität  und  die  Kompetenz  entwickelt 
wird,  sowie  daran  anschließend  die  der  Magistratur  eigentümlichen  Vor- 
bedingungen, Ehrenrechte  und  Beschränkungen.  Erst  nachdem  dieser  all- 
gemeine Teil  abgehandelt  ist,  folgt  in  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Bandes 
die  Darstellung  der  einzelnen  ordentlichen  Beamten  vom  Könige  bis  zur 
niedrigsten  Stufe  des  Vigintisexvirates  und  bis  zu  den  außerordentlichen  Ge- 
walten. Die  außerordentlichen  konstituierenden  Gewalten  leiten  historisch 
hinüber  zur  »Beamtenallgewalt  militärischer  Färbung«,  zum  Kaisertum,  zum 
Prinzipat,  deren  Darstellung  die  zweite  Hälfte  des  zweiten  Bandes  gewidmet 
ist,  eingeleitet  durch  den  Nachweis,  daß  auch  der  Prinzipat  Magistratur  ist  — 
wodurch  das  Staatsrecht  der  Republik  und  des  Prinzipates  von  dem  Staats- 
rechte der  nachdiokletianischen  Zeit  und  des  Dominates  scharf  geschieden 
ist.  Schon  durch  diesen  Nachweis  hat  eigentlich  M.  die  Aufgabe  gelöst, 
deren  Lösung  bisher,  wie  er  selbst  sagt,  noch  nicht  versucht  worden  war. 
Eben  deshalb  konnte  aber  auch  die  kaiserliche  Gewalt  mit  derselben  logischen 
Schärie  aus  den  gegebenen  Voraussetzungen,  namentlich  aus  dem  prokonsu- 
larischen Imperium  und  der  tribunizischen  potest<iSy  entwickelt  werden,  wie  die 
übrigen  Magistraturen.  —  Die  erste  Abteilung  des  dritten  Bandes,  die  nach 
längerer  Pause  im  Jahre  1887  erschien,  behandelt  die  römische  Bürgerschaft 


•  Mommsen.  480 

und  zwar  das  einst  ausschließliche  Bürgerrecht  der  Geschlechter,  aus  dem 
der  Patrizierstand  erwächst,  und  sein  Korrelat,  die  Klientel,  aus  der  die 
Plebs  hervorgeht,  bis  Patrizier  und  Plebeier  zu  einem  einheitlichen  Gemein- 
wesen zusammengefaßt  werden,  die  staatlichen  Rechte  und  Pflichten  der 
einzelnen  und  deren  Organisation  in  der  Volksversammlung;  daran  schließt 
sich  das  zurückgesetzte  Bürgerrecht  und  das  bevorzugte  der  Nobilität  und 
des  Ritterstandes,  ferner  das  Verhältnis  zum  Auslande,  zu  den  Verbündeten, 
den  Untertanen,  den  Gemeinden  im  Staate.  Man  wird  vielleicht  behaupten 
können,  daß  dieser  Teil  noch  tiefer  in  das  Römertum  eindringt,  als  die 
vorhergehenden,  weil,  während  in  diesen  das  Funktionieren  des  Staatsorga- 
nismus dargelegt  wird,  hier  seine  Entstehung,  seine  Grundlagen  bloßgelegt 
werden;  es  sind  die  Kategorien,  in  denen  sich  die  römische  Geschichte  be- 
wegt, scharf  und  klar  umrissen,  wie  sie  nur  vor  dem  Auge  dessen  stehen 
konnten,  der  sie  aus  der  Perspektive  einer  tausendjährigen  Entwicklung  er- 
blickte. —  Nicht  minder  schwierig  war  die  Aufgabe  der  abschließenden 
zweiten  Abteilung  des  dritten  Bandes,  die  schon  im  Jahre  1888  folgte.  Es 
handelte  sich  hier  darum,  den  dritten  Faktor  der  römischen  Verfassung  — 
neben  Magistratur  und  Bürgerschaft  —  den  Senat,  in  allen  seinen  Funktionen 
darzustellen.  Während  sich  aber  die  Organisation  des  Senates  aus  der  Or- 
ganisation der  patrizischen  und  der  patrizisch-plebeischen  Gemeinde  ergab, 
war  seine  Funktion  rechtlich  um  so  schwerer  zu  fassen,  als  seine  bindende 
Befugnis,  die  auctoritaSy  in  historischer  Zeit  jeder  Bedeutung  bar  war,  seine 
beratende  Befugnis  als  consilium  rechtlich  nicht  bindend  und  tatsächlich  und 
historisch  von  der  entscheidendsten  Bedeutung  war,  so  daß  es  sich  darum 
handelte,  das  tatsächliche  senatorische  Regiment  der  späteren  Republik 
darzustellen  und  doch  so  darzustellen,  daß  nicht  vergessen  wurde,  daß  formal 
juristisch  die  tatsächlich  gebundene  Magistratur  regierte,  bis  der  Senat  zum 
Mitsouverän  des  Princeps  wurde  und  eben  in  der  Dyarchie  des  Prinzipates 
seine  tatsächliche  Bedeutung  verlor.  Nur  ein  Jurist,  der  Historiker  war  und 
die  juristischen  Begriffe  nicht  als  historische  Realitäten  betrachtete,  konnte 
diese  Aufgabe  lösen,  nur  M.  ein  Römisches  Staatsrecht  als  einheitliches  Ganzes 
zu  Ende  führen.  — 

Diese  Einheitlichkeit  tritt  vielleicht  noch  deutlicher  als  in  dem  großen 
Werke,  in  dem  »Abriß  des  römischen  Staatsrechts«  hervor,  der  1893  er- 
schienen ist.  »Hier  ist  der  Versuch  gemacht  worden,  die  wesentlichen 
Momente  des  öffentlichen  Rechts  der  Römer  systematisch  zu  ordnen  unter 
Weglassung  der  knapper  Zusammenfassung  nicht  fähigen  Belege.«  Nach 
Abstreifung  des  antiquarisch-philologischen  Apparates  gibt  diese  »anspruchs- 
lose Arbeit«,  indem  sie  von  der  Bürgerschaft  ausgeht  und  dann  nach  Be- 
sprechung der  Magistratur  zu  den  von  dieser  geleiteten  Komitien  und  Senat 
fortschreitet,  in  knappster  gedanklicher  Zusammenfassung  und  in  jenem 
ökonomischen  Stile,  der  dem  alten  M.  eigentümlich  ist,  gleichsam  die 
Essenz  aus  dem  ganzen  römischen  Staatswesen.  Wenn  M.  jetzt,  nach 
50  Jahren,  dessen  gedachte,  was  ihm  beim  Abschluß  seiner  Universitäts- 
studien als  Ziel  vorgeschwebt  hatte,  so  mußte  er  sich  sagen,  daß  das  Ziel 
erreicht  und  daß  der  römische  Staat  durch  seine  Arbeit  und  sein  Genie 
von  den  römischen  Inschriften  und  der  römischen  Jurisprudenz  das  Licht 
empfangen  hatte,   das  er  hatte  entbehren   müssen,  seitdem  er  von  der  anti- 


^QO  Mommsen.  • 

quarischen  Forschung  in  Altertümer,  von  den  Juristen  in  Rechtsfälle  aufgelöst 
worden  war.  — 

Nun  erst  konnte  er  zu  dem  Gegenstande  zurückkehren,  von  dem  er 
eigentlich  ausgegangen  war  und  dessen  Bearbeitung  er  in  klarer  Einsicht  der 
Erkenntnismöglichkeiten  auf  die  Zeit  verschoben  hatte,  in  welcher  eine  sicher 
fundierte  Anschauung  von  dem  zentralen  Begriffe,  dem  römischen  Staate, 
möglich  war,  zum  römischen  Stralrechte.  M.  schreibt  selbst  in  dem  Vorworte 
zu  seinem  1899  erschienenen  Römischen  Straf  recht:  »Ich  hätte  nicht  gewagt, 
diese  Aufgabe  zu  unternehmen,  wenn  ich  mich  nicht  dabei  auf  mein  römisches 
Staatsrecht  hätte  stützen  können,  und  ich  darf  diese  Arbeit,  obwohl  sie  in 
der  Methode  abweicht  und  nicht  mit  Diokletian  abschließt,  sondern  mit 
Justinian,  als  ergänzende  Fortsetzung  jenes  Werkes  bezeichnen.«  Nicht  nur 
darin  lag  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe,  dafi  eine  halbwegs  wissenschaftliche 
Bearbeitung  des  römischen  Strafrechtes  bisher  nicht  existierte,  sondern  haupt- 
sächlich darin,  »daß  es  ein  römisches  Strafrecht  als  Ganzes  nicht  gibt« 
(S.  126);  »dafi  überhaupt  die  Konstruktion  eines  römischen  Straf  rechts, 
welchen  Begriff  die  römische  Jurisprudenz  selbst  nicht  aufgestellt  hat,  ohne 
eine  gewisse  Willkür  sich  nicht  durchführen  läfit«  (S.  s^s);  es  handelt  sich 
für  M.  um  »die  Ausscheidung  des  Straf  rechts  als  des  ethischen  Rechts  im 
eminenten  Sinne«  aus  der  gesamten  übrigen  Rechtsmaterie,  eine  Ausscheidung, 
die  von  den  Römern  selbst  nicht  durchgeführt  war.  Deshalb  läfit  sich  M. 
in  diesem  Spätwerke  ganz  gegen  seine  sonstige  Gewohnheit  auch  auf  philo- 
sophische Begründungen  ein.  »Das  Strafrecht  ruht  auf  dem  sittlichen  Pflicht- 
begriH,  insoweit  der  Staat  dessen  Durchführung  sich  zur  Aufgabe  gemacht 
hat.  Eine  sittliche  Pflicht,  deren  Einhaltung  der  Staat  vorschreibt,  ist  ein 
Strafgesetz;  die  Nichteinhaltung  einer  solchen  Vorschrift  ist  das  Verbrechen; 
dasjenige  Übel,  welches  der  Staat  dem  die  Vorschrift  nicht  Einhaltenden  zu- 
fügt, ist  die  Strafe.  Das  Verbrechen  wird  durch  die  Strafe  als  aufgehoben 
betrachtet,  die  öffentliche  Ordnung  als  damit  beglichen«  (S.  3  f.).  »Der  Be- 
griff des  Verbrechens  beruht  auf  der  Sittlichkeit  der  Menschennatur.  Die 
Verletzung  des  dem  Menschen  obliegenden  Verhaltens  findet  ihre  Richtschnur 
zunächst  an  dem  eigenen  Pflichtgefühl,  dem  Gewissen  des  einzelnen.  Un- 
bestimmt in  seinen  Grenzen  und  keinem  äufieren  Zwang  unterworfen,  erlangt 
dieser  Pflichtbegriff  im  Staate  bestimmten  Inhalt  und  festen  Rückhalt;  die 
Strafordnung  ist  das  verstaatlichte  Sittengesetz«  (S.  65).  »Die  Umwandlung 
des  Sittengesetzes  zum  Strafgesetz  fordert  positive  Feststellung  des  Tatbe- 
standes und  diese  ist  von  der  Willkür  untrennbar.  Je  mehr  die  gesellschaft- 
lichen Verhältnisse  sich  komplizieren  und  je  enger  das  Strafgesetz  dem  Sitten- 
gesetz sich  anzuschliefien  versucht,  desto  eingreif  ender  wird  diese  Willkür«  (S.91). 
»Aber  die  durch  das  Strafrecht  dem  Gemeinwesen  über  den  einzelnen  ein- 
geräumte schwerwiegende  Gewalt  soll  ernstliche  Anwendung  nur  da  finden, 
wo  das  Gewissen  des  Handelnden  selbst  die  Handlung  mifibilligt  oder  miß- 
billigen sollte«  (S.  92).  Diese  in  ihrer  Absolutheit  an  Kantsche  Ideen 
anknüpfende  Autfassung  wird  andererseits  wiederum  ergänzt  durch  die 
Ausführung,  dafi  Sitten-  und  Strafgesetz  wandelbar  sind.  »Die  ethische 
Grundlage  des  Strafrechts  bringt  es  mit  sich,  dafi  wie  die  menschliche  Natur, 
so  auch  die  menschlichen  Verbrechen  bei  allen  Völkern  und  zu  allen  Zeiten 
bis  zu   einem  gewissen  Grade  sich  gleichen  ....  Aber  andererseits  ist  das 


Moramsen.    •  ^p  1 

Strafrecht  mehr  noch  als  andere  Gebiete  abhängig  von  der  Individualität  des 
einzelnen  Volkes  und  von  dem  die  einzelne  Epoche  beherrschenden  Geiste« 
(S.  530).  »Das  Sittengesetz  ist  der  Entwicklung  der  Völker  entsprechend  ein 
ewiger  Wellenschlag  von  Steigen  und  Fallen;  das  Strafgesetz  ist  die  von 
äußerlichen  Bedingungen  abhängige  Summe  der  zurzeit  von  der  Gesamtheit 
dem  einzelnen  aufgelegten  Sittengebote«  (S.  523). 

Wie  nun  M.  im  Staatsrechte  von  dem  vollen  Imperium^  der  eigentlich 
jede  andere  Magistratur  ausschließenden  Königsgewalt  ausgehen  mußte,  so 
geht  er  im  Strafrechte  von  der  Hauszucht,  dem  Kriegsrecht  und  namentlich 
der  magistratischen  Koerzition  aus,  die  prinzipiell  im  Gegensatze  zum  Straf- 
rechte steht,  obwohl  dieses  aus  jener  hervorgegangen  ist  (vgl.  S.  899).  »Das 
Strafrecht  beginnt,  wo  der  Willkür  des  Trägers  der  Strafgewalt,  des  er- 
kennenden Richters,  Schranken  gesetzt  werden  durch  das  Staatsgesetz  .... 
Das  römische  öffentliche  Strafrecht  beginnt  mit  dem  valerischen  Gesetz, 
welches  das  Todesurteil  des  Magistrats  über  den  römischen  Krieger  der 
Bestätigung  durch  die  Bürgerschaft  unterwarf,  das  römische  private  mit  der- 
jenigen Ordnung,  welche  dem  Prätor  die  definitive  Strafentscheidung  aus 
der  Hand  nahm  und  bei  der  bedingten  die  Erledigung  der  Bedingung  an 
Geschworene  wies.  Es  gibt  in  Rom  fortan  kein  Delikt  ohne  Kriminalgesetz, 
keinen  Strafprozeß  ohne  Prozeßgesetz,  keine  Strafe  ohne  Strafgesetz«  (S.  56 f.). 
Der  Anfang  des  öffentlichen  Strafrechts  ist  die  Selbsthilfe  der  Gemeinde 
gegen  die  direkte  Schädigung  des  Gemeinwesens,  wobei  der  schädigende 
Mitbürger  sein  Bürgerrecht  verwirkt  und  dem  Landesfeinde  gleichgestellt 
wird  (vgl.  S.  59,  900);  aber  darüber  hinaus  hat  sich  das  öffentliche  Strafrecht 
schon  in  vorgeschichtlicher  Zeit  auf  solche  Übeltaten  erstreckt,  welche  neben 
der  Schädigung  des  einzelnen  zugleich  die  öffentliche  Sicherheit  gefährden 
und  deren  Vergeltung  daher  nicht  mehr  dem  Geschädigten  und  den  Seinen 
anheimgestellt  wird.  Femer  entsteht  aber  das  von  dem  öffentlichen  Straf- 
rechte im  Rechtsgange  wesentlich  verschiedene  Privatstrafrecht  dadurch,  daß 
der  Staat  den  obligatorischen  Vergleich  an  die  Stelle  der  Selbsthilfe  oder 
des  freiwilligen  Vergleiches,  namentlich  bei  den  Eigentumsdelikten,  durchsetzt. 

Jedes  Urteil  ist  ein  magistratischer  Spruch  (S.  135),  und  deshalb  muß 
auch  im  Strafrechte  von  den  Magistraten,  den  Strafbehörden,  ausgegangen 
werden,  da  ja  nur  aus  der  gesetzlichen  Bindung  ihrer  Koerzition  das  Straf- 
recht entstanden  und  durch  sie  bedingt  ist.  Deshalb  werden  die  einzelnen 
Strafbehörden  von  der  Zeit  des  komitialen  Prozesses  bis  zum  Strafprozeß 
vor  dem  Senate  des  Kaiserreiches  und  vor  dem  Princeps  und  zum  diokle- 
tianischen Beamtengericht  verfolgt,  und  daran  anschließend  die  Formen  des 
Strafprozesses,  da  bei  der  gleichzeitigen  Entstehung  und  dem  Zusammen- 
hange des  Deliktes  mit  dem  Rechtsgange  Strafrecht  und  Strafprozeß,  wie  M. 
schon  ein  halbes  Jahrhundert  früher  erkannt  hatte,  nicht  voneinander  getrennt 
werden  können.  Daran  schließt  sich  die  Darstellung  der  einzelnen  Delikte, 
welche  im  Gegensatze  zu  M.s  sonstigem  Verfahren  nach  logischen  Kategorien 
gegliedert  sind.  »Diese  Gliederung,  durch  die  Zufälligkeiten  der  Rechtsent- 
wicklung und  der  Rechtsüberlieferung  bedingt,  erhebt  keinen  Anspruch  auf 
systematischen  Wert  und  will  lediglich  für  den  Rechtsgelehrten  wie  für  den 
Geschichtsforscher  das  logisch  oder  historisch  Zusammengehörige  nach  Mög- 
lichkeit zusammenfassen«   (S.  530).     Nach  der  Erörterung  des  Begriffes  und 


492 


Mommsen. 


der  Entstehung  der  Strafe  folgt  eine  Darstellung  der  einzelnen  Straf  arten, 
die  ebenfalls  erst  durch  die  Strafbehörden,  die  sie  auferlegen  und  vollstrecken, 
und  durch  die  Art  des  Strafprozesses  verständlich  werden. 

Mit  dem  Strafrechte  schließt  sich  gleichsam  der  Kreis,   den  M.  in  mehr 
als  halbhundertjähriger  Arbeit  gezogen  hatte.     Die  philologische,  juristische, 
historische  Arbeit  war  lückenlos  —  mit  Ausnahme  etwa  des  4.  Bandes   der 
römischen   Geschichte  —  getan   und   der  römische  Staat  von   Romulus   bis 
Diokletian   wieder   aufgebaut,   darüber  hinaus   der  folgenden   Generation   als 
Vermächtnis  die  Beleuchtung  der  diokletianischen  Monarchie  und  der  »dunklen 
Scheidezeit  zwischen  Altertum  und  Neuzeit«,  die  Katalogisierung  der  Münzen 
und   Papyri  hinterlassen.     Da  hat  es  ihn  nun  gereizt,   den  vollendeten  Bau 
einmal   mit   anderen  Staaten   zu   vergleichen.     Wie  er  das  tat,   ist  charakte- 
ristisch für  seine  Anschauungsweise  und  seine  Selbstbeschränkung.     Er  richtete 
an  eine  Anzahl  von  Fachmännern  Fragen   »zum  ältesten  Strafrecht  der  Kultur- 
völker«,5^)  die  er  nebst  den  Antworten  mit  den  folgenden  Worten  einbegleitete: 
»In  meinem  römischen  Strafrecht  habe  ich  mich  alles  Vergleiches  der  römischen 
Ordnungen    mit   nicht    römischen  in   strenger  Beschränkung   enthalten.     Die 
historisch-philosophische  Bedeutung   solcher    Zusammenstellungen   für    unser 
Ahnen  über  die  Urzustände  des  Menschengeschlechts  und  unser  Wissen  über 
seine  weitere  Entfaltung  kann  nicht  hoch  genug  angeschlagen  werden;   aber 
der  Einzelforscher  wird  durch  dieselben  nur  zu  leicht  in  die  Irre  geführt, 
zumal    weil    er    alsdann    halb    als   kompetenter  Sachkundiger,    halb   als   von 
fremder  Hand  abhängiger  Laie  zu  reden  genötigt  ist.     Im  allgemeinen  wird 
zweckmäßig  auf  jedem   wissenschaftlichen  Gebiet  d^r  Verlockung  zum  Ver- 
gleichen zunächst  nicht  nachgegeben   und   erst  von  höherer  Warte   aus  das 
Gesamtergebnis  entwickelt.    Dieser  Auffassung  bin  ich  in  jenem  Werke  gefolgt, 
möchte    nun    aber   weiter    die  allgemeineren  Probleme  wenigstens  zur   Dis- 
kussion stellen,  nicht  durch  dilettantisches  Übergreifen  in  andere  Forschungs- 
kreise, in   denen   die  Beschäftigung  mit  einem  einzelnen  Abschnitt  niemals 
Stimme  im  Kapitel   geben  kann,  sondern  indem  ich  auf  Grund  persönlicher 
Beziehungen  angesehene  Spezialforscher  veranlaßte,  über  die  dem  Strafrecht 
zugrunde    liegenden    allgemeineren   Fragen    sich    zu    äußern.«     Es    sind  auf 
vier   Druckseiten   in   ihrer   durchdachten   Präzision   meisterhafte   Fragen,    die 
von   ihm   selbst  für  das  römische  Strafrecht  in  ebenso  knapper  Form  beant- 
wortet sind.  — 

Die  Bibliographie  von  M.s  sämtlichen  Werken  umfaßt  nicht  weniger  als  15 13  Nummern; 
allerdings  sind  in  ihr  auch  die  kleinsten  Publikationen,  die  Übersetzungen  und  Neuaullagen 
seiner  Werke  aufgenommen.  Aber  schon  eine  aus  jener  exzerpierte  chronologische  Zusammen- 
stellung nur  der  wichtigsten  selbständigen  Werke  und  prinzipiell  wichtigsten  oder  umfang- 
reichsten Aufsätze  seiner  Berliner  Zeit  läßt  die  Arbeitskraft  des  Mannes  schier  unbegreiflich 
erscheinen : 

1858:  Römische  Chronologie.  —  1860:  Römisches  MUnzwesen.  —  1861:  Ausgaben 
der  Chronik  des  Cassiodor  und  der  Fragmenta  Vaiicana,  —  1863:  Corpus  inscrtpHonutn 
Latinarutn  I  und  Römische  Forschungen  I.  —  1864:  Ausgabe  des  Solinus.  —  1865: 
Res  gestac  divi  Augusti,  —  1866 — 1870:  Ausgabe  der  Digesten.  —  1868:  Ausgabe  des 
Veroneser  Livius-Palimpsestes.  —  1870:  Index  zu  den  Plinius-Briefen.  —  1 87 1 :  Römisches 
Staatsrecht  I.  —  1872:  C.  /.  Z.  vol.  V  p.  I.  —  1873:  C,  /.  Z.  vol.  III  p.  I  u.  II  und 
Analecta  Liviana.  —  1874:  Römisches  Staatsrecht  II/x.  —  Lex  colontae  luliae  Geneüvat,— 
1875:    Römisches   Staatsrecht    11/ a.   —    1877:    C.  L  Z.   vol.  V  p.  II.   —    1879:    Römische 


Mommsen. 


493 


Forschungen  II  und  Quellen  der  Langobardengeschichte  des  Paulus  Diakonus.  —  1880: 
Decret  des  Conimodus  über  den  Saltus  Burunitanus,  —  1881:  C,  L  L,  VII I/i,  von  Wil- 
manns,  fortgeführt  von  M.  —  1882:  Ausgabe  des  Jordanes.  —  1883:  C.  /.  L.  vol.  IX  u.  X 
p.  I  u.  II;  iemtr  Res  gestae  diui  AufTusti,  —  1884:  Die  Konskriptionsordnung  der  römischen 
Kaiserzeit;  Die  italische  Bodenteilung.  —  1885:  Römische  Geschichte,  V.  Bd.;  Die  Örtlich- 
keit der  Varusschlacht.  —  1887:  Römisches  Staatsrecht  III/i.  —  1888:  Römisches  Staats- 
recht III/i.  —  1889 — 1902:  C,  I.  Z.  vol.  lU  suppl.,  I— IV.  —  1889:  Ostgotische  Studien; 
Das  römische  Militärwesen  seit  Diokletian.  —  1890:  Ausgabe  der  Fragm.  VaHcana  und 
die  Mosaic,  ei  Romanarum  legum  collatio;  Der  Religionsfrevel  nach  römischem  Recht.  — 
1891:  Chronica  minor a  II x.  —  1892:  Commentarius  ludorum  saecularium  quintorum  et 
sepiintomm;  Chronica  minor a  Ijt;  Zum  römischen  Bodenrecht;  Judicium  legiHmum.  — 
1893:  Chronica  minora  IIA;  C  /.  Z.  I  (Neubearbeitung);  Abriß  des  römischen  Staatsrechts; 
Die  Bewirtschaftung  der  Kirchengüter  unter  Papst  Gregor  I.  —  1894:  Ausgabe  von  Cassio- 
dors  Variae\  Chronica  minora  II/j  u.  III/i.  —  18^5:  Chronica  minora  III/i;  Ausgabe 
des  Solinus  (Neubearbeitung).  —  1896:  Chronica  minora  III/3.  —  1898:  Chronica  mi' 
nora  III/4;  Ausgaben  der  Gesta  poniificum  Romanorum  und  des  Eugipius.  —  1899: 
Römisches  Strafrecht.  —  1902:  C,  /.  Z.  III  suppl.  —  1903:  Ausgabe  des  Ruünus.  — 
1904:  Ausgabe  des  Cod^x  Theodosianus.  —  Hierbei  sind  weder  berücksichtigt  die  meisten 
größeren  epigraphischen  Arbeiten,  die  der  Erläuterung  einzelner  Inschriften  und  Inschriften- 
gruppen  dienen,  noch  auch  die  meisten  der  Aufsätze  im  Hermes,  in  der  Zeitschrift  der 
Savigny-Stiftung  usw.,    die  nicht  geradezu  von  prinzipieller  Bedeutung  sind.  — 

VI.  M.  als  Politiker.  Daß  M.  trotz  des  Übermaßes  an  wissenschaft- 
licher Beschäftigung,  das  er  sich  aufgebürdet  hatte,  in  Berlin  über  kurz  oder 
lang  wieder  in  den  Strudel  der  Politik  hineingezogen  wurde,  war  selbstver- 
ständlich. Es  war  gerade  der  Beginn  der  neuen  Ära,  und  noch  von  Breslau 
aus  hatte  er  an  der  Gründung  der  Preußischen  Jahrbücher  teilgenommen,  welche 
bald  zur  hervorragendsten  Zeitschrift  des  preußischen  Liberalismus  wurden; 
schon  in  ihrem  zweiten  Hefte  erschien  ein  Artikel  aus  M.s  Feder,  dessen  Kon- 
fiskation von  Reimer  befürchtet  wurde.  Seit  dem  Jahre  1859  wich  der  bleierne 
Druck,  der  durch  ein  Dezennium  auf  Deutschland  gelastet  hatte,  und  namentlich 
in  Norddeutschland  begannen  die  liberalen  Geister  sich  wieder  zu  regen  und 
zu  organisieren.  Im  März  1860  hielt  M.  beim  Festmahl  des  Ausschusses  des 
Deutschen  Nationalvereins  eine  Tischrede  auf  die  liberalen  aus  der  Majorität 
der  Volksvertretung  hervorgegangenen  Minister  der  neuen  Ära,  wenn  er  auch 
ihr  Sündenregister  nicht  verschwieg  und  namentlich  betonte,  daß  man  erwartet 
habe,  es  würden  den  Übergriffen  des  Pfaffen-  und  Junkertums  stärkere 
Schranken  entgegengesetzt  werden. 5»)  Im  Jahre  1861  unterschrieb  er  den 
Aufruf  des  Zentralwahlkomitees  der  deutschen  Fortschrittspartei.  5»)  Es 
folgte  Bismarcks  Konflikt  mit  dem  liberalen  preußischen  Abgeordneten- 
hause. M.s  Vergangenheit,  seine  Verbindungen  mit  den  Führern  des  Libera- 
lismus, seine  wissenschaftliche  Stellung  ließen  auch  ihm  keine  Wahl,  um 
so  mehr,  als  die  Schleswig -holsteinsche  Angelegenheit  in  den  Mittelpunkt 
der  Politik  rückte.  Die  Stadt  Halle  und  der  Saalkreis  wählten  ihn,  wie  er 
selbst  sagt,  ohne  detaillierte  Kenntnis  seiner  politischen  Ansichten,  in  das 
Abgeordnetenhaus,  wo  er  sich  selbstverständlich  der  von  Twesten  geführten 
liberalen  Partei  anschloß.  Er  betrachtete  es  als  sein  Mandat,  »Herrn  von 
Bismarck  und  den  Seinigen  gegenüber  die  Verfassung  zu  verteidigen«  (R.  u. 
Ä.  373)  und  hat  in  den  Jahren  1865  und  1866  in  die  Verhandlungen  ein- 
gegriffen, einmal  um  als  Universitätslehrer  für  die  Besserung  der  Stellung 
der  Elementarlehrer  wie  für  die   bessere  Dotierung   und  Ausgestaltung   der 


494 


Mommsen. 


Universität  und  ihrer  Institute,  sowie  der  Akademie  einzutreten,  indem  er  warnend 
ausrief:  »Hüten  sie  sich,  m.  H.,  daß  aus  diesem  Staat,  der  ehemals  der  Militär- 
staat und  der  Staat  der  Intelligenz  zugleich  war,  die  Intelligenz  verschwinde 
und  nichts  bleibe  als  der  reine  Militärstaati«  —  das  andere  Mal,  um  als 
Jurist  gegenüber  dJm  »Interpretations-Ministerium«,  welches  die  Verfassung 
nicht  auf  einmal  abschaffe,  sondern  sukzessive  durch  Interpretation,  seine 
Meinung  in  betreff  der  durch  Hilfsrichter  herbeigeführten  Verurteilung  Twestens 
und  Frentzels  wegen  Reden  im  Parlamente  darzulegen.  53)  In  die  schleswig- 
holsteinsche  Frage  griff  er  nach  dem  dänischen  Kriege  mit  einem  Send- 
schreiben über  die  Annexion  Schleswig-Holsteins  (vom  5.  April  1865)  an  seine 
Wähler  ein,  in  welchem  er  auseinandersetzte,  daß  vom  Standpunkte  Deutsch- 
lands als  Minimum  eine  Militär-,  Marine-  und  Zollkonvention  mit  Preußen 
gefordert  werden  müsse.  Zugleich  aber  wendete  er  sich  mit  Ent- 
schiedenheit gegen  den  schädlichen  Partikularismus  und  gab  seinen  Lands- 
leuten zu  bedenken,  ob  es  nicht  in  ihrem  eigenen  Interesse  sei,  die  ganze 
Annexion  der  halben  Annexion  vorzuziehen.  Er  gab  zu,  daß  er  sich  selbst 
an  dem  Abgeordnetentage  in  Frankfurt  und  an  den  Beschlüssen  des  Abge- 
ordnetenhauses zugunsten  der  Thronfolge  des  Augustenburgers  im  Jahre  1863 
beteiligt  habe,  fand  aber,  daß  sich  die  Lage  durch  den  Krieg  und  die 
nationale  Stellung,  in  die  Preußen  gedrängt  wurde,  vollständig  geändert  habe. 
»Es  gehört  allerdings  einige  Naivität  dazu«,  so  sagt  er,  »unter  den  Umständen, 
wie  sie  jetzt  nun  einmal  sind,  einem  Deutschen  anzusinnen,  Preuße  zu  werden, 
der  es  nicht  werden  muß«,  und  erkennt  die  mancherlei  Nachteile  an,  die  den 
Herzogtümern  aus  einem  Anschlüsse  an  Preußen  erwachsen  würden.  Aber 
der  Rechtsanspruch  des  Augustenburgers  allein  könne  kein  Gegenargument 
gegen  die  Macht  der  Verhältnisse  und  für  die  Aufrichtung  eines  neuen  Klein- 
staates sein.  »Ich  bin  nie  Legitimist  gewesen  und  habe  aus  der  Geschichte 
gelernt,  daß  der  Legitimismus  nichts  ist  als  das  Gespenst  in  der  Politik,  ein 
wesenloser  Schemen,  der,  angerufen,  verschwindet.«  Er  werde  es  ertragen, 
wenn  ihm  Inkonsequenz  vorgeworfen  werde;  was  er  aber  nicht  zu  ertragen 
vermöchte,  wäre,  wenn  er  sich  sagen  müßte,  um  den  Schein  der  Konsequenz 
zu  retten,  an  dem  einmal  gesprochenen  Wort  wider  besseres  Wissen  und  Ge- 
wissen festgehalten  zu  haben.  —  Die  Dinge  entwickelten  sich  freilich  viel 
rascher,  als  man  erwarten  konnte,  und  das  Jahr  1866  brachte  noch  ganz  andere 
Dinge,  als  die  Annexion  Schleswig-Holsteins,  u.  a.  auch  die  Beilegung  des 
Verfassungskonfliktes.  M.,  der  von  1867 — 1873  nicht  mehr  im  Landtage  saß, 
war  trotzdem  bei  den  Ereignissen  von  1870  keineswegs  bloß  unbeteiligter 
Zuschauer,  als  der  Zustand,  den  er  schon  im  Jahre  1865  als  politisches  Pro- 
visorium bezeichnet  hatte,  durch  die  Organisation  abgelöst  wurde,  die  ihm 
seit  seiner  Jugend  als  das  Endziel  vorgeschwebt  hatte,  sondern  setzte  auch  seine 
Persönlichkeit  ein,  als  man  seiner  bedurfte.  Mitte  Juli  des  Jahres  1870  wendete 
sich  die  preußische  Regierung  an  ihn  mit  der  Bitte,  seine  hohe  Autorität  in 
Italien  zugunsten  Deutschlands  in  die  Wagschale  zu  werfen.  Die  Folge  waren 
zwei  Briefe,  welche  in  den  Mailänder  Blättern  »Zö  Perseveranza^  und  »// 
Secolo^  veröffentlicht  wurden,  in  denen  M.  Italien  vor  den  Liebeswerbungen 
Napoleons  warnte  und  ausführte,  daß  Italiens  Platz  an  der  Seite  des  geeinigten 
Deutschlands  sei.  Er  tat  es  nicht  leichten  Herzens;  denn  er  wußte  wohl, 
was  dieser  Schritt  dem  von  ihm  gepflegten  wissenschaftlichen  internationalen 


Mommsen.  ^g^ 

Zusammenarbeiten  der  Kulturnationen  schaden  würde.  »Aber  was  kam  im 
August  1870  auf  die  Inschriftenarbeit  und  auf  internationale  Freundschaft 
an?  ...  Wie  der  einzelne  Soldat  seinen  Schufi  abgibt,  ohne  zu  fragen,  ob  er 
überflüssig  sei,  so  tut  in  solchen  Zeiten  ein  jeder,  was  ihm  im  Dienst  des 
eigenen  Landes  zu  tun  rätlich  scheint,  ohne  nach  den  weiteren  Folgen  zu 
fragen.«  —  Als  er  vom  Jahre  1873 — ^^79  ^^s  nationalliberaler  Abgeordneter 
für  Cottbus-Spremberg-Calau  wieder  dem  Landtage  angehörte,  schien  es  ihm, 
wie  er  sagte,  eine  Ehre  und  eine  Lebensaufgabe  für  die  besten  Männer  der 
Regierung  und  des  Hauses,  »nachdem  unsere  Nation  nach  aufien  hin  glücklich 
konsolidiert  ist,  nun  auch  die  größere,  schwierigere,  aber  auch  freudigere  Auf- 
gabe zu  lösen,  sie  auch  im  Innern  auszubauen  und  für  Kunst  und  Wissen- 
schaft dasjenige  zu  tun,  was  von  oben  her  dafür  geschehen  kann.«  (R.  u. 
A.  215.)  Er  ergriff  das  Wort,  wenn  es  sich  um  Universitätsfragen  handelte, 
sei  es  um  für  die  Ausgestaltung  des  Sprachunterrichtes  einzutreten  oder  um 
gegen  die  Einwirkung  konfessioneller  Momente  auf  Besetzungsfragen  zu  pro- 
testieren; sei  es  um  für  die  bessere  Dotierung  und  größere  Zugänglichkeit 
der  königlichen  Bibliothek  in  Berlin  zu  plädieren ;  sei  es  um  die  Reorganisation 
der  Museen  zu  befürworten.  Er  erlebte  und  förderte  den  großartigen  Auf- 
schwung des  wissenschaftlichen  Betriebes  in  Berlin  und  erkannte  trotz  mancher 
Kritik  gerne  und  dankbar  an,  was  nach  dem  Jahre  1870  in  dieser  Beziehung 
geleistet  wurde.  —  Im  Jahre  1881  wurde  M.  vom  ersten  Koburger  Wahlkreise 
in  den  Reichstag  entsendet  und  schloß  sich  der  sog.  Sezession  an,  die  sich 
infolge  des  Umschwunges  in  der  Bismarckschen  Wirtschaftspolitik  von  den 
Nationalliberalen  unter  Führung  Bambergers,  Rickerts  u.  a.  lossagte  und  in 
die  Opposition  ging,  die  ihn  sofort  in  heftige  Fehde  mit  Bismarck  verwickelte. 
Die  oppositionelle  Haltung,  die  er  vor  1866  und  von  nun  bis  an  sein 
Lebensende  beibehielt,  zunächst  kurze  Zeit  im  Reichstage,  dann  auch  außer- 
halb des  Reichstages,  war  die  notwendige  Folge  seiner  historischen,  politi- 
schen, ethischen  Auffassungen,  seiner  Weltanschauung.  Er  war  am  meisten 
beeinflußt  von  dem  aus  der  Aufklärung  hervorgegangenen  Liberalismus,  wie 
ihn  Wilhelm  von  Humboldt  repräsentierte,  der  »es  unternommen  hat,  den  Staat 
nach  seiner  allgemeinen  humanen  Seite  hin  zu  begreifen  und  zu  beschränken« 
und  »den  Menschen  nicht  um  der  Sache,  die  Kraft  nicht  um  des  Resultats 
willen  zu  vernachlässigen,  den  Staat  so  zu  gestalten,  daß  in  ihm  dem  einzelnen 
das  höchstmögliche  Maß  der  Kraftentwicklung,  d.  h.  der  Freiheit  und  damit 
des  Glückes,  verbleibt«  (R.  u.  A.  120).  Von  diesem  Standpunkte  aus  mochte 
er  nichts  wissen  von  den  »sogenannten  Parteien  der  materiellen  Interessen« 
und  fand  nur  einen  tatsächlichen  und  ethischen,  nicht  aber  einen  prinzipiellen 
Unterschied  zwischen  Bebel  und  dem  Grafen  Kanitz,  von  denen  der  eine  den 
Staat  zugunsten  der  Handarbeiter,  der  andere  zugunsten  der  Großgrund- 
besitzer exploitieren  wolle.  Und  da  es  M.  mit  seinem  Liberalismus  Ernst 
war,  so  wollte  er  den  Nationalliberalen  nicht  auf  ihrem  abschüssigen  »Weg 
der  Gewissenbeschwichtigung«  folgen  (R.  u.  A.  474).  Vom  gleichen  Stand- 
punkte aus  vertrat  er  unbedingte  Toleranz  und  bedauerte,  daß  ernste  Kämpfe 
durchzufechten  waren  gegen  Mächte,  die  von  seiner  Generation  in  der  Jugend 
verachtet  wurden  (R.  u.  A.  91),  und  trat  gleich  zu  Beginn  der  antisemitischen 
Bewegung  (1880)  in  einer  Erklärung  und  in  einer  namentlich  gegen  Treitschke 
gerichteten    Streitschrift    gegen    dies    retardierende    Moment    der    deutschen 


496 


Mommsen. 


Einheitsbestrebungen  auf,  indem  er  zugleich  den  Juden  empfahl,  möglichst  alle 
Schranken  zu  beseitigen,  die  sie  von  den  übrigen  Deutschen  trennen  konnten 
(R.  u.  A.  410  ff.).  Nicht  nur  in  dieser  Beziehung  schienen  ihm  »die  dehu- 
manisierenden Tendenzen«  der  Zeit  unter  dem  »Proletariat  sowohl  wie  in  den 
sogenannten  besseren  Kreisen  ein  neues  Barbarentum  großzuziehen«  (R.  u.  A.  64). 
Gegen  all'  dies  zu  Felde  zu  ziehen  schien  ihm  Pflicht.  Aber  trotz  alledem 
betonte  er  immer  wieder,  daß  der  Generation,  welcher  es  beschieden  war, 
das  große  Ziel  der  nationalen  Einheit  zu  erreichen,  das  sie  vor  sich  fand, 
als  sie  zu  denken  begann,  der  Reichstag  und  die  Reichsfahne  um  keinen 
Preis  zu  teuer  sein  könne,  möge  da  kommen,  was  da  wolle  (R.  u.  A.  410). 
Allerdings  war  aber  sein  nationales  Einheitsideal  kein  rein  formales;  der 
deutsche  Staat,  wie  jeder  andere,  schien  ihm  des  ethischen  Fundamentes  zu 
bedürfen  und  des  inneren  Ausbaues.  Gerade  durch  die  Erfolge,  so  führte  er 
in  seiner  Rektoratsrede  im  Jahre  1874  aus,  sei  bei  allen  ernsthaften  Männern 
das  Gefühl  dessen,  was  Deutschland  noch  fehle,  zu  einer  schmerzhaften  Deut- 
lichkeit, zu  einem  peinlichen  Druck  gesteigert;  es  ruhe  sich  schlecht  auf 
Lorbeem;  die  Losung  der  Zukunft  aber  sei,  den  gestalteten  Staat  so  auszu- 
gestalten, daß  deutscher  Handel  und  deutsches  Gewerbe,  deutsche  Kunst  und 
deutsche  Wissenschaft,  deutsche  Gesellschaft  und  deutsches  Leben  der  Macht- 
stellung der  Nation  ebenbürtig  bleibe  oder  ebenbürtig  werde  (R.  u.  A.  6). 
Er  war  deshalb  auch  weit  entfernt  von  jeglichem  Chauvinismus.  Sein  Blick 
blieb  ungeblendet  durch  die  Erfolge  der  deutschen  Politik,  und  so  sehr  er 
sie  mit  ganzem  Herzen  begrüßte,  blieb  er  doch  den  Auffassungen,  die  er  im 
Jahre  1848  gewonnen,  treu.  Er  betonte  es  gerne,  daß  gerade  der  deutsche 
Gelehrte  den  Vorkampf  mit  Ehren  geführt  habe  und  daß  »was  das  vielver- 
höhnte unpraktische  Professorenparlament  gewollt  hat,  das  einige  Deutsch- 
land mit  der  preußischen  Spitze«,  nicht  umsonst  von  ihm  angestrebt  worden 
sei  (R.  u.  A.  8).  Er  hatte  1848  wie  1865  empfohlen,  »den  Weg,  den  der  Zoll- 
verein und  in  umfassenderer  Weise  das  Frankfurter  Parlament  gewiesen,  einer 
großen  für  alle  gemeinsamen,  nach  Möglichkeit  die  Selbständigkeit  der  einzelnen 
Landschaften  schonenden,  aber  wo  dies  nicht  möglich  ist,  unerbittlich  durch- 
greifenden Generalmediatisierung«  und  betont,  daß  ein  deutsches  Parlament 
das  einzige  Mittel  zur  Überwindung  des  Partikularismus  sei;  er  ging  auch 
schon  im  Jahre  1865  so  weit  zu  erklären,  daß  zur  »praktischen  Wiederauf- 
nahme des  großen  Gedankens,  der  in  der  Paulskirche  waltete jedes 

Mittel,  auch  das  der  Gewalt,  gerechtfertigt  sein«  werde;  »denn  die  Notwendig- 
keit und  die  Nation  reden  beide  im  kategorischen  Imperativ,  und  da  der 
nationale  Staat  jede  Wunde  heilen  kann,  darf  er  auch  jede  schlagen«  (R.  u.  A. 
375-  S^o^)-  Im  Jahre  1865  wie  1848  erklärte  er,  »daß  die  am  mindesten  unvoll- 
kommene Realisierung  des  zukünftigen  deutschen  Staats  gegenwärtig  der 
preußische  ist«  (R.  u.  A.  378).  Das  in  der  preußischen  Verwaltung  verkörperte 
Pflichtgefühl,  die  Zentralisierung  des  preußischen  Staates  hatten  M.  dies  als 
historische  Notwendigkeit  erkennen  lassen,  nicht  minder  als  die  Einigung 
Italiens  unter  Rom;  er  erkannte  auch  an,  daß  die  schließliche  Einigung  Deutsch- 
lands im  Kriege  gegen  Österreich  und  Frankreich  nicht  minder  eine  »Tochter 
der  Not«  war,  wie  die  der  Italiker  gegen  die  Kelten  (R.  u.  A.  123.  129).  Des- 
halb war  seine  Stellung,  solange  es  sich  um  die  Einigung  handelte,  gegeben:  »dem 
rechten  Mann  liegt  das  Ideal  im  Ziel  und  nicht  in  den  Wegen«  (R.  u.  A.  471). 


Mommsen.  A(\n 

Wenn  er  aber  auch  dies  alles  anerkannte  und  sogar  betont,  daß  des 
preußischen  Staates  »Eigenart  von  jeher  in  scharfer  Ausprägung  des  monarchi- 
schen Grundgedankens  bestanden  hat«  (R.  u.  A.  104),  so  war  er  doch  weit 
entfernt  davon,  seine  liberalen  Kulturideale  opfern  zu  wollen,  um  so  weniger, 
als  es  seiner  Grundanschauung  entsprach,  in  der  Entwicklung  dieser  Kultur- 
ideale  das  ethische  Fundament  des  Staates  zu  erblicken.  Er  sah  aber  aus 
der  Bismarckschen  Saat  den  Interessenkrieg  hervorwachsen  und  sah  in  dem 
^bellum  ommum  contra  onmes<f^^  wie  er  es  nannte,  eine  Schädigung  der  Nation 
(R.  u.  A.  475).  Er  sah  die  Intelligenz  und  den  Liberalismus  in  seinem  Sinne 
als  politischen  Faktor  vollständig  zurückgedrängt,  zum  Teile,  wie  er  zugibt, 
allerdings  aus  eigener  Schuld.  Was  er  als  die  von  Gaius  Gracchus  her- 
rührende »Taktik  der  Demagogen  und  Tyrannen«  bezeichnet  hatte:  »auf  die 
materiellen  Interessen  sich  stützend  die  regierende  Aristokratie  zu  sprengen« 
(R.G.  II,  117),  konnte  M.  wenn  es  sich  um  die  Zerreibung  des  liberalen 
Bürgertums  handelte,  in  welchem  er  den  Führer  der  Nation  erblickte,  nicht 
gerechtfertigt  erscheinen.  Von  demselben  Standpunkte  aus,  von  dem  er  den 
aus  dem  Interessenkriege  geborenen  Cäsarismus  in  Rom  als  historische  Not- 
wendigkeit erkannte,  aber  gegenüber  jedem  auf  Selbstbestimmung  beruhenden 
staatlichen  Organismus  ethisch  verurteilte,  vei urteilte  er  die  unter  der  Ägide 
Bismarcks,  des  »größten  aller  Opportunisten«  (R.  u.  A.  472),  sich  vollziehende 
Machtsteigerung  der  Staatsmaschine,  welche  die  Selbstbestimmung  einschränkte, 
und  kämpfte  gegen  sie  an,  weil  er  sie  nicht  als  historische  Notwendigkeit 
ansah.  Es  schien  ihm  geradezu  ein  G^bot  des  gesunden  Menschenverstandes, 
ebenso  wie  ein  Gebot  der  Ethik,  sich  gegen  die  Abkehr  vom  Freihandel  und 
gegen  die  staatssozialistischen  Versicherungsgesetze  zu  wenden. 

Es  schien  ihm  aber  auch  geboten,  daß  alle  ehrlich  liberalen  Elemente 
gemeinsam  gegen  die  drohende  Gefahr  sich  verbänden,  und  in  einer  Auf- 
sehen erregenden  Rede  trat  er  am  24.  September  1881  in  einer  Charlotten- 
burger Wählerversammlung  für  die  Wahl  des  Kandidaten  der  Fortschrittspartei 
in  den  Reichstag  ein.  Er  trat  auf  das  schärfste  gegen  »die  Wirtschaftspolitik 
der  neuen  Propheten«  auf;  er  verurteilte  sie  als  »gemeinste  Interessenpolitik, 
eine  Interessenpolitik,  die  dadurch  um  so  nichtswürdiger  ist,  weil  die  Inter- 
essen miteinander  eine  Koalition  schließen,  um  diejenigen  auszubeuten,  die 
sich  ihr  nicht  anschließen  wollen«  und  fuhr  fort:  »Es  ist  ferner  nicht  bloß 
eine  Politik  der  gemeinsten  Interessen,  sondern  auch  —  warum  soll  ich  es 
nicht  sagen?  —  eine  Politik  des  Schwindels.«  Er  erläuterte  an  dem  Beispiele 
der  Konservativen,  die  »nichts  sind  als  Kornspekulanten  und  Branntwein- 
brenner«, den  Interessenkrieg  und  warnte  ebenso  vor  .dem  Ruin  der  Staats- 
finanzen durch  die  Versicherungsgesetzgebung  wie  vor  dem  »System  Richelieu«, 
bei  welchem  »es  im  ganzen  Staate  nur  einen  Diener  gibt,  der  selbständig 
wirken  darf«  und  außer  ihm  nur  willenlose  Gesellen. 

In  einem  Schreiben  an  die  Wähler  des  neunten  schleswig-holsteinschen 
Wahlkreises  erklärte  er  sich  zur  Annahme  eines  Reichstagsmandates  bereit 
trotz  des  schweren  Opfers,  das  er  sich  dadurch  in  seiner  »letzten  wissenschaft- 
lichen Erntezeit«  auferlege,  weil  er  es  als  Pflicht  betrachte,  sich  zu  stellen, 
da  einmal  der  Ruf:  »Zurück  auf  die  Schanzen!«  erklungen  war.  Er  erklärte 
sich  keineswegs  als  prinzipiellen  Gegner  der  Verstaatlichung;  könne  man  doch 
gerade   »an  der  Geschichte  des  Postwesens  den  Fortschritt  der  neuen  Zeit 

BiogT.  Jahrbuch  u.  Deutlicher  Nekroloj^.    9.  Bd.  32 


498 


Mommsen. 


gegen  die  Kulturperiode  des  sogenannten  Altertums  ermessen;  die  Kon- 
zentrierung des  großen  Eisenbahnverkehrs  in  der  Hand  des  Staats  ist  eine 
Notwendigkeit  geworden,  welcher  sich  auch  derjenige  nicht  verschließt,  der  die 
damit  verbundenen  Übelstände  wohl  erkennt.  Aber  die  gesunde  Verstaatlichung 
beruht  entweder  darauf,  daß  die  also  konzentrierte  Tätigkeit  billiger  und 
solider  geleistet  wird,  als  die  individuell  aufgelöste,  oder  darauf,  daß,  wo  die 
Monopolisierung  eines  Geschäfts  durch  das  Großkapital  droht,  es  besser  ist, 
oder  vielmehr  weniger  schlimm,  von  dem  Staat  abzuhängen,  als  von  einer 
in  sich  geschlossenen  Kapitalistengesellschaft.«  Aber  bei  den  neuen  Projekten 
handle  es  sich  Bismarck  nicht  um  volkswirtschaftliche  Erwägungen,  sondern 
nur  um  Machtfragen.  Und  »alle  diese  Pläne,  welche  aus  der  rechten  Tasche 
des  Volkes  etwas  in  die  linke  stecken,  haben,  von  anderen  abgesehen,  die 
Eigentümlichkeit,  daß  etwas  unterwegs  anderswohin  gerät.«  Es  handle  sich 
Bismarck  in  Wirklichkeit  darum  die  liberale  Partei  zu  brechen;  die  selb- 
ständige Gemeinde  zu  vernichten,  sowie  die  freie  Assoziation  und  das  selb- 
ständige Beamtentum.  Von  dem  Lassalleschen  Programme  Unterscheide  sich 
das  System  dadurch,  daß  »die  Staatsomnipotenz  in  der  Form  des  Minister- 
absolutismus sehr  wohl  durchführbar  ist  und  oft  in  der  Geschichte  dagewesen, 
zuweilen  als  vorübergehender  Eingriff  eines  allzu  mächtigen  Geistes,  aber 
auch  dauernd  als  die  letzte  Phase  einer  untergehenden  Nation.  Der  Parallelen 
enthalte  ich  mich;  sie  könnten  nicht  schmeichelhaft  sein.«  Es  gehöre  zum 
Verhängnis  der  deutschen  Nation,  daß  sie  ihre  Lebensbedingungen  »gegen  einen 
Mann,  den  sie  mit  Recht  ihren  Retter,  in  gewissem  Sinne  ihren  Schöpfer  nennt« 
verteidigen  müsse.  54)  —  M.  wurde  zwar  nicht  in  seiner  Heimat,  aber  in  Coburg 
in  den  Reichstag  gewählt.  Schon  vor  seiner  Wahl  war  namentlich  die  offi- 
ziöse »Norddeutsche  Allgem.  Zeitung«  über  ihn  hergefallen,  die  u.  a. 
behauptete,  daß  »bei  M.  das  Feuer  wiederum  im  Dache  sitzt«  und  daß  er 
»so  wenig  von  seinem  eigenen  Zustande  Kenntnis«  habe,  »daß  er  in  einem 
schleswig-holsteinischen  Wahlkreise  die  Leute  glauben  machen  will,  daß  er 
noch  genügend  Fähigkeiten  besitze,  um  sie  im  Reichstage  zu  vertreten.« 
Der  Minister  von  Puttkamer  aber  behauptete  im  Reichstage  unter  heftigen 
Angriffen  auf  M.  am  15.  Dezember,  die  Rede  erinnere  mehr  an  Kleon,  als 
an  Perikles.  M.  replizierte,  indem  er  sich  gegen  Puttkamers  Ausfälle  ver- 
wahrte, aber  zugleich  konstatierte,  daß  nach  dem  Zusammenhange  seiner  Rede 
vom  September  unter  den  »neuen  Propheten«  unmöglich  die  Minister  gemeint 
sein  konnten.  Am  24.  Januar  1882  aber  polemisierte  Bismarck  selbst  im 
Reichstage  gegen  jene  Rede  M.s  mit  den  Worten:  »Diese  konstitutionelle 
Hausmaierei,  die  der  Abg.  M.  mit  einer  für  einen  so  angesehenen  Geschichts- 
schreiber ungewöhnlichen  Feindschaft  gegen  die  Wahrheit  mir  vorwirft  — 
ich  kann  nur  annehmen,  daß  die  Vertiefung  in  die  Zeiten,  die  2000  Jahre 
hinter  uns  liegen,  diesem  ausgezeichneten  Gelehrten  den  Blick  für  die  sonnen* 
beschienene  Gegenwart  vollständig  getrübt  hat  —  sonst  hätte  er  unmöglich 
in  Reden,  die  er  gehalten  hat,  mir  Schuld  geben  können,  daß  die  »Reakti- 
vierung des  absoluten  Regiments«  erstrebt  werde.«  Am  folgenden  Tage  er- 
klärte M.,  daß  er  den  Ausdruck  »konstitutionelle  Hausmaierei«  niemals 
gebraucht  habe,  ihn  auch  mit  der  geschuldeten  Ehrerbietung  gegen  den 
Herrscher  nicht  für  vereinbarlich  halte.  Er  lasse  keinen  Zweifel  gegen  seine 
Königstreue  aufkommen,  wenn  er  es  auch  nicht  liebe,  sie  im  Munde  zu  führen, 


Mommsen. 


499 


weil  er  nicht  mit  einer  Gesellschaft  zusammengestellt  werden  wolle,  welche 
diesen  Namen  nur  zu  häufig  gebrauche.  Übrigens  war  M.  am  14.  Juni 
genötigt,  Herrn  von  Kardorff  gegenüber  dieselbe  Tatsache  nochmals  festzu- 
stellen. —  Nichtsdestoweniger  ließ  Bismarck  im  Februar  gegen  M.  —  wie 
übrigens  damals  auch  gegen  andere  freisinnige  Abgeordnete  —  die  Ehren- 
beleidigungsklage erheben,  und  am  15.  Juni  spielte  sich  vor  dem  Berliner 
Landgericht  II  die  Aufsehen  erregende  Verhandlung  ab,  in  welcher  der  Staats- 
anwalt eine  Geldstrafe  von  600  M.  beantragte,  weil  M.  die  neue  Wirtschafts- 
politik eine  Politik  des  Schwindels  genannt  hatte,  ob  diese  nun  von  einem 
hohen  oder  geringen  Manne  in  die  Hand  genommen  werde.  M.  verteidigte  sich 
konform  seinen  Äußerungen  im  Reichstage  dahin,  daß  es  ihm  nicht  eingefallen  sei, 
den  Reichskanzler  als  Person  beleidigen  zu  wollen,  während  sein  Verteidiger 
darauf  hinwies,  daß  der  Kathedersozialismus  gemeint  gewesen  sei  und  daß 
der  Kampf  der  politischen  Meinungen  vor  das  Forum  des  Reichtages  und 
nicht  des  Gerichtes  gehört.  Das  Gericht  schenkte  dem  Angeklagten  natürlich 
vollen  Glauben  und  sprach  ihn  nach  kurzer  Beratung  frei.  M.  ist  aber 
Bismarcks  Vorgehen  zeitlebens  als  nicht  gentleman-like  erschienen.  — 

Wenige  Tage  nach  dem  Prozesse  sprach  M.  auf  dem  sächsischen  liberalen 
Parteitage  in  Dresden  und  erhob  gegen  Bismarck  den  Vorwurf,  er  segle 
nicht  mehr  mit  den  vollen  Segeln  der  Geschichte;  Einheit  und  Freiheit 
seien  untrennbar,  neben  den  Dynastien  drücke  der  Reichstag  praktisch  die 
deutsche  Einheit  aus.  55) 

Noch  im  Jahre  1884,  als  es  sich  um  die  Verlängerung  des  Sozialisten- 
gesetzes handelte,  trat  er  als  Reichstagsabgeordneter  mit  einer  Zuschrift  an 
ein  Koburger  Blatt  hervor:  Ȇber  die  Schwere  der  Gefahr,  welche  unserer 
ganzen  Zivilisation  in  der  sozialistischen  Bewegung  droht«,  so  schrieb  er, 
»täuscht  sich  niemand,  dem  das  Vaterland  wirklich  das  Höchste  und  Letzte 
ist;  mit  allen  anderen  Parteien  kann  man  sich  vertragen  und  unter  Um- 
ständen paktieren,  mit  dieser  nicht.«  Nichtsdestoweniger  sah  er  jetzt  in  dem 
Gesetz  »ein  Erzeugnis  eines  sehr  gerechtfertigten,  aber  wenig  überlegten 
Volkszorns«,  da  es  den  Zweck,  den  es  erreichen^  wolle,  geradezu  schädige, 
wie  sich  schon  aus  den  Reichstagswahlen  ergeben  habe.  Ganz  abgesehen 
von  den  allgemeinen  Bedenken  gegen  Ausnahmegesetze,  fördere  nichts  die 
Sozialisten  besser,  als  das  Niederhalten  der  sachlichen  Diskussion.  Er  sei 
daher  für  einen  Übergangszustand,  der  zur  Aufhebung  des  Gesetzes  führen 
solle,  während  der  Reichstag  die  Verantwortung  für  eine  sofortige  Aufhebung 
der  Regierung  gegenüber  nicht  tragen  könne.  Von  der  Regierung  vor  die 
Wahl  der  Verlängerung  oder  der  völligen  Aufhebung  gestellt,  würde  er  aber 
trotz  allem  für  die  Verlängerung  als  das  kleinere  Übel  stimmen.S^) 

In  der  folgenden  Legislaturperiode  war^M.  nicht  mehr  Mitglied  des 
Reichstages,  aber  auch  nach  seinem  Austritte  aus  dem  Vertretungskörper 
blieb  M.  Politiker.  Er  selbst  hat,  als  ihm  der  Wahlverein  der  Liberalen  zu 
seinem  80.  Geburtstage  gratulierte,  geantwortet:  »Zum  Volksvertreter  hat  mich 
Gott  nicht  geschaffen  und  nur  die  Not  gemacht,  aber  ein  guter  Bürger  denke 
ich  gewesen  zu  sein  und  zu  bleiben. «57)  Die  Einzelheiten  der  Politik  waren 
nicht  seine  Sache.  Und  er  hat  politisch  in  den  letzten  zwei  Dezennien  seines 
Lebens  am  intensivsten  und  auf  die  weitesten  Kreise  gewirkt,  gerade  weil 
er   nicht  in  Detailfragen,   sondern   sozusagen  nur  in  deutschen   und  gesamt- 

32* 


JOO  Mommsen. 

europäischen  Lebensfragen  das  Wort  ergriff  und  sein   von   der  Höhe  seines 
wissenschaftlichen    und    ethischen  Standpunktes  aus    gesprochenes  Wort    all- 
überall   vernommen    wurde.     Namentlich    suchte    sein    historisch    geschultes 
politisches  Denken  den  Zusammenhang  der  deutschen  Entwicklung   mit  der 
Weltpolitik  zu  erfassen.     Allerdings  war  er  sich  bewufit,  »daß  die  Humanität 
innerhalb  der  Politik  nur  ein  einzelner  und  nur  ein  sekundärer  Faktor«  ist.S^) 
Aber  als   ein  Sohn   der  Aufklärung   und   ein  Kämpfer  von  1848,   konnte   er 
niemals  vergessen,   daß   er  nicht  nur  ein  Deutscher  war,   sondern  auch  im 
weiteren  Sinne  ein  Bürger  jener  Gesamtzivilisation,  die  sich  aus  dem  römischen 
Reiche  herausentwickelt  hatte,  deren  Äußerungen  er  wie  wenige  andere  zu 
verfolgen   imstande  war.     Wenn  er  also  auch  der  Friedenskongresse  spottete, 
welche  nur  die  Zahl  der  schönen  Worte  vermehrten,   so  warnte  er  doch  vor 
jedem  Gedanken  ein  Weltreich  zu  gründen.     Der  Gedanke  schien  ihm  nicht 
germanisch,    und   er  warnte   vor  dem   ewigen  Frieden,    den   das  Römertum 
durch  sein  Weltreich  der  älteren  Kulturwelt  gebracht  hat  dadurch,  daß   es 
aus  dem  Rechte  des  Stärkeren   die  letzten  Konsequenzen  zog;   »denn  wenn 
also  eine  Nation  bereichert  wird,    so  vergeht  eben  die  göttliche  Welt  mit 
ihrer  glänzenden  Mannigfaltigkeit  und  wohl  tritt  ein  Frieden  ein,  aber  der 
Frieden   des  Grabes«,     Allerdings   erschien    ihm    unter   dem  Eindrucke  des 
bewaffneten  Friedens  die  Hoffnung  seiner  Jugend,   »daß  ein  friedliches  und 
freundliches   Nebeneinanderstehen   der   großen   Nationen   unserer   Kulturwelt 
sich  ausbilden  und  befestigen  werde«,  nahezu  eitel;  allein  er  betrachtete  es 
vor  allem  als  Aufgabe  der  deutschen  Nation,  die  letzte  Konsequenz,  welche 
zum  Erstarren    der  Kulturwelt  führen   würde,    solange  wie   möglich   hinaus- 
schieben zu   helfen,   und  zu  diesem  Zwecke  schien  ihm  kein  Opfer  zu  groß 
(R.  u.  A.   142,  194  f.).    M.  berichtet  vom  jüngeren  Scipio:  »Bis  auf  seine  Zeit 
hatten  die  Zensoren  bei  der  Niederlegung  ihres  Amtes  die  Götter  angerufen, 
dem  Staat  größere   Macht   und  Herrlichkeit  zu  verleihen;  der  Zensor  Scipio 
betete,  daß  sie  geneigen  möchten  den  Staat  zu  erhalten.    Sein  ganzes  Glaubens- 
bekenntnis   liegt    in  dem   schmerzlichen   Ausruf«   (R.  G.  II,   84).     In   diesem 
Zusammenhang  versteht  mjin   die  Worte,    mit  denen   M.  seine  akademische 
Rede  vom   22.  März    1875   schloß:    »Möge   die   Kraft  der  Nation   und  ihrer 
Herrscher  das,  was  sie  geschaffen  hat,  auch  erhalten!«     (R.  u.  A.  56.)     Auch 
die  Kolonialpläne,  die  ihm  mitunter  mehr  auf  unverständige  Eroberungslust, 
als  auf  zivilisatorische  Aufgaben  zurückzugehen   schienen,   wies  er  von   der 
Hand,  und  in  bezug  auf  Österreich  blieb  er  dem  kleindeutschen  Programme, 
dem    er  seit   1848   anhing,    treu.     Er  schrieb   noch  im  Herbste   1902;    »Wir 
sehen  wohl  ein,  was  wir  durch  die  große  chirurgische  Operation  von  König- 
grätz    verloren   haben;  aber   wir  halten  sie  doch  für  heilsam  und  in  ihren 

Folgen    dauernd.      Eine   organische  Verbindung  mit  Österreich 

wollen  wir  vor  allem  in  unserem  Interesse  nicht;  wohl  die  engstmögliche 
geistige  Gemeinschaft  und  eine  Allianz  wie  der  Dreibund  in  seinen  grünen 
Tagen  war,  aber  nicht  mehr ....  Kann  Deutsch-Österreich  fortbestehen,  so 
kann  es  das  nur  durch  sich  selbst  als  ein  zweiter  deutscher  Staat.  Daran 
haben  allerdings  auch  wir  ein  sehr  lebhaftes  Interesse.«  Aber  obwohl  er 
betonte,  daß  sich  gerade  die  Reichsdeutschen  die  Frage  vorlegen  müßten, 
ob  ihr  Eintreten  für  deutsch-österreichische  Interessen  nicht  mehr  schadet  als 
nützt,  so   scheute  er  sich  doch  nicht  mit  aller  Kraft  seines  Temperamentes, 


Mommsen. 


501 


seiner  Leidenschaft  für  die  Konnationalen  in  Österreich  einzutreten,  als  sie 
im  Jahre  1897  ihren  Verz weif lungs kämpf  gegen  Badeni  führten. 59) 

Wie  mit  den  Deutschen  in  Österreich  das  nationale  Band,  so  verbanden 
ihn  mit  Italien  wissenschaftliche  und  persönliche  Sympathien  und  all  jene 
köstlichen  Erinnerungen  seiner  italienischen  Fahrten;  auch  schien  ihm  nach 
der  Begründung  des  deutschen  Reiches  der  Staat  Italien  »wie  kein  anderer 
in  Europa«  mit  Deutschland  enge  verbunden  zu  sein  (R.  u.  A.  55);  aber  so 
sehr  er  auch  selbst  in  Italien  gefeiert  wurde,  verkannte  er  nicht,  daß  alle 
Italiener  vor  allem  die  enge  Verwandtschaft  mit  den  Franzosen  empfanden 
(R.u.  A.  466)  und  erblickte  in  dem  unstaatlichen  Konglomerat,  das  lateinische 
Rasse  genannt  wird,  »ein  namhaftes  Element  der  politischen  Konfusion«  (R. 
u.  A.  318)  —  dies  um  so  mehr,  als  er,  der  »in  fünfzigjähriger  Arbeit  den 
Segen  und  die  Freuden«  internationalen  Zusammenarbeitens  auf  wissenschaft- 
lichem Gebiete  erfahren  hatte,  »die  schwere  Schädigung,  welche  der  deutsch- 
französische Krieg  den  wissenschaftlichen  Arbeiten  zugefügt  hat«,  »das 
schwere  Unglück  des  dauernden  nationalen  Konflikts«  mit  Frankreich  schwer 
empfand  und  sich  über  die  allmähliche  Besserung  der  Beziehungen  wissen- 
schaftlich und  menschlich  freute  (R.  u.  A.  430  f.).  Nicht  minder  wertvoll 
erschien  ihm  ein  freundschaftliches  Verhältnis  zwischen  Deutschland  und 
England,  das  ihm  in  seiner  Jugend  als  Asyl  des  Fortschrittes,  als  das  Land 
der  politischen  und  geistigen  Freiheit  erschienen  war,  und  obwohl  er  in  der 
»Rechtsfrage  zwischen  England  und  der  Transvaal-Republik«  Englands  Vor- 
gehen verurteilte  und  die  Dinge  beim  rechten  Namen  nannte,  betonte  er  doch, 
daß  bei  der  Annexion  der  Burenrepubliken  kein  deutsches  Interesse  im  Spiel 
sei  und  tat,  was  an  ihm  lag,  um  durch  Aufklärung  der  öffentlichen  Meinung 
der  Verbitterung  zwischen  den  beiden  großen  Kulturvölkern  entgegenzu- 
wirken.^) 

Am  energischsten  trat  er  aber  auf,  wenn  es  ihm  schien,  daß  die  deutsche 
Kultur  selbst  in  Gefahr  sei.  Deshalb  trat  er  gegen  das  Zedlitzsche  Schul- 
gesetz und  gegen  die  Lex  Heinze  in  die  Schranken  und  nahm  an  der  Gründung 
des  Goethebundes  teil.  Der  Fall  Spahn  aber,  als  ein  Hochschullehrer  wegen 
seines  Glaubensbekenntnisses,  also  aus  konfessionellen  Rücksichten  eine  Pro- 
fessur erhielt,  veranlaßte  ihn  im  November  1901  zu  jenem  flammenden  Protest, 
der  in  und  außerhalb  Deutschlands  gehört  wurde  und  überall  Widerhall  er- 
weckte. »Es  geht  durch  die  deutschen  Universitätskreise  das  Gefühl  der 
Degradierung.  Unser  Lebensnerv  ist  die  voraussetzungslose  Forschung,  die- 
jenige Forschung,  die  nicht  das  findet,  was  sie  nach  Zweckerwägungen  und 
Rücksichtnahmen  finden  soll  und  finden  möchte,  was  andern  außerhalb  der 
Wissenschaft  liegenden  praktischen  Zielen  dient,  sondern  was  logisch  und 
historisch  dem  gewissenhaften  Forscher  als  das  Richtige  erscheint,  in  ein 
Wort  zusammengefaßt:  die  Wahrhaftigkeit.«  »Auf  ihr  ruht  die  deutsche 
Wissenschaft,  die  das  ihrige  beigetragen  hat  zu  der  Größe  und  der  Macht 
des  deutschen  Volkes«  (R.  u.  A.  432  ff.)  —  und  deshalb  wußte  M.,  daß  er 
im  Gesamtinteresse  des  deutschen  Volkes  sprach,  und  erwartete  und  fand 
wenigstens  zum  Teile  den  begeisterten  Widerhall,  den  seine  geistige  Tat 
verdiente.  Die  Schwachmütigen  allerdings  erschraken  vor  den  Worten  des 
Greises,  die  gerade  da  trafen,  wo  man  devote  Rücksichtnahme  gewöhnt  war, 
und   die  Böswilligen  versuchten  vergebens  sie  so  mißzuverstehen,  als  hätte 


502 


Mommsen. 


er  für  die  eine  Konfession  gegen  die  andere  Partei  ergriffen  und  Intoleranz 
gepredigt,  obwohl  er  nur  die  Lehrfreiheit  und  die  Ehrlichkeit  der  Forschung 
verteidigte.  —  Noch  weiter  aber  rückten  die  Ängstlichen  von  ihm  ab  und 
noch  begeistertere  Zustimmung  fand  er,  als  er  nach  der  rechtswidrigen  An- 
nahme des  Kardorffschen  Antrages  im  Reichstage,  durch  welche  die  schutz- 
zöllnerischen  Handelsverträge  ermöglicht  wurden,  in  welchem  er  einen  Staats- 
streich und  den  Beginn  eines  Umsturzes  der  Reichsverfassung  erblickte,  seine 
Stimme  erhob  (Dezember  1902).  Er  bot  seinem  Freunde  und  politischen 
Berater  Th.  Barth  einen  Artikel  für  dessen  Zeitschrift  an,  »der  die  schlimmen 
Eigenschaften  der  Sozialdemokratie,  daneben  aber  ihre  Tüchtigkeit,  ihre 
Opferwilligkeit,  ihre  Disziplin  den  Ostelbiern  und  den  Kaplänen  gegenüber 
auseinandersetzt«;  er  war  der  Ansicht,  daß  »alles  um  alles«  gehe  und  daß 
es  in  solchen  Momenten  »eines  jeden  Schuldigkeit  ist  für  die  Sache  einzu- 
treten «.6')  Er  führte  in  diesem  seinem  politischen  Schwanengesange  aus,  daß 
nur  ein  Zusammenschluß  aller  nicht  in  die  reaktionäre  Verschwörung  ver- 
wickelter Parteien,  also  mit  Ausschluß  der  Scheinliberalen  und  mit  Einschluß 
der  Sozialdemokraten,  noch  Rettung  bringen  könne;  daß  es  ein  perfider 
Köhlerglaube  sei,  die  Nation  in  Ordnungs-  und  in  Umsturzparteien  zu  gliedern, 
da  doch  in  letzter  Linie  jede  Partei  auf  den  Umsturz  des  Bestehenden  hin- 
arbeite; daß  sich  alles  politische  Zusammengehen  nicht  auf  die  letzten  Ziele, 
sondern  auf  die  nächsten  beziehe;  und  daß  gegen  den  Absolutismus  eines 
Interessenbundes  des  Junkertums  und  der  Kaplanokratie  ein  Zusammengehen 
zwischen  dem  ehrlichen  Freisinn  und  den  durch  die  Habsucht  der  Interessen- 
cliquen gedrückten  und  zum  teil  erdrückten  Arbeitermassen  in  die  Tat  um- 
gesetzt werden  müsse.  Er  war  freilich  nicht  Sozialdemokrat  geworden  und 
warf  gerade  der  Sozialdemokratie  ihre  Intransigenz  vor.^*)  Aber  er  sah  doch 
nur  in  diesem  Zusammengehen  »was  uns  noch  retten  kann«.  Er  ist  jetzt 
wie  einst  nicht  vor  dem  Radikalismus  der  Tat  zurückgeschreckt,  wenn  sie 
ihm  geboten  schien,  wenn  die  ihm  teuersten  Interessen  bedroht  waren;  aber 
das  Programm,  das  er  im  Jahre  1848  ausgegeben:  »Keine  Reaktion,  keine 
Isolierung,  keine  Anarchie«  hat  er  durch  diese  letzte  Kundgebung  ebenso 
verteidigt,  wie  seine  Verurteilung  der  Interessenpolitik  aufrechterhalten  und 
seinen  Satz  verfochten,  daß  die  Geschichte  keinen  Hochverratsparagraphen 
kennt.  Was  aber  bewundernswert  an  seiner  Entwicklung  war,  ist,  daß  er 
noch  in  diesem  spätesten  Alter  den  realen  Tatsachen  fest  ins  Auge  geblickt 
und  sich  ihnen  angepaßt  hat,  daß  er,  der  sich  einst  für  das  Sozialistengesetz 
ausgesprochen  hatte,  bei  voller  Wahrung  seiner  Prinzipien  sein  ursprüngliches 
ethisches  Urteil  über  die  »staatszerstörende«  Sozialdemokratie  revidiert  hatte. 
Wie  in  der  Wissenschaft,  so  gilt  in  der  Politik  von  ihm,  daß  er  seine  Gesamt- 
anschauung festhielt  und  seine  Ziele  nicht  aus  dem  Auge  verlor,  aber  sich 
den  Tatsachen  nicht  verschloß  und  mit  der  Kraft  des  Gedankens  und  der 
Tat  rücksichtslos  auf  den  Wegen  wanderte,  die  er  für  die  richtigen  hielt, 
unbekümmert  um  alles  andere,  als  um  die  Wahrheit.  — 

VII.  M.s  Leben  und  Persönlichkeit.  Berlin  war  der  natürliche  End- 
punkt von  M.s  Wanderjahren.  Nichtsdestoweniger  war  auch  hier  —  sogar 
abgesehen  von  den  politischen  Verhältnissen  —  gar  mancherlei,  was  nicht 
nach  seinem  Wunsche  war  und  ihn  mitunter  tief  herabstimmte.  Je  mehr  er 
sich  auf  ein  Zusammenleben   mit   seinem  Schwiegervater  und  Freunde   und 


Mommsen. 


503 


Berater  in  allen  praktischen  Dingen  des  Lebens,  Karl  Reimer,  gefreut  hatte, 
um  so  schwerer  traf  ihn  der  Tod  dieses  vortrefflichen  Mannes  wenige  Monate 
nach  seiner  Übersiedelung.  Trotz  allen  wissenschaftlichen  Lebens  fühlte  er 
sich  in  den  ersten  Jahren  unbehaglich,  und  er  selbst  schrieb  die  Schuld  teil- 
weise seiner  für  Berliner  Verhältnisse  allzu  knappen  materiellen  Stellung,  teils 
dem  Umstände  zu,  daß  er  genötigt  war  infolge  seiner  Verpflichtungen  gegen 
das  Corpus  InscripHonum  in  seinen  besten  Jahren  gerade  die  Arbeiten  zurück- 
zustellen, die  ihm  wissenschaftlich  am  meisten  am  Herzen  lagen,  namentlich 
wohl  das  römische  Staatsrecht.  Im  Jahre  1861  dachte  er  daran,  einem  Rufe 
an  die  Bonner,  1868  an  die  Göttinger  Universität  Folge  zu  leisten;  beide 
Male  wußte  man  ihn  in  Berlin  zurückzuhalten,  das  erstemal  dadurch,  daß 
er,  da  er  auf  eine  intensive  Lehrtätigkeit  ungerne  verzichtete,  in  Überein- 
stimmung mit  den  Wünschen  der  Berliner  philosophischen  Fakultät,  zum 
Professor  an  dieser  ernannt  wurde,  das  zweitemal  nach  einem  Gutachten 
von  Haupt,  der  namens  der  Akademie  erklärte,  daß  diese  einen  Ersatz  für 
M.  nicht  finden  könnte  und  daß  durch  M.s  Abgang  die  Tätigkeit  und  das 
Ansehen  der  Akademie  geschädigt  würden.  Aber  noch  einmal,  im  Jahre  1874, 
war  M.  entschlossen,  Berlin  zu  verlassen  und  nach  Leipzig  zurückzukehren, 
mit  dem  ihn  so  liebe  Erinnerungen  verbanden;  da  starb  Haupt,  und  die 
einstimmige  Wahl  der  Akademie,  die  M.  an  dessen  Stelle  zum  ständigen 
Sekretär  der  philosophisch-historischen  Klasse  berief,  bewog  ihn  zu  bleiben.63) 
In  demselben  Jahre  wurde  er  Rektor  der  Universität  Berlin,  mit  der  sein 
Name  auch  durch  seine  Lehrtätigkeit  ewig  verbunden  bleiben  wird. 

Man  hat  wohl  gesagt,  daß  M.  kein  glänzender  Redner  war.  Doch  ist 
das  nur  in  dem  Sinne  richtig,  daß  weder  seine  äußeren  Mittel,  seine  dünne 
und  hohe  Stimme,  noch  seine  kritische  Anlage  ihn  befähigten  in  Treitschkes 
Art  rhetorisch-pathetische  Wirkungen  zu  erzielen  und  daß  er  andererseits 
an  die  Denkfähigkeit  und  auch  an  die  Vorbildung  seines  Auditoriums  nicht 
geringe  Anforderungen  stellte  und  nicht  für  das  »Heft«  diktierte.  Deshalb 
konnte  man  wenigstens  in  den  letzten  Jahren  seiner  Lehrtätigkeit  beobachten, 
daß  sich  z.  B.  in  dem  an  Präzision  unvergleichlichen  Kolleg  »Römisches 
Staatsrecht  für  Juristen«,  das  die  Grundlage  für  den  »Abriß  des  römischen 
Staatsrechts«  wurde,  die  Reihen  der  Zuhörer  schon  lange  vor  Semesterschluß 
lichteten.  Diejenigen  aber,  welche  bis  zum  Schlüsse  folgten,  waren  fasziniert 
von  der  unübertrefflichen  Klarheit  der  Gedankengänge  und  der  lichtvollen 
Darstellung.  Wenn  man  dem  Vortragenden  folgte,  gab  es  keine  dunklen 
Ecken  und  keine  toten  Punkte.  Er  war  auch  im  einzelnen  sehr  genau  vor- 
bereitet und  pflegte  bei  wichtigen  oder  strittigen  Fragen  die  entscheidenden 
Quellenstellen  anzuführen  oder  auch  zu  besprechen,  ohne  doch  den  Aufbau 
des  Vortrages  durch  Häufung  des  Unwichtigen  zu  stören.  Dabei  gestaltete 
er  aber  nicht  aus  seinem  Kollegienhefte  heraus,  sondern  aus  dem  Vollen 
seines  Wissens,  in  unmittelbarer  Intuition,  sei  es,  daß  er  aus  den  allgemeinen 
staatsrechtlichen  Begriffen  einer  Zeit  heraus  logisch  die  historisch  gegebenen 
Einzelinstitutionen  entwickelte  oder  daß  er  die  handelnden  Persönlichkeiten 
abzeichnete,  wie  sie  ihm  vor  der  Seele  standen,  nicht  anders,  als  er  einen 
persönlichen  Bekannten  geschildert  hätte.  Das  Divinatorische  seiner  Ge- 
staltungsgabe trat  bei  solchen  Gelegenheiten  am  deutlichsten  hervor,  und 
wie    dem  Leser   der  römischen   Geschichte  die  aus  vereinzelten  zerstreuten 


504 


Mommsen. 


Andeutungen  in  den  Quellen  lebenswahr  und  lebensnotwendig  hingestellten 
Persönlichkeiten  eines  Marius  oder  Sulla,  so  werden  seinen  Hörern  die  Charak- 
teristiken des  Kaisers  Konstantius,  des  Legitimisten,  und  des  Kaisers  Julian, 
des  Romantikers  auf  dem  Throne  der  Cäsaren,  unvergeßlich  bleiben. 

Weit  größeren  Wert  als  auf  die  Vorlesungen  legte  M.  allerdings  auf  die 
Übungen;  denn  »die  Elemente  der  historischen  Wissenschaft  sind,  man  möchte 
sagen,  noch  einfacher  und  noch  selbstverständlicher  als  die  der  Sprachwissen- 
schaft und  der  Mathematik;  und  eben  darum  weder  lehrbar  noch  lehrhaft«; 
»die  Geistesfähigkeit,  auf  der  sie  beruht,  .  .  .  kann  ohne  Zweifel  durch  den 
weiteren  Bildungsprozeß  wesentlich  gesteigert  werden,  aber  eigentlich  nicht 
durch  theoretische  Lehre,  sondern  nur  durch  praktische  Übung«;  als  not- 
wendige Propädeusis  aber  betrachtete  er  die  Kenntnis  der  Sprache  und  die 
Kenntnis  des  Rechts  der  Epoche,  Philologie  und  Jurisprudenz  (R.  u.  A.  loff.). 
Diese  Kenntnisse  wurden  von  ihm  vorausgesetzt,  und  er  konnte  sich  an  Er- 
mahnungen an  historische  und  philologische  Studenten  nicht  genug  tun,  die 
Fakultätsgrenzen  ja  nicht  zu  beachten,  sondern  eingehende  juristische  Studien 
zu  pflegen,  ebenso  wie  er  es  besonders  gerne  sah,  wenn  Juristen  an  seinen 
Übungen  teilnahmen;  und  es  fanden  sich  in  der  Tat  in  dieser  Pflanzschule 
der  Gelehrten  der  Altertumswissenschaft  junge  Männer  sehr  verschiedener 
wissenschaftlicher  Richtungen  zusammen,  aus  denen  sich  dann  die  Hoch- 
schullehrer der  deutschen  Universitäten  nicht  minder,  wie  die  Mitarbeiter  am 
Corpus  Inscriptionum  und  den  anderen  großen  wissenschaftlichen  Unterneh- 
mungen rekrutierten.  Schon  im  Seminare  selbst  konnten  sich  die  Arbeiten 
auf  einem  verhältnismäßig  hohen  Niveau  halten,  und  da  es  bekannt  war,  daß 
M.  ziemlich  ausgebreitete  Vorkenntnisse  voraussetzte  und  für  die  Prüfung 
nichts  zu  holen  war,  war  der  Kreis  der  Teilnehmer  trotz  des  Weltrufes,  den 
das  M.sche  Seminar  genoß,  im  allgemeinen  ein  kleiner.  Dies  ermöglichte 
die  engere  Berührung  zwischen  Lehrer  und  Schülern  und  erhöhte  den  intimen 
Reiz  dieses  Allerheiligsten  der  Altertumswissenschaft.  Schon  wenn  sich  der 
Jünger  nach  Überwindung  eines  ehrfürchtigen  Schauers  in  dem  engen  Biblio- 
thekszimmer im  letzten  Stocke  des  engen  Charlottenburger  Häuschens  meldete, 
war  rasch  eine  Beziehung  zwischen  Lehrer  und  Schüler  hergestellt,  wenn  ihn 
M.  meistens  des  Morgens,  aber  schon  nach  mehreren  Arbeitsstunden  inmitten 
seiner  Bücher  im  grauen  Schlafrocke  empfing  und  ihn  mit  den  wunderbaren 
durchdringenden  Augen,  die  Lenbach  zu  malen  unternommen  hat,  musterte, 
ihn  nicht  etwa  prüfend,  sondern  tastend  nach  seinen  wissenschaftlichen  Be- 
strebungen und  Wünschen  ausfragte,  ermutigend,  aber  doch  gelegentlich  un- 
verständige Bemerkungen  mit  einer  ironischen  oder  energischen  Wendung 
im  Gespräche  niederschlagend.  An  dem  ersten  Seminarabende  pflegte  dann 
M.  einige  Arbeiten  vorzuschlagen,  sah  es  aber  gerne,  wenn  ein  Hörer  sich 
selbst  ein  Thema  wählte,  das  sich  ihm  aus  seinen  bisherigen  Studien  er- 
geben hatte.  Ein  jeder  mußte  dann  seine  Arbeit  schriftlich  zu  einem  be- 
stimmten Termine  einem  anderen  Teilnehmer  des  Seminares  als  Referenten 
übergeben,  und  Arbeit  und  Referat  wurden  erst  dann  M.  übermittelt,  so  daß 
immer  mindestens  zwei  Teilnehmer  vollständig  über  das  zu  besprechende 
Thema  orientiert  waren,  während  auch  die  anderen,  wenn  es  anging,  sich 
vorbereiteten.  Die  Besprechung  der  Arbeit  führte  dann  M.  am  nächsten 
Seminarabende    selbst   durch,    oder  vielmehr  er   behandelte   nach  einer  zu 


Mommsen, 


505 


sammenfassenden  Kritik  den  Gegenstand  selbständig  und  erläuterte  so  an  einem 
Beispiele,  wie  die  Untersuchung  hätte  geführt  werden  sollen,  stellte  sie  in 
den  weiteren  Zusammenhang  der  römischen  Entwicklung  und  zeigte,  bis  zu 
welchen  Grenzen  sie  mit  dem  vorhandenen  Materiale  vordringen  könne. 
Nicht  nur  die  einzelnen  oder  gehäuften  Fragezeichen  und  Verweisungen, 
die  der  Schüler  in  seiner  Arbeit  fand,  und  die  Kritik,  die  er  klopfenden 
Herzens  anhörte  und  die  milde  und  anerkennend  war,  wenn  M.  den  Ein- 
druck hatte,  daß  einer  sein  Bestes  getan,  aber  scharf  und  vernichtend,  wenn 
er  auf  wissenschaftliche  Unehrlichkeit  stieß,  sondern  vor  allem  der  Aufbau 
der  Forschung,  den  M.  vor  seinen  Augen  vollzog,  die  Darlegung,  wie  ein 
wissenschaftliches  Resultat  gewonnen  werden  kann,  war  für  den  Hörer  be- 
lehrend und  für  den,  der  folgen  konnte,  geradezu  ein  ästhetischer  Genuß.  — 
Nachdem  M.  nahezu  ein  Vierteljahrhundert  gelehrt  und  intensiv  wie 
wenige  gewirkt  hatte,  ließ  er,  um  die  Hauptlast  der  Lehrtätigkeit  auf  jüngere 
Schultern  abzuwälzen,  im  Frühjahr  1885  seinen  Schüler,  Freund  und  Mit- 
arbeiter am  Corpus  Otto  Hirschfeld  von  Wien  nach  Berlin  berufen,  der  ihm 
seither  seine  wesentlichste  wissenschaftliche  Stütze  wurde,  während  er  selbst 
nur  noch  durch  wenige  Semester,  zuletzt  im  Jahre  1887  Vorlesung  und  Übungen 
abhielt,  obwohl  er  sich  nach  wie  vor  an  den  Sitzungen  der  philosophischen 
Fakultät  beteiligte.  Auch  jetzt  bis  in  die  letzte  Zeit  pflegte  er  des  Morgens, 
so  wie  ihn  die  Statuette  von  Pracht  darstellt,  in  seinen  Pelz  gehüllt,  die 
Tasche  unter  dem  Arme,  von  seiner  Wohnung  in  Charlottenburg  zur  Tram- 
way  zu  gehen,  im  Wagen  eifrig  zu  lesen,  während  der  Schaffner  den  Fremden 
bedeutungsvoll  belehrte,  daß  dieser  kleine  in  sich  versunkene  Mann  der  große 
Mommsen  sei,  den  jedes  Kind  in  Berlin  kannte,  und  den  Vormittag  über 
auf  seinem  Stammplatze  in  der  königlichen  Bibliothek  eifrig  zu  kollationieren 
oder  sonst  zu  arbeiten.  Aber  er  pflegte  auch  den  gesellschaftlichen  Umgang 
mit  den  Kollegen  weiter.  So  standen  ihm  außer  Hirschfeld  und  einigen 
anderen  engeren  Fachgenossen  namentlich  Scherer  und  in  späterer  Zeit 
Hamack  nahe,  und  in  der  ^Graeca«  traf  er  mit  seinen  näheren  Freunden 
regelmäßig  zusammen.  Durch  seine  politische  Stellung  war  er  in  Beziehungen 
zu  L.  Bamberger  gekommen,  aus  welchen  eine  warme  Freundschaft  erwuchs, 
und  allwöchentlich  einmal  kehrte  er  in  Berlin,  meist  zusammen  mit  H.  von 
Sybel,  bei  seinem  alten  Freunde  Ad.  Delbrück  ein,  dessen  Familie  er  auch 
in  Heringsdorf  wiederholt  besuchte.  Dabei  verschmähte  er  es  nicht,  an  der 
großen  Geselligkeit  Berlins  teilzunehmen,  was  ihm  nur  durch  sein  unglaublich 
geringes  Schlafbedürfnis  ermöglicht  wurde,  ebenso  wie  er  sich  daheim  an  der 
Jugend,  die  ihn  umgab,  erfreute.  Sein  kleines,  durch  die  fürsorgende  Haus- 
frau wohlgeordnetes  Haus  war  nahezu  zu  enge  für  seine  elf  Kinder,^)  denen 
er  mit  zärtlicher  Liebe  anhing;  sein  tiefinnerliches  Verhältnis  zu  seiner  Gattin 
spiegelte  sich  in  der  hohen  Achtung  wieder,  die  er  vor  der  Frau  und  ihrem 
häuslichen  Berufe  hegte;  bei  festlichen  Gelegenheiten  freute  er  sich  auch  die, 
welche  schon  flügge  geworden  waren,  um  sich  zu  versammeln,  und  zu  Sil- 
vester fehlte  es  für  keinen  aus  seiner  Umgebung  an  einer  kleinen,  mit  einem 
Scherzworte  begleiteten  Gabe,  bei  keiner  Hochzeitsfeier  seiner  näheren  Um- 
gebung an  einem  Hochzeits-Karmen,  wie  er  auch  aus  der  Ferne,  von  der 
Reise  aus  seinen  Töchtern  manchen  neckischen  Vers  zusendete,  der  deutlich 
zeigte,  wie  der  Vater  stets  der  Seinen  gedachte. 


co6  Mommsen. 

Doch  waren  ihm  die  Reisen  —  nach  Italien,  aber  auch  nach  Frankreich, 
nach  Süddeutschland  —  meist  durch  das  Corpus  Inscriptwnum  veranlaßt,  nicht 
nur  eine  Gelegenheit  zur  Arbeit,  sondern  auch  eine  Veranlassung,  Land  und 
Leute  kennen  zu  lernen  und  zu  genießen.  Er  war  auch  da  in  Arbeit  und 
Geselligkeit  unermüdlich,  und  manche  schnurrige  Anekdote  weiß  von  seiner 
Fröhlichkeit  namentlich  in  Rom  zu  erzählen.  Noch  im  letzten  Dezennium 
seines  Lebens,  als  ihn  regelmäßig  eine  seiner  Töchter  begleitete,  war  es  nicht 
immer  die  Tochter,  die  zuletzt  ermüdete. 

Sein  60.,  sein  70.,  sein  80.  Geburtstag  wurden  von  der  ganzen  wissen- 
schaftlichen Welt  gefeiert,  und  er  wurde  mit  all  den  Ehren  überhäuft,  die 
wissenschaftliche  Körperschaften  verleihen  können;  von  den  staatlichen  so- 
genannten Ehrungen  wußte  er  sich  fernzuhalten,  soweit  es  ohne  Aufsehen 
anging.  Aber  auch  jene  waren  ihm,  soweit  sie  offiziell  und  nicht  persönlich 
waren,  eher  eine  Last.  Sie  haben  ihn  wohl  nicht  einen  Tag  seines  Lebens 
mit  seinem  Willen  von  der  Arbeit  abgehalten.  Wirkliche  Freude  empfand 
er  über  die  Verleihung  des  Nobelpreises  im  Jahre  1902,  weil  sie  ihn  mancher 
materieller  Erwägungen  für  die  Zukunft  überhob;  er  hat  übrigens  sogleich 
eine  nicht  unbeträchtliche  Summe  einem  gemeinnützigen  Zwecke,  der  Volks- 
bibliothek in  Charlottenburg,  gewidmet. 

Aber  wenn  er,  der  das  seltene  Schicksal  hatte  seinen  Ruhm  zu  erleben 
und  ihn  trotz  seines  hohen  Alters  nicht  zu  überleben,  dem  Schaffenskraft 
auch  Schaffensfreude  bedeutete  und  der  feurig,  wie  in  der  Jugend,  fort- 
arbeitete bis  ihn  der  kalte  Tod  anrührte,  doch  den  Leiden  des  Alters  nicht 
entging,  so  war  dies  die  Folge  seiner  unerbittlichen  Wahrhaftigkeit  gegen 
sich  selbst.  Allerdings  hat  er  es  in  der  wunderbar  weisen  Rede  über  das 
Alter  ausgesprochen,  daß  es  »unter  natürlichen  Bedingungen  für  den  Menschen 
wünschenswert  ist,  den  Becher  des  Daseins  bis  zum  letzten  Tropfen  leeren 
zu  dürfen Und  uns  Forschern  vor  allem  sagt  ja  die  eigene  Er- 
fahrung, daß  die  große  wissenschaftliche  Leistung  nicht  anders  völlig  gelingen 
kann,  als  in  vieljähriger  rastlos  fortgesetzter  Arbeit.  Es  ist  vielleicht  richtig, 
daß  Männern  wie  Gauß  und  wie  Böckh  die  großen  Apercus,  durch  die  sie 
die  Erkenntnis  der  Welt  gefördert  haben,  sämtlich  in  ihren  Jugendjahren 
aufgegangen  sind;  aber  die  Saat  ist  nur  die  eine  Hälfte  der  wissenschaft- 
lichen Tätigkeit,  und  die  Zeit  der  Ernte  nicht  minder  unentbehrlich,  wenn 
ein  bedeutender  Forscher  seine  Bestimmung  erfüllen  soll«.  Und  er  führt 
aus:  »Die  gewohnte  Tätigkeit  versagt  auch  dem  Greise  nicht;  die  in  früheren 
Jahren  gezogenen  Umrisse  füllen  in  liebevoller  Nacharbeit  allmählich  sich 
aus  und  das  Werk  des  Lebens  wächst  auch  unter  den  schwächer  werdenden 
und  ermüdenden  Händen  dennoch  Strich  für  Strich,  bis  endlich  der  Tod  es 
fertig  erklärt«  (R.  u.  A.  52  ff.).  Er  hat  sich  selbst  genauer  gekannt,  als  die 
ihn  beobachteten  und  sich  schon  frühzeitig  nicht  über  das  allgemeine  Los 
der  Menschen,  daß  sie  altern,  hinweggetäuscht  und  seine  Aufgaben  danach 
gewählt.  Er  hat  auch  dies  mit  der  ihm  eigenen  Energie  durchgeführt  und 
so  in  allem  wesentlichen  sein  Werk  vollendet  und  im  spätesten  Alter  noch 
geleistet,  was  kein  Jüngerer  ihm  gleich  tun  konnte.  Aber  eine  niederge- 
schlagene Stimmung  drang  immer  häufiger  durch,  wenn  ihm  das  Schicksal 
irgend  einen  Schmerz  zufügte.  Im  Frühjahr  1869  raffte  ihm  der  Tod  plötz- 
lich einen  hoffnungsvollen  Knaben  weg,  an  dem  er  mit  zärtlicher  Liebe  hing. 


Mommsen.  507 

im  Jahre  1880  eine  16jährige  Tochter.  Am  12.  Juli  desselben  Jahres  zer- 
störte ein  durch  Unvorsichtigkeit  entstandener  Brand  einen  Teil  seiner  Biblio- 
thek und  seine  Notizen ^5)  und  einige  entlehnte  Manuskripte,  die  unersetzlich 
waren ;  und  obwohl  die  Bibliotheksverwaltungen  in  keiner  Weise  rekriminierten 
und  seine  Freunde  das  Verlorene  zu  ersetzen  suchten,  vergaß  er  doch  nie 
des  »unglückseligen«  Brandes.  Dann  kamen  die  politischen  Ärgernisse,  die 
ihn  mit  manchem  seiner  Freunde  entzweiten,  und  der  Bismarck-Prozeß.  Dann 
lichtete  der  Tod  die  Reihen  seiner  Altersgenossen  und  der  Jüngeren;  nament- 
lich Scherers  Tod  (1886)  traf  ihn  tief;  1890  starb  A.  Delbrück;  niemand  wird 
es  vergessen,  wie  er  am  Sarge  Bambergers,  nachdem  er  ihm  ergreifende  Worte 
nachgerufen  hatte,  in  sich  zusammensank  (1899);  wenige  Jahre  darauf  entriß 
ihm  der  Tod  seinen  Bruder  Tycho,  mit  dem  ihn  trotz  mancher  Verschieden- 
heit des  Charakters  gerade  die  liebevolle  Fürsorge  des  Bedeutenderen  und 
Anerkannten  gegenüber  dem  weniger  Begünstigten  verband.  Im  Jahre  1895 
legte  er  das  ständige  Sekretariat  der  Akademie,  einige  Jahre  darauf  alle  seine 
Ehrenämter  nieder.  Immer  häufiger  blickten  die  Augen  starr,  wie  nach  Innen 
gewendet,  immer  tiefer  legten  sich  die  Falten  zwischen  Mund  und  Wangen. 
Und  vielleicht  noch  mehr,  als  die  schweren  persönlichen  Verluste,  bedrückte 
seinen  auf  das  Ganze  gerichteten  Sinn  die  Lage  des  Staates,  dessen  von  den 
Interessenkämpfen  durchwühlte  Gegenwart  ihn  nicht  befriedigte  und  dessen 
Zukunft  er  schwarz  sehen  mußte,  weil  namentlich  in  Norddeutschland  die 
Klasse  der  Intelligenz,  der  nach  seiner  Ansicht  die  Führerschaft  gebührte, 
indem  sie  sich  von  den  liberalen  Idealen  abkehrte,  nicht  diejenige  Energie 
in  der  Verteidigung  höchster  Güter  entwickelte,  die  er  sein  ganzes  Leben 
betätigt  hatte,  und  die  aufstrebende  Arbeiterklasse  ihm  unfähig  erschien,  die 
historische  Führung  zu  übernehmen.  Es  hat  ihn  daher  besonders  tief  ver- 
stimmt, daß  der  Sammelruf,  den  er  im  Herbste  1901  in  seinen  Artikeln 
über  »Universitätsunterricht  und  Konfession«  an  die  Verteidiger  der  voraus- 
setzungslosen Wahrheitsforschung  ergehen  ließ,  gerade  an  norddeutschen  Uni- 
versitäten keine  einstimmige  Zustimmung  und  gerade  in  den  Kreisen,  auf  die 
er  bauen  wollte,  sogar  teilweise  Opposition  fand.  Seine  Stimmung  drückte 
sich  auch  ein  Jahr  später  nach  der  Annahme  des  Kardorffschen  Antrages 
und  seinem  Artikel  »Was  uns  noch  retten  kann«  in  den  Worten  aus,  mit 
denen  er  den  Applaus  beantwortete,  als  er  auf  dem  freisinnigen  Parteitage 
erschien:  »Klatschen  Sie  nicht,  meine  Herren,  es  ist  jetzt  keine  Zeit  zum 
Beifallklatschen.«  ^) 

Bald  darauf,  kurz  nach  Neujahr  1903  traf  ihn  der  letzte,  härteste  Schlag, 
als  seine  liebe  Frau  aufs  Krankenbett  geworfen,  der  Sprache  beraubt  wurde. 
Und  als  er  sich  aufraffte,  um  seinen  Schmerz  durch  neuerliche  energische 
Arbeit  zu  übertäuben,  merkte  er  immer  deutlicher,  daß  sein  Augenlicht  be- 
denklich abnahm  und  daß  er  vor  der  Erblindung  stand.  Davor  hat  ihn  aber 
ein  gütiger  Gott  bewahrt.  Trotz  allem  unbezwungen,  hat  sein  Geist  und  sein 
Körper  ausgeharrt,  bis  er,  mit  den  letzten  abschließenden  Arbeiten  seines 
letzten  großen  Werkes,  des  Codex  Theodosianus,  beschäftigt,  vom  Schlag  ge- 
troffen niedersank  und,  ohne  das  Bewußtsein  wiedererlangt  zu  haben,  nach 
drei  Tagen  am  i.  November  1903  seinen  letzten  Atemzug  tat.  — 

Die  wissenschaftlichen  und  persönlichen  Taten  eines  Mannes  wie  M.  sind 
seine  beste  Charakteristik,  und  wenn  man  es  versucht,  die  Lebensäuflerungen 


f* 


08  Mommscn. 


einer  so  starken  und  reichen  Persönlichkeit  unter  einem  Gesichtspunkte  zu- 
sammenzufassen, so  läuft  man  Gefahr,  sie  einseitig  aufzufassen,  weil  die  Ab- 
straktion, nur  ein' mattes  Spiegelbild  des  Lebens,  nicht  das  Leben  selbst 
wiedergeben  kann.  Vollends  verzerrt  aber  wird  das  Bild,  wenn  man  es  im 
Kranz  der  Anekdoten  betrachtet,  den  Tradition  und  Legende  schon  darum 
gewunden  haben,  der  Anekdoten,  die  bestenfalls  eine  Augenblicksstimmung 
illustrieren  wollen.  Und  auch  die  »sogenannten  charakteristischen  Züge,  welche 
ja  doch  nichts  anderes  sind  als  Abweichungen  von  der  naturgemäßen  mensch- 
sichen  Entwicklung«  heben  das  Bild  aus  der  Umgebung  heraus,  die  es  erst 
verständlich  macht.  Man  darf  nicht  vergessen,  daß  auch  M.  »im  höchsten 
Grade  durch  Zeit  und  Ort  bedingt  ward«,  daß  er  als  Gelehrter  mitten  in 
der  Entwicklung  der  Wissenschaft,  als  Mensch  mitten  in  der  Entwicklung  der 
deutschen  Kultur  steht  und  ein  Stück  dieser  Entwicklung  ist.  Die  Aufgaben 
waren  durch  den  Platz,  auf  welchen  er  gestellt  war,  vorgezeichnet,  und  die 
Frage  kann  nur  sein,  was  gerade  seine  Persönlichkeit  befähigte,  unter  den 
gegebenen  Voraussetzungen  einen  so  großen  Teil  der  Kulturaufgabe  zu  be- 
wältigen. 

Allerdings  wird  die  Energie  des  Mannes  in  Denken  und  Handeln,  die 
schier  unermeßliche  Arbeitsmasse,  die  er  bewältigt,  erst  verständlich  durch 
eine  Vorbedingung,  durch  die  stählerne  H^rte  seines  Körpers,  der  die  größten 
Strapazen  ertrug,  ohne  zu  ermüden  oder  ermüden  zu  dürfen,  der  nur  eines 
Minimums  von  Schlaf  bedurfte  und  der  immer  wieder,  wenn  er  zeitweise  im 
letzten  Dezennium  zu  erlahmen  gedroht  hatte,  zu  konzentriertester  Arbeit 
angefeuert  wurde,  bis  er  endlich  auch  diesem  stählernen  Willen  den  Dienst 
für  immer  versagte. 

Aber  keinem  Beobachter,  der  das  Glück  hatte,  M.  in  seiner  geistigen 
Werkstatt  zu  belauschen,  ja  keinem  Hörer,  der  seine  Vorlesungen  besuchen 
konnte,  keinem,  der  mit  ihm  sprach,  wird  es  entgangen  sein,  daß  er  das 
weite  Gebiet,  mit  dem  er  sich  beschäftigte,  mit  souveräner  Sicherheit  und 
Raschheit  beherrschte.  Es  schien  kein  latentes  Wissen  zu  geben,  sondern 
jede  Tatsache  in  jedem  Momente  zur  Verfügung  zu  stehen.  Die  Tatsachen 
schienen  sich  wie  von  selbst  in  ihren  logischen  und  genetischen  Zusammen- 
hang einzuordnen;  deshalb  erschien  auch  keine  neue  wissenschaftliche  Er- 
fahrung überraschend;  denn  sie  mußte  sich  von  selbst  in  die  klare  Ordnung 
dieses  Geistes  einfügen.  In  dieser  Schnelligkeit  und  Fülle  der  Assoziation 
äußerte  sich  das  Funktionieren  eines  außergewöhnlich  organisierten  Gehirns, 
dessen  Assoziationsfasern  übernormal  ausgebildet  waren,  dessen  Nervenbahnen 
übernormal  schnell  funktionierten.  Auch  M.s  außergewöhnliches  Gedächtnis, 
das  ihm  gestattete,  bei  der  Ausführung  der  ausgedehntesten  Arbeiten  gewisse 
sonst  übliche  Hilfsmittel  und  Vorarbeiten  vollständig  zu  verschmähen,  war 
nur  eine  Folge  dieser  Anlage. 

Aus  ihr  folgte  aber  auch  vor  allem  jene  Zentraleigenschaft,  unter  die 
man  alle  übrigen  subsumieren  kann,  M.s  absolute  intellektuelle  und  ethische 
Wahrhaftigkeit.  Denn  bei  der  klaren  Anordnung,  bei  dem  Zusammenhange 
aller  wissenschaftlichen  und  menschlichen  Erfahrungen,  die  er  in  sich  auf- 
genommen, mußte  jede  Vorstellung,  welche  mit  den  anderen  nicht  überein- 
stimmte, störend  wirken,  und  der  Denkprozeß  konnte  erst  dann  zum  Ab- 
schluß   gebracht   werden,    wenn    alle  Vorstellungen   neu  revidiert,  berichtigt 


Mommsen. 


509 


und  miteinander  in  Übereinstimmung  gebracht  waren.  In  diesem  Sinne  ver- 
stand er  die  »im  großen  wie  im  kleinen  vor  keiner  Mühe  scheuende,  keinem 
Zweifel  ausbiegende,  keine  Lücke  der  Überlieferung  oder  des  eigenen  Wissens 
übertünchende,  immer  sich  selbst  und  andern  Rechenschaft  legende  Wahr- 
heitsforschung« (R.  u.  A.  459);  in  diesem  Sinne  betrachtete  er  auch  als  seinen 
»Lebensnerv«  die  Wahrhaftigkeit,  als  »erste  Bedingung  für  den  echten  Er- 
folg« »den  Mut  der  Wahrhaftigkeit«  und  jede  Abweichung  als  unverzeihliche 
»Sünde  wider  den  Heiligen  Geist«  (R.  u.  A.  432  ff.).  Forschung  und  Be- 
tätigung des  als  richtig  Erkannten  fielen  daher  auch  notwendig  für  ihn  zu- 
sammen; er  äußerte  sich  einmal,  daß  er  sich  nie,  auch  nur  durch  Still- 
schweigen, .  an  dem  mitschuldig  machen  werde,  was  er  aus  Überzeugung 
mißbillige  und  daß  man  eben  ein  Licht  nicht  hindern  könne  zu  leuchten. 
Ihm  war  es  dank  seiner  Anlage  und  seinem  Temperamente  ernst  mit* dem 
kategorischen  Imperativ  und  deshalb  war  ihm  eine  Trennung  zwischen 
geistiger  Arbeit  und  praktischer  Betätigung,  zwischen  Wissenschaft  und  Praxis, 
zwischen  Geschichte  und  Politik  einfach  unverständlich. 

Ans  diesem  Drange  nach  Wahrhaftigkeit  entsprangen  aber  auch  die  beiden 
Seiten  seiner  wissenschaftlichen  Tätigkeit,  die  Kritik  und  die  zusammen- 
fassende Rekonstruktion  —  in  gegenseitiger  Ergänzung  und  im  charakteristi- 
schen Widerstreit.  Was  er  von  O.  Jahn  schrieb,  gilt  von  ihm  in  gesteigertem 
Maße:  »Wahrhaftigkeit  war  der  Kern  und  Grund  seines  Wesens.  Auf  die 
Forschung  bezogen  entsprang  daraus  jener  besondere  Sinn  für  das  Sicher- 
stellen des  Positiven  und  Faktischen,  jenes  Bestreben,  zuerst  und  vor  allem 
die  Überlieferung  rein  und  klar  und  vollständig  zu  ermitteln  und  darzulegen« 
(R.  u.  A.  458).  Er  konnte  nicht  ruhen,  bevor  dies  so  vollständig  wie  möglich 
geschehen  und  jedes  Hilfsmittel  der  Kritik  angewendet  war,  um  so  weit 
möglich  die  wahren  Tatsachen  und  diese  allein  aus  dem  Wüste  der  wider- 
spruchsvollen Überlieferung  herauszuschälen.  Andererseits  konnten  ihm  diese 
übriggebliebenen  Bruchstücke  nicht  genügen,  und  er  verlangte  nach  dem 
Ganzen,  nach  der  ganzen  Wahrheit.  Die  römische  Geschichte  nicht  minder 
wie  das  römische  Staatsrecht  zeugen  von  dieser  synthetischen,  rekonstruieren- 
den, produktiven  Arbeit,  welche  ein  mögliches  oder  das  einzig  mögliche 
widerspruchslose  Gesamtbild  wiederherstellte  und  die  verlorenen  Teile  nach 
den  gegebenen  Anhaltspunkten  oder  auch  mit  schöpferischer  Phantasie  er- 
gänzte, ob  es  sich  nun  um  einen  Text  oder  um  eine  Persönlichkeit  oder  um 
eine  politische  Entwicklung  handelte.  Er  hat  niemals  die  Herstellung  der 
Bausteine  für  den  Endzweck  gehalten,  niemals  »über  die  Mittel  den  Zweck 
vergessen«,  und  mit  seinem  Sinne  für  das  Wesentliche  die  Hyperakribie  ver- 
achtet, die  ihre  Hauptaufgabe  in  der  Anhäufung  gleichgültiger  Noten  und 
Zitate  erblickt,  aber  auch  niemals  geglaubt,  ein  Gebäude  ohne  Bausteine 
aufrichten  zu  können.  Aber  wenn  auch  Kritik  und  Synthese  derselben 
Wurzel,  dem  Drange  nach  einheitlichem,  widerspruchslosem  Erkennen  ent- 
sprangen, so  war  er  sich  doch  des  durch  die  Unvollkommenheit  der  mensch- 
lichen Erkenntnismittel  bedingten  Widerstreites  zwischen  beiden  bewußt. 
Pflicht  und  Anlage  führten  ihn  zur  rücksichtslosen  Kritik,  und  doch  sagte  er 
sich  schon  als  Jüngling,  daß  sie  häufig  zur  »Erkältung  des  Herzens«  führe. 
Pflicht  und  Temperament  führten  ihn  zur  gewaltigen  kühnen  Synthese. 
Während  die  Kritik  die  Freude  an  der  eigenen  Arbeit  rauben  konnte,  führte 


510 


Momrosen. 


die  Begeisterung  trotz  der  Möglichkeit  des  Irrtums  zur  Originalität,  Lebendig- 
keit, zur  Schaffensfreude.  In  M.s  Leben  überwog  bald  jene,  bald  diese. 
Diese  machte  ihn  in  seinen  besten  Jahren  zum  gewaltigsten  Geschichtsschreiber, 
jene  zum  einschneidendsten  Forscher.  Aber  wenn  Zeiten  der  Depression 
periodisch  seit  seiner  Jugendzeit  und  häufiger  mit  zunehmendem  Alter  wieder* 
kehrten,  so  waren  es  die  Zeiten,  da  die  Kritik  überwog  und  seine  Produktion 
hemmte,  als  er,  mitunter  infolge  von  Überarbeitung  oder  Nachlassen  der 
körperlichen  und  geistigen  Spannkraft,  nicht  imstande  war,  zu  schaffen. 

Aus  demselben  Drängen  nach  vollständiger  Erkenntnis  erklärt  sich  auch 
die  merkwürdige  Erscheinung,  daß  die  Umrisse  des  gewaltigen  wissenschaft- 
lichen Lebenswerkes,  welches  erst  der  Greis  abschloß,  schon  dem  Jüngling 
feststanden,  jene  geniale  Intuition,  mit  welcher  er  in  seinen  ersten  Schriften 
Resultate  vorwegnahm,  die  er  eigentlich  erst  in  seinen  letzten  erwiesen  hat, 
jene  Kühnheit,  mit  welcher  in  der  »Römischen  Geschichte«  z.  B.  Resultate 
des  »Staatsrechtes«  vorweggenommen  sind.  Was  er  in  einem  Jugendaufsatze 
ausgesprochen  hat,  daß  der  Darsteller  vor  der  Ordnung  des  Materiales  über 
die  Ansicht  seines  Gegenstandes  mit  sich  aufs  reine  gekommen  sein  müsse, 
und  sich  nicht  etwa  erst  während  des  Schreibens  seine  Ansicht  bilden  dürfe,  gilt 
auch  für  seine  gesamte  Lebensarbeit,  deren  Plan  schon  vorlag,  als  er  auf  die 
Wanderschaft  ging,  so  daß  er  dann  die  Umrisse  ausfüllte,  indem  er  allerdings 
alle  Quellen  heranzuziehen  strebte,  wie  er  es  als  ernsteste  Verpflichtung  der 
Wahrheitsforschung  empfand,  und  im  Fortschreiten  des  Baues  auch  an  den 
Umrissen  änderte,  wo  es  das  Material  verlangte.  Geradezu  charakteristisch 
ist  es  auch  in  dieser  Beziehung,  daß  er  von  den  allgemeinen  Begriffen  der 
Jurisprudenz  und  dem  Zentralbegriff  »Staat«  ausging,  aber  durch  seine  uner- 
müdliche philologische  Arbeit  erst  das  tiefere  Verständnis  des  römischen 
Staates  begründet*  hat. 

Derselbe  Drang  nach  Wahrheit,  der  ihn  die  Lücken  des  Wissens  immer 
wieder  empfinden  ließ  und  in  der  eigenen  Arbeit  nur  die  selbstverständliche 
Pflichterfüllung  sah,  hielt  ihn  ferne  von  jeder  Überhebung  und  Eitelkeit  und 
nährte  in  ihm  die  innere  Bescheidenheit  des  wirklich  großen  Mannes,  die 
insbesondere  in  seinen  letzten  Jahren  sich  geradezu  zu  einer  Überbescheiden- 
heit steigerte,  namentlich  dann,  wenn  er  das  Gefühl  hatte,  daß  seine  Arbeits- 
kraft erlahmte,  und  andererseits  neue  Fragen  in  Theorie  und  Praxis  der 
Lösung  harrten.  Gerade  daß  er,  wie  kein  anderer,  sich  bis  ins  höchste  Alter 
die  Fähigkeit  bewahrte,  auch  was  neu  war,  richtig  abzuschätzen,  statt  es  in 
der  bequemen  Art  des  Alters  einfach  abzulehnen,  steigerte  in  ihm  das  Be- 
wußtsein der  relativen  Unzulänglichkeit  des  einzelnen  dem  ewigen  Flusse 
der  Erscheinungen  gegenüber,  wenn  er  auch  natürlich  wußte  und  wissen 
mußte,  was  seine  Leistung  für  die  Geschichte  der  Wissenschaft  bedeutete. 
Aber  es  ist  bezeichnend  für  ihn,  daß  er  in  seiner  Vorlesung  zu  sagen  pflegte, 
Gibbon  sei  das  bedeutendste  Werk,  das  je  über  römische  Geschichte  ge- 
schrieben wurde,  obwohl  es  in  gelehrter  Beziehung  nicht  überschätzt  werden 
dürfe.  So  erkannte  er  stets  gerne  fremde  Arbeit  an,  wie  die  Hunderte  be- 
zeugen, die  er  gerne  und  fast  väterlich  gefördert  hat,  deren  menschliches 
und  Mrissenschaftliches  Schicksal  er  wachsam  und  gütig  verfolgte,  und  duldete 
sogar  in  seinem  Seminare,  wo  ihm  Anfänger  gegenübersaßen,  gerne  Wider- 
spruch, wenn  dieser  ihm  begründet  erschien  oder  aus  ehrlicher  wissenschaftlicher 


Mommsen. 


511 


Forschung  und  Überzeugung  hervorging.    Dagegen  war  er  in  der  Tat  überall 
unerbittlich  gegen  Unehrlichkeit  in  der  Forschung,  ob  sie  nun  auf  Phantasterei 
oder  Schwäche  zurückging,  und  gegen  aufgeblasenen  Dilettantismus.  An  Kaiser 
Wilhelm  I.  schätzte  er,    daß  er   »war,  was   ein  rechter  Mann   sein  soll,    ein 
Fachmann«   (als  Militär)  (R.  u.  A.  165).     Damit   war  natürlich  nicht  gemeint, 
daß  ein  Mann   und   Gelehrter  seinen  Interessenkreis    möglichst  einschränken 
solle,  wohl  aber,    daß  jeder  die  Pflicht  habe,  das  selbst   abgesteckte  Gebiet 
so  intensiv  zu  bebauen,    wie  irgend  n\öglich,    und   dagegen   sich    einer   Un- 
zulänglichkeit   auf   jedem    anderen   Gebiete    bewußt   zu   bleiben.      Er   selbst 
suchte  die  Bildung  seiner  Zeit  mit  seinem  Geiste  zu  umfassen  und  bedauerte 
es    lebhaft,    daß    er    infolge    seiner   Erziehung    den    modernen    Naturwissen- 
schaften fremd  gegenüberstand. 67)     Dagegen  beherrschte  er  seit  seiner  Jugend 
die    modernen   Kultursprachen    und    tat  sich   etwas    darauf    zugute,    sich    in 
jeder,    dank    seinem   feinen    Sprachgefühle,    mit    ausgesuchter    Eleganz    aus- 
drücken zu  können,  wie   er  denn   auch  auf  das  formale  Sprachstudium  den 
größten  Wert  legte.     Er  verfolgte   und    schätzte  auch  bis  in   sein   Alter  die 
Produkte    der   fremden   Literaturen;    nicht  leicht  war  ihm  ein  französischer 
Roman    zu    schlecht,    um    ihn    durchzufliegen.     Allgemeine  Kultur  war    ihm 
selbstverständliche  Vorbedingung.     Mit   leiser  Ironie    hat  er  das  einmal  für 
den  Geschichtsschreiber  ausgeführt:  »Dichten  ist  ein  Übermut,  sagt  der  Poet. 
Geschichtsschreiber  spielen   ist  es  noch  viel  mehr;  denn   von  Rechts  wegen 
müßte  der  Historiker  alles  wissen  und  die  eigentliche  Kunst  desselben  be- 
steht darin,  daß  er  sich  das  Gegenteil  nicht  merken  läßt.«    Aber  in  Wirklich- 
keit ging  M.  so  weit,  daß  er  sich  trotz  seiner  Beherrschung  der  griechischen 
Sprache,    seiner  Kenntnis  der  griechischen   Literatur  und   Geschichte,    nicht 
leicht  wissenschaftlich  auf  das  an  das  seinige  grenzende  Gebiet  der  griechi- 
schen Altertumskunde  vorwagte.^)     Daß   er  aber  von  diesem  seinem  festen 
Standpunkte  aus  gelegentlich  die  Leichtsinnigen   und  Unehrlichen   aus  dem 
Tempel  der  Wissenschaft  davonjagte,  hat  nicht  minder  dazu  beigetragen,  ihm 
den    unbegründeten  Vorwurf   der   Intoleranz    zuzuziehen,    wie    seine    Gering- 
schätzung der  Schwächlinge  in  der  Wissenschaft,  die  übernommene  Pflichten 
nicht  erfüllten,  der  -»paulo-post-facturi«^  die  keine  »Fertigmacher«  waren.    Denn 
wie  er  sich  selbst  jede   scheinbar  unbedeutendste  Arbeit  zumutete,   wenn  er 
sie  für  notwendig  hielt,   und  häufig  genug  auf  sich  nahm,   was  Kleinere  zu 
tun  verschmäht  oder  vernachlässigt  hatten,  so  verlangte  er  ein  gleiches  auch 
von    allen  Mitarbeitern.     »Alle  Wissenschaft«,   so    führte  er  an,    »beruht  auf 
dem  Ineinandergreifen  der  verschiedenen  arbeitenden  Kräfte,  und  ihre  sittliche 
Bedingung  ist  die  gegenseitige  Anerkennung  der  Arbeitenden«    (R.  u.  A.  66). 
Aus    dieser  Anerkennung    heraus    haben    sich  M.s  schönste    und   herzlichste 
Freundschaftsbündnisse  entwickelt,   die  mit  seiner  Arbeit  zusammen  mit  den 
schönsten  Teil  seines  Lebens  bildeten,  so  das  mit  Henzen  und  mit  de  Rossi. 
Sein  Bewußtsein,  ein  Teil  des  Ganzen  zu  sein,  hat  ihn  nicht  nur  zum  wissen- 
schaftlichen Organisator,    sondern    auch   zum   geselligen  Menschen   gemacht, 
und  Geselligkeit  war  ihm  von  den  Studenten  jähren  an  bis  in  sein  spätes  Alter 
Bedürfnis.    Er  verstand  es  in  gleicher  Weise  den  Gelehrten  und  den  Politiker 
und  den  Geschäftsmann  in  zwangloser  Weise  durch  seine  Konversation,  Witz  und 
Humor    zu    bezwingen,    wie    die    gefeierte    Weltdame    in    Rom,    Paris   oder 
Berlin    und    das    schüchterne   junge  Mädchen,    dem  es  vor  dem   berühmten 


512 


Monimsen. 


Manne  graute,  zu  bezaubern,  und  mit  den  Studenten  in  der  Rheinweinkneipe 
zu  trinken  und  zu  plaudern,  daß  sie  sich  schier  verwunderten,  wie  der  strenge 
Gelehrte  zu  ihnen  herabzusteigen  verstand,  und  jeder  doch  ein  meist  scherz- 
weise ausgestreutes  belehrendes  und  pointiertes  Wort  mit  sich  nach  Hause 
nahm,  das  mehr  Lebensweisheit  als  Schulweisheit  enthielt.  —  Er  gab  sich 
eben  wie  in  der  Wissenschaft,  so  in  in  der  Geselligkeit  ganz  und  ohne  Rück- 
halt, und  hier  trat  natürlich  sein  Temperament  und  seine  mitunter  ätzende 
Kritik  noch  stärker  hervor.  Auch  hier  war  er  immer  vollständig  bei  der 
Sache  und  daß  er  jeden  Inzidenzpunkt  gleich  in  allen  seinen  Zusammen- 
hängen sah,  machte  ihn  zum  schlagfertigsten  Causeur,  der  stets  das  wesent- 
liche traf;  daß  er  aber  auch  keine  Schwäche  übersah,  verlieh  ihm  eine 
souveräne  Ironie,  die,  auch  wenn  sie  sich  humorvoll  äußerte,  manche  steif- 
leinene Größe  verletzt  hat,  besonders  da  sowohl  falsches  Pathos  als  auch  in 
konventioneller  Weise  zur  Schau  getragene  Verehrung  vor  dem  berühmten 
Manne  ihn,  der  jeden  falschen  Aufputz  verschmähte,  innerlich  verletzte. 

Seiner  intellektuellen  entsprach  seine  ethische  Wahrhaftigkeit,  die  ihn 
auch  nicht  den  geringsten  Widerspruch  zwischen  Denken  und  Handeln  ertragen 
ließ.  Der  kategorische  Imperativ  war  ihm  derart  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen, daß  die  Äußerung  einer  klaren  Erkenntnis  für  ihn  geradezu  ein 
Zwang  war,  und  da  sich  seine  Gedanken  in  wissenschaftlicher  Beziehung 
auf  dem  Gebiete  der  Staats  Wissenschaften  bewegten,  so  war  die  Politik  nur 
die  ethische  Seite  seiner  intellektuellen  Betätigung.  Es  entsprach  seiner  An- 
sicht von  der  Bedeutung  der  intellektuellen  Stände  im  Staate,  wenn  er  aus- 
rief: »Die  Zeiten  sind  glücklicherweise  vorüber,  wo  die  sogen,  gelehrte  Welt 
in  dem  Wahne  stand,  sich  von  der  realen  Gegenwart  emanzipieren  zu  dürfen, 
ja  zu  sollen«  (R.  u.  A.  92)  und  wenn  er  für  die  gebildeten  Kreise  »den 
patriotischen  Schwung,  die  selbstlose  Opferwilligkeit«  reklamierte,  »welche 
das  höchste  Privilegium  der  vollen  sittlichen  Bildung  ist  und  für  welche  die 
niederen  Kreise  wohl  die  Empfänglichkeit,  aber  nur  in  geringem  Maße  die 
Initiative  besitzen«  (R.  u.  A.  25).  Man  kann  auf  ihn  anwenden,  was  er  von 
Leibniz  sagte:  »Er  konnte  nicht  anders  leben  und  empfinden  als  im  Ganzen 
der  menschlichen  Entwicklung,  d.  h.  im  Staate;  und  stets  hat  er  als  Gelehrter 
wie  als  Mensch  sich  als  Staatsbürger  empfunden«  (R.  u.  A.  41),  Daher  ver- 
schwand bei  ihm  das  persönliche  Interesse  vollständig,  und  wo  er  es  für 
notwendig  oder  nützlich  hielt,  sich  in  einer  öffentlichen  Angelegenheit  zu 
äußern,  tat  er  es  ohne  jegliche  Berechnung  mit  dem  vollen  Einsätze  seiner 
Person  und  mit  der  ganzen  Wucht  seines  Temperaments.  Deshalb  haben  die 
Manifeste,  die  von  dem  Alten  in  Charlottenburg  ausgingen,  stets  ihre  volle 
Wirkung  geübt,  nicht  nur  wegen  der  hohen  wissenschaftlichen  Autorität,  von 
der  sie  ausgingen,  nicht  etwa  weil  die  Worte  auf  die  Goldwage  gelegt  ge- 
wesen wären,  sondern  weil  ein  jeder  es  spürte,  daß  der  Hauch  einer  großen 
Seele  von  ihnen  ausging;  und  man  bewunderte  mit  Recht  seine  ewige  Jugend, 
weil  ihm  wie  dem  Jüngsten  die  Hemmungen  fremd  waren,  die  aus  Opportunis- 
mus und  Bedenklichkeitsfanatismus  hervorzugehen  pflegen.  Aber  trotz  seiner 
Verachtung  gegenüber  aller  Konvention  und  allen  falschen  Werten,  ertrug  er 
sie,  wo  er  meinte,  daß  es  weniger  Schaden  anrichte  sie  nicht  zu  beachten 
oder  zu  ertragen,  als  gegen  sie  anzukämpfen;  so  ist  er  nie  in  die  Gefahr  geraten, 
gegen  Windmühlen  zu    kämpfen,    und  behielt   stets  das  wesentliche  fest  im 


Mominsen. 


513 


Auge.  Aber  in  dieser  Synthese  des  real  Gegebenen  mit  dem  Idealen,  die  sein 
Leben  durchzieht,  liegt  allerdings  derselbe  Widerstreit,  wie  zwischen  Kritik 
und  Konstruktion.  Er  sieht  die  hemmenden  Momente,  beklagt  die  De- 
humanisierung  und  die  moralischen  Seuchen,  die  sich  gleichsam  epidemisch 
verbreiten,  die  »Rebarbarisierung«  tief  und  beobachtet  mit  steigendem  Miß- 
fallen »die  durch  den  Interessenkrieg  herbeigeführte  Schädigung«,  die  neue 
Parteibildung  auf  Grund  der  Interessengegensätze  und  betrauert,  daß  »für 
die  unparteiische  Abwägung  der  Rechte  überhaupt  und  der  kollidierenden 
Interessen  kein  Träger  mehr  gefunden  wird«  (vgl.  R.  u.  A.  64.  91.  411.  475); 
aber  mag  ihn  dies  .  alles  auch  zeitweise  niederdrücken,  so  hält  er  es  doch 
um  so  mehr  als  Pflicht,  »das  heilige  Feuer  des  selbstlosen  Patriotismus«  zu 
wahren,  mit  seiner  ganzen  Person  einzutreten,  wo  es  not  tut,  und  zu  erinnern 
an  »den  notwendigen  endlichen  Sieg  des  Edlen  über  das  Gemeine«  —  eine 
»Erinnerung,  deren  wir  freilich  bedürfen  I« 

Quellen.  Zu  lebhaftem  Danke  bin  ich  vor  allem  der  Familie  Mommsens  verpflichtet, 
welche  mir.  in  der  g^ütigsten  Weise  Auskünfte  erteilte  und  Mitteilungen  in  reichlichem  Maße 
vermittelte;  außerdem  namentlich  Herrn  Prof.  Otto  Hirschfeld  und  Herrn  Prof.  U.  v.  Wilamo- 
witz-Möllendorf.  —  Sehr  reiches  Material  für  die  Kenntnis  der  Persönlichkeit  bieten  die  von 
Hirschfeld  nach  M.s  Tode  gesammelten:  »Reden  und  Aufsätze«  (Berlin  1905.  —  Zitiert 
als  »R.  u.  A.«)  und  natürlich  auch  die  übrigen  Werke  M.s.  Diese  sind  jetzt  vollständig 
zusammengestellt  in:  »Th.  M.  als  Schriftsteller  —  Ein  Verzeichnis  seiner  Schriften  von 
K.  Zangemeistef,  im  Auftrage  der  Königl.  Bibliothek  bearbeitet  und  fortgesetzt  von  Emil 
Jacobs«  (Berlin.  1905.  —  Zitiert  als  Z.-J.).  Herrn  Dr.  Jacobs,  der  jeden  künftigen  Bio- 
graphen durch  seine  Arbeit  der  mühevollen  bibliographischen  Vorarbeit  überhoben  hat,  bin 
ich  auch  für  die  Mitteilung  seiner  Aushängebogen  und  manchen  Wink  zu  Danke  verpflichtet. 

—  Außer  einigen  an  geeigneter  Stelle  zitierten  Artikeln  über  M.  führe  ich  femer  hier 
folgende  Aufsätze  an,  die  durch  ihre  Darstellung  oder  durch  Mitteilung  von  Material  für 
mich  von  besonderem  Interesse  waren:  C.  Bardt,  Th.  M.  (Berlin,  Weidmann.  1903.  —  Ge- 
schrieben 1875).  —  Th.  Barth,  Th.  M.  in  »Die  Nation«  XXI.  Jahrg.  Nr.  6   (7.  Nov.  1903). 

—  H.  Blümner,  Th.  M..  (Separatabdr.  der  N.  Züricher  Zeitung  1903,  4. — 6.  Nov.).  —  E.  Bor- 
mann, Th.  M.,  Ansprache  bei  der  Gedenkfeier  der  Wiener  Universität  am  30.  Nov.  1903 
(Wien  1904,  Selbstverlag).  —  E.  Costa,  7*.  M,,  Discorso  inauguraU  per  V  anno  1^04 — j 
neir  Universüa  di  Bologna  (Bologna,  Stabil,  tip,  Succ.  Monti,  1^4,  —  Abdruck:  Bologna, 
Zanichelli  igoj),  —  A.  Dove,  Zur  Erinnerung  an  Th.  M.  in  Beilage  z.  »Allgem.  Zeitung«, 
München  2.  u.  3.  Febr.  1904  Nr.  26.  27.  —  O.  Gradenwitz,  Th.  M.  in  »Zeitschr.  der  Savigny- 
stiftung  f.  Rechtsgeschichtc«  Rom.  Abth.  Bd.  XXV  (1904).  —  A.Harnack,  Rede  bei  der  Begräbnis- 
feier Th.  M.s  (Leipzig,  Hinrichssche  Buchh.  1903).  —  O.  Hirschfeld,  Gedächtnisrede  auf  Th.  M. 
in:  Abhandlungen  der  kgl.  preuß.  Akademie  der  Wiss.  vom  Jahre  1904  (zitiert:  Hirschfeld,  Ak.). 

—  O.  Hirschfeld,  M.  (Rede,  gehalten  zum  80.  Geburtstag,  abgedruckt  in  »Der  Zeitgeist« 
Beiblatt  zum  »Berl.  Tageblatt«,  Nr.  48,  30.  Nov.  1903).  —  Ch.  Huelsen,  Zum  Gedächtnis 
Th.  M.,  Rede  gehalten  in  der  Institutssitzung  am  11.  Dez.  1903,  in  »Mitteil,  des  K.  D 
Archäol.  Instit.«  Rom  1903,  Bd.  XVIII.  —  J.  Kaerst,  Th.  M.,  in  »Historische  Vierteljahrs- 
schrift« 1904  S.  313 — 342.  —  C.  F.  Lehmann,  M.s  Lebenswerk,  in  »Berliner  Neueste  Nach- 
richten«, 8.  u.  10.  November  1903.  —  O.  Seeck,  Zur  Charakteristik  M.s,  in  »Deutsche 
Rundschau«  Bd.  XXX,  4.  Jan.  1904.  —  E.  Schwartz,  Rede  auf  Th.  M.,  in  »Nachrichten  von  d. 
königl.  Ges.  d.  Wissensch.  zu  Göttingen;  Gesch.  Mitteilungen«  1904  Heft  i.  —  Außerdem 
brachten  natürlich  die  meisten  deutschen  und  italienischen  Zeitungen  Nachrufe.  —  Recht 
verkehrt  ist  die  Auffassung  M.s  bei  A.  Guilland,  VAlletnagnc  nouvdU  et  ses  hutoricns 
(Paris,  Alcan,   1899). 

')  Totenliste  1903,  Band  VIII  77*. 

*)  Dies  nach :  »Drei  Aufsätze  Tb.  M.s  aus  seiner  Schulzeit.   Eine  Erinnerungsgabe  zum 
So.  Geburtstage,   überreicht  vom  k.  Christianeum  in  Altona«.     Als  Manuskript   gedr.  Berlin, 

Biofft.  Jahrbuch  u.  Deutscher  Nekrolog.    Bd.  9.  33 


et4  Momtnsen. 

Weidmann,  1897.  —  Dazu  »Jahresbericht  des  k.  Christianeums  zu  Altona  Aber  das  Schul- 
jahr 1888 — 89«,  S.  29;  ferner  Ad.  Wachholtz,  Aus  Th.  M.s  Schulzeit,  in  »Festschrift  der 
48.  Vers.  D.  Philol.  u.  Schulmänner  in  Hamburg  dargebr.  vom  Lehrerkollegium  des 
k.  Christianeums  zu  Altona«  (1905),  S.  31 — 54  und  Tycho  M.s  Autobiographie. 

3)  Vgl.  Festschrift  usw.  46;  auch  43. 

4)  Vgl.  Hirschfeld,  Ak.  S.  5. 

5)  Dieses  und  die  folgenden  Zitate  aus  den  angeführten  Jugendschriften  und  insbe- 
sondere aus  den  Kritiken  in  der  N.  Jen.  Allg.  Lit.-Ztg.  111  und  aus  der  Ztschr.  f.  d. 
Altertumswiss.  I — III.  —  Vgl.  auch  die  9.  These  der  Dissertation:  i^Niehuhrii  cum  spien- 
dorem  tum  crrores  in  eo  positos  essty  ut  hUtoriani  iotani  esse  hypotheticam  sive  ignorarei 
sive  ncgareU  und  dazu  die  von  Hirschfeld,  Zeitgeist  zitierte  Stelle  aus  »Die  römischen 
Tribus«  S.  VII. 

6)  R.  u.  A.  S.  459.  Vgl.  auch  die  spöttische  14.  These  der  Dissertation :  i^yuriscon^ 
sultum  a  phüologo  discere  posse;  an  possit  philologus  ab  illo,  adhuc  dubstandum.< 

7)  Vergl.  auch  Allg.  D.  Biogr. :  Storm,  von  E.  Schmidt. 

')  Vgl.  dazu  seine  Beurteilung  Heines  in  Lit.  Zentralbl.  1851,  799  ==  Z.-J.  199  und 
R.  u.  A.  S.  416. 

9)  Gemeint  sind  natürlich  der  österreichische  und  der  preußische  Adler. 

«o)  Z.-J.  5.  6.  7. 

")  Z.-J.  8.  9.  10. 

>*)  Rede  im  preußischen  Abgeordnetenbause  am  9.  März   1875. 

«3)  Vgl.  Hirschfeld,  Ak.  S.  7. 

'4)  Vgl.  hierzu  Michaelis,  Storia  delV  Istttuto  archeologico  Germanico  (1879). 

'5)  Vgl.  hierzu  u.  zum  Folgenden  Hirschfeld,  Ak.,  nam.  S.  9  und  Costa  a.  a.  O. 

»6)  Hamack,  Gesch.  d.  kön.  preuß.  Ak.  d.  Wiss.,  II,  S.  505fr. 

>7)  Vgl.  Savignys  Antrag  an  die  Akademie  bei  Hamack  a.  a.  O.  II,  517  fr. 

>8)  Vgl.  Hamack  a.  a.  O.  II  S.  522 — 540. 

>9)  Die  Geschichte  der  Verhandlungen  über  das  Corpus  ist  dargestellt  von  Hirschfeld, 
Ak.  S.  6  fr. 

*o)  Hierzu  und  zum  Folgenden  vgl.  »Schleswig  -  Holsteinische  Zeitung«  (verantw. 
Redakteur  A.  F.  Hanssen)  Nr.  1  (15.  April  1848)  —  Nr.  148  (4.  Okt.  1848):  Mommsens 
Handexemplar  in  der  Kön.  Bibliothek  in  Berlin;  Mommsens  Artikel  sind  kenntlich  teils 
durch  die  Chiffre  (M,  seit  Ende  August  T),  teils  durch  ein  von  Mommsens  Handschrift 
hinzugefügtes  »M.«,  teils  bloß  durch  den  Stil.  —  Dazu  »Die  Schlacht  bei  Schleswig«, 
abgedruckt  in  R.  u.  A.  S.  363  fr.  mit  Anmerkung  auf  S.  363  und  Z.-J.  Nr.  118 — 119. 

»0  R.  u.  A.  468  f. 

")  Vgl.  Hirschfeld,  Ak.  S.  13. 

«3)  Vgl.  die  von  Beiger,  Haupt  als  akadem.  Lehrer  (1879)  S.  32  zitierte  Stelle  aus 
einem  Briefe  Mommsens.  —  Ferner  über  den  Leipziger  Aufenthalt  namentlich  Jahn, 
Biograph.  Aufsätze  (1866);  Th.  W.  Danzel;  AUgem.  D.  Biogr.  »O.  Jahn«  von  Michaelis. 
Über  den  Leipziger  Kreis  auch  Gomperz,  Essays  u.  Erinnerungen  S.  27  ff.  —  Berichte  über 
den  »Deutschen  Verein«  finden  sich  in  der  »Leipziger  Ztg.«  vom  Jahre  1849. 

*4)  Freundliche  Mitteilung  von  Dr.  Jacobs. 

»5)  Vgl.  Z.-J.  zu  1849— 1852  und  namentlich  S.  VI  und  X  (Litt.  Zentralblatt). 

^  Vgl.  auch  Blümner  a.  a.  O.  6  f. 

*7)  Aus  dem  Danke  aus  Anlaß  seiner  Quinquagenaricn  in  utroque  iure;  zitiert  von 
Gradenwitz  a.  a.  O.  6  f. 

*•)  Veröffentlicht  in  der  »National-Zeitung«,  Morgen-Ausgabe,  Berlin  17.  November 
19031    56.  Jahrgang  Nr.  606. 

«9)  Vergl.  Hirschfeld,  Ak.  S.  i/f. 

30)  Hirschfeld,  Ak.  S.  18  Anm. 

3<)  Zusatz  der  späteren  Auflagen:  »Als  dies  geschrieben  wurde,  im  Jahre  1857,  konnte 
man  noch  nicht  wissen,  wie  bald  durch  den  gewaltigsten  Kampf  und  den  herrlichsten  Sieg, 


Mommsen. 


515 


den  die  Geschichte  des  Menschengeschlechts  bisher  verzeichnet  hat,  demselben  diese  furcht- 
bare Probe  erspart  und  dessen  Zukunft  der  unbedingten,  durch  keinen  lokalen  Cäsarismus 
auf  die  Dauer  zu  hemmenden  sich  selbst  beherrschenden  Freiheit  gesichert  werden  sollte.« 

3«)  Vgl.  Gutzkows  Besprechung  »Ein  gekröntes  Geschichtswerk«  in  seinen  »Unter- 
haltungen am  häusl.  Herd«  N.  F.  II  (1857)  S.  398  fr. 

33)  »Die  Schweiz  in  römischer  Zeit«  (Mitt.  d.  antiq.  Ges.  in  Zürich  Bd.  IX  Abt.  2 
Heft  i),  zitiert  von  Hirschfeld,  Zeitgeist. 

^)  Vgl.  die  von  G.  Lumbroso,  T.  M.,  Ricordi  (Roma  igoj)  mitgeteilte  Äußerung 
M.s  vom  Nov.   1893:   i^Gioliiii  non  riesce  pcrche  non  ha  passione,    Un  uotno   dt  stato  deve 

,35)  Gutzkow  a.  a.  O.  S.  399. 
3^)  Hirschfeld,  Ak.  S.  20. 
37)  Z.-J.  761. 
3*)  Hirschfeld  a.  a.  O.  S.  19. 

39)  Hirschfeld  a,  a.  O.  S.  19. 

40)  Hirschfeld  a.  a.  OS.  20.. 

41)  Hirschfeld,  Ak.  S.  16.  21. 
4»)  Hirschfeld,  Ak.  S.  24f. 

43)  Neues  Archiv  I  S.  3  fr. 

44)  Vgl.  hierzu  und  zum  folgenden  Dressel,  Zeitschr.  f.  Numismatik  XXIV  (1904), 
S.  367  ft'.  (mit  einem  Verzeichnis  der  numismatischen  Schriften  Th.  M.s).  —  Dazu  Hirsch- 
feld, Ak.  2  7  ff. 

45)  Das  Vorhergehende  aus  Wilcken,  Archiv  für  Papyrusforschung  III/2  (1904) 
S.   147  ff.  —  Dazu  Hirschfeld,  Ak.  30 f. 

46)  Zu  dem  Vorhergehenden  vgl.  W.  His,  Zur  Vorgeschichte  des  deutschen  Kartells 
und  der  internationalen  Assoziati9n  der  Akademien  (mit  Aktenstücken)  in:  Berichte  über 
die  Verhandl.  d.  k.  sächs.  Gesellschaft  d.  Wissensch.  zu  Leipzig.  Math.-phys.  Klasse. 
54.  Bd.  (1902),  Anhang. 

47)  Jetzt   nach  M.'s  Anordnung  zusammengestellt   in  »Juristische  Schriften«  I    (1905). 

48)  Z.-J.  503.  569.  624.  Dazu  die  Einleitung  M.s  zur  grofien  Ausgabe,  in  welcher 
die  kritischen  Grundlagen  dargelegt  werden,  und  Gradenwitz  a.  a.  O.  S.  2 2  ff. 

49)  Graden witz  a.  a.  O.  S.  25. 

50)  Herausgegeben  mit  einem  Vorworte  von  Binding  (Leipzig  1905). 
5«)  Z.-J.  296:  Nat.-Ztg.  Jhrg.  XllI  (1860)  Nr.  123. 

5»)  Z.-J.  309. 

53)  Vgl.  Sitzung  vom  17.  März  1865  und  vom  9.  Februar  1866. 

54)  J.-Z.  866.  867.  —  »An  die  liberalen  Wähler  des  Reichswahlbezirks  Coburg.« 

55)  Bericht  der  »Neue  freie  Presse«,  20.  Juni  1882,  Morgenblatt  Nr.  6398  und  »Allgem. 
Ztg.«  Beilage  zum  21.  Juni  1882  Nr.  172. 

56)  »(Berliner)  Volkszeitung«   1884,  16.  April,  Nr.  90,     Vgl.  Z.-J.    993,  994. 

57)  Vgl.  Barth  a.  a.  O. 

58)  Vgl.  Umschau  IV  Nr.  38  (1900,   15.  Sept.). 

59)  Z.-J.   1364  (N.  fr.  Pr.  Nr.  11923,  Wien,  31.  Okt.  1897). 

60)  Z.-J.   1417 — 1420.   1492.     Dazu  Barth  a.a.O. 
6«)  Barth  a.  a.  O. 

6«)  Nation  XX,  11   (11.  Dez.  1902)  —  Z.-J.   1463. 
63)  Vgl.  Hirschfeld,  Ak.  S.  36  f. 

^)  Er  hatte  im  ganzen  16  Kinder,  von  denen  ihn  6  Söhne  und  6  Töchter  überlebten. 
Die  älteste  Tochter  ist  seit  1878  mit  U.  v.  Wilamowitz  verheiratet. 

65)  Darunter  nicht,  wie  die  Sage  ging,  ein  Manuskript  des  IV.  Bandes  der  römischen 
Geschichte.  —  Wohl  aber  sollen  C^r/Mj-Manuskripte  beschädigt  worden  sein. 

66)  Vgl.  Barth  a.  a.  O. 

67)  Vgl.  Dove  a.  a.  ü.  S.  202. 


5l6  Mommsen.     Plank.     Mühlbacher.     Waldersce.     Bi^^manJc. 

^')  Man  vgl,  übrigens  die  13.  These  seiner  Doktordissertation:  T^IUuä  Graeca  non  U- 
guniur  cum  vtrum  esse  tum  probandum,  cum  res  Graecae  philologorum  simi,  Latinae 
iurisconsuUorum,^  Ludo  M.  Hartmann. 

Plank,  Joseph  (Bd.  VI,  366).  »Josef  Plank.  Akademischer  Maler.  Eine  Lebens- 
skizze von  Dr.  Fr.  Waldner.«  S.-A.  aus  den  »Innsbrucker  Nachrichten«.  Innsbruck,  Wagner- 
sche  Universitäts-Buchhandlung.     1905. 

Mühlbacher,  Engelbert  (Bd.  VIII,  344),  *  (wie  in  der  Totenliste  richtig  angegeben) 

4.  Oktober,  nicht  wie  S.  344  steht  24.  Oktober  1843. 

Waldersee,  Graf  (Bd.  IX,  7).  Graf  Waldersee  hat  sich  noch  in  späten  Lebens- 
jahren zu  einer  Charakteristik  ManteufTels  veranlaßt  gesehen,  die  zum  Teil  auch  an  die 
Öffentlichkeit  gelangt  ist,  jedoch  an  derselben  Stelle  auch  von  seiten  zweier  hoch  angesehener 
Generale  sehr  bestimmten  Widerspruch  erfahren  hat.  Im  3.  Bande  der  Geschichte  des 
Krieges   von    1866  von    General   Oscar   von   Lettow- Vorbeck   (Berlin  1902)   findet  sich 

5.  259  der  teilweise  Abdruck  dieser  vom  Grafen  Waldersee  dem  Verfasser  zur  Verfolgung 
gestellten  Charakteristik  Mnnteuffels,  in  deren  Eingang  Waldersee  zugibt,  mit  Man- 
teuffei  wiederholt  Zusammenstöfie  gehabt  zu  haben.  Seiner  Beurteilung,  auf  welche  ein- 
zugehen außerhalb  der  Aufgabe  dieser  Darstellung  liegt,  ist  von  den  Generalen  v.  d.  Burg 
(zuletzt  kommandierender  General  des  II.  Armeekorps)  und  Graf  Wartenslebcn -  Carow 
(zuletzt  kommandierender  General  des  III.  Anneekor|>s),  die  beide  zu  Manteuffel  in  engen 
dienstlichen  Beziehungen  gestanden  haben  (Wartensleben  als  Chef  des  Stabes  der  von  Man- 
teuffel befehligten  Südarmcc,  v.  d.  Burg  als  Chef  des  Stabes  der  Okkupationsarmee,  später 
auch  in  Straßburg)  mit  Entschiedenheit  entgegengetreten  worden  (ebenda  S.  261/263).  Der 
Vollständigkeit  halber  sei  hier  darauf  hingewiesen.  Hugo  Jacobi. 

Bismarck,  Herbert  Fürst  (Bd.  IX,  105).  Sollte  einmal  die  Privatkorrespondenz  Her- 
berts  mit  seinem  Vater,  speziell  die  Londoner  aus  den  Jahren  1881/83,  der  Öffentlichkeit 
übergeben  werden,  woran  freilich  sobald  wohl  kaum  zu  denken  ist,  so  wird  darin  namentlich 
die  Intimität  interessieren,  mit  welcher  Lord  Granville  sich  damals  durch  Herberts  Vermitt- 
lung an  den  Vater  wandte,  um  diesen  zu  bewegen,  in  der  äg}'ptischen  Frage  die  Führung 
zu  übernehmen,  was  Bismarck  ablehnte.  Die  von  Ix)rd  Fitzmaurice  verfaßte  zweibändige 
Biographie  Granvilles  (Longmans^  Green  and  Co,,  London  i^oj),  die  Emil  Daniels  im 
123.  Hefte  der  Preußischen  Jahrbücher  zum  Gegenstand  einer  historisch  nicht  ganz  ein- 
wandfreien Darstellung  gemacht  hat  (»Die  englischen  Liberalen  und  Fürst  Bismarck«), 
würde  dann,  soweit  die  Beziehungen  Granvilles  zu  Bismarck  in  Betracht  kommen,  manche 
überraschende  Ergänzung  erfahren.  Daniels  eignet  sich  auch  die  in  dem  Briefwechsel  des 
englischen  Botschafters  in  Berlin,  Lord  Ampthill,  mit  Granville  vertretene  Auffassung 
an,  daß  die  freundliche  Aufnahme  und  die  viele  Anerkennung,  die  Herbert  damals  in 
London  gefunden,  lediglich  ein  verabredeter  diplomatischer  Kunstgriff  gewesen  sei,  um 
damit  den  Vater  zu  gewinnen.  Der  Botschafter  selbst  hatte  an  Granville  geschrieben:  »eine 
angenehme  Wahrheit,  ein  wohlverdientes  Kompliment,  geäußert  durch  einen  englischen 
Staatsmann,  hätten  eine  zauberhafte  Wirkung  auf  den  großen,  aber  leicht  verwundbaren 
Minister  der  cmpfmdlichsten  Nation  in  der  Welt«.  Es  liegt  hierin  doch  eine  naive  Über- 
schätzung des  Wertes  englischer  Komplimente  für  Bismarck.  Auch  konnte  Ampthill  sich 
bald  darauf  in  Friedrichsruh  Überzeugen,  daß  mit  leeren  Komplimenten  dort  kein  Geschäft 
zu  machen  war.  Den  Sohn  einer  andern  großen  Firma,  auch  wenn  sie  Konkurrentin  ist, 
wohlwollend  und  ehrenvoll  aufzunehmen,  entspricht  so  sehr  den  kaufmännischen  geschäft- 
lichen Traditionen,  daß  man  sich  über  die  gute  Aufnahme  Herberts  bei  Granville  nicht 
weiter  zu  wundern  braucht.  Sie  war  selbstverständlich.  Auch  war  es  nicht  Granville  allein, 
sondern    die  gesamte  vornehme  englische  Gesellschaft  einschließlich   der  Tory> Opposition, 


Bismarck.     Ratzcl. 


5'7 


selbst  der  Hof,  namentlich  der  Prinz  von  Wales,  der  heutige  König,  beteiligten  sich  daran. 
Vornehme  englische  Familien  schafften  sich  z.  B.  damals,  belustigt  durch  Herberts  Spott 
aber  die  kleinen  englischen  Weingläser,  für  ihre  Tafeln  grofie  Gläser  nach  deutscher  Art 
an.  Man  behandelte  ihn  als  den  Sohn  des  bedeutendsten  Staatsmannes  der  Zeit  mit  vielen 
Artigkeiten,  die  aber  zugleich  auch  dem  verständigen,  wohlunterrichteten  jungen  Diplomaten, 
dem  tapferen  Soldaten  und  dem  heitern,  jovialen  Gesellschafter  galten.  Ein  unbedeutender 
Mensch  wQrde  auch  als  Bismarcks  Sohn  in  England  so  nicht  aufgenommen  worden  sein. 
Granvilles  Brief  an  Herbert  selbst  ist  doch  mehr  als  eine  auf  den  Vater  berechnete  Platitüde, 
zumal  als  Abschiedsbrief. 

Bei   dieser  Gelegenheit  sei   noch   ein   Satzfehler  S.  ii8   berichtigt.      i^Arceo^   ist  für 
Hecbert  Bismarck  nicht  »Schiedsspruch«,  sondern  Schild spruch  gewesen. 

Hugo  Jacobi. 

Ratzel,  Friedrich  (Bd.  IX,  144—152).  Aus  gefälligen  Mitteilungen  der  Witwe  ent- 
nehme ich,  dafi  R.  als  Apothekergehilfe  kurze  Zeit  nicht  in  Morsch,  sondern  in  Mors  in 
der  Rheinprovinz  lebte,  dafi  seine  Beziehungen  zu  den  wtirttembergischen  Templern  nicht 
so  Qjige  waren,  wie  ich  nach  einem  Gespräch  mit  ihm  Über  diesen  Gegenstand  vermutet 
hatte,  daß  er  bei  Auzonne  nicht  am  linken,  sondern  am  rechten  Ohr  beschädigt  wurde  und 
dafi  seine  Stimmung  in  den  letzten  Jahren  keineswegs  dauernd,  sondern  nur  gelegentlich 
jene  Verdüsterung  zeigte,  die  mir  bei  einigen  persönlichen  Zusammenkünften  aufgefallen 
war.  Der  Literaturnachweis  ist  durch  die  nach  der  Vollendung  des  vorliegenden  Artikels 
erschienenen  Werke  »GlUcksinseln  und  Träume.  Gesammelte  Aufsätze  aus  den  Grenzboten. 
I^eipzig,  F.  W.  Grunow.  1905«  und  »Kleine  Schriften  von  Friedrich  Ratzel.  Ausgewählt 
und  herausgegeben  durch  Hans  Helmolt.  Band  i — 2.  München  und  Berlin,  R.  Oldenbourg. 
1905 — 1906«  zu  ergänzen.  Das  letztere  enthält  nicht  nur  eine  treffliche  Lebensbeschreibung 
und  Würdigung  des  Verstorbenen,  sondern  auch  ein  Verzeichnis  der  ihm  gewidmeten 
Nachrufe.  Viktor  Hantzsch. 


I.  Alphabetisches  Namenverzeichnis 


zum 


Deutschen  Nekrolo|^  vom   i.  Januar  bis  31.  Dezember  1904. 


Name 

Verfasser 

Seite 

Name 

Verfasser 

Seite 

Aldcnkirchen,   Joseph 

F,  Lauchert 

202 

Demelius,  Ernst 

A,   Teichmann 

2S5 

Angel i,  Moriz  Edler  v. 

H,  Friedjung 

130 

Detmcr,  Heinrich 

7.  Sass 

172 

Arnold,  Hugo 

H.  Holland 

93 

Dettweiler,  Peter 

Dr.  Besold 

287 

Aßmus,  Robert 

H  Holland 

178 

Dietrich,  Anton 

H,  Schmerbcr 

200 

Asmussen,  Anton  • 

7,  Sass 

56 

Dietz,  Karl 

Pagel 

282 

Dräsche,  Anton 

Pdgel 

283 

Bartels,  Max 
Bauemfeind,  Gustav 
Baumgartner,  Heinrich 

Pagel 

H  Holland 

F.  Lauchert 

281 
180 
208 

Eckermann,  Christian 
Egger  von  Möllwald, 

7.  Sass 

270 

Bennecke,  Erich 
Berger,  Hugo 
Beschomer,  Oskar 
Bismarck,  Herbert 
Fürst  V. 

Pagel 

r.  Hantzsch 

Pagel 

H,  Jacobi     101, 

280 
218 
282 

516 

Alois 
Ehrensberger,  Hugo 
Embde,  Emilic  v.  d. 
Emminghaus,  Herrn. 
Evelt,  August 

F,  iMuchert 

Ph,  Losch 

Pagel 

A,  Zander 

152 

»99 

159 
282 

79 

Bittong,  Franz 
Braun,  Friedrich  v. 
Braun,  Karl  Otto 
Brausewetter,  Otto 
Briegleb,  Elard 
Brosius,  Ignaz 
Brunner,  Joh.  Paul 

7.  Sass 
Kohlscfimidt 
IL  Holland 
H  Schmerbcr 
F,  Brummer 
A.  Birk 
F,  Lauchert 

96 

312 
192 

205 

329 
271 

198 

Fellner,  Stephan  Karl 
FcUner,  Thomas 
Flock,  Joseph 
Frieß,  Gottfried 
Fürstenheim,  Ernst 
Fux,  Josef 

C.  IVol/sgruber 

H,  Kretschmayr 

F,  Lauchert 

F,  lauchert 

Pagel 

II.  Schmerbcr 

165 
158 
207 

171 
304 
177 

Brunner,  Moritz  R.  v. 

C.  M.  Danzer 

317 

Garcke,  August 

Pagel 

304 

Buchenbcrger,  Adolf 

F,  Nicolai 

29 

GeorgKönigv.Sachsen 

0,  Kaemmel 

23 

Buchholz,  Wilhelm 

A.  Freih.  v.  Menst 

:  266 

Giese,  Otto 

7.  Sass 

87 

Burk,  Karl  v. 

Kohlschmidt 

283 

Goebel,  Eduard 

F.  Brummer 

319 

Büttel,  Paul 

y,  Sass 

86 

Godin,  Amelie 

IL  Holland 

90 

Graff,  Wilhelm  Paul 

F.  Brummer 

329 

Clar,  Konrad 

Pagel 

314 

Grill enbergcr,  Otto 

F.  Lauchert 

206 

Cnyrim,  Viktor 

Pagel 

282 

Grob,  Konrad 

ir,  L.  LehfHann 

255 

Cohn  ,Mey  er  Alexander 

F,  Schfuidt 

126 

Grün,  Albert 

F,  Brummer 

338 

Namenverzeichnis. 


519 


Name 

Verfasser 

Seite 

Name 

Verfasser 

Seite 

Hachmann,  Gerhard 

7.  Sass 

88 

Lcnb.ich,  Franz  v. 

E.  IV,  Bredt 

260 

Haenselmann,  Ludwig 

F,  Brummer 

328 

Liersch,  Ludwig  Wilh. 

Pagel 

334 

Hanslick,  Eduard 

G,  Adler 

342 

Lorenz,  Ottokar 

A.  Foumier 

242 

Hanstein,  Adalbert  v. 

F,  Brummer 

319 

Heiberg,  Asta 

y,  Sass 

100 

Maison,  Rudolf 

IL  Holland 

193 

Heinemann,  Otto  v. 

W,  Schröder 

49 

Mannlicher,  Ferdinand 

Heisrath,  Friedrich 

Paget 

315 

Ritter  v. 

A,  Birk 

316 

His,  Wilhelm 

W,  Spalieholz 

231 

Mannstaedt,    Wilhelm 

F,  Brummer 

309 

HofTmann,  Joseph 

II,  Schmerber 

200 

Martius,  Georg 

Pagel 

328 

Hofmeister,  Adolph 

A.  Vorberg 

166 

MoUinar)',  Anton  Frei- 

1 

Holaus,  Blasius 

F,  Lauchert 

191 

herr  v.  Monte  Pastello 

Carlv,  Torresant 

■  135 

Holdheim,  Paul 

A.  Teichmann 

320 

Montbach,Mortimer  v. 

F.  Lauchert 

204 

Holst,  Hermann  v. 

A,  Wahl 

61 

Motz,  Paul 

P.  Miizschke 

129 

Holzmann,  Philipp 

A,  Birk 

271 

Maller,  August 

Pagel 

327 

Hopfen,  Hans  v. 

LtliSe/uilk'IIop/en^^o 

Müller,  Robert 

A.  Freih,  v.  Menst 

267 

Huppert,  C.  Hugo 

Pagel 

314 

Müller-Palm,  Adolf 

F.  Brummer 

308 

Ideler,  Karl 

Pagel 

315 

Najmajer,  Marie  w 

F.  Brummer 

303 

Jeiler,  Ignatius 

F,  Ijmclurt 

211 

Nirschl,  Joseph 

F,  Lauchert 

169 

Jessen,  Otto 

J.  Sass 

173 

•• 

Joder,  Julian  Chrv- 

•r 

# »/ 

Ohlschläger,  Karl  v. 

A,  Teichmann 

321 

sostomus 

F,  Lauchert 

191 

Oppenheimer,  Zach. 

Pagel 

328 

Jolly,  Friedrich 

Pagel 

316 

Ott,  Karl  Edler  v. 
Philippi,  Rudolf  Aman- 

A,  Birk 

273 

Kahn,  Franz 

A,  Teichmann 

2S5 

dus 

V,  Hantzsch 

186 

Kaiser,  Pius 

F,  Lauchert 

210 

Pichler,  Max  R.  v. 

A,  Birk 

272 

Kanitz,  Felix 

V,  Ilantzsch 

184 

Plehn,  Friedrich 

Pagel 

327 

Kanoldt,  Edmund 

P,  Frhr,  v,  Lich- 

0 

»■      * 

tenberg 

80 

Ratzel,  Friedrich 

V.  Hantzsch  144 

.  517 

Kariowa,  Otto 

A.  Teichmann 

284 

Ratzenhofer,  Gustav 

L,  Stein 

289 

Keller,  Pius 

F,  Lauchert 

202 

Regenstein,   Charlotte 

F,  Brummer 

302 

KirchhofT,  Gustav 

Pyl 

78 

Rembold,  Otto 

Pagel 

327 

Klopfer,  Victor 

A,  Freih,  v,  Menst 

•  267 

Rettich,  Kari 

7,  Sass 

168 

Knabl,  Karl 

H,  Holland 

88 

Reuter,  Richard 

P.  Mitzschke 

252 

Köbner,  Heinrich 

Pagel 

315 

Ribarz,  Rudolf 

H  Schmerber 

20S 

Koch,  Karl  v. 

Pagel 

326 

Riegel,  Franz 

G,  Honigmann 

330 

Koppen,  Fedor  v. 

F,  Brummer 

310 

RoUett,  Hermann 

P,  Tausig 

220 

Koester,  Karl 

Pagel 

279 

Roth,  Arnold 

IV,  Ncf 

134 

Kottmann,  August 

Pagel 

335 

Rüdiger,  Otto 

7,  Sass 

26S 

Kottulinsky,   Adalbert 

Graf  V. 

II,  Zwicdineck 

336 

Sallmann,  Carl 

Ph,  Losch 

160 

Krug,  Arnold 

J,  Sass 

169 

Sauermann,  Heinrich 

7,  Sass 

100 

Sauerwein,  Georg 

L.  Meyer 

224 

Landerer,  Albert 

E,  Franck 

321 

Schell,  Wilhelm 

Ph,  Losch 

160 

Langerhans,  Robert 

Pagel 

335 

Schirmer,  Theodor 

A,   Teichmann 

258 

Legerlotz,  Gustav 

F.  Brummer 

311 

Schirrmacher,  Fried- 

Lehmann, Heinrich 

y.  Sass 

97 

rich  Wilhelm 

A,  Vorberg 

76 

520 


Namenveneichnis. 


Name 

Verfasser 

Seite 

Name 

Verfasser 

Seite 

Schlumprecht,  Rupert 

H.  Holland 

204 

Vochezcr,  Joseph 

F.  Laucheri 

205 

Schneider,  Justus 

PA.  Losch 

161 

Vogt,  Gideon 

Ph.  Usch 

162 

Schübler,  Adolf  v. 

A,  Biri 

272 

Volck,  Wilhelm 

A,  Vorberg 

85 

Schuhes,  Karl 

F,  Brumme 

300 

Vorster,  Johannes 

Pagel 

314 

Seegen,  Josef 

y,  Mttuthncr 

57 

Seidel,  August 

H,  Holland 

74 

Waldersee,  Alfred 

Silbemagl,  Isidor 

F.  Laucheri 

202 

Graf  V. 

//.  yacobi 

3»  516 

Spiess,  Alexander 

Pagel 

280 

Wannenmacher,  Franz 

Stabenow,  Louis 

y,  Sasj 

87 

Xaver 

A,  Zander 

99 

Staub,  Hermann 

A,  Teickmann 

259 

Watterich,  Joh.  Bap- 

Stell wag  V.  Carion, 

tist  Matthias 

F.  Laucheri 

176 

Carl 

//,  IViniersieiner 

305 

Waetzoldt,  Christian 

Stengele,  Benvenut 

F,  Laucheri 

209 

Stephan 

7.  Sass 

246 

Stemfcld,  Alfred 

Pagel 

280 

Weigert,  Karl 

Pagel 

313 

Strauch,  Hermann 

A,   Teichmann 

257 

Weitbrecht,  Karl 

Oiio  Güniier 

274 

Strcmayr,  Karl  v. 

A'.  Freih.  v.  Le- 

Wendt,  Ferdinand 

F.  Brummer 

30  i 

mayer 

118 

Woltersdorf,  Theodor 

Th.  Pyl 

78 

StUbel,  Alfons 

V,  LIantzsch 

212 

Szanto,  Emil 

Th,  Gomperz 

255 

Zahn,  Friedrich  Wilh. 

Pogel 

336 

Zenetti,  Benedikt 

F,  Laucheri 

192 

Tanera,  Karl 

IL  Holland 

66 

Zettel,  Karl 

//.  Holland 

70 

Thierfelder,  Benjamin 

Pagel 

281 

Zimmermann,  Alfred 

Pagel 

33S 

IL  Alphabetisches  Namenverzeichnis 

zu  den 

Nachträgen  und  Ergänzungen. 


Name 
Buchner,  Otto 

Claus,  Adolf 

Delbrück,  Rudolf  v. 

HafTner,  Traugott 
Hagemann,  Georg 

Lohmeyer,  Julius 
Lorm,  Hieronymus 
(Landesmann,  H.) 

Mauthner,  Gustav 

Ritter  v. 
Meysenbiig,  Malvida  v 
Mommsen,  Theodor 


Verfasser  Seite 

P,  Müsse kke  425 

GeorgW,A,Kahl' 

bäum  348 

/r.  Helfferich  365 

O.  Güniier  421 

Si,  Schindele  439 


R,  P, 


A,  Klaar 


Name 
Mahlbacher,£ngelbert 

Niessen,  Wilhelm 

Oldenbourg,  Rudolf 

Plank,  Joseph 
'   Polenz,  Wilhelm  v. 


Seite 
516 

43S 
426 

516 

H.  Llgensiein         430 


Verfasser 

H  Holland 
M.  Bieroiie 


419 


359 


F.  Schmid  405 

/;  Spiro  391 

Z.  J/.  Harimann  441 


Renner,  Ludwig 

Kohlschmidi 

437 

Ringhoffer,  Emanuel 

R.  V. 

A,  Birk 

438 

Scheffer-Boichorst, 

Paul 

A\   Uhlirz 

349 

Sclüesinger,  Julie 

356 

Schwicker,  Heinrich 

F.  Schuller 

354 

Volkmann,   Diederich 

Hoffmann-Viortai 

4*3 

fc.  ^    ,    .»', 


t,^  \ 


r.:X^' 


^  i 


•,\ 


P  •*. 


v\'i 


.,  .> 


1»  .  \.- 


►  f 


*     ^    V